DIE ORIENTALISCHEN
LITERATUREN
VON
E. SCHMIDT -A. ERMAN ■ C. BEZOLD
H. GUNKEL- TH. NÖLDEKE-M.J. DE GOEJE
R. PISCHEL'K. GELDNER' P. HÖRN
F. N. FINCK- W. GRUBE- K. FLORENZ
DIE KULTUR DER
GEGENWART I. 7.
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DIE KULTUR DER GEGENWART
IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL HINNEBERG
DIE KULTUR DER GEGENWART
TEIL I ABTEILUNG VII
£\ j urvt.
DIE ORIENTALISCHEN
tu
LITERATUREN
MIT EINLEITUNG
DIE ANFÄNGE DER LITERATUR
UND DIE LITERATUR DER PRIMITIVEN VÖLKER
VON
ERICH SCHMIDT • A. ERMAN • C. BEZOLD • H. GUNKEL
TH. NÖLDEKE • M. J. DE GOEJE • R. PISCHEL • K. GELDNER
P. HÖRN . F. N. FINCK ■ W. GRUBE • K. FLORENZ
1906
BERLIN UND LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER
PJ
Dt/
loi
PUBLISHED AUGUST 31, 1906
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BY B. G. TEUBNER LEIPZIG.
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EINLEITUNG.
Seite
DIE ANFÄNGE DER LITERATUR UND DIE
LITERATUR DER PRIMITIVEN VÖLKER . . . 1-27
Von ERICH SCHMIDT.
Einleitung i — 3
I. Kulturanfänge. Poetische Triebe 3 — 5
II. Rhythmus 6—7
III. Chorische Urpoesie 7 — 10
IV. Urformen 10— 11
V. Gattungen chorischer und individueller Lyrik 12 — 20
VI. Ausblick auf das Drama 20—22
VII. Ausblick auf das Epos 22—26
Literatur 27
I. DIE ÄGYPTISCHE LITERATUR. . . . 28-39
Von ADOLF ERMAN.
Einleitung 28—29
I. Die Literatur der älteren Zeit 29 — 33
II. Die Literatur des neuen Reiches 33 — 37
III. Die späteste Literatur 1)1 — 3^
IV. Einfluß der ägyptischen Literatur 3^
Literatur 39
VI Inhaltsverzeichnis.
Seite
IL DIE WESTASIATISCHEN LITERATUREN.
A. DIE SEMITISCHEN LITERATUREN . . 40-159
I. DIE BABYLONISCH-x\SSYRISCHE LITERATUR. . . . 40-50
Von CARL BEZOLD.
Einleitung 40 — 41
I. Die ältere babylonisch -assyrische Literatur (2200 bis 650 v.Chr.). . . 41 — 43
II. Die Literatur aus Ninive (um 650 v. Chr.) 43 — 47
III. Die neubabylonische Literatur 47 — 48
Schlußbetrachtung 48
Literatur 49 — 50
2
IL DIE ISRAELITISCHE LITERATUR 51-10
Von HERMANN GUNKEL.
Einleitung 51 — 54
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller
(bis ca. 750 V. Chr.) 54 — 76
II. Die großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750 bis 540 v. Chr.). . . 76 — 93
III. Die Epigonen 93 — 98
Literatur 99—102
in. DIE ARAMÄISCHE LITERATUR 103-123
Von THEODOR NÖLDEKE.
Einleitung 103
A. Syrische Literatur 103 — 121
I. Bis zur arabischen Zeit 103 — 115
II. Die arabische Zeit 115 — 121
B. Literatur der Harranier 121
C. Christlich -palästinensische Literatur 121
D. Literatur babylonischer Sekten 122
E. Neusyrische Literatur 122
Literatur 123
IV. DIE ÄTHIOPISCHE LITERATUR 124-131
Von THEODOR NÖLDEKE.
Einleitung 124
A. Geez- Literatur 124 — 129
I. Erste Periode 124 — 125
II. Zweite Periode 125 — 129
B. Dialekt- Literatur 129—130
Literatur 131
Inhaltsverzeichnis. VII
Seite
V. DIE ARABISCHE LITERATUR 132-159
Von MICHAEL JAN de GOEJE.
Einleitung 132 — 133
A. Die Blütezeit (bis zum 1 1 . Jahrhundert) 134 — 156
I. Die Poesie 134 — 141
II. Die Unterhaltungsliteratur 141 — 144
III. Der Koran und die Traditionsliteratur 144 — 14g
IV. Die Geschichte und Geographie 149 — 153
V. Die Philologie 153 — 155
VI. Die übrigen Wissenschaften 155 — 156
B. Die Periode des Verfalls (vom i i. Jahrhundert
bis zur Gegenwart) 156 — 158
I. Bis zum 19. Jahrhundert 156 — 157
II. Das 19. Jahrhundert 157 — 158
Literatur 159
B. DIE INDO-IRANISCHEN LITERATUREN . 160-268
L DIE INDISCHE LITERATUR 160-213
Von RICHARD PISCHEL.
Einleitung 160 — 164
A. Die vedische Literatur (ca. 1500 bis 500 v.Chr.) . . , 164 — 179
I. Die Veden 164 — 174
II. Die Erläuterungsschriften zu den Veden 174 — 179
B, Die nichtvedische Literatur (ca. 500 v. Chr.
bis zur Gegenwart) 179—210
I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer (bis etwa
300 n. Chr.) 179 — 200
II. Die Literatur der klassischen Zeit (etwa 320 bis 800 n. Chr.) .... 200—207
III. Die Literatur der nachklassischen Zeit (nach 800 n. Chr.) 207 — 210
Literatur 211 — 213
IL DIE ALTPERSISCHE LITERATUR 214-234
Von KARL GELDNER.
Einleitung 214 — 216
I. Die Keilinschriften der Achämeniden 216 — 220
IL Die Avesta- Literatur 220 — 232
Literatur 233 — 234
Vni Inhaltsverzeichnis.
Seite
m. DIE MITTELPERSISCHE LITERATUR 235-241
Von PAUL HÖRN.
Einleitung 235 — 236
I. Die geistliche Literatur 236 — 238
IL Die weltliche Literatur 238 — 240
Literatur 241
IV. DIE NEUPERSISCHE LITERATUR 242-268
Von PAUL HÖRN.
Einleitung 242 — 243
1. Die Anfänge der neupersischen Literatur 243 — 248
II. Die großen Namen der neupersischen Dichtkunst 248 — 256
III. Die Epigonen 256 — 257
IV. Das Theater 257 — 258
V. Die Volksliteratur 258 — 259
VI. Die Prosa 259 — 264
Schlußbetrachtung 264 — 266
Literatur 267 — 268
C. DIE TÜRKISCHE LITERATUR .... 269-281
Von PAUL HÖRN.
Einleitung 269 — 271
I. Die ältere türkische Literatur 271 — 277
II. Die türkische Moderne 277 — 278
III. Die Volksliteratur 278 — 279
Literatur 280 — 281
D. DIE ARMENISCHE LITERATUR. . . . 282-298
Von FRANZ NICOLAUS FINCK.
Einleitung 282 — 284
I. Charakter der armenischen Literatur im allgemeinen 284 — 285
II. Das goldene Zeitalter (5. Jahrhundert) 285—288
III. Die Zeit des Niederganges (6. bis 1 1 . Jahrhundert; 288 — 290
IV. Aufschwung unter der DjTiastie der Rubeniden (12. Jahrhundert) . . . 290 — 293
V. Die Zeit des Verfalls vom 13. bis 17. Jahrhundert 293 — 294
VI. Die Renaissancehteratur der Mchitaristen (vom 18. Jahrhundert ab) . 295
VII. Die moderne Literatur (19. Jahrhundert) 296 — 297
Literatur 298
Inhaltsverzeichnis. IX
Seite
E. DIE GEORGISCHE LITERATUR .... 299-311
Von FR.\NZ NICOLAUS FINCK.
Einleitung 299—301
I. Die Zeit der Vorbereitung (5. bis II. Jahrhundert) 301—302
II. Die Blütezeit (12. Jahrhundert) 302—305
III. Die Zeit des Verfalls (13. bis 17. Jahrhundert) 305—306
IV. Die Zeit des Aufschwungs (17. bis 18. Jahrhundert) 306—308
V. Die Neuzeit (19. Jahrhundert) 308—310
Literatur 311
III. DIE OSTASIATISCHEN LITERATUREN 313-401
A. DIE CHINESISCHE LITERATUR . . . 313-359
Von WILHELM GRUBE.
Einleitung 3i3— 3i8
I. Die klassische Literatur (ca. 2000 v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. 318—326
II. Lao-tsze und der Taoismus 326 — 330
III. Das Restaurationszeitalter der Han (206 v Chr. bis 220 n. Chr.). Die
Geschichtschreibung 33o— 335
IV. Die Wiederbelebung der lyrischen Dichtung 335—337
V. Übergangszeit (3. bis 6. Jahrhundert n. Chr.). Der Buddhismus . . . 337 — 340
VI. Die Blütezeit der Lyrik unter der T'ang- Dynastie (618 bis 907) . . . 340 — 347
VII. Der Neukonfucianismus und die Erstarrung des geistigen Lebens
"(i I. Jahrhundert bis zur (Gegenwart) 347 — 35°
VIII. Dramatische und erzählende Literatur (13. Jahrhundert bis zur Gegenwart) 350 — 356
Schlußbetrachtung 35^—357
Literatur 35^—359
B. DIE JAPANISCHE LITERATUR .... 360-401
Von KARL FLORENZ.
Einleitung 360
I. Die älteste Zeit (bis 794 n. Chr.) 361—368
IL Die erste Hälfte des Mittelalters: Die klassische Literatur (794 bis 1186) 368—378
III. Die zweite Hälfte des Mittelalters: Die nachklassische Zeit und der
Verfall der Literatur (1186 bis 1600) 378—385
IV. Die neuere Zeit: Renaissance und Blüte der Volksliteratur (1600 bis 1868) 385—393
V. Die neueste Zeit (seit 1868) 393— 4oo
Literatur 40i
Register 402—419
DIE ANFÄNGE DER LITERATUR
UND DIE LITERATUR DER PRIMITIVEN VÖLKER.
Von
Erich Schmidt.
Einleitung. „Die Volkspoesie, ganz Natur, wie sie ist, hat Naive-
täten und Reize, durch die sie sich der Hauptschönheit der künstlich voll-
kommensten Poesie gleichet": mit diesem Satz aus Michel Montaignes
Essai „Des Cannibales" eröffnete Herder 1778 die „Zeugnisse" vor seiner
epochemachenden Sammlung, die den Reigen der Weltlyrik von den
wilden, oder wie er lieber sagte den alten, Völkern bis zu Goethe hin
schlang. Die Entdeckung Amerikas hatte auch aller Anthropologie neue
Welten erschlossen, und als dann aus der „France antarctique" Reisende
zwei brasilianische Texte, einen Erguß menschenfresserischen Hohns und
eine Liebeshuldigung, heimbrachten, pries Montaigne diese urwüchsigen
Früchte „unserer großen und machtvollen Mutter Natur" mit geistreichem
Pathos sowie mit Scheelblicken auf die Kulturverbildung. Ohne das der
Autopsie entsprungene Werk de Lerys über Brasilien, worin ein großes
Tanzfest beschrieben und sogar Musiknoten gebracht wurden, schon zu
kennen, zog er weite Schlüsse: er sah in der poesie populaire die älteste
Sprache, Theologie und Philosophie eingeschlossen und staunte, ebenso
wie auf Grund anderer Beobachtungen Sir Philipp Sidney, über die Tat-
sache, die später für Homer viel zu stark betont werden sollte, daß schrift-
lose Menschen doch eine reiche Poesie besitzen. Seine beiden Stücke,
um etliche aus Peru, Finland, Lappland vermehrt, wurden ins 18. Jahr-
hundert hinein immer wieder erwähnt und nachgedichtet. Missionen, seit
den großen auch für die Ethnographie so bedeutsamen Unternehmungen
der Jesuiten in Südamerika, und Forschungsreisen erhellten das Wesen
einzelner Naturvölker. Rousseaus Evangelium von dem idealen Ur-
menschen steigerte und trübte zugleich das Interesse der allzu tief in
Bücher und Papier vergrabenen Literaturmenschen. Die dürftigen von
Scaliger entlehnten Sätze unserer Poetiken über den Beweis ex consensti
omniuiii gentium, den angeblichen Ursprung des Dichtens aus dem Vogel-
sang oder aus arkadischer Hirtenlyrik genügten nicht mehr. Wie Lessing
an die zarten Mädchenlieder Litauens den beredten Ausspruch knüpft,
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. I
2 Erich Schmidt: Die Anfange der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
daß unter jedem Himmelsstrich Dichter geboren würden und lebhafte
Empfindungen kein Vorrecht gesitteter Völker seien, so verschließt auch
Voltaires vielgescholtener „Versuch über das Epos" sich nicht gegen
eine allerdings sehr summarische Würdigung althebräischer, eddischer,
karaibischer Poesie, und er sucht in der Dichtung die älteste Sprache,
die früheste Kunst des Menschengeschlechts. Bei uns hat Hamanns krauser
Tiefsinn an ein unterwegs vernommenes lettisches Arbeitslied Gedanken
über Urmetrik ebenso beiläufig nach seiner Art geknüpft, wie er einmal
das Drama von religiösen Liturgieen herleitet, und er ringt auf seinen
Kreuzzügen ins Morgenland immer wieder mit den Urproblemen. Poesie
ist ihm die Muttersprache der Menschen; was freilich leicht mißverstanden
werden kann in der Richtung, daß romanhafte Lederstrümpfe und Frey-
tagsche Ahnen auch das Gewöhnlichste stilisieren müssen, während Ha-
mann triftig die volle demonstrative und aktive Sinnlichkeit meint, die
noch nichts „Abgezogenes" kennt. Herder, ohne seines Anregers teils
eigenrichtige, teils orthodoxe Schranken, fühlte und dachte sich ein in die
junge Menschheit, und sein inneres Gehör ergriff, wie vor allem die Ber-
liner Preisschrift genial bekundet, ihre Natursprache. Schon der frühe
„Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst" erhärtet, daß die
ersten Gebete notwendig Gesänge sein mußten, chorisch, kurz und sinnlich
mit starken Akzenten: „ein natürlich roher Gang der Poesie", der zur
Einprägung wiederkehrende Takte, „das erste rohe Sylbenmaß" fand.
Herder predigte der papierenen Stubenweisheit unermüdlich, Lyrik sei
nichts Geschriebenes, sondern mündliche „Sage", lebendiger Sang. Auf
seiner Spur wurde dann von den Brüdern Schlegel, lange bevor Müllen-
hoff diese Erkenntnis für die älteste germanische Dichtung fruchtbar
machte, das Wesen der Urpoesie durchdrungen. Friedrich Schlegel sah
bei den Wilden das poetische Vermögen durch unwillkürliche Ausbrüche
der Leidenschaften in gemessenen Worten, Lauten und Sprüngen sich
äußern, aus rohen Rhythmen sich fortentwickeln und von „gesellschaft-
lichen Improvisationen" weiter regen. Wilhelm, der einmal alle auf
mancherlei Lyrik hinweisenden Stellen der Ilias durchging, verband aufs
engste Poesie, Musik und Tanz und sagte: „In dieser Urkunst liegt der
Keim des ganzen vielästigen Baumes geschlossen." Alle Klügeleien
spekulierender Ästhetiker, leider auch mehr als eines historisch-philologisch
gebildeten Forschers über die Folge der Gattungen und den natürlichen
Vorrang der Epik zerrinnen an diesen Leitsätzen wie an jeder einzelnen
Beobachtung in bloßen Dunst.
Goethe, dem nichts Poetisches fremd war, bekennt am Abend seines
Lebens als Herrscher der „Weltliteratur":
Wie David königlich zur Harfe sang,
Der Winzerin Lied am Throne lieblich klang,
Des Persers Bulbul Rosenbusch umbangt
Und Schlangenhaut am Wildengürtel prangt.
I. Kulturanfänge. Poetische Triebe. -i
Von Pol zu Pol Gesänge sich erneun,
Ein Sphärentanz harmonisch im Getümmel;
Laßt alle Völker unter gleichem Himmel
Sich gleicher Gabe wohlgemut erfreun.
Indem der Kulturmensch nach und nach den ganzen bewohnten Erd-
kreis erobert, an den fernsten Inseln landet, die seit vielen Jahrhunderten
verschollenen Zwerg-stämme Afrikas im Urwald wieder entdeckt und über-
all mit geschärftem, klarem Blick seine Beobachtungen anstellt, erwächst
uns ein ungeheures und mannigfaltiges Material, das jede Reise vermehrt.
Man bedenke, daß Herder noch über kein einziges Stück afrikanischer
oder australischer Poesie für seine „Volkslieder" gebot und z. B. die jetzt
sehr genau studierten Andamanen nicht einmal dem Namen nach kannte.
Leider besitzen wir nur wenige so gute und umfassende Sammlungen, wie
Rink sie den Grönländern g-ewidmet hat. Große Schwierigkeiten stellen
sich nicht bloß befangenen Missionaren in den Weg, sondern auch dem
wohlvorbereiteten, hellblickenden Forscher, denn der Europäer hat Mühe,
sich auf den geistigen Standpunkt des „Wilden" niederzulassen, ihn förder-
lich ins Gebet zu nehmen, die völlig fremde Sprache zu erfassen und mit
seinen Fragen von den scheuen Naturkindern ungefähr verstanden zu
werden. Der Phonograph mag- ihm mehr und mehr zu Hilfe kommen.
Vereinzelt steht noch die musterhafte Leistung der Vettern Sarasin, die
jedes Individuum der aussterbenden Urbevölkerung Ceylons aufs genaueste
allseitig studiert und bei ihrer ruhigen Aufnahme des physischen Zustandes,
der Lebensweise, der vielfach noch in Uranfängen stecken gebliebenen
Fähig-keiten stets peinlich abgewogen haben, wie weit diese armseligen
Weddas doch schon mit höherer singhalesischer Nachbarkultur sich be-
rühren. Unter den vielen Reisenden, denen wir neue Kunde aus allen
Weltteilen verdanken, Briten und anderen, erscheint Karl von den Steinen^
der Erforscher der Bakairi im Innern Brasiliens, ausgezeichnet durch eine
wunderbare Gabe, mit solchen Waldmenschen zu verkehren und seine
sicheren Eindrücke in der lebhaftesten Darstellung wiederzugeben. Den
Engländern Tylor, Spencer, Lubbock, Frazer, die in Darwins Heimat die
Niederungen menschlicher Kultur bei upper and lower wüds erörtern, den
Gummere und Posnett, schließen seit Th. Waitz unsere historisch und
naturwissenschaftlich, psychologisch und ästhetisch ohne vage Spekulation
geschulten Gelehrten sich an: Dilthey; Scherer, Burdach, Richard M. Meyer j
Wundt; E. Grosse, der umfassend „Die Anfänge der Kunst" feststellt;
Groos, dem ein fruchtbarer Gedanke Schillers jede Regung des Spiel-
triebes bei Tieren und Menschen beleuchtet; K.Bücher, dessen sammeln-
der und sichtender Energie, nicht ohne die hier gebotene Einseitigkeit,
der enge Bund von „Arbeit und Rhythmus" für alle Völker und Zeiten
sich auftut.
I. Kulturanfänge. Poetische Triebe. Durchweg muß trotz dem stufen.
Wert der Analogieschlüsse eine vorschnelle Generalisation vermieden wer-
1 Erich Schmidt: Die Anfänge der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
den, denn abgesehn von aller Unmöglichkeit, den Urmenschen zu be-
schwören, hat man auch innerhalb der niederen Horde bei geringer In-
dividualisierung doch mit verschiedenen Graden des Temperaments und
der physischen wie der geistigen Begabung zu rechnen. Man hat die
Stufen auseinander zu halten, die einen halbtierischen Kampf ums Dasein,
das Treiben von Jägern und Fischern, die Lebensweise viehbesitzender
Komaden und den ungeheuren Fortschritt des Ackerbaues trennen. Dieser
begründet mit dem Wohnsitz erst Familie, Nachbarschaft, Gemeinverfassung
dauerbar und nährt durch die Hausindustrie künstlerische Triebe der
Töpferei, Schnitzerei, Weberei usw. Er zuerst macht den schweifenden
Wilden zum „Civis"; mag der Mann noch wesentlich der Jagd obhegen
und Feld- und Hausarbeit dem Weib überlassen, so findet er doch immer die
Hütte, die selbstgeschaffen ihm und den Seinen gehört. Das Dasein gewinnt
Regel, der Brauch Bestand, Schmuck, feierliche tradionelle Wiederkehr,
und die nun erst mögliche Fortpflanzung jeder Errungenschaft muß auch
den Anfängen der Kunst frommen. Sehr tief aber greift der Unterschied
des Klimas in alle äußere und innere Bildung der Menschen ein: wen die
nördliche Eisregion in einen engen Schutz- und Wohnraum duckt oder
das frostige Jammerdasein eines feuerländischen Fischers umfängt, wem
nur eine Jurte auf öder Hochebene zugewiesen ist, der lebt, fühlt, denkt
und schafft anders als der Sohn tropischer Länder. Kulturblöße kann mit
monogamischer Strenge, die ja kein Privileg des Menschen ist, verbunden
sein; mit allerlei äußeren Fortschritten kannibalisches Gelüst und scham-
lose Ausschweifung. Es liegt auf der Hand, daß solche Verschiedenheiten
gleich dem kriegerischen Drang oder dem dumpfen Frieden hier und dort
auch jede Kunstäußerung bestimmen helfen. Zu den Uranfängen freilich
führt den Beobachter kein Weg, denn allenthalben hat Bedürfnis und
Übung, selbst wo gar keine Entlehnung mitwirken konnte, die Menschen
schrittweise gefördert. Auch jene Weddas, die in den einfachsten häupt-
lingslosen Clans gewisse Jagdgebiete teilen, ohne Vervvandtschafts- und
Zahlwörter, ohne Musik, ohne Töpferei, beinah religionslos, auch sie haben
heute schon eine zugleich hebende und ausrottende Entwicklung hinter
Sprache, sich. Selbst die arme Sprache verrät es, wenngleich der Kehllaut ihrer
Erregung an das Tier gemahnt, mit dem der Mensch überhaupt einen
Teil seiner bei höherer Kultur schwindenden, hier sparsameren, dort reich-
licheren demonstrativen oder malerischen Gebärdensprache, seiner Gefühls-
entladungen in Lauten der Lust und Unlust gemein hat. Freude, Lockung,
sexuelles Werben, Drohung, Warnung, Schmerz, Furcht brechen ohne
intellektuelle Vorstellungen in Gebärden und Stimmreflexen hervor,
geben den verschiedensten Sprachen von alters her gleiche Interjektionen
und finden im Lachen und Weinen ihren stärksten Ausdruck, befreiend,
aber auch krampfhaft erschütternd. Mit der Sprache, die von einsilbigen
abgerissenen Lauten zur willkürlichen, mitteilenden, benennenden Anwen-
dung solcher Klanggebärden steigt und sehr allmählich grammatische
I. Kulturanfange. Poetische Triebe. e
Kategorieen ausbildet, entwickelt sich der Verstand. Die Phantasie übt,
ohne das Bewußtsein und die Absicht des Menschen, etwas zu erfinden,
d. h. seine Lebenseindrücke auffrischend und steigernd als Dichter zu
kombinieren, ihre g'eheimnisvolle Macht auch in dem scheinbar eintönig-
sten Dasein. Vor allem gibt das im Schlaf ohne Verstandeskontrolle fort- Wciträtsei.
arbeitende Gehirn Rätsel auf Rätsel. Der Traum ein Leben. Träumt der
Wilde von Jag'd und Kampf, so ist seine Seele zu solchem Tun wirklich
ausgefahren und danach in den ruhenden Körper zurückgekehrt; sein
Freund, sein Feind war wirklich bei ihm, der Tote erschien und sprach
wirklich; er hat wirklich die Freiheit des Flugs oder die erotische
Lust g'enossen, ein Albdruck wirklich auf seinem Leibe dämonisch ge-
lastet . , . Diese Wunder überwältigen sein Denken und entrücken es
gleich dem Rausch, falls er schon gegorenen Trank und ähnliche Reiz-
mittel kennt, aus der Monotonie des Alltags in die Ferne. Das Staunen,
die Wurzel aller mit Poesie innig verschwisterten Urwissenschaft, wird
durch ewige, immer wiederkommende oder selten überraschende Welt-
erscheinung-en aufgeregt. Tag und Nacht wechseln; die großen und kleinen
Himmelsleuchten, vor allem die strahlende und wärmende Sonne, der zu-
nehmende oder schwindende Mond, die vielgestaltigen Wolken, Blitz und
Donner ziehen das Auge von der Erde zum Firmament empor und stellen
Fragen des Universums. Das brennende Feuer, das ruhende oder bewegte
Wasser vom Quell bis zur Meeresbrandung-, der säuselnde Wind und der
brüllende Sturm sind lebendige und beredte Elemente, hold und feindlich.
Man sinnt über Keim und Frucht, Sprießen und Vergehen. Stärker als
die passive Pflanze nimmt das Tier, auch wenn einzelne schon zum Dienst
gezähmt sind, den Geist des Naturmenschen hin, besonders das über-
kräftige, reißende. Weit davon entfernt, die Losung „Vieles Gewaltige
lebt, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch" anzustimmen, sondern
ehrfürchtig schaut er auf dämonisch begabte Wesen des Tierreiches
und erblickt in ihnen machtvolle Lebensideale, die auch seiner naiven
Kausalität Aufschlüsse geben, einen totemistischen Familienkult nähren
können und zu mannigfacher Anbetung von Göttern in Tiergestalt
führen. Ihre Erleg^ung zielt nicht auf Ausrottung oder das bloße Bedürf-
nis nach Speise und Hülle im gemeinen Sinn, sondern will zugleich durch
stärkenden Genuß und Trophäenschmuck eine Kraftübertragung vollziehen.
Erstaunlich ist femer diesen Naturkindern der erotische Trieb, die Zeugung,
der Geschlechtsunterschied, der über Mensch und Tier hinaus mit sinn-
licher Personifikation auf alle Erscheinungen hienieden wie droben er-
streckt wird und in den mythisch-poetischen Kosmogonieen eine Hauptrolle
spielt. Man betrachtet das werdende Leben, aber auch die feindliche
Krankheit und den vernichtenden Tod, der kurzweg als Ende, dann als
Übergang in ein diesseitig"es Fortleben anderswo, weiter in ein jenseitiges
gefaßt wird. Vorstellungen von Lohn und Strafe regen sich allgemach.
Totenkultus eignet den meisten Naturvölkern auf frühen Stufen.
6 Erich Schmidt: Die Anfänge der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
IL Rhythmus. Diesen Triebkräften gegenüber ersteht nun die
andere Frage: wie ward aus dem rohen Schrei, der Lust oder Unlust ent-
lädt, eine wenigstens keimende Kunstform? Das Tier springt und schreit;
das Kind hüpft und trällert unregelmäßig, bis es ein ästhetisches Element
in seine Affektausbrüche trägt durch rhythmische Fassung, die gleich dem
wiederkehrenden Ornament erst der wachsende Zeitsinn erzeugen kann.
Ein hörbarer und fühlbarer Rhythmus in Wort, Musik und Tanz bindet
ganz gleichmäßig oder wechselnd, einfach oder zerlegend regelhafte Ein-
heiten. Ihn findet der Naturmensch schon um sich und in sich in man-
chen Wiederholung^en gleicher Zeitteile mit Inter\'allen, wie wohl keiner
von uns etwa den Stößen der Eisenbahn niemals halblaute Töne geliehen
oder auch als Erwachsener dem kindlichen Behagen an taktmäßiger
Wiederholung derselben Worte und Sätzchen entsagt hat. Wenn Hebbel
den Titel einer Parodie von E. v. Mautners „Eglantine": „Die elegante Tini"
einmal übers andre vor sich hinsummte, verfuhr er wie der Schöpfer einer
primitiven Satire; ebenso können wir in Italien und allerwärts das Urteil
Goethes über die Ritomellweise bestätig'en, man lege dieser „Unmelodie"
jedes Wort unter, das einem nur einfalle. Goethe selbst, als die Wogen
des Gardasees seine sanften Verse regelten, empfand als hoher Iphigenien-
dichter urmenschlich den Rhythmus von Wellenschlag und Wind, Der
Urmensch beobachtet den Rhythmus des Einatmens und Ausatmens, das
je nach der Erregung und Anstrengung, z. B. bei verschiedenen Arbeiten,
leiser oder heftiger erfolgt. Er beobachtet seinen Puls, seinen Herzschlag.
Der Hamak wird regelmäßig hin und her gewiegt, ebenso das Kind auf
den Armen in Schlaf geschaukelt und gesummt. Man wird inne, daß der
Takt „eins zwei, eins zwei" den Gang beschwingt sowohl für den Einzelnen,
als besonders für mehrere, daß er ICräfte bindet und fördert, und gar im
kriegerischen Ansturm, wenn zum Kommando eines Führers das jede
andere Regung übertäubende Massengeschrei erschallt, der Gemeinschaft
Arb«^ als ethischer Kitt dient. Dasselbe empfindet man ruhiger bei geselliger
Arbeit. Treffend unterscheidet Bücher die Einzelarbeit und die sei es den
Gleichtakt, sei es den Wechseltakt mit sich bringende Gemeinschafts-
arbeit weniger oder einer Menge. Er belegt ältere Wahrnehmungen, daß
Hebung und Senkung, Stoß und Zug, Streckung und Einziehung bei
gewissen Tätigkeiten einen natürlichen Rhythmus erzeugen, mit zahl-
losen Beispielen, obwohl nicht jede Arbeit ihn aufweisen kann. Der
Araber fabuliert sinnig, Chalil sei durch die aus verschiedenen Häusern
an sein Ohr dringenden regelmäßigen Hammerschläge „dak — dak dak
— dak dak dak" zur Erfindung der Metrik geleitet worden; wie in Goethes
stilisierter „Pandora" „taktbewegt ein kräft'ger Hammerchortanz" er-
klingen soll. Die „Mühlradsprache" hat mit dem Volksliedsänger und
dem Romantiker auch J. Grimm belauscht. Griechische Schifferrufe sind
seit der frühen Antike bis heute sich gleich geblieben. Die Lhoosai Süd-
ostindiens erklären, ohne taktmäßiges kau — /ia?i nicht ziehen zu können;
II. Rhythmus. III. Chorische Urpoesie. «7
die Neuseeländer beg^leiten das Schieben wuchtiger Lasten meist mit
schweren Silben, während für bequemere leichte genügen. So ruft der
rasche Mörserstößel andere Reflexlaute hervor als das anstrengende Ein-
rammen von Piloten, die Ruderführung im behenden Kanoe andere als
das Ziehen von Frachtschiffen, das muntre Treten der Kelter andere als
irgend eine Sitzarbeit. Wir beobachten, daß ein altgriechisches Hand-
mühlenliedchen nach den Jamben "AXei, |uuXa, äXei (Mahle, Mühle, mahle)
zu schneller Auflösung greift, gemäß der rascheren Drehung, oder wie ein
indianischer Bootsgesang langsam einsetzt: Ah yah, um dann eiliger fort-
zufahren: ya va ya. Von abg'erissenen sinnlosen Lauten und kurzen Zu-
rufen — „Hoi to! Nu man to" taktieren niederdeutsche Rammer, „Hiß
em up! hu ro" friesische Segelleute — führt der Weg- zu den mannig-
fachen Schifferliedern des Nils oder zu allerlei Weisen der Feldarbeit.
Es ist natürlich, daß Schallnachahmungen, gewisse Atemstöße, dann
eines Obmanns markierende Zurufe und Imperative die Gemeinsamkeit
regeln und auch einen Wechsel zwischen dem Einzelnen und der Masse
erzeugen. Überall wird ein Steuerer den Takt angeben, bei den Karaiben
wie bei den Bantu. Überall singen isolierte oder gesellige Arbeiter vor
sich hin oder im Chor. Die Gattungen, die wir vom Schilde des Achilleus
ablesen, aus dem Alten Testament sammeln, bei Athenäus leider ohne
Texte z. T. mit unverständlichen Namen verzeichnet finden, lassen sich
weithin durch Zeiten und Völker verfolgen, wie der Einzel- oder Zwie-
gesang von Hirten und diejenige reiche Arbeitslyrik, die naturgemäß
der mahlenden, speisestampfenden, spinnenden, webenden Frau gehört.
Kurz, Schillers Meisterspruch „Wenn gute Reden sie begleiten, dann fließt
die Arbeit munter fort" gilt viel zweifelloser vom Gesang, der aus Takt-
lauten sich entwickelt, und „Johann, der muntre Seifensieder" (vielmehr
Schuhflicker) hat in der ganzen Welt seine Kollegen.
Nun muß betont werden, daß die meiste Arbeit den Menschen zu
sehr in Anspruch nimmt, um eine freie, tanzartige Körperbewegung zu
gestatten, also andere ihm innewohnende Kräfte, die wir als „Spieltrieb"
bezeichnen und von Tieren und Kindern bis zum Gipfel der Tragödie
hinan walten sehn, sich äußern in allerlei Mimik und Gymnastik, teils
sachter, teils heftiger, ja orgiastisch erschöpfender Art; um so mehr, wenn
in gemeinsamer Entladung einer den anderen steigert.
in. Chorische Urpoesie. Trotz der geringen Differenzierung, be-
sonders auf den Unterstufen besitz- und kampfloser kleiner Horden, wo
noch keine Häuptlinge sich hervortun und der Wetteifer schläft, muß
immerhin sehr früh durch Sondererlebnisse und Grade des Temperaments
und der Kraft wie bei Tieren so bei Naturmenschen die Einzeläußerung
angeregt werden. Es wäre ein grober Fehlgriff, alle Monodie bei primi-
tiven Völkern zu leugnen, voran aber steht die chorische Urpoesie, Laut
und Tanz vereinigend; sind doch auch Singen, Springen, Dichten, Dar-
8 Erich Schmidt: Die Anflinge der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
Naturlaute. Stellen in vielen Sprachen durch dieselben Worte bezeichnet. Naturlaute
des Affekts, von Körperbewegungen begleitet, machen den Anfang, und
dabei bleibt es oft noch, auch wenn man schon das „Lied ohne Worte"
überwunden hat, nicht bloß in allgemeinen Refrains. Das Juchezen und
Jodeln ist urmenschlicher Herkunft, sowenig- der Wilde, der denselben
Ton unmelodisch in rhythmischer Folgte wiederholt, der Xeuholländer, der
beim Keulenschwingen die Stimme hebt und senkt zu endlosem ni ni 7ii ni^
mit älplerischen Virtuosen konkurrieren mag. Einförmiges rhythmisches
Geschrei wird ausgestoßen: „Wildgesang", „Brüllgesang", wie es im zweiten
Teile des „Faust" heist. Besonderes Gewicht ist hier auf die Interjektionen
zu legen, denn die O und Ach, die Weh und Hu, die Haha und Pfui, die
Hussa, Hei, Juchheh, Hurra (erst zur Interjektion erstarrt) sind Urwurzeln
ganzer Gattungen, so daß Jean Paul sehr richtig, wenn auch mit dem
schiefen Ausdruck „verkürzt", von wenigsilbigen mikroskopischen Ge-
dichten, ^liniaturelegieen und Kurzsatiren spricht. Taktmäßig wiederholtes
„Weh" {nlulare, 6Xo\uZ;eiv) ist die Geburt der Nänie; taktmäßig wieder-
holtes „Etsch" u. dgl. mit bestimmter Gestikulation bei Wilden und Kin-
dern die Geburt der Satire, wie noch Rückert ein ganzes Spottgedicht
aus dem Ruf an Napoleons Marschall „Ei, ei! Ney, Ney!" entwickelt.
Die Urmusik erschallt rhythmisch, nicht melodisch, denn zur einfachen
Gliederung der Tonintervalle tritt noch kein qualitativer Tonwechsel, son-
dern es bleibt vorerst bei einem kräftig gestampften und dazu mit lauter
Takt. Worte. Stimme ohne sichere Tonhöhe stoßweise markierten Takt. Massenhafte
Zeugnisse der Monotonie haben sich aus allen Erdteilen angehäuft, und
sie führen vom Gebrüll zu primitiven Melodieen von ein paar Noten. Nicht
bloß in Kehrsilben oder -Zeilen, sondern als Gesamtlied erhalten sich
sinnlose Laute: was der Student mit seinem „Rautschingtsching" als Bier-
ulk treibt, das übt etwa ein sibirischer Stamm noch heute feierlich. Dem
Worte zollt man zunächst sehr geringen Wert: es fehlt, oder dasselbe
oder wenige werden immer repetiert. Diese rhythmische Wiederholung
kann sich so weit fortpflanzen, daß neben ursprünglichem Nonsense auch
das ursprünglich Bedeutsame zum bloßen Wortschall herabsinkt: z. B. ist
ein polynesisches Weihelied des Kannibalismus „unverständlich, also sehr
Stegreif, alt". Ohne jede feste, geschweige denn poetisch erhobene Syntax und
ohne das Streben nach Redeschmuck bildet man ganz kurze, einfache
Sätzchen, erst einen, dann mehrere nebeneinander, und trägt solche Im-
provisationen, nachdem der Erfinder sie hergesagt hat, im Takte vor.
Dem bloßen „Weh" folgt ein „Er ist tot. Weh!" als Urform des Karaleichs;
die Verbindung von „Ah" und „gut" schafft ein Lobliedchen. Als Cook
abreiste, sangen die braven Insulanerinnen unaufhörlich nur: „Er ist fort",
während der Melanesier mit der wiederholten rhetorischen Frage: „Wohin
wandert das einsame Schiff?" und dem Scheideruf: „Kehre wieder, kehre
wieder, o!" schon eine höhere Entwicklung vertritt. Solche Improvisation
nun wird durch jeden Anlaß alsbald geweckt. Stanleys Neger faßten alle
in. Chorische Urpoesie. q
Begebenheiten der Expedition in chorische Worte; Australier begrüßten
die erste fauchende Lokomotive sogleich mit einem Corroborri (Reigen)
und verg-lichen sie dem Walfisch, wie ganz analog die Vesuv -Eisenbahn
einem weit verbreiteten Volkslied seine Melodie gegeben hat {/untcoli —
funicold)', Mädchen der Südsee finden für jedes geschaute oder gehörte
Ereignis unmittelbar Töne der Rührung und des Hohns; Darwins Ankunft
in Tahiti ward ungesäumt von einer Jungfrau in vier Stegreifstrophen ge-
feiert; als Mungo Park verirrt im Unwetter zu einer Hütte gelangte, sang
ein mitleidiges Negerweib und andere sangen ihr nach: „Die Winde toben,
der Regen fiel, der arme weiße Mann, schwach und ermüdet, kam und
setzte sich unter unsern Baum. Er hat keine Mutter, ihm Milch zu bringen,
keine Frau, sein Getreide zu mahlen." Auf dieser Stufe ist der einfache
Ruf längst durch reichere und innigere Motive überholt. Oder man kehre
beim Sommerfest der Eskimos ein: nachdem sie sich bis zum Platzen voll-
gefressen, denn geistige Getränke fehlen den armen Teufeln, besingen sie,
einander ablösend, von Interjektionsrefrains der Zuhörer unterbrochen, den
Seehundfang, Taten der Vorfahren, die Rückkehr der lieben Sonne,
kunstlos in lockeren Rhythmen; manches sehr archaisch. „Dergleichen
Trommeltanz", sagt der wackere Cranz vortrefflich, „ist also ihr olym-
pisches Spiel, ihr Areopagus, ihre Rostra, ihre Schaubühne, ihr Jahrmarkt
und Forum." Selbst die armseligen Weddas feiern den Jagdschmaus durch
ein parallelistisch und epiphorisch aufgebautes Liedchen: „Wo die Tala-
goya g-ebraten und gegessen wurde, blies ein Wind. Wo die Mimenna
gebraten und gegessen wurde, blies ein Wind. Wo der Hirsch gebraten
und gegessen wurde, blies ein Wind."
Den Anfang macht natürlich bloße Vokalmusik, begleitet von Hände- Musik,
klatschen, Stampfen, Patschen einzelner Körperteile durch die Ausübenden,
aber auch durch das Publikum, und gewiß hat unser Applaus in Theatern,
Konzerten, Redeakten usw. hierin seinen Ursprung. Die Weddas kennen
nur einen Pfeiltanz in Halbkreisen, wobei sie einförmiges Gebell keuchen
und sich crescendo den Bauch derb beklopfen, sie verfügen jedoch über
kein Lärminstrument, bei dem manches Naturvolk beharrt. Taktstab,
Schallbrett, Tamtam, Gong, Rassel, Trommel genügen für den Schreitanz,
wie Tamburin, Schellen und Kastagnetten noch immer an Urzeiten er-
innern; einfache Tutinstrumente kommen hinzu; der ausgebildetere Gesang
schafft geschlagene, später gestrichene Saitenspiele und Syringen, Flöten.
Nochmals: schon weil keine Masse nur den einfachsten Satz unisono Einzelne. Masse,
improvisieren kann und alle romantischen Schwärmereien von der urheber-
los singenden „Volksseele" eitel Dunst sind, muß sich Sondervortrag und
Massenausbruch sehr früh gliedern. Einer schreit zuerst, einer singt und
springt zuerst, die Menge macht es ihm nach, entweder treulich oder in-
dem sie bei unartikulierten Refrains, bei einzelnen Worten, bei wieder-
kehrenden Sätzen beharrt. Sie gehorcht einem „Jauchzet!" wie einem
„Wehklaget!" Sie ruft im altrömischen Saliertanz einmal übers andere ihr
lO Erich Schmidt: Die Anlange der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
Triumpe. Sie merkt auf jedes Wort und jede Bewegung eines neupom-
merischen oder afrikanischen Tanzmeisters — doch wir brauchen gar nicht
so weit zu schweifen, um solchen Verein von Solo und Tutti und die Ab-
lösung einzelner Führer zu belegen. In Neidharts sangfrohem Österreich
trug den „leitestap" ein „fürtenzel", „der des voresingens pflac"; „ein maget . .
sanc vor, die andern sungen alle nach". Von dem ditmarsischen Vor-
sänger, dem nach zwei Strophen ein anderer folgt, berichtet Neocorus; er
hebt an, dann aber „singet he nicht vorder, sondern de ganze hupe, so
etweders den gesang ock weeth edder wol darup gemercket, repetert und
wederhalet denselben versch". Wie in der Bretagne ein als Hochzeits-
poet berühmter jNIüller den Reigen mit hilfreichen Gesellen anführte und
während der Wiederholungen auf einen bequem anknüpfenden Fortgang
sann, wie das Singen unter den im Halbkreis mit verschlungenen Händen
erst nach links, dann nach rechts Hüpfenden umlief, hat Villemarque leb-
haft geschildert. In dieser Richtung entwickelt sich auch die chorische
Poesie der Wilden.
Es gibt wortlose Reigen; so den germanischen Schwerttanz. Bloßes
^7?-Gebrüll begleitet die vom Schaman kommandierten Waffenorgien der
Ostjaken, denn ein so rasender Taumel, dem des Fakirs vergleichbar,
duldet keine regelhafte Wortfolge und Rhythmik, wie der „barditus", der
„cantus trux" unserer Ahnen oder das eXeXeXeö der Griechen auch nur ein
anschwellendes Schreien sein konnte und die riesigen Corroborri Austra-
liens bloß den Ruf gestatten. Anderseits werden rhythmische Bewegungen
sitzend oder stehend ausgeführt (Bauchtanz); abgesehn davon, daß eine
grönländische Hütte von vornherein den halbentblößt hopsenden Leutchen
alles verbietet, was die Tropennacht an Massenevolutionen ganzer Stämme
im Freien entfalten mag. So begnüg-en sich die Finnen damit, daß zwei
Runensänger einander bei den Händen fassen und ihre Oberkörper hin
und her wiegen.
Alle Anwesenden können an Tanz und Ton gieichbeteiligt sein, aber
wir finden auch schon ein primitives Orchester und Publikum. Die Weiber,
wenn sie nicht von allen oder doch von gewissen Feiern ausgeschlossen
und die eigentümlichen religiösen Klubs verschiedener Weltteile nicht
schon zu Freudenhäusern entartet sind, gucken zu, klatschen, schreien,
pauken und besitzen eigene Tänze, wie z. B. bei den Eskimos besondere
Kindertänze aus den natürlich überall wahrnehmbaren Ringelreihen mit
ihrer an Abzählstücklein u. dgl. erinnernden Lautbegleitung sich geformt
haben.
Rhetorische IV. Urformen. Aus dem chorischen Vortrag und dem Wechsel zwi-
Figuren. °
sehen Führern und Massen treten uns schon gewisse Stilfiguren entgegen;
voran die Häufung (Iteratio, Cumulatio) desselben Lautes, Wortes, Satzes,
wie z. B. ein botokudisches Preislied sich in der steten Beteuerung: „Der
Häuptling hat keine Furcht" erschöpft oder ein Epinikion von Negern
IV. Urformen.
I I
immer wieder den Ruf: „O die breiten Speere!" erhebt. Schlichter, dann
kunstvollerer Parallelismus, der allmählich zu Variationen, Gegensätzen
Palillogieen usw. greift, waltet überall, sobald schon mehrere Sätze asyn-
detisch angereiht werden, und das Gleichnis kommt damit herbei, in-
dem Ahnliches einfach zusammengestellt wird. Auch nach jener der
slawischen Volkspoesie, doch keineswegs ihr allein, so lieben negativen
Art, die auf eine Aussage: „Es sind Schwäne, die wir dort sehen", oder
auf eine minder sichere Frage: „Sind es Schwäne . .?" die Korrektur: „Nein,
es sind Zelte" folgen läßt. Ein javanischen Trauerlied beginnt: „Dick
fallen Regentropfen auf des Meeres Antlitz. — Nicht Regentropfen sind's,
sind Oras Tränen." Und man sehe unten die einfachste Verneinungsform
im Chor der Watschandis. Absichtliche Differenzierung- der Rede durch
angehängten Schmuck, wie beim Fetisch, muß früh hervorgetreten sein,
nicht minder eine symbolische Nachahmung der Handlung (Zauber, hul-
digendes Gebet, Kriegstanz usw.) durch die Abfolge der Worte. Anapher,
gleicher Einsatz, und Epiphora, gleiches Ende, spielen überall eine Haupt-
rolle und verketten sich auch so, daß, wie im vierzeiligen sudanesischen
Mahlliedchen, gleicher Anfang und Ausgang das Ganze runden. Zur Lust BindemitteL
an tonmalenden und bindenden Alliterationen und Assonanzen, einem un-
abhängigen Gemeinbesitz vieler Völker, bringt sowohl die Wiederholung
überhaupt als die Figur der Epiphora Elemente des Reims. Diesen rnar-
kierenden und dem Ohr harmonisch wohlgefälligen Schluß meint man er-
wachsen zu sehn, wenn im madagassischen Lied erst alle Zeilen auf fang
enden, die zweite Strophe jedoch wirkliche Reime trägt. Australier,
Indianer, Altaier, Somalis, Eskimos besitzen ausgebildeten oder unvoll-
kommenen Reim, wie ja der Zeilenschluß auch zu festerer Prosodie neigt.
Von größter Wichtigkeit aber ist der aller chorischen Poesie notwendig-
eigene Refrain, der noch im gesungenen Kunstlied als „Trara", „Coucou"
(„mit Grazie in infinitum"), „Juvivallera", dem Volksliede gemäß, bloßer
musikalischer Laut sein kann. Nach jeder Zeile des Solisten womöglich
stimmt der Chor ein und sättig-t sich nicht an der Wiederkehr, kann doch
in arabischen Gesängen ein Gesätz fünfzig-mal repetiert werden. Der
Refrain mag auch, wie in unsern Volks- und Studentenliedern, einen Text
zersetzen und aufsaugen oder als eigentümliche Stimmungsformel erstarren,
wie in altdänischen Balladen. Er übt den stärksten Einfluß auf die Glie-
derung, zumal wenn er nicht mehr in freieren Intervallen erklingt, son-
dern als Strophenende regelmäßige Abschnitte bezeichnet. Das g-anze
Phänomen chorischer Urpoesie suchte einmal Goethe zu vergegenwärtigen,
indem er den irischen Klaggesang vom toten Herrensohn: „So singet laut
den Pillalu" auf einen Rezitator des Nachrufs und einen die dumpfen
Schmerzenslaute]: „Och orro orro ollalu" einschaltenden Frauenchor ver-
teilte, was denn freilich nicht ohne albernes Gekicher im Schopenhauer-
schen Salon zu Weimar ablief.
Refrain.
12 Erich Schmidt: Die Anfänge der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
V. Gattung-en chorischer und individueller Lyrik. Die Ent-
wicklung von dem g-ering'sten Maß g-ehobener, tropischer, mit Vergleich
und Hyperbel arbeitender Rede, die allgemein faßlich sein muß und erst
später den Profanen als relig'iöses Geheimnis anmuten kann, ergeht sich
auch auf primitiven Stufen naturg-emäß in mehr oder weniger geschiedenen
Gattungen. Schon was über die rhythmischen Triebe bemerkt wurde,
wehrt der beliebten einseitig'en Herleitung- aller chorischen Urpoesie aus
^lotiven der Religion, als sei jeder Tanz einem Gottesdienst entsprungen.
Wir müssen rhj-thmische Regung' in Gesten und Lauten auch da suchen,
wo der Kultus höherer Mächte noch auf dem Nullpunkt steht oder erst
die dürftigsten Keime zeigt, und es ist glaubwürdig berichtet, daß den
Gebet. Aiidamancn religiöse Tänze gänzlich fehlen. Anderseits erscheint aller
Gottesdienst ursprünglich . als Chor im doppelten Sinn, ehe der einzelne
Mensch seine Stimme gen oben erhebt, und nicht hoch genug kann die
Ausbildung eines Zauberer- und Priestertums angeschlagen werden, weil
sie feste Normen schafft und dem Überlieferten, selbst wo es in fort-
waltenden Rhythmen unverständlich geworden ist, Dauer leiht. Erst die
Opferfeier nach strengem Ritus kann ein orgiastisches Toben durch lang-
sam gemessenen Schrittreigen vorwärts zum Altar und rückwärts ersetzen,
wodurch gleichmäßige Halbzeilen des Hymnus entstehen. Erst das My-
sterium überlegener Zauberkunst bringt statt des lauten Rufes auch ein
geheimnisvolles Murmeln, wie denn der Zauberer geradezu der „Rauner",
die Hexe die „Flüsternde" heißen mag. Eine weite Bahn führt von dem
kurzen Flehen einer Gemeinschaft um Gunst und Vorteil — ,,Gib uns
Frucht", Enos Lases jwvate, „Dich loben wir" — , von den einfachsten litur-
gischen Responsorien zum Hymnus Indiens, zum Psalm. Bloßer Anruf,
taktmäßige Wiederholung eines Wunschwortes, das mit naiver Selbstsucht
begehrt und wehrt, gewinnen nach und nach an Fülle. Sein „Do ut des"
ruft der spendende Polynesier: „Wir haben nichts Besseres, gebt Besseres,
dann sollt ihr davon kriegen." Das von Gustav Freytags Herrn v. Fink
also vorgetragene Indianergebet: „Guter Geist, gib Büffel, Büffel, Büffel,
dicke Büffel gib uns, guter Geist" muß trotz der burlesken Schilderung
des Orchesters für ein ganz richtiges typisches Beispiel gelten. Der Dela-
ware zählt aber nicht bloß alles auf, was er braucht, um den Feind zu
überrumpeln und zu skalpieren, sondern ergeht sich auch in rührenden
Gedanken an Weib und Kind. Ungnade der höheren Macht, die Nieder-
lagen oder Mißernten verhängt hat, weckt Sühngesänge (KaGapiaoi), und
von der Stufe an, wo ein Schaman, ein Medizinmann geheime Weisheit
und Kraft besitzt, werden Zaubersegen zum Schutz, Verwünschungen zum
Trutz nicht sowohl gesungen als geflüstert; doch findet man z. B. auf
^Madagaskar außer dem Heiltanz des Wunderarztes um den Kranken herum
Frauensolo und Chor, also lautere Incantatio.
RätseL Auch das Rätsel, eine frühe Gattung, wird gesprochen. Es hat noch
wenig verstandesmäßige Subtilität, sondern sinnliche Vorstellungen von
V. Gattungen chorischer und individueller Lyrik. j -i
dem Schnee als dem Vogel federlos, den die Sonne als Jungfrau mundlos
verzehrt. So rätselt der alte Germane, Der Eingang- seines „Wessobrunner
Gebets" gehört zu den vielen kosmogonischen Dichtungen, die das Welt- Kosmogonie.
gebäude und dessen Leuchten, Erde und Meer aus dem dunklen Nichts
hervorgehen lassen. Der Dinka am Weißen Nil singt den parallelistischen
Schöpfungsreig'en mit resigniertem Ausklang':
Am Tage, da Dendid alle Dinge schuf, schuf er die Sonne;
Und die Somme kommt vor, geht nieder, kommt wieder.
Er schuf den Mond; und der Mond kommt ....
Er schuf die Sterne; und die Sterne kommen ....
Er schuf den Menschen;
Und der Mensch kommt vor, geht nieder in den Grund und kommt nicht wieder.
Solche getragene sinnschwere Poesie, ein Stück alter Didaxis, ist natür-
lich so wenig mehr als Schreichor zu denken, wie die responsorischen
Gebete, die der ruhende Indianer mit dem Rauch seiner Tabakspfeife auf-
steigen läßt. Doch auch die erhabenen Hymnen der Arier oder Semiten
weisen durch ihren Bau auf den chorischen Ursprung zurück, gieich
dem Jubelschall Till Tul beim Julspiel Skandinaviens oder dem Doppel-
ruf ccEie TttOpe (teurer Stier) am Schlüsse des althellenischen Dionyso.s-
liedes.
Bestimmte Einschnitte des Jahres laden die Ehrfurcht des Menschen
zur Huldigung ein. Man grüßt die Sonnenwende und die tanzfrohen Voll-
mondnächte, die Regenzeit und die Ernte. Der Ackerbau ist mit reli-
giösem Kultus, Mythus und Aberglauben aller Art aufs innigste verbunden,
sentimentale Anschauung der Landschaft aber, auch wo die scharf von-
einander abstechenden Jahreszeiten Kontrastgefühle nähren, dem Natur-
menschen völlig fremd. Er faßt keinen pittoresken Reiz. Er feiert das
fruchtbare nährende Erdreich. Der Birmane bittet: „O komm, Reisseele, Ackerlieder.
,, . . Sexuelles.
komm. Komm zu dem Feld", „Schüttle dich, Großmutter, schüttle dich.
Laß den Haufen wachsen, bis er gleicht einem Hügel, gleicht einem Berg.
Schüttle dich", oder drohend: „Großmutter, du hütest mein Feld, achte der
Fremden, binde sie, laß sie nicht heran." Die samoanische Libation der
Erstlingsfrüchte gilt holden und unholden Gottheiten: „Hier ist Ava für
euch, o Götter, seid uns gnädig, gebt reiche Nahrung! Hier ist Ava für
euch, unsre Kriegsgötter, laßt ein starkes Volk im Lande sein! Hier ist
Ava für euch, o segelnde [d. h. fremde, feindliche] Götter, kommt nicht
hierher, sondern geht in ein ander Land!" Wie die Ackerlieder, die z. B.
als versteinerter Text der Arvalbrüder aus uritalischer Frühe weit in die
Kaiserzeit fortdauern, so haben Feste der menschlichen Geschlechtsreife,
der Jünglingsweihe, der Hochzeit einen religiösen Charakter. Es dauert
sehr lange, bis eine litauische Braut in sanften Strophen ihrem Mütterlein
aufsagen kann, der Bursch seiner Erwählten „fensterlnd" ein melodisches
Ständchen (TrapaKXauciGupov) bringt. Hochzeitbitter und Fremde allerlei
halbdramatischen Fug und Unfug verüben — das Urepithalamion, unser
11 Erich Schmidt: Die Anfänge der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
„hileich", beruht auf dem Gebot: „Seid fruchtbar und mehret euch", wozu
nicht bloß altrömische Carmina fescennina mit dem Phallus winken.
Von tierischer Stillung des Geschlechtstriebes steigt die Menschheit
zur ehelichen Gemeinschaft, die auf Fortpflanzung zielt und wie der oft
verglichene Feldbau religiös geweiht ist. Wer mit Recht g*egen die völlige
Erotik. Religion. AbleugTiung den Einzelgesang auch erotischer Art auf recht primitiven
Stufen findet, darf deshalb keinesweg's so weit g^ehen, seelenvolle Liebes-
rede des Individuums schon hart neben den ältesten rohsinnlichen Massen-
tänzen zu behaupten. Wiederum werden diese obszönen Reigen oft schief
beurteilt, weil man den Evolutionen der ja nicht g'emeinsam, geschweige
denn paarweise tanzenden Geschlechter einen rein erotischen Charakter bei-
mißt, wie ihn selbst im heutigen Deutschland der Schuhplattler dem Be-
schauer offenbaren mag. Denn an das Balzen eines Auerhahns erinnert
dieser gewiß aus alter Tiemachahmung entsprungene Tanz: das Männchen
umkreist, seine starken Schenkel und Lenden zur Lockung patschend, sich
duckend und hinanschnellend, dazwischen juchzend die passiv zuwartende
Henne, bis er sie packt und emporschwingt. Gleichwohl werden die auf
den Karolineninseln heimischen gemeinsamen Lusttänze und die ebenda
sogar zur Totenfeier für eine genußlos abgeschiedene Jungfrau üblichen
lasziven Mädchenreigen erst einer eingerissenen Entartung ihr Dasein ver-
danken, und diese Totenfeier zeigt immerhin ein religiöses Geprägte. So
findet noch heute bei Südslawen ein längeres sexuelles Austoben in heißen
Tänzen und schamlosen Liedern unmittelbar nach der Herbsternte statt,
bedeutsam für das enge Band zwischen der fruchtbaren Mutter Erde und
der menschlichen Brunst. Die scheußlichen, jeden sexuellen Akt dar-
stellenden Tänze mancher w41den Völker, von Männern wie von Weibern,
wollen doch die rohe Paarung dem Gottesdienst unterwerfen, und auch
das Ekelhafteste wird von den australischen Urbewohnern als heilige Sym-
bolik behandelt. Diese Watschandi.s, wohlgemerkt die Männer allein mit
strengster Femhaltung der Weiber und wohlgemerkt beim Neumond in
der Zeit der Yamreife, führen einen nächtigen Tanz um eine frische, künst-
lich umbuschte Grube, mit gerade vorgestreckten Speeren, die endlich in
die tabuierte Höhlung hineingestoßen werden unter dem Refrainchor, der
das Spiel erklärt {ptilli iura, pulli ntra, pullt nira, wafaka: 7i7illa fossa . ...
Vulva). Daß die ehestrengen, sinnigen Koths sehr obszöne Tänze mit den
gröbsten Worten kennen, darf nicht vom Standpunkt unserer Sittlichkeit
Tierpoesie, beurteilt werden. Der mandanische Büffeltanz, die uritalischen Luperkalien
(ein Wolfsreigen von Hirten), die Defloration der kurdischen Braut als
„junger Kuh" durch den Priester als „großen Mastochsen" sind religiöse
Feiern. Sie liefern zugleich Beispiele aus der überall wuchernden Tier-
dichtung, die ja einer naiven Überzeugung der Erhabenheit oder Unge-
schiedenheit entspricht und jenes von .späten Griechen, von modernen
französischen Fabulisten geprägte Wort: „Zur Zeit als die Tiere redeten"
natürlich nicht kennt. Wer den Tiger ehrfurchtsvoll begrüßt: „Großvater",
V. Gattungen chorischer und individueller Lyrik. j c
den Bären: „erhabener Greis", wer mit kindlichster Ätiologie die Eidechse
zur Spenderin der Hängematte macht, wer nicht bloß einen Nachbarstamm
für Wassertiere und Affen für Waldmenschen hält, sondern in der großen
Fauna auch Heldenbewunderung, Ahnenverehrung und Fruchtbarkeitskultus
sucht, der muß gewiß ein religiöses Verhältnis zum Tier ausbilden. Den-
noch ist es eine falsche Verallgemeinerung, jeden Tiertanz für ernsten
Gottesdienst zu erklären.
Genug davon. Zimpferlichkeit aber darf vor den Naturvölkern so
w^enig herrschen wie bei der Beurteilung unserer Volkslieder ein empfind-
samer Wahn, hier sei alles rein und zart, da doch im geselligen wie im
persönlichen Sang Derbes und Sanftes, Rohes und Inniges beieinander
stehn und die rasch verwehten oder lang und weithin variierten Kinder
des Augenblicks, Schnaderhüpfln, Rispetti, Coplas, Pantun und wie solche
Improvisationen sonst heißen, bald grobe, bald anmutige Liebesepigramme
darstellen. Diese „Vierzeiligen", die auch einen Wetteifer der Huldigung
entfachen oder als Trutzgsangln hin und her fliegen, müssen wohl zu den
frühen Gattung-en individueller Poesie gerechnet werden. Wir haben die
Erotik des Einzelnen schon gestreift und dürfen, obgleich niedere Wilde Einzeierotik.
noch keine seelische Beziehung zwischen den Geschlechtem kennen, im
Fortgang nicht aus dem Mangel an Zeugnissen ohne weiteres das Nicht-
vorhandensein erschließen, zumal da alles Chorische sich der Beobachtung
aufdrängt, das Individuelle, Einsame jedoch sich ihr leiser und mit be-
wußter Scheu entzieht. Im Kannibalismus Brasiliens ist doch schon jene
Bitte an die Schlange gedichtet worden, sie möge stillhalten und das bunte
Hautmuster für eine Liebesgabe herleihen. Aber dieser galante Wilde
hätte noch lange nicht seine Sehnsucht in so vollen, tiefen Akkorden er-
gießen können, wie der junge Lappe, der alle grünen Zweige weghauen
möchte, um den Orrasee zu schauen, und Flügel der Krähe besitzen, um
dorthin zu seinem Mädchen zu fliegen. Die mit dem Schlangenband Be-
schenkte wäre noch lange nicht fähig gewesen, den Schatz frauenhafter
Weltpoesie durch Töne zu bereichem, altchinesischer Liebeslyrik aus
hohen, serbischer Frauen dichtung* aus niederen Kreisen, oder auch nur Frauen. Kinder,
mancher afrikanischen, polynesischen Weibesstimme vergleichbar. Doch
überall und immer wiegt die Mutter ihr Kleines in den Schlaf, summend
und singend. Selbst das Weddaweib kennt mehr als ein bloßes Eiapopeia:
„Nachdem ich dich zur Ruhe gelullt habe auf einem Uyanblatt, Nachdem
ich dich zugedeckt habe mit einem Zweig von Pakablättem, Nachdem ich
dich gefüttert habe mit Wandurafrüchten — Komm und schlaf, mein
Kind." Heranwachsend üben die Kinder selbst aus dem Naturtrieb heraus
und auch in Nachahmung der Alteren ihre Ringelreihen: „sie singen sich
selber was dazu", sagt der Beobachter der Eskimos; wir wissen auch, daß
die aufgefädelten Kettenzeilen in Afrika so gut wie in Europa heimisch
sind. Das Mutterlied aber begnügt sich nicht mit einem leisen „Susa-
ninne", sondern gibt auch dem Stolz Ausdruck und Ausblick; so preist
j6 Erich Schmidt: Die Anfange der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
die schnalzende Hottentottin ihren Bambino, indem sie seine Körperteile
streichelt und küßt: „Du Sohn einer helläugigen Mutter, Du Weitsichtiger,
Wie wirst du einst Spur schneiden [Wild erspähen]; Du, der du starke
Arme und Beine hast. Du Starkgiiedrig-er, Wie wirst du sicher schießen,
Die Herrero berauben, Und deiner Mutter ihr fettes Vieh zum Essen
bringen; Du Kind eines starkschenkligen Vaters, Wie wirst du einst starke
Ochsen zwischen deinen Schenkeln bändigen; Du, der du einen kräftigen
Penis hast, Wie wirst du kräftige und viele Kinder zeugen!"
Arbeit Die Fülle der Arbeitslieder, von denen manche durchaus oder vor-
• nehmlich dem Weib gehören, ist uns schon aufg-egangen und wir kennen
ihre Vortrag'sweisen. Hilfreiche Zauberformeln verknüpfen sie hier und
da mit religiöser Dichtung, aber auch der Ackerbau, der am stärksten die
mythischen Elemente begünstigt, ruft früh heitere Weisen ohne jede Be-
ziehung auf einen Kult hervor und führt den Menschen von bloßen Takt-
lauten zu Poesieen, die bei anderer Arbeit nicht gedeihen oder fördersamen
Schwung erhalten können. Dem altägyptischen Dreschlied: „Stampft für
uns, stampft für uns, ihr Ochsen, Stampft für uns, stampft für uns, Scheffel
für eure Herren", antwortet nach Jahrtausenden das korsische: „Stampft
nur wacker . . . Cudanellu und Mascarone [so heißen die Rinder] . . Ohi!
so, drescht ihr wackern Tiere, Flink als wären's euer viere, Ihr und wir,
hailoh, hailoh! Uns das Korn und euch das Stroh!" Den Reichtum an
Arbeitsliedern aller Art und aus aller Welt mag man in Büchers inhalt-
schwerem Werk übersehen : .sie sind ewig, obgleich die vordringende Herr-
schaft der Maschine ihnen ebenso einen Dämpfer aufsetzt, wie das moderne
Leben dem Volkslied seine Blüten abstreift und der Schulunterricht die
Improvisationskraft der Analphabeten samt mancher künstlerischen Haus-
arbeit zurückdrängt.
Kampf. Unvergänglich ist gleich dem bindenden Takt bei gemeinsamer fried-
licher Tätigkeit das Massengeschrei des Krieges. Unsere Truppen rufen,
sich befeuernd und den Feind erschreckend, ihr Hurra, wie ihre Ahnen
den Barditus anstimmten und die Wilden im Vorsturm brüllen. Marsch-
lieder (eiaßarripia) entwickeln sich aus einfachen Takten, bis auch der Feld-
herr selbst vorsingt; wie nach unserem Ludwigslied der König {joh alle
savian sungun: Kyrieleisoii). Wir mögen heut an Bittgänge und Wall-
fahrten denken. Wenn die Australier zur Jagd einen Chor aus ein paar
Sätzchen mit dem Refrain „Die Xarrinyeri kommen" und hinterdrein be-
hagliche Einzellieder mit dem Refrain „Känguru, Känguru" singen, so
bewegt sich das natürlich engverwandte Kriegslied vom Gebrüll zum be-
teuernden Satz: „Ich schlage dich nieder. Ich bin tapfer", zur anaphorischen
Aufforderung alle Glieder des Gegners zu .spießen, zur Herzählung der
starken Waffen mit einem Schlußkommando: „Springt und zielt scharf!",
zum Epinikion. Bevor es in den Kampf geht, stärken sich die Krieger
eines Naturvolkes durch aufregenden Tanz; nach dem Gelingen, vielleicht
beim Siegesmahl, feiern .sie chorisch den Triumph. Die Weiber bleiben
V. Gattungen chorischer und indi\-idueller Lyrik. j -7
der höchsten Männerarbeit gegenüber nicht müßig: unter mannigfacher
althebräischer Siegespoesie ragt Deborahs Jubellied, daß Jahve Roß und
Reiter vernichtet habe, hervor mit dem Aufruf an den Chor „Singet"; dem
Richter Jephtha zieht die Tochter, ihren Jungfrauen voran, „mit Pauken
und Reigen" entgegen, wie auf Südseeinseln und anderswo während des
Kriegszuges Frauenchöre daheim hoffnungsvoll erschallen, nachher aber
die glücklich Zurückkehrenden preisen. Ein Zauberer, wo es deren gibt,
mag heftig gestikulierend und fluchend vorantanzen, um seine Mannschaft
zu feien. Mit Hohngebärden wird dem Feind Herausforderung und Ver-
wünschung entgegengeschleudert, und der Besiegte will wenigstens in
ungebrochner Haltung sterben. Montaignes gefangener Brasilianer trotzt:
„Kommt, ihr alle, und freßt mich, arme Toren, schmeckt das Fleisch eurer
eignen Vorfahren, das diesen meinen Körper genährt hat" . . . invention qui
ne sent aucune-jnent la barbarie, fügt der Franzose mit naivster Bewunde-
rung hinzu. Chorgesang nach der Schlacht, auch von Tacitus für die alten Ruhm.
Germanen bezeugt, ist natürlich keiner Niederlage gewidmet; sie soll in
Vergessenheit fallen, ohne nachwirkend den Mut zu drücken. Nur ein
Sieg über die „Densen" ward in Ditmarschen besungen; nicht anders
ließen die Indianer vor und nach dem Feldzug ausführliche begeisternde
Kunde von glorreichen Kriegstaten ertönen, die sie auch einer kampf-
losen Zeit des Verfalles als ehrwürdig und segenbringend bewahren.
Unum a7inaliu7n et viemoriae genus: hier in Liedern mit anwachsendem
epischem Stoff keimt die geschichtliche Überlieferung, von Stämmen fort-
gepflanzt, als majorum laudes auch durch ein stolzes Familienbewußtsein
zum Vorbild erhalten. Der Botokude läßt es noch bei dem kahlen Lob-
spruch: „Der Häuptling hat keine Furcht" bewenden; der Indianer, ein
geübter Rhetor, bildet hyperbolische, tautologieenreiche Kampf- und Preis-
lieder, Dem Neger ist es nicht mehr genug, zum Valet einsilbig zu
wiederholen: „Er scheidet", sondern das Thema „Der weiße Mann geht
heim" wird von einem Vorsänger und einem Chor mit vielen O! o! o! im
Trommeltanz zur Darstellung des ganzen Verlaufes der Stanleyschen Ex-
pedition erweitert, und die Begebenheiten schwinden nimmer völlig aus
dem Gedächtnis. Wo keine Häuptlinge emporragend gebieten, bei Busch-
männern, Feuerländern usw., ist nicht die Spur einer Aristeia und heroischer
Überlieferung. Ruhmlieder (K\e'a dvbpOuv) sind adelig geartet. Sie werden
zunächst dem Helden in Person zugejauchzt, und er kann sie, wenn ein-
mal die bloße Improvisation einer längeren, gehaltvolleren Fassung g^e-
wichen ist, nach Jahren vernehmen: Odysseus hört am Phaiakenhof eigene
Großtaten aus Demodokos' Munde; nicht viel anders wurde noch dem
Türkensieger Tschupisch Stoja der Preis des Salaschfeldes neun Jahre
später von einem fahrenden Sänger vorgetragen. Und der Held selbst
besingt, was eben seiner Stärke geglückt ist: ein Basutoskrieger erzählt
nach Kampf und Bad den Umsitzenden im Zelt erst redend, dann singend
seine rühmlichen Abenteuer; ein Indianerhäuptling spielt vor dem repe-
DiE Kultur der Gegenwart. I. 7. 2
l8 Erich Schmidt: Die Anfange der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
tierenden Chor die Trümpfe seines"' Kriegspfades aus: „Wenn ich mich den
Feinden entgegenwerfe, bebt die Erde unter meinen Füßen" . . . Bei Be-
grüßungen und Abschieden ertönt das Lob, und es gibt dem Schmaus
eine höhere Weihe als die gemeine gesellige Freß- und Sauflyrik.
Totenfeier. Xicht ungerühmt darf der verstorbene Held dahingehen. Das Epi-
cedium entfaltet sich aus Schluchzen und Wehgeschrei zu reichen Formen
und Riten, auch wohl zu allgemeiner Betrachtung der Vergänglichkeit;
doch tritt ein solches Fidschilied („Der Tod ist leicht. Zu leben, was nützt
es? Der Tod ist Ruhe") bei den abstraktionsarmen Naturvölkern so selten
hervor, wie die regelmäßige Feier des Seelentages. Daß Jephthas Tochter
jährlich eine halbe Woche hindurch von den Jungfrauen gleich einer ent-
rafften Proserpina bejammert wird, erscheint viel auffälliger, als wenn in
demselben Buch der Richter Siseras Mutter ihre Klagen häuft. Eine
Person singt oder spricht, der Chor stimmt mit Ach und Weh ein. Bluts-
verwandte führen das Wort. Warum die Witwe hinter der Schwester
zurücksteht, begreift sich wohl; sie kann aber im stillen die Wollust des
Leides finden, und mangelnde Aufzeichnung von Klagen um eine verlorene
Braut, einen entrissenen Geliebten beweist doch nicht, daß solche Nänien
bei Upper ivilds unmöglich seien. „Mein junger Sohn (Bruder), nie werd'
ich ihn wiedersehn!" lautet einzelner und chorischer Nachruf in Australien.
„Wehe mir, daß ich deinen Sitz anschauen soll, der nun leer ist! Deine
Mutter bemüht sich vergebens, dir die Kleider zu trocknen. Sieh, meine
Freude ist ins Finstre gegangen und in den Berg gekrochen": so beredt
hebt der grönländische Vater mit heulender Stimme den Nekrolog an und
entwirft, während die umsitzenden Männer das Haupt in die Hand stützen
und ihre Frauen schluchzend auf dem Boden liegen, einen ganzen alltäg-
lichen Lebenslauf, bis er wieder zur eigenen Klage einlenkt. Stilistisches
Hauptmittel der Nänie ist allenthalben die unmittelbare Apostrophierung,
wenn der einfache Aufruf zur Trauer überboten wird und das Ereignis die
Leute stärker anpackt als etwa Livingstones Tod die beständig impro-
visierenden Neger. Da hieß es nur: „Heute starb der Engländer, der
andres Haar hatte als wir. Kommt und schaut den Engländer", während
den Andamanen ein ferner halb mythischer, halb historischer Fall in einer
zersungenen dunkeln Totenromanze fortdauert. Mit der starken Anapher
„Ach, schmerzvoll, o!" heften die Madagassen, um das Erlöschen eines
ganzen Geschlechts zu betrauern, ein knappes Sätzchen an das andere
imd stöhnen nach jedem epiphorisch: „Weinend allnächtlich!" Ergreifend
schildern die nordostindischen Ho ihre Verlassenheit und Sehnsucht, bis
das lange Lied ausklingt: „Gefegt wird für dich und gesäubert; und wir
sind hier, die dich allzeit hebten; und hier ist Reis für dich und Wasser;
kehre heim, kehre heim, kehre zu uns zurück!" Man vergegenwärtigt
sich Tugenden und Taten des Verstorbenen; man gibt ihm Speisen, Ge-
räte, Waffen mit in das nun erhöhte Leben. So wird der Nadowesse, wie
Schiller es einem englischen Reisewerk nachdichtet, aufrecht auf die Matte
V. Gattungen chorischer und individueller Lyrik. ig
gesetzt inmitten der Männer, die reihum schwülstige Ansprachen zu seiner
Ehre hier und drüben halten; der Klagegesang fällt den Weibern zu.
Das ist über die ganze Welt hin ihr besonderes Gebiet; bei primitiven
Völkern, als bezahltes Gewerbe der praeficae in Altrom, als weiche Liebes-
pflicht z. B, bei den Litauerinnen, als heftigeres Amt für Neugriechinnen
und auf Korsika. Uralt leben diese vielberufenen voceri, meist von den
nächsten Verwandten gesungene Frauenlieder, fort in epithetenreichen,
bequem abwandelnden Anrufen: „O du" . . .; wenn es einer mala morte gilt,
mit der heißen Mahnung- zur Blutrache, Dabei halten die Weiber einen
leidenschaftlichen Umgang (caracolö) um den Sarg, noch ebenso wie man
das auf altgriechischen Vasen sieht. Herrschern aber ziemt der feierliche
Umritt: um Attilas aufgebahrte Leiche reiten ihn lobend die vornehm-
sten Mannen; Beowulfs Grabhügel umkreisen zwölf Edelinge, singend den
Hochgesang, „wie es sich ziemt". Und erschöpfend stellt die Ilias alle
Einzelklagen und alles chorische Leid nach Patroklos' Tod bis zu den
großen Opfern und Kampfspielen dar — Sänger stimmen an, „ringsum
seufzen die Weiber". Noch Lucian mustert reiche Totenfeier.
Der frohen oder trauernden Verherrlichung steht als Urgattung die Satire.
Satire gegenüber, die ja auch Kinder mit grausamer Mimik an un-
sympathischen Wesen oder Mißgestalten üben. Der Dakota, der seinen
sieg-gekrönten Häuptling ironisch preist: „Freund, du hast dich schlagen
lassen", wird gewiß des vernichtenden Spottes mächtig sein. Man kopiert
drollige Tiere zur Belustigung und übertreibt lächerlich auffallende Eigen-
heiten des Nächsten, des Fremden, was auch in der Namengebung seinen
Niederschlag findet. Afrikaner stellen sich, von Refrainschreiern umgeben,
auf und heften jedem Vorüberkommenden eine höhnische Zensur an. „O
was für ein Bein! Du känguruhüftiger Kerl!" singt mit Karikaturgebärden
der Australier. Virtuosen in Wort und Gestus sollen die Ostjaken sein.
Zahlreiche Spottverse sind aus dem Mund der Suahelis aufgezeichnet
worden. Stundenlang sitzen tatarische Männer auf der Lästerbank und
ziehen einander im Stegreif auf, wie das Hänseln und „Tratzen" unserer
Alpler zwischen einzelnen oder Verbänden als Wortgefecht dem hand-
greiflichen Hader vorausgeht. Die sehr selten zur Prügelei, geschweige
zum Mord schreitenden Eskimos haben ihren „Singestreit", der hier als
ein Hauptbeleg naiver Satire mit den anschaulichen Worten des alten
Cranz vergegenwärtigt werden soll: „Wenn ein Grönländer von dem
andern beleidigt zu sein glaubt, so läßt er darüber keinen Verdruß und
Zorn, noch weniger Rache spüren, sondern verfertigt einen satyrischen
Gesang, den er in Gegenwart seiner Hausleute und sonderlich des Frauen-
volkes so lange singend und tanzend wiederholt, bis sie alle ihn auswendig
können. Alsdann läßt er in der ganzen Gegend bekannt machen, daß er
auf seinen Gegenpart singen will. Dieser findet sich an dem bestimmten
Ort ein, stellt sich in den Kreis, und der Kläger singt ihm tanzend nach
der Trommel unter oft wiederholtem Amna ajah seiner Beisteher, die auch
Dramas.
2 0 Erich Schmidt: Die Anfänge der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
jeden Satz mitsingen, so viel spöttische Wahrheiten vor, daß die Zuschauer
was zu lachen haben. Wenn er ausgesungen hat, tritt der Beklagte her-
vor, und beantwortet unter Beistimmung seiner Leute die Beschuldigung
auf eben diese lächerliche Weise. Der Kläger sucht ihn wieder ein-
zutreiben, und wer das letzte Wort behält, der hat den Prozeß gewonnen,
und wird hernach für etwas recht Ansehnliches gehalten, Sie können
dabei einander die Wahrheit gar derbe und spöttisch sagen, es muß aber
keine Grobheit und Passion mit unterlaufen; die Menge der Zuschauer
dezidiert, wer gewonnen hat, und die Parteien sind hernach die besten
Freunde." Ähnlich werden alle Rechtshändel ohne Strafen und Repres-
salien geschlichtet. „Doch sieht man wohl, daß es dabei nur auf ein gutes
Maulwerk ankommt; daher die berühmtesten Satyrici und Sittenlehrer
auch unter den Grönländern gemeiniglich die schlechtesten in ihrer Auf-
führung sind."
Dieser schon so komplizierte Vorgang mit doppelter Rüstung, Solo-
gesängen und Tanzbewegungen zur Trommel, Halbchören und einem Ge-
richtshof schließe unseren Eilmarsch durch die Gattungen, weil er beson-
ders eindringlich den Weg vom bloßen Ruf her entwickelt.
wunein des \^. AusbHck auf das Drama. Als Uhland seinen Tübinger Studenten
eine ursprüngliche „gewisse Ungeschiedenheit der Geisteskräfte'* dartat,
fuhr er fort: „so erwächst auch in der Poesie selbst erst der ungeteilte
Baum, bevor er sich in seine Äste spaltet." Im Gegensatze zu dem eng-
lischen Forscher, der alle Dichtung aus Selbstgesprächen ableitet, und zu
blinden Verfechtern der epischen Priorität sehen wir eine Ur- Allkunst
Laut und Gestus nach dem Chortakt mannigfach regen. Sie umfaßt Ge-
sang (Geschrei), Tanz, Instrumentalbegleitung, ruft sehr früh aus der Masse
den SoUsten auf, scheidet also Einzelkräfte, Komparserie, Orchester und
Publikum und enthält als Singtanz, Danza hablada (gesprochener Tanz),
Pantomime, Ballett Elemente des Dramas, die Oper eingeschlossen. Ein
Regisseur steht bereits an der Spitze, um den Takt zu geben, die Figuren
flügelmännisch vorzubilden und als Vorsänger zu wirken. Daß es auf sehr
primitiven Stufen doch nicht an aller Ausstattung fehlt, lehrt außer den
vielen Berichten ein Gang ins Museum für Völkerkunde, wo geflochtene
und geschnitzte Kopfmasken, krinolinenartig abstehende stroherne Tanz-
röcke u. dgl. von Amerika wie von der Südsee her zur Schau liegen.
Die Kunst der Bemalung wird reichlich gepflegt. Sogar ein Magazin für
Requisiten ist im Klubhaus vorhanden. Nach der lustigen Seite weisen
allerhand mimische Scherze, zu denen sicherlich auch manche Tierreigen
wie der Froschtanz mit obligater Quakbegleitung oder späterhin austra-
lische, kamtschadalische Karikatur fremder Besucher gerechnet werden
müssen; nach der ernsten gottesdienstlichen und heroischen die Fülle all
der vorhin berührten Erscheinungen. Jagd- und Kriegspantomimen bringen
Spannung, Stoß und Gegenstoß in das Urdrama, Feierliche Riten und
VI. Ausblick auf das Drama. 2 l
Liturgieen führen zu vollerer Darstellung, zu fester Gliederung. Einfache
„Conflictus" wie der Streit zwischen Sommer und Winter, Schnitter-
aufzüge u. dgl. bleiben jahrtausendelang in Geltung, und manche Völker
— man denke nur an die hochentwickelte semitische Poesie — kommen
nicht über mimische Tänze und über Dialoge hinaus zu einem wirklichen
Drama, während etwa bei den Chinesen sowohl die kompendiarische
Sonderszene als die monströse Länge, bei den schauspielerisch ungemein
begabten Japanern ein Mischmasch krasser und hanswurstmäßiger Effekte
noch den unüberwundenen Tiefstand bezeichnen. Doch auch das Erhabenste
aus Uranfängen abzuleiten, von den Gipfeln der attischen Tragödie, des
mythisch-heroischen Bürgerspieles zu Dionysos' Ehren, und der attischen
Komödie mit ihrem Phallusattribut, ihren Tierchören zurückzudringen bis
in den Bergwald, wo die „Böcke", des Gottes voll, orgiastisch tobten, hat
uns allmählich die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung gelehrt. Hier Beispiel der
nun sei als typisch zusammengefaßt, was nach flüchtiger älterer Kunde von
nahverwandten Erscheinungen der eingehende, mir durch meinen Kollegen
A. Brückner vermittelte Bericht des russischen Lehrers Gondatti über die
Mansen vorbringt. Dieser arme und unkultivierte, noch wesentlich scha-
manistische Stamm im fernen Obgebiet Nordwestsibiriens kennt nichts
Höheres als seinen uralten Bärenkultus. Ist so ein heiliges Tier erlegt,
dann gibt es die größten, zum Teil bestialisch-sinnlich ausartenden Nacht-
feste, die sich zusammensetzen aus Dreimännergesängen mit Reverenzen
vor der ehrwürdigen Beute, Schmausen und improvisierten kleinen Dramen.
Diese werden ebenfalls von drei bewährten Kräften in Holzmasken auf-
geführt, bei voller saturnalischer Freiheit; die kurzen Pausen füllt Chor-
gesang aus. Dreiunddreißig solche Einakter, deren in jeder Nacht etwa
zehn zur Schau kommen (also bei der längsten Dauer des Bärenfestes
hundertundzwanzig!), hat Gondatti analysiert. Das Urphänomen ist
natürlich ein religiöser, zauberischer Tiertanz der Jäger, aus dem sich
ernst und possenhaft, auch als tragikomisches Gemengsei, zwei Triebe
entfaltet haben. Einmal stellen schlichte Szenen Freud und Leid der Jagd
auf Bären, Zobel usw. und des Fischfanges dar; den Verkehr mit Tobolsker
Kaufleuten; die Verhauung eines Steuerbeamten; die Unterweisung zweier
Mädchen durch ein gewitztes älteres, wie Männer zu kapern seien — also
kleine Lebensausschnitte, die entschiedenen Realismus gegenüber jenem
geheimnisvollen Bärenkultus atmen. In der zweiten Gruppe herrscht
größere Verwicklung, und der Umstand, daß solche Stücke besonders
gegen Ende des ganzen Festes gespielt werden, erweist eine bewußte
Steigerung des Repertoires. * Menschliches und Dämonisches zeigt sich
hier noch verschränkt: zwei Mansen machen mit Hilfe einer Waldnymphe
reiche Jagdbeute, weigern ihr aber die als Lohn begehrte Heirat, erlegen
nun nichts mehr und schreien endlich verzweifelt nach der Maid; umsonst,
sie müssen Hungers sterben. Neben dieser Romantik erscheinen ganz
moderne Motive: ein Samojede kommt zu einem Mansenpaar, der Wirt
2 2 EiaCH Schmidt: Die Anfänge der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
ist seiner fremden Sprache ganz unmächtig, aber zwischen der kundigen
Frau und dem Gast entwickelt sich nach spaßhaften Mißverständnissen
eine böse Intimität, bis der arme Hahnrei mit dem Saft giftiger Pilze be-
täubt wird ... So steigt in diesem Rahmen das Drama vom Tiertanz bis
zur raffinierten Ehebruchstragödie hinan.
Wurzelndes YH. Ausblick auf das Epos. Von der geselligen Dramatik, deren
£«pos«
chorische Herkunft überall mit Händen zu greifen ist, trennt sich die nur
dem Gehör und dem Geistesauge gewidmete Epik schon dadurch, daß
hier einer ruhend erzählt und sein Kreis zwar mit Zeichen heiterer oder
ernster Teilnahme, doch im wesentlichen schweigsam lauscht; höchstens
daß bei afrikanischen Stämmen kurze Märchensätze gewohnheitsmäßig durch
eine Art von Musikrefrain gedehnt werden. Sie ist daher in unserer Ur-
Allkunst nicht eingeschlossen, aber jeder berichtende Satz in einem reli-
giösen Hymnus, einem Preislied, einem Nachruf gibt ihr ein Samenkorn,
dem halb lyrische, halb epische Gesänge entsprießen. Denn wer wollte
die großen Gattungen überhaupt reinlich und radikal voneinander scheiden!
Goethe, von dreien redend, lobt doch ihr Zusammenwirken in den vorzüg-
lichsten Balladen der Völker, und wir bewundern z. B. an hudhailitischen
Texten der vorislamischen Zeit die gewaltige Wucht, mit der Taten und
Formen. Erciguisse Verewigt werden. Während die Chorpoesie gebunden sein muß,
eignet der Erzählung von vornherein auch ungebundene Rede, weshalb
Prosadichtung zwar nicht im primitivsten, doch im frühen Kunstbereich
anzusetzen ist. Später sieht man die beiden Hemisphären sich vielfach
schneiden, und solche Mischformen reichen von Hymnen, Balladen, Märchen
bis zur großen Cante-fable des romanischen Mittelalters. Die überzeugende
Rhetorik gewinnt in Beratungen ihre Schwungkraft, die rührende an der
Bahre. Didaktisches, als starkes Element verschiedener Liedgattungen,
auch in knappen Gebinden uralter Bauernweisheit und anderen Sprüchen
ausgeprägt, bildet sich weiter. Immer und allerwärts sind dem Menschen,
großen wie kleinen Kindern, Gebilde des eingeborenen Fabulierdranges
ein lieber Zeitvertreib in müßigen Stunden gewesen. Von kurzen sonder-
bar erscheinenden Begebenheiten an und aus unbeholfener enggepackter
Erinnerung heraus zu höheren Sphären der Einbildungskraft und des Vor-
trages. Woher dies und das stamme, Feuer oder Baumwolle, Tätuieren
oder Sterben, wird ätiologisch berichtet. Kosmogonische Mythen, Wan-
derungs-, iVhnensagen und andere Halbhistorie, Spuk- und Schreck-
geschichten erbauen, belehren und dienen der Lust des Gruseins. Anek-
doten und Schwanke pflanzen sich fort. Tierfabeln, natürlich ohne jede
Apologenmoral und künstliche Spiegelung, sondern völlig naiv, wie
J. Grimm es mit richtiger Grunderkenntnis auf einem ungeeigneten Feld
erweisen wollte, sind den Naturvölkern lieb, Übereinstimmungen nur mit
großer Vorsicht auf Migration zurückzuführen, so gewiß auch europäische
Fuchsstücklein in Afrika dem Schakal angepaßt werden. Die weite Mär-
Gattungen.
VII. Ausblick auf das Epos. 2 X
chenwelt schöpft einen Teil ihrer unübersehbaren Motive aus der Phan- Märchen,
tastik des Traumes und führt Gottheiten, Dämonen, Menschen, Tiere, be-
seeltes Gerät bunt durcheinander. Bei den Wiederholungen beliebter Ge-
schichten verlangt der Zuhörer gleich unseren Kindern, die allen Varian-
ten abhold sind, möglichst denselben Wortlaut und ergötzt sich auf der
Südseeinsel wie im brasilianischen Urwald an den stereotypen Formeln
„Es war einmal" und „Das Märchen ist aus." Lockerer Unsinn und dürftige
Epitomen pflanzen sich neben handlungsreichen, doch nicht ausmalenden
Erzählungen fort, die den Mangel an Psychologie und individueller Zeich-
nung durch fesselnde und steigernde Züge wett machen, bis Indianer so
gut wie Grönländer es zu epischen Prosagebilden bringen, die wohl ver-
dienen Novellen, auch in höherem Sinn, zu heißen. Der Vortrag all dieser
Kleinepik ist überaus lebhaft, indem die Stimme je nach dem Gegenstand
und dem einzelnen Effekt moduliert wird und ein erzählender Buschmann
so wenig versäumt, die Tierstimmen treulich nachzuahmen, als in der
deutschen Kinderstube die Unterscheidung der Geißlein und des Wolfes
fehlen darf oder der italienische Straßenrhapsode seine Mimik zugunsten
einer gelassenen Objektivität aufgibt. Berufs erzähler bilden sich früh
heraus. Internationaler Austausch der Kleinepik auf mündlichem Wege
tritt nach und nach immer reichlicher ans Licht.
Die schriftlose Fortpflanzung aber wird durch gebundene Formen, die Überlieferung,
ja den Wortlaut ganz anders sichern als die Prosa, einem Gedächtnis,
scharf und wachsam wie Aug' und Ohr des Indianers, eingeprägt. Erst
das Aufschreiben und Lesen macht bequem, weil man Vergessenes sich
so leicht wieder auffrischen kann. Noch in unsern Tagen wahren bäuer-
liche Analphabeten in Rußland einen solchen Schatz an ererbten Bylinen
(Heldenliedern), daß der gelehrte Sammler von demselben Mann sechs-
tausend, von demselben Weib gar achttausend Verse gewinnen konnte.
Und wie viele, wie lange Runen hat Lönnrot in Finland für seine ver-
meinte Herstellung eines zerbröckelten Epos dem Volksmund abgelauscht!
Wir begreifen wohl, daß nicht nur bei den Serben, sondern auch bei zahl-
reichen Naturvölkern die Blinden durch ihr keiner äußeren Zerstreuung
unterworfenes Gedächtnis wie Demodokos als Hüter der epischen Poesie
wirken und damit ihr Leben fristen. Auf die Talentgrade, die schon in
den Niederungen behende Vortänzer oder tüchtige Vorsängerinnen an die
Spitze des Haufens stellen, haben wir bereits geachtet und wundern uns
nicht, wenn dann z. B. die Mincopies überlegene Dichter auszeichnen,
Papuaner einem Weißen die Rezitation aus Tausend und einer Nacht er-
klecklich bezahlen, bei den Maoris ein Tätuiermeister seine Kunst in selbst-
gefälligen teils feierlichen, teils humoristischen Liedern anpreist, wenn
Neger ihren Barden ein Honorar für Lobgedichte auswerfen, in Sene-
gambien mit einem erblichen Rhapsodenstand offizielle Historiographen
erstehen, wenn ural-altaische Stämme lyrische Improvisation als natürliches
Gemeingut betrachten, aber zugleich den hervorragenden Schöpfern hohen
2J. Erich Schmidt: Die Anfange der Literatur und die. Literatur der primitiven Völker.
Respekt zollen und etwa die Kara-Kirgisen neben mannigfacher einzelner
und chorischer Stegreifpoesie eine Sängerkaste hegen. Von den indischen
Pentados wird gemeldet: sie haben Berufssänger, die beim Fest Helden-
taten der Vergangenheit künden und so die geschichtliche Erinnerung
wahren. Noch immer kann das Wort sich mit dem Reigen einer Schar
verbinden (man denke nur an die Färöer), aber der chorischen Urpoesie
gehört diese Erscheinung der Epik nicht an.
Heroendichtung, von Aöden geschaffen, von Rhapsoden weitergetragen,
ist bei aller Teilnahme des Volkes ihrer Natur nach aristokratisch, nicht
erst in den Adelskreisen des homerischen oder nibelungischen Epos.
Talent auf der einen, Stolz und Macht auf der andern Seite schaffen den
Stand, die Überlieferung, die Fortbildung; wandernde Spielleute, wie jene
stiL südslawischen Blinden, verbreiten die Lieder. Eine Stiltradition bildet sich
aus, reich an formelhaften Wendungen und festen, nicht der jeweiligen
Begebenheit oder Stimmung entsprechenden Beiwörtern, der direkten Rede
hold; aber es war recht verkehrt, daß selbst Miklosich, statt nach Natur-
forscherart sein Feld zu beschreiben, mit vagen Humboldtischen Gesetzen
hantierte und, so wichtig die Analogieen sind, zwischen Hellenen und
Slawen, Germanen und Romanen gar nicht unterschied. Lehrt doch ein
flüchtiger Überblick, wie verschieden an Zahl und Ausmaß hier und dort
die Gleichnisse oder die stereotypen Verse (wobei auch die Differenz von
fortlaufenden Zeilen und Strophen mitspielt) auftreten, wie anders der
breite Stil eines russischen Ilja-Liedes den Fortgang mit gleichgültigen
Details entwickelt als bei Homer oder gar im Hildebrandsliede, Aber
diese Fragen samt der Entstehung größerer Zyklen und den als Nostos
des Odysseus, als Achilleis zum Wachstum bestimmten Epopöen liegen
außerhalb unserer Aufgabe. Wir haben hier nicht zu untersuchen, welche
Hemmnisse sowohl die Despotie als der Monotheismus dem Epos bietet,
warum trotz allen Bedingungen dazu kein Homer die Wladimir-Byliny
Rußlands oder die Marko-Balladen Serbiens in ein großes Ganzes neu-
schöpferisch geschlagen hat, worin malaiische Epik von Indien abhängt.
Auch das jüngst von Heusler so einsichtig erfaßte Problem des funda-
mentalen Unterschiedes zwischen Lied und Epos kann hier nur mit dem
Hinweis darauf gestreift werden, daß die Legende, mitten im Zeitalter
Kaiewaia. Lachmanuischer Kritik sei den Finländern ein lebendiger Homer erschienen,
Elias Lönnrot, der uralte umlaufende Lieder der „Buchbindertheorie" ge-
mäß zur harmonischen Einheit gefügt habe, vor Comparettis Richterauge
endgültig zerstoben ist. Dieser „Kalewala" ist kein wiederhergestelltes
Epos, sondern ein durch den selbstdichtenden talentvollen, national be-
geisterten Redaktor von einer Fassung zur andern willkürlich ersonnenes
und trotz seinem Mörtel in allen Fugen klaffendes Sammelprodukt aus alten
und neueren Runen, den lappischen verwandt. Sie sind der Magie des
Schamanismus entsprossen, balladenhaft, lyrisch, oft herzergreifend, aber
außer dem von Lönnrot hineingezogenen Kullerwo gestaltlos unfaßlich.
VII. Ausblick auf das Epos. 2 5
ohne Heros, ohne Hintergrund eines Heldenalters. Auf dem Boden dieser
Anschauung und Kunst konnte überhaupt kein Epos erwachsen. Steigen
wir tiefer zu den durch Schiefner verdeutschten „Heldensagen der Minus- Tataren,
sinschen Tataren", so bleibt es bei geschlossenen Einzelliedern, deren
Zusammenhang auch, nur im krassen Zauberwahn liegt. Dämonen, Menschen
ohne Individualität, Tiere wirbeln durcheinander; der nur an einer Stelle
verwundbare Held, einer der vielen Vettern Achills und Siegfrieds, streicht
schattenartig vorbei; die ungeheuersten Kämpfe und Grausamkeiten, auch
jahrelanges Saufen und Schlafen wechseln mit genrehaften Familienszenen;
Zauberei übt ihre verwandelnde Kraft; ein Inferno mit zehn Abteilungen
für bestimmte Verbrechen tut sich auf; nicht ohne Iterata („Als das Morgen-
rot hervorbrach. Auf zum Himmel stieg die Sonne") und feste Formeln
(„Also gab Kara Khan Antwort") mischt der Stil Einfaches und Absurdes,
Rührendes und Scheußliches — das Ganze hinterläßt den Eindruck eines
wüsten Traumes.
Die Großepik kann nur erblühen, wenn Großes erlebt ist; nicht im Großepik
trägen Frieden älterer Letten, geschweige denn im Einerlei des primitiven
Stammes. Sie haftet, wie schon W. Schlegel bündig bemerkt und vor-
nehmlich MüllenhofF mit allem Nachdruck ausführt, an der größten und
entscheidendsten Epoche im Leben eines Volkes: „es ist in den Zusammen-
hang der Geschichte eingetreten, und die Zeit des bloß natürlich un-
bewußten Daseins und Zustandes ist vorüber." Vorbei aber ist auch das
eigentliche Heldenalter selbst, es sei an Dschanghar oder Karl den Großen
und ihre Paladine geknüpft. Jahrhunderte mögen verstreichen, bis zwar
nicht unmittelbar aus, doch nach Liedern, die Mythisches und Geschicht-
liches verschmelzen, von dem Kunstverstand einzelner Dichter Epen ge-
schaffen und im Wandel der Zeit abgerundet werden.
Naturvölkern bleibt das versagt. Auch die große Wiegenzeit des
Epos kennt viel mehr den Wahrer als den Mehrer der Poesie, und ein
„Ich" im Anfang des Hildebrandsliedes will durchaus nicht diesem tragischen
Zweikampf den Stempel einer persönlichen Fassung aufdrücken. Wie
schon auf primitiven Stufen ein gewisses Eigentumsrecht, ohne den An-
spruch literarischer Autorschaft, aus der Gewohnheit des Vortrags er-
wächst (man denke dabei an studentischen Rundgesang), so stellt der
Rezitator sich auch in Gedanken nicht als Verfasser vor, der Spielmann
als Herold nicht des Neuen, sondern des Alten. „Die Harfe geht noch
von Hand zu Hand . . . die ganze Masse ist noch, wie ein Zug von Wander-
vögeln, in der poetischen Schwebung begriffen, und die Einzelnen fliegen
abwechelnd an der Spitze": dies schöne Bild braucht Uhland für die Epoche
der Völkerwanderung, vielleicht mit unschädlicher Übertreibung. Das ein-
leitende Bekenntnis eines finnischen Laulaja stehe daneben : „Hundert
Sprüche weiß ich . . . Meine Wissenschaft sind Lieder, meine Habe sind
Verse, von der Straße hab' ich sie aufgelesen, von den Zweigen hab' ich
sie gepflückt, von den Büschen abgestreift; da ich als Kind die Lämmer
26 Erich Schmidt: Die Anfange der Literatur und die Literatur der primitiven Völker.
auf den honigreichen Wiesen, auf den goldenen Hügehi hütete, wehte der
Wind mir Lieder zu, hunderte wiegten sich in den Lüften, kamen in Wellen
gezogen, und wie Wasser regneten Sprüche hernieder ... Es sang sie
schon mein Vater, wenn er einen Griff an die Axt machte, auch von der
Mutter lernt' ich sie, wenn sie die Spindel drehte." —
Wie die Lj'rik autonom wird und ihren Bund mit dem Gesang teils
erhält, teils löst, wie Oper, Ballett, Pantomime Schwesterkünste innig ver-
mählen, das Rededrama jedoch emanzipiert dasteht, das kann hier nicht
ausgeführt werden.
Diese Skizze hat es nur mit einer keimkräftigen Poesie zu tun, die
trotz allen Ansätzen und Trieben weder den vollen Begriff des schaffen-
den Dichters, noch das große geschlossene Sprachkunstwerk kennt. Erst
die schriftliche Fassung scheidet Vortrag und Produktion, sie erst führt
Drama und Erzählung, vollends den späten Prosaroman als das moderne
Epos, ans Ziel der Entwicklung. Mit einem Wort: die Naturvölker haben
keine Literatur.
Literatur.
Dieser Abriß verträgt keine umfänglicheren Literaturangaben, geschweige denn Über-
sichten für Völker und Stämme; auch können hier nicht all die Beispiele, die ja zum Teil
etwas Zufalliges haben, nach ihren Fundorten zitiert werden. Ich nenne, mit ein paar Er-
gänzungen, nur die Werke der im Text angeführten neueren Forscher.
LUBBOCK, Prehistoric times (zuerst 1865). Spencer, Essays (1868 u.a.). Tylor, Primi-
tive culture (1871). Posnett, Comparative literature (1886) (gleichzeitig deutsch: Inter-
nationale wissenschaftl. Bibliothek). Frazer, The golden bough, 2. Aufl. (1900). Gummere,
The beginning of poetry (1901). Dilthey, Festgaben für Zeller (1887), S. 303. Scherer,
Poetik (1888). Burdach, Zeitschrift für deutsches Altertum 27, 343. Wundt, Physiolog.
Psychologie (zuerst 1874); Völkerpsychologie (1900 f.). E. Meumann über Rhythmus in Wundts
Philos. Studien X (1894). Karl Groos, Die Spiele der Tiere (1893). Derselbe, Die Spiele
der Menschen (1899). Ernst Grosse, Die Anfänge der Kunst (1894). Bücher, Arbeit und
Rhythmus, 3. Aufl. (1902).
Sehr vieles ist zerstreut in Reisebeschreibungen, in den deutschen und ausländischen
Zeitschriften für Völkerpsychologie, Folklore, Ethnologie, Anthropologie, der Melusine, dem
Globus (1904 f. Preuss, Der Ursprung der Religion und Kunst, belesen, doch mit schiefen
Kombinationen); reich d'Ancona, La poesia popolare italiana (1878), und Böckels Ein-
leitung der ,, Deutschen A'olkslieder aus Oberhessen" (1885). Waitz und Gerland, Anthro-
pologie der Naturvölker (1859—73). FRIEDRICH MÜLLER, Allgemeine Ethnologie (1878).
Paul und Fritz Sarasin, Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen auf Ceylon, Bd. 3 : Die
Weddas (1892 f.). K. von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens (1894).
RiNK, Tales and traditions of the Eskimo (1875 u. a.).
S. II. Zur Metrik: Westphal in Kuhns Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung
9, 437; USENER, Altgriechischer Versbau (1886). — Refrain, Reim, StiUstisches : v. BIEDER-
MANN im Johannesalbum (Chemnitz, 1857), Zs. f. vgl. Literaturgeschichte 3,415; R. M. Me\'ER,
ebenda i, 34; Ehrenfeld, Studien zur Geschichte des Reims (1897).
S. 20. Zum Drama: Gondatti in den Moskauer Berichten der K. Gesellschaft für
Naturgeschichte, Anthropologie und Ethnographie, Bd. 48 (1888).
S. 22. Zum Epos: Einwände zielen besonders auf W. Wackernagel, Poetik etc. (1873)
und MiKLOSiCH, Denkschriften der Wiener Akademie, Bd. 38 (1890). — Prinzipielles: NÖL-
DEKE, Das iranische Nationalepos (Abdruck aus dem Grundriß der iranischen Philologie,
1896). — Gemeint sind ferner im Text die Arbeiten von MÜLLENHOFF (oben De antiquissima
Germanorum poesi chorica), Deutsche Altertumskunde i, 8; A. Heusler, Lied und Epos
(1905) (Ker, Epic and romance, 1892); Comparetti, Der Kalewala (deutsch, Halle, 1892);
Schiefner, Heldensagen der Minussinschen Tataren (Petersburg, 1859).
DIE ÄGYPTISCHE LITERATUR.
Von
Adolf Erman.
Einleitung. Der reiche Boden und das glückliche Klima Äg^'ptens
haben dem Volke, das das Niltal bewohnte, früh sein Dasein erleichtert
und haben ihm weit eher als den meisten anderen Völkern die Möglich-
keit gegeben, die Anfänge einer höheren Gesittung zu erreichen. In un-
vordenklichen Zeiten hat sich hier das Staatsleben entwickelt, hat die
bildende Kunst ihre ersten Schritte getan und haben die verschiedenen
Handwerke sich ausgebildet. Die wichtigste Errungenschaft des ägyptischen
Volkes aber war, daß es sich eine Schrift erschuf, zunächst eine un-
beholfene Bilderschrift, die sich dann aber bald, durch Aufnahme phone-
tischer Bestandteile, zu jenem Schriftsysteme der Hieroglyphen entwickelte,
das, so unvollkommen es uns Modernen auch erscheinen mag, für sein
eigenes Volk doch ein vortreffliches Hilfsmittel zur Fixierung der Ge-
danken war. Wie hoch der Ägypter selbst von diesem Besitze seines
Volkes dachte, zeigt sich schon darin, daß er die Erfindung der Hiero-
glyphen dem Gotte der Weisheit zuschrieb und daß er sich diesen selbst
nicht anders denken konnte, als einen gelehrten „Schreiber der Götter".
Aber auch diese Erfindung würde nicht ihren vollen Einfluß auf das Volk
haben ausüben können, wäre nicht eine andere dazugekommen, die Er-
findung des Papiers, das es sich aus dem Papyrusschilfe seiner Sümpfe
bereitete. Auf diesem herrlichen Material die Binse als Feder zu führen
und mit schwarzer und roter Tinte kalligraphische Schriftzeichen her-
zustellen, das ist zu allen Zeiten die Freude und der Stolz des Ägypters
gewesen. Schreiben zu können, ist ihm das Zeichen des gebildeten Mannes,
und das ganze Leben des Volkes wird von der Schrift beherrscht. Alles
wird aufgeschrieben und alles notiert, und wenn auch die meisten Schrift-
stücke sich natürlich auf die Bedürfnisse des Haushaltes, der Verwaltung
und des persönlichen Verkehres bezogen, so hat man die Schrift_^ doch
von alters her auch zu höheren Zwecken benutzt. Ihr verdanken die
Ägypter das geistige Leben, das bei ihnen früh erblüht ist, um nie wieder
zu verlöschen.
Einleitung. I. Die Literatur der älteren Zeit.
^ö
29
Uns, die wir heute diesem geistigen Leben und seinem Schrifttume
nachgehen wollen, ist diese Aufgabe freilich schwer gemacht, denn nur
weniges aus der Menge der ägyptischen Literatur hat sich erhalten und
auch dieses wenige hat nur der blöde äußere Zufall, der gerade dieses oder
jenes Grab vor der Zerstörung schützte, gerettet. Unser Urteil über die
äg}'ptische Literatur bleibt daher im einzelnen unsicher genug, wenn wir
auch den allgemeinen Gang ihrer Entwicklung jetzt ohne zu großes Wag-
nis darstellen können.
I. Die Literatur der älteren Zeit, Wie bei fast allen Zweigen der
ägyptischen Kultur verlieren sich auch bei der Literatur die Anfänge im
Dunkel der vorhistorischen Zeit. Daß es vor den ältesten Denkmälern,
die uns erhalten sind, schon eine ausgebildete Literatur gegeben hat, das
verrät uns die Sprache, die, soweit hinauf wir sie auch verfolgen, schon
das Gepräge einer Literatursprache trägt. Sie ist voll von festen Bildern
und poetischen Bezeichnungen, wie sie nur eine reiche Poesie ausgebildet
haben kann. Uralt ist auch die poetische Form, die die ägyptische Dich- Form der Poesie,
tung zeigt: der sogenannte Parallelismus membrorum ; er beherrscht
sie ebenso, wie er die hebräische und babylonische Poesie beherrscht,
und wo immer ein Ägypter in gehobener Rede spricht, stellt sich dieser
Parallelismus unweigerlich ein. Daneben existierte gewiß von alters her
ein Metrum; die kurzen Verszeilen, in die die Gedichte zerfallen, lassen
sich auch von uns noch- leicht erkennen, aber da wir von der ägyptischen
Sprache ja nur die Konsonanten und nicht die Vokale kennen, so ist es
unmöglich, Näheres über diese Metrik zu ermitteln. Ein beliebter Schmuck
der Rede sind endlich, und zwar schon in der ältesten Zeit, die Wortspiele
und Alliterationen.
Auch die Gegenstände der ältesten Poesie lassen sich noch leicht Älteste Poesie,
erkennen; sie feierte in Liedern den König und seine Großen, die Götter
und die vornehmen Toten. Aus dieser zweiten Gruppe ältester Dichtungen
ist uns manches erhalten, Lieder an den Sonnengott, an die Himmels-
göttin, an den Gott Osiris u. a. m.; sie sind uns bewahrt geblieben, weil
sie später für den Dienst der Toten verwendet wurden. Ihre Art mag
man aus folgender Probe ersehen, einem Gebete an den Sonnengott:
Ich verehre dich, wenn deine Schönheit mir vor Augen steht,
und wenn dein Glanz auf meinem Leibe ruht
und wenn du dahingehst bei deinem Untergang.
Die Abendbarke (der Sonne) segelt fröhlich dahin
und die Morgenbarke voll Freude.
Der du glücklich den Himmel durchfahrst
und jeden deiner Feinde (die Wolken) niederwirfst.
Die ruhelosen Sterne jauchzen dir zu
und die nicht untergehenden verehren dich.
Der du untergehst im Horizonte des Westberges,
schön als Sonne alltäglich
und lebend und bleibend als mein Herr!
.^o
Adolf Erman : Die ägA'ptische Literatur.
Volkslieder.
Erzählende
Dichtungen.
Während dieses Stück dem Durchschnitt dieser religiösen Hymnen
entspricht, schlagen andere Lieder, die die Himmelfahrt des toten Königs
verherrlichen, kräftigere Töne an:
Wer fliegt, der fliegt —
es fliegt dieser von euch fort ihr Menschen ;
er ist nicht auf Erden
er ist am Himmel
Er stürmte zum Himmel als Reiher,
er küßte den Himmel als Sperber,
er hüpfte zum Himmel als Heuschrecke.
Für die nicht relig^iöse Seite dieser Poesie besitzen wir, wie schon
gesagt, keine Beispiele von so hohem Alter, doch sind die unzähligen
späteren Verherrlichungen des Königs gewiß treue Abbilder derselben.
Neben dieser anspruchsvollen offiziellen Poesie der Hymnen hat natür-
lich auch eine L}Tik bestanden, die naiveren Gefühlen Ausdruck gab.
Aus sehr alter Zeit (erste Hälfte des dritten Jahrtausends) sind uns die
Liedchen erhalten, die der Schafhirt singt und die die Sänftenträger
singen, wenn sie ihren Herren tragen. Und aus nicht viel jüngerer Zeit
wird der Kern des merkwürdigen Trinkliedes stammen, das zum Genüsse
des Lebens ermahnt, ehe es dahinschwinde:
Die Leiber gehen dahin seit der Zeit des Gottes
und Junge kommen an ihre Stelle.
Die Sonne zeigt sich am Morgen,
und die Abendsonne geht unter im Westen,
und die Männer erzeugen,
die Weiber empfangen,
und jede Nase atmet Luft —
aber alles was sie erzeugen,
morgens geht es schon dahin.
Feiere den frohen Tag!
Setze Gesang und Musik vor dich.
Kehre allem Traurigen den Rücken
und gedenke an die Freude,
bis daß kommt jener Tag, an dem man verscheidet . . .
Auch zwei andere Teile der ägyptischen Poesie zeigen schon in
ihren ältesten Beispielen eine ausgebildete Form, die auf jahrhunderte-
lange Pflege deutet Es sind dies die erzählende Poesie und die di-
daktische.
Die Grundlage der erzählenden Poesie bilden die schlichten Märchen,
an denen das äg^-ptische Volk zu jeder Zeit seine Freude gehabt hat.
Aus den späteren Epochen der äg^'ptischen Geschichte sind sie mannig-
fach erhalten und aus der älteren Zeit kennen wir wenigstens ein Beispiel
davon, das etwa aus dem mittleren Reiche (um 2000 v. Chr.) stammt; es
sind das die wunderbaren Erlebnisse eines Seefahrers, den ein Sturm auf
eine von Schlangen bewohnte Insel geworfen hattte, einfach und naiv
I. Die Literatur der älteren Zeit.
31
erzählt und ohne Tendenz. In der Kunstdichtung der gleichen Zeit tritt
dann aber die Erzählung neben den eingestreuten Reden ganz zurück.
Selbst in demjenigen Gedichte, das keine Tendenz vertritt und rein er-
zählend sein will, in dem Leben des Sinuhe, nehmen die Reden, Briefe
und Betrachtungen für unser Gefühl einen viel zu breiten Raum ein. Nur
einzelne Szenen sind es, die uns der Dichter wirklich erzählt: wie Sinuhe
aus Ägypten entflieht und von Beduinen in der Wüste vom Verschmachten
gerettet wird; wie der Fürst des Landes Tenu ihn an seinen Hof nimmt;
wie er dort einen Helden im Zweikampf besiegt; wie der König ihm
nach langen Jahren die Heimkehr gestattet und wie er dank der Fürbitte
der Königin begnadigt wird. Zwischen diesen frischen erzählenden Partieen
aber stehen ermüdend die Teile, die dem Dichter gewiß die Hauptsache
waren: die breiten Schilderungen und die Lobpreisungen der königlichen
Herrlichkeit:
Re hat die Furcht vor dir hinter die Ebenen gesetzt und den Schrecken' vor dir in
jedes Gebirge Die Sonne geht auf nach deinem Belieben; das Wasser im Strom,
man trinkt's, wenn du willst; die Luft vom Himmel, man atmet sie, wenn du es sagst.
In anderen dieser Dichtungen dient dann die Erzählung vollends nur
noch zur Einleitung, so in der Geschichte des beredten Bauern. Seine
Esel sind ihm widerrechtlich konfisziert worden, und da er in seiner
Beschwerde gezeigt hat, wie schön er die Worte zu setzen Aveiß, so wird
seine Sache auf Befehl des Königs widerrechtlich hingezogen, damit er
noch mehr so schöne Reden halten müsse. Neun lange Klagen sind das
Resultat dieser Willkür und sie alle behandeln das Thema: „Schaffe das
Gute und vernichte das Böse — so wie Sättigung kommt, daß sie den
Hunger beendige; so wie Kleidung kommt, daß sie die Nacktheit be-
endige; so wie der Himmel ruhig wird nach einem schweren Sturm,
wenn er alle Frierenden wieder erwärmt; wie Feuer, das das Rohe
kocht; wie Wasser, das den Durst löscht."
Sehr viel tiefere Gedanken enthält das Buch, das wir als das „Ge-
spräch eines Lebensmüden mit seiner Seele" bezeichnen. Ein Unglück-
licher, der von allen verlassen ist, will seine Seele überreden, in den Tod
zu gehen; was wir von dem Buche verstehen, enthält eine erschütternde
Anklage gegen das Leben und seinen Jammer:
Der Tod steht heute vor mir,
wie wenn ein Kranker gesund wird,
wie wenn man ausgeht nach der Krankheit.
Der Tod steht heute vor mir,
wie der Geruch der Myrrhen,
wie wenn man am windigen Tage unter dem Segel sitzt.
Der Tod steht heute vor mir,
wie jemand sein Haus wiederzusehen wünscht,
wenn er viele Jahre in Gefangenschaft gewesen ist.
Kaum minder merkwürdig ist eine dritte Schrift dieser Art, die
Prophezeiungen des weisen Epu. Die erzählende Einleitung ist verloren,
:; ■> Adolf Erman : Die äg}'ptisclie Literatur.
aber was erhalten ist, zeigt, daß wir ein Beispiel jener politischen Prophetie
haben, die uns aus dem Alten Testamente vertraut ist. Eine furchtbare
Katastrophe wird über ÄgA-pten hereinbrechen und das bedrängte niedere
Volk wird über die Reichen obsiegen. Schrecklich wird die Not im
Lande sein, bis dann endlich „der Hirte für alle Menschen" kommt, „in
dessen Herzen nichts Böses ist".
Didaktische Rein didaktischen Inhalts sind diejenigen Bücher, die den Titel
Poesie ,
Unterweisungen tragen. Es sind Reden, in denen uns ein berühmter
Weiser vorgeführt wird, wie er seinem Sohne gute Ratschläge für das
Leben erteilt. Das bekannteste dieser Bücher ist die Unterweisung des
großen Königs Amenemhet I. (um 2000 v. Chr.), in deren Anfang er seinen
Sohn davor warnt, als König den Menschen zu trauen: „Liebe keinen
Bruder, kenne keinen Freund." Eine andere Unterweisung, die des Duauf,
atmet den engen Geist der Schule und ist gewiß auch für sie geschrieben.
Der Weise, der seinen Sohn zur Schule des Hofes bringt, schildert ihm
auf der Fahrt, wie elend alle Berufsarten es haben, wenn man sie ver-
gleicht mit dem höchsten Berufe, dem des gelehrten Schreibers:
Nie sah ich einen Bildhauer bei einer Gesandtschaft,
noch einen Goldschmied, wie er ausgesandt wurde.
Ich sah den Erzarbeiter bei seiner Arbeit
an der Tür seines Ofens;
seine Finger waren wie von Krokodilhaut,
und er stank mehr als Fischeier.
Ebenfalls aus den Schulen werden die Vorschriften zu korrektem Be-
nehmen und tadellosem Leben stammen, die der weise Vezier Ptahhotp
seinem Sohne vorträgt:
Wenn du verständig bist, so gründe dir einen Haushalt und liebe deine Frau. Gib
ihr zu essen und kleide ihren Rücken; die Arznei für ihren Leib ist die Salbe. Erfreue ihr
Herz, solange du lebst: sie ist ein Acker, der seinem Herrn lohnt.
Oder:
Krümme deinen Rücken vor deinem Oberhaupt, deinem Vorgesetzten vom Königs-
hause. So wird dein Haus bestehen mit seiner Habe und deine Bezahlung wird richtig
sein. Schlimm ist es, wenn der Vorgesetzte zürnt, aber man lebt, wenn er milde ist.
Da nur der Zufall über die Erhaltung der ägyptischen Literatur ent-
schieden hat, so kann man ja immer zweifeln, ob für uns nicht Dinge in
den Vordergrund treten, die in Wirklichkeit wenig Bedeutung gehabt
haben. Doch bei der eben besprochenen Literatur des mittleren Reiches
(um 2000 v. Chr.) gehen wir sicher nicht fehl, wenn wir sie als bedeutungs-
voll und als die klassische Literatur Ägyptens ansehen. Denn noch fast
ein Jahrtausend später haben die Kinder in den ägyptischen Schulen
die Unterweisung des Amenemhet, die Geschichte des Sinuhe und die
Unterweisung des Duauf abschreiben müssen, als mustergültige Werke ge-
wählten Stiles. Freilich, die einfache Schönheit, die wir an den Begriff
klassischer Poesie knüpfen, sucht man in diesen Dichtungen des mittleren
Reiches vergebens, gerade die Gesuchtheit der Sprache ist für sie cha-
n. Die Literatur des neuen Reiches. -i -i
rakteristisch. Es ist dem Ägypter jener Zeit fast unmöglich, Einfaches
einfach zu sagen, und selbst außerhalb der Literatur, in den gewöhnlichen
Grabschriften, geht es ohne Schwulst nicht ab, und niemand findet Lächer-
liches darin, wenn z. B. ein hoher Beamter sich „die Amme des Säug-
lings" und „das warme Zimmer des Frierenden" nennt.
Natürlich lebte aber im Volke daneben auch eine schlichtere Kunst Märchen,
weiter, und wir haben aus wenig späterer Zeit (etwa aus dem 17. Jahr-
hundert V, Chr.) eine Sammlung von Zaubermärchen, geschrieben in der
wirklichen Umgangssprache der Zeit und ebenso einfach und naiv, wie
jene höheren Dichtungen in altertümlicher Sprache schwülstig sind. Der
Schluß dieser Märchen führt dann übrigens auf historisches Gebiet über;
es wird uns erzählt, wie das Königsgeschlecht der Pyramidenerbauer
durch ein anderes ersetzt wurde. Diese Art, die alte Geschichte des Volkes
in Märchen umzugestalten, ist überhaupt für Ägypten charakteristisch, und
bei allem Wechsel, der in vier Jahrtausenden über das Land gekommen
ist, ist diese Gattung der Dichtung nie ausgestorben. Heut sind es die
öffentlichen Erzähler, die so die Geschichte des Sultans Bibars oder des
Helden Antar im Kaffeehaus vortragen; auch im Altertum werden es ähn-
liche Volkserzähler gewesen sein, die mit diesen Märchen ein leicht
befriedigtes Publikum erfreuten.
Neben der Poesie, die wir bisher besprochen haben, ist ein pro- wissenschaft-
saisches Schrifttum einhergegangen, doch ist unsere Kenntnis des-
selben sehr unvollkommen. Es ist uns nichts von historischen Schriften
erhalten und nichts von grammatischen und nichts von Gesetzen, ob-
gleich sich doch kaum zweifeln läßt, daß sie alle existiert haben. Desto
besser kennen wir die medizinische Literatur, die zum Teil in sehr
alte Zeit hinaufreicht. Zum größten Teil besteht sie nur aus trockenen
Rezeptsammlungen, doch finden sich auch zwei kleine Schriftchen theo-
retischen Inhaltes, und gerade diese scheinen uralte und berühmte Stücke
zu sein. An die medizinische Literatur sciiließt sich dann die umfangreiche
Zauberliteratur, die auch zu praktischen Zwecken bestimmt war. Einige
ihrer Sprüche haben eine poetische Form und atmen einen frischen Geist,
die Mehrzahl aber sind von erschreckender Eintönigkeit und Inhaltlosig-
keit. Das gleiche gilt von der großen Menge der Totentexte, jener alten
Sprüche, die den Verstorbenen zum Heile gereichten, und von den Ritualen
und den anderen religiösen Texten.
IL Die Literatur des neuen Reiches. Aus den Jahrhunderten,
die diese älteren Epochen des ägyptischen Volkes von der Periode des
sogenannten neuen Reiches trennen, fehlt uns fast jede Kenntnis der
Literatur, und erst um das Jahr 1500 v. Chr. tritt sie uns wieder entgegen,
in einer gänzlich veränderten Zeit und unter einem gänzlich veränderten
Volke. Aus dem alten Ägypten, das nur sich selbst gekannt hatte, war
ein Staat geworden, der über Palästina und über Nubien gebot; Reichtum
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 3
:> 1 Adolf Erman: Die ägyptische Literatur.
und Macht waren in das Land gezogen und ein neuer frischer Geist ging
durch das Volk. Viele seiner Gewohnheiten änderten sich jetzt, und mit
ihnen änderte sich auch die Sprache seiner Literatur. Hatte man bis
dahin für die höhere Literatur ausschließlich an einem alten längst ver-
Die Volks- klungenen Idiom festgehalten, so ward jetzt die lingua volgare literatur-
^^ Literamr. ^"^ fähig. Natürlich hat sich dieser Umschwung nicht mit einem Male voll-
zogen; unter Thutmosis IIL (um 1500 v. Chr.) forderte man für die offizielle
Poesie noch die alte Sprache; ein Jahrhundert später, unter Amenophis IV.,
ward das Lied seines neuen Glaubens schon in der Volkssprache gedichtet,
und um 1200 v. Chr. herrschte das neue Idiom sogar in den Inschriften
der Tempel, soweit sie nicht alte Texte wiedergaben.
Und es war nicht nur eine neue Sprache, sondern auch ein neuer
Geist, der in dieser Epoche in die ägyptische Literatur einzog. Nicht
mehr nach dem alten Schema früherer Jahrhunderte, sondern unbefangen
ReUgiöseLieder. und mit eigenen Augen sah man jetzt die Welt an. Merkwürdig tritt uns
dies in der religiösen Poesie entgegen: wie frisch und lebendig weiß der
Sänger des großen Teil Amarnahymnus die Wohltaten der Sonne zu schil-
dern, und wie versteht er es, mit kleinen Zügen wirkliches Leben in diese
Schilderungen hineinzubringen:
Gehst du unter im westlichen Horizonte, so ist die Erde finster, als wäre sie tot. Sie
schlafen in den ;Kammern verhüllt, und ^ kein Auge sieht ;das andere. Wenn man ihre
Habe stähle, die unter ihrem Kopfe liegt, sie würden es nicht merken.
Jeder Löwe kommt aus seiner Höhle heraus und alles Gewürm beißt .... die Erde
schweigt; der sie schuf, ruht in seinem Horizonte.
Frühmorgens gehst du im' Horizonte auf und leuchtest als Sonne am Tage. Die
Finsternis flieht, wenn du deine Strahlen spendest.
Die Bewohner Ägyptens sind fröhlich, sie erwachen und stehen auf ihren Füßen, wenn
du sie erweckt hast. Sie waschen ihren Leib und greifen nach ihren Kleidern. Sie erheben
ihre Hände, dich zu preisen, weil du aufgehst. Das ganze Land tut seine Arbeit.
Alles Vieh ist zufrieden auf seiner Weide. Die Bäume und Kräuter grünen, die Vögel
flattern in ihren Nestern, und ihre Flügel preisen dich. Alles Kleinvieh hüpft auf seinen
Füßen; alle, die fliegen und flattern, leben, wenn du aufgehst.
Die Schiffe fahren hinab und ebenso hinauf; jeder Weg steht offen, wenn du aufgehst.
Die Fische im Strom springen vor deinem Antlitz, deine Strahlen dringen in das
Irmere des Meeres.
Welch ein Unterschied gegenüber der alten religiösen Poesie. Und
es ist nicht nur die Poesie der Ketzer von Teil Amarna, die in diesem Tone
gehalten ist, auch die Hymnen des triumphierenden alten Glaubens tragen
dasselbe Gepräge. Ein Amonshymnus malt uns aus, wie dieser Gott für
alle Wesen sorgt:
Er macht, wovon die Mäuse leben und ebenso die Würmer und Flöhe; er macht, was
die Mäuse in ihren Löchern brauchen, und ernährt die Vögel auf allen Bäumen.
Ein anderes Lied preist Amon als den guten Hirten der Menschen
oder als den Mastbaum, der den Winden trotzt, oder als den Piloten, der
die Untiefen kennt und „nach dem man sich auf dem Wasser sehnt". Und
den Gott der Weisheit Thoth preist der Dichter als einen Fruchtbaum
II. Die Literatur des neuen Reiches, ^e
voller Früchte, oder als den „süßen Brunnen der Wüste". Der mytho-
logische Aufputz der alten Hymnen verschwindet in dieser Poesie oft ganz,
und die eigenen Gedanken und Gefühle des Dichters scheuen sich nicht
hervorzutreten.
Bei der Machtstellung, die die Pharaonen dieser Zeit besessen haben, Lieder auf den
kann es nicht wundernehmen, daß auch die Poesie zum Preise des König- °'"*^'
tumes lebhaft aufblühte. Zunächst bewegte sie sich noch in der gewohnten
Bahn. So z. B. in dem bekannten Liede auf Thutmosis III., das auch durch
seinen strengen Strophenbau werkwürdig ist. So spricht Amon zum Könige:
Ich komme und lasse dich die Fürsten von Palästina zertreten,
ich breite sie unter deinen Füßen aus in ihren Ländern.
Ich zeige ihnen deine Majestät als den Herren des Lichtes (die Sonne),
wenn du vor ihnen als mein Ebenbild leuchtest.
Ich komme und lasse dich die Asiaten zertreten,
du schlägst die Köpfe der Beduinen Syriens.
Ich zeige ihnen deine Majestät in deinem Schmucke gerüstet,
wenn du die Waffen ergreifst und zu Wagen kämpfest.
In den nächsten Generationen ändert sich dann auch hier der Ton,
und wir begegnen Hymnen zum Preise des Königs, die nicht minder
frisch sind als die gleichzeitigen religiösen Lieder. Da ist der König:
ein starker Löwe, wenn er kommt und wiederkommt [und brüllt;^ der seine Stimme
im Tal des Wildes ausstößt;
ein hurtiger Schakal, wenn er nach dem sucht, der ihn antastet; der den Umkreis
der Erde im Augenblick umläuft;
ein starker Herrscher, wenn er zerstört, die sich nicht um ihn kümmerten; gleich
einem Sturm, der auf dem Ozean heult, wenn seine Wellen wie Berge fallen wer
in ihm ist, ertrinkt in der Tiefe.
Die Einzelheiten, die wir in solchen Lobpreisungen des Königs ungern Episches,
vermissen, suchen wir auch dann da vergebens, wo sie notwendig hingehören,
in den epischen Dichtungen des neuen Reiches. Das berühmteste Bei-
spiel dieser Poesie, das große Gedicht auf die Schlacht bei Kadesch, er-
zählt des Tatsächlichen nur wenig und gibt uns dafür desto mehr von den
Reden des Königs und seines himmlischen Beistandes, des Amon. Man
hat das Gefühl, als schäme sich dieser Dichter auf den Boden der wirk-
lichen Welt zu treten, geradeso wie die Künstler der großen Schlachten-
bilder der Zeit es ja auch vermeiden, das ägyptische Heer darzustellen
und es durch die eine Riesengestalt des kämpfenden Pharao ersetzen.
Nicht wie der König sich aus der Umzingelung der Feinde herausschlägt,
wird uns erzählt, sondern nachdem er zu Amon gebetet hat, da „merkt
er, daß die 2500 Gespanne, in deren Mitte er war, zu Stücken gehauen
vor seinen Pferden liegen. Keiner von ihnen hat seine Hand gefunden,
um zu kämpfen; ihr Herz ist matt geworden in ihrem Leibe, ihre Arme
sind schlaff und sie können nicht schießen".
Noch weniger Tatsächliches enthalten die ähnlichen Dichtungen auf
die Taten Ramses' III. (um 1200 v.Chr.), die im Tempel von Medinet Habu
3*
5 5 Adolf Erman: Die ägyptische Literatur.
erhalten sind; dafür ist aber in ihnen die Vulgärsprache zur glänzendsten
Üppigkeit entwickelt. Diese Entwicklung der Volkssprache wäre nun nicht
Liebeslieder, denkbar, Wenn nicht in ihr eine weit reichere Poesie existiert hätte, als
uns heute erhalten ist, und zwar eine Poesie, die nicht nur auf Götter und
Könige beschränkt war. Und in der Tat besitzen wir mehrere Proben
weltlicher Lyrik, Liebeslieder, die, soweit wir sie verstehen, noch immer
zu den besseren gehören, die der Orient hervorgebracht hat. Da trennt
das Wasser die Liebenden:
Die Liebe meiner Schwester ist auf jener Seite des Stromes das Krokodil liegt
auf der Sandbank und ich steige ins Wasser und trete auf die Flut Das Wasser
ist wie Land für meine Füße durch ihre Liebe, die mich stark macht. Ja, sie macht mir
einen Zauber, wenn ich sehe, wie meine Schwester kommt. Mein Herz jauchzt und meine
Arme öffnen sich, sie zu empfangen ; mein Herz ist froh wenn die Herrin zu mir kommt.
Schalliteratur. Auch die Stätten, die vor allem die Bewahrer des alten Herkommens
waren, die Schulen, konnten sich dem Einfluß der neuen Literatur nicht
entziehen. Noch lernten die Knaben an den Werken der klassischen Zeit
das Lesen und das Schreiben, daneben gab man ihnen aber auch schon
die modernen Dichtungen zum Abschreiben, und neben die alten Weis-
heitsbücher traten neue, die vielfach in ganz anderem Tone gehalten
waren. In der „Unterweisung des Anii" ist zwar noch die alte Form bei-
behalten, daß ein Weiser seinem Sohne gute Lehren erteilt, aber der Geist
dieser Lehren ist ein frischerer geworden und die einzelnen Sprüche sind
ungleich lebendiger als in den alten Büchern. Besonders beliebt ist weiter
die „briefliche Unterweisung", ein fingierter Briefwechsel zwischen Lehrer
und Schüler, der die Studien empfiehlt und vor faulem und liederlichem
Lebenswandel warnt:
Man bringt dir diesen Brief:
du Schreiber sei nicht müßig,
oder man wird dich ordentlich züchtigen;
setze dein Herz nicht hinter die Vergnügungen,
oder du wirst zugrunde gehen.
Nimm die Bücher in die Hand, lies mit deinem Munde,
berate dich mit solchen, die gelehrter sind als du.
Andere dieser Briefe sollen den Schüler in die Feinheiten des Brief-
stiles einführen und ihm zeigen, wie schön ein gebildeter Mann auch den
gleichgültigsten Geschäfts- und Gratulationsbrief gestalten könne. Diese
Sorge um die elegante Form tritt uns aber nicht nur in diesen Muster-
briefen entgegen, sondern bildet auch den Gegenstand eines längeren
Streitschrift. Buches, der merkwürdigen literarischen Streitschrift, die wir aus Ermange-
lung eines anderen Namens den „Papyrus Ana.stasi I." nennen. Zwei ge-
lehrte Schreiber liegen in Fehde miteinander, und der eine, der Verfasser
des Buches, sendet dem andern ein langes Sendschreiben zu, das ein Buch
seines Gegners parodiert; es verhöhnt die Taten, die jener in Krieg und
Frieden vollbracht haben will, und verspottet seinen eleganten unverständ-
lichen Stil.
III. Die späteste Literatur. 2«t
Während unter den Gebildeten sich so ein literarisches Treiben regte, Märchen,
hatte das Volk nach wie vor seine Freude an seinen Märchen. Das eine
geht auf ein historisches Ereignis zurück und erzählt schon eine Tat
Thutmosis III., die doch noch nicht weit zurücklag, mit legendenhaften
Ausschmückungen. Ein anderes, die wunderlich verworrene Geschichte
von den zwei Brüdern, fußt offenbar auf alten Göttersagen. Und wieder
ein anderes behandelt eines jener Motive, die in den Märchen aller Völker
wiederkehren, den Prinzen, dem prophezeit ist, wie er sterben wird, und
den sein Geschick dann auch trotz aller Vorsicht ereilt.
Diese Märchen sind fast das einzige, was uns an prosaischer Literatur Prosaisches,
aus dem neuen Reiche erhalten ist, denn von wissenschaftlichen Schriften
dieser Epoche liegt uns wieder so gut wie nichts vor. Ein Wörterbuch
in systematischer Ordnung zum Gebrauche der Schulen, ein Handbuch
für die Tagewählerei und allerlei Sammlungen von Zaubersprüchen sind
das einzige, was hier zu nennen wäre.
III. Die späteste Literatur. Man kann nicht zweifeln, daß die hier
geschilderte Literatur auch nach dem neuen Reiche noch weiter gelebt
hat, aber ihre weiteren Schicksale entziehen sich unseren Blicken; nur
das sehen wir, daß bis in das zehnte Jahrhundert hinein die Volkssprache
des neuen Reiches noch in der Geltung bleibt, so lange, bis auch sie
wieder ein Idiom geworden ist, das der Schüler erst in der Schule zu
erlernen hat. Allmählich greifen dann die offiziellen Texte wieder auf
das Altägyptische zurück, das ja als die Sprache der Götter und der Ur-
zeit etwas Heiliges war, für das gewöhnliche Leben aber benutzt man
die jüngste Form der ägyptischen Umgangssprache, die wir das Demo-
tische zu nennen pflegen. Auch in dieser Sprache und in dieser Schrift
hat sich dann allmählich eine Literatur entwickelt, die bis in die römische Demotische
Literatur.
Zeit hinein bestanden hat. Leider ist aber unser Verständnis dieser Texte
noch so unvollkommen, daß wir ihnen vielfach ratlos gegenüberstehen.
Was wir erkennen, sind wieder Märchen, die historische Ereignisse aus-
spinnen, wie die merkwürdige Geschichte der Bürg^erkriege zur Zeit des
Königs Petubastis oder wie die Geschichte von dem Lamm, das den Ein-
fall der Assyrer weissagte. Zwei andere behandeln die wunderbaren Er-
lebnisse eines Sohnes Ramses' IL, der Hoherpriester zu Memphis und ein
großer Zauberer war. Auch eine Prophezeiung politischen Inhalts und
Weisheitssprüche der alten Art haben sich gefunden. Alles in allem ge-
winnt man daraus den Eindruck, als habe diese demotische Literatur nur
den alten Faden weiter gesponnen. Sie dürfte ferner neben der Literatur
der griechischen Landesherren einen schweren Stand gehabt haben, und je
mehr sich die griechische Bildung unter den höheren vStänden verbreitete,
desto mehr wird auch das einheimische Schrifttum zu einer Volksliteratur
herabgesunken sein. Dabei wird es selbst den Einfluß der griechischen
Volksdichtung erfahren haben, wie denn in der Tat in eines dieser demo-
^8 Adolf Ermaj^: Die ägyptische Literatur.
tischen Bücher die äsopische Fabel vom Löwen und der Maus hinein-
gewebt ist Noch im dritten Jahrhundert n, Chr. hat man in den nicht
gebildeten Schichten des Volkes demotische Märchen gelesen, dann hat
das Christentum auch diese Literatur ertötet und hat eine neue in der
jüngsten Volkssprache, dem Koptischen, hervorgerufen. Diese hängt schon
von dem griechisch-christlichen Schrifttume ab und hat mit der ägyptischen
Literatur kaum noch etwas zu tun.
IV, Einfluß der ägyptischen Literatur. Ein geistiges Leben, das
so viele Jahrhunderte hindurch in einem Lande geblüht hat, wird auch auf die
anderen Nationen, die mit diesem in Verkehr standen, seinen Einfluß aus-
geübt haben. Nicht nur das ägyptische Handwerk und nicht nur die ägyp-
tische Kunst werden nach Palästina und Syrien gewandert sein, auch so
manches aus der ägyptischen Gedankenwelt und der ägyptischen Poesie
wird die gleiche Straße gezogen sein. Aber so sicher man dies auch
annehmen kann, so schwer ist es, es im einzelnen nachzuweisen. Denn
von den Liedern und von der Literatur des zweiten Jahrtausends v. Chr.,
die diesen Einfluß zeigen würden, ist in keinem dieser Länder etwas auf
uns gekommen. Das Alteste, was wir noch zum Vergleiche heranziehen
können, ist immer noch das Alte Testament, und in diesem findet sich
in der Tat einzelnes, was in Form und Ton an die Literatur des neuen
Reiches erinnert. Das gilt z. B. von manchen Psalmen, die an die reli-
giösen Lieder erinnern, von denen wir oben (S. 34) gesprochen haben.
Ebenso klingt einzelnes in der hebräischen Weisheitsliteratur an die
„Unterweisung des Anii" an, und endlich mag es auch kein Zufall sein,
daß der Ton des Hohen Liedes im ganzen der gleiche ist wie der der
Liebeslieder des neuen Reiches. Aber mehr als Spuren sind dies alles
nicht. Vollends nach der griechischen Seite hin ist nichts anzuführen als
die Tatsache, daß sich mindestens ein Rezept aus dem Medizinschatz der
Ägypter in der älteren griechischen Medizin wiederfindet.
In der römischen Zeit wird wohl manches aus den demotischen
Schriften in die griechische Volksliteratur Ägyptens Einlaß gefunden
haben; aber selbst wenn es von dort aus weiter gewandert sein sollte, so
ist dieser Austausch doch eben nur in den tiefsten Schichten der Literatur
vor sich gegangen und ist daher für die allgemeine Kultur der alten
Welt ohne Wirkung geblieben.
Literatur.
Das Verdienst, die literarischen Papyrus erschlossen zu haben, gebührt in erster Linie
dem Franzosen FRANgoiS Chabas und dem Engländer C. W. Goodwin. Ihre genialen Über-
setzungsversuche, die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienen sind,
haben die Grundlagen für alle späteren Arbeiten gebildet.
Versuch, die Literaturgeschichte zu skizzieren: Erman, Ägypten und ägyptisches Leben
(1887), Kap. 15 — unten zitiert als E. Äg.
Sammlungen von Übersetzungen : IVIaspero, Les Contes populaires de l'Egypte ancienne,
3. Aufl. (1905) — unten zitiert als M. Petrie, Egyptian Tales translated from the papyrus
(1895) — unten zitiert als P. Erman und Krebs, Aus den Papyrus der königlichen Museen
(1899) — unten zitiert als E.
Belege für einzelnes:
Alte religiöse Lieder: die Proben aus Totenbuch Kap. 15 und Pyramidentexte Kap. 248.
Trinklied: Stern, Äg. Ztschr. 1873; Maspero, Etudes egyptiennes S. 172 ff.; E. Äg. 516.
Ältere erzählende Dichtung: das von Golenischeff 1880 übersetzte Schiffermärchen:
P. 81; M. 135.
Geschichte des Sinuhe: E. I4ff. ; P. 96; M. 94.
Geschichte des beredten Bauern: E. 46; P. 61; M. 23'
Gespräch des Lebensmüden : E. 54.
Prophezeiungen des Epu: Lange, Sitzungsber. der Berl. Akad. 1903, 601.
Unterweisung des Amenemhet: E. 43.
Unterweisung des Duauf : MasperO, du genre epistolaire (1872) S. 49.
Zaubermärchen: E. 30; P. 9; M. 51.
Teil Amarnahymnus : Erman, Die ägyptische Religion (1905) S. 67.
Andere religiöse Lieder: ebd. S. 62; 84 ff.
Lieder auf die Könige: E. 523.
Gedicht auf die Schlacht bei Kadesch: E. Äg. 525.
Liebeslieder: W. M. MÜLLER, Die Liebespoesie der alten Ägypter (Leipzig, 1899).
SchuUiteratur : Maspero, genre epistolaire S. 24ff. ; E. 443 ff.
Unterweisung des Anii: Chabas, l'Egyptologie (Paris, 1876 — 1878).
Anastasi I: E. Äg. 508; Chabas, Voyage d'un Egyptien en Syrie (Paris, 1866).
Märchen des neuen Reiches: M. 147; E. 5 = M. 505; E. 502 = M. 228.
Demotische Märchen: Krall, Wiener Ztschr. f. d. Kunde des Morgenlandes XVII;
derselbe, Vom König Bokchoris (Festgaben für Büdinger 1898); Griffith, Stories of the
highpriests of Memphis (1900).
DIE BABYLONISCH-ASSYRISCHE LITERATUR.
Von
Carl Bezold.
Einleitung. Die Anfange der babylonisch -assyrischen Literatur
stehen an der Schwelle der archäologischen Forschung; sie stellen im
Verein mit den frühesten Aufzeichnungen der Niltalbewohner die ältesten
bekannten Schriftdenkmäler des Menschengeschlechtes dar. Aber eine
weite Kluft trennt diese noch jetzt erhaltenen Dokumente von der asia-
tischen Urzeit und der ersten Entwicklungsperiode dortiger Kultur. Es
sprechen Gründe dafür, daß das älteste Volk, das durch die jetzt ent-
zifferten Inschriften in Westasien bekannt ist, die Sumerer, dort nicht
autochthon war, sondern in prähistorischer Zeit aus Innerasien, vermutlich
in langsam vordringenden Völkergeschieben, eingewandert ist. Früher
oder später ist dieser Volksstamm der Sumerer der großen, gleichfalls
noch prähistorischen semitischen Völkerwanderung zum Opfer gefallen.
Die späteren Babylonier-Assyrer, ein Zweig der Ursemiten, haben ver-
mutlich den Sumerern ihre Wohnsitze in heißen Kämpfen abgerungen;
sicher haben sie deren Bestes, eine weitentwickelte Kultur, sich zu eigen
gemacht. Ackerbau und Viehzucht, Vogel- und Fischfang, Pelzkleidung
und Hausbau sind die notwendigen Voraussetzungen dieser Kulturent-
wicklung, die in einem durchgebildeten, äußerst komplizierten Schrift-
system, in der festen Form religiöser Anschauungen und Kulthandlungen
und in der künstlerischen Vollendung statuarischer Arbeiten gipfelte.
Mit der Übernahme dieser Kultur der Sumerer durch die Babylonier-
Assyrer war letzteren die Entwicklung auch ihrer Literatur vorgezeichnet.
Wahrung und Hut ererbten Besitztums drängte originelles Schaffen zurück.
Dagegen führte die Heilighaltung der übernommenen Religion und ihrer
schriftlichen Zeugnisse zur Wertschätzung und Hochachtung einer unver-
fälschten Überlieferung. Zweisprachigkeit der gelehrten Bildung erzeugte
eine reiche Übersetzungsliteratur, lehrte die genaue Beobachtung der
eigenen Sprache und begünstigte die schulmäßige Tradition. Gerade die
letztere aber scheint bei den Babyloniem-Assyrern in schablonenhafter
Beengung, mit deutlichem Streben nach zielbewußter Regelmäßigkeit, alle
Einleitung. I. Die ältere babylonisch-assyrische Literatur. a i
freiere Entfaltung literarischen Schaffens gehemmt zu haben. Denn den
gewaltigen Schritt von den Aufschriften als Beiwerk für Kunsterzeugnisse
zu den eigentlichen Inschriften mit bewußtem Selbstzweck hatten schon
die Sumerer zurückgelegt. Freilich erwuchsen dann in Babylonien-
Assyrien alle Literaturzweige mit Ausnahme des Dramas und einer musi-
kalischen Literatur. Aber fast alle Früchte dieser Zweige sind nur von
Reinstofflichem erfüllt. Die sprachliche Beobachtung entbehrt der wirk-
lichen Methode; die historische Aufzeichnung reicht auch nicht an den
Anfang der Geschichtswissenschaft heran. Die Namen eigentlicher Schrift-
steller sind nirgends überliefert. Dadurch mangelt ein wertvoller, ander-
wärts fast selbstverständlich scheinender Maßstab zur Schätzung jener
Geistesprodukte. Auch eine Nationalliteratur im eigentlichen Sinne des
Wortes haben die Babylonier-Assyrer nie geschaffen. Formelhafter Sche-
matismus und zunehmende Verkünstelung alles Schrifttums sind jetzt fast
die einzigen augenfälligen Merkmale für die Weiterbildung ihrer litera-
rischen Tätigkeit.
Indessen gründet sich dieses Urteil auf einen durch den bisherigen
Verlauf der Ausgrabungen in Westasien und durch die Lückenhaftigkeit
des zutage geförderten und allgemein zugänglichen Materials nur allzu
unebenen Boden. Die literarisch bedeutsamsten Fundstücke sind in äußerst
fragmentarischem Zustande erhalten. Aus den Ruinenstätten ist erst eine
einzige systematisch angelegte Bibliothek geborgen. Und gerade die
wichtigsten Pfunde der letzten Jahre tragen zu unverkennbar den Stempel
der Zufälligkeit, als daß daraus Schlüsse auf den relativen Wert des Vor-
handenen im Vergleich zu dem noch zu Erhoffenden gezogen werden dürften.
Dazu kommt, daß das erhaltene Schreibmaterial, Stein und besonders Ton,
und die polyphone Schrift der Denkmäler jene literarischen Aufzeich-
nungen außerordentlich erschwerten, die naturgemäß den vornehmsten und
gelehrtesten Mitgliedern der Gesellschaft vorbehalten blieben. Aus einer
rohen Bilderschrift entwickelten sich schon in der sumerischen Zeit Wort-
und Silbenzeichen in Strichform, die nachmals, als der Ton das über-
wiegende Schreibmaterial ward, zu der sogenannten Keilschrift umgebildet
wurden. Weiches, biegsames Schreibmaterial pflanzlicher Natur kam da-
neben sicher in Gebrauch; was es der Nachwelt zu übermitteln bestimmt
war, scheint für immer verloren zu sein.
I. Die ältere babylonisch-assyrische Literatur (2200 — 650). Be-
sonders der häufige Gebrauch der Wortzeichen und die lapidare Kürze
der ältesten Inschriften verhindern nicht selten die reinliche Scheidung
spätsumerischer von den frühesten babylonischen Dokumenten. In beiden
Sprachen handelt es sich bei den ältesten Aufzeichnungen meist um Weih-
bzw. Bauinschriften, in deren wenigen Zeilen die Stadtgottheit des je-
weiligen Gebietes der alten Feudalherrscher, sogenannter Priesterkönige,
verherrlicht wurde. Die älteste literarische Überlieferung steht im Dienste
42
Carl Bezold: Die babylonisch-assjrische Literatur.
der Relig-ion und der religiösen Kunst. Historisch bedeutsame Ereignisse
wurden zunächst in künstlerischen Darstellungen festgehalten. Die Geier-
stele aus dem Zeitalter des sumerischen Fürsten Gudea (ca. 4000) erzählt
von der Bestattung der in der Schlacht gefallenen Krieger, ein Denkmal
Narämsins (ca. 3750) von einem Sieg seiner Truppen über den König von
Elam. Xur die offiziellen Titel, die sich jene Priesterfürsten in ihren
Kultinschriften beilegten, berichten über die Ausdehnung ihrer Macht-
sphäre und ihre jeweilige Hegemonie über mehrere sakrale Metropolen.
Chammurabi Erst mit Chammurabi, dem ältesten Herrscher Gesamtbabyloniens
(ca. 2200), beginnen die schöpf baren Quellen in babylonisch- assyrischer
Sprache zu fließen, die sich im Lauf der Jahrhunderte zu einem ansehn-
lichen Strom verbreiterten. Vier Arten der literarischen Aufzeichnung
setzen mit der Dynastie von Babylon, der Chammurabi angehörte, zugleich
ein: sie sind die charakteristischen Merkmale aller älteren babylonisch-
assyrischen Literatur, die sich dadurch von dem „wissenschaftlichen" In-
halt der Bibliothek Asurbanipals und ihrer späteren Kopien scharf abhebt.
I. Historische Neben den Kult- und Bauinschriften entstehen die historischen Auf-
zeichnungen. Sie treten zunächst als kurze chronikartige Notizen auf, die
von Jahr zu Jahr fortgeführt wurden. Die Chronologie vermitteln in den
ältesten Zeiten wichtige Ereignisse, nach denen die Jahre zählten. An die
Stelle dieser Rechnung trat schon früh die Zählung nach den Regierungs-
jahren der Herrscher, bzw. der Eponymen, die an deren Statt dem Jahre
den Namen gaben. Dadurch erklärt sich die annalistische Natur dieser
Dokumente, die in der Wiedergabe von ReinstofFHchem bis tief herein
ins Assyrische Weltreich ihren monotonen Charakter bewahren. Daneben
bekunden sich allerdings schon von Tiglatpilesers I. Zeit an (ca. iioo
v, Chr.) Ansätze zu einer eigenen Kunstform der Geschichtschreibung.
Die Erzählung der Raub- und Kriegszüge der Herrscher, ihrer Bewältigung
von Meutereien, ihrer Bauten und Kulthandlungen wird eingerahmt von
einem längeren Anfang- und Schlußgebet zu den großen Landesgottheiten.
Eingestreute Aufzählungen von Titeln und Attributen der selbstherrlichen
Könige, auf deren Befehl die Inschriften verfaßt wurden, betonen das
persönliche Moment ihrer Kriegsgeschichte. An die Stelle der anna-
listischen Berichte treten die Prunkinschriften mit reicherem Beiwerk über
die Beschwerden der Feldzüge, die Schrecken der Belagerung, die grau-
samen Martern der Besiegten, die Kostbarkeiten des erzwungenen Tributs.
Die x\lltagsprosa weicht der höheren Sprache. Detailberichte werden ge-
fordert und aus konzeptartigen Niederschriften ergänzt, um für die Bei-
schriften der die Siege verewigenden Basreliefs als Grundlage zu dienen.
2. Briefliteratur. Ungefähr gleichzeitig mit der Historiographie ist die Entwicklung der
Brieftechnik bezeugt. Gerade Chammurabis folgenschwerste Regierungs-
handlungen sind aus seiner umfangreichen Korrespondenz mit einem
seiner Vasallen bekannt. Besonders begünstigend muß auf die epistolare
babylonische Literatur das Abhängigkeitsverhältnis gewirkt haben, in das
II. Die Literatur aus Ninive (um 650 v. Chr.). a-i
Vorderasien im 15. Jahrliundert v. Chr. zu Ägypten trat. Die 350 zu Tell-
el-Amarna (zwischen Memphis und Theben) gefundenen Keilschriftbriefe
aus Jerusalem und vielen Nachbarstädten an den Hof des Pharao sind
unschätzbare Zeugnisse für die Ausbildung dieses Briefstils. Bis in die
spätassyrische Zeit vermittelten Korrespondenzen an den König, seine
nächsten Verwandten und höchsten Würdenträger die Nachrichten von
politischen und militärischen Vorkommnissen, von staatlichen Bauunter-
nehmungen, religiösen Zeremonieen und mitunter von privaten Angelegen-
heiten, Wünschen und Bitten. Die Kürze der eigentlichen Mitteilungen
steht häufig in umgekehrtem Verhältnis zu der Begrüßungs- und Segens-
formel, die nach dem Rang und Ansehen der Schreibenden wechselt. Die
einfachsten Eingangsworte der ältesten Zeit wurden später zum Vorrecht
gekrönter Häupter.
Kurze Lieferungsurkunden mit Aufgabe des eigentlichen Briefstils 3. vertrags-
können als Übergangsform zu den kommerziellen Inschriften gelten, die
gleichfalls seit der babylonischen Dynastie bekannt sind. Babylonien-
Assyrien ist ein Land der Verträge, des Verkehrslebens und Handels.
Zehntausende von Urkunden dieser Art vom Ende des dritten Jahrtausends
bis kurz vor Christo harren der Übersetzung und Bearbeitung. Uralte,
in die sumerische Zeit zurückreichende P'ormeln, genaue Terminologie,
Zeugenunterschriften, sorgfältige Datierung und Siegelung sind charakte-
ristisch für die vielfach in duplo ausgefertigten Dokumente. Kauf und
Tausch, Miete und Pfand, Darlehn und Schenkung sind protokollarisch
gebucht und weisen mit Notwendigkeit auf die Entwicklung eines urkund-
lich gepflegten Rechtswesens bei den Babyloniern-Assyrern.
Die genauere Erkenntnis dieser Rechtspflege wurde vermittelt durch 4- Babylonische
Cj6 setze
die jüngst entdeckten Gesetze aus der Zeit Chammurabis, die vierte der
älteren Literaturg^attungen Babyloniens. Wie weit sich das Gesetzbuch
Chammurabis auf dem in Susa gefundenen Dioritblock, das der König
vom Sonnengott inspiriert empfangen haben und als sein Werk betrachtet
wissen will, an ältere, sumerische Aufzeichnungen anschließt, läßt sich
jetzt nicht entscheiden. Sicher w^ar das systematisch redigierte Werk,
oder waren Teile davon jahrhundertelang in Geltung. Es steht als fer-
tiges Ganze da. Von späteren Zusätzen oder von einer Bestreitung seiner
Gültigkeit im langen Verlauf des babylonisch -assyrischen Weltreichs ist
nichts bekannt. Der ausgezeichnete Zustand der erhaltenen Paragraphen
zeigt eine knappe, grammatisch merkwürdig reine, folgerichtige Aus-
drucksweise mit stabilen juristischen Formeln. Eine „späte" Schöpfung
am Ende einer langen Entwicklungsperiode aus dem zweiundzwanzigsten
Jahrhundert !
IL Die Literatur aus Ninive (um 650 v. Chr.). Es hängt augen-
scheinlich mit der Beschränkung der bisherigen Ausgrabungen zusammen,
wenn sich die babylonisch-assyrische Literatur bis herein ins siebente
44 Carl Bezold: Die babylonisch-assyrische Literatur.
Jahrhundert v. Chr. ledigUch in den vier Phasen der Geschichtschreibung,
der Brieftechnik, der kommerziellen Urkunden und des Gesetzbuches Cham-
murabis zu bewegen scheint. Schon der im folgenden zu besprechende
Charakter der Bibliothek Asurbanipals zeigt, daß damit die Summe schrift-
licher Überlieferung auch in früherer Zeit nicht erschöpft war. Tauchen
doch auch hier und dort schon jetzt versprengte Reste anderer Literatur-
gattungen auf: das Bruchstück eines Sintflutberichts, das vor 2000 anzu-
setzen ist; altbabylonische Legenden aus der Amarnazeit; Gebete und
Hymnen; vereinzelte Omentexte, vielleicht auch ein oder das andere Syl-
labar. Wir dürfen hoffen, die verschütteten Quellen zum Wiederfließen zu
bringen.
Philologische Nach dem heutigen Stand der Forschung bedeutet aber dem Literar-
Aufzeichnungen. *-'
historiker Asurbanipals Zeit (668 — 626 v. Chr.) eine neue, eigene Welt. In
dem Tontrümmerchaos der systematisch angelegten und trefflich geord-
neten Bücherei des assyrischen Großkönigs, die um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts zu Kujundschik unweit Mosul, dem alten Ninive, entdeckt
wurde, lag mit einem Schlage die wissenschaftliche, religiöse und kultische
Literatur der Assyrer offen: der durch die altbabylonischen Priester einer
späteren Nachwelt überlieferte Niederschlag altsumerischer Kultur. Die
Kenntnis der längst ausgestorbenen sumerischen Sprache ward schulmäßig,
zunächst mündlich tradiert. Die überkommenen, in ihr verfaßten heiligen
Schriften wanderten in sorgfältigen Kopieen von Generation zu Generation.
Als Hilfsmittel zu ihrer Auslegung entstanden in den Priesterschulen ge-
naue Übersetzungen des sumerischen Urtextes ins Babylonisch-Assyrische.
Nachschlagebücher grammatischen und lexikographischen Inhalts, Sylla-
bare und Listen, Paradigmata, Kommentare und Präparationen wurden die
Grundlage der mündlichen Lehre. Rubrizieren und Schematisieren war
bei den assyrischen Philologen über alles beliebt. Darauf deuten auch
die geographischen Listen der Namen von Städten, Ländern, Flüssen,
Kanälen; die Zensusverzeichnisse; die Eigennamenreihen von Königen,
Beamten und Privatpersonen; die Eponymenlisten; die Verzeichnisse von
Gottheiten und Dämonen; die Zusammenstellung mathematischer Angaben,
wie von Quadraten und Kuben; die Listen von Sternnamen und astro-
logischen Ausdrücken und die mannigfaltigen Sammlungen kultischer Natur.
Omentexte. Einen besouders breiten Raum nehmen in der Bibliothek zwei Pseudo-
wissenschaften ein, die aufs engste miteinander verbunden sind: Omen-
deutung und Astrologie. Auch hier steht die durch Jahrhunderte ge-
schärfte Beobachtungsgabe für die Vorkommnisse auf Erden und am
Himmel im Banne des Schematismus. Die für die Schicksale der Mensch-
heit bedeutungsvollen Erscheinungen oder Bewegung-en aller möglichen
Tiere, die ominösen Ereignisse in Stadt und Land, in Haus und Hof, merk-
würdige Geburten und ihre Begleitumstände und obenan Träume aller
Art sind schablonenhaft in förmlichen Büchern verzeichnet, deren eines
bis zu hundert und mehr Tontafeln umfaßt. Unterabteilungen und kürzere
II. Die Literatur aus Ninive (um 650 v. Chr.). 45
Auszüge aus derartigen „Serien" sind in der Bibliothek als solche genau
vermerkt; ja auch Katalog'e zu den einzelnen Teilen sind vorhanden. Ganz
analog der Omenbeschreibung sind die astrologischen Aufzeichnungen der Astrologische
. r • ^ • -TT 11 • r • Inschriften.
Ba,bylonier-Assyrer angefertigt. Zwei Hauptwerke, deren eines auf einen
uralten König, Sargon I. von Akkad, zurückgeführt wird, enthalten Beob-
achtungen von Finsternissen, Mond- und Sonnen-Konstellationen, Planeten-
bewegungen, Sternauf- und -unterg'ängen, Wolken- und Windrichtung. Auch
aus diesen Werken sind kurze Auszüge für praktische Zwecke ang-efertigt
worden, die astrologischen „Berichte" für den assyrischen König, die ihm
für bestimmte Unternehmungen, Opfer und Bauten, Krieg und Jagd die
Gunst der Götter verhießen.
Die unverkennbare Sorgfalt, mit der die astrologische Literatur bei
den Babyloniern-Assyrern gepflegt wurde, wird verständlich durch die Be-
merkung, daß fast alle anderen Literaturgattungen in Asurbanipals Biblio-
thek von ihr abhängen. Die babylonisch-assyrische Religion ist astral.
Von den Göttern verhängte Leiden und Krankheiten wurden unter Be-
obachtung der Gestirne geheilt. Tägliche oder häufige Ereignisse am
Himmel reduzierte frommer Glaube zum einmaligen, einstigen Vorkommnis :
zur Mythe. So ruht alle Literatur über Medizin, Kultus und Mythologie
auf astrologischer Grundlage.
Die von den babylonischen Ärzten beobachteten Krankheiten sind in Mediziuische
•^ Inschriften.
den medizinischen Schriften, unter denen 4 — 5 Werke mit ihren be-
sonderen Titeln bekannt sind, nach den Körperteilen geordnet. Die kurzen
Angaben der Krankheitssymptome sind nicht ohne Geschick gemacht, die
Diagnose ist meist sehr einfach, die Therapie durchaus superstitiös. Ins-
besondere werden alle psychischen Störungen Unholden und Dämonen
zugeschrieben.
Auch der Glaube an böse Geister und Hexen ist in Babylonien Erb- ßeschwörungs-
■' formeln.
gut der Sumerer. Die sehr zahlreichen Beschwörungsformeln, deren
Hauptwerke nach den dabei vorzunehmenden Verbrennungszeremonieen
betitelt sind, erhielten sich großenteils bis zum heutigen Tage in zwei
Sprachen. Die assyrische Übersetzung ist dem sumerischen Grundtext
interlinear beigefügt. Dasselbe gilt auch von den eigentlichen Gebeten
und Hymnen. Gerade bei der offenbar sorgfältig gehüteten Tradition
dieser sumerischen Literaturerzeugnisse ist die Scheidung semitischer und
nichtsemitischer Ursprüng-lichkeit bis jetzt außerordentlich erschwert, zum
Teil unmöglich. Daß im wesentlichen die alten Formen, die als heilig
galten, beibehalten wurden, läßt sich allerdings aus der Vergleichung mit
den sumerischen Kultinschriften Gudeas nachweisen. Wieviel neube-
fruchtender Geist des Semitismus aber dazu eindrang und wie weit er
umgestaltend wirkte, ist nicht deutlich ersichtlich. Erweckt doch bisweilen
sogar der scheinbare „sumerische Urtext" solcher Inschriften den Ver-
dacht, von einem assyrischen Priester komponiert zu sein — etwa wie
das Mönchslatein im deutschen Mittelalter. Augenfällig semitisch ist das
46
Carl Bezold: Die babylonisch-assyrische Literatur.
Gebete nnd
Hvmnen.
Gepräge der Terminologie in den Gebeten, Psalmen und Litaneien und im
Opferritual; unverkennbar der Parallelismus der Glieder, die metrische
Kunstform in der Wiedergabe alter Mjlhen. Auch setzt diese Entwick-
limg aus dem Sumerischen nicht mit Notwendigkeit ein gradliniges Fort-
schreiten voraus: eine Summe alter sumerischer Riten und alter, auf der
Wanderung en\'orbener semitischer Sagen können als Mittelglieder ver-
loren sein. Keinesfalls ist das, was inj den religiösen Bestandteilen der
Literatur in Asurbanipals Bibliothek vorliegt, als der reine Ausdruck
einer volkstümlichen Religion anzusehen. Im allgemeinen spiegelt sich in
den Hymnen und Beschwörungen eine späte Staatsreligion wieder. Die
Stabilität der Epitheta wird selten alteriert, so daß gerade in solchen Aus-
nahmefällen Lokalkulte oder ältere Formen zum Durchbruch zu kommen
scheinen. Die jetzige sakrale Natur der betreffenden Inschriften ist vor-
herrschend, aber nicht notwendig ursprünglich. Dazu ist bei den aus-
gedehnten Eroberungszügen der Babylonier von den frühesten Zeiten an,
bis nach Ag}'pten und Elam, das Eindringen fremder Kultformen nicht
ausgeschlossen. Endlich scheinen in den voces mysticae und ähnlichen
Bestandteilen gewisser Beschwörungsformeln auch Andeutungen auf relativ
späte Geheimlehren zu liegen, die der Staatsreligion fremd bleiben mußten.
Die Ableitung der eigentlichen Gebete aus ursprünglichen Beschwö-
rungen ist nicht mehr im Fluß, aber durch die vorgeschriebenen beglei-
tenden symbolischen Handlungen genügend verbürgt. Offiziellen Charakter
tragen die Hymnen an die zwölf großen Götter des assyrischen Pantheons;
ebenso wie die „Gebete der Handerhebung" mit besonderer Beziehung auf
die unheilvollen Wirkungen von Finsternissen; die Anrufungen der Götter
Schamasch und Adad mit reichlichen Opferzeremonieen, und die für den
König bestimmten Gebete. Die Kunstform des Gliederparallelismus tritt in
den sogenannten Bußpsalmen „zur Beruhigung des Herzens" am deutlichsten
hervor, und gerade ihre sumerische Abfassung erweckt den Eindruck des
Echten und Alten. Als spätassyrische Verkünstelung dagegen werden die
Akrosticha und Telesticha einiger Hymnen anzusprechen sein. Auch die
Loslösung der kurzen Ritenrubriken von den Beschwörungen und Gebeten
R^tMiteite; und die Ausbildung eigener Ritualtexte ist wahrscheinlich erst in dem
bücber. eigentlichen Bereich der semitisch-assyrischen Literatur erfolgt. Fest-
liturgieen, drei" große Klassen von Opferritualen und Hemerologieen mit
besonderer Heiligung gewisser Monatstage sind die vornehmsten Bestand-
teile dieser Literaturgattung. Mit dem Opferkult aufs engste verknüpft
sind die Wahrsagungen aus der Leberschau, deren Vornahme aus einem
eigenen Tontafelbuch ersichtlich ist. Auch die schon zu Chammurabis
Zeit geübte Becherwahrsagung aus magischem, heiligem Ol, das tropfen-
weise auf Wasser geworfen wird, hat sich wahrscheinlich bis in spät-
assyrische Zeit unter den verschiedenen Formen der Rituale erhalten.
Mythen nnd Tells vcrwoben in Gebete und Hymnen, teils als selbständige schrift-
stellerische Erzeugnisse sind als der letzte und vielleicht wertvollste Be-
III. Die neubabylonische Literatur. a^j
Standteil von Asurbanipals Bibliothek die Sagen und Legenden, Epen und
Mythen zu nennen. Wie schon früher bemerkt, ist in Babylonien bereits
um 2000 eine mythologische Literatur vorauszusetzen. Was fast andert-
halb Jahrtausende später in kunstvoller, zum Teil hochpoetischer assyrischer
Sprache, häufig in metrisch gebundener Form, vorliegt, läßt die ursprüng-
liche Gestalt jener Legenden im günstigsten Falle ahnen. Es ist bezeich-
nend, daß von keiner der wichtigeren M3^then ein sumerischer Text er-
halten ist. Nur zwei Gedichte über die Allmacht der Sonne und die
Sieg-eslaufbahn der Sonne am Himmel sind jüngst in zweisprachiger
Fassung entdeckt worden. Der babylonische Schöpfungsmythus ist in
verschiedenen, voneinander ziemlich weit abweichenden Redaktionen über-
liefert. Die poetische Erzählung vom Absterben und Wiedererwachen der
Natur, die in der „Höllenfahrt" der Göttin Ischtar vorliegt, gab in ihrer
jetzigen Form Veranlassung, einen doppelten Schluß des Gedichtes, also
die ungeschickte Verarbeitung zweier Quellen zu statuieren. Und der
berühmte Sintflutbericht im elften Gesang des Gilgamischepos , das auf
astralmythologischer Basis aufgebaut ist und über das Leben im Jenseits
zu handeln scheint, ist in der überlieferten Abfassung so deutlich aus drei
oder mehr heterogenen Bestandteilen verquickt, daß an seiner relativ
späten, gelehrten Komposition nicht zu zweifeln ist.
III. Die neubabylonische Literatur. Ein Gesamtüberblick über
die babylonisch-assyrische Literatur der Kujundschiksammlung bestätigt
das eingangs gefällte Urteil, daß den semitischen Bewohnern Babyloniens
verhältnismäßig wenige Neuschöpfungen auf literarischem Gebiete zu ver-
danken sind. Aus der spätbabylonischen Zeit sind die ergiebigen Tempel-
archive noch zu oberflächlich ausgebeutet, um sichere Schlüsse auf die
Weiterbildung jener Literaturgattungen zu gestatten. Die Kriegsgeschichte
tritt in den neubabylonischen Inschriften ohne ersichtlichen Grund völlig
zurück. Bautexte und Tempelwidmungen mit langen Gebeten und reichem
Titelbeiwerk treten an ihre Stelle. Wortgetreue Kopieen verschieden-
artiger Inschriften der ninivitischen Sammlungen in neubabylonischer,
immer nachlässiger werdender Schrift tauchen aus den Tausenden von
Kontrakten auf, die aus der chaldäisch-persischen Periode erhalten sind.
Aber eine einzige neue, originelle Errungenschaft wiegt alle etwa emp-
fundenen Mängel dieser späteren Literatur reichlich auf: die Astronomie.
Aus den unscheinbaren Anfa.ngen astronomischer Beobachtungen, die sich '^jn^X-^te?^
gelegentlich als Anhang- zu astrologischen „Berichten" aus Asurbanipals
Zeit finden, scheint sie entstanden zu sein. Auf den Tafeln des dritten
vorchristlichen Jahrhunderts steht die fertige Wissenschaft mit eigener,
knapper Terminologie, eigenen iVbkürzungen und verschiedenen Rech-
nungssystemen. Die klaffende Lücke zwischen Astrologie und Astronomie
ist bis jetzt nicht zu überbrücken.
Dank den Bemühungen moderner Astronomen lassen sich die betref-
lg Carl Bezold: Die babylonisch-assyrische Literatur.
f enden Tafeln in zwei große Klassen scheiden: Beobachtungstafeln und
Berechnungstafeln, Ihr Inhalt erstreckt sich zunächst auf rein astrono-
mische Ergebnisse: die Berechnung von Finsternissen, die Datierung der
Konstellationen der Ekliptiksterne, heliakische Auf- und Untergänge der
Planeten und des Sirius, Beobachtungen der Tierkreisstembilder, Messungen
der Sonnen- und Mondgeschwindigkeit und ihrer Erdnähe. Genaue Daten
und Doppeldaten erleichtern die Berechnung dieser Angaben. Als eine
Art Chronik sind die Nachträge zu den astronomischen Ephemeriden be-
merkenswert, in denen gelegentlich die Getreidepreise, der Wasserstand
und selbst politische Ereignisse aufgezeichnet w^urden.
Schlußbemerkungen. Ob in babylonisch - assyrischer Zeit oder
jenseits der semitischen Einwanderung auf sumerischem Boden entstanden,
ob unvermehrt und unvermindert überliefert oder entwickelt und aus-
gebaut: jedenfalls hat die im babylonisch-assyrischen Schrifttum erhaltene
Kultur den größten Einfluß auf die ganze gebildete Welt des Altertums
ausgeübt. Sie ist weltbedeutend im eminenten Sinne des Wortes. Schon
im zweiten vorchristlichen Jahrtausend stand ganz Westasien unter ihrem
Einfluß. Kanaanäische Fürsten bedienten sich der babylonischen Schrift
und Sprache im diplomatischen Gedankenaustausch mit Ägypten. Kult-
formen nahmen ihren Weg vom Euphrat zum Nil. Babylonisches Gesetz
und Recht konnten nicht spurlos an Israel vorübergehen, nachdem die
Bewohner Palästinas samt den benachbarten Aramäerstämmen einmal mit
der assyrischen Großmacht in feindliche Berührung gekommen waren.
Die Berichte von den Zügen der Großkönige an das Mittelmeer und der
Tributleistung kyprischer Fürsten an Sargon II. sind ein bedeutsames Zeug-
nis für die Ausbreitung der babylonischen Kultur nach dem Westen. Daß
die griechische Kunst in ihrer ersten Entfaltung von der babylonischen
beeinflußt war, begegnet keinem Zweifel mehr. Aber auch wissenschaft-
liche Errungenschaften der westasiatischen Bildung verbreiteten sich bis
nach Arabien, ins Niltal und ins Abendland, Es ist nicht unwahrsctiein-
lich, daß die vorhippokratische Medizin mit der assyrischen im Zusammen-
hang steht. Die griechische Astronomie ist von der babylonischen direkt
abhängig. Die jüngsten Jahre haben Transkriptionen von Keilschrifttexten
in griechischen Buchstaben kennen gelehrt, wie vordem phönikische neben
den assyrischen Inschriften gefunden wurden. Die Nachrichten in den
Fragmenten des Berosus und bei Damascius erscheinen heute in neuer,
ungeahnter Beleuchtung. Selbst unsere jetzige Zeiteinteilung und manche
Reste abergläubischer Gebräuche weisen in letzter Linie auf Babylonien
zurück. Am bedeutungsvollsten aber hat sich die assyrische Keilschrift-
literatur für das vStudium der Bibel, vornehmlich des Alten Testaments,
erwiesen. Moderne Exegese ohne Assyriologie ist undenkbar. In der
semitischen Philologie nimmt das Studium des Babylonischen den gebühren-
Platz ein — und nicht den letzten.
Literatur.
Die Ausgrabungen, die zum Wiedergewinn der babylonisch-assyrischen Literatur führten,
sind England (A. H. Layard, H. C. Rawlinson, H. Rassam, E. A. W. Budge), Frankreich
(J. Opfert, E. de Sarzec), Amerika (H. V. Hilprecht, J. P. Peters) und Deutschland
(R. KOLDEWEY) zu verdanken. An der Entzifferung der Inschriften beteiligten sich nächst
G. Fr. Grotefend vornehmlich H. C. Rawlinson, E. Hincks und J. Opfert. Siehe
R. W. Rogers, A History of Babylonia and Assyria (1900), Bd. I, S. 46 ff. und Ch. Fossey,
Manuel d'Assyriologie, Bd. I (1904). In Deutschland legte den Grund zur Entwicklung der
Assyriologie Eb. Schrader. Zur allgemeinen Orientierung über die Literatur vgl. C. Bezold,
Kurzgefaßter Überbhck über die babylonisch - assyrische Literatur (1886) und B. Teloni,
Letteratura assira (1903). Das Sumerische Sprachproblem behandelt F. H. Weissbach, Die
sumerische Frage (1898).
Die nachstehenden Literaturangaben verweisen besonders auf neuere Ausgaben und
Schriften über den betreffenden Gegenstand.
S. 42. Historische Texte: E. A. W. BUDGE und L. W. KiNG, Annais of the Kings of
Assyria (190:^); dazu die Publikation des Britischen Museums: Cuneiform texts from Baby-
lonian tablets, &c., 21 Hefte (1896—1905). Für die ältesten Inschriften H. V. HlLPRECHT,
The Babylonian Expedition of the University of Pennsylvania, Bd. i und 2 (1893, 1896)
und Fr. Thureau-D angin, Recueil de tablettes chaldeennes (1903).
S. 42. Briefe Chammurabis : L. W. KlNG, The letters and inscriptions of Hammurabi,
3 Bde. (1898— 1900). — Korrespondenz von Tell-el-Amarna : H. WiNCKLER, Die Thontafeln
von Teil el-Amarna (1896). — Spätere Brief literatur : R. Fr. Harper, Assyrian and Baby-
lonian Letters, 8 Bde. (1892 — 1902).
S. 43. Kommerzielle Inschriften: F. E. Peiser, Texte juristischen und geschäftlichen
Inhalts (1896) und C. H. W. JOHNS, Assyrian Deeds and Documents, 3 Bde. (1898 — 1901).
S. 43. Die erste Ausgabe und Entzifferung der Gesetze Chammurabis gab V. SCHEIL
in J. de Morgans Delegation en Perse, Memoires, Bd. 4 (1902). Handliche Neubearbei-
tungen: R. Fr. Harfer, The Code of Hammurabi (1904) und H. Winckler, Die Gesetze
Hammurabis in Umschrift und Übersetzung (1904).
S. 44. Über Asurbanipals Bibliothek s. C. Bezold, Catalogue of the cuneiform tablets
in the Kouyunjik CoUection of the British Museum, 5 Bde. (1889 — 99), Ninive und Babylon
(1903) und Zentralblatt f. Bibliothekswesen, Bd. 21 (1904), S. 257 ff.
S. 44. Zensuslisten bei C. H. W. JOHNS, An Assyrian Doomsday Book or Liber Cen-
suahs (1901).
S. 44. Omina: A. BOISSIER, Documents assyriens relatifs'aux presages, 3 Hefte (1894
— 99) und Choix de textes relatifs ä la divination assyro - babylonienne (1905). — Astrolo-
gische Texte: Ch. Virolleaud, L'astrologie chaldeenne, 8 Hefte (1903 — 5). — ,, Berichte":
R, C. Thompson, The reports of the magicians and astrologers of Nineveh and Babylon,
2 Bde. (1900).
S. 45. Medizinische Inschriften: Fr. KüCHLER, Beiträge zur Kenntnis der assyrisch-
babylonischen Medizin (1904). ~ Beschwörungsformeln: Kn. L. Tallqvist, Die assyrische
Beschwörungsserie Maqlü (1894); H. Zimmern, Beiträge zur Kenntnis der babylonischen
Religion (1896 — 1901).
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 4
= 0 Carl Bezold: Babylonisch-assyrische Literatur.
S. 46. „Gebete der Handerhebung" bei L. W. KiNG, Babylonian INIagic and Sorcery
(1896).
S. 46. Lekomanthie: J. Hunger, Becherwahrsagung bei den Babyloniern (1903).
S. 47. Mythologische Literatur: P. Jensen, Assyrisch -babylonische Mythen und Epen
'1900). — Sumerisch-assyrische Gedichte; Fr. Hrozny, Sumerisch-babylonische Mythen von
dem Gotte Ninrag (Ninib) (1903). — Schöpfungsmythus: L. W. KiNG, The seven tablets of
Creation, 2 Bde. (1902) und C. Bezold, Die Schöpfungslegende (1904). — Zur Höllenfahrt
der Ischtar vgl. Fr. Hrozn\', Wiener Zeitschr. für die Kunde des Morgenlandes, Bd. 17
(1903), S. 323 ff.
S. 47. Neubabylonische Kontrakte bei J. N. Strassmaier, Babylonische Texte, 12 Hefte
(1889 — 97) imd Cl.\Y-Hilprecht, Business documents of Murashü sons, 2 Bde. (1898 — 1904).
S. 47. Astronomie: J. EPPING, Astronomisches aus Babylon (1889) und Fr. X. Kugler,
Die babylonische Mondrechnung (1900).
S. 48. Zur Bedeutung der babylonischen Kultur im allgemeinen: C. F. Lehmann,
Babyloniens Kulturmission einst und jetzt, 2. Aufl. (1905). — Für die biblische Exegese:
Eb. Schrader, Die Keilinschriften und das Alte Testament, 3. Aufl. von H. Zimmern und
H. WiNCKLER (1903), sowie Fr. Delitzsch, Babel und Bibel, drei Vorträge (1902—5).
DIE ISRAELITISCHE LITERATUR.
Von
Hermann Gunkel.
Einleitung. Die einzige Quelle der Geschichte der Literatur Israels Quelle: Das
und des älteren Judentums ist das „Alte Testament", das als Grundgesetz ' * ^^ *'"°" '
und Erbauungsbuch der jüdischen Gemeinde am Ende der Literatur-
geschichte Israels aus zumeist älteren Schriften zusammengestellt worden
ist. Hiermit ist schon gegeben, daß das „Alte Testament" keineswegs ein
Kompendium der gesamten vorangegangenen Literatur sein, sondern viel-
mehr ganz bestimmten religiösen Zwecken dienen soll. So wird verständ-
lich, daß wir aus diesen, in später Zeit gesammelten Büchern, fast aus-
schließlich religiöser Art, über die älteren Perioden der Literatur und über
die profane Literatur Israels nur ungenügend orientiert werden. Dieser
Übelstand, mit dem jeder Versuch einer Literaturgeschichte Israels zu
kämpfen hat, macht eine solche doch nicht völlig unmöglich, weil sich
auch in den aus jüngerer Zeit stammenden Büchern mehrfach ältere Quellen,
zum Teil von sehr großem Umfang, meistens allerdings mehr oder weniger
stark bearbeitet vorfinden; weshalb jeder „Literaturgeschichte" eine „Quellen-
scheidung" vorausgehen muß. Ferner hat, zumal in alter Zeit, die Religion
Israels einen so innigen Zusammenhang mit dem Volkstum und dem Staat,
daß sich doch auch in den zur Erbauung des Judentums gesammelten
Schriften mancherlei Reste der volkstümlichen Literatur gerettet haben.
Schließlich hat, ebenso wie in Babylonien und Ägypten, ja vielleicht noch
mehr als dort, die religiöse Literatur von Anfang an die profane über-
wogen: die höheren geistigen Interessen dieser altorientalischen Völker
sind vorwiegend religiöser Art oder sprechen sich wenigstens in religiöser
Einkleidung aus.
Ein weiterer Umstand, der uns zu schaffen macht, ist der, daß sich Chronologie der
. AI Schriften viel-
die im Kanon erhaltenen oder zugleich mit ihm überlieferten Angaben fach unsicher.
über die Verfasser der Schriften zu einem großen Teil als irrig erwiesen
haben — die Bücher des Gesetzes sind ebensowenig von Mose verfaßt,
wie die Psalmen von David oder die Sprüche von Salomo — , und daß
andererseits die modernen Versuche, aus den Schriften selbst ihre Ab-
4»
= 2 Hermann Günkel: Die israelitische Literatur.
fassungszeit zu bestimmen, mehrfach unsicher bleiben. In vielen Fällen
kann das Ziel der Forschung überhaupt nur dieses sein, die allgemeine
Periode anzusetzen, aus der die Schriften stammen werden, und ist von
allen bestimmten Daten abzusehen. Hieraus geht hervor, daß wir zum
Faden der Geschichtserzählung nicht die Chronologie der Abfassung der
einzelnen Schriften wählen dürfen, sondern daß es der Literaturgeschichte
Israels genüg-en muß, die Perioden der Schriftst ellerei erkannt zu haben.
Die Chronologie steht fest besonders bei einem nicht geringen Teil der
prophetischen Schriften; daher müssen diese den Ausgangspunkt aller alt-
testamentlichen Forschung, auch der literargeschichtlichen, bilden.
Gattungen. Innerhalb der Perioden aber haben wir nach Gattungen zu scheiden.
Denn die Literaturgeschichte eines antiken Volkes wie Israel unterscheidet
sich von derjenigen modemer Völker besonders dadurch, daß es sich bei
dieser von\'iegend um einzelne große Dichter oder Schriftsteller handelt,
weshalb die moderne Literaturgeschichte gerade an ihren Höhepunkten
die Form der Biographie tragen muß, während in der Literatur Israels
die einzelne Person eine weit geringere Rolle spielt. Das ist in der
Eigenart antiken Lebens begründet: damals waren die Einzelnen bei
weitem weniger differenziert und bei weitem mehr durch die Sitte ge-
bunden als gegenwärtig. Und wie es der einzelne Mann in Israel für ein
Verbrechen halten würde, so zu handeln, „wie man in Israel nicht han-
delt", so steht auch der Schriftsteller unter dem starken Druck des für
die Gattung hergebrachten Stils. Daher die für uns zunächst befremdliche
Eintönigkeit, die innerhalb der Gattungen herrscht. Die Literatur Israels
enthält also, wie wir sagen würden, viel mehr Volks-, als Kunstpoesie.
Zwar hat auch Israel große originelle Schriftstellerpersönlichkeiten hervor-
gebracht, deren Eigentümlichkeit aber nicht so stark, wie es in der Mo-
derne der Fall sein würde, hervortritt und jedenfalls erst bei eingehendem
Studium der Gattungen, deren sie sich bedient haben, erkannt werden
kann. So folgt, daß die Literaturgeschichte Israels zunächst die Aufgabe
hat, die Gattungen, ihre Eigenart und womöglich auch ihre Geschichte zu
erforschen: eine Arbeit, die um so notwendiger ist, als die Moderne die
meisten dieser Gattungen nicht mehr besitzt und daher auch nicht ohne
weiteres versteht.
Poesie und Prosa. Unter den Gattungen unterscheiden wir wie in allen entwickelten
Literaturen die poetischen und prosaischen. Auch an der Literatur
Israels vermögen wir zu zeigen, daß die ersteren die älteren sind: die
Literatur Israels beginnt mit Liedern, die, wie viele Stellen zeigen, ur-
sprünghch vom Volkschor zum KUang der Instrumente und beim Tanz
aufgeführt worden sind. Aus dieser gesungenen Dichtung entwickelt
sich eine rezitierte, bei der der Gesang fortfällt, und dann schließlich
die Prosa: gesungen worden ist der größte Teil der Psalmen, während die
Sprüche, Hiob und die poetischen Teile der Propheten zur Rezitation be-
stimmt sind; die Erzählung aber trägt, soviel wir einstweilen zu sagen ver-
Einleitung. c ■}
mögen, prosaische Form. Poesie und Prosa unterscheiden sich wie überall
so auch in Israel durch die Wahl des Stoffes, durch die Diktion und be-
sonders durch die rhythmische Form. Für die dichterische Diktion ist im
Hebräischen der „Parallelismus der Glieder" charakteristisch; d. h. die poe-
tische Rede zerfällt ziemlich regelmäßig in kleine, scharf eingeschnittene
rhetorische Glieder, die oft aus einer bestimmten Zahl dem Sinne nach haupt-
betonter Wörter bestehen, und von diesen Gliedern gehören gewöhnlich
je zwei dem Sinne nach zusammen, sei es, daß sie einander parallel sind
— daher der Name der Erscheinung — oder daß sie ein anderes logisches
Verhältnis haben. Diese Erscheinung, die auch im Ägyptischen und be-
sonders im Babylonischen wiederkehrt, erklärt sich ursprünglich wohl aus
der Sitte, die Gedichte im Wechselgesang aufzuführen, die uns im Alten
Testament hier und da bezeugt ist. Lange Zeit hat man geglaubt, daß
hiermit die eigentliche Form der hebräischen Poesie erschöpft sei; doch
sollte man nicht bezweifeln, daß die Gedichte Israels, die ursprünglich zu
Musik und Tanz gesungen worden sind, neben den beschriebenen stilisti-
schen Eigentümlichkeiten auch eine fest umschriebene rhythmische
Form besessen haben müssen. Neuerdings ist ein System hebräischer
Metrik vorgelegt w^orden, wonach sie, dem Charakter der Sprache ent-
sprechend, einen akzentuierenden Rhythmus hat.
Innerhalb der einzelnen Gattungen hat sich eine Geschichte absfespielt, innere
o jr 7 Geschichte der
deren Erkenntnis einen großen Teil der Literaturgeschichte ausmacht, und Gattungen.
die in ihren Grundzügen schon an dieser Stelle geschildert werden muß.
Im alten Israel wird wenig geschrieben und sfibt es weite Volkskreise, Mündliche und
J^ ° schriftliche
zu denen überhaupt nichts. Geschriebenes dringt, die sich aber doch an „Literatur«,
der „Literatur", d. h. an der Schöpfung von Kunstwerken durch das Wort,
beteiligen. Daher haben fast alle Gattungen, ehe sie niedergeschrieben
wurden, in mündlicher Überlieferung bestanden. Eigentlich „literarische",
d. h. nur geschriebene Gattungen gibt es nur wenige, so besonders die
Geschichtserzählung im Unterschied von der volkstümlichen mündlichen
Sage. Der starke Riß, der in entwickelteren Kulturen durch das Volk geht
und die Gebildeten von den Ungebildeten scheidet, existiert im alten Israel
noch kaum. Vielmehr ist dort die Literatur ein Teil des Volkslebens und
muß aus diesem begriffen werden. Wer also eine antike Gattung ver-
stehen w^ll, hat zunächst zu fragen, wo sie ihren Sitz im Volksleben
habe: den Rechtsspruch z. B. zitiert der Richter vor Gericht zur Begrün-
dung der Entscheidung, und das Siegeslied singen die Mädchen beim
Einzug des siegreichen Heeres. Sehr häufig wird auch die Gattung durch
einen Stand getragen, der über ihrer Reinheit wacht: so die „Tora" von
den Priestern, die „Weissagung" von den Propheten.
Hieraus wird der sehr gerinare Umfanaf der ältesten literarischen Die literarischen
* ° . Einheiten.
Emheiten verständlich. Die volkstümlichen Lieder der älteren Zeit be-
stehen fast sämtlich nur aus einer einzigen oder etwa aus zwei Zeilen! .
Man hat sie aufgeführt, indem man die wenigen Sätze, immer und immer
54
Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
wiederholt, mit steigender Begeisterung gesungen hat. Ebenso kurz sind
die ältesten Prophetenreden, Rechtssprüche, Weisheitssätze; und auch die
alten Erzählungen sind oft nur wenige Verse lang. Diese uns befremdende
Kürze entspricht der geringen Aufnahmefähigkeit des alten Volkes. Nun
können wir verfolgen, wie es bei steigender Kultur und zunehmender Ge-
wohnheit des Schreibens zu größeren Einheiten gekommen ist. Da
sind die Einheiten selber allmählich ang-eschwollen: so ist aus der kurzen
Volkssage die ausführliche „Novelle" entstanden. Oder man hat Sammlungen
g-ebildet. Im Leben war das einzelne Lied, die einzelne Erzählung-, der
einzelne Rechtsspruch die maßgebende Einheit gewesen; als man sie aber
niederzuschreiben beg-ann, hat man Sammlung-en der Lieder, Erzählungen
und Sprüche veranstaltet. Daher erklärt sich, daß der größte Teil des
Alten Testamentes aus Sammlungen besteht, ja daß dieses selber schließlich
eine Sammlung aller damals vorhandenen Sammlungen darstellt. Die Auf-
gabe der alttestamentlichen Literaturgeschichte ist es, diese Sammlungen
wieder auseinanderzunehmen und zu fragen, wie die einzelnen, ursprüng-
lich selbständigen Stücke entstanden seien. Demnach hat es die Literatur-
geschichte Israels der Natur der Sache nach weniger mit der Entstehung
der Bücher als solcher zu tun, als mit derjenigen der einzelnen Elemente
der Schriften. Ein besonderes Interesse haben die Bücher selbst für die
Literaturg'eschichte nur dann, wenn sie nicht einfach Zusammenstellungen
des überlieferten Stoffes sind, wie z. B. der Psalter, sondern wenn sie
durch selbständige Verarbeitung des Materials wenigstens relativ ein
Neues, Eigenes darstellen: so die meisten der historischen Bücher. Große
völlig selbständige Kunstwerke hat die hebräische Literatur nur ganz
wenige aufzuweisen: so besonders das Buch Hiob.
Reinheit imd Die ältesten Gattungen, die ihren Sitz im Leben haben, bestimmte
Mischung der o /
Gattungen. Zuhörcr ins Auge fassen und bestimmte Wirkung erstreben, sind eben-
darum fast immer völlig rein. Aber wenn sich Schriftsteller des Stils
bemächtigen, treten vielfach Abweichungen oder Mischungen ein, um neue
raffiniertere, komplizierte Wirkungen zu erzielen. Dies ist in reichem
Maße bei den Propheten geschehen, die eine fast unübersehbare Fülle
von anderen Gattungen aufgenommen und sich ihren Zwecken dienstbar
gemacht haben. Bei höherem Alter der Literatur pflegen solche Mischungen
sich immer häufiger einzustellen. Oder die alten Literaturformen werden,
wenn die Zeit eine andere geworden ist, umgebogen und erneuert. So
kann man auch in Israel verfolgen, wie dieselben Erzählungsstoffe, je nach
dem Geiste der Zeit, als Mythen, Sagen, Märchen, Legenden, Novellen oder
Romane wiederkehren.
Die Volkstum- I. Die volkstümlichc Literatur bis zum Auftreten der großen
liehe Literatur ^ , • r 1 1 i • -r • -r i i • i
bis zum Auf- Schriftsteller (bis ca. 750). Die Literaturgeschichte Israels beginnt ebenso
treten der
großen Schrift- wie Seine politische Geschichte mit der Einwanderung in Kanaan. Das
steller.
erste größere Stück, das wir datieren können, ist das berühmte Deboralied
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750).
00
(Jiid. 5). Von den Zuständen der Stämme vorher haben wir nur ein
schattenhaftes Bild; und von der mündlichen Literatur, die sie damals be-
sessen haben mögen, ist fast alles zugrunde gegangen. Über diese älteste
Literatur der Vorfahren Israels ist eine Katastrophe hereingebrochen, ähn-
lich derjenigen, die die älteste germanische Literatur fast ganz vernichtet htit.
Es ist die Religions- und Volksstiftung des Moses und dann das Einleben
Israels in die überlegene Kultur Kanaans, wodurch dies fast alles zugrunde
gegangen ist. Seit diesen großen Ereignissen ist das Leben des Volkes
bestimmt durch die beiden Momente: Israel und Kanaan. Das Volk Israel
ist durch die großen Erlebnisse zu Mosis Zeit geschaffen worden. Moses aber
ist ein „Gottesmann" und für die Religion Israels die ausschlagg^ebende Person
zu allen Zeiten geblieben. Schon hierdurch ist die Stelle, die die Religion
im Volkstum Israels einnimmt, gegeben; auch Israels Literatur hat diesen
religiösen Charakter. Nach Mosis Tode hat Israel Kanaan in lang dauern-
den Kämpfen erobert. Nun war Kanaan damals schon seit unvordenk-
lichen Zeiten ein Kulturland. Kein Wunder also, daß das ursprünglich
nomadische, an äußerer Kultur den Kanaanäern jedenfalls weit nachstehende
Israel, nicht imstande, die Urbevölkerung auszurotten, ihrer Kultur all-
mählich anheimfiel und mit ihnen zu einem neuen „Israel" verschmolz.
Diese Verbindung Urisraels und Urkanaans zu einem neuen Volke ist die
Grundtatsache für das Verständnis der Religion wie der Literatur des
historischen Israel. Die kanaanäische Kultur selber aber war nur ein Teil
eines größeren Kreises. Ein sprechender Beweis dafür ist die „althebräische"
Schrift, die den Aramäern, Phöniziern, Kanaanäern und Moabitern mit den
Israeliten gemeinsam ist, und die vom Orient aus zu den Griechen und
Römern gekommen ist und somit auch der unsrigen zugrunde liegt. Ferner
nimmt dieser Kreis der westsemitischen Völker teil an der vorderasia-
tischen Gesamtkultur, die auf Grund der babylonischen und ägyptischen
Kultur entstanden war: Kanaan liegt an der Handelsstraße, die von
Ägypten nach Babylonien führt, und war in unmittelbar vorisraelitischer
Zeit Provinz des ägyptischen Reiches gewesen; in derselben Zeit aber
hatte, wie uns die Teil -Amarna- Briefe gelehrt haben, die babylonische
Kultur in Kanaan eine vorherrschende Stellung eingenommen. So ist
also Israel, als es mit Kanaan verschmolz, indirekt unter ägyptisch-baby-
lonischen Einfluß geraten.
Aus diesem Gange der Kulturgeschichte Israels ist ohne weiteres
zu schließen, daß sich auch seine Literatur nicht ohne Beeinflussung
durch die Fremde entwickelt haben kann, wenn wnr auch, da uns die
phönizische wde die aramäische Literatur verschüttet und die ägyptische
wie die babylonische noch recht unvollkommen bekannt ist, einstweilen
nicht imstande sind, hier viele Einzelheiten mit Sicherheit anzugeben.
Kanaanäisch wird in Israel gewesen sein vor allem das Schriftwesen
des Staates; denn der israelitische Staat ist, wie wir sicher wissen, eine
Nachbildung des kanaanäischen Königtums. Auch Israels Könige werden
Israel und
Kanaan.
Einfluß der
Fremde.
= 5 Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
Denksteine mit Inschriften aufgestellt haben, nicht anders wie die der
Könige von Aram und Moab, die wir kennen. Unter den Sagen werden
diejenigen für kanaanäisch zu halten sein, die an bestimmten heiligen
Orten Kanaans ihren Sitz haben, wie z. B. die Sage von Jakobs Gesicht
am Stein zu Bethel (Gen. 28). Die Jonaserzählung, zu Joppe lokalisiert,
mag, ehe sie zu Israel kam, eine phönizische Schiffersage gewesen sein.
Zugleich haben wir allen Grund, auch ägyptischen und besonders baby-
lonischen Einfluß in der Literatur Israels zu suchen. Nachgewiesen ist
babv Ionischer Ursprung vor allem für die Sintflutsage, deren baby-
lonisches Original erhalten ist; wahrscheinlich ist er auch für andere der
Urgeschichten. Auch der Stil der hebräischen Hymnen und besonders
der Klagepsalmen ist mit dem der babylonischen aufs nächste verwandt.
Besonders zeigt in der hebräischen Literatur babylonischen Geist die uns
befremdliche Vorliebe für heilige Zahlen, eine Vorliebe, die sich in Baby-
lonien aus Anschauungen der Astralreligion erklärt. Weniger deutlich
ist uns der ägyptische Einfluß; doch darf man auf die Sage vom großen
Xildrachen, der von der Gottheit erschlagen wird (Ez. 29. ^2), hinweisen.
In Ägypten haben wir vielleicht den Ursprung der Spruchdichtung zu
suchen, die es übrigens auch in Babylonien gegeben hat; besonders
besitzen wir für das Buch Hiob in Ag}^pten Parallelen. — Aber auch die
Völker der Nachbarschaft mögen eingewirkt haben: an den Rätseln Salomos
erfreute sich auch die Königin des arabischen Saba; und die Helden des
Buches Hiob sind, sicherlich nicht ohne Grund, Edomiter oder Araber.
Noch bedeutsamer aber als der Nachweis solcher Entlehnungen von
den umwohnenden Völkern ist, daß gewisse und nicht wenige Erzählungs-
stofife dem Alten Testament mit solchen Literaturen gemeinsam sind, die
auf Israel, wenigstens in der älteren Zeit, nicht direkt eingewirkt haben
können. So erzählen auch die Eranier vom Paradiese. Das weise Urteil
Salomos, da^ unter den streitenden Frauen die rechte Mutter herausfand,
finden wir in ganz ähnlicher Form auch bei den Indern, ja bei den Chi-
nesen. Auch die Griechen wissen von dem Helden, den das Meeres-
vmgeheuer verschlang, aber auf Gottes Befehl wieder ausspeien mußte;
sie erzählen von Idomeneus eine Geschichte, die dem tragischen Gelübde
Jephtas nahe verwandt ist; sie kennen die Tradition von den vier Welt-
altem und von der seligen Urzeit. Ja, nicht selten können wir beobachten,
daß Erzählungsstoffe der Bibel als Märchen oder Sagen noch unter den
modernen Völkern fortleben. So die Geschichte vom „dankbaren Toten",
die die Völker des Morgen- und Abendlandes besitzen, die in der Bibel
im Buch Tobias wiederkehrt. Jeder kennt die Geschichte von dem Herrn,
der seine Boten vergeblich aussendet, einmal, zweimal, dreimal, bis er
sich endlich selber aufmacht; eine Variation davon lesen wir in den David-
sagen (I. Sam. 1 9, 1 8 ff.). Häufig unter antiken und modernen Völkern
sind auch die Erzählungen von dem ausgesetzten und wunderbar ge-
retteten Kinde, aus dem später der große Held werden sollte (Ex. 2);
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750). cy
vom Kampf des kecken und tapferen Knaben gegen den ungeschlachten
Riesen (I. Sam. 17); vom Haß der Ehebrecherin gegen den Jüngling, den
sie umsonst zu verführen gesucht hatte (Gen. 39); von der Zauberspeise,
die immer wieder von selbst zuwächst, — man denke an den Ölkrug der
Witwe (I. Reg\ 17, 1 6) — oder von der Verzauberung eines Menschen in
ein Tier, was in der Geschichte vom Wahnsinn Nebukadnezars nachklingt
(Dan. 4). Aber wo anfangen und wo aufhören! Unsere Wissenschaft hat
die Aufgabe, das ganze Material zusammenzustellen, wobei sich dann
auch die Entscheidung darüber erg^eben wird, ob die verwandten Er-
zählungen selbständig entstanden oder durch eine Geschichte verbunden
sind. Dann werden wir vielleicht eine großartige Geschichte dieser Stoffe
übersehen, und jedenfalls die Eigenart der israelitischen Erzählungen und
des israelitischen Volksgeistes, der sich darin spiegelt, besser zu erkennen
vermögen.
Denn andererseits trägt alles aus der hebräischen Literatur unsCharakteristisch-
__ . Israelitisches.
Erhaltene emen sehr gleichmäßigen Stempel, und der Unterschied z. B.
der babylonischen und israelitischen Sintfluterzählung- ist ungemein groß;
woraus wir schließen, daß das Fremdländische bei der Aneignung in
Israel sicherlich sehr stark |umgebildet worden ist. Charakteristische
Eigenschaften Israels, die auch in seiner Literatur hervortreten, sind
besonders folgende. Zunächst die starke Subjektivität, ja flammende
Leidenschaftlichkeit israelitischen Wesens. Der Hebräer ist nicht ge-
wohnt, die Dinge, die ihn im Innern bewegen, auch einmal nüchtern
und kühl zu betrachten. Der persönliche Feind erscheint ihm als Feind
der Menschen, ja Gottes selbst; der Abgrund müßte ihn verschlingen!
Sehr leicht bildet sich die Sage, die den Helden idealisiert und den
Feind zum Bösewicht stempelt. Mit einer uns unverständlichen Naivität
färben noch spätere Schriftsteller die überlieferte Geschichte. Freude hat
der Hebräer an allem Schwunghaften, Gewaltigen; seine Poesie ist voller
Pathos. Auch seine Religion hat etwas Explosives: sein Gott offenbart
sich in den furchtbarsten Erscheinungen der Natur. In der späteren Zeit
ist in Israel eine Vorliebe für das Idyllische, Zärtliche, Gemütvolle hervor-
getreten: Denkmäler dieser zum Weichen neigenden Richtung sind die
Kindheitsgeschichten, die Erzählungen von Joseph und Ruth und die Er-
güsse eines Hosea und Jeremias, sowie manche Psalmen. Begeistert ist
der Israelit besonders für sein Volk: man hat in Israel ein hoch ge-
steigertes nationales Ehrgefühl. Dazu haben seine Dichter eine wunder-
bare Kraft der Anschauung: an Bildern, die freilich nur angedeutet,
nicht ausgeführt zu werden pflegen, ist die hebräische Poesie überreich.
Die Kehrseite ist ein Mangel an logischem Denken: der Sprache
fehlen die Abstrakta, die Wortkompositionen und die Partikeln; in der
Syntax liebt sie die Koordination. So ist der schwache Punkt am hebräi-
schen Kunstwerk gewöhnlich die Disposition: der hebräische Dichter be-
gnügt sich, die Gedanken nebeneinanderzustellen, wie man Perlen auf
eg Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
eine Schnur reiht. Für zusammenhängendes, philosophisches Nachdenken
oder für die Bildung großer, einheitlich organisierter künstlerischer
Schöpfungen ist der Israelit nicht recht begabt. Groß aber ist der
hebräische Dichter da, wo er in kleinem Rahmen seine Begeisterung aus-
strömen und lebendige Anschauungen wiedergeben kann.
Profane, private I. Profane, private Gedichte. Israel hat, ehe es durch die großen
Katastrophen seines Staats und Volkstums (722. 586) gebrochen war, auch
ein starkes, natürliches Leben gelebt, und das hat sich auch in einer reich
entvvickelten Volksdichtung gespiegelt. Andeutungen darüber haben wir
vor allem bei den Propheten, die sich nicht scheuen, frisch in das Volks-
leben zu gTeifen, auch manchmal da, wo es recht natürlich ist. Auch
in Israel singen die Kinder auf der Straße beim Spiel, und die Er-
wachsenen bei der Arbeit auf dem Felde. In der Nacht aber schallt
hoch oben vom Turm des Wächters Lied. Oder die Jünglinge singen
im Dunkel ein Spottlied auf die einst gepriesene Schönheit (Jes. 23, 16).
Spottlieder, in denen sich das öffentliche Urteil kräftig ausspricht, spielen
bei Völkern dieser Kulturstufe eine große Rolle; und das größte Leid des
Unglücklichen ist es, in den Mund der Leute „im Tore" gekommen zu
sein. Alle Höhepunkte des Lebens sind vom Gesang begleitet. Den
Scheidenden entläßt man „mit Jauchzen und Singen bei Pauke und Zither"
(Gen. 31,27): in fröhlichen Liedern unterdrückt man den Abschiedsschmerz
und gibt dem Reisenden die besten Wünsche mit auf den Weg. Oder wenn
man satt ist der Speisen und der Wein das Herz erfreut hat, dann singt
man: „Wir wollen uns kränzen mit Rosen, ehe sie welken" (Sap. Sal. 2,8);
bei den Propheten sind uns gelegentlich Trinklieder überliefert, wenn
auch nur als Worte der Gottlosen. So werden auch die sieben Tage der
Hochzeit, die schönsten Tage des Lebens, ausgefüllt mit Rätselspiel,
mit Tanz und Lied. Begreiflich genug, daß uns die hebräischen Rätsel
verloren sind; so müssen uns die allein erhaltenen, geistreichen Rätsel
der Simsonerzählung als einziges Beispiel dienen. Auch der König in
seinem herrlichen Palast an prächtiger Königstafel will die Sänger und
Sängerinnen nicht entbehren. Wir besitzen noch in Ps. 45 ein prachtvolles
LiebesUed. KönigsHed, gesungen zur Hochzeit des Königs. Die Zeit der Lieder
aber ist der Frühling und das ewige Thema der Lieder bis zum Unter-
gang der Welt ist die Liebe. Wenn der Winter vergangen ist und der
Regen fortgezogen, wenn die Blumen sprießen auf der Flur, dann ist die
Zeit des Singens gekommen (Ct. 2, 12). Wir haben höchst merkwürdiger-
weise im Kanon eine Sammlung von köstlichen, aber ganz profanen
Liebesliedern, das Hohe Lied. Daß man dies Buch überhaupt in
den Kanon aufgenommen hat, läßt sich nur so verstehen, daß man es
einmal unter den Schätzen der Vergangenheit vorfand, und sich darum
auch verpflichtet fühlte, es irgendwie geistlich umzudeuten. Die Lieder
der Sammlung stammen zum Teil aus der ältesten, zum Teil aber auch
aus recht später Zeit: diese Gedichte sind also durch alle Epochen der
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750). cn
Leichcnlied.
Geschichte immer wieder gesungen worden. Charakteristisch für sie ist
eine naive, glühende SinnHchkeit und der stark entwickelte Sinn für die
Schönheit der Natur (Cornill). Zwei verschiedene Arten können wir darin
besonders unterscheiden, nämlich Lobpreise der Reize der Geliebten und
des Liebenden, und zwar der kühnsten Art, mit den stärksten Farben, und
ferner wundervolle kleine Erzählungen, wie sich das liebende Paar vereinigt.
Einige dieser Lieder mögen zum Preise der Braut bei der Hochzeit ge-
sungen worden sein. Auch sonst hören wir im Alten Testament g^elegent-
lich von Hochzeitsliedern, die man etwa singen mochte, wenn der Bräu-
tigam in feierlichem Zuge die Braut heimholt. — Aber auch ernstere siegesiied
und gewaltigere Töne kennt das hebräische Lied. Wenn der Held
der ältesten Zeit aus der Fehde wiederkehrt, dann singt er sich das
Siegeslied: er frohlockt über den gefallenen Feind und brüstet sich
damit vor seinen Frauen (Gen. 4, 2 3 f.). In ganz andere Situation ver-
setzt uns das Leichenlied. Wenn die Leiche auf der Bahre liegt, dann
versammeln sich die Angehörigen und Nachbarn, um dem Toten die
letzte, arme Ehre zu erweisen. Wie viele andere Gemütsbewegungen,
so ist auch die Totenklage in der Antike in fest vorg-eschriebene
Formen gegossen: man fastet, streut Asche aufs Haupt und zieht den
„Sack" an. Dann wird nach einer Sitte, die bei vielen anderen Völkern
vorkommt, zur Flöte der Leichengesang angestimmt, der den Toten
preist und sein Ende beklagt. Es gibt Klageweiber und -männer, die
sich auf Leichenklage verstehen. Gerade über diese Gattung der Leichen-
lieder sind wir vortrefflich unterrichtet, weil uns die wundervolle Klage
Davids über Sauls und Jonathans Fall erhalten (IL Sam. i, 19 ff.), und weil
es Sitte geworden ist, solche Leichenlieder in übertragenem Sinne auch
bei politischen Anlässen, beim Fall von Völkern und Städten zu singen.
Der Orient kennt auch Klag-efeiern für verstorbene Götter: so hat man
in Babylonien für Tammuz, in Phönizien für Adonis, in Ägypten für Osiris
die Klage gesungen; so hören wir g-elegentlich von der Klagte Hadad-
rimmons zu Megiddo in Kanaan (Sach. 12, 11); ein Nachhall solcher
Götterklagen mag das Trauerfest sein, das die Töchter Gileads all-
jährlich um Jephtas jungfräuliche Tochter begingen (Jud. 11,40). Wie
David, so ist auch Salomo als Dichter in Israel bis in späteste Zeit
berühmt gewesen. 1005 Lieder zählte man von ihm, von denen nur eines,
der majestätische Tempelweihspruch (I. Reg. 8, 12 f.), auf uns gekommen ist.
Die „Weisheit" des Salomo, von der wir keine Proben haben, wird
uns doch in den historischen Berichten so deutlich beschrieben, daß wir
davon eine bestimmte Anschauung erhalten. Der Inhalt dieser Weisheit
war Naturdichtung: Salomo redete über die Bäume, von der herrlichen
Zeder an bis zum gemeinen Ysop, über die Tiere, die Vögel, das Gewürm
und die Fische. Nichts von allem Geschaffenen entging seinem Geist: er
besaß von Gott „Weite des Herzens" wie der Sand am Meer; und seiner
Sprüche waren dreitausend. Die Form aber dieser Naturbeschreibung
Salomos
„Weisheit"
6o Hermann Günkel: Die israelitische Literatur.
war das Rätsel. Er beschrieb, so dürfen wir uns vorstellen, die heimi-
schen Tiere und Pflanzen in kühnsten Metaphern, und er kannte die fremdesten
Wesen, von denen sonst nur der weitgereiste Araber weiß. Diese Art
der „Weisheit" wird in Israel etwas Neues gewesen sein, fremdländisch
wie alles andere, was Salomos Herz erfreute: seine Weisheit war größer
als die der Ostländer und der Ag3^pter. Auch die Namen anderer Dichter,
wie es scheint, derselben Gattung, kennen wir, aber freilich nur die
Namen.
Politische 2. Politische Gedichte. Am meisten Material ist uns aus der
Gedichte.
politischen Dichtung der alten Zeit überliefert: da haben wir eine
große Zahl umfangreicher Gedichte, von denen nicht wenige von unver-
gänglicher Herrlichkeit sind. Das alte Israel ist, das sehen wir an vielen
Spuren, ein hervorragend politisch interessiertes Volk gewesen. Die
öffentlichen Angelegenheiten greifen dem ganzen Volk an Herz und
Nieren. Darum hat dort die politische Dichtung so kräftig geblüht: sie
sprach die Stimmungen eines ganzen Volkes aus. Und der politische
Gegenstand schloß keineswegs die Religion aus. Israels Religion war eine
Nationalreligion: es gehört zu Jahves Wesen, daß er dieses Volkes Gott
ist: und wer an Israel denkt, denkt zugleich an seinen Gott. Wenn das
Banner auf den Bergen aufgepflanzt wird und der Lärmruf erschallt, dann
heißt es: kommt Jahve zu Hilfe unter den Helden! Darum ist die poli-
tische Dichtung sehr vielfach zugleich religiöser Art: das Siegeslied ver-
herrlicht den Helden, der die Schlacht gewonnen, und den Gott, der ihm
geholfen hat. Andererseits gibt es auch politische Lieder, in denen das
Religiöse zurücktritt oder ganz fehlt. Solche Lieder muß es in alter Zeit
sehr viele gegeben haben: keine größere Begebenheit ohne Gedicht. Und
Samminngen djesc Gedichte haben lange Zeit im Volke gfelebt. Es werden uns noch
politischer *-" "-^
Gedichte, zwei alte Liedersammlungen genannt, aus denen uns einzelnes überliefert
ist: „das Buch der Kriege Jahves", das seinem Titel nach Schlacht-
gesänge enthielt, und das „Buch des Redlichen" (nach anderer Lesart
und vielleicht besser: „das Liederbuch" zu übersetzen). Die spätere Zeit,
die sich an solchen uralten Liedern begreiflichenv^eise nicht erbauen
konnte, hat diese Sammlungen verloren gehen lassen; ebenso, wie Ge-
dichte dieser Art auch im Psalter im allgemeinen nicht überliefert sind.
Innerhalb des erhaltenen Materials unterscheiden wir verschiedene
.«^cUachtiieder. Arten. Zuuäch.st die Lieder, die im Kriege gesungen werden. Ehe der
Krieg begonnen ist, wenn einige wenige, besonders Begeisterte die
Schmach des Friedens und die Notu^endigkeit des Krieges empfinden,
aber die Masse der störrigen Bauern noch in ihrer Trägheit verharrt,
dann geht vielleicht ein Lied durchs Land, dessen hinreißender Macht
die Gemüter nicht widerstehen können. Durch ein solches Lied hat De-
bora ihr Volk mit fortgerissen (Jud. 5, 12). Ein solches Lied — es ist das
Lied des Seba' — hat Davids Thron erschüttert und schließlich seinem
Geschlecht die Herrschaft über Israel gekostet. Ein Lied singend, stürmen
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750). 61
Israels Heerscharen in die Schlacht; wir besitzen noch das uralte Lied,
das man in den Kämpfen gegen Amalek zu singen pflegte. Wenn dann
der Sieg errungen ist, so erhebt unter dem siegreichen Heer der Sänger
seine jubelnde Stimme. So ist am Tage von Gibeon Josuas Lied gesungen siegesUeder.
worden: „Sonne, steh still in Gibeon!" Und so schon jenes erste Triumph-
lied Israels, das Miriam, Mosis Schwester, sang:
„Singet dem Jahve, denn hoch erhob er sich!
Roß und Wagen schoß er ins Meer!"
Dies Lied, gegen dessen Echtheit schwerlich etwas einzuwenden ist, ist von
späterer Hand zu einem großen Passagedicht weiter ausgeführt worden. Das
schönste der Siegeslieder aber, zugleich das Prachtstück der ganzen poli-
tischen Gattung, ist das herrliche Deboralied (Jud. 5). Das Gedicht schreitet
majestätisch einher: es verherrlicht den Gott, der vom Sinai her in all
seiner Furchtbarkeit seinem Volke zu Hilfe kam; es preist die Stämme,
die gegen Kanaans Könige aufstanden, und ihre heldenhaften Führer;
bitteren Spott ergießt es über diejenigen, die zurückgeblieben sind; ge-
waltig schildert es die Schlacht, deren Gesamtverlauf sich freilich der Auf-
fassung* des Dichters entzieht; jauchzend preist es das kenitische Weib,
das den feindlichen König- meuchlings erschlug, und freut sich zum Schluß
mit grausamem Frohlocken an dem Bilde, wie die Mutter des Toten ihren
Sohn vergebens erwartet. So wird das Siegeslied zugleich zum Spottlied
über den Gefallenen. Der politischen Spottlieder mag Israel viele ge- SpottUeder.
dichtet haben; wir haben das Lied über Hesbons Sturz und viele Nach-
ahmungen der Gattung bei den Propheten. Wenn dann aber das sieg-
reiche Heer in der Heimat einzieht, so kommen die Mädchen ihm entgegen
und singen im Reigen mit Pauken und Zymbeln jauchzend das Siegeslied
(I. Sam. 18, 6 ff.). Wie in Babylonien, Assyrien und Ägypten haben die Sänger KönigsUeder.
auch in Israel die Könige verherrlicht. Solcher Königsgedichte lesen
wir einige in den Psalmen (Ps. 2. 20. 21.45. 72. iio). Für diese Lieder ist
charakteristisch die Überschwenglichkeit; sie verherrlichen „Jahves Ge-
salbten", seine Huld und Heldenkraft, seine Frömmigkeit und die Pracht
seines Hofes und wünschen ihm, was man nur wünschen kann; ja sie ver-
kündigen ihm in Jahves Namen Sieg über seine Feinde und Ewigkeit
seiner Herrschaft oder wenigstens seines Namens. Und selbst die escha-
tologischen Hoffnungen übertragen sie auf ihn und flechten den Reif des
Messias, des kommenden Völkerkönigs aus Israel, um sein geweihtes Haupt,
Die meisten der überlieferten Königslieder stammen aus dem Reiche Juda
und wohl aus der späteren Zeit des Staates. Man hat sie dieser Epoche
nicht zugetraut und für nachexilisch halten wollen: ein Urteil, das dem-
jenigen nicht einleuchten wird, der die ähnlichen Gedichte der anderen
antiken orientalischen Völker vergleicht. Ein besonders eigentümliches
Königslied sind „Davids letzte Worte" (II. Sam. 22,, i — 7), in denen der
König selbst als Jahves Inspirierter auftritt und das Gedeihen seiner
Herrschaft, ja die Ewigkeit seines Hauses verkündet. Auch der baby-
62 Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
Pseudonyme lonischc König hätte etwa so sprechen können. SchheßUch die pseudo-
sl'^^ang"en^ n}niien Fluch- und Segenssprüche, der Segen Jakobs (Gen. 49), der Segen
^Mosis (Dt. ^^) und Bileams Sprüche (Xum. 23 f.). Der antike Hebräer
glaubt an die geheime Kraft des gesprochenen Wortes und ist über-
zeugt, daß es Menschen gibt und gegeben hat, fähig-, wirksam zu
fluchen und zu segnen. Hier beschwört nun der Dichter Männer der
Urzeit aus dem Grabe und läßt sie über Israel und Israels Stämme
herrliche Segnungen aussprechen ; und dies alles — so soll der Leser
hinzudenken — ist jetzt erfüllt! Diese Lieder also sind es vor
anderen, in denen Israel die stolze Freude über seine nationale Größe
ausspricht.
Gottesdienst- 3- Go tt es di enstliche Lieder. Viele von den Liedern, die wir bisher
besprochen haben, stehen schon mit einem Fuße in der religiösen Lyrik.
Jene alte Zeit, in ihrer urwüchsigen Frische, kannte keine so deutliche
Unterscheidung des Profanen und Religiösen wie wir. Ihr erschien es als
ganz natürlich, daß man die Religion mit in Gegenstände hineinnahm, die uns
weit davon entfernt zu sein scheinen: ist doch selbst der fröhliche Held
Simson, der die Philister in Scharen erschlägt und ihren Töchtern liebe-
bedürftig nachstellt, zugleich ein Geweihter Jahves, der im Geiste des
Gottes seine Heldentaten ausführt. Aber neben diesen profanen Gattungen
mit religiösem Einschlage hat es auch eine besondere religiöse Lyrik ge-
Aher der geben. Daß dies der Fall ist, ist uns ausdrücklich bezeugt (z. B. Ex.
reigiosen yn^. ^ ^ ^ ^g^ ^^^g ^^ 23) und ja Schließlich auch selbstverständlich: ein Volk,
das poetisch so hochbegabt war, und in dem die Religion eine so be-
deutende Stellung einnahm, muß auch religiöse Gedichte erzeugt haben.
Freilich das Buch der Psalmen gehört, wenigstens seiner Hauptmasse und
seinem Gesamteindruck nach, nicht in diese ältere Zeit, wie uns die
mancherlei Anspielungen auf nachexilische politische und soziale Verhält-
nisse, die vielfache geistige Abhängigkeit von Propheten und Gesetz, die
jüngere Sprache einiger Psalmen sowie allerlei literarische Beziehungen
zeigen. Wenn aber auch die meisten der erhaltenen Psalmen einem späteren
Zeitalter angehören mögen, so ist doch damit die Frage noch nicht erledigt,
ob nicht die Gattung der Psalmen als solche schon in viel früherer Zeit ent-
standen sei. Hierauf führt vor allem der Umstand, daß uns babylonische
und nun auch ägA'ptische Psalmen bekannt sind, die ihrem Inhalt und be-
sonders ihrer Formensprache nach den biblischen Psalmen vielfach nahe
stehen, und die ihrerseits ohne jeden Zweifel in eine für Israel prähisto-
rische Zeit gehören. Vor allem aber finden wir in den prophetischen
Büchern eine Fülle lyrischer Partieen, die uns eine sehr deutliche An-
schauung von der Lyrik jener Zeit geben; und die Formen dieser prophe-
tischen Lyrik sind mit denen der Psalmen im w^esentlichen identisch.
Indem wir mit diesen prophetischen Gedichten allerlei Notizen in histo-
rischen Büchern und in Gesetzen kombinieren, und dabei mit Vorsicht
diejenigen Lieder und Stücke der Psalmen, die wir aus Gründen der
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750). 6^
Religions- und Literaturgeschichte für die ältesten halten dürfen, heran-
ziehen, dürfen wir eine Rekonstruktion der religiösen Dichtung der
älteren Epoche wagen.
Alteste religiöse Dichtung ist in Israel und anderswo Kultus- Älteste Kultus-
dichtung-. Der antike Gottesdienst, auch in Israel, besteht aus einer
Menge mannigfaltiger Handlungen. Da werden Opfer aller Art gebracht
und verschiedenfache Zeremonieen vorgenommen: die Gläubigen wandern
zum Fest nach dem Heiligtum; daselbst ziehen sie in Prozession im
Tanzschritt einher. Oder es finden auch große Klagefeste statt, wo man
vor Jahve fastet und betet. Neben solchem öffentlichen Dienst gibt es
auch Zeremonieen privater Art: das Kind wird am gesetzmäßigen Tage
beschnitten, der vormals Aussätzige wird vom Priester für rein er-
klärt u. a. m. — Nun hören wir an vielen Stellen, daß solche gottesdienst-
liche Handlungen von heiligen, gewiß altüberlieferten Worten begleitet
waren, in denen der Sinn der Handlung ausgesprochen war. Wenn z. B.
ein Toter auf dem Lande gefunden worden ist, so brechen die Ältesten
der nächsten Ortschaft einer jungen Kuh das Genick, waschen sich darüber
ihre Hände und sprechen dazu: unsere Hände haben das Blut nicht ver-
gossen, unsere Augen haben es nicht gesehen (Dt. 21, i — g). Oder wenn der
öffentliche Gottesdienst zu Ende ist, dann erhebt der Priester, am Altar
stehend, seine Hände über das Volk und spricht dazu die ehrwürdigen
Worte: „Jahve segne dich und behüte dich" (Num. 6, 24 ff.). Solche Worte
haben ganz gewöhnlich poetische Form: Zauberworte, Orakel, liturgische
Formeln sind bei den Völkern der ganzen Welt und auch in Israel rhyth-
misch g-egliedert. Von solchen Kultusliedern sind wohl die ältesten,
die wir besitzen, jene Lieder, die man beim Aufheben und beim Nieder-
setzen der Jahvelade zu singen pflegte. Israel hat die Lade als ein Pal-
ladium mit in den Krieg geführt und, wie es scheint, als einen Thronsitz
seines Gottes betrachtet. Darum, wenn man die Lade in die Höhe nahm,
mit in die heilige Schlacht, dann sang „Moses":
„Stehe auf, Jahve, daß deine Feinde zerstieben,
und deine Hasser vor dir fliehen" (Num. 10, 35)!
Dies das Muster eines Kultusliedes, bei dem Handlung und Wort untrenn-
bar zusammengehören: man sang das Lied nur, wenn man die Handlung
vornahm. — Oder das Beschwörungslied, wenn man einen Brunnen grub:
,, Walle auf, o Brunnen! Singet ihm zu" (Num. 16, 17 f.)!
Sehr deutlich ist die Handlung zu ergänzen auch bei Ps. 24, 7 — 10:
,, Erhebt, ihr Tore, die Häupter,
erhebt euch, ihr uralten Pforten,
denn der herrliche König zieht ein!"
Dies Lied ist von einem Chor gesungen, der vor dem Tempeltor steht,
im Begriff, mitsamt einem göttlichen Symbol, das er in seiner Mitte hat,
ins Heiligtum einzuziehen; der Gottesname, der dabei genannt wird, Jahve
64
Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
Hauptarten der
K^ultoslieder.
Hymnen.
Öffentliche
Klagelieder.
Religiöse Lieder
des Einzelnen.
Zebaoth, beweist, daß dies Symbol die Lade ist. Wir dürfen das Lied
also auf ein Fest beziehen, in dem man die Feier des Einzuges der Lade
in das Heiligtum von Zion beging-. Andere Einzugslieder besitzen wir in
den Psalmen und kling^en in den Propheten nach. — Auch von Wallfahrts-
liedem hören wir. Die Wallfahrt wird gemeinsam von dem ganzen Gau
unternommen; sehr begreif lieh, daß dabei gesungen wird. So redet Jesaias
(30, 29) von der Freude „des Wallfahrers zum Flötenspiel, wenn er zieht
auf Jahves Berg, zum Felsen Israels". Wenn der Prophet schildern will,
wie sich einst die Heiden zu Jahve bekehren, so stimmt er im voraus,
die Wallfahrtslieder seiner Zeit nachahmend, den Gesang an, den sie singen
werden, wenn sie gemeinsam zum Zion wallfahren: „Kommt, laßt uns
ziehen auf Jahves Berg" (Jes. 2, 3; Micha 4, 2).
Hauptarten solcher Kultuslieder sind folgende:
a) Besonders gut unterrichtet sind wir über den Hymnus (t°hilla), so
daß wir die Formen, die er gewöhnlich trägt, und die Hauptstoffe, die er
behandelt, wohl anzugeben wissen. Die immer wiederkehrende Form ist
seit jenem uralten Miriamliede diese, daß der Vorsänger den Chor auffordert,
mit ihm den Gott zu preisen: Rühmet Jahve, preiset Jahve, singet Jahve, ihr
Frommen, Tochter Zion, — und immer großartiger — ihr Völker, alle Lande,
Himmel und Erde, ihr Göttersöhne! Denn wer ist wie Jahve unter den
Göttern? wie wunderbar seine Macht, seine Herrlichkeit in Feuer und
Erdbeben, seine himmlische Wohnung, seine Machttaten in der Vergangen-
heit — hier klingt nicht selten mythologischer Stoff nach — , seine
Gnade für Israel, seine Majestät als des Schöpfers und des Herrn der
Welt! Sehr häufig ist in den Hymnen Israels wie auch in denen der
Babylonier und Ag}"pter, daß die einzelnen Ehrenprädikate der Gottheit
in der Form vieler koordinierter Partizipien oder sonstiger Attribute dem
göttlichen Namen hinzugefügt werden. Die herrschende Stimmung der
Hymnen ist die Begeisterung für den herrlichen Gott; ihr Zweck ist ur-
sprünglich, den Gott, den man so rühmt, zu erfreuen. Um solche Hymnen
zu verstehen, müssen wir uns die Situation vergegenwärtigen, in der sie
gesungen sind: ein ganzes Volk stimmt sie brausend an, im Vorhof um-
herziehend, tanzend, jubelnd, in die Hände klatschend, zum lauten Schall
der Instrumente.
b) Neben den freudigen Festen stehen die Trauerfeiern der Ge-
meinde. Wenn Miß wachs, Pestilenz oder Feindesnot das Volk plagt,
hält man das Klagefest. Da zerreißt sich alles an der heiligen Stätte die
Kleider, fastet, weint und jammert vor Jahve. Wir haben in den Psalmen
eine Menge von Liedern, die bei solcher Landestrauer aufgeführt worden
sind; und wie alt die Gattung ist, zeigen die Nachahmungen bei den Pro-
pheten.
Seltener hören wir in der alten Zeit von Kultusliedern, die der ein-
zelne Fromme singt; aber auch diese muß es gegeben haben. In den
Psalmen besitzen wir
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750). 6s
c) Dankopferlieder. Wenn ein Mensch aus großer Not errettet istDankopferiieder.
und Jahve dankbaren Herzens ein Opfer bringt, so pflegt er, an bestimmter
Stelle der heiligen Handlung, ein Lied zu singen, in dem er seinen Dank
abstattet (töda). Ein gewöhnliches Stück solcher Dankopferlieder ist die
Erzählung des Dankenden von seiner Not, seinem Gebet, seiner Errettung
und schließlich das Bekenntnis, worin er Gott die Ehre gibt. Das Alter
auch dieser Gattung bezeugt Jen 7,;^, n, wonach damals das gebräuchliche
Dankopferlied war:
„Danket Jahve, denn er ist gütig,
denn ewig währet seine Gnade".
d) Wie nun neben den Dankliedern des Einzelnen die Hymnen des Klagelieder der
Volkes stehen, so neben den Klageliedern der Gemeinde die kultischen Einzelnen.
Klagelieder des Einzelnen. Zwar sind uns durch die Ungunst des
Schicksals solche Gesänge nicht überliefert. Dennoch sind wir imstande,
uns von ihnen ein ziemlich deutliches Bild zu machen. Besitzen wir doch
im Psalter und bei den Propheten eine sehr große Menge von Klage-
liedern nicht-kultischer Art, aus denen wir die ältere Form wiederher-
stellen können. Nach vielen Anspielungen handelt es sich dabei in älterer
Zeit ganz gewöhnlich um Krankheit, worin der Israelit etwas unmittelbar
Göttliches, einen „Gottesschlag", die göttliche Strafe für seine Sünde, ge-
sehen hat. In solcher Not ging der Leidende ins Heiligtum, um dort Hei-
lung zu erbitten; es muß gewisse Riten gegeben haben, in denen ihm auf
sein Gebet Vergebung seiner Sünde zugesprochen wurde, oder in denen er
vor Gott seine Reinheit von schwerer Schuld feierlich bezeugte. In ersterem
Fall singt der Kranke einen Bußpsalm: „Entsündige mich mit Ysop", d.h.
sprenge reines Wasser über mich, „daß ich rein" und g-esund „werde"
(Ps. 51,9). Im zweiten Falle aber wäscht er feierlich die Hände und bezeugt
zugleich seine Unschuld: „ich wasche in Unschuld meine Hände" (Ps. 26, 6).
Wir erschließen Situation und Handlung^ solcher kultischen Lieder aus den
späteren Psalmen; wissen wir doch, daß in den Bildern der Poesie viel-
fach ältestes Gut fortlebt. Daß aber diese Rekonstruktion richtig ist, er-
kennen wir an den babylonischen Büß- und Klageliedern, die gleich-
falls am Heiligtum von Kranken zu Reinigungszeremonieen gesungen
worden sind.
Einige der bisher besprochenen Lieder sind, wie wir ausdrücklich voiks- und
hören, vom Volkschor aufgeführt, andere aber sind von Sängern und ^"^" >c't"ug'
Sängerinnen gesungen und gedichtet worden; wir dürfen die ganz kurzen
Lieder dem Volkschor und der Volksdichtung zuschreiben, während die
längeren wie das „Deboralied" von Sängern, d. h. wirklichen „Kunst-
dichtern" abzuleiten sind. Den Stoffen nach werden sich diese Volks-
und Sängerlieder wenig unterschieden haben; nur die „Weisheit" Salomos
war eine reine „Kunstdichtung".
Die zweite Hauptklasse, die in der alten Zeit neben der Lyrik ge- Poetische
blüht hat, ist die Erzählung. Wir unterscheiden die poetische, erdichtete Erzählungen.
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 5
56 Hermann Gunkel: Die israelitisclie Literatur.
Erzählung, die erfreuen, begeistern, rühren will, von der strengen „Historie",
der es darauf ankommt, Tatsachen der Vergangenheit zu berichten. Die
erstere ist in einem Volke wie Israel die Regel, die zweite, die eine be-
stimmte geistige Kraft objektiver Betrachtung voraussetzt, immer nur eine
Ausnahme; die erstere ist im Volke beliebt, die zweite das Eigentum ge-
wisser gebildeterer Kreise. Solche poetische Erzählungen sind — darin
unterscheidet sich ein antikes Volk wie Israel von den modernen — nicht
bewußte Dichtungen Einzelner, sondern sie ruhen auf Überlieferung: wer
sie erzählt und hört, hält sie naiv für „wahre" Geschichten. Sie sind von
alter Zeit her fortgepflanzt von Mund zu Mund, ebenso wie Volkslied und
Volksrecht, und tragen daher das Gepräge des Kreises, der an ihnen jahr-
hundertelang geformt hat. Von der „Historie" unterscheiden sie sich auch
dadurch, daß sie zunächst nicht geschrieben, sondern mündlich bestehen,
bis sie schließlich gesammelt und niedergeschrieben werden.
Die Gattungen der poetischen Erzählung im älteren Israel sind
Mvthus, Sage, Märchen und Fabel; später kommen noch die ausgeführtere
„Novelle" und die geistliche „Legende" hinzu.
Der Mythni. 4. Der Mythus. Wir definieren für unsere Zwecke den Mythus
aufs einfachste als eine Erzählung, deren handelnde Personen Götter sind,
während in der Sage Menschen auftreten. Damit ist zugleich der Haupt-
unterschied beider Gattungen gegeben: was Gott und Göttern zukommt,
ist gewaltiger, als was man IMenschen zutrauen mag. Im Mythus also
gelten andere Voraussetzungen, andere Dimensionen als in der Sage. Da
schlägt ein Ungeheuer mit seinem Schwanz die Sterne vom Himmel (Ap.
Joh. 12,4), oder da wächst ein Baum auf, der die Wurzeln im Meer unter
der Erde hat und die ganze Welt mit seinen Zweigen beschattet (Ez. 31). —
M}-then stammen aus der Urzeit des menschlichen Geschlechts. Historische
Völker erzeugen keine Mythen mehr. Dies gilt im besonderen Maße für
Israel. Denn der Zug der Religion dieses Volkes geht von Anfang an
zur Verehrung eines Gottes: Mythen aber sind eigentlich nur im Poly-
theismus denkbar: in einer „Göttergeschichte" treten mehrere Götter auf.
Dies ist der Grund, weshalb wir eigentliche Mythen, rein und voll-
ständig überliefert, nirgends im Alten Testament antreffen. Anderer-
seits aber stand Israel zu verschiedenen Zeiten seiner Geschichte zu sehr
unter dem Einfluß der Fremde, als daß es nicht mit mythischem Stoff
bekannt, ja geradezu von ihm überschwemmt worden wäre. Auch war
die ältere Zeit noch nicht so entschieden monotheistisch gestimmt, und
mancherlei m}'thische Erinnerungen, die man in Prosa nicht ertragen hätte,
hat man doch wenigstens den Dichtern nachgesehen. Darum findet sich
im Alten Testament dennoch mannigfaches mythisches Material, wenn-
auch in allerlei Abschwächungen und Verkürzungen.
Mythen in der So sind Ursprüngliche Mythen die meisten Erzählungen von der Ur-
ürgeschichte. ir o j o
geschichte in der Genesis (i — 11); das sind die aller Welt bekannten Ge-
schichten von der Weltschöpfung, dann die Paradieseserzählung, der eine
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750). 6?
andere, ganz antiken Geist atmende Geschichte von den Entstehungen
vorangestellt ist (2, 4b ff.), sodann das Fragment von den Ehen der
„Gottessöhne" mit den Menschentöchtern (6, i — 4), schließlich die Sintflut-
und Turmbaugeschichten. Vergleicht man die babylonische Sintfluterzäh-
lung in all ihrer buntfarbigen, grotesken Mythologie mit der biblischen
Geschichte, so erkennt man, wie stark hier der eigentümliche Geist Israels
gearbeitet und das Mythische nach Möglichkeit ausgetrieben hat. Nichts
mehr in diesen Erzählungen von Theogonie, von Ehen der Götter und
von ihren Kämpfen! Kein anderer Name als der Jahves wird genannt.
Eine höhere und reinere Religion hat die Geschichten von Grund aus
verändert und sie mit neuen und tieferen Gedanken erfüllt. Es ist ein
wahres Wunderwerk, das Israel so vollbracht hat; und vielleicht darf man
sagen, daß diese Geschichten es sind, die in ihrer eigentümlichen Ver-
bindung von Gedankenhoheit und kindlicher Form unter allen Stücken
der Bibel den stärksten Einfliiß auf alle Bibelvölker ausgeübt haben.
Eine erstaunliche Fülle mythischen Stoffes aber ist uns bei den Mythisches bei
Dichtem.
hebräischen Dichtem aus allen Zeiten überliefert; haben doch die Dichter
aller Völker stets die altererbten, herrlichen Mythen geliebt. Und was
für ein dankbarer Stoff sind diese altorientalischen Mythen mit ihren
brennenden Farben und ihrer gewaltigen Leidenschaft! Ja, selbst Pro-
pheten haben trotz ihres entschiedenen Monotheismus, wenn sie nur ein
Dichterherz im Leibe hatten, die heidnischen Stoffe nicht verschmäht!
So ist denn die poetische Sprache im Hebräischen des Mythischen über-
voll: da wird das Totenreich unter der Erde einem grimmigen Ungetüm
verglichen, das den Rachen aufsperrt ohn' Maßen (Jes. 5, 14), oder einer
gewaltigen Festung mit unzerbrechlichen Toren und Riegeln (Jes. 38, 10;
Jonas 2, 7); oder das hebräische Klagelied beschreibt die Hadesfahrt des
Toten, der zu den Wassern der Unterwelt hinabmuß, wie man in heid-
nischen Mythen etwa von Istars Höllenfahrt sprechen mag. Die hebräische
Kosmologie ist nie ganz aus dem Mythischen herausgekommen: sie redet
z. B. von Jahves „Obergemach", dem Himmel, wo sein Thron auf den
himmlischen Wassern steht, von seinem Sturmrosse, von seiner Donner-
stimme und von den Blitzen als seinen Pfeilen. Mythische Reminiszenz ist
es auch, wenn die Feminina tebel (Fruchterde), t^hom (Urmeer, unterirdisches
Meer), s^'ol (Totenreich) stets ohne Artikel, also wie Eigennamen ge-
braucht werden; ursprünglich sind diese Wesen einmal Göttinnen ge-
wesen.
x\ußer solchem, mehr oder weniger verschollenen mythischen Gut
aber sind auch ausführlichere Anspielungen an Mythen, die als bekannt
vorausgesetzt werden, auf uns gekommen. So hören wir von Helal, Sahars
Sohn (wohl dem Morgenstern), der auf den Wolken zum Himmel empor
wollte und hoch über die Gottessteme erheben den Thron, aber zur
Unterwelt hinab mußte, in den tiefsten Schlund (Jes. 14,12 — 15). Besonders
besitzen wir eine ganze Reihe poetischer Varianten der Schöpfimgserzäh-
5=^
68 Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
lung-, wonach Jahve vor der Schöpfung mit einem Wasserungeheuer
gekämpft hat, das vor ihm die Welt beherrscht hatte (Jes. 51, 9 f.;
Ps. 89, 10 if.). In einigen dieser Varianten ist das Mythologische stärker
ausgemerzt: da sind es nur noch Wasser, die Jahves Donnerhall ver-
scheucht hat (Ps. 104, 5 — 9). Dieser Mythus erinnert lebhaft an die baby-
lonische ]\larduk-Tiämat- Geschichte; doch mag- auch Ägyptisches und
anderes mit eingeflossen sein. Einige Stellen spielen an den Mythus
vom Gottesbaume . an, der, aus der T*^hom entsprossen, bis zu den Wolken
seine Zweige streckte, aber abgehauen ward, daß seine Äste in alle Täler
fielen (Ez. 31). Der Wurzelstock des Baumes aber bleibt, in ehernen
Fesseln gebunden, im Boden fest (Dan. 4). Das ist ursprünglich der Baum
der Nacht, der die ganze Welt überschattet, an jedem Morgen von Götter-
hand abgehauen wird und doch unaustilg^bar ist: seine Wurzel bleibt. Der
beliebteste mjlhische Stoff aber bei hebräischen Dichtern ist die Be-
schreibung, wie Jahve sich mit den Schrecknissen des Vulkans, des Erd-
bebens, Sturmes und Gewitters aufmacht, zum Krieg g"egen seinen Feind.
Diese Erzählung ist ursprünglich am Sinai lokalisiert gewesen.
Mythisches bei Bei den Propheten finden wir Mythisches besonders an zwei Stellen:
den Propheten. .. • -i -it- • -11 t>v 1 r~» 1 • n • /—
zunächst, wo sie ihre Visionen erzählen. Denn der Prophet sieht im Ge-
sichte den Himmel und das Göttliche in derjenigen Gestalt, die es in
der religiösen Phantasie des Volkes besitzt; hier also öffnet sich eine
Hintertür, wo sich, dem Propheten unbewußt, Mythisches einschleicht. So
redet Jesaias von den Saraphen, furchtbaren Ungeheuern, die Jahves
Thron umgeben (Jes. 6), und Ezechiel von dem wunderbaren Thronwagen,
auf dem Jahve, von Keruben getragen, sitzt und fährt (Ez. i); ganz erfüllt
aber sind von Mythischem die Nachtgesichte des Sacharia und die Visionen
Daniels. — Bei weitem bedeutsamer aber ist, daß die Eschatologie der
Propheten, namentlich da, wo sie die zukünftigen Schicksale der Welt
darstellt, sehr vielfach mythologisches Gut mitführt: Mythen der Urzeit
haben die Farben hergegeben, um die Endzeit auszumalen. So weissagen
die Propheten von einem neuen „Chaos" und dann von einem „neuen
Himmel" und einer „neuen Erde". Ungeheure Katastrophen werden über
die Erde kommen, eine neue Sintflut, ein Weltensturm; die Berge stürzen
nieder, die Erde kracht auseinander, die Sonne erlischt, die Sterne fallen,
die Nacht bricht herein. Aber dann kommt eine neue Schöpfung, ein
neuer Tag; ein zweites goldenes Zeitalter beginnt und Frieden ist überall.
Das göttliche Kind wird geboren; in den Hades leuchtet ein helles Licht.
Der Götterberg erscheint den Blicken, und auf ihm ragt die heilige Stadt,
von der große Ströme ins Land gehen. Alles dieses und noch vieles
andere in der prophetischen Eschatologie ist offenkundig mythischen Ur-
sprunges; freilich sind uns auch hier, wenigstens bei den Propheten im
Unterschiede von der späteren Apokalyptik, nur abgerissene Bruchstücke
mythischer Traditionen überliefert,
gebkite^sagen' Dazu kommen schließlich noch die mancherlei mythischen Stoffe, die
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750). 6q
uns, ZU Sagen heruntergedrückt, vorliegen. So ist die Sage von Jonas'
Aufenthalt im Bauche des Fisches ursprünglich wohl ein Mythus vom
Sonnengott, der am Abend oder im Winter vom Meeresungetüm ver-
schlungen wird. An Mythisches erinnert auch Einzelnes in der Simson-
erzählung-, die Erzählung von Elias' Himmelfahrt und besonders die in
späterer Zeit ins Judentum eingedrungene Geschichte von Ester, deren
Name nichts anderes als Istar ist, während Mardochaj von Marduk her-
kommt, u. a. m.
Alles zusammengenommen also, ein unerwartet reichhaltiges mythi-
sches Material: Denkmal des Kampfes, den Israel gegen den Polytheis-
mus hat kämpfen müssen.
5. Die Sage. Während uns der Mythus so nur in Bruchstücken Die sage,
überliefert ist, hat sich die Sage in Israel um so reicher entwickelt. Und
diese Sagen g^ehören zu den schönsten, erhabensten und anmutigsten, die
es überhaupt in der Weltliteratur gibt; sie sind es, um deretwillen die
Kinder und die Künstler das Alte Testament von jeher geliebt haben.
In dem umfangreichen Material müssen drei Gruppen unterschieden
werden; die Ursagen, die wir schon behandelt haben, und die, wie wir
gesehen haben, abgeblaßte Mythen sind; sodann die Vätersagen im
zweiten Teil der Genesis, die von den Ahnherren Israels handeln, schließ-
lich die Sagen der folgenden „historischen" Bücher, die von einzelnen
Volkshelden erzählen.
In den Vätersagen ist die Grundanschauung, daß Israel wie alle Vätersagen.
anderen Völker von je einer Familie herkomme, die sich immer mehr
ausgebreitet habe, so daß man imstande sei, die Namen der Ahnherren
zu nennen und von ihnen Geschichten zu erzählen. Es ist hier nicht
der Ort, zu untersuchen, wie diese uns sonderbar erscheinende Theorie
entstanden sei; genug, daß sie in Israel so festgewurzelt war, daß
sie schon durch die Sprache vertreten wurde: man sprach von „Söhnen
Israels". — Nicht selten vermögen wir Motive dieser Vätersagen in ihrem Herkunft einiger
ursprünglichen Sinne zu verstehen. So beobachten wir, daß darin Völker-
verhältnisse im Bilde der Familiengeschichte geschildert werden: die
zwölf Söhne Jakobs stellen die zwölf Stämme Israels dar, und die Ver-
wandtschaft Israels mit Ammon und Moab ist gemeint, wenn Lot, Ammons
„Vater", der „Neffe" Abrahams genannt wird. Oder Ereignisse der alten
Zeit kehren in solcher Form wieder: so berichten einige Sagen von
Wanderungen von Mesopotamien nach Kanaan; in der Tamargeschichte
(Gen. 38) hören wir von dem Geschick der ältesten Geschlechter
Judas, in der Sichemsage (Gen. 34) von einem Überfall auf die Stadt
Sichem und vom Untergang der Stämme Simeon und Levi. Dabei
sind die Völkertypen oft wunderbar treu aufgefaßt und lebensvoll
geschildert, z. B. wenn die Sage den klugen Hirten Jakob und den in
den Tag hineinlebenden Jäger Esau einander gegenüberstellt. — Dazu
kommen allerlei „ätiologische" Motive. Es gibt eine Menge von
•jQ Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
Fragen, die ein antikes Volk aufwirft, und die es sich, so gut es kann,
selbst beantwortet, indem es eine kleine Geschichte erfindet. Die Fragen,
die so eine naive Antwort erhalten, sind dieselben, die auch unsere
Wissenschaften beschäftigen, und wenn wir nun auch freilich über diese
antiken Antworten längst herausgewachsen sind, so verehren wir sie doch;
denn in ihnen hat das alte Israel sein Herz ausgesprochen, und es hat sie
mit dem bunten Kleide seiner Phantasie ausgestattet. Solche Fragen, die
in den Sagen beantwortet werden, sind a) ethnologische. Warum muß
Kanaan seinen Brüdern dienen? Die Sage erzählt, wie er dazu verflucht
ward (Gen. g, 20 ff.). Warum ist Ismael ein Wüstenvolk geworden? Man
weiß, wie er schon als Kind aus seines Vaters Hause in die Wüste ge-
kommen ist (Gen. 16; 21, 8 ff.). Warum besitzen wir, Israel, dies schöne
Land Kanaan? Die Sage berichtet, wie es von Jahve den Vätern
verheißen ward, b) Dazu die etymologischen Motive, Anfänge der
Sprachwissenschaft, in Israel, das auf den Klang der Worte zu lauschen
gewohnt war und dessen Schriften voll von Wortspielen sind, besonders
beliebt. Und so erklärt die Sage in aller Harmlosigkeit, daß Babel „Ver-
wirrung" heiße, weil Gott dort die Sprache verwirrt habe (Gen. 11,9), und
Jakob „Fersenhalter", weil er bei seiner Geburt eifersüchtig den Bruder
an der Ferse gehalten habe (Gen. 25, 26). Bekannt ist die geistreiche,
aber natürlich in keiner Weise „authentische" Interpretation des Jahve-
namens, wonach er „Ich bin, — der ich bin", d. h. wohl der Namenlose,
Undeutbare, bedeutet; diese Erklärung ist zu einer Zeit entstanden, die
es mit dem Respekt vor Jahve unvereinbar fand, daß der Gott einen
Namen trage, durch den man ihn hätte beherrschen oder beschwören
können, c) Ferner geologische Motive, w^odurch die auffallende Gestalt
einer Örtlichkeit erklärt werden soll: das Tote Meer war vormals eine
lachende Landschaft, die aber von Jahve mit Schwefel und Feuer ver-
wüstet worden ist. d) Schließlich die „Kultussagen", die den Zweck
haben, die Ordnungen des Gottesdienstes verständlich zu machen. So
antwortet die Schöpfungserzählung auch auf die Frage, warum wir den
Sabbat feiern; imd die Erzählung vom Auszug aus Ägypten soll unter
anderem das Passafest motivieren. Besonders häufig fragt die Sage, wo-
her die Heiligkeit der heiligen Stätten rühre, und antwortet, indem sie
erzählt, daß Jahve hier den Urvätern erschienen sei. — Mit alledem
aber haben wir in vielen Fällen nur einzelne Züge der Sagen und
noch nicht den Ursprung der Sagen selber erklärt. Nicht selten ergibt
sich, daß diejenigen Motive, die wir verstehen können, in den Sagen
sekundär sind, während diese selbst alles Eindringens spotten. Daran
zeigt sich ihr hohes Alter, wie denn auch die Gestalten der Patri-
archen Abraham, Isaak, Jakob u. a. bisher unerklärt sind. Einige Spuren
könnten darauf führen, daß auch diese Sagen depotenzierte Mythen sind.
Aber auch diese Annahme bewährt sich als Generalschlüssel für die
Sagen keineswegs.
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750). 7 i
Vielfach sind wir imstande, eine ganze Geschichte des Sagen- Geschichte des
Stoffes zu schreiben. Wir können zeigen oder wenigstens vermuten, wie *^*'""*' ''''
er z. T. aus der Fremde gekommen ist, wie die Sagen an bestimmten
Orten gesessen haben oder von einem zum andern gewandert sind, wie
sie von einer Figur auf die andere übertragen wurden, wie verschiedene
Sagengestalten zusammenwuchsen, z. B. Noah, der Held der Sintflut, und
Noah, der erste Weinbauer, und wie die Sagen dann den religiösen und
sittlichen Wandlungen des Volkes langsam nachfolgten und immer mehr
verfeinert wurden.
Auch eine Geschichte des Stils läßt sich erkennen: die ältesten Geschichte des
^ 3. 0'"ft n s fci I s
Sagen sind außerordentlich kurz und stehen jede für sich fast ganz selb-
ständig, während der spätere Stil es liebt, die Erzählungen durch allerlei
Mittel in die Länge zu ziehen und mehrere solcher Sagten zu einer künst-
lerischen Einheit zu verweben. Beispiel für den ausführlicheren Stil ist
vor allem die Josepherzählung, die wir mit gutem Grund eine „Novelle"
nennen können.
Außer den Vätern der Urzeit hat Israel noch eine Menge anderer Historische
_, . Sagen.
Personen in Sagen verherrlicht: das sind Heroen wie der gewaltige Ahn-
herr der Gottesmänner Moses, Führer des Volkes w^e Josua und Gideon,
Recken wie Simson, Vorsteher der großen Priestergeschlechter wie Eli,
Seher wie Samuel, dann die glänzendsten Könige wie David und Salomo,
später die düsteren Gestalten der Propheten, unter ihnen der gigantische
Elias. Diese Sagengestalten sind also zumeist öffentliche Personen, ent-
sprechend dem starken politischen Interesse des alten Volkes. Manchmal
versteht es die Sage wunderbar, das Charakteristische der historischen
Figur zu treffen. Aber oft verfärbt sie die Geschichte auch, vertieft die
typischen und idealen Züge und entfernt die störenden, macht die heroi-
schen Figuren noch gewaltiger und die Konflikte noch größer. Auf das
Haupt ihrer Lieblinge häuft sie alle Ehrenprädikate und erzählt von ihnen
aufs neue ältere Geschichten, die man sich einst von anderen erzählt hat.
Besonders liebt sie das Wunderbare: in der hebräischen Sage öffnet eine
Eselin ihren Mund, schwimmt Eisen auf dem Wasser und bleiben selbst
Mond und Sonne stehen, damit der Schlachttag länger werde. Bezeich-
nend für antike Volksart ist, daß sie für das Sachliche, Allgemeine keinen
Sinn hat; daher sucht die Sage ihre Helden mit Vorliebe in ihrem Privat-
leben auf. Den großen Staatsmann Samuel und seine politischen Ideen
versteht sie nicht, sondern verwandelt ihn in einen Seher, der alle mög-
lichen Kleinigkeiten in weiter Ferne zu sehen vermag; und der gewaltige
Saul wird ihr ein Jüngling, der seines Vaters Eselinnen zu suchen ging
(I. Sam. 9). Dabei hat Israel, zumal in späterer Zeit, eine große Vorliebe
für das Idyll; es stellt sich gern die großen Heroen als Kinder vor und
erzählt von den Schicksalen, die sie in frühester Jugend bestehen mußten.
Überall aber ist die hebräische Sage gefüllt von religiösen und sittlichen
Gedanken, die ihr einen unvergänglichen Wert geben. Im Laufe der
72
Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
Entwicklung" hat man schließlich auch begonnen, von Privatpersonen zu
erzählen: von dem geduldigen Hiob und der getreuen Ruth,
Kunst der Die Kuust der Erzählung steht in diesen Sagen Israels auf einer
bewTinderungswürdigen Höhe, weshalb wir auch anzunehmen haben, daß
diese Erzählungen in ihrer gegenwärtigen Form nicht vom Volke selbst,
sondern von einem Stande von Volkserzählern ausgebildet worden sind.
Zwar vermeidet diese hebräische Erzählung allen äußeren Schmuck: sie
redet in prosaischer Sprache, sie braucht kein Bild, keine Metapher,
keinen poetischen Ausdruck; aber gerade in dieser Schlichtheit ist sie so
anmutig. Auch verstehen es diese Sagenerzähler nicht, das Seelenleben
der Helden ausdrücklich darzustellen; sie haben nicht den modernen Ein-
druck, daß das bewegte Innenleben des Menschen der würdigste Gegen-
stand der Kunst sei, sondern sie schildern interessante Handlungen,
Anschaubares.
Dies ist wohl ihre Schranke, aber zugleich auch ihre ganz besondere
Kraft; denn wo in der ganzen Welt hätte es wieder Erzählungen gegeben
von solcher Anschaulichkeit, Farben von solcher Leuchtkraft! Wie haben
es diese einfachen Künstler verstanden, menschliche Seelenzustände, auch
die allerintimsten, in Handlungen umzusetzen! Mit welcher Energie haben
sie der Handlung wegen alles übrige zurückgedrängt! Sie verschmähen
es, Nebenpersonen zu charakterisieren oder Nebenwege der Handlung
einzuschlagen und haben stets nur die Haupthandlung vor Augen. Auch
das ist bemerkenswert, daß die Reflexion über das Erzählte in diesen
Sagen fast völlig fehlt; zwar stellen sie häufig Ideen dar, aber alles Ten-
denziöse liegt ihnen ganz fern. Auch Schilderungen der Szenerie fehlen;
dafür sind die Sagen viel zu einfach; hier gibt es keine eigentümlichen
Nuancen, keine sonderbaren Beleuchtungen, keine gebrochenen Farben,
sondern alles vollzieht sich gewissermaßen unter demselben klaren Sonnen-
schein.
Niederschrift Die Erzählungen stammen sämtlich aus der mündlichen Tradition, in
der Sagen.
der jede Geschichte für sich erzählt wurde; daher noch jetzt die scharfen
Absätze zwischen den einzelnen Erzählungen. Am Ende dieser Epoche
hat man dann begonnen, sie niederzuschreiben. Diese Niederschrift ist
nicht auf einmal, sondern zu mehreren Malen erfolgt und mag jahrhun-
dertelang gedauert haben. Im Pentateuch unterscheiden wir zwei Samm-
lungen aus dieser Zeit, die beide wieder auf frühere Sammlungen zurück-
gehen und mancherlei Schicksale erfahren haben; wir nennen sie den
„Jahvisten" (J) und den „Elohisten" (E); die Namen rühren daher, daß der
erstere in der Genesis die Gottheit „Jahve", der zweite „Elohim" nennt.
Der erstere mag aus dem 9., der zweite aus dem 8. Jahrhundert stammen.
Diese Sammler sind zu denken als treue, fromme Männer, voller ehr-
fürchtiger Liebe zu den alten schönen Erzählungen ihres Volkes, die
letzten unter ihnen schon nicht mehr ganz unberührt von prophetischem
Geiste. Das Werk, das sie zustande gebracht haben, hie und da strei-
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750). 7 2
chend oder leise ändernd, ein andermal hinzufügend, im ganzen doch treu
bewahrend, hat an Tiefe der Gedanken und schlichter, poetischer Form
in den Literaturen anderer antiker Völker nicht seinesgleichen. Als Grund-
gedanken des Ganzen mag man bezeichnen: die Erwählung Israels.
6. Auch Reste des Märchens und der Fabel sind erhalten. Daß es Märchen und
nur Reste sind, kann bei dem Charakter des Alten Testamentes nicht
seltsam erscheinen. Wir würden gewiß von diesem ganzen Stoff gar nichts
besitzen, wenn nicht diese Gattungen gelegentlich benutzt worden wären,
um politische und besonders religiöse Gedanken auszusprechen. So spielt
Arnos (5, ig), um das unentrinnbare Verderben des schrecklichen Jahve-
tages zu schildern, an das Märchen von dem Unglücksmenschen an, der
dem Löwen und Bären noch glücklich entging, aber im sicheren Hause an-
gekommen, von der Schlange gebissen ward. Und Ezechiel, w^enn er Jahves
Gnade und Jerusalems Undankbarkeit schildern will (16), greift zu der hoch-
romantischen, auch dem deutschen Volke wohlbekannten Geschichte von dem
Mädchen, das in seiner Kindheit ausgesetzt, nackt und bloß heranwuchs, bis
der König sie fand und zur Königin machte, das dann aber der Untreue
beschuldigt ward. Ein Märchen ist in ihrer gegenwärtigen Form auch die
Jonaserzählung zu nennen, in der auch die Tiere bei Landestrauer mit
fasten und Sack anziehen müssen. Das antike Volk gibt auch Tieren und
Pflanzen ein persönliches Leben und schildert sie mit den Menschen auf
gleicher Stufe: es erzählt von den Bäumen, die hingingen, einen König
zu wählen und schließlich auf den Dornbusch verfielen, — die Geschichte
ist verwandt worden, um das Königtum als unnütz, ja schädlich zu ver-
spotten (Jud. 9, 5 ff.) — , oder wie der Dornbusch in seiner Frechheit die
Tochter der Libanonzeder zur Schwiegertochter begehrte (II. Reg, 14, gff.),
oder wie ein Mann seinen undankbaren Weinberg vor dem Richter ver-
klagte (Jes. 5, I ff.). Wie es der Hebräer versteht, solche Geschichten zur
Einkleidung von Ideen zu verwenden, zeigt vor allem die rührende Nathan-
parabel (II. Sam. 12, I ff.) von dem hartherzigen Reichen, der dem Armen
sein einziges Schäfchen nahm.
7. Die Geschichtserzählung. Musterbeispiele davon sind die Ge- GescWchts-
^ ° erzHhlung.
schichten von Sauls Philistersieg (I. Sam. 13 f.), von Davids Anfängen als
König (11. Sam. i — 5), besonders von Absaloms Aufstand (IL Sam. 13 — 20) u.a.
Die „Tagebücher der Könige Israels und Judas", auf die sich die Historiker
Israels zuweilen berufen, sind kein eigentliches Geschichtswerk, sondern
eine Regestensammlung: wir wissen, daß man offizielle Journale, woraus
dies Buch ein Auszug sein mag, an den Höfen des alten Orients führte.
Alteste Geschichtschreibung behandelt fast ausschließlich politische
Gegenstände, die Erlebnisse des Volkes und der Könige, besonders die
Kriege. An den politischen Ereignissen haben die Menschen zuerst gelernt,
daß es überhaupt eine Geschichte gibt. Dies also der charakteristische
Unterschied der Geschichtserzählung von der Sage. Nur die Begeben-
heiten im Gotteshause hat man noch für würdig gehalten, dem Gedächtnis
jM Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
aufzubewahren: einige unserer historischen Berichte stammen aus einer
Tempelchronik von Jerusalem (so II. Reg. 12, 5fF.; 22 f.), wie es denn auch
sonst im Orient solche Tempelchroniken gegeben haben wird. — Die antike
hebräische Geschichtschreibung besitzt die Vorzüge der Sagenerzählung:
die Berichterstatter verstehen es ausgezeichnet, zu fabulieren, Situationen
lebensvoll auszumalen. Gestalten zu zeichnen; sie haben offenkundig ihre
Freude an dem bunten Getriebe dieser Erde. Aber gleich jenen besitzen
auch sie nicht die Kraft der Reflexion: Ursache und Wirkung stellen sie
höchstens durch die Anordnung der Tatsachen dar. Der Sagendichtung
sind sie auch darin verwandt, daß sie die kleinen Züge, die der Erzählung
Leben und Farbe geben, besonders lieben, wobei manches mit unterläuft,
was der Moderne als nicht wichtig genug oder als nicht genügend beglaubigt
verschmähen würde. Über Gott und göttliche Dinge redet der Geschichts-
erzähler sehr zurückhaltend, von Wundem weiß er nichts, ganz anders als
die Sage in ihrer Naivität. Alles in allem eine höchst anerkennenswerte
historische Kunst, der die Bab3-lonier und Äg}^pter, soweit wir bisher
wissen, nichts Ebenbürtiges an die Seite zu setzen haben, und die dann
erst von den Griechen übertroffen worden ist.
Im Leben des antiken Israels werden Sage und Geschichte verschie-
denen Sitz gehabt haben: die Sage in der mündlichen Überlieferung der
Volkserzähler, die Geschichte für einen besonderen Kreis der Lesenden
als Buch niedergeschrieben. Diese Historiker werden sich selbst von den
volkstümlichen Erzählern stark unterschieden und als Gebildete, als besser
Wissende beurteilt haben. Doch gibt es, wie es in der Natur der Sache
liegt, auch viele Zwischenglieder zwischen beiden Gattungen. Leider
ist uns von den Geschichtsbüchern der alten Zeit keines rein überliefert
worden, sondern die Späteren, die unsere „historischen Bücher" sammelten,
haben nur Bruchstücke der alten Historie gebrauchen können und un-
mittelbar daneben volkstümliche Sagen oder ganz späte legendarische Er-
zeugnisse gestellt: ein ewig zu beklagendes Mißgeschick.
Die Tora. 8. Die Tora und der Rechtsspruch haben in der ältesten Zeit
eine verhältnismäßig geringe Bedeutung. Über den Sitz der Tora im
Leben sind wir gut unterrichtet: Tora lehrt der Priester. Es gab seit
jeher Priestergeschlechter in Israel, die vorzeiten eine gewisse Führung
im Volke besessen hatten, dann durch das Königtum herabgedrückt waren
und später, nach dem Untergang des Staates, wieder emporkamen. In
diesen Kjeisen wird eine heilige Überlieferung gepflegt, die zunächst
über die gottesdienstlichen Bräuche handelte; der Priester weiß, was
heilig und profan, was rein und unrein ist, und erteilt in schwierigen
Fällen dem Laien auf Befragen darüber Bescheid. Auch in Rechtsfragen
kann man den Priester anrufen; traut man ihm doch als dem bevorzugten
Diener der Gottheit und dem Handhaber des Priesterorakels ein über-
natürliches Wissen zu. So bestand an den Heiligtümern ein Asyl, wo der
Totschläger, aber nicht der Mörder vor der Rache des Bluträchers be-
I. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750). 7 =
schützt ward. Mit dem Kultischen aber und dem RechtUchen ist auch
das Sitthche aufs engste verbunden. Diese heilige Überlieferung, die als
Familientradition der Priester bestand, wurde von Mose, dem Stifter der
Religion, abgeleitet. Nun haben wir zwar unter den gesetzlichen Quellen-
schriften des Pentateuch keine einzige, die wir Mose zuschreiben dürften;
vielmehr setzen gerade die älteren unter ihnen deutlich den Ackerbau
und nicht das zu Mosis Zeit noch bestehende Nomadenleben als Israels
Beruf voraus. Dennoch muß die einhellige Tradition aller Jahrhunderte,
daß dies alles von Mose stamme, einen Grund haben. Wir werden daher
annehmen dürfen, daß Moses für die Tora in ältester Zeit die entscheidende
Person gewesen ist; so etwa, wie wenn man in später Zukunft die ganze
Gesetzgebung des neuen Deutschen Reiches von dem großen, alles über-
ragenden Namen „Bismarck" ableiten würde.
Auch diese Gattung hat ursprünglich in mündlicher Überlieferung
bestanden. Niedergeschrieben wurden solche Toroth dann etwa zuerst auf
steinernen Tafeln und so im Vorhof zur öffentlichen Kenntnis aufgestellt,
wie denn die Sage von den steinernen Gesetzestafeln des Mose erzählt.
Aus der älteren Zeit dürfen wir den sog-. „Kultusdekalog" (Ex. 34, 14 — 26)
herleiten, der, wie der Name sagt, lauter Kultusgebote enthält. Auch der
uns geläufigere Dekalog (Ex. 20 = Dt. 5) mag noch aus dieser Zeit
stammen. Im Stil stimmen beide deutlich überein. Es sind Worte Jahv es,
lauter Gebote, gerichtet an den israelitischen Hausvater. Ganz kurze
Sätze sind es ursprünglich, die man leicht behalten kann; später hat man
sie erweitert und noch allerlei Ausführungen und Motive hinzugefügt, und
so sind sie uns überliefert. Zehn Gebote sind zusammengestellt, zum
Auswendiglernen nach den zehn Fingern der Hand ang^eordnet. Der
Zweck der Dekaloge ist es, die Hauptvorschriften der Religion kurz zu-
sammenzufassen. Ebendarum ist es so bezeichnend, daß der eine Dekalog
nur kultische Satzungen enthält. Um so mehr sticht davon der andere
ab, der die großen Forderungen der Religion und Sittlichkeit in wahr-
haft lapidarer Sprache machtvoll zusammenfaßt: ein Dokument von welt-
geschichtlicher Bedeutung, das uns das Priestertum Israels von seiner
edelsten Seite zeigt.
Neben diesen religiösen „Gesetzen" gibt es im alten Israel auch Der Müpat.
Rechtssatzungen profaner Art, die Mispatim. Recht gesprochen wird
in Israel nicht nur vom Priester, sondern zugleich von den „Ältesten" der
Geschlechter und Stämme, der Dörfer und Städte, sowie vom König und
seinen Beamten. Eine Sammlung alter Rechtssprüche ist uns im Kern
des sogenannten „Bundesbuches" (Ex. 21 — 22, 16) überliefert. Priestertora
sind diese Sprüche nicht, denn in ihnen redet nicht die Gottheit; nur als
Ausnahme hören wir hier, daß eine Sache vor die Gottheit, d. h. das Ge-
richt des Priesters gehöre {22, 8), und nicht vom Kultus ist hier die Rede,
sondern vom Recht. Auch der Stil dieser Sprüche ist ein anderer als
der der Dekaloge: diese haben die Form des kategorischen Befehls: „du
"6 Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
sollst", für den Ali^pat aber ist der bedingte Satz charakteristisch: „wenn
ein bestimmter Fall eintritt, so soll dies und das geschehen"; das ist die
Fonn, die die Rechtssprüche auch in dem Gesetzbuche des Hammurabi
haben, ja die ihnen auch jetzt noch zu eigen ist. Wir haben in diesen
Sprüchen also Volksrecht, und zwar, wie überall in solchen Fällen, ko-
difizierte mündliche Rechtstradition. Der Stil der Sprüche wird durch
das Bestreben bestimmt, möglichst deutlich und kurz zu sein. In der
mündlichen Tradition ist je ein Spruch auf einmal zitiert worden. Beim
Aufschreiben hat man dann, in lockerer Anordnung, verwandte Sprüche
zusammeng^estellt. Das ganze Buch ist so geordnet, daß zuerst vom
Schutz des Lebens, dann von dem des Eigentums geredet wird. Später
sind dann noch „Novellen" hinzugekommen.
Am Schluß der Periode hat man begonnen, Kultus und Rechts-
satzungen zu einem Corpus zusammenzustellen; so ist das sogenannte
„Bundesbuch" (Ex. 21 — 2^, ig) zusammengeschrieben worden.
Die jToßen II. Die großeu Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750 — 540).
Schriftsteller-
persöniichkeiten.Eme ueuc Zeit für Politik, Religion und Literatur beginnt um die Mitte des
Assjrer und ....
Chaidäer. 8. Jahrhunderts, als der gewaltige, verderbenbringende assyrische Militärstaat
sich anschickt, Syrien und Palästina zu verschlingen. Die palästinensische
Welt, die sich in den letzten Jahrhunderten vorher verhältnismäßig selb-
ständig entwickelt hatte, wird nunmehr in den Strudel der großen Welt-
ereignisse gerissen. Nach verzweifelten Anstrengungen sind die Völker
dieser Ecke der Welt sämtlich Assurs Beute geworden; Israel, der Nord-
staat, geht 722 zugrunde. Die Assyrer haben damals die Aristokratie
deportiert, die dann in fernem Lande ihre Nationalität verliert; das übrig-
gebliebene Volk, dem seine Leiter fehlen und dem durch Einpflanzung
fremder Kolonisten ein Pfahl ins Fleisch getrieben wird, ist von dieser
Zeit an ohne erkennbare geschichtliche Bedeutung. Das Südreich Juda
aber bleibt in dieser Epoche als assyrischer Vasallenstaat bestehen. So
kommt die Führung, auch in der Literatur, auf Juda: wir besitzen im
Alten Testament nur judäische Literatur oder solche, die Juda von Israel
vor 722 übernommen hatte. — Die assyrische Herrschaft erreicht ihren
Höhepunkt um 670. Dann geht sie allmählich zurück und bricht schließ-
lich in donnerndem Fall zusammen (606). In jener Zeit hat Juda einige
Jahrzehnte der Freiheit erlebt; dann fällt es der neuen Weltmacht der
Chaldäer anheim. Als es sich gegen diese empört, wird es in zwei furcht-
baren Schlägen vernichtet (597. 586) und nach dem Muster assyrischer
Politik deportiert. Aber diese Judäer, in ihrer Widerstandskraft durch die
inzwischen zur Macht gelangte Prophetie gestärkt, bewahren ihre Natio-
nalität. So findet hier Volkstum, Religion und Literatur eine Fortsetzung.
— Ein Volk, das in so kurzer Zeit — es sind nur i^g Jahrhunderte —
so gewaltige politische Erschütterungen erfährt, muß im tiefsten erregt
werden. Durch wie manche Stimmungen ist Israel damals hindurch-
II. Die großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750 — 540). »77
g-eg-angen! Zuerst das dumpfe Raunen; dann die verzehrende Angst, als
die entsetzliche Woge naht; dann gewaltsame Anstrengungen, sich zu ver-
teidigen: der patriotische P^anatismus flammt unmittelbar vor den Kata-
strophen mächtig empor. Erbitterte Parteikämpfe: eine assyrische, später
eine chaldäische und anderseits eine ägf}'ptische Partei befehden sich heftig.
Dann die entsetzlichen Schläge, wo alle Klage verstummt unter dem un-
sagbaren Elend. In Juda eine jahrzehntelang knirschend getragene Fremd-
herrschaft mit ihrem schweren Druck. Dann einmal zwischen den beiden
Weltreichen eine Pause, wo man fröhlich aufjauchzte im Gefühl der wieder-
g-ewonnenen Freiheit. Schließlich auch für Juda der Untergang! Kein
Wunder also, wenn die Literatur jener Zeit, besonders die der Propheten,
geboren aus so furchtbaren Konflikten, im höchsten Grade aufgeregt und
leidenschaftlich ist.
Für die Kulturgeschichte bedeuten jene Weltreiche, deren Sitz im Finfiuß babyio-
. . 1 • r/ 1 1 nischer Kultur.
Osten ist, eme gewaltige Zunahme des babylonischen Einflusses. Die
ostländische Kultur, die Israel bisher nur durch die Vermittlung seiner
Nachbarn zugekommen war, wirkt nun unmittelbar ein. Auf der Höhe steht
dieser babylonische Einfluß zur Zeit Manasses, als das assyrische Reich bis
über Ägypten herrscht; damals hat der Staat Juda, sicherlich nicht anders
als die der Nachbarschaft, die babylonischen Götter als die Götter des
Weltreiches verehrt. Wir glauben uns nicht zu irren, wenn wir in der
Eschatologie, die jene Zeit beherrschte, starke fremde Elemente mytho-
logischer Art gewahren. — Anderseits gewinnt Israel damals, gerade durch
die Reibung mit dem Fremden, das volle Bewußtsein seiner Besonderheit,
namentlich auf dem Gebiete der Religion. Der Israelit von echtem, altem
Schlage verteidigt gegen den Einbruch des Fremdländischen seine Sitte
und seinen Glauben. Und diese patriotische Bew^egung kommt zum Siege
unter König Josia, als sich beim Zurückebben der assyrischen Macht
überall in der Welt, in Ägypten, in Babylonien und in Juda nationale
Restaurationen bilden.
Zugleich ist diese Zeit durch eine große soziale Gärung charakte- Soziale Nöte,
risiert. Die alten Verhältnisse haben sich durch das Einleben Israels in
die Kultur und durch die beständigen Kriege gelockert. Der Grundbesitz
ist in die Hände weniger Reicher gekommen; die kleinen Bauern ver-
armen. So treten sich zwei Stände gegenüber: die Reichen, die in allen
Genüssen der Kultur dahinleben und sich durch ihr ausländisches Gebaren
von ihrem Volk entfernen; und die Masse der Besitzlosen, die gegen die
Besitzenden ohnmächtig die Faust ballen. Die Gesetzgeber jener Zeit ver-
suchen, durch allerlei humane Bestimmungen diese Nöte zu mildern. In den
Schriften der Propheten hören wir die Armen und Geringen gegen ihre
Unterdrücker schreien. Auch die Psalmisten, die sich selbst die „Armen"
nennen, gehören diesem unteren Stande an. Die Vertreter der Weisheits-
literatur dagegen werden wir in mittleren Schichten der Bevölkerung zu
suchen haben.
"S Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
Der individua- In dicser Zeit der tiefsten Gärung, wo der fremde Eroberer an die
lismus.
Tore pocht und das \ olk, zitternd vor Aufregung, sich selbst zerfleischt,
geschieht in Israel etwas ganz Großes: das Individuum tritt auf den
Plan. Die Entstehung des Individualismus ist nicht ein einmaliges, mit
einer Jahreszahl datierbares oder von der Wirksamkeit einer einzelnen
Person herzuleitendes Ereignis, sondern ein langsamer Prozeß, der sich
in allerlei Gestaltungen durch das ganze Leben eines aufsteigenden
Volkes wie Israel hinzieht. Dieser Prozeß nimmt jetzt akute Form an.
In diesen politischen, sozialen, religiösen Parteikämpfen, die den Einzelnen
zwingen, Stellung zu nehmen, erhebt der Individualismus sein Haupt. Zu-
erst erstehen gewaltige Persönlichkeiten, von den Stürmen der Zeit er-
faßt, von Leidenschaften durchschüttert, die in geheimnisvollen Stunden
von der Gottheit berührt werden und so den erhabenen Mut gewinnen,
in überquellenden Worten die in den Augen ihrer Zeitgenossen seltsamen
Gedanken auszusprechen, die sie im Innern vernehmen, trotzend einer
ganzen Welt! So bricht das Individuum durch. Diesen Bannerträgern
aber folgen andere nach. Auch der Dichter des Hiob bekämpft in er-
schütterndem Seelenkampf das Fundament der religiösen Überzeugung
seines Volkes als einen Wahn, ja er möchte Gott selber vor den
Richter fordern. Die Psalmisten bringen ihre persönlichen Leiden vor
Gottes Angesicht; und die Spruchdichter stellen ihre weisen Betrach-
tungen über das Leben des Einzelnen an. So steht also die Literatur
jener Zeit im Zeichen eines soeben kraftvoll entstehenden religiösen Indi-
vidualismus.
Die Religion Dieser Durchbruch des Individuums aber erfolgt auf dem Gebiete der
jener Zeit, "
Religion. Die Religion Israels ist wie jede Religion sehr konservativ.
Zuweilen aber geht es auch hier wie mit Sturmeswehen. Da gerät das
harte Metall in feurigen Fluß und wird dann für die kommenden Zeiten
geprägt. Solche Werdezeit der Religion ist jene Epoche, da die großen
Die Unheüs- schriftstellerischen Propheten aufgetreten sind. Diese Propheten,
unter denen für uns Amos der erste ist, verkünden in furchtbaren
Worten die kommende Katastrophe. Aber sie reden so entsetzliche Weis-
sagung, nicht sowohl selber erschauernd, sondern sie billigen, ja sie
fordern dies künftige Unheil für ihr eigenes Volk. Ihr Gewissen ver-
langt es. Sie verdammen Israel zum Untergang, weil es Jahves Willen
nicht erfüllt. Was aber Jahves Willen sei, darüber befinden sie sich im
stärksten Gegensatz zu ihren Zeitgenossen: diese glauben nach antiker
Art, daß Religion im Darbringen von Opfern und Vollziehen von Zere-
monieen bestehe; die Propheten aber verkünden mit Macht, daß Jahve
soziale Gerechtigkeit und gläubiges Vertrauen verlangt. So sind die Pro-
pheten die Vertreter der Unterdrückten, aber, viel mehr als das, zugleich
die Vertreter der höheren Religion: sie bekämpfen mit bitterem Spott die
altheiligen Stätten, Bilder und Symbole. Mit hinreißendem Enthusiasmus
verkünden sie die Herrlichkeit des geistigen Gottes und legen ihm die
II. Die großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750 — 540). jq
Völker, die Götter, die Welt zu Füßen: so wird der Monotheismus, auf
den Israel von jeher angelegt war, endgültig gewonnen.
Diesen Propheten, die ihrer Natur nach im Gegensatz zum Empfinden Die Heiu-
des Volkes stehen, geht eine andere Prophetie zur Seite, die den volks- p"'°p *^ *"•
tümlichen Instinkten mehr entspricht, und die in derselben Zeit für Israel
Rettung verkündet. Beide Arten, die Heils- und die Unheilsprophetie,
sind auf demselben Untergrunde einer übernommenen mythologischen
Eschatologie entsprossen und sind, so erbittert sie sich auch zuzeiten
bekämpft haben, doch auch mancherlei Verbindungen eingegangen: auch
die finstersten Unheilspropheten haben hinter all dem Dunkel das Licht
eines großen kommenden Morgens gesehen. Die Heilsprophetie ist die
ältere und die Reg^el; die Unheilsprophetie wird von w^enigen auserwählten
Geistern vertreten.
Diese Unheilsprophetie ist zuerst in Israel aufgetreten (Arnos, Hosea) Geschichte der
. Prophetie.
und dann nach Juda übergesprungen (Jesaias). Hier kommt em neuer
Geist hinein: der Geist der Autorität und der Tradition. Priester und
Propheten verbünden sich in der Gesetzg-ebung des Königs Josias (623):
es war die Zeit, da die assyrische Oberhoheit soeben aufg'ehört hatte und die
prophetische Bewegung von der Hochflut patriotischer Begeisterung getragen
ward. Eine neue Zeit beg"innt mit dem Auftreten des chaldäischen Welt-
reiches. Wieder spaltet sich die Prophetie: die Heilspropheten verkünden
Babels Fall, die Unheilspropheten den Jerusalems. Jeremias' und Ezechiels
Wort ging in Erfüllung. Nach der Katastrophe hat die Prophetie die
neue Aufgabe, die Niedergeschmetterten zu trösten und zu einem Neubau
zu ermutigen; so ist damals die Heilsprophetie wieder hervorgetreten; ihr
Hauptvertreter ist „Deuterojesaias" (Jes. 40 — 56, 8) beim Untergange des
chaldäischen Reiches. Nach der Rückkehr ins Land der Väter, in einer Jahr-
hunderte dauernden, das stolze Judentum aufs tiefste demütig'enden Misere,
ist für große politische Propheten kein Platz und für gewaltige religiöse
und sittliche Ideale keine Stimmung mehr. Prophetische Worte sind frei-
lich noch immer gesprochen worden; aber es waren nur noch die von
Epigonen.
I. Literatur der Propheten. Auch in der Literatur hat damals die Literatur der
Propheten.
Prophetie durchaus die Führung". Wir müssen versuchen, auch diese Gattung Geschichte der
^ * . Prophetie vor
aus dem Leben zu verstehen, und fragen daher zuerst: was sind solche Amos.
„Propheten"? Es hat mannigfaltige Arten von „Prophetie" im alten Israel
gegeben. Da zogen schwärmerische Scharen in rasender Begeisterung über
das Land: vor ihnen her rauschende Musik, und w^er ihnen zu nahe kam,
mochte sich in acht nehmen, daß nicht auch auf ihn der ekstatische Taumel
übersprang (I. Sam. 10, 5 ff). Solche „Propheten" (nebi'im) hausten in Kon-
ventikeln zusammen und pflegten in ihrem Kreise die prophetische Ek-
stase; sie nahmen gewisse Exerzitien vor, bis „der Geist" über sie kam;
dann rissen sie sich wohl — so hören wir einmal (I. Sam. 19, 24) — die
Kleider vom Leibe und lagen nackend da, den ganzen Tag und die ganze
So Herm^\.nn GunkeL: Die israelitische Literatur.
NachL Sie mög'en auch manchmal von Wahnsinnigen oder von Trunkenen
auf den ersten BHck nicht sicher zu unterscheiden gewesen sein. — Sehr
häufig geschah es, daß solche Propheten in ihren seltsamen Zuständen
wunderbare Gesichte sahen und merkwürdige Stimmen hörten. Und der
Inhalt dieser Gesichte und Worte war fast immer die Zukunft. Auch in
späterer und spätester Zeit ist in Israel niemals ein Prophet erstanden,
dessen erstes Wort nicht eine Weissagung gewesen wäre. Wer nicht „in
Jahves Rate g"estanden" und zugehört hat, wie die himmlischen Geister
die Zukunft beschließen, ist kein Prophet. Man hat daher von solchen
Propheten Orakel erbeten, Aufschlüsse über die Zukunft und Rat, wie
man sich dabei zu verhalten habe. Auch Handlungen pflegten die Pro-
pheten ihren Worten hinzuzufügen; kein Zweifel, daß solche „Zeichen" auf
der ältesten Stufe Zauberhandlungen gewesen sind, durch die man die Er-
eignisse hervorbringen zu können glaubte. — Aus dem Kreise solcher
Ekstatiker und AVahrsager, wie sie in der ganzen Welt vorkommen und
auch bei den Nachbarn Israels häufig sind, waren nun Männer höheren
Schlages hervorgegangen, Ahia, Elia, Elisa, Micha ben Jimla. Das sind
Heroen der Prophetie, die nicht erst die Frage abwarten, sondern von
sich aus auftreten, und deren Thema nicht die Begebenheiten des gewöhn-
lichen Privatlebens, sondern die großen Ereignisse des Volkes und Staates
sind. Diese Propheten sind Politiker. Wenn die großen Dinge sich vor-
bereiten, wenn eine Hungersnot kommen soll, oder wenn der Feind heran-
zieht, dann verkündet der Prophet die Zukunft, die ihm Jahve gezeigt hat.
Diese prophetischen Heroen stehen fast immer in Opposition zu den
Königen und oft auch wohl zum Empfinden ihres eigenen Volkes; sie
haben auch vor Revolution und Königsmord nicht zurückgeschreckt. Ihre
Fortsetzer sind dann Männer wie Amos und Jesaias.
de^^hrifcteiie ^° mannigfache Gestaltungen aber auch die Prophetie von der ältesten
™''he°el'^'^ bis in die späteste Zeit hervorgebracht hat, so haben doch alle Propheten
eines gemeinsam, nämlich eben dies, daß sie „Propheten" sind. Auch den
Männern vom Schlage des Amos und Jeremias ist es die Grundüberzeugung,
daß „Jahve zu ihnen gesprochen hat". Nicht aus sich selbst haben sie ihre
Gedanken, sondern eine höhere Macht hat sie ihnen gegeben; und eine
höhere Macht zwingt sie, zu sprechen, ob sie wollen oder nicht. Manch-
mal tritt auch bei ihnen das Gewaltsame, Ekstatische noch stark hervor: sei
es, daß sie von ihren wunderbaren Gesichten erzählen oder von geheimnis-
vollen Stimmen, die mit so schreckhafter Deutlichkeit auftreten, daß sie
den Menschen, der sie vernehmen muß, aus allen Sinnen ängstigen; ja,
auch Krankhaftes fehlt nicht ganz. Aber es überwiegen doch weniger
gewaltsame Formen: eine starke, den Propheten völHg beherrschende
innere Gewißheit, eine mehr als menschliche, heilige Leidenschaft, ein
glühender Drang, die erkannte Wahrheit zu verkünden. Dieser Milde-
rung in der Form aber entspricht einer Verschiebung auch im Inhalt:
die älteren Propheten waren Wahrsager gewesen; die späteren ver-
II. Die großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750 — 540). 8 I
mögen mehr, als nur Kommendes zu verkünden: sie kennen die göttlichen
Gedanken über die Zukunft; sie wissen, weshalb Jahve eben dieses
Wort gesprochen hat. Vorhanden aber ist das Ekstatische, wenn auch
noch so gemildert, auch bei ihnen; und nur von ferne dürfen wir sie mit
unseren „Predigern" vergleichen.
Die Propheten sind ursprünglich nicht Schriftsteller gewesen, sondern Die Propheten
..,,., ^Y .,., i^T ,, als Redner.
Redner. Im mundlichen Vortrag sind ihre Worte zu denken, wenn man
sie verstehen will. Ihr Publikum ist das Volk auf dem Markt oder im
Tempel. Die gewöhnlichen Anfänge prophetischer Rede: „so hat Jahve
gesprochen", „so hat mir Jahve gezeigt", beweisen, daß der Prophet für
gewöhnlich nicht während der Ekstase, sondern nachher zu sprechen
pflegte. Doch haben wir auch Stücke, die uns unmittelbar in das pro-
phetische Erleben einführen, wie Jes. 21. Diese Reden, so oft erfüllt von
glühender Begeisterung, werden auch nicht ruhig und gelassen gesprochen
worden sein. Der Prophet — so wird uns einmal gesagt (Ez. 6, 11) —
stampft beim Reden mit den Füßen den Boden und schlägt in die Hände.
Und frivole Menschen verspotten Prophetenrede als ein Stammeln und
Stottern, ein seltsames Kauderwelsch (Jes. 28, 10 f.). Von solcher leiden-
schaftlichen Art der Rede geht es dann bei den schriftstellerischen Pro-
pheten in vielen Nuancen bis zu ganz ruhiger Diktion, wie sie sich in den
Schlußstücken des Ezechiel findet.
Wie grotesk das Auftreten der Propheten manchmal war, können wir Zeichen,
noch an den „Zeichen" erkennen, die sie ihren Worten nicht selten hin-
zufügen. Jesaias ist einmal drei Jahre lang nackend gegangen (20), und
Jeremias trat einst vor das Volk, ein Joch auf der Schulter, wie es ein
Rind trägt (27). Besonders seltsame Zeichen finden sich bei Ezechiel, der
Jerusalems Belagerung darstellte, indem er das Bild der Stadt auf einen
Ziegelstein zeichnete und es mit der Bratpfanne belagerte (4, i — 3)! Man muß
zugeben, daß solche Handlungen verdächtige Ähnlichkeit mit dem Tun
von Wahnsinnigen haben. Wir dürfen in ihnen einen Rückfall in ältere
Gewohnheiten sehen: was die halbwahnsinnigen Ekstatiker der ältesten
Zeit in ihrem Taumel getan hatten, das ahmen die geistesklaren Propheten
der späteren Epoche nach, um dadurch die erwünschte Aufmerksamkeit
des Volkes zu gewinnen.
Dann sind die Propheten in einer Geschichte, deren Hauptzüge wir Die Propheten
noch zu erkennen vermögen, aus Rednern zu Schriftstellern ge-
worden. Die ältesten „Propheten" hatten nichts zu schreiben. Aber auch
Männer wie Elias und Elisa waren noch nicht Schriftsteller: sie wirkten
nicht für die Zukunft, sondern für die Gegenwart, und sie traten in Person
auf: da bedurfte es für sie des geschriebenen Buchstabens nicht. Doch
gab es schon in jener Zeit niedergeschriebene Orakel, die ohne Namen
oder unter einem Namen der Vorzeit umliefen; Beispiel für das erstere
ist das Orakel über Moab, Jes. 15 f., für das letztere die „Segenssprüche"
Jakobs, Mosis und Bileams, deren Stil mit dem prophetischen verwandt
Die KuLTiTR der Gegenwart. I. 7. "
82 Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
ist Auch Männer wie Arnos und Jesaias haben, als sie ihre Worte nieder-
schrieben, nicht an die Nachwelt, sondern allein an die Mitwelt gedacht
Ihre Weissagnangen bezogen sich, wie sie überzeugt waren, nicht auf eine
ferne Zukunft, sondern sollten sich, dessen waren sie gewiß, demnächst
erfüllen. Wenn sie sich des Papieres bedienten, so ist das daraus zu er-
klären, daß das Zeitalter sich inzwischen verändert hatte: es wurde damals
auf allen Gebieten mehr geschrieben. Zuerst haben die Propheten etwa
ein ganz kurzes geheimnisvolles Wort wie „Eilebeute - Raubebald" auf
Tafeln zu öffentlicher Kenntnisnahme eingegraben (Jes. 8, i) oder es vor
Zeugen aufgezeichnet und versieg^elt, um so in kommender Zeit auch für
den Ungläubigsten beweisen zu können, daß sie ein bestimmtes Ereignis,
geweissagt hatten (Jes. 8, i6; 30, 8). Oder sie haben einen kurzen Spruch,,
ein kleines Gedicht im Volke verbreitet, um dort wirken zu können, wohin
die Stimme ihres Mundes nicht reichte. Notwendig aber war es für einen
Propheten nicht Schriftsteller zu sein: Jeremias hatte schon 2^ Jahre ge-
wirkt, als er zum erstenmal seine Orakel aufzeichnen ließ. Später haben
dann, um die Wirkung zu verschärfen, etwa die Propheten selbst oder
ihre Schüler solche Reden zusammengestellt; eine derartige Sammlung
galt freilich keineswegs als ein Kunstwerk, das irgendwie gegliedert
sein müsse: man schrieb zusammen, was und wie man es vorfand, und
dachte dabei nicht an sachliche, kaum an chronologische Ordnung. Aus
solchen Ursammlungen sind dann früher oder später, z. T. erst nach
vielen Jahrhunderten, die gegenwärtigen Bücher der Propheten entstanden,
wobei mancherlei, was vom alten Propheten nicht herrührte, mit unter-
laufen mochte. Anders ist das erst bei Ezechiel; dieser Mann, als Priester
und Jurist an peinliche Ordnung gewöhnt, überzeugt, daß sich seine Ver-
heißungen erst nach Jahrzehnten erfüllen, hat das erste Prophetenbuch
geschrieben und hat dies Buch, nach Art einer Urkundensammlung,,
chronologisch angeordnet.
Dieiiterarischen Hiemach verstcheu wir die literarischen Einheiten, die sich in
Einheiten, '
den überlieferten Büchern finden, und auf deren Abgrenzung wir um so
größeren Wert zu legen haben, als es ohne sie überhaupt kein Verständnis
der prophetischen Diktion geben kann und als die Überlieferung unserer-
Texte auch in diesem Fall völlig versagt Proben urältesten prophetischen
Stils sind jene kurzen rätselhaften Worte oder Wortkompositionen,
wie sie sich zuweilen noch in den Schriften einer bei weitem entwickelteren
Epoche finden, Worte wie „Jizr^'el", „Nicht-mein-Volk" (Hosea i. 2), „Rest-
kehrt" (Jes. 7, 3), „Eilebeute -Raubebald" (Jes. 8); diese Worte ahmen in
ihrer Form die seltsamen Ausrufe nach, die die ältesten Propheten in
ihrer Ekstase hervorzustoßen pflegten. Eine weitere Stufe ist es, wenn
sich die Propheten deuthcher in kurzen Sprüchen von etwa zwei bis
drei Langzeilen aussprechen; solche Sprüche sind also keineswegs Reste,
Trümmer oder kurze Zusammenfassungen prophetischer „Reden", sondern
diese selber. Dann haben sie es gelernt, längere Reden zu kompo-
II. Die großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750 — 540). gj
liieren, die etwa ein Kapitel unseres Textes umfassen. Aber auch diese
„Reden" (Beispiel Jes. 13) sind selten nach einem deutlichen Gesichtspunkt
organisch disponiert, sondern bestehen aus zusammengestellten einzelnen
Sprüchen, die durch dasselbe Thema zusammengehalten werden. Schließ-
lich ist es dann zu ganzen Büchern gekommen; aber auch in ihnen tritt
weniger die sachliche Ordnung, als eine chronologische Disposition
hervor. So folgt, daß die Exegese den Maßstab des „Zusammenhanges"
in den prophetischen Büchern und Stücken nur mit großer Vorsicht an-
legen darf.
Eine andere Entwicklungslinie, die wir in den prophetischen Büchern Poesic undProsa.
zu erkennen vermögen, führt von der Poesie zur Prosa. Ursprünglich
hat die prophetische „Rede" poetische Form. Die ältesten Propheten,
die ihre Offenbarungen in dunklen Stunden empfangen haben und sie nun
aussprechen, getragen von überwallenden Stimmung^en, bis zum Rande
gefüllt von erhabener Begeisterung oder von flammendem Zorn: diese
Männer sind ihrer Natur nach Dichter. Je deutlicher also das Prophe-
tische im Inhalt auftritt, je stärker zugleich das Poetische in der Form.
War doch auch der Stil des Orakels in Israel wie überall von jeher
poetischer Art gewesen. Wir können in den überlieferten Stücken die
beiden Stilarten unterscheiden, die strengere, wo derselbe Vers das ganze
Gedicht beherrscht, und die freiere, wo die verschiedenen Verse, je nach
der hin und her flutenden Stimmung, miteinander wechseln. Ästhetisch
angesehen, stehen viele der prophetischen „Reden" ungemein hoch; es hat
wohl kaum jemals in der Welt eine religiöse Dichtung gegeben, die dieser
prophetischen an Schwung und Kraft ebenbürtig wäre. Nun sind die Pro-
pheten in einer Geschichte aus Ekstatikern zu Predigern und religiösen
Denkern geworden. Damit hat sich aber auch die Form ihrer Rede ge-
ändert: die Diktion wird ruhiger, der Rhythmus freier, bis er schließlich
bei der Prosa ankommt. Die einzelnen Übergangsstadien allerdings sind
für uns, die wir uns noch in den ersten Untersuchungen über hebräische
Metrik befinden, noch nicht recht deutlich.
Der Stoff, der in den prophetischen Büchern zusammen gekommen übersieht über
ist, ist außerordentlich reichhaltig. Wir finden Erzählungen der Taten prophetischen
und Schicksale des Propheten, aus der Feder seiner Schüler oder der
Späteren, und daneben Stücke, die von ihm selbst herrühren; unter den
letzteren Monologe, in denen er in einsamer Kammer sein Herz vor
Gott ausschüttet, und andere , die er zum Lesen für das Volk bestimmt
hat; die zuletzt genannten bilden den Grundstock der Schriften. Diese,
die prophetischen Orakel, zerfallen in zwei Gruppen, in göttliche Vi-
sionen und Gottes Worte, Geschautes und Gehörtes, mit den charakte-
ristischen Anfängen: „so hat mir Jahve gezeigt", und „so hat Jahve ge-
sprochen". Nun überwiegen die Worte bei weitem die Visionen; worin
sich die Eigenart unserer Propheten offenbart: ihnen kommt es in letztem
Grunde darauf an, Gedanken Gottes darzustellen; der Gedanke aber
84
Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
Träume.
Die Offenbarung
dnrch das Wort.
nimmt viel leichter und bequemer die Form des gehörten Wortes als die
des geschauten Bildes an. Eigentümlich und schwer zu erklären ist, daß
in späterer Zeit, bei Ezechiel und Sacharia, die Gesichte dann wieder so
stark hervorgetreten sind.
Diese Gesichte haben sehr mannigfaltige Formen. Bald sind sie ganz
kurz und einfach, bald kompliziert und ausgeführt. Dem Inhalt nach sind
es entweder Dinge des gewöhnlichen Lebens, die der Prophet schaut,
und die dann durch eine hinzugefügte Deutung zu dem, was ihn eigent-
lich beschäftigt, in Beziehung gesetzt werden; oder es sind weit ent-
fernte Dinge, die ein gewöhnlicher Mensch nicht zu sehen vermöchte;
am häufigsten aber ist, daß ihn das Gesicht in „Jahves Rat" versetzt und
ihm Jahve und seine Umgebung zeigt, wobei dann allerlei Volksglaube
und selbst M}i:hologisches mit einfließen mag. Der Stil der Vision ist die
Erzählung: der Prophet berichtet, was er gesehen hat. Eigentümlich
aber für diese Art der Erzählung ist der geheimnisvolle Ton, der sich
gerade durch die schönsten Visionen zieht: menschliches Auge hat einmal
das Göttliche geschaut, aber menschlicher Mund verstummt, wenn er das
Unsagbare beschreiben soll. Die starken Farben grotesker orientalischer
Mythologie, hindurchschimmernd durch den Schleier des Geheimnisses,
geben diesen Visionen ihren eigentümlichen ästhetischen Reiz. Ganz ge-
wöhnlich sind solche Visionen mit Wortoffenbarungen verbunden: der
Seher schaut Gott und die göttlichen Wesen und hört dann, was sie
reden; und auf diesen göttlichen Worten, in denen die Vision ausklingt,
ruht stets der Nachdruck: dies offenbar aus demselben Grunde, der den
Worten überhaupt vor den Visionen das Hauptgewicht gegeben hat. —
Gehen aber diese Visionen auf wirkliche Erlebnisse zurück oder sind sie
nur phantastische Dichtungen? Das ist eine Frage, die sich nicht so
einfach entscheiden läßt. Sicherlich stehen erlebte Visionen am Anfang
der ganzen Entwicklung; aber ebenso gewiß ist, daß auch Nachahmungen
und Weiterausführungen anzunehmen sind, und daß schließlich die Form
der Vision zum künstlerischen Stil geworden ist.
Mit den Visionen hängen aufs engste 'zusammen die Träume, die
zwar Jeremias {2^, 25 ff.) als Formen der Offenbarung nicht gelten lassen
wollte. Die Propheten, die Träume hatten, müssen zugleich Traumdeuter
gewesen sein und ihre Gesichte allegorisch auszulegen verstanden haben.
Aus dieser Gewohnheit erklärt sich wohl die Vorliebe mancher Propheten,
namentlich Ezechiels, für ausgeführte Allegorie en.
Viel bedeutsamer aber als die Visionen sind die Worte. Der Prophet
verkündet „das Wort, das Jahve zu ihm gesprochen hat", als Jahves Bote
— dies ist ein beliebtes Bild — an sein Volk. Er hat dabei das Recht,
„Ich" = Jahve zu sagen: so hat er es von Jahve gehört; und an be-
stimmten Abschnitten mag er dann hinzufügen: „ich" — d. h. das „Ich"-
sagende Numen, das aus dem Propheten spricht, — „bin Jahve", oder „das
ist Jahves Raunung". Hiermit wechselt in fließendem Übergang eine
II. Die großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750 — 540). ge
andere Form, wo der Gott nicht mehr durch den Mund des Propheten,
sondern der Prophet im Namen des Gottes spricht imd von Jahve „Er"
sagt. In solchen Fällen reflektiert der Prophet gar nicht mehr über die
Form der Offenbarung-, sondern er ist überzeugt, daß die innere Gewißheit,
die ihn erfüllt, göttlicher Herkunft ist. Also auch hier eine Entwicklung
bis schließlich zur geistigsten Form der Offenbarung.
Wunderbar mannigfaltig sind diese Prophetenworte: es sind Ver-
heißungen und Drohungen, Schilderungen der vSünde, Ermahnungen, ge-
schichtliche Rückblicke, Disputationen, Lieder allerlei Art, nicht nur reli-
giöse, sondern auch Nachahmungen von profanen, Klage- und Jubellieder,
kurze lyrische Stücke und ganze Liturgieen, Parabeln, Allegorieen usw.
Den Faden durch dieses Labyrinth gewinnt man durch die Erkenntnis,
daß die meisten dieser Gattungen nicht ursprünglich prophetisch sind,
sondern daß die Prophetie fremde Stilarten in weitestem Umfang aufge-
nommen hat. Und auch die bewegende Kraft dafür ist uns deutlich: es
ist der brennende Wunsch dieser Männer nach Herrschaft über die Ge-
müter des Volkes, was sie dazu gebracht hat, so vielerlei, ihrem Volke
vertraute und eindrückliche Gattungen nachzuahmen. Welches aber ist
nun das eigentliche prophetische Genre? Das ist neben der Vision die
Verkündigung der Zukunft, wie wir sie in dem uralten Stück Jes. i5f,
treffen. In unseren prophetischen Büchern sind besonders deutliche Muster
dieses ältesten Stiles die Orakel über die fremden Völker (Jes. 13 — 21,.
Jer. 46 — 51, Ez. 25 — 32 u. a.). Denn da sich diese Propheten in erster
Linie stets zu Israel gesandt fühlen, so treten die neuen Formen, die sie
erzeugt haben, vorwiegend in den an Israel gerichteten Stücken auf, wäh-
rend die Reden an die fremden Völker einen gegenwärtig toten Arm des
Stromes darstellen, der uns aber zeigt, wie das Wasser vorzeiten ge-
flossen ist.
Besondere Merkmale dieses ältesten Stils sind folgende. Zu- Ältester stii:
Verkündigungen
nächst der eigentümliche dämonisch -geheimnisvolle Ton. Ganz abrupt, der Zukunft,
fast völlig unverständlich setzt das Orakel ein. Namen werden nicht ge-
nannt, ebensowenig bestimmte Zahlen. Bilder verhüllen mehr als sie
offenbaren. Kunstausdrücke bleiben dem Nichtkenner rätselhaft. Vieles
hiervon mag den Zeitgenossen oder wenigstens den Schülern des Pro-
pheten trotz der mysteriösen Einkleidung ohne weiteres verständlich ge-
wesen sein; anderes aber war auch ihnen dunkel: so die geheime Offen-
barung- von dem „Gottesknecht", der in Schmach dahingegangen ist und
Israels Sünden getragen hat. Besonders tritt dieser mysteriöse Ton da
ein, wo die Propheten uralte mythologische Stoffe aufnehmen, selber im
Innern erbebend über das Große, das kommen soll.
Ferner die eigentümlich springende Art. Prophetisches Erkennen
ist nicht ein in sich zusammenhängendes, geschlossenes, sondern ein jähes,
blitzartiges Aufleuchten. Selten finden sich ausführliche Schilderungen.
Gewaltsam ist oft Zug neben Zug gesetzt, wie in einem kyklopischen
36 Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
Bau Stein auf Stein gehäuft ist. Ein immer neues Ansetzen; lauter Frag-
mente, die manchmal im Geiste dessen, der das Ganze übersieht, ein
kunstvolles Gesamtbild geben. Besonders stark wird dieses Absetzen,
wenn sich die Prophetie vom Unheil zum Heil wendet: es ist, so drückt
der Stil aus, etwas Neues, was Jahve schaffen will.
Sodann eine große Vorliebe für das Konkrete, ja das AUerkonkre-
teste: diese ZukunftsoflFenbarung-en sind ursprünglich geschaut; und von
anschaulichen Bildern sind sie voll. Besonders lieben es die Propheten,
den letzten Zustand des Ortes oder des Volkes, dem sie drohen oder
verheißen, zu schildern, damit man daraus rückblickend die ganze Kette
von Ereignissen, die sie vorausschauen, erkenne. So schildern sie, wie
Babel ein Wassersumpf wird (Jes. 14, 22 f.), der Zionsberg eine Lust der
Wildesel (Jes. ;^2, 14), und die Leiche des Weltkönigs geschändet am Boden
liegt (Jes. 14, 16 ff.).
Kein Merkmal aber tritt so deutlich hervor, wie die ungemeine Wucht
der Leidenschaft. Den Unheilspropheten ist kein Bild zu furchtbar, zu
grausam, als daß sie es nicht gebraucht, ja offenbar mit besonderer Liebe
aufgesucht hätten; und ebenso überschwenglich sind anderseits die Ver-
heißungen der Heilspropheten. Darum wählen sie gern die Bilder aus der
uralten wundergewaltigen Eschatologie, vor denen das Menschenherz er-
schaudert oder die es begeistern und entzücken. So sind die Propheten
Gottes Posaune, die so gewaltig dröhnt, daß von ihrem Klang die Ohren
bersten! Und es ist eine prophetische Leidenschaft: das Ekstatische der
alten Zeit klingt im Stil nach. Daher das Erregte und Gewaltsame, das
Bizarre und Groteske ihrer Diktion. Männer, die jahrelang nackend
gehen können, werden auch in der Art zu reden das Barocke lieben,
w- ?T r^'stu. Dieser älteste und charakteristischste Prophetenstil hat niemals ganz
aufgehört, aber es sind unter der Hand großer Schriftsteller eine Fülle
Prophetische ^qq Gattungen neben ihn getreten. So sind lyrische Stücke mannig-
faltiger Art von den Propheten in die Weissagungen eingestreut worden.
Triumphierend über das Herrliche, das Jahve einst tun wird, singen sie
im voraus das Jubellied, das die erlöste Gemeinde anstimmen wird; über
den Feind, dessen Fall sie voraussehen, erschallt bei ihnen schon jetzt das
Spottlied; oder sie stimmen die Leichenklage an über den, der jetzt
noch im Glücke lebt. Den Völkern der Endzeit, die sich zu Jahve be-
kehren, legen sie das Wallfahrtslied in den Mund. Im Namen ihres
Volkes erheben sie das Klagelied: „verlaß uns nicht!" Oder sie dichten das
Bußlied der Zukunft, das die dann Bekehrten singen werden. Aber auch
profane Gattungen haben sie nicht verschmäht: Trinklieder, Wächter-
lieder, ja gelegentlich auch ein Spottliedchen über eine Dirne. Manchmal
haben sie auch im Ton der Liturgie gedichtet und wechselnde Stimmen ein-
geführt: da ertönt etwa zuerst die Klage des Volkes in seiner Not, dann
antwortet die göttliche Stimme und verkündet die Erlösung, und daran
schließt sich etwa ein Hymnus. Schließlich kommt noch der Monolog
II. Die großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750 — 540). 3?
hinzu: Jeremias, eine zart angelegte Natur, aufs bitterste unter dem Kampf
mit seinem Volke leidend, hat seine eigensten Erlebnisse Gott im Gebete
vorgetragen und für solche persönlichen Ergüsse die Form des individuellen
Klageliedes gewählt: diese persönliche Dichtung eines Propheten ist
einmal eine Tat gewesen; Jeremias' Gebete gehören zu den ergreifendsten
im Alten Testament. — So geht also schließlich die Prophetie in die
Lyrik über.
Eine andere Entwicklungslinie ist diese, daß sich die Propheten nicht Reflexionen
begnügen, die Zukunft nur zu verkündigten, obwohl dies immer ihr erstes
Wort bleibt, sondern daß sie auch den sittlichen Grund angeben, weshalb
sie kommen muß. So haben sie ihren Drohungen Scheltreden hinzu-
gefügt, in denen sie Israels Frevel darstellen; dies Aufzeigen der Sünde
ist den großen Propheten ein Hauptpunkt ihrer Predigt. Sie haben auch
Ratschläge g-eg^eben, was man tun solle, um Jahves Zorn zu entgehen,
und Mahnreden gehalten: in dieser Form hatten sie eine Gelegenheit,
ihre großen sittlichen und religiösen Ideale positiv zu entwickeln. In er-
regten Disputationen mit ihren Volksgenossen haben sie, angreifend
und verteidigend, ihre Gedanken ausgeführt. So sind sie allmählich zu
Predigern geworden. Auch Denker sind aus ihnen hervorgegangen,
die über das Gesetz des Waltens Gottes unter den Menschen nachsinnen;
Jeremias ist ein Religionsphilosoph zu nennen. Um diese Ideen darzu-
stellen, bot sich ihnen die Geschichtserzählung dar, wobei es ihnen
freilich nicht auf Mitteilung der Tatsachen, sondern ganz allein auf Ge-
schichtsbetrachtung, Geschichtsphilosophie ankommt. Auch priester-
licher Geist hat sich mit dem prophetischen verbunden: Ezechiel ist der
Priester unter den Propheten.
So ist also in der Hand dieser Männer an die Stelle der ursprüng-
lichen Einförmigkeit eine fast unübersehbare Fülle getreten: alle Strahlen
der bisherigen religiösen Literatur sind bei den Propheten wie in einem
Brennpunkt zusammengekommen. Und diese prophetische Schriftstellerei
hat dann auf die Späteren aufs kräftigste gewirkt: die von den Propheten
aufgenommenen Gattungen, mit ihrem Geiste erfüllt, werden von den Epi-
gonen fortgesetzt; so gibt es in der Folgezeit eine prophetische Ge-
schichtsschreibung und eine prophetische Tora. Diese Gattungen
aber gewinnen dann einen noch größeren Einfluß, als ihn die prophe-
tischen Schriften besessen haben, die für die Späteren wegen ihrer Ver-
bindung mit Zeitgeschichtlichem z. T. schwer verständlich waren. Die
Tora formuliert das prophetische Ideal in wenigen, leicht verständlichen
Forderungen, von denen der kultische Teil durch den Arm des Staates
durchgesetzt wird; die Geschichtsschreibung aber bringt die prophetischen
Urteile in der Form der Geschichtsbetrachtung bis auf die spätesten
Nachkommen, ja bis auf die Gegenwart. Dazu kommt noch eine von den
Propheten befruchtete Lyrik, die Psalmendichtung.
Nach diesen Ausführungen werden nun auch die Gestalten der ein- Propheten.
88 Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
zelnen großen prophetischen Schriftsteller deutlich: da ist der finstere,
schroffe Arnos mit seinen Scheit- und Drohreden und sein Zeiteenosse
Hosea, eine reichere Natur, schwankend zwischen Zorn und Liebe, in
einem schon völlig aufgelösten Stil nervös auf den Gegner einredend; der
königliche Jesaias, dessen Sprache voll Wucht und Schwung majestätisch
dahinrollt, am gewaltigsten, wenn er schilt und droht, aber auch in anderen
Gattungen ein großer Dichter; Jeremias, der reichste unter allen und
in vielen Stilen sich bewegend: im alten prophetischen Stil manchmal
wuchtig und lebendig, anderswo freilich auch schwächer, dazu ein
Denker, der die tiefsten Erkenntnisse der Prophetie ausspricht, und ein Pre-
diger im langatmigen Stil des gleichzeitigen Deuteronomiums, dem Hosea
ähnlich in leidenschaftlichen Disputationen und zugleich einer der größten
unter den Psalmisten; Ezechiel, ein unverächtlicher Dichter mit gewal-
tigen Leichen- und Spottliedern, der die alten mythologischen Stoffe
liebt; der Dämonische unter den Propheten mit seinen seltsamen Zeichen
und barocken Allegorieen und zugleich ein Priester-Jurist und Geschichts-
philosoph; sein Ton ist vorwiegend herbe und verbittert; schließlich
Deuterojesaias, der Letzte unter den Großen, der Heilsprophet unter
den kanonischen Propheten, erfüllt von brausendem Enthusiasmus oder
von zarter Innigkeit; bei ihm wird die Prophetie zur Lyrik. Das sind die
Propheten Israels.
Ältere Psalmen- 2. Mit den Prophcten ist die Höhe erreicht; alles Weitere ist ihre
dichtung.
Begleiterscheinung oder Weiterwirkung. Der starke Individualismus, den
die Propheten geweckt haben, und ihr hoher Sinn, der die Opfer und
Zeremonieen verachtet, spricht sich in einer neuen Art religiöser Lyrik
aus. Diese Lyrik ist auf Grund der alten Kultusdichtung entstanden; die
Gattungen, die diese erzeugt hat, finden hier ihre Fortsetzung. Es sind
vorwiegend Hymnen und Danklieder, Klagelieder des Einzelnen und des
Volkes; der Stil hat sich z. T. mit einer fast unglaublichen Treue bis in
die späteste Zeit gehalten; auch das Formelhafte, das dieser liturgischen Dich-
tung von Xatur anhaftet, verliert sich nicht ganz: daher die große Eintönigkeit
im Psalter. Aber diese alten Gattungen sind zu Gefäßen eines neuen
Geistes umgebildet. Die meisten der Psalmen setzen keine bestimmte
kultische Handlung mehr voraus; ja die Psalmisten sind überzeugt, daß
ein Lied, gesungen aus frommem Herzen, Gott besser gefällt als ein Stier
mit Hörnern und Klauen (Ps, 69, ^2). So ist aus dem kultischen Dank-
opferlied das Danklied und aus dem kultischen Klagelied eine neue
Gattung geworden, die nichts mehr von Entsündigungs zeremonieen weiß.
Am weitesten entwickelt sind die individuellen Klagelieder, in denen
die Verbindung mit dem Gottesdienst völlig gelöst ist: sie werden von
dem Kranken und Leidenden im stillen Kämmerlein gesungen. Hier spricht
eine Frömmigkeit des Herzens, die aus der Religion des Geistes und der
Wahrheit stammt: die Seele steht, befreit von den Kultusformen, vor ihrem
Gott. Und wie der Gottesdienst, so hat auch der Gedanke an das Volks-
II. Die großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750 — 540). 8q
tum hier seine Herrschaft verloren, wenn auch die frommen Sänger nie
aufgehört haben, gute Patrioten zu sein. Aber der Fromme hat hier ein
Heihgtum, das ihm allein angehört. Wie alt diese individuelle, von den
Zeremonieen befreite Psalmendichtung ist, erkennt man daran, daß einige
dieser Psalmen mit dem Gebet für den regierenden König schließen
(Ps. 28 u. 63; I. Sam. 2), also noch aus der Zeit des judäischen Königtums
stammen müssen, und daß auch Jeremias in den Formen dieser Lieder
gedichtet hat: erfunden aber hat Jeremias diese Gattung- nicht; denn
Gattungen erfindet kein Einzelner. Klag^elieder, ursprüngliche Kranken-
lieder, sind es vornehmlich, in denen das Individuum sich so das Recht
erobert hat, seine persönlichen Erfahrungen auszusprechen, eine Lyrik der
„Armen", Lieder voller Tränen und Seufzer und Herzeleid. Daran er-
kennen wir ein Gesetz religiösen Lebens: der Acker der Religion ist
fruchtbar gemacht durch Tränen und Blut. Wahre, persönliche Religion
kann nur sein, wo schwere Kämpfe vorausgegangen sind; und die Not
ist es, die zu Gott führt. Wir sehen hier also in Zeiten hinein, wo es
viele „Arme" und Leidende gegeben hat, und wo gerade die Frommen
Leidende waren. So spiegeln sich bestimmte, sehr unglückliche politische
und soziale Verhältnisse wieder; offenbar dieselben, über die auch die
Propheten klagen: auch Jeremias hat sich einen „Armen" genannt (20, 13).
Andere Gattungen der Psalmen haben sich nicht so weit von den
Kultusliedern entfernt. Hymnen und öffentliche Klagelieder sind bis
in die späteste Zeit von der Gemeinde im Tempel gesungen worden, aber
auch hier sind die Anspielungen an bestimmte kultische Handlungen fort-
gefallen, und einige der Hymnen sind ganz subjektiv geworden: „lobe den
Herrn, meine Seele". Prophetischer Geist zeigt sich besonders deutlich
in den eschatologischen Hymnen: wie die Propheten die Lyrik nach-
geahmt und Lieder gedichtet hatten, die aber nicht das gegenwärtige,
sondern das zukünftige Geschlecht singen soll, so entlehnen nun die Psal-
misten diese Gattung der Orakellieder von den Propheten und verherr-
lichen die große „Wendung" Israels, als wenn sie schon geschehen wäre.
Auch der Wechselgesang, von den Propheten aus dem Gottesdienst
übernommen und ihrem Geiste dienstbar gemacht, kehrt in den Psalmen
wieder: die wundervolle Zukunftsschau wirkt um so herrlicher, wenn die
sehnsüchtige Klage und das leidenschaftliche Gebet vorher erklungen ist.
Die Psalmen sind ein Höhepunkt der religiösen Dichtung: die Hymnen
reden in unvergänglicher Sprache von der einzigen Majestät der Religion
Israels; in den Klageliedern ertönen Naturlaute der Frömmigkeit. Freilich
ist das Individuum auch hier nur relativ frei: eng begrenzt ist der Um-
kreis der Gedanken, die ihm auszusprechen erlaubt ist; das Konkrete, nur
diesem Einen Geschehene, tritt in diesen Liedern sehr zurück; nicht so-
wohl große Dichter haben sie gebildet, sondern einfache Männer aus dem
Volke haben in ihnen ihr Herz ergossen. Trotzdem bleiben diese Psalmen
ein köstlicher Schatz, den Frommen aller Zeiten wohl bekannt.
go Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
weisheits- 3. Weisheitsdichtung. Neben den Priestern mit ihrer „Tora" und
dicbtuag.
den Propheten mit ihrem „Wort" nennt schon Jeremias {18, 18) die Weisen
mit ihrem Rat als Grundpfeiler des geistigen Lebens. Auch im Ausland
wird damals solche Weisheit betrieben: die Ostländer und Edomiter sind
als Weise berühmt; Hiob und seine Freunde stammen daher; Namen ara-
bischer Weisen werden im Buch der Proverbien (30, i; 31, i) genannt;
erhaltene äg}T3tische und babylonische Weisheitssprüche sind den israeli-
tischen sehr ähnlich. So mag denn auch die Figur der „Weisheit", der
Lieblingstochter Gottes (Prov. 8, 22S.), die für die Hebräer nur eine Per-
sonifikation darstellt, ursprünglich eine Göttin, die Schutzgöttin der
Weisen gewesen sein. Auf uns gekommen sind aus israelitischer Weis-
heitsliteratur die Spruchsammlungen der Proverbien und des Jesus ben
Sira; auch die einheitlich konzipierten Bücher des Hiob, des Predigers
und der {griechisch geschriebenen) Weisheit Salomonis sind aus dieser
Wurzel entsprossen. Davon gehören die Proverbien (wenigstens ihrem
Grundstock nach) und Hiob einer älteren Periode an, während die anderen
Schriften aus späterer Zeit stammen. Anders aber als die Chronologie reiht
die Literaturgeschichte die Schriften an: danach ist die älteste literarische
Form die der Sammlungen, auf Grund deren dann die großen Weisheits-
bücher verfaßt sind. Im Leben aber ist die ursprüngliche Einheit der
einzelne Spruch gewesen; denn auch diese „Weisheit" hat, ehe sie nieder-
geschrieben wurde, in mündlicher Überlieferung existiert.
Die Sprüche. Es sind „Weisc", weißbärtige Männer, die auf den freien Plätzen oder im
Tore zusammensitzen (Prov^ i, 20 f.), die diese Weisheit pflegen; die Sprüche,
die sie in der Jugend erlernt haben, tauschen sie miteinander aus; der Jüngling
aber möge zuhören und Weisheit lernen. Diese „Weisheit" ist also keine
Volksdichtung und nicht mit unseren „Sprichwörtern" zu verwechseln,
sondern eine Art Kunstdichtung, nur in ganz bestimmten Kreisen zu
Hause, Diese „Weisen" geben guten „Rat" in allen Lagen des Lebens:
sie wissen, was man zu tun hat auf dem Felde, zu Hause und im Tore,
mit Weib und Kind, Knecht und Magd, Freund und Feind. Dies alles
mit dem Nebengedanken, daß es gut ist, weise zu handeln; denn dem
Weisen geht alles gut, aber der Tor kommt zu Fall, Solche verständigen
Betrachtungen sind zunächst ganz profan; aber in einer späteren Phase
fließen auch sittliche und religiöse Gedanken mit hinein: die Weisheit
lehrt nichts anderes als die Religion; die Furcht Gottes ist der Weisheit
Anfang, Der Hauptsatz aber, der in solchen Sprüchen beständig variiert
wird, ist der Vergeltungsglaube, der ja keiner entwickelteren Religion fremd
ist und auch dem alten Israel längst bekannt war, der aber in dieser
Weisheit je länger je mehr hervortritt, der Glaube, daß die Gottheit den
Frommen mit allen Gütern belohnt, aber über den Bösen die schreck-
liche Katastrophe bringt. Der Geist dieser Weisheit ist von dem Geiste
der Propheten im allgemeinen weit entfernt: sie redet nicht wie jene vom
Schicksal des Volkes, sondern nur von dem des einzelnen Mannes; und
II. Die großen Schriflstellerpersönlichkeiten (ca. 750 — 540). qI
der flammende Enthusiasmus der Prophetie und die nüchterne, biedere Lebens-
klugheit der Proverbien sind gar verschiedene Dinge. Doch mag man auch
hier in dem ausgeprägten Individualismus, der sich in den Proverbien zeigt,
und in der Abwehr des Opferkults eine Wirkung des Prophetismus sehen. —
Der Form nach sind diese Sprüche ursprünglich sehr kurz, nur eine Zeile lang.
Sie enthalten entweder allgemeine Betrachtungen, oder sie reden den Jüngling
an und ermahnen ihn: willst du gute Tage sehen, dann halte dich an diese
Lehre! Oft sind sie fein pointiert; sei es, daß die zweite Zeile ein geist-
reiches Bild bringt oder eine frappante Antithese oder dergleichen. Später
sind größere Einheiten aus mehreren Zeilen gebildet worden und schließ-
lich längere, erbauliche und ermahnende Reden. Solche Spruchdichtung
hat man jahrhundertelang betrieben, sich an Sprüchen erfreut und sie ge-
sammelt, wobei die einzelnen Worte mannigfach umgestaltet worden sind.
Aus kleineren Sammlungen ist dann zuletzt das Buch der Proverbien zu-
sammengestellt worden. Mit Salomos Naturweisheit hat diese Literatur
der Lebensweisheit nichts zu schaffen.
In die ältere Zeit der Weisheitsdichtung dürfen wir ohne Bedenken Hiob.
das Buch Hiob einordnen, in gewissem Sinne das älteste und fast das
einzige „Buch", jedenfalls die umfassendste Komposition in der hebräischen
Literatur. Das Buch behandelt ein religiöses Problem. Es ist be-
zeichnend, daß es an dieser Stelle der geistigen Entwicklung Israels zu
religiösen Frag-en und Zweifeln gekommen ist, — das ist der Rückschlag
gegen das gewaltige Pathos der Propheten — und daß der Zweifel im Kreise
der „Weisen" entstanden ist, — hier war das Nachdenken über die Religion
zu Hause. Nicht einen nebensächlichen Satz greift der Dichter an, son-
dern er richtet sich gegen die fundamentale religiöse Überzeugung seines
Kreises, die auch in den Psalmen, im Gesetz und schon in den Sagen
beständig wiederkehrt, die Überzeugung, daß Gott Frömmigkeit belohnt
und Frevel bestraft. So tief war dieser Glaube in den Gemütern der
Frommen eingewurzelt, daß er ihnen fester als Himmel und Erde zu
stehen schien. Wie der Dichter zu seinem Zweifel gekommen ist, hat er
selber in seinem Gedichte niedergelegt: einst selber ein Frommer und ein
anerkannter Führer der Seinigen, hat er schweres Leid erfahren: das war der
Lohn seiner Frömmigkeit! Da hat er es erleben müssen, daß seine frommen
Freunde, gewohnt, die Menschen je nach ihrem Glück oder Unglück für
gerecht oder gottlos zu halten, ihn für einen Frevler erklärten, dessen
geheime Sünde Gott jetzt an den Tag gebracht habe; diese mitleidlose An-
wendung der Vergeltungslehre hat ihm die Augen aufgetan. Dies grau-
samste Erlebnis aber, das er erleiden konnte, hat ihn zum großen Dichter
gemacht. Um diesen Konflikt darzustellen, hat er die alte Erzählung vom
Dulder Hiob benutzt, dem plötzlich Hab und Gut genommen, dem seine
Familie entrissen wurde, der selber in eine schreckliche Krankheit fiel,
aber in alledem Geduld und Gottesfurcht bewahrte. Die Sage wußte auch,
weshalb solche Not über Hiob gekommen war: Gott hatte mit einem
0 2 Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
seiner Engel, dem Satan, eine Wette geschlossen, ob wenigstens dieser
Frömmste der Frommen ihn in völliger Uneigennützigkeit fürchte. An
diese alte Volkserzählung hat der Dichter sein Gedicht angeschlossen, um
an solchem g'anz deutlichen Beispiele das Leiden eines Gerechten dar-
zustellen, und hat in g-ewaltig - pathetischen Reden Hiob die eigenen
Schmerzen und Zweifel aussprechen lassen, ganz unbekümmert darum,
daß der alte g^eduldige Hiob von seinem Hiob mit seiner Verzweiflung
und seinem Kampf gegen Gott weit entfernt ist. Der Hiob der Reden
ist also der leidende Gerechte, dem die Frage auf der Seele liegt: warum
hat Gott mir das getan? ist dieser Gott ein gerechter Richter? Ihm
gegenüber vertreten die Freunde, die mit ihm disputieren, die gewöhn-
liche Meinung, daß der Sünder bestraft werde, und daß, wer Strafe erleide,
also auch ein Sünder sei. Zuerst wohlmeinend in leisen Andeutungen,
dann, durch Hiobs steigenden Ingrimm gereizt, immer deutlicher und
schroffer, halten sie ihm, unbarmherzig genug, vor, daß er ein Sünder sei
und sich unter Gottes Zucht demütig zu beugen habe. Das ist die hartherzige
Stellung der ^lehrheit, die vom Dogma aus den einzelnen Fall beurteilt. So
wird der leidende Fromme ausgestoßen von den eigenen Freunden. Ihnen
gegenüber stützt sich Hiob auf nichts anderes als seine eigene, ihm völlig ge-
wisse subjektive Erfahrung, daß er gerecht ist, und er verlangt im Namen der
Gerechtigkeit, daß sich sein Geschick nach seinen Werken richte. So
zweifelt er an der sittlichen Weltordnung: in herzzerreißenden Jammer-
tönen beklagt er sein und aller Welt Geschick; mit furchtbarer Leiden-
schaft fährt er gegen den Gott los, der seine Macht über die Menschen
mißbrauche, den er jetzt zu verlieren fürchtet, und an den er sich doch
als seinen einzigen Zeugen gegenüber den Menschen anklammert. Zuletzt
müssen seine Freunde verstummen. Noch einmal bezeugt Hiob feierlich
seine Unschuld und ruft Gott selbst auf, sich zu stellen. Und Gott erscheint.
In majestätischen Reden schildert er selber seine übermenschliche Herr-
lichkeit als des Schöpfers und Regierers der Welt und fordert dann Hiob
auf, die Klage zu beginnen. Aber vor der göttlichen Allmacht hört jeder
Widerspruch auf: Hiob nimmt seine vermessenen Reden zurück. Nun der
Schluß, der das göttliche Urteil über die Personen ausspricht, wonach
Hiob wiederhergestellt wird und für seine Freunde, diese vermeintlichen
Frommen, Fürbitte einlegen muß. In diesem Schlüsse spricht sich ein un-
erschütterlicher Mut der Wahrheitsliebe aus: wer scheinbar für Gottes
Sache Lüge redet, hat Sünde getan! Eine Lösung des Problems, warum
der Gerechte leide, hat der Dichter nicht gegeben. Er hat dies Problem
aufs tiefste empfunden, aber es ist ihm unlösbar geblieben. Sicher nur
dies, daß man den Leidenden nicht verurteilen noch ausstoßen darf. Von
dem Gott, dessen Walten im Menschenleben so oft verborgene Wege
wandelt, hat er sich zu dem Gott geflüchtet, dessen Herrlichkeit in der
Natur deutlich ist. Alle seine Anklagen schweigen und selbst seine
Wunden hören auf zu bluten, wenn ihm die schlechthinnige Erhabenheit
111. Die Epigonen. q5
Gottes vor die Seele tritt: wer bin ich und wer bist du! — Dem Stil
nach ist Hiob im Alten Testament ganz originell: seine Reden haben die
Form der Streitreden von Weisen, die um Weisheit wetteifern. Diese
Reden aber sind ausgestattet mit einer reichen Fülle von lyrischen
Motiven: es sind schmerzliche Klag'elieder, pathetische Unschulds-
beteuerungen und besonders wundervolle Hymnen. Der Dichter ver-
steht es, „zur rechten Zeit den erschütterndsten Ausdruck zu finden für
das gewaltige Ringen eines Geistes, der um das höchste Gut des Men-
schen fast vergebens kämpft" (Du hm). Parallelen für diese Gattung des philo-
sophisch-religiösen Gespräches finden sich in der ägyptischen Literatur.
Die Späteren haben das Gedicht durch mancherlei Weglassungen und
Zusätze und besonders durch die Hinzufügung der Elihureden (32 — 37)
verunstaltet, in denen ein schwächlicher Nachkömmling sich vermaß, den
großen Dichter und seinen Hiob zu meistern.
III. Die Epigonen. Mit der Zertrümmerung des Staates und der Die Epigonen.
^ '^ ° Politische und
Wegführung des größten Teiles des Volkes Juda durch die Chaldäer (586) kulturelle Ver-
hältnisse,
beginnt eine neue Periode. Auf die leidenschaftliche Erregung der
letzten Jahrhunderte folgt nun eine Zeit der Erschöpfung. Zwar ist
es unter dem Protektorat des persischen Weltreiches, das nach 50 Jahren
das chaldäische beerbte, zu einer Neugründung in Palästina gekommen,
wenn auch die Hauptmasse der Verbannten in Babylonien zurückblieb.
Aber diese palästinensische Gemeinde, eingekeilt zwischen feindliche
Nachbarn, blieb lange Zeit das Schmerzenskind des Judentums und verlor
bald unter dem Verdacht revolutionärer Gesinnung die einheimische
Obrigkeit. Es liegt auf dem unglücklichen Volke wie ein bleierner Druck,
den es um so tiefer empfindet, als es beständig- von einer eigenen Welt-
herrschaft träumt, die ihm sein Gott verschaffen soll. Unter dem Elend
der Zeit verwandelt sich der Volkscharakter: der Jude muß den Rücken
vor dem Weltherrn beugen und verachtet doch den Heiden aufs tiefste.
Allmählich ist die Diaspora des Judentums dann immer ausgedehnter ge-
worden; außerhalb Palästinas hat der Jude in den folgenden Jahr-
hunderten den Beruf des Kaufmanns gelernt, und als Kaufmann ist er in
die ganze Welt gezogen. Bei seiner Umgebung ist er aufs tiefste un-
beliebt; schon damals haben Judenhetzen stattgefunden; Denkmal dieser
Verhältnisse ist das Buch Ester. Der damaligen Weltkultur, die, wesent-
lich babylonischer und ägyptischer Herkunft, auch im persischen Reiche
bestehen blieb, hat das Judentum in seinem gesamten äußeren Leben je
läng-er je mehr nicht widerstehen können. Selbst die damals herrschende
aramäische Sprache hat es auf die Dauer nicht abzuwehren vermocht. So
verändert sich im Laufe dieser Periode das Volk von Grund aus. Trotz-
dem wahrt es seine Existenz und besonders seine Religion mit staunens-
werter Kraft. Es ist in der Weltgeschichte ein nicht seltenes Schauspiel,
daß Völker, nach der Zertrümmerung ihres Staates und dem Aufhören
94
Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
ihrer eigentlichen Geschichte, dennoch weiter existieren, wenn sie an der
nationalen Religion einen Halt finden; solche Religion aber hat dann die
Form der autoritativen Institution, und die leitende Persönlichkeit wird
der Priester. So „verkapselt" sich damals das Judentum in der Form einer
religiösen Gemeinde; seine Religion empfängt die Form des Gesetzes und
der Hohepriester von Jerusalem übernimmt die Führung. Zwei große
Versuche hat das Judentum gemacht, sich ein solches Gesetz zu geben.
Der erste Versuch ist schon vor der letzten Katastrophe geschehen; es
ist die im Grundstock des Deuteronomiums uns noch erhaltene Gesetzgebung
des Königs Josia (623). Das zweite große Unternehmen ist die Gesetz-
gebung des von uns sogenannten „Priesterkodex" (P), den wir in der Mitte
des Pentateuch besitzen, und der 444 unter Mitwirkung der persischen
Zentralbehörde das Gesetzbuch der Gemeinde von Jerusalem geworden ist.
Die Religion In der Gemeinde kommt durch das Exil, das die Weissagung der
Propheten so furchtbar erfüllt, die Prophetie zur Herrschaft. Der
Monotheismus durchdringt das Judentum; fortan hat es im allgemeinen
keine Neigung mehr, die heidnischen Götter zu verehren; die mancherlei
m}i:hologischen Stoffe, die man dennoch aufgenommen hat, werden der
poh-theistischen Form entkleidet. Tiefe Beschämung erfüllt den Juden,
wenn er der Abgötterei der Vorzeit gedenkt; die Stimmung, sündig zu
sein und der Buße zu bedürfen, die die Propheten so oft gepredigt
hatten, erfüllt das Volk. So geht die urwüchsige Volksreligion zugrunde. —
Aber indem die Gedanken der Propheten jetzt in die Gemeinde dringen,
können sie nicht unverändert bleiben; die Stimmung^en der Masse wirken
mit ein, ja sie kommen an die Oberfläche. Die hohe Stellung der Pro-
pheten, die den Kultus geringschätzten, kann nicht innegehalten werden.
So kommt es zwischen prophetischer und Gemeindereligion zu einem
Kompromiß, wonach die Kultussitten zwar das vormals Heidnische ab-
streifen, dann aber um so eifriger und sicherer als Gottes heiliges Gesetz
verehrt werden. In der Folgezeit geht dann das religiöse Leben in zwei
Richtungen auseinander: die gesetzliche, die auf die im letzten Grunde
aus der alten Religion stammenden Kultussatzungen wie Sabbath, Beschnei-
dung und Reinheitsgebote den Nachdruck legt, sich im Priesterkodex
darstellt und dann in der Schriftgelehrsamkeit und im Pharisäismus weiter-
lebt; aber auch die Religion der Propheten dauert, besonders unter den
Psalmisten, fort und tritt schließlich im Evangelium Jesu in erneuter und
verklärter Gestalt auf.
Die Literatur hatte vor den großen Katastrophen ihre klassische
Zeit erlebt. Das geistige Leben stand damals fast auf allen Gebieten,
die Israel überhaupt gepflegt hat, in höchster Blüte. Nun folgt ein
langer Winter. Zwar werden die alten Gattungen noch jahrhunderte-
lang fortgesetzt. So hat die hebräische Literatur noch ein Fortleben,
nachdem die Sprache des täglichen Lebens längst aramäisch geworden
ist. Aramäisch schreibt man vor allem die offiziellen Urkunden —
III. Die Epigonen. qc
denn es ist die Sprache der Obrigkeit — , die Kontrakte, Briefe,
Listen u. dgl. Auch im Alten Testament finden sich einige, wenn auch
nicht sehr bedeutende aramäische Abschnitte. Aber das Hebräische bleibt,
im wesentlichen unangetastet, die Sprache der Religion. — Eine Sprache
indes, die nur oder vorwiegend geschrieben wird, kann sich auf die Dauer
nicht halten. So stirbt die hebräische Literatur in dieser Epoche langsam
ab. Um so mehr cvber ist man darauf bedacht gewesen, das noch Vor-
handene zu sammeln. So ist diese Zeit eine Zeit der Sammlungen; da-
mals sind die meisten der uns überlieferten „Bücher" aus den Über-
lieferungen der Vergangenheit zusammeng'estellt worden. Sprüche, Psal-
men, Prophetenschriften, Erzählungen hat man in jener Zeit zu Büchern
vereinigt. Eine der wichtigsten Sammlungen ist die Zusammenstellung
des „Jehovisten" (d. h. einer Zusammenfassung von Jahvisten und Elohisten)
mit dem Deuteronomium, die etwa um 500 existiert hat; dieser Sammlung
ist dann später als Konkurrenzunternehmen das Buch des „Priesterkodex"
entgegengestellt worden, der in seiner damaligen Gestalt gleichfalls heilige
Geschichte und Gesetze enthielt; schließlich sind beide Sammlungen ver-
schmolzen worden in unsern Pentateuch. — Mit der Sammlung geht Hand
in Hand die Überarbeitung-, zum Teil im größten Stil; besonders die ge-
schichtliche Überlieferung ist damals durch gxoße Redaktionen erst in
diejenige Form gebracht worden, in der wir sie jetzt lesen. Diese Re-
daktionen sind die Hinterlassenschaft der Schriftgelehrsamkeit: auch
im Judentum sind die Schriftgelehrten die Erben und Nachfolger der
Schriftsteller. — Für diejenige Literatur, die man selbst geschaffen hat,
ist charakteristisch, daß jetzt die Mischgattungen überwiegen.
Die Hauptgattungen jüdischer Literatur sind folgende: Hauptgattungen.
I. Die Tora hat damals die unbestrittene Führung. In dieser Tora.
Gattung werden jetzt die Riten des Tempels von Jerusalem gebucht, aber
im Geiste einer neuen Zeit. Der vorexilischen Epoche gehört noch das Deu-
teronomium an, dessen Hauptforderung die Einheit des Kultus ist, und das
auch seinem Stile nach von der Verbindung des prophetischen und
priesterlichen Geistes zeugt, durch die es zustande gekommen ist: die
Form der priesterlichen Tora tragen die einzelnen Gebote, aber dazwischen
klingt sehr vielfach prophetische Ermahnung und Verheißung durch. —
Während sich das Deuteronomium vorwiegend an den Laien wendet, ist
der „Priesterkodex" für den Priester bestimmt. Die Priestergeschlechter,
die einst in Jerusalem amtiert haben, kodifizieren ihre Tradition und ihre
Ansprüche, indem sie ein Idealbild ausmalen, das in der Zeit des Moses
Wirklichkeit gewesen sein soll. Die Einheit des Kultus wird nicht mehr
ausdrücklich gefordert: man kann sie in jener Zeit schon als verwirklicht
voraussetzen. Das System eines geistlichen Volkes, das diese Schrift
verkündet, hat eine großartige Geschlossenheit, aber es entbehrt des
Lebens: das natürliche Volkstum tritt darin höchst auffallend zurück, und
für individuelle Frömmigkeit haben diese Kirchenmänner keinen Sinn. Es
96
Hermann Guxkel: Die israelitische Literatur.
ist Wellhausens Verdienst, erkannt zu haben, daß dies Idealbild nicht an
den Anfang, sondern an das Ende der Geschichte Israels gehört.
Hedige 2. Die Heilige Geschichte. Durch die Verbindung der alten ge-
schichtlichen und volkstümlichen Überlieferung mit dem geschichtsphilo-
sophischen Geiste der Propheten entstehen jetzt große Geschichts-
bücher. Wir nennen diese Geschichtschreibung „deuteronomistisch", weil
in ihr der Geist des Deuteronomiums vorwaltet. Das umfassende Ge-
schichtswerk, das uns in den Büchern der Richter, Samuelis und der
Könige vorliegt, stammt aus dieser Zeit. Es ist unter dem Eindruck des
Exils geschrieben, als ein Sündenbekenntnis des Judentums: welche Frevel
müssen die Vorfahren getan haben — so ist sein Hauptgedanke — , wenn
dieser furchtbare Gotteszorn die Antwort darauf gewesen ist!
Später ist im Geiste des Priesterkodex eine Bearbeitung der ältesten
Sagen vorgenommen und dann mit diesem Werke vereinigt worden. Hier
ist die Ursage aufs energischste umgearbeitet worden: es ist ein Neubau
zustande gekommen, vergleichbar den Neugründungen auf kirchlichem
Boden in derselben Zeit.
Einige Jahrhunderte später, im Zeitalter Alexanders des Großen, ist
ein neues großes Geschichtswerk abgefaßt worden, in dem in einer
auffallenden Verständnislosigkeit für die alte Geschichte die Überlieferung
gewaltsam umgebildet worden ist; es ist die Chronik, in der aus dem
großen Krieger und listenreichen Diplomaten David ein harmloser Kantor
und Liturg geworden ist (Wellhausen).
Alle diese Erzählungswerke stellen einen immer tieferen Sturz in der
Kunst der Geschichtserzählung dar: nicht das Geschehene interessiert diese
Späteren und Spätesten mehr, sondern nur noch die Beurteilung; und ihre
Beurteilung vermag sich in den Geist der Vorzeit nicht zu hnden. Trotz-
dem bleiben sie (namentlich das ältere deuteronomistische Werk) großartig
in der Geschlossenheit ihrer Geschichtsbetrachtung und ehrwürdig als
erste Versuche, Zweck und Sinn des geschichtlichen Ganges auszudeuten.
Von ihnen stammt das, was wir „heilige Geschichte" nennen; der große
Gedanke der Erziehung des Menschengeschlechtes und der Offenbarung
als einer Geschichte ist auf ihrem Boden erwachsen.
Neue Geschichtswerke sind damals sehr wenig mehr geschrieben
worden, weil man keine Geschichte mehr erlebte. Daher erklärt sich auch
die Abnahme des historischen Sinnes: diese Menschen wissen es nicht
mehr, wie man Völker leitet und Kriege führt. So kann sich der Chronist
vorstellen, daß Israel dadurch seine Siege davongetragen habe, daß es
Loblieder für Jahve anstimmte: dann stürzen die Feinde, einer in das
Schwert des anderen. — Dagegen gibt es zu jener Zeit bezeichnender-
weise Memoiren, Berichte über die Erlebnisse des Einzelnen; wie denn
auch sonst in dieser Epoche, da die alten Verbände immer mehr nach-
lassen, das Individuum in der Religion immer stärker hervortritt. Wir
besitzen die Memoiren Esras und Nehemias; und auch die Nachah-
III. Die Epigonen, q^
mungen dieser Gattung im „Prediger" und im Tobias zeigen, wie sehr
damals das Schreiben von Tagebüchern beliebt war. Kleinere „Legenden",
d. h, Erzählungen von bestimmt geistlicher Richtung, sind in jener Epoche
vielfach geschrieben worden: Ruth (wofern diese liebenswürdige und gänz-
lich tendenzlose Novelle nicht schon einer etwas früheren Epoche an-
gehört), Jonas, Ester, Judith, Tobias.
3. Die Prophetie bringt nach dem Exil noch zwei große Personen Nachexiiische
, Prophetie.
hervor (Ezechiel und Deuterojesaias) und liegt dann m langer Agonie, bis
sie endlich von der beginnenden Apokalyptik abgelöst wird. Prophetie und
Apokalyptik unterscheiden sich durch ihre Originalität: die Apokalyptiker
ahmen vielfach die Propheten nach und übernehmen ihre Weissag^ungen
wie Dogmen, und durch ihre, allerdings nur relativ verschiedene Haltung
gegenüber dem beständig zuströmenden mythologisch - eschatologischen
Stoff: die Prophetie bearbeitet ihn stark, indem sie ihn auf die jeweilige
Zeitiage bezieht, die Apokalyptik aber, klassisch vertreten durch das Buch
Daniel und die Offenbarung Johannis, übernimmt ihn in ursprünglicherer
Gestalt und in größeren Massen. Von den alten Propheten unterscheidet
sich die Prophetie der späteren Zeit durch das Einströmen priester-
lichen Geistes, der das ganze Zeitalter charakterisiert, und dadurch, daß
sie immer dogmatischer, apokalyptischer wird.
4. Die Psalm endichtung, die in dieser Epoche besonders geblüht Psaimen-
dichtung.
hat, zeigt uns das Judentum von seiner liebenswürdigsten Seite. Die
Gattungen der älteren Lyrik werden bis in die Zeit des Pompejus („Psal-
men Salomos") fortgesetzt, ohne daß wir einen deutlichen Unterschied
zwischen vor- und nachexilischer Dichtung- zu erkennen vermöchten. Je
länger aber diese Lyrik besteht, je mehr werden die reinen Gattungen
der alten Zeit durch Mischungen abgelöst. Prophetisches klingt mit
hinein; die alte heilige Geschichte wird versifiziert; häufig sind Mischungen
von Spruchdichtung und Lyrik usw. Diese Mannigfaltigkeit der Misch-
formen ist es, die bisher die Erkenntnis der Gattungen unter den Psalmen
aufgehalten hat. Diese Lieder sind damals nicht nur in den Zusammen-
künften der Frommen gesungen, sondern zugleich auch am Tempel von
den Sängerchören aufgeführt worden: von dem Gottesdienst ursprünglich
ausgegangen, sind sie schließlich dahin wdeder zurückgekehrt.
5. Endlich die Spruchdichtung. Das Buch der Proverbien w4rd
gesammelt; viel später schreibt dann der wackere Jesus ben Sira, indem
er nach der Art der Zeit den „Sprüchen" viele lyrische Stücke hinzu-
gesellt. Zu diesem Genre gehört noch der „Prediger", der Form nach
eine merkwürdige Verbindung von Spruchdichtung und pseudonymem
Tagebuch, dem Inhalt nach das Hohe Lied des Weltschmerzes: alles ist
eitel! ein tiefer Absturz nach dem Aufschwünge des Hiob und nun gar
der Propheten, kaum mehr als eine Urkunde der Auflösung der Religion.
6. Eine seltsame Merkwürdigkeit ist es, daß aus dieser Zeit noch eine
Sammlung von Liebesliedern stammt, das „Hohelied".
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 7
98
Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
Gegen Ende des Zeitalters nimmt die religiöse Kraft auf allen
Gebieten sichtbar ab: in den spätesten Psalmen, Sprüchen, Propheten-
stücken überwiegt die Nachahmung. So muß das Volk in den schicksals-
reichen Kampf mit dem Hellenismus. Aber in diesem, ihm aufgenötigten
Streite ist es aufs neue erstarkt. Von da ab beginnen neue Gestaltungen.
So wird der Schluß der Epoche bezeichnet durch den Kampf mit dem
Griechentum und durch den Versuch, einen neuen nationalen Staat zu
bilden. Inzwischen dringen in immer reicherem Strome neue religiöse Ge-
danken ein, die aus verschiedenen synkretistischen Kreisen des Orients
stammen, und von denen die Auferstehungslehre der wichtigste ist.
Daß aber in dieser Epoche etwas Neues beginnt und daß nun die
alte Geschichte Israels endg'ültig beschlossen ist, hat man selber empfunden;
denn man hat aus der späteren Zeit keine Schriften mehr in die Samm-
lung heiliger Bücher aufgenommen. Die bedeutsamste Ausnahme, das
Buch Daniel, eine Sammlung von Legenden und Apokalypsen aus der
Makkabäerzeit, ist dafür nur eine Bestätigung: man nahm diese Schrift
auf, weil man ihrer eigenen Angabe vertraute und sie daher für exilisch
hielt.
So starb die israelitische Literatur langsam dahin. Aber sie hinter-
ließ der jüdischen Synagoge und den christlichen Völkern als ihr Erbe
das „Alte Testament". Dies Buch hat dann in den folgenden beiden
Jahrtausenden einen Einfluß auf unsere Kulturwelt geübt wie nicht leicht
irgend ein anderes. Noch heute sind seine Propheten, obwohl vom Lichte
des Evangeliums überstrahlt, die Standarte wahrer sittlicher Religion,,
seine Erzählungen bilden einen unübertrefflichen Anschauungsstoff für die
Jugend, in seinen frommen Liedern fließt ein Urquell der Erbauung. So
bleibt das Alte Testament als religiöses Werk trotz seiner Schranken ein
Fundament der religiösen und sittlichen Bildung der abendländischen
Völker und als Literaturdenkmal eine nie auszuschöpfende Fundgrube
künstlerischen Stoffes.
Literatur.
Das Alte Testament gleicht einem Notbau, der auf den Trümmern und aus den Werk-
stücken eines vormaligen, viel schöneren Gebäudes errichtet worden ist. Darum ist es seit
dem Erwachen des modernen Geistes naturgemäß die Hauptaufgabe der Forschung ge-
wesen, die einzelnen Stücke aus dem gegenwärtigen Zusammenhang herauszunehmen und
ihr Alter wie ihre Art zu bestimmen; d. h. die Hauptprobleme der Forschung sind literar-
kritische gewesen. Diese Arbeit ist zu einem relativen Abschluß gekommen, seitdem man
die chronologische Reihenfolge der Quellenschriften des Pentateuch erkannt hat (Well-
HAUSEN). Zugleich hat man die Geschichte der Religion und des Staates Israel betrieben;
in der letzten Generation hat man begonnen, die gewonnenen Erkenntnisse in den Zu-
sammenhang der Geschichte des Orients einzustellen und dadurch zu vertiefen. So ist also
der Inhalt der hebräischen Literatur, nämlich die Religion Israels," vielfach behandelt
worden. Bei weitem weniger aber hat man die Formensprache [des alten Schrifttums
untersucht. Über den literarkritischen Problemen der älteren und den religionsgeschicht-
lichen der neueren Schule sind die ästhetischen und literargeschichtlichen zurückgeblieben.
Eine Literaturgeschichte aber entsteht noch nicht dadurch, daß man die kritischen Unter-
suchungen auf einen chronologischen Faden aufreiht, oder daß man in Bewunderung über
die Schönheit der dichterischen Erzeugnisse ausbricht und Übersichten oder Auszüge aus
den Schriften hinzufügt. So ist eine wirkliche ,, Literaturgeschichte" Israels trotz älterer und
neuerer Versuche — genannt seien E. Meier, Geschichte der poetischen National-Literatur
der Hebräer (1856); Ehrt, Versuch einer Darstellung der hebräischen Poesie nach Be-
schaffenheit ihrer Stoffe (1865); D. Cassel, Geschichte der jüdischen Literatur (1872);
Kautzsch, Die Poesie und die poetischen Bücher des Alten Testamentes (1902), und
WÜNSCHE, Die Schönheit der Bibel, I. Bd. (1906) — immer noch nicht geschrieben worden,
und Herders Testament ist nicht vollzogen. Doch findet man in den genannten Werken
wie in den literarkritischen Arbeiten der Modernen zum Teil höchst wertvolle Ansätze
literarhistorischer Betrachtung, besonders in Wellhausens ,,Prolegomena zur Geschichte
Israels", 6. Ausg. (1905).
Dasjenige Werk, das zum erstenmal auf biblischem Gebiet eine Gattung beschreibt,
betrifft einen neutestamenthchen Stoff: es sind Jülichers ,, Gleichnisreden Jesu", 2. Aufl. (1899).
Wertvolle Anregungen zur lebendigen Auffassung hebräischer Gattungen verdanken wir
Wetzstein, vgl. besonders dessen Aufsatz ,,Die syrische Dreschtafel" in der Zeitschrift für
Ethnologie 1873, S. 270 ff., durch den weitere Forschungen über das Leichenlied (Budde,
Zeitschrift für alttest. Wissenschaft 1882, S. i ff.) und das Liebes- und Hochzeitslied (Buddes
Kommentar zum Hohenlied 1898; Jacob, Das Hohelied 1902) angeregt worden sind. Über
den Stil der Sagen der Genesis schrieb Gunkel in seinem Kommentar zur Genesis 2. Aufl.
(1902); zerstreute Bemerkungen über den Psalmenstil in dessen ,, Ausgewählten Psalmen",
2. Aufl. (1905) u. a. — Die bedeutsamsten modernen ,, Einleitungen zum A. T.", d. h. Zusammen-
stellungen literarkritischer alttestamentlicher Forschungen, z. T. in chronologischer Reihen-
folge, sind: Reuss, Die Geschichte der heiligen Schriften Alten Testamentes, 2. Aufl. (1890);
KuENEN, Historisch-kritisch Onderzoek naar het ontstaan en de verzameling van de Boeken
des Ouden Verbonds, 2. Aufl. (1885—89); Kautzsch, Abriß der Geschichte des alttestament-
hchen Schrifttums (1894); Driver, Introduction to the literature of the Old Testament (1891);
/
joo Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
Graf BaudiSSIN, Einleitung in die Bücher des Alten Testamentes (1901); Cornill, Einleitung
in die kanonischen Bücher des Alten Testamentes, 5. Aufl. (1905); von „apologetischer"
Seite König, Einleitung in das Alte Testament (1893).
Im folgenden werden vornehmlich Verweise auf einige Stellen des Alten Testamentes
gegeben.
S. 51. Zu dem hebräischen ,, Alten Testament" kommen als Quelle der Literaturge-
schichte für die Zeit des Absterbens der jüdischen Literatur noch diejenigen Schriften aus
den ,,Apokr>'phen" hinzu, die ursprünglich hebräisch geschrieben sind, so besonders das Buch
des Jesus ben Sira.
S. 52. „So handelt man nicht in Israel", II. Sam. 13, 12.
S. 53. Epochemachend gewesen ist SiEVERS, Studien zur hebräischen Metrik (1901);
doch hält der Verfasser dieser Skizze Sievers' neuesten Versuch, auch in der Genesis Vers-
gliederung nachzuweisen und danach die Quellen zu scheiden (Hebräische Genesis 1905),
für einen Fehlgriff.
S. 54. Zur Geschichte Israels vgl. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte,
5. Ausg. (1904); Stade, Geschichte Israels (1887/88); Guthe, Geschichte Israels, 2. Aufl.
(1904); zur Geschichte des alten Orients Ed. Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. I (1884).
S. 55. Die Tell-Amarna-Briefe sind der Briefwechsel der Könige von Ägypten Ame-
nophis III. und IV. mit den Königen von Babylonien, Assyrien, Mesopotamien und Cypem,
sowie mit ihren kanaanäischen Vasallen. Auch die kanaanäischen Briefe an den Pharao
sind in babylonischer Sprache und Schrift verfaßt: ein Zeichen der Herrschaft babylonischer
Kultur über das damalige Kanaan.
S. 56. Vgl. Zimmern, Babylonische Bußpsalmen (1885); Babylonische Hymnen und
Gebete (1905).
Äg>'ptische Spruchdichtung vgl. Erman, Ägypten und ägyptisches Leben im Alter-
tum (1885), S. 513; babylonische Spruchdichtung vgl. Delitzsch, Babel und Bibel, dritter
(Schluß-)Vortrag (1905), S. 21 f.
Eine Reihe von fremden Parallelen zu alttestamentlichen Erzählungen findet man in
dem wertvollen Aufsatz von VON DER Leyen, Zur Entstehung des Märchens, Archiv für das
Studium der neueren Sprachen und Literaturen, Bd. 113, S. 249ff., Bd. 114, S. i ff., Bd. 115,
S. iff. 273 ff., woher die meisten der obigen Beispiele. Eranische Parallelen zum Paradiese
vgl. Gunkel, Genesis, 2. Aufl., S. 31. 32. Das Urteil Salomos wird von Buddha erzählt
vgl. Oldenberg, Literatur des alten Indiens, S. 114. 291; bei den Chinesen im Drama
,,der Kreidezirkel", vgl. v. Gottschall, Theater und Drama der Chinesen (1887) S. 139;
bei den Griechen vgl. Engelmann im Hermes Bd. 3g, S. 146 ff. Die ÜberHeferungen
über den vom Meeresungeheuer ausgespienen Helden wird demnächst Lic. Hans SCHMIDT
behandeln. Vom Gelübde des Idomeneus erzählt Servius, in Virgilium comm., zu Aeneis
III 121. Die Erzählung vom dankbaren Toten und das Buch Tobias behandelt M. Plath,
Zum Buche Tobit, Theologische Studien und Kritiken (1901), S. 377 ff. Die Erzählung vom
Herrn, der seine Boten aussendet, z. B. in deutscher Sage von König Chlotar bei Grimm,
Deutsche Sagen, Nr. 436. Die Geschichte vom Kinde, das auf dem Wasser ausgesetzt worden
ist, vom babylonischen König Sargon, von Perseus und sonst. Über Davids Kampf mit Goliath
vgl. VON DER Leyen, Bd. 115, S. 14. Das Motiv von der verleumderischen Ehebrecherin
hat in einem äg>'ptischen Märchen eine Parallele (vgl. Gunkel, Genesis, 2. Aufl., S. 371),
tritt aber auch sonst nicht selten auf; man vergleiche Hippolytus und Phaidra, ferner Grimm,
Deutsche Sagen, Nr. 479. 480; von der Leyen, Bd. 115, S. 280 nennt eine ähnhche indische
Erzählung.
S. 58. Kinderspiele Sach. 8, 5; Lieder auf dem Felde Ps. 65, 14, bei der Ernte Jes. 9, 2;
Ps. 4, 8; Jauchzen beim Lesen und Keltern Jes. 16, 10; Jer. 25, 30; Wächterlied Jes. 21, 11 f.
Im Munde der Leute Ps. 69, 13; Trinklieder Jes. 24, 9; 22, 13; 21, 5; 56, 12 vgl. Jes. 5, 12;
Amos 6, 5; Jes. Sir. 32, 2. 5. Die Simson-Rätsel lauten (Jud. 14): Was ist süßer (angenehmer)
als Honig? und was ist bitterer (grausamer, leidenschaftlicher) als der Löwe? Die Antwort
Literatur. I O i
darauf ist ursprünglich: „die Liebe." Das andere: „Vom Fresser geht die Speise aus
(anstatt in ihn herein) und Süßigkeit vom Bitteren". Die Antwort ist wohl ursprünglich:
„der Löwe am Himmel, der die Ernte bringt". Beide Rätsel sind nachträglich kombiniert,
und daraus ist dann eine Geschichte entsponnen worden. Rätseln ähnlich sind auch Sprüche
wie Sprüche Sal. 6, i6 — 19; 30, 4. 15; Jes. Sir. 25, i f . — Königssänger II. Sam. 19, 36.
Lieder bei der Heimholung der Braut Ps. 45, 6; I. Makk. g, 39; Lieder zum Preise der
Braut Ps. 78, 63; Jubellieder des Bräutigams und der Braut Jer. 33, 11. Ein Siegeslied, vom
Helden selbst gesungen, ist auch Rieht. 15, 16.
S. 5g. Das wichtigste Beispiel für das Leichenlied, beim Fall einer Stadt gesungen,
ist Klagel. Jer. i; 2; 4, Leichenlieder beim Fall Jerusalems mit stark entwickeltem Stil. Ganz
anders Klagel. Jer. 3, ein Privatklagepsalm, und Klagel. 5, ein Volksklagepsalm.
S. 59/60. Über Salomos Weisheit I. Kön. 5, gff.; 10, i ff. 23ff. — 1005 Lieder I. Kön. 5, 12.
Andere Weise I. Kön. 5, 11.
S. 60. Das ,,Buch der Kriege Jahves" Num. 21, 14, das ,,Buch des Redlichen" II. Sam.
I, 18; I. Kön. 8, 13.
S. 60/61. Lied des Seba' II. Sam. 20, i; I. Kön. 12, 16. — Amaleklied Ex. 17, 16. — Lied
von Gibeon Josua 10, 12 f. — Das alte Miriamlied ist Ex. 15, 20 f.; das spätere Passagedicht
Ex. 15, I — 19.
S. 61. Lied über Hesbons Fall Num. 21, 27fif. — Prophetische Spottlieder Jes. 14, 4ff.;
37, 22 if.; 47, I ff. und viele bei Ezechiel. — Verherrlichung des Königs als des Messias
Ps. 72; 2.
So betet Nabopalassar, daß der Gott die Grundfesten seines Thrones für ewig feststelle,
vgl. Hehn, Hymnen und Gebete an Marduk, Beiträge zur Assyriologie, Bd. V, S. 292.
S. 62. In dem folgenden Abschnitt wie in dem über den prophetischen Stil gibt der
Verfasser eigene Forschungen wieder, die er in einiger Zeit in ausführhcherer Form zu ver-
öffentlichen gedenkt.
Ägyptische Psalmen aus der Tell-Amarnazeit bei Erman, Ägyptische Religion (1905),
S. 84 ff.
S. 63. Zauberwort in poetischer Form II. Kön. 13, 14 ff.
S. 64. Einzugslieder Ps. 100, 1.4; Jes. 26, i ff . — Hymnen Ex. 15; Ps. 105; 106; 47; 66;
100; g8; g6; Jes. 42, loff.; 44, 23 u.a. Mythologisches Ps. ig; 8g, lofif.; Partizipialstil Ps. 103;
104; Jes. 42, 5; 43, i6f.; 44, 24ff. u. a. — Situation des Hymnus Ps. 42, 5; Ex. 15, 20.
S. 64/65. Öffentliche Klagelieder Ps. 44; 60, 3—7; 74; 7g; 80; 83; g4; Hosea 6, i — 3;
14,4; Jer. 3, 22ff.; 14, 2 — 10. ig— 22; Jes. 5g, gff.; 63, I5ff., cf. Amos 5, i6f.; I. Kön. 21, g. 12.
Situation geschildert bei Joel. — Dankopferlied Ps. 66, I3ff. ; 116, 14. 17. 18; die Erzählung
besonders deutlich Jonas 2.
S. 67. Hadesfahrt des Toten besonders Jonas 2.
S. 68. Jahves Erscheinung in Sturm und Feuer Ex. ig; I. Kön. ig; Rieht. 5; Jes. 30, 27fTf.;
Dt. 33; Hab. 3; Ps. 18; 50 u. a. — Mythologisches in der Eschatologie der Propheten vgl.
GuNKEL, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testamentes (igo3), S. 21fr.;
Gressmann, Ursprung der Israelitisch-jüdischen Eschatologie (igo5).
S. 71. Beispiele des Idylls sind die Kindheitsgeschichten des Moses, Simson, Samuel; im
selben Stile im Neuen Testament die Johannis und Jesu.
S. 72. Eine Charakteristik der Erzähler J und E bei Holzinger, Einleitung in den
Hexateuch (1893).
S. 73. Ein ähnliches Märchenmotiv wie in Amos 5, 19 bei Stumme, Märchen und
Gedichte aus der Stadt Tripolis in Nord-Afrika (1898), S. 79 ff.
,, Tagebücher der Könige Israels und Judas" I. Kön. 14, 19; 15, 23; 16,20 usw. Über
solche Journale an orientalischen Höfen vgl. Ed. Meyer, Entstehung des Judentums (i8g6),
S. 48, A. I. Daß auch die Fürsten von Byblos , »Tagebücher" führten, in denen alle
wichtigen Geschäfte aufgezeichnet standen und die im Archiv aufbewahrt wurden, wissen
wir aus dem Reisebericht Wen-Amons, vgl. Erman, Eine Reise nach Phönizien im 11. Jahr-
hundert V. Chr. (Zeitschr. für ägyptische Sprache, Bd. 38, S. 8).
102 Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur.
S. 76. Hammurabis Gesetz, herausgegeben von Kohler und Peiser (1904).
S. 80. Zauberhandlung eines Propheten II. Kön. 13, 14 ff. — Micha ben Jimla
I. Kön. 22.
S. 82. Beispiel eines kurzen, aber gewaltig wirkenden prophetischen Spruches ist die
Invektive gegen Sebna Jes. 22,15 — 18. Andere Beispiele kurzer Gedichte Jes. i,2f.; Arnos
1,2; 3, if.; 5, if.; 9, 7; Jes. 14, 24—27; 17, 12—14; 3, 12—15. ^^ der KAUTZSCHschen Bibelüber-
setzung sind sehr vielfach die kurzen Stücke nicht als solche erkannt, sondern mit anderen
fälschlich zusammengefaßt.
S. 83. Beispiele des strengeren Stils Jes. 3, 12 — 15; i, 10 — 20; Micha 4, 1—3, des freieren
Stils Jes. I, 2 f.; 2g, i — 7.
S. 84. Dinge des gewöhnlichen Lebens Arnos 8, if. ; Jer. i, 11. 13; Weitentferntes
Ez. 8; Jahves „Rat" Jes. 6; Ez. if. ; Sach. i.
Allegorieen Ez. 16; 17; 19; 23; 24.
S. 85. Offenbarung vom Gottesknecht Jes. 53; Typus des dunklen Stiles Jes. 21;
17, 12 — 14; der springenden Art Jer. 46; eigentümliche Absätze z. B. zwischen Jes. 28,4 und
5f.; 29,4 und 5 ff.
S. 86. Prophetische Jubellieder Jes. 42, loff. ; 44,23; 40, 22 ff. ; 42,5; 43, i6f. ; Leichen-
lieder Jes. 14, 4ff.; Amos 5, if.; Ez. 19; 27; 28, 11 ff.; 32; Spottheder Jes. 37, 22ff.; Wallfahrts-
lieder Jes. 2, iff. ; Micha 4, i — 4; Jes. 30, 29; Klagelieder Jer. 14, 2 ff. igff. ; Joel; Bußlieder der
Zukunft Hosea 6, iff.; 14, 4; Jer. 3, 22ff.; Jes. 53; Trinklieder Jes. 22, 13; 21, 5; 56, 12;
Wächterhed Jes. 21, iif.; Dirnenliedchen Jes. 23, 16; Liturgie Jer. 14, 2 — 10; Hosea 14, 2 — 9;
Jes. 26; 33; Monologe Jeremias 15, i5ff.; 17, i4ff.; 20, 7ff. usw. usw.
S. 87. Scheltreden Jes. i,2f.; 3, 13 — 15; Jer. 2, 10—13; Mahnreden Amos 5,4f.; Jes. i,
10—17; Jer. 7, I — 15; Reflexionen und Predigten Jer. 18; Ez. 3, i6ff. ; Geschichtsbetrach-
tungen .A.mos 4,6 — 12; Jer. 3, 6ff. ; Ez. 16; 20; 23; Torastil Ez. 18.
S. 89. Eschatologische Hymnen Ps. 46; 97; 149 u. a. ; Wechselgesang Ps. 82; 126.
S. 93. Judenhetzen in Ägypten und Edom Joel 4, 19.
S. 96. Fabelhafter Sieg in der Chronik II 20.
DIE ARAMÄISCHE LITERATUR
N..
Von
Theodor Nöldeke.
Einleitung. Die aramäische Sprache gehört dem großen semitischen
Sprachstamme an und ist am nächsten mit der hebräischen verwandt.
Eine aramäische Nation, die sich als Einheit fühlte, hat es freilich nie
gegeben. Aber die Sprache der Aramäer hat einst in Syrien und Meso-
potamien geherrscht, hat sich noch über weite andere Gebiete aus-
gebreitet, namentlich Palästina erobert und ist auch in mehreren Nachbar-
ländern als Schriftsprache benutzt worden. Erst das siegreiche Auftreten
der Religion und der, gleichfalls semitischen, Sprache der Araber drängte
sie immer mehr zurück, so daß jetzt nur noch in wenigen abgelegenen
Gegenden aramäische Dialekte gesprochen werden.
Die Eigenart der jüdischen Literatur bedingt es, daß die aramäisch
geschriebenen Werke, die ihr angehören, mit den hebräischen zusammen
behandelt werden müssen. Wir sehen also in dieser Darstellung von den
jüdisch-aramäischen Schriften ab. Außer solchen sind uns aber in ara-
mäischer Sprache bis etwa zum 2. nachchristlichen Jahrhundert fast aus-
schließlich Inschriften erhalten, deren älteste, im nördlichen Syrien ge-
fundene bis ins g. Jahrhundert v. Chr. hinaufgehen. Es ist jedoch undenk-
bar, daß in einer Sprache, die unter den Achämeniden selbst in Ägypten
und Kleinasien vielfach die offizielle war, die uns darauf durch zahlreiche
Inschriften die blühende Kultur Palmyras bezeugt, die im arabischen
Nabatäerreich alleinige Schriftsprache war, daß es in dieser Sprache nicht
auch eine wirkliche Literatur gegeben habe. Auf einem ägyptischen
Papyrus aus persischer oder früh-ptolemäischer Zeit haben wir ja noch
wirklich ein Bruchstück einer aramäischen Erzählung. Hoffentlich bringt
uns der unerschöpfliche Boden Ägyptens noch einmal weitere Reste
dieser alt- aramäischen Literatur.
A. Syrische Literatur.
I. Bis zur arabischen Zeit. Das Zentrum der späteren christlich- Edessa.
aramäischen Literatur ist Edessa, die Hauptstadt des Königreichs Osroene
I04
Theoeor Nöldeke: Die aramäische Literatur.
in Mesopotamien, das, nachdem es abwechselnd unter römischer und
parthischer Oberhoheit gestanden hatte, 216 durch Einverleibung ins
römische Reich sein Ende fand. Hier war auf Grund des Lokaldialekts
(der sich von den aramäischen Mundarten anderer Gegenden vielfach
unterschied) früh die Schriftsprache ausgebildet worden, die man gewöhn-
lich die syrische nennt. Bei den meisten Aramäem war nämlich der
griechische Ausdruck „syrisch" als Bezeichnung ihrer eignen Sprache und
Nationalität zur Herrschaft gelangt, und da die im edessenischen Dialekt
geschriebene Literatur an Masse und Bedeutung weitaus die anderen ara-
mäischen übertraf, so wurde es üblich, sie und ihre Sprache schlechthin
als S3Trisch zu bezeichnen, obwohl in Wirklichkeit dieser Name auch für
andere innerhalb des römischen Reichs gebrauchte aramäische Mund-
arten galt.
Vorchristliches. Die syrische Literatur ist nicht, wie man meistens annimmt, erst
durch das Christentum in Edessa hervorgerufen worden; die „syrische"
Sprache hat dort schon in heidnischer Zeit als wohl ausgebildete Literatur-
sprache gedient. Die Festigkeit des Syrischen in Form und Orthographie
beweist, daß es schulmäßig geregelt war, ehe noch christliche Schriften
darin verfaßt wurden. Selbst die schöne Kursive der alten Manuskripte,
deren frühestes datiertes vom Jahre 411 n. Chr. ist, deutet darauf hin,
daß edessenische Schreiber schon seit Jahrhunderten sich um deren Aus-
bildung bemüht hatten. Der noch vor der Annahme des Christentums
durch den letzten König abgefaßte amtliche Bericht über die große
Wassersnot vom Jahre 201, dessen Wortlaut uns in der kleinen edesseni-
schen Chronik (vom 6. Jahrhundert) erhalten ist, zeigt schon genau die
Sprache der christlichen Literatur. Und ebenso ist der Brief des Märä
bar Sarapiön, der, obwohl gegen das Christentum freundlich gesinnt, doch
noch nicht Christ, sondern Anhänger der stoischen Popularphilosophie
Christentum, war, rein syrisch geschrieben. Aber das ist richtig: ihre Bedeutung er-
langte die syrische Sprache und Literatur erst durch das Christentum.
Im Gegensatz zu Antiochia, wo nur der gemeine Mann aramäisch sprach,
die höheren Stände aber griechisch redeten, war Edessa rein aramäisch.
Die dort rasch aufblühende christliche Literatur machte den Ort zur
geistigen Hauptstadt aller christlichen Aramäer, so daß selbst die Aramäer
des persischen Reichs, soweit sie Christen waren, den edessenischen Dia-
Bibei- lekt, das „Syrische", als Schriftsprache annahmen. Von größter Bedeutung
äbersetznn gen.
war dafür, daß die heiligen Schriften früh ins Syrische übersetzt worden
sind. Alles führt darauf, daß dies in Edessa geschehen ist, und zwar in
engem Anschluß an jüdische Überlieferung, also wohl von bekehrten Juden-
christen. Im einzelnen ist hier vieles unklar. Übersetzungen (Targüme)
von alttestamentlichen Büchern mögen die zahlreichen Juden Edessas schon
früh gehabt haben. Die junge christliche Gemeinde wird das dringende
Bedürfnis gehabt haben, die bis dahin rezipierten heiligen Bücher, vor
allen die Psalmen, in ihrer eigenen Sprache zu lesen. Nicht der ganze
A. Syrische Literatur. I. Bis zur arabischen Zeit. lOi;
jüdische Kanon wurde übrigens von den alten Syrern als inspiriert an-
erkannt; so z. B. nicht das Buch Esther und die Chronik, während sie das
Buch Sirach, im Gegensatz zu den Juden, in einer aus dem hebräischen
Urtext gemachten Übersetzung aufnahmen. Allerdings sind nachher auch
jene nicht rezipierten Bücher übersetzt worden, ohne aber in den syrischen
Kirchen bis in neuere Zeit kanonisches Ansehen zu gewinnen. In ähn-
licher Weise ist auch der echt syrische Kanon des Neuen Testaments
beschränkter als der nach und nach in Europa anerkannte; er schließt z. B.
die Apokalypse aus. Wir haben Anzeichen davon, daß die syrischen Bibel-
texte in den ersten Jahrhunderten stark geschwankt haben, ganz wie die
lateinischen, nur daß die Syrer ihr Altes Testament direkt aus dem Hebräi-
schen übersetzt hatten; korrigiert wurde es aber geleg'entlich nach der
griechischen Übersetzung, den sog. LXX. Vom 5. Jahrhundert an zeigt
dagegen die syrische Bibel, die sog. Peschltä, eine merkwürdige Festigkeit
des Textes. Namentlich läßt sich der damals zur Geltung gelangte Wort-
laut der vier Evangelien fast bis ins kleinste auch in jungen Handschriften
wiedererkennen. Wie neuerdings sehr wahrscheinlich gemacht worden,
ist diese Feststellung des Evangelientextes dem Bischof Rabbülä von
Edessa (f 435) zuzuschreiben. Dadurch wurde die bis dahin sehr ver-
breitete syrische Evangelienharmonie, das Diatessaron Tatians (2. Hälfte
des 2. Jahrhunderts), gänzlich beseitigt.
Eine sehr alte edessenische Originalschrift ist der um 210 verfaßte Dialog über das
Fatum.
Dialog über das Fatum oder „das Buch von den Gesetzen der Länder",
das wir nach seinem Selbstzeugnis dem Philippos, einem Schüler des be-
rühmten Gnostikers Bardesanes, beilegen müssen. Diese Schrift, die sich,
wenn auch nicht in zwingender Weise, bemüht, Determinismus und Willens-
freiheit in Einklang- zu bringen, stellt sich zwar auf gemeinchristlichen
Standpunkt, zeigt aber bei genauer Betrachtung allerlei Spuren gnostischer
Phantastik. Aus dem Inhalt wie dem Stil erkennt man, daß der Verfasser
die Schule griechischer Philosophie durchgemacht hat. Die ganze Form
ist wenigstens äußerlich den Platonischen Dialogen nachgebildet. Philippos
ist ein entschiedener Optimist, und seine Weitherzigkeit sticht angenehm
von der religiösen Schroffheit der späteren syrischen Kirchenschriftsteller
ab. Sein Dialog ist schon früh ins Griechische übersetzt worden. Im Stil Pseudo-Meiiton.
und zum Teil auch in den Gedanken mit dieser Schrift verw^andt und
jedenfalls auch altedessenisch ist die dem Melito von Sardes (um 160)
untergeschobene Apologie.
Im 3. Jahrhundert ist gewiß noch viel Syrisches geschrieben worden,
aber wenigstens in der ursprünglichen Form ist davon nicht viel übrig
geblieben. Damals wird u. a. die phantastische Geschichte des Apostels Thomas-Akten.
Bardesanes.
Thomas entstanden sein, die, mehr oder weniger von den deutlichsten
gnostischen Äußerungen gereinigt, im syrischen Urtext wie in der griechi-
schen Übersetzung auf uns gekommen ist. Am wichtigsten sind darin
zwei rein gnostische Hymnen, deren eine wenigstens vielleicht von Bar-
io6
Theodor Nöldeke: Die aramäische Literatur.
desanes selbst (um 200) herrührt. Auch als poetisches Erzeugnis steht sie
hoch über der syrischen kirchlichen Poesie der späteren Zeit. Daß Bar-
desanes zur Verbreitung seiner ketzerischen Lehren viele Gedichte gemacht
und mit Melodieen versehen habe, sagt der heilige Ephraim, der auch
einige, leider nur ganz kurze, Stellen daraus anführt.
Aphraates. Aus der Mitte des 4. Jahrhunderts haben wir die Homilien des
Aphraates, Bischofs von Mär Mattai im alten Assyrien, genannt „der per-
sische Weise" (weil er im persischen Reiche lebte). Diese, obwohl keines-
wegs durch originelle Gedanken hervorragend und in echt syrischer Weise
etwas breit, verdienen doch in mehr als einer Hinsicht ein genaueres
Studium. Sie geben ein unverfälschtes Zeugnis von dem geistigen Zu-
stand der syrischen Christen jenes Reichs, über die damals gerade die
Schrecken der Saporschen Verfolgung hereinbrachen. Sie sind oft liebens-
würdig naiv, aber doch überall tief ernst. Wir sehen, wie die Entwick-
lung des Dogmas hier im inneren Orient noch zurückgeblieben ist, wenn-
gleich der Verfasser sich der im Westen aufgestellten Formeln bedient,
und sehen ihn in starker Berührung mit der jüdischen Aggädä, während er
doch viel gegen die Juden polemisiert. Ausgezeichnet ist das Werk durch
seinen vorzüglichen, natürlichen Stil; man merkt, daß Aphraates des Grie-
chischen nicht kundig ist. Seine Sprache ist darum von Gräzismen viel
freier als die der meisten gelehrten Syrer des römischen Reichs. Die
zahllosen Zitate aus der Bibel sind für die Geschichte des syrischen Bibel-
textes von großem Belang.
Ephraim. Während aber Aphraates von den späteren Syrern nicht sehr viel
beachtet wurde, ist der wenig spätere Ephraim (syrisch Afrem; gewöhnlich
ohne ernsten Grund bei uns Ephraem genannt) schlechthin der gefeiertste
syrische Schriftsteller, obgleich er als Geistlicher nur die bescheidene
Würde eines Diakonus bekleidete. Er lebte in Nisibis, siedelte aber 363,
als diese gewaltige Grenzfeste durch den schmählichen Frieden Jovians
den Persern ausgeliefert worden war, nach Edessa über, wo er 373 starb.
Er war ein sehr fruchtbarer Autor. Die Ausgaben seiner Schriften füllen
eine Anzahl Bände, erschöpfen aber noch nicht einmal das handschriftlich
erhaltene Material, und dabei ist ohne Zweifel sehr vieles von ihm ver-
loren gegangen. Allerdings wird ihm in den Handschriften und den Aus-
gaben auch manches zugeschrieben, das anderen Ursprungs ist. Den
Syrern ist Ephraim vor allem teuer als Verfechter der unverfälschten
Xicänischen Rechtgläubigkeit gegen Gnostiker und alle, die, sich eigener
Spekulation hingebend, im Kirchenglauben wankend werden. Den Ge-
sängen des Bardesanes stellt er seine Lieder entgegen, und da diese dem
Geist seiner syrischen Zeitgenossen angemessener waren als die, poetisch
wahrscheinlich weit höher stehenden, des alten Gnostikers, so haben sie
ihren Zweck erreicht. Daher gilt er als der größte syrische Dichter.
\Vir haben von ihm viele strophische Lieder und viele paränetische, lehr-
hafte oder polemische Reden in Versen. Einige seiner Gedichte beziehen
A. Syrische Literatur. I. Bis zur arabischen Zeit. 107
sich auf besondere Tagesereignisse, wie die Peripetieen des langen römisch-
persischen Krieges, andere auf heilige Asketen usw. Eine ausführliche
Geschichte Josephs in Versen wird ihm aber wohl mit Unrecht beigelegt.
Der unbefangene Europäer hat Mühe, in Ephraim einen Dichter anzu-
erkennen. Die poetischen Blumen, an denen es allerdings bei ihm nicht
fehlt, sind fast alle dem Alten Testament entnommen, und wenn er ein-
mal einen eigenen dichterischen Gedanken äußert, tötet er den Eindruck
durch mehrfache Wiederholung oder doch durch zu umständliche Aus-
führung. Statt die Phantasie zu bewegen und das Gemüt zu ergreifen,
sucht er allzugern den Verstand durch trockene logische Darlegungen zu
überzeugen. Seine Dichtung ist gar oft versilizierte Prosa. Liebens-
würdig ist er nicht. Der düstere Geist, der das orientalische Christentum
beherrschte, spricht sich durchweg in ihm aus. Aber, wie schon an-
gedeutet, er traf den Geschmack der Syrer und bestimmte vielfach deren
Denkweise, weil er von derselben geistigen Grundlage aus sich doch
kräftig über sie erhob. Er war eben ein durchaus nationaler Lehrer, der,
obgleich er sich mit der Reichskirche eins wußte, doch des Griechischen
unkundig- war. So ist denn auch seine Sprache rein syrisch, durchaus
nicht gräzisierend. Aber er paßte auch zu der geistigen Richtung des
ganzen damaligen christlichen Ostens, wie die zahlreichen griechischen
und armenischen Übersetzungen Ephraimscher Werke zeigen. Vielleicht
noch angesehener als seine Gedichte sind seine Bibelerklärungen. Diese
Kommentare sind auch für uns lehrreich, natürlich nicht dadurch, daß sie
uns für das Verständnis des Urtextes irgend erheblich nützten, wohl aber,
weil sie uns die damalige Auffassung des Textes zeigen. Bei heiligen
Schriften ist ja die herrschende Auffassung ihrer Worte oft viel wichtiger
als ihr ursprünglicher Sinn. Gelegentlich belehrt uns Ephraim hier aber
auch wirklich durch Erklärung dunkler Ausdrücke der syrischen Bibel.
Als Dichter hatte Ephraim manche Nachfolger, von denen wir nur andere Dichter.
^ •-> ' Isaac von Anti-
zwei hervorheben wollen. Der Priester und Mönch Isaac von Antiochia, ochia.
geboren zu Amid (also wie Ephraim aus dem östlichen Mesopotamien,
-j- nach 462), verfaßte sehr zahlreiche metrische Homilien, von denen erst
verhältnismäßig wenige herausgegeben sind; diese nehn\en aber schon
einen beträchtlichen Raum ein. Isaac ist noch weniger ein großer Dichter
als Ephraim und steht ihm an Geist gewiß nach. Aber seine Dichtungen
sind doch charakteristische Dokumente der Anschauungen, Gefühle und
Wünsche der damaligen Syrer und durch die Besprechung der Zustände
und mancher einzelner Ereignisse auch historisch wichtig. — Jacob, Bischof >cob von Sarüg.
von Sarüg (im westlichen Mesopotamien, j 521) übertraf die beiden Vor-
genannten wohl noch an Fruchtbarkeit, und so viel auch von seinen Pro-
dukten verloren gegangen, so ist doch noch sehr viel davon handschrift-
lich erhalten. Die bis jetzt herausgegebenen Gedichte Jacobs liefern
schon eine stattliche Anzahl von Versen und genügen für uns vollkommen,
ihn als Dichter zu beurteilen. Er behandelt biblische Erzählungen, Zeit-
jo8 Theodor Nöldeke: Die aramäische Literatur.
ereignisse und auch die damals alles bewegenden dogmatischen Fragen
in ziemlich gleichmäßiger Weise. Da wir vielfach noch die prosaischen
Vorlagen seiner Gedichte haben, so wird uns die Art seiner Behandlung
ganz deutlich. Bei den Erzählung^en hält er sich ziemlich streng an seine
Quellen und erweitert nur im einzelnen, ohne daß es ihm gelingt, wirk-
lich episches Leben hineinzubringen. Aber schon durch ihren Stoff haben
manche seiner Homilien für uns Interesse, wie er denn von den alten
syrischen Dichtem im g-anzen der genießbarste ist. Freilich ist auch er
oft von ermüdender Breite, und seine dogmatischen Darstellungen, in denen
er die bei den römischen Syrern herrschende monophysitische Lehre ver-
tritt, aufmerksam durchzulesen, erfordert ein ziemliches Maß von Geduld.
Das immer gleiche, einfache und doch vielgliedrige Metrum (2 lange
Reihen von je 3 selbständigen Gliedern zu 4 Silben) bringt wenigstens
äußerlich etwas Leben in seine Poesie.
Geistliche Ver- Vou den meisten syrischen Dichtern wie sonstigen Schriftstellern
fasser und geist-
liches Publikum. Wissen wir, und bei den andern ist es fast immer vorauszusetzen, daß sie
Geistliche oder Mönche waren, und für Geistliche und Mönche schrieben
sie zunächst. War doch außerhalb dieser Kreise die Kunst des Lesens
und Schreibens gewiß sehr wenig verbreitet; nicht einmal allen war sie
vertraut, die ihnen angehörten. Die größeren Werke, die Anforderungen
an das Nachdenken stellten, waren wesentlich für den höher gebildeten
Teil des Klerus bestimmt. Die Bürger der Städte werden nicht viel
literarisches Interesse gehabt haben. Die liturgischen Lieder, soweit sie
die Laien angingen, konnten auch ohne eignes Lesen erlernt und event.
ohne Verständnis gesungen werden.
Volksliteratur. Immerhin scheint es nicht ganz an einer populären Unterhaltungs-
literatur gefehlt zu haben. Dahin möchte ich die „Gleichnisse der Ara-
mäer** rechnen. Wahrscheinlich waren das Fabeln, die man sich im Lande
Beth Aramäje, d. i. Oberbabylonien, die spätere Provinz von Küfa, er-
zählte. Daraus sind uns leider nur wenige Wörter und Redensarten er-
halten. Die syrischen Mönche, welche Bücher abschrieben, mochten sich
mit derartigen Werken nicht befassen.
Legenden. Einen großen Bestandteil der syrischen Literatur bilden seit alter
Zeit Legenden, Heiligenleben, Mart3'rien und dergleichen; manche von
diesen sind wichtige Zeugnisse damaliger Denkweise. Hierher gehören
die schon envähnten Akten des Apostels Thomas. Eine Anzahl kleiner
Schriften verherrlicht Edessa als uralten Sitz des Christentums. Die
Fiktion, daß schon der König, welcher dort zur Zeit Jesu herrschte, mit
dem Heiland in Verbindung getreten sei und dadurch über sich und
seine Stadt großen Segen gebracht habe, ist ziemlich alt. Die uns vor-
DoctrinaAddaei. liegende Darstellung (in der Doctrina Addaei) wird aus der 2. Hälfte
des 4. Jahrhunderts stammen, ebenso wie einige unhistorische Erzählungen
von edessenischen Märtv'rern. Von sonstigen älteren Legenden erwähne
Siebenschläfer, ich uur Wenige: so die Geschichte der 7 (oder eigentlich 8) Schläfer,
A. Syrische Literatur. I. Bis zur arabischen Zeit. lOq
deren syrisches Original aus der Mitte des 5. Jahrhunderts ist. Diese Er-
zählung, die eine dogmatische Tendenz hat, wurde früh ins Griechische
übersetzt und dann weiter in andere Sprachen; auch im Syrischen ist sie
zum Teil später überarbeitet worden. Ferner die in der 2. Hälfte des
5. Jahrhunderts in Edessa geschriebene Geschichte des „Mannes Gottes", Der Mann
eines in Edessa als unbekannter Bettler gestorbenen Heiligen, angeblich
aus vornehmer, stadtrömischer Familie. Auch sie wurde bald ins Grie-
chische übertragen und ist dann als Geschichte des heiligen Alexius im
Okzident beliebt geworden. Andererseits hat sie auch im Orient in ver-
schiedenen syrischen und arabischen Bearbeitungen Verbreitung gefunden.
Allerlei, zum Teil alte. Legenden enthält das Buch von der Schatzhöhle schatzhöhie.
(6. Jahrhundert), das in Form einer Chronik von Adam bis Christus führt.
Ganz abenteuerlich ist die wahrscheinlich 514 oder 515 geschriebene Er- Alexander-
Zählung von Alexander dem Großen als einem Heiligen, die nur lose an
den bekannten Alexanderroman (den sog. Pseudo-Kallisthenes) anknüpft;
sie ist dadurch wichtig geworden, daß Mohammed sich ihren Inhalt hat
erzählen lassen, ihn in den Koran aufgenommen und damit für alle Mus-
lime mit göttlicher Autorität beglaubigt hat. Interessanter ist an sich der juiianusroman.
ausführliche Roman vom Kaiser Julian, verfaßt zu Edessa im Anfang des
6, Jahrhunderts. Er behält nur einige geschichtliche Grundzüge bei, so
daß er nicht einmal als „historischer" Roman zu bezeichnen ist. Der Ab-
trünnige ist darin natürlich ein Ausbund von Scheußlichkeit; neben ihm
erscheint der christenfeindliche Perserkönig Sapor noch als Lichtgestalt
und der elende Jovian als christlicher Idealfürst. Die Erzählung ist sehr
breitspurig, aber in einem fließenden Stil. Das Buch scheint beliebt ge-
wesen zu sein. Die verständigen muslimischen Gelehrten, welche im
8. Jahrhundert die alte Geschichte in arabischer Sprache darzustellen
suchten, haben sich täuschen lassen, seinen Inhalt als historisch zu be-
trachten, und so ist dieser, natürlich nur in einem kurzen Auszuge, in die
arabischen Weltchroniken übergegangen. Von g^eringer Bedeutung ist
ein kleiner, ganz ungeschichtlicher, Julianus-Roman.
Eine eigene Stellung nimmt die Geschichte des weisen Ahikar ein. Ahikar.
Trotz der vielen Weisheitssprüche ist sie wesentlich ein Unterhaltungs-
buch. Die Gesinnung ist rein weltlich; von Neigung zur Askese, von
dog'matischer Befangenheit keine Spur. Die Erzählung ist, nicht sehr ge-
schickt, einem Abschnitt aus dem Leben Asops nachgebildet, das etwa
im 3. Jahrhundert n. Chr. in Ägypten geschrieben sein mag. Der Ver-
fasser benutzt außerdem die syrische Bibel und allerlei Sprüche, die ihm
wahrscheinlich in zwei Sammlungen syrisch vorlagen. Diese Sprüche
selbst stammen aber wenigstens zum Teil aus dem Griechischen, und
darunter sind wohl einige vorchristlichen Ursprungs. Aber das Heiden-
tum, in welches die Geschichte gelegt wird, ist fingiert; der Verfasser
war ein Christ. Die Meinung, daß das Ahikar-Buch eine Quelle des
Tobit-Buches (etwa um 200 v. Chr. geschrieben?) gewesen, bestätigt sich
IIO Theodor Nöldeke: Die aramäische Literatur.
bei genauer Untersuchung nicht; die Sache verhält sich umgekehrt. Der
Stil des Buches ist vortrefflich. Es wird dem 5. oder 6. Jahrhundert an-
gehören. Bei den orientalischen Christen hat es viel Beifall gefunden.
Wir besitzen noch eine arabische, eine armenische und eine aus einer
griechischen geflossene altslawische Übersetzung.
Akten persischer Historisch Sehr wertvoll ist aber eine Anzahl von Berichten über
persische Märtyrer, d. h. über Opfer der Christenverfolgungen im Sässä-
nidenreich. Die ältesten betreffen die große Verfolgung unter Sapor IL,
die 339 oder 340 begann; sie sind im ganzen authentisch und werfen auf
die Geschichte und auf die Einrichtungen jenes Reiches vielfach Licht.
Wir haben sie in der Bearbeitung durch Märüthä, der im Jahre 411 für
die feste Konstituierung der christlichen Kirche des Perserreichs tätig
war: seine Bearbeitung hat aber nach sicheren Zeichen alles Wesentliche
der alten Akten beibehalten. An diese Sammlung reihen sich noch manche
sjTische Märtyrerakten und Heiligenleben aus dem persischen Reich; sie
sind nicht alle von gleicher historischer Treue, einige sogar ziemlich phan-
tastisch, aber größtenteils doch sehr lehrreich. Eine wirklich kritische
Gesamtausgabe aller dieser syrischen Erzählungen von persischen Mär-
t3Tem und anderen Frommen mit eingehenden sachlichen Erläuterungen
Geschichte des wäre Sehr erwünscht. — Historisch Wertvolles haben aber auch die römi-
hl. Simeon. r • /— i •
sehen Syrer auf diesem Gebiet hervorgebracht. Dazu gehört die von
zwei Mönchen verfaßte, ganz populäre Geschichte des Säulenheiligen
Simeon (f 459); sie gibt uns ein lebendiges, freilich sehr unerquick-
liches Bild von syrischer Frömmigkeit mit wahnsinniger Überschätzung
Andere der Askesc, unerträglichem geistigem Hochmut und Fanatismus. Ziemlich
Biographieen. . -»/r- • -n i _ —
verschieden davon sind einige Biographieen von Mannern wie Rabbula;
sie sind in der Hauptsache leidlich verständig und also direkt gute ge-
schichtliche Dokumente. Freilich spielt das Wunderbare gelegentlich
hinein, aber in ziemlich unschädlicher Weise. Weniger historisch ist
leider die Lebensbeschreibung Ephraims.
Geschieht- Auch an eigentlichen Geschichtswerken fehlt es in der älteren syri-
Chronik von scheu Literatur nicht ganz. Zunächst ist da die kleine Chronik von Edessa
Edessa.
ZU nennen, die zwar erst zu Ende des 6. Jahrhunderts abgefaßt ist, aber
zum Teil auf weit älteren chronikartigen Aufzeichnungen beruht. Ein
Der sog. josua sehr ancrkennenswertcs Werk ist die Geschichte des Perserkrieges von
Stylites. . °.
502 — 506 von einem ungenannten edessemschen Zeitgenossen, die man
bis vor kurzem fälschlich dem Josua Stylites beilegte (der in Wirklichkeit
viel später gelebt hat). Besonders gibt auch die Vorgeschichte in dieser
Schrift sehr interessante Bilder aus dem Leben Edessas, wie wir solche
kaum aus einer anderen größeren Provinzialstadt des römischen Ostens
Johannes von haben. — Von dem umfangreichen Geschichtswerk des Johannes aus Amid,
Bischofs von Ephesus oder „Asien" (f gegen Ende des 6. Jahrhunderts),
ist uns ein großer Teil, und zwar gerade einer, wo er als Zeitgenosse er-
zählt, direkt, sind andere Teile indirekt durch, wenn auch abgekürzte, Auf-
A. Syrische Literatur. I, Bis zur arabischen Zeit. j I j
nähme in spätere Werke erhalten. Es leidet an mangelhafter Disposition;
der Verfasser ist ein ziemlich beschränkter Geist, aber da er vieles von
günstiger Stelle aus beobachten konnte und die besten Verbindungen
hatte, so sind doch seine Mitteilungen sehr wichtig. Außer diesem Werke
haben wir von ihm noch eines, worin er eine ziemlich große Menge
heiliger Zeitgenossen vorführt, syrische, und zwar monophysitische, Ein-
siedler und andere Gottesmänner. Auch aus diesem Buch lernen wir viel.
Wir sehen hier so recht, wie die meisten dieser P>ommen über dem
Streben, je für sich durch Verzicht auf alle irdischen Freuden das Himmel-
reich zu erstreiten und daneben die einzig richtigen Formeln für die dog-
matischen Unbegreiflichkeiten mit fanatischem Eifer zu verfechten, die
Hauptsache, die Erziehung und Belehrung des Volks, aus den Augen
setzten, so daß bald darauf der Islam keine allzugroße Arbeit hatte, die
Menge durch seine grobkörnige Einfachheit zu gewinnen. Johannes von
Ephesus, der lange Jahre in Ländern griechischer Zunge wirkte und in
enger Beziehung zur griechischen Theologie stand, schreibt ein sehr gräzi-
sierendes Syrisch. — Noch ist hier das aus derselben Zeit stammende, Zachanas von
unter dem Namen des Zacharias von Mitylene gehende Sammelwerk zu
erwähnen, das zwar zum Teil aus Übersetzungen griechischer Abschnitte
von eben diesem Zacharias besteht, aber auch viele syrische Original-
stücke enthält, die eine wichtige historische Quelle bilden.
Die kirchliche Literatur im engsten Sinne ward stark gepflegt. Dazu Theologie,
gehören z. B. sehr viele liturgische Werke. Auf die feste Form des
Gottesdienstes legen ja die orientalischen Kirchen ein solches Gewicht,
daß dabei das lebendige Christentum ganz zurücktreten mußte. Natürlich
knüpfte man auch hier wie in anderen Fächern der Literatur stark an
griechische Vorgänger an. So gleichfalls in den Sammlungen der kirch-
lichen Kanones, in den Kommentaren der Bibel und sonst. Die Theorie
der Askese spielt bei den alten Syrern eine große Rolle und ebenso die
dogmatische Polemik. Im 5. Jahrhundert spalteten sich ja die christlichen
Syrer in die drei Hauptmassen. Der auf dem Konzil von Ephesus (431)
verdammte Nestorianismus fand im Orient neue Anhänger und wurde
gegen Ende des Jahrhunderts von beinahe allen Syrern des persischen
Reichs angenommen; diese wurden dadurch scharf von den andern Syrern
geschieden und entwickelten sich selbständig. Und der Verurteilung des
Monophysitismus durch das Konzil von Chalcedon (451) widersetzte sich
die große Menge der römischen Syrer aufs heftigste; nur ein kleiner Teil
blieb bei der Reichskirche (Melchiten, d. i, „Kaiserliche"). Von einigen
Kaisern begünstigt, von anderen hart verfolgt, blieb der Monophysitismus
der Glaube der meisten Syrer. Alle Kompromißversuche schlugen fehl,
aber unter den Monophysiten selbst brachen wieder verschiedene Spal-
tungen über dogmatische Feinheiten aus; persönliche Rivalitäten hatten
daran wohl meist großen Anteil. Ist, wie es mir vorkommt, der Mono-
physitismus die konsequentere Entwicklung des Dogmas, so scheinen im
I 12
Theodor Nöldeke: Die aramäische Literatur.
gfanzen dessen syrischen Bekenner auch an Intoleranz und Fanatismus
ihren Gegnern noch etwas überlegen gewesen zu sein. Die spitzfindigsten
Theologen und die rohesten Mönche eiferten in gleicher Weise für die
Phiioienos. unverfälschten Glaubensformeln. Einer der bedeutendsten Vorkämpfer
gegen die chalcedonische Ketzerei ist Philoxenos (Achsenäjä), geboren im
persischen Reich, Bischof von Mabbog (Hierapolis in Nordsyrien, nicht
weit vom Euphrat). Die Strafe der Verbannung hat seinen Eifer nicht
unterdrückt; ja er scheint für seinen Glauben eines gewaltsamen Todes
gestorben zu sein (523). Neben mancherlei Polemischem hat er noch
verschiedenes andere geschrieben. So haben wir von ihm 13 paränetische
Schreiben zur Belehrung der Mönche und zu ihrer Befestigung in allen
mönchischen Tugenden; sie malen das asketische Ideal aus, lassen aber
auch erkennen, daß die menschliche Schwachheit selbst bei den Männern,
die sich dem heiligen Leben widmeten, eine große Rolle spielte. Natür-
lich fehlt es auch hier durchaus nicht an Wiederholungen. Die Sprache
des Alannes ist fließend; er gilt mit Recht als einer der besten syrischen
simeon von Stilisten. — Ein anderer eifriger Monophysit jener Zeit, Hauptstreiter
gegen den Nestorianismus, ist der Bischof Simeon von Beth Arschäm (in
Babylonien), genannt „der persische Disputator". Er wirkte mehr persön-
lich als durch Schriften, aber von diesen ist eine als historisches Doku-
ment wichtig, nämlich sein Brief über die Verfolgung südarabischer
Christen durch einen jüdischen Fürsten (523). Er erzählt die Tatsachen
mit Übertreibung und Ausmalung, um desto stärker nicht bloß die Sym-
pathie zu erwecken, sondern auch zu ernstlicher Hilfe aufzurufen; er schlägt
vor, durch Repressalien gegen die jüdischen Schulhäupter in Palästina für
jacobBaradaeus.jene Christen zu wirken. — Hier muß auch des Mannes gedacht werden,
dessen rastlosem Eifer in schwerer Zeit die Kirche der syrischen Mono-
physiten ihre Erhaltung und Festigung verdankt, obwohl er nur wenig
geschrieben zu haben scheint, des Bischofs Jacob Baradaeus (Burdeänä,
„der in Lumpen [eigentlich eine Pferdedecke] Gekleidete") aus Telia in
Mesopotamien (7 578); nach ihm werden die Anhänger dieser Kirche
Jacobiten genannt.
Barfaumä. Bei der Annahme des Nestorianismus durch die Syrer des persischen
Reichs und der kirchlichen Gesetzgebung für sie trat der aus dem römi-
schen vertriebene Bar9aumä, Bischof von Nisibis (f gegen Ende des 5. Jahr-
hunderts), besonders hervor. Er scheint ein bedeutender, aber gewalt-
tätiger Mann gewesen zu sein und hatte schwere Konflikte auch mit
mehreren seiner nestorianischen Amtsbrüder. Ein Genosse von ihm ist
Narse. Narse, der älteste Dichter der nestorianischen Kirche (f Anfang des
6. Jahrhunderts).
Stephan, Sohn Gegen diesc Schriftsteller, die heftig je für ihre Partei stritten, die
aber doch nur aus der altkatholischen Kirche stammende religiöse An-
schauungen vertraten, bildet einen starken Gegensatz der pantheistische
Mystiker Stephan, Sohn (^udaile's (Anfang des 6. Jahrhunderts). Sein Buch
A. Syrische Literatur. I. Bis zur arabischen Zeit. I I •?
Hierotheos beschreibt die Entwicklung- des Geistes und der Welt bis
schließlich zur Auflösung aller, auch der göttlichen, Individualität in das
All-Eins, Das Werk, von dem wir leider bis jetzt nur eine Übersicht und
Auszüge kennen, erinnert merkwürdig an die Mystik des muslimischen
(^üfis; auch die Bedeutung der Liebe scheint bei Stephan ähnlich zu sein
wie bei den Pantheisten des Islams. Wie speziell der Hierotheos einer-
seits mit dem Neuplatonismus, andererseits mit Pseudodionys zusammen-
hängt, entzieht sich meiner Beurteilung. Aber auf alle Fälle ist die
geistige Kraft des monophysitischen Mönches anzuerkennen, der seine
Lehren zwar durch allegorische Erklärung auch auf die Heilige Schrift
zu begründen strebt, aber vor den kühnsten, in Wirklichkeit dem Christen-
tum widersprechenden Konsequenzen nicht zurückscheut. Daß Philoxenos
von Mabbog (s. oben S. 112) aufs schärfste gegen Stephan auftrat, sobald
er nur einiges Wenige von seiner Lehre erfuhr, die nicht einmal eine
ewige Höllenstrafe zuließ, ist begreiflich; viel weniger, daß später der
jacobitische Patriarch Timotheos (878 — 8g6) einen Kommentar zum Hiero-
theos geschrieben und Barhebraeus, auch ein hoher Würdenträger dieser
Kirche {s. unten S. 119), einen Auszug daraus gemacht hat. Der hohe,
wenn auch phantastische, Gedankenflug mag diese beiden Männer an-
gezogen haben; die gefährlichen Konsequenzen haben sie wohl durch
Umdeutung beseitigt oder doch gemildert. Vielleicht kommt auch in
Anrechnung, daß sie durch die muslimische Mystik an solche bedenkliche
Ding'e gewöhnt waren.
Neben der syrischen Originalschriftstellerei ging in jenen Jahrhunderten Übersetzungen
.. _ . , , aus dem Grie-
eine sehr starke Ubersetzertätig-keit einher. Die Sprache ist sehr geeignet chischen.
zur Übersetzung wenigstens prosaischer Werke, da sie sich den Konstruk-
tionen fremder Sprachen leicht anschmiegt (sehr verschieden darin z. B.
von der arabischen). Die alten Bibelübersetzungen wurden zwar, nach-
dem sie ihre feste Gestalt erhalten hatten, in den syrischen Kirchen allein
gebraucht, aber daneben wurden noch verschiedene neue gemacht, haupt-
sächlich in engem Anschluß an den griechischen Text. Daß dieser auch
fürs Alte Testament als der wahre galt, erklärt sich leicht aus der be-
herrschenden Stellung des Griechischen in Kirche, Staat und Literatur.
Dazu kam, daß mit der Loslösung vom Judentum auch bei den Syrern
Edessas die Kenntnis des Hebräischen früh erloschen war.
Einst hatte Aquila (2. Jahrhundert) die von den Juden rezipierte Ge-
stalt des Alten Testaments mit sklavischer Treue übersetzt, die sogar jede
hebräische Partikel wiedergeben wollte und so ein ungenießbares Grie-
chisch hervorbrachte. So haben noch sonst orientalische Übersetzungen
heiliger Bücher dem Streben nach Wörtlichkeit die Sprachrichtigkeit und
Verständlichkeit geopfert. Das geschah nun auch bei den Syrern mehr-
fach. Wir haben da namentlich die zum größten Teil sehr gut erhaltene
Übersetzung des von Origenes redigierten griechischen Textes des Alten
Testamentes zu nennen, die Paulus, Bischof von Telia (im Jahre 616), ver-
DiE Kultur der Gegenwart. I. 7. 8
j j 1 Theodor Nöldeke : Die aramäische Literatur.
anstaltet hat. Um dieselbe Zeit revidierte Thomas von Harkel, Bischof
von Mabbog, die von seinem Vorgänger, dem schon mehr genannten
Philoxenos, veranstaltete Übersetzung des Neuen Testaments und verfuhr
da wieder peinlich genau in der Wiedergabe des griechischen Wortlautes.
So verkelirt diese Unternehmungen an sich sind, so bilden sie für uns
doch ein erwünschtes philologisches Hilfsmittel, da sie ihre griechischen
Vorlagen sehr genau abspiegeln. Spätere haben auch die von den Syrern
nicht anerkannten neutestamentlichen Bücher wörtlich übersetzt.
Neben der Bibel übersetzte man zahllose andere griechiche Werke
kirchlicher Literatur ins Syrische. So Apokrj^phen des Neuen Testa-
ments, Legenden und Heiligenleben aller Art, Apologieen und Litur-
gisches, kirchliche Kanones und Gedichte, Populäres und Hochtheolo-
gisches. Die Syrer haben uns so einige wertvolle Schriften gerettet,
deren griechische Originale ganz oder teilweise verloren sind. Letzteres
gilt z. B. von dem Werke des Titos von Bostra (4. Jahrhundert) gegen die
Manichäer. Ins Griechische wurden u. a. schon früh übertragen die Werke
des OeoXöfOC schlechthin, Gregors von Nazianz. Besonders wichtig ist die
schon im 4. Jahrhundert gemachte Übersetzung der Kirchengeschichte des
Eusebios. Sie ist in einfacher, fließender Sprache, die mir wenigstens
besser gefällt, als die gezierte Eleganz des Originals. Für die Fest-
stellung des Eusebianischen Wortlauts wäre uns freilich eine steifwört-
liche Übertragung nützlicher. Von der syrischen Übersetzung des großen
chronographischen Werkes des Eusebios sind leider nur einige Reste
übrig. Großen Einfluß, namentlich auf die Nestorianer, hat die Über-
setzung der Werke des Theodoros von Alopsuhestia geübt, der ihnen
schlechthin „der Schriftausleger" ist.
Aber auch profane griechische Schriftsteller sind in weitem Umfange
den Syrern zugänglich gemacht worden. Diese Übertragungen sind meist
ziemlich wörtlich, zum Teil ebenso sklavisch wie die Bibelübersetzungen.
Die Leute werden ihre Vorlagen im algemeinen ziemlich gut verstanden
haben; wenn sie durch wörtliche Wiedergabe das Verständnis erschwerten,
so hatten sie daher wohl oft im Auge, daß die Texte von Lehrern mündlich
erläutert werden sollten. Zunächst ist hier Aristoteles zu nennen, von dessen
Werken manche schon früh ins Syrische übersetzt worden sind; dabei auch
dies und jenes ihm mit Unrecht zugeschriebene, wie die Schrift -rrepi köcjugu.
Eine Frucht der dadurch hervorgerufenen Aristotelischen Studien ist die
dem großen Perserkönig Chosrau Anöscharwän (531 — 579) gewidmete
syrische Logik von einem Paulos. So wurden auch medizinische Schriften
ins Syrische übertragen, namentlich Werke des Hippokrates und Galen.
Selbst juristische Kompendien sind zu jener Zeit in syrische Sprache ge-
bracht worden, allerdings mit Berücksichtigung einheimischer Rechts-
gewohnheit. Ferner ist allerlei mehr Populärwissenschaftliches über-
setzt, z. B. einige Stücke von Plutarch und von Lucian; darunter ist
einiges, was uns griechisch nicht erhalten ist. So auch ein interessanter
A. Syrische Literatur. II. Die arabische Zeit. I I ^
pseudo-sokratischer Dialog. Diese Übersetzungen rühren wohl, wenigstens
zum Teil, von Männern her, denen die theologische Literatur wenig be-
hagte, wenn sie auch von geistlichem Stande waren. Das mag nament-
lich selten von dem Arzte und Priester Sergios von Resch-Ainä (in Sergios von
Mesopotamien, f 535 oder 536), der eine rege Ubersetzertätigkeit ent-
faltet hat. Die jacobitische Tradition erkennt seine wissenschaftliche
Bedeutung an, gibt seiner Moral aber ein schlechtes Zeugnis; vielleicht
nur, weil er nicht dogmatisch engherzig war und z. B. auch von Nesto-
rianern lernte.
Mit der griechischen klassischen Poesie, den alten Historikern und
Rednern beschäftigten sich zwar fortwährend gewisse Schulen der grie-
chisch redenden Länder, aber weiteren Kreisen war das Verständnis ihrer
Herrlichkeit auch dort längst verloren gegangen; noch weniger konnten
die Orientalen sie würdigen. Ein bloßes Kuriosum wird die erst im
8. Jahrhundert gemachte Homerübersetzung des Theophilos gewesen sein,
von der uns nur zufällig wenige einzelne Verse gerettet sind.
Auch aus dem Persischen (Pehlewi) ist in jenen Jahrhunderten einiges Übersetzungen
\ / J '' <^ aus dem Persi-
ins Syrische übersetzt worden. Es ist wohl kein Zufall, daß die beiden sehen,
hierher gehörigen Werke, die wir noch besitzen, zur Unterhaltungslite-
ratur gehören, wie sie denn später durch alle möglichen Sprachen ge-
wandert sind. Die unter Chosrau Anöscharwän angefertigte persische
Übersetzung indischer Erzählungen, deren Hauptteil das berühmte Pan-
tschatantra bildete, wurde bald darauf unter dem Namen Kalilag we
Damnag ins Syrische übertragen. Wichtig für die Erkenntnis der ur-
sprünglichen Gestalt der indischen Originale, hat die syrische Version
allerdings für die Verbreitung des Werkes keine große Bedeutung er-
langt, da diese erst von der arabischen Bearbeitung ausgeht, die etwa
200 Jahre später auch aus dem persischen Text gemacht worden ist. Femer
hat ein Syrer den persischen Text des Alexanderromans, der selbst
einen griechischen wiedergibt, übersetzt. Diese syrische Gestalt ist für die
späteren orientalischen Bearbeitungen des Romans bedeutsam geworden.
Beide Bücher sind durch nestorianische Handschriften auf uns gekommen,
und wir verdanken sie ohne Zweifel nestorianischen Untertanen des per-
sischen Reiches. Von den dortigen Christen werden eben viele sowohl
des Syrischen als der Sprache der Kirche wie des Persischen als der
Sprache des Reiches mächtig gewesen sein.
IL Die arabische Zeit. Die Eroberung aller Länder, in denen
aramäisch geredet und geschrieben w^urde, durch die Araber veränderte
den Betrieb der syrischen Literatur nicht mit einem Schlage. Die Klöster,
ihre Hauptstätten, wurden von dem Wechsel nicht sehr berührt. Die Mus-
lime behandelten sie mit Schonung. Die östlichen Syrer wurden nicht
mehr durch den Haß der mächtigen persischen Priesterschaft bedroht; die
Jacobiten des Westens hatten nicht weiter unter dem Druck der Katho-
8*
Il5 Theodor Nöldeke: Die aramäische Literatur.
liken zu leiden. Aber allmählich änderte sich doch die Lage sehr. Die
arabische Religion und die arabische Sprache dehnten, zum größten Teil
auf friedliche Weise, ihre Herrschaft immer weiter über das aramäische
Volk aus. Zwar hielten sich noch in manchen Gegenden aramäische Dia-
lekte, aber die Sprache Edessas schwand mehr und mehr aus dem Munde
des Volkes. Sie führte dann nur noch als Sprache der Kirche und der
Literatur ein halbes Leben. Die Araber, die viele Jahrhunderte hindurch
von den Aramäern Kultureinflüsse erfahren hatten, gelangten jetzt selbst
zu einer hohen Bildung. Die Syrer vermittelten ihnen zunächst in großem
Umfang griechische Wissenschaft, und mit der Zeit wurden sie vielfach Nach-
ahmer der Araber. Immerhin war aber die Tätigkeit syrischer Schriftsteller
unter der Herrschaft des Islams noch über 6 Jahrhunderte ziemlich lebendig.
Manche von ihnen arbeiteten auf verschiedenen Gebieten der Literatur
Jacob von uud leisteten zum Teil recht Erhebliches. Das gilt gleich von dem Autor,
Edessa. , . <-> .
den wir an die Spitze dieser Periode stellen dürfen, Jacob, Bischof von
Edessa (640 — 708). Er scheint ein charaktervoller Mann gewesen zu sein,
der eben deshalb mancherlei widrige Schicksale erlebte. Von arabischem
Einfluß kann bei ihm höchstens insofern die Rede sein, als seine Be-
mühungen um die Reinheit der syrischen Sprache vielleicht mit dadurch
veranlaßt wurden, daß die arabische schon damals anfinge, sie zu ver-
drängten. Er schrieb eine syrische Grammatik, von der wir nur noch
einige Fetzen haben, die uns aber den Verlust des ganzen Werkes sehr
bedauern lassen. Er hatte darin die Aussprache der Wörter durch ein
zweckmäßiges Vokalisationssystem genau bestimmt. Auch die bekannte
Bezeichnung der syrischen Vokale durch kleine griechische Buchstaben
geht wahrscheinlich von ihm aus. Wir finden diese zuerst durchgeführt
in gewissen alten jacobitischen Handschriften, Korrektorien zum Bibeltext.
Die Nestorianer haben dagegen aus der ganz dürftigen alten Bezeichnung
der Vokalaussprache durch zwei Punkte ein sehr genaues, aber nicht sehr
praktisches, aus lauter Punkten bestehendes System entwickelt. Jacob von
Edessa schrieb auch recht verständige Auslegungen der Bibel. Von diesen
ist allerlei in die Handschriften der Kommentare Ephraims gedrungen.
Weniger zweckmäßig war seine Bemühung, den syrischen Bibeltext nach
dem Griechischen zu verbessern. Wir würden die davon erhaltenen
Stücke gern hingeben für sein großes chronographisches Werk, von dem
wir leider auch nur noch wenige Bruchstücke besitzen. Seine Welt-
beschreibung, an die 6 Schöpfungstage geknüpft (e5ari)uepov), enthält viel
Interessantes, beruht aber ganz auf alter gelehrter und kirchlicher Über-
lieferung und zeigt noch keine Spur von der großen Erweiterung der
Länderkunde durch die arabischen Eroberungen. Er verfaßte noch
mancherlei andere Schriften, übersetzte auch aus dem Griechischen und
führte eine lebhafte Korrespondenz, von der sich einiges, zum Teil recht
Interessantes, erhalten hat. Seinen Stil loben spätere Syrer sehr, aber er
ist oft etwas manieriert, nicht so einfach und natürlich wie z. B. der des
A. Syrische Literatur. II. Die arabische Zeit. j j y
Aphraates oder des Philoxenos. — Recht vielseitig ist auch der ein Jahr-
hundert später zu Knfa lebende Georg, Bischof der monophysitischen Georg, Bischof
Araber; seine Schriften knüpfen zum Teil an die Jacobs an.
Die religiöse Poesie ging in gewohntem Gleise weiter. Doch bewirkte Poesie,
das Beispiel der arabischen Dichter bald, daß man den Reim annahm.
Zwar ging es nicht gut an, im Syrischen nach klassisch arabischer Weise
einen einzig^en Reim durch ein langes Gedicht hindurchzuführen, aber die
ziemlich früh bei den Arabern entstandene volkstümliche Art strophischer
Gedichte mit wechselnden Reimen ließ sich leicht auf die eigene stro-
phische Poesie übertrag-en. Bis in späte Zeit ist so in syrischer Sprache
viel gereimt worden, namentlich auch von Nestorianern. Diese Poesie ist
fast ausnahmelos kirchlich, wenn sie auch zuweilen auf Zeitereignisse Rück-
sicht nimmt. Im 13. Jahrhundert war George Wardä ein fruchtbarer Dichter. Georg Wardä.
Seine Lieder wurden im nestorianischen Gottesdienst viel gebraucht. Leider
suchte man den Arabern auch ihre Buchstabenspielereien und andere Wort-
künste nachzumachen, aber ohne den Geist, der bei einem Manne wie
Harirl auch mit den gewagtesten Sprüngen versöhnt. Namentlich Ebedjesu Ebedjesu.
(eigentlich Audlschö), nestorianischer Metropolit von Nisibis (-]- 13 18), hat
unendliche Mühe darauf verwandt, die xA.raber auf diesem Gebiet zu über-
treffen. Zum Teil suchten solche „Dichter" den Wert ihrer Produkte da-
durch zu erhöhen, daß sie verschollene Wörter anbrachten, die sie aus
Glossaren aufgefischt hatten. Dabei gerieten ihnen nicht selten g-anz ent-
stellte yKwccai in die Hand, namentlich g'riechischer Herkunft, oder sie
gebrauchten die Ausdrücke in falscher Bedeutung. Derartiges kam auch
bei Arabern vor, war selbst zum Teil schon viel früher bei Griechen vor-
gekommen, aber doch lange nicht in diesem Umfang. Mit mehr Umsicht
hatte bereits im 9. Jahrhundert der Jacobit Antonios von Tagrit seiner Antonios von
kurzen Rhetorik kunstreiche metrische Musterstücke beigegeben; er hatte
da auch den in der höheren arabischen Rede beliebten Prosareim nach-
gebildet. — Nach arabischer Weise wurden ferner allerlei Lehrbücher in
metrischer Form geschrieben, die aber natürlich gar nicht den Anspruch
machten, zur poetischen Literatur zu zählen.
In dieser Periode sind neben verschiedenen kleinen mehrere große GescWchts-
Geschichtswerke entstanden. Die Chronik, die man bis vor kurzem dem
jacobitischen Patriarchen Dionys von Telmahre (818 — 845) zuschrieb, die
in Wirklichkeit aber um 775 von Josua Stylites, Mönch im Kloster Zoknin josua styiites.
bei Ämid, verfaßt worden ist, enthält zwar viel Wissenswertes, steht aber
als literarisches Werk nicht hoch. Viel bedeutender scheint das echte
Geschichtswerk jenes Dionys gewesen zu sein. Wir kennen bis jetzt Dionys von
. . . r> Telmahre.
leider nur wenige Stucke daraus; doch ist vielleicht manches aus Dionys
durch spätere Historiker erhalten. Über den Zusammenhang der syrischen
Weltchroniken werden wir besser urteilen können, wenn uns erst die große
historische Kompilation Michaels, auch eines jacobitischen Patriarchen Michael.
(11 66 — II 99), ganz vorliegen wird. — Sehr wertvoll ist das chronologische
ii8
Theodor Nöldekf. : Die aramäische Literatur.
Thomas von
Mar.^S.
Legenden.
Theologie.
EUas von Nisibis. Werk dcs nestoriaiiischen Metropoliten Elias von Nisibis, g-enannt Bar
Schinnäjä (ums Jahr looo).
Neben Darstellungen der allgemeinen Welt- und Kirchenhistorie wurden
auch Spezialg-eschichten geschrieben. Davon ist besonders die 840 ver-
faßte Geschichte des Klosters Beth Abe (in Assyrien) vom damaligen
Bischof Thomas von Margä zu nennen, die uns tiefe Blicke in das Kloster-
wesen und das ganze Kirchentum der damaligen Zeit tun läßt.
Sehr ausgedehnt ist in der arabischen Zeit wieder die Literatur der
Heiligenleben. Darunter haben zwar manche historischen Wert, aber das
Legendenhafte überwiegt in diesen späteren Erzählung-en doch sehr.
Namentlich ist eine Gruppe von nestorianischen Geschichten, die den
heiligen Eugenios und seine Nachfolger betreifen, fast ganz unhistorisch.
Allerlei Legenden und noch anderes ist zusammengestellt in dem „Buch
der Biene" vom Nestorianer Salomo (Metropoliten von Ba9ra, erste Hälfte
des 13. Jahrhunderts).
Die Eibelauslegung wurde von Jacobiten wie von Nestorianern eifrig
gepflegt; neue eigene Gedanken werden aber in den betreffenden Werken
kaum zu finden sein. Ich nenne hier den für seine Zeit sehr gelehrten
nestorianischen Bischof Ischödäd (g. Jahrhundert), geboren zu Merw fern
im Osten, und den jacobitischen Bischof Dionysios bar ^allbi (-j- 1171).
Daß asketische, dogmatische und paränetische Schriften nicht fehlten, daß
die Kanones durch Konzile und einzelne Geistliche vervollständigt und
authentisch festgestellt wurden, daß man sich viel mit der Liturgie abgab,
PhUosophie. versteht sich von selbst. Philosophische Gedanken, zwar einigermaßen
innerhalb der kirchlichen Dog"matik, aber doch ziemlich frei mit Anknüpfung
an die alten Mystiker, entwickelt das Werk Causa causarum von einem
ungenannten Jacobiten wohl des 12. Jahrhunderts.
Die wissenschaftliche Grammatik, die Jacob von Edessa begründet
hatte, wurde auch später nicht vernachlässigt. Wir besitzen noch einige
kleine Schriften darüber, die, an sich keine bedeutenden Leistungen, uns
doch zur näheren Kenntnis der Sprache sowie des damaligen Schulbetriebes
recht nützlich sind. Auch das Bedürfnis nach lexikalischen Werken macht
sich in der Zeit bemerklich, in welcher die alte Sprache immer mehr aus
dem Leben schwand. Man verfaßte Synonymika nach griechischen Vor-
bildern. Ein gutes, planmäßiges, nach Bedeutungsklassen geordnetes,
aber nicht sehr umfangreiches Wörterbuch schrieb der schon oben ge-
nannte Elias von Nisibis, der auch noch verschiedene andere Werke ver-
faßt hat. Die großen Glossare des Nestorianers Bar Ali (g. Jahrhundert)
und Bar Bahlül (10. Jahrhundert) bieten uns reiche Belehrung, aber als
wissenschaftliche Arbeiten stehen sie tief unter den Wörterbüchern der
arabischen Gelehrten. Sie entsprechen mehr griechischen Glossaren wie
dem des Hesychios, aber wenigstens Bar Bahlul enthält noch viel mehr
entstellte Wörter als dieses. Hätten wir noch einige ältere Werke, die
er benutzt hat, so wüßten wir manches besser. Der Text des Bar Bahlül
Grammatik.
Lexika.
A. Syrische Literatur. II. Die arabische Zeit. jjq
wurde von Späteren vielfach willkürlich verändert und auch vermehrt;
letzteres bedeutet nicht immer eine wirkliche Bereicherung.
Wir lernten schon einige Syrer kennen, die auf verschiedenen Ge- Poiyhistorie.
bieten gearbeitet haben. Wie zahlreiche arabische Gelehrte möglichst die
g"anze Wissenschaft zu beherrschen strebten oder gar zu beherrschen
glaubten, so finden wir eben auch bei den Syrern einige Polyhistoren.
Eine Enzyklopädie der Wissenschaften verfaßte außer anderen Schriften
Severos bar Schakkö, nestorianischer Bischof-Abt von Mär Mattai (-1- 1241). Severos von Mär
Mattai.
Das erste Buch lehrt Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Metrik, und legt
dann die Eleganz und den Reichtum der syrischen Sprache dar; das
zweite ist den philosophischen Fächern gewidmet, der Arithmetik, Musik,
Geometrie, Astronomie, ferner der Metaphysik und Theologie. Alle diese
Disziplinen behandelt Severos ziemlich kurz in „Dialogen" oder viel-
mehr in Katechismusform. Für die Grammatik gibt er nach dem be-
treffenden „Dialog" noch eine zusammenhäng'ende Darstellung in Versen.
— Ein wirklicher Polyhistor war Abulfaradsch Gregorios, Sohn eines ge- Barhebraeus.
tauften Juden, daher „der Hebräersohn" bar Ebräjä (Barhebraeus)
genannt (1226 — 1286), der weit über seine syrischen Zeitgenossen hervor-
ragte. Er bekleidete die höchsten Würden der jacobitischen Kirche, ent-
faltete für diese eine große praktische Tätigkeit, und zwar mit aner-
kennenswerter Toleranz gegen die Nestorianer, hat aber dabei noch in
einer langen Reihe von Schriften so ziemlich alle Wissenschaften behan-
delt, die den damaligen Syrern zugänglich waren. Seine Werke, die uns
vollständig erhalten sind, haben natürlich sehr ungleichen Wert. Viele
sind nur Kompendien nach arabischem Muster. Sogar in seinem Nomo-
kanon (Corpus iuris ecclesiastici) nimmt er ganze Stücke aus muslimischen
Autoren in syrischer Übersetzung auf. Seine ausführliche Grammatik ver-
einigt die Methode der Griechen, welcher die älteren syrischen Gramma-
tiker folgen, mit der für die syrische Sprache viel geeigneteren der Araber,
die allmählich bei den Syrern eingedrungen war. Ungeachtet mancher
Mängel, die man dem einsam, ohne Kontrolle einer großen Schule arbei-
tenden Manne nicht schwer anrechnen darf, verdient dies Werk hohe An-
erkennung; ohne dasselbe wäre uns der Bau der syrischen Sprache viel
weniger bekannt. Die kurzen Anmerkungen des Barhebraeus zur Bibel
sind besonders für die Sprachformen lehrreich; trotz des nach arabischer
Weise prunkenden Titels „Schatz der Geheimnisse" sind sie im ganzen
recht nüchtern gehalten. Sein bedeutendstes Werk ist aber seine Chronik,
die in zwei Teile zerfällt, die Welt- und die Kirchenhistorie. Zwar wird
sie für uns viel an Wert verlieren, wenn seine Hauptquelle, die Chronik
Michaels (s. oben S. 1 1 7), ganz erschienen sein wird, aber schon die vor-
treffliche Darstellung der Geschichte seines Jahrhunderts sichert ihr fort-
währende Anerkennung. Barhebraeus hat auch Gedichte gemacht, und
zwar nicht bloß über religiöse Dinge. Er ist freilich kein origineller
Dichter, aber seine Verse sind gewandt und zum Teil recht hübsch nach
I 2 o Theodor Nöldeke : Die aramäische Literatur.
arabischen und persischen Mustern. Als Belletrist zeigt er sich ferner in
seinem Anekdotenbuche. Er schrieb auch einiges in arabischer Sprache,
Arabisch- u. a. eüic kürzerc Bearbeitung seiner Chronik. Schon früher hatten sich
svnsclic
Schriften, manche christliche Syrer als Schriftsteller des Arabischen bedient oder,
wie zum Teil Elias von Nisibis (s. oben S. ii8), beide Sprachen in paral-
lelen Kolumnen nebeneinander gebraucht. Man könnte sogar die meisten
arabischen Schriften sj'^rischer Christen zur S5^rischen Literatur rechnen,
zumal sie kaum in die muslimische Welt hinüberdrangen. Die ausschließ-
liche Bestimmung für christliche Leser zeigt sich oft auch äußerlich da-
durch, daß man das Arabische mit S5'rischen Buchstaben schrieb, ganz
wie die jüdisch-arabische Literatur größtenteils die hebräische Schrift ver-
wendet. Die Kenntnis der alten griechischen Schriftsprache war aber da-
mals auch den Jacobiten längst abhanden gekommen; selbst dem Bar-
hebraeus war sie fremd.
Ausgang der Nach Barhcbracus ist zwar noch manches in syrischer Sprache ver-
ratur. faßt wordcn und darunter auch ein oder das andere nennenswerte Werk
wie die höchst interessante Lebensbeschreibung des chinesischen Türken
jahbaUähä. Jahballähä, der 1281 — 1317 nestorianischer Patriarch war, aber im ganzen
versiegt hier das Leben doch immer mehr. Die syrische Sprache war
ganz zu einer toten geworden; die Zahl der Christen nahm immer mehr
ab. Die Unterwerfung des muslimischen Asiens durch die Mongolen half
den Christen nichts, denn wenn sie anfangs von den siegreichen Barbaren
begünstigt wurden, so vermehrten diese, nachdem sie selbst zum Islam
bekehrt worden waren, nur die Zahl ihrer Gegner, und schon die allge-
meine Verwüstung .und Verwilderung, die Zerstörung der arabisch-per-
sischen Kultur traf auch die Christen aufs härteste. So schließen wir
passend diese Skizze der selbständigen syrischen Literatur mit der Er-
wähnung des versifizierten Werkchens, in welchem der schon genannte
Ebedjesa. Ebcdjesu (s. obcn S. 117) die den Nestorianern seiner Zeit bekannten
Werke aufzählt,
tjbersetzungen In der früheren muslimischen Zeit haben die Syrer noch vieles aus
aus dem Grie- /-^ - • t •
chischen. dem Griechischcn übersetzt. Ja im Anfang der Abbäsidenzeit ist diese
Tätigkeit für die Fortpflanzung griechischer Wissenschaft erst recht von
Bedeutung geworden. Denn damals übertrug man philosophische und
andere wissenschaftliche Werke systematisch ins Syrische, und diese syri-
schen Texte wurden dann weiter ins Arabische übersetzt. Seltener wurden
die arabischen Überzetzungen direkt aus dem Griechischen gemacht. Solche
arabische Texte sind dann später direkt oder durch Vermittlung hebräi-
scher Übersetzungen ins Lateinische verpflanzt worden, und auf diese
Weise hat das Abendland im Mittelalter den Aristoteles und andere
Griechen erst kennen gelernt; freilich nicht unentstellt! Auch auf die
kirchliche Literatur erstreckte sich die Übersetzertätigkeit. Manche grie-
chischen Werke, die man schon syrisch hatte, wurden damals noch einmal
übersetzt; man strebte da nach mögstlicher Genauigkeit. Auch aus dem
B. Literatur der Harranier. C. Christlich-palästinische Literatur. j 2 I
Arabischen übersetzte man bald allerlei. So das wie Kalilag \ve Damnag Übersetzungen
(s. oben S. 115) aus Indien stammende hübsche Sindbad-Buch über die biseben.
Listen der Weiber, das bald darauf (gegen iioo) aus dem Syrischen weiter
ins Griechische übertragen worden ist. Ziemlich später Zeit gehört an die
jüngere syrische Bearbeitung von Kalilag we Damnag nach einer ara-
bischen Vorlage, aber mit Heranziehung des alten syrischen Textes (s.
oben S. 115).
B. Literatur der Harranier.
Leider ist uns alles verloren, was die sog. Sabier, die harränischen
Heiden, die eine aus altsyrischen und spätgriechischen Elementen ge-
mischte Religion bis tief in die islamische Zeit hinein bewahrten, in ihrer
syrischen Sprache geschrieben haben. Da die Heidenstadt Harrän ganz
nahe bei der Burg des Christentums Edessa lag, so ist anzunehmen, daß
ihre Literatursprache sich höchstens ganz wenig von der der syrischen
Christen unterschieden haben wird. Später haben sich einige dieser Har-
ranier wie Thäbit ibn Kurra (-|- 901) eifrig an der Übersetzung griechischer
Autoren ins Arabische beteiligt.
C. Christlich-palästinische Literatur.
Wohl im 5. Jahrhundert begannen Christen Palästinas ihren Provinzial-
dialekt, der dem ihrer jüdischen und samaritanischen Landsleute weit
näher stand als dem edessenischen, literarisch zu verwenden. Sie wollten,
scheint es, als gute Katholiken, Anhäng^er des chalcedonischen Konzils,
mit der Sprache der Monophysiten nichts mehr zu tun haben. Mit der
Übersetzung biblischer Bücher aus dem griechischen Text wird man be-
gonnen haben; davon hat sich manches erhalten. Dann übersetzte man
noch Werke einiger Kirchenväter wie des Chrysostomos, Legenden und
anderes. Die selbständige Schriftstellerei in diesem Dialekt scheint immer
sehr beschränkt gewesen zu sein. Er erhielt sich einige Jahrhunderte lang
in Palästina und selbst bei einer palästinischen Kolonie in Ägypten in
beschränkten Kreisen, aber die auf uns gekommenen Bruchstücke zeigen,
daß dies christlich-palästinische Aramäisch zu der Zeit, aus der unsere
Handschriften stammen, schon aus dem Leben verschwunden und durch
das Arabische ersetzt worden war. So gering der Wert dieser Reste als
literarischer Monumente, so wichtig ist ihre sprachliche Bedeutung. Zu
grammatischer Durchbildung und fester Orthographie hat es diese Schrift-
sprache nicht gebracht, im Gegensatz zur edessenischen.
122 Theodor Nöldeke: Die aramäische Literatur.
D. Literatur babylonischer Sekten.
Msni. Aramäisch, aber in einem Dialekt Babyloniens, der von dem edesse-
nischen stark abwich, sind wenigstens einige Hauptschriften des Religions-
stifters Mäni (■]- 276) verfaßt gewesen. Leider haben wir von ihnen nichts
Mandäer. Z usammenliängendes mehr im Originaltext. — Dagegen besitzen wir einige
heilige Bücher der religiösen Sekte der Mandäer, die ebenfalls in einer
babylonisch -aramäischen Mundart geschrieben sind; diese steht der des
babylonischen Talmud sehr nahe. Der schriftstellerische Wert dieser Werke
ist im ganzen nicht groß, wenn sich auch hier und da Stücke mit poetischem
Schwung und phantastischem Leben finden; aber da sie uns, allerdings
in wildem Durcheinander, die Lehren und Bräuche verschiedener Reli-
gionsparteien abspiegeln, deren eigene Schriften wir nicht mehr besitzen,
namentlich juden-christlicher und gnostischer Sekten, sowie der Mani-
chäer, so sind sie inhaltlich für die Religionsgeschichte recht bedeutungs-
voll. Dazu ist ihr Dialekt sprachlich sehr wichtig. Die mandäischen
Hauptschriften haben ihre jetzige Form zwar erst in früh muslimischer
Zeit erhalten, gehen jedoch in eine ältere zurück. Auch nachher haben
Mandäer noch einiges geschrieben, wie liturgische Erläuterungen, astro-
logische und Zauberschriften.
E. Neusyrische Literatur.
In einigen Teilen des alten Assyriens und Kurdistans, sowie am
Urmia-See, haben sich aramäische Dialekte bis heute erhalten. Es gibt
darin allerlei, zum Teil recht hübsche, weltliche Liedchen und einzelne geist-
liche Gedichte; zur Schriftsprache sind jedoch einige dieser Dialekte erst
durch protestantische (amerikanische) und katholische Missionare erhoben
worden. Namentlich in Urmia hat man schon viel neusyrisch gedruckt.
Originellen Wert hat aber die betreffende Literatur natürlich einstweilen
noch nicht.
Literatur.
Das Abendland hat von syrischer Sprache zuerst in der Mitte des i6. Jahrhunderts
Näheres erfahren durch den Jacobiten Moses von Mardln. Aber genauere Kunde verdankt
es erst den maronitischen Gelehrten. Die Maroniten, syrische Christen des Libanons und
einiger benachbarten Gegenden, gehörten früher der im 7. Jahrhundert aufgekommenen
Sekte der Monotheleten an, standen aber schon seit den Kreuzzügen in enger Verbindung
mit Rom und sind längst gute römische Katholiken. Unter ihnen zeichnete sich namentlich
die Gelehrtenfamilie der Assemani aus, vor allen Joseph Simon Assemani. Seine Biblio-
theca Orientalis (Rom, 1719 — 28; ist noch immer eine Fundgrube der syrischen Literatur,
wenngleich viele Werke, aus denen er mit sicherer Hand das Wichtigste mitteilt, jetzt
vollständig gedruckt vorliegen und wenngleich moderne Forschung manches Einzelne in
jenem monumentalen Werke zu verbessern findet. Reiche Repertorien sind ferner die
Kataloge der syrischen Handschriften in europäischen Bibliotheken, von denen ein sehr
großer Teil aus der Büchersammlung eines einzigen jacobitischen Klosters in Ägypten
stammt. Besonders ist hier das Verzeichnis der syrischen Handschriften des British Museum
von William Wright zu nennen (London, 1870—72). Ebendemselben verdanken wir das
inhaltreiche Büchlein A short History of Syriac Literature (London, 1894; es war zuerst in
der ,,Encyclopaedia Britannica" erschienen). Diesem Werke reiht sich würdig an] Raoul O
DuvALs Buch La littSrature syriaqne (Paris, 1899; mit Zusätzen 1900), das zwar auch kurz-
gefaßt, aber doch etwas umfangreicher ist als das Wrights und an bibliographischer Voll-
ständigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Sehr verdienstlich war seiner Zeit Gustav
BiCKELLs Conspectus rei Syrorum literariae (Münster, 1871). Für einzelne Teile dieser
Literatur sind namentlich zu nennen: GeORG Hoffmann, Auszüge aus syrischen Akten per-
sischer Märtyrer (Leipzig, 1880); Adalbert Merx, Historia artis grammaticae apud Syros
(Leipzig, 1889) und die Arbeiten Anton BÄUMST arks betreffend die syrischen Übersetzungen
griechischer Werke. Um die syrischen Bibeltexte haben sich besonders englische Gelehrte
verdient gemacht.
Über die Geschichte der aramäischen Dialekte vgl. .meine Schrift ,,Die semitischen
Sprachen"-, 31 — 47 (Leipzig, 1899).
DIE ÄTHIOPISCHE LITERATUR.
Von
Theodor Nöldeke.
Einleitung'. Die Auswanderung von Arabern, namentlich aus Jemen,
nach der afrikanischen Küste und ins Hochland von Abessinien, ein
Prozeß, der in sehr alten Zeiten begonnen hat und auch heute noch nicht
abgeschlossen ist, hat semitische Sprache dorthin getrag^en. Diese hat
sich da trotz starker Vermischung mit der einheimischer „Hamiten" ge-
halten und ist sogar in weitem Umfange von solchen angenommen worden.
Die alte äthiopische Schriftsprache (das Geez) ist der arabischen nahe
verwandt; noch näher stand sie ohne Zweifel dem uns leider bloß durch
Inschriften und daher nur höchst ungenügend bekannten Sabäisch, der
alten Kultursprache Südarabiens.
A. Geez-Literatur.
Inschriften. I. Erste Periode. Das Äthiopische ist ziemlich spät schriftlich
fixiert worden. Erst aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. haben wir In-
schriften, welche das Äthiopische durch sabäische Buchstaben nicht
eben geschickt wiedergeben. Bald darauf hat aber ein unbekannter
Meister auf Grund des sabäischen Alphabets fürs Äthiopische eine zwar
etwas schwerfällige, aber sonst ungewöhnlich zweckmäßige Schrift ge-
bildet, die auch die Vokalisation vortrefflich ausdrückt. Die darin ge-
schriebenen beiden Denkmäler eines noch heidnischen Königs, etwa aus
der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, in der alten Hauptstadt Aksüms
zeigen dieselbe Sprache wie die christliche Literatur, die wohl um dieselbe
Bibel- Zeit mit der Übersetzung der Bibel begfann. Diese Übersetzung beruht
äbersetzong. .
auch beim Alten Testament auf dem griechischen Text, obwohl deut-
liche Zeichen dafür vorhanden sind, daß das Christentum wie das Juden-
tum von Leuten aus Syrien nach Äthiopien gebracht worden ist. Das
Werk rührt von ganz verschiedenen Händen her; die Ausführung mag
sich über lange Zeit hingezogen haben. Leider ist der ursprüngliche
äthiopische Text in den bekannten Handschriften mehr oder weniger durch
Einleitung. A. Geez-Literatur. I. Erste Periode. II. Zweite Periode. 125
Nachlässigkeit oder durch absichtliche Überarbeitung- entstellt In der
alten äthiopischen Bibel fehlen die Offenbarung Johannis, die eben von
vielen Christen bis in späte Zeit nicht als kanonisch anerkannt wurde,
und von den Apokryphen die Makkabäerbücher. Dagegen wurden schon
in jener ersten Literaturperiode, die wir etwa vom 5. bis zum 8. Jahr-
hundert ansetzen können, auch einige „Pseudepigrapha" übertragen und
von den Äthiopiern dann wenigstens in der Praxis den Bibelbüchern gleich
gerechnet. Für die biblische Literatur ist das von großer Wichtigkeit.
Von zwei alten Werken dieser Klasse, dem Buche Henoch und dem Buch
der Jubiläen (auch „die Kleine Genesis" genannt), ist so der vollständige
Text wenigstens äthiopisch erhalten, und für die Apokalypse Esras (oder
das 4. Buch Esra) kann die äthiopische Übersetzung zusammen mit den
lateinischen und anderen orientalischen dazu dienen, das verlorene grie-
chische Original herzustellen. Wie die eigentlich biblischen Bücher so
haben auch diese, namentlich Henoch und Esra, einen erheblichen Einfluß
auf die spätere äthiopische Literatur gehabt.
Von den erhaltenen äthiopischen Werken gehören wohl noch einige Andere LUe-
^ '-' ^ ratur der ersten
wenige Übersetzungen theologischer griechischer Schriften in diese frühe Periode.
Periode. Dagegen haben wir aus ihr schwerlich noch irgend äthiopische
Originalschriften; freilich ist auch nicht anzunehmen, daß damals im
aksOmitischen Reich viel selbständig geschriftstellert worden sei. Über-
haupt darf man sich von dessen Kultur keinen besonders hohen Begriff
machen.
Durch die islamische Eroberung wurde Abessinien von der christlichen
Welt abgeschnitten, und lange Jahrhunderte scheint das literarische Leben
dort ganz oder fast ganz geschlummert zu haben. Selbst von König
Lällbalä (Anfang des 13. Jahrhunderts), dessen Felsenkirchen weitaus die
bedeutendsten Kunstwerke Abessiniens sind, hat man keine authentische
Geschichte, sondern nur eine spätere Legende, die den vermutlich recht
tatkräftigen Mann zu einem gewöhnlichen mönchischen Heiligen macht.
IL Zweite Periode. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Einleitung.
kam mit Jekünö Amläk (1270 — 85) eine neue Dynastie auf, die sich als die
allein legitime ausgab und nicht nur von den alten Königen von Aksüm,
sondern auch von Salomo und der Königin von Saba abstammen wollte.
In ihrer Heimat, dem südlichen Teil Abessiniens, der kaum zum aksü-
mitischen Reich gehört hatte und erst allmählich und nur teilweise zum
Christentum bekehrt worden war, herrschte neben allerlei anderen Sprachen
ein vom Geez sehr verschiedener, stark von fremden Elementen durch-
drungener Dialekt, das Amharische. Aber trotzdem und obwohl inzwischen
das Geez auch nicht mehr lebendig geblieben, sondern durch Tochter-
dialekte ersetzt worden war, hat mit der neuen Dynastie die Literatur in
der alten Sprache einen neuen Aufschwung genommen. Dies hängt jeden-
126 Theodor Nöldeke: Die äthiopische Literatur.
falls damit zusammen, daß die Herrscher in engen Bund mit der Kirche
traten, die, so traurig ihr geistiger Zustand zu allen Zeiten gewesen ist,
doch so ziemlich der einzige Vertreter geistiger Interessen war. Die
abessinische Kirche war schon lange ein Glied der äg5'ptischen. Die
Bande, welche die abessinischen Christen an die Kopten knüpften, wurden
jetzt noch fester. Die Kirche Ag}-ptens war aber schon lange die reine
Mönchskirche geworden; ihr geistiges Niveau war ein ziemlich tiefes.
Um so weniger konnte sich ihr Reflex im fernen Alpenlande inmitten
afrikanischer Barbarei hoch erheben. Auf Äußerlichkeiten des Kultus
wurde zwar viel gegeben, aber im Leben und in der Religion blieb
doch heidnisches Wesen stark, und nicht einmal die, freilich von der
Kirche gepredigte, Monogamie ist in Abessinien jemals durchgeführt
worden.
Übersetzungen Die äthiopische Literatur der folgenden Jahrhunderte hängt also eng mit
aus dem , . o o
Arabischen, der der äg}'ptischen Christen zusammen und besteht zum sehr großen Teile
aus Übersetzungen von Produktionen dieser. Die Übersetzer waren zum
Teil in Abessinien ansässig gewordene, arabisch redende Kopten. An die
Stelle der Übertragungen aus dem Griechischen trat die aus dem Ara-
bischen, zum kleinen Teile auch aus dem Koptischen. Zahlreiche ur-
sprünglich griechische Werke sind allerdings auch noch unter der Salo-
monischen Dynastie ins Äthiopische verpflanzt worden, aber nur durch
Vermittlung eines arabischen Textes. Wir könnten eine lange Liste von
solchen äthiopischen Übersetzungen aus verschiedenen Zweigen der Theo-
logie geben, die zu großem Ansehen gelangt sind und auf die Original-
literatiir bedeutenden Einfluß gehabt haben. Wir wollen aber nur zwei
Fetha Nagast. Beispiele, und zwar aus Grenzgebieten geben. Im 13. Jahrhundert hatte
ein koptischer Geistlicher Ibn Assäl aus alten kirchlichen Kanones, rö-
mischen („kaiserlichen") Gesetzen und muslimischem Zivilrecht in arabischer
Sprache einen „Xomokanon" zusammengestellt. Dieser ward unter dem
Xamen Fetha Nagast („Recht der Könige") im 15. oder 16. Jahrhundert
ins Äthiopische übersetzt und erlangte in Abessinien, obgleich er vielfach
zu dessen Bedürfnissen gar nicht paßt und obgleich die Übersetzung von
Mißverständnissen wimmelt, die Geltung eines kirchlichen und staat-
lichen Gesetzbuches, so daß sich europäische Gelehrte haben täuschen
lassen, das Buch als einen Kodex altnationalen Rechts anzusehen. Das
Studium dieses Buches ist selbst den einheimischen Gelehrten äußerst
schwierig, besonders weil eben auch den falsch übersetzten und den durch
Abschreiber verdorbenen Stellen ein Sinn abgezwungen werden muß.
Sehr große Schwierigkeit bereitet den abessinischen Gelehrten auch das
Abu schäkir. aus dem Arabischen übersetzte chronologische Werk des Abu Schäkir,
das wegen der Berechnung der Feste für die Kirche von großer Wichtig-
keit ist.
Tbeoio^scbe Mit der Zeit griff man auch selbständig die theologischen Themata
Werke.
an. Wir haben z. B. allerlei Schriften über dogmatische Tragen, zum
A. Geez-Literatur. IT. Zweite Periode.
127
ISuch der
Geheimnisse.
Teil höchst abstruser Art. Besonderen Anlaß dazu gab die Berührung
mit römisch-katholischen Geistlichen, die im 16. Jahrhundert ins Land
kamen, nachdem portugiesische Helden den Christen gegen den mus-
limischen Ansturm mit Macht geholfen hatten. Die zuzeiten günstig er-
scheinende Aussicht, das Land für Rom zu gewinnen und dadurch Europa
näher zu bringen, zerschlug sich im 17. Jahrhundert gänzlich. Gerade
diese Reibungen gaben aber einem tief religiösen, jedoch ung-emein selb-
ständig denkenden Manne, Zar'a Ja'qöb (1599 — 1692) den Anlaß, sich im Zar'a ja'qsb,
Geiste von aller Kirchlichkeit loszusagen und ein rein deistisches System
auszubilden. Dieses finden wir in seinem im Jahre 1666 geschriebenen
Büchlein. Er hatte nur einen einzigen vertrauten Schüler, Walda Hejwat,
der seine Anschauungen ebenfalls in einer kleinen Schrift auseinandersetzt.
Beide Männer verwerfen energisch das Mönchtum und jegliche Askese,
predigen Menschenliebe und strenge Sittlichkeit. Sie stehen aber in
diesem Lande und in dieser Literatur ganz einzig da.
Ein seltsames Denkmal der äthiopischen Kirche ist z. B. das dem
13. Jahrhundert angehörende „Buch der Geheimnisse des Himmels und der
Erde". Alles Mögliche steht darin, nur wenig Vernünftiges. Wir haben
hier zum Teil schon die Atmosphäre der zahlreichen Zauberbücher. Auch zauberbücher,
manche Gebetbücher enthalten viel Zaubersprüche.
Einige Schriften der abessinischen Juden (Faläschä) erinnern etwas an
das eben genannte „Buch der Geheimnisse".
Die Masse der äthiopischen Legenden und Heiligenleben ist sehr aus-
gedehnt. Vieles ist davon aus dem Arabischen oder Koptischen übersetzt,
vieles aber auch Original. Die Richtung auf das Wunderliche, ja Ab-
geschmackte zeigt sich in solchen Originalen noch mehr als schon in den
ägyptischen Vorbildern. Wir müssen immer im Auge behalten, daß
hier eine Mönchsliteratur ist. So ein Heiliger dritten Grades verrichtet
unerhörte Wunder. Christus erscheint den Asketen oft in Person wie ein
gewöhnlicher Besucher. Zum hl. Filpos kommt die Trinität in der Gestalt
von drei Männern, die mit ihm reden, wie einst, nach der kirchlichen Aus-
legung, zu Abraham (i. Mose 18). Die Heiligen fahren auch gelegentlich
zum Himmel und wieder zur Erde; sie kommen weit entfernten frommen
Leuten urplötzlich zu Hilfe. In Bußübungen leisten sie bedeutend mehr als
das Menschenmögliche. Als der hl, Aragäwi durch Offenbarung die un-
zugängliche Felsenhöhe entdeckt hat, auf der er sein Kloster errichten
soll, erscheint eine große Schlange, um ihm als Strick zum Hinaufklimmen
zu dienen usw. usw. Derartige Mirakel finden wir allerdings auch bei den
Heiligen der Hindu, welche die Abessinier doch an Geist bedeutend über-
treffen, an Energie ihnen freilich sehr nachstehn. Manche dieser Legenden
sind Homilien, die an den Gedenktagen der betreffenden Heiligen vor-
gelesen werden sollen. Einige zeigen dabei sehr deutlich die Absicht,
die Gläubigen zu reichen Gaben für die geistigen Abkömmlinge der alten
Gottesmänner zu gewinnen. Ausnahmsweise gewähren solche Schriften
Jüdische
Schriften.
Legenden.
j , g Theodor Nöldeke : Die äthiopische Literatur.
aber doch auch einige historische Belehrung. Ganz besonders reich
ist Maria mit Legenden bedacht; man hat oft den Eindruck, daß sie
die eigentliche Göttin des Landes ist. Eine bedeutende Stelle nehmen
auch die Wunder der Erzengel ein, besonders Michaels. Übrigens gehört,
wie bei anderen Orientalen, selbst Alexander der Große zu den Männern
Gottes und wird (auch abgesehen von der äthiopischen Bearbeitung des
alten Alexanderromans) in Legenden gefeiert. Der ganze Heiligenkalender,
das Synaxarion, ist zwar den Kopten entlehnt, aber mit äthiopischen
Originalstücken vermehrt.
KebraNa-ast. Eine Anzahl seltener Legenden enthält das große Buch Kebra Na-
gast („die Herrlichkeit des Königs"). Darin wird wesentlich erzählt, wie
die legitimen abessinischen Könige von Salomo und der Königin des
Südens (der Königin von Saba) abstammen und wie der Gründer der
Dvnastie die, ganz als Fetisch aufgefaßte, Bundeslade von Jerusalem nach
Abessinien entfülirt. Dazu kommen noch lange erbauliche Abschnitte.
Das an historischen Konfusionen reiche Werk ist sehr wichtig geworden,
da es als größte Autorität für die Staats- und kirchlichen Einrichtungen
des Landes galt. Verfaßt ist es wahrscheinlich im 14. Jahrhundert. Sollte
es nicht ganz die äthiopische Übersetzung eines arabischen Urtextes sein,
so gilt das zum mindesten für große Stücke. Das Buch stammt aus dem
Kreise der koptischen Kirchenleiter und hat die Herrlichkeit der abessi-
nischen Kirche noch mehr im Auge als die des Königsthrons.
Historische Aber auch eine wirklich historische Literatur haben die Abessinier.
Die Weltchroniken der ägi,'ptischen Christen Ibn Amid und Johann von
Nikiu sind allerdings aus dem Arabischen übersetzt. Der äthiopische Text
dieses Johanns, dessen Original verloren, ist sehr wichtig, weil er ein-
gehende Nachrichten über die Eroberung Ägyptens durch die Muslime
enthält. Aber weit belangreicher sind für uns doch die Originalwerke
über die Geschichte Abessiniens. Aus alter Zeit haben wir nur unzuver-
lässige Aufzählungen von Königsnamen. Die „Salomonischen" Herrscher
mögen aber früh dafür gesorgt haben, daß ihre Taten aufgezeichnet wur-
den. Über die Ersten von ihnen sind uns allerdings auch nur kurze Nach-
richten erhalten. Alte eingehende Aufzeichnungen haben wir jedoch schon
über die Kriegszüge des Amda Tsijon (13 14 — 44). Der König, der nach
anderen Angaben sehr bedenkliche Sitten hatte, erscheint darin als Streiter
Christi wider die Ungläubigen. Der Gegensatz der äthiopischen Christen
zu den Muslimen zieht sich eben durch die ganze Geschichte des Landes
als der Kampf des Lichtes mit der Finsternis, während das unparteiische
Urteil oft schwer entscheiden kann, auf welcher Seite die größere Barbarei
war. Mit der Regierung des ebenso frommen wie rohen! Gesetzgebers,
Zar'a Jaköb (1435 — 68), beginnt für uns eine fortlaufende Reihe von Ge-
schichten fast aller einzelnen Könige bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.
Freilich existieren die ursprünglichen Darstellungen nur noch zum Teil,
wie z. B. die besonders wichtige Geschichte des Süsenjös (1609 — ^2), aber
Literatur.
B. Dialekt-Literatur. j 2 ü
von anderen haben wir wenigstens Auszüge, und daneben zum Teil noch
weitere gute Nachrichten in den Gesamtchroniken: i. der kürzeren, im Anfang
des i8. Jahrhunderts abgeschlossenen, von der Basset eine französische und
B^guinot eine italienische Übersetzung- gegeben hat; 2. der großen, die
von dem gewalttätigen Königsmacher Haila Mikäel (Ende des 18. Jahr-
hunderts) veranlaßt worden ist, und 3. der Sammlung des Lik Atkü, der
mit Rüppell und d'Abbadie befreundet war. Sind diese Chroniken, deren
Verfasser natürlich auch Geistliche, aber dabei zum Teil recht welterfahrene
Leute waren, einmal vollständig herausgegeben, so haben wir darin eine
vorzügliche Grundlage nicht bloß für die bewegte politische Geschichte
dieses seltsamen Landes. Die Sprache namentlich der späteren Chroniken
ist ein mit vielen amharischen Ausdrücken gemischtes und zum Teil selbst
in der Konstruktion amharisierendes Geez, Amharisch ist eben die Sprache
des größeren Teiles des Landes und der Regierung, während das Geez,
wie schon angedeutet, zwar die heilige und Schriftsprache blieb, in Wirk-
lichkeit aber schon lange tot ist. Dieselbe Sprachmischung scheint in
der aus dem 18. Jahrhundert stammenden, noch nicht edierten Hof- und
Rangordnung (Ser'ata manglest) zu herrschen. — Noch verdient hier
Erwähnung ein kleines Werk über die bösen Eindring^linge, das wilde
Volk der Galla, von einem sehr verständigen Mönch der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts; bisher haben wir nur einen stark verstümmelten
Text davon.
Gewiß hat es in Abessinien von alters her auch weltliche Poesie ge- Poesie,
geben, aber die äthiopische Literatur kennt nur kirchliche Lieder. Von
solchen existieren mehrere größere Sammlungen, deren Ursprung man
wohl fälschlich in sehr alte Zeit verlegt. Einige sind ganz fürs Ritual be-
stimmt und mit musikalischen Noten versehen. Nach den wenigen Proben,
die bis jetzt vorliegen, haben wir von dieser, noch dazu ziemlich form-
losen, Poesie nicht viel Schönes zu erwarten.
B. Dialekt-Literatur.
Seit Jahrhunderten geht nun aber neben der äthiopischen Literatur
eine in der amharischen Volkssprache einher. Die ältesten erhaltenen Amharisch.
amharischen Texte bilden einige interessante, aber schwer verständliche
Lieder, w^elche Könige des 14., 15. und 16. Jahrhunderts feiern. Durch
die römische Geistlichkeit wurden im 16. und 17. Jahrhundert dogmatische
und polemische Schriften in amharischer Sprache veranlaßt, die wieder
Gegenschriften herv^orriefen. Man begann ferner, amharische Bibelüber-
setzungen zu machen. Auch einige romanhafte Volksbücher entstanden.
Die amharische Literatur hat aber erst im ig. Jahrhundert einen größeren
Aufschwung genommen, wieder unter dem Einfluß von Missionaren, prote-
DiE Kultur der Gegenwart. I. 7. 9
j ^O Theodor Nöldeke: Die äthiopische Literatur.
stantischen wie katholischen. Völlig originell ist jedoch die amharische
Lebensbeschreibung des Königs Theodoros (reg. 1855 — 68) vom Priester
Zenab.
TigräiundTigre. Auch in den der alten äthiopischen Sprache näher stehenden Dialekten,
dem in Nordabessinien gesprochenen Tigräi oder Tigrina und dem in
den nördlichen Vorlanden herrschenden Tigre, haben in unserer Zeit
Fremde einiges gedruckt und, wie sich neuerdings gezeigt hat, ist jener
Dialekt schon vor längerer Zeit ganz vereinzelt von Eingeborenen zur
Aufzeichnung ihres Gewohnheitsrechtes benutzt worden.
Literatur.
Nach den verdienstlichen Arbeiten einiger Vorgänger hat zuerst der gjoße lOB LUDOLF
('1624 — 1704) das Abendland mit Sprache und Literatur der Äthiopen bekannt gemacht.
Was uns von äthiopischen Werken erhalten ist, sehen wir am besten aus den Katalogen
der größeren Handschriftensammlungen wie der im Brit. Mus. (von Dillmann, 1847 und
Wright, 1877), bei weitem der größten; der Oxforder BibHothek (Dillmann, 1848); der
Berliner (DILL^L^NN, 1878); der Pariser (Zotenberg, 1879) und der Privatsammlung von
d'Abbadie (1859; jetzt auch in der großen Pariser Bibliothek). Eine kurze, aber vorzüghche
Übersicht über die älteste Literatur gibt C. Conti Rossini, neben Ign. Guidi der beste
Kenner dieser Gebiete, in den ,,Note per la storia letteraria abissina" (Separatdruck aus den
Rendic. della R. Acc. dei Lincei, 1899).
9*
DIE ARABISCHE LITERATUR.
Von
JMicHAEL Jan de Goeje.
LandundLeute. Einleitung, Eine alte arabische Legende sagt, daß, als Gott das
für die Menschen bestimmte Teil Verstand ausgab, er es den Griechen in
den Kopf, den Chinesen in die Hände, den Arabern in die Zunge legte.
Diese Gottesgabe haben die Araber von jeher mit Lust gepflegt. Der
so oft als speziell arabisch zitierten diplomatischen Lehre: „Reden ist
Silber, Schweigen ist Gold" steht die andere gegenüber: „Schweigen ist
zwar der Schlüssel der Sicherheit, aber auch der Riegel des Verstandes."
Kein Volk ist empfänglicher für den Reiz des Wortes, als das arabische.
Dem verdankt es den Reichtum seiner Sprache, der so groß ist, daß es
selbst sagt: „Nur ein Prophet kann sie ganz beherrschen." Erzählung und
Poesie müssen einen Hauptgenuß aller Araber gebildet haben, schon weit
vor der Zeit, in der die ältesten uns erhaltenen Gedichte entstanden sind.
Denn wir finden in diesen bereits eine Fülle und eine Eleganz des Ge-
dankenausdrucks, sowie eine ausgebildete Verskunst, die eine sehr lange
Entwicklungsperiode voraussetzen.
Die Anfänge der arabischen Sprache mit ihrer feinen Gliederung und
ihrem Formenreichtum werden wohl immer in Dunkel gehüllt bleiben.
Aber die Vorbedingungen für die hohe Blüte, zu der sie im Laufe der
Zeit emporgestiegen ist, lassen sich aufzeigen. Intensives Kulturleben, in
dem die Bildung ihre edelsten Früchte zeitigt, ist der Ausbildung sprach-
lichen Formenreichtums nicht förderlich; im Gegenteil, das Bestreben, die
Gedanken möglichst kurz und klar auszudrücken, führt eher zur Verarmung-
der Sprache. Andererseits kann aber auch, wo noch die Sorge um das
tägliche Brot alles beherrscht, keine Sprache zu höheren Stufen sich
entwickeln. Dies ist nur möglich da, wo der Kampf ums Dasein den
Menschen nicht mehr ganz in Anspruch nimmt und die Lebensfürsorge ihn
andererseits vor Erschlaffung bewahrt, wo das ungestüme Verlangen nach
Reichtum noch nicht als Störenfried auftritt, wo die Sitten und die ge-
sellschaftlichen Verhältnisse noch einfach sind.
Solchen Zustand dürfen wir von alters her in der wahren Heimat der
Araber, wenn nicht aller Semiten, in Zentralarabien, voraussetzen. Es
besteht aus einem von fruchtbaren Tälern durchschnittenen Hochplateau,
Einleitung. j ^ 3
um welches sich ausgedehnte Steppen herumlagern. Das Klima zählt zu
den gesundesten der ganzen Welt. Die Luft ist so klar und rein, wie
man es sich in Europa kaum vorstellen kann. Man fühlt hier, sagt die
Reisende Lady Anne Blunt, eine Lebensfroheit und eine Heiterkeit, die
einen an seine Jugendzeit erinnert, so daß man selbst unter schwierigen
Verhältnissen seine Munterkeit nicht verliert. Dem Einflüsse dieses Klimas
schreibt Sprenger die physische Entwicklung und speziell die schöne
Schädelform und vollkommene Gehimbildung zu, die allen semitischen
Völkern eigen ist, und der sie die Standhaftigkeit ihres Typus und Cha-
rakters verdanken. Daher auch der gesunde Verstand und die feine Be-
obachtungsgabe des Arabers, die ihn die umgebende Welt durch und
durch kennen lehren, was sich dann in seiner Sprache widerspiegelt.
Zentralarabien selbst besitzt Ackerboden und Weiden genug, um eine
ziemlich zahlreiche Bevölkerung zu ernähren. Nach dem ersten Regen
im Spätherbst bedecken sich die Steppen mit frischen saftreichen Pflanzen,
die den Herden eine herrliche und üppige Nahrung bieten, bei der sie
des Wassers entbehren können. Vom Beginn dieser Jahreszeit an halten
sich die Hirtenstämme in der Steppe auf und leben dort im Überfluß, bis
nach Ablauf des Frühlings die Hitze eintritt und sie nötigt, die Täler des
Hochplateaus aufzusuchen, deren Gewässer ihnen auch im Sommer das
Weiden ermöglichen. Im Herbst kehren sie dann wieder in ihre eigent-
lichen Wohnsitze zurück. Dieses von der Natur bedingte Hin- und Her-
ziehen der Araber hat gewiß viel dazu beigetragen, ihren Blick zu er-
weitern und den Verstand zu schärfen. Nicht selten führt sie das Bedürfnis
nach Weide bis an die Grenze der den Steppen benachbarten Staaten,
wo sie dann die Produkte ihres Viehstandes und ihrer primitiven
Industrie gegen solche, die ihnen fehlen, umtauschen. So breitet sich ihr
Horizont aus, und sie kehren mit neuen Ideen und Kenntnissen in die
Heimat zurück. Da gibt es dann zu erzählen, was man alles erlebt hat;
und da das der Sprachentwicklung feindliche „time is money" hier noch
nicht in Geltung ist, hat man die Zeit, die gesammelten Eindrücke in be-
haglicher Breite mitzuteilen und seine Meinung in wohlgewählte Worte
zu kleiden. So hat sich im Laufe der Jahrhunderte mit dem Verstände
auch die Sprache des Volkes entwickelt.
Die hohe Achtung vor Sprache und Wortkunst ist den Arabern auch
unter den kümmerlichsten Verhältnissen stets eigen geblieben. Der Redner,
der die Versammlung begeistert, der Weise, der schöne Wahrheiten und
köstliche Lehren in kemhafte Sprüche kleidet, der Dichter, dessen Lob
ziert, dessen Hohn verwundet, dessen Klagen erschüttern, dessen Schilde-
rungen ergötzen — sie alle erfreuen sich des höchsten Ansehens. Um
einen geschätzten Dichter sich wohlgesinnt zu erhalten, oder auch nur
um seinen Unwillen zu beschwichtigen, bringt man oft große Opfer. Denn
mit seinen Versen „reisen die Karawanen", und so verbreitet sich sein
Lob öder sein Tadel über die ganze Welt.
Ißi Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
A. Die Blütezeit (bis zum ii. Jahrhundert).
I. Die Poesie, Zu der Zeit, aus der die ältesten Überlieferungen
über die Araber stammen, betrachteten diese ihre Sprache bereits als ihr
teuerstes Gut, Tapferkeit und Freigebigkeit genügten nicht, jemand zu
einem Mann von Bedeutung zu machen; er mußte dazu noch ein guter
Redner sein. Den gewaltigen Eindruck, den Mohammed auf seine Zeit-
genossen machte, hat er zweifellos auch zu einem großen Teil durch
die Zierlichkeit und den Wohllaut seiner Sprache erreicht. Bei öffent-
lichen Versammlungen fand oft ein Dichterwettkampf statt, Erzählungen
alter Heldenstücke und Stammesfehden, Beschreibungen von Land und
Volk, von Reittier und Jagdwild, Märchen und Anekdoten bildeten die
beliebtesten Erholungsmittel.
Diese Freude am Worte ist beim Araber so allgemein und fest-
ge\sTirzelt, daß man berechtigt ist anzunehmen, sie habe schon in uralter
Zeit angefangen, sich zu entwickeln, und sei mit der Sprache selbst er-
wachsen. Die Notwendigkeit dieser Annahme folgt auch daraus, daß, wie
Goldziher bewiesen hat, das arabische Wort, das den Dichter bezeichnet,
eigentlich den „Wissenden" bedeutet, d, h, den Inhaber übernatürlichen
Wissens, dessen feierlich gesprochenes Wort Segen oder Fluch bringt;
ein Typus dieser Art ist der im Alten Testament genannte Bileam, Lange
Zeit noch hat sich im arabischen Volksempfinden eine gewisse Scheu vor
dem Dichter erhalten, wenn auch die frühesten arabischen Poeten, die wir
kennen, nichts mehr von jenem geheimnisvollen Wesen an sich tragen.
Eine solche Umwandlung kann sich bei diesem konservativsten aller Völker
nur ganz langsam vollzogen haben. Zu demselben Resultat führt endlich
die Tatsache, daß schon wenigstens ein Jahrhundert vor Mohammed die
schöne, reich ausgestattete, fein organisierte zentralarabische Sprache Ge-
meingut aller Araber geworden war. Wohl gab es noch eine Menge
Dialekte und wird einzelnen Dichtern jener Zeit vorgeworfen, daß sie
Worte gebrauchen, die nicht in Zentralarabien üblich seien; doch muß
sich das auf Weniges beschränkt haben. Im großen und ganzen ist die
Sprache damals bereits eine einheitliche, und nicht etwa angelernt, künst-
lich, sondern die natürliche Sprache aller gebildeten und ungebildeten
Araber, Wie dies ohne Schrift, ohne Schule zustande gekommen ist,
bleibt ein Rätsel; unbedingt sicher aber ist, wie gesagt, daß dazu ein
langer Zeitraum erforderlich war. Der Islam hat dann das Arabische
vollends zu einer Weltsprache gemacht, wobei freilich die von europäi-
schen Gelehrten oft geäußerte Meinung grundfalsch ist, daß diese Welt-
sprache der durch den Koran zur Geltung gekommene Dialekt der Mek-
kaner sei (vgl, Xöldeke, „Die semitischen Sprachen" ^ S. 55 f.).
Neben vielen anderen Geistesgaben besitzen die Araber ein vortreff-
liches Gedächtnis, Allein auch dieses hat seine Grenzen. Nilus Eremita
erzählt gegen das Ende des 4. Jahrhunderts, daß die rohen Beduinen der
A. Die Blütezeit (bis zum ll. Jahrhundert). I. Die Poesie. I^c
Sinaitischen Wüste beim Rundgang um den Opferstein Lieder sangen zur
Ehre des Morgensternes, wie auch daß sie bei der Auffindung einer Quelle
Gesänge anstimmten, ganz wie die alten Israeliten (Numeri 21, v. 16 f.).
Und nach Sozomenos wurde der Sieg Mavias, der Königin der Sarazenen,
über die römischen Truppen im Jahre 372 in Liedern besungen. Allein
die arabische Überlieferung weiß von alledem bereits nichts mehr; selbst
der Name jener Königin ist ihr aus der Erinnerung verschwunden. Das
kann aber nicht in Verwunderung setzen, wenn man bedenkt, daß die alt-
arabische Poesie ein ganz persönliches Gepräge hatte. Mit der Erinnerung
an die Personen erlosch auch allmählich das Interesse an dem, was für,
gegen oder durch sie gesagt worden war. Und dazu kam noch, als be-
sonders folgenschwer, daß die Überlieferung rein mündlich war. So reichen
die ältesten poetischen Erzeugnisse Arabiens, die wir kennen, kaum höher
als ein Jahrhundert vor Mohammed hinauf. Aber die Bedeutung, welche
die Poesie für das Leben des Arabers besessen hat, war zu allen Zeiten
gleich groß. Das Lob eines angesehenen Dichters ist eine Siegeskrone,
sein Spott ein Unheil: über diese Anschauung konnte sich trotz seiner
Prophetenwürde selbst Mohammed nicht hinwegsetzen. Schon bald nach
dem ersten großen Siege ließ er einen Dichter, der Spottverse auf ihn
gemacht hatte, beseitigen, und nach der Eroberung Mekkas wurden die
Sängerinnen, die solche vorgetragen hatten, von der Amnestie aus-
geschlossen. Dagegen erhielt Ka'b, der begabte Sohn des berühmten
Dichters Zohair, obgleich er schon zum Tode verurteilt war, sofort seine
Begnadigung, nachdem er mit einem Lobgedicht auf den Propheten hervor-
getreten war, und wurde mit dessen eigenem Mantel beschenkt. Die
Mekkaner sollen den Dichter al-A'sha, als er sich Mohammed anschließen
wollte, durch große Geschenke überredet haben, dies noch eine Zeitlang
aufzuschieben, „denn", sagten sie, „mit seinen Versen würde jener alle
Araber gegen uns aufbringen". Noch im 2. Jahrhundert d. H. schlug der
Chalife al-Mansür eine Heirat mit einer vornehmen Jungfrau vom Stamme
Taghlib eines Spottverses wegen aus, den der Dichter Djarir gegen diesen
Stamm geschleudert hatte. „Ich muß befürchten," sprach er, „daß, wenn
sie mir einen Sohn gebiert, er mit diesem Verse verhöhnt wird."
Daß die Poesie ihre Stellung als erste geistige Nahrung der Araber
im Islam zu behaupten gewußt hat, sieht man daran, wie sie überall im
Volke lebt, wie sie oft zu Heldentaten begeistert, zum Guten bewegt.
Eine sehr große Zahl Dichterverse sind Sprichwörter geworden, und der
beste Beweis der hohen Achtung, die man der alten Poesie zollte, ist der,
daß der Dichter iVbu Tammäm aus der ersten Hälfte des 3. Jahr-
hunderts d. H. viel berühmter ist durch die Blütenlese aus der alten
Poesie, die wir ihm verdanken, und die durch Rückerts Übersetzung auch
Nichtarabisten zugänglich gemacht ist, als durch seine eigenen Verse.
Einen Dichter ersten Ranges hervor- und zur Anerkennung gebracht zu
haben, ist eine bleibende Ehre für den Stamm. Der berühmte Mo'allaka-
j ,5 Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
dichter x\mr ibn Kolthum wurde von seinen Stammesgenossen, den
Taghlib, so hoch gehalten, daß sie, nach einem Spottverse, darüber ganz
vergaßen, sich eigene Lorbeeren zu verdienen:
„Die Taghlib hält von jeder edlen Tat zurück eine Kasida, die Amr ibn Kolthum ge-
dichtet hat.
Sie prahlen damit seit alters her. O Männer! Kommt zu Hilfe gegen eine Prahlerei,
deren sie nicht satt werden!"
Religiöse Poesie. Von rcügiöser Poesie finden wir aus den vorislamischen Zeiten keine
Spur. Der Wiener Semitist D. H. Müller glaubt zwar eine Übereinstimmung
im Strophenbau gewisser Koranstücke mit der althebräischen Poesie ge-
funden zu haben und daraus auf das Bestehen einer uralten, den semi-
tischen Völkern gemeinsamen religiösen Dichtform schließen zu dürfen.
Allein diese Übereinstimmung, die allerdings eine vorislamische rehgiöse
Poesie bei den Arabern voraussetzen ließe, ist nicht unanfechtbar. Und
wenn das Fehlen jeder älteren Spur von religiöser Dichtung außerhalb
des Korans mit dem Bemerken beantwortet wird, daß sie verloren ge-
gangen sein könne, so würden sich zweifellos doch aus der ersten nach-
islamischen Zeit Proben derartiger Dichtung erhalten haben. Aber auch
der Anfang dieser Periode kennt noch keine eigentliche religiöse Poesie;
denn die Lobgedichte zur Ehre des Propheten können nicht als solche
betrachtet werden.
Die älteste Form des arabischen Verses ist nach der gewiß richtigen
Überheferung der jambische Redjez, der zwischen der rhythmischen Prosa
und der eigentlichen Poesie mitten inne steht. Er paßt zu der Kadenz
der Kamelschritte und eignet sich für den monotonen Gesang des Treibers.
Wann sich daneben dann die vollkommeneren Formen der Poesie ent-
wickelt haben, läßt sich nicht herausbringen. Denn schon bei den ältesten
uns bekannten Dichtern finden wir sie ganz ausgebildet. Die eigentüm-
Hche Weise freiUch, die Kasida (wie die größeren Gedichte heißen) regel-
mäßig mit einer Klage bei der verlassenen Wohnung der Geliebten an-
zufangen, dürfte verhältnismäßig jüngeren Datums sein. Das erotische
Element in diesen Gedichten ist lediglich Einleitung zur Beschreibung der
mühsamen Wüstenritte, der durchwachten Nächte, der Ungewitter, der
Jagdszenen usw. und der eigentliche Zweck die Verherrlichung des eignen
Stammes oder die Verspottung eines anderen, die Lobpreisung eines hohen
Gönners oder sonst ein persönhches Interesse, wie endlich auch die Klage
um einen teueren Verstorbenen. Diese Form der Einkleidung ist allmäh-
lich eine Norm geworden, die sich jahrhundertelang erhalten hat. Die
konser\'ative Neigung der Araber, die einmal als schön anerkannte Form
beizubehalten, verleugnet sich selbst nicht bei der elegischen und ero-
tischen Poesie, die mehr als alle anderen Dichtformen geeignet sind, der
Stimmung des Dichters einen individuellen Ausdruck zu geben. Auch
hier findet man nur zu oft beinahe dieselben Gedanken in fast gleicher
Einkleidung wieder. Dazu kommt, daß die Natur, welcher der arabische
A. Die Blütezeit (bis zum li. Jahrhundert). I. Die Poesie. I^y
Dichter seine Bilder entlehnt, monoton ist und ihm nur einen beschränkten
Vorrat bietet. Trotz der großen Virtuosität, die er besitzt, die Ausdrücke
in seinen Versen zu variieren, leiden diese deswegen an einer gewissen
Eintönigkeit, so daß man bei aller Schönheit der Gedichte doch nur wenig
davon auf einmal mit Genuß lesen kann.
An der Spitze der altarabischen Dichter stehen die wohlbekannten Mo'aiiaka's.
Namen Imrulkais, an-Näbigha, Zohair, Tarafa, al-A'sha, Labid, Amr ibn
Kolthum, Antara, al-Härith ibn Hilliza. Man nennt sie wohl die Dichter
der Mo'allakät, mit welchem Namen ein alter Sammler eine Anzahl von
Gedichten ersten Ranges bezeichnet hat, vermutlich um damit auszudrücken,
daß sie wegen ihrer Köstlichkeit würdig seien, „auf einen Ehrenplatz er-
hoben zu werden". Aus diesem Namen ist dann die Legende, daß die in
den poetischen Wettkämpfen preisgekrönten Gedichte in der Ka'ba zu
Mekka aufg^ehängt wurden, entstanden und weithin, namentlich in Europa
verbreitet worden, bis Nöldeke bewiesen hat, daß sie jeder historischen
Grundlage ermangelt.
Mit Unrecht hat man die arabische Poesie schlechthin lyrisch ge-
nannt. Ein großer Teil wurde nicht eigentlich gesungen, sondern nur
vorgetragen, wahrscheinlich unter Begleitung auf dem Rabäb, der ein-
saitigen Violine. Von an-Näbigha wird erzählt, daß er erst, als er seine
Verse in Jathrib (Medina) singen hörte, entdeckte, daß er bisweilen i und
u hatte reimen lassen. Was den Inhalt der Poesie betrifft, so tritt das
lyrische Element im Liebesgedicht, im Selbstruhm, in der Elegie klar zu-
tage; aber vorherrschend ist die epische Form der Beschreibung alles in
den Umkreis des Beduinenlebens Fallenden. Dieser Kreis hat seine engen
Grenzen, dennoch mangelt es ihm an Begebenheiten nicht; selten aber
geht die Erzählung über das hinaus, was der Dichter selbst erlebt hat.
Das entspricht ganz dem Charakter des Arabers. Er verfügt über
einen scharfen, nüchternen Verstand und ist ein außerordentlich feiner
Beobachter; dazu hat er noch ein leidenschaftliches Temperament. Aber
seine Phantasie ist beschränkt. Mut, Freigebig"keit, Großmütig'keit, kurz
alle ritterlichen Tugenden stehen bei ihm in hohem Ansehen. Doch eben
aus dem fortwährenden Lob, das den Trägem jener Tugenden g-espendet
wird, darf man schließen, daß sie nicht allgemeines Volksgut waren. Und
ebenso soll man sich hüten zu meinen, daß die sentimentalen, oft wunder-
schönen Liebeslieder jener Araber, „die da sterben, wann sie lieben", uns
ein richtiges Bild geben von dem wirklichen Verhältnisse zwischen Mann
und Weib bei ihnen. Vielen Poeten war Hoffnung auf reiche Belohnung
ein unentbehrliches Stimulans. So fragte man den Dichter Choraimi:
„Wie kommt es, daß deine Lobgedichte auf Mohammed ibn Mansur (den
Sekretär der Barmakiden) viel schöner sind als deine Elegieen auf ihn?"
Und seine ehrliche Antwort lautete: „Damals dichteten wir mit Hoffnung,
jetzt, um unsere Treue zu zeigen; zwischen beiden ist aber eine große
Entfernung." So sind auch die Lobgedichte des Komait zu Ehren der
1^3 Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
Omajiaden, viel besser als die zu Ehren der Aliden, obg^leich er ein be-
g-eisterter Anhänger der letzteren war und im Herzen die Omajjaden als
Usurpatoren betrachtete. Die bare Bezahlung- in dieser Welt galt ihm
eben mehr als der zukünftige himmlische Lohn.
Was die Araber an ihren Dichtern besonders hochschätzen, ist, daß
sie in wenigen gut gewählten, schön klingenden Worten viel zu sagen
wissen, daß sie neue Vergieichungen, neue Bilder einführen, banale Ge-
danken durch neue Einkleidung verjüngen. Dem modernen Literar-
historiker gelingt es nicht immer, zu ergründen, warum sie eine kühne
Ve rgleichung, einen seltsamen Ausdruck hier bewundern und im anderen
Falle verspotten. Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas. Diesen
einen Schritt aber stets richtig' zu bemessen, dafür fehlt uns das feine
Sprachgefühl. Doch brauchen wir uns dessen nicht gToß zu schämen, da
vieles auch schon den späteren arabischen Gelehrten unklar war. Un-
anständigkeit und Grobheit findet man fast ausschließlich in der Satire,
die den Zweck hat, den Gegner durch Hohn und Spott zu verwunden,
und manchmal zu rohem Schelten herabsinkt. Ein Meister in dieser Kunst
war al-Hotai'a.
Die Geburt des Islams und sein mühsam errungener Sieg in Arabien,
wie auch die welterschütternden Eroberungen des i. Jahrhunderts haben
zunächst auf Form und Inhalt der Poesie keinen umgestaltenden Einfluß
geübt. Die Grenze zwischen vor- und nachislamischer Poesie ist oft kaum
bemerkbar. Allmählich beginnt man dann aber den Einfluß der ver-
änderten Verhältnisse zu spüren. Die Mehrzahl der Dichter aus dem
Zeitalter der Omajjaden — ich nenne bloß die drei berühmtesten Djarir,
Farazdak und al-Achtal — leben schon nicht mehr in der Steppe,
sondern kennen die Großstädte Iraks und den Hof zu Damaskus. Ein
Liebesdichter wie der lebensfrohe, elegante Omar ibn abi RabTa ist
vor der Epoche der erworbenen Reichtümer undenkbar. Der Umschwung
hat sich vollzogen in dem glänzenden Zeitalter des Harun ar-Rashld. Abu
Nowäs, unbestritten der genialste seiner Zeitgenossen, den größten Dich-
tern der alten Zeit ebenbürtig, ist der Herold des überfließenden Lebens-
genusses, der damals in Bagdad herrschte. Ihm zur Seite und auch hoch
begabt, wenngleich auf niedrigerer Stufe, steht Abu'l-Atähia, der in
den Gedichten aus seiner Spätzeit, den einzigen, die er der Nachwelt
hinterlassen wollte, als Antagonist jener frohen Lebensanschauung auftritt
und auf Grund der Hinfälligkeit alles irdischen Glanzes die Weltentsagung
predigt. „Der altarabische Geist des Selbstvertrauens, der Sorglosigkeit,
des kecken Lebensgenusses ist ihm abhanden gekommen, und Abu Nowäs,
der diese Eigenschaften besitzt, hat dafür den Stolz, die Selbstachtung,
das Scham- und Ehrgefühl der alten Dichter vollständig eingebüßt. Beide
aber sind die entscheidenden Typen ihres Zeitalters, und was nach ihnen
kam, hatte zwischen den von ihnen betretenen Bahnen zu wählen" (Kre-
mer, Kulturgeschichte II, 377). Diese zwei Koryphäen der neuen Epoche
A. Die Blütezeit (bis zum il. Jahrhundert). I. Die Poesie. I^n
waren beide, wie hervorgehoben zu werden verdient, von plebejischer
Herkunft und aus nichtarabischem Blute.
Wie hoch Abu Nowäs von Harun ar-Rashid geschätzt wurde, beweist
die folgende Anekdote. Der Chalife sagte einst zu al-Mofaddhal, dem
durch seine Lieder- und Sprichwörtersammlungen berühmten Philologen:
„Nenne mir einen Vers von gutem Inhalte, dessen verborgenen Sinn man
nicht ohne Anspannung des Verstandes herausbekommen kann; dann laß
mich mit ihm allein." Da sprach dieser: „Kennst du einen Vers, dessen
Anfang einen Beduinen im schlichten Überwurf darstellt, wie er, vom
Schlafe erwacht, aus der Mitte der schlummernden Kamelreiter hervor-
tritt und sie dann mit der Ungeschliffenheit des Wüstenbewohners und
mit roher Stimme aufweckt, und dessen Ende einen zarten Medinenser
zeigt, der mit dem Wasser des 'Akik genährt ist?" Als Harun verneinte,
sagte der Gelehrte: „Das ist folgender Vers Djamlls:
,,0, ihr schlummernden Karawanenleute! auf! erwacht!
Denn ich muß euch fragen, ob die Liebe einen Mann töten kann."
„Du hast recht", sagte der Chalife; „kennst du aber einen Vers, dessen
erste Hälfte den Aktham ibn Saifi (einen berühmten Weisen, "der im
Jahre 8 d. H. starb, 90 Jahre alt) in der Tiefe seines Verstandes und der
Trefflichkeit seiner Ermahnung, und dessen zweite den Hippokrates in
seiner Kenntnis der Krankheit und des Heilmittels darstellt?" Da sprach
al-Mofaddhal: „Du hast mich bange gemacht; wenn ich nur wüßte, für
welchen Preis man sich der hinter diesem Vorhang verborgenen Braut
nahen darf" Der Chalife antwortete: „Dafür, daß du zuhörst und gerecht
bist; es ist der Vers von al-Hasan ibn Häni (Abu Nowäs):
„Laß ab mich zu tadeln, denn der Tadel reizt gerade an;
Und heile mich mit dem, der selbst die Krankheit war (d. h. mit einem Becher Wein)."
Die Anekdote ist ein Zeugnis unter sehr vielen für das Interesse, das man
am Hofe der Chalifen der Poesie widmete.
Unter der großen Zahl von Dichtern aus den nächsten Generationen
sind recht wenige, die wirklich hervorragen. Zu diesen wenigen zähle
ich Abu Firäs aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts d. H., dessen
Elegieen von hoher poetischer Begabung zeugen. Von einigen wird der
blinde Poet Abu'1-Alä al-Ma'arri aus dem Ende dieses und dem An-
fang des folgenden Jahrhunderts sehr hoch geschätzt. Talent kann man
ihm nicht absprechen, ebensowenig daß er reich an kühnen und originellen
Gedanken war. Auch muß es ihm hoch angerechnet werden, daß er nicht
dichtete, um sich Geld oder Gunst zu erwerben, und daß er sich mit sel-
tenem Freimut über die höchsten religiösen Fragen aussprach. Allein zu
den großen Dichtern kann ich ihn nicht rechnen. Den Wert seiner Poesie
beeinträchtigt vor allem, daß er der Mode der Wortkünstelei zu sehr
frönte. A. von Kremer hat verschiedene seiner Gedichte mit Talent
übersetzt.
jAQ Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
Wenn ich die spätere Poesie überhaupt der der älteren Epochen unter-
legen nenne, ist das vielleicht ungerecht. Denn ich muß bekennen, daß
ich von jener nur eine beschränkte Zahl gelesen habe. Darunter sind
zwar viele anmutige Gedichte gewesen, deren oft große Kunstfertigkeit
und witzige Einfälle man bewundern muß, aber ich besinne mich keines,
das mich durch hohen Sinn und Originalität entzückt hätte. Besondere
Erv\-ähnung verdient vielleicht der Dichterprinz Ibn al-Motazz deswegen,
weil sein großes Lobgedicht auf seinen Vetter, den Chalifen Motadhid,
eigentlich das einzige arabische Gedicht ist, das einigermaßen auf den
Namen Epos Anspruch erheben kann, indem es sich weit über die Reim-
chronik erhebt.
Im letzten Grunde war der Islam der Poesie doch nicht günstig. Mo-
hammed hat Gedichte zur Verherrlichung des Islams zwar willkommen
geheißen und im Koran selber durchweg die Form der Wahrsager-
sprüche, die rh}^hmische gereimte Prosa, angewandt. Aber im all-
gemeinen verpönte er sowohl die Verse der Dichter als die Sprüche
der Wahrsager, weil beide von Dämonen inspiriert würden. Aus diesem
Empfinden heraus hat er, wie berichtet wird, Imrulkais den Führer der
Menschen zur Hölle genannt. Von den Frommen wurden die Dichter
dementsprechend ebenfalls mit mehr oder minder Mißtrauen betrachtet.
Zu Farazdaks Vater soll, als er seinen jungen Sohn dem Chalifen Ali
vorstellte und ihm mitteilte, daß er Verse mache, dieser gesagt haben:
„Lehre ihm den Koran; das ist besser für ihn." Für die Lebenden war
die Kunst gefährlich, für die Toten im Paradiese überflüssig. Als Mo-
tammim, der die schönen Trauerlieder auf seinen Bruder Mälik gemacht
hat, zum Chahfen Omar kam, nachdem dessen Bruder Zaid im Kampfe
für den Islam gefallen war, sagte Omar: „Wenn ich dichten könnte,
möchte ich über Zaid sprechen wie du über deinen Bruder." Motammim
antwortete: „Wenn mein Bruder den Tod deines Bruders gestorben wäre,
würde ich nie einen Vers über ihn gedichtet haben." Da sagte Omar:
„Schönere Trostesworte hat noch niemand zu mir gesprochen." Ob es
historisch ist, daß Labld, als er den Islam annahm, erklärt hat, keinen Vers
mehr machen zu wollen, muß dahingestellt bleiben, doch von mehr als
einem Dichter heißt es bei den Biographen: „Nachher bekehrte er sich
von der Poesie." Danach können wir verstehen, wie über den im Jahre
68 d H. gefallenen Parteiführer Obaidallah ibn al-Horr, der auch ein
ausgezeichneter Dichter war, gesagt wurde: „Bei Gott, auf der ganzen
Erde lebte kein Araber, der die Ehre der Frauen besser hütete, alles
Schändliche mehr vermied, sich strenger des Weingenusses enthielt, als
er. Nur, daß er Verse machte, ließ ihn in der Achtung der Menschen
sinken." Diese Stimmung trägt gewiß mit daran Schuld, daß von den
alten Dichtungen vieles verloren gegangen, anderes verstümmelt worden
ist. Erst am Hofe von Damaskus kam die alte Poesie wieder zu Ehren,
und als man dann ihren Wert für das Verständnis des Buches Gottes und
A. Die Blütezeit (bis zum ii. Jahrhundert). II. Die Unterhaltungsliteratur. 141
der reinen arabischen Sprache erkannt hatte, fing man an, eifrig zu sam-
meln, was noch zu retten war. Diesem Eifer verdanken wir, was wir
noch besitzen.
Von eigentlichen Volksliedern, wie sie noch jetzt von den Arabern Volkslieder,
bei der Arbeit, bei Hochzeiten usw. gesungen werden, hören wir erst im
1 1. Jahrhundert. Aber sie sind gewiß von jeher üblich gewesen. Wird
doch erzählt, daß, als im Jahre 5 d. H. der Graben um Medina gezogen
wurde, die Moslime dazu ein Verslein sangen, bei dessen Reimwort der
Prophet selbst mit einstimmte. In diesen Liedern, für die der Rhythmus
die Hauptsache ist, erlaubte man sich viele Freiheiten im Metrum und in
den gTammatischen Formen. Die Sprache näherte sich der Umgangs-
sprache. Allmählich haben sich dann feste Formen für das Volkslied ge-
bildet. Der Spanier Ibn Guzman, der im 12. Jahrhundert lebte, hat eine
dieser Formen sog'ar in die höhere Kunst eing'eführt.
n. Die Unterhaltungsliteratur. Die Araber waren von jeher be-
sonders gute Erzähler. Den Stoff bildeten in der Heidenzeit an erster
Stelle die Heldentaten des Stammes, die Abenteuer einzelner Recken.
Jeder bedeutende Dichter hatte einen oder mehrere räwi's, die seine
Gedichte auswendig" kannten und fortpflanzten, und von denen einige
später auch selbst namhafte Dichter geworden sind. Wo es passend war,
ließen diese der Rezitation eine Erzählung vorangehen über die Ver-
anlassung des Gedichtes, und so entstanden die sogenannten „Tage der
Araber", mehr oder weniger ausführliche Mitteilungen über die Stammes-
fehden und Schlachten usw., wie wir sie namentlich in den Einleitungen
zu verschiedenen Gedichten der Hamäsa kennen. Mit der Wahrheit wurde
es bei diesen Geschichten nicht stets genau genommen; von vielen ist es
sogar klar, daß sie aus Mißverständnis des Gedichtes, das sie erklären
sollen, entstanden sind. Auch was über Perser und Römer in die Steppe
gedrungen war, hörte man gern schildern. Bekannt ist, wie ein Mekkaner
des Propheten Zorn erregte durch seine Erzählungen aus der persischen
Heldensage, die den Zuhörern besser gefielen als die biblischen Legenden,
welche er ihnen selbst vorgetragen hatte.
Nach dem Siege des Islams wurden in den Städten Arabiens und
außerhalb seiner Grenzen jene Erzählungsstoife allmählich ersetzt durch
Legenden über den Propheten und die früheren Gottesgesandten, über
die großen Kämpfe gegen Römer und Perser, über den tragischen Tod
Hosains usw. Der Zweck der Erzähler war, zu ergötzen und zu erbauen,
wobei man sich um historische Treue nicht viel kümmerte. Ernst-
hafte Männer hatten daher starke Bedenken gegen das Auftreten der so-
genannten Kossäs (erzählende Prediger) in der Moschee, die, wie ein be-
rühmter Überlieferer sagte, „von uns eine Handbreit guter Überlieferung
erhalten und diese zu einer Elle ausdehnen". So bildete sich im Laufe
der Zeit eine romantische Tradition, die eine Literatur hervorgebracht hat,
112 Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
deren Anfänge bis auf das 2. Jahrhundert d. H. zurückgehen. Die ältesten,
die wir noch besitzen, sind Ibn Habibs Eroberung Spaniens und Ibn
Abdalhakams Eroberung von Ägypten und dem Westen. Beide sind
eine Mischung von Wahrheit und Dichtung. Oft sind diese historischen
Romane Überarbeitungen von Geschichtswerken, wie der vielgelesene,
von Wüstenfeld edierte „Tod Hosains". Einige von ihnen haben leider
das Ansehen erlangt, das in Wirklichkeit ihrer Grundlage zukam, wodurch
viel Falsches in die späteren Geschichtsbücher eingedrungen ist.
Unter den Beduinen blieben die alten Erzählungen im Ansehen. Ohne
Bedenken dürfen wir die späteren Ritterromane, wie die Sirat Antar,
als ihre direkten Nachkommen betrachten. Es sind Erzeugnisse echt ara-
bischen Geistes, die uns, in freilich sehr phantastischen Farben, das
Beduinenleben vorführen, wie es sich durch die Jahrhunderte stets gleich
geblieben ist.
Adab-Literatur. Den Hauptbestandteil der Unterhaltungsliteratur bilden Weisheits-
sprüche, kurze Erzählungen und Anekdoten. Das arabische Wort ad ab,
das eigentlich Zucht, Bildung bedeutet, ist der Name einer sehr reichen
Literaturgattung geworden , die vornehmlich bezweckt, alles zu geben,
was entweder besondere Klassen von Personen zu wissen brauchen', so
daß man Bücher hat, die speziell für die Richter, die Schreiber usw. be-
stimmt sind, oder was wohlerzogenen Menschen überhaupt zur Unter-
haltung und Belehrung dienen kann. Ein gutes Beispiel der ersten Art
gab Ibn Kotaiba, ein sehr gelehrter und zugleich geistreicher Mann und
ein guter Stilist, der dem Zurückgang auf sittlichem Gebiet mit allem
Ernst entgegentrat. Er schrieb eine Reihe von Büchern, vorzüglich be-
stimmt zur Hebung der Bildung der Schreiber. Dazu gehört nicht nur
eine grammatisch-lexikologische Schrift aus seiner Feder, sondern auch
sein bekanntes Handbuch der Geschichte, seine Bücher über die Dichter,
über den Wein, über Traumauslegung und zuletzt ein großes Werk von
der Art, die man gewöhnlich unter dem Namen Adab-Buch versteht. Der
Verfasser hat in diesem die von ihm zu besagtem Zwecke gesammelten
Traditionen, Gedichte, Erzählungen und Anekdoten, nach Ausscheidung
dessen, was in die anderen [genannten Schriften gehört, in zehn Bücher
eingeteilt, in denen er die Obrigkeit und die Staatslenker, den Krieg, die
Vornehmen und was sie ziert und entstellt, die guten und schlechten
Charaktereigenschaften, die (religiöse) Wissenschaft und die Beredsamkeit,
die Enthaltsamkeit und Frömmigkeit, die Freundschaft und Feindschaft,
die Nächstenliebe, die Speisen und die Gastfreundschaft, sowie endlich
die Frauen und den Umgang mit ihnen behandelt. Der Begriff des Adab
ist sehr dehnbar. Das um das Ende des 3. Jahrhunderts d. H. geschrie-
bene Werk des Spaniers Ibn Abdrabbihi ist eine reichhaltige Antho-
logie, die diesen Zweig der Literatur im ausgedehntesten Sinne behandelt,
während das ungefähr gleichzeitige Buch des Baihak i sich auf die
schönen und unschönen Eigenschaften und Sitten beschränkt.
A- Die MätEzaiE (Jbis vom rr. JiÄr&nndait). EL Die CnteriiaJtniigsIitentiir. i±\
Axss der ersteiL Zerc der Örnaüadem hören wir bereits votl Saanmltuig'en
vona WeisiieEtss-prmciicii der Altern rnnd es ist woM wahrsch-einlicii^ ffafi rnan
anicfe scköne Worte des PropfLeten und setaer Genossen rasamm entmg.
Ob darin öie Anfänge dieser Literatur zrai suchen sind^ fconaen wir niciit
eassciteiden. Anregend und fördernd haben darauf wohl eing-ewirkt die
Übersetzungen des indischen Fürstenspiegels Pancatantra und des per-
sischen Buches der Tausend Erzählungen. Die älteste Nachahmung des
ersteren ist von Haran ihn Sahl, der in der Zeit des Chalifen al-Mamön
Lebte, und dessen Bücher [so bewundert wurden^ daE Djähiz anfänglich
p-mf-gTP- seiner eigenen Werke unter dessen Namen herausgab^ um ihaen
besseren Absatz .zu verschaffen. Die Nachwelt hat jedoch Djähiz selbst
den Vorrang gegeben.
Aus den Tausend Erzählungen ist das weitberühmte Buch der ^Tausend Tauaend tad.
. _ . ^ , eine ^iacstt^
MEsd eine Nacht^ hervorgegangen. Da dieses^ seit Gralland davon in den
ersten Jahren des zS. Jahrhunderts eine fsr- ^ ~ ' "'. ?che Übersetzung gegeben
JEL Europa eine beliebte Lektüre war ur: ^ :h ist und auf sämtliche
Literaturen des Westens einen großen Emfi ; . .:, g-rUGc hat^ ist es angemessen^
darüber etwas ausführlicher za. sprechen. Die Einkleidung des Buches ist
fo'Igende: Em persischer ELönig^ der seine untreue Gemahlin hatte toten
lassen, heiratete seitdem jeden Tag: eiae Jungfrau^ die dann ^m folgenden
Tage hingerichtet wurde. Die Tochter i r-? '^r=z^. Shehrazädy tief bewegt
über das traurige Losy das ihren Mitsch ■ ./ .ite, beschloß nurty einen
Versuch zu. machen^ Rettung zxl schaffen^ und h^sti: ihren Vater^ sie deiaa
Könige vorzustellen. Ehe noch die Nacht zu Ende ging, begann sie auf
die Bitte ihrer rm Brautgemach mit anwT -i Schwester (ursprünglich
richtiger: der Hausmeisterin) Dinazäd erue Ges<:hichte vorzutragen, der
der K-örrig zuhörte. Als der Tag anbrach und sie aufhören mußte^ war
der K-ÖTTTg von solchem Verlangen erfüllt, die Fortsetzung zu. hören, daß
er beschloß, sie leben za. lassen, damit sie öle folgende Nacht weiter er-
zählen komme. Durch künstliche Ernschachtelung van Geschichten oder
auf andere Weise weiß Shehrazäd d;^rTTT den König "weiter so zu. fessein,
daß die Erzählungen tausend und eine Nacht dauern. Danach zeigt sie
dem König die drei Sö-hne, &e sie fh-m inzwischen geboren hat, -worauf
d&r Fürst beschließt, ihnen ihre Mutter rui erhalten. Dieser Rahmen ist
der persischen ^jrundlage entnommen und höchstwahrscheinlich uralt. Ihre
VerwaadtiSclBatt mit der Esthergeschichte ist meines Erachtens nicht zu.
veEkesmeo. Doch wird niemand bezweifeln, daß das sranze Bnch durch
umi duircli araMsclt ist. AUe Erzählungen haben eine unstreitig moslimische
F IrtnEE^ erinaMen. Denn Stoffe nach dürften einige G*^- ■"-' rhten dem per-
sischen Vorbild entstamsEjen. Die große Mehrzahl sind • ; rein arabische,
:ir.i z^var warem verschiedeme dieser ursprünglich selbständi^-e Erzählungen.
_jies gilt aamemlEch von den Geschichten, in denen Harun ar-Rashid die vor-
herrschende Figur mir Bagdad als Mittelpunkt ist, von den abenteuerlichen
Resscn des Sindbäd usw. Die spätesten Ergänzungen sind ägvp tischen
I^^ Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
Ursprungs, und zwar ausgezeichnete Gauner- und Schelmenstücke, mit-
unter aber auch solche, die aus anderen Erzählungen dürftig zusammen-
geflickt sind. Die Gestalt nämlich, in der wir jetzt die Tausend und eine
Xacht im Druck besitzen, ist nicht älter als die Zeit der Mamlukenherr-
schaft, und von vielen Plattheiten und Unanständigkeiten, die jetzt mehr
als eine Erzählung verunzieren (in den meisten Übersetzungen sind sie
beseitigt), ist es erweislich, daß sie spätere Einschiebsel für den Geschmack
des rohen Publikums aus dieser Zeit sind.
Obgleich die Tausend und eine Nacht im Osten g^ewiß dieselbe Po-
pularität g^enossen haben, wie im Westen, finden wir sie doch nur äußerst
selten in der Literatur erwähnt. Die Araber haben zu allen Zeiten eine
wahre Leidenschaft für Erzählungen besessen, geben aber nicht gern aus-
drücklich zu, daß sie sich mit so frivolen Dingen beschäftigen. Sollen
Erzählungen in die vornehmere Literatur aufgenommen werden, so müssen
sie ein wissenschaftliches Gewand anlegen und nach irgendeinem Schema
von Moral und Sittenlehre eingeteilt werden. Die einfachen Geschichten-
bücher befinden sich nur in den Händen der Berufserzähler und sind den
vielfachsten Änderungen und Verstümmelungen ausgesetzt. Daher be-
reitet kein Zweig der Literatur dem modernen Forscher größere Mühe
als eben diese.
Makämea. Eine eigentümliche Art der Unterhaltungsliteratur ist die der so-
genannten Makämen, deren Held regelmäßig ein literarisch gebildeter
Vagabund ist, der sich durch große Gewandtheit in gebundener und un-
gebundener Sprache, durch Witz und Schlauheit durchs Leben schlägt.
Die beiden berühmtesten Vertreter dieser Gattung sind al-Hamadhäni
aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts d. H. und der ein Jahrhundert
später lebende Hariri, dessen Buch durch Rückert übersetzt ist. Man darf
wohl sagen, daß Hariri in der Anwendung der gereimten Prosa das Beste
geleistet hat, was möglich war. Diese Kunstform, in die, wie wir sahen,
schon die Sprüche der alten Wahrsager gekleidet waren, und die auch
Mohammed im Koran angewendet hat, war in den beiden ersten Jahr-
hunderten des Islams zwar nicht ganz aus dem Gebrauche verschwunden,
tritt aber erst um die Mitte des 3. Jahrhunderts, zunächst in der Predigt,
in breiterem Umfange auf und fängt im 4. Jahrhundert an, allgemein in
die Literatur durchzudringen, obgleich noch damals mancher sie als un-
gehörige Neuerung rügt. Bald wurden ganze Geschichtswerke, wie z. ß.
das von Tmäd addin über Saladins Siege, in gereimter Prosa geschrieben.
Wir brauchen kaum zu sagen, daß die darin beliebte Wortkünstelei und
der mit ihr zusammenhängende pomphafte Stil der historischen Genauig-
keit nicht förderlich waren.
m. Der Koran und die Traditionsliteratur. Die Moslime be-
trachten den Koran als das höchste Meisterwerk, sowohl was die Sprache,
als was den Stil betrifft. Uns ist es unmöglich, diesem Urteil beizustimmen.
A. Die Blütezeit (bis zum 1 1 . Jahrhundert). III. Der Koran und die Traditionsliteratur. j^r
Andererseits aber müssen wir uns hüten, die Bedeutung des merkwürdigen
Buches zu unterschätzen. Vieles, was uns abgeschmackt und langweilig
vorkommt, war für die ersten Zuhörer reizvoll; die bisweilen lächerlichen
Verstöße gegen die Geschichte konnten von ihnen nicht wahrgenommen
werden; manche Anspielung, deren Kraft wir nicht fühlen, machte auf sie
Eindruck; Stilfehler und Unbeholfenheit im Satzbau wurden bei dem
lebendigen Vortrag überhört. So wie die tiefe und unerschütterliche Ehr-
furcht so vieler bedeutender Männer vor dem Propheten uns Vorsicht auf-
nötigt in der Beurteilung seiner Persönlichkeit, so muß das gleiche gelten
von der Bedeutsamkeit des Eindruckes, den die Offenbarung auf seine
Zeitgenossen übte. Jedenfalls hat sie ihren Zweck, durch Überredung zu
bekehren, vollkommen erreicht. Und da obenein solche Lehren wie die
der Gleichheit aller Gläubigen oder die Unterordnung der Blutsverwandt-
schaft unter das Bruderband der Religion der innersten Überzeugung der
Araber widersprachen, da weiter die Pflichten und Beschränkungen, die
der Islam seinen Anhängern auferlegt, ihren Empfindungen teilweise gründ-
lich zuwider liefen, so ist der Erfolg der Predigt Mohammeds so wunder-
bar, daß die Überschätzung des Korans durch die Moslime uns begreif-
lich wird.
Das „Buch Gottes" ist eing-eteilt in 1 14 Abschnitte, Suren genannt,
von sehr verschiedener Länge. Mit Ausnahme der nur sieben kurze Sätze
enthaltenden Anfangssura, die bei den Moslimen dieselbe Stellung ein-
nimmt wie das Vaterunser bei den Christen, stehen die längeren Suren
voran. Historisch ist die Folge gerade umg-ekehrt. Diese läßt sich im all-
gemeinen wohl bestimmen — ein Teil gehört gewiß in die Mekkanische,
ein anderer Teil in die Medinensische Periode — , doch im einzelnen ist
es schwierig, wenn nicht geradezu unmöglich, mit Sicherheit die Ent-
stehung-szeit jeder Offenbarung- festzustellen. Die ältesten bestehen nur
aus wenigen kurzen, von starker Leidenschaft erfüllten Sätzen, aus denen
uns der echte Prophetengeist entgegenweht. Allmählich geht dann der
Ton in den des Predigers über, um zuletzt der des Gesetzg'ebers zu w^erden.
Die meisten kleineren, auch verschiedene längere müssen, wie aus dem
Zusammenhang erhellt, auf einmal entstanden sein. Manchmal aber sind
auch Stücke, die ursprünglich gewiß nicht zusammengehört hatten, in-
einander gefügt. Das hat wohl meistens Mohammed selbst getan, aus
rituellen oder anderen, uns nicht stets einleuchtenden Motiven. Obgleich
es feststeht, daß schon in Mekka Offenbarungen niedergeschrieben wurden
und noch zu Lebzeiten des Propheten fast alle einzelnen Teile des Buches
Gottes schriftlich vorhanden waren, sind diese doch erst zur Zeit seines
Nachfolgers Abu Bekr als Ganzes gesammelt worden, nachdem ver-
schiedene Genossen, „Träger des Korans", im Kampf gefallen waren, und
man befürchtete, es möchten Teile der Offenbarung verloren gehen. Unter
dem dritten Chalifen hat dann der Koran seine jetzige feste Gestalt er-
halten. Wir haben allen Grund zu glauben, daß in der vorliegenden
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 10
j ^5 Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
Form das gesamte Material enthalten ist, das man damals noch zusammen-
bringen konnte.
Eine Charakteristik des Buches Gottes dem Inhalte nach gehört in
den Abschnitt „Rehgion des Islams". Hier kann es nur als hterarische
Erscheinung gewürdigt werden. Was den ästhetischen Wert anbelangt,
so verdienen die meisten älteren Suren schön genannt zu werden als
die poetischen Äußerungen eines tief bewegten religiösen Gemütes; und
selbst in den spätesten Suren klingt dieser Ton noch bisweilen nach. Im
allgemeinen tritt aber nach der Zeit der ersten Offenbarungen das religiöse
Moment hinter dem literarisch-ästhetischen zurück, Mohammed hat für
alles, was er von anderen gelernt oder selbst durch Nachdenken gefunden
hat, sich eine eigene Form schaffen müssen, da, wie man wohl mit Be-
stimmtheit behaupten darf, zu seiner Zeit die religiöse Sprache der Araber
noch arm war. Bei genauer Betrachtung sieht man, wieviel Mühe es ihm
oft gekostet hat, den richtigen Ausdruck für seine Gedanken und Vor-
stellungen zu finden; daher mag auch die Anwendung von Fremdwörtern
bei ihm stammen, obgleich es nicht ganz ausgeschlossen ist, daß er da-
durch seiner Rede eine gewisse Feierlichkeit zu verleihen suchte.
D. H. Müller hat, wie schon oben angedeutet, in einigen Suren des Korans
eine Kunstform gefunden, die er „Strophenbau" nennt. In ihm soll der-
selbe Gedanke mit einer gewissen Gleichheit der Form, aber mit jedes-
mal anderen Worten ein- oder mehrere Male wiederholt werden, worauf
dann die einzelnen Teile durch einen Refrain aneinander geknüpft werden.
Unter einigem Vorbehalt kann das Vorkommen dieser Kunstform im
Koran zugegeben werden, aber nicht, daß Mohammed sie anderen nach-
gebildet habe. Denn was sich vom Strophenbau im Koran findet, über-
schritt gewiß keineswegs seine Kräfte; er ist noch unbeholfen, ganz wie
wie wir ihn erwarten müssen von jemand, der sich selbst noch seine Form
mit Anstrengung sucht. Was den Inhalt des Korans anlangt, so hat Mo-
hammed gewiß sehr viel von Juden, einiges von Christen durch münd-
liche Nachrichten gelernt. Er hat das aber alles in sich verarbeitet und
ihm den einheitlichen Charakter gegeben, der das Buch von Anfang bis
zum Ende als die Schöpfung eines Geistes erkennen läßt.
Tradition. Das Buch Gottes war anfänglich alles, was der Moslim nötig hatte.
Aber vom Todestage Mohammeds an bildete sich daneben eine un-
geschriebene Literatur, die in wenigen Jahren zu einem ungeheuren Um-
fang heranu-uchs. Man wollte wissen, was der Gesandte Gottes alles ge-
sagt und getan hatte, bei welchen Gelegenheiten die Offenbarungen ge-
kommen waren, wie Gott seinen Propheten geschützt und zum Sieg
verholfen hatte usf. Davon wußten die frommen Männer und Weiber, die
Mohammed gekannt hatten, zu berichten, und was diese mitteilten, wurde
weiter erzählt. Mit großem Interesse nahm man auch auf, was bekehrte
Juden und Christen aus ihren Büchern zur Illustration der heiligen Ge-
schichte im Koran beibrachten. Wenige Jahre später dehnte sich die
A. Die Blütezeit (bis zum il. Jahrhundert). III. Der Koran und die Traditionsliteratur. 147
Wißbegierde dann über alles aus, was die Zeitgenossen des Propheten
gesagt und getan hatten. Leider ist dabei schon früh mit oder ohne Ab-
sicht viel Falsches hinuntergemischt worden. Um die Glaubwürdigkeit
des Erzählten zu verbürgen, wurde am Anfang gesagt, von wem man es
gehört, und falls dieser nicht der erste Erzähler war, von wem der es über-
nommen hatte. Man nennt solche Einleitung die Stütze (isnäd) der Er-
zählung (hadith); diese selbst gibt die Worte dessen, der das Erzählte
persönlich gesehen oder gehört hat. Wir haben hier also Material ersten
Ranges für die innere und äußere Geschichte des Islams in seinem An-
fang, das freilich einer sorgfältigen Sichtung bedarf. Zugleich kam bei
dieser Traditionsschöpfung die schöne arabische Sprache zu ihrer Vollendung,
die dann in dieser Form jahrhundertelang in allen gebildeten Kreisen des
Weltreiches gesprochen worden ist und mit verhältnismäßig geringen
Änderungen noch heute die allgemeine Schriftsprache der arabisch reden-
den Länder und darüber hinaus bildet. Die Form der Erzählung ist für
die Geschichtschreibung maßgebend geblieben.
Mohammeds Verehrung der Schreibkunst, die sich im Koran q6 v. 4, 5 Schreibkunst.
kundgibt, war keine platonische. Lesen hat er selbst, wahrscheinlich schon
in Mekka, gelernt, fürs Schreiben bediente er sich junger Leute, die diese
Kunst verstanden. Die älteste Urkunde, die wir neben dem Koran von
ihm besitzen, ist die Gemeindeordnung von Medina, die schon vor der
Schlacht von Badr verfaßt worden ist (Wellhausen, Skizzen IV, 80). Die
arabischen Historiker teilen uns verschiedene Briefe, Verträge, Instruk-
tionen an Beamte usw. mit, von denen die Mehrzahl echt zu sein scheint,
wenn auch nicht stets dem genauen Wortlaut nach. Auch ist es höchst
wahrscheinlich, daß die Bestimmungen über die Armentaxe, über die Sühn-
gelder und über das Strafrecht bereits bei Mohammeds Lebzeiten schrift-
lich vorhanden waren. Schon von vornherein ist demnach anzunehmen,
daß man bald nach seinem Tode angefangen hat, andere Aussprüche und
Verfügungen von ihm zum Behuf der Rechtsprechung und der Verwaltung
aufzuzeichnen, und zwar aus denselben Motiven, aus denen man die zer-
streuten Offenbarungen sammelte. Viele Genossen des Propheten haben
auch ihre Erinnerungen aufgeschrieben oder von ihren Schülern auf-
schreiben lassen, um sie vor der Vergessenheit zu bewahren. Das erhellt
zwar schon aus der buchstäblichen Gleichheit von Traditionen, die durch
ganz verschiedene Reihen von Überlieferern fortgepflanzt sind, wird aber
auch noch durch verschiedene Zeugnisse über Blätter und Schriften mit
Überlieferungen bestätigt. Gelehrte wie Hasan al-Basri in Irak, az-
Zohri in Syrien, beide aus der zweiten Hälfte des i. Jahrhunderts d. H.,
müssen eine große Anzahl solcher Dokumente zu ihrer Verfügung gehabt
haben. Zohris Weib beklagte sich, daß ihr Gatte sie über seine Bücher
vernachlässige. Diese Hefte waren jedoch nur Stütze fürs Gedächtnis
und einzelne Gelehrte befahlen deshalb, sie nach ihrem Tode zu vernichten.
Mündliche Mitteilung galt formell als die Regel, und auch später findet
10*
j lg Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
man, selbst wo aus einem bekannten Buche zitiert wird, merkwürdiger-
weise noch oft die Formel: „Der und der hat mir berichtet aus seinem
Hefte so und so."
Schon im ersten Jahrhundert des Islams muß sich an diesem reichen
Stoff eine bedeutende literarische Tätig-keit entwickelt haben, die Vor-
arbeit späterer gesetzeswissenschaftlicher, erbaulicher und historisch -geo-
graphischer Schriften. Denn obgleich die ersten Erzeugnisse aller dieser
drei Zweige älter, teilweise sehr viel älter sind als die eigentliche syste-
matische Hadithliteratur, d. h. die Sammlung der Aussprüche des Pro-
pheten und seiner Genossen und der Überlieferung über sie, so ist doch
die Voraussetzung' nicht zu g'ewagt, daß die Verfasser jener früheren
Schriften bei deren Abfassung nicht mehr vor einein Chaos von Über-
lieferungen standen, sondern schon vieles geordnet vorgefunden haben.
Recbtsschuien. Den großcn Rechtsgolehrteu des zweiten Jahrhunderts, Mälik, Abu
Hanifa und Shäfi'i, den Stiftern der drei nach ihnen benannten ortho-
doxen Rechtsschulen, war das traditionelle Material neben dem Gewohn-
heitsrecht, dem Konsensus der Gemeinde, nur Mittel, die Norm des Ge-
setzes authentisch festzustellen. Wo beide miteinander in Widerspruch
standen, wurde nicht selten letzterem der Vorzug gegeben; in Fällen, wo
beide schwiegen, ward nach bestem Wissen entschieden. Der fast ein
Jahrhundert später lebende Ahmed ibn Hanbai, der ihnen als vierter an
die Seite gestellt wird, lehrte dagegen, daß neben dem Buche Gottes der
Hadith die einzige Rechtsquelle sein soll.
Koraneiegese. Die Tradition erstreckt sich auch auf die Erklärung des Korans. Der
Prophet hat selbst davon einiges gegeben, allein die große Autorität auf
diesem Gebiete ist Ibn Abbäs, der als Vetter Mohammeds und als Ahn-
herr der Abbasiden bei den Moslimen in hohem Ansehen steht, dessen
Wahrheitsliebe aber von ausgezeichneten europäischen Gelehrten stark
angefochten wird. Im ersten Jahrhundert beschränkte die Koranexegese
sich auf den Sinn und Zusammenhang der Verse und die geschichtlichen
Veranlassungen der Offenbarungen; erst im zweiten Jahrhundert spürte
man das Bedürfnis nach grammatischer und lexikographischer Erklärung,
und in dieser Zeit entstanden die ältesten Kommentare, die aber sämtlich
verloren sind. Der wichtigste Kommentar, der alles zusammenfaßt, was
vordem in diesem Fache geleistet war, und die Hauptquelle aller späteren
Exegeten wurde, stammt aus der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts
d. H. und hat zum Verfasser den berühmten Tabari. Um den Anfang
des sechsten Jahrhunderts bildete dann der gelehrte und begabte Zamach-
shari eine neue Epoche in der Koranexegese, indem er seine Scholastik
in die traditionelle Erklärung einführte. Unter dem Vorwand des Grund-
satzes, daß alles, was aus dem Koran herausgedeutet werden kann, Gottes
Wort ist, trug er eine Menge Gedanken in das heilige Buch hinein, an
die der Gesandte Allahs gewiß nie gedacht hatte.
Die eigentliche theologische, sowie auch die juristische Literatur muß
A. Die Blütezeit (bis zum ii. Jahrhundert). IV. Die Geschichte und Geographie. j^q
hier unbesprochen bleiben, trotz ihres sich mit der Zeit stets vergrößernden
Umfanges. Mit dem Sinken der Bildung wächst die Gleichgültigkeit gegen
alles, was nicht mit dem Glauben zusammenhängt. Sie beginnt schon
gegen das Ende des dritten Jahrhunderts d. H. sich zu zeigen, wo man
mehr als einmal im Vorwort eines wissenschaftlichen Buches eine Ent-
schuldigung dafür liest, daß der Verfasser sich diesem Studium widmet, zu-
gleich mit der Beweisführung, auch damit sei ja der Religion gedient.
Allein, wie sehr diese Geistesrichtung auch dem Aufkommen neuer Lite-
raturgattungen geschadet hat: der Ruhm der früheren Leistungen wurde
dadurch nicht geschmälert, und bis zum heutigen Tage gibt es Araber,
die an ihnen Wohlgefallen finden.
IV. Die Geschichte und Geographie. Die arabische Historio- Geschichte,
graphie ist, wie schon oben angedeutet, ursprünglich ein Zweig der Tra-
dition. Sie ging hervor aus der durch den Koran geweckten Wiß-
begierde nach der Geschichte der alten Völker, die im heiligen Buche
als Vorbilder hingestellt waren, und aus dem Verlangen, alles zu er-
fahren über den Propheten, seine Abstammung, sein Leben, seine Kriegs-
taten und den Sieg des Islams. Aus diesem Ursprung ist die eigen- *
tümliche Kompositionsform der alten arabischen Geschichtswerke zu
erklären. Jedes Ereignis wird darin mit den eigenen Worten der Augen-
zeugen oder Zeitgenossen erzählt, die durch eine Serie von Überlieferern
bis zum letzten Erzähler gekommen sind. Oft wird derselbe Bericht in
zwei oder mehr nur wenig voneinander abweichenden Formen mitgeteilt,
die durch verschiedene Reihen von Erzählern übermittelt sind. Auch wird
oft ein Ereignis oder ein interessantes Detail in verschiedener Weise nach
mehreren Zeugnissen von Zeitgenossen berichtet, jedes durch eine andere
Serie von Überlieferen! dem letzten Erzähler überbracht. Die Verfasser
solcher Geschichtswerke üben demnach keine unabhängige Kritik, außer
was die Wahl der Gewährsmänner betrifft. Wenn die ersten Erzähler
eines Berichtes oder ein oder mehrere Überlieferer ihm unzuverlässig
dünken, so wird der Bericht verworfen; bisweilen sagt der Verfasser auch,
welchen Bericht er vorzieht. Aber die moderne Kritik kann natürlich
mit seiner Wahl nicht immer einverstanden sein. Unter diesen Erzählern
gibt es solche, die der Aloslim hochschätzt, der europäische Gelehrte aber
für wenig vertrauenswert hält und umgekehrt; glücklicherweise haben die
verschiedenen Geschichtschreiber nicht stets dieselbe Auswahl getroffen,
so daß der eine anführt, was der andere wegläßt. Ein zweiter Typus der
Geschichtschreibung ist der, daß der Verfasser die verschiedenen Tradi-
tionen über ein Ereignis zu einer fortlaufenden Erzählung vereinigt, indem
er im Anfang die Serien von Überlieferern nennt und sagt, wessen Be-
richt er hauptsächlich gefolgt sei. Die alte Form der Darstellung wird
dann nur gebraucht, wo die verschiedenen Überlieferungen stark vonein-
ander abweichen. Der dritte und letzte — nachher vorherrschende —
I =0 Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
T}-pus ist die zusammenhängende Erzählung, nur von Zeit zu Zeit unter-
brochen durch das Zitat einer Autorität für die eine oder andere Besonder-
heit. Allein auch hier bleibt es Prinzip, daß, was einmal gut gesagt
worden ist, nicht in anderen Worten wiedererzählt werden soll. Der Ver-
fasser behält darum möglichst getreu die Worte und den Stil seiner
Quellen bei, so daß man selbst bei sehr späten Schriftstellern oft die
eigenen Worte des ersten Erzählers wiederfindet. Da von der reichen
historischen Literatur der ersten Jahrhunderte d. H. sehr viel verloren ge-
gangen ist, das von den späteren Autoren noch mittelbar oder unmittelbar
benutzt werden konnte, so sind ihre Bücher wegen jenes Prinzips auch
für die älteren Epochen bisweilen nützliche Quellen.
Aus dem ersten Jahrhundert d. H. ist kein Geschichtswerk auf uns
gekommen. Man sagt, daß Moäwia einen gelehrten Greis Abid ibn
Sharja aus Jemen kommen ließ, um sich von ihm über die alte Geschichte
belehren zu lassen, und daß er befahl, dessen Mitteilungen aufzuzeichnen.
Diese haben vermutlich den Kern eines im dritten Jahrhundert in sehr
verschiedenen Rezensionen stark verbreiteten, jetzt verlorenen, Buches
gebildet, das den Xamen jenes Gelehrten trug.
Erst im zweiten Jahrhundert fing man an, wirkliche Geschichtsbücher
zu schreiben. Den Stoff boten, neben mündlicher Überlieferung, Diktate
älterer Gelehrten und allerlei Dokumente und Traktate, Briefe, Gedichte
und genealogische Listen. Bei den aristokratischen Arabern hatten schon
in der Heidenzeit genealogische Kenntnisse in hohem Ansehen gestanden.
Omars System, die Staatsrevenuen unter die Araber nach den Stufen ihrer
Verwandtschaft mit dem Propheten und nach ihrem persönlichen Verdienst
während dessen Lebzeiten zu verteilen, machte dann bald die Pflege der
Genealogie zu einem politischen Bedürfnis. Im ersten Jahrhundert wurde
in diesem Zweig der Wissenschaft eifrig gearbeitet. Und zwar geschah
das nicht nur in der Herstellung trockener Tabellen, sondern auch durch
Beschreibung der Eigenschaften der Stämme, ihrer Taten und ihrer hervor-
ragenden Männer. Solche genealogische Bücher wurden aber erst im
zweiten Jahrhundert ausgegeben. Das beste, uns glücklicherweise er-
haltene Werk dieser Art ist die im dritten Jahrhundert von Belädhori
geschriebene „Genealogie der Adligen", die eine Geschichtsquelle von
sehr großem Wert ist.
Die ältesten Geschichtswerke stammen noch aus der letzten Zeit der
Omajjaden. Es sind Ibn Okbas Leben des Propheten und Abu Mich-
nafs Monographieen über die Hauptereignisse der Zeit von Abu Bekr
zu Walld IL Wir kennen beide nur aus Zitaten, die zwar sehr umfang-
reich sind, aber uns doch den Verlust der ganzen Werke schmerzlich
bedauern lassen. Ibn Okba hatte seine Berichte von zwei sehr zuver-
lässigen Leuten. Abu Michnaf gilt als die beste Autorität für die Ge-
schichte von Irak.
Aus der ersten Zeit der Abbasiden ist Ibn Ishäks Leben Moham-
A. Die Blütezeit (bis zum 1 1 . Jahrhundert). IV. Die Geschichte und Geographie. i ; i
meds, das im allgemeinen unser Zutrauen verdient, mit Ausnahme der
Darstellung des Zeitabschnittes vor der Berufung der Propheten. Dieser
Teil ist durch viele rein erdichtete Erzählungen und Reimereien entstellt,
die der Verfasser sich hat aufbinden lassen. Das Werk scheint in seiner
ursprünglichen Gestalt verloren; wir besitzen es nur in einer hier und
dort kastigierten und kommentierten Bearbeitimg. Ein viel reicheres Ma-
terial stand Wäkidi zu Diensten. Er besaß eine umfassende Bibliothek,
die zwar größtenteils Diktate von ihm selbst und anderen, doch auch schon
viele wirkliche Bücher enthielt. Sein Hauptverdienst besteht in seinen
Studien über die Überlieferer und in seinen chronologischen Untersuchungen.
Die Resultate der erstgenannten und teilweise auch der letzteren sind uns
erhalten im großen „Klassenbuch" seines Schülers Ibn Sa'd, das neben
einer ausführlichen Biographie des Propheten biographische Nachrichten
über dessen Gefährten und ihre Nachfolger enthält. Von seinen vielen
Werken ist uns sonst nur das Buch über Mohammeds Feldzüge bewahrt
geblieben. Wir haben aber aus den verlorenen Schriften sehr viele Zitate
bei späteren Schriftstellern. Eine genaue Untersuchung der Nachrichten
über die Eroberung Syriens hat ergeben, daß Wäkidis Zeitangaben in der
Regel zuverlässig sind. Auch für die Chronologie der Zeit vor dem Jahre
lo d. H. hat er sich viel Mühe gegeben; doch konnte er hier dem dürf-
tigen Material keine uns ganz befriedigende Resultate abgewinnen. Die
Bücher über die Eroberung verschiedener Länder, die Wäkidis Namen
tragen, sind sämtlich historische Romane aus späterer Zeit.
Madäini, etwas jünger als Wäkidi, schrieb eine Geschichte der
Chalifen, die uns aus zahlreichen Zitaten bekannt ist. Aus diesen lernen
wir ihn kennen als einen Historiker von hoher Bedeutung. Er verfügte
über umfassendes und gründliches Wissen, hatte gesundes Urteil und
schrieb einen guten Stil. Er war besonders bewandert in der Geschichte
der östlichen Länder des Chalifats. Tabari hat ihn für diesen Teil seiner
Annalen als Hauptquelle benutzt.
Saif ibn Omar hat die Geschichte des Abfalls der Araber unter
Abu Bekr und die der großen Eroberungen beschrieben. Er ist gekenn-
zeichnet durch die Fülle seiner Details und zieht durch die Lebendigkeit
seiner Darstellung an, muß aber mit großer Vorsicht gebraucht werden.
Denn nicht nur ist seine Chronologie sehr ungenau, sondern auch der In-
halt seiner Erzählung erweist sich sehr oft als übertrieben oder selbst
ganz unhistorisch. Tabari hat ihn als Hauptquelle gebraucht und hat da-
durch verursacht, daß seine Angaben bei späteren Historikern als be-
glaubigte Geschichte gegolten haben. Auf Belädhoris (s. oben S. 150)
vortreffliches Buch der Eroberungen hat Saif glücklicherweise keinen
Einfluß gehabt. Er zitiert ihn nur zweimal für ein Detail, hat ihn dem-
nach absichtlich als Hauptquelle beiseite gelassen.
Ein etwas jüngerer Zeitgenosse Belädhoris war Jakübi, der auch als
Geograph rühmlichst bekannt ist. Sein allerdings kürzeres Geschichtswerk
1^2 MlCH.\EL Jax de Goeje: Die arabische Literatur.
ist wertvoll, einerseits weil er Shiite war und dennoch sich alle Mühe
gibt, unparteiisch zu erzählen, andererseits weil er die abgelegenen Pro-
vinzen wie Maghrib, Armenien und Indien besser kannte, als alle seine
Vorgänger.
Epoche in der arabischen Historiographie macht Tabaris großes Ge-
schichtswerk, das mit der Schöpfung der Welt anfängt und mit dem
Jahre 302 d. H. endet. Es ist eine riesige Kompilation, die zwar als
Kunstwerk keinen großen literarischen Wert hat, aber eine wahre Fund-
grube für die Geschichte bildet. Von den vielen Fortsetzungen ist gerade
die beste, die des Ferghäni, leider verloren. Der Spanier Arlb machte
einen Auszug, den er mit der von Tabari vernachlässigten Geschichte des
Westens ausfüllte. Die allerbekannteste ist die im allgemeinen mit Talent
hergestellte Abkürzung und Fortsetzung des Ibn al-Athir. Der soge-
nannte persische Tabari ist auch nur ein Auszug mit vielen romantischen
Zugaben. Für spätere Schriftsteller ist Tabari Hauptquelle geblieben,
glücklicherweise aber nicht die einzige.
Eine g'anz besondere Stelle unter den arabischen Geschichtschreibern
nimmt Masndi aus der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts d. H. ein.
Dieser vielseitige und sehr gelehrte Mann hat viele und lange Reisen
gemacht, um Länder und Völker kennen zu lernen, und sich alle Mühe
gegeben, überall die zuverlässigsten Nachrichten zu erhalten. Er geht
stets seine eigenen Wege und hat sich volles Recht auf unsere hohe
Anerkennung erworben. Leider sind seine Werke bis auf zwei verloren
gegangen.
Seit dem Ausgang des zweiten Jahrhunderts d. H. haben die meisten
Großstädte und eine Anzahl Provinzen ihre eigenen Geschichtschreiber.
Verschiedene dieser Lokalgeschichten bilden nur die Einleitung zu einem
biographischen Lexikon der berühmten Männer, die in dem Bezirke
längere oder kürzere Zeit gelebt hatten. „Selbstachtung ist das edle
Grundprinzip [der Araber und] des Islams. Jedes Individuum gilt als eine
Größe, und deswegen haben die Muslime mehr Bjographieen und Genea-
logieen geschrieben, als andere Nationen vor und neben ihnen zusammen
genommen" (Sprenger III, CXXV). Diese umfangreiche biographische
Literatur ist eine reiche Quelle für die Kulturgeschichte. Da findet man
sowohl allgemein biographische Lexika berühmter Männer aus allen
Ständen wie Fachlexika besonderer Klassen und Stände, ein Buch der
Dichter, ein Lexikon der Genossen Mohammeds, eine Geschichte der
Mediziner usw. Besondere Auszeichnung verdient Ispahänis großes Buch
der Lieder, das die Biographieen der Dichter von der ältesten Zeit bis ins
dritte Jahrhundert d. H. gibt, deren Verse gesungen wurden, und die ein
solches Kunstwerk von Komposition ist, daß man die einundzwanzig Bände
vom Anfang bis zum Ende mit ungetrübtem Genuß lesen kann.
Nicht unerwähnt darf hier bleiben, daß im zweiten Jahrhundert ge-
lehrte Perser anfingen, durch Übersetzung ihrer alten Geschichtsquellen
A. Die Blütezeit (bis zum 1 1 . Jahrhundert). V. Die Philologie. jcj
an der Bildung^ der arabischen historischen Literatur mitzuarbeiten. Diesen
Übersetzern verdanken Tabari und seine Zeitgenossen ihre Mitteilungen
über die Geschichte der Perser. Dabei waren jene Fremden auch nicht
ohne Einfluß auf die Entwicklung des arabischen Stils und die Kunst der
Komposition. "Wenn wir aber die Höflingsweisheit des Ibn al-Mukaffa
mit den Weisheitssprüchen der Araber, den rhetorisch aufgeputzten Stil
der Perser, wie wir ihn aus den Übersetzungen kennen lernen, mit dem
kernhaften, männlichen Stil der ältesten arabischen Historiker vergleichen,
fühlen wir erst recht die Originalität der letzteren.
Auf dem Gebiete der Geographie im Sinne der Beschreibung von Geographie.
Ländern und Völkern haben die Araber Bedeutendes geleistet. Im Mittel-
alter wurde viel gereist. Der Besuch der heiligen Städte, Handelsinter-
essen, der Wunsch sich in den großen Zentren moslimischer Wissenschaft
zu bilden, waren die vornehmsten Antriebe, doch gab es auch viele
Männer, die, hauptsächlich um Länder und Völker kennen zu lernen, mit
Herodotischem Ernst und Eifer das große Reich durchkreuzten. Hervor-
ragend ist unter ihnen Mokaddasi, dessen W^erk auch für die Kultur-
geschichte der von ihm besuchten Länder reiche Ausbeute verschafft.
Selbst das islamische Gebiet weit zu überschreiten wurde oft gewagt, im
Dienste der Regierung, wie zum Zwecke von Handelsgeschäften, und wir
verdanken diesen Reisenden höchst wichtige Nachrichten. Ihre Alit-
teilungen z. B. über das byzantinische Reich, über die Normannen, die
slawischen und türkischen Völker, ihre Beschreibungen des Indischen
Meeres und der Hafenorte Chinas sind sämtlich von großem Interesse.
Aus der alten Zeit haben wir noch keine eigentlichen Reisebeschrei-
bungen. Muster einer solchen aus Saladins Tagen ist die Reise des
Spaniers Ibn Djobair und weltberühmt die seines Landsmannes Ibn
Batüta.
Das bekannteste der uns erhaltenen geographischen Werke ist Edrisis
Beschreibung der nach Zonen (Klimaten) geteilten Welt, die auch „das
Buch von Roger" heißt, weil es auf Ansuchen des Fürsten Roger von
Sizilien gemacht ist. Ein großer Teil des vom Verfasser darin vorge-
brachten Materials ist uns sonst völlig unbekannt. Von noch größerem
Wert aber ist Jaqüts geographisches Wörterbuch, eine mächtige Kompi-
lation aus vielen, darunter ganz verschollenen Werken, bereichert durch
seine eigenen Beobachtungen. Er ist der letzte, der den Orient vor
Djengizkhäns Mordbrennerei gekannt und beschrieben hat.
V. Die Philologie. Der Islam machte Unterricht im Lesen und : Lesen und
° _ Schreiben.
Schreiben notwendig. Mohammed hat diesen Unterricht selbst so viel
wie möglich gefördert. Schon nach der Schlacht bei Badr konnten sich
unbemittelte Kriegsgefangene, die jene Kunst verstanden, dadurch frei-
kaufen, daß sie je zehn junge Medinenser unterwiesen. Ibn Rosteh gibt
eine ganze Liste von Schullehrern aus der alten Zeit. Dem mächtigen
j - , Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
Landvogt von Irak, Haddjädj, wurde vorgeworfen, daß er anfangs wie
sein Vater seinen Lebensunterhalt als Schulmeister hatte verdienen müssen.
War der Lese- und Schreibunterricht schon in Arabien selbst nötig, so
noch mehr in den eroberten Ländern, wo durch die vielen bekehrten
Nichtaraber auch die Reinheit der Sprache in großer Gefahr war. Schon
um das Jahr 40 d. H. hatte man denn auch bereits eine arabische Kinder-
schule in Basra. Und nach der festen Überlieferung, die vielleicht mehr
Zutrauen verdient als ihr in der letzten Zeit entgegengebracht wird, ist
dem auch als Dichter bekannten Abu'l-Aswad ad-Doali um die Mitte
des ersten Jahrhunderts d. H. der erste Versuch einer arabischen Gram-
matik zu verdanken, eben auch um der Gefahr der Sprachverderbnis zu
steuern. Rasch entwickelt sich danach die Philologie in Basra, Kufa und
ein wenig später in Bagdad, und das Studium der herrlichen, reichen
Sprache wird eine wahre Herzenssache. Keine Mühe wird gescheut: ge-
lehrte Männer verbringen langte Jahre bei den Beduinen, um Ohr und
Zunge zu üben und vieles besser zu verstehen; was von alten Gedichten,
Lberlieferungen und Sprichwörtern zu finden ist, wird fleißig zusammen-
gesucht, ediert und kommentiert, und die schwierigen Worte im Koran
und in der Tradition werden Gegenstand tiefer Forschungen.
In derselben Zeit, als, in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts n. Chr.,
die äußeren Verhältnisse den Arabern Frieden und Überfluß schenkten
und das Aufblühen literarischer und wissenschaftlicher Tätigkeit ermög-
lichten, wurde eine Entdeckung von welthistorischer Wichtigkeit gemacht,
die die literarischen Bestrebungen ungemein förderte. Im Zeitalter der
Omajjaden war das Schreibmaterial noch selten und teuer gewesen, weil
es aus Pergament, Papyrus oder chinesischem Papier bestand. Im Jahre
751 kamen nun chinesische Kriegsgefangene nach Samarkand, die mit der
Papierfabrikation vertraut waren. Die Araber erlernten von ihnen die
Kunst und brachten sie mit ihrem praktischen Sinn in wenigen Jahren zu
einer bedeutenden Höhe. Ihnen verdankt die Welt die Methode, aus
leinenen Lumpen ein gutes, zum Schreiben geeignetes Papier zu bereiten,
die bis zur Erfindung der Papiermaschine in neuester Zeit in Herrschaft
gewesen ist. Schon 794 oder 795 wurde die zweite Papierfabrik in Bagdad
begründet, und von da ab finden wir solche Fabriken bald in allen
größeren Städten des Weltreichs. Eine unmittelbare Folge dieser Er-
findung war das Wiedererwachen des Buchhandels und die Xeubegründung
von Bibliotheken. Mancher später berühmte Schriftsteller verdiente sich
anfänglich sein tägliches Brot durch das Abschreiben von Büchern.
Von den vielen berühmten Männern, die an dem Fortschritt der Philo-
logie mit besonderem Erfolg gearbeitet haben, kann ich nur wenige auf-
zählen. An der Spitze der Grammatiker und Lexikographen stehen
al Chalil, der erste, der die Regeln der arabischen Metrik feststellte und
systematisch ordnete, der Bahnbrecher auf dem Gebiete der Lexikographie,
und sein Schüler Sibawaih, dessen grammatisches Werk so berühmt
A. Die Blütezeit (bis zum 1 1. Jahrhundert). VI. Die übrigen Wissenschaften. icc
war, daß man es einfach als „das Buch" anführte. Chalaf al-ahmar,
selbst Dichter, war so tief in den Geist der alten Poeten eingedrungen,
daß er ihnen verschiedene selbst gemachte Verse unterschob, welche die
Gelehrten für echt annahmen und, trotz seiner späteren Beteuerung, daß
sie von ihm wären, als solche beibehielten. Von Kisäi, dem Lehrer des
Chalifen Harun ar-Rashid, erzählt man, daß er fünfzehn Flaschen Tinte
gebrauchte, um aufzuschreiben, was er von den Beduinen gelernt hatte.
Nicht weniger fleißig war sein Schüler al-Farrä, dessen Schriften zu-
sammen dreitausend Blätter gefüllt haben sollen. Dieser Farrä war der
Lehrer der Söhne al-Mamüns. Als er eines Tages ausgehen wollte, stritten
sich die beiden Prinzen darum, wer ihm seine Schuhe bringen dürfte, bis
Farrä vorschlug, daß jeder einen darreichen solle. Der Chalife, dem dies
berichtet worden, fragte ihn darauf, wer wohl der geehrteste unter den
Menschen wäre. Farrä antwortete: „Ich kenne keinen, der geehrter ist
als der Fürst der Gläubigen." „Keineswegs," sagte der Chalife, „sondern
derjenige, für den, wenn er ausgehen will, zwei Thronfolger sich um die
Ehre streiten, ihm die Schuhe zu bringen, und sich schließlich darauf
einigen, daß jeder einen holen darf," Die Anekdote ist ein Gegenstück
zu der oben (S. 139) von Harun ar-Rashid erzählten; sie beweist, wie sehr
damals in den höchsten Kreisen neben der Poesie auch die Gelehrsamkeit
und die Gelehrten geschätzt wurden.
Besondere Er^vähnung verdienen die zwei großen Philologen Abu
Obaida und Asma'i. Ersterer, der von jüdischer Abkunft war, kannte
das arabische Altertum wie wenige und hat sehr viele Bücher, auch
historische, geschrieben, die wir nach den zahlreichen Zitaten als wertvoll
bezeichnen müssen. Er war der Typus des Stubengelehrten. Es wird
eine hübsche Anekdote erzählt, nach der Abu Obaida, der fünfzig Hefte
über das Pferd geschrieben hatte, am lebenden Tier die Teile nicht an-
weisen konnte. Sein Antagonist hingegen, Asma'i, wußte diese, obgleich
er nur ein Heft über das Pferd gearbeitet hatte, genau und erhielt des-
halb das Pferd als Preis. Vom Dichter Abu Nowäs stammt die folgende
Charakteristik beider: „Abu Obaida ist ein Gelehrter, der nie ohne seine
Bücher ist, die er studiert, Asma'i dagegen ist wie die Nachtigall im
Käfig, die liebliche Weisen hören läßt und jedesmal neue Schönheiten
vorzeigt." Asma'i ist als Erzähler so berühmt geworden, daß eine unge-
heure Masse von Geschichten und Anekdoten, selbst der Ritterroman von
Antar, ihm zugeschrieben wurde. Seine vornehmliche Bedeutung aber
beruht doch darin, daß er einer der besten Kenner des arabischen Wort-
schatzes war.
VI. Die übrigen Wissenschaften. Die literarischen Leistungen
der Araber auf dem Gebiete der theoretischen Philosophie, wie die auf
dem der Naturwissenschaft, der Medizin, der Mathematik und der Astro-
nomie werden in den entsprechenden Abteilungen dieses Werkes ihre
jr5 Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
Würdigung linden. Aber eine kurze Erwähnung verdienen sie auch im
Rahmen der eigentlichen Literaturgeschichte, schon aus dem einen Grunde,
weil durch sie die meisten Berührungen Huropas mit der arabischen Geistes-
entwicklung- stattgefunden haben. Diese Wissenschaften sind von der Zeit
der ersten Abbasiden bis zum ii. Jahrhundert im Osten, noch länger im
Westen eifrig gepflegt worden, und verschiedene ihrer Vertreter haben es
zur Weltberühmtheit gebracht. Und wenn die Araber auch hier im wesent-
lichen nur Vermittler fremder, speziell griechischer Weisheit gewesen sind,
so ist doch hervorzuheben, daß die wissenschaftliche Kultur des Mittelalters
in Europa den Arabern sehr viel verdankt, da sie durch ihre Arbeiten die
Wiederbelebung des Studiums der griechischen Wissenschaft verursacht
und auf vielen Gebieten die Wissenschaft auch selbständig g^efördert und
weitergebildet haben.
B. Die Periode des Verfalls (vom ii. Jahrhundert bis zur Gegenwart).
VerfaiL I. Bis zum ig. Jahrhundert. Mit dem allmählichen Verschwinden
des arabischen Elementes aus den maßgebenden Kreisen der islamischen
Welt, das vom ii. Jahrhundert an zu beobachten ist, hält der Rückgang
der schöpferischen Tätigkeit in der Literatur gleichen Schritt. Die Poesie
wird mehr und mehr Nachahmung und künstliches Machwerk; Antho-
logieen, Überarbeitungen und Systematisierung der alten Stoffe, Kommen-
tare usw. treten an die Stelle selbständiger Geistesprodukte. Die Errich-
tung von Hochschulen — die erste wurde im Jahre 1065 zu Bagdad
gegründet — war nicht imstande, dem Verfall der Wissenschaft vorzu-
beugen. Ja merkwürdigerweise gab es im Orient sogar Gelehrte, die
eben jene Gründung als ein Zeichen des Rückschritts betrachteten (vgl.
Snouck Hurgronje, Mekka II, 229). Die stets unheilbringende und meistens
unverständige Türkenherrschaft bot der freien Forschung keinen geeig-
neten Boden. Dennoch verdanken wir der sogenannten nachklassischen
Periode noch viele nützliche Bücher, und es lebten in ihr Gelehrte und
Denker, die alle Hochachtung verdienen. Ich nenne bloß die auch in
Europa wohlbekannten zwei: Ghazäli, den Verfasser der „Neubelebung
der Wissenschaften der Religion", und Birüni, den Kenner der indischen
Literatur und Geschichte. Noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts
verfügte Asien über verschiedene Brennpunkte der Wissenschaft, Dann
aber kamen die Mongolen. Sie verbrannten die Bibliotheken, mordeten
die Gelehrten und rafften alles, was von Kultur übrig war, hinweg, Sie
haben buchstäblich verwirklicht, was der Prophet Joel von der Heu-
schreckenverheerung sagt: „Vor ihnen war das Land wie ein Lustgarten,
hinter ihnen eine Wüstenei." Von diesen Unglückstagen hat sich der
Orient bis heute nicht erholen können.
In Syrien, Arabien, Ägypten, Nordafrika und Spanien ist der gänz-
liche Verfall der arabischen Kultur nicht so plötzlich eingetreten. Noch
B. Die Periode des Verfalls (vomli.Jahrh.b.z.Gegenw.). I. Bis zum ig.Jahrh. IT. Das ig.Jahrh. izy
viele Jahre lang wurden da die gelehrten Studien der vorigen Periode
fortgesetzt. Niedergang zeigt sich aber doch überall. Die besten litera-
rischen Produkte sind noch die Geschichtswerke. Verschiedene unter
diesen zeugen von der großen und vielseitigen Gelehrsamkeit ihrer Ver-
fasser und haben für die Arabisten sehr großen Wert, auch dadurch, daß
sie viele Zitate aus älteren, jetzt verlorenen Büchern enthalten. Der
knappe Raum dieser Skizze läßt aber nicht zu, auch nur die verdientesten
jener Schriftsteller zu erwähnen. Nur eine Ausnahme muß gemacht werden,
und zwar mit Ibn Chaldun, der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhun-
derts eine Weltgeschichte schrieb, deren Einleitung mit Recht allgemein
bewundert wird. Ibn Chaldun ist in Wirklichkeit einer jener Heroen, die
sich hoch über ihre Zeitgenossen erheben, und deren Gedankenwerk nicht
veraltet. Vier Jahrhunderte, bevor in Europa die ersten Vorläufer der
modernen, jetzt allgemeing-ültigen Geschichtsauffassung sich zeigen, hat er
mit fester Hand die Gesetze der Kulturentwicklung beschrieben. Zwar
kannte er nur die Moslimische Gesellschaft, aber diese hat er so gründ-
lich studiert und daraus das allgemein Menschliche so scharfsinnig in den
Vordergrund gerückt, daß seine Prolegomena einen hohen bleibenden
Wert haben.
II. Das 19. Jahrhundert. Nach fast einem halben Jahrtausend der
Stagnation hat die islamische Kulturwelt endlich im 19. Jahrhundert durch
den Einfluß des europäischen Geisteslebens wieder neue Anregung^ emp-
fangen, vor allem in Syrien und Ägy^pten. Welche Tragweite dies auf
die Hebung der islamischen Welt- und Lebensanschauung haben wird,
darüber ist selbst noch keine Vermutung auszusprechen. Die Einführung
des Buchdrucks hat diesen Einfluß mächtig gefördert. Neues Interesse
erwacht jetzt für die alten Literaturschätze. Zwischen europäischen und
moslimischen Gelehrten entstehen freundschaftliche Beziehungen. Euro-
päische Bücher werden ins Arabische übersetzt. Verschiedene Zeitungen
und Zeitschriften vermitteln den Verkehr zwischen Orient und Okzident.
Die Frage nach einer besseren Erziehung der Jug^end kommt mehr und
mehr an die Tagesordnung. Allein, ob dieser noch stets wachsende Ein-
fluß eine Umgestaltung und Wiederbelebung der arabischen Literatur zur
Folgte haben wird, wer kann das sagen?
Die Sprache der Zeitungen und der Übersetzungen, wie aller Unter- schrift-
haltungsbücher und wissenschaftlicher Werke ist, mit sehr wenigen Aus- spräche.
nahmen, noch immer in der Hauptsache die aus der Blütezeit der arabi-
schen Literatur. Daneben steht aber eine nicht nur in verschiedenen
Ländern, sondern selbst in verschiedenen Teilen desselben Landes ver-
schiedene Umgangssprache, die, je ungebildeter die Leute sind, desto
mehr von der Schriftsprache abweicht. Gehört nun dieser, dem Nieder-
arabischen, wie Völlers es nennt, oder dem Hocharabischen die Zukunft?
Meines Erachtens hängt für die Beantwortung dieser Frage alles davon
jcg Michael Jan de Goeje: Die arabische Literatur.
ab, ob unter verbesserten politischen Verhältnissen der Einfluß der euro-
päischen Kultur eine wirkliche geistige Hebung der Bevölkerung in den
arabischen Ländern herbeizuführen imstande sein wird. Geschieht das,
dann wird die Schriftsprache, die schon nationales Gemeingut ist, die vul-
gären Dialekte vielleicht ebenso zurückdrängen können, wie das Hoch-
deutsche die vielen deutschen Mundarten zurückgedrängt hat. Das Ver-
nünftigste ist jedoch, hier sich aller Prophezeiungen zu enthalten und dem
frommen Moslim nachzusagen: „Gott allein weiß es,"
Man darf aber das Verhältnis zwischen der arabischen Schriftsprache
imd der Umgangssprache nicht etwa vergleichen mit dem, was zwischen
Schriftsprache und Umgangssprache auf griechischem Boden heute be-
steht. Die arabische Schriftsprache hat nichts Künstliches. Sie ist die
ununterbrochene Fortsetzung der Sprache aus den ersten Anfängen der
Literatur, die nur im Laufe der Zeit fortwährend Worte und Formen ver-
loren und dafür neue Bedeutungen dazubekommen hat. Durch den Gottes-
dienst, die Schule und die Literatur sind aber die Änderungen doch be-
schränkt geblieben. Der Hauptunterschied zwischen dieser klassischen
Sprache und den verschiedenen Umgangsdialekten besteht bloß in der
Aussprache, und da gewöhnlich nur die Konsonanten geschrieben werden
und für die dabei zu ergänzenden Vokale keine allgemein gültige Aus-
sprache existiert, kann jeder sie nach seiner Manier lesen. Was bisher
von Liedern und Erzählungen in verschiedenen arabischen Dialekten,
selbst in städtischen Jargons, größtenteils durch europäische Gelehrte
herausgegeben ist, hat zwar großen Wert für das Studium dieser Dia-
lekte, aber sehr geringen als literarische Erzeugnisse, und berechtigt
jedenfalls gar nicht, in diesen die Anfänge einer neu aufblühenden arabi-
schen Literatur zu sehen.
Literatur.
Den ersten Versuch einer Darstellung der arabischen Literatur hat in den fünfziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts Hammer-PurGSTALL gemacht. Seine „Literaturgeschichte
der Araber. Von ihrem Beginn bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts der Hidsjret",
7 Bde. (Wien, 1850 — 56), ist aber sehr mangelhaft, so daß sie nur mit großer Vorsicht
gebraucht werden darf. Auch Arbuthnots ,,Arabic authors, a manual of arabian history
and literature" (London, i8go) entbehrt der Zuverlässigkeit. Sehr viel besser ist Brockel-
MANNs ,, Geschichte der arabischen Literatur", 2 Bde. (Weimar, 1898 — 1902), wo auch die
vornehmsten Quellen, sowohl die arabischen wie die europäischen, fleißig zusammengestellt
sind. Eine Literaturgeschichte im höheren Sinne ist freilich auch sie nicht. Der Verfasser
hat sich auf das Ziel beschränkt und beschränken müssen, ,,das äußere Leben der Literatur
zu schildern und so der künftigen Erforschung ihres Werdens und Vergehens vorzuarbeiten".
Seine Arbeit verdient unter diesem Gesichtspunkt alles Lob, obgleich im einzelnen vieles zu
verbessern und zu ergänzen bleibt. Daneben sind in den letzten Jahren drei populäre Dar-
stellungen der arabischen Literaturgeschichte erschienen: von Brockelmann selbst (Leipzig,
1901); von HUART, ,,Litterature arabe" (1902) und von Pizzi, ,,Letteratura araba" (1903).
Zwei sehr lesenswerte Kapitel über Poesie und über Wissenschaft und Literatur der Araber
gibt A. VON Kremer im 2. Band seiner ,,Culturgeschichte des Orients unter den Chalifen"
(Wien, 1875, 1877). — Gegenstand besonderer Forschung gewesen sind bisher nur einzelne Teile
der arabischen Literatur. Hervorhebung verdienen die Untersuchungen NöLDEKEs, Sprengers
und MuiRs über den Koran, GOLDZiHERs über die Tradition, Ahlwardts und Nöldekes
Studien über altarabische Poesie. Von der Unterhaltungsliteratur ist hauptsächlich nur die
Tausend und eine Nacht ausführlich behandelt durch Hammer-Purgstall, de Sacv, Lane,
zuletzt von mir und A. MÜLLER. WüSTENFELD hat sich verdient gemacht durch eine
kurze Zusammenstellung der arabischen Geschichtschreiber. Ich selbst habe in der En-
cyclopaedia Britannica unter ,,Tabari" eine Skizze der arabischen Historiographen veröffent-
licht. Sonst ist recht viel nützliche Vorarbeit in den Handschriftenkatalogen, sowie in den
Einleitungen zu Textausgaben geliefert worden. In Brockelmanns zweibändiger Dar-
stellung findet sich dieses Material größtenteils verzeichnet.
S. 132 f. Über Zentralarabien; Lady Anne Blltnt, A pilgrimage to Nejd, the cradle
of the Arab race, 2 Bde. (London, 1881). — Charles M. Doughty, Travels in Arabia
Deserta, 2 Bde. (Cambridge, 1888). — A. Sprenger, Das Leben und die Lehre des Moham-
med, 2. Ausg. (Berlin, 1869), Bd. I, 242 ff.
S. 134. Die Bedeutung des arabischen Wortes zur Bezeichnung des Dichters: GOLD-
ZIHER, Abhandlungen zur arabischen Philologie, i. Teil (Leiden, 1896).
S. 136. Religiöse Poesie: D. H. Müller, Die Propheten in ihrer ursprünglichen Form,
2 Bde. (Wien, 1896).
S. 148. Tabaris Korankommentar: ist 1903 in Ägypten gedruckt (30 Bände).
S. 151. Ibn Sa'd: Das große Klassenbuch des Ibn Sa'd wird jetzt in Leiden gedruckt.
Die Ausgabe ist besorgt von Sachau und anderen Gelehrten.
S. 151. Eroberung von Syrien: De Goeje, Memoires d'histoire et de geographie orien-
tales-, Nr. 2 (Leiden, 1900).
S. 151. Saif ibn Omar: Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten, 6. Heft, I.
S. 153. Geographie: Reinauds Geographie d'Aboulfeda. Tome i Introduction gene-
rale ä la geographie des orientaux. — Guido Cora, ,,La Bibhotheca Geographorum arabi-
corum" in Cosmos Ser. II, Vol. XII, Fase. II (Turin, 1894 — 95).
S. 154. Papier: J. Karabacek, Das arabische Papier (Wien, 1887). — A. F. R. Hoernle
in Joum. R. Asiat. Soc. 1903, S. 663 ff.
DIE INDISCHE LITERATUR.
Von
Richard Pischel.
Einleitung. Mit dem Gesamtnamen „Indische Literatur" bezeichnet
der Sprachgebrauch die Literatur der Arier Vorderindiens.
Land und Leute. Die Völker Vorderindiens zerfallen in vier sprachlich scharf vonein-
ander geschiedene, der Zahl nach sehr ungleiche Gruppen. Ln Norden
sitzen in den Ländern am Fuße des Himälaya Stämme tibetanischer
Herkunft mit einsilbigen Sprachen. In und um das Vindhyagebirge, finden
sich die Reste der Mundäs oder Kolarier, wie man sie bisher genannt
hat. Neben ihnen und fast den ganzen Süden Indiens, das Dekhan, ein-
nehmend sitzen die Draviden. Mundäs und Draviden gleichen sich in
ihrer körperlichen Erscheinung. Beide sind von dunkler Hautfarbe, teil-
weise ganz schwarz, vorwiegend von kleiner Gestalt, mit breiten Nasen.
Ihre Sprachen gehören demselben Spracht^'pus an, dem agglutinierenden,
sind aber im übrigen völlig unverwandt. Das ganze übrige Vorderindien
bewohnt ein Volk indogermanischer Herkunft, das sich selbst Aryäs nannte,
wonach wir es als Arier oder arische Inder zu bezeichnen pflegen.
Als die ältesten Bewohner Indiens sind die Mundäs anzusehen, die
ohne Zweifel früher viel zahlreicher waren. Heute ist ihre Zahl nur noch
etwas über 3 Millionen, gegenüber 56^2 Millionen Draviden und fast
220 Millionen Arier. Die Zahl der Tibetaner erreicht nicht ^/o Million.
Draviden und Arier sind Eingewanderte. Über den Weg, den die Dra-
viden genommen haben, läßt sich nichts Sicheres ermitteln. Die Arier
sind nachweislich vom Nordwesten her in Indien erobernd eingedrungen,
indem sie die Mundäs, vielleicht auch die Draviden, in beständigen
Kämpfen vor sich her ins Gebirge und nach dem Süden trieben. Wahr-
scheinlich kamen sie aus Europa, etwa im 3. Jahrtausend v. Chr. Die
erste Kunde von ihnen erhalten wir erst Jahrhunderte nach der Ein-
wanderung, etwa um 1500 v. Chr. durch die Lieder des Rgveda, des
ältesten Denkmals der indischen Literatur. Wenn auch damals die
Kämpfe mit den Eingeborenen noch nicht zu Ende waren, so war der
Ausgang nicht mehr zweifelhaft. vSich selbst als den Aryäs „Herren"
Einleitung. l5l
Stellen die Arier die Eingeborenen als die Däsäs „Sklaven" gegenüber.
Die Sieger bezeichnet der Rgveda als die weißen Freunde des Gottes
Indra, die Besiegten als die schwarzen Leute oder die schwarze Haut
und als nasenlos. Wie in ihrer körperlichen Erscheinung und Sprache,
unterschieden sich die Äryäs und die Däsäs auch in Religion und Sitte. Die
Däsäs gelten den Ariern als „gottlos", „keine Opfer darbringend", „gesetz-
los", „anderen Satzungen folgend", ja als „Unmenschen". Da der Rgveda
von Städten und reichem Besitze der Däsäs spricht, können sie aber kein
Nomadenvolk gewesen sein.
Zur Zeit des Rgveda saß die Hauptmasse der Arier im östlichen Pan- Die Arier.
dschab, dem Lande im Nordwesten Indiens, das von den fünf Nebenflüssen
des Indus durchströmt wird. Das Indusgebiet kann sich an Fruchtbarkeit
dem des Ganges nicht vergleichen. Das Klima, namentlich des westlichen
Teils, nähert sich dem des trockenen iranischen Landes. Große Teile des
Landes bestehen aus Sand- und Steinwüsten, die für den Anbau ganz ver-
loren gehen. Je weiter nach Westen, desto schwächer treten die Monsune
auf, und desto geringer ist infolgedessen der Regen. Die Flüsse über-
schwemmen bei ihrem Austritt einen viel kleineren Teil des Landes, als
dies der Ganges tut. Aber der östliche Teil des Pandschab ist reich
an Weide- und Ackerland, und der Rgveda zeigt uns, daß die Viehzucht
und der Ackerbau blühte.
. Die Arier waren kein geschlossenes Volk. Sie gliederten sich in
eine große Anzahl einzelner Stämme mit eigenen Königen an der Spitze.
Auch ein „Oberkönig" wird erwähnt. Diese arischen Stämme bekriegten
aber nicht bloß die Eingeborenen, sondern gerieten sehr bald auch unter-
einander in Kampf. Wir erfahren, daß Sudäs, der König des Stammes
der Bharata, den Sieg im Kampfe gegen zehn Könige davontrug, der
berühmten Zehnkönigsschlacht, und an einer anderen Stelle des Rgveda
werden zwanzig Volkskönige erwähnt, die Indra vernichtete. Ein einheit-
liches Reich ist also Indien, solange wir etwas von ihm wissen, nie ge-
wesen; es zerfiel stets in eine große Zahl kleinerer Staaten unter mehr
oder weniger selbständigen Fürsten. Auch dann, wenn eine Dynastie ein
größeres Reich gründete, wie die Maurya im 4. Jahrhundert v. Chr. oder
die Gupta im 4. Jahrhundert n. Chr., blieben die unterworfenen, kleineren
Staaten in selbständiger Verwaltung. Ihre Fürsten wurden zwar Vasallen
und tributpflichtig, aber man ließ ihnen sogar den Titel „Großkönig"
{mahäräjd). Der Gesamtherrscher nannte sich dann „Oberkönig der Groß-
könige". Diese politische Zersplitterung hat der indischen Literatur jedoch
nicht geschadet, sondern ist ihr ebenso zustatten gekommen, wie einst die
Deutschlands der deutschen. Zu allen Zeiten hat es im Norden wie im
Süden Indiens Fürsten gegeben, die Kunst und Wissenschaft liebten.
Ihre Höfe wurden, wie wir sehen werden, der Sammelplatz der Dichter
und Gelehrten aus allen Teilen des Landes. Indien hat mehr als ein
augusteisches Zeitalter gehabt.
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. II
j52 Richard Pischel: Die indische Literatur.
Verfassung Der arische indische Staat ist von alters her eingeteilt in Dorf-
gemeinden. Diese Einteilung findet sich bereits im Rgveda und hat sich
unverändert durch alle Zeiten erhalten. Jedes Dorf bildete einen kleinen
Staat für sich. An der Spitze stand der schon im Rgveda erwähnte „Dorf-
führer*', d. h. der Schulze, der eigene Dorfbeamte unter sich hatte. Jedes
Dorf hatte femer seinen Dorfpriester, der auch der Überlieferer der alten
Sagen und Lieder war. Neben den Dörfern werden schon Städte erwähnt.
Auch das Meer ist bekannt, und es wird bereits Handel getrieben.
Der herrschende Stand war der Adel, mit dem Fürsten an der
Spitze. Neben ihm spielten die Priester, die Brahmanen, die Haupt-
rolle. In ihren Händen lag fast ausschließlich die Pflege der Literatur,
wenn auch in alter Zeit einzelne Fürsten erwähnt werden, die durch
hervorragende Kenntnisse auf dem Gebiete der philosophischen Speku-
lation sich so auszeichneten, daß die Brahmanen zu ihnen in die Lehre
gingen. Aus nachchristlicher Zeit werden eine ganze Anzahl Fürsten
als Dichter und Gelehrte genannt, wie büdraka, Häla, Sriharsa, Bhoja,
Laksmanasena, Pratäparudra. Ein und das andere Werk mag ihnen auch
wirklich angehören. Meist aber waren sie nachweislich nicht selbst die
Verfasser. Der wahre Autor trat ihnen bereitwillig den Namen ab, um
ihre Eitelkeit zu befriedigen und selbst Geld und Titel dafür einzutauschen.
Das Verhältnis der Stände zueinander war in der vedischen Zeit wohl
noch etwas freier als später. Aber auch in der Zeit des ausgebildeten
Kastenwesens brauchte der Brahmane sich nicht notwendig dem Berufe
des Priesters oder Gelehrten zu widmen. Er konnte auch Krieger, Kauf-
mann und Landwirt werden. Wenn aber auch die Kunst der Dichtung
nicht auf den geistlichen Stand beschränkt war, wurde sie doch gerade
in der ältesten Zeit durchaus zünftig in bestimmten Priesterfamilien gepflegt,
und ihr Charakter war vorwiegend religiös.
Moral der Arier. Zur Zeit des Rgveda, etwa von 1500 — 1000 v. Chr., waren also die Arier
schon ein fest ansässiges, staatlich gegiiedertes Volk. Ja, sie standen,
bereits auf einer bedenklich hohen Stufe der Kultur. Bei den Dichtern
tritt eine unersättliche Gier nach Gold, Pferden und Kühen hervor. Die
vedischen Dichter arbeiteten für Geld und auf Bestellung. Sie suchten
sich gegenseitig den Rang abzulaufen und den Reichen auszubeuten.
Wer nicht viel gibt, ist für den Dichter ein Geizhals und Lump. Er wird
verhöhnt und ins tiefste Dunkel gewünscht. Das Opfer ist für die Priester
nur eine Fanggrube, in der man mit Soma, flüssiger Butter, und mit Gebet
die Götter fängt. Dem Gotte Indra stellen die Priester mit Milchtränken
nach wie Jäger dem Wild. Der Opferlohn wird in einem eigenen Liede
verherrlicht und spielt schon im Rgveda genau dieselbe Rolle wie später.
Schon die vedischen Arier waren arge Trinker und Spieler. Raub, Dieb-
stahl, Meineid, Betrug im Spiele werden oft erwähnt. Der Sport des
Wettrennens, die Jagd und der Tierfang wurden leidenschaftlich betrieben.
Man machte Schulden und suchte sich ihrer Bezahlung zu entziehen,.
Einleitung. 15^
wenn Exekutoren kamen, um sie einzutreiben. Das Hetärenwesen blühte.
Um Usas, die Göttin der Morgenröte, zu verherrlichen, wissen die Dichter
ihr kein größeres Lob zu geben, als daß sie sie mit einer Hetäre ver-
gleichen, die „auf den Strich" geht und allen Männern ihren Leib unver-
hüllt zeigt. Alte buddhistische Texte berichten uns, daß die Städte ihren
Ruhm darein setzten, eine gefeierte Hetäre zu besitzen. Buddha selbst nahm
unbedenklich Einladungen zu Hetären an, und der hohe Adel seiner Zeit
fuhr an einer bekannten „Stadtschönen" nicht vorbei, ohne sie anzureden.
Bei der Beschreibung einer Stadt soll nach den Vorschriften der Rheto-
riker der Dichter nie vergessen, neben den ehrbaren Frauen die Hetären
zu schildern. Bei Sieges- und Begrüßungsfesten im Mahäbhärata spielen
diese stets eine Rolle, Das Kriegslager war voll von ihnen; sie gelten
im 7. Jahrhundert n. Chr. als Schmuck der Landstraße; im elften finden
wir sie in Dhärä in einer eigenen Straße wohnen und in hervorragender
Stellung. Sie waren die einzig gebildeten Frauen; man schreibt ihnen
die Kenntnis von achtzehn Sprachen zu. Im Rgveda werden erwähnt
Männer, die sich an fremden Frauen vergreifen, Frauen, die ihren Gatten
betrügen, Jungfernsöhne und heimlich Gebärende, die die Frucht ihrer
Sünde beseitigen. Die Arier der vedischen Zeit waren also nicht, wie
man lange geglaubt hat, ein unschuldsvolles Hirtenvolk.
Mit der Zersplitterung in viele Stämme ging bei den arischen Indern Sprache der
eine große Verschiedenheit der Dialekte Hand in Hand. Schon der Rgveda
weist Dialektspuren auf. Aber in ihm treten sie nicht klar hervor, weil
die Dichter meist in einer Sprache reden, die keine Volkssprache ist,
sondern eine formelhafte, von Geschlecht zu Geschlecht überlieferte Lite-
ratursprache. Der Dialekt, der ihr zugrunde liegt, ist nahe verwandt mit
dem Avestä und dem Altpersischen. Von der des Rgveda unterscheidet sich
die Sprache der übrigen Veden, die unter sich wieder keine geschlossene
Spracheinheit bilden, nicht unerheblich. Da aber allen diesen Dialekten
doch im Gegensatz zu der späteren Sprache gewisse Züge gemeinsam sind,
pflegt man sie unter dem Namen Vedisch zusammenzufassen. Eine jüngere
Sprachform bieten dann die in Prosa geschriebenen älteren Erläuterungs-
werke zu den Veden. Ihre Sprache ist wesentlich identisch mit der von
dem berühmten Grammatiker Pänini (s. S. 182) gelehrten. Sie führt hinüber
zu der Sprache der klassischen Literatur, die wir Sanskrit zu nennen
gewohnt sind. Wie das Vedische, so ist auch das Sanskrit eine Literatur-
sprache. Dasselbe gilt weiter von demPäli, der Sprache der Schriften der
südlichen Buddhisten, und von den Präkritsprachen, die vorwiegend in
lyrischen Gedichten und in den Dramen gebraucht werden. Allen diesen
Literatursprachen aber liegen Volkssprachen zugrunde. Ob der in den
Schriften der nördlichen Buddhisten neben dem Sanskrit gebrauchte
Gäthädialekt eine in der uns vorliegenden Gestalt einst wirklich ge-
sprochene Sprache war, ist zweifelhaft. Von den Volkssprachen erhalten
wir die erste ausführlichere Kunde durch die Inschriften des großen bud-
II*
i64
Richard Pischel: Die indische Literatur.
dhistischen Königs A^oka im 3, Jahrhundert v. Chr. Diese Inschriften
geben uns Nachricht von vier verschiedenen Dialekten. Einen fünften, den
Lenadialekt, lehren uns daneben Inschriften in Höhlen, auf Reliquien-
hügeln, Dosen usw. Er war die allgemeine Reichssprache vom 2. Jahr-
hundert V. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. Die noch heut in Indien
gesprochenen Volkssprachen treten erst vom 9. Jahrhundert n. Chr. an
literarisch hervor; unter ihnen sind besonders Hindi, Hindustäni oder Urdü,
Gujaräti, Maräthi und Bengali zu nennen.
A. Die vedische Literatur (ca. 1500 — 500 v. Chr.).
Verschiedenes I. Die Vcdcn. Die ältcsten Werke der indischen Literatur führen
"den Namen Veda, „das Wissen". Es sind vier: i. der Rgveda, „der Veda
der Lieder", 2. der Sämaveda, „der Veda der Gesänge", 3. der Yajur-
veda, „der Veda der Opfersprüche", 4. der Atharvaveda, „der Veda der
Atharvans". Von diesen vier Textsammlungen, in Sanskrit Sa/nliitä,
galten nur die drei ersten als kanonisch. Jeder Veda hatte einen eigenen
Priester. Der des Rgveda hieß Hotar, der des Sämaveda Udgätar, der
des Yajurveda Adhvarv^u. Über diesen drei Priestern stand ein Ober-
priester, der Brahman. Von ihm wurde verlangt, daß er das Wissen
der drei anderen in sich vereinige. Er war meist auch Hauspriester seines
Fürsten. Er begleitete als solcher den Fürsten auf seinen Kriegszügen
und feierte als Hofdichter in Liedern den Sieg, den er nicht selten seinem
Einflüsse auf die Götter zuschrieb. Zugleich war er der einzig volkstüm-
liche Priester. Er kannte allein die Zaubersprüche {brahman), mit denen
man selbst die Götter zwingen konnte, die Fluch- und Beschwörungs-
formeln, wie die Sprüche gegen Krankheit und Hexerei. Diese liegen
im Atharvaveda gesammelt vor. Da sie im Leben des Volkes eine be-
sonders große Rolle spielten, wurde der Atharvaveda dem Brahman zu-
geteilt und auch Brahmaveda, „Veda der Zaubersprüche", genannt.
I. Der Rgveda. Wann der Rgveda zusammengestellt worden ist,
läßt sich nicht sagen. Er macht selbst gar kein Hehl daraus, daß viele
Generationen, vielleicht Jahrhunderte, in ihm vertreten sind, daß er also
nicht eine Sammlung etwa nur der ältesten Lieder ist. Wiederholt ist
von alten und modernen Dichtern, alten, mittleren und neueren Liedern
die Rede. Sehr viele Lieder sind Nachahmungen von älteren, wobei der
Grad und die Geschicklichkeit der Nachdichtung sehr verschieden sind.
Dichter, die sich selbst als modern bekennen, gebrauchen oft mit Vor-
liebe altertümliche Worte und Redewendungen, die als Flitter für ihre
Machwerke dienen sollen; nicht immer ist es leicht, zu erkennen, was
wirklich alt und was archaisierend ist. Der Rgveda enthält in der uns
vorliegenden Gestalt 1028 Lieder, die in zehn Bücher geteilt sind. Die
Bücher 2 — 8 zählen bestimmte Familien zu Verfassern; unter ihnen ragen
A. Die vedische Literatur (ca. 1500 — 500 v. Chr.). I. Die Veden. i5c
besonders hervor die Bücher 3, 4 und 7, die von den Familien des Vtsvä-
niitra, des Väniadeva und des Vasistha stammen; die Lieder der Bücher i
und IG gehören verschiedenen Familien an; Buch q enthält ausschließlich
Lieder, die für das Somaopfer bestimmt sind. Ihrer Hauptmasse nach
tragen die Lieder des Rg^^eda ein sehr einförmiges Gepräge, das durch
den vorwiegend religiösen Stoff gegeben ist. Der gefeiertste Gott ist
Iiidra, der Xationalgott der vedischen Arier. Er wird gepriesen als der
Besieger der irdischen Feinde und als der Bezwinger der Dämonen am
Himmel, die den Menschen den Regen vorenthalten. Als Nationalgott
muß er nicht nur alle Vorzüge seines Volkes haben, sondern auch seine
Fehler. So wird er als gewaltiger Trinker geschildert; ein Dichter führt
ihn uns sogar als betrunken vor. Aber in den meisten Liedern ist Indra
ein gewaltiger, herrlicher Gott, und die Lieder auf ihn gehören zu den
schönsten des Rg\'eda, durch die zuweilen noch ein Hauch natürlicher
Frische und echter Religiosität weht. Xächst Indra feiern die Lieder
besonders Agni, den Gott des Feuers. Die Lieder auf ihn sind sehr
gleichförmig, oft ganz dunkel und schwülstig. Sie setzen ein sehr kom-
pliziertes Opferritual vofaus, das in mystischer Weise gedeutet wird. Das
gilt nicht etwa bloß von den jüngsten Liedern, im Gegenteil, recht alte
Hymnen tragen bereits diesen ausgesprochenen Charakter priesterlicher
Dichtung. Außer an Indra und Agni sind die meisten Lieder gerichtet an
Sotna, die vergöttlichte Pflanze, deren Saft zu Opferzwecken benutzt wurde
und in Gärung versetzt stark berauschend wirkte. Eigenartig sind die
Lieder auf die Asvin, die schönsten unter den Göttern und deren Ärzte,
und auf die Rbhu, die Künstler der Götter. Die Lieder an sie sind voll
von Sagen, die beweisen, eine wie reiche Erzählungsliteratur schon in
vedischer Zeit in Indien vorhanden gewesen sein miiß. Durch dichte-
rische Schönheit ragen hervor die Lieder auf Usas, die Morgenröte, auf
Parjanya, den Gott des Gewitters, auf die Alaruf, die Götter des Sturmes,
und auf ihren Vater Rudra, den furchtbaren unter den Göttern, auf Väyu,
den Gott des Windes und auf Sürya oder Savitar^ den Sonnengott. Varuna,
der Gott des Meeres, wie Müra, mit dem er öfter zusammen angerufen
wird, ein uralter Gott, tritt immer mehr gegen Indra zurück, je weiter
die Inder vom Meere sich entfernen. Visnu, später neben Siva der Haupt-
gott des Hinduismus, wird nur in wenigen Liedern gepriesen, ebenso
Yaina, der Gott des Todes. Ein volkstümlicher Gott dagegen war Füsan,
der Gott ohne Zähne, der Brei ißt und mit Ziegen fährt, der Beschützer
der Wege und des verirrten Viehs. In dunklen und schwülstigen Liedern
wird der Priestergott Brhaspati oder Brahmanaspati verherrlicht, der
Hauspriester der Götter, dem man die Taten des Indra zuschreibt. Auch
ganze Göttergruppen werden angerufen, wie die Ädityäs und Visve Deväs.
Zum Gebrauch beim Tieropfer dienten die eigenartigen ^^rz-Lieder. Die
Zahl der wirklich tief empfundenen Hymnen im Rgveda ist aber doch
sehr klein. Die meisten sind Kunstprodukte, in denen die Reflexion vor-
l56 Richard Pischel: Die indische Literatur.
waltet. Sehr viele sind voll von mystischen Spielereien, die das Ver-
ständnis außerordentlich erschweren.
Der Rgveda bildet den Schlußstein einer sehr langen Entwicklung-.
Er bietet Priesterpoesie, nicht Naturdichtung, wie man lange geglaubt
hat. Neben den religiösen Hymnen finden sich auch Lieder weltlichen
Inhalts, leider nur in gering^er Zahl. Auf historische Ereignisse wird nur
selten Rücksicht genommen, wie in dem schönen Liede des Visvämitra,
das den Übergang des Stammes der Bharatäs über die Flüsse Vipäs und
^utudri verherrlicht, und in den Liedern, die der Schlacht gedenken, in
der zehn Könige gegeneinander kämpften. Wir finden Loblieder auf
Bogen und Pfeil und auf ein ausgezeichnetes Pferd, das oft im Wettrennen
den Preis davon getragen hat und wie ein göttliches Wesen verherrlicht
wird. In einem Liede klagt ein Spieler die Not, in die ihn die Spiel-
sucht gebracht hat, und bittet die Würfel, ihn von dieser zu befreien. In
einem humoristischen Liede auf die Frösche wird deren Gequak mit den
Gesängen der Priester verglichen; in einem anderen preist ein herum-
ziehender Arzt seine Kräuter an. Andere Lieder enthalten Gebete um
Fruchtbarkeit der Frau und beim Austreiben d*er Kühe. Mehrere sind
Zauber- und Beschwörungssprüche gegen Unholde aller Art, Nacht-
gespenster, Zauberer, Ungeziefer, gegen Nebenbuhlerinnen in der Liebe
u. dgl. Sie unterscheiden sich in nichts von den Liedern des Atharvaveda
mit gleichem Inhalt, und wie diese dienten sie dem Priester als Erwerbs-
quelle.
Wie der Brahmane für die Opfer seinen Lohn erwartete, so auch für
seine Lieder aller Art. War der Lohn reichlich, so erwies sich der
Dichter oft dankbar, indem er seinem Liede einige Verse anhängte, in
denen er die Freigebigkeit seines Patrones pries. Diese Zusätze führen
den Namen Däiiastuti, „Lobpreis der Geschenke". Sie heben sich durch
Sprache und Metrum von dem vorhergehenden Liede scharf ab und weisen
drei für sie charakteristische Merkmale auf, einmal daß der Gott, der in
ihnen en\"ähnt wird, vorzugsweise Agni, der Gott des Feuers, ist, dann
daß sie gern den Fluß nennen, an dem der Auftraggeber wohnt, und
endlich daß sie am Schluß oft die gemeinsten Zoten enthalten. Hatte der
Dichter seiner Meinung nach dagegen zu wenig bekommen, so rächte er
sich an dem Gotte, den er besungen, und an dem Besteller des Liedes
durch ironisches Lob. Im Rgveda bilden die Dänastutis, die Lobpreis-
hymnen für Geschenke, nur selten eigene Lieder. In der späteren vedi-
schen Literatur aber finden wir zwei Arten selbständiger Dänastutis
vertreten, die Gäfhä, das „Lied", zuweilen genauer Yaj'nagälhä, „Opfer-
lied", genannt, und die N^äräsafusl, das „Männerpreislied". Die Gäthäs be-
zogen sich auf die großen Opfer der Könige der Vorzeit, die den lebenden
als Muster hingestellt werden sollten. Sie pflanzten sich im Munde der
Sänger und des Volkes fort und erscheinen zum Teil, wenn auch in
jüngerer Sprache und Gestalt, nach Jahrhunderten wieder im Mahäbhärata
A. Die vedische Literatur (ca. 1500 — 500 v. Chr.). I. Die Veden. i57
und den Puränas, die ursprünglich die alte Geschichte Indiens enthielten.
Die Närä^amsis beziehen sich auf die lebenden Fürsten und feiern ihre
Freigebigkeit. Beide Gattungen waren im alten Indien wegen ihrer Auf-
schneiderei berüchtigt. Es heißt: „Wer seinen Lebensunterhalt durch
Gäthäs und Näräsamsis erwirbt, von dem soll man nichts annehmen, denn
er erwirbt durch Lüge. Lüge ist ja die Gäthä, Lüge die Närä^amsl."
Trotz der Verachtung, die sich in solchen Stellen ausspricht, muß der
Beruf einträglich gewesen sein, da er zu allen Zeiten geblüht hat.
Was in alter Zeit Dänastuti und Näräsamsi heißt, wird später Pra-
sasit, „Lobpreisung", genannt. Solche Prasastis, teilweise von sehr be-
deutendem Umfange, sind uns inschriftlich in großer Zahl erhalten. Sie
preisen den Fürsten und sein Geschlecht, seine Kriegstaten, Bauten und
frommen Stiftungen, und gerade die ältesten heben, wie die Gäthäs, mit
Vorliebe die Geschenke hervor, die die Fürsten bei feierlichen Anlässen
verteilten. An Ruhmredigkeit geben z. B. die Prasastis auf die Gupta-
könige des 4. nachchristlichen Jahrhunderts den vedischen Näräsamsis
nichts nach. An den Höfen kunstliebender und freigebiger Fürsten
wurden in eigenen Hallen Versammlungen abgehalten, Arbeiten von
Dichtern und Gelehrten zur Prüfung vorgelegt, neue Aufgaben gestellt
und die Preise verteilt. Die Dichter des Rgveda bitten daher wiederholt
am Ende des Liedes, daß sie erfolgreich und als Sieger in der Versamm-
lung reden mög^en. Aus späterer Zeit wissen wir, daß besonders die
Schlagfertigkeit und Schnelldichtung hochgeschätzt wurden. Es wurde
ein Vers oder Versteil als Thema aufgegeben, der zu einer Strophe ver-
vollständigt werden mußte. Dieses „Ergänzen zu einer Strophe" entspricht
unseren Glossen. Für die Literaturgeschichte sind die Themata meist von
höherem Wert als die Ergänzungen, da sie oft Verse älterer Dichter sind.
Dieselbe Aufgabe wurde von den Einzelnen in verschiedener Weise gelöst.
Oft aber ließ sich dabei eine große Einförmigkeit nicht vermeiden. Zur
Zeit des Rgveda wird es nicht anders gewesen sein. Nicht mit Unrecht
ist deshalb von manchen Liedern des 8. Buches des Rgveda behauptet
worden, daß sie lediglich zur Erlangung von Bakhshish von Bänkelsängern
aus Brocken von älteren Liedern zusammengefügt sind, und daß andere
Lieder sich wie Schüleraufsätze über dasselbe Thema lesen. Solche
Lieder dürfen wir dem Dichtungssport in der Versammlungshalle zu-
schreiben. Beliebt war auch die Aufgabe von Rätseln. Auch hiervon
hat uns der Rgveda Proben erhalten.
Der Rgveda gibt uns femer Aufschluß über das älteste Epos und Drama.
Es finden sich im Rgveda einige zwanzig Lieder, die in der uns vorliegen-
den Gestalt ganz unverständlich sind, da zwischen den einzelnen Strophen
kein Zusammenhang zu bestehen scheint. Diese Lieder schildern irgend
ein Ereignis; sie geben eine Erzählung [Akhyäna) oder alte Geschichte
{Itihäsa, d. h. ifi ha äsa, „so war es") wieder, weshalb man sie Äkhyäna-
oder besser Itihäsahymnen genannt hat. Ganz analoge Lieder kennt die
l68 Richard Pischel: Die indische Literatur.
buddhistische Literatur, und außerhalb Indiens die irische. Die Verse
bildeten das feste Gerippe der Erzählung; durch sie wurde der Gang der
Handlung festgelegt. Der Zusammenhang wurde von dem Vortragenden
durch Erzählung in Prosa hergestellt, die er je nach Ort und Publikum
änderte. Eine Art der ältesten erzählenden Poesie bestand also in einer
Mischung aus Versen und Prosa. Die Personen der Erzählung wurden
von dem Rezitator nicht bloß geschildert, sondern er ließ sie redend auf-
treten, so daß der Vortrag* teilweise die Gestalt eines Dialogs gewann.
Diese Form hat im klassischen Epos ihre Spuren hinterlassen. Wie bei
Homer treten auch im indischen Epos die Götter und Helden mit oft
recht langen Reden auf, und es werden dann Bemerkungen vorausgeschickt,
wie: „Die Götter sprachen" oder „Nala sprach". Das waren ursprünglich
die Worte, mit denen der Vortragende die Prosa unterbrach und auf die
nun folgenden Verse hinwies. Der Rezitator führte den Namen Graii-
thika, d. h. „Verknüpfer". Der Name zeigt deutlich, was seine Hauptauf-
gabe war. Er hatte die Strophen durch den Prosatext miteinander zu
verknüpfen. Dieser Prosatext war allgemein bekannt. Er ist uns in
vielen Fällen auch schriftlich in der späteren Literatur der Brähmana mit
den eingelegten Versen überliefert worden und war in einem oft zitierten,
aber leider verloren gegangenen vedischen Werke, dem liihäsapuräna,
aufgezeichnet. Daraus schöpften das Mahäbhärata und die Puräna, die
nur noch ausnahmsweise Prosa enthalten.
Dieselbe Form wie das alte Epos hatte das alte Drama. Manche
Lieder des Rgveda sind g-anz dramatisch gehalten, und die Art, wie im
Ritual der Kauf des Somas vor sich geht, weist auf volkstümliche drama-
tische Aufführungen nach Art unseres Puppentheaters hin. Als Verkäufer
wird ein Südra, ein Mitglied der vierten und niedrigsten Kaste, gedacht.
Käufer und Verkäufer führen über den Preis lebhafte Rede und Gegen-
rede. Der Käufer bietet, der Verkäufer steigert. Wenn der Somahändler
Umstände macht, soll der Käufer ihm den Soma entreißen, ihm auch das
Geld und die Kuh wieder wegnehmen, die er ihm etwa schon für den
Soma gegeben hat. Widersetzt sich der Händler, so soll der Käufer ihn
mit einem Lederriemen oder mit Holzscheiten schlagen — eine Prügel-
szene, wie sie charakteristisch ist für die Volkspossen, namentlich auch
das Puppentheater. Bis auf den heutigen Tag sind in Indien in den
Volksstücken nur die Verse fixiert, die Prosa wird improvisiert. Dieselbe
Form zeigen literarische Stücke aus Nepal in Volksdialekt, die auf Volks-
stücken beruhen, und ein ganz in Sanskrit geschriebenes Drama, das
Mahänätaka, von dem die Sage berichtet, daß es lange Zeit auf dem
Grrunde des Meeres geruht habe, und daß erst im ii. Jahrhundert n, Chr.
zur Zeit des Königs Bhoja Bruchstücke durch Taucher ans Licht gebracht
wurden, die Bhoja durch seine Hofdichter zusammenfügen ließ. Die Sage
beweist, daß man die Altertümlichkeit der Form des Schauspiels empfand,
die auch in dem gänzlichen Fehlen des Präkrit sich zeigt, in dem in allen
A. Die vedische Literatur (ca. 1500 — 500 v. Chr.). I. Die Veden. j^Q
anderen Dramen die meisten Frauen und Männer bestimmter Berufe
sprechen. Die älteste Gestalt des indischen Schauspiels hat ihre genaue
Entsprechung in der commedia a soggetto des italienischen Theaters vor
Goldoni. Sie hat ihre Spur in allen späteren Dramen der klassischen
Zeit darin hinterlassen, daß in diesen die Prosa oft durch Verse unter-
brochen wird.
In die Sammlung des Rgveda sind auch Lieder rein philosophischen
Inhalts aufgenommen worden. Sie beschäftigen sich mit dem Gedanken
der Einheit Gottes und stellen Betrachtungen an über die Herkunft der
Welt. Der unbekannte Gott, nach dem die Dichter suchen, wird mit ver-
schiedenen Namen benannt. Man pflegt diese Lieder als jung- anzusehen.
Aber auch in zweifellos alten Liedern tritt deutlich zutage, daß der alte
Glaube schon stark erschüttert war. Es gab Leute, die sogar an der Exi-
stenz Indras zweifelten. Man darf auch nicht übersehen, daß unser Rgveda
nur eine Auswahl des einst vorhandenen Materials an Liedern bildet, die
Rezension einer Schule.
Schon sehr frühzeitig pflanzte sich die Tradition in Schulen fort, die
untereinander nicht immer übereinstimmten. Solcher Rgvedaschulen gab
es zur Zeit des Mahäbhäsya, des großen Kommentars zu dem Grammatiker
Pänini, etwa im 2. Jahrhundert v. Chr., noch 21. Spätere Werke kennen
nur noch 5. Wenigstens von einer zweiten Rezension des Rgveda sind
uns nähere Nachrichten überliefert. Der Unterschied von den unsrigen
scheint, dem Umfange nach, nicht groß gewesen zu sein. Aber in ein-
zelnen Handschriften selbst unserer Rezension finden sich Lieder, die
vedischen Charakter tragen, als Nachträge [Khila) aufgezeichnet, und im
8. Buche steht in allen Handschriften eine als Välakhilya bezeichnete
getrennte Sammlung von 1 1 Hymnen , die von dem Redaktor unseres
Rgveda offenbar nicht als vollberechtigt anerkannt wurden. Sieben davon
standen in der zweiten Rezension, von den vier übrigen wissen wir nichts
über ihre Herkunft. Nicht einmal die religiöse Poesie der ältesten Zeit ist
uns also vollständig erhalten. Von der ältesten Volkspoesie haben wir nur
wenige Proben, etw^as mehr Nachrichten. Im g. Buche des Rgveda, dem
Somabuche, stehen 4 Lieder, die wohl beim Somapressen gesungen wur-
den. Schon der sonst im Rgveda sich nicht findende Refrain gibt ihnen
einen volkstümlichen Charakter, ebenso ihr Inhalt. Ein Volkslied ist ferner
das Loblied auf König Pariksit im 20. Buche des Atharvaveda. Beim
Sonnenwendfeste tanzten Sklavinnen mit vollen Wasserkrügen auf den
Schultern ums Feuer und sangen ein Lied auf die Kühe mit dem Refrain
„das ist Met". Das Wasser ^vurde dann ins Feuer gegossen. Beim Pferde-
opfer unterhielten sich die Priester mit den Frauen und Jungfrauen in
Versen zotigen Inhalts, die uns erhalten sind. Bei der Königsweihe und
den großen Opfern wurden von den Priestern, die auf goldenen Kissen
saßen, alte Geschichten erzählt, und Musikmeister besangen in Liedern die
alten Könige und den Opferer, was auch bei Familienfesten Lautenspieler
j-O Richard Pischel: Die indische Literatur.
taten. Am Totenfeste saß man bis spät in die Nacht hinein und hörte
Geschichten und Sagen an. Wenn am Abend die Dorfgemeinde nach
vollbrachter Arbeit unter dem heilig-en Dorfbaum zusammenkam, trug der
Dorfpriester Erzählungen vor, bei den Buddhisten aus dem Leben des
Buddha. Von Kälidäsa erfahren wir, daß noch zu seiner Zeit, im 5. Jahr-
hundert n. Chr., die alten Leute in den Dörfern der Avanti der Erzählungen
vom König Udayana kundig waren. Bis auf den heutigen Tag kennt das
Volk die Helden der großen Epen, des Mahäbhärata und Rämäyana, und
erfreut sich an ihren Taten.
Lidien ist kein Land völliger Erstarrung. Auch hier hat sich im
Laufe der Zeit vieles geändert. Aber treuer als irgendwo anders haben
sich in Indien von Jahrhundert zu Jahrhundert in der Abgeschlossenheit
der Dorfgemeinde Sitten und Gebräuche, in den Schulen der Priester
wissenschaftliche Überlieferung fortgepflanzt. Von dem sicheren Grunde
der Gegenwart und des Mittelalters aus können wir daher Schlüsse auf
das Altertum ziehen. Dadurch, daß die Sanskritphilologie dies gelernt hat,
ist der Veda erst zur richtigen Stellung innerhalb der indischen Literatur
gelangt und sein volles Verständnis angebahnt worden. Der Wert des
Rgv^eda ist für uns ein vierfacher: i. An Altertümlichkeit und Durch-
sichtigkeit der Sprache kommt ihm kein anderes Denkmal des indoger-
manischen Sprachstammes gleich; er ist daher für die vergleichende Gram-
matik unschätzbar. 2. Die nahe Verwandtschaft, die die Sprache zu der des
Avestä aufv^^eist, hat die Erklärung dieser ältesten literarischen Überreste
des iranischen Volksstammes wesentlich gefördert. 3. Er gewährt uns
einen Einblick in die ältesten sozialen Verhältnisse des geistreichsten unter
den indogermanischen Völkern, zeigt uns den Weg, auf dem es in seine
neue Heimat gelangt ist, und läßt uns die Bedingungen erkennen, unter
denen es sich dort entwickelt hat. 4. Das Studium des Rgveda ist ferner
nicht mit Unrecht „die hohe Schule der Religionswissenschaft" genannt
worden. Daß die vergleichende Mythologie und Religionsgeschichte, wie
sie vor allem Max Müller vertrat, mit ihren Analogieschlüssen weit über
das Ziel schoß, ist heute allgemein anerkannt. Aber diese Arbeiten, die
vom Veda ausgingen und auf ihn sich stützten, haben überaus anregend
gewirkt und den Anlaß zu Forschungen auf Gebieten gegeben, die sonst
wohl noch lange nicht, wenn überhaupt, betreten worden wären.
2. Der Sämaveda. Der Rgveda ist uns fast variantenlos überliefert.
Wir verdanken dies einem eigenartigen, in einer umfangreichen Literatur
niedergelegten System des Lehrens und Lernens, das es ermöglichte, den
aufgezeichneten Text treu zu bewahren. Dieses System hat aber nicht
hindern können, daß die Lieder des Rgveda außerhalb der Sammlung
selbst Veränderungen erfuhren. Das ist besonders der Fall im Säma-
veda. Der Sämaveda hat nur 75 Verse, die sich nicht im Rgveda, zum
Teil aber in anderen vedischen Werken finden. Die Hauptmasse der
Lieder des Sämaveda ist aus dem 8. und g. Buche des Rgveda genommen.
A. Die vedisclie Literatur (ca. 1500 — 500 v. Chr.). I. Die Veden. lyi
Er ist das Textbuch des Udgätar, des Priesters, der nur beim Somaopfer
in Tätigkeit trat. Alle Lieder des Sämaveda beziehen sich daher auf
dieses Opfer. Der Udg^ätar hatte sie mit lauter Stimme zu singen. In
seinem ersten Teile enthält der Sämaveda nur einzelne Verse, an denen
die IMelodie festgehalten und eingeübt wurde, der also ein Hilfsbuch für
den Udgätar als Sänger war. Der zweite Teil gibt die Lieder in der
Anordnung, wie sie beim Opfer zur Anwendung kamen. Der Sämaveda
ist also eine Sammlung zu rein praktischen Zwecken. Beim Gesänge er-
hielten die Verse eine von ihrer gewöhnlichen Gestalt sehr abweichende
Form, die sich nach der Melodie richtete. Es ist begreiflich, daß bei den
Gesangsvorträgen nicht alle Schulen gleich verfuhren. Gerade hier, wo
nicht bloß der Text, sondern auch Melodie und Vortrag in Betracht kamen,
mußten frühzeitig zahlreiche Verschiedenheiten eintreten. So hat kein
Veda mehr Schulen gehabt als der Sämaveda. Der Caranavyuha, ein
kleines Werk über die vedischen Schulen, sagt, früher habe es 1000 Schulen
des Sämaveda gegeben, nachdem aber Indra mit dem Donnerkeil hinein-
geschlagen habe, sei nur noch ein Rest übrig. In der Tat besitzt kein
anderer Veda eine so große Zahl erklärender Werke, teilweise rein tech-
nischen Inhalts, wie der Sämaveda. Ihre Bearbeitung ist bisher nur wenig
in Angriff genommen worden.
3. Der Yajurveda. Wie der Rgveda das Textbuch des Hotar und
der Sämaveda das des Udgätar, so war der Yajurveda das Textbuch des
Adhvaryu. Der Adhvar}ai wird im Rgveda oft erwähnt, stand aber in
ältester Zeit, wie es scheint, nicht in so hohem Ansehen wie der Hotar
und Udgätar, obwohl er beim Opfer unentbehrlich war. Er hatte den
Opferplatz abzumessen, den Altar zu bauen, die Opfergefäße herzurichten,
Wasser und Holz zu holen, das Feuer anzuzünden, das Opfertier herbei-
zuführen und meist auch selbst zu opfern. Er hatte auch Hymnen und
Sprüche zu rezitieren, aber viel wenig-er als die anderen Priester. Da
man bei ihm keine große Gelehrsamkeit voraussetzte, war es ihm erlaubt,
wenn er seiner Sache nicht sicher war, die Hymnen und Sprüche nur zu
murmeln, damit etwaige Fehler nicht zu merken waren. Denn jedes, auch
das geringste Versehen im Wortlaut oder Akzent machte das Opfer nach
indischer Anschauung unwirksam. Die Erlaubnis, undeutlich sprechen zu
dürfen, drückt aber eine gewisse Geringschätzung des Adhvaryu aus.
Später, mindestens schon im 6. Jahrhundert v. Chr., muß sich das geändert
haben. Die beiden wichtigsten und angesehensten Gesetzbücher Indiens,
das des Manu und das des Yäjfiavalkya, tragen die Namen von Männern,
die in der Geschichte des Yajurveda eine hervorragende Rolle gespielt
haben. Manu im Westen und Yäjfiavalkya im Osten von Indien sind die
Schöpfer des orthodoxen Brahmanentums. In den Schulen der Priester
des Yajurveda scheint auch das Mahäbhärata seine Umwandlung aus
einem Epos der Krieger zu dem der Priester erfahren zu haben.
Der Yajurveda galt als Ursprungsstätte der Kriegerkaste, und zum
1-2 Richard Pischel: Die indische Literatur.
Yajurveda gehörige Texte stehen in besonders enger Berührung mit
dem Epos.
Der Yajurveda liegt uns in zwei Bearbeitungen vor, die als schwarzer
und weißer Yajurveda bezeichnet werden. Im weißen sind nur die für
das Opfer nötigen Verse und Sprüche zusammengestellt. Im schwarzen
dageg-en folgt unmittelbar dahinter in vielen Abschnitten ihre Erklärung
und die Angabe ihrer Verwendung im Ritual, also ein Kommentar, der
beim weißen in einem eigenen Werke enthalten ist. Man deutet daher
weiß als klar, übersichtlich, ungemischt, schwarz als unklar, unüber-
sichtlich, gemischt. Das ist schwerlich richtig. Die Analogie des Rg- und
Sämaveda macht es höchst wahrscheinlich, daß die Sarnhitä des weißen
Yajurveda der Urform des Veda des Adhvar\-u am nächsten steht. Vom
schwarzen sind uns vier Bearbeitungen bekannt, die sich in der Anord-
nung alle gleichen, sonst aber sehr erheblich voneinander abweichen, auch
in Äußerlichkeiten, wie Lautregeln und Akzentgesetzen. In allen aber
lassen sich noch deutlich ganze Abschnitte ausscheiden, die dieselbe Sarn-
hitäform haben wie der weiße Yajurveda. Sie allein kommen für die
Beurteilung der ältesten vedischen Zeit in Betracht. Dem Inhalte nach
zerfallen sie in Verse (rcas) und Sprüche {yajümsi). Die Verse sind
zum großen Teile aus dem RgA^eda genommen. Lange Kapitel in allen
Rezensionen des Yajurveda sind nichts als Zusammenstellungen von Rgveda-
versen in der Reihenfolge, wie sie bei einem bestimmten Opfer zur An-
wendung kamen. Aber es findet sich auch ein nicht ganz kleiner Teil
von Versen, die dem Yajurveda allein eigentümlich sind, und zwar ver-
schiedene in den verschiedenen Bearbeitungen, andere, die zwar nicht im
RgA'eda, aber auch im Atharvaveda stehen. Es ergibt sich also, daß der
Adhvaryu durchaus nicht allein aus dem Liederschatze des Hotar schöpfte.
Die Sprüche sind meist prosaisch. Zuweilen aber haben sie rhythmischen
Takt, manchmal sind sie direkt metrisch. Sie sind an und für sich meist
ganz unverständlich, wenn man nicht den Zusammenhang kennt, in dem sie
gebraucht werden, und in ihrer Erklärung weichen die Schulen oft sehr
erheblich voneinander ab. Für den praktischen Opferdienst war der Yajur-
veda der wichtigste von allen Veden. Das heben die Inder auch selbst
hervor. Die Rcas und Sämäni werden der Stimme, die Yajürasi dem
Geist verglichen, der Yajurveda einer Wand, der Rgveda und Sämaveda
Gemälden darauf.
4. Der Atharvaveda. Der Atharvaveda ist, wie erwähnt, in Indien
nie als kanonisch betrachtet worden. Daran ist sein Inhalt schuld. In
seinen ältesten Bestandteilen enthält er Fluch- und Beschwörungsformeln,
Verwünschungssprüche gegen die Feinde, Liebeszauber, Sprüche gegen
Krankheiten von Mensch und Tier, gegen Zauberei und Behexung, gegen
Dämonen aller Art, Gebete um Gesundheit und langes Leben usw. So
fand der Atharvaveda mehr im Privatleben Anwendung als im öffent-
lichen. Er ist weniger der Veda des Glaubens als des Aberglaubens.
A. Die vedische Literatur (ca. 1500 — 500 v. Chr.). I. Die Veden. ly^
Und da der Aberglaube ebenso alt ist wie der Glaube, so ist auch der
Inhalt des Atharvaveda nicht jünger als der des Rgveda. Wir finden
dort Lieder und Sprüche, die an Alter hinter denen des Rgveda nicht
zurückstehen, ja sie oft übertreffen. Das zeigt sich schon darin, daß auch
andere indogermanische Völker die gleichen Gebräuche und Sprüche
kennen, wie z. B. von den Germanen Segenssprüche und Beschwörungs-
formeln überliefert sind, die genaue Parallelen im Atharvaveda haben.
Daß der Wortschatz des Atharvaveda teilweise ein ganz anderer ist als
der des Rgveda, erklärt sich aus seinem Inhalt. Die Sprache eines
Spruches, der gegen Ungeziefer g-erichtet ist, kann keine so erhabene und
pathetische sein, wie die eines Hymnus auf Indra. Die Sprüche wurden
im täglichen Leben verwendet, müssen also auch die Alltagssprache wieder-
geben, während in den Hymnen des Rgveda eine traditionelle Dichter-
sprache vorherrscht. Auch in den Dänastuti des Rgveda finden sich
Worte und Konstruktionen, die nur im späteren Sanskrit vorkommen.
Niemand aber bezweifelt heute mehr, daß diese Anhänge ebenso alt sind
wie die Lieder, auf die sie folgen. Der Atharvaveda war auch im Süden
Indiens wohlbekannt. Als seine Heimat aber dürfen wir den äußersten
Nordwesten ansehen. Er und das Käthaka, eine der Textsammlungen des
schwarzen Yajurveda, wurden in Kaschmir am eifrigsten studiert, und dort
hat sich eine eigene Rezension des Atharvaveda gefunden. In Kaschmir
hat der Aberglaube von jeher besonders geblüht, und die Zauberer dieses
Landes waren berühmt. Die RäjatarahginI, die Königschronik von Kasch-
mir, ist voll von Zaubergeschichten aller Art. Dort fand daher der Athar-
vaveda einen guten Boden, und, wenn nicht in Kaschmir selbst, so jeden-
falls in dessen Nähe wird seine Heimat zu suchen sein. Der Atharvaveda
gilt als der Veda der Familien, die sich auf Afharvan, Ahgiras und Bhrgu
zurückführen, Männer, die zu dem Feuerdienst in näherer Beziehung standen.
Der Name, unter dem dieser Veda in älteren Schriften stets genannt wird,
ist Atharväii girasa s oder Bhrgvahgirasas, und dieser Name weist auf die
beiden Elemente hin, die der Atharvaveda enthält. Die Atharvan sind die
heilenden Arzte, die Ahgiras die dem Gegner Schaden zufügenden Zau-
berer. Und wie die Angiras als ihren Hauptvertreter Brhaspati, den Haus-
priester der Götter, die Bhrgu den Usanas Kävya, den Hauspriester der
Asuräs, oder Dämonen, ansehen, so ist der Brahman, der Hauspriester der
Könige auf Erden, der Priester, als dessen Textbuch der Atharvaveda
gilt. Das Wort Atharvan hängt sprachlich wohl zusammen mit dem Avestä
äthravan „Feuerpriester" und ätar „Feuer". Ein historischer Zusammen-
hang zwischen Atharvan und äthravan ist aber nicht nachweisbar. Häufig
wird der Atharvaveda, wie schon bemerkt, auch Brahmaveda, „der Veda
der Zaubersprüche", genannt.
Die Zahl der Schulen des Atharvaveda wird in allen Quellen auf 9
angegeben. Von zweien kennen wir ihre Textsammlung. Eine davon ist die
kaschmirische. Beide umfassen 20 Bücher, unterscheiden sich aber in der
j- 1 Richard Pischel: Die indische Literatur.
Anordnung wie im Inhalt sehr bedeutend. Etwa ein Achtel des Textes
der Kaschmirrezension hat nichts Entsprechendes in der Vulgata. Es sind
aber doch immer größere Massen, die in beiden Rezensionen gleichmäßig
zusammenstehen, so daß man auf eine ältere, gemeinsame Quelle schließen
darf, gerade wie beim Yajurveda. Besondere Erwähnung erfordern 15
Lieder, die im 20. Buche der Vulgata stehen und den Namen Kuntäpasükfa
führen. Sie gehören zu dem Interessantesten, was uns aus dem indischen
Altertum überkommen ist, sind aber leider zum Teil recht dunkel. Sie
wurden im Ritual verwendet, und zwar nicht bloß in dem der Priester
des Atharvaveda. Unter ihnen ist eine Näräsamsi, ein Loblied auf Indra,
Rätsel mit obszönem Nebensinne, Zaubersprüche, Sühnsprüche gegen
Omina und Portenta, und ein Lied, in dem das Glück des Volkes
unter der Regierung des Königs Pariksit gepriesen wird. Die Sprache
weist darauf hin, daß ein Original in einer Volkssprache zugrunde liegt;
Ton und Refrain weisen auf ein Volkslied hin. Eigenartig ist auch das
kurze 15. Buch der Vulgata, das Vrätyabuch. Es ist ganz in Prosa, die
sich auch sonst im Atharvaveda findet, und mystisch gehalten, seine Deu-
tung unsicher. Das 18. Buch, das Totenbuch, und das 20. sind fast ganz
aus dem Rgveda genommen. Der Atharvaveda soll fünf Unterveden
{Upavedäs) gehabt haben, deren Namen für den Gedankenkreis charakte-
ristisch sind, in dem sich der Veda bewegt. Sie waren der Sarpaveda,
„der Veda der Schlangen", der Pisäcaveda, „der Veda der Teufel", der
Asziraveda, „der Veda der Dämonen", der IHhäsaveda, „der Veda der Ge-
schichten", und der Puräimveda, „der Veda der Legenden". Leider ist
davon nichts erhalten, oder wenigstens bis jetzt nichts gefunden.
Noch in später Zeit schreiben die Gesetzbücher vor, der König solle
sich einen Hauspriester wählen, der in den drei Veden, dem Strafgesetz-
buche, den Lehrbüchern bewandert sei und es verstehe, beständig die Vor-
schriften des Atharvaveda auszuführen, zur Abwehr übler Folgen und zur
Förderung des Wohlergehens. War also der Atharvaveda nicht kanonisch,
so war er doch in Indien in nicht weniger häufigem Gebrauch als die
andern Veden. Für die allgemeine Kulturgeschichte ist kein Werk der
indischen Literatur so wichtig wie der Atharvaveda. Wenn auch nur für
Indien bestimmt und aus indischem Geiste geschaffen, hat er über seine
Heimat hinaus den größten Wert für die Erkenntnis des Geisteslebens
auch anderer indogermanischer und gänzlich unverwandter Völker. Er
bestätigt, daß zu allen Zeiten und in allen Ländern die Staatsreligion
immer nur der Firnis ist, der die Religion des Volkes, den Aberglauben,
überdeckt.
n. Die Erläuterungsschriften zu den Veden. An die Veden
schließt sich eine sehr umfangreiche Literatur erklärenden Inhalts an.
Die Brähmana. I. Die ältesten Werke dieser Art sind die Brähmana. Sie beschäf-
tigen sich vorwiegend mit dem Opfer. Sie enthalten die ältesten Be-
A. Die vedische Literatur (ca. 1500 — 500 v. Chr.). II. Die Erläuterungsschriften zu den Veden. lyc
trachtungen über den Wert, Nutzen und die Entstehung- des Opfers und
seiner einzelnen Teile, meist in ganz mystischer Form. In ihnen sind die
ersten philosophischen Spekulationen der Brahmanen in Prosa niedergelegt
und Legenden eingestreut, die die Herkunft irgendeiner Opferhandlung
erklären sollen, an sich aber ein viel größeres Interesse haben als der
Zweck, dem sie dienen. Da die ßrahmanen alle Vorschriften für das
Opfer auf die Veden stützten, so sind die Brähmana in letzter Linie zu-
gleich Erläuterungsschriften zu den Veden selbst. Sie geben alles, was
den Priestern zur Erklärung der Hymnen und Sprüche nötig schien, eine
allgemeine Begründung der Gebräuche des Kultus. Die Erörterungen
über die Opfervorschriften gehen bis in die kleinsten Einzelheiten; sie sind
sehr ermüdend zu lesen und schwierig zu verstehen. Größeres allgemeines
Interesse haben, außer den Legenden, Abschnitte über kirchliche und
weltliche Feiern. Aber auch hier muß das wirklich Interessante erst aus
einem Wust von Einzelheiten herausgesucht werden, so daß die Lektüre
der Brähmana sehr unerquicklich ist. Im Gegensatze zu den Veden sind
die Brähmana in Prosa geschrieben, die in den Legenden ausgezeichnet
klar und durchsichtig ist. Nicht alle Brähmana haben Anspruch auf hohes
Alter, w4e schon die Sprache zeigt. Die meisten Brähmana hat der Säma-
veda, zu dem nicht weniger als 1 1 bekannt sind, von denen bereits 8 im
Druck vorliegen; es sind meist ganz kurze und junge Werke. Zum Rgveda
gehören zwei, zum Atharvaveda ein Brähmana. Daß auch der Text des
schwarzen Yajurveda brähmanaartige Teile enthält, ist schon erwähnt worden.
Weitaus das altertümlichste und wichtigste aller Brähmana ist das Sata-
Pathabrähmana, „das Brähmana der hundert Pfade", das zum weißen Yajur-
veda gehört und in zwei Bearbeitungen auf uns gekommen ist. Es ist
kein einheitliches Werk. In der uns bis jetzt allein vorliegenden Fassung
heben sich deutlich zwei ursprüngiich ganz getrennte Teile ab, einer, der
im Westen von Indien spielt, und einer, der dem Osten angehört. Die
Autorität in dem ersten ist Sändilya, in dem zweiten Yäj'navalkya, der
aus dem Westen nach dem Osten gewandert w^ar und an dem Hofe des
Königs von Videha, Janaka, eine Rolle gespielt hat. Der Abschnitt des
Sändilya handelt vorwiegend vom Feuerdienste, und es scheint, daß Sän-
dilya das Feuerritual organisierte und Yäjfiavalkya es in seine Schule
übernahm. Aus keinem andern Werke können wir die Entwicklung der
relig-iösen Anschauungen in priesterlichem Sinne so klar nachweisen, wie
aus dem Satapathabrähmana. Es enthält auch eine große Anzahl histo-
rischer Angaben, teils direkter, teils aus Namen zu erschließender, und
sehr alte und wichtige Legenden in ihrer ältesten Gestalt.
2. Ursprünglich nichts als Ergänzungen zu den Brähmana sind die Die Äranyaka.
Äranyaka, „die Waldwerke". Das Leben des Brahmanen zerfiel in vier
Stadien. Das erste war das des Brahmanenschülers. Es dauerte 12 Jahre
für jeden Veda, oder so lange, bis der Schüler den Veda kennt. Das
zweite war das des Hausherrn. Der Brahmane gründet sich einen eigenen
176
Richard Pischel: Die indische Literatur.
Haushalt. Er heiratet und hat die Pflicht, einen Sohn zu zeugen, der nach
seinem Tode das Manenopfer darbringt. Wenn er Runzeln und graues
Haar an sich sieht und Kinder seiner Kinder, soll er in den Wald ziehen
und dort sich ganz dem Studium des Veda widmen und in den höchsten
Geist versenken. Das ist das dritte Stadium, das des Waldeinsiedlers.
Das vierte Stadium, das des Weltentsagten, ist eine Steigerung des dritten.
Der Brahmane muß in tiefem Schweigen verharren; er darf mit niemandem
verkehren und nur so viel Nahrung zu sich nehmen als genügt, um das
Leben zu fristen. Alle seine Gedanken soll er auf den Allgeist richten.
In diesen beiden letzten Stadien, vor allem im dritten, sind im Walde die
Äranyaka entstanden und studiert worden. Noch heut gelten sie in Indien
als ausschließlich für die bestimmt, die dem weltlichen Leben entsagt
haben, ja, die orthodoxen Hindus glauben, daß die Lektüre derselben
jedem andern als einem Einsiedler Geldverlust, Krankheit, Trauer, zu-
weilen alle drei zusammen, bringt.
Die Upanisad. 3. Das Hauptinteresse liegt bei den Aranyakas in den Abschnitten,
die philosophische Spekulationen enthalten. Diese führen den Namen
Upanisad, „Geheimlehre". Wie die Äranyaka von den Brähmana, so lösten
sich die Upanisad allmählich als eigene Werke von den Äranyaka ab.
Ursprünglich Textbücher der Dogmatik der einzelnen Vedaschulen, stehen
die späteren Upanisad oft nur noch in sehr losem, zuweilen in gar keinem
Zusammenhang mehr mit dem Veda, zu dem sie sich bekennen. Alle
älteren Upanisad haben denselben Inhalt. Sie verherrlichen die Größe
und Macht des Ätman oder Brahman, des Allgeistes, und suchen die Lö-
sung des Rätsels seines Einsseins mit dem Ich des einzelnen Menschen.
Ihrem Werte nach sind die Upanisads sehr verschieden. Manche sind voll
von glühenden Schilderungen der Gottheit und echt philosophischen Ge-
danken und in edler, schwunghafter Sprache geschrieben. Andere da-
gegen sind recht ärmlich nach Form und Inhalt. Besonders gilt dies von
sehr vielen Upanisads, die sich zum Atharv^aveda rechnen. Unter ihnen
sind Werke, die schon ganz ausgesprochen sektarischen Charakter tragen,
und in denen Diagramme und mystische Formeln, wie in den späten
Tantras, eine hen'orragende Rolle spielen. Die Upanisads sind schon
seit Jahrhunderten in Indien der angesehenste Teil der vedischen Literatur,
so daß jede Sekte ihre eigene Upanisad zu haben wünscht. Für die in-
dische Religionsgeschichte sind auch die späten Upanisads nicht ohne
Wert Allgemeineres Interesse aber haben nur die älteren. Obwohl rein
indischer Geist aus ihnen spricht, sind sie doch auch für die Geschichte
unseres religiösen und philosophischen Erkennens überhaupt von höchster
Bedeutung. Schopenhauer, der nur einen Teil in einer sehr schwer-
fälligen lateinischen Übersetzung, die ihrerseits auf einer persischen be-
ruht, kannte, erklärte sie für die belohnendste und erhebendste Lektüre,
die auf der Welt möglich ist; sie sei der Trost seines Lebens gewesen
xmd werde der seines Sterbens sein, und Deußen, der sich um die Upani-
Die vedische Literatur (ca. 1500 — 500 v. Chr.). 11. Die Erläuterungsschriften zu den Veden. i yy
sads die größten Verdienste erworben hat, erklärt das Neue Testament
und die Upanisads für die beiden höchsten Erzeugnisse des reUgiösen Be-
wußtseins der Menschheit.
4. Eine weitere Klasse von Erläuterungsschriften zur vedischen Lite- Die sntra.
ratur bilden die SfUra, „die Leitfäden". Sie sind Kompendien für den
praktischen Gebrauch. Die Brähmana waren allmählich zu einem Um-
fange angewachsen, daß ihr ursprünglicher Zweck, Hilfsbücher für den
Priester zu sein, dadurch vereitelt wurde. Es handelte sich darum, alles
Wichtige und Wissenswerte in kurzer und übersichtlicher Form darzu-
stellen, die sich dem Gedächtnis leicht einprägte. Diesem Bestreben ver-
danken die Sütra ihren Ursprung. Während in einem Brähmana die
verschiedensten Gebiete des Wissens nebeneinander behandelt werden,
beschränkt sich ein Sutra immer auf ein bestimmtes enges Gebiet, sucht
dieses aber möglichst zu erschöpfen. Der Stil der Sütra ist äußerst knapp,
oft fast rätselhaft und ohne Kommentar ganz unverständlich. Sie sind
eben in erster Linie dazu bestimmt, auswendig gelernt zu werden. Die
Erklärung gab der Lehrer in der Schule. Sie zerfallen in die zwei Klassen
der Srautasütra und der Sviärtasüfra, d. h. der Sütra, die sich auf die
offenbarte, heilige Literatur {sruti) beziehen {srautd) und die, die auf der
profanen Literatur {smrti) beruhen [smärta). Die Srautasütra enthalten
vor allem die Vorschriften, die dem Opferritual gelten. Sie lehren die
größeren Opfer, zu denen drei oder mehr Feuer nötig sind. Einen An-
hang dazu bilden die Stäbasilira, die die Vorschriften über die Ausmessung
des Opferplatzes, die Konstruktion der Altäre u. dgl. geben, also die
ältesten Angaben über indische Mathematik enthalten. Die Smärtasütra
zerfallen in Grhyasütra und DharviasUtra. Die Grhyasütra beziehen sich
auf das tägliche Leben des Inders. Sie geben genaue Vorschriften für
alles, was von der Konzeption bis zur Beerdigung zu beachten ist, und
über die Spenden und Opfer, die der Laie selbst darzubringen hat. Sie
enthalten die ausführUchste und zuverlässigste Kulturgeschichte, die man
sich wünschen kann, und sind daher einer der interessantesten und wich-
tigsten Teile der indischen Literatur. Die Dharmasütra, „die Leitfäden
des Rechts", handeln von dem bürgerlichen öffentlichen Leben. Sie sind
die ältesten Werke über indische Gesetzgebung und Rechtspflege, auf
denen die späteren Dharmasästra und Smrti beruhen. Jeder der vier
Veden hat ein oder mehrere Sütra aller angegebenen Arten, die ihren
Namen nach dem Verfasser oder der Schule führen, zu der sie sich be-
kennen. Sie sind von sehr verschiedenem Alter.
An den Veda schließt sich auch die Entwicklung der Grammatik
an, in der die Inder Meister gewesen sind. Es ist bereits erwähnt worden,
daß sie zum Schutz des Textes des Veda ein eigenartiges System des
Lehrens und Lernens erfunden haben. Zu diesem Zwecke wurde der Text
in doppelter Gestalt aufgeführt, einmal mit allen durch die Gesetze der
Grammatik geforderten euphonischen Veränderungen {Samhitäpäthd), dann
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. ^^
j^3 Richard Pischel: Die indische Literatur.
ohne diese mit Abtrennung der einzelnen Worte, Auflösung der Kompo-
sita u. dgl. {Padapäfha). Zu zeig'en, wie der Samhitätext aus dem Pada-
text rekonstruiert werden konnte, war die Hauptaufgabe von Lehrbüchern,
die je nach der Schule {prafisäkJiain) verschieden waren und danach den
Namen Präfisäkhya führten. Diese Werke verzeichnen genau alle Ab-
weichungen der beiden Textformen; sie machen ferner genaue Ang^aben
über die Aussprache der Laute, Akzentregeln, Regeln über die Metrik u. dgl.
Es sind also wesentlich Lehrbücher der vedischen Phonetik und alles
dessen, was damit zusammenhängt, mit besonderer Rücksicht auf den Pada-
pätha. Sie enthalten die schärfsten und treffendsten physiologischen Be-
obachtungen, und wenn manche auch ihrer Form nach jung sind, so ist
ihr Inhalt doch sehr alt.
Die Vedänga. An die Prätisäkhya lehnt sich eine Klasse von Schriften an, die den
allgemeinen Namen Si'ksä, „Lehre", „Vorschrift", führen und als eines der
sechs Vedäiiga, „Glieder des Veda", gelten. Wie vier andere Vedäiiga:
^Metrik {chandas), Astronomie {j'yoHsä), Opferritual Qialpa) und Grammatik
{vyäkaranä), bezeichnet auch Siksä kein einzelnes Werk, sondern ist ein
Gattungsname. Die Siksäs sollen vor allem die richtige Rezitation der
Veden lehren. Sie geben die geistigen und körperlichen Eigenschaften
an, die jemand besitzen muß, der die Veden zu rezitieren wünscht, und
lehren, wie sich jemand für diese Aufgabe vorbereiten soll. Sie enthalten
ferner genaue Regeln über die Aussprache bestimmter Laute, über die
Modulation der Stimme, die Stellung des Körpers und Bewegung der
Hände und Füße bei der Rezitation u. dgl. Die besten unter den Siksäs
sind die, die sich zum schwarzen Yajurveda rechnen. Alle sind in der
vorliegenden Gestalt jung, gehen aber auf gute, alte Quellen zurück.
Zu den Vorläufern der klassischen Grammatik gehört ferner das sechste
der Vedänga, das Nirukia, „Etymologie", zu dem Yäska etwa im 5. Jahr-
hundert V. Chr. einen gleichnamigen Kommentar geschrieben hat. Das
alte Niruktam enthält eine Zusammenstellung aller Synonyma, die sich in
der vedischen Literatur finden, besonders schwieriger vedischer Wörter
und der vedischen Gottheiten. Von größter Wichtigkeit ist der Kommentar
des Yäska. Er gibt uns sehr wertvolle Aufschlüsse über die Vedaexegese
seiner Zeit. Wir ersehen daraus, daß schon in alter Zeit sich zwei Rich-
tungen in der Erklärung des Veda gegenüberstanden, die Philologen, die
sich nach der alten Überlieferung richteten, und die Linguisten, die den
Sinn der dunklen Vedaworte mittelst der Etymologie zu erschließen suchten.
Ganz derselbe Gegensatz besteht noch heut unter den europäischen Er-
klären! des Veda. Die etymologische Erklärungsweise, deren Hauptver-
treter im Altertum Yäska, in unserer Zeit Graßmann war, trägt vor
allem die Schuld daran, daß das Verständnis des Rgveda so langsame
Fortschritte gemacht hat.
Unter den Lehrbüchern der Metrik {chandas) ist das kleine Chandah-
sütra des Pihgala zum Range eines Vedänga erhoben worden, obgleich
B. Die nichtvedische Literatur. I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer, jyq
es die vedische Metrik nur ganz kurz behandelt und nichts Wesentliches
zu ihrer Aufhellung- beiträgt. Der Hauptteil handelt von der klassischen
Metrik. Nach einer glaubwürdigen Überlieferung" soll Pirigala ein jüngerer
Bruder des großen Grammatikers Pänini gewesen sein, den man ins 4.
oder 3. Jahrhundert v. Chr. setzt. Ebenso wie die Grammatik des Pänini,
bezeichnet also avich die Metrik des Pihgala nicht den Anfang, sondern
den Abschluß einer langen Entwicklung.
In sehr verwahrloster Gestalt ist uns das Jyotisa, das Vedäiiga, das
von der Astronomie handelt, überliefert. Sein Text ist über alle Maßen
verdorben, so daß das Verständnis noch viel zu wünschen läßt. Sein Zweck
ist, die Zeiten und Tag-e zu bestimmen, die für die Opfer geeignet sind,
wobei es auch über die Mondstationen handelt. Es gilt von ihm dasselbe,
wie von den Siksäs. Die Form ist jung, der Inhalt alt.
B. Die nichtvedische Literatur (etwa 500 v. Chr. bis zur Gegenwart).
I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer
(bis etwa 300 n. Chr.). Der Versuch, die wissenschaftliche Literatur der
späteren Zeit an die vedische anzuknüpfen, begegnet, wie sich aus dem
Dargelegten ergibt, den größten Schwierig^keiten. Ohne Zweifel waren
alle Elemente vorhanden; die auf uns gekommenen Werke aber sind meist
jung. Sie setzen selbst schon eine reiche Literatur voraus und nennen
teilweise auch viele Vorgänger. Mehr als irgendwo anders hat in Indien
ein Werk, das geschickter als frühere die Resultate der Forschung zu-
sammenzufassen oder auch nur in einem Punkte weiterzuführen verstand,
seine Vorgänger verdrängt. Die älteren Werke wurden nicht mehr abge-
schrieben und gingen verloren. Der Mangel an historischem Sinn, der
den Indern eigen ist, zeigt sich darin sehr deutlich. Über die Zeit auch
der bedeutendsten älteren Autoren sind wir völlig im dunkeln. Jede
Literaturgattung tritt uns auf ihrer letzten Stufe entgegen, jedes System
ganz ausgebildet. Werke, die man für die besten ihrer Art hielt, verlegte
man in das graue Altertum, ja führte sie auf Götter oder Heilige zurück.
Mit dieser Wertschätzung- im Widerspruch steht, daß man nicht die ge-
ringste Scheu trug, den überlieferten Text nichtvedischer Werke in will-
kürlichster Weise zu verändern. Bei der schönen Literatur entschied dabei
oft der herrschende Geschmack einzelner Länder. Wie in späterer vedi-
scher Zeit deutlich ein Gegensatz zwischen Westen und Osten, so tritt in
der klassischen ein solcher zwischen Bengalen und dem Dekhan hervor,
während Kaschmir seine eigenen Wege ging. So liegt uns z. B. die
Sakuntalä des Kälidäsa in drei Bearbeitungen vor, einer bengalischen,
einer südindischen und einer kaschmirischen, aus deren Mischung noch
eine vierte entstanden ist, die in Zentralindien die verbreitetste ist. Den
ursprünglichen Text herzustellen, ist unmöglich. Wir müssen uns begnügen,
l8o Richard Pischel: Die indische Literatur.
auf philologischem Weg"e dem Original möglichst nahe zu kommen. Auf
dem Gebiete der Grammatik schieden sich zwei Schulen voneinander, die
östliche und die nördliche. Schon Yäska erwähnt sie, ebenso Pänini. Die
Rhetoriker unterscheiden drei bis vier Stilarten, die die Namen von Län-
dern im Westen, Osten und Süden Indiens tragen. Auch religiöse Beweg-
gründe haben weitg^ehenden Einfluß auf die Gestaltung der Literatur aus-
geübt. Im Mahäbhärata lassen sich deutlich zwei Richtungen unterscheiden,
eine visnuitische und eine äivaitische; bald ist Visnu-Krsna der gefeierte
Gott, bald Siva. Politische und religiöse Strömungen haben den Grund-
charakter des Epos im Laufe der Jahrhunderte völlig verändert. In sek-
tarischem Sinne ist auch die große Literatur der Puräna (s. S. 195 f.) umge-
arbeitet worden. Tief einschneidend war ferner die literarische Tätigkeit
der Jaina, die, im Gegensatz zu den Buddhisten, nicht bloß ihre eigene
heilige Literatur in Präkrit studierten, sondern auch an der Sanskritliteratur
regen Anteil nahmen. Von dem bekanntesten indischen Fabelwerk, dem
Pancatantra, sind uns neben einer kaschmirischen und südindischen Re-
zension mehrere mittelindische bekannt, die jainistischen Einfluß zeig-en.
Aus allen diesen Gründen ist eine streng geschichtliche Darstellung
der nachvedischen Literatur völlig unmöglich. Die vedische Literatur
trägt, obwohl über Jahrhunderte verteilt, einen einheitlichen Charakter
durch ihren Stoff. Bei der späteren Literatur fällt auch dies weg. Viele
Jahrhunderte sind scheinbar gar nicht vertreten, so daß Max Müller die
Ansicht ausgesprochen hat, vom i. Jahrhundert v. Chr. bis wenigstens zum
3. Jahrhundert n. Chr. habe in Indien ein literarisches Interregnum ge-
herrscht. Das ist unrichtig. Ohne Zweifel hat die nationale Dynastie der
Gupta im 4. Jahrhundert n. Chr. der Sanskritsprache und Sanskritliteratur
zu neuer Blüte verholfen, und die klassische Literatur datiert erst von
dieser Zeit an. Aber geruht hat die Übung der Poesie und der Wissen-
schaft nie. Das beweisen die großen Epen, die Inschriften der Gupta, die
eine lange Pflege der Kunstpoesie voraussetzen, das Drama, dessen all-
mähliche Entwicklung wir aus überlieferten Nachrichten erschließen können,
die Anthologieen in Sanskrit und Präkrit, die eine gewaltige, uns zum
großen Teile noch ganz unbekannte Literatur voraussetzen, die gesamte
wissenschaftliche Literatur. Was uns fehlt, sind die Mittelglieder. Aber
das Resultat liegt vor. Daß die arischen Inder sich stark mit der ein-
heimischen Bevölkerung vermischt haben, zeigt ihre körperliche Erschei-
nung. Auch wird das Klima, das um so heißer wurde, je mehr sie nach
Osten zogen, nicht ohne Einfluß geblieben sein. Aber nichts hat ver-
mocht, das Volk in seinem Charakter zu ändern. Der Geist, der aus den
Liedern des RgA'eda spricht, ist derselbe, der in Bänas Hymnus auf die
Göttin Candl aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. weht. Nur die Gottheit und
die äußere Form haben gewechselt.
DievorUassische Gehen wir jctzt in Kürze die einzelnen Gebiete der vorklassischen
wissenschaftliche
Literatur. Literatur, zuerst der wissenschaftlichen, dann der poetischen, durch.
B, Die nichtvedische Literatur. I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer, i g I
I. An die in den Brähmanas und älteren Upanisads niedergelegten Philosophie,
philosophischen Spekulationen knüpfen, teils zustimmend, teils ablehnend,
alle späteren philosophischen Systeme Indiens an. Ihre Zahl war außer-
ordentlich groß, und sie zeigen alle Schattierungen philosophischen Den-
kens vom orthodoxen Vedaglauben bis zum schroffsten Skeptizismus, vom
Monotheismus bis zum zynischen Materialismus. Der Kanon der Jaina
kennt nicht weniger als 363 verschiedene Systeme. Nur 6 aber gelten
als vereinbar mit den Lehren des Veda, also orthodox: das Säiiikhya des
Kapila, der Yoga des Patafijali, der Nyäya des Gotama, das Yaise-
sika des Kanada, die Karmaunniäinsä oder Pürvamlmämsä., schlechthin
gewöhnlich bloß Mlmämsä genannt, des Jaimini, und die Brahmavii-
inämsä oder Sänrakamimämsä oder Uftaramlmämsä, g'e wohnlich Vedänta
genannt, des Bädaräyana. Die Bezeichnung als orthodox kommt nur
den beiden Mimämsäs zu. Die erste ist ein System des Werkdienstes.
Sie untersucht die Pflichten, die sich aus dem Veda ergeben, und die
Frucht, die ihre Befolgung zeitigt. Der Vedänta fußt ganz auf den alten
Upanisads. Sein Grundg'edanke ist die Identität des Brahman, des ewigen
Prinzipes allen Seins, mit dem Ätman, der Seele. Wer sein eigenes Selbst,
seine Seele, als identisch erkennt mit dem Allgeist, wird nicht wieder-
geboren; er wird erlöst von der Seelenwanderung-, der ein Ziel zu setzen
die Aufg-abe aller philosophischen Systeme ist. Das Brahmasütra des
Bädaräyana ist kommentiert worden von Samkara, der auch zu vielen
Upanisads Kommentare geschrieben hat. Samkara, der von 788 — 820 g'e-
lebt hat, ist ein in der indischen Literatur hochberühmter Mann, der Er-
neuerer des orthodoxen Brahmanentums. Ihm werden sehr viele Werke,
auch Gedichte, zug^eschrieben, und sein Leben ist in mehreren Werken
romanhaft geschildert worden. Das Nyäyadarsana ist ein System der in-
dischen Logik; das Vaisesikadarsana, mit dem Nyäya oft zu einem Ganzen
verbunden, lehrt die Entstehung der Welt aus Atomen. Zu den ältesten
Systemen gehört das Sämkhya des Kapila, auf dem der Buddhismus fußt,
soweit er überhaupt Philosophie genannt werden kann. Das Sämkhya
lehrt einen Dualismus der Urmaterie und der gleichfalls von allem An-
fang an existierenden Einzelseelen. Es gibt nach ihm keinen Gott, der
Schöpfer oder Regierer der Welt ist. Es ist also atheistisch. Die Er-
lösung tritt nach ihm ein, sobald der Geist erkannt hat, daß er in seinem
Wesen völlig verschieden von der Materie ist. Dann trennt er sich von
ihr, ohne je wieder zu ihr zurückzukehren. Das Yogasütra deutet das
Sämkhya theistisch um. Es nimmt einen Urgeist an, aus dem alle andern
Geister stammen. Die Vereinigung mit ihm bringt die Erlösung', und sie
wird erreicht durch Buße und Kasteiung. Die uns erhaltenen Werke sind
alle jüngeren Ursprungs. Keins geht wirklich auf den Mann zurück, dessen
Namen es trägt. Beim Särnkhya zeigt das älteste, die Sämkhyakärikä des
Isvarakrsna, vor dem 6. Jahrhundert n. Chr. entstanden, sog'ar metrische
Form, nicht die der Sutra, wie die übrigen. Aber der Inhalt ist nachweislich alt.
lS2 Richard Pischel: Die indische Literatur.
Grammatik. 2. Vorbildlich für die europäische Forschung sind die Arbeiten der
Inder auf dem Gebiete der Grammatik geworden. Die Durchsichtigkeit
des Sanskrit gestattete eine Zergliederung des Wortes, die andere indo-
germanische Sprachen versagten. Schon in den Brähmana und Äranyaka
finden sich grammatische Spekulationen, aber theologisch -mystischen In-
halts in dunkler Sprache. Der grammatischen Erklärung der Veden
dienten, wie wir sahen, die Prätisäkhya, das Niruktam, die Siksäs. Das
Prätisäkhya des Rgveda ist in Versen geschrieben, die der übrigen Veden
dagegen in den kurzen Aphorismen der Sütra. Und diese Form ist später
die allein herrschende geworden. Ihren Höhepunkt erreichte die gramma-
tische Forschung in dem Werke des Pänini, dem Astakani Päninlyam
oder der AsiädhyäyJ, aus acht [asfan) Büchern mit 3983 Regeln bestehend.
Pänini erwähnt ganze Schulen und nicht wenige einzelne Männer als Vor-
läufer. Trotzdem ist seine Zeit nicht zu bestimmen. Man pflegt ihn ins
4. oder 3. Jahrhundert v. Chr. zu setzen. Über seine persönlichen Ver-
hältnisse wissen wir nur, daß er im Dorfe Salätura, im nordwestlichen
Indien in der Xähe des heutigen Atak, geboren wurde, und daß seine
Mutter Däksl hieß. Die Legende berichtet von ihm, wie von Kälidäsa,
daß er ursprünglich ein Dummkopf war, daß er aber durch strenge Buße
auf dem Himälaya die Gunst des Siva erwarb, der ihm eine neue Gram-
matik offenbarte. Der Legende gehört es vielleicht auch an, daß er seinen
Tod durch einen Löwen gefunden hat. Nach indischer Anschauung freuen
sich Grammatiker, wenn sie einen halben kurzen Vokal in einer Regel
sparen können, darüber ebenso sehr, wie über die Geburt eines Sohnes.
Dementsprechend geht ihr Bestreben auf möglichste Kürze aus. Bei
Pänini ist die alte Form der Sutra auf den denkbar geringsten Umfang
beschränkt worden. An die Stelle lebendiger Worte sind zum großen
Teil Abkürzungen von Worten und Kombinationen aus Buchstaben ge-
treten, die an und für sich völlig sinnlos und ohne Kommentar ganz un-
verständlich sind. So haben die Regeln die Gestalt algebraischer Formeln
erhalten. Zur Aufklärung einer Regel muß man aber meist auch noch
andere vorhergehende Regeln herbeiziehen, aus denen sich Zusätze oder
Einschränkungen ergeben. Solche Hauptregeln waren ursprünglich durch
bestimmte Zeichen im Texte hervorgehoben, und ihr Wirkungsgebiet durch
Zahlen festgesetzt. Unsere Handschriften haben diese Bezeichnungen nicht
mehr. Die Schwierigkeit des Verständnisses würde sich wesentlich ver-
mindern, wenn alle zusammengehörigen Regeln auch wirklich hinter-
einander ständen. Das ist aber nicht der Fall. Die Regeln stehen oft
außer aller Verbindung. Auf eine allgemeine Regel folgt unmittelbar eine
ganz spezielle. Die Masse der Ausnahmen zu einer Hauptregel verdunkelt
sehr oft den Zusammenhang, und zwischen Wichtigem und Unwichtigem
wird kein Unterschied gemacht. Diesen Mangel hat man in Indien selbst
empfunden. Spätere Werke, die Kaiimiidl^ „Mondschein", genannt werden,
machen den Versuch einer systematischen Anordnung. Ob Päninis Dar-
B. Die nichtvedische Literatur. I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer. 183
Stellungsweise nicht auf der Methode des Unterrichts beruht, läßt sich
nicht sagen. Seine Grammatik verfolgt jedenfalls den Zweck, dem Ler-
nenden die Möglichkeit zu geben, sofort jede Form korrekt zu bilden.
Pänini lehrt auch nicht die spätere Sprache der klassischen Dichter, son-
dern die der Brähmana und Sütra, was scheinbare Lücken erklärt. Wie
weit er auf den Schultern seiner Vorgänger steht, entzieht sich unserer
Kenntnis. Er zeigt, daß die indischen Grammatiker viel tiefer in das
Wesen der Sprache eingedrungen sind als die griechischen und römischen.
Er soll auch eine Präkritgrammatik und Kunstgedichte verfaßt haben.
Ergänzungen und Verbesserungen zu Pänini gab Kätyäyana oder Vara-
ruci, den eine Xradition zu einem Zeitgenossen Päninis macht. Sein Werk
ist uns nur in dem „großen Kommentare" dazu, dem Vyäkaraiiamahäbhäsya^
gewöhnlich Viürzev Mahäbhäsya genannt, desPatanjali erhalten, der diese
Ergänzungsregeln, Yärttika^ im Wortlaut aufgenommen und geprüft hat, ob
alle, ist nicht zu sagten. Man setzt ihn ins 2. Jahrhundert v. Chr. Pänini,
Kätyäyana und Patanjali sind die gefeiertsten Namen auf dem Gebiete
der Grammatik. An ihre Arbeiten schließt sich eine sehr umfangreiche
Literatur an, aus der hier nur die Käsikä des Vämana und Jayäditya ge-
nannt sei, der beste Kommentar zu Pänini, aus dem 7. Jahrhundert n. Chr.
Neben der Schule des Pänini gab es noch zahlreiche andere, die eigene
Systeme mit abweichender Terminologie aufstellten, in der Hauptsache
aber über Pänini nur insoweit hinauskamen, als sie auf eine spätere Sprach-
stufe Rücksicht nehmen.
3. Mit der Grammatik in engem Zusammenhang steht die Rhetorik. Rhetorik.
Im Gegensatz zu den grammatischen und philosophischen Werken sind
die rhetorischen meist in Versen geschrieben. Das vorwiegende Metrum
ist der ^loka. Er besteht aus zwei Versen, jeder zu 16 Silben, die durch
die Cäsur in zwei Hälften zu je 8 Silben geteilt werden. Sein eigen-
artiges Gepräge erhält er dadurch, daß die erste Hälfte jedes Verses
trochäisch, w u, die zweite dagegen iambisch, u _ u _, schließt. Der
Sloka ist das national indische Metrum. Er erscheint schon in alt-
buddhistischen Texten und ist das Metrum der Epen. In ihm, nicht in
Prosa, ist auch der weitaus größte Teil der fachwissenschaftlichen Litera-
tur geschrieben, selbst die juristische und medizinische, was auf uns einen
befremdenden Eindruck macht. Die weitschichtige rhetorische Literatur
behandelt die ganze Technik der Dichtkunst bis in die kleinsten Einzel-
heiten hinein. Sie ist, w4e die grammatische, überaus schwierig, gibt aber
wertvollen Aufschluß für das richtige Verständnis der indischen Kunst-
poesie, die später ganz nach ihren Vorschriften gearbeitet hat. Über den
Kreis von Fachleuten hinaus sind von Interesse die Werke über die
Dramaturgie und die Erotik. An der Spitze der ersten steht das
Bhäratiyanäfyasästra^ „das Lehrbuch der Schauspielkunst für Schauspieler",
oder, wie es die Inder deuten, des Bharata, der zum Schauspieldirektor der
Götter und angeblichen Erfinder des Dramas gemacht worden ist. Das Werk
jg, Richard Pischel: Die indische Literatur.
ist uns in mehreren Bearbeitungen, aber leider sehr schlecht überliefert.
Wir ersehen aus ihm, wie ganz allmählich aus den oben geschilderten
Anfängen in vedischer Zeit das indische Schauspiel durch Puppenspiel
imd Mimus sich zu immer größerer Vollendung erhob, mit wie beschei-
denem szenischen Apparat man arbeitete und doch begeisternde Wirkung
auf die Zuhörer ausübte. Es zeigt uns in Verbindung mit zerstreuten
anderen Nachrichten, daß das indische Schauspiel ganz selbständig, ohne
jeden fremden Einfluß sich entwickelt hat. Von der uns erhaltenen ero-
tischen Literatur ist das älteste Werk das Kämasiltra, „Leitfaden der
Liebe", von Vätsyäyana. Drei Triebfedern bestimmen nach Ansicht der
Inder das Handeln der Menschen, die Moral {dharma), der Nutzen {arthd)
und die Liebe {kä?na). Die Liebe aber ist nach den Erotikern „die
größeste unter ihnen".
So haben sie, entsprechend der Neigung der Inder zum Schemati-
sieren, auch die Liebe und ihre Äußerungen in ein ausgebildetes System
gebracht, das im Kämasütra in genau derselben aphoristischen Form dar-
gestellt ist, wie in den übrigen Sutra. Das Kämasütra ist eine außer-
ordentlich wertvolle Ergänzung der Grhyasütra. Es belehrt uns über den
Inder in allen Stadien der Liebe, über deren Äußerungen, die Freuden
der Liebe, die sehr eingehend geschildert werden, über die freie Liebe,
die Hetären, das Leben im Harem, die geschlechtlichen Verirrungen
u. dgl. In einem Anhang, Upanisad genannt, werden Rezepte aufgeführt,
die zu vielen Dingen gut sein sollen. Das Buch ist für den indischen
Philologen, den Kulturhistoriker und Arzt von großer Wichtigkeit, auch
für den Botaniker nicht ohne Wert. Seine Zeit dürfte das i. oder 2. Jahr-
hundert n. Chr. sein.
Recht 4. Die ältesten Quellen über das indische Recht {dharma) bilden die
DharmasUtra^ die zweite Stufe die Dharmasästra, „die Lehrbücher des
Rechts", die in der älteren Zeit aus Prosa und Versen gemischt waren,
später rein metrisch, meist im Sloka geschrieben sind und dann auch
Sttirti genannt werden. Dazu kommen als weitere Quellen das Mahäbhä-
rata und die Puräna und die gewaltige Literatur der Kommentare und
systematischen Werke, die sich an die Smrti frühzeitig angeschlossen hat.
Die späteren Kompendien haben die Originalwerke teilweise ganz ver-
drängt. Als die Engländer ihre Herrschaft über Indien begründeten, war
ein Kommentar zu dem Gesetzbuche des Yäjfiavalkya, die Mitäksarä des
Vijnänesvara, eines Südinders aus dem 1 1. Jahrhundert n. Chr., das maß-
gebendste Werk, das auch auf die englische Rechtsprechung in Indien
Einfluß gewann. Unter den Dharmasästra nimmt die erste Stelle ein
das MäJiava Dharmasästra, das in seiner vorliegenden Gestalt ins 2. oder
3. Jahrhundert n. Chr. gehören wird. Nach seinen eigenen Angaben ist
sein Verfasser der Urvater der Menschen, Manu. Als Verkünder des
Werkes wird der ebenso mythische Bhrgu genannt, dem sein Vater Manu
es offenbart habe. Ihm wird auch eine besondere Smrti zugeschrieben.
B. Die nichtvedische Literatur. I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer. 185
Wahrscheinlich ist das Gesetzbuch aus der vedischen Schule der Mäna-
väs hervorgegangen, die zum schwarzen Yajurveda gehört. Im Laufe der
Zeit hat es so viele Zusätze und Veränderungen erfahren, daß jetzt der
Zusammenhang mit den bisher bekannten älteren Werken der Mänaväs
nicht sehr stark hervortritt. Es umfaßt 12 Bücher {Adhyäya). Die ersten
sechs handeln von der Erschaffung der Welt und den Pflichten des
Brahmanen in den vier Stufen seines Lebens einschließlich bestimmter
Opfer, die zweiten sechs von den Pflichten des Königs, namentlich der
Art, wie er Recht zu sprechen und die Strafgewalt auszuüben hat, von
den Beschäftigungen der vier Kasten und der Mischkasten, von der Buße
und der Seelenwanderung. Bei der Behandlung des eigentlichen Rechtes
wird das Schuldrecht vorangestellt; es folgen die Lehre von den Stiftungen,
das Gesellschafts-, Handels-, Privat-, Straf-, Familienrecht und ein Anhang
über Spiel und Wetten. Das Mänavadharmasästra gibt als seine Grund-
lage an den ganzen Veda, die Tradition, den Lebenswandel und die Lehre
frommer Männer und die eigene Befriedigung, also das Gewissen. Es
nennt mehrere Rechtslehrer mit Namen und spricht von Dharmasästra im
allgemeinen. Es will aber nicht ein trocknes Lehrbuch des Rechts sein.
Es ist ein Gedicht und verfolgt die Tendenz, den Stand der Brahmanen
hoch über alle andern zu erheben. In keinem andern Werke der indi-
schen Literatur treten das Selbstgefühl und die Ansprüche des Priester-
tums so schroff hervor wie bei Manu. Die Priester haben es verstanden,
den alten Ausspruch des schwarzen Yajurveda: „Alles, was Manu gesagt
hat, ist Arznei", auf das Gesetzbuch anzuwenden und dem indischen Volke
einzuschärfen. Manus Gesetze sind schon frühzeitig die Norm geworden,
nach der sich das Leben des Inders zu richten hatte. Ursprünglich, wie
es scheint, ein Gesetzbuch des westlichen Indiens, ist es allmählich zu
dem von ganz Vorderindien geworden, und über dessen Grenzen hinaus in
Birma, Slam und Java gilt Manu als Urheber der Gesetze überhaupt.
Verknüpft sein Name Manu mit dem schwarzen Yajurveda, so weist
uns der des angeblichen Verfassers des zweitberühmtesten Gesetzbuches,
Yäjhavalkya, auf den weißen. Und wie für Manus Werk der Westen, so
ist für das des Yäjnavalkya der Osten Indiens als Heimat festgestellt. Der
Gegensatz zwischen den beiden Schulen des Yajurveda tritt auch in den
Gesetzbüchern hervor, indem Yäjnavalkya gegen Manu polemisiert, ohne ihn
mit Namen zu nennen. Daß Yäjnavalkya jünger ist als Manu, ist zweifellos;
viele Verschiedenheiten erklären sich aber auch aus lokalen Gründen. Je
später die Smrtis, die juristischen Werke, sind, desto spezieller werden sie.
Ihre Zahl ist sehr groß. In vielen tritt der juristische Charakter ganz
zurück. Sie werden zu poetischen Kompendien der Moral und Göttern
und Heiligen in den Mund gelegt, um durch den großen Namen ihre
Wertlosigkeit zu verdecken.
5. Für das Ansehen, das in Indien die Medizin genoß, spricht, daß Medizin,
man die medizinische Literatur mit einem Veda, dem Ayurveda, „Veda des
l86 Richard Pischel: Die indische Literatur.
Lebens", beginnen läßt, den man aufBrahman selbst zurückführte und als
einen Anhang des Atharvaveda betrachtete. Die Angaben der Mediziner
über dieses Werk stimmen so sehr überein, daß ihnen wohl etwas Wahres
zugrunde liegt. Als Arzte der Götter gleiten die A^vins, später Dhanvan-
tari, und der Atharvaveda ist voll von Liedern und Sprüchen gegen
Krankheiten. Jivaka Komärabhacca, ein Zeitgenosse des Buddha, war als
Arzt weit berühmt und wurde hoch bezahlt. Der König A^oka erwähnt
in seinen Inschriften aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., daß er Hospitäler für
Menschen und Tiere habe errichten lassen. Die Heilkunst ist also in
Indien unzweifelhaft sehr alt und hatte trotz allerlei abergläubischen An-
schauungen, namentlich bei der Prognose und in der Wahl der Arznei-
mittel, schon frühzeitig einen nicht geringen Grad der Ausbildung erlangt.
Daß ihr Ruf weit verbreitet war, zeigt, daß sich in Kaschgar Hand-
schriften aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. gefunden haben, die Sanskrittexte
rein medizinischen Inhalts enthalten, und daß auch in Tibet, Hinterindien,
Ceylon, Persien und Arabien die indische Medizin wohl bekannt war.
Zahlreiche Berührungspunkte finden sich auch zwischen der indischen und
griechischen Medizin. Welcher Teil hier der entlehnende war, ist nicht
sicher. Da auch auf dem Gebiete der Astronomie und Astrologie Griechen-
land auf Indien eingewirkt hat, kann es auch bei der Medizin in späterer
Zeit der Fall gewesen sein.
Der älteste uns erhaltene indische Schriftsteller über Medizin ist
Caraka, der nach chinesischen Quellen Leibarzt des Königs Kaniska im
I. Jahrhundert v. Chr. war. Sein Werk, die Carakasamhitä, gilt für die
Bearbeitung eines älteren Werkes des Agnivesa. Der Schlußteil des
fünften und die beiden letzten der acht Bücher der Samhitä rühren nicht
von Caraka selbst her, sondern sind nach ihrer eigenen Angabe von
einem späteren Verfasser aus vielen Büchern zusammengestellt. Auch die
übrigen Bücher haben große Veränderungen erfahren, so daß das Werk
sehr schlecht überliefert ist. Die Chirurgie wird gar nicht behandelt, da-
gegen ausführlich die Pharmakologie, Physiologie, allgemeine Pathologie,
Anatomie, die allgemeine und spezielle Therapie. Ein eigenes Buch
handelt über Diagnostik und Prognostik, einzelne Kapitel anderer Bücher
über Diätetik, Kurmethoden, Arzte und Kurpfuscher, das ärztliche Studium
u. a. Prosa wechselt mit Versen. Noch berühmter als Caraka war
Susruta, dessen Samhitä, auch Ayurvedaäästra genannt, im 5. Jahrhun-
dert n. Chr. längst Autorität gewesen ist. Der dritte in der Reihe der
berühmten ärztlichen Schriftsteller ist Vägbhata aus unbekannter Zeit,
dessen Werk in zwei Bearbeitungen vorliegt. Susruta und Vägbhata be-
handeln auch die Chirurgie. An diese „Trias der Alten" schließt sich
eine sehr umfangreiche medizinische Literatur an, darunter auch medizi-
nische Glossare.
Tierheilkunde. 6. Auch die Tierheilkunde ist bearbeitet worden. Wir besitzen Lehr-
bücher der Elefanten- und Pferdeheilkunde, die durch ihre Angaben
B. Die niclitvedische Literatur. I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer. 187
Über diese für Indien so wichtigen Tiere teilweise von großem Inter-
esse sind,
7. Wenig bekannt ist noch die Literatur über Musikwissenschaft. Musik-
Der Rgveda kennt schon eine große Zahl musikalischer Instrumente, und
wir erfahren aus ihm, daß im Kultus des Todesgottes Yama viel gesungen
wurde und glänze Kapellen spielten. Der Veda der Gesänge, der Säma-
veda, war den Manen geweiht, deren König Yama ist. Musik, Gesang
und Tanz werden auch sonst in vedischer und nachvedischer Zeit bei
religiösen und profanen Gelegenheiten viel erwähnt. Das beliebteste In-
strument war die Laute [vliia), die namentlich auch die Frauen zum Ge-
sänge spielten. Die Notationen zu Melodieen auf der Laute kennen wir
erst durch die Kompositionen des Somanätha aus dem Jahre i6og, der
allerdings nach altem Muster gearbeitet hat. Über die Technik des kirch-
lichen und weltlichen Gesanges sind wir bis jetzt noch im Dunkeln, so
zahlreich auch die Werke darüber sind. Bereits in dem zu den Vedähga
gerechneten Chandahsütra und in Siksäs findet sich die Bezeichnung der
sieben Töne der Oktave mit den Anfangsbuchstaben ihrer Sanskritnamen
sa ri ga ma pa dha ni. Durch Vermittlung der Perser und Araber
scheint daraus in Europa ut re mi fa sol la si geworden zu sein. Auch
der Nama Gamma, den Guido von Arezzo im Anfange des 11. Jahrhun-
derts der Tonleiter gibt, scheint auf das Neuindische gäma = Sanskrit
gräina zurückzugehen.
Neben hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen weist die vor- Die vor-
_ _ klassische poe-
klassische indische Literatur auch poetische Werke von hohem tische Literatur.
Rang auf.
I. Das indische Volk hat von ieher die größte Freude an Fabeln und ErzäWungs-
. . . . literatur.
Märchen gehabt, und es liegt nur an dem geistlichen Zuschnitt der vedi-
schen Literatur, daß uns aus ältester Zeit fast nichts davon erhalten ist.
Um die volkstümlichen Götter des Rgveda hatte sich ein Sagenkreis ge-
bildet, der aber im Veda selbst nur schwer aus Anspielungen und kurzen
Hinweisungen zu erkennen ist. Oft hilft uns zum Verständnis der alten
Erzählungsliteratur die klassische Literatur der Brahmanen, noch öfter die
der Sekten der Buddhisten und Jaina. Auf dem Konzile zu Räjagrha,
das unmittelbar nach dem um 480 v. Chr. erfolgten Tode des Buddha
stattfand, wurde ein Kanon der buddhistischen Lehre und Disziplin zu-
zammengestellt, der in seiner ältesten Gestalt verloren gegangen ist. Der
uns bis jetzt allein vollständig bekannte buddhistische Kanon, das Tipi-
taka, Sanskrit Tripifaka, „diej drei Körbe", ist der der Sekte der Vi-
bhajyavädinas. Er ist in Päli geschrieben und im i. Jahrhundert v. Chr.
unter König Vactagämani von Ceylon aufgezeichnet worden. Bruchstücke
einer zweiten Redaktion in Sanskrit, auf der die chinesischen Über-
setzungen beruhen, haben sich kürzlich in Chinesisch-Turkestan gefunden.
Die ältesten Bestandteile des Tipitaka reichen unmittelbar von der Zeit
des Buddha bis etwa 300 v. Chr. Die buddhistische Literatur ist zunächst
jgg Richard Pischel: Die indische Literatur.
rein persönlich. Sie lehnt sich ganz an den Stifter der Sekte an und
will nur vortragen, was der Meister gelehrt und wie er gelehrt und
gelebt hat. Der zweite der Körbe, für die indische Literaturg-eschichte
der wichtigste, führt den Namen Snffapifaka , Sanskrit Sülrapitaka.
Aber die Form ist nicht die knappe der alten Sütra. Im Gegenteil.
DogTiiatische Erörterungen und Predigten werden in überaus weit-
schweifiger und wortreicher, in ihrer Gleichmäßigkeit äußerst ermüdender
Weise vorgetragen. Dazwischen aber finden sich Gleichnisse eingestreut,
die auf Fabeln und Märchen hinweisen, auch selbst kurz ausführen, und
Erzählungen aus dem Leben des Buddha, einzelne von großer Schönheit,
wie das Mahäparinibbänasutta „das große Sütra vom letzten Sterben"
{pariiiirvänn) des Erhabenen.
Auch poetische Gestalt haben die Predigten angenommen. Eine der
ältesten und schönsten Sammlungen des Suttapitaka, der Suttanipäta, ist
vorwiegend in Versen geschrieben. Die Lieder der Mönche und Nonnen,
im Umfange von einem Verse bis über siebzig, schildern uns, wie die
Dichter und Dichterinnen aus sündhaftem Leben sich zur Befreiung durch
die Lehre des Buddha durchgerungen haben, oder geben uns Sinnsprüche
und moralische Betrachtungen. Und ganz buddhistisches Gepräge tragen
auch die Weisheitssprüche des Dhavimapada und Werke, wie das Peta-
vaff/m, „Erzählungen von Verstorbenen". Im allgemeinen ist diese Mönchs-
poesie sehr nüchtern und gleichförmig. Doch gibt es auch Stücke
darunter, die dichterischen Schwung tragen, wie wenn ein Mönch das
Glück der Versenkung in der Einsamkeit des Waldes schildert.
Diese geistliche Poesie läßt uns auf eine reiche Aveltliche Dichtkunst
schließen. Die buddhistische Fabelliteratur ist dreifacher Art. Sie ent-
hält Legenden von den Wiedergeburten des Buddha vor seinem letzten
Auftreten in dieser Welt, die sogenannten Jäfaka, ferner Legenden, die
sich auf den historischen Buddha, und endlich Legenden, die sich auf
seine Jünger beziehen, die Apadäna, Sanskrit Avadäna^ ein Wort, das
auch in weiterem Sinne von „Geschichte", „Erzählung" im allgemeinen
gebraucht wird. Die wichtigste dieser drei Klassen ist die erste. Sie ist
die umfangreichste und mannigfaltigste. Buddha liebte es, in seine Pre-
digten Erzählungen aus alter Zeit, Märchen und Fabeln einzuflechten, die
er mit dem Gegenstand seiner Predigt eng verknüpfte, um am Schlüsse
daraus die Moral zu ziehen. Die Erzählungen haben alle die gleiche Ge-
stalt; ihr Inhalt ist aber sehr verschieden, da Buddha in ihnen je nach
seiner Wiedergeburt als Gott, Mensch oder Tier aller Grade auftritt.
Das Jätaka zeigt die älteste Gestalt der epischen und dramatischen
Literatur, den Wechsel von Vers und Prosa. Auch hier waren die Verse
das Grundwerk. In ihnen stimmen daher auch alle Ausläufer des Jätaka
und ven\'andte Werke am meisten überein, während sie in der Prosa-
fassimg, die im Jätaka selbst einer jüngeren Zeit angehört, weit auseinan-
der gehn. Die älteste, noch nicht herausgegebene Jätakasammlung enthält
B. Die nichtvedische Literatur. I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer. i8q
nur die Verse. Von der großen Beliebtheit dieser Erzählungen zeugt es,
daß Szenen aus ihnen auf Reliefs des 3. Jahrhunderts v. Chr. dargestellt
sind. Obwohl im Dienste des Buddhismus verwertet, sind die Erzählungen
keineswegs buddhistische Erfindungen, sondern alther überkommenes Erb-
gut, einzelnes vielleicht vorindisch, das meiste echt indisch. Die Päli-
fassung- der Jätaka ist auch keineswegs, wie man lange geglaubt hat,
überall die Quelle, auf die alle anderen Redaktionen zurückgehen. Viel-
mehr stellt sich immer mehr heraus, daß auch die Sanskritbearbeitungen
der Fabeln und Märchen auf Überlieferungen zurückgehn, die im Munde
des Volkes umliefen.
Neben der buddhistischen Fassung in Päli tritt immer bedeutungs-
voller hervor die jainistische in Präkrit und Sanskrit. Die Sekte der
Jaina gründete Niyantha Näyaputta (Sanskrit Nirgrantha Jnäta-
putra), gewöhnlich mit seinem kirchlichen Namen Mahävira, „der große
Held", genannt, ein älterer Zeitgenosse und Rival des Buddha. Die Sekte
teilte sich in zwei sich gegenseitig befeindende Richtungen, die Digam-
baräs, die nackt gehn, und die Svetänibaräs ^ die ein weißes Gewand
tragen, was ihre Namen besagen. Jede Richtung hat ihren eigenen
Kanon, der in verschiedenen Präkritdialekten geschrieben ist. Bekannt
ist uns bisher näher nur der der Svetämbaräs, der Siddhänta, zu dem
eine überaus reiche nichtkanonische Literatur hinzukommt. Mahävira
liebte es, wie Buddha, in seine Predigten erbauliche Erzählungen einzu-
schalten. Solche finden sich schon in dem ältesten Teile des Kanons,
den zwölf Ahga, noch mehr aber in den späteren, in einem jüngeren
Präkrit geschriebenen Teilen. Die Jaina haben, wie schon bemerkt, auch
an der brahmanischen Literatur in Sanskrit lebendigen und hervorragen-
den Anteil genommen, aber auch eine eigene jainistische Literatur in
Sanskrit geschaffen. Überall finden sich bei ihnen Erzählungen, Märchen
und Fabeln, deren Tendenz hier natürlich jainistisch ist. Der Stoff läßt
sich zum Teil auch bei den Buddhisten und Brahmanen nachweisen; sehr
oft ist er aber bisher nur aus Jainaquellen belegt.
Das älteste Märchenwerk rein weltlicher Natur, von dem wir Märchen,
wissen, war die Brhatkathä des Gunädhya, in Paisäcl, einem Präkrit-
dialekt, vielleicht im i. oder 2. Jahrhundert n. Chr. im Dekhan verfaßt.
Dieses hochgefeierte Werk, das von den Indern auf eine Stufe mit dem
Mahäbhärata und Rämäyana gestellt wird, ist leider noch nicht gefunden
worden, obwohl es im 1 1. Jahrhundert noch ganz bekannt war. Zu dieser
Zeit ist es zweimal in Kaschmir in Sanskrit umgearbeitet worden, von
Ksemendra Vyäsadäsa in der Brhatkathämanjarl und von Somadeva
in dem Kathäsaritsägara^ Bearbeitungen, die zum Verluste des Originals
beigetragen haben mögen. Weitaus der geschicktere Bearbeiter war
Somadeva, dessen Werk eine Hauptquelle für die Märchenforschung
bildet. Wir finden hier eine Art der Erzählung, die für diese ganze
Literaturgattung charakteristisch ist. Die Haupt- oder, wie man zu
igo Richard Pischel: Die indische Literatur.
sagen pflegt, die Rahmenerzählung wird beständig durch kürzere Er-
zählungen unterbrochen, in die wieder andere, kürzere eingeschoben
werden. Dieses System der Einschachtelung erschwert die Übersicht
sehr und ist nur daraus zu erklären, daß jede Erzählung ein abg-e-
schlossenes Ganze für sich bildet und die Rahmenerzählung erst später
hinzugefügt worden ist, um dem Werke wenigstens den Schein der Ein-
heitlichkeit zu geben. Eine dritte Bearbeitung der Brhatkathä, von der
erst kürzlich eine Probe veröffentlicht worden ist, ist der Brliatkathäslo-
kasamgraha aus Nepal. Er unterscheidet sich in Form und Inhalt von
den beiden andern Bearbeitungen sehr bedeutend.
Fabeln. Weitaus das berühmteste Fabel werk ist das Pancataiitra, „Buch
der fünf Listen", des Visnusarman. Es besteht aus fünf Büchern und
liegt in mehreren Bearbeitungen vor, die sehr erheblich voneinander
abweichen, so daß es nicht mehr möglich ist, das Urpancatantra mit
Sicherheit zu rekonstruieren. Ihm am nächsten stand eine Pahlavi-Über-
setzung, die der persische Arzt Barzöi auf Befehl des Sassaniden Chosru
Nüshirvän (531 — 579) gemacht und einer größeren Fabelsammlung einver-
leibt hatte. Diese PahlavI-Ubersetzung ist verloren gegangen. Sie wird
aber treu dargestellt durch eine alte syrische Übersetzung, die der Perio-
deut Bud um 570 verfaßt hat. Diese syrische Übersetzung führt den
Titel y^Kalllag und Damnag''\ nach dem Xamen der beiden Schakale
Karataka und Damanaka, die im ersten Buche des Paiicatantra die Haupt-
rolle spielen. Im 8. Jahrhundert wurde die Pahlavi-Übersetzung von dem
zum Islam übergetretenen Perser 'Abdullah bnu l-Muqaffa" ins Arabische
übersetzt, und durch diese Übersetzung ist das Werk zu fast allen Völkern
Asiens, Europas und dem nördlichen Afrika verbreitet worden. Aus der
arabischen Bearbeitung sind eine jüngere syrische, eine griechische, per-
sische, hebräische und altspanische geflossen, aus der hebräischen wieder-
um, die sich durch besondere Treue auszeichnet, eine lateinische und eine
deutsche, die von Graf Eberhard I. von Württemberg (1265 — 1325) veran-
laßt wurde.
Das Pancatantra Avurde von Benfey 1859 ins Deutsche übersetzt.
In der Einleitung hat Benfey über das indische Grundwerk, seine Aus-
flüsse, sowie über die Quellen und die Verbreitung des Inhalts derselben
gehandelt. Diese Arbeit hat die vergleichende Märchen- und Fabel-
kunde begründet und dargelegt, daß Indien als die Heimat eines großen
Teils unserer Märchen und Fabeln anzusehen ist.
In Indien fast noch bekannter und mehr gelesen ist ein anderes
Fabelwerk, der Hitopadesa, „die passende Unterweisung", des Näräyana
in vier Büchern. Der Hitopadesa nennt sich selbst einen Auszug aus dem
Pancatantra und einem andern Werke und gibt an, daß er zur Belehrung
der Kinder geschrieben seL Über seine Zeit ist nichts Sicheres festzustellen,
ebensowenig über andere beliebte Märchenwerke, wie die VetälapaTica-
vimsaiikä, „die 35 Erzählungen des Vetäla", die Simhäsanadvätriynsikä, „die
B. Die nichtvedische Literatur. I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer, j n i
52 Erzählungen des Throns", die zur Zeit des Königs Bhoja von Dhärä
im II. Jahrhundert spielt und vielleicht das beliebteste Märchenwerk in
Indien ist, auch in mongolischer Bearbeitung existiert, die Sukasaptati,
„die 70 Erzählungen des Papageis", die ins Persische und Türkische über-
setzt wurde. Alle Märchenwerke sind auch in die meisten Volkssprachen
des nördlichen und südlichen Vorderindien übertragen worden und er-
freuen sich bis auf den heutigen Tag in dieser Gestalt der größten Be-
liebtheit. Viele von ihnen sind ganz spät. Sie mußten aber schon hier
erwähnt werden, weil eine chronologische Einordnung nicht möglich ist.
2. Ganz im Dunkeln sind wir auch noch über die Entstehungszeit des Epos.
großen indischen Epos, des Mahäbhärata. Sein Ansehen war in Indien
so groß, daß es als der fünfte Veda bezeichnet wurde. Im Unterschiede
von den Veden wird aber das Mahäbhärata einem Verfasser zugeschrieben,
dem Krsna Dvaipäyana gewöhnlich Vyäsa genannt, der es in drei Jahren
gedichtet haben soll. Danach heißt es auch „der Veda des Krsna". Nach
einer andern, ebenfalls im Mahäbhärata selbst enthaltenen Überlieferung
war Vyäsa nur der Ordner oder Zusammensteller, was sein Name besagt.
Ihm wird auch die Ordnung der Veden, der Puräna, des Vedänta und
anderer Werke zugeschrieben, und er wird zum Stammvater der beiden
Geschlechter gemacht, deren Kämpfe das Mahäbhärata schildert. Das Epos
nennt sich selbst ein Lehrbuch des praktischen Lebens, des Rechts und
der Liebe, legt also auf seine didaktischen Teile das Hauptgewicht. Es
rühmt von sich: „Wer dieses Gedicht gehört hat, der will nichts anderes
mehr hören, sowie dem, der die Stimme der Nachtigall gehört hat, die
rauhe Stimme der Krähe nicht gefällt." Ferner: „Es gibt keine Ge-
schichte auf Erden, die nicht auf diesem Epos beruhte, so wie der Leib
nicht ohne Speise erhalten werden kann. Von diesem Bhärata leben die
Dichter wie Diener, die ihr Glück machen wollen, von einem vornehmen
Herrn." Das ist in gewisser Hinsicht ganz richtig. Epiker und Drama-
tiker der klassischen und späteren Zeit nehmen ihren Stoff mit Vorliebe
aus dem Mahäbhärata. In der uns vorliegenden Gestalt umfaßt es etwa
Qoooo Doppelverse und einige Abschnitte in Prosa und ist in 18 Bücher
geteilt. Diesen Umfang hat es nach Ausweis einer Inschrift bereits im
6. Jahrhundert n. Chr. gehabt. Daß es schon zwei Jahrhunderte früher
als ein Lehrbuch des Rechtes galt, also schon die Zusätze unseres
Textes hatte, bezeugen Nachrichten aus dieser Zeit. Trotzdem unterliegt
es keinem Zweifel, daß unser Mahäbhärata nicht ein einheitliches Werk
eines Verfassers ist, sondern die Arbeit vieler Generationen, vielleicht von
Jahrhimderten in sich vereinigt. Es hat uns selbst die Nachricht erhalten,
daß es einst eine kürzere Rezension von 26 400 Versen gegeben hat, und
eine zweite, wonach es ohne die Episoden 24000 Verse umfasse. Ein
Grhyasütra erwähnt neben dem Mahäbhärata, „dem großen Bhärata", ein
einfaches Bhärata, und wir wissen aus zahlreichen Analogieen, daß mit
dem Vorsatz „groß" stets Werke bezeichnet werden, die Erweiterungen zu
JQ2 Richard Pischel: Die indische Literatur.
solchen ohne das Beiwort sind. Auf starke Überarbeitung weist auch
der Text selbst hin. Die Handschriften, vor allem die südindischen, haben
nicht bloß bedeutende Varianten im einzelnen, sondern oft auch eine ganz
andere Anordnung und andern Umfang des Textes. Die europäische
Kritik hat von den go ooo Doppelversen nur etwa 7000 als Urbestand-
teil gelten lassen wollen. Mag dies auch übertrieben sein, so viel steht
fest, daß sich aus der Masse des überlieferten Textes ein verhältnismäßig
kleiner Teil als Kern herausschälen läßt. Dieser Kern schilderte ein
historisches Ereignis, und sein Verfasser kann immerhin ein Vyäsa gewesen
sein, den die Nachwelt ins Reich der Sage versetzte.
Der Xame Mahäbhärata bedeutet „das große Gedicht von den Bha-
ratäs". Das Fürstengeschlecht der Bharatäs oder Bhäratäs leitete sich
von Bharata, dem Sohne der ^akuntalä und des Duhsanta ab. Es hatte
sich in mehrere Zweige gespalten, darunter die der Kuru und Pändu.
Ihren Kampf schilderte das alte Epos, dessen Inhalt in Kürze folgender ist.
Als König Pändu, der in Hästinapura am Ganges residierte, auf der
Jagd im Himälaya gestorben war, übernahm sein älterer Bruder Dhrta-
rästra die Herrschaft, die er vorher seinem jüngeren Bruder hatte abtreten
müssen, da er blind war. Pändu hinterließ fünf Söhne, Yudhisthira, Arjuna,
Bhlmasena von der Kunti, Xakula und Sahadeva von der MädrI. Dhrta-
rästra hatte 100 Söhne, deren ältester Dxiryodha.nsL war. Nach Pändus
Tode kamen die Witwen mit ihren fünf Söhnen, den Pändaväs, nach
Hästinapura zurück, und die Söhne wurden mit ihren 100 Vettern, den
Kauraväs, gemeinsam erzogen. Sie zeichneten sich bald so aus, daß
Durs'odhana neidisch wurde und den Thron zu verlieren fürchtete. Er
stellte ihnen auf alle mögliche Weise nach, auch noch, als es ihm ge-
lungen war, die Verbannung der Pändaväs durchzusetzen, so daß diese in
die Wälder flohen, wo sie lange umherirrten und viele Abenteuer be-
standen. Von Vyäsa hörten sie eines Tages, daß Drupada, der König
der Pancäläs, seine Tochter Krsnä, gewöhnlich DraupadI, „Tochter
des Drupada", genannt, demjenigen zur Frau geben wolle, der seinen ge-
waltigen Bogen spannen könne. Sie begaben sich als Brahmanen ver-
kleidet an den Hof des Drupada, Arjuna spannte den Bogen und erhielt
die DraupadI zur Frau. Er behielt sie aber nicht für sich allein, sondern
DraupadI wurde die Frau aller fünf Brüder, die sich in sie unter be-
stimmten Bedingungen teilten. Im Vertrauen auf ihren mächtigen Schwieger-
vater kehrten die Pändaväs nun aus der Verbannung zurück. Das Reich
wurde geteilt. Die Pändaväs machten Indraprastha, das heutige Delhi, zu
ihrer Hauptstadt und gelangten bald zu so großer Macht und so großem
Reichtum, daß Duryodhanas Neid aufs neue envachte. Er beschloß seine
Vettern durch List zu verderben. Er lud sie nach Hästinapura ein und
brachte, da Yudhisthira ein leidenschaftlicher Spieler war, ein Würfelspiel
in Vorschlag. Yudhisthira spielte mit einem Oheim des Duryodhana, dem
Sakuni, der durch Falschspiel bewirkte, daß Yudhisthira sein Vermögen,
B. Die nichtvedische Literatur. I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer, ig^
sein Reich, zuletzt seine und seiner Brüder Frau, die Draupadl, verspielte,
die Duhsäsana, ein Bruder des Durj'-odhana, als Sklavin halbbekleidet an
den Haaren ins Zimmer schleppte. Dhrtarästra aber legte sich ins Mittel.
Die Pändaväs wurden in ihr Reich zurückgeschickt, bald aber aufs neue
nach Hästinapura zum Spiel eingeladen. Sie verlieren wieder und müssen
sich nun verpflichten, 13 Jahre in die Verbannung zu gehn. 12 Jahre
sollen sie in den Wäldern, das 13. unerkannt unter den Menschen zu-
bringen. Während der 12 Jahre verrichten sie viele Taten, die der
Gegenstand zahlreicher Episoden sind, die das dritte Buch schildert. Hier
stehen z. B. die bekannten Erzählung-en von Nala und DamayantI und
von SävitrI, die Rückert so meisterhaft ins Deutsche übertragen hat.
Im 13. Jahre begeben sie sich verkleidet an den Hof des Königs der
Matsya, Viräta, wo sie sich bald beliebt machten. Namentlich Bhimasena
wurde wegen seiner Riesenkraft bewundert und gefürchtet. Sie vertreiben
alle Feinde des Viräta, unter ihnen auch Duryodhana. Da das 13. Jahr
inzwischen vergangen war, geben sie sich zu erkennen, und Arjuna erhält
für seinen Sohn xVbhimanyu die Tochter des Viräta zur Frau. Die Auf-
forderung, ihnen ihr Reich wiederzugeben, wies Duryodhana zurück, und
so kam es zum Kriege. Die Schlacht, an der alle Völker Indiens und
auch außerhalb desselben wohnende Barbaren teilnahmen, dauerte 1 8 Tage.
Ihre sehr ermüdende, von ewigen Wiederholungen und maßlosen Über-
treibungen strotzende Schilderung mit allen Einzelkämpfen umfaßt einen
großen Teil des Mahäbhärata. Schließlich siegen die Pändaväs durch
Verrat, besonders durch die tückischen Ratschläge des Krsna, eines
Fürsten des Volkes der Yädava, in dem sich der Gott Visnu inkarniert
hatte. Die Kauraväs und ihr Heer werden bis auf drei Mann getötet,
unter denen sich Asvatthäman befindet, dessen Vater Drona die Pändaväs
und Kauraväs in ihrer Jugend im Bogenschießen unterrichtet hatte. In
der Nacht macht Asvatthäman mit seinen beiden Gefährten einen Über-
fall auf das siegreiche Heer, das sie vernichten. Nur die fünf Pändaväs
entgehen dem Tode, da sie vom Lager abwesend waren. Sie versöhnen
sich mit Dhrtarästra, der sich mit seinen noch lebenden Verwandten als
Einsiedler in den Wald zurückzieht. Yudhisthira wird König von Hästi-
napura und feiert das große Roßopfer. Als zwei Jahre darauf Dhrtarästra
und seine Frauen durch einen Waldbrand ums Leben kommen, ebenso
Krsna stirbt und seine Hauptstadt vom Meere verschlungen wird, be-
schließen die Pändaväs der Welt zu entsagen. Pariksit, der Enkel des
Arjuna, wird zum König von Hästinapura eingesetzt. Damit betritt das
Gedicht sicheren historischen Boden, und diese Nachricht dürfte noch dem
alten Epos angehören, obwohl die Bücher 12 — 18 sonst gewiß zu den
jüngsten Zusätzen gehören. Es wird noch geschildert, wie die Pändaväs
auf ihrem Wege zu Indras Himmel bis auf Yudhisthira und seinen treuen
Hund, in dem sich der Gott der Gerechtigkeit, Dharma, verkörpert hat,
den Strapazen erliegen, wie Yudhisthira im Himmel seine Vettern, aber
DiB KtTLTUR DER GEGENWART. I. 7. Iß
jgi Richard Pischel: Die indische Literatur.
nicht seine Brüder vorfindet, die mit Draupadi in der Hölle sind, wie sich
alles aber als Trugbild entpuppt, um Yudhisthiras Standhaftigkeit zu
prüfen, und wie schließlich die glänze Familie in Indras Himmel vereinigt
wird.
Das Mahäbhärata ist nicht, wie man lange angenommen hat, tenden-
ziös zugunsten der siegreichen Partei der Pändaväs umgearbeitet worden.
Nirgends sind die Widersprüche ausgeglichen, und den streitenden Par-
teien wird gleichmäßig Lob und Tadel erteilt. Im Mahäbhärata sind
vielmehr zeitlich und landschaftlich ganz verschiedene Stücke zusammen-
geschweißt. Es macht ganz denselben Eindruck wie die Märchen- und
Fabelwerke. In eine Rahmenerzählung sind Untererzählungen einge-
schaltet worden, die durchaus nicht alle jung sind. Im Gegenteil, manche
sind uralt, und sie haben selbst wieder das Schicksal erlitten, interpoliert
zu werden. Das alte Gedicht verherrlicht die ritterlichen Taten der
Krieger; es war in der Kriegerkaste entstanden. Später kam es ganz
in die Hände der Priester, wahrscheinlich, wie schon bemerkt, in die der
Priester des Yajurveda, und erhielt dort seine jetzige Gestalt. Die Cha-
rakterzeichnung der Haupthelden ist so scharf, daß man deutlich sieht,
sie waren volkstümliche Figuren, an denen spätere Zeiten zwar ändern,
die sie aber nicht völlig umgestalten konnten. Dur^^odhana erscheint in
allen alten Stellen als gerechter und tapferer Fürst, von dem gesagt
wird, daß ihn alle Welt wegen seiner königlichen Natur ehrte, und der
stolz ist, den Heldentod zu sterben. Eine ganz volkstümliche Persönlich-
keit und ein Liebling des alten Epos ist der „Fuhrmannssohn" Karna, der
auf Seiten der Kauraväs ficht, obwohl er ein unehelicher Sohn der Kunti
vor ihrer Ehe mit Pändu ist, also zu den Pändaväs gehört. Alan hat ihn
mit Siegfried im Nibelungenliede und mit Hektor in der Ilias verglichen,
und ohne Zweifel hat er mit beiden manchen Zug gemeinsam. Als ein
gebildeter und lebenslustiger, dabei tapferer und ritterlicher Krieger wird
auf Seiten der Kuru auch Asvatthäman, der Sohn des Drona geschildert.
Die Pändaväs erscheinen als die ungebildetere Partei. Von Yudhisthira
sagt sein eigener Bruder Arjuna, daß er ein Prahler und Würfelspieler
sei, der sich nur bis auf Hörweite dem Kampfplatz nähere und von seinen
Freunden beschützen lasse. 13 Jahre lang, heißt es, habe er aus Furcht
vor Karna nicht schlafen können. Arjuna steht ganz in der Gewalt des
Krsna, dessen Ratschläge er befolgt, auch wenn er einsieht, daß sie ge-
mein und verwerflich sind. Er ist der Held nach dem Herzen der Priester.
Ein roher und gewalttätiger Mensch ist Bhimasena, der seinem Gegner
Duhsäsana, nachdem er ihn mit der Keule erschlagen hat, das Blut aus-
trinkt. Das Epos läßt alle Pändaväs im Himälaya geboren werden, und
zu dieser ihrer Heimat stimmt es, daß sie in Polyandrie leben, die sich
bis heut in den Ländern des Himälaya findet. Sie sind aus dem Norden
ins Mittelland gekommen, und, wie ihr Verhältnis zu Krsna zeigt, in die
Hände der Priester gefallen, deren Werk das Mahäbhärata in seiner
B. Die nichtvedische Literatur. I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer, jge
jetzigen Gestalt ist. So wie es uns vorliegt, gewährt das Epos keinen
reinen Kunstgenuß. Der alte Kern ist durch spätere Zusätze ganz ver-
dunkelt worden. Zu ihm sind hinzugekommen Erzählungen aus der alten
Geschichte und von früheren Königen, Stücke kosmogonischen und theo-
gonischen Inhalts, didaktische und dogmatische Teile — das längste Buch
des Mahäbhärata, das 12., ist ausschließlich didaktisch — , Tierfabeln,
Märchen, Stammbäume, Beschreibungen der Erde und der Götterwelten,
kurz alles, was für wissenswert galt. Im 6. Buche steht die Bhagavad-
gitä, „das Lied des Heiligen", jenes philosophische Lehrgedicht, das Krsna
dem Arjuna vor Beginn des großen Kampfes vorträgt und das zu den
gefeiertsten Schöpfungen der indischen Literatur gezählt wird. Es verherr-
licht Visnu als das höchste Wesen, und obwohl g"anz durchzogen von den
Anschauungen des atheistischen Sämkhya, gipfelt es in dem reinsten
Theismus, der oft begeistert, zuweilen aber auch in recht pedantischer
Weise gelehrt wird. Nicht bloß in Indien hat die Bhagavadgitä die
größte Bewunderung erregt, sondern auch in Europa. Wilhelm von
Humboldt und Hegel haben sie gefeiert, und Lorinser hat sogar
christliche Ideen in ihr nachweisen wollen. So ist das Mahäbhärata das
umfangreichste Gedicht der Weltliteratur geworden, in seiner Maßlosigkeit
echt indisch, wie in den Persönlichkeiten, die es schildert. Seine ältesten
Bestandteile hat man bis in die indogermanische Urzeit zurückschieben
wollen und ein indogermanisches Urepos angenommen, aus dem es zu-
gleich mit der Ilias und dem Nibelungenliede geflossen sei. Der Stoff ist
den Epen gemeinsam; seine Behandlung bei mancher notwendiger Ähn-
lichkeit doch ganz verschieden. Auf das Mahäbhärata ist aller Wahr-
scheinlichkeit nach die Nachricht des Rhetors Dio Chrysostomos aus dem
I. Jahrhundert n. Chr. zu beziehen, daß selbst bei den Indern die Gedichte
des Homer gesungen würden, die sie in ihre eigene Sprache übertragen
hätten. So seien sie wohlbekannt mit den Leiden des Priamos, den
Klageliedern und dem Jammer der Andromache und Hekabe und der
Tapferkeit des Achilleus und Hektor. Von einer Übersetzung des Homer
kann natürlich keine Rede sein. Die Stelle des Dio enthält vielmehr die
älteste Nachricht von dem Vorhandensein des Mahäbhärata. Einen An-
hang zu den 18 Büchern des Mahäbhärata bildet das Äscaryaparvan, „das
Buch der Wunder", gewöhnlich nach dem Namen des ersten seiner drei
Abschnitte Harivamsn, „Geschlecht des Hari", d, h. des Krsna genannt.
Es enthält die Jugendgeschichte des Krsna und eine Schilderung seiner
Taten. Er ist hier schon ganz zum Gott geworden. Eingestreute Epi-
soden sind mehrfach von Interesse.
Das gleiche Schicksal wie das Mahäbhärata haben die Piiräna, „alte
Geschichten" erfahren, die einst den zweiten Bestandteil des (S. 168) er-
wähnten alten Itihäsapuräna der vedischen Literatur bildeten. In ihnen
selbst findet sich ein Vers, der fünf Gegenstände als Inhalt eines Puräna
angibt: i. Schöpfung, d.h. Kosmogonie; 2. Wiederschöpfung, d.h. Zerstörung
13*
jq5 Richard Pischel: Die indische Literatur.
und Erneuerung der Welt, einschließlich der Chronologie; 3, Geschlecht,
d. h. Genealogie der Götter und berühmter Familien; 4. Manuzeiträume,
d. h. bestimmte große Perioden, denen je ein Manu mit seinen Göttern
und Weisen vorsteht und in denen er als Schöpfer und Erhalter der
Welt auftritt, und 5. Geschichte der Geschlechter d, h. der alten Dyna-
stieen.
Unsere Puräna stimmen zu dieser alten Beschreibung aber sehr
schlecht, teilweise gar nicht. Sie dienen alle sektarischen Zwecken,
namentlich der VerehrunQ- des ^iva und Visnu. An Stelle der alten
]M}i:hen sind oft kirchliche Legenden getreten; theologische Belehrungen,
philosophische Betrachtungen und religiöse Vorschriften aller Art nehmen
jetzt die Stelle alter historischer Überlieferung und alter epischer Er-
zählung ein. In einigen Puränas sind noch Register von alten Herrscher-
geschlechtern erhalten, und wenn sie auch unvollständig und voll von
Irrtümern sind, so darf man ihnen doch nicht ohne weiteres jede Glaub-
würdigkeit absprechen. Sie beruhen unzweifelhaft auf alten Quellen,
wie schon die oft wörtliche Übereinstimmung der sonst voneinander sehr
abweichenden älteren Puräna zeigt. Wie das Mahäbhärata wurden auch
die Puräna öffentlich rezitiert, was für verdienstlich galt. In ihnen selbst
wird die Zahl der Puräna auf 18 angegeben, wozu noch Upapuräna,
„Unter-Puräna", kommen, meist in gleicher Zahl genannt. Damit ist aber
die Reihe nicht erschöpft. Wie eine besondere Upanisad, so will jede
Sekte auch ein eigenes Puräna haben; ja es gibt ein Puräna in Maräthl-
sprache, das den Beruf des Barbiers verherrlicht. Am meisten entspricht
dem Charakter der alten Puräna das Visnupuräna. Von seinen fünf
Büchern enthält das vierte so ziemlich alles, was die Inder von ihrer
alten Geschichte in Wahrheit und Dichtung wissen. Es beginnt mit der
ältesten Zeit und reicht in Form von Prophezeiungen bis weit in die
christliche Zeit hinein. Nächst ihm ist zu nennen das Väyupuräna und
das Märkandeyapuräna, das sich von allen andern dadurch vorteilhaft
abhebt, daß es sich von sektarischen Zwecken fast ganz fernhält, über-
haupt ein fast rein erzählendes Werk ist. Ein Abschnitt in ihm, das
Devimähätmya, „die Herrlichkeit der Devl", feiert die Durgä, die Gemahlin
Sivas, und ist das Hauptbuch für deren Verehrer in Bengalen. Manche
Puräna sind als Ganzes nicht erhalten, sondern nur in einzelnen Ab-
schnitten, die bestimmte Gottheiten oder heilige Stätten preisen. Die
Puräna sind eine wenig erfreuliche Lektüre. Für die Kenntnis des spä-
teren Hinduismus und der Legenden sind sie aber sehr wertvoll. Sie
harren noch einer wissenschaftlichen Verarbeitung.
3. Die zweite Klasse der epischen Poesie neben Itihäsa und Puräna
Frühere bilden die Kävya. Sie sind Kunstsfe dichte, von einem Dichter nach einem
Kunstgedtchte, . -^ o /
die Kävya. emheitUchen Plane verfaßt. An ihrer Spitze steht das Rämäyana, „die Taten
des Räma", von Välmiki. Das Rämäyana wird als das erste Kävya und
sein Verfasser als erster Kavi, d. h. erster Kunstdichter genannt. Es
B. Die nichtvedische Literatur. I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer, iqy
bildet den Übergang von der Itihäsapoesie zu der höheren Kunstdichtung,
den Mahäkävya (S. 199), mit denen es viele Berührungspunkte hat. Väl-
miki soll der Tradition nach ein Straßenräuber gewesen sein, der viele
Verbrechen verübte, später aber seine Untaten bereute und sich als Ein-
siedler von der Welt zurückzog. Das Epos umfaßt 7 Bücher mit etwa
24000 Doppelversen, meist Sloka, aber auch kunstvollen Metren. Sein
Held ist Räma, eine Verkörperung des Visnu, sein Inhalt in Kürze fol-
gender.
In Ayodhyä, der Hauptstadt der Kosala, herrschte in alten Zeiten ein
König namens Dasaratha, Er hatte vier Söhne, Räma von der Kausalyä,
Bharata von der Kaikeyi, Laksmana und Satrughna von der Sumiträ. In
Räma hatte sich der Gott Visnu verkörpert, um den gewaltigen Götter-
feind Rävana auf Laiikä zu besiegen. Die Brüder liebten sich sehr. Be-
sonders Räma und Laksmana schlössen sich eng aneinander an, und ihr
Freundschaftsverhältnis ist in Indien ebenso gefeiert, wie das von David
und Jonathan bei den Hebräern und das von Achilleus und Patroklos bei
den Griechen. Erwachsen, wurden die Brüder von dem heiligen Visvä-
mitra an den Hof des Königs Janaka von Videha mitgenommen, der seine
Tochter Sita dem zugesagt hatte, der einen gewaltigen Bogen zu spannen
imstande wäre. Räma tat dies mit Leichtigkeit und errang so Sita. Als
bereits alle Vorbereitungen getroffen waren, um Räma zum Kronprinzen
und damit zum Nachfolger des Dasaratha zu weihen, wußte die bucklige
Sklavin Mantharä die Kaikeyi zu bewegen, die Krönung zu hintertreiben
und die Nachfolge in der Regierung für ihren Sohn Bharata, für Räma
aber die Verbannung zu fordern. Dasaratha, durch einen alten Eid ge-
zwungen, mußte nachgeben. Räma, von Sita und Laksmana begleitet,
ging 1 4 Jahre in die Verbannung. Dasaratha starb bald an gebrochenem
Herzen. Bharata weigerte sich, die Regierung anzutreten, suchte Räma
auf und nahm, als dieser die Rückkehr vor Ablauf der 14 Jahre ablehnte,
Rämas Schuhe mit sich, die er auf den Thron stellte und als eigentliche
Regenten betrachtete. In den Wäldern verrichten Räma und Laksmana
viele gute Taten, indem sie zahlreiche Dämonen und Ungeheuer töten.
Nach 10 Jahren zogen sie nach Süden und dort verliebte sich Sürpanakhä,
die Schwester des Dämonenfürsten Rävana von Lanka, in Räma, der
aber alle ihre Anträge abweist. Als sie dann Sita töten wollte, schlug
Laksmana sie zurück und schnitt ihr Nase und Ohren ab. Rävana be-
schloß die seiner Schwester angetane Schmach zu rächen, verliebte sich
aber sterblich in Sita und raubte sie, nachdem er Räma durch List
entfernt hatte. Auf der Suche nach Sita verbünden sich Räma und Laks-
mana mit Sugriva, dem Könige der Affen, den sie in sein Reich einsetzen,
aus dem er von seinem Bruder Välin vertrieben worden war. Hanumant,
der Minister Sugrivas, und Vibhisana, ein Bruder des Rävana, schließen sich
dem Zuge nach Lanka an. Die Affen bauen eine Brücke über das Meer, dringen
auf ihr nach Lanka, das man später als Ceylon gedeutet hat, vor, wo Rävana
igS
Richard Pischel: Die indische Literatur.
nach langten Kämpfen getötet und Sita befreit wird. Da die 14 Jahre der
Verbannung um sind, kehrt Räma nach Ayodhyä zurück, wo ihm Bharata
sofort die Herrschaft abtritt. Damit schloß das alte Gedicht. Das 7. Buch
führt nach einer langen ^Abschweifung über die Geschichte des Rävana,
von Jacobi die Rävaneis genannt, die Erzählung weiter. Die Bürger
reden darüber, daß Räma die Sita wieder zu sich genommen hat, ohne
zu prüfen, ob sie im Hause des Rävana ihre Unschuld bewahrt hat.
Räma verbannt Sita, die in der Einsiedelei des Välmlki Zwillinge gebiert,
den Kusa und Lava, denen Välmlki sein Epos lehrte. Schließlich wird
Sitäs Unschuld bewiesen. Es erfolgt die Wiedervereinigung der Gatten.
Der Schluß des Gedichtes beschreibt ihre Himmelfahrt. Buch i ist zum
größten Teile, Buch 7 ganz unecht. Auch in Buch 2 — 6 finden sich Inter-
polationen, die aber meist leicht zu erkennen sind. Im einzelnen hat der
Text sehr gelitten. Er liegt uns in drei Bearbeitungen vor, die sehr er-
heblich voneinander abweichen. Die Sage von Räma findet sich teil-
weise auch in einem Jätaka (S. 188 f.) und wird in eingeschobenen Stellen
des Mahäbhärata erwähnt, die schon das Rämäyana selbst kennen. Sie
gehört zu den beliebtesten Sagen Indiens. Välmlki gibt sie uns in der
Gestalt, die sie von den Priestern erhalten hat. Sie wollten in Räma das
Muster eines Menschen nach ihrem Herzen darstellen. Räma ist der
richtige fromme Duckmäuser, der nie murrt, sondern sich, wenn auch
jammernd, stets geduldig in das Schicksal füg^. Nie fällt er aus der Rolle.
Alle, die sich mit ihm verbünden, gleichen ihm. Wie Räma der Muster-
mensch, ist Vibhisana der Musterdämon und Hanumant der Musteraffe.
Välmlki hat ihre Charakterisierung vortrefflich durchgeführt, ebenso die
der anderen Personen der Sage, wie des Dasaratha, des Bharata und des
Välin. Am wenigsten Interesse für uns hat das 6. Buch in den Teilen, die die
Kämpfe zwischen den Dämonen und den Affen schildern. Wie im Mahäbhä-
rata, sind sie auch hier weit ausgesponnen und von ermüdender Einförmigkeit.
Das Rämäyana ist in fast alle neueren arischen und drävidischen
Sprachen Indiens übersetzt worden. Besonders berühmt ist die Über-
setzung des Tulsi Das (f 1624 n. Chr.) ins östliche Hindi, ein Gedicht,
von dem Growse in seiner Übersetzung sagt, daß es in Indien in jeder-
manns Händen ist, vom Hof bis zur Hütte, und gleichmäßig von jeder
Klasse der Hindus gehört und geschätzt wird, ob hoch oder niedrig, reich
oder arm, jung oder alt. Kellogg versichert, daß jeder Missionar im
Gangestale die Erfahrung gemacht habe, daß ein glückliches Zitat aus
Tulsl Das in der Predigt oder Konversation einen Blick des Verständ-
nisses selbst bei dem rohsten Bauer erweckt. Da Tulsi Das alles An-
stößige vermieden hat, ist sein Gedicht für die große Mehrheit des Volkes
in Hindüstän die Norm, nach der es sein Leben einrichtet, seine Bibel.
Durch diese Übersetzung ist das Rämäyana viel volkstümlicher geblieben
als das Mahäbhärata, obwohl das Original viel mehr den Charakter eines
Kunstgedichtes trägt als das Mahäbhärata.
B. Die nichtvedische Literatur. I. Die Literatur der vorklassischen Zeit und ihre Ausläufer, igg
4. In den späteren Kunstgedichten, den Mahäkävya, wird der Stoff fast Spätere Kunst-
IfGQlCutC die
ausnahmslos dem Mahäbhärata und Rämäyana entnommen, oder es werden MahäkaVya.
die Taten einzelner Fürsten verherrlicht. Der Stoff ist dem Dichter aber
nur das Mittel, um seine Kenntnis der Rhetorik, Metrik und Grammatik
zu zeigen. Schilderungen von Städten, Bergen, des Meeres, der Jahres-
zeiten, des Aufgangs und Untergangs und der Verfinsterung von Sonne
und Mond, von Belustigungen im Wald und Wasser, von Trinkgelagen
und Liebeslust, von Ehe, Geburt eines Knaben, Beratschlagungen, Boten-
entsendungen , Kämpfen , Siegesfeiern u. dgl. in tadellosem , beständig
wechselndem Metrum geschrieben, voll von Künsteleien aller Art, alles
nach bestimmt vorgeschriebener Schablone gearbeitet, bilden den Inhalt
eines Mahäkävya. An Stelle der freiströmenden epischen Dichtung ist die
gelehrte Kunstdichtung g^etreten, die von alten Stoffen lebt und nichts
Neues erfindet. Lassen hat nicht mit Unrecht die Zeit der Mahäkävya
dem alexandrinischen Zeitalter verglichen. Wie Simmias in den Texvo-
TTaiTvia seinen Gedichten die Form einer Axt oder eines Nachtigalleneis
oder der Flügel des Eros, Dosiades ihnen die eines Altars gab, so fügen
die Dichter der Mahäkävya vom 7. Jahrhundert an in ihre Gedichte
Strophen ein, die die Gestalt eines Schwertes oder einer Lotosblume oder
eines Rades haben, die von hinten nach vorn und von oben nach unten
gelesen immer dieselben Worte ergeben, in denen nur zwei Konsonanten
vorkommen, die Alliteration und Reim, Doppelsinn und Wortspiele ent-
halten u. dgl. Ein Dichter, der uns nur unter dem Namen Kaviräja
„Dichterkönig-", bekannt ist, hat sein Gedicht so abgefaßt, daß es in den-
selben Worten je nach der Abteilung und Interpretation zugleich den In-
halt des Mahäbhärata und des Rämäyana wiedergibt. Andere legen
Strophen ein, die man in zwei, ja bis sechs verschiedenen Sprachen ver-
stehen kann. Wieder andere verfaßten lange Gedichte in Sanskrit und
Präkrit, deren Zweck ist, die Grammatik dieser Sprachen durch Beispiele
zu belegen. So unnatürlich und dem Wesen der Dichtkunst widersprechend
solche Werke sind, so wäre es doch unrecht zu glauben, daß es ihnen an
dichterischer Schönheit ganz gebricht. Selbst in ihnen verleugnet sich
die Begabung der Inder nicht, stimmungsvolle Naturschilderungen zu geben
und durch eingestreute Sentenzen und Vergleiche scharfe Beobachtung
und Menschenkenntnis zu zeigen. Zur Wirkung kommen die Mahäkävya
aber nur im Urtext und auch dann nur nach wiederholter Lektüre mit
Herbeiziehung der Kommentatoren.
In dieser Zeit tritt uns zum erstenmal eine Literaturgattung ent-
gegen, die in ihrer Form sehr altertümlich ist. Das sind die CampU ge-
nannten Werke. Sie bestehen aus einer Mischung von Prosa und Versen.
So knüpfen sie an das älteste Epos und Drama an und leiten über zu dem
ganz in Prosa geschriebenen Roman. Außer in der Form unterscheiden sie
sich wenig von den Mahäkävya. Auch in den Campü ist das eigentliche
Thema nebensächlich. Es dient nur als Unterlage für effektvolle Schilde-
200 Richard Pischel: Die indische Literatur.
rungen mit Wortspielen, Doppelsinnigkeiten und rhetorischen Figuren, Alarn-
kära, „Schmuck" g^enannt. Bereits Välmlki hat im Rämäyana Abschnitte, die
im Geiste der Mahäkävya und Campu geschrieben sind. Die einzelnen
Kapitel des Rämäyana führen denselben Namen Sarga wie die der Mahä-
kävya. Ganze Sarga enthalten Schilderungen von der bei den Mahäkävya er-
wähnten Art. Besonders zahlreich sind sie im 5. Buche, dem Sundarakända,
„dem schönen Buche", wo die Sarg^a 5 und 7 durchweg- in Halb- und Ganz-
reimen geschrieben sind. Välmlki ist nachweisbar das Vorbild für viele
der klassischen und nachklassischen Dichter geworden. Er selbst hatte
gewiß trotz seiner Bezeichnung- als erster Kunstdichter viele Vorgänger.
Jacobi setzt als Entstehungszeit des Rämäyana das 5., vielleicht 6. oder
8. vorchristliche Jahrhundert an. Hopkins verlegt das älteste Mahäbhä-
rata ins 4. Jahrhundert vor, das jüngste in dieselbe Zeit und noch später
nach Chr. Beide Schätzungen sind ganz unsicher, die für das Rämäyana
gewiß viel zu hoch. Das aber steht auf Grund der Inschriften heut fest,
daß die Kunstdichtung in Indien viel älter ist, als man früher glaubte.
Der älteste Dichter eines Mahäkävya, den wir bis jetzt kennen, ist
der Buddhist Asvag-hosa, den eine glaub würdigte Tradition an den Hof des
indoskythischen Fürsten Kaniska versetzt, als dessen Leibarzt wir Caraka
kennen gelernt haben. Asvaghosas Zeit ist danach die Mitte des i. Jahr-
hunderts V. Chr. Er schrieb ein Leben Buddhas, das Buddhacarita., in
17 Gesängen, von denen jedoch nur 14, und auch diese nicht vollständig,
von ihm selbst herrühren, während der Rest von einem nepalesischen
Pandit im Jahre 1830 verfaßt ist, der auch die Lücken des in Nepal vor-
handenen Archetypus ausgefüllt hat. Cowell hat Asvaghosa den Ennius
der klassischen Zeit der Sanskritpoesie genannt, der Kälidäsa, dem indi-
schen Vergil, die erste Begeisterung eingeflößt habe. Das stimmt nicht.
Wie die Buddhisten überhaupt, hat auch Asvaghosa seinen Stoff dem Leben
des Buddha entnommen, und die Berührungen mit Kälidäsa, die unzweifel-
haft vorhanden sind, erklären sich daraus, daß schon zur Zeit Asvaghosas
bestimmte Schilderungen typisch geworden waren, die immer wiederkehren.
Asvaghosa zeigt, daß damals die Technik der Dichtkunst bereits weit
vorgeschritten war, und Inschriften von Satrapen der indoskythischen
Könige aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. beweisen dasselbe für die Prosa.
II. Die Literatur der klassischen Zeit (etwa 320 — 800 n. Chr.).
Erst mit diesem Abschnitt der Darstellung betreten wir ein chronologisch
einigermaßen sicheres Gebiet. Ein neues Aufblühen der Sanskritliteratur
fand statt, als die Dynastie der Guptas die fremden Eroberer verjagte
und ein mächtiges Reich auf nationaler Grundlage schuf. Die Guptaära
beginnt 319/320 n. Chr., und wir haben von ihr zahlreiche Inschriften,
deren sicher datierbare sich auf die Zeit von etwa 350 — 550 n. Chr. er-
strecken. Mit den Guptas beginnt die Periode, die als das klassische Zeit-
alter der Sanskritliteratur anzusetzen ist. Sie reicht von etwa 320 bis
B. Die nichtvedische Literatur. II. Die Literatur der klassischen Zeit. 201
ans Ende des 8. Jahrhunderts. Unter den Guptainschriften befinden sich
mehrere, die vollständig den Charakter der Mahäkävya und in der Prosa
den Stil der Romane zeigen.
Der Zeit der Guptas gehört der gefeiertste Dichter Indiens an, Kä- KäUdäsa.
lidäsa. In einem viel zitierten Versus memorialis wird gesagt, daß an
dem Hofe des Vikrama „neun Perlen" lebten, unter denen sich auch Kä-
lidäsa befand. Vikrama, in vollerer Form Vikramäditya, „Sonne der Tapfer-
keit", ist aber kein Eigenname, sondern ein Ehrentitel, den viele Fürsten
getragen haben. Höchst wahrscheinlich war der Patron des Kälidäsa der
König Candragupta II. von Mälava, von dem wir Inschriften aus den
Jahren 401/402 — 412/413 haben. Der Überlieferung nach war Kälidäsa
ursprünglich ein ungebildeter Büffelhirt, den Kall, die Frau des Gottes
^iva, klug machte, worauf er sich ihr zu Ehren Kälidäsa, „Diener der
Kall", nannte. Alle Berichte stimmen darin überein, daß er ein liederliches
Leben führte. Seinen Tod soll er durch die Hand einer Hetäre gefunden
haben. Kälidäsa hat sechs Werke hinterlassen, zwei Mahäkävya, den
Raghuvainsa und Kumärasainbhava, drei Dramen, Sakuntalä, Vikravior-
vasi und Mälavikäg7iimitra, und ein lyrisches Gedicht, den MegJiadüta.
Es werden ihm noch andere Werke zugeschrieben, aber mit Unrecht. Der
Raghuvamsa, sein frühestes Werk, behandelt in 19 Gesängen die Ge-
schichte der alten Herrscher von Ayodhyä aus dem Geschlechte des
Raghu, zu dem auch Rärna, der Held des Rämäyana, gehört. Der Kumä-
rasainbhava, „die Entstehung des Kumära", in 7 Gesängen soll dem Titel
nach die Geburt des Kriegsgottes Kumära schildern, geht aber nur bis
zur Vermählung des Gottes ^iva mit Pärvati, der Tochter des Himälaya.
Eine Fortsetzung, Buch 8 — 17, führt die Erzählung bis zur Tötung des
Dämons Täraka fort. Davon ist Buch 8 wahrscheinlich noch echt. Buch
g — 17 sind dageg^en sicher unecht. Während Kälidäsa im Raghuvamsa
sich streng an die für die Mahäkävya geltenden Regeln hält, hat er sich
im Kumärasambhava davon fast ganz frei gemacht. Die dichterische Ent-
wicklung lassen auch die Dramen deutlich erkennen. Das Mälavikägni-
mitra ist sein frühestes Drama, unmittelbar nach dem Raghuvamsa ge-
schrieben. Es ist ein Schauspiel, dessen Stoff nicht der Legende ent-
nommen ist, sondern die Liebesgeschichte des Königs Ag^nimitra und der
Mälavikä behandelt, die als Zofe der Königin erscheint, sich aber schließ-
lich als Prinzessin entpuppt. Stücke ganz gleichen Gepräges haben wir
in Indien viele. Es ist nicht wahrscheinlich, daß das Mälavikägnimitra
das erste seiner Art und alle andern Dramen desselben Stoffes nach ihm
gedichtet sind. Vielmehr wird Kälidäsa auch hier nach berühmten Mustern
gearbeitet haben; im Prolog erwähnt er drei berühmte Vorgänger, von
deren Stücken uns leider keins erhalten ist. Einen großen Fortschritt
weist die VikramorvasI auf. Ihr Thema ist die alte, bereits im Rgveda
in einem dramatisch gehaltenen Itihäsaliede (S. 167 f.) behandelte Legende
von König Purüravas und der Götterhetäre UrvasI, über deren Verlust
2 02 Richard Pischel: Die indische Literatur.
der König wahnsinnig- wird. Kälidäsa hat die Fassung der Sage zugrunde
gelegt, die sich im Matsyapuräna findet. Ihm eigen sind nur einige
Rollen, die poetische Durcharbeitung des Stoffes und die ganze Art der
Darstellunß-. Und diese ist vortrefflich. Kein indischer Dramatiker ohne
Ausnahme hat es verstanden, einen geschürzten Knoten anders als durch
sehr gewaltsame Mittel zu lösen. Zur rechten Zeit entsteht hinter der
Bühne Lärm, und wir erfahren, daß sich ein Elefant oder Tiger oder
Affe losgerissen hat, worauf alles flüchtet. Oder eine Person gibt vor,
von einer Schlange gebissen zu sein; Zauberer treten auf, die Brände von
Palästen erscheinen lassen oder Doppelgänger schaffen; der Wind entführt
einen Liebesbrief, der der eifersüchtigen Königin in die Hände fällt;
Männer verkleiden sich als Frauen und umgekehrt; die einzelnen Parteien
spielen Litrigen so verwickelter Natur gegeneinander aus, daß der Zuhörer
oder Leser sich kaum noch zurecht finden kann usw. Auch Kälidäsa hat
in allen drei Dramen sich dieser Mittel bedient. Er ist auch nicht über
die Vorschrift hinausgekommen, die verbietet, Mord oder Tod auf die
Bühne zu bringen oder ein Stück mit einem Todesfall endigen zu lassen,
wodurch die Tragödie Indien ganz fremd ist. In der VikramorvasI tritt
der König im 4. Akte wahnsinnig auf und spricht und singt vorwiegend
in Strophen in Sanskrit und Apabhrarnsa. Dieses lyrische Intermezzo, an
sich hochpoetisch, fällt völlig aus dem Rahmen eines Dramas heraus und
macht diesen Teil des Stückes zur Oper. Kälidäsa hat hier als Vorbild
das Rämäyana gehabt, und er selbst ist darin wieder oft nachgeahmt
worden. Im Dekhan hat man alle Apabhramsastrophen gestrichen und
auch sonst das Stück umgearbeitet und verkürzt, sehr zu seinem Nachteil.
Das Ebenmaß des griechischen Dramas fehlt dem indischen. Aber Käli-
däsa hat es verstanden, aus seinem Stoffe Persönlichkeiten herauszuarbeiten.
Besonders tritt dies hervor in seinem gefeiertsten Werke, der Sakuntalä.
Der Inhalt des Dramas ist der folgende. Der König Duhsanta kommt
auf einer Jagd in die Einsiedelei des heiligen Kanva, dessen Pflegetochter
Sakuntalä ist. Duhsanta und Sakuntalä verlieben sich ineinander, und
Duhsanta heiratet das Mädchen nach dem für Krieger geltenden Rechte
der freien Liebe. Sein Versprechen, Sakuntalä an den Hof holen zu lassen,
hält er nicht, weshalb Kanva die Sakuntalä, die schwanger ist, in Be-
gleitung einer alten Büßerin und zweier Schüler zu Duhsanta schickt.
Der König leugnet, die Sakuntalä je gesehen zu haben. Diese wird auf
Veranlassung ihrer Mutter, der Götterhetäre Menakä, in den Himmel ent-
riickt, wo sie einen Sohn gebiert. Nach mehreren Jahren wird Duhsanta,
dem die Erinnerung an Sakuntalä zurückgekehrt ist, mit Frau und Kind
wieder\'ereint. Kälidäsas Quelle ist das Mahäbhärata. Im Epos ist Sa-
kuntalä ein „derbes Mannweib". Kälidäsa hat sie in ein schüchternes,
zartes Mädchen verwandelt und ihr in ihren Freundinnen AnusQyä und
Priyamvadä zwei vortrefflich gezeichnete Frauengestalten zur Seite
gestellt. Der König Duhsanta ist im Epos ein charakterloser Mensch.
B. Die nichtvedische Literatur. II. Die Literatur der klassischen Zeit. 2 Ol
Kälidäsa motiviert seine Handlungsweise durch den Fluch eines Büßers.
Im Epos wird der König durch eine Stimme vom Himmel belehrt. Bei
Kälidäsa ist es ein Ring, den der König der Sakuntalä geschenkt und
der sich im Magen eines Fisches wiederfindet, der Duhsanta die Erinne-
rung zurückruft. So hat Kälidäsa oft in feiner Weise geändert. Der
Glanzpunkt des Dramas ist der 4. Akt, in dem Sakuntalä vom Büßerhain
Abschied nimmt. Ohne rührselig zu werden, hat Kälidäsa hier den Ab-
schiedsschmerz aller Beteiligten ergreifend geschildert. Die Sakuntalä ist
in Indien noch stärker umgearbeitet worden als die Vikramorvaäl, wie
früher erwähnt; dem Original am nächsten steht die bengalische Rezension.
Das lyrische Gedicht Kälidäsas, der Meghadüta, „der Wolkenbote", oder,
wie es im Dekhan heißt, der Meghasarndesa, „der Auftrag an die Wolke",
etwa 112 in sehr kunstvollem und überaus wohllautendem Metrum ge-
schriebene Strophen, hat ein Motiv, das sich auch in einem Jätaka findet,
also von Kälidäsa nicht erfunden ist. Ein Yaksa, ein halbgöttliches Wesen,
hat sich in seinem Amte vergangen und wird von seinem Herrn, Kubera,
dem Gotte des Reichtums, verflucht, ein Jahr lang von seiner Frau ge-
trennt zu sein. Als er einige Monate in der Verbannung zugebracht hat,
sieht er eine Wolke, die nach Norden, seiner Heimat, zieht. Er trägt der
Wolke auf, seine Frau zu grüßen und zu trösten, und beschreibt ihr den
Weg, den sie einschlagen soll. Der Meghadüta ist ein Meisterwerk der
Lyrik. Kälidäsa hat den Ton der Elegie getroffen, ohne zu besonderen
Kunstgriffen seine Zuflucht zu nehmen. Die Schönheit der Dichtung er-
kennt man um so deutlicher, wenn man die zahlreichen Nachdichtungen
damit vergleicht, die in Indien vorhanden sind, und das kleine, einen ganz
ähnlichen Gegenstand behandelnde Gedicht des Ghatakarpara, den die
Tradition ebenfalls unter die „neun Perlen" rechnet, also zu einem Zeit-
genossen Kälidäsas macht. Es treibt die Künsteleien in Alliteration und
Reim auf die Spitze. Der Inhalt fällt ganz der Form zum Opfer. Käli-
däsa dagegen weiß das an sich etwas einförmige Thema durch immer
neue Bilder abwechslungsreich zu gestalten und der Sehnsucht und Liebe
des Yaksa am Schluß in unübertrefflich zarter Weise Ausdruck zu geben.
Nirgends hat er, wie bemerkt, neue Stoffe erfunden. Wie weit er auf den
Schultern seiner Vorgänger steht, entzieht sich unserer Kenntnis. Ver-
gleicht man ihn aber mit seinen Nachfolgern, so wird man ihm unbedenk-
lich den ersten Platz unter den nichtvedischen Dichtern Indiens einräumen.
Unter den andern „neun Perlen" ist uns Dhanvantari als Verfasser
eines Glossars der Materia medica, Amarasimha als der älteste Verfasser
eines synonymischen Wörterbuches des Sanskrit und durch wenige Verse
bekannt. Der in dem Versus memorialis als „berühmt" bezeichnete Varä- varähamihira.
hamihira ist der berühmteste Astronom Indiens. Die Astronomie erwuchs
in Indien in engem Anschluß an den Opferdienst, wie das als Vedänga
bezeichnete Jyotisa zeigt, nahm aber später durch die Bekanntschaft mit
der griechischen Astronomie zu echt indischem auch nicht wenig griechi-
204
Richard Pischel: Die indische Literatur.
sches Material in sich auf. Sie umfaßte als Teile die Berechnung der
Gestirne, die Nativitätslehre, d. h. Berechnung der Zeit für Geburt, Hoch-
zeit u. dgl., und die natürliche Astrologie, d. h. die Kenntnis der Bewegung
der Gestirne und ihres Einflusses auf das menschliche Leben, Zeitmessung,
Omina und Portenta, wie Vogelflug, Träume u. dgl. Varähamihira hat alle
Teile behandelt. Er verfaßte unter anderem ein Kompendium der fünf
ältesten astronomischen Lehrbücher, der Siddhänta, und trat in seiner
astrologischen Brhatsaiiihitä^ die für die Geschichte des Aberglaubens sehr
wichtig" ist, auch als Dichter im Stile der Mahäkävya in sehr wechselnden,
kunstvollen Metren auf. Da er seine Berechnungen mit dem Jahre 505
n. Chr. beginnt, so ist entweder die Tradition unrichtig', die ihn unter die
„neun Perlen" versetzt, oder deren Zeit, also auch die Kälidäsas, kann erst
das 6. Jahrhundert gewesen sein, was nach den neueren Forschungen wenig
wahrscheinlich ist. Was uns von den übrigen zu den „neun Perlen" ge-
rechneten Männern bis jetzt bekannt ist, ist wenig und in seiner Echtheit
zweifelhaft, von Vararuci nicht einmal mit Sicherheit zu sagen, wer ge-
meint ist.
Amaru. Der Zeit der „neun Perlen" dürfte nicht sehr fern stehen Amaru, der
Dichter des Amarusataka. Nächst der religiösen hat keine Art der Lyrik
in Indien so reichen Ausdruck gefunden, wie die der Reflexion. In der
klassischen Zeit hat sie die Form des Spruches und Sinngedichtes ange-
nommen, und die Einzelstrophe gibt ihr ihr eigentümliches Gepräge. Der
Dichter kleidet seine Gedanken in Strophen, von denen jede einzelne ein
Ganzes für sich bildet. Die Kunst besteht darin, den Gedanken in mög-
lichst kurzer, abschließender Gestalt vorzutragen, wobei Wortspiele, Doppel-
sinn, Hindeutung auf nicht ausdrücklich Gesagtes, Rätselfragen, Rede-
figuren u. dgl. eine Hauptrolle spielen.
Auch wo ein bestimmtes Thema in längeren Gedichten durchgeführt
wird, wie das Entsenden der Wolke im Meghadüta, tritt immer die Einzel-
schilderung, die Kleinmalerei, in den Vordergrund, nicht die Handlung in
ihrer Entwicklung. Am häufigsten sind solche Einzelstrophen zu Centurien,
im Sanskrit Sataka, zusammengefaßt worden, und danach kann man diese
Art der lyrischen Dichtung als Satakalyrik bezeichnen. Die Zahl der
Strophen ist nicht immer genau hundert. Meist sind es einige mehr,
seltener einige weniger. Der Inhalt ist sehr verschieden. Teils sind die
Sataka rein erotischen, teils rein religiösen, teils didaktischen, teils be-
schreibenden Inhalts. Es hat auch nicht an Redekünstlern gefehlt, die es
verstanden, die Worte so zu wählen, daß sie sich je nach der verschiedenen
Abtrennung und Interpretation auf Liebe oder Leidenschaftslosigkeit be-
ziehen. Später hat man solche Einzelstrophen in Sanskrit und Präkrit in
Anthologieen zusammengestellt, die Zeugnis davon ablegen, wie beliebt
die Gattung in Indien war. Ihren Anfang können wir leider nicht nach-
weisen; sie tritt uns in Amaru gleich auf ihrem Höhepunkte entgegen.
Amaru ist der größte Meister auf dem Gebiete der erotischen Einzel-
B. Die nichtvedische Literatur. II. Die Literatur der klassischen Zeit.
205
Strophe. Er weiß immer neue Situationen zu erfinden und ist ein ausge-
zeichneter Kenner und Schilderer der Frauen. Nächst ihm ist zu nennen
Bhartrhari. Der Überheferung nach war er ein Bruder eines Vikra-
mäditya, also aus fürstlichem Geschlecht. Er verbrachte seine Jugend in
großen Ausschweifungen, beschloß aber am Sterbebette seines Vaters,
durch dessen Kummer bewogen, der Welt zu entsagen. Der chinesische
Pilger I-tsing, der 673 n. Chr. nach Indien kam und dort 13 Jahre gelebt
hat, berichtet uns, daß Bhartrhari zum Buddhismus übertrat und Priester
wurde. Jedesmal aber, wenn er ins Kloster ging, um Mönch zu werden,
ließ er einen Wagen vor dem Tore halten, der warten sollte, bis er das
Mönchtum satt hatte. So kehrte er siebenmal in die Welt zurück. I-tsing
führt eine Strophe des Bhartrhari an, in der er sich deswegen Vorwürfe
macht und den Zwiespalt seines Herzens beklagt. Ahnliche Strophen
finden sich im Sanskrittexte. Unter dem Namen des Bhartrhari, der auch
Grammatiker war und nach I-tsing in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts
gelebt hat, sind uns drei Sataka überliefert, ein Nitisataka, „Centurie der
Lebensweisheit", ein Srrigärasataka, „Centurie der Liebe", und ein Vairägya-
äataka, „Centurie der Leidenschaftslosigkeit", deren Inhalt sich aus ihren
Namen ergibt. Weniger noch als bei Amaru, läßt sich bei Bhartrhari fest-
stellen, was der ursprünglichen Sammlung angehört, da die Handschriften
sehr schwanken. Die Sprüche sind aus sehr verschiedener Zeit und von
sehr verschiedenem Wert.
Noch mehr gilt dies von einer dritten Spruchsammlung, die den Canakya.
Namen des Cänakya, des Ministers des Königs Candragupta im 4. Jahr-
hundert V. Chr. trägt. Kein einziger dieser Sprüche, die in vielen ganz
voneinander abweichenden Sammlungen mit etwa go bis etwa 350 Sprüchen
vorliegen, gehört dem Cänakya an. Cänakya, dem Candragupta seine Er-
hebung auf den Thron verdankte, galt als das Muster eines klugen und
g-ewandten Ministers. So führte man auf ihn vieles zurück, was an Klug-
heit und Lebensweisheit umlief und sich sonst nicht unterbringen ließ.
Ein Cänakyam besagte in Indien nicht mehr als heut bei uns ein „Mei-
dinger" oder „Calembourg", natürlich in anderem Sinne. Viele dieser
Sprüche stammen, wie die Sprache zeigt, aus ganz später Zeit. Bis ins
1 8. Jahrhundert wurde die Satakalyrik gepflegt, und unter der großen Masse
dieser Werke findet sich neben viel Spreu auch viel Gutes und Wertvolles.
Dem 6„ vielleicht noch dem Anfange des 7. Jahrhunderts gehören an
Bhäravi, der Dichter des Kirätärjuiüya, und wahrscheinlich auch Bhatti,
der Verfasser des Rävanavndha, gewöhnlich Bhaffikävya, „Gedicht des
Bhatti" genannt, das zugleich den Zweck verfolgt, die Regeln des Pänini
und anderer Grammatiker durch Beispiele zu belegen. Ihre Gedichte, zu-
sammen mit den beiden Kunstepen Kälidäsas, mit dem Naisadhacarita
des Sriharsa aus unbekannter Zeit und dem Si'supälavadha des Mägha,
aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, gelten in Indien als die Haupt-
vertreter der Mahäkävya und sind hochgefeiert.
2o6
Richard Pischel: Die indische Literatur.
Dandin. Noch im 6. Jahrhundert lebte wahrscheinlich Dandin, ein Südinder,
mit dem zuerst eine neue Literaturgattung, der Roman, uns entgegentritt.
In seinem Dasakumäracarita, „Erlebnisse der zehn jungen Leute", hat er
ein ungemein interessantes Bild der Kultur seiner Zeit entworfen. Im
Gegensatze zu seinen Nachfolgern schreibt Dandin, außer in Schilderungen,
ein leichtes und gutes Sanskrit, so daß sein Roman auch sprachlich für
die Prosa wichtig ist. Dandin ist auch der Verfasser eines der besten
rhetorischen Werke, des Kävyädarsa, zu dessen Regeln er sehr poetische
Beispiele gefügt hat, vielleicht auch des in vieler Hinsicht bedeutendsten
indischen Dramas, der Mrcchakatikä, „des Tonwägelchens", in lo Akten,
das in der deutschen Bearbeitung unter dem Namen der Heldin des Stückes
Vasantasenä bekannt geworden ist. Das Stück zeigt dieselben erschrecken-
den sittlichen Verhältnisse, wie das Dasakumäracarita und weist auf das
Dekhan als seine Heimat. Als seinen Verfasser nennt es den König
Südraka, der aber im Prolog als bereits verstorben erwähnt wird und
sicher nur der Patron des Dichters war, wie in vielen ähnlichen Fällen.
Die Mrcchakatikä hat ihren Stoff aus dem Volksleben genommen, das ihr
Dichter meisterhaft schildert. Den Hintergrund bildet eine Revolution,
die dem Könige seinen Thron kostet. Spieler, Diebe, Schmarotzer, die
Hetäre und der buddhistische Mönch, der verarmte Kaufmann und der
durch die Gunst des Königs aus niedrigen Verhältnissen herausgehobene,
ungebildete und sittlich verkommene Schwager des Königs, Henker, Poli-
zisten und andere Personen werden in wahrheitsgetreuer Darstellung auf
die Bühne gebracht. Wir erhalten einen Einblick in die üppige Wohnung
einer gesuchten Hetäre und den Gang einer Gerichtsverhandlung. So ist
das Stück eine Fundgrube für die Kenntnis seiner Zeit, auch sprachlich
von größter Wichtigkeit, da es uns Proben von mehr Präkritdialekten gibt,
als irgend ein anderes Drama.
An der Spitze der Dichter des 7. Jahrhunderts steht der Zeit nach
Subandhu. Subandhu, dessen Roman }^äsavadattä in schwülstiger Prosa geschrieben
ist, in Indien aber wegen der rhetorischen Kunst der Darstellung sehr
geschätzt wird. In dieser Zeit erscheint als Patron der Dichtkunst der
König von Sthänesvara (heut Thanesar) Sriharsa Siläditya (606 — 648),
über den uns der chinesische Pilger Hüan-tsang ausführlichere Nachrichten
Bäna. gegeben hat. Sein Hofpoet war Bäna, der das Leben seines Gönners in
einem in schwülstiger Prosa geschriebenen Werke, d.em. Harsacariia, verherr-
licht hat, das wesentlich ein Mahäkävya in Prosa ist, auch, wie diese Gedichte,
des Schlusses entbehrt. In ihm, wie in seinem Roman Kädatnbarl, den sein
Sohn nach des Dichters Tode zu Ende führte, hat er Subandhu stark be-
nutzt, was zu der Tradition stimmt, die ihn als einen Mann schildert, der
mit fremdem Eigentume wirtschaftete, wenn er Geld verdienen konnte,
das ihm Sriharsa reichlich gegeben haben soll. Wie sein Schwiegervater
oder Schwager Mayüra verfaßte auch Bäna in Konkurrenz zu diesem
ein religiöses i^ataka, an das sich Legenden knüpfen. Sriharsa selbst wird
\
B. Die nichtvedische Literatur. III. Die Literatur der nachklassischen Zeit.
207
als Dichter von drei Dramen genannt, von denen zwei ganz nach dem
Muster von Kälidäsas Mälavikägnimitra gearbeitet sind, besonders die
Ratnävall, das dritte, der Nägmianda, für die religiösen Verhältnisse dieser
Zeit von Interesse ist, wo Buddhismus und Brahmanismus friedlich neben-
einander lebten. Der wahre Dichter ist vielleicht Dhävaka. Derselben Zeit
gehört an Bhartrhari, die Verfasser der Käsikä (S. 183), und wahrscheinlich
auch Visäkhadatta, der Dichter des Dramas Mudräräksasa, in 7 Akten. viÄakhadatta.
Dieses Stück ist nächst der Mrcchakatikä das eigenartigste unter den
indischen Dramen. Es spielt im 4. Jahrhundert v. Chr. am Hofe des Candra-
gupta und will zeigen, wie Cänakya durch Intrigen und List Räksasa, den
Minister des entthronten Königs, für Candragupta gewinnt und dessen
neue Herrschaft sichert. Das Stück hat also, wie die Mrcchakatikä, der
es in manchen Szenen gleicht, einen politischen Hintergrund. Es ist nach
einem einheitlichen Plane gearbeitet, zeichnet die einzelnen Personen
meisterhaft und versteht es, den Leser in Spannung zu halten. Visäkha-
datta steht als Dramatiker unzweifelhaft viel höher als Bhavabhüti, den Bhavabhnti.
die Inder als den größten Dramatiker nächst Kälidäsa feiern, und der sich
der Zeit nach hier anschließt. Bhavabhüti war ein Südinder. Er stammte
aus einer angesehenen Brahmanenfamilie und lebte am Anfange des
8. Jahrhunderts. Wir besitzen von ihm drei Dramen. Zwei davon, das
Maliävtracarita und das Uttarai'ämacarita nehmen ihren Stoff aus der
Geschichte des Räma. Beide haben 7 Akte und sind wesentlich nur in
dramatische Form gekleidete Erzählungen. Namentlich das Mahäviracarita
ist eine sehr schwache Leistung. Die Szenen sind lose aneinander gereiht,
und der Stoff ist ganz ungleichmäßig verarbeitet. Ausgezeichnet ist Bhava-
bhüti in Naturschilderungen. Seine Sprache ist schwerfällig. Das dritte
Stück, das Alälatlfiiädhava , ist ein bürg^erliches Schauspiel in 10 Akten.
Es behandelt die Liebesgeschichte des Mädhava und der Mälatl. Der
Tradition nach war Bhavabhüti im Gegensatz zu Kälidäsa ein ernster und
sittenstrenger Mann. Dazu stimmt, daß mit Ausnahme einer Szene im
Mälatimädhava nirgends sich etwas Anstößiges in seinen Stücken findet,
und daß Bhavabhüti nicht die lustige Fig"ur des indischen Dramas, den
Vidüsaka, kennt. Dagegen liebt er es, Rührszenen einzuflechten. Jüngere
Zeitgenossen von ihm, deren Stücke in Indien sehr hoch gestellt werden,
sind Bhattanäräyana, dessen Venisainhära den Stoff aus dem Mahäbhä- Bhattanarayana.
rata entnommen hat, und Muräri, dessen Anargharäghava auf dem Rä- Muräri.
mäyana beruht, und der kaum noch als klassischer Dichter angesehen
werden kann.
III. Die Literatur der nachklassischen Zeit (nach 800 n. Chr.).
War schon einem Teile der Dichter des klassischen Zeitalters die Poesie
nicht Selbstzweck, so ist dies noch viel weniger der Fall bei den
Dichtem der nachklassischen Zeit. Sie wollen an beliebten Stoffen und
nach berühmten Mustern ihre Fertigkeit in Sanskrit und Präkrit und ihre
2o8 Richard Pischf.l: Die indische Literatur.
Kenntnis der Rhetorik und Metrik zeigen. Das Publikum, an das sie sich
Avenden, ist nicht die große Menge, die schon viele Jahrhunderte vor
Kälidäsa nichts mehr von Sanskrit und Präkrit verstand, und ihre eigenen
Stücke im Landesdialekt hatte. Die Zuschauer gehören noch mehr als
schon zur Zeit Kälidäsas zur Gesellschaft des Fürstenhofes und der Gelehrten.
Auf sie sind die Stücke zugeschnitten. Immer mehr wird die Poesie höfisch.
Räjasekhara. Um Qoc Schrieb der Maräthe Räjasekhara in lo langen Akten sein
Bälarämäyana, und auf mindestens denselben Umfang berechnet war sein
Bälabhärafa, über dem er gestorben zu sein scheint, da nur zwei Akte
davon sich finden. Räjasekhara war ein großer Wortkünstler und ist da-
durch besonders bemerkenswert, daß er ein drittes Stück, die Karpüra-
manjari, ganz in Präkrit schrieb. Als dramatische Leistung steht auch
dieses Stück wie ein viertes, die Viddhasälabhanjikä, nicht hoch.
Im II. Jahrhundert ist der Mittelpunkt der Pflege der Kunst die Stadt
Dhärä in Mälava, wo das Geschlecht der Paramäras sich eine machtvolle
Stellung erworben hatte. Väkpatiräja IL, bekannter unter seinem Namen
Munja. Munja, wird als Dichterfreund gefeiert und seine Freigebigkeit gepriesen.
Auch Rhetorik, Lexikographie und Metrik blühten zu seiner Zeit. Kein
Fürst der ganzen nachvedischen Zeit aber ist, außer Vikramäditya, so hoch
Bhoja. als Patron der Dichter gefeiert worden als Munjas Neffe Bhoja, von dem
wir eine Inschrift aus dem Jahre 102 1 besitzen, und der vor 1055/56 ge-
storben sein muß. Er ist der Held zahlreicher Sagen und Märchen. An
seinen Hof versetzt die Legende alle berühmten Dichter Indiens, die er
mit verschwenderischer Freigebigkeit beschenkt haben soll. Ihm selbst
werden Werke über Rhetorik, Medizin, Astronomie, Grammatik, Lexiko-
graphie zugeschrieben, auch ein Sataka in Präkrit, das in Dhärä auf Stein
eingegraben worden ist. Bis jetzt ist kein namhafter Dichter bekannt,
Biihana. der mit Sicherheit an Bhojas Hof versetzt werden kann. Bilhana, eine
der interessantesten Dichtergestalten des späteren 11. Jahrhunderts, gibt
an, nie in Dhärä gewesen zu sein. Bilhana ist ein Beispiel für die alte
Wanderlust der Brahmanen. Geboren in Kaschmir, verließ er nach
vollendeter Erziehung seine Heimat und durchwanderte einen großen Teil
Indiens bis über das Dekhan hinaus auf die Insel Rämesvara. An den
Höfen kunstliebender Fürsten kehrte er ein und forderte die Dichter zum
Wettkampf heraus. Schließlich wurde er Hofdichter des Fürsten Vikramä-
dit}'a Tribhuvanamalla von Kalyäna im inneren Dekhan. Seinen Gönner
hat er in einem Mahäkävya in 18 Gesängen, dem Vikramäiikadevacarita,
in vielfach unhistorischer und bombastischer Weise gefeiert. Berühmter
ist seine Caurisuratapancäsikä., ein lyrisches Gedicht, das den heimlichen
Liebesgenuß besingt und zu der Sage Anlaß gegeben hat, der Dichter
sei durch dasselbe vom Tode gerettet worden, der ihm wegen eines
Liebesverhältnisses mit einer Fürstentochter bevorstand. Außerdem schrieb
Bilhana noch ein unbedeutendes Drama. Zwei andere Kaschmirer dieser
Ksemendra. Zeit, Kscmcndra und Somadeva, sind bereits oben (S. i8g) als Bearbeiter
B. Die nichtvedische Literatur. III. Die Literatur der nacliklassischeii Zeit.
209
von Gunädhyas Brhatkathä genannt worden. Ksemendra war ein äußerst
fruchtbarer und vielseitiger Schriftsteller, der nicht nur die Brhatkathä,
sondern auch das Mahäbhärata und Rämäyana in ein Kompendium ver-
arbeitete und viele kleinere Werke schrieb, die teilweise sehr lehrreich
und interessant sind. Ins 1 1. Jahrhundert gehört wahrscheinlich auch noch
das eigenartige Drama Prabüdhacaiidrodaya des Krsnamisra, ein theo- Krsnamisra.
logisch-philosophisches Stück, in dem alle Personen allegorisch sind. Es
verspottet mit scharfem Witz die verschiedenen Sekten und geißelt ihre
Arroganz und Scheinheiligkeit.
Am Anfange des 12. Jahrhunderts ist Bengalen ein Sitz der Dicht-
kunst. Am Hofe des Königs Laksmanasena, der 1 1 1 9 die Regierung an-
trat und selbst Dichter gewesen sein soll, lebten fünf Männer, die nach
dem Vorbilde der „neun Perlen" des Vikrama als die „fünf Perlen" be-
zeichnet werden. Zwei von ihnen sind uns genauer bekannt, Govardhana Govardhana.
und Jayadeva. Govardhana ist der Verfasser der Äryäsapta'satl, 700 im
Äryämetrum geschriebener Strophen, die nicht ohne Geschick nach Prä-
kritvorbildern kleine lyrische Stimmungsbilder in alphabetischer Anordnung
geben. An Glut der Empfindung, Beherrschung von Sprache und Metrum
steht in der ersten Reihe der indischen Dichter Jayadeva aus Kindubilva jayadeva.
in Bengalen. Sein Gttagovinda ist ein Melodrama, das in sinnlicher Weise
die Liebe des Krsna und der Rädhä, ihren Liebeszwist und ihre Versöh-
nung schildert. Das Gedicht, in dem Alliteration und Reim eine große
Rolle spielen, scheint auf ein Original in Präkrit zurückzugehen. Wie
das Hohe Lied, ist auch der Gitagovinda mystisch gedeutet worden, in
Indien jedoch nur einzelne Strophen von einigen Scholiasten. Rädhä
wurde als die menschliche Seele und ihr Verhältnis zu Krsna als das
der Seele zu Gott aufgefaßt. In diesem Sinne ist die englische Über-
setzung von Arnold gemacht, die daher von dem Original eine ganz
falsche Vorstellung gibt. Zu wenig bekannt ist die meisterhafte Über-
setzung, die Rücke rt von einigen Teilen des Gedichtes gegeben hat.
Der Gitagovinda ist, wie Kälidäsas Meghadüta, in Indien viel nachgeahmt
worden. Jayadeva hat auch in der Sprache des Volks gedichtet. Im Ädi
Granth, der Bibel der Sikhs, steht von ihm ein kurzes Gedicht in altem
Hindi.
Dem 12. Jahrhundert gehört das einzige größere, historische Werk
an, das Indien hervorgebracht hat, die Räjatarangmi des Kalhana, Kaiha^a.
eines Kaschmirers. Kalhana hat die Geschichte Kaschmirs von seiner
Entstehung an bis auf die eigene Zeit (um 11 50) dargestellt, in Versen
und oft ganz märchenhaft, obwohl er gute Quellen benutzt hat, sogar die
alten Inschriften des Landes. Trotz aller Mängel ist aber die Räjatarangini
doch höchst wertvoll und weit über den Rahmen einer Lokalgeschichte
hinaus für die gesamte Geschichte Indiens wichtig, auch für die Literatur-
geschichte, da wir durch ihre Angaben die Zeit einer Anzahl wichtiger
Autoren mehr oder weniger sicher bestimmen können. Gegenüber den
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 1 4
2IO Richard Pischel: Die indische Literatur.
Prabandha und Caritra, die auch den Anspruch erheben, historische Werke
zu sein, ist die Räjatararig"ini ein kritisches Werk, so vorsichtig" man sie
auch gebrauchen muß. Daß Kritik nicht die starke Seite der Inder war,
Hemacandra. bcweist auch der große Jainalehrer und Polyhistor Hemacandra (1088 —
1172), der auf fast allen Gebieten der Sanskritliteratur und im Präkrit
tätig war. Da viele seiner Quellen verloren gegangen sind, ist er für uns
sehr wichtig, namentlich auf dem Gebiete der Lexikographie des Sanskrit
und Präkrit.
Auch in den folgenden Jahrhunderten wurde nach dem Vorbilde
älterer Schriftsteller auf allen Gebieten der Literatur fleißig gearbeitet.
Die Yeden fanden im 14. Jahrhundert in Säyana, die Mahäkävya Käli-
däsas und anderer im 15. in ]\Iallinätha ihren bekanntesten Kommentator.
Xoch im 1 6. Jahrhundert unter Kaiser Akbär und seinen Nachfolgern
jagannatha. dichten eine Anzahl lesenswerter Autoren, wie Jagannätha. Die Zeit
der großen Dichter aber war längst vorüber. Gerade an Jagannätha, dem
besten seines Zeitalters, kann man deutlich die Abhängigkeit von be-
rühmten Vorgängen nachweisen. Am Wortschatz merkt man, daß er mit
dem Wörterbuch arbeitete. Die Schöpferkraft indischer Dichter war
längst versiegt.
Vom g. Jahrhundert an tritt eine Literatur in den Volkssprachen zu-
tage. Sie besteht zwar vorwiegend aus Übersetzungen und Nachahmungen
der Sanskritliteratur und ist auch in der Sprache vielfach vom Sanskrit
beeinflußt, wirkt aber naturgemäß auf die große Masse, auch der Gebil-
deten, ganz anders als die Literatur in Sanskrit und Präkrit, deren Ver-
ständnis nur engen Kreisen vorbehalten bleibt.
Nicht nur der Süden Vorderindiens, das Dekhan und Ceylon, hat seine
ganze Kultur von den arischen Indem des Nordens erhalten, ihr Einfluß
hat sich gewaltig auch auf Hinterindien, den Archipel, Turkestan, ja China
und Japan erstreckt. Indien hat im Osten dieselbe kulturhistorische Mis-
sion erfüllt, wie Griechenland und Rom im Westen. Mag es selbst von
griechisch-römischem Wissen in der Kunst und Astronomie beeinflußt sein,
so hat es seinerseits dem Westen mehr gegeben als von ihm empfangen.
Pythagoras ist in seinen philosophischen und mathematischen Lehren von
den Indem beeinflußt worden, denen wir das dekadische Ziffersystem, die
Algebra, das Schachspiel verdanken, und die wahrscheinlich auch in der
Theorie der Musik Europa vorausgegangen sind. Unsere Märchen und
Fabeln weisen zum großen Teil auf Indien als ihre Heimat, ebenso das
Puppen- und Schattenspiel, In der wissenschaftlichen Grammatik sind die
Inder unsere Lehrmeister gewesen; ihre Religion hat im Christentum ihre
Spuren hinterlassen, und es ist noch nicht abzusehen, wie weit ihre Philo-
sophie auf das abendländische Denken, ihre Poesie auf die Europas be-
fruchtend einwirken wird. Es ist schon ein großer Gewinn, wenn über
den Kreis der Sanskritisten hinaus immer mehr die Erkenntnis wächst, daß
Indien dasselbe Recht hat, gehört zu werden, wie Griechenland und Rom.
Literatur.
Als Warren Hastings 1772 Gouverneur von Bengalen geworden war, machte er es
sich zur Aufgabe, die Herrschaft der Engländer über Indien, die Clive militärisch begründet
hatte, auf dem Verwaltungswege zu befestigen. Zu diesem Zwecke ließ er von elf Brah-
manen ein Werk über indisches Recht aus Sanskritschriften zusammenstellen, das ins
Persische und aus diesem durch Halhed ins Englische übersetzt wurde. In der Einleitung
zu diesem Code of Gentoo Laws, or, Ordinations of the Pundits, der 1776 in London
erschien, machte Halhed die ersten ausführlicheren Angaben über das Sanskrit und die
altindische Metrik und gab als Belege zum erstenmal einige Proben aus der Sanskritliteratur,
die, wie er sagt, ,,give us no despicable Idea of the old Hindoo Bards". Größere Aufmerk-
samkeit erregten die Übersetzungen des philosophischen Gedichtes BhagavadgTtä und des
Fabelwerkes Hitopadeäa, die Wilkins 1785 und 1787 erscheinen ließ. In weitere Kreise
aber drang die Kunde von einer eigenartigen indischen Literatur erst, als William Jones
1789 seine Übersetzung von Kälidäsas Sakuntalä veröffentlicht und Georg Forster diese
1791 ins Deutsche übertragen hatte. Herder und Goethe feierten das indische Schauspiel
in begeisterten Versen. Goethe entnahm ihm die Idee zu seinem Faustprologe und erklärte
1821, sich jahrelang in die Bewunderung der Sakuntalä versenkt zu haben. Noch 1830
schrieb er an Ch6zy, den ersten Herausgeber des Originaltextes, die äakuntalä sei unter die
schönsten Sterne zu rechnen, die seine Nächte vorzüglicher machten als seinen Tag. Sonst
konnte sich aber Goethe mit Indien nicht befreunden. Er entnahm zwar den Stoff zu
seinen Balladen ,,Der Gott und die Bajadere" (1797) und ,, Paria" (1823) indischen Legenden,
die er aus Sonnerats Reise nach Ostindien und China kennen lernte, aber die Mythologie
Indiens mit ihren grotesken Göttergestalten und die indische Philosophie waren ihm zuwider,
so daß er nicht mehr zu Indien zurückkehrte. Der Wunsch Herders, äakuntalä möge aus
den reichen Schätzen Indiens bald dramatische Geschwister empfangen, die ihr gleichen,
ging nicht in Erfüllung. Außer auf sekundären Quellen beruhenden Nachdichtungen ein-
zelner Stellen aus verschiedenen indischen Werken hat auch er nichts auf Indien Bezüg-
liches mehr gedichtet, obwohl seine moralisierende Richtung sehr gut zu der gleichen
Tendenz indischer Kunstdichtung paßte.
Nachhaltiger war die Wirkung, die Indien auf die Romantiker ausübte. Schon das
Altertum und das Mittelalter hatten Indien als das in weitester Ferne liegende Wunderland
mit einem romantischen Schimmer umwoben. Je mehr nun von seiner Literatur bekannt
wurde, desto schroffer trat der Gegensatz zu der kalten Strenge griechischen Wesens hervor.
Die schwärmerische Liebe zur Natur, die dem klassischen Altertum ganz fremd war, das
Märchenhafte und Phantastische, das die indische Dichtkunst durchzog, das Ringen nach
Wahrheit und Erlösung durch mystische Spekulationen, Askese und mönchische Versenkung,
die patriarchalische Gliederung des indisches Volkes in scharf voneinander getrennte Kasten
— alles das konnte seinen Zauber auf die Romantiker nicht verfehlen. So ist es begreiflich,
daß der Begründer der Romantik, Friedrich von Schlegel, sein Augenmerk auf Indien
richtete. In seinem berühmten kleinen Buche Über die Sprache und Weisheit der
Inder (1808) hob er den hohen Wert einer Kenntnis des indischen Altertums hervor und
gab die ersten Proben von deutschen Übersetzungen aus dem Rämäyana, Mahäbhärata und
dem Gesetzbuche des Manu. Er war der Ansicht, daß das indische Studium allein dahin
14»
212 Richard Pischel: Die indische Literatur.
führen dürfte, die bis jetzt noch ganz unbekannten Gegenden des frühesten Altertums auf-
zuhellen, und daß es dabei an dichterischen Schönheiten und philosophischem Tiefsinn nicht
minder reiche Schätze darbieten werde als das griechische. Schlegel spricht hier eine
Meinung aus, die noch lange herrschend blieb und die Entwicklung der Sanskritphilologie
ungünstig beeinflußt hat. Alles was aus Indien kam, galt als uralt. Mit Hilfe des Sanskrit
hoffte man die indogermanische Urzeit aufhellen zu können, und lange waren es die Lin-
gTiisten, die den Gang der Forschung bestimmten. Heute wissen wir, daß die Werke der
indischen Literatur, die damals zunächst bekannt wurden, erst aus späten nachchristlichen
Jahrhunderten stammen. Auch die mit Recht viel gefeierte Bhagavadgltä, von der AuGUST
Wilhelm von Schlegel sagte, sie sei das schönste, ja vielleicht das einzig wahrhafte philo-
sophische Gedicht, das alle uns bekannte Literaturen aufzuweisen haben, und über die Wil-
helm VON Humboldt äußerte, er danke Gott, daß er ihn so lange habe leben lassen, um
dieses Gedicht lesen zu können, gehört einer späten Epoche der philosophischen Spekula-
tion an. Die wirklich alten Schriften der Inder dagegen, die Veden, fanden bei ihrem
Bekanntwerden nicht die gleiche freudige Aufnahme. Colebrooke, einer der besten Kenner
des Sanskrit, erklärte 1805, daß der Inhalt der A'eden kaum die Mühe des Lesers, geschweige
die des Übersetzers lohnen würde. Und als endlich 1863 die erste vollständige Ausgabe
des Rgveda erschien, war es zunächst wieder mehr die Sprache, der die Aufmerksamkeit
der Forscher sich zuwandte, als der Inhalt. Der Veda wurde als etwas von der übrigen
indischen Literatur ganz Verschiedenes angesehen. Er galt als ein indogermanisches, nicht
ein indisches Denkmal. Erst in den letzten 20 Jahren ist die Indologie zu einem tieferen
\"erständnis der Sanskritliteratur fortgeschritten.
Eine zusammenfassende Darstellung der indischen Literatur nach chronologischen
Gesichtspunkten fehlt noch. Ein erster, kurzer \'^ersuch ist der vom Verfasser herrührende
Artikel "Indische Literatur' in Brockhaus' Konversations-Lexikon, 14. Aufl. Größere Werke
sind M.\x Müller, A History of Ancient Sanskrit Literature (Second edition, London, 1860^;
.\. Weber, .Akademische \'orlesungen über indische Literaturgeschichte, 2. Aufl. (Berlin,
1876); L. V. Schroeder, Indiens Literatur und Kultur in historischer Entwicklung Xeipzig,
1887); A. B.AUMGARTNER, Geschichte der Weltliteratur. II. Die Literaturen Indiens und Ost
asiens, 3. und 4. Aufl. (Freiburg i. Br., 1902; ; A. Macdonell, A History of Sanskrit Lite-
rature (London, 1903); H. Oldfnberg, Die Literatur des alten Indien (Stuttgart und Berlin,
1903); Victor Henry, Les litteratures de l'Inde (Paris, 1904); M. Winternitz, Geschichte
der indischen Literatur. Erster Teil. Einleitung und erster Abschnitt: Der Veda (Leipzig,
1905.-
S. 162. Kultur zur Zeit des Rgveda: H. Zim.mer, Altindisches Leben (Berlin, 1879);
Pischel und Geldner, Vedische Studien, Band i — 3 ^Stuttgart, 1889 — 1901), besonders
Band i, Einleitung. Für die Zeit des Buddha: F. W. Rhvs Davids, Buddhist India '^London,
1903,-
S. 168. Drama: Sylvain Ltvi, Le theätre indien (Paris, 1890).
S. 177. Sütra: A. HiLLEBRANDT, Ritual-Litteratur. Vedische Opfer und Zauber (Grund
riß der indo-arischen Philologie und Altertumskunde, Straßburg, 1897).
S. 180. ^L^x Müller, India, what can it teach us? 'London, 1883), deutsch von
C. Cappeller unter dem Titel: Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung (Leipzig.
1884). Dagegen G. Bühler, Die indischen Inschriften und das Alter der indischen Kunst
poesie (Wien, 1890;. In der 2. Aufl. (London, 1892) hat Max Müller den ganzen Anhang
fortgelassen.
S. 181. Über die indische Philosophie vergleiche man die Arbeiten von P. Deussen,
Das System des \'edänta 'Leipzig, 1883^; Sechzig Upanishads des Veda aus dem Sanskrit
übersetzt 'Leipzig, 1897); Allgemeine Geschichte der Philosophie, Band i, Abteilung i und 2
(Leipzig, 1894. 1899); und R. G.'VRBE, Die Sämkhya-Philosophie (Leipzig, 1894); Sämkhya
und Yoga (Grundriß der indo-arischen Philologie und Altertumskunde, Straßburg, 1896.
Literatur.
213
S. 183 ff. Über die indische Rhetorik: P. Regnaud, La rhdtorique Sanskrite (Paris,
1884), über die erotische Literatur: P.Schmidt, Beiträge zur indischen Erotik (Leipzig, 1902)
und Liebe und Ehe im alten und modernen Indien (BerHn, 1904); über die Jurisprudenz:
J. JOLLY, Recht und Sitte (Grundriß der indo - arischen Philologie und Altertumskunde,
Straßburg, 1896); über die Medizin: derselbe, Medicin (ebenda, Straßburg, 1901).
S. 187. Literatur der Buddhisten: Rhys DAVIDS a. a. O. S. 161 ff. ; Oldenberg,
a. a. O. S. 62 ff.; Literatur der Jaina: A. Weber, Indische Studien 16, 211 ff.; 17, i ff.
S. 191. Mahäbhärata: Adolf Holtzmann, Das Mahäbhärata und seine Teile, 4 Bde.
(Kiel, 1892 — 1895); E. W. Hopkins, The Great Epic of India, its Character and Origin
(New York, 1901), dem ich gegenüber J. Dahlmann, Das Mahäbhärata als Epos und Rechts-
buch (Berlin, 1895) und Genesis des Mahäbhärata (Berlin, 1899) wesentlich beistimme.
Inhaltsübersicht gibt H. Jacobi, Mahäbhärata (Bonn, 1903).
S. 195. Puräna: H. H. Wilson, Works Vol. III (London, 1864) und in der Preface zu
seiner Übersetzung des Visnupuräna, 2. Aufl. besorgt von F.-E. Hall (London, 1864 — 70).
S. 196. Rämäyana: H. Jacobi, Das Rämäyaria (Bonn, 1893); A. Baumgartner, Das
Rämäyana und die Räma-Literatur der Inder (Freiburg i. Br., 1894).
S. 210. Lexikographie: Th. Zachariae, Die indischen Wörterbücher (Grundriß der
indo-arischen Philologie und Altertumskunde, Straßburg, 1897): Astronomie: G. Thibaut,
Astronomie, Astrologie und Mathematik (ebenda, Straßburg, 1899).
S. 210. Allgemeines: A. F. Stenzler, Über die Wichtigkeit des Sanskrit-Studiums und
seine Stellung an unseren Universitäten (Breslau, 1863); E. Monseur, L'Inde et l'Occident
(Bruxelles, 1898); L. v. Schroeder, Indiens geistige Bedeutung für Europa (München, 1899);
A. E. J. Remy, The Influence of India and Persia on the Poetry of Germany (New York,
1901); A. Hillebrandt, Altindien und die Kultur des Ostens (Breslau, 1901); E. Kuhn,
Der Einfluß des arischen Indiens auf die Nachbarländer im Süden und Osten (München, 1903).
DIE ALTPERSISCHE LITERATUR.
Von
Karl Geldner.
Land und Leute. Einleitung. Dem iranischen Lande sind von der Natur feste
Grenzen gezogen durch das Randgebirge, das vom Berg Ararat aus-
gehend in doppeltem Bogen ein weites Hochland umspannt. Hier war
unter einem Klima, das in schroffem Wechsel zwischen den äußersten
Gegensätzen sich bewegt, auf einem meist spröden Boden, der harte
Arbeit verlangt, aber auch nicht unbelohnt läßt, ein starkes tapferes Ge-
schlecht von hohem, edlem Wüchse und mit g'esunden politischen In-
stinkten begabt erwachsen, dem einstmals in der Weltgeschichte eine
führende Rolle beschieden war. Von allen alten Kulturvölkern ist das
iranische am frühesten zu einer festen, die Jahrhunderte überdauernden
nationalen Einigung unter einem Großkönig gelangt. Mit orientalischem
Maßstab gemessen darf der von Kyros geschaffene und von Dareios aus-
gebaute persische Staat als ein Musterstaat gelten.
Jenseits des Nordrandes von Iran dehnt sich die weite zentralasiatische
Steppe aus. Hier lag die schwankende Grenze und das stete Kampffeld
zwischen den seßhaften Iraniem und den nomadisierenden Turaniern.
Westwärts trafen die vordringenden Iranier jenseits ihres Grenzgebirges
in der Niederung des Tigris und Euphrat mit den uralten semitischen
Staatengebilden zusammen, mit denen sie jederzeit in reger politischer
und geistiger Wechselbeziehung standen. Die ältere semitische, besonders
die babylonische Kultur übte dabei auf die iranische zweifellos einen
großen Einfluß aus, wenn sich auch dieser Einfluß zurzeit noch nicht ge-
nau bewerten und im einzelnen feststellen läßt. Auf kleinasiatischem Boden
begegneten die Iranier in ihrem weiteren Vordringen der überlegenen
griechischen Kultur, vor der sie bei Salamis und noch später bei Gau-
gamela die Waffen endgültig strecken mußten. Gleichwohl flößten den
Griechen unter allen „Barbaren" die Perser den meisten Respekt ein, auch
als sie längst aufgehört hatten, ihnen furchtbar zu sein. Herakleides von
Pontos nennt die Perser die männlichsten und hochherzigsten unter den
Barbaren, und schon Herodot (9,62) rühmt ihnen nach, daß sie im Ent-
Einleitung. 2 I 5
Scheidungskampf von Plataeae den Griechen an Mut und Stärke nicht
nachgestanden haben, sondern nur in der Bewaffnung und Taktik sowie
an Intelhgenz. Für Griechenland war das große iranische Nachbarreich
ein wichtiger politischer Faktor, mit dem es jederzeit rechnen mußte.
Griechische Schriftsteller suchten sich über alle dortigen Vorgänge älteren
und neueren Datums zu unterrichten. Was wir vom alten Iran wissen,
fließt großenteils aus abendländischer Quelle, Aber die Berichte der
Griechen erstrecken sich fast nur auf den dem Verkehr g-eöffneten Westen
der Monarchie. Von den Vorgängen im fernen Osten jenseits der großen
iranischen Wüste ist nur wenig sichere Kunde zu ihnen gedrungen und
daher kommt es, daß die Geschichte von Ostiran erst so spät aus dem
Dunkel heraustritt.
Im Osten schließlich trennte das hohe Grenzgebirge die Iranier von
den Sanskrit redenden Indern, denen sie unter allen nichtiranischen Völkern
ethnolog"isch am nächsten stehen. Der herrschende Volksstamm in Iran
wie in Nordindien nannte sich in alter Zeit die Arier (Skt. Rryst, altpers.
ariya), und Iran, wie noch heute der offizielle Name des persischen Reiches
lautet, bedeutet eigentlich das Land der Arier. Das avestische airyösha-
yanem „Land der Arier", sowie das spätere inschriftliche Airän umfaßte den
ganzen großen Länderkomplex, soweit die iranische Zunge reichte, also
das heutige Persien samt Balutschistan und Afghanistan und ging- nord-
wärts noch über dieses hinaus. Im politischen Sinn dehnte sich das alte
Iran weit über seine natürlichen Grenzen aus, soweit als eben die Macht
der Perserkönige reichte. Griechische Schriftsteller beschränken den Aus-
druck Ariane irrtümlich auf den Osten Irans.
Soviel ist sicher, daß die Vorfahren der Inder und Iranier innerhalb
der indogermanischen Völkergruppe sich am spätesten getrennt haben,
länger als die anderen in engerem Volksverband und in engster Kultur-
gemeinschaft verblieben. Die völlige Trennung beider Nationalitäten muß
jedoch in einer aller geschichtlichen Überlieferung und Erinnerung um
viele Jahrhunderte vorausliegenden Zeit sich vollzogen haben. Aus jener
gemeinsam durchlebten Kulturperiode, der sog. arischen Periode, haben
aber beide Völker bei ihrem Eintritt in die Geschichte noch einen reichen
Schatz an religiösen Vorstellungen und Kultusformen als gemeinsames
Erbteil bewahrt. Ein noch beredteres Zeugnis für die geistige Verwandt-
schaft und das lange Zusammenleben ist die beiderseitige Sprache, dieses
wichtigste Dokument der Nationalität. Indisch und Iranisch auf ihrer
ältesten Stufe stehen sich in Wortschatz und Form, in Stil und Ausdrucks-
weise vielfach so nahe, daß sie eher wie zwei Dialekte desselben Sprach-
stammes erscheinen.
Und doch haben sich trotz des gemeinsamen arischen Mutterschoßes
in ihrer Sonderentwicklung diesseits und jenseits des Indus zwei geistig
ganz verschieden geartete Volkscharaktere herausgebildet. Aus den Indern
ward ein geistreiches, spekulatives, grübelndes, in aller Lust sich selbst
2i6 K-\RL Geldner: Die altpersische Literatur.
peinigendes Volk mit ruheloser, überschwenglicher, fast überspannter Ein-
bildungskraft begabt und doch wieder streng wissenschaftlich, ein echtes
Denkervolk, das in seiner selbstgeschaffenen Ideenwelt ein mehr über-
irdisches Dasein lebte. Ihre iranischen Vettern diesseits des Indus sind
mehr oberflächlich, nüchtern, verstandesmäßig veranlagt, genußfroh, für
praktische und gemeinnützige Ideale empfänglich, in ihrem Gemüts- und
Phantasieleben mehr auf dem Boden der \Virklichkeit stehend, und sie
sind bei aller Vorliebe und anerkannten Begabung für Poesie selbst
in ihren größten Dichtern der späteren Blütezeit diesem Grundzug fast
immer treu geblieben.
Daß das Vaterland eines Firdausi und Hafis schon in alter Zeit eine
Xationalliteratur besessen haben wird, ist wohl zu vermuten. Es ist nicht
wahrscheinlich, daß beispielsweise ein Volk von der Kulturstufe der
Aleder ganz illiterat geblieben sei. Aber gerade von der medischen
Sprache ist so gut wie jede Spur verweht. Die eigene Sorglosigkeit in
der literarischen Überlieferung, der Mangel an philologischem Sinn und
grammatischer Schulung wie die vielen politischen und religiösen Stürme,
die über das Land fegten, das alles mag schuld daran sein, daß die
Iranier das beste Erbteil der Vergangenheit bis auf wenige Reste ver-
loren haben. Und selbst diese wenigen Reste hat der unverwüstliche
Stein und der nicht minder unverwüstliche Glaubenseifer vor dem Unter-
gang bewahrt, nicht das rein antiquarische Interesse.
V\^as auf unsere Zeit gekommen ist, verdient kaum den stolzen
Namen einer Literatur. Es ist zwar für Sprachwissenschaft, Geschichte
und Religionswissenschaft von unschätzbarem Wert; aber vom rein lite-
rarischen Standpunkt aus ist es armselig und wird von der alten Lite-
ratur des benachbarten Indiens völlig in den Schatten gestellt. Was
anderswo Geschichte der Literatur heißt, muß sich hier auf die Be-
schreibung der beiden einzigen altiranischen Sprachdenkmale, der alt-
persischen Königsinschriften und der Bibel des Zoroastrismus, des Avesta,
beschränken.
I. Die Keilinschriften der Achämeniden. Sobald Darius I. den
Thron des Kyros sich gesichert und die abgefallenen Provinzen des
großen Reiches nach langen Kämpfen und mit wunderbarer Tatkraft
wieder unterjocht hatte, begann er — ca. 518 v. Chr. — , zum bleibenden
Gedächtnis für die Mit- und Nachwelt seine Taten nach assyrisch-baby-
Darius- Ionischem Vorbild auf Stein aufzuzeichnen. So entstanden die großen
Felseninschriften, die unter all seinen Urkunden die umfangreichsten sind
und als die eigentlichen Königsedikte bezeichnet werden können. Darius
ist der erste Perserkönig, der sich auf seinen Inschriften seiner Mutter-
sprache, des Altpersischen, bediente, während von Kyros nur babylonische
Inschriften nachweisbar sind. Allerdings machte er der alten Sitte inso-
weit ein Zugeständnis, als er den meisten seiner altpersischen Urkunden
inscbriften.
I. Die Keilinschriften der Achämeniden.
2 17
eine doppelte Übersetzung in neubabylonischer und in susischer oder
neuelamischer Sprache und Keilschrift zur Seite stellte. Der altpersische
Text bekommt aber stets den Ehrenplatz in der Mitte, und für ihn führte
Darius eine besondere Schrift, die altpersische Keilschrift, ein. Diese ist Altpersische
die vereinfachte Form einer älteren Keilschriftart, bezw. eine Neubildung,
die in der Mitte zwischen der alten Silbenschrift und der Lautschrift steht,
leicht lesbar, aber nicht frei von Zweideutigkeiten ist. Die aus keil-,
oder richtiger gesagt nag-elförmigen Strichen zusammengesetzten Buch-
staben sind je nach dem zur Verfügung stehenden Raum 3,5 bis 8 cm
hoch und scharf und akkurat gemeißelt. Die Inschriften werden durch
beigesetzte Reliefdarstellungen illustriert. Der Leser wird mehrfach direkt
auf diese „Abbildungen" hingewiesen. Über den Skulpturen stehen wie-
derum kleinere Aufschriften als Erläuterung. Die durchweg kunstvolle
Ausführung' im einzelnen und die kühne, gigantische Anlage mancher
Edikte in schwindelnder Höhe an steilen Felsabhäng"en zeugen von hoher
technischer Vervollkommnung.
Die läng'ste und bedeutendste Dariusinschrift ist leider heutigentages Inschrift von
Behistun.
auch die am weitesten entrückte und am schwersten zugängliche. Nur
wenige Pioniere der Wissenschaft haben sie mit eigenen Augen gesehen,
und nur einem — Sir Henry Rawlinson — war es verg'önnt, sie in müh-
seliger Arbeit vollständig abzunehmen. Sie befindet sich in entlegener
Geg'end unweit der Stadt Kermanshah im persischen Kurdistan an der
steilsten, nur mit Lebensgefahr zu erklimmenden Felswand des Berges
Behistun oder Bisutun (tö BaYiCTavov öpoc), der 500 Meter hoch aus der
Ebene schroff emporsteigt. Dort ist sie ungefähr 100 Meter über der
Ebene an der senkrecht behauenen Wand auf fünf sorgsam ausgemeißelten
und geglätteten Tafeln oder Kolumnen eingehauen. Die Breite der
Tafeln beträgt etwas weniger als 2 m, der Gesamtumfang beziffert sich
auf etwas über 400 Zeilen. Herabsickerndes Wasser hat alle beschädigt,
die fünfte Tafel fast ganz zerstört. Über der Inschrift prangt weithin
sichtbar das Relief des Königs, der wie überall selbst als sprechend ge-
dacht ist. Er zählt zunächst seine Titel, Ahnen und die von ihm be-
herrschten Länder auf, gibt kurz sein Regierungsprogramm und dann
eine lebendige Schilderung der Reichswirren nach dem Tode des Kam-
byses, der Thronusurpation des falschen Bardiya-Smerdis und seines
Sturzes, der von Provinz zu Provinz aufflackernden Empörungen und ihrer
Unterdrückung bis zum zweiten Aufstand von Babylon. So weit der In-
halt der ersten drei Tafeln. Die vierte resümiert kurz die Namen sämt-
licher Empörer, und dann wendet sich der König pathetisch an den Leser.
Er verbürgt eidesstattlich die Wahrheit seiner Berichte und schärft ihren
Schutz und ihre Weiterverbreitung ein. Das sieht ganz wie ein Schluß
aus und die ursprüngliche i^ufzeichnung war wohl hier zu Ende. Auf
der fünften, kürzeren Tafel wurde später der Bericht über den Feldzug
gegen die Skythen nachgetragen. Ein seltsamer Zufall fügte es, daß ge-
2 1 8 Karl Geldner : Die altpersische Literatur.
rade die Relation dieses unglücklich verlaufenen Feldzuges von den
Naturgewalten fast ganz ausgelöscht worden ist.
Die Behistuninschrift ist also recht eigentlich der Erinnerung an die
schwerste Zeit, an die Zeit der großen Revolten im Innern gewidmet. Sie
ist eine historische Urkunde großen Stils und keine der anderen Inschriften
kann sich auch nur entfernt mit dieser messen.
Kuriere Unter den Inschriften zweiten Ranges steht obenan diejenige an
dem Felsen von Naqsh i Rustam über der Grabnische des großen Königs.
Er hat sich dort selbst zu Lebzeiten seine Grabschrift gesetzt. Diese ist
weit kürzer und allgemeiner gehalten, ohne historische Details. Die streng
geographisch angeordnete Länderliste zählt unter den Reichsprovinzen
das Indusland auf, das auf der ersten Behistuntafel noch fehlt. Jene
muß also vor, die Grabschrift nach dem indischen Feldzug entworfen
worden sein.
Auch die übrig^en Inschriften sind im Vergleich zur Behistuninschrift
ganz kurz gefaßt, oft nur ein oder zw^ei Zeilen. Besondere Erwähnung
verdienen noch die Aufschriften, die als Bauurkunden an den Wänden
und Säulen der jetzt in Trümmern liegenden Königspaläste von Perse-
polis angebracht sind und die Säuleninschrift, welche bei dem Bau des
Suezkanals an der Stelle des alten von Darius vollendeten Verbindungs-
kanales ausgegraben wurde.
Charakter der Die Sprache der Inschriften ist oft noch linkisch, der Ausdruck
schlicht, aber w'arm, die Berichte bündig, sachlich und frei von eitler
Großsprecherei. Es sind echt königliche Worte, getragen von hohem
Selbstbewußtsein, von heiligem Eifer für den Ruhm und die Größe des
Vaterlandes und von ausgesprochener Religiosität. „Es verkündet der
König Darius: Als Auramazda diese Erde in Aufstand sah, da übergab
er sie mir, zum König machte er mich; ich bin König. Nach dem Willen
Gottes stellte ich sie an ihren Platz. Was ich ihnen sagte, das taten sie,
wie es mein Wille war. Wenn du nun denkst: 'wie vielfach waren jene
Länder, welche der König Darius regierte?', so betrachte das Bild (derer),
die meinen Thron tragen, so wirst du sie wissen. Da ward dir deutlich
werden: des persischen Mannes Lanze ist fernhin gedrungen. Da wird
dir deutlich werden: der persische Mann hat fern von Persien Schlachten
geschlagen." — „Es spricht der König Darius: Dieses, was getan wurde
das alles tat ich nach Gottes Willen. Gott brachte mir Beistand, w^äh-
rend ich es tat. Gott schütze mich vor . , . und mein Haus und dieses
Land! Darum bitte ich Gott, dies gewähre mir Gott!" — „Es spricht der
König Darius: Nach dem Willen Gottes ist auch vieles andere von mir
getan worden, was in dieser Inschrift nicht beschrieben ist. Deswegen
ist es nicht beschrieben, damit niemandem, der später diese Inschrift lesen
wird, es zu viel erscheine, was ich getan habe, und er es nicht glaube,
sondern für erlogen halte."
Das Bild, das uns die griechischen Schriftsteller von diesem größten
I. Die Keilinschriften der Achämeniden.
2 IQ
König des alten Orients geben, wird durch seine eigenen Inschriften in
eine noch günstigere Beleuchtung gerückt.
Darius ist nicht nur der Begründer dieser Keilschriftliteratur, son- Darms-
iTXT- j 1- TTT • Nachfolger.
dern er hat auch selbst das Meiste dazu beigesteuert. Was seine
Nachfolger an Inschriften hinterlassen haben, sind dürftige, epigonen-
hafte Nachahmungen. Sie bestehen zum größten Teil in der Wieder-
holung der solennen Formeln ohne jeden originalen Gedanken und sie
überschreiten zusammengenommen nur wenig den Umfang einer einzigen
Behistuntafel. Sie lassen sich abwärts bis Artaxerxes III. (358 — 338) ver-
folgen.
Außer den Achämenideninschriften sind keine weiteren Sprachproben Bedeutung der
des Altpersischen auf unsere Zeit gekommen, nur noch einzelne Vokabeln,
welche die Griechen überliefern. Die Entzifferung der Inschriften im ig. Jahr-
hundert hat also unsere Sprachkenntnis um eine völlig verschollene Sprache
bereichert. Sie hat zweitens der inneren Geschichte des Perserreiches neue
Quellen erschlossen, denn die Urkunde am Behistunberg ist gleichsam
noch ein lebendiger Zeuge aus den sturmbewegten ersten Regierungs-
jahren des Darius. Sie vervollständigt, berichtigt oder bestätigt die An-
gaben der griechischen Historiker, insbesondere des Herodot. So wird,
um nur einiges anzuführen, die Richtigkeit der achämenidischen Ahnen-
reihe, die Herodot (7, 11) dem Xerxes in den Mund legt, bis auf einen
leicht verzeihlichen Irrtum, inschriftlich bestätigt. Xerxes sagt dort: „Ich
will nicht heißen der Sohn des Darius, des Sohnes des Hystaspes, des
Sohnes des Arsames, des Sohnes des Ariaramnes, des Sohnes des Teispes,
des Sohnes des Kyros, des Sohnes des Kambyses, des Sohnes des Teispes,
des Sohnes des Achämenes, wenn ich nicht die Athener züchtige." Und
Darius sagt im Eingang der großen Inschrift: „Mein Vater ist Vishtäspa,
der Vater des V. Arshäma, der Vater des Arshäma Ariyärämna, der Vater
des Ariyärämna Caishpi, der Vater des Caishpi Hakhämani. Acht meines
Geschlechtes, die waren früher Könige; ich bin der neunte. In zwei Linien
sind wir Könige." So wird durch dieselbe Inschrift bis auf einen die Richtig-
keit der Namen, die Herodot (3, 70) den Mitverschworenen des Darius
gibt, bestätigt. Und wenn Herodot 2, 158 berichtet, daß Darius den vom
König Necho begonnenen Kanal vom Nil bis zum Roten Meer erneuert
und vollendet habe, so bestätigt die Suezinschrift diese Angabe mit dürren
Worten: „Ich befahl, diesen Kanal zu graben vom Piräva (Nil), der in
Ägypten fließt, hin zu dem Meer, das von Persien kommt. Dieser Kanal
wurde gegraben."
Und drittens wurden die einmal entzifferten altpersischen Texte der
Schlüssel zur Entzifferung der ebenso dunkeln und noch weit schwierigeren
Übersetzungen und diese wieder der Ausgangspunkt für die erfolgreiche
Entzifferung der gesamten fast unerschöpflichen Keilschriftliteratur.
So haben die wenigen altpersischen Inschriften den Anstoß zu einer
neuen Wissenschaft gegeben und ein weit über ihre eigenen Grenzen
2 20 Karl Geldner: Die altpersische Literatur.
hinausreichendes Gebiet der Geschichte erschließen helfen. Darin besteht
ihre universale Bedeutung",
nire Die Entzifferung der Inschriften, -deren Sprache und Schrift gleich
unbekannte Größen waren, gehört zu den bleibenden Großtaten der Philo-
logie. Den ersten vom Glück begünstigten Ansatz dazu machte Grotefend
im Jahre 1802. Er prüfte zwei kleine, bis auf wenige Worte gleichlau-
tende Inschriften und vermutete in den nicht gleichlautenden Worten
Xamen von persischen Königen, und zwar riet er gleich auf die richtigen,
nämlich Darius und Xerxes. So gelang es ihm auf den ersten Wurf,
neun Zeichen richtig zu bestimmen. Nun fügte sich in jahrelanger wett-
eifernder Geduldsarbeit Steinchen zu Steinchen, bis in den vierziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts durch Sir Henry Rawlinson, der, wie
erwähnt, auch die große Behistuninschrift zum erstenmal veröffentlichte,
die Entzifferung im wesentlichen zum Abschluß gebracht wurde. Im
großen und ganzen ist die Lösung und das Verständnis der altpersischen
Urkunden jetzt sichergestellt. Im einzelnen wird sich wohl noch manches
durch bessere Worterklärung, besonders mit Hilfe der Übersetzungen und
durch richtigere Lesung der mehrdeutigen Schrift modifizieren lassen.
Was not tut, ist eine baldige erneute Prüfung und genaue Wiederg-abe
aller Inschriften mit den Hilfsmitteln modemer Technik. Wie A. V. Wil-
liams Jackson, der letzte Besucher der Behistuninschrift, konstatiert, hat
bei dieser wichtigsten Inschrift seit Rawlinson die Zerstörung schon
weitere Fortschritte gemacht. Manche verwaschene Buchstaben lassen
sich nur noch aus den tiefer eingemeißelten KeilkÖpfen erkennen, und
auch diese letzten Kriterien schwinden langsam.
Und zum Schluß drängt sich die Frage auf: sind wir mit unserem
Altpersisch überhaupt schon zu Ende und wird nicht die Zukunft, wenn
einmal auch in Persien der Spaten angesetzt und unter der Erde syste-
matisch gesucht wird, noch belangreicheres Material zutage fördern?
n. Die Avesta-Literatur. Das andere Literaturdenkmal des alten
Irans ist die noch jetzt bei den Parsen Indiens gebrauchte heilige Schrift
Sprache des der Zoroastricr, das Avesta. Sie ist in einer dem vedischen Sanskrit
Avesta.
nahe verwandten altertümlichen, wort- und formenreichen und dadurch
sehr ausdrucksfähigen Sprache niedergeschrieben, deren Xamen und
Heimat niemand kennt. Es läßt sich nur das eine mit Bestimmtheit sagen,
daß es nicht die altpersische Sprache ist, von der sie in vielen Punkten
Heimat des sich Unterscheidet. Da wir sonst von keiner alten Provinzialmundart des
Avesta.
iranischen Reiches irgendwelche Sprachproben besitzen und anderweitige
einheimische Zeugnisse fehlen, auch das Avesta selbst keine Anhalts-
punkte gibt, so sind wir für das Ursprungsland dieses Idioms auf Ver-
mutungen angewiesen. Altbaktrisch oder Bakthsch, Altmedisch sind rein
hypothetische Benennungen. A priori ist das Wahrscheinlichste, daß die
Landschaft, in der Zarathushtra als Prophet zuerst erfolgreich war, die
II. Die Avesta-Literatur. 2 2 1
Heimat dieser Sprache und bis zu einem gewissen Grad des Avesta
selbst ist, denn der Prophet wird an seiner eigentUchen Wirkungsstätte
nicht in seiner Muttersprache — dem Dialekt von Atropatene oder
Raga — , sondern in der dortigen Landesmundart gepredigt haben.
Dieses Land seines Wirkens ist aber aller Wahrscheinlichkeit nach
Seist an am unteren Lauf des Hilmend (Etymandros) und am Käsavasee
(dem heutigen Hamunsee), jetzt halb zu Persien, halb zu Afghanistan ge-
hörig. An den Käsavasee verlegt die iranische Sage das Stammland der
Kayanierdynastie, die mit dem König Vishtäspa abschloß. Im Käsavasee
ruht bis an das Ende der Welt der Samen des Zarathushtra, aus dem die
künftigen Heilande geboren werden sollen. Zarathushtra muß also, wenn
anders diese Sage einen Sinn haben soll, an den Gestaden dieses Sees
gelebt, bzw. in seinen Fluten gebadet und in Seistan dem König Vishtäspa,
seinem mächtigen Protektor, die neue Religion gelehrt haben.
Ein sicherer Rückschluß auf die Heimat der Avestasprache wird
erst dann möglich sein, wenn es einmal gelingen wird, von einer modernen
Provinzialmundart deutliche Dialektspuren bis ins Avesta rückwärts zu
verfolgen. Wie auch die Entscheidung fallen mag: weder die Sprache Entwicklung
. ^-^ '^'^^ Sprache.
des Avesta, noch dieses selbst ist auf die Grenzen einer bestimmten
Provinz beschränkt geblieben. Die Sprache, in der Zarathushtra lehrte,
ist in der glänzen Folgezeit die typische Sprache seiner Religion geblieben
und mit deren Ausbreitung in g^anz Iran eingebürgert worden als die
Sprache der Kirche, überall verstanden, wo der neue Glaube Wurzel
gefaßt hatte. Als Kirchensprache von den Theologen und Schriftgelehrten
fortgebildet und fortgepflanzt, in Schulen gelehrt und gelernt, konnte sie
ein künstliches Leben führen, noch lange nachdem sie im Volksmund aus-
gestorben war. In ihr wurde geredet, geschrieben und gedichtet, wo
immer in Iran eine Stätte priesterlicher Gelehrsamkeit bestand. Sie
spielte dort dieselbe Rolle, wie das Latein während des Mittelalters im
Abendland, wie das Hebräisch in den Rabbinerschulen, wie das Sanskrit
bei den Hindus oder das Päli bei den südlichen Buddhisten. Deutlich
unterscheiden wir im Avesta zwei Sprachperioden: die ältere Sprache, in
der Zarathushtra predigte, den sogenannten Gäthädialekt mit stark lokaler
Färbung, und die jüngere, fortentwickelte Sprache der organisierten
Landeskirche, das Vulgär- Avestische. Dieses ist eine Schöpfung der Charakter der
zoroastrischen Geistlichkeit. Der Dualismus der Lehre ist auf die Sprache
übergegangen. Es gibt eine Sprache für die Ketzer und eine solche für
die Gläubigen. Die geläufigen Begriffe, wie Kopf, Auge, Hand, Fuß,
Sohn, sprechen, sehen, gehen, schaffen, sterben werden im Ausdruck
streng geschieden, je nachdem von ormazdischen oder ahrimanischen Ge-
schöpfen die Rede ist. Zu rein profanen literarischen Zwecken, zu in-
schriftlichen Aufzeichnungen oder Münzlegenden ist diese Sprache wohl
niemals verwendet worden. In der Sasanidenzeit ist die Kenntnis der
Avestasprache in starker Abnahme begriffen. Ihr letztes Überbleibsel,
22 2 Karl Geldner: Die altpersische Literatur.
das Avesta, wird zu einem verschlossenen Buch, das auch für die Schrift-
gelehrten nur mit Hilfe modemer Kommentare einigermaßen verständlich
bleibt.
Altpersisch und Die Persis und die unbekannte Heimat der Zarathushtrasprache sind
also in der iranischen Sprachg'eschichte die zwei entgegengesetzten Pole,
von denen aus, immer weitere Kreise ziehend, eine doppelte über den Mund-
arten stehende Schriftsprache sich entfaltete. Wie das Altpersische von
der politischen Machtstellung der Persis getragen zur offiziellen Staats-
sprache avancierte, so entwickelte sich die des Avesta zur Sprache der
offiziellen Landeskirche. Zwischen diesen beiden expansiven Sprach-
entwicklungen ist die mundartliche Literatur Irans erstickt.
Der Name der Persis und der Perser ist merkwürdigerweise dem Avesta
Geographie des Unbekannt. Dessen geographischer Horizont reicht vom äußersten Nord-
westen Irans bis zum äußersten Nordosten und gen Südost bis an den
Indus. Es nennt als bekannte Landschaften und Städte Sogdiana, Khoras-
mien, das 'tapfere und fromme' Merv, das 'schöne' Balkh, Herat, Kabul
mit dem Paropanisos, das Indusland, Arachosien, das Tal des Hilmend
mit seinen Zuflüssen und dem Hamunsee, der ausdrücklich als im Osten
gelegen bezeichnet wird, ferner Hyrkanien, Mazenderan mit dem Alborz,
dem Zentralgebirge der Welt, das bis in die Region der Gestirne empor-
ragt, Raga, endlich im äußersten Nordwest Arrän, das Stromgebiet des
Araxes und den salzigen Urmiasee. Der Länderkomplex, den das Avesta
umspannt, liegt also von der Persis aus gerechnet jenseits der zentralen
Wüste und im großen Bogen um diese herum. Auch geographisch ist
das Bild von den beiden entgegengesetzten Polen zutreffend.
Avesta undPäiL Schon oben wurde auf die Analogie zwischen Avesta und Päli hin-
gewiesen. Diese Ähnlichkeit erstreckt sich nicht allein darauf, daß beide
weitverbreitete Kirchensprachen sind, die mit der Religion aus ihrer
engern Heimat gewandert sind. Auch die Heimat des Päli ist noch nicht
sicher nachgewiesen. Nach buddhistischer Tradition ist Päli die Sprache,
in welcher der Religionsstifter einstmals gepredigt hat. Und selbst im
Gebrauch der beiden ety^mologisch dunklen Wörter Päli — Avesta liegt eine
merkwürdige Übereinstimmung. Päli bezeichnet ursprünglich die heilige
Schrift, die Gesamtheit der südbuddhistischen Texte, insbesondere im
Gegensatz zu dem Kommentar, in zweiter Linie eine einzelne Schriftstelle.
Und schließlich wenden die Singhalesen das Wort auch auf die von der
heiligen Schrift unzertrennliche Sprache selbst an. Genau dasselbe ist
bei dem Wort Avesta der Fall. Es bedeutet heiUge Schrift, namentlich
im Gegensatz zum Kommentar (Zand, daher der falsch verstandene Aus-
druck Avesta u Zand, „heilige Schrift und Auslegung"), dann irgend eine
Stelle aus dieser oder ein Zitat in Avestasprache und endlich diese letztere
selbst. Da alle Vermutungen über ihre Herkunft unsicher sind, so wird
man gut daran tun, auch in Europa diesem traditionellen Sprachgebrauch
zu folgen und die Sprache kurzweg Avesta zu nennen. Das Wort Avesta,
II. Die Avesta-Literatur.
223
mittelpersisch apastäk, läßt sich nicht vor der Sasanidenzeit nachweisen.
Vielleicht gehört es zu Pehlevi apastän, Päzend awastäm 'Vertrauen' und
würde dann das allein zuverlässige und glaubwürdige Buch bedeuten, als
welches es von den Sasanidenkönigen proklamiert wurde.
Das Avesta ist kein einzelnes Buch, sondern eine Schriftensammlung,
genauer g-esagt der letzte Überrest einer einstmals umfangreicheren kirch-
lichen Literatur, die für den Mazdagläubigen dieselbe Heiligkeit und Auto-
rität besaß wie für den rechtgläubigen Hindu der Veda, und wie dieser
einen großen Zeitraum umspannt. Nach oben läßt sich für das Avesta Anfänge der
,. ., ^ • • 1 -r>w-"i TT1 1- r -1 Avestaliteratur.
kerne sichere Zeitgrenze ziehen. Die ältesten Uberlieferung-en reichen
zurück bis in die noch unbestimmbare Zeit des Zarathushtra und seines
Königs Vishtäspa, der mit dem Vater des Darius vielleicht nur den Namen
gemein hat. Doch wird der Identität beider neuerdings mehrfach das Wort
geredet. Aussprüche und Reden des Propheten, welche die Erinnerung
festgehalten oder spätere Tradition ihm in den Mund gelegt hatte, wurden
gesammelt und als Reliquien fortgepflanzt. Aus dieser ältesten Überliefe-
rung sind nur die wenigen Gäthäs oder Sprüche erhalten. Später begann
man homiletische Erklärungen dieser schwerverständlichen Sprüche des
Propheten zu verfassen, ferner das Priestergesetz, das seinen Namen trug,
und die liturgischen Formeln und religiösen Gesänge, sowie die einzelnen
Züge der Heiligenlegende zu fixieren und die Kosmologie und die ira-
nischen Heldensagen, soweit sie von theologischem Interesse waren, in
ein System und in feste Chronologie zu bring^en. Ein genauer Einblick
in das Werden und Wachsen dieser Literatur ist uns leider versagt.
Okzidentalische Schriftsteller nach Alexander bezeugen mehrfach ihr Vor-
handensein. Nachsasanidische Parsenschriftsteller aber rekapitulieren die ihre Geschichte.
Hauptpunkte aus der wechselvollen Geschichte des Avesta von den Achä-
meniden bis auf ihre Zeit, uud ihre Angaben erscheinen in der Hauptsache
gerade deshalb glaubwürdig, weil sie nichts beschönigen und alles er-
klären. Danach bestand schon unter den Achämeniden ein fest redi-
gierter und kanonisierter Avestatext in 2 i Büchern (Nasks) mit zusammen
1000 Kapiteln. Dieser war auf Kuhhäuten, d. h. Pergament, aufgezeichnet
und in zwei offiziellen Exemplaren in den Archiven deponiert worden,
nach der einen Überlieferung auf Befehl von Darius III., nach der
anderen mehr dogmatischen schon auf Befehl des Vishtäspa. Das eine
Exemplar wurde von Alexander verbrannt, das andere von den Griechen
geraubt. König" Vologeses (welcher gemeint sei, ist nicht ersichtlich) befahl
für die Erhaltung der zerstreuten Reste der heiligen Schrift, soweit sie
noch in schriftlicher oder mündlicher Überlieferung der Schriftgelehrten
vorhanden waren, zu sorgen und ein Verzeichnis davon aufzustellen.
Der erste Sasanidenkönig Ardashir (2 1 2 — 241), unter dem die zoroastrische
Religion und Kirche zu neuer und noch größerer Macht als je zuvor
gelangte, tat noch einen Schritt weiter. Er ließ die verstreuten Teile
zusammenbringen und durch seinen Oberpriester Tanvasar daraus ein
,7 1 Karl Geldner: Die altpersische Literatur.
vollständiges Avesta herstellen, das ein möglichst getreues Abbild des
originalen sein sollte. Dieses neuredigierte Avesta kanonisierte er und
setzte Abschriften davon in Umlauf. König Shäpür I. {241 — 272) erweiterte
diesen Kanon, indem er auch die nichtreligiösen Schriften über Medizin,
Astrologie, Geographie und Philosophie sammeln und in korrekter Ab-
schrift diesem einverleiben ließ. Endlich unter Shäpür IL (30g — 37Q)
regelte dessen Kanzler Ätarpät die Naskzählung.
Die einheimische Tradition läßt sich also in Kürze dahin zusammen-
fassen: Bestand einer heiligen Schrift unter den Achämeniden, Aufhören
der redaktionellen Einheit und Zerstreuung der Schriften seit Alexander,
Vorarbeiten zur Wiederherstellung des Avesta unter einem Vologeses,
vollständige Sammlung und Diaskeuase unter Ardashir, Ergänzung unter
Shäpür I. und Abschluß der Neuredaktion unter Shäpür II.
Sasaniden- Das Avesta ist also eigentlich ein Werk der Sasanidenzeit; es ist
im dritten Jahrhundert n, Chr. auf Grund alter Literaturüberreste neu
aufgezeichnet und komplettiert und vielleicht damals aus dem älteren
mangelhaften Pehlevialphabet in die bekannte vollständige Avestaschrift
umgeschrieben worden. Bei dieser Aufzeichnung und Umschrift mögen
manche — nach Andreas sogar ganz erhebliche — Fehler sich ein-
o-eschlichen haben. Gewissen Partieen ist noch deutlich anzusehen, daß
sie aus lauter Fragmenten notdürftig zusammengeleimt worden sind. Was
im einzelnen der oder die Diaskeuasten bei ihrer Neuordnung aus eigenem
Wissen ergänzt, überarbeitet oder an Stelle des Verlorenen untergeschoben
haben, entzieht sich der Kritik. Zu wirklichen Korrekturen' und zur Her-
stellung korrekter Texte reichte ihre grammatische Kenntnis nicht aus.
Die Texte, die sich noch erhalten hatten, mögen von verschiedener Güte
gewesen sein. Hie und da meint man an den ganz barbarischen oder
modernen Sprachformen die Hand des letzten Redaktors noch zu erkennen.
Was unser Avesta an grammatisch korrekten Texten enthält, das ist
sicher echt und wortgetreu aus dem alten Avesta herübergenommen.
Dahin sind vor allem die Gäthäs und die großen Yashts zu rechnen. In-
haltlich ist, soweit wir aus unserem Avesta schließen können, alles sorg-
sam vermieden, was die spätere Zutat verraten könnte. Von gewissen
Gebetsformen abgesehen, ist die später zum Dogma gewordene Fiktion,
daß das ganze Avesta eine Offenbarung des Propheten sei, nach Möglich-
keit durchgeführt, oftmals allerdings nur durch die einleitenden Worte:
„Es sprach Ahura Mazda zu Zarathushtra", oder „es fragte Zarathushtra
den Ahura Mazda". Auch jede Hindeutung auf schriftliche Überlieferung
wird vermieden.
Die Xasks. Die Sasauidenrcdaktion hat die 2 1 Nasks wieder zusammengebracht,
allerdings, wie die Parsen selbst eingestehen, manche darunter nur noch
zu einem ganz kleinen Teil. Im neunten Jahrhundert n, Chr. waren von
den neuredigierten Nasks noch 20 im Urtext, 19 zugleich mit dem Pehlevi-
kommentar vorhanden. Der Dinkart, eine theologische Enzyklopädie aus
II. Die Avesta-Literatur.
225
genannter Zeit, gibt eine z. T. sehr detaillierte Inhaltsangabe der Nasks,
aus der wir uns einen annähernden Begriff von dem reichhaltigen Stoif des
damaligen Avesta machen können. Es enthielt Bücher mythisch-historischen
Inhaltes, eine Schöpfungsgeschichte, Lebensgeschichte des Zarathushtra,
die Bekehrung- und Belehrung des Vishtäspa, eine Weltgeschichte mit be-
sonderer Berücksichtigung von Iran bis zur Verkündigung der Religion,
ferner Bücher über Opferzeremoniell, Priesteranweisung, Morallehre und
solche juristischen Inhaltes über Familienrecht, Eigentum, Schuldrecht,
Gottesurteile, über Strafrecht und Prozeßverfahren, über Kriminal-, Zivil-
und Kriegsrecht.
Von diesen zwanzig Nasks ist nur noch ein Extrakt erhalten, der jetzigerUmfang.
z. T. in neuer TextgTuppierung alles das enthält, was für den Kultus un-
entbehrlich war. Ein einziger Nask, der Vendidäd, ist noch vollständig
und unter seinem alten Namen vorhanden, zwei weitere, wie scheint, an-
nähernd vollständig, aber nicht mehr unter ihrem alten Titel. Von den
übrigen existieren nur noch Auszüge und Fragmente. Der größere Teil,
über drei Viertel des sasanidischen Bestandes, insbesondere die mehr für
Laien bestimmte und die wissenschaftliche Literatur ist im Lauf der Jahr-
hunderte zugrunde gegangen, als unter der Herrschaft der Araber und der
grausamen Tataren durch Bekehrung, Ausrottung und Auswanderung die
Reihen der Mazdagläubigen mehr und mehr sich lichteten.
So ist der einstmals stattliche Kanon von widrigen Schicksalen zer-
zaust, auf den mäßigen Umfang zusammengeschrumpft, den er jetzt als
Bibel und Kirchenagende der Parsen hat. Diese zerfällt in vier Haupt-
stücke: den Yasna, Vispered, Vendidäd und das weniger fest redigierte
Khorda (kleine) Avesta mit den Yashts. Yasna und Vispered enthalten die
Liturgie für das allgemeine Opfer zu Ehren sämtlicher Gottheiten, bei dem
auch der Vendidäd, „das Gesetz", zum Vortrag kommt, also hier etwa die
Stelle unserer Predigt vertritt. Die Yashts und das kleine Avesta ent-
halten die feierlichen Anrufungen der einzelnen Heiligen und die für die
mannigfachen Vorkommnisse des Lebens vorgeschriebenen Gebete und
Formulare. Nur der Vendidäd deckt sich ganz mit dem neunzehnten
Nask des Sasanidenavesta. Die übrigen Bücher sind Zusammenstellungen
aus anderen Nasks, für die liturgische Praxis arrangiert. Zum guten Glück
kommen hierbei nicht bloß simple Ritualtexte zum Vortrag, sondern auch
Stücke, die ursprünglich eine andere und höhere Bestimmung hatten, in
der Liturgie selbst aber als ehrwürdiges Beiwerk sich erhalten haben.
Außer den vier Hauptstücken existieren zahlreiche z. T. recht umfangreiche
Fragmente aus den verlorenen Nasks und einzelne Zitate, die aber viel-
fach in so trostlosem Zustand überliefert sind, daß eine vollständige Aus-
gabe derselben kaum lohnt.
Versuchen wir diese Avestaliteratur sachlich in ihr Elemente zu zer-
legen, so lassen sich vier Textgruppen scheiden: die Gebetsformeln, das
Gesetzbuch, die Yashts und die Gäthäs oder Sprüche des Propheten.
Die Kultur dek Gegenwart. I. 7. 15
226
Karl Geldner: Die altpersische Literatur.
Die Gebets-
formeln.
Vendidad.
Charakter.
Die Gcbetsformeln füllen einen beträchtlichen Teil des Yasna und
Khorda Avesta und den ganzen Vispered aus. Es sind monotone An-
rufungen ohne Gedankeninhalt, aber für die zoroastrische Nomenklatur,
für die Feststellung der dogmatischen Begriffe, der sakralen Institutionen,
für das Opferzeremoniell und die kirchliche Zeiteinteilung, sowie für die
Rangordnung der geistlichen und der himmlischen Hierarchie von Wich-
tigkeit
Das inhaltreichste Buch ist derVendidäd, das kirchliche Gesetz. Es
gewährt einen Einblick in die religiöse Moral und die Sitte der Mazda-
gläubigen. Nicht das ganze Buch ist dem Gesetz gewidmet. Es beginnt
— vielleicht nach biblischem Muster — mit einer allerdings sehr dürftigen
Schöpfungsgeschichte: Ormazd erschafft die dem Avesta bekannten Länder
und Ahriman setzt seine Landplagen hinein. Es folgt dann ein episches
Stück, z. T. in dem geläufigen achtsilbigen Versmaß verfaßt: die Geschichte
von Yima, dem iranischen Königsideal. Yima wird zuerst von Gott als
Prophet berufen, lehnt aber ab. Als König inauguriert er alsdann das
tausendjährige goldene Zeitalter auf Erden, nach dessen Ablauf ein großer
Winter mit der Sintflut hereinbricht. Damit die lebende Welt nicht aus-
sterbe, flüchtet Yima mit den besten Exemplaren aller Gattungen von
Mensch und Tier in einen unterirdischen Garten, wo sie ein paradiesisches
Leben weiterführen.
Das eigentliche Gesetz beginnt mit dem dritten Kapitel. Manche
Kapitel sind inhaltlich ein buntes Durcheinander; bisweilen wird in längeren
Exkursen von dem Thema abgeschweift. Im allgemeinen ist dem Gesetz-
buch der pedantische trockne Lehrton eigen. Von Zeit zu Zeit aber wird
die Rede gewählter, der Gesetzgeber kleidet seine Worte in die Form
episodischer Gespräche und Erzählungen oder anmutig-er Schilderungen
und Gleichnisse und seine Sprache erhebt sich dann stellenweise zum
Pathos eines Lehrgedichtes.
So schildert das dritte Kapitel in poetischer Form den Segen des
Landbaues und vergleicht die fruchtbare der Bestellung harrende Erde
mit der jungen Ehefrau. Am besten liest sich das achtzehnte Kapitel,
das letzte des eigentlichen Gesetzbuches. Es beginnt mit einer allge-
meinen, poetischen Mahnung an den Priesterstand, nicht allein nach dem
Buchstaben des Gesetzes, sondern stets im lebendigen Glauben zu wirken.
Den echten Priester erkenne man daran, daß er die Nacht über die heilige
Schrift studiere, wache und bete, auf daß er nicht in Anfechtung falle.
Ebenda wird ein humoristisch gefärbtes Gespräch zwischen dem Engel
Sraosha und der Druj (dem weiblichen Satan) mitgeteilt, worin diese die
wirksame Sühne für vier schwere Sünden verrät. — Die Vorschrift, des
Nachts das Feuer zu unterhalten und früh aufzustehen, wird zu einer
längeren Szene ausgesponnen. Dreimal wendet sich zur Nachtzeit das
Feuer an den Schläfer mit der Bitte, aufzustehen und nachzuschüren, da
der Dämon ihm bereits den Lebensfaden abschneiden wolle, und beim
II. Die Avesta-Literatur.
227
drittenmal weckt ums Morgenrot der Haushahn die Menschen, auf daß
sie nicht die drei besten Dinge, gutes Denken, gutes Reden, gutes Tun
verschlafen. Und nun entsteht unter diesen ein edler Wetteifer im Früh-
aufstehen. „Wer zuerst aufsteht, wird ins Paradies gelangen." Und wer
zuerst das Feuer anschürt, dem segnet es Haus und Seele.
Den breitesten Teil des Vendidäd nimmt das Reinheitsgesetz ein: der Reinheitsgesetz.
Schutz der heiligen Elemente wie der Erde und des Wassers und der
Schutz des eigenen Körpers gegen Verunreinigung, die Vorbeugungsmaß-
regeln und umständlichen Reinigungszeremonieen und Sühnen. Die Vor-
schriften klassifizieren gewissenhaft nach Stoff, Maß und Zahl, verlieren
sich aber auch in übertriebene Kasuistik.
Das zarathushtrische Gesetz hat manche abstoßende und barbtirische
Gebräuche sanktioniert, wie das Aussetzen der Leichen auf den so-
genannten Dakhmas zum Fraß für Geier und wilde Hunde, die Hin-
richtung der invalid gewordenen Leichenträger, die strenge Quarantäne
der kranken Frau. Auf der anderen Seite aber muß zu seinem Lobe
gesagt werden, daß es in dem weitgehenden Schutz der nützlichen Tiere,
in der Sorge für die Landeskultur, Volkswohlfahrt und Hygiene auf
hoher Stufe steht. Werke der Barmherzigkeit, Pflege kranker Tiere,
Ackerbau, Melioration des Bodens durch Bewässerung, Anpflanzung von
Nutzbäumen werden als gottgefällige Dinge den Gläubigen anempfohlen,
während die Päderastie und Prostitution auf das schärfste verdammt
werden.
Alles, was Herodot 1,140 von den Sitten der Magier erzählt, ist als
echt zoroastrisches Gesetz im Vendidäd zu finden und mag von Zarathushtra,
der nach dem Zeugnis der alten Schriftsteller aus der alten Magierschule
hervorging, von dort her übernommen worden sein. Bei den Zoroastrieni
aber ordnet sich die ganze Gesetzgebung einem einzigen großen Gesichts-
punkt unter: dem unablässig gepredigten Kampf gegen den Satan und
seine bösen Geschöpfe, von dem das ganze Buch seinen Namen hat, denn
Vendidäd ist moderne Korruption für vl-daevö-dätem „das antidämonische
Gesetz".
Und dieser Gesichtspunkt ist auch bei der Bemessung der kirchlichen strafen
Strafen für eine Sünde maßgebend. Der angerichtete Schaden, der alle-
mal dem Satan zugute kommt, soll durch einen noch größeren Nutzen
kompensiert werden. Neben Geißelung (um den Dämon aus dem Körper
des Sündhaften auszutreiben) und Opferungen nebst Schenkungen an die
Kirche werden auch solche an Glaubensgenossen und gemeinnützige
Werke auferlegt. Wer z. B. eine Wasserotter erschlägt, soll schädliche
Tiere, Schlangen, Schildkröten, Frösche, Ameisen, Würmer und Fliegen
in bestimmter Anzahl töten; er soll einen Priester, einen Krieger und
einen Bauer vollständig equipieren, einen Kanal, ein Stück Ackerland,
einen Stall, Vieh, seine eigene Tochter abtreten, junge Hunde aufziehen,
Hürden ausbessern, Hunde lausen usw.
, , g Karl Geldner : Die altpersische Literatur.
Auch andere Gebiete der Gesetzgebung werden vielfach gestreift. In
das Gebiet des Zivil- und Kriminalrechts schlägt das vierte Kapitel, in
dem die Verträge und die Vergehen gegen Leib und Leben behandelt
Ante. werden. Die Ausübung der Heilkunde und die Honorierung der Ärzte
reg-uliert das siebente Kapitel. Es gab „Messerärzte", „Kräuterärzte" und
„Spruchärzte". Den letzteren wird der Vorrang zuerkannt. Das Honorar
wurde in Naturalien ausbezahlt, der Priester zahlt mit einem Segen. Die
Chirurgen sollen ihre Geschicklichkeit zuerst an Ketzern erproben. Haben
sie nacheinander drei Ketzer zu Tode operiert, so sind sie für immer
durchgefallen, bei günstigem Ausgang sind sie approbiert.
Keuer. Die Ketzerrichtcrei ist im Vendidäd stark ausgeprägt, war aber nach
dem Buchstaben des Gesetzes und den frommen Wünschen der Klerisei
wohl schlimmer als in Wirklichkeit. Für den Ketzer ist der Tod das
beste, denn lebend ist er eine stete Gefahr für Wasser, Feuer, für das
Vieh und die Frommen. Ein toter Ketzer verpestet die Welt nicht mehr,
so wenig wie ein vertrockneter Frosch. Wenn man einem Ketzer be-
gegnet, gibt man ihm als Segen einen Fußtritt, zweien steckt man die
Zunge heraus.
Der treue Gefährte des Menschen, der Hund, steht, wie schon Herodot
1,140 weiß, fast auf gleicher Stufe mit jenem. „Wenn ein Hund oder ein
Mensch stirbt" lautet die stehende Formel. Ein ganzes Kapitel (13) ist
seiner Pflege, seinen Arten, seiner Wertschätzung und Charakteristik ge-
widmet.
Mit dem achtzehnten Kapitel ist das eigentliche Gesetzbuch abge-
schlossen. Das folgende schöpft hauptsächlich aus der Zarathushtra-
legende. Es erzählt, wie der Satan den auserwählten Propheten zuerst
verderben will und dann vergeblich in Versuchung führt, wie darauf
Ormazd ihm die wahre Religion offenbart und die Hölle über seine
Geburt in Verzweiflung gerät. Der Rest des Vendidäd beschäftigt sich
mit dem Ursprung der Medizin und der Heilung mit Wasser und dem
heiligen Wort.
Die Yashts. Die Yashts sind Anrufungen der einzelnen Heiligen. Die kürzeren
darunter sind dürftige junge Machwerke. Nur die großen Yashts — neun
oder zehn an Zahl — tragen ein charakteristisches höheres Gepräge.
Zwei davon stehen im Yasna, alle übrigen bilden eine besondere Samm-
lung, die dem 14. Xask des ursprünglichen Avesta entspricht. Sie sind
z. T. aus kleinen Liedern zusammengefügt. Auf diese großen Yashts paßt
am ehesten der Satz des Dio Chrysostomus (2,60), daß Zoroaster und die
Söhne der Mager den Wagen des Zeus und das Gestirn des Tages er-
habener besungen hätten als Homer und Hesiod. Im geläufigen Versmaß
abgefaßt — stellenweise mit Prosa untermischt — vertreten sie die Poesie
der zoroastrischen Literatur und sind als solche in mancher Hinsicht dem
Rigv-eda vergleichbar, obwohl sie an Schwung und poetischer Kunst weit
hinter der vedischen Dichtung zurückstehen. Doch läßt sich einzelnen
II. Die Avesta-Literatur.
229
Partieen eine gewisse Frische und naive Anmut nicht absprechen. Außer
den üblichen Bitten geben sie eine Beschreibung der PersönUchkeit, des
feierUchen Aufzuges und der Wohnung der Gottheiten, ihrer Wirksamkeit
und Taten im Dienste des Ormazd, charakteristischer Züge (wie der Hei-
matsUebe der Fravashis oder Schutzengel) und ihrer Begegnung mit dem
Propheten. Sie plaudern aber auch über allerhand andere Dinge aus dem
alltäglichen Leben und g^eben Bilder von Land und Leuten der iranischen
Heimat, wenn sie z. B. schildern, wie Mithra, der altarische Tagesgott, am
Morgen das ganze arische Land mit seinen hohen Bergen und wasserreichen
Matten, den tiefen Seen und reißenden Strömen überschaut, oder wenn
sie uns an den Sitz eines wohlhabenden Iraniers führen, der schon auf
Erden den Lohn seiner Taten empfängt, und seinen Wohlstand, sein Haus,
seine Möbel, seine schmucken Frauen und Töchter, seine Rosse und Ka-
mele schildern und die Schätze, die die Karawanen aus allen Ländern
für ihn bringen.
Die Yashts sind eine Fundgrube für Mythologie und Sagenkunde. Episches darin.
Bald flechten sie einzelne Episoden aus der iranischen Sagengeschichte
ein, wie die Drachenkämpfe des Thraetaona und Keresäspa, bald geben
sie einen vollständigen Abriß der König.s- und Heroensage, die später
Firdausi ausführlich episch behandelt hat. Die Chronologie dieser mythi-
schen Geschichte, die Reihenfolge der beiden sagenhaften Königsge-
schlechter mit den verschiedenen Interregnen ist in allen wesentlichen
Punkten im Avesta schon dieselbe wie im Shahname. Der interessante
19. Yasht ist fast ganz der Königssage gewidmet. Hier wird meist in
skizzenhaften Umrissen, nur stellenweise in epischer Ausführlichkeit die
Geschichte des hvarenö d. h, der Glorie, wir würden sagen: der iranischen
Königskrone, dargestellt. Es wird erzählt, wie diese Glorie von den
Göttern auf die ersten iranischen Könige, die Paradhätas übergeht und
bei Yima ihren höchsten Glanz entfaltet, aber schließlich, als Yima der
Lüge verfiel, in die Brüche geht. Während des Interregnums nach Yimas
Sturz und Ende sucht zunächst der Usurpator des iranischen Throns, Azhi
Dahäka, hinter dem der Ahriman als treibende Kraft steht, die Königs-
krone zu erlangen, aber vergebens. Geschützt von den Freunden des
Ormazd flüchtet sich die Glorie auf den Grund des Sees Vourukasha.
Ein zweiter Usurpator, der Turanier Franrasyan, taucht hier dreimal nach
ihr und immer wieder entwischt ihm die Königskrone und entweicht in
unterirdischen Kanälen, um schließlich am Käsavasee zum Vorschein
zu kommen. Dort erstrahlt sie wieder in der neuerstandenen Dynastie
der Kayanier. Bei dieser erbt sie fort, bis sie schließlich auf Zarathushtra,
den glorreichen Propheten und den König Vishtäspa übergeht. Der Yasht
schließt mit einem apokalyptischen Ausblick in die Zukunft. Am Ende
der Welt bei dem Jüngsten Gericht wird der kommende Heiland diese
siegreiche Strahlenkrone tragen. Der Yasht gibt also in nuce die Welt-
geschichte, wie sie sich in den Köpfen der Zoroastrier ausmalte.
2-'o Karl Geldner: Die altpersische Literatur.
Die Gäthas. Die Gäthäs sind die altertümlichsten und schwierig^sten Stücke des
ganzen Buches. Sie sind in komplizierteren Versmaßen gedichtet und
bilden jetzt den Kern des Yasna, ursprünglich einen besonderen Nask.
Sie gelten im g:mzen Avesta als die heiligsten Worte, als die unmittel-
baren Äußerungen des Propheten, während di^ übrigen Teile seine Lehre
mehr referierend überliefern. Gäthä ist ein alter literarischer Terminus,
ein technischer Ausdruck für eine ganz besondere Spruchdiktion. Bei den
Buddhisten und Brahmanen werden damit Sprüche allgemeinen oder
resümierenden Inhalts bezeichnet, die in die Prosarede eingestreut und
von dieser wieder leicht losgelöst und besonders überliefert wurden. Im
Avesta repräsentieren die Gäthäs die letzten Überreste von Zoroasters
Lehrreden.
Die Gäthäs sind nicht etwa in sich abgerundete Moralsprüche wie
die Gäthäs des Dhammapada. Zwar wird immer wieder von den guten
Gedanken, Worten und Werken gesprochen, aber auf die Details der
Ihr Charakter. Sittenlehre gehen sie nicht ein. Es sind feierliche Prophetenworte, Mah-
nungen, Weissagungen, Beteurungen, bald an die versammelte Gemeinde
gerichtet, meist aber im Zwiegespräch mit den göttlichen Mächten, die
immer wieder als Zeugen der Wahrheit und um sichtbaren Beistand und
um die Gabe des rechten Wortes angerufen werden. Sie spiegeln vom
ersten bis zum letzten Vers das charakteristische Bild eines von seiner
hohen Mission durchdrungenen, mitten im Kampf stehenden Propheten und
Apostels eines neuen Glaubens wider, wie er wirbt, mahnt, die Lauen in ihrem
Gewissen aufrüttelt, daß sie zwischen den Worten des Heils und den ver-
führerischen Lügen der falschen Propheten die rechte Wahl treffen sollen ;
wie er stets mit der Aussicht auf materiellen und himmlischen Lohn lockt
und die Gläubigen vertröstet, die Getreuen und Vertrauten, besonders die
fürstlichen Gönner, lobt und vor Gott und der Welt als Muster heraus-
streicht; wie er den Irrlehrern und Falschgläubigen droht und flucht und
selbst in wechselnder Stimmung bald klagt und zagt, bald hofft und
triumphiert; der beständig auf die Zusammenkünfte und lehrreichen Unter-
redungen mit Ormazd und seinen Engeln pocht, an ihre Freundschaft
appelliert, mit Bitten und Lobeserhebungen zur baldigen Entscheidung
und Erfüllung der Zusagen und Verheißungen drängt und als Lohn für
seine aufopfernde Hingabe an das große Heilswerk für sich selbst die
höchsten Gnadengaben fordert.
Lehren. Unter den Dogmen wird am ausführlichsten erörtert das Verhältnis
der beiden uranfänglichen Zwillingsg^eister, von denen jeder das Gegenteil
des anderen sein will und von denen der heilige der Geist des Ormazd
selbst ist. Die übrigen Glaubenssätze werden immer nur kurz berührt:
die Lehre von Gott dem Schöpfer und seinen Erzengeln, das Schicksal
der Seele nach dem Tode an der Brücke des Richters zwischen Himmel
und Hölle, zeitliche und ewige Vergeltung der Werke, die Heiligkeit der
Kuh, die große Krankheit der Welt und ihre Heilung, der entscheidende
II. Die Avesta-Literatur.
231
Kampf zwischen den beiden Geistern, das große Weltgericht mit der all-
gemeinen Feuerprobe unter Aufsicht der beiden Opponenten (des advo-
catus dei und des advocatus diaboli), Auferstehung der Toten, das nahe
Reich Gottes, die Verteilung der Güter unter die Rechtgläubigen, die
zeitliche und zukünftige Stellung des Propheten als des Richters neben
Ormazd.
Das Bild des Propheten, wie es aus den Gäthäs hervortritt, ist Zarathushtra in
nicht das legendenhafte des späteren Avesta, sondern das einer histo-
rischen Persönlichkeit mit menschlichen Zügen. Er lebt inmitten von
ungläubigen, von Feinden und Anfechtungen. Sein Verhältnis zu dem
König Vishtäspa und dessen beiden Vezieren tritt viel mehr in den
VordergTund. Die Texte sind reich an Anspielungen auf einzelne Feinde,
auf Erlebnisse und Vorkommnisse, von welchen das ganze übrig'e Avesta
nichts mehr weiß. Leider sind diese wohl zum größten Teil authen-
tischen Prophetenworte nicht allzu umfangreich und im einzelnen noch
recht dunkel.
Und dunkel ist noch vieles in diesem alten Religionsbuch und war Erklärung des
es schon zur Zeit der Sasaniden, als man eine ausführliche erklärende
Übersetzung in der Pehlevisprache verfaßte und kurze Avestaglossare an-
legte. Leider ist die Übersetzung nicht mehr zu allen Teilen unseres
Avesta erhalten; sie fehlt zu den großen Yashts. Überall da, wo es sich
um die starren Satzungen der Kirche handelt, fußt der Kommentator auf
guter alter Tradition und ist zuverlässig; aber ein mangelhafter Dolmetscher
wird er, sobald die Texte über seinen engen Horizont hinausliegen. Eine
Avestagrammatik scheint von der einheimischen Wissenschaft überhaupt
nicht versucht worden zu sein.
Seit x\nquetil Duperron, der in der zweiten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts das Interesse Europas für das Avesta zu erwecken verstand,
ist dieses oftmals übersetzt und kommentiert worden. Die Hauptschwierig-
keiten liegen nicht sowohl in besonders dunklen theologischen Ideen, als
vielmehr in der schwankenden Überlieferung und der Unbestimmbarkeit
vieler Avestawörter. Um einzelne Wörter dreht sich der ganze Streit
zwischen Philologen und Linguisten, Iranisten und Sanskritisten, Traditio-
nellen und Antitraditionellen schon seit fünfzig Jahren. Alle haben ihr
Scherflein zur Erklärung beigetragen, und doch gibt es kaum eine schwie-
rige Stelle, bei der die Erklärer nicht völlig auseinandergingen. Bei
diesem noch unsicheren unfertigen Stand der Avestaphilologie darf es
nicht wundernehmen, wenn in weiteren Kreisen das Vertrauen zu ihr bis
jetzt ausgeblieben ist. Die frappante Ähnlichkeit zwischen zoroastrischen
und christlichen Lehren besonders der Eschatologie wird in ihren Kon-
sequenzen von den christlichen Theologen zurzeit noch zu wenig ge-
würdigt.
Die Avestaphilologie ist nichts Dankbares. Es drängt sich auf Schritt wen des
und Tritt die Erkenntnis von der Unzulänglichkeit des Materials und der
2 ■2 2 K.\.KL Geldner : Die altpersische Literatur.
Hilfsmittel auf und es fehlt ihr der Reiz, der von der großen Literatur
eines geistig hochveranlagten Volkes ausgeht. Der moralische Wert der
zoroastrischen Religion steht höher als die Schriftstellerei ihres Klerus.
Diese ist nüchtern, monoton, ermüdend; der Dichtung fehlt die poetische
Ader. Selbst die Gäthäs erschöpfen sich in ewiger Wiederholung der
gleichen Gedanken, nicht unähnlich den Upanishads, doch ohne die weihe-
volle Stimmung, ohne den weltumfassenden Erkenntnisdrang-, mit einem
Wort ohne den Geist der Upanishads in sich zu tragen. Aber es bleibt
ein merkwürdig-es Buch, diese Bibel der zoroastrischen Religion, der
unter allen großen Religionen des Orients das traurigste Los beschie-
den war.
Literatur.
Die altpersische Literaturforschung beginnt mit Carsten NfEBUHR, der (1765) die ersten
genauen Kopieen von Persepolisinschriften nach Europa brachte. Er erkannte, daß die
Inschriften in verschiedenen Alphabeten abgefaßt seien, und daß die Schrift von hnks nach
rechts läuft. Des ersten wirklichen Entzifferers G. F. Grotefends (1802) ist schon im Texte
(S. 220) gedacht worden. Von den dreizehn Zeichen, die er zuerst bestimmte, haben sich in
der Folgezeit nur vier als irrig erwiesen. Seinen Nachfolgern kam schon die Bekanntschaft
mit der Avestasprache zu statten. E. Burnouf (1836) und Chr. Lassen (1836) erkannten
gleichzeitig den Charakter der altpersischen Schrift als einer teilweisen Silbenschrift durch
die Entdeckung des den Konsonanten inhärierenden a. Westergaard (1843), vor allem
aber Rawlinson brachten reicheres Inschriftenmaterial aus Persien mit. Rawlinson ver-
öffentlichte 1846 die vollständige Kopie der großen Behistuninschrift nebst grundlegendem
Kommentar und eine Bearbeitung aller schon bekannten Texte. Rawlinson entdeckte die
Konsonanten mit inhärierendem / und //, J. Opfert erkannte zuerst, daß Nasale vor Kon-
sonanten ungeschrieben bleiben. Damit war die eigentliche Entzifferung abgeschlossen.
Die Fortschritte seit jener Zeit betreffen nur noch einzelne Worte und Formen.
Handschriften des Avesta waren schon vereinzelt im 17. und in der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts nach England gekommen, blieben aber trotz wiederholter Versuche unent-
ziffert. Erst dem Franzosen Anquetil DuperrON gelang es, während seines Aufenthaltes
in Indien (1755 — 1761) einen Parsen als Lehrer in der heiligen Schrift und Sprache der
Zoroastrier zu gewinnen. Anquetil kam mit einer vollständigen Übersetzung des Avesta
zurück, die auf den völlig unzureichenden Instruktionen seines Lehrers Däräb beruht.
Gleichwohl erregte sie bei ihrem Erscheinen (177 1) in der ganzen gebildeten Welt das
größte Aufsehen. Seltsamerweise wurde zunächst nicht sowohl die Frage nach der Zuver-
lässigkeit von Anquetils Übersetzung, sondern die Frage nach der Echtheit des Religions-
buches selbst lebhaft diskutiert. Der Streit um die Echtheit verstummte erst, als durch
die Bekanntschaft mit dem Sanskrit und die Sprachvergleichung die Echtheit der ,,Zend-
sprache" außer Zweifel gestellt wurde. Die wissenschaftliche Entzifferung des Avesta haben
Sanskritisten angebahnt, in erster Linie E. BuRNOUF (1833), dem von einheimischen Hilfs-
mitteln nur die Sanskritübersetzung des Yasna von Neriosengh (ca. 1200) zur Verfügung
stand. 1852 — 54 gab N. L. Westergaard zum erstenmal den gesamten Avestatext kritisch
heraus. F. Spiegel veröffentlichte 1853 — 58 die Pehleviübersetzung. Diese ist seitdem der
Zankapfel der Erklärer geblieben. R. Roth und J. Darmesteter repräsentieren die äußer-
sten Extreme in der Wertschätzung jener Übersetzung. Während der erstgenannte sie
fast grundsätzlich verwarf, folgte ihr der letztere zu sklavisch. Die jetzige Generation
strebt mehr einen Ausgleich dieser beiden Gegensätze an.
I. Die Achämenideninschriften: Rawlinson im 10. und 11. Band des Journal of
the Royal Asiatic Society (London, 1846 — 47). Eine vollständige Transkription und Über-
setzung der altpersischen Texte geben F. H. Weissbach und W. Bang, Die altpersischen
Keilinschriften (Leipzig, 1893). Vgl. auch Weissbach in Geigers Grundriß der iranischen
Philologie, Bd. II, S. 54 f. (Straßburg, 1896), wo die Literatur vollständig verzeichnet ist. —
A. V. Williams Jackson, The Great Behistun Rock and Some Results of a Re-examination
T -._i Karl Geldner: Die altpersische Literatur.
of the old Persian Inscriptions on it im Journal of the American Oriental Society Vol. 24
(NewHaven, 1903), S. 77—95-
II. Die Avestaliteratur: Essays on the sacred language, writings, and religion of the
Parsis by M.\rtin Haug. Second edition ed. by E. W. West (London. 1878) — West in
The Sacred Books of the East, Vol. 37 (Oxford, 1892). — Das bedeutendste Werk, wenn
auch im einzelnen oft anfechtbar, ist: Le Zend-Avesta, traduction nouvelle avec commentaire
historique et philologique par J.\mes D.\rmesteter , 3 Bände (Paris, 1892—93). Darme-
STETERs \'ersuch, die Gäthäs zeitlich möglichst herabzurücken, ist tendenziös; es soll jüdi-
scher Einfluß, speziell durch Philo, nahegelegt werden. — Sehr lichtvoll sind die Aus-
führungen über das Avesta von Ed. Meyer in seiner Geschichte des Altertums I, S. 501
— 510. Das Auge des Historikers hat hier viel schärfer gesehen als das der Philologen.
Vgl. auch Grundriß der iranischen Philologie, Band II, S. 1—53.
DIE MITTELPERSISCHE LITERATUR.
Von
Paul Hörn.
Einleitung. Als Mittelpersisch oder Pechlewi, d, i. Parthisch, be-
zeichnet man das Persische während der Herrschaft der Parther (Arsaciden)
und der Sassaniden, also etwa von 250 v. Chr. bis ca. 650 n. Chr. Lite-
raturwerke in dieser Sprache sind uns jedoch nur aus sassanidischer Zeit
erhalten geblieben, von den Parthern ist literarisch bloß der Name auf die
Nachwelt gekommen. Natürlich verschwand das Pechlewi nicht sofort
endgültig mit dem Untergange des Sassanidenreichs; seine eigenartigen
Schriftzeichen blieben vielmehr noch längere Zeit im Gebrauch, so daß
uns noch aus dem 9. Jahrhundert und später originale Pechlewischriften
erhalten sind.
Der weitaus größte Teil der auf uns gekommenen mittelpersischen
Literatur ist theologisch, nur eine kleine Anzahl Schriften sind weltlich.
Gewiß hat bereits in der Sassanidenzeit die geistliche Richtung überwogen,
doch ist das Verhältnis beider zueinander damals schwerlich schon so
ungünstig für die weltliche gewesen, wie es heute der Fall ist. Nach der
arabischen Eroberung haben sich die Perser im allgemeinen mit einer
ganz erstaunlichen Leichtigkeit der neuen Lage der Dinge angepaßt. Das
wertvollste nationale Besitztum, das man vielerorts doch mit Zähigkeit
bewahrte, war der alte Glaube, die Religion Zoroasters. So erhielten sich
religiöse Bücher leichter als profane. Der Priesterschaft lagen solche
auch selbstverständlich mehr oder gar ausschließlich am Herzen, und in
ihren Kreisen waren ja die weitaus meisten der knifflichen Pechlewischrift-
Kundigen zu finden. Der Choc, mit dem die Reiter der arabischen
Wüste das persische Weltreich nach allen Richtungen durchflutet und
über den Haufen geworfen hatten, war so überraschend und überwältigend
gewesen, daß die Perser sich nicht sogleich von ihm zu erholen ver-
mochten. Erst allmählich kam man wieder zu sich, aber dann gelang es
dem persischen überlegenen Geiste doch bald, sich seine Besieger indirekt
wieder zu unterwerfen, und als damit das persische Nationalgefühl von
neuem erstarkte, besann man sich auch wieder auf seine Vergangenheit.
-> ^5 Paul Hörn: Die mittelpersischc Literatur.
Da war aber schon viel von der alten weltlichen Literatur verloren ge-
gangen.
wendidäd, I. Die geistliche Literatur. An der Spitze der mittelpersischen
* ^"^^''^°- geistlichen Literatur stehen die mit kurzen Glossen oder längeren Kommen-
taren versehenen Übersetzungen awestischer Texte, von denen der Wendidäd
und Xiri7tigisfd/i die wertvollsten sind. Diese Übersetzungen haben eine
Bedeutung nur als Hilfsmittel für die Interpretation und Texteskritik des
Awestas, doch erfordert ihre nutzvolle Verwendung vielen Takt und
Scharfsinn. Literarisch haben sie keinen Wert, da sie sich zu sklavisch
an die awestischen Vorbilder anlehnen, als daß sie einen Begriff der wirk-
lichen, lebendigen Pechlewisprache zu geben vermöchten. Doch lernen
wir diese aus einer großen Zahl anderer freier geistlicher Schriften kennen.
Ohne auf die meist unsichere Chronologie einzugehen, seien hier einige
der wichtigsten genannt.
Bnndehesch. Dem Charakter der mittelpersischen Theologie entspricht es durchaus,
wenn eine große Anzahl ihrer Schriften Kompendien sind. Der Bunda-
hisch)i (Bundehesch, d. i. „Das Fundament") behandelt hauptsächlich die
Denkan. Kosmologie und Mythologie; der sehr umfangreiche Denkart („Das Re-
ligionswerk") die Dogmatik mit ihren Überlieferungen, die Kirchen-
geschichte, sowie daneben auch alle möglichen Wissenschaften (Medizin,
Astronomie etc.) und kulturgeschichtlichen Themen. Der Dätistän-i dmik
Minochired. („Religiöse Entscheidungen"), der Mcnöt-t chrat (Minochired, d. i. „Der Geist
des Verstandes"), der Schikand-giunänik widschär („Die zweifelbrechende
Erklärung"), der Schäjast nä-schäjast („Erlaubtes und Unerlaubtes") geben
schon durch ihre Titel Aufschluß über ihren Inhalt. Beliebt ist bei diesen
lehrhaften Schriften die Einkleidung in Frage und Antwort. In ihrem
Kern gehen sie sämtlich auf das Awesta zurück und berufen sich allent-
halben auf Partieen und Stellen aus diesem, die heute verloren gegangen
sind. Sie spinnen im Awesta gegebene Andeutungen weiter aus und ver-
fahren dabei gewöhnlich recht schematisch. Wenn z. B. das Awesta je
fünf besondere zoroastrische resp. unzoroastrische Orte aufzählt, so erweitert
der Minochired diese auf je zehn. Wie die Phantasie mitunter waltet,
Der heilige dafür liefert die Schilderung des heilig'en dreibeinigen Esels ein drastisches
inige ^■ßg^gpjgj^ jjj dem auf uns gekommenen Awesta findet sich über ihn nur
die kurze Bemerkung, der heilige Esel stehe im See Wourukascha. Der
Bundehesch weiß nun ausführlicher von ihm das Folgende zu berichten:
Er habe drei Beine, sechs Augen, neun Mäuler, zwei Ohren, ein Hörn
und einen Höcker. Sein Leib sei weiß, seine Nahrung geistlich, das
ganze Tier heilig. Zwei seiner Augen stünden am normalen Platze, zwei
oben auf dem Kopfe und zwei auf dem Höcker; mit diesen sechs Augen
durchdringe er alles. Von seinen neun Mäulern habe er drei am Kopfe,
drei auf dem Höcker und drei innen an den Weichen. Jedes Maul sei
so groß wie ein Haus, sein Gesamtumfang entspreche dem des Berges
I. Die geistliche Literatur.
237
Rerühmte
Ratgeber.
Elwend. Unter der Fläche eines jeden seiner drei Füße habe eine Herde
von tausend Schafen Platz, während auf jeder Fessel tausend Reiter rings
rundum reiten könnten. Seine beiden Ohren bedeckten ganz Mäzenderän.
Sein Hörn sei wie von Gold und hohl; tausend Einzelhörner seien aus
ihm herausgewachsen, der Größe nach je für Kamele, Pferde, Ochsen oder
Esel passend. Mit dem Home könne er alle schädlichen Geschöpfe ver-
nichten. Wenn er seinen Hals ins Wasser tauche, so entsetze sich dieses
vor den Ohren und brause in Wogen auf, so daß die Berge erzitterten.
Wenn er einen Schrei ausstoße, so würden sämtliche weibliche, der guten
Schöpfung angehörigen Wasserwesen schwanger, während die schwangeren
der bösen Schöpfung Fehlgeburten täten. Wenn er ins Meer harne, was
ebensoviel ausmache, wie wenn alle Esel der ganzen Welt auf einmal
zu harnen anfingen, so würden dadurch alle Wässer der sieben Erdteile
gereinigt, die von Ahriman beschmutzt seien.
Der Stumpfsinn dieser Phantasie läßt sich nicht leicht übertrumpfen.
Wieviel davon etwa bereits auf das Awesta kommt, wissen wir nicht; die an
sich häufig schon recht schablonenhafte Einbildungskraft der Awestadichter
erscheint im Mittelpersischen jedenfalls gern noch entsprechend potenziert.
Die Belehrung wird mit Vorliebe einzelnen berühmten Ratgebern in
den Mund gelegt. So dem großen Schah Noschirwän [Audarz-i Chusraw-i
Kawäfän) und seinem gefeierten Vezier Buzurgmichr [Pandnämak-i Wazurg-
■mitr\ dem weisen Oschnar, der aus dem Awesta nur dem Namen nach
bekannt ist und später als Minister des Kai Käos galt {Aiidarz-i Oschnar-i
dänäk\ dem Obermobed Aturpät Märäspand und anderen. Doch finden
sich auch einfache Ermahnung"en anonymer Väter an ihre Söhne. Diese
Schriftg^attung ist dann bei den Persern immer sehr beliebt geblieben
und hat auch bei den Arabern Schule gemacht, deren zahlreiche alte
„Adab"-Bücher über feine Bildung auf persische Vorbilder zurückgehen.
In diesem Zusammenhang ist ferner ein Rätselbuch erwähnenswert, in
welchem der fromme Joscht Frijän },}, Rätselfragen des Zauberers Acht
richtig löst, während dieser keine einzige Joschts zu beantworten vermag.
Der Zauberer hatte, wie die griechische Sphinx, jeden umgebracht, der
ihm die Antwort schuldig geblieben war, bis er endlich in Joscht seinen
Meister fand und nun selbst den Tod erleiden mußte. Das Vergnügen
am Rätselraten war in Persien alt, man hat dieses Spiel des Geistes auch
später dort immer gern gepflegt.
Von hohem Interesse ist das Buch von Artä Wiräfs Himmel- und Artä Wiräf.
Höllenreise [Artä Wiräf-näviak). Es ist auch rein theologisch. Für ganz
äußerliche, rituelle Verfehlungen, wie Sprechen während des Essens oder
barfüßiges Umherlaufen, verhängt es schreckliche Strafen,
Eine religiöse Disputation zwischen dem Mobed Aturfarnbag und dem
vom Zoroastrismus abgefallenen „verfluchten" Abälisch spielt ungefähr im
Jahre 825 n. Chr. in der Gegenwart des Chalifen Ma'mün und endet
natürlich mit der siegreichen Widerlegung des Ketzers.
Rätsel.
T ^8 Paul Hörn: Die mittelpersische Literatur.
Als Seelenarzt verschreibt der Priester die „Arznei der Zufriedenheit"
[Däruk-i iliursaniiili) schon ganz in dem spcäter so beliebten Stile: Menge
ie einen Teil Zufriedenheitserkenntnis, Beharrlichkeit, täglicher Vervoll-
kommnung usw. in einem Mörser durcheinander und zerstampfe sie mit
dem Stößel der Ehrfurcht. Dann siebe sie sorgsam und nimm täglich
zwei Löffel voll zum Morgengebet ein.
chodhäinäme. II, Die wcltlichc Literatur. Das unstreitig wertvollste und in-
teressanteste Werk der weltlichen, ja wohl überhaupt der gesamten Pech-
lewiliteratur ist leider verloren gegangen. Es war dies das Chwatäinämak
{Chodlinindf/ic) oder „Herrscherbuch", eine Geschichte der persischen Könige
von der Urzeit, d. h. dem völlig sagenhaften Gajomarth an bis auf Chos-
rau II. Parwez (590 — 628 n. Chr.), in epischem Charakter. Sein Verfasser
war der Dichkän Dänischwar gewesen, der unter dem letzten Sassaniden
Jazdegird III. gelebt hat. Dafür sind aber zwei andere Bücher auf uns
gekommen, die man als wirkliche Perlen bezeichnen kann, ein Lob, mit
dem die Perser allerdings sehr verschwenderisch umgehen. Nämlich das
Zarerbnch. JiUkär-i Zarcräfi („Das Andenken an Zarer") und das Kdrnämak-i Artach-
Buch von schatr-i Päpakän („Das Buch von den Taten Ardeschirs, des Sohnes
Bäbeks"). Beide enthalten romanhaft gefärbte Historie, wie sie die mittel-
persische Überlieferung durchweg hervorgebracht hat. Reine Geschichte
schrieb man nicht, die historischen Tatsachen der Zeit bewahrte nur die
offizielle Hofhistoriographie auf, deren Akten im Staatsarchiv verschlossen
gehalten wurden. An Stelle der Geschichte ist der historische Roman
getreten, seine Umgestaltungen der geschichtlichen Wahrheit w^urden Ge-
meingut des Volkes. Selbst in dem in völlig historischer Zeit spielenden
Ardeschirbuche hat die Sage üppig gewuchert ; der Begründer des Sassa-
nidenreichs ist hier schon teilweise zu einer mythischen Persönlichkeit
geworden, die sogar mit einem bösen Wurm (Drachen) kämpft. In Arde-
schir ist Cyrus wieder aufgelebt, die Jugendgeschichte des jüngeren Dy-
nastiebegründers ist eine deutliche Wiederholung der Erlebnisse des
älteren. Beide Schriften haben einen unverkennbar epischen Zug, wenn sie
auch in Prosa abgefaßt sind. Besonders entwickelt ist der epische Stil im
Zarerbuche, dessen Verfasser man geradezu einen Dichter nennen könnte.
Es finden sich hier bei aller der üblichen Nüchternheit pechlewischer
Diktion doch schon deutliche Spuren der grotesken Hyperbolik und
üppigen Phantasie, über welche die neupersischen Dichter dann gleich so
reich verfügen. Allerdings erst die Dichter. Die neupersische Prosa ist
in ihren ältesten Werken schlicht und entwickelt sich erst später zum
Zierstile. Das Pechlewi ist nie elegant, es macht immer einen mehr oder
weniger unbeholfenen Eindruck. Der hauptsächlieh allein schriftstellernde
Klerus — auch w^eltliche Autoren hatten übrigens von Hause aus eine
geistliche Bildung — hat seine Macht über die Geister stets so straff wie
möglich ausgeübt, freiere Regungen waren ihm unsympathisch. Wie hoch
II. Die weltliche Literatur.
'■39
die Geistlichkeit ihre Ansprüche zu schrauben suchte, zeigt das einmal
von einem der Ihren aufg'estellte Dogma, ein gutes Werk sei dem, der es
vollbring-e, nur dann als solches anzurechnen, wenn er es auf priesterliche Ver-
anlassung ausgeführt habe; andernfalls, eigenmächtig unternommen, könne
es im Gegenteil als Sünde bezeichnet werden. Das geht doch noch weit
über des heiligen Augustins Lehre, die Tugenden der Heiden seien nichts
als glänzende Laster, weil sie eitler Selbstgefälligkeit oder Ehrsucht ent-
sprängen. So kodifizierte man gern alles systematisch und schematisierte
es. Das hat der ganzen Sprache ein bestimmtes Gepräge aufgedrückt:
Sie klingt pedantisch. Dazu ist auch der Wortvorrat beschränkt und die
stilistische Ausbildung steckt überhaupt noch in den Anfängen. Kargheit
und Unbestimmtheit im Ausdruck erschweren das Verständnis außer-
ordentlich. Einen hervorragenden Stilisten sucht man im gesamten Pech-
lewi vergebens.
Der starke Unterschied zwischen dem Mittelpersischen und der neu- Dichtwerke?
persischen Poesie ist außerordentlich auffällig. Man möchte fast annehmen,
daß hier schon die mittelpersische Dichtung eine Brücke geschlagen habe,
doch sind bisher noch keine Spuren solcher aufgefunden. Nur in Prosa
ist das Pechlewi überliefert. Versuche, metrische Stücke in ihm zu ent-
decken, sind nur ganz vereinzelt geblieben und kaum geglückt. Aber wie
erst der Scharfsinn europäischer Gelehrter die dem Awesta ganz geläufigen
Verse wieder aufgespürt hat, von welchen die einheimische Überlieferung
keine Ahnung mehr hatte, so könnten auch schließlich im Pechlewi solche
versteckt sein. Das merkwürdige Schriftprinzip, aramäische Worte zu
schreiben und sie doch persisch auszusprechen, wäre sehr geeignet, hier
die Erkenntnis des wahren Sachverhaltes zu verschleiern.
Wie die Taten Zarers und Ardeschirs I. hat man auch diejenigen
anderer berühmter Perser romanhaft dargestellt. Doch ist uns hiervon
leider nichts erhalten geblieben. Wir finden indes Niederschläge bei
arabischen Schriftstellern sowie im Schähnäme Firdausis, der durch die
Vermittlung neupersischer Übersetzungen auch das Chwatäinämak, die
Bücher von Zarer und Ardeschir, sowie andere ähnliche benutzt hat. Nach
dem, was Nöldeke darüber zusammengestellt hat, würde uns das Buch
von Bachräm Tschobin vor allem willkommen sein. Eine erhaltene kleine Kiei^/re
bcnriften.
Geschichte von Chosrau II. und seinem klugen Pagen kann für solche Ver-
luste nicht entschädigen, wennschon sie eine ganze Reihe kulturgeschicht-
lich interessanter Mitteilungen bietet, die wir sonst aus dieser alten Zeit
nicht besitzen. Das „Schachbuch" ( Tschatrangnäniak) liefert uns die älteste
persische Nachricht über das Schach- und Nerdspiel. In das Gebiet der
Fabel schlägt ein kleiner „Der assyrische Baum" überschriebener Text, in
Avelchem ein Baum in Assyrien und eine Ziege ihre gegenseitigen Ver-
dienste um die Menschheit rühmen. Geographisch sind „Die Städte Eräns"
und „Die Wunder von Sagastän".
Umfangreiche Fragmente haben sich ferner von einem Kodex des
2 10 Paul Horx: Die mittelpersische Literatur.
bürg-erlicheii Rechts im Sassanidenreich erhalten, wozu sich, allerdings
aus beträchtlich späterer Zeit (vom i6. November 1278 datiert), ein Ehe-
kontrakt gesellt. Auch ein mittelpersischer Briefsteller findet sich bereits.
Den Niederschlag eines mittelpersischen Briefes können wir auch in der
persischen Version eines Schreibens von Ardeschirs I. Großmobed Tanna-
sar (?) an Schah Dschusnasf von Taberistän finden, die von einem Perser
zu Anfang des 13. Jahrhunderts nach einer angeblichen arabischen Vorlage
Ibn Moqaffas angefertigt sein soll. Den Beschluß macht ein lexikalisches
Werk, der Farhang-i paJilawik.
Nicht mit Stillschweigen übergehen dürfen wir endlich die Über-
setzungstätigkeit der mittelpersischen Gelehrten. Besonders unter Chosrau
An6schin\'än, dem Begründer der berühmten Akademie in Gundeschäpür,
sind eine ganze Reihe griechischer Schriften über das Syrische ins Pech-
lewi übertragen worden. Aus diesen flössen dann später arabische und
weiter hebräische, in denen uns manche derartige Werke (z. B. des Ari-
stoteles) heute allein erhalten geblieben sind.
Eine Reihe verloren gegangener Pechlewibücher spiegeln sich nur in
neupersischen, von Zoroastriern verfaßten Schriften wider. So eine Dis-
putation des Großmobeds Dädhär mit griechischen Weisen vor dem Könige
Schäpür I. (241 — 272 n.Chr.). Mit am wichtigsten sind unter diesen Spät-
Riwäjats. lingen die Rnväjats („Traditionen") über alle möglichen theologischen Fragen.
Die späteren Pärsen haben dann auch gern ältere Schriftwerke in Verse
gebracht. Hierher gehören ein Amschasfandiiäme (Buch der 7 Genien)
und die Sad dar („Hundert Kapitel" — nämlich aus dem Gesamtgebiete
der pärsischen Religion), deren metrische Bearbeitungen in neupersischer und
gudscheratischer Sprache von der ältesten, gleichfalls erhalten gebliebenen
prosaischen stark abweichen. Ohne unmittelbares älteres Vorbild ist das
Zarätuschtnäme („Das Buch von Zoroaster") aus dem Jahre 1278 n. Chr.,
welches die Legende von dem Religionsstifter poetisch behandelt. Der
Verfasser dieses in zwei Tagen fertig gestellten Gedichts, Zartuscht Bach-
räm, hat dem Propheten außerdem noch einen „Fünfer" gewidmet, der aber
zum größten Teil verloren gegangen ist, und ist auch sonst dichterisch
tätig gewesen. Die pärsischen Dichtungen sind durchgängig in dem alt-
epischen Mutaqärib-Metrum abgefaßt; es sind schlechte und rechte Rei-
mereien ohne höheren poetischen Wert, Andere Mäthnäwis der Art
schildern die Niederlassung der Pärsen zu Sandschän in Indien sowie die
Ermordung mehrerer Priester durch Schah Nizam (1355 n. Chr.).
Literatur.
Der vorstehende Artikel ist verfaßt im August 1904.
Im allgemeinen vergleiche man zur Pechlewiliteratur West, Pahlavi Literature in
Geiger und Kuhns Grundriß der iranischen Philologie, Band II, S. 75 — 129 (Straßburg, 1896
— 1904) und HORN, Geschichte der persischen Literatur, S. 34 — 44 (Leipzig, 1901).
Zu S. 240. Das Zarätustnäme ist zuletzt herausgegeben worden von Fr. Rosenberg,
Le livre de Zoroastre (St. Petersbourg, 1904).
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 16
DIE NEUPERSISCHE LITERATUR.
Von
Paul Hörn.
Einleitung. Die Periode der neupersischen Literatur beginnt mit
der Zerstörung des Reiches der Sassaniden durch die Araber (ca. 650).
Die arabische Eroberung war für Persien ein Ereignis von ganz
außerordentlicher Tragweite. Religion und Sprache der Sieger, die
doch ihren neuen Untertanen an Bildung und Kultur weit nachstanden,
wurden die herrschenden in dem großen Reiche. Zwar bekehrte man
zunächst die dem nationalen Zoroastrismus treu Bleibenden nicht mit Ge-
walt, aber wer unter der neuen Herrschaft Karriere machen wollte, mußte
Muslim sein. Und die Sprache der gesamten Verwaltung, mochte sich
diese auch noch so eng an die Maximen des Sassanidenstaates anlehnen,
ward die des Korans. Direkte Opposition liegt nicht in dem Charakter
des Persers. So fügte er sich auch diesmal in die neue Lag^e der Dinge
und suchte ihr nach Möglichkeit die besten Seiten abzugewinnen. Bei
seiner geistigen Begabung fiel es ihm nicht zu schwer, die schwierige
Sprache seiner Besieger zu erlernen, ja er brachte es sogar in Bälde so
weit, daß er sie ebenso meisterte, wie diese selbst.
Perser und Die Dichtkunst stand bei den Arabern in höherer Blüte als in Erän;
Araber.
hier lag für den Perser ein ergiebiges Feld frischer Betätigung offen. So
ließ er seine nationale Literatur, die bei den neuen Herren keinen Beifall
fand, und wandte sich der arabischen zu, deren Stoffe und ganzer Betrieb
seinem Geschmack ohnehin zusagen mußten. Die arabische Anthologie
Jatimat ud-dahr (,>-Di^ einzige Perle der Zeit") des Tha'älibi, eines ge-
borenen Persers (-j- 429/1038 n. Chr.), hat uns eine große Anzahl arabischer
Verse bewahrt, deren Verfasser Perser waren, ohne daß man ihnen die
fremde Herkunft irgendwie ansieht. Ganz das gleiche zeigt sich, nur noch
in erhöhtem Maße, bei der Prosa. Außerordentlich viele der gefeiertsten
arabischen Prosaschriftsteller selbst noch des Abbassidenchalifats sind von
Geburt Perser gewesen, auf allen Gebieten der Wissenschaft haben Perser
die Führung übernommen. Zierden der arabischen Literatur wie die
Grammatiker Sibawaihi (eigentlich Seboje) und Kisäji, die Koränausleger
I. Die Anfänge der neupersischen Dichtung, 243
Zamachschari und Baidawi, die Geschichtschreiber Belädhori, Tabari, Ibn
Qotaiba, Dinawari, Berüni, 'Utbi, die Philosophen bezw. Mediziner Gha-
zäli, Räzi und Ibn Sinä (Avicenna), der Jurist Buchari und noch manche
andere sind von Hause aus Perser gewesen, von weniger Bedeutenden
wie Abu 'Ubaida u. a. einfach zu schweigen. Nur durch solche Zuführung
edelsten fremden Blutes hat arabische Wissenschaft ihre bewunderte Höhe
erreicht. Der persische Stolz auf seine nationale Bedeutung äußerte sich
übrigens schon in dieser frühen Zeit ganz unverhohlen. Unter der Partei
der Schu'ubiten, deren Bestreben dahin ging, alles was arabisch war,
herabzusetzen, bildeten neben Syrern, Nabatäern und anderen Nationen
die Perser weitaus die Überzahl, wie ja auch die' der orthodoxen Sunna
sich widersetzende Schi'a in Persien ihre eigentliche Ausbildung er-
fahren hat.
Auf diese Weise drang also persischer Geist in breitem Strome in die
arabische Literatur ein. Aber auch die Perser lernten von den Arabern.
Nicht nur deren Sprache. Vor allem übernahmen sie ihre Metrik und zu-
gleich den Reim. Diese allgemeine Tatsache erfährt dadurch keine Ein-
schränkung, daß gewisse Versformen, die im Arabischen sehr beliebt sind,
von den Persern nur selten angewendet werden. Dafür schufen sie sich
eigene neue. Wirklich zweisprachig ist aber die persische Bildung bloß
kurze Zeit gewesen. Als das Persische bald wieder die Oberhand in der
Literatur gewann, waren es immer nur einige wenige, die gleichzeitig
auch das Arabische beherrschten. Es lohnte sich nicht mehr, die schwierige
Sprache so eingehend zu studieren.
L Die Anfänge der neupersischen Dichtung. Wann die ersten Die ältesten
Verse nach der neuen Art in neupersischer Sprache erklungen sind, läßt
sich begreiflicherweise nicht feststellen. Von einem wirklichen Dichter
von Ruf hören wir erst unter dem Tähiridenfürsten 'Abdallah (f 229/844).
An dessen Hofe zu Neschäpür lebte Hänzäle aus Bädghes, von dem uns
einige Verse erhalten sind. Dann folgen ein paar Dichter der ^affariden,
denen sich bald eine schon recht erhebliche Anzahl im Samanidenreiche
anschließt, in welchem die nationalpersische Dichtung mächtig aufblühte.
Die Verse der ältesten Poeten sind uns nur als Belege seltener Wörter
in Wörterbüchern erhalten, vollständige Sammlungen ihrer Gedichte sind
von keinem von ihnen auf die Nachwelt, gekommen. Die arabischen Lehn-
worte nehmen schon hier einen breiten Raum ein, was auch später im
allgemeinen so geblieben ist.
Es ist nun bemerkenswert, daß sich bereits in den ältesten Proben Charakter der
neupersischen
persischer Dichtkunst Züge finden, die ihr für alle Zeiten als charakte- Dichtung.
ristisch verblieben sind. In Inhalt und Form ist schon früh in einem ge-
wissen Grade der Höhepunkt erreicht worden, den man dann für immer
festgehalten hat. Nach persischer Vorstellung konnte man die Dichtkunst
wie irgend ein Gewerbe erlernen. Wer die Poetik, Prosodie, Stilistik und
16*
2^^ Paul Hörn: Die neupersische Literatur.
Rhetorik gründlich studiert hatte und beherrschte, dazu Phantasie und
eine gute Bildung besaß, der konnte als Dichter auftreten. Das alles war
ja nicht leicht zu erwerben, aber was einer dann mit dem Gelernten schuf,
das mußte eigentlich zu Beginn seines Auftretens schon ebenso vollkommen
sein wie zu Ende seines Lebens. Eines Dichters letztes Werk brauchte
nicht reifer als sein erstes zu sein. Originalität konnte sich nur mehr in
Äußerlichkeiten zeigen, der landläuftige Betrieb der Dichtkunst bewegte sich
immer in den gleichen Bahnen, aus denen niemand heraus konnte. So
waren Eirdausi, Häfiz u. a. keine neue Epochen einleitenden, selbständigen
Größen, trotzdem sie turmhoch über allen ihren Vorgängern und Nach-
folgern stehen, sondern nur Gipfelpunkte längst bestehender Richtungen,
die sie nicht etwa durch neue Ideen umgestalteten, sondern denen sie nur
durch individuell meisterhafte Handhabung der altgewohnten Formen ein
besonderes Gepräge gaben. Da es Wechsel im Geschmacke nicht gab,
so konnte es einem Dichter kaum passieren, daß er bei seinen Lebzeiten
etwa unverdienterweise nicht zu Anerkennung gelangte — höchstens
äußere Gründe konnten daran schuld sein, nicht seine Verse. Nur in der
Sprache sind gelegentlich Geschmackswandlungen zu bemerken: der ein-
fache Stil der alten erzählenden Mäthnäwis ward z, B. bald unbeliebt, und
in der Prosa ist die Eorm zeitweilig Schwankungen unterworfen gewesen.
Es ist daher meist völlig unmöglich, den Verfasser eines neupersischen
Gedichts aus inneren Gründen zu erkennen, wenn ihn kein äußeres Merk-
mal verrät. Immermanns berühmtes Wort vom Epigonentum paßt auf die
Perser ganz hervorragend gut, besonders der Schlußsatz: Aber es geht
mit geborgten Ideen wie mit geborgtem Gelde: wer mit fremdem Gute
leichtsinnig wirtschaftet, wird immer ärmer — nur daß die Perser so
glücklich gewesen sind, dies in ihrer Literatur nie zu empfinden.
Die Poesie Unter solchcn Umständen wäre es, solange sich der literarische Ge-
eine Macht. . . ,,
schmack nicht durchgreifend änderte, eigentlich das Gescheiteste gewesen,
vom weiteren, neuen Dichten ganz abzusehen und sich mit der Lektüre
der alten Meister zu begnügen; denn übertreffen konnte man diese nicht,
und etwas Neues ließ sich in dem fest umspannten Rahmen nicht mehr
sagen. Dem stand aber die große Bedeutung der Poesie im täglichen
Leben der Gebildeten entgegen. Man verlangte bei jeder Gelegenheit
nach Versen. Der höchste Zorn eines Wüterichs ließ sich durch einen
glücklich improvisierten Reim bezwingen, das bedrohte Leben eines Ein-
zelnen, ja ganzer Städte konnte durch einen hübschen Vierzeiler Schonung
erlangen. Anekdoten über derartige Vorfälle werden in Menge berichtet.
Aber nicht nur Unheil zu beseitigen half die Poesie, sondern sie konnte
auch Gunst erwerben. Ein glückliches Zitat tat es unter Umständen wohl
auch, aber wirksamer war doch eine eigene Improvisation. So dichtete
man immer weiter und bewegte sich dabei ohne Skrupel in den alten
ausgefahrenen Gleisen. Der Perser besitzt bei aller seiner geistigen Be-
weglichkeit doch zugleich so viel Naivetät, daß er sich über etwas Altes
^ I. Die Anfänge der neupersischen Dichtung. 245
immer wieder von neuem freuen kann, wenn es wirklich hübsch ist. Ge-
radezu stehlen durfte ein Dichter allerdings fremdes geistiges Eigentum
nicht, aber eines anderen Gedanken zu „schinden", d. h. ihn neu zu wenden,
war erlaubt. Das mußte natürlich zu einer argen Überschätzung des De-
tails führen. Man wird aber unter diesen Umständen das Entzücken des
Persers über Kleinigkeiten wie die folgende begreifen: Jemand fragt einen
Schönen, was er denn für einen reizenden dunklen Fleck auf seinem Apfel
(seiner Wange) habe (die Orientalen schwärmen für Schönheitsflecke auf
zartem Teint). Der erwidert schlagfertig: Das ist ein Kern, der durch
das zarte Fleisch hindurchschimmert. Der Literarhistoriker 'Aufi, der uns
die betreffenden Verse des Dichters 'Othmän ibn Achmed aus Herät mit-
teilt, hebt ausdrücklich hervor, daß dieses Bild dessen Eigentum und noch
von keinem anderen vor ihm gebraucht worden sei.
Der Zwang der alles beherrschenden Mode in der Literatur läßt diese
viel weniger als ein Produkt ihrer Zeit erscheinen wie anderswo. Unter
politisch ungünstigen Verhältnissen dichtet ein Dichter genau ebenso wie
während der glänzendsten Machtentfaltung seines Landes, der Bettler
dichtet im Grunde ebenso wie der Schah. Der Welteroberer Sultan
Machmüd von Ghazna oder der „grimme" türkische Sultan Selim L machen
Liebesgedichte, als wenn sie ganz niedrige Sterbliche wären. Nicht als
ob die Liebe alle gleich machte, nein, es war die Mode der Liebeslyrik,
der beide sich ganz selbstverständlich fügten. Andernfalls hätten sie das
Dichten überhaupt sein lassen müssen.
Die Formen, welche die persische Poesie immer am meisten bevor- Die Formen.
zugt hat, sind die folgenden:
Die feierliche Qacide, das Preisgedicht, welches auch als Elegie ver-
wendet ward. Sie entstammte dem Arabischen. Aus ihr schuf man durch
Verkürzung der Zeilenzahl das leichtere Ghazel, die Ode, oder durch Weg-
lassung des ersten in sich reimenden Verspaares die Qit'ä („Das Bruch-
stück"). Das Rubä'i („Der Vierzeiler") war dann eine völlig originelle
persische Neuschöpfung. Seine natürliche Begabung für Epigramme und
gedrängte Aper9us hat den Perser diese höchst charakteristische Form
finden lassen. Zwei einleitende, untereinander reimende Halbverse zeich-
nen knapp ein Milieu; darauf folgt, gewöhnlich nicht reimend, ein Para-
doxon, und die letzte Zeile bringt dann, wieder reimend, die Pointe. Das
Rubä'i hat, gleich dem Ghazel, auch in der Poesie des Abendlandes das
Bürgerrecht erlangt. Ebenfalls echt persisch ist das Mäthnäwi („Das Ge-
doppelte"), jedes längere Gedicht mit fortwährend wechselnden Zeilenreimen.
Recht äußerlich erscheint uns die Anordnung eines „Divans" (Samm-
lung der Lieder eines Dichters, während eine Anthologie aus Werken
mehrerer Sefine hieß) nach dem Reim, nicht nach dem Inhalt. Es reizt
den Leser nicht, wenn er eine ganze Reihe Gedichte mit dem gleichen
Versausgange hintereinander findet, aber ein Divan ist auch nicht zu fort-
laufender Lektüre bestimmt, sondern nur zum Kosten, heute hier und
2 46
Paul Hörn: Die neupersische Literatur.
Kom de plume
Samaniden.
Rüdaki.
morgen da. Die Ordnung nach dem Reim will bloß das leichtere Auf-
finden ermöglichen.
Seinen Namen nannte der Dichter nie direkt, sondern unter der Ver-
schleierung eines Pseudonyms, das aber stets allgemein bekannt war.
Diese Gewohnheit ist ebenfalls in Persien aufgekommen oder hat sich
doch hier zuerst zu einem ständigen Brauche herausgebildet. Sein nom
de plume sollte den Dichter besser individualisieren, als es das bürger-
liche ISIuhammed, Achmed, Hasan usw. tun konnten, die ja jeder zahllose
Träg-er hatten, und der glänze Stammbaum ließ sich doch nicht immer
wiederholen. So nannte sich Abu Hamid (oder Abu Tälib) Muhammad
ihn Abu Bekr Ibrahim Ferideddin kurz 'Attär („Drogist" — im Reiche des
Geistes) oder Muhammed Tälib nach seinem Geburtsorte Amul einfach
Amuli („Amuler") u. dergl. m.
Einen gewaltigen Aufschwung nahm die nationalpersische Literatur
im Samanidenreiche. Hier sei aus der reichen Zahl seiner Dichter nur
deren größter genannt: Rüdaki — Firdausi sparen wir aus bestimmten
Gründen für Machmüd von Ghazna auf. Aus Rüdakis Leben sind nur
einzelne legendarische Züge überliefert. So soll er blind zur Welt ge-
kommen sein, I 300000 Verse gedichtet und auch an Geld Millionen durch
seine Kunst erworben haben. Ähnliche biographische Nachrichten besitzen
wir, ausführlicher oder dürftiger, über die meisten Dichter, doch halten
sie sehr häufig kritischer Forschung nicht stand. Die Phantasie ist allent-
halben stark geschäftig gewesen und hat einen etwaigen Kern üppig aus-
geschmückt.
Von Rüdakis vielen Versen ist uns nur ein kleiner Bruchteil erhalten
geblieben, doch genügt er, um des Dichters Bedeutung erkennen zu lassen.
Seinen Ruhm und Reichtum verdankte er vor allem den Qa9iden zum
Lobe seiner fürstlichen Herren. Dabei war er aber auch in der Lyrik
Meister, und eine Elegie des Greises, der sehnsüchtig der entschwundenen
Freuden der lockeren Jugend gedenkt, ist nicht nur kulturgeschichtlich
wertvoll.
Leider sind von seinen Mäthnäwis nur zerstreute Verszeilen auf uns
gekommen. Der Dichter hatte das beliebte Fabelbuch „Kaiila und Dimna"
sowie wohl auch den „Sindbäd" poetisch bearbeitet. Nach den Bruch-
stücken, die sich von beiden in Wörterbüchern wiedergefunden haben,
zeichneten sie sich durch eine anmutende Einfachheit der Sprache aus,
die von der sonst üblichen Geziertheit der Poesie sehr vorteilhaft abstach.
Gerade diese Natürlichkeit ist leider der Grund gewesen, daß sich die
Gedichte nicht erhalten haben. Rüdakis höfische Poesieen schrieb man
immer von neuem ab, „Kahla und Dimna" und „Sindbäd" hat man ver-
loren gehen lassen. Der Stil der Verserzählungen war überhaupt von An-
fang an ein einfacherer als der der übrigen Poesie. Er ist es dann auch
vielfach in der Folgezeit geblieben, wie die Geschichten in 'Attärs „Vögel-
gesprächen" oder Dschämis „Goldkette" zeigen, in einer Umgebung, die
I. Die Anfänge der neupersischen Dichtung. 247
sonst von Redeprunk und Gelehrsamkeit voll ist. Rüdaki hat für der-
artige Erzählungen nicht das bis dahin gebräuchliche epische Mutaqärib-
metrum verwendet, sondern das Ramal. Das verlieh gewissermaßen einen
leichteren Charakter. Die Silbenzahl blieb zwar die gleiche (ii), aber das
System wiederholte sich nur drei- statt viermal: _w__ _w___v^_ gegen
w__iu__|w__|w_. Das Mutaqärib blieb künftig allein dem Epos vorbe-
halten.
Neben dem von seinen Fürsten ihm verliehenen Titel „Dichterkönig"
hat die Nachwelt Rüdaki mit dem höheren, weil einzigen, „Adam oder
Sultan der Dichter" geehrt und damit seine Stellung als ersten neupersi-
schen Poeten ersten Ranges anerkannt.
Aber nicht nur die Dichtung blühte im Samanidenreiche, auch die
Prosa der Wissenschaft fand in ihm eifrige Förderung, und zwar in per-
sischer Sprache. Von der berühmten, arabisch verfaßten Chronik des
Persers Tabari und seinem ebenfalls arabischen Koränkommentare wurden
kürzere persische Übersetzungen besorgt. Ein zweiter, groß angelegter
Koränkommentar eines Anonymus entstand von Haus aus in persischer
Sprache. Ferner entstammt dieser Zeit die älteste auf uns gekommene,
neupersische Handschrift, ein pharmakologisches Werk, welches sich zu-
gleich als kalligraphische Leistung eines Dichters darstellt. Ein beredtes
Zeugnis für das starke Nationalgefühl jener Tage war die Übersetzung
des Chodhäiname's, des alten „Herrscherbuchs" über die Geschichte feräns,
aus dem Arabischen ins Neupersische, die leider verloren gegangen ist.
Gleichzeitig hatte persische Poesie auch in dem anderen großen, Bujiden.
eigentlich noch persischeren Staate als dem der Samaniden, im Bujiden-
reiche zu blühen begonnen — die Bujiden hielten ja das Herz Persiens,
die Samaniden dessen östliche Teile. Aber es sind nur wenige Namen
niederen Ranges, die hier zu nennen wären. Samaniden wie Bujiden Machmüd von
Ghazna.
fielen Machmüd von Ghazna zum Opfer, dessen glänzender Hof für die
Dauer von 25 Jahren der geistige Mittelpunkt der orientalischen Welt
wurde. Machmüd schuf durchaus nichts Neues, sondern vereinigte nur
alles, was damals an Geist und Bildung vorhanden war, in seiner Residenz.
Ein Umstand machte ihm allerdings das Persertum stark unsympathisch:
seine Religion. Der Sultan war Sunnit, und zwar ein fanatischer, die
Perser Schiiten. So begünstigte er die arabische Sprache im amtlichen
Gebrauche vor der persischen, in der Poesie konnte er jedoch deren Über-
gewicht nicht mehr zurückdrängen. Das war mittlerweile schon zu stark
gefestigt. Die Sprache des Hofs war das Türkische, aber in der Literatur
beugte man sich vor den Besiegten, ohne jeden Versuch, ihnen im eigenen
Idiom den Gegenpart zu halten. Auch später haben die türkischem Blute
entsprossenen Dynastieen Persiens stets dessen literarisches Übergewicht
anerkannt und sich sogar selbst durchweg als Perser g'efühlt,^^^r\\n 'Abbäs
des Großen Hofe, also zur Zeit der höchsten Machtentfaltung des modernen
Persiens, sprach man zwar ebenfalls türkisch, aber ein literarisches Werk
2 iS PAXn:, Hörn: Die neupersische Literatur.
ist damals ebensowenig in dieser Sprache entstanden wie später unter
Xädir Schah oder den Qadscharen. Machmüd von Ghaznas, der Seld-
schuqen, der indischen Großmoghuls — aller dieser Weltreiche Poesie ist
die persische gewesen.
II. Die großen Namen der neupersischen Dichtkunst. Der
Dichterkreis an Sultan Machmüds Hofe ist für alle Zeiten berühmt ge-
Firdausi. worden, einer seiner Namen gehört sogar der Weltliteratur an: Firdausi
(Firdausi ist die ursprüngliche arabische Form des Namens, Firdosi und
Firdüsi dessen persische Aussprache). Firdausi hat lange gewissermaßen
als Geschöpf des genialen Eroberers gegolten. Dieser habe frühzeitig
des Dichters Talent erkannt und ihn mit der Abfassung des Schähnämes
betraut, das die alte Geschichte des von ihm eroberten Reichs poetisch
verklären und damit den neuen Herrn, der pietätvoll an die ruhmreiche
Vergang-enheit anknüpfte, aus der Stellung eines Usurpators zu der eines
würdigen Rechtsnachfolgers der nationalen Herrscher Persiens erheben
sollte. Dieses letzte Ziel mag Machmüds politischem Scharfblick allerdings
vielleicht vorgeschwebt haben, als er sich des Schähnämes annahm, aber
nicht als eines der Pflege bedürftigen, zarten Keims, sondern als eines
bereits ausgewachsenen, hochragenden Baumes. Die ganze Idee des
nationalen Epos war schon samanidisch. Firdausi fand bereits gegen
looo Verse eines Dichters Daqiqi vor, dessen Werk er nach jenes vor-
zeitigem Tode zu vollenden oder vielmehr erst tatsächlich auszuführen
unternahm. Übrigens haben sich neuerdings auch Verse aus einem epi-
schen Mäthnäwi eines Dichters Mas'üdi aus Merw gefunden, das nach dem
Zeugnisse eines Arabers vom Jahre 355/966 bei den Persem in so hohem
Ansehen gestanden haben soll, daß man es sogar mit Illustrationen weiter
überliefert habe.
Im Jahre 389/999 hatte Firdausi nach 3 5 jähriger Arbeit sein Gedicht
in einer uns nicht mehr bekannten Form abgeschlossen und es einem
samanidischen Großen gewidmet. Aber das Reich war schon zu arg zer-
rüttet, der Dichter konnte keine Anerkennung mehr finden und wandte
sich daher später dem neu aufgehenden Gestirne in Ghazna zu. Sultan
Machmüd nahm die Widmung elf Jahre später an; er scheint aber die Er-
wartungen Firdausis nicht in dem Maße erfüllt zu haben, wie dieser es
beansprucht hatte. Darum dichtete dieser die berühmte Satire gegen den
„Sklavensprößling", die alle im Schähnäme ihn rühmenden Stellen aus-
merzen sollte.
Firdausis Schähnäme ist das nationale Epos der Perser geworden.
Seine einfache Größe hat keiner je wieder erreicht. Es atmet einen
Patriotismus, der in der gesamten neupersischen Literatur ebenfalls einzig
geblieben ist. Was er schuf, wußte der Dichter selbst: er werde durch
sein Gedicht ewig leben, hat er sich einmal in ihm vorausgesagt. Das
ist in der Tat wahr geworden. Allerdings noch nicht zu seinen Lebzeiten.
II. Die großen Namen der neupersischen Dichtkunst. 2AQ
Firdausi hat in seinem Epos seine Sympathie für die großen Helden des
Zoroastrismus nie verhehlt, und diese Begeisterung für „Ketzer" zog ihm
das Mißfallen des mohammedanischen Klerus zu. Nach der Satire auf
Sultan Machmüd mußte er aus dessen Machtbereich fliehen, und unter
bujidischem Schutze dichtete er das fromme Lied von „Jüsuf und Zuleichä",
um sich dem orthodoxen neuen Gönner zu empfehlen. Man kann daraus
dem landflüchtigen Greise keinen Vorwurf machen; bewunderungswürdig
ist sog-ar die Frische, die ihn in hohem Alter noch ein Gedicht von loooo
Doppelversen — das Schähnäme zählt 60000 — fertig stellen ließ. Aber
daß er in dem neuen Werke das alte förmlich verflucht hat, ist schmerz-
lich. Trotzdem hat das Schähnäme, das bald allgemein durchdrang, den
Dichter unsterblich gemacht, „Jüsuf und Zuleichä" ist dagegen ganz in den
Hintergrund getreten.
In Deutschland war das Schähnäme bereits im Jahre 1820 durch
Görres' Prosabearbeitung bekannter geworden, in die Literatur hat es
Graf Schack durch seine formvollendete Übersetzung eingeführt, neben
die später noch Rückerts vortreffliches „Königsbuch" getreten ist. In
französischer und italienischer Sprache existieren vollständige Über-
tragungen von Mohl und Pizzi (in Versen), in eng'lischer, die sich des
Werkes zu allererst angenommen hatte (1788 durch Champion), nur solche
einzelner Partieen. Das Schähnäme bezeichnet in der Weltliteratur einen
Markstein von unvergänglicher Schönheit, wenn es auch begreiflicherweise
in seiner ganzen Ausdehnung nur im Original voll empfunden werden kann.
Das Schähnäme hat in Persien Schule gemacht, aber keiner von
Firdausis Nachfolgern hat das große Vorbild auch nur in ganz beschei-
denem Maße erreicht. Zuerst behandelte man Sagenstoffe, dann besang
man lebende Herrscher; aber die späteren „Firdausis ihrer Zeit" sind alle
nur schwache Stümper gegen den alten Meister geblieben, einen wirk-
lichen Epiker hat es nach ihm überhaupt nicht wieder gegeben.
Die Epik war eine völlig eigene Schöpfung der Perser. Hier hatten
sie von den Arabern überhaupt nichts lernen können. Jedenfalls haben
schon die mittelpersischen prosaepischen Erzählungen, mag ihnen auch
die dichterische äußere Form gefehlt haben, doch schon sehr viele innere
poetische Schönheiten enthalten, welche treue Überlieferung in die neu-
persische Zeit hinüberführte.
Firdausi war ein Schüler des Dichters Asadi gewesen. Dem Lehrer -'^^*'^'-
gebührt hier nicht nur der Pietät halber neben seinem großen Schüler
eine kurze Erwähnung, sondern auch um eigener literarischer Verdienste
willen. Asadi hat nämlich zuerst die sehr beliebt gewordene Gattung des
Wettstreitgedichts (Munäzärä) in die persische Dichtkunst eingeführt, die
der abendländischen Tenzone auffällig nahe steht. Ursprünglich war sie
wohl arabisch, doch hat sie in persischen Händen erst ihre eigentliche
Ausbildung und Vollendung erhalten. Unter den fünf Munäzäräs Asadis
sei wegen ihres Inhalts hier die zwischen „Araber und Perser" genannt,
2^0 Paul Hörn: Die neupersische Literatur.
weil der Dichter in ihr often den Vorrang der persischen Rasse vor der
arabischen besingt, was in arabischer Sprache allerdings schon i^g J^^hr-
hundert früher der Schu'ubit Abu 'Othmän Sa'id getan hatte. Das alt-
epische Wort für „Gentleman" ward parsä, d. h. „Perser" oder „perser-
mäßig", während sich die Nation „Eranier" (d. h. „Arier") nannte. Auch
die Parther sind in der Literatursprache ehrenvoll auf die Nachwelt ge-
kommen: Pachlaw, d. i. Parther, erscheint im Schähnäme in der Bedeutung
„Held". Die Zahl der späteren Munäzäräs ist eine außerordentlich große,
die in ihnen miteinander Disputierenden gehören den allerverschiedensten
Kreisen an (z. B. Feder und Schwert, Kälte und Hitze, Auge und Augen-
salbe u. dergl. m.).
Sultan Machmüds Reich ward nach dessen Tode von den Seldschuqen
zertrümmert. Damit gab Ghazna seine Rolle als Mittelpunkt der Literatur
zunächst an die neue Residenz Merw ab. Doch bald blühten literarische
Bestrebungen auch in den zahlreichen Hauptstädten jung aufkommender
Machthaber auf, ganz Persien vom Osten zum Westen und vom Süden
zum Norden ward von solchen durchzogen. In die Periode der Seldschuqen-
und Atabegenherrschaft fällt die Hauptblüte der persischen schönen Lite-
ratur, deren berühmteste Namen Omar Chajjäm, Ferideddin 'Attär, Enweri,
Nizämi, Dscheläleddin Rümi, Sa'di, Häfiz und Dschämi sind.
Omar Chajjäm. Der berühmte Astronom und Mathematiker Omar Chajjäm (7 517/1123)
ist der Meister des Rubä'is geworden. Durch Bodenstedts und des Grafen
Schack Übersetzungen ist der Dichter in Deutschland kein Fremder mehr,
in England und den Vereinigten Staaten von Nordamerika haben Fitzge-
ralds Übertragungen eine derartige Begeisterung hervorgerufen, daß man
allenthalben Omar Chajjäm-Vereine gegründet hat. Jedenfalls ist der Dichter
im Okzident bekannter als in seinem Heimatlande — was übrigens auch
für manche anderen persischen Autoren gilt, die im Abendlande gedruckt
oder gar übersetzt worden sind, während in Persien ihre Werke nur hand-
schriftlich umlaufen.
Der vor fast 800 Jahren gestorbene Chajjäm erscheint als ein ganz
moderner Mensch, nicht bloß in seinen Gedanken, sondern vielfach auch
im Ausdruck. Denn die prägnante Kürze des Vierzeilers läßt keine Breite
und keinen Schwulst zu, die uns sonst beim orientalischen Stil so leicht
abstoßen. Omar Chajjäms Rubäls kann jeder mit Genuß lesen, Häfizische
Oden viele nur unter Einschränkungen. Der Dichter war ein Freigeist und
hatte es ja der in geistlosem Dogmatismus erstarrten priesterlichen Ortho-
doxie gegenüber nicht allzuschwer; aber die Art, wie er ihr zuleibe ging,
war bewundernswert. Mit gleichen, geistigen Waffen konnte man ihn nicht
bekämpfen, so griff man zu dem brutalen Mittel, ihn mit äußerer Gewalt
zu unterdrücken. Denn mystisch deuten — die beliebte Weise, wie sich
ein frommer Geist mit der weltlichen Lyrik abfand — ließ sich Chajjäm
zu schwierig. Besang ein Dichter den vom Koran streng verbotenen Wein
zu feurig, so konnte jeder, der daran Anstoß nahm, die Sehnsucht der
II. Die großen Namen der neupersischen Dichtkunst. 2 5 I
Seele zu Gott darunter verstehen; an diesem Weine sich bis zur Bewußt-
losigkeit mit folgendem „Katzenjammer" zu berauschen, war nicht nur ge-
stattet, sondern sogar verdienstlich. „Mit dir, Geliebter, will ich lieber in
der Christenkirche als ohne dich im Paradiese sein" war eine starke Blas-
phemie, wenn man es wörtlich auf ein schönes Menschenkind bezog;
dachte man sich aber Gott darunter, so war alles in Ordnung. Das ging
indes bei Chajjäm nicht so glatt, der Widersprüche bei ihm waren für
einen frommen Muslim zu viele, und so tat ihn die Geistlichkeit in Acht
und Bann. Die persönliche Sicherheit des am Hofe in hoher Gunst
Stehenden scheint man nicht haben gefährden zu können, und zu offenen
Provokationen ließ sich dieser nicht hinreißen; denn bei unverhülltem Un-
glauben und Verspottung religiöser Anschauungen versteht der Islam
schließlich keinen Spaß. Aber im stillen war das Verhältnis gespannt,
und Chajjäms Gedichte blieben immer nur auf gewisse Kreise beschränkt
und zirkulierten im Verborgenen. Was von den heute unter seinem Namen
gehenden Gedichten wirklich echt und was erst im Laufe der Zeit sich
an seinen berühmten Namen angehängt hat, läßt sich unmöglich feststellen.
Des Dichters Geist atmen unzweifelhaft viele spätere Stücke, die darum
ihm zuzuschreiben keine Schändung seines Andenkens gewesen ist.
Wie so zahlreiche persische Dichter war auch Omar Chajjäm ein ^üfi. ^afismus.
Den (^üfismus, der sich innerhalb der Schi'a ausgebildet hatte, hatten die
Perser als ein hochwillkommenes Mittel aufgegriffen, sich dem orthodoxen
Islam noch weiter zu entwinden. In seinem phantastischen Wesen steckte
ein gutes Stück Poesie. Kein Wunder, daß er auf die persische Dichtung
so außerordentlich fruchtbar eingewirkt hat. Es würde recht wenig wirk-
lich Bedeutendes übrig bleiben, wenn man aus der persischen Literatur
alles ausscheiden wollte, was nicht von cüfischem Denken beeinflußt ist.
Nicht bloß haben zahlreiche Dichter dem (^üfismus einzig und allein ihre
ganze Wirksamkeit geweiht, sondern auch bei allen anderen Themen
spielen fortwährend 9Üfische Ideen und Bilder hinein. Der Reiz eines
Lyrikers wie Häfiz liegt g'erade in dem beständigen Doppelsinne zwischen
Mystik und Wirklichkeit,
Den mystischen Dichter leitet bei seinem ewigen Ringen nach der
Wahrheit und seinem nie zur Befriedigung kommenden Gottsuchen eine
unerschöpfliche Phantasie, die ihn zu immer neuen Bildern greifen läßt,
um die Tiefe seiner Sehnsucht zum Ausdruck zu bring^en. Diese Phan-
tasie können wir besonders in den Werken eines Ferideddin 'Attär 'Attär.
(513/1119 — 627/1230) und Dscheläleddin Rümi {604/1207 — 672/1273) be-
wundern. Bei ihnen finden wir vollständige Systeme der Wandlungen,
welche die Seele durchzumachen hat, bis sie in die völlige Einheit mit
Gott einmündet. In den „Vögelgesprächen" schildert 'Attär ihre Pilger-
fahrt unter dem Bilde einer höchst beschwerlichen Reise, welche die
Vögel über sieben Täler nach dem mystischen Berge Qäf unternehmen.
Den Gipfelpunkt der mystischen Dichtung stellt Dscheläleddin Rümis Rümi.
2^2 Paul Hokn : Die neupersische Literatur.
„Geistiges ^läthnäwi" oder kurz „Mäthnäwi", d. h. das „Mäthnäwi der
Mäthnäwis" dar. Trotz seines enormen Umfang^s ist das Werk von An-
fang bis zu Ende hoch poetisch. Der Dichter steht fortwährend über
dem Philosophen. Gerade das macht aber die Lektüre so reizvoll, während
es andrerseits die Schwäche der Leistung- bildet. Das Schlußziel, die
Vernichtung- des Ichs und seine Wiedervereinigung mit Gott, dem großen
Meere, aus dem es dereinst geflossen ist, um durch die Zwischenstufen
des Steins, der Pflanze und des Tieres Mensch und Engel zu werden,
wird mit Folgerichtigkeit herbeigeführt. Da Gott sich in allem und jedem
offenbart, so kann der Mensch ihn und schließlich auch sich selbst in
jedem Dinge erblicken. Diese Konsequenz ist an sich durchaus logisch.
Im einzelnen bleibt aber vom Standpunkte des Verstandes vieles anfecht-
bar. Der dichtende (^üfi ist eben von der Richtigkeit seiner Anschau-
ung-en schon von Hause aus derartig überzeugt, daß er streng wissen-
schaftliche Beweise gar nicht für nötig hält. Dazu spricht er als Poet
mit glühender Begeisterung zu nicht minder Gläubigen, als er selber einer
ist. Gewiß weiß er manchmal selbst nicht genau, was er eigentlich will.
Immermanns Wort im „Merlin":
„Das Weltgeheimnis ist nirgendwo, es ist nicht hier und nicht dorten,
Es schaukelt sich wie ein unschuldiges Kind in des Sängers blühenden Worten"
charakterisiert ihn treffend. Aber damit begnügt sich der Phantast, dem
auch in den Minuten des Derwischtanzes, den Dscheläleddin Rümi selbst
gestiftet hat, nichts zu denken, das Höchste ist.
Die Wanderung der Seele durch viele Stadien bringt die ethische
Tiefe in das Ganze hinein. Das Ich hat selbst die Entscheidung über sein
Schicksal; es muß sich also bemühen, des Aufgehens in Gott würdig zu
werden, und dazu bedarf es der höchsten Tugendhaftigkeit. Der Entstehung
und Entwicklung des persischen Mystizismus nachzugehen, ist hier nicht
der Ort; nur kurz erwähnt sei, daß er sehr viel dem Neuplatonismus ver-
dankt.
Die Leitsätze seiner Lehre erläutert der Dichter stets durch Anek-
doten, Legenden, Erzählungen der verschiedensten Art. Diese Gepflogen-
heit Avar schon vor Rümi üblich gewesen. Die kürzeren oder längeren
Geschichten sind gewöhnlich ganz reizend erzählt.
Sa'di. Das Weltfremde des (^üfismus zu mildern, zu zeigen, daß man auch
als (^üfi sich der Welt freuen könne, war Sä'di vorbehalten (580/1184 —
690/1291), einem über Hundertjährigen, wie sie unter den persischen
Dichtem auffällig zahlreich sind. Xach einer an Abenteuern reichen
Jugend- und Manneszeit hat der Greis fast noch vierzig Jahre ruhig in
seiner Vaterstadt Schiräz gelebt und dort seine Tage beschlossen. Von
der greulichen Mongolenverwüstung blieb Südpersien verschont, unter
kunstsinnigen, milden Herrschern erfreute sich Färs einer hohen Blüte.
Sa'di ist eine seltene Greisenerscheinung auf persischem Boden, wo sich
sonst die Alten gemeiniglich höchst unglücklich fühlen, weil sie nicht
II. Die großen Namen der neupersischen Dichtkunst. 2
Dö
mehr genießen können wie die Jugend. Sie werden dann mangels etwas
Besseren fromm und tuen Buße von den Sünden des vergangenen lustigen
Lebens. Nicht so Sa'di. Er hat auch seinerzeit alles genossen, was das
Dasein ihm bot, aber im Alter hat er nicht den grämlichen Eindruck, daß
es zwecklos gewesen sei. Die Erinnerung an das erlebte Schöne bleibt
als dauernder Gewinn; seine Erfahrungen teilt er anderen mit, damit sie
daraus lernen können. Wahre Toleranz und echte Frömmigkeit sind die
Grundzüge seiner Ethik, die er im „Rosengarten" {Gulisfcm) und „Lust-
garten" {Bostait) entwickelt. Der Gulistän ist das erste Werk der persi-
schen Literatur, das durch eine vollständige Übersetzung (Olearius' „Per-
sisches Rosenthal") in Deutschland wirklich bekannt geworden ist (1654),
wie überhaupt Sa'di der erste übersetzte Perser gewesen ist (schon 1634
in das Französische und 1644 in das Lateinische). Der Gulistän ist eine
Prosaschrift, in die zahlreiche Verse eingestreut sind, der Bostän dagegen
ein reines Gedicht.
Sa'di ist der populärste Moralist des Morgenlandes geworden. Das
verdankt er nicht zum geringsten Teil seiner Lebenskunst, die ihn welt-
männische Gewandtheit mit 9Üfischer Einfachheit harmonisch verbinden
ließ. Als die Mongolen schließlich auch sein Vaterland überfluteten, dich-
tete er auch ihre Fürsten an, wie er es mit den verehrten einheimischen
Selghuriden getan hatte. Die neuen Herren schenkten ihm ihre Gunst
ebenfalls und verschonten sein geliebtes Schiräz; so ward es ihm nicht
schwer, sich mit den neuen Verhältnissen abzufinden.
Der Meister auf dem Gebiete der Liebesromanze in Versen, einer bei Nizämt.
den Persern sehr beliebten Gattung, ist Nizami (535/1 141 — 599/1203). Schon
die altpersische Literatur kannte die Geschichten berühmter Liebespaare:
aus griechischen und lateinischen Quellen hören wir von der Liebe der
Sakenkönigin Zarinaea zu Stryangaeus (Stryaglius) oder von der Prinzessin
Odatis und dem Prinzen Zariadres. In der neupersischen Zeit sind es
dann meist immer die gleichen Stoffe gewesen, welche die Dichter stets
von neuem poetisch behandelt haben: der Sassanidenherrscher Chosrau IL
und seine Lieblingsgemahlin Schirin resp. deren Verehrer, der Baumeister
Ferhäd; des persischen Don Juans, Schah Bechräm V. Gors, sieben oder
acht Liebesabenteuer mit Prinzessinnen verschiedener Nationen; Wämiq
und Azrä; Jüsuf und Zuleichä (die Frau Potiphars); Leilä und Medschnün.
Diese Stoffe erschienen den Dichtern ewig jung und schön, so daß die
Literaturgeschichten bisher 22, 10, 9, 14 und 18 Bearbeitungen von ihnen
verzeichnen. Der Inhalt aller „Jüsuf und Zuleichäs" ist im Grunde genau
der nämliche, der vierzehnte Jüsuf sieht den früheren dreizehn täuschend
ähnlich, und die achtzehnte Leilä gleicht den siebzehn ihr vorhergegangenen
höchstens nicht im Haar. Auch gewisse typische Züge im Gange der
Handlung kehren immer wieder. So verlieben sich die Paare meist, ohne
einander je von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben, auf eine Be-
schreibung, ein Bild oder einen Traum hin; die Macht der Liebe ist so
2=1 Paul Hokn: Die neupersische Literatur.
übenvältigend, daß die keuschesten Jungfrauen sich ohne Bedenken über
alle Schranken der strengen Sitte hinwegsetzen. Abwechslung kommt
nur durch die verschiedene äußere Kunstfertigkeit hinein, mit der die
Dichter ihre Vorlage zu behandeln verstehen. Nicht zu erfinden g-alt es,
sondern zu finden: nicht was man sagte, sondern wie man es sagte, war
das Wesentliche. Wer es über sich brächte, einmal alle achtzehn bisher
bekannten Leilä und Medschnüns hintereinander durchzulesen, würde viel-
leicht manche kleineren, auch feineren Züge zusammenstellen können, in
denen ein Dichter individuell zu sein versucht hat; aber im allgemeinen
würde das Ergebnis doch nur auf mehr oder minder geschickte Phrasie-
rung lauten.
Chosrau und Schirin, Bechräm Gors Liebesgeschichten sowie Leilä
und Medschnün hat Xizämi in die Kunstpoesie eingeführt. Nach einem
jahrelangen, streng asketischen Leben hatte er zunächst mit einem mysti-
schen Gedichte, dem „Schatzhaus der Geheimnisse", begonnen. In seinen
drei Liebesepen behandelte er nun nichtkoranische Stoife, aber er setzte
dabei doch „das Götzenbild in die Ka'ba", d. h. er wußte als frommer
Muslim den Islam auch in dem heidnischen Milieu in den Vordergrund zu
rücken. Da das Grundthema überall die Liebe ist, so war es ganz natür-
lich, daß die epische Erzählung eine stark lyrische Färbung erhielt. Bei
der Geschmacksrichtung der Perser ist es kein Wunder, daß sie häufig-
sogar in eine Zuckersüßheit ausartete, die uns unerträglich wird. Dschämis
„Jüsuf und Zuleichä" ist dafür ein drastisches Beispiel, wie der Leser aus
V. Rosenzweig-Schwannaus Übersetzung ersehen kann. Die maßlose Sen-
timentalität in desselben Dichters „Leilä und Medschnün" spiegelt sich in
Graf Schacks eleganter Verdeutschung wider. Unverkennbar ist besonders
in dem letzten Gedichte die Ähnlichkeit mit der westeuropäischen mittel-
alterlichen Minnestimmung. Diese ist gewiß von Hause aus orientalisch
und augenscheinlich aus dem maurischen Spanien bezogen.
Nizämi hatte nun auch den Ehrgeiz, dem Schähnäme ein ebenbürtiges
Werk an die Seite zu stellen. Er wählte dafür zum Helden Alexander
den Großen, der ja nach persischer Geschichtsklitterung ein Sohn des
letzten Darius von einer byzantinischen Kaisertochter geworden war. Sein
„Alexanderbuch" hat sich aber zu einem langatmigen, mystisch-philosophi-
schen Opus ausgewachsen, der erste historisch-epische Teil wird durch
den zweiten spekulativen ganz in den Hintergrund gedrängt. Auch der
Stil ist himmelweit von dem Firdausis verschieden.
Seine fünf Mäthnäwis vereinigte der Dichter zu einem „Fünfer", eine
Mode, die viele Nachahmer gefunden hat — gelegentlich erscheinen auch
„Sechser" oder „Siebener".
Emir Chosrau. Der Inder Emir Chosrau (-|- 725/1325) hat das Verdienst, die Liebes-
epik aus dem engen Bannkreise der konventionellen Stoffe befreit zu
haben, indem er neben Leilä und Medschnün etc. auch eine Liebes-
geschichte seiner Zeit besang. Sein Beispiel fand Nachfolger, aber be-
II. Die großen Namen der neupersischen Dichtkunst.
:55
sonderen Wert kann keine dieser Art Dichtungen beanspruchen. Ein solcher
ist indes einem weit älteren Werke der Gattung, Fachreddins „Wis und wis und Rämiu.
Rämin" nicht abzusprechen. Dieses Gedicht behandelt eine alte Volkssage,
und zwar mit einer naiven Frivolität, wie wir sie sonst in der persischen
Literatur nicht wieder linden. Die junge Frau eines alten Königs betrügt
diesen fortg-esetzt mit seinem ihr gleichaltrig'en Bruder; die Schuldigen
können einander sogar zuletzt heiraten und regieren glücklich und be-
glückend an Stelle des einfältigen Alten, nachdem dieser ihnen den Ge-
fallen getan hat, auf der Jagd zu verunglücken. Die Sage hat ihre ur-
sprüngliche populäre Gestalt augenscheinlich ziemlich getreu erhalten und
von ihrem literarischen Bearbeiter keine ästhetische Einrenkung erfahren.
Alte Überlieferung- will wissen, daß die ersten persischen Verse zum Die Hofdichtung.
Lobe von Fürsten gesungen seien. Das wäre für Persien an sich keine
befremdliche Behauptung; denn die Dichtkunst, ja die gesamte Literatur
hat hier von jeher einen stark höfischen Charakter gehabt. Ein Dichter
konnte auf klingenden Lohn seiner Poesieen — und nach solchem mußte
er streben, da seine Kunst sehr mühsam zu erlernen gewesen war — nur
bei hohen und höchsten Herren rechnen. Dazu durfte er es aber an
direkten Verherrlichungen der Personen nicht fehlen lassen. So hatte
jeder Fürst seine Hofdichter, deren „König" die privaten und Staatsaktionen
des Herrschers poetisch zu verherrlichen hatte. Die Schmeicheleien konnten
gar nicht grob genug" sein, Orientalen vertragen und leisten in dieser Be-
ziehung das unglaublichste. Schon in Firdausis Schähnäme singen drei
Töchter eines Landadligen den Schah Bechräm Gor ganz überschwenglich
an, und dieser ist in seiner Weinseligkeit über die plumpen Komplimente
derartig entzückt, daß er alle drei Mädchen unverzüglich zu Gemahlinnen
erhebt. Aber auch aus dem Munde von Männern und bei völliger Nüchtern-
heit wirken solche Verhimmelungen immer. Die höfische Panegyrik bildete
sich daher ganz natürlich zu einer eigenen Dichtgattung' aus. Als ihr
Meister ist für alle Zeiten einstimmig Enweri (-j- ca. 586/1190) anerkannt.
Die Künstelei in der Sprache wie im Inhalt kann gar nicht hoch genug
getrieben werden. Die entlegenste Gelehrsamkeit wird an den Haaren
herbeigezogen, alle Wissenschaften müssen sich in den Dienst der Aufgabe
stellen, den Fürsten zu feiern. Auf diese Weise haben sich zahllose Qa-
ciden auf Herrscher erhalten, von denen die Geschichte nichts weiter als
den Namen zu berichten weiß. Nach der Meinung ihrer Lobredner wären
sie aber die ersten und herrlichsten aller Zeiten gewiesen. Darius und
Alexander kamen ihnen nicht an Macht, Salomo nicht an Weisheit gleich;
die Sonne war eine Perle im Meer ihrer Huld, der Himmel ein Bläschen
darin u. dergl. m.
Dschingiz Chans und ein Jahrhundert später Timurs Eroberungszug
brachten unsägliches Elend über Persien, aber das geistige Leben ward
doch auch in diesen schweren Zeiten nicht völlig" unterdrückt, sondern fand
an einzelnen Höfen Zufluchtsstätten. Wie bei dem mongolischen- so war
Enweri.
Häfiz.
256 Paul Hörn: Die neupersiscbe Literatur.
es auch bei Tamerlans Einfalle Färs, das seine iVbgeleg-enheit schützte.
Wieder in Schiräz blühte damals der größte Dichter seiner Zeit: Häfiz,
der Meister des Ghazels (-J- 1389). Auch Häfiz war kein Neuerer in
seinem Gebiete, der Lyrik, der er doch für alle Zeiten den Stempel seines
Geistes aufgeprägt hat. Goethe hat ihn überschätzt, wenn er sagte: Hafis,
dir sich gleichzustellen, welch ein Wahn! Denn Goethe war unendlich mal
mehr als Häfiz. Des Persers Verdienst bestand darin, daß er die bereits bis ins
einzelne völlig ausgebildeten Ideen der Liebes-, Wein- und Naturdichtung
in einer eleganten äußeren Form darbot, die allg^emein bezauberte. Er
wußte Wort und Geist in so harmonischer Weise als Braut und Bräutigam
zur Hochzeit zu vereinen (Goethe), wie keiner vor noch nach ihm. Viele
seiner beliebtesten Verse sind gar nicht originell, aber die Form, die er
einem längst bekannten Gedanken gab, machte diesen zu etwas Neuem.
Sogar in der Übersetzung von Hammers hat Häfiz eine großartige Wir-
kung in Deutschland erzielt: Goethe schuf nach ihr seinen West-östlichen
Divan, der unserer Literatur ganz neue Seitenpfade wies. Und Boden-
stedts Pseudo-Häfiz Mirza Schaff}^ hat einen der größten Bucherfolge aller
Zeiten gehabt.
Seine große Beliebtheit in Persien verdankt der Dichter seiner Umdeu-
tungsfähigkeit ins Mystische. Schon er selbst hat sicher von Hause aus eine
solche beabsichtigt. Wer ihn natürlich verstehen wollte, mochte dies tun,
und wer einen allegorischen Sinn in seinen Versen finden wollte, kam
ebenfalls zu seinem Recht. Das Weltkind und der Fromme konnten sich
an demselben Ghazel erbauen. Der Klerus fand sich bei dem beliebten
Dichter mit einer rein mystischen Deutung ab; einen Häfiz, d. h. einen
der den Koran auswendig wußte, konnte man nicht gut als Freig'eist
brandmarken. Wie den Koran, so benutzt der Perser noch heute Häfizs
Divan für Orakel.
Dschämi. Häfiz ist für alle späteren Lyriker das Vorbild geblieben. Über ihn
ist keiner hinausgekommen. Höchstens Dschämi (817/1414 — 898/1492) darf
wegen der Universalität seines Talents eine selbständigere Stellung neben
ihm beanspruchen. Als Verfasser religiöser und weltlicher Mäthnäwis, als
fruchtbarer Lyriker und nicht minder gefeierter Prosaschriftsteller ist
Dschämi überhaupt der letzte wirklich große Autor Persiens gewesen.
m. Die Epigonen. Auch in der Gegenwart wird im Reiche der
Sonne und des Löwen weitergedichtet, und einzelne Namen sind sogar
mit Auszeichnung zu nennen; aber einen Vergleich mit den Größen der
Vergangenheit hält doch kein einziger von ihnen aus. Der 1891 ver-
storbene Scheibäni verdient wegen der außerordentlichen Freimütigkeit
seiner Sprache eine besondere Erwähnung. Jungperser, wie in der Türkei
Jungtürken, gibt es im Reiche des Schahs bisher noch nicht; Scheibäni
hatte aber einen gewissen jungpersischen Zug, insofern er energisch zu
Reformen mahnte, nicht nach europäischen Mustern, sondern von innen
III. Die Epigonen. IV. Das Theater. 2'^?
heraus auf Grund der Gerechtigkeit und des eigenen Vorteils der Dynastie.
Man hat ihn ruhig" dichten lassen — seine derartigen Verse durften aller-
dings in Persien nicht veröffentlicht werden, aber als persönlich treuer
Anhänger des Schahs und seines Hauses hat er außerdem so viele loyale
Poesieen g^emacht, daß ein moderner Anthologist (Rizäquli Chan) doch
viele Seiten damit füllen konnte.
Der allgemeinen Schablone haben sich sonst nur wenige entzogen.
Und zwar auch nicht in der Form ihrer Poesieen, sondern nur in deren
Inhalte. So suchte sich Bushäq aus Schiräz (f ca. 830/1427) ein ganz neues
Gebiet in der Küche und Tafel: jeder Vers seines Divans ist einzig dem
Essen und Trinken gewidmet, i'^/^ Jahrhundert später variierte ihn Mach-
müd Qäri aus Jezd, indem er die Kleidung zum alleinigen Thema seiner
Verse wählte. Ein moderner Dichter, Schäjek, warf sich auf die Besingung
des Bettels und seiner Ritter. Eine ganze Reihe Vertreter hat die Zote Zote.
gefunden. Sogar Sa'di hat dieser von jeher im Orient beliebt gewesenen
Gattung des Witzes ein Bändchen „Spaße" gewidmet, das recht starke
Stücke enthält. Bezeichnend ist es, daß das Kapitel der Knabenliebe hier
stets im Vordergrunde steht. Die unglückliche Liebe zu Jungen spielt in
der Literatur eine ebenso große Rolle wie die zu Frauen und Mädchen.
Das erklärt sich durch die untergeordnete Stellung des Weibes und
seine geringe Durchschnittsbildung. Persische Frauen haben zwar auch Dichterinnen,
gedichtet, aber über den üblichen Dilettantismus hat sich keine erhoben.
Bei der Ungeniertheit des Orients findet sich in einzelnen ihrer Verse ein
haut goüt, der dem bei Männern nicht nachsteht.
Außerhalb Persiens hat persische Poesie in Indien wertvolle Blüten Persische Dich-
getrieben. An dem Hofe der kunstsinnigen Großmoghuls zu Delhi er- lande,
wuchs eine ausgebreitete Literatur in persischer Sprache. Die Dichter
'Urfi (f 999/1591) und Feizi (f 1 004/1 595) waren den zeitgenössischen Poeten
Irans weit überlegen. In der Türkei erstand in Sultan Selim I. (f 1520)
ein Talent, das sich zahlreichen berühmten Lyrikern Persiens ebenbürtig
an die Seite stellen konnte.
IV. Das Theater. Wohl schon älteren Ursprungs aber immer nur
einem bestimmten Gegenstande gewidmet ist das persische Drama. In
der Art der Oberammergauer Festspiele feiert man in den ersten zehn
Tagen des Monats Muharram alljährlich durch theatralische Aufführungen
das Andenken an die Passion der schiitischen Heiligen und Märt}'-rer 'Ali,
seiner Söhne Hassan und Hussein, seines Enkels Zein el-'Abidtn und
anderer Imäme. Dichtemamen sind bis auf einen einzigen für diese Stücke
nicht überliefert, die gewissermaßen als altes Volksgut gehen. Als solches
haben sie begreiflicherweise vom künstlerischen Standpunkte ihre Mängel,
aber dramatisches Geschick ist in ihnen vielfach nicht zu verkennen. Die
„persischen" Lustspiele „Der Vezier von Lenkoran" u. a., welche neuer-
dings durch Übersetzungen (Reclam, Hendel) in weiteren Kreisen bekannt
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. I7
-7 - S Paul Hörn : Die neupersische Literatur.
ge"U'orden sind, stammen allerdings aus dem Persischen, sind aber hier
keine Originale, sondern nur aus dem azerbaidschanischen Türkisch über-
tragen, wo sie nach französischem Vorbilde entstanden waren.
V. Die Volksliteratur. Von persischer Volksliteratur im engeren
Sinne ist bisher nur wenig bekannt geworden.
Die Lieder, welche von berufsmäßigen Sängern vorgetragen werden,
sind zumeist im Grunde auch literarisch oder doch stark durch den Kunst-
stil beeinflußt. Öfter läßt sich die Quelle direkt nachweisen. So werden
Verse von Häfiz, Omar Chajjäm u. a. coupletartig- mit Zwischenzeilen oder
Refrains durchwoben. Die Metra sind immer die in der Kunstpoesie
üblichen. Volkstümliche, nach dem Prinzip der Silbenzählung aufgebaute
Lieder scheint es jedoch nicht zu geben; eine derartige Annahme beruhte
wohl auf einem Irrtum, die in Frage kommenden Verse erweisen sich bei
genauerem Zusehen wohl durchg'ängig als nach den Grundsätzen der
Längen- und Kürzenmessung verfaßt. Manchmal kann man allerdings bei
der Entscheidung schwanken, ob man es mit einem rein naiven Natur-
produkte zu tun habe oder ob man doch Anlehnung an die Kunstlyrik
annehmen müsse. Besonders bei Vierzeilern. In dem beliebten, kunst-
mäßig ausgebildeten Rubä'i steckt sicher ein echt volkstümlicher Kern.
Die Form an sich war schon von Hause aus national-persisch, die literarische
Übermalung hat ihr nur scheinbar ein ganz originelles neues Gepräge
verliehen. Wenn das Volk singt: Ich fürchte, ich sterbe in der Fremde,
und dann kommt mein Geliebter und kennt meinen Staub nicht — oder:
Aus dem Mark meiner Knochen mache ich einen Griffel, das Blut meiner
Adern verwende ich als Tinte, die Hautumhüllung meines Herzens nehme
ich als Papier und schreibe an mein Lieb einen Brief — so könnten beide
Vierzeiler ohne Veränderung in einem literarischen Divane stehen, aber
ebenso gut können sie auch echte Ausflüsse persischen natürlichen Emp-
findens und unmittelbar aus Volksmund niedergeschrieben sein.
Rein volkstümlich sind Liebes-, Hochzeits- und besonders Wiegen-
lieder (letztere sind mitunter sehr nett und kindlich), Verse auf wichtigere
Ereignisse der Zeit (in Shukowskis Sammlung z. B. auf den Sturz des Prinzen
Zill-essultän) und Gassenhauer, in denen häufig Tänzerinnen eine Rolle
spielen. Am unverfälschtesten ofi^enbart sich das Volksmäßige in dialek-
tischen Liedern; hier finden sich Züge, die der Kunstpoesie völlig abgehen.
So z. B. in gilanischen „Pälawis" eine tiefe Heimatsehnsucht oder sinnliche
Liebe in natürlicher, nicht der konventionellen Darstellung. Wenn dagegen
Berufsdichter dialektisch dichten, so verfallen sie sofort in den literarischen
Stil. Das läßt sich nicht nur bei Männern wie Sa'di und Häfiz beobachten,
die es nicht verschmäht haben, gelegentlich in schirazischer Mundart zu
reimen, sondern auch bei populären Dialektpoeten wie dem gefeierten
Mäzenderaner Emir Päzewäri. Gelegentlich sind übrigens auch mundart-
liche Prosaschriften verfaßt werden, deren Wirkung auf weitere Kreise im
V. Die Volksliteratur. VI. Die Prosa. 2 50
Volke berechnet war; Hädschi Chalfa erwähnt z. B. einen „isfahanischen"
Koränkommentar von Isma'il ihn Muhammed Isfahäni.
VI. Die Prosa. Aus der neupersischen Prosa gehört der Weltliteratur
nur ein einziges Werk an, nämlich Sa'dis Gulistän. Trotzdem ist ihre Be-
deutung- aber doch eine außerordentliche, wenn sie auch hier nur in aller
Kürze gestreift werden kann.
Eine große Anzahl der persischen Prosawerke steht der Poesie recht
nahe und ist sozusagen Poesie in Prosa. Die gleiche bildliche Aus-
drucksweise und dasselbe fortwährende Spielen mit den wechselnden Be-
deutungen eines Wortes, der nämliche gezierte Stil und pomphafte Rede-
prunk, nur ohne Reim, dafür aber ein schallendes Alliterations- und
Assonanzengeklingel und förmliches Schwelgen in Fremdwörtern. Sehr
beliebt ist das Einschieben von Versen, seien es Zitate oder eigens ad hoc
verfertigte Elaborate der Verfasser, eine Weise, die im Orient auf Indien
(Kaiila und Dimna usw.) zurückgehen wird. Die harmonischste Ver-
schmelzung von Prosa und Poesie haben wir in Sa'dis Gulistän und Sa'dis Ouiistän
Dschämis (892/1487) „FrüWingsgarten" {Behäristän). Zu den berühmtesten
Leistungen der Kunstprosa im weiteren Sinne gehören Fettähis (843/1439)
„Schlafgemach der Phantasie" [Schehistän-i chajäl) und Wä'iz Käschifis
(f 910/1504) „Lichter des Kanopus" [Enwär-i Suhaili). Fettähis Werk hat
mehrere eigene Kommentare hervorgerufen, ein augenfälliger Beweis
seiner Wertschätzung. Denn nicht nur Fachschriften erweisen im Orient
ihre Gediegenheit dadurch, daß sie andere reizen, sie zu erläutern, sondern
auch Werke der schönen Literatur. Enweris und Chäqänis Qaciden werden
nicht zum geringsten darum so bewundert, weil sie ohne Kommentar nie-
mand ordentlich verstehen kann.
Abstoßend wirkt die übertriebene Rhetorik in der Briefstellerei. Ein
Schreiben, dessen ganzer Inhalt im Grunde die unbedeutendste Kleinig-
keit bildet, ergeht sich mehrere Seiten lang in den hochtrabendsten Redens-
arten. Auch in den historischen Dokumenten ist es immer nur ein kleiner
Kern, zu dem man erst nach Überwindung einer sehr mühseligen Schale
gelangt. Die Kunst der Epistolographie war aber eine sehr geschätzte,
die Zahl der im Laufe der Zeit verfaßten „Briefsteller" ist beträchtUch.
Minister und andere höhere oder niedere Staatsbeamte, Dichter, Gelehrte
sind als Autoren vertreten; ihre Vorwürfe bilden ebenso Staatsangelegen-
heiten wie Ereignisse des privaten täglichen Lebens. Die Musterbriefe
sind zum Teil fingiert, zum Teil der Praxis entnommen. Daß auch an
stilistischen Lehrbüchern kein Mangel ist, ist selbstverständlich; die zahl-
reich vorhandenen Poetiken sind ebenfalls zumeist in Prosa abgefaßt. End-
lich hat auch die Lexikographie sehr achtbare Leistungen aufzuweisen.
Von weittragender Bedeutung ist die persische Erzählungsliteratur Erzählungen.
geworden. Viele heute weit verbreitete Novellen, Märchen, Tiersagen,
Fabeln, die von Hause aus indischen Ursprungs sind, haben ihre Wande-
17*
2 6o Paul Hörn: Die neupersische Literatur.
rung nach dem Westen über Persien angetreten, „Kalila und Dimna",
„Die vierzig- Veziere" u. a. dgl. wurden bei ihrer Übertragung- in die Sprache
Irans von persischem Geiste durchtränkt, und haben diesen dann für alle
Zeiten nicht wieder abgestreift. Auch der Grundstock von „looi Nacht"
gehört in diesen Kreis, wennschon bekanntlich die heutig-e Gestaltung und
besonders die völlig islamische Übermalung der Sammlung auf arabischem
Boden vor sich gegang-en ist. Die jüng-eren Übersetzungen von Sanskrit-
werken im großmog-hulischen Indien, sowohl weltlicher (Mahäbhärata,
Rämäjana u. a.) wie religiöser (Upanischads usw.) sind zwar an Zahl nicht
g-ering, doch haben sie auf die Gestaltung- oder Entw^icklung der persischen
Literatur keinen Einfluß ausgeübt, sondern sind in ihr immer nur nicht-
assimiliertes Fremdgut geblieben.
vorUebe für Reich Vertreten ist die moralische Literatur. Der Perser hat ein
starkes rhetorisches Bedürfnis, schöne Reden mit guten Pointen schätzt er
außerordentlich. Schon im Mittelpersischen fanden wir die beliebten
weisen Ratgeber, und auch späterhin fehlen sie nicht. In das Schähnäme
hat Firdausi eine g-roße Menge lehrhafter Reden eingestreut. Besonders
halten hier die Schähe regelmäßig solche bei ihrer Thronbesteigung, ja
von verschiedenen Königen weiß der Dichter überhaupt nichts anderes
zu berichten als die Ermahnungen, die sie bei dieser Gelegenheit an ihre
Untertanen richten, und die Versprechungen einer guten Regierung, die
sie für sich selbst abgeben. Meist handelt es sich nur um Gemeinplätze,
aber die Großen sind trotzdem immer neugierig, zu hören, was der neue
Herr zu sagen hat. Die jüngsten Prinzen belehren die ältesten Männer,
daß es eine Art hat.
Im täglichen Leben war wenig Gelegenheit, das oratorische Bedürfnis
zu befriedigen. Vor Gericht wurde nicht plädiert, und Volksredner fanden
in einem autokratischen Staatswesen, wo alles kurz von oben befohlen
wurde, keinen Wirkungskreis. Höchstens konnte der Prediger Zuhörer
fesseln, aber die CJiuibe des islamischen Gottesdienstes gestattete der
Predigten. Predigt prinzipiell nur einen beschränkten Raum, und auch bei den Persern
hat sie merkwürdigerweise keine wichtigere Rolle erlangt. Dscheläleddin
Rümis Vater genoß den Ruf eines geschätzten Predigers, doch sind der-
gleichen Mitteilungen selten. Die Aufzeichnung von Predigten zählt eben-
falls zu den Seltenheiten. So blieb der Rhetorik hauptsächlich die Literatur
als Tummelplatz übrig, statt der gehörten Rede mußte man sich mehr an
die gelesene halten.
Als typische Ratgeber treten in bunter Reihe die mythischen Schähe
Hoscheng und Dschemsched, ferner Buzurgmichr, Noschirwän (Chosrau I.),
der Arzt Burzoe, der weise Luqmän u. a. auf. Wertvoller sind die Ethiken
und Politiken von Männern der Praxis. Der Enkel des berühmten Zija-
ridenfürsten Oäbüs weihte 475/1082 dem Andenken seines Großvaters das
(^äbüsnäme, die älteste Fürstenethik. Ziemlich gleichzeitig verfaßte Sultan
Malikschähs Vezier Nizäm el-Mulk sein großartiges Staatshandbuch des
VI. Die Prosa. ,^j
Seldschuqenreichs {Sijar el-mulük oder Sijäsetnäme). Das Genre des Adab
(feines Benehmen und praktische Philosophie) ist dann ausgiebig gepflegt
worden. Bücher wie Nagireddins aus Tüs „Na9irische Manieren" {Achlcuj-i
Nägiri) vom Jahre 633/1236 — nicht nach dem Verfasser, sondern nach
dessen Gönner Na9ireddin 'Abderrachmän, einem Provinzgouverneur, be-
nannt — , Wä'iz Käschifis (900/1494) „Muchsinische Manieren" [Achläq-i
Muchsini) und Dawänis (f 908/1502) „Dschelalische Manieren" [Achläq-i
Dscheläli) haben eine ewige Berühmtheit gewonnen und immer neue Nach-
ahmungen hervorgerufen.
UnerschöpfUch bis auf den heutigen Tag ist auch die Produktions- Geschichte,
kraft der Perser in historischen Werken gewesen. In der ältesten Zeit
war der Stil einfach, aber schon bald nahm der rhetorische Floskelkram
überhand. Die arabisch schreibenden Perser 'Utbi und Tha'älibi unter
Sultan Machmüd von Ghazna haben in dieser Beziehung einen ersten
nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Doch ist auch später noch manches durch
Schlichtheit der Sprache erfreuliche Geschichtswerk verfaßt worden, wenn-
schon die gezierte Prosa, besonders seit Wa99äf, bei weitem das Über-
gewicht gewann. Schheßlich entartete diese völlig. Ein Schlachtbericht
des Geschichtschreibers Nadir Schahs, des Mirzä Muhammed Mechdt
Chan, der als der größte Stilist des 1 8. persischen Jahrhunderts bewundert
ward, gleicht einem der phrasengedrechselten „Meisterwerke" der Brief-
stellerei, die mit vielen Worten wenig sagen. In Indien bildete Kaiser
Akbars Premierminister Abul Fazl eine eigene, stark manierierte Schreib-
weise aus. Es ist das Verdienst Schah Nä9ireddins (f 1896) gewesen, hier
reformierend eingegriffen zu haben. Er schrieb seine Reisetagebücher
(über Reisen in Persien und Europa) in der schlichten, nüchternen Sprech-
weise des täglichen Lebens, und sein Beispiel hat Nachahmung gefunden,
wenn auch die Schriftsteller nach ihm nicht so völlig kunstlos wie der
Herrscher schreiben.
Als Standard works der persischen Historie gelten u. a. : Wa99äfs
(Anfang des 14. Jahrhunderts) „Einteilung der Länderbezirke und Vor-
führung der Zeitläufte" {Tedschzijef el-emgär we tezdschijet el-a'gär), eine
Fortführung von Dschuweinis (f 682/1283) Mongolengeschichte; Reschid
Tebibs (f 7 18/13 18) „Sammlung der Geschichten" [Dschämi' eifewärich),
das durch Quatremeres Bearbeitung der Epoche Hulagu Chans bekannt
geworden ist; Qazwinis (730/1330) „Auserlesene Geschichte" [Tärich-i
guzide)', Mirchwänds (Mirchonds; -]- 903/1498) siebenbändiger „Garten
der Lauterkeit" [Raudhei eggefa), eine Universalgeschichte seit Erschaffung
der Welt, wie sie im Orient sehr beliebt sind — die große Wert-
schätzung dieses Werkes hat eine Fortführung um drei Bände bis auf die
Gegenwart veranlaßt; Scherefeddins Kurdengeschichte, das Scher efnäme
(1005/1597); Muhammed Mechdis (1161/1748) „Geschichte Nädirschähs"
{Tärich-i Nädiri). Doch kann diese kurze Auswahl die Fülle des vor-
handenen Stoffes natürlich nicht im entferntesten erschöpfen. Eine große
202
Paul Hörn: Die neupersische Literatur.
Memoiren.
Geographie.
Theologie.
Verbreitung- haben bisweilen knappe Kompendien, wie Jachjä Qazwinis
(948/1541) „Mark der Geschichten" {Lubb cttewärich), gefunden, die an sich
keinen selbständig"en Wert besitzen.
Nur schwach ist die MemoirenHteratur vertreten, doch gibt es auf
diesem Gebiete einige geradezu hervorragende Werke. Vor allem Bäbers,
des Eroberers Indiens, „Erlebnisse" ( IVägi'äf), die schon zu Lebzeiten des
Verfassers (f 936/1530) sowie dann später noch mehreremal aus dem ost-
türkischen Original in das Persische übersetzt worden sind. Zu ihnen ge-
sellt sich als gleichwertig seines Vetters Muhammed Heider Tärich-i
Reschidi. Auch Emir Timurs „Verordnungen" {Tuzickät) und „Annalen"
{Melfüzäf) können echt sein, der letzteren Inhalt ist allerdings dürftig.
Den großzügigen Werken Bäbers und Prinz Heiders stehen die Memoiren
Schah Tachmäsps 1.(1515 — 1576) weit nach; doch ist es reizvoll, auch ein-
mal einen kleineren Geist vom Throne herab sprechen zu hören.
Reisebeschreibungen, wie sie in der arabischen Literatur so hervor-
ragend vertreten sind, finden sich in der persischen nur selten. Nä^ir-i
Chosraus (7 481/1088) Sefernäme („Reisebuch") ist das wertvollste Erzeug-
nis dieser Schriftgattung, die dann wieder in neuerer Zeit durch die „Tage-
bücher" des Schahs Näcireddin vertreten ist. In der beschreibenden Erd-
künde hat ebenfalls die Neuzeit das beste Werk hervorgebracht: Muhammed
Hassan Chans vierbändigen „Spiegel der Städte" [Mirät el-buldän), der
auch zugleich viel wertvolles, historisches Material enthält. Die Anord-
nimg des leider unvollendet gebliebenen Werkes ist wie in Jäqüts be-
rühmter Kosmographie alphabetisch. Aus älterer Zeit sind auf dem Ge-
biete der Erdbeschreibung Zakarijä Qazwinis (-j- 682/1283) „Wunder der
Schöpfung" ^Edscliaib cl-//iachlügät) in persischer Übersetzung an Ansehen
nur von Hamdalläh Mustaufis, ebenfalls aus Qazwin (740/1339), „Erfreuung
der Herzen" {Xuzhet el-qiilüb) erreicht worden.
In der rein fachwissenschaftlichen Literatur der Perser begegnen wir
auf allen Gebieten berühmten Namen; ob diese Literatur sich aber mit
der der Araber messen kann, steht sehr zu bezweifeln. Jedenfalls ist sie
von Europäern bisher nur wenig durchforscht worden. Die Theologie hat
ihre Tätigkeit den sämtlichen Zweigen ihrer Disziplin zugewandt. Nach
den bereits oben genannten alten Koränkommentaren haben in der Exe-
gese Wä'iz Käschifis (f 910/1504) Arbeiten den meisten Anklang gefunden.
Am wertvollsten sind jedoch auf theologischem Gebiete die Leistungen
des Cüfismus. Neben dessen dichterischer Behandlung hat schon früh-
zeitig die gelehrte eingesetzt, beide gehen vielfach sich ergänzend neben-
einander her. So findet man neben 'Attärs poetischer Pilgerfahrt der
Seele in den „Vögelgesprächen" dasselbe Thema wissenschaftlich erörtert
in Nedschmeddin Däjes (620/1223) »Weg der Gottesknechte aus diesem
Leben zum zukünftigen" {Mirgäd al-ibäd mm al-mabdi ila-l-tnaäd) u. dgl. m.
Aus Abu Sa'id ibn Abu'l Cheirs (j 440/1049), des berühmtesten alten
Mystikerpoeten, Zeit oder doch bald nach seinem Tode stammt Abu'l
VI. Die Prosa.
263
Hassan Alts aus Ghazna (f 466/1073) ältestes Kompendium des (^üfismus
„Die Offenbarung des Verhüllten" [Kesch/ el-mahdschüb), und nur wenig
später verfaßte Scheich Muhammed Ghazäli (f 505/11 11) seine Kiniijä-ji
sdädet („Alchemie der Glückseligkeit"), die außerordentlich populär ge-
worden ist. Ghazäli hat zwar seine Hauptwerke in arabischer Sprache
geschrieben, doch tauchen bei näherem Nachforschen noch manche per-
sische Schriften von ihm auf; so sein „Rat der Fürsten" {Negihei el-mulük
— häufig- in Stambuler Moscheenbibliotheken neben dem arabischen Ori-
ginale) und sein bekanntes Ferzendnätfie („O Kind"). Auch der große
Fachreddin Räzi (f 606/1209) hat eine Reihe persischer Werke hinterlassen.
Als dichtender wie gelehrter Mystiker gleich hoch gefeiert ist Dschämi. Mystik.
Über 20 prosaische 9Üfische Abhandlungen sind von ihm erhalten. Unter
den bald kürzeren bald läng^eren Kommentaren zu eigenen oder fremden
mystischen Versen, Gedichten, Prosatraktaten verdienen besonders die
knappen „Lichtblitze" [LcwaiK) über einzelne Fragen aus dem Gebiete
des (^üfismus eine Erwähnung. Die berühmteste Prosaschrift Dschämts
sind aber seine „Atemzüge der Freundschaft" {Nefehät el-uns) mit Mit-
teilungen aus dem Leben von über 600 hervorragenden Mystikern. Schon
andere waren ihm hierin vorangegangen, darunter auch ein Dichter, näm-
lich Ferideddin 'Attär, dessen „Heiligenalbum" {Tcdhkiret el-aulijä) aber
nur 97 BiogTaphieen enthalten hatte. Neben solchen allgemeinen Wer-
ken ist auch die Zahl der den einzelnen Sekten und Derwischorden,
ihren Häuptern und Lehrern gewidmeten Schriften eine sehr beträcht-
liche. Schon Abu Sa'id ibn Abul Cheirs Leben ist darunter; ein Ur-
großenkel von ihm hat es als „Die Geheimnisse der Vereinigung mit
Gott auf den einzelnen Stufen des Heilwegs Abu Sa'ids" (Esrär et-
tauhid fi meqämät Abu, Said) beschrieben. Der in Europa sehr bekannt
gewordene Dcbistän-i medhähib („Die Schule der Sekten") verdient die Be-
deutung nicht, die ihm anfänglich beigelegt worden ist. Die neueste
Sektenbildung in Persien, der Babismus, besitzt ebenfalls seine Literatur.
Sein Stifter, der Bäb, hat selbst eine ganze Anzahl Schriften verfaßt, deren
Stil vom persischen Standpunkte aus allerdings nicht erfreulich ist.
Eng verbunden mit der Theologie ist im Islam die Jurisprudenz, deren jurisprudeoz.
verschiedene Rechtsschulen auch bei den Persern zu Worte kommen.
Im Orient ist von jeher das Streben nach Universalwissen stark ver- Enzykiopädieen.
breitet gewesen. Ibn Sinä und Räzi zählen in Persien zu den hervor-
ragendsten Polyhistoren. Avicennas „Weisheitsbuch des 'Alä- eddin"
{Dänischnäme-i 'Alä-eddin), das er einem im Jahre 433/1042 gestorbenen
isfahanischen Fürsten zu Ehren benannt hat, behandelt ausführlich die
profanen Wissenschaften (Philosophie, Mathematik, Musik nebst allen
Unterabteilungen) außer der Medizin. Räzis allumfassende Enzyklopädie
„Die Lichtgärten über die Wahrheiten der Geheimnisse" {Hedaiq el-enwär
fi heqaiq el-esrär) teilt den Gesamtstoff in 60 „Wissenschaften", auf welche
der Gelehrte zwei frühere Bearbeitungen seines Werkes mit nur 40 resp.
-64
Pavl Hörn : Die neupersische Literatur.
Medizin.
57 erweitert hatte. Darunter sind natürlich auch Theologie und Recht,
Stilistik usw., Medizin. 120 wurden es dann bei Muhammed ihn Machmüd
aus Amul, dessen zwischen 735/1335 und 742/1342 verfaßte „Kostbarkeiten
der Wissenschaftszweige" {Ne/ä'is el-ftmün) alles nur in gedrängtester
Kürze streifen.
Selbstverständlich haben neben solchen großen Kompendien a,uch die
einzelnen Profanwissenschaften ausführliche Sonderdarstellungen gefunden.
Am wichtigsten sind darunter die medizinischen Lehrbücher, wennschon
bei ihnen von Originalität wohl am wenigsten die Rede sein kann. Der
berühmte, umfangreiche „Schatz des Chwarezmschähs" {Dhechire-i Chivä-
rczmschähi) von Abu Ibrahim Isma'il Dschurdschäni (ca. 504/11 10) ist z.B.
nur eine Übertrag'ung von Avicennas Kanon, was sein Verfasser ver-
schweigt, während die Zusammensteller anderer Kompendien ihre Unselb-
ständigkeit meist offen eingestehen. Häufig- sind es kürzere, populärere
Werke, welche die größte Verbreitung gefunden haben. So in der Astro-
nomie verschiedene Schriften Nacireddin Tüsis (7 672/1273) und die astro-
nomischen Tafeln Ulugh Begs (j 853/1449).
Jungperser. VII. S chlußb c tr achtuug. Wir haben oben einmal kurz von Jung-
persem gesprochen. In Iran sind solche allerdings kaum zu finden —
wenn man nicht die Bäbis so ansprechen will. Der Perser in Persien
weiß nicht, unter welcher Mißwirtschaft er lebt, er denkt, es müsse so sein.
Was geht's mich an? {pi-men ce) — d. h, „Ich kann es ja doch nicht ändern"
— ist die ständige Redensart, mit der er jedes Eingehen auf heikle Fragen
abweist. Aber die Perser im Auslande empfinden unter den sie um-
gebenden anderen Verhältnissen, wie vieles anders sein könnte. Uns gehen
hier von allen Reformbestrebungen nur solche an, die etwa auf eine Neu-
belebung der Literatur hinzielen, und da ist neuerdings eine beachtens-
werte, wenn auch ganz vereinzelte Stimme laut geworden. Ein in Kairo
aufgewachsener Perser, der sich Ibrahim Beg nennt, dessen nach Äg}^pten
ausgewanderter Vater eine herzliche Anhänglichkeit an sein Vaterland bei-
behalten und auf seinen Sohn vererbt hatte, hat dieses besucht und seiner
bitteren Enttäuschung über die Zustände in der geliebten Heimat Aus-
druck geliehen. Er sagt einem Dichter, der ein zierliches Gedicht auf
einen Vornehmen verfaßt hat, offen ins Gesicht, diese Art und Weise zu
dichten sei veraltet. Für solche „Lügenworte" gäbe man nirgends in der
Welt mehr einen Heller außer in Persien. Taillen so dünn wie ein Haar
gäbe es nicht mehr; der Bogen der Augenbrauen sei zerbrochen, die Ga-
zellenaugen seien von der Angst vor ihm befreit. Anstatt der Schönheits-
pflästerchen müsse man über das Mineral der Kohle sprechen, statt der
Statur wie eine Zypresse oder Buchsbaum solle der Dichter von den
Nußbäumen und Pinien der Wälder Mäzenderäns reden. Die Silberbusigen
solle er in Ruhe lassen und dafür Silber und Erzminen umarmen; den
Teppich der Schwelgerei zusammenrollen und statt dessen die Werkstatt
VII. Schlußbetrachtung. 265
der heimischen Teppichweberei auftun. Heute handele es sich um den
Augenbhck, wo man den Pfiff der Eisenbahn vernehmen werde (in Persien),
und nicht um den Gesang der Nachtigallen im Rosengarten. Den sinn-
betörenden Wein solle man dem schamlosen Schenken überlassen (als
strenger Muslim gestattet der Reformer keinen Weingenuß) und dafür den
Opiumhandel der Heimat heben. Die Geschichte von der Kerze und dem
Falter sei veraltet, von der Gründung von Fabriken für Kampferkerzen
solle man dichten. Das Gerede von süßen Lippen möge den Liebeskranken
bleiben, der Dichter solle ein Lied von der Zuckerrübe, die den Zucker
liefere, anheben.
Unser Jungperser schüttet, wie so häufig radikale Reformer, das Kind
mit dem Bade aus. Er ist von europäischen Anschauungen beeinflußt, die
er noch nicht genügend verarbeitet hat. Denn merkwürdigerweise ist er
zugleich ein begeisterter Bewunderer des Stils Mirzä Muhammed Mechdi
Chans, eines der größten Phrasenhelden aller Zeiten und Völker. Seine
Vorliebe für diesen Schriftsteller ist allerdings wohl erst durch den Stoff,
den er behandelt, hervorgerufen. Sein Held Nadir Schah gilt Ibrahim
Beg als einer der größten Herrscher aller Zeiten, was ihm als Perser ja
nicht zu verdenken ist. Aber der Kern von Ibrahim Begs Forderungen:
Umkehr zum Natürlichen ist berechtigt. Allerdings wird in Persien eine
derartige „Moderne" noch gute Weile haben.
Daß man übrigens orientalische Literaturwerke nicht ausschließlich
mit europäischen Augen ansehen darf, sollte eigentlich selbstverständ-
lich sein. Aber doch fehlen westliche Kritiker oft genug in diesem
Punkte, Häfizs Gedichte sind von einem echten Perser für Perser ge-
schrieben worden, wer sie nicht unter diesem Gesichtswinkel betrachten
kann, kann ihnen nicht gerecht werden und ihre hohe Vollendung nicht
würdigen.
Eine große Anzahl von Werken der neupersischen Literatur ist in ^""g"^*^^^^^;
europäische Sprachen übersetzt worden, trotzdem haben weitere Kreise Sprachen.
aber nur von verhältnismäßig wenigen Namen (Firdausi, Sa'di, Häfiz, Omar
Chajjäm) Kenntnis genommen. Einen wirklichen Einfluß auf die Literatur
hat Persien in Deutschland ausgeübt, England und Frankreich haben keine
ähnliche Befruchtung wie dieses aus dem Orient erfahren. Eine Aus-
nahme macht in England und den Vereinigten Staaten Omar Chajjäm, der
dort Mode geworden ist. In England hat Fitzgeralds „Übersetzung" in
den letzten drei Monaten des Jahres 1903 allein zwanzig neue Ausgaben
erfahren, außerdem ist sie auch in das Französische (von F, Henri) über-
tragen worden. Diese Erfolge haben Orientalisten veranlaßt, prosaische
Übersetzungen anderer Vierzeilerdichter zu verfassen, die dann von dritter
Hand poetische Fassung erhalten haben. So des alten Bäbä Tähir 'Urjäns
(7 10 19 n. Chr.) KlageUeder: E. Heron- Allen und Eliz. C. Brenton (London
1902) und 100 Rubä'is Kamäleddins aus Isfahän (f 1237): Louis H. Gray
und Ethel Watts Mumford (New York 1904). Wie diejenigen Chajjäms
266 Paul Hörn: Die neupersische Literatur.
machen auch die Vierzeiler dieser Dichter häufig einen frappant modernen
Eindruck und werden gewiß ihren Leserkreis finden.
Überhaupt der erste erfolgTeiche Übersetzer eines neupersischen Wer-
kes ist ein Deutscher gewesen: Olearius' „Persisches Rosenthal ^' (1654)
erregte allgemeines Aufsehen, was einige ihm vorangegangene ähnliche
Leistvmgen nicht vermocht hatten. Auffälligerweise hat ein so vortreff-
licher Kenner Persiens und seiner Sprache wie Pietro della Valle, der
8 Jahre lang im Lande gelebt hat, in seiner höchst wertvollen Reise-
schilderung nichts von der Literatur zu berichten gewußt. Er hat nur je
eine kurze Bemerkung über Sa'di und Häfiz, an deren beider Gräbern
er italienische Verse gedichtet hat. Der g^e waltige Impuls, den dann die
orientalischen Studien durch Sir William Jones zu Ausgang des 18, Jahr-
hunderts in Europa erfuhren, gewann einen wichtigen Einfluß auf die
abendländischen Literaturen. In Deutschland wirkten auf dem derart vor-
bereiteten Boden v. Hammers Arbeiten außerordentlich fruchtbar. Es
war hier Herder, der die „west-östliche" Richtung zuerst in die Literatur
hineinleitete, die dann Goethe zum Siege führte. Die persizierenden
Dichter Graf Platen, Rückert, Bodenstedt nebst zahllosen kleineren und
kleinsten hafizischen Sängern bauten die neue Weise schließlich bis zum
Überdruß aus, so daß selbst ein um die Einführung persischer Poesie so
hochverdienter Mann wie der Graf Schack energisch dagegen auftrat.
Daneben haben Gelehrte wie Rosen (Dscheläleddin Rümis Mäthnäwi),
Graf (Vis und Rämin, Sa'di), Wickerhauser (Dschämi), von Rosenzweig-
Schwannau (Häfiz, Dschämi), von Schlechta-Wssehrd (Plrdausis „Jüsuf und
Zuleichä", Sa'di) u. a. durch wirklich geschmackvolle, poetische Verdeut-
schungen das Interesse, gebildeter Kreise wachgehalten und weiter ge-
nährt
Literatur.
Der vorstehende Artikel ist, von einzelnen Nachträgen abgesehen, verfaßt im August 1904.
Zur neupersischen Literatur sei im allgemeinen verwiesen auf Pizzi, Storia della poesia
persiana (Torino, 1894); Eth^, Neupersische Literatur im Grundriß der iranischen Philo-
logie, herausgegeben von Geiger und Kuhn, Band II, S. 212 — 368 (Straßburg, 1896 — 1904);
HORN, Geschichte der persischen Literatur (Leipzig, 1901); Browne, A literary History of
Persia (London, 1902 [bisher i Band]).
Leider fehlt es im Neupersischen noch allenthalben an Vorarbeiten, die in anderen
Philologieen ganz selbstverständlich sind. Wir besitzen z. B. noch nicht einmal Sammlungen
über die Bilder bei den hervorragendsten Dichtern, um die Originalität der Einzelnen in oft
wichtigen Fällen feststellen zu können. Eine Untersuchung wie die G. Jacobs, ,,Das Wein-
haus nebst Zubehör nach den fazelen des Häfiz" in der Nöldekefestschrift S. 1055 fg. ist
geradezu ein Unikum.
Zu S. 248. Mas'üdi's drei Verse finden sich bei Mutahhar ihn Tähir al - Maqdisi
(HuART, Le livre de la creation, Tome III, S. 143, 176 bezw. 138, 173 [Paris, 1903]). Einer
Qagide können sie natürlich nicht angehört haben, sondern nur einem Mäthnäwi. Der erste
Vers wird ursprünglich noch Hezedsch gewesen sein (mit der Aussprache Gewemarth). —
Ein sonst unbekanntes Prosaschähnäme eines Mu'aijidi erwähnt Ibn Isfendijär (Browne,
Gibb Memorial Series II, S. 18).
Zu S. 250. Omar Chajjäm : Vgl. zuletzt Christensen, Omar Khajjäms Rubäiyät
(Koebenhavn, 1903; französisch Heidelberg, 1905) und dazu Hartmanns Anzeige in der
Wiener Zeitschr. f. d. Kunde d. Morgenlands, Band XVII, S. 366 ff.
Zu S. 253. Eine bisher ganz unbekannte weitere Bearbeitung des Wämiq und 'Azrä-
stoffes hat ein Dichter ^ulhi geliefert, der unter Akbars Regierung aus seiner Geburtsstadt
Herät nach Indien kam. Er jhat sein Gedicht dem Kaiser gewidmet. Eine Handschrift
(vielleicht ein Unikum) davon ist im Besitze des Herrn A. G. Ellis vom British Museum.
Zu S. 254. Dschämis Jüsuf und Zuleicha, übersetzt von ViNCENZ VON Rosenzweig-
ScHWANNAU (Wien» 1824); desselben Dichters Medschnun und Leila in deutscher Nach-
bildung von A. Fr. Graf VON Schack (Stuttgart, 1890).
Zu S. 256. Zu Goethes Westöstlichem Divan vgl. man jetzt noch Burdachs Aufsatz
in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie der Wissenschaften 1904, S. 858 fg. : ,,Die
älteste Gestalt des West-östlichen Divans".
Zu S. 257. Den Divan Sultan Selims I. hat Kaiser Wilhelm II. zum Geschenk für
Sultan Abdul Hamid II. nach einer Textesrezension P. HORNs in der Reichsdruckerei als
Prachtwerk drucken lassen (s. Zeitschr. d. deutsch, morg. Ges. Band 60, S. 97 fg.).
Zu S. 258. Proben volkstümlicher Poesie findet man bei Chodzko, Specimens of the
populär Poetry of Persia (London, 1842); DORN, Die Gedichtsammlung des Emir-i-Pasewary
(St. Petersburg, 1866), sowie bei Shukowski, Anthologie persischer Volksdichtung (russisch
St. Petersburg, 1902). Gelegentlich dieser russischen Publikation kann ich nicht umhin,
eine Klage zu erheben. Es wird in Rußland viel Wichtiges in orientalibus veröffentlicht,
leider so häufig in russischer Sprache. Dabei beherrschen die russischen Gelehrten durch-
gängig das Französische oder Deutsche, so daß sie in einer von diesen beiden Sprachen
2 58 Paul Hörn: Die neupersisclie Literatur.
schreiben könnten — und so haben sie es bis vor einigen Jahren auch immer gehalten.
Wenn sie mit dieser löbhchen Gepflogenheit jetzt mehr und mehr brechen, so können sie
sich nicht wundern, wenn ihre Arbeiten vielfach ignoriert werden. Ich persönlich würde
manches gerne lesen, aber es kostet mich immer so unverhältnismäßig viel Zeit, einen
russischen Text zu bewältigen, daß ich sie beim besten Willen nicht mehr zu erübrigen
vermag. In Shukowskis Sammlung neupersischer Volkslieder sind allerdings die Texte
selbst in Originaltypen gedruckt, aber alle Mitteilungen über ihre Herkunft sowie ihre
Übersetzung sind russisch, mir daher leider unzugänglich geblieben.
Zu S. 264/5. Zustände im heutigen Persien, wie sie das Reisebuch Ibrahim Begs ent-
hüllt. Aus dem Persischen übersetzt und bearbeitet von Dr. Walter Schulz (Leipzig, 1903).
Zu S. 266. Zu Persiens Einfluß auf die deutsche Literatur vgl. Remy, The Influence
of India and Persia on the Poetry of Germany, Columbia University Germanic Studies, Vol. I
No. IV (New-York, 1901).
DIE TÜRKISCHE LITERATUR,
Von
Paul Hörn.
Einleitung. Schon frühzeitig hat in der Geschichte des Islams das
Türkentum eine Rolle gespielt. Eine ganze Reihe Mamlüken oder Ghu-
läme, ehemalige Sklaven, haben bereits unter den Abbasiden entscheidend
in die Geschicke des Chalifats eingegriffen. Solchen einzelnen tatkräftigen
Persönlichkeiten folgten ganze Stämme. Unter Machmüd von Ghazna
{1005 — 1030 n. Chr.) und unter den Seldschuqen gehörte „die Welt",
wenigstens nach dem Sprachgebrauche der damaligen Zeit, den Türken.
Die Kultur dieser Reiche blieb indessen die persische, es war somit nur
natürlich, daß auch ihre Kunstliteratur durchaus persisch ward. Das ging
sogar so weit, daß man nicht einmal türkisch schrieb, sondern sich in lite-
rarischen Werken durchgängig- der persischen Sprache bediente.
Von den Seldschuqen in Kleinasien übernahmen die Osmanen ihre
Bildung. Dieses energische Volk bäumte sich indes gegen die per-
sische Bevormundung auf. Allerdings — wenigstens in der Literatur —
nur mehr äußerlich, nicht im eigentlichen Kerne. Das osmanische Selbst-
gefühl sträubte sich, in der Sprache Fremder zu schreiben, die man als
Menschen gering achtete, deren politische Schwäche zu durchschauen man
zahlreiche Gelegenheiten hatte und die man dann auch schließlich besiegte.
Eine eigene Literatur konnten die Osmanen allerdings nicht schaffen, dazu
fehlte es ihnen zu sehr an Bildung; so übertrugen sie die persische Weise
in ihre Sprache, und entwanden sich damit wenigstens in einem gewissen
Grade der fremden Fessel. Charakteristisch für das starre Türkentum ist
übrigens immer eine Abneigung gegen alles Persische geblieben. Nach
biederer alttürkischer Anschauung geht einem, der Persisch lernt, auch
noch heutzutage „die Hälfte des Glaubens" verloren.
Auch im Osten kam später eine gleiche Emanzipation zum Durch-
bruch. Das älteste uns erhaltene türkische Sprachdenkmal, das im Jahre
io6g verfaßte Kudatku Bilik des Jüsuf Chac Hädschib, kann uigurisch
nur wegen seiner Schrift genannt werden, in Wahrheit ist es ebenfalls
„tschaghataisch" oder osttürkisch, wie die dann erst nach vier Jahrhunderten
Osmaaen.
„Tschagha-
taisch".
270
Paul Hörn: Die türkische Literatur.
Perser.
\vieder einsetzenden anderen „tschaghataischen" Literaturwerke. In Herät
dichtete mitten im persischen Kulturkreise Sultan Hussen ibn Beqaras
hochbedeutender Vezier Mir 'Ali Scher (f 1500), der Mäzen Dschämis
und zahlreicher anderer persischer Dichter, mit zielbewußter Absicht ost-
türkisch und verfaßte seine BiogTaphieen zeitg^enössischer Poeten {Mejälis
en-7iefais) in dem gleichen Idiom, in dem auch Prinz Muhammed ^älich
die Taten seines Dienstherrn Schebäni Chan, allerdings in weniger ele-
g'anten Versen als der feinsinnige Vezier, feierte (sein „Buch von Sche-
bäni" behandelt speziell die Ereignisse der Jahre 1499 — 1506). Sultan
Baber (7 1530), der Eroberer Indiens, schrieb eine wertvolle Selbstbio-
graphie gleichfalls in tschaghataischer Sprache, und noch über ein Jahr-
hundert später fällt Abul Ghäzis {f 1664) „Türkenstammbaum", eine Ge-
schichte der Mongolen und Tataren. Noch im Anfange des 19. Jahrhun-
derts blühte in Buchara tschaghataische Kunstpoesie, wie Namen wie 'Omar
Chan und Munis zeigen. Doch ist die literarische Tätigkeit des türkischen
Ostens hinter der des Westens weit zurückgeblieben.
Türken und Es ist eine eigenartig'e Fügomg des Geschicks g'ewesen, daß zwei in
Charakter und Empfinden so grundverschiedene Völkerstämme wie Perser
und Türken in engste Beziehungen zueinander haben treten müssen. Der
solide, schwerfällige Türke und der leichtsinnige, beweg^liche, wetter-
wendische Perser mußten sich eigentlich im Grunde abstoßen. Aber einer
bedurfte des andern. Die Perser konnten die türkischen Soldaten nicht
entbehren: Wo Persien in der islamitischen Zeit militärische Erfolge er-
rungen hat, ist dies hauptsächlich stets nur türkischen oder kurdischen
Söldnertruppen zu verdanken gewesen. Die Dynastie der Sefewiden hat
sich nur mit Hilfe sieben türkischer Stämme erheben und behaupten
können, deren einem auch die gegenwärtig herrschende Dynastie der
Qadscharen entstammt. Und Nadir Schah, der Befreier von dem Afghanen-
joche, ist ebenfalls türkischen Blutes gewesen. Noch heute besteht der
Kern des Heeres des Schahs aus Angehörigen nordpersischer Turkstämme.
So oft aber auch Türken die Herrschaft in Iran an sich gerissen haben,
dem Persertum blieb doch stets die geistige Führung.
Dies war nun auch im osmanischen Reiche der Fall. Die spärlichen
Anfänge eigener literarischer Bestrebungen, welche die Osmanen aus ihrer
zentralasiatischen Heimat nach Kleinasien mitgebracht hatten, wurden
alsbald nach persischem Muster gemodelt, so daß alles etwaige Originelle
vollständig übertüncht ward. Die Sprache der Literatur — und zu ihr
rechnete man allein die Kunstschriftstellerei, nicht die volkstümlichen Dich-
tungen, die von den „Gebildeten'' verachtet wurden — war zwar türkisch,
ihr Inhalt und ihre Form aber durchaus persisch. Das trat besonders
auffällig in der Poesie hervor. Hier betrieb man die persische Nach-
ahmung so sklavisch, daß zahlreiche türkische Dichter nichts zu sagen
gewagt haben, wofür sie nicht im Persischen ein Vorbild fanden — wie
wir als Trimaner unsere lateinischen Aufsätze aus zusammengelesenen
I, Die ältere türkische Literatur.
71
Cicerophrasen zusammenstoppelten. Nachdem man sich einmal die per-
sische Mode zum Vorbilde erkoren hatte, blieb man ihr eben treu, wenn
sie auch der eigenen Natur innerlich urzuwider war. Die Biederkeit und
Loyalität des türkischen Charakters ließ es nicht zu, daß man das einmal
Erwählte, das imponiert hatte, wieder beiseite warf. Das ist jahrhun-
dertelang so geblieben, bis erst in neuerer Zeit eine Wandlung eintrat,
die zur Schaffung einer Moderne in der Literatur, diesmal nach europäischem
Vorbilde, geführt hat.
Eines darf man übrigens bei der türkischen Nachahmung nicht außer
acht lassen, weil es ihre Produkte bis zu einem gewissen Grade auch für
Nichttürken annehmbar macht : In der wohllautenden osmanischen Sprache
klingen die aus der Fremde entlehnten Trivialitäten wunderschön, ja nicht
selten schöner als im persischen Original.
L Die ältere türkische Literatur. Solange die Vorherrschaft Die Anfänge,
der Dynastie Osmans über die übrigen westtürkischen Stämme noch nicht
begründet war, dichteten die einzelnen Poeten jeder in seinem Sonder-
dialekte. Aus dem Jahre 1301 n. Chr. haben wir so das Rebäbnävic („Buch
der Laute") in seldschuqischer Sprache von Sultan Weled, dem Sohne des
großen persischen Mystikers Dscheläleddin Rümi. Der Vater Rümi hat
den größten Teil seines Lebens in Konia, also mitten unter Türken ver-
bracht; seine dichterischen Werke hat er indes sämtlich in persischer
Sprache abgefaßt. Aber indirekt hat er einen außerordentlichen Einfluß
auf die Entwicklung der westtürkischen Poesie ausg'eübt: die ältesten
Dichter stehen hier alle unter seinem Banne.
Das Rebäbnäme sucht bereits die ursprüngliche, volkstümliche, tür-
kische Metrik des „Fingerzählens" {panuaq hisaby)., d. h. des Prinzips, die
Silben zu zählen, nicht sie zu wägen, unter die persische zu beugen. Selb-
ständiger hielt sich dagegen in diesem Punkte Jünus Emre (f 1307/8), dessen
Verse alttürkischen Charakter zeigen.
Der erste namhafte Kunstdichter war dann 'Aschyq Pascha (f 1332),
der in seinem Gharibnäme („Buch der Fremden") ein ausführliches System
des (^üfismus aufstellte.
Erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts setzt die Kunstlyrik in größerem
Umfange ein. Eine eigenartige Mischung von Nationalem und Fremdem
finden wir in den Poesieen Qäzi Burhäneddins, eines feingebildeten kleinen
Gewalthabers in Erzindschän, der 1398 den Turkmenen vom weißen
Hammel erlag. Dieser Westtürke vereinigte zentralasiatischen mit persi-
schem Stil, seine westtürkische Sprache ist in auffälliger Weise von Worten
und Formen des urheimatlichen Ostens durchsetzt. Das hauptsächliche
Thema seiner Lieder ist die Liebe, nur in ganz verblaßten Farben leuchtet •
gelegentlich auch die Mystik hindurch.
Alle die genannten Dichter waren noch keine Osmanen de pur sang
gewesen. Den Dialekt des in Kleinasien mehr und mehr zur Oberherr-
2^2 Paul Hörn: Die türkische Literatur.
Schaft gelangten Stammes Osmans führte in der Schattierung seiner Vater-
stadt Brussa Sülemän {j 1403) durch sein Lied auf die Geburt des Pro-
pheten {Jl/i-7ali(/-i ncbi) für alle Zeiten siegreich in die Literatur ein. Dieses
Prophetenlied ist überhaupt eine der populärsten Dichtungen der Türken
geworden, zahlreiche (über 20) Nachahmungen und Wiederholungen des
gleichen Themas haben ihm seine Beliebtheit nicht streitig machen können.
Xoch heute rühren seine ehrwürdigen Verse alljährlich während des Ge-
burtsmonats des Stifters des Islams die Gläubigen, denen sie bei Erinnerungs-
feiern an dieses Ereignis in Moscheen oder Privathäusern von eigenen
„Geburtssäng"ern" vorg'etrag"en werden.
Der schwere Schlag, den der junge osmanische Staat in der Schlacht
bei Angora (1404) durch Timur erlitt, vermochte die schnelle Weiterent-
wicklung der osmanischen Literatur nicht aufzuhalten. Die aufgeschossene
Saat ward kaum von dem über sie hinwegfegenden Sturme gebeugt.
Einmal war Timur selbst ein Begünstigter der Literatur — das gehörte zu
den Fürstenpflichten — und dann war sein Auftreten in Kleinasien so
vorübergehend, daß sich die gebrochene Macht des Hauses Osman bald
wieder erhob. Die persische Weise kam völlig zum Durchbruch, die
Zahl der sich ihrer bedienenden türkischen Dichter wuchs ganz auffällig
schnell.
Weitere Die persischc romantische Mäthnäwidichtung- ward unter Sultan
Entwicklung. ^ ^ . .
Müräd IL (142 1 — 145 1) durch Schechi eingebürgert, der Nizämis „Chosrau
und Schirin" ins Türkische übertrug. Entgegen seinem Vorbilde durch-
webte er die Erzählung mit frischen Gedichten in verschiedenen Vers-
maßen, eine Weise, die sich im persischen Osten nur bei Emir Chosrau
(t 1325) findet. Gleichzeitig machte sich auch wieder die Neigung zum
Mystizismus, welcher die türkischen Dichter überhaupt zuerst begeistert
hatte, schöpferisch geltend. Der Derwisch Nesimi (14 17/18) und dessen
Schüler Refi'i wurden zu Verherrlichern der Hurüfilehre, die sie zu einem
beg'eisterten Schönheitskult des Geliebten, in welchem sich die Gottheit
offenbare, ausbauten.
Dichtende Sultän Müräd IL afilt kritischen osmanischen Literarhistorikern als
Sultane. =' _
der erste aus der stattlichen Reihe der Großherren und Prinzen des kaiser-
lichen Hauses, die sich als Dichter versucht haben. Schon von dem Ahn-
herrn der Dynastie, Osman, sowie von seinem Sohne Orchan werden
Verse überliefert, ihre Echtheit erregt aber Bedenken, die für Ghazele
Bäjezids I. und Mehmeds I. vielleicht weniger schwer wiegen. Kein Wunder,
daß das Beispiel der Hohen und Allerhöchsten begeisternd wirkte. So
konnte v. Hammer in seinem vierbändigen Werke 2200 türkische Dichter
bis zum Ausgange des 1 8. Jahrhunderts aus schriftlichen Quellen zusammen-
bringen. Das Osmanische war die gemeinsame Literatursprache aller
Westtürken geworden.
Im Laufe der Zeit hatte sich die Lyrik, die anfänglich rein mystisch
gewesen war, in das Natürliche umgewandelt. Die Dichter besangen
I. Die ältere türldsche Literatur. 21 X
Natur, Liebe und Wein und meinten auch just das, was sie aussprachen. Jetzt
trat eine Verschmelzung beider Standpunkte ein: Rose und Nachtigall
bedeuteten nicht bloß die Blume und den Sing'vogel, deren Duft und Ge-
sang man so schätzte und liebte, sondern in ihnen symbolisierte man zu-
gleich menschliche Liebende und weiter seelische Empfindungen. Die
irdische Liebe und die mystische Sehnsucht der Seele zu Gott flössen in-
einander über. Das war aber keine Neuerfindung" des türkischen Geistes,
sondern auch nur wieder den Persern abgelauscht. Wie in Persien wird
von nun an die Poesie auch im osmanischen Reiche eine Macht, die in das
Leben der Gebildeten einschneidend eingreift. Der geniale Abenteurer
Prinz Dschem, der seinem Bruder Sultan Bäjezid IL den Thron streitig
machte, suchte auf diesen durch Verse Eindruck zu machen und erreichte
damit immerhin, daß der seine Ansprüche zunächst in der gleichen Form
zurückwies. So hatten der Herrscher von Chwärezm Sultan Schah und
sein Neffe Tekesch Chan in spitzen Versen miteinander geplänkelt, ehe
sie zu den Waffen griffen, und ähnliche Anekdoten finden sich zahlreich
überliefert. Oder die letzten Worte eines Sterbenden bestanden in Versen:
Der Dichter Nedschati schied derartig aus dem Leben, wie es in Persien
von Kemäl Isma'il, Nizäm el-Mulk, Sultan Sandschar, Ibn Jemin und vielen
anderen erzählt wird. Thäbit spottet einmal über die Herden der Dichter;
in Stambul liege unter jedem Pflastersteine des Fußsteigs einer begraben.
Sultan Soliman I. stiftete eigens das Amt eines „Schahnamemachers"
{Schehnä?nedschi), das sich allerdings nicht lange hielt, wie ja auch in
Persien die späteren „Firdausis ihrer Zeit" durchweg recht unbedeutend
gewesen sind.
Nur selten überstieg die Wertschätzung des Persischen die sonst streng
innegehaltenen Grenzen des Nationalstolzes. Sultan Mehmed IL, der Er-
oberer Konstantinopels, hat nicht nur Dschämi ein Jahresgehalt ausgesetzt,
sondern er begünstigte überhaupt persische Schöngeister derartig, daß ein
Türke aus Toqät, der lange in Persien gereist war und dessen Sprache
fließend sprach, sich als gebornen Perser ausgab und auf diese Weise zu-
nächst eine bessere Karriere machte, als wenn er sein Türkentum nicht
verleugnet hätte. Und Sultan Selim L, der dem Schah die schwere
Niederlage bei Tschaldirän beibrachte und seinen Geg'ner keineswegs
rücksichtsvoll behandelte, hat einen Divan von über 300 Gedichten in
persischer, nicht türkischer Sprache, hinterlassen. Dabei war Sultan Selim
unstreitig der begabteste aller der zahlreichen Dichtersultäne.
Etwas völlig Neues war übrigens die neue Weise auch auf türkischem
Boden nicht. Im Osten, in Herät, hatte sie schon Mir Alt Scher in das
Tschaghataische verpflanzt, der berühmte Vezier, welcher unter dem
Namen Newäji zahlreiche Dichtungen und Prosawerke hinterlassen hat.
Seine lyrischen Gedichte kamen noch zu seinen Lebzeiten nach Stambul
und wurden alsbald das Muster der osmanischen Poeten. Newäjis Vor-
bilder waren Dschämi und Häfiz gewesen; beide waren natürlich schon
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 18
2 7 1 Paitl Hörn: Die türlcische Literatur.
vor ihm nach der Türkei gedrungen, aber der Schüler verdrängte dort
bald, wenigstens für eine Zeitlang, die eigentlichen Meister. Achmed
Pascha (-j- 1496/97) verpflanzte zuerst den osttürkischen Kunststil in das
Osmanische; er leitete damit eine neue Epoche ein, die schließlich in
Bäqi ihren Höhepunkt erreichte. Der Grundsatz, nichts zu sagen, was
man nicht bei einem Perser belegen konnte, kam nun zur vollsten Blüte,
die weitere Entwicklung der persischen Poesie blieb in der Türkei für die
Dichtung maßgebend.
Achmed Paschas Ruhm ward bald durch Nedschäti (f 1509) ver-
dunkelt, der bis Bäqi als tonangebender Lyriker galt. Auch dichtende
Dichterinnen. Fraucn treten nun auf, doch sind die Schranken für sie enge gezogen.
Die Sprache der bedeutendsten von ihnen, Michris, fand ein Kritiker
zwar mädchenhaft, ihren Stil bezeichnete er indes als ausschweifend, da
sie, die unvermählt Gebliebene, doch von Liebe dichtete. Und einer
anderen, Zeneb, verbot ihr Gatte kurzweg das Versemachen. In der Türkei
ist denn auch die Zahl der Dichterinnen viel beschränkter geblieben als
in Persien, nur 7 nennt v. Hammer in seiner großen Sammlung. Eine von
diesen, Am, mußte sich geradezu gröblich hänseln lassen.
Das romantische Epos pflegten am erfolgreichsten Hamdi (f 1509)
und Lämi'i (7 1531), letzterer auch sonst ein höchst vielseitiger Schrift-
steller. Hamdis „Jüsuf und Zuleichä" — oder wie die Türken sprechen:
Zelichä — ist die beste unter vielen türkischen Bearbeitungen dieses be-
liebten Stoffes geblieben. Von Fuzüli (f 1562) stammt eine der berühm-
testen türkischen Münäzäräs (Wettstreitgedichte), nämlich zwischen „Wein
imd Opium*', die der Verfasser am Schluß vorsichtigerweise ins Mystische
imideutete. Die meisten Dichter der Epoche verdanken ihr Alles den
Persem; hätte Hamdi nicht Dschämi zum Vorbilde gehabt, so würde sein
berühmtes Gedicht ganz anders ausgefallen und kaum auf die Nachwelt
gekommen sein, wie es mit den ähnlichen Werken vieler seiner Zeit-
genossen gegangen ist. Doch haben gelegentlich einzelne selbständigere
Töne angeschlagen.
Die „Stadt- Hierher gehört vor allem Mesihis (-|- 1512) Schchirengiz („Stadt-
erreger"), ein Gedicht, dessen Stoff höchst charakteristisch für den Orient
ist. Die „Stadterreger" sind nämlich die Schönen der Stadt, aber nicht
et^va ihre hübschen Mädchen, sondern vielmehr junge Burschen. Mesihi
zählt 46 solcher Schönheiten des Bazars von Adrianopel auf und schildert
jeden kurz in zwei Doppelzeilen. Diese Idee war originell. Im Persischen
finden sich dergleichen Gedichte nicht; den Titel mag Mesihi aber aus
Häfiz entnommen haben, der in seinem achten Ghazele von den „die Stadt
in Aufruhr bringenden süßschmeichelnden Zigeunerbuben" spricht. Das
Thema hat bei Mesihis Landsleuten Anklang gefunden ; nach seinem Vor-
gange sind eine ganze Reihe lokaler „Stadterreger" für Stambul, Brussa,
Larissa usw. entstanden, unter denen, ganz vereinzelt, der des 'Azizi (f 1585)
schöne Mädchen besingt Auch Rewänis (-|- 1523/4) ' Ischretftäme („Bankett-
I. Die ältere türkische Literatur. 27^
buch") hat einen originellen Zug. Der Dichter schildert hier eingehend das
Zubehör eines fröhlichen Festes: Wein, Speisen, Musik, die Zechgenossen —
alles ohne mystischen und symbolischen Nebensinn. Jachjä, ein geborener
Albanese (-}- 1575/76), erklärte endlich ganz offen, er wolle kein Zucker-
werk toter Perser in seinen Mund nehmen und nicht übersetzen, sondern
nach seiner eigenen Weise schaffen. Doch war sein Wollen größer als
sein Können.
Aber dies waren nur Ausnahmen. Als Regel galt die Nachahmung Bäqi.
eines persischen Musters. Diese erreichte in der Lyrik ihren Höhepunkt
in Bäqi (f 1600). Sein Leben fiel noch zum Teil in die glänzende Re-
gierung Sultan Solimans des Großen (f 1566), der selbst als Dichter
(Mühibbi) Erfolge errang. Bäqis Größe beruht ebenfalls einzig und allein
auf seiner Nachahmung-sfähigkeit. Er ist der vollkommenste türkische
Häfiz, jedoch ohne jede Originalität. Ließe sich nicht fortwährend fest-
stellen, wo er jeden Gedanken her hat, so könnte man ihn wirklich be-
wundern; denn seine Beherrschung der Sprache und des ganzen poetischen
Apparats ist erstaunlich. Als Sprachmeister im allgemeinen ist er seinem
berühmten Vorbilde durchaus ebenbürtig, aber auch als Sprachreiniger
hat er für das Türkische hohe Verdienste, welche die des Dichters über-
ragen. Für den letzteren wäre es jedenfalls günstiger, wenn die Produk-
tion weniger massenhaft aufträte. Zwar wäre der Jahresdurchschnitt seines
Divans, wenn man ihn berechnen wollte, kein großer, aber über 500 Gha-
zele, sämtlich nach Schema Häfiz unmittelbar nebeneinander, wirken
ermüdend. Weniger wäre mehr gewesen. Übrigens ist es bei allen tür-
kischen Lyrikern nicht immer Häfiz direkt, den man kopiert, sondern man
ahmt ihn meist in Zwischengliedern nach, unter denen Emir Schähi
(f 1453) ßine besondere Rolle spielt. Neben den Ghazelen hat Bäqi
auch eine Anzahl Qa^iden hinterlassen, die inhaltlich wertvoller als
jene sind.
Wenn schon bei einem wirklichen Meister die tadellos eingelernte
Manier auf die Dauer ungenießbar werden kann, wieviel mehr muß dies
bei niederen Größen der Fall sein. Schwulst und Bombast überwiegen
schließlich und machen die Lektüre vieler Nachbeter einfach zu einer
Unmöglichkeit. Was türkische Beharrlichkeit leisten konnte, zeigt Fir-
dewsis „Buch von Salomo" {Sülemännäme), das 360 Bände umfaßte.
Sultan Bäjezid IL, der es bestellt hatte, soll verständigerweise gleich
280 oder 270 Stück davon haben verbrennen lassen, doch sind von den
verschonten 80 oder 90 immer noch 70 auf uns gekommen.
Gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts trat in dem dichterischen Ge-
schmack dadurch eine Änderung ein, daß die Werke 'Urfis (f 1591) und
Feizis (türkisch Fezt — f 1595), zweier berühmter Dichter an Akbars
Hofe in Delhi, über Persien nach Stambul gelangten. Die neue Richtung
fand ihren Hauptvertreter in Nef'i {f 1635), einem maßlosen Satiriker, den
man so ernst nahm, daß die Ulemäs ein Fetwä zu seiner Hinrichtung aus-
2 '7 6 Paul Hörn: Die türkische Literatur.
gaben. Echt türkisch war bei ihm die derbe und plumpe Roheit,
während sonst eine übertriebene Rhetorik in die Dichtung- hineinkam, die
den geringen Rest türkischen Fühlens und Empfindens, der sich etwa
noch hier und da versteckt gehalten hatte, völlig verscheuchte. Als My-
stiker der Epoche sei Nijäzi (-j- i6gg) genannt.
Im nächsten Jahrhundert gewann der Perser Schewket (türkische Aus-
sprache), der 1695/96 in Isfahän starb, den mächtigsten Einfluß in der
Türkei. Vielleicht hätte Mirzä (^äib (-|- 1677), der den Persern selbst als der
Erfinder eines ganz neuen lyrischen Stils galt, ein gTÖßeres Recht darauf
gehabt, zum türkischen Muster zu werden, als Schewket, aber Bücher und
Dichter haben bekanntlich ihre Schicksale. So ward letzterer bis in die
Mitte des 19, Jahrhunderts hinein das Ideal der Osmanen. Der gefeiertste
Xame dieser ganzen Periode ist derjenig^e Näbis (f 17 12). Er leitete sie
ein, fand aber keinen würdigen Nachfolger mehr, Räghib Pascha (f 1762),
der berühmte Großvezier, Nesch'et {j- 1780) und andere, deren Divane in
der Folgezeit gedruckt worden sind, sind nur schwächliche Epigonen.
Mehr und mehr kam jedoch allmählich wieder eine Hinneigung zum
Nationalen auf. In weiten Kreisen griff Beschämung darüber Platz, daß
man in der Literatur doch nur ein Tintentürkisch hervorbringe, das zu
dem eigentlichen Empfinden der Volksseele im schärfsten Widerspruche
stehe. Man sehnte sich unbewußt nach der ursprünglichen Natürlichkeit,
die durch Aufpfropfung- fremder Künstelei gewaltsam unterdrückt worden
war. Doch dachte man nicht daran, etwa beim Volke selbst in die Lehre
zu gehen; denn dessen Literatur galt den Gebildeten als verächtlich und
minderwertig, ja sie kam bei ihnen als solche überhaupt nicht in Be-
tracht. Man hatte also nichts an die Stelle dessen zu setzen, das man
doch bekämpfte; kein Wunder, daß die Opposition leicht von einer in
Hinsicht auf ihre 500jährige Vergangenheit trotzig das Haupt erhebenden
Reaktion hinweggefegt wurde.
Aber auch diese Reaktion vermochte nichts mehr hervorzubringen,
was sich sehen lassen konnte, und so setzten um die Mitte des 19. Jahr-
hunderts neue Reformversuche ein, die, auf besserem Untergrunde fußend,
zur Schaffung einer türkischen modernen Literatur führten, die voraus-
sichtlich noch eine Zukunft haben wird.
Prosa. Wir haben in unserm kurzen Überblick nur die türkische Poesie be-
rücksichtigt. Die Schöpfungen der schöngeistigen Prosa treten ihr gegen-
über in den Hintergrund. Selbstverständlich finden wir eine ganze Anzahl der
im gesamten mohammedanischen Orient beliebten Erzählungen, looi Nacht
an der Spitze, auch in das Türkische übersetzt. Gelegentlich sind solche
türkische Bearbeitungen besser oder früher in Europa bekannt geworden
als Übersetzungen ihrer Originale (z. B. das „Papageienbuch" oder das
interessante persische Qäbüsnäme). An erster Stelle steht unter allen
wegen ihrer altertümlichen Sprache die Erzählungssammlung „Freude auf
Leid" {El feredsch ba'd esch-schidde).
II. Die türkische Moderne.
77
Neben Übersetzungen haben sich Türken auch vielfach als Kommen-
tatoren persischer Werke verdient gemacht. Berühmt sind besonders
Südis und Surüris Kommentare zu Häfiz; die Surüris und Isma'il Haqqis
zum Mäthnäwi Dscheläleddin Rümis sowie nochmals der Surüris zu
Fettähis „Schlafstätte der Phantasie" {Schebistän-i khaj'äl).
Die wissenschaftliche Literatur können wir hier ebenfalls nur ganz
kurz streifen. In der Theologie und Jurisprudenz tritt ein arabischer Ein-
fluß deutlich hervor. In der Geschichte haben die Türken eine Reihe
achtungswerter Leistungen selbständig hervorgebracht. Aus älterer Zeit
hat auf diesem Felde Kemälpaschazäde (f 1534) den größten Ruhm er-
rungen. Seit Sultan Müräd II. ward der Reichshistoriograph {wäqy'a-nüwis)
ein offizieller Beamter, es ist daher eine fortlaufende Reihe Annalen bis
in die neuere Zeit hinein vorhanden. Der Stil dieser Werke ist leider
durchgängig der der offiziellen Dokumente, also äußerst schwülstig. Je
länger sich die Perioden dehnen, desto feiner sind sie — das ist die
Grundregel dieser Phrasendrechsler, die einen wertvollen Inhalt in einer
gräßlichen Form bieten. Von geographischen Schriften können ebenfalls
mehrere von dauerndem Werte genannt werden: vor allem Ewlijä's „Ge-
schichte des Reisenden" {Tärikh-i sej'Jäh) aus dem Ende des 17. Jahr-
hunderts, sodann Piri Reis' „Meerbuch" {Bahrij'e) über das Ägäische Meer
vom Jahre 1523/24, Sejjid Ali Ekbers verdienstvolles Werk über China,
das allerdings ursprünglich persisch verfaßt, aber in türkischer Über-
setzung lithographiert worden ist, sowie endlich auch Hadschi Chalfas
(-|- 1658) bekanntes Kompendium „Weltspiegel" {Dschihännüma).
IL Die türkische Moderne, Die neue Richtung in der osmanischen
Literatur in der Mitte des ig. Jahrhunderts ging von den Jungtürken aus.
Wie diese politisch ihr Vaterland durch Zuführung der Kultur Europas
erneuern wollten, so sollte auch in der Literatur eine entsprechende Re-
form statthaben. Als Vorbild wählte man leicht begreiflicherweise Frank-
reich, dasjenige europäische Land, das den Türken hauptsächlich seit
Sultan Machmüd II. als das gebildetste und vornehmste des Westens ge-
golten hatte, und das die türkische Jugend am besten aus eigener An-
schauung kannte. In seiner Literatur fand man Natur, die man in der
Heimat vergeblich suchte. Eigentlich wäre Natürlichkeit ja auch hier zu
finden gewesen, nämlich im Volke; aber dessen einfache Lieder und Bücher
verachtete der Gebildete als plebejisch, wie überhaupt die ungekünstelte
Ausdrucks- und Denkweise des gemeinen Mannes nicht literaturfähig war.
So lernte der Türke in Übersetzungen Fenelon, Lafontaine, die beiden
Dumas, Voltaire, Paul de Cocq^ Eugene Sue, Victor Hugo, Xavier de
Montepin und andere Pseudogrößen des zweiten Kaiserreichs, Moliere,
Jules Verne, Chateaubriand nebst zahllosen anderen, Gutes und minder
Gutes, Altes und Neues bunt durcheinander kennen. Die verschiedensten
Richtungen drängten ohne irgendwelche Überg'änge auf ihn ein. In be-
,Yg Paul Hörn: Die türkische Literatur.
schränktem Maße kamen wohl auch andere Völker zum Worte, doch haben
die Franzosen den Haupteinfluß behalten.
Eine Aufklärung- in weiteren Kreisen ließ sich zunächst vornehmlich
durch die Presse erwarten, und so waren die jungtürkischen Schriftsteller
fast alle in erster Linie Journalisten. Zahlreiche Zeitungen schössen allent-
halben wie Pilze aus der Erde hervor, um allerdings häufig ebenso plötz-
Hch wieder zu verschwinden. Als Vater der türkischen Moderne gilt
Ibrahim Schinäsi, der im Jahre 1859 ein Bändchen Gedichte in einer neuen
Form erscheinen ließ. Es waren zwar nur Übersetzungen aus Racine,
Lamartine und anderen Franzosen, die im Original schon längst weiteren
türkischen Kreisen bekannt waren. Aber jetzt sah man sie zum erstenmal
in türkischem Gewände, und dies kleidete sie sehr gut. Es ließ sich also
auch auf Türkisch das sagen, was man bis dahin nur in der fremden
Sprache schön gefunden und bewtmdert hatte. Der Beifall war ein außer-
ordentlicher, da man des eigenen Klassizismus gründlich überdrüssig war.
Die neue Weise fand zahlreiche Nachahmer, die Schinäsi an Schöpfungs-
kraft weit überragten.
Man war sich jedoch von vornherein der Notwendigkeit bewußt, daß
man bei der Anleihe in der Fremde seine Nationalität nicht opfern dürfe.
Die jungen Schriftsteller wählten daher neben den Übersetzungen bald das
echttürkische Leben zum Vorwurf, das Milli (Nationale) ward dem Frem-
den scharf gegenübergestellt. Im Laufe von etwas über 40 Jahren hat sich
eine reiche Literatur entwickelt, in der die Belletristik, das Theater und
die Lyrik mit einer Reihe guter Namen vertreten sind. Da indes noch
alles im Flusse ist, so ist hier nicht der Ort, diese Moderne im einzelnen
zu schildern. Der Leser, der Näheres über sie zu erfahren wünscht, sei
auf des Verfassers Skizze in den „Literaturen des Ostens'' verwiesen.
in. Die Volksliteratur. Neben der Literatur der Gebildeten hat
natürlich von jeher eine solche des Volkes bestanden, und zwar im ganzen
weiten Umkreise der gesamten Turkvölker.
Ein besonders reiches Material hat für die nordtürkischen Stämme
Radloif gesammelt. Auch im sog. Tschaghataischen hat immer eine starke
Produktivität geherrscht und bis in die Gegenwart nicht aufgehört Der
Divan des Hüwedä und das Volksbuch von Meschreb sind neuerdings
aus diesem Literaturkreise bekannt geworden. Im Ädharbaidschän-Tür-
kischen haben wir neben Volksliedern auch eine Kunstkomödie nach fran-
zösischem Vorbilde. Fetch 'Ali Achundzädes Lustspiele „Der Vezier von
Lenkorän", „Monsieur Jourdan, der Pariser Botaniker im Kaukasus" u. a.
errangen in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Theater zu
Tiflis außerordentliche Erfolge, so daß sie in das Persische und aus diesem
in europäische Sprachen übersetzt wurden. Endlich ist im Osmanischen
ebenfalls eine reiche Volksliteratur in Dichtung und Prosa vorhanden.
Den Inhalt dieser Bücher bilden Märchen, Schwanke, Gaunergeschichten,
III. Die Volksliteratur.
279
Ritter- und Sängerromane, gereimte Erzählungen über aktuelle Ereignisse
oder berühmte Begebenheiten aus der Vergangenheit, Lieder und Theater-
stücke (Possen). Schriftlich wird diese Literatur weniger verbreitet als
mündlich. Eine eigene Erzählerzimft (die Meddächs) machte früher aus
dem Vortrage der Märchen etc. ein Gewerbe, einzelne besonders gewandte
Künstler errangen hohen Ruhm in ihrem Berufe. Heute stirbt die Zunft
mehr und mehr aus, man fängt daher an, die Sachen zu drucken. An die
Weise der Meddächs knüpfte die moderne Literatur an. Statt im gezierten,
persifizierten Kunststil erzählte zuerst Achmed Midchat seine Novellen wie
ein Meddäch und fand mit seinem Beispiele zahlreiche Nachahmer. Eben-
so entnahm die moderne Lyrik den Volksliedern mit Glück einige Formen.
Ein Scharqi hat übrigens Gibb schon bei Nezim (7 1695) gefunden.
Am weniofsten konnte man für das Theater in der Volkskomödie Brauch-
bares finden; denn deren T}'pen wie Qawuqlu und Oaragöz mußten erst
sehr stark verfeinert werden, ehe sie für die höhere Bühne fähig wurden.
Allerdings scheinen Volks- wie Schattentheater früher auf einer wesentlich
höhern Stufe gestanden zu haben, als sie aus der Gegenwart bekannt sind.
Auf Qaragözs angeblichem Grabe bei Brussa findet sich ein Ghazel,
welches das Schattenspiel in einer Weise feiert, wie es die heute ge-
läufigen Possen auch nicht entfernt rechtfertigen können.
Wie andererseits Poesie des höheren Stils volkstümlich umgewandelt
wurde — wobei sie unter Umständen ganz sinnlos werden konnte — zeigt
ein Gedicht eines Manaw Sejjidi in Mehmed Tewfiqs „Helvagesellschaft"
(Ein Jahr in Konstantinopel). Der ehemalige Bäckermeister ]\Iustafa er-
klärt dazu, unter den „Bänkelsängern" seien Leute, denen der gefeierte
Näbi nicht das Wasser reiche, und hat damit für seinen unverkünstelten,
natürlichen Geschmack auch durchaus recht.
Literatur.
Der vorstehende Artikel ist, von einigen Nachträgen abgesehen, verfaßt im August 1904.
Eine Geschichte der türkischen Kunstpoesie hatte in großer Ausführlichkeit E. J. W. GiBB
zu schreiben unternommen. Er hat jedoch nur den ersten Band seines Werkes (History
of Ottoman Poetry [London, 1900]) selbst herausgeben können; die Vollendung des Ganzen
ist aber gesichert, da sich in dem Nachlasse des unerwartet früh Verstorbenen ein Manu-
skript der weiteren Teile vorgefunden hat. E. G. Bro\vne hat deren Herausgabe über-
nommen und bereits drei weitere Bände erscheinen lassen (1902, 1904 und 1905). Für die Prosa
ist man noch heute auf die betreffenden zusammenfassenden Abschnitte in J. v. Hammers
Geschichte des osmanischen Reiches angewiesen. Eine Skizze der modernen Literatur seit
der Mitte des 19. Jahrhunderts hat Schreiber dieses im 4. Bande der ,, Literaturen des
Ostens" (Leipzig, 1902) zu entwerfen versucht; Smirnows russisch geschriebene Geschichte
der türkischen Literatur (St. Petersburg, 1889) mußte ihm unzugänglich bleiben.
Eine noch vielversprechende Belebung der türkischen Studien ist der von G. JACOB
begründeten ,, Türkischen Bibliothek" (Berlin, Mayer und Müller) zu danken, von der bisher
5 Bände erschienen sind (1904 fg.).
Zu S. 270. Das Babamame ist 1905 von Mrs. Annette S. Beveridge als erster Band
der Gibb Memorial Series herausgegeben worden.
Omar Chan und Munis : Vambery, Zwei moderne zentralasiatische Dichter in der Wiener
Zeitschr. f. d. Kunde d. IMorgenlandes, Bd. 6, S. 193 fg. und S. 269 fg.
Zu S. 271. Jünus Emre: Nach K. FOY (Mitteilungen des Seminars für orientalische
Sprachen zu Berlin, 1902, Jahrgang V, Abteilung II, S. 236, Anm. i) wäre Jünus Emre über
ein Jahrhundert später, nämlich erst 1439/40 gestorben. Ob die von dem Siebenbürger aus
Mühlbach mitgeteilten zwei Gedichte eines Jonus dem Emre angehören, bleibt leider
zweifelhaft.
Zu S. 272. Zu den Dichtungen der Sultane vgl. G. Jacob, Sultan Solimans des Großen
Divan in einer Auswahl TBerlin, 1903) und Der Divan Sultan Mehmeds IL (Berlin, 1904).
Zum persischen Divan Selims I. s. oben S. 267 Anm.
Zu S. 273. Die betr. Qagide Thäbits s. bei MENZEL, Mehmed Tevfiq, Ein Jahr in Kon-
stantinopel, Die Ramazan-Nächte, S. 7.
Zu S. 274. Die Dichterin Ani: Siehe v. Hammer, Geschichte der osmanischen Dicht-
kunst, Band IV, S. 39/40.
Zu S. 275. Bäqi: Vgl. R. DvORAK, Bäki als Dichter in der Zeitschrift der deutschen
morgenländ. Gesellschaft, Band 42, S. 560 fg.
Wie mir Kollege Prof. Georg Jacob in Erlangen, der unermüdliche, erfolgreiche
türkologische Forscher, mitteilt, der diese Skizze vor dem Druck durchzusehen die Freund-
hchkeit hatte und bei dieser Gelegenheit manche beherzigenswerte Bemerkung an den
Rand geschrieben hat, befinden sich die erhaltenen Bände des Sülemännämes heute in der
Akademiebibliothek zu Budapest.
Zu S. 277. Zu Piri Reis' Werke vgl. Herzogs Aufsatz in den Mitteilungen des kais.
deutsch, archaeol. Instituts zu Athen, Band XXVII (1902), S. 416 fg. ; zu Ali Ekbers Chatäi-
näme Schefer, Melanges orientaux (Paris, 1883), S. 34 fg.
Literatur. 28 1
Zu S. 278. Über den noch lebenden, sehr sympathischen Dichter Mehmed Emin sind
inzwischen zwei Essays erschienen. Der eine russisch von MiNORSKi im 2. Bande der
Arbeiten der kaiserl. archäol. Gesellschaft zu Moskau, 3. Heft (1903); der andere von
Fr. Giese in der Zeitschr. d. deutschen morgenländ. Gesellschaft, Band 58, S. 117 — 146
(Leipzig, 1904). Mehmed Tewfiqs kulturgeschichtlich höchst wertvolles Werk ,,Ein Jahr in
Konstantinopel" hat Th. Menzel zu übersetzen unternommen (Jacobs ,, Türkische Bibliothek"
Band 2, 3, 4, sowie Jahrb. der Münchener Orient. Gesellschaft II, S. 108—125).
Nach Fr. Gieses Beitrag: ,,Die Volksszenen" etc. in der Nöldeke - Festschrift (1906)
S. 1081 fg. stockt seit etwa 1903 jede selbständige literarische Tätigkeit in der türkischen
Moderne.
Die Volksliteratur: Vgl. im allgemeinen Vambäry, Das Türkenvolk (Leipzig, 1885
pasism); Radloff, Proben der VolksHteratur der nördlichen türkischen Stämme, 8 Bände
(St. Petersburg, 1866 — 99); A. Berg6, Dichtungen transkaukasischer Sänger des 18. und
19. Jahrhunderts in adserbeidschanischer Mundart (Leipzig, 1868); M. Hartmann, Der cagha-
taische Diwan Hüwedäs in den Mitteilungen d. Seminars f. Orient. Sprachen zu Berlin V,
1902, Abt. II, S. 132 fg.; M. Hartmann, Der islamische Orient, V, S. 147 fg. Mesreb der
weise Narr und fromme Ketzer (Berlin, 1902); G. Jacob, Türkische Literaturgeschichte in
Einzeldarstellungen, Heft I (einziges bisher). Das türkische Schattentheater (Berlin, 1900);
G. Jacob, Die türkische Volksliteratur (Berlin, 1901); G. Jacob, Erwähnungen des Schatten-
theaters in der Weltliteratur zusammengestellt, 3. Aufl. (Erlangen, 1906); I. KqnOS, Türkische
Volksmärchen aus Stambul (Leiden, 1905); G. Jacob, Xoros kardasch (Bruder Hahn), ein
orientalisches Märchen- und Novellenbuch aus dem Türkischen zum erstenmal ins Deutsche
übertragen (BerUn, 1906) (Türk. Bibl. Band 5); I. KÜNOS, Ada Kälei Török Nepdalok (Volks-
lieder im Dialekt von Ada-käle, türkisch und [leider] ungarisch) (Budapest, 1906).
Achundzädes ,, Geizhals" ist neuerdings im Original herausgegeben und übersetzt
worden von L. BOUVAT, Journal asiatique (Paris, 1904), S. 259 fg. Für die Kunst der Med-
dächs vgl. G. Jacob, Vorträge türkischer Meddähs (mimischer Erzählungskünstler) (Berlin,
1904); H. Paulus, Hadschi Vesvese, ein Vortrag des türkischen Meddahs Na^if Efendi ins
Deutsche übertragen (Erlangen, 1905).
Zu S. 279. Zu dem Scharqi Nezims vgl. GiBB, History of Ottoman Poetry III, S. 319.
,,Die angebliche Grabinschrift des Karagöz", eine literarische Reiseerinnerung aus der
Türkei von G.Jacob in der Beilage zur ,,Allg. Zeitung" (München) Nr. 86 vom 15. April 1904,
S. 84/5, sowie Zeitschr. d. deutsch, morg. Ges. 58, S. 811 fg.
Das Gedicht Manaw Sejjidis bei G. Jacob, Türk. Bibl. IV, S. 50 fg.
DIE ARMENISCHE LITERATUR.
Von
Franz Nikolaus Finck.
Beginn der Einleitung. Das Volk, dessen Literatur hier kurz skizziert werden
Geschichte. soU, betritt schon im 6. vorchristlichen Jahrhundert den Schauplatz der
Geschichte, fast ein Jahrtausend vor dem Beginn seines hier darzustellenden
Schrifttums. Um jene Zeit sind die Armenier schon als Bewohner der
Gegenden bekannt, die sie — von geringfügigen Verschiebungen ab-
gesehen — auch heute noch einnehmen, deren gefährliche Lage zwischen
den Reichen der Mächtigen den größten Teil ihrer harten Schicksale hervor-
gerufen hat. Die Geschichte der Armenier beginnt sozusagen mit einer
Niederlage, mit der Unterwerfung unter die medische Herrschaft. Und doch
müssen sie als Eroberer dort eingezogen sein, wo sie heute noch wohnen.
Das Reich Denn ein mächtiges Reich, das auf dem von ihnen besetzten Boden bestanden
hatte, ist bei ihrem Erscheinen bis auf seinen Namen fast spurlos verschwun-
den. Dieser Name lebt freilich noch bis auf den heutigen Tag und ist sogar
weit über die Grenzen des Landes hinausgedrungen, das es einst bezeich-
nete, doch mit einem andern, ihm nur durch ein Mißverständnis unterge-
schobenen Sinn. Es ist der Name Ararat, bei dem wir an den ewig
schneebedeckten Bergkegel denken, der sich dort, wo Rußland, Persien
und die Türkei zusammenstoßen, zu weithin nahe scheinender Höhe empor-
türmt, ein Name, der jedoch ursprünglich nicht jenen Berg, sondern das
dort gelegene Land bezeichnete. In dem biblischen Berichte über die
Landung der Arche Noahs heißt es, daß sie „auf den Bergen von Ararat"
festgesessen habe, und daß unter diesem Ararat ein Land zu verstehn ist,
ergibt sich unverkennbar deutlich aus anderen Stellen, besonders aus der
einen bei Jesaia (37, 38), wo von der Flucht der Söhne des Königs Se-
nacherib auf jenes Gebiet erzählt und dieses ausdrücklich das „Land Ararat"
genannt wird. Der Übergang dieses Namens auf den jetzt durch ihn be-
zeichneten Berg ist erst durch die unrichtige alexandrinische Übersetzung
veranlaßt worden, und der Irrtum hat sich dann sogar in hochgelehrte
Werke der neuesten Zeit einzuschleichen gewußt. Dieses Land Ararat
war die Heimat eines mächtigen Volks, das von den Assyrern Urartu,
von Herodot Alarodier genannt wird, das sich selbst aber Chalder nennt.
Einleitung. 2 8 ^
und sein Reich am Wansee mit dem dem Worte Wan zugrunde liegenden
Namen Biaina bezeichnet. Die Macht dieses Reiches war groß genug,
um mit Assyrien den Wettkampf um die erste Stellung in Vorderasien
aufnehmen zu können, so groß, daß selbst dem gewaltigen Tiglatpilesar II.
(745 — 727) nicht mehr als ein Zurückdrängen der feindlichen Herrschaft
auf ihren früheren Bestand gelang. Seine völlige Zerstörung blieb, wie Einbruch der
es scheint, dem Ansturm barbarischer Stämme, der Kimmerier und Skythen, Skythen.
vorbehalten, die im 7. Jahrhundert in Vorderasien erschienen. Und bei
Gelegenheit dieser großen Überflutung sind auch wohl die Armenier ein-
gerückt. Denn als der Sturm sich gelegt hat, oder — sachgemäßer ge-
redet — sobald wieder ein Einblick in die eine Zeitlang in Dunkel ge-
hüllten Verhältnisse dieser Gegenden möglich wird, sind sie im Besitze des
Landes, in dem vorher das Reich Urartu bestand. Natürlich heißt das
nicht, daß dessen Bewohner völlig ausgerottet worden seien. Daß ver-
sprengte Reste der chaldischen Bevölkerung noch fortbestanden, als das
Land schon bei den Nachbarn Armenien hieß, ergibt sich aus Xenophons
und Herodots ausdrücklichem Zeugnis, und sogar in christlicher Zeit
werden die Chalder noch von armenischen Schriftstellern als ein beson-
derer Stamm bezeichnet. Aber wenn diese Nachrichten auch nicht vor-
lägen, so würde man doch nicht eine völlige Ausrottung der unterworfenen
Chalder annehmen dürfen, vielmehr vermuten müssen, daß noch manch
leiblicher Nachkomme derselben unter denen lebt, die man Armenier
nennt. Nur das Volkstum der Chalder ging, von den erwähnten verein-
zelten Resten abgesehn, zugrunde. Eine dem Chaldischen fremde, indo- Die arme-
nische Sprache,
germanische Sprache kam zur Herrschaft, die armenische. Man zählte
dieselbe früher der Gruppe der iranischen Idiome zu, wozu die starke
Beeinflussung durch die persische Sprache allerdings leicht verführen
konnte. Es steht aber fest, daß dies ein Irrtum ist, daß das Armenische
dieser Gruppe trotz mancher durch gleiche Kulturverhältnisse geschaffenen
Ähnlichkeit doch selbständig gegenübersteht, so selbständig, wie das
Lateinische neben dem Griechischen, Germanischen, Keltischen und ande-
ren Zweigen des großen indogermanischen Stammes steht. Auf welchem
Wege die Armenier nun dorthin gekommen, und aus welchem Lande sie
in ihre neue Heimat eingedrungen sind, das läßt sich, da es kein sicheres
Zeugnis gibt, nur vermuten. Einen nicht zu verachtenden Wink geben
jedoch Herodot und Eudoxos, die beide ausdrücklich erklären, daß die
Armenier ein phrygischer Stamm seien, eine Angabe, der das Wenige,
was man von der phrygischen Sprache weiß, wenigstens nicht widerspricht.
So darf man denn, wenn auch nicht als sicher behaupten, so doch nicht ohne
Grund vermuten, daß die Armenier aus Europa stammen, daß sie diesen
Erdteil als eine Horde unzivilisierter Krieger verlassen haben, um in Asien
ein Kulturvolk zu werden. Das sind sie aber fraglos in erster Linie unter
iranischem Einfluß geworden, der bei aller begreiflichen Feindseligkeit so
stark war, daß erst das Christentum ihn zu brechen vermochte. Und
284
Franz Nikolaus Finck: Die armenische Literatur.
wenn auch die uns überlieferten Schrifterzeugnisse gerade in der grund-
legenden Zeit literarischer Betätigung fast ganz auf griechischer Kultur
erwachsen sind, so ist es doch im Hinblick auf die Untrennbarkeit von
Sprache und Literatur gerechtfertigt, das armenische Schrifttum als ein
europäischen Geist zwar vermittelndes, aber doch wesentlich orientalisches
Kulturerzeugnis anzusehn und es dementsprechend auch in Zusammenhang
mit der Literatur der anderen Völker iVsiens zu behandeln.
Die heidnische L Charakter der armenischen Literatur im allgemeinen.
Zeit.
Vereinzelten Trümmern gleich zeugen ein paar Bruchstücke götter-
und heldengeschichtlicher Dichtung von einer armenischen Poesie aus
heidnischer Zeit. Es sind die abgebröckelten Steine eines einst
vielleicht stolzen Baues, dessen Größe man wohl ahnen, aber nicht mehr
erkennen kann, gerade genug, um das ohnehin schon zu Erwartende zu
beweisen, daß es auch damals schon Sänge und Lieder gab, viel zu wenig
jedoch, als daß sich eine Würdigung wagen ließe. Und daß der Trümmer
so wenige sind, ist keineswegs ein Spiel des bösen Zufalls. Der Geist, der
die unserer Beurteilung zugängliche armenische Literatur durchweht, läßt
den Abscheu ahnen, mit dem man auf die finstere Zeit des Heidentums
zurückgeblickt haben wird, läßt es als gewiß erscheinen, daß man alles,
was an den alten Glauben erinnern konnte, mit Stumpf und Stiel auszu-
rotten getrachtet hat.
chrisüicher Dcuu dicsc Schnell erblühte Literatur, die zu reicher Entfaltung ge-
überUeferten langen sollte, ist nicht nur ausgeprägt christlich, sondern fast unduldsam
christlich. Wie mit einem Schlage setzt sie, mit diesem Charakter aus-
gestattet, im 5. Jahrhundert ein — denn die wenigen dem 4. zugeschrie-
benen Werke, die sich erhalten haben, sind wohl mindestens in der vor-
liegenden Fassung als jüngere Schöpfungen anzusehen — zu einer Zeit
also, wo die neue Lehre lange festen Fuß gefaßt hatte, wo sie schon über
hundert Jahre die vom Staate anerkannte, von den Untertanen geforderte
Religion war, und das Gepräge, das dem armenischen Schrifttum bei seiner
Begründung verliehen worden ist, bleibt im wesentlichen unangetastet bis
auf die neueste Zeit.
Vorherrschen Für dicsc sciuc Gestaltung ist allem Anschein nach der Umstand von
des geistlichen , /^^ .. . \ r
Standes unter ausschlaggebender Bedeutung geworden, daß seine Lrager im Anfang
steilem. ausschlicßlich und auch in späteren Jahrhunderten immerhin ganz über-
wiegend Angehörige des geistlichen Standes waren, und zwar eines geist-
lichen Standes, in dem sich schon frühzeitig ein Streben nach Unab-
hängigkeit von den Kirchen anderer Länder geregt hat, von dem die er-
kämpfte Selbständigkeit mit eifersüchtiger Sorge gewahrt wurde. So war
es nur natürlich, daß die von ihm gepflegte Literatur christlich und
national zugleich wurde. Und natürlich war es auch, daß sich noch
eine, freilich wohl kaum gewollte Folge einstellte. Das berufsmäßige
Verzichtleisten auf das Geltendmachen eigener Individualität ließ es nicht
I. Charakter der armenischen Literatur im allgemeinen. II. Das goldene Zeitalter (5. Jahrh.). 285
ZU solch stark eigenartigen Persönlichkeiten kommen, wie die Höchst-
leistungen der Kunst sie wohl verlangen und zeigen. Denn so deutsch
beispielsweise ein Goethe, so englisch ein Shakespeare ist, so gibt's doch
bei beiden etwas, und zwar etwas sinnfällig Bedeutendes, was nur ihnen
eigen, was eben nur goethisch, nur shakespearisch ist. Von den arme-
nischen Schriftstellern ist keiner über seine nationalen Schranken hinaus-
gewachsen. Sie stehen alle auf dem festen Boden ihres Vaterlands, aber
sie sind auch alle nur Armenier, und so erscheint ihre Literatur dem die
Gesamtheit Überschauenden wenig'er als Kunst denn als ein schwärmerisch
feierlicher Gottes- und Vaterlandsdienst.
i II. Das goldene Zeitalter (5. Jahrhundert). Diese Sehnsucht, Gott Befreiung vom
und dem Vaterlande zugleich zu dienen, war's denn auch recht eigentlich, Äniaß zur
die zur Begründung des armenischen Schrifttums führte. Es galt die Be- der Literatur.
freiung vom Einfluß der syrischen Kultur, deren Begünstigung auf Kosten
des griechischen Geistes zielbewußte Politik der Sassaniden gewesen war,
die dadurch ihren christlichen Untertanen die Annäherung an Byzanz zu
erschweren g'edachten und ihren Zweck auch tatsächlich wenigstens
vorübergehend erreicht hatten. „Denn der Gottesdienst und die Vor-
lesungen der Heiligten Schrift wurden in den Klöstern und Kirchen der
armenischen Gemeinden syrisch gehalten", wie Lazar von Pharpi, ein
Geschichtschreiber des 5. Jahrhunderts, berichtet. Der erste Schritt zur Aiphabet.
Beseitigung dieses allseitig tief empfundenen Mißstandes geschah durch
die Zusammenstellung eines der armenischen Sprache angemessenen
Alphabets, und der Mann, der diese folgenschwere Aufgabe zu lösen
unternahm und löste, war Mesrop, ein Schüler des Katholikos Nerses des Mesrop.
Ersten, unter des Arsaciden Chosrow kurzer Regierung königlicher Sekre-
tär, dann, des Weltlebens überdrüssig, Mönch, Klostervorsteher und Missio-
nar, ein Mann von Bildung und Tatkraft zugleich. Und als das Werk
nun dank dei Unterstützung von selten des damaligen Oberhaupts der
armenischen Kirche, des Katholikos Sahak des Großen, sowie des Königs
Wramschapuh zustande gekommen war, „da freute man sich", wie der
schon erwähnte Lazar von Pharpi sagt, „aus den syrischen Qualen wie
aus der Finsternis zum Licht entronnen zu sein".
So war also ein armenisches Schrifttum möglich gemacht, und Mesrop Übersetzung der
Heiligen Schrift
gmg nun zusammen mit semem Arbeitsgenossen und Herrn, dem Katholikos und Liturgie.
Sahak sowie den von ihnen beiden herangebildeten Schülern zu einer
umfassenden, planmäßigen Übersetzertätigkeit über. Im Einklang mit dem
Grundstreben ihres ganzen Unternehmens faßten sie zunächst das Ziel ins
Auge, ihrem Volke eine verständliche, eigene Heilige Schrift und Liturgie
zu geben, und indem sie auf dieses Ziel losgingen, bahnten sie zugleich
den Weg für das Eindringen des griechischen Geistes oder vielmehr für
dessen Wiedereindringen. Denn der griechische Einfluß, selbstverständlich
bei der bis zur Zeit des Königs Pap (367 — 374) dem Stuhle von Cäsarea
2 86 Franz Nikolaus Finck: Die armenische Literatur.
untergeordneten annenischen Kirche und außerdem von Moses von Chorene
auch noch ausdrückhch bezeugt, war ja nur durch die persische Staats-
kunst vorübergehend zurückgedrängt worden. An die Stelle der syrischen
Liturgie trat nun eine armenische Bearbeitung der dem heiligen Basilius
zugeschriebenen griechischen, was jedoch nicht ausschließt, daß vielleicht
einzelne Bestandteile der S3'^rischen Ordnung beibehalten worden sind.
Und auch die Heilige Schrift, wegen Mangels eines griechischen Textes
zuerst aus dem Syrischen übersetzt, wurde nachher, sobald Sahak in den
Besitz einer zuverlässigen griechischen Handschrift gelangte, aus dieser
nochmals, und wenn auch unter Benutzung der ersten Übersetzung, so
doch immerhin ganz von neuem ins Armenische übertragen,
überseuungen Allerdings hört auch der literarische Einfluß der Syrer nicht mit«
aus dem _ •'
Syrischen, eiucmmal auf. Das bezeugen die Werke, die noch im Laufe des 5. Jahr-
hunderts ins Armenische übertragen wurden, wie, um nur das Wichtigste
zu nennen, Labubnas Brief des Abgar, die Homilieen des Aphraates, die
Kirchengeschichte und Chronik des Eusebius, die Briefe des Ignatius von
Antiochien und vor allem die Werke Ephraims. Aber es ist doch nicht
zu verkennen, daß der Strom des syrischen Geistes damit stockt, daß er
von dem des griechischen überflutet wird. Nur ganz vereinzelt erscheint
in jüngerer Zeit hier und da noch einmal eine Übertragung aus dem Syri-
schen ins Armenische, so noch im 13. Jahrhundert eine Bearbeitung der
Chronik Michaels des Großen, des Patriarchen von Antiochien. Von einem
Einfluß syrischer Kultur auf die armenische aber kann von Beginn des
6. Jahrhunderts an nicht mehr die Rede sein. Von dieser Zeit an
herrscht auf lange hinaus ausschließlich griechischer Geist,
überseuungen Wieviel der uns erhaltenen ausgedehnten Übersetzungsliteratur aus
aus dem _ '-' '-'
Griechischen, dem Griechischcn schon dem 5. Jahrhundert zuzuschreiben ist, wird sich
kaum mit unanfechtbarer Gewißheit entscheiden lassen. Wichtiger als die
Feststellung der Zahl der übertragenen Schriften dürfte aber auch wohl
die Erkenntnis sein, daß sich unter ihnen auf jeden Fall die bedeutendsten
Werke des klassischen Zeitalters der griechisch-christlichen Literatur be-
finden — ein beredter Beweis für die bewußte Planmäßigkeit der Kultur-
vermittlung — verschiedene Bücher des scharfsinnigen Athanasius, die
gewinnenden Katechesen des Kyrillos von Jerusalem, wichtige Werke
der drei großen Kappadoker, des vielseitig großen, vor allem aber wohl
als Mann der Tat bedeutenden Kirchenfürsten Basilius, des Denkers im
Dienste des Christentums Gregor von Nyssa und des redegewandten
Gregor von Nazianz, vor allem aber die wichtigsten Homilieen und
Kommentare des g^roßen Lehrers und Redners Johannes, der sich durch
seine Sprachgewalt den ehrenden Namen Chrysostomos, Goldmund, er-
worben hat. Daneben aber fehlte es auch nicht an der Übertragung be-
deutender oder doch mindestens für die damalige Zeit bedeutender Profan-
werke wie mehrerer Schriften des Aristoteles, der kleinen, in ihrer
Wirkung aber nur von wenigen Büchern erreichten Grammatik des Dio-
n. Das goldene Zeitalter (5. Jahrhundert). 287
nysios Thrax aus dem i. vorchristlichen Jahrhundert, der Alexanderbio-
graphie des Pseudo-Kallisthenes und anderer Schriften mehr.
Und diese planmäßige Einführung griechischen Geistes wirkte auch Origmaiwerke.
befruchtend auf die Schöpfung freierer, vom fremden Vorbild nicht wesent-
lich abhängiger Werke, die das 5. Jahrhundert zu einem in der Tat
goldenen Zeitalter der armenischen Literatur stempeln. Den ersten Rang
unter diesen Arbeiten behauptet die Geschichtschreibung, der bedeutend- Geschicht-
ste Ausdruck des armenischen Geistes und für uns zugleich nach wie vor ^"^ ^^^ "°^'
eine unentbehrliche Quelle des Wissens. Das Leben und Wirken Gregors,
des Apostels und ersten Bischofs Armeniens, dem das dankbare Volk den
Namen Erleuchter beig'elegt hat, bildet den Gegenstand eines Buches,
dessen Verfasser sich Agathangelos nennt, sich damit vielleicht als den Agathangeios.
Bringer der guten Botschaft von der Bekehrung Armeniens zum Christen-
tum bezeichnend. Er behauptet ein Augenzeuge der von ihm geschilder-
ten Vorgänge gewesen zu sein und diese im Auftrage des Königs Trdat
beschrieben zu haben, ist aber wohl in Wahrheit ein hinter seinem Pseu-
donym geborgener Schriftsteller, der sein Buch erst ein Jahrhundert nach
dem Verlauf der in ihm behandelten Ereignisse auf Grund älterer Auf-
zeichnungen und Überlieferungen verfaßt hat. Es ist eine liebevoll ein-
gehende Darstellung, die, halb Dichtung, halb Wahrheit, dieses Geschicht-
liche und Legendenhafte harmlos vereint. Unter dem Namen eines gewissen
Faustus von Byzanz ist eine Geschichte Armeniens vom Jahre 344 bis Faustus
von Pvz3iHz.
zum Jahre 392 überliefert, ein Werk, das sprachlich auffällig von dem
durch die Bibelübersetzung zum Muster gestempelten Dialekte abweicht
und überdies auch noch an fast unerträglichem Schwulst leidet, alles in
allem aber doch wohl die freilich rauhe Schale eines guten Kernes ist.
Einfach, markig kraftvollen Stils ist die Geschichte Armeniens von 388
bis 485, die Lazar von Pharpi zum Verfasser hat. Hier und da ein wenig Lazar
von Pharpi.
unklar, aber von anziehender Wärme und wegen der gedrängten Kürze
beachtenswert ist die Lebensbeschreibung Mesrops, des Begründers der
armenischen Literatur, die sein Schüler Koriun, Bischof in Georgien, Konun.
aufgezeichnet hat. Es ist, als wenn eine Art Ehrfurcht ihn abgehalten
hätte, die bedeutungsvolle und folgenreiche Tat durch viele Worte zu
entweihen, sie durch lange Erörterungen als etwas hinzustellen, dessen
Bedeutung erst des Beweises bedürfte. Das ausführlichste Werk in dieser
Reihe aber ist die Geschichte Armeniens von der naturgemäß stark vom
Nebel der Sage umhüllten Urzeit bis auf den Sturz der armenischen
Arsaciden im Jahre 428, als dessen Verfasser Moses von Chorene angegeben Moses
von Chorene.
wird, ein einst vielleicht über Gebühr gefeiertes und allzu vertrauensselig
aufgenommenes Werk, das in jüngster Zeit aber auch wohl in übertriebe-
nem Maße zum Tummelplatz übereifriger Skepsis und Kritik gemacht
worden ist. Und das ansprechendste der Geschichtswerke des 5. Jahr-
hunderts endlich, das fraglos beste vom künstlerischen Standpunkte ist die
Darstellung des Heldenkampfes, den die Armenier in den Jahren von
2 88 Franz Nikolaus Finck: Die armenische Literatur.
449 — 451 unter dem Feldherrn Wardan g"egen die persische Übermacht
unter Jesdeg^erd dem Zweiten ausgefochten haben, das unvergängliche
Eiisaeus. Werk eines Augenzeug^en , des Bischofs Elisaeus, eines Darstellers von
plastischer Gestaltungskraft und l3^rischer Glut, eines Dichters von Gottes
Gnaden, der sich in straffer Selbstzucht zwingen möchte, seine Kunst
der Wahrheit zum Opfer zu bringen, der die Wahrheit aber doch wie ein
Künstler sagt.
Andere Werke. Doch die literarische Betätigung des 5. Jahrhunderts erschöpft sich
keineswegs in der Geschichtschreibung. Neben ihr entwickelt sich auch
noch eine beachtenswerte andere Schriftstellertätigkeit, und in ihr ragen
David der drei Persönlichkeiten merklich über ihre Zeitgenossen empor, David, der
Übersetzer imd Erklärer aristotelischer und neuplatonischer Schriften, der
Johannes Unbesiegte genannt, Johannes Mandakuni, von 480 — 487 das Oberhaupt der
Mandakuni.
armenischen Kirche, der Verfasser einer Reihe eindringlicher, kraftvoller
Esnik von Koib. Predigten, und vor allen Esnik von Kolb, der scharfsinnige, feingebildete
Verfasser einer Streitschrift „wider die Sekten", eines religionsgeschicht-
lich auch für uns noch hochbedeutenden Buchs, der unangefochtene und
unanfechtbare Meister des Stils.
EinfluB der Lite- HI, Dic Zeit des Niederganges (6. — 1 1 . Jahrhundert). Dieses gol-
ratur des ^. Jahr- . .,-,. , . . ^ . ^ . ^
hunderts. deuc Zeitalter der armenischen Literatur, das weit reicher ist als sich aus
dieser kurzen Andeutung der Höhepunkte ohne weiteres ergibt, blieb nun
im wesentlichen maßgebend bis zum 12. Jahrhundert, innerhalb eines
engeren Klreises theologisch Gebildeter sogar für die gesamte Folgezeit,
eine Herrschaft, die nicht wundernehmen kann, wenn man die g^eschicht-
lichen Verhältnisse des Landes ins Auge faßt. Als die armenische Lite-
ratur begründet wurde, stand der im Jahre 387 dem Griechenreich zuge-
fallene Teil des Landes schon unter der Verwaltung eines Statthalters aus
dem Volk der Herrscher, und auch der dem Perserreiche einverleibte Teil
stand bereits dicht vor dem Verlust selbst seines letzten Scheins von Selb-
ständigkeit. Wurde doch schon im Jahre 428 der letzte Arsacide Artasches
vom Perserkönige Bahram Gor entthront. So ward denn ganz natürlich
die armenische Kirche der einzige feste Halt für das Gefühl der natio-
nalen Zusammengehörigkeit, und die Anschauungen des geistlichen Stan-
des wurden grundlegend für die Entwicklung der Literatur, und die
Sprache des Gottesdienstes und kirchlichen Verkehrs, wie eine Hofsprache
das Kennzeichen der höheren Klasse, der Gebildeten, gewann ihre unzer-
störbar scheinende Macht. Die Herrschaft der Araber, der die Armenier
um die Mitte des 7. Jahrhunderts nach dem Sturz des Sassanidenreichs
unterworfen wurden, vermochte dem alle mohammedanische Kultur schroff
ablehnenden Volke keine neue geistige Zufuhr zu bringen, und das gegen
Ende des 9. Jahrhunderts begründete Bagratidenreich war bei seiner immerhin
nur bedingten Macht ebensowenig ein Boden für eine dem alten Einfluß ge-
wachsene neue Kultur. Das Griechentum hatte zu tiefe Wurzel geschlagen,
III. Die Zeit des Niederganges (6. — ii. Jahrhundert). 289
und auch der Bruch mit Byzanz, der durch die Abweisung der Satzungen
des Konzils zu Chalzedon (451) eingetreten war, hatte daran nichts ändern
können. Die geistigen Waffen, mit denen in der ausgedehnten Polemik
gegen die verschmähte und geschmähte Lehre gekämpft wurde, entnahm
man nach wie vor dem Arsenal der einst anerkannten Kulturverleiher und
nunmehrigen GegTier.
Wie vorher bildet auch in dieser langen Periode des armenischen Die Geschicht-
schreibuug vom
Schrifttums die Geschichtschreibung den wichtigsten Bestandteil der 7--ii- Jaiirhuu-
dert.
Literatur. Und an Stoff zur Berichterstattung fehlte es in jenen unruhigen
Zeiten auch nicht, ja, die veränderten Verhältnisse übten sogar einen
wenigstens für uns schätzenswerten Zwang aus, nämlich den, die Auf-
merksamkeit mehr, als es bisher geschehn war, auch auf fremde Völker
zu lenken. So liefert Moses von Kalankatu im 7. Jahrhundert eine Ge-
schichte der Albanier, eines kaukasischen Volkes, das auf dem Gebiete
des heutigen Schirwan und südlichen Daghestan lebte und wohl in irgend
einem der zahlreichen verwandten Stämme aufgegangen ist. Ungefähr um
dieselbe Zeit schildert der Bischof Sebeos die armenischen Verhältnisse
vom Ende des 5. Jahrhunderts bis zur Thronbesteigung des Kalifen Mua-
wija (661) und aus jener Epoche besonders die Kriege des Kaisers Hera-
kleios mit Chosrow IL, zum Schluß mit wenigen Strichen, aber mit der
Anschaulichkeit des Augenzeugen den ersten Einbruch der Araber in
Persien, Armenien und das byzantinische Reich skizzierend. Gegen Ende
des 8. Jahrhunderts verfaßt der Presbyter Leontius eine Geschichte der
arabischen Eroberungen in Armenien bis zum Jahre 788. Über ein Jahr-
hundert später unternimmt der Katholikos Johann VL eine Darstellung
der Ereignisse unter der Regierung der ersten drei Bagratiden Aschot I.
(885—889), Smbat L (892—914) und Aschot IL (915—928), eine Beschrei-
bung, die er ziemlich äußerlich durch eine auf älteren Historikern, nament-
lich Moses von Chorene beruhende einleitende Erzählung von der Sünd-
flut an zu einer allgemeinen Geschichte zu stempeln versucht. Thomas
der Artsrunier schreibt eine ebenfalls durch eine Einleitung erweiterte
Geschichte der Fürsten dieses Geschlechts bis auf Gagik I. Stephan von
Taron verfaßt eine bis auf das Jahr 1004 reichende Chronik und Aristakes
von Lastivert eine Geschichte der Zeit von 989 bis 1071, in der die im
Jahre 1 064 erfolgte Zerstörung der Königsstadt Ani durch die Seldschuken
unter Alp-Arslan und der Zusammenbruch des ganzen Bagratidenreiches
den Kern der Darstellung bildet.
Auch an Schriftstellern, die sich anderen, namentlich theologischen Andere werke
' ... der nachklassi-
Aufgaben widmen, fehlt es nicht. Die bemerkenswertesten sind vielleicht sehen Zeit.
Johannes von Odsni, der Philosoph, vom Jahre 717 bis zum Jahre 729
Katholikos, der Verfasser einer hochgeschätzten Synodalrede, einer Ab-
handlung über die Menschwerdung Christi und die beiden Naturen, einer
Streitschrift gegen die Sekte der Paulikianer und anderer Werke, Chos-
row, der Verfasser eines Kommentars zum Brevier und eines solchen zur
Diu Kultur der Gegenwart. I. 7. '9
2QO Franz Nikolaus Finck: Die armenische IJteratur.
Liturgie, sein an Ruhm über den Vater hinausgewachsener Sohn Gregor
von Narek, unter dessen Schriften besonders eine Sammlung von Gebeten
mit Recht verehrt wird, und der durch weitverzweigte Geistestätigkeit
ausgezeichnete Statthalter von Mesopotamien, Gregor Magistros, vielleicht
weniger eine schöpferische Natur, als ein Mann der feinen und vielseitigen
Bildung, der neben seiner politischen Tätigkeit noch die Zeit fand, über
Theolog'ie und Grammatik zu schreiben, Proben seiner Reimkunst abzu-
legen, Plato vmd Euklid zu studieren und stellenweise zu übersetzen.
Die Zeit vom Dicseu Namcu ließen sich unschwer manche andere anreihen, die
de« als Verfall, wohl Wert wärcu, vor Vergessenheit geschützt zu werden, und vieles, was
sich heute nur halb erkennen läßt, wird vielleicht noch einmal in einem
günstigeren Lichte erscheinen. Alles in allem aber kann man doch kaum
in Abrede stellen, daß diese ganze Periode trotz der großen Zahl der
ihr angehörenden Schriften dem goldenen Zeitalter gegenüber einen
Niedergang bedeutet, ein Zehren vom ererbten Gut ohne große, frucht-
bringende Geisteszufuhr.
Aufschwung IV. Aufschwung unter der Dynastie der Rubeniden (12. Jahr-
Dynastie der hundert). Die Zeit eines erneuten Aufschwungs kam erst mit der Wieder-
erstarkung der staatlichen Macht, als Massen von Armeniern, von den
Seldschuken gedrängt, nach Kilikien strömten, und als dann dort, wo man
sich gegen Seldschuken und Sarazenen selbst zu schützen verstand, wo
man von Byzanz keine Hilfe mehr zu erwarten hatte und ihrer auch nicht
bedurfte, unter der im Jahre 1080 begründeten Dynastie der Rubeniden
ein neues armenisches Reich erstand. Fast dreihundert Jahre blieb es
bestehen, zunächst als ein selbständiges Fürstentum, vom Jahre 11 98 an
als Königreich, das dann durch die Heirat Isabellas, der Tochter
Leos III., mit Amalrich, dem Bruder Heinrichs, des siebenten Königs
von C^'pern, im Jahre 1342 an das Geschlecht der Lusignans fiel und im
Jahre 1375 den Stürmen der ägyptischen Mameluken erlag. Aber allen
Gefahren zum Trotz, die schon bei der Begründung dieses Staats auf den
Ausbruch lauerten, war das Erstarken politischer Macht doch eine Be-
freiung von schwer lastendem Druck und nicht am wenigsten wohl ein
Losreißen von alten, veralteten Traditionen. Zum erstenmal erblühte
nun auf armenischem Boden eine volkstümliche Literatur, in den Augen
der nur am Klassizismus des 5. Jahrhunderts Messenden Verrohung und
Verfall, dem unbefangenen Beobachter aber ein Aufschwung, ein Heraus-
treten aus dem Bann engherzigen Gelehrten- und Klerikertums zu natur-
wüchsig gesunder Entfaltung.
Vorherige Dieser Bewcguug aber ging noch eine andere voraus, in der der
Klassizismus. Geist des 5. Jahrhunderts noch einmal auferstand, eine glänzende Ent-
faltung von Gelehrsamkeit und Kunst in der dem Volke nun schon
lange unverständlich gewordenen Sprache, in dieser Beziehung an das
literarische Schaffen des deutschen Humanismus erinnernd, aber allerdings
IV. Aufschwung unter der Dynastie der Rubeniden (r2. Jahrhundert).
291
Nerses
Schnorhali.
auch wohl nur in dieser einen Beziehung. Denn freie Geister waren es
nicht, die diese Literatur schufen, viehnehr treue Anhänger der Kirche
und wenn auch nicht engherzige, so doch immerhin tapfere Verteidiger
christlichen Glaubens. Energisch kurz setzt diese Bewegung ein, und
schnell schwingt sie sich empor, begreiflich bei einem Schrifttum, das auf
der Arbeit einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Männern beruht, dessen
Bestes deutlich erkennbar von einem Einzig^en g^etrag-en wird. Dieser Eine
war Nerses, als Katholikos der vierte seines Namens, meist aber und zwar
wohl hauptsächlich im Hinblick auf die Anmut seines Stils Schnorhali
genannt, ein Beiname, der sich nur schwer dem Zwang der Übertragung
ins Deutsche fügt und am besten unverändert übernommen wird. Denn
er bezeichnet nicht nur den Anmutigen, sondern auch den Begnadeten,
und man möchte doch von den beiden durch ein einziges Wort gesetzten
Denkmälern am liebsten keines missen, und ganz gewiß nicht das zweite.
Denn begnadet war Nerses wie das ganze hochangesehene Geschlecht,
dem er entstammte. Geboren im Jahre 1102, mütterlicherseits ein Enkel
des schon erwähnten Statthalters von Mesopotamien, Gregor Magistros,
aufgewachsen in der Nähe seines Großoheims, des gleichfalls als
Schriftsteller geschätzten Katholikos Gregor II., des Märtyrerfreunds,
seinem Bruder, dem jungerwählten Katholikos Gregor III., ein treuer
und kluger Helfer, endlich, schon hochbejahrt, dessen Nachfolger
im Amt, starb er, 71 Jahre alt, den Platz seinem Neffen, Gregor IV.^
dem Kinde, räumend. Nerses Schnorhalis literarische Tätigkeit ist um-
fassend und bedeutend. Als würdiger, pflichtbewußter Walter seines
hohen Amts erscheint er in all seinen Briefen, unter denen nur zwei be-
sonders genannt sein mögen, ein im Jahre 1166 erlassenes enzyklisches
Schreiben und ein Brief an die Geistlichkeit von Samosata mit Vorschriften
für die Aufnahme der sogenannten Sonnensöhne, der Anhänger einer par-
sischen Sekte, in das Christentum. Heiße Inbrunst spricht aus seinem
berühmten, in viele Sprachen übersetzten Gebet, das in vierundzwanzig
Teilen den verschiedenen Stunden des Tages angepaßt ist. Und aus seinen
dichterischen Werken im engeren Sinne endlich redet, so viel Verskünstelei
nach arabischem Vorbilde auch in ihnen zutage tritt, alles in allem doch
ein echter Dichter, ein in Wahrheit begnadeter. Das gilt vor allem für
seine große, meist nach den Anfangsworten als „Jesus der Sohn" bezeich-
nete Dichtung, auch für seine Elegie auf die Eroberung der Stadt Edessa
und vielleicht in erhöhtem Maße noch für seine Hymnen.
Im Hymnus erreicht die christlich armenische Posie wohl überhaupt Hymnanum
ihren Höhepunkt, und den Anteil, den Nerses Schnorhali an der Her-
stellung der bis heute im Kirchendienst gebrauchten Sammlung- genommen
hat — etwa ein Fünftel des Ganzen ist sein Eigen — , steht dem Besten
nicht nach. Wie alt die einzelnen Bestandteile des heutigen Hymnariums
sind, entzieht sich vielfach unserer Kenntnis. Die Überlieferung nennt als
Verfasser der einzelnen Stücke eine Reihe wohlbekannter Namen und
19*
2()1
Franz Nikolaus Finck : Die armenische Literatur.
schreibt Verschiedenes schon dem fünften Jahrhundert zu. Wieweit diese
Angaben im einzehien stichhaltig- sind, muß vorläufig dahingestellt werden.
Nur so viel steht fest, daß das heutige Hymnarium als kanonisierte Samm-
lung erst nach der Zeit des Nerses Schnorhali zum Abschluß gekommen
ist, und daß die Wirkung, die es als Ganzes ausübt, auch seines Geistes
Hauch in starkem Maße spüren läßt.
Andere Schrift- Ncrses Sclinorhali allein würde genügt haben, dem 12. Jahr-
Kenaissance. huudcrt eine Bcdeutung" zu verleihen. Zum Glück für die armenische
Literatur aber beruht sein Ruhm doch nicht auf ihm allein. Als Vertreter
der Exegese verdienen Ignatius und Sargis genannt zu werden, zwei
Studiengenossen des Nerses Schnorhali aus der Zeit, wo er im roten
Ivloster, einer damals berühmten Stätte der Bildung, unter Stephans des
Gelehrten Leitung in die Theologie eingeführt wurde. Als Dichter taten
sich Johannes der Diakon, der schon erwähnte Katholikos Gregor IIL,
der Katholikos Gregor das Kind und Chatschatur von Taron hervor.
Exeget, Homilet und Dichter zugleich, vielleicht auch noch mehr als
alles dies war Nerses von Lambron, ein Neffe des Anmutigen und
Begnadeten, und Mchithar Gösch bewährte sich als Rechtslehrer, Exeget
und Fabeldichter.
Durchbruch des Dicscr Reuaissanceliteratur des 12. Jahrhunderts gegenüber erweckt
volkstümlichen . ..-, ^-, ^ it^i-r
Schrifttums, das SO wenig bestechende, m einfachstem Gewände auftretende Schrifttum
der sich anschließenden Zeit auf den ersten Blick den Anschein des Ver-
falls, wenn auch mindestens ein Dichter im Sinne des Klassizismus an-
erkannt werden muß, nämlich Johannes von Ersnka. Im Hinblick auf die
Zukunft aber, im Hinblick auf eine neue, der alten Fesseln ledige Zeit,
erscheint diese Periode doch in einem ganz anderen, in einem durch-
aus günstigen Licht. Es ist der Durchbruch des volkstümlichen Geistes,
was ihr ihr Gepräge gibt. Freilich entbehrt diese nicht auf die Kreise
der Gelehrten beschränkte, nicht für Feinschmecker bestimmte Literatur
jener geschlossenen, abgeklärten Form, die dem Klassizismus des 5. Jahr-
hunderts und seiner Renaissance im 12. eigen war. Auch fehlte es viel-
leicht überhaupt an dem Versuch, einen höheren Schwung zu nehmen.
Wenigstens kommt die eigentliche Poesie, selbst als Beigabe zur Theologie
oder Geschichtschreibung, kaum zur Geltung. Es sind praktische Ange-
legenheiten, die im Vordergrunde des Interesses stehn, und die wichtig^sten
Betätigungen des literarischen Schaffens sind Erörterungen über Handel
und Verkehr, Ackerbau, Medizin, Recht und Verwaltung. Und die Sprache,
in der dies alles zum Ausdruck kommt, ist die des Volks, das heißt die
des ganzen Volks, nicht etwa ein auf die unteren Schichten der Gesell-
schaft beschränktes Idiom, eine Sprache, die neben dem Vorzug der all-
gemeinen Verständlichkeit auch noch den besaß, hoffähig zu sein. Daß
dies der Fall war, beweisen die uns erhaltenen Aktenstücke der könig-
lichen Kanzlei, das beweisen die Schriften des Kronfeldherrn Smbat, des
Bruders des Königs Hethum I., seine Chronik, seine Übersetzung der
V. Die Zeit des Verfalls vom 13. — 17. Jahrhundert. 203
„Assises d'Antioche" und seine tief eingreifende, zeitgemäße Erneuerung
des altern, Ende des 12. Jahrhunderts von Mchithar Gösch zusammen-
gestellten Rechtsbuchs, das beweist die Chronik, die Hethum von Korikos
verfaßt hat, ein Verwandter und Altersgenosse des gleichnamigen Königs,
der als zweiter seines Namens den Thron von Kilikien innehatte. Ja, die
Tatsache der Hoffähigkeit dieser Sprache steht so fest, daß man schon
eher auf den Gedanken verfallen könnte, daß sie vielleicht nur das Ver-
kehrsmittel des Hofs gewesen wäre, von der Rede des Volks ebenso ge-
schieden wie die Sprache der Gelehrten und Geistlichen. Aber dieser
Auffassung würde doch die aus der Vergleichung der heutigen Mundarten
gewonnene Erkenntnis und auch ein ausdrückliches Zeugnis widersprechen,
nämlich eine Bemerkung des erwähnten Kronfeldherrn Smbat. Dieser
sagt nämlich in der Einleitung zu dem von ihm bearbeiteten Rechtsbuche:
„In diesem Betreff nun habe ich, Smbat, Gottes unwürdiger und sünd-
hafter Diener, der Sohn des Reichsverwesers Konstantin und Bruder des
frommen Königs der Armenier Hethum, mich mit vieler Mühe der Bear-
beitung dieses dem Sinn nach veralteten Gesetzbuches unterzogen . . . und
ich habe es mit vieler Mühe aus alter, schwerfälliger und unverständlicher
Schrift in unsere leichtverständliche und allgemeingebräuchliche Sprache
übertragen . . . ." Diese volkstümliche Literatur wurde nun freilich nicht
im entferntesten das, was die Befreiung aus dem Bann des Klassizismus
hätte erreichen können. Vor allem kam es auf dem Gebiete der eigent-
lichen Poesie, wo ja nun Gelegenheit zu einer naturwüchsigen, gesunden
Entwicklung war, doch nur zu recht bescheidenen Blüten, zu allerlei netten
Kleinigkeiten, und erst am Ausgang dieser Bewegung, erst im 18. Jahr-
hundert, tritt ein Volkssänger auf, der etwas mehr war als ein sich quä-
lender Gelegenheitsdichter, der Tifliser Haruthjun mit dem Dichternamen
Sajath-Nova, ein Sänger, dem das Lied entquillt, wie's aus dem Herzen
zur Freiheit drängt. Aber auch die in Armenien nie ermüdende Geschicht-
schreibung und theologische Literatur unterwarf sich nur in geringem
Maße dem am Hofe in Kilikien herrschenden Dialekt. Nicht nur andere
Mundarten machten sich geltend, sondern auch das klassische Element
versuchte immer noch seine Stellung zu behaupten, und so entstand viel-
fach eine Sprache, die allem Anschein nach die des 5. Jahrhunderts sein
sollte, unter dem Einfluß der volkstümlichen Rede aber zu einem Gemisch
des Alten und Neuen wurde.
V. Die Zeit des Verfalls vom 13. — 17. Jahrhundert. Unter den sdTreibung'TOrä
Geschichtschreibern dieser Zeit ist zunächst Matthaeus von Edessa zu er- 'hundert. '''
wähnen, der die wichtigsten Ereignisse von der Regierung des Bagratiden
Aschot des Barmherzigen bis zum Jahre 1132 schildert, nicht gerade immer
mit jener abwägenden Gerechtigkeit, die man dem Historiker wünschen
möchte — sein Haß gegen Byzantiner, Araber und Franken tritt unver-
schleiert hervor — , auf jeden Fall aber ein schätzenswerter Berichterstatter
294
Franz Nikolaus Finck: Die armenische Literatur.
der denkwürdigen Kreuzzugszeit. Eine Fortführung' dieses Werkes bis
zum Jahre 1162, in der vor allem wertvolle Berichte über die Einfälle
des Kaisers Johannes Komnenos in Syrien und Kilikien, die 1144 erfolgte
Einnahme Edessas durch Zenki, den christenfeindlichen Atabeg von Syrien
und ^Mesopotamien, sowie die Kriege seines Sohnes Nur-ed-din mit Kreuz-
fahrern geliefert werden, hat Gregor den Presbyter zum Verfasser. Samuel
von Ani hat eine Chronik vom Anfang der Welt bis zum Jahre 117g
hinterlassen, ein etwas trockenes Buch, dessen Darstellung der älteren
Zeit fast ganz auf Eusebius und Moses von Chorene zu beruhen scheint.
Eine andere Weltchronik bis zum Jahre 1267 ist vom Vardapet Wardan
dem Großen verfaßt, einem vielseitig bewährten Schriftsteller, der abge-
sehen von verschiedenen theologischen Abhandlungen auch noch eine
Geographie und eine Sammlung von Fabeln ausgearbeitet hat. Ausführ-
licheres und vor allem Neues bietet diese Chronik jedoch nur hinsichtlich
der Zeit der Arsaciden, während die dem Verfasser zunächst liegenden
Ereignisse überkurz abgefertigt werden. Von Kyriakos von Gandsak
stammt eine Geschichte Armeniens von der Zeit Greg'ors des Erleuchters
bis zum Jahre 1267, kurz in allem, was die ältere Epoche anbetrifft, aber
mit wichtigen Nachrichten über die Araber, Mongolen und Türken aus
eigener Anschauung. Stephan der Orbelier hat eine Geschichte der Pro-
vinz Siunikh hinterlassen und Malachia der Mönch eine wenigstens inhalt-
lich interessante Darstellung der Züge der Tataren vom Jahre 1228 bis
zum Jahre 1272. Thomas von Medsoph schildert die Kriege Timurlenks
und vor allem die von ihm angerichtete Verwüstung Armeniens. Arakhel
von Tauris endlich beschreibt schlicht und einfach die ihm naheliegende
Zeit vom Jahre 1601 bis zum Jahre 1662, darin besonders die gewaltsame
Verschickung der Armenier der Provinz Airarat nach Ispahan und anderen
Städten Persiens.
Weit weniger bedeutend ist die theologische Literatur dieses langen
Zeitraums, die wohl nur eine große Persönlichkeit hervortreten läßt, Gregor
von Tathew (1340 — 14 n), und diesen einen Mann auch nicht so sehr um
seiner schriftstellerischen Kunst willen groß erscheinen läßt, als vielmehr
wegen seines fanatischen Hasses, wegen der von seinem Haß geschürten
Glut im vaterländischen Kampf wider die Bestrebungen der Unitoren,
die römischen Glauben und römischen Geist in Armenien einzuführen ver-
suchten.
So hatte also der vielversprechende Aufschwung unter der Dynastie
der Rubeniden sein Ziel doch nicht erreicht, und erst der neuesten Zeit
sollte es gelingen, eine freie, der Fesseln des Klassizismus ledige Literatur
ins Leben zu rufen, eine Literatur, die freilich noch nicht derartig abge-
schlossen vorliegt, daß eine allseitige gerechte Würdigung möglich wäre,
die aber auf alle Fälle lebensfähig ist und auf eigenen Füßen steht.
VI. Die Renaissanceliteratur der Mchitharisten (vom i8. Jahrhundert ab). 2QK
VI. Die Renaissanceliteratur der Mchitharisten (vom i8. Jahr-
hundert ab). Doch wie dem ersten Versuche eines volkstümHchen Schrift-
tums eine Wiederbelebung" des klassischen Geistes voranging, deren mäch-
tigster Förderer Nerses Schnorhali war, so wurde es auch vor dem Beginn
der vom europäischen Geiste entfachten neuen Literatur noch einmal ver-
sucht, die Sprache des 5. Jahrhunderts wieder aufzuwecken. Dies geschah,
als zu Anfang- des 18. Jahrhunderts Manuk von Sebaste, der der Welt
unter seinem Klosternamen Mchithar bekannt geworden ist, die nach Mchithar
diesem Namen benannte Kongregation gründete. Geboren im Jahre 1676,
mit 14 Jahren zum Diakon, mit 20 Jahren zum Priester geweiht, sammelte
er unter dem Einfluß der französischen Jesuitenmission schon im Jahre 1701
zu Konstantinopel eine kleine Schülergemeinde um sich, die er nach der
Ordensregel des heiligen Antonius org^anisierte. Diese Kongregation, auf
heimischem Boden nicht lebensfähig, versuchte dann kurze Zeit nachher
auf Morea, das damals unter der venetianischen Regierung stand, festen
Fuß zu fassen, was auch zu gelingen schien, da der ankommenden Ge-
nossenschaft in zuvorkommender Weise ein Platz zur Erbauung eines
Klosters und einer Kirche zur Verfügung gestellt wurde. Um jedoch den
zu erwartenden Folgen der unglücklichen Kriege der Venetianer gegen
die Türken auszuweichen — mit der Eroberung von Morea war auch die
Auslieferung an die über die Abtrünnigen empörte Geistlichkeit von Kon-
stantinopel zu befürchten — siedelte Mchithar im Jahre 17 15 mit seiner
schon 17 12 vom Papste Klemens XI. bestätigten Kongregation nach Ve-
nedig über, wo er dann zwei Jahre später vom Senate die Insel S. Lazzaro
zum Geschenk erhielt. Dort wie auch in der nach Triest und später
nach Wien abgezweigten Gemeinde wurde nun der Beweis dafür erbracht,
daß eine armenische Kultur selbst unter Preisgebung der nationalen
Kirche noch möglich blieb. Eine gewaltige philologische Tätigkeit griff
Platz, und Europa erhielt jetzt erst einen tiefen Einblick in das Leben des
armenischen Geistes, wurde jetzt erst in den Stand gesetzt, den Reichtum
seiner literarischen Schätze zu übersehen. Die Geschichtschreibung, Alter-
tumskunde, Geographie, Grammatik, Lexikographie und Literaturgeschichte
wurde rührig, ja mit bahnbrechender Energie betrieben, und die in den
Handschriften geborgenen Werke der Vergangenheit wurden der Welt zu-
gänglich gemacht. In dieser Philologentätigkeit liegt der Mechitharisten
unbestreitbares, dauerndes Verdienst. Weniger fruchtbar, ja fast verfehlt
war dagegen wohl der Versuch, die klassische Sprache des 5. Jahrhunderts
noch einmal zum Ausdruck erneuter Geistestätigkeit zu machen. Bei ge-
lehrten Werken konnte man sich die Gelehrtensprache schließlich gefallen
lassen. Die Kunst aber sehnte sich wie immer nach einem Ausdruck,
der der Anschauung angemessen, mit ihr zu untrennbarer Einheit ver-
bunden war, und dieser konnte naturgemäß nicht mehr der des 5. Jahr-
hunderts sein.
Abowjan.
2 00 Franz Nikolaus Finck: Die armenische Literatur.
Die moderne VII. Die modeme Literatur (ig. Jahrhundert). Der Begründer der
neuen , von europäischem Geiste entfachten und durchwehten Literatur,
chatschatur deren Schwerpunkt im Osten Armeniens liegt, wurde Chatschatur Abowjan.
Geboren im Jahre 1804, durch einen sechsjährigen Studienaufenthalt an
der Universität Dorpat in das deutsche Geistesleben tief eingeführt, wurde
er nach seiner Rückkehr in sein Vaterland der zielbewußte Vermittler
abendländischer Kultur und zugleich, eine echte Dichtematur, eben des-
halb auch der Begründer einer trotz allem fremden Einfluß doch durch
und durch nationalen Kunst. Erfüllt von jenem eigenartig germanischen
Geiste, den man nicht gerade sonderlich deutlich Romantik nennt, dem
Geiste, der den Sieg über die Antike errang, ging Abowjan an sein Werk,
und dieser Geist ward ihm unter der formenden Kraft seiner Anschauung
zum nationalen Realismus. Das zeigt wohl am besten sein Hauptwerk,
der Roman „Die Wunden Armeniens", eine Erzählung aus dem Leben,
aus dem armenischen Leben der Verfolgung und Unterdrückung durch die
persische Gewalt, der jener Teil des Landes, in dem die Geschichte spielt,
seit den Tagen Schah Abbas des Großen (1586 — 1628) wieder unterstand.
Die Sprache, in der Abowjan schrieb, war die seiner engeren Heimat,
seine Muttersprache im eigentlichsten Sinne, was der Wirkung seiner an-
schaulichen Kunst gewiß zum Vorteil gereichte. Aber es war doch immer-
hin nur eine unter vielen Mundarten, und diese eine war trotz Abo wj ans
sie adelnder Persönlichkeit doch nicht mächtig genug, um alle anderen
oder auch nur die Ostarmeniens zu verdrängen oder in sich aufzunehmen.
Eine in dieser Umgrenzung gemeinverständliche Sprache wurde erst durch
ein Zurückgreifen auf die ausgebildete Rede der klassischen Zeit möglich,
durch eine Verbindung der ernst feierlichen Sprache der alten Meister mit
der neubefruchtenden, immer lebendigen Ausdrucksweise des Volks. Diese
vSchöpfung der neuostarmenischen Literatursprache, die aber keineswegs
nur eine Schriftsprache genannt werden darf, ist hauptsächlich dreier
Männer Verdienst, und diese drei sind Stephan Nasarjan, Michael Nal-
bandjan und Rafael Patkanjan. Die hierdurch ermöglichte und von den
Genannten selbst schon angebahnte, in gewissem Sinne gemeinverständ-
liche Literatur weist einen starken Einfluß abendländischen Geistes auf,
obwohl es sich von vornherein nicht um bloße Nachahmung, sondern um
eine Verarbeitung handelt, die schon auf Selbständigkeit hinweist. Smbat
Schah- Asis, im Jahre 1841 zu Aschtarak geboren, läßt vor allem Byrons
mächtige Einwirkung spüren, daneben aber auch wohl die eines Puschkin
und Lermontow und in mancher Hinsicht auch die Heinrich Heines.
Eünfzig Jahre nach Byrons „Hours of Idleneß" veröffentlichte er seine erste
Sammlung von Gedichten unter gleicher Aufschrift, und das nicht zufällig,
wie der Inhalt zeigt. Und sein Hauptwerk, die längere Dichtung „Leos
Leiden", kann Childe Harolds wie auch Eugen Onegins Gevatterschaft
nicht in Abrede stellen. Raffi und Tserenz, in erster Linie Vertreter des
historischen Romans und unter diesen entschieden die ersten, haben sich
VII. Die moderne Litenüiir (19. Jahrhundert). 207
ersichtlich an abendländischen Mustern geschult, an Walter Scott und
anderen, die schon von diesem g'elernt hatten. Gabriel Ssundukjanz, der
beliebte Schöpfer satirischer Lustspiele, ist nach eigenem Geständnis stark
durch Schillers Kabale und Liebe sowie durch Molieres Komödien an-
geregt und beeinflußt worden. Am wenigsten Fremdes verraten unter den
Erzählern wohl L. Aghajanz und P. Proschjanz, die am festesten im hei-
mischen Boden wurzeln und deshalb nächst Abowjan vielleicht am meisten
Anspruch auf Beachtung ihrer vorbildlichen Kraft haben. Und auch die
Liederdichtung endlich, ihrem Wesen nach weniger dem Einfluß des
Fremden ausgesetzt, hat schon manche verheißende Blüte gezeitigt. Ho-
wanesjan, Thumanjan, Dsaturjan, Isahakjan und Aghajan verdienen wohl
von den Ostarmeniem vor allen genannt zu werden, und von den West-
armeniern sind wenigstens zwei, den genannten zeitlich schon voraus-
gehende Dichter anzuführen, Mkrtitsch Beschiktaschljan und ganz besonders
Petros Durjan, der früh, im Alter von 21 Jahren von der Schwindsucht
dahingeraffte Vielversprechende, der aber eben nur des Konfuzius Wort
bestätigen konnte: „Daß Blüten nicht zu Früchten werden, ach, das kommt
vor."
Doch dieses Wort gilt nicht für die ganze neuarmenische Literatur. Ausblick.
Auf dem kaum urbar gemachten Boden schafft und wirkt schon ein
rühriges Geschlecht. Wieviel von dem vielen, das alljährlich auf dem
Büchermarkte erscheint, die nächste Zeit oder gar unser noch langes
Jahrhundert überdauern wird, das vorauszusagen erfordert freilich Pro-
phetengabe. So viel aber steht fest, daß ein fester Grund da ist, auf dem
Höheres mindestens erwachsen kann. Eine das ganze Armenien beherr-
schende Sprache ist allerdings noch immer nicht vorhanden und wird in ab-
sehbarer Zeit auch wohl nicht entstehen. Aber die beiden Literatursprachen,
die sich getrennt voneinander im Osten und Westen entwickelt haben,
stehen einander doch so nahe, daß nur für den Schriftsteller ein Zwang
vorliegt, sich für die eine oder andere zu entscheiden, daß jedes Werk
dagegen Leser in beiden Kreisen finden kann. So ist also immerhin eine
schon weitgehende Einheit erzielt, und wenn auch wohl manches von dem,
was jüngere, hier nicht genannte Dichter und Erzähler g^eschaffen, bald
der Vergessenheit anheimfallen wird, so dürfen die Schaffenden sich doch
mit der Überzeugung trösten, daß sie den Boden für einen Größeren be-
reitet haben. Denn es sind mehr unreife Früchte als verwelkte, die heute
geboten werden, eine gute Vorbedeutung, ein hoffnunggewährendes Ver-
heißen einer bevorstehenden reifen Kunst.
Literatur.
Eine wenn auch kleine Probe armenischer Literatur ist dem Abendlande schon in der
ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vermittelt worden, und zwar durch Johannes Schilt-
BERGER aus München, der, 1394 im Kriege gegen die Türken in Gefangenschaft geraten,
lange unfreiwillige Reisen durch Asien unternahm und der nach seiner Rückkehr verfaßten
Beschreibung seiner Erlebnisse das Vaterunser in armenischer und türkischer Sprache als
Anhang beigab. Den ersten Versuch einer zusammenfassenden Darstellung der armenischen
Literatur unternahm der Generalabt der Mechitharistenkongregation zu S. Lazzaro SuKlAS
SOMAL in seinen beiden zu gegenseitiger Ergänzung verfaßten Büchern Quadro delle opere
di vari autori anticamente tradotte in Armeno (Venezia, 1825) und Quadro della Storia
letteraria di Armenia (Venezia, 1825). Auf diesen Werken beruht im wesentlichen auch
Carl Friedrich Neumanns Versuch einer Geschichte der armenischen Literatur (Leipzig,
1836). Alle drei Arbeiten sind inzwischen jedoch weit überholt durch die in westamienischer
Sprache verfaßten Werke des im Jahre 1901 verstorbenen Mechitharisten Karekin Sarbha-
NALIAN, Haigagan hin tbruthjan badmuthjun '^Geschichte der alten armenischen Literatur,
3. Aufl. [Venedig, 1897]); Badmuthjun hajeren tbruthjan. Nor madenakruthjun (Geschichte
der armenischen Literatur. Neue Literatur [Venedig, 1878]) und Madenataran haigagan thark-
manuthjanths nachnjaths (Bibliothek der alten armenischen Übersetzungen [Venedig, 1889]).
Auch diese Arbeiten lassen noch vieles zu wünschen übrig, sind aber — so vieles inzwischen
im einzelnen durch armenische und abendländische Forscher geleistet worden ist — doch
noch immer nicht durch eine gleich umfassende Darstellung ersetzt worden.
DIE GEORGISCHE LITERATUR.
Von
Franz Nikolaus Finck.
Einleitung. Die Anfänge der uns überlieferten georgischen Lite- Alter der
ratur reichen wahrscheinlich bis in das 5. nachchristliche Jahrhundert Literatur.
zurück. Sie bilden den Grund zu einer geistigen Betätigung, die im Laufe
der Zeit zu freiem, künstlerisch bemerkenswertem, ja bedeutendem Schaffen
führt, die naturgemäß dann und wann auch wieder erschlafft, aber trotz
mancher Unterbrechung doch eine erkennbar zusammenhängende Kette
von Geistesarbeiten bildet, eine Kette, die jene weit zurückliegende Zeit
mit unseren Tagen verbindet. Und doch ist das Volk, das sich dieses
Schrifttums rühmen darf, bei uns kaum viel mehr als nur dem Namen
nach bekannt, und das wenige, was hierzulande von ihm verlautet, ist
noch obendrein von manch irreführender Phantasterei umkränzt. So ist
es denn wohl doppelt geboten, der Skizze der Literatur dieses Volks eine
kurze Aufklärung über es selbst vorauszuschicken.
Die Georgier sind die Nachkommen der alten, schon von Herodot Georgier Nach
unter den kaukasischen Völkern erwähnten Iberer, eines der Mitte der alten Iberer,
gewaltigen Bergkette des Kaukasus südlich vorgelagerten Volks, dessen
östliche Nachbarn die später vermutlich in einem verwandten Stamm auf-
gegangenen Albaner waren, das im VV'esten auf die den Alten weit eher
und weit mehr bekannt gewordenen Kolcher stieß, auf die Bewohner
jenes Landes, das von den milesischen Ansiedlem für Aia, den Schauplatz
der Argonautensage, gehalten wurde und dank dem unvergänglichen
Leben jener dichterischen Gestalten auch weiteren Kreisen nahegerückt
worden ist. Der Name Georgier geht ebenso wie die auf der russischen
Benennung- beruhende Bezeichnung Grusiner auf das türkische Gürdsch
zurück. Die Selbstbenennung ist Kharthweli.
Diese Georgier im engeren Sinne, rund 470000 an Zahl, bewohnen Gegenwärtiger
A1-I Wohnsitz der
m zusammenhangenden großen Massen das Gebiet der Kura von Achal- Georgier,
zieh bis Tiflis, das des oberen und mittleren Alasan und das der Aragwa,
mithin den größten Teil der Kreise Gori, Telaw und Duschat des Gou-
vernements Tiflis, finden sich aber auch in nicht geringer Zahl außerhalb
500
Franz Nikolaus Finck: Die georgische Literatur.
dieses Gebiets, mit anderen Völkern vermischt oder inselartig unter die-
selben verstreut. Zu diesen Georgiern im engeren JSinne sind aber noch
verschiedene andere Stämme zu rechnen, die sprachlich so eng mitein-
ander verkettet sind, daß sie allen sie im Leben trennenden Sonderheiten
zum Trotz an der einen, altüberlieferten Literatur gemeinsam teilzunehmen
vermögen, im Genuß derselben und im weiteren Ausbau. Aufs allerengste
imerier und Schließen sich die Imerier und Gurier an, deren Sprache sich so wenig
Gurier.
von der eigentlich georgischen unterscheidet, daß die Annahme einer
Dreiheit nur durch andere Kennzeichen g^erechtfertigt werden kann, vor
allem durch die sinnfälligen Verschiedenheiten der Tracht und Hausanlage,
sowie der zwar nicht gleich leicht zu erfassenden, aber immerhin erkenn-
baren geselligen Äußerungen der geistigen Eigenart. Hinsichtlich der
Tracht ist es besonders die Kopfbedeckung der Männer, die eine Ab-
grenzung der drei Völker ermöglicht. Beim Georgier besteht sie in der
Regel in einer kegelförmigen, abgestumpften Schaffellmütze, beim Imerier
in einem verzierten, flachen Samt- oder Stoffstück, dessen mit spitzen Enden
versehene ovale Form das zur Aufnahme des Geschosses dienende Leder-
stück einer Schleuder darstellt, beim Gurier in einem Turban. Was die
Hausanlage anbetrifft, so herrschen unter den Georgiern Steinbauten mit
flachem Dach vor, die meist an einen Hügel angelehnt und nicht selten
teilweise oder ganz in die Erde eingegraben sind, unter den Imeriern von
einem breiten Balken umgebene Holzbauten mit spitzen Dächern, die man
mit Schindeln, Brettern oder Stroh bedeckt, unter den Guriern, soweit
nicht europäische Architektur schon Eingang gefunden hat, einfache Woh-
nungen ohne Fenster mit einer einzigen Öifnung in der Decke und einem
Feuerplatz inmitten des Raums. Die geselligen Äußerungen der geistigen
Eigenart endlich lassen in den Georgiern ewig sorglose, heitere große
Kinder erkennen, die alle Vorzüge edlen Bluts verraten, dafür aber auch
ein wenig schw^erfällig im Denken und Handeln sind, in den Imeriern
weniger zuverlässige Leute, aber geistig weit regsamere Unternehmer
und in den Guriern listige und verschlagene Fanatiker ihres Glaubens
und nicht minder ihres Stolzes. Die Imerier, rund 430 000 an Zahl,
wohnen westlich von den eigentlichen Georgiern, und zwar in dem öst-
lichen Teile des Gouvernements Kutais, die Gurier, etwa 87000 an Zahl,
in dem noch weiter westlich gelegenen Kreis Osurgeti desselben Gou-
vernements. Sprachlich gehört zu den Guriern auch noch ein zwar nicht
genau abzuschätzender, aber auf jeden Fall beträchtlicher Teil der moham-
medanischen Adscharen in den Kreisen Batum und Artwin, deren Gesamt-
zahl sich auf etwa 55 000 belaufen dürfte. Auch das kleine, kaum mehr
als 3000 Köpfe zählende Volk der Mthiuler im Kreise Gori des Gouver-
nements Tiflis steht den eigentlichen Georgiern sprachlich noch so nahe,
daß nur von geringfügiger mundartlicher Verschiedenheit geredet werden
darf, die sich hauptsächlich in der stärkeren Betonung und den durch
diese veranlaßten Verkürzungen zeigt. Ein wenig weiter abseits, aber
Adscharen.
Mthiuler.
I. Die Zeit der Vorbereitung (5. — II. Jahrhundert), xoi
auch noch mehr durch eigenartige Sitten, rechtliche und religiöse Be-
sonderheiten als durch die Sprachen geschieden, stehen die Chewsuren, chewsuren.
Pschawen und Tuschen auf den Bergen nordöstlich vom eigentlich geor- Pschawe«.
. _ . . . /-, Tuschen.
gischen Gebiet, im ganzen etwa 18000. Erst bei den Ingiloiern mi Ge- ingiioier.
biete Sakatali, deren Stärke sich auf rund 10 000 beläuft, macht sich die
Verschiedenheit der Sprachen etwas stärker fühlbar; aber auch diese ver-
mögen sich noch ohne Schwierigkeit mit den Angehörigen aller genannten
Stämme zu verständigen, so daß auch sie noch an einer georgischen
Literatur in dem Sinne, in dem sie hier zur Darstellung gelangen soll,
teilhaben. Für die übrigen, sprachlich fraglos verwandten Völker, für
die Mingrelier, Lasen und Swanen, gilt dies aber nicht mehr. Von diesen Mingreiier,
Lasen, Swanen.
drei Stämmen sind die beiden erstgenannten die Bewohner des alten
Kolchis und aller Wahrscheinlichkeit nach auch die, wenn auch nicht un-
vermischten Abkömmlinge des dort einst angesessenen Volks, das nach
Herodots ausdrücklicher, ausführlich begründeter Angabe aus Ägypten
stammte, seine ursprüngliche Sprache dann aber schon frühzeitig zugunsten
des Idioms der Iberer aufgegeben haben muß. Denn die südkauka-
sischen Mundarten haben nichts aufzuweisen, was dazu berechtigte, irgend-
welche Beziehungen zum Ägyptischen oder einer anderen hamitischen
Sprache anzunehmen. Abgesehen von verschiedenen Anklängen an die
Idiome der nordkaukasischen Bergvölker, die wenigstens eine entfernte
Verwandtschaft mit diesen als fast sicher erscheinen lassen, sondert sich
die ganze Gruppe der eng zusammengehörigen südkaukasischen Mund-
arten merkwürdig scharf von allen anderen Sprachen ab, und ob für die
Gesamtheit des kaukasischen Sprachstammes Zusammenhänge mit einem
andern Idiome, etwa dem susischen oder chaldischen anzunehmen sind,
dürfte sich auf Grund der bis jetzt gewonnenen Kenntnis kaum ent-
scheiden lassen.
I. Die Zeit der Vorbereitung (=;. — 1 1 . Jahrhundert). Wie die arme- christuch-kirch-
^ \^ •> I _ lieber Charakter
nische Literatur ist auch die der benachbarten Georgier zu Beginn aus- der aitgeorgi-
, . sehen Literatur.
schließlich christlich - kirchlich. Es fehlen sogar — was aber vielleicht
nur dem Zufall gestörter Überlieferung zuzuschreiben ist — die dort
w^enigstens in spärlichen Resten erhaltenen Erinnerungen aus heidnischer
Zeit ganz und gar. Derselbe griechisch-christliche Geist beherrscht das
ganze alte Schrifttum. Nur scheint zu Anfang nicht wenig armenische
Vermittlung dieses Griechentums vorgelegen zu haben, und sie ist wohl
erst nach der Trennung der beiden Kirchen gegen Ende des 6. Jahrhun-
derts mehr und mehr zurückgewiesen worden. Aber die Einwirkung
griechischen Geistes vermochte die georgische Literatur nicht im entfern-
testen derartig in den Bann zu schlagen, wie die ihr anfangs so bedeutend
überlegene armenische. Kein schnellerblühtes, für lange, lange Zeiten
vorbildliches Schrifttum steht am Beginn der Entwicklung, um nach jeder
Epoche des Verfalls von neuem auffrischend, richtunggebend zu wirken.
302 Franz Nikolaus Finck: Die georgische Literatur.
Langsam, aber in anscheinend stetig fortschreitender Arbeit bricht's sich
Bahn, und die Höhepunkte der georgischen kirchlichen Literatur fallen
nicht in die Zeit ihres Anfangs, sondern in die ihres Abschlusses, in die
Zeit, wo eine in Armenien in gleichem Maße nie erlebte Befreiung vom
rein kirchlichen Geiste, der Übergang- einer wesentlich theologischen
Literatur in eine weltliche, künstlerische im eng'eren Sinne schon nahe
bevorstand. Auch die ältere kirchliche Literatur der Georgier hat allem
Anschein nach einen beachtenswerten Reichtum besessen. Enthält doch
die älteste datierte Handschrift aus dem Jahre 864 schon 52 theologische
Werke, ein beredtes Zeugnis dafür, wie verbreitet auch schon die der
Übersetzung biblischer Schriften erst folgende Literatur war. Aber es
fehlt doch gar sehr an Persönlichkeiten, die sich unverkennbar über ihre
Zeitg-enossen erheben. Es lassen sich verschiedene Klöster im Lande
Georgien selbst und außerhalb seiner Grenzen aufzählen, die als hervor-
ragende Stätten kirchlicher Bildung- berechtigtes Ansehen genießen, aber
die Persönlichkeiten verschwinden fast ganz unter dem ausgleichenden
Druck der Genossenschaft. Erst im 10. bzw. 11. Jahrhundert treten zwei
Männer auf, die sich merklich von ihrer Umgebung abheben, in denen
die eig-entlich kirchliche Literatur der Georgier ihre Höhe erreicht zu
Euthymios. habcu schclnt, der heilige Euthymios, dessen Tod in das Jahr 1028 fällt,
Georg vom Und vor allem sein jüngerer im Jahre 10 14 geborener Vetter Georg vom
heiligen Berge. . .
heiligen Berge, d. h. aus dem weltberühmten Kloster auf dem Berge
Athos, der hohen Schule theolog-ischer Bildung für die Georgier der da-
maligen Zeit. Aber dieser Höhepunkt der altgeorgischen kirchlichen
Literatur ist keineswegs der Höhepunkt des georgischen Schrifttums über-
haupt. Die fanatisch religiöse Glut, die Armeniens Geistesbetätigung vom
Anfang an, fast bis auf unsere Zeit, durchströmt, scheint dem georgischen
Charakter nicht eigen zu sein. Zwar bleiben auch sie, von vereinzelten,
halb und halb erzwungenen Ausnahmen abgesehen, dem Christentum unter
drückenden Verhältnissen und in rauhen Stürmen treu. Aber die zahl-
reichen Vermittlungsarbeiten der alten georgischen Mönche, ihre vielen
fleißigen Übersetzungen und Bearbeitungen christlich -griechischer Werke
erscheinen dem das Ganze rückschauend Überblickenden zwar als Grund-
legung, aber nicht als wert- und richtungsbestimmendes Vorbild. Sie er-
weisen sich vielmehr als Vorbereitung, als Anbahnung einer der geistigen
Eigenart des Volkes mehr angemessenen, weltlich ritterlichen Kunst.
Beginn der H. Die Blütezeit (12. Jahrhundert). Diese Befreiung von der Eng-
Befreiang von
ausschließlich herzigkeit eines nur auf das Kirchliche bedachten vSinns beginnt wohl
kirchlichem . .
Geist. schon unter der Regierung Davids IIL (1089 — 1125), dem die seine be-
deutende Wirksamkeit dankbar anerkennende Nachwelt den Beinamen
des Erneuerers verliehen hat, und ihren vollendeten Sieg feiert sie fraglos
unter der Herrschaft der anscheinend unvergeßlichen, in aller Georgier
Thamar. Erinnerung ewig lebenden Königin Thamar (11 84 — 12 12), unter der das
II. Die Blütezeit (12. Jahrhundert). ^03
erstarkte, von Trapezimt bis zum Kaspischen Meere ausgedehnte Reich
ein Boden blühenden Wohlstands ward, der die dankbare Nachwelt, nicht
lange prüfend .und rechtend, in Bausch und Bogen beinahe alles Gute
zuschreibt, was das Land besitzt, das wirklich Vollbrachte mit einer
Legende von weiteren Verdiensten umkränzend.
König David, selbst ein Dichter, pflegte als solcher freilich noch in David
. . IT-» ^'^'- Erneuerer
ausgesprochenem Maße die ernste religiöse Poesie. Seme von hoher Be- als Dichter,
geisterung- getragenen „Bußlieder" lassen deutlich die Einwirkung der
Psalmen erkennen, als wenn die Lieder des namensverwandten Herrschers
von Juda und Israel es ihm angetan hätten. Und sein „Testament", eine
an sein Volk gerichtete Mahnrede, offenbart ebenfalls einen stark reli-
giösen, der Vergänglichkeit alles Irdischen bewußten Geist. Und doch
darf wohl der Keim der Blüte der georgischen Literatur mit ihrem lebens-
frohen, weltlichen Gepräge schon in der Zeit dieses Königs gesucht
werden. Denn in ihr beginnt die nationale Erstarkung-, die unter der
Regierung seiner Urenkelin Thamar ihre Vollendung erreichte und die
unter ihr sich entfaltende weltfreudige künstlerische Tätigkeit ermöglichte.
Die schöne, hochherzige Königin hat sich nicht nur als die schutz-
gewährende Herrscherin ein Verdienst um die Kunst ihrer Zeit erworben.
Sie scheint auch in nicht geringem Maße als die im Ritterkreise verehrte,
auch wohl von mancher hoffnungslosen Liebe heimlich angeschwärmte
hohe Frau tief anregend gewirkt zu haben. Das offen zur Schau ge-
tragene Lob ist dabei vielleicht am wenigsten in Anschlag- zu bringen.
Selbst Gregor Thschachruchadses einigermaßen berühmt gewordenes Preis- Thschachru-
chadse.
gedieht ist doch wohl kaum viel mehr als eine etwas langatmige Ge-
dankenchrestomathie aus den Werken der Alten. Vereidigter Hofdichter
zu sein, ist eben in allen Fällen eine mißliche Sache, selbst dann, wenn
die anzusingende Persönlichkeit das Geschäft so leicht macht, wie die
liebreizende Thamar es wohl getan hat. Ihr bestes Denkmal ist die ganze
lebensfrohe, ritterliche, höfische Poesie, die an ihrem Hofe eine Art Wirk-
lichkeit ward, das Zeugnis einer weltfrohen, glücklichen Zeit, in der man
nicht unter schwer lastendem Druck mit der Sorge des harten Lebens zu
ringen hatte, in der sogar der Kampf zum Spiele werden konnte, zum
Spiel des Rittertums. Allerdings ist der Einfluß, den die persische Lite-
ratur dabei ausgeübt hat, nicht zu verkennen. Aber wenn es sich auch
überwiegend um Bearbeitung iranischer Stoffe, zum Teil vielleicht nur um
mehr oder minder freie Übersetzungen handelt, so dürfen die Georgier
diese Literatur doch ebensogut für eine eigene halten, wie auch wir Hart-
mann von Aues, Gottfried von Straßburgs und Wolfram von Eschenbachs
Dichtung-en nicht für keltisch -romanisch, sondern für deutsch erachten.
Vielleicht dürfen sie es sogar mit noch mehr Recht als wir, w^obei es
unberücksichtigt bleiben darf, wer sich der größeren Dichter rühmen kann.
Denn das Rittertum steckt viel tiefer im Georgier als im Deutschen, so
tief, daß man sich des Gedankens nicht erwehren kann: des sinnreichen
204 Franz Nikolaus Finck: Die georgische Literatur.
Junkers Don Ouixote von der Mancha Lebensbeschreibung ist ziemlich
eindruckslos an ihnen vorübergegangen. Wer Gelegenheit gehabt hat,
der vor wenigen Jahren veranstalteten Feier der hundertjährigen Zu-
gehörigkeit Georgiens zum russischen Reich mehr beobachtend als mit-
spielend beizuwohnen, wird diesen Eindruck nicht mehr verwischen können.
Das aber, was uns heute überlebt, fast wie ein Theater vorkommen muß,
war damals noch durchaus begreiflich und wohl auch berechtigte Wirk-
lichkeit, und die fremden Geschichten von Abenteuern, Liebesfeldzügen
und Waffenspielen mußten eigene werden, weil sie ganz dem eigenen
Leben entsprachen.
Drei Werke sind es vor allem, deren Ruhm die lange Zeit bis auf
Sargis unsere Tage überdauert hat, des Sargis von Thmogwi Prosabearbeitung
mog\M. ^^^ persischen Sage von Wis, der Frau des Königs Mobad, und Ramin,
seinem Bruder und Nebenbuhler, einer Liebesgeschichte gleich der von
Tristan und Isolde, die ein Jahrhundert vorher in Persien in Fachr-eddin
Assad Dschurdschani auch schon ihren Meister Gottfried gefunden hatte,
Moses von Chcni. des Moscs von Choni Ritterroman von Amiran, dem Sohne des Dare-
Schotha.Aschot;dschan, und die alles überstrahlende Dichtung des Schotha von Rusthawi,
des Schatzmeisters der Königin Thamar, das Epos Wephchis-Tkaossani,
„der mit der Tigerhaut", bis heute jedes Georgiers Stolz. Der Schau-
platz der Dichtung ist Arabien. Der greise König Rostevvan hat, der
Ruhe begehrend, seiner Tochter Thinathin die Herrschaft übergeben, wird
nun aber in seiner Zurückgezogenheit doch durch den Gedanken gequält,
daß sich wohl kaum ein Ritter im Lande finden werde, der es ver-
diene, der Prinzessin und ihres Reiches Schützer zu sein. Zwar steht
ihr in dem jungen Befehlshaber des Heeres ein auserlesener Ritter zur
Seite, Awthandil, schlank wie die Zypresse mit diamantenfester Seele,
dem auch das Rot der Wange schwindet, wenn er, den Verhältnissen
seines Amtes gehorchend, der schönen Königstochter fern weilen muß,
dessen Herzensglut auch immer wieder ins Antlitz dringt, wenn es ihm
vergönnt wird, sich ihr zu nahen. Aber sie scheint seiner nicht sonder-
lich zu achten, und auch die Proben der Waffentüchtigkeit, die Awthandil
dem Könige bei einem eigens dazu unternommenen Jagdzuge zu liefern
verspricht und auch liefert, führen ihn noch nicht zum Ziel. Ein glück-
licher Zufall muß ihm erst zu Hilfe kommen. Bei Gelegenheit der Jagd,
auf der der junge Ritter seinen Wert zu beweisen gedachte, findet man
im Walde einen in ein Tigerfell gehüllten, weinenden Jüngling. Der
König Rostewan will den Grund der Trauer feststellen lassen; aber der
junge Mann verschwindet, sich scheu zurückziehend, im Dickicht, ehe es
noch geschehen kann, und der greise Herrscher gerät darüber in tiefen
Kummer. Da verspricht seine Tochter, um ihm nach Möglichkeit Hoff-
nung auf Erfüllung seines Wunsches zu machen, den Ritter als Gatten
anzunehmen, dem die Auffindung des seltsamen Jünglings gelinge. Da
bietet sich nun natürlich Awthandil zu diesem Unternehmen an und begibt
III. Die Zeit des Verfalls (13.— 17. Jahrhunderl). oq-
sich auf die an Abenteuern reiche, zu breiter Entfaltung der Erzählungs-
kunst Anlaß gebende Fahrt, die ihn nach drei Jahren denn auch zum
Ziele führt. Der Jüngling mit dem Tigerfell stellt sich als der indische
Prinz Tariel heraus, den die Liebe zur Königstochter Nestan dazu geführt
hatte, deren Bräutigam zu erschlagen, der dann, als Nestan für die Täterin
gehalten und verstoßen ward, sein Vaterland verlassen hatte, um die bald
Verschollene aufzusuchen, und sich endlich, am Erfolg verzweifelnd, in
sein Versteck zurückg'ezogen hatte. Dank seines Entdeckers Awthandil
und anderer Hilfe gelingt es ihm nun, die in einer scheinbar unzugäng-
lichen Burg gefangen gehaltene Nestan zu befreien und sich mit ihr zu
vermählen, während der kühne Abenteurer und Held Awthandil, nach
Arabien zurückgekehrt, Thinathins schwererkämpfte Hand erhält und Erbe
des königlichen Thrones wird.
Wieviel der Dichter dieser Erzählung fremden Vorlagen verdankt,
läßt sich heute wohl kaum mit befriedigender Sicherheit feststellen. Aber
auf jeden Fall ist er etwas mehr gewesen als nur ein Nacherzähler ihm
sei's mündlich, sei's schriftlich überlieferter Abenteuerberichte, vielleicht
sogar ganz bedeutend mehr. Nicht selten an Wolfram von Eschenbach
wenigstens ein wenig gemahnend, sucht er in die Tiefe zu gehen und für
seiner Seele Stimmung einen Ausdruck zu finden. Nur dem Namen nach
ist es ein fremder Schauplatz, auf dem die Handlung sich abspielt. In
Wahrheit ist es des Dichters Heimatland, und es ist nicht unwahrschein-
lich, daß er in der indischen König'stochter Nestan seine hoffnungslos
geliebte Herrin Thamar selbst dargestellt hat, durch die Verlegung des
Schauplatzes wenigstens unmittelbaren Anstoß klug vermeidend.
III. Die Zeit des Verfalls (13. — 17. Jahrhundert). Mit dem Tode zeit des Verfalls,
der großen Königin schwand auch bald Georgiens Größe. Die prunkhaft
ritterliche Herrlichkeit hatte auch wohl zu leichtfertig auf Kosten eines
gesunden, arbeitsfreudigen Volkstums gelebt, sich überlebt und den letzten
Rest der in jedem Ritter lebenden Kraft des Helden ertötet. Auf jeden
Fall war man den Stürmen nicht gewachsen, die nun das Land überziehen
sollten, alle Kultur wegfegend, daß nicht viel mehr als eine Wüste blieb.
Kurz nach Thamars Tode drangen siegreiche Mongolen ins Land. Wenig-e
Jahre später erschien Dschelal- eddin, der Sohn des von Dschengis-Chan
vertriebenen Chwaresmierschahs Mohammed (1199 — 1220), nach seinem
vergeblichen Versuch, das väterliche Erbe wiederzuerkämpfen, sich nach
Art eines tapferen Räuberhauptmanns anderwärts für den Verlust ent-
schädigend. Und kaum hatte Georgien sich von den Gewalttaten dieses
Eindringlings erholt, als, im Jahre 1236, die Mongolen unter Dschengis-
Chans Sohn von neuem verheerend ins Land fielen, dort in wenig^en
Jahren alles untertänig machten und sich zu langer Dauer einnisteten.
Wohl atmete das vielgeplagte Land noch einmal auf, als Georg V., der
Glanzvolle, im Jahre 13 18 den Thron bestieg. Aber ehe noch das Jahr-
DiE Kultur der Gegenwart. I. 7. 20
3o6
Franz Nikol^vus Finck: Die seoisische Literatur.
hundert zu Ende ging, brach Timur Lenk, der furchtbarste aller Feinde,
ein, und als sein Werk vollbracht war, sank Georgien, 1429 durch eine
Teilung in die drei Fürstentümer Imercthien, Kharthlien und Kachethien
zersplittert, innerlich zerrüttet und erschöpft zusammen, um sich erst gegen
Ende des 17. Jahrhunderts zu erneutem geistigen Aufschwung, und erst in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu kurzer staatlicher Machtent-
faltung' zu erholen.
Auch dieser dem literarischen Schaffen so ungünstigen Zeit fehlt es
Erzähiungs- jedoch uiclit ganz und gar an nennenswerten Leistungen. Eine Reihe von
Werken der Erzählungsliteratur, meist wohl mehr oder minder freie Be-
arbeitungen persischer Vorlagen, zeigt doch, daß die echt georgische
Lust am Fabulieren, nachdem sie einmal erwacht, nie wieder ganz und
gar unterdrückt werden konnte. Es ist die ganze stattliche Reihe von
Romanen, deren Titel regelmäßig auf -ani auslautet, was etwa unserer
Endung -ade entspricht, wie beispielsweise die nach einem ossetischen
König Algus benannte Dichtung- Algusiani, eine übrigens nur bescheidenen
Ansprüchen genügende Schöpfung, nach dem Vorbilde einer Henriade,
Jobsiade und ähnlicher Werke am besten als Algusiade bezeichnet würde.
Der bekannteste von diesen Romanen ist wohl die erst dem Ende dieses
Zeitraumes angehörige Sammlung von zwölf durch eine Rahmenerzählung
zusammengehaltenen Geschichten, die nach der Prinzessin Russudan, deren
zwölf Brüder die einzelnen Erzählungen vortragen, Russudaniani genannt
wird.
Hechts- und Bemerkenswerter als diese Romanliteratur, die bei dem naheliegenden
Schreibung. Vergleich mit den Werken der Blütezeit natürlich nicht so leicht be-
stehen kann, sind wohl die Erzeugnisse der Rechts- und Geschicht-
schreibung, vor allen die Gesetze König- Georgs des Glanzvollen, die
später, zu Anfang- des 18. Jahrhunderts, zusammen mit den Gesetzen des
Atabeg Beka und deren Vervollständigung sowie den unter dem Katho-
likos Malachia aufgestellten Kanones dem Rechtsbuch des Königs Wach-
tang VL einverleibt wurden, und die ebenfalls dem 14. Jahrhundert an-
gehörigen kirchlichen Statuten des Katholikos Arsenios, eben dieses
Schriftstellers Geschichte der Könige von Imerethien, die aus dem 15. Jahr-
hundert stamm^ende Beschreibung des Distriktes Ssamzche Ssaathabago
von Johannes von Mangli und die Geschichte der Zerstörung Georgiens,
deren Verfasser, der Katholikos Domenethi, im 16. Jahrhundert lebte.
Die katholische IV. Die Zeit des Aufschw^ungs (17. — 18. Jahrhundert). Der g-eistige
Mission ini.- ^-,.. .
17. Jahrhundert. Aufschwung, den Georgien im 17. Jahrhundert nahm, steht in unverkenn-
barem Zusammenhang mit dem Eindringen des abendländischen Geistes, ins-
besondere des Katholizismus, den italienische Mönche einführten. Eine von
den Theatinern in Achalzich gegründete Missionsanstalt, die kurze Zeit nach-
her in die Hände der Kapuziner überging, wurde der Ausgangspunkt für ihre
Tätigkeit. Und diese war von nicht geringem Erfolg. Denn wenn auch die
IV. Die Zeit des Aufschwungs (17. — 18. Jahrhundert). -jqv
Zahl der der römischen Kirche Zugeführten nicht allzugroß gewesen sein
mag, so ist doch der Umstand hoch in Anschlag zu bringen, daß der Ein-
fluß der katholischen Missionare bis in die höchsten Kreise drang, daß es
ihnen gelang-, König Wachtang selbst für ihre Sache zu gewinnen und
sogar höchste Würdenträger der georgischen Kirche, wie den Katholikos
Anton von Karthlien und den Katholikos Melchisedek von Imerethien.
Aber dieser abendländische Geist scheint trotz alledem doch nicht die
alleinige Ursache der Erhebung gewesen zu sein. Denn ehe seine Ein-
wirkung noch deutlich erkennbar wird, vollzieht sich schon ein literarischer
Aufschwung, der mehr wie der Abschluß einer von europäischen Ein-
flüssen noch unberührten Zeit, wie ein letztes Aufflackern eigener Glut
denn als der Beginn einer neuen, von fremder Kultur geschaffenen Epoche
erscheint. Die erste bedeutende Persönlichkeit dieser Periode ist König
Theimuras L, im Jahre 1588 g^eboren, 1605 auf den Thron erhoben, wie TheVmuras i.
in der Politik so auch im geistig^en und zumal literarischen Schaffen noch
stark unter Persiens Einfluß, wenn auch nicht durchaus ohne geistige
Freiheit. Denn neben Nisamis Laila und Medschnun, der ergreifenden
Darstellung der unvergäng-lichen, immer und immer wieder einen Künstler
bannenden Liebestragik zweier Abkömmlinge feindlicher Häuser, über-
setzte er auch des Pseudo-Kallisthenes berühmten Alexanderroman, und
in seinen lyrischen Gedichten erscheint er als ein nicht unbegabter selb-
ständiger Künstler, zumal da, wo es ihm von Herzen kommt, wie nament-
lich in dem Gedicht auf den Märtyrertod seiner Mutter, der Königin
Khethewan, die im Jahre 1624 zu Schiras ihren unerschütterlichen christ-
lichen Glauben durch ein qualvolles Dahinscheiden besiegelte. Wesentlich
orientalisch ist auch noch König Arthschil, der 1647 geboren wurde, von Arthschii.
1664 bis zum Jahre 1675 sein Stammland Kachethien regierte, dann, mit
mehrfachen langen Unterbrechungen, Imerethien, dort aber im Jahre 169g
seinem Gegner Alexander weichen mußte und darauf bis zu seinem 1712
eintretenden Tode in Moskau verweilte. Sein Hauptwerk ist eine nach
ihm benannte Dichtung, das Arthschiliani, das namentlich durch seinen
zweiten Teil, der das Leben und die Wirksamkeit TheVmuras' I. behandelt,
Bedeutung- gewonnen hat.
Stark und nachhaltig beginnt sich der vom Abendlande neu entfachte wachtang vi.
Geist erst zu regen, als Wachtang VI. im Jahre 1 703 den Thron besteigt.
So wenig er als Herrscher vom Glück begünstigt wurde, so sehr war es
ihm vergönnt, auf die Geistesbildung seines Zeitalters tiefg-ehenden Einfluß
auszuüben. Vor allem sind es zwei Werke, die von Bedeutung geworden
sind, zwei Werke, die freilich nicht von ihm selbst im eigentlichen Sinne
g'eschaffen wurden, aber doch sicherlich nicht ohne sein Zutun entstanden,
ja entschieden seiner Anregung zn danken sind, ein umfassendes Rechts-
buch und die berühmte Geschichte des Landes, die den Titel „Das Leben
Georgiens" trägt. Sein Zeitgenosse und Mitarbeiter Ssaba-Ssulchan Orbe- Ssaba ssuichan
liani, durch Reisen in Europa mit abendländischer Kultur vertraut g-e-
20*
-,QÜ Franz Nikolaus Finck: Die georgische Literatur.
worden, hat ein schätzbares Wörterbuch seiner Muttersprache hinterlassen,
eine Beschreibung seiner Reisen und, wohl das wichtigste seiner Werke,
eine Sammlung echt volkstümlicher, zuweilen fast eulenspiegelartiger
Schwanke unter der Aufschrift „Buch der Weisheit und Torheit", ein in
hohem Grade bemerkenswertes Buch, weil es der pädagogischen Tendenz
nach Art des Pantschatantra zum Trotz von dem unverwüstlichen georgi-
schen Witz und Humor ein so deutliches Zeugnis ablegt. Dabei ist noch zu
beachten, daß der Verfasser dieser lustigen Geschichten nicht nur ein Fürst,
sondern auch ein Mönch war. Prinz Wachuschti, ein unehelicher Sohn
Wachtangs VI., hat eine Geschichte seines Vaterlandes und eine wertvolle
geographische Beschreibung desselben hinterlassen. Den Höhepunkt der
I-iteratur des i8. Jahrhunderts bedeuten aber doch wohl für die eigentlich
Da%-id Gurarai- künstlerische Tätigkeit David Guramischwili , dessen Hauptdichtung
unter vielen anderen auch das Leben des Königs Wachtang be-
Kathoiikos handelt, in intellektueller Hinsicht der Katholikos Anton, der vielseitige
Antoa.
Vermittler der Bildung, der Verfasser einer umfangreichen georgischen
Grammatik, mehrerer theologischer Werke, einer Dichtung auf verschiedene
hervorragende Persönlichkeiten seines Vaterlandes mit der Aufschrift
„Geordnete Rede", der Übersetzer philosophischer Arbeiten, der auch
Denker seiner Zeit, Christian Wolff und Friedrich Baumeister, seinem
Volke zugänglich zu machen versuchte, der Bearbeiter der Geschichte
Alexanders von Ouintus Curtius Rufus, der armenischen Rhetorik Mchi-
thars von Sebaste, des Begründers des nach ihm benannten Ordens, und
anderer Schriften.
Das 19. Jahr- V. Die Neuzeit. Der Beginn des ig. Jahrhunderts wurde für das
Land Georgien ein nicht nur für die chronologische Buchung bedeutsamer
Abschnitt des Lebens. Schon Heraklius IL, der König von Kharthlien
und Kachethien, unter dessen Regierung (1781 — 1793) das Land noch
einmal einen letzten Aufschwung erlebt hatte, hatte sich, um seinem Volke
den Frieden zu sichern, zu weitgehender Nachgiebigkeit dem russischen
Reiche gegenüber veranlaßt gesehen. Ein Vertrag, den er im Jahre 1783
mit Katharina II. schloß, erklärte ihn zum Vasallen Rußlands, jedoch mit
dem Rechte auf den Thron Georgiens für sich und seine Abkömmlinge,
auf Unabhängigkeit der georgischen Kirche, auf eigene Verwaltung und
Münzprägung. Sein Sohn Georg XII. wurde dementsprechend auch noch
vom Kaiser Paul bestätigt und sein Enkel David als zukünftig'er Thron-
erbe anerkannt. Am 12. September des Jahres 1801, unter der Regierung
Alexanders L, wurde jedoch das Land dem russischen Reiche als eine
Provinz einverleibt oder, nach dem Wortlaut des vom Zaren erlassenen
Manifestes, gewissermaßen in seinen mächtigen Schutz genommen. Nicht
lange nachher, im Jahre 18 10, trat auch Gurien in ein Vasallenverhältnis,
und in demselben Jahre wurde Imerethien eine russische Provinz.
Dieser Zusammenbruch wurde auch für die geistige Entwicklung des
V. Die Neuzeit. -jqq
georgischen Volkes von Bedeutung und damit auch für seine Literatur.
Daß der Zutritt europäischer Kultur unter den neuen Verhältnissen noch
erleichtert wurde, braucht vielleicht nicht allzuhoch veranschlagt zu wer-
den. Denn Georgien hatte sich ja auch ohne diese unerwünschte Hilfe
mindestens schon hinlänglich zum Abendlande in Beziehung zu setzen ge-
wußt. Von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung dürfte dagegen die
eine schwerwiegende Folge der Unterwerfung Georgiens gewesen sein,
daß es nunmehr endgültig mit dem schon lange nicht mehr recht zeit-
gemäßen Rittertum vorbei war, daß fortschrittliche, demokratische Ideen
nun nicht mehr zurückgedrängt werden konnten. In der Literatur kommt
dies jedoch nicht sofort, sondern erst nach geraumer Zeit zum Ausdruck.
Denn wenn man auch von der schriftstellerischen Tätigkeit der vier Söhne
des letzten Königs, der Prinzen David, Johannes, Theimuras und Bagrat,
sowie der Wirksamkeit des Bischofs Gabriel von Imerethien absieht, da
deren Arbeiten gewissermaßen nur äußerlich dem ig, Jahrhundert ange-
hören, ihrem Wesen nach aber mehr als Ausläufer der verflossenen Zeit
anzusehen sind, so bleibt doch noch eine Gruppe von Schriftstellern, die
den fortschrittlichen Ideen noch fremd oder doch kühl gegenüberstehen,
die sich an der entschwundenen Herrlichkeit erfreuen, ihren Verlust be-
dauern, keineswegs aber mit der Vergangenheit zu brechen gedenken.
Zu dieser Gruppe gehören Alexander Tschawtschawadse (1789 — 1846), der
georgische Anakreon, wie man ihn genannt hat, Gregor Orbeliani (1801
bis 1883), der Verherrlicher seiner schönen Heimat, doch auch ein Sänger
des Weins und der Liebe, Nikolaus Barathaschwili {1816 — 1845), nicht
wenig von Byrons Geist angehaucht, für dessen Wirkung ihn auch wohl
manch Mißg^eschick seines Lebens besonders empfänglich machte, Wach-
tang Orbeliani (181 2 — 1890), erst im Alter als Dichter hervortretend, nicht
ohne Verständnis für die da schon um sich greifenden Gedanken des
Fortschritts, mit dem Herzen aber doch noch am Alten hängend, endlich
auch Georg Eristhawi (181 1 — 1864), der vielseitigste und tätigste von g. Eristhawi.
allen, der rührige Übersetzer fremder Dichtungen, der sich an Racine,
Petrarca, Schiller, Puschkin und Mickiewicz versucht, der erste Dramatiker
und Begründer des georgischen Theaters — sein Lustspiel „Die Teilung",
am 2. Januar 1850 von Liebhabern aus dem Kreise der Adligen gespielt,
war die Eröffnungsvorstellung — , außerdem noch ein arbeitsamer Jour-
nalist.
Diesen und anderen in ihrem Gefolg"e arbeitenden Dichtern gegenüber
erscheint Elias Tschawtschawadse (geboren 1837) als der Führer einer ei. Tschawtscha-
W3.dS6
neuen Bewegung, die dem Rittertum und seinem überlebten Geiste schroff
entgegentritt. Die erste seiner Erzählungen mit dem herausfordernden
Titel: „Ist das ein Mensch?", die Schilderung des in gedankenlosem Stumpf-
sinn auf Kosten der unterdrückten Bauern dahinlebenden Gutsherren, war
ein Ereignis, das Bewunderung und Entrüstung zugleich hervorrief, aber
bald überall siegreich durchdrang und vorbildlich für die Erzählungskunst
-.jo Franz Nikolaus Finck: Die georgische Literatur.
des modernen Georgiens wurde. Auch als Lyriker und Epiker gelangte
er zu hohem Ansehen, und unter diesen Schöpfungen wird seine Dichtung
„Der Einsiedler" besonders geschätzt.
Von seinen Altersgenossen ist wohl Akaki Tseretheli der bedeutendste,
als Dramatiker, als Verfasser eines geschichtlichen Epos und nicht zu-
wenigst als vielseitiger Lyriker.
Eine nicht geringe Schar mehr oder minder begabter Schriftsteller
reiht sich an diese beiden an, nicht leicht mit voller Gerechtigkeit abzu-
schätzen. Als Dramatiker sind wohl in erster Linie Rafael Eristhawi,
Eugen Thsagareli und Alexander Kasbeg zu nennen. Letzterer nimmt
durch seine Schilderungen aus dem Volksleben auch unter den Erzählern
einen geachteten Platz ein, von denen außer ihm noch Georg Tseretheli,
Nikolaus Lomauri, Frau Katharina Gabaschwili und aus der alterjüngsten
Zeit David Kldiaschwili genannt seien. Als Dichter des Landlebens, als
echter Heimatsdichter berührt sich der schon erwähnte Rafael Eristhawi
mit den drei Bauernsöhnen aus dem pschawischen Hochland, Lukas, Niko-
laus und Theodor Rasikaschwili, von denen der erstgenannte wohl der
dichterisch begabteste in seiner poetisch veranlagten Familie ist.
Ein abschließendes Urteil über die neuere georgische Literatur dürfte
wohl noch nicht möglich sein. Auf der Bühne bewegt sich noch viel
Fremdes neben einheimischen Gestalten, Moliere, Schiller, Alexander
Dumas, Sardou, Ibsen, Gogol, Hauptmann und Sudermann. Belletristische
Zeitschriften vermitteln unausgesetzt den Geist des Abendlandes, und es
ist ein undankbares Geschäft, da die Zukunft weissagen zu wollen. Nur
so viel darf man wohl behaupten, daß die französische Kultur am meisten
wirkt und auch am meisten wirken muß. Denn trotz allem demokratischen
Ansturm gegen das Alte hier und dort bildet ein unausrottbares Ritter-
tum ein Bindeglied zwischen keltischem und georgischem Geist, wie der
für seinen Glauben und seine Nationalität in ewigem Ernst begeisterte
Armenier andererseits sich immer wieder an den ihm darin verwandten
Deutschen wenden wird.
Literatur.
Ein — freilich nicht gerade sonderlich glücklicher — Versuch, das georgische Schrift-
tum darzustellen, ist schon am Ende des 1 8. Jahrhunderts von Franz Carl Alter in seinem
Buche Über die georgianische Literatur (Wien, 1798) unternommen worden. Gründliche
Forschung beginnt auf diesem Gebiete erst mit M. J. Brosset, über dessen verschiedene
Arbeiten die Bibliographie analytique des ouvrages de M. M. J. Brosset (S. Petersbourg,
1887) Auskunft gibt. Unter seinen Nachfolgern sind besonders A. Thsagareli, N. Marr
und A. Chachanaschwili zu nennen, von denen letzterer die einzige umfassende Darstellung
der georgischen Literatur bis zum 18. Jahrhundert unternommen hat. Siehe A. Chachanow,
Otscherki po istorii g^usinskoj slowjestnosti, I. II. III. (Abriß der Geschichte der georgischen
Literatur [Moskau, 1895. 1897. 1901]).
DIE CHINESISCHE LITERATUR.
Von
Wilhelm Grube.
Einleitung. Unter den alten Kulturländern Asiens ist China das
einzige, von welchem das Abendland weder unmittelbar noch auch mittel-
bar beeinflußt worden ist. Ebensowenig hat andererseits China während
der langen Dauer seiner staatlichen Existenz vor der Einführung des
Buddhismus fremdes Lehngut aufzuweisen. Wohl aber hat die chinesische
Gesittung im fernen Osten weit über ihre nationalen und staatlichen
Grenzen hinaus ihre Herrschaft ausgedehnt und ausgeübt. Die zum Teil
noch halbwilden Nomadenstämme mongolischer und tungusischer Herkunft,
die rätselhaften Koreaner, die in ihrer unzugänglichen Bergwildnis abge-
schlossenen Tibetaner, ja selbst die vorwiegend unter indisch-buddhistischem
Einfluß stehenden Völker Hinterindiens — sie alle befinden sich in einem
engeren oder weiteren Abhängigkeitsverhältnis zu der chinesischen Kultur.
Vor allem aber das mächtig aufstrebende Japan. Je eingehender wir uns
mit den rezeptiv so hochbeanlagten Japanern beschäftigen, um so mehr
bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß sie erstaunlich w^enig geistige Werte
selbständig hervorgebracht, vielmehr sich im wesentlichen darauf be-
schränkt haben, aus chinesischem Lehn gut Kapital zu schlagen, ja, daß
sie trotz aller Errungenschaften der abendländischen Zivilisation ihrem
geistigen Habitus nach noch heute im Bannkreise der chinesischen Ideen-
welt stehen.
Was von der Kultur Chinas gilt, das gilt mehr oder minder auch von
seiner Literatur, die wenigstens innerhalb des Ausbreitungsgebietes der
chinesischen Schriftsprache, also in Korea, Japan und Annam, die gemein-
same Grundlage des geistigen Lebens bildet. Verdient demnach die chine-
sische Literatur schon in ihrer Eigenschaft als internationaler Kulturfaktor
Beachtung und Interesse, so in noch höherem Grade durch ihre Eigenart
und ihr hohes Alter: ein durchaus selbständiges Erzeugnis des nationalen
Geistes, ist sie zugleich von allen Literaturen des Altertums die einzige,
die nach einer ununterbrochenen Dauer von vier Jahrtausenden noch in
unsere Gegenwart hineinreicht. Wie nun aber jede Kunstgattung in bezug
Einleitung. ^l \
auf Art und Umfang ihrer Ausübung an das Material und die Werkzeuge
gebunden ist, die sie zu ihrer Verfügung hat, so die Literatur an die
Sprache, die für sie Material und Werkzeug zugleich ist. Um zu veran-
schaulichen, wie weit die spezifische Eigenart der chinesischen Literatur
durch die Beschaffenheit des Idioms bedingt ist, ercheint es daher uner-
läßlich, eine die wesentlichen Punkte heraushebende Charakteristik der
Sprache vorauszuschicken.
Man pflegt die indochinesischen oder transgangetischen Sprachen, zu Sprache und
denen neben dem Chinesischen die Taisprachen, das Barmanische und das
Tibetische gehören, im Hinblick auf ihren Bau auch als monosyllabische
oder isolierende zu bezeichnen, um durch diesen Namen anzudeuten, daß
sie nur einsilbige Wörter kennen. Darin ist ihre einzigartige Sonder-
stellung innerhalb der gesamten Sprachenwelt charakterisiert. Nächst
dem Siamesischen ist der Monosyllabismus am konsequentesten im Chine-
sischen durchgeführt. Der Wortstamm als solcher fällt hier mit dem Wort
zusammen und unterliegt keinerlei Veränderungen, sei es durch Anfügung
von Affixen, sei es durch Lautwandel irgend welcher Art. Daraus ergibt
sich zugleich die Unmöglichkeit, Redeteile, oder auch selbständige gram-
matische Formen wie Kasus, Numerus, Person, Tempus, Modus u. dgl.
durch lautliche Mittel voneinander zu unterscheiden. Aller sonstig'en
Hilfsmittel bar, ist die Sprache mithin lediglich auf die vSyntax, die
Gesetze der Wortstellung, als das einzige Mittel des grammatischen Aus-
drucks ang-ewiesen. So kann z. B. der Wortstamm sie//, der als solcher
lediglich ganz im allgemeinen den Begriff des Früherseins ausdrückt, je
nach der Stellung", die er als Glied des Satzganzen einnimmt, als Haupt-
wort die Früheren, die Alten, als Eigenschaftswort früherer, voriger, als
Umstandswort früher, erst, als Verhältniswort vor, als Zeitwort voranstellen
oder auch vorangehen bedeuten. In analog'er Weise sind Subjekts- und
Objektsverhältnis, prädikative und attributive Funktion u. dgl. m. durch
feste vStellungsgesetze geregelt.
Bilden nun dergestalt die Gesetze der Wortstellung das Grundprinzip,
sozusagen das Gerüst des Sprachbaues, so kommt noch ein anderer Faktor
hinzu, der gleichsam als Mörtel zwischen den einzelnen Teilen und Gliedern
des Satzes dient. Es sind dies besondere Formwörter teils pronominalen,
teils verbalen Ursprungs, die lediglich den Zweck haben, gewisse gram-
matische Beziehungen, wne etwa Objekts- oder Possessivverhältnis, Numerus,
Tempus, Modus u. ä., anzudeuten, soweit solche sich nicht aus der Wort-
stellung oder aus dem logischen Zusammenhang von selbst ergeben. In-
dem die grammatischen Hilfswörter den starren Zwang der Stellungs-
gesetze hie und da durchbrechen, bewirken sie zugleich eine größere
Beweglichkeit und Mannigfaltigkeit des Satzbaues. Ihnen allein verdankt
die an grammatischen Mitteln so arme Sprache ihren nichtsdestoweniger
hochentwickelten Periodenbau. Endlich aber verfügt das Chinesische
außerdem über eine große Anzahl von Partikeln, die lediglich dem Aus-
5 14 AViLHELM Grube: Die chinesische Literatur.
drucke psychologischer Modalität dienen und der Sprache einen gemüt-
lichen Zug naiver Subjektivität verleihen, der bisweilen an das Griechische
oder Deutsche erinnert.
An ähnlich einschränkende Bedingungen wie der grammatische Bau
der Sprache ist nun auch ihr Lautwesen gebunden. Abgesehen von der
ohnehin auffallenden Lautarmut des Chinesischen, bietet ja schon sein
monosyllabischer Charakter wenig Gelegenheit zu größerer Lautentfaltung,
und dazu kommt noch, daß die Sprache keine Konsonantengruppen, sondern
nur einfache Konsonanten kennt. Bedenkt man ferner, daß die nord- und
mittelchinesischen Dialekte im Gegensatz zu denen des Südens sich in
einem Zustande völligen lautlichen Verfalles befinden, daß z. B. hier noch
die Auslaute k, /, /, ///, //, >/g vorkommen, dort kein Konsonant außer ;;,
und HO im Auslaute geduldet wird, so wird man sich leicht eine Vor-
stellung von der außerordentlich geringen Zahl der überhaupt möglichen
Lautverbindungen machen können. So zählt beispielsweise der Dialekt
von Futschou als der lautreichste gegen goo verschiedene Lautkomplexe,
der von Kanton 720, der von Schanghai 570, und endlich der lautärmste
von allen, der von Peking, g-ar nur 420. Mit diesen 420 bis 900 ver-
schiedenen LautgTuppen würde mithin der gesamte Wortschatz der Sprache
nach der phonetischen Seite hin erschöpft sein, wenn sie nicht zum Glück
über ein Mittel verfügte, welches ihr eine Differenzierung und dadurch
Vervielfältigung der vorhandenen Lautgruppen ermöglicht. Dieses Mittel
sind die sogenannten Worttöne, die zwar dem Klange nach an unseren
rhetorischen Akzent erinnern, jedoch von diesem dadurch grundverschieden
sind, daß sie dem Worte als solchem untrennbar anhaften. Die Worttöne,
die nach den verschiedenen Mundarten zwischen vier und neun variieren,
lassen sich auf folgende vier Grundtypen zurückführen: den gleichen Ton,
bei dem die Stimme in gleicher Höhenlage verharrt, den steigenden,
ähnlich unserem fragenden „so?", den fallenden, bei dem sich die Stimme
senkt, etwa wie bei dem erklärenden oder bestätigenden „so", und endlich
den kurzen oder „eingehenden" Ton, der durch Ausfall eines Auslauts-
konsonanten entstanden ist.
So erheblich nun auch durch die Tondifferenzierung der Vorrat an
dem Lautcharakter nach verschiedenen Wörtern zunimmt, so reicht er
dennoch keineswegs aus, um den Bedarf an Bedeutungs werten auch nur
annähernd zu decken; vielmehr bleiben die gleichlautenden Wörter noch
immer so zahlreich, daß sie auf Schritt und Tritt zu Mißverständnissen
Anlaß geben. Um solche tunlichst zu vermeiden, bedient sich die Um-
gangssprache gewisser stereotyper Wortzusammensetzungen, unter denen
Verbindungen sinnverwandter Wörter die wichtigsten sind. Aber selbst
dies Verfahren ist nicht immer ausreichend, so daß in verzweifelten Fällen
als ultima ratio die Schrift zu Hilfe genommen werden muß.
Bekanntlich ist die chinesische Schrift nicht Buchstaben-, sondern
Wortschrift, in der jedes Wort nicht als bloße Lautgruppe, sondern als
Einleituntr.
&•
315
Träger seiner spezifischen Bedeutung durch ein selbständiges Zeichen ver-
treten ist, so daß z. B. der Silbe // je nach ihrem Bedeutungswerte 140,
der Silbe yil sogar 184 verschiedene Schriftzeichen entsprechen.
In ihrem frühesten Stadium bestand die chinesische Schrift nach-
weislich aus Hieroglyphen, die teils Bilder, teils Symbole darstellten, und
noch heute verraten zahlreiche Schriftzeichen, wie z. B. die für Sonne,
Mond, Berg, Wasser, sowie insonderheit für verschiedene Tiere deutlich
ihren ursprünglich ideographischen Charakter, wohingegen symbolische
Zeichen als graphischer Ausdruck für Raumbeziehungen verwendet werden.
Beispiele dieser Art sind ein Punkt über oder unter der Linie für „oben"
und „unten**, ein durch eine Senkrechte halbierter Kreis für „Mitte*' u. dgl. m.
Bald reichte jedoch der Vorrat an einfachen Zeichen nicht mehr aus, und
wie man sich in der mündlichen Rede durch Wortzusammensetzungen
geholfen hatte, so schuf man nun in analoger Weise graphische Ausdrucks-
mittel für neue Bedeutungswerte, indem man einfache Zeichen zu Gruppen
verband. In der Regel ergibt sich in solchen Fällen der Sinn des zu-
sammengesetzten Zeichens aus der Kombination der Einzelbedeutungen
seiner Bestandteile, wie etwa zwei Bäume „Wald**, zwei Kinder „Zwillinge",
Mensch und Berg „Einsiedler** oder die Zeichen für „nicht** und „gerade**
miteinander verbunden „krumm** bedeuten. Verhältnismäßig neueren Ur-
sprungs sind dagegen die überaus zahlreichen Schriftzeichen, in denen'
der eine Teil der Zusammensetzung das sog. Klassenhaupt, die Begriffs-
kategorie erkennen läßt, der das Wort seiner Bedeutung nach angehört,
Avährend der andere Teil, das sog. phonetische Element, dessen Aussprache,
freilich nur annähernd, angibt. Mehr als die Hälfte der 40000 Schrift-
zeichen besteht aus solchen phonetischen Zusammensetzungen.
Es liegt auf der Hand, daß ein so kompliziertes und schwerfälliges
Schriftsystem wie das chinesische nicht ohne Einfluß auf die gesamte
geistige Entwicklung des Volkes bleiben konnte. Ist doch schon ein
Menschenleben erforderlich, um auch nur einen bescheidenen Teil des
Zeichenschatzes dem Gedächtnis einzuprägen, und mit jedem neuen Buch,
das der Chinese zur Hand nimmt, muß er darauf gefaßt sein, hie und da
auf ein ihm bisher unbekanntes Zeichen zu stoßen, über dessen Aussprache
und Sinn ihm nur sein steter Begleiter, das Wörterbuch, Auskunft zu
geben vermag. Eine Folge der auf das Erlernen der Schrift verwendeten
und durch Vererbung gesteigerten Gedächtnistätigkeit war ohne Zweifel,
daß diese allmählich gegenüber anderen geistigen Funktionen ein ent-
schiedenes Übergewicht erhielt. Daher dürfte vielleicht die Vorliebe des
Chinesen für philologisch - kompilatorische Arbeit und die daraus resul-
tierende Tatsache, daß gigantische Sammelwerke eine charakteristische
Eigentümlichkeit der chinesischen Literatur bilden, im letzten Grunde auf
die Beschaffenheit der Schrift zurückzuführen sein.
Nicht minder schwerwiegend ist der Einfluß der Schrift auf die
Sprache und dadurch mittelbar auch wiederum auf die Literatur gewesen.
■;t5 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
Und zwar war er zwiefacher Art. Solange, wie das in den ältesten Zeiten
der Fall war, die ohnehin komplizierten Charaktere mit einem Schreib-
stift auf Holz- oder Bambustafeln eingeritzt wurden, wird man sich be-
strebt haben, die Niederschrift des Textes durch einen möglichst geringen
Aufwand an Schriftzeichen zu vereinfachen. Daraus erklärt sich vermut-
lich die lapidare Kürze des sprachlichen Ausdrucks in den ältesten Literatur-
denkmälern, die schwerlich dem Charakter der mündlichen Rede entsprach.
Daneben hat aber die Schrift ihren Einfluß auf die Sprache noch in psycho-
logischer und, wie besonders betont werden muß, in ästhetischer Richtung-
geltend gemacht. Dieser Punkt bedarf einer Erläuterung.
Seiner inneren Form und seinem grammatischen Bau nach zeichnet
sich das Chinesische durch eine logische Schärfe und durchsichtige Klar-
heit aus, die kaum noch überboten werden kann, denn durch die strenge
Herrschaft der Wortstellungsgesetze erhält der chinesische Satz beinahe
das starr mathematische Gepräge einer algebraischen Formel. Dazu
kommt noch, daß das Wort als solches, im Gegensatz zu dem BegTiflF,
den wir damit zu verbinden pflegen, weniger ein Individuum denn einen
T)q3us darstellt. Der Einsilbler /d z. B, bedeutet für sich genommen
zunächst nichts anderes als den Begriff der Größe: erst aus seiner Stellung
als Glied des Satzganzen ist ersichtlich, ob er als Substantiv, Adjektiv,
Adverb oder Verb fungiert, mit anderen Worten, ob er im Sinne von
Größe, groß, sehr, groß sein oder groß machen aufzufassen ist. Eine un-
mittelbare Folge dieser Eigentümlichkeit ist der vorwiegend abstrakt-
begTiff liehe Charakter der Sprache und, damit Hand in Hand gehend,
eine gewisse Armut an plastischer Anschaulichkeit. Verstandesmäßig^e
Nüchternheit und Schwunglosigkeit der Phantasie bilden daher auch ein
kennzeichnendes Alerkmal der chinesischen Literatur: wie der Chinese
keine eigene Mythologie besitzt, so hat er auch kein nationales Epos
_ hervorgebracht.
Hier nun setzt die Schrift ein, indem sie von sich aus hinzubringt,
was der Sprache abgeht, denn das Wortzeichen bietet gerade, was dem
Worte fehlt: die Anschaulichkeit. Erst im geschriebenen Worte kommt
der Spieltrieb der Einbildungskraft recht eigentlich zur Entfaltung, und
so manches Schriftzeichen zeigt in der Art seiner Bildung und Zusammen-
setzung nicht nur sinnliche Anschaulichkeit, w^enn z. B. zwei Bäume „Wald",
zwei Menschen auf der Erde „sitzen", Hund und Mund „bellen" bedeuten;
sondern oft genug auch sinnig-poetisches Empfinden, Humor, Witz und
epigrammatische Satire — man denke nur an Verbindungen wie Weib
und Kind für „lieben", ^Mensch und reden für „treu" („ein Mann, ein Wort"),
Weib und Besen für „Hausfrau", Mensch und Baum für „ruhen", zwei
Weiber für „Zank" u, dgl. m. Während sich mithin das chinesische Wort
zum Worte in polysyllabischen »Sprachen, etwa dem Deutschen, wie der
Begriff zur Anschauung verhält, verhält sich umgekehrt das chinesische
Wortzeichen zum gesprochenen Worte wie die Anschauung zum Begriff.
Einleitung. ^ j ^
Daraus aber ergibt sich des weiteren ein sehr wichtiger Gesichtspunkt
für das Verständnis und die richtige Würdigung der chinesischen Literatur,
speziell der poetischen: es genügt nicht, daß man ein chinesisches Gedicht
mit dem Ohre allein aufnehme, weil es sich immer zugleich an das Auge
wendet. Die chinesische Schrift beschränkt sich nicht darauf, den Text
lediglich zu fixieren, sondern sie illustriert ihn gleichzeitig- und dient
dadurch auch an ihrem Teil als Mittel des dichterischen Ausdrucks, Es
ist gewiß bedeutsam, daß der Chinese sich für den Begriff „Wort" des
Ausdruckes fsze bedient, der eigentlich „Schriftzeichen" bedeutet. Das
scheint zu beweisen, daß dem naiven Bewußtsein das Schriftbild näher
liegt als das Lautbild.
Die ersten Anfäng-e der chinesischen Kultur verlieren sich wie die Der konfudani-
Anfänge aller alten und autochthonen Kulturen im Dunkel einer sagen- der chinesischen
haften Vorzeit. Obwohl die chronologisch sicher beglaubigte Geschichte
erst mit dem Jahre 841 v. Chr. beginnt, reicht doch die schriftliche Über-
lieferung' weit über diesen Zeitpunkt hinaus, und schon in deren ältesten
Denkmälern erscheint China als ein monarchisch regierter Staat mit einer
reichgegliederten Beamtenhierarchie, mit einem weitverzweigten Verwal-
tung-smechanismus, mit althergebrachten und streng beobachteten sozialen
sowohl wie relig'iösen Satzungen und Bräuchen, kurz, als ein Staatswesen
mit allen Merkmalen einer uralten Gesittung-. Aber dennoch wird man
diese Kultur, will man sie mit einem kurzen Schlagwort charakterisieren,
als konfucianisch bezeichnen müssen, mithin auf eine Persönlichkeit zurück-
führen, die einer verhältnismäßig- sehr viel jüngeren Zeit angehört. Dieser
scheinbare Widerspruch hat indessen seine tiefe innere Berechtigung, denn
erst durch Konfucius ist jene Kultur zum bewußten Besitz der Nation
geworden, erst durch ihn ward sich das Chinesentum über das Woher und
Wohin seines geschichtlichen Daseins klar, erst durch ihn erhielt es seine
ausgeprägte Physiognomie und seinen nationalen Habitus. So ist auch
die im engeren Sinne klassische Literatur in ähnlicher Weise als das
Werk des Konfucius anzusehen: nicht als ob er sie g-eschaffen hätte,
denn sie reicht in ihren Anfängen in uralte Zeiten zurück und ist in
ihren letzten Ausläufern nachkonfucianisch, wohl aber weil in jenen
Schriftwerken g-leichsam die Summe seiner Lebensauffassung niederg-elegt
ist, die dann das Volk zu der seinen gemacht hat.
Das Leben des Konfucius (551 — 478 v. Chr.) fällt in eine Zeit poli- Konfucius.
tischen Niederganges. Die Tschou-Dynastie, die schon seit 600 Jahren
den Thron innehatte, sank infolge des von ihr adoptierten Feudalsystems
je länger je mehr zu einer bloßen Scheinmonarchie herab, während die
mächtigeren unter den Vasallenfürsten ihr zu wiederholten Malen bald
einzeln, bald untereinander verbunden die Spitze boten. Konfucius selbst
war aus einem kleinen Duodezstaate, dem Fürstentum Lu, in der heutigen
Provinz Schantung- gelegen, g-ebürtig, der nur dadurch zu historischer
Berühmtheit gelangt ist, daß er die Heimat der beiden volkstümlichsten
-l8 "Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
Weisen Chinas, des Konfucius und des Meng-tsze war. Ein günstiges
Geschick fugte es, daß Konfucius in jungten Jahren die Reichshauptstadt
besuchen durfte, die damals gewissermaßen das Zentrum der Tradition war
und auch noch mancherlei Denkmäler der Vergangenheit in ihren Mauern
barg-. Im dortigen könig^lichen Archiv wird sein Interesse für das vater-
ländische Altertum reiche Nahrung gefunden haben, denn wir finden ihn
nach seiner Heimkehr 14 Jahre lang fern von jeder amtlichen Tätigkeit,
emsig mit der Sammlung und Sichtung jener ehrwürdig'en Dokumente
alten Schrifttums beschäftigt, die seinen Namen unsterblich machen sollten.
Nur vorübergehend bekleidet Konfucius einen hohen Verwaltungsposten
in seiner Heimat, um ihr dann, enttäuscht durch die Erfolglosigkeit seiner
Bestrebung-en, dauernd den Rücken zu kehren. 13 Jahre lang wandert
er darauf, von einer stetig wachsenden Jüngerschar umg-eben, von Ort zu
Ort, von Staat zu Staat, bis er als Greis wieder ins Land seiner Väter
heimkehrt, wo er die fünf letzten Lebensjahre dazu benutzt, die von ihm
gesammelten Texte endg^ültig zu redigieren. Die Erfüllung- seines Lieb-
lingswunsches, tätig auf die Geschicke des Reiches einzuwirken und es
womöglich neuer Macht und Blüte entgegenzuführen, blieb ihm versagt.
Arm an äußeren Erfolgen, hat dieses Einzelleben dennoch dem Leben
eines ganzen großen Volkes die Bahn g-ewiesen, die es nunmehr seit
zwei Jahrtausenden gewandelt ist; selbst kaum ein Schriftsteller zu nennen,
darf Konfucius dennoch als der eigentliche Begründer der chinesischen
Literatur bezeichnet werden; arm an eigenen, schöpferischen Gedanken,
ist er es dennoch gewesen, der dem gesamten Geistesleben seiner Nation
Inhalt und Richtung gab. Darin liegt seine weltgeschichtliche Bedeutung,
die weit über die Grenzen seines Vaterlandes hinausreicht.
Die Zerfahrenheit der politischen Zustände sowie des sozialen und
sittlichen Lebens überhaupt war es, die den Blick des Konfucius auf die
Vergangenheit lenkte. In ihr erkannte er das goldene Zeitalter, in der
Rückkehr zu den patriarchalischen Formen des Altertums sah er die
einzige Rettung aus den Wirren einer verwilderten Gegenwart. Daher
war auch bei seiner literarischen Tätigkeit nicht etwa das theoretische
Interesse des Altertumsforschers der leitende Gesichtspunkt, sondern das
eminent praktische Ziel der sittlichen und politischen Wiedergeburt seines
Volkes. Keineswegs war ihm darum zu tun, die literarischen Denkmäler
der Vergangenheit in möglichster Vollständigkeit der Nachwelt zu über-
liefern, sondern nur darum, unter dem vorhandenen Material eine Aus-
wahl des für seine Zwecke Geeignetsten zu treffen. Nur wenn man dies
im Auge behält, gewinnt man den richtigen Standpunkt für die Beur-
teilung der von ihm geschaffenen klassischen Literatur Chinas.
a) Das Schi-king. I, Die klassischc Literatur (ca. 2000 v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert
n. Chr.). I, Die fünf King. Unter den von Konfucius gesammelten und
redigierten sog. fünf King oder kanonischen Büchern nimmt als Literatur-
I. Die klassische Literatur (ca. 2000 v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr.). ^ig
denkmal unstreitig" das Schi-king, das kanonische Liederbuch, die vor-
nehmste Stelle ein, eine Sammlung, von der sich wohl ohne Übertreibung
sagen läßt, daß sie zu den köstlichsten poetischen Schätzen des gesamten
Altertums gehört und einen unverg'änglichen Ehrenplatz in der Weltliteratur
beanspruchen darf. Wie die ältesten dieser Lieder dem 42., die jüng.sten dem
7. vorchristlichen Jahrhundert angehören, so lassen sie auch nach Inhalt und
Form eine große Mannigfaltigkeit erkennen. Während zahlreiche Lieder
des ersten Buches durchaus das Gepräge echter Volkslieder tragen,
weisen die größeren Oden und Opfergesänge deutlich die Merkmale einer
bereits hochentwickelten Kunstdichtung auf, aber einer Kunstdichtung
freilich, die im Gegensatz zu ihren späteren Auswüchsen noch durchaus
auf dem Boden einer gesunden Natürlichkeit steht. Die Stoffe jener
Lieder sind vielfach unmittelbar dem täglichen Leben entnommen; man
sieht das Volk, wie es leibt und lebt, wie es arbeitet und feiert, liebt und
leidet, tändelt und scherzt, klagt und jubiliert, kurz: alle Töne mensch-
licher Stimmungen und Empfindungen finden in ihnen ihren Ausdruck.
Andererseits vermitteln die Gesänge, die bei höfischen Festlichkeiten und
bei Opferfeiern vorgetragen wurden, ein lebendig- anschauliches Bild
sowohl der höfischen Etikette wie der würdevollen Einfachheit des reli-
giösen Kultus.
Die Überlieferung berichtet, daß die alten Könige auf ihren traditio-
nellen Inspektionsreisen durch die Vasallenstaaten die dort üblichen Lieder,
weil sie in ihnen den treffendsten Ausdruck der sittlichen Zustände zu er-
kennen glaubten, samt den zugehörigen Sangesweisen sammeln ließen, und
daß auch die Lieder des Schi-king auf diesen Brauch zurückzuführen seien.
Es soll ursprünglich dreitausend solcher Lieder g-egeben haben, von denen
jedoch nur 350 von Konfucius in seine Sammlung- aufgenommen wurden.
Was die äußere Form der Lieder anlangt, so bestehen sie meist aus
Strophen von gleicher Verszahl, während die Silbenzahl der Verse zwischen
vier und acht schwankt. Sehr beliebt ist der Reim, und oft kehrt sogar
durch sämtliche Verse der gleiche Endreim wieder, eine Spielerei, die
jedenfalls auf den Reichtum der Sprache an gleichlautenden Wörtern
zurückzuführen ist. Eine weitere Eigentümlichkeit der ältesten chinesischen
Dichtung ist die Vorliebe für die Wiederkehr gleicher oder ähnlicher
Wendungen, wie sie ja auch für die hebräische Poesie charakteristisch
ist. Auch der Kehrreim ist eine Figur, die sehr häufig Verwendung
findet.
Dem Schi-king in mancher Beziehung verwandt ist das Schu-king,b)DasSchukiiig.
das oft mit falscher Wiedergabe des Titels als „Das Buch der Annalen"
bezeichnet wird, während der Name, wörtlich übersetzt, „Kanonisches Buch
der Urkunden" lauten müßte. In dieser Form entspricht der Titel auch
ungleich besser dem Inhalt des Textes, denn dieser enthält weder eine
Chronik, noch auch überhaupt eine fortlaufende geschichtliche Erzählung-,
sondern vorwiegend Reden, Ermahnungen und Erlasse, die teils den alten
320 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
Herrschern selbst, teils ihren Ratgebern in den Mund gelegt werden. Da-
zwischen finden sich freilich auch Aufzeichnungen über die Topographie
sowie über die Verwaltung des Reiches, ja selbst ein Traktat ethisch-
philosophischen Inhaltes. Wichtiger jedoch als der Inhalt des Buches ist
seine Form. Im Geg'ensatz zum Schi-king ist das Schu-king allerdings
Prosa, aber — und das ist wichtig" — größtenteils rhythmische Prosa.
Auch die soeben erwähnten Wiederholung^en ähnlicher Wendungen be-
gegiien im Schu-king auf Schritt und Tritt. Endlich wird die prosaische
Diktion vielfach durch Reimverse unterbrochen, die unmittelbar in den
Zusammenhang der Rede hineinverflochten sind, ohne ihn zu unterbrechen.
Diese formalen Eigentümlichkeiten stellen den im Grunde poetischen, bis-
weilen beinahe epischen Charakter des Buches außer Zweifel, eine Tat-
sache, die bisher meist übersehen oder doch wenig^stens nicht genügend
hervorgehoben wurde.
Gleich den Liedern des Schi-king gehören auch die Texte, die in
dem Schu-king vereinigt sind, sehr verschiedenen Zeiten an. Astrono-
mische Erwägungen haben ergeben, daß der vermutlich älteste Bestandteil
des Buches, der „Kanon des Yao" um 2000 v. Chr. geschrieben sein muß,
während die jüngsten Abschnitte bis 627 oder 624 v. Chr. hinabreichen,
so daß das Schu-king einen Zeitraum von beinahe anderthalb Jahrtausen-
den umfaßt. Selbstverständlich läßt sich der zeitliche Abstand zwischen
den verschiedenen Teilen des Buches auch an der Form des sprachlichen
Ausdruckes erkennen, doch harren die außerordentlich verwickelten und
schwierig-en Probleme, die hier eine wissenschaftliche Textkritik zu über-
winden hat, noch ihrer Lösung,
c) Das vih-king. Für das älteste Denkmal des chinesischen Schrifttums gilt — und,
soweit der Grundtext des Buches in Betracht kommt, vielleicht mit Recht
— das Yih-king oder „Kanonische Buch der Wandlungen". Es ist dies
ursprünglich eine Sammlung von 64 Hexagrammen, die ihrerseits die mög-
lichen Kombinationen von acht Trigrammen, den sogenannten pah-kua,
darstellen und aus parallel übereinander geordneten, teils ganzen, teils ge-
brochenen Linien bestehen. Die Entstehung dieser mystischen Zeichen
wird auf den mythischen Kaiser P'uh-hi, ihre Gruppierung und erste Deu-
tung auf Wen-wang, den Vater des Begründers der Tschou-Dynastie,
zurückgeführt, der auch den ältesten Kommentar zum Yih-king verfaßt
haben soll.
Das Yih-king hat als Handbuch der Wahrsagekunst und Orakel-
sammlung gedient; diesem Umstände ist es zu verdanken, daß es von dem
Edikt der Bücherv'erbrennung (s. unten) nicht betroffen wurde und daher
in unversehrtem Zustande erhalten blieb. Durch seinen abstrus-rätselhaften
Charakter hat es auf das Denken aller nachfolgenden Geschlechter einen
unwiderstehlichen Reiz ausgeübt und dadurch die philosophische Speku-
lation nachhaltiger beeinflußt als irgend ein anderes Erzeugnis der chine-
sischen Literatur. Es ist bezeichnend, daß in dem großen, im Jahre 1790
I, Die klassische Literatur (ca. 2000 v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr). ^2 1
herausgegebenen Katalog der kaiserlichen Bibliothek nicht wenig'er als
336 bändereiche Werke aufgezählt werden, die sich ausschließlich mit dem
Yih-king befassen. Vor allem aber ist es das unter dem Namen Feng-
schui, d. h. „Wind und Wasser", bekannte geomantische System, das hoch
heute mit unverminderter Gewalt über alle Schichten der Nation seine
unheilvolle Herrschaft ausübt, ganz und gar ein Produkt des Yih-King.
Alles in allem g-enommen, kann man somit wohl sagten, daß das Buch
mehr der Kultur- als der eigentlichen Literaturgeschichte angehört.
Von vorwiegend kulturgeschichtlichem Interesse ist ebenfalls das Li-ki, d) Das Li-ki.
d. h. „Aufzeichnungen über die Riten", eine Kompilation teils zweifellos
uralter, teils aber auch verhältnismäßig modemer, ritueller Texte, die in
der uns vorliegenden Fassung nachweislich erst im 2. Jahrhundert
unserer Zeitrechnung entstanden ist. Obwohl diese Sammlung sich aus
Bestandteilen zusammensetzt, die nach Alter und Inhalt die größte Ver-
schiedenheit und Buntscheckigkeit aufweisen, ohne einen einheitlichen Plan
erkennen zu lassen, ist sie nichtsdestoweniger, mit kritischer Vorsicht be-
nutzt, als kulturgeschichtliches Quellenwerk von unschätzbarem Werte.
Der Begriff des Li, dem eine das ganze innere und äußere Leben des
Chinesen beherrschende Bedeutung innewohnt, beschränkte sich, wie aus
der Zusammensetzung des betreffenden Schriftzeichens hervorgeht, ursprüng-
lich wohl ausschließlich auf die Riten des religiösen Kultus. Aber schon
frühzeitig erweitert er seinen Umfang, indem er zugleich die höfische
Etikette, die gesellschaftlichen Umgangsformen, das schickliche Verhalten
in allen Vorkommnissen des öffentlichen und häuslichen Lebens, endlich
sogar die jenem äußeren Verhalten entsprechende innere Gesinnung umfaßt
und dadurch die für die ethische Auffassung und die sittliche Kultur der
Chinesen so verhängnisvolle Gleichsetzung von Schicklichkeit und Sitt-
lichkeit herbeiführt. Dementsprechend behandelt denn auch das Li-ki
neben dem religiösen Ritual und dem höfischen Zeremoniell gleichfalls die
sowohl religiösen als auch profanen Bräuche, welche die wichtigsten
Momente des menschlichen Lebens: Geburt, Namengebung, Mündigkeits-
feier, Eheschließung und Tod begleiten; ja sogar das Familienleben, der
Verkehr zwischen Ehegatten, zwischen Eltern und Kindern, zwischen den
Geschwistern untereinander steht ganz und gar unter der Herrschaft des
Li. Daher ist das Li-ki recht eigentlich der Schlüssel zum Verständnis des
chinesischen Wesens: seine innere Gebundenheit, seine vielgerügte Un-
wahrhaftigkeit, verbunden mit einer souveränen Beherrschung der äußeren
Formen, sein schablonenhafter Schematismus, der jede freie Gemütsregung
im Keime erstickt — , lauter Erscheinungen, die von fremden Beobachtern
so oft belächelt und selten verstanden werden, lassen sich nur auf Grund
eingehender Kenntnis des Li-ki in ihrer geschichtlichen Bedingtheit be-
greifen. Wenn vielleicht auch die Kenntnis gerade dieses Buches nicht
in demselben Maße verbreitet sein mag, wie die der übrigen kanonischen
und klassischen Bücher, die jeder Gebildete, zum größten Teil wenigstens.
Die Kultur der Gegenwart. I. 7 21
,27 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
auswendig kennt, so ist es dafür mehr als sie alle dem Chinesen in Fleisch
und Blut übergegangen.
Außer dem Li-ki existieren noch zwei andere alte Ritualkodizes, die
im Gegensatz zu jenem systematisch geordnete Zusammenstellungen sind.
Das ein davon, das J-li, d. h. „Konventionelle Riten", behandelt sämtliche
religiösen und profanen Bräuche des öffentlichen Lebens, während das
andere, Tschou-li, „die Riten der Tschou-Dynastie", mehr eine Art Staats-
handbuch ist, welches den Beamtenapparat und dessen Funktionen zum
Gegenstand hat und daher ursprünglich auch den zutreffenderen Titel:
Tschou-kuan, d. h. „die Ämter des Tschou", trug. Es wird zwar für ein
Werk des Tschou-kung (12. Jahrh. v. Chr.) ausgegeben, dürfte jedoch aus
inneren Gründen wohl eher in die Zeit der Han-Dynastie zu setzen sein.
Bei der Wichtigkeit, die den rituellen Bräuchen beigemessen wird, darf
es nicht wundernehmen, wenn die chinesische Literatur an Ritualwerken
jeglicher Art außerordentlich reich ist. Die umfangreichste unter den
neueren Kompilationen dieser Gattung ist wohl das im Jahre 1753 er-
schienene Wu-li-f ung-k'ao, d. h. „vollständige Untersuchung der fünf Kate-
gorieen von Bräuchen", Darin werden in hundert Bänden der Reihe nach
die Opferriten, das Zeremoniell für höfische Festlichkeiten, die Zeremonieen,
die beim Empfange von Gästen bei Hofe beobachtet werden, militärische
Bräuche und Trauerriten behandelt,
e Das Tsch'uQ- Das einzige von den fünf kanonischen Büchern, welches nachweislich
Konfucius selbst zum Verfasser hat, ist das Tsch'un-ts'iu , „Frühling und
Herbst", eine Chronik seines Heimatstaates Lu, und diesem Umstände
allein verdankt es wohl sein Ansehen, das es sonst schwerlich erlangt
hätte. Es enthält nämlich weiter nichts als eine äußerst dürftige und
wortkarge chronologische Zusammenstellung der wichtigsten Ereignisse,
die sich in dem Zeiträume zwischen 722 und 481 v. Chr. in jenem Fürsten-
tume zugetragen haben. An sich ist das Büchlein inhaltlich und formell
gleich unbedeutend: seinen Wert als eine Geschichtsquelle ersten Ranges
erhält es erst durch das Tso-tschuan, den beigefügten weitläufigen Kom-
mentar, der, an die Geschichte des Fürstentums Lu anknüpfend, die gleich-
zeitigen Ereignisse in den übrigen Vasallenstaaten in den Kreis seiner
Betrachtung einschließt und als der erste Versuch einer zusammenfassenden
historischen Darstellung in der chinesischen Literatur bezeichnet werden
kann. Bei einer vorurteilsfreien Vergleichung von Text und Kommentar
gewinnt man den Eindruck, daß vielmehr dieser für den eigentlichen Text
zu halten sei, dem die lakonischen Sätze des Tsch'un-ts'iu , vielleicht ein
von Konfucius angefertigter Auszug aus der offiziellen Chronik von Lu,
gleichsam als Leitsätze oder Kapitelüberschriften vorangestellt wurden.
Und erwägt man ferner, daß uns über die Existenz und Persönlichkeit
des Tso K'iu-ming, des angeblichen Verfassers des Tso-tschuan, absolut
nichts Zuverlässiges bekannt ist, so dürfte die Vermutung doch vielleicht
nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sein, daß es nicht sowohl
I. Die klassische Literatur (ca. 2000 v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr.). ■123
das Tsch'un-ts'iu als vielmehr das Tso-tschuan sei, in dem wir ein Werk
des Konfucius zu erblicken hätten. Jedenfalls erschiene dieses des Weisen
würdiger als jenes, und zugleich würde durch eine solche Annahme der
hohe Wert, den Konfucius selbst seinem Werke beimißt, eine befriedigende
Erklärung finden.
2. Die vier Schu. So hoch und unbestritten nun aber auch die
Autorität der fünf King dasteht, an Volkstümlichkeit werden sie ent-
schieden von den Sze-schu oder vier klassischen Büchern weit übertroffen.
Diese sind wirklich im vollsten Sinne Gemeingut der Nation, denn jeder
Chinese, der über eine leidliche Elementarbildung verfügt, kennt sie Wort
für Wort auswendig; zugleich aber sind sie recht eigentlich der Kanon
der konfucianischen Schule. Obenan steht in dieser Beziehung das Lun-yü a) Das Lun-yü.
als die einzige authentische Quelle für die Kenntnis der Lehren des
Konfucius. Schon die äußere Form des Buches ist charakteristisch. Es
besteht, wie auch der Titel besagt, aus Unterredungen und aphoristischen
Aussprüchen des Weisen und der hervorragendsten unter seinen Schülern.
Alles andere eher als ein Systematiker, beschränkt sich Konfucius darauf,
Auskunft zu geben, wenn er um eine solche angegangen wird. Gelegen-
heit und Zufall geben die Frage ein, nüchtern und wortkarg fällt in der
Regel die Antwort aus. Nichts eigentlich Neues, aber um so mehr Brauch-
bares und im praktischen Leben Verwertbares. Die am häufigsten wieder-
kehrenden Themata beziehen sich auf das Gebiet des politischen und sitt-
lichen Lebens. Die Gegenwart nach dem Vorbilde des in seinen Augen
klassischen Altertums umzugestalten, ist das stete Bestreben des Meisters,
daher denn auch Fragen, die sich auf alte Überlieferung, Sitten und
Bräuche beziehen, mit liebevoll eingehender Pietät behandelt werden.
Das metaphysische Bedürfnis hingegen bleibt völlig unberücksichtigt, weil
Konfucius selbst, trotz seiner angeblichen Begeisterung für das Yih-king,
ein solches nicht gekannt zu haben scheint. Ebenso nahm er die reli-
giösen Anschauungen und Überlieferungen des Altertums als etwas Ge-
gebenes hin, ohne sich darüber den Kopf zu zerbrechen: als echter Chinese
interessiert er sich, soweit die Religion in Betracht kommt, mehr für
die äußeren Formen des Kultus als für den Glaubensinhalt.
Schwerlich ein Werk unmittelbarer Schüler des Konfucius, ist das
Lun-yü vermutlich erst gegen Ende des fünften oder zu Anfang des
vierten Jahrhunderts v. Chr. entstanden, nichtsdestoweniger ist es als der
lauteste und unverfälschte Ausdruck seiner Lehren nicht nur, sondern
auch seiner Lehrweise zu betrachten, wie denn ja auch der Gesprächston,
in dem die meisten Äußerungen und Sentenzen gehalten sind, durchaus
den Stempel der auf treuer Überlieferung beruhenden Echtheit trägt. Ein
reicher Schatz schlichter, tüchtiger Spruchweisheit, ist das Lun-yü wohl
geeignet, als Richtschnur für das sittliche Handeln zu dienen. Literar-
geschichtlich ist es interessant als das früheste Denkmal der altchine-
sischen Umgangssprache.
21*
^2 4 "Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
b) Das Ta-hioh. Die beiden nächstfolgenden unter den vier klassischen Büchern, das
yung. ° Ta-hioh und das Tschung-j'ung-, sind kurze Traktate, die ursprünglich zwei
Kapitel des Li-ki bildeten. Das Ta-hioh, d, h. „die große Lehre", be-
handelt den Gedanken, daß die Selbstkultur des Einzelnen die Grundlage
eines geordneten Staatswesens bilde. Das Mittel zur Selbstvervollkomm-
nung- ist das Wissen, welches seinerseits auf dem Eindringen in die Natur
der Dinge beruht. Mehr ins metaph3'sische Gebiet hinübergreifend ist das
Tschung-yung. Der Titel bedeutet, wörtlich übersetzt: „Das Innehalten
der ]\Iitte", wobei unter „Mitte" das innere Gleichgewicht des Gemütes zu
verstehen ist, jener Zustand, in dem die Affekte noch schlummern. Dem
inneren Gleichgewicht entspricht in der äußeren Betätigung der Triebe die
Harmonie, und auf der Verknüpfung beider beruht die sittliche und phy-
sische Weltordnung. Manches scheint darauf hinzudeuten, daß der Ver-
fasser des Tschung-yung, des Konfucius Enkel Tsze-sze, dem vermutlich
auch das Ta-hioh zuzuschreiben ist, mit der Lehre des Lao-tsze nicht ganz
unbekannt gewesen sei,
d' Meng-tsze. Ximmemiehr hätte wohl der Konfucianismus die Machtstellung- im
Geistesleben der Xation erlangt, die ihm in der Folge beschieden ward,
wenn er nicht in Meng-tsze einen Apostel gefunden hätte, der wie kein
anderer die Lehren des Meisters den Bedürfnissen der Zeit anzupassen,
sie philosophisch zu vertiefen und zugleich dem Geschmack und Ver-
ständnis weiterer Kreise mundgerecht zu machen verstanden hat. Mit
Recht ist daher das Buch, das seinen Namen trägt, als das vierte der
Sze-schu unter die klassischen Schriften der konfucianischen Schule auf-
genommen worden.
Meng-tszes Leben (372 — 289 v. Chr.) fällt in eine bewegte Zeit. Wäh-
rend der 100 Jahre, die seit dem Tode des Konfucius bis zu seiner Ge-
burt vergangen waren, hatte der staatliche Zersetzungsprozeß rapide
Fortschritte gemacht, die Herrscher aus dem Hause Tschou waren nach-
gerade zu bloßen Schattenkönigen herabgesunken, die nur noch dem Namen
nach an der Spitze der Monarchie standen, und schon zeigten sich die
Vorboten kommender Ereignisse an der stetig wachsenden Macht des
Vasallenstaates Ts'in. Politische Abenteurer jeglicher Richtung und
Schattierung zogen nach Art der griechischen Sophisten als Wander-
redner und politische Industrieritter an den Fürstenhöfen umher und trieben
allenthalben einen gewinnbringenden Gesinnungsschacher. Auch Meng"-
tsze war ein politischer und philosophischer Wanderlehrer, der auf die
Fürsten seiner Zeit einzuwirken versuchte: was ihn jedoch von dem großen
Troß unterscheidet, ist sein tiefer sittlicher Ernst und seine Überzeugungs-
treue. Durchaus auf dem Boden der konfucianischen Lehren stehend, ist
er dennoch nichts weniger als ein bloßer Nachbeter des Aleisters. Weniger
doktrinär als Konfucius, übertrifft er diesen an dialektischer Schärfe und
philosophischer Tiefe, während er andererseits mit kühnerer Entschlossen-
heit vorgeht, wo es gilt, das Wohl und die Interessen des Volkes gegen-
I. Die klassische Literatur (ca. 2000 v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr.). 525
Über den politischen Machthab ern zu verfechten. Es geht ein revolutio-
närer Zug- durch die Lehren und die Denkweise des Meng-tsze, und
keiner vor ihm hat den uralt chinesischen Grundsatz von der göttlich-
sittlichen Berechtigung zur Auflehnung^ wider die bestehende Gewalt mit
einer so rücksichtslosen Offenheit zu vertreten gewagt, wie er. Die poli-
tischen Ansichten, die er hie und da in seinen Gesprächen mit ver-
schiedenen Vasallenfürsten durchblicken läßt, mögen vielleicht an Hoch-
verrat streifen — sie sind dennoch nie frivol: wo es galt, zwischen den
Interessen der herrschenden Dynastie und dem Wohl des Volkes zu
wählen, da schwand jedes kleinliche Bedenken, denn er wußte, daß er mit
solcher Auffassung der politischen Moral im Grunde nur konservativ
dachte und durchaus auf dem Boden der altgeheiligten Tradition stand.
Daß ihm politisches Strebertum gänzlich fern lag, beweist die schonungs-
lose Offenherzigkeit, mit der er den Fürsten und deren Ratgebern bei
jeder sich bietenden Geleg'enheit ihr Sündenregister vorhält. Mehr in die
Tiefe dringend als Konfucius, geht er nicht wie jener metaphysischen
Frag-en mit ängstlicher Scheu aus dem Wege. Man denke nur an den
berühmten Dialog über die angeborene Güte der menschlichen Natur:
während Konfucius diesen Begriff einfach als gegeben hinstellt, sucht
Meng-tsze ihn dialektisch zu begründen. Endlich aber gebührt dem Meng-
tsze ein Ehrenplatz in der Geschichte der chinesischen Literatur, weil er
es ist, dem die Chinesen ihr erstes Lesebuch verdanken. Gleichviel, ob
das Buch, das unter seinem Namen überliefert ist, von ihm selbst oder
von einem seiner Schüler niedergeschrieben wurde: sein Werk ist es
zweifellos, denn es ist eine Schöpfung aus einem Guß, einheitlich im Stil,
durchaus individuell gefärbt und originell in der Art der Darstellung. Die
in dem Buche vorherrschende Form des Dialogs ist ja freilich an sich
nichts Neues, denn sie findet sich nicht nur im Lun-yü, sondern sogar
schon im Schu-king; während jedoch der Dialog hier als ein naives Aus-
drucksmittel der epischen Erzählung, dort nur in der Form kurzer, aus
dem Zusammenhang gerissener Fragen und Antworten auftritt, erscheint
er bei Meng-tsze zum erstenmal als bewußt künstlerische Form, deren der
Redner, auch darin seinem Zeitgenossen Sokrates ähnlich, sich bedient, um
den Gegner zu überreden und durch überlegene Dialektik ad absurdum
zu führen.
Es ist entschieden von günstigem Einfluß auf Meng-tszes innere Ent-
wicklung gewesen, daß er in die Lage kam, die Lehren seines Meisters
gegen Widersacher aus verschiedenen Lagern verteidigten zu müssen,
denn noch war Konfucius trotz des hohen Ansehens, das er schon damals
g^enoß, doch nicht mehr als ein primus inter pares, dessen Autorität noch
keineswegs für schlechthin unanfechtbar galt. Es waren die Vertreter von
zwei extremen Richtungen, Yang Tschu und Moh Ti, mit denen Meng-tsze
den Kampf aufnahm, und das Streitobjekt bildete der Begriff und die
ethische Bedeutung der Menschenliebe. Seiner ganzen Lebensauffassung
^,5 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
nach Sensualist und Epikureer, sah Yang Tschu in der Befriedigung der
Sinne den einzigen und höchsten Lebenszweck und gelangte so von seinem
einseitig hedonistischen Standpunkte aus zu einem bedingungslosen Egois-
mus, während gleichzeitig sein praktischer Eudämonismus in einem theore-
tischen Pessimismus wurzelt. Ihm gegenüber vertrat Moh Ti, der von
manchen, übrigens sehr mit Unrecht, als Sozialist bezeichnet wird, den kraß
entgegengesetzten Standpunkt eines extremen Altruismus. Nun hatte die
Menschenliebe freilich schon unter den konfucianischen Kardinaltugenden
die vornehmste Stelle eingenommen, aber im Grunde war Konfucius dabei
nie über den Begriff des Wohlwollens hinausgegangen. Da trat Moh Ti
auf und erweiterte den Begriff der Menschenliebe zu dem der „allum-
fassenden Liebe", die sich auf alle Menschen ohne Unterschied in gleichem
Maße zu erstrecken habe. Unstreitig hat seine Lehre zahlreiche Berüh-
rungspunkte mit der des Meng-tsze aufzuweisen, aber nichtsdestoweniger
bekämpft dieser nicht nur den Yang Tschu, sondern auch ihn mit einer an
Fanatismus grenzenden Leidenschaft. Kennzeichnend für den Konfucianer
sind dabei die Argumente, die er wider seine Gegner ins Feld führt:
Yang Tschu untergrabe durch die von ihm postulierte Herrschaft des Ich
das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen, während Moh Ti durch
seine Lehre von der allumfassenden Liebe die Bande der Blutsverwandt-
schaft zerreiße. Die Lehren beider seien daher als Irrlehren auszurotten.
Fruchtbarer als diese Polemik war sein berühmter Disput mit einem fast
unbekannten Philosophen namens Kao Pu-hai. In dem betreffenden Dialog
sucht Meng-tsze seine Lehre von der angeborenen Güte der menschlichen
Xatur dialektisch zu begründen und bezeichnet Menschlichkeit und Gerech-
tigkeit als dem Menschen von Xatur innewohnende Eigenschaften. Diese
Doktrin, die heutzutage zum eisernen Bestände der chinesischen Ethik gehört,
fand bald nach Meng-tszes Tode in Siün K'oang (3. Jahrh. v. Chr.) einen
eifrigen Gegner. Dieser Philosoph, der sich zu seiner Zeit großer Be-
rühmtheit erfreute, heute jedoch fast in Vergessenheit geraten ist, hat eine
größere Anzahl kurzer Essays verfaßt, die vorwiegend ethischen Fragen
gewidmet sind und sich durch ihre elegante, oft epigrammatisch zuge-
spitzte Form auszeichnen.
n. Lao-tsze und der Taoismus. Gleichzeitig mit der soeben
flüchtig skizzierten Strömung, die teils von Konfucius ausging, teils
wenigstens durch ihn angeregt worden war, vollzog sich eine nicht
minder bemerkenswerte Bewegung, die ganz anders geartete Bahnen ein-
schlug und deren Vertreter sich auf Lao-tsze als ihren Meister beriefen.
Grundverschieden nach Ausgangspunkt und Ziel, können Konfucianismus
und Taoismus geradezu als die entgegengesetzten Pole in der geistigen
Entwicklung Chinas bezeichnet werden.
Lao-tsze. Steht das Bild des Konfucius im hellen Lichte glaubwürdiger histo-
rischer Überlieferung mit greifbarer Lebendigkeit vor uns, so verschwimmt
n. Lao-tsze und der Taoismus.
327
und verschwindet hingegen die Gestalt des Lao-tsze fast gänzlich im
Nebel frommer Legende. Wenn wir der Tradition trauen dürfen, fällt die
Geburt des Lao-tsze ins Jahr 604 v. Chr., und er wäre demnach 55 Jahre
älter gewesen als Konfucius. Dennoch scheinen die beiden Männer nichts
voneinander gewußt zu haben, denn Sze-ma Ts'iens Erzählung von dem
Besuch des Konfucius bei Lao-tsze trägt durchaus den Stempel einer
tendenziösen Erfindung der taoistischen Schule an der Stirn. Im übrigen
läßt sich aus der kurzen Biographie des Lao-tsze im Schi-ki nur ent-
nehmen, daß er lange Jahre hindurch Beamter am königlichen Archiv der
Tschou war, bis er aus Kummer über den Verfall der Dynastie Amt und
Heimat verließ und sich in die Einsamkeit zurückzog. Unterwegs soll
er auf die Bitte des Befehlshabers eines Grenzpasses seine Lehre in einem
kurzen Traktate niedergelegt haben. „Darauf ging er fort, und niemand
weiß, wo er geendet."
Dieser Traktat nun gilt nach allgemein verbreiteter Annahme für xao-teh-king.
identisch mit dem Tao-teh-king, dem „kanonischen Buch vom Tao und
der Tugend", dem grundlegenden Kanon der taoistischen Schule. Ob das
Buch indessen tatsächlich als ein Werk des Lao-tsze anzusehen sei, ist
freilich eine Frage, auf die wohl schwerlich jemals eine befriedigende
Antwort erfolgen wird. W^enn jedoch einzelne Sinologen so weit gehen,
es als dreiste Fälschung aus einer viel späteren Zeit zu brandmarken,
so ist das Afterkritik, die vor einem besonnenen Urteil nicht standhält.
Gleichviel, wem das Buch zuzuschreiben ist: unstreitig ist es die tief-
sinnigste Schöpfung des chinesischen Geistes, und sein Verfasser — er
mag nun Lao-tsze heißen oder anders — darf wohl als der eigen-
artigste und selbständigste Denker Chinas bezeichnet werden, allerdings
auch als der dunkelste von allen. Bietet doch schon der Kern- und Angel-
punkt der ganzen Lehre, der Begriff des Tao, die größten Schwierigkeiten.
Seinem Wortsinne nach bedeutet Tao ursprünglich Methode, Norm, Ver-
nunftprinzip. In der mystisch -dunklen Ausdrucksweise des Tao-teh-king
hingegen bezeichnet der in diesem Sinne unübersetzbare Terminus soviel
wie Ursache, Norm und Ziel des Seins, Denkens und sittlichen Handelns.
Alle Dinge sind aus dem Tao hervorgegangen, um nach vollendetem
Kreislauf wieder in den Schoß des Tao zurückzukehren. Die Erkenntnis
beruht auf dem Satze des Widerspruchs, und alles Denken bewegt sich
in Gegensätzen. Demgemäß kommt auch den sittlichen Werten, die sich
gegenseitig bedingen, nur relative Geltung zu. Absolut ist das Tao allein,
in welchem alle Gegensätze aufgehoben sind. So ruht die taoistische
Ethik im Gegensatz zu der des Konfucius ganz und gar auf metaphysischer
Grundlage. In seiner Eigenschaft als ethisches Prinzip gilt das Tao zu-
gleich als Richtschnur und Vorbild des sittlichen Handelns. Daraus erklärt
sich der Ouietismus der taoistischen Ethik, der in der Lehre vom Nichttun
seinen Ausdruck findet. An die Stelle des Handelns tritt das Wirken, an
die Stelle moralischer Grund- und Lehrsätze die vorbildliche Persönlichkeit.
^2 8 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
Lieh-tszf. Weitere Ausbildung und hier und da auch Vertiefung erfuhr die Lehre
des Lao-tsze zunächst durch Lieh-tsze (vermutUch dem 5. Jahrhundert v. Chr.
angehörend), dessen Persönlichkeit und Lebensschicksale leider in ein
ebenso tiefes Dunkel gehüllt sind, wie die seines Meisters. Das merk-
würdige Buch, das seinen Namen trägt, ist besonders dadurch beachtens-
wert, daß darin zum erstenmal der Gegensatz zwischen der Erscheinungs-
welt und dem Ding an sich, resp. zwischen dem wahrnehmenden Subjekt
und dem wahrgenommenen Objekt hervorgehoben wird. Dabei wird die
Erscheinung-swelt als das Wirken des Nichttuns erklärt, wobei unter
„Xichttun" nach dem Zusammenhange nichts anderes zu verstehen ist, als
eben das Tao selbst. Desgleichen ist Lieh-tsze unter den chinesischen
Denkern der erste, der sich ans Unendlichkeitsproblem heranwagt. Über-
eifrige Kjitiker haben freilich auch dieses Buch für das Machwerk einer
späteren Zeit erklärt, aber auch in diesem Falle kann man nur wieder
sagen: gleichviel wer sein Verfasser war und wie er hieß — die beiden
soeben erwähnten Erkenntnisprobleme, die er als erster aufgestellt hat,
sichern ihm einen bleibenden Platz in der Geschichte menschlichen
Denkens.
Tschuang-tsze. Der wcitaus populärste unter den Vertretern der taoistischen Schule,
der einzige von ihnen, der noch heute zu den vielgelesenen Schriftstellern
gehört, ist Tschuang-tsze oder, wie sein Name eigentlich lautet, Tschuang-
Tschou, der während der letzten Hälfte des 4. und der ersten Hälfte des
3. Jahrhunderts v. Chr. lebte und sich zu Lao-tsze ähnlich verhält wie
Meng-tsze zu Konfucius.
Es ist leicht begreiflich, daß die tiefsinnige Mystik des Tao-teh-king,
vereint mit der aphoristischen, oft dunkeln und rätselhaften Form seiner
Aussprüche eine mächtige und unwiderstehliche Anregung auf die Ein-
bildungskraft ausüben mußte. Und so ist denn in der Tat die taoistische
Schule der Boden, auf dem das freie Spiel der Phantasie, die ja bis dahin
ein recht kümmerliches Dasein geführt hatte, endlich zu voller Entfaltung
gelangt. Zeigt sich auch schon bei Lieh-tsze ein gewisser Hang zum
Phantastischen, so ist es doch erst Tschuang-tsze, der die Einbildungskraft
bewußt in den Dienst künstlerischen Schaffens und Wirkens stellt. Sein
Bilderreichtum ist von größter Mannigfaltigkeit, aber er verwendet seine
Phantasiegebilde stets nur als dichterische Ausdrucksform. Er ist der erste
und — wie gleich hinzugefügt werden muß — der einzige Dichterphilo-
soph, den China hervorgebracht hat. Dadurch wird seine Stellung in der
chinesischen Literatur charakterisiert. Man muß jedoch noch ein anderes
Moment berücksichtigen, um der Eigenart seines Wesens völlig gerecht
zu werden. Tschuang-tsze war nicht, wie seine beiden Vorgänger, aus-
schließlich Mystiker, sondern es steckte zugleich eine kräftige Dosis
Skeptizismus in ihm: daher jener doppelte Gegensatz, in den er sich zur
Wirklichkeit stellt und der ihn zu Humor, Ironie und Satire führt. Seiner
ganzen Individualität nach war er nicht zum Systematiker g-eschaffen,
II. Lao-tsze und der Taoismus.
329
wohl aber hat er es meisterhaft verstanden, die tiefsinnige Lehre des
Lao-tsze in ein anschauUches Gewand zu kleiden und dadurch einem
größeren Kreise zugänglich zu machen. Seine schriftstellerischen Vorzüge
kommen besonders auf dem Gebiete des geistreichen Apercu und des
Essay zur Geltung, und als glänzender Stilist findet Tschuang-tsze sogar
von Seiten der Konfucianer bewundernde Anerkennung.
Mit ihm hatte aber auch die taoistische Richtung ihren HöhepunktHanFeUszSund
erreicht, und schon Han Fei-tsze (3. Jahrhundert v. Chr.), ein Schüler des
Siün Koang, nimmt eine vermittelnde Stellung zwischen Taoismus und
Konfucianismus ein, indem er die Lehre des Lao-tsze auf die Praxis des
politischen Lebens anzuwenden bestrebt ist und dadurch dem Quietismus
der taoistischen Ethik untreu wird. Allmählich beginnt dann das phan-
tastische Element derart in den Vordergrund zu treten, daß es zu einer
völligen Disziplinlosigkeit des Denkens führt. Liu Ngan, besser unter dem
Namen Hoai-nan-tsze bekannt, bezeichnet den Anfang dieser auf ab-
schüssiger Bahn sich bewegenden Richtung. Alchemistische und mytho-
logische Elemente sind bei ihm mit einem unklaren Mystizismus verquickt,
so daß sich hier bereits deutlich das Ziel erkennen läßt, dem der Taois-
mus nunmehr unaufhaltsam entgegeneilt.
Ihrem innersten Wesen nach durch und durch unchinesisch, vermochte verfaii des
~..-r-^^ -1 11 T-v 1-1 Taoismus.
sich die taoistische Philosophie auf die Dauer nicht zu halten. Der philo-
sophischer Spekulation abgeneigte und so ganz auf das Praktische ge-
richtete Sinn des Volkes konnte sich unmöglich mit einer Lehre befreunden,
welche Abkehr vom Leben und Geringschätzung der irdischen Güter
predigte; mit dem Tao als metaphysischem Prinzip wußte er nichts anzu-
fangen, um so mächtiger fühlte er sich dafür von dem mystischen Cha-
rakter der Lehre ang-ezogen. Der Zauber des Geheimnisvollen und
Wunderbaren war es, der dem allem Phantastischen zugewandten Glaubens-
bedürfnis der großen Masse reichliche Nahrung bot, und es ist völker-
psychologisch lehrreich, den ferneren Entwicklungsgang der taoistischen
Lehre zu verfolgen, der hier freilich nur kurz angedeutet werden kann.
Unter den wunderbaren Eigenschaften, die dem Tao zugeschrieben
wurden, scheinen seine ewige Dauer und seine Ubiquität den tiefsten Ein-
druck gemacht zu haben, und da ja nach der Lehre des Lao-tsze der
„heilige Mensch" das Tao in sich verkörpert, so lag es nahe, den also
bevorzugten Individuen auch die dem Tao innewohnenden übernatürlichen
Kräfte zuzuschreiben. Auf diese Weise entstand der Glaube an die soge-
nannten Sien, die durch den Besitz des Tao die Unsterblichkeit erlangt
haben, Wunder wirken können und eine Mittelstellung zwischen Menschen
und Göttern einnehmen. Tritt schon hierin die Wandlung zutage, durch
welche das Tao aus einem metaphysischen Prinzip zu einer Wunderkraft
versinnlicht wurde, so sank es schließlich zu einem bloßen Zaubermittel
herab, das in den Händen von Adepten als eine Art Stein der Weisen
zur Verlängerung des Lebens und zur Herstellung von Gold dient. Magie
^ ^o Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
und Alchemie bilden denn auch bis auf den heutigen Tag die Berufs-
tätigkeit der Taoisten. Von dieser ihrem ganzen Charakter nach eso-
terischen Schule zweigte sich aber schon frühzeitig eine mehr exoterische
Richtung ab, die unter Aufnahme bereits vorhandener Elemente des Volks-
glaubens und, in späterer Zeit wenigstens, unter reichlichen Entlehnungen
aus dem buddhistischen Ideenkreise zum sogenannten Vulgärtaoismus
führte, der sich in religiösen Gemeinschaften organisierte und den Exor-
zismus als seine eigentliche Domäne behauptet. Beide Richtungen stehen
noch jetzt in vollster Blüte, und der alchemistische Taoismus hat eine
bändereiche Literatur aufzuweisen.
Man kann sagen, daß in der Periode vom 6. bis zum 3. Jahrhundert
V. Chr. das geistige Leben in China seinen Höhepunkt erreicht hat. Es
war dies so recht eine Zeit, in der die Geister aufeinander platzten, denn
noch standen die verschiedenen Schulen einander als gleichberechtigte
Gegner gegenüber. Erst mit dem Abflauen der taoistischen Bewegung
beginnt die Alleinherrschaft des Konfucianismus sich allmählich vorzu-
bereiten. So ist es zu erklären, wenn schon unter den philosophischen
Schriftstellern der nächstfolgenden Jahrhunderte wohl eigentlich nur zwei
Yang Hiung und der Erwähuung wert erscheinen. Der eine von ihnen, Yang Hiung (53 v. Chr.
Wang Tsch'ung. c:> o \
bis 18 n. Chr.), brachte es als Vertreter der konfucianischen Schule zu
großer Popularität, obwohl er mehr durch elegante Form als durch eigenen
Ideengehalt hervorragt. Mit seiner Lehre, daß die menschliche Natur ein
Gemisch von Gut und Böse sei, steht er zwischen dem Optimismus des
Meng-tsze und dem Pessimismus des Siün K'oang in der Mitte. Ein un-
vergleichlich selbständigerer Denker ist dagegen Wang Tsch'ung, der
bereits dem i. Jahrhundert unserer Zeitrechnung angehört. Sein Stand-
punkt war der des konsequenten Materialismus. Die Seele ist nach ihm
ein Produkt der Lebenskraft, die ihrerseits vom Blute abhängt; mithin hat
mit der Zersetzung des Blutes auch die Existenz der Seele ein Ende.
Charakteristisch ist die durch keinerlei Autoritätsglauben eingeschüchterte
Kritik, die er noch an Konfucius und Meng-tsze zu üben wagt.
zusamicensturz HI. Das R 6 s t au r a t i o u sz c i t al t Cr der Han (206 v. Chr. bis 220
der Feudal-
monarchie, n. Chr.). Die Geschichtschreibung. Inzwischen hatten die geschicht-
lichen Ereignisse einen Gang genommen, der für das Schicksal des Konfucia-
nismus von folgenschwerer Bedeutung wurde. Schon zu Meng-tszes Zeit
hatte, wie erwähnt, das Fürstentum Ts'in, dessen ursprüngliches Gebiet in der
heutigen Provinz Schensi lag, die führende Stellung unter den rivalisierenden
Vasallenstaaten an sich gerissen. Im Jahre 255 v. Chr. brach die Tschou-
Dynastie nach fast tausendjähriger Herrschaft zusammen, und bald darauf,
im Jahre 221, vereinigte der Fürst Tscheng von Ts'in als Schi-hoang-ti,
d. h. „erster Kaiser", das gesamte Reich unter seinem Zepter. Dieser
Regierungswechsel bedeutet zugleich einen endgültigen Bruch mit dem
bis dahin herrschenden System, denn nunmehr erhielt der bisherige Feudal-
III. Das Restaurationszeitalter der Han (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.). Die Geschichtschreibung. jii
Staat den Charakter einer zentralisierten Monarchie, den das chinesische
Reich bis auf den heutigen Tag bewahrt hat. Im Gegensatz zu den zahl-
reichen Rebellionen, von denen die chinesische Geschichte zu berichten
weiß, und die sich stets nur gegen die herrschende Dynastie, aber nie
gegen die Regierungsform als solche richteten, ist dies (von den mißglückten
Versuchen der jüngsten Gegenwart abgesehen) die einzige Revolution, die
das Reich erlebt hat; und daß diese nicht von unten, sondern von oben
erfolgte, ist gewiß nicht minder bezeichnend als die Tatsache, daß einer
der größten Monarchen Chinas zugleich dessen einziger Revolutionär war.
Auch in der Geschichte der chinesischen Literatur bezeichnet diese
gewaltige Umwälzung einen bedeutsamen Wendepunkt.
Nachdem Schi-hoang-ti alle äußeren Feinde glücklich niedergeworfen,
galt sein Kampf nunmehr einer unsichtbaren Macht, die dem neuen Regi-
ment wie ein festes Bollwerk im Wege stand: der klassischen Tradition
oder, was dasselbe ist, dem Konfucianismus. Um dieses Band zwischen Die Bücher-
verbrennung;.
Altertum und Gegenwart zu vernichten, erließ der Kaiser das berüchtigte
Edikt der Bücherverbrennung, durch welches die Konfiskation und Aus-
rottung der gesamten geschriebenen Überlieferung angeordnet wurde, mit
alleiniger Ausnahme von Schriftwerken, welche Medizin, Wahrsagekunst,
Ackerbau und Baumzucht zum Gegenstand hatten. Nur den 70 Mitgliedern
des Gelehrtenkollegiums blieb der Besitz der auf den Index gesetzten
Bücher unter gewissen Einschränkungen auch fernerhin gestattet. Der
Befehl wurde im Jahre 213 n. Chr. mit unnachsichtlicher Strenge aus-
geführt. Damit schien das Lebenswerk des Konfucius für alle Zeiten ver-
nichtet, und es ist schwer, sich eine Vorstellung davon zu machen, welche
Folgen jene drakonische Maßregel nach sich gezogen hätte, wenn der
jungen Dynastie eine längere Lebensdauer beschieden gewesen wäre.
Aber schon vier Jahre nach der Bücherverbrennung starb Schi-hoang-ti,
und nach weiteren sieben Jahren hatten seine unfähigen Nachfolger völlig
abgewirtschaftet und die Herrschaft über das Reich verwirkt.
Das neue Herrscherhaus der Han (206 v. Chr. bis 221 n. Chr.) behielt
zwar die von Schi-hoang-ti geschaffene Organisation, wenn auch unter
schonenden Formen, bei, bemühte sich jedoch, dessen Fehler gutzumachen,
indem es sich's angelegen sein ließ, das zerrissene Band der Tradition
wiederherzustellen und dadurch die eigene Herrschaft gewissermaßen zu
legitimieren. Es begann ein Zeitalter der Restauration. Alle Hebel wurden
in Bewegung gesetzt, um zu retten, was noch zu retten war, und den er-
folgreichen Bemühungen der Gelehrten jener Zeit, unter denen sich ein
Nachkomme des Konfucius, Kung Ngan-kuoh mit Namen, besonders
hervortat, ist die klassische Literatur Chinas schließlich vor dem Unter-
gang bewahrt worden. Es mutet beinahe wie eine weltgeschichtliche
Ironie an, daß gerade jene Katastrophe, die die Vernichtung des Kon-
fucius herbeiführen sollte, in erster Linie zu seiner Apotheose beigetragen
hat. Und schon ein Han-Kaiser war es, der zum erstenmal am Grabe
■^■,0 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
0 0^
des Kontucius ein feierliches Opfer darbrachte und damit den Grund
zum Konfucius-Kult legte, der sich in der Folge über das ganze Reich
verbreitet hat.
Wenn die noch junge D3mastie in der konfucianischen Überlieferung
die sicherste Stütze ihres Thrones erblickte, so ist es begreiflich genug,
daß die Träger jener Überlieferung, die Gelehrten, sich eines außerordent-
lich hohen Ansehens erfreuten und zu einem Einfluß gelangten, den sie
bis dahin nie in solchem IMaße besessen hatten. An die Stelle der Ge-
burtsaristokratie tritt von nun an der Gelehrtenadel. Diese Bevorzugung
des Gelehrtentums führte jedoch leider bald genug zu einem für die poli-
tische und kulturelle Wohlfahrt des Reiches verderblichen Schematismus.
Was die Han-Kaiser begonnen hatten, wurde hernach durch die um das
Jahr 600 eingeführten Institution eines organisierten gelehrten Wettbewerbes
zum Abschluß gebracht. Seitdem bilden die öffentlichen Staatsprüfungen,
bei denen ein einseitig literarisches Wissen den Ausschlag gibt, die einzige
und unerläßliche Vorbedingung für die öffentliche Laufbahn, und das zünf-
tige Gelehrtentum ist damit endgültig zur herrschenden Kaste erhoben.
Zunächst findet der Umschwung, den die politischen Verhältnisse
auf geistigem Gebiete mit sich brachten, seinen Ausdruck in einem er-
neuten Kultus der Vergangenheit. iVn die Stelle des Produzierens tritt
das Reproduzieren. Die aufs neue wiedergewonnenen literarischen Denk-
mäler zu sammeln, kritisch zu sichten, zu edieren und zu kommentieren,
erscheint als die wichtigste Aufgabe, und bei dieser Gelegenheit kommt
zum erstenmal eine charakteristische Eigentümlichkeit des chinesischen
Wesens zu voller Entfaltung: sein seither sprichwörtlich gewordener
Sammeleifer. Immerhin gab es ein Gebiet, auf dem sich gerade die
kompilatorisch-kritische Arbeit in wahrhaft schöpferischer Weise betätigen
Sze-ma Ts-ien. konnte , Und das war die Beschäftigung mit der Geschichte. In der Tat
ist das Zeitalter der Han die Blütezeit der chinesischen Geschichtschrei-
bung, denn Sze-ma Ts'ien (geboren um 145 v. Chr.) hat mit seinem Schi-ki,
den „Geschichtlichen Denkwürdigkeiten", das erste Geschichtswerk großen
Stiles geliefert.
Man muß sich vergegenwärtigen, was die chinesische Historiographie
bis dahin aufzuweisen hatte, um diese staunenswerte Leistung nach Ge-
bühr zu würdigen und den richtigen Maßstab für ihre epochemachende
Bedeutung zu gewinnen. Das bereits erwähnte Tso-tschuan bietet ja zwar
ein außerordentlich reiches Tatsachenmaterial, aber seiner Komposition
nach ist es doch kaum mehr als eine Sammlung von Notizen, die an der
Hand des Tsch'un-ts'iu in lockerem Zusammenhang aneinander gereiht
sind. Das Kuoh-yü, welches gleich dem Tso-tschuan dem rätselhaften
Tso K'iu-ming zugeschrieben wird, jedoch in so zahlreichen Punkten von
jenem abweicht, daß es unmöglich von demselben Verfasser herrühren
kann, ist wiederum ein Werk ganz anderen Charakters. Wie schon der
Titel: „Gespräche der Staaten" oder etwa: „Politische Gespräche" besagt.
III. Das RestaurationszÄtalter der Han (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.). Die Geschichtschreibung. 333
handelt es sich darin mehr um Reden als um Taten, Unterredungen
zwischen Fürsten und Staatsmännern bilden denn auch den wesentlichen
Inhalt des Buches, während die geschichtliche Erzählung auf ein Minimum
beschränkt und gewissermaßen nur als verbindender Faden zwischen den
Gesprächen dient. Ähnlicher Art ist auch das Tschan-kuoh-ts'eh, „die
Ratschläge an die kämpfenden Staaten", ein Buch, das sich mit den Reden
und Diskussionen der politischen Wanderredner während der letzten
250 Jahre der Tschou-Dynastie befaßt. Und was endlich die „Bambus-
annalen", Tschuh-schu-ki-nien, betrifft (so benannt, weil sie auf Bambus-
tafeln geschrieben waren, die im Jahre 27g n. Chr. bei der Plünderung einer
fürstlichen Grabstätte aufgefunden wurden), so finden wir in ihnen nichts
als eine ziemlich dürftige Chronik, die sich von den ältesten Zeiten bis
auf das Jahr 29g v. Chr. erstreckt. Außerdem scheint es freilich noch
zahlreiche offizielle Annalen gegeben zu haben, die jedoch nicht mehr
erhalten sind. Vermutlich sind sie größtenteils ein Opfer der Bücher-
verbrennung geworden, obschon Sze-ma Ts'ien einige von ihnen benutzt
zu haben scheint.
Angesichts der völligen Neuheit und gewaltigen Größe der Aufgabe
darf das Werk wohl als eine literarische Großtat ersten Ranges bezeichnet
werden. Interessant und lehrreich ist aber auch die Art, w^ie Sze-ma
Ts'ien die Aufgabe gelöst hat. Augenscheinlich nicht imstande, den un-
geheuren Stoff als ein einheitliches Ganzes zu gestalten, behilft er sich
damit, ihn zu zerlegen, statt ihn organisch zu gliedern. Dadurch zerfällt
das Werk in fünf gesonderte Rubriken oder Abteilungen, deren jede
gleichsam ein selbständiges Werk für sich darstellt. Den Anfang bilden
die „Grundlegenden Annalen", in denen die Geschichte der Gesamtmonarchie
behandelt wird. Die Anordnung ist streng chronologisch, unter Zugrunde-
legung der Regierungsjahre der Kaiser. Daran schließen sich die „Jahres-
tabellen", eine synchronistische Übersicht der Ereignisse auf Grund genea-
logischer Tabellen der regierenden Häuser. Höchst merkw^ürdig ist die
nächstfolgende Abteilung. Sie enthält unter dem Titel: „Die acht Trak-
tate" acht Monographieen, die der Reihe nach Riten, Musik, Metrologie,
Kalender, Astrologie, die dem Himmel und der Erde dargebrachten Opfer,
Hydrographie und Handel zum Gegenstande haben. Die vierte Abteilung
behandelt die Geschichte der Einzelstaaten, und den Schluß bildet der bio-
graphische Abschnitt, der zugleich der umfangreichste und kulturgeschicht-
lich wertvollste Teil des ganzen Werkes ist.
Es liegt auf der Hand, daß bei einer solchen Zerstückelung des
Stoffes einerseits Zusammengehörendes oft auseinandergerissen werden
mußte, w^ährend sich andererseits wiederum die Wiederholung desselben
Gegenstandes unter verschiedenen Rubriken nicht vermeiden ließ. Auch
fehlt dem Werke die Einheit des Stiles, denn es ist bei Sze-ma Ts'ien
oft äußerst schwier, bisweilen geradezu unmöglich, Eigenes von Fremdem
zu unterscheiden und mit Sicherheit zu bestimmen, w^o der Kompilator
■1^1 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
aufhört und der Schriftsteller zu Worte kommt. Es gehörte und gehört auch
jetzt nicht zu den Gepflogenheiten chinesischer Schriftsteller, Zitate in jedem
einzelnen Falle als solche zu kennzeichnen, und stillschweigende Entleh-
nungen ohne Angabe der Quelle werden keineswegs als literarischer Dieb-
stahl aufgefaßt. Daher sind z. B. seitenlange Auszüge aus dem Schu-king
oder aus dem Tso-tschuan in den Geschichtlichen Denkwürdigkeiten durch-
aus keine Seltenheit. So lange sich's, wie in solchen Fällen, um Entleh-
nungen aus Quellen handelt, die uns noch zugänglich sind, hat die Textkritik
natürlich leichtes Spiel, aber man darf nicht vergessen, daß ein großer Teil
des von Sze-ma Ts'ien benutzten Quellenmaterials unwiederbringlich ver-
loren ist. Vorwiegend kompilatorischen Charakters sind, wie sich von
vornherein envarten läßt, die annalistischen Abschnitte des Werkes, und
in ihnen ist denn auch das Unpersönliche der Darstellung und die Bunt-
scheckigkeit des Stiles am leichtesten wahrzunehmen. Ganz anders der
biographische Teil. Die Notwendigkeit, eine bestimmte Persönlichkeit in
den Mittelpunkt der Darstellung zu rücken, stellt, abgesehen von dem
unvermeidlichen Streben nach psychologischer Motivierung, ganz andere
und ungleich höhere Ansprüche an die künstlerische Gestaltungskraft des
Schriftstellers, als das bei der schlichten Erzählung des Chronisten der
Fall ist. Und wenn gerade der biographische Teil als der Glanzpunkt
des ganzen Werkes hervorgehoben werden muß, so wird man nicht umhin
können, dem schriftstellerischen Talente des Sze-man Ts'ien die höchste
Bewunderung zu zollen. Die Darstellung ist lebendig bewegt, oft gerade-
zu spannend, und mehrfach eingestreute Unterredungen und Gespräche
sowie anekdotische Episoden legen die Vermutung nahe, daß der Verfasser
für diesen Abschnitt neben schriftlichen Quellen auch vielfach die münd-
liche Überlieferung zu Rate gezogen hat. Wenn man bedenkt, daß die
chinesische Literatur bis dahin nicht den bescheidensten Versuch einer
biographischen Schilderung" aufzuweisen hatte, erscheint die Leistung des
Sze-ma Ts'ien auch auf diesem Gebiete in der Tat staunenswert.
Die epochemachende literargeschichtliche Bedeutung der Geschicht-
lichen Denkwürdigkeiten liegt indessen nicht in der Neuheit und Größe des
Unternehmens allein, sondern ebensosehr auch darin, daß dieses Werk
sämtlichen nachfolgenden offiziellen Historiographen als Vorbild gedient
hat. In seinen Schwächen freilich leider noch mehr als in seinen Vor-
zügen: ist es doch bezeichnend genug, daß das schwerfällige Schema
der Geschichtlichen Denkwürdigkeiten, von geringfügigen Abweichungen
abgesehen, in allen offiziellen Reichsannalen beibehalten wurde!
Die unmittelbare Fortsetzung des Schi-ki bildet die Geschichte der
älteren Han (206 v. Chr. bis 24 n. Chr.), die von Pan Piao (3 — 54) begonnen
wurde. Fortgesetzt wurde das Werk von seinem Sohne Pan Ku und
dessen gelehrter Schwester Pan Tschao, die sich auch als lyrische Dichterin
einen Namen gemacht hat. Die Geschichte der späteren Han (25 — 220)
wurde erst im 5. Jahrhundert von Fan Yeh verfaßt, und seitdem besteht
rV. Die Wiederbelebung der lyrischen Dichtung (4. Jahrhundert v.Chr.bis 2. Jahrhundert n.Chr.). ^75
die Sitte, daß jede Dynastie die Geschichte ihrer Vorgängerin nach dem
amtlichen Aktenmaterial zusammenstellen und veröffentlichen läßt. Im
ganzen liegen jetzt mit Einschluß des Schi-ki 24 solcher Reichsannalen
vor, die zusammen die stattliche Zahl von 3164 Büchern ausmachen: eine
Kontinuität der geschichtlichen Überlieferung, der sich keine andere Lite-
ratur zu rühmen weiß.
IV. Die Wiederbelebung der lyrischen Dichtung (4. Jahrhundert K-mh Yüan.
V. Chr. bis 2. Jahrhundert n. Chr.). Während dergestalt die Prosaliteratur eine
ungemein reiche und vielseitige Entwicklung erkennen läßt, geht die Dich-
tung nahezu leer aus. Tatsache ist, daß uns gerade aus den drei Jahrhunderten,
die sonst die fruchtbarste Periode im chinesischen Geistesleben darstellen,
nicht ein einziger Vers überliefert worden ist. Politische und philosophische
Fragen stehen während jener Zeit durchaus im Vordergrunde und scheinen
das gesamte Interesse zu absorbieren. Die jüngsten Lieder des Schi-king
gehören dem 7, Jahrhundert, und der erste Dichter, von dem die Geschichte
dann wieder zu berichten weiß, kam im Jahre ;^^2 v. Chr., also volle
300 Jahre später, zur Welt. Es ist dies K'iüh Yüan, ein treuer Ratgeber
seines Fürsten, der jedoch durch die Intrigen neidischer Rivalen das Ver-
trauen seines Gebieters einbüßt und schließlich seinem Leben durch Er-
tränken ein Ende macht. Noch heute wird sein Andenken alljährlich am
fünften Tage des fünften Monats, dem sogenannten Drachenbootfeste, ge-
feiert, wobei seinen Manen Opfer dargebracht werden. Die Elegie Li-sao,
d. h. „dem Ungemach verfallen", in der er seinem Groll über die ihm
widerfahrene Kränkung poetischen Ausdruck gibt, hat seinen Namen
berühmt gemacht. Der Dichter schildert in dem merkwürdigen Poem,
wie er, am Grabe des alten heiligen Kaisers Schun um Erleuchtung
betend, sich plötzlich von einem Drachengespann in die Lüfte empor-
gehoben sieht. Die Götter des Mondes und der Winde geben ihm das
Geleite, während er am Firmamente dahinfährt. Er klopft am Himmels-
tor an, aber der Einlaß wird ihm verwehrt. Darauf schickt er den Gott
des Donners aus, um die Hand der göttlichen Jungfrau zu werben, die er
zu freien begehrt, aber vergeblich: sein Ideal — gemeint ist damit der
Fürst, der seinen Ratschlägen hartnäckig das Ohr verschließt — wird
ihm nicht zuteil. Vom Himmel auf die Erde zurückgekehrt, irrt er auch
hier umher, ohne sein Ziel zu erreichen. Noch einmal läßt er sich, auf
Anraten eines berühmten Wahrsagers, gen Himmel emportragen, aber
kurz ist diesmal die Fahrt, denn Rosse und Wagenlenker sind müde und
sehnen sich heim. Enttäuscht und heimatlos beschließt der Dichter end-
lich, dem Beispiel des P'eng Hien, eines sagenhaften Staatsmanns des Alter-
tums, zu folgen und den Tod in den Fluten zu suchen.
Was wir von der älteren poetischen Literatur wissen, beschränkt
sich ausschließlich auf die Lieder des Schi-king. Ihnen gegenüber be-
zeichnet das Li-sao eine völlig neue Erscheinung. Schon äußerlich: denn
-j5 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
mit seinen 94 vierzeilig-en Strophen ist es die erste chinesische Dichtung
von größerem Umfang-e. Noch weiter aber entfernt es sich seinem inneren
Wesen nach von der Poesie des Schi-king. Zum erstenmal treten im
Li-sao die charakteristischen Merkmale der späteren Kunstdichtung her-
vor: ein verwirrender Aufwand an m5^thologischem, symbolischem und
allegorischem Flitterkram, üppig wuchernde Phantasie neben erheblichem
Mang-el an Anschaulichkeit, sowie nicht minder die Anfänge jener Vor-
liebe für g-elehrte Anspielungen, die in der Folge immer mehr überhand
nahm. Auch in seinem Versbau weicht das Gedicht vom Hergebrachten
ab, indem es aus alternierend gereimten Versen von unregelmäßiger
Silbenzahl besteht und dadurch fast den Eindruck rhythmischer Prosa
her\-orruft. K'iüh Yüan hat außer dem Li-sao noch eine Anzahl Opfer-
gesäng"e gedichtet, doch sind diese beinahe in Vergessenheit geraten,
während er durch jenes Gedicht Schule gemacht hat: es wurde nämlich
zum Protot3-p einer Gattung ähnlicher Dichtungen, die unter der Bezeich-
nung „Elegieen von Tsch'u" (der Staat Tsch'u, der die heutige Provinz
Hukuang sowie die Teile der Provinzen Honan und Nganhoei umfaßte, war
die Heimat des K'iüh Yüan) zusammengefaßt zu werden pflegen. Unter
den fünf Dichtem, die während der nächsten 150 Jahre dies Genre ver-
treten, sind Sun Yü und Kiah I. wohl die bedeutendsten.
Die Lvrik der Im GrTunde genommen war die Schule des K'iüh Yüan nicht viel mehr
Han-Zeit.
als eme vorübergehende Episode, die ohne dauernde Nachwirkung blieb,
denn schon im Zeitalter der Han kehrt unter dem herrschenden Einfluß
der klassizistischen Richtung auch die Poesie wieder zu den Vorbildern
des klassischen Altertums zurück. Die knappe Form des Liedes herrscht
vor, und der durch Mei Scheng (gest. 140 v. Chr.) in Aufnahme gebrachte
fünfsilbige oder, wie wir sagen würden, fünffüßige Vers ist seither das
beliebteste lyrische Metrum geblieben. Im Gegensatz zu der schwülstigen
Rhetorik des K'iüh Yüan und seiner Schule bedeutet die Han-Lyrik eine
erfreuliche Rückkehr zur Xatur, und manche unter den Liedern des
Mei Scheng, sowie der beiden Dichterinnen Si-kiün und Pan Tsieh-yü
gehören durch ihren ungesucht volkstümlichen Ton zu den anmutigsten
Schöpfungen der chinesischen Poesie. Unter den damaligen Dichtern glänzen
sogar zwei Kaiser, Wen-ti (179 — 157) und Wu-ti (140 — 87), von denen
sich namentlich der letztgenannte als begeisterter Förderer wissenschaft-
licher und künstlerischer Bestrebungen hervortat. Unter diesem Herrscher,
der dem religiösen Kultus ein spezielles Interesse entgegenbrachte,
wurde eine neue sakrale Poesie ins Leben gerufen, deren Hauptvertreter
Sze-ma Siang-ju und Li Yen-nien waren. 36 Opferhymnen, die uns in der
Geschichte der älteren Han erhalten sind, gewähren einen guten Einblick
in das eigentümliche Wesen dieser Gattung, in der die naive Frömmig-
keit der alten Opferlieder des Schi-king durch eine gesucht altertümelnde
Form und gespreizte Rhetorik ersetzt wird. Es scheint, daß diese geist-
liche Dichtung ganz auf ihr eigentliches Gebiet, den Opferkult, beschränkt
V. Übergangszeit (3. — 6. Jahrhundert n. Chr.). Der Buddhismus. ^7j
blieb, ohne eine größere Volkstümlichkeit zu erlangen, wohingegen sich
die profane Lyrik fortan stets der eifrigsten Pflege zu erfreuen hatte.
V. Übergangszeit (3. — 6. Jahrhundert n. Chr.). Der Buddhismus.
Es ist ein merkwürdiges geschichtliches Zusammentreffen, daß zwei ihrer
Tendenz und Wirkung' nach entgegengesetzte Ereignisse, die beide von
folgenschwerem Einfluß auf die geistige Entwicklung Chinas wurden, in
dieselbe Periode fielen: die Wiederherstellung des Konfucianismus und
die Einführung des Buddhismus; denn das erste Eindringen buddhistischer
Lehren erfolgte um den Beginn unserer Zeitrechnung, also gleichfalls im
Zeitalter der Han.
Damals hatte sich bereits das Schisma vollzogen, welches den Bud-
dhismus in eine südliche und eine nördliche Schule trennte. Der süd-
liche Buddhismus, der den ursprünglichen Charakter der Lehre verhältnis-
mäßig rein und unverfälscht bewahrt hat, blieb auf Ceylon und Hinter-
indien beschränkt, der nördliche Buddhismus hingegen, dessen großartige
Propaganda sich allmählich über China, Korea, Japan, Tibet und die
Mongolei erstreckte, stellt das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses dar,
durch den die Religion Buddhas schließlich eine völlig neue Gestalt
angenommen hat. Im Gegensatz zu der ursprünglichen Lehre, nach
welcher nur derjenige hoffen durfte, von weiteren Wiedergeburten befreit
ins Nirväna einzugehen, der sich der Ordensregel unterwarf, d. h. der
Mönch, verkündet der nördliche Buddhismus den neuen Glauben an ein
fern im Westen gelegenes Paradies, das von einem mythischen Buddha
namens Amitäbha regiert wird und auch den Laien zugänglich ist, sofern
sie sich durch einen tugendhaften Wandel hervortun. Begreiflicherweise
hat dieses neue Evangelium durch sein weitherziges Entgegenkommen
gegenüber den religiösen Bedürfnissen der Menge sehr rasch eine große
Popularität erlangt und den Glauben an den historischen Buddha und
dessen Lehre vom Nirväna fast gänzlich verdrängt. Wo immer ferner
der Buddhismus mit fremden Religionen und Kultusformen in Berührung
kam, ist er stets bestrebt gewesen, sie seinem System einzuverleiben und
sich ihnen auch seinerseits soviel als möglich anzupassen: in dieser Politik
der Zugeständnisse, die der Buddhismus überall und zu allen Zeiten be-
folgt hat, liegt das Geheimnis seiner erstaunlich rapiden Ausbreitung. In
China hatte er mit diesem Verfahren dem Taoismus gegenüber leichtes
Spiel, da die Anschauungen des Lao-tsze mit denen Buddhas so manche
wesensverwandte Züge aufzuweisen haben, die ein friedliches Zusammen-
gehen beider Richtungen von vornherein zum mindesten nicht aus-
geschlossen erscheinen lassen: hier wie dort das Streben nach der
Befreiung des Individuums aus den Banden der Sinnenwelt, hier wie dort
das Hinneigen zu einer weltflüchtigen Askese, hier wie dort überdies ein
geschichtlicher Entwicklungsgang, der schließlich beide Lehren ihrem ur-
sprünglichen Wesen und Ziel gänzlich entfremdet. In der Tat hat denn
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 22
338
Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
auch der Taoismus so zahlreiche buddhistische Elemente in sich auf-
genommen, daß es in vielen Fällen kaum möglich ist, Ursprüngliches von
Entlehntem zu unterscheiden.
Sehr viel schwieriger mußte sich hingegen der Kampf mit dem Kon-
fucianismus gestalten, denn hier handelte es sich um zwei prinzipiell ent-
gegengesetzte Weltanschauungen. Daß es dem Buddhismus trotzdem
gelang, sich sogar jenem gegenüber durchzusetzen und zu behaupten,
verdankt er ebenfalls seiner Anpassungsfähigkeit und der schlauen Taktik,
die Schwäche des GegTiers geschickt auszunutzen. Der altchinesischen
Naturreligion sowohl wie der Ahnenverehrung, die recht eigentlich von
alters her den Mittelpunkt des religiösen Lebens bildete, fehlte es an
sinnlicher Anschaulichkeit und positivem Glaubensinhalt, und was den
Konfucianismus als solchen anbetrifft, so nahm er eben den Glauben der
Väter als etwas Gegebenes hin, stand jedoch im übrigen religiösen Fragen,
solange sie nicht den Kultus betrafen, kühl und gleichgültig gegenüber.
Hier nun sprang der Buddhismus in die Bresche. Aus seinem un-
erschöpflichen Legendenschatz und dem Reichtum seiner Mythologie gab
er dem Glaubensbedürfnis die langersehnte Nahrung, durch die Pracht
seines Tempel- und Bilderkultes nahm er die Sinne gefangen, besonders
aber — das ist die Hauptsache — erfüllte er durch seine eschatologischen
Theorieen von der Seelenwanderung und den Wiedergeburten, von Para-
dies und Hölle den bis dahin vagen Glauben an ein Fortleben nach dem
Tode mit einem konkreten Inhalt. Jetzt erhielt der x\hnenkult eine
wichtige Erweiterung durch die Einführung der buddhistischen Toten-
messe, die den ausgesprochenen Zweck hat, die abgeschiedene Seele aus
den Banden der Hölle zu befreien und geradeswegs in die Gefilde der
Seligen hinüberzugeleiten. Dieser Praxis verdankt der Buddhismus haupt-
sächlich seine Popularität, die sich vor allem darin äußert, daß sich die
buddhistische Totenmesse in China ganz allgemein, sogar unter Kon-
fucianern strikter Observanz, eingebürgert hat. So ist es dem Buddhis-
mus geglückt, durch eine imaginäre Herrschaft über das Jenseits das
Diesseits in seine Gewalt zu bringen.
Daß der Einfluß des Buddhismus sich keineswegs auf die religiösen
Anschauungen beschränkte, sondern über fast alle Gebiete des geistigen
Lebens sich ausdehnte, versteht sich von selbst. Wie durch den Tempel-
bau die Architektur, durch den Bilderkult die Plastik und Malerei mächtig
gefördert wurde, so hat auch die Literatur dem Buddhismus vielseitige
Anregung und Befruchtung zu verdanken: schon allein dadurch, daß sie
durch ihn zum erstenmal mit Erzeugnissen fremden Schrifttums in un-
mittelbare Berührung kam.
Die Reise- Um die Mitte des i. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung wurde — an-
berichte der . , .
buddhistuchen geblich infolge eines Traumes, in welchem dem Kaiser Ming-ti ein gol-
denes Götterbild erschienen war, das als Buddhastatue gedeutet wurde —
eine Gesandtschaft nach Indien ausgerüstet, um die fremde Lehre an Ort
V. Übergangszeit (3. — 6. Jahrhundert n. Chr.). Der Buddhismus. •j?q
und Stelle zu studieren. Wenige Jahre später kehrten die Abgesandten
mit einer reichen Sammlung von heiligen Büchern und Bildern zurück. In
ihrer Begleitung befanden sich zwei indische Geistliche, die sich in der da-
maligen Reichshauptstadt Lo-yang (in der Nähe des heutigen Ho-nan-fu)
niederließen und nun ihr Missionswerk damit begannen, daß sie als ersten
buddhistischen Text das „Sütra der zweiundvierzig Sätze" ins Chinesische
übertrugen. Anfangs scheint die Propaganda nur langsame Fortschritte ge-
macht zu haben, denn erst im 4. Jahrhundert erhalten Chinesen die Er-
laubnis, buddhistischen Mönchsorden beizutreten. Bald darauf, um den Be-
ginn des 5. Jahrhunderts, unternimmt der Inder Kumarajiva im Verein mit
chinesischen Priestern die Übersetzung zahlreicher buddhistischer Texte,
und ungefähr um dieselbe Zeit tritt der chinesische Mönch Fah-hien seine Fah-hi«n.
Reise nach Indien an, in der Hoffnung, dort ein vollständiges Exemplar
der kanonischen Schriften über die religiöse Disziplin aufzutreiben. Sein
ausführlicher Bericht über die 14 jährige Reise enthält eine für die Kennt-
nis der Geschichte und Kultur Zentralasiens äußerst wertvolle Schilderung
alles dessen, was er unterwegs gesehen. Während der folgenden Jahr-
hunderte kamen die Weltfahrten ins heilige Land immer mehr in Auf-
nahme, bis sie unter der T'ang-Dynastie (618 — 907) ihren Höhepunkt er-
reichten. Unter den vielen Reiseberichten buddhistischer Pilger nimmt
der des Hüan-tsang (geb. 602) durch die Fülle und Zuverlässigkeit seines Hüan-tsang.
geographischen, kulturgeschichtlichen und ethnographischen Materials un-
streitig die erste Stelle ein, und seine Übersetzung und Bearbeitung durch
Stan. Julien darf als ein epochemachendes Ereignis in der Geschichte der
orientalischen Philologie bezeichnet werden. Einer jener frommen Indien-
fahrer, I-tsing (634 — 713), nennt nicht weniger als 60 Pilger, die allein
während der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts die Reise zu den buddhi-
stischen Heiligtümern unternahmen. Unterdessen waren gelehrte Mönche
daheim emsig beschäftigt, die reichen Bücherschätze, die durch diese
Pilgerfahrten ins Land kamen, in ihre Muttersprache zu übertragen. So
entstand allmählich eine reiche Übersetzungsliteratur, über deren Umfang
sich eine Vorstellung gewinnen läßt, wenn man bedenkt, daß in dem
Zeitraum zwischen den Jahren 67 und 1285 nicht weniger als 1440 heilige
Schriften des buddhistischen Kanons ins Chinesische übersetzt wurden.
Die auf den Sturz der Han-Dynastie folgenden 400 Jahre spielen in
der chinesischen Literaturgeschichte im übrigen eine recht bescheidene
Rolle. Es war eine Periode steter Unruhen: innere und äußere Kämpfe
zerwühlten das Land, in jähem Wechsel jagte eine Dynastie die andere
vom Throne, zu wiederholten Malen war das Reich geteilt, zeitweise sogar
der Norden desselben von Barbarenhorden tungusischen und türkischen
Stammes unterjocht, und fast schien die uralte Kultur dem Untergange
geweiht, bis endlich das Haus T'ang zur Herrschaft gelangte und das
Reich zu neuer Blüte emporhob. Eine solche Zeit war natürlich litera-
rischem Schaffen wenig günstig: dennoch war sie zum mindesten auf dem
22*
■iAO Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
Gebiete der Lyrik keinesweg's g^anz unfruchtbar. Freilich bewegt sich
diese noch ganz und gar in den gewohnten Bahnen. Der sinnig -gemüt-
volle Yang Fang- (4. Jahrhundert), der etwas blasiert schwermütige Pao
Tschao, sowie der talentvolle, dem Buddhismus leidenschaftlich ergebene
Kaiser Wu-ti der Liang-Dynastie (502 — 549) samt seinen beiden Söhnen und
Nachfolgern sind die bekanntesten unter den Poeten der damaligen Zeit.
VI. Die Blütezeit der Lyrik unter der T'ang-Dynastie (618 — 907).
Mit der Herrschaft des Hauses T'ang beginnt eine neue Epoche: in der
politischen Geschichte Chinas sowohl wie nicht minder in der Geschichte
seiner Literatur. Nach anderthalb Jahrtausenden befand sich das Reich wieder
in einer äußeren Machtstellung, die seit den Tagen der Han nicht ihres-
gleichen gehabt hatte. Endlich ruhten die Waffen, die Künste des Friedens
konnten sich wieder zu voller Blüte entfalten, und es trat eine Zeit all-
gemeinen Wohlstandes und verfeinerten Lebensgenusses ein. Nie hatte
bisher die chinesische Gesittung- auf solcher Höhe gestanden, und nie hat
sie diese Höhe seitdem wieder erreicht. Heute noch, nach einem Jahr-
tausend, lebt jene Periode in der Phantasie des Volkes als eine Art
goldenes Zeitalter, aus dem Roman und Drama mit Vorliebe ihre Stoffe
schöpfen; und diesen Nimbus, der noch immer nicht verblaßt ist, verdankt
sie in allererster Linie ihren Dichtern: es war die Blütezeit der chine-
sischen Lyrik, ihre dritte und letzte Periode und zugleich der Höhepunkt
ihrer Entwicklung. In China nicht nur, sondern wohl fast in gleich hohem
Maße auch in Japan sind die T'ang-schi, „die Gedichte der T'ang-Zeit"
Gemeingut aller Gebildeten geworden, sie gelten schlechthin als klassisch
und werden noch gegenwärtig als unerreichte Muster ihrer Gattung be-
trachtet. Dieses hohe Ansehen verdanken sie aber nicht etwa der Neu-
heit ihrer Stoffe, auch nicht einmal ihrem poetischen Gehalt, an welchem
die Lieder des Schi-king zum mindesten nicht hinter ihnen zurückstehen,
sondern recht eigentlich ihrer formalen Vollendung, durch die der Über-
gang von der Volksdichtung zur Kunstdichtung endgültig zum Abschluß
gebracht wird.
Die Technik Da hier, wie gesagt, die äußere Form der Dichtung das Unter-
des Versbaues. ^ • ■, • ftr
scheidende ihres Wesens ausmacht, so ist es unerläßlich, wenigstens mit
einigen Worten auf die Technik des Versbaues, überhaupt auf die äußeren
Mittel des dichterischen Ausdrucks, wie sie jetzt zur Norm erhoben wurden,
einzugehen, denn nur auf diese Weise wird es auch dem der Sprache
Unkundigen möglich sein, sich eine einigermaßen zutreffende Vorstellung
vom poetischen Schönheitsideal der Chinesen zu bilden und den richtigen
Maßstab für die Würdigung seiner Dichtkunst zu gewinnen.
Von Haus aus ist die Technik des Versbaues durch den eigentüm-
lichen Charakter der Sprache bedingt. Ihre Grundelemente sind Rhyth-
mus und Reim. Während jedoch der Reim als solcher keiner näheren
Erläuterung bedarf, beruht der Rhythmus auf wesentlich anderen Voraus-
VI. Die Blütezeit der Lyrik unter der T'ang-Dynastie (6l8 — 907).
341
Setzungen als bei uns, weil die rhythmischen Mittel polysyllabischer
Sprachen, Silbenakzent und Quantität, durch den einsilbigen Bau des
Chinesischen ausgeschlossen sind. Da im Chinesischen, wie schon er-
wähnt wurde, jedem Worte sein spezifischer Wortton untrennbar anhaftet,
so gibt es überhaupt keine unbetonten, sondern nur stärker oder schwächer
betonte Wörter. Mithin gilt jeder Einsilbler zugleich als ein Versfuß.
Die Silbenzahl des Verses schwankt zwischen zwei und acht, doch bilden
fünf- und siebenfüßige Verse die Regel. Meist pflegen die Gedichte der
T'ang-Zeit aus zwei, vier oder acht Verspaaren zu bestehen, von denen
nur die geraden Verse, also der zweite und vierte, der sechste und
achte usw. gereimt sind, während die ungeraden reimlos bleiben. Wichtig*
für den Rhythmus ist die Cäsur, die in fünffüßigen Versen auf die dritte,
in siebenfüßigen Versen auf die fünfte Silbe folgt, wobei stets das vor
der Cäsur stehende Wort den Hauptakzent erhält. Eine ähnliche Rolle
wie in unserer Metrik die Quantität spielt in der chinesischen der Wort-
ton. Je nachdem ein Wort den gleichen (d. h. hohen oder tiefen) oder
einen ungleichen (d. h, den steigenden, fallenden oder eingehenden) Ton
hat, ist seine Verwendung im Verse an bestimmte Regeln gebunden.
So gilt für den siebenfüßigen Vers die Vorschrift, daß die ungeraden
Silben (also die erste, dritte, fünfte und siebente) jeden beliebigen Ton
haben dürfen, wohingegen die Töne der zwischenliegenden Silben in der
Weise miteinander abwechseln, daß, wenn die zweite Silbe den gleichen
Ton hat, die vierte einen ungleichen, die sechste wieder den gleichen
haben muß und umgekehrt, wobei aber außerdem noch darauf zu achten
ist, daß im zweiten und dritten, vierten und fünften, sechsten und siebenten
Verse die einander je entsprechenden Silben auch im Tone überein-
stimmen. Der achte Vers richtet sich in seiner Tonfolge nach dem
ersten. In fünffüßigen Versen steht nur für die erste Silbe die Wahl der
Tonklasse frei, während die übrigen Versfüße rücksichtlich des Worttones
festen Regeln unterliegen. Bezeichnet man den ad libitum freistehenden
Wortton durch einen Kreis O, die gleichen Töne durch den Längestrich —
und die ungleichen durch den griechischen Zirkumflex, so erhält man für
die in der T'ang--Poesie besonders beliebten Vierzeiler folgendes Doppel-
schema:
Entweder: O ^^ — —
O
o
o
r>^ r^^j
00 rN^
rs_. CN^
oder: Q —
O
o ~ —
o
rN^ r>o
rxj r>o
Der gleichsam periodische Wechsel der Worttöne verhält sich zum
Rhythmus ähnlich wie etwa die Melodie zum Takte und verleiht dem
Verse einen melodiösen Reiz, dem wnr nichts Ahnliches an die Seite zu
stellen haben.
Diesem äußeren Rhythmus der Akzentuierung und des Tonwechsels
steht nun aber noch ein sozusagen innerer Rhythmus des Gedankenganges
•^^2 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
gegenüber, der darin besteht, daß je zwei aufeinanderfolgende Verse mit
Vorliebe durch einen Parallelismus der Ideen oder Bilder charakterisiert
werden, der entweder auf dem Verhältnis der Ähnlichkeit oder des Gegen-
satzes beruht. Die folgenden Strophen des Yang Fang (übersetzt von
Forke, Blüten chinesischer Dichtung, S. 30) mögen das Gesagte veran-
schaulichen (wobei nur zu bemerken ist, daß die chinesischen Verse in
der Übertragung durch je zwei Verszeilen wiedergegeben sind):
Gleichklang herrscht im Tongetriebe,
Gleiche Kräfte ziehn sich an ;
Also zieht auch mich die Liebe
Stets zu dem geliebten Mann.
Wie die Schatten nie verlassen
Jenen Körper, der sie schuf,
Kann den Teuren ich nicht lassen,
Folge freudig seinem Ruf.
Diesem Parallelismus des Gedankenganges wird ferner noch womög-
lich ein grammatisch -syntaktischer Parallelismus hinzugesellt, der seiner-
seits darin besteht, daß in zwei aufeinanderfolgenden Versen die einzelnen
Worte ihrer Kategorie nach sowohl wie nach ihrer Stellung im Satze
genau miteinander korrespondieren, so daß also, wenn wir unsere gramma-
tischen Kategorieen für die chinesischen substituieren, jedem Haupt-,
Eigenschafts-, Zeitwort usw. des ersten Verses auch im folgenden Verse
der gleiche grammatische Wert an gleicher Stelle entsprechen muß. Um
die Wirkung eines derartigen grammatischen Parallelismus einigermaßen
nachempfinden zu können, muß man sich gegenwärtig halten, daß das
chinesische Wort, dank seiner unveränderlichen Lautgestalt, viel mehr den
Eindruck einer individuellen Einheit hervorruft als das Einzelwort mehr-
silbiger, zumal flektierender Sprachen, weil dieses je nach seiner gramma-
tischen Form den verschiedenartigsten lautlichen Wandlungen unterworfen
ist, welche die ursprüngliche Stammform oft kaum wiedererkennen lassen.
Dazu kommt noch, daß im Chinesischen jedem Worte ein besonderes
Schriftzeichen entspricht — ein Umstand, der sehr erheblich dazu bei-
trägt, die wechselseitige Korrespondenz der Satzglieder resp. Versfüße so
augenfällig zur Geltung zu bringen, wie sie selbst die wortgetreueste
Übersetzung nicht einmal annähernd wiederzugeben vermöchte.
Wie die gesamte bildende Kunst der Chinesen, so wird auch ihre
Dichtkunst — im Gegensatz zum asymmetrischen Schönheitsideal der
Japaner — von dem Gesetz der Symmetrie beherrscht, welches hier in
dem nach verschiedenen Richtungen durchgeführten Parallelismus seinen
Ausdruck findet. Daß außerdem auch die äußere Form der Schrift, eine
geschickte Wahl der Schriftzeichen nach der Art ihrer Zusammensetzung
den poetischen Eindruck gar erheblich unterstützen und fördern kann,
bedarf nach den in der Einleitung vorausgeschickten Bemerkungen über
diesen Punkt keiner näheren Erläuterung.
VI. Die Blütezeit der Lyrik unter der T'ang-Dynastie (6i8 — 907). 242
Aus dem Gesagten erhellt zur Genüge, daß eine adäquate Wieder-
gabe dieser Dichtungen so gut wie ausgeschlossen ist: nicht nur weil das
Chinesische einerseits und jede flektierende Sprache andererseits inkom-
mensurable Größen sind, sondern in noch höherem Grade, weil die chine-
sische Poesie aus den bereits angeführten Gründen in gleichem Maße
durch das Auge wie durch das Ohr aufgenommen sein will. Vollends
unüberwindlich erscheinen die Schwierigkeiten, wo sich's um eine Wieder-
gabe jener für die chinesische Lyrik so charakteristischen Vierzeiler han-
delt, die in unnachahmlich lakonischer Kürze ein beliebiges Stimmungsbild
mehr anzudeuten als auszuführen pflegen. Zur Erläuterung des Gesagten
und um dem Leser einen ungefähren Begriff dieser Gattung zu vermitteln,
sei es gestattet, ein Gedicht des Li T'ai-poh, des größten Lyrikers der
T'ang-Zeit, anzuführen, das den Titel: „Der Tan-yang-See" trägt und von
dem Dichter bei Gelegenheit einer Kahnfahrt auf jenem in der Nähe
von Nanking gelegenen See verfaßt sein soll. In wortgetreuer Über-
setzung lautet es folgendermaßen:
Eine Schildkröte lustwandelt auf einem Lotusblatte.
Ein Vogel ruht im Innern einer Schilfblume.
Ein junges Mägdlein rudert einen leichten Nachen,
Die Töne seines Liedes folgen dem fließenden Gewässer.
Die vier Verszeilen enthalten ebensoviele flüchtig hingeworfene Skizzen,
die in dem äußeren Rahmen einer Strophe zu einem Gesamtbilde ver-
bunden sind: die Schildkröte auf dem Lotusblatt, den schlummernden
Vogel in der Schilfblume, das rudernde Mädchen im Nachen, endlich den
Gesang der Jungfrau, dessen Töne mit dem Wasser dahinströmen. Man
achte dabei auf den bis ins einzelne durchgeführten Parallelismus: der
Schildkröte entspricht der Vogel, dem Lotusblatt die Schilfblume, dem
Mädchen das Lied, das es singt, dem strömenden Gewässer die dahin-
fließenden Töne des Gesanges. Diese Symmetrie der Glieder, die wir in
der Übersetzung allenfalls durch das Ohr wahrnehmen, fällt in der Ur-
schrift vor allem ins Auge, weil dort die einzelnen Wortzeichen, ähnlich
den Figuren des Schachbrettes, symmetrisch gruppiert sind. Die See-
landschaft, innerhalb deren die geschilderten Szenen sich abspielen, und
die nur durch den Titel des Gedichtes angedeutet ist, auszumalen und die
Einzelbilder im Rahmen des Ganzen zu lokalisieren und zu gruppieren,
bleibt dem Leser überlassen, dessen poetische Einbildungskraft das Werk
des Dichters selbsttätig zu ergänzen hat
Li T'ai-poh (699 — 762) ist unstreitig das stärkste Talent unter den Li X'aipoh.
Poeten seiner Zeit und zugleich der fruchtbarste von ihnen, denn seine
Werke, zumeist Lieder und Gedichte, füllen dreißig Bände. Man könnte
ihn als den Anakreontiker unter den chinesischen Lyrikern bezeichnen:
fröhliche Weinlaune und ein harmloser Genuß des Augenblicks bilden die
Grundstimmung seiner Lieder, die freilich auch nicht selten eine pessi-
mistische Resignation durchschimmern lassen. Wie die übrigen Dichter
■; 1 1 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
der T'ang--Periode kultiviert er mit Vorliebe das Genre kurzer Stimmungs-
bilder nach Art des angeführten Vierzeilers; daneben linden sich aber
auch nicht wenige balladenähnliche Gedichte erzählenden Charakters, in
denen bezeichnenderweise List, Verschlagenheit und Intrige eine weit
mehr hervortretende Rolle spielen als offener Kampf und persönlicher
Mut. Einen mehr romantischen Zug bieten nur die sog. Hieh-k'oh, eine
Art fahrender Ritter, die ein abenteuerndes Leben führen und in ihrem
oft seltsamen Gebaren gewissermaßen jenseit von Gut und Böse stehen,
ein sehr beliebter und dankbarer T^-pus, der in der erzählenden Literatur
der Chinesen häufig wiederkehrt.
Tu Fu. An Popularität kommt dem Li T'ai-poh sein Zeitgenosse Tu Fu (712
bis 770) am nächsten, der ihm sowohl in der Wahl der Stoffe als auch
in der formalen Behandlung derselben nahe verwandt ist. Aber bei aller
äußeren Ähnlichkeit springt doch auch andererseits die tiefgreifende Ver-
schiedenheit sowohl in der Lebensauffassung wie in der Geschmacks-
richtung der beiden Dichter in die Augen: dort heiterer Lebensgenuß
und naive Anschaulichkeit, hier tiefe Schwermut und Reflexion. Im
Gegensatz zu den Dichtungen des Li T'ai-poh, die sich bei allem tech-
nischen Raffinement dennoch durch schlichte Natürlichkeit des Empfindens
auszeichnen, sind die des Tu Fu nur zu oft derart mit dem Ballast histo-
rischer und mythologischer Anspielungen belastet, daß sie ohne fort-
laufenden Kommentar kaum verständlich sind — eine Eigenschaft übrigens,
die ihren literarischen Reiz in den Augen des Chinesen nur zu erhöhen
vermag.
Die Zahl der lyrischen Dichter der T'ang-Zeit ist Legion, und die
im Jahre 1703 auf kaiserlichen Befehl veranstaltete und herausgegebene
vollständige Sammlung ihrer Werke weist die stattliche Zahl von nahezu
50000 Gedichten auf. Im allgemeinen aber läßt sich wohl sagen, daß,
abgesehen von einzelnen aus der Masse hervorragenden Größen wie
Li T'ai-poh, Tu Fu, Tsze-ngan, Poh Kiü-i und einigen anderen, bei den
dii minorum gentium die dichterische Individualität durchweg hinter der
Einheit des allen gemeinsamen Stiles zurücktritt. Und dasselbe gilt nicht
minder auch von der lyrischen Dichtung der nachfolgenden Jahrhunderte,
die sich äußerlich ganz und gar im Geleise der T'ang-Dichtung bewegt:
sie ist, verschwindende Ausnahmen abgerechnet, bloße Nachahmung, eine
Art Pseudoklassizismus, bei dem die Form alles, der Inhalt nichts ist. Je
länger je mehr sinkt die Dichtkunst zu einer banalen Verskunst, zu einer
lediglich technischen Fertigkeit und Fixigkeit herab, an deren zahllosen
Produkten — denn die Produktion nimmt allmählich einen wahrhaft er-
schreckenden Umfang an — das Reimlexikon entschieden stärker beteiligt
ist als das Ingenium des Dichters. In einsamer Größe ragt aus dieser
Herde eines verseschmiedenden Banausentums eigentlich nur Yüan Tsze-ts'ai
(17 16 — 1797) hervor, der außer einem berühmt gewordenen Kochbuch auch
eine stattliche Zahl von Gedichten verfaßt hat, denen das Lob erteilt werden
VI. Die Blütezeit der Lyrik unter der T'ang-Dynastie (6l8 — 907). ^ac
kann, daß sie in der Tat den Stempel einer ausg"eprägten Persönlichkeit
an sich trag"en. Besonders als Satiriker hat er sich ausgezeichnet. Im
übrigen hat wohl der Kaiser K'ien-lung (17 10 — 1799) mit seinen 34000 Ge-
dichten alle übrigen Poeten Chinas an Fruchtbarkeit aus dem Felde ge-
schlagen. Als einer der größten Kaiser, die China gehabt hat, durfte er
sich immerhin den Luxus gestatten, nebenbei auch ein mittelmäßiger
Dichter zu sein.
Schon frühzeitig hatte sich von der gelehrten, vorwiegend philologisch- Der Essay,
archäologischen, historischen und philosophischen Schriftstellerei eine be-
sondere Abart der Prosaliteratur abgezweigt, die man vielleicht am besten
ganz allgemein als Essayistik bezeichnen kann. Es ist eine Art literarischer
Kleinkunst, in der das Hauptgewicht auf Eleganz und Zierlichkeit der
Form gelegt wird. Ihrem Inhalte nach sind jene Essays höchst mannig-
faltig, zum Teil sind es philosophische Betrachtungen, zum Teil auch
Meinungsäußerungen und Apercus über Zeitfragen, oft in der Form von
Eingaben an den Thron; besonders beliebt aber sind poetische Stimmungs-
bilder und Schilderung-en, die in der Prosaliteratur eine ähnliche Stelle
einnehmen, wie die Lyrik in der metrischen. Frei von dem Zwange einer
ausgeklügelten Verstechnik, ist der Dichter in der angenehmen Lage, in
diesen Prosadichtungen den Gedanken, Stimmungen und Gefühlen, die ihn
bewegen, einen ung-ehemmten und unverkrüppelten Ausdruck zu geben,
und so gehören denn in der Tat die poetischen Schilderungen und Para-
beln dieser Art zu dem Besten, was die Chinesen auf dem Gebiete der
schönen Literatur geleistet haben. Wang Hi-tschi (321 — 379) ist zeitlich
einer der ersten unter den chinesischen Essayisten. Ihm folgte bald der
als glänzender Stilist berühmte T'ao Yüan-ming (365 — 427). Da er einer X'ao Yüan-mmg.
der besten Vertreter der chinesischen Prosadichtung ist, so kann ich es
mir nicht versagen, an dieser Stelle seine berühmte Parabel von der
Piirsichblütenquelle in deutschem Gewände wiederzugeben, denn besser
als durch langatmige Definitionen wird der Leser sich an der Hand einer
authentischen Probe ein Bild von dem Charakter und der Beschaffenheit
dieser Gattung machen können.
„Während der Regierungsperiode T'ai-yüan der Tsin-Dynastie lebte zu
Wu-ling ein Mann, der seinen Lebensunterhalt durch Fischfang erwarb.
Als er eines Tages seinen Nachen stromabwärts treiben ließ, vergaß er
die zurückgelegte Entfernung, bis er plötzlich an einen Hain blühender
Pfirsichbäume gelangte. Auf einer Strecke von einigen hundert Schritten
war die Uferböschung' mit Pfirsichbäumen bestanden. Duftende Kräuter
prangten in frischem Grün, und herabgefallene Blüten bedeckten den
Boden. Der Fischer verwunderte sich gar sehr und fuhr weiter, um
durch den Hain hindurchzukommen. Am Saume des Wäldchens, wo ein
Quell entsprang, zeigte sich ein Berg, und am Berge gewahrte er eine
kleine Öffnung, in der Licht zu schimmern schien. Da verließ er seinen
Nachen und trat in die Öffnung hinein, die anfangs so eng war, daß eben
>46
Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
gerade ein Mensch hindurchgelangen konnte. Nachdem er etwa zehn
Schritte gegangen war, öffnete sich die Höhle weit, und er sah ebenes,
ausgedehntes Land vor sich. Da gab es prächtige Häuser, wohlbestellte
Äcker, schöne Seen, sowie Maulbeerbäume und verschiedene Bambus-
arten; Wege durchschnitten die Felder kreuz und quer, und allenthalben
ließen sich Hähne und Hunde vernehmen. Die Männer und Frauen, die
dort mit der Aussaat beschäftigt waren, trugen durchweg fremdländische
Tracht und hatten blondes Haar, das sie in Büscheln trugen. Alle schienen
zufrieden und guter Dinge. Als sie den Fischer erblickten, erschraken
sie nicht wenig und fragten ihn, von wannen er komme; nachdem er
ihnen jedoch Rede und Antwort gestanden, nötigten sie ihn in ein Haus
und setzten ihm Wein und Hühner vor. Inzwischen hatte sich die Kunde
von der Ankunft des Fremdlings verbreitet, und alle eilten herbei, um ihn
auszufragen. Sie selbst erzählten, daß ihre Vorfahren sich zur Zeit der
Ts'in-Dynastie, um den Unruhen zu entgehen, in diesem Gebiete nieder-
gelassen und es nicht wieder verlassen hätten, so daß sie seitdem von der
Außenwelt abgeschieden gewesen. Sie fragten, was für ein Geschlecht
jetzt lebe, denn sie wußten nicht einmal, daß es eine Han-Dynastie ge-
geben, von den Wei und Tsin gar nicht zu reden. Als ihnen der Mann
nun alles und jedes, was ihm bekannt war, berichtet hatte, seufzten sie
alle verwundert, und darauf nötigten ihn auch die übrigen alle in ihre
Häuser, um ihn mit Wein und Speisen zu bewirten. So verweilte er dort
etliche Tage, und als er dann Abschied nahm und sich entfernen wollte,
baten ihn die Leute, den Menschen draußen nichts von dem, was er ge-
sehen, zu berichten. Nachdem er seinen Nachen erreicht hatte, kehrte er
auf demselben Wege heim und schrieb unterwegs alles, w^as er erlebt
hatte, nieder. In seiner Heimatprovinz angelangt, suchte er den Statt-
halter auf und erzählte ihm sein Abenteuer. Da sandte dieser Boten aus,
die, seinen Spuren folgend, die Stätten, von denen er berichtet hatte, auf-
suchen sollten. Aber sie verirrten sich und vermochten den Weg nicht
zu finden. Als Liu Tsze-ki, ein hochgeachteter Gelehrter, das erfuhr,
machte er sich wohlgemut auf den Weg; aber auch er verfehlte das Ziel.
Er erkrankte plötzlich und starb. In der Folge hat keiner mehr den
Versuch erneuert."
HanYü. Unter den Essayisten der T'ang-Zeit steht Han Yü (768 — 824) obenan,
der sich auch als lyrischer Dichter ausgezeichnet hat. Ein begeisterter
Konfucianer, war er zugleich ein leidenschaftlicher Gegner der taoistischen
und buddhistischen Irrlehren, und unter seinen polemischen Schriften ist
die bekannteste und noch heute viel gelesen seine an den Thron ge-
richtete Eingabe gegen den buddhistischen Reliquienkult, die ihm den
Zorn des Kaisers eintrug. Zahlreich sind auch seine Essays poetischen
Inhalts und nicht minder berühmt seine Briefe, Vorreden und sonstige
Gelegenheitsschriften, die um ihres Stiles willen hochgeschätzt werden
und in keiner der zahlreichen einheimischen Chrestomathieen zu fehlen
Vn. Der Neukonfucianismus und die Erstarrung des geistigen Lebens (i i. Jahrh. b. z. Gegenw.). XAI
pflegen. Als Meister klassischer Prosa kennt Han Yü wenige seines-
gleichen. Unter seinen Zeitgenossen steht ihm wohl Liu Tsung-yüan
(773 — 8 ig) im Range am nächsten; im Gegensatz zu Han Yü nimmt er
jedoch dem Buddhismus gegenüber einen durchaus versöhnlichen Stand-
punkt ein.
Eine besondere Abart der Essayliteratur bilden die in einer Art
rhythmischer Prosa abgefaßten poetischen Schilderungen, die unter den
T'ang besonders durch Tu Muh (803 — 852) kultiviert werden. Seine
poetische Beschreibung des vom Kaiser Schi-hoang-ti erbauten Palastes
Ngo-p'ang ist ein vielgepriesenes Muster dieser Art, welches jedoch durch
die Pedanterie seiner Detailschilderung und die schwülstige Häufung von
Hyperbeln schwerlich den Beifall europäischer Leser finden dürfte. Ihre
letzte Blütezeit erlebte die Essayliteratur unter der Herrschaft der Sung
(960 — 1126). Ngou Yang-siu (1007 — 1072), gleich herv'orragend als Ge-
schichtschreiber, Archäolog und Dichter, der von manchen dem Han Yü
als ebenbürtig an die Seite gestellt wird, und Su Tung-p'o (1036 — i loi),
der den Ngou Yang-siu bei ähnlicher Vielseitigkeit an poetischem Talent
und Eleganz des iVusdrucks übertraf, gehören zu den glänzendsten Namen
der chinesischen Literatur.
vn. Der Neukonfucianismus und die Erstarrung des geistigen Szs-ma Kuang.
Lebens (11. Jahrhundert bis zur Gegenwart). Ähnlich dem Zeitalter der
Han bezeichnet auch das der Sung eine neue Epoche der chinesischen
Geschichtschreibung, deren Hauptvertreter Sze-ma Kuang (loig — 1086) ist.
Sein „Allgemeiner Spiegel als Leitfaden der Regierung", Tsze-tschi-t'ung-
kien, ein gigantisches Werk, das 294 Bücher umfaßt, ist seit den „Ge-
schichtlichen Denkwürdigkeiten" des Sze-ma Ts'ien die erste zusammen-
fassende Geschichtsdarstellung großen Stiles. Später hat dann Tschu Hi
den ursprünglichen Text des Werkes verkürzt und jedes Kapitel mit einer
in knappen Worten gehaltenen Inhaltsangabe versehen. Übrigens war
dieses immerhin noch sehr bändereiche Werk, das er freilich unter Bei-
hilfe seiner Schüler kompiliert hat, nur eine Nebenarbeit des durch seine
Vielseitigkeit und Fruchtbarkeit einzig dastehenden Polyhistors.
Vor allem aber ist es die Philosophie, die unter den Sung eine neue Xschou-tszg.
Blütezeit erlebte. Die Chinesen bezeichnen die philosophische Schule, die
jetzt zur Geltung gelangt, mit dem Namen Sing-li, der sich dem Sinne
entsprechend am besten durch „Vernunftordnung der Natur" wiedergeben
läßt. Herv^orgegangen war dieses naturphilosophische System aus einem
erneuten Studium des Yih-king, und sein eigentlicher Begründer ist
Tschou Tun-i, meist einfach Tschou-tsze, d. h. „Meister Tschou" genannt
(1017 — 1073). Schon im Yih-king begegnet man der uralten Lehre von
den kosmischen Dualkräften Yin und Yang, von denen jenes das dunkle,
weibliche, gebärende, dieses das lichte, männliche, zeugende Prinzip dar-
stellt. Das Verdienst des Tschou-tsze besteht nun darin, daß er jenen
•^ lg Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
o
Dualismus in einen Monismus aufgelöst hat, indem er die Dualkräfte aus
einem gemeinsamen Urprinzip, dem T'ai-kih, „dem höchsten Äußersten",
herleitete, das mithin den Urgrund alles Seins darstellt. Tschou-tsze hatte
zahlreiche Schüler, unter denen Tsch'eng Hao, Tsch'eng I und Tschang
Tsai die hen'orragendsten sind: sie alle aber samt ihrem Meister treten
an nachwirkendem Einfluß hinter Tschu Hi (1130 — 1200) zurück. Auch
Tschu Hi. er war ein Schüler des Tschou-tsze, dessen Lehre er in ihren Grund-
zügen adoptierte, obwohl er in manchen Einzelheiten von ihr abwich;
aber im Grunde liegt seine geschichtliche Bedeutung mehr auf dem Ge-
biet der Textkritik und Exegese als auf dem der Philosophie. Indem er
die kanonischen und klassischen Schriften der konfucianischen Schule
einer gründlichen Revision unterzog- und sie von den in ihnen enthaltenen
Widersprüchen reinigte, schuf er die Lehren des Konfucius zu einem dog-
matischen System von bindender Autorität um. Durch seinen Positivis-
mus hat der Xeukonfucianismus den Charakter einer starren Orthodoxie
erhalten, die es, zum mindesten theoretisch, an Unfehlbarkeitsdünkel und
Unduldsamkeit mit jeder anderen aufnehmen kann.
Mit Tschu Hi hat der Fortschritt auf geistigem Gebiete in China vor-
läufig seinen Abschluß gefunden. Der ohnehin nie sonderlich stark ent-
wickelte metaphysische Trieb sah sich endlich durch ein S3^stem be-
friedigt, welches, so unvollkommen es auch war, wenigstens eine Antwort
auf die Frage nach dem letzten Grunde alles Seins zu geben schien. Das
religiöse Glaubensbedürfnis begnügte sich mit der stillschweigend akzep-
tierten und in der Praxis geduldeten buddhistischen Eschatologie. Das
sittliche Handeln endlich hatte in der positiven Ethik des Xeukonfucianis-
mus eine feste Norm gefunden, an der nicht gerüttelt werden durfte und
die jede weitere Diskussion überflüssig machte. Im Jahre 167 1 erließ der
Kaiser K'ang-hi unter dem Titel Sheng-yü, „das heilige Edikt", eine Art
sittliche Ermahnung an das Volk, die gewissermaßen die Quintessenz der
offizieUen Moral enthält und von dem Kaiser Yung-tscheng, dem Sohn
und Nachfolger des K'ang-hi, eine erweiterte Fassung erhielt. In dieser
erweiterten Bearbeitung wird das heilige Edikt nicht nur in den Schulen
auswendig gelernt, sondern auch am ersten und fünfzehnten Tage jedes
Monats in allen Städten des Reiches kapitelweise vor versammeltem
Volke öffentlich vorgelesen.
Gelehrte Xur ein Gebiet blieb übrig, auf dem die Chinesen selbst während
Sammelwerke.
der Periode geistigen Stillstandes, die nunmehr seit sieben Jahrhunderten
herrscht, immerhin noch Grroßes geleistet haben: das der gelehrten Sammel-
arbeit; und als Kompilatoren stehen sie allerdings ohne Rivalen da.
Schon 983 war eine Enzyklopädie, das T'ai-p'ing-yü-lan, in tausend Büchern
erschienen; darin sind Auszüge aus 1690 Werken zusammengestellt. Im
13. Jahrhundert verfaßte darauf Ma Tuan-lin sein Wen-hien-t'ung-k'ao, d.h.
„Eingehende Erforschung der Urkunden", eine Enzyklopädie in 348 Büchern.
In 24 Sektionen werden darin die Einteilung der Ländereien, Münzwesen,
Vn. Der Neukonfucianismus und die Erstarrung des geistigen Lebens (i i. Jahrb. b. z. Gegenw.). taq
Bevölkerungsstatistik, Verwaltung, Zölle, Handel, Grundsteuern, Staats-
haushalt, gelehrte Prüfungen, öffentlicher Unterricht, Staatsämter, Opfer-
wesen, Ahnenkult, Hofritual, Musik, Kriegswesen, Strafverfahren, Literatur,
Kaisergenealogie, Lehnswesen, Sternkunde, außergewöhnliche Naturereig-
nisse, Erdbeschreibung und die Ethnographie der Barbarenvölker be-
handelt. Aber bald wurde auch dies Werk durch andere von noch
größerem Umfange überflügelt. So z. B. faßte der Ming-Kaiser Yung-loh
(1403 — 1424) den großartigen Gedanken, alles, was bis dahin auf sämt-
lichen Gebieten der Literatur, Philosophie, Geschichte, Wissenschaft und
Kunst veröffentlicht worden war, teils in Auszügen, teils in vollständigen
Kopieen in einem großen Sammelwerke zu vereinigen. Unter der Ober-
leitung von 3 Präsidenten, 5 Direktoren und 20 Unterdirektoren waren 2160
Mitarbeiter an dem Unternehmen beteiligt, das bereits nach Ablauf von
drei Jahren zum Abschluß gebracht ward. Die Drucklegung dieses
22937 Bücher umfassenden „Thesaurus des Yung-loh", Yung-loh-ta-tien,
mußte jedoch wegen der unerschwinglichen Kosten unterbleiben. Nach-
dem die beiden vollständigen Kopieen bereits durch Feuer vernichtet
worden waren, ist im Jahre 1900 bei dem Brand des Han-lin-Kollegiums
in Peking auch die letzte (unvollständige) Abschrift ein Raub der Flammen
geworden. Dem Yung-loh-ta-tien folgte bereits im Jahre 1725 die „auf
kaiserlichen Befehl veranstaltete vollständige Sammlung von Tafeln und
Schriften alter und neuer Zeit", K'in-ting ku-kin t'u-schu tsih-tsch'eng, das
größte Sammelwerk der Welt, in welchem fast die ganze einheimische
Literatur Berücksichtigung gefunden hat. Vor wenigen Jahren ist in
Schanghai ein Neudruck des Werkes in 1628 Bänden erschienen. Von
ähnlichem Umfange ist das K'in-ting ta Ts'ing hoei-tien schih-lih, „die auf
kaiserlichen Befehl veröffentlichten Statuten und Verordnungen der großen
TsHng-Dynastie'S eine vollständige Sammlung von Institutionen der gegen-
wärtig herrschenden Dynastie in 920 Bänden. Und wenn man ferner in
Betracht zieht, daß für jede Präfektur nicht nur, sondern fast für jeden
Distrikt des Reiches eine sich bis auf das geringfügigste Detail er-
streckende topographisch-historisch-administrative Beschreibung existiert,
so wird man sich eine ungefähre Vorstellung von dem ungeheuren Um-
fange dieser Kompilationsliteratur machen können. China ist ja überhaupt
das Land, wo nichts verloren geht, und so erscheint auch nichts zu un-
wichtig, um gebucht und der Nachwelt überliefert zu werden. Geborene
Philologen, haben sich die Chinesen seit jeher auf dem Gebiete der
Lexikographie ganz besonders hervorgetan — ist doch auch bei der
schwierigen und komplizierten Beschaffenheit der Schrift das Wörterbuch
ein unentbehrlicher Berater, den jeder Chinese sein Leben lang bei sich
führt. So ist es kein Wunder, daß das erste größere lexikalische Werk,
das von Hiü Shen verfaßte Schuoh-wen, in welchem gegen 10 000 Schrift-
zeichen nach ihrer Zusammensetzung und Bedeutung erklärt werden, be-
reits dem 2. Jahrhundert n. Chr. angehört. Unter den zahlreichen seitdem
350
"Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
erschienenen Wörterbüchern ist der unter der kaiserlichen Ägide zu-
sammengestellte „Thesaurus des K'ang-hi", K'ang-hi tsze-tien, das ver-
breitetste; es enthält 44449 Schriftzeichen, von denen freilich fast die
Hälfte teils veraltet, teils außer Gebrauch ist. Unter der speziellen Ober-
aufsicht des Kaisers K'ang-hi wurde auch das Pei-wen-yün-fu, eine be-
rühmte nach Reimen geordnete Konkordanz fast der gesamten Literatur
zusammengestellt; das Riesenwerk, welches mit den Nachträgen 200 Bände
füllt, erschien im Jahre 171 1.
In den bibliographischen Sammelwerken der Chinesen, wie z. B. in
dem 1790 herausgegebenen, 120 Bände umfassenden Kataloge der kaiser-
lichen Bibliothek, pflegt die Gesamtliteratur in folgende vier Kategorieen
oder Klassen eingeteilt zu sein:
I. King, kanonische Bücher, worunter jedoch nicht nur die kano-
nischen und klassischen Bücher als solche zu verstehen sind, sondern
auch die ganze sich mit ihnen befassende exegetisch-kritische Literatur,
desgleichen auch die Lexikographie.
n. Schi, die historische Klasse, der sämtliche Werk geschichtlichen
und geographischen Inhalts angehören,
ni. Tsze, die philosophische Klasse, in der jedoch außer Schriften
philosophischen Inhalts, soweit diese sich nicht speziell auf die kanonischen
und klassischen Bücher beziehen, alles mit einbegriffen ist, was wir etwa
als wissenschaftliche Literatur bezeichnen würden, also Rechts- und Kriegs-
wissenschaft, Naturkunde und Medizin, Mathematik und Astronomie (resp.
Astrologie), Landwirtschaft, Wahrsagekunst, die Essayliteratur und Werke
enzyklopädischen Charakters. Auch die gesamte buddhistische und taoistische
Literatur ist in dieser Klasse untergebracht.
IV. Tsih, „Sammlungen", worunter die poetische Literatur zu verstehen
ist, jedoch nur im engsten Sinne, denn nur was in metrischer Form abgefaßt
ist, gehört hierher, also eigentlich nur die elegische und lyrische Dichtung,
wiederum mit Ausnahme des Schi-king, das der ersten Klasse angehört.
Vin. Dramatische und erzählende Literatur (13. Jahrhundert
bis zur Gegenwart). Roman und Drama haben, wie man sieht, in
dieser Klassifikation keine Berücksichtigung erfahren, weil sie nach
chinesischer Auffassung überhaupt nicht zur Literatur im eigentlichen
Sinne gerechnet werden. Das unterscheidende Moment zwischen der
höheren und niederen Literatur bildet nämlich die Sprache, und die
geltende Literatursprache ist bis auf die Gegenwart dieselbe geblieben,
die sie vor zwei Jahrtausenden war. Diese auf den ersten Blick auf-
fallende Erscheinung findet ihre Erklärung in dem Entwicklungsgange
der chinesischen Kultur. Es waren zwei Faktoren, die hier zusammen-
wirkten: das Wiederaufleben des klassischen Altertums im Restaurations-
zeitalter der Han und der gleichzeitig beginnende tonangebende Einfluß
der Gelehrtenkaste als der berufsmäßigen Hüterin und offiziellen Ver-
VIII. Dramatische und erzählende Literatur (13. Jahrhundert bis zur Gegenwart). 7:1
treterin der konfucianischen Literatur. Die Gelehrten monopolisierten ge-
wissermaßen die gesamte literarische Produktion, und indem sie sich aus-
schließlich des altklassischen Idioms bedienten, brachten sie dieses wider-
standslos zu allg'emeiner Geltung. So ist es gekommen, daß die herrschende
Schriftsprache in China eine analoge Stellung einnimmt wie das Lateinische
in den abendländischen Literaturen des Mittelalters und der Renaissance-
zeit. Da sich nun aber Drama und Roman ihrem ganzen Wesen nach an
ein größeres Publikum wenden, so konnten sie nicht umhin, sich der
lebenden Umgangssprache zuzuwenden. Das genügte, um sie in den
Augen des zünftigen Gelehrtentums in Mißkredit zu bringen. Und so
tiefgewurzelt ist das Vorurteil, daß die besseren Erzeugnisse der drama-
tischen und erzählenden Literatur sich wohl oder übel mit einem Kom-
promiß zwischen Literatur- und Umgangssprache begnügen mußten. Die
Folge davon war, daß ihr Verständnis stets ein gewisses, oft sogar ein
sehr hohes Maß von gelehrter Bildung und Belesenheit voraussetzt. Auch
heute noch begegnet man der echten, unverfälschten Volkssprache nur in
Schauspielen und Erzählungen niederster Gattung.
Die ersten Anfänge der dramatischen Kunst reichen in das früheste Das ältere
Drama.
Altertum zurück; pantomimische Darstellungen und Tänze, m welchen ge-
schichtliche Szenen, wie z. B. die Kämpfe des Wu-wang gegen den letzten
Tyrannen der Schang-Dynastie, vorgeführt wurden, pflegten die feierliche
Opferhandlung zu begleiten, und ähnliche Tänze bilden noch jetzt einen
wichtigen Bestandteil des Staatskultes, Ob jedoch jene Aufführungen in
einem ursächlichen Zusammenhang mit dem späteren Drama stehen, ist
immerhin fraglich, wenigstens bezeichnet die landläufige Überlieferung
ausdrücklich den kunstliebenden Kaiser Hüan-tsung-ti der T'ang-Dynastie
(713 — 755) als den eigentlichen Begründer der Schauspielkunst, weil er
an seinem Hofe ein besonderes Institut, den sogenannten „Birnbaumgarten",
ins Leben rief, in welchem junge Leute beiderlei Geschlechts zu Tänzern,
Musikern und Sängern ausgebildet wurden. Da wir jedoch keinerlei
Proben einer dramatischen Literatur aus jener Zeit besitzen, so läßt sich
auch nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich damals schon um wirklich
theatralische Aufführungen handelte. Die Tatsache, daß die Bezeichnung
„Zöglinge des Birnbaumgartens" als eleganter Ausdruck für Schauspieler
gebraucht wird, scheint jedenfalls dafür zu sprechen, während andererseits
der durchweg melodramatische Charakter des chinesischen Schauspiels
entschieden auf dessen musikalischen Ursprung hinweist. Besonders deut-
lich läßt sich das an dem Si-siang-ki, der „Geschichte des westlichen
Seitenflügels", erkennen, einem Schauspiel, das noch aus den letzten Jahren
der Sung-Dynastie herrührt. Es trägt ein vorwiegend lyrisches Gepräge,
indem der Prosadialog auf Schritt und Tritt von metrischen Partieen unter-
brochen wird, die für den Gesang bestimmt sind, während die Schwer-
fälligkeit und Unbeholfenheit des dramatischen Aufbaues — die Handlung
zieht sich durch sechzehn, zum Teil ziemlich locker aneinander gefügte
^ = 2 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
Szenen oder Akte hin — noch eine in ihren Anfäng'en befindliche Technik
verrät.
Die Glanzperiode der dramatischen Dichtung- ist das Zeitalter der
Mongolenherrschaft (1280 — 1368). Der Fortschritt zeigt sich vor allem in
dem strafferen Gefüge der Komposition: schon die Einteilung- in vier bis
fünf Akte, die jetzt zur Reg'el wird, verlangte eine gedrängtere, übersicht-
lich gegliederte Behandlung des Stoffes und eine größere Einheitlichkeit
der Handlung. Auch tritt das melodramatische Element allmählich mehr
zurück, indem sich der Gesang im allg'emeinen auf eine der handelnden
Personen beschränkt; zudem steht er zum größten Teil außerhalb des
Ganges der Handlung- und bildet gleichsam die Vermittlung zwischen
Dichter und Publikum, so daß er in gewissem Sinne dem Chor der antiken
Tragödie entspricht. Es werden 85 dramatische Dichter erwähnt, die
sämtlich der ]\Iongolenzeit angehören, und von den 564 Stücken, die sie
verfaßt haben, sind hundert der besten zu einer Sammlung vereinigt
worden, die sozusagen das klassische Repertoire des chinesischen Theaters
darstellt. Ihrem Inhalte nach zerfallen sie in historische Dramen, bürger-
liche Schauspiele, Charakterkomödien und phantastisch -mythologische
Zauberdramen. Unter den Stücken der erstgenannten Gattung erfreut sich
„Die Waise aus dem Hause Tschao" sogar einer gewissen europäischen
Berühmtheit, weil sie Voltaire den Stoff zu seinem „Orphelin de la Chine"
geliefert hat; dennoch beansprucht wohl die Charakterkomödie durch ihre
realistische, oft mit beißendem Spott und derbem Humor gewürzte Sitten-
schilderung das größere Interesse. Die mit Vorliebe darin behandelten
Typen sind der Mandarin im allgemeinen, besonders aber der richterliche
Beamte, der Literat und der Bonze, deren Korruption, Bestechlichkeit,
Dünkel und Scheinheiligkeit unerschöpflichen Stoff bieten. Aber es bleibt
immer mehr oder weniger bei der stereotypen Schablone, und nur aus-
nahmsweise stößt man auf einen individuellen Charakter. Schon die Sitte,
die handelnden Personen nicht mit dem Namen der speziellen Rolle, deren
Träger sie sind, sondern, ähnlich der Commedia dell'arte, ganz allgemein
nach ihrem Rollencharakter zu bezeichnen, läßt durchblicken, daß sie mehr
als Figuren, denn als Personen aufgefaßt werden. Das Bestreben nach
feinerer Charakterisierung tritt eigentlich nur hin und wieder bei dem
vielfach wiederkehrenden Soubrettentypus hervor, der gern, wie z. B. schon
im Si-siang-ki, als Leiter der Intrige im Mittelpunkt der Handlung steht
und sich bisweilen durch eine recht glückliche Mischung von Schalkhaftig-
keit und Anmut auszeichnet.
Auch unter der Ming-Dynastie (1368 — 1644) blühte die dramatische
Dichtung noch eine Weile, und „Die Geschichte einer Laute" (P'i-p'a-ki),
ein aus dem 14. Jahrhundert stammendes Drama, gilt sogar für eine der
besten Schöpfungen dieser Gattung. Es ist indessen wohl anzunehmen,
daß die Begeisterung für dieses Stück mehr seiner ethischen Tendenz als
seinen literarischen Vorzügen zuzuschreiben ist: es verherrlicht nämlich
Vin. Dramatische und erzählende Literatur (13. Jahrhundert bis zur Gegenwart). ^c^
die kindliche Liebe, die bekanntlich für die Krone aller Tugenden gilt.
In formaler Hinsicht steht es dem Si-siang-ki am nächsten und muß
daher gegenüber dem Drama der Mongolenzeit eher als ein Rückschritt
bezeichnet werden.
Von nun an geht es mit der dramatischen Dichtung' vollends mit Das Drama
CT r^ ^ • • '^^'' Gegenwart.
Riesenschritten bergab, und was heutzutage aur diesem uebiete geleistet
wird, darf kaum noch als zur Literatur gehörend betrachtet werden. In
der landesüblichen Klassifikation des modernen Dramas wird zwischen
„Zivilschauspielen" und „kriegerischen" oder „Militärdramen" unterschieden.
Jene entsprechen mehr oder weniger unserem Begriff des „Schauspiels",
während diese hauptsächlich aus Kampfszenen und Akrobatenleistungen
bestehen ; ihnen schließen sich dann noch die Rührstücke an, K'u-hi, wört-
lich übersetzt: „Wein-" oder „Klag^estücke". x\lle drei Gattungen sind
teils historischen, teils phantastisch-mythologischen Inhalts und schöpfen
ihre Stoffe durchweg aus der populären Romanliteratur. Es sind in der
Regel nichts weiter als dramatisierte oder, richtig^er ausgedrückt, einfach
dialogisierte Romanepisoden, die oft g"enug gänzlich aus dem Zusammen-
hange herausgerissen und natürlich nur von demjenigen verstanden wer-
den können, der den betreffenden Roman kennt. Neben diesem „höheren"
oder, wie der Chinese sagt, „guten" Drama gibt es dann noch zahlreiche
Lustspiele und Possen, in denen der Hanswurst die Hauptrolle spielt:
verkümmerte Reste der ehemaligen Charakterkomödie, zeichnen sie sich
sämtlich durch wenig Witz und viel Behagen aus. Der einzige Vorzug,
der dem modernen Drama nachgerühmt werden muß, ist seine Kürze,
denn es besteht mit wenigen Ausnahmen nur aus Einaktern.
Drama und Roman treten fast gleichzeitig auf den Plan, aber während i^er Roman,
sich die ersten Anfänge des Dramas bis in die ältesten Zeiten zurück-
verfolgen lassen, tritt der Roman völlig unvermittelt auf: er ist plötzlich
da, ohne daß sich über seinen Ursprung auch nur eine Mutmaßung auf-
-stellen ließe. Noch auffallender ist jedoch, daß der erste Wurf zugleich
der glücklichste war: das San-kuoh-tschi-yen-i, „die erweiterte Geschichte
der drei Staaten", nimmt nicht nur zeitlich, sondern auch seinem Rang
nach die erste Stelle in der erzählenden Literatur Chinas ein.
Wie schon der Titel andeutet, bilden die Kämpfe zwischen den drei
Sonderstaaten, in die das Reich nach dem Sturze der Han-Dynastie zer-
fallen war, den Inhalt der Erzählung. Im Grunde genommen kann jedoch
das San-kuoh-tschi nur cum grano salis als historischer Roman bezeichnet
werden, vielmehr enthält es in einem Zyklus von Erzählungen die aus
Wahrheit und Dichtung gemischte Schilderung einer ganzen Epoche, ist
also mehr Epopöe als Roman. Und in der Tat bietet es dem Chinesen
auch einen nahezu vollwertigen Ersatz für das, was seiner Literatur fehlt:
das nationale Heldenepos. An Popularität steht es in der gesamten er-
zählenden Literatur Chinas ohnegleichen da, und selbst die des Lesens
Unkundigen sind mit seinem Inhalt bis in alle Einzelheiten vertraut, weil
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 23
^: 1 Wilhelm Gritbe: Die chinesische Literatur.
zahllose öifentliche Geschichtenerzähler in Stadt und Land für seine Ver-
breitung- sorgen. Wie sehr jene Erzählungen dem Volke in Fleisch und
Blut übergegangen sind, beweist nichts schlag^ender als die Tatsache, daß
einer ihrer Haupthelden, der in der Folge zum Kriegsgott erhobene
Kuan Yü, die durch das ganze Reich verbreitete Volkstümlichkeit seines
Kultus, wenn nicht ausschließlich, so doch in allererster Linie dem San-
kuoh-tschi verdankt. Leider ist von dem Verfasser des Buches außer
seinem Namen nichts bekannt: er heißt Lo Kuan-tschung und lebte, wie
gesagt, unter der Mongolendynastie der Yüan.
Der gleichen Zeit gehört noch ein anderer Roman an, der sich eben-
falls einer großen Beliebtheit erfreut. Es ist dies die von Schi Nai-ngan
verfaßte „Geschichte des Flußufers", Schui-hu-tschuan, die sich mit den
Taten und Abenteuern einer Bande von Flußpiraten befaßt und durch
vielfach eingestreute humoristische Episoden eine gewisse Verwandtschaft
mit unsern alten Schelmenromanen zeigt. Beide Erzählungen haben dem
modernen Drama unerschöpflichen Stoff geliefert und verdienten ent-
schieden in eine europäische Sprache übersetzt zu werden — ein Unter-
nehmen freilich, welches bei dem kolossalen Umfange der beiden Dich-
tungen wohl noch lange seiner Ausführung harren wird. Pavies vor reich-
lich einem halben Jahrhundert begonnene Übersetzung des San-kuoh-tschih
ist leider ein Torso geblieben. Übrigens zeichnen sich fast alle historischen
Romane, an denen die chinesische Literatur sehr reich ist, durch eine
ähnliche Ausführlichkeit aus. Knapper in der Form sind dagegen, zum
Teil wenigstens, jene Erzählungen, die ihre Stoffe dem täglichen Leben
entnehmen und ihrem Inhalte nach bis zu einem gewissen Grade ein
Seitenstück zum bürgerlichen Schauspiel und zur Charakterkomödie bilden.
Ein treffliches Beispiel dieser Art ist das bereits ins Englische und Fran-
zösische übersetzte Hao-k'iu-tschuan, „die Geschichte einer guten Gefährtin",
ein Roman, der aus der Zeit der Ming-Dynastie stammt. Oft ist gerade
in diesen Romanen die Fabel nicht nur gut erfunden, sondern auch mit
vielem Geschick und spannend erzählt. Im allgemeinen gilt jedoch auch
hier, was bereits vom Drama gesagt wurde: das Typische überwiegt,
während die individuelle Eigenart des Charakters meist zu kurz kommt,
und sogar da, wo die Charakteristik an Schärfe und P'einheit wenig zu
wünschen übrig läßt, fehlen doch selbst die Ansätze einer psychologischen
Analyse gänzlich. Beim Lesen dieser Romane hat man in der Regel die
Empfindung, Figuren vor sich zu sehen, die gleichsam durch einen ver-
borgenen Mechanismus in Bewegung gesetzt werden und immer nur ruck-
weise wie Automaten oder Marionetten agieren, nicht lebendige Menschen,
die aus freiem Antriebe handeln und unter dem Einfluß äußerer Verhält-
nisse eine innere Entwicklung durchmachen. Wer jedoch China und das
Chinesentum aus eigener Anschauung kennt, wird gerade in dieser stereo-
typen Schablonenhaftigkeit der Romanfiguren das getreue Abbild der
Wirklichkeit wiedererkennen. Unter dem nivellierenden Einfluß eines
Viri. Dramatische und erzählende Literatur (13. Jahrhundert bis zur Gegenwart.). 35 S
Jahrtausende alten, für sakrosankt geltenden gesellschaftlichen Komments
ist dem Chinesentum eben die höchste Blüte aller Kultur, die freie Persön-
lichkeit, versagt geblieben. Nichtsdestoweniger ist der Roman ein Kultur-
dokument ersten Ranges, denn er allein gewährt einen Einblick in das
chinesische Leben, wie es ist, einen Einblick vor allem in das Innere, das
chinesische Haus, das ja sonst dem Fremden hermetisch verschlossen
bleibt, — man denke nur an die köstlichen Schilderungen aus dem Leben
und Treiben der gebildeten Stände in Romanen wie das Yüh-kiao-li oder
das P'ing Shan Ling Yen, die durch Stan. Juliens meisterhafte Übersetzung
auch dem europäischen Leser zugänglich gemacht sind.
Unter den sittenschildernden Romanen genießt „Der Traum in der
roten Kammer'', Hung-lou-men, eine an poetischen Szenen reiche Liebes-
geschichte, ein besonders hohes Ansehen. An P'ormvollendung des Stiles
ist das Buch auch in der Tat vielleicht die hervorragendste Schöpfung
der chinesischen Romanliteratur, doch wird es dem Leser nicht leicht ge-
macht, sich in dem Labyrinth der 2 4 bändigen Erzählung mit ihren
400 Figuren zurechtzufinden. Der Verfasser heißt Ts'ao Süeh-ki und lebte
im 17. Jahrhundert. Um ein Jahrhundert älter ist das Kin P'ing Mei, ein
naturalistischer Sittenroman, der als kulturgeschichtliches Dokument das
größte Interesse beansprucht. Von meisterhafter Darstellung, voller Witz
und Humor, dabei frivol bis zum frechsten Zynismus, bietet das Buch die
unverhüllt naturwahre Schilderung einer bis in ihre Wurzeln korrumpierten
Gesellschaft. Sein Verfasser Wang Schi-tscheng (1526 — 1593), der Rabelais
Chinas, soll, bezeichnend genug, den Posten eines Justizministers bekleidet
haben, und kein Geringerer als ein Bruder des Kaisers K'ang-hi hat den
Roman ins Mandschu übersetzt. Nichtsdestoweniger ist das Buch seines
über alle Maßen anstößigen Inhalts wegen verboten worden, was natür-
lich seine Verbreitung in keiner Weise zu beeinträchtigen vermocht hat.
Eine Gattung für sich sind endlich die Romane phantastisch-mytho-
logischen Inhalts, die ihre Stoffe aus dem buddhistischen und taoistischen
Leg"endenschatze schöpfen und denen das Zauberdrama seinen Ursprung
verdankt. Ein weitverbreitetes Produkt dieser Art sind die „Göttermetamor-
phosen", Feng-schen-yen-i, welche die Kämpfe zwischen Wu-wang, dem
Begründer der Tschou-Dynastie, und dem letzten Tyrannen aus dem Hause
Yin schildern und mit der Apotheose der hervorragendsten Kämpfer aus
beiden Lagern ihren Abschluß finden. Ihnen nach Form und Inhalt ver-
wandt ist die „Beschreibung einer Wanderung nach den westlichen Re-
gionen", Si-yu-ki, ein Zyklus von Erzählungen, deren Hauptheld der
buddhistische Pilger Hüan-tsang ist. Diese beiden bändereichen Zauber-
romane sind übrig'ens zugleich religionsgeschichtlich von nicht zu unter-
schätzender Bedeutung, denn die in ihnen enthaltenen Wundergeschichten
sind in Bausch und Bogen in den modernen Volksglauben übergegangen,
und die darin erwähnten Götter, deren das Feng-schen-yen-i allein ein
ganzes Tausend aufzählt, gehören sämtlich dem populären Pantheon an.
23*
^ = 5 Wilhelm Grube: Die chinesische Literatur.
Die Novelle. Neben dem Roman hat sich auch die Novelle einer eifrigen Pflege
zu erfreuen gehabt. Zwei größere Novellensammlungen sind besonders
hervorzuheben, von denen die erste, „Wundersame Geschichten aus alter
und neuer Zeit" (Kin-ku-k'i-kuan) bereits aus der Zeit der Ming-D3'nastie
stammt und 40 Erzählungen enthält. In einer verhältnismäßig leichtver-
ständlichen Sprache geschrieben, haben sie einen großen Leserkreis ge-
funden und sind zum Teil auch durch Übersetzungen in Europa bekannt
geworden. Sie behandeln gTÖßtenteils galante Abenteuer, ergehen sich
jedoch hie und da auch in humorvoller Persiflage der verschiedenen
Formen des in allen Kreisen verbreiteten Aberglaubens. Die zweite
der in Rede stehenden Sammlungen trägt den Titel: „Seltsame Aufzeich-
nungen aus der ,Zuflucht"' (Liao-tschai-tschi-i). „Zuflucht" ist hier der
Name, den der Dichter (geb. 1622) seinem Studierzimmer gegeben hat und
den er, üblicher Sitte gemäß, als nom de plume führt; sein eigentlicher
Name ist P'u Sung-ling. Die meistens ganz kurzen Geschichten — es sind
ihrer weit über hundert — befassen sich größtenteils mit dem herrschen-
den Gespenster- und Dämonenglauben und gewähren einen überaus lehr-
reichen Einblick in dieses interessante Kapitel der Völkerpsychologie.
Manche von ihnen sind jedoch von so geringem Umfange, daß sie kaum
über den knappen Rahmen der Anekdote hinausgehen. Ihr Hauptreiz
liegt für den Chinesen in ihrer stilistischen Eigenart: im Gegensatz zu
ähnlichen Erzeugnissen der leichten Literatur sind sie nämlich im Stile der
klassischen Schriftsprache geschrieben und wimmeln dabei förmlich von lite-
rarischen Anspielungen und gelehrten Zitaten, die dem Verfasser reich-
liche Gelegenheit geben, mit seiner Belesenheit zu glänzen. Diesem
Umstände hat das Buch hauptsächlich seine große Beliebtheit in Literaten-
kreisen zu verdanken.
Mit dem 17. Jahrhundert findet die erzählende Literatur ihren Abschluß,
denn was seitdem auf diesem Gebiete produziert wird, steht auf einem
ähnlich niedrigen Niveau wie das moderne Drama.
Schlußbetrachtung. Der senile Zug, der seit bald einem Jahr-
tausend durch das ganze chinesische Geistesleben geht, tritt auch in der
Literatur zutage. Schon längt trägt sie den Todeskeim in sich, und ihr
Schicksal war bereits von dem Augenblick an besiegelt, da sich die
Schriftsprache von dem lebendigen Idiom der Umgangssprache abzu-
sondern begann. Die unvermeidliche Folge dieser Trennung war, daß die
Literatur zum Sonderprivilegium einer gelehrten Minderheit wurde, während
die große Masse sich von jeglicher Zufuhr geistiger Nahrung abge-
schnitten sah. Noch andere Momente traten hinzu, die an diesem Ergeb-
nisse mitwirkten und den Prozeß beschleunigten. Sie lagen teils in der
ursprünglichen geistigen Veranlagung der Nation, teils in dem Gange
ihrer geschichtlichen Entwicklung. Von Hause aus gleichgültig gegen
metaphysische Spekulation, haben die Chinesen gegenüber der Frage:
Schlußbetrachtung. 357
Was ist Wahrheit? zu allen Zeiten den unfruchtbar skeptischen Pilatus-
Standpunkt eingenommen. Weil sie nie das unerreichbar Höchste zu er-
streben sich bemühten, blieben sie auf den meisten Gebieten menschlicher
Tätigkeit weit hinter dem Erreichbaren zurück. Weil sie sich mit der
sinnenfälligen Wirklichkeit begnügten, rächte sich die Wirklichkeit durch
den Mangel innerer Wahrheit. Weil sie endlich nie den Versuch gewagt
haben, durch Experiment und wissenschaftliche Beobachtung den Schleier
zu lüften, der die Geheimnisse der Natur verhüllt, sind sie nie über den
schamanistischen Standpunkt hinausgekommen, der das ganze Dasein als
unter der Herrschaft böser und guter Geister stehend betrachtet. In allen
diesen Punkten war Konfucius der vollendetste Typus des Chinesen.
Daraus erklärt sich die ungeheure Macht seines Einflusses psychologisch,
— das Übrige tat das Walten der Geschichte. Durch seine Apotheose
trat an die Stelle der Person ein Prinzip, Konfucius wurde durch den
Konfucianismus verdrängt, und die heilig gehaltene Tradition erstarrte
zum Dogma, unter dessen intellektuellem und moralischem Druck das
geistige und sittliche Leben erstickte. Nur von außen her konnte dem
siechen Organismus noch frische Lebenskraft zugeführt werden, und eine
Zeitlang schien der Buddhismus dazu berufen zu sein — aber China wurde
nicht buddhistisch, dafür jedoch der Buddhismus chinesisch. Gegenwärtig
scheint nun China an einem Wendepunkt angelangt, wo sich die Frage,
ob Sein oder Nichtsein, über kurz oder lang entscheiden muß. Was keine
Waffengewalt erzwingen konnte, suchen jetzt die Errungenschaften der
abendländischen Zivilisation, Handel, Industrie und Wissenschaft, durch-
zusetzen. Bereits scheint der Widerstand gebrochen, das Alte sinkt in
Trümmer, altgeheiligte Institutionen, wie das staatliche Prüfungswesen,
beginnen modernen Anforderungen zu weichen, die lebende Umgangs-
sprache macht schüchterne Versuche, sich zunächst wenigstens in der
Presse einzubürgern, ausländische Lehrer werden überallher angeworben,
und Europäer, Amerikaner, Japaner reißen sich in bekannter Uneigen-
nützigkeit um die Ausübung einer Kulturmission, für die jeder nur sich
allein berufen fühlt. Ob aus den Ruinen neues Leben blühen wird —
diese Frage zu entscheiden, muß freilich der Zukunft überlassen bleiben.
Einstweilen scheint sich China nachgerade in einer Lage zu befinden, die
an den Zauberlehrling denken läßt.
L iteratur.
Die erste Bekanntschaft mit den Erzeugnissen der chinesischen Literatur verdankt das
Abendland den (größtenteils französischen) Jesuiten des 17. und 18. Jahrhunderts, Männern
wie INTORCETTA, NOEL, COUPLET, Gaubil, Amiot, Cibot, Lacharme, Mailla u. a. m. Aber
es dauerte noch lange, bis man sich zu einer systematischen Darstellung des gesamten chine-
sischen Schrifttums entschloß. Unter den Versuchen dieser Art ist WiLH. Schotts ,, Ent-
wurf einer Beschreibung der chinesischen Literatur" (Berlin, 1854) einer der frühesten und,
wie gleich hinzugefügt werden muß, wohl der beste. Dennoch bietet er eben nicht mehr
als der Titel verspricht: einen Entwurf, der von einer annähernden Vollständigkeit noch
ebenso weit entfernt ist wie von einer den Anforderungen strenger Wissenschaftlichkeit
genügenden kritischen Behandlung des Stoffes. W. P. Wassiljews russisch geschriebene
Darstellung (in Korschs Allgem. Literaturgeschichte [St. Petersburg, 1880], S. 426 — 588)
zeichnet sich durch eine oft verblüffende Selbständigkeit der Auffassung aus. Dieser aus-
gezeichnete Sinolog, der sich einer Belesenheit rühmen dürfte wie nur die allerwenigsten
seiner Fachgenossen, vertritt jedoch, besonders in der Beurteilung der klassischen Literatur,
einen ultraradikalen Standpunkt, so daß er durch seine allzu skeptische Kritik mitunter in
Kritiklosigkeit verfallt, ein Übelstand, der nach Legges bahnbrechenden Vorarbeiten auf
diesem Gebiete doppelt schwer ins Gewicht fällt und den Wert der Arbeit stark beein-
trächtigt. Durchweg aus Quellen zweiter Hand geschöpft ist der einschlägige Abschnitt im
2. Bande von A. Baumgartners ,, Geschichte der Weltliteratur", 3. u. 4. verb. Aufl. (Frei-
burg i. Br.), S. 475 — 552. Nichtsdestoweniger hat der Verf. es verstanden, das ihm zugäng-
liche Material mit so großem Fleiß und Verständnis zu verwerten und zu gestalten , daß
seine Arbeiten gegenüber den sonstigen Leistungen ähnlicher Art die höchste Anerkennung
verdienen. H. A. GlLES' ,,History of Chinese Literature" (London, 1901) enthält zwar eine
reiche und gute Auswahl von Übersetzungsproben, doch wird darin der historische Zu-
sammenhang etwas stiefmütterlich behandelt. Das Buch trägt vorwiegend den Charakter
einer Sammlung von Lesestücken mit verbindendem Text, ist aber vielleicht gerade dadurch
geeignet, den Laien praktisch in den Gegenstand einzuführen. In meiner ,, Geschichte der
chinesischen Literatur" f Leipzig, 1902) habe ich mich bemüht, die Literatur so viel als mög-
lich in ihrem Zusammenhange mit der Geschichte und dem geistigen Entwicklungsgange
der Nation darzustellen. Die vier letztgenannten verfolgen den Zweck, den Gegenstand
einem größeren Leserkreise zugänglich zu machen, doch beruhen sie sämtlich, mit alleiniger
Ausnahme des Baumgartnerschen Buches, auf selbständigem Quellenstudium. Eine streng
wissenschaftliche und den Stoff erschöpfende Gesamtdarstellung der chinesischen Literatur
liegt bisher noch nicht vor und wird auch wohl angesichts der Riesenhaftigkeit der Auf-
gabe und des Mangels an genügenden Vorarbeiten noch für lange Zeit ein pium desiderium
bleiben.
Die nachfolgenden Literaturangaben machen natürlich keinen Anspruch auf Vollständig-
keit, sondern haben nur den Zweck, dem Leser einige orientierende Winke zu geben.
S. 318. J. Legge, The sacred books of China, in: The Sacred Books of the East, ed.
by F. >Lvx MÜLLER, vol. 111, XVI, XXVII, XXVIII. — V. VON Strauss, Schl-klng, das
kanonische Liederbuch der Chinesen (Heidelberg, 1880).
Literatur.
359
S. 323. Eine vollständige Übersetzung der vier klassischen Bücher gibt LEGGE, The
Chinese Classics, vol. I u. II (Hongkong u. London, 1861; Band II in 2. Aufl. 1894).
S. 326. V. V. Strauss, Laö-tscs Täo te king, aus dem Chinesischen ins Deutsche
übersetzt, eingeleitet und kommentiert (Leipzig, 1870).
S. 328. E. F.\BER, Der Naturalismus bei den alten Chinesen (Elberfeld, 1877; entliält
eine Übersetzung des Lieh-tsze).
S. 328. H. A. GiLES, Chuang Tzü, Moralist, Mystic, and Social Reformer (London, 1899).
S. 332. Ed. Chavannes, Les Memoires historiques de Se-ma Ts'ien, trad. et annotes
(Paris, 1895 — 1905). Es sind bisher die fünf ersten Bände dieses bahnbrechenden Werkes
erschienen.
S. 337. Jos. Edkins, Chinese Buddhism (London, 1893).
S. 340. d'Hervey-Saint-Denys, Poesies de l'epoque des Thang (Paris, 1852).
S. 342. A. Forke, Blüten chinesischer Dichtung (Magdeburg, 1899).
S. 347. MOYRIAC DE Mailla, Histoire generale de la Chine, trad. du Tong-kien-kang-
mou. 12 vols. (Paris, 1777 — 1783).
S. 351. Bazin, Theätre chinois, ou choix de pi^ces de theätre comp, sous les empe-
reurs mongols (Paris, 1838). — R. v. Gottschall, Theater und Drama der Chinesen
(Breslau, 1887).
S. 353. Th. Pavie, Histoire des trois royaumes, vol. 1 — 2 (Paris, 1845 — i^dO-
S. 356. Das Liao-tschai-tschi-i ist zum größten Teil übersetzt in H. A. GiLES, Strange
Stories from a Chinese Studio (London, 1880).
DIE JAPANISCHE LITERATUR.
Von
Karl Florenz.
Land und Leute. Einleitung. Auf den Inseln, welche das heutige Kaiserreich Japan
bilden, haben sich vor mehreren Jahrtausenden, bis in den Anfang der
christlichen Ära hinein, große Rassenkämpfe abgespielt. Die jetzt auf
den nördlichen Eilanden Yezo und Sachalin in spärlichen Resten sitzen-
den Ainu waren einst das herrschende Volk des ganzen Landes, aber von
den Fluten zweier Völkervvanderungen, deren eine sich vom nordasia-
tischen Festlande über Korea, die andere von Süden her nach Japan er-
goß, wurden sie nach tapferem Widerstände verschlungen oder nach
Norden abgedrängt. Die beiden neu eingewanderten Volksgruppen hatten
sich in noch vorhistorischer Zeit, ehe die Ainu aus Mitteljapan verdrängt
wurden, zu einer ethnologischen Einheit zusammengeschlossen, welcher die
über Korea gekommenen Ural- Altaier, jedenfalls das zivilisiertere Element,
den sprachlichen Charakter verliehen.
Xur wenig Zuverlässiges ist uns über die Urjapaner bekannt, da ihre
volkstümlichen Überlieferungen mangels einer eigenen Schrift erst im An-
fang des 8. Jahrhunderts n. Chr. gesammelt und aufgezeichnet wurden, zu
einer Zeit, wo die Bewohner dieses Landes schon seit mehreren loo Jahren
immer mehr unter den Einfluß der zuerst von den Koreanern vermittelten,
wirtschaftlich, technisch und geistig weit überlegenen chinesischen Kultur
geraten waren. Auch religiöse Umwandlungen von weittragendster Be-
deutung hatten sich inzwischen durch die Ende des 6. Jahrhunderts be-
gonnene Einbürgerung des indischen Buddhismus in chinesischer Ver-
arbeitung angebahnt. Chinesische Sprache, Schrift, Literatur, Kunst,
Religion, Sitten und politische Einrichtungen einerseits und der Buddhis-
mus andererseits schufen das vorher in ziemlich primitiven Zuständen
lebende japanische Volk, dem von der Natur eine kräftige Assimilations-
gabe verliehen worden war, zu einer Kulturnation um. Die genannten
Faktoren hatten für die Japaner ebendieselbe Bedeutung, wie die griechisch-
römische Kultur und das Christentum für die Völker von Mittel- und
Nordamerika.
I. Die älteste Zeit ( — 794 n. Chr.). 55 1
T. Die älteste Zeit ( — 794 n. Chr.), Die geschriebene Literatur Japans
beginnt mit dem 712 n. Chr. abgefaßten Kojiki „Geschichte der Begeben-
heiten im Altertum" und dem 8 Jahre jüngeren Nihongi „Japanische
Annalen". Beide Werke, mit chinesischen Schriftzeichen geschrieben, die
nur im letzteren zu reiner chinesischer Satzstruktur geordnet wurden, sind
als erste Versuche geschichtlicher Darstellung ungeschickte Kompilationen,
trotzdem aber von hohem Werte, denn in ihnen sind mit leidlicher Sorg-
falt die altüberlieferten Göttermythen von der Schöpfung der Welt bis
zum Ende des Götterzeitalters und die ältesten legendenhaften Geschichts-
erzählungen Japans gesammelt, aus denen sich, soweit sie von Ereignissen
vor dem 5. Jahrhundert handeln, zwar nicht viele historische Fakta, aber
ziemlich anschauliche Bilder der frühesten Kulturzustände entnehmen
lassen. Die letzte schon eigentlich historische Hälfte der „Annalen",
worin die Geschichte Japans vom 5, Jahrhundert bis zum August 697
fortgeführt wird, gewinnt an Verläßlichkeit, je mehr sie sich der Ab-
fassungszeit nähert, und auch die Zeitangaben werden meistens richtig
sein. Dagegen kann man gegenüber der unkritischen Leichtgläubigkeit,
welche noch heute die Berichte des Nihongi über das sogenannte erste
Jahrtausend der japanischen Geschichte seit angeblich 660 v, Chr. finden,
nicht genug betonen, daß die ganze diesen Zeitraum angehende Chrono-
logie kurz vor Abfassung des Werkes ad hoc willkürlich erfunden wurde.
Die erst 1872 auf diese naive Geschichtsfälschung der „Annalen" be-
gründete offizielle japanische Ära „seit der Thronbesteigung des ersten
Kaisers" ist deshalb theoretisch-wissenschaftlich ebenso wertlos als sie
praktisch überflüssig ist.
Zum schätzbarsten Bestandteile des Kojiki und Nihongi gehören etwa Archaische
200 archaische Gedichte, welche in phonetischer Schreibung darin Auf-
nahme gefunden haben. Sie sind überall in den erzählenden Text ein-
gestreut und werden an den betreffenden Stellen Göttern, Göttinnen, sagen-
haften Helden der Urzeit und, in den jüngsten Abschnitten, historischen
Personen in den Mund gelegt. Wenn wir über die angeblichen „Dichter"
auch zur Tagesordnung übergehen können, so ist doch unzweifelhaft, daß
in diesen Versen altes Poesiegut vorliegt, das dem 5, — 7, Jahrhundert, in
einzelnen Fällen wohl auch noch früherer Zeit angehört. Wir besitzen in
diesen Gedichten [Uta, d, i, „Gesang, Lied") das älteste japanische und
ural-altaische Sprachmaterial, Auf hohen poetischen Gehalt können sie
allerdings keinen Anspruch erheben: sie sind der einfache Ausdruck naiver
Gedanken und Empfindungen, in der Mehrzahl Kampfgesänge, Trinklieder,
Glückwunschlieder, Trauergesänge, Spottlieder, Liebeslieder, Unter den
letzteren, welche am zahlreichsten vertreten sind, finden sich einige von
zarterer Empfindung; die meisten aber künden nur Wohlgefallen an der
Schönheit des Leibes und unverhüllte Begier nach sinnlichem Genuß, Der
Allgemeineindruck ist, daß wir es mit einem selbstbewußten, kriegerischen,
sinnlichen, lebensfrohen Volke zu tun haben, das noch in urwüchsigen
Poesie.
2 02 Karl Florenz: Die japanische Literatur.
Verhältnissen lebt und über eine mittelmäßige poetische Begabung ver-
fügt. Von manchen Eigenschaften, welche der ganzen späteren Lyrik so
innig anhaften, daß man sie als spezifisch japanisch zu betrachten geneigt
ist, nämlich der Liebe zur Natur und der elegisch-sentimentalen Schwärmerei
für ihre kleinen und kleinsten Erscheinungen, für Mond und Schnee und
Blumen und Blüten, findet sich in den archaischen Gedichten noch keine
Spur. Sie kommen erst Ende des 7. und Anfang des 8. Jahrhunderts zum
Vorschein, als die Japaner begonnen hatten, die chinesische Poesie nach-
zubilden, und sind auf chinesischen Einfluß zurückzuführen.
Prosodischcs. Die Prosodie ist überaus einfach, und ist es bis auf den heutigen Tag
geblieben. Sie kennt nur Silbenzählung, ohne einen auf Akzent und Quan-
tität beruhenden Rhythmus und ohne Reim. In der ältesten Poesie treffen
wir Verse von 4, 5, 6 und 7 Silben vermischt, beobachten aber, wie das Ohr
sich immer mehr für den Gebrauch von fünf- oder siebensilbigen Versen
entscheidet und schließlich den regelmäßigen Wechsel von Fünf- und
Siebensilbem zum eisernen Gesetz aller metrischen Bildung erhebt. Die
Zahl der Verse in einem Gedicht war ursprünglich keiner Beschränkung
unterworfen. Erst mit dem Vorwiegen des Fünf-Sieben-Metrums machte
sich auch das Bedürfnis nach bestimmten Abgrenzungen fühlbar. Als
kleinste mögliche Einheit empfand man einen Dreizeiler von 5 — 7 — 7
Silben {Kata-uta), den man aber aus naheliegenden Gründen gewöhnlich
■ verdoppelte [Sedöka, zweistämmiges Lied). Die nächst größte Einheit
wurde ein Gedicht aus den Silbengruppen 5 — 7 5 — 7 7, welches durch Ein-
fügung einer Zäsur nach dem dritten Verse einen ganz eigentümlichen
Charakter erhielt, nämlich wie ein aus Hexameter und Pentameter be-
stehendes Distichon in einen längeren Obersatz und einen kürzeren Unter-
satz 5 — 7 — 5 7 — 7 zerfiel. Diese epigrammhafte Form von 31 Silben,
Ta7ika „Kurzgedicht" genannt, welche gerade umfangreich genug war,
um etwas von Belang darin sagen zu können, aber zu knapp, um ein
Ausschweifen in breite Schilderung zu gestatten, wurde die Lieblingsform
der japanischen Lyrik. Schon im Kojiki und Nihongi finden sich etwa
60 Lanka unter den 200 Gedichten; in der Gedichtsammlung Manyöshu,
welche die vorklassische japanische Poesie vom letzten Viertel des 7. Jahr-
hunderts bis 759 repräsentiert, sind 4173 Tanka unter 4497 Gedichten;
und in der Folgezeit begegnen wir, einige verschwindende Ausnahmen
abgerechnet, nur noch dem Tanka als dem typischen japanischen Gedicht.
Alle längeren Gedichte, von sieben oder mehr Versen, mit der Anordnung
5^7 5^7 5 — 7 7, 5 — 7 5 — 7 5 — 7 5 — 7 7 usw., hießen iVa^«-?^/« „Lang-
gedichte". Der letzte Siebensilber, unmittelbar hinter den vorhergehenden
Siebensilber gefügt, sollte fürs Ohr das Gefühl des Abschlusses geben.
Unter den Langgedichten, besonders unter denen des Manyöshu (das längste
zählt nur 149 Verse), befinden sich einige, welche unsern Balladen ähneln,
z. B. die Mär vom Fischer Urashima, dem japanischen Rip van Winkle.
I. Die älteste Zeit (—794 n. Chr.). -35 's
Da sie ein nicht geringes Talent für epische Darstellung bekunden, so ist
es sehr bedauerlich, daß das Monopol, welches das Tanka erlangte, diese
Ansätze zu einer nationalen Epik nicht zur Entfaltung kommen ließ.
Ebenso wie es die epische Poesie im Keim erstickte, hat es auch
die Entwicklung der Lyrik verkrüppelt. Kurze Gedichte haben gewiß
ihre Daseinsberechtigung, und ein anmutiger Gedanke in schlagender
Kürze vorgetragen gefällt uns jedenfalls besser als überflüssiger Wort-
schwall, der vielleicht nur den Mangel einer prägnanten Idee verdeckt.
Der Japaner insbesondere, dessen natürliche Veranlagung ihn zur Ge-
staltung nicht des Großen, Gewaltigen, Umfassenden, Komplizierten, son-
dern des Klein-Schönen, Einfachen hinzudrängen scheint, liebt in der
Poesie mehr die Andeutung, die Suggestion, als die Ausführung ins
Einzelne, wie er ja auch in der Malerei sich gewöhnlich mit einigen wenigen
kühn hingeworfenen, aber charakteristischen Strichen begnügt. Langes
Streben und Gewöhnung hat ihn dazu befähigt, mit den kleinsten Mitteln
oft etwas Vollkommenes zu schaffen. Und doch war die einseitige Be-
schränkung auf 31 Silben ein verhängnisvoller Fehler. Es konnte gar
nicht anders kommen, als daß die infolge des knappen Spielraums eng
eingeschnürte Phantasie allmählich ihre Flugkraft verlor, daß man die-
selben, ursprünglich sehr hübschen und interessanten, Einfälle bis zum Er-
schöpfen immer wiederholte, daß man zu allerlei Spielereien und Mätzchen
seine Zuflucht nehmen mußte, um in irgendwelcher Weise doch etwas
Neues zu bringen, kurz, daß die Poesie versiegte. Als gar die Lyrik
vom 13. Jahrhundert an schulenmäßig betrieben wurde, entartete sie zum
schauerlichsten Meistergesang.
Gewisse Schmuckmittel des Stils und Eigentümlichkeiten, wodurch sie
sich von der Prosa unterscheidet, sind der Poesie aller Völker eigen, und
sie bedürfen deshalb keiner Erwähnung. Etwas Besonderes haben die
Japaner in den „Kissenwörtern" (Makura-Kotoba), „Einleitungen" (Jo) und
„Angelwörtern" (Kenyögen). Nicht als ob dergleichen Erscheinungen nir-
gends anders vorkämen, sondern weil sie hier zu einem festeren System
entwickelt worden sind. Ihr Gebrauch bietet dem Japaner offenbar einigen
Ersatz für die Reize, welche anderen Völkern ihre mannigfaltigen Vers-
formen, Rhythmen und Reime gewähren, welche aber seine eigene mono-
tone Prosodie ihm versagt. Die Kissenwörter sind schmückende attribu-
tivische Beiwörter, ähnlich dem Epitheton ornans bei Homer: der „fern-
treffende" Apollo, der „schnellfüßige" Achilles. Beispiele der Art sind: der
„kürbisgestaltige Himmel", die „hochscheinende" Sonne, das „vom Götter-
wind durchwehte" Land Ise, das „einge weidige" Herz, der „weißtuchige"
Schnee, die „weniger als 100 seiende" Zahl 50 und viele hundert andere, aus
Lehrbüchern erlernbare, fast immer fünfsilbige, oft sehr bizarre und wort-
spielend mit dem folgenden Wort (oder nur einer Silbe des Wortes) ver-
bundene Ausdrücke. Der ursprünglich sinnvolle Schmuck ist unter den
Händen der Poetaster vielfach zum lächerlichen Unsinn geworden und
354 Karl Florenz: Die japanische Literatur.
verkürzt den ohnehin so beschränkten Spielraum des 3 1 silbigen Gedichtes
noch weiter durch leeren Floskelkram. Die „Einleitungen" sind zu ganzen
Sätzen oder Satzverbindungen erweiterte Kissen wörter, attributivisch zu
einem einzelnen Wort oder Wortteil gesetzt, aber sonst unabhängig vom
gedanklichen Zusammenhang des Gedichtes. Die „Angelwörter" oder
doppelsinnig gebrauchten Wörter endlich sind wortspielende Ausdrücke,
die nach vom und hinten ein etymologisch und grammatisch verschiedenes
Gesicht zeigen, so daß der erste Teil des Satzes kein logisches Ende, der
zweite Teil keinen logischen Anfang hat, etwa wie in dem Satze: „Ein
Rabe sitzt dort auf dem zweigesichtig ist der Gott Janus" (Wortspiel
mit „Zweige" und „zwei-gesichtig"). Um an einem möglichst kurzen Bei-
spiel die Verwendung aller drei Schmuckmittel zu verdeutlichen, sei statt
eines japanischen Originals Goethes „Blumengruß" (der Strauß, den ich
geptlücket usw.) gewählt und mit Einleitung, Kenyögen und Kissenwörtern
ä la Japonnaise versehen:
\ (Einleitung)
Es sind der Helden viele
Vom Schwert durchbohrt gefallen
Im Strauß, den ich gepflücket, (Kenyögen)
Grüße dich viel tausendmal,
Was mehr als hundertmal ist! (Kissenwort)
Ich habe mich oft gebücket,
Ach, wohl ein tausendmal,
Was mehr als hundertmal ist! (Kissenwort)
Und ihn ans Herz gedrücket.
Ans Herz im Eingeweide, (Kissenwort)
Wie hunderttausendmal !
Solche Kunstgriffe, welche auch in den lyrischen und monodischen
Dramen sehr häufig angewendet werden, sind dem literarischen P^ein-
schmecker erlesene Leckerbissen. Wir rechnen die Wortspielereien mit
Recht zu den niedrigen formalen Künsten, bedienen uns ihrer vorzugs-
weise, wo es auf komische Wirkungen abgesehen ist, und würden uns
scheuen, sie in edler Poesie zu verwenden. Die Anschauung des Japaners
ist hiervon grundverschieden. Wie häufig er auch das Wortspiel für witzige
Zwecke verwendet — sein Witz ist sogar fast ausschließlich Wort- oder
Klangwitz — , so sieht er doch darin nicht bloß eine müßige Spielerei,
sondern im ernsten Text ist es ihm etwas Elegantes, Anmutiges, gerade-
zu eine Erhöhung des Stils. Mehrere europäische Japanologen haben
diesen Hang zu Worttändelei gerügt: die japanische Antwort auf solche
Kritik war stets ein Schrei der Entrüstung.
Archaische An eigentlichem poetischen Gehalt übertroffen werden die archaischen
Gedichte durch manche der gleichaltrigen Rituale (IVorüo), welche beim
Shintögottesdienst rezitiert wurden. In ernster feierlicher Prosa, aber mit
den Schmuckmitteln des poetischen Stils ausgestattet, sprechen sie von
den Taten der Götter und der halbgöttlichen Vorfahren, von den Festes-
feiem und üppigen Opferspenden. Besonders das größte unter ihnen, das
Prosa.
Japan.
I. Die älteste Zeit ( — 794 n. Chr.). ^65
„Ritual der Großen Reinigung", wodurch die Entsühnung des ganzen
Landes von Unreinheit und Sünde bewirkt wurde, nimmt einen fast groß-
artig zu nennenden poetischen Schwungs. Daß diese psalmartigen Dichtungen
mit ihrem teils epischen, teils lyrischen Inhalt auch religionsgeschichtlich
wichtig sind, bedarf kaum der Erwähnung. Den Norito ganz ähnlich in
Sprache und Stil waren die alten pomphaften Proklamationen der Kaiser
(Mikoto-nori oder Semmyö) bei Thronbesteigung-en, Todesfällen hoher
Personen, Ermahnungen an das Volk und anderen wichtigen Anlässen.
Von denen der archaischen Zeit, d. h. vor 700, sind uns keine erhalten,
aber 62 Stück, welche im 8. Jahrhundert entstanden, sind in den ,,Fort-
gesetzten Japanischen Annalen" (Shoku-Nihongi, 797) aufgezeichnet. Alle
späteren Proklamationen wurden nicht in japanischer, sondern in chine-
sischer Sprache abgefaßt, denn es kam jetzt eine Periode, wo die fremde
chinesische Kultur das nationale Japanertum allenthalben überwucherte.
In den letzten Semmyö sind schon eine Anzahl chinesischer Lehnwörter
eingemischt.
Vor dem 7. Jahrhundert war in Japan die Kenntnis der chinesischen chinesische
Sprache und
Sprache und Schrift aut die eingewanderten Koreaner und Chinesen und Literatur in
deren Abkömmlinge beschränkt g^ewesen. Aber seit der Regierung der
Kaiserin Suiko (f 628), namentlich unter der Leitung des ganz von konfu-
zianischen und buddhistischen Ideen erfüllten Kronprinzen Shötoku-taishi
(-|-62i), begannen sich die Vornehmen, die Höflinge, die Beamten immer
intensiver mit dem Studium des Chinesischen zu beschäftigen. Unter Kaiser
Tenji (662 — 671) wurden die ersten Schulen für den Unterricht in der
fremden Sprache errichtet, und nach kaum 100 Jahren hatte das Chine-
sische eine Stelle eingenommen wie das Latein in Deutschland von
der Karolinger- bis zur Ottonenzeit. Bildung und Chinesisch verstehen,
waren identische Begriffe. Für alle Amtsschriften, Urkunden, Gesetze,
Proklamationen, geschichtlichen Aufzeichnungen, für den amtlichen und
privaten Schriftverkehr wurde nur Chinesisch verwendet. Sich in dieser
Sprache möglichst auszubilden, in ihr nicht nur Prosa, sondern auch
Gedichte schreiben zu lernen, wurde das einzig^e Lebensziel der Leute aus
den höheren Ständen, und über dem Bestreben, vollgültige Chinesen zu
werden, vernachlässigten sie die praktische Lebenstätigkeit, vergaßen sie
ihre altjapanischen Tugenden der Genügsamkeit, Abhärtung, Waffen-
tüchtig-keit , sahen die meisten von ihnen auf alles Japanische mit Ver-
achtung herab. Die dadurch eingetretene Verweichlichung sollte sich
später an der kaiserlichen Familie und dem Hofadel schwer rächen, denn
in den von der Residenz entfernteren Provinzen wuchsen inzwischen zwar
ungebildete, aber kräftige Geschlechter auf, welche, als sie ihre Zeit ge-
kommen sahen, den glänzenden Kaiserstaat unter ihre Füße traten und
eine Militärherrschaft errichteten, gegen die Kaiser und Hof bis 1867
nicht wieder aufzukommen vermochten: nur noch den Namen einstiger
Macht tragend, fristeten sie ein ruhmloses Dasein.
o
56 Kakl Florenz: Die japanische Literatur,
Die vorkiassi- Die crstc Blütczeit, die Vorblüte der neuen Kultur, von der wir hier
sehe Poesie und ,.,. .,^., , ,.. , .
das Manyosha. nur die literansche oeite betrachten können, begann 710 mit der Fest-
leg-ung- der Hauptstadt — vorher wechselten die Residenzen nämlich den
Ort mit jeder Regierung-sära — in Nara, das sich in der Zeit, wo acht
Kaiser dort regierten, von 710 bis 784, aus einem ganz unbedeutenden
Flecken in eine glänzende Stadt mit prunkenden Palästen und Tempeln
verwandelte. Was aber in dieser Epoche uns am meisten überrascht und
interessiert, sind nicht die Fortschritte, welche die chinesische Gelehrsam-
keit und Literaturkunde machte, sondern die Nebenwirkungen, welche
diese auf die bisher so wenig entwickelte nationale Dichtung hatte. Die
Bekanntschaft mit der formenschönen, g^efühls- und gedankenreichen chine-
sischen Poesie, die ihnen im IVe/i-süan, der großen öobändigen Anthologie
der älteren Lyrik, und in der zur Zeit herrlich blühenden Tang-Dichtung
vorlag, eröffnete den empfänglichen Japanern, wie die provenzalische Lyrik
unsern mittelalterlichen Sängern, eine neue Welt von imponierender Größe
und Gewalt und regte alle ihre schlummernden Seelenkräfte auf. Man
lernte eine Fülle von bisher nicht beachteten äußeren Erscheinungen und
inneren Vorgängen in das Stoffgebiet der Poesie einbeziehen. Während
die einen, die Durchschnittsgelehrten ohne produktives Können, im vStile
der Chinesen chinesisch nachzudichten trachteten, wie man bei uns ohne
dichterischen Beruf zur bloßen Betätigung seiner philologischen Kennt-
nisse lateinische Verse drechselte, fühlten sich andere, von Natur dichte-
risch beanlagte Männer bewogen, die neuerrungenen Anschauungen ihrer
eigenen Literatur zugute kommen zu lassen und möglichst in japanisches
Xationalgut umzuwandeln. Die Folge war ein kräftig' angeregtes poetisches
Schaffen, das um so gehaltreicher wurde, als Japan das Glück hatte, gleich
anfangs einige wirkliche Dichter hervorzubringen. Am Eingang- dieser
Periode, welche wir die vorklassische nennen können, steht als Pfadfinder
der eigenartige, urjapanische Hitomar o (ca. 662—710), auch als Poet ein
ausgesprochener Royalist und vShintoist. Er hat seine Phantasie und
seinen Geschmack nicht nur mit der Poesie der Chinesen, sondern be-
sonders auch mit derjenig^en der einheimischen Norito befruchtet, wie der
feierliche hymnenhafte Ton und die Vorstellungswelt seiner Langgedichte
beweisen. Männlicher Ernst, patriotischer Stolz, warme edle Empfindung
charakterisieren seine Dichtungen, unter denen sich einige schöne Elegieen
befinden. Ebenso schlicht und würdevoll, ebenso idealistisch denkend und
in seiner Dichtweise vom chinesischen Einfluß nur leicht berührt, ist der
einige Jahrzehnte jüngere Akahito. Aber während für Hitomaro die
Langgedichte am charakteristischsten sind, zeichnet sich Akahito weit
mehr durch seine Tanka aus. Auch darin unterscheiden sie sich, daß
ersterer die Darstellung der subjektiven Gefühle von Freud und Leid im
Menschenleben bevorzugt, letzterer nach außen blickt und eine objektive
Gefühlslyrik pflegt, in der die Naturbetrachtung die größte Rolle spielt.
Sein Preislied auf den Fuji-Berg ist sein bekanntestes Gedicht. Viel
I. Die älteste Zeit ( — 794 n. Chr.). 367
Stärker von der chinesischen Literatur beeinflußt, deren sie in hohem Grade
Meister waren, auch deutliche Spuren der buddhistischen Weltanschauung-
verratend, sind die den erstgenannten ungefähr ebenbürtigen Okura und
Yakamochi. Der originelle Okura (660 — 733), welcher längere Zeit in
China geweilt hatte und in erster Linie viele chinesische Gedichte und
Essays verfaßte, nimmt insofern eine Ausnahmestellung ein, als er im
Streben nach kräftiger realistischer Darstellung, zu deren Stoff er sich
gern das niedere Volksleben erwählte, viel weniger Gewicht als alle
anderen auf gewählte Feinheit und Glätte des Ausdrucks legte und un-
gescheut auch vulgäre Ausdrücke gebrauchte. Ein Gedicht auf die „Armut",
worin ein Armer einem noch Ärmeren sein Leid klagt und dessen Not zu
hören bekommt, erhebt sich in seiner fast ironischen Schilderung des
Elends der Paupertät zu einer indirekten bitteren Anklage gegen die in
üppigem Luxus schwelgenden Vornehmen, ein Zeichen männlichen Frei-
mutes und individualistischer Auffassung, die wir zwar häufig bei chine-
sischen, sonst aber wohl kaum bei japanischen Lyrikern finden. Leider
besitzen wir von diesem ungewöhnlichen Poeten nur Gedichte aus den
letzten sechs Jahren seines Lebens. Die meisten davon haben längere
Einleitungen über das behandelte Thema, die in elegantem Chinesisch
geschrieben sind. Yakamochi (ca. 720 — 785), aus dem berühmten Krieger-
geschlecht der Ötomo, welches im 8. Jahrhundert eine ganze Reihe von
Dichtern und Dichterinnen hervorbrachte, war ein liebenswürdiger, aber
stolzer Mann und wachte mit Argusaugen über den Ruhm seiner Familie.
Die Tragik seines tätigen Lebens war der Konflikt mit der schon damals
mächtig emporstrebenden, aus der Shintö-Priesterschaft hervorgegangenen
Fujiwara-Familie, welche vom 10. bis 12. Jahrhundert alle hohen Staats-
ämter monopolisierte, als Großwesire und Regenten Baby-Kaiser nach
Belieben einsetzte und absetzte, die Residenz in ein Luxuslager ver-
wandelte, den altjapanischen Kriegergeist wenigstens im Zentrum des
Landes verrotten ließ, aber die Künste des Friedens, die Wissenschaften
und die chinesische und japanische Literatur eifrig pflegte und förderte.
Yakamochi war schon an und für sich wohl der fruchtbarste Dichter
jener Zeit, aber es liegt noch ein anderer Grund vor, warum von ihm
besonders viele Gedichte, Naga-uta wie Tanka, erhalten sind. Das Vor-
bild der Chinesen in der Anlegung von Anthologieen nachahmend — ich
erinnere an das schon genannte Wen-süan, die bevorzugte Lektüre der
altjapanischen Sinologen — , hatte bereits 751 Omi no Mifune eine kleine
Sammlung von in Japan verfaßten chinesischen Gedichten (120 Stücke von
64 Autoren), das Kzvai/üsö, zusammengestellt. Y^akamochi verfolgte einen
viel ehrgeizigeren Plan. Er sammelte lange Jahre hindurch alle ihm zu-
gänglichen Gedichte aus Gegenwart und Vergangenheit, soweit sie nicht
schon im Kojiki und Nihongi publiziert waren, traf eine umfassende Aus-
wahl des brauchbaren Materials und ordnete dies vorerst oberflächlich
nach Zeitfolge und Gattungen in 20 Bücher. Seine späteren Lebens-
^68 Karl Florenz: Die japanische Literatur.
Schicksale haben ihn offenbar gehindert, die letzte Hand an das Werk
zu leg'en, und es muß etwa seit 75g lieg'en geblieben sein, da das
letzte und jüng-ste Gedicht darin vom i./I. 75g datiert ist. Die Sammlung-
fuhrt den Titel Manyöshfi „Myriaden-Blätter-Sammlung", d. i. wohl „Samm-
lung- [von Gedichten] vieler Generationen", und enthält 262 Nag-a-uta,
4173 Tanka und 61 Sedöka, im ganzen also 44g6 Gedichte, welche, von
ein paar älteren Stücken abgesehen, in dem Zeitraum zwischen 670 und
75g entstanden sind. Die Niederschrift ist in teils phonetisch, teils ideo-
graphisch verwendeten chinesischen Schriftzeichen g-eschehen. Die kurzen
Gedichte sind sämtlich, die lang-en Gedichte meistens lyrisch. Von Ver-
fassern werden 561 mit Namen genannt, darunter Kaiser, Prinzen, hohe
und niedere Beamte, Mönche, Bauern, Arbeiter; aber die überwiegende
Mehrzahl sind Höflinge. Ungefähr 70 Autoren sind Frauen. Da mehr
als ein Viertel der Gedichte anonym überliefert ist, wird man die Zahl
der Autoren auf mindestens 800 ansetzen müssen. Der Wert des in einer
so großen Sammlung Gebotenen ist selbstverständlich sehr ung-leich.
Einesteils haben wir darunter hunderte von Produkten, die schlechthin
das Beste sind, was die japanische Literatur bis heute erzeugt hat: die
langen Gedichte insbesondere bilden einen kostbaren Schatz, doppelt
hoch zu bewerten, weil die Gattung danach ausstarb; andernteils werden
wir von einigen tausend handwerksmäßig' gedrechselten, geistlosen Versen
angeödet. Des Guten ist aber so viel darin, daß wir nur dieses ins Auge
zu fassen brauchen und mit Bezug- darauf behaupten dürfen, daß das
Manyöshü eine schätzenswerte Bereicherung der Weltliteratur bildet. Die
oben kurz besprochenen Dichter Hitomaro, Akahito, Okura und Yaka-
mochi, die Hauptvertreter der vorklassischen japanischen Poesie der
Nara-Periode , sind ihrer Bedeutung gemäß am stärksten mit Gedichten
in dieser Anthologie vertreten. Der Kompilator selber steuert von ihnen
das meiste bei. Da in der Nara-Zeit die Sprache der Dichtung- nichts
anderes als die feinere Umgangssprache war, so besitzen wir in den
Texten des Manyöshü zugleich das wertvollste philologische Material,
das in der historischen und vergleichenden Sprachforschung des Ostens
eine ähnliche Rolle spielen wird, wie die vedischen und homerischen
Texte in der Indogermanistik.
Vorherrschaft II. Dic erste Hälfte des Mittelalters: Die klassische Literatur
des Chinesischen . n • -i i- i i i • i tu-
in der Literatur. (7 g4 — 1186). Ls scheiut, daß die ungewohnlich rasche und reiche Blute
der nationalen Dichtung, wie sie im Manyöshü verkörpert vorliegt, eine
Gewaltanstrengnng war, worauf wieder eine Erschlaffung kommen mußte.
Daß aber eine so totale Ebbe in der japanischen Poesie eintreten würde,
wie tatsächlich der Fall war, hätte man kaum für möglich halten sollen.
Nur der sanguinische Charakter der Japaner und die damit zusammen-
hängende Neigimg, bald die unerhörtesten Anstrengungen zu machen,
bald die Flinte ins Korn zu werfen, der schnelle Wandel zwischen
n. Die erste Hälfte des Mittelalters: Die klassische Literatur (794 — 1186). ^6ü
Himmelhochjauchzen und Zumtodebetrübtsein erklärt das Phänomen. Von
den sechziger Jahren des 8. bis in die letzte Hälfte des 9, Jahrhunderts
wandten sich die Kaiser, welche in jener Zeit immer den literarischen
Ton angeben, und mit ihnen die Höflinge und der ganze gebildete An-
hang wieder der ausschließlichen Pflege der chinesischen Gelehrsamkeit
und Dichtung zu. Zahlreiche chinesisch geschriebene Werke, historische,
g-esetzgeberische, enzyklopädische, zeremoniale, schönliterarische, markieren
diese Epoche. Seit Sagas Regierung (810 — 823) wurden wiederholt offi-
zielle, auf kaiserlichen Befehl ausgewählte Sammlungen von chinesischen
Dichtungen angelegt, ein System, das etwa hundert Jahre später auf die
japanische Literatur Anwendung fand. Von den gelehrten Schriftstellern
des 9. Jahrhunderts verdienen vor allem der Mönch Kükai oder Köbo
Daishi (774 — 835) und der Staatsmann Sugawara no Michizane (844
bis 903) Erwähnung. Kükai studierte von 804 — 806 in China, gründete
darauf in Japan die buddhistische Shingon-Sekte und leistete der Ver-
breitung des Buddhismus die allergrößten Dienste. Er hat kräftig im
Sinne einer Aussöhnung und Amalgamierung von Buddhismus und Shin-
toismus gewirkt. Selten ist ein Gelehrter ein so populärer Heiliger ge-
worden wie er, und eine große Menge von Mythen über seine vielseitige
Tätigkeit hat sich um seine Person gebildet. Er müßte hundert Menschen-
leben statt eines gelebt haben, wenn er das geleistet haben sollte, was
ihm von der Tradition allen Ernstes zugeschrieben wird. Michizane
brachte es zu den höchsten Staatsämtern, endete aber in der Verbannung.
Unter dem Namen Tenjin, „Himmelsgott", wird er vom Volke als Gott der
Schönschreibekunst verehrt und besitzt er im ganzen Lande zahlreiche
ihm geweihte Tempel. Außer vielen chinesischen Gedichten schrieb er
auch Tanka, ein Hinweis darauf, daß im letzten Viertel des Jahrhunderts
leise und allmählich die japanische Poesie wieder ihr Haupt erhob.
Obgieich durchaus Sinologe, hat Michizane einen starken Anteil an Niedergang des
der unten näher zu besprechenden nationalen Reaktion gehabt, welche in
seinen letzten Lebensjahren den Einfluß des Chinesentums lahm legte, die
chinesische Literatur in Verfall geraten und die japanische dafür zu neuer
Blüte heranwachsen ließ. China war nämlich inzwischen, gegen das Ende
der so glänzend beg'onnenen Herrschaft der T'ang-Dynastie, politisch und
moralisch in sich zusammeng^ebrochen. Im Angesicht der zerrütteten Zu-
stände drüben regte sich bei den Japanern ein ungeheures Selbstgefühl;
sie glaubten von China nichts mehr lernen zu können. Auf Michizanes
Anraten 895 wurde der offizielle Verkehr mit dem chinesischen Reiche
eingestellt, man schickte keine Gesandten mehr, man sagte sich los von
dem Lande, dessen Kultur man ausgenutzt, aus dessen Geistesleben man
sich bereichert hatte, unter dessen Führung man vom Kind zum reifen
Manne emporgewachsen war.
Die chinesische Sprache und Literatur war bisher ein Imperium in ues?scL?aufd\e
imperio gewesen. Jetzt, wo man sich durch Abbruch des Verkehrs von ^sprache.^
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 24
0/
O Karl Florenz: Die japanische Literatur.
der Quelle losgerissen hatte, versiegte in Japan die Lebenskraft des
Chinesischen geradeso, wie etwas später in England die des Französi-
schen, als nach dem Verluste der Normandie die intimen Beziehungen
zum französisch sprechenden Kontinent aufgehört hatten. Und wie das
Französische in England zwar als selbständige Sprache verschwand, aber
sein eine höhere Kultur repräsentierender Wortschatz ins Ang^elsächsische
aufgenommen und damit zu einer neuen Einheit verschmolzen wurde,
ganz so ging es mit dem Chinesischen in Japan. Die Bedeutung des
Chinesischen als integrierender Bestandteil des Japanischen ist nur insofern
viel gTÖßer, als es alle die Funktionen zu übernehmen hatte, welche für
das Englische zu verschiedenen Zeiten das Französische, das kontinentale
Germanisch, das klassische Latein und Griechisch erfüllten. Der Prozeß
der Amalgamierung vollzog sich natürlich langsam und blieb, wenigstens
was die Literatur anbelangt, fast drei Jahrhunderte geheim, weil diese im
lo., II. und 12. Jahrhundert ausschließlich höfisch und klassisch war und
sich während dieser ganzen Zeit in Poesie und Prosa der verfeinerten
rein-japanischen Sprache bediente, welche gegen goo in der Residenz
gesprochen wurde. Indem die Dichter also fürder an der Sprachform
eines bestimmten Zeitabschnittes als einer Idealform festhielten, ohne auf
die weiteren Schicksale der lebendigen Rede Rücksicht zu nehmen, trat
allmählich eine Spaltung in Schriftsprache und Umgangssprache ein, deren
Unterschiede um so größer wurden, je länger sie getrennt nebeneinander
hergingen. Es wurde jedoch von manchen Seiten wiederholt eine An-
näherung an die Umgangssprache unternommen, so daß wir eine streng
konservative und eine fortschrittliche Richtung beobachten können. Vom
13. Jahrhundert an, d. h. nach der Kaltstellung des Kaiserlichen Hofes
und der Begründung der feudalen Militärherrschaft (1186), bleibt die Tanka-
Lyrik, das Lieblingsspielzeug der politisch untätigen Hof kreise, dem un-
vermischten klassischen Japanisch für alle Zeiten bis heute treu; aber die
hauptsächlich von Mönchen gepflegte erzählende, seit 1400 auch die
dramatische Literatur bedient sich der mit chinesischen Elementen ge-
mischten neueren Sprache. Die ersten bemerkenswerten fremden Bei-
mischungen zeigten sich schon in einigen Historien noch vor 1200, z.B. in
der Anekdotensammlung Konjaku Monogatari „Geschichtchen von Jetzt
und Einst". Wir können die für die Literatur so bedeutsame Sprach-
geschichte hier nicht genauer verfolgen, doch darauf muß noch hinge-
wiesen werden, daß sich im 17. Jahrhundert, wo die chinesische Sprache
und Literatur noch einmal zur Vorherrschaft gelangte, unter den Händen
der Sinologen eine sino -japanische Schriftsprache ausbildete, worin das
fremde Element das einheimische mehr oder weniger überwog; daß diese
Sprachmischung seitdem in wissenschaftlichen wie belletristischen Werken
fortbestand, in neuester Zeit, wo die Einführung der westlichen Kultur
einen größeren Wortschatz erfordert, sogar mit sehr verstärkter Heran-
ziehung des Chinesischen (Bildung zahlreicher Komposita aus chinesischen
II. Die erste Hälfte des Mittelalters: Die klassische Literatur (794 — 1186). ßyi
Einzelwörtern), und daß auch die moderne Umgangssprache, in der sich
die alten Flexionsendungen mehr und mehr verschlifFen und verflüchtigt
haben, denselben Charakter angenommen hat.
So schnell wie gegen 700 die Flut der im Manyöshü niedergelegten Resultate
. . der nationalen
japanischen Poesie emporschwoll, um nach wenigen Jahrzehnten wieder Reaktion in der
Literatur.
abzuflauen und ungefähr ein Jahrhundert lang unter dem Schwall der Lie.urtumiere.
. 111 1 1 •• r • Klassizität.
chinesischen Literatur unsichtbar zu werden,- ebenso schnell und kräftig
erhob sie sich wieder in den neunziger Jahren des 9. Jahrhunderts, nach-
dem in der Jogwan-Ara (859 — 876) eine nationale Gegenströmung ein-
gesetzt hatte und das Chinesentum in Mißkredit geriet. Fünf Männer, die
Höflinge Narihira, Yasuhide, Kuronushi und die Bonzen Ilenjö und Kisen,
und eine Frau, Ono no Komachi, welche in dieser Vorbereitungszeit einer
neuen Blüteperiode japanisch dichteten, zeigten die lobenswerten Eigen-
schaften des Tanka in solchem Grade, daß die Späteren sie mit der land-
läufigen Übertreibung als die Rokkasen oder „sechs Heiligen des Liedes"
verehrten. Gegen 890 kam bei Hofe die Sitte der „Lieder -Turniere"
{Ufa-awasc) auf, bei denen Herren und Damen in der poetischen Aus-
führung gegebener Themen wetteiferten und ein vom Kaiser eingesetzter
Schiedsrichter das Urteil sprach. Die Turniere haben zuerst viel nütz-
liche Anregung- gegeben und die Kräfte angespornt, später aber, seit
ca. 960, lediglich in schädlichem Sinne gewirkt, da sie den ohnehin vor-
handenen Hang der Japaner, die Form über den Inhalt, die Schönheit
über die Wahrheit zu stellen, zu sehr beg'ünstigten und zu Spielerei und
unnatürlicher Künstelei verleiteten. Mit dem Regierungsantritt des kunst-
sinnigen Kaisers Daigo (898) beginnt eine Periode der japanischen Dich-
tung-, die wir hinsichtlich ihrer formalen Vollendung, stilistischen Glätte
und Harmonie, vornehmen und maßvollen Denkweise als klassisch be-
zeichnen dürfen. Sie äußert sich metrisch im Uta (Tanka) — das Naga-uta
schlief ja den Totenschlaf — , prosaisch in Liebesnovellen aus den Hof-
kreisen {Monogatari „Erzählungen"), stimmungsvollen Tagebüchern [Nikkt),
Skizzen und Miszellen. Von der produktionsreichen „goldenen Engi-Ara"
(goi — 922) ging es mit schwellender Kraft weiter bis zum Höhepunkt im
Jahre 1000; dann aber kam ein Stillstand und allmählicher Niedergang-
dieser rein höfischen Literatur, die bezeichnenderweise dem Schicksal der
Fujiwara-Familie parallel g'ing. Als die Kriegerklane der Taira und
Minamoto im 12. Jahrhundert die Machtstellung der Fujiwara zerbrachen,
ging es auch mit der inneren Energie der höfischen Poesie zu Ende.
Zwar wurde auch in den nächsten Jahrhunderten in Hofadelskreisen quan-
titativ noch viel, ja zu viel Lyrik produziert, weil man nichts anderes
mehr als Singen und Spielen zu tun hatte, aber es war doch nur noch
jämmerliches Epigonentum, Geg^en 1200 trat zum letztenmal eine Gruppe
von wirklich begabten Dichtern hervor. offizielle
Die Erzeugnisse der klassischen Lyrik und ihrer Nachtreter sind ^og^een und'°
öfters auf Befehl der jeweiligen regierenden oder abgedankten Kaiser Liederdiaiter.
24*
X'j2 Karl Florenz: Die japanische Literatur.
ZU „offiziellen Anthologieen" {CJiokiisciisJiu) gesammelt worden, die nach
dem Vorg-ang- des Manyöshü immer 20 Bücher hatten (aber systematischer
in Jahreszeitenlieder, Liebeslieder, Elegieen usw. geordnet) und im Durch-
schnitt zwischen 1000 und 2000 Lieder enthielten. 21 solcher Samm-
lungen kamen zwischen 905 und 1438 zustande. Die erste, das Kokiiishü,
»Anthologie aus alter und neuer Zeit", 905 von dem elegantesten und
zartsinnigsten Uta-Dichter der Zeit, Tsurayuki, im Verein mit drei
anderen bekannten Poeten veranstaltet, enthält in der Hauptsache die
Dichtung-en der vier Kompilatoren, ihrer besten Zeitgenossen und ihrer
berühmten Vorläufer, der schon genannten „sechs Heiligen". Was hier
geboten wird, ist im allgemeinen, mit Bezug auf Inhalt und Form zugleich
beurteilt, das Beste, was die klassische Lyrik hervorgebracht hat. Wir
finden hier zwar nie die männliche Kraft und Naivetät und Ursprünglich-
keit der besten Leistungen des Manyöshü, aber viel weibliche Schönheit,
Liebenswürdigkeit, weiche Grazie, bezaubernden Blumenduft, alles in voll-
endeter sprachlich-stilistischer Form. Gewaltiges, Packendes, Tiefes durften
wir von Höflingen und Hofdamen, die ihr Leben in sorglosem Leichtsinn,
nur genießend, ohne jede ernste Tätigkeit, von Liebesabenteuer zu Liebes-
abenteuer hüpfend, verbrachten, nicht erwarten. Das, was diese Leute an
lyrischen Gefühlen zu verausgaben, w^as ihre Seelen zu sagen hatten, wird
eigentlich in den iioo Liedern des Kokinshü schon erschöpft, so daß die
Gedichte der späteren Sammlungen meist nur dieselben Gedanken, Empfin-
dungen, Bilder und Gleichnisse wiederholen und modeln und wenig wirk-
lich Originelles herbeibringen. Individuelle Eigenschaften, die für die
Persönlichkeit der Dichter charakteristisch wären, lassen sich nur selten
entdecken. Am günstigsten schneidet unter den 20 Nachfolgerinnen des
Kokinshü die achte „Offizielle", das 1205 kompilierte Shin- Kokinshü
„Neues K." ab, da gerade zur Zeit seiner Abfassung, wie schon erwähnt,
eine Anzahl beachtenswerter Dichter lebte. Was hierauf folgte, ist fast
alles öde Pedanterie, besonders nachdem gegen Mitte des 13. Jahr-
hunderts Dichtschulen mit lächerlich gekünsteltem Regelkodex in gram-
matischen wie rhetorischen Dingen aufkamen und obendrein eine ein-
zelne Familie, die Nachkommen des Dichters Teika, sich anmaßte, allein
die Geheimnisse der poetischen Technik und des richtigen Sprachgebrauchs
zu kennen und zu lehren, wodurch aus der zum kniff liehen Handwerk
herabgewürdigten Poesie die letzte Spur von Bewegungsfreiheit aus-
getrieben wurde. Als namhafteste Lyriker in der mit dem Zeitalter der
Klassizität ungefähr identischen Heian-Periode, d. h. in den rund 400 Jahren
von der Verlegung der Hauptstadt aus Nara nach Heian, alias Kyoto,
bis zur Errichtung der Militärherrschaft in Kamakura (1185), sind nach
Ki no Tsurayuki (882 — 946) zu nennen: Öshiköchi no Mitsune (859
bis 907), der Mitkompilator des Kokinshü; Oberstaatsrat Fujiwara no
Kintö (967 — 1041); Minamoto no Toshiyori (gegen iioo); Oberhof-
meister Fujiwara no Toshinari (11 13 — 1204). Der ruhelos umher-
II. Die erste Hälfte des Mittelalters: Die klassische Literatur (794 — 1186). 3-' 3
wandernde Bonze Saigyö-höshi (11 18 — HQo), einer der liebenswürdig'sten
Uta-Dichter, gehört weniger nach seiner Lebenszeit als nach dem Geiste
seiner Dichtung in die Kamakura-Periode (1185 — 1333), welcher Heroen-
verehrung und buddhistischer Pessimismus ihr eigentümliches Gepräge
verliehen. In dieser und der darauf folgenden Muromachi -Periode (1333
bis 1600; die Hausmeier dieser Zeit hatten ihren Palast in der Straße
Muromachi in Kyoto) heben wir hervor den Staatsrat Fujiwara no Sada-ie
(oder Teika, 1162 — 1241), einen mittelmäßigen Dichter, aber den form-
vollendetsten Meister des Tanka, mit dem die Diktatorenwirtschaft auf
dem Parnaß beginnt; Fujiwara no Jetaka (oder Karyü, 1158 — 1237),
als der Hitomaro seiner Zeit gepriesen; den feinsinnigen und dabei doch
kraftvollen dritten Kamakura-Shogun Minamoto no Sanetomo (1192
bis 12 ig), dessen verheißungsvolle Zukunft leider durch die Hand eines
Meuchelmörders abgeschnitten wurde; die Mönche Kenkö (1283 — 1350)
und Ton-a (1293 — 1376) und den Prinzen Munenaga (1312 — 1385), den
Sohn des Kaisers Go-Daigo.
Kurz vor 1400 entwickelte sich aus dem Uta eine eigentümliche Ab- Neue Formen
art, das Renga oder „Kettengedicht". Bei poetischen Zusammenkünften icettengediciue.
war es vielfach Mode geworden, daß der Obersatz und der Untersatz
eines Uta von verschiedenen Leuten gedichtet wurde. Indem nun zu dem
Untersatz des Uta ein Dritter einen neuen, dem Sinn nach dazu passen-
den Obersatz, ein Vierter zu letzterem wieder einen neuen Untersatz
improvisierte, und so weiter ad infinitum, entstand eine Kette von Stollen,
die scheinbar ein langes einheitliches Gedicht, in Wirklichkeit aber nur
ein Mosaikg^ebilde lose zusammenhängender Bestandteile ausmachten. Dieser
Spielerei, einem neuen krassen Mißbrauch der Poesieen, gab sich bald alt
und jung, vornehm und gering, Priester und Laie mit Leidenschaft hin,
und man machte auch Kettengedichte für sich allein, ohne Beihilfe anderer.
Zuerst waren die Renga ernst, nach 1500 wurden aber mit Vorliebe
humoristische Renga gedichtet. Der Bonze Sögi (142 1 — 1502) gilt als
geschicktester Meister der älteren Art; der Shintopriester Arakida
Moritake (1473 — 1549) und der Klausner Y am asaki Sökan (1465 — 1553)
dagegen erwarben sich einen Namen durch Pflege der komischen Spezies.
Braucht es gesagt zu werden, daß auch Rengasammlungen und Renga-
lehrbücher zum Vorschein kamen?
Die selbständige Behandlung der Stollen beim Kettendichten hatte Epigramme,
eine weitere wichtige Folge. In einem humoristischen Renga mußte
schon der Anfangsstollen [Hokku] ein witziges Element enthalten, konnte
also ebenfalls schon für sich als minimales komisches Liedchen gelten.
Das ist aber bereits, wenn auch noch so unvollkommen, ein witziges Epi-
gramm. Moritake und Sökan fühlten das und beschränkten sich schon oft
auf einen solchen 17 silbigen Dreizeiler, den man Hokku oder Haikai
(Humoristisches) taufte. Im Laufe der Zeit wurden diese Gedichtchen immer
beliebter, aber einen rechten Wert konnte man ihnen doch nicht beimessen,
^JA Karl Florenz: Die japanische Literatur.
weil sie sich mit banaler, witzelnder Wortspielerei begnügten. Da trat
durch einen einzigen Mann ein gewaltiger Umschwung ein. Matsuo
Basho (1643 — 1694), der Vasall eines Fürsten in Ise, zog sich aus Welt-
müdigkeit frühe vom Amte zurück, bewohnte bald ein bescheidenes Hütt-
chen in Yedo, bald streifte er auf langen Pilgerfahrten im Lande umher.
Er hatte seinen Geist an taoistischer Philosophie, mit den Lehren der
grüblerischen Zen-Sekte des Buddhismus und mit altjapanischer Literatur
genährt und fand nun im Epigramm das kongeniale Ausdrucksmittel für
seine Gefühle und Gedanken. Auch er begann seine Übungen mit der
witzigen Manier, die natürlich einem Manne seines Geschmackes nicht be-
hagen konnte. Nichts als die knappe Form mit ihrem Wortgeiz behielt
er bei: diese machte er zum Gefäß aller Regungen seiner ernst-nachdenk-
lichen, poetisch-anmutig empfindenden Seele. Er schuf das poetische Epi-
gramm. Infolge möglichster grammatisch-stilistischer Kürzungen, bei Ver-
zicht auf alle rhetorischen Ploskeln, gewährt das Haikai oft so viel Spiel-
raum für den Gedankenausdruck als das mit Kissenwörtern usw. beladene
Tanka. Es steht stofflich unter keinerlei beschränkenden Regeln und be-
dient sich der modernen Sprache mit beigemischtem Chinesisch. Unter
solchen Umständen vermochte das leicht zu dichtende Haikai sogar bei
den Ungebildetsten Anklang und tätige Nachahmung" zu finden und wurde
bei der mittleren und unteren Bevölkerung das „Gedicht par excellence";
bei den feiner Gebildeten behielt jedoch das Tanka in antiker Sprache
den Ehrenplatz. Das Hokku läßt infolge der extremen Kürze ein Aus-
malen des Gegenstandes noch viel weniger zu als das Tanka: es ist ganz
Skizze, ganz Suggestion. Der Dichter greift aus seiner Vorstellung einen
einzigen Zug heraus, stellt ihn brüsk hin und überläßt alles andere dem
Spiel der Phantasie. Empfindet er wirklich poetisch und besitzt er ein
außerordentliches Geschick, sich in äußerster Kürze charakteristisch aus-
zudrücken, so kann das Hokku ein Kabinettstück der Poesie werden,
und ist es unter den Händen von Bashö und einigen anderen
auch manchmal geworden. Aber die Gefahr, ins Unbedeutende, Ge-
meinplätzige zu fallen, liegt gar zu nahe, auch für den poetisch Be-
gabten. So haben wir denn in einer Hokkuliteratur, die ins Unend-
liche geht, eine kleine Anzahl wirklicher Gedichte, eine erkleckliche
Anzahl hübscher Aphorismen und Gedankenspäne, und — ■ vom Reste
schweigt die Höflichkeit. In den Epigrammen Bashös berührt uns sein
zartes Naturgefühl besonders sympathisch; über vielen der Liedchen schwebt
ein schwermütiger, weltentsagender Geist. Nicht weniger als 5000 Schüler
sollen bei ihm das Haikaikomponieren gelernt haben. Zehn von ihnen er-
langten große Berühmtheit, die „zehn Weisen der Bashöschule". Unter
den weiblichen Epigrammatisten wird eine Frau aus dem Fürstentum
Kaga, welche in einem bäuerlich-groben Körper mit häßlichem Gesicht
eine schöne Seele verbarg, Kaga no Chiyo (1702 — 1774), am höchsten
geschätzt. Die Haikaidichtung steht noch heute in sehr großer Gunst,
II. Die erste Hälfte des Mittelalters: Die klassische Literatur (794 — 1186). 375
und zwar bei allen Klassen der Bevölkerung. Es gibt zahlreiche Vereine,
welche sich ihre Pflege angedeihen lassen, und literarische Zeitschriften
und Zeitungen veröffentlichen fortwährend massenhaft neue Erzeugnisse.
Es ist nichts weiter als die Befriedigung eines Unterhaltungs- und Spiel-
triebes in artigem Wortgeplänkel, keine eigentlich literarische, am aller-
wenigsten eine dichterische Tätigkeit.
Es ist hier der Platz, noch ein paar zusätzliche Worte von der ko- Komische
. und satirische
mischen Dichtung in metrischer rorm zu sagen. Der Japaner neigt trotz Gedichte,
der Bürde des pessimistischen Buddhismus, die er sich aufgeladen hat,
zu einer leichten und heiteren Auffassung des Lebens, und mit Ernst und
Tragik darf man ihn nicht zu lange belästigen. Nichts ist ihm zu heilig^
als daß er es nicht in guter Laune parodierte. Die lustige Persiflage des
Höflingstreibens schon in der allerältesten japanischen Novelle, der Er-
zählung vom alten Bambussammler; die Karikaturen der Götter in den
Possenspielen bei Tempelfesten; die respektwidrigen Darstellungen der
dummstolzen Feudalfürsten und der Malefizbonzen im mittelalterlichen
Schwank (Nö-Kyögen) und viele andere Erscheinungen sind Zeichen der
großen Schalkhaftigkeit, die im japanischen Naturell liegt. Seit dem
16. Jahrhundert sind komische Tanka und Hokku, erstere Kyöka „Toll-
gedicht'S letztere Kyöku „Tollvers" genannt, überaus häufig. Großenteils
sind sie Parodieen bekannter ernster Gedichte. Eine Unterart der Toll-
verse, welche mit der Komik den Spott über die Schwächen und Tor-
heiten der sündigen Menschheit verbindet, also das witzige Epigramm,
heißt nach dem Begründer der Richtung Senryü. Viele von ihnen be-
arbeiten typische Figuren der japanischen Gesellschaft, z. B. den Isörö, den
Hausparasiten, und erinnern in ihrer Weise an die Verslein, welche sich
bei uns um die „Wirtin" gruppieren. Auch scharfgesalzene satirische Ge-
dichte g-ab es, die sogenannten Rakushil, in Tankaform, die namentlich
gern politische Zustände zur Zielscheibe ihres beißenden Spottes nahmen.
Die Verfasser solcher kitzligen Produkte zogen wohlweislich den Schleier
der Anonymität übers Gesicht, denn mit der hohen Obrigkeit war in
Japan zumal in der Tokugawazeit (1600 — 1867) nicht zu spaßen.
Es ist auf den ersten Blick sehr auffallend, daß die frühesten Werke Entstehung der
" Silbenschrift.
der Prosaliteratur erst gegen goo, in der Engi-Ara, auftauchten, doch ver- nie Frauen und
0 • TT •• 1 1 "^'^ Prosa.
liert diese Erscheinung- ihr Seltsames, wenn man gewisse Umstände be-
denkt. Für die verhältnismäßig kurzen metrischen Produkte konnte man
sich der phonetisch gebrauchten chinesischen Schriftzeichen immerhin be-
dienen; bei größeren Prosatexten aber war dies System mit je einem
komplizierten chinesischen Wortzeichen für je eine kurze Lautsilbe der
polysyllabischen japanischen Sprache viel zu schwerfällig und praktisch
auf die Dauer undurchführbar. Nimmt man den Umstand hinzu, daß es
Sitte geworden war, alle Schriften für den täglichen Gebrauch in chine-
sischer Sprache zu schreiben (zum Eintritt in ein x^Vmt war Kenntnis des
Chinesischen absolut erforderlich), und daß die Idiosynkrasie für die fremde
376 Karl Florenz: Die japanische Literatur.
Literatur und Sprache von 760 — 860 überhaupt die Entwicklung des Japa-
nischen zeitweise stocken ließ, so begreift man die Abwesenheit einer
japanischen Prosaliteratur. Natürlich konnte es nicht immer so bleiben.
Die Schwierigkeit der Erlernung der fremden Sprache und namentlich
ihrer Schreibung zwang die Japaner, auf Mittel und Wege zu denken, daß
sie so schreiben wie sprechen könnten. Das Resultat langjähriger Be-
mühungen war eine bequeme Silbenschrift, welche dadurch entstand, daß
man gewisse phonetisch gebrauchte chinesische Zeichen entweder aus
ihrer Ouadratform verkürzte {Ka^a-kana-Schvih), oder in der Kursivform,
die man noch möglichst vereinfachte, übernahm {fftra-^ajiaSchnft). Das
letztere wurde das populäre System und scheint schon in der zweiten
Hälfte des g. Jahrhunderts von Frauen viel gebraucht worden zu sein,
woher der Name „Frauenschrift" {Onna-ji). Dieser Umstand hatte für die
Entwicklung der Literatur die allergrößte Bedeutung. Waren die Frauen
vor der Engi-Ara die einzigen gewesen, welche japanische Prosa für ge-
wöhnliche Zwecke schrieben, und hatten sie dadurch in dieser Besonderheit
vor den Männern einen Vorsprung- gewonnen, so blieben sie auch nach
der Engi-Ara, in welcher die Männer die Silbenschrift für das Uta zu be-
nutzen begannen, die Hauptpflegerinnen der japanischen Prosa. Viele
Damen des Hofes lernten zwar auch Chinesisch und bildeten sich ihre
Begriffe von Stilistik und Rhetorik an chinesischen Essays, aber sie ver-
wendeten das Gelernte für die Ausbildung der nationalen Prosa, welche
unter ihren Händen im Verlaufe des 10. Jahrhunderts eine erstaunliche
Feinheit der Phraseologie und des Periodenbaues erreichte. Der Wort-
schatz ihrer Werke, seien es Erzählungen oder Tagebücher oder Miszellen,
ist reinstes Japanisch; nur da, wo japanische Äquivalente überhaupt nicht
existierten, z. B. in Titel-, Rangbezeichnungen usw., kommen Lehnwörter
vor. Die japanische Sprache hat niemals einen größeren Reichtum an
einheimischen Wörtern und Phrasen, niemals mehr Prägnanz, Klarheit und
Anmut gezeigt, als in der Zeit vom 10. — 12. Jahrhundert, wo, wie gesagt,
die Prosaliteratur wesentlich Frauenliteratur war, und mit vollem Rechte
wird daher diese Periode auch hinsichtlich ihrer prosaischen Erzeugnisse
klassisch genannt.
KoveUirtik der Die beiden ältesten Erzählungen (Monogatari), gegen goo von unbe-
kannten Verfassern, sind das Taketori Monogafari, die Mär vom Bambus-
sammler, und das he Alonogatari „Ise-Erzählungen", d. i. x\nekdoten. Ersteres
ist ein aus chinesischen, indisch-buddhistischen und japanischen Elementen
aufgebautes Märchen von der auf die Erde verstoßenen Mondfee Prinzessin
Leuchteglanz, wohinein humoristische Episoden aus dem Leben und Treiben
der Höflinge verwoben sind; letzteres eine Sammlung von 125 kleinen
Abenteuern des Dichters Narihira, des japanischen Don Juan, mit ca. 250
eingestreuten, in ihrer Art reizenden Kurzgedichten, die meistens von
Narihira verfaßt sein mögen. Gegen g5o wird das in der x\nlage dem
Ise Monogatari sehr ähnliche Yamato Monogatari „Erzählungen aus Ya-
II. Die erste Hälfte des Mittelalters: Die klassische Literatur (794 — ri86). •j'jy
mato" entstanden sein, das sich aber nicht um die angeblichen Erlebnisse
nur einer Person dreht. Humoristischen Inhalts sind die etwas jüngeren
„zehn Geschichtchen des Deich-Staatsrats". Eine sehr beliebte Gruppe von
Monogatari bestand aus „Stiefkind-Geschichten" mit den typischen Figuren
des guten, schwachen Vaters, der intriganten, bösartigen Stiefmutter und
dem lieben, schönen Stiefkind Aschenbrödel; doch sind sie meistens ver-
loren gegangen und aus dem 10. Jahrhundert nur das Ochikubo Afonoga-
/ä;^/ „Geschichte vom Mädchen im Keller" erhalten. Dem Ende desselben
Jahrhunderts gehört das umfangreiche Utsubo Monogatari „die Höhle" an.
Es enthält zwar viele märchenhafte Elemente, aber auch sehr viele
realistische Schilderungen des Lebens jener Zeit.
Den Höhepunkt erreicht die ganze Monogatari-Literatur gegen 1000
in dem Genji Alonogatari der Hofdame Murasaki Shikibu aus dem
berühmten Fujiw^ara- Geschlecht. Die Verfasserin war eine Frau von
außerordentlicher literarischer Begabung und Bildung, wozu natürlich eine
tüchtige Kenntnis der chinesischen Klassiker gehörte. Ihr Stil zeigt eine
gewisse weibliche Wortschwalligkeit, ist aber sonst vollendet, das schönste
Japanisch, das je geschrieben wurde. Ihre „Erzählung vom Prinzen Genji",
54 Bücher stark, ist der erste wirkliche Roman und gibt uns ein farben-
prächtiges Bild des Hoflebens in Kyoto mit seinem Luxus, seinem ver-
gnüglichen zeittotschlagenden Treiben, seiner bei allem glänzenden Schein
innerlichen Hohlheit und sittlichen Entartung. Prinz Genji ist ein Frauen-
jäger, ein leichtlebiger Lüstling, der von einem Liebesabenteuer zum
andern fliegt, dabei aber kein schlechter Mann, sondern ein Muster ritter-
licher Gesinnung. Was wir an der Darstellung dieses realistischen höfi-
schen Romans anerkennen müssen, ist die ethisch-ästhetische Keuschheit,
womit die Verfasserin einen so faulen Stoif behandelt. Murasaki Shikibu
steht darin hoch über der realistischen Novellistik der modernen Tokugawa-
Periode, welche nur gemeinste Pornographie ist. Das von ihren Lands-
leuten stets hochgeschätzte Werk fand sofort und später viele Nachahmungen,
meistens von Frauenhand, aber keine reicht auch nur im entferntesten an
das Vorbild heran. Es war, als ob sich die novellistische Leistungsfähigkeit
mit diesem Werke verausgabt hätte. Am meisten Beachtung verdient
noch das gegen 1040 erschienene Sagoromo Monogatari, welches eine
Tochter der Murasaki verfaßt haben soll, und das wenig jüngere Nezame
Monogatari „Erzählungen in schlaflosen Nachtstunden". Die hiernach im
Zeitraum von zwei- bis dreihundert Jahren zum Vorschein gekommenen
höfischen Monogatari, alle in derselben Manier gedichtet, dieselben ab-
gedroschenen Vorgänge und Motive behandelnd, hinter dem Geist der
Zeit immer mehr zurückbleibend, sind nicht mehr erwähnenswert.
Fast gleichzeitig mit Murasakis Roman entstand ein höchst merk- skizzcn und
Aliszcllcn
würdiges Buch, das Makura no Söshi oder „Kopfkissen-Hefte" der Hof-
dame Sei Shönagon. Inhaltlich ist dieses ebenfalls in klassischem
Japanisch geschriebene Buch von 12 kleinen Bänden gar kein einheit-
■^•jP, Kaki Florenz: Die japanische Literatur,
liches Werk, sondern die bunteste Zusammen würfelung der heterogen-
sten Dinge: Anekdoten aus dem Hof leben, Landschaftsschilderungen,
kritische Bemerkungen über das Treiben der Herren und Damen der
Residenz, allerlei Beobachtungen über Sitten, Charaktere, Geschmacks-
richtungen. Die Verfasserin hat darin ohne nachfolgende ordnende Redaktion
aufgeschrieben, was ihr gerade einfiel und unter den Schreibpinsel geriet.
Man hat dieser Art von kompositionslosen Kompositionen die Bezeichnung
Zuihitsu, „dem Pinsel folgendes" kunterbuntes Allerlei, gegeben. Als
Kunstwerk hat ein solches Sammelsurium in der Literatur eigentlich
keinen Platz; Wert können bloß die einzelnen Elemente beanspruchen,
wenn sie, die überall die urpersönlichste Auffassung der Dinge durch den
Autor zur Sprache bringen, von einer bedeutenden Persönlichkeit aus-
gehen. Und das ist allerdings bei Sei Shönagon der Fall. In allem Wissen
der Zeit bewandert, eine scharfe Beobachterin von Menschen und Dingen,
klug, witzig, schlagfertig, ja sarkastisch, weiß diese mit allen Hunden ge-
hetzte Hofdame ihre kleinen Geschichtchen pikant zu erzählen, die
Schwächen ihrer nicht sehr geliebten Zeitgenossen aufzudecken und dem
Gelächter preiszugeben, und mit ihren oft bizarren Meinungsäußerungen
wenigstens den japanischen Leser immer zu fesseln.
IIL Die zweite Hälfte des Mittelalters: Die nachklassische
Zeit und der Verfall der Literatur (1186 — 1600). Das zeitlich
nächste Zuihitsu oder Skizzenbuch, 12 12 von dem buddhistischen Klausner
Kamo no Chömei (1154 — 1216) verfaßt, ist das reinste Erzeugnis
der von buddhistischen Ideen erfüllten Kamakura-Periode. Da der Autor,
welcher sich mit fünfzig Jahren aus dem Hofdienst als Bonze in die
Einsamkeit des Waldgebirges zurückzog, in einer kleinen Hütte von
nur zehn Fuß im Quadrat (höjö) lebte, nannte er sein Werkchen Höjö-ki
„Aus meinem Hüttchen". Er beginnt mit Skizzen einiger unglück-
lichen Ereignisse, die er selbst mit angesehen hatte: einer ungeheuren
Feuersbrunst in der Residenz, eines verheerenden Sturmwinds, einer
Hungersnot mit darauf folgender pestartiger Epidemie, eines fürchterlichen
Erdbebens. Dann schildert er seinen Abschied von der Welt, sein be-
scheidenes Hüttchen, seine Lebensweise als Einsiedler, stellt bei allen
diesen Dingen Betrachtungen an und führt uns schließlich zu Gemütc,
daß das wahre Glück in der Beschränkung auf sich selbst, im Verzicht
auf das irdische Genußleben bestehe. Ein tiefer, schwermütiger Ernst
lagert über der kleinen Schrift. Ureigenen Gehalt besitzt sie nicht, denn
die vorgetragenen Ideen sind die allgemeinen Ideen der Zeit, hauptsäch-
lich die des Einsiedlerstandes. Ihr Wert besteht darin, daß sie diese
allgemein herrschenden Anschauungen, das Typische seiner Zeit, in kurzer,
sinnvoller, einfacher und schöner Weise zur Darstellung bringt. Eine
starke, individuell denkende Persönlichkeit, gewissermaßen das männliche
Gegenstück zu Sei Shönagon, tritt uns aber wieder in dem Einsiedler
III. Die zweite Hälfte des Mittelalters: Die nachklassische Zeil und der Verfall der Literatur. 370
Kenkö-höshi (1283 — 1350) entgegen. Wie Chömei stammte er aus einer
Familie von Schintopriestern und diente lange bei Hofe, ehe er ein
Klausner wurde; aber es gelang ihm nie, wie diesem, sein eigenes Ich
zu überwinden. So aufrichtig er es mit der Entsagung gemeint haben
mag, das Weltkind kommt bei ihm immer einmal wieder zum Vorschein
und hält die Alltagsbeurteiler, die eine so komplizierte Natur nicht zu
verstehen vermögen, zum besten. Kenkö-höshi ist weder ein Heiliger
noch ein unsittlicher, heuchlerischer Pfaffe, wofür die einen oder die
anderen ihn gewöhnlich halten, sondern ein weltlich veranlagter, mit
kräftiger Sinnlichkeit ausgestatteter Mensch, der sich mit mehr oder
weniger Erfolg die buddhistischen Ideale zu erkämpfen sucht, und ein
Schalk obendrein. Wie das Makura no Söhi enthält sein Tsure-zure-gusa
„Skizzen aus müßigen Stunden" ohne Ordnung und System in 243 Ab-
schnitten eine Reihe von Geschichtchen, Beobachtungen, eigenartigen
Meinungen über die Phänomene der Natur und Menschheit und Aphorismen.
Auch zu einer einheitlichen Weltanschauung hat er es nicht gebracht,
denn neben der vorwiegenden Menge buddhistischer Gedanken findet sich
auch genug, was spezifisch dem Konfuzianismus, Taoismus und Schintois-
mus eigen ist. Er versucht das an und für sich Unvereinbare miteinander
zu vereinen, die Gegensätze unter einen Hut zu bringen, und ist darin
ein echter Vertreter seines Volkstums, zu dessen hervorstechendsten Eigen-
tümlichkeiten in Theorieen wie im praktischen Leben der Hang zum
Schließen von Kompromissen gehört. Das Tsure-zure-gusa ist eines der
unterhaltendsten Bücher der japanischen Literatur.^ Entstanden ist es
zwischen 1334 und 1339, also im Anfang der Muromachi-Periode, stilistisch
aber ist es ein Nachläufer der klassischen Heian-Zeit mit ganz wenig
chinesischen Beimengungen.
Um mit der altklassischen Literatur, welche auch heute noch in der KiassischeTagc-
buch-Literatur.
Lektüre des gebildeten Japaners eine viel größere Rolle spielt als die
Erzeugnisse der mittelhochdeutschen Blüteperiode bei uns, vollständig
abzurechnen, haben wir noch einen Blick auf die Tagebücher und Reise-
journale zu werfen. Halb sind sie geschichtliche Tagesberichte, halb
Belletristik ; angenehme Unterhaltung ist ihr Zweck. Im Stil den Monogatari
gleich, enthalten sie auch zahlreiche Kurzgedichte als wesentlichen Be-
standteil. Das erste Werk dieser Gattung rührt von Tsurayuki, dem
Hauptkompilator des Kokinshü, her und beschreibt bald launig-humoristisch,
bald ernst-sentimental die zwei Monate dauernde Rückreise des Verfassers
aus der Provinz Tosa, wo er von 930 bis 935 als Statthalter gewirkt hatte,
nach der Hauptstadt. Charakteristisch für die damaligen Zustände ist es,
daß zur Zeit, wo das Tosa-Tagebuch (Tosa Nikki) entstand, also mitten
in der Blüte der Tanka, das Schreiben japanischer Prosa doch noch nicht
als eine männerwürdige Beschäftigung galt und Tsurayuki sich deshalb
im Eingang entschuldigt, daß er eine „Frauenschrift" schreibe. Und in
der Tat, die ganze übrige Tagebuch-Literatur der Heian-Periode in japani-
380 Karl Florenz: Die japanische Literatur.
scher Sprache ist von Hofdamen verfaßt, unter denen Murasaki Shikibu,
die Dichterin des Genji-Romans, und ihre begabte aber liederhche Zeit-
genossin Frau Izumi Shikibu die erste Stelle einnehmen. Sogar in der
Kamakura-Periode haben von den fünf nennenswerten Nikki ihrer drei,
welche den zierlichen klassischen Stil am treuesten bewahren, Frauen zu
Autoren; die beiden anderen, von Männern geschrieben, welche Reisen
auf dem Tökaidö von Kyoto nach Kamakura in den Jahren 1223 resp.
1242 beschreiben, sind stilistisch moderner und kräftiger im Ton.
Romantische Die letztgenannten zwei Taefebücher suchen bereits mit dem neuen
Historien. . . *
Geist der Zeit, den das zwölfte Jahrhundert ausbrütete, Fühlung zu ge-
winnen. Das Zuströmen der Ritter aus dem Westen und Osten des
Landes brachte frisches Blut in die Hauptstadt und es erfolgte eine frucht-
bare Wechselwirkung zwischen ihnen, die bisher der Literatur ziemlich
fem gestanden hatten, und den ästhetisch feingebildeten Bewohnern der
Residenz. Seit 11 00 war die Frauenliteratur im Absterben begriffen und
traten Männer als Schreiber japanischer Prosa auf. Die langandauernden
Kämpfe zwischen den Taira und Minamoto, w^elche die ganze Nation mit
kriegerischem Geiste erfüllten, beeinflußten auch den literarischen Ge-
schmack. Man wandte sich allgemein von der dem Zeitgeist fremden
weiblich-weichen Klassizität ab. Nur an dem konservativen kaiserlichen
Hofe erlebte diese trotz der veränderten Verhältnisse noch eine Nach-
blüte, die sich freilich auf das Uta beschränkte. Die übrige Welt wandte
ihre Aufmerksamkeit einer neuen, aus dem Wandel der Ding-e geborenen
Dichtung zu: dem Heldenepos. Da die japanische Prosodie aber bloß
über fünf- und siebensilbige Verse verfügte und solche Verse in großer
Menge verwendet sehr monoton klingen, so erschienen die japanischen
Heldenepen nicht wie ihre europäischen Brüder in metrischer, sondern
in prosaischer Form. Nur hin und wieder erhebt sich in einigen von
ihnen die Sprache zu rhythmischem Schwünge.
Die heroischen Epen, oder, wie wir sie vielleicht passender nennen
sollten, die romantischen Historien der Kamakura- und Muromachi-Zeit
hatten ihre Vorläufer in einigen halbgeschichtlichen Werken des letzten
Viertels der Heian-Periode. Im unmittelbaren Anschluß an das Nihongi
war ehedem eine Gruppe von Reichsgeschichten in chinesischer Sprache
abgefaßt worden, welche die Geschichte Japans von 697 bis gegen 900
in trockener chronikenmäßiger Weise darstellten; dann war eine Pause
von 200 Jahren eingetreten. Gegen iioo regte sich wieder das Bedürfnis
nach historischen Schilderungen. Inzwischen hatte sich aber die japanische
Sprache durch die Monogatari- Literatur zu einem dem Chinesischen eben-
bürtigen Darstellungsmittel entwickelt, das sich auch den gelehrten Schrift-
stellern um so mehr empfehlen mußte, als die Kunst, ein gutes Chinesisch
zu schreiben, in bedenklichstem Grade abnahm. Da man nun in den
Tagebüchern der Hofdamen schon ein gut Stück Geschichte vorgearbeitet
fand, so lag es nahe, an sie anzuknüpfen und von ihnen zur Ausgestaltung
III. Die zweite Hälfte des Mittelalters: Die nachklassische Zeit und der Verfall der Literatur. 281
historischer Monogatari weiterzuschreiten. Man schrieb jetzt Geschichte
zur Unterhaltung. Strenge geschichtliche Wtihrheit, kritische Prüfung- der
Traditionen wird man freilich von solcher Geschichtschreibung nicht er-
warten. Aber wenn auch trüb als Quelle für den Historiker, so war sie
doch ein literarischer Fortschritt. Die erste große romantische Historie,
das Eigwa JMonogatari „Erzählung von den blühenden Blüten" deckt den
Zeitraum von rund 900 bis iioo und verrät noch deutlich ihre wesentliche
Herkunft aus Frauentagebüchern; es soll auch von einer Hofdame verfaßt
worden sein. Am ausführlichsten wird darin die Epoche des Großwesirs
Michinaga behandelt (gegen 1000), unter dessen Regierung die Macht
der Fujiwara sich am glanzvollsten entfaltete. Das nächstfolgende Werk,
Okagami „der große Spiegel [der Geschichte]", ebenfalls eine Schilderung
der Blüte der Fujiwara-Familie bis 1025, ist nicht mehr tagebuchmäßig,
sondern nimmt sich in der Anordnung des Stoffes die „historischen Denk-
würdigkeiten" des Chinesen Sze-ma Ts'ien zum Vorbild und ist zweifels-
ohne von einem Mann geschrieben. Von da an haben wir, die paar
schon erwähnten Tagebücher ausgenommen, keine beachtenswerten Werke
mehr von Frauenhand.
Sind das Eigwa und Okagami der Widerschein der üppig-weich- Riuer-
geschichten.
liehen Fnedenszeit unter der Herrschaft der Fujiwara, so spiegeln die
im nächsten halben Jahrhundert entstandenen vier Historien Högen-,
Heiji-, Heike-Monogatari und Gempei-Seisuiki das Zeitalter der Geschlechter-
kämpfe zwischen den feudalen Familien der Taira oder Hei und der
Minamoto oder Gen, von 11 56 — 11 85. Einzelkämpfe und Massenschlachten
in ausführlichster Beschreibung von sachkundiger Hand bilden den ganzen
Inhalt dieser Werke, deren Helden nicht mehr lebenslustige, schöngeistige
Höflinge und Hofdamen sind, sondern todverachtende Ritter und Mannen.
Die angeborene Soldatennatur der Japaner, welche unter den besänftigen-
den Einflüssen der chinesischen Kultur und des Buddhismus eingeschlummert
zu sein schien, brach mit elementarer Gewalt wieder durch und eroberte
sich nun auch die Literatur. Die Verfasser der romantischen Krieg's-
historien sind sämtlich unbekannt, aber wenigstens einige von ihnen mögen
Mönche vom Schlage unseres Ekkehard, des Verfassers des Walthari-
Liedes, gewesen sein. Das Högen Monogatari behandelt die kriegerischen
Tumulte des Jahres Högen (1156), das Heiji Monogatari diejenigen des
Jahres Heiji (1159), und beide werden im ersten Viertel des 13. Jahr-
hunderts entstanden sein. Die beiden anderen, viel größeren und kunst-
volleren Werke, das Heike Monogatari „Geschichte der Hei-Familie" und
das Gernpei-Seisuiki „Geschichte der Blüte und des Verfalls der Gen und
Hei", kurz vor 1250 entstanden, behandeln in einer langen Reihe von
Episoden den Stoff, welchen der letztgenannte Titel genauer bezeichnet.
Bei weitem am beliebtesten wurde das Heike. Die mehr lyrische, an das
Gefühl der Zuhörer appellierende und manchmal metrisch gestaltete Dar-
stellung dieses Werkes machte es für rezitatorische Vorträge besonders
'}g2 Karl Florenz: Die japanische Literatur.
geeignet und brachte es in die Pflege einer besonderen Kaste von blinden
Sängern, welche wie unsere mittelalterlichen Spielleute überall im Lande
umherzogen, es mit Begleitung der viersaitigen Biwa, einer Art Mandoline,
vortrug^en und Biwa-höshi „Biwa-Mönche" hießen, weil sie ihre Köpfe wie
Mönche kahl geschoren trugen. Durch diese populären Vorträge, denen
Krieger und gewöhnliches Volk mit Begeisterung lauschten, wurden die
Ereignisse und Heldenfiguren (unter diesen besonders Yoshitsune und sein
getreuer Vasall Benkei) der Gempei-Kämpfe allgemeines, unvergängliches
Volksgut bis auf den heutigen Tag und sind seitdem immer und immer
wieder sowohl in der epischen als in der dramatischen Literatur dargestellt
worden.
Ein Gegenstück zum Heike ist das etwa 125 Jahre später von dem
Bonzen Kojima verfaßte Taiheiki „Geschichte des großen Friedens", dessen
erst nachträglich gebildeter Titel uns nicht darüber täuschen darf, daß
auch hier fast nur von Krieg und Kriegsgeschrei die Rede ist. Es
schildert die Begebnisse zwischen den Jahren 1318 und 1367, nämlich die
nur vorübergehend vom Glück begünstigten Versuche des Kaisers Go-
Daigo (Daigo IL), die Hausmeierwirtschaft zu beseitigen, und die daraus
resultierenden Bürgerkriege, die Spaltung des Kaiserhauses in eine nörd-
liche und eine südliche Dynastie (1392 durch Kompromiß beendet). Das
Taiheiki zeigt noch mehr rhetorischen Schmuck als seine Vorgänger und
geht auch noch viel häufiger ins metrische Gepräge über. Es wurde bis
in die moderne Zeit hinein von Rhapsoden, aber ohne musikalische Be-
gleitung, vorgetragen. An die großen Werke schlössen sich allerhand
kleinere an, die aber an literarischem Werte weit unter jenen stehen. Der
Stoff einer dieser Epopöen, des Soga-Mo7iogatari^ welches von der Blut-
rache der beiden Brüder Soga am Mörder ihres Vaters (1193) erzählt, ist
in der Folgezeit unzählige Male überarbeitet worden und hat in der
Tokugawa-Periode eine wahre Sintflut von Rachegeschichten und Rache-
dramen hervorgerufen. Die Bürgerkriege und ausländischen Kämpfe des
16. Jahrhunderts mit dem Auftreten der großen Feldherren und Staats-
männer Xobunaga, Hideyoshi und Jeyasu brachten neues Material für
historische Erzählungen; doch wurde dieses auf die Länge wenig aus-
genutzt, da die Tokugawa- Regierung die schriftstellerische Behandlung
der neueren Geschichte mit Mißtrauen verfolgte und schließlich aufs
strengste verbot. Die Befürchtung der Gewalthaber, daß sie leicht in der
Rolle von Usurpatoren dargestellt werden könnten und so beim Volke
an Ansehen verlören, war auch gar nicht so ungerechtfertigt, denn schon ein
gegen 1345 erschienenes Werk, das Jinnö Shötöki „Geschichte der recht-
mäßigen Nachfolge der göttlichen Monarchen" des Staatsmanns Minamoto
no Chikafusa, das erste politisch-philosophierende Tendenzbuch der japani-
schen Literatur, hatte die Berechtigungsfrage angeschnitten, und es ist
femer eine bekannte Tatsache, daß mehrere chinesisch geschriebene
Reichsgeschichten aus der Tokugawa-Periode teils mit, teils ohne Ab-
in. Die zweite Hälfte des Mittelalters: Die nachklassische Zeit und der Verfall der Literatur. ^83
sieht der Verfasser zum Sturze des Shogunats sehr wesentUch bei-
getragen haben.
Wenn auch Werke wie das Heike Monogatari und Taiheiki noch der Beginn der
. ,. . volkstümlichen
kunstmäßigen Literatur angehören, so waren sie doch durch Sänger und Literatur.
Erzähler dem Volke zugänglich g-emacht worden und gaben dadurch
weitere Anreg'ung zur Schaffung- einer volkstümlichen Erzählungsliteratur.
Was das Volk in der klassischen und nachklassischen Zeit in dieser Hin-
sicht besessen haben mag, läßt sich nur vermuten, aber nicht nachweisen.
Die im 15. und 16. Jahrhundert allmählich zum Vorschein kommenden
schlicht und ungeschickt abgefaßten und großenteils didaktischen Volks-
bücher (Otogi-zöshi) verarbeiten Mythen, Lokalsagen, buddhistische Legen-
den, Tiergeschichten, Alltagsereignisse aus dem Leben usw. und wimmeln
von phantastischen Wunderlichkeiten, übermenschlichen Helden, Riesen,
Zwergen, Teufeln und Gespenstern, so daß man sie meistens in die Kategorie
der Märchen einreihen kann. Seine eigentliche Blütezeit erlebte das Märchen
aber erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die kleinen, spott-
billigen, mit einigten Bildern geschmückten Rot-, Schwarz- und Grünbücher
die Literatur auch den Unbegüterten und Ungebildeten zugänglich machten.
Einige der volkstümlichen Erzählungen von belebterem Inhalt, z. B. Entstehung des
die Liebesgeschichte von Yoshitsune und dem Fräulein Jöruri, welche Dramas (jöruri).
zweifelsohne unter dem Einfluß der vornehmeren Kunstpoesie entstanden
waren, erfuhren übrigens schon frühzeitig eine exzeptionelle Behandlung,
indem man sie ähnlich wie die Ritterepen in rezitativartigem Gesänge
vortrug". Seit etwa 15Q0 trat zu diesen Vorträgen die musikalische Be-
gleitung der kurz vorher nach Japan eingeführten dreisaitig'en Gitarre
(Shamisen), und weil die eben genannte Jöruri-Geschichte die populärste
der ganzen Gattung war, nannte man solche Romanzendeklamationen mit
Gitarrenbegleitung schlechthin Jöruri. Die Jöruri waren also, vom literari-
schen Standpunkt betrachtet, epische Dichtungen. Diesen reinen Charakter
behielten sie jedoch nicht lange. Gegen 1600 begannen einzelne Jöruri-
Sänger sich mit Puppenspielern zusammenzutun, welche die Vorgänge
der Erzählung durch das Spiel ihrer Marionetten verdeutlichten, was auf
die Texte die Rückwirkung übte, daß der Dialog der handelnden Personen
mehr und mehr ein wichtiger Bestandteil und die Handlung selber thea-
tralischer wurde. Als im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts Chikamatsu
Monzaemon sein bedeutendes Talent ganz auf das Jöruri konzentrierte,
hatte dieses sich bereits zu einem episch-dramatischen Mittelding ent-
wickelt und wurde unter seinen Händen ein richtiges Drama, so viel
episch beschreibende Elemente es auch beibehielt. Da der Text des
Jöruri-Dramas , die beschreibenden Stellen sowohl wie der dramatische
Dialog, von einem einzigen Sänger, den ein anderer mit der Gitarre be-
gleitete, vorgetragen wurde, während gleichzeitig auf einer unserm Kasperle-
theater ähnlichen Bühne die nach und nach äußerst kunstvoll gestalteten
Gliederpuppen mimten, können wir dieses Drama am treffendsten als
■i^A Karl Florenz: Die japanische Literatur.
monodisches Drama bezeichnen. Zu gleicher Zeit gab es noch ein anderes,
von lebenden Schauspielern auf der Bühne dargestelltes gesungenes oder
gesprochenes Drama, das Kabuki, das sich nicht wie das Jöruri aus
Romanzen, sondern aus Tanzpantomimen entwickelte, und dem schon in
den beiden letzten Jahrhunderten der Muromachi-Periode in den Nö-
Spielen und Nö-Kyögen eine recht beachtenswerte kunstmäßige Singspiel-
und Possenliteratur voraufgegangen war, woran sich namentlich der Militär-
adel ergötzte.
Das klassische Dic Nö-Spielc (Nögaku, Utai, Yökyoku) sind kleine, an Handlung und
und i6. Jahr- Pcrsoncn arme, feierlich-ernste Dramen, welche in mehr als einer Hinsicht
an die altgriechischen Tragödien erinnern. Ihr Stil ist poetisch, meist
lyrisch gehalten und zur Hälfte rhythmisch ; die Stoffe sind aus Mythen,
Sagen und Heroengeschichten entnommen; fast ausnahmslos spielt ein
buddhistischer Priester darin eine leitende Rolle, und der Geist der Stücke
ist durchaus buddhistisch, weil die Texte von Bonzen verfaßt wurden.
Chorgesänge, deren Sänger auf einer Seite der dekorationslosen Bühne
sitzen, während einige Musikanten mit Trommel und Flöte den Hinter-
grund einnehmen, wechseln, ähnlich wie im gTiechischen Drama, mit den
Monologen und Dialogen. Die Schauspieler, in prächtigen Gewändern,
meist mit typischen Masken vor dem Gesicht, deklamieren langsam, die
Worte skandierend, unter sparsamen, feierlichen Gesten, so daß die Durch-
schnittsdauer eines Stückes trotz der Kürze des Textes bei der Aufführung
eine Stunde und mehr beträgt. Wie bei den alten Griechen auf die
tragische Trilogie ein komisches Sat3^rspiel folgte, so wird nach einem
ernsten Nö auch immer eine Posse, Nö-Kyögen, gespielt. In der reinen
gesprochenen Sprache ihrer Zeit (15. und 16. Jahrhundert) verfaßt, sind
die chorlosen Possen in der Stoff behandlung das gerade Gegenteil der
Utai. Alles, was in diesen groß, erhaben, ehrfurchtgebietend erscheint:
der heilige Buddhapriester, die schauerlichen Dämonen, Teufel und Ge-
spenster, die Heldenkrieger, wird im Kyögen zur lächerlichen Fratze. Die
hier ohne Maske agierenden Komödianten, welche wie die Nö-Spieler
Mitglieder erblicher Schauspielerfamilien sind, leisten ganz Hervorragendes
in der realistischen Wiedergabe ihrer Rollen. Es hat sich die Sitte heraus-
gebildet und bis heute erhalten, gewöhnlich eine Serie von fünf Utai
verschiedener Stoffkreise mit vier dazwischen eingeschalteten Kyögen
aufzuführen.
Die sprachlich überaus schwierigen, mit vielen Zitaten aus klassischen
japanischen und chinesischen Gedichten versetzten Nö-Spiele waren natür-
lich nie volkstümlich, ja sie waren nur für den engen Kreis der Leute,
die sich am Hofe der Schogune und Feudalfürsten bewegten, gedichtet
und wurden dort entweder von den privilegierten fünf Schauspielerfamilien
oder von den fürstlichen und adligen Herren selber zu ihrer Ergötzung
aufgeführt. Erst seit dem Fall der Schogunatsherrschaft, also in aller-
neuester Zeit, ist diese Dramatik auf öffentlichen Bühnen wirklich jeder-
IV. Die neuere Zeit: Renaissance und Blüte der Volksliteratur (l6oo — 1868). ^gt^
mann zugänglich geworden, aber auch heute noch nimmt daran nur ein
kleines, gebildetes Elitepublikum teil. Die Darstellung liegt immer noch
in den Händen der erblichen Berufsfamilien. Forschen wir nach dem
Ursprung der seit etwa 1400 aufgekommenen Nö-Spiele und Kyögen, so
ergibt sich, daß sie einesteils auf altjapanische, religiöse Tanzpantomimen
und Chor- und Einzelgesänge, andernteils auf das chinesische Drama der
Mongolen-Dynastie, welches im 14. Jahrhundert durch in China gewesene
Bonzen bekannt wurde, zurückzuführen sind. Wir kennen fast nie die
Verfasser der Texte, dagegen öfters die Namen der musikalischen Be-
arbeiter der Nö-Spiele, welche Mitglieder der fünf Familien und Schulen
waren. Die Herkunft dieser Familien — sie waren ursprünglich Tänzer
des Kasuga-Schreins zu Nara — weist gleichfalls auf den wenigstens
teilweise religiösen Ursprung der Spiele hin. Die No- Spieler erfreuten
sich im Gegensatz zu den verachteten, Bettlern gleich behandelten Schau-
spielern des volkstümlichen Kabuki -Theaters einer geachteten bürger-
lichen Stellung.
Obgleich das Nö und Kyögen in der Tokugawa-Zeit bei den Vor-
nehmen, welche am volkstümlichen Theater gar keinen Anteil nahmen,
emsig gepflegt, ja zu einer Art von Staatsaktion erhoben wurde, ist die
eigentlich produktive Periode dieser dramatischen Gattung doch nur auf
das 15. und 16. Jahrhundert beschränkt. Aus dieser Zeit besitzen wir
nahe an 300 Utai und wenigstens ebenso viele Possen. Die Zahl der
letzteren läßt sich schwer berechnen, da die Schauspielerschulen noch
über ein beträchtliches unveröffentlichtes Repertoire verfügen.
IV. Die neuere Zeit: Renaissance und Blüte der Volksliteratur Das volkstum-
liche Schauspiel
(1600 — 1868). Wie sehr die Nö und Kyögen auf die hocharistokratischen im 17- Jahrhun-
Kreise beschränkt gewesen waren und dem Volke fern gestanden hatten,
ersieht man daraus, daß das volkstümliche Schauspiel, das Kabuki, im
Anfang des 17. Jahrhunderts noch einmal von neuem den Entwicklungs-
gang aus der Tanzpantomime durchmachte und dann erst allmählich aus
jenen zu entlehnen begann, statt sich gleich und unmittelbar an sie an-
zuschließen. Viel Zeit ist dadurch verloren, viel Kraft unnütz vergeudet
worden. Das Kabuki des 17. Jahrhunderts steht nicht nur ästhetisch und
technisch, sondern leider auch moralisch tief unter der dramatischen Kunst
der vorhergehenden Epoche. Eine ungewöhnliche sittliche Verwahrlosung
der Bürgerschaft besonders in den drei größten Städten Kyoto, Osaka
und Yedo ist zwar in der ganzen friedlichen Tokugawa-Zeit wahrzunehmen
und spiegelt sich schamlos in der zeitgenössischen volkstümlichen Literatur
wider, aber am schlimmsten trieben es doch die Vertreter und Ver-
treterinnen der Mimik. Kein anständiger Schriftsteller schrieb für sie,
welche die Kunst als Mittel zur Prostitution mißbrauchten, und die Re-
gierung erließ Verbot über Verbot gegen sie. Ein bleibendes Resultat
des Kampfes zwischen Obrigkeit und Mimen wurde die Verbannung- der
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 25
5g5 Karl Florenz: Die japanische Literatur.
Frauen von der Bühne, so daß alle Frauenrollen seitdem von Männern
gespielt werden, ausgenommen in einigen viel später gegründeten Truppen,
die nur aus Frauen bestanden. Der Mangel an geeigneten Theaterdichtern,
als welche die Schauspieler ursprünglich selber tätig waren, gestattete
natürlich keine rasche Entwicklung des Schauspiels. Lange Zeit ver-
fertigte man bloß höchst einfache kleine Stücke, die aus Tänzen mit
Intermezzos bestanden; 1645 spielte man das erste zweiaktige Stück; gegen
1660 ließ man zum erstenmal die ganz überflüssigen Tänze, das Erbstück
der Kabuki aus ihrer historischen Entwicklung vom Tanzstück zum Drama,
hier und da weg und näherte sich so einer reineren dramatischen Form;
gegen Ende des Jahrhunderts brachte man es sogar zu fünfaktigen Dramen;
aber irgendwelchen literarischen oder gar poetischen Wert besaßen alle
diese für die augenblickliche Bühnenwirkung hergerichteten und der je-
weiligen Manier gewisser Schauspieler angepaßten Stücke nicht. Die
ersten Dramen, die wirklich als literarische Erzeugnisse bewertet werden
können, ^^nlrden überhaupt nicht für die Kabuki -Bühne, sondern für das
Puppentheater geschrieben: ich meine die Jöruri des schon einmal ge-
nannten Chikamatsu.
Blüte des Der aus einer Ritterfamilie des Südwestens stammende Chikamatsu
"jö^ron."^ Monzaemon (1653 — 1724), zuerst Mönch, dann Beamter in Kyoto, schließ-
lich vom Ertrag seiner Feder lebender Schriftsteller, schloß 1686 mit dem
ausgezeichneten Jöruri-Sänger Takemoto Gidayu, welcher im Jahre vorher
zu Osaka das Puppentheater Takemoto-za gegründet hatte, enge Freund-
schaft und schrieb seitdem fast ausschließlich für den Freund und sein
Theater eine große Anzahl Jöruri. Die Gesamtziffer seiner dramatischen
Stücke beläuft sich auf 98, unter denen wir 74 sogenannte Jidai-mono
oder romantisch -historische und 24 Sewa-mono oder bürgerliche Schau-
spiele unterscheiden. Die Sewa-mono, deren erstes 1700 erschien, waren
mit ihrer realistischen Darstellung von Vorgängen aus dem Alltagsleben
jedenfalls für das Jöruri eine neue Errungenschaft; im Kabuki waren
schon seit 1678 einige soziale Stoffe über die Bühne gegangen. Die
bürgerlichen Stücke Chikamatsus, besonders die nach 1703 verfaßten
Liebestod-Tragödien, verdienen entschieden den Vorzug vor seinen histo-
rischen Dramen. Letztere bringen uns phantastische, unmögliche Hand-
lungen ohne rechte Motivierung, lebensunwahre schematische Charaktere,
und sind zu sehr auf grobe opemhafte Effekthascherei gearbeitet; in den
besseren bürgerlichen Dramen aber finden wir glaubhafte Handlungen
mit verständlicher Motivierung, gute Zeichnung der Charaktere, besonders
der Frauen, wirklich dramatische Konflikte, deren Entwicklung nicht mehr
durch Zufälligkeiten und äußere Schicksalsmächte, sondern durch das sitt-
liche Verhalten der handelnden Personen bestimmt wird. In ihrer schönen,
poetischen, sprachlich -stilistischen Ausgestaltung gehören die Dramen
Chikamatsus zu den besten Werken der japanischen Literatur. Wir nennen
als sehr beliebte Werke seiner Muse die historischen Dramen „Die Frau
IV. Die neuere Zeit: Renaissance und Blüte der Volksliteratur (1600 — 1868). 287
im Schnee" (1705), „Die Kämpfe des Kokusenya" (17 15) und die bürger-
lichen Schauspiele „Der Liebestod zu Sonezaki" (1703), „Das Gebet bei
der Totenfeier" (Uta-Nembutsu, 1709), „Der Eilbote der Unterwelt" (17 11),
„Die himmlische Strafe in Amijima" (1720), „Der Frauenmord in der Öl-
handlung" (1721). Der ungeheure Erfolg seiner Stücke beim Publikum
von Osaka ist indessen nicht allein auf Rechnung des Dichters zu setzen,
sondern zum Teil auch der musikalischen Bearbeitung durch seinen Freund
Gidayü zuzuschreiben. Die Vortragsweise dieses Mannes, welche die
besten Eigenschaften aller bisher aufgetretenen Jöruri- Sänger eklektisch
in sich vereinigte und den Namen Gidayu bekam, ist nicht wieder über-
troffen worden und wurde mit der Zeit so allgemein beliebt, daß sie alle
anderen Weisen beinahe vollständig verdrängte. Heute, wo das Puppen-
spiel-Jöruri längst nicht mehr besteht, sondern die Jöruri nur noch in den
zahlreichen Konzerthallen vorgetragen werden, bekommt man kaum etwas
anderes als „Gidayu" zu hören: für den Durchschnittsjapaner sind Jöruri
und Gidayu identische Begriffe. Als Gidayu sich 1704 wegen Kränklich-
keit vom Theater zurückzog, übernahm Takeda Izumo (1688 — 1756) die
Leitung der Takemoto-Halle. Er ist ein beachtenswerter Dramatiker, an
poetischer Begabung zwar seinem Meister Chikamatsu nicht gewachsen,
hinsichtlich seiner dramatischen Technik aber diesem überlegen. Seine
in der Handlung sehr mannigfaltigen, interessanten, bühnenwirksamen
Stücke, im ganzen etwa 30, hat er jedoch selten allein ausgearbeitet.
Seit 1723, wo er den Prinzen Daitö in Kollaboration mit Bunködö schrieb,
arbeitete er seine Dramen gewöhnlich mit Namiki Senryü (Sösuke) und
dem ehemaligen Mönch Miyoshi Shöraku in der Weise aus, daß jeder
von ihnen auf Grund eines gemeinsam entworfenen Planes einen oder
mehrere Akte selbständig ausführte. Die Folge solcher Zusammenarbeit,
welche bei den Dramatikern allgemeine Sitte wurde, war oft Mangel an
künstlerischer Einheit, ja geradezu Konfusion. Die beiden berühmtesten
Schauspiele Izumos und seiner Genossen, welche noch heute, für das
Kabuki bearbeitet, zum stehenden Repertoire jeder Bühne gehören, sind
das Tenarai Kagami „Spiegel der Kalligraphie" (1746), die Geschichte
des verbannten Kanzlers Sugawara Michizane und seiner Vasallen, mit
dem hochtragischen Terakoya-Akte, und das Kana-dehon Chüshingura
(1748), die Rache der 47 treuen Ritter von Akao an dem Feinde ihres
Lehnsherrn.
Mit dem Takemoto-za trat das 1702 in derselben Straße begründete Das neuere
, , , . Schauspiel.
Toyotake-za in immer schärfere Konkurrenz, und wie um jenes, so scharten
sich auch um dieses zahlreiche Sänger, Puppenspieler und Dramatiker,
unter welch letzteren Ki no Kaion (1663 — 1742), ebenfalls ein ins Welt-
leben zurückgetretener Bonze, hervorragte. Der Wettbewerb der beiden
Theater in der Ausstattung ihrer Stücke brachte auch das Marionetten-
spiel zur höchsten Pracht und Vollendung. Trotz ihrer Bemühungen ver-
loren die Puppentheater von den sechziger Jahren an allmählich die Gunst
2-*
-gg KLarl Florenz: Die japanische Literatur.
des Publikums und gerieten zwischen 1780 und 1800 in vollständigen Ver-
fall. Als HauptgTÜnde hierfür haben wir zu betrachten die Verschiebung
des literarischen Mittelpunktes aus den Weststädten Osaka und Kyoto
nach der östlichen Shögun-Residenz Yedo in der Mitte des Jahrhunderts,
und den großen Aufschwung des Kabuki -Theaters, welches den höher
entwickelten Geschmack mehr befriedigte als das etwas kindliche Puppen-
spiel. Das bis 1700 so rohe Kabuki hatte sich nämlich inzwischen unter
dem Einflüsse des Jöruri stark verändert. Große Anstrengungen waren
dazu nicht notwendig gewesen, denn man übernahm einfach die für das
Puppentheater geschriebenen Jöruri und brachte sie leicht umgearbeitet
auf die Schaubühne. Dabei machte man sich nicht einmal von der halb-
epischen Technik der Jöruri los, sondern ließ den von den Schauspielern
übernommenen eigentlichen Dialog von Stelle zu Stelle durch einen in
einer Proszeniumloge untergebrachten Sänger (Jöruri — Katari) und einen
Gitarrenspieler begleiten. Der Sänger beschreibt sowohl die inneren Ge-
danken und Gefühle der handelnden Personen als die äußeren Vorgänge
auf der Bühne, oft sogar die Gesten der Schauspieler, was bei der Dar-
stellung durch lebende Menschen statt durch tote Puppen nicht nur un-
nötig, sondern geradezu lästig ist und die Schauspieler öfters zwingt, eine
Stellung unnatürlich lange auszudehnen. Sogar bis zur Nachahmung der
immerhin doch eckigen Gesten der Puppen hat man sich verstiegen. In
Yedo hatte das Jöruri noch eine kurze Nachblüte und wurde noch mit
Beifall aufgeführt, nachdem man im Westen schon seiner müde geworden
war. Der satirische Hiraga Gennai (1723— 1779) schrieb in den sieb-
ziger Jahren die letzten literarisch wertvollen Jöruri. Die Produktion
der nächsten Jahrzehnte war ganz unbedeutend und erlosch schließlich
gegen 1820.
Die Schauspieler benutzten für ihre eigenen Zwecke Kyakuhon ge-
nannte Text- und Regiebücher, worin die von ihnen zu sprechenden
Worte und genaue szenische Bemerkungen mit Ausschluß der Jöruri-
Elemente enthalten waren. Diese unsem europäischen Dramen am näch-
sten kommenden Texte verfaßten sie zuerst selber, dann mit Hilfe von
Jöruri-Schreibem; endlich traten aber besondere Kyakuhon-Schreiber, also
eigentliche Bühnenschriftsteller hervor. Die namhaftesten unter ihnen,
welche ihre Wirkungsstätte alle in Yedo, dem nunmehrigen Heim der
Dramatik und Xovellistik, hatten, sind seit der Mitte des 18. Jahrhunderts:
Tsuuchi Jihei (7 1760); Horigoshi Saiyö (1723— 1772), welcher die
noch bestehende Sitte begründete, zwischen die Akte eines Schauspiels
einen Jöruri-Akt als Zwischenspiel einzuschalten; Kanal Sanshö (seit
1754 für das Xakamura -Theater tätig), dessen soziale Stücke mit span-
nenden Fabeln und recht geschicktem Aufbau auch um ihrer schönen
Sprache willen gepriesen wurden; der gleichfalls durch seine bürger-
lichen Schauspiele bekannte vSakurada Jisuke (1734 — 1806), welcher die
Hauptrollen darin dem tüchtigen Schauspieler Matsumoto Köshirö eigens
rV. Die neuere Zeit: Renaissance und Blüte der Volksliteratur (1600 — 1868). rjgq
auf den Leib schrieb, auf diese Weise größere Bühnenwirkung erzielte
und damit Veranlassung gab, daß sich hinfort Dichter und Schauspieler
oft eng verbanden; Namiki Gohei (1747 — 1808) aus Osaka, welcher den
spezifisch westlichen Geschmack nach Yedo verpflanzte; Tsuruya Nam-
boku (1755 — 1829), der für den in Schauerrollen unübertroffenen Schau-
spieler Kikugorö III, seine Gespensterstücke, z. B. das noch oft gespielte
„Gespenst von Yotsuya" schrieb, und Mokuami (18 16 — 1893), der ge-
schätzteste Bühnendichter der neueren Zeit. Die von Sakurada auf-
gebrachte Mode, die Stücke für bestimmte Schauspieler zu schreiben,
hat den Dramen als Kunstwerken sehr großen Abbruch getan, denn
sie machte die Dichter zu Sklaven der ungebildeten und eigensinnigen
Schauspieler,
Die achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts bescherten dem japanischen Erzählende
Volke nicht nur seinen berühmtesten Dramatiker, sondern auch einen
der begabtesten Künstler der Erzählung, Ihara Saikwaku (1642 — 1693)
in Osaka, welcher mit seiner 1682 herausgekommenen Erzählung „Ein
Lüstling" den modernen naturalistischen Zeit- und Sittenroman einführte.
Seine lebensvollen, mit großer sprachlicher Gewandtheit vorgetragenen
Schilderungen in diesem seinem Erstlingswerk, in „Eine wollüstige Frau"
und „Fünf Weiber der Lust" (1686) zeigen eine nicht gewöhnliche Kennt-
nis des Menschenherzens und sogar poetische Fähigkeiten, offenbaren
aber auch zugleich einen so hohen Grad sittlicher Haltlosigkeit und Lust
am Schmutzig-en, daß wir zwar den Dichter manchmal bewundern, dem
Menschen aber unsere Achtung versagen müssen. Das Verbot seiner
schlüpfrigen Erzählungen durch die Obrigkeit führte Saikwaku auf das
Gebiet der Rittergeschichten und zu Volkserzählungen mit lehrhafter
Tendenz, denen zwar das Anstößige seiner früheren Schriften, aber auch
deren literarische Kunst fehlte. Mit dem ersten naturalistischen Sitten-
schilderer Saikwaku ist die japanische Novelle modernen Gehalts sogleich
mitten in die Dekadenz hineing-eraten und während der ganzen Tokugawa-
Zeit auch darin stecken geblieben. Der Mangel an sittlichen Idealen in
der breiten Masse des Volkes, vor allem in der Bürgerschaft der großen
Städte, die in der langen seit 1600 herrschenden Friedenszeit zu nie da-
gewesenem Wohlstande gelangte und einer rein materiellen Auffassung
des Lebens frönte, verhinderte, daß die Literatur, die jetzt endlich volks-
tümliche Literatur geworden war, einen höheren Aufschwung nahm. Unter
den vielen realistischen Erzählern der Tokugawa-Periode ist nicht einer,
der in der Schilderung der sozialen Zustände seiner Zeit sich aus dem
bloß Stofflichen losgerungen und ein Problem erfaßt hätte, wenn es auch
nur in der bescheidenen Weise gewesen wäre, wie Chikamatsu in einigen
seiner bürgerlichen Trauerspiele die Neigungen des Individuums mit den
Satzungen der Gesellschaft in bewußten Widerstreit brachte. Keiner von
ihnen ist seiner Nation ein geistiger Führer geworden; sie haben sich alle
von dem niedrigen Geschmack ihrer Leser am Gängelbande führen lassen.
^go Karl Florenz: Die japanische Literatur.
Xach Saikwakus Tode traten zwei Männer in Kyoto dessen litera-
rische Erbschaft als naturalistische Novellisten an: der Buchhändler Andö
Jishö 1^1066 — 1747) und der herunterg'ekommene Kaufmann Ejima Kiseki
{1667 — 1736). Eigentlich verdient nur der letztere als Schriftsteller er-
wähnt zu werden, denn was unter Jishös Namen geht, ist größtenteils
von Kiseki, im übrigen wohl von armen Skribenten, die der ehrgeizige
Buchhändler für sich schreiben ließ, verfaßt worden. Saftige Kurtisanen-
geschichten und Schauspieler-Almanache bildeten die Haupterzeugnisse
des Hachimonjiya -Verlags, der Fimia Jishös. Zu ihnen kamen seit der
Zeit, wo Kiseki vorübergehend mit Jishö uneinig war (zwischen 17 14 und
17 19), seine Bücher selber verlegte und mit etwas Brandneuem die Gunst
der Leserwelt zu erwerben trachtete, sogenannte „Charakterschilderungen",
worin gewisse Typen der bürgerlichen Gesellschaft, wie „junge Leute",
„jiing-e Mädchen", „Väter", „Handlungsdiener", in einer Reihe ergötzlicher
Geschichten vorgeführt wurden. Kiseki besitzt nicht die Anmut Saikwakus,
der auch dem Niedrigen oft noch einen leidlichen Anstrich zu geben ver-
steht, übertrifft ihn aber an Reichtum der Erfindung. Nach Kisekis Hin-
scheiden arbeitete der nicht unbegabte Toda Nanrei im selben Sinne für
Hachimonjiya; mit seinem Tode 1750 war die leitende Rolle der West-
städte in der Literatur ausgespielt und Yedo, das von nun an eine ähn-
liche Bedeutung für Japan gewann, wie Paris für Frankreich oder London
für England, trat an ihre Stelle.
Da Yedo ein sehr starkes Kontingent Samurai beherbergte, so war
auch der Geist der übrigen Bürgerschaft kräftiger und martialischer als
beispielsweise derjenige der Bewohner von Osaka, der Stadt der Kauf-
leute und Matrosen. x'Vber auch hier übte die zweifellos höhere Gesittung
des Kriegerstandes doch nur wenig Einfluß auf die moralische Gesinnung
des „Volkes". Die seit den siebziger Jahren in Yedo zahlreich erschienenen
reaUstischen Novelletten waren ebenso schlüpfrig und bezogen ihre Stoffe
aus denselben verrufenen Vierteln wie ihre Vorgänger in Osaka und Kyoto.
1791 schritt die Regierung gegen die Schmutzliteratur ein, was die Folge
hatte, daß die realistische Sittenschilderung außer im komischen Roman,
der seit 1802 zu blühen begann, für etwa drei Jahrzehnte ruhte und die
Novellisten fast nur im historisch-romantischen Gebiete arbeiteten. Die
beiden bedeutendsten Schriftsteller dieser Richtung waren der Kaufmann
Santo Kyöden (1761 — 1816) und Kyokutei Bakin (1767 — 1848). Kyöden
schrieb anfangs kleine, obszöne Dirnengeschichten, die viel Beifall fanden,
und wurde wegen Nichtachtung des Verbotes vom Jahre 1791 hart be-
straft. Nach einigen Jahren des Schweigens kam er mit großen historisch-
didaktischen Romanen heraus. Zwar sind sie, um die grobe Sensations-
lust der Leser zu befriedigen, gar sehr mit abenteuerlichen Elementen
vollgepfropft, aber doch meist im Plan geschickt durchgeführt und ein-
fach und leicht verständlich geschrieben, was man von den Werken seines
berühmteren Zeitgenossen Bakin nicht immer sagen kann. Bakin gilt im
IV. Die neuere Zeit: Renaissance und Blüte der Volkslileratur (l6oo — 1868). 3g i
allgemeinen als der größte aller japanischen Romanciers. Die Frucht-
barkeit dieses fleißigen und kenntnisreichen Mannes aus ritterlichem Stande
war eine erstaunliche. In den 60 Jahren, die er literarisch tätig war, hat
er beinahe 250 Werke in rund 2000 Bändchen hervorgebracht. Der um-
fangreichste und berühmteste, wenn auch nicht gerade beste seiner
Romane ist das Hakkcnden „Geschichte der acht Hunde" (18 14 — 1841) in
106 Bänden. Noch vor Vollendung- dieses merkwürdigen Buches erblindete
er, setzte aber trotzdem seine Tätigkeit bis ans Lebensende fort. Was
man von jeher an Bakin bewundert hat, ist der Reichtum seiner Phantasie
und die schöne, melodische, oft rhythmische Sprache. Auch läßt sich
nicht leugnen, daß sein sittlicher Ernst ihn vorteilhaft von den übrigen
Novellisten seiner Zeit unterscheidet. Er vertritt eine strenge, auf kon-
fuzianischen Ideen mit buddhistischen Beimengungen aufgebaute Welt-
anschauung. Indem er aber überall den Grundsatz, daß das Gute ge-
fördert und das Böse gezüchtigt werden müsse, allzu systematisch und
einseitig durchführt, wird er oft pedantisch, langweilig und gezwungen.
Er beachtet viel zu wenig das wirkliche Leben, schafft nur ideale Ge-
stalten ohne Fleisch und Blut und ohne menschliches Interesse, stößt uns
beständig- durch Schilderung ganz unmöglicher Vorgänge vor den Kopf.
Trotz dieser großen Schwächen blieb er bis ans Ende der siebziger Jahre
der unbestrittene Abgott des Romane lesenden Publikums. Dann aber
trat unter dem Einfluß der allmählich bekannt werdenden abendländischen
Novellistik ein Umschwung in der Wertschätzung Bakins ein, und wenig-
stens eine kleine kritisch-denkende Gruppe eröffnete mit Heftigkeit den
Kampf gegen seine Lehrhaftigkeit und gegen seine unmoderne konfuzia-
nische Ideenrichtung.
Der Japaner hat viel Sinn für Humor und neigt zu einer leichten,
heiteren Auffassung des Lebens. Aber chinesischer und buddhistischer
Einfluß haben in der Literatur das ureigenste Naturell des Japaners lange
nicht zum reinen Ausdruck gelangen lassen. Sein Humor drängt sich
daher in der älteren Dichtung nicht sonderlich hervor. Zum erstenmal
entfaltete er sich frei und breit in den mittelalterlichen Possen, den Nö-
Kyögen; kleine Erzählungen mit berechneter komischer Wirkung kamen
aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und komische Romane
am Anfang des ig. Jahrhunderts zum Vorschein. 1802 begann Jippensha
Ikku (1765 — 1831), der die nüchterne Beamtenlaufbahn einem vagabun-
dierenden Zigeunerleben opferte, den Reiseroman Hiza- kurige „Auf
Schusters Rappen" zu veröffentlichen, in dem zwei übermütige, etwas
vulgäre aber harmlose Burschen aus Yedo die Provinzen durchstreifen
und allerhand lächerliche Abenteuer erleben. Der ungeheure Erfolg ver-
anlaßte den Verfasser, bis zum Jahre 1822 verschiedene Fortsetzungen
folgen zu lassen und auch sonst noch zahlreiche Humoresken zu schreiben,
die jedoch an sein Hiza-kurige, vielleicht das ergötzlichste Buch der
ganzen japanischen Literatur, nicht entfernt heranreichen. Gleichen Ruhm
2Q2 Karl Florenz: Die japanische Literatur.
wie Ikku hat sich der Buchhändler Shikitei Samba (1775 — 1822) als
Humorist erworben. Er ist aber von anderer Art. Ikku will nur zum
Lachen reizen, Samba dagegen teilt zugleich nach allen Seiten satirische
Hiebe aus. Seine bekanntesten Schriften sind „Die Welt im Badehaus"
und „Die Welt in der Barbierstube" (1809 — 1812). Eigentliche Romane
sind sie nicht, denn es fehlt an einer zusammenhängenden Erzählung,
sondern lange Reihen von Bildern aus dem Volksleben, wie es sich an
den von allen Klassen des Volkes damals am häufigsten besuchten zwei
Stätten des alten Yedo abspielt, nämlich in den öffentlichen Badeanstalten
und in den Barbierstuben. Für die Kenntnis der Sitten und Gebräuche
in der Tokugawa-Zeit gibt es keine anderen Bücher, die so lehrreich und
zugleich so unterhaltend wären wie diese.
Da die Obrigkeit die humoristischen Sittenschilderungen ohne Ein-
wand hingehen ließ — und Ikku zum Beispiel verstand im Obszönen
etwas zu leisten! — , so wagte sich auch die naturalistische Novelle wieder
hervor. Die großen Liebesromane des einäugigen Buchhändlers Tamenaga
Shunsui (1789 — 1842) mit ihren lebenswahren Schilderungen der Be-
ziehungen der Geschlechter zueinander boten eine willkommene Abwechs-
lung zu den didaktischen, sich in romantischen Dunst verflüchtigenden
Geschichten Bakins. Verbummelte, ausschweifende Gesellen und Lust-
dimen nahmen in der erzählenden Literatur bald wieder die herrschende
Stellung ein, welche ihnen ehedem von Saikwaku angewiesen worden war.
Shunsui fand viele Nachtreten Der Unfug ihrer liederlichen Schreiberei
\^-urde schließlich so bedenklich, daß die besorgte Regierung 1842 aber-
mals mit Keulen dreinschlug. Shunsui wurde als gefährlichster Sitten-
verderber in Handschellen gelegt und starb während der Haft. Auch
der schriftstellemde, sehr begabte Samurai Ryütei Tanehiko (1783 bis
1842) wurde von dem Verbot mit getroffen, obwohl er nicht zu den
naturalistischen Liebesromantikern gehörte. Sein 182g begonnener, aber
Fragment gebliebener und vortrefflich illustrierter Roman „Eine Pseudo-
Murasaki und ein ländlicher Genji" ist die beste Nachbildung des
klassischen Genji Monogatari und eines der Hauptwerke der Tokugawa-
Literatur. Die nächstfolgenden Jahrzehnte bis zum Übergang in die
neueste Bewegung unter westlichem Einfluß haben zwar noch viel an
Unterhaltungsschriften hervorgebracht, aber wirklich bemerkenswerte Er-
zähler alten Stils sind nach Shunsui, Tanehiko und Bakin nicht mehr zu
verzeichnen.
Gelehrte Neben der volkstümlichen Literatur, an der die gebildeten, herrschen-
Literatur.
Sinologen und den Klasseu, die Militärs und Beamten, nur ausnahmsweise geringen An-
Japanologen.
teil nahmen, ging während der ganzen Tokugawa-Zeit noch eine gelehrte
Literatur in chinesischer oder sinoj apanischer Sprache für eben jene be-
vorzugte Gesellschaftsklasse einher. Sie knüpfte an die Wiederbelebung
der chinesischen Studien um 1600 an. Die Lehren des Neukonfuzianismus
in Chuhischer Fassung wurden als maßgebend fast allgemein angenommen
V. Die neueste Zeit (seit 1868). -jg^j
und von der Regierung zur Staatsphilosophie erhoben. Der chinesische
Geist bemeisterte durch die Sinologen noch einmal für mehrere Jahr-
hunderte das japanische Wesen, und selbst die japanische sogenannte
Kriegerethik hat nicht viel, das nicht auf chinesische (manchmal auch
buddhistische) Inspiration zurückginge. Die auf die allgemeine Literatur
einflußreichsten Sinologen waren der Pädagog Kaibara Ekken (1630 — 17 14)
und der im höchsten Verwaltungsdienst tätige Arai Hakuseki (1657 — 1725). Arai.
Beide waren überaus fruchtbare Autoren auf den verschiedensten Gebieten,
und man kann sich kaum einen größeren Kontrast denken, als die sittlich-
ernsten Schriften dieser Männer und die Pornographie der volkstümlichen
Schriftsteller. Die Schogune und die meisten Feudalfürsten bewährten sich
in der ganzen Tokugawa-Periode als eifrige Beförderer von Wissenschaft
und technischen Künsten; dagegen fand die schöne Literatur, vom Uta
und den klassisch - lyrischen Dramen abgesehen, leider keine Beachtung.
Die von den Sinologen stark übertriebene Vorliebe für alles Chine-
sische rief im 18. Jahrhundert eine japanisch-patriotische Gegenbewegung
hervor, welche für Literatur, Philolog^ie und Religion bedeutungsvoll ge-
worden ist. Wie die Sinologen das chinesische Altertum, so erforschten
die Japanologen das japanische. Ihren Arbeiten ist es gelungen, für die
Kultur, Sprache und Dichtung der ältesten Zeiten uns wieder ein richtiges
Verständnis zu vermitteln. Die Namen eines Kamo Mabuchi (1697 — 1769)
und Motoori Norinaga (1730 — 1801), zweier echten Gelehrten, sind mit
ganz besonderer Hochachtung zu nennen. Daß sie, und noch mehr ihr
begabter, kenntnisreicher, aber die wissenschaftliche Ehrlichkeit der patrio-
tischen Tendenz opfernder Nachfolger Hirata Atsutane (1776 — 1843) in Atsutane.
dem Bestreben, das Japanertum herauszustreichen, das Chinesentum un-
gebührlich verkleinern, ist eine unter den Umständen verzeihliche Schwäche.
Sie bemühten sich auch, den durch buddhistische und konfuzianische Bei-
mengungen fast verwischten Shintö in seiner alten Form wiederherzu-
stellen und sind damit die mächtigen Vorarbeiter der „Reinigung" des
Shintö und seiner Einsetzung als Staatsreligion im Anfang der gegen-
wärtigen Meiji-Ära geworden.
V. Die neueste Zeit (seit 1868). Der Wiederaufschluß des Reiches für Die Gegenwart,
den Verkehr mit dem Auslande, die Beseitigung des Shogunats und die
gleichzeitig beginnende Annahme der westlichen Kultur haben in Japan eine
Umwälzung hervorgerufen, die an Gewalt und Ausdehnung sich mit jenen
messen kann, welche einst durch die Übernahme der chinesischen Kultur
und des Buddhismus bewirkt wurden. An Stelle des chinesischen Einflusses
trat jetzt der europäische, und wie man vorzeiten die jungen Leute zu
ihrer höheren Ausbildung nach China schickte, so sandte man sie nun zu
gleichem Zwecke nach Europa und Amerika. Der Einfluß des Okzidents
hat sich zunächst in politischen, gesetzgeberischen, erzieherischen Reformen,
in der Neubildung von Heer und Flotte, in der Aneignung der mate-
^Q I Karl Florenz: Die japanische Literatur.
riellen Vorteile der modernen westlichen Kultur geltend gemacht. Allmäh-
lich ist auch das innere Wesen der Japaner von der Geistes- und Gefühls-
welt Europas berührt worden, und es steht zu erwarten, daß auch die
unserem hohen, materiellen Aufschwung zugrunde liegenden feineren,
idealen Elemente und Kräfte tiefer eindringen werden. Die Einsichtigen
haben längst beg'riffen, daß es mit der bloßen Nutzanwendung der fertigen
Resultate fremder geistiger Arbeit nicht getan ist.
Der europäische Im erstcn Tahrzchnt der neuen Zeit (Meiii-Ära, seit 1868) war die
Einfluß in der . . . . ^
Noveiiistik. Nation ZU sehr mit staatsrechtlichen und volkswirtschaftlichen Reformen
beschäftigt und die allgemeine Gemütsstimmung zu unstet und zerrissen,
als daß die schöne Literatur dabei hätte Fortschritte machen können. Die
geschmacklosen Xachtreter Bakins, Ikkus und Shunsuis beherrschten noch
das Feld. Dem eifrig betriebenen Studium der fremden Sprachen, beson-
ders des Englischen, welches das wichtigste Bildungsmittel des Jung-
japanertums wurde, folgte jedoch eine in steigender Progression zu-
nehmende Übersetzung'sliteratur. Zuerst übertrug man nur Bücher und
Aufsätze, die für die praktischen Bestrebungen und für Erziehung und
Wissenschaft in Betracht kamen, und solche verdienstvolle Männer wie
der nüchtern denkende, klar und eindrucksvoll schreibende „Weise von
Mita", Fukuzawa Yükichi, ein warmer Verehrer alles Angelsächsischen,
und der als erster auf die deutsche Geisteswelt energisch hinweisende
Katö Hiroyuki, zeitweilig Rektor der Kaiserlichen Universität zu Tokyo,
standen zur Literatur in keiner unmittelbaren Beziehung. Gegen 1879
hatten sich die Verhältnisse so weit gefestigt, daß auch an eine Reform
der Dichtung gedacht werden konnte. Man begann europäische Erzäh-
lungen zu übersetzen, hauptsächlich neuere englische Romane von Lytton,
Scott, Disraeli. Littons Ernest Maltravers machte den Anfang (1879). Es
wurden im allgemeinen solche Erzeugnisse begünstigt, in denen sich
volksrechtliche Tendenzen bemerkbar machten, und die Übersetzer waren
auch fast alle politische Schriftsteller. Die Zeitungen, deren erste 1872
das Licht der Welt erblickte, und die etwas später begründeten Zeit-
schriften wurden die Hauptverbreiter der Literatur. An den europäischen
Romanen gefiel die realistische Schilderung und die edlere, gedanken-
vollere Darstellung. Von ihren Vorzügen und ihrem Wesen bildete sich
zuerst Tsubouchi Yüzö klare Vorstellungen. In seinem kleinen Buche
„Geist und Kern der Romanliteratur" (1886) besprach dieser gute Kenner
der englischen Literatur die Anforderungen, die man an einen Roman zu
stellen habe, verwarf die Schule Bakins mit ihrer phantastischen Unwahr-
heit und lenkte das Augenmerk der vSchriftsteller auf die realistische
Schilderung von Menschencharakteren, Sitten und Zuständen der Zeit.
Vom Erscheinen dieser Schrift, welche den größten Eindruck machte,
rührt eine neue Ära der japanischen Noveiiistik her, die sich seitdem
wesentlich in der von Tsubouchi angegebenen Richtung entwickelte. In
eigenen Novellen wie „Studentent)^pen" (1885/86) bewies der Kritiker, daß
V. Die neueste Zeit (seit 1868). ?q5
er nicht nur niederreißen, sondern auch aufbauen konnte. Daß er,
ein Graduierter der Kaiserlichen Universität und somit ein Mann des
ang'esehensten Standes, unter die Romanschreiber ging-, die in der Toku-
gawa-Zeit ähnlich wie die Dramatiker und Schauspieler eine fast verachtete
Stellung einnahmen, hat die ganze Zunft gesellschaftlich auf eine höhere
Stufe gehoben. Heute, nach Verlauf eines weiteren Vierteljahrhunderts,
braucht sich niemand mehr seines schriftstellerischen Berufes zu schämen.
Auf der von Tsubouchi eingeschlagenen Bahn des Realismus folgten
zahlreiche junge Schriftsteller, unter denen Yamada Bimyösai, Ozaki Köyö
und Köda Rohan die namhaftesten sind. Ersterer schuf auch einen ganz
neuen Stil, indem er statt der etwas altertümlichen Schriftsprache, die
grammatisch und lexikalisch von der gesprochenen Sprache ziemlich stark
abweicht, sowohl in seinen Novellen als in seinen Gedichten eine der
modernen Umgangssprache sehr nahekommende Schreibweise (Gembun-
itchi, Verschmelzung von Schrift- und Umgangssprache) wählte. Er fand
damit Beifall und Nachahmer, unter ihnen anfangs Köyö; aber da die
bisher stilistisch sehr vernachlässigte Umgangssprache sich natürlich nicht
im Handumdrehen zu einem literarischen Werkzeug desselben Ranges
wie die jahrhundertelang gepflegte Schriftsprache vollenden ließ, und
Köyö und Rohan zeitweise auf Stil und Sprache des 200 Jahre älteren
Saikwaku zurückgriffen und damit größeren Erfolg hatten, wurde Bimyösai
und das Gembun-itchi wieder in den Hintergrund gedrängt. Der leicht-
blütige Köyö (gest. 1903) ließ sich durch Saikwakus Einfluß mehrfach zu
bedenklichem Naturalismus verleiten, während der charaktervolle Rohan
nie ans Vulgäre streifte. Rohan schildert mit Vorliebe geniale, hoch-
strebende Menschen, starken Willen und glühende Leidenschaft, und seine
Figuren unterscheiden sich vorteilhaft von den meist schwachen, charakter-
losen Gestalten der anderen Novellisten. Er ist der begabteste Dichter
der Gegenwart und geht seine eigenen Wege, unbekümmert um die gerade
herrschende Richtung.
Die von den Realisten behandelten Stoffe waren im Durchschnitt
keine bedeutenden. Es gelang ihnen selten, sich über das Alltägliche zu
erheben, und den Problemen der Zeit standen sie verständnislos gegen-
über. Erst in den letzten Jahren haben einige wie Tokutomi Rokwa und
Kinoshita Naoe den Versuch gemacht, wichtige soziale Fragen in ihren
Romanen zu behandeln. Die oft ausgesprochene Sehnsucht nach lesens-
werten historischen Romanen ist noch ungestillt geblieben, aber eine
romantische Richtung hat sich als Reaktion gegen das Einförmige und
die nüchterne Verstandesmäßigkeit der Realisten in den neunziger Jahren
wieder bemerkbar gemacht. Der chinesisch -japanische Krieg 1894/95
zeitigte einige wertlose Kriegsnovellen; der Krieg von 1904/05 hat meines
Wissens bisher nur lyrischen Widerhall gefunden. Mögen die modernen
Novellisten eine fremde Sprache verstehen oder nicht, der europäische
Einfluß ist überall mehr oder weniger deutlich fühlbar. Europäisch heißt
^q5 Karl Florenz: Die japanische Literatur.
von vornherein Englisch. Aber besonders durch den als Novellist, Dra-
matiker und Kritiker tätigen deutschgebildeten Militärarzt Mori Ogai hat
seit etwa zwanzig Jahren auch die deutsche Literatur immer wachsenden
Einfluß gewonnen. Höheren Wert als seine eigenen Dichtungen haben
Moris vortreifliche Übersetzungen, mit denen er der eigentliche Begründer
der Übersetzungskunst in Japan geworden ist. Diese Kunst wird sonst
sehr dilettantisch betrieben; die Sucht, alles zu japanisieren und dadurch
meist gründlich zu entstellen, auch mangelhaftes philologisches und ästhe-
tisches Verständnis der Originale, steht ihrer Entwicklung noch im Wege.
Für die sehr beliebten französischen Erzähler Hugo, Verne, Dumas,
Zola usw. haben gewöhnlich englische Versionen den Vermittler gespielt.
Seit igoi begann man auch die Russen (Tolstoi) zu beachten, und gleich-
zeitig versetzte der von einigen Nervösen betriebene Nietzsche-Kult die
japanische Literatur in nicht g'eringe, aber schnell vorübergehende Auf-
regung.
Die neue L>Tik. Vielversprechende Neuerungen sind auf dem Gebiete der Lyrik und
im Epischen kleineren Stils vorgenommen worden. Auch hier waren es
die europäischen Vorbilder, welche den Gedanken zur Reform eingaben.
Es ist das bleibende Verdienst der Professoren Toyama, Yatabe und
T. Inouye, daß sie mit dem Monopol des Tanka aufgeräumt, größere Ge-
dichte lyrischen und epischen Inhalts und Strophenbildungen eingeführt
und die moderne, mit Chinesisch gemischte Schriftsprache zum Ausdrucks-
mittel der Poesie erhoben haben. Zwar waren ihre eigenen Leistungen,
größtenteils Übersetzungen englischer Gedichte, im Shintaishi-shö „Aus-
wahl von Gedichten modernen Stils", 1882, wenig lobenswert und er-
fuhren deshalb auch viel abfällige Kritik, aber das Eis war doch ge-
brochen, und trotz häufiger Mißerfolge unter den Händen unberufener
Dichterlinge hat das „moderne Gedicht" schon so viel Boden gewonnen,
daß man es getrost als das Gedicht der Zukunft bezeichnen darf, welches
zwar das Tanka und Haikai nicht völlig verdrängen, aber doch als be-
deutendere Gattung beiden voranstehen wird. Das Hübscheste leistete
von den älteren Shintaishi-Dichtern der schon genannte Yamada Bimyösai,
der sich auch im Gedicht des Gembun-itchi bediente; und weiterhin ist
Toyamas „Totenkranz" (i8qi), eine episch -lyrische Erinnerung an das
schreckliche Ansei-Erdbeben, wohl erwähnenswert. Seine für ausdrucks-
volle Deklamation, die er statt des herkömmlichen monotonen Abschnurrens
der Verse einzuführen gedachte, bestimmten Gedichte in Halbprosa waren
ein Schlag ins Wasser; man fand sie zu unpoetisch. Nachdem das Interesse
am Shintaishi einige Jahre lang fast auszulöschen drohte, trat Mitte der
neunziger Jahre eine neue Bewegung zu seinen Gunsten ein. Die metrische
Form, ursprünglich nur Sieben-Fünfsilber, wurde mannigfaltiger, der Ton
frischer und schlichter durch gelegentliche Anlehnung an die Volkslieder.
Vom Ende des chinesischen Krieges bis gegen 1900 blühte eine Gefühls-
lyrik voll von naiver, träumerischer Liebessehnsucht und Naturschwärmerei,
V. Die neueste Zeit (seit l868). ^gy
deren Hauptrepräsentanten die Anthologie Hana-Momiji „Blüten und Herbst-
blätter" (1896) von Omachi, Takejima und Shioi, und die vier Gedicht-
sammlungen (Wakana-shu 1897 als erste) von Shimazaki Töson sind. Gleich-
sam als Widersacher der weichlich-gefühlsseligen Richtung dieser Dichter
schlug Doi Bansui in seinen 1899 erschienenen Gedichten, worunter auch
Episches, Balladenförmig^es, einen kräftig'eren , männlicheren Ton an. Um
Yasano Tekkan, der seit 1900 die literarische Zeitschrift Myöjö „Heller
Stern" herausgibt, scharten sich einige leidenschaftliche Erotiker, die man
gewöhnlich die Stern-Veilchen-Schule nennt, da Sterne, Veilchen und der-
gleichen ihre Lieblingssymbole der Liebe sind. Die Minnelyrik Tekkans
und seiner begabten Frau Shöko weist stark sinnliche Züge auf. Beide
sind aber weniger im Shintaishi, als im modernisierten Tanka, das sich
auch chinesischer Lehnwörter bedient und die gesetzmäßige Zahl von
31 Silben öfters um einige Silben überschreitet, bedeutend. Die hervor-
ragendsten Dichter der Stern-Veilchen-Schule sind Kambara Yumei und
Susukida Kyükin. Sie haben das Shintaishi sowohl formell als inhaltlich
weiter entwickelt. Mit dem alten, etwas zum Gassenhauer neigenden
Rhythmus Sieben-fünf und Fünf-sieben haben sie fast aufgeräumt und an
ihre Stelle wohlklingendere Verse von Sieben-vier und Sechs-fünf gesetzt.
Auch haben sie einen festen Strophenbau eingeführt. Ihre Strophe be-
steht aus zwei Stollen mit einer Zäsur dazwischen, der erste Stollen aus
acht, der zweite aus sechs Versen. Sie ist also offenbar eine Nachahmung
des europäischen Sonetts, natürlich ohne Reime. Inhaltlich ist die neuer-
dings von ihnen gezeigte Vorliebe für Stoffe aus der japanischen Mytho-
logie und ein mystisch - symbolischer Zug bemerkenswert. Dies hängt
damit zusammen, daß überhaupt im letzten Jahre (1905) vom französischen,
deutschen und englischen Symbolismus viel g-eredet und geschrieben und
dafür und dagegen gekämpft worden ist. Die Shintaishi -Dichtung steht
somit jetzt im Mittelpunkt des poetischen Interesses, obgleich auch das
altklassische Tanka von der Partei des O-uta-dokoro, des Gedichtsamtes
am kaiserlichen Hofe, wie vordem gepflegt wird. Die Majestäten selber
huldigen eifrig dem Tanka -Sport. Zahlreiche Autoren wetteifern mit-
einander, und der Markt wird mit Gedichtsammlungen überschwemmt.
Der Ausblick ist hoffnungsvoll. Eine gesunde Weiterentwicklung ver-
langt aber vor allem, daß sich die Dichter von dem vielfach unklaren
Gefühlsdusel und der beliebten Dämmerhaftigkeit der Vorstellungen los-
machen. Es ist auch ein Hang bemerkbar, im Gegensatz zu der Wort-
kargheit der früheren Dichtungen sich jetzt in ungemessene Breite zu
verlieren. Und noch eins: das modernste Shintaishi hat sich zu sehr zur
reinen Kunstdichtung entwickelt, die nur von wenigen Gebildeten ge-
nossen werden kann. Die Kluft zwischen Volk und Dichtung ist eher
weiter als enger geworden.
Zum großen Epos scheinen sich die japanischen Dichter noch nicht
aufschwingen zu können. Der schon genannte T. Inouye hat in seinem
jog KL\IU. Florenz: Die japanische Literatur.
chinesisch geschriebenen romantischen Epos „Weißaster", das von dem
Japanologen Ochiai Xaobumi in elegante altjapanische Verse übertragen
wurde, schon 1884 ein nachahmenswertes Beispiel gegeben; er hat sich
auch 1896 an die Schaifung eines großen japanischen Epos „Das Lied
vom Berge Hinu" gemacht, ist aber in den Anfängen stecken geblieben.
Nachfolger hat er bisher nicht g'efunden, doch könnten sich aus solchen
Arbeiten wie ^lizoguchi Hakuyös neuerdings veröffentlichter Versifizierung
von Kikuchi Yühös Roman „Eigene Schuld" neue Anfänge zum Versepos
ergeben.
Reform des Auch das japanische Drama und Theater ist an einem Wendepunkte
Dramas und . -^^ . , , , -p^ . . <-• i •
Theaters, semcr Entwicklung angelangt. Den ersten wichtigen Schritt taten der
Direktor Morita Kanya und der berühmte Schauspieler Danjürö dadurch,
daß sie sich bemühten, das anständige Publikum zu interessieren und
herbeizuziehen. 1888 spielte Danjürö sogar im Hause des Grafen Inouye
vor dem Kaiser und der Kaiserin-Witwe. Damit war der Bann der Ver-
achtung, welcher bisher auf dem Schauspielerstande geruht hatte, hinweg-
genommen. Die Truppen Danjürös, Kikugorös usw. führten im allgemeinen
noch die alten Stücke aus der Tokugawa-Zeit auf, nebst einigen neueren
von Fukuchi, Yoda und Mokuami, die aber im bisherigen Gleise liefen.
Man wurde des alten Dramas nach und nach mit Recht überdrüssig. Es
fehlte ihm an Einheit der Handlung, es war voll von romantischen Über-
spanntheiten und unmöglichen Vorgängen, ungenügend in der Charakteristik,
niedrig im Geschmack, oft obszön, bombastisch in der Sprache; im ganzen
nur auf gekünstelte Bühneneffekte gearbeitet, ohne Kunstwert. Diese
Mängel zu beseitigen, sind in den letzten 20 Jahren von Schriftstellern
und Schauspielern viele Versuche unternommen worden, und es läßt sich
gar nicht leugnen, daß man Fortschritte gemacht hat, wenn die Resultate
der Bemühungen auch noch sehr weit hinter den Erwartungen zurück-
geblieben sind. Die Reformen wurden meist mit hochtönenden Phrasen
verkündet, aber mit ganz unzureichenden Kräften ausgeführt. Unter den
von Schauspielern ausgehenden Bewegungen erregte die der Söshi-Schau-
spieler, einer Gruppe politisch unzufriedener Leute, welche sich auf der
Bühne auszutoben gedachten, unter Kawakamis Führung das meiste Auf-
sehen. Sie spielten Stoffe aus der Meiji-Revolution, dramatisierte Zeitungs-
romane und Bearbeitungen europäischer Novellen und Theaterstücke. 1893
ging Kawakami, nachdem er sich mit Frau Sada Yakko vermählt hatte,
zum erstenmal nach Frankreich. Der extreme Naturalismus, die geschmack-
lose Neuerungssucht, der unkünstlerische, tobende Dilettantismus dieser
Leute fand in Japan seinerzeit nur bei der ungebildeten Menge Beifall.
Daß man sie in Europa als typische Vertreter der japanischen Schauspiel-
kunst pries, war eine seltsame Verirrung. Zwar haben sie sich in den
letzten Jahren gemäßigt und vervollkommnet, aber die Schauspieler der
alten Schule werden hier trotz des schweren Verlustes durch den Tod
Danjürös und Kikugorös 1903 und Sadanjis 1904 noch immer höher ein-
V. Die neueste Zeit (seit 1868). 200
geschätzt. Den ersten allgemeineren Erfolg errangen die Söshi nach dem
chinesischen Kriege mit ihren Kriegsdramen, doch wirkte auch hier mehr
die gereizte patriotische Begeisterung zu ihren Gunsten.
Die modernen Dramen, welche in den letzten zehn Jahren über die
Bühne gingen, sind teils Bearbeitungen europäischer Stücke, wie Shake-
speares „Othello", „Hamlet", „Kaufmann von Venedig", Molieres „Geiziger",
Maeterlincks „Monna Vanna", teils Dramatisierungen europäischer und
neuester japanischer Romane, teils Originalstücke. Von dramatisierten
Romanen, welche mit Beifall aufgenommen wurden, seien hervorgehoben
Köyös „Dämon Gold", Tokutomi Rokwas „Hototogisu" und „der Kuroshiwo",
Kikuchi Yühös „Eigne Schuld" und „die Milchgeschwister", Tag^chi
Kikuteis „die Gräfin" und „Meoto-nami", Es sind gewöhnlich rührsame
Familienstücke mit moralisierender Tendenz im Ifflandschen und Birch-
pfeifferschen Genre. 1897 wurden zum erstenmal durch Iwaya Sasanami
für die Jugend Märchendramen, darunter der „Reineke Fuchs", auf die
Bühne gebracht.
Tsubouchi und Mori haben auch bei der Reform des Dramas ihre
starke Hand, sowohl in der Kritik als in eigenem dichterischen Schaffen,
gezeigt. Tsubouchi griif erst die Unzulänglichkeiten des alten Schau-
spiels an, dann schrieb er selber mehrere historische Dramen: „Maki no
Kata", als ersten Teil einer unvollendet gebliebenen Trilogie, worin er
die Intrigen der Höjö gegen die Minamoto- Familie behandelte, „Kiri
Hito-ha" und „Kojöraku-getsu", welche den tragischen Untergang des
Hauses Toyotomi zum Gegenstand haben. Es sind nicht gerade gewaltige,
erschütternde Tragödien, aber die Charakteristik einzelner Personen und
das geschichtliche Kolorit sind ihm gut gelungen und die Sprache ist
edel und anmutig. Wiederholt hat er sich an Shakespeare versucht. Den
„Julius Cäsar" hat er früher als Jöruri bearbeitet, später auch gediegenere
und sorgfältige Übersetzungen des „Macbeth" und „Hamlet" angestrebt. Mori
wies mit aller Entschiedenheit auf das europäische Drama als Vorbild
hin. Von seinen zahlreichen vortrefflichen Übersetzungen erwähnen wir
Lessings „Philotas" und „Emilia Galotti" und Calderons „Stadtrichter von
Zalamea". Sein Originaldrama in modernen Versen, das „Ninin Urashima"
(1892) hat zwar bei der Aufführung wegen seiner spärlichen äußeren
Handlung und der langen Dialoge und Monologe keine Anziehungskraft
bewiesen, ist aber sonst mit Recht als eine tüchtige Leistung anerkannt
worden. Wie dieses Drama folgt der üblichen europäischen Technik auch
das Schauspiel „Kokoro" von T. Kitazato, der während seines Studien-
aufenthalts in Deutschland schon mehrere beachtenswerte Stücke in deut-
scher Sprache veröffentlicht hat. Vergleicht man die modernen Werke
mit den älteren Kabuki, so ergibt sich in erster Linie die Absicht, durch
Entfernung der lyrisch-epischen Jöruri -Elemente zu einer reinen drama-
tischen Form zu gelangen. Die neueste Phase hat wieder Tsubouchi
durch seine 1905 erschienene Abhandlung über das „Musikdrama" ein-
iQO Karl Florenz: Die japanische Literatur.
geleitet, in der ihm die Schaffung- eines nationalen Dramas nach Analogie
der Richard Wagnerschen Musikdramen vorschwebt. Die Tanzpantomime,
also gerade das von Wagner verworfene Opernballett, soll darin eine
hervorragende Rolle spielen. Es scheint aber, daß Tsubouchi, der unsers
Wissens das Musikdrama aus eigener Anschauung nicht kennt, diesmal
durch rein theoretische Klügeleien auf Abwege geraten ist, und seine
Ausführungen ermangeln der wünschenswerten Klarheit. Als Muster der
von ihm gedachten neuen Gattung hat er zwei Stücke veröffentlicht, den
„Shinkyoku Urashima" (Nov. 1904), auf die bekannte altjapanische Rip
van Winkle -Sage gegründet, und „Kaguya-hime", die Mondfee, eine
satirisch angehauchte Dramatisierung des ältesten japanischen Märchen-
romans Taketori Monogatari (Nov. 1905).
Die reformatorischen Absichten erstrecken sich ferner auf die Neu-
bildung eines gebildeteren Schauspielerstandes und die Zulassung von
Frauen als Darstellerinnen der Frauen. In einigen Truppen ist die letztere
Forderung bereits verwirklicht worden. Schließlich denkt man auch
daran, dem Drama, dessen Bedeutung als poetisches Kunstwerk und
ästhetisches Erziehungsmittel des Volkes allmählich einleuchtet, weihe-
vollere Stätten als die jetzigen Theater zu bereiten, und spricht von der
Errichtung eines großen nationalen Schauspielhauses nach westlichem
Muster.
Literatur.
Als auf selbständigem Quellenstudium fußende Darstellungen der japanischen Literatur
sind bisher nur zu nennen:
W. G. Aston, A History of Japanese Literature (London, 1899). "
TOMITSU Okasaki, Geschichte der japanischen Nationalliteratur von den ältesten Zeiten
bis zur Gegenwart (Leipzig, 1899). (Eine ziemlich dürftige Zusammenstellung.)
K. Florenz, Geschichte der japanischen Literatur. Bis jetzt erschienen L Halbband
(Leipzig, 1905). (Band X der Literaturen des Ostens in Einzeldarstellungen.)
Die Kultur der Gegenwart. I. 7. 26
REGISTER.
\'on Dr. Richard Böhme.
Bei mehrfach angeführten Namen und Stichworten sind die Hauptstellen durch einen Stern bezeichnet.
'Abdullah bnu l-Muqafia'. 190.
Abgar, Labubnas Brief des. 286.
Abid ibn Sharja. 150.
Abraham. 69. 70.
Abu Bekr. 145.
Abu Firäs. 139.
Abu Hanifa. 148.
Abu Ibrahim Isma'il Dschurdschäni. 264.
Abu'1-AIä al-Maarri. 139.
Abu'l-Aswad ad-Doali. 154.
Abu'l Atähia. 138.
Abulfaradsch Gregorios. 113. *ii9.
Abul Fazl. 261.
Abul Ghäzi. 270.
Abu'l Hassan Ali. 263.
Abu Michnaf. 150.
Abu Nowäs. 138. 139. 155.
Abu Obaida. 155.
Abu 'Othmän Sa' id. 250.
Abu Sa'id ibn Abu'l Cheir. 262. 263.
Abu Schäkir. 126.
Abu Tammäm. 135.
Abu 'Ubaida. 243.
Achämeniden-Inschriften. 2i6ff.
Achläq-i Dscheläli, -i Muchsini, -i Nägiri. 261.
Achmed Pascha. 274.
Achsenäjä. 112.
Acht, Zauberer. 237.
al-Achtal. 138.
Ackerlieder. 13.
Adab-Literatur. '142. 237. 261.
Adhvaryu. 171.
Ädityäs. 165.
Adscharen. 300.
Agathangelos. 287.
Aggädä. 106.
Aghajan. 297.
Aghajanz, L. 297.
Agni. 165. 166,
Agnivesa. 186.
Ahia. 80.
Ahikar, Geschichte des weisen. log.
Ahmed ibn Hanbai. 148.
Ahnenkult, Chinesischer. 338.
Ainu. 360.
Akahito. *366. 368.
Akhyäna. 167.
Aktham ibn Saifi. 139.
Alarodier. 282.
Alexander der Große. 128.
Alexanderbuch Nizämis. 254.
Alexanderlegende, Syrische. 109.
Alexanderroman. 115. 287. 307.
Alexius, Geschichte des heiligen. 109
Algusiani. 306.
Alliteration. 11.
Alphabet, Armenisches. 285.
Amarasimha. 203.
Amaru. 204 f.
Amda Tsijön. 128.
Amenemhet I., Unterweisung des. 32.
Amenophis IV. 34.
Amharische Sprache. 125. 129.
Amiran, Ritterroman von. 304.
Amitäbha. 337.
Amon, Lieder auf. 34.
Amos. 1},. 78. 79. 80. 82. *88.
Amr ibn Kolthum. 136. 137.
Amschasfandnäme. 240.
Anaphora. 11.
Anargharäghava. 207.
Anastasi 1. Papyrus. 36.
Angiras. 173.
Äni. 274.
Anii, Unterweisung des. 36.
Anquetil Duperron. 231.
Antar, Ritterroman von. 155.
Antara. 137.
Anton, Katholikos. 308.
Antonios von Tagrit. 117.
Apabhrarnsa. 202.
Aphraates. 106. 286.
Apokalypse. 105.
Apokalyptik. 97.
Applaus. 9.
Register.
403
Äpri-Lieder. 165.
Aquila. 113.
Arabische Sprache. 132. 134.
Arai Hakuseki. 393.
Arakhel von Tauris. 294.
Arakida Moritake. 373.
Aramäische Sprache. 93. 94. *io3.
Äranyaka. 175. 176.
Ararat. 282.
Arbeit, Rhythmus der. 6.
— , Lied zur. 16. 58.
Arbeitslyrik. 7.
Ardashir. 223.
Ardeschir, Buch von. 238. 239.
Arlb. 152.
Arier. *i6if. 215.
— , Sprache der. 163.
Aristakes von Lastivert. 289.
Aristoteles, Syrische Übersetzungen des. 114.
240.
— , Armenische Übersetzungen des. 286.
Arjuna. 192.
Armenier. 282. 283.
Armenische Sprache. 283.
Arsenios. 306.
Artä Wiräf. 237.
Arthschil. 307.
Aryäs. 160.
AryäsaptasatT. 209.
Asadf. 249.
Ascaryaparvan. 195.
'Aschyq Pascha. 271.
al-A'sha. 135. 137.
Asma'i. 155.
Aioka. 164. 186.
Assemani, Joseph Simon. 123.
Assonanz. 11.
Astakam Päninlyam. 182.
Astrologische babylonische Literatur. 45.
Astronomie, Indische. 203.
Astronomische neubabylonische Inschriften. 47.
Asuraveda. 174.
Asurbanipal. 42. 44. 46.
Asvaghosa. 200.
Asvin. 165.
Atabeg Beka. 306.
Ätarpät. 224.
Athanasius. 286. ^
Atharvaveda. 164. 166. 169. 172.
Atman. 181.
Atsutane, Hirata. 393.
'Attär, Ferideddin. 246. *25i. 262. 263.
Aturfarnbag und Abälisch, Disputation zwi-
schen. 237.
Aturpät Märäspand. 237.
Audischö. 117.
'Aufl. 245.
Avadäna. 18S.
Avesta-Sprache. 170. *220.
— -Literatur. '223. 236.
— — , Sasanidenredaktion der. 224.
— — , Erklärung der. 231.
Avicenna. 243. 263. 264.
Ayurveda. 185.
'Azizi. 274.
az-Zohri. 147.
B.
Bäbä Tähir 'Urjän. 265.
Bäbers Wäqi'ät. 262. 270.
Babismus. 263.
Bachram Tschobin, Buch von. 239.
Badaräyana. 181.
Bagrat, Prinz, von Georgien. 309.
Bagratiden. 289.
Bahrije von Piri Reis. 277.
Baidawj. 243.
Baihaki. 142.
Bäjezid I. 272.
Bäjezid II. 273. 275.
Bakairi in Brasilien. 3.
Bakin, Kyokutei. *390. 392.
Bälabharata. 208.
Bälarämäyana. 208.
Bambusannalen, Chinesische. 333.
Bambussammler, Mär vom. 376.
Bäna. 180. 206.
Bäqi. 275.
Baradaeus, Jacob. 112.
Bar All. n8.
Barathaschwili, Nicolaus. 309.
Bar Bahlül. 118.
Bargaumä. 112.
Bardesanes. 105 f.
Barditus. 10.
119.
Barhebraeus. 11;
Barzöl. 190.
Basihus. 286.
Bauchtanz. 10.
Baum, Der assyrische. 239.
Becherwahrsagung. 46.
Bechräm V. Gor. 253. 288.
Behäristän Dschämis. 259.
Behistun, Inschrift von. 217.
Belädhori. 150. 151. 243.
Benfey, Theodor. 190.
Bengali. 164.
Berosus. 48.
Berufssänger und -dichter. 23 f.
Beschiktaschljan, Mkrtitsch. 297.
Beschwörungsformeln, Babylonische. 45
Beschwörungslied, Hebräisches. 63.
Bhagavadgitä. 195.
Bharata. 161. *I92.
Bhäratlyanätyasästra. 183.
Bhäravi. 205.
Bhartshari. 205. *207.
26*
404
Regdster.
Bhattaräräyana. 207.
Bhatti. 205.
BhavabhQti. 207.
Bhoja. 168. ♦208.
Bhrgu. 173. •184.
Biaina. 283.
Bibelübersetzung, Äthiopische. 124.
— , Armenische. 285.
— , S>Tische. 104. *ii3f.
Bileams Sprüche. 62. 81.
Bilhana. 208.
Bimyösai, Yaniada. 395. 396.
Biographie-Literatur, Arabische. 152.
— , Syrische. 1 10.
Biruni. 156.
Biwa-höshi. 382.
BUmt, Anne. 133.
Bodenstedt, Friedrich v. 250. 256. 266.
Bostan, Sä'dis. 253.
Brahman. 164. 173. 181.
Brähmana. 163. *I74. 177.
Brahmanaspati. 165.
Brahmanenleben. 175 f.
Brahmasütra. 181.
Brhaspati. 165. 173.
Brhatkathä. 189.
Brhatsamhitä. 204.
Brief, Mittelpersischer. 240.
Briefliteratur, Babylonisch-assyrische. 42.
— , Neupersische. 259.
Buch der Biene Salomos von Bagra. 118.
— der Geheimnisse des Himmels und der
Erde. 127.
— der Kriege Jahves. 60.
— des Redlichen. 60.
„— von Roger". 153.
— der Weisheit und Torheit. 308.
Buchäri. 243.
Buddha. 187. 188. 200.
Buddhacarita. 200.
Buddhismus. 181.
— in China. 337 f. 357.
— in Japan. 359.
Buddhisten, Erzählungsliteratur der. 187.
Bücher, Karl. 3. 6.
Bücherverbrennung, Schi-hoang-tis Edikt der.
331-
Bujiden. 247.
Bundehesch. 236.
Bundesbuch. 75. 76.
Bunködö. 387.
Burdeänä. 112.
Burzoe. 260.
Bushäq aus Schirdz. 257.
Bußlied der Zukunft in der israelitischen
Prophetie. 86.
Bußpsalmen, Babylonisch-assyrische. 46.
— , Israelitische. 65.
Buzurgmichr. 237. 260.
(^alich, Muhammed. 270.
CampQ. 199.
Cänakya. 205.
Candragupta IL 201.
Caraka. 186.
Caranavyüha. 171.
Caurisuratapancääikä. 208.
Causa causarum. 118.
Chag Hadschib, Jüsuf. 269.
Chajjam, Omar. *2 5o. 265.
Chalaf al ahmar. 155.
Chalder. 282. 283.
al-Chalil. 1 54.
Chammurabi. *42. 76.
Chandahsütra. *I78. 187.
Chäqani. 259.
Chatschatur Abowjan. 296.
— von Taron. 292.
Chewsuren. 301.
Chikafusa, Minamoto no. 382.
Chikamatsu Monzaemon. 383. *386.
China. 312.
Chinesische Sprache und Schrift. 313 ff.
— in Japan. 365.
— , Einfluß auf die japanische. 369 f.
Chiyo, Kaga no. 374.
Chodhäinäme. 238. 247.
Chokusenshö. 372.
Chömei, Kamo no. 378.
Choraimi. 137.
Chorgesang. 9.
Chosrau Anoscharwän. 114. 115. 190. 240.
260.
Chosrau, Emir. 254. 272.
Chosrau IL und Schirin. 253. 272.
Chosrow. 289.
Chronik, Bücher der. 96. 105.
— , Kleine edessenische. 104. iio.
Chrysostomos, Johannes. 286.
Chutbe. 260.
Chwatäinämak. 238. 239.
Comparetti, Domenico. 24.
Corroborri. 9. 10.
Cowell, Edward Byles. 200.
Cranz. 9. 19.
^üfismus. 251. 262. 271.
D.
Daigo. 371.
Damascius. 48.
Dänastuti. 166. 173.
Dandin. 206.
Daniel. 68.
Daniel, Buch. 97. 98.
Dänischnäme-i'Alaeddin.
Danjürö. 398.
Danklied, Israelitisches.
263.
88.
Register.
405
Dankopferlieder, Hebräische. 65. 88.
Daqiqi. 248.
Darius. 214. *2i6.
Darük-i chursandih. 238.
Daäakumäracarita. 206.
Däsäs. 161.
Dätistän-i denik. 236,
David. 71.
Davids Klage über Sauls und Jonathans Fall.
59-
— „letzte Worte". 61.
David, Prinz von Georgien. 309.
David III. der Erneuerer. 302. *303.
David der Unbesiegte. 288.
Däwani. 261.
Debistan-i medhahib. 263.
Deboralied. 54. 60.
Dekalog. 75.
Denkart. 224. 236.
Deußen, Paul. 176.
Deuterojesaias. 79. *88.
Deuteronomium. 95. 96.
DevuTiähätmya. 196.
Dhammapada. 188.
Dhanvantari. 203.
Dharma^ästra. 177. *i84.
Dharmasütra. 177. *i84.
Dhävaka. 207.
Dialog über das Fatum. 105.
Diatessaron Tatians. 105.
Dichkän Danischwar. 238.
Dichterinnen, Japanische. 376 f.
— , Neupersische. 257.
— , Türkische. 274.
Dichtung, Überlieferung der. 23.
— , Arabische religiöse. 136.
— , Didaktische ägyptische. 32.
— , Erzählende ägyptische. 30.
— , Neupersische. 243 ff.
Digambaräs. 189.
Dmawari. 243.
Dinazäd. 143.
Dinkart. 224. 236.
Dio Chrysostomos. 195. 228.
Dionys von Telmahre. 117.
Dionys'os Thrax. 287.
Divan. 245.
Djähiz. 143.
Djarir. 135. 138.
Doctrina Addaei. 108.
Doi Bansui. 397.
Domenethi. 306.
Drama, sein Ursprung. 20.
— , Chinesisches. 351 ff.
— , Japanisches. 383. 385 f. 398.
— , Indisches. 168 f. 184. *202. 206.
— , Persisches 257 ff.
— , Türkisches. 279.
Dramaturgie, Indische. 183.
*256.
59. 263. 273.
277.
Draviden. 160.
Dsaturjan. 297.
Dschämi. 246. 254
Dschem. 273.
Dschemschcd. 260.
Dschihännüma Hadschi Chalfas
Dschuweini. 261.
Duauf, Unterweisung des. 32.
Durjan, Petros. 297.
E.
Ebedjesu. 117. 120.
Edessa. 103. 104. 108.
Edrisi. 153.
'Edscha'ib clmachluqät. 262.
Eigwa Monogatari. 381.
Einheiten, Literarische, in der israelitischen
Literatur. 53.
— , — , in den Büchern der israelitischen
Propheten. 82.
Einzelgesang. 9.
Elia. 69. 71. 80. 81.
Elias von Nisibis. 118. 120.
Elihureden. 93.
Elisa. 80. 81.
EHsaeus. 288.
Elohist. 72.
Engi-Ära. 371. 375.
Enwär-i Suhaili des Wä'iz Käschifi. 259.
Enweri. 255.
Enzyklopädieen, Chinesische. 348.
— , Neupersische. 263.
Ephraim von Nisibis. *io6. iio. 286.
Epigramm, Japanisches, yj^^ f.
Epiphora. 11.
Epos, Ursprünge des. 22.
— , Stil des. 24.
— , Bedingungen für seine Blüte. 25.
— , Ägyptisches. 35.
— , Babylonisch-assyrisches. 47.
— , Indisches. 167 f. 191.
— , Japanisches. 380. 397.
— , Persisches. 249 f.
— , Türkisches. 274.
Epu, Prophezeiungen des weisen. 31.
Eristhawi, Georg. 309.
— , Rafael. 310.
Erotik. 14. 15.
— , Indische. 184.
Erzählungen der Taten und Schicksale der
israelitischen Propheten. 83.
ErzählungsUteratur, Chinesische. 353 ff.
— , -Georgische. 304. 306.
— , Indische. 187.
— , Israelitische. 65.
— , Japanische. 371. 376 f. 389 f.
— , Neupersische. 259.
Eschatologie, Israelitische. 68. 77.
4o6
Register.
E^chatologie , Ähnlichkeit der christlichen
und persischen. 231.
Esel, Der heilige dreibeinige. 236.
Eskimos. 9. 10. 18.
Esnik von Kolb. 288.
Esra. 96.
Esra, Das 4. Buch. 125.
Essay in der chinesischen Literatur. 345.
Esüiersage. 69. 97. 143.
Eudoxos. 283.
Eusebios, Kirchengeschichte des, syrische
Übersetzung. 114.
— — , aiTnenische Übersetzung. 286.
Euth>TTiios. 302.
Evangelien. 105.
Evangelium Jesu. 94.
Ewlija. 277.
Ezechiel. 68. i^. 79- 81. 82. 84. *88.
Fabel, Indische. 190.
— , Israelitische. 73.
— , Mittelpersische. 239.
Fachreddin. 255.
Fachreddin Räzi. 263.
Fa-hien. 339.
Fan Yeh. 334.
Farazdak. 138. 140.
Farhang-i pahlawik. 240.
al-Farrä. 155.
Faustus von Byzanz. 287.
Feizi. 257. 275.
Feng-schen-yen-i. 355.
Feng-schui. 321.
Feredsch ba'd esch-schidde. 276.
Ferghäni. 152.
Ferhäd, Baumeister. 253.
Ferzendnäme. 263.
Fetch 'Ali Achundzäde. 278.
Fetha Nagast. 126.
Fettähi. 259. 277.
Firdausi. 229. 239. 244. *248. 255. 260.
Firdewsis Buch von Salomo. 275.
Form der ägyptischen Poesie. 29.
Frauen in der japanischen Literatur. 376 f.
— in der neupersischen Literatur. 257.
— in der türkischen Literatur. 274.
Frauendichtung. 15.
Freytag, Gustav. 12.
Fuh-hi. 320.
Fujiwara-Famihe. 367. 371. 381.
Fukuchi. 398.
Fuzüli. 274.
G.
Gabaschwili, Katharina. 310.
Gabriel, Bischof von Imerethien. 309.
Galenos. 114.
Gäthä. 166.
Gäthädialekt. 163. 221.
Gäthas des Avesta. 224. 225. *230.
Gattungen der israelitischen Literatur. 5 2 ff.
Gebet. 12.
Gebete, Babylonisch-assyrische. 46.
Gedichte, Profane, private, in der israelitischen
Literatur. 5 8 f.
— , Politische, — . 60 f.
Geez-Sprache. 124. 129.
Gembun-itchi. 395. 396.
Gempei-Seisuiki. 381.
,, Genealogie der Adligen" des Belädhori.
ISO-
Genji Monogatari. *377. 392.
Geographie-Literatur, Arabische. 153.
— , Neupersische. 262.
— , Türkische. 277.
Georg V., der Glanzvolle. 305. 306.
Georg Bischof der Araber. 117.
Georg vom heiligen Berge. 302.
Georg Wardä. 117.
Georgier. 299.
Gerlr s. Djarlr.
Gesang. 9.
Geschichte, Heilige, Israels. 96.
Geschichte des beredten Bauern. 31.
Geschichtserzählung, Israelitische. 53. T}).
Geschichtsliteratur der Abessinier. 128.
— , der Araber. 149.
— , Armenische. 287. 289. 293.
— , Chinesische. 332. 347.
— , Georgische. 306.
— , Japanische. 361. 381.
— , Neupersische. 261.
— , Syrische. 117.
— , Türkische. 277.
Geschichtsschreibung, Israelitische. 96.
— Prophetische israelitische. 87.
Gesetze, Babylonische. 43.
Gespräche eines Lebensmüden mit seiner
Seele. 31.
Gharibname des 'Aschyq Pascha. 271.
Ghatakarpara. 203.
i Ghazäli, Muhammed. *i56. 243. 263.
Ghazel. 245. 256.
Gidayü Takemoto. 386. *387.
Gltagovinda. 209.
Gleichnisse der Aramäer. 108.
Goethe, Johann Wolfgang. 2. 6. 11. 22. 256.
266.
,, Göttermetamorphosen". 355.
Goldziher, Ignaz. 134.
Gotama. 181.
Gottesknecht. 85.
Govardhana. 209.
Grammatik, Arabische. 154.
— , Indische. 177. 182.
— , Syrische. 116. 118.
Register.
407
Granthika. 168.
Gregor III. 291. 292.
Gregor IV. das Kind. 291. 292.
Gregor Magistros. 290.
Gregor von Narek. 290.
Gregor von Nazianz. 114. 286.
Gregor von Nyssa. 286.
Gregor der Presbyter. 294.
Gregor von Tathew. 294.
GrhyasQtra. 177.
Grimm, Jakob. 6. 22.
Grosse, Ernst. 3.
Grotefend, Georg Friedrich. 220.
Growse. 198.
Gudea, Geierstele v^on. 42.
— , Kultinschriften. 45.
Guido von Arezzo. 187.
Gujarätl. 164.
Gulistan Sä'dis. 253. *259.
Gunädhya. 189.
Gupta. 160. 167. 180. *2oo.
Guramischwili, David. 308.
Gurier. 300.
H.
Haddjädj. 154.
hadith. 147. 148.
Hadschi Chalfa. 277.
Hänzäle. 243.
Häfiz. 244. 251. *256. 258. 273. 274. 277.
Haikai. 373 ff.
Haila Mikäel. 129.
Hakkenden des Bakin. 391.
Hakuseki, Arai. 393.
al-Hamadhäni. 144.
Hamann, Johann Georg. 2.
Hamäsa. 141.
Hamdalläh Mustaufi. 262.
Hamdi. 274.
Hammer- Purgstall, Joseph Frhr. von. 266.
272. 274.
Hammurabi s. Chammurabi. *42. 76.
Han-Dynastie. 322. *33i. 334. 339.
Han Fei-tsze. 329.
Han Yü. 346 f.
Hana-Momiji 397.
Hao-k'iu-tschuan. 354.
Hariri. 144.
al-Härith ibn HiUiza. 137.
Harivamsa. 195.
Harränier. 121.
Harsacarita. 206.
Harun ar-Rashid. 139. 143. 155.
Harun ibn Sahl. 143.
Hasan al-Basri. 147.
Hassan Chan, Muhammed. 262.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 195.
Heian oder Kyoto, japanische Hauptstadt. 372.
Heider's, Muhammed, Tärich-i Reschidi. 262.
Heiji-Monogatari. 381.
Heike-Monogatari. 381.
Heiligenleben, Syrische. 1 10.
Hemacandra. 210.
Henjö. 371.
Henoch, Buch. 125.
Herakleides von Pontos. 214.
Herakleios. 289.
Heraklius II. 308.
Herder, Johann (Gottfried, i. 2. 3. 266.
Herodot. 214. 219. 227. 283. 301.
Hetärenwesen bei den Ariern. 162.
Hethum von Korikos. 293.
Hexaemeron. 116.
Hieh-k'oh. 344.
Hieroglyphen. 28.
Hierotheos des Stephan. 113.
Hindi. 164.
HindüstänI. 164.
Hiob. 52. 56. 78. 90. *9i.
Hippokrates. 114.
Hira-ganaSchrift. 376.
Hiraga Gennai. 388.
Hiroyuki, Katö. 394.
Hitomaro. *366. 368.
Hitopadesa. 190.
Hiü Shen. 349.
Hiza-Kurige des Jippensha Ikku. 391.
Hoai-nan-tsze. 329.
Hochschulen, Arabische. 156.
Hochzeitslied, Israelitisches. 59.
Höllenfahrt der Ischtar. 47. 67.
Hohelied, Das. 58. 97.
Hofdichtung, Neupersische. 255.
Högen-Monogatari. 381.
Höj5-ki. 378.
Hokku. 373.
Homer. 19. 24.
Homerübersetzung, Syrische, des Theophilos.
IIS-
Hopkins. 200.
Horigoshi Saiyo. 388.
Hosains Tod. 142.
Hoscheng. 260.
Hosea. 79. *88.
al-Hotai'a. 138.
Hotar. 164.
Howanesjan. 297.
Hüan-tsang. 206. 339. 355.
Hüan-tsung-ti. 351.
Hüwedä. 278.
Humboldt, Wilhelm von. 195.
Hung-Iou-men. 355.
Hurüfi-Lehre. 272.
Hymnarium, Armenisches. 291.
Hymnen, Ägyptische. 30.
— , Babylonisch-assyrische. 45. 46.
— , Hebräische. 56. 64. 89.
— , Syrische gnostische. 105.
4o8
Register.
Hymnen, \'edische. 164 ff.
H>-mnus. 12. 13.
— , Teil Amama-. 34.
Ibn Abbäs. 148.
Ibn .Abdalhakam. 142.
Ibn Abdrabbihi. 142.
Ibn al-Athir. 152.
Ibn al-Motazz. 140.
Ibn al-Mukaffa. 153.
Ibn .\mid. 128.
Ibn Assäl. 126.
Ibn Batota. 153.
Ibn Chaldün. 157.
Ibn Djobair. 153.
Ibn Guzman. 141.
Ibn Habib. 142.
Ibn Ishäk. 150.
Ibn Kotaiba. *i42. 243.
Ibn Machmüd aus Amul, Muhammed. 264.
Ibn Okba. 150.
Ibn Rosteh. 153.
Ibn Sa'd. 151.
Ibn Sinä. 243. 263.
Ibrahim Beg. 264.
Ignatius. 292.
Ignatius von Antiochien 286.
Ikku, Jippensha. 391. 392.
I-Ii. 322.
Ilias. 19. 24.
'Imad addm. 144.
Imerier. 300.
Improvisation. 8. 15.
Imrulkais. 137. 140.
Individualismus in der israelitischen Literatur.
78.
Indra. 161. 162. *i65.
Ingiloier. 301.
Inouye, F. 396. 397.
Inschriften, Historische babylonisch-assyrische.
42.
Interjektionen. 8.
Iranier. 214. 216.
Isaac von Antiochia. 107.
Isaak. 70.
Isahakjan. 297.
Ischödäd. 118.
'Ischremäme Rewanis. 274.
Ise Monogatari. 376.
Islam. III. 113. 134. 138. 140. 145.
Isma'il Haqql. 277.
Isma'il ibn Muhammed Isfahäni. 259.
isnäd. 147.
Ispahäni. 152.
Israel, Verhältnis von, zu Kanaan. 55.
Isvarakrsna. 181.
Iteratio. 10.
Itihäsa. 167.
Itihäsapurana. 168.
Itihäsavcda. 174.
I-tsing. 205. 339.
Izumi Shikibu. 380.
Izumo Takeda. 387.
Jachja. 275.
Jachjä Qazwini. 262.
Jackson, A. V. William. 220.
Jacob von Edessa. 116.
Jacob von Sarüg. 107.
Jacobi, Hermann. 198. 200.
Jacobitcn. 112. 118.
Jagannätha. 210.
Jahballähä. 120.
Jahve.
60. 68. 70.
Jahvist.
72.
Jaimini.
181.
Jaina.
180. 181. *i89.
Jakob.
69. 70. 81.
Jakobs
Gesicht. 56.
Jakubi.
151.
Japan.
312. 360.
Jaqut.
153. 262.
Jätaka.
188. 198. 203.
Jatimat
ud-dahr. 243.
Jayadeva. 209.
Jayäditya. 183.
Jean Paul. 8.
Jehovisl
.. 95.
Jekunö
Amlak. 125.
Jeremia
. 79. 80. 81. 82. 87.
Jesaja.
68. 79. 80. 81. 82. *
Jesus b
en Sira. 97. 105.
Jetaka,
Fujiwara no. ;i7;i.
^88. 89. 90.
Jidai-mono. 386.
Jinno Shötöki. 382.
Jishö, Ando. 390.
Jlvaka Komärabhacca. 186.
Jo. 363. 364.
Jögwan-Ära. 371.
Johann VI., Katholikos. 289.
Johann von Nikiu. 128.
Johannes der Diakon. 292.
Johannes von Ephesus. iiof.
Johannes von Ersnka. 292.
Johannes Mandakuni. 288.
Johannes von Mangli. 306.
Johannes von Odsni. 289.
Johannes, Prinz, von Georgien.
Jonaserzählung. 56. 69. y;^. 97.
Jones, Sir William. 266.
Jöruri. 383. 386. 388.
Joscht Frijän. 237.
Josepherzählung. 71.
Josia. 77. 79. 94.
309.
Register.
409
Josua Stylites. 117.
— — , Der sog. 1 10.
Jovian. 106. 109.
Jubellied in der israelitischen Prophetie. 86.
Jubiläen, Buch der. 125.
Judith. 97.
Julianusroman. log.
Julien, Stanislas. 33g. 355.
Jungperser. 264.
Jungtiirken. 277.
Jünus Emre. 271.
Jüsuf und Zuleicha. *249. 253. 254. 274.
Jyotisa. 179. 203.
K.
Ka^'b, Sohn des Zohair. 135.
Käbuki. 384. *385. 388.
Kadambarl. 206.
Kadesch, Gedicht auf die Schlacht bei. 35.
Kaibara Ekken. 393.
Kaion, Ki no. 387.
Kalewala. 24.
Kalhana. 209.
Kälidäsa. 170. 179. 200. *2oi.
Kalrlag we Damnag. 115. I2i. *i9o. 246. 260.
Kamakura-Zeit. 372. 380.
Kamäleddin. 265.
Kämasütra des Vätsyäyana. 184.
Kamo Mabuchi. 393.
Kampflied. 16.
Kana-dehon Chüshingura. 387.
Kanai Sanshö. 388.
K'anghi. 348.
K''ang-hi-tsze-tien. 350.
Kanya Morita. 398.
Kao Pu-hai. 326.
Kapila. 181.
Kappadoker, Die drei großen. 286.
Karbeg, Alexander. 310.
Karna. 194.
Karpüramanjari. 208.
Karyü. yj^.
Käsava-See. 221. 229.
Kasida. 136. 245.
Käsikä des Vämana und Jayäditya. 183. 207.
Kasten der Arier. 163.
Kata-kana-Schrift. 376.
Kata-uta. 362.
Käthaka. 173.
Kathäsaritsägara. 189.
Kätyäyana. 183.
Kaumudi. 182.
Kaviräja. 199.
Kävya. 196.
Kävyädaria. 206.
Kawakami. 398.
Kayanierdynastie. 221. 229.
Kebra Nagast. 128.
Kehrreim. 8. g.
Keilinschriften der Achämeniden. 2 16 ff.
Keilschrift, Persische. 217.
Kellogg. 198.
Kemälpaschazäde. 277.
Kenkö. 373.
Kenkö-höshi. 379.
Kenyogen. 363. 364.
Keschf el-mahdschüb. 263.
Kettengedicht, Japanisches. 373.
Ketzer, Behandlung der, nach dem Vendidäd.
228.
Khartweli. 299.
Khorda Avesta. 225. 226.
Kiah I. 336.
K'ien-Iung. 345.
Kikuchi Yuhö. 398.
Kikugorö III. 38g. 3g8.
Kimijä-ji sa' ädet. 263.
King, Die fünf. 318.
Kin-ku-k'i-kuan. 356.
Kin P'ing Mei. 355.
K'in-ting ku-kin t'u-schu tsih-tsch'eng. 34g.
K'in ting ta Ts'ing hoei-tien schihlih. 34g.
Kintö, Fujiwara no. 372.
Kirätärjunlya. 205.
Kisäi. *I55. 242.
Kiseki, Ejima. 3go.
Kisen. 371.
Kitazato, T. 3gg.
K'iüh Yüan. 335 f.
Klagegesang, ig.
Klagelied, Hebräisches. 64. 65. 86. 88. *8g.
,, Klassenbuch" des Ibn Sa'd. 151.
KIdiaschwili, David. 310.
Königslied, Israelitisches. 58. *6i.
Kohelet. go. g7.
Kojiki. 361. 362.
Kojima. 382.
Kokinshu. 372.
Kolarier. 160.
Komachi, Ono no. 371.
Komait. 137.
Kommentare, Türkische, zu persischen Wer-
ken. 277.
Konfucius, Konfucianismus. *3i7. 31g. 322.
323. 324. 325. 326. 327. 330. 331. 338. 357.
Konjaku Monogatari. 370.
„Kopfkissen-Hefte". 377.
Koran. log. 136. 140. *I44.
— , Exegese des. 148. 247. 25g. 262.
Koreaner. 312. 360.
Koriun, Bischof in Georgien. 287.
Kosmogonieen. 5. 13.
Kossäs. 141
Köyö, Ozaki. 3g5.
Kremer, A. von. 138. 13g.
Kriegslied. 16.
— , Israelitisches. 60.
4IO
Register.
Krsna. 193. 194. 195.
Krsna Dvaipäyana. 191.
Krsnami^ra. 209.
Ksatriya. 163.
Ksemendra Vyäsadäsa. 1S9. 20S.
Kuan Yü. 354.
Kudatku Bilik. 269.
K'u-hi. 353.
Kujundschik, Asurbanipals Bibliothek
44.
Kükai. 369.
Kultusdekalog. 75.
Kultusdichtung, Israelitische. 63.
Kultussagen, Israelitische. 70.
Kumarajiva. 339.
Kumärasarnbhava. 20 1 .
K'ung Ngan-kuoh. 331.
KuntäpasOkta. 174.
Kuoh-\-ü. 332.
Kuronushi. 371.
Kuru. 192.
Kwaifüsö. 367.
Kyakuhon. 388.
Kyöden, Santo. 390.
Kyöka und Kyöku. 375.
K>Tiakos von Gandsak. 294.
K\Tillos von Jerusalem. 286.
K\TOS. 214. 216. 238.
Kj^ükin, Susukida. 397.
Labid. 137. 140.
Labubna. 286.
Laksmanasena. 209.
Lällbalä. 125.
Lämi i. 274.
Lao-tsze. 324. *326. 329. 2>2,7-
Lasen. 301.
Lassen, Christian. 199.
Lazar von Pharpi. 285. ^287.
„Leben Georgiens, Das." 307.
Legenden in der israelitischen Literatur.
— , Äthiopische. 127.
— , S^-rische. 108. 118.
LeichenHed, Israelitisches. 59. 86.
Leilä und Medschnün. 253. 254. 307.
Lenadialekt. 164.
Leontius. 289.
Ler}', de. i.
Lessing, Gotthold Ephraim, i.
Lewä'ih Dschimls. 263.
Lexikographie, Chinesische. 349.
— , Mittelpersische. 240.
— , Syrische. 118.
Liao-tschai-tschi-i. 356.
Liebeslieder, Äg^'ptische. 36.
— , Israelitische. 58.
Liebesromanze, Persische. 253 f.
Lieder in der Literatur Israels. 52. 58.
— , Gottesdienstliche, — . 62.
— , Philosophische, des Rgveda. 169.
— , Religiöse und auf den König, in der
äg^'ptischen Literatur. 34 f.
— , — , Hebräische des Einzelnen. 64.
— , \'olkstümliche, in der neupersischen Lite-
ratur. 258.
zu. Lieder-Turniere, Japanische. 371.
Lieh-tsze 328.
I Lik Atkü. 129.
I Li-ki. *32i. 324.
Li-sao, Elegie. 335 f.
Li T'ai-poh. 343 f.
Literatur, Anfänge der. i ff.
Ägyptische. 28 ff.
— medizinische und Zauber-, t,;^.
Äthiopische. 124 ff.
Altpersische 2i4ff.
Arabische. 132!?.
Aramäische. 103 ff.
Armenische. 282 ff.
Babylonisch-assyrische. 40 ff.
Chinesische. 312 ff.
Demotische. 37.
Georgische. 299.
Indische. 160 ff.
Israelitische. 5 1 ff.
— , Fremder Einfluß auf die. 55f.
— , Charakteristisches der. 57.
Mittelpersische. 235 ff.
Neupersische. 242 ff.
Syrische. 103 ff.
Türkische. 269 ff.
Literatursprache, Chinesische. 350. 356.
Indische. 163.
Japanische. 370. 395.
Neuostarmenische. 296.
Liturgie, Armenische. 286.
— in der israelitischen Prophetie. 86.
Liu Ngan s. Hoai-nan-tsze. 329.
Liu Tsung-yüan. 347.
97. Li Yen-nien. 336.
24.
354-
^10.
Lönnrot, Elias. 23.
Lo Kuan-tschung.
Lomauri, Nikolaus.
und individueller.
Lorinser. 195.
Lucian. 19. 114.
Lun-yü. 323.
Luqmän. 260.
Lyrik. 2.
— , Gattungen chorischer
12.
— , Ägyptische. 30. 36.
— , Chinesische, der Han-Zeit. 336.
— — , unter der T'ang-Dynastie. 340.
— , Indische. 204 f.
— , Israehtische. 58 f.
— , — prophetische. 86.
Register.
411
Lyrik, Israelitische religiöse. 62.
— , Japanische. 362. 366 f. *37i. 396.
— , Türkische. 271.
M.
Machmüd von Ghazna. 245. ■*247. 261.
Madäini. 151.
Märchen. 23.
— . Äg)^ptische. 30. *33. *t,j.
— , Indische. i8g.
— , Israelitische. jT)-
— , Japanische. 383.
Märchendramen, Japanische. 399.
Märtyrerakten, Syrische, iio.
Mäthnävvis. 240. 244. 245. 252. 272.
Mägha. 205.
Mahäbhärata. 162. 167. 168. 170. 171. 180.
184. *i9i. 198. 200. 202.
Mahäbhäsya. 169.
Mahäbhäsya des Patanjali. 183.
Mahäkävya. 197. ^199. 201. 205.
Mahäncätaka. 168.
Mahäparinibbänasutta. 188.
Mahävira. 1 89.
Mahäviracarita. 207.
Makämen. 144.
Makura-Kotoba. 363.
Makura no Söshi. 377.
Malachia, Kanones des Katholikos. 306.
Malachia der Mönch. 294.
Mälatimädhava. 207.
Mälavikägnimitra. 201.
Mälik. 148.
Mallinätha. 210.
Mänaväs. 185.
Mandäer. 122.
Mäni. 122.
,, Manieren", Dschelalische, Muchsinische,
Nagirische. 261.
Mann Gottes. 109.
Mansen, Bärenkultus der. 21.
al-Mansür. 135.
Manu, Gesetzbuch des. 171. *i84.
Manyöshü. 362. ^368. 372.
Märä bar Sarapion, Brief des. 104.
Maräthü. 164.
Märkandeyapuräna. 196.
Maroni ten. 123.
Märüthä. iio.
Masüdi. 152. 248.
Matsumoto Köshirö. 388.
Matsuo Basho. 374.
Matsyapuräna. 202.
Matthaeus von Edessa. 293.
Ma Tuan-lin. 348.
Mavias Sieg, Lieder auf. 135.
Mayüra. 206.
Mchithar von Sebaste. 295. 308.
Mchithar Gösch, Rechtsbuch des. 293.
Mchitharisten. 295.
Mechdi Chan, Mirza Muhammed. 261. 265.
Meddächs. 279.
Medizin, Indische. 185.
— , Neupersische. 264.
Medizinische Literatur der Ägypter. 2,2,.
— — der Babylonier. 45.
Meghadüta. 201. *203.
Mehmed I. 272.
Mehmed II. 273.
Meiji-Ära. 393.
Mei Scheng. 336.
Melchiten. iii.
Melito von Sardes. 105.
Memoirenliteratur, Neupersische. 262.
Meng-tsze. 318. *324. 330.
Menschenliebe im Konfuzianismus. 326.
Meschreb, Volksbuch von. 278.
Mesihi. 274.
Mesrop. 285. 287.
Metrik, Indische. 178. 183.
— , Japanische. 362.
— , Türkische. 271.
Mewlid-i nebi Sülemän's. 272.
Micha ben Jimla. 80.
Michael, jakobitischer Patriarch. 117. 119. 286.
Michizane, Sugawara no. 369.
Mjchris. 274.
Midchat, Achmed. 279.
Mifune, Omi no. 367.
Mizoguchi Hakuyö. 398.
Miklosich, Franz von. 24.
Mikoto-nori. 365.
Militärdramen, Chinesische. 353.
Mimärnsä des Jaimini. 181.
Mimus, Indischer. 184.
Minamoto. 371. 380.
Ming-Dynastie. 352.
Mingrelier. 301.
Ming-ti. 338.
Minochired. 236.
Mir 'Ali Scher. 270. 273.
Mirät el-buldän des Muhammed Hassan Chan.
262.
Mtrchwänd. 261.
Mirzä ^äib. 276.
Mispat. 75.
Mission, Katholische, in Georgien. 306.
Mitäksarä des Vijnänesvara. 184.
Mithra. 229.
Mitsune, Oshiköchi no. 372.
Miyoshi Shöraku. 387.
Mo'allakät. 137.
Moäwia. 150. 289.
Moderne, Die türkische. 277.
al-Mofaddhal. 139.
Mohammed. 109. 134. 135. 140. 144. 145.
146. 150. 153.
412
Reffister.
Moh Ti. 325. 326.
Mokuanii. 389. 39S.
Mokaddasi. 1 53.
Mongolenherrschaft in China. 352.
Monogatari. 371. '376.
Monologe der israelitischen Propheten. 83. 86.
Monophysiten, Monophysitismus. in f. 121.
Monotheismus. 79.
— des Judentums. 94.
Montaigne, Michel, i. 17.
Mori Ögai. 396. 399.
Moses. 55. 71. 75. 81. 95.
— von Choni. 304.
— von Chorene. 286. *287. 289. 294.
— von Kalankatu. 289.
— von Mardm. 123.
Motammim. 140.
Motoori Norinaga. 393.
Mrcchakatikä. 206.
Mthiuler. 300.
Mudräräksasa. 207.
Mühibbi. 275.
Müllenhoff, Karl. 2. 25.
Müller, David Heinrich. 136. 146.
— , Max. 170. 180.
Miiräd II. 272. 277.
Munäzürä. 249.
Mundäs. 160.
Munenaga. 273-
Munja. 208.
Murari. 207.
Murasaki Shikibu. 377. 380.
Muromachi-Periode. 379.
Musikwissenschaft, Indische. 187.
Mutaqärib-Metrum. 247.
Mystik, Neupersische. 263.
Mythen, Babylonisch-assyrische. 47.
Mythus in der iraelitischen Literatur. 66 f.
N.
Näbi. 276.
an-Näbigha. 137.
Nagireddin, Schah. 261.
— aus Tüs. 261. 264.
Nägir-i Chosrau. 262.
Nadir Schah. 261. 270.
Nänie. 18.
Nägänanda. 207.
Naga-uta. 362. 367. 371.
Naisadhacarita. 205.
Nala und DamayantT. 193.
Nalbhandjan, Michael. 296.
Namiki Gohei. 389.
Namiki SenryO. 387.
Nanrei, Toda. 390.
Naobumi, Ochiai. 398.
Naoe, Kinoshita. 395.
Naqsh i Rustam. 218.
Nara, japanische Hauptstadt. 366.
Narämsin. 42.
Närä^amsi. 166. 167. 174.
Näräyana. 190.
Narihira. 371. 376.
Narse. 112.
Nasarjan, Stephan. 296.
Nasks des Avedatextes. 223. *224.
Nathanparabel. 73.
Naturlaute. 8.
Naturmensch, sein \'erhältnis zu den Natur-
erscheinungen, Tieren, Pflanzen. 5.
Ne9ihet el mulük. 263.
Nedschäti. 274.
Nedschmeddin Däjes. 262.
Nefä'is el funün. 264.
Nefehät el-uns Dschämis. 263.
Nefl'. 275.
Nehemia. 96.
Neidhart von Reuenthal. 10.
Neocorus. 10.
Nerses von Lambron. 292.
— Schnorhali. 291. 292.
Nesch'et. 276.
Nesimi. 272.
Nestorianer, Nestorianismus. iii. 116. 118.
Neukonfuzianismus. *347. 392.
Newäji. 273.
Nezame Monogatari. 377.
Nezlm. 279.
Ngou Yang-siu. 347.
Nihongi. 361. 362. 380.
Nijäzi. 276.
Nikki. 371. 379.
Nilus Eremita. 134.
Ninive, Literatur aus. 43.
Nirangistan. 236.
Nirukta. 178.
Nirväna. 337.
Nitisataka. 205.
Niyantha Näyaputta. 189.
Nizäm el-Mulk. 260.
Nizämi. 253. 254. 272.
Noah. 71.
Nöldeke, Theodor. 137. 239.
No-Kyögen. 375. '384.
Nomokanon das Barhebraeus. 119.
Norito. 364. 366.
Noschirwän. 114. 115. 190. 237. 240. 260.
Nö-Spiele, Japanische. 384 f.
Novelle, Chinesische. 356.
— , Israelitische. 54. 71.
— , Japanische. 389. 394.
Nuzhet el-qulüb. 262.
Nyäya des Gotama. 181.
o.
Obaidallah ibn al-Horr. 140.
Ochikubo Monogatari. 377.
Register.
413
Offenbarung Johannis. 97.
— durch das Wort bei den israelitischen Pro-
pheten. 84.
Ökagami. 381.
Okura. *36-/. 368.
Olearius' Übersetzung des Gulistän. 253.
_ 266.
Omachi. 397.
Omar ibn abi Rabi'a. 138.
Omentexte, Babylonische. 44.
Onna ji. 376.
Opfer in Indien. 174 f. 177.
Opferfeier. 12.
Orakel der israelitischen Propheten. 80. 81.
*83. 85.
Orbeliani, Gregor und Wachtang. 309.
Ormazd. 224. 228. 230.
Oschnar. 237.
Osmanen. 269.
'Othman ibn Achmed. 245.
Otogi-zöshi. 383.
P.
Padapätha. 178.
pah-kua. 320.
Pälawis. 258.
Pali. 163. 187. 222.
Pandu. 192.
Pänini. 163. 169. 179. 180. *i82. 205.
Pan Ku. 334.
Pan Piao. 334.
Pantomime. 20.
Pan Tschao. 334.
Pantschatantra. 115. 143. 180. *i9o.
Pan Tsieh-yü. 336.
Pao Tschao. 340.
Papageienbuch. 276.
Papier , seine Erfindung durch die Ägypter.
28.
Papierfabrikation, Arabische. 154.
Papyrus Anastasi 1. 36.
Paradhätas. 229.
Parallelismus in der Poesie. 11.
— membrorum in der ägyptischen Poesie.
29-
— — in der babylonischen religiösen Poesie.
46.
— — in der israelitischen Poesie. 53.
— — in der chinesischen Lyrik. 343.
Pariksit. 169. 174. 193.
Patanjali. 183.
Patkanjan, Rafael. 296.
Paulos, Syrische Logik des. 114.
Paulus von Telia. 113.
Päzewäri, Emir. 258.
Pechlewi. 235. 238.
Pei-wen-yün-fu. 350.
Pentateuch. 94. 95.
Perser. 214 235. 242. 270.
Perserkrieges, Syrische Geschichte des. 110.
Peschltä. 105.
Petavatthu. 188.
Phantasie. 5.
Pharao, Lieder auf den. 35.
Pharisäismus. 94.
Philippos , Verfasser des Dialogs über das
Fatum. 105.
Philologie, Arabische. 153 ff.
Philosophie, Chinesische. 347.
— Indische. 181.
Philoxenos von Mabbog. 112. 113.
Pingala. 178. 179.
P'ing Shan Ling Yen. 355.
P'i-p'a-ki. 352.
Piri Reis. 277.
Pi^äcaveda. 174.
Platen, August Graf von. 266.
Plutarch. 114.
Poesie s. Dichtung.
— im israelitischen Prophetentum. 83.
Poh Kiü-i. 344.
Prabodhacandrodaya. 209.
Prakrit. 163. 180.
Prasasti. 167.
Präti^äkhya. 178.
,, Prediger". 90. 97.
Predigten, Neupersische. 260.
Priesterkodex. 94. 95. 96.
Propheten, Israelitische. 68. *78.
— , — , ihre Herrschaft. 94.
— , — , nachexilische. 97.
Prophetenbuch des Ezechiel. 82.
Prosa, Ägyptische. 37.
— im israelitischen Prophetentum. 83.
— , Japanische archaische. 364 f.
— , — , vor der Engi-Ära. 376 f.
— in der türkischen Literatur. 276.
Prosadichtung, Anfänge der. 22.
Proschjanz, P. 297.
Proverbien, 90. 97.
Psalmen, Hebräische. 52. 56. 62. 78. 87.
*88. 97.
Pschawen. 301.
Pseudonym in der neupersischen Literatur.
246.
Ptahhotp. 32.
Puppenspiel, Indisches. 184.
—, Japanisches. 383. 386.
— , Türkisches. 279.
Puräna. 167. 168. 180. 184. *I95.
Puränaveda. 174.
P'u Sung-hng. 356.
Qäbusnäme. 260.
Qa^ide s. Kasida.
Qadscharen. 270.
Q.
276.
414
Register.
Qaragöz. 279.
Qäri, Machmüd. 257.
Qäzi Burhäneddin. 271.
Qazwint. 261.
Qit'ä. 245.
R.
Rabbülä von Edessa. 105.
Rätsel. 12.
— , Mittelpersische. 237.
— Salomos. 60.
Rafti. 296.
Räghib Pascha. 276.
Raghuvamsa. 20 1 .
Räja^ekhara. 208.
Räjatarangini. 173. 209.
Rakushu. 375.
Ramal. 247.
Rämäyana. 170. *i96. 200. 202.
Ramses III. 35.
Rasikaschwili, Lukas, Nikolaus und Theodor.
310.
Rassudaniani. 306.
Ratnävali. 207.
Rävanavadha. 205.
räwi. 141.
Rawlinson, Sir Henry. 217. 220.
Razi. 243. 263.
Rbhu. 165.
Rcas. 172.
Rebäbname von Sultan Weled. 271.
Recht, Indisches. 184.
— , Mittelpersisches. 240.
Rechtsbuch Wachtangs VI. 306.
Rechtshteratur, Georgische. 306.
Rechtsschulen, Arabische. 148.
Reden, Scheit- und Mahn-, der Propheten. 87.
Redjez. 136.
Refi'i. 272.
Refrain. 8. 9. *ii.
Reichsannalen, Chinesische. 335.
Reigen. 10. 14.
Reim. 11.
Reinheitsgesetz des Avesta. 227.
Reiseberichte buddhistischer Pilger. 339.
— , Japanische. 379.
Rehgion, Verhältnis der Urpoesie zur. 12.
Renga. 373.
Reschid Tebib. 261.
Rewäni. 274.
Rhetorik, Indische. 183.
— in der neupersischen Literatur. 260.
Rhythmus. 6.
— , Akzentuierender, der hebräischen Metrik.
53.
Rgv'eda. 161. 162. *i64. 187.
Ringelreihen. 15.
Rink, Hinrich Johannes. 3.
Rittergeschichten, Japanische. 381,
Ritual der großen Reinigung. 365
Ritualtexte, Babylonisch-assyrische.
Riwäjats. 240.
Rizaquli Chan. 257.
Rohan, Koda. 395.
Rokkasen. 371. 372.
Rokwa, Tokutomi. 395.
Roman, Chinesischer. 353 ff.
— , Indischer. 206.
— , Japanischer. 377. 389.
— , Mittelpersischer historischer. 238
Rousseau, Jean Jacques, i.
Rubä'i. 245. 250. 258.
Rubeniden. 290.
Rüdaki. 246 f.
Rückert, Friedrich. 8
266.
Ruhmlied. 17.
Rümi, Dscheläleddin.
Ruth. 97.
46.
144. 193. 209. 249.
'251. 271. 277.
s.
Sabier. 121.
Sacharia. 68. 84.
Sada-ie, Fujiwara no. 373.
Sadanji. 398.
Sada Yakko. 398.
Sad dar. 240.
Sa'dt. *252. 257. 258. 259.
Sage in der israelitischen Literatur. 69 fif.
— — , Niederschrift der. 72.
Sagen, Israelitische. 56.
Sagoromo Monogatari. 377.
Sahak der Große. 285. 286.
Saif ibn Omar. 151.
Saigyö-höshi. 373.
Saikwaku, Ihara. '"389. 392. 395.
Sajath-Nova. 293.
Sakuntalä. 179. 201. *202.
Sakurada Jisuke. 388.
Salomo. 71.
Salomos ,, Weisheit". 59. 90.
Salomo von Bagra. 118.
Samaniden. 246.
Sämaveda. 170.
Samba, Shikitei. 392.
Sarnhitä. 164.
Sarnhitäpätha. 177.
Sarnkara. 181.
Sämkhya des Kapila. 181.
Sämkhyakärikä des Isvarakrsna. 181.
Sammlungen in der israelitischen Literatur.
54-
Samuel. 71.
Samuel von Ani. 294.
Sä^idilya. 175.
Sanemoto, Minamoto no. 373.
San-kuoh-tschi-yen-i. 353. 354.
Sanskrit. 163. 180.
Register.
415
Sapor. 106. 109. HO.
Sarasin, Fritz und Paul. 3.
Sargis. 293.
Sargis von Thmogwi. 304.
Sargon I. 45.
Sarpaveda. 174.
Sassanami, Iwaya. 399.
Sataka-Lyrik. 204.
Satapathabrähmana. 175.
Satire. 19.
— , Japanische. 375.
Saul. 7 1 .
Savitar. 165.
Sävitri. 193.
Säyana. 210.
Schachbuch, Das mittelpersische. 239.
Schack, Adolf Graf von. 249. 250. 254. 266.
Schähi, Emir. 275.
Schahname. 239. *248. 255. 260.
„Schahnamemacher". 273.
Schäjast na-schajast. 236.
„Schatzhaus der Geheimnisse" Nizämis. 254.
Schatzhöhle. 109.
Schauspiel s. Drama.
Schebäni, Buch von. 270.
Schebistan-i chajäl Fettähis. 259.
Schechi. 272.
Schehirengiz Mesihis. 274.
Scheibäni. 256.
Scherefeddin. 261.
Schewket. 276.
Schiefner, Franz Anton von. 25.
Schi-hoang-ti. 330. 331.
Schikand-gumänik widschär. 236.
Schi-ki. 327. *332.
Schi-king. *3i8. 335. 340.
Schiller, Friedrich. 7. 18.
Schi Nai-ngan. 354.
Schinäsi, Ibrahim. 278.
Schlegel, Friedrich von. 2.
— , Wilhelm von. 2. 25.
Schopenhauer, Arthur. 176.
Schotha von Rusthawi. 304.
Schrift, Ägyptische. 28.
— , Keil-. 41.
Schriftgelehrsamkeit, Israelitische. 94. 95,
Schriftsprache, Moderne arabische. 157.
— .s. auch Literatursprache.
Schu, Die vier. 323.
Schui-hu-tschuan. 354.
Schu-king. *3i9. 334.
Schulliteratur, Ägyptische. 36.
Schuoh-wen. 349.
Schwerttanz. 10.
Seba', Lied des. 60.
Sebeos. 289.
Sedoka. 362.
Sefernäme des Nägir-i Chosrau. 262.
Sefine. 245.
Segen Jakobs und Segen Mosis. 62.
Sei Shönagon. y]"]. 378.
Seistan am Hilmend. 221.
Sejjid All Ekbcr. 277.
Selim I. 245. 257. 273.
Semmyö. 365.
SenryQ. 375.
Ser'ata mangest. 129.
Sergios von Resch Ainä. 115.
Severus von Mär Mattai. 119.
Sewa-mono. 386.
Shäfin. 148.
Shamisen 383.
Shäpur I. und II. 224.
Shehrazäd. 143.
Sheng-yü. 348.
Shimazaki Töson. 397.
Shin-Kokinshü. 372.
Shintaishi. 396. 397.
Shintoismus. 369.
Shöko. 397.
Shoku Nihongi. 365.
Shötoku-taishi. 365.
Shunsui, Tamenaga. 392.
Sibawaih. *I54. 242.
Siddhänta. 189. 204.
Sidney, Philipp, i.
Sieben Schläfer. 108.
Siegeslied, Israelitisches. 59. *6i.
Sijäsetnäme. 261.
Si-kiün. 336.
äiksä. *I78. 187.
Silbenschrift, Japanische. 376.
Simeon, Geschichte des heiligen, iio.
Simeon von Beth Arschäm. 112.
Sirnhäsanadvätrimsikä. 190.
Simson. 62. 71.
Sindbad-Buch. 121. 143. 246.
Sing-li. 347.
Singtanz. 20.
Sintfiutbericht. 44. 56.
Sinuhe, Leben des. 31.
Sirat Antar. 142.
Si-siang-ki. 351. 352.
Sisupälavadha. 205.
Siün K'oang. 326. 329. 330.
Siva. 196.
Si-yu-ki. 355.
Skizzenbücher, Japanische. 377 f.
Sloka. 183.
Smärtasütra. 177.
Smbat der Kronfeldherr. 292. 293.
Smbat Schah-Asis. 296.
Smrti. 177. 184.
Sega Monogatari. 382.
Sögi. 373.
Soliman I. 273.
Soliman II., der Große. 275.
Soma. 162. 165. 168.
4i6
Register.
Somadeva. 189. 208.
Somanätha. 187.
Söshi-Schauspielcr. 39S. 399.
Sozomenos. 135.
Spieltrieb. 7.
Spottlied, Israelitisches. 58. *6i. 86.
Sprache des unzivilisierten Volks. 4.
Sprenger, Aloys. 133.
Spruchdichtung, Israelitische. 90. 97.
Sprüche der israelitischen Propheten. 82.
Srautasütra. 177.
Sriharsa. 205.
ärlharsa Ölläditya. 206.
Srhgärasataka. 205.
Ssaba-Ssulchan Orbeliani. 307.
Ssundukjanz, Gabriel. 297.
„Stadterreger". 274.
Stegreiflied. 8.
Steinen, Karl von den. 3.
Stephan der Orbelier. 294.
Stephan, Sohn ^üdaile's. 112.
Stephan von Taron. 289.
Stem-Veilchen-Schule. 397.
Stiefkind-Geschichten, Japanische. 377.
Subandhu. 206.
Sudäs. 161.
Südi. 277.
Südraka. 206.
Sühngesänge. 12.
Sülemän. 272.
Sülemännäme Firdewsis. 275.
Suiko. 365.
Sukasaptati. 191.
Öulbasütra. 177.
Sumerer. 40.
Sundarakända. 200.
Sung-Dynastie. 347.
Sun Yü. 336.
Suren des Korans. 145. 146.
Surüri. 277.
Süsenjös. 128.
Susruta. 1 86.
Sütra. 177.
— der zweiundvierzig Sätze. 339.
Suttanipäta. 188.
Suttapitaka. 188.
Su Tung-p'o. 347.
Svetämbaräs. 189.
Swanen. 301.
Synaxarion. 128.
Syrische Sprache. 104.
Sze-ma Kuang. 347.
Sze-ma Siang-ju. 336.
Sze-ma Ts'ien. 327. *332. 347. 381.
Sze-schu. 323.
Tabari. 148. 151. *i52. 243. 247.
,,Tage der Araber". 141.
Tagebuchliteratur, Klassische japanische. 379.
Tagebücher der Könige Israels und Judas.
73-
135- 136.
348.
376.
569. 371. 373. 397.
25-
143. 260.
Tachmäsp. 262.
Taghlib.
Ta-hioh. 324.
Taiheiki. 382.
T'ai-p'ing-yü-lan.
Taira. 371. 380.
Takejima. 397.
Taketori Monogatari.
Takt. 8.
Tanehiko, Ryütci. 392.
T'ang-Dichtung. 366.
— -Dynastie. 339. 369.
T'ang-schi. 340. 341.
Tanka. 362. 366. 367.
Tanvasar. 224.
Tanz. 10. 12. 14. 20.
Taoismus. 327. 337.
Tao-teh-king. '327. 328.
T'ao Yüan-ming. 345.
Tarafa. 137.
Targüme. 104.
Tärikh-i sejjäh Ewlijäs. 277.
Tataren, Heldensagen der minussischen.
Tatians Diatessaron. 105.
Tausend und eine Nacht.
Tedhkiret el-aulijä. 263.
Teika. 373.
Tekkan, Yasano. 397.
Teil Amamä-Hymnus.
— — , Keilschriftbriefe
Tempelchroniken. 74.
Tenarai Kagami. 387.
Tenji. 365.
Testament, Altes. 51 f. 66 f. 95. 98. 105.
113-
— , Einfluß der ägyptischen Literatur auf das
Alte. 38.
— , Verwandtschaft von Erzählungsstoffen des
Alten, mit nicht direkt beeinflussenden
Literaturen. 56.
— , Neues. 105.
Tha'älibi. 242. 261.
Thäbit. 273.
Thäbit ibn Kurra. 121.
Thamar. 302. *303.
Theater s. Drama.
Theimuras I. 307.
— , Prinz, von Georgien. 309.
Theodoros von Mopsuhestia. 114.
Theologie, Äthiopische. 126.
— , Armenische. 289. 294.
— , Georgische. 302.
— , Neupersische. 262.
— , Syrische. 1 11. 1 18.
Theophilos, Syrische Homerübersetzung des.
115.
34-
zu.
43- 55-
Register.
417
Thomas der Artsrunier. 289.
— von Harkel. 1 14.
— von Marga. 1 18.
— von Medsoph. 294.
Thomas-Akten. 105. 108.
Thsagareli, Eugen. 310.
Thschachruchadse, Gregor. 303.
Thumanjan. 297.
Thutmosis III. 34. 35. yj.
Tibetaner. 312.
186.
Tierheilkunde, Indische.
Tierpoesic. 14.
Tiglatpilesar II. 283.
Tigräi und Tigre. 130.
Timotheos, Patriarch. 113.
Timur. 272. 305.
Timurs, Emir, Tuzukat und Melfüzät. 262.
Titos von Bostra. 114.
Tobias. 97.
Tobit-ßuch. 109.
Tokugavvazeit. 375.
Ton-a. 373.
Tora. 74. *g5.
— , Prophetische. 87.
Tosa Nikki. 379.
Toshinari, Fujiwara no. 372.
Toshiyori, Minamoto no. 372.
Totemismus. 5.
Totenkult. 5.
Totenlied. 18.
— , Israelitisches. 59. 86.
Totentexte, Ägyptische, ij^.
Toyama. 396.
Tradition, Mohammedanische. 146.
— des Rgveda. 169.
Träume der israelitischen Propheten. 84.
Traum. 5.
Trinklieder, Israelitische. 58. 86.
Tripitaka. 187.
Ts'ao Süeh-ki. 355.
Tschagataisch. 269. 278.
Tschang Tsai. 348.
Tschan-kuoh-ts'eh. ■}>'})'})■
Tschawtschawadse, Alexander. 30g.
— , Elias. 309.
Tsch'eng I. 348.
Tsch'eng Hao. 348.
Tschou-Dynastie. 317. 324. 330.
Tschou-kuan. 322.
Tschou-li. 322.
Tschou-tsze. 347 f.
Tsch'u, Elegieen von. 336.
Tschu Hi. 347. 348.
Tschuang-tsze. 328.
Tschuh-min-ki. 333.
Tschung-yung. 324.
Tsch'un-ts'iu. 322. 332.
Tserenz. 296.
Tseretheli, Akaki. 310
Die Kultur der Gegenwart. I. 7.
Tseretheli, Georg. 310.
Tso K'iu-ming. 322. 332.
Tso-tschuan. 322. 332. 334.
Tsubouchi Yüzö. 394. 399.
Tsurayuki, Ki no. *372. 37g.
Tsurezure-gusa. 379.
Tsuruya Namboku. 389.
Tsuuchi Jihei. 388.
Tsze-ngan. 344.
Tsze-sze. 324.
Tsze-tschi-t'ung-kien. 347.
Türken. 270.
Tu Fu. 344.
Tu Muh. 347.
Tulsl Das. 198.
Turanier. 214.
Tuschen. 301.
u.
üdayana. 170.
Udgätar. 164. 171.
Übersetzungen, Äthiopische, aus dem Ara-
bischen. 126.
— , Armenische, aus dem Syrischen und aus
dem Griechischen. 286.
— , Chinesische , buddhistischer Schriften.
339-
— , Japanische, aus europäischen Sprachen.
394- 396. 399-
— , Mittelpersische. 240.
— neupersischer Literatur in europäische
Sprachen. 265.
— , Syrische, aus dem Arabischen. 121.
— _ — ^ aus dem Griechischen. 113. 120.
— _ — _ aus dem Persischen. 115.
Uhland, Ludwig. 20. 25.
Ulugh Beg. 264.
Umgangssprache, Moderne arabische. 157.
— , Chinesische. 351. 357.
— , Japanische. 370. 395.
UnterhaltungsHteratur, Arabische. 141.
— , Chinesische. 353 ff.
— , Indische. 206.
— , Japanische. 377. 389.
Unterweisung, Briefliche, in der ägyptischen
Literatur. 36.
Upanisad. *I76. 232.
Urartu, Das Reich. 282.
Urformen der Poesie. lof.
Urmusik. 8 f.
Urpoesie, Chorische. 7.
— — , Verhältnis zur Religion. 12.
'Urfi. 257. 275.
Urvasi s. Vikramorvasi.
Uta, Japanische. 361. 380.
Uta-awase. 371.
'Utbi. 243. 261.
Utsubo Monogatari. 377.
Uttararämacarita. 207.
27
4i8
Register.
A'ätersagen, Israelitische. 6g.
Vägbhata. i86.
A'airägAasataka. 205.
Vaisesika des Kanada. 181.
A'älakhilya. 169.
Valle, Pietro della. 266.
Välmiki. 196. 197. 198. 200.
Vämadeva. 165.
Vämana. 183.
X'araruci. 183. 204.
\'aruna. 165.
V'asantasenä. 2c6.
\'äsavadattä. 206.
\asistha. 165.
Vatsyäyana. 1 84.
\ ä\aipuräna. 196.
\'edänga. 178.
Vedänta des Bädaräyana. 181.
\'eden. 164 ff.
Vedisch. 163.
A'endidäd. 225. *226.
Venlsarnhära. 207.
\'erkündigungen der Zukunft im israelitischen
Prophetentum. 85.
Versbau, Chinesischer. 340.
Vertragsurkunden, Babylonische. 43.
Vetälapancavirnsatikä. 190.
Veziere, Die vierzig. 260.
Vidüsaka. 207.
Vierzeiler, Chinesische. 341. 343.
\"ijnänesvara. 184.
\'ikramähkadevacarita. 208.
Vikramonasl. 201. 202.
Villemarque. 10.
Visäkhadatta. 207.
Vishtäspa. 221. 223. 231.
Visionen der israelitischen Propheten. 83.
*84.
Visnu. 165. 196. 197.
Purana. 196.
Visnusarman. 190.
A'lspered. 225.
Visvamitra. 165. 166. 197.
Visve Deväs. 165.
,, Vögelgespräche". 262.
Volkslieder, Ägyptische. 30.
— , Arabische. 141.
Volksliteratur, Armenische. 290. 292.
— , Japanische. 383. 385 f.
— , Persische. 258.
— , Türkische. 278.
Volkspoesie. i.
Volkssprache in der ägyptischen Literatur.
34- 36. 37-
Volkssprachen in Indien. 163. 164.
Vologeses. 223.
Voltaire, Francjois Marie Arouet de. 2.
\'ratyabuch.
Vyäsa. 191.
174.
W.
Wa^(;af. 261.
Wachtang VI. 306. 307. 308.
Wächterlied in der israelitischen Prophetie.
86.
Wahrsagebücher, Babylonisch-assyrische. 46.
Waise, Die, aus dem Hause Tschao. 352.
Wä'iz Käschifi. 259. 261. 262.
Wakidi 151.
Walda Hcjwat. 127.
Wallfahrtslied, Hebräisches. 64.
— in der israelitischen Prophetie. 86.
Wamiq und Azra. 253.
Wang Hitschi. 345.
Wang Schi-tscheng. 355.
Wang Tsch'ung. 330.
Wardä, Georg. 117.
W^ardan der Große. 294.
W^aschuschti, Prinz. 308.
Watschandis. 11. 14.
Wechselgesang in den Psalmen. 89.
Weddas auf Ceylon. 3. 4. 9.
Weisheit Salomos. 59. 90.
Weisheitsdichtung, Israelitische. 90.
Weled, Sultan. 271.
Wellhausen, Julius. 96.
Weltchroniken, Äthiopische. 128.
— , Syrische. 117.
W^eltliteratur. 2.
Wendidäd. 236.
— s. auch Vendrdad.
Wen-hien-t'ung-k'ao. 348.
Wen-süan. 366. 367.
Wen-ti. 336.
Wen-wanh. 320.
Wephchistkaossani. 304.
Wessobrunner Gebet. 13.
W^ettstreitgedicht, Persisches. 249.
— , Türkisches. 274.
Wis und Ramin. 255. 304.
Worttöne der chinesischen Sprache. 314. 341.
Wramschapuh. 285.
Wu-li-t'ung-k'ao. 322.
Wu-ti. 336. 340.
X.
Xenophon. 283.
Xerxes. 219.
Y.
Yajnagäthä. 166.
Yäjnavalkya. 175. *i85.
— , Gesetzbuch des. 171.
YajQrnsi. 172.
Yajurveda. 171.
184.
Register.
4rg
Yakamochi. 367. 368.
Yama. 165. 187.
Yamasaki Sokan. 373.
Yamato Monogatari. 376.
Yang Fang. 340. 342.
Yang Hiung. 330.
Yang Tschou. 325. 326.
Yao, Kanon des. 320.
Yashts des Avesta. 224. 225.
Yäska. 178. 180.
Yasna. 225. 226.
Yasuhide. 371.
Yatabe. 396.
Yedo. 390. •
Yih-king. *32o. 323. 347.
Yima. 226. 229.
Yoda. 398.
Yoga des Pataiijali. 181.
Yoshitsune. 382. 383.
Yüan-Tsze-ts'ai. 344 f.
Yühkiao-li. 355.
Yükichi, Fukuzawa. 394.
Yümei, Kambara. 397.
Yung-loh. 349.
Yung-tscheng. 348.
^228.
27. 229. 231. 235.
Zacharias von Mytilene. iii.
Zakarija Qazwini. 262.
Zamachshari. 148. 243.
Zand. 222.
Zar'a Jakob, König. 128.
Zar'a Ja'qob. 127.
Zarathushtra. *22o. 223
Zarätuschtnäme. 240.
Zarerbuch. 238. 239.
Zartuscht Bachram. 240.
Zauberei. 12.
Zauberhteratur, Ägyptische.
Zauberromane, Chinesische.
Zehngebote. 75.
Zehnkönigsschlacht, Indische. 161. 166.
Zeichen der israehtischcn Propheten. 81.
Zenabs Lebensbeschreibung des Königs Theo-
doros. 130.
Zeneb. 274.
Zivilschauspiele, Chinesische. 353.
Zohair. 137.
Zoroaster s. Zarathushtra.
Zuihtsu. 378.
33-
355-
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Druck von B. G. Teubner, Leipzig
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