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Full text of "Die orientalischen literaturen : mit einleitung: Die anfänge der literatur und die literatur der primitiven völker"

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DIE  ORIENTALISCHEN 
LITERATUREN 

VON 

E.  SCHMIDT -A.  ERMAN  ■  C.  BEZOLD 

H.  GUNKEL-  TH.  NÖLDEKE-M.J.  DE  GOEJE 
R.  PISCHEL'K.  GELDNER' P.  HÖRN 

F.  N.  FINCK- W.  GRUBE- K.  FLORENZ 


DIE  KULTUR  DER 


GEGENWART  I.   7. 


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DIE  KULTUR  DER  GEGENWART 


IHRE  ENTWICKLUNG  UND  IHRE  ZIELE 


HERAUSGEGEBEN    VON 


PAUL  HINNEBERG 


DIE  KULTUR  DER  GEGENWART 
TEIL  I  ABTEILUNG  VII 


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DIE   ORIENTALISCHEN 


tu 

LITERATUREN 

MIT   EINLEITUNG 

DIE  ANFÄNGE  DER  LITERATUR 
UND   DIE  LITERATUR  DER  PRIMITIVEN  VÖLKER 


VON 


ERICH  SCHMIDT  •   A.  ERMAN  •   C.  BEZOLD  •  H.  GUNKEL 

TH.  NÖLDEKE  •  M.  J.  DE  GOEJE  •  R.  PISCHEL  •  K.  GELDNER 

P.  HÖRN  .  F.  N.  FINCK  ■  W.  GRUBE  •  K.  FLORENZ 


1906 

BERLIN  UND  LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER 


PJ 

Dt/ 


loi 


PUBLISHED  AUGUST  31,  1906 
PRIVILEGE    OF   COPYRIGHT    IN   THE    UNITED    STATES 
RESERVED  UNDER  THE  ACT  APPROVED  MARCH  3,  1905, 

BY  B.  G.  TEUBNER  LEIPZIG. 


ALLE  RECHTE. 
INSCHLIESSLICH  DES  ÜBERSETZÜNGSRECHTS,  VORBEHALTEN 


INHALTSVERZEICHNIS. 


EINLEITUNG. 


Seite 


DIE  ANFÄNGE  DER   LITERATUR  UND  DIE 

LITERATUR  DER  PRIMITIVEN  VÖLKER  .  .  .  1-27 

Von  ERICH  SCHMIDT. 

Einleitung i — 3 

I.  Kulturanfänge.     Poetische  Triebe 3 — 5 

II.  Rhythmus 6—7 

III.  Chorische  Urpoesie 7 — 10 

IV.  Urformen 10— 11 

V.  Gattungen  chorischer  und  individueller  Lyrik 12 — 20 

VI.  Ausblick  auf  das  Drama 20—22 

VII.  Ausblick  auf  das  Epos 22—26 

Literatur 27 


I.  DIE  ÄGYPTISCHE  LITERATUR.  .  .  .  28-39 

Von  ADOLF  ERMAN. 

Einleitung 28—29 

I.  Die  Literatur  der  älteren  Zeit 29 — 33 

II.  Die  Literatur  des  neuen  Reiches 33 — 37 

III.  Die  späteste  Literatur 1)1 — 3^ 

IV.  Einfluß  der  ägyptischen  Literatur 3^ 

Literatur 39 


VI  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

IL    DIE  WESTASIATISCHEN  LITERATUREN. 

A.  DIE  SEMITISCHEN  LITERATUREN     .  .     40-159 

I.  DIE  BABYLONISCH-x\SSYRISCHE  LITERATUR.   .   .   .  40-50 

Von  CARL  BEZOLD. 

Einleitung 40 — 41 

I.  Die  ältere  babylonisch -assyrische  Literatur  (2200  bis  650  v.Chr.).    .    .  41 — 43 

II.  Die  Literatur  aus  Ninive  (um  650  v.  Chr.) 43 — 47 

III.  Die  neubabylonische  Literatur 47 — 48 

Schlußbetrachtung 48 

Literatur 49 — 50 


2 


IL  DIE  ISRAELITISCHE  LITERATUR 51-10 

Von  HERMANN  GUNKEL. 

Einleitung 51 — 54 

I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller 

(bis  ca.  750  V.  Chr.) 54 — 76 

II.  Die  großen  Schriftstellerpersönlichkeiten  (ca.  750  bis  540  v.  Chr.).    .    .  76 — 93 

III.  Die  Epigonen 93 — 98 

Literatur 99—102 

in.  DIE  ARAMÄISCHE  LITERATUR 103-123 

Von  THEODOR  NÖLDEKE. 
Einleitung 103 

A.  Syrische  Literatur 103 — 121 

I.  Bis  zur  arabischen  Zeit 103 — 115 

II.  Die  arabische  Zeit 115  — 121 

B.  Literatur  der  Harranier 121 

C.  Christlich -palästinensische  Literatur 121 

D.  Literatur  babylonischer  Sekten 122 

E.  Neusyrische  Literatur 122 

Literatur 123 

IV.  DIE  ÄTHIOPISCHE  LITERATUR 124-131 

Von  THEODOR  NÖLDEKE. 
Einleitung 124 

A.  Geez- Literatur 124 — 129 

I.  Erste  Periode 124 — 125 

II.  Zweite  Periode 125 — 129 

B.  Dialekt- Literatur 129—130 

Literatur 131 


Inhaltsverzeichnis.  VII 

Seite 

V.  DIE  ARABISCHE  LITERATUR 132-159 

Von  MICHAEL  JAN  de  GOEJE. 

Einleitung 132 — 133 

A.  Die  Blütezeit   (bis  zum   1 1 .  Jahrhundert) 134 — 156 

I.  Die  Poesie 134 — 141 

II.  Die  Unterhaltungsliteratur 141  — 144 

III.  Der  Koran  und  die  Traditionsliteratur 144 — 14g 

IV.  Die  Geschichte  und  Geographie 149 — 153 

V.  Die  Philologie 153 — 155 

VI.  Die  übrigen  Wissenschaften 155 — 156 

B.  Die  Periode  des  Verfalls  (vom  i  i.  Jahrhundert 

bis  zur  Gegenwart) 156 — 158 

I.  Bis  zum  19.  Jahrhundert 156 — 157 

II.  Das  19.  Jahrhundert 157 — 158 

Literatur 159 


B.  DIE  INDO-IRANISCHEN  LITERATUREN  .  160-268 

L  DIE  INDISCHE  LITERATUR 160-213 

Von  RICHARD  PISCHEL. 

Einleitung 160 — 164 

A.  Die  vedische  Literatur  (ca.  1500  bis  500  v.Chr.)  .    .    ,  164 — 179 
I.  Die  Veden 164 — 174 

II.  Die  Erläuterungsschriften  zu  den  Veden 174 — 179 

B,  Die  nichtvedische  Literatur  (ca.  500  v.  Chr. 

bis  zur  Gegenwart) 179—210 

I.  Die  Literatur    der    vorklassischen    Zeit    und  ihre  Ausläufer   (bis    etwa 

300  n.  Chr.) 179 — 200 

II.  Die  Literatur  der  klassischen  Zeit  (etwa  320  bis  800  n.  Chr.)     ....  200—207 

III.  Die  Literatur  der  nachklassischen  Zeit  (nach  800  n.  Chr.) 207 — 210 

Literatur 211 — 213 

IL  DIE  ALTPERSISCHE  LITERATUR 214-234 

Von  KARL  GELDNER. 

Einleitung 214 — 216 

I.  Die  Keilinschriften  der  Achämeniden 216 — 220 

IL  Die  Avesta- Literatur 220 — 232 

Literatur 233 — 234 


Vni  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

m.  DIE  MITTELPERSISCHE  LITERATUR 235-241 

Von  PAUL  HÖRN. 

Einleitung 235 — 236 

I.  Die  geistliche  Literatur 236 — 238 

IL  Die  weltliche  Literatur 238 — 240 

Literatur 241 

IV.  DIE  NEUPERSISCHE  LITERATUR 242-268 

Von  PAUL  HÖRN. 

Einleitung 242 — 243 

1.  Die  Anfänge  der  neupersischen  Literatur 243 — 248 

II.  Die  großen  Namen  der  neupersischen  Dichtkunst 248  —  256 

III.  Die  Epigonen 256 — 257 

IV.  Das  Theater 257  —  258 

V.  Die  Volksliteratur 258 — 259 

VI.  Die  Prosa 259 — 264 

Schlußbetrachtung 264 — 266 

Literatur 267 — 268 


C.  DIE  TÜRKISCHE  LITERATUR   ....  269-281 

Von  PAUL  HÖRN. 

Einleitung 269 — 271 

I.  Die  ältere  türkische  Literatur 271 — 277 

II.  Die  türkische  Moderne 277 — 278 

III.  Die  Volksliteratur 278 — 279 

Literatur 280  —  281 


D.  DIE  ARMENISCHE  LITERATUR.  .  .  .  282-298 

Von  FRANZ  NICOLAUS  FINCK. 

Einleitung 282 — 284 

I.  Charakter  der  armenischen  Literatur  im  allgemeinen 284 — 285 

II.  Das  goldene  Zeitalter  (5.  Jahrhundert) 285—288 

III.  Die  Zeit  des  Niederganges  (6.  bis  1 1 .  Jahrhundert; 288 — 290 

IV.  Aufschwung  unter  der  DjTiastie  der  Rubeniden  (12.  Jahrhundert)  .    .    .  290 — 293 
V.  Die  Zeit  des  Verfalls  vom  13.  bis  17.  Jahrhundert 293 — 294 

VI.  Die  Renaissancehteratur  der  Mchitaristen  (vom  18.  Jahrhundert  ab)     .  295 

VII.  Die  moderne  Literatur  (19.  Jahrhundert) 296 — 297 

Literatur 298 


Inhaltsverzeichnis.  IX 

Seite 

E.  DIE  GEORGISCHE  LITERATUR  ....  299-311 

Von  FR.\NZ  NICOLAUS  FINCK. 

Einleitung 299—301 

I.  Die  Zeit  der  Vorbereitung  (5.  bis  II.  Jahrhundert) 301—302 

II.  Die  Blütezeit  (12.  Jahrhundert) 302—305 

III.  Die  Zeit  des  Verfalls  (13.  bis  17.  Jahrhundert) 305—306 

IV.  Die  Zeit  des  Aufschwungs  (17.  bis  18.  Jahrhundert) 306—308 

V.  Die  Neuzeit  (19.  Jahrhundert) 308—310 

Literatur 311 


III.  DIE  OSTASIATISCHEN  LITERATUREN  313-401 

A.   DIE   CHINESISCHE   LITERATUR  .  .  .  313-359 

Von  WILHELM  GRUBE. 

Einleitung 3i3— 3i8 

I.  Die  klassische  Literatur  (ca.  2000  v.  Chr.  bis  zum  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  318—326 

II.  Lao-tsze  und  der  Taoismus 326 — 330 

III.  Das  Restaurationszeitalter  der  Han  (206  v  Chr.  bis  220  n.  Chr.).     Die 
Geschichtschreibung 33o— 335 

IV.  Die  Wiederbelebung  der  lyrischen  Dichtung 335—337 

V.  Übergangszeit  (3.  bis  6.  Jahrhundert  n.  Chr.).     Der  Buddhismus    .    .    .  337 — 340 

VI.  Die  Blütezeit  der  Lyrik  unter  der  T'ang- Dynastie  (618  bis  907)   .    .    .  340 — 347 
VII.  Der    Neukonfucianismus    und    die    Erstarrung    des    geistigen    Lebens 

"(i  I.  Jahrhundert  bis  zur  (Gegenwart) 347 — 35° 

VIII.  Dramatische  und  erzählende  Literatur  (13. Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart)  350 — 356 

Schlußbetrachtung 35^—357 

Literatur 35^—359 


B.  DIE  JAPANISCHE  LITERATUR  ....  360-401 

Von  KARL  FLORENZ. 

Einleitung       360 

I.  Die  älteste  Zeit  (bis  794  n.  Chr.) 361—368 

IL  Die  erste  Hälfte  des  Mittelalters:  Die  klassische  Literatur  (794  bis  1186)  368—378 

III.  Die  zweite   Hälfte  des   Mittelalters:    Die  nachklassische  Zeit  und   der 

Verfall  der  Literatur  (1186  bis  1600) 378—385 

IV.  Die  neuere  Zeit:  Renaissance  und  Blüte  der  Volksliteratur  (1600  bis  1868)  385—393 
V.  Die  neueste  Zeit  (seit  1868) 393— 4oo 

Literatur 40i 


Register 402—419 


DIE  ANFÄNGE  DER  LITERATUR 
UND  DIE  LITERATUR  DER  PRIMITIVEN  VÖLKER. 

Von 
Erich  Schmidt. 


Einleitung.  „Die  Volkspoesie,  ganz  Natur,  wie  sie  ist,  hat  Naive- 
täten und  Reize,  durch  die  sie  sich  der  Hauptschönheit  der  künstlich  voll- 
kommensten Poesie  gleichet":  mit  diesem  Satz  aus  Michel  Montaignes 
Essai  „Des  Cannibales"  eröffnete  Herder  1778  die  „Zeugnisse"  vor  seiner 
epochemachenden  Sammlung,  die  den  Reigen  der  Weltlyrik  von  den 
wilden,  oder  wie  er  lieber  sagte  den  alten,  Völkern  bis  zu  Goethe  hin 
schlang.  Die  Entdeckung  Amerikas  hatte  auch  aller  Anthropologie  neue 
Welten  erschlossen,  und  als  dann  aus  der  „France  antarctique"  Reisende 
zwei  brasilianische  Texte,  einen  Erguß  menschenfresserischen  Hohns  und 
eine  Liebeshuldigung,  heimbrachten,  pries  Montaigne  diese  urwüchsigen 
Früchte  „unserer  großen  und  machtvollen  Mutter  Natur"  mit  geistreichem 
Pathos  sowie  mit  Scheelblicken  auf  die  Kulturverbildung.  Ohne  das  der 
Autopsie  entsprungene  Werk  de  Lerys  über  Brasilien,  worin  ein  großes 
Tanzfest  beschrieben  und  sogar  Musiknoten  gebracht  wurden,  schon  zu 
kennen,  zog  er  weite  Schlüsse:  er  sah  in  der  poesie  populaire  die  älteste 
Sprache,  Theologie  und  Philosophie  eingeschlossen  und  staunte,  ebenso 
wie  auf  Grund  anderer  Beobachtungen  Sir  Philipp  Sidney,  über  die  Tat- 
sache, die  später  für  Homer  viel  zu  stark  betont  werden  sollte,  daß  schrift- 
lose Menschen  doch  eine  reiche  Poesie  besitzen.  Seine  beiden  Stücke, 
um  etliche  aus  Peru,  Finland,  Lappland  vermehrt,  wurden  ins  18.  Jahr- 
hundert hinein  immer  wieder  erwähnt  und  nachgedichtet.  Missionen,  seit 
den  großen  auch  für  die  Ethnographie  so  bedeutsamen  Unternehmungen 
der  Jesuiten  in  Südamerika,  und  Forschungsreisen  erhellten  das  Wesen 
einzelner  Naturvölker.  Rousseaus  Evangelium  von  dem  idealen  Ur- 
menschen steigerte  und  trübte  zugleich  das  Interesse  der  allzu  tief  in 
Bücher  und  Papier  vergrabenen  Literaturmenschen.  Die  dürftigen  von 
Scaliger  entlehnten  Sätze  unserer  Poetiken  über  den  Beweis  ex  consensti 
omniuiii  gentium,  den  angeblichen  Ursprung  des  Dichtens  aus  dem  Vogel- 
sang oder  aus  arkadischer  Hirtenlyrik  genügten  nicht  mehr.  Wie  Lessing 
an    die    zarten    Mädchenlieder  Litauens    den    beredten    Ausspruch   knüpft, 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  I 


2  Erich  Schmidt:  Die  Anfange  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

daß    unter   jedem    Himmelsstrich    Dichter    geboren    würden    und    lebhafte 
Empfindungen  kein  Vorrecht  gesitteter  Völker  seien,   so  verschließt  auch 
Voltaires    vielgescholtener   „Versuch    über    das    Epos"    sich    nicht    gegen 
eine    allerdings    sehr    summarische    Würdigung    althebräischer,    eddischer, 
karaibischer  Poesie,    und   er  sucht   in  der  Dichtung   die   älteste   Sprache, 
die  früheste  Kunst  des  Menschengeschlechts.    Bei  uns  hat  Hamanns  krauser 
Tiefsinn  an   ein  unterwegs  vernommenes  lettisches  Arbeitslied   Gedanken 
über  Urmetrik  ebenso   beiläufig  nach   seiner  Art  geknüpft,  wie  er  einmal 
das  Drama   von  religiösen   Liturgieen    herleitet,    und   er    ringt  auf  seinen 
Kreuzzügen  ins  Morgenland  immer  wieder  mit  den  Urproblemen.     Poesie 
ist  ihm  die  Muttersprache  der  Menschen;  was  freilich  leicht  mißverstanden 
werden  kann  in   der  Richtung,  daß   romanhafte  Lederstrümpfe  und  Frey- 
tagsche  Ahnen    auch   das  Gewöhnlichste   stilisieren   müssen,  während  Ha- 
mann   triftig  die   volle   demonstrative   und   aktive   Sinnlichkeit  meint,    die 
noch  nichts    „Abgezogenes"  kennt.     Herder,    ohne    seines   Anregers    teils 
eigenrichtige,  teils  orthodoxe  Schranken,  fühlte  und  dachte  sich  ein  in  die 
junge  Menschheit,  und  sein  inneres  Gehör  ergriff,  wie  vor  allem  die  Ber- 
liner Preisschrift    genial    bekundet,    ihre   Natursprache.     Schon    der  frühe 
„Versuch    einer   Geschichte    der   lyrischen    Dichtkunst"    erhärtet,    daß    die 
ersten  Gebete  notwendig  Gesänge  sein  mußten,  chorisch,  kurz  und  sinnlich 
mit    starken  Akzenten:    „ein    natürlich    roher   Gang    der    Poesie",   der    zur 
Einprägung    wiederkehrende    Takte,    „das    erste    rohe    Sylbenmaß"    fand. 
Herder   predigte    der   papierenen   Stubenweisheit    unermüdlich,    Lyrik   sei 
nichts  Geschriebenes,    sondern    mündliche   „Sage",   lebendiger  Sang.     Auf 
seiner  Spur  wurde  dann  von  den  Brüdern  Schlegel,  lange   bevor  Müllen- 
hoff   diese    Erkenntnis    für    die    älteste    germanische    Dichtung    fruchtbar 
machte,   das  Wesen   der  Urpoesie   durchdrungen.     Friedrich  Schlegel   sah 
bei  den  Wilden  das  poetische  Vermögen  durch   unwillkürliche  Ausbrüche 
der  Leidenschaften    in    gemessenen  Worten,    Lauten    und    Sprüngen    sich 
äußern,    aus    rohen  Rhythmen   sich   fortentwickeln  und   von   „gesellschaft- 
lichen   Improvisationen"    weiter    regen.     Wilhelm,     der     einmal     alle    auf 
mancherlei  Lyrik  hinweisenden  Stellen    der  Ilias  durchging,  verband   aufs 
engste  Poesie,  Musik  und  Tanz   und   sagte:     „In  dieser  Urkunst  liegt  der 
Keim    des    ganzen    vielästigen    Baumes     geschlossen."      Alle    Klügeleien 
spekulierender  Ästhetiker,  leider  auch  mehr  als  eines  historisch-philologisch 
gebildeten  Forschers  über   die  Folge   der  Gattungen   und  den  natürlichen 
Vorrang  der  Epik  zerrinnen  an   diesen  Leitsätzen  wie   an  jeder  einzelnen 
Beobachtung  in  bloßen  Dunst. 

Goethe,  dem  nichts  Poetisches  fremd  war,  bekennt  am  Abend  seines 
Lebens  als  Herrscher  der  „Weltliteratur": 

Wie  David  königlich  zur  Harfe  sang, 
Der  Winzerin  Lied  am  Throne  lieblich  klang, 
Des  Persers  Bulbul  Rosenbusch  umbangt 
Und  Schlangenhaut  am  Wildengürtel  prangt. 


I.  Kulturanfänge.     Poetische  Triebe.  -i 

Von  Pol  zu  Pol  Gesänge  sich  erneun, 
Ein  Sphärentanz  harmonisch  im  Getümmel; 
Laßt  alle  Völker  unter  gleichem  Himmel 
Sich  gleicher  Gabe  wohlgemut  erfreun. 

Indem  der  Kulturmensch  nach  und  nach  den  ganzen  bewohnten  Erd- 
kreis erobert,  an  den  fernsten  Inseln  landet,  die  seit  vielen  Jahrhunderten 
verschollenen  Zwerg-stämme  Afrikas  im  Urwald  wieder  entdeckt  und  über- 
all mit  geschärftem,  klarem  Blick  seine  Beobachtungen  anstellt,  erwächst 
uns  ein  ungeheures  und  mannigfaltiges  Material,  das  jede  Reise  vermehrt. 
Man  bedenke,  daß  Herder  noch  über  kein  einziges  Stück  afrikanischer 
oder  australischer  Poesie  für  seine  „Volkslieder"  gebot  und  z.  B.  die  jetzt 
sehr  genau  studierten  Andamanen  nicht  einmal  dem  Namen  nach  kannte. 
Leider  besitzen  wir  nur  wenige  so  gute  und  umfassende  Sammlungen,  wie 
Rink  sie  den  Grönländern  g-ewidmet  hat.  Große  Schwierigkeiten  stellen 
sich  nicht  bloß  befangenen  Missionaren  in  den  Weg,  sondern  auch  dem 
wohlvorbereiteten,  hellblickenden  Forscher,  denn  der  Europäer  hat  Mühe, 
sich  auf  den  geistigen  Standpunkt  des  „Wilden"  niederzulassen,  ihn  förder- 
lich ins  Gebet  zu  nehmen,  die  völlig  fremde  Sprache  zu  erfassen  und  mit 
seinen  Fragen  von  den  scheuen  Naturkindern  ungefähr  verstanden  zu 
werden.  Der  Phonograph  mag-  ihm  mehr  und  mehr  zu  Hilfe  kommen. 
Vereinzelt  steht  noch  die  musterhafte  Leistung  der  Vettern  Sarasin,  die 
jedes  Individuum  der  aussterbenden  Urbevölkerung  Ceylons  aufs  genaueste 
allseitig  studiert  und  bei  ihrer  ruhigen  Aufnahme  des  physischen  Zustandes, 
der  Lebensweise,  der  vielfach  noch  in  Uranfängen  stecken  gebliebenen 
Fähig-keiten  stets  peinlich  abgewogen  haben,  wie  weit  diese  armseligen 
Weddas  doch  schon  mit  höherer  singhalesischer  Nachbarkultur  sich  be- 
rühren. Unter  den  vielen  Reisenden,  denen  wir  neue  Kunde  aus  allen 
Weltteilen  verdanken,  Briten  und  anderen,  erscheint  Karl  von  den  Steinen^ 
der  Erforscher  der  Bakairi  im  Innern  Brasiliens,  ausgezeichnet  durch  eine 
wunderbare  Gabe,  mit  solchen  Waldmenschen  zu  verkehren  und  seine 
sicheren  Eindrücke  in  der  lebhaftesten  Darstellung  wiederzugeben.  Den 
Engländern  Tylor,  Spencer,  Lubbock,  Frazer,  die  in  Darwins  Heimat  die 
Niederungen  menschlicher  Kultur  bei  upper  and  lower  wüds  erörtern,  den 
Gummere  und  Posnett,  schließen  seit  Th.  Waitz  unsere  historisch  und 
naturwissenschaftlich,  psychologisch  und  ästhetisch  ohne  vage  Spekulation 
geschulten  Gelehrten  sich  an:  Dilthey;  Scherer,  Burdach,  Richard  M.  Meyer j 
Wundt;  E.  Grosse,  der  umfassend  „Die  Anfänge  der  Kunst"  feststellt; 
Groos,  dem  ein  fruchtbarer  Gedanke  Schillers  jede  Regung  des  Spiel- 
triebes bei  Tieren  und  Menschen  beleuchtet;  K.Bücher,  dessen  sammeln- 
der und  sichtender  Energie,  nicht  ohne  die  hier  gebotene  Einseitigkeit, 
der  enge  Bund  von  „Arbeit  und  Rhythmus"  für  alle  Völker  und  Zeiten 
sich  auftut. 

I.  Kulturanfänge.     Poetische  Triebe.     Durchweg  muß  trotz  dem      stufen. 
Wert  der  Analogieschlüsse  eine  vorschnelle  Generalisation  vermieden  wer- 


1         Erich  Schmidt:  Die  Anfänge  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

den,    denn   abgesehn  von   aller    Unmöglichkeit,    den   Urmenschen   zu    be- 
schwören, hat  man   auch  innerhalb   der  niederen  Horde   bei  geringer  In- 
dividualisierung  doch   mit  verschiedenen   Graden  des   Temperaments    und 
der    physischen   wie    der    geistigen  Begabung   zu    rechnen.     Man    hat  die 
Stufen  auseinander  zu  halten,  die  einen  halbtierischen  Kampf  ums  Dasein, 
das  Treiben  von  Jägern    und    Fischern,    die   Lebensweise   viehbesitzender 
Komaden  und  den  ungeheuren  Fortschritt  des  Ackerbaues  trennen.    Dieser 
begründet  mit  dem  Wohnsitz  erst  Familie,  Nachbarschaft,  Gemeinverfassung 
dauerbar    und    nährt    durch    die    Hausindustrie    künstlerische    Triebe    der 
Töpferei,   Schnitzerei,  Weberei  usw.     Er  zuerst  macht    den   schweifenden 
Wilden   zum   „Civis";   mag   der  Mann   noch  wesentlich   der  Jagd   obhegen 
und  Feld-  und  Hausarbeit  dem  Weib  überlassen,  so  findet  er  doch  immer  die 
Hütte,  die  selbstgeschaffen  ihm  und  den  Seinen  gehört.   Das  Dasein  gewinnt 
Regel,   der  Brauch  Bestand,  Schmuck,   feierliche  tradionelle  Wiederkehr, 
und  die  nun  erst   mögliche  Fortpflanzung  jeder  Errungenschaft  muß  auch 
den  Anfängen  der  Kunst  frommen.    Sehr  tief  aber  greift  der  Unterschied 
des  Klimas  in  alle  äußere  und  innere  Bildung  der  Menschen  ein:  wen  die 
nördliche   Eisregion  in   einen   engen    Schutz-    und  Wohnraum   duckt    oder 
das    frostige  Jammerdasein    eines    feuerländischen  Fischers   umfängt,   wem 
nur  eine  Jurte  auf  öder  Hochebene   zugewiesen  ist,  der  lebt,  fühlt,  denkt 
und  schafft  anders  als  der  Sohn  tropischer  Länder.    Kulturblöße  kann  mit 
monogamischer  Strenge,  die  ja  kein  Privileg  des  Menschen  ist,  verbunden 
sein;    mit  allerlei  äußeren  Fortschritten   kannibalisches  Gelüst  und  scham- 
lose Ausschweifung.    Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  solche  Verschiedenheiten 
gleich  dem  kriegerischen  Drang  oder  dem  dumpfen  Frieden  hier  und  dort 
auch  jede  Kunstäußerung  bestimmen  helfen.     Zu   den  Uranfängen  freilich 
führt    den   Beobachter   kein   Weg,    denn    allenthalben    hat   Bedürfnis    und 
Übung,  selbst  wo  gar  keine  Entlehnung   mitwirken  konnte,  die  Menschen 
schrittweise  gefördert.     Auch  jene  Weddas,  die  in  den  einfachsten  häupt- 
lingslosen  Clans    gewisse   Jagdgebiete    teilen,    ohne  Vervvandtschafts-  und 
Zahlwörter,  ohne  Musik,  ohne  Töpferei,  beinah  religionslos,  auch  sie  haben 
heute   schon    eine    zugleich  hebende   und   ausrottende  Entwicklung  hinter 
Sprache,      sich.     Selbst  die   arme  Sprache  verrät   es,  wenngleich  der  Kehllaut  ihrer 
Erregung    an    das   Tier    gemahnt,    mit   dem   der   Mensch  überhaupt   einen 
Teil  seiner  bei  höherer  Kultur  schwindenden,  hier  sparsameren,  dort  reich- 
licheren demonstrativen  oder  malerischen  Gebärdensprache,  seiner  Gefühls- 
entladungen in  Lauten  der  Lust  und  Unlust  gemein  hat.    Freude,  Lockung, 
sexuelles   Werben,    Drohung,  Warnung,    Schmerz,    Furcht    brechen    ohne 
intellektuelle     Vorstellungen     in     Gebärden     und     Stimmreflexen     hervor, 
geben  den  verschiedensten  Sprachen  von  alters  her  gleiche  Interjektionen 
und  finden  im  Lachen   und  Weinen   ihren   stärksten   Ausdruck,  befreiend, 
aber  auch  krampfhaft  erschütternd.     Mit  der  Sprache,  die  von  einsilbigen 
abgerissenen  Lauten  zur  willkürlichen,  mitteilenden,  benennenden  Anwen- 
dung   solcher    Klanggebärden    steigt    und    sehr    allmählich    grammatische 


I.  Kulturanfange.     Poetische  Triebe.  e 

Kategorieen  ausbildet,  entwickelt  sich  der  Verstand.  Die  Phantasie  übt, 
ohne  das  Bewußtsein  und  die  Absicht  des  Menschen,  etwas  zu  erfinden, 
d.  h.  seine  Lebenseindrücke  auffrischend  und  steigernd  als  Dichter  zu 
kombinieren,  ihre  g'eheimnisvolle  Macht  auch  in  dem  scheinbar  eintönig- 
sten Dasein.  Vor  allem  gibt  das  im  Schlaf  ohne  Verstandeskontrolle  fort-  Wciträtsei. 
arbeitende  Gehirn  Rätsel  auf  Rätsel.  Der  Traum  ein  Leben.  Träumt  der 
Wilde  von  Jag'd  und  Kampf,  so  ist  seine  Seele  zu  solchem  Tun  wirklich 
ausgefahren  und  danach  in  den  ruhenden  Körper  zurückgekehrt;  sein 
Freund,  sein  Feind  war  wirklich  bei  ihm,  der  Tote  erschien  und  sprach 
wirklich;  er  hat  wirklich  die  Freiheit  des  Flugs  oder  die  erotische 
Lust  g'enossen,  ein  Albdruck  wirklich  auf  seinem  Leibe  dämonisch  ge- 
lastet .  ,  .  Diese  Wunder  überwältigen  sein  Denken  und  entrücken  es 
gleich  dem  Rausch,  falls  er  schon  gegorenen  Trank  und  ähnliche  Reiz- 
mittel kennt,  aus  der  Monotonie  des  Alltags  in  die  Ferne.  Das  Staunen, 
die  Wurzel  aller  mit  Poesie  innig  verschwisterten  Urwissenschaft,  wird 
durch  ewige,  immer  wiederkommende  oder  selten  überraschende  Welt- 
erscheinung-en  aufgeregt.  Tag  und  Nacht  wechseln;  die  großen  und  kleinen 
Himmelsleuchten,  vor  allem  die  strahlende  und  wärmende  Sonne,  der  zu- 
nehmende oder  schwindende  Mond,  die  vielgestaltigen  Wolken,  Blitz  und 
Donner  ziehen  das  Auge  von  der  Erde  zum  Firmament  empor  und  stellen 
Fragen  des  Universums.  Das  brennende  Feuer,  das  ruhende  oder  bewegte 
Wasser  vom  Quell  bis  zur  Meeresbrandung-,  der  säuselnde  Wind  und  der 
brüllende  Sturm  sind  lebendige  und  beredte  Elemente,  hold  und  feindlich. 
Man  sinnt  über  Keim  und  Frucht,  Sprießen  und  Vergehen.  Stärker  als 
die  passive  Pflanze  nimmt  das  Tier,  auch  wenn  einzelne  schon  zum  Dienst 
gezähmt  sind,  den  Geist  des  Naturmenschen  hin,  besonders  das  über- 
kräftige, reißende.  Weit  davon  entfernt,  die  Losung  „Vieles  Gewaltige 
lebt,  doch  nichts  ist  gewaltiger  als  der  Mensch"  anzustimmen,  sondern 
ehrfürchtig  schaut  er  auf  dämonisch  begabte  Wesen  des  Tierreiches 
und  erblickt  in  ihnen  machtvolle  Lebensideale,  die  auch  seiner  naiven 
Kausalität  Aufschlüsse  geben,  einen  totemistischen  Familienkult  nähren 
können  und  zu  mannigfacher  Anbetung  von  Göttern  in  Tiergestalt 
führen.  Ihre  Erleg^ung  zielt  nicht  auf  Ausrottung  oder  das  bloße  Bedürf- 
nis nach  Speise  und  Hülle  im  gemeinen  Sinn,  sondern  will  zugleich  durch 
stärkenden  Genuß  und  Trophäenschmuck  eine  Kraftübertragung  vollziehen. 
Erstaunlich  ist  femer  diesen  Naturkindern  der  erotische  Trieb,  die  Zeugung, 
der  Geschlechtsunterschied,  der  über  Mensch  und  Tier  hinaus  mit  sinn- 
licher Personifikation  auf  alle  Erscheinungen  hienieden  wie  droben  er- 
streckt wird  und  in  den  mythisch-poetischen  Kosmogonieen  eine  Hauptrolle 
spielt.  Man  betrachtet  das  werdende  Leben,  aber  auch  die  feindliche 
Krankheit  und  den  vernichtenden  Tod,  der  kurzweg  als  Ende,  dann  als 
Übergang  in  ein  diesseitig"es  Fortleben  anderswo,  weiter  in  ein  jenseitiges 
gefaßt  wird.  Vorstellungen  von  Lohn  und  Strafe  regen  sich  allgemach. 
Totenkultus  eignet  den  meisten  Naturvölkern  auf  frühen  Stufen. 


6         Erich  Schmidt:  Die  Anfänge  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

IL  Rhythmus.  Diesen  Triebkräften  gegenüber  ersteht  nun  die 
andere  Frage:  wie  ward  aus  dem  rohen  Schrei,  der  Lust  oder  Unlust  ent- 
lädt, eine  wenigstens  keimende  Kunstform?  Das  Tier  springt  und  schreit; 
das  Kind  hüpft  und  trällert  unregelmäßig,  bis  es  ein  ästhetisches  Element 
in  seine  Affektausbrüche  trägt  durch  rhythmische  Fassung,  die  gleich  dem 
wiederkehrenden  Ornament  erst  der  wachsende  Zeitsinn  erzeugen  kann. 
Ein  hörbarer  und  fühlbarer  Rhythmus  in  Wort,  Musik  und  Tanz  bindet 
ganz  gleichmäßig  oder  wechselnd,  einfach  oder  zerlegend  regelhafte  Ein- 
heiten. Ihn  findet  der  Naturmensch  schon  um  sich  und  in  sich  in  man- 
chen Wiederholung^en  gleicher  Zeitteile  mit  Inter\'allen,  wie  wohl  keiner 
von  uns  etwa  den  Stößen  der  Eisenbahn  niemals  halblaute  Töne  geliehen 
oder  auch  als  Erwachsener  dem  kindlichen  Behagen  an  taktmäßiger 
Wiederholung  derselben  Worte  und  Sätzchen  entsagt  hat.  Wenn  Hebbel 
den  Titel  einer  Parodie  von  E.  v.  Mautners  „Eglantine":  „Die  elegante  Tini" 
einmal  übers  andre  vor  sich  hinsummte,  verfuhr  er  wie  der  Schöpfer  einer 
primitiven  Satire;  ebenso  können  wir  in  Italien  und  allerwärts  das  Urteil 
Goethes  über  die  Ritomellweise  bestätig'en,  man  lege  dieser  „Unmelodie" 
jedes  Wort  unter,  das  einem  nur  einfalle.  Goethe  selbst,  als  die  Wogen 
des  Gardasees  seine  sanften  Verse  regelten,  empfand  als  hoher  Iphigenien- 
dichter  urmenschlich  den  Rhythmus  von  Wellenschlag  und  Wind,  Der 
Urmensch  beobachtet  den  Rhythmus  des  Einatmens  und  Ausatmens,  das 
je  nach  der  Erregung  und  Anstrengung,  z.  B.  bei  verschiedenen  Arbeiten, 
leiser  oder  heftiger  erfolgt.  Er  beobachtet  seinen  Puls,  seinen  Herzschlag. 
Der  Hamak  wird  regelmäßig  hin  und  her  gewiegt,  ebenso  das  Kind  auf 
den  Armen  in  Schlaf  geschaukelt  und  gesummt.  Man  wird  inne,  daß  der 
Takt  „eins  zwei,  eins  zwei"  den  Gang  beschwingt  sowohl  für  den  Einzelnen, 
als  besonders  für  mehrere,  daß  er  ICräfte  bindet  und  fördert,  und  gar  im 
kriegerischen  Ansturm,  wenn  zum  Kommando  eines  Führers  das  jede 
andere  Regung  übertäubende  Massengeschrei  erschallt,  der  Gemeinschaft 
Arb«^  als  ethischer  Kitt  dient.  Dasselbe  empfindet  man  ruhiger  bei  geselliger 
Arbeit.  Treffend  unterscheidet  Bücher  die  Einzelarbeit  und  die  sei  es  den 
Gleichtakt,  sei  es  den  Wechseltakt  mit  sich  bringende  Gemeinschafts- 
arbeit weniger  oder  einer  Menge.  Er  belegt  ältere  Wahrnehmungen,  daß 
Hebung  und  Senkung,  Stoß  und  Zug,  Streckung  und  Einziehung  bei 
gewissen  Tätigkeiten  einen  natürlichen  Rhythmus  erzeugen,  mit  zahl- 
losen Beispielen,  obwohl  nicht  jede  Arbeit  ihn  aufweisen  kann.  Der 
Araber  fabuliert  sinnig,  Chalil  sei  durch  die  aus  verschiedenen  Häusern 
an  sein  Ohr  dringenden  regelmäßigen  Hammerschläge  „dak  —  dak  dak 
—  dak  dak  dak"  zur  Erfindung  der  Metrik  geleitet  worden;  wie  in  Goethes 
stilisierter  „Pandora"  „taktbewegt  ein  kräft'ger  Hammerchortanz"  er- 
klingen soll.  Die  „Mühlradsprache"  hat  mit  dem  Volksliedsänger  und 
dem  Romantiker  auch  J.  Grimm  belauscht.  Griechische  Schifferrufe  sind 
seit  der  frühen  Antike  bis  heute  sich  gleich  geblieben.  Die  Lhoosai  Süd- 
ostindiens erklären,  ohne  taktmäßiges  kau  —  /ia?i  nicht  ziehen  zu  können; 


II.  Rhythmus.     III.  Chorische  Urpoesie.  «7 

die  Neuseeländer  beg^leiten  das  Schieben  wuchtiger  Lasten  meist  mit 
schweren  Silben,  während  für  bequemere  leichte  genügen.  So  ruft  der 
rasche  Mörserstößel  andere  Reflexlaute  hervor  als  das  anstrengende  Ein- 
rammen von  Piloten,  die  Ruderführung  im  behenden  Kanoe  andere  als 
das  Ziehen  von  Frachtschiffen,  das  muntre  Treten  der  Kelter  andere  als 
irgend  eine  Sitzarbeit.  Wir  beobachten,  daß  ein  altgriechisches  Hand- 
mühlenliedchen  nach  den  Jamben  "AXei,  |uuXa,  äXei  (Mahle,  Mühle,  mahle) 
zu  schneller  Auflösung  greift,  gemäß  der  rascheren  Drehung,  oder  wie  ein 
indianischer  Bootsgesang  langsam  einsetzt:  Ah  yah,  um  dann  eiliger  fort- 
zufahren: ya  va  ya.  Von  abg'erissenen  sinnlosen  Lauten  und  kurzen  Zu- 
rufen —  „Hoi  to!  Nu  man  to"  taktieren  niederdeutsche  Rammer,  „Hiß 
em  up!  hu  ro"  friesische  Segelleute  —  führt  der  Weg-  zu  den  mannig- 
fachen Schifferliedern  des  Nils  oder  zu  allerlei  Weisen  der  Feldarbeit. 
Es  ist  natürlich,  daß  Schallnachahmungen,  gewisse  Atemstöße,  dann 
eines  Obmanns  markierende  Zurufe  und  Imperative  die  Gemeinsamkeit 
regeln  und  auch  einen  Wechsel  zwischen  dem  Einzelnen  und  der  Masse 
erzeugen.  Überall  wird  ein  Steuerer  den  Takt  angeben,  bei  den  Karaiben 
wie  bei  den  Bantu.  Überall  singen  isolierte  oder  gesellige  Arbeiter  vor 
sich  hin  oder  im  Chor.  Die  Gattungen,  die  wir  vom  Schilde  des  Achilleus 
ablesen,  aus  dem  Alten  Testament  sammeln,  bei  Athenäus  leider  ohne 
Texte  z.  T.  mit  unverständlichen  Namen  verzeichnet  finden,  lassen  sich 
weithin  durch  Zeiten  und  Völker  verfolgen,  wie  der  Einzel-  oder  Zwie- 
gesang  von  Hirten  und  diejenige  reiche  Arbeitslyrik,  die  naturgemäß 
der  mahlenden,  speisestampfenden,  spinnenden,  webenden  Frau  gehört. 
Kurz,  Schillers  Meisterspruch  „Wenn  gute  Reden  sie  begleiten,  dann  fließt 
die  Arbeit  munter  fort"  gilt  viel  zweifelloser  vom  Gesang,  der  aus  Takt- 
lauten sich  entwickelt,  und  „Johann,  der  muntre  Seifensieder"  (vielmehr 
Schuhflicker)  hat  in  der  ganzen  Welt  seine  Kollegen. 

Nun  muß  betont  werden,  daß  die  meiste  Arbeit  den  Menschen  zu 
sehr  in  Anspruch  nimmt,  um  eine  freie,  tanzartige  Körperbewegung  zu 
gestatten,  also  andere  ihm  innewohnende  Kräfte,  die  wir  als  „Spieltrieb" 
bezeichnen  und  von  Tieren  und  Kindern  bis  zum  Gipfel  der  Tragödie 
hinan  walten  sehn,  sich  äußern  in  allerlei  Mimik  und  Gymnastik,  teils 
sachter,  teils  heftiger,  ja  orgiastisch  erschöpfender  Art;  um  so  mehr,  wenn 
in  gemeinsamer  Entladung  einer  den  anderen  steigert. 

in.  Chorische  Urpoesie.  Trotz  der  geringen  Differenzierung,  be- 
sonders auf  den  Unterstufen  besitz-  und  kampfloser  kleiner  Horden,  wo 
noch  keine  Häuptlinge  sich  hervortun  und  der  Wetteifer  schläft,  muß 
immerhin  sehr  früh  durch  Sondererlebnisse  und  Grade  des  Temperaments 
und  der  Kraft  wie  bei  Tieren  so  bei  Naturmenschen  die  Einzeläußerung 
angeregt  werden.  Es  wäre  ein  grober  Fehlgriff,  alle  Monodie  bei  primi- 
tiven Völkern  zu  leugnen,  voran  aber  steht  die  chorische  Urpoesie,  Laut 
und  Tanz   vereinigend;   sind   doch   auch  Singen,   Springen,   Dichten,   Dar- 


8         Erich  Schmidt:  Die  Anflinge  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

Naturlaute.  Stellen  in  vielen  Sprachen  durch  dieselben  Worte  bezeichnet.  Naturlaute 
des  Affekts,  von  Körperbewegungen  begleitet,  machen  den  Anfang,  und 
dabei  bleibt  es  oft  noch,  auch  wenn  man  schon  das  „Lied  ohne  Worte" 
überwunden  hat,  nicht  bloß  in  allgemeinen  Refrains.  Das  Juchezen  und 
Jodeln  ist  urmenschlicher  Herkunft,  sowenig-  der  Wilde,  der  denselben 
Ton  unmelodisch  in  rhythmischer  Folgte  wiederholt,  der  Xeuholländer,  der 
beim  Keulenschwingen  die  Stimme  hebt  und  senkt  zu  endlosem  ni  ni  7ii  ni^ 
mit  älplerischen  Virtuosen  konkurrieren  mag.  Einförmiges  rhythmisches 
Geschrei  wird  ausgestoßen:  „Wildgesang",  „Brüllgesang",  wie  es  im  zweiten 
Teile  des  „Faust"  heist.  Besonderes  Gewicht  ist  hier  auf  die  Interjektionen 
zu  legen,  denn  die  O  und  Ach,  die  Weh  und  Hu,  die  Haha  und  Pfui,  die 
Hussa,  Hei,  Juchheh,  Hurra  (erst  zur  Interjektion  erstarrt)  sind  Urwurzeln 
ganzer  Gattungen,  so  daß  Jean  Paul  sehr  richtig,  wenn  auch  mit  dem 
schiefen  Ausdruck  „verkürzt",  von  wenigsilbigen  mikroskopischen  Ge- 
dichten, ^liniaturelegieen  und  Kurzsatiren  spricht.  Taktmäßig  wiederholtes 
„Weh"  {nlulare,  6Xo\uZ;eiv)  ist  die  Geburt  der  Nänie;  taktmäßig  wieder- 
holtes „Etsch"  u.  dgl.  mit  bestimmter  Gestikulation  bei  Wilden  und  Kin- 
dern die  Geburt  der  Satire,  wie  noch  Rückert  ein  ganzes  Spottgedicht 
aus  dem  Ruf  an  Napoleons  Marschall  „Ei,  ei!  Ney,  Ney!"  entwickelt. 

Die  Urmusik  erschallt  rhythmisch,  nicht  melodisch,  denn  zur  einfachen 
Gliederung  der  Tonintervalle  tritt  noch  kein  qualitativer  Tonwechsel,  son- 
dern es  bleibt  vorerst  bei  einem  kräftig  gestampften  und  dazu  mit  lauter 
Takt.  Worte.  Stimme  ohne  sichere  Tonhöhe  stoßweise  markierten  Takt.  Massenhafte 
Zeugnisse  der  Monotonie  haben  sich  aus  allen  Erdteilen  angehäuft,  und 
sie  führen  vom  Gebrüll  zu  primitiven  Melodieen  von  ein  paar  Noten.  Nicht 
bloß  in  Kehrsilben  oder  -Zeilen,  sondern  als  Gesamtlied  erhalten  sich 
sinnlose  Laute:  was  der  Student  mit  seinem  „Rautschingtsching"  als  Bier- 
ulk treibt,  das  übt  etwa  ein  sibirischer  Stamm  noch  heute  feierlich.  Dem 
Worte  zollt  man  zunächst  sehr  geringen  Wert:  es  fehlt,  oder  dasselbe 
oder  wenige  werden  immer  repetiert.  Diese  rhythmische  Wiederholung 
kann  sich  so  weit  fortpflanzen,  daß  neben  ursprünglichem  Nonsense  auch 
das  ursprünglich  Bedeutsame  zum  bloßen  Wortschall  herabsinkt:  z.  B.  ist 
ein  polynesisches  Weihelied  des  Kannibalismus  „unverständlich,  also  sehr 
Stegreif,  alt".  Ohne  jede  feste,  geschweige  denn  poetisch  erhobene  Syntax  und 
ohne  das  Streben  nach  Redeschmuck  bildet  man  ganz  kurze,  einfache 
Sätzchen,  erst  einen,  dann  mehrere  nebeneinander,  und  trägt  solche  Im- 
provisationen, nachdem  der  Erfinder  sie  hergesagt  hat,  im  Takte  vor. 
Dem  bloßen  „Weh"  folgt  ein  „Er  ist  tot.  Weh!"  als  Urform  des  Karaleichs; 
die  Verbindung  von  „Ah"  und  „gut"  schafft  ein  Lobliedchen.  Als  Cook 
abreiste,  sangen  die  braven  Insulanerinnen  unaufhörlich  nur:  „Er  ist  fort", 
während  der  Melanesier  mit  der  wiederholten  rhetorischen  Frage:  „Wohin 
wandert  das  einsame  Schiff?"  und  dem  Scheideruf:  „Kehre  wieder,  kehre 
wieder,  o!"  schon  eine  höhere  Entwicklung  vertritt.  Solche  Improvisation 
nun  wird  durch  jeden  Anlaß  alsbald  geweckt.    Stanleys  Neger  faßten  alle 


in.  Chorische  Urpoesie.  q 

Begebenheiten  der  Expedition  in  chorische  Worte;  Australier  begrüßten 
die  erste  fauchende  Lokomotive  sogleich  mit  einem  Corroborri  (Reigen) 
und  verg-lichen  sie  dem  Walfisch,  wie  ganz  analog  die  Vesuv -Eisenbahn 
einem  weit  verbreiteten  Volkslied  seine  Melodie  gegeben  hat  {/untcoli  — 
funicold)',  Mädchen  der  Südsee  finden  für  jedes  geschaute  oder  gehörte 
Ereignis  unmittelbar  Töne  der  Rührung  und  des  Hohns;  Darwins  Ankunft 
in  Tahiti  ward  ungesäumt  von  einer  Jungfrau  in  vier  Stegreifstrophen  ge- 
feiert; als  Mungo  Park  verirrt  im  Unwetter  zu  einer  Hütte  gelangte,  sang 
ein  mitleidiges  Negerweib  und  andere  sangen  ihr  nach:  „Die  Winde  toben, 
der  Regen  fiel,  der  arme  weiße  Mann,  schwach  und  ermüdet,  kam  und 
setzte  sich  unter  unsern  Baum.  Er  hat  keine  Mutter,  ihm  Milch  zu  bringen, 
keine  Frau,  sein  Getreide  zu  mahlen."  Auf  dieser  Stufe  ist  der  einfache 
Ruf  längst  durch  reichere  und  innigere  Motive  überholt.  Oder  man  kehre 
beim  Sommerfest  der  Eskimos  ein:  nachdem  sie  sich  bis  zum  Platzen  voll- 
gefressen, denn  geistige  Getränke  fehlen  den  armen  Teufeln,  besingen  sie, 
einander  ablösend,  von  Interjektionsrefrains  der  Zuhörer  unterbrochen,  den 
Seehundfang,  Taten  der  Vorfahren,  die  Rückkehr  der  lieben  Sonne, 
kunstlos  in  lockeren  Rhythmen;  manches  sehr  archaisch.  „Dergleichen 
Trommeltanz",  sagt  der  wackere  Cranz  vortrefflich,  „ist  also  ihr  olym- 
pisches Spiel,  ihr  Areopagus,  ihre  Rostra,  ihre  Schaubühne,  ihr  Jahrmarkt 
und  Forum."  Selbst  die  armseligen  Weddas  feiern  den  Jagdschmaus  durch 
ein  parallelistisch  und  epiphorisch  aufgebautes  Liedchen:  „Wo  die  Tala- 
goya  g-ebraten  und  gegessen  wurde,  blies  ein  Wind.  Wo  die  Mimenna 
gebraten  und  gegessen  wurde,  blies  ein  Wind.  Wo  der  Hirsch  gebraten 
und  gegessen  wurde,  blies  ein  Wind." 

Den  Anfang  macht  natürlich  bloße  Vokalmusik,  begleitet  von  Hände-  Musik, 
klatschen,  Stampfen,  Patschen  einzelner  Körperteile  durch  die  Ausübenden, 
aber  auch  durch  das  Publikum,  und  gewiß  hat  unser  Applaus  in  Theatern, 
Konzerten,  Redeakten  usw.  hierin  seinen  Ursprung.  Die  Weddas  kennen 
nur  einen  Pfeiltanz  in  Halbkreisen,  wobei  sie  einförmiges  Gebell  keuchen 
und  sich  crescendo  den  Bauch  derb  beklopfen,  sie  verfügen  jedoch  über 
kein  Lärminstrument,  bei  dem  manches  Naturvolk  beharrt.  Taktstab, 
Schallbrett,  Tamtam,  Gong,  Rassel,  Trommel  genügen  für  den  Schreitanz, 
wie  Tamburin,  Schellen  und  Kastagnetten  noch  immer  an  Urzeiten  er- 
innern; einfache  Tutinstrumente  kommen  hinzu;  der  ausgebildetere  Gesang 
schafft  geschlagene,  später  gestrichene  Saitenspiele  und  Syringen,  Flöten. 

Nochmals:  schon  weil  keine  Masse  nur  den  einfachsten  Satz  unisono  Einzelne.  Masse, 
improvisieren  kann  und  alle  romantischen  Schwärmereien  von  der  urheber- 
los singenden  „Volksseele"  eitel  Dunst  sind,  muß  sich  Sondervortrag  und 
Massenausbruch  sehr  früh  gliedern.  Einer  schreit  zuerst,  einer  singt  und 
springt  zuerst,  die  Menge  macht  es  ihm  nach,  entweder  treulich  oder  in- 
dem sie  bei  unartikulierten  Refrains,  bei  einzelnen  Worten,  bei  wieder- 
kehrenden Sätzen  beharrt.  Sie  gehorcht  einem  „Jauchzet!"  wie  einem 
„Wehklaget!"    Sie  ruft  im  altrömischen  Saliertanz  einmal  übers  andere  ihr 


lO       Erich  Schmidt:  Die  Anlange  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

Triumpe.  Sie  merkt  auf  jedes  Wort  und  jede  Bewegung  eines  neupom- 
merischen  oder  afrikanischen  Tanzmeisters  —  doch  wir  brauchen  gar  nicht 
so  weit  zu  schweifen,  um  solchen  Verein  von  Solo  und  Tutti  und  die  Ab- 
lösung einzelner  Führer  zu  belegen.  In  Neidharts  sangfrohem  Österreich 
trug  den  „leitestap"  ein  „fürtenzel",  „der  des  voresingens  pflac";  „ein  maget .  . 
sanc  vor,  die  andern  sungen  alle  nach".  Von  dem  ditmarsischen  Vor- 
sänger, dem  nach  zwei  Strophen  ein  anderer  folgt,  berichtet  Neocorus;  er 
hebt  an,  dann  aber  „singet  he  nicht  vorder,  sondern  de  ganze  hupe,  so 
etweders  den  gesang  ock  weeth  edder  wol  darup  gemercket,  repetert  und 
wederhalet  denselben  versch".  Wie  in  der  Bretagne  ein  als  Hochzeits- 
poet berühmter  jNIüller  den  Reigen  mit  hilfreichen  Gesellen  anführte  und 
während  der  Wiederholungen  auf  einen  bequem  anknüpfenden  Fortgang 
sann,  wie  das  Singen  unter  den  im  Halbkreis  mit  verschlungenen  Händen 
erst  nach  links,  dann  nach  rechts  Hüpfenden  umlief,  hat  Villemarque  leb- 
haft geschildert.  In  dieser  Richtung  entwickelt  sich  auch  die  chorische 
Poesie  der  Wilden. 

Es  gibt  wortlose  Reigen;  so  den  germanischen  Schwerttanz.  Bloßes 
^7?-Gebrüll  begleitet  die  vom  Schaman  kommandierten  Waffenorgien  der 
Ostjaken,  denn  ein  so  rasender  Taumel,  dem  des  Fakirs  vergleichbar, 
duldet  keine  regelhafte  Wortfolge  und  Rhythmik,  wie  der  „barditus",  der 
„cantus  trux"  unserer  Ahnen  oder  das  eXeXeXeö  der  Griechen  auch  nur  ein 
anschwellendes  Schreien  sein  konnte  und  die  riesigen  Corroborri  Austra- 
liens bloß  den  Ruf  gestatten.  Anderseits  werden  rhythmische  Bewegungen 
sitzend  oder  stehend  ausgeführt  (Bauchtanz);  abgesehn  davon,  daß  eine 
grönländische  Hütte  von  vornherein  den  halbentblößt  hopsenden  Leutchen 
alles  verbietet,  was  die  Tropennacht  an  Massenevolutionen  ganzer  Stämme 
im  Freien  entfalten  mag.  So  begnüg-en  sich  die  Finnen  damit,  daß  zwei 
Runensänger  einander  bei  den  Händen  fassen  und  ihre  Oberkörper  hin 
und  her  wiegen. 

Alle  Anwesenden  können  an  Tanz  und  Ton  gieichbeteiligt  sein,  aber 
wir  finden  auch  schon  ein  primitives  Orchester  und  Publikum.  Die  Weiber, 
wenn  sie  nicht  von  allen  oder  doch  von  gewissen  Feiern  ausgeschlossen 
und  die  eigentümlichen  religiösen  Klubs  verschiedener  Weltteile  nicht 
schon  zu  Freudenhäusern  entartet  sind,  gucken  zu,  klatschen,  schreien, 
pauken  und  besitzen  eigene  Tänze,  wie  z.  B.  bei  den  Eskimos  besondere 
Kindertänze  aus  den  natürlich  überall  wahrnehmbaren  Ringelreihen  mit 
ihrer  an  Abzählstücklein  u.  dgl.  erinnernden  Lautbegleitung  sich  geformt 
haben. 

Rhetorische  IV.  Urformen.    Aus  dem  chorischen  Vortrag  und  dem  Wechsel  zwi- 

Figuren.  ° 

sehen  Führern  und  Massen  treten  uns  schon  gewisse  Stilfiguren  entgegen; 
voran  die  Häufung  (Iteratio,  Cumulatio)  desselben  Lautes,  Wortes,  Satzes, 
wie  z.  B.  ein  botokudisches  Preislied  sich  in  der  steten  Beteuerung:  „Der 
Häuptling   hat    keine   Furcht"   erschöpft    oder    ein  Epinikion    von    Negern 


IV.  Urformen. 


I  I 


immer  wieder  den  Ruf:  „O  die  breiten  Speere!"  erhebt.  Schlichter,  dann 
kunstvollerer  Parallelismus,  der  allmählich  zu  Variationen,  Gegensätzen 
Palillogieen  usw.  greift,  waltet  überall,  sobald  schon  mehrere  Sätze  asyn- 
detisch angereiht  werden,  und  das  Gleichnis  kommt  damit  herbei,  in- 
dem Ahnliches  einfach  zusammengestellt  wird.  Auch  nach  jener  der 
slawischen  Volkspoesie,  doch  keineswegs  ihr  allein,  so  lieben  negativen 
Art,  die  auf  eine  Aussage:  „Es  sind  Schwäne,  die  wir  dort  sehen",  oder 
auf  eine  minder  sichere  Frage:  „Sind  es  Schwäne  .  .?"  die  Korrektur:  „Nein, 
es  sind  Zelte"  folgen  läßt.  Ein  javanischen  Trauerlied  beginnt:  „Dick 
fallen  Regentropfen  auf  des  Meeres  Antlitz.  —  Nicht  Regentropfen  sind's, 
sind  Oras  Tränen."  Und  man  sehe  unten  die  einfachste  Verneinungsform 
im  Chor  der  Watschandis.  Absichtliche  Differenzierung-  der  Rede  durch 
angehängten  Schmuck,  wie  beim  Fetisch,  muß  früh  hervorgetreten  sein, 
nicht  minder  eine  symbolische  Nachahmung  der  Handlung  (Zauber,  hul- 
digendes Gebet,  Kriegstanz  usw.)  durch  die  Abfolge  der  Worte.  Anapher, 
gleicher  Einsatz,  und  Epiphora,  gleiches  Ende,  spielen  überall  eine  Haupt- 
rolle und  verketten  sich  auch  so,  daß,  wie  im  vierzeiligen  sudanesischen 
Mahlliedchen,  gleicher  Anfang  und  Ausgang  das  Ganze  runden.  Zur  Lust  BindemitteL 
an  tonmalenden  und  bindenden  Alliterationen  und  Assonanzen,  einem  un- 
abhängigen Gemeinbesitz  vieler  Völker,  bringt  sowohl  die  Wiederholung 
überhaupt  als  die  Figur  der  Epiphora  Elemente  des  Reims.  Diesen  rnar- 
kierenden  und  dem  Ohr  harmonisch  wohlgefälligen  Schluß  meint  man  er- 
wachsen zu  sehn,  wenn  im  madagassischen  Lied  erst  alle  Zeilen  auf  fang 
enden,  die  zweite  Strophe  jedoch  wirkliche  Reime  trägt.  Australier, 
Indianer,  Altaier,  Somalis,  Eskimos  besitzen  ausgebildeten  oder  unvoll- 
kommenen Reim,  wie  ja  der  Zeilenschluß  auch  zu  festerer  Prosodie  neigt. 
Von  größter  Wichtigkeit  aber  ist  der  aller  chorischen  Poesie  notwendig- 
eigene Refrain,  der  noch  im  gesungenen  Kunstlied  als  „Trara",  „Coucou" 
(„mit  Grazie  in  infinitum"),  „Juvivallera",  dem  Volksliede  gemäß,  bloßer 
musikalischer  Laut  sein  kann.  Nach  jeder  Zeile  des  Solisten  womöglich 
stimmt  der  Chor  ein  und  sättig-t  sich  nicht  an  der  Wiederkehr,  kann  doch 
in  arabischen  Gesängen  ein  Gesätz  fünfzig-mal  repetiert  werden.  Der 
Refrain  mag  auch,  wie  in  unsern  Volks-  und  Studentenliedern,  einen  Text 
zersetzen  und  aufsaugen  oder  als  eigentümliche  Stimmungsformel  erstarren, 
wie  in  altdänischen  Balladen.  Er  übt  den  stärksten  Einfluß  auf  die  Glie- 
derung, zumal  wenn  er  nicht  mehr  in  freieren  Intervallen  erklingt,  son- 
dern als  Strophenende  regelmäßige  Abschnitte  bezeichnet.  Das  g-anze 
Phänomen  chorischer  Urpoesie  suchte  einmal  Goethe  zu  vergegenwärtigen, 
indem  er  den  irischen  Klaggesang  vom  toten  Herrensohn:  „So  singet  laut 
den  Pillalu"  auf  einen  Rezitator  des  Nachrufs  und  einen  die  dumpfen 
Schmerzenslaute]:  „Och  orro  orro  ollalu"  einschaltenden  Frauenchor  ver- 
teilte, was  denn  freilich  nicht  ohne  albernes  Gekicher  im  Schopenhauer- 
schen  Salon  zu  Weimar  ablief. 


Refrain. 


12       Erich  Schmidt:  Die  Anfänge  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

V.  Gattung-en  chorischer  und  individueller  Lyrik.  Die  Ent- 
wicklung von  dem  g-ering'sten  Maß  g-ehobener,  tropischer,  mit  Vergleich 
und  Hyperbel  arbeitender  Rede,  die  allgemein  faßlich  sein  muß  und  erst 
später  den  Profanen  als  relig'iöses  Geheimnis  anmuten  kann,  ergeht  sich 
auch  auf  primitiven  Stufen  naturg-emäß  in  mehr  oder  weniger  geschiedenen 
Gattungen.  Schon  was  über  die  rhythmischen  Triebe  bemerkt  wurde, 
wehrt  der  beliebten  einseitig'en  Herleitung-  aller  chorischen  Urpoesie  aus 
^lotiven  der  Religion,  als  sei  jeder  Tanz  einem  Gottesdienst  entsprungen. 
Wir  müssen  rhj-thmische  Regung'  in  Gesten  und  Lauten  auch  da  suchen, 
wo  der  Kultus  höherer  Mächte  noch  auf  dem  Nullpunkt  steht  oder  erst 
die   dürftigsten  Keime   zeigt,  und   es   ist  glaubwürdig  berichtet,    daß   den 

Gebet.  Aiidamancn  religiöse  Tänze  gänzlich  fehlen.  Anderseits  erscheint  aller 
Gottesdienst  ursprünglich  .  als  Chor  im  doppelten  Sinn,  ehe  der  einzelne 
Mensch  seine  Stimme  gen  oben  erhebt,  und  nicht  hoch  genug  kann  die 
Ausbildung  eines  Zauberer-  und  Priestertums  angeschlagen  werden,  weil 
sie  feste  Normen  schafft  und  dem  Überlieferten,  selbst  wo  es  in  fort- 
waltenden Rhythmen  unverständlich  geworden  ist,  Dauer  leiht.  Erst  die 
Opferfeier  nach  strengem  Ritus  kann  ein  orgiastisches  Toben  durch  lang- 
sam gemessenen  Schrittreigen  vorwärts  zum  Altar  und  rückwärts  ersetzen, 
wodurch  gleichmäßige  Halbzeilen  des  Hymnus  entstehen.  Erst  das  My- 
sterium überlegener  Zauberkunst  bringt  statt  des  lauten  Rufes  auch  ein 
geheimnisvolles  Murmeln,  wie  denn  der  Zauberer  geradezu  der  „Rauner", 
die  Hexe  die  „Flüsternde"  heißen  mag.  Eine  weite  Bahn  führt  von  dem 
kurzen  Flehen  einer  Gemeinschaft  um  Gunst  und  Vorteil  —  ,,Gib  uns 
Frucht",  Enos  Lases  jwvate,  „Dich  loben  wir"  — ,  von  den  einfachsten  litur- 
gischen Responsorien  zum  Hymnus  Indiens,  zum  Psalm.  Bloßer  Anruf, 
taktmäßige  Wiederholung  eines  Wunschwortes,  das  mit  naiver  Selbstsucht 
begehrt  und  wehrt,  gewinnen  nach  und  nach  an  Fülle.  Sein  „Do  ut  des" 
ruft  der  spendende  Polynesier:  „Wir  haben  nichts  Besseres,  gebt  Besseres, 
dann  sollt  ihr  davon  kriegen."  Das  von  Gustav  Freytags  Herrn  v.  Fink 
also  vorgetragene  Indianergebet:  „Guter  Geist,  gib  Büffel,  Büffel,  Büffel, 
dicke  Büffel  gib  uns,  guter  Geist"  muß  trotz  der  burlesken  Schilderung 
des  Orchesters  für  ein  ganz  richtiges  typisches  Beispiel  gelten.  Der  Dela- 
ware zählt  aber  nicht  bloß  alles  auf,  was  er  braucht,  um  den  Feind  zu 
überrumpeln  und  zu  skalpieren,  sondern  ergeht  sich  auch  in  rührenden 
Gedanken  an  Weib  und  Kind.  Ungnade  der  höheren  Macht,  die  Nieder- 
lagen oder  Mißernten  verhängt  hat,  weckt  Sühngesänge  (KaGapiaoi),  und 
von  der  Stufe  an,  wo  ein  Schaman,  ein  Medizinmann  geheime  Weisheit 
und  Kraft  besitzt,  werden  Zaubersegen  zum  Schutz,  Verwünschungen  zum 
Trutz  nicht  sowohl  gesungen  als  geflüstert;  doch  findet  man  z.  B.  auf 
^Madagaskar  außer  dem  Heiltanz  des  Wunderarztes  um  den  Kranken  herum 
Frauensolo  und  Chor,  also  lautere  Incantatio. 

RätseL  Auch  das  Rätsel,  eine  frühe  Gattung,  wird  gesprochen.    Es  hat  noch 

wenig   verstandesmäßige    Subtilität,    sondern    sinnliche   Vorstellungen    von 


V.  Gattungen  chorischer  und  individueller  Lyrik.  j  -i 

dem  Schnee  als  dem  Vogel  federlos,  den  die  Sonne  als  Jungfrau  mundlos 
verzehrt.  So  rätselt  der  alte  Germane,  Der  Eingang-  seines  „Wessobrunner 
Gebets"  gehört  zu  den  vielen  kosmogonischen  Dichtungen,  die  das  Welt-  Kosmogonie. 
gebäude  und  dessen  Leuchten,  Erde  und  Meer  aus  dem  dunklen  Nichts 
hervorgehen  lassen.  Der  Dinka  am  Weißen  Nil  singt  den  parallelistischen 
Schöpfungsreig'en  mit  resigniertem  Ausklang': 

Am  Tage,  da  Dendid  alle  Dinge  schuf,  schuf  er  die  Sonne; 

Und  die  Somme  kommt  vor,  geht  nieder,  kommt  wieder. 

Er  schuf  den  Mond;  und  der  Mond  kommt  .... 

Er  schuf  die  Sterne;  und  die  Sterne  kommen  .... 

Er  schuf  den  Menschen; 

Und  der  Mensch  kommt  vor,  geht  nieder  in  den  Grund  und  kommt  nicht  wieder. 

Solche  getragene  sinnschwere  Poesie,  ein  Stück  alter  Didaxis,  ist  natür- 
lich so  wenig  mehr  als  Schreichor  zu  denken,  wie  die  responsorischen 
Gebete,  die  der  ruhende  Indianer  mit  dem  Rauch  seiner  Tabakspfeife  auf- 
steigen läßt.  Doch  auch  die  erhabenen  Hymnen  der  Arier  oder  Semiten 
weisen  durch  ihren  Bau  auf  den  chorischen  Ursprung  zurück,  gieich 
dem  Jubelschall  Till  Tul  beim  Julspiel  Skandinaviens  oder  dem  Doppel- 
ruf ccEie  TttOpe  (teurer  Stier)  am  Schlüsse  des  althellenischen  Dionyso.s- 
liedes. 

Bestimmte  Einschnitte  des  Jahres  laden  die  Ehrfurcht  des  Menschen 
zur  Huldigung  ein.  Man  grüßt  die  Sonnenwende  und  die  tanzfrohen  Voll- 
mondnächte, die  Regenzeit  und  die  Ernte.  Der  Ackerbau  ist  mit  reli- 
giösem Kultus,  Mythus  und  Aberglauben  aller  Art  aufs  innigste  verbunden, 
sentimentale  Anschauung  der  Landschaft  aber,  auch  wo  die  scharf  von- 
einander abstechenden  Jahreszeiten  Kontrastgefühle  nähren,  dem  Natur- 
menschen völlig  fremd.  Er  faßt  keinen  pittoresken  Reiz.  Er  feiert  das 
fruchtbare  nährende  Erdreich.     Der  Birmane  bittet:   „O  komm,   Reisseele,    Ackerlieder. 

,,  .  .  Sexuelles. 

komm.  Komm  zu  dem  Feld",  „Schüttle  dich,  Großmutter,  schüttle  dich. 
Laß  den  Haufen  wachsen,  bis  er  gleicht  einem  Hügel,  gleicht  einem  Berg. 
Schüttle  dich",  oder  drohend:  „Großmutter,  du  hütest  mein  Feld,  achte  der 
Fremden,  binde  sie,  laß  sie  nicht  heran."  Die  samoanische  Libation  der 
Erstlingsfrüchte  gilt  holden  und  unholden  Gottheiten:  „Hier  ist  Ava  für 
euch,  o  Götter,  seid  uns  gnädig,  gebt  reiche  Nahrung!  Hier  ist  Ava  für 
euch,  unsre  Kriegsgötter,  laßt  ein  starkes  Volk  im  Lande  sein!  Hier  ist 
Ava  für  euch,  o  segelnde  [d.  h.  fremde,  feindliche]  Götter,  kommt  nicht 
hierher,  sondern  geht  in  ein  ander  Land!"  Wie  die  Ackerlieder,  die  z.  B. 
als  versteinerter  Text  der  Arvalbrüder  aus  uritalischer  Frühe  weit  in  die 
Kaiserzeit  fortdauern,  so  haben  Feste  der  menschlichen  Geschlechtsreife, 
der  Jünglingsweihe,  der  Hochzeit  einen  religiösen  Charakter.  Es  dauert 
sehr  lange,  bis  eine  litauische  Braut  in  sanften  Strophen  ihrem  Mütterlein 
aufsagen  kann,  der  Bursch  seiner  Erwählten  „fensterlnd"  ein  melodisches 
Ständchen  (TrapaKXauciGupov)  bringt.  Hochzeitbitter  und  Fremde  allerlei 
halbdramatischen  Fug  und  Unfug   verüben  —  das   Urepithalamion,  unser 


11       Erich  Schmidt:  Die  Anfänge  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

„hileich",  beruht  auf  dem  Gebot:  „Seid  fruchtbar  und  mehret  euch",  wozu 
nicht  bloß  altrömische  Carmina  fescennina  mit  dem  Phallus  winken. 

Von  tierischer  Stillung  des  Geschlechtstriebes  steigt  die  Menschheit 
zur  ehelichen  Gemeinschaft,  die  auf  Fortpflanzung  zielt  und  wie  der  oft 
verglichene  Feldbau  religiös  geweiht  ist.  Wer  mit  Recht  g*egen  die  völlige 
Erotik. Religion.  AbleugTiung  den  Einzelgesang  auch  erotischer  Art  auf  recht  primitiven 
Stufen  findet,  darf  deshalb  keinesweg's  so  weit  g^ehen,  seelenvolle  Liebes- 
rede des  Individuums  schon  hart  neben  den  ältesten  rohsinnlichen  Massen- 
tänzen zu  behaupten.  Wiederum  werden  diese  obszönen  Reigen  oft  schief 
beurteilt,  weil  man  den  Evolutionen  der  ja  nicht  g'emeinsam,  geschweige 
denn  paarweise  tanzenden  Geschlechter  einen  rein  erotischen  Charakter  bei- 
mißt, wie  ihn  selbst  im  heutigen  Deutschland  der  Schuhplattler  dem  Be- 
schauer offenbaren  mag.  Denn  an  das  Balzen  eines  Auerhahns  erinnert 
dieser  gewiß  aus  alter  Tiemachahmung  entsprungene  Tanz:  das  Männchen 
umkreist,  seine  starken  Schenkel  und  Lenden  zur  Lockung  patschend,  sich 
duckend  und  hinanschnellend,  dazwischen  juchzend  die  passiv  zuwartende 
Henne,  bis  er  sie  packt  und  emporschwingt.  Gleichwohl  werden  die  auf 
den  Karolineninseln  heimischen  gemeinsamen  Lusttänze  und  die  ebenda 
sogar  zur  Totenfeier  für  eine  genußlos  abgeschiedene  Jungfrau  üblichen 
lasziven  Mädchenreigen  erst  einer  eingerissenen  Entartung  ihr  Dasein  ver- 
danken, und  diese  Totenfeier  zeigt  immerhin  ein  religiöses  Geprägte.  So 
findet  noch  heute  bei  Südslawen  ein  längeres  sexuelles  Austoben  in  heißen 
Tänzen  und  schamlosen  Liedern  unmittelbar  nach  der  Herbsternte  statt, 
bedeutsam  für  das  enge  Band  zwischen  der  fruchtbaren  Mutter  Erde  und 
der  menschlichen  Brunst.  Die  scheußlichen,  jeden  sexuellen  Akt  dar- 
stellenden Tänze  mancher  w41den  Völker,  von  Männern  wie  von  Weibern, 
wollen  doch  die  rohe  Paarung  dem  Gottesdienst  unterwerfen,  und  auch 
das  Ekelhafteste  wird  von  den  australischen  Urbewohnern  als  heilige  Sym- 
bolik behandelt.  Diese  Watschandi.s,  wohlgemerkt  die  Männer  allein  mit 
strengster  Femhaltung  der  Weiber  und  wohlgemerkt  beim  Neumond  in 
der  Zeit  der  Yamreife,  führen  einen  nächtigen  Tanz  um  eine  frische,  künst- 
lich umbuschte  Grube,  mit  gerade  vorgestreckten  Speeren,  die  endlich  in 
die  tabuierte  Höhlung  hineingestoßen  werden  unter  dem  Refrainchor,  der 
das  Spiel  erklärt  {ptilli  iura,  pulli  ntra,  pullt  nira,  wafaka:  7i7illa  fossa . ... 
Vulva).  Daß  die  ehestrengen,  sinnigen  Koths  sehr  obszöne  Tänze  mit  den 
gröbsten  Worten  kennen,  darf  nicht  vom  Standpunkt  unserer  Sittlichkeit 
Tierpoesie,  beurteilt  werden.  Der  mandanische  Büffeltanz,  die  uritalischen  Luperkalien 
(ein  Wolfsreigen  von  Hirten),  die  Defloration  der  kurdischen  Braut  als 
„junger  Kuh"  durch  den  Priester  als  „großen  Mastochsen"  sind  religiöse 
Feiern.  Sie  liefern  zugleich  Beispiele  aus  der  überall  wuchernden  Tier- 
dichtung, die  ja  einer  naiven  Überzeugung  der  Erhabenheit  oder  Unge- 
schiedenheit  entspricht  und  jenes  von  .späten  Griechen,  von  modernen 
französischen  Fabulisten  geprägte  Wort:  „Zur  Zeit  als  die  Tiere  redeten" 
natürlich  nicht  kennt.    Wer  den  Tiger  ehrfurchtsvoll  begrüßt:  „Großvater", 


V.  Gattungen  chorischer  und  individueller  Lyrik.  j  c 

den  Bären:  „erhabener  Greis",  wer  mit  kindlichster  Ätiologie  die  Eidechse 
zur  Spenderin  der  Hängematte  macht,  wer  nicht  bloß  einen  Nachbarstamm 
für  Wassertiere  und  Affen  für  Waldmenschen  hält,  sondern  in  der  großen 
Fauna  auch  Heldenbewunderung,  Ahnenverehrung  und  Fruchtbarkeitskultus 
sucht,  der  muß  gewiß  ein  religiöses  Verhältnis  zum  Tier  ausbilden.  Den- 
noch ist  es  eine  falsche  Verallgemeinerung,  jeden  Tiertanz  für  ernsten 
Gottesdienst  zu  erklären. 

Genug   davon.      Zimpferlichkeit   aber    darf   vor    den    Naturvölkern    so 
w^enig  herrschen  wie  bei  der  Beurteilung  unserer  Volkslieder  ein  empfind- 
samer Wahn,  hier  sei  alles  rein  und   zart,   da  doch  im  geselligen  wie  im 
persönlichen  Sang  Derbes  und    Sanftes,    Rohes   und    Inniges   beieinander 
stehn  und   die   rasch  verwehten   oder  lang  und  weithin  variierten  Kinder 
des  Augenblicks,  Schnaderhüpfln,  Rispetti,  Coplas,  Pantun  und  wie  solche 
Improvisationen  sonst  heißen,  bald  grobe,  bald  anmutige  Liebesepigramme 
darstellen.     Diese  „Vierzeiligen",  die  auch  einen  Wetteifer  der  Huldigung 
entfachen  oder  als  Trutzgsangln  hin  und  her  fliegen,  müssen  wohl  zu  den 
frühen  Gattung-en  individueller  Poesie  gerechnet  werden.     Wir   haben  die 
Erotik  des  Einzelnen  schon  gestreift  und  dürfen,   obgleich  niedere  Wilde    Einzeierotik. 
noch  keine   seelische   Beziehung  zwischen   den  Geschlechtem  kennen,   im 
Fortgang  nicht  aus  dem  Mangel  an  Zeugnissen   ohne   weiteres  das  Nicht- 
vorhandensein erschließen,  zumal  da  alles  Chorische  sich  der  Beobachtung 
aufdrängt,    das   Individuelle,   Einsame  jedoch   sich  ihr  leiser   und   mit  be- 
wußter Scheu  entzieht.     Im  Kannibalismus  Brasiliens   ist  doch   schon  jene 
Bitte  an  die  Schlange  gedichtet  worden,  sie  möge  stillhalten  und  das  bunte 
Hautmuster   für   eine   Liebesgabe    herleihen.      Aber   dieser   galante   Wilde 
hätte  noch  lange  nicht  seine  Sehnsucht  in  so  vollen,  tiefen  Akkorden  er- 
gießen können,  wie  der  junge  Lappe,   der  alle   grünen  Zweige   weghauen 
möchte,  um  den  Orrasee  zu  schauen,   und  Flügel  der  Krähe  besitzen,  um 
dorthin  zu  seinem  Mädchen  zu  fliegen.     Die  mit   dem  Schlangenband  Be- 
schenkte  wäre  noch  lange   nicht  fähig   gewesen,   den  Schatz   frauenhafter 
Weltpoesie    durch    Töne    zu    bereichem,    altchinesischer    Liebeslyrik    aus 
hohen,  serbischer  Frauen  dichtung*  aus   niederen  Kreisen,    oder  auch  nur  Frauen.  Kinder, 
mancher  afrikanischen,    polynesischen  Weibesstimme   vergleichbar.     Doch 
überall  und  immer  wiegt  die  Mutter  ihr  Kleines  in  den  Schlaf,  summend 
und  singend.    Selbst  das  Weddaweib  kennt  mehr  als  ein  bloßes  Eiapopeia: 
„Nachdem  ich  dich  zur  Ruhe  gelullt  habe  auf  einem  Uyanblatt,  Nachdem 
ich  dich  zugedeckt  habe  mit  einem  Zweig  von  Pakablättem,  Nachdem  ich 
dich    gefüttert    habe    mit  Wandurafrüchten    —    Komm    und    schlaf,    mein 
Kind."    Heranwachsend  üben  die  Kinder  selbst  aus  dem  Naturtrieb  heraus 
und  auch  in  Nachahmung  der  Alteren  ihre  Ringelreihen:  „sie  singen  sich 
selber  was  dazu",  sagt  der  Beobachter  der  Eskimos;  wir  wissen  auch,  daß 
die  aufgefädelten  Kettenzeilen  in  Afrika   so  gut  wie   in  Europa  heimisch 
sind.     Das   Mutterlied   aber   begnügt    sich   nicht   mit   einem   leisen   „Susa- 
ninne",   sondern   gibt    auch   dem  Stolz  Ausdruck  und  Ausblick;   so  preist 


j6       Erich  Schmidt:  Die  Anfange  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

die  schnalzende  Hottentottin  ihren  Bambino,  indem  sie  seine  Körperteile 
streichelt  und  küßt:  „Du  Sohn  einer  helläugigen  Mutter,  Du  Weitsichtiger, 
Wie  wirst  du  einst  Spur  schneiden  [Wild  erspähen];  Du,  der  du  starke 
Arme  und  Beine  hast.  Du  Starkgiiedrig-er,  Wie  wirst  du  sicher  schießen, 
Die  Herrero  berauben,  Und  deiner  Mutter  ihr  fettes  Vieh  zum  Essen 
bringen;  Du  Kind  eines  starkschenkligen  Vaters,  Wie  wirst  du  einst  starke 
Ochsen  zwischen  deinen  Schenkeln  bändigen;  Du,  der  du  einen  kräftigen 
Penis  hast,  Wie  wirst  du  kräftige  und  viele  Kinder  zeugen!" 

Arbeit  Die  Fülle  der  Arbeitslieder,  von  denen  manche  durchaus  oder  vor- 

•  nehmlich  dem  Weib  gehören,  ist  uns  schon  aufg-egangen  und  wir  kennen 
ihre  Vortrag'sweisen.  Hilfreiche  Zauberformeln  verknüpfen  sie  hier  und 
da  mit  religiöser  Dichtung,  aber  auch  der  Ackerbau,  der  am  stärksten  die 
mythischen  Elemente  begünstigt,  ruft  früh  heitere  Weisen  ohne  jede  Be- 
ziehung auf  einen  Kult  hervor  und  führt  den  Menschen  von  bloßen  Takt- 
lauten zu  Poesieen,  die  bei  anderer  Arbeit  nicht  gedeihen  oder  fördersamen 
Schwung  erhalten  können.  Dem  altägyptischen  Dreschlied:  „Stampft  für 
uns,  stampft  für  uns,  ihr  Ochsen,  Stampft  für  uns,  stampft  für  uns,  Scheffel 
für  eure  Herren",  antwortet  nach  Jahrtausenden  das  korsische:  „Stampft 
nur  wacker  .  .  .  Cudanellu  und  Mascarone  [so  heißen  die  Rinder]  .  .  Ohi! 
so,  drescht  ihr  wackern  Tiere,  Flink  als  wären's  euer  viere,  Ihr  und  wir, 
hailoh,  hailoh!  Uns  das  Korn  und  euch  das  Stroh!"  Den  Reichtum  an 
Arbeitsliedern  aller  Art  und  aus  aller  Welt  mag  man  in  Büchers  inhalt- 
schwerem Werk  übersehen :  .sie  sind  ewig,  obgleich  die  vordringende  Herr- 
schaft der  Maschine  ihnen  ebenso  einen  Dämpfer  aufsetzt,  wie  das  moderne 
Leben  dem  Volkslied  seine  Blüten  abstreift  und  der  Schulunterricht  die 
Improvisationskraft  der  Analphabeten  samt  mancher  künstlerischen  Haus- 
arbeit zurückdrängt. 

Kampf.  Unvergänglich  ist  gleich  dem  bindenden  Takt  bei  gemeinsamer  fried- 

licher Tätigkeit  das  Massengeschrei  des  Krieges.  Unsere  Truppen  rufen, 
sich  befeuernd  und  den  Feind  erschreckend,  ihr  Hurra,  wie  ihre  Ahnen 
den  Barditus  anstimmten  und  die  Wilden  im  Vorsturm  brüllen.  Marsch- 
lieder (eiaßarripia)  entwickeln  sich  aus  einfachen  Takten,  bis  auch  der  Feld- 
herr selbst  vorsingt;  wie  nach  unserem  Ludwigslied  der  König  {joh  alle 
savian  sungun:  Kyrieleisoii).  Wir  mögen  heut  an  Bittgänge  und  Wall- 
fahrten denken.  Wenn  die  Australier  zur  Jagd  einen  Chor  aus  ein  paar 
Sätzchen  mit  dem  Refrain  „Die  Xarrinyeri  kommen"  und  hinterdrein  be- 
hagliche Einzellieder  mit  dem  Refrain  „Känguru,  Känguru"  singen,  so 
bewegt  sich  das  natürlich  engverwandte  Kriegslied  vom  Gebrüll  zum  be- 
teuernden Satz:  „Ich  schlage  dich  nieder.  Ich  bin  tapfer",  zur  anaphorischen 
Aufforderung  alle  Glieder  des  Gegners  zu  .spießen,  zur  Herzählung  der 
starken  Waffen  mit  einem  Schlußkommando:  „Springt  und  zielt  scharf!", 
zum  Epinikion.  Bevor  es  in  den  Kampf  geht,  stärken  sich  die  Krieger 
eines  Naturvolkes  durch  aufregenden  Tanz;  nach  dem  Gelingen,  vielleicht 
beim  Siegesmahl,  feiern   .sie   chorisch   den  Triumph.     Die  Weiber  bleiben 


V.     Gattungen  chorischer  und  indi\-idueller  Lyrik.  j  -7 

der   höchsten  Männerarbeit    gegenüber    nicht  müßig:    unter    mannigfacher 
althebräischer  Siegespoesie  ragt  Deborahs  Jubellied,   daß  Jahve  Roß  und 
Reiter  vernichtet  habe,  hervor  mit  dem  Aufruf  an  den  Chor  „Singet";  dem 
Richter  Jephtha  zieht  die  Tochter,   ihren  Jungfrauen   voran,   „mit  Pauken 
und  Reigen"  entgegen,  wie   auf  Südseeinseln    und  anderswo  während  des 
Kriegszuges  Frauenchöre    daheim   hoffnungsvoll   erschallen,   nachher  aber 
die  glücklich  Zurückkehrenden  preisen.     Ein  Zauberer,  wo   es  deren  gibt, 
mag  heftig  gestikulierend  und  fluchend  vorantanzen,  um  seine  Mannschaft 
zu  feien.     Mit  Hohngebärden  wird   dem  Feind  Herausforderung  und  Ver- 
wünschung   entgegengeschleudert,   und    der  Besiegte    will    wenigstens    in 
ungebrochner  Haltung  sterben.    Montaignes  gefangener  Brasilianer  trotzt: 
„Kommt,  ihr  alle,  und  freßt  mich,  arme  Toren,  schmeckt  das  Fleisch  eurer 
eignen  Vorfahren,  das  diesen  meinen  Körper  genährt  hat"  . .  .  invention  qui 
ne  sent  aucune-jnent  la  barbarie,   fügt  der  Franzose  mit  naivster  Bewunde- 
rung hinzu.    Chorgesang  nach  der  Schlacht,  auch  von  Tacitus  für  die  alten       Ruhm. 
Germanen  bezeugt,   ist   natürlich   keiner  Niederlage  gewidmet;   sie  soll  in 
Vergessenheit    fallen,    ohne   nachwirkend   den   Mut   zu   drücken.     Nur   ein 
Sieg    über    die    „Densen"    ward    in    Ditmarschen    besungen;    nicht    anders 
ließen  die  Indianer  vor  und   nach   dem  Feldzug  ausführliche  begeisternde 
Kunde   von    glorreichen  Kriegstaten   ertönen,    die   sie   auch   einer  kampf- 
losen   Zeit    des    Verfalles    als    ehrwürdig    und    segenbringend    bewahren. 
Unum   a7inaliu7n   et  viemoriae  genus:    hier  in  Liedern  mit  anwachsendem 
epischem  Stoff  keimt  die  geschichtliche  Überlieferung,  von  Stämmen  fort- 
gepflanzt, als  majorum  laudes   auch   durch  ein   stolzes  Familienbewußtsein 
zum  Vorbild  erhalten.     Der  Botokude   läßt   es  noch  bei  dem  kahlen  Lob- 
spruch:   „Der   Häuptling  hat  keine  Furcht"    bewenden;    der  Indianer,   ein 
geübter  Rhetor,  bildet  hyperbolische,  tautologieenreiche  Kampf-  und  Preis- 
lieder,    Dem    Neger    ist    es    nicht    mehr    genug,    zum    Valet    einsilbig    zu 
wiederholen:     „Er    scheidet",   sondern   das  Thema  „Der  weiße  Mann  geht 
heim"  wird  von  einem  Vorsänger  und  einem  Chor  mit  vielen  O!  o!  o!  im 
Trommeltanz  zur  Darstellung  des  ganzen  Verlaufes  der  Stanleyschen  Ex- 
pedition  erweitert,   und   die  Begebenheiten   schwinden  nimmer  völlig   aus 
dem  Gedächtnis.    Wo  keine  Häuptlinge  emporragend  gebieten,  bei  Busch- 
männern, Feuerländern  usw.,  ist  nicht  die  Spur  einer  Aristeia  und  heroischer 
Überlieferung.    Ruhmlieder  (K\e'a  dvbpOuv)  sind  adelig  geartet.    Sie  werden 
zunächst  dem  Helden  in  Person   zugejauchzt,  und  er  kann  sie,  wenn  ein- 
mal   die    bloße   Improvisation   einer  längeren,  gehaltvolleren  Fassung  g^e- 
wichen  ist,  nach  Jahren  vernehmen:    Odysseus  hört  am  Phaiakenhof  eigene 
Großtaten    aus   Demodokos'   Munde;    nicht  viel    anders   wurde    noch    dem 
Türkensieger  Tschupisch    Stoja    der  Preis    des   Salaschfeldes    neun    Jahre 
später  von    einem    fahrenden   Sänger  vorgetragen.     Und   der  Held  selbst 
besingt,  was   eben   seiner  Stärke   geglückt  ist:   ein  Basutoskrieger  erzählt 
nach  Kampf  und  Bad  den  Umsitzenden  im  Zelt  erst  redend,  dann  singend 
seine   rühmlichen  Abenteuer;   ein  Indianerhäuptling  spielt  vor    dem  repe- 

DiE  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  2 


l8       Erich  Schmidt:  Die  Anfange  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

tierenden  Chor  die  Trümpfe  seines"' Kriegspfades  aus:    „Wenn  ich  mich  den 
Feinden  entgegenwerfe,  bebt  die  Erde  unter  meinen  Füßen"  .  .  .     Bei  Be- 
grüßungen  und  Abschieden    ertönt    das  Lob,    und    es   gibt   dem  Schmaus 
eine  höhere  Weihe  als  die  gemeine  gesellige  Freß-  und  Sauflyrik. 
Totenfeier.  Xicht  ungerühmt   darf  der  verstorbene   Held   dahingehen.     Das  Epi- 

cedium  entfaltet  sich  aus  Schluchzen  und  Wehgeschrei  zu  reichen  Formen 
und  Riten,  auch  wohl  zu  allgemeiner  Betrachtung  der  Vergänglichkeit; 
doch  tritt  ein  solches  Fidschilied  („Der  Tod  ist  leicht.  Zu  leben,  was  nützt 
es?  Der  Tod  ist  Ruhe")  bei  den  abstraktionsarmen  Naturvölkern  so  selten 
hervor,  wie  die  regelmäßige  Feier  des  Seelentages.  Daß  Jephthas  Tochter 
jährlich  eine  halbe  Woche  hindurch  von  den  Jungfrauen  gleich  einer  ent- 
rafften Proserpina  bejammert  wird,  erscheint  viel  auffälliger,  als  wenn  in 
demselben  Buch  der  Richter  Siseras  Mutter  ihre  Klagen  häuft.  Eine 
Person  singt  oder  spricht,  der  Chor  stimmt  mit  Ach  und  Weh  ein.  Bluts- 
verwandte führen  das  Wort.  Warum  die  Witwe  hinter  der  Schwester 
zurücksteht,  begreift  sich  wohl;  sie  kann  aber  im  stillen  die  Wollust  des 
Leides  finden,  und  mangelnde  Aufzeichnung  von  Klagen  um  eine  verlorene 
Braut,  einen  entrissenen  Geliebten  beweist  doch  nicht,  daß  solche  Nänien 
bei  Upper  ivilds  unmöglich  seien.  „Mein  junger  Sohn  (Bruder),  nie  werd' 
ich  ihn  wiedersehn!"  lautet  einzelner  und  chorischer  Nachruf  in  Australien. 
„Wehe  mir,  daß  ich  deinen  Sitz  anschauen  soll,  der  nun  leer  ist!  Deine 
Mutter  bemüht  sich  vergebens,  dir  die  Kleider  zu  trocknen.  Sieh,  meine 
Freude  ist  ins  Finstre  gegangen  und  in  den  Berg  gekrochen":  so  beredt 
hebt  der  grönländische  Vater  mit  heulender  Stimme  den  Nekrolog  an  und 
entwirft,  während  die  umsitzenden  Männer  das  Haupt  in  die  Hand  stützen 
und  ihre  Frauen  schluchzend  auf  dem  Boden  liegen,  einen  ganzen  alltäg- 
lichen Lebenslauf,  bis  er  wieder  zur  eigenen  Klage  einlenkt.  Stilistisches 
Hauptmittel  der  Nänie  ist  allenthalben  die  unmittelbare  Apostrophierung, 
wenn  der  einfache  Aufruf  zur  Trauer  überboten  wird  und  das  Ereignis  die 
Leute  stärker  anpackt  als  etwa  Livingstones  Tod  die  beständig  impro- 
visierenden Neger.  Da  hieß  es  nur:  „Heute  starb  der  Engländer,  der 
andres  Haar  hatte  als  wir.  Kommt  und  schaut  den  Engländer",  während 
den  Andamanen  ein  ferner  halb  mythischer,  halb  historischer  Fall  in  einer 
zersungenen  dunkeln  Totenromanze  fortdauert.  Mit  der  starken  Anapher 
„Ach,  schmerzvoll,  o!"  heften  die  Madagassen,  um  das  Erlöschen  eines 
ganzen  Geschlechts  zu  betrauern,  ein  knappes  Sätzchen  an  das  andere 
imd  stöhnen  nach  jedem  epiphorisch:  „Weinend  allnächtlich!"  Ergreifend 
schildern  die  nordostindischen  Ho  ihre  Verlassenheit  und  Sehnsucht,  bis 
das  lange  Lied  ausklingt:  „Gefegt  wird  für  dich  und  gesäubert;  und  wir 
sind  hier,  die  dich  allzeit  hebten;  und  hier  ist  Reis  für  dich  und  Wasser; 
kehre  heim,  kehre  heim,  kehre  zu  uns  zurück!"  Man  vergegenwärtigt 
sich  Tugenden  und  Taten  des  Verstorbenen;  man  gibt  ihm  Speisen,  Ge- 
räte, Waffen  mit  in  das  nun  erhöhte  Leben.  So  wird  der  Nadowesse,  wie 
Schiller  es  einem  englischen  Reisewerk  nachdichtet,  aufrecht  auf  die  Matte 


V.  Gattungen  chorischer  und  individueller  Lyrik.  ig 

gesetzt  inmitten  der  Männer,  die  reihum  schwülstige  Ansprachen  zu  seiner 
Ehre  hier  und  drüben  halten;  der  Klagegesang  fällt  den  Weibern  zu. 
Das  ist  über  die  ganze  Welt  hin  ihr  besonderes  Gebiet;  bei  primitiven 
Völkern,  als  bezahltes  Gewerbe  der  praeficae  in  Altrom,  als  weiche  Liebes- 
pflicht z.  B,  bei  den  Litauerinnen,  als  heftigeres  Amt  für  Neugriechinnen 
und  auf  Korsika.  Uralt  leben  diese  vielberufenen  voceri,  meist  von  den 
nächsten  Verwandten  gesungene  Frauenlieder,  fort  in  epithetenreichen, 
bequem  abwandelnden  Anrufen:  „O  du"  .  .  .;  wenn  es  einer  mala  morte  gilt, 
mit  der  heißen  Mahnung-  zur  Blutrache,  Dabei  halten  die  Weiber  einen 
leidenschaftlichen  Umgang  (caracolö)  um  den  Sarg,  noch  ebenso  wie  man 
das  auf  altgriechischen  Vasen  sieht.  Herrschern  aber  ziemt  der  feierliche 
Umritt:  um  Attilas  aufgebahrte  Leiche  reiten  ihn  lobend  die  vornehm- 
sten Mannen;  Beowulfs  Grabhügel  umkreisen  zwölf  Edelinge,  singend  den 
Hochgesang,  „wie  es  sich  ziemt".  Und  erschöpfend  stellt  die  Ilias  alle 
Einzelklagen  und  alles  chorische  Leid  nach  Patroklos'  Tod  bis  zu  den 
großen  Opfern  und  Kampfspielen  dar  —  Sänger  stimmen  an,  „ringsum 
seufzen  die  Weiber".     Noch  Lucian  mustert  reiche  Totenfeier. 

Der  frohen  oder  trauernden  Verherrlichung  steht  als  Urgattung  die  Satire. 
Satire  gegenüber,  die  ja  auch  Kinder  mit  grausamer  Mimik  an  un- 
sympathischen Wesen  oder  Mißgestalten  üben.  Der  Dakota,  der  seinen 
sieg-gekrönten  Häuptling  ironisch  preist:  „Freund,  du  hast  dich  schlagen 
lassen",  wird  gewiß  des  vernichtenden  Spottes  mächtig  sein.  Man  kopiert 
drollige  Tiere  zur  Belustigung  und  übertreibt  lächerlich  auffallende  Eigen- 
heiten des  Nächsten,  des  Fremden,  was  auch  in  der  Namengebung  seinen 
Niederschlag  findet.  Afrikaner  stellen  sich,  von  Refrainschreiern  umgeben, 
auf  und  heften  jedem  Vorüberkommenden  eine  höhnische  Zensur  an.  „O 
was  für  ein  Bein!  Du  känguruhüftiger  Kerl!"  singt  mit  Karikaturgebärden 
der  Australier.  Virtuosen  in  Wort  und  Gestus  sollen  die  Ostjaken  sein. 
Zahlreiche  Spottverse  sind  aus  dem  Mund  der  Suahelis  aufgezeichnet 
worden.  Stundenlang  sitzen  tatarische  Männer  auf  der  Lästerbank  und 
ziehen  einander  im  Stegreif  auf,  wie  das  Hänseln  und  „Tratzen"  unserer 
Alpler  zwischen  einzelnen  oder  Verbänden  als  Wortgefecht  dem  hand- 
greiflichen Hader  vorausgeht.  Die  sehr  selten  zur  Prügelei,  geschweige 
zum  Mord  schreitenden  Eskimos  haben  ihren  „Singestreit",  der  hier  als 
ein  Hauptbeleg  naiver  Satire  mit  den  anschaulichen  Worten  des  alten 
Cranz  vergegenwärtigt  werden  soll:  „Wenn  ein  Grönländer  von  dem 
andern  beleidigt  zu  sein  glaubt,  so  läßt  er  darüber  keinen  Verdruß  und 
Zorn,  noch  weniger  Rache  spüren,  sondern  verfertigt  einen  satyrischen 
Gesang,  den  er  in  Gegenwart  seiner  Hausleute  und  sonderlich  des  Frauen- 
volkes so  lange  singend  und  tanzend  wiederholt,  bis  sie  alle  ihn  auswendig 
können.  Alsdann  läßt  er  in  der  ganzen  Gegend  bekannt  machen,  daß  er 
auf  seinen  Gegenpart  singen  will.  Dieser  findet  sich  an  dem  bestimmten 
Ort  ein,  stellt  sich  in  den  Kreis,  und  der  Kläger  singt  ihm  tanzend  nach 
der  Trommel  unter  oft  wiederholtem  Amna  ajah  seiner  Beisteher,  die  auch 


Dramas. 


2  0       Erich  Schmidt:  Die  Anfänge  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

jeden  Satz  mitsingen,  so  viel  spöttische  Wahrheiten  vor,  daß  die  Zuschauer 
was  zu  lachen  haben.  Wenn  er  ausgesungen  hat,  tritt  der  Beklagte  her- 
vor, und  beantwortet  unter  Beistimmung  seiner  Leute  die  Beschuldigung 
auf  eben  diese  lächerliche  Weise.  Der  Kläger  sucht  ihn  wieder  ein- 
zutreiben, und  wer  das  letzte  Wort  behält,  der  hat  den  Prozeß  gewonnen, 
und  wird  hernach  für  etwas  recht  Ansehnliches  gehalten,  Sie  können 
dabei  einander  die  Wahrheit  gar  derbe  und  spöttisch  sagen,  es  muß  aber 
keine  Grobheit  und  Passion  mit  unterlaufen;  die  Menge  der  Zuschauer 
dezidiert,  wer  gewonnen  hat,  und  die  Parteien  sind  hernach  die  besten 
Freunde."  Ähnlich  werden  alle  Rechtshändel  ohne  Strafen  und  Repres- 
salien geschlichtet.  „Doch  sieht  man  wohl,  daß  es  dabei  nur  auf  ein  gutes 
Maulwerk  ankommt;  daher  die  berühmtesten  Satyrici  und  Sittenlehrer 
auch  unter  den  Grönländern  gemeiniglich  die  schlechtesten  in  ihrer  Auf- 
führung sind." 

Dieser  schon  so  komplizierte  Vorgang  mit  doppelter  Rüstung,  Solo- 
gesängen und  Tanzbewegungen  zur  Trommel,  Halbchören  und  einem  Ge- 
richtshof schließe  unseren  Eilmarsch  durch  die  Gattungen,  weil  er  beson- 
ders eindringlich  den  Weg  vom  bloßen  Ruf  her  entwickelt. 

wunein  des  \^.  AusbHck  auf  das  Drama.  Als  Uhland  seinen  Tübinger  Studenten 

eine  ursprüngliche  „gewisse  Ungeschiedenheit  der  Geisteskräfte'*  dartat, 
fuhr  er  fort:  „so  erwächst  auch  in  der  Poesie  selbst  erst  der  ungeteilte 
Baum,  bevor  er  sich  in  seine  Äste  spaltet."  Im  Gegensatze  zu  dem  eng- 
lischen Forscher,  der  alle  Dichtung  aus  Selbstgesprächen  ableitet,  und  zu 
blinden  Verfechtern  der  epischen  Priorität  sehen  wir  eine  Ur- Allkunst 
Laut  und  Gestus  nach  dem  Chortakt  mannigfach  regen.  Sie  umfaßt  Ge- 
sang (Geschrei),  Tanz,  Instrumentalbegleitung,  ruft  sehr  früh  aus  der  Masse 
den  SoUsten  auf,  scheidet  also  Einzelkräfte,  Komparserie,  Orchester  und 
Publikum  und  enthält  als  Singtanz,  Danza  hablada  (gesprochener  Tanz), 
Pantomime,  Ballett  Elemente  des  Dramas,  die  Oper  eingeschlossen.  Ein 
Regisseur  steht  bereits  an  der  Spitze,  um  den  Takt  zu  geben,  die  Figuren 
flügelmännisch  vorzubilden  und  als  Vorsänger  zu  wirken.  Daß  es  auf  sehr 
primitiven  Stufen  doch  nicht  an  aller  Ausstattung  fehlt,  lehrt  außer  den 
vielen  Berichten  ein  Gang  ins  Museum  für  Völkerkunde,  wo  geflochtene 
und  geschnitzte  Kopfmasken,  krinolinenartig  abstehende  stroherne  Tanz- 
röcke u.  dgl.  von  Amerika  wie  von  der  Südsee  her  zur  Schau  liegen. 
Die  Kunst  der  Bemalung  wird  reichlich  gepflegt.  Sogar  ein  Magazin  für 
Requisiten  ist  im  Klubhaus  vorhanden.  Nach  der  lustigen  Seite  weisen 
allerhand  mimische  Scherze,  zu  denen  sicherlich  auch  manche  Tierreigen 
wie  der  Froschtanz  mit  obligater  Quakbegleitung  oder  späterhin  austra- 
lische, kamtschadalische  Karikatur  fremder  Besucher  gerechnet  werden 
müssen;  nach  der  ernsten  gottesdienstlichen  und  heroischen  die  Fülle  all 
der  vorhin  berührten  Erscheinungen.  Jagd-  und  Kriegspantomimen  bringen 
Spannung,   Stoß   und    Gegenstoß    in    das   Urdrama,     Feierliche   Riten   und 


VI.  Ausblick  auf  das  Drama.  2  l 

Liturgieen  führen  zu  vollerer  Darstellung,  zu  fester  Gliederung.  Einfache 
„Conflictus"  wie  der  Streit  zwischen  Sommer  und  Winter,  Schnitter- 
aufzüge u.  dgl.  bleiben  jahrtausendelang  in  Geltung,  und  manche  Völker 
—  man  denke  nur  an  die  hochentwickelte  semitische  Poesie  —  kommen 
nicht  über  mimische  Tänze  und  über  Dialoge  hinaus  zu  einem  wirklichen 
Drama,  während  etwa  bei  den  Chinesen  sowohl  die  kompendiarische 
Sonderszene  als  die  monströse  Länge,  bei  den  schauspielerisch  ungemein 
begabten  Japanern  ein  Mischmasch  krasser  und  hanswurstmäßiger  Effekte 
noch  den  unüberwundenen  Tiefstand  bezeichnen.  Doch  auch  das  Erhabenste 
aus  Uranfängen  abzuleiten,  von  den  Gipfeln  der  attischen  Tragödie,  des 
mythisch-heroischen  Bürgerspieles  zu  Dionysos'  Ehren,  und  der  attischen 
Komödie  mit  ihrem  Phallusattribut,  ihren  Tierchören  zurückzudringen  bis 
in  den  Bergwald,  wo  die  „Böcke",  des  Gottes  voll,  orgiastisch  tobten,  hat 
uns  allmählich  die  entwicklungsgeschichtliche  Betrachtung  gelehrt.  Hier  Beispiel  der 
nun  sei  als  typisch  zusammengefaßt,  was  nach  flüchtiger  älterer  Kunde  von 
nahverwandten  Erscheinungen  der  eingehende,  mir  durch  meinen  Kollegen 
A.  Brückner  vermittelte  Bericht  des  russischen  Lehrers  Gondatti  über  die 
Mansen  vorbringt.  Dieser  arme  und  unkultivierte,  noch  wesentlich  scha- 
manistische  Stamm  im  fernen  Obgebiet  Nordwestsibiriens  kennt  nichts 
Höheres  als  seinen  uralten  Bärenkultus.  Ist  so  ein  heiliges  Tier  erlegt, 
dann  gibt  es  die  größten,  zum  Teil  bestialisch-sinnlich  ausartenden  Nacht- 
feste, die  sich  zusammensetzen  aus  Dreimännergesängen  mit  Reverenzen 
vor  der  ehrwürdigen  Beute,  Schmausen  und  improvisierten  kleinen  Dramen. 
Diese  werden  ebenfalls  von  drei  bewährten  Kräften  in  Holzmasken  auf- 
geführt, bei  voller  saturnalischer  Freiheit;  die  kurzen  Pausen  füllt  Chor- 
gesang aus.  Dreiunddreißig  solche  Einakter,  deren  in  jeder  Nacht  etwa 
zehn  zur  Schau  kommen  (also  bei  der  längsten  Dauer  des  Bärenfestes 
hundertundzwanzig!),  hat  Gondatti  analysiert.  Das  Urphänomen  ist 
natürlich  ein  religiöser,  zauberischer  Tiertanz  der  Jäger,  aus  dem  sich 
ernst  und  possenhaft,  auch  als  tragikomisches  Gemengsei,  zwei  Triebe 
entfaltet  haben.  Einmal  stellen  schlichte  Szenen  Freud  und  Leid  der  Jagd 
auf  Bären,  Zobel  usw.  und  des  Fischfanges  dar;  den  Verkehr  mit  Tobolsker 
Kaufleuten;  die  Verhauung  eines  Steuerbeamten;  die  Unterweisung  zweier 
Mädchen  durch  ein  gewitztes  älteres,  wie  Männer  zu  kapern  seien  —  also 
kleine  Lebensausschnitte,  die  entschiedenen  Realismus  gegenüber  jenem 
geheimnisvollen  Bärenkultus  atmen.  In  der  zweiten  Gruppe  herrscht 
größere  Verwicklung,  und  der  Umstand,  daß  solche  Stücke  besonders 
gegen  Ende  des  ganzen  Festes  gespielt  werden,  erweist  eine  bewußte 
Steigerung  des  Repertoires.  *  Menschliches  und  Dämonisches  zeigt  sich 
hier  noch  verschränkt:  zwei  Mansen  machen  mit  Hilfe  einer  Waldnymphe 
reiche  Jagdbeute,  weigern  ihr  aber  die  als  Lohn  begehrte  Heirat,  erlegen 
nun  nichts  mehr  und  schreien  endlich  verzweifelt  nach  der  Maid;  umsonst, 
sie  müssen  Hungers  sterben.  Neben  dieser  Romantik  erscheinen  ganz 
moderne  Motive:    ein  Samojede    kommt   zu   einem  Mansenpaar,    der  Wirt 


2  2       EiaCH  Schmidt:  Die  Anfänge  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

ist  seiner  fremden  Sprache  ganz  unmächtig,  aber  zwischen  der  kundigen 
Frau  und  dem  Gast  entwickelt  sich  nach  spaßhaften  Mißverständnissen 
eine  böse  Intimität,  bis  der  arme  Hahnrei  mit  dem  Saft  giftiger  Pilze  be- 
täubt wird  ...  So  steigt  in  diesem  Rahmen  das  Drama  vom  Tiertanz  bis 
zur  raffinierten  Ehebruchstragödie  hinan. 

Wurzelndes  YH.  Ausblick  auf  das  Epos.     Von  der  geselligen  Dramatik,  deren 

£«pos« 

chorische  Herkunft  überall  mit  Händen  zu  greifen  ist,  trennt  sich  die  nur 
dem  Gehör  und  dem  Geistesauge  gewidmete  Epik  schon  dadurch,  daß 
hier  einer  ruhend  erzählt  und  sein  Kreis  zwar  mit  Zeichen  heiterer  oder 
ernster  Teilnahme,  doch  im  wesentlichen  schweigsam  lauscht;  höchstens 
daß  bei  afrikanischen  Stämmen  kurze  Märchensätze  gewohnheitsmäßig  durch 
eine  Art  von  Musikrefrain  gedehnt  werden.  Sie  ist  daher  in  unserer  Ur- 
Allkunst  nicht  eingeschlossen,  aber  jeder  berichtende  Satz  in  einem  reli- 
giösen Hymnus,  einem  Preislied,  einem  Nachruf  gibt  ihr  ein  Samenkorn, 
dem  halb  lyrische,  halb  epische  Gesänge  entsprießen.  Denn  wer  wollte 
die  großen  Gattungen  überhaupt  reinlich  und  radikal  voneinander  scheiden! 
Goethe,  von  dreien  redend,  lobt  doch  ihr  Zusammenwirken  in  den  vorzüg- 
lichsten Balladen  der  Völker,  und  wir  bewundern  z.  B.  an  hudhailitischen 
Texten  der  vorislamischen  Zeit  die  gewaltige  Wucht,  mit  der  Taten  und 
Formen.  Erciguisse  Verewigt  werden.  Während  die  Chorpoesie  gebunden  sein  muß, 
eignet  der  Erzählung  von  vornherein  auch  ungebundene  Rede,  weshalb 
Prosadichtung  zwar  nicht  im  primitivsten,  doch  im  frühen  Kunstbereich 
anzusetzen  ist.  Später  sieht  man  die  beiden  Hemisphären  sich  vielfach 
schneiden,  und  solche  Mischformen  reichen  von  Hymnen,  Balladen,  Märchen 
bis  zur  großen  Cante-fable  des  romanischen  Mittelalters.  Die  überzeugende 
Rhetorik  gewinnt  in  Beratungen  ihre  Schwungkraft,  die  rührende  an  der 
Bahre.  Didaktisches,  als  starkes  Element  verschiedener  Liedgattungen, 
auch  in  knappen  Gebinden  uralter  Bauernweisheit  und  anderen  Sprüchen 
ausgeprägt,  bildet  sich  weiter.  Immer  und  allerwärts  sind  dem  Menschen, 
großen  wie  kleinen  Kindern,  Gebilde  des  eingeborenen  Fabulierdranges 
ein  lieber  Zeitvertreib  in  müßigen  Stunden  gewesen.  Von  kurzen  sonder- 
bar erscheinenden  Begebenheiten  an  und  aus  unbeholfener  enggepackter 
Erinnerung  heraus  zu  höheren  Sphären  der  Einbildungskraft  und  des  Vor- 
trages. Woher  dies  und  das  stamme,  Feuer  oder  Baumwolle,  Tätuieren 
oder  Sterben,  wird  ätiologisch  berichtet.  Kosmogonische  Mythen,  Wan- 
derungs-,  iVhnensagen  und  andere  Halbhistorie,  Spuk-  und  Schreck- 
geschichten erbauen,  belehren  und  dienen  der  Lust  des  Gruseins.  Anek- 
doten und  Schwanke  pflanzen  sich  fort.  Tierfabeln,  natürlich  ohne  jede 
Apologenmoral  und  künstliche  Spiegelung,  sondern  völlig  naiv,  wie 
J.  Grimm  es  mit  richtiger  Grunderkenntnis  auf  einem  ungeeigneten  Feld 
erweisen  wollte,  sind  den  Naturvölkern  lieb,  Übereinstimmungen  nur  mit 
großer  Vorsicht  auf  Migration  zurückzuführen,  so  gewiß  auch  europäische 
Fuchsstücklein  in  Afrika  dem  Schakal  angepaßt  werden.    Die  weite  Mär- 


Gattungen. 


VII.  Ausblick  auf  das  Epos.  2  X 

chenwelt  schöpft  einen  Teil  ihrer  unübersehbaren  Motive  aus  der  Phan-  Märchen, 
tastik  des  Traumes  und  führt  Gottheiten,  Dämonen,  Menschen,  Tiere,  be- 
seeltes Gerät  bunt  durcheinander.  Bei  den  Wiederholungen  beliebter  Ge- 
schichten verlangt  der  Zuhörer  gleich  unseren  Kindern,  die  allen  Varian- 
ten abhold  sind,  möglichst  denselben  Wortlaut  und  ergötzt  sich  auf  der 
Südseeinsel  wie  im  brasilianischen  Urwald  an  den  stereotypen  Formeln 
„Es  war  einmal"  und  „Das  Märchen  ist  aus."  Lockerer  Unsinn  und  dürftige 
Epitomen  pflanzen  sich  neben  handlungsreichen,  doch  nicht  ausmalenden 
Erzählungen  fort,  die  den  Mangel  an  Psychologie  und  individueller  Zeich- 
nung durch  fesselnde  und  steigernde  Züge  wett  machen,  bis  Indianer  so 
gut  wie  Grönländer  es  zu  epischen  Prosagebilden  bringen,  die  wohl  ver- 
dienen Novellen,  auch  in  höherem  Sinn,  zu  heißen.  Der  Vortrag  all  dieser 
Kleinepik  ist  überaus  lebhaft,  indem  die  Stimme  je  nach  dem  Gegenstand 
und  dem  einzelnen  Effekt  moduliert  wird  und  ein  erzählender  Buschmann 
so  wenig  versäumt,  die  Tierstimmen  treulich  nachzuahmen,  als  in  der 
deutschen  Kinderstube  die  Unterscheidung  der  Geißlein  und  des  Wolfes 
fehlen  darf  oder  der  italienische  Straßenrhapsode  seine  Mimik  zugunsten 
einer  gelassenen  Objektivität  aufgibt.  Berufs erzähler  bilden  sich  früh 
heraus.  Internationaler  Austausch  der  Kleinepik  auf  mündlichem  Wege 
tritt  nach  und  nach  immer  reichlicher  ans  Licht. 

Die  schriftlose  Fortpflanzung  aber  wird  durch  gebundene  Formen,  die  Überlieferung, 
ja  den  Wortlaut  ganz  anders  sichern  als  die  Prosa,  einem  Gedächtnis, 
scharf  und  wachsam  wie  Aug'  und  Ohr  des  Indianers,  eingeprägt.  Erst 
das  Aufschreiben  und  Lesen  macht  bequem,  weil  man  Vergessenes  sich 
so  leicht  wieder  auffrischen  kann.  Noch  in  unsern  Tagen  wahren  bäuer- 
liche Analphabeten  in  Rußland  einen  solchen  Schatz  an  ererbten  Bylinen 
(Heldenliedern),  daß  der  gelehrte  Sammler  von  demselben  Mann  sechs- 
tausend, von  demselben  Weib  gar  achttausend  Verse  gewinnen  konnte. 
Und  wie  viele,  wie  lange  Runen  hat  Lönnrot  in  Finland  für  seine  ver- 
meinte Herstellung  eines  zerbröckelten  Epos  dem  Volksmund  abgelauscht! 
Wir  begreifen  wohl,  daß  nicht  nur  bei  den  Serben,  sondern  auch  bei  zahl- 
reichen Naturvölkern  die  Blinden  durch  ihr  keiner  äußeren  Zerstreuung 
unterworfenes  Gedächtnis  wie  Demodokos  als  Hüter  der  epischen  Poesie 
wirken  und  damit  ihr  Leben  fristen.  Auf  die  Talentgrade,  die  schon  in 
den  Niederungen  behende  Vortänzer  oder  tüchtige  Vorsängerinnen  an  die 
Spitze  des  Haufens  stellen,  haben  wir  bereits  geachtet  und  wundern  uns 
nicht,  wenn  dann  z.  B.  die  Mincopies  überlegene  Dichter  auszeichnen, 
Papuaner  einem  Weißen  die  Rezitation  aus  Tausend  und  einer  Nacht  er- 
klecklich bezahlen,  bei  den  Maoris  ein  Tätuiermeister  seine  Kunst  in  selbst- 
gefälligen teils  feierlichen,  teils  humoristischen  Liedern  anpreist,  wenn 
Neger  ihren  Barden  ein  Honorar  für  Lobgedichte  auswerfen,  in  Sene- 
gambien  mit  einem  erblichen  Rhapsodenstand  offizielle  Historiographen 
erstehen,  wenn  ural-altaische  Stämme  lyrische  Improvisation  als  natürliches 
Gemeingut  betrachten,  aber  zugleich  den  hervorragenden  Schöpfern  hohen 


2J.       Erich  Schmidt:  Die  Anfange  der  Literatur  und   die.  Literatur  der  primitiven  Völker. 

Respekt  zollen  und  etwa  die  Kara-Kirgisen  neben  mannigfacher  einzelner 
und  chorischer  Stegreifpoesie  eine  Sängerkaste  hegen.  Von  den  indischen 
Pentados  wird  gemeldet:  sie  haben  Berufssänger,  die  beim  Fest  Helden- 
taten der  Vergangenheit  künden  und  so  die  geschichtliche  Erinnerung 
wahren.  Noch  immer  kann  das  Wort  sich  mit  dem  Reigen  einer  Schar 
verbinden  (man  denke  nur  an  die  Färöer),  aber  der  chorischen  Urpoesie 
gehört  diese  Erscheinung  der  Epik  nicht  an. 

Heroendichtung,  von  Aöden  geschaffen,  von  Rhapsoden  weitergetragen, 
ist  bei  aller  Teilnahme  des  Volkes  ihrer  Natur  nach  aristokratisch,  nicht 
erst  in  den  Adelskreisen  des  homerischen  oder  nibelungischen  Epos. 
Talent  auf  der  einen,  Stolz  und  Macht  auf  der  andern  Seite  schaffen  den 
Stand,  die  Überlieferung,  die  Fortbildung;  wandernde  Spielleute,  wie  jene 
stiL  südslawischen  Blinden,  verbreiten  die  Lieder.  Eine  Stiltradition  bildet  sich 
aus,  reich  an  formelhaften  Wendungen  und  festen,  nicht  der  jeweiligen 
Begebenheit  oder  Stimmung  entsprechenden  Beiwörtern,  der  direkten  Rede 
hold;  aber  es  war  recht  verkehrt,  daß  selbst  Miklosich,  statt  nach  Natur- 
forscherart sein  Feld  zu  beschreiben,  mit  vagen  Humboldtischen  Gesetzen 
hantierte  und,  so  wichtig  die  Analogieen  sind,  zwischen  Hellenen  und 
Slawen,  Germanen  und  Romanen  gar  nicht  unterschied.  Lehrt  doch  ein 
flüchtiger  Überblick,  wie  verschieden  an  Zahl  und  Ausmaß  hier  und  dort 
die  Gleichnisse  oder  die  stereotypen  Verse  (wobei  auch  die  Differenz  von 
fortlaufenden  Zeilen  und  Strophen  mitspielt)  auftreten,  wie  anders  der 
breite  Stil  eines  russischen  Ilja-Liedes  den  Fortgang  mit  gleichgültigen 
Details  entwickelt  als  bei  Homer  oder  gar  im  Hildebrandsliede,  Aber 
diese  Fragen  samt  der  Entstehung  größerer  Zyklen  und  den  als  Nostos 
des  Odysseus,  als  Achilleis  zum  Wachstum  bestimmten  Epopöen  liegen 
außerhalb  unserer  Aufgabe.  Wir  haben  hier  nicht  zu  untersuchen,  welche 
Hemmnisse  sowohl  die  Despotie  als  der  Monotheismus  dem  Epos  bietet, 
warum  trotz  allen  Bedingungen  dazu  kein  Homer  die  Wladimir-Byliny 
Rußlands  oder  die  Marko-Balladen  Serbiens  in  ein  großes  Ganzes  neu- 
schöpferisch geschlagen  hat,  worin  malaiische  Epik  von  Indien  abhängt. 
Auch  das  jüngst  von  Heusler  so  einsichtig  erfaßte  Problem  des  funda- 
mentalen Unterschiedes  zwischen  Lied  und  Epos  kann  hier  nur  mit  dem 
Hinweis  darauf  gestreift  werden,  daß  die  Legende,  mitten  im  Zeitalter 
Kaiewaia.  Lachmanuischer  Kritik  sei  den  Finländern  ein  lebendiger  Homer  erschienen, 
Elias  Lönnrot,  der  uralte  umlaufende  Lieder  der  „Buchbindertheorie"  ge- 
mäß zur  harmonischen  Einheit  gefügt  habe,  vor  Comparettis  Richterauge 
endgültig  zerstoben  ist.  Dieser  „Kalewala"  ist  kein  wiederhergestelltes 
Epos,  sondern  ein  durch  den  selbstdichtenden  talentvollen,  national  be- 
geisterten Redaktor  von  einer  Fassung  zur  andern  willkürlich  ersonnenes 
und  trotz  seinem  Mörtel  in  allen  Fugen  klaffendes  Sammelprodukt  aus  alten 
und  neueren  Runen,  den  lappischen  verwandt.  Sie  sind  der  Magie  des 
Schamanismus  entsprossen,  balladenhaft,  lyrisch,  oft  herzergreifend,  aber 
außer    dem    von  Lönnrot   hineingezogenen   Kullerwo    gestaltlos    unfaßlich. 


VII.  Ausblick  auf  das  Epos.  2  5 

ohne  Heros,  ohne  Hintergrund  eines  Heldenalters.  Auf  dem  Boden  dieser 
Anschauung  und  Kunst  konnte  überhaupt  kein  Epos  erwachsen.  Steigen 
wir  tiefer  zu  den  durch  Schiefner  verdeutschten  „Heldensagen  der  Minus-  Tataren, 
sinschen  Tataren",  so  bleibt  es  bei  geschlossenen  Einzelliedern,  deren 
Zusammenhang  auch,  nur  im  krassen  Zauberwahn  liegt.  Dämonen,  Menschen 
ohne  Individualität,  Tiere  wirbeln  durcheinander;  der  nur  an  einer  Stelle 
verwundbare  Held,  einer  der  vielen  Vettern  Achills  und  Siegfrieds,  streicht 
schattenartig  vorbei;  die  ungeheuersten  Kämpfe  und  Grausamkeiten,  auch 
jahrelanges  Saufen  und  Schlafen  wechseln  mit  genrehaften  Familienszenen; 
Zauberei  übt  ihre  verwandelnde  Kraft;  ein  Inferno  mit  zehn  Abteilungen 
für  bestimmte  Verbrechen  tut  sich  auf;  nicht  ohne  Iterata  („Als  das  Morgen- 
rot hervorbrach.  Auf  zum  Himmel  stieg  die  Sonne")  und  feste  Formeln 
(„Also  gab  Kara  Khan  Antwort")  mischt  der  Stil  Einfaches  und  Absurdes, 
Rührendes  und  Scheußliches  —  das  Ganze  hinterläßt  den  Eindruck  eines 
wüsten  Traumes. 

Die  Großepik  kann  nur  erblühen,  wenn  Großes  erlebt  ist;  nicht  im  Großepik 
trägen  Frieden  älterer  Letten,  geschweige  denn  im  Einerlei  des  primitiven 
Stammes.  Sie  haftet,  wie  schon  W.  Schlegel  bündig  bemerkt  und  vor- 
nehmlich MüllenhofF  mit  allem  Nachdruck  ausführt,  an  der  größten  und 
entscheidendsten  Epoche  im  Leben  eines  Volkes:  „es  ist  in  den  Zusammen- 
hang der  Geschichte  eingetreten,  und  die  Zeit  des  bloß  natürlich  un- 
bewußten Daseins  und  Zustandes  ist  vorüber."  Vorbei  aber  ist  auch  das 
eigentliche  Heldenalter  selbst,  es  sei  an  Dschanghar  oder  Karl  den  Großen 
und  ihre  Paladine  geknüpft.  Jahrhunderte  mögen  verstreichen,  bis  zwar 
nicht  unmittelbar  aus,  doch  nach  Liedern,  die  Mythisches  und  Geschicht- 
liches verschmelzen,  von  dem  Kunstverstand  einzelner  Dichter  Epen  ge- 
schaffen und  im  Wandel  der  Zeit  abgerundet    werden. 

Naturvölkern  bleibt  das  versagt.  Auch  die  große  Wiegenzeit  des 
Epos  kennt  viel  mehr  den  Wahrer  als  den  Mehrer  der  Poesie,  und  ein 
„Ich"  im  Anfang  des  Hildebrandsliedes  will  durchaus  nicht  diesem  tragischen 
Zweikampf  den  Stempel  einer  persönlichen  Fassung  aufdrücken.  Wie 
schon  auf  primitiven  Stufen  ein  gewisses  Eigentumsrecht,  ohne  den  An- 
spruch literarischer  Autorschaft,  aus  der  Gewohnheit  des  Vortrags  er- 
wächst (man  denke  dabei  an  studentischen  Rundgesang),  so  stellt  der 
Rezitator  sich  auch  in  Gedanken  nicht  als  Verfasser  vor,  der  Spielmann 
als  Herold  nicht  des  Neuen,  sondern  des  Alten.  „Die  Harfe  geht  noch 
von  Hand  zu  Hand  .  .  .  die  ganze  Masse  ist  noch,  wie  ein  Zug  von  Wander- 
vögeln, in  der  poetischen  Schwebung  begriffen,  und  die  Einzelnen  fliegen 
abwechelnd  an  der  Spitze":  dies  schöne  Bild  braucht  Uhland  für  die  Epoche 
der  Völkerwanderung,  vielleicht  mit  unschädlicher  Übertreibung.  Das  ein- 
leitende Bekenntnis  eines  finnischen  Laulaja  stehe  daneben :  „Hundert 
Sprüche  weiß  ich  .  . .  Meine  Wissenschaft  sind  Lieder,  meine  Habe  sind 
Verse,  von  der  Straße  hab'  ich  sie  aufgelesen,  von  den  Zweigen  hab'  ich 
sie  gepflückt,  von  den  Büschen  abgestreift;   da  ich  als  Kind  die  Lämmer 


26       Erich  Schmidt:  Die  Anfange  der  Literatur  und  die  Literatur  der  primitiven  Völker. 

auf  den  honigreichen  Wiesen,  auf  den  goldenen  Hügehi  hütete,  wehte  der 
Wind  mir  Lieder  zu,  hunderte  wiegten  sich  in  den  Lüften,  kamen  in  Wellen 
gezogen,  und  wie  Wasser  regneten  Sprüche  hernieder ...  Es  sang  sie 
schon  mein  Vater,  wenn  er  einen  Griff  an  die  Axt  machte,  auch  von  der 
Mutter  lernt'  ich  sie,  wenn  sie  die  Spindel  drehte."  — 

Wie  die  Lj'rik  autonom  wird  und  ihren  Bund  mit  dem  Gesang  teils 
erhält,  teils  löst,  wie  Oper,  Ballett,  Pantomime  Schwesterkünste  innig  ver- 
mählen, das  Rededrama  jedoch  emanzipiert  dasteht,  das  kann  hier  nicht 
ausgeführt  werden. 

Diese  Skizze  hat  es  nur  mit  einer  keimkräftigen  Poesie  zu  tun,  die 
trotz  allen  Ansätzen  und  Trieben  weder  den  vollen  Begriff  des  schaffen- 
den Dichters,  noch  das  große  geschlossene  Sprachkunstwerk  kennt.  Erst 
die  schriftliche  Fassung  scheidet  Vortrag  und  Produktion,  sie  erst  führt 
Drama  und  Erzählung,  vollends  den  späten  Prosaroman  als  das  moderne 
Epos,  ans  Ziel  der  Entwicklung.  Mit  einem  Wort:  die  Naturvölker  haben 
keine  Literatur. 


Literatur. 

Dieser  Abriß  verträgt  keine  umfänglicheren  Literaturangaben,  geschweige  denn  Über- 
sichten für  Völker  und  Stämme;  auch  können  hier  nicht  all  die  Beispiele,  die  ja  zum  Teil 
etwas  Zufalliges  haben,  nach  ihren  Fundorten  zitiert  werden.  Ich  nenne,  mit  ein  paar  Er- 
gänzungen, nur  die  Werke  der  im  Text  angeführten  neueren  Forscher. 

LUBBOCK,  Prehistoric  times  (zuerst  1865).  Spencer,  Essays  (1868  u.a.).  Tylor,  Primi- 
tive culture  (1871).  Posnett,  Comparative  literature  (1886)  (gleichzeitig  deutsch:  Inter- 
nationale wissenschaftl.  Bibliothek).  Frazer,  The  golden  bough,  2.  Aufl.  (1900).  Gummere, 
The  beginning  of  poetry  (1901).  Dilthey,  Festgaben  für  Zeller  (1887),  S.  303.  Scherer, 
Poetik  (1888).  Burdach,  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum  27,  343.  Wundt,  Physiolog. 
Psychologie  (zuerst  1874);  Völkerpsychologie  (1900  f.).  E.  Meumann  über  Rhythmus  in  Wundts 
Philos.  Studien  X  (1894).  Karl  Groos,  Die  Spiele  der  Tiere  (1893).  Derselbe,  Die  Spiele 
der  Menschen  (1899).  Ernst  Grosse,  Die  Anfänge  der  Kunst  (1894).  Bücher,  Arbeit  und 
Rhythmus,  3.  Aufl.  (1902). 

Sehr  vieles  ist  zerstreut  in  Reisebeschreibungen,  in  den  deutschen  und  ausländischen 
Zeitschriften  für  Völkerpsychologie,  Folklore,  Ethnologie,  Anthropologie,  der  Melusine,  dem 
Globus  (1904  f.  Preuss,  Der  Ursprung  der  Religion  und  Kunst,  belesen,  doch  mit  schiefen 
Kombinationen);  reich  d'Ancona,  La  poesia  popolare  italiana  (1878),  und  Böckels  Ein- 
leitung der  ,, Deutschen  A'olkslieder  aus  Oberhessen"  (1885).  Waitz  und  Gerland,  Anthro- 
pologie der  Naturvölker  (1859—73).  FRIEDRICH  MÜLLER,  Allgemeine  Ethnologie  (1878). 
Paul  und  Fritz  Sarasin,  Ergebnisse  wissenschaftlicher  Forschungen  auf  Ceylon,  Bd.  3 :  Die 
Weddas  (1892  f.).  K.  von  den  Steinen,  Unter  den  Naturvölkern  Zentralbrasiliens  (1894). 
RiNK,  Tales  and  traditions  of  the  Eskimo  (1875  u.  a.). 

S.  II.  Zur  Metrik:  Westphal  in  Kuhns  Zeitschrift  für  vergleichende  Sprachforschung 
9,  437;  USENER,  Altgriechischer  Versbau  (1886).  —  Refrain,  Reim,  StiUstisches :  v.  BIEDER- 
MANN im  Johannesalbum  (Chemnitz,  1857),  Zs.  f.  vgl.  Literaturgeschichte  3,415;  R.  M.  Me\'ER, 
ebenda  i,  34;  Ehrenfeld,  Studien  zur  Geschichte  des  Reims  (1897). 

S.  20.  Zum  Drama:  Gondatti  in  den  Moskauer  Berichten  der  K.  Gesellschaft  für 
Naturgeschichte,  Anthropologie  und  Ethnographie,  Bd.  48  (1888). 

S.  22.  Zum  Epos:  Einwände  zielen  besonders  auf  W.  Wackernagel,  Poetik  etc.  (1873) 
und  MiKLOSiCH,  Denkschriften  der  Wiener  Akademie,  Bd.  38  (1890).  —  Prinzipielles:  NÖL- 
DEKE,  Das  iranische  Nationalepos  (Abdruck  aus  dem  Grundriß  der  iranischen  Philologie, 
1896).  —  Gemeint  sind  ferner  im  Text  die  Arbeiten  von  MÜLLENHOFF  (oben  De  antiquissima 
Germanorum  poesi  chorica),  Deutsche  Altertumskunde  i,  8;  A.  Heusler,  Lied  und  Epos 
(1905)  (Ker,  Epic  and  romance,  1892);  Comparetti,  Der  Kalewala  (deutsch,  Halle,  1892); 
Schiefner,  Heldensagen  der  Minussinschen  Tataren  (Petersburg,  1859). 


DIE  ÄGYPTISCHE  LITERATUR. 

Von 
Adolf  Erman. 


Einleitung.  Der  reiche  Boden  und  das  glückliche  Klima  Äg^'ptens 
haben  dem  Volke,  das  das  Niltal  bewohnte,  früh  sein  Dasein  erleichtert 
und  haben  ihm  weit  eher  als  den  meisten  anderen  Völkern  die  Möglich- 
keit gegeben,  die  Anfänge  einer  höheren  Gesittung  zu  erreichen.  In  un- 
vordenklichen Zeiten  hat  sich  hier  das  Staatsleben  entwickelt,  hat  die 
bildende  Kunst  ihre  ersten  Schritte  getan  und  haben  die  verschiedenen 
Handwerke  sich  ausgebildet.  Die  wichtigste  Errungenschaft  des  ägyptischen 
Volkes  aber  war,  daß  es  sich  eine  Schrift  erschuf,  zunächst  eine  un- 
beholfene Bilderschrift,  die  sich  dann  aber  bald,  durch  Aufnahme  phone- 
tischer Bestandteile,  zu  jenem  Schriftsysteme  der  Hieroglyphen  entwickelte, 
das,  so  unvollkommen  es  uns  Modernen  auch  erscheinen  mag,  für  sein 
eigenes  Volk  doch  ein  vortreffliches  Hilfsmittel  zur  Fixierung  der  Ge- 
danken war.  Wie  hoch  der  Ägypter  selbst  von  diesem  Besitze  seines 
Volkes  dachte,  zeigt  sich  schon  darin,  daß  er  die  Erfindung  der  Hiero- 
glyphen dem  Gotte  der  Weisheit  zuschrieb  und  daß  er  sich  diesen  selbst 
nicht  anders  denken  konnte,  als  einen  gelehrten  „Schreiber  der  Götter". 
Aber  auch  diese  Erfindung  würde  nicht  ihren  vollen  Einfluß  auf  das  Volk 
haben  ausüben  können,  wäre  nicht  eine  andere  dazugekommen,  die  Er- 
findung des  Papiers,  das  es  sich  aus  dem  Papyrusschilfe  seiner  Sümpfe 
bereitete.  Auf  diesem  herrlichen  Material  die  Binse  als  Feder  zu  führen 
und  mit  schwarzer  und  roter  Tinte  kalligraphische  Schriftzeichen  her- 
zustellen, das  ist  zu  allen  Zeiten  die  Freude  und  der  Stolz  des  Ägypters 
gewesen.  Schreiben  zu  können,  ist  ihm  das  Zeichen  des  gebildeten  Mannes, 
und  das  ganze  Leben  des  Volkes  wird  von  der  Schrift  beherrscht.  Alles 
wird  aufgeschrieben  und  alles  notiert,  und  wenn  auch  die  meisten  Schrift- 
stücke sich  natürlich  auf  die  Bedürfnisse  des  Haushaltes,  der  Verwaltung 
und  des  persönlichen  Verkehres  bezogen,  so  hat  man  die  Schrift_^  doch 
von  alters  her  auch  zu  höheren  Zwecken  benutzt.  Ihr  verdanken  die 
Ägypter  das  geistige  Leben,  das  bei  ihnen  früh  erblüht  ist,  um  nie  wieder 
zu  verlöschen. 


Einleitung.     I.  Die  Literatur  der  älteren  Zeit. 


^ö 


29 


Uns,  die  wir  heute  diesem  geistigen  Leben  und  seinem  Schrifttume 
nachgehen  wollen,  ist  diese  Aufgabe  freilich  schwer  gemacht,  denn  nur 
weniges  aus  der  Menge  der  ägyptischen  Literatur  hat  sich  erhalten  und 
auch  dieses  wenige  hat  nur  der  blöde  äußere  Zufall,  der  gerade  dieses  oder 
jenes  Grab  vor  der  Zerstörung  schützte,  gerettet.  Unser  Urteil  über  die 
äg}'ptische  Literatur  bleibt  daher  im  einzelnen  unsicher  genug,  wenn  wir 
auch  den  allgemeinen  Gang  ihrer  Entwicklung  jetzt  ohne  zu  großes  Wag- 
nis darstellen  können. 

I.  Die  Literatur  der  älteren  Zeit,  Wie  bei  fast  allen  Zweigen  der 
ägyptischen  Kultur  verlieren  sich  auch  bei  der  Literatur  die  Anfänge  im 
Dunkel  der  vorhistorischen  Zeit.  Daß  es  vor  den  ältesten  Denkmälern, 
die  uns  erhalten  sind,  schon  eine  ausgebildete  Literatur  gegeben  hat,  das 
verrät  uns  die  Sprache,  die,  soweit  hinauf  wir  sie  auch  verfolgen,  schon 
das  Gepräge  einer  Literatursprache  trägt.  Sie  ist  voll  von  festen  Bildern 
und  poetischen  Bezeichnungen,  wie  sie  nur  eine  reiche  Poesie  ausgebildet 
haben  kann.  Uralt  ist  auch  die  poetische  Form,  die  die  ägyptische  Dich- Form  der  Poesie, 
tung  zeigt:  der  sogenannte  Parallelismus  membrorum ;  er  beherrscht 
sie  ebenso,  wie  er  die  hebräische  und  babylonische  Poesie  beherrscht, 
und  wo  immer  ein  Ägypter  in  gehobener  Rede  spricht,  stellt  sich  dieser 
Parallelismus  unweigerlich  ein.  Daneben  existierte  gewiß  von  alters  her 
ein  Metrum;  die  kurzen  Verszeilen,  in  die  die  Gedichte  zerfallen,  lassen 
sich  auch  von  uns  noch-  leicht  erkennen,  aber  da  wir  von  der  ägyptischen 
Sprache  ja  nur  die  Konsonanten  und  nicht  die  Vokale  kennen,  so  ist  es 
unmöglich,  Näheres  über  diese  Metrik  zu  ermitteln.  Ein  beliebter  Schmuck 
der  Rede  sind  endlich,  und  zwar  schon  in  der  ältesten  Zeit,  die  Wortspiele 
und  Alliterationen. 

Auch  die  Gegenstände  der  ältesten  Poesie  lassen  sich  noch  leicht  Älteste  Poesie, 
erkennen;  sie  feierte  in  Liedern  den  König  und  seine  Großen,  die  Götter 
und  die  vornehmen  Toten.  Aus  dieser  zweiten  Gruppe  ältester  Dichtungen 
ist  uns  manches  erhalten,  Lieder  an  den  Sonnengott,  an  die  Himmels- 
göttin, an  den  Gott  Osiris  u.  a.  m.;  sie  sind  uns  bewahrt  geblieben,  weil 
sie  später  für  den  Dienst  der  Toten  verwendet  wurden.  Ihre  Art  mag 
man  aus  folgender  Probe  ersehen,  einem  Gebete  an  den  Sonnengott: 

Ich  verehre  dich,  wenn  deine  Schönheit  mir  vor  Augen  steht, 

und  wenn  dein  Glanz  auf  meinem  Leibe  ruht 

und  wenn  du  dahingehst  bei  deinem  Untergang. 

Die  Abendbarke  (der  Sonne)  segelt  fröhlich  dahin 

und  die  Morgenbarke  voll  Freude. 

Der  du  glücklich  den  Himmel  durchfahrst 

und  jeden  deiner  Feinde  (die  Wolken)  niederwirfst. 

Die  ruhelosen  Sterne  jauchzen  dir  zu 

und  die  nicht  untergehenden  verehren  dich. 

Der  du  untergehst  im  Horizonte  des  Westberges, 

schön  als  Sonne  alltäglich 

und  lebend  und  bleibend  als  mein  Herr! 


.^o 


Adolf  Erman  :   Die  ägA'ptische  Literatur. 


Volkslieder. 


Erzählende 
Dichtungen. 


Während  dieses  Stück  dem  Durchschnitt  dieser  religiösen  Hymnen 
entspricht,  schlagen  andere  Lieder,  die  die  Himmelfahrt  des  toten  Königs 
verherrlichen,  kräftigere  Töne  an: 

Wer  fliegt,  der  fliegt  — 

es  fliegt  dieser  von  euch  fort  ihr  Menschen ; 

er  ist  nicht  auf  Erden 

er  ist  am  Himmel 

Er  stürmte  zum  Himmel  als  Reiher, 

er  küßte  den  Himmel  als  Sperber, 

er  hüpfte  zum  Himmel  als  Heuschrecke. 

Für  die  nicht  relig^iöse  Seite  dieser  Poesie  besitzen  wir,  wie  schon 
gesagt,  keine  Beispiele  von  so  hohem  Alter,  doch  sind  die  unzähligen 
späteren  Verherrlichungen  des  Königs  gewiß  treue  Abbilder  derselben. 

Neben  dieser  anspruchsvollen  offiziellen  Poesie  der  Hymnen  hat  natür- 
lich auch  eine  L}Tik  bestanden,  die  naiveren  Gefühlen  Ausdruck  gab. 
Aus  sehr  alter  Zeit  (erste  Hälfte  des  dritten  Jahrtausends)  sind  uns  die 
Liedchen  erhalten,  die  der  Schafhirt  singt  und  die  die  Sänftenträger 
singen,  wenn  sie  ihren  Herren  tragen.  Und  aus  nicht  viel  jüngerer  Zeit 
wird  der  Kern  des  merkwürdigen  Trinkliedes  stammen,  das  zum  Genüsse 
des  Lebens  ermahnt,  ehe  es  dahinschwinde: 

Die  Leiber  gehen  dahin  seit  der  Zeit  des  Gottes 

und  Junge  kommen  an  ihre  Stelle. 

Die  Sonne  zeigt  sich  am  Morgen, 

und  die  Abendsonne  geht  unter  im  Westen, 

und  die  Männer  erzeugen, 

die  Weiber  empfangen, 

und  jede  Nase  atmet  Luft  — 

aber  alles  was  sie  erzeugen, 

morgens  geht  es  schon  dahin. 

Feiere  den  frohen  Tag! 

Setze  Gesang  und  Musik  vor  dich. 

Kehre  allem  Traurigen  den  Rücken 

und  gedenke  an  die  Freude, 

bis  daß  kommt  jener  Tag,  an  dem  man  verscheidet  .  .  . 

Auch  zwei  andere  Teile  der  ägyptischen  Poesie  zeigen  schon  in 
ihren  ältesten  Beispielen  eine  ausgebildete  Form,  die  auf  jahrhunderte- 
lange Pflege  deutet  Es  sind  dies  die  erzählende  Poesie  und  die  di- 
daktische. 

Die  Grundlage  der  erzählenden  Poesie  bilden  die  schlichten  Märchen, 
an  denen  das  äg^-ptische  Volk  zu  jeder  Zeit  seine  Freude  gehabt  hat. 
Aus  den  späteren  Epochen  der  äg^'ptischen  Geschichte  sind  sie  mannig- 
fach erhalten  und  aus  der  älteren  Zeit  kennen  wir  wenigstens  ein  Beispiel 
davon,  das  etwa  aus  dem  mittleren  Reiche  (um  2000  v.  Chr.)  stammt;  es 
sind  das  die  wunderbaren  Erlebnisse  eines  Seefahrers,  den  ein  Sturm  auf 
eine    von    Schlangen    bewohnte   Insel    geworfen    hattte,    einfach   und  naiv 


I.  Die  Literatur  der  älteren  Zeit. 


31 


erzählt  und  ohne  Tendenz.  In  der  Kunstdichtung  der  gleichen  Zeit  tritt 
dann  aber  die  Erzählung  neben  den  eingestreuten  Reden  ganz  zurück. 
Selbst  in  demjenigen  Gedichte,  das  keine  Tendenz  vertritt  und  rein  er- 
zählend sein  will,  in  dem  Leben  des  Sinuhe,  nehmen  die  Reden,  Briefe 
und  Betrachtungen  für  unser  Gefühl  einen  viel  zu  breiten  Raum  ein.  Nur 
einzelne  Szenen  sind  es,  die  uns  der  Dichter  wirklich  erzählt:  wie  Sinuhe 
aus  Ägypten  entflieht  und  von  Beduinen  in  der  Wüste  vom  Verschmachten 
gerettet  wird;  wie  der  Fürst  des  Landes  Tenu  ihn  an  seinen  Hof  nimmt; 
wie  er  dort  einen  Helden  im  Zweikampf  besiegt;  wie  der  König  ihm 
nach  langen  Jahren  die  Heimkehr  gestattet  und  wie  er  dank  der  Fürbitte 
der  Königin  begnadigt  wird.  Zwischen  diesen  frischen  erzählenden  Partieen 
aber  stehen  ermüdend  die  Teile,  die  dem  Dichter  gewiß  die  Hauptsache 
waren:  die  breiten  Schilderungen  und  die  Lobpreisungen  der  königlichen 
Herrlichkeit: 

Re  hat  die  Furcht  vor   dir  hinter  die  Ebenen   gesetzt   und   den  Schrecken'  vor   dir  in 

jedes  Gebirge Die  Sonne  geht  auf  nach  deinem  Belieben;  das  Wasser  im  Strom, 

man  trinkt's,  wenn  du  willst;  die  Luft  vom  Himmel,  man  atmet  sie,  wenn  du  es  sagst. 

In  anderen  dieser  Dichtungen  dient  dann  die  Erzählung  vollends  nur 
noch  zur  Einleitung,  so  in  der  Geschichte  des  beredten  Bauern.  Seine 
Esel  sind  ihm  widerrechtlich  konfisziert  worden,  und  da  er  in  seiner 
Beschwerde  gezeigt  hat,  wie  schön  er  die  Worte  zu  setzen  Aveiß,  so  wird 
seine  Sache  auf  Befehl  des  Königs  widerrechtlich  hingezogen,  damit  er 
noch  mehr  so  schöne  Reden  halten  müsse.  Neun  lange  Klagen  sind  das 
Resultat  dieser  Willkür  und  sie  alle  behandeln  das  Thema:  „Schaffe  das 
Gute  und  vernichte  das  Böse  —  so  wie  Sättigung  kommt,  daß  sie  den 
Hunger  beendige;  so  wie  Kleidung  kommt,  daß  sie  die  Nacktheit  be- 
endige; so  wie  der  Himmel  ruhig  wird  nach  einem  schweren  Sturm, 
wenn  er  alle  Frierenden  wieder  erwärmt;  wie  Feuer,  das  das  Rohe 
kocht;  wie  Wasser,  das  den  Durst  löscht." 

Sehr  viel  tiefere  Gedanken  enthält  das  Buch,  das  wir  als  das  „Ge- 
spräch eines  Lebensmüden  mit  seiner  Seele"  bezeichnen.  Ein  Unglück- 
licher, der  von  allen  verlassen  ist,  will  seine  Seele  überreden,  in  den  Tod 
zu  gehen;  was  wir  von  dem  Buche  verstehen,  enthält  eine  erschütternde 
Anklage  gegen  das  Leben  und  seinen  Jammer: 

Der  Tod  steht  heute  vor  mir, 

wie  wenn  ein  Kranker  gesund  wird, 

wie  wenn  man  ausgeht  nach  der  Krankheit. 

Der  Tod  steht  heute  vor  mir, 

wie  der  Geruch  der  Myrrhen, 

wie  wenn  man  am  windigen  Tage  unter  dem  Segel  sitzt. 

Der  Tod  steht  heute  vor  mir, 

wie  jemand  sein  Haus  wiederzusehen  wünscht, 

wenn  er  viele  Jahre  in  Gefangenschaft  gewesen  ist. 

Kaum  minder  merkwürdig  ist  eine  dritte  Schrift  dieser  Art,  die 
Prophezeiungen   des  weisen  Epu.     Die   erzählende  Einleitung   ist  verloren, 


:;  ■>  Adolf  Erman  :  Die  äg}'ptisclie  Literatur. 


aber  was  erhalten  ist,  zeigt,  daß  wir  ein  Beispiel  jener  politischen  Prophetie 
haben,  die  uns  aus  dem  Alten  Testamente  vertraut  ist.  Eine  furchtbare 
Katastrophe  wird  über  ÄgA-pten  hereinbrechen  und  das  bedrängte  niedere 
Volk  wird  über  die  Reichen  obsiegen.  Schrecklich  wird  die  Not  im 
Lande  sein,  bis  dann  endlich  „der  Hirte  für  alle  Menschen"  kommt,  „in 
dessen  Herzen  nichts  Böses  ist". 
Didaktische  Rein    didaktischen    Inhalts    sind    diejenigen    Bücher,     die    den    Titel 

Poesie  , 

Unterweisungen  tragen.  Es  sind  Reden,  in  denen  uns  ein  berühmter 
Weiser  vorgeführt  wird,  wie  er  seinem  Sohne  gute  Ratschläge  für  das 
Leben  erteilt.  Das  bekannteste  dieser  Bücher  ist  die  Unterweisung  des 
großen  Königs  Amenemhet  I.  (um  2000  v.  Chr.),  in  deren  Anfang  er  seinen 
Sohn  davor  warnt,  als  König  den  Menschen  zu  trauen:  „Liebe  keinen 
Bruder,  kenne  keinen  Freund."  Eine  andere  Unterweisung,  die  des  Duauf, 
atmet  den  engen  Geist  der  Schule  und  ist  gewiß  auch  für  sie  geschrieben. 
Der  Weise,  der  seinen  Sohn  zur  Schule  des  Hofes  bringt,  schildert  ihm 
auf  der  Fahrt,  wie  elend  alle  Berufsarten  es  haben,  wenn  man  sie  ver- 
gleicht mit  dem  höchsten  Berufe,  dem  des  gelehrten  Schreibers: 

Nie  sah  ich  einen  Bildhauer  bei  einer  Gesandtschaft, 

noch  einen  Goldschmied,  wie  er  ausgesandt  wurde. 

Ich  sah  den  Erzarbeiter  bei  seiner  Arbeit 

an  der  Tür  seines  Ofens; 

seine  Finger  waren  wie  von  Krokodilhaut, 

und  er  stank  mehr  als  Fischeier. 

Ebenfalls  aus  den  Schulen  werden  die  Vorschriften  zu  korrektem  Be- 
nehmen und  tadellosem  Leben  stammen,  die  der  weise  Vezier  Ptahhotp 
seinem  Sohne  vorträgt: 

Wenn  du  verständig  bist,  so  gründe  dir  einen  Haushalt  und  liebe  deine  Frau.  Gib 
ihr  zu  essen  und  kleide  ihren  Rücken;  die  Arznei  für  ihren  Leib  ist  die  Salbe.  Erfreue  ihr 
Herz,  solange  du  lebst:  sie  ist  ein  Acker,  der  seinem  Herrn  lohnt. 

Oder: 

Krümme  deinen  Rücken  vor  deinem  Oberhaupt,  deinem  Vorgesetzten  vom  Königs- 
hause. So  wird  dein  Haus  bestehen  mit  seiner  Habe  und  deine  Bezahlung  wird  richtig 
sein.     Schlimm  ist  es,  wenn  der  Vorgesetzte  zürnt,  aber  man  lebt,  wenn  er  milde  ist. 

Da  nur  der  Zufall  über  die  Erhaltung  der  ägyptischen  Literatur  ent- 
schieden hat,  so  kann  man  ja  immer  zweifeln,  ob  für  uns  nicht  Dinge  in 
den  Vordergrund  treten,  die  in  Wirklichkeit  wenig  Bedeutung  gehabt 
haben.  Doch  bei  der  eben  besprochenen  Literatur  des  mittleren  Reiches 
(um  2000  v.  Chr.)  gehen  wir  sicher  nicht  fehl,  wenn  wir  sie  als  bedeutungs- 
voll und  als  die  klassische  Literatur  Ägyptens  ansehen.  Denn  noch  fast 
ein  Jahrtausend  später  haben  die  Kinder  in  den  ägyptischen  Schulen 
die  Unterweisung  des  Amenemhet,  die  Geschichte  des  Sinuhe  und  die 
Unterweisung  des  Duauf  abschreiben  müssen,  als  mustergültige  Werke  ge- 
wählten Stiles.  Freilich,  die  einfache  Schönheit,  die  wir  an  den  Begriff 
klassischer  Poesie  knüpfen,  sucht  man  in  diesen  Dichtungen  des  mittleren 
Reiches   vergebens,   gerade    die  Gesuchtheit   der  Sprache   ist  für  sie  cha- 


n.  Die  Literatur  des  neuen  Reiches.  -i  -i 

rakteristisch.  Es  ist  dem  Ägypter  jener  Zeit  fast  unmöglich,  Einfaches 
einfach  zu  sagen,  und  selbst  außerhalb  der  Literatur,  in  den  gewöhnlichen 
Grabschriften,  geht  es  ohne  Schwulst  nicht  ab,  und  niemand  findet  Lächer- 
liches darin,  wenn  z.  B.  ein  hoher  Beamter  sich  „die  Amme  des  Säug- 
lings" und  „das  warme  Zimmer  des  Frierenden"  nennt. 

Natürlich  lebte  aber  im  Volke  daneben  auch  eine  schlichtere  Kunst  Märchen, 
weiter,  und  wir  haben  aus  wenig  späterer  Zeit  (etwa  aus  dem  17.  Jahr- 
hundert V,  Chr.)  eine  Sammlung  von  Zaubermärchen,  geschrieben  in  der 
wirklichen  Umgangssprache  der  Zeit  und  ebenso  einfach  und  naiv,  wie 
jene  höheren  Dichtungen  in  altertümlicher  Sprache  schwülstig  sind.  Der 
Schluß  dieser  Märchen  führt  dann  übrigens  auf  historisches  Gebiet  über; 
es  wird  uns  erzählt,  wie  das  Königsgeschlecht  der  Pyramidenerbauer 
durch  ein  anderes  ersetzt  wurde.  Diese  Art,  die  alte  Geschichte  des  Volkes 
in  Märchen  umzugestalten,  ist  überhaupt  für  Ägypten  charakteristisch,  und 
bei  allem  Wechsel,  der  in  vier  Jahrtausenden  über  das  Land  gekommen 
ist,  ist  diese  Gattung  der  Dichtung  nie  ausgestorben.  Heut  sind  es  die 
öffentlichen  Erzähler,  die  so  die  Geschichte  des  Sultans  Bibars  oder  des 
Helden  Antar  im  Kaffeehaus  vortragen;  auch  im  Altertum  werden  es  ähn- 
liche Volkserzähler  gewesen  sein,  die  mit  diesen  Märchen  ein  leicht 
befriedigtes  Publikum  erfreuten. 

Neben  der  Poesie,  die  wir  bisher  besprochen  haben,  ist  ein  pro-  wissenschaft- 
saisches  Schrifttum  einhergegangen,  doch  ist  unsere  Kenntnis  des- 
selben sehr  unvollkommen.  Es  ist  uns  nichts  von  historischen  Schriften 
erhalten  und  nichts  von  grammatischen  und  nichts  von  Gesetzen,  ob- 
gleich sich  doch  kaum  zweifeln  läßt,  daß  sie  alle  existiert  haben.  Desto 
besser  kennen  wir  die  medizinische  Literatur,  die  zum  Teil  in  sehr 
alte  Zeit  hinaufreicht.  Zum  größten  Teil  besteht  sie  nur  aus  trockenen 
Rezeptsammlungen,  doch  finden  sich  auch  zwei  kleine  Schriftchen  theo- 
retischen Inhaltes,  und  gerade  diese  scheinen  uralte  und  berühmte  Stücke 
zu  sein.  An  die  medizinische  Literatur  sciiließt  sich  dann  die  umfangreiche 
Zauberliteratur,  die  auch  zu  praktischen  Zwecken  bestimmt  war.  Einige 
ihrer  Sprüche  haben  eine  poetische  Form  und  atmen  einen  frischen  Geist, 
die  Mehrzahl  aber  sind  von  erschreckender  Eintönigkeit  und  Inhaltlosig- 
keit.  Das  gleiche  gilt  von  der  großen  Menge  der  Totentexte,  jener  alten 
Sprüche,  die  den  Verstorbenen  zum  Heile  gereichten,  und  von  den  Ritualen 
und  den  anderen  religiösen  Texten. 

IL  Die  Literatur  des  neuen  Reiches.  Aus  den  Jahrhunderten, 
die  diese  älteren  Epochen  des  ägyptischen  Volkes  von  der  Periode  des 
sogenannten  neuen  Reiches  trennen,  fehlt  uns  fast  jede  Kenntnis  der 
Literatur,  und  erst  um  das  Jahr  1500  v.  Chr.  tritt  sie  uns  wieder  entgegen, 
in  einer  gänzlich  veränderten  Zeit  und  unter  einem  gänzlich  veränderten 
Volke.  Aus  dem  alten  Ägypten,  das  nur  sich  selbst  gekannt  hatte,  war 
ein  Staat  geworden,  der  über  Palästina  und  über  Nubien  gebot;  Reichtum 

Die  Kultur  der  Gegenwart.     I.  7.  3 


:>  1  Adolf  Erman:  Die  ägyptische  Literatur. 

und  Macht  waren  in  das  Land  gezogen  und  ein  neuer  frischer  Geist  ging 
durch  das  Volk.  Viele  seiner  Gewohnheiten  änderten  sich  jetzt,  und  mit 
ihnen  änderte  sich  auch  die  Sprache  seiner  Literatur.  Hatte  man  bis 
dahin  für  die  höhere  Literatur  ausschließlich  an  einem  alten  längst  ver- 
Die  Volks-  klungenen  Idiom  festgehalten,  so  ward  jetzt  die  lingua  volgare  literatur- 
^^  Literamr.  ^"^  fähig.  Natürlich  hat  sich  dieser  Umschwung  nicht  mit  einem  Male  voll- 
zogen; unter  Thutmosis  IIL  (um  1500  v.  Chr.)  forderte  man  für  die  offizielle 
Poesie  noch  die  alte  Sprache;  ein  Jahrhundert  später,  unter  Amenophis  IV., 
ward  das  Lied  seines  neuen  Glaubens  schon  in  der  Volkssprache  gedichtet, 
und  um  1200  v.  Chr.  herrschte  das  neue  Idiom  sogar  in  den  Inschriften 
der  Tempel,  soweit  sie  nicht  alte  Texte  wiedergaben. 

Und  es  war  nicht  nur  eine  neue  Sprache,  sondern  auch  ein  neuer 
Geist,  der  in  dieser  Epoche  in  die  ägyptische  Literatur  einzog.  Nicht 
mehr  nach  dem  alten  Schema  früherer  Jahrhunderte,  sondern  unbefangen 
ReUgiöseLieder.  und  mit  eigenen  Augen  sah  man  jetzt  die  Welt  an.  Merkwürdig  tritt  uns 
dies  in  der  religiösen  Poesie  entgegen:  wie  frisch  und  lebendig  weiß  der 
Sänger  des  großen  Teil  Amarnahymnus  die  Wohltaten  der  Sonne  zu  schil- 
dern, und  wie  versteht  er  es,  mit  kleinen  Zügen  wirkliches  Leben  in  diese 
Schilderungen  hineinzubringen: 

Gehst  du  unter  im  westlichen  Horizonte,  so  ist  die  Erde  finster,  als  wäre  sie  tot.  Sie 
schlafen  in  den  ;Kammern  verhüllt,  und ^ kein  Auge  sieht  ;das  andere.  Wenn  man  ihre 
Habe  stähle,  die  unter  ihrem  Kopfe  liegt,  sie  würden  es  nicht  merken. 

Jeder  Löwe  kommt  aus  seiner  Höhle  heraus  und  alles  Gewürm  beißt  ....  die  Erde 
schweigt;  der  sie  schuf,  ruht  in  seinem  Horizonte. 

Frühmorgens  gehst  du  im'  Horizonte  auf  und  leuchtest  als  Sonne  am  Tage.  Die 
Finsternis  flieht,  wenn  du  deine  Strahlen  spendest. 

Die  Bewohner  Ägyptens  sind  fröhlich,  sie  erwachen  und  stehen  auf  ihren  Füßen,  wenn 
du  sie  erweckt  hast.  Sie  waschen  ihren  Leib  und  greifen  nach  ihren  Kleidern.  Sie  erheben 
ihre  Hände,  dich  zu  preisen,  weil  du  aufgehst.     Das  ganze  Land  tut  seine  Arbeit. 

Alles  Vieh  ist  zufrieden  auf  seiner  Weide.  Die  Bäume  und  Kräuter  grünen,  die  Vögel 
flattern  in  ihren  Nestern,  und  ihre  Flügel  preisen  dich.  Alles  Kleinvieh  hüpft  auf  seinen 
Füßen;  alle,  die  fliegen  und  flattern,  leben,  wenn  du  aufgehst. 

Die  Schiffe  fahren  hinab  und  ebenso  hinauf;  jeder  Weg  steht  offen,  wenn  du  aufgehst. 

Die  Fische  im  Strom  springen  vor  deinem  Antlitz,  deine  Strahlen  dringen  in  das 
Irmere  des  Meeres. 

Welch  ein  Unterschied  gegenüber  der  alten  religiösen  Poesie.  Und 
es  ist  nicht  nur  die  Poesie  der  Ketzer  von  Teil  Amarna,  die  in  diesem  Tone 
gehalten  ist,  auch  die  Hymnen  des  triumphierenden  alten  Glaubens  tragen 
dasselbe  Gepräge.  Ein  Amonshymnus  malt  uns  aus,  wie  dieser  Gott  für 
alle  Wesen  sorgt: 

Er  macht,  wovon  die  Mäuse  leben  und  ebenso  die  Würmer  und  Flöhe;  er  macht,  was 
die  Mäuse  in  ihren  Löchern  brauchen,  und  ernährt  die  Vögel  auf  allen  Bäumen. 

Ein  anderes  Lied  preist  Amon  als  den  guten  Hirten  der  Menschen 
oder  als  den  Mastbaum,  der  den  Winden  trotzt,  oder  als  den  Piloten,  der 
die  Untiefen  kennt  und  „nach  dem  man  sich  auf  dem  Wasser  sehnt".  Und 
den   Gott    der  Weisheit  Thoth   preist    der  Dichter  als    einen  Fruchtbaum 


II.  Die  Literatur  des  neuen  Reiches,  ^e 

voller  Früchte,  oder  als  den  „süßen  Brunnen  der  Wüste".  Der  mytho- 
logische Aufputz  der  alten  Hymnen  verschwindet  in  dieser  Poesie  oft  ganz, 
und  die  eigenen  Gedanken  und  Gefühle  des  Dichters  scheuen  sich  nicht 
hervorzutreten. 

Bei  der  Machtstellung,  die  die  Pharaonen  dieser  Zeit  besessen  haben,  Lieder  auf  den 
kann  es  nicht  wundernehmen,  daß  auch  die  Poesie  zum  Preise  des  König-         °'"*^' 
tumes  lebhaft  aufblühte.    Zunächst  bewegte  sie  sich  noch  in  der  gewohnten 
Bahn.    So  z.  B.  in  dem  bekannten  Liede  auf  Thutmosis  III.,  das  auch  durch 
seinen  strengen  Strophenbau  werkwürdig  ist.    So  spricht  Amon  zum  Könige: 

Ich  komme  und  lasse  dich  die  Fürsten  von  Palästina  zertreten, 

ich  breite  sie  unter  deinen  Füßen  aus  in  ihren  Ländern. 

Ich  zeige  ihnen  deine  Majestät  als  den  Herren  des  Lichtes  (die  Sonne), 

wenn  du  vor  ihnen  als  mein  Ebenbild  leuchtest. 

Ich  komme  und  lasse  dich  die  Asiaten  zertreten, 

du  schlägst  die  Köpfe  der  Beduinen  Syriens. 

Ich  zeige  ihnen  deine  Majestät  in  deinem  Schmucke  gerüstet, 

wenn  du  die  Waffen  ergreifst  und  zu  Wagen  kämpfest. 

In  den  nächsten  Generationen  ändert  sich  dann  auch  hier  der  Ton, 
und  wir  begegnen  Hymnen  zum  Preise  des  Königs,  die  nicht  minder 
frisch  sind  als  die  gleichzeitigen  religiösen  Lieder.     Da  ist  der  König: 

ein  starker  Löwe,  wenn  er  kommt  und  wiederkommt  [und  brüllt;^ der  seine  Stimme 
im  Tal  des  Wildes  ausstößt; 

ein  hurtiger  Schakal,  wenn  er  nach  dem  sucht,  der  ihn  antastet;  der  den  Umkreis 
der  Erde  im  Augenblick  umläuft; 

ein   starker  Herrscher,   wenn   er  zerstört,   die   sich  nicht  um   ihn  kümmerten;    gleich 

einem  Sturm,  der  auf  dem  Ozean  heult,  wenn  seine  Wellen  wie  Berge   fallen wer 

in  ihm  ist,  ertrinkt  in  der  Tiefe. 

Die  Einzelheiten,  die  wir  in  solchen  Lobpreisungen  des  Königs  ungern  Episches, 
vermissen,  suchen  wir  auch  dann  da  vergebens,  wo  sie  notwendig  hingehören, 
in  den  epischen  Dichtungen  des  neuen  Reiches.  Das  berühmteste  Bei- 
spiel dieser  Poesie,  das  große  Gedicht  auf  die  Schlacht  bei  Kadesch,  er- 
zählt des  Tatsächlichen  nur  wenig  und  gibt  uns  dafür  desto  mehr  von  den 
Reden  des  Königs  und  seines  himmlischen  Beistandes,  des  Amon.  Man 
hat  das  Gefühl,  als  schäme  sich  dieser  Dichter  auf  den  Boden  der  wirk- 
lichen Welt  zu  treten,  geradeso  wie  die  Künstler  der  großen  Schlachten- 
bilder der  Zeit  es  ja  auch  vermeiden,  das  ägyptische  Heer  darzustellen 
und  es  durch  die  eine  Riesengestalt  des  kämpfenden  Pharao  ersetzen. 
Nicht  wie  der  König  sich  aus  der  Umzingelung  der  Feinde  herausschlägt, 
wird  uns  erzählt,  sondern  nachdem  er  zu  Amon  gebetet  hat,  da  „merkt 
er,  daß  die  2500  Gespanne,  in  deren  Mitte  er  war,  zu  Stücken  gehauen 
vor  seinen  Pferden  liegen.  Keiner  von  ihnen  hat  seine  Hand  gefunden, 
um  zu  kämpfen;  ihr  Herz  ist  matt  geworden  in  ihrem  Leibe,  ihre  Arme 
sind  schlaff  und  sie  können  nicht  schießen". 

Noch  weniger  Tatsächliches  enthalten  die  ähnlichen  Dichtungen  auf 
die  Taten  Ramses'  III.  (um  1200  v.Chr.),  die  im  Tempel  von  Medinet  Habu 

3* 


5  5  Adolf  Erman:  Die  ägyptische  Literatur. 

erhalten  sind;  dafür  ist  aber  in  ihnen  die  Vulgärsprache  zur  glänzendsten 
Üppigkeit  entwickelt.  Diese  Entwicklung  der  Volkssprache  wäre  nun  nicht 
Liebeslieder,  denkbar,  Wenn  nicht  in  ihr  eine  weit  reichere  Poesie  existiert  hätte,  als 
uns  heute  erhalten  ist,  und  zwar  eine  Poesie,  die  nicht  nur  auf  Götter  und 
Könige  beschränkt  war.  Und  in  der  Tat  besitzen  wir  mehrere  Proben 
weltlicher  Lyrik,  Liebeslieder,  die,  soweit  wir  sie  verstehen,  noch  immer 
zu  den  besseren  gehören,  die  der  Orient  hervorgebracht  hat.  Da  trennt 
das  Wasser  die  Liebenden: 

Die  Liebe  meiner  Schwester  ist  auf  jener  Seite  des  Stromes das  Krokodil  liegt 

auf  der  Sandbank  und  ich  steige  ins  Wasser  und  trete  auf  die  Flut Das  Wasser 

ist  wie  Land  für  meine  Füße  durch  ihre  Liebe,  die  mich  stark  macht.  Ja,  sie  macht  mir 
einen  Zauber,  wenn  ich  sehe,  wie  meine  Schwester  kommt.  Mein  Herz  jauchzt  und  meine 
Arme  öffnen  sich,  sie  zu  empfangen ;  mein  Herz  ist  froh wenn  die  Herrin  zu  mir  kommt. 

Schalliteratur.  Auch  die  Stätten,  die  vor  allem  die  Bewahrer  des  alten  Herkommens 

waren,  die  Schulen,  konnten  sich  dem  Einfluß  der  neuen  Literatur  nicht 
entziehen.  Noch  lernten  die  Knaben  an  den  Werken  der  klassischen  Zeit 
das  Lesen  und  das  Schreiben,  daneben  gab  man  ihnen  aber  auch  schon 
die  modernen  Dichtungen  zum  Abschreiben,  und  neben  die  alten  Weis- 
heitsbücher traten  neue,  die  vielfach  in  ganz  anderem  Tone  gehalten 
waren.  In  der  „Unterweisung  des  Anii"  ist  zwar  noch  die  alte  Form  bei- 
behalten, daß  ein  Weiser  seinem  Sohne  gute  Lehren  erteilt,  aber  der  Geist 
dieser  Lehren  ist  ein  frischerer  geworden  und  die  einzelnen  Sprüche  sind 
ungleich  lebendiger  als  in  den  alten  Büchern.  Besonders  beliebt  ist  weiter 
die  „briefliche  Unterweisung",  ein  fingierter  Briefwechsel  zwischen  Lehrer 
und  Schüler,  der  die  Studien  empfiehlt  und  vor  faulem  und  liederlichem 
Lebenswandel  warnt: 

Man  bringt  dir  diesen  Brief: 

du  Schreiber  sei  nicht  müßig, 

oder  man  wird  dich  ordentlich  züchtigen; 

setze  dein  Herz  nicht  hinter  die  Vergnügungen, 

oder  du  wirst  zugrunde  gehen. 

Nimm  die  Bücher  in  die  Hand,  lies  mit  deinem  Munde, 

berate  dich  mit  solchen,  die  gelehrter  sind  als  du. 

Andere  dieser  Briefe  sollen  den  Schüler  in  die  Feinheiten  des  Brief- 
stiles einführen  und  ihm  zeigen,  wie  schön  ein  gebildeter  Mann  auch  den 
gleichgültigsten  Geschäfts-  und  Gratulationsbrief  gestalten  könne.  Diese 
Sorge  um  die  elegante  Form  tritt  uns  aber  nicht  nur  in  diesen  Muster- 
briefen entgegen,  sondern  bildet  auch  den  Gegenstand  eines  längeren 
Streitschrift.  Buches,  der  merkwürdigen  literarischen  Streitschrift,  die  wir  aus  Ermange- 
lung eines  anderen  Namens  den  „Papyrus  Ana.stasi  I."  nennen.  Zwei  ge- 
lehrte Schreiber  liegen  in  Fehde  miteinander,  und  der  eine,  der  Verfasser 
des  Buches,  sendet  dem  andern  ein  langes  Sendschreiben  zu,  das  ein  Buch 
seines  Gegners  parodiert;  es  verhöhnt  die  Taten,  die  jener  in  Krieg  und 
Frieden  vollbracht  haben  will,  und  verspottet  seinen  eleganten  unverständ- 
lichen Stil. 


III.  Die  späteste  Literatur.  2«t 

Während  unter  den  Gebildeten  sich  so  ein  literarisches  Treiben  regte,  Märchen, 
hatte  das  Volk  nach  wie  vor  seine  Freude  an  seinen  Märchen.  Das  eine 
geht  auf  ein  historisches  Ereignis  zurück  und  erzählt  schon  eine  Tat 
Thutmosis  III.,  die  doch  noch  nicht  weit  zurücklag,  mit  legendenhaften 
Ausschmückungen.  Ein  anderes,  die  wunderlich  verworrene  Geschichte 
von  den  zwei  Brüdern,  fußt  offenbar  auf  alten  Göttersagen.  Und  wieder 
ein  anderes  behandelt  eines  jener  Motive,  die  in  den  Märchen  aller  Völker 
wiederkehren,  den  Prinzen,  dem  prophezeit  ist,  wie  er  sterben  wird,  und 
den  sein  Geschick  dann  auch  trotz  aller  Vorsicht  ereilt. 

Diese  Märchen  sind  fast  das  einzige,  was  uns  an  prosaischer  Literatur  Prosaisches, 
aus  dem  neuen  Reiche  erhalten  ist,  denn  von  wissenschaftlichen  Schriften 
dieser  Epoche  liegt  uns  wieder  so  gut  wie  nichts  vor.  Ein  Wörterbuch 
in  systematischer  Ordnung  zum  Gebrauche  der  Schulen,  ein  Handbuch 
für  die  Tagewählerei  und  allerlei  Sammlungen  von  Zaubersprüchen  sind 
das  einzige,  was  hier  zu  nennen  wäre. 

III.  Die  späteste  Literatur.  Man  kann  nicht  zweifeln,  daß  die  hier 
geschilderte  Literatur  auch  nach  dem  neuen  Reiche  noch  weiter  gelebt 
hat,  aber  ihre  weiteren  Schicksale  entziehen  sich  unseren  Blicken;  nur 
das  sehen  wir,  daß  bis  in  das  zehnte  Jahrhundert  hinein  die  Volkssprache 
des  neuen  Reiches  noch  in  der  Geltung  bleibt,  so  lange,  bis  auch  sie 
wieder  ein  Idiom  geworden  ist,  das  der  Schüler  erst  in  der  Schule  zu 
erlernen  hat.  Allmählich  greifen  dann  die  offiziellen  Texte  wieder  auf 
das  Altägyptische  zurück,  das  ja  als  die  Sprache  der  Götter  und  der  Ur- 
zeit etwas  Heiliges  war,  für  das  gewöhnliche  Leben  aber  benutzt  man 
die  jüngste  Form  der  ägyptischen  Umgangssprache,  die  wir  das  Demo- 
tische zu  nennen  pflegen.  Auch  in  dieser  Sprache  und  in  dieser  Schrift 
hat  sich  dann  allmählich  eine  Literatur  entwickelt,  die  bis  in  die  römische    Demotische 

Literatur. 

Zeit  hinein  bestanden  hat.  Leider  ist  aber  unser  Verständnis  dieser  Texte 
noch  so  unvollkommen,  daß  wir  ihnen  vielfach  ratlos  gegenüberstehen. 
Was  wir  erkennen,  sind  wieder  Märchen,  die  historische  Ereignisse  aus- 
spinnen, wie  die  merkwürdige  Geschichte  der  Bürg^erkriege  zur  Zeit  des 
Königs  Petubastis  oder  wie  die  Geschichte  von  dem  Lamm,  das  den  Ein- 
fall der  Assyrer  weissagte.  Zwei  andere  behandeln  die  wunderbaren  Er- 
lebnisse eines  Sohnes  Ramses'  IL,  der  Hoherpriester  zu  Memphis  und  ein 
großer  Zauberer  war.  Auch  eine  Prophezeiung  politischen  Inhalts  und 
Weisheitssprüche  der  alten  Art  haben  sich  gefunden.  Alles  in  allem  ge- 
winnt man  daraus  den  Eindruck,  als  habe  diese  demotische  Literatur  nur 
den  alten  Faden  weiter  gesponnen.  Sie  dürfte  ferner  neben  der  Literatur 
der  griechischen  Landesherren  einen  schweren  Stand  gehabt  haben,  und  je 
mehr  sich  die  griechische  Bildung  unter  den  höheren  vStänden  verbreitete, 
desto  mehr  wird  auch  das  einheimische  Schrifttum  zu  einer  Volksliteratur 
herabgesunken  sein.  Dabei  wird  es  selbst  den  Einfluß  der  griechischen 
Volksdichtung  erfahren  haben,  wie  denn  in  der  Tat  in  eines  dieser  demo- 


^8  Adolf  Ermaj^:  Die  ägyptische  Literatur. 

tischen  Bücher  die  äsopische  Fabel  vom  Löwen  und  der  Maus  hinein- 
gewebt ist  Noch  im  dritten  Jahrhundert  n,  Chr.  hat  man  in  den  nicht 
gebildeten  Schichten  des  Volkes  demotische  Märchen  gelesen,  dann  hat 
das  Christentum  auch  diese  Literatur  ertötet  und  hat  eine  neue  in  der 
jüngsten  Volkssprache,  dem  Koptischen,  hervorgerufen.  Diese  hängt  schon 
von  dem  griechisch-christlichen  Schrifttume  ab  und  hat  mit  der  ägyptischen 
Literatur  kaum  noch  etwas  zu  tun. 

IV,  Einfluß  der  ägyptischen  Literatur.  Ein  geistiges  Leben,  das 
so  viele  Jahrhunderte  hindurch  in  einem  Lande  geblüht  hat,  wird  auch  auf  die 
anderen  Nationen,  die  mit  diesem  in  Verkehr  standen,  seinen  Einfluß  aus- 
geübt haben.  Nicht  nur  das  ägyptische  Handwerk  und  nicht  nur  die  ägyp- 
tische Kunst  werden  nach  Palästina  und  Syrien  gewandert  sein,  auch  so 
manches  aus  der  ägyptischen  Gedankenwelt  und  der  ägyptischen  Poesie 
wird  die  gleiche  Straße  gezogen  sein.  Aber  so  sicher  man  dies  auch 
annehmen  kann,  so  schwer  ist  es,  es  im  einzelnen  nachzuweisen.  Denn 
von  den  Liedern  und  von  der  Literatur  des  zweiten  Jahrtausends  v.  Chr., 
die  diesen  Einfluß  zeigen  würden,  ist  in  keinem  dieser  Länder  etwas  auf 
uns  gekommen.  Das  Alteste,  was  wir  noch  zum  Vergleiche  heranziehen 
können,  ist  immer  noch  das  Alte  Testament,  und  in  diesem  findet  sich 
in  der  Tat  einzelnes,  was  in  Form  und  Ton  an  die  Literatur  des  neuen 
Reiches  erinnert.  Das  gilt  z.  B.  von  manchen  Psalmen,  die  an  die  reli- 
giösen Lieder  erinnern,  von  denen  wir  oben  (S.  34)  gesprochen  haben. 
Ebenso  klingt  einzelnes  in  der  hebräischen  Weisheitsliteratur  an  die 
„Unterweisung  des  Anii"  an,  und  endlich  mag  es  auch  kein  Zufall  sein, 
daß  der  Ton  des  Hohen  Liedes  im  ganzen  der  gleiche  ist  wie  der  der 
Liebeslieder  des  neuen  Reiches.  Aber  mehr  als  Spuren  sind  dies  alles 
nicht.  Vollends  nach  der  griechischen  Seite  hin  ist  nichts  anzuführen  als 
die  Tatsache,  daß  sich  mindestens  ein  Rezept  aus  dem  Medizinschatz  der 
Ägypter  in   der   älteren  griechischen  Medizin  wiederfindet. 

In  der  römischen  Zeit  wird  wohl  manches  aus  den  demotischen 
Schriften  in  die  griechische  Volksliteratur  Ägyptens  Einlaß  gefunden 
haben;  aber  selbst  wenn  es  von  dort  aus  weiter  gewandert  sein  sollte,  so 
ist  dieser  Austausch  doch  eben  nur  in  den  tiefsten  Schichten  der  Literatur 
vor  sich  gegangen  und  ist  daher  für  die  allgemeine  Kultur  der  alten 
Welt  ohne  Wirkung  geblieben. 


Literatur. 

Das  Verdienst,  die  literarischen  Papyrus  erschlossen  zu  haben,  gebührt  in  erster  Linie 
dem  Franzosen  FRANgoiS  Chabas  und  dem  Engländer  C.  W.  Goodwin.  Ihre  genialen  Über- 
setzungsversuche,  die  in  den  sechziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  erschienen  sind, 
haben  die  Grundlagen  für  alle  späteren  Arbeiten  gebildet. 

Versuch,  die  Literaturgeschichte  zu  skizzieren:  Erman,  Ägypten  und  ägyptisches  Leben 
(1887),  Kap.  15  —  unten  zitiert  als  E.  Äg. 

Sammlungen  von  Übersetzungen :  IVIaspero,  Les  Contes  populaires  de  l'Egypte  ancienne, 
3.  Aufl.  (1905)  —  unten  zitiert  als  M.  Petrie,  Egyptian  Tales  translated  from  the  papyrus 
(1895)  —  unten  zitiert  als  P.  Erman  und  Krebs,  Aus  den  Papyrus  der  königlichen  Museen 
(1899)  —  unten  zitiert  als  E. 

Belege  für  einzelnes: 

Alte  religiöse  Lieder:  die  Proben  aus  Totenbuch  Kap.  15  und  Pyramidentexte  Kap.  248. 

Trinklied:  Stern,  Äg.  Ztschr.  1873;  Maspero,  Etudes  egyptiennes  S.  172  ff.;  E.  Äg.  516. 

Ältere  erzählende  Dichtung:  das  von  Golenischeff  1880  übersetzte  Schiffermärchen: 
P.  81;    M.   135. 

Geschichte  des  Sinuhe:    E.   I4ff. ;    P.  96;    M.  94. 

Geschichte  des  beredten  Bauern:    E.  46;    P.  61;    M.  23' 

Gespräch  des  Lebensmüden :    E.  54. 

Prophezeiungen  des  Epu:  Lange,  Sitzungsber.  der  Berl.  Akad.  1903,  601. 

Unterweisung  des  Amenemhet:    E.  43. 

Unterweisung  des  Duauf :  MasperO,  du  genre  epistolaire  (1872)  S.  49. 

Zaubermärchen:    E.  30;    P.  9;    M.  51. 

Teil  Amarnahymnus :  Erman,  Die  ägyptische  Religion  (1905)  S.  67. 

Andere  religiöse  Lieder:    ebd.  S.  62;  84  ff. 

Lieder  auf  die  Könige:  E.  523. 

Gedicht  auf  die  Schlacht  bei  Kadesch:    E.  Äg.  525. 

Liebeslieder:  W.  M.  MÜLLER,  Die  Liebespoesie  der  alten  Ägypter  (Leipzig,  1899). 

SchuUiteratur :  Maspero,  genre  epistolaire  S.  24ff. ;     E.  443  ff. 

Unterweisung  des  Anii:    Chabas,  l'Egyptologie  (Paris,  1876 — 1878). 

Anastasi  I:    E.  Äg.  508;  Chabas,  Voyage  d'un  Egyptien  en  Syrie  (Paris,  1866). 

Märchen  des  neuen  Reiches:    M.   147;    E.  5  =  M.  505;    E.  502  =  M.  228. 

Demotische  Märchen:  Krall,  Wiener  Ztschr.  f.  d.  Kunde  des  Morgenlandes  XVII; 
derselbe,  Vom  König  Bokchoris  (Festgaben  für  Büdinger  1898);  Griffith,  Stories  of  the 
highpriests  of  Memphis  (1900). 


DIE  BABYLONISCH-ASSYRISCHE  LITERATUR. 

Von 

Carl  Bezold. 


Einleitung.  Die  Anfange  der  babylonisch -assyrischen  Literatur 
stehen  an  der  Schwelle  der  archäologischen  Forschung;  sie  stellen  im 
Verein  mit  den  frühesten  Aufzeichnungen  der  Niltalbewohner  die  ältesten 
bekannten  Schriftdenkmäler  des  Menschengeschlechtes  dar.  Aber  eine 
weite  Kluft  trennt  diese  noch  jetzt  erhaltenen  Dokumente  von  der  asia- 
tischen Urzeit  und  der  ersten  Entwicklungsperiode  dortiger  Kultur.  Es 
sprechen  Gründe  dafür,  daß  das  älteste  Volk,  das  durch  die  jetzt  ent- 
zifferten Inschriften  in  Westasien  bekannt  ist,  die  Sumerer,  dort  nicht 
autochthon  war,  sondern  in  prähistorischer  Zeit  aus  Innerasien,  vermutlich 
in  langsam  vordringenden  Völkergeschieben,  eingewandert  ist.  Früher 
oder  später  ist  dieser  Volksstamm  der  Sumerer  der  großen,  gleichfalls 
noch  prähistorischen  semitischen  Völkerwanderung  zum  Opfer  gefallen. 
Die  späteren  Babylonier-Assyrer,  ein  Zweig  der  Ursemiten,  haben  ver- 
mutlich den  Sumerern  ihre  Wohnsitze  in  heißen  Kämpfen  abgerungen; 
sicher  haben  sie  deren  Bestes,  eine  weitentwickelte  Kultur,  sich  zu  eigen 
gemacht.  Ackerbau  und  Viehzucht,  Vogel-  und  Fischfang,  Pelzkleidung 
und  Hausbau  sind  die  notwendigen  Voraussetzungen  dieser  Kulturent- 
wicklung, die  in  einem  durchgebildeten,  äußerst  komplizierten  Schrift- 
system, in  der  festen  Form  religiöser  Anschauungen  und  Kulthandlungen 
und  in  der  künstlerischen  Vollendung  statuarischer  Arbeiten  gipfelte. 

Mit  der  Übernahme  dieser  Kultur  der  Sumerer  durch  die  Babylonier- 
Assyrer  war  letzteren  die  Entwicklung  auch  ihrer  Literatur  vorgezeichnet. 
Wahrung  und  Hut  ererbten  Besitztums  drängte  originelles  Schaffen  zurück. 
Dagegen  führte  die  Heilighaltung  der  übernommenen  Religion  und  ihrer 
schriftlichen  Zeugnisse  zur  Wertschätzung  und  Hochachtung  einer  unver- 
fälschten Überlieferung.  Zweisprachigkeit  der  gelehrten  Bildung  erzeugte 
eine  reiche  Übersetzungsliteratur,  lehrte  die  genaue  Beobachtung  der 
eigenen  Sprache  und  begünstigte  die  schulmäßige  Tradition.  Gerade  die 
letztere  aber  scheint  bei  den  Babyloniem-Assyrern  in  schablonenhafter 
Beengung,  mit  deutlichem  Streben  nach  zielbewußter  Regelmäßigkeit,  alle 


Einleitung.     I.   Die  ältere  babylonisch-assyrische  Literatur.  a  i 

freiere  Entfaltung  literarischen  Schaffens  gehemmt  zu  haben.  Denn  den 
gewaltigen  Schritt  von  den  Aufschriften  als  Beiwerk  für  Kunsterzeugnisse 
zu  den  eigentlichen  Inschriften  mit  bewußtem  Selbstzweck  hatten  schon 
die  Sumerer  zurückgelegt.  Freilich  erwuchsen  dann  in  Babylonien- 
Assyrien  alle  Literaturzweige  mit  Ausnahme  des  Dramas  und  einer  musi- 
kalischen Literatur.  Aber  fast  alle  Früchte  dieser  Zweige  sind  nur  von 
Reinstofflichem  erfüllt.  Die  sprachliche  Beobachtung  entbehrt  der  wirk- 
lichen Methode;  die  historische  Aufzeichnung  reicht  auch  nicht  an  den 
Anfang  der  Geschichtswissenschaft  heran.  Die  Namen  eigentlicher  Schrift- 
steller sind  nirgends  überliefert.  Dadurch  mangelt  ein  wertvoller,  ander- 
wärts fast  selbstverständlich  scheinender  Maßstab  zur  Schätzung  jener 
Geistesprodukte.  Auch  eine  Nationalliteratur  im  eigentlichen  Sinne  des 
Wortes  haben  die  Babylonier-Assyrer  nie  geschaffen.  Formelhafter  Sche- 
matismus und  zunehmende  Verkünstelung  alles  Schrifttums  sind  jetzt  fast 
die  einzigen  augenfälligen  Merkmale  für  die  Weiterbildung  ihrer  litera- 
rischen Tätigkeit. 

Indessen  gründet  sich  dieses  Urteil  auf  einen  durch  den  bisherigen 
Verlauf  der  Ausgrabungen  in  Westasien  und  durch  die  Lückenhaftigkeit 
des  zutage  geförderten  und  allgemein  zugänglichen  Materials  nur  allzu 
unebenen  Boden.  Die  literarisch  bedeutsamsten  Fundstücke  sind  in  äußerst 
fragmentarischem  Zustande  erhalten.  Aus  den  Ruinenstätten  ist  erst  eine 
einzige  systematisch  angelegte  Bibliothek  geborgen.  Und  gerade  die 
wichtigsten  Pfunde  der  letzten  Jahre  tragen  zu  unverkennbar  den  Stempel 
der  Zufälligkeit,  als  daß  daraus  Schlüsse  auf  den  relativen  Wert  des  Vor- 
handenen im  Vergleich  zu  dem  noch  zu  Erhoffenden  gezogen  werden  dürften. 
Dazu  kommt,  daß  das  erhaltene  Schreibmaterial,  Stein  und  besonders  Ton, 
und  die  polyphone  Schrift  der  Denkmäler  jene  literarischen  Aufzeich- 
nungen außerordentlich  erschwerten,  die  naturgemäß  den  vornehmsten  und 
gelehrtesten  Mitgliedern  der  Gesellschaft  vorbehalten  blieben.  Aus  einer 
rohen  Bilderschrift  entwickelten  sich  schon  in  der  sumerischen  Zeit  Wort- 
und  Silbenzeichen  in  Strichform,  die  nachmals,  als  der  Ton  das  über- 
wiegende Schreibmaterial  ward,  zu  der  sogenannten  Keilschrift  umgebildet 
wurden.  Weiches,  biegsames  Schreibmaterial  pflanzlicher  Natur  kam  da- 
neben sicher  in  Gebrauch;  was  es  der  Nachwelt  zu  übermitteln  bestimmt 
war,  scheint  für  immer  verloren  zu  sein. 

I.  Die  ältere  babylonisch-assyrische  Literatur  (2200 — 650).  Be- 
sonders der  häufige  Gebrauch  der  Wortzeichen  und  die  lapidare  Kürze 
der  ältesten  Inschriften  verhindern  nicht  selten  die  reinliche  Scheidung 
spätsumerischer  von  den  frühesten  babylonischen  Dokumenten.  In  beiden 
Sprachen  handelt  es  sich  bei  den  ältesten  Aufzeichnungen  meist  um  Weih- 
bzw. Bauinschriften,  in  deren  wenigen  Zeilen  die  Stadtgottheit  des  je- 
weiligen Gebietes  der  alten  Feudalherrscher,  sogenannter  Priesterkönige, 
verherrlicht  wurde.    Die  älteste  literarische  Überlieferung  steht  im  Dienste 


42 


Carl  Bezold:  Die  babylonisch-assjrische  Literatur. 


der  Relig-ion  und  der  religiösen  Kunst.  Historisch  bedeutsame  Ereignisse 
wurden  zunächst  in  künstlerischen  Darstellungen  festgehalten.  Die  Geier- 
stele aus  dem  Zeitalter  des  sumerischen  Fürsten  Gudea  (ca.  4000)  erzählt 
von  der  Bestattung  der  in  der  Schlacht  gefallenen  Krieger,  ein  Denkmal 
Narämsins  (ca.  3750)  von  einem  Sieg  seiner  Truppen  über  den  König  von 
Elam.  Xur  die  offiziellen  Titel,  die  sich  jene  Priesterfürsten  in  ihren 
Kultinschriften  beilegten,  berichten  über  die  Ausdehnung  ihrer  Macht- 
sphäre  und   ihre  jeweilige  Hegemonie   über  mehrere   sakrale   Metropolen. 

Chammurabi  Erst    mit    Chammurabi,    dem    ältesten   Herrscher    Gesamtbabyloniens 

(ca.  2200),  beginnen  die  schöpf  baren  Quellen  in  babylonisch- assyrischer 
Sprache  zu  fließen,  die  sich  im  Lauf  der  Jahrhunderte  zu  einem  ansehn- 
lichen Strom  verbreiterten.  Vier  Arten  der  literarischen  Aufzeichnung 
setzen  mit  der  Dynastie  von  Babylon,  der  Chammurabi  angehörte,  zugleich 
ein:  sie  sind  die  charakteristischen  Merkmale  aller  älteren  babylonisch- 
assyrischen Literatur,  die  sich  dadurch  von  dem  „wissenschaftlichen"  In- 
halt der  Bibliothek  Asurbanipals  und  ihrer  späteren  Kopien  scharf  abhebt. 

I.  Historische  Neben  den  Kult-  und  Bauinschriften  entstehen  die  historischen  Auf- 
zeichnungen. Sie  treten  zunächst  als  kurze  chronikartige  Notizen  auf,  die 
von  Jahr  zu  Jahr  fortgeführt  wurden.  Die  Chronologie  vermitteln  in  den 
ältesten  Zeiten  wichtige  Ereignisse,  nach  denen  die  Jahre  zählten.  An  die 
Stelle  dieser  Rechnung  trat  schon  früh  die  Zählung  nach  den  Regierungs- 
jahren der  Herrscher,  bzw.  der  Eponymen,  die  an  deren  Statt  dem  Jahre 
den  Namen  gaben.  Dadurch  erklärt  sich  die  annalistische  Natur  dieser 
Dokumente,  die  in  der  Wiedergabe  von  ReinstofFHchem  bis  tief  herein 
ins  Assyrische  Weltreich  ihren  monotonen  Charakter  bewahren.  Daneben 
bekunden  sich  allerdings  schon  von  Tiglatpilesers  I.  Zeit  an  (ca.  iioo 
v,  Chr.)  Ansätze  zu  einer  eigenen  Kunstform  der  Geschichtschreibung. 
Die  Erzählung  der  Raub-  und  Kriegszüge  der  Herrscher,  ihrer  Bewältigung 
von  Meutereien,  ihrer  Bauten  und  Kulthandlungen  wird  eingerahmt  von 
einem  längeren  Anfang-  und  Schlußgebet  zu  den  großen  Landesgottheiten. 
Eingestreute  Aufzählungen  von  Titeln  und  Attributen  der  selbstherrlichen 
Könige,  auf  deren  Befehl  die  Inschriften  verfaßt  wurden,  betonen  das 
persönliche  Moment  ihrer  Kriegsgeschichte.  An  die  Stelle  der  anna- 
listischen Berichte  treten  die  Prunkinschriften  mit  reicherem  Beiwerk  über 
die  Beschwerden  der  Feldzüge,  die  Schrecken  der  Belagerung,  die  grau- 
samen Martern  der  Besiegten,  die  Kostbarkeiten  des  erzwungenen  Tributs. 
Die  x\lltagsprosa  weicht  der  höheren  Sprache.  Detailberichte  werden  ge- 
fordert und  aus  konzeptartigen  Niederschriften  ergänzt,  um  für  die  Bei- 
schriften der  die  Siege  verewigenden  Basreliefs  als  Grundlage  zu  dienen. 
2.  Briefliteratur.  Ungefähr  gleichzeitig  mit  der  Historiographie  ist  die  Entwicklung  der 

Brieftechnik  bezeugt.  Gerade  Chammurabis  folgenschwerste  Regierungs- 
handlungen sind  aus  seiner  umfangreichen  Korrespondenz  mit  einem 
seiner  Vasallen  bekannt.  Besonders  begünstigend  muß  auf  die  epistolare 
babylonische  Literatur  das  Abhängigkeitsverhältnis  gewirkt  haben,   in  das 


II.  Die  Literatur  aus  Ninive  (um  650  v.  Chr.).  a-i 

Vorderasien  im  15.  Jahrliundert  v.  Chr.  zu  Ägypten  trat.  Die  350  zu  Tell- 
el-Amarna  (zwischen  Memphis  und  Theben)  gefundenen  Keilschriftbriefe 
aus  Jerusalem  und  vielen  Nachbarstädten  an  den  Hof  des  Pharao  sind 
unschätzbare  Zeugnisse  für  die  Ausbildung  dieses  Briefstils.  Bis  in  die 
spätassyrische  Zeit  vermittelten  Korrespondenzen  an  den  König,  seine 
nächsten  Verwandten  und  höchsten  Würdenträger  die  Nachrichten  von 
politischen  und  militärischen  Vorkommnissen,  von  staatlichen  Bauunter- 
nehmungen, religiösen  Zeremonieen  und  mitunter  von  privaten  Angelegen- 
heiten, Wünschen  und  Bitten.  Die  Kürze  der  eigentlichen  Mitteilungen 
steht  häufig  in  umgekehrtem  Verhältnis  zu  der  Begrüßungs-  und  Segens- 
formel, die  nach  dem  Rang  und  Ansehen  der  Schreibenden  wechselt.  Die 
einfachsten  Eingangsworte  der  ältesten  Zeit  wurden  später  zum  Vorrecht 
gekrönter  Häupter. 

Kurze  Lieferungsurkunden  mit  Aufgabe  des  eigentlichen  Briefstils  3.  vertrags- 
können  als  Übergangsform  zu  den  kommerziellen  Inschriften  gelten,  die 
gleichfalls  seit  der  babylonischen  Dynastie  bekannt  sind.  Babylonien- 
Assyrien  ist  ein  Land  der  Verträge,  des  Verkehrslebens  und  Handels. 
Zehntausende  von  Urkunden  dieser  Art  vom  Ende  des  dritten  Jahrtausends 
bis  kurz  vor  Christo  harren  der  Übersetzung  und  Bearbeitung.  Uralte, 
in  die  sumerische  Zeit  zurückreichende  P'ormeln,  genaue  Terminologie, 
Zeugenunterschriften,  sorgfältige  Datierung  und  Siegelung  sind  charakte- 
ristisch für  die  vielfach  in  duplo  ausgefertigten  Dokumente.  Kauf  und 
Tausch,  Miete  und  Pfand,  Darlehn  und  Schenkung  sind  protokollarisch 
gebucht  und  weisen  mit  Notwendigkeit  auf  die  Entwicklung  eines  urkund- 
lich gepflegten  Rechtswesens  bei  den  Babyloniern-Assyrern. 

Die  genauere  Erkenntnis  dieser  Rechtspflege   wurde  vermittelt  durch  4-  Babylonische 

Cj6  setze 

die  jüngst  entdeckten  Gesetze  aus  der  Zeit  Chammurabis,  die  vierte  der 
älteren  Literaturg^attungen  Babyloniens.  Wie  weit  sich  das  Gesetzbuch 
Chammurabis  auf  dem  in  Susa  gefundenen  Dioritblock,  das  der  König 
vom  Sonnengott  inspiriert  empfangen  haben  und  als  sein  Werk  betrachtet 
wissen  will,  an  ältere,  sumerische  Aufzeichnungen  anschließt,  läßt  sich 
jetzt  nicht  entscheiden.  Sicher  w^ar  das  systematisch  redigierte  Werk, 
oder  waren  Teile  davon  jahrhundertelang  in  Geltung.  Es  steht  als  fer- 
tiges Ganze  da.  Von  späteren  Zusätzen  oder  von  einer  Bestreitung  seiner 
Gültigkeit  im  langen  Verlauf  des  babylonisch -assyrischen  Weltreichs  ist 
nichts  bekannt.  Der  ausgezeichnete  Zustand  der  erhaltenen  Paragraphen 
zeigt  eine  knappe,  grammatisch  merkwürdig  reine,  folgerichtige  Aus- 
drucksweise mit  stabilen  juristischen  Formeln.  Eine  „späte"  Schöpfung 
am  Ende  einer  langen  Entwicklungsperiode  aus  dem  zweiundzwanzigsten 
Jahrhundert ! 

IL  Die  Literatur  aus  Ninive  (um  650  v.  Chr.).  Es  hängt  augen- 
scheinlich mit  der  Beschränkung  der  bisherigen  Ausgrabungen  zusammen, 
wenn    sich    die    babylonisch-assyrische    Literatur    bis    herein    ins    siebente 


44  Carl  Bezold:    Die  babylonisch-assyrische  Literatur. 

Jahrhundert  v.  Chr.  ledigUch  in  den  vier  Phasen  der  Geschichtschreibung, 
der  Brieftechnik,  der  kommerziellen  Urkunden  und  des  Gesetzbuches  Cham- 
murabis  zu  bewegen  scheint.  Schon  der  im  folgenden  zu  besprechende 
Charakter  der  Bibliothek  Asurbanipals  zeigt,  daß  damit  die  Summe  schrift- 
licher Überlieferung  auch  in  früherer  Zeit  nicht  erschöpft  war.  Tauchen 
doch  auch  hier  und  dort  schon  jetzt  versprengte  Reste  anderer  Literatur- 
gattungen auf:  das  Bruchstück  eines  Sintflutberichts,  das  vor  2000  anzu- 
setzen ist;  altbabylonische  Legenden  aus  der  Amarnazeit;  Gebete  und 
Hymnen;  vereinzelte  Omentexte,  vielleicht  auch  ein  oder  das  andere  Syl- 
labar.  Wir  dürfen  hoffen,  die  verschütteten  Quellen  zum  Wiederfließen  zu 
bringen. 
Philologische  Nach  dem  heutigen  Stand  der  Forschung  bedeutet  aber  dem  Literar- 

Aufzeichnungen.  *-' 

historiker  Asurbanipals  Zeit  (668 — 626  v.  Chr.)  eine  neue,  eigene  Welt.  In 
dem  Tontrümmerchaos  der  systematisch  angelegten  und  trefflich  geord- 
neten Bücherei  des  assyrischen  Großkönigs,  die  um  die  Mitte  des  vorigen 
Jahrhunderts  zu  Kujundschik  unweit  Mosul,  dem  alten  Ninive,  entdeckt 
wurde,  lag  mit  einem  Schlage  die  wissenschaftliche,  religiöse  und  kultische 
Literatur  der  Assyrer  offen:  der  durch  die  altbabylonischen  Priester  einer 
späteren  Nachwelt  überlieferte  Niederschlag  altsumerischer  Kultur.  Die 
Kenntnis  der  längst  ausgestorbenen  sumerischen  Sprache  ward  schulmäßig, 
zunächst  mündlich  tradiert.  Die  überkommenen,  in  ihr  verfaßten  heiligen 
Schriften  wanderten  in  sorgfältigen  Kopieen  von  Generation  zu  Generation. 
Als  Hilfsmittel  zu  ihrer  Auslegung  entstanden  in  den  Priesterschulen  ge- 
naue Übersetzungen  des  sumerischen  Urtextes  ins  Babylonisch-Assyrische. 
Nachschlagebücher  grammatischen  und  lexikographischen  Inhalts,  Sylla- 
bare  und  Listen,  Paradigmata,  Kommentare  und  Präparationen  wurden  die 
Grundlage  der  mündlichen  Lehre.  Rubrizieren  und  Schematisieren  war 
bei  den  assyrischen  Philologen  über  alles  beliebt.  Darauf  deuten  auch 
die  geographischen  Listen  der  Namen  von  Städten,  Ländern,  Flüssen, 
Kanälen;  die  Zensusverzeichnisse;  die  Eigennamenreihen  von  Königen, 
Beamten  und  Privatpersonen;  die  Eponymenlisten;  die  Verzeichnisse  von 
Gottheiten  und  Dämonen;  die  Zusammenstellung  mathematischer  Angaben, 
wie  von  Quadraten  und  Kuben;  die  Listen  von  Sternnamen  und  astro- 
logischen Ausdrücken  und  die  mannigfaltigen  Sammlungen  kultischer  Natur. 
Omentexte.  Einen  besouders  breiten  Raum  nehmen  in  der  Bibliothek  zwei  Pseudo- 

wissenschaften  ein,  die  aufs  engste  miteinander  verbunden  sind:  Omen- 
deutung und  Astrologie.  Auch  hier  steht  die  durch  Jahrhunderte  ge- 
schärfte Beobachtungsgabe  für  die  Vorkommnisse  auf  Erden  und  am 
Himmel  im  Banne  des  Schematismus.  Die  für  die  Schicksale  der  Mensch- 
heit bedeutungsvollen  Erscheinungen  oder  Bewegung-en  aller  möglichen 
Tiere,  die  ominösen  Ereignisse  in  Stadt  und  Land,  in  Haus  und  Hof,  merk- 
würdige Geburten  und  ihre  Begleitumstände  und  obenan  Träume  aller 
Art  sind  schablonenhaft  in  förmlichen  Büchern  verzeichnet,  deren  eines 
bis  zu  hundert  und  mehr  Tontafeln  umfaßt.    Unterabteilungen  und  kürzere 


II.  Die  Literatur  aus  Ninive  (um  650  v.  Chr.).  45 

Auszüge  aus  derartigen  „Serien"  sind  in  der  Bibliothek  als  solche  genau 
vermerkt;  ja  auch  Katalog'e  zu  den  einzelnen  Teilen  sind  vorhanden.  Ganz 
analog  der  Omenbeschreibung  sind  die  astrologischen  Aufzeichnungen  der  Astrologische 

.  r         •  ^  •     -TT  11  •  r       •  Inschriften. 

Ba,bylonier-Assyrer  angefertigt.  Zwei  Hauptwerke,  deren  eines  auf  einen 
uralten  König,  Sargon  I.  von  Akkad,  zurückgeführt  wird,  enthalten  Beob- 
achtungen von  Finsternissen,  Mond-  und  Sonnen-Konstellationen,  Planeten- 
bewegungen, Sternauf- und -unterg'ängen,  Wolken-  und  Windrichtung.  Auch 
aus  diesen  Werken  sind  kurze  Auszüge  für  praktische  Zwecke  ang-efertigt 
worden,  die  astrologischen  „Berichte"  für  den  assyrischen  König,  die  ihm 
für  bestimmte  Unternehmungen,  Opfer  und  Bauten,  Krieg  und  Jagd  die 
Gunst  der  Götter  verhießen. 

Die  unverkennbare  Sorgfalt,  mit  der  die  astrologische  Literatur  bei 
den  Babyloniern-Assyrern  gepflegt  wurde,  wird  verständlich  durch  die  Be- 
merkung, daß  fast  alle  anderen  Literaturgattungen  in  Asurbanipals  Biblio- 
thek von  ihr  abhängen.  Die  babylonisch-assyrische  Religion  ist  astral. 
Von  den  Göttern  verhängte  Leiden  und  Krankheiten  wurden  unter  Be- 
obachtung der  Gestirne  geheilt.  Tägliche  oder  häufige  Ereignisse  am 
Himmel  reduzierte  frommer  Glaube  zum  einmaligen,  einstigen  Vorkommnis : 
zur  Mythe.  So  ruht  alle  Literatur  über  Medizin,  Kultus  und  Mythologie 
auf  astrologischer  Grundlage. 

Die  von  den  babylonischen  Ärzten  beobachteten  Krankheiten  sind  in  Mediziuische 

•^  Inschriften. 

den  medizinischen  Schriften,  unter  denen  4 — 5  Werke  mit  ihren  be- 
sonderen Titeln  bekannt  sind,  nach  den  Körperteilen  geordnet.  Die  kurzen 
Angaben  der  Krankheitssymptome  sind  nicht  ohne  Geschick  gemacht,  die 
Diagnose  ist  meist  sehr  einfach,  die  Therapie  durchaus  superstitiös.  Ins- 
besondere werden  alle  psychischen  Störungen  Unholden  und  Dämonen 
zugeschrieben. 

Auch  der  Glaube  an  böse  Geister  und  Hexen  ist  in  Babylonien  Erb-  ßeschwörungs- 

■'  formeln. 

gut  der  Sumerer.  Die  sehr  zahlreichen  Beschwörungsformeln,  deren 
Hauptwerke  nach  den  dabei  vorzunehmenden  Verbrennungszeremonieen 
betitelt  sind,  erhielten  sich  großenteils  bis  zum  heutigen  Tage  in  zwei 
Sprachen.  Die  assyrische  Übersetzung  ist  dem  sumerischen  Grundtext 
interlinear  beigefügt.  Dasselbe  gilt  auch  von  den  eigentlichen  Gebeten 
und  Hymnen.  Gerade  bei  der  offenbar  sorgfältig  gehüteten  Tradition 
dieser  sumerischen  Literaturerzeugnisse  ist  die  Scheidung  semitischer  und 
nichtsemitischer  Ursprüng-lichkeit  bis  jetzt  außerordentlich  erschwert,  zum 
Teil  unmöglich.  Daß  im  wesentlichen  die  alten  Formen,  die  als  heilig 
galten,  beibehalten  wurden,  läßt  sich  allerdings  aus  der  Vergleichung  mit 
den  sumerischen  Kultinschriften  Gudeas  nachweisen.  Wieviel  neube- 
fruchtender Geist  des  Semitismus  aber  dazu  eindrang  und  wie  weit  er 
umgestaltend  wirkte,  ist  nicht  deutlich  ersichtlich.  Erweckt  doch  bisweilen 
sogar  der  scheinbare  „sumerische  Urtext"  solcher  Inschriften  den  Ver- 
dacht, von  einem  assyrischen  Priester  komponiert  zu  sein  —  etwa  wie 
das  Mönchslatein  im  deutschen  Mittelalter.     Augenfällig  semitisch  ist  das 


46 


Carl  Bezold:    Die  babylonisch-assyrische  Literatur. 


Gebete  nnd 
Hvmnen. 


Gepräge  der  Terminologie  in  den  Gebeten,  Psalmen  und  Litaneien  und  im 
Opferritual;  unverkennbar  der  Parallelismus  der  Glieder,  die  metrische 
Kunstform  in  der  Wiedergabe  alter  Mjlhen.  Auch  setzt  diese  Entwick- 
limg  aus  dem  Sumerischen  nicht  mit  Notwendigkeit  ein  gradliniges  Fort- 
schreiten voraus:  eine  Summe  alter  sumerischer  Riten  und  alter,  auf  der 
Wanderung  en\'orbener  semitischer  Sagen  können  als  Mittelglieder  ver- 
loren sein.  Keinesfalls  ist  das,  was  inj  den  religiösen  Bestandteilen  der 
Literatur  in  Asurbanipals  Bibliothek  vorliegt,  als  der  reine  Ausdruck 
einer  volkstümlichen  Religion  anzusehen.  Im  allgemeinen  spiegelt  sich  in 
den  Hymnen  und  Beschwörungen  eine  späte  Staatsreligion  wieder.  Die 
Stabilität  der  Epitheta  wird  selten  alteriert,  so  daß  gerade  in  solchen  Aus- 
nahmefällen Lokalkulte  oder  ältere  Formen  zum  Durchbruch  zu  kommen 
scheinen.  Die  jetzige  sakrale  Natur  der  betreffenden  Inschriften  ist  vor- 
herrschend, aber  nicht  notwendig  ursprünglich.  Dazu  ist  bei  den  aus- 
gedehnten Eroberungszügen  der  Babylonier  von  den  frühesten  Zeiten  an, 
bis  nach  Ag}'pten  und  Elam,  das  Eindringen  fremder  Kultformen  nicht 
ausgeschlossen.  Endlich  scheinen  in  den  voces  mysticae  und  ähnlichen 
Bestandteilen  gewisser  Beschwörungsformeln  auch  Andeutungen  auf  relativ 
späte  Geheimlehren  zu  liegen,  die  der  Staatsreligion  fremd  bleiben  mußten. 
Die  Ableitung  der  eigentlichen  Gebete  aus  ursprünglichen  Beschwö- 
rungen ist  nicht  mehr  im  Fluß,  aber  durch  die  vorgeschriebenen  beglei- 
tenden symbolischen  Handlungen  genügend  verbürgt.  Offiziellen  Charakter 
tragen  die  Hymnen  an  die  zwölf  großen  Götter  des  assyrischen  Pantheons; 
ebenso  wie  die  „Gebete  der  Handerhebung"  mit  besonderer  Beziehung  auf 
die  unheilvollen  Wirkungen  von  Finsternissen;  die  Anrufungen  der  Götter 
Schamasch  und  Adad  mit  reichlichen  Opferzeremonieen,  und  die  für  den 
König  bestimmten  Gebete.  Die  Kunstform  des  Gliederparallelismus  tritt  in 
den  sogenannten  Bußpsalmen  „zur  Beruhigung  des  Herzens"  am  deutlichsten 
hervor,  und  gerade  ihre  sumerische  Abfassung  erweckt  den  Eindruck  des 
Echten  und  Alten.  Als  spätassyrische  Verkünstelung  dagegen  werden  die 
Akrosticha  und  Telesticha  einiger  Hymnen  anzusprechen  sein.  Auch  die 
Loslösung  der  kurzen  Ritenrubriken  von  den  Beschwörungen  und  Gebeten 

R^tMiteite;  und  die  Ausbildung  eigener  Ritualtexte  ist  wahrscheinlich  erst  in  dem 
bücber.  eigentlichen  Bereich  der  semitisch-assyrischen  Literatur  erfolgt.  Fest- 
liturgieen,  drei"  große  Klassen  von  Opferritualen  und  Hemerologieen  mit 
besonderer  Heiligung  gewisser  Monatstage  sind  die  vornehmsten  Bestand- 
teile dieser  Literaturgattung.  Mit  dem  Opferkult  aufs  engste  verknüpft 
sind  die  Wahrsagungen  aus  der  Leberschau,  deren  Vornahme  aus  einem 
eigenen  Tontafelbuch  ersichtlich  ist.  Auch  die  schon  zu  Chammurabis 
Zeit  geübte  Becherwahrsagung  aus  magischem,  heiligem  Ol,  das  tropfen- 
weise auf  Wasser  geworfen  wird,  hat  sich  wahrscheinlich  bis  in  spät- 
assyrische Zeit  unter  den  verschiedenen  Formen  der  Rituale  erhalten. 

Mythen  nnd  Tells  vcrwoben  in  Gebete  und  Hymnen,  teils  als  selbständige  schrift- 

stellerische Erzeugnisse  sind   als  der  letzte   und   vielleicht  wertvollste  Be- 


III.  Die  neubabylonische  Literatur.  a^j 

Standteil  von  Asurbanipals  Bibliothek  die  Sagen  und  Legenden,  Epen  und 
Mythen  zu  nennen.  Wie  schon  früher  bemerkt,  ist  in  Babylonien  bereits 
um  2000  eine  mythologische  Literatur  vorauszusetzen.  Was  fast  andert- 
halb Jahrtausende  später  in  kunstvoller,  zum  Teil  hochpoetischer  assyrischer 
Sprache,  häufig  in  metrisch  gebundener  Form,  vorliegt,  läßt  die  ursprüng- 
liche Gestalt  jener  Legenden  im  günstigsten  Falle  ahnen.  Es  ist  bezeich- 
nend, daß  von  keiner  der  wichtigeren  M3^then  ein  sumerischer  Text  er- 
halten ist.  Nur  zwei  Gedichte  über  die  Allmacht  der  Sonne  und  die 
Sieg-eslaufbahn  der  Sonne  am  Himmel  sind  jüngst  in  zweisprachiger 
Fassung  entdeckt  worden.  Der  babylonische  Schöpfungsmythus  ist  in 
verschiedenen,  voneinander  ziemlich  weit  abweichenden  Redaktionen  über- 
liefert. Die  poetische  Erzählung  vom  Absterben  und  Wiedererwachen  der 
Natur,  die  in  der  „Höllenfahrt"  der  Göttin  Ischtar  vorliegt,  gab  in  ihrer 
jetzigen  Form  Veranlassung,  einen  doppelten  Schluß  des  Gedichtes,  also 
die  ungeschickte  Verarbeitung  zweier  Quellen  zu  statuieren.  Und  der 
berühmte  Sintflutbericht  im  elften  Gesang  des  Gilgamischepos ,  das  auf 
astralmythologischer  Basis  aufgebaut  ist  und  über  das  Leben  im  Jenseits 
zu  handeln  scheint,  ist  in  der  überlieferten  Abfassung  so  deutlich  aus  drei 
oder  mehr  heterogenen  Bestandteilen  verquickt,  daß  an  seiner  relativ 
späten,  gelehrten  Komposition  nicht  zu  zweifeln  ist. 

III.  Die  neubabylonische  Literatur.  Ein  Gesamtüberblick  über 
die  babylonisch-assyrische  Literatur  der  Kujundschiksammlung  bestätigt 
das  eingangs  gefällte  Urteil,  daß  den  semitischen  Bewohnern  Babyloniens 
verhältnismäßig  wenige  Neuschöpfungen  auf  literarischem  Gebiete  zu  ver- 
danken sind.  Aus  der  spätbabylonischen  Zeit  sind  die  ergiebigen  Tempel- 
archive noch  zu  oberflächlich  ausgebeutet,  um  sichere  Schlüsse  auf  die 
Weiterbildung  jener  Literaturgattungen  zu  gestatten.  Die  Kriegsgeschichte 
tritt  in  den  neubabylonischen  Inschriften  ohne  ersichtlichen  Grund  völlig 
zurück.  Bautexte  und  Tempelwidmungen  mit  langen  Gebeten  und  reichem 
Titelbeiwerk  treten  an  ihre  Stelle.  Wortgetreue  Kopieen  verschieden- 
artiger Inschriften  der  ninivitischen  Sammlungen  in  neubabylonischer, 
immer  nachlässiger  werdender  Schrift  tauchen  aus  den  Tausenden  von 
Kontrakten  auf,  die  aus  der  chaldäisch-persischen  Periode  erhalten  sind. 
Aber  eine  einzige  neue,  originelle  Errungenschaft  wiegt  alle  etwa  emp- 
fundenen Mängel  dieser  späteren  Literatur  reichlich  auf:  die  Astronomie. 
Aus  den  unscheinbaren  Anfa.ngen  astronomischer  Beobachtungen,  die  sich  '^jn^X-^te?^ 
gelegentlich  als  Anhang-  zu  astrologischen  „Berichten"  aus  Asurbanipals 
Zeit  finden,  scheint  sie  entstanden  zu  sein.  Auf  den  Tafeln  des  dritten 
vorchristlichen  Jahrhunderts  steht  die  fertige  Wissenschaft  mit  eigener, 
knapper  Terminologie,  eigenen  iVbkürzungen  und  verschiedenen  Rech- 
nungssystemen. Die  klaffende  Lücke  zwischen  Astrologie  und  Astronomie 
ist  bis  jetzt  nicht  zu  überbrücken. 

Dank  den  Bemühungen  moderner  Astronomen  lassen  sich  die  betref- 


lg  Carl  Bezold:    Die  babylonisch-assyrische  Literatur. 

f enden  Tafeln  in  zwei  große  Klassen  scheiden:  Beobachtungstafeln  und 
Berechnungstafeln,  Ihr  Inhalt  erstreckt  sich  zunächst  auf  rein  astrono- 
mische Ergebnisse:  die  Berechnung  von  Finsternissen,  die  Datierung  der 
Konstellationen  der  Ekliptiksterne,  heliakische  Auf-  und  Untergänge  der 
Planeten  und  des  Sirius,  Beobachtungen  der  Tierkreisstembilder,  Messungen 
der  Sonnen-  und  Mondgeschwindigkeit  und  ihrer  Erdnähe.  Genaue  Daten 
und  Doppeldaten  erleichtern  die  Berechnung  dieser  Angaben.  Als  eine 
Art  Chronik  sind  die  Nachträge  zu  den  astronomischen  Ephemeriden  be- 
merkenswert, in  denen  gelegentlich  die  Getreidepreise,  der  Wasserstand 
und  selbst  politische  Ereignisse  aufgezeichnet  w^urden. 

Schlußbemerkungen.  Ob  in  babylonisch  -  assyrischer  Zeit  oder 
jenseits  der  semitischen  Einwanderung  auf  sumerischem  Boden  entstanden, 
ob  unvermehrt  und  unvermindert  überliefert  oder  entwickelt  und  aus- 
gebaut: jedenfalls  hat  die  im  babylonisch-assyrischen  Schrifttum  erhaltene 
Kultur  den  größten  Einfluß  auf  die  ganze  gebildete  Welt  des  Altertums 
ausgeübt.  Sie  ist  weltbedeutend  im  eminenten  Sinne  des  Wortes.  Schon 
im  zweiten  vorchristlichen  Jahrtausend  stand  ganz  Westasien  unter  ihrem 
Einfluß.  Kanaanäische  Fürsten  bedienten  sich  der  babylonischen  Schrift 
und  Sprache  im  diplomatischen  Gedankenaustausch  mit  Ägypten.  Kult- 
formen nahmen  ihren  Weg  vom  Euphrat  zum  Nil.  Babylonisches  Gesetz 
und  Recht  konnten  nicht  spurlos  an  Israel  vorübergehen,  nachdem  die 
Bewohner  Palästinas  samt  den  benachbarten  Aramäerstämmen  einmal  mit 
der  assyrischen  Großmacht  in  feindliche  Berührung  gekommen  waren. 
Die  Berichte  von  den  Zügen  der  Großkönige  an  das  Mittelmeer  und  der 
Tributleistung  kyprischer  Fürsten  an  Sargon  II.  sind  ein  bedeutsames  Zeug- 
nis für  die  Ausbreitung  der  babylonischen  Kultur  nach  dem  Westen.  Daß 
die  griechische  Kunst  in  ihrer  ersten  Entfaltung  von  der  babylonischen 
beeinflußt  war,  begegnet  keinem  Zweifel  mehr.  Aber  auch  wissenschaft- 
liche Errungenschaften  der  westasiatischen  Bildung  verbreiteten  sich  bis 
nach  Arabien,  ins  Niltal  und  ins  Abendland,  Es  ist  nicht  unwahrsctiein- 
lich,  daß  die  vorhippokratische  Medizin  mit  der  assyrischen  im  Zusammen- 
hang steht.  Die  griechische  Astronomie  ist  von  der  babylonischen  direkt 
abhängig.  Die  jüngsten  Jahre  haben  Transkriptionen  von  Keilschrifttexten 
in  griechischen  Buchstaben  kennen  gelehrt,  wie  vordem  phönikische  neben 
den  assyrischen  Inschriften  gefunden  wurden.  Die  Nachrichten  in  den 
Fragmenten  des  Berosus  und  bei  Damascius  erscheinen  heute  in  neuer, 
ungeahnter  Beleuchtung.  Selbst  unsere  jetzige  Zeiteinteilung  und  manche 
Reste  abergläubischer  Gebräuche  weisen  in  letzter  Linie  auf  Babylonien 
zurück.  Am  bedeutungsvollsten  aber  hat  sich  die  assyrische  Keilschrift- 
literatur für  das  vStudium  der  Bibel,  vornehmlich  des  Alten  Testaments, 
erwiesen.  Moderne  Exegese  ohne  Assyriologie  ist  undenkbar.  In  der 
semitischen  Philologie  nimmt  das  Studium  des  Babylonischen  den  gebühren- 
Platz  ein  —  und  nicht  den  letzten. 


Literatur. 

Die  Ausgrabungen,  die  zum  Wiedergewinn  der  babylonisch-assyrischen  Literatur  führten, 
sind  England  (A.  H.  Layard,  H.  C.  Rawlinson,  H.  Rassam,  E.  A.  W.  Budge),  Frankreich 
(J.  Opfert,  E.  de  Sarzec),  Amerika  (H.  V.  Hilprecht,  J.  P.  Peters)  und  Deutschland 
(R.  KOLDEWEY)  zu  verdanken.  An  der  Entzifferung  der  Inschriften  beteiligten  sich  nächst 
G.  Fr.  Grotefend  vornehmlich  H.  C.  Rawlinson,  E.  Hincks  und  J.  Opfert.  Siehe 
R.  W.  Rogers,  A  History  of  Babylonia  and  Assyria  (1900),  Bd.  I,  S.  46  ff.  und  Ch.  Fossey, 
Manuel  d'Assyriologie,  Bd.  I  (1904).  In  Deutschland  legte  den  Grund  zur  Entwicklung  der 
Assyriologie  Eb.  Schrader.  Zur  allgemeinen  Orientierung  über  die  Literatur  vgl.  C.  Bezold, 
Kurzgefaßter  Überbhck  über  die  babylonisch  -  assyrische  Literatur  (1886)  und  B.  Teloni, 
Letteratura  assira  (1903).  Das  Sumerische  Sprachproblem  behandelt  F.  H.  Weissbach,  Die 
sumerische  Frage  (1898). 

Die  nachstehenden  Literaturangaben  verweisen  besonders  auf  neuere  Ausgaben  und 
Schriften  über  den  betreffenden  Gegenstand. 

S.  42.  Historische  Texte:  E.  A.  W.  BUDGE  und  L.  W.  KiNG,  Annais  of  the  Kings  of 
Assyria  (190:^);  dazu  die  Publikation  des  Britischen  Museums:  Cuneiform  texts  from  Baby- 
lonian  tablets,  &c.,  21  Hefte  (1896—1905).  Für  die  ältesten  Inschriften  H.  V.  HlLPRECHT, 
The  Babylonian  Expedition  of  the  University  of  Pennsylvania,  Bd.  i  und  2  (1893,  1896) 
und  Fr.  Thureau-D angin,  Recueil  de  tablettes  chaldeennes  (1903). 

S.  42.  Briefe  Chammurabis :  L.  W.  KlNG,  The  letters  and  inscriptions  of  Hammurabi, 
3  Bde.  (1898— 1900).  —  Korrespondenz  von  Tell-el-Amarna :  H.  WiNCKLER,  Die  Thontafeln 
von  Teil  el-Amarna  (1896).  —  Spätere  Brief literatur :  R.  Fr.  Harper,  Assyrian  and  Baby- 
lonian Letters,  8  Bde.  (1892 — 1902). 

S.  43.  Kommerzielle  Inschriften:  F.  E.  Peiser,  Texte  juristischen  und  geschäftlichen 
Inhalts  (1896)   und   C.  H.  W.  JOHNS,  Assyrian  Deeds    and  Documents,  3  Bde.  (1898 — 1901). 

S.  43.  Die  erste  Ausgabe  und  Entzifferung  der  Gesetze  Chammurabis  gab  V.  SCHEIL 
in  J.  de  Morgans  Delegation  en  Perse,  Memoires,  Bd.  4  (1902).  Handliche  Neubearbei- 
tungen: R.  Fr.  Harfer,  The  Code  of  Hammurabi  (1904)  und  H.  Winckler,  Die  Gesetze 
Hammurabis  in  Umschrift  und  Übersetzung  (1904). 

S.  44.  Über  Asurbanipals  Bibliothek  s.  C.  Bezold,  Catalogue  of  the  cuneiform  tablets 
in  the  Kouyunjik  CoUection  of  the  British  Museum,  5  Bde.  (1889 — 99),  Ninive  und  Babylon 
(1903)  und  Zentralblatt  f.  Bibliothekswesen,  Bd.  21  (1904),  S.  257  ff. 

S.  44.  Zensuslisten  bei  C.  H.  W.  JOHNS,  An  Assyrian  Doomsday  Book  or  Liber  Cen- 
suahs  (1901). 

S.  44.  Omina:  A.  BOISSIER,  Documents  assyriens  relatifs'aux  presages,  3  Hefte  (1894 
— 99)  und  Choix  de  textes  relatifs  ä  la  divination  assyro  -  babylonienne  (1905).  —  Astrolo- 
gische Texte:  Ch.  Virolleaud,  L'astrologie  chaldeenne,  8  Hefte  (1903 — 5).  —  ,, Berichte": 
R,  C.  Thompson,  The  reports  of  the  magicians  and  astrologers  of  Nineveh  and  Babylon, 
2  Bde.  (1900). 

S.  45.  Medizinische  Inschriften:  Fr.  KüCHLER,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  assyrisch- 
babylonischen Medizin  (1904).  ~  Beschwörungsformeln:  Kn.  L.  Tallqvist,  Die  assyrische 
Beschwörungsserie  Maqlü  (1894);  H.  Zimmern,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  babylonischen 
Religion  (1896 — 1901). 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  4 


=  0  Carl  Bezold:  Babylonisch-assyrische  Literatur. 

S.  46.  „Gebete  der  Handerhebung"  bei  L.  W.  KiNG,  Babylonian  INIagic  and  Sorcery 
(1896). 

S.  46.     Lekomanthie:    J.  Hunger,  Becherwahrsagung  bei  den  Babyloniern  (1903). 

S.  47.  Mythologische  Literatur:  P.  Jensen,  Assyrisch -babylonische  Mythen  und  Epen 
'1900).  —  Sumerisch-assyrische  Gedichte;  Fr.  Hrozny,  Sumerisch-babylonische  Mythen  von 
dem  Gotte  Ninrag  (Ninib)  (1903).  —  Schöpfungsmythus:  L.  W.  KiNG,  The  seven  tablets  of 
Creation,  2  Bde.  (1902)  und  C.  Bezold,  Die  Schöpfungslegende  (1904).  —  Zur  Höllenfahrt 
der  Ischtar  vgl.  Fr.  Hrozn\',  Wiener  Zeitschr.  für  die  Kunde  des  Morgenlandes,  Bd.  17 
(1903),  S.  323  ff. 

S.  47.  Neubabylonische  Kontrakte  bei  J.  N.  Strassmaier,  Babylonische  Texte,  12  Hefte 
(1889 — 97)  imd  Cl.\Y-Hilprecht,  Business  documents  of  Murashü  sons,  2  Bde.  (1898 — 1904). 

S.  47.  Astronomie:  J.  EPPING,  Astronomisches  aus  Babylon  (1889)  und  Fr.  X.  Kugler, 
Die  babylonische  Mondrechnung  (1900). 

S.  48.  Zur  Bedeutung  der  babylonischen  Kultur  im  allgemeinen:  C.  F.  Lehmann, 
Babyloniens  Kulturmission  einst  und  jetzt,  2.  Aufl.  (1905).  —  Für  die  biblische  Exegese: 
Eb.  Schrader,  Die  Keilinschriften  und  das  Alte  Testament,  3.  Aufl.  von  H.  Zimmern  und 
H.  WiNCKLER  (1903),  sowie  Fr.  Delitzsch,  Babel  und  Bibel,  drei  Vorträge  (1902—5). 


DIE  ISRAELITISCHE  LITERATUR. 

Von 
Hermann  Gunkel. 


Einleitung.  Die  einzige  Quelle  der  Geschichte  der  Literatur  Israels  Quelle:  Das 
und  des  älteren  Judentums  ist  das  „Alte  Testament",  das  als  Grundgesetz  '  *  ^^  *'"°" ' 
und  Erbauungsbuch  der  jüdischen  Gemeinde  am  Ende  der  Literatur- 
geschichte Israels  aus  zumeist  älteren  Schriften  zusammengestellt  worden 
ist.  Hiermit  ist  schon  gegeben,  daß  das  „Alte  Testament"  keineswegs  ein 
Kompendium  der  gesamten  vorangegangenen  Literatur  sein,  sondern  viel- 
mehr ganz  bestimmten  religiösen  Zwecken  dienen  soll.  So  wird  verständ- 
lich, daß  wir  aus  diesen,  in  später  Zeit  gesammelten  Büchern,  fast  aus- 
schließlich religiöser  Art,  über  die  älteren  Perioden  der  Literatur  und  über 
die  profane  Literatur  Israels  nur  ungenügend  orientiert  werden.  Dieser 
Übelstand,  mit  dem  jeder  Versuch  einer  Literaturgeschichte  Israels  zu 
kämpfen  hat,  macht  eine  solche  doch  nicht  völlig  unmöglich,  weil  sich 
auch  in  den  aus  jüngerer  Zeit  stammenden  Büchern  mehrfach  ältere  Quellen, 
zum  Teil  von  sehr  großem  Umfang,  meistens  allerdings  mehr  oder  weniger 
stark  bearbeitet  vorfinden;  weshalb  jeder  „Literaturgeschichte"  eine  „Quellen- 
scheidung" vorausgehen  muß.  Ferner  hat,  zumal  in  alter  Zeit,  die  Religion 
Israels  einen  so  innigen  Zusammenhang  mit  dem  Volkstum  und  dem  Staat, 
daß  sich  doch  auch  in  den  zur  Erbauung  des  Judentums  gesammelten 
Schriften  mancherlei  Reste  der  volkstümlichen  Literatur  gerettet  haben. 
Schließlich  hat,  ebenso  wie  in  Babylonien  und  Ägypten,  ja  vielleicht  noch 
mehr  als  dort,  die  religiöse  Literatur  von  Anfang  an  die  profane  über- 
wogen: die  höheren  geistigen  Interessen  dieser  altorientalischen  Völker 
sind  vorwiegend  religiöser  Art  oder  sprechen  sich  wenigstens  in  religiöser 
Einkleidung  aus. 

Ein  weiterer  Umstand,    der  uns   zu   schaffen  macht,    ist  der,  daß  sich  Chronologie  der 

.  AI  Schriften  viel- 

die   im   Kanon    erhaltenen    oder    zugleich  mit  ihm  überlieferten  Angaben  fach  unsicher. 
über  die  Verfasser  der  Schriften  zu  einem   großen  Teil  als  irrig  erwiesen 
haben  —  die  Bücher  des   Gesetzes   sind   ebensowenig    von  Mose    verfaßt, 
wie    die  Psalmen  von  David    oder   die  Sprüche   von  Salomo   — ,   und  daß 
andererseits    die    modernen  Versuche,    aus    den    Schriften  selbst  ihre  Ab- 

4» 


=  2  Hermann  Günkel:  Die  israelitische  Literatur. 

fassungszeit  zu  bestimmen,  mehrfach  unsicher  bleiben.  In  vielen  Fällen 
kann  das  Ziel  der  Forschung  überhaupt  nur  dieses  sein,  die  allgemeine 
Periode  anzusetzen,  aus  der  die  Schriften  stammen  werden,  und  ist  von 
allen  bestimmten  Daten  abzusehen.  Hieraus  geht  hervor,  daß  wir  zum 
Faden  der  Geschichtserzählung  nicht  die  Chronologie  der  Abfassung  der 
einzelnen  Schriften  wählen  dürfen,  sondern  daß  es  der  Literaturgeschichte 
Israels  genüg-en  muß,  die  Perioden  der  Schriftst ellerei  erkannt  zu  haben. 
Die  Chronologie  steht  fest  besonders  bei  einem  nicht  geringen  Teil  der 
prophetischen  Schriften;  daher  müssen  diese  den  Ausgangspunkt  aller  alt- 
testamentlichen  Forschung,  auch  der  literargeschichtlichen,  bilden. 
Gattungen.  Innerhalb  der  Perioden  aber  haben  wir  nach  Gattungen  zu  scheiden. 

Denn  die  Literaturgeschichte  eines  antiken  Volkes  wie  Israel  unterscheidet 
sich  von  derjenigen  modemer  Völker  besonders  dadurch,  daß  es  sich  bei 
dieser  von\'iegend  um  einzelne  große  Dichter  oder  Schriftsteller  handelt, 
weshalb  die  moderne  Literaturgeschichte  gerade  an  ihren  Höhepunkten 
die  Form  der  Biographie  tragen  muß,  während  in  der  Literatur  Israels 
die  einzelne  Person  eine  weit  geringere  Rolle  spielt.  Das  ist  in  der 
Eigenart  antiken  Lebens  begründet:  damals  waren  die  Einzelnen  bei 
weitem  weniger  differenziert  und  bei  weitem  mehr  durch  die  Sitte  ge- 
bunden als  gegenwärtig.  Und  wie  es  der  einzelne  Mann  in  Israel  für  ein 
Verbrechen  halten  würde,  so  zu  handeln,  „wie  man  in  Israel  nicht  han- 
delt", so  steht  auch  der  Schriftsteller  unter  dem  starken  Druck  des  für 
die  Gattung  hergebrachten  Stils.  Daher  die  für  uns  zunächst  befremdliche 
Eintönigkeit,  die  innerhalb  der  Gattungen  herrscht.  Die  Literatur  Israels 
enthält  also,  wie  wir  sagen  würden,  viel  mehr  Volks-,  als  Kunstpoesie. 
Zwar  hat  auch  Israel  große  originelle  Schriftstellerpersönlichkeiten  hervor- 
gebracht, deren  Eigentümlichkeit  aber  nicht  so  stark,  wie  es  in  der  Mo- 
derne der  Fall  sein  würde,  hervortritt  und  jedenfalls  erst  bei  eingehendem 
Studium  der  Gattungen,  deren  sie  sich  bedient  haben,  erkannt  werden 
kann.  So  folgt,  daß  die  Literaturgeschichte  Israels  zunächst  die  Aufgabe 
hat,  die  Gattungen,  ihre  Eigenart  und  womöglich  auch  ihre  Geschichte  zu 
erforschen:  eine  Arbeit,  die  um  so  notwendiger  ist,  als  die  Moderne  die 
meisten  dieser  Gattungen  nicht  mehr  besitzt  und  daher  auch  nicht  ohne 
weiteres  versteht. 
Poesie  und  Prosa.  Unter  den  Gattungen  unterscheiden  wir  wie  in  allen  entwickelten 
Literaturen  die  poetischen  und  prosaischen.  Auch  an  der  Literatur 
Israels  vermögen  wir  zu  zeigen,  daß  die  ersteren  die  älteren  sind:  die 
Literatur  Israels  beginnt  mit  Liedern,  die,  wie  viele  Stellen  zeigen,  ur- 
sprünghch  vom  Volkschor  zum  KUang  der  Instrumente  und  beim  Tanz 
aufgeführt  worden  sind.  Aus  dieser  gesungenen  Dichtung  entwickelt 
sich  eine  rezitierte,  bei  der  der  Gesang  fortfällt,  und  dann  schließlich 
die  Prosa:  gesungen  worden  ist  der  größte  Teil  der  Psalmen,  während  die 
Sprüche,  Hiob  und  die  poetischen  Teile  der  Propheten  zur  Rezitation  be- 
stimmt sind;  die  Erzählung  aber  trägt,  soviel  wir  einstweilen  zu  sagen  ver- 


Einleitung.  c  ■} 

mögen,  prosaische  Form.  Poesie  und  Prosa  unterscheiden  sich  wie  überall 
so  auch  in  Israel  durch  die  Wahl  des  Stoffes,  durch  die  Diktion  und  be- 
sonders durch  die  rhythmische  Form.  Für  die  dichterische  Diktion  ist  im 
Hebräischen  der  „Parallelismus  der  Glieder"  charakteristisch;  d.  h.  die  poe- 
tische Rede  zerfällt  ziemlich  regelmäßig  in  kleine,  scharf  eingeschnittene 
rhetorische  Glieder,  die  oft  aus  einer  bestimmten  Zahl  dem  Sinne  nach  haupt- 
betonter Wörter  bestehen,  und  von  diesen  Gliedern  gehören  gewöhnlich 
je  zwei  dem  Sinne  nach  zusammen,  sei  es,  daß  sie  einander  parallel  sind 
—  daher  der  Name  der  Erscheinung  —  oder  daß  sie  ein  anderes  logisches 
Verhältnis  haben.  Diese  Erscheinung,  die  auch  im  Ägyptischen  und  be- 
sonders im  Babylonischen  wiederkehrt,  erklärt  sich  ursprünglich  wohl  aus 
der  Sitte,  die  Gedichte  im  Wechselgesang  aufzuführen,  die  uns  im  Alten 
Testament  hier  und  da  bezeugt  ist.  Lange  Zeit  hat  man  geglaubt,  daß 
hiermit  die  eigentliche  Form  der  hebräischen  Poesie  erschöpft  sei;  doch 
sollte  man  nicht  bezweifeln,  daß  die  Gedichte  Israels,  die  ursprünglich  zu 
Musik  und  Tanz  gesungen  worden  sind,  neben  den  beschriebenen  stilisti- 
schen Eigentümlichkeiten  auch  eine  fest  umschriebene  rhythmische 
Form  besessen  haben  müssen.  Neuerdings  ist  ein  System  hebräischer 
Metrik  vorgelegt  w^orden,  wonach  sie,  dem  Charakter  der  Sprache  ent- 
sprechend, einen  akzentuierenden  Rhythmus  hat. 

Innerhalb  der  einzelnen  Gattungen  hat  sich  eine  Geschichte  absfespielt,       innere 

o       jr  7  Geschichte  der 

deren  Erkenntnis  einen  großen  Teil  der  Literaturgeschichte  ausmacht,  und     Gattungen. 

die  in  ihren  Grundzügen   schon    an  dieser  Stelle  geschildert  werden  muß. 

Im   alten  Israel  wird  wenig    geschrieben    und    sfibt   es   weite  Volkskreise,  Mündliche  und 

J^  °  schriftliche 

zu  denen  überhaupt  nichts.  Geschriebenes  dringt,  die  sich  aber  doch  an  „Literatur«, 
der  „Literatur",  d.  h.  an  der  Schöpfung  von  Kunstwerken  durch  das  Wort, 
beteiligen.  Daher  haben  fast  alle  Gattungen,  ehe  sie  niedergeschrieben 
wurden,  in  mündlicher  Überlieferung  bestanden.  Eigentlich  „literarische", 
d.  h.  nur  geschriebene  Gattungen  gibt  es  nur  wenige,  so  besonders  die 
Geschichtserzählung  im  Unterschied  von  der  volkstümlichen  mündlichen 
Sage.  Der  starke  Riß,  der  in  entwickelteren  Kulturen  durch  das  Volk  geht 
und  die  Gebildeten  von  den  Ungebildeten  scheidet,  existiert  im  alten  Israel 
noch  kaum.  Vielmehr  ist  dort  die  Literatur  ein  Teil  des  Volkslebens  und 
muß  aus  diesem  begriffen  werden.  Wer  also  eine  antike  Gattung  ver- 
stehen w^ll,  hat  zunächst  zu  fragen,  wo  sie  ihren  Sitz  im  Volksleben 
habe:  den  Rechtsspruch  z.  B.  zitiert  der  Richter  vor  Gericht  zur  Begrün- 
dung der  Entscheidung,  und  das  Siegeslied  singen  die  Mädchen  beim 
Einzug  des  siegreichen  Heeres.  Sehr  häufig  wird  auch  die  Gattung  durch 
einen  Stand  getragen,  der  über  ihrer  Reinheit  wacht:  so  die  „Tora"  von 
den  Priestern,  die  „Weissagung"  von  den  Propheten. 

Hieraus   wird   der  sehr  gerinare   Umfanaf  der  ältesten  literarischen  Die  literarischen 

*  °  .  Einheiten. 

Emheiten  verständlich.     Die   volkstümlichen  Lieder    der    älteren    Zeit   be- 
stehen  fast   sämtlich   nur  aus   einer   einzigen    oder   etwa  aus   zwei  Zeilen! . 
Man  hat  sie  aufgeführt,  indem  man  die  wenigen  Sätze,  immer  und  immer 


54 


Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 


wiederholt,  mit  steigender  Begeisterung  gesungen  hat.  Ebenso  kurz  sind 
die  ältesten  Prophetenreden,  Rechtssprüche,  Weisheitssätze;  und  auch  die 
alten  Erzählungen  sind  oft  nur  wenige  Verse  lang.  Diese  uns  befremdende 
Kürze  entspricht  der  geringen  Aufnahmefähigkeit  des  alten  Volkes.  Nun 
können  wir  verfolgen,  wie  es  bei  steigender  Kultur  und  zunehmender  Ge- 
wohnheit des  Schreibens  zu  größeren  Einheiten  gekommen  ist.  Da 
sind  die  Einheiten  selber  allmählich  ang-eschwollen:  so  ist  aus  der  kurzen 
Volkssage  die  ausführliche  „Novelle"  entstanden.  Oder  man  hat  Sammlungen 
g-ebildet.  Im  Leben  war  das  einzelne  Lied,  die  einzelne  Erzählung-,  der 
einzelne  Rechtsspruch  die  maßgebende  Einheit  gewesen;  als  man  sie  aber 
niederzuschreiben  beg-ann,  hat  man  Sammlung-en  der  Lieder,  Erzählungen 
und  Sprüche  veranstaltet.  Daher  erklärt  sich,  daß  der  größte  Teil  des 
Alten  Testamentes  aus  Sammlungen  besteht,  ja  daß  dieses  selber  schließlich 
eine  Sammlung  aller  damals  vorhandenen  Sammlungen  darstellt.  Die  Auf- 
gabe der  alttestamentlichen  Literaturgeschichte  ist  es,  diese  Sammlungen 
wieder  auseinanderzunehmen  und  zu  fragen,  wie  die  einzelnen,  ursprüng- 
lich selbständigen  Stücke  entstanden  seien.  Demnach  hat  es  die  Literatur- 
geschichte Israels  der  Natur  der  Sache  nach  weniger  mit  der  Entstehung 
der  Bücher  als  solcher  zu  tun,  als  mit  derjenigen  der  einzelnen  Elemente 
der  Schriften.  Ein  besonderes  Interesse  haben  die  Bücher  selbst  für  die 
Literaturg'eschichte  nur  dann,  wenn  sie  nicht  einfach  Zusammenstellungen 
des  überlieferten  Stoffes  sind,  wie  z.  B.  der  Psalter,  sondern  wenn  sie 
durch  selbständige  Verarbeitung  des  Materials  wenigstens  relativ  ein 
Neues,  Eigenes  darstellen:  so  die  meisten  der  historischen  Bücher.  Große 
völlig  selbständige  Kunstwerke  hat  die  hebräische  Literatur  nur  ganz 
wenige  aufzuweisen:  so  besonders  das  Buch  Hiob. 
Reinheit  imd  Die   ältesten   Gattungen,   die   ihren   Sitz   im  Leben  haben,   bestimmte 

Mischung  der  o        / 

Gattungen.  Zuhörcr  ins  Auge  fassen  und  bestimmte  Wirkung  erstreben,  sind  eben- 
darum fast  immer  völlig  rein.  Aber  wenn  sich  Schriftsteller  des  Stils 
bemächtigen,  treten  vielfach  Abweichungen  oder  Mischungen  ein,  um  neue 
raffiniertere,  komplizierte  Wirkungen  zu  erzielen.  Dies  ist  in  reichem 
Maße  bei  den  Propheten  geschehen,  die  eine  fast  unübersehbare  Fülle 
von  anderen  Gattungen  aufgenommen  und  sich  ihren  Zwecken  dienstbar 
gemacht  haben.  Bei  höherem  Alter  der  Literatur  pflegen  solche  Mischungen 
sich  immer  häufiger  einzustellen.  Oder  die  alten  Literaturformen  werden, 
wenn  die  Zeit  eine  andere  geworden  ist,  umgebogen  und  erneuert.  So 
kann  man  auch  in  Israel  verfolgen,  wie  dieselben  Erzählungsstoffe,  je  nach 
dem  Geiste  der  Zeit,  als  Mythen,  Sagen,  Märchen,  Legenden,  Novellen  oder 
Romane  wiederkehren. 

Die  Volkstum-  I.  Die  volkstümlichc  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen 

liehe  Literatur  ^      ,       •  r  1 1  i   •  -r    •  -r  i      i  •  i 

bis  zum  Auf-  Schriftsteller  (bis  ca.  750).  Die  Literaturgeschichte  Israels  beginnt  ebenso 

treten  der 

großen  Schrift-  wie    Seine    politische   Geschichte   mit   der  Einwanderung  in  Kanaan.     Das 

steller. 

erste  größere  Stück,  das  wir  datieren  können,  ist  das  berühmte  Deboralied 


I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller  (bis  ca.  750). 


00 


(Jiid.  5).  Von  den  Zuständen  der  Stämme  vorher  haben  wir  nur  ein 
schattenhaftes  Bild;  und  von  der  mündlichen  Literatur,  die  sie  damals  be- 
sessen haben  mögen,  ist  fast  alles  zugrunde  gegangen.  Über  diese  älteste 
Literatur  der  Vorfahren  Israels  ist  eine  Katastrophe  hereingebrochen,  ähn- 
lich derjenigen,  die  die  älteste  germanische  Literatur  fast  ganz  vernichtet  htit. 
Es  ist  die  Religions-  und  Volksstiftung  des  Moses  und  dann  das  Einleben 
Israels  in  die  überlegene  Kultur  Kanaans,  wodurch  dies  fast  alles  zugrunde 
gegangen  ist.  Seit  diesen  großen  Ereignissen  ist  das  Leben  des  Volkes 
bestimmt  durch  die  beiden  Momente:  Israel  und  Kanaan.  Das  Volk  Israel 
ist  durch  die  großen  Erlebnisse  zu  Mosis  Zeit  geschaffen  worden.  Moses  aber 
ist  ein  „Gottesmann"  und  für  die  Religion  Israels  die  ausschlagg^ebende  Person 
zu  allen  Zeiten  geblieben.  Schon  hierdurch  ist  die  Stelle,  die  die  Religion 
im  Volkstum  Israels  einnimmt,  gegeben;  auch  Israels  Literatur  hat  diesen 
religiösen  Charakter.  Nach  Mosis  Tode  hat  Israel  Kanaan  in  lang  dauern- 
den Kämpfen  erobert.  Nun  war  Kanaan  damals  schon  seit  unvordenk- 
lichen Zeiten  ein  Kulturland.  Kein  Wunder  also,  daß  das  ursprünglich 
nomadische,  an  äußerer  Kultur  den  Kanaanäern  jedenfalls  weit  nachstehende 
Israel,  nicht  imstande,  die  Urbevölkerung  auszurotten,  ihrer  Kultur  all- 
mählich anheimfiel  und  mit  ihnen  zu  einem  neuen  „Israel"  verschmolz. 
Diese  Verbindung  Urisraels  und  Urkanaans  zu  einem  neuen  Volke  ist  die 
Grundtatsache  für  das  Verständnis  der  Religion  wie  der  Literatur  des 
historischen  Israel.  Die  kanaanäische  Kultur  selber  aber  war  nur  ein  Teil 
eines  größeren  Kreises.  Ein  sprechender  Beweis  dafür  ist  die  „althebräische" 
Schrift,  die  den  Aramäern,  Phöniziern,  Kanaanäern  und  Moabitern  mit  den 
Israeliten  gemeinsam  ist,  und  die  vom  Orient  aus  zu  den  Griechen  und 
Römern  gekommen  ist  und  somit  auch  der  unsrigen  zugrunde  liegt.  Ferner 
nimmt  dieser  Kreis  der  westsemitischen  Völker  teil  an  der  vorderasia- 
tischen Gesamtkultur,  die  auf  Grund  der  babylonischen  und  ägyptischen 
Kultur  entstanden  war:  Kanaan  liegt  an  der  Handelsstraße,  die  von 
Ägypten  nach  Babylonien  führt,  und  war  in  unmittelbar  vorisraelitischer 
Zeit  Provinz  des  ägyptischen  Reiches  gewesen;  in  derselben  Zeit  aber 
hatte,  wie  uns  die  Teil -Amarna- Briefe  gelehrt  haben,  die  babylonische 
Kultur  in  Kanaan  eine  vorherrschende  Stellung  eingenommen.  So  ist 
also  Israel,  als  es  mit  Kanaan  verschmolz,  indirekt  unter  ägyptisch-baby- 
lonischen Einfluß  geraten. 

Aus  diesem  Gange  der  Kulturgeschichte  Israels  ist  ohne  weiteres 
zu  schließen,  daß  sich  auch  seine  Literatur  nicht  ohne  Beeinflussung 
durch  die  Fremde  entwickelt  haben  kann,  wenn  wnr  auch,  da  uns  die 
phönizische  wde  die  aramäische  Literatur  verschüttet  und  die  ägyptische 
wie  die  babylonische  noch  recht  unvollkommen  bekannt  ist,  einstweilen 
nicht  imstande  sind,  hier  viele  Einzelheiten  mit  Sicherheit  anzugeben. 
Kanaanäisch  wird  in  Israel  gewesen  sein  vor  allem  das  Schriftwesen 
des  Staates;  denn  der  israelitische  Staat  ist,  wie  wir  sicher  wissen,  eine 
Nachbildung  des  kanaanäischen  Königtums.    Auch  Israels  Könige  werden 


Israel    und 
Kanaan. 


Einfluß  der 
Fremde. 


=  5  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

Denksteine  mit  Inschriften  aufgestellt  haben,  nicht  anders  wie  die  der 
Könige  von  Aram  und  Moab,  die  wir  kennen.  Unter  den  Sagen  werden 
diejenigen  für  kanaanäisch  zu  halten  sein,  die  an  bestimmten  heiligen 
Orten  Kanaans  ihren  Sitz  haben,  wie  z.  B.  die  Sage  von  Jakobs  Gesicht 
am  Stein  zu  Bethel  (Gen.  28).  Die  Jonaserzählung,  zu  Joppe  lokalisiert, 
mag,  ehe  sie  zu  Israel  kam,  eine  phönizische  Schiffersage  gewesen  sein. 
Zugleich  haben  wir  allen  Grund,  auch  ägyptischen  und  besonders  baby- 
lonischen Einfluß  in  der  Literatur  Israels  zu  suchen.  Nachgewiesen  ist 
babv Ionischer  Ursprung  vor  allem  für  die  Sintflutsage,  deren  baby- 
lonisches Original  erhalten  ist;  wahrscheinlich  ist  er  auch  für  andere  der 
Urgeschichten.  Auch  der  Stil  der  hebräischen  Hymnen  und  besonders 
der  Klagepsalmen  ist  mit  dem  der  babylonischen  aufs  nächste  verwandt. 
Besonders  zeigt  in  der  hebräischen  Literatur  babylonischen  Geist  die  uns 
befremdliche  Vorliebe  für  heilige  Zahlen,  eine  Vorliebe,  die  sich  in  Baby- 
lonien  aus  Anschauungen  der  Astralreligion  erklärt.  Weniger  deutlich 
ist  uns  der  ägyptische  Einfluß;  doch  darf  man  auf  die  Sage  vom  großen 
Xildrachen,  der  von  der  Gottheit  erschlagen  wird  (Ez.  29.  ^2),  hinweisen. 
In  Ägypten  haben  wir  vielleicht  den  Ursprung  der  Spruchdichtung  zu 
suchen,  die  es  übrigens  auch  in  Babylonien  gegeben  hat;  besonders 
besitzen  wir  für  das  Buch  Hiob  in  Ag}^pten  Parallelen.  —  Aber  auch  die 
Völker  der  Nachbarschaft  mögen  eingewirkt  haben:  an  den  Rätseln  Salomos 
erfreute  sich  auch  die  Königin  des  arabischen  Saba;  und  die  Helden  des 
Buches  Hiob  sind,  sicherlich  nicht  ohne  Grund,  Edomiter  oder  Araber. 
Noch  bedeutsamer  aber  als  der  Nachweis  solcher  Entlehnungen  von 
den  umwohnenden  Völkern  ist,  daß  gewisse  und  nicht  wenige  Erzählungs- 
stofife  dem  Alten  Testament  mit  solchen  Literaturen  gemeinsam  sind,  die 
auf  Israel,  wenigstens  in  der  älteren  Zeit,  nicht  direkt  eingewirkt  haben 
können.  So  erzählen  auch  die  Eranier  vom  Paradiese.  Das  weise  Urteil 
Salomos,  da^  unter  den  streitenden  Frauen  die  rechte  Mutter  herausfand, 
finden  wir  in  ganz  ähnlicher  Form  auch  bei  den  Indern,  ja  bei  den  Chi- 
nesen. Auch  die  Griechen  wissen  von  dem  Helden,  den  das  Meeres- 
vmgeheuer  verschlang,  aber  auf  Gottes  Befehl  wieder  ausspeien  mußte; 
sie  erzählen  von  Idomeneus  eine  Geschichte,  die  dem  tragischen  Gelübde 
Jephtas  nahe  verwandt  ist;  sie  kennen  die  Tradition  von  den  vier  Welt- 
altem und  von  der  seligen  Urzeit.  Ja,  nicht  selten  können  wir  beobachten, 
daß  Erzählungsstoffe  der  Bibel  als  Märchen  oder  Sagen  noch  unter  den 
modernen  Völkern  fortleben.  So  die  Geschichte  vom  „dankbaren  Toten", 
die  die  Völker  des  Morgen-  und  Abendlandes  besitzen,  die  in  der  Bibel 
im  Buch  Tobias  wiederkehrt.  Jeder  kennt  die  Geschichte  von  dem  Herrn, 
der  seine  Boten  vergeblich  aussendet,  einmal,  zweimal,  dreimal,  bis  er 
sich  endlich  selber  aufmacht;  eine  Variation  davon  lesen  wir  in  den  David- 
sagen (I.  Sam.  1 9,  1 8  ff.).  Häufig  unter  antiken  und  modernen  Völkern 
sind  auch  die  Erzählungen  von  dem  ausgesetzten  und  wunderbar  ge- 
retteten Kinde,    aus    dem    später    der    große  Held    werden    sollte   (Ex.  2); 


I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller  (bis  ca.  750).       cy 

vom  Kampf  des  kecken  und  tapferen  Knaben  gegen  den  ungeschlachten 
Riesen  (I.  Sam.  17);  vom  Haß  der  Ehebrecherin  gegen  den  Jüngling,  den 
sie  umsonst  zu  verführen  gesucht  hatte  (Gen.  39);  von  der  Zauberspeise, 
die  immer  wieder  von  selbst  zuwächst,  —  man  denke  an  den  Ölkrug  der 
Witwe  (I.  Reg\  17,  1 6)  —  oder  von  der  Verzauberung  eines  Menschen  in 
ein  Tier,  was  in  der  Geschichte  vom  Wahnsinn  Nebukadnezars  nachklingt 
(Dan.  4).  Aber  wo  anfangen  und  wo  aufhören!  Unsere  Wissenschaft  hat 
die  Aufgabe,  das  ganze  Material  zusammenzustellen,  wobei  sich  dann 
auch  die  Entscheidung  darüber  erg^eben  wird,  ob  die  verwandten  Er- 
zählungen selbständig  entstanden  oder  durch  eine  Geschichte  verbunden 
sind.  Dann  werden  wir  vielleicht  eine  großartige  Geschichte  dieser  Stoffe 
übersehen,  und  jedenfalls  die  Eigenart  der  israelitischen  Erzählungen  und 
des  israelitischen  Volksgeistes,  der  sich  darin  spiegelt,  besser  zu  erkennen 
vermögen. 

Denn    andererseits    trägt    alles    aus     der    hebräischen    Literatur    unsCharakteristisch- 

__  .  Israelitisches. 

Erhaltene  emen  sehr  gleichmäßigen  Stempel,  und  der  Unterschied  z.  B. 
der  babylonischen  und  israelitischen  Sintfluterzählung-  ist  ungemein  groß; 
woraus  wir  schließen,  daß  das  Fremdländische  bei  der  Aneignung  in 
Israel  sicherlich  sehr  stark  |umgebildet  worden  ist.  Charakteristische 
Eigenschaften  Israels,  die  auch  in  seiner  Literatur  hervortreten,  sind 
besonders  folgende.  Zunächst  die  starke  Subjektivität,  ja  flammende 
Leidenschaftlichkeit  israelitischen  Wesens.  Der  Hebräer  ist  nicht  ge- 
wohnt, die  Dinge,  die  ihn  im  Innern  bewegen,  auch  einmal  nüchtern 
und  kühl  zu  betrachten.  Der  persönliche  Feind  erscheint  ihm  als  Feind 
der  Menschen,  ja  Gottes  selbst;  der  Abgrund  müßte  ihn  verschlingen! 
Sehr  leicht  bildet  sich  die  Sage,  die  den  Helden  idealisiert  und  den 
Feind  zum  Bösewicht  stempelt.  Mit  einer  uns  unverständlichen  Naivität 
färben  noch  spätere  Schriftsteller  die  überlieferte  Geschichte.  Freude  hat 
der  Hebräer  an  allem  Schwunghaften,  Gewaltigen;  seine  Poesie  ist  voller 
Pathos.  Auch  seine  Religion  hat  etwas  Explosives:  sein  Gott  offenbart 
sich  in  den  furchtbarsten  Erscheinungen  der  Natur.  In  der  späteren  Zeit 
ist  in  Israel  eine  Vorliebe  für  das  Idyllische,  Zärtliche,  Gemütvolle  hervor- 
getreten: Denkmäler  dieser  zum  Weichen  neigenden  Richtung  sind  die 
Kindheitsgeschichten,  die  Erzählungen  von  Joseph  und  Ruth  und  die  Er- 
güsse eines  Hosea  und  Jeremias,  sowie  manche  Psalmen.  Begeistert  ist 
der  Israelit  besonders  für  sein  Volk:  man  hat  in  Israel  ein  hoch  ge- 
steigertes nationales  Ehrgefühl.  Dazu  haben  seine  Dichter  eine  wunder- 
bare Kraft  der  Anschauung:  an  Bildern,  die  freilich  nur  angedeutet, 
nicht  ausgeführt  zu  werden  pflegen,  ist  die  hebräische  Poesie  überreich. 
Die  Kehrseite  ist  ein  Mangel  an  logischem  Denken:  der  Sprache 
fehlen  die  Abstrakta,  die  Wortkompositionen  und  die  Partikeln;  in  der 
Syntax  liebt  sie  die  Koordination.  So  ist  der  schwache  Punkt  am  hebräi- 
schen Kunstwerk  gewöhnlich  die  Disposition:  der  hebräische  Dichter  be- 
gnügt   sich,    die    Gedanken   nebeneinanderzustellen,    wie    man    Perlen    auf 


eg  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

eine  Schnur  reiht.  Für  zusammenhängendes,  philosophisches  Nachdenken 
oder  für  die  Bildung  großer,  einheitlich  organisierter  künstlerischer 
Schöpfungen  ist  der  Israelit  nicht  recht  begabt.  Groß  aber  ist  der 
hebräische  Dichter  da,  wo  er  in  kleinem  Rahmen  seine  Begeisterung  aus- 
strömen und  lebendige  Anschauungen  wiedergeben  kann. 
Profane,  private  I.  Profane,  private  Gedichte.    Israel  hat,  ehe  es  durch  die  großen 

Katastrophen  seines  Staats  und  Volkstums  (722.  586)  gebrochen  war,  auch 
ein  starkes,  natürliches  Leben  gelebt,  und  das  hat  sich  auch  in  einer  reich 
entvvickelten  Volksdichtung  gespiegelt.     Andeutungen   darüber  haben  wir 
vor  allem  bei  den  Propheten,  die  sich  nicht  scheuen,  frisch  in  das  Volks- 
leben   zu    gTeifen,    auch  manchmal   da,   wo   es    recht    natürlich   ist.     Auch 
in   Israel    singen    die    Kinder    auf   der   Straße    beim   Spiel,    und    die   Er- 
wachsenen   bei    der  Arbeit    auf   dem   Felde.     In   der  Nacht  aber  schallt 
hoch  oben  vom  Turm   des  Wächters  Lied.     Oder   die  Jünglinge    singen 
im  Dunkel  ein  Spottlied  auf  die  einst  gepriesene  Schönheit  (Jes.  23,  16). 
Spottlieder,  in  denen  sich  das  öffentliche  Urteil  kräftig  ausspricht,  spielen 
bei  Völkern  dieser  Kulturstufe  eine  große  Rolle;  und  das  größte  Leid  des 
Unglücklichen    ist    es,    in   den  Mund  der  Leute  „im  Tore"  gekommen   zu 
sein.      Alle    Höhepunkte    des    Lebens    sind   vom    Gesang    begleitet.      Den 
Scheidenden  entläßt  man  „mit  Jauchzen  und  Singen  bei  Pauke  und  Zither" 
(Gen.  31,27):  in  fröhlichen  Liedern  unterdrückt  man  den  Abschiedsschmerz 
und  gibt  dem  Reisenden  die  besten  Wünsche  mit  auf  den  Weg.    Oder  wenn 
man  satt  ist  der  Speisen   und  der  Wein   das  Herz  erfreut  hat,  dann  singt 
man:  „Wir  wollen  uns  kränzen  mit  Rosen,  ehe  sie  welken"  (Sap.  Sal.  2,8); 
bei   den  Propheten    sind    uns   gelegentlich  Trinklieder  überliefert,  wenn 
auch  nur  als  Worte  der  Gottlosen.    So  werden  auch  die  sieben  Tage  der 
Hochzeit,    die    schönsten  Tage    des    Lebens,    ausgefüllt  mit  Rätselspiel, 
mit  Tanz   und  Lied.     Begreiflich   genug,   daß   uns  die   hebräischen  Rätsel 
verloren   sind;    so   müssen   uns    die    allein   erhaltenen,   geistreichen  Rätsel 
der  Simsonerzählung    als    einziges  Beispiel    dienen.     Auch    der  König    in 
seinem   herrlichen  Palast  an  prächtiger  Königstafel   will   die  Sänger   und 
Sängerinnen  nicht  entbehren.    Wir  besitzen  noch  in  Ps.  45  ein  prachtvolles 
LiebesUed.    KönigsHed,    gesungen   zur  Hochzeit    des  Königs.     Die   Zeit   der  Lieder 
aber  ist  der  Frühling    und   das   ewige  Thema   der  Lieder  bis  zum  Unter- 
gang  der  Welt  ist  die  Liebe.     Wenn   der  Winter  vergangen   ist  und  der 
Regen  fortgezogen,  wenn  die  Blumen  sprießen  auf  der  Flur,  dann  ist  die 
Zeit  des  Singens  gekommen  (Ct.  2,  12).     Wir  haben  höchst  merkwürdiger- 
weise   im    Kanon    eine    Sammlung    von    köstlichen,    aber    ganz    profanen 
Liebesliedern,    das    Hohe    Lied.      Daß    man    dies    Buch    überhaupt    in 
den  Kanon    aufgenommen    hat,  läßt    sich   nur  so   verstehen,    daß    man   es 
einmal    unter   den  Schätzen    der  Vergangenheit  vorfand,    und   sich   darum 
auch   verpflichtet  fühlte,   es    irgendwie    geistlich   umzudeuten.     Die  Lieder 
der  Sammlung    stammen    zum  Teil    aus   der  ältesten,   zum  Teil  aber  auch 
aus    recht   später  Zeit:    diese  Gedichte   sind  also   durch   alle  Epochen  der 


I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller  (bis  ca.  750).       cn 


Leichcnlied. 


Geschichte  immer  wieder  gesungen  worden.  Charakteristisch  für  sie  ist 
eine  naive,  glühende  SinnHchkeit  und  der  stark  entwickelte  Sinn  für  die 
Schönheit  der  Natur  (Cornill).  Zwei  verschiedene  Arten  können  wir  darin 
besonders  unterscheiden,  nämlich  Lobpreise  der  Reize  der  Geliebten  und 
des  Liebenden,  und  zwar  der  kühnsten  Art,  mit  den  stärksten  Farben,  und 
ferner  wundervolle  kleine  Erzählungen,  wie  sich  das  liebende  Paar  vereinigt. 
Einige  dieser  Lieder  mögen  zum  Preise  der  Braut  bei  der  Hochzeit  ge- 
sungen worden  sein.  Auch  sonst  hören  wir  im  Alten  Testament  g^elegent- 
lich  von  Hochzeitsliedern,  die  man  etwa  singen  mochte,  wenn  der  Bräu- 
tigam in  feierlichem  Zuge  die  Braut  heimholt.  —  Aber  auch  ernstere  siegesiied 
und  gewaltigere  Töne  kennt  das  hebräische  Lied.  Wenn  der  Held 
der  ältesten  Zeit  aus  der  Fehde  wiederkehrt,  dann  singt  er  sich  das 
Siegeslied:  er  frohlockt  über  den  gefallenen  Feind  und  brüstet  sich 
damit  vor  seinen  Frauen  (Gen.  4,  2  3  f.).  In  ganz  andere  Situation  ver- 
setzt uns  das  Leichenlied.  Wenn  die  Leiche  auf  der  Bahre  liegt,  dann 
versammeln  sich  die  Angehörigen  und  Nachbarn,  um  dem  Toten  die 
letzte,  arme  Ehre  zu  erweisen.  Wie  viele  andere  Gemütsbewegungen, 
so  ist  auch  die  Totenklage  in  der  Antike  in  fest  vorg-eschriebene 
Formen  gegossen:  man  fastet,  streut  Asche  aufs  Haupt  und  zieht  den 
„Sack"  an.  Dann  wird  nach  einer  Sitte,  die  bei  vielen  anderen  Völkern 
vorkommt,  zur  Flöte  der  Leichengesang  angestimmt,  der  den  Toten 
preist  und  sein  Ende  beklagt.  Es  gibt  Klageweiber  und  -männer,  die 
sich  auf  Leichenklage  verstehen.  Gerade  über  diese  Gattung  der  Leichen- 
lieder sind  wir  vortrefflich  unterrichtet,  weil  uns  die  wundervolle  Klage 
Davids  über  Sauls  und  Jonathans  Fall  erhalten  (IL  Sam.  i,  19  ff.),  und  weil 
es  Sitte  geworden  ist,  solche  Leichenlieder  in  übertragenem  Sinne  auch 
bei  politischen  Anlässen,  beim  Fall  von  Völkern  und  Städten  zu  singen. 
Der  Orient  kennt  auch  Klag-efeiern  für  verstorbene  Götter:  so  hat  man 
in  Babylonien  für  Tammuz,  in  Phönizien  für  Adonis,  in  Ägypten  für  Osiris 
die  Klage  gesungen;  so  hören  wir  g-elegentlich  von  der  Klagte  Hadad- 
rimmons  zu  Megiddo  in  Kanaan  (Sach.  12,  11);  ein  Nachhall  solcher 
Götterklagen  mag  das  Trauerfest  sein,  das  die  Töchter  Gileads  all- 
jährlich um  Jephtas  jungfräuliche  Tochter  begingen  (Jud.  11,40).  Wie 
David,  so  ist  auch  Salomo  als  Dichter  in  Israel  bis  in  späteste  Zeit 
berühmt  gewesen.  1005  Lieder  zählte  man  von  ihm,  von  denen  nur  eines, 
der  majestätische  Tempelweihspruch  (I.  Reg.  8,  12  f.),  auf  uns  gekommen  ist. 
Die  „Weisheit"  des  Salomo,  von  der  wir  keine  Proben  haben,  wird 
uns  doch  in  den  historischen  Berichten  so  deutlich  beschrieben,  daß  wir 
davon  eine  bestimmte  Anschauung  erhalten.  Der  Inhalt  dieser  Weisheit 
war  Naturdichtung:  Salomo  redete  über  die  Bäume,  von  der  herrlichen 
Zeder  an  bis  zum  gemeinen  Ysop,  über  die  Tiere,  die  Vögel,  das  Gewürm 
und  die  Fische.  Nichts  von  allem  Geschaffenen  entging  seinem  Geist:  er 
besaß  von  Gott  „Weite  des  Herzens"  wie  der  Sand  am  Meer;  und  seiner 
Sprüche    waren    dreitausend.      Die    Form    aber    dieser    Naturbeschreibung 


Salomos 
„Weisheit" 


6o  Hermann  Günkel:  Die  israelitische  Literatur. 

war  das  Rätsel.  Er  beschrieb,  so  dürfen  wir  uns  vorstellen,  die  heimi- 
schen Tiere  und  Pflanzen  in  kühnsten  Metaphern,  und  er  kannte  die  fremdesten 
Wesen,  von  denen  sonst  nur  der  weitgereiste  Araber  weiß.  Diese  Art 
der  „Weisheit"  wird  in  Israel  etwas  Neues  gewesen  sein,  fremdländisch 
wie  alles  andere,  was  Salomos  Herz  erfreute:  seine  Weisheit  war  größer 
als  die  der  Ostländer  und  der  Ag3^pter.  Auch  die  Namen  anderer  Dichter, 
wie  es  scheint,  derselben  Gattung,  kennen  wir,  aber  freilich  nur  die 
Namen. 
Politische  2.    Politische    Gedichte.     Am    meisten    Material    ist    uns    aus    der 

Gedichte. 

politischen  Dichtung  der  alten  Zeit  überliefert:  da  haben  wir  eine 
große  Zahl  umfangreicher  Gedichte,  von  denen  nicht  wenige  von  unver- 
gänglicher Herrlichkeit  sind.  Das  alte  Israel  ist,  das  sehen  wir  an  vielen 
Spuren,  ein  hervorragend  politisch  interessiertes  Volk  gewesen.  Die 
öffentlichen  Angelegenheiten  greifen  dem  ganzen  Volk  an  Herz  und 
Nieren.  Darum  hat  dort  die  politische  Dichtung  so  kräftig  geblüht:  sie 
sprach  die  Stimmungen  eines  ganzen  Volkes  aus.  Und  der  politische 
Gegenstand  schloß  keineswegs  die  Religion  aus.  Israels  Religion  war  eine 
Nationalreligion:  es  gehört  zu  Jahves  Wesen,  daß  er  dieses  Volkes  Gott 
ist:  und  wer  an  Israel  denkt,  denkt  zugleich  an  seinen  Gott.  Wenn  das 
Banner  auf  den  Bergen  aufgepflanzt  wird  und  der  Lärmruf  erschallt,  dann 
heißt  es:  kommt  Jahve  zu  Hilfe  unter  den  Helden!  Darum  ist  die  poli- 
tische Dichtung  sehr  vielfach  zugleich  religiöser  Art:  das  Siegeslied  ver- 
herrlicht den  Helden,  der  die  Schlacht  gewonnen,  und  den  Gott,  der  ihm 
geholfen  hat.  Andererseits  gibt  es  auch  politische  Lieder,  in  denen  das 
Religiöse  zurücktritt  oder  ganz  fehlt.  Solche  Lieder  muß  es  in  alter  Zeit 
sehr  viele  gegeben  haben:  keine  größere  Begebenheit  ohne  Gedicht.  Und 
Samminngen   djesc  Gedichte   haben  lange  Zeit  im  Volke   gfelebt.     Es  werden  uns  noch 

politischer  *-"  "-^ 

Gedichte,  zwei  alte  Liedersammlungen  genannt,  aus  denen  uns  einzelnes  überliefert 
ist:  „das  Buch  der  Kriege  Jahves",  das  seinem  Titel  nach  Schlacht- 
gesänge enthielt,  und  das  „Buch  des  Redlichen"  (nach  anderer  Lesart 
und  vielleicht  besser:  „das  Liederbuch"  zu  übersetzen).  Die  spätere  Zeit, 
die  sich  an  solchen  uralten  Liedern  begreiflichenv^eise  nicht  erbauen 
konnte,  hat  diese  Sammlungen  verloren  gehen  lassen;  ebenso,  wie  Ge- 
dichte dieser  Art  auch  im  Psalter  im  allgemeinen  nicht  überliefert  sind. 
Innerhalb  des  erhaltenen  Materials  unterscheiden  wir  verschiedene 
.«^cUachtiieder.  Arten.  Zuuäch.st  die  Lieder,  die  im  Kriege  gesungen  werden.  Ehe  der 
Krieg  begonnen  ist,  wenn  einige  wenige,  besonders  Begeisterte  die 
Schmach  des  Friedens  und  die  Notu^endigkeit  des  Krieges  empfinden, 
aber  die  Masse  der  störrigen  Bauern  noch  in  ihrer  Trägheit  verharrt, 
dann  geht  vielleicht  ein  Lied  durchs  Land,  dessen  hinreißender  Macht 
die  Gemüter  nicht  widerstehen  können.  Durch  ein  solches  Lied  hat  De- 
bora  ihr  Volk  mit  fortgerissen  (Jud.  5,  12).  Ein  solches  Lied  —  es  ist  das 
Lied  des  Seba'  —  hat  Davids  Thron  erschüttert  und  schließlich  seinem 
Geschlecht  die  Herrschaft  über  Israel  gekostet.    Ein  Lied  singend,  stürmen 


I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller  (bis  ca.  750).      61 

Israels  Heerscharen  in  die  Schlacht;  wir  besitzen  noch  das  uralte  Lied, 
das  man  in  den  Kämpfen  gegen  Amalek  zu  singen  pflegte.  Wenn  dann 
der  Sieg  errungen  ist,  so  erhebt  unter  dem  siegreichen  Heer  der  Sänger 
seine  jubelnde  Stimme.  So  ist  am  Tage  von  Gibeon  Josuas  Lied  gesungen  siegesUeder. 
worden:  „Sonne,  steh  still  in  Gibeon!"  Und  so  schon  jenes  erste  Triumph- 
lied Israels,  das  Miriam,  Mosis  Schwester,  sang: 

„Singet  dem  Jahve,     denn  hoch  erhob  er  sich! 
Roß  und  Wagen     schoß  er  ins  Meer!" 

Dies  Lied,  gegen  dessen  Echtheit  schwerlich  etwas  einzuwenden  ist,  ist  von 
späterer  Hand  zu  einem  großen  Passagedicht  weiter  ausgeführt  worden.    Das 
schönste  der  Siegeslieder  aber,  zugleich  das  Prachtstück  der  ganzen  poli- 
tischen Gattung,  ist  das  herrliche  Deboralied  (Jud.  5).    Das  Gedicht  schreitet 
majestätisch    einher:    es   verherrlicht   den   Gott,    der    vom  Sinai  her  in  all 
seiner  Furchtbarkeit    seinem  Volke    zu  Hilfe  kam;    es   preist   die  Stämme, 
die    gegen    Kanaans   Könige    aufstanden,    und    ihre    heldenhaften    Führer; 
bitteren  Spott   ergießt   es   über   diejenigen,   die   zurückgeblieben  sind;   ge- 
waltig schildert  es  die  Schlacht,  deren  Gesamtverlauf  sich  freilich  der  Auf- 
fassung* des  Dichters   entzieht;    jauchzend  preist   es    das    kenitische  Weib, 
das  den  feindlichen  König-  meuchlings  erschlug,  und  freut  sich  zum  Schluß 
mit  grausamem  Frohlocken  an  dem  Bilde,  wie  die  Mutter  des  Toten  ihren 
Sohn  vergebens  erwartet.    So  wird  das  Siegeslied  zugleich  zum  Spottlied 
über  den  Gefallenen.     Der   politischen  Spottlieder   mag  Israel  viele  ge-    SpottUeder. 
dichtet  haben;   wir    haben   das  Lied  über  Hesbons  Sturz   und  viele  Nach- 
ahmungen   der   Gattung  bei   den  Propheten.     Wenn   dann   aber   das   sieg- 
reiche Heer  in  der  Heimat  einzieht,  so  kommen  die  Mädchen  ihm  entgegen 
und  singen  im  Reigen  mit  Pauken  und  Zymbeln  jauchzend  das  Siegeslied 
(I.  Sam.  18,  6 ff.).   Wie  in  Babylonien,  Assyrien  und  Ägypten  haben  die  Sänger  KönigsUeder. 
auch  in  Israel   die  Könige   verherrlicht.     Solcher  Königsgedichte  lesen 
wir  einige  in  den  Psalmen  (Ps.  2.  20.  21.45.  72.  iio).     Für  diese  Lieder  ist 
charakteristisch    die    Überschwenglichkeit;    sie    verherrlichen    „Jahves   Ge- 
salbten",  seine  Huld   und  Heldenkraft,   seine  Frömmigkeit  und  die  Pracht 
seines  Hofes  und  wünschen  ihm,  was  man  nur  wünschen  kann;  ja  sie  ver- 
kündigen   ihm    in  Jahves    Namen   Sieg   über    seine   Feinde    und   Ewigkeit 
seiner  Herrschaft  oder  wenigstens  seines  Namens.     Und  selbst  die  escha- 
tologischen  Hoffnungen  übertragen    sie  auf  ihn  und  flechten  den  Reif  des 
Messias,  des  kommenden  Völkerkönigs  aus  Israel,  um  sein  geweihtes  Haupt, 
Die  meisten  der  überlieferten  Königslieder  stammen  aus  dem  Reiche  Juda 
und  wohl  aus  der  späteren  Zeit  des  Staates.     Man  hat  sie  dieser  Epoche 
nicht  zugetraut  und   für  nachexilisch  halten  wollen:     ein  Urteil,  das  dem- 
jenigen   nicht    einleuchten  wird,   der   die    ähnlichen  Gedichte  der  anderen 
antiken    orientalischen  Völker    vergleicht.      Ein   besonders    eigentümliches 
Königslied    sind   „Davids    letzte  Worte"   (II.  Sam.  22,,  i — 7),    in   denen    der 
König    selbst    als    Jahves    Inspirierter    auftritt    und    das    Gedeihen    seiner 
Herrschaft,   ja    die   Ewigkeit    seines  Hauses   verkündet.     Auch   der   baby- 


62  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

Pseudonyme  lonischc  König  hätte  etwa  so  sprechen  können.  SchheßUch  die  pseudo- 
sl'^^ang"en^  n}niien  Fluch-  und  Segenssprüche,  der  Segen  Jakobs  (Gen.  49),  der  Segen 
^Mosis  (Dt.  ^^)  und  Bileams  Sprüche  (Xum.  23  f.).  Der  antike  Hebräer 
glaubt  an  die  geheime  Kraft  des  gesprochenen  Wortes  und  ist  über- 
zeugt, daß  es  Menschen  gibt  und  gegeben  hat,  fähig-,  wirksam  zu 
fluchen  und  zu  segnen.  Hier  beschwört  nun  der  Dichter  Männer  der 
Urzeit  aus  dem  Grabe  und  läßt  sie  über  Israel  und  Israels  Stämme 
herrliche  Segnungen  aussprechen ;  und  dies  alles  —  so  soll  der  Leser 
hinzudenken  —  ist  jetzt  erfüllt!  Diese  Lieder  also  sind  es  vor 
anderen,  in  denen  Israel  die  stolze  Freude  über  seine  nationale  Größe 
ausspricht. 
Gottesdienst-  3-  Go tt es di enstliche  Lieder.   Viele  von  den  Liedern,  die  wir  bisher 

besprochen  haben,  stehen  schon  mit  einem  Fuße  in  der  religiösen  Lyrik. 
Jene  alte  Zeit,  in  ihrer  urwüchsigen  Frische,  kannte  keine  so  deutliche 
Unterscheidung  des  Profanen  und  Religiösen  wie  wir.  Ihr  erschien  es  als 
ganz  natürlich,  daß  man  die  Religion  mit  in  Gegenstände  hineinnahm,  die  uns 
weit  davon  entfernt  zu  sein  scheinen:  ist  doch  selbst  der  fröhliche  Held 
Simson,  der  die  Philister  in  Scharen  erschlägt  und  ihren  Töchtern  liebe- 
bedürftig nachstellt,  zugleich  ein  Geweihter  Jahves,  der  im  Geiste  des 
Gottes  seine  Heldentaten  ausführt.  Aber  neben  diesen  profanen  Gattungen 
mit  religiösem  Einschlage  hat  es  auch  eine  besondere  religiöse  Lyrik  ge- 
Aher  der  geben.  Daß  dies  der  Fall  ist,  ist  uns  ausdrücklich  bezeugt  (z.  B.  Ex. 
reigiosen  yn^.  ^ ^ ^  ^g^  ^^^g  ^^  23)   und  ja  Schließlich  auch   selbstverständlich:    ein  Volk, 

das  poetisch  so  hochbegabt  war,  und  in  dem  die  Religion  eine  so  be- 
deutende Stellung  einnahm,  muß  auch  religiöse  Gedichte  erzeugt  haben. 
Freilich  das  Buch  der  Psalmen  gehört,  wenigstens  seiner  Hauptmasse  und 
seinem  Gesamteindruck  nach,  nicht  in  diese  ältere  Zeit,  wie  uns  die 
mancherlei  Anspielungen  auf  nachexilische  politische  und  soziale  Verhält- 
nisse, die  vielfache  geistige  Abhängigkeit  von  Propheten  und  Gesetz,  die 
jüngere  Sprache  einiger  Psalmen  sowie  allerlei  literarische  Beziehungen 
zeigen.  Wenn  aber  auch  die  meisten  der  erhaltenen  Psalmen  einem  späteren 
Zeitalter  angehören  mögen,  so  ist  doch  damit  die  Frage  noch  nicht  erledigt, 
ob  nicht  die  Gattung  der  Psalmen  als  solche  schon  in  viel  früherer  Zeit  ent- 
standen sei.  Hierauf  führt  vor  allem  der  Umstand,  daß  uns  babylonische 
und  nun  auch  ägA'ptische  Psalmen  bekannt  sind,  die  ihrem  Inhalt  und  be- 
sonders ihrer  Formensprache  nach  den  biblischen  Psalmen  vielfach  nahe 
stehen,  und  die  ihrerseits  ohne  jeden  Zweifel  in  eine  für  Israel  prähisto- 
rische Zeit  gehören.  Vor  allem  aber  finden  wir  in  den  prophetischen 
Büchern  eine  Fülle  lyrischer  Partieen,  die  uns  eine  sehr  deutliche  An- 
schauung von  der  Lyrik  jener  Zeit  geben;  und  die  Formen  dieser  prophe- 
tischen Lyrik  sind  mit  denen  der  Psalmen  im  w^esentlichen  identisch. 
Indem  wir  mit  diesen  prophetischen  Gedichten  allerlei  Notizen  in  histo- 
rischen Büchern  und  in  Gesetzen  kombinieren,  und  dabei  mit  Vorsicht 
diejenigen   Lieder    und    Stücke    der   Psalmen,    die    wir    aus    Gründen    der 


I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller  (bis  ca.  750).       6^ 

Religions-  und  Literaturgeschichte  für  die  ältesten  halten  dürfen,  heran- 
ziehen, dürfen  wir  eine  Rekonstruktion  der  religiösen  Dichtung  der 
älteren  Epoche  wagen. 

Alteste  religiöse  Dichtung  ist  in  Israel  und  anderswo  Kultus- Älteste  Kultus- 
dichtung-.  Der  antike  Gottesdienst,  auch  in  Israel,  besteht  aus  einer 
Menge  mannigfaltiger  Handlungen.  Da  werden  Opfer  aller  Art  gebracht 
und  verschiedenfache  Zeremonieen  vorgenommen:  die  Gläubigen  wandern 
zum  Fest  nach  dem  Heiligtum;  daselbst  ziehen  sie  in  Prozession  im 
Tanzschritt  einher.  Oder  es  finden  auch  große  Klagefeste  statt,  wo  man 
vor  Jahve  fastet  und  betet.  Neben  solchem  öffentlichen  Dienst  gibt  es 
auch  Zeremonieen  privater  Art:  das  Kind  wird  am  gesetzmäßigen  Tage 
beschnitten,  der  vormals  Aussätzige  wird  vom  Priester  für  rein  er- 
klärt u.  a.  m.  —  Nun  hören  wir  an  vielen  Stellen,  daß  solche  gottesdienst- 
liche Handlungen  von  heiligen,  gewiß  altüberlieferten  Worten  begleitet 
waren,  in  denen  der  Sinn  der  Handlung  ausgesprochen  war.  Wenn  z.  B. 
ein  Toter  auf  dem  Lande  gefunden  worden  ist,  so  brechen  die  Ältesten 
der  nächsten  Ortschaft  einer  jungen  Kuh  das  Genick,  waschen  sich  darüber 
ihre  Hände  und  sprechen  dazu:  unsere  Hände  haben  das  Blut  nicht  ver- 
gossen, unsere  Augen  haben  es  nicht  gesehen  (Dt.  21,  i — g).  Oder  wenn  der 
öffentliche  Gottesdienst  zu  Ende  ist,  dann  erhebt  der  Priester,  am  Altar 
stehend,  seine  Hände  über  das  Volk  und  spricht  dazu  die  ehrwürdigen 
Worte:  „Jahve  segne  dich  und  behüte  dich"  (Num.  6,  24  ff.).  Solche  Worte 
haben  ganz  gewöhnlich  poetische  Form:  Zauberworte,  Orakel,  liturgische 
Formeln  sind  bei  den  Völkern  der  ganzen  Welt  und  auch  in  Israel  rhyth- 
misch g-egliedert.  Von  solchen  Kultusliedern  sind  wohl  die  ältesten, 
die  wir  besitzen,  jene  Lieder,  die  man  beim  Aufheben  und  beim  Nieder- 
setzen der  Jahvelade  zu  singen  pflegte.  Israel  hat  die  Lade  als  ein  Pal- 
ladium mit  in  den  Krieg  geführt  und,  wie  es  scheint,  als  einen  Thronsitz 
seines  Gottes  betrachtet.  Darum,  wenn  man  die  Lade  in  die  Höhe  nahm, 
mit  in  die  heilige  Schlacht,  dann  sang  „Moses": 

„Stehe  auf,  Jahve,     daß  deine  Feinde  zerstieben, 
und  deine  Hasser  vor  dir  fliehen"  (Num.  10,  35)! 

Dies  das  Muster  eines  Kultusliedes,  bei  dem  Handlung  und  Wort  untrenn- 
bar zusammengehören:  man  sang  das  Lied  nur,  wenn  man  die  Handlung 
vornahm.  —  Oder  das  Beschwörungslied,  wenn  man  einen  Brunnen  grub: 

,, Walle  auf,  o  Brunnen!  Singet  ihm  zu"  (Num.  16,   17  f.)! 
Sehr  deutlich  ist  die  Handlung  zu  ergänzen  auch  bei  Ps.  24,  7 — 10: 

,, Erhebt,  ihr  Tore,  die  Häupter, 

erhebt  euch,  ihr  uralten  Pforten, 
denn  der  herrliche  König  zieht  ein!" 

Dies  Lied  ist  von  einem  Chor  gesungen,  der  vor  dem  Tempeltor  steht, 
im  Begriff,  mitsamt  einem  göttlichen  Symbol,  das  er  in  seiner  Mitte  hat, 
ins  Heiligtum  einzuziehen;  der  Gottesname,  der  dabei  genannt  wird,  Jahve 


64 


Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 


Hauptarten    der 

K^ultoslieder. 

Hymnen. 


Öffentliche 
Klagelieder. 


Religiöse  Lieder 
des  Einzelnen. 


Zebaoth,  beweist,  daß  dies  Symbol  die  Lade  ist.  Wir  dürfen  das  Lied 
also  auf  ein  Fest  beziehen,  in  dem  man  die  Feier  des  Einzuges  der  Lade 
in  das  Heiligtum  von  Zion  beging-.  Andere  Einzugslieder  besitzen  wir  in 
den  Psalmen  und  kling^en  in  den  Propheten  nach.  —  Auch  von  Wallfahrts- 
liedem  hören  wir.  Die  Wallfahrt  wird  gemeinsam  von  dem  ganzen  Gau 
unternommen;  sehr  begreif  lieh,  daß  dabei  gesungen  wird.  So  redet  Jesaias 
(30,  29)  von  der  Freude  „des  Wallfahrers  zum  Flötenspiel,  wenn  er  zieht 
auf  Jahves  Berg,  zum  Felsen  Israels".  Wenn  der  Prophet  schildern  will, 
wie  sich  einst  die  Heiden  zu  Jahve  bekehren,  so  stimmt  er  im  voraus, 
die  Wallfahrtslieder  seiner  Zeit  nachahmend,  den  Gesang  an,  den  sie  singen 
werden,  wenn  sie  gemeinsam  zum  Zion  wallfahren:  „Kommt,  laßt  uns 
ziehen  auf  Jahves  Berg"  (Jes.  2,  3;  Micha  4,  2). 

Hauptarten  solcher  Kultuslieder  sind  folgende: 

a)  Besonders  gut  unterrichtet  sind  wir  über  den  Hymnus  (t°hilla),  so 
daß  wir  die  Formen,  die  er  gewöhnlich  trägt,  und  die  Hauptstoffe,  die  er 
behandelt,  wohl  anzugeben  wissen.  Die  immer  wiederkehrende  Form  ist 
seit  jenem  uralten  Miriamliede  diese,  daß  der  Vorsänger  den  Chor  auffordert, 
mit  ihm  den  Gott  zu  preisen:  Rühmet  Jahve,  preiset  Jahve,  singet  Jahve,  ihr 
Frommen,  Tochter  Zion,  —  und  immer  großartiger  —  ihr  Völker,  alle  Lande, 
Himmel  und  Erde,  ihr  Göttersöhne!  Denn  wer  ist  wie  Jahve  unter  den 
Göttern?  wie  wunderbar  seine  Macht,  seine  Herrlichkeit  in  Feuer  und 
Erdbeben,  seine  himmlische  Wohnung,  seine  Machttaten  in  der  Vergangen- 
heit —  hier  klingt  nicht  selten  mythologischer  Stoff  nach  — ,  seine 
Gnade  für  Israel,  seine  Majestät  als  des  Schöpfers  und  des  Herrn  der 
Welt!  Sehr  häufig  ist  in  den  Hymnen  Israels  wie  auch  in  denen  der 
Babylonier  und  Ag}"pter,  daß  die  einzelnen  Ehrenprädikate  der  Gottheit 
in  der  Form  vieler  koordinierter  Partizipien  oder  sonstiger  Attribute  dem 
göttlichen  Namen  hinzugefügt  werden.  Die  herrschende  Stimmung  der 
Hymnen  ist  die  Begeisterung  für  den  herrlichen  Gott;  ihr  Zweck  ist  ur- 
sprünglich, den  Gott,  den  man  so  rühmt,  zu  erfreuen.  Um  solche  Hymnen 
zu  verstehen,  müssen  wir  uns  die  Situation  vergegenwärtigen,  in  der  sie 
gesungen  sind:  ein  ganzes  Volk  stimmt  sie  brausend  an,  im  Vorhof  um- 
herziehend, tanzend,  jubelnd,  in  die  Hände  klatschend,  zum  lauten  Schall 
der  Instrumente. 

b)  Neben  den  freudigen  Festen  stehen  die  Trauerfeiern  der  Ge- 
meinde. Wenn  Miß  wachs,  Pestilenz  oder  Feindesnot  das  Volk  plagt, 
hält  man  das  Klagefest.  Da  zerreißt  sich  alles  an  der  heiligen  Stätte  die 
Kleider,  fastet,  weint  und  jammert  vor  Jahve.  Wir  haben  in  den  Psalmen 
eine  Menge  von  Liedern,  die  bei  solcher  Landestrauer  aufgeführt  worden 
sind;  und  wie  alt  die  Gattung  ist,  zeigen  die  Nachahmungen  bei  den  Pro- 
pheten. 

Seltener  hören  wir  in  der  alten  Zeit  von  Kultusliedern,  die  der  ein- 
zelne Fromme  singt;  aber  auch  diese  muß  es  gegeben  haben.  In  den 
Psalmen  besitzen  wir 


I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller  (bis  ca.  750).      6s 

c)  Dankopferlieder.    Wenn  ein  Mensch  aus  großer  Not  errettet  istDankopferiieder. 
und  Jahve  dankbaren  Herzens  ein  Opfer  bringt,  so  pflegt  er,  an  bestimmter 

Stelle  der  heiligen  Handlung,  ein  Lied  zu  singen,  in  dem  er  seinen  Dank 

abstattet  (töda).     Ein  gewöhnliches  Stück   solcher  Dankopferlieder  ist   die 

Erzählung  des  Dankenden  von  seiner  Not,  seinem  Gebet,  seiner  Errettung 

und  schließlich  das  Bekenntnis,  worin  er  Gott  die  Ehre  gibt.    Das  Alter 

auch  dieser  Gattung  bezeugt  Jen  7,;^,  n,  wonach  damals  das  gebräuchliche 

Dankopferlied  war: 

„Danket  Jahve,  denn  er  ist  gütig, 
denn  ewig  währet  seine  Gnade". 

d)  Wie   nun   neben    den  Dankliedern   des  Einzelnen   die  Hymnen  des  Klagelieder  der 
Volkes   stehen,   so    neben   den  Klageliedern  der  Gemeinde   die  kultischen     Einzelnen. 
Klagelieder    des    Einzelnen.     Zwar    sind    uns    durch   die   Ungunst  des 
Schicksals  solche  Gesänge  nicht  überliefert.     Dennoch   sind  wir  imstande, 

uns  von  ihnen  ein  ziemlich  deutliches  Bild  zu  machen.  Besitzen  wir  doch 
im  Psalter  und  bei  den  Propheten  eine  sehr  große  Menge  von  Klage- 
liedern nicht-kultischer  Art,  aus  denen  wir  die  ältere  Form  wiederher- 
stellen können.  Nach  vielen  Anspielungen  handelt  es  sich  dabei  in  älterer 
Zeit  ganz  gewöhnlich  um  Krankheit,  worin  der  Israelit  etwas  unmittelbar 
Göttliches,  einen  „Gottesschlag",  die  göttliche  Strafe  für  seine  Sünde,  ge- 
sehen hat.  In  solcher  Not  ging  der  Leidende  ins  Heiligtum,  um  dort  Hei- 
lung zu  erbitten;  es  muß  gewisse  Riten  gegeben  haben,  in  denen  ihm  auf 
sein  Gebet  Vergebung  seiner  Sünde  zugesprochen  wurde,  oder  in  denen  er 
vor  Gott  seine  Reinheit  von  schwerer  Schuld  feierlich  bezeugte.  In  ersterem 
Fall  singt  der  Kranke  einen  Bußpsalm:  „Entsündige  mich  mit  Ysop",  d.h. 
sprenge  reines  Wasser  über  mich,  „daß  ich  rein"  und  g-esund  „werde" 
(Ps.  51,9).  Im  zweiten  Falle  aber  wäscht  er  feierlich  die  Hände  und  bezeugt 
zugleich  seine  Unschuld:  „ich  wasche  in  Unschuld  meine  Hände"  (Ps.  26,  6). 
Wir  erschließen  Situation  und  Handlung^  solcher  kultischen  Lieder  aus  den 
späteren  Psalmen;  wissen  wir  doch,  daß  in  den  Bildern  der  Poesie  viel- 
fach ältestes  Gut  fortlebt.  Daß  aber  diese  Rekonstruktion  richtig  ist,  er- 
kennen wir  an  den  babylonischen  Büß-  und  Klageliedern,  die  gleich- 
falls am  Heiligtum  von  Kranken  zu  Reinigungszeremonieen  gesungen 
worden  sind. 

Einige  der  bisher  besprochenen  Lieder  sind,  wie  wir  ausdrücklich  voiks-  und 
hören,  vom  Volkschor  aufgeführt,  andere  aber  sind  von  Sängern  und  ^"^"  >c't"ug' 
Sängerinnen  gesungen  und  gedichtet  worden;  wir  dürfen  die  ganz  kurzen 
Lieder  dem  Volkschor  und  der  Volksdichtung  zuschreiben,  während  die 
längeren  wie  das  „Deboralied"  von  Sängern,  d.  h.  wirklichen  „Kunst- 
dichtern" abzuleiten  sind.  Den  Stoffen  nach  werden  sich  diese  Volks- 
und Sängerlieder  wenig  unterschieden  haben;  nur  die  „Weisheit"  Salomos 
war  eine  reine  „Kunstdichtung". 

Die   zweite  Hauptklasse,    die   in   der   alten  Zeit  neben   der  Lyrik  ge-     Poetische 
blüht  hat,  ist  die  Erzählung.    Wir  unterscheiden  die  poetische,  erdichtete  Erzählungen. 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  5 


56  Hermann  Gunkel:  Die  israelitisclie  Literatur. 

Erzählung,  die  erfreuen,  begeistern,  rühren  will,  von  der  strengen  „Historie", 
der  es  darauf  ankommt,  Tatsachen  der  Vergangenheit  zu  berichten.  Die 
erstere  ist  in  einem  Volke  wie  Israel  die  Regel,  die  zweite,  die  eine  be- 
stimmte geistige  Kraft  objektiver  Betrachtung  voraussetzt,  immer  nur  eine 
Ausnahme;  die  erstere  ist  im  Volke  beliebt,  die  zweite  das  Eigentum  ge- 
wisser gebildeterer  Kreise.  Solche  poetische  Erzählungen  sind  —  darin 
unterscheidet  sich  ein  antikes  Volk  wie  Israel  von  den  modernen  —  nicht 
bewußte  Dichtungen  Einzelner,  sondern  sie  ruhen  auf  Überlieferung:  wer 
sie  erzählt  und  hört,  hält  sie  naiv  für  „wahre"  Geschichten.  Sie  sind  von 
alter  Zeit  her  fortgepflanzt  von  Mund  zu  Mund,  ebenso  wie  Volkslied  und 
Volksrecht,  und  tragen  daher  das  Gepräge  des  Kreises,  der  an  ihnen  jahr- 
hundertelang geformt  hat.  Von  der  „Historie"  unterscheiden  sie  sich  auch 
dadurch,  daß  sie  zunächst  nicht  geschrieben,  sondern  mündlich  bestehen, 
bis  sie  schließlich  gesammelt  und  niedergeschrieben  werden. 

Die  Gattungen  der  poetischen  Erzählung  im  älteren  Israel  sind 
Mvthus,  Sage,  Märchen  und  Fabel;  später  kommen  noch  die  ausgeführtere 
„Novelle"  und  die  geistliche  „Legende"  hinzu. 

Der  Mythni.  4.    Der    Mythus.      Wir    definieren    für    unsere    Zwecke    den    Mythus 

aufs  einfachste  als  eine  Erzählung,  deren  handelnde  Personen  Götter  sind, 
während  in  der  Sage  Menschen  auftreten.  Damit  ist  zugleich  der  Haupt- 
unterschied beider  Gattungen  gegeben:  was  Gott  und  Göttern  zukommt, 
ist  gewaltiger,  als  was  man  IMenschen  zutrauen  mag.  Im  Mythus  also 
gelten  andere  Voraussetzungen,  andere  Dimensionen  als  in  der  Sage.  Da 
schlägt  ein  Ungeheuer  mit  seinem  Schwanz  die  Sterne  vom  Himmel  (Ap. 
Joh.  12,4),  oder  da  wächst  ein  Baum  auf,  der  die  Wurzeln  im  Meer  unter 
der  Erde  hat  und  die  ganze  Welt  mit  seinen  Zweigen  beschattet  (Ez.  31). — 
M}-then  stammen  aus  der  Urzeit  des  menschlichen  Geschlechts.  Historische 
Völker  erzeugen  keine  Mythen  mehr.  Dies  gilt  im  besonderen  Maße  für 
Israel.  Denn  der  Zug  der  Religion  dieses  Volkes  geht  von  Anfang  an 
zur  Verehrung  eines  Gottes:  Mythen  aber  sind  eigentlich  nur  im  Poly- 
theismus denkbar:  in  einer  „Göttergeschichte"  treten  mehrere  Götter  auf. 
Dies  ist  der  Grund,  weshalb  wir  eigentliche  Mythen,  rein  und  voll- 
ständig überliefert,  nirgends  im  Alten  Testament  antreffen.  Anderer- 
seits aber  stand  Israel  zu  verschiedenen  Zeiten  seiner  Geschichte  zu  sehr 
unter  dem  Einfluß  der  Fremde,  als  daß  es  nicht  mit  mythischem  Stoff 
bekannt,  ja  geradezu  von  ihm  überschwemmt  worden  wäre.  Auch  war 
die  ältere  Zeit  noch  nicht  so  entschieden  monotheistisch  gestimmt,  und 
mancherlei  m}'thische  Erinnerungen,  die  man  in  Prosa  nicht  ertragen  hätte, 
hat  man  doch  wenigstens  den  Dichtern  nachgesehen.  Darum  findet  sich 
im  Alten  Testament  dennoch  mannigfaches  mythisches  Material,  wenn- 
auch  in  allerlei  Abschwächungen  und  Verkürzungen. 

Mythen  in  der  So  sind  Ursprüngliche  Mythen   die  meisten  Erzählungen   von   der  Ur- 

ürgeschichte.  ir  o  j  o 

geschichte  in  der  Genesis  (i  — 11);  das  sind  die  aller  Welt  bekannten  Ge- 
schichten von  der  Weltschöpfung,  dann  die  Paradieseserzählung,   der  eine 


I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller  (bis  ca.  750).       6? 

andere,  ganz  antiken  Geist  atmende  Geschichte  von  den  Entstehungen 
vorangestellt  ist  (2,  4b  ff.),  sodann  das  Fragment  von  den  Ehen  der 
„Gottessöhne"  mit  den  Menschentöchtern  (6,  i — 4),  schließlich  die  Sintflut- 
und  Turmbaugeschichten.  Vergleicht  man  die  babylonische  Sintfluterzäh- 
lung in  all  ihrer  buntfarbigen,  grotesken  Mythologie  mit  der  biblischen 
Geschichte,  so  erkennt  man,  wie  stark  hier  der  eigentümliche  Geist  Israels 
gearbeitet  und  das  Mythische  nach  Möglichkeit  ausgetrieben  hat.  Nichts 
mehr  in  diesen  Erzählungen  von  Theogonie,  von  Ehen  der  Götter  und 
von  ihren  Kämpfen!  Kein  anderer  Name  als  der  Jahves  wird  genannt. 
Eine  höhere  und  reinere  Religion  hat  die  Geschichten  von  Grund  aus 
verändert  und  sie  mit  neuen  und  tieferen  Gedanken  erfüllt.  Es  ist  ein 
wahres  Wunderwerk,  das  Israel  so  vollbracht  hat;  und  vielleicht  darf  man 
sagen,  daß  diese  Geschichten  es  sind,  die  in  ihrer  eigentümlichen  Ver- 
bindung von  Gedankenhoheit  und  kindlicher  Form  unter  allen  Stücken 
der  Bibel  den  stärksten  Einfliiß  auf  alle  Bibelvölker  ausgeübt  haben. 

Eine    erstaunliche    Fülle    mythischen    Stoffes    aber    ist    uns    bei    den  Mythisches  bei 

Dichtem. 

hebräischen  Dichtem  aus  allen  Zeiten  überliefert;  haben  doch  die  Dichter 
aller  Völker  stets  die  altererbten,  herrlichen  Mythen  geliebt.  Und  was 
für  ein  dankbarer  Stoff  sind  diese  altorientalischen  Mythen  mit  ihren 
brennenden  Farben  und  ihrer  gewaltigen  Leidenschaft!  Ja,  selbst  Pro- 
pheten haben  trotz  ihres  entschiedenen  Monotheismus,  wenn  sie  nur  ein 
Dichterherz  im  Leibe  hatten,  die  heidnischen  Stoffe  nicht  verschmäht! 
So  ist  denn  die  poetische  Sprache  im  Hebräischen  des  Mythischen  über- 
voll: da  wird  das  Totenreich  unter  der  Erde  einem  grimmigen  Ungetüm 
verglichen,  das  den  Rachen  aufsperrt  ohn'  Maßen  (Jes.  5,  14),  oder  einer 
gewaltigen  Festung  mit  unzerbrechlichen  Toren  und  Riegeln  (Jes.  38,  10; 
Jonas  2,  7);  oder  das  hebräische  Klagelied  beschreibt  die  Hadesfahrt  des 
Toten,  der  zu  den  Wassern  der  Unterwelt  hinabmuß,  wie  man  in  heid- 
nischen Mythen  etwa  von  Istars  Höllenfahrt  sprechen  mag.  Die  hebräische 
Kosmologie  ist  nie  ganz  aus  dem  Mythischen  herausgekommen:  sie  redet 
z.  B.  von  Jahves  „Obergemach",  dem  Himmel,  wo  sein  Thron  auf  den 
himmlischen  Wassern  steht,  von  seinem  Sturmrosse,  von  seiner  Donner- 
stimme und  von  den  Blitzen  als  seinen  Pfeilen.  Mythische  Reminiszenz  ist 
es  auch,  wenn  die  Feminina  tebel  (Fruchterde),  t^hom  (Urmeer,  unterirdisches 
Meer),  s^'ol  (Totenreich)  stets  ohne  Artikel,  also  wie  Eigennamen  ge- 
braucht werden;  ursprünglich  sind  diese  Wesen  einmal  Göttinnen  ge- 
wesen. 

x\ußer  solchem,  mehr  oder  weniger  verschollenen  mythischen  Gut 
aber  sind  auch  ausführlichere  Anspielungen  an  Mythen,  die  als  bekannt 
vorausgesetzt  werden,  auf  uns  gekommen.  So  hören  wir  von  Helal,  Sahars 
Sohn  (wohl  dem  Morgenstern),  der  auf  den  Wolken  zum  Himmel  empor 
wollte  und  hoch  über  die  Gottessteme  erheben  den  Thron,  aber  zur 
Unterwelt  hinab  mußte,  in  den  tiefsten  Schlund  (Jes.  14,12 — 15).  Besonders 
besitzen  wir  eine  ganze  Reihe  poetischer  Varianten  der  Schöpfimgserzäh- 


5=^ 


68  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

lung-,  wonach  Jahve  vor  der  Schöpfung  mit  einem  Wasserungeheuer 
gekämpft  hat,  das  vor  ihm  die  Welt  beherrscht  hatte  (Jes.  51,  9  f.; 
Ps.  89,  10  if.).  In  einigen  dieser  Varianten  ist  das  Mythologische  stärker 
ausgemerzt:  da  sind  es  nur  noch  Wasser,  die  Jahves  Donnerhall  ver- 
scheucht hat  (Ps.  104,  5 — 9).  Dieser  Mythus  erinnert  lebhaft  an  die  baby- 
lonische ]\larduk-Tiämat- Geschichte;  doch  mag-  auch  Ägyptisches  und 
anderes  mit  eingeflossen  sein.  Einige  Stellen  spielen  an  den  Mythus 
vom  Gottesbaume .  an,  der,  aus  der  T*^hom  entsprossen,  bis  zu  den  Wolken 
seine  Zweige  streckte,  aber  abgehauen  ward,  daß  seine  Äste  in  alle  Täler 
fielen  (Ez.  31).  Der  Wurzelstock  des  Baumes  aber  bleibt,  in  ehernen 
Fesseln  gebunden,  im  Boden  fest  (Dan.  4).  Das  ist  ursprünglich  der  Baum 
der  Nacht,  der  die  ganze  Welt  überschattet,  an  jedem  Morgen  von  Götter- 
hand abgehauen  wird  und  doch  unaustilg^bar  ist:  seine  Wurzel  bleibt.  Der 
beliebteste  mjlhische  Stoff  aber  bei  hebräischen  Dichtern  ist  die  Be- 
schreibung, wie  Jahve  sich  mit  den  Schrecknissen  des  Vulkans,  des  Erd- 
bebens, Sturmes  und  Gewitters  aufmacht,  zum  Krieg  g"egen  seinen  Feind. 
Diese  Erzählung  ist  ursprünglich  am  Sinai  lokalisiert  gewesen. 
Mythisches  bei  Bei  den  Propheten  finden  wir  Mythisches  besonders  an   zwei  Stellen: 

den  Propheten.  ..  •        -i  -it-    •  -11  t>v  1  r~»  1  •     n         •  /— 

zunächst,  wo  sie  ihre  Visionen  erzählen.  Denn  der  Prophet  sieht  im  Ge- 
sichte den  Himmel  und  das  Göttliche  in  derjenigen  Gestalt,  die  es  in 
der  religiösen  Phantasie  des  Volkes  besitzt;  hier  also  öffnet  sich  eine 
Hintertür,  wo  sich,  dem  Propheten  unbewußt,  Mythisches  einschleicht.  So 
redet  Jesaias  von  den  Saraphen,  furchtbaren  Ungeheuern,  die  Jahves 
Thron  umgeben  (Jes.  6),  und  Ezechiel  von  dem  wunderbaren  Thronwagen, 
auf  dem  Jahve,  von  Keruben  getragen,  sitzt  und  fährt  (Ez.  i);  ganz  erfüllt 
aber  sind  von  Mythischem  die  Nachtgesichte  des  Sacharia  und  die  Visionen 
Daniels.  —  Bei  weitem  bedeutsamer  aber  ist,  daß  die  Eschatologie  der 
Propheten,  namentlich  da,  wo  sie  die  zukünftigen  Schicksale  der  Welt 
darstellt,  sehr  vielfach  mythologisches  Gut  mitführt:  Mythen  der  Urzeit 
haben  die  Farben  hergegeben,  um  die  Endzeit  auszumalen.  So  weissagen 
die  Propheten  von  einem  neuen  „Chaos"  und  dann  von  einem  „neuen 
Himmel"  und  einer  „neuen  Erde".  Ungeheure  Katastrophen  werden  über 
die  Erde  kommen,  eine  neue  Sintflut,  ein  Weltensturm;  die  Berge  stürzen 
nieder,  die  Erde  kracht  auseinander,  die  Sonne  erlischt,  die  Sterne  fallen, 
die  Nacht  bricht  herein.  Aber  dann  kommt  eine  neue  Schöpfung,  ein 
neuer  Tag;  ein  zweites  goldenes  Zeitalter  beginnt  und  Frieden  ist  überall. 
Das  göttliche  Kind  wird  geboren;  in  den  Hades  leuchtet  ein  helles  Licht. 
Der  Götterberg  erscheint  den  Blicken,  und  auf  ihm  ragt  die  heilige  Stadt, 
von  der  große  Ströme  ins  Land  gehen.  Alles  dieses  und  noch  vieles 
andere  in  der  prophetischen  Eschatologie  ist  offenkundig  mythischen  Ur- 
sprunges; freilich  sind  uns  auch  hier,  wenigstens  bei  den  Propheten  im 
Unterschiede  von  der  späteren  Apokalyptik,  nur  abgerissene  Bruchstücke 
mythischer  Traditionen  überliefert, 
gebkite^sagen'  Dazu  kommen  schließlich  noch  die  mancherlei  mythischen  Stoffe,   die 


I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller  (bis  ca.  750).      6q 

uns,  ZU  Sagen  heruntergedrückt,  vorliegen.  So  ist  die  Sage  von  Jonas' 
Aufenthalt  im  Bauche  des  Fisches  ursprünglich  wohl  ein  Mythus  vom 
Sonnengott,  der  am  Abend  oder  im  Winter  vom  Meeresungetüm  ver- 
schlungen wird.  An  Mythisches  erinnert  auch  Einzelnes  in  der  Simson- 
erzählung-,  die  Erzählung  von  Elias'  Himmelfahrt  und  besonders  die  in 
späterer  Zeit  ins  Judentum  eingedrungene  Geschichte  von  Ester,  deren 
Name  nichts  anderes  als  Istar  ist,  während  Mardochaj  von  Marduk  her- 
kommt, u.  a.  m. 

Alles  zusammengenommen  also,  ein  unerwartet  reichhaltiges  mythi- 
sches Material:  Denkmal  des  Kampfes,  den  Israel  gegen  den  Polytheis- 
mus hat  kämpfen  müssen. 

5.  Die  Sage.  Während  uns  der  Mythus  so  nur  in  Bruchstücken  Die  sage, 
überliefert  ist,  hat  sich  die  Sage  in  Israel  um  so  reicher  entwickelt.  Und 
diese  Sagen  g^ehören  zu  den  schönsten,  erhabensten  und  anmutigsten,  die 
es  überhaupt  in  der  Weltliteratur  gibt;  sie  sind  es,  um  deretwillen  die 
Kinder  und  die  Künstler  das  Alte  Testament  von  jeher  geliebt  haben. 
In  dem  umfangreichen  Material  müssen  drei  Gruppen  unterschieden 
werden;  die  Ursagen,  die  wir  schon  behandelt  haben,  und  die,  wie  wir 
gesehen  haben,  abgeblaßte  Mythen  sind;  sodann  die  Vätersagen  im 
zweiten  Teil  der  Genesis,  die  von  den  Ahnherren  Israels  handeln,  schließ- 
lich die  Sagen  der  folgenden  „historischen"  Bücher,  die  von  einzelnen 
Volkshelden  erzählen. 

In  den  Vätersagen  ist  die  Grundanschauung,  daß  Israel  wie  alle  Vätersagen. 
anderen  Völker  von  je  einer  Familie  herkomme,  die  sich  immer  mehr 
ausgebreitet  habe,  so  daß  man  imstande  sei,  die  Namen  der  Ahnherren 
zu  nennen  und  von  ihnen  Geschichten  zu  erzählen.  Es  ist  hier  nicht 
der  Ort,  zu  untersuchen,  wie  diese  uns  sonderbar  erscheinende  Theorie 
entstanden  sei;  genug,  daß  sie  in  Israel  so  festgewurzelt  war,  daß 
sie  schon  durch  die  Sprache  vertreten  wurde:  man  sprach  von  „Söhnen 
Israels".  —  Nicht  selten  vermögen  wir  Motive  dieser  Vätersagen  in  ihrem  Herkunft  einiger 
ursprünglichen  Sinne  zu  verstehen.  So  beobachten  wir,  daß  darin  Völker- 
verhältnisse im  Bilde  der  Familiengeschichte  geschildert  werden:  die 
zwölf  Söhne  Jakobs  stellen  die  zwölf  Stämme  Israels  dar,  und  die  Ver- 
wandtschaft Israels  mit  Ammon  und  Moab  ist  gemeint,  wenn  Lot,  Ammons 
„Vater",  der  „Neffe"  Abrahams  genannt  wird.  Oder  Ereignisse  der  alten 
Zeit  kehren  in  solcher  Form  wieder:  so  berichten  einige  Sagen  von 
Wanderungen  von  Mesopotamien  nach  Kanaan;  in  der  Tamargeschichte 
(Gen.  38)  hören  wir  von  dem  Geschick  der  ältesten  Geschlechter 
Judas,  in  der  Sichemsage  (Gen.  34)  von  einem  Überfall  auf  die  Stadt 
Sichem  und  vom  Untergang  der  Stämme  Simeon  und  Levi.  Dabei 
sind  die  Völkertypen  oft  wunderbar  treu  aufgefaßt  und  lebensvoll 
geschildert,  z.  B.  wenn  die  Sage  den  klugen  Hirten  Jakob  und  den  in 
den  Tag  hineinlebenden  Jäger  Esau  einander  gegenüberstellt.  —  Dazu 
kommen    allerlei    „ätiologische"    Motive.      Es    gibt    eine    Menge    von 


•jQ  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

Fragen,  die  ein  antikes  Volk  aufwirft,  und  die  es  sich,  so  gut  es  kann, 
selbst  beantwortet,  indem  es  eine  kleine  Geschichte  erfindet.  Die  Fragen, 
die  so  eine  naive  Antwort  erhalten,  sind  dieselben,  die  auch  unsere 
Wissenschaften  beschäftigen,  und  wenn  wir  nun  auch  freilich  über  diese 
antiken  Antworten  längst  herausgewachsen  sind,  so  verehren  wir  sie  doch; 
denn  in  ihnen  hat  das  alte  Israel  sein  Herz  ausgesprochen,  und  es  hat  sie 
mit  dem  bunten  Kleide  seiner  Phantasie  ausgestattet.  Solche  Fragen,  die 
in  den  Sagen  beantwortet  werden,  sind  a)  ethnologische.  Warum  muß 
Kanaan  seinen  Brüdern  dienen?  Die  Sage  erzählt,  wie  er  dazu  verflucht 
ward  (Gen.  g,  20  ff.).  Warum  ist  Ismael  ein  Wüstenvolk  geworden?  Man 
weiß,  wie  er  schon  als  Kind  aus  seines  Vaters  Hause  in  die  Wüste  ge- 
kommen ist  (Gen.  16;  21,  8  ff.).  Warum  besitzen  wir,  Israel,  dies  schöne 
Land  Kanaan?  Die  Sage  berichtet,  wie  es  von  Jahve  den  Vätern 
verheißen  ward,  b)  Dazu  die  etymologischen  Motive,  Anfänge  der 
Sprachwissenschaft,  in  Israel,  das  auf  den  Klang  der  Worte  zu  lauschen 
gewohnt  war  und  dessen  Schriften  voll  von  Wortspielen  sind,  besonders 
beliebt.  Und  so  erklärt  die  Sage  in  aller  Harmlosigkeit,  daß  Babel  „Ver- 
wirrung" heiße,  weil  Gott  dort  die  Sprache  verwirrt  habe  (Gen.  11,9),  und 
Jakob  „Fersenhalter",  weil  er  bei  seiner  Geburt  eifersüchtig  den  Bruder 
an  der  Ferse  gehalten  habe  (Gen.  25,  26).  Bekannt  ist  die  geistreiche, 
aber  natürlich  in  keiner  Weise  „authentische"  Interpretation  des  Jahve- 
namens,  wonach  er  „Ich  bin,  —  der  ich  bin",  d.  h.  wohl  der  Namenlose, 
Undeutbare,  bedeutet;  diese  Erklärung  ist  zu  einer  Zeit  entstanden,  die 
es  mit  dem  Respekt  vor  Jahve  unvereinbar  fand,  daß  der  Gott  einen 
Namen  trage,  durch  den  man  ihn  hätte  beherrschen  oder  beschwören 
können,  c)  Ferner  geologische  Motive,  w^odurch  die  auffallende  Gestalt 
einer  Örtlichkeit  erklärt  werden  soll:  das  Tote  Meer  war  vormals  eine 
lachende  Landschaft,  die  aber  von  Jahve  mit  Schwefel  und  Feuer  ver- 
wüstet worden  ist.  d)  Schließlich  die  „Kultussagen",  die  den  Zweck 
haben,  die  Ordnungen  des  Gottesdienstes  verständlich  zu  machen.  So 
antwortet  die  Schöpfungserzählung  auch  auf  die  Frage,  warum  wir  den 
Sabbat  feiern;  imd  die  Erzählung  vom  Auszug  aus  Ägypten  soll  unter 
anderem  das  Passafest  motivieren.  Besonders  häufig  fragt  die  Sage,  wo- 
her die  Heiligkeit  der  heiligen  Stätten  rühre,  und  antwortet,  indem  sie 
erzählt,  daß  Jahve  hier  den  Urvätern  erschienen  sei.  —  Mit  alledem 
aber  haben  wir  in  vielen  Fällen  nur  einzelne  Züge  der  Sagen  und 
noch  nicht  den  Ursprung  der  Sagen  selber  erklärt.  Nicht  selten  ergibt 
sich,  daß  diejenigen  Motive,  die  wir  verstehen  können,  in  den  Sagen 
sekundär  sind,  während  diese  selbst  alles  Eindringens  spotten.  Daran 
zeigt  sich  ihr  hohes  Alter,  wie  denn  auch  die  Gestalten  der  Patri- 
archen Abraham,  Isaak,  Jakob  u.  a.  bisher  unerklärt  sind.  Einige  Spuren 
könnten  darauf  führen,  daß  auch  diese  Sagen  depotenzierte  Mythen  sind. 
Aber  auch  diese  Annahme  bewährt  sich  als  Generalschlüssel  für  die 
Sagen  keineswegs. 


I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller  (bis  ca.  750).       7  i 

Vielfach  sind  wir  imstande,  eine  ganze  Geschichte  des  Sagen- Geschichte  des 
Stoffes  zu  schreiben.  Wir  können  zeigen  oder  wenigstens  vermuten,  wie  *^*'""*'  '''' 
er  z.  T.  aus  der  Fremde  gekommen  ist,  wie  die  Sagen  an  bestimmten 
Orten  gesessen  haben  oder  von  einem  zum  andern  gewandert  sind,  wie 
sie  von  einer  Figur  auf  die  andere  übertragen  wurden,  wie  verschiedene 
Sagengestalten  zusammenwuchsen,  z.  B.  Noah,  der  Held  der  Sintflut,  und 
Noah,  der  erste  Weinbauer,  und  wie  die  Sagen  dann  den  religiösen  und 
sittlichen  Wandlungen  des  Volkes  langsam  nachfolgten  und  immer  mehr 
verfeinert  wurden. 

Auch   eine   Geschichte    des   Stils   läßt   sich    erkennen:    die   ältesten  Geschichte  des 

^  3. 0'"ft  n  s  fci  I  s 

Sagen  sind  außerordentlich  kurz  und  stehen  jede  für  sich  fast  ganz  selb- 
ständig, während  der  spätere  Stil  es  liebt,  die  Erzählungen  durch  allerlei 
Mittel  in  die  Länge  zu  ziehen  und  mehrere  solcher  Sagten  zu  einer  künst- 
lerischen Einheit  zu  verweben.  Beispiel  für  den  ausführlicheren  Stil  ist 
vor  allem  die  Josepherzählung,  die  wir  mit  gutem  Grund  eine  „Novelle" 
nennen  können. 

Außer    den   Vätern    der  Urzeit  hat  Israel  noch   eine   Menge    anderer    Historische 

_,  .  Sagen. 

Personen  in  Sagen  verherrlicht:  das  sind  Heroen  wie  der  gewaltige  Ahn- 
herr der  Gottesmänner  Moses,  Führer  des  Volkes  w^e  Josua  und  Gideon, 
Recken  wie  Simson,  Vorsteher  der  großen  Priestergeschlechter  wie  Eli, 
Seher  wie  Samuel,  dann  die  glänzendsten  Könige  wie  David  und  Salomo, 
später  die  düsteren  Gestalten  der  Propheten,  unter  ihnen  der  gigantische 
Elias.  Diese  Sagengestalten  sind  also  zumeist  öffentliche  Personen,  ent- 
sprechend dem  starken  politischen  Interesse  des  alten  Volkes.  Manchmal 
versteht  es  die  Sage  wunderbar,  das  Charakteristische  der  historischen 
Figur  zu  treffen.  Aber  oft  verfärbt  sie  die  Geschichte  auch,  vertieft  die 
typischen  und  idealen  Züge  und  entfernt  die  störenden,  macht  die  heroi- 
schen Figuren  noch  gewaltiger  und  die  Konflikte  noch  größer.  Auf  das 
Haupt  ihrer  Lieblinge  häuft  sie  alle  Ehrenprädikate  und  erzählt  von  ihnen 
aufs  neue  ältere  Geschichten,  die  man  sich  einst  von  anderen  erzählt  hat. 
Besonders  liebt  sie  das  Wunderbare:  in  der  hebräischen  Sage  öffnet  eine 
Eselin  ihren  Mund,  schwimmt  Eisen  auf  dem  Wasser  und  bleiben  selbst 
Mond  und  Sonne  stehen,  damit  der  Schlachttag  länger  werde.  Bezeich- 
nend für  antike  Volksart  ist,  daß  sie  für  das  Sachliche,  Allgemeine  keinen 
Sinn  hat;  daher  sucht  die  Sage  ihre  Helden  mit  Vorliebe  in  ihrem  Privat- 
leben auf.  Den  großen  Staatsmann  Samuel  und  seine  politischen  Ideen 
versteht  sie  nicht,  sondern  verwandelt  ihn  in  einen  Seher,  der  alle  mög- 
lichen Kleinigkeiten  in  weiter  Ferne  zu  sehen  vermag;  und  der  gewaltige 
Saul  wird  ihr  ein  Jüngling,  der  seines  Vaters  Eselinnen  zu  suchen  ging 
(I.  Sam.  9).  Dabei  hat  Israel,  zumal  in  späterer  Zeit,  eine  große  Vorliebe 
für  das  Idyll;  es  stellt  sich  gern  die  großen  Heroen  als  Kinder  vor  und 
erzählt  von  den  Schicksalen,  die  sie  in  frühester  Jugend  bestehen  mußten. 
Überall  aber  ist  die  hebräische  Sage  gefüllt  von  religiösen  und  sittlichen 
Gedanken,    die    ihr    einen    unvergänglichen  Wert    geben.      Im    Laufe    der 


72 


Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 


Entwicklung"    hat   man   schließlich   auch    begonnen,   von  Privatpersonen  zu 
erzählen:  von  dem  geduldigen  Hiob  und  der  getreuen  Ruth, 
Kunst  der  Die  Kuust   der  Erzählung  steht  in   diesen  Sagen  Israels   auf  einer 

bewTinderungswürdigen  Höhe,  weshalb  wir  auch  anzunehmen  haben,  daß 
diese  Erzählungen  in  ihrer  gegenwärtigen  Form  nicht  vom  Volke  selbst, 
sondern  von  einem  Stande  von  Volkserzählern  ausgebildet  worden  sind. 
Zwar  vermeidet  diese  hebräische  Erzählung  allen  äußeren  Schmuck:  sie 
redet  in  prosaischer  Sprache,  sie  braucht  kein  Bild,  keine  Metapher, 
keinen  poetischen  Ausdruck;  aber  gerade  in  dieser  Schlichtheit  ist  sie  so 
anmutig.  Auch  verstehen  es  diese  Sagenerzähler  nicht,  das  Seelenleben 
der  Helden  ausdrücklich  darzustellen;  sie  haben  nicht  den  modernen  Ein- 
druck, daß  das  bewegte  Innenleben  des  Menschen  der  würdigste  Gegen- 
stand der  Kunst  sei,  sondern  sie  schildern  interessante  Handlungen, 
Anschaubares. 

Dies  ist  wohl  ihre  Schranke,  aber  zugleich  auch  ihre  ganz  besondere 
Kraft;  denn  wo  in  der  ganzen  Welt  hätte  es  wieder  Erzählungen  gegeben 
von  solcher  Anschaulichkeit,  Farben  von  solcher  Leuchtkraft!  Wie  haben 
es  diese  einfachen  Künstler  verstanden,  menschliche  Seelenzustände,  auch 
die  allerintimsten,  in  Handlungen  umzusetzen!  Mit  welcher  Energie  haben 
sie  der  Handlung  wegen  alles  übrige  zurückgedrängt!  Sie  verschmähen 
es,  Nebenpersonen  zu  charakterisieren  oder  Nebenwege  der  Handlung 
einzuschlagen  und  haben  stets  nur  die  Haupthandlung  vor  Augen.  Auch 
das  ist  bemerkenswert,  daß  die  Reflexion  über  das  Erzählte  in  diesen 
Sagen  fast  völlig  fehlt;  zwar  stellen  sie  häufig  Ideen  dar,  aber  alles  Ten- 
denziöse liegt  ihnen  ganz  fern.  Auch  Schilderungen  der  Szenerie  fehlen; 
dafür  sind  die  Sagen  viel  zu  einfach;  hier  gibt  es  keine  eigentümlichen 
Nuancen,  keine  sonderbaren  Beleuchtungen,  keine  gebrochenen  Farben, 
sondern  alles  vollzieht  sich  gewissermaßen  unter  demselben  klaren  Sonnen- 
schein. 
Niederschrift  Die  Erzählungen  stammen  sämtlich  aus  der  mündlichen  Tradition,   in 

der  Sagen. 

der  jede  Geschichte  für  sich  erzählt  wurde;  daher  noch  jetzt  die  scharfen 
Absätze  zwischen  den  einzelnen  Erzählungen.  Am  Ende  dieser  Epoche 
hat  man  dann  begonnen,  sie  niederzuschreiben.  Diese  Niederschrift  ist 
nicht  auf  einmal,  sondern  zu  mehreren  Malen  erfolgt  und  mag  jahrhun- 
dertelang gedauert  haben.  Im  Pentateuch  unterscheiden  wir  zwei  Samm- 
lungen aus  dieser  Zeit,  die  beide  wieder  auf  frühere  Sammlungen  zurück- 
gehen und  mancherlei  Schicksale  erfahren  haben;  wir  nennen  sie  den 
„Jahvisten"  (J)  und  den  „Elohisten"  (E);  die  Namen  rühren  daher,  daß  der 
erstere  in  der  Genesis  die  Gottheit  „Jahve",  der  zweite  „Elohim"  nennt. 
Der  erstere  mag  aus  dem  9.,  der  zweite  aus  dem  8.  Jahrhundert  stammen. 
Diese  Sammler  sind  zu  denken  als  treue,  fromme  Männer,  voller  ehr- 
fürchtiger Liebe  zu  den  alten  schönen  Erzählungen  ihres  Volkes,  die 
letzten  unter  ihnen  schon  nicht  mehr  ganz  unberührt  von  prophetischem 
Geiste.     Das  Werk,    das    sie   zustande   gebracht  haben,  hie   und   da  strei- 


I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller  (bis  ca.  750).       7  2 

chend  oder  leise  ändernd,  ein  andermal  hinzufügend,  im  ganzen  doch  treu 
bewahrend,  hat  an  Tiefe  der  Gedanken  und  schlichter,  poetischer  Form 
in  den  Literaturen  anderer  antiker  Völker  nicht  seinesgleichen.  Als  Grund- 
gedanken des  Ganzen   mag  man  bezeichnen:  die  Erwählung  Israels. 

6.  Auch  Reste  des  Märchens  und  der  Fabel  sind  erhalten.    Daß  es  Märchen  und 
nur  Reste    sind,    kann    bei    dem    Charakter   des    Alten   Testamentes    nicht 
seltsam  erscheinen.    Wir  würden  gewiß  von  diesem  ganzen  Stoff  gar  nichts 
besitzen,  wenn  nicht  diese  Gattungen  gelegentlich  benutzt  worden  wären, 

um  politische  und  besonders  religiöse  Gedanken  auszusprechen.  So  spielt 
Arnos  (5,  ig),  um  das  unentrinnbare  Verderben  des  schrecklichen  Jahve- 
tages  zu  schildern,  an  das  Märchen  von  dem  Unglücksmenschen  an,  der 
dem  Löwen  und  Bären  noch  glücklich  entging,  aber  im  sicheren  Hause  an- 
gekommen, von  der  Schlange  gebissen  ward.  Und  Ezechiel,  w^enn  er  Jahves 
Gnade  und  Jerusalems  Undankbarkeit  schildern  will  (16),  greift  zu  der  hoch- 
romantischen, auch  dem  deutschen  Volke  wohlbekannten  Geschichte  von  dem 
Mädchen,  das  in  seiner  Kindheit  ausgesetzt,  nackt  und  bloß  heranwuchs,  bis 
der  König  sie  fand  und  zur  Königin  machte,  das  dann  aber  der  Untreue 
beschuldigt  ward.  Ein  Märchen  ist  in  ihrer  gegenwärtigen  Form  auch  die 
Jonaserzählung  zu  nennen,  in  der  auch  die  Tiere  bei  Landestrauer  mit 
fasten  und  Sack  anziehen  müssen.  Das  antike  Volk  gibt  auch  Tieren  und 
Pflanzen  ein  persönliches  Leben  und  schildert  sie  mit  den  Menschen  auf 
gleicher  Stufe:  es  erzählt  von  den  Bäumen,  die  hingingen,  einen  König 
zu  wählen  und  schließlich  auf  den  Dornbusch  verfielen,  —  die  Geschichte 
ist  verwandt  worden,  um  das  Königtum  als  unnütz,  ja  schädlich  zu  ver- 
spotten (Jud.  9,  5  ff.)  — ,  oder  wie  der  Dornbusch  in  seiner  Frechheit  die 
Tochter  der  Libanonzeder  zur  Schwiegertochter  begehrte  (II.  Reg,  14,  gff.), 
oder  wie  ein  Mann  seinen  undankbaren  Weinberg  vor  dem  Richter  ver- 
klagte (Jes.  5,  I  ff.).  Wie  es  der  Hebräer  versteht,  solche  Geschichten  zur 
Einkleidung  von  Ideen  zu  verwenden,  zeigt  vor  allem  die  rührende  Nathan- 
parabel (II.  Sam.  12,  I  ff.)  von  dem  hartherzigen  Reichen,  der  dem  Armen 
sein  einziges  Schäfchen  nahm. 

7.  Die  Geschichtserzählung.    Musterbeispiele  davon  sind  die  Ge-    GescWchts- 

^  °  erzHhlung. 

schichten  von  Sauls  Philistersieg  (I.  Sam.  13  f.),  von  Davids  Anfängen  als 
König  (11.  Sam.  i — 5),  besonders  von  Absaloms  Aufstand  (IL Sam.  13 — 20)  u.a. 
Die  „Tagebücher  der  Könige  Israels  und  Judas",  auf  die  sich  die  Historiker 
Israels  zuweilen  berufen,  sind  kein  eigentliches  Geschichtswerk,  sondern 
eine  Regestensammlung:  wir  wissen,  daß  man  offizielle  Journale,  woraus 
dies  Buch  ein  Auszug  sein  mag,  an  den  Höfen  des  alten  Orients  führte. 
Alteste  Geschichtschreibung  behandelt  fast  ausschließlich  politische 
Gegenstände,  die  Erlebnisse  des  Volkes  und  der  Könige,  besonders  die 
Kriege.  An  den  politischen  Ereignissen  haben  die  Menschen  zuerst  gelernt, 
daß  es  überhaupt  eine  Geschichte  gibt.  Dies  also  der  charakteristische 
Unterschied  der  Geschichtserzählung  von  der  Sage.  Nur  die  Begeben- 
heiten im  Gotteshause  hat  man  noch  für  würdig  gehalten,  dem  Gedächtnis 


jM  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

aufzubewahren:  einige  unserer  historischen  Berichte  stammen  aus  einer 
Tempelchronik  von  Jerusalem  (so  II.  Reg.  12,  5fF.;  22  f.),  wie  es  denn  auch 
sonst  im  Orient  solche  Tempelchroniken  gegeben  haben  wird.  —  Die  antike 
hebräische  Geschichtschreibung  besitzt  die  Vorzüge  der  Sagenerzählung: 
die  Berichterstatter  verstehen  es  ausgezeichnet,  zu  fabulieren,  Situationen 
lebensvoll  auszumalen.  Gestalten  zu  zeichnen;  sie  haben  offenkundig  ihre 
Freude  an  dem  bunten  Getriebe  dieser  Erde.  Aber  gleich  jenen  besitzen 
auch  sie  nicht  die  Kraft  der  Reflexion:  Ursache  und  Wirkung  stellen  sie 
höchstens  durch  die  Anordnung  der  Tatsachen  dar.  Der  Sagendichtung 
sind  sie  auch  darin  verwandt,  daß  sie  die  kleinen  Züge,  die  der  Erzählung 
Leben  und  Farbe  geben,  besonders  lieben,  wobei  manches  mit  unterläuft, 
was  der  Moderne  als  nicht  wichtig  genug  oder  als  nicht  genügend  beglaubigt 
verschmähen  würde.  Über  Gott  und  göttliche  Dinge  redet  der  Geschichts- 
erzähler sehr  zurückhaltend,  von  Wundem  weiß  er  nichts,  ganz  anders  als 
die  Sage  in  ihrer  Naivität.  Alles  in  allem  eine  höchst  anerkennenswerte 
historische  Kunst,  der  die  Bab3-lonier  und  Äg}^pter,  soweit  wir  bisher 
wissen,  nichts  Ebenbürtiges  an  die  Seite  zu  setzen  haben,  und  die  dann 
erst  von  den  Griechen  übertroffen  worden  ist. 

Im  Leben  des  antiken  Israels  werden  Sage  und  Geschichte  verschie- 
denen Sitz  gehabt  haben:  die  Sage  in  der  mündlichen  Überlieferung  der 
Volkserzähler,  die  Geschichte  für  einen  besonderen  Kreis  der  Lesenden 
als  Buch  niedergeschrieben.  Diese  Historiker  werden  sich  selbst  von  den 
volkstümlichen  Erzählern  stark  unterschieden  und  als  Gebildete,  als  besser 
Wissende  beurteilt  haben.  Doch  gibt  es,  wie  es  in  der  Natur  der  Sache 
liegt,  auch  viele  Zwischenglieder  zwischen  beiden  Gattungen.  Leider 
ist  uns  von  den  Geschichtsbüchern  der  alten  Zeit  keines  rein  überliefert 
worden,  sondern  die  Späteren,  die  unsere  „historischen  Bücher"  sammelten, 
haben  nur  Bruchstücke  der  alten  Historie  gebrauchen  können  und  un- 
mittelbar daneben  volkstümliche  Sagen  oder  ganz  späte  legendarische  Er- 
zeugnisse gestellt:  ein  ewig  zu  beklagendes  Mißgeschick. 
Die  Tora.  8.    Die   Tora    und    der  Rechtsspruch    haben   in   der   ältesten  Zeit 

eine  verhältnismäßig  geringe  Bedeutung.  Über  den  Sitz  der  Tora  im 
Leben  sind  wir  gut  unterrichtet:  Tora  lehrt  der  Priester.  Es  gab  seit 
jeher  Priestergeschlechter  in  Israel,  die  vorzeiten  eine  gewisse  Führung 
im  Volke  besessen  hatten,  dann  durch  das  Königtum  herabgedrückt  waren 
und  später,  nach  dem  Untergang  des  Staates,  wieder  emporkamen.  In 
diesen  Kjeisen  wird  eine  heilige  Überlieferung  gepflegt,  die  zunächst 
über  die  gottesdienstlichen  Bräuche  handelte;  der  Priester  weiß,  was 
heilig  und  profan,  was  rein  und  unrein  ist,  und  erteilt  in  schwierigen 
Fällen  dem  Laien  auf  Befragen  darüber  Bescheid.  Auch  in  Rechtsfragen 
kann  man  den  Priester  anrufen;  traut  man  ihm  doch  als  dem  bevorzugten 
Diener  der  Gottheit  und  dem  Handhaber  des  Priesterorakels  ein  über- 
natürliches Wissen  zu.  So  bestand  an  den  Heiligtümern  ein  Asyl,  wo  der 
Totschläger,    aber   nicht    der  Mörder   vor   der  Rache    des   Bluträchers  be- 


I.  Die  volkstümliche  Literatur  bis  zum  Auftreten  der  großen  Schriftsteller  (bis  ca.  750).       7  = 

schützt  ward.  Mit  dem  Kultischen  aber  und  dem  RechtUchen  ist  auch 
das  Sitthche  aufs  engste  verbunden.  Diese  heilige  Überlieferung,  die  als 
Familientradition  der  Priester  bestand,  wurde  von  Mose,  dem  Stifter  der 
Religion,  abgeleitet.  Nun  haben  wir  zwar  unter  den  gesetzlichen  Quellen- 
schriften des  Pentateuch  keine  einzige,  die  wir  Mose  zuschreiben  dürften; 
vielmehr  setzen  gerade  die  älteren  unter  ihnen  deutlich  den  Ackerbau 
und  nicht  das  zu  Mosis  Zeit  noch  bestehende  Nomadenleben  als  Israels 
Beruf  voraus.  Dennoch  muß  die  einhellige  Tradition  aller  Jahrhunderte, 
daß  dies  alles  von  Mose  stamme,  einen  Grund  haben.  Wir  werden  daher 
annehmen  dürfen,  daß  Moses  für  die  Tora  in  ältester  Zeit  die  entscheidende 
Person  gewesen  ist;  so  etwa,  wie  wenn  man  in  später  Zukunft  die  ganze 
Gesetzgebung  des  neuen  Deutschen  Reiches  von  dem  großen,  alles  über- 
ragenden Namen  „Bismarck"  ableiten  würde. 

Auch  diese  Gattung  hat  ursprünglich  in  mündlicher  Überlieferung 
bestanden.  Niedergeschrieben  wurden  solche  Toroth  dann  etwa  zuerst  auf 
steinernen  Tafeln  und  so  im  Vorhof  zur  öffentlichen  Kenntnis  aufgestellt, 
wie  denn  die  Sage  von  den  steinernen  Gesetzestafeln  des  Mose  erzählt. 
Aus  der  älteren  Zeit  dürfen  wir  den  sog-.  „Kultusdekalog"  (Ex.  34,  14 — 26) 
herleiten,  der,  wie  der  Name  sagt,  lauter  Kultusgebote  enthält.  Auch  der 
uns  geläufigere  Dekalog  (Ex.  20  =  Dt.  5)  mag  noch  aus  dieser  Zeit 
stammen.  Im  Stil  stimmen  beide  deutlich  überein.  Es  sind  Worte  Jahv es, 
lauter  Gebote,  gerichtet  an  den  israelitischen  Hausvater.  Ganz  kurze 
Sätze  sind  es  ursprünglich,  die  man  leicht  behalten  kann;  später  hat  man 
sie  erweitert  und  noch  allerlei  Ausführungen  und  Motive  hinzugefügt,  und 
so  sind  sie  uns  überliefert.  Zehn  Gebote  sind  zusammengestellt,  zum 
Auswendiglernen  nach  den  zehn  Fingern  der  Hand  ang^eordnet.  Der 
Zweck  der  Dekaloge  ist  es,  die  Hauptvorschriften  der  Religion  kurz  zu- 
sammenzufassen. Ebendarum  ist  es  so  bezeichnend,  daß  der  eine  Dekalog 
nur  kultische  Satzungen  enthält.  Um  so  mehr  sticht  davon  der  andere 
ab,  der  die  großen  Forderungen  der  Religion  und  Sittlichkeit  in  wahr- 
haft lapidarer  Sprache  machtvoll  zusammenfaßt:  ein  Dokument  von  welt- 
geschichtlicher Bedeutung,  das  uns  das  Priestertum  Israels  von  seiner 
edelsten  Seite  zeigt. 

Neben  diesen  religiösen  „Gesetzen"  gibt  es  im  alten  Israel  auch  Der  Müpat. 
Rechtssatzungen  profaner  Art,  die  Mispatim.  Recht  gesprochen  wird 
in  Israel  nicht  nur  vom  Priester,  sondern  zugleich  von  den  „Ältesten"  der 
Geschlechter  und  Stämme,  der  Dörfer  und  Städte,  sowie  vom  König  und 
seinen  Beamten.  Eine  Sammlung  alter  Rechtssprüche  ist  uns  im  Kern 
des  sogenannten  „Bundesbuches"  (Ex.  21 — 22,  16)  überliefert.  Priestertora 
sind  diese  Sprüche  nicht,  denn  in  ihnen  redet  nicht  die  Gottheit;  nur  als 
Ausnahme  hören  wir  hier,  daß  eine  Sache  vor  die  Gottheit,  d.  h.  das  Ge- 
richt des  Priesters  gehöre  {22,  8),  und  nicht  vom  Kultus  ist  hier  die  Rede, 
sondern  vom  Recht.  Auch  der  Stil  dieser  Sprüche  ist  ein  anderer  als 
der  der  Dekaloge:    diese  haben  die  Form  des  kategorischen  Befehls:  „du 


"6  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

sollst",  für  den  Ali^pat  aber  ist  der  bedingte  Satz  charakteristisch:  „wenn 
ein  bestimmter  Fall  eintritt,  so  soll  dies  und  das  geschehen";  das  ist  die 
Fonn,  die  die  Rechtssprüche  auch  in  dem  Gesetzbuche  des  Hammurabi 
haben,  ja  die  ihnen  auch  jetzt  noch  zu  eigen  ist.  Wir  haben  in  diesen 
Sprüchen  also  Volksrecht,  und  zwar,  wie  überall  in  solchen  Fällen,  ko- 
difizierte mündliche  Rechtstradition.  Der  Stil  der  Sprüche  wird  durch 
das  Bestreben  bestimmt,  möglichst  deutlich  und  kurz  zu  sein.  In  der 
mündlichen  Tradition  ist  je  ein  Spruch  auf  einmal  zitiert  worden.  Beim 
Aufschreiben  hat  man  dann,  in  lockerer  Anordnung,  verwandte  Sprüche 
zusammeng^estellt.  Das  ganze  Buch  ist  so  geordnet,  daß  zuerst  vom 
Schutz  des  Lebens,  dann  von  dem  des  Eigentums  geredet  wird.  Später 
sind  dann  noch  „Novellen"  hinzugekommen. 

Am  Schluß  der  Periode  hat  man  begonnen,  Kultus  und  Rechts- 
satzungen zu  einem  Corpus  zusammenzustellen;  so  ist  das  sogenannte 
„Bundesbuch"  (Ex.  21 — 2^,  ig)  zusammengeschrieben  worden. 

Die  jToßen  II.    Die    großeu    Schriftstellerpersönlichkeiten    (ca.   750 — 540). 

Schriftsteller- 

persöniichkeiten.Eme  ueuc  Zeit  für  Politik,  Religion  und  Literatur  beginnt  um  die  Mitte  des 

Assjrer  und  .... 

Chaidäer.  8.  Jahrhunderts,  als  der  gewaltige,  verderbenbringende  assyrische  Militärstaat 
sich  anschickt,  Syrien  und  Palästina  zu  verschlingen.  Die  palästinensische 
Welt,  die  sich  in  den  letzten  Jahrhunderten  vorher  verhältnismäßig  selb- 
ständig entwickelt  hatte,  wird  nunmehr  in  den  Strudel  der  großen  Welt- 
ereignisse gerissen.  Nach  verzweifelten  Anstrengungen  sind  die  Völker 
dieser  Ecke  der  Welt  sämtlich  Assurs  Beute  geworden;  Israel,  der  Nord- 
staat, geht  722  zugrunde.  Die  Assyrer  haben  damals  die  Aristokratie 
deportiert,  die  dann  in  fernem  Lande  ihre  Nationalität  verliert;  das  übrig- 
gebliebene Volk,  dem  seine  Leiter  fehlen  und  dem  durch  Einpflanzung 
fremder  Kolonisten  ein  Pfahl  ins  Fleisch  getrieben  wird,  ist  von  dieser 
Zeit  an  ohne  erkennbare  geschichtliche  Bedeutung.  Das  Südreich  Juda 
aber  bleibt  in  dieser  Epoche  als  assyrischer  Vasallenstaat  bestehen.  So 
kommt  die  Führung,  auch  in  der  Literatur,  auf  Juda:  wir  besitzen  im 
Alten  Testament  nur  judäische  Literatur  oder  solche,  die  Juda  von  Israel 
vor  722  übernommen  hatte.  —  Die  assyrische  Herrschaft  erreicht  ihren 
Höhepunkt  um  670.  Dann  geht  sie  allmählich  zurück  und  bricht  schließ- 
lich in  donnerndem  Fall  zusammen  (606).  In  jener  Zeit  hat  Juda  einige 
Jahrzehnte  der  Freiheit  erlebt;  dann  fällt  es  der  neuen  Weltmacht  der 
Chaldäer  anheim.  Als  es  sich  gegen  diese  empört,  wird  es  in  zwei  furcht- 
baren Schlägen  vernichtet  (597.  586)  und  nach  dem  Muster  assyrischer 
Politik  deportiert.  Aber  diese  Judäer,  in  ihrer  Widerstandskraft  durch  die 
inzwischen  zur  Macht  gelangte  Prophetie  gestärkt,  bewahren  ihre  Natio- 
nalität. So  findet  hier  Volkstum,  Religion  und  Literatur  eine  Fortsetzung. 
—  Ein  Volk,  das  in  so  kurzer  Zeit  —  es  sind  nur  i^g  Jahrhunderte  — 
so  gewaltige  politische  Erschütterungen  erfährt,  muß  im  tiefsten  erregt 
werden.      Durch    wie    manche    Stimmungen    ist   Israel    damals    hindurch- 


II.  Die  großen  Schriftstellerpersönlichkeiten  (ca.  750 — 540).  »77 

g-eg-angen!  Zuerst  das  dumpfe  Raunen;  dann  die  verzehrende  Angst,  als 
die  entsetzliche  Woge  naht;  dann  gewaltsame  Anstrengungen,  sich  zu  ver- 
teidigen: der  patriotische  P^anatismus  flammt  unmittelbar  vor  den  Kata- 
strophen mächtig  empor.  Erbitterte  Parteikämpfe:  eine  assyrische,  später 
eine  chaldäische  und  anderseits  eine  ägf}'ptische  Partei  befehden  sich  heftig. 
Dann  die  entsetzlichen  Schläge,  wo  alle  Klage  verstummt  unter  dem  un- 
sagbaren Elend.  In  Juda  eine  jahrzehntelang  knirschend  getragene  Fremd- 
herrschaft mit  ihrem  schweren  Druck.  Dann  einmal  zwischen  den  beiden 
Weltreichen  eine  Pause,  wo  man  fröhlich  aufjauchzte  im  Gefühl  der  wieder- 
g-ewonnenen  Freiheit.  Schließlich  auch  für  Juda  der  Untergang!  Kein 
Wunder  also,  wenn  die  Literatur  jener  Zeit,  besonders  die  der  Propheten, 
geboren  aus  so  furchtbaren  Konflikten,  im  höchsten  Grade  aufgeregt  und 
leidenschaftlich  ist. 

Für  die  Kulturgeschichte  bedeuten  jene  Weltreiche,  deren  Sitz  im  Finfiuß  babyio- 

.  .  1    •  r/  1  1  nischer  Kultur. 

Osten  ist,  eme  gewaltige  Zunahme  des  babylonischen  Einflusses.  Die 
ostländische  Kultur,  die  Israel  bisher  nur  durch  die  Vermittlung  seiner 
Nachbarn  zugekommen  war,  wirkt  nun  unmittelbar  ein.  Auf  der  Höhe  steht 
dieser  babylonische  Einfluß  zur  Zeit  Manasses,  als  das  assyrische  Reich  bis 
über  Ägypten  herrscht;  damals  hat  der  Staat  Juda,  sicherlich  nicht  anders 
als  die  der  Nachbarschaft,  die  babylonischen  Götter  als  die  Götter  des 
Weltreiches  verehrt.  Wir  glauben  uns  nicht  zu  irren,  wenn  wir  in  der 
Eschatologie,  die  jene  Zeit  beherrschte,  starke  fremde  Elemente  mytho- 
logischer Art  gewahren.  —  Anderseits  gewinnt  Israel  damals,  gerade  durch 
die  Reibung  mit  dem  Fremden,  das  volle  Bewußtsein  seiner  Besonderheit, 
namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Religion.  Der  Israelit  von  echtem,  altem 
Schlage  verteidigt  gegen  den  Einbruch  des  Fremdländischen  seine  Sitte 
und  seinen  Glauben.  Und  diese  patriotische  Bew^egung  kommt  zum  Siege 
unter  König  Josia,  als  sich  beim  Zurückebben  der  assyrischen  Macht 
überall  in  der  Welt,  in  Ägypten,  in  Babylonien  und  in  Juda  nationale 
Restaurationen  bilden. 

Zugleich  ist  diese  Zeit  durch  eine  große  soziale  Gärung  charakte-  Soziale  Nöte, 
risiert.  Die  alten  Verhältnisse  haben  sich  durch  das  Einleben  Israels  in 
die  Kultur  und  durch  die  beständigen  Kriege  gelockert.  Der  Grundbesitz 
ist  in  die  Hände  weniger  Reicher  gekommen;  die  kleinen  Bauern  ver- 
armen. So  treten  sich  zwei  Stände  gegenüber:  die  Reichen,  die  in  allen 
Genüssen  der  Kultur  dahinleben  und  sich  durch  ihr  ausländisches  Gebaren 
von  ihrem  Volk  entfernen;  und  die  Masse  der  Besitzlosen,  die  gegen  die 
Besitzenden  ohnmächtig  die  Faust  ballen.  Die  Gesetzgeber  jener  Zeit  ver- 
suchen, durch  allerlei  humane  Bestimmungen  diese  Nöte  zu  mildern.  In  den 
Schriften  der  Propheten  hören  wir  die  Armen  und  Geringen  gegen  ihre 
Unterdrücker  schreien.  Auch  die  Psalmisten,  die  sich  selbst  die  „Armen" 
nennen,  gehören  diesem  unteren  Stande  an.  Die  Vertreter  der  Weisheits- 
literatur dagegen  werden  wir  in  mittleren  Schichten  der  Bevölkerung  zu 
suchen  haben. 


"S  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

Der  individua-  In  dicser  Zeit   der   tiefsten  Gärung,  wo   der  fremde   Eroberer  an   die 

lismus. 

Tore  pocht  und  das  \  olk,  zitternd  vor  Aufregung,  sich  selbst  zerfleischt, 
geschieht  in  Israel  etwas  ganz  Großes:  das  Individuum  tritt  auf  den 
Plan.  Die  Entstehung  des  Individualismus  ist  nicht  ein  einmaliges,  mit 
einer  Jahreszahl  datierbares  oder  von  der  Wirksamkeit  einer  einzelnen 
Person  herzuleitendes  Ereignis,  sondern  ein  langsamer  Prozeß,  der  sich 
in  allerlei  Gestaltungen  durch  das  ganze  Leben  eines  aufsteigenden 
Volkes  wie  Israel  hinzieht.  Dieser  Prozeß  nimmt  jetzt  akute  Form  an. 
In  diesen  politischen,  sozialen,  religiösen  Parteikämpfen,  die  den  Einzelnen 
zwingen,  Stellung  zu  nehmen,  erhebt  der  Individualismus  sein  Haupt.  Zu- 
erst erstehen  gewaltige  Persönlichkeiten,  von  den  Stürmen  der  Zeit  er- 
faßt, von  Leidenschaften  durchschüttert,  die  in  geheimnisvollen  Stunden 
von  der  Gottheit  berührt  werden  und  so  den  erhabenen  Mut  gewinnen, 
in  überquellenden  Worten  die  in  den  Augen  ihrer  Zeitgenossen  seltsamen 
Gedanken  auszusprechen,  die  sie  im  Innern  vernehmen,  trotzend  einer 
ganzen  Welt!  So  bricht  das  Individuum  durch.  Diesen  Bannerträgern 
aber  folgen  andere  nach.  Auch  der  Dichter  des  Hiob  bekämpft  in  er- 
schütterndem Seelenkampf  das  Fundament  der  religiösen  Überzeugung 
seines  Volkes  als  einen  Wahn,  ja  er  möchte  Gott  selber  vor  den 
Richter  fordern.  Die  Psalmisten  bringen  ihre  persönlichen  Leiden  vor 
Gottes  Angesicht;  und  die  Spruchdichter  stellen  ihre  weisen  Betrach- 
tungen über  das  Leben  des  Einzelnen  an.  So  steht  also  die  Literatur 
jener  Zeit  im  Zeichen  eines  soeben  kraftvoll  entstehenden  religiösen  Indi- 
vidualismus. 
Die  Religion  Dieser  Durchbruch  des  Individuums  aber  erfolgt  auf  dem  Gebiete  der 

jener  Zeit,  " 

Religion.  Die  Religion  Israels  ist  wie  jede  Religion  sehr  konservativ. 
Zuweilen  aber  geht  es  auch  hier  wie  mit  Sturmeswehen.  Da  gerät  das 
harte  Metall  in  feurigen  Fluß  und  wird  dann  für  die  kommenden  Zeiten 
geprägt.  Solche  Werdezeit  der  Religion  ist  jene  Epoche,  da  die  großen 
Die  Unheüs-  schriftstellerischen  Propheten  aufgetreten  sind.  Diese  Propheten, 
unter  denen  für  uns  Amos  der  erste  ist,  verkünden  in  furchtbaren 
Worten  die  kommende  Katastrophe.  Aber  sie  reden  so  entsetzliche  Weis- 
sagung, nicht  sowohl  selber  erschauernd,  sondern  sie  billigen,  ja  sie 
fordern  dies  künftige  Unheil  für  ihr  eigenes  Volk.  Ihr  Gewissen  ver- 
langt es.  Sie  verdammen  Israel  zum  Untergang,  weil  es  Jahves  Willen 
nicht  erfüllt.  Was  aber  Jahves  Willen  sei,  darüber  befinden  sie  sich  im 
stärksten  Gegensatz  zu  ihren  Zeitgenossen:  diese  glauben  nach  antiker 
Art,  daß  Religion  im  Darbringen  von  Opfern  und  Vollziehen  von  Zere- 
monieen  bestehe;  die  Propheten  aber  verkünden  mit  Macht,  daß  Jahve 
soziale  Gerechtigkeit  und  gläubiges  Vertrauen  verlangt.  So  sind  die  Pro- 
pheten die  Vertreter  der  Unterdrückten,  aber,  viel  mehr  als  das,  zugleich 
die  Vertreter  der  höheren  Religion:  sie  bekämpfen  mit  bitterem  Spott  die 
altheiligen  Stätten,  Bilder  und  Symbole.  Mit  hinreißendem  Enthusiasmus 
verkünden  sie   die  Herrlichkeit  des  geistigen   Gottes  und  legen    ihm  die 


II.  Die  großen  Schriftstellerpersönlichkeiten  (ca.  750 — 540).  jq 

Völker,  die  Götter,  die  Welt  zu  Füßen:  so  wird  der  Monotheismus,  auf 
den  Israel  von  jeher  angelegt  war,  endgültig  gewonnen. 

Diesen  Propheten,  die  ihrer  Natur  nach  im  Gegensatz  zum  Empfinden  Die  Heiu- 
des  Volkes  stehen,  geht  eine  andere  Prophetie  zur  Seite,  die  den  volks-  p"'°p  *^  *"• 
tümlichen  Instinkten  mehr  entspricht,  und  die  in  derselben  Zeit  für  Israel 
Rettung  verkündet.  Beide  Arten,  die  Heils-  und  die  Unheilsprophetie, 
sind  auf  demselben  Untergrunde  einer  übernommenen  mythologischen 
Eschatologie  entsprossen  und  sind,  so  erbittert  sie  sich  auch  zuzeiten 
bekämpft  haben,  doch  auch  mancherlei  Verbindungen  eingegangen:  auch 
die  finstersten  Unheilspropheten  haben  hinter  all  dem  Dunkel  das  Licht 
eines  großen  kommenden  Morgens  gesehen.  Die  Heilsprophetie  ist  die 
ältere  und  die  Reg^el;  die  Unheilsprophetie  wird  von  w^enigen  auserwählten 
Geistern  vertreten. 

Diese  Unheilsprophetie   ist  zuerst  in  Israel  aufgetreten  (Arnos,  Hosea)  Geschichte  der 

.  Prophetie. 

und  dann  nach  Juda  übergesprungen  (Jesaias).  Hier  kommt  em  neuer 
Geist  hinein:  der  Geist  der  Autorität  und  der  Tradition.  Priester  und 
Propheten  verbünden  sich  in  der  Gesetzg-ebung  des  Königs  Josias  (623): 
es  war  die  Zeit,  da  die  assyrische  Oberhoheit  soeben  aufg'ehört  hatte  und  die 
prophetische  Bewegung  von  der  Hochflut  patriotischer  Begeisterung  getragen 
ward.  Eine  neue  Zeit  beg"innt  mit  dem  Auftreten  des  chaldäischen  Welt- 
reiches. Wieder  spaltet  sich  die  Prophetie:  die  Heilspropheten  verkünden 
Babels  Fall,  die  Unheilspropheten  den  Jerusalems.  Jeremias'  und  Ezechiels 
Wort  ging  in  Erfüllung.  Nach  der  Katastrophe  hat  die  Prophetie  die 
neue  Aufgabe,  die  Niedergeschmetterten  zu  trösten  und  zu  einem  Neubau 
zu  ermutigen;  so  ist  damals  die  Heilsprophetie  wieder  hervorgetreten;  ihr 
Hauptvertreter  ist  „Deuterojesaias"  (Jes.  40 — 56,  8)  beim  Untergange  des 
chaldäischen  Reiches.  Nach  der  Rückkehr  ins  Land  der  Väter,  in  einer  Jahr- 
hunderte dauernden,  das  stolze  Judentum  aufs  tiefste  demütig'enden  Misere, 
ist  für  große  politische  Propheten  kein  Platz  und  für  gewaltige  religiöse 
und  sittliche  Ideale  keine  Stimmung  mehr.  Prophetische  Worte  sind  frei- 
lich noch  immer  gesprochen  worden;  aber  es  waren  nur  noch  die  von 
Epigonen. 

I.  Literatur  der  Propheten.    Auch  in  der  Literatur  hat  damals  die  Literatur  der 

Propheten. 

Prophetie  durchaus  die  Führung".   Wir  müssen  versuchen,  auch  diese  Gattung  Geschichte  der 

^  *  .  Prophetie  vor 

aus  dem  Leben  zu  verstehen,  und  fragen  daher  zuerst:  was  sind  solche  Amos. 
„Propheten"?  Es  hat  mannigfaltige  Arten  von  „Prophetie"  im  alten  Israel 
gegeben.  Da  zogen  schwärmerische  Scharen  in  rasender  Begeisterung  über 
das  Land:  vor  ihnen  her  rauschende  Musik,  und  w^er  ihnen  zu  nahe  kam, 
mochte  sich  in  acht  nehmen,  daß  nicht  auch  auf  ihn  der  ekstatische  Taumel 
übersprang  (I.  Sam.  10,  5  ff).  Solche  „Propheten"  (nebi'im)  hausten  in  Kon- 
ventikeln  zusammen  und  pflegten  in  ihrem  Kreise  die  prophetische  Ek- 
stase; sie  nahmen  gewisse  Exerzitien  vor,  bis  „der  Geist"  über  sie  kam; 
dann  rissen  sie  sich  wohl  —  so  hören  wir  einmal  (I.  Sam.  19,  24)  —  die 
Kleider  vom  Leibe  und  lagen  nackend  da,  den  ganzen  Tag  und  die  ganze 


So  Herm^\.nn  GunkeL:  Die  israelitische  Literatur. 

NachL  Sie  mög'en  auch  manchmal  von  Wahnsinnigen  oder  von  Trunkenen 
auf  den  ersten  BHck  nicht  sicher  zu  unterscheiden  gewesen  sein.  —  Sehr 
häufig  geschah  es,  daß  solche  Propheten  in  ihren  seltsamen  Zuständen 
wunderbare  Gesichte  sahen  und  merkwürdige  Stimmen  hörten.  Und  der 
Inhalt  dieser  Gesichte  und  Worte  war  fast  immer  die  Zukunft.  Auch  in 
späterer  und  spätester  Zeit  ist  in  Israel  niemals  ein  Prophet  erstanden, 
dessen  erstes  Wort  nicht  eine  Weissagung  gewesen  wäre.  Wer  nicht  „in 
Jahves  Rate  g"estanden"  und  zugehört  hat,  wie  die  himmlischen  Geister 
die  Zukunft  beschließen,  ist  kein  Prophet.  Man  hat  daher  von  solchen 
Propheten  Orakel  erbeten,  Aufschlüsse  über  die  Zukunft  und  Rat,  wie 
man  sich  dabei  zu  verhalten  habe.  Auch  Handlungen  pflegten  die  Pro- 
pheten ihren  Worten  hinzuzufügen;  kein  Zweifel,  daß  solche  „Zeichen"  auf 
der  ältesten  Stufe  Zauberhandlungen  gewesen  sind,  durch  die  man  die  Er- 
eignisse hervorbringen  zu  können  glaubte.  —  Aus  dem  Kreise  solcher 
Ekstatiker  und  AVahrsager,  wie  sie  in  der  ganzen  Welt  vorkommen  und 
auch  bei  den  Nachbarn  Israels  häufig  sind,  waren  nun  Männer  höheren 
Schlages  hervorgegangen,  Ahia,  Elia,  Elisa,  Micha  ben  Jimla.  Das  sind 
Heroen  der  Prophetie,  die  nicht  erst  die  Frage  abwarten,  sondern  von 
sich  aus  auftreten,  und  deren  Thema  nicht  die  Begebenheiten  des  gewöhn- 
lichen Privatlebens,  sondern  die  großen  Ereignisse  des  Volkes  und  Staates 
sind.  Diese  Propheten  sind  Politiker.  Wenn  die  großen  Dinge  sich  vor- 
bereiten, wenn  eine  Hungersnot  kommen  soll,  oder  wenn  der  Feind  heran- 
zieht, dann  verkündet  der  Prophet  die  Zukunft,  die  ihm  Jahve  gezeigt  hat. 
Diese  prophetischen  Heroen  stehen  fast  immer  in  Opposition  zu  den 
Königen  und  oft  auch  wohl  zum  Empfinden  ihres  eigenen  Volkes;  sie 
haben  auch  vor  Revolution  und  Königsmord  nicht  zurückgeschreckt.  Ihre 
Fortsetzer  sind  dann  Männer  wie  Amos  und  Jesaias. 
de^^hrifcteiie  ^°  mannigfache  Gestaltungen  aber  auch  die  Prophetie  von  der  ältesten 

™''he°el'^'^  bis  in  die  späteste  Zeit  hervorgebracht  hat,  so  haben  doch  alle  Propheten 
eines  gemeinsam,  nämlich  eben  dies,  daß  sie  „Propheten"  sind.  Auch  den 
Männern  vom  Schlage  des  Amos  und  Jeremias  ist  es  die  Grundüberzeugung, 
daß  „Jahve  zu  ihnen  gesprochen  hat".  Nicht  aus  sich  selbst  haben  sie  ihre 
Gedanken,  sondern  eine  höhere  Macht  hat  sie  ihnen  gegeben;  und  eine 
höhere  Macht  zwingt  sie,  zu  sprechen,  ob  sie  wollen  oder  nicht.  Manch- 
mal tritt  auch  bei  ihnen  das  Gewaltsame,  Ekstatische  noch  stark  hervor:  sei 
es,  daß  sie  von  ihren  wunderbaren  Gesichten  erzählen  oder  von  geheimnis- 
vollen Stimmen,  die  mit  so  schreckhafter  Deutlichkeit  auftreten,  daß  sie 
den  Menschen,  der  sie  vernehmen  muß,  aus  allen  Sinnen  ängstigen;  ja, 
auch  Krankhaftes  fehlt  nicht  ganz.  Aber  es  überwiegen  doch  weniger 
gewaltsame  Formen:  eine  starke,  den  Propheten  völHg  beherrschende 
innere  Gewißheit,  eine  mehr  als  menschliche,  heilige  Leidenschaft,  ein 
glühender  Drang,  die  erkannte  Wahrheit  zu  verkünden.  Dieser  Milde- 
rung in  der  Form  aber  entspricht  einer  Verschiebung  auch  im  Inhalt: 
die    älteren    Propheten    waren    Wahrsager    gewesen;     die    späteren    ver- 


II.  Die  großen  Schriftstellerpersönlichkeiten  (ca.  750 — 540).  8  I 

mögen  mehr,  als  nur  Kommendes  zu  verkünden:  sie  kennen  die  göttlichen 
Gedanken  über  die  Zukunft;  sie  wissen,  weshalb  Jahve  eben  dieses 
Wort  gesprochen  hat.  Vorhanden  aber  ist  das  Ekstatische,  wenn  auch 
noch  so  gemildert,  auch  bei  ihnen;  und  nur  von  ferne  dürfen  wir  sie  mit 
unseren  „Predigern"  vergleichen. 

Die  Propheten  sind  ursprünglich  nicht  Schriftsteller  gewesen,  sondern  Die  Propheten 

..,,.,  ^Y  .,.,  i^T  ,,  als  Redner. 

Redner.  Im  mundlichen  Vortrag  sind  ihre  Worte  zu  denken,  wenn  man 
sie  verstehen  will.  Ihr  Publikum  ist  das  Volk  auf  dem  Markt  oder  im 
Tempel.  Die  gewöhnlichen  Anfänge  prophetischer  Rede:  „so  hat  Jahve 
gesprochen",  „so  hat  mir  Jahve  gezeigt",  beweisen,  daß  der  Prophet  für 
gewöhnlich  nicht  während  der  Ekstase,  sondern  nachher  zu  sprechen 
pflegte.  Doch  haben  wir  auch  Stücke,  die  uns  unmittelbar  in  das  pro- 
phetische Erleben  einführen,  wie  Jes.  21.  Diese  Reden,  so  oft  erfüllt  von 
glühender  Begeisterung,  werden  auch  nicht  ruhig  und  gelassen  gesprochen 
worden  sein.  Der  Prophet  —  so  wird  uns  einmal  gesagt  (Ez.  6,  11)  — 
stampft  beim  Reden  mit  den  Füßen  den  Boden  und  schlägt  in  die  Hände. 
Und  frivole  Menschen  verspotten  Prophetenrede  als  ein  Stammeln  und 
Stottern,  ein  seltsames  Kauderwelsch  (Jes.  28,  10 f.).  Von  solcher  leiden- 
schaftlichen Art  der  Rede  geht  es  dann  bei  den  schriftstellerischen  Pro- 
pheten in  vielen  Nuancen  bis  zu  ganz  ruhiger  Diktion,  wie  sie  sich  in  den 
Schlußstücken  des  Ezechiel  findet. 

Wie  grotesk  das  Auftreten  der  Propheten  manchmal  war,  können  wir  Zeichen, 
noch  an  den  „Zeichen"  erkennen,  die  sie  ihren  Worten  nicht  selten  hin- 
zufügen. Jesaias  ist  einmal  drei  Jahre  lang  nackend  gegangen  (20),  und 
Jeremias  trat  einst  vor  das  Volk,  ein  Joch  auf  der  Schulter,  wie  es  ein 
Rind  trägt  (27).  Besonders  seltsame  Zeichen  finden  sich  bei  Ezechiel,  der 
Jerusalems  Belagerung  darstellte,  indem  er  das  Bild  der  Stadt  auf  einen 
Ziegelstein  zeichnete  und  es  mit  der  Bratpfanne  belagerte  (4,  i — 3)!  Man  muß 
zugeben,  daß  solche  Handlungen  verdächtige  Ähnlichkeit  mit  dem  Tun 
von  Wahnsinnigen  haben.  Wir  dürfen  in  ihnen  einen  Rückfall  in  ältere 
Gewohnheiten  sehen:  was  die  halbwahnsinnigen  Ekstatiker  der  ältesten 
Zeit  in  ihrem  Taumel  getan  hatten,  das  ahmen  die  geistesklaren  Propheten 
der  späteren  Epoche  nach,  um  dadurch  die  erwünschte  Aufmerksamkeit 
des  Volkes  zu  gewinnen. 

Dann  sind  die  Propheten  in  einer  Geschichte,  deren  Hauptzüge  wir  Die  Propheten 
noch  zu  erkennen  vermögen,  aus  Rednern  zu  Schriftstellern  ge- 
worden. Die  ältesten  „Propheten"  hatten  nichts  zu  schreiben.  Aber  auch 
Männer  wie  Elias  und  Elisa  waren  noch  nicht  Schriftsteller:  sie  wirkten 
nicht  für  die  Zukunft,  sondern  für  die  Gegenwart,  und  sie  traten  in  Person 
auf:  da  bedurfte  es  für  sie  des  geschriebenen  Buchstabens  nicht.  Doch 
gab  es  schon  in  jener  Zeit  niedergeschriebene  Orakel,  die  ohne  Namen 
oder  unter  einem  Namen  der  Vorzeit  umliefen;  Beispiel  für  das  erstere 
ist  das  Orakel  über  Moab,  Jes.  15  f.,  für  das  letztere  die  „Segenssprüche" 
Jakobs,    Mosis   und  Bileams,   deren  Stil   mit  dem  prophetischen  verwandt 

Die  KuLTiTR  der  Gegenwart.    I.  7.  " 


82  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

ist  Auch  Männer  wie  Arnos  und  Jesaias  haben,  als  sie  ihre  Worte  nieder- 
schrieben, nicht  an  die  Nachwelt,  sondern  allein  an  die  Mitwelt  gedacht 
Ihre  Weissagnangen  bezogen  sich,  wie  sie  überzeugt  waren,  nicht  auf  eine 
ferne  Zukunft,  sondern  sollten  sich,  dessen  waren  sie  gewiß,  demnächst 
erfüllen.  Wenn  sie  sich  des  Papieres  bedienten,  so  ist  das  daraus  zu  er- 
klären, daß  das  Zeitalter  sich  inzwischen  verändert  hatte:  es  wurde  damals 
auf  allen  Gebieten  mehr  geschrieben.  Zuerst  haben  die  Propheten  etwa 
ein  ganz  kurzes  geheimnisvolles  Wort  wie  „Eilebeute  -  Raubebald"  auf 
Tafeln  zu  öffentlicher  Kenntnisnahme  eingegraben  (Jes.  8,  i)  oder  es  vor 
Zeugen  aufgezeichnet  und  versieg^elt,  um  so  in  kommender  Zeit  auch  für 
den  Ungläubigsten  beweisen  zu  können,  daß  sie  ein  bestimmtes  Ereignis, 
geweissagt  hatten  (Jes.  8,  i6;  30,  8).  Oder  sie  haben  einen  kurzen  Spruch,, 
ein  kleines  Gedicht  im  Volke  verbreitet,  um  dort  wirken  zu  können,  wohin 
die  Stimme  ihres  Mundes  nicht  reichte.  Notwendig  aber  war  es  für  einen 
Propheten  nicht  Schriftsteller  zu  sein:  Jeremias  hatte  schon  2^  Jahre  ge- 
wirkt, als  er  zum  erstenmal  seine  Orakel  aufzeichnen  ließ.  Später  haben 
dann,  um  die  Wirkung  zu  verschärfen,  etwa  die  Propheten  selbst  oder 
ihre  Schüler  solche  Reden  zusammengestellt;  eine  derartige  Sammlung 
galt  freilich  keineswegs  als  ein  Kunstwerk,  das  irgendwie  gegliedert 
sein  müsse:  man  schrieb  zusammen,  was  und  wie  man  es  vorfand,  und 
dachte  dabei  nicht  an  sachliche,  kaum  an  chronologische  Ordnung.  Aus 
solchen  Ursammlungen  sind  dann  früher  oder  später,  z.  T.  erst  nach 
vielen  Jahrhunderten,  die  gegenwärtigen  Bücher  der  Propheten  entstanden, 
wobei  mancherlei,  was  vom  alten  Propheten  nicht  herrührte,  mit  unter- 
laufen mochte.  Anders  ist  das  erst  bei  Ezechiel;  dieser  Mann,  als  Priester 
und  Jurist  an  peinliche  Ordnung  gewöhnt,  überzeugt,  daß  sich  seine  Ver- 
heißungen erst  nach  Jahrzehnten  erfüllen,  hat  das  erste  Prophetenbuch 
geschrieben  und  hat  dies  Buch,  nach  Art  einer  Urkundensammlung,, 
chronologisch  angeordnet. 
Dieiiterarischen  Hiemach  verstcheu  wir   die   literarischen  Einheiten,    die    sich  in 

Einheiten,  ' 

den  überlieferten  Büchern  finden,  und  auf  deren  Abgrenzung  wir  um  so 
größeren  Wert  zu  legen  haben,  als  es  ohne  sie  überhaupt  kein  Verständnis 
der  prophetischen  Diktion  geben  kann  und  als  die  Überlieferung  unserer- 
Texte  auch  in  diesem  Fall  völlig  versagt  Proben  urältesten  prophetischen 
Stils  sind  jene  kurzen  rätselhaften  Worte  oder  Wortkompositionen, 
wie  sie  sich  zuweilen  noch  in  den  Schriften  einer  bei  weitem  entwickelteren 
Epoche  finden,  Worte  wie  „Jizr^'el",  „Nicht-mein-Volk"  (Hosea  i.  2),  „Rest- 
kehrt" (Jes.  7,  3),  „Eilebeute -Raubebald"  (Jes.  8);  diese  Worte  ahmen  in 
ihrer  Form  die  seltsamen  Ausrufe  nach,  die  die  ältesten  Propheten  in 
ihrer  Ekstase  hervorzustoßen  pflegten.  Eine  weitere  Stufe  ist  es,  wenn 
sich  die  Propheten  deuthcher  in  kurzen  Sprüchen  von  etwa  zwei  bis 
drei  Langzeilen  aussprechen;  solche  Sprüche  sind  also  keineswegs  Reste, 
Trümmer  oder  kurze  Zusammenfassungen  prophetischer  „Reden",  sondern 
diese    selber.     Dann   haben    sie    es  gelernt,    längere   Reden   zu  kompo- 


II.  Die  großen  Schriftstellerpersönlichkeiten  (ca.  750 — 540).  gj 

liieren,  die  etwa  ein  Kapitel  unseres  Textes  umfassen.  Aber  auch  diese 
„Reden"  (Beispiel  Jes.  13)  sind  selten  nach  einem  deutlichen  Gesichtspunkt 
organisch  disponiert,  sondern  bestehen  aus  zusammengestellten  einzelnen 
Sprüchen,  die  durch  dasselbe  Thema  zusammengehalten  werden.  Schließ- 
lich ist  es  dann  zu  ganzen  Büchern  gekommen;  aber  auch  in  ihnen  tritt 
weniger  die  sachliche  Ordnung,  als  eine  chronologische  Disposition 
hervor.  So  folgt,  daß  die  Exegese  den  Maßstab  des  „Zusammenhanges" 
in  den  prophetischen  Büchern  und  Stücken  nur  mit  großer  Vorsicht  an- 
legen darf. 

Eine  andere  Entwicklungslinie,  die  wir  in  den  prophetischen  Büchern  Poesic  undProsa. 
zu  erkennen  vermögen,  führt  von  der  Poesie  zur  Prosa.  Ursprünglich 
hat  die  prophetische  „Rede"  poetische  Form.  Die  ältesten  Propheten, 
die  ihre  Offenbarungen  in  dunklen  Stunden  empfangen  haben  und  sie  nun 
aussprechen,  getragen  von  überwallenden  Stimmung^en,  bis  zum  Rande 
gefüllt  von  erhabener  Begeisterung  oder  von  flammendem  Zorn:  diese 
Männer  sind  ihrer  Natur  nach  Dichter.  Je  deutlicher  also  das  Prophe- 
tische im  Inhalt  auftritt,  je  stärker  zugleich  das  Poetische  in  der  Form. 
War  doch  auch  der  Stil  des  Orakels  in  Israel  wie  überall  von  jeher 
poetischer  Art  gewesen.  Wir  können  in  den  überlieferten  Stücken  die 
beiden  Stilarten  unterscheiden,  die  strengere,  wo  derselbe  Vers  das  ganze 
Gedicht  beherrscht,  und  die  freiere,  wo  die  verschiedenen  Verse,  je  nach 
der  hin  und  her  flutenden  Stimmung,  miteinander  wechseln.  Ästhetisch 
angesehen,  stehen  viele  der  prophetischen  „Reden"  ungemein  hoch;  es  hat 
wohl  kaum  jemals  in  der  Welt  eine  religiöse  Dichtung  gegeben,  die  dieser 
prophetischen  an  Schwung  und  Kraft  ebenbürtig  wäre.  Nun  sind  die  Pro- 
pheten in  einer  Geschichte  aus  Ekstatikern  zu  Predigern  und  religiösen 
Denkern  geworden.  Damit  hat  sich  aber  auch  die  Form  ihrer  Rede  ge- 
ändert: die  Diktion  wird  ruhiger,  der  Rhythmus  freier,  bis  er  schließlich 
bei  der  Prosa  ankommt.  Die  einzelnen  Übergangsstadien  allerdings  sind 
für  uns,  die  wir  uns  noch  in  den  ersten  Untersuchungen  über  hebräische 
Metrik  befinden,  noch  nicht  recht  deutlich. 

Der  Stoff,  der  in  den  prophetischen  Büchern  zusammen  gekommen  übersieht  über 
ist,  ist  außerordentlich  reichhaltig.  Wir  finden  Erzählungen  der  Taten  prophetischen 
und  Schicksale  des  Propheten,  aus  der  Feder  seiner  Schüler  oder  der 
Späteren,  und  daneben  Stücke,  die  von  ihm  selbst  herrühren;  unter  den 
letzteren  Monologe,  in  denen  er  in  einsamer  Kammer  sein  Herz  vor 
Gott  ausschüttet,  und  andere ,  die  er  zum  Lesen  für  das  Volk  bestimmt 
hat;  die  zuletzt  genannten  bilden  den  Grundstock  der  Schriften.  Diese, 
die  prophetischen  Orakel,  zerfallen  in  zwei  Gruppen,  in  göttliche  Vi- 
sionen und  Gottes  Worte,  Geschautes  und  Gehörtes,  mit  den  charakte- 
ristischen Anfängen:  „so  hat  mir  Jahve  gezeigt",  und  „so  hat  Jahve  ge- 
sprochen". Nun  überwiegen  die  Worte  bei  weitem  die  Visionen;  worin 
sich  die  Eigenart  unserer  Propheten  offenbart:  ihnen  kommt  es  in  letztem 
Grunde    darauf  an,    Gedanken    Gottes    darzustellen;    der    Gedanke    aber 


84 


Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 


Träume. 


Die  Offenbarung 
dnrch  das  Wort. 


nimmt  viel  leichter  und  bequemer  die  Form  des  gehörten  Wortes  als  die 
des  geschauten  Bildes  an.  Eigentümlich  und  schwer  zu  erklären  ist,  daß 
in  späterer  Zeit,  bei  Ezechiel  und  Sacharia,  die  Gesichte  dann  wieder  so 
stark  hervorgetreten  sind. 

Diese  Gesichte  haben  sehr  mannigfaltige  Formen.  Bald  sind  sie  ganz 
kurz  und  einfach,  bald  kompliziert  und  ausgeführt.  Dem  Inhalt  nach  sind 
es  entweder  Dinge  des  gewöhnlichen  Lebens,  die  der  Prophet  schaut, 
und  die  dann  durch  eine  hinzugefügte  Deutung  zu  dem,  was  ihn  eigent- 
lich beschäftigt,  in  Beziehung  gesetzt  werden;  oder  es  sind  weit  ent- 
fernte Dinge,  die  ein  gewöhnlicher  Mensch  nicht  zu  sehen  vermöchte; 
am  häufigsten  aber  ist,  daß  ihn  das  Gesicht  in  „Jahves  Rat"  versetzt  und 
ihm  Jahve  und  seine  Umgebung  zeigt,  wobei  dann  allerlei  Volksglaube 
und  selbst  M}i:hologisches  mit  einfließen  mag.  Der  Stil  der  Vision  ist  die 
Erzählung:  der  Prophet  berichtet,  was  er  gesehen  hat.  Eigentümlich 
aber  für  diese  Art  der  Erzählung  ist  der  geheimnisvolle  Ton,  der  sich 
gerade  durch  die  schönsten  Visionen  zieht:  menschliches  Auge  hat  einmal 
das  Göttliche  geschaut,  aber  menschlicher  Mund  verstummt,  wenn  er  das 
Unsagbare  beschreiben  soll.  Die  starken  Farben  grotesker  orientalischer 
Mythologie,  hindurchschimmernd  durch  den  Schleier  des  Geheimnisses, 
geben  diesen  Visionen  ihren  eigentümlichen  ästhetischen  Reiz.  Ganz  ge- 
wöhnlich sind  solche  Visionen  mit  Wortoffenbarungen  verbunden:  der 
Seher  schaut  Gott  und  die  göttlichen  Wesen  und  hört  dann,  was  sie 
reden;  und  auf  diesen  göttlichen  Worten,  in  denen  die  Vision  ausklingt, 
ruht  stets  der  Nachdruck:  dies  offenbar  aus  demselben  Grunde,  der  den 
Worten  überhaupt  vor  den  Visionen  das  Hauptgewicht  gegeben  hat.  — 
Gehen  aber  diese  Visionen  auf  wirkliche  Erlebnisse  zurück  oder  sind  sie 
nur  phantastische  Dichtungen?  Das  ist  eine  Frage,  die  sich  nicht  so 
einfach  entscheiden  läßt.  Sicherlich  stehen  erlebte  Visionen  am  Anfang 
der  ganzen  Entwicklung;  aber  ebenso  gewiß  ist,  daß  auch  Nachahmungen 
und  Weiterausführungen  anzunehmen  sind,  und  daß  schließlich  die  Form 
der  Vision  zum  künstlerischen  Stil  geworden  ist. 

Mit  den  Visionen  hängen  aufs  engste  'zusammen  die  Träume,  die 
zwar  Jeremias  {2^,  25  ff.)  als  Formen  der  Offenbarung  nicht  gelten  lassen 
wollte.  Die  Propheten,  die  Träume  hatten,  müssen  zugleich  Traumdeuter 
gewesen  sein  und  ihre  Gesichte  allegorisch  auszulegen  verstanden  haben. 
Aus  dieser  Gewohnheit  erklärt  sich  wohl  die  Vorliebe  mancher  Propheten, 
namentlich  Ezechiels,  für  ausgeführte  Allegorie en. 

Viel  bedeutsamer  aber  als  die  Visionen  sind  die  Worte.  Der  Prophet 
verkündet  „das  Wort,  das  Jahve  zu  ihm  gesprochen  hat",  als  Jahves  Bote 
—  dies  ist  ein  beliebtes  Bild  —  an  sein  Volk.  Er  hat  dabei  das  Recht, 
„Ich"  =  Jahve  zu  sagen:  so  hat  er  es  von  Jahve  gehört;  und  an  be- 
stimmten Abschnitten  mag  er  dann  hinzufügen:  „ich"  —  d.  h.  das  „Ich"- 
sagende  Numen,  das  aus  dem  Propheten  spricht,  —  „bin  Jahve",  oder  „das 
ist   Jahves    Raunung".      Hiermit    wechselt    in    fließendem    Übergang    eine 


II.  Die  großen  Schriftstellerpersönlichkeiten  (ca.  750 — 540).  ge 

andere  Form,  wo  der  Gott  nicht  mehr  durch  den  Mund  des  Propheten, 
sondern  der  Prophet  im  Namen  des  Gottes  spricht  imd  von  Jahve  „Er" 
sagt.  In  solchen  Fällen  reflektiert  der  Prophet  gar  nicht  mehr  über  die 
Form  der  Offenbarung-,  sondern  er  ist  überzeugt,  daß  die  innere  Gewißheit, 
die  ihn  erfüllt,  göttlicher  Herkunft  ist.  Also  auch  hier  eine  Entwicklung 
bis  schließlich  zur  geistigsten  Form  der  Offenbarung. 

Wunderbar  mannigfaltig  sind  diese  Prophetenworte:  es  sind  Ver- 
heißungen und  Drohungen,  Schilderungen  der  vSünde,  Ermahnungen,  ge- 
schichtliche Rückblicke,  Disputationen,  Lieder  allerlei  Art,  nicht  nur  reli- 
giöse, sondern  auch  Nachahmungen  von  profanen,  Klage-  und  Jubellieder, 
kurze  lyrische  Stücke  und  ganze  Liturgieen,  Parabeln,  Allegorieen  usw. 
Den  Faden  durch  dieses  Labyrinth  gewinnt  man  durch  die  Erkenntnis, 
daß  die  meisten  dieser  Gattungen  nicht  ursprünglich  prophetisch  sind, 
sondern  daß  die  Prophetie  fremde  Stilarten  in  weitestem  Umfang  aufge- 
nommen hat.  Und  auch  die  bewegende  Kraft  dafür  ist  uns  deutlich:  es 
ist  der  brennende  Wunsch  dieser  Männer  nach  Herrschaft  über  die  Ge- 
müter des  Volkes,  was  sie  dazu  gebracht  hat,  so  vielerlei,  ihrem  Volke 
vertraute  und  eindrückliche  Gattungen  nachzuahmen.  Welches  aber  ist 
nun  das  eigentliche  prophetische  Genre?  Das  ist  neben  der  Vision  die 
Verkündigung  der  Zukunft,  wie  wir  sie  in  dem  uralten  Stück  Jes.  i5f, 
treffen.  In  unseren  prophetischen  Büchern  sind  besonders  deutliche  Muster 
dieses  ältesten  Stiles  die  Orakel  über  die  fremden  Völker  (Jes.  13 — 21,. 
Jer.  46 — 51,  Ez.  25 — 32  u.  a.).  Denn  da  sich  diese  Propheten  in  erster 
Linie  stets  zu  Israel  gesandt  fühlen,  so  treten  die  neuen  Formen,  die  sie 
erzeugt  haben,  vorwiegend  in  den  an  Israel  gerichteten  Stücken  auf,  wäh- 
rend die  Reden  an  die  fremden  Völker  einen  gegenwärtig  toten  Arm  des 
Stromes  darstellen,  der  uns  aber  zeigt,  wie  das  Wasser  vorzeiten  ge- 
flossen ist. 

Besondere    Merkmale    dieses    ältesten    Stils    sind    folgende.      Zu-  Ältester  stii: 

Verkündigungen 

nächst  der  eigentümliche  dämonisch -geheimnisvolle  Ton.  Ganz  abrupt,  der  Zukunft, 
fast  völlig  unverständlich  setzt  das  Orakel  ein.  Namen  werden  nicht  ge- 
nannt, ebensowenig  bestimmte  Zahlen.  Bilder  verhüllen  mehr  als  sie 
offenbaren.  Kunstausdrücke  bleiben  dem  Nichtkenner  rätselhaft.  Vieles 
hiervon  mag  den  Zeitgenossen  oder  wenigstens  den  Schülern  des  Pro- 
pheten trotz  der  mysteriösen  Einkleidung  ohne  weiteres  verständlich  ge- 
wesen sein;  anderes  aber  war  auch  ihnen  dunkel:  so  die  geheime  Offen- 
barung- von  dem  „Gottesknecht",  der  in  Schmach  dahingegangen  ist  und 
Israels  Sünden  getragen  hat.  Besonders  tritt  dieser  mysteriöse  Ton  da 
ein,  wo  die  Propheten  uralte  mythologische  Stoffe  aufnehmen,  selber  im 
Innern   erbebend   über   das   Große,  das  kommen  soll. 

Ferner  die  eigentümlich  springende  Art.  Prophetisches  Erkennen 
ist  nicht  ein  in  sich  zusammenhängendes,  geschlossenes,  sondern  ein  jähes, 
blitzartiges  Aufleuchten.  Selten  finden  sich  ausführliche  Schilderungen. 
Gewaltsam    ist    oft   Zug    neben    Zug    gesetzt,    wie   in    einem   kyklopischen 


36  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

Bau  Stein  auf  Stein  gehäuft  ist.  Ein  immer  neues  Ansetzen;  lauter  Frag- 
mente, die  manchmal  im  Geiste  dessen,  der  das  Ganze  übersieht,  ein 
kunstvolles  Gesamtbild  geben.  Besonders  stark  wird  dieses  Absetzen, 
wenn  sich  die  Prophetie  vom  Unheil  zum  Heil  wendet:  es  ist,  so  drückt 
der  Stil  aus,  etwas  Neues,  was  Jahve  schaffen  will. 

Sodann  eine  große  Vorliebe  für  das  Konkrete,  ja  das  AUerkonkre- 
teste:  diese  ZukunftsoflFenbarung-en  sind  ursprünglich  geschaut;  und  von 
anschaulichen  Bildern  sind  sie  voll.  Besonders  lieben  es  die  Propheten, 
den  letzten  Zustand  des  Ortes  oder  des  Volkes,  dem  sie  drohen  oder 
verheißen,  zu  schildern,  damit  man  daraus  rückblickend  die  ganze  Kette 
von  Ereignissen,  die  sie  vorausschauen,  erkenne.  So  schildern  sie,  wie 
Babel  ein  Wassersumpf  wird  (Jes.  14,  22 f.),  der  Zionsberg  eine  Lust  der 
Wildesel  (Jes.  ;^2,  14),  und  die  Leiche  des  Weltkönigs  geschändet  am  Boden 
liegt  (Jes.  14,  16  ff.). 

Kein  Merkmal  aber  tritt  so  deutlich  hervor,  wie  die  ungemeine  Wucht 
der  Leidenschaft.  Den  Unheilspropheten  ist  kein  Bild  zu  furchtbar,  zu 
grausam,  als  daß  sie  es  nicht  gebraucht,  ja  offenbar  mit  besonderer  Liebe 
aufgesucht  hätten;  und  ebenso  überschwenglich  sind  anderseits  die  Ver- 
heißungen der  Heilspropheten.  Darum  wählen  sie  gern  die  Bilder  aus  der 
uralten  wundergewaltigen  Eschatologie,  vor  denen  das  Menschenherz  er- 
schaudert oder  die  es  begeistern  und  entzücken.  So  sind  die  Propheten 
Gottes  Posaune,  die  so  gewaltig  dröhnt,  daß  von  ihrem  Klang  die  Ohren 
bersten!  Und  es  ist  eine  prophetische  Leidenschaft:  das  Ekstatische  der 
alten  Zeit  klingt  im  Stil  nach.  Daher  das  Erregte  und  Gewaltsame,  das 
Bizarre  und  Groteske  ihrer  Diktion.  Männer,  die  jahrelang  nackend 
gehen  können,  werden  auch  in  der  Art  zu  reden  das  Barocke  lieben, 
w-  ?T  r^'stu.  Dieser  älteste  und   charakteristischste  Prophetenstil   hat  niemals   ganz 

aufgehört,  aber  es  sind  unter  der  Hand  großer  Schriftsteller  eine  Fülle 
Prophetische  ^qq  Gattungen  neben  ihn  getreten.  So  sind  lyrische  Stücke  mannig- 
faltiger Art  von  den  Propheten  in  die  Weissagungen  eingestreut  worden. 
Triumphierend  über  das  Herrliche,  das  Jahve  einst  tun  wird,  singen  sie 
im  voraus  das  Jubellied,  das  die  erlöste  Gemeinde  anstimmen  wird;  über 
den  Feind,  dessen  Fall  sie  voraussehen,  erschallt  bei  ihnen  schon  jetzt  das 
Spottlied;  oder  sie  stimmen  die  Leichenklage  an  über  den,  der  jetzt 
noch  im  Glücke  lebt.  Den  Völkern  der  Endzeit,  die  sich  zu  Jahve  be- 
kehren, legen  sie  das  Wallfahrtslied  in  den  Mund.  Im  Namen  ihres 
Volkes  erheben  sie  das  Klagelied:  „verlaß  uns  nicht!"  Oder  sie  dichten  das 
Bußlied  der  Zukunft,  das  die  dann  Bekehrten  singen  werden.  Aber  auch 
profane  Gattungen  haben  sie  nicht  verschmäht:  Trinklieder,  Wächter- 
lieder, ja  gelegentlich  auch  ein  Spottliedchen  über  eine  Dirne.  Manchmal 
haben  sie  auch  im  Ton  der  Liturgie  gedichtet  und  wechselnde  Stimmen  ein- 
geführt: da  ertönt  etwa  zuerst  die  Klage  des  Volkes  in  seiner  Not,  dann 
antwortet  die  göttliche  Stimme  und  verkündet  die  Erlösung,  und  daran 
schließt  sich   etwa   ein   Hymnus.     Schließlich  kommt  noch    der  Monolog 


II.  Die  großen  Schriftstellerpersönlichkeiten  (ca.  750 — 540).  3? 

hinzu:  Jeremias,  eine  zart  angelegte  Natur,  aufs  bitterste  unter  dem  Kampf 
mit  seinem  Volke  leidend,  hat  seine  eigensten  Erlebnisse  Gott  im  Gebete 
vorgetragen  und  für  solche  persönlichen  Ergüsse  die  Form  des  individuellen 
Klageliedes  gewählt:  diese  persönliche  Dichtung  eines  Propheten  ist 
einmal  eine  Tat  gewesen;  Jeremias'  Gebete  gehören  zu  den  ergreifendsten 
im  Alten  Testament.  —  So  geht  also  schließlich  die  Prophetie  in  die 
Lyrik  über. 

Eine  andere  Entwicklungslinie  ist  diese,  daß  sich  die  Propheten  nicht  Reflexionen 
begnügen,  die  Zukunft  nur  zu  verkündigten,  obwohl  dies  immer  ihr  erstes 
Wort  bleibt,  sondern  daß  sie  auch  den  sittlichen  Grund  angeben,  weshalb 
sie  kommen  muß.  So  haben  sie  ihren  Drohungen  Scheltreden  hinzu- 
gefügt, in  denen  sie  Israels  Frevel  darstellen;  dies  Aufzeigen  der  Sünde 
ist  den  großen  Propheten  ein  Hauptpunkt  ihrer  Predigt.  Sie  haben  auch 
Ratschläge  g-eg^eben,  was  man  tun  solle,  um  Jahves  Zorn  zu  entgehen, 
und  Mahnreden  gehalten:  in  dieser  Form  hatten  sie  eine  Gelegenheit, 
ihre  großen  sittlichen  und  religiösen  Ideale  positiv  zu  entwickeln.  In  er- 
regten Disputationen  mit  ihren  Volksgenossen  haben  sie,  angreifend 
und  verteidigend,  ihre  Gedanken  ausgeführt.  So  sind  sie  allmählich  zu 
Predigern  geworden.  Auch  Denker  sind  aus  ihnen  hervorgegangen, 
die  über  das  Gesetz  des  Waltens  Gottes  unter  den  Menschen  nachsinnen; 
Jeremias  ist  ein  Religionsphilosoph  zu  nennen.  Um  diese  Ideen  darzu- 
stellen, bot  sich  ihnen  die  Geschichtserzählung  dar,  wobei  es  ihnen 
freilich  nicht  auf  Mitteilung  der  Tatsachen,  sondern  ganz  allein  auf  Ge- 
schichtsbetrachtung, Geschichtsphilosophie  ankommt.  Auch  priester- 
licher Geist  hat  sich  mit  dem  prophetischen  verbunden:  Ezechiel  ist  der 
Priester  unter  den  Propheten. 

So  ist  also  in  der  Hand  dieser  Männer  an  die  Stelle  der  ursprüng- 
lichen Einförmigkeit  eine  fast  unübersehbare  Fülle  getreten:  alle  Strahlen 
der  bisherigen  religiösen  Literatur  sind  bei  den  Propheten  wie  in  einem 
Brennpunkt  zusammengekommen.  Und  diese  prophetische  Schriftstellerei 
hat  dann  auf  die  Späteren  aufs  kräftigste  gewirkt:  die  von  den  Propheten 
aufgenommenen  Gattungen,  mit  ihrem  Geiste  erfüllt,  werden  von  den  Epi- 
gonen fortgesetzt;  so  gibt  es  in  der  Folgezeit  eine  prophetische  Ge- 
schichtsschreibung und  eine  prophetische  Tora.  Diese  Gattungen 
aber  gewinnen  dann  einen  noch  größeren  Einfluß,  als  ihn  die  prophe- 
tischen Schriften  besessen  haben,  die  für  die  Späteren  wegen  ihrer  Ver- 
bindung mit  Zeitgeschichtlichem  z.  T.  schwer  verständlich  waren.  Die 
Tora  formuliert  das  prophetische  Ideal  in  wenigen,  leicht  verständlichen 
Forderungen,  von  denen  der  kultische  Teil  durch  den  Arm  des  Staates 
durchgesetzt  wird;  die  Geschichtsschreibung  aber  bringt  die  prophetischen 
Urteile  in  der  Form  der  Geschichtsbetrachtung  bis  auf  die  spätesten 
Nachkommen,  ja  bis  auf  die  Gegenwart.  Dazu  kommt  noch  eine  von  den 
Propheten  befruchtete  Lyrik,  die  Psalmendichtung. 

Nach  diesen  Ausführungen  werden  nun  auch  die  Gestalten   der   ein-    Propheten. 


88  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

zelnen  großen  prophetischen  Schriftsteller  deutlich:  da  ist  der  finstere, 
schroffe  Arnos  mit  seinen  Scheit-  und  Drohreden  und  sein  Zeiteenosse 
Hosea,  eine  reichere  Natur,  schwankend  zwischen  Zorn  und  Liebe,  in 
einem  schon  völlig  aufgelösten  Stil  nervös  auf  den  Gegner  einredend;  der 
königliche  Jesaias,  dessen  Sprache  voll  Wucht  und  Schwung  majestätisch 
dahinrollt,  am  gewaltigsten,  wenn  er  schilt  und  droht,  aber  auch  in  anderen 
Gattungen  ein  großer  Dichter;  Jeremias,  der  reichste  unter  allen  und 
in  vielen  Stilen  sich  bewegend:  im  alten  prophetischen  Stil  manchmal 
wuchtig  und  lebendig,  anderswo  freilich  auch  schwächer,  dazu  ein 
Denker,  der  die  tiefsten  Erkenntnisse  der  Prophetie  ausspricht,  und  ein  Pre- 
diger im  langatmigen  Stil  des  gleichzeitigen  Deuteronomiums,  dem  Hosea 
ähnlich  in  leidenschaftlichen  Disputationen  und  zugleich  einer  der  größten 
unter  den  Psalmisten;  Ezechiel,  ein  unverächtlicher  Dichter  mit  gewal- 
tigen Leichen-  und  Spottliedern,  der  die  alten  mythologischen  Stoffe 
liebt;  der  Dämonische  unter  den  Propheten  mit  seinen  seltsamen  Zeichen 
und  barocken  Allegorieen  und  zugleich  ein  Priester-Jurist  und  Geschichts- 
philosoph; sein  Ton  ist  vorwiegend  herbe  und  verbittert;  schließlich 
Deuterojesaias,  der  Letzte  unter  den  Großen,  der  Heilsprophet  unter 
den  kanonischen  Propheten,  erfüllt  von  brausendem  Enthusiasmus  oder 
von  zarter  Innigkeit;  bei  ihm  wird  die  Prophetie  zur  Lyrik.  Das  sind  die 
Propheten  Israels. 
Ältere  Psalmen-         2.   Mit   den  Prophcten  ist  die   Höhe   erreicht;    alles   Weitere   ist   ihre 

dichtung. 

Begleiterscheinung  oder  Weiterwirkung.  Der  starke  Individualismus,  den 
die  Propheten  geweckt  haben,  und  ihr  hoher  Sinn,  der  die  Opfer  und 
Zeremonieen  verachtet,  spricht  sich  in  einer  neuen  Art  religiöser  Lyrik 
aus.  Diese  Lyrik  ist  auf  Grund  der  alten  Kultusdichtung  entstanden;  die 
Gattungen,  die  diese  erzeugt  hat,  finden  hier  ihre  Fortsetzung.  Es  sind 
vorwiegend  Hymnen  und  Danklieder,  Klagelieder  des  Einzelnen  und  des 
Volkes;  der  Stil  hat  sich  z.  T.  mit  einer  fast  unglaublichen  Treue  bis  in 
die  späteste  Zeit  gehalten;  auch  das  Formelhafte,  das  dieser  liturgischen  Dich- 
tung von  Xatur  anhaftet,  verliert  sich  nicht  ganz:  daher  die  große  Eintönigkeit 
im  Psalter.  Aber  diese  alten  Gattungen  sind  zu  Gefäßen  eines  neuen 
Geistes  umgebildet.  Die  meisten  der  Psalmen  setzen  keine  bestimmte 
kultische  Handlung  mehr  voraus;  ja  die  Psalmisten  sind  überzeugt,  daß 
ein  Lied,  gesungen  aus  frommem  Herzen,  Gott  besser  gefällt  als  ein  Stier 
mit  Hörnern  und  Klauen  (Ps,  69,  ^2).  So  ist  aus  dem  kultischen  Dank- 
opferlied das  Danklied  und  aus  dem  kultischen  Klagelied  eine  neue 
Gattung  geworden,  die  nichts  mehr  von  Entsündigungs zeremonieen  weiß. 
Am  weitesten  entwickelt  sind  die  individuellen  Klagelieder,  in  denen 
die  Verbindung  mit  dem  Gottesdienst  völlig  gelöst  ist:  sie  werden  von 
dem  Kranken  und  Leidenden  im  stillen  Kämmerlein  gesungen.  Hier  spricht 
eine  Frömmigkeit  des  Herzens,  die  aus  der  Religion  des  Geistes  und  der 
Wahrheit  stammt:  die  Seele  steht,  befreit  von  den  Kultusformen,  vor  ihrem 
Gott.    Und  wie  der  Gottesdienst,  so  hat  auch  der  Gedanke  an  das  Volks- 


II.  Die  großen  Schriftstellerpersönlichkeiten  (ca.  750 — 540).  8q 

tum  hier  seine  Herrschaft  verloren,  wenn  auch  die  frommen  Sänger  nie 
aufgehört  haben,  gute  Patrioten  zu  sein.  Aber  der  Fromme  hat  hier  ein 
Heihgtum,  das  ihm  allein  angehört.  Wie  alt  diese  individuelle,  von  den 
Zeremonieen  befreite  Psalmendichtung  ist,  erkennt  man  daran,  daß  einige 
dieser  Psalmen  mit  dem  Gebet  für  den  regierenden  König  schließen 
(Ps.  28  u.  63;  I.  Sam.  2),  also  noch  aus  der  Zeit  des  judäischen  Königtums 
stammen  müssen,  und  daß  auch  Jeremias  in  den  Formen  dieser  Lieder 
gedichtet  hat:  erfunden  aber  hat  Jeremias  diese  Gattung-  nicht;  denn 
Gattungen  erfindet  kein  Einzelner.  Klag^elieder,  ursprüngliche  Kranken- 
lieder, sind  es  vornehmlich,  in  denen  das  Individuum  sich  so  das  Recht 
erobert  hat,  seine  persönlichen  Erfahrungen  auszusprechen,  eine  Lyrik  der 
„Armen",  Lieder  voller  Tränen  und  Seufzer  und  Herzeleid.  Daran  er- 
kennen wir  ein  Gesetz  religiösen  Lebens:  der  Acker  der  Religion  ist 
fruchtbar  gemacht  durch  Tränen  und  Blut.  Wahre,  persönliche  Religion 
kann  nur  sein,  wo  schwere  Kämpfe  vorausgegangen  sind;  und  die  Not 
ist  es,  die  zu  Gott  führt.  Wir  sehen  hier  also  in  Zeiten  hinein,  wo  es 
viele  „Arme"  und  Leidende  gegeben  hat,  und  wo  gerade  die  Frommen 
Leidende  waren.  So  spiegeln  sich  bestimmte,  sehr  unglückliche  politische 
und  soziale  Verhältnisse  wieder;  offenbar  dieselben,  über  die  auch  die 
Propheten  klagen:  auch  Jeremias  hat  sich  einen  „Armen"  genannt  (20,  13). 

Andere  Gattungen  der  Psalmen  haben  sich  nicht  so  weit  von  den 
Kultusliedern  entfernt.  Hymnen  und  öffentliche  Klagelieder  sind  bis 
in  die  späteste  Zeit  von  der  Gemeinde  im  Tempel  gesungen  worden,  aber 
auch  hier  sind  die  Anspielungen  an  bestimmte  kultische  Handlungen  fort- 
gefallen, und  einige  der  Hymnen  sind  ganz  subjektiv  geworden:  „lobe  den 
Herrn,  meine  Seele".  Prophetischer  Geist  zeigt  sich  besonders  deutlich 
in  den  eschatologischen  Hymnen:  wie  die  Propheten  die  Lyrik  nach- 
geahmt und  Lieder  gedichtet  hatten,  die  aber  nicht  das  gegenwärtige, 
sondern  das  zukünftige  Geschlecht  singen  soll,  so  entlehnen  nun  die  Psal- 
misten  diese  Gattung  der  Orakellieder  von  den  Propheten  und  verherr- 
lichen die  große  „Wendung"  Israels,  als  wenn  sie  schon  geschehen  wäre. 
Auch  der  Wechselgesang,  von  den  Propheten  aus  dem  Gottesdienst 
übernommen  und  ihrem  Geiste  dienstbar  gemacht,  kehrt  in  den  Psalmen 
wieder:  die  wundervolle  Zukunftsschau  wirkt  um  so  herrlicher,  wenn  die 
sehnsüchtige  Klage  und  das  leidenschaftliche  Gebet  vorher  erklungen  ist. 

Die  Psalmen  sind  ein  Höhepunkt  der  religiösen  Dichtung:  die  Hymnen 
reden  in  unvergänglicher  Sprache  von  der  einzigen  Majestät  der  Religion 
Israels;  in  den  Klageliedern  ertönen  Naturlaute  der  Frömmigkeit.  Freilich 
ist  das  Individuum  auch  hier  nur  relativ  frei:  eng  begrenzt  ist  der  Um- 
kreis der  Gedanken,  die  ihm  auszusprechen  erlaubt  ist;  das  Konkrete,  nur 
diesem  Einen  Geschehene,  tritt  in  diesen  Liedern  sehr  zurück;  nicht  so- 
wohl große  Dichter  haben  sie  gebildet,  sondern  einfache  Männer  aus  dem 
Volke  haben  in  ihnen  ihr  Herz  ergossen.  Trotzdem  bleiben  diese  Psalmen 
ein  köstlicher  Schatz,  den  Frommen  aller  Zeiten  wohl  bekannt. 


go  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

weisheits-  3.  Weisheitsdichtung.     Neben   den  Priestern   mit  ihrer  „Tora"  und 

dicbtuag. 

den  Propheten  mit  ihrem  „Wort"  nennt  schon  Jeremias  {18,  18)  die  Weisen 
mit  ihrem  Rat  als  Grundpfeiler  des  geistigen  Lebens.  Auch  im  Ausland 
wird  damals  solche  Weisheit  betrieben:  die  Ostländer  und  Edomiter  sind 
als  Weise  berühmt;  Hiob  und  seine  Freunde  stammen  daher;  Namen  ara- 
bischer Weisen  werden  im  Buch  der  Proverbien  (30,  i;  31,  i)  genannt; 
erhaltene  äg}T3tische  und  babylonische  Weisheitssprüche  sind  den  israeli- 
tischen sehr  ähnlich.  So  mag  denn  auch  die  Figur  der  „Weisheit",  der 
Lieblingstochter  Gottes  (Prov.  8,  22S.),  die  für  die  Hebräer  nur  eine  Per- 
sonifikation darstellt,  ursprünglich  eine  Göttin,  die  Schutzgöttin  der 
Weisen  gewesen  sein.  Auf  uns  gekommen  sind  aus  israelitischer  Weis- 
heitsliteratur die  Spruchsammlungen  der  Proverbien  und  des  Jesus  ben 
Sira;  auch  die  einheitlich  konzipierten  Bücher  des  Hiob,  des  Predigers 
und  der  {griechisch  geschriebenen)  Weisheit  Salomonis  sind  aus  dieser 
Wurzel  entsprossen.  Davon  gehören  die  Proverbien  (wenigstens  ihrem 
Grundstock  nach)  und  Hiob  einer  älteren  Periode  an,  während  die  anderen 
Schriften  aus  späterer  Zeit  stammen.  Anders  aber  als  die  Chronologie  reiht 
die  Literaturgeschichte  die  Schriften  an:  danach  ist  die  älteste  literarische 
Form  die  der  Sammlungen,  auf  Grund  deren  dann  die  großen  Weisheits- 
bücher verfaßt  sind.  Im  Leben  aber  ist  die  ursprüngliche  Einheit  der 
einzelne  Spruch  gewesen;  denn  auch  diese  „Weisheit"  hat,  ehe  sie  nieder- 
geschrieben wurde,  in  mündlicher  Überlieferung  existiert. 
Die  Sprüche.  Es  sind  „Weisc",  weißbärtige  Männer,  die  auf  den  freien  Plätzen  oder  im 

Tore  zusammensitzen  (Prov^  i,  20 f.),  die  diese  Weisheit  pflegen;  die  Sprüche, 
die  sie  in  der  Jugend  erlernt  haben,  tauschen  sie  miteinander  aus;  der  Jüngling 
aber  möge  zuhören  und  Weisheit  lernen.  Diese  „Weisheit"  ist  also  keine 
Volksdichtung  und  nicht  mit  unseren  „Sprichwörtern"  zu  verwechseln, 
sondern  eine  Art  Kunstdichtung,  nur  in  ganz  bestimmten  Kreisen  zu 
Hause,  Diese  „Weisen"  geben  guten  „Rat"  in  allen  Lagen  des  Lebens: 
sie  wissen,  was  man  zu  tun  hat  auf  dem  Felde,  zu  Hause  und  im  Tore, 
mit  Weib  und  Kind,  Knecht  und  Magd,  Freund  und  Feind.  Dies  alles 
mit  dem  Nebengedanken,  daß  es  gut  ist,  weise  zu  handeln;  denn  dem 
Weisen  geht  alles  gut,  aber  der  Tor  kommt  zu  Fall,  Solche  verständigen 
Betrachtungen  sind  zunächst  ganz  profan;  aber  in  einer  späteren  Phase 
fließen  auch  sittliche  und  religiöse  Gedanken  mit  hinein:  die  Weisheit 
lehrt  nichts  anderes  als  die  Religion;  die  Furcht  Gottes  ist  der  Weisheit 
Anfang,  Der  Hauptsatz  aber,  der  in  solchen  Sprüchen  beständig  variiert 
wird,  ist  der  Vergeltungsglaube,  der  ja  keiner  entwickelteren  Religion  fremd 
ist  und  auch  dem  alten  Israel  längst  bekannt  war,  der  aber  in  dieser 
Weisheit  je  länger  je  mehr  hervortritt,  der  Glaube,  daß  die  Gottheit  den 
Frommen  mit  allen  Gütern  belohnt,  aber  über  den  Bösen  die  schreck- 
liche Katastrophe  bringt.  Der  Geist  dieser  Weisheit  ist  von  dem  Geiste 
der  Propheten  im  allgemeinen  weit  entfernt:  sie  redet  nicht  wie  jene  vom 
Schicksal   des  Volkes,    sondern   nur  von  dem   des   einzelnen  Mannes;   und 


II.  Die  großen  Schriflstellerpersönlichkeiten  (ca.  750 — 540).  qI 

der  flammende  Enthusiasmus  der  Prophetie  und  die  nüchterne,  biedere  Lebens- 
klugheit der  Proverbien  sind  gar  verschiedene  Dinge.  Doch  mag  man  auch 
hier  in  dem  ausgeprägten  Individualismus,  der  sich  in  den  Proverbien  zeigt, 
und  in  der  Abwehr  des  Opferkults  eine  Wirkung  des  Prophetismus  sehen.  — 
Der  Form  nach  sind  diese  Sprüche  ursprünglich  sehr  kurz,  nur  eine  Zeile  lang. 
Sie  enthalten  entweder  allgemeine  Betrachtungen,  oder  sie  reden  den  Jüngling 
an  und  ermahnen  ihn:  willst  du  gute  Tage  sehen,  dann  halte  dich  an  diese 
Lehre!  Oft  sind  sie  fein  pointiert;  sei  es,  daß  die  zweite  Zeile  ein  geist- 
reiches Bild  bringt  oder  eine  frappante  Antithese  oder  dergleichen.  Später 
sind  größere  Einheiten  aus  mehreren  Zeilen  gebildet  worden  und  schließ- 
lich längere,  erbauliche  und  ermahnende  Reden.  Solche  Spruchdichtung 
hat  man  jahrhundertelang  betrieben,  sich  an  Sprüchen  erfreut  und  sie  ge- 
sammelt, wobei  die  einzelnen  Worte  mannigfach  umgestaltet  worden  sind. 
Aus  kleineren  Sammlungen  ist  dann  zuletzt  das  Buch  der  Proverbien  zu- 
sammengestellt worden.  Mit  Salomos  Naturweisheit  hat  diese  Literatur 
der  Lebensweisheit  nichts  zu  schaffen. 

In  die  ältere  Zeit  der  Weisheitsdichtung  dürfen  wir  ohne  Bedenken  Hiob. 
das  Buch  Hiob  einordnen,  in  gewissem  Sinne  das  älteste  und  fast  das 
einzige  „Buch",  jedenfalls  die  umfassendste  Komposition  in  der  hebräischen 
Literatur.  Das  Buch  behandelt  ein  religiöses  Problem.  Es  ist  be- 
zeichnend, daß  es  an  dieser  Stelle  der  geistigen  Entwicklung  Israels  zu 
religiösen  Frag-en  und  Zweifeln  gekommen  ist,  —  das  ist  der  Rückschlag 
gegen  das  gewaltige  Pathos  der  Propheten  —  und  daß  der  Zweifel  im  Kreise 
der  „Weisen"  entstanden  ist,  —  hier  war  das  Nachdenken  über  die  Religion 
zu  Hause.  Nicht  einen  nebensächlichen  Satz  greift  der  Dichter  an,  son- 
dern er  richtet  sich  gegen  die  fundamentale  religiöse  Überzeugung  seines 
Kreises,  die  auch  in  den  Psalmen,  im  Gesetz  und  schon  in  den  Sagen 
beständig  wiederkehrt,  die  Überzeugung,  daß  Gott  Frömmigkeit  belohnt 
und  Frevel  bestraft.  So  tief  war  dieser  Glaube  in  den  Gemütern  der 
Frommen  eingewurzelt,  daß  er  ihnen  fester  als  Himmel  und  Erde  zu 
stehen  schien.  Wie  der  Dichter  zu  seinem  Zweifel  gekommen  ist,  hat  er 
selber  in  seinem  Gedichte  niedergelegt:  einst  selber  ein  Frommer  und  ein 
anerkannter  Führer  der  Seinigen,  hat  er  schweres  Leid  erfahren:  das  war  der 
Lohn  seiner  Frömmigkeit!  Da  hat  er  es  erleben  müssen,  daß  seine  frommen 
Freunde,  gewohnt,  die  Menschen  je  nach  ihrem  Glück  oder  Unglück  für 
gerecht  oder  gottlos  zu  halten,  ihn  für  einen  Frevler  erklärten,  dessen 
geheime  Sünde  Gott  jetzt  an  den  Tag  gebracht  habe;  diese  mitleidlose  An- 
wendung der  Vergeltungslehre  hat  ihm  die  Augen  aufgetan.  Dies  grau- 
samste Erlebnis  aber,  das  er  erleiden  konnte,  hat  ihn  zum  großen  Dichter 
gemacht.  Um  diesen  Konflikt  darzustellen,  hat  er  die  alte  Erzählung  vom 
Dulder  Hiob  benutzt,  dem  plötzlich  Hab  und  Gut  genommen,  dem  seine 
Familie  entrissen  wurde,  der  selber  in  eine  schreckliche  Krankheit  fiel, 
aber  in  alledem  Geduld  und  Gottesfurcht  bewahrte.  Die  Sage  wußte  auch, 
weshalb    solche   Not    über    Hiob    gekommen    war:    Gott   hatte    mit    einem 


0  2  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

seiner  Engel,  dem  Satan,  eine  Wette  geschlossen,  ob  wenigstens  dieser 
Frömmste  der  Frommen  ihn  in  völliger  Uneigennützigkeit  fürchte.  An 
diese  alte  Volkserzählung  hat  der  Dichter  sein  Gedicht  angeschlossen,  um 
an  solchem  g'anz  deutlichen  Beispiele  das  Leiden  eines  Gerechten  dar- 
zustellen, und  hat  in  g-ewaltig  -  pathetischen  Reden  Hiob  die  eigenen 
Schmerzen  und  Zweifel  aussprechen  lassen,  ganz  unbekümmert  darum, 
daß  der  alte  g^eduldige  Hiob  von  seinem  Hiob  mit  seiner  Verzweiflung 
und  seinem  Kampf  gegen  Gott  weit  entfernt  ist.  Der  Hiob  der  Reden 
ist  also  der  leidende  Gerechte,  dem  die  Frage  auf  der  Seele  liegt:  warum 
hat  Gott  mir  das  getan?  ist  dieser  Gott  ein  gerechter  Richter?  Ihm 
gegenüber  vertreten  die  Freunde,  die  mit  ihm  disputieren,  die  gewöhn- 
liche Meinung,  daß  der  Sünder  bestraft  werde,  und  daß,  wer  Strafe  erleide, 
also  auch  ein  Sünder  sei.  Zuerst  wohlmeinend  in  leisen  Andeutungen, 
dann,  durch  Hiobs  steigenden  Ingrimm  gereizt,  immer  deutlicher  und 
schroffer,  halten  sie  ihm,  unbarmherzig  genug,  vor,  daß  er  ein  Sünder  sei 
und  sich  unter  Gottes  Zucht  demütig  zu  beugen  habe.  Das  ist  die  hartherzige 
Stellung  der  ^lehrheit,  die  vom  Dogma  aus  den  einzelnen  Fall  beurteilt.  So 
wird  der  leidende  Fromme  ausgestoßen  von  den  eigenen  Freunden.  Ihnen 
gegenüber  stützt  sich  Hiob  auf  nichts  anderes  als  seine  eigene,  ihm  völlig  ge- 
wisse subjektive  Erfahrung,  daß  er  gerecht  ist,  und  er  verlangt  im  Namen  der 
Gerechtigkeit,  daß  sich  sein  Geschick  nach  seinen  Werken  richte.  So 
zweifelt  er  an  der  sittlichen  Weltordnung:  in  herzzerreißenden  Jammer- 
tönen beklagt  er  sein  und  aller  Welt  Geschick;  mit  furchtbarer  Leiden- 
schaft fährt  er  gegen  den  Gott  los,  der  seine  Macht  über  die  Menschen 
mißbrauche,  den  er  jetzt  zu  verlieren  fürchtet,  und  an  den  er  sich  doch 
als  seinen  einzigen  Zeugen  gegenüber  den  Menschen  anklammert.  Zuletzt 
müssen  seine  Freunde  verstummen.  Noch  einmal  bezeugt  Hiob  feierlich 
seine  Unschuld  und  ruft  Gott  selbst  auf,  sich  zu  stellen.  Und  Gott  erscheint. 
In  majestätischen  Reden  schildert  er  selber  seine  übermenschliche  Herr- 
lichkeit als  des  Schöpfers  und  Regierers  der  Welt  und  fordert  dann  Hiob 
auf,  die  Klage  zu  beginnen.  Aber  vor  der  göttlichen  Allmacht  hört  jeder 
Widerspruch  auf:  Hiob  nimmt  seine  vermessenen  Reden  zurück.  Nun  der 
Schluß,  der  das  göttliche  Urteil  über  die  Personen  ausspricht,  wonach 
Hiob  wiederhergestellt  wird  und  für  seine  Freunde,  diese  vermeintlichen 
Frommen,  Fürbitte  einlegen  muß.  In  diesem  Schlüsse  spricht  sich  ein  un- 
erschütterlicher Mut  der  Wahrheitsliebe  aus:  wer  scheinbar  für  Gottes 
Sache  Lüge  redet,  hat  Sünde  getan!  Eine  Lösung  des  Problems,  warum 
der  Gerechte  leide,  hat  der  Dichter  nicht  gegeben.  Er  hat  dies  Problem 
aufs  tiefste  empfunden,  aber  es  ist  ihm  unlösbar  geblieben.  Sicher  nur 
dies,  daß  man  den  Leidenden  nicht  verurteilen  noch  ausstoßen  darf.  Von 
dem  Gott,  dessen  Walten  im  Menschenleben  so  oft  verborgene  Wege 
wandelt,  hat  er  sich  zu  dem  Gott  geflüchtet,  dessen  Herrlichkeit  in  der 
Natur  deutlich  ist.  Alle  seine  Anklagen  schweigen  und  selbst  seine 
Wunden  hören  auf  zu  bluten,  wenn  ihm  die  schlechthinnige  Erhabenheit 


111.  Die  Epigonen.  q5 

Gottes  vor  die  Seele  tritt:  wer  bin  ich  und  wer  bist  du!  —  Dem  Stil 
nach  ist  Hiob  im  Alten  Testament  ganz  originell:  seine  Reden  haben  die 
Form  der  Streitreden  von  Weisen,  die  um  Weisheit  wetteifern.  Diese 
Reden  aber  sind  ausgestattet  mit  einer  reichen  Fülle  von  lyrischen 
Motiven:  es  sind  schmerzliche  Klag'elieder,  pathetische  Unschulds- 
beteuerungen und  besonders  wundervolle  Hymnen.  Der  Dichter  ver- 
steht es,  „zur  rechten  Zeit  den  erschütterndsten  Ausdruck  zu  finden  für 
das  gewaltige  Ringen  eines  Geistes,  der  um  das  höchste  Gut  des  Men- 
schen fast  vergebens  kämpft"  (Du hm).  Parallelen  für  diese  Gattung  des  philo- 
sophisch-religiösen Gespräches  finden  sich  in  der  ägyptischen  Literatur. 
Die  Späteren  haben  das  Gedicht  durch  mancherlei  Weglassungen  und 
Zusätze  und  besonders  durch  die  Hinzufügung  der  Elihureden  (32 — 37) 
verunstaltet,  in  denen  ein  schwächlicher  Nachkömmling  sich  vermaß,  den 
großen  Dichter  und  seinen  Hiob  zu  meistern. 

III.  Die    Epigonen.     Mit    der  Zertrümmerung    des   Staates    und   der  Die  Epigonen. 

^    '^  °  Politische    und 

Wegführung  des  größten  Teiles  des  Volkes  Juda  durch  die  Chaldäer  (586)  kulturelle  Ver- 
hältnisse, 
beginnt     eine     neue    Periode.      Auf    die     leidenschaftliche    Erregung    der 

letzten  Jahrhunderte  folgt  nun  eine  Zeit  der  Erschöpfung.  Zwar  ist 
es  unter  dem  Protektorat  des  persischen  Weltreiches,  das  nach  50  Jahren 
das  chaldäische  beerbte,  zu  einer  Neugründung  in  Palästina  gekommen, 
wenn  auch  die  Hauptmasse  der  Verbannten  in  Babylonien  zurückblieb. 
Aber  diese  palästinensische  Gemeinde,  eingekeilt  zwischen  feindliche 
Nachbarn,  blieb  lange  Zeit  das  Schmerzenskind  des  Judentums  und  verlor 
bald  unter  dem  Verdacht  revolutionärer  Gesinnung  die  einheimische 
Obrigkeit.  Es  liegt  auf  dem  unglücklichen  Volke  wie  ein  bleierner  Druck, 
den  es  um  so  tiefer  empfindet,  als  es  beständig-  von  einer  eigenen  Welt- 
herrschaft träumt,  die  ihm  sein  Gott  verschaffen  soll.  Unter  dem  Elend 
der  Zeit  verwandelt  sich  der  Volkscharakter:  der  Jude  muß  den  Rücken 
vor  dem  Weltherrn  beugen  und  verachtet  doch  den  Heiden  aufs  tiefste. 
Allmählich  ist  die  Diaspora  des  Judentums  dann  immer  ausgedehnter  ge- 
worden; außerhalb  Palästinas  hat  der  Jude  in  den  folgenden  Jahr- 
hunderten den  Beruf  des  Kaufmanns  gelernt,  und  als  Kaufmann  ist  er  in 
die  ganze  Welt  gezogen.  Bei  seiner  Umgebung  ist  er  aufs  tiefste  un- 
beliebt; schon  damals  haben  Judenhetzen  stattgefunden;  Denkmal  dieser 
Verhältnisse  ist  das  Buch  Ester.  Der  damaligen  Weltkultur,  die,  wesent- 
lich babylonischer  und  ägyptischer  Herkunft,  auch  im  persischen  Reiche 
bestehen  blieb,  hat  das  Judentum  in  seinem  gesamten  äußeren  Leben  je 
läng-er  je  mehr  nicht  widerstehen  können.  Selbst  die  damals  herrschende 
aramäische  Sprache  hat  es  auf  die  Dauer  nicht  abzuwehren  vermocht.  So 
verändert  sich  im  Laufe  dieser  Periode  das  Volk  von  Grund  aus.  Trotz- 
dem wahrt  es  seine  Existenz  und  besonders  seine  Religion  mit  staunens- 
werter Kraft.  Es  ist  in  der  Weltgeschichte  ein  nicht  seltenes  Schauspiel, 
daß  Völker,    nach    der  Zertrümmerung    ihres   Staates   und    dem   Aufhören 


94 


Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 


ihrer  eigentlichen  Geschichte,  dennoch  weiter  existieren,  wenn  sie  an  der 
nationalen  Religion  einen  Halt  finden;  solche  Religion  aber  hat  dann  die 
Form  der  autoritativen  Institution,  und  die  leitende  Persönlichkeit  wird 
der  Priester.  So  „verkapselt"  sich  damals  das  Judentum  in  der  Form  einer 
religiösen  Gemeinde;  seine  Religion  empfängt  die  Form  des  Gesetzes  und 
der  Hohepriester  von  Jerusalem  übernimmt  die  Führung.  Zwei  große 
Versuche  hat  das  Judentum  gemacht,  sich  ein  solches  Gesetz  zu  geben. 
Der  erste  Versuch  ist  schon  vor  der  letzten  Katastrophe  geschehen;  es 
ist  die  im  Grundstock  des  Deuteronomiums  uns  noch  erhaltene  Gesetzgebung 
des  Königs  Josia  (623).  Das  zweite  große  Unternehmen  ist  die  Gesetz- 
gebung des  von  uns  sogenannten  „Priesterkodex"  (P),  den  wir  in  der  Mitte 
des  Pentateuch  besitzen,  und  der  444  unter  Mitwirkung  der  persischen 
Zentralbehörde  das  Gesetzbuch  der  Gemeinde  von  Jerusalem  geworden  ist. 
Die  Religion  In    der  Gemeinde    kommt   durch    das   Exil,    das   die  Weissagung   der 

Propheten  so  furchtbar  erfüllt,  die  Prophetie  zur  Herrschaft.  Der 
Monotheismus  durchdringt  das  Judentum;  fortan  hat  es  im  allgemeinen 
keine  Neigung  mehr,  die  heidnischen  Götter  zu  verehren;  die  mancherlei 
m}i:hologischen  Stoffe,  die  man  dennoch  aufgenommen  hat,  werden  der 
poh-theistischen  Form  entkleidet.  Tiefe  Beschämung  erfüllt  den  Juden, 
wenn  er  der  Abgötterei  der  Vorzeit  gedenkt;  die  Stimmung,  sündig  zu 
sein  und  der  Buße  zu  bedürfen,  die  die  Propheten  so  oft  gepredigt 
hatten,  erfüllt  das  Volk.  So  geht  die  urwüchsige  Volksreligion  zugrunde.  — 
Aber  indem  die  Gedanken  der  Propheten  jetzt  in  die  Gemeinde  dringen, 
können  sie  nicht  unverändert  bleiben;  die  Stimmung^en  der  Masse  wirken 
mit  ein,  ja  sie  kommen  an  die  Oberfläche.  Die  hohe  Stellung  der  Pro- 
pheten, die  den  Kultus  geringschätzten,  kann  nicht  innegehalten  werden. 
So  kommt  es  zwischen  prophetischer  und  Gemeindereligion  zu  einem 
Kompromiß,  wonach  die  Kultussitten  zwar  das  vormals  Heidnische  ab- 
streifen, dann  aber  um  so  eifriger  und  sicherer  als  Gottes  heiliges  Gesetz 
verehrt  werden.  In  der  Folgezeit  geht  dann  das  religiöse  Leben  in  zwei 
Richtungen  auseinander:  die  gesetzliche,  die  auf  die  im  letzten  Grunde 
aus  der  alten  Religion  stammenden  Kultussatzungen  wie  Sabbath,  Beschnei- 
dung und  Reinheitsgebote  den  Nachdruck  legt,  sich  im  Priesterkodex 
darstellt  und  dann  in  der  Schriftgelehrsamkeit  und  im  Pharisäismus  weiter- 
lebt; aber  auch  die  Religion  der  Propheten  dauert,  besonders  unter  den 
Psalmisten,  fort  und  tritt  schließlich  im  Evangelium  Jesu  in  erneuter  und 
verklärter  Gestalt  auf. 

Die  Literatur  hatte  vor  den  großen  Katastrophen  ihre  klassische 
Zeit  erlebt.  Das  geistige  Leben  stand  damals  fast  auf  allen  Gebieten, 
die  Israel  überhaupt  gepflegt  hat,  in  höchster  Blüte.  Nun  folgt  ein 
langer  Winter.  Zwar  werden  die  alten  Gattungen  noch  jahrhunderte- 
lang fortgesetzt.  So  hat  die  hebräische  Literatur  noch  ein  Fortleben, 
nachdem  die  Sprache  des  täglichen  Lebens  längst  aramäisch  geworden 
ist.      Aramäisch    schreibt    man    vor    allem     die    offiziellen    Urkunden    — 


III.  Die  Epigonen.  qc 

denn  es  ist  die  Sprache  der  Obrigkeit  — ,  die  Kontrakte,  Briefe, 
Listen  u.  dgl.  Auch  im  Alten  Testament  finden  sich  einige,  wenn  auch 
nicht  sehr  bedeutende  aramäische  Abschnitte.  Aber  das  Hebräische  bleibt, 
im  wesentlichen  unangetastet,  die  Sprache  der  Religion.  —  Eine  Sprache 
indes,  die  nur  oder  vorwiegend  geschrieben  wird,  kann  sich  auf  die  Dauer 
nicht  halten.  So  stirbt  die  hebräische  Literatur  in  dieser  Epoche  langsam 
ab.  Um  so  mehr  cvber  ist  man  darauf  bedacht  gewesen,  das  noch  Vor- 
handene zu  sammeln.  So  ist  diese  Zeit  eine  Zeit  der  Sammlungen;  da- 
mals sind  die  meisten  der  uns  überlieferten  „Bücher"  aus  den  Über- 
lieferungen der  Vergangenheit  zusammeng'estellt  worden.  Sprüche,  Psal- 
men, Prophetenschriften,  Erzählungen  hat  man  in  jener  Zeit  zu  Büchern 
vereinigt.  Eine  der  wichtigsten  Sammlungen  ist  die  Zusammenstellung 
des  „Jehovisten"  (d.  h.  einer  Zusammenfassung  von  Jahvisten  und  Elohisten) 
mit  dem  Deuteronomium,  die  etwa  um  500  existiert  hat;  dieser  Sammlung 
ist  dann  später  als  Konkurrenzunternehmen  das  Buch  des  „Priesterkodex" 
entgegengestellt  worden,  der  in  seiner  damaligen  Gestalt  gleichfalls  heilige 
Geschichte  und  Gesetze  enthielt;  schließlich  sind  beide  Sammlungen  ver- 
schmolzen worden  in  unsern  Pentateuch.  —  Mit  der  Sammlung  geht  Hand 
in  Hand  die  Überarbeitung-,  zum  Teil  im  größten  Stil;  besonders  die  ge- 
schichtliche Überlieferung  ist  damals  durch  gxoße  Redaktionen  erst  in 
diejenige  Form  gebracht  worden,  in  der  wir  sie  jetzt  lesen.  Diese  Re- 
daktionen sind  die  Hinterlassenschaft  der  Schriftgelehrsamkeit:  auch 
im  Judentum  sind  die  Schriftgelehrten  die  Erben  und  Nachfolger  der 
Schriftsteller.  —  Für  diejenige  Literatur,  die  man  selbst  geschaffen  hat, 
ist  charakteristisch,    daß  jetzt  die  Mischgattungen  überwiegen. 

Die  Hauptgattungen  jüdischer  Literatur  sind  folgende:  Hauptgattungen. 

I.  Die  Tora  hat  damals  die  unbestrittene  Führung.  In  dieser  Tora. 
Gattung  werden  jetzt  die  Riten  des  Tempels  von  Jerusalem  gebucht,  aber 
im  Geiste  einer  neuen  Zeit.  Der  vorexilischen  Epoche  gehört  noch  das  Deu- 
teronomium an,  dessen  Hauptforderung  die  Einheit  des  Kultus  ist,  und  das 
auch  seinem  Stile  nach  von  der  Verbindung  des  prophetischen  und 
priesterlichen  Geistes  zeugt,  durch  die  es  zustande  gekommen  ist:  die 
Form  der  priesterlichen  Tora  tragen  die  einzelnen  Gebote,  aber  dazwischen 
klingt  sehr  vielfach  prophetische  Ermahnung  und  Verheißung  durch.  — 
Während  sich  das  Deuteronomium  vorwiegend  an  den  Laien  wendet,  ist 
der  „Priesterkodex"  für  den  Priester  bestimmt.  Die  Priestergeschlechter, 
die  einst  in  Jerusalem  amtiert  haben,  kodifizieren  ihre  Tradition  und  ihre 
Ansprüche,  indem  sie  ein  Idealbild  ausmalen,  das  in  der  Zeit  des  Moses 
Wirklichkeit  gewesen  sein  soll.  Die  Einheit  des  Kultus  wird  nicht  mehr 
ausdrücklich  gefordert:  man  kann  sie  in  jener  Zeit  schon  als  verwirklicht 
voraussetzen.  Das  System  eines  geistlichen  Volkes,  das  diese  Schrift 
verkündet,  hat  eine  großartige  Geschlossenheit,  aber  es  entbehrt  des 
Lebens:  das  natürliche  Volkstum  tritt  darin  höchst  auffallend  zurück,  und 
für  individuelle  Frömmigkeit  haben  diese  Kirchenmänner  keinen  Sinn.    Es 


96 


Hermann  Guxkel:  Die  israelitische  Literatur. 


ist  Wellhausens  Verdienst,  erkannt   zu  haben,  daß  dies  Idealbild  nicht  an 
den  Anfang,  sondern  an  das  Ende  der  Geschichte  Israels  gehört. 
Hedige  2.  Die  Heilige  Geschichte.     Durch   die  Verbindung   der  alten  ge- 

schichtlichen und  volkstümlichen  Überlieferung  mit  dem  geschichtsphilo- 
sophischen  Geiste  der  Propheten  entstehen  jetzt  große  Geschichts- 
bücher. Wir  nennen  diese  Geschichtschreibung  „deuteronomistisch",  weil 
in  ihr  der  Geist  des  Deuteronomiums  vorwaltet.  Das  umfassende  Ge- 
schichtswerk, das  uns  in  den  Büchern  der  Richter,  Samuelis  und  der 
Könige  vorliegt,  stammt  aus  dieser  Zeit.  Es  ist  unter  dem  Eindruck  des 
Exils  geschrieben,  als  ein  Sündenbekenntnis  des  Judentums:  welche  Frevel 
müssen  die  Vorfahren  getan  haben  —  so  ist  sein  Hauptgedanke  — ,  wenn 
dieser  furchtbare  Gotteszorn  die  Antwort  darauf  gewesen  ist! 

Später  ist  im  Geiste  des  Priesterkodex  eine  Bearbeitung  der  ältesten 
Sagen  vorgenommen  und  dann  mit  diesem  Werke  vereinigt  worden.  Hier 
ist  die  Ursage  aufs  energischste  umgearbeitet  worden:  es  ist  ein  Neubau 
zustande  gekommen,  vergleichbar  den  Neugründungen  auf  kirchlichem 
Boden  in  derselben  Zeit. 

Einige  Jahrhunderte  später,  im  Zeitalter  Alexanders  des  Großen,  ist 
ein  neues  großes  Geschichtswerk  abgefaßt  worden,  in  dem  in  einer 
auffallenden  Verständnislosigkeit  für  die  alte  Geschichte  die  Überlieferung 
gewaltsam  umgebildet  worden  ist;  es  ist  die  Chronik,  in  der  aus  dem 
großen  Krieger  und  listenreichen  Diplomaten  David  ein  harmloser  Kantor 
und  Liturg  geworden  ist  (Wellhausen). 

Alle  diese  Erzählungswerke  stellen  einen  immer  tieferen  Sturz  in  der 
Kunst  der  Geschichtserzählung  dar:  nicht  das  Geschehene  interessiert  diese 
Späteren  und  Spätesten  mehr,  sondern  nur  noch  die  Beurteilung;  und  ihre 
Beurteilung  vermag  sich  in  den  Geist  der  Vorzeit  nicht  zu  hnden.  Trotz- 
dem bleiben  sie  (namentlich  das  ältere  deuteronomistische  Werk)  großartig 
in  der  Geschlossenheit  ihrer  Geschichtsbetrachtung  und  ehrwürdig  als 
erste  Versuche,  Zweck  und  Sinn  des  geschichtlichen  Ganges  auszudeuten. 
Von  ihnen  stammt  das,  was  wir  „heilige  Geschichte"  nennen;  der  große 
Gedanke  der  Erziehung  des  Menschengeschlechtes  und  der  Offenbarung 
als  einer  Geschichte  ist  auf  ihrem  Boden  erwachsen. 

Neue  Geschichtswerke  sind  damals  sehr  wenig  mehr  geschrieben 
worden,  weil  man  keine  Geschichte  mehr  erlebte.  Daher  erklärt  sich  auch 
die  Abnahme  des  historischen  Sinnes:  diese  Menschen  wissen  es  nicht 
mehr,  wie  man  Völker  leitet  und  Kriege  führt.  So  kann  sich  der  Chronist 
vorstellen,  daß  Israel  dadurch  seine  Siege  davongetragen  habe,  daß  es 
Loblieder  für  Jahve  anstimmte:  dann  stürzen  die  Feinde,  einer  in  das 
Schwert  des  anderen.  —  Dagegen  gibt  es  zu  jener  Zeit  bezeichnender- 
weise Memoiren,  Berichte  über  die  Erlebnisse  des  Einzelnen;  wie  denn 
auch  sonst  in  dieser  Epoche,  da  die  alten  Verbände  immer  mehr  nach- 
lassen,  das  Individuum  in  der  Religion  immer  stärker  hervortritt.  Wir 
besitzen    die    Memoiren    Esras    und    Nehemias;    und    auch     die     Nachah- 


III.  Die  Epigonen,  q^ 

mungen  dieser  Gattung  im  „Prediger"  und  im  Tobias  zeigen,  wie  sehr 
damals  das  Schreiben  von  Tagebüchern  beliebt  war.  Kleinere  „Legenden", 
d.  h,  Erzählungen  von  bestimmt  geistlicher  Richtung,  sind  in  jener  Epoche 
vielfach  geschrieben  worden:  Ruth  (wofern  diese  liebenswürdige  und  gänz- 
lich tendenzlose  Novelle  nicht  schon  einer  etwas  früheren  Epoche  an- 
gehört), Jonas,  Ester,  Judith,  Tobias. 

3.  Die  Prophetie   bringt  nach   dem  Exil  noch  zwei   große  Personen  Nachexiiische 

,  Prophetie. 

hervor  (Ezechiel  und  Deuterojesaias)  und  liegt  dann  m  langer  Agonie,  bis 
sie  endlich  von  der  beginnenden  Apokalyptik  abgelöst  wird.  Prophetie  und 
Apokalyptik  unterscheiden  sich  durch  ihre  Originalität:  die  Apokalyptiker 
ahmen  vielfach  die  Propheten  nach  und  übernehmen  ihre  Weissag^ungen 
wie  Dogmen,  und  durch  ihre,  allerdings  nur  relativ  verschiedene  Haltung 
gegenüber  dem  beständig  zuströmenden  mythologisch  -  eschatologischen 
Stoff:  die  Prophetie  bearbeitet  ihn  stark,  indem  sie  ihn  auf  die  jeweilige 
Zeitiage  bezieht,  die  Apokalyptik  aber,  klassisch  vertreten  durch  das  Buch 
Daniel  und  die  Offenbarung  Johannis,  übernimmt  ihn  in  ursprünglicherer 
Gestalt  und  in  größeren  Massen.  Von  den  alten  Propheten  unterscheidet 
sich  die  Prophetie  der  späteren  Zeit  durch  das  Einströmen  priester- 
lichen Geistes,  der  das  ganze  Zeitalter  charakterisiert,  und  dadurch,  daß 
sie  immer  dogmatischer,  apokalyptischer  wird. 

4.  Die  Psalm endichtung,    die    in    dieser   Epoche    besonders    geblüht     Psaimen- 

dichtung. 

hat,  zeigt  uns  das  Judentum  von  seiner  liebenswürdigsten  Seite.  Die 
Gattungen  der  älteren  Lyrik  werden  bis  in  die  Zeit  des  Pompejus  („Psal- 
men Salomos")  fortgesetzt,  ohne  daß  wir  einen  deutlichen  Unterschied 
zwischen  vor-  und  nachexilischer  Dichtung-  zu  erkennen  vermöchten.  Je 
länger  aber  diese  Lyrik  besteht,  je  mehr  werden  die  reinen  Gattungen 
der  alten  Zeit  durch  Mischungen  abgelöst.  Prophetisches  klingt  mit 
hinein;  die  alte  heilige  Geschichte  wird  versifiziert;  häufig  sind  Mischungen 
von  Spruchdichtung  und  Lyrik  usw.  Diese  Mannigfaltigkeit  der  Misch- 
formen ist  es,  die  bisher  die  Erkenntnis  der  Gattungen  unter  den  Psalmen 
aufgehalten  hat.  Diese  Lieder  sind  damals  nicht  nur  in  den  Zusammen- 
künften der  Frommen  gesungen,  sondern  zugleich  auch  am  Tempel  von 
den  Sängerchören  aufgeführt  worden:  von  dem  Gottesdienst  ursprünglich 
ausgegangen,  sind  sie  schließlich  dahin  wdeder  zurückgekehrt. 

5.  Endlich  die  Spruchdichtung.  Das  Buch  der  Proverbien  w4rd 
gesammelt;  viel  später  schreibt  dann  der  wackere  Jesus  ben  Sira,  indem 
er  nach  der  Art  der  Zeit  den  „Sprüchen"  viele  lyrische  Stücke  hinzu- 
gesellt. Zu  diesem  Genre  gehört  noch  der  „Prediger",  der  Form  nach 
eine  merkwürdige  Verbindung  von  Spruchdichtung  und  pseudonymem 
Tagebuch,  dem  Inhalt  nach  das  Hohe  Lied  des  Weltschmerzes:  alles  ist 
eitel!  ein  tiefer  Absturz  nach  dem  Aufschwünge  des  Hiob  und  nun  gar 
der  Propheten,  kaum  mehr  als  eine  Urkunde  der  Auflösung  der  Religion. 

6.  Eine  seltsame  Merkwürdigkeit  ist  es,  daß  aus  dieser  Zeit  noch  eine 
Sammlung  von  Liebesliedern  stammt,  das  „Hohelied". 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  7 


98 


Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 


Gegen  Ende  des  Zeitalters  nimmt  die  religiöse  Kraft  auf  allen 
Gebieten  sichtbar  ab:  in  den  spätesten  Psalmen,  Sprüchen,  Propheten- 
stücken überwiegt  die  Nachahmung.  So  muß  das  Volk  in  den  schicksals- 
reichen Kampf  mit  dem  Hellenismus.  Aber  in  diesem,  ihm  aufgenötigten 
Streite  ist  es  aufs  neue  erstarkt.  Von  da  ab  beginnen  neue  Gestaltungen. 
So  wird  der  Schluß  der  Epoche  bezeichnet  durch  den  Kampf  mit  dem 
Griechentum  und  durch  den  Versuch,  einen  neuen  nationalen  Staat  zu 
bilden.  Inzwischen  dringen  in  immer  reicherem  Strome  neue  religiöse  Ge- 
danken ein,  die  aus  verschiedenen  synkretistischen  Kreisen  des  Orients 
stammen,  und  von  denen  die  Auferstehungslehre  der  wichtigste  ist. 

Daß  aber  in  dieser  Epoche  etwas  Neues  beginnt  und  daß  nun  die 
alte  Geschichte  Israels  endg'ültig  beschlossen  ist,  hat  man  selber  empfunden; 
denn  man  hat  aus  der  späteren  Zeit  keine  Schriften  mehr  in  die  Samm- 
lung heiliger  Bücher  aufgenommen.  Die  bedeutsamste  Ausnahme,  das 
Buch  Daniel,  eine  Sammlung  von  Legenden  und  Apokalypsen  aus  der 
Makkabäerzeit,  ist  dafür  nur  eine  Bestätigung:  man  nahm  diese  Schrift 
auf,  weil  man  ihrer  eigenen  Angabe  vertraute  und  sie  daher  für  exilisch 
hielt. 

So  starb  die  israelitische  Literatur  langsam  dahin.  Aber  sie  hinter- 
ließ der  jüdischen  Synagoge  und  den  christlichen  Völkern  als  ihr  Erbe 
das  „Alte  Testament".  Dies  Buch  hat  dann  in  den  folgenden  beiden 
Jahrtausenden  einen  Einfluß  auf  unsere  Kulturwelt  geübt  wie  nicht  leicht 
irgend  ein  anderes.  Noch  heute  sind  seine  Propheten,  obwohl  vom  Lichte 
des  Evangeliums  überstrahlt,  die  Standarte  wahrer  sittlicher  Religion,, 
seine  Erzählungen  bilden  einen  unübertrefflichen  Anschauungsstoff  für  die 
Jugend,  in  seinen  frommen  Liedern  fließt  ein  Urquell  der  Erbauung.  So 
bleibt  das  Alte  Testament  als  religiöses  Werk  trotz  seiner  Schranken  ein 
Fundament  der  religiösen  und  sittlichen  Bildung  der  abendländischen 
Völker  und  als  Literaturdenkmal  eine  nie  auszuschöpfende  Fundgrube 
künstlerischen  Stoffes. 


Literatur. 

Das  Alte  Testament  gleicht  einem  Notbau,  der  auf  den  Trümmern  und  aus  den  Werk- 
stücken eines  vormaligen,  viel  schöneren  Gebäudes  errichtet  worden  ist.  Darum  ist  es  seit 
dem  Erwachen  des  modernen  Geistes  naturgemäß  die  Hauptaufgabe  der  Forschung  ge- 
wesen, die  einzelnen  Stücke  aus  dem  gegenwärtigen  Zusammenhang  herauszunehmen  und 
ihr  Alter  wie  ihre  Art  zu  bestimmen;  d.  h.  die  Hauptprobleme  der  Forschung  sind  literar- 
kritische  gewesen.  Diese  Arbeit  ist  zu  einem  relativen  Abschluß  gekommen,  seitdem  man 
die  chronologische  Reihenfolge  der  Quellenschriften  des  Pentateuch  erkannt  hat  (Well- 
HAUSEN).  Zugleich  hat  man  die  Geschichte  der  Religion  und  des  Staates  Israel  betrieben; 
in  der  letzten  Generation  hat  man  begonnen,  die  gewonnenen  Erkenntnisse  in  den  Zu- 
sammenhang der  Geschichte  des  Orients  einzustellen  und  dadurch  zu  vertiefen.  So  ist  also 
der  Inhalt  der  hebräischen  Literatur,  nämlich  die  Religion  Israels,"  vielfach  behandelt 
worden.  Bei  weitem  weniger  aber  hat  man  die  Formensprache  [des  alten  Schrifttums 
untersucht.  Über  den  literarkritischen  Problemen  der  älteren  und  den  religionsgeschicht- 
lichen der  neueren  Schule  sind  die  ästhetischen  und  literargeschichtlichen  zurückgeblieben. 
Eine  Literaturgeschichte  aber  entsteht  noch  nicht  dadurch,  daß  man  die  kritischen  Unter- 
suchungen auf  einen  chronologischen  Faden  aufreiht,  oder  daß  man  in  Bewunderung  über 
die  Schönheit  der  dichterischen  Erzeugnisse  ausbricht  und  Übersichten  oder  Auszüge  aus 
den  Schriften  hinzufügt.  So  ist  eine  wirkliche  ,, Literaturgeschichte"  Israels  trotz  älterer  und 
neuerer  Versuche  —  genannt  seien  E.  Meier,  Geschichte  der  poetischen  National-Literatur 
der  Hebräer  (1856);  Ehrt,  Versuch  einer  Darstellung  der  hebräischen  Poesie  nach  Be- 
schaffenheit ihrer  Stoffe  (1865);  D.  Cassel,  Geschichte  der  jüdischen  Literatur  (1872); 
Kautzsch,  Die  Poesie  und  die  poetischen  Bücher  des  Alten  Testamentes  (1902),  und 
WÜNSCHE,  Die  Schönheit  der  Bibel,  I.  Bd.  (1906)  —  immer  noch  nicht  geschrieben  worden, 
und  Herders  Testament  ist  nicht  vollzogen.  Doch  findet  man  in  den  genannten  Werken 
wie  in  den  literarkritischen  Arbeiten  der  Modernen  zum  Teil  höchst  wertvolle  Ansätze 
literarhistorischer  Betrachtung,  besonders  in  Wellhausens  ,,Prolegomena  zur  Geschichte 
Israels",  6.  Ausg.  (1905). 

Dasjenige  Werk,  das  zum  erstenmal  auf  biblischem  Gebiet  eine  Gattung  beschreibt, 
betrifft  einen  neutestamenthchen  Stoff:  es  sind  Jülichers  ,, Gleichnisreden  Jesu",  2.  Aufl.  (1899). 
Wertvolle  Anregungen  zur  lebendigen  Auffassung  hebräischer  Gattungen  verdanken  wir 
Wetzstein,  vgl.  besonders  dessen  Aufsatz  ,,Die  syrische  Dreschtafel"  in  der  Zeitschrift  für 
Ethnologie  1873,  S.  270 ff.,  durch  den  weitere  Forschungen  über  das  Leichenlied  (Budde, 
Zeitschrift  für  alttest.  Wissenschaft  1882,  S.  i  ff.)  und  das  Liebes-  und  Hochzeitslied  (Buddes 
Kommentar  zum  Hohenlied  1898;  Jacob,  Das  Hohelied  1902)  angeregt  worden  sind.  Über 
den  Stil  der  Sagen  der  Genesis  schrieb  Gunkel  in  seinem  Kommentar  zur  Genesis  2.  Aufl. 
(1902);  zerstreute  Bemerkungen  über  den  Psalmenstil  in  dessen  ,, Ausgewählten  Psalmen", 
2.  Aufl.  (1905)  u.  a.  —  Die  bedeutsamsten  modernen  ,, Einleitungen  zum  A.  T.",  d.  h.  Zusammen- 
stellungen literarkritischer  alttestamentlicher  Forschungen,  z.  T.  in  chronologischer  Reihen- 
folge, sind:  Reuss,  Die  Geschichte  der  heiligen  Schriften  Alten  Testamentes,  2.  Aufl.  (1890); 
KuENEN,  Historisch-kritisch  Onderzoek  naar  het  ontstaan  en  de  verzameling  van  de  Boeken 
des  Ouden  Verbonds,  2.  Aufl.  (1885—89);  Kautzsch,  Abriß  der  Geschichte  des  alttestament- 
hchen  Schrifttums  (1894);  Driver,  Introduction  to  the  literature  of  the  Old  Testament  (1891); 

/ 


joo  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

Graf  BaudiSSIN,  Einleitung  in  die  Bücher  des  Alten  Testamentes  (1901);  Cornill,  Einleitung 
in  die  kanonischen  Bücher  des  Alten  Testamentes,  5.  Aufl.  (1905);  von  „apologetischer" 
Seite  König,  Einleitung  in  das  Alte  Testament  (1893). 

Im  folgenden  werden  vornehmlich  Verweise  auf  einige  Stellen  des  Alten  Testamentes 
gegeben. 

S.  51.  Zu  dem  hebräischen  ,, Alten  Testament"  kommen  als  Quelle  der  Literaturge- 
schichte für  die  Zeit  des  Absterbens  der  jüdischen  Literatur  noch  diejenigen  Schriften  aus 
den  ,,Apokr>'phen"  hinzu,  die  ursprünglich  hebräisch  geschrieben  sind,  so  besonders  das  Buch 
des  Jesus  ben  Sira. 

S.  52.     „So  handelt  man  nicht  in  Israel",  II.  Sam.  13,   12. 

S.  53.  Epochemachend  gewesen  ist  SiEVERS,  Studien  zur  hebräischen  Metrik  (1901); 
doch  hält  der  Verfasser  dieser  Skizze  Sievers'  neuesten  Versuch,  auch  in  der  Genesis  Vers- 
gliederung nachzuweisen  und  danach  die  Quellen  zu  scheiden  (Hebräische  Genesis  1905), 
für  einen  Fehlgriff. 

S.  54.  Zur  Geschichte  Israels  vgl.  Wellhausen,  Israelitische  und  jüdische  Geschichte, 
5.  Ausg.  (1904);  Stade,  Geschichte  Israels  (1887/88);  Guthe,  Geschichte  Israels,  2.  Aufl. 
(1904);  zur  Geschichte  des  alten  Orients  Ed.  Meyer,  Geschichte  des  Altertums,  Bd.  I  (1884). 

S.  55.  Die  Tell-Amarna-Briefe  sind  der  Briefwechsel  der  Könige  von  Ägypten  Ame- 
nophis  III.  und  IV.  mit  den  Königen  von  Babylonien,  Assyrien,  Mesopotamien  und  Cypem, 
sowie  mit  ihren  kanaanäischen  Vasallen.  Auch  die  kanaanäischen  Briefe  an  den  Pharao 
sind  in  babylonischer  Sprache  und  Schrift  verfaßt:  ein  Zeichen  der  Herrschaft  babylonischer 
Kultur  über  das  damalige  Kanaan. 

S.  56.  Vgl.  Zimmern,  Babylonische  Bußpsalmen  (1885);  Babylonische  Hymnen  und 
Gebete  (1905). 

Äg>'ptische  Spruchdichtung  vgl.  Erman,  Ägypten  und  ägyptisches  Leben  im  Alter- 
tum (1885),  S.  513;  babylonische  Spruchdichtung  vgl.  Delitzsch,  Babel  und  Bibel,  dritter 
(Schluß-)Vortrag  (1905),  S.  21  f. 

Eine  Reihe  von  fremden  Parallelen  zu  alttestamentlichen  Erzählungen  findet  man  in 
dem  wertvollen  Aufsatz  von  VON  DER  Leyen,  Zur  Entstehung  des  Märchens,  Archiv  für  das 
Studium  der  neueren  Sprachen  und  Literaturen,  Bd.  113,  S.  249ff.,  Bd.  114,  S.  i  ff.,  Bd.  115, 
S.  iff.  273  ff.,  woher  die  meisten  der  obigen  Beispiele.  Eranische  Parallelen  zum  Paradiese 
vgl.  Gunkel,  Genesis,  2.  Aufl.,  S.  31.  32.  Das  Urteil  Salomos  wird  von  Buddha  erzählt 
vgl.  Oldenberg,  Literatur  des  alten  Indiens,  S.  114.  291;  bei  den  Chinesen  im  Drama 
,,der  Kreidezirkel",  vgl.  v.  Gottschall,  Theater  und  Drama  der  Chinesen  (1887)  S.  139; 
bei  den  Griechen  vgl.  Engelmann  im  Hermes  Bd.  3g,  S.  146  ff.  Die  ÜberHeferungen 
über  den  vom  Meeresungeheuer  ausgespienen  Helden  wird  demnächst  Lic.  Hans  SCHMIDT 
behandeln.  Vom  Gelübde  des  Idomeneus  erzählt  Servius,  in  Virgilium  comm.,  zu  Aeneis 
III  121.  Die  Erzählung  vom  dankbaren  Toten  und  das  Buch  Tobias  behandelt  M.  Plath, 
Zum  Buche  Tobit,  Theologische  Studien  und  Kritiken  (1901),  S.  377  ff.  Die  Erzählung  vom 
Herrn,  der  seine  Boten  aussendet,  z.  B.  in  deutscher  Sage  von  König  Chlotar  bei  Grimm, 
Deutsche  Sagen,  Nr.  436.  Die  Geschichte  vom  Kinde,  das  auf  dem  Wasser  ausgesetzt  worden 
ist,  vom  babylonischen  König  Sargon,  von  Perseus  und  sonst.  Über  Davids  Kampf  mit  Goliath 
vgl.  VON  DER  Leyen,  Bd.  115,  S.  14.  Das  Motiv  von  der  verleumderischen  Ehebrecherin 
hat  in  einem  äg>'ptischen  Märchen  eine  Parallele  (vgl.  Gunkel,  Genesis,  2.  Aufl.,  S.  371), 
tritt  aber  auch  sonst  nicht  selten  auf;  man  vergleiche  Hippolytus  und  Phaidra,  ferner  Grimm, 
Deutsche  Sagen,  Nr.  479.  480;  von  der  Leyen,  Bd.  115,  S.  280  nennt  eine  ähnhche  indische 
Erzählung. 

S.  58.  Kinderspiele  Sach.  8,  5;  Lieder  auf  dem  Felde  Ps.  65,  14,  bei  der  Ernte  Jes.  9,  2; 
Ps.  4,  8;  Jauchzen  beim  Lesen  und  Keltern  Jes.  16,  10;  Jer.  25,  30;  Wächterlied  Jes.  21,  11  f. 
Im  Munde  der  Leute  Ps.  69,  13;  Trinklieder  Jes.  24,  9;  22,  13;  21,  5;  56,  12  vgl.  Jes.  5,  12; 
Amos  6,  5;  Jes.  Sir.  32,  2.  5.  Die  Simson-Rätsel  lauten  (Jud.  14):  Was  ist  süßer  (angenehmer) 
als  Honig?  und  was  ist  bitterer  (grausamer,  leidenschaftlicher)  als  der  Löwe?     Die  Antwort 


Literatur.  I O  i 

darauf  ist  ursprünglich:  „die  Liebe."  Das  andere:  „Vom  Fresser  geht  die  Speise  aus 
(anstatt  in  ihn  herein)  und  Süßigkeit  vom  Bitteren".  Die  Antwort  ist  wohl  ursprünglich: 
„der  Löwe  am  Himmel,  der  die  Ernte  bringt".  Beide  Rätsel  sind  nachträglich  kombiniert, 
und  daraus  ist  dann  eine  Geschichte  entsponnen  worden.  Rätseln  ähnlich  sind  auch  Sprüche 
wie  Sprüche  Sal.  6,  i6 — 19;  30,  4.  15;  Jes.  Sir.  25,  i  f .  —  Königssänger  II.  Sam.  19,  36. 

Lieder  bei  der  Heimholung  der  Braut  Ps.  45,  6;  I.  Makk.  g,  39;  Lieder  zum  Preise  der 
Braut  Ps.  78,  63;  Jubellieder  des  Bräutigams  und  der  Braut  Jer.  33,  11.  Ein  Siegeslied,  vom 
Helden  selbst  gesungen,   ist  auch  Rieht.  15,  16. 

S.  5g.  Das  wichtigste  Beispiel  für  das  Leichenlied,  beim  Fall  einer  Stadt  gesungen, 
ist  Klagel.  Jer.  i;  2;  4,  Leichenlieder  beim  Fall  Jerusalems  mit  stark  entwickeltem  Stil.  Ganz 
anders  Klagel.  Jer.  3,  ein  Privatklagepsalm,  und  Klagel.  5,  ein  Volksklagepsalm. 

S.  59/60.  Über  Salomos  Weisheit  I.  Kön.  5,  gff.;  10,  i  ff.  23ff.  —  1005  Lieder  I.  Kön.  5,  12. 
Andere  Weise  I.  Kön.  5,   11. 

S.  60.  Das  ,,Buch  der  Kriege  Jahves"  Num.  21,  14,  das  ,,Buch  des  Redlichen"  II.  Sam. 
I,  18;  I.  Kön.  8,  13. 

S.  60/61.  Lied  des  Seba'  II.  Sam.  20,  i;  I.  Kön.  12,  16.  —  Amaleklied  Ex.  17,  16.  —  Lied 
von  Gibeon  Josua  10,  12 f.  —  Das  alte  Miriamlied  ist  Ex.  15,  20 f.;  das  spätere  Passagedicht 
Ex.  15,  I  — 19. 

S.  61.  Lied  über  Hesbons  Fall  Num.  21,  27fif.  —  Prophetische  Spottlieder  Jes.  14,  4ff.; 
37,  22  if.;  47,  I  ff.  und  viele  bei  Ezechiel.  —  Verherrlichung  des  Königs  als  des  Messias 
Ps.  72;  2. 

So  betet  Nabopalassar,  daß  der  Gott  die  Grundfesten  seines  Thrones  für  ewig  feststelle, 
vgl.  Hehn,  Hymnen  und  Gebete  an  Marduk,  Beiträge  zur  Assyriologie,  Bd.  V,  S.  292. 

S.  62.  In  dem  folgenden  Abschnitt  wie  in  dem  über  den  prophetischen  Stil  gibt  der 
Verfasser  eigene  Forschungen  wieder,  die  er  in  einiger  Zeit  in  ausführhcherer  Form  zu  ver- 
öffentlichen gedenkt. 

Ägyptische  Psalmen  aus  der  Tell-Amarnazeit  bei  Erman,  Ägyptische  Religion  (1905), 
S.  84  ff. 

S.  63.     Zauberwort  in  poetischer  Form  II.  Kön.  13,  14  ff. 

S.  64.  Einzugslieder  Ps.  100,  1.4;  Jes.  26,  i  ff .  —  Hymnen  Ex.  15;  Ps.  105;  106;  47;  66; 
100;  g8;  g6;  Jes.  42,  loff.;  44,  23  u.a.  Mythologisches  Ps.  ig;  8g,  lofif.;  Partizipialstil  Ps.  103; 
104;  Jes.  42,  5;  43,  i6f.;  44,  24ff.  u.  a.  —  Situation  des  Hymnus  Ps.  42,  5;  Ex.  15,  20. 

S.  64/65.  Öffentliche  Klagelieder  Ps.  44;  60,  3—7;  74;  7g;  80;  83;  g4;  Hosea  6,  i — 3; 
14,4;  Jer.  3,  22ff.;  14,  2 — 10.  ig— 22;  Jes.  5g,  gff.;  63,  I5ff.,  cf.  Amos  5,  i6f.;  I.  Kön.  21,  g.  12. 
Situation  geschildert  bei  Joel.  —  Dankopferlied  Ps.  66,  I3ff. ;  116,  14.  17.  18;  die  Erzählung 
besonders  deutlich  Jonas  2. 

S.  67.     Hadesfahrt  des  Toten  besonders  Jonas  2. 

S.  68.  Jahves  Erscheinung  in  Sturm  und  Feuer  Ex.  ig;  I.  Kön.  ig;  Rieht.  5;  Jes.  30,  27fTf.; 
Dt.  33;  Hab.  3;  Ps.  18;  50  u.  a.  —  Mythologisches  in  der  Eschatologie  der  Propheten  vgl. 
GuNKEL,  Zum  religionsgeschichtlichen  Verständnis  des  Neuen  Testamentes  (igo3),  S.  21fr.; 
Gressmann,  Ursprung  der  Israelitisch-jüdischen  Eschatologie  (igo5). 

S.  71.  Beispiele  des  Idylls  sind  die  Kindheitsgeschichten  des  Moses,  Simson,  Samuel;  im 
selben  Stile  im  Neuen  Testament  die  Johannis  und  Jesu. 

S.  72.  Eine  Charakteristik  der  Erzähler  J  und  E  bei  Holzinger,  Einleitung  in  den 
Hexateuch  (1893). 

S.  73.  Ein  ähnliches  Märchenmotiv  wie  in  Amos  5,  19  bei  Stumme,  Märchen  und 
Gedichte  aus  der  Stadt  Tripolis  in  Nord-Afrika  (1898),  S.  79  ff. 

,, Tagebücher  der  Könige  Israels  und  Judas"  I.  Kön.  14,  19;  15,  23;  16,20  usw.  Über 
solche  Journale  an  orientalischen  Höfen  vgl.  Ed.  Meyer,  Entstehung  des  Judentums  (i8g6), 
S.  48,  A.  I.  Daß  auch  die  Fürsten  von  Byblos  , »Tagebücher"  führten,  in  denen  alle 
wichtigen  Geschäfte  aufgezeichnet  standen  und  die  im  Archiv  aufbewahrt  wurden,  wissen 
wir  aus  dem  Reisebericht  Wen-Amons,  vgl.  Erman,  Eine  Reise  nach  Phönizien  im  11.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  (Zeitschr.  für  ägyptische  Sprache,  Bd.  38,  S.  8). 


102  Hermann  Gunkel:  Die  israelitische  Literatur. 

S.  76.     Hammurabis  Gesetz,  herausgegeben  von  Kohler  und  Peiser  (1904). 

S.  80.  Zauberhandlung  eines  Propheten  II.  Kön.  13,  14  ff.  —  Micha  ben  Jimla 
I.  Kön.  22. 

S.  82.  Beispiel  eines  kurzen,  aber  gewaltig  wirkenden  prophetischen  Spruches  ist  die 
Invektive  gegen  Sebna  Jes.  22,15 — 18.  Andere  Beispiele  kurzer  Gedichte  Jes.  i,2f.;  Arnos 
1,2;  3,  if.;  5,  if.;  9,  7;  Jes.  14,  24—27;  17,  12—14;  3,  12—15.  ^^  der  KAUTZSCHschen  Bibelüber- 
setzung sind  sehr  vielfach  die  kurzen  Stücke  nicht  als  solche  erkannt,  sondern  mit  anderen 
fälschlich  zusammengefaßt. 

S.  83.  Beispiele  des  strengeren  Stils  Jes.  3,  12 — 15;  i,  10 — 20;  Micha  4,  1—3,  des  freieren 
Stils  Jes.  I,  2 f.;  2g,  i — 7. 

S.  84.  Dinge  des  gewöhnlichen  Lebens  Arnos  8,  if. ;  Jer.  i,  11.  13;  Weitentferntes 
Ez.  8;  Jahves  „Rat"  Jes.  6;  Ez.  if. ;  Sach.  i. 

Allegorieen  Ez.  16;   17;   19;  23;  24. 

S.  85.  Offenbarung  vom  Gottesknecht  Jes.  53;  Typus  des  dunklen  Stiles  Jes.  21; 
17,  12 — 14;  der  springenden  Art  Jer.  46;  eigentümliche  Absätze  z.  B.  zwischen  Jes.  28,4  und 
5f.;  29,4  und  5 ff. 

S.  86.  Prophetische  Jubellieder  Jes.  42,  loff. ;  44,23;  40,  22  ff. ;  42,5;  43,  i6f. ;  Leichen- 
lieder Jes.  14,  4ff.;  Amos  5,  if.;  Ez.  19;  27;  28,  11  ff.;  32;  Spottheder  Jes.  37,  22ff.;  Wallfahrts- 
lieder Jes.  2,  iff. ;  Micha  4,  i — 4;  Jes.  30,  29;  Klagelieder  Jer.  14,  2  ff.  igff. ;  Joel;  Bußlieder  der 
Zukunft  Hosea  6,  iff.;  14,  4;  Jer.  3,  22ff.;  Jes.  53;  Trinklieder  Jes.  22,  13;  21,  5;  56,  12; 
Wächterhed  Jes.  21,  iif.;  Dirnenliedchen  Jes.  23,  16;  Liturgie  Jer.  14,  2  —  10;  Hosea  14,  2 — 9; 
Jes.  26;  33;  Monologe  Jeremias  15,  i5ff.;  17,  i4ff.;  20,  7ff.  usw.  usw. 

S.  87.  Scheltreden  Jes.  i,2f.;  3,  13 — 15;  Jer.  2,  10—13;  Mahnreden  Amos  5,4f.;  Jes.  i, 
10—17;  Jer.  7,  I  — 15;  Reflexionen  und  Predigten  Jer.  18;  Ez.  3,  i6ff. ;  Geschichtsbetrach- 
tungen .A.mos  4,6 — 12;  Jer.  3,  6ff. ;   Ez.  16;  20;  23;  Torastil  Ez.  18. 

S.  89.     Eschatologische  Hymnen  Ps.  46;  97;  149  u.  a. ;  Wechselgesang  Ps.  82;  126. 

S.  93.    Judenhetzen  in  Ägypten  und  Edom  Joel  4,  19. 

S.  96.     Fabelhafter  Sieg  in  der  Chronik  II  20. 


DIE  ARAMÄISCHE  LITERATUR 


N.. 


Von 
Theodor  Nöldeke. 


Einleitung.  Die  aramäische  Sprache  gehört  dem  großen  semitischen 
Sprachstamme  an  und  ist  am  nächsten  mit  der  hebräischen  verwandt. 
Eine  aramäische  Nation,  die  sich  als  Einheit  fühlte,  hat  es  freilich  nie 
gegeben.  Aber  die  Sprache  der  Aramäer  hat  einst  in  Syrien  und  Meso- 
potamien geherrscht,  hat  sich  noch  über  weite  andere  Gebiete  aus- 
gebreitet, namentlich  Palästina  erobert  und  ist  auch  in  mehreren  Nachbar- 
ländern als  Schriftsprache  benutzt  worden.  Erst  das  siegreiche  Auftreten 
der  Religion  und  der,  gleichfalls  semitischen,  Sprache  der  Araber  drängte 
sie  immer  mehr  zurück,  so  daß  jetzt  nur  noch  in  wenigen  abgelegenen 
Gegenden  aramäische  Dialekte  gesprochen  werden. 

Die  Eigenart  der  jüdischen  Literatur  bedingt  es,  daß  die  aramäisch 
geschriebenen  Werke,  die  ihr  angehören,  mit  den  hebräischen  zusammen 
behandelt  werden  müssen.  Wir  sehen  also  in  dieser  Darstellung  von  den 
jüdisch-aramäischen  Schriften  ab.  Außer  solchen  sind  uns  aber  in  ara- 
mäischer Sprache  bis  etwa  zum  2.  nachchristlichen  Jahrhundert  fast  aus- 
schließlich Inschriften  erhalten,  deren  älteste,  im  nördlichen  Syrien  ge- 
fundene bis  ins  g.  Jahrhundert  v.  Chr.  hinaufgehen.  Es  ist  jedoch  undenk- 
bar, daß  in  einer  Sprache,  die  unter  den  Achämeniden  selbst  in  Ägypten 
und  Kleinasien  vielfach  die  offizielle  war,  die  uns  darauf  durch  zahlreiche 
Inschriften  die  blühende  Kultur  Palmyras  bezeugt,  die  im  arabischen 
Nabatäerreich  alleinige  Schriftsprache  war,  daß  es  in  dieser  Sprache  nicht 
auch  eine  wirkliche  Literatur  gegeben  habe.  Auf  einem  ägyptischen 
Papyrus  aus  persischer  oder  früh-ptolemäischer  Zeit  haben  wir  ja  noch 
wirklich  ein  Bruchstück  einer  aramäischen  Erzählung.  Hoffentlich  bringt 
uns  der  unerschöpfliche  Boden  Ägyptens  noch  einmal  weitere  Reste 
dieser  alt- aramäischen  Literatur. 


A.   Syrische  Literatur. 

I.    Bis   zur  arabischen  Zeit.     Das  Zentrum   der  späteren  christlich-      Edessa. 
aramäischen  Literatur  ist  Edessa,  die  Hauptstadt  des  Königreichs  Osroene 


I04 


Theoeor  Nöldeke:  Die  aramäische  Literatur. 


in  Mesopotamien,  das,  nachdem  es  abwechselnd  unter  römischer  und 
parthischer  Oberhoheit  gestanden  hatte,  216  durch  Einverleibung  ins 
römische  Reich  sein  Ende  fand.  Hier  war  auf  Grund  des  Lokaldialekts 
(der  sich  von  den  aramäischen  Mundarten  anderer  Gegenden  vielfach 
unterschied)  früh  die  Schriftsprache  ausgebildet  worden,  die  man  gewöhn- 
lich die  syrische  nennt.  Bei  den  meisten  Aramäem  war  nämlich  der 
griechische  Ausdruck  „syrisch"  als  Bezeichnung  ihrer  eignen  Sprache  und 
Nationalität  zur  Herrschaft  gelangt,  und  da  die  im  edessenischen  Dialekt 
geschriebene  Literatur  an  Masse  und  Bedeutung  weitaus  die  anderen  ara- 
mäischen übertraf,  so  wurde  es  üblich,  sie  und  ihre  Sprache  schlechthin 
als  S3Trisch  zu  bezeichnen,  obwohl  in  Wirklichkeit  dieser  Name  auch  für 
andere  innerhalb  des  römischen  Reichs  gebrauchte  aramäische  Mund- 
arten galt. 
Vorchristliches.  Die    syrische    Literatur    ist    nicht,    wie    man    meistens    annimmt,    erst 

durch  das  Christentum  in  Edessa  hervorgerufen  worden;  die  „syrische" 
Sprache  hat  dort  schon  in  heidnischer  Zeit  als  wohl  ausgebildete  Literatur- 
sprache gedient.  Die  Festigkeit  des  Syrischen  in  Form  und  Orthographie 
beweist,  daß  es  schulmäßig  geregelt  war,  ehe  noch  christliche  Schriften 
darin  verfaßt  wurden.  Selbst  die  schöne  Kursive  der  alten  Manuskripte, 
deren  frühestes  datiertes  vom  Jahre  411  n.  Chr.  ist,  deutet  darauf  hin, 
daß  edessenische  Schreiber  schon  seit  Jahrhunderten  sich  um  deren  Aus- 
bildung bemüht  hatten.  Der  noch  vor  der  Annahme  des  Christentums 
durch  den  letzten  König  abgefaßte  amtliche  Bericht  über  die  große 
Wassersnot  vom  Jahre  201,  dessen  Wortlaut  uns  in  der  kleinen  edesseni- 
schen Chronik  (vom  6.  Jahrhundert)  erhalten  ist,  zeigt  schon  genau  die 
Sprache  der  christlichen  Literatur.  Und  ebenso  ist  der  Brief  des  Märä 
bar  Sarapiön,  der,  obwohl  gegen  das  Christentum  freundlich  gesinnt,  doch 
noch  nicht  Christ,  sondern  Anhänger  der  stoischen  Popularphilosophie 
Christentum,  war,  rein  syrisch  geschrieben.  Aber  das  ist  richtig:  ihre  Bedeutung  er- 
langte die  syrische  Sprache  und  Literatur  erst  durch  das  Christentum. 
Im  Gegensatz  zu  Antiochia,  wo  nur  der  gemeine  Mann  aramäisch  sprach, 
die  höheren  Stände  aber  griechisch  redeten,  war  Edessa  rein  aramäisch. 
Die  dort  rasch  aufblühende  christliche  Literatur  machte  den  Ort  zur 
geistigen  Hauptstadt  aller  christlichen  Aramäer,  so  daß  selbst  die  Aramäer 
des  persischen  Reichs,  soweit  sie  Christen  waren,  den  edessenischen  Dia- 
Bibei-       lekt,  das  „Syrische",  als  Schriftsprache  annahmen.    Von  größter  Bedeutung 

äbersetznn  gen. 

war  dafür,  daß  die  heiligen  Schriften  früh  ins  Syrische  übersetzt  worden 
sind.  Alles  führt  darauf,  daß  dies  in  Edessa  geschehen  ist,  und  zwar  in 
engem  Anschluß  an  jüdische  Überlieferung,  also  wohl  von  bekehrten  Juden- 
christen. Im  einzelnen  ist  hier  vieles  unklar.  Übersetzungen  (Targüme) 
von  alttestamentlichen  Büchern  mögen  die  zahlreichen  Juden  Edessas  schon 
früh  gehabt  haben.  Die  junge  christliche  Gemeinde  wird  das  dringende 
Bedürfnis  gehabt  haben,  die  bis  dahin  rezipierten  heiligen  Bücher,  vor 
allen   die  Psalmen,   in   ihrer   eigenen  Sprache    zu   lesen.     Nicht  der  ganze 


A.  Syrische  Literatur.     I.  Bis  zur  arabischen  Zeit.  lOi; 

jüdische  Kanon  wurde  übrigens  von  den  alten  Syrern  als  inspiriert  an- 
erkannt; so  z.  B.  nicht  das  Buch  Esther  und  die  Chronik,  während  sie  das 
Buch  Sirach,  im  Gegensatz  zu  den  Juden,  in  einer  aus  dem  hebräischen 
Urtext  gemachten  Übersetzung  aufnahmen.  Allerdings  sind  nachher  auch 
jene  nicht  rezipierten  Bücher  übersetzt  worden,  ohne  aber  in  den  syrischen 
Kirchen  bis  in  neuere  Zeit  kanonisches  Ansehen  zu  gewinnen.  In  ähn- 
licher Weise  ist  auch  der  echt  syrische  Kanon  des  Neuen  Testaments 
beschränkter  als  der  nach  und  nach  in  Europa  anerkannte;  er  schließt  z.  B. 
die  Apokalypse  aus.  Wir  haben  Anzeichen  davon,  daß  die  syrischen  Bibel- 
texte in  den  ersten  Jahrhunderten  stark  geschwankt  haben,  ganz  wie  die 
lateinischen,  nur  daß  die  Syrer  ihr  Altes  Testament  direkt  aus  dem  Hebräi- 
schen übersetzt  hatten;  korrigiert  wurde  es  aber  geleg'entlich  nach  der 
griechischen  Übersetzung,  den  sog.  LXX.  Vom  5.  Jahrhundert  an  zeigt 
dagegen  die  syrische  Bibel,  die  sog.  Peschltä,  eine  merkwürdige  Festigkeit 
des  Textes.  Namentlich  läßt  sich  der  damals  zur  Geltung  gelangte  Wort- 
laut der  vier  Evangelien  fast  bis  ins  kleinste  auch  in  jungen  Handschriften 
wiedererkennen.  Wie  neuerdings  sehr  wahrscheinlich  gemacht  worden, 
ist  diese  Feststellung  des  Evangelientextes  dem  Bischof  Rabbülä  von 
Edessa  (f  435)  zuzuschreiben.  Dadurch  wurde  die  bis  dahin  sehr  ver- 
breitete syrische  Evangelienharmonie,  das  Diatessaron  Tatians  (2.  Hälfte 
des  2.  Jahrhunderts),  gänzlich  beseitigt. 

Eine   sehr   alte   edessenische   Originalschrift    ist    der  um   210   verfaßte  Dialog  über  das 

Fatum. 

Dialog  über  das  Fatum  oder  „das  Buch  von  den  Gesetzen  der  Länder", 
das  wir  nach  seinem  Selbstzeugnis  dem  Philippos,  einem  Schüler  des  be- 
rühmten Gnostikers  Bardesanes,  beilegen  müssen.  Diese  Schrift,  die  sich, 
wenn  auch  nicht  in  zwingender  Weise,  bemüht,  Determinismus  und  Willens- 
freiheit in  Einklang-  zu  bringen,  stellt  sich  zwar  auf  gemeinchristlichen 
Standpunkt,  zeigt  aber  bei  genauer  Betrachtung  allerlei  Spuren  gnostischer 
Phantastik.  Aus  dem  Inhalt  wie  dem  Stil  erkennt  man,  daß  der  Verfasser 
die  Schule  griechischer  Philosophie  durchgemacht  hat.  Die  ganze  Form 
ist  wenigstens  äußerlich  den  Platonischen  Dialogen  nachgebildet.  Philippos 
ist  ein  entschiedener  Optimist,  und  seine  Weitherzigkeit  sticht  angenehm 
von  der  religiösen  Schroffheit  der  späteren  syrischen  Kirchenschriftsteller 
ab.  Sein  Dialog  ist  schon  früh  ins  Griechische  übersetzt  worden.  Im  Stil  Pseudo-Meiiton. 
und  zum  Teil  auch  in  den  Gedanken  mit  dieser  Schrift  verw^andt  und 
jedenfalls  auch  altedessenisch  ist  die  dem  Melito  von  Sardes  (um  160) 
untergeschobene  Apologie. 

Im  3.  Jahrhundert  ist  gewiß  noch  viel  Syrisches  geschrieben  worden, 
aber  wenigstens  in  der  ursprünglichen  Form  ist  davon  nicht  viel  übrig 
geblieben.     Damals   wird  u.  a.  die   phantastische    Geschichte   des   Apostels  Thomas-Akten. 

Bardesanes. 

Thomas  entstanden  sein,  die,  mehr  oder  weniger  von  den  deutlichsten 
gnostischen  Äußerungen  gereinigt,  im  syrischen  Urtext  wie  in  der  griechi- 
schen Übersetzung  auf  uns  gekommen  ist.  Am  wichtigsten  sind  darin 
zwei   rein   gnostische  Hymnen,   deren   eine   wenigstens  vielleicht  von  Bar- 


io6 


Theodor  Nöldeke:  Die  aramäische  Literatur. 


desanes  selbst  (um  200)  herrührt.  Auch  als  poetisches  Erzeugnis  steht  sie 
hoch  über  der  syrischen  kirchlichen  Poesie  der  späteren  Zeit.  Daß  Bar- 
desanes  zur  Verbreitung  seiner  ketzerischen  Lehren  viele  Gedichte  gemacht 
und  mit  Melodieen  versehen  habe,  sagt  der  heilige  Ephraim,  der  auch 
einige,  leider  nur  ganz  kurze,  Stellen  daraus  anführt. 

Aphraates.  Aus    der    Mitte    des    4.  Jahrhunderts    haben    wir    die    Homilien    des 

Aphraates,  Bischofs  von  Mär  Mattai  im  alten  Assyrien,  genannt  „der  per- 
sische Weise"  (weil  er  im  persischen  Reiche  lebte).  Diese,  obwohl  keines- 
wegs durch  originelle  Gedanken  hervorragend  und  in  echt  syrischer  Weise 
etwas  breit,  verdienen  doch  in  mehr  als  einer  Hinsicht  ein  genaueres 
Studium.  Sie  geben  ein  unverfälschtes  Zeugnis  von  dem  geistigen  Zu- 
stand der  syrischen  Christen  jenes  Reichs,  über  die  damals  gerade  die 
Schrecken  der  Saporschen  Verfolgung  hereinbrachen.  Sie  sind  oft  liebens- 
würdig naiv,  aber  doch  überall  tief  ernst.  Wir  sehen,  wie  die  Entwick- 
lung des  Dogmas  hier  im  inneren  Orient  noch  zurückgeblieben  ist,  wenn- 
gleich der  Verfasser  sich  der  im  Westen  aufgestellten  Formeln  bedient, 
und  sehen  ihn  in  starker  Berührung  mit  der  jüdischen  Aggädä,  während  er 
doch  viel  gegen  die  Juden  polemisiert.  Ausgezeichnet  ist  das  Werk  durch 
seinen  vorzüglichen,  natürlichen  Stil;  man  merkt,  daß  Aphraates  des  Grie- 
chischen nicht  kundig  ist.  Seine  Sprache  ist  darum  von  Gräzismen  viel 
freier  als  die  der  meisten  gelehrten  Syrer  des  römischen  Reichs.  Die 
zahllosen  Zitate  aus  der  Bibel  sind  für  die  Geschichte  des  syrischen  Bibel- 
textes von  großem  Belang. 

Ephraim.  Während   aber  Aphraates   von    den  späteren   Syrern    nicht    sehr    viel 

beachtet  wurde,  ist  der  wenig  spätere  Ephraim  (syrisch  Afrem;  gewöhnlich 
ohne  ernsten  Grund  bei  uns  Ephraem  genannt)  schlechthin  der  gefeiertste 
syrische  Schriftsteller,  obgleich  er  als  Geistlicher  nur  die  bescheidene 
Würde  eines  Diakonus  bekleidete.  Er  lebte  in  Nisibis,  siedelte  aber  363, 
als  diese  gewaltige  Grenzfeste  durch  den  schmählichen  Frieden  Jovians 
den  Persern  ausgeliefert  worden  war,  nach  Edessa  über,  wo  er  373  starb. 
Er  war  ein  sehr  fruchtbarer  Autor.  Die  Ausgaben  seiner  Schriften  füllen 
eine  Anzahl  Bände,  erschöpfen  aber  noch  nicht  einmal  das  handschriftlich 
erhaltene  Material,  und  dabei  ist  ohne  Zweifel  sehr  vieles  von  ihm  ver- 
loren gegangen.  Allerdings  wird  ihm  in  den  Handschriften  und  den  Aus- 
gaben auch  manches  zugeschrieben,  das  anderen  Ursprungs  ist.  Den 
Syrern  ist  Ephraim  vor  allem  teuer  als  Verfechter  der  unverfälschten 
Xicänischen  Rechtgläubigkeit  gegen  Gnostiker  und  alle,  die,  sich  eigener 
Spekulation  hingebend,  im  Kirchenglauben  wankend  werden.  Den  Ge- 
sängen des  Bardesanes  stellt  er  seine  Lieder  entgegen,  und  da  diese  dem 
Geist  seiner  syrischen  Zeitgenossen  angemessener  waren  als  die,  poetisch 
wahrscheinlich  weit  höher  stehenden,  des  alten  Gnostikers,  so  haben  sie 
ihren  Zweck  erreicht.  Daher  gilt  er  als  der  größte  syrische  Dichter. 
\Vir  haben  von  ihm  viele  strophische  Lieder  und  viele  paränetische,  lehr- 
hafte oder  polemische  Reden  in  Versen.    Einige  seiner  Gedichte  beziehen 


A.  Syrische  Literatur.     I.  Bis  zur  arabischen  Zeit.  107 

sich  auf  besondere  Tagesereignisse,  wie  die  Peripetieen  des  langen  römisch- 
persischen Krieges,  andere  auf  heilige  Asketen  usw.  Eine  ausführliche 
Geschichte  Josephs  in  Versen  wird  ihm  aber  wohl  mit  Unrecht  beigelegt. 
Der  unbefangene  Europäer  hat  Mühe,  in  Ephraim  einen  Dichter  anzu- 
erkennen. Die  poetischen  Blumen,  an  denen  es  allerdings  bei  ihm  nicht 
fehlt,  sind  fast  alle  dem  Alten  Testament  entnommen,  und  wenn  er  ein- 
mal einen  eigenen  dichterischen  Gedanken  äußert,  tötet  er  den  Eindruck 
durch  mehrfache  Wiederholung  oder  doch  durch  zu  umständliche  Aus- 
führung. Statt  die  Phantasie  zu  bewegen  und  das  Gemüt  zu  ergreifen, 
sucht  er  allzugern  den  Verstand  durch  trockene  logische  Darlegungen  zu 
überzeugen.  Seine  Dichtung  ist  gar  oft  versilizierte  Prosa.  Liebens- 
würdig ist  er  nicht.  Der  düstere  Geist,  der  das  orientalische  Christentum 
beherrschte,  spricht  sich  durchweg  in  ihm  aus.  Aber,  wie  schon  an- 
gedeutet, er  traf  den  Geschmack  der  Syrer  und  bestimmte  vielfach  deren 
Denkweise,  weil  er  von  derselben  geistigen  Grundlage  aus  sich  doch 
kräftig  über  sie  erhob.  Er  war  eben  ein  durchaus  nationaler  Lehrer,  der, 
obgleich  er  sich  mit  der  Reichskirche  eins  wußte,  doch  des  Griechischen 
unkundig-  war.  So  ist  denn  auch  seine  Sprache  rein  syrisch,  durchaus 
nicht  gräzisierend.  Aber  er  paßte  auch  zu  der  geistigen  Richtung  des 
ganzen  damaligen  christlichen  Ostens,  wie  die  zahlreichen  griechischen 
und  armenischen  Übersetzungen  Ephraimscher  Werke  zeigen.  Vielleicht 
noch  angesehener  als  seine  Gedichte  sind  seine  Bibelerklärungen.  Diese 
Kommentare  sind  auch  für  uns  lehrreich,  natürlich  nicht  dadurch,  daß  sie 
uns  für  das  Verständnis  des  Urtextes  irgend  erheblich  nützten,  wohl  aber, 
weil  sie  uns  die  damalige  Auffassung  des  Textes  zeigen.  Bei  heiligen 
Schriften  ist  ja  die  herrschende  Auffassung  ihrer  Worte  oft  viel  wichtiger 
als  ihr  ursprünglicher  Sinn.  Gelegentlich  belehrt  uns  Ephraim  hier  aber 
auch  wirklich  durch  Erklärung  dunkler  Ausdrücke  der  syrischen  Bibel. 

Als   Dichter   hatte   Ephraim   manche   Nachfolger,    von   denen   wir  nur  andere  Dichter. 

^  •->       '  Isaac  von  Anti- 

zwei  hervorheben  wollen.  Der  Priester  und  Mönch  Isaac  von  Antiochia,  ochia. 
geboren  zu  Amid  (also  wie  Ephraim  aus  dem  östlichen  Mesopotamien, 
-j-  nach  462),  verfaßte  sehr  zahlreiche  metrische  Homilien,  von  denen  erst 
verhältnismäßig  wenige  herausgegeben  sind;  diese  nehn\en  aber  schon 
einen  beträchtlichen  Raum  ein.  Isaac  ist  noch  weniger  ein  großer  Dichter 
als  Ephraim  und  steht  ihm  an  Geist  gewiß  nach.  Aber  seine  Dichtungen 
sind  doch  charakteristische  Dokumente  der  Anschauungen,  Gefühle  und 
Wünsche  der  damaligen  Syrer  und  durch  die  Besprechung  der  Zustände 
und  mancher  einzelner  Ereignisse  auch  historisch  wichtig.  —  Jacob,  Bischof  >cob von  Sarüg. 
von  Sarüg  (im  westlichen  Mesopotamien,  j  521)  übertraf  die  beiden  Vor- 
genannten wohl  noch  an  Fruchtbarkeit,  und  so  viel  auch  von  seinen  Pro- 
dukten verloren  gegangen,  so  ist  doch  noch  sehr  viel  davon  handschrift- 
lich erhalten.  Die  bis  jetzt  herausgegebenen  Gedichte  Jacobs  liefern 
schon  eine  stattliche  Anzahl  von  Versen  und  genügen  für  uns  vollkommen, 
ihn  als  Dichter   zu  beurteilen.     Er  behandelt  biblische  Erzählungen,   Zeit- 


jo8  Theodor  Nöldeke:  Die  aramäische  Literatur. 

ereignisse  und  auch  die  damals  alles  bewegenden  dogmatischen  Fragen 
in  ziemlich  gleichmäßiger  Weise.  Da  wir  vielfach  noch  die  prosaischen 
Vorlagen  seiner  Gedichte  haben,  so  wird  uns  die  Art  seiner  Behandlung 
ganz  deutlich.  Bei  den  Erzählung^en  hält  er  sich  ziemlich  streng  an  seine 
Quellen  und  erweitert  nur  im  einzelnen,  ohne  daß  es  ihm  gelingt,  wirk- 
lich episches  Leben  hineinzubringen.  Aber  schon  durch  ihren  Stoff  haben 
manche  seiner  Homilien  für  uns  Interesse,  wie  er  denn  von  den  alten 
syrischen  Dichtem  im  g-anzen  der  genießbarste  ist.  Freilich  ist  auch  er 
oft  von  ermüdender  Breite,  und  seine  dogmatischen  Darstellungen,  in  denen 
er  die  bei  den  römischen  Syrern  herrschende  monophysitische  Lehre  ver- 
tritt, aufmerksam  durchzulesen,  erfordert  ein  ziemliches  Maß  von  Geduld. 
Das  immer  gleiche,  einfache  und  doch  vielgliedrige  Metrum  (2  lange 
Reihen  von  je  3  selbständigen  Gliedern  zu  4  Silben)  bringt  wenigstens 
äußerlich  etwas  Leben  in  seine  Poesie. 
Geistliche  Ver-  Vou    den    meisten    syrischen    Dichtern    wie    sonstigen    Schriftstellern 

fasser  und  geist- 
liches Publikum.  Wissen  wir,  und  bei  den  andern  ist  es  fast  immer  vorauszusetzen,    daß  sie 

Geistliche  oder  Mönche  waren,  und  für  Geistliche   und  Mönche  schrieben 

sie   zunächst.     War   doch  außerhalb   dieser  Kreise    die   Kunst   des  Lesens 

und  Schreibens   gewiß   sehr  wenig  verbreitet;    nicht  einmal  allen  war  sie 

vertraut,  die  ihnen  angehörten.     Die  größeren  Werke,  die  Anforderungen 

an   das  Nachdenken   stellten,   waren  wesentlich  für  den  höher  gebildeten 

Teil    des    Klerus    bestimmt.     Die    Bürger    der    Städte    werden    nicht   viel 

literarisches  Interesse   gehabt  haben.     Die  liturgischen  Lieder,   soweit   sie 

die  Laien   angingen,    konnten   auch  ohne  eignes  Lesen  erlernt  und  event. 

ohne  Verständnis  gesungen  werden. 

Volksliteratur.  Immerhin    scheint    es    nicht    ganz   an   einer  populären  Unterhaltungs- 

literatur gefehlt  zu  haben.  Dahin  möchte  ich  die  „Gleichnisse  der  Ara- 
mäer**  rechnen.  Wahrscheinlich  waren  das  Fabeln,  die  man  sich  im  Lande 
Beth  Aramäje,  d.  i.  Oberbabylonien,  die  spätere  Provinz  von  Küfa,  er- 
zählte. Daraus  sind  uns  leider  nur  wenige  Wörter  und  Redensarten  er- 
halten. Die  syrischen  Mönche,  welche  Bücher  abschrieben,  mochten  sich 
mit  derartigen  Werken  nicht  befassen. 
Legenden.  Einen    großen    Bestandteil    der    syrischen    Literatur    bilden    seit    alter 

Zeit  Legenden,  Heiligenleben,  Mart3'rien  und  dergleichen;  manche  von 
diesen  sind  wichtige  Zeugnisse  damaliger  Denkweise.  Hierher  gehören 
die  schon  envähnten  Akten  des  Apostels  Thomas.  Eine  Anzahl  kleiner 
Schriften  verherrlicht  Edessa  als  uralten  Sitz  des  Christentums.  Die 
Fiktion,  daß  schon  der  König,  welcher  dort  zur  Zeit  Jesu  herrschte,  mit 
dem  Heiland  in  Verbindung  getreten  sei  und  dadurch  über  sich  und 
seine  Stadt  großen  Segen   gebracht  habe,   ist  ziemlich   alt.     Die  uns  vor- 

DoctrinaAddaei. liegende  Darstellung  (in  der  Doctrina  Addaei)  wird  aus  der  2.  Hälfte 
des  4.  Jahrhunderts  stammen,  ebenso  wie  einige  unhistorische  Erzählungen 
von   edessenischen   Märtv'rern.     Von   sonstigen   älteren  Legenden   erwähne 

Siebenschläfer,  ich   uur   Wenige:    so    die    Geschichte    der   7    (oder    eigentlich   8)    Schläfer, 


A.  Syrische  Literatur.     I.  Bis  zur  arabischen  Zeit.  lOq 

deren  syrisches  Original  aus  der  Mitte  des  5.  Jahrhunderts  ist.  Diese  Er- 
zählung, die  eine  dogmatische  Tendenz  hat,  wurde  früh  ins  Griechische 
übersetzt  und  dann  weiter  in  andere  Sprachen;  auch  im  Syrischen  ist  sie 
zum   Teil   später   überarbeitet   worden.     Ferner   die    in    der    2.  Hälfte    des 

5.  Jahrhunderts   in  Edessa  geschriebene   Geschichte    des  „Mannes  Gottes",     Der  Mann 
eines   in  Edessa   als   unbekannter  Bettler  gestorbenen  Heiligen,   angeblich 

aus   vornehmer,    stadtrömischer  Familie.     Auch   sie   wurde   bald    ins   Grie- 
chische  übertragen    und  ist   dann   als  Geschichte  des  heiligen  Alexius  im 
Okzident  beliebt  geworden.     Andererseits  hat  sie  auch  im  Orient  in  ver- 
schiedenen syrischen  und  arabischen  Bearbeitungen  Verbreitung  gefunden. 
Allerlei,   zum  Teil  alte.  Legenden  enthält   das  Buch  von   der  Schatzhöhle   schatzhöhie. 
(6.  Jahrhundert),   das  in  Form  einer  Chronik  von  Adam  bis  Christus  führt. 
Ganz  abenteuerlich   ist  die  wahrscheinlich  514  oder  515  geschriebene  Er-    Alexander- 
Zählung  von  Alexander  dem  Großen  als  einem  Heiligen,   die   nur  lose  an 
den   bekannten   Alexanderroman   (den   sog.  Pseudo-Kallisthenes)   anknüpft; 
sie   ist   dadurch   wichtig  geworden,   daß  Mohammed  sich   ihren  Inhalt  hat 
erzählen  lassen,   ihn  in  den  Koran  aufgenommen  und  damit  für  alle  Mus- 
lime mit  göttlicher  Autorität  beglaubigt  hat.    Interessanter  ist  an  sich  der  juiianusroman. 
ausführliche  Roman  vom  Kaiser  Julian,  verfaßt  zu  Edessa  im  Anfang  des 

6,  Jahrhunderts.  Er  behält  nur  einige  geschichtliche  Grundzüge  bei,  so 
daß  er  nicht  einmal  als  „historischer"  Roman  zu  bezeichnen  ist.  Der  Ab- 
trünnige ist  darin  natürlich  ein  Ausbund  von  Scheußlichkeit;  neben  ihm 
erscheint  der  christenfeindliche  Perserkönig  Sapor  noch  als  Lichtgestalt 
und  der  elende  Jovian  als  christlicher  Idealfürst.  Die  Erzählung  ist  sehr 
breitspurig,  aber  in  einem  fließenden  Stil.  Das  Buch  scheint  beliebt  ge- 
wesen zu  sein.  Die  verständigen  muslimischen  Gelehrten,  welche  im 
8.  Jahrhundert  die  alte  Geschichte  in  arabischer  Sprache  darzustellen 
suchten,  haben  sich  täuschen  lassen,  seinen  Inhalt  als  historisch  zu  be- 
trachten, und  so  ist  dieser,  natürlich  nur  in  einem  kurzen  Auszuge,  in  die 
arabischen  Weltchroniken  übergegangen.  Von  g^eringer  Bedeutung  ist 
ein  kleiner,  ganz  ungeschichtlicher,  Julianus-Roman. 

Eine  eigene  Stellung  nimmt  die  Geschichte  des  weisen  Ahikar  ein.  Ahikar. 
Trotz  der  vielen  Weisheitssprüche  ist  sie  wesentlich  ein  Unterhaltungs- 
buch. Die  Gesinnung  ist  rein  weltlich;  von  Neigung  zur  Askese,  von 
dog'matischer  Befangenheit  keine  Spur.  Die  Erzählung  ist,  nicht  sehr  ge- 
schickt, einem  Abschnitt  aus  dem  Leben  Asops  nachgebildet,  das  etwa 
im  3.  Jahrhundert  n.  Chr.  in  Ägypten  geschrieben  sein  mag.  Der  Ver- 
fasser benutzt  außerdem  die  syrische  Bibel  und  allerlei  Sprüche,  die  ihm 
wahrscheinlich  in  zwei  Sammlungen  syrisch  vorlagen.  Diese  Sprüche 
selbst  stammen  aber  wenigstens  zum  Teil  aus  dem  Griechischen,  und 
darunter  sind  wohl  einige  vorchristlichen  Ursprungs.  Aber  das  Heiden- 
tum, in  welches  die  Geschichte  gelegt  wird,  ist  fingiert;  der  Verfasser 
war  ein  Christ.  Die  Meinung,  daß  das  Ahikar-Buch  eine  Quelle  des 
Tobit-Buches  (etwa  um  200  v.  Chr.  geschrieben?)  gewesen,  bestätigt  sich 


IIO  Theodor  Nöldeke:  Die  aramäische  Literatur. 

bei  genauer  Untersuchung  nicht;  die  Sache  verhält  sich  umgekehrt.  Der 
Stil  des  Buches  ist  vortrefflich.  Es  wird  dem  5.  oder  6.  Jahrhundert  an- 
gehören. Bei  den  orientalischen  Christen  hat  es  viel  Beifall  gefunden. 
Wir  besitzen  noch  eine  arabische,  eine  armenische  und  eine  aus  einer 
griechischen  geflossene  altslawische  Übersetzung. 

Akten  persischer  Historisch  Sehr  wertvoll  ist  aber  eine  Anzahl  von  Berichten  über 
persische  Märtyrer,  d.  h.  über  Opfer  der  Christenverfolgungen  im  Sässä- 
nidenreich.  Die  ältesten  betreffen  die  große  Verfolgung  unter  Sapor  IL, 
die  339  oder  340  begann;  sie  sind  im  ganzen  authentisch  und  werfen  auf 
die  Geschichte  und  auf  die  Einrichtungen  jenes  Reiches  vielfach  Licht. 
Wir  haben  sie  in  der  Bearbeitung  durch  Märüthä,  der  im  Jahre  411  für 
die  feste  Konstituierung  der  christlichen  Kirche  des  Perserreichs  tätig 
war:  seine  Bearbeitung  hat  aber  nach  sicheren  Zeichen  alles  Wesentliche 
der  alten  Akten  beibehalten.  An  diese  Sammlung  reihen  sich  noch  manche 
sjTische  Märtyrerakten  und  Heiligenleben  aus  dem  persischen  Reich;  sie 
sind  nicht  alle  von  gleicher  historischer  Treue,  einige  sogar  ziemlich  phan- 
tastisch, aber  größtenteils  doch  sehr  lehrreich.  Eine  wirklich  kritische 
Gesamtausgabe  aller  dieser  syrischen  Erzählungen  von  persischen  Mär- 
t3Tem   und   anderen  Frommen   mit   eingehenden   sachlichen  Erläuterungen 

Geschichte  des  wäre  Sehr  erwünscht.  —  Historisch  Wertvolles  haben  aber  auch  die  römi- 

hl.  Simeon.  r        •  /—     i   • 

sehen  Syrer  auf  diesem  Gebiet  hervorgebracht.  Dazu  gehört  die  von 
zwei  Mönchen  verfaßte,  ganz  populäre  Geschichte  des  Säulenheiligen 
Simeon  (f  459);  sie  gibt  uns  ein  lebendiges,  freilich  sehr  unerquick- 
liches Bild  von  syrischer  Frömmigkeit  mit  wahnsinniger  Überschätzung 
Andere       der  Askesc,  unerträglichem  geistigem  Hochmut  und  Fanatismus.     Ziemlich 

Biographieen.  .  -»/r-  •        -n  i    _    — 

verschieden  davon  sind  einige  Biographieen  von  Mannern  wie  Rabbula; 
sie  sind  in  der  Hauptsache  leidlich  verständig  und  also  direkt  gute  ge- 
schichtliche Dokumente.  Freilich  spielt  das  Wunderbare  gelegentlich 
hinein,  aber  in  ziemlich  unschädlicher  Weise.  Weniger  historisch  ist 
leider  die  Lebensbeschreibung  Ephraims. 
Geschieht-  Auch  an   eigentlichen  Geschichtswerken  fehlt   es   in  der  älteren  syri- 

Chronik  von  scheu  Literatur  nicht  ganz.    Zunächst  ist  da  die  kleine  Chronik  von  Edessa 

Edessa. 

ZU  nennen,   die  zwar  erst  zu  Ende   des  6.  Jahrhunderts   abgefaßt  ist,   aber 

zum  Teil    auf  weit    älteren    chronikartigen    Aufzeichnungen    beruht.     Ein 

Der  sog.  josua  sehr   ancrkennenswertcs  Werk  ist  die   Geschichte    des  Perserkrieges   von 

Stylites.  .  °. 

502 — 506  von  einem  ungenannten  edessemschen  Zeitgenossen,  die  man 
bis  vor  kurzem  fälschlich  dem  Josua  Stylites  beilegte  (der  in  Wirklichkeit 
viel  später  gelebt  hat).  Besonders  gibt  auch  die  Vorgeschichte  in  dieser 
Schrift  sehr  interessante  Bilder  aus  dem  Leben  Edessas,  wie  wir  solche 
kaum  aus  einer  anderen  größeren  Provinzialstadt  des  römischen  Ostens 
Johannes  von  haben.  —  Von  dem  umfangreichen  Geschichtswerk  des  Johannes  aus  Amid, 
Bischofs  von  Ephesus  oder  „Asien"  (f  gegen  Ende  des  6.  Jahrhunderts), 
ist  uns  ein  großer  Teil,  und  zwar  gerade  einer,  wo  er  als  Zeitgenosse  er- 
zählt, direkt,  sind  andere  Teile  indirekt  durch,  wenn  auch  abgekürzte,  Auf- 


A.  Syrische  Literatur.     I,  Bis  zur  arabischen  Zeit.  j  I  j 

nähme  in  spätere  Werke  erhalten.  Es  leidet  an  mangelhafter  Disposition; 
der  Verfasser  ist  ein  ziemlich  beschränkter  Geist,  aber  da  er  vieles  von 
günstiger  Stelle  aus  beobachten  konnte  und  die  besten  Verbindungen 
hatte,  so  sind  doch  seine  Mitteilungen  sehr  wichtig.  Außer  diesem  Werke 
haben  wir  von  ihm  noch  eines,  worin  er  eine  ziemlich  große  Menge 
heiliger  Zeitgenossen  vorführt,  syrische,  und  zwar  monophysitische,  Ein- 
siedler und  andere  Gottesmänner.  Auch  aus  diesem  Buch  lernen  wir  viel. 
Wir  sehen  hier  so  recht,  wie  die  meisten  dieser  P>ommen  über  dem 
Streben,  je  für  sich  durch  Verzicht  auf  alle  irdischen  Freuden  das  Himmel- 
reich zu  erstreiten  und  daneben  die  einzig  richtigen  Formeln  für  die  dog- 
matischen Unbegreiflichkeiten  mit  fanatischem  Eifer  zu  verfechten,  die 
Hauptsache,  die  Erziehung  und  Belehrung  des  Volks,  aus  den  Augen 
setzten,  so  daß  bald  darauf  der  Islam  keine  allzugroße  Arbeit  hatte,  die 
Menge  durch  seine  grobkörnige  Einfachheit  zu  gewinnen.  Johannes  von 
Ephesus,  der  lange  Jahre  in  Ländern  griechischer  Zunge  wirkte  und  in 
enger  Beziehung  zur  griechischen  Theologie  stand,  schreibt  ein  sehr  gräzi- 
sierendes  Syrisch.  —  Noch  ist  hier  das  aus  derselben  Zeit  stammende,  Zachanas  von 
unter  dem  Namen  des  Zacharias  von  Mitylene  gehende  Sammelwerk  zu 
erwähnen,  das  zwar  zum  Teil  aus  Übersetzungen  griechischer  Abschnitte 
von  eben  diesem  Zacharias  besteht,  aber  auch  viele  syrische  Original- 
stücke enthält,  die  eine  wichtige  historische  Quelle  bilden. 

Die  kirchliche  Literatur  im  engsten  Sinne  ward  stark  gepflegt.  Dazu  Theologie, 
gehören  z.  B.  sehr  viele  liturgische  Werke.  Auf  die  feste  Form  des 
Gottesdienstes  legen  ja  die  orientalischen  Kirchen  ein  solches  Gewicht, 
daß  dabei  das  lebendige  Christentum  ganz  zurücktreten  mußte.  Natürlich 
knüpfte  man  auch  hier  wie  in  anderen  Fächern  der  Literatur  stark  an 
griechische  Vorgänger  an.  So  gleichfalls  in  den  Sammlungen  der  kirch- 
lichen Kanones,  in  den  Kommentaren  der  Bibel  und  sonst.  Die  Theorie 
der  Askese  spielt  bei  den  alten  Syrern  eine  große  Rolle  und  ebenso  die 
dogmatische  Polemik.  Im  5.  Jahrhundert  spalteten  sich  ja  die  christlichen 
Syrer  in  die  drei  Hauptmassen.  Der  auf  dem  Konzil  von  Ephesus  (431) 
verdammte  Nestorianismus  fand  im  Orient  neue  Anhänger  und  wurde 
gegen  Ende  des  Jahrhunderts  von  beinahe  allen  Syrern  des  persischen 
Reichs  angenommen;  diese  wurden  dadurch  scharf  von  den  andern  Syrern 
geschieden  und  entwickelten  sich  selbständig.  Und  der  Verurteilung  des 
Monophysitismus  durch  das  Konzil  von  Chalcedon  (451)  widersetzte  sich 
die  große  Menge  der  römischen  Syrer  aufs  heftigste;  nur  ein  kleiner  Teil 
blieb  bei  der  Reichskirche  (Melchiten,  d.  i,  „Kaiserliche").  Von  einigen 
Kaisern  begünstigt,  von  anderen  hart  verfolgt,  blieb  der  Monophysitismus 
der  Glaube  der  meisten  Syrer.  Alle  Kompromißversuche  schlugen  fehl, 
aber  unter  den  Monophysiten  selbst  brachen  wieder  verschiedene  Spal- 
tungen über  dogmatische  Feinheiten  aus;  persönliche  Rivalitäten  hatten 
daran  wohl  meist  großen  Anteil.  Ist,  wie  es  mir  vorkommt,  der  Mono- 
physitismus die  konsequentere  Entwicklung   des  Dogmas,   so   scheinen  im 


I  12 


Theodor  Nöldeke:  Die  aramäische  Literatur. 


gfanzen  dessen  syrischen  Bekenner  auch  an  Intoleranz  und  Fanatismus 
ihren  Gegnern  noch  etwas  überlegen  gewesen  zu  sein.  Die  spitzfindigsten 
Theologen    und   die   rohesten   Mönche   eiferten   in  gleicher  Weise   für  die 

Phiioienos.  unverfälschten  Glaubensformeln.  Einer  der  bedeutendsten  Vorkämpfer 
gegen  die  chalcedonische  Ketzerei  ist  Philoxenos  (Achsenäjä),  geboren  im 
persischen  Reich,  Bischof  von  Mabbog  (Hierapolis  in  Nordsyrien,  nicht 
weit  vom  Euphrat).  Die  Strafe  der  Verbannung  hat  seinen  Eifer  nicht 
unterdrückt;  ja  er  scheint  für  seinen  Glauben  eines  gewaltsamen  Todes 
gestorben  zu  sein  (523).  Neben  mancherlei  Polemischem  hat  er  noch 
verschiedenes  andere  geschrieben.  So  haben  wir  von  ihm  13  paränetische 
Schreiben  zur  Belehrung  der  Mönche  und  zu  ihrer  Befestigung  in  allen 
mönchischen  Tugenden;  sie  malen  das  asketische  Ideal  aus,  lassen  aber 
auch  erkennen,  daß  die  menschliche  Schwachheit  selbst  bei  den  Männern, 
die  sich  dem  heiligen  Leben  widmeten,  eine  große  Rolle  spielte.  Natür- 
lich fehlt  es  auch  hier  durchaus  nicht  an  Wiederholungen.  Die  Sprache 
des  Alannes  ist  fließend;   er  gilt  mit  Recht  als  einer  der  besten  syrischen 

simeon  von  Stilisten.  —  Ein  anderer  eifriger  Monophysit  jener  Zeit,  Hauptstreiter 
gegen  den  Nestorianismus,  ist  der  Bischof  Simeon  von  Beth  Arschäm  (in 
Babylonien),  genannt  „der  persische  Disputator".  Er  wirkte  mehr  persön- 
lich als  durch  Schriften,  aber  von  diesen  ist  eine  als  historisches  Doku- 
ment wichtig,  nämlich  sein  Brief  über  die  Verfolgung  südarabischer 
Christen  durch  einen  jüdischen  Fürsten  (523).  Er  erzählt  die  Tatsachen 
mit  Übertreibung  und  Ausmalung,  um  desto  stärker  nicht  bloß  die  Sym- 
pathie zu  erwecken,  sondern  auch  zu  ernstlicher  Hilfe  aufzurufen;  er  schlägt 
vor,  durch  Repressalien  gegen  die  jüdischen  Schulhäupter  in  Palästina  für 
jacobBaradaeus.jene  Christen  zu  wirken.  —  Hier  muß  auch  des  Mannes  gedacht  werden, 
dessen  rastlosem  Eifer  in  schwerer  Zeit  die  Kirche  der  syrischen  Mono- 
physiten  ihre  Erhaltung  und  Festigung  verdankt,  obwohl  er  nur  wenig 
geschrieben  zu  haben  scheint,  des  Bischofs  Jacob  Baradaeus  (Burdeänä, 
„der  in  Lumpen  [eigentlich  eine  Pferdedecke]  Gekleidete")  aus  Telia  in 
Mesopotamien  (7  578);  nach  ihm  werden  die  Anhänger  dieser  Kirche 
Jacobiten  genannt. 

Barfaumä.  Bei  der  Annahme  des  Nestorianismus  durch  die  Syrer  des  persischen 

Reichs  und  der  kirchlichen  Gesetzgebung  für  sie  trat  der  aus  dem  römi- 
schen vertriebene  Bar9aumä,  Bischof  von  Nisibis  (f  gegen  Ende  des  5.  Jahr- 
hunderts), besonders  hervor.  Er  scheint  ein  bedeutender,  aber  gewalt- 
tätiger Mann  gewesen  zu  sein  und  hatte  schwere  Konflikte  auch  mit 
mehreren  seiner  nestorianischen  Amtsbrüder.  Ein  Genosse  von  ihm  ist 
Narse.  Narse,  der  älteste  Dichter  der  nestorianischen  Kirche  (f  Anfang  des 
6.  Jahrhunderts). 
Stephan,  Sohn  Gegen   diesc  Schriftsteller,   die   heftig  je   für  ihre  Partei   stritten,   die 

aber  doch  nur  aus  der  altkatholischen  Kirche  stammende  religiöse  An- 
schauungen vertraten,  bildet  einen  starken  Gegensatz  der  pantheistische 
Mystiker  Stephan,  Sohn  (^udaile's  (Anfang  des  6.  Jahrhunderts).    Sein  Buch 


A.  Syrische  Literatur.     I.  Bis  zur  arabischen  Zeit.  I  I  •? 

Hierotheos  beschreibt  die  Entwicklung-  des  Geistes  und  der  Welt  bis 
schließlich  zur  Auflösung  aller,  auch  der  göttlichen,  Individualität  in  das 
All-Eins,  Das  Werk,  von  dem  wir  leider  bis  jetzt  nur  eine  Übersicht  und 
Auszüge  kennen,  erinnert  merkwürdig  an  die  Mystik  des  muslimischen 
(^üfis;  auch  die  Bedeutung  der  Liebe  scheint  bei  Stephan  ähnlich  zu  sein 
wie  bei  den  Pantheisten  des  Islams.  Wie  speziell  der  Hierotheos  einer- 
seits mit  dem  Neuplatonismus,  andererseits  mit  Pseudodionys  zusammen- 
hängt, entzieht  sich  meiner  Beurteilung.  Aber  auf  alle  Fälle  ist  die 
geistige  Kraft  des  monophysitischen  Mönches  anzuerkennen,  der  seine 
Lehren  zwar  durch  allegorische  Erklärung  auch  auf  die  Heilige  Schrift 
zu  begründen  strebt,  aber  vor  den  kühnsten,  in  Wirklichkeit  dem  Christen- 
tum widersprechenden  Konsequenzen  nicht  zurückscheut.  Daß  Philoxenos 
von  Mabbog  (s.  oben  S.  112)  aufs  schärfste  gegen  Stephan  auftrat,  sobald 
er  nur  einiges  Wenige  von  seiner  Lehre  erfuhr,  die  nicht  einmal  eine 
ewige  Höllenstrafe  zuließ,  ist  begreiflich;  viel  weniger,  daß  später  der 
jacobitische  Patriarch  Timotheos  (878 — 8g6)  einen  Kommentar  zum  Hiero- 
theos geschrieben  und  Barhebraeus,  auch  ein  hoher  Würdenträger  dieser 
Kirche  {s.  unten  S.  119),  einen  Auszug  daraus  gemacht  hat.  Der  hohe, 
wenn  auch  phantastische,  Gedankenflug  mag  diese  beiden  Männer  an- 
gezogen haben;  die  gefährlichen  Konsequenzen  haben  sie  wohl  durch 
Umdeutung  beseitigt  oder  doch  gemildert.  Vielleicht  kommt  auch  in 
Anrechnung,  daß  sie  durch  die  muslimische  Mystik  an  solche  bedenkliche 
Ding'e  gewöhnt  waren. 

Neben  der  syrischen  Originalschriftstellerei  ging  in  jenen  Jahrhunderten  Übersetzungen 

..  _     .  ,  ,  aus  dem  Grie- 

eine  sehr  starke  Ubersetzertätig-keit  einher.  Die  Sprache  ist  sehr  geeignet  chischen. 
zur  Übersetzung  wenigstens  prosaischer  Werke,  da  sie  sich  den  Konstruk- 
tionen fremder  Sprachen  leicht  anschmiegt  (sehr  verschieden  darin  z.  B. 
von  der  arabischen).  Die  alten  Bibelübersetzungen  wurden  zwar,  nach- 
dem sie  ihre  feste  Gestalt  erhalten  hatten,  in  den  syrischen  Kirchen  allein 
gebraucht,  aber  daneben  wurden  noch  verschiedene  neue  gemacht,  haupt- 
sächlich in  engem  Anschluß  an  den  griechischen  Text.  Daß  dieser  auch 
fürs  Alte  Testament  als  der  wahre  galt,  erklärt  sich  leicht  aus  der  be- 
herrschenden Stellung  des  Griechischen  in  Kirche,  Staat  und  Literatur. 
Dazu  kam,  daß  mit  der  Loslösung  vom  Judentum  auch  bei  den  Syrern 
Edessas  die  Kenntnis  des  Hebräischen  früh  erloschen  war. 

Einst  hatte  Aquila  (2.  Jahrhundert)  die  von  den  Juden  rezipierte  Ge- 
stalt des  Alten  Testaments  mit  sklavischer  Treue  übersetzt,  die  sogar  jede 
hebräische  Partikel  wiedergeben  wollte  und  so  ein  ungenießbares  Grie- 
chisch hervorbrachte.  So  haben  noch  sonst  orientalische  Übersetzungen 
heiliger  Bücher  dem  Streben  nach  Wörtlichkeit  die  Sprachrichtigkeit  und 
Verständlichkeit  geopfert.  Das  geschah  nun  auch  bei  den  Syrern  mehr- 
fach. Wir  haben  da  namentlich  die  zum  größten  Teil  sehr  gut  erhaltene 
Übersetzung  des  von  Origenes  redigierten  griechischen  Textes  des  Alten 
Testamentes  zu  nennen,  die  Paulus,  Bischof  von  Telia  (im  Jahre  616),  ver- 

DiE  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  8 


j  j  1  Theodor  Nöldeke  :  Die  aramäische  Literatur. 

anstaltet  hat.  Um  dieselbe  Zeit  revidierte  Thomas  von  Harkel,  Bischof 
von  Mabbog,  die  von  seinem  Vorgänger,  dem  schon  mehr  genannten 
Philoxenos,  veranstaltete  Übersetzung  des  Neuen  Testaments  und  verfuhr 
da  wieder  peinlich  genau  in  der  Wiedergabe  des  griechischen  Wortlautes. 
So  verkelirt  diese  Unternehmungen  an  sich  sind,  so  bilden  sie  für  uns 
doch  ein  erwünschtes  philologisches  Hilfsmittel,  da  sie  ihre  griechischen 
Vorlagen  sehr  genau  abspiegeln.  Spätere  haben  auch  die  von  den  Syrern 
nicht  anerkannten  neutestamentlichen  Bücher  wörtlich  übersetzt. 

Neben  der  Bibel  übersetzte  man  zahllose  andere  griechiche  Werke 
kirchlicher  Literatur  ins  Syrische.  So  Apokrj^phen  des  Neuen  Testa- 
ments, Legenden  und  Heiligenleben  aller  Art,  Apologieen  und  Litur- 
gisches, kirchliche  Kanones  und  Gedichte,  Populäres  und  Hochtheolo- 
gisches. Die  Syrer  haben  uns  so  einige  wertvolle  Schriften  gerettet, 
deren  griechische  Originale  ganz  oder  teilweise  verloren  sind.  Letzteres 
gilt  z.  B.  von  dem  Werke  des  Titos  von  Bostra  (4.  Jahrhundert)  gegen  die 
Manichäer.  Ins  Griechische  wurden  u.  a.  schon  früh  übertragen  die  Werke 
des  OeoXöfOC  schlechthin,  Gregors  von  Nazianz.  Besonders  wichtig  ist  die 
schon  im  4.  Jahrhundert  gemachte  Übersetzung  der  Kirchengeschichte  des 
Eusebios.  Sie  ist  in  einfacher,  fließender  Sprache,  die  mir  wenigstens 
besser  gefällt,  als  die  gezierte  Eleganz  des  Originals.  Für  die  Fest- 
stellung des  Eusebianischen  Wortlauts  wäre  uns  freilich  eine  steifwört- 
liche Übertragung  nützlicher.  Von  der  syrischen  Übersetzung  des  großen 
chronographischen  Werkes  des  Eusebios  sind  leider  nur  einige  Reste 
übrig.  Großen  Einfluß,  namentlich  auf  die  Nestorianer,  hat  die  Über- 
setzung der  Werke  des  Theodoros  von  Alopsuhestia  geübt,  der  ihnen 
schlechthin  „der  Schriftausleger"  ist. 

Aber  auch  profane  griechische  Schriftsteller  sind  in  weitem  Umfange 
den  Syrern  zugänglich  gemacht  worden.  Diese  Übertragungen  sind  meist 
ziemlich  wörtlich,  zum  Teil  ebenso  sklavisch  wie  die  Bibelübersetzungen. 
Die  Leute  werden  ihre  Vorlagen  im  algemeinen  ziemlich  gut  verstanden 
haben;  wenn  sie  durch  wörtliche  Wiedergabe  das  Verständnis  erschwerten, 
so  hatten  sie  daher  wohl  oft  im  Auge,  daß  die  Texte  von  Lehrern  mündlich 
erläutert  werden  sollten.  Zunächst  ist  hier  Aristoteles  zu  nennen,  von  dessen 
Werken  manche  schon  früh  ins  Syrische  übersetzt  worden  sind;  dabei  auch 
dies  und  jenes  ihm  mit  Unrecht  zugeschriebene,  wie  die  Schrift  -rrepi  köcjugu. 
Eine  Frucht  der  dadurch  hervorgerufenen  Aristotelischen  Studien  ist  die 
dem  großen  Perserkönig  Chosrau  Anöscharwän  (531 — 579)  gewidmete 
syrische  Logik  von  einem  Paulos.  So  wurden  auch  medizinische  Schriften 
ins  Syrische  übertragen,  namentlich  Werke  des  Hippokrates  und  Galen. 
Selbst  juristische  Kompendien  sind  zu  jener  Zeit  in  syrische  Sprache  ge- 
bracht worden,  allerdings  mit  Berücksichtigung  einheimischer  Rechts- 
gewohnheit. Ferner  ist  allerlei  mehr  Populärwissenschaftliches  über- 
setzt, z.  B.  einige  Stücke  von  Plutarch  und  von  Lucian;  darunter  ist 
einiges,  was  uns  griechisch  nicht  erhalten  ist.     So   auch   ein   interessanter 


A.  Syrische  Literatur.     II.  Die  arabische  Zeit.  I  I  ^ 

pseudo-sokratischer  Dialog.  Diese  Übersetzungen  rühren  wohl,  wenigstens 
zum  Teil,  von  Männern  her,  denen  die  theologische  Literatur  wenig  be- 
hagte,  wenn  sie  auch  von  geistlichem  Stande  waren.  Das  mag  nament- 
lich selten  von  dem  Arzte  und  Priester  Sergios  von  Resch-Ainä  (in  Sergios  von 
Mesopotamien,  f  535  oder  536),  der  eine  rege  Ubersetzertätigkeit  ent- 
faltet hat.  Die  jacobitische  Tradition  erkennt  seine  wissenschaftliche 
Bedeutung  an,  gibt  seiner  Moral  aber  ein  schlechtes  Zeugnis;  vielleicht 
nur,  weil  er  nicht  dogmatisch  engherzig  war  und  z.  B.  auch  von  Nesto- 
rianern  lernte. 

Mit  der  griechischen  klassischen  Poesie,  den  alten  Historikern  und 
Rednern  beschäftigten  sich  zwar  fortwährend  gewisse  Schulen  der  grie- 
chisch redenden  Länder,  aber  weiteren  Kreisen  war  das  Verständnis  ihrer 
Herrlichkeit  auch  dort  längst  verloren  gegangen;  noch  weniger  konnten 
die  Orientalen  sie  würdigen.  Ein  bloßes  Kuriosum  wird  die  erst  im 
8.  Jahrhundert  gemachte  Homerübersetzung  des  Theophilos  gewesen  sein, 
von  der  uns  nur  zufällig  wenige  einzelne  Verse  gerettet  sind. 

Auch  aus  dem  Persischen  (Pehlewi)  ist  in  jenen  Jahrhunderten  einiges  Übersetzungen 

\  /  J  ''  <^         aus  dem  Persi- 

ins  Syrische  übersetzt  worden.  Es  ist  wohl  kein  Zufall,  daß  die  beiden  sehen, 
hierher  gehörigen  Werke,  die  wir  noch  besitzen,  zur  Unterhaltungslite- 
ratur gehören,  wie  sie  denn  später  durch  alle  möglichen  Sprachen  ge- 
wandert sind.  Die  unter  Chosrau  Anöscharwän  angefertigte  persische 
Übersetzung  indischer  Erzählungen,  deren  Hauptteil  das  berühmte  Pan- 
tschatantra  bildete,  wurde  bald  darauf  unter  dem  Namen  Kalilag  we 
Damnag  ins  Syrische  übertragen.  Wichtig  für  die  Erkenntnis  der  ur- 
sprünglichen Gestalt  der  indischen  Originale,  hat  die  syrische  Version 
allerdings  für  die  Verbreitung  des  Werkes  keine  große  Bedeutung  er- 
langt, da  diese  erst  von  der  arabischen  Bearbeitung  ausgeht,  die  etwa 
200  Jahre  später  auch  aus  dem  persischen  Text  gemacht  worden  ist.  Femer 
hat  ein  Syrer  den  persischen  Text  des  Alexanderromans,  der  selbst 
einen  griechischen  wiedergibt,  übersetzt.  Diese  syrische  Gestalt  ist  für  die 
späteren  orientalischen  Bearbeitungen  des  Romans  bedeutsam  geworden. 
Beide  Bücher  sind  durch  nestorianische  Handschriften  auf  uns  gekommen, 
und  wir  verdanken  sie  ohne  Zweifel  nestorianischen  Untertanen  des  per- 
sischen Reiches.  Von  den  dortigen  Christen  werden  eben  viele  sowohl 
des  Syrischen  als  der  Sprache  der  Kirche  wie  des  Persischen  als  der 
Sprache  des  Reiches  mächtig  gewesen  sein. 

IL  Die  arabische  Zeit.  Die  Eroberung  aller  Länder,  in  denen 
aramäisch  geredet  und  geschrieben  w^urde,  durch  die  Araber  veränderte 
den  Betrieb  der  syrischen  Literatur  nicht  mit  einem  Schlage.  Die  Klöster, 
ihre  Hauptstätten,  wurden  von  dem  Wechsel  nicht  sehr  berührt.  Die  Mus- 
lime behandelten  sie  mit  Schonung.  Die  östlichen  Syrer  wurden  nicht 
mehr  durch  den  Haß  der  mächtigen  persischen  Priesterschaft  bedroht;  die 
Jacobiten   des  Westens  hatten  nicht  weiter   unter  dem  Druck   der  Katho- 

8* 


Il5  Theodor  Nöldeke:  Die  aramäische  Literatur. 

liken  zu  leiden.  Aber  allmählich  änderte  sich  doch  die  Lage  sehr.  Die 
arabische  Religion  und  die  arabische  Sprache  dehnten,  zum  größten  Teil 
auf  friedliche  Weise,  ihre  Herrschaft  immer  weiter  über  das  aramäische 
Volk  aus.  Zwar  hielten  sich  noch  in  manchen  Gegenden  aramäische  Dia- 
lekte, aber  die  Sprache  Edessas  schwand  mehr  und  mehr  aus  dem  Munde 
des  Volkes.  Sie  führte  dann  nur  noch  als  Sprache  der  Kirche  und  der 
Literatur  ein  halbes  Leben.  Die  Araber,  die  viele  Jahrhunderte  hindurch 
von  den  Aramäern  Kultureinflüsse  erfahren  hatten,  gelangten  jetzt  selbst 
zu  einer  hohen  Bildung.  Die  Syrer  vermittelten  ihnen  zunächst  in  großem 
Umfang  griechische  Wissenschaft,  und  mit  der  Zeit  wurden  sie  vielfach  Nach- 
ahmer der  Araber.  Immerhin  war  aber  die  Tätigkeit  syrischer  Schriftsteller 
unter  der  Herrschaft  des  Islams  noch  über  6  Jahrhunderte  ziemlich  lebendig. 
Manche  von  ihnen  arbeiteten  auf  verschiedenen  Gebieten  der  Literatur 
Jacob  von     uud  leisteten  zum  Teil  recht  Erhebliches.    Das  gilt  gleich  von  dem  Autor, 

Edessa.  ,  .        <->     . 

den  wir  an  die  Spitze  dieser  Periode  stellen  dürfen,  Jacob,  Bischof  von 
Edessa  (640 — 708).  Er  scheint  ein  charaktervoller  Mann  gewesen  zu  sein, 
der  eben  deshalb  mancherlei  widrige  Schicksale  erlebte.  Von  arabischem 
Einfluß  kann  bei  ihm  höchstens  insofern  die  Rede  sein,  als  seine  Be- 
mühungen um  die  Reinheit  der  syrischen  Sprache  vielleicht  mit  dadurch 
veranlaßt  wurden,  daß  die  arabische  schon  damals  anfinge,  sie  zu  ver- 
drängten. Er  schrieb  eine  syrische  Grammatik,  von  der  wir  nur  noch 
einige  Fetzen  haben,  die  uns  aber  den  Verlust  des  ganzen  Werkes  sehr 
bedauern  lassen.  Er  hatte  darin  die  Aussprache  der  Wörter  durch  ein 
zweckmäßiges  Vokalisationssystem  genau  bestimmt.  Auch  die  bekannte 
Bezeichnung  der  syrischen  Vokale  durch  kleine  griechische  Buchstaben 
geht  wahrscheinlich  von  ihm  aus.  Wir  finden  diese  zuerst  durchgeführt 
in  gewissen  alten  jacobitischen  Handschriften,  Korrektorien  zum  Bibeltext. 
Die  Nestorianer  haben  dagegen  aus  der  ganz  dürftigen  alten  Bezeichnung 
der  Vokalaussprache  durch  zwei  Punkte  ein  sehr  genaues,  aber  nicht  sehr 
praktisches,  aus  lauter  Punkten  bestehendes  System  entwickelt.  Jacob  von 
Edessa  schrieb  auch  recht  verständige  Auslegungen  der  Bibel.  Von  diesen 
ist  allerlei  in  die  Handschriften  der  Kommentare  Ephraims  gedrungen. 
Weniger  zweckmäßig  war  seine  Bemühung,  den  syrischen  Bibeltext  nach 
dem  Griechischen  zu  verbessern.  Wir  würden  die  davon  erhaltenen 
Stücke  gern  hingeben  für  sein  großes  chronographisches  Werk,  von  dem 
wir  leider  auch  nur  noch  wenige  Bruchstücke  besitzen.  Seine  Welt- 
beschreibung, an  die  6  Schöpfungstage  geknüpft  (e5ari)uepov),  enthält  viel 
Interessantes,  beruht  aber  ganz  auf  alter  gelehrter  und  kirchlicher  Über- 
lieferung und  zeigt  noch  keine  Spur  von  der  großen  Erweiterung  der 
Länderkunde  durch  die  arabischen  Eroberungen.  Er  verfaßte  noch 
mancherlei  andere  Schriften,  übersetzte  auch  aus  dem  Griechischen  und 
führte  eine  lebhafte  Korrespondenz,  von  der  sich  einiges,  zum  Teil  recht 
Interessantes,  erhalten  hat.  Seinen  Stil  loben  spätere  Syrer  sehr,  aber  er 
ist  oft   etwas  manieriert,  nicht   so  einfach  und  natürlich  wie  z.  B.  der  des 


A.  Syrische  Literatur.     II.  Die  arabische  Zeit.  j  j  y 

Aphraates  oder  des  Philoxenos.  —  Recht  vielseitig  ist  auch  der  ein  Jahr- 
hundert   später    zu    Knfa    lebende    Georg,  Bischof   der   monophysitischen  Georg,  Bischof 
Araber;    seine  Schriften  knüpfen  zum  Teil  an  die  Jacobs  an. 

Die  religiöse  Poesie  ging  in  gewohntem  Gleise  weiter.  Doch  bewirkte  Poesie, 
das  Beispiel  der  arabischen  Dichter  bald,  daß  man  den  Reim  annahm. 
Zwar  ging  es  nicht  gut  an,  im  Syrischen  nach  klassisch  arabischer  Weise 
einen  einzig^en  Reim  durch  ein  langes  Gedicht  hindurchzuführen,  aber  die 
ziemlich  früh  bei  den  Arabern  entstandene  volkstümliche  Art  strophischer 
Gedichte  mit  wechselnden  Reimen  ließ  sich  leicht  auf  die  eigene  stro- 
phische Poesie  übertrag-en.  Bis  in  späte  Zeit  ist  so  in  syrischer  Sprache 
viel  gereimt  worden,  namentlich  auch  von  Nestorianern.  Diese  Poesie  ist 
fast  ausnahmelos  kirchlich,  wenn  sie  auch  zuweilen  auf  Zeitereignisse  Rück- 
sicht nimmt.  Im  13.  Jahrhundert  war  George  Wardä  ein  fruchtbarer  Dichter.  Georg  Wardä. 
Seine  Lieder  wurden  im  nestorianischen  Gottesdienst  viel  gebraucht.  Leider 
suchte  man  den  Arabern  auch  ihre  Buchstabenspielereien  und  andere  Wort- 
künste nachzumachen,  aber  ohne  den  Geist,  der  bei  einem  Manne  wie 
Harirl  auch  mit  den  gewagtesten  Sprüngen  versöhnt.  Namentlich  Ebedjesu  Ebedjesu. 
(eigentlich  Audlschö),  nestorianischer  Metropolit  von  Nisibis  (-]-  13 18),  hat 
unendliche  Mühe  darauf  verwandt,  die  xA.raber  auf  diesem  Gebiet  zu  über- 
treffen. Zum  Teil  suchten  solche  „Dichter"  den  Wert  ihrer  Produkte  da- 
durch zu  erhöhen,  daß  sie  verschollene  Wörter  anbrachten,  die  sie  aus 
Glossaren  aufgefischt  hatten.  Dabei  gerieten  ihnen  nicht  selten  g-anz  ent- 
stellte yKwccai  in  die  Hand,  namentlich  g'riechischer  Herkunft,  oder  sie 
gebrauchten  die  Ausdrücke  in  falscher  Bedeutung.  Derartiges  kam  auch 
bei  Arabern  vor,  war  selbst  zum  Teil  schon  viel  früher  bei  Griechen  vor- 
gekommen, aber  doch  lange  nicht  in  diesem  Umfang.  Mit  mehr  Umsicht 
hatte  bereits  im  9.  Jahrhundert  der  Jacobit  Antonios  von  Tagrit  seiner  Antonios  von 
kurzen  Rhetorik  kunstreiche  metrische  Musterstücke  beigegeben;  er  hatte 
da  auch  den  in  der  höheren  arabischen  Rede  beliebten  Prosareim  nach- 
gebildet. —  Nach  arabischer  Weise  wurden  ferner  allerlei  Lehrbücher  in 
metrischer  Form  geschrieben,  die  aber  natürlich  gar  nicht  den  Anspruch 
machten,  zur  poetischen  Literatur  zu  zählen. 

In  dieser  Periode  sind  neben  verschiedenen  kleinen  mehrere  große  GescWchts- 
Geschichtswerke  entstanden.  Die  Chronik,  die  man  bis  vor  kurzem  dem 
jacobitischen  Patriarchen  Dionys  von  Telmahre  (818 — 845)  zuschrieb,  die 
in  Wirklichkeit  aber  um  775  von  Josua  Stylites,  Mönch  im  Kloster  Zoknin  josua  styiites. 
bei  Ämid,  verfaßt  worden  ist,  enthält  zwar  viel  Wissenswertes,  steht  aber 
als  literarisches  Werk  nicht  hoch.  Viel  bedeutender  scheint  das  echte 
Geschichtswerk    jenes    Dionys    gewesen    zu    sein.      Wir    kennen    bis    jetzt    Dionys  von 

.     .  .  r>  Telmahre. 

leider  nur  wenige  Stucke  daraus;    doch  ist  vielleicht   manches  aus  Dionys 
durch  spätere  Historiker  erhalten.    Über  den  Zusammenhang  der  syrischen 
Weltchroniken  werden  wir  besser  urteilen  können,  wenn  uns  erst  die  große 
historische    Kompilation    Michaels,    auch    eines    jacobitischen    Patriarchen      Michael. 
(11 66 — II 99),  ganz  vorliegen  wird.  —  Sehr  wertvoll  ist  das  chronologische 


ii8 


Theodor  Nöldekf.  :  Die  aramäische  Literatur. 


Thomas  von 
Mar.^S. 


Legenden. 


Theologie. 


EUas von Nisibis.  Werk  dcs  nestoriaiiischen  Metropoliten  Elias  von  Nisibis,  g-enannt  Bar 
Schinnäjä  (ums  Jahr   looo). 

Neben  Darstellungen  der  allgemeinen  Welt-  und  Kirchenhistorie  wurden 
auch  Spezialg-eschichten  geschrieben.  Davon  ist  besonders  die  840  ver- 
faßte Geschichte  des  Klosters  Beth  Abe  (in  Assyrien)  vom  damaligen 
Bischof  Thomas  von  Margä  zu  nennen,  die  uns  tiefe  Blicke  in  das  Kloster- 
wesen  und   das   ganze  Kirchentum  der  damaligen  Zeit  tun  läßt. 

Sehr  ausgedehnt  ist  in  der  arabischen  Zeit  wieder  die  Literatur  der 
Heiligenleben.  Darunter  haben  zwar  manche  historischen  Wert,  aber  das 
Legendenhafte  überwiegt  in  diesen  späteren  Erzählung-en  doch  sehr. 
Namentlich  ist  eine  Gruppe  von  nestorianischen  Geschichten,  die  den 
heiligen  Eugenios  und  seine  Nachfolger  betreifen,  fast  ganz  unhistorisch. 
Allerlei  Legenden  und  noch  anderes  ist  zusammengestellt  in  dem  „Buch 
der  Biene"  vom  Nestorianer  Salomo  (Metropoliten  von  Ba9ra,  erste  Hälfte 
des   13.  Jahrhunderts). 

Die  Eibelauslegung  wurde  von  Jacobiten  wie  von  Nestorianern  eifrig 
gepflegt;  neue  eigene  Gedanken  werden  aber  in  den  betreffenden  Werken 
kaum  zu  finden  sein.  Ich  nenne  hier  den  für  seine  Zeit  sehr  gelehrten 
nestorianischen  Bischof  Ischödäd  (g.  Jahrhundert),  geboren  zu  Merw  fern 
im  Osten,  und  den  jacobitischen  Bischof  Dionysios  bar  ^allbi  (-j-  1171). 
Daß  asketische,  dogmatische  und  paränetische  Schriften  nicht  fehlten,  daß 
die  Kanones  durch  Konzile  und  einzelne  Geistliche  vervollständigt  und 
authentisch  festgestellt  wurden,  daß  man  sich  viel  mit  der  Liturgie  abgab, 
PhUosophie.  versteht  sich  von  selbst.  Philosophische  Gedanken,  zwar  einigermaßen 
innerhalb  der  kirchlichen  Dog"matik,  aber  doch  ziemlich  frei  mit  Anknüpfung 
an  die  alten  Mystiker,  entwickelt  das  Werk  Causa  causarum  von  einem 
ungenannten  Jacobiten  wohl  des   12.  Jahrhunderts. 

Die  wissenschaftliche  Grammatik,  die  Jacob  von  Edessa  begründet 
hatte,  wurde  auch  später  nicht  vernachlässigt.  Wir  besitzen  noch  einige 
kleine  Schriften  darüber,  die,  an  sich  keine  bedeutenden  Leistungen,  uns 
doch  zur  näheren  Kenntnis  der  Sprache  sowie  des  damaligen  Schulbetriebes 
recht  nützlich  sind.  Auch  das  Bedürfnis  nach  lexikalischen  Werken  macht 
sich  in  der  Zeit  bemerklich,  in  welcher  die  alte  Sprache  immer  mehr  aus 
dem  Leben  schwand.  Man  verfaßte  Synonymika  nach  griechischen  Vor- 
bildern. Ein  gutes,  planmäßiges,  nach  Bedeutungsklassen  geordnetes, 
aber  nicht  sehr  umfangreiches  Wörterbuch  schrieb  der  schon  oben  ge- 
nannte Elias  von  Nisibis,  der  auch  noch  verschiedene  andere  Werke  ver- 
faßt hat.  Die  großen  Glossare  des  Nestorianers  Bar  Ali  (g.  Jahrhundert) 
und  Bar  Bahlül  (10.  Jahrhundert)  bieten  uns  reiche  Belehrung,  aber  als 
wissenschaftliche  Arbeiten  stehen  sie  tief  unter  den  Wörterbüchern  der 
arabischen  Gelehrten.  Sie  entsprechen  mehr  griechischen  Glossaren  wie 
dem  des  Hesychios,  aber  wenigstens  Bar  Bahlul  enthält  noch  viel  mehr 
entstellte  Wörter  als  dieses.  Hätten  wir  noch  einige  ältere  Werke,  die 
er  benutzt  hat,  so  wüßten  wir  manches  besser.    Der  Text  des  Bar  Bahlül 


Grammatik. 


Lexika. 


A.  Syrische  Literatur.     II.  Die  arabische  Zeit.  jjq 

wurde    von   Späteren  vielfach    willkürlich    verändert    und    auch    vermehrt; 
letzteres  bedeutet  nicht  immer  eine  wirkliche  Bereicherung. 

Wir  lernten  schon  einige  Syrer  kennen,  die  auf  verschiedenen  Ge-  Poiyhistorie. 
bieten  gearbeitet  haben.  Wie  zahlreiche  arabische  Gelehrte  möglichst  die 
g"anze  Wissenschaft  zu  beherrschen  strebten  oder  gar  zu  beherrschen 
glaubten,  so  finden  wir  eben  auch  bei  den  Syrern  einige  Polyhistoren. 
Eine  Enzyklopädie  der  Wissenschaften  verfaßte  außer  anderen  Schriften 
Severos  bar  Schakkö,  nestorianischer  Bischof-Abt  von  Mär  Mattai  (-1-  1241).  Severos  von  Mär 

Mattai. 

Das   erste  Buch   lehrt  Grammatik,   Rhetorik,  Dialektik,   Metrik,   und  legt 
dann    die    Eleganz    und    den    Reichtum  der    syrischen    Sprache    dar;     das 
zweite  ist  den  philosophischen  Fächern  gewidmet,  der  Arithmetik,  Musik, 
Geometrie,  Astronomie,  ferner  der  Metaphysik  und  Theologie.    Alle  diese 
Disziplinen    behandelt    Severos    ziemlich    kurz    in    „Dialogen"    oder    viel- 
mehr   in    Katechismusform.     Für    die    Grammatik  gibt    er   nach    dem    be- 
treffenden „Dialog"  noch   eine   zusammenhäng'ende  Darstellung  in  Versen. 
—  Ein  wirklicher  Polyhistor  war  Abulfaradsch  Gregorios,  Sohn  eines  ge-  Barhebraeus. 
tauften    Juden,    daher    „der    Hebräersohn"    bar    Ebräjä    (Barhebraeus) 
genannt  (1226 — 1286),  der  weit  über  seine  syrischen  Zeitgenossen  hervor- 
ragte.    Er  bekleidete  die  höchsten  Würden  der  jacobitischen  Kirche,  ent- 
faltete   für    diese   eine    große    praktische    Tätigkeit,    und    zwar    mit    aner- 
kennenswerter  Toleranz    gegen   die  Nestorianer,    hat   aber   dabei   noch   in 
einer  langen  Reihe  von  Schriften  so  ziemlich   alle  Wissenschaften  behan- 
delt, die  den  damaligen  Syrern  zugänglich  waren.     Seine  Werke,  die  uns 
vollständig   erhalten    sind,    haben   natürlich    sehr  ungleichen  Wert.     Viele 
sind  nur  Kompendien   nach   arabischem  Muster.     Sogar   in   seinem  Nomo- 
kanon  (Corpus  iuris  ecclesiastici)  nimmt  er  ganze  Stücke  aus  muslimischen 
Autoren  in  syrischer  Übersetzung  auf.    Seine  ausführliche  Grammatik  ver- 
einigt die  Methode  der  Griechen,  welcher  die  älteren  syrischen  Gramma- 
tiker folgen,  mit  der  für  die  syrische  Sprache  viel  geeigneteren  der  Araber, 
die    allmählich    bei    den   Syrern   eingedrungen  war.     Ungeachtet  mancher 
Mängel,  die  man  dem  einsam,  ohne  Kontrolle  einer  großen  Schule  arbei- 
tenden Manne  nicht  schwer  anrechnen  darf,  verdient  dies  Werk  hohe  An- 
erkennung;  ohne   dasselbe  wäre   uns   der  Bau   der  syrischen  Sprache  viel 
weniger  bekannt.     Die   kurzen  Anmerkungen   des    Barhebraeus  zur  Bibel 
sind  besonders  für  die  Sprachformen  lehrreich;    trotz  des  nach  arabischer 
Weise    prunkenden    Titels  „Schatz    der   Geheimnisse"    sind  sie   im  ganzen 
recht  nüchtern  gehalten.    Sein  bedeutendstes  Werk  ist  aber  seine  Chronik, 
die  in  zwei  Teile  zerfällt,   die  Welt-  und  die  Kirchenhistorie.     Zwar  wird 
sie  für  uns  viel  an  Wert  verlieren,   wenn  seine  Hauptquelle,   die  Chronik 
Michaels    (s.  oben   S.  1 1 7),  ganz  erschienen  sein  wird,  aber  schon  die  vor- 
treffliche Darstellung  der  Geschichte  seines  Jahrhunderts   sichert  ihr  fort- 
währende   Anerkennung.     Barhebraeus    hat    auch    Gedichte   gemacht,   und 
zwar    nicht   bloß    über   religiöse    Dinge.      Er    ist    freilich    kein    origineller 
Dichter,  aber  seine  Verse   sind  gewandt  und  zum  Teil  recht  hübsch  nach 


I  2  o  Theodor  Nöldeke  :  Die  aramäische  Literatur. 

arabischen  und  persischen  Mustern.     Als  Belletrist  zeigt   er  sich  ferner  in 

seinem  Anekdotenbuche.     Er  schrieb   auch  einiges   in  arabischer  Sprache, 

Arabisch-     u.  a.  eüic  kürzerc  Bearbeitung  seiner  Chronik.     Schon   früher  hatten   sich 

svnsclic 

Schriften,  manche  christliche  Syrer  als  Schriftsteller  des  Arabischen  bedient  oder, 
wie  zum  Teil  Elias  von  Nisibis  (s.  oben  S.  ii8),  beide  Sprachen  in  paral- 
lelen Kolumnen  nebeneinander  gebraucht.  Man  könnte  sogar  die  meisten 
arabischen  Schriften  sj'^rischer  Christen  zur  S5^rischen  Literatur  rechnen, 
zumal  sie  kaum  in  die  muslimische  Welt  hinüberdrangen.  Die  ausschließ- 
liche Bestimmung  für  christliche  Leser  zeigt  sich  oft  auch  äußerlich  da- 
durch, daß  man  das  Arabische  mit  S5'rischen  Buchstaben  schrieb,  ganz 
wie  die  jüdisch-arabische  Literatur  größtenteils  die  hebräische  Schrift  ver- 
wendet. Die  Kenntnis  der  alten  griechischen  Schriftsprache  war  aber  da- 
mals auch  den  Jacobiten  längst  abhanden  gekommen;  selbst  dem  Bar- 
hebraeus  war  sie  fremd. 
Ausgang  der  Nach  Barhcbracus   ist  zwar  noch   manches   in   syrischer  Sprache  ver- 

ratur.  faßt  wordcn  und  darunter  auch  ein  oder  das  andere  nennenswerte  Werk 
wie  die  höchst  interessante  Lebensbeschreibung  des  chinesischen  Türken 
jahbaUähä.  Jahballähä,  der  1281  — 1317  nestorianischer  Patriarch  war,  aber  im  ganzen 
versiegt  hier  das  Leben  doch  immer  mehr.  Die  syrische  Sprache  war 
ganz  zu  einer  toten  geworden;  die  Zahl  der  Christen  nahm  immer  mehr 
ab.  Die  Unterwerfung  des  muslimischen  Asiens  durch  die  Mongolen  half 
den  Christen  nichts,  denn  wenn  sie  anfangs  von  den  siegreichen  Barbaren 
begünstigt  wurden,  so  vermehrten  diese,  nachdem  sie  selbst  zum  Islam 
bekehrt  worden  waren,  nur  die  Zahl  ihrer  Gegner,  und  schon  die  allge- 
meine Verwüstung  .und  Verwilderung,  die  Zerstörung  der  arabisch-per- 
sischen Kultur  traf  auch  die  Christen  aufs  härteste.  So  schließen  wir 
passend  diese  Skizze  der  selbständigen  syrischen  Literatur  mit  der  Er- 
wähnung des   versifizierten  Werkchens,    in   welchem   der  schon  genannte 

Ebedjesa.     Ebcdjesu    (s.   obcn   S.   117)    die    den    Nestorianern    seiner    Zeit    bekannten 
Werke  aufzählt, 
tjbersetzungen  In  der  früheren  muslimischen   Zeit  haben   die  Syrer   noch    vieles    aus 

aus  dem  Grie-  /-^     -  •  t        • 

chischen.  dem  Griechischcn  übersetzt.  Ja  im  Anfang  der  Abbäsidenzeit  ist  diese 
Tätigkeit  für  die  Fortpflanzung  griechischer  Wissenschaft  erst  recht  von 
Bedeutung  geworden.  Denn  damals  übertrug  man  philosophische  und 
andere  wissenschaftliche  Werke  systematisch  ins  Syrische,  und  diese  syri- 
schen Texte  wurden  dann  weiter  ins  Arabische  übersetzt.  Seltener  wurden 
die  arabischen  Überzetzungen  direkt  aus  dem  Griechischen  gemacht.  Solche 
arabische  Texte  sind  dann  später  direkt  oder  durch  Vermittlung  hebräi- 
scher Übersetzungen  ins  Lateinische  verpflanzt  worden,  und  auf  diese 
Weise  hat  das  Abendland  im  Mittelalter  den  Aristoteles  und  andere 
Griechen  erst  kennen  gelernt;  freilich  nicht  unentstellt!  Auch  auf  die 
kirchliche  Literatur  erstreckte  sich  die  Übersetzertätigkeit.  Manche  grie- 
chischen Werke,  die  man  schon  syrisch  hatte,  wurden  damals  noch  einmal 
übersetzt;   man  strebte  da  nach  mögstlicher  Genauigkeit.     Auch  aus  dem 


B.  Literatur  der  Harranier.     C.  Christlich-palästinische  Literatur.  j  2  I 

Arabischen  übersetzte  man  bald  allerlei.  So  das  wie  Kalilag  \ve  Damnag  Übersetzungen 
(s.  oben  S.  115)  aus  Indien  stammende  hübsche  Sindbad-Buch  über  die  biseben. 
Listen  der  Weiber,  das  bald  darauf  (gegen  iioo)  aus  dem  Syrischen  weiter 
ins  Griechische  übertragen  worden  ist.  Ziemlich  später  Zeit  gehört  an  die 
jüngere  syrische  Bearbeitung  von  Kalilag  we  Damnag  nach  einer  ara- 
bischen Vorlage,  aber  mit  Heranziehung  des  alten  syrischen  Textes  (s. 
oben  S.  115). 


B.    Literatur  der  Harranier. 

Leider  ist  uns  alles  verloren,  was  die  sog.  Sabier,  die  harränischen 
Heiden,  die  eine  aus  altsyrischen  und  spätgriechischen  Elementen  ge- 
mischte Religion  bis  tief  in  die  islamische  Zeit  hinein  bewahrten,  in  ihrer 
syrischen  Sprache  geschrieben  haben.  Da  die  Heidenstadt  Harrän  ganz 
nahe  bei  der  Burg  des  Christentums  Edessa  lag,  so  ist  anzunehmen,  daß 
ihre  Literatursprache  sich  höchstens  ganz  wenig  von  der  der  syrischen 
Christen  unterschieden  haben  wird.  Später  haben  sich  einige  dieser  Har- 
ranier wie  Thäbit  ibn  Kurra  (-|-  901)  eifrig  an  der  Übersetzung  griechischer 
Autoren  ins  Arabische  beteiligt. 


C.    Christlich-palästinische  Literatur. 

Wohl  im  5.  Jahrhundert  begannen  Christen  Palästinas  ihren  Provinzial- 
dialekt,  der  dem  ihrer  jüdischen  und  samaritanischen  Landsleute  weit 
näher  stand  als  dem  edessenischen,  literarisch  zu  verwenden.  Sie  wollten, 
scheint  es,  als  gute  Katholiken,  Anhäng^er  des  chalcedonischen  Konzils, 
mit  der  Sprache  der  Monophysiten  nichts  mehr  zu  tun  haben.  Mit  der 
Übersetzung  biblischer  Bücher  aus  dem  griechischen  Text  wird  man  be- 
gonnen haben;  davon  hat  sich  manches  erhalten.  Dann  übersetzte  man 
noch  Werke  einiger  Kirchenväter  wie  des  Chrysostomos,  Legenden  und 
anderes.  Die  selbständige  Schriftstellerei  in  diesem  Dialekt  scheint  immer 
sehr  beschränkt  gewesen  zu  sein.  Er  erhielt  sich  einige  Jahrhunderte  lang 
in  Palästina  und  selbst  bei  einer  palästinischen  Kolonie  in  Ägypten  in 
beschränkten  Kreisen,  aber  die  auf  uns  gekommenen  Bruchstücke  zeigen, 
daß  dies  christlich-palästinische  Aramäisch  zu  der  Zeit,  aus  der  unsere 
Handschriften  stammen,  schon  aus  dem  Leben  verschwunden  und  durch 
das  Arabische  ersetzt  worden  war.  So  gering  der  Wert  dieser  Reste  als 
literarischer  Monumente,  so  wichtig  ist  ihre  sprachliche  Bedeutung.  Zu 
grammatischer  Durchbildung  und  fester  Orthographie  hat  es  diese  Schrift- 
sprache nicht  gebracht,  im  Gegensatz  zur    edessenischen. 


122  Theodor  Nöldeke:  Die  aramäische  Literatur. 

D.    Literatur  babylonischer  Sekten. 

Msni.  Aramäisch,  aber  in  einem  Dialekt  Babyloniens,  der  von  dem  edesse- 

nischen  stark  abwich,  sind  wenigstens  einige  Hauptschriften  des  Religions- 
stifters Mäni  (■]-  276)  verfaßt  gewesen.  Leider  haben  wir  von  ihnen  nichts 
Mandäer.  Z  usammenliängendes  mehr  im  Originaltext.  —  Dagegen  besitzen  wir  einige 
heilige  Bücher  der  religiösen  Sekte  der  Mandäer,  die  ebenfalls  in  einer 
babylonisch -aramäischen  Mundart  geschrieben  sind;  diese  steht  der  des 
babylonischen  Talmud  sehr  nahe.  Der  schriftstellerische  Wert  dieser  Werke 
ist  im  ganzen  nicht  groß,  wenn  sich  auch  hier  und  da  Stücke  mit  poetischem 
Schwung  und  phantastischem  Leben  finden;  aber  da  sie  uns,  allerdings 
in  wildem  Durcheinander,  die  Lehren  und  Bräuche  verschiedener  Reli- 
gionsparteien abspiegeln,  deren  eigene  Schriften  wir  nicht  mehr  besitzen, 
namentlich  juden-christlicher  und  gnostischer  Sekten,  sowie  der  Mani- 
chäer,  so  sind  sie  inhaltlich  für  die  Religionsgeschichte  recht  bedeutungs- 
voll. Dazu  ist  ihr  Dialekt  sprachlich  sehr  wichtig.  Die  mandäischen 
Hauptschriften  haben  ihre  jetzige  Form  zwar  erst  in  früh  muslimischer 
Zeit  erhalten,  gehen  jedoch  in  eine  ältere  zurück.  Auch  nachher  haben 
Mandäer  noch  einiges  geschrieben,  wie  liturgische  Erläuterungen,  astro- 
logische und  Zauberschriften. 


E.   Neusyrische  Literatur. 

In  einigen  Teilen  des  alten  Assyriens  und  Kurdistans,  sowie  am 
Urmia-See,  haben  sich  aramäische  Dialekte  bis  heute  erhalten.  Es  gibt 
darin  allerlei,  zum  Teil  recht  hübsche,  weltliche  Liedchen  und  einzelne  geist- 
liche Gedichte;  zur  Schriftsprache  sind  jedoch  einige  dieser  Dialekte  erst 
durch  protestantische  (amerikanische)  und  katholische  Missionare  erhoben 
worden.  Namentlich  in  Urmia  hat  man  schon  viel  neusyrisch  gedruckt. 
Originellen  Wert  hat  aber  die  betreffende  Literatur  natürlich  einstweilen 
noch  nicht. 


Literatur. 

Das  Abendland  hat  von  syrischer  Sprache  zuerst  in  der  Mitte  des  i6.  Jahrhunderts 
Näheres  erfahren  durch  den  Jacobiten  Moses  von  Mardln.  Aber  genauere  Kunde  verdankt 
es  erst  den  maronitischen  Gelehrten.  Die  Maroniten,  syrische  Christen  des  Libanons  und 
einiger  benachbarten  Gegenden,  gehörten  früher  der  im  7.  Jahrhundert  aufgekommenen 
Sekte  der  Monotheleten  an,  standen  aber  schon  seit  den  Kreuzzügen  in  enger  Verbindung 
mit  Rom  und  sind  längst  gute  römische  Katholiken.  Unter  ihnen  zeichnete  sich  namentlich 
die  Gelehrtenfamilie  der  Assemani  aus,  vor  allen  Joseph  Simon  Assemani.  Seine  Biblio- 
theca  Orientalis  (Rom,  1719  —  28;  ist  noch  immer  eine  Fundgrube  der  syrischen  Literatur, 
wenngleich  viele  Werke,  aus  denen  er  mit  sicherer  Hand  das  Wichtigste  mitteilt,  jetzt 
vollständig  gedruckt  vorliegen  und  wenngleich  moderne  Forschung  manches  Einzelne  in 
jenem  monumentalen  Werke  zu  verbessern  findet.  Reiche  Repertorien  sind  ferner  die 
Kataloge  der  syrischen  Handschriften  in  europäischen  Bibliotheken,  von  denen  ein  sehr 
großer  Teil  aus  der  Büchersammlung  eines  einzigen  jacobitischen  Klosters  in  Ägypten 
stammt.  Besonders  ist  hier  das  Verzeichnis  der  syrischen  Handschriften  des  British  Museum 
von  William  Wright  zu  nennen  (London,  1870—72).  Ebendemselben  verdanken  wir  das 
inhaltreiche  Büchlein  A  short  History  of  Syriac  Literature  (London,  1894;  es  war  zuerst  in 
der   ,,Encyclopaedia   Britannica"   erschienen).     Diesem  Werke  reiht   sich   würdig    an]  Raoul  O 

DuvALs  Buch  La  littSrature  syriaqne  (Paris,  1899;  mit  Zusätzen  1900),  das  zwar  auch  kurz- 
gefaßt, aber  doch  etwas  umfangreicher  ist  als  das  Wrights  und  an  bibliographischer  Voll- 
ständigkeit nichts  zu  wünschen  übrig  läßt.  Sehr  verdienstlich  war  seiner  Zeit  Gustav 
BiCKELLs  Conspectus  rei  Syrorum  literariae  (Münster,  1871).  Für  einzelne  Teile  dieser 
Literatur  sind  namentlich  zu  nennen:  GeORG  Hoffmann,  Auszüge  aus  syrischen  Akten  per- 
sischer Märtyrer  (Leipzig,  1880);  Adalbert  Merx,  Historia  artis  grammaticae  apud  Syros 
(Leipzig,  1889)  und  die  Arbeiten  Anton  BÄUMST arks  betreffend  die  syrischen  Übersetzungen 
griechischer  Werke.  Um  die  syrischen  Bibeltexte  haben  sich  besonders  englische  Gelehrte 
verdient  gemacht. 

Über    die   Geschichte    der  aramäischen  Dialekte  vgl.  .meine  Schrift   ,,Die    semitischen 
Sprachen"-,  31 — 47  (Leipzig,   1899). 


DIE  ÄTHIOPISCHE  LITERATUR. 

Von 
Theodor  Nöldeke. 


Einleitung'.  Die  Auswanderung  von  Arabern,  namentlich  aus  Jemen, 
nach  der  afrikanischen  Küste  und  ins  Hochland  von  Abessinien,  ein 
Prozeß,  der  in  sehr  alten  Zeiten  begonnen  hat  und  auch  heute  noch  nicht 
abgeschlossen  ist,  hat  semitische  Sprache  dorthin  getrag^en.  Diese  hat 
sich  da  trotz  starker  Vermischung  mit  der  einheimischer  „Hamiten"  ge- 
halten und  ist  sogar  in  weitem  Umfange  von  solchen  angenommen  worden. 
Die  alte  äthiopische  Schriftsprache  (das  Geez)  ist  der  arabischen  nahe 
verwandt;  noch  näher  stand  sie  ohne  Zweifel  dem  uns  leider  bloß  durch 
Inschriften  und  daher  nur  höchst  ungenügend  bekannten  Sabäisch,  der 
alten  Kultursprache  Südarabiens. 


A.  Geez-Literatur. 

Inschriften.  I.    Erste    Periode.      Das    Äthiopische    ist    ziemlich    spät    schriftlich 

fixiert  worden.  Erst  aus  dem  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  haben  wir  In- 
schriften, welche  das  Äthiopische  durch  sabäische  Buchstaben  nicht 
eben  geschickt  wiedergeben.  Bald  darauf  hat  aber  ein  unbekannter 
Meister  auf  Grund  des  sabäischen  Alphabets  fürs  Äthiopische  eine  zwar 
etwas  schwerfällige,  aber  sonst  ungewöhnlich  zweckmäßige  Schrift  ge- 
bildet, die  auch  die  Vokalisation  vortrefflich  ausdrückt.  Die  darin  ge- 
schriebenen beiden  Denkmäler  eines  noch  heidnischen  Königs,  etwa  aus 
der  zweiten  Hälfte  des  5.  Jahrhunderts,  in  der  alten  Hauptstadt  Aksüms 
zeigen  dieselbe  Sprache  wie  die  christliche  Literatur,  die  wohl  um  dieselbe 
Bibel-       Zeit   mit    der  Übersetzung    der  Bibel  begfann.     Diese  Übersetzung  beruht 

äbersetzong.  . 

auch  beim  Alten  Testament  auf  dem  griechischen  Text,  obwohl  deut- 
liche Zeichen  dafür  vorhanden  sind,  daß  das  Christentum  wie  das  Juden- 
tum von  Leuten  aus  Syrien  nach  Äthiopien  gebracht  worden  ist.  Das 
Werk  rührt  von  ganz  verschiedenen  Händen  her;  die  Ausführung  mag 
sich  über  lange  Zeit  hingezogen  haben.  Leider  ist  der  ursprüngliche 
äthiopische  Text  in  den  bekannten  Handschriften  mehr  oder  weniger  durch 


Einleitung.     A.   Geez-Literatur.     I.  Erste  Periode.     II.  Zweite  Periode.  125 

Nachlässigkeit  oder  durch  absichtliche  Überarbeitung-  entstellt  In  der 
alten  äthiopischen  Bibel  fehlen  die  Offenbarung  Johannis,  die  eben  von 
vielen  Christen  bis  in  späte  Zeit  nicht  als  kanonisch  anerkannt  wurde, 
und  von  den  Apokryphen  die  Makkabäerbücher.  Dagegen  wurden  schon 
in  jener  ersten  Literaturperiode,  die  wir  etwa  vom  5.  bis  zum  8.  Jahr- 
hundert ansetzen  können,  auch  einige  „Pseudepigrapha"  übertragen  und 
von  den  Äthiopiern  dann  wenigstens  in  der  Praxis  den  Bibelbüchern  gleich 
gerechnet.  Für  die  biblische  Literatur  ist  das  von  großer  Wichtigkeit. 
Von  zwei  alten  Werken  dieser  Klasse,  dem  Buche  Henoch  und  dem  Buch 
der  Jubiläen  (auch  „die  Kleine  Genesis"  genannt),  ist  so  der  vollständige 
Text  wenigstens  äthiopisch  erhalten,  und  für  die  Apokalypse  Esras  (oder 
das  4.  Buch  Esra)  kann  die  äthiopische  Übersetzung  zusammen  mit  den 
lateinischen  und  anderen  orientalischen  dazu  dienen,  das  verlorene  grie- 
chische Original  herzustellen.  Wie  die  eigentlich  biblischen  Bücher  so 
haben  auch  diese,  namentlich  Henoch  und  Esra,  einen  erheblichen  Einfluß 
auf  die  spätere  äthiopische  Literatur  gehabt. 

Von  den  erhaltenen  äthiopischen  Werken  gehören   wohl   noch   einige   Andere  LUe- 

^  '-'  ^      ratur  der  ersten 

wenige  Übersetzungen  theologischer  griechischer  Schriften  in  diese  frühe  Periode. 
Periode.  Dagegen  haben  wir  aus  ihr  schwerlich  noch  irgend  äthiopische 
Originalschriften;  freilich  ist  auch  nicht  anzunehmen,  daß  damals  im 
aksOmitischen  Reich  viel  selbständig  geschriftstellert  worden  sei.  Über- 
haupt darf  man  sich  von  dessen  Kultur  keinen  besonders  hohen  Begriff 
machen. 

Durch  die  islamische  Eroberung  wurde  Abessinien  von  der  christlichen 
Welt  abgeschnitten,  und  lange  Jahrhunderte  scheint  das  literarische  Leben 
dort  ganz  oder  fast  ganz  geschlummert  zu  haben.  Selbst  von  König 
Lällbalä  (Anfang  des  13.  Jahrhunderts),  dessen  Felsenkirchen  weitaus  die 
bedeutendsten  Kunstwerke  Abessiniens  sind,  hat  man  keine  authentische 
Geschichte,  sondern  nur  eine  spätere  Legende,  die  den  vermutlich  recht 
tatkräftigen  Mann  zu  einem  gewöhnlichen  mönchischen  Heiligen  macht. 

IL  Zweite  Periode.  In  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  Einleitung. 
kam  mit  Jekünö  Amläk  (1270 — 85)  eine  neue  Dynastie  auf,  die  sich  als  die 
allein  legitime  ausgab  und  nicht  nur  von  den  alten  Königen  von  Aksüm, 
sondern  auch  von  Salomo  und  der  Königin  von  Saba  abstammen  wollte. 
In  ihrer  Heimat,  dem  südlichen  Teil  Abessiniens,  der  kaum  zum  aksü- 
mitischen  Reich  gehört  hatte  und  erst  allmählich  und  nur  teilweise  zum 
Christentum  bekehrt  worden  war,  herrschte  neben  allerlei  anderen  Sprachen 
ein  vom  Geez  sehr  verschiedener,  stark  von  fremden  Elementen  durch- 
drungener Dialekt,  das  Amharische.  Aber  trotzdem  und  obwohl  inzwischen 
das  Geez  auch  nicht  mehr  lebendig  geblieben,  sondern  durch  Tochter- 
dialekte ersetzt  worden  war,  hat  mit  der  neuen  Dynastie  die  Literatur  in 
der  alten  Sprache  einen  neuen  Aufschwung  genommen.   Dies  hängt  jeden- 


126  Theodor  Nöldeke:  Die  äthiopische  Literatur. 

falls  damit  zusammen,  daß  die  Herrscher  in  engen  Bund  mit  der  Kirche 
traten,  die,  so  traurig  ihr  geistiger  Zustand  zu  allen  Zeiten  gewesen  ist, 
doch  so  ziemlich  der  einzige  Vertreter  geistiger  Interessen  war.  Die 
abessinische  Kirche  war  schon  lange  ein  Glied  der  äg5'ptischen.  Die 
Bande,  welche  die  abessinischen  Christen  an  die  Kopten  knüpften,  wurden 
jetzt  noch  fester.  Die  Kirche  Ag}-ptens  war  aber  schon  lange  die  reine 
Mönchskirche  geworden;  ihr  geistiges  Niveau  war  ein  ziemlich  tiefes. 
Um  so  weniger  konnte  sich  ihr  Reflex  im  fernen  Alpenlande  inmitten 
afrikanischer  Barbarei  hoch  erheben.  Auf  Äußerlichkeiten  des  Kultus 
wurde  zwar  viel  gegeben,  aber  im  Leben  und  in  der  Religion  blieb 
doch  heidnisches  Wesen  stark,  und  nicht  einmal  die,  freilich  von  der 
Kirche  gepredigte,  Monogamie  ist  in  Abessinien  jemals  durchgeführt 
worden. 
Übersetzungen  Die  äthiopische  Literatur  der  folgenden  Jahrhunderte  hängt  also  eng  mit 

aus  dem  ,  .  o  o 

Arabischen,  der  der  äg}'ptischen  Christen  zusammen  und  besteht  zum  sehr  großen  Teile 
aus  Übersetzungen  von  Produktionen  dieser.  Die  Übersetzer  waren  zum 
Teil  in  Abessinien  ansässig  gewordene,  arabisch  redende  Kopten.  An  die 
Stelle  der  Übertragungen  aus  dem  Griechischen  trat  die  aus  dem  Ara- 
bischen, zum  kleinen  Teile  auch  aus  dem  Koptischen.  Zahlreiche  ur- 
sprünglich griechische  Werke  sind  allerdings  auch  noch  unter  der  Salo- 
monischen Dynastie  ins  Äthiopische  verpflanzt  worden,  aber  nur  durch 
Vermittlung  eines  arabischen  Textes.  Wir  könnten  eine  lange  Liste  von 
solchen  äthiopischen  Übersetzungen  aus  verschiedenen  Zweigen  der  Theo- 
logie geben,  die  zu  großem  Ansehen  gelangt  sind  und  auf  die  Original- 
literatiir   bedeutenden  Einfluß    gehabt  haben.     Wir  wollen   aber   nur  zwei 

Fetha  Nagast.  Beispiele,  und  zwar  aus  Grenzgebieten  geben.  Im  13.  Jahrhundert  hatte 
ein  koptischer  Geistlicher  Ibn  Assäl  aus  alten  kirchlichen  Kanones,  rö- 
mischen („kaiserlichen")  Gesetzen  und  muslimischem  Zivilrecht  in  arabischer 
Sprache  einen  „Xomokanon"  zusammengestellt.  Dieser  ward  unter  dem 
Xamen  Fetha  Nagast  („Recht  der  Könige")  im  15.  oder  16.  Jahrhundert 
ins  Äthiopische  übersetzt  und  erlangte  in  Abessinien,  obgleich  er  vielfach 
zu  dessen  Bedürfnissen  gar  nicht  paßt  und  obgleich  die  Übersetzung  von 
Mißverständnissen  wimmelt,  die  Geltung  eines  kirchlichen  und  staat- 
lichen Gesetzbuches,  so  daß  sich  europäische  Gelehrte  haben  täuschen 
lassen,  das  Buch  als  einen  Kodex  altnationalen  Rechts  anzusehen.  Das 
Studium  dieses  Buches  ist  selbst  den  einheimischen  Gelehrten  äußerst 
schwierig,  besonders  weil  eben  auch  den  falsch  übersetzten  und  den  durch 
Abschreiber  verdorbenen  Stellen  ein  Sinn  abgezwungen  werden  muß. 
Sehr  große  Schwierigkeit  bereitet  den    abessinischen  Gelehrten  auch  das 

Abu  schäkir.  aus  dem  Arabischen  übersetzte  chronologische  Werk  des  Abu  Schäkir, 
das  wegen  der  Berechnung  der  Feste  für  die  Kirche  von  großer  Wichtig- 
keit ist. 

Tbeoio^scbe  Mit   der  Zeit  griff   man   auch  selbständig   die   theologischen  Themata 

Werke. 

an.     Wir   haben    z.  B.    allerlei    Schriften    über    dogmatische    Tragen,    zum 


A.  Geez-Literatur.     IT.  Zweite  Periode. 


127 


ISuch  der 
Geheimnisse. 


Teil  höchst  abstruser  Art.  Besonderen  Anlaß  dazu  gab  die  Berührung 
mit  römisch-katholischen  Geistlichen,  die  im  16.  Jahrhundert  ins  Land 
kamen,  nachdem  portugiesische  Helden  den  Christen  gegen  den  mus- 
limischen Ansturm  mit  Macht  geholfen  hatten.  Die  zuzeiten  günstig  er- 
scheinende Aussicht,  das  Land  für  Rom  zu  gewinnen  und  dadurch  Europa 
näher  zu  bringen,  zerschlug  sich  im  17.  Jahrhundert  gänzlich.  Gerade 
diese  Reibungen  gaben  aber  einem  tief  religiösen,  jedoch  ung-emein  selb- 
ständig denkenden  Manne,  Zar'a  Ja'qöb  (1599 — 1692)  den  Anlaß,  sich  im  Zar'a  ja'qsb, 
Geiste  von  aller  Kirchlichkeit  loszusagen  und  ein  rein  deistisches  System 
auszubilden.  Dieses  finden  wir  in  seinem  im  Jahre  1666  geschriebenen 
Büchlein.  Er  hatte  nur  einen  einzigen  vertrauten  Schüler,  Walda  Hejwat, 
der  seine  Anschauungen  ebenfalls  in  einer  kleinen  Schrift  auseinandersetzt. 
Beide  Männer  verwerfen  energisch  das  Mönchtum  und  jegliche  Askese, 
predigen  Menschenliebe  und  strenge  Sittlichkeit.  Sie  stehen  aber  in 
diesem  Lande  und  in  dieser  Literatur  ganz  einzig  da. 

Ein    seltsames    Denkmal    der    äthiopischen  Kirche    ist   z.  B.   das    dem 
13.  Jahrhundert  angehörende  „Buch  der  Geheimnisse  des  Himmels  und  der 
Erde".     Alles  Mögliche   steht   darin,   nur  wenig  Vernünftiges.     Wir  haben 
hier  zum  Teil  schon  die  Atmosphäre  der  zahlreichen  Zauberbücher.    Auch  zauberbücher, 
manche  Gebetbücher  enthalten  viel  Zaubersprüche. 

Einige  Schriften  der  abessinischen  Juden  (Faläschä)  erinnern  etwas  an 
das  eben  genannte  „Buch  der  Geheimnisse". 

Die  Masse  der  äthiopischen  Legenden  und  Heiligenleben  ist  sehr  aus- 
gedehnt. Vieles  ist  davon  aus  dem  Arabischen  oder  Koptischen  übersetzt, 
vieles  aber  auch  Original.  Die  Richtung  auf  das  Wunderliche,  ja  Ab- 
geschmackte zeigt  sich  in  solchen  Originalen  noch  mehr  als  schon  in  den 
ägyptischen  Vorbildern.  Wir  müssen  immer  im  Auge  behalten,  daß 
hier  eine  Mönchsliteratur  ist.  So  ein  Heiliger  dritten  Grades  verrichtet 
unerhörte  Wunder.  Christus  erscheint  den  Asketen  oft  in  Person  wie  ein 
gewöhnlicher  Besucher.  Zum  hl.  Filpos  kommt  die  Trinität  in  der  Gestalt 
von  drei  Männern,  die  mit  ihm  reden,  wie  einst,  nach  der  kirchlichen  Aus- 
legung, zu  Abraham  (i.  Mose  18).  Die  Heiligen  fahren  auch  gelegentlich 
zum  Himmel  und  wieder  zur  Erde;  sie  kommen  weit  entfernten  frommen 
Leuten  urplötzlich  zu  Hilfe.  In  Bußübungen  leisten  sie  bedeutend  mehr  als 
das  Menschenmögliche.  Als  der  hl,  Aragäwi  durch  Offenbarung  die  un- 
zugängliche Felsenhöhe  entdeckt  hat,  auf  der  er  sein  Kloster  errichten 
soll,  erscheint  eine  große  Schlange,  um  ihm  als  Strick  zum  Hinaufklimmen 
zu  dienen  usw.  usw.  Derartige  Mirakel  finden  wir  allerdings  auch  bei  den 
Heiligen  der  Hindu,  welche  die  Abessinier  doch  an  Geist  bedeutend  über- 
treffen, an  Energie  ihnen  freilich  sehr  nachstehn.  Manche  dieser  Legenden 
sind  Homilien,  die  an  den  Gedenktagen  der  betreffenden  Heiligen  vor- 
gelesen werden  sollen.  Einige  zeigen  dabei  sehr  deutlich  die  Absicht, 
die  Gläubigen  zu  reichen  Gaben  für  die  geistigen  Abkömmlinge  der  alten 
Gottesmänner    zu    gewinnen.     Ausnahmsweise    gewähren    solche   Schriften 


Jüdische 
Schriften. 


Legenden. 


j  ,  g  Theodor  Nöldeke  :  Die  äthiopische  Literatur. 

aber  doch  auch  einige  historische  Belehrung.  Ganz  besonders  reich 
ist  Maria  mit  Legenden  bedacht;  man  hat  oft  den  Eindruck,  daß  sie 
die  eigentliche  Göttin  des  Landes  ist.  Eine  bedeutende  Stelle  nehmen 
auch  die  Wunder  der  Erzengel  ein,  besonders  Michaels.  Übrigens  gehört, 
wie  bei  anderen  Orientalen,  selbst  Alexander  der  Große  zu  den  Männern 
Gottes  und  wird  (auch  abgesehen  von  der  äthiopischen  Bearbeitung  des 
alten  Alexanderromans)  in  Legenden  gefeiert.  Der  ganze  Heiligenkalender, 
das  Synaxarion,  ist  zwar  den  Kopten  entlehnt,  aber  mit  äthiopischen 
Originalstücken  vermehrt. 
KebraNa-ast.  Eine  Anzahl  seltener  Legenden    enthält   das   große  Buch  Kebra  Na- 

gast („die  Herrlichkeit  des  Königs").  Darin  wird  wesentlich  erzählt,  wie 
die  legitimen  abessinischen  Könige  von  Salomo  und  der  Königin  des 
Südens  (der  Königin  von  Saba)  abstammen  und  wie  der  Gründer  der 
Dvnastie  die,  ganz  als  Fetisch  aufgefaßte,  Bundeslade  von  Jerusalem  nach 
Abessinien  entfülirt.  Dazu  kommen  noch  lange  erbauliche  Abschnitte. 
Das  an  historischen  Konfusionen  reiche  Werk  ist  sehr  wichtig  geworden, 
da  es  als  größte  Autorität  für  die  Staats-  und  kirchlichen  Einrichtungen 
des  Landes  galt.  Verfaßt  ist  es  wahrscheinlich  im  14.  Jahrhundert.  Sollte 
es  nicht  ganz  die  äthiopische  Übersetzung  eines  arabischen  Urtextes  sein, 
so  gilt  das  zum  mindesten  für  große  Stücke.  Das  Buch  stammt  aus  dem 
Kreise  der  koptischen  Kirchenleiter  und  hat  die  Herrlichkeit  der  abessi- 
nischen Kirche  noch  mehr  im  Auge  als  die  des  Königsthrons. 
Historische  Aber  auch   eine   wirklich  historische   Literatur  haben    die  Abessinier. 

Die  Weltchroniken  der  ägi,'ptischen  Christen  Ibn  Amid  und  Johann  von 
Nikiu  sind  allerdings  aus  dem  Arabischen  übersetzt.  Der  äthiopische  Text 
dieses  Johanns,  dessen  Original  verloren,  ist  sehr  wichtig,  weil  er  ein- 
gehende Nachrichten  über  die  Eroberung  Ägyptens  durch  die  Muslime 
enthält.  Aber  weit  belangreicher  sind  für  uns  doch  die  Originalwerke 
über  die  Geschichte  Abessiniens.  Aus  alter  Zeit  haben  wir  nur  unzuver- 
lässige Aufzählungen  von  Königsnamen.  Die  „Salomonischen"  Herrscher 
mögen  aber  früh  dafür  gesorgt  haben,  daß  ihre  Taten  aufgezeichnet  wur- 
den. Über  die  Ersten  von  ihnen  sind  uns  allerdings  auch  nur  kurze  Nach- 
richten erhalten.  Alte  eingehende  Aufzeichnungen  haben  wir  jedoch  schon 
über  die  Kriegszüge  des  Amda  Tsijon  (13 14 — 44).  Der  König,  der  nach 
anderen  Angaben  sehr  bedenkliche  Sitten  hatte,  erscheint  darin  als  Streiter 
Christi  wider  die  Ungläubigen.  Der  Gegensatz  der  äthiopischen  Christen 
zu  den  Muslimen  zieht  sich  eben  durch  die  ganze  Geschichte  des  Landes 
als  der  Kampf  des  Lichtes  mit  der  Finsternis,  während  das  unparteiische 
Urteil  oft  schwer  entscheiden  kann,  auf  welcher  Seite  die  größere  Barbarei 
war.  Mit  der  Regierung  des  ebenso  frommen  wie  rohen!  Gesetzgebers, 
Zar'a  Jaköb  (1435 — 68),  beginnt  für  uns  eine  fortlaufende  Reihe  von  Ge- 
schichten fast  aller  einzelnen  Könige  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts. 
Freilich  existieren  die  ursprünglichen  Darstellungen  nur  noch  zum  Teil, 
wie  z.  B.  die  besonders  wichtige  Geschichte  des  Süsenjös  (1609 — ^2),  aber 


Literatur. 


B.   Dialekt-Literatur.  j  2  ü 

von  anderen  haben  wir  wenigstens  Auszüge,  und  daneben  zum  Teil  noch 
weitere  gute  Nachrichten  in  den  Gesamtchroniken:  i.  der  kürzeren,  im  Anfang 
des  i8.  Jahrhunderts  abgeschlossenen,  von  der  Basset  eine  französische  und 
B^guinot  eine  italienische  Übersetzung-  gegeben  hat;  2.  der  großen,  die 
von  dem  gewalttätigen  Königsmacher  Haila  Mikäel  (Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts) veranlaßt  worden  ist,  und  3.  der  Sammlung  des  Lik  Atkü,  der 
mit  Rüppell  und  d'Abbadie  befreundet  war.  Sind  diese  Chroniken,  deren 
Verfasser  natürlich  auch  Geistliche,  aber  dabei  zum  Teil  recht  welterfahrene 
Leute  waren,  einmal  vollständig  herausgegeben,  so  haben  wir  darin  eine 
vorzügliche  Grundlage  nicht  bloß  für  die  bewegte  politische  Geschichte 
dieses  seltsamen  Landes.  Die  Sprache  namentlich  der  späteren  Chroniken 
ist  ein  mit  vielen  amharischen  Ausdrücken  gemischtes  und  zum  Teil  selbst 
in  der  Konstruktion  amharisierendes  Geez,  Amharisch  ist  eben  die  Sprache 
des  größeren  Teiles  des  Landes  und  der  Regierung,  während  das  Geez, 
wie  schon  angedeutet,  zwar  die  heilige  und  Schriftsprache  blieb,  in  Wirk- 
lichkeit aber  schon  lange  tot  ist.  Dieselbe  Sprachmischung  scheint  in 
der  aus  dem  18.  Jahrhundert  stammenden,  noch  nicht  edierten  Hof-  und 
Rangordnung  (Ser'ata  manglest)  zu  herrschen.  —  Noch  verdient  hier 
Erwähnung  ein  kleines  Werk  über  die  bösen  Eindring^linge,  das  wilde 
Volk  der  Galla,  von  einem  sehr  verständigen  Mönch  der  zweiten  Hälfte 
des  16.  Jahrhunderts;  bisher  haben  wir  nur  einen  stark  verstümmelten 
Text  davon. 

Gewiß  hat  es  in  Abessinien  von  alters  her  auch  weltliche  Poesie  ge-  Poesie, 
geben,  aber  die  äthiopische  Literatur  kennt  nur  kirchliche  Lieder.  Von 
solchen  existieren  mehrere  größere  Sammlungen,  deren  Ursprung  man 
wohl  fälschlich  in  sehr  alte  Zeit  verlegt.  Einige  sind  ganz  fürs  Ritual  be- 
stimmt und  mit  musikalischen  Noten  versehen.  Nach  den  wenigen  Proben, 
die  bis  jetzt  vorliegen,  haben  wir  von  dieser,  noch  dazu  ziemlich  form- 
losen, Poesie  nicht  viel  Schönes  zu  erwarten. 


B.  Dialekt-Literatur. 

Seit  Jahrhunderten  geht  nun  aber  neben  der  äthiopischen  Literatur 
eine  in  der  amharischen  Volkssprache  einher.  Die  ältesten  erhaltenen  Amharisch. 
amharischen  Texte  bilden  einige  interessante,  aber  schwer  verständliche 
Lieder,  w^elche  Könige  des  14.,  15.  und  16.  Jahrhunderts  feiern.  Durch 
die  römische  Geistlichkeit  wurden  im  16.  und  17.  Jahrhundert  dogmatische 
und  polemische  Schriften  in  amharischer  Sprache  veranlaßt,  die  wieder 
Gegenschriften  herv^orriefen.  Man  begann  ferner,  amharische  Bibelüber- 
setzungen zu  machen.  Auch  einige  romanhafte  Volksbücher  entstanden. 
Die  amharische  Literatur  hat  aber  erst  im  ig.  Jahrhundert  einen  größeren 
Aufschwung  genommen,  wieder  unter  dem  Einfluß  von  Missionaren,  prote- 

DiE  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  9 


j  ^O  Theodor  Nöldeke:  Die  äthiopische  Literatur. 

stantischen   wie    katholischen.     Völlig   originell   ist  jedoch   die   amharische 
Lebensbeschreibung   des  Königs  Theodoros    (reg.  1855 — 68)   vom  Priester 
Zenab. 
TigräiundTigre.  Auch  in  den  der  alten  äthiopischen  Sprache  näher  stehenden  Dialekten, 

dem  in  Nordabessinien  gesprochenen  Tigräi  oder  Tigrina  und  dem  in 
den  nördlichen  Vorlanden  herrschenden  Tigre,  haben  in  unserer  Zeit 
Fremde  einiges  gedruckt  und,  wie  sich  neuerdings  gezeigt  hat,  ist  jener 
Dialekt  schon  vor  längerer  Zeit  ganz  vereinzelt  von  Eingeborenen  zur 
Aufzeichnung  ihres  Gewohnheitsrechtes  benutzt  worden. 


Literatur. 

Nach  den  verdienstlichen  Arbeiten  einiger  Vorgänger  hat  zuerst  der  gjoße  lOB  LUDOLF 
('1624 — 1704)  das  Abendland  mit  Sprache  und  Literatur  der  Äthiopen  bekannt  gemacht. 
Was  uns  von  äthiopischen  Werken  erhalten  ist,  sehen  wir  am  besten  aus  den  Katalogen 
der  größeren  Handschriftensammlungen  wie  der  im  Brit.  Mus.  (von  Dillmann,  1847  und 
Wright,  1877),  bei  weitem  der  größten;  der  Oxforder  BibHothek  (Dillmann,  1848);  der 
Berliner  (DILL^L^NN,  1878);  der  Pariser  (Zotenberg,  1879)  und  der  Privatsammlung  von 
d'Abbadie  (1859;  jetzt  auch  in  der  großen  Pariser  Bibliothek).  Eine  kurze,  aber  vorzüghche 
Übersicht  über  die  älteste  Literatur  gibt  C.  Conti  Rossini,  neben  Ign.  Guidi  der  beste 
Kenner  dieser  Gebiete,  in  den  ,,Note  per  la  storia  letteraria  abissina"  (Separatdruck  aus  den 
Rendic.  della  R.  Acc.  dei  Lincei,  1899). 


9* 


DIE  ARABISCHE  LITERATUR. 

Von 

JMicHAEL  Jan  de  Goeje. 


LandundLeute.  Einleitung,     Eine    alte    arabische  Legende    sagt,   daß,   als  Gott   das 

für  die  Menschen  bestimmte  Teil  Verstand  ausgab,  er  es  den  Griechen  in 
den  Kopf,  den  Chinesen  in  die  Hände,  den  Arabern  in  die  Zunge  legte. 
Diese  Gottesgabe  haben  die  Araber  von  jeher  mit  Lust  gepflegt.  Der 
so  oft  als  speziell  arabisch  zitierten  diplomatischen  Lehre:  „Reden  ist 
Silber,  Schweigen  ist  Gold"  steht  die  andere  gegenüber:  „Schweigen  ist 
zwar  der  Schlüssel  der  Sicherheit,  aber  auch  der  Riegel  des  Verstandes." 
Kein  Volk  ist  empfänglicher  für  den  Reiz  des  Wortes,  als  das  arabische. 
Dem  verdankt  es  den  Reichtum  seiner  Sprache,  der  so  groß  ist,  daß  es 
selbst  sagt:  „Nur  ein  Prophet  kann  sie  ganz  beherrschen."  Erzählung  und 
Poesie  müssen  einen  Hauptgenuß  aller  Araber  gebildet  haben,  schon  weit 
vor  der  Zeit,  in  der  die  ältesten  uns  erhaltenen  Gedichte  entstanden  sind. 
Denn  wir  finden  in  diesen  bereits  eine  Fülle  und  eine  Eleganz  des  Ge- 
dankenausdrucks, sowie  eine  ausgebildete  Verskunst,  die  eine  sehr  lange 
Entwicklungsperiode  voraussetzen. 

Die  Anfänge  der  arabischen  Sprache  mit  ihrer  feinen  Gliederung  und 
ihrem  Formenreichtum  werden  wohl  immer  in  Dunkel  gehüllt  bleiben. 
Aber  die  Vorbedingungen  für  die  hohe  Blüte,  zu  der  sie  im  Laufe  der 
Zeit  emporgestiegen  ist,  lassen  sich  aufzeigen.  Intensives  Kulturleben,  in 
dem  die  Bildung  ihre  edelsten  Früchte  zeitigt,  ist  der  Ausbildung  sprach- 
lichen Formenreichtums  nicht  förderlich;  im  Gegenteil,  das  Bestreben,  die 
Gedanken  möglichst  kurz  und  klar  auszudrücken,  führt  eher  zur  Verarmung- 
der  Sprache.  Andererseits  kann  aber  auch,  wo  noch  die  Sorge  um  das 
tägliche  Brot  alles  beherrscht,  keine  Sprache  zu  höheren  Stufen  sich 
entwickeln.  Dies  ist  nur  möglich  da,  wo  der  Kampf  ums  Dasein  den 
Menschen  nicht  mehr  ganz  in  Anspruch  nimmt  und  die  Lebensfürsorge  ihn 
andererseits  vor  Erschlaffung  bewahrt,  wo  das  ungestüme  Verlangen  nach 
Reichtum  noch  nicht  als  Störenfried  auftritt,  wo  die  Sitten  und  die  ge- 
sellschaftlichen Verhältnisse  noch  einfach  sind. 

Solchen  Zustand  dürfen  wir  von  alters  her  in  der  wahren  Heimat  der 
Araber,  wenn  nicht  aller  Semiten,  in  Zentralarabien,  voraussetzen.  Es 
besteht  aus   einem   von  fruchtbaren  Tälern  durchschnittenen  Hochplateau, 


Einleitung.  j  ^  3 

um  welches  sich  ausgedehnte  Steppen  herumlagern.  Das  Klima  zählt  zu 
den  gesundesten  der  ganzen  Welt.  Die  Luft  ist  so  klar  und  rein,  wie 
man  es  sich  in  Europa  kaum  vorstellen  kann.  Man  fühlt  hier,  sagt  die 
Reisende  Lady  Anne  Blunt,  eine  Lebensfroheit  und  eine  Heiterkeit,  die 
einen  an  seine  Jugendzeit  erinnert,  so  daß  man  selbst  unter  schwierigen 
Verhältnissen  seine  Munterkeit  nicht  verliert.  Dem  Einflüsse  dieses  Klimas 
schreibt  Sprenger  die  physische  Entwicklung  und  speziell  die  schöne 
Schädelform  und  vollkommene  Gehimbildung  zu,  die  allen  semitischen 
Völkern  eigen  ist,  und  der  sie  die  Standhaftigkeit  ihres  Typus  und  Cha- 
rakters verdanken.  Daher  auch  der  gesunde  Verstand  und  die  feine  Be- 
obachtungsgabe des  Arabers,  die  ihn  die  umgebende  Welt  durch  und 
durch  kennen  lehren,  was  sich  dann  in  seiner  Sprache  widerspiegelt. 

Zentralarabien  selbst  besitzt  Ackerboden  und  Weiden  genug,  um  eine 
ziemlich  zahlreiche  Bevölkerung  zu  ernähren.  Nach  dem  ersten  Regen 
im  Spätherbst  bedecken  sich  die  Steppen  mit  frischen  saftreichen  Pflanzen, 
die  den  Herden  eine  herrliche  und  üppige  Nahrung  bieten,  bei  der  sie 
des  Wassers  entbehren  können.  Vom  Beginn  dieser  Jahreszeit  an  halten 
sich  die  Hirtenstämme  in  der  Steppe  auf  und  leben  dort  im  Überfluß,  bis 
nach  Ablauf  des  Frühlings  die  Hitze  eintritt  und  sie  nötigt,  die  Täler  des 
Hochplateaus  aufzusuchen,  deren  Gewässer  ihnen  auch  im  Sommer  das 
Weiden  ermöglichen.  Im  Herbst  kehren  sie  dann  wieder  in  ihre  eigent- 
lichen Wohnsitze  zurück.  Dieses  von  der  Natur  bedingte  Hin-  und  Her- 
ziehen der  Araber  hat  gewiß  viel  dazu  beigetragen,  ihren  Blick  zu  er- 
weitern und  den  Verstand  zu  schärfen.  Nicht  selten  führt  sie  das  Bedürfnis 
nach  Weide  bis  an  die  Grenze  der  den  Steppen  benachbarten  Staaten, 
wo  sie  dann  die  Produkte  ihres  Viehstandes  und  ihrer  primitiven 
Industrie  gegen  solche,  die  ihnen  fehlen,  umtauschen.  So  breitet  sich  ihr 
Horizont  aus,  und  sie  kehren  mit  neuen  Ideen  und  Kenntnissen  in  die 
Heimat  zurück.  Da  gibt  es  dann  zu  erzählen,  was  man  alles  erlebt  hat; 
und  da  das  der  Sprachentwicklung  feindliche  „time  is  money"  hier  noch 
nicht  in  Geltung  ist,  hat  man  die  Zeit,  die  gesammelten  Eindrücke  in  be- 
haglicher Breite  mitzuteilen  und  seine  Meinung  in  wohlgewählte  Worte 
zu  kleiden.  So  hat  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  mit  dem  Verstände 
auch  die  Sprache  des  Volkes  entwickelt. 

Die  hohe  Achtung  vor  Sprache  und  Wortkunst  ist  den  Arabern  auch 
unter  den  kümmerlichsten  Verhältnissen  stets  eigen  geblieben.  Der  Redner, 
der  die  Versammlung  begeistert,  der  Weise,  der  schöne  Wahrheiten  und 
köstliche  Lehren  in  kemhafte  Sprüche  kleidet,  der  Dichter,  dessen  Lob 
ziert,  dessen  Hohn  verwundet,  dessen  Klagen  erschüttern,  dessen  Schilde- 
rungen ergötzen  —  sie  alle  erfreuen  sich  des  höchsten  Ansehens.  Um 
einen  geschätzten  Dichter  sich  wohlgesinnt  zu  erhalten,  oder  auch  nur 
um  seinen  Unwillen  zu  beschwichtigen,  bringt  man  oft  große  Opfer.  Denn 
mit  seinen  Versen  „reisen  die  Karawanen",  und  so  verbreitet  sich  sein 
Lob  öder  sein  Tadel  über  die  ganze  Welt. 


Ißi  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

A.  Die  Blütezeit  (bis  zum   ii.  Jahrhundert). 

I.  Die  Poesie,  Zu  der  Zeit,  aus  der  die  ältesten  Überlieferungen 
über  die  Araber  stammen,  betrachteten  diese  ihre  Sprache  bereits  als  ihr 
teuerstes  Gut,  Tapferkeit  und  Freigebigkeit  genügten  nicht,  jemand  zu 
einem  Mann  von  Bedeutung  zu  machen;  er  mußte  dazu  noch  ein  guter 
Redner  sein.  Den  gewaltigen  Eindruck,  den  Mohammed  auf  seine  Zeit- 
genossen machte,  hat  er  zweifellos  auch  zu  einem  großen  Teil  durch 
die  Zierlichkeit  und  den  Wohllaut  seiner  Sprache  erreicht.  Bei  öffent- 
lichen Versammlungen  fand  oft  ein  Dichterwettkampf  statt,  Erzählungen 
alter  Heldenstücke  und  Stammesfehden,  Beschreibungen  von  Land  und 
Volk,  von  Reittier  und  Jagdwild,  Märchen  und  Anekdoten  bildeten  die 
beliebtesten  Erholungsmittel. 

Diese  Freude  am  Worte  ist  beim  Araber  so  allgemein  und  fest- 
ge\sTirzelt,  daß  man  berechtigt  ist  anzunehmen,  sie  habe  schon  in  uralter 
Zeit  angefangen,  sich  zu  entwickeln,  und  sei  mit  der  Sprache  selbst  er- 
wachsen. Die  Notwendigkeit  dieser  Annahme  folgt  auch  daraus,  daß,  wie 
Goldziher  bewiesen  hat,  das  arabische  Wort,  das  den  Dichter  bezeichnet, 
eigentlich  den  „Wissenden"  bedeutet,  d,  h,  den  Inhaber  übernatürlichen 
Wissens,  dessen  feierlich  gesprochenes  Wort  Segen  oder  Fluch  bringt; 
ein  Typus  dieser  Art  ist  der  im  Alten  Testament  genannte  Bileam,  Lange 
Zeit  noch  hat  sich  im  arabischen  Volksempfinden  eine  gewisse  Scheu  vor 
dem  Dichter  erhalten,  wenn  auch  die  frühesten  arabischen  Poeten,  die  wir 
kennen,  nichts  mehr  von  jenem  geheimnisvollen  Wesen  an  sich  tragen. 
Eine  solche  Umwandlung  kann  sich  bei  diesem  konservativsten  aller  Völker 
nur  ganz  langsam  vollzogen  haben.  Zu  demselben  Resultat  führt  endlich 
die  Tatsache,  daß  schon  wenigstens  ein  Jahrhundert  vor  Mohammed  die 
schöne,  reich  ausgestattete,  fein  organisierte  zentralarabische  Sprache  Ge- 
meingut aller  Araber  geworden  war.  Wohl  gab  es  noch  eine  Menge 
Dialekte  und  wird  einzelnen  Dichtern  jener  Zeit  vorgeworfen,  daß  sie 
Worte  gebrauchen,  die  nicht  in  Zentralarabien  üblich  seien;  doch  muß 
sich  das  auf  Weniges  beschränkt  haben.  Im  großen  und  ganzen  ist  die 
Sprache  damals  bereits  eine  einheitliche,  und  nicht  etwa  angelernt,  künst- 
lich, sondern  die  natürliche  Sprache  aller  gebildeten  und  ungebildeten 
Araber,  Wie  dies  ohne  Schrift,  ohne  Schule  zustande  gekommen  ist, 
bleibt  ein  Rätsel;  unbedingt  sicher  aber  ist,  wie  gesagt,  daß  dazu  ein 
langer  Zeitraum  erforderlich  war.  Der  Islam  hat  dann  das  Arabische 
vollends  zu  einer  Weltsprache  gemacht,  wobei  freilich  die  von  europäi- 
schen Gelehrten  oft  geäußerte  Meinung  grundfalsch  ist,  daß  diese  Welt- 
sprache der  durch  den  Koran  zur  Geltung  gekommene  Dialekt  der  Mek- 
kaner sei  (vgl,  Xöldeke,  „Die  semitischen  Sprachen"  ^  S.  55  f.). 

Neben  vielen  anderen  Geistesgaben  besitzen  die  Araber  ein  vortreff- 
liches Gedächtnis,  Allein  auch  dieses  hat  seine  Grenzen.  Nilus  Eremita 
erzählt  gegen  das  Ende   des  4.  Jahrhunderts,  daß  die  rohen  Beduinen  der 


A.  Die  Blütezeit  (bis  zum   ll.  Jahrhundert).     I.  Die  Poesie.  I^c 

Sinaitischen  Wüste  beim  Rundgang  um  den  Opferstein  Lieder  sangen  zur 
Ehre  des  Morgensternes,  wie  auch  daß  sie  bei  der  Auffindung  einer  Quelle 
Gesänge  anstimmten,  ganz  wie  die  alten  Israeliten  (Numeri  21,  v.  16 f.). 
Und  nach  Sozomenos  wurde  der  Sieg  Mavias,  der  Königin  der  Sarazenen, 
über  die  römischen  Truppen  im  Jahre  372  in  Liedern  besungen.  Allein 
die  arabische  Überlieferung  weiß  von  alledem  bereits  nichts  mehr;  selbst 
der  Name  jener  Königin  ist  ihr  aus  der  Erinnerung  verschwunden.  Das 
kann  aber  nicht  in  Verwunderung  setzen,  wenn  man  bedenkt,  daß  die  alt- 
arabische Poesie  ein  ganz  persönliches  Gepräge  hatte.  Mit  der  Erinnerung 
an  die  Personen  erlosch  auch  allmählich  das  Interesse  an  dem,  was  für, 
gegen  oder  durch  sie  gesagt  worden  war.  Und  dazu  kam  noch,  als  be- 
sonders folgenschwer,  daß  die  Überlieferung  rein  mündlich  war.  So  reichen 
die  ältesten  poetischen  Erzeugnisse  Arabiens,  die  wir  kennen,  kaum  höher 
als  ein  Jahrhundert  vor  Mohammed  hinauf.  Aber  die  Bedeutung,  welche 
die  Poesie  für  das  Leben  des  Arabers  besessen  hat,  war  zu  allen  Zeiten 
gleich  groß.  Das  Lob  eines  angesehenen  Dichters  ist  eine  Siegeskrone, 
sein  Spott  ein  Unheil:  über  diese  Anschauung  konnte  sich  trotz  seiner 
Prophetenwürde  selbst  Mohammed  nicht  hinwegsetzen.  Schon  bald  nach 
dem  ersten  großen  Siege  ließ  er  einen  Dichter,  der  Spottverse  auf  ihn 
gemacht  hatte,  beseitigen,  und  nach  der  Eroberung  Mekkas  wurden  die 
Sängerinnen,  die  solche  vorgetragen  hatten,  von  der  Amnestie  aus- 
geschlossen. Dagegen  erhielt  Ka'b,  der  begabte  Sohn  des  berühmten 
Dichters  Zohair,  obgleich  er  schon  zum  Tode  verurteilt  war,  sofort  seine 
Begnadigung,  nachdem  er  mit  einem  Lobgedicht  auf  den  Propheten  hervor- 
getreten war,  und  wurde  mit  dessen  eigenem  Mantel  beschenkt.  Die 
Mekkaner  sollen  den  Dichter  al-A'sha,  als  er  sich  Mohammed  anschließen 
wollte,  durch  große  Geschenke  überredet  haben,  dies  noch  eine  Zeitlang 
aufzuschieben,  „denn",  sagten  sie,  „mit  seinen  Versen  würde  jener  alle 
Araber  gegen  uns  aufbringen".  Noch  im  2.  Jahrhundert  d.  H.  schlug  der 
Chalife  al-Mansür  eine  Heirat  mit  einer  vornehmen  Jungfrau  vom  Stamme 
Taghlib  eines  Spottverses  wegen  aus,  den  der  Dichter  Djarir  gegen  diesen 
Stamm  geschleudert  hatte.  „Ich  muß  befürchten,"  sprach  er,  „daß,  wenn 
sie  mir  einen  Sohn  gebiert,  er  mit  diesem  Verse  verhöhnt  wird." 

Daß  die  Poesie  ihre  Stellung  als  erste  geistige  Nahrung  der  Araber 
im  Islam  zu  behaupten  gewußt  hat,  sieht  man  daran,  wie  sie  überall  im 
Volke  lebt,  wie  sie  oft  zu  Heldentaten  begeistert,  zum  Guten  bewegt. 
Eine  sehr  große  Zahl  Dichterverse  sind  Sprichwörter  geworden,  und  der 
beste  Beweis  der  hohen  Achtung,  die  man  der  alten  Poesie  zollte,  ist  der, 
daß  der  Dichter  iVbu  Tammäm  aus  der  ersten  Hälfte  des  3.  Jahr- 
hunderts d.  H.  viel  berühmter  ist  durch  die  Blütenlese  aus  der  alten 
Poesie,  die  wir  ihm  verdanken,  und  die  durch  Rückerts  Übersetzung  auch 
Nichtarabisten  zugänglich  gemacht  ist,  als  durch  seine  eigenen  Verse. 
Einen  Dichter  ersten  Ranges  hervor-  und  zur  Anerkennung  gebracht  zu 
haben,  ist  eine  bleibende  Ehre  für  den  Stamm.     Der  berühmte  Mo'allaka- 


j  ,5  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

dichter  x\mr  ibn  Kolthum  wurde  von  seinen  Stammesgenossen,  den 
Taghlib,  so  hoch  gehalten,  daß  sie,  nach  einem  Spottverse,  darüber  ganz 
vergaßen,  sich  eigene  Lorbeeren  zu  verdienen: 

„Die  Taghlib  hält  von  jeder  edlen  Tat  zurück  eine  Kasida,  die  Amr  ibn  Kolthum  ge- 
dichtet hat. 

Sie  prahlen  damit  seit  alters  her.     O  Männer!     Kommt  zu  Hilfe  gegen  eine  Prahlerei, 

deren  sie  nicht  satt  werden!" 
Religiöse  Poesie.  Von  rcügiöser  Poesie  finden  wir  aus  den  vorislamischen  Zeiten  keine 
Spur.  Der  Wiener  Semitist  D.  H.  Müller  glaubt  zwar  eine  Übereinstimmung 
im  Strophenbau  gewisser  Koranstücke  mit  der  althebräischen  Poesie  ge- 
funden zu  haben  und  daraus  auf  das  Bestehen  einer  uralten,  den  semi- 
tischen Völkern  gemeinsamen  religiösen  Dichtform  schließen  zu  dürfen. 
Allein  diese  Übereinstimmung,  die  allerdings  eine  vorislamische  rehgiöse 
Poesie  bei  den  Arabern  voraussetzen  ließe,  ist  nicht  unanfechtbar.  Und 
wenn  das  Fehlen  jeder  älteren  Spur  von  religiöser  Dichtung  außerhalb 
des  Korans  mit  dem  Bemerken  beantwortet  wird,  daß  sie  verloren  ge- 
gangen sein  könne,  so  würden  sich  zweifellos  doch  aus  der  ersten  nach- 
islamischen Zeit  Proben  derartiger  Dichtung  erhalten  haben.  Aber  auch 
der  Anfang  dieser  Periode  kennt  noch  keine  eigentliche  religiöse  Poesie; 
denn  die  Lobgedichte  zur  Ehre  des  Propheten  können  nicht  als  solche 
betrachtet  werden. 

Die  älteste  Form  des  arabischen  Verses  ist  nach  der  gewiß  richtigen 
Überheferung  der  jambische  Redjez,  der  zwischen  der  rhythmischen  Prosa 
und   der   eigentlichen  Poesie    mitten    inne   steht.     Er  paßt  zu   der  Kadenz 
der  Kamelschritte  und  eignet  sich  für  den  monotonen  Gesang  des  Treibers. 
Wann    sich    daneben    dann    die   vollkommeneren  Formen    der  Poesie    ent- 
wickelt haben,  läßt  sich  nicht  herausbringen.    Denn  schon  bei  den  ältesten 
uns  bekannten  Dichtern  finden  wir   sie    ganz  ausgebildet.     Die  eigentüm- 
Hche  Weise  freiUch,  die  Kasida  (wie  die  größeren  Gedichte  heißen)  regel- 
mäßig mit   einer  Klage   bei   der  verlassenen  Wohnung   der  Geliebten   an- 
zufangen,   dürfte    verhältnismäßig   jüngeren    Datums    sein.     Das    erotische 
Element  in  diesen  Gedichten  ist  lediglich  Einleitung  zur  Beschreibung  der 
mühsamen  Wüstenritte,    der    durchwachten    Nächte,    der    Ungewitter,    der 
Jagdszenen  usw.  und  der  eigentliche  Zweck  die  Verherrlichung  des  eignen 
Stammes  oder  die  Verspottung  eines  anderen,  die  Lobpreisung  eines  hohen 
Gönners  oder  sonst  ein  persönhches  Interesse,  wie  endlich  auch  die  Klage 
um  einen  teueren  Verstorbenen.     Diese  Form  der  Einkleidung  ist  allmäh- 
lich  eine  Norm    geworden,    die    sich   jahrhundertelang   erhalten  hat.     Die 
konser\'ative  Neigung  der  Araber,  die  einmal  als  schön  anerkannte  Form 
beizubehalten,   verleugnet    sich    selbst   nicht  bei   der   elegischen   und  ero- 
tischen Poesie,  die  mehr  als  alle   anderen  Dichtformen  geeignet  sind,  der 
Stimmung    des   Dichters    einen    individuellen   Ausdruck    zu    geben.     Auch 
hier  findet  man   nur  zu   oft  beinahe    dieselben  Gedanken  in  fast  gleicher 
Einkleidung  wieder.     Dazu  kommt,  daß  die  Natur,  welcher  der  arabische 


A.  Die  Blütezeit  (bis  zum    li.  Jahrhundert).     I.  Die  Poesie.  I^y 

Dichter  seine  Bilder  entlehnt,  monoton  ist  und  ihm  nur  einen  beschränkten 
Vorrat  bietet.  Trotz  der  großen  Virtuosität,  die  er  besitzt,  die  Ausdrücke 
in  seinen  Versen  zu  variieren,  leiden  diese  deswegen  an  einer  gewissen 
Eintönigkeit,  so  daß  man  bei  aller  Schönheit  der  Gedichte  doch  nur  wenig 
davon  auf  einmal  mit  Genuß  lesen  kann. 

An  der  Spitze  der  altarabischen  Dichter  stehen  die  wohlbekannten  Mo'aiiaka's. 
Namen  Imrulkais,  an-Näbigha,  Zohair,  Tarafa,  al-A'sha,  Labid,  Amr  ibn 
Kolthum,  Antara,  al-Härith  ibn  Hilliza.  Man  nennt  sie  wohl  die  Dichter 
der  Mo'allakät,  mit  welchem  Namen  ein  alter  Sammler  eine  Anzahl  von 
Gedichten  ersten  Ranges  bezeichnet  hat,  vermutlich  um  damit  auszudrücken, 
daß  sie  wegen  ihrer  Köstlichkeit  würdig  seien,  „auf  einen  Ehrenplatz  er- 
hoben zu  werden".  Aus  diesem  Namen  ist  dann  die  Legende,  daß  die  in 
den  poetischen  Wettkämpfen  preisgekrönten  Gedichte  in  der  Ka'ba  zu 
Mekka  aufg^ehängt  wurden,  entstanden  und  weithin,  namentlich  in  Europa 
verbreitet  worden,  bis  Nöldeke  bewiesen  hat,  daß  sie  jeder  historischen 
Grundlage  ermangelt. 

Mit  Unrecht  hat  man  die  arabische  Poesie  schlechthin  lyrisch  ge- 
nannt. Ein  großer  Teil  wurde  nicht  eigentlich  gesungen,  sondern  nur 
vorgetragen,  wahrscheinlich  unter  Begleitung  auf  dem  Rabäb,  der  ein- 
saitigen Violine.  Von  an-Näbigha  wird  erzählt,  daß  er  erst,  als  er  seine 
Verse  in  Jathrib  (Medina)  singen  hörte,  entdeckte,  daß  er  bisweilen  i  und 
u  hatte  reimen  lassen.  Was  den  Inhalt  der  Poesie  betrifft,  so  tritt  das 
lyrische  Element  im  Liebesgedicht,  im  Selbstruhm,  in  der  Elegie  klar  zu- 
tage; aber  vorherrschend  ist  die  epische  Form  der  Beschreibung  alles  in 
den  Umkreis  des  Beduinenlebens  Fallenden.  Dieser  Kreis  hat  seine  engen 
Grenzen,  dennoch  mangelt  es  ihm  an  Begebenheiten  nicht;  selten  aber 
geht  die  Erzählung  über  das  hinaus,  was  der  Dichter  selbst  erlebt  hat. 

Das  entspricht  ganz  dem  Charakter  des  Arabers.  Er  verfügt  über 
einen  scharfen,  nüchternen  Verstand  und  ist  ein  außerordentlich  feiner 
Beobachter;  dazu  hat  er  noch  ein  leidenschaftliches  Temperament.  Aber 
seine  Phantasie  ist  beschränkt.  Mut,  Freigebig"keit,  Großmütig'keit,  kurz 
alle  ritterlichen  Tugenden  stehen  bei  ihm  in  hohem  Ansehen.  Doch  eben 
aus  dem  fortwährenden  Lob,  das  den  Trägem  jener  Tugenden  g-espendet 
wird,  darf  man  schließen,  daß  sie  nicht  allgemeines  Volksgut  waren.  Und 
ebenso  soll  man  sich  hüten  zu  meinen,  daß  die  sentimentalen,  oft  wunder- 
schönen Liebeslieder  jener  Araber,  „die  da  sterben,  wann  sie  lieben",  uns 
ein  richtiges  Bild  geben  von  dem  wirklichen  Verhältnisse  zwischen  Mann 
und  Weib  bei  ihnen.  Vielen  Poeten  war  Hoffnung  auf  reiche  Belohnung 
ein  unentbehrliches  Stimulans.  So  fragte  man  den  Dichter  Choraimi: 
„Wie  kommt  es,  daß  deine  Lobgedichte  auf  Mohammed  ibn  Mansur  (den 
Sekretär  der  Barmakiden)  viel  schöner  sind  als  deine  Elegieen  auf  ihn?" 
Und  seine  ehrliche  Antwort  lautete:  „Damals  dichteten  wir  mit  Hoffnung, 
jetzt,  um  unsere  Treue  zu  zeigen;  zwischen  beiden  ist  aber  eine  große 
Entfernung."     So   sind   auch    die   Lobgedichte    des   Komait    zu  Ehren    der 


1^3  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

Omajiaden,  viel  besser  als  die  zu  Ehren  der  Aliden,  obg^leich  er  ein  be- 
g-eisterter  Anhänger  der  letzteren  war  und  im  Herzen  die  Omajjaden  als 
Usurpatoren  betrachtete.  Die  bare  Bezahlung-  in  dieser  Welt  galt  ihm 
eben  mehr  als  der  zukünftige  himmlische  Lohn. 

Was  die  Araber  an  ihren  Dichtern  besonders  hochschätzen,  ist,  daß 
sie  in  wenigen  gut  gewählten,  schön  klingenden  Worten  viel  zu  sagen 
wissen,  daß  sie  neue  Vergieichungen,  neue  Bilder  einführen,  banale  Ge- 
danken durch  neue  Einkleidung  verjüngen.  Dem  modernen  Literar- 
historiker gelingt  es  nicht  immer,  zu  ergründen,  warum  sie  eine  kühne 
Ve  rgleichung,  einen  seltsamen  Ausdruck  hier  bewundern  und  im  anderen 
Falle  verspotten.  Du  sublime  au  ridicule  il  n'y  a  qu'un  pas.  Diesen 
einen  Schritt  aber  stets  richtig'  zu  bemessen,  dafür  fehlt  uns  das  feine 
Sprachgefühl.  Doch  brauchen  wir  uns  dessen  nicht  gToß  zu  schämen,  da 
vieles  auch  schon  den  späteren  arabischen  Gelehrten  unklar  war.  Un- 
anständigkeit und  Grobheit  findet  man  fast  ausschließlich  in  der  Satire, 
die  den  Zweck  hat,  den  Gegner  durch  Hohn  und  Spott  zu  verwunden, 
und  manchmal  zu  rohem  Schelten  herabsinkt.  Ein  Meister  in  dieser  Kunst 
war  al-Hotai'a. 

Die  Geburt  des  Islams  und  sein  mühsam  errungener  Sieg  in  Arabien, 
wie  auch  die  welterschütternden  Eroberungen  des  i.  Jahrhunderts  haben 
zunächst  auf  Form  und  Inhalt  der  Poesie  keinen  umgestaltenden  Einfluß 
geübt.  Die  Grenze  zwischen  vor-  und  nachislamischer  Poesie  ist  oft  kaum 
bemerkbar.  Allmählich  beginnt  man  dann  aber  den  Einfluß  der  ver- 
änderten Verhältnisse  zu  spüren.  Die  Mehrzahl  der  Dichter  aus  dem 
Zeitalter  der  Omajjaden  —  ich  nenne  bloß  die  drei  berühmtesten  Djarir, 
Farazdak  und  al-Achtal  —  leben  schon  nicht  mehr  in  der  Steppe, 
sondern  kennen  die  Großstädte  Iraks  und  den  Hof  zu  Damaskus.  Ein 
Liebesdichter  wie  der  lebensfrohe,  elegante  Omar  ibn  abi  RabTa  ist 
vor  der  Epoche  der  erworbenen  Reichtümer  undenkbar.  Der  Umschwung 
hat  sich  vollzogen  in  dem  glänzenden  Zeitalter  des  Harun  ar-Rashld.  Abu 
Nowäs,  unbestritten  der  genialste  seiner  Zeitgenossen,  den  größten  Dich- 
tern der  alten  Zeit  ebenbürtig,  ist  der  Herold  des  überfließenden  Lebens- 
genusses, der  damals  in  Bagdad  herrschte.  Ihm  zur  Seite  und  auch  hoch 
begabt,  wenngleich  auf  niedrigerer  Stufe,  steht  Abu'l-Atähia,  der  in 
den  Gedichten  aus  seiner  Spätzeit,  den  einzigen,  die  er  der  Nachwelt 
hinterlassen  wollte,  als  Antagonist  jener  frohen  Lebensanschauung  auftritt 
und  auf  Grund  der  Hinfälligkeit  alles  irdischen  Glanzes  die  Weltentsagung 
predigt.  „Der  altarabische  Geist  des  Selbstvertrauens,  der  Sorglosigkeit, 
des  kecken  Lebensgenusses  ist  ihm  abhanden  gekommen,  und  Abu  Nowäs, 
der  diese  Eigenschaften  besitzt,  hat  dafür  den  Stolz,  die  Selbstachtung, 
das  Scham-  und  Ehrgefühl  der  alten  Dichter  vollständig  eingebüßt.  Beide 
aber  sind  die  entscheidenden  Typen  ihres  Zeitalters,  und  was  nach  ihnen 
kam,  hatte  zwischen  den  von  ihnen  betretenen  Bahnen  zu  wählen"  (Kre- 
mer, Kulturgeschichte  II,  377).     Diese  zwei  Koryphäen  der  neuen  Epoche 


A.  Die  Blütezeit  (bis  zum   il.  Jahrhundert).     I.  Die  Poesie.  I^n 

waren  beide,  wie  hervorgehoben  zu  werden  verdient,  von  plebejischer 
Herkunft  und  aus  nichtarabischem  Blute. 

Wie  hoch  Abu  Nowäs  von  Harun  ar-Rashid  geschätzt  wurde,  beweist 
die  folgende  Anekdote.  Der  Chalife  sagte  einst  zu  al-Mofaddhal,  dem 
durch  seine  Lieder-  und  Sprichwörtersammlungen  berühmten  Philologen: 
„Nenne  mir  einen  Vers  von  gutem  Inhalte,  dessen  verborgenen  Sinn  man 
nicht  ohne  Anspannung  des  Verstandes  herausbekommen  kann;  dann  laß 
mich  mit  ihm  allein."  Da  sprach  dieser:  „Kennst  du  einen  Vers,  dessen 
Anfang  einen  Beduinen  im  schlichten  Überwurf  darstellt,  wie  er,  vom 
Schlafe  erwacht,  aus  der  Mitte  der  schlummernden  Kamelreiter  hervor- 
tritt und  sie  dann  mit  der  Ungeschliffenheit  des  Wüstenbewohners  und 
mit  roher  Stimme  aufweckt,  und  dessen  Ende  einen  zarten  Medinenser 
zeigt,  der  mit  dem  Wasser  des  'Akik  genährt  ist?"  Als  Harun  verneinte, 
sagte  der  Gelehrte:    „Das  ist  folgender  Vers  Djamlls: 

,,0,  ihr  schlummernden  Karawanenleute!  auf!  erwacht! 

Denn  ich  muß  euch  fragen,  ob  die  Liebe  einen  Mann  töten  kann." 

„Du  hast  recht",  sagte  der  Chalife;  „kennst  du  aber  einen  Vers,  dessen 
erste  Hälfte  den  Aktham  ibn  Saifi  (einen  berühmten  Weisen,  "der  im 
Jahre  8  d.  H.  starb,  90  Jahre  alt)  in  der  Tiefe  seines  Verstandes  und  der 
Trefflichkeit  seiner  Ermahnung,  und  dessen  zweite  den  Hippokrates  in 
seiner  Kenntnis  der  Krankheit  und  des  Heilmittels  darstellt?"  Da  sprach 
al-Mofaddhal:  „Du  hast  mich  bange  gemacht;  wenn  ich  nur  wüßte,  für 
welchen  Preis  man  sich  der  hinter  diesem  Vorhang  verborgenen  Braut 
nahen  darf"  Der  Chalife  antwortete:  „Dafür,  daß  du  zuhörst  und  gerecht 
bist;   es  ist  der  Vers  von  al-Hasan  ibn  Häni  (Abu  Nowäs): 

„Laß  ab  mich  zu  tadeln,  denn  der  Tadel  reizt  gerade  an; 

Und  heile  mich  mit  dem,    der  selbst  die  Krankheit  war  (d.  h.  mit  einem  Becher  Wein)." 

Die  Anekdote  ist  ein  Zeugnis  unter  sehr  vielen  für  das  Interesse,  das  man 
am  Hofe  der  Chalifen  der  Poesie  widmete. 

Unter  der  großen  Zahl  von  Dichtern  aus  den  nächsten  Generationen 
sind  recht  wenige,  die  wirklich  hervorragen.  Zu  diesen  wenigen  zähle 
ich  Abu  Firäs  aus  der  ersten  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts  d.  H.,  dessen 
Elegieen  von  hoher  poetischer  Begabung  zeugen.  Von  einigen  wird  der 
blinde  Poet  Abu'1-Alä  al-Ma'arri  aus  dem  Ende  dieses  und  dem  An- 
fang des  folgenden  Jahrhunderts  sehr  hoch  geschätzt.  Talent  kann  man 
ihm  nicht  absprechen,  ebensowenig  daß  er  reich  an  kühnen  und  originellen 
Gedanken  war.  Auch  muß  es  ihm  hoch  angerechnet  werden,  daß  er  nicht 
dichtete,  um  sich  Geld  oder  Gunst  zu  erwerben,  und  daß  er  sich  mit  sel- 
tenem Freimut  über  die  höchsten  religiösen  Fragen  aussprach.  Allein  zu 
den  großen  Dichtern  kann  ich  ihn  nicht  rechnen.  Den  Wert  seiner  Poesie 
beeinträchtigt  vor  allem,  daß  er  der  Mode  der  Wortkünstelei  zu  sehr 
frönte.  A.  von  Kremer  hat  verschiedene  seiner  Gedichte  mit  Talent 
übersetzt. 


jAQ  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

Wenn  ich  die  spätere  Poesie  überhaupt  der  der  älteren  Epochen  unter- 
legen nenne,  ist  das  vielleicht  ungerecht.  Denn  ich  muß  bekennen,  daß 
ich  von  jener  nur  eine  beschränkte  Zahl  gelesen  habe.  Darunter  sind 
zwar  viele  anmutige  Gedichte  gewesen,  deren  oft  große  Kunstfertigkeit 
und  witzige  Einfälle  man  bewundern  muß,  aber  ich  besinne  mich  keines, 
das  mich  durch  hohen  Sinn  und  Originalität  entzückt  hätte.  Besondere 
Erv\-ähnung  verdient  vielleicht  der  Dichterprinz  Ibn  al-Motazz  deswegen, 
weil  sein  großes  Lobgedicht  auf  seinen  Vetter,  den  Chalifen  Motadhid, 
eigentlich  das  einzige  arabische  Gedicht  ist,  das  einigermaßen  auf  den 
Namen  Epos  Anspruch  erheben  kann,  indem  es  sich  weit  über  die  Reim- 
chronik erhebt. 

Im  letzten  Grunde  war  der  Islam  der  Poesie  doch  nicht  günstig.    Mo- 
hammed hat    Gedichte    zur  Verherrlichung    des    Islams    zwar   willkommen 
geheißen    und    im    Koran    selber    durchweg    die    Form    der    Wahrsager- 
sprüche,    die    rh}^hmische     gereimte    Prosa,    angewandt.      Aber    im    all- 
gemeinen   verpönte    er    sowohl    die   Verse    der    Dichter    als    die    Sprüche 
der  Wahrsager,   weil  beide  von  Dämonen  inspiriert  würden.     Aus   diesem 
Empfinden   heraus    hat    er,   wie   berichtet   wird,  Imrulkais    den  Führer   der 
Menschen    zur    Hölle    genannt.     Von    den    Frommen    wurden    die    Dichter 
dementsprechend    ebenfalls    mit    mehr    oder    minder  Mißtrauen   betrachtet. 
Zu  Farazdaks  Vater   soll,   als   er   seinen   jungen  Sohn   dem   Chalifen  Ali 
vorstellte    und    ihm    mitteilte,    daß    er  Verse   mache,   dieser  gesagt  haben: 
„Lehre   ihm   den  Koran;   das    ist  besser  für   ihn."     Für  die  Lebenden  war 
die  Kunst  gefährlich,   für   die  Toten    im  Paradiese    überflüssig.     Als  Mo- 
tammim,  der  die  schönen  Trauerlieder  auf  seinen  Bruder  Mälik  gemacht 
hat,   zum  Chahfen  Omar  kam,    nachdem    dessen  Bruder  Zaid  im  Kampfe 
für    den    Islam    gefallen    war,    sagte    Omar:     „Wenn    ich    dichten    könnte, 
möchte  ich  über  Zaid  sprechen  wie  du   über  deinen  Bruder."     Motammim 
antwortete:  „Wenn  mein  Bruder  den  Tod  deines  Bruders  gestorben  wäre, 
würde    ich    nie    einen  Vers    über  ihn   gedichtet  haben."     Da  sagte  Omar: 
„Schönere  Trostesworte    hat    noch    niemand  zu   mir   gesprochen."     Ob   es 
historisch  ist,  daß  Labld,  als  er  den  Islam  annahm,  erklärt  hat,  keinen  Vers 
mehr    machen   zu  wollen,    muß    dahingestellt    bleiben,   doch  von   mehr  als 
einem  Dichter    heißt    es    bei    den  Biographen:    „Nachher  bekehrte  er  sich 
von  der  Poesie."     Danach  können  wir  verstehen,  wie   über  den  im  Jahre 
68  d  H.  gefallenen  Parteiführer  Obaidallah  ibn  al-Horr,   der  auch  ein 
ausgezeichneter  Dichter  war,    gesagt  wurde:    „Bei  Gott,    auf   der    ganzen 
Erde   lebte   kein  Araber,    der    die    Ehre    der  Frauen  besser   hütete,    alles 
Schändliche   mehr  vermied,   sich   strenger   des  Weingenusses  enthielt,   als 
er.     Nur,   daß   er  Verse   machte,  ließ   ihn   in   der  Achtung   der  Menschen 
sinken."     Diese  Stimmung    trägt    gewiß    mit    daran  Schuld,    daß   von    den 
alten  Dichtungen  vieles  verloren   gegangen,    anderes  verstümmelt  worden 
ist.     Erst  am  Hofe  von  Damaskus  kam   die   alte  Poesie  wieder   zu  Ehren, 
und  als  man  dann  ihren  Wert  für  das  Verständnis  des  Buches  Gottes  und 


A.  Die  Blütezeit  (bis  zum    ii.  Jahrhundert).     II.  Die  Unterhaltungsliteratur.  141 

der  reinen  arabischen  Sprache  erkannt  hatte,  fing  man  an,  eifrig  zu  sam- 
meln, was  noch  zu  retten  war.  Diesem  Eifer  verdanken  wir,  was  wir 
noch  besitzen. 

Von  eigentlichen  Volksliedern,  wie  sie  noch  jetzt  von  den  Arabern  Volkslieder, 
bei  der  Arbeit,  bei  Hochzeiten  usw.  gesungen  werden,  hören  wir  erst  im 
1 1.  Jahrhundert.  Aber  sie  sind  gewiß  von  jeher  üblich  gewesen.  Wird 
doch  erzählt,  daß,  als  im  Jahre  5  d.  H.  der  Graben  um  Medina  gezogen 
wurde,  die  Moslime  dazu  ein  Verslein  sangen,  bei  dessen  Reimwort  der 
Prophet  selbst  mit  einstimmte.  In  diesen  Liedern,  für  die  der  Rhythmus 
die  Hauptsache  ist,  erlaubte  man  sich  viele  Freiheiten  im  Metrum  und  in 
den  gTammatischen  Formen.  Die  Sprache  näherte  sich  der  Umgangs- 
sprache. Allmählich  haben  sich  dann  feste  Formen  für  das  Volkslied  ge- 
bildet. Der  Spanier  Ibn  Guzman,  der  im  12.  Jahrhundert  lebte,  hat  eine 
dieser  Formen  sog'ar  in  die  höhere  Kunst  eing'eführt. 

n.  Die  Unterhaltungsliteratur.  Die  Araber  waren  von  jeher  be- 
sonders gute  Erzähler.  Den  Stoff  bildeten  in  der  Heidenzeit  an  erster 
Stelle  die  Heldentaten  des  Stammes,  die  Abenteuer  einzelner  Recken. 
Jeder  bedeutende  Dichter  hatte  einen  oder  mehrere  räwi's,  die  seine 
Gedichte  auswendig"  kannten  und  fortpflanzten,  und  von  denen  einige 
später  auch  selbst  namhafte  Dichter  geworden  sind.  Wo  es  passend  war, 
ließen  diese  der  Rezitation  eine  Erzählung  vorangehen  über  die  Ver- 
anlassung des  Gedichtes,  und  so  entstanden  die  sogenannten  „Tage  der 
Araber",  mehr  oder  weniger  ausführliche  Mitteilungen  über  die  Stammes- 
fehden und  Schlachten  usw.,  wie  wir  sie  namentlich  in  den  Einleitungen 
zu  verschiedenen  Gedichten  der  Hamäsa  kennen.  Mit  der  Wahrheit  wurde 
es  bei  diesen  Geschichten  nicht  stets  genau  genommen;  von  vielen  ist  es 
sogar  klar,  daß  sie  aus  Mißverständnis  des  Gedichtes,  das  sie  erklären 
sollen,  entstanden  sind.  Auch  was  über  Perser  und  Römer  in  die  Steppe 
gedrungen  war,  hörte  man  gern  schildern.  Bekannt  ist,  wie  ein  Mekkaner 
des  Propheten  Zorn  erregte  durch  seine  Erzählungen  aus  der  persischen 
Heldensage,  die  den  Zuhörern  besser  gefielen  als  die  biblischen  Legenden, 
welche  er  ihnen  selbst  vorgetragen  hatte. 

Nach  dem  Siege  des  Islams  wurden  in  den  Städten  Arabiens  und 
außerhalb  seiner  Grenzen  jene  Erzählungsstoife  allmählich  ersetzt  durch 
Legenden  über  den  Propheten  und  die  früheren  Gottesgesandten,  über 
die  großen  Kämpfe  gegen  Römer  und  Perser,  über  den  tragischen  Tod 
Hosains  usw.  Der  Zweck  der  Erzähler  war,  zu  ergötzen  und  zu  erbauen, 
wobei  man  sich  um  historische  Treue  nicht  viel  kümmerte.  Ernst- 
hafte Männer  hatten  daher  starke  Bedenken  gegen  das  Auftreten  der  so- 
genannten Kossäs  (erzählende  Prediger)  in  der  Moschee,  die,  wie  ein  be- 
rühmter Überlieferer  sagte,  „von  uns  eine  Handbreit  guter  Überlieferung 
erhalten  und  diese  zu  einer  Elle  ausdehnen".  So  bildete  sich  im  Laufe 
der  Zeit  eine  romantische  Tradition,  die  eine  Literatur  hervorgebracht  hat, 


112  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

deren  Anfänge  bis  auf  das  2.  Jahrhundert  d.  H.  zurückgehen.  Die  ältesten, 
die  wir  noch  besitzen,  sind  Ibn  Habibs  Eroberung  Spaniens  und  Ibn 
Abdalhakams  Eroberung  von  Ägypten  und  dem  Westen.  Beide  sind 
eine  Mischung  von  Wahrheit  und  Dichtung.  Oft  sind  diese  historischen 
Romane  Überarbeitungen  von  Geschichtswerken,  wie  der  vielgelesene, 
von  Wüstenfeld  edierte  „Tod  Hosains".  Einige  von  ihnen  haben  leider 
das  Ansehen  erlangt,  das  in  Wirklichkeit  ihrer  Grundlage  zukam,  wodurch 
viel  Falsches  in  die  späteren  Geschichtsbücher  eingedrungen  ist. 

Unter  den  Beduinen  blieben  die  alten  Erzählungen  im  Ansehen.  Ohne 
Bedenken  dürfen  wir  die  späteren  Ritterromane,  wie  die  Sirat  Antar, 
als  ihre  direkten  Nachkommen  betrachten.  Es  sind  Erzeugnisse  echt  ara- 
bischen Geistes,  die  uns,  in  freilich  sehr  phantastischen  Farben,  das 
Beduinenleben  vorführen,  wie  es  sich  durch  die  Jahrhunderte  stets  gleich 
geblieben  ist. 
Adab-Literatur.  Den  Hauptbestandteil  der  Unterhaltungsliteratur  bilden  Weisheits- 
sprüche, kurze  Erzählungen  und  Anekdoten.  Das  arabische  Wort  ad  ab, 
das  eigentlich  Zucht,  Bildung  bedeutet,  ist  der  Name  einer  sehr  reichen 
Literaturgattung  geworden ,  die  vornehmlich  bezweckt,  alles  zu  geben, 
was  entweder  besondere  Klassen  von  Personen  zu  wissen  brauchen',  so 
daß  man  Bücher  hat,  die  speziell  für  die  Richter,  die  Schreiber  usw.  be- 
stimmt sind,  oder  was  wohlerzogenen  Menschen  überhaupt  zur  Unter- 
haltung und  Belehrung  dienen  kann.  Ein  gutes  Beispiel  der  ersten  Art 
gab  Ibn  Kotaiba,  ein  sehr  gelehrter  und  zugleich  geistreicher  Mann  und 
ein  guter  Stilist,  der  dem  Zurückgang  auf  sittlichem  Gebiet  mit  allem 
Ernst  entgegentrat.  Er  schrieb  eine  Reihe  von  Büchern,  vorzüglich  be- 
stimmt zur  Hebung  der  Bildung  der  Schreiber.  Dazu  gehört  nicht  nur 
eine  grammatisch-lexikologische  Schrift  aus  seiner  Feder,  sondern  auch 
sein  bekanntes  Handbuch  der  Geschichte,  seine  Bücher  über  die  Dichter, 
über  den  Wein,  über  Traumauslegung  und  zuletzt  ein  großes  Werk  von 
der  Art,  die  man  gewöhnlich  unter  dem  Namen  Adab-Buch  versteht.  Der 
Verfasser  hat  in  diesem  die  von  ihm  zu  besagtem  Zwecke  gesammelten 
Traditionen,  Gedichte,  Erzählungen  und  Anekdoten,  nach  Ausscheidung 
dessen,  was  in  die  anderen  [genannten  Schriften  gehört,  in  zehn  Bücher 
eingeteilt,  in  denen  er  die  Obrigkeit  und  die  Staatslenker,  den  Krieg,  die 
Vornehmen  und  was  sie  ziert  und  entstellt,  die  guten  und  schlechten 
Charaktereigenschaften,  die  (religiöse)  Wissenschaft  und  die  Beredsamkeit, 
die  Enthaltsamkeit  und  Frömmigkeit,  die  Freundschaft  und  Feindschaft, 
die  Nächstenliebe,  die  Speisen  und  die  Gastfreundschaft,  sowie  endlich 
die  Frauen  und  den  Umgang  mit  ihnen  behandelt.  Der  Begriff  des  Adab 
ist  sehr  dehnbar.  Das  um  das  Ende  des  3.  Jahrhunderts  d.  H.  geschrie- 
bene Werk  des  Spaniers  Ibn  Abdrabbihi  ist  eine  reichhaltige  Antho- 
logie, die  diesen  Zweig  der  Literatur  im  ausgedehntesten  Sinne  behandelt, 
während  das  ungefähr  gleichzeitige  Buch  des  Baihak i  sich  auf  die 
schönen  und  unschönen  Eigenschaften  und  Sitten  beschränkt. 


A-  Die  MätEzaiE  (Jbis  vom    rr.  JiÄr&nndait).    EL  Die  CnteriiaJtniigsIitentiir.  i±\ 

Axss  der  ersteiL  Zerc  der  Örnaüadem  hören  wir  bereits  votl  Saanmltuig'en 
vona  WeisiieEtss-prmciicii  der  Altern  rnnd  es  ist  woM  wahrsch-einlicii^  ffafi  rnan 
anicfe  scköne  Worte  des  PropfLeten  und  setaer  Genossen  rasamm  entmg. 
Ob  darin  öie  Anfänge  dieser  Literatur  zrai  suchen  sind^  fconaen  wir  niciit 
eassciteiden.  Anregend  und  fördernd  haben  darauf  wohl  eing-ewirkt  die 
Übersetzungen  des  indischen  Fürstenspiegels  Pancatantra  und  des  per- 
sischen Buches  der  Tausend  Erzählungen.  Die  älteste  Nachahmung  des 
ersteren  ist  von  Haran  ihn  Sahl,  der  in  der  Zeit  des  Chalifen  al-Mamön 
Lebte,  und  dessen  Bücher  [so  bewundert  wurden^  daE  Djähiz  anfänglich 
p-mf-gTP-  seiner  eigenen  Werke  unter  dessen  Namen  herausgab^  um  ihaen 
besseren  Absatz  .zu  verschaffen.  Die  Nachwelt  hat  jedoch  Djähiz  selbst 
den  Vorrang  gegeben. 

Aus  den  Tausend  Erzählungen  ist  das  weitberühmte  Buch  der  ^Tausend  Tauaend  tad. 

.  _  .  ^  ,  eine  ^iacstt^ 

MEsd  eine  Nacht^  hervorgegangen.  Da  dieses^  seit  Gralland  davon  in  den 
ersten  Jahren  des  zS.  Jahrhunderts  eine  fsr-  ^  ~ ' "'. ?che  Übersetzung  gegeben 
JEL  Europa  eine  beliebte  Lektüre  war  ur:  ^  :h  ist  und  auf  sämtliche 
Literaturen  des  Westens  einen  großen  Emfi ; . .:,  g-rUGc  hat^  ist  es  angemessen^ 
darüber  etwas  ausführlicher  za.  sprechen.  Die  Einkleidung  des  Buches  ist 
fo'Igende:  Em  persischer  ELönig^  der  seine  untreue  Gemahlin  hatte  toten 
lassen,  heiratete  seitdem  jeden  Tag:  eiae  Jungfrau^  die  dann  ^m  folgenden 
Tage  hingerichtet  wurde.  Die  Tochter  i  r-?  '^r=z^.  Shehrazädy  tief  bewegt 
über  das  traurige  Losy  das  ihren  Mitsch  ■  ./  .ite,  beschloß  nurty  einen 
Versuch  zu.  machen^  Rettung  zxl  schaffen^  und  h^sti:  ihren  Vater^  sie  deiaa 
Könige  vorzustellen.  Ehe  noch  die  Nacht  zu  Ende  ging,  begann  sie  auf 
die  Bitte  ihrer  rm  Brautgemach  mit  anwT  -i  Schwester  (ursprünglich 
richtiger:  der  Hausmeisterin)  Dinazäd  erue  Ges<:hichte  vorzutragen,  der 
der  K-örrig  zuhörte.  Als  der  Tag  anbrach  und  sie  aufhören  mußte^  war 
der  K-ÖTTTg  von  solchem  Verlangen  erfüllt,  die  Fortsetzung  zu.  hören,  daß 
er  beschloß,  sie  leben  za.  lassen,  damit  sie  öle  folgende  Nacht  weiter  er- 
zählen komme.  Durch  künstliche  Ernschachtelung  van  Geschichten  oder 
auf  andere  Weise  weiß  Shehrazäd  d;^rTTT  den  König  "weiter  so  zu.  fessein, 
daß  die  Erzählungen  tausend  und  eine  Nacht  dauern.  Danach  zeigt  sie 
dem  König  die  drei  Sö-hne,  &e  sie  fh-m  inzwischen  geboren  hat,  -worauf 
d&r  Fürst  beschließt,  ihnen  ihre  Mutter  rui  erhalten.  Dieser  Rahmen  ist 
der  persischen  ^jrundlage  entnommen  und  höchstwahrscheinlich  uralt.  Ihre 
VerwaadtiSclBatt  mit  der  Esthergeschichte  ist  meines  Erachtens  nicht  zu. 
veEkesmeo.  Doch  wird  niemand  bezweifeln,  daß  das  sranze  Bnch  durch 
umi  duircli  araMsclt  ist.  AUe  Erzählungen  haben  eine  unstreitig  moslimische 
F IrtnEE^  erinaMen.  Denn  Stoffe  nach  dürften  einige  G*^-  ■"-'  rhten  dem  per- 
sischen Vorbild  entstamsEjen.  Die  große  Mehrzahl  sind  • ; rein  arabische, 

:ir.i  z^var  warem  verschiedeme  dieser  ursprünglich  selbständi^-e  Erzählungen. 
_jies  gilt  aamemlEch  von  den  Geschichten,  in  denen  Harun  ar-Rashid  die  vor- 
herrschende Figur  mir  Bagdad  als  Mittelpunkt  ist,  von  den  abenteuerlichen 
Resscn   des  Sindbäd  usw.     Die   spätesten  Ergänzungen   sind   ägvp  tischen 


I^^  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

Ursprungs,  und  zwar  ausgezeichnete  Gauner-  und  Schelmenstücke,  mit- 
unter aber  auch  solche,  die  aus  anderen  Erzählungen  dürftig  zusammen- 
geflickt sind.  Die  Gestalt  nämlich,  in  der  wir  jetzt  die  Tausend  und  eine 
Xacht  im  Druck  besitzen,  ist  nicht  älter  als  die  Zeit  der  Mamlukenherr- 
schaft,  und  von  vielen  Plattheiten  und  Unanständigkeiten,  die  jetzt  mehr 
als  eine  Erzählung  verunzieren  (in  den  meisten  Übersetzungen  sind  sie 
beseitigt),  ist  es  erweislich,  daß  sie  spätere  Einschiebsel  für  den  Geschmack 
des  rohen  Publikums  aus  dieser  Zeit  sind. 

Obgleich  die  Tausend  und  eine  Nacht  im  Osten  g^ewiß  dieselbe  Po- 
pularität g^enossen  haben,  wie  im  Westen,  finden  wir  sie  doch  nur  äußerst 
selten  in  der  Literatur  erwähnt.  Die  Araber  haben  zu  allen  Zeiten  eine 
wahre  Leidenschaft  für  Erzählungen  besessen,  geben  aber  nicht  gern  aus- 
drücklich zu,  daß  sie  sich  mit  so  frivolen  Dingen  beschäftigen.  Sollen 
Erzählungen  in  die  vornehmere  Literatur  aufgenommen  werden,  so  müssen 
sie  ein  wissenschaftliches  Gewand  anlegen  und  nach  irgendeinem  Schema 
von  Moral  und  Sittenlehre  eingeteilt  werden.  Die  einfachen  Geschichten- 
bücher befinden  sich  nur  in  den  Händen  der  Berufserzähler  und  sind  den 
vielfachsten  Änderungen  und  Verstümmelungen  ausgesetzt.  Daher  be- 
reitet kein  Zweig  der  Literatur  dem  modernen  Forscher  größere  Mühe 
als  eben  diese. 
Makämea.  Eine    eigentümliche    Art    der    Unterhaltungsliteratur    ist    die    der    so- 

genannten Makämen,  deren  Held  regelmäßig  ein  literarisch  gebildeter 
Vagabund  ist,  der  sich  durch  große  Gewandtheit  in  gebundener  und  un- 
gebundener Sprache,  durch  Witz  und  Schlauheit  durchs  Leben  schlägt. 
Die  beiden  berühmtesten  Vertreter  dieser  Gattung  sind  al-Hamadhäni 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts  d.  H.  und  der  ein  Jahrhundert 
später  lebende  Hariri,  dessen  Buch  durch  Rückert  übersetzt  ist.  Man  darf 
wohl  sagen,  daß  Hariri  in  der  Anwendung  der  gereimten  Prosa  das  Beste 
geleistet  hat,  was  möglich  war.  Diese  Kunstform,  in  die,  wie  wir  sahen, 
schon  die  Sprüche  der  alten  Wahrsager  gekleidet  waren,  und  die  auch 
Mohammed  im  Koran  angewendet  hat,  war  in  den  beiden  ersten  Jahr- 
hunderten des  Islams  zwar  nicht  ganz  aus  dem  Gebrauche  verschwunden, 
tritt  aber  erst  um  die  Mitte  des  3.  Jahrhunderts,  zunächst  in  der  Predigt, 
in  breiterem  Umfange  auf  und  fängt  im  4.  Jahrhundert  an,  allgemein  in 
die  Literatur  durchzudringen,  obgleich  noch  damals  mancher  sie  als  un- 
gehörige Neuerung  rügt.  Bald  wurden  ganze  Geschichtswerke,  wie  z.  ß. 
das  von  Tmäd  addin  über  Saladins  Siege,  in  gereimter  Prosa  geschrieben. 
Wir  brauchen  kaum  zu  sagen,  daß  die  darin  beliebte  Wortkünstelei  und 
der  mit  ihr  zusammenhängende  pomphafte  Stil  der  historischen  Genauig- 
keit nicht  förderlich  waren. 

m.  Der  Koran  und  die  Traditionsliteratur.  Die  Moslime  be- 
trachten den  Koran  als  das  höchste  Meisterwerk,  sowohl  was  die  Sprache, 
als  was  den  Stil  betrifft.    Uns  ist  es  unmöglich,  diesem  Urteil  beizustimmen. 


A.  Die  Blütezeit  (bis  zum   1 1 .  Jahrhundert).     III.  Der  Koran  und  die  Traditionsliteratur.  j^r 

Andererseits  aber  müssen  wir  uns  hüten,  die  Bedeutung  des  merkwürdigen 
Buches  zu  unterschätzen.  Vieles,  was  uns  abgeschmackt  und  langweilig 
vorkommt,  war  für  die  ersten  Zuhörer  reizvoll;  die  bisweilen  lächerlichen 
Verstöße  gegen  die  Geschichte  konnten  von  ihnen  nicht  wahrgenommen 
werden;  manche  Anspielung,  deren  Kraft  wir  nicht  fühlen,  machte  auf  sie 
Eindruck;  Stilfehler  und  Unbeholfenheit  im  Satzbau  wurden  bei  dem 
lebendigen  Vortrag  überhört.  So  wie  die  tiefe  und  unerschütterliche  Ehr- 
furcht so  vieler  bedeutender  Männer  vor  dem  Propheten  uns  Vorsicht  auf- 
nötigt in  der  Beurteilung  seiner  Persönlichkeit,  so  muß  das  gleiche  gelten 
von  der  Bedeutsamkeit  des  Eindruckes,  den  die  Offenbarung  auf  seine 
Zeitgenossen  übte.  Jedenfalls  hat  sie  ihren  Zweck,  durch  Überredung  zu 
bekehren,  vollkommen  erreicht.  Und  da  obenein  solche  Lehren  wie  die 
der  Gleichheit  aller  Gläubigen  oder  die  Unterordnung  der  Blutsverwandt- 
schaft unter  das  Bruderband  der  Religion  der  innersten  Überzeugung  der 
Araber  widersprachen,  da  weiter  die  Pflichten  und  Beschränkungen,  die 
der  Islam  seinen  Anhängern  auferlegt,  ihren  Empfindungen  teilweise  gründ- 
lich zuwider  liefen,  so  ist  der  Erfolg  der  Predigt  Mohammeds  so  wunder- 
bar, daß  die  Überschätzung  des  Korans  durch  die  Moslime  uns  begreif- 
lich wird. 

Das  „Buch  Gottes"  ist  eing-eteilt  in  1 14  Abschnitte,  Suren  genannt, 
von  sehr  verschiedener  Länge.  Mit  Ausnahme  der  nur  sieben  kurze  Sätze 
enthaltenden  Anfangssura,  die  bei  den  Moslimen  dieselbe  Stellung  ein- 
nimmt wie  das  Vaterunser  bei  den  Christen,  stehen  die  längeren  Suren 
voran.  Historisch  ist  die  Folge  gerade  umg-ekehrt.  Diese  läßt  sich  im  all- 
gemeinen wohl  bestimmen  —  ein  Teil  gehört  gewiß  in  die  Mekkanische, 
ein  anderer  Teil  in  die  Medinensische  Periode  — ,  doch  im  einzelnen  ist 
es  schwierig,  wenn  nicht  geradezu  unmöglich,  mit  Sicherheit  die  Ent- 
stehung-szeit  jeder  Offenbarung-  festzustellen.  Die  ältesten  bestehen  nur 
aus  wenigen  kurzen,  von  starker  Leidenschaft  erfüllten  Sätzen,  aus  denen 
uns  der  echte  Prophetengeist  entgegenweht.  Allmählich  geht  dann  der 
Ton  in  den  des  Predigers  über,  um  zuletzt  der  des  Gesetzg'ebers  zu  w^erden. 
Die  meisten  kleineren,  auch  verschiedene  längere  müssen,  wie  aus  dem 
Zusammenhang  erhellt,  auf  einmal  entstanden  sein.  Manchmal  aber  sind 
auch  Stücke,  die  ursprünglich  gewiß  nicht  zusammengehört  hatten,  in- 
einander gefügt.  Das  hat  wohl  meistens  Mohammed  selbst  getan,  aus 
rituellen  oder  anderen,  uns  nicht  stets  einleuchtenden  Motiven.  Obgleich 
es  feststeht,  daß  schon  in  Mekka  Offenbarungen  niedergeschrieben  wurden 
und  noch  zu  Lebzeiten  des  Propheten  fast  alle  einzelnen  Teile  des  Buches 
Gottes  schriftlich  vorhanden  waren,  sind  diese  doch  erst  zur  Zeit  seines 
Nachfolgers  Abu  Bekr  als  Ganzes  gesammelt  worden,  nachdem  ver- 
schiedene Genossen,  „Träger  des  Korans",  im  Kampf  gefallen  waren,  und 
man  befürchtete,  es  möchten  Teile  der  Offenbarung  verloren  gehen.  Unter 
dem  dritten  Chalifen  hat  dann  der  Koran  seine  jetzige  feste  Gestalt  er- 
halten.    Wir    haben    allen    Grund    zu    glauben,    daß    in    der    vorliegenden 

Die  Kultur  der  Gegenwart.     I.  7.  10 


j  ^5  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

Form  das  gesamte  Material  enthalten  ist,  das  man  damals  noch  zusammen- 
bringen konnte. 

Eine  Charakteristik  des  Buches  Gottes  dem  Inhalte  nach  gehört  in 
den  Abschnitt  „Rehgion  des  Islams".  Hier  kann  es  nur  als  hterarische 
Erscheinung  gewürdigt  werden.  Was  den  ästhetischen  Wert  anbelangt, 
so  verdienen  die  meisten  älteren  Suren  schön  genannt  zu  werden  als 
die  poetischen  Äußerungen  eines  tief  bewegten  religiösen  Gemütes;  und 
selbst  in  den  spätesten  Suren  klingt  dieser  Ton  noch  bisweilen  nach.  Im 
allgemeinen  tritt  aber  nach  der  Zeit  der  ersten  Offenbarungen  das  religiöse 
Moment  hinter  dem  literarisch-ästhetischen  zurück,  Mohammed  hat  für 
alles,  was  er  von  anderen  gelernt  oder  selbst  durch  Nachdenken  gefunden 
hat,  sich  eine  eigene  Form  schaffen  müssen,  da,  wie  man  wohl  mit  Be- 
stimmtheit behaupten  darf,  zu  seiner  Zeit  die  religiöse  Sprache  der  Araber 
noch  arm  war.  Bei  genauer  Betrachtung  sieht  man,  wieviel  Mühe  es  ihm 
oft  gekostet  hat,  den  richtigen  Ausdruck  für  seine  Gedanken  und  Vor- 
stellungen zu  finden;  daher  mag  auch  die  Anwendung  von  Fremdwörtern 
bei  ihm  stammen,  obgleich  es  nicht  ganz  ausgeschlossen  ist,  daß  er  da- 
durch seiner  Rede  eine  gewisse  Feierlichkeit  zu  verleihen  suchte. 
D.  H.  Müller  hat,  wie  schon  oben  angedeutet,  in  einigen  Suren  des  Korans 
eine  Kunstform  gefunden,  die  er  „Strophenbau"  nennt.  In  ihm  soll  der- 
selbe Gedanke  mit  einer  gewissen  Gleichheit  der  Form,  aber  mit  jedes- 
mal anderen  Worten  ein-  oder  mehrere  Male  wiederholt  werden,  worauf 
dann  die  einzelnen  Teile  durch  einen  Refrain  aneinander  geknüpft  werden. 
Unter  einigem  Vorbehalt  kann  das  Vorkommen  dieser  Kunstform  im 
Koran  zugegeben  werden,  aber  nicht,  daß  Mohammed  sie  anderen  nach- 
gebildet habe.  Denn  was  sich  vom  Strophenbau  im  Koran  findet,  über- 
schritt gewiß  keineswegs  seine  Kräfte;  er  ist  noch  unbeholfen,  ganz  wie 
wie  wir  ihn  erwarten  müssen  von  jemand,  der  sich  selbst  noch  seine  Form 
mit  Anstrengung  sucht.  Was  den  Inhalt  des  Korans  anlangt,  so  hat  Mo- 
hammed gewiß  sehr  viel  von  Juden,  einiges  von  Christen  durch  münd- 
liche Nachrichten  gelernt.  Er  hat  das  aber  alles  in  sich  verarbeitet  und 
ihm  den  einheitlichen  Charakter  gegeben,  der  das  Buch  von  Anfang  bis 
zum  Ende  als  die  Schöpfung  eines  Geistes  erkennen  läßt. 
Tradition.  Das  Buch  Gottes  war  anfänglich  alles,  was   der  Moslim  nötig  hatte. 

Aber  vom  Todestage  Mohammeds  an  bildete  sich  daneben  eine  un- 
geschriebene Literatur,  die  in  wenigen  Jahren  zu  einem  ungeheuren  Um- 
fang heranu-uchs.  Man  wollte  wissen,  was  der  Gesandte  Gottes  alles  ge- 
sagt und  getan  hatte,  bei  welchen  Gelegenheiten  die  Offenbarungen  ge- 
kommen waren,  wie  Gott  seinen  Propheten  geschützt  und  zum  Sieg 
verholfen  hatte  usf.  Davon  wußten  die  frommen  Männer  und  Weiber,  die 
Mohammed  gekannt  hatten,  zu  berichten,  und  was  diese  mitteilten,  wurde 
weiter  erzählt.  Mit  großem  Interesse  nahm  man  auch  auf,  was  bekehrte 
Juden  und  Christen  aus  ihren  Büchern  zur  Illustration  der  heiligen  Ge- 
schichte   im   Koran    beibrachten.     Wenige  Jahre    später    dehnte    sich    die 


A.  Die  Blütezeit  (bis  zum    il.  Jahrhundert).     III.  Der  Koran  und  die  Traditionsliteratur.  147 

Wißbegierde  dann  über  alles  aus,  was  die  Zeitgenossen  des  Propheten 
gesagt  und  getan  hatten.  Leider  ist  dabei  schon  früh  mit  oder  ohne  Ab- 
sicht viel  Falsches  hinuntergemischt  worden.  Um  die  Glaubwürdigkeit 
des  Erzählten  zu  verbürgen,  wurde  am  Anfang  gesagt,  von  wem  man  es 
gehört,  und  falls  dieser  nicht  der  erste  Erzähler  war,  von  wem  der  es  über- 
nommen hatte.  Man  nennt  solche  Einleitung  die  Stütze  (isnäd)  der  Er- 
zählung (hadith);  diese  selbst  gibt  die  Worte  dessen,  der  das  Erzählte 
persönlich  gesehen  oder  gehört  hat.  Wir  haben  hier  also  Material  ersten 
Ranges  für  die  innere  und  äußere  Geschichte  des  Islams  in  seinem  An- 
fang, das  freilich  einer  sorgfältigen  Sichtung  bedarf.  Zugleich  kam  bei 
dieser  Traditionsschöpfung  die  schöne  arabische  Sprache  zu  ihrer  Vollendung, 
die  dann  in  dieser  Form  jahrhundertelang  in  allen  gebildeten  Kreisen  des 
Weltreiches  gesprochen  worden  ist  und  mit  verhältnismäßig  geringen 
Änderungen  noch  heute  die  allgemeine  Schriftsprache  der  arabisch  reden- 
den Länder  und  darüber  hinaus  bildet.  Die  Form  der  Erzählung  ist  für 
die  Geschichtschreibung  maßgebend  geblieben. 

Mohammeds  Verehrung  der  Schreibkunst,  die  sich  im  Koran  q6  v.  4,  5  Schreibkunst. 
kundgibt,  war  keine  platonische.  Lesen  hat  er  selbst,  wahrscheinlich  schon 
in  Mekka,  gelernt,  fürs  Schreiben  bediente  er  sich  junger  Leute,  die  diese 
Kunst  verstanden.  Die  älteste  Urkunde,  die  wir  neben  dem  Koran  von 
ihm  besitzen,  ist  die  Gemeindeordnung  von  Medina,  die  schon  vor  der 
Schlacht  von  Badr  verfaßt  worden  ist  (Wellhausen,  Skizzen  IV,  80).  Die 
arabischen  Historiker  teilen  uns  verschiedene  Briefe,  Verträge,  Instruk- 
tionen an  Beamte  usw.  mit,  von  denen  die  Mehrzahl  echt  zu  sein  scheint, 
wenn  auch  nicht  stets  dem  genauen  Wortlaut  nach.  Auch  ist  es  höchst 
wahrscheinlich,  daß  die  Bestimmungen  über  die  Armentaxe,  über  die  Sühn- 
gelder und  über  das  Strafrecht  bereits  bei  Mohammeds  Lebzeiten  schrift- 
lich vorhanden  waren.  Schon  von  vornherein  ist  demnach  anzunehmen, 
daß  man  bald  nach  seinem  Tode  angefangen  hat,  andere  Aussprüche  und 
Verfügungen  von  ihm  zum  Behuf  der  Rechtsprechung  und  der  Verwaltung 
aufzuzeichnen,  und  zwar  aus  denselben  Motiven,  aus  denen  man  die  zer- 
streuten Offenbarungen  sammelte.  Viele  Genossen  des  Propheten  haben 
auch  ihre  Erinnerungen  aufgeschrieben  oder  von  ihren  Schülern  auf- 
schreiben lassen,  um  sie  vor  der  Vergessenheit  zu  bewahren.  Das  erhellt 
zwar  schon  aus  der  buchstäblichen  Gleichheit  von  Traditionen,  die  durch 
ganz  verschiedene  Reihen  von  Überlieferern  fortgepflanzt  sind,  wird  aber 
auch  noch  durch  verschiedene  Zeugnisse  über  Blätter  und  Schriften  mit 
Überlieferungen  bestätigt.  Gelehrte  wie  Hasan  al-Basri  in  Irak,  az- 
Zohri  in  Syrien,  beide  aus  der  zweiten  Hälfte  des  i.  Jahrhunderts  d.  H., 
müssen  eine  große  Anzahl  solcher  Dokumente  zu  ihrer  Verfügung  gehabt 
haben.  Zohris  Weib  beklagte  sich,  daß  ihr  Gatte  sie  über  seine  Bücher 
vernachlässige.  Diese  Hefte  waren  jedoch  nur  Stütze  fürs  Gedächtnis 
und  einzelne  Gelehrte  befahlen  deshalb,  sie  nach  ihrem  Tode  zu  vernichten. 
Mündliche  Mitteilung  galt  formell  als   die  Regel,  und   auch  später  findet 

10* 


j  lg  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

man,  selbst  wo  aus  einem  bekannten  Buche  zitiert  wird,  merkwürdiger- 
weise noch  oft  die  Formel:  „Der  und  der  hat  mir  berichtet  aus  seinem 
Hefte  so  und  so." 

Schon  im  ersten  Jahrhundert  des  Islams  muß  sich  an  diesem  reichen 
Stoff  eine  bedeutende  literarische  Tätig-keit  entwickelt  haben,  die  Vor- 
arbeit späterer  gesetzeswissenschaftlicher,  erbaulicher  und  historisch -geo- 
graphischer Schriften.  Denn  obgleich  die  ersten  Erzeugnisse  aller  dieser 
drei  Zweige  älter,  teilweise  sehr  viel  älter  sind  als  die  eigentliche  syste- 
matische Hadithliteratur,  d.  h.  die  Sammlung  der  Aussprüche  des  Pro- 
pheten und  seiner  Genossen  und  der  Überlieferung  über  sie,  so  ist  doch 
die  Voraussetzung'  nicht  zu  g'ewagt,  daß  die  Verfasser  jener  früheren 
Schriften  bei  deren  Abfassung  nicht  mehr  vor  einein  Chaos  von  Über- 
lieferungen standen,  sondern  schon  vieles  geordnet  vorgefunden  haben. 

Recbtsschuien.  Den  großcn  Rechtsgolehrteu  des  zweiten  Jahrhunderts,  Mälik,  Abu 
Hanifa  und  Shäfi'i,  den  Stiftern  der  drei  nach  ihnen  benannten  ortho- 
doxen Rechtsschulen,  war  das  traditionelle  Material  neben  dem  Gewohn- 
heitsrecht, dem  Konsensus  der  Gemeinde,  nur  Mittel,  die  Norm  des  Ge- 
setzes authentisch  festzustellen.  Wo  beide  miteinander  in  Widerspruch 
standen,  wurde  nicht  selten  letzterem  der  Vorzug  gegeben;  in  Fällen,  wo 
beide  schwiegen,  ward  nach  bestem  Wissen  entschieden.  Der  fast  ein 
Jahrhundert  später  lebende  Ahmed  ibn  Hanbai,  der  ihnen  als  vierter  an 
die  Seite  gestellt  wird,  lehrte  dagegen,  daß  neben  dem  Buche  Gottes  der 
Hadith  die  einzige  Rechtsquelle  sein  soll. 

Koraneiegese.  Die  Tradition  erstreckt  sich  auch  auf  die  Erklärung  des  Korans.    Der 

Prophet  hat  selbst  davon  einiges  gegeben,  allein  die  große  Autorität  auf 
diesem  Gebiete  ist  Ibn  Abbäs,  der  als  Vetter  Mohammeds  und  als  Ahn- 
herr der  Abbasiden  bei  den  Moslimen  in  hohem  Ansehen  steht,  dessen 
Wahrheitsliebe  aber  von  ausgezeichneten  europäischen  Gelehrten  stark 
angefochten  wird.  Im  ersten  Jahrhundert  beschränkte  die  Koranexegese 
sich  auf  den  Sinn  und  Zusammenhang  der  Verse  und  die  geschichtlichen 
Veranlassungen  der  Offenbarungen;  erst  im  zweiten  Jahrhundert  spürte 
man  das  Bedürfnis  nach  grammatischer  und  lexikographischer  Erklärung, 
und  in  dieser  Zeit  entstanden  die  ältesten  Kommentare,  die  aber  sämtlich 
verloren  sind.  Der  wichtigste  Kommentar,  der  alles  zusammenfaßt,  was 
vordem  in  diesem  Fache  geleistet  war,  und  die  Hauptquelle  aller  späteren 
Exegeten  wurde,  stammt  aus  der  zweiten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts 
d.  H.  und  hat  zum  Verfasser  den  berühmten  Tabari.  Um  den  Anfang 
des  sechsten  Jahrhunderts  bildete  dann  der  gelehrte  und  begabte  Zamach- 
shari  eine  neue  Epoche  in  der  Koranexegese,  indem  er  seine  Scholastik 
in  die  traditionelle  Erklärung  einführte.  Unter  dem  Vorwand  des  Grund- 
satzes, daß  alles,  was  aus  dem  Koran  herausgedeutet  werden  kann,  Gottes 
Wort  ist,  trug  er  eine  Menge  Gedanken  in  das  heilige  Buch  hinein,  an 
die  der  Gesandte  Allahs  gewiß  nie  gedacht  hatte. 

Die  eigentliche  theologische,  sowie  auch  die  juristische  Literatur  muß 


A.  Die  Blütezeit  (bis  zum  ii.  Jahrhundert).     IV.  Die  Geschichte  und  Geographie.        j^q 

hier  unbesprochen  bleiben,  trotz  ihres  sich  mit  der  Zeit  stets  vergrößernden 
Umfanges.  Mit  dem  Sinken  der  Bildung  wächst  die  Gleichgültigkeit  gegen 
alles,  was  nicht  mit  dem  Glauben  zusammenhängt.  Sie  beginnt  schon 
gegen  das  Ende  des  dritten  Jahrhunderts  d.  H.  sich  zu  zeigen,  wo  man 
mehr  als  einmal  im  Vorwort  eines  wissenschaftlichen  Buches  eine  Ent- 
schuldigung dafür  liest,  daß  der  Verfasser  sich  diesem  Studium  widmet,  zu- 
gleich mit  der  Beweisführung,  auch  damit  sei  ja  der  Religion  gedient. 
Allein,  wie  sehr  diese  Geistesrichtung  auch  dem  Aufkommen  neuer  Lite- 
raturgattungen geschadet  hat:  der  Ruhm  der  früheren  Leistungen  wurde 
dadurch  nicht  geschmälert,  und  bis  zum  heutigen  Tage  gibt  es  Araber, 
die  an  ihnen  Wohlgefallen  finden. 

IV.  Die  Geschichte  und  Geographie.  Die  arabische  Historio-  Geschichte, 
graphie  ist,  wie  schon  oben  angedeutet,  ursprünglich  ein  Zweig  der  Tra- 
dition. Sie  ging  hervor  aus  der  durch  den  Koran  geweckten  Wiß- 
begierde nach  der  Geschichte  der  alten  Völker,  die  im  heiligen  Buche 
als  Vorbilder  hingestellt  waren,  und  aus  dem  Verlangen,  alles  zu  er- 
fahren über  den  Propheten,  seine  Abstammung,  sein  Leben,  seine  Kriegs- 
taten  und  den  Sieg  des  Islams.  Aus  diesem  Ursprung  ist  die  eigen-  * 
tümliche  Kompositionsform  der  alten  arabischen  Geschichtswerke  zu 
erklären.  Jedes  Ereignis  wird  darin  mit  den  eigenen  Worten  der  Augen- 
zeugen oder  Zeitgenossen  erzählt,  die  durch  eine  Serie  von  Überlieferern 
bis  zum  letzten  Erzähler  gekommen  sind.  Oft  wird  derselbe  Bericht  in 
zwei  oder  mehr  nur  wenig  voneinander  abweichenden  Formen  mitgeteilt, 
die  durch  verschiedene  Reihen  von  Erzählern  übermittelt  sind.  Auch  wird 
oft  ein  Ereignis  oder  ein  interessantes  Detail  in  verschiedener  Weise  nach 
mehreren  Zeugnissen  von  Zeitgenossen  berichtet,  jedes  durch  eine  andere 
Serie  von  Überlieferen!  dem  letzten  Erzähler  überbracht.  Die  Verfasser 
solcher  Geschichtswerke  üben  demnach  keine  unabhängige  Kritik,  außer 
was  die  Wahl  der  Gewährsmänner  betrifft.  Wenn  die  ersten  Erzähler 
eines  Berichtes  oder  ein  oder  mehrere  Überlieferer  ihm  unzuverlässig 
dünken,  so  wird  der  Bericht  verworfen;  bisweilen  sagt  der  Verfasser  auch, 
welchen  Bericht  er  vorzieht.  Aber  die  moderne  Kritik  kann  natürlich 
mit  seiner  Wahl  nicht  immer  einverstanden  sein.  Unter  diesen  Erzählern 
gibt  es  solche,  die  der  Aloslim  hochschätzt,  der  europäische  Gelehrte  aber 
für  wenig  vertrauenswert  hält  und  umgekehrt;  glücklicherweise  haben  die 
verschiedenen  Geschichtschreiber  nicht  stets  dieselbe  Auswahl  getroffen, 
so  daß  der  eine  anführt,  was  der  andere  wegläßt.  Ein  zweiter  Typus  der 
Geschichtschreibung  ist  der,  daß  der  Verfasser  die  verschiedenen  Tradi- 
tionen über  ein  Ereignis  zu  einer  fortlaufenden  Erzählung  vereinigt,  indem 
er  im  Anfang  die  Serien  von  Überlieferern  nennt  und  sagt,  wessen  Be- 
richt er  hauptsächlich  gefolgt  sei.  Die  alte  Form  der  Darstellung  wird 
dann  nur  gebraucht,  wo  die  verschiedenen  Überlieferungen  stark  vonein- 
ander   abweichen.     Der    dritte    und    letzte   —   nachher    vorherrschende  — 


I  =0  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

T}-pus  ist  die  zusammenhängende  Erzählung,  nur  von  Zeit  zu  Zeit  unter- 
brochen durch  das  Zitat  einer  Autorität  für  die  eine  oder  andere  Besonder- 
heit. Allein  auch  hier  bleibt  es  Prinzip,  daß,  was  einmal  gut  gesagt 
worden  ist,  nicht  in  anderen  Worten  wiedererzählt  werden  soll.  Der  Ver- 
fasser behält  darum  möglichst  getreu  die  Worte  und  den  Stil  seiner 
Quellen  bei,  so  daß  man  selbst  bei  sehr  späten  Schriftstellern  oft  die 
eigenen  Worte  des  ersten  Erzählers  wiederfindet.  Da  von  der  reichen 
historischen  Literatur  der  ersten  Jahrhunderte  d.  H.  sehr  viel  verloren  ge- 
gangen ist,  das  von  den  späteren  Autoren  noch  mittelbar  oder  unmittelbar 
benutzt  werden  konnte,  so  sind  ihre  Bücher  wegen  jenes  Prinzips  auch 
für  die  älteren  Epochen  bisweilen  nützliche  Quellen. 

Aus  dem  ersten  Jahrhundert  d.  H.  ist  kein  Geschichtswerk  auf  uns 
gekommen.  Man  sagt,  daß  Moäwia  einen  gelehrten  Greis  Abid  ibn 
Sharja  aus  Jemen  kommen  ließ,  um  sich  von  ihm  über  die  alte  Geschichte 
belehren  zu  lassen,  und  daß  er  befahl,  dessen  Mitteilungen  aufzuzeichnen. 
Diese  haben  vermutlich  den  Kern  eines  im  dritten  Jahrhundert  in  sehr 
verschiedenen  Rezensionen  stark  verbreiteten,  jetzt  verlorenen,  Buches 
gebildet,  das  den  Xamen  jenes  Gelehrten  trug. 

Erst  im  zweiten  Jahrhundert  fing  man  an,  wirkliche  Geschichtsbücher 
zu  schreiben.  Den  Stoff  boten,  neben  mündlicher  Überlieferung,  Diktate 
älterer  Gelehrten  und  allerlei  Dokumente  und  Traktate,  Briefe,  Gedichte 
und  genealogische  Listen.  Bei  den  aristokratischen  Arabern  hatten  schon 
in  der  Heidenzeit  genealogische  Kenntnisse  in  hohem  Ansehen  gestanden. 
Omars  System,  die  Staatsrevenuen  unter  die  Araber  nach  den  Stufen  ihrer 
Verwandtschaft  mit  dem  Propheten  und  nach  ihrem  persönlichen  Verdienst 
während  dessen  Lebzeiten  zu  verteilen,  machte  dann  bald  die  Pflege  der 
Genealogie  zu  einem  politischen  Bedürfnis.  Im  ersten  Jahrhundert  wurde 
in  diesem  Zweig  der  Wissenschaft  eifrig  gearbeitet.  Und  zwar  geschah 
das  nicht  nur  in  der  Herstellung  trockener  Tabellen,  sondern  auch  durch 
Beschreibung  der  Eigenschaften  der  Stämme,  ihrer  Taten  und  ihrer  hervor- 
ragenden Männer.  Solche  genealogische  Bücher  wurden  aber  erst  im 
zweiten  Jahrhundert  ausgegeben.  Das  beste,  uns  glücklicherweise  er- 
haltene Werk  dieser  Art  ist  die  im  dritten  Jahrhundert  von  Belädhori 
geschriebene  „Genealogie  der  Adligen",  die  eine  Geschichtsquelle  von 
sehr  großem  Wert  ist. 

Die  ältesten  Geschichtswerke  stammen  noch  aus  der  letzten  Zeit  der 
Omajjaden.  Es  sind  Ibn  Okbas  Leben  des  Propheten  und  Abu  Mich- 
nafs  Monographieen  über  die  Hauptereignisse  der  Zeit  von  Abu  Bekr 
zu  Walld  IL  Wir  kennen  beide  nur  aus  Zitaten,  die  zwar  sehr  umfang- 
reich sind,  aber  uns  doch  den  Verlust  der  ganzen  Werke  schmerzlich 
bedauern  lassen.  Ibn  Okba  hatte  seine  Berichte  von  zwei  sehr  zuver- 
lässigen Leuten.  Abu  Michnaf  gilt  als  die  beste  Autorität  für  die  Ge- 
schichte von  Irak. 

Aus   der   ersten   Zeit   der  Abbasiden   ist  Ibn  Ishäks   Leben   Moham- 


A.  Die  Blütezeit  (bis  zum  1 1 .  Jahrhundert).     IV.  Die  Geschichte  und  Geographie.        i  ;  i 

meds,  das  im  allgemeinen  unser  Zutrauen  verdient,  mit  Ausnahme  der 
Darstellung  des  Zeitabschnittes  vor  der  Berufung  der  Propheten.  Dieser 
Teil  ist  durch  viele  rein  erdichtete  Erzählungen  und  Reimereien  entstellt, 
die  der  Verfasser  sich  hat  aufbinden  lassen.  Das  Werk  scheint  in  seiner 
ursprünglichen  Gestalt  verloren;  wir  besitzen  es  nur  in  einer  hier  und 
dort  kastigierten  und  kommentierten  Bearbeitimg.  Ein  viel  reicheres  Ma- 
terial stand  Wäkidi  zu  Diensten.  Er  besaß  eine  umfassende  Bibliothek, 
die  zwar  größtenteils  Diktate  von  ihm  selbst  und  anderen,  doch  auch  schon 
viele  wirkliche  Bücher  enthielt.  Sein  Hauptverdienst  besteht  in  seinen 
Studien  über  die  Überlieferer  und  in  seinen  chronologischen  Untersuchungen. 
Die  Resultate  der  erstgenannten  und  teilweise  auch  der  letzteren  sind  uns 
erhalten  im  großen  „Klassenbuch"  seines  Schülers  Ibn  Sa'd,  das  neben 
einer  ausführlichen  Biographie  des  Propheten  biographische  Nachrichten 
über  dessen  Gefährten  und  ihre  Nachfolger  enthält.  Von  seinen  vielen 
Werken  ist  uns  sonst  nur  das  Buch  über  Mohammeds  Feldzüge  bewahrt 
geblieben.  Wir  haben  aber  aus  den  verlorenen  Schriften  sehr  viele  Zitate 
bei  späteren  Schriftstellern.  Eine  genaue  Untersuchung  der  Nachrichten 
über  die  Eroberung  Syriens  hat  ergeben,  daß  Wäkidis  Zeitangaben  in  der 
Regel  zuverlässig  sind.  Auch  für  die  Chronologie  der  Zeit  vor  dem  Jahre 
lo  d.  H.  hat  er  sich  viel  Mühe  gegeben;  doch  konnte  er  hier  dem  dürf- 
tigen Material  keine  uns  ganz  befriedigende  Resultate  abgewinnen.  Die 
Bücher  über  die  Eroberung  verschiedener  Länder,  die  Wäkidis  Namen 
tragen,  sind  sämtlich  historische  Romane  aus  späterer  Zeit. 

Madäini,  etwas  jünger  als  Wäkidi,  schrieb  eine  Geschichte  der 
Chalifen,  die  uns  aus  zahlreichen  Zitaten  bekannt  ist.  Aus  diesen  lernen 
wir  ihn  kennen  als  einen  Historiker  von  hoher  Bedeutung.  Er  verfügte 
über  umfassendes  und  gründliches  Wissen,  hatte  gesundes  Urteil  und 
schrieb  einen  guten  Stil.  Er  war  besonders  bewandert  in  der  Geschichte 
der  östlichen  Länder  des  Chalifats.  Tabari  hat  ihn  für  diesen  Teil  seiner 
Annalen  als  Hauptquelle  benutzt. 

Saif  ibn  Omar  hat  die  Geschichte  des  Abfalls  der  Araber  unter 
Abu  Bekr  und  die  der  großen  Eroberungen  beschrieben.  Er  ist  gekenn- 
zeichnet durch  die  Fülle  seiner  Details  und  zieht  durch  die  Lebendigkeit 
seiner  Darstellung  an,  muß  aber  mit  großer  Vorsicht  gebraucht  werden. 
Denn  nicht  nur  ist  seine  Chronologie  sehr  ungenau,  sondern  auch  der  In- 
halt seiner  Erzählung  erweist  sich  sehr  oft  als  übertrieben  oder  selbst 
ganz  unhistorisch.  Tabari  hat  ihn  als  Hauptquelle  gebraucht  und  hat  da- 
durch verursacht,  daß  seine  Angaben  bei  späteren  Historikern  als  be- 
glaubigte Geschichte  gegolten  haben.  Auf  Belädhoris  (s.  oben  S.  150) 
vortreffliches  Buch  der  Eroberungen  hat  Saif  glücklicherweise  keinen 
Einfluß  gehabt.  Er  zitiert  ihn  nur  zweimal  für  ein  Detail,  hat  ihn  dem- 
nach absichtlich  als  Hauptquelle  beiseite  gelassen. 

Ein  etwas  jüngerer  Zeitgenosse  Belädhoris  war  Jakübi,  der  auch  als 
Geograph  rühmlichst  bekannt  ist.    Sein  allerdings  kürzeres  Geschichtswerk 


1^2  MlCH.\EL  Jax  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

ist  wertvoll,  einerseits  weil  er  Shiite  war  und  dennoch  sich  alle  Mühe 
gibt,  unparteiisch  zu  erzählen,  andererseits  weil  er  die  abgelegenen  Pro- 
vinzen wie  Maghrib,  Armenien  und  Indien  besser  kannte,  als  alle  seine 
Vorgänger. 

Epoche  in  der  arabischen  Historiographie  macht  Tabaris  großes  Ge- 
schichtswerk, das  mit  der  Schöpfung  der  Welt  anfängt  und  mit  dem 
Jahre  302  d.  H.  endet.  Es  ist  eine  riesige  Kompilation,  die  zwar  als 
Kunstwerk  keinen  großen  literarischen  Wert  hat,  aber  eine  wahre  Fund- 
grube für  die  Geschichte  bildet.  Von  den  vielen  Fortsetzungen  ist  gerade 
die  beste,  die  des  Ferghäni,  leider  verloren.  Der  Spanier  Arlb  machte 
einen  Auszug,  den  er  mit  der  von  Tabari  vernachlässigten  Geschichte  des 
Westens  ausfüllte.  Die  allerbekannteste  ist  die  im  allgemeinen  mit  Talent 
hergestellte  Abkürzung  und  Fortsetzung  des  Ibn  al-Athir.  Der  soge- 
nannte persische  Tabari  ist  auch  nur  ein  Auszug  mit  vielen  romantischen 
Zugaben.  Für  spätere  Schriftsteller  ist  Tabari  Hauptquelle  geblieben, 
glücklicherweise  aber  nicht  die  einzige. 

Eine  g'anz  besondere  Stelle  unter  den  arabischen  Geschichtschreibern 
nimmt  Masndi  aus  der  ersten  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts  d.  H.  ein. 
Dieser  vielseitige  und  sehr  gelehrte  Mann  hat  viele  und  lange  Reisen 
gemacht,  um  Länder  und  Völker  kennen  zu  lernen,  und  sich  alle  Mühe 
gegeben,  überall  die  zuverlässigsten  Nachrichten  zu  erhalten.  Er  geht 
stets  seine  eigenen  Wege  und  hat  sich  volles  Recht  auf  unsere  hohe 
Anerkennung  erworben.  Leider  sind  seine  Werke  bis  auf  zwei  verloren 
gegangen. 

Seit  dem  Ausgang  des  zweiten  Jahrhunderts  d.  H.  haben  die  meisten 
Großstädte  und  eine  Anzahl  Provinzen  ihre  eigenen  Geschichtschreiber. 
Verschiedene  dieser  Lokalgeschichten  bilden  nur  die  Einleitung  zu  einem 
biographischen  Lexikon  der  berühmten  Männer,  die  in  dem  Bezirke 
längere  oder  kürzere  Zeit  gelebt  hatten.  „Selbstachtung  ist  das  edle 
Grundprinzip  [der  Araber  und]  des  Islams.  Jedes  Individuum  gilt  als  eine 
Größe,  und  deswegen  haben  die  Muslime  mehr  Bjographieen  und  Genea- 
logieen  geschrieben,  als  andere  Nationen  vor  und  neben  ihnen  zusammen 
genommen"  (Sprenger  III,  CXXV).  Diese  umfangreiche  biographische 
Literatur  ist  eine  reiche  Quelle  für  die  Kulturgeschichte.  Da  findet  man 
sowohl  allgemein  biographische  Lexika  berühmter  Männer  aus  allen 
Ständen  wie  Fachlexika  besonderer  Klassen  und  Stände,  ein  Buch  der 
Dichter,  ein  Lexikon  der  Genossen  Mohammeds,  eine  Geschichte  der 
Mediziner  usw.  Besondere  Auszeichnung  verdient  Ispahänis  großes  Buch 
der  Lieder,  das  die  Biographieen  der  Dichter  von  der  ältesten  Zeit  bis  ins 
dritte  Jahrhundert  d.  H.  gibt,  deren  Verse  gesungen  wurden,  und  die  ein 
solches  Kunstwerk  von  Komposition  ist,  daß  man  die  einundzwanzig  Bände 
vom  Anfang  bis  zum  Ende  mit  ungetrübtem  Genuß  lesen  kann. 

Nicht  unerwähnt  darf  hier  bleiben,  daß  im  zweiten  Jahrhundert  ge- 
lehrte  Perser   anfingen,   durch   Übersetzung   ihrer   alten   Geschichtsquellen 


A.  Die  Blütezeit  (bis  zum    1 1 .  Jahrhundert).     V.  Die  Philologie.  jcj 

an  der  Bildung^  der  arabischen  historischen  Literatur  mitzuarbeiten.  Diesen 
Übersetzern  verdanken  Tabari  und  seine  Zeitgenossen  ihre  Mitteilungen 
über  die  Geschichte  der  Perser.  Dabei  waren  jene  Fremden  auch  nicht 
ohne  Einfluß  auf  die  Entwicklung  des  arabischen  Stils  und  die  Kunst  der 
Komposition.  "Wenn  wir  aber  die  Höflingsweisheit  des  Ibn  al-Mukaffa 
mit  den  Weisheitssprüchen  der  Araber,  den  rhetorisch  aufgeputzten  Stil 
der  Perser,  wie  wir  ihn  aus  den  Übersetzungen  kennen  lernen,  mit  dem 
kernhaften,  männlichen  Stil  der  ältesten  arabischen  Historiker  vergleichen, 
fühlen  wir  erst  recht  die  Originalität  der  letzteren. 

Auf  dem  Gebiete  der  Geographie  im  Sinne  der  Beschreibung  von  Geographie. 
Ländern  und  Völkern  haben  die  Araber  Bedeutendes  geleistet.  Im  Mittel- 
alter wurde  viel  gereist.  Der  Besuch  der  heiligen  Städte,  Handelsinter- 
essen, der  Wunsch  sich  in  den  großen  Zentren  moslimischer  Wissenschaft 
zu  bilden,  waren  die  vornehmsten  Antriebe,  doch  gab  es  auch  viele 
Männer,  die,  hauptsächlich  um  Länder  und  Völker  kennen  zu  lernen,  mit 
Herodotischem  Ernst  und  Eifer  das  große  Reich  durchkreuzten.  Hervor- 
ragend ist  unter  ihnen  Mokaddasi,  dessen  W^erk  auch  für  die  Kultur- 
geschichte der  von  ihm  besuchten  Länder  reiche  Ausbeute  verschafft. 
Selbst  das  islamische  Gebiet  weit  zu  überschreiten  wurde  oft  gewagt,  im 
Dienste  der  Regierung,  wie  zum  Zwecke  von  Handelsgeschäften,  und  wir 
verdanken  diesen  Reisenden  höchst  wichtige  Nachrichten.  Ihre  Alit- 
teilungen  z.  B.  über  das  byzantinische  Reich,  über  die  Normannen,  die 
slawischen  und  türkischen  Völker,  ihre  Beschreibungen  des  Indischen 
Meeres  und  der  Hafenorte  Chinas  sind  sämtlich  von  großem  Interesse. 
Aus  der  alten  Zeit  haben  wir  noch  keine  eigentlichen  Reisebeschrei- 
bungen. Muster  einer  solchen  aus  Saladins  Tagen  ist  die  Reise  des 
Spaniers  Ibn  Djobair  und  weltberühmt  die  seines  Landsmannes  Ibn 
Batüta. 

Das  bekannteste  der  uns  erhaltenen  geographischen  Werke  ist  Edrisis 
Beschreibung  der  nach  Zonen  (Klimaten)  geteilten  Welt,  die  auch  „das 
Buch  von  Roger"  heißt,  weil  es  auf  Ansuchen  des  Fürsten  Roger  von 
Sizilien  gemacht  ist.  Ein  großer  Teil  des  vom  Verfasser  darin  vorge- 
brachten Materials  ist  uns  sonst  völlig  unbekannt.  Von  noch  größerem 
Wert  aber  ist  Jaqüts  geographisches  Wörterbuch,  eine  mächtige  Kompi- 
lation aus  vielen,  darunter  ganz  verschollenen  Werken,  bereichert  durch 
seine  eigenen  Beobachtungen.  Er  ist  der  letzte,  der  den  Orient  vor 
Djengizkhäns  Mordbrennerei  gekannt  und  beschrieben  hat. 

V.    Die    Philologie.     Der    Islam    machte    Unterricht    im   Lesen    und  : Lesen  und 

°  _  Schreiben. 

Schreiben  notwendig.  Mohammed  hat  diesen  Unterricht  selbst  so  viel 
wie  möglich  gefördert.  Schon  nach  der  Schlacht  bei  Badr  konnten  sich 
unbemittelte  Kriegsgefangene,  die  jene  Kunst  verstanden,  dadurch  frei- 
kaufen, daß  sie  je  zehn  junge  Medinenser  unterwiesen.  Ibn  Rosteh  gibt 
eine    ganze   Liste    von   Schullehrern   aus    der    alten   Zeit.     Dem   mächtigen 


j  -  ,  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

Landvogt  von  Irak,  Haddjädj,  wurde  vorgeworfen,  daß  er  anfangs  wie 
sein  Vater  seinen  Lebensunterhalt  als  Schulmeister  hatte  verdienen  müssen. 
War  der  Lese-  und  Schreibunterricht  schon  in  Arabien  selbst  nötig,  so 
noch  mehr  in  den  eroberten  Ländern,  wo  durch  die  vielen  bekehrten 
Nichtaraber  auch  die  Reinheit  der  Sprache  in  großer  Gefahr  war.  Schon 
um  das  Jahr  40  d.  H.  hatte  man  denn  auch  bereits  eine  arabische  Kinder- 
schule in  Basra.  Und  nach  der  festen  Überlieferung,  die  vielleicht  mehr 
Zutrauen  verdient  als  ihr  in  der  letzten  Zeit  entgegengebracht  wird,  ist 
dem  auch  als  Dichter  bekannten  Abu'l-Aswad  ad-Doali  um  die  Mitte 
des  ersten  Jahrhunderts  d.  H.  der  erste  Versuch  einer  arabischen  Gram- 
matik zu  verdanken,  eben  auch  um  der  Gefahr  der  Sprachverderbnis  zu 
steuern.  Rasch  entwickelt  sich  danach  die  Philologie  in  Basra,  Kufa  und 
ein  wenig  später  in  Bagdad,  und  das  Studium  der  herrlichen,  reichen 
Sprache  wird  eine  wahre  Herzenssache.  Keine  Mühe  wird  gescheut:  ge- 
lehrte Männer  verbringen  langte  Jahre  bei  den  Beduinen,  um  Ohr  und 
Zunge  zu  üben  und  vieles  besser  zu  verstehen;  was  von  alten  Gedichten, 
Lberlieferungen  und  Sprichwörtern  zu  finden  ist,  wird  fleißig  zusammen- 
gesucht, ediert  und  kommentiert,  und  die  schwierigen  Worte  im  Koran 
und  in  der  Tradition  werden  Gegenstand  tiefer  Forschungen. 

In  derselben  Zeit,  als,  in  der  zweiten  Hälfte  des  8.  Jahrhunderts  n.  Chr., 
die  äußeren  Verhältnisse  den  Arabern  Frieden  und  Überfluß  schenkten 
und  das  Aufblühen  literarischer  und  wissenschaftlicher  Tätigkeit  ermög- 
lichten, wurde  eine  Entdeckung  von  welthistorischer  Wichtigkeit  gemacht, 
die  die  literarischen  Bestrebungen  ungemein  förderte.  Im  Zeitalter  der 
Omajjaden  war  das  Schreibmaterial  noch  selten  und  teuer  gewesen,  weil 
es  aus  Pergament,  Papyrus  oder  chinesischem  Papier  bestand.  Im  Jahre 
751  kamen  nun  chinesische  Kriegsgefangene  nach  Samarkand,  die  mit  der 
Papierfabrikation  vertraut  waren.  Die  Araber  erlernten  von  ihnen  die 
Kunst  und  brachten  sie  mit  ihrem  praktischen  Sinn  in  wenigen  Jahren  zu 
einer  bedeutenden  Höhe.  Ihnen  verdankt  die  Welt  die  Methode,  aus 
leinenen  Lumpen  ein  gutes,  zum  Schreiben  geeignetes  Papier  zu  bereiten, 
die  bis  zur  Erfindung  der  Papiermaschine  in  neuester  Zeit  in  Herrschaft 
gewesen  ist.  Schon  794  oder  795  wurde  die  zweite  Papierfabrik  in  Bagdad 
begründet,  und  von  da  ab  finden  wir  solche  Fabriken  bald  in  allen 
größeren  Städten  des  Weltreichs.  Eine  unmittelbare  Folge  dieser  Er- 
findung war  das  Wiedererwachen  des  Buchhandels  und  die  Xeubegründung 
von  Bibliotheken.  Mancher  später  berühmte  Schriftsteller  verdiente  sich 
anfänglich  sein  tägliches  Brot  durch  das  Abschreiben  von  Büchern. 

Von  den  vielen  berühmten  Männern,  die  an  dem  Fortschritt  der  Philo- 
logie mit  besonderem  Erfolg  gearbeitet  haben,  kann  ich  nur  wenige  auf- 
zählen. An  der  Spitze  der  Grammatiker  und  Lexikographen  stehen 
al  Chalil,  der  erste,  der  die  Regeln  der  arabischen  Metrik  feststellte  und 
systematisch  ordnete,  der  Bahnbrecher  auf  dem  Gebiete  der  Lexikographie, 
und   sein    Schüler    Sibawaih,    dessen    grammatisches    Werk    so    berühmt 


A.  Die  Blütezeit  (bis  zum   1 1.  Jahrhundert).     VI.  Die  übrigen  Wissenschaften.  icc 

war,  daß  man  es  einfach  als  „das  Buch"  anführte.  Chalaf  al-ahmar, 
selbst  Dichter,  war  so  tief  in  den  Geist  der  alten  Poeten  eingedrungen, 
daß  er  ihnen  verschiedene  selbst  gemachte  Verse  unterschob,  welche  die 
Gelehrten  für  echt  annahmen  und,  trotz  seiner  späteren  Beteuerung,  daß 
sie  von  ihm  wären,  als  solche  beibehielten.  Von  Kisäi,  dem  Lehrer  des 
Chalifen  Harun  ar-Rashid,  erzählt  man,  daß  er  fünfzehn  Flaschen  Tinte 
gebrauchte,  um  aufzuschreiben,  was  er  von  den  Beduinen  gelernt  hatte. 
Nicht  weniger  fleißig  war  sein  Schüler  al-Farrä,  dessen  Schriften  zu- 
sammen dreitausend  Blätter  gefüllt  haben  sollen.  Dieser  Farrä  war  der 
Lehrer  der  Söhne  al-Mamüns.  Als  er  eines  Tages  ausgehen  wollte,  stritten 
sich  die  beiden  Prinzen  darum,  wer  ihm  seine  Schuhe  bringen  dürfte,  bis 
Farrä  vorschlug,  daß  jeder  einen  darreichen  solle.  Der  Chalife,  dem  dies 
berichtet  worden,  fragte  ihn  darauf,  wer  wohl  der  geehrteste  unter  den 
Menschen  wäre.  Farrä  antwortete:  „Ich  kenne  keinen,  der  geehrter  ist 
als  der  Fürst  der  Gläubigen."  „Keineswegs,"  sagte  der  Chalife,  „sondern 
derjenige,  für  den,  wenn  er  ausgehen  will,  zwei  Thronfolger  sich  um  die 
Ehre  streiten,  ihm  die  Schuhe  zu  bringen,  und  sich  schließlich  darauf 
einigen,  daß  jeder  einen  holen  darf,"  Die  Anekdote  ist  ein  Gegenstück 
zu  der  oben  (S.  139)  von  Harun  ar-Rashid  erzählten;  sie  beweist,  wie  sehr 
damals  in  den  höchsten  Kreisen  neben  der  Poesie  auch  die  Gelehrsamkeit 
und  die  Gelehrten  geschätzt  wurden. 

Besondere  Er^vähnung  verdienen  die  zwei  großen  Philologen  Abu 
Obaida  und  Asma'i.  Ersterer,  der  von  jüdischer  Abkunft  war,  kannte 
das  arabische  Altertum  wie  wenige  und  hat  sehr  viele  Bücher,  auch 
historische,  geschrieben,  die  wir  nach  den  zahlreichen  Zitaten  als  wertvoll 
bezeichnen  müssen.  Er  war  der  Typus  des  Stubengelehrten.  Es  wird 
eine  hübsche  Anekdote  erzählt,  nach  der  Abu  Obaida,  der  fünfzig  Hefte 
über  das  Pferd  geschrieben  hatte,  am  lebenden  Tier  die  Teile  nicht  an- 
weisen konnte.  Sein  Antagonist  hingegen,  Asma'i,  wußte  diese,  obgleich 
er  nur  ein  Heft  über  das  Pferd  gearbeitet  hatte,  genau  und  erhielt  des- 
halb das  Pferd  als  Preis.  Vom  Dichter  Abu  Nowäs  stammt  die  folgende 
Charakteristik  beider:  „Abu  Obaida  ist  ein  Gelehrter,  der  nie  ohne  seine 
Bücher  ist,  die  er  studiert,  Asma'i  dagegen  ist  wie  die  Nachtigall  im 
Käfig,  die  liebliche  Weisen  hören  läßt  und  jedesmal  neue  Schönheiten 
vorzeigt."  Asma'i  ist  als  Erzähler  so  berühmt  geworden,  daß  eine  unge- 
heure Masse  von  Geschichten  und  Anekdoten,  selbst  der  Ritterroman  von 
Antar,  ihm  zugeschrieben  wurde.  Seine  vornehmliche  Bedeutung  aber 
beruht  doch  darin,  daß  er  einer  der  besten  Kenner  des  arabischen  Wort- 
schatzes war. 

VI.  Die  übrigen  Wissenschaften.  Die  literarischen  Leistungen 
der  Araber  auf  dem  Gebiete  der  theoretischen  Philosophie,  wie  die  auf 
dem  der  Naturwissenschaft,  der  Medizin,  der  Mathematik  und  der  Astro- 
nomie   werden    in    den    entsprechenden    Abteilungen    dieses   Werkes    ihre 


jr5  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

Würdigung  linden.  Aber  eine  kurze  Erwähnung  verdienen  sie  auch  im 
Rahmen  der  eigentlichen  Literaturgeschichte,  schon  aus  dem  einen  Grunde, 
weil  durch  sie  die  meisten  Berührungen  Huropas  mit  der  arabischen  Geistes- 
entwicklung-  stattgefunden  haben.  Diese  Wissenschaften  sind  von  der  Zeit 
der  ersten  Abbasiden  bis  zum  ii.  Jahrhundert  im  Osten,  noch  länger  im 
Westen  eifrig  gepflegt  worden,  und  verschiedene  ihrer  Vertreter  haben  es 
zur  Weltberühmtheit  gebracht.  Und  wenn  die  Araber  auch  hier  im  wesent- 
lichen nur  Vermittler  fremder,  speziell  griechischer  Weisheit  gewesen  sind, 
so  ist  doch  hervorzuheben,  daß  die  wissenschaftliche  Kultur  des  Mittelalters 
in  Europa  den  Arabern  sehr  viel  verdankt,  da  sie  durch  ihre  Arbeiten  die 
Wiederbelebung  des  Studiums  der  griechischen  Wissenschaft  verursacht 
und  auf  vielen  Gebieten  die  Wissenschaft  auch  selbständig  g^efördert  und 
weitergebildet  haben. 


B.    Die  Periode  des  Verfalls   (vom    ii.  Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart). 
VerfaiL  I.    Bis  zum    ig.  Jahrhundert.     Mit  dem  allmählichen  Verschwinden 

des  arabischen  Elementes  aus  den  maßgebenden  Kreisen  der  islamischen 
Welt,  das  vom  ii.  Jahrhundert  an  zu  beobachten  ist,  hält  der  Rückgang 
der  schöpferischen  Tätigkeit  in  der  Literatur  gleichen  Schritt.  Die  Poesie 
wird  mehr  und  mehr  Nachahmung  und  künstliches  Machwerk;  Antho- 
logieen,  Überarbeitungen  und  Systematisierung  der  alten  Stoffe,  Kommen- 
tare usw.  treten  an  die  Stelle  selbständiger  Geistesprodukte.  Die  Errich- 
tung von  Hochschulen  —  die  erste  wurde  im  Jahre  1065  zu  Bagdad 
gegründet  —  war  nicht  imstande,  dem  Verfall  der  Wissenschaft  vorzu- 
beugen. Ja  merkwürdigerweise  gab  es  im  Orient  sogar  Gelehrte,  die 
eben  jene  Gründung  als  ein  Zeichen  des  Rückschritts  betrachteten  (vgl. 
Snouck  Hurgronje,  Mekka  II,  229).  Die  stets  unheilbringende  und  meistens 
unverständige  Türkenherrschaft  bot  der  freien  Forschung  keinen  geeig- 
neten Boden.  Dennoch  verdanken  wir  der  sogenannten  nachklassischen 
Periode  noch  viele  nützliche  Bücher,  und  es  lebten  in  ihr  Gelehrte  und 
Denker,  die  alle  Hochachtung  verdienen.  Ich  nenne  bloß  die  auch  in 
Europa  wohlbekannten  zwei:  Ghazäli,  den  Verfasser  der  „Neubelebung 
der  Wissenschaften  der  Religion",  und  Birüni,  den  Kenner  der  indischen 
Literatur  und  Geschichte.  Noch  in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts 
verfügte  Asien  über  verschiedene  Brennpunkte  der  Wissenschaft,  Dann 
aber  kamen  die  Mongolen.  Sie  verbrannten  die  Bibliotheken,  mordeten 
die  Gelehrten  und  rafften  alles,  was  von  Kultur  übrig  war,  hinweg,  Sie 
haben  buchstäblich  verwirklicht,  was  der  Prophet  Joel  von  der  Heu- 
schreckenverheerung sagt:  „Vor  ihnen  war  das  Land  wie  ein  Lustgarten, 
hinter  ihnen  eine  Wüstenei."  Von  diesen  Unglückstagen  hat  sich  der 
Orient  bis  heute  nicht  erholen  können. 

In   Syrien,  Arabien,  Ägypten,  Nordafrika  und  Spanien  ist   der  gänz- 
liche Verfall  der  arabischen  Kultur  nicht   so   plötzlich   eingetreten.     Noch 


B.  Die  Periode  des  Verfalls  (vomli.Jahrh.b.z.Gegenw.).  I.  Bis  zum  ig.Jahrh.  IT.  Das  ig.Jahrh.     izy 

viele  Jahre  lang  wurden  da  die  gelehrten  Studien  der  vorigen  Periode 
fortgesetzt.  Niedergang  zeigt  sich  aber  doch  überall.  Die  besten  litera- 
rischen Produkte  sind  noch  die  Geschichtswerke.  Verschiedene  unter 
diesen  zeugen  von  der  großen  und  vielseitigen  Gelehrsamkeit  ihrer  Ver- 
fasser und  haben  für  die  Arabisten  sehr  großen  Wert,  auch  dadurch,  daß 
sie  viele  Zitate  aus  älteren,  jetzt  verlorenen  Büchern  enthalten.  Der 
knappe  Raum  dieser  Skizze  läßt  aber  nicht  zu,  auch  nur  die  verdientesten 
jener  Schriftsteller  zu  erwähnen.  Nur  eine  Ausnahme  muß  gemacht  werden, 
und  zwar  mit  Ibn  Chaldun,  der  in  der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhun- 
derts eine  Weltgeschichte  schrieb,  deren  Einleitung  mit  Recht  allgemein 
bewundert  wird.  Ibn  Chaldun  ist  in  Wirklichkeit  einer  jener  Heroen,  die 
sich  hoch  über  ihre  Zeitgenossen  erheben,  und  deren  Gedankenwerk  nicht 
veraltet.  Vier  Jahrhunderte,  bevor  in  Europa  die  ersten  Vorläufer  der 
modernen,  jetzt  allgemeing-ültigen  Geschichtsauffassung  sich  zeigen,  hat  er 
mit  fester  Hand  die  Gesetze  der  Kulturentwicklung  beschrieben.  Zwar 
kannte  er  nur  die  Moslimische  Gesellschaft,  aber  diese  hat  er  so  gründ- 
lich studiert  und  daraus  das  allgemein  Menschliche  so  scharfsinnig  in  den 
Vordergrund  gerückt,  daß  seine  Prolegomena  einen  hohen  bleibenden 
Wert  haben. 

II.  Das  19.  Jahrhundert.  Nach  fast  einem  halben  Jahrtausend  der 
Stagnation  hat  die  islamische  Kulturwelt  endlich  im  19.  Jahrhundert  durch 
den  Einfluß  des  europäischen  Geisteslebens  wieder  neue  Anregung^  emp- 
fangen, vor  allem  in  Syrien  und  Ägy^pten.  Welche  Tragweite  dies  auf 
die  Hebung  der  islamischen  Welt-  und  Lebensanschauung  haben  wird, 
darüber  ist  selbst  noch  keine  Vermutung  auszusprechen.  Die  Einführung 
des  Buchdrucks  hat  diesen  Einfluß  mächtig  gefördert.  Neues  Interesse 
erwacht  jetzt  für  die  alten  Literaturschätze.  Zwischen  europäischen  und 
moslimischen  Gelehrten  entstehen  freundschaftliche  Beziehungen.  Euro- 
päische Bücher  werden  ins  Arabische  übersetzt.  Verschiedene  Zeitungen 
und  Zeitschriften  vermitteln  den  Verkehr  zwischen  Orient  und  Okzident. 
Die  Frage  nach  einer  besseren  Erziehung  der  Jug^end  kommt  mehr  und 
mehr  an  die  Tagesordnung.  Allein,  ob  dieser  noch  stets  wachsende  Ein- 
fluß eine  Umgestaltung  und  Wiederbelebung  der  arabischen  Literatur  zur 
Folgte  haben  wird,  wer  kann  das  sagen? 

Die  Sprache  der  Zeitungen  und  der  Übersetzungen,  wie  aller  Unter-  schrift- 
haltungsbücher  und  wissenschaftlicher  Werke  ist,  mit  sehr  wenigen  Aus-  spräche. 
nahmen,  noch  immer  in  der  Hauptsache  die  aus  der  Blütezeit  der  arabi- 
schen Literatur.  Daneben  steht  aber  eine  nicht  nur  in  verschiedenen 
Ländern,  sondern  selbst  in  verschiedenen  Teilen  desselben  Landes  ver- 
schiedene Umgangssprache,  die,  je  ungebildeter  die  Leute  sind,  desto 
mehr  von  der  Schriftsprache  abweicht.  Gehört  nun  dieser,  dem  Nieder- 
arabischen, wie  Völlers  es  nennt,  oder  dem  Hocharabischen  die  Zukunft? 
Meines  Erachtens   hängt  für   die   Beantwortung   dieser  Frage   alles   davon 


jcg  Michael  Jan  de  Goeje:    Die  arabische  Literatur. 

ab,  ob  unter  verbesserten  politischen  Verhältnissen  der  Einfluß  der  euro- 
päischen Kultur  eine  wirkliche  geistige  Hebung  der  Bevölkerung  in  den 
arabischen  Ländern  herbeizuführen  imstande  sein  wird.  Geschieht  das, 
dann  wird  die  Schriftsprache,  die  schon  nationales  Gemeingut  ist,  die  vul- 
gären Dialekte  vielleicht  ebenso  zurückdrängen  können,  wie  das  Hoch- 
deutsche die  vielen  deutschen  Mundarten  zurückgedrängt  hat.  Das  Ver- 
nünftigste ist  jedoch,  hier  sich  aller  Prophezeiungen  zu  enthalten  und  dem 
frommen  Moslim  nachzusagen:  „Gott  allein  weiß  es," 

Man  darf  aber  das  Verhältnis  zwischen  der  arabischen  Schriftsprache 
imd  der  Umgangssprache  nicht  etwa  vergleichen  mit  dem,  was  zwischen 
Schriftsprache  und  Umgangssprache  auf  griechischem  Boden  heute  be- 
steht. Die  arabische  Schriftsprache  hat  nichts  Künstliches.  Sie  ist  die 
ununterbrochene  Fortsetzung  der  Sprache  aus  den  ersten  Anfängen  der 
Literatur,  die  nur  im  Laufe  der  Zeit  fortwährend  Worte  und  Formen  ver- 
loren und  dafür  neue  Bedeutungen  dazubekommen  hat.  Durch  den  Gottes- 
dienst, die  Schule  und  die  Literatur  sind  aber  die  Änderungen  doch  be- 
schränkt geblieben.  Der  Hauptunterschied  zwischen  dieser  klassischen 
Sprache  und  den  verschiedenen  Umgangsdialekten  besteht  bloß  in  der 
Aussprache,  und  da  gewöhnlich  nur  die  Konsonanten  geschrieben  werden 
und  für  die  dabei  zu  ergänzenden  Vokale  keine  allgemein  gültige  Aus- 
sprache existiert,  kann  jeder  sie  nach  seiner  Manier  lesen.  Was  bisher 
von  Liedern  und  Erzählungen  in  verschiedenen  arabischen  Dialekten, 
selbst  in  städtischen  Jargons,  größtenteils  durch  europäische  Gelehrte 
herausgegeben  ist,  hat  zwar  großen  Wert  für  das  Studium  dieser  Dia- 
lekte, aber  sehr  geringen  als  literarische  Erzeugnisse,  und  berechtigt 
jedenfalls  gar  nicht,  in  diesen  die  Anfänge  einer  neu  aufblühenden  arabi- 
schen Literatur  zu  sehen. 


Literatur. 

Den  ersten  Versuch  einer  Darstellung  der  arabischen  Literatur  hat  in  den  fünfziger 
Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  Hammer-PurGSTALL  gemacht.  Seine  „Literaturgeschichte 
der  Araber.  Von  ihrem  Beginn  bis  zum  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  der  Hidsjret", 
7  Bde.  (Wien,  1850 — 56),  ist  aber  sehr  mangelhaft,  so  daß  sie  nur  mit  großer  Vorsicht 
gebraucht  werden  darf.  Auch  Arbuthnots  ,,Arabic  authors,  a  manual  of  arabian  history 
and  literature"  (London,  i8go)  entbehrt  der  Zuverlässigkeit.  Sehr  viel  besser  ist  Brockel- 
MANNs  ,, Geschichte  der  arabischen  Literatur",  2  Bde.  (Weimar,  1898 — 1902),  wo  auch  die 
vornehmsten  Quellen,  sowohl  die  arabischen  wie  die  europäischen,  fleißig  zusammengestellt 
sind.  Eine  Literaturgeschichte  im  höheren  Sinne  ist  freilich  auch  sie  nicht.  Der  Verfasser 
hat  sich  auf  das  Ziel  beschränkt  und  beschränken  müssen,  ,,das  äußere  Leben  der  Literatur 
zu  schildern  und  so  der  künftigen  Erforschung  ihres  Werdens  und  Vergehens  vorzuarbeiten". 
Seine  Arbeit  verdient  unter  diesem  Gesichtspunkt  alles  Lob,  obgleich  im  einzelnen  vieles  zu 
verbessern  und  zu  ergänzen  bleibt.  Daneben  sind  in  den  letzten  Jahren  drei  populäre  Dar- 
stellungen der  arabischen  Literaturgeschichte  erschienen:  von  Brockelmann  selbst  (Leipzig, 
1901);  von  HUART,  ,,Litterature  arabe"  (1902)  und  von  Pizzi,  ,,Letteratura  araba"  (1903). 
Zwei  sehr  lesenswerte  Kapitel  über  Poesie  und  über  Wissenschaft  und  Literatur  der  Araber 
gibt  A.  VON  Kremer  im  2.  Band  seiner  ,,Culturgeschichte  des  Orients  unter  den  Chalifen" 
(Wien,  1875,  1877).  —  Gegenstand  besonderer  Forschung  gewesen  sind  bisher  nur  einzelne  Teile 
der  arabischen  Literatur.  Hervorhebung  verdienen  die  Untersuchungen  NöLDEKEs,  Sprengers 
und  MuiRs  über  den  Koran,  GOLDZiHERs  über  die  Tradition,  Ahlwardts  und  Nöldekes 
Studien  über  altarabische  Poesie.  Von  der  Unterhaltungsliteratur  ist  hauptsächlich  nur  die 
Tausend  und  eine  Nacht  ausführlich  behandelt  durch  Hammer-Purgstall,  de  Sacv,  Lane, 
zuletzt  von  mir  und  A.  MÜLLER.  WüSTENFELD  hat  sich  verdient  gemacht  durch  eine 
kurze  Zusammenstellung  der  arabischen  Geschichtschreiber.  Ich  selbst  habe  in  der  En- 
cyclopaedia  Britannica  unter  ,,Tabari"  eine  Skizze  der  arabischen  Historiographen  veröffent- 
licht. Sonst  ist  recht  viel  nützliche  Vorarbeit  in  den  Handschriftenkatalogen,  sowie  in  den 
Einleitungen  zu  Textausgaben  geliefert  worden.  In  Brockelmanns  zweibändiger  Dar- 
stellung findet  sich  dieses  Material  größtenteils  verzeichnet. 

S.  132  f.  Über  Zentralarabien;  Lady  Anne  Blltnt,  A  pilgrimage  to  Nejd,  the  cradle 
of  the  Arab  race,  2  Bde.  (London,  1881).  —  Charles  M.  Doughty,  Travels  in  Arabia 
Deserta,  2  Bde.  (Cambridge,  1888).  —  A.  Sprenger,  Das  Leben  und  die  Lehre  des  Moham- 
med, 2.  Ausg.  (Berlin,   1869),  Bd.  I,  242  ff. 

S.  134.  Die  Bedeutung  des  arabischen  Wortes  zur  Bezeichnung  des  Dichters:  GOLD- 
ZIHER,  Abhandlungen  zur  arabischen  Philologie,   i.  Teil  (Leiden,   1896). 

S.  136.  Religiöse  Poesie:  D.  H.  Müller,  Die  Propheten  in  ihrer  ursprünglichen  Form, 
2  Bde.  (Wien,   1896). 

S.  148.     Tabaris  Korankommentar:  ist  1903  in  Ägypten  gedruckt  (30  Bände). 

S.  151.  Ibn  Sa'd:  Das  große  Klassenbuch  des  Ibn  Sa'd  wird  jetzt  in  Leiden  gedruckt. 
Die  Ausgabe  ist  besorgt  von  Sachau  und  anderen  Gelehrten. 

S.  151.  Eroberung  von  Syrien:  De  Goeje,  Memoires  d'histoire  et  de  geographie  orien- 
tales-,  Nr.  2  (Leiden,   1900). 

S.  151.     Saif  ibn  Omar:  Wellhausen,  Skizzen  und  Vorarbeiten,  6.  Heft,  I. 

S.  153.  Geographie:  Reinauds  Geographie  d'Aboulfeda.  Tome  i  Introduction  gene- 
rale ä  la  geographie  des  orientaux.  —  Guido  Cora,  ,,La  Bibhotheca  Geographorum  arabi- 
corum"  in  Cosmos  Ser.  II,  Vol.  XII,  Fase.  II  (Turin,   1894 — 95). 

S.  154.  Papier:  J.  Karabacek,  Das  arabische  Papier  (Wien,  1887).  —  A.  F.  R.  Hoernle 
in  Joum.  R.  Asiat.  Soc.  1903,  S.  663  ff. 


DIE  INDISCHE  LITERATUR. 

Von 
Richard  Pischel. 


Einleitung.     Mit  dem  Gesamtnamen  „Indische  Literatur"  bezeichnet 
der  Sprachgebrauch  die  Literatur  der  Arier  Vorderindiens. 
Land  und  Leute.  Die  Völker  Vorderindiens   zerfallen  in  vier   sprachlich  scharf  vonein- 

ander geschiedene,  der  Zahl  nach  sehr  ungleiche  Gruppen.  Ln  Norden 
sitzen  in  den  Ländern  am  Fuße  des  Himälaya  Stämme  tibetanischer 
Herkunft  mit  einsilbigen  Sprachen.  In  und  um  das  Vindhyagebirge,  finden 
sich  die  Reste  der  Mundäs  oder  Kolarier,  wie  man  sie  bisher  genannt 
hat.  Neben  ihnen  und  fast  den  ganzen  Süden  Indiens,  das  Dekhan,  ein- 
nehmend sitzen  die  Draviden.  Mundäs  und  Draviden  gleichen  sich  in 
ihrer  körperlichen  Erscheinung.  Beide  sind  von  dunkler  Hautfarbe,  teil- 
weise ganz  schwarz,  vorwiegend  von  kleiner  Gestalt,  mit  breiten  Nasen. 
Ihre  Sprachen  gehören  demselben  Spracht^'pus  an,  dem  agglutinierenden, 
sind  aber  im  übrigen  völlig  unverwandt.  Das  ganze  übrige  Vorderindien 
bewohnt  ein  Volk  indogermanischer  Herkunft,  das  sich  selbst  Aryäs  nannte, 
wonach  wir  es  als  Arier  oder  arische  Inder  zu  bezeichnen  pflegen. 

Als  die  ältesten  Bewohner  Indiens  sind  die  Mundäs  anzusehen,  die 
ohne  Zweifel  früher  viel  zahlreicher  waren.  Heute  ist  ihre  Zahl  nur  noch 
etwas  über  3  Millionen,  gegenüber  56^2  Millionen  Draviden  und  fast 
220  Millionen  Arier.  Die  Zahl  der  Tibetaner  erreicht  nicht  ^/o  Million. 
Draviden  und  Arier  sind  Eingewanderte.  Über  den  Weg,  den  die  Dra- 
viden genommen  haben,  läßt  sich  nichts  Sicheres  ermitteln.  Die  Arier 
sind  nachweislich  vom  Nordwesten  her  in  Indien  erobernd  eingedrungen, 
indem  sie  die  Mundäs,  vielleicht  auch  die  Draviden,  in  beständigen 
Kämpfen  vor  sich  her  ins  Gebirge  und  nach  dem  Süden  trieben.  Wahr- 
scheinlich kamen  sie  aus  Europa,  etwa  im  3.  Jahrtausend  v.  Chr.  Die 
erste  Kunde  von  ihnen  erhalten  wir  erst  Jahrhunderte  nach  der  Ein- 
wanderung, etwa  um  1500  v.  Chr.  durch  die  Lieder  des  Rgveda,  des 
ältesten  Denkmals  der  indischen  Literatur.  Wenn  auch  damals  die 
Kämpfe  mit  den  Eingeborenen  noch  nicht  zu  Ende  waren,  so  war  der 
Ausgang    nicht    mehr    zweifelhaft.     vSich    selbst    als    den    Aryäs    „Herren" 


Einleitung.  l5l 

Stellen  die  Arier  die  Eingeborenen  als  die  Däsäs  „Sklaven"  gegenüber. 
Die  Sieger  bezeichnet  der  Rgveda  als  die  weißen  Freunde  des  Gottes 
Indra,  die  Besiegten  als  die  schwarzen  Leute  oder  die  schwarze  Haut 
und  als  nasenlos.  Wie  in  ihrer  körperlichen  Erscheinung  und  Sprache, 
unterschieden  sich  die  Äryäs  und  die  Däsäs  auch  in  Religion  und  Sitte.  Die 
Däsäs  gelten  den  Ariern  als  „gottlos",  „keine  Opfer  darbringend",  „gesetz- 
los", „anderen  Satzungen  folgend",  ja  als  „Unmenschen".  Da  der  Rgveda 
von  Städten  und  reichem  Besitze  der  Däsäs  spricht,  können  sie  aber  kein 
Nomadenvolk  gewesen  sein. 

Zur  Zeit  des  Rgveda  saß  die  Hauptmasse  der  Arier  im  östlichen  Pan-  Die  Arier. 
dschab,  dem  Lande  im  Nordwesten  Indiens,  das  von  den  fünf  Nebenflüssen 
des  Indus  durchströmt  wird.  Das  Indusgebiet  kann  sich  an  Fruchtbarkeit 
dem  des  Ganges  nicht  vergleichen.  Das  Klima,  namentlich  des  westlichen 
Teils,  nähert  sich  dem  des  trockenen  iranischen  Landes.  Große  Teile  des 
Landes  bestehen  aus  Sand-  und  Steinwüsten,  die  für  den  Anbau  ganz  ver- 
loren gehen.  Je  weiter  nach  Westen,  desto  schwächer  treten  die  Monsune 
auf,  und  desto  geringer  ist  infolgedessen  der  Regen.  Die  Flüsse  über- 
schwemmen bei  ihrem  Austritt  einen  viel  kleineren  Teil  des  Landes,  als 
dies  der  Ganges  tut.  Aber  der  östliche  Teil  des  Pandschab  ist  reich 
an  Weide-  und  Ackerland,  und  der  Rgveda  zeigt  uns,  daß  die  Viehzucht 
und  der  Ackerbau  blühte. 

.  Die  Arier  waren  kein  geschlossenes  Volk.  Sie  gliederten  sich  in 
eine  große  Anzahl  einzelner  Stämme  mit  eigenen  Königen  an  der  Spitze. 
Auch  ein  „Oberkönig"  wird  erwähnt.  Diese  arischen  Stämme  bekriegten 
aber  nicht  bloß  die  Eingeborenen,  sondern  gerieten  sehr  bald  auch  unter- 
einander in  Kampf.  Wir  erfahren,  daß  Sudäs,  der  König  des  Stammes 
der  Bharata,  den  Sieg  im  Kampfe  gegen  zehn  Könige  davontrug,  der 
berühmten  Zehnkönigsschlacht,  und  an  einer  anderen  Stelle  des  Rgveda 
werden  zwanzig  Volkskönige  erwähnt,  die  Indra  vernichtete.  Ein  einheit- 
liches Reich  ist  also  Indien,  solange  wir  etwas  von  ihm  wissen,  nie  ge- 
wesen; es  zerfiel  stets  in  eine  große  Zahl  kleinerer  Staaten  unter  mehr 
oder  weniger  selbständigen  Fürsten.  Auch  dann,  wenn  eine  Dynastie  ein 
größeres  Reich  gründete,  wie  die  Maurya  im  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  oder 
die  Gupta  im  4.  Jahrhundert  n.  Chr.,  blieben  die  unterworfenen,  kleineren 
Staaten  in  selbständiger  Verwaltung.  Ihre  Fürsten  wurden  zwar  Vasallen 
und  tributpflichtig,  aber  man  ließ  ihnen  sogar  den  Titel  „Großkönig" 
{mahäräjd).  Der  Gesamtherrscher  nannte  sich  dann  „Oberkönig  der  Groß- 
könige". Diese  politische  Zersplitterung  hat  der  indischen  Literatur  jedoch 
nicht  geschadet,  sondern  ist  ihr  ebenso  zustatten  gekommen,  wie  einst  die 
Deutschlands  der  deutschen.  Zu  allen  Zeiten  hat  es  im  Norden  wie  im 
Süden  Indiens  Fürsten  gegeben,  die  Kunst  und  Wissenschaft  liebten. 
Ihre  Höfe  wurden,  wie  wir  sehen  werden,  der  Sammelplatz  der  Dichter 
und  Gelehrten  aus  allen  Teilen  des  Landes.  Indien  hat  mehr  als  ein 
augusteisches  Zeitalter  gehabt. 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  II 


j52  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

Verfassung  Der    arische    indische    Staat    ist    von    alters    her    eingeteilt    in    Dorf- 

gemeinden. Diese  Einteilung  findet  sich  bereits  im  Rgveda  und  hat  sich 
unverändert  durch  alle  Zeiten  erhalten.  Jedes  Dorf  bildete  einen  kleinen 
Staat  für  sich.  An  der  Spitze  stand  der  schon  im  Rgveda  erwähnte  „Dorf- 
führer*',  d.  h.  der  Schulze,  der  eigene  Dorfbeamte  unter  sich  hatte.  Jedes 
Dorf  hatte  femer  seinen  Dorfpriester,  der  auch  der  Überlieferer  der  alten 
Sagen  und  Lieder  war.  Neben  den  Dörfern  werden  schon  Städte  erwähnt. 
Auch  das  Meer  ist  bekannt,  und  es  wird  bereits  Handel  getrieben. 

Der  herrschende  Stand  war  der  Adel,  mit  dem  Fürsten  an  der 
Spitze.  Neben  ihm  spielten  die  Priester,  die  Brahmanen,  die  Haupt- 
rolle. In  ihren  Händen  lag  fast  ausschließlich  die  Pflege  der  Literatur, 
wenn  auch  in  alter  Zeit  einzelne  Fürsten  erwähnt  werden,  die  durch 
hervorragende  Kenntnisse  auf  dem  Gebiete  der  philosophischen  Speku- 
lation sich  so  auszeichneten,  daß  die  Brahmanen  zu  ihnen  in  die  Lehre 
gingen.  Aus  nachchristlicher  Zeit  werden  eine  ganze  Anzahl  Fürsten 
als  Dichter  und  Gelehrte  genannt,  wie  büdraka,  Häla,  Sriharsa,  Bhoja, 
Laksmanasena,  Pratäparudra.  Ein  und  das  andere  Werk  mag  ihnen  auch 
wirklich  angehören.  Meist  aber  waren  sie  nachweislich  nicht  selbst  die 
Verfasser.  Der  wahre  Autor  trat  ihnen  bereitwillig  den  Namen  ab,  um 
ihre  Eitelkeit  zu  befriedigen  und  selbst  Geld  und  Titel  dafür  einzutauschen. 
Das  Verhältnis  der  Stände  zueinander  war  in  der  vedischen  Zeit  wohl 
noch  etwas  freier  als  später.  Aber  auch  in  der  Zeit  des  ausgebildeten 
Kastenwesens  brauchte  der  Brahmane  sich  nicht  notwendig  dem  Berufe 
des  Priesters  oder  Gelehrten  zu  widmen.  Er  konnte  auch  Krieger,  Kauf- 
mann und  Landwirt  werden.  Wenn  aber  auch  die  Kunst  der  Dichtung 
nicht  auf  den  geistlichen  Stand  beschränkt  war,  wurde  sie  doch  gerade 
in  der  ältesten  Zeit  durchaus  zünftig  in  bestimmten  Priesterfamilien  gepflegt, 
und  ihr  Charakter  war  vorwiegend  religiös. 
Moral  der  Arier.  Zur  Zeit  des  Rgveda,  etwa  von  1500 — 1000  v.  Chr.,  waren  also  die  Arier 
schon  ein  fest  ansässiges,  staatlich  gegiiedertes  Volk.  Ja,  sie  standen, 
bereits  auf  einer  bedenklich  hohen  Stufe  der  Kultur.  Bei  den  Dichtern 
tritt  eine  unersättliche  Gier  nach  Gold,  Pferden  und  Kühen  hervor.  Die 
vedischen  Dichter  arbeiteten  für  Geld  und  auf  Bestellung.  Sie  suchten 
sich  gegenseitig  den  Rang  abzulaufen  und  den  Reichen  auszubeuten. 
Wer  nicht  viel  gibt,  ist  für  den  Dichter  ein  Geizhals  und  Lump.  Er  wird 
verhöhnt  und  ins  tiefste  Dunkel  gewünscht.  Das  Opfer  ist  für  die  Priester 
nur  eine  Fanggrube,  in  der  man  mit  Soma,  flüssiger  Butter,  und  mit  Gebet 
die  Götter  fängt.  Dem  Gotte  Indra  stellen  die  Priester  mit  Milchtränken 
nach  wie  Jäger  dem  Wild.  Der  Opferlohn  wird  in  einem  eigenen  Liede 
verherrlicht  und  spielt  schon  im  Rgveda  genau  dieselbe  Rolle  wie  später. 
Schon  die  vedischen  Arier  waren  arge  Trinker  und  Spieler.  Raub,  Dieb- 
stahl, Meineid,  Betrug  im  Spiele  werden  oft  erwähnt.  Der  Sport  des 
Wettrennens,  die  Jagd  und  der  Tierfang  wurden  leidenschaftlich  betrieben. 
Man    machte    Schulden    und    suchte    sich    ihrer   Bezahlung    zu    entziehen,. 


Einleitung.  15^ 

wenn  Exekutoren  kamen,  um  sie  einzutreiben.  Das  Hetärenwesen  blühte. 
Um  Usas,  die  Göttin  der  Morgenröte,  zu  verherrlichen,  wissen  die  Dichter 
ihr  kein  größeres  Lob  zu  geben,  als  daß  sie  sie  mit  einer  Hetäre  ver- 
gleichen, die  „auf  den  Strich"  geht  und  allen  Männern  ihren  Leib  unver- 
hüllt zeigt.  Alte  buddhistische  Texte  berichten  uns,  daß  die  Städte  ihren 
Ruhm  darein  setzten,  eine  gefeierte  Hetäre  zu  besitzen.  Buddha  selbst  nahm 
unbedenklich  Einladungen  zu  Hetären  an,  und  der  hohe  Adel  seiner  Zeit 
fuhr  an  einer  bekannten  „Stadtschönen"  nicht  vorbei,  ohne  sie  anzureden. 
Bei  der  Beschreibung  einer  Stadt  soll  nach  den  Vorschriften  der  Rheto- 
riker der  Dichter  nie  vergessen,  neben  den  ehrbaren  Frauen  die  Hetären 
zu  schildern.  Bei  Sieges-  und  Begrüßungsfesten  im  Mahäbhärata  spielen 
diese  stets  eine  Rolle,  Das  Kriegslager  war  voll  von  ihnen;  sie  gelten 
im  7.  Jahrhundert  n.  Chr.  als  Schmuck  der  Landstraße;  im  elften  finden 
wir  sie  in  Dhärä  in  einer  eigenen  Straße  wohnen  und  in  hervorragender 
Stellung.  Sie  waren  die  einzig  gebildeten  Frauen;  man  schreibt  ihnen 
die  Kenntnis  von  achtzehn  Sprachen  zu.  Im  Rgveda  werden  erwähnt 
Männer,  die  sich  an  fremden  Frauen  vergreifen,  Frauen,  die  ihren  Gatten 
betrügen,  Jungfernsöhne  und  heimlich  Gebärende,  die  die  Frucht  ihrer 
Sünde  beseitigen.  Die  Arier  der  vedischen  Zeit  waren  also  nicht,  wie 
man  lange  geglaubt  hat,  ein  unschuldsvolles  Hirtenvolk. 

Mit  der  Zersplitterung  in  viele  Stämme  ging  bei  den  arischen  Indern  Sprache  der 
eine  große  Verschiedenheit  der  Dialekte  Hand  in  Hand.  Schon  der  Rgveda 
weist  Dialektspuren  auf.  Aber  in  ihm  treten  sie  nicht  klar  hervor,  weil 
die  Dichter  meist  in  einer  Sprache  reden,  die  keine  Volkssprache  ist, 
sondern  eine  formelhafte,  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  überlieferte  Lite- 
ratursprache. Der  Dialekt,  der  ihr  zugrunde  liegt,  ist  nahe  verwandt  mit 
dem  Avestä  und  dem  Altpersischen.  Von  der  des  Rgveda  unterscheidet  sich 
die  Sprache  der  übrigen  Veden,  die  unter  sich  wieder  keine  geschlossene 
Spracheinheit  bilden,  nicht  unerheblich.  Da  aber  allen  diesen  Dialekten 
doch  im  Gegensatz  zu  der  späteren  Sprache  gewisse  Züge  gemeinsam  sind, 
pflegt  man  sie  unter  dem  Namen  Vedisch  zusammenzufassen.  Eine  jüngere 
Sprachform  bieten  dann  die  in  Prosa  geschriebenen  älteren  Erläuterungs- 
werke zu  den  Veden.  Ihre  Sprache  ist  wesentlich  identisch  mit  der  von 
dem  berühmten  Grammatiker  Pänini  (s.  S.  182)  gelehrten.  Sie  führt  hinüber 
zu  der  Sprache  der  klassischen  Literatur,  die  wir  Sanskrit  zu  nennen 
gewohnt  sind.  Wie  das  Vedische,  so  ist  auch  das  Sanskrit  eine  Literatur- 
sprache. Dasselbe  gilt  weiter  von  demPäli,  der  Sprache  der  Schriften  der 
südlichen  Buddhisten,  und  von  den  Präkritsprachen,  die  vorwiegend  in 
lyrischen  Gedichten  und  in  den  Dramen  gebraucht  werden.  Allen  diesen 
Literatursprachen  aber  liegen  Volkssprachen  zugrunde.  Ob  der  in  den 
Schriften  der  nördlichen  Buddhisten  neben  dem  Sanskrit  gebrauchte 
Gäthädialekt  eine  in  der  uns  vorliegenden  Gestalt  einst  wirklich  ge- 
sprochene Sprache  war,  ist  zweifelhaft.  Von  den  Volkssprachen  erhalten 
wir  die  erste  ausführlichere  Kunde  durch  die  Inschriften  des  großen  bud- 

II* 


i64 


Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 


dhistischen  Königs  A^oka  im  3,  Jahrhundert  v.  Chr.  Diese  Inschriften 
geben  uns  Nachricht  von  vier  verschiedenen  Dialekten.  Einen  fünften,  den 
Lenadialekt,  lehren  uns  daneben  Inschriften  in  Höhlen,  auf  Reliquien- 
hügeln, Dosen  usw.  Er  war  die  allgemeine  Reichssprache  vom  2.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  bis  zum  3.  Jahrhundert  n.  Chr.  Die  noch  heut  in  Indien 
gesprochenen  Volkssprachen  treten  erst  vom  9.  Jahrhundert  n.  Chr.  an 
literarisch  hervor;  unter  ihnen  sind  besonders  Hindi,  Hindustäni  oder  Urdü, 
Gujaräti,  Maräthi  und  Bengali  zu  nennen. 


A.    Die  vedische  Literatur  (ca.    1500 — 500  v.  Chr.). 

Verschiedenes  I.    Die  Vcdcn.     Die   ältcsten  Werke    der   indischen  Literatur  führen 

"den  Namen  Veda,  „das  Wissen".  Es  sind  vier:  i.  der  Rgveda,  „der  Veda 
der  Lieder",  2.  der  Sämaveda,  „der  Veda  der  Gesänge",  3.  der  Yajur- 
veda,  „der  Veda  der  Opfersprüche",  4.  der  Atharvaveda,  „der  Veda  der 
Atharvans".  Von  diesen  vier  Textsammlungen,  in  Sanskrit  Sa/nliitä, 
galten  nur  die  drei  ersten  als  kanonisch.  Jeder  Veda  hatte  einen  eigenen 
Priester.  Der  des  Rgveda  hieß  Hotar,  der  des  Sämaveda  Udgätar,  der 
des  Yajurveda  Adhvarv^u.  Über  diesen  drei  Priestern  stand  ein  Ober- 
priester, der  Brahman.  Von  ihm  wurde  verlangt,  daß  er  das  Wissen 
der  drei  anderen  in  sich  vereinige.  Er  war  meist  auch  Hauspriester  seines 
Fürsten.  Er  begleitete  als  solcher  den  Fürsten  auf  seinen  Kriegszügen 
und  feierte  als  Hofdichter  in  Liedern  den  Sieg,  den  er  nicht  selten  seinem 
Einflüsse  auf  die  Götter  zuschrieb.  Zugleich  war  er  der  einzig  volkstüm- 
liche Priester.  Er  kannte  allein  die  Zaubersprüche  {brahman),  mit  denen 
man  selbst  die  Götter  zwingen  konnte,  die  Fluch-  und  Beschwörungs- 
formeln, wie  die  Sprüche  gegen  Krankheit  und  Hexerei.  Diese  liegen 
im  Atharvaveda  gesammelt  vor.  Da  sie  im  Leben  des  Volkes  eine  be- 
sonders große  Rolle  spielten,  wurde  der  Atharvaveda  dem  Brahman  zu- 
geteilt und  auch  Brahmaveda,  „Veda  der  Zaubersprüche",  genannt. 

I.  Der  Rgveda.  Wann  der  Rgveda  zusammengestellt  worden  ist, 
läßt  sich  nicht  sagen.  Er  macht  selbst  gar  kein  Hehl  daraus,  daß  viele 
Generationen,  vielleicht  Jahrhunderte,  in  ihm  vertreten  sind,  daß  er  also 
nicht  eine  Sammlung  etwa  nur  der  ältesten  Lieder  ist.  Wiederholt  ist 
von  alten  und  modernen  Dichtern,  alten,  mittleren  und  neueren  Liedern 
die  Rede.  Sehr  viele  Lieder  sind  Nachahmungen  von  älteren,  wobei  der 
Grad  und  die  Geschicklichkeit  der  Nachdichtung  sehr  verschieden  sind. 
Dichter,  die  sich  selbst  als  modern  bekennen,  gebrauchen  oft  mit  Vor- 
liebe altertümliche  Worte  und  Redewendungen,  die  als  Flitter  für  ihre 
Machwerke  dienen  sollen;  nicht  immer  ist  es  leicht,  zu  erkennen,  was 
wirklich  alt  und  was  archaisierend  ist.  Der  Rgveda  enthält  in  der  uns 
vorliegenden  Gestalt  1028  Lieder,  die  in  zehn  Bücher  geteilt  sind.  Die 
Bücher  2 — 8  zählen  bestimmte  Familien  zu  Verfassern;  unter  ihnen  ragen 


A.  Die  vedische  Literatur  (ca.   1500 — 500  v.  Chr.).     I.  Die  Veden.  i5c 

besonders  hervor  die  Bücher  3,  4  und  7,  die  von  den  Familien  des  Vtsvä- 
niitra,  des  Väniadeva  und  des  Vasistha  stammen;  die  Lieder  der  Bücher  i 
und  IG  gehören  verschiedenen  Familien  an;  Buch  q  enthält  ausschließlich 
Lieder,  die  für  das  Somaopfer  bestimmt  sind.  Ihrer  Hauptmasse  nach 
tragen  die  Lieder  des  Rg^^eda  ein  sehr  einförmiges  Gepräge,  das  durch 
den  vorwiegend  religiösen  Stoff  gegeben  ist.  Der  gefeiertste  Gott  ist 
Iiidra,  der  Xationalgott  der  vedischen  Arier.  Er  wird  gepriesen  als  der 
Besieger  der  irdischen  Feinde  und  als  der  Bezwinger  der  Dämonen  am 
Himmel,  die  den  Menschen  den  Regen  vorenthalten.  Als  Nationalgott 
muß  er  nicht  nur  alle  Vorzüge  seines  Volkes  haben,  sondern  auch  seine 
Fehler.  So  wird  er  als  gewaltiger  Trinker  geschildert;  ein  Dichter  führt 
ihn  uns  sogar  als  betrunken  vor.  Aber  in  den  meisten  Liedern  ist  Indra 
ein  gewaltiger,  herrlicher  Gott,  und  die  Lieder  auf  ihn  gehören  zu  den 
schönsten  des  Rg\'eda,  durch  die  zuweilen  noch  ein  Hauch  natürlicher 
Frische  und  echter  Religiosität  weht.  Xächst  Indra  feiern  die  Lieder 
besonders  Agni,  den  Gott  des  Feuers.  Die  Lieder  auf  ihn  sind  sehr 
gleichförmig,  oft  ganz  dunkel  und  schwülstig.  Sie  setzen  ein  sehr  kom- 
pliziertes Opferritual  vofaus,  das  in  mystischer  Weise  gedeutet  wird.  Das 
gilt  nicht  etwa  bloß  von  den  jüngsten  Liedern,  im  Gegenteil,  recht  alte 
Hymnen  tragen  bereits  diesen  ausgesprochenen  Charakter  priesterlicher 
Dichtung.  Außer  an  Indra  und  Agni  sind  die  meisten  Lieder  gerichtet  an 
Sotna,  die  vergöttlichte  Pflanze,  deren  Saft  zu  Opferzwecken  benutzt  wurde 
und  in  Gärung  versetzt  stark  berauschend  wirkte.  Eigenartig  sind  die 
Lieder  auf  die  Asvin,  die  schönsten  unter  den  Göttern  und  deren  Ärzte, 
und  auf  die  Rbhu,  die  Künstler  der  Götter.  Die  Lieder  an  sie  sind  voll 
von  Sagen,  die  beweisen,  eine  wie  reiche  Erzählungsliteratur  schon  in 
vedischer  Zeit  in  Indien  vorhanden  gewesen  sein  miiß.  Durch  dichte- 
rische Schönheit  ragen  hervor  die  Lieder  auf  Usas,  die  Morgenröte,  auf 
Parjanya,  den  Gott  des  Gewitters,  auf  die  Alaruf,  die  Götter  des  Sturmes, 
und  auf  ihren  Vater  Rudra,  den  furchtbaren  unter  den  Göttern,  auf  Väyu, 
den  Gott  des  Windes  und  auf  Sürya  oder  Savitar^  den  Sonnengott.  Varuna, 
der  Gott  des  Meeres,  wie  Müra,  mit  dem  er  öfter  zusammen  angerufen 
wird,  ein  uralter  Gott,  tritt  immer  mehr  gegen  Indra  zurück,  je  weiter 
die  Inder  vom  Meere  sich  entfernen.  Visnu,  später  neben  Siva  der  Haupt- 
gott des  Hinduismus,  wird  nur  in  wenigen  Liedern  gepriesen,  ebenso 
Yaina,  der  Gott  des  Todes.  Ein  volkstümlicher  Gott  dagegen  war  Füsan, 
der  Gott  ohne  Zähne,  der  Brei  ißt  und  mit  Ziegen  fährt,  der  Beschützer 
der  Wege  und  des  verirrten  Viehs.  In  dunklen  und  schwülstigen  Liedern 
wird  der  Priestergott  Brhaspati  oder  Brahmanaspati  verherrlicht,  der 
Hauspriester  der  Götter,  dem  man  die  Taten  des  Indra  zuschreibt.  Auch 
ganze  Göttergruppen  werden  angerufen,  wie  die  Ädityäs  und  Visve  Deväs. 
Zum  Gebrauch  beim  Tieropfer  dienten  die  eigenartigen  ^^rz-Lieder.  Die 
Zahl  der  wirklich  tief  empfundenen  Hymnen  im  Rgveda  ist  aber  doch 
sehr  klein.     Die  meisten  sind  Kunstprodukte,  in  denen  die  Reflexion  vor- 


l56  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

waltet.     Sehr    viele    sind    voll    von    mystischen   Spielereien,    die    das  Ver- 
ständnis außerordentlich  erschweren. 

Der  Rgveda  bildet  den  Schlußstein  einer  sehr  langen  Entwicklung-. 
Er  bietet  Priesterpoesie,  nicht  Naturdichtung,  wie  man  lange  geglaubt 
hat.  Neben  den  religiösen  Hymnen  finden  sich  auch  Lieder  weltlichen 
Inhalts,  leider  nur  in  gering^er  Zahl.  Auf  historische  Ereignisse  wird  nur 
selten  Rücksicht  genommen,  wie  in  dem  schönen  Liede  des  Visvämitra, 
das  den  Übergang  des  Stammes  der  Bharatäs  über  die  Flüsse  Vipäs  und 
^utudri  verherrlicht,  und  in  den  Liedern,  die  der  Schlacht  gedenken,  in 
der  zehn  Könige  gegeneinander  kämpften.  Wir  finden  Loblieder  auf 
Bogen  und  Pfeil  und  auf  ein  ausgezeichnetes  Pferd,  das  oft  im  Wettrennen 
den  Preis  davon  getragen  hat  und  wie  ein  göttliches  Wesen  verherrlicht 
wird.  In  einem  Liede  klagt  ein  Spieler  die  Not,  in  die  ihn  die  Spiel- 
sucht gebracht  hat,  und  bittet  die  Würfel,  ihn  von  dieser  zu  befreien.  In 
einem  humoristischen  Liede  auf  die  Frösche  wird  deren  Gequak  mit  den 
Gesängen  der  Priester  verglichen;  in  einem  anderen  preist  ein  herum- 
ziehender Arzt  seine  Kräuter  an.  Andere  Lieder  enthalten  Gebete  um 
Fruchtbarkeit  der  Frau  und  beim  Austreiben  d*er  Kühe.  Mehrere  sind 
Zauber-  und  Beschwörungssprüche  gegen  Unholde  aller  Art,  Nacht- 
gespenster, Zauberer,  Ungeziefer,  gegen  Nebenbuhlerinnen  in  der  Liebe 
u.  dgl.  Sie  unterscheiden  sich  in  nichts  von  den  Liedern  des  Atharvaveda 
mit  gleichem  Inhalt,  und  wie  diese  dienten  sie  dem  Priester  als  Erwerbs- 
quelle. 

Wie  der  Brahmane  für  die  Opfer  seinen  Lohn  erwartete,  so  auch  für 
seine  Lieder  aller  Art.  War  der  Lohn  reichlich,  so  erwies  sich  der 
Dichter  oft  dankbar,  indem  er  seinem  Liede  einige  Verse  anhängte,  in 
denen  er  die  Freigebigkeit  seines  Patrones  pries.  Diese  Zusätze  führen 
den  Namen  Däiiastuti,  „Lobpreis  der  Geschenke".  Sie  heben  sich  durch 
Sprache  und  Metrum  von  dem  vorhergehenden  Liede  scharf  ab  und  weisen 
drei  für  sie  charakteristische  Merkmale  auf,  einmal  daß  der  Gott,  der  in 
ihnen  en\"ähnt  wird,  vorzugsweise  Agni,  der  Gott  des  Feuers,  ist,  dann 
daß  sie  gern  den  Fluß  nennen,  an  dem  der  Auftraggeber  wohnt,  und 
endlich  daß  sie  am  Schluß  oft  die  gemeinsten  Zoten  enthalten.  Hatte  der 
Dichter  seiner  Meinung  nach  dagegen  zu  wenig  bekommen,  so  rächte  er 
sich  an  dem  Gotte,  den  er  besungen,  und  an  dem  Besteller  des  Liedes 
durch  ironisches  Lob.  Im  Rgveda  bilden  die  Dänastutis,  die  Lobpreis- 
hymnen für  Geschenke,  nur  selten  eigene  Lieder.  In  der  späteren  vedi- 
schen  Literatur  aber  finden  wir  zwei  Arten  selbständiger  Dänastutis 
vertreten,  die  Gäfhä,  das  „Lied",  zuweilen  genauer  Yaj'nagälhä,  „Opfer- 
lied", genannt,  und  die  N^äräsafusl,  das  „Männerpreislied".  Die  Gäthäs  be- 
zogen sich  auf  die  großen  Opfer  der  Könige  der  Vorzeit,  die  den  lebenden 
als  Muster  hingestellt  werden  sollten.  Sie  pflanzten  sich  im  Munde  der 
Sänger  und  des  Volkes  fort  und  erscheinen  zum  Teil,  wenn  auch  in 
jüngerer  Sprache  und  Gestalt,  nach  Jahrhunderten  wieder  im  Mahäbhärata 


A.  Die  vedische  Literatur  (ca.    1500 — 500  v.  Chr.).     I.  Die  Veden.  i57 

und  den  Puränas,  die  ursprünglich  die  alte  Geschichte  Indiens  enthielten. 
Die  Närä^amsis  beziehen  sich  auf  die  lebenden  Fürsten  und  feiern  ihre 
Freigebigkeit.  Beide  Gattungen  waren  im  alten  Indien  wegen  ihrer  Auf- 
schneiderei berüchtigt.  Es  heißt:  „Wer  seinen  Lebensunterhalt  durch 
Gäthäs  und  Näräsamsis  erwirbt,  von  dem  soll  man  nichts  annehmen,  denn 
er  erwirbt  durch  Lüge.  Lüge  ist  ja  die  Gäthä,  Lüge  die  Närä^amsl." 
Trotz  der  Verachtung,  die  sich  in  solchen  Stellen  ausspricht,  muß  der 
Beruf  einträglich  gewesen  sein,  da  er  zu  allen  Zeiten  geblüht  hat. 

Was  in  alter  Zeit  Dänastuti  und  Näräsamsi  heißt,  wird  später  Pra- 
sasit,  „Lobpreisung",  genannt.  Solche  Prasastis,  teilweise  von  sehr  be- 
deutendem Umfange,  sind  uns  inschriftlich  in  großer  Zahl  erhalten.  Sie 
preisen  den  Fürsten  und  sein  Geschlecht,  seine  Kriegstaten,  Bauten  und 
frommen  Stiftungen,  und  gerade  die  ältesten  heben,  wie  die  Gäthäs,  mit 
Vorliebe  die  Geschenke  hervor,  die  die  Fürsten  bei  feierlichen  Anlässen 
verteilten.  An  Ruhmredigkeit  geben  z.  B.  die  Prasastis  auf  die  Gupta- 
könige  des  4.  nachchristlichen  Jahrhunderts  den  vedischen  Näräsamsis 
nichts  nach.  An  den  Höfen  kunstliebender  und  freigebiger  Fürsten 
wurden  in  eigenen  Hallen  Versammlungen  abgehalten,  Arbeiten  von 
Dichtern  und  Gelehrten  zur  Prüfung  vorgelegt,  neue  Aufgaben  gestellt 
und  die  Preise  verteilt.  Die  Dichter  des  Rgveda  bitten  daher  wiederholt 
am  Ende  des  Liedes,  daß  sie  erfolgreich  und  als  Sieger  in  der  Versamm- 
lung reden  mög^en.  Aus  späterer  Zeit  wissen  wir,  daß  besonders  die 
Schlagfertigkeit  und  Schnelldichtung  hochgeschätzt  wurden.  Es  wurde 
ein  Vers  oder  Versteil  als  Thema  aufgegeben,  der  zu  einer  Strophe  ver- 
vollständigt werden  mußte.  Dieses  „Ergänzen  zu  einer  Strophe"  entspricht 
unseren  Glossen.  Für  die  Literaturgeschichte  sind  die  Themata  meist  von 
höherem  Wert  als  die  Ergänzungen,  da  sie  oft  Verse  älterer  Dichter  sind. 
Dieselbe  Aufgabe  wurde  von  den  Einzelnen  in  verschiedener  Weise  gelöst. 
Oft  aber  ließ  sich  dabei  eine  große  Einförmigkeit  nicht  vermeiden.  Zur 
Zeit  des  Rgveda  wird  es  nicht  anders  gewesen  sein.  Nicht  mit  Unrecht 
ist  deshalb  von  manchen  Liedern  des  8.  Buches  des  Rgveda  behauptet 
worden,  daß  sie  lediglich  zur  Erlangung  von  Bakhshish  von  Bänkelsängern 
aus  Brocken  von  älteren  Liedern  zusammengefügt  sind,  und  daß  andere 
Lieder  sich  wie  Schüleraufsätze  über  dasselbe  Thema  lesen.  Solche 
Lieder  dürfen  wir  dem  Dichtungssport  in  der  Versammlungshalle  zu- 
schreiben. Beliebt  war  auch  die  Aufgabe  von  Rätseln.  Auch  hiervon 
hat  uns  der  Rgveda  Proben  erhalten. 

Der  Rgveda  gibt  uns  femer  Aufschluß  über  das  älteste  Epos  und  Drama. 
Es  finden  sich  im  Rgveda  einige  zwanzig  Lieder,  die  in  der  uns  vorliegen- 
den Gestalt  ganz  unverständlich  sind,  da  zwischen  den  einzelnen  Strophen 
kein  Zusammenhang  zu  bestehen  scheint.  Diese  Lieder  schildern  irgend 
ein  Ereignis;  sie  geben  eine  Erzählung  [Akhyäna)  oder  alte  Geschichte 
{Itihäsa,  d.  h.  ifi  ha  äsa,  „so  war  es")  wieder,  weshalb  man  sie  Äkhyäna- 
oder  besser  Itihäsahymnen  genannt  hat.     Ganz    analoge  Lieder  kennt  die 


l68  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

buddhistische  Literatur,  und  außerhalb  Indiens  die  irische.  Die  Verse 
bildeten  das  feste  Gerippe  der  Erzählung;  durch  sie  wurde  der  Gang  der 
Handlung  festgelegt.  Der  Zusammenhang  wurde  von  dem  Vortragenden 
durch  Erzählung  in  Prosa  hergestellt,  die  er  je  nach  Ort  und  Publikum 
änderte.  Eine  Art  der  ältesten  erzählenden  Poesie  bestand  also  in  einer 
Mischung  aus  Versen  und  Prosa.  Die  Personen  der  Erzählung  wurden 
von  dem  Rezitator  nicht  bloß  geschildert,  sondern  er  ließ  sie  redend  auf- 
treten, so  daß  der  Vortrag*  teilweise  die  Gestalt  eines  Dialogs  gewann. 
Diese  Form  hat  im  klassischen  Epos  ihre  Spuren  hinterlassen.  Wie  bei 
Homer  treten  auch  im  indischen  Epos  die  Götter  und  Helden  mit  oft 
recht  langen  Reden  auf,  und  es  werden  dann  Bemerkungen  vorausgeschickt, 
wie:  „Die  Götter  sprachen"  oder  „Nala  sprach".  Das  waren  ursprünglich 
die  Worte,  mit  denen  der  Vortragende  die  Prosa  unterbrach  und  auf  die 
nun  folgenden  Verse  hinwies.  Der  Rezitator  führte  den  Namen  Graii- 
thika,  d.  h.  „Verknüpfer".  Der  Name  zeigt  deutlich,  was  seine  Hauptauf- 
gabe war.  Er  hatte  die  Strophen  durch  den  Prosatext  miteinander  zu 
verknüpfen.  Dieser  Prosatext  war  allgemein  bekannt.  Er  ist  uns  in 
vielen  Fällen  auch  schriftlich  in  der  späteren  Literatur  der  Brähmana  mit 
den  eingelegten  Versen  überliefert  worden  und  war  in  einem  oft  zitierten, 
aber  leider  verloren  gegangenen  vedischen  Werke,  dem  liihäsapuräna, 
aufgezeichnet.  Daraus  schöpften  das  Mahäbhärata  und  die  Puräna,  die 
nur  noch  ausnahmsweise  Prosa  enthalten. 

Dieselbe  Form  wie  das  alte  Epos  hatte  das  alte  Drama.  Manche 
Lieder  des  Rgveda  sind  g-anz  dramatisch  gehalten,  und  die  Art,  wie  im 
Ritual  der  Kauf  des  Somas  vor  sich  geht,  weist  auf  volkstümliche  drama- 
tische Aufführungen  nach  Art  unseres  Puppentheaters  hin.  Als  Verkäufer 
wird  ein  Südra,  ein  Mitglied  der  vierten  und  niedrigsten  Kaste,  gedacht. 
Käufer  und  Verkäufer  führen  über  den  Preis  lebhafte  Rede  und  Gegen- 
rede. Der  Käufer  bietet,  der  Verkäufer  steigert.  Wenn  der  Somahändler 
Umstände  macht,  soll  der  Käufer  ihm  den  Soma  entreißen,  ihm  auch  das 
Geld  und  die  Kuh  wieder  wegnehmen,  die  er  ihm  etwa  schon  für  den 
Soma  gegeben  hat.  Widersetzt  sich  der  Händler,  so  soll  der  Käufer  ihn 
mit  einem  Lederriemen  oder  mit  Holzscheiten  schlagen  —  eine  Prügel- 
szene, wie  sie  charakteristisch  ist  für  die  Volkspossen,  namentlich  auch 
das  Puppentheater.  Bis  auf  den  heutigen  Tag  sind  in  Indien  in  den 
Volksstücken  nur  die  Verse  fixiert,  die  Prosa  wird  improvisiert.  Dieselbe 
Form  zeigen  literarische  Stücke  aus  Nepal  in  Volksdialekt,  die  auf  Volks- 
stücken beruhen,  und  ein  ganz  in  Sanskrit  geschriebenes  Drama,  das 
Mahänätaka,  von  dem  die  Sage  berichtet,  daß  es  lange  Zeit  auf  dem 
Grrunde  des  Meeres  geruht  habe,  und  daß  erst  im  ii.  Jahrhundert  n,  Chr. 
zur  Zeit  des  Königs  Bhoja  Bruchstücke  durch  Taucher  ans  Licht  gebracht 
wurden,  die  Bhoja  durch  seine  Hofdichter  zusammenfügen  ließ.  Die  Sage 
beweist,  daß  man  die  Altertümlichkeit  der  Form  des  Schauspiels  empfand, 
die  auch  in  dem  gänzlichen  Fehlen  des  Präkrit  sich  zeigt,  in  dem  in  allen 


A.  Die  vedische  Literatur  (ca.   1500 — 500  v.  Chr.).     I.  Die  Veden.  j^Q 

anderen  Dramen  die  meisten  Frauen  und  Männer  bestimmter  Berufe 
sprechen.  Die  älteste  Gestalt  des  indischen  Schauspiels  hat  ihre  genaue 
Entsprechung  in  der  commedia  a  soggetto  des  italienischen  Theaters  vor 
Goldoni.  Sie  hat  ihre  Spur  in  allen  späteren  Dramen  der  klassischen 
Zeit  darin  hinterlassen,  daß  in  diesen  die  Prosa  oft  durch  Verse  unter- 
brochen  wird. 

In  die  Sammlung  des  Rgveda  sind  auch  Lieder  rein  philosophischen 
Inhalts  aufgenommen  worden.  Sie  beschäftigen  sich  mit  dem  Gedanken 
der  Einheit  Gottes  und  stellen  Betrachtungen  an  über  die  Herkunft  der 
Welt.  Der  unbekannte  Gott,  nach  dem  die  Dichter  suchen,  wird  mit  ver- 
schiedenen Namen  benannt.  Man  pflegt  diese  Lieder  als  jung-  anzusehen. 
Aber  auch  in  zweifellos  alten  Liedern  tritt  deutlich  zutage,  daß  der  alte 
Glaube  schon  stark  erschüttert  war.  Es  gab  Leute,  die  sogar  an  der  Exi- 
stenz Indras  zweifelten.  Man  darf  auch  nicht  übersehen,  daß  unser  Rgveda 
nur  eine  Auswahl  des  einst  vorhandenen  Materials  an  Liedern  bildet,  die 
Rezension  einer  Schule. 

Schon  sehr  frühzeitig  pflanzte  sich  die  Tradition  in  Schulen  fort,  die 
untereinander  nicht  immer  übereinstimmten.  Solcher  Rgvedaschulen  gab 
es  zur  Zeit  des  Mahäbhäsya,  des  großen  Kommentars  zu  dem  Grammatiker 
Pänini,  etwa  im  2.  Jahrhundert  v.  Chr.,  noch  21.  Spätere  Werke  kennen 
nur  noch  5.  Wenigstens  von  einer  zweiten  Rezension  des  Rgveda  sind 
uns  nähere  Nachrichten  überliefert.  Der  Unterschied  von  den  unsrigen 
scheint,  dem  Umfange  nach,  nicht  groß  gewesen  zu  sein.  Aber  in  ein- 
zelnen Handschriften  selbst  unserer  Rezension  finden  sich  Lieder,  die 
vedischen  Charakter  tragen,  als  Nachträge  [Khila)  aufgezeichnet,  und  im 
8.  Buche  steht  in  allen  Handschriften  eine  als  Välakhilya  bezeichnete 
getrennte  Sammlung  von  1 1  Hymnen ,  die  von  dem  Redaktor  unseres 
Rgveda  offenbar  nicht  als  vollberechtigt  anerkannt  wurden.  Sieben  davon 
standen  in  der  zweiten  Rezension,  von  den  vier  übrigen  wissen  wir  nichts 
über  ihre  Herkunft.  Nicht  einmal  die  religiöse  Poesie  der  ältesten  Zeit  ist 
uns  also  vollständig  erhalten.  Von  der  ältesten  Volkspoesie  haben  wir  nur 
wenige  Proben,  etw^as  mehr  Nachrichten.  Im  g.  Buche  des  Rgveda,  dem 
Somabuche,  stehen  4  Lieder,  die  wohl  beim  Somapressen  gesungen  wur- 
den. Schon  der  sonst  im  Rgveda  sich  nicht  findende  Refrain  gibt  ihnen 
einen  volkstümlichen  Charakter,  ebenso  ihr  Inhalt.  Ein  Volkslied  ist  ferner 
das  Loblied  auf  König  Pariksit  im  20.  Buche  des  Atharvaveda.  Beim 
Sonnenwendfeste  tanzten  Sklavinnen  mit  vollen  Wasserkrügen  auf  den 
Schultern  ums  Feuer  und  sangen  ein  Lied  auf  die  Kühe  mit  dem  Refrain 
„das  ist  Met".  Das  Wasser  ^vurde  dann  ins  Feuer  gegossen.  Beim  Pferde- 
opfer unterhielten  sich  die  Priester  mit  den  Frauen  und  Jungfrauen  in 
Versen  zotigen  Inhalts,  die  uns  erhalten  sind.  Bei  der  Königsweihe  und 
den  großen  Opfern  wurden  von  den  Priestern,  die  auf  goldenen  Kissen 
saßen,  alte  Geschichten  erzählt,  und  Musikmeister  besangen  in  Liedern  die 
alten  Könige  und  den  Opferer,  was  auch  bei  Familienfesten  Lautenspieler 


j-O  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

taten.  Am  Totenfeste  saß  man  bis  spät  in  die  Nacht  hinein  und  hörte 
Geschichten  und  Sagen  an.  Wenn  am  Abend  die  Dorfgemeinde  nach 
vollbrachter  Arbeit  unter  dem  heilig-en  Dorfbaum  zusammenkam,  trug  der 
Dorfpriester  Erzählungen  vor,  bei  den  Buddhisten  aus  dem  Leben  des 
Buddha.  Von  Kälidäsa  erfahren  wir,  daß  noch  zu  seiner  Zeit,  im  5.  Jahr- 
hundert n.  Chr.,  die  alten  Leute  in  den  Dörfern  der  Avanti  der  Erzählungen 
vom  König  Udayana  kundig  waren.  Bis  auf  den  heutigen  Tag  kennt  das 
Volk  die  Helden  der  großen  Epen,  des  Mahäbhärata  und  Rämäyana,  und 
erfreut  sich  an  ihren  Taten. 

Lidien  ist  kein  Land  völliger  Erstarrung.  Auch  hier  hat  sich  im 
Laufe  der  Zeit  vieles  geändert.  Aber  treuer  als  irgendwo  anders  haben 
sich  in  Indien  von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert  in  der  Abgeschlossenheit 
der  Dorfgemeinde  Sitten  und  Gebräuche,  in  den  Schulen  der  Priester 
wissenschaftliche  Überlieferung  fortgepflanzt.  Von  dem  sicheren  Grunde 
der  Gegenwart  und  des  Mittelalters  aus  können  wir  daher  Schlüsse  auf 
das  Altertum  ziehen.  Dadurch,  daß  die  Sanskritphilologie  dies  gelernt  hat, 
ist  der  Veda  erst  zur  richtigen  Stellung  innerhalb  der  indischen  Literatur 
gelangt  und  sein  volles  Verständnis  angebahnt  worden.  Der  Wert  des 
Rgv^eda  ist  für  uns  ein  vierfacher:  i.  An  Altertümlichkeit  und  Durch- 
sichtigkeit der  Sprache  kommt  ihm  kein  anderes  Denkmal  des  indoger- 
manischen Sprachstammes  gleich;  er  ist  daher  für  die  vergleichende  Gram- 
matik unschätzbar.  2.  Die  nahe  Verwandtschaft,  die  die  Sprache  zu  der  des 
Avestä  aufv^^eist,  hat  die  Erklärung  dieser  ältesten  literarischen  Überreste 
des  iranischen  Volksstammes  wesentlich  gefördert.  3.  Er  gewährt  uns 
einen  Einblick  in  die  ältesten  sozialen  Verhältnisse  des  geistreichsten  unter 
den  indogermanischen  Völkern,  zeigt  uns  den  Weg,  auf  dem  es  in  seine 
neue  Heimat  gelangt  ist,  und  läßt  uns  die  Bedingungen  erkennen,  unter 
denen  es  sich  dort  entwickelt  hat.  4.  Das  Studium  des  Rgveda  ist  ferner 
nicht  mit  Unrecht  „die  hohe  Schule  der  Religionswissenschaft"  genannt 
worden.  Daß  die  vergleichende  Mythologie  und  Religionsgeschichte,  wie 
sie  vor  allem  Max  Müller  vertrat,  mit  ihren  Analogieschlüssen  weit  über 
das  Ziel  schoß,  ist  heute  allgemein  anerkannt.  Aber  diese  Arbeiten,  die 
vom  Veda  ausgingen  und  auf  ihn  sich  stützten,  haben  überaus  anregend 
gewirkt  und  den  Anlaß  zu  Forschungen  auf  Gebieten  gegeben,  die  sonst 
wohl  noch  lange  nicht,  wenn  überhaupt,  betreten  worden  wären. 

2.  Der  Sämaveda.  Der  Rgveda  ist  uns  fast  variantenlos  überliefert. 
Wir  verdanken  dies  einem  eigenartigen,  in  einer  umfangreichen  Literatur 
niedergelegten  System  des  Lehrens  und  Lernens,  das  es  ermöglichte,  den 
aufgezeichneten  Text  treu  zu  bewahren.  Dieses  System  hat  aber  nicht 
hindern  können,  daß  die  Lieder  des  Rgveda  außerhalb  der  Sammlung 
selbst  Veränderungen  erfuhren.  Das  ist  besonders  der  Fall  im  Säma- 
veda. Der  Sämaveda  hat  nur  75  Verse,  die  sich  nicht  im  Rgveda,  zum 
Teil  aber  in  anderen  vedischen  Werken  finden.  Die  Hauptmasse  der 
Lieder  des  Sämaveda  ist  aus  dem  8.  und  g.  Buche  des  Rgveda  genommen. 


A.  Die  vedisclie  Literatur  (ca.  1500 — 500  v.  Chr.).     I.  Die  Veden.  lyi 

Er  ist  das  Textbuch  des  Udgätar,  des  Priesters,  der  nur  beim  Somaopfer 
in  Tätigkeit  trat.  Alle  Lieder  des  Sämaveda  beziehen  sich  daher  auf 
dieses  Opfer.  Der  Udg^ätar  hatte  sie  mit  lauter  Stimme  zu  singen.  In 
seinem  ersten  Teile  enthält  der  Sämaveda  nur  einzelne  Verse,  an  denen 
die  IMelodie  festgehalten  und  eingeübt  wurde,  der  also  ein  Hilfsbuch  für 
den  Udgätar  als  Sänger  war.  Der  zweite  Teil  gibt  die  Lieder  in  der 
Anordnung,  wie  sie  beim  Opfer  zur  Anwendung  kamen.  Der  Sämaveda 
ist  also  eine  Sammlung  zu  rein  praktischen  Zwecken.  Beim  Gesänge  er- 
hielten die  Verse  eine  von  ihrer  gewöhnlichen  Gestalt  sehr  abweichende 
Form,  die  sich  nach  der  Melodie  richtete.  Es  ist  begreiflich,  daß  bei  den 
Gesangsvorträgen  nicht  alle  Schulen  gleich  verfuhren.  Gerade  hier,  wo 
nicht  bloß  der  Text,  sondern  auch  Melodie  und  Vortrag  in  Betracht  kamen, 
mußten  frühzeitig  zahlreiche  Verschiedenheiten  eintreten.  So  hat  kein 
Veda  mehr  Schulen  gehabt  als  der  Sämaveda.  Der  Caranavyuha,  ein 
kleines  Werk  über  die  vedischen  Schulen,  sagt,  früher  habe  es  1000  Schulen 
des  Sämaveda  gegeben,  nachdem  aber  Indra  mit  dem  Donnerkeil  hinein- 
geschlagen habe,  sei  nur  noch  ein  Rest  übrig.  In  der  Tat  besitzt  kein 
anderer  Veda  eine  so  große  Zahl  erklärender  Werke,  teilweise  rein  tech- 
nischen Inhalts,  wie  der  Sämaveda.  Ihre  Bearbeitung  ist  bisher  nur  wenig 
in  Angriff  genommen  worden. 

3.  Der  Yajurveda.  Wie  der  Rgveda  das  Textbuch  des  Hotar  und 
der  Sämaveda  das  des  Udgätar,  so  war  der  Yajurveda  das  Textbuch  des 
Adhvaryu.  Der  Adhvar}ai  wird  im  Rgveda  oft  erwähnt,  stand  aber  in 
ältester  Zeit,  wie  es  scheint,  nicht  in  so  hohem  Ansehen  wie  der  Hotar 
und  Udgätar,  obwohl  er  beim  Opfer  unentbehrlich  war.  Er  hatte  den 
Opferplatz  abzumessen,  den  Altar  zu  bauen,  die  Opfergefäße  herzurichten, 
Wasser  und  Holz  zu  holen,  das  Feuer  anzuzünden,  das  Opfertier  herbei- 
zuführen und  meist  auch  selbst  zu  opfern.  Er  hatte  auch  Hymnen  und 
Sprüche  zu  rezitieren,  aber  viel  wenig-er  als  die  anderen  Priester.  Da 
man  bei  ihm  keine  große  Gelehrsamkeit  voraussetzte,  war  es  ihm  erlaubt, 
wenn  er  seiner  Sache  nicht  sicher  war,  die  Hymnen  und  Sprüche  nur  zu 
murmeln,  damit  etwaige  Fehler  nicht  zu  merken  waren.  Denn  jedes,  auch 
das  geringste  Versehen  im  Wortlaut  oder  Akzent  machte  das  Opfer  nach 
indischer  Anschauung  unwirksam.  Die  Erlaubnis,  undeutlich  sprechen  zu 
dürfen,  drückt  aber  eine  gewisse  Geringschätzung  des  Adhvaryu  aus. 
Später,  mindestens  schon  im  6.  Jahrhundert  v.  Chr.,  muß  sich  das  geändert 
haben.  Die  beiden  wichtigsten  und  angesehensten  Gesetzbücher  Indiens, 
das  des  Manu  und  das  des  Yäjfiavalkya,  tragen  die  Namen  von  Männern, 
die  in  der  Geschichte  des  Yajurveda  eine  hervorragende  Rolle  gespielt 
haben.  Manu  im  Westen  und  Yäjfiavalkya  im  Osten  von  Indien  sind  die 
Schöpfer  des  orthodoxen  Brahmanentums.  In  den  Schulen  der  Priester 
des  Yajurveda  scheint  auch  das  Mahäbhärata  seine  Umwandlung  aus 
einem  Epos  der  Krieger  zu  dem  der  Priester  erfahren  zu  haben. 
Der    Yajurveda    galt    als    Ursprungsstätte    der    Kriegerkaste,     und    zum 


1-2  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 


Yajurveda  gehörige  Texte  stehen  in  besonders  enger  Berührung  mit 
dem  Epos. 

Der  Yajurveda  liegt  uns  in  zwei  Bearbeitungen  vor,  die  als  schwarzer 
und  weißer  Yajurveda  bezeichnet  werden.  Im  weißen  sind  nur  die  für 
das  Opfer  nötigen  Verse  und  Sprüche  zusammengestellt.  Im  schwarzen 
dageg-en  folgt  unmittelbar  dahinter  in  vielen  Abschnitten  ihre  Erklärung 
und  die  Angabe  ihrer  Verwendung  im  Ritual,  also  ein  Kommentar,  der 
beim  weißen  in  einem  eigenen  Werke  enthalten  ist.  Man  deutet  daher 
weiß  als  klar,  übersichtlich,  ungemischt,  schwarz  als  unklar,  unüber- 
sichtlich, gemischt.  Das  ist  schwerlich  richtig.  Die  Analogie  des  Rg-  und 
Sämaveda  macht  es  höchst  wahrscheinlich,  daß  die  Sarnhitä  des  weißen 
Yajurveda  der  Urform  des  Veda  des  Adhvar\-u  am  nächsten  steht.  Vom 
schwarzen  sind  uns  vier  Bearbeitungen  bekannt,  die  sich  in  der  Anord- 
nung alle  gleichen,  sonst  aber  sehr  erheblich  voneinander  abweichen,  auch 
in  Äußerlichkeiten,  wie  Lautregeln  und  Akzentgesetzen.  In  allen  aber 
lassen  sich  noch  deutlich  ganze  Abschnitte  ausscheiden,  die  dieselbe  Sarn- 
hitäform  haben  wie  der  weiße  Yajurveda.  Sie  allein  kommen  für  die 
Beurteilung  der  ältesten  vedischen  Zeit  in  Betracht.  Dem  Inhalte  nach 
zerfallen  sie  in  Verse  (rcas)  und  Sprüche  {yajümsi).  Die  Verse  sind 
zum  großen  Teile  aus  dem  RgA^eda  genommen.  Lange  Kapitel  in  allen 
Rezensionen  des  Yajurveda  sind  nichts  als  Zusammenstellungen  von  Rgveda- 
versen  in  der  Reihenfolge,  wie  sie  bei  einem  bestimmten  Opfer  zur  An- 
wendung kamen.  Aber  es  findet  sich  auch  ein  nicht  ganz  kleiner  Teil 
von  Versen,  die  dem  Yajurveda  allein  eigentümlich  sind,  und  zwar  ver- 
schiedene in  den  verschiedenen  Bearbeitungen,  andere,  die  zwar  nicht  im 
RgA'eda,  aber  auch  im  Atharvaveda  stehen.  Es  ergibt  sich  also,  daß  der 
Adhvaryu  durchaus  nicht  allein  aus  dem  Liederschatze  des  Hotar  schöpfte. 
Die  Sprüche  sind  meist  prosaisch.  Zuweilen  aber  haben  sie  rhythmischen 
Takt,  manchmal  sind  sie  direkt  metrisch.  Sie  sind  an  und  für  sich  meist 
ganz  unverständlich,  wenn  man  nicht  den  Zusammenhang  kennt,  in  dem  sie 
gebraucht  werden,  und  in  ihrer  Erklärung  weichen  die  Schulen  oft  sehr 
erheblich  voneinander  ab.  Für  den  praktischen  Opferdienst  war  der  Yajur- 
veda der  wichtigste  von  allen  Veden.  Das  heben  die  Inder  auch  selbst 
hervor.  Die  Rcas  und  Sämäni  werden  der  Stimme,  die  Yajürasi  dem 
Geist  verglichen,  der  Yajurveda  einer  Wand,  der  Rgveda  und  Sämaveda 
Gemälden  darauf. 

4.  Der  Atharvaveda.  Der  Atharvaveda  ist,  wie  erwähnt,  in  Indien 
nie  als  kanonisch  betrachtet  worden.  Daran  ist  sein  Inhalt  schuld.  In 
seinen  ältesten  Bestandteilen  enthält  er  Fluch-  und  Beschwörungsformeln, 
Verwünschungssprüche  gegen  die  Feinde,  Liebeszauber,  Sprüche  gegen 
Krankheiten  von  Mensch  und  Tier,  gegen  Zauberei  und  Behexung,  gegen 
Dämonen  aller  Art,  Gebete  um  Gesundheit  und  langes  Leben  usw.  So 
fand  der  Atharvaveda  mehr  im  Privatleben  Anwendung  als  im  öffent- 
lichen.    Er    ist    weniger    der  Veda    des   Glaubens    als    des  Aberglaubens. 


A.  Die  vedische  Literatur  (ca.    1500 — 500  v.  Chr.).     I.  Die  Veden.  ly^ 

Und  da  der  Aberglaube  ebenso   alt   ist   wie  der  Glaube,  so   ist   auch  der 
Inhalt   des   Atharvaveda    nicht   jünger    als    der  des  Rgveda.     Wir   finden 
dort  Lieder  und  Sprüche,    die   an  Alter  hinter   denen   des   Rgveda  nicht 
zurückstehen,  ja  sie  oft  übertreffen.    Das  zeigt  sich  schon  darin,  daß  auch 
andere    indogermanische    Völker    die    gleichen    Gebräuche    und    Sprüche 
kennen,   wie  z.  B.  von   den  Germanen  Segenssprüche   und  Beschwörungs- 
formeln  überliefert    sind,    die    genaue   Parallelen    im   Atharvaveda    haben. 
Daß   der  Wortschatz   des  Atharvaveda  teilweise   ein   ganz   anderer  ist   als 
der    des   Rgveda,    erklärt    sich    aus    seinem    Inhalt.      Die    Sprache    eines 
Spruches,  der  gegen  Ungeziefer  g-erichtet  ist,  kann  keine  so  erhabene  und 
pathetische  sein,   wie  die  eines  Hymnus   auf  Indra.     Die  Sprüche   wurden 
im  täglichen  Leben  verwendet,  müssen  also  auch  die  Alltagssprache  wieder- 
geben, während   in   den  Hymnen   des   Rgveda   eine   traditionelle   Dichter- 
sprache   vorherrscht.      Auch    in    den    Dänastuti    des    Rgveda    finden    sich 
Worte    und    Konstruktionen,    die    nur   im    späteren    Sanskrit    vorkommen. 
Niemand  aber  bezweifelt  heute  mehr,  daß  diese  Anhänge  ebenso  alt  sind 
wie  die  Lieder,  auf  die  sie  folgen.    Der  Atharvaveda  war  auch  im  Süden 
Indiens   wohlbekannt.     Als    seine   Heimat   aber   dürfen   wir   den   äußersten 
Nordwesten  ansehen.    Er  und  das  Käthaka,  eine  der  Textsammlungen  des 
schwarzen  Yajurveda,  wurden  in  Kaschmir  am  eifrigsten  studiert,  und  dort 
hat  sich  eine  eigene  Rezension  des  Atharvaveda  gefunden.     In  Kaschmir 
hat  der  Aberglaube  von  jeher  besonders  geblüht,  und  die  Zauberer  dieses 
Landes  waren  berühmt.    Die  RäjatarahginI,  die  Königschronik  von  Kasch- 
mir, ist  voll  von  Zaubergeschichten  aller  Art.    Dort  fand  daher  der  Athar- 
vaveda einen  guten  Boden,  und,  wenn  nicht  in  Kaschmir  selbst,  so  jeden- 
falls in  dessen  Nähe  wird  seine  Heimat  zu  suchen  sein.    Der  Atharvaveda 
gilt  als  der  Veda  der  Familien,  die  sich  auf  Afharvan,  Ahgiras  und  Bhrgu 
zurückführen,  Männer,  die  zu  dem  Feuerdienst  in  näherer  Beziehung  standen. 
Der  Name,  unter  dem  dieser  Veda  in  älteren  Schriften  stets  genannt  wird, 
ist  Atharväii girasa s  oder  Bhrgvahgirasas,  und  dieser  Name  weist  auf  die 
beiden  Elemente  hin,  die  der  Atharvaveda  enthält.    Die  Atharvan  sind  die 
heilenden  Arzte,   die   Ahgiras   die   dem  Gegner  Schaden  zufügenden  Zau- 
berer.   Und  wie  die  Angiras  als  ihren  Hauptvertreter  Brhaspati,  den  Haus- 
priester der  Götter,    die  Bhrgu   den  Usanas  Kävya,   den  Hauspriester  der 
Asuräs,  oder  Dämonen,  ansehen,  so  ist  der  Brahman,  der  Hauspriester  der 
Könige   auf  Erden,    der  Priester,    als    dessen  Textbuch    der  Atharvaveda 
gilt.    Das  Wort  Atharvan  hängt  sprachlich  wohl  zusammen  mit  dem  Avestä 
äthravan  „Feuerpriester"  und  ätar  „Feuer".     Ein  historischer  Zusammen- 
hang zwischen  Atharvan  und  äthravan  ist  aber  nicht  nachweisbar.    Häufig 
wird  der  Atharvaveda,   wie  schon  bemerkt,  auch  Brahmaveda,  „der  Veda 
der  Zaubersprüche",  genannt. 

Die  Zahl  der  Schulen  des  Atharvaveda  wird  in  allen  Quellen  auf  9 
angegeben.  Von  zweien  kennen  wir  ihre  Textsammlung.  Eine  davon  ist  die 
kaschmirische.    Beide  umfassen  20  Bücher,  unterscheiden  sich  aber  in  der 


j- 1  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

Anordnung  wie  im  Inhalt  sehr  bedeutend.  Etwa  ein  Achtel  des  Textes 
der  Kaschmirrezension  hat  nichts  Entsprechendes  in  der  Vulgata.  Es  sind 
aber  doch  immer  größere  Massen,  die  in  beiden  Rezensionen  gleichmäßig 
zusammenstehen,  so  daß  man  auf  eine  ältere,  gemeinsame  Quelle  schließen 
darf,  gerade  wie  beim  Yajurveda.  Besondere  Erwähnung  erfordern  15 
Lieder,  die  im  20.  Buche  der  Vulgata  stehen  und  den  Namen  Kuntäpasükfa 
führen.  Sie  gehören  zu  dem  Interessantesten,  was  uns  aus  dem  indischen 
Altertum  überkommen  ist,  sind  aber  leider  zum  Teil  recht  dunkel.  Sie 
wurden  im  Ritual  verwendet,  und  zwar  nicht  bloß  in  dem  der  Priester 
des  Atharvaveda.  Unter  ihnen  ist  eine  Näräsamsi,  ein  Loblied  auf  Indra, 
Rätsel  mit  obszönem  Nebensinne,  Zaubersprüche,  Sühnsprüche  gegen 
Omina  und  Portenta,  und  ein  Lied,  in  dem  das  Glück  des  Volkes 
unter  der  Regierung  des  Königs  Pariksit  gepriesen  wird.  Die  Sprache 
weist  darauf  hin,  daß  ein  Original  in  einer  Volkssprache  zugrunde  liegt; 
Ton  und  Refrain  weisen  auf  ein  Volkslied  hin.  Eigenartig  ist  auch  das 
kurze  15.  Buch  der  Vulgata,  das  Vrätyabuch.  Es  ist  ganz  in  Prosa,  die 
sich  auch  sonst  im  Atharvaveda  findet,  und  mystisch  gehalten,  seine  Deu- 
tung unsicher.  Das  18.  Buch,  das  Totenbuch,  und  das  20.  sind  fast  ganz 
aus  dem  Rgveda  genommen.  Der  Atharvaveda  soll  fünf  Unterveden 
{Upavedäs)  gehabt  haben,  deren  Namen  für  den  Gedankenkreis  charakte- 
ristisch sind,  in  dem  sich  der  Veda  bewegt.  Sie  waren  der  Sarpaveda, 
„der  Veda  der  Schlangen",  der  Pisäcaveda,  „der  Veda  der  Teufel",  der 
Asziraveda,  „der  Veda  der  Dämonen",  der  IHhäsaveda,  „der  Veda  der  Ge- 
schichten", und  der  Puräimveda,  „der  Veda  der  Legenden".  Leider  ist 
davon  nichts  erhalten,  oder  wenigstens  bis  jetzt  nichts  gefunden. 

Noch  in  später  Zeit  schreiben  die  Gesetzbücher  vor,  der  König  solle 
sich  einen  Hauspriester  wählen,  der  in  den  drei  Veden,  dem  Strafgesetz- 
buche, den  Lehrbüchern  bewandert  sei  und  es  verstehe,  beständig  die  Vor- 
schriften des  Atharvaveda  auszuführen,  zur  Abwehr  übler  Folgen  und  zur 
Förderung  des  Wohlergehens.  War  also  der  Atharvaveda  nicht  kanonisch, 
so  war  er  doch  in  Indien  in  nicht  weniger  häufigem  Gebrauch  als  die 
andern  Veden.  Für  die  allgemeine  Kulturgeschichte  ist  kein  Werk  der 
indischen  Literatur  so  wichtig  wie  der  Atharvaveda.  Wenn  auch  nur  für 
Indien  bestimmt  und  aus  indischem  Geiste  geschaffen,  hat  er  über  seine 
Heimat  hinaus  den  größten  Wert  für  die  Erkenntnis  des  Geisteslebens 
auch  anderer  indogermanischer  und  gänzlich  unverwandter  Völker.  Er 
bestätigt,  daß  zu  allen  Zeiten  und  in  allen  Ländern  die  Staatsreligion 
immer  nur  der  Firnis  ist,  der  die  Religion  des  Volkes,  den  Aberglauben, 
überdeckt. 

n.   Die    Erläuterungsschriften    zu    den  Veden.      An    die   Veden 
schließt  sich  eine  sehr  umfangreiche  Literatur  erklärenden  Inhalts  an. 
Die  Brähmana.  I.  Die   ältesten  Werke   dieser  Art  sind   die  Brähmana.     Sie   beschäf- 

tigen   sich   vorwiegend    mit    dem   Opfer.     Sie    enthalten    die    ältesten  Be- 


A.  Die  vedische  Literatur  (ca.  1500 — 500  v.  Chr.).    II.  Die  Erläuterungsschriften  zu  den  Veden.      lyc 

trachtungen  über  den  Wert,  Nutzen  und  die  Entstehung-  des  Opfers  und 
seiner  einzelnen  Teile,  meist  in  ganz  mystischer  Form.  In  ihnen  sind  die 
ersten  philosophischen  Spekulationen  der  Brahmanen  in  Prosa  niedergelegt 
und  Legenden  eingestreut,  die  die  Herkunft  irgendeiner  Opferhandlung 
erklären  sollen,  an  sich  aber  ein  viel  größeres  Interesse  haben  als  der 
Zweck,  dem  sie  dienen.  Da  die  ßrahmanen  alle  Vorschriften  für  das 
Opfer  auf  die  Veden  stützten,  so  sind  die  Brähmana  in  letzter  Linie  zu- 
gleich Erläuterungsschriften  zu  den  Veden  selbst.  Sie  geben  alles,  was 
den  Priestern  zur  Erklärung  der  Hymnen  und  Sprüche  nötig  schien,  eine 
allgemeine  Begründung  der  Gebräuche  des  Kultus.  Die  Erörterungen 
über  die  Opfervorschriften  gehen  bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten;  sie  sind 
sehr  ermüdend  zu  lesen  und  schwierig  zu  verstehen.  Größeres  allgemeines 
Interesse  haben,  außer  den  Legenden,  Abschnitte  über  kirchliche  und 
weltliche  Feiern.  Aber  auch  hier  muß  das  wirklich  Interessante  erst  aus 
einem  Wust  von  Einzelheiten  herausgesucht  werden,  so  daß  die  Lektüre 
der  Brähmana  sehr  unerquicklich  ist.  Im  Gegensatze  zu  den  Veden  sind 
die  Brähmana  in  Prosa  geschrieben,  die  in  den  Legenden  ausgezeichnet 
klar  und  durchsichtig  ist.  Nicht  alle  Brähmana  haben  Anspruch  auf  hohes 
Alter,  w4e  schon  die  Sprache  zeigt.  Die  meisten  Brähmana  hat  der  Säma- 
veda,  zu  dem  nicht  weniger  als  1 1  bekannt  sind,  von  denen  bereits  8  im 
Druck  vorliegen;  es  sind  meist  ganz  kurze  und  junge  Werke.  Zum  Rgveda 
gehören  zwei,  zum  Atharvaveda  ein  Brähmana.  Daß  auch  der  Text  des 
schwarzen  Yajurveda  brähmanaartige  Teile  enthält,  ist  schon  erwähnt  worden. 
Weitaus  das  altertümlichste  und  wichtigste  aller  Brähmana  ist  das  Sata- 
Pathabrähmana,  „das  Brähmana  der  hundert  Pfade",  das  zum  weißen  Yajur- 
veda gehört  und  in  zwei  Bearbeitungen  auf  uns  gekommen  ist.  Es  ist 
kein  einheitliches  Werk.  In  der  uns  bis  jetzt  allein  vorliegenden  Fassung 
heben  sich  deutlich  zwei  ursprüngiich  ganz  getrennte  Teile  ab,  einer,  der 
im  Westen  von  Indien  spielt,  und  einer,  der  dem  Osten  angehört.  Die 
Autorität  in  dem  ersten  ist  Sändilya,  in  dem  zweiten  Yäj'navalkya,  der 
aus  dem  Westen  nach  dem  Osten  gewandert  w^ar  und  an  dem  Hofe  des 
Königs  von  Videha,  Janaka,  eine  Rolle  gespielt  hat.  Der  Abschnitt  des 
Sändilya  handelt  vorwiegend  vom  Feuerdienste,  und  es  scheint,  daß  Sän- 
dilya das  Feuerritual  organisierte  und  Yäjfiavalkya  es  in  seine  Schule 
übernahm.  Aus  keinem  andern  Werke  können  wir  die  Entwicklung  der 
relig-iösen  Anschauungen  in  priesterlichem  Sinne  so  klar  nachweisen,  wie 
aus  dem  Satapathabrähmana.  Es  enthält  auch  eine  große  Anzahl  histo- 
rischer Angaben,  teils  direkter,  teils  aus  Namen  zu  erschließender,  und 
sehr  alte  und  wichtige  Legenden  in  ihrer  ältesten  Gestalt. 

2.  Ursprünglich  nichts    als   Ergänzungen    zu    den  Brähmana   sind    die  Die  Äranyaka. 
Äranyaka,  „die  Waldwerke".     Das   Leben   des  Brahmanen   zerfiel  in  vier 
Stadien.     Das  erste  war  das  des  Brahmanenschülers.    Es  dauerte  12  Jahre 
für  jeden  Veda,    oder  so   lange,    bis    der   Schüler   den  Veda  kennt.     Das 
zweite  war  das  des  Hausherrn.    Der  Brahmane  gründet  sich  einen  eigenen 


176 


Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 


Haushalt.  Er  heiratet  und  hat  die  Pflicht,  einen  Sohn  zu  zeugen,  der  nach 
seinem  Tode  das  Manenopfer  darbringt.  Wenn  er  Runzeln  und  graues 
Haar  an  sich  sieht  und  Kinder  seiner  Kinder,  soll  er  in  den  Wald  ziehen 
und  dort  sich  ganz  dem  Studium  des  Veda  widmen  und  in  den  höchsten 
Geist  versenken.  Das  ist  das  dritte  Stadium,  das  des  Waldeinsiedlers. 
Das  vierte  Stadium,  das  des  Weltentsagten,  ist  eine  Steigerung  des  dritten. 
Der  Brahmane  muß  in  tiefem  Schweigen  verharren;  er  darf  mit  niemandem 
verkehren  und  nur  so  viel  Nahrung  zu  sich  nehmen  als  genügt,  um  das 
Leben  zu  fristen.  Alle  seine  Gedanken  soll  er  auf  den  Allgeist  richten. 
In  diesen  beiden  letzten  Stadien,  vor  allem  im  dritten,  sind  im  Walde  die 
Äranyaka  entstanden  und  studiert  worden.  Noch  heut  gelten  sie  in  Indien 
als  ausschließlich  für  die  bestimmt,  die  dem  weltlichen  Leben  entsagt 
haben,  ja,  die  orthodoxen  Hindus  glauben,  daß  die  Lektüre  derselben 
jedem  andern  als  einem  Einsiedler  Geldverlust,  Krankheit,  Trauer,  zu- 
weilen alle  drei  zusammen,  bringt. 
Die  Upanisad.  3.  Das   Hauptinteresse  liegt  bei   den   Aranyakas    in   den   Abschnitten, 

die  philosophische  Spekulationen  enthalten.  Diese  führen  den  Namen 
Upanisad,  „Geheimlehre".  Wie  die  Äranyaka  von  den  Brähmana,  so  lösten 
sich  die  Upanisad  allmählich  als  eigene  Werke  von  den  Äranyaka  ab. 
Ursprünglich  Textbücher  der  Dogmatik  der  einzelnen  Vedaschulen,  stehen 
die  späteren  Upanisad  oft  nur  noch  in  sehr  losem,  zuweilen  in  gar  keinem 
Zusammenhang  mehr  mit  dem  Veda,  zu  dem  sie  sich  bekennen.  Alle 
älteren  Upanisad  haben  denselben  Inhalt.  Sie  verherrlichen  die  Größe 
und  Macht  des  Ätman  oder  Brahman,  des  Allgeistes,  und  suchen  die  Lö- 
sung des  Rätsels  seines  Einsseins  mit  dem  Ich  des  einzelnen  Menschen. 
Ihrem  Werte  nach  sind  die  Upanisads  sehr  verschieden.  Manche  sind  voll 
von  glühenden  Schilderungen  der  Gottheit  und  echt  philosophischen  Ge- 
danken und  in  edler,  schwunghafter  Sprache  geschrieben.  Andere  da- 
gegen sind  recht  ärmlich  nach  Form  und  Inhalt.  Besonders  gilt  dies  von 
sehr  vielen  Upanisads,  die  sich  zum  Atharv^aveda  rechnen.  Unter  ihnen 
sind  Werke,  die  schon  ganz  ausgesprochen  sektarischen  Charakter  tragen, 
und  in  denen  Diagramme  und  mystische  Formeln,  wie  in  den  späten 
Tantras,  eine  hen'orragende  Rolle  spielen.  Die  Upanisads  sind  schon 
seit  Jahrhunderten  in  Indien  der  angesehenste  Teil  der  vedischen  Literatur, 
so  daß  jede  Sekte  ihre  eigene  Upanisad  zu  haben  wünscht.  Für  die  in- 
dische Religionsgeschichte  sind  auch  die  späten  Upanisads  nicht  ohne 
Wert  Allgemeineres  Interesse  aber  haben  nur  die  älteren.  Obwohl  rein 
indischer  Geist  aus  ihnen  spricht,  sind  sie  doch  auch  für  die  Geschichte 
unseres  religiösen  und  philosophischen  Erkennens  überhaupt  von  höchster 
Bedeutung.  Schopenhauer,  der  nur  einen  Teil  in  einer  sehr  schwer- 
fälligen lateinischen  Übersetzung,  die  ihrerseits  auf  einer  persischen  be- 
ruht, kannte,  erklärte  sie  für  die  belohnendste  und  erhebendste  Lektüre, 
die  auf  der  Welt  möglich  ist;  sie  sei  der  Trost  seines  Lebens  gewesen 
xmd  werde  der  seines  Sterbens  sein,  und  Deußen,  der  sich  um  die  Upani- 


Die  vedische  Literatur  (ca.  1500 — 500  v.  Chr.).    11.  Die  Erläuterungsschriften  zu  den  Veden.      i  yy 

sads  die  größten  Verdienste  erworben  hat,  erklärt  das  Neue  Testament 
und  die  Upanisads  für  die  beiden  höchsten  Erzeugnisse  des  reUgiösen  Be- 
wußtseins der  Menschheit. 

4.  Eine  weitere  Klasse  von  Erläuterungsschriften  zur  vedischen  Lite-  Die  sntra. 
ratur  bilden  die  SfUra,  „die  Leitfäden".  Sie  sind  Kompendien  für  den 
praktischen  Gebrauch.  Die  Brähmana  waren  allmählich  zu  einem  Um- 
fange angewachsen,  daß  ihr  ursprünglicher  Zweck,  Hilfsbücher  für  den 
Priester  zu  sein,  dadurch  vereitelt  wurde.  Es  handelte  sich  darum,  alles 
Wichtige  und  Wissenswerte  in  kurzer  und  übersichtlicher  Form  darzu- 
stellen, die  sich  dem  Gedächtnis  leicht  einprägte.  Diesem  Bestreben  ver- 
danken die  Sütra  ihren  Ursprung.  Während  in  einem  Brähmana  die 
verschiedensten  Gebiete  des  Wissens  nebeneinander  behandelt  werden, 
beschränkt  sich  ein  Sutra  immer  auf  ein  bestimmtes  enges  Gebiet,  sucht 
dieses  aber  möglichst  zu  erschöpfen.  Der  Stil  der  Sütra  ist  äußerst  knapp, 
oft  fast  rätselhaft  und  ohne  Kommentar  ganz  unverständlich.  Sie  sind 
eben  in  erster  Linie  dazu  bestimmt,  auswendig  gelernt  zu  werden.  Die 
Erklärung  gab  der  Lehrer  in  der  Schule.  Sie  zerfallen  in  die  zwei  Klassen 
der  Srautasütra  und  der  Sviärtasüfra,  d.  h.  der  Sütra,  die  sich  auf  die 
offenbarte,  heilige  Literatur  {sruti)  beziehen  {srautd)  und  die,  die  auf  der 
profanen  Literatur  {smrti)  beruhen  [smärta).  Die  Srautasütra  enthalten 
vor  allem  die  Vorschriften,  die  dem  Opferritual  gelten.  Sie  lehren  die 
größeren  Opfer,  zu  denen  drei  oder  mehr  Feuer  nötig  sind.  Einen  An- 
hang dazu  bilden  die  Stäbasilira,  die  die  Vorschriften  über  die  Ausmessung 
des  Opferplatzes,  die  Konstruktion  der  Altäre  u.  dgl.  geben,  also  die 
ältesten  Angaben  über  indische  Mathematik  enthalten.  Die  Smärtasütra 
zerfallen  in  Grhyasütra  und  DharviasUtra.  Die  Grhyasütra  beziehen  sich 
auf  das  tägliche  Leben  des  Inders.  Sie  geben  genaue  Vorschriften  für 
alles,  was  von  der  Konzeption  bis  zur  Beerdigung  zu  beachten  ist,  und 
über  die  Spenden  und  Opfer,  die  der  Laie  selbst  darzubringen  hat.  Sie 
enthalten  die  ausführUchste  und  zuverlässigste  Kulturgeschichte,  die  man 
sich  wünschen  kann,  und  sind  daher  einer  der  interessantesten  und  wich- 
tigsten Teile  der  indischen  Literatur.  Die  Dharmasütra,  „die  Leitfäden 
des  Rechts",  handeln  von  dem  bürgerlichen  öffentlichen  Leben.  Sie  sind 
die  ältesten  Werke  über  indische  Gesetzgebung  und  Rechtspflege,  auf 
denen  die  späteren  Dharmasästra  und  Smrti  beruhen.  Jeder  der  vier 
Veden  hat  ein  oder  mehrere  Sütra  aller  angegebenen  Arten,  die  ihren 
Namen  nach  dem  Verfasser  oder  der  Schule  führen,  zu  der  sie  sich  be- 
kennen.    Sie  sind  von  sehr  verschiedenem  Alter. 

An  den  Veda  schließt  sich  auch  die  Entwicklung  der  Grammatik 
an,  in  der  die  Inder  Meister  gewesen  sind.  Es  ist  bereits  erwähnt  worden, 
daß  sie  zum  Schutz  des  Textes  des  Veda  ein  eigenartiges  System  des 
Lehrens  und  Lernens  erfunden  haben.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  der  Text 
in  doppelter  Gestalt  aufgeführt,  einmal  mit  allen  durch  die  Gesetze  der 
Grammatik  geforderten  euphonischen  Veränderungen  {Samhitäpäthd),  dann 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  ^^ 


j^3  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

ohne  diese  mit  Abtrennung  der  einzelnen  Worte,  Auflösung  der  Kompo- 
sita u.  dgl.  {Padapäfha).  Zu  zeig'en,  wie  der  Samhitätext  aus  dem  Pada- 
text  rekonstruiert  werden  konnte,  war  die  Hauptaufgabe  von  Lehrbüchern, 
die  je  nach  der  Schule  {prafisäkJiain)  verschieden  waren  und  danach  den 
Namen  Präfisäkhya  führten.  Diese  Werke  verzeichnen  genau  alle  Ab- 
weichungen der  beiden  Textformen;  sie  machen  ferner  genaue  Ang^aben 
über  die  Aussprache  der  Laute,  Akzentregeln,  Regeln  über  die  Metrik  u.  dgl. 
Es  sind  also  wesentlich  Lehrbücher  der  vedischen  Phonetik  und  alles 
dessen,  was  damit  zusammenhängt,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  den  Pada- 
pätha.  Sie  enthalten  die  schärfsten  und  treffendsten  physiologischen  Be- 
obachtungen, und  wenn  manche  auch  ihrer  Form  nach  jung  sind,  so  ist 
ihr  Inhalt  doch  sehr  alt. 
Die  Vedänga.  An  die  Prätisäkhya  lehnt  sich  eine  Klasse  von  Schriften  an,  die  den 

allgemeinen  Namen  Si'ksä,  „Lehre",  „Vorschrift",  führen  und  als  eines  der 
sechs  Vedäiiga,  „Glieder  des  Veda",  gelten.  Wie  vier  andere  Vedäiiga: 
^Metrik  {chandas),  Astronomie  {j'yoHsä),  Opferritual  Qialpa)  und  Grammatik 
{vyäkaranä),  bezeichnet  auch  Siksä  kein  einzelnes  Werk,  sondern  ist  ein 
Gattungsname.  Die  Siksäs  sollen  vor  allem  die  richtige  Rezitation  der 
Veden  lehren.  Sie  geben  die  geistigen  und  körperlichen  Eigenschaften 
an,  die  jemand  besitzen  muß,  der  die  Veden  zu  rezitieren  wünscht,  und 
lehren,  wie  sich  jemand  für  diese  Aufgabe  vorbereiten  soll.  Sie  enthalten 
ferner  genaue  Regeln  über  die  Aussprache  bestimmter  Laute,  über  die 
Modulation  der  Stimme,  die  Stellung  des  Körpers  und  Bewegung  der 
Hände  und  Füße  bei  der  Rezitation  u.  dgl.  Die  besten  unter  den  Siksäs 
sind  die,  die  sich  zum  schwarzen  Yajurveda  rechnen.  Alle  sind  in  der 
vorliegenden  Gestalt  jung,  gehen  aber  auf  gute,  alte  Quellen  zurück. 

Zu  den  Vorläufern  der  klassischen  Grammatik  gehört  ferner  das  sechste 
der  Vedänga,  das  Nirukia,  „Etymologie",  zu  dem  Yäska  etwa  im  5.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  einen  gleichnamigen  Kommentar  geschrieben  hat.  Das 
alte  Niruktam  enthält  eine  Zusammenstellung  aller  Synonyma,  die  sich  in 
der  vedischen  Literatur  finden,  besonders  schwieriger  vedischer  Wörter 
und  der  vedischen  Gottheiten.  Von  größter  Wichtigkeit  ist  der  Kommentar 
des  Yäska.  Er  gibt  uns  sehr  wertvolle  Aufschlüsse  über  die  Vedaexegese 
seiner  Zeit.  Wir  ersehen  daraus,  daß  schon  in  alter  Zeit  sich  zwei  Rich- 
tungen in  der  Erklärung  des  Veda  gegenüberstanden,  die  Philologen,  die 
sich  nach  der  alten  Überlieferung  richteten,  und  die  Linguisten,  die  den 
Sinn  der  dunklen  Vedaworte  mittelst  der  Etymologie  zu  erschließen  suchten. 
Ganz  derselbe  Gegensatz  besteht  noch  heut  unter  den  europäischen  Er- 
klären! des  Veda.  Die  etymologische  Erklärungsweise,  deren  Hauptver- 
treter im  Altertum  Yäska,  in  unserer  Zeit  Graßmann  war,  trägt  vor 
allem  die  Schuld  daran,  daß  das  Verständnis  des  Rgveda  so  langsame 
Fortschritte  gemacht  hat. 

Unter  den  Lehrbüchern  der  Metrik  {chandas)  ist  das  kleine  Chandah- 
sütra  des  Pihgala  zum  Range  eines  Vedänga  erhoben  worden,    obgleich 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer,      jyq 

es  die  vedische  Metrik  nur  ganz  kurz  behandelt  und  nichts  Wesentliches 
zu  ihrer  Aufhellung-  beiträgt.  Der  Hauptteil  handelt  von  der  klassischen 
Metrik.  Nach  einer  glaubwürdigen  Überlieferung"  soll  Pirigala  ein  jüngerer 
Bruder  des  großen  Grammatikers  Pänini  gewesen  sein,  den  man  ins  4. 
oder  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  setzt.  Ebenso  wie  die  Grammatik  des  Pänini, 
bezeichnet  also  avich  die  Metrik  des  Pihgala  nicht  den  Anfang,  sondern 
den  Abschluß  einer  langen  Entwicklung. 

In  sehr  verwahrloster  Gestalt  ist  uns  das  Jyotisa,  das  Vedäiiga,  das 
von  der  Astronomie  handelt,  überliefert.  Sein  Text  ist  über  alle  Maßen 
verdorben,  so  daß  das  Verständnis  noch  viel  zu  wünschen  läßt.  Sein  Zweck 
ist,  die  Zeiten  und  Tag-e  zu  bestimmen,  die  für  die  Opfer  geeignet  sind, 
wobei  es  auch  über  die  Mondstationen  handelt.  Es  gilt  von  ihm  dasselbe, 
wie  von  den  Siksäs.     Die  Form  ist  jung,  der  Inhalt  alt. 


B.  Die  nichtvedische  Literatur  (etwa  500  v.  Chr.  bis  zur  Gegenwart). 

I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer 
(bis  etwa  300  n.  Chr.).  Der  Versuch,  die  wissenschaftliche  Literatur  der 
späteren  Zeit  an  die  vedische  anzuknüpfen,  begegnet,  wie  sich  aus  dem 
Dargelegten  ergibt,  den  größten  Schwierig^keiten.  Ohne  Zweifel  waren 
alle  Elemente  vorhanden;  die  auf  uns  gekommenen  Werke  aber  sind  meist 
jung.  Sie  setzen  selbst  schon  eine  reiche  Literatur  voraus  und  nennen 
teilweise  auch  viele  Vorgänger.  Mehr  als  irgendwo  anders  hat  in  Indien 
ein  Werk,  das  geschickter  als  frühere  die  Resultate  der  Forschung  zu- 
sammenzufassen oder  auch  nur  in  einem  Punkte  weiterzuführen  verstand, 
seine  Vorgänger  verdrängt.  Die  älteren  Werke  wurden  nicht  mehr  abge- 
schrieben und  gingen  verloren.  Der  Mangel  an  historischem  Sinn,  der 
den  Indern  eigen  ist,  zeigt  sich  darin  sehr  deutlich.  Über  die  Zeit  auch 
der  bedeutendsten  älteren  Autoren  sind  wir  völlig  im  dunkeln.  Jede 
Literaturgattung  tritt  uns  auf  ihrer  letzten  Stufe  entgegen,  jedes  System 
ganz  ausgebildet.  Werke,  die  man  für  die  besten  ihrer  Art  hielt,  verlegte 
man  in  das  graue  Altertum,  ja  führte  sie  auf  Götter  oder  Heilige  zurück. 
Mit  dieser  Wertschätzung-  im  Widerspruch  steht,  daß  man  nicht  die  ge- 
ringste Scheu  trug,  den  überlieferten  Text  nichtvedischer  Werke  in  will- 
kürlichster Weise  zu  verändern.  Bei  der  schönen  Literatur  entschied  dabei 
oft  der  herrschende  Geschmack  einzelner  Länder.  Wie  in  späterer  vedi- 
scher  Zeit  deutlich  ein  Gegensatz  zwischen  Westen  und  Osten,  so  tritt  in 
der  klassischen  ein  solcher  zwischen  Bengalen  und  dem  Dekhan  hervor, 
während  Kaschmir  seine  eigenen  Wege  ging.  So  liegt  uns  z.  B.  die 
Sakuntalä  des  Kälidäsa  in  drei  Bearbeitungen  vor,  einer  bengalischen, 
einer  südindischen  und  einer  kaschmirischen,  aus  deren  Mischung  noch 
eine  vierte  entstanden  ist,  die  in  Zentralindien  die  verbreitetste  ist.  Den 
ursprünglichen  Text  herzustellen,  ist  unmöglich.  Wir  müssen  uns  begnügen, 


l8o  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

auf  philologischem  Weg"e  dem  Original  möglichst  nahe  zu  kommen.  Auf 
dem  Gebiete  der  Grammatik  schieden  sich  zwei  Schulen  voneinander,  die 
östliche  und  die  nördliche.  Schon  Yäska  erwähnt  sie,  ebenso  Pänini.  Die 
Rhetoriker  unterscheiden  drei  bis  vier  Stilarten,  die  die  Namen  von  Län- 
dern im  Westen,  Osten  und  Süden  Indiens  tragen.  Auch  religiöse  Beweg- 
gründe haben  weitg^ehenden  Einfluß  auf  die  Gestaltung  der  Literatur  aus- 
geübt. Im  Mahäbhärata  lassen  sich  deutlich  zwei  Richtungen  unterscheiden, 
eine  visnuitische  und  eine  äivaitische;  bald  ist  Visnu-Krsna  der  gefeierte 
Gott,  bald  Siva.  Politische  und  religiöse  Strömungen  haben  den  Grund- 
charakter des  Epos  im  Laufe  der  Jahrhunderte  völlig  verändert.  In  sek- 
tarischem Sinne  ist  auch  die  große  Literatur  der  Puräna  (s.  S.  195  f.)  umge- 
arbeitet worden.  Tief  einschneidend  war  ferner  die  literarische  Tätigkeit 
der  Jaina,  die,  im  Gegensatz  zu  den  Buddhisten,  nicht  bloß  ihre  eigene 
heilige  Literatur  in  Präkrit  studierten,  sondern  auch  an  der  Sanskritliteratur 
regen  Anteil  nahmen.  Von  dem  bekanntesten  indischen  Fabelwerk,  dem 
Pancatantra,  sind  uns  neben  einer  kaschmirischen  und  südindischen  Re- 
zension mehrere  mittelindische  bekannt,  die  jainistischen  Einfluß  zeig-en. 
Aus  allen  diesen  Gründen  ist  eine  streng  geschichtliche  Darstellung 
der  nachvedischen  Literatur  völlig  unmöglich.  Die  vedische  Literatur 
trägt,  obwohl  über  Jahrhunderte  verteilt,  einen  einheitlichen  Charakter 
durch  ihren  Stoff.  Bei  der  späteren  Literatur  fällt  auch  dies  weg.  Viele 
Jahrhunderte  sind  scheinbar  gar  nicht  vertreten,  so  daß  Max  Müller  die 
Ansicht  ausgesprochen  hat,  vom  i.  Jahrhundert  v.  Chr.  bis  wenigstens  zum 
3.  Jahrhundert  n.  Chr.  habe  in  Indien  ein  literarisches  Interregnum  ge- 
herrscht. Das  ist  unrichtig.  Ohne  Zweifel  hat  die  nationale  Dynastie  der 
Gupta  im  4.  Jahrhundert  n.  Chr.  der  Sanskritsprache  und  Sanskritliteratur 
zu  neuer  Blüte  verholfen,  und  die  klassische  Literatur  datiert  erst  von 
dieser  Zeit  an.  Aber  geruht  hat  die  Übung  der  Poesie  und  der  Wissen- 
schaft nie.  Das  beweisen  die  großen  Epen,  die  Inschriften  der  Gupta,  die 
eine  lange  Pflege  der  Kunstpoesie  voraussetzen,  das  Drama,  dessen  all- 
mähliche Entwicklung  wir  aus  überlieferten  Nachrichten  erschließen  können, 
die  Anthologieen  in  Sanskrit  und  Präkrit,  die  eine  gewaltige,  uns  zum 
großen  Teile  noch  ganz  unbekannte  Literatur  voraussetzen,  die  gesamte 
wissenschaftliche  Literatur.  Was  uns  fehlt,  sind  die  Mittelglieder.  Aber 
das  Resultat  liegt  vor.  Daß  die  arischen  Inder  sich  stark  mit  der  ein- 
heimischen Bevölkerung  vermischt  haben,  zeigt  ihre  körperliche  Erschei- 
nung. Auch  wird  das  Klima,  das  um  so  heißer  wurde,  je  mehr  sie  nach 
Osten  zogen,  nicht  ohne  Einfluß  geblieben  sein.  Aber  nichts  hat  ver- 
mocht, das  Volk  in  seinem  Charakter  zu  ändern.  Der  Geist,  der  aus  den 
Liedern  des  RgA'eda  spricht,  ist  derselbe,  der  in  Bänas  Hymnus  auf  die 
Göttin  Candl  aus  dem  7.  Jahrhundert  n.  Chr.  weht.  Nur  die  Gottheit  und 
die  äußere  Form  haben  gewechselt. 
DievorUassische         Gehen  wir  jctzt  in  Kürze    die    einzelnen   Gebiete    der  vorklassischen 

wissenschaftliche 

Literatur.     Literatur,  zuerst  der  wissenschaftlichen,  dann  der  poetischen,  durch. 


B,  Die  nichtvedische  Literatur.     I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer,      i  g  I 

I.  An  die  in  den  Brähmanas  und  älteren  Upanisads  niedergelegten  Philosophie, 
philosophischen  Spekulationen  knüpfen,  teils  zustimmend,  teils  ablehnend, 
alle  späteren  philosophischen  Systeme  Indiens  an.  Ihre  Zahl  war  außer- 
ordentlich groß,  und  sie  zeigen  alle  Schattierungen  philosophischen  Den- 
kens vom  orthodoxen  Vedaglauben  bis  zum  schroffsten  Skeptizismus,  vom 
Monotheismus  bis  zum  zynischen  Materialismus.  Der  Kanon  der  Jaina 
kennt  nicht  weniger  als  363  verschiedene  Systeme.  Nur  6  aber  gelten 
als  vereinbar  mit  den  Lehren  des  Veda,  also  orthodox:  das  Säiiikhya  des 
Kapila,  der  Yoga  des  Patafijali,  der  Nyäya  des  Gotama,  das  Yaise- 
sika  des  Kanada,  die  Karmaunniäinsä  oder  Pürvamlmämsä.,  schlechthin 
gewöhnlich  bloß  Mlmämsä  genannt,  des  Jaimini,  und  die  Brahmavii- 
inämsä  oder  Sänrakamimämsä  oder  Uftaramlmämsä,  g'e wohnlich  Vedänta 
genannt,  des  Bädaräyana.  Die  Bezeichnung  als  orthodox  kommt  nur 
den  beiden  Mimämsäs  zu.  Die  erste  ist  ein  System  des  Werkdienstes. 
Sie  untersucht  die  Pflichten,  die  sich  aus  dem  Veda  ergeben,  und  die 
Frucht,  die  ihre  Befolgung  zeitigt.  Der  Vedänta  fußt  ganz  auf  den  alten 
Upanisads.  Sein  Grundg'edanke  ist  die  Identität  des  Brahman,  des  ewigen 
Prinzipes  allen  Seins,  mit  dem  Ätman,  der  Seele.  Wer  sein  eigenes  Selbst, 
seine  Seele,  als  identisch  erkennt  mit  dem  Allgeist,  wird  nicht  wieder- 
geboren; er  wird  erlöst  von  der  Seelenwanderung-,  der  ein  Ziel  zu  setzen 
die  Aufg-abe  aller  philosophischen  Systeme  ist.  Das  Brahmasütra  des 
Bädaräyana  ist  kommentiert  worden  von  Samkara,  der  auch  zu  vielen 
Upanisads  Kommentare  geschrieben  hat.  Samkara,  der  von  788 — 820  g'e- 
lebt  hat,  ist  ein  in  der  indischen  Literatur  hochberühmter  Mann,  der  Er- 
neuerer des  orthodoxen  Brahmanentums.  Ihm  werden  sehr  viele  Werke, 
auch  Gedichte,  zug^eschrieben,  und  sein  Leben  ist  in  mehreren  Werken 
romanhaft  geschildert  worden.  Das  Nyäyadarsana  ist  ein  System  der  in- 
dischen Logik;  das  Vaisesikadarsana,  mit  dem  Nyäya  oft  zu  einem  Ganzen 
verbunden,  lehrt  die  Entstehung  der  Welt  aus  Atomen.  Zu  den  ältesten 
Systemen  gehört  das  Sämkhya  des  Kapila,  auf  dem  der  Buddhismus  fußt, 
soweit  er  überhaupt  Philosophie  genannt  werden  kann.  Das  Sämkhya 
lehrt  einen  Dualismus  der  Urmaterie  und  der  gleichfalls  von  allem  An- 
fang an  existierenden  Einzelseelen.  Es  gibt  nach  ihm  keinen  Gott,  der 
Schöpfer  oder  Regierer  der  Welt  ist.  Es  ist  also  atheistisch.  Die  Er- 
lösung tritt  nach  ihm  ein,  sobald  der  Geist  erkannt  hat,  daß  er  in  seinem 
Wesen  völlig  verschieden  von  der  Materie  ist.  Dann  trennt  er  sich  von 
ihr,  ohne  je  wieder  zu  ihr  zurückzukehren.  Das  Yogasütra  deutet  das 
Sämkhya  theistisch  um.  Es  nimmt  einen  Urgeist  an,  aus  dem  alle  andern 
Geister  stammen.  Die  Vereinigung  mit  ihm  bringt  die  Erlösung',  und  sie 
wird  erreicht  durch  Buße  und  Kasteiung.  Die  uns  erhaltenen  Werke  sind 
alle  jüngeren  Ursprungs.  Keins  geht  wirklich  auf  den  Mann  zurück,  dessen 
Namen  es  trägt.  Beim  Särnkhya  zeigt  das  älteste,  die  Sämkhyakärikä  des 
Isvarakrsna,  vor  dem  6.  Jahrhundert  n.  Chr.  entstanden,  sog'ar  metrische 
Form,  nicht  die  der  Sutra,  wie  die  übrigen.  Aber  der  Inhalt  ist  nachweislich  alt. 


lS2  Richard  Pischel:   Die  indische  Literatur. 

Grammatik.  2.  Vorbildlich  für   die    europäische  Forschung   sind    die  Arbeiten   der 

Inder  auf  dem  Gebiete  der  Grammatik  geworden.  Die  Durchsichtigkeit 
des  Sanskrit  gestattete  eine  Zergliederung  des  Wortes,  die  andere  indo- 
germanische Sprachen  versagten.  Schon  in  den  Brähmana  und  Äranyaka 
finden  sich  grammatische  Spekulationen,  aber  theologisch -mystischen  In- 
halts in  dunkler  Sprache.  Der  grammatischen  Erklärung  der  Veden 
dienten,  wie  wir  sahen,  die  Prätisäkhya,  das  Niruktam,  die  Siksäs.  Das 
Prätisäkhya  des  Rgveda  ist  in  Versen  geschrieben,  die  der  übrigen  Veden 
dagegen  in  den  kurzen  Aphorismen  der  Sütra.  Und  diese  Form  ist  später 
die  allein  herrschende  geworden.  Ihren  Höhepunkt  erreichte  die  gramma- 
tische Forschung  in  dem  Werke  des  Pänini,  dem  Astakani  Päninlyam 
oder  der  AsiädhyäyJ,  aus  acht  [asfan)  Büchern  mit  3983  Regeln  bestehend. 
Pänini  erwähnt  ganze  Schulen  und  nicht  wenige  einzelne  Männer  als  Vor- 
läufer. Trotzdem  ist  seine  Zeit  nicht  zu  bestimmen.  Man  pflegt  ihn  ins 
4.  oder  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  zu  setzen.  Über  seine  persönlichen  Ver- 
hältnisse wissen  wir  nur,  daß  er  im  Dorfe  Salätura,  im  nordwestlichen 
Indien  in  der  Xähe  des  heutigen  Atak,  geboren  wurde,  und  daß  seine 
Mutter  Däksl  hieß.  Die  Legende  berichtet  von  ihm,  wie  von  Kälidäsa, 
daß  er  ursprünglich  ein  Dummkopf  war,  daß  er  aber  durch  strenge  Buße 
auf  dem  Himälaya  die  Gunst  des  Siva  erwarb,  der  ihm  eine  neue  Gram- 
matik offenbarte.  Der  Legende  gehört  es  vielleicht  auch  an,  daß  er  seinen 
Tod  durch  einen  Löwen  gefunden  hat.  Nach  indischer  Anschauung  freuen 
sich  Grammatiker,  wenn  sie  einen  halben  kurzen  Vokal  in  einer  Regel 
sparen  können,  darüber  ebenso  sehr,  wie  über  die  Geburt  eines  Sohnes. 
Dementsprechend  geht  ihr  Bestreben  auf  möglichste  Kürze  aus.  Bei 
Pänini  ist  die  alte  Form  der  Sutra  auf  den  denkbar  geringsten  Umfang 
beschränkt  worden.  An  die  Stelle  lebendiger  Worte  sind  zum  großen 
Teil  Abkürzungen  von  Worten  und  Kombinationen  aus  Buchstaben  ge- 
treten, die  an  und  für  sich  völlig  sinnlos  und  ohne  Kommentar  ganz  un- 
verständlich sind.  So  haben  die  Regeln  die  Gestalt  algebraischer  Formeln 
erhalten.  Zur  Aufklärung  einer  Regel  muß  man  aber  meist  auch  noch 
andere  vorhergehende  Regeln  herbeiziehen,  aus  denen  sich  Zusätze  oder 
Einschränkungen  ergeben.  Solche  Hauptregeln  waren  ursprünglich  durch 
bestimmte  Zeichen  im  Texte  hervorgehoben,  und  ihr  Wirkungsgebiet  durch 
Zahlen  festgesetzt.  Unsere  Handschriften  haben  diese  Bezeichnungen  nicht 
mehr.  Die  Schwierigkeit  des  Verständnisses  würde  sich  wesentlich  ver- 
mindern, wenn  alle  zusammengehörigen  Regeln  auch  wirklich  hinter- 
einander ständen.  Das  ist  aber  nicht  der  Fall.  Die  Regeln  stehen  oft 
außer  aller  Verbindung.  Auf  eine  allgemeine  Regel  folgt  unmittelbar  eine 
ganz  spezielle.  Die  Masse  der  Ausnahmen  zu  einer  Hauptregel  verdunkelt 
sehr  oft  den  Zusammenhang,  und  zwischen  Wichtigem  und  Unwichtigem 
wird  kein  Unterschied  gemacht.  Diesen  Mangel  hat  man  in  Indien  selbst 
empfunden.  Spätere  Werke,  die  Kaiimiidl^  „Mondschein",  genannt  werden, 
machen    den  Versuch   einer  systematischen  Anordnung.     Ob  Päninis  Dar- 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer.      183 

Stellungsweise  nicht  auf  der  Methode  des  Unterrichts  beruht,  läßt  sich 
nicht  sagen.  Seine  Grammatik  verfolgt  jedenfalls  den  Zweck,  dem  Ler- 
nenden die  Möglichkeit  zu  geben,  sofort  jede  Form  korrekt  zu  bilden. 
Pänini  lehrt  auch  nicht  die  spätere  Sprache  der  klassischen  Dichter,  son- 
dern die  der  Brähmana  und  Sütra,  was  scheinbare  Lücken  erklärt.  Wie 
weit  er  auf  den  Schultern  seiner  Vorgänger  steht,  entzieht  sich  unserer 
Kenntnis.  Er  zeigt,  daß  die  indischen  Grammatiker  viel  tiefer  in  das 
Wesen  der  Sprache  eingedrungen  sind  als  die  griechischen  und  römischen. 
Er  soll  auch  eine  Präkritgrammatik  und  Kunstgedichte  verfaßt  haben. 
Ergänzungen  und  Verbesserungen  zu  Pänini  gab  Kätyäyana  oder  Vara- 
ruci,  den  eine  Xradition  zu  einem  Zeitgenossen  Päninis  macht.  Sein  Werk 
ist  uns  nur  in  dem  „großen  Kommentare"  dazu,  dem  Vyäkaraiiamahäbhäsya^ 
gewöhnlich  Viürzev  Mahäbhäsya  genannt,  desPatanjali  erhalten,  der  diese 
Ergänzungsregeln,  Yärttika^  im  Wortlaut  aufgenommen  und  geprüft  hat,  ob 
alle,  ist  nicht  zu  sagten.  Man  setzt  ihn  ins  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  Pänini, 
Kätyäyana  und  Patanjali  sind  die  gefeiertsten  Namen  auf  dem  Gebiete 
der  Grammatik.  An  ihre  Arbeiten  schließt  sich  eine  sehr  umfangreiche 
Literatur  an,  aus  der  hier  nur  die  Käsikä  des  Vämana  und  Jayäditya  ge- 
nannt sei,  der  beste  Kommentar  zu  Pänini,  aus  dem  7.  Jahrhundert  n.  Chr. 
Neben  der  Schule  des  Pänini  gab  es  noch  zahlreiche  andere,  die  eigene 
Systeme  mit  abweichender  Terminologie  aufstellten,  in  der  Hauptsache 
aber  über  Pänini  nur  insoweit  hinauskamen,  als  sie  auf  eine  spätere  Sprach- 
stufe Rücksicht  nehmen. 

3.  Mit  der  Grammatik  in  engem  Zusammenhang  steht  die  Rhetorik.  Rhetorik. 
Im  Gegensatz  zu  den  grammatischen  und  philosophischen  Werken  sind 
die  rhetorischen  meist  in  Versen  geschrieben.  Das  vorwiegende  Metrum 
ist  der  ^loka.  Er  besteht  aus  zwei  Versen,  jeder  zu  16  Silben,  die  durch 
die  Cäsur  in  zwei  Hälften  zu  je  8  Silben  geteilt  werden.  Sein  eigen- 
artiges   Gepräge    erhält    er    dadurch,    daß    die    erste    Hälfte    jedes  Verses 

trochäisch,    w u,    die    zweite   dagegen  iambisch,    u  _  u  _,    schließt.     Der 

Sloka  ist  das  national  indische  Metrum.  Er  erscheint  schon  in  alt- 
buddhistischen Texten  und  ist  das  Metrum  der  Epen.  In  ihm,  nicht  in 
Prosa,  ist  auch  der  weitaus  größte  Teil  der  fachwissenschaftlichen  Litera- 
tur geschrieben,  selbst  die  juristische  und  medizinische,  was  auf  uns  einen 
befremdenden  Eindruck  macht.  Die  weitschichtige  rhetorische  Literatur 
behandelt  die  ganze  Technik  der  Dichtkunst  bis  in  die  kleinsten  Einzel- 
heiten hinein.  Sie  ist,  w4e  die  grammatische,  überaus  schwierig,  gibt  aber 
wertvollen  Aufschluß  für  das  richtige  Verständnis  der  indischen  Kunst- 
poesie, die  später  ganz  nach  ihren  Vorschriften  gearbeitet  hat.  Über  den 
Kreis  von  Fachleuten  hinaus  sind  von  Interesse  die  Werke  über  die 
Dramaturgie  und  die  Erotik.  An  der  Spitze  der  ersten  steht  das 
Bhäratiyanäfyasästra^  „das  Lehrbuch  der  Schauspielkunst  für  Schauspieler", 
oder,  wie  es  die  Inder  deuten,  des  Bharata,  der  zum  Schauspieldirektor  der 
Götter  und  angeblichen  Erfinder  des  Dramas  gemacht  worden  ist.  Das  Werk 


jg,  Richard  Pischel:   Die  indische  Literatur. 

ist  uns  in  mehreren  Bearbeitungen,  aber  leider  sehr  schlecht  überliefert. 
Wir  ersehen  aus  ihm,  wie  ganz  allmählich  aus  den  oben  geschilderten 
Anfängen  in  vedischer  Zeit  das  indische  Schauspiel  durch  Puppenspiel 
imd  Mimus  sich  zu  immer  größerer  Vollendung  erhob,  mit  wie  beschei- 
denem szenischen  Apparat  man  arbeitete  und  doch  begeisternde  Wirkung 
auf  die  Zuhörer  ausübte.  Es  zeigt  uns  in  Verbindung  mit  zerstreuten 
anderen  Nachrichten,  daß  das  indische  Schauspiel  ganz  selbständig,  ohne 
jeden  fremden  Einfluß  sich  entwickelt  hat.  Von  der  uns  erhaltenen  ero- 
tischen Literatur  ist  das  älteste  Werk  das  Kämasiltra,  „Leitfaden  der 
Liebe",  von  Vätsyäyana.  Drei  Triebfedern  bestimmen  nach  Ansicht  der 
Inder  das  Handeln  der  Menschen,  die  Moral  {dharma),  der  Nutzen  {arthd) 
und  die  Liebe  {kä?na).  Die  Liebe  aber  ist  nach  den  Erotikern  „die 
größeste  unter  ihnen". 

So  haben  sie,  entsprechend  der  Neigung  der  Inder  zum  Schemati- 
sieren, auch  die  Liebe  und  ihre  Äußerungen  in  ein  ausgebildetes  System 
gebracht,  das  im  Kämasütra  in  genau  derselben  aphoristischen  Form  dar- 
gestellt ist,  wie  in  den  übrigen  Sutra.  Das  Kämasütra  ist  eine  außer- 
ordentlich wertvolle  Ergänzung  der  Grhyasütra.  Es  belehrt  uns  über  den 
Inder  in  allen  Stadien  der  Liebe,  über  deren  Äußerungen,  die  Freuden 
der  Liebe,  die  sehr  eingehend  geschildert  werden,  über  die  freie  Liebe, 
die  Hetären,  das  Leben  im  Harem,  die  geschlechtlichen  Verirrungen 
u.  dgl.  In  einem  Anhang,  Upanisad  genannt,  werden  Rezepte  aufgeführt, 
die  zu  vielen  Dingen  gut  sein  sollen.  Das  Buch  ist  für  den  indischen 
Philologen,  den  Kulturhistoriker  und  Arzt  von  großer  Wichtigkeit,  auch 
für  den  Botaniker  nicht  ohne  Wert.  Seine  Zeit  dürfte  das  i.  oder  2.  Jahr- 
hundert n.  Chr.  sein. 
Recht  4.  Die  ältesten  Quellen  über  das  indische  Recht  {dharma)  bilden  die 

DharmasUtra^  die  zweite  Stufe  die  Dharmasästra,  „die  Lehrbücher  des 
Rechts",  die  in  der  älteren  Zeit  aus  Prosa  und  Versen  gemischt  waren, 
später  rein  metrisch,  meist  im  Sloka  geschrieben  sind  und  dann  auch 
Sttirti  genannt  werden.  Dazu  kommen  als  weitere  Quellen  das  Mahäbhä- 
rata  und  die  Puräna  und  die  gewaltige  Literatur  der  Kommentare  und 
systematischen  Werke,  die  sich  an  die  Smrti  frühzeitig  angeschlossen  hat. 
Die  späteren  Kompendien  haben  die  Originalwerke  teilweise  ganz  ver- 
drängt. Als  die  Engländer  ihre  Herrschaft  über  Indien  begründeten,  war 
ein  Kommentar  zu  dem  Gesetzbuche  des  Yäjfiavalkya,  die  Mitäksarä  des 
Vijnänesvara,  eines  Südinders  aus  dem  1 1.  Jahrhundert  n.  Chr.,  das  maß- 
gebendste Werk,  das  auch  auf  die  englische  Rechtsprechung  in  Indien 
Einfluß  gewann.  Unter  den  Dharmasästra  nimmt  die  erste  Stelle  ein 
das  MäJiava  Dharmasästra,  das  in  seiner  vorliegenden  Gestalt  ins  2.  oder 
3.  Jahrhundert  n.  Chr.  gehören  wird.  Nach  seinen  eigenen  Angaben  ist 
sein  Verfasser  der  Urvater  der  Menschen,  Manu.  Als  Verkünder  des 
Werkes  wird  der  ebenso  mythische  Bhrgu  genannt,  dem  sein  Vater  Manu 
es   offenbart  habe.     Ihm   wird    auch   eine  besondere   Smrti   zugeschrieben. 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer.      185 

Wahrscheinlich  ist  das  Gesetzbuch  aus  der  vedischen  Schule  der  Mäna- 
väs  hervorgegangen,  die  zum  schwarzen  Yajurveda  gehört.  Im  Laufe  der 
Zeit  hat  es  so  viele  Zusätze  und  Veränderungen  erfahren,  daß  jetzt  der 
Zusammenhang  mit  den  bisher  bekannten  älteren  Werken  der  Mänaväs 
nicht  sehr  stark  hervortritt.  Es  umfaßt  12  Bücher  {Adhyäya).  Die  ersten 
sechs  handeln  von  der  Erschaffung  der  Welt  und  den  Pflichten  des 
Brahmanen  in  den  vier  Stufen  seines  Lebens  einschließlich  bestimmter 
Opfer,  die  zweiten  sechs  von  den  Pflichten  des  Königs,  namentlich  der 
Art,  wie  er  Recht  zu  sprechen  und  die  Strafgewalt  auszuüben  hat,  von 
den  Beschäftigungen  der  vier  Kasten  und  der  Mischkasten,  von  der  Buße 
und  der  Seelenwanderung.  Bei  der  Behandlung  des  eigentlichen  Rechtes 
wird  das  Schuldrecht  vorangestellt;  es  folgen  die  Lehre  von  den  Stiftungen, 
das  Gesellschafts-,  Handels-,  Privat-,  Straf-,  Familienrecht  und  ein  Anhang 
über  Spiel  und  Wetten.  Das  Mänavadharmasästra  gibt  als  seine  Grund- 
lage an  den  ganzen  Veda,  die  Tradition,  den  Lebenswandel  und  die  Lehre 
frommer  Männer  und  die  eigene  Befriedigung,  also  das  Gewissen.  Es 
nennt  mehrere  Rechtslehrer  mit  Namen  und  spricht  von  Dharmasästra  im 
allgemeinen.  Es  will  aber  nicht  ein  trocknes  Lehrbuch  des  Rechts  sein. 
Es  ist  ein  Gedicht  und  verfolgt  die  Tendenz,  den  Stand  der  Brahmanen 
hoch  über  alle  andern  zu  erheben.  In  keinem  andern  Werke  der  indi- 
schen Literatur  treten  das  Selbstgefühl  und  die  Ansprüche  des  Priester- 
tums  so  schroff  hervor  wie  bei  Manu.  Die  Priester  haben  es  verstanden, 
den  alten  Ausspruch  des  schwarzen  Yajurveda:  „Alles,  was  Manu  gesagt 
hat,  ist  Arznei",  auf  das  Gesetzbuch  anzuwenden  und  dem  indischen  Volke 
einzuschärfen.  Manus  Gesetze  sind  schon  frühzeitig  die  Norm  geworden, 
nach  der  sich  das  Leben  des  Inders  zu  richten  hatte.  Ursprünglich,  wie 
es  scheint,  ein  Gesetzbuch  des  westlichen  Indiens,  ist  es  allmählich  zu 
dem  von  ganz  Vorderindien  geworden,  und  über  dessen  Grenzen  hinaus  in 
Birma,  Slam  und  Java  gilt  Manu  als  Urheber  der  Gesetze  überhaupt. 

Verknüpft  sein  Name  Manu  mit  dem  schwarzen  Yajurveda,  so  weist 
uns  der  des  angeblichen  Verfassers  des  zweitberühmtesten  Gesetzbuches, 
Yäjhavalkya,  auf  den  weißen.  Und  wie  für  Manus  Werk  der  Westen,  so 
ist  für  das  des  Yäjnavalkya  der  Osten  Indiens  als  Heimat  festgestellt.  Der 
Gegensatz  zwischen  den  beiden  Schulen  des  Yajurveda  tritt  auch  in  den 
Gesetzbüchern  hervor,  indem  Yäjnavalkya  gegen  Manu  polemisiert,  ohne  ihn 
mit  Namen  zu  nennen.  Daß  Yäjnavalkya  jünger  ist  als  Manu,  ist  zweifellos; 
viele  Verschiedenheiten  erklären  sich  aber  auch  aus  lokalen  Gründen.  Je 
später  die  Smrtis,  die  juristischen  Werke,  sind,  desto  spezieller  werden  sie. 
Ihre  Zahl  ist  sehr  groß.  In  vielen  tritt  der  juristische  Charakter  ganz 
zurück.  Sie  werden  zu  poetischen  Kompendien  der  Moral  und  Göttern 
und  Heiligen  in  den  Mund  gelegt,  um  durch  den  großen  Namen  ihre 
Wertlosigkeit  zu  verdecken. 

5.    Für  das  Ansehen,  das  in  Indien  die  Medizin  genoß,  spricht,  daß      Medizin, 
man  die  medizinische  Literatur  mit  einem  Veda,  dem  Ayurveda,  „Veda  des 


l86  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

Lebens",  beginnen  läßt,  den  man  aufBrahman  selbst  zurückführte  und  als 
einen  Anhang  des  Atharvaveda  betrachtete.  Die  Angaben  der  Mediziner 
über  dieses  Werk  stimmen  so  sehr  überein,  daß  ihnen  wohl  etwas  Wahres 
zugrunde  liegt.  Als  Arzte  der  Götter  gleiten  die  A^vins,  später  Dhanvan- 
tari,  und  der  Atharvaveda  ist  voll  von  Liedern  und  Sprüchen  gegen 
Krankheiten.  Jivaka  Komärabhacca,  ein  Zeitgenosse  des  Buddha,  war  als 
Arzt  weit  berühmt  und  wurde  hoch  bezahlt.  Der  König  A^oka  erwähnt 
in  seinen  Inschriften  aus  dem  3.  Jahrhundert  v.  Chr.,  daß  er  Hospitäler  für 
Menschen  und  Tiere  habe  errichten  lassen.  Die  Heilkunst  ist  also  in 
Indien  unzweifelhaft  sehr  alt  und  hatte  trotz  allerlei  abergläubischen  An- 
schauungen, namentlich  bei  der  Prognose  und  in  der  Wahl  der  Arznei- 
mittel, schon  frühzeitig  einen  nicht  geringen  Grad  der  Ausbildung  erlangt. 
Daß  ihr  Ruf  weit  verbreitet  war,  zeigt,  daß  sich  in  Kaschgar  Hand- 
schriften aus  dem  5.  Jahrhundert  n.  Chr.  gefunden  haben,  die  Sanskrittexte 
rein  medizinischen  Inhalts  enthalten,  und  daß  auch  in  Tibet,  Hinterindien, 
Ceylon,  Persien  und  Arabien  die  indische  Medizin  wohl  bekannt  war. 
Zahlreiche  Berührungspunkte  finden  sich  auch  zwischen  der  indischen  und 
griechischen  Medizin.  Welcher  Teil  hier  der  entlehnende  war,  ist  nicht 
sicher.  Da  auch  auf  dem  Gebiete  der  Astronomie  und  Astrologie  Griechen- 
land auf  Indien  eingewirkt  hat,  kann  es  auch  bei  der  Medizin  in  späterer 
Zeit  der  Fall  gewesen  sein. 

Der  älteste  uns  erhaltene  indische  Schriftsteller  über  Medizin  ist 
Caraka,  der  nach  chinesischen  Quellen  Leibarzt  des  Königs  Kaniska  im 
I.  Jahrhundert  v.  Chr.  war.  Sein  Werk,  die  Carakasamhitä,  gilt  für  die 
Bearbeitung  eines  älteren  Werkes  des  Agnivesa.  Der  Schlußteil  des 
fünften  und  die  beiden  letzten  der  acht  Bücher  der  Samhitä  rühren  nicht 
von  Caraka  selbst  her,  sondern  sind  nach  ihrer  eigenen  Angabe  von 
einem  späteren  Verfasser  aus  vielen  Büchern  zusammengestellt.  Auch  die 
übrigen  Bücher  haben  große  Veränderungen  erfahren,  so  daß  das  Werk 
sehr  schlecht  überliefert  ist.  Die  Chirurgie  wird  gar  nicht  behandelt,  da- 
gegen ausführlich  die  Pharmakologie,  Physiologie,  allgemeine  Pathologie, 
Anatomie,  die  allgemeine  und  spezielle  Therapie.  Ein  eigenes  Buch 
handelt  über  Diagnostik  und  Prognostik,  einzelne  Kapitel  anderer  Bücher 
über  Diätetik,  Kurmethoden,  Arzte  und  Kurpfuscher,  das  ärztliche  Studium 
u.  a.  Prosa  wechselt  mit  Versen.  Noch  berühmter  als  Caraka  war 
Susruta,  dessen  Samhitä,  auch  Ayurvedaäästra  genannt,  im  5.  Jahrhun- 
dert n.  Chr.  längst  Autorität  gewesen  ist.  Der  dritte  in  der  Reihe  der 
berühmten  ärztlichen  Schriftsteller  ist  Vägbhata  aus  unbekannter  Zeit, 
dessen  Werk  in  zwei  Bearbeitungen  vorliegt.  Susruta  und  Vägbhata  be- 
handeln auch  die  Chirurgie.  An  diese  „Trias  der  Alten"  schließt  sich 
eine  sehr  umfangreiche  medizinische  Literatur  an,  darunter  auch  medizi- 
nische Glossare. 
Tierheilkunde.  6.  Auch  die  Tierheilkunde  ist  bearbeitet  worden.    Wir  besitzen  Lehr- 

bücher   der    Elefanten-    und    Pferdeheilkunde,    die    durch    ihre    Angaben 


B.  Die  niclitvedische  Literatur.     I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer.      187 

Über  diese  für  Indien  so  wichtigen  Tiere  teilweise  von  großem  Inter- 
esse sind, 

7.  Wenig  bekannt  ist  noch  die  Literatur  über  Musikwissenschaft.  Musik- 
Der  Rgveda  kennt  schon  eine  große  Zahl  musikalischer  Instrumente,  und 
wir  erfahren  aus  ihm,  daß  im  Kultus  des  Todesgottes  Yama  viel  gesungen 
wurde  und  glänze  Kapellen  spielten.  Der  Veda  der  Gesänge,  der  Säma- 
veda,  war  den  Manen  geweiht,  deren  König  Yama  ist.  Musik,  Gesang 
und  Tanz  werden  auch  sonst  in  vedischer  und  nachvedischer  Zeit  bei 
religiösen  und  profanen  Gelegenheiten  viel  erwähnt.  Das  beliebteste  In- 
strument war  die  Laute  [vliia),  die  namentlich  auch  die  Frauen  zum  Ge- 
sänge spielten.  Die  Notationen  zu  Melodieen  auf  der  Laute  kennen  wir 
erst  durch  die  Kompositionen  des  Somanätha  aus  dem  Jahre  i6og,  der 
allerdings  nach  altem  Muster  gearbeitet  hat.  Über  die  Technik  des  kirch- 
lichen und  weltlichen  Gesanges  sind  wir  bis  jetzt  noch  im  Dunkeln,  so 
zahlreich  auch  die  Werke  darüber  sind.  Bereits  in  dem  zu  den  Vedähga 
gerechneten  Chandahsütra  und  in  Siksäs  findet  sich  die  Bezeichnung  der 
sieben  Töne  der  Oktave  mit  den  Anfangsbuchstaben  ihrer  Sanskritnamen 
sa  ri  ga  ma  pa  dha  ni.  Durch  Vermittlung  der  Perser  und  Araber 
scheint  daraus  in  Europa  ut  re  mi  fa  sol  la  si  geworden  zu  sein.  Auch 
der  Nama  Gamma,  den  Guido  von  Arezzo  im  Anfange  des  11.  Jahrhun- 
derts der  Tonleiter  gibt,  scheint  auf  das  Neuindische  gäma  =  Sanskrit 
gräina  zurückzugehen. 

Neben    hervorragenden    wissenschaftlichen  Leistungen  weist  die   vor-      Die  vor- 

_  _  klassische    poe- 

klassische     indische     Literatur     auch     poetische     Werke     von     hohem  tische  Literatur. 
Rang  auf. 

I.  Das  indische  Volk  hat  von  ieher  die  größte  Freude  an  Fabeln  und    ErzäWungs- 

.        .  .  .  literatur. 

Märchen  gehabt,  und  es  liegt  nur  an  dem  geistlichen  Zuschnitt  der  vedi- 
schen  Literatur,  daß  uns  aus  ältester  Zeit  fast  nichts  davon  erhalten  ist. 
Um  die  volkstümlichen  Götter  des  Rgveda  hatte  sich  ein  Sagenkreis  ge- 
bildet, der  aber  im  Veda  selbst  nur  schwer  aus  Anspielungen  und  kurzen 
Hinweisungen  zu  erkennen  ist.  Oft  hilft  uns  zum  Verständnis  der  alten 
Erzählungsliteratur  die  klassische  Literatur  der  Brahmanen,  noch  öfter  die 
der  Sekten  der  Buddhisten  und  Jaina.  Auf  dem  Konzile  zu  Räjagrha, 
das  unmittelbar  nach  dem  um  480  v.  Chr.  erfolgten  Tode  des  Buddha 
stattfand,  wurde  ein  Kanon  der  buddhistischen  Lehre  und  Disziplin  zu- 
zammengestellt,  der  in  seiner  ältesten  Gestalt  verloren  gegangen  ist.  Der 
uns  bis  jetzt  allein  vollständig  bekannte  buddhistische  Kanon,  das  Tipi- 
taka,  Sanskrit  Tripifaka,  „diej  drei  Körbe",  ist  der  der  Sekte  der  Vi- 
bhajyavädinas.  Er  ist  in  Päli  geschrieben  und  im  i.  Jahrhundert  v.  Chr. 
unter  König  Vactagämani  von  Ceylon  aufgezeichnet  worden.  Bruchstücke 
einer  zweiten  Redaktion  in  Sanskrit,  auf  der  die  chinesischen  Über- 
setzungen beruhen,  haben  sich  kürzlich  in  Chinesisch-Turkestan  gefunden. 
Die  ältesten  Bestandteile  des  Tipitaka  reichen  unmittelbar  von  der  Zeit 
des  Buddha  bis  etwa  300  v.  Chr.    Die  buddhistische  Literatur  ist  zunächst 


jgg  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

rein  persönlich.  Sie  lehnt  sich  ganz  an  den  Stifter  der  Sekte  an  und 
will  nur  vortragen,  was  der  Meister  gelehrt  und  wie  er  gelehrt  und 
gelebt  hat.  Der  zweite  der  Körbe,  für  die  indische  Literaturg-eschichte 
der  wichtigste,  führt  den  Namen  Snffapifaka ,  Sanskrit  Sülrapitaka. 
Aber  die  Form  ist  nicht  die  knappe  der  alten  Sütra.  Im  Gegenteil. 
DogTiiatische  Erörterungen  und  Predigten  werden  in  überaus  weit- 
schweifiger und  wortreicher,  in  ihrer  Gleichmäßigkeit  äußerst  ermüdender 
Weise  vorgetragen.  Dazwischen  aber  finden  sich  Gleichnisse  eingestreut, 
die  auf  Fabeln  und  Märchen  hinweisen,  auch  selbst  kurz  ausführen,  und 
Erzählungen  aus  dem  Leben  des  Buddha,  einzelne  von  großer  Schönheit, 
wie  das  Mahäparinibbänasutta  „das  große  Sütra  vom  letzten  Sterben" 
{pariiiirvänn)  des  Erhabenen. 

Auch  poetische  Gestalt  haben  die  Predigten  angenommen.  Eine  der 
ältesten  und  schönsten  Sammlungen  des  Suttapitaka,  der  Suttanipäta,  ist 
vorwiegend  in  Versen  geschrieben.  Die  Lieder  der  Mönche  und  Nonnen, 
im  Umfange  von  einem  Verse  bis  über  siebzig,  schildern  uns,  wie  die 
Dichter  und  Dichterinnen  aus  sündhaftem  Leben  sich  zur  Befreiung  durch 
die  Lehre  des  Buddha  durchgerungen  haben,  oder  geben  uns  Sinnsprüche 
und  moralische  Betrachtungen.  Und  ganz  buddhistisches  Gepräge  tragen 
auch  die  Weisheitssprüche  des  Dhavimapada  und  Werke,  wie  das  Peta- 
vaff/m,  „Erzählungen  von  Verstorbenen".  Im  allgemeinen  ist  diese  Mönchs- 
poesie sehr  nüchtern  und  gleichförmig.  Doch  gibt  es  auch  Stücke 
darunter,  die  dichterischen  Schwung  tragen,  wie  wenn  ein  Mönch  das 
Glück  der  Versenkung  in  der  Einsamkeit  des  Waldes  schildert. 

Diese  geistliche  Poesie  läßt  uns  auf  eine  reiche  Aveltliche  Dichtkunst 
schließen.  Die  buddhistische  Fabelliteratur  ist  dreifacher  Art.  Sie  ent- 
hält Legenden  von  den  Wiedergeburten  des  Buddha  vor  seinem  letzten 
Auftreten  in  dieser  Welt,  die  sogenannten  Jäfaka,  ferner  Legenden,  die 
sich  auf  den  historischen  Buddha,  und  endlich  Legenden,  die  sich  auf 
seine  Jünger  beziehen,  die  Apadäna,  Sanskrit  Avadäna^  ein  Wort,  das 
auch  in  weiterem  Sinne  von  „Geschichte",  „Erzählung"  im  allgemeinen 
gebraucht  wird.  Die  wichtigste  dieser  drei  Klassen  ist  die  erste.  Sie  ist 
die  umfangreichste  und  mannigfaltigste.  Buddha  liebte  es,  in  seine  Pre- 
digten Erzählungen  aus  alter  Zeit,  Märchen  und  Fabeln  einzuflechten,  die 
er  mit  dem  Gegenstand  seiner  Predigt  eng  verknüpfte,  um  am  Schlüsse 
daraus  die  Moral  zu  ziehen.  Die  Erzählungen  haben  alle  die  gleiche  Ge- 
stalt; ihr  Inhalt  ist  aber  sehr  verschieden,  da  Buddha  in  ihnen  je  nach 
seiner  Wiedergeburt  als  Gott,  Mensch  oder  Tier  aller  Grade  auftritt. 

Das  Jätaka  zeigt  die  älteste  Gestalt  der  epischen  und  dramatischen 
Literatur,  den  Wechsel  von  Vers  und  Prosa.  Auch  hier  waren  die  Verse 
das  Grundwerk.  In  ihnen  stimmen  daher  auch  alle  Ausläufer  des  Jätaka 
und  ven\'andte  Werke  am  meisten  überein,  während  sie  in  der  Prosa- 
fassimg,  die  im  Jätaka  selbst  einer  jüngeren  Zeit  angehört,  weit  auseinan- 
der gehn.    Die  älteste,  noch  nicht  herausgegebene  Jätakasammlung  enthält 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer.      i8q 

nur  die  Verse.  Von  der  großen  Beliebtheit  dieser  Erzählungen  zeugt  es, 
daß  Szenen  aus  ihnen  auf  Reliefs  des  3.  Jahrhunderts  v.  Chr.  dargestellt 
sind.  Obwohl  im  Dienste  des  Buddhismus  verwertet,  sind  die  Erzählungen 
keineswegs  buddhistische  Erfindungen,  sondern  alther  überkommenes  Erb- 
gut, einzelnes  vielleicht  vorindisch,  das  meiste  echt  indisch.  Die  Päli- 
fassung-  der  Jätaka  ist  auch  keineswegs,  wie  man  lange  geglaubt  hat, 
überall  die  Quelle,  auf  die  alle  anderen  Redaktionen  zurückgehen.  Viel- 
mehr stellt  sich  immer  mehr  heraus,  daß  auch  die  Sanskritbearbeitungen 
der  Fabeln  und  Märchen  auf  Überlieferungen  zurückgehn,  die  im  Munde 
des  Volkes  umliefen. 

Neben  der  buddhistischen  Fassung  in  Päli  tritt  immer  bedeutungs- 
voller hervor  die  jainistische  in  Präkrit  und  Sanskrit.  Die  Sekte  der 
Jaina  gründete  Niyantha  Näyaputta  (Sanskrit  Nirgrantha  Jnäta- 
putra),  gewöhnlich  mit  seinem  kirchlichen  Namen  Mahävira,  „der  große 
Held",  genannt,  ein  älterer  Zeitgenosse  und  Rival  des  Buddha.  Die  Sekte 
teilte  sich  in  zwei  sich  gegenseitig  befeindende  Richtungen,  die  Digam- 
baräs,  die  nackt  gehn,  und  die  Svetänibaräs ^  die  ein  weißes  Gewand 
tragen,  was  ihre  Namen  besagen.  Jede  Richtung  hat  ihren  eigenen 
Kanon,  der  in  verschiedenen  Präkritdialekten  geschrieben  ist.  Bekannt 
ist  uns  bisher  näher  nur  der  der  Svetämbaräs,  der  Siddhänta,  zu  dem 
eine  überaus  reiche  nichtkanonische  Literatur  hinzukommt.  Mahävira 
liebte  es,  wie  Buddha,  in  seine  Predigten  erbauliche  Erzählungen  einzu- 
schalten. Solche  finden  sich  schon  in  dem  ältesten  Teile  des  Kanons, 
den  zwölf  Ahga,  noch  mehr  aber  in  den  späteren,  in  einem  jüngeren 
Präkrit  geschriebenen  Teilen.  Die  Jaina  haben,  wie  schon  bemerkt,  auch 
an  der  brahmanischen  Literatur  in  Sanskrit  lebendigen  und  hervorragen- 
den Anteil  genommen,  aber  auch  eine  eigene  jainistische  Literatur  in 
Sanskrit  geschaffen.  Überall  finden  sich  bei  ihnen  Erzählungen,  Märchen 
und  Fabeln,  deren  Tendenz  hier  natürlich  jainistisch  ist.  Der  Stoff  läßt 
sich  zum  Teil  auch  bei  den  Buddhisten  und  Brahmanen  nachweisen;  sehr 
oft  ist  er  aber  bisher  nur  aus  Jainaquellen  belegt. 

Das  älteste  Märchenwerk  rein  weltlicher  Natur,  von  dem  wir  Märchen, 
wissen,  war  die  Brhatkathä  des  Gunädhya,  in  Paisäcl,  einem  Präkrit- 
dialekt,  vielleicht  im  i.  oder  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  im  Dekhan  verfaßt. 
Dieses  hochgefeierte  Werk,  das  von  den  Indern  auf  eine  Stufe  mit  dem 
Mahäbhärata  und  Rämäyana  gestellt  wird,  ist  leider  noch  nicht  gefunden 
worden,  obwohl  es  im  1 1.  Jahrhundert  noch  ganz  bekannt  war.  Zu  dieser 
Zeit  ist  es  zweimal  in  Kaschmir  in  Sanskrit  umgearbeitet  worden,  von 
Ksemendra  Vyäsadäsa  in  der  Brhatkathämanjarl  und  von  Somadeva 
in  dem  Kathäsaritsägara^  Bearbeitungen,  die  zum  Verluste  des  Originals 
beigetragen  haben  mögen.  Weitaus  der  geschicktere  Bearbeiter  war 
Somadeva,  dessen  Werk  eine  Hauptquelle  für  die  Märchenforschung 
bildet.  Wir  finden  hier  eine  Art  der  Erzählung,  die  für  diese  ganze 
Literaturgattung     charakteristisch     ist.      Die    Haupt-     oder,    wie     man    zu 


igo  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

sagen  pflegt,  die  Rahmenerzählung  wird  beständig  durch  kürzere  Er- 
zählungen unterbrochen,  in  die  wieder  andere,  kürzere  eingeschoben 
werden.  Dieses  System  der  Einschachtelung  erschwert  die  Übersicht 
sehr  und  ist  nur  daraus  zu  erklären,  daß  jede  Erzählung  ein  abg-e- 
schlossenes  Ganze  für  sich  bildet  und  die  Rahmenerzählung  erst  später 
hinzugefügt  worden  ist,  um  dem  Werke  wenigstens  den  Schein  der  Ein- 
heitlichkeit zu  geben.  Eine  dritte  Bearbeitung  der  Brhatkathä,  von  der 
erst  kürzlich  eine  Probe  veröffentlicht  worden  ist,  ist  der  Brliatkathäslo- 
kasamgraha  aus  Nepal.  Er  unterscheidet  sich  in  Form  und  Inhalt  von 
den  beiden  andern  Bearbeitungen  sehr  bedeutend. 
Fabeln.  Weitaus    das    berühmteste    Fabel  werk    ist    das   Pancataiitra,    „Buch 

der  fünf  Listen",  des  Visnusarman.  Es  besteht  aus  fünf  Büchern  und 
liegt  in  mehreren  Bearbeitungen  vor,  die  sehr  erheblich  voneinander 
abweichen,  so  daß  es  nicht  mehr  möglich  ist,  das  Urpancatantra  mit 
Sicherheit  zu  rekonstruieren.  Ihm  am  nächsten  stand  eine  Pahlavi-Über- 
setzung,  die  der  persische  Arzt  Barzöi  auf  Befehl  des  Sassaniden  Chosru 
Nüshirvän  (531 — 579)  gemacht  und  einer  größeren  Fabelsammlung  einver- 
leibt hatte.  Diese  PahlavI-Ubersetzung  ist  verloren  gegangen.  Sie  wird 
aber  treu  dargestellt  durch  eine  alte  syrische  Übersetzung,  die  der  Perio- 
deut  Bud  um  570  verfaßt  hat.  Diese  syrische  Übersetzung  führt  den 
Titel  y^Kalllag  und  Damnag''\  nach  dem  Xamen  der  beiden  Schakale 
Karataka  und  Damanaka,  die  im  ersten  Buche  des  Paiicatantra  die  Haupt- 
rolle spielen.  Im  8.  Jahrhundert  wurde  die  Pahlavi-Übersetzung  von  dem 
zum  Islam  übergetretenen  Perser  'Abdullah  bnu  l-Muqaffa"  ins  Arabische 
übersetzt,  und  durch  diese  Übersetzung  ist  das  Werk  zu  fast  allen  Völkern 
Asiens,  Europas  und  dem  nördlichen  Afrika  verbreitet  worden.  Aus  der 
arabischen  Bearbeitung  sind  eine  jüngere  syrische,  eine  griechische,  per- 
sische, hebräische  und  altspanische  geflossen,  aus  der  hebräischen  wieder- 
um, die  sich  durch  besondere  Treue  auszeichnet,  eine  lateinische  und  eine 
deutsche,  die  von  Graf  Eberhard  I.  von  Württemberg  (1265 — 1325)  veran- 
laßt wurde. 

Das  Pancatantra  Avurde  von  Benfey  1859  ins  Deutsche  übersetzt. 
In  der  Einleitung  hat  Benfey  über  das  indische  Grundwerk,  seine  Aus- 
flüsse, sowie  über  die  Quellen  und  die  Verbreitung  des  Inhalts  derselben 
gehandelt.  Diese  Arbeit  hat  die  vergleichende  Märchen-  und  Fabel- 
kunde begründet  und  dargelegt,  daß  Indien  als  die  Heimat  eines  großen 
Teils  unserer  Märchen  und  Fabeln  anzusehen  ist. 

In  Indien  fast  noch  bekannter  und  mehr  gelesen  ist  ein  anderes 
Fabelwerk,  der  Hitopadesa,  „die  passende  Unterweisung",  des  Näräyana 
in  vier  Büchern.  Der  Hitopadesa  nennt  sich  selbst  einen  Auszug  aus  dem 
Pancatantra  und  einem  andern  Werke  und  gibt  an,  daß  er  zur  Belehrung 
der  Kinder  geschrieben  seL  Über  seine  Zeit  ist  nichts  Sicheres  festzustellen, 
ebensowenig  über  andere  beliebte  Märchenwerke,  wie  die  VetälapaTica- 
vimsaiikä,  „die  35  Erzählungen  des  Vetäla",  die  Simhäsanadvätriynsikä,  „die 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer,      j  n  i 

52  Erzählungen  des  Throns",  die  zur  Zeit  des  Königs  Bhoja  von  Dhärä 
im  II.  Jahrhundert  spielt  und  vielleicht  das  beliebteste  Märchenwerk  in 
Indien  ist,  auch  in  mongolischer  Bearbeitung  existiert,  die  Sukasaptati, 
„die  70  Erzählungen  des  Papageis",  die  ins  Persische  und  Türkische  über- 
setzt wurde.  Alle  Märchenwerke  sind  auch  in  die  meisten  Volkssprachen 
des  nördlichen  und  südlichen  Vorderindien  übertragen  worden  und  er- 
freuen sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  in  dieser  Gestalt  der  größten  Be- 
liebtheit. Viele  von  ihnen  sind  ganz  spät.  Sie  mußten  aber  schon  hier 
erwähnt  werden,  weil   eine   chronologische  Einordnung  nicht  möglich  ist. 

2.  Ganz  im  Dunkeln  sind  wir  auch  noch  über  die  Entstehungszeit  des  Epos. 
großen  indischen  Epos,  des  Mahäbhärata.  Sein  Ansehen  war  in  Indien 
so  groß,  daß  es  als  der  fünfte  Veda  bezeichnet  wurde.  Im  Unterschiede 
von  den  Veden  wird  aber  das  Mahäbhärata  einem  Verfasser  zugeschrieben, 
dem  Krsna  Dvaipäyana  gewöhnlich  Vyäsa  genannt,  der  es  in  drei  Jahren 
gedichtet  haben  soll.  Danach  heißt  es  auch  „der  Veda  des  Krsna".  Nach 
einer  andern,  ebenfalls  im  Mahäbhärata  selbst  enthaltenen  Überlieferung 
war  Vyäsa  nur  der  Ordner  oder  Zusammensteller,  was  sein  Name  besagt. 
Ihm  wird  auch  die  Ordnung  der  Veden,  der  Puräna,  des  Vedänta  und 
anderer  Werke  zugeschrieben,  und  er  wird  zum  Stammvater  der  beiden 
Geschlechter  gemacht,  deren  Kämpfe  das  Mahäbhärata  schildert.  Das  Epos 
nennt  sich  selbst  ein  Lehrbuch  des  praktischen  Lebens,  des  Rechts  und 
der  Liebe,  legt  also  auf  seine  didaktischen  Teile  das  Hauptgewicht.  Es 
rühmt  von  sich:  „Wer  dieses  Gedicht  gehört  hat,  der  will  nichts  anderes 
mehr  hören,  sowie  dem,  der  die  Stimme  der  Nachtigall  gehört  hat,  die 
rauhe  Stimme  der  Krähe  nicht  gefällt."  Ferner:  „Es  gibt  keine  Ge- 
schichte auf  Erden,  die  nicht  auf  diesem  Epos  beruhte,  so  wie  der  Leib 
nicht  ohne  Speise  erhalten  werden  kann.  Von  diesem  Bhärata  leben  die 
Dichter  wie  Diener,  die  ihr  Glück  machen  wollen,  von  einem  vornehmen 
Herrn."  Das  ist  in  gewisser  Hinsicht  ganz  richtig.  Epiker  und  Drama- 
tiker der  klassischen  und  späteren  Zeit  nehmen  ihren  Stoff  mit  Vorliebe 
aus  dem  Mahäbhärata.  In  der  uns  vorliegenden  Gestalt  umfaßt  es  etwa 
Qoooo  Doppelverse  und  einige  Abschnitte  in  Prosa  und  ist  in  18  Bücher 
geteilt.  Diesen  Umfang  hat  es  nach  Ausweis  einer  Inschrift  bereits  im 
6.  Jahrhundert  n.  Chr.  gehabt.  Daß  es  schon  zwei  Jahrhunderte  früher 
als  ein  Lehrbuch  des  Rechtes  galt,  also  schon  die  Zusätze  unseres 
Textes  hatte,  bezeugen  Nachrichten  aus  dieser  Zeit.  Trotzdem  unterliegt 
es  keinem  Zweifel,  daß  unser  Mahäbhärata  nicht  ein  einheitliches  Werk 
eines  Verfassers  ist,  sondern  die  Arbeit  vieler  Generationen,  vielleicht  von 
Jahrhimderten  in  sich  vereinigt.  Es  hat  uns  selbst  die  Nachricht  erhalten, 
daß  es  einst  eine  kürzere  Rezension  von  26  400  Versen  gegeben  hat,  und 
eine  zweite,  wonach  es  ohne  die  Episoden  24000  Verse  umfasse.  Ein 
Grhyasütra  erwähnt  neben  dem  Mahäbhärata,  „dem  großen  Bhärata",  ein 
einfaches  Bhärata,  und  wir  wissen  aus  zahlreichen  Analogieen,  daß  mit 
dem  Vorsatz  „groß"  stets  Werke  bezeichnet  werden,  die  Erweiterungen  zu 


JQ2  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

solchen  ohne  das  Beiwort  sind.  Auf  starke  Überarbeitung  weist  auch 
der  Text  selbst  hin.  Die  Handschriften,  vor  allem  die  südindischen,  haben 
nicht  bloß  bedeutende  Varianten  im  einzelnen,  sondern  oft  auch  eine  ganz 
andere  Anordnung  und  andern  Umfang  des  Textes.  Die  europäische 
Kritik  hat  von  den  go  ooo  Doppelversen  nur  etwa  7000  als  Urbestand- 
teil  gelten  lassen  wollen.  Mag  dies  auch  übertrieben  sein,  so  viel  steht 
fest,  daß  sich  aus  der  Masse  des  überlieferten  Textes  ein  verhältnismäßig 
kleiner  Teil  als  Kern  herausschälen  läßt.  Dieser  Kern  schilderte  ein 
historisches  Ereignis,  und  sein  Verfasser  kann  immerhin  ein  Vyäsa  gewesen 
sein,  den  die  Nachwelt  ins  Reich  der  Sage  versetzte. 

Der  Xame  Mahäbhärata  bedeutet  „das  große  Gedicht  von  den  Bha- 
ratäs".  Das  Fürstengeschlecht  der  Bharatäs  oder  Bhäratäs  leitete  sich 
von  Bharata,  dem  Sohne  der  ^akuntalä  und  des  Duhsanta  ab.  Es  hatte 
sich  in  mehrere  Zweige  gespalten,  darunter  die  der  Kuru  und  Pändu. 
Ihren  Kampf  schilderte  das  alte  Epos,  dessen  Inhalt  in  Kürze  folgender  ist. 

Als  König  Pändu,  der  in  Hästinapura  am  Ganges  residierte,  auf  der 
Jagd  im  Himälaya  gestorben  war,  übernahm  sein  älterer  Bruder  Dhrta- 
rästra  die  Herrschaft,  die  er  vorher  seinem  jüngeren  Bruder  hatte  abtreten 
müssen,  da  er  blind  war.  Pändu  hinterließ  fünf  Söhne,  Yudhisthira,  Arjuna, 
Bhlmasena  von  der  Kunti,  Xakula  und  Sahadeva  von  der  MädrI.  Dhrta- 
rästra  hatte  100  Söhne,  deren  ältester  Dxiryodha.nsL  war.  Nach  Pändus 
Tode  kamen  die  Witwen  mit  ihren  fünf  Söhnen,  den  Pändaväs,  nach 
Hästinapura  zurück,  und  die  Söhne  wurden  mit  ihren  100  Vettern,  den 
Kauraväs,  gemeinsam  erzogen.  Sie  zeichneten  sich  bald  so  aus,  daß 
Durs'odhana  neidisch  wurde  und  den  Thron  zu  verlieren  fürchtete.  Er 
stellte  ihnen  auf  alle  mögliche  Weise  nach,  auch  noch,  als  es  ihm  ge- 
lungen war,  die  Verbannung  der  Pändaväs  durchzusetzen,  so  daß  diese  in 
die  Wälder  flohen,  wo  sie  lange  umherirrten  und  viele  Abenteuer  be- 
standen. Von  Vyäsa  hörten  sie  eines  Tages,  daß  Drupada,  der  König 
der  Pancäläs,  seine  Tochter  Krsnä,  gewöhnlich  DraupadI,  „Tochter 
des  Drupada",  genannt,  demjenigen  zur  Frau  geben  wolle,  der  seinen  ge- 
waltigen Bogen  spannen  könne.  Sie  begaben  sich  als  Brahmanen  ver- 
kleidet an  den  Hof  des  Drupada,  Arjuna  spannte  den  Bogen  und  erhielt 
die  DraupadI  zur  Frau.  Er  behielt  sie  aber  nicht  für  sich  allein,  sondern 
DraupadI  wurde  die  Frau  aller  fünf  Brüder,  die  sich  in  sie  unter  be- 
stimmten Bedingungen  teilten.  Im  Vertrauen  auf  ihren  mächtigen  Schwieger- 
vater kehrten  die  Pändaväs  nun  aus  der  Verbannung  zurück.  Das  Reich 
wurde  geteilt.  Die  Pändaväs  machten  Indraprastha,  das  heutige  Delhi,  zu 
ihrer  Hauptstadt  und  gelangten  bald  zu  so  großer  Macht  und  so  großem 
Reichtum,  daß  Duryodhanas  Neid  aufs  neue  envachte.  Er  beschloß  seine 
Vettern  durch  List  zu  verderben.  Er  lud  sie  nach  Hästinapura  ein  und 
brachte,  da  Yudhisthira  ein  leidenschaftlicher  Spieler  war,  ein  Würfelspiel 
in  Vorschlag.  Yudhisthira  spielte  mit  einem  Oheim  des  Duryodhana,  dem 
Sakuni,   der   durch  Falschspiel  bewirkte,   daß  Yudhisthira  sein  Vermögen, 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer,      ig^ 

sein  Reich,  zuletzt  seine  und  seiner  Brüder  Frau,  die  Draupadl,  verspielte, 
die  Duhsäsana,  ein  Bruder  des  Durj'-odhana,  als  Sklavin  halbbekleidet  an 
den  Haaren  ins  Zimmer  schleppte.  Dhrtarästra  aber  legte  sich  ins  Mittel. 
Die  Pändaväs  wurden  in  ihr  Reich  zurückgeschickt,  bald  aber  aufs  neue 
nach  Hästinapura  zum  Spiel  eingeladen.  Sie  verlieren  wieder  und  müssen 
sich  nun  verpflichten,  13  Jahre  in  die  Verbannung  zu  gehn.  12  Jahre 
sollen  sie  in  den  Wäldern,  das  13.  unerkannt  unter  den  Menschen  zu- 
bringen. Während  der  12  Jahre  verrichten  sie  viele  Taten,  die  der 
Gegenstand  zahlreicher  Episoden  sind,  die  das  dritte  Buch  schildert.  Hier 
stehen  z.  B.  die  bekannten  Erzählung-en  von  Nala  und  DamayantI  und 
von  SävitrI,  die  Rückert  so  meisterhaft  ins  Deutsche  übertragen  hat. 
Im  13.  Jahre  begeben  sie  sich  verkleidet  an  den  Hof  des  Königs  der 
Matsya,  Viräta,  wo  sie  sich  bald  beliebt  machten.  Namentlich  Bhimasena 
wurde  wegen  seiner  Riesenkraft  bewundert  und  gefürchtet.  Sie  vertreiben 
alle  Feinde  des  Viräta,  unter  ihnen  auch  Duryodhana.  Da  das  13.  Jahr 
inzwischen  vergangen  war,  geben  sie  sich  zu  erkennen,  und  Arjuna  erhält 
für  seinen  Sohn  xVbhimanyu  die  Tochter  des  Viräta  zur  Frau.  Die  Auf- 
forderung, ihnen  ihr  Reich  wiederzugeben,  wies  Duryodhana  zurück,  und 
so  kam  es  zum  Kriege.  Die  Schlacht,  an  der  alle  Völker  Indiens  und 
auch  außerhalb  desselben  wohnende  Barbaren  teilnahmen,  dauerte  1 8  Tage. 
Ihre  sehr  ermüdende,  von  ewigen  Wiederholungen  und  maßlosen  Über- 
treibungen strotzende  Schilderung  mit  allen  Einzelkämpfen  umfaßt  einen 
großen  Teil  des  Mahäbhärata.  Schließlich  siegen  die  Pändaväs  durch 
Verrat,  besonders  durch  die  tückischen  Ratschläge  des  Krsna,  eines 
Fürsten  des  Volkes  der  Yädava,  in  dem  sich  der  Gott  Visnu  inkarniert 
hatte.  Die  Kauraväs  und  ihr  Heer  werden  bis  auf  drei  Mann  getötet, 
unter  denen  sich  Asvatthäman  befindet,  dessen  Vater  Drona  die  Pändaväs 
und  Kauraväs  in  ihrer  Jugend  im  Bogenschießen  unterrichtet  hatte.  In 
der  Nacht  macht  Asvatthäman  mit  seinen  beiden  Gefährten  einen  Über- 
fall auf  das  siegreiche  Heer,  das  sie  vernichten.  Nur  die  fünf  Pändaväs 
entgehen  dem  Tode,  da  sie  vom  Lager  abwesend  waren.  Sie  versöhnen 
sich  mit  Dhrtarästra,  der  sich  mit  seinen  noch  lebenden  Verwandten  als 
Einsiedler  in  den  Wald  zurückzieht.  Yudhisthira  wird  König  von  Hästi- 
napura und  feiert  das  große  Roßopfer.  Als  zwei  Jahre  darauf  Dhrtarästra 
und  seine  Frauen  durch  einen  Waldbrand  ums  Leben  kommen,  ebenso 
Krsna  stirbt  und  seine  Hauptstadt  vom  Meere  verschlungen  wird,  be- 
schließen die  Pändaväs  der  Welt  zu  entsagen.  Pariksit,  der  Enkel  des 
Arjuna,  wird  zum  König  von  Hästinapura  eingesetzt.  Damit  betritt  das 
Gedicht  sicheren  historischen  Boden,  und  diese  Nachricht  dürfte  noch  dem 
alten  Epos  angehören,  obwohl  die  Bücher  12  — 18  sonst  gewiß  zu  den 
jüngsten  Zusätzen  gehören.  Es  wird  noch  geschildert,  wie  die  Pändaväs 
auf  ihrem  Wege  zu  Indras  Himmel  bis  auf  Yudhisthira  und  seinen  treuen 
Hund,  in  dem  sich  der  Gott  der  Gerechtigkeit,  Dharma,  verkörpert  hat, 
den   Strapazen   erliegen,   wie  Yudhisthira   im  Himmel  seine  Vettern,   aber 

DiB   KtTLTUR   DER    GEGENWART.      I.    7.  Iß 


jgi  Richard  Pischel:   Die  indische  Literatur. 

nicht  seine  Brüder  vorfindet,  die  mit  Draupadi  in  der  Hölle  sind,  wie  sich 
alles  aber  als  Trugbild  entpuppt,  um  Yudhisthiras  Standhaftigkeit  zu 
prüfen,  und  wie  schließlich  die  glänze  Familie  in  Indras  Himmel  vereinigt 
wird. 

Das  Mahäbhärata  ist  nicht,  wie  man  lange  angenommen  hat,  tenden- 
ziös zugunsten  der  siegreichen  Partei  der  Pändaväs  umgearbeitet  worden. 
Nirgends  sind  die  Widersprüche  ausgeglichen,  und  den  streitenden  Par- 
teien wird  gleichmäßig  Lob  und  Tadel  erteilt.  Im  Mahäbhärata  sind 
vielmehr  zeitlich  und  landschaftlich  ganz  verschiedene  Stücke  zusammen- 
geschweißt. Es  macht  ganz  denselben  Eindruck  wie  die  Märchen-  und 
Fabelwerke.  In  eine  Rahmenerzählung  sind  Untererzählungen  einge- 
schaltet worden,  die  durchaus  nicht  alle  jung  sind.  Im  Gegenteil,  manche 
sind  uralt,  und  sie  haben  selbst  wieder  das  Schicksal  erlitten,  interpoliert 
zu  werden.  Das  alte  Gedicht  verherrlicht  die  ritterlichen  Taten  der 
Krieger;  es  war  in  der  Kriegerkaste  entstanden.  Später  kam  es  ganz 
in  die  Hände  der  Priester,  wahrscheinlich,  wie  schon  bemerkt,  in  die  der 
Priester  des  Yajurveda,  und  erhielt  dort  seine  jetzige  Gestalt.  Die  Cha- 
rakterzeichnung der  Haupthelden  ist  so  scharf,  daß  man  deutlich  sieht, 
sie  waren  volkstümliche  Figuren,  an  denen  spätere  Zeiten  zwar  ändern, 
die  sie  aber  nicht  völlig  umgestalten  konnten.  Dur^^odhana  erscheint  in 
allen  alten  Stellen  als  gerechter  und  tapferer  Fürst,  von  dem  gesagt 
wird,  daß  ihn  alle  Welt  wegen  seiner  königlichen  Natur  ehrte,  und  der 
stolz  ist,  den  Heldentod  zu  sterben.  Eine  ganz  volkstümliche  Persönlich- 
keit und  ein  Liebling  des  alten  Epos  ist  der  „Fuhrmannssohn"  Karna,  der 
auf  Seiten  der  Kauraväs  ficht,  obwohl  er  ein  unehelicher  Sohn  der  Kunti 
vor  ihrer  Ehe  mit  Pändu  ist,  also  zu  den  Pändaväs  gehört.  Alan  hat  ihn 
mit  Siegfried  im  Nibelungenliede  und  mit  Hektor  in  der  Ilias  verglichen, 
und  ohne  Zweifel  hat  er  mit  beiden  manchen  Zug  gemeinsam.  Als  ein 
gebildeter  und  lebenslustiger,  dabei  tapferer  und  ritterlicher  Krieger  wird 
auf  Seiten  der  Kuru  auch  Asvatthäman,  der  Sohn  des  Drona  geschildert. 
Die  Pändaväs  erscheinen  als  die  ungebildetere  Partei.  Von  Yudhisthira 
sagt  sein  eigener  Bruder  Arjuna,  daß  er  ein  Prahler  und  Würfelspieler 
sei,  der  sich  nur  bis  auf  Hörweite  dem  Kampfplatz  nähere  und  von  seinen 
Freunden  beschützen  lasse.  13  Jahre  lang,  heißt  es,  habe  er  aus  Furcht 
vor  Karna  nicht  schlafen  können.  Arjuna  steht  ganz  in  der  Gewalt  des 
Krsna,  dessen  Ratschläge  er  befolgt,  auch  wenn  er  einsieht,  daß  sie  ge- 
mein und  verwerflich  sind.  Er  ist  der  Held  nach  dem  Herzen  der  Priester. 
Ein  roher  und  gewalttätiger  Mensch  ist  Bhimasena,  der  seinem  Gegner 
Duhsäsana,  nachdem  er  ihn  mit  der  Keule  erschlagen  hat,  das  Blut  aus- 
trinkt. Das  Epos  läßt  alle  Pändaväs  im  Himälaya  geboren  werden,  und 
zu  dieser  ihrer  Heimat  stimmt  es,  daß  sie  in  Polyandrie  leben,  die  sich 
bis  heut  in  den  Ländern  des  Himälaya  findet.  Sie  sind  aus  dem  Norden 
ins  Mittelland  gekommen,  und,  wie  ihr  Verhältnis  zu  Krsna  zeigt,  in  die 
Hände    der    Priester    gefallen,    deren  Werk    das    Mahäbhärata    in    seiner 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer,      jge 

jetzigen  Gestalt  ist.  So  wie  es  uns  vorliegt,  gewährt  das  Epos  keinen 
reinen  Kunstgenuß.  Der  alte  Kern  ist  durch  spätere  Zusätze  ganz  ver- 
dunkelt worden.  Zu  ihm  sind  hinzugekommen  Erzählungen  aus  der  alten 
Geschichte  und  von  früheren  Königen,  Stücke  kosmogonischen  und  theo- 
gonischen  Inhalts,  didaktische  und  dogmatische  Teile  —  das  längste  Buch 
des  Mahäbhärata,  das  12.,  ist  ausschließlich  didaktisch  — ,  Tierfabeln, 
Märchen,  Stammbäume,  Beschreibungen  der  Erde  und  der  Götterwelten, 
kurz  alles,  was  für  wissenswert  galt.  Im  6.  Buche  steht  die  Bhagavad- 
gitä,  „das  Lied  des  Heiligen",  jenes  philosophische  Lehrgedicht,  das  Krsna 
dem  Arjuna  vor  Beginn  des  großen  Kampfes  vorträgt  und  das  zu  den 
gefeiertsten  Schöpfungen  der  indischen  Literatur  gezählt  wird.  Es  verherr- 
licht Visnu  als  das  höchste  Wesen,  und  obwohl  g"anz  durchzogen  von  den 
Anschauungen  des  atheistischen  Sämkhya,  gipfelt  es  in  dem  reinsten 
Theismus,  der  oft  begeistert,  zuweilen  aber  auch  in  recht  pedantischer 
Weise  gelehrt  wird.  Nicht  bloß  in  Indien  hat  die  Bhagavadgitä  die 
größte  Bewunderung  erregt,  sondern  auch  in  Europa.  Wilhelm  von 
Humboldt  und  Hegel  haben  sie  gefeiert,  und  Lorinser  hat  sogar 
christliche  Ideen  in  ihr  nachweisen  wollen.  So  ist  das  Mahäbhärata  das 
umfangreichste  Gedicht  der  Weltliteratur  geworden,  in  seiner  Maßlosigkeit 
echt  indisch,  wie  in  den  Persönlichkeiten,  die  es  schildert.  Seine  ältesten 
Bestandteile  hat  man  bis  in  die  indogermanische  Urzeit  zurückschieben 
wollen  und  ein  indogermanisches  Urepos  angenommen,  aus  dem  es  zu- 
gleich mit  der  Ilias  und  dem  Nibelungenliede  geflossen  sei.  Der  Stoff  ist 
den  Epen  gemeinsam;  seine  Behandlung  bei  mancher  notwendiger  Ähn- 
lichkeit doch  ganz  verschieden.  Auf  das  Mahäbhärata  ist  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  die  Nachricht  des  Rhetors  Dio  Chrysostomos  aus  dem 
I.  Jahrhundert  n.  Chr.  zu  beziehen,  daß  selbst  bei  den  Indern  die  Gedichte 
des  Homer  gesungen  würden,  die  sie  in  ihre  eigene  Sprache  übertragen 
hätten.  So  seien  sie  wohlbekannt  mit  den  Leiden  des  Priamos,  den 
Klageliedern  und  dem  Jammer  der  Andromache  und  Hekabe  und  der 
Tapferkeit  des  Achilleus  und  Hektor.  Von  einer  Übersetzung  des  Homer 
kann  natürlich  keine  Rede  sein.  Die  Stelle  des  Dio  enthält  vielmehr  die 
älteste  Nachricht  von  dem  Vorhandensein  des  Mahäbhärata.  Einen  An- 
hang zu  den  18  Büchern  des  Mahäbhärata  bildet  das  Äscaryaparvan,  „das 
Buch  der  Wunder",  gewöhnlich  nach  dem  Namen  des  ersten  seiner  drei 
Abschnitte  Harivamsn,  „Geschlecht  des  Hari",  d,  h.  des  Krsna  genannt. 
Es  enthält  die  Jugendgeschichte  des  Krsna  und  eine  Schilderung  seiner 
Taten.  Er  ist  hier  schon  ganz  zum  Gott  geworden.  Eingestreute  Epi- 
soden sind  mehrfach  von  Interesse. 

Das  gleiche  Schicksal  wie  das  Mahäbhärata  haben  die  Piiräna,  „alte 
Geschichten"  erfahren,  die  einst  den  zweiten  Bestandteil  des  (S.  168)  er- 
wähnten alten  Itihäsapuräna  der  vedischen  Literatur  bildeten.  In  ihnen 
selbst  findet  sich  ein  Vers,  der  fünf  Gegenstände  als  Inhalt  eines  Puräna 
angibt:  i.  Schöpfung,  d.h.  Kosmogonie;  2.  Wiederschöpfung,  d.h.  Zerstörung 

13* 


jq5  Richard  Pischel:   Die  indische  Literatur. 

und  Erneuerung  der  Welt,  einschließlich  der  Chronologie;  3,  Geschlecht, 
d.  h.  Genealogie  der  Götter  und  berühmter  Familien;  4.  Manuzeiträume, 
d.  h.  bestimmte  große  Perioden,  denen  je  ein  Manu  mit  seinen  Göttern 
und  Weisen  vorsteht  und  in  denen  er  als  Schöpfer  und  Erhalter  der 
Welt  auftritt,  und  5.  Geschichte  der  Geschlechter  d,  h.  der  alten  Dyna- 
stieen. 

Unsere  Puräna  stimmen  zu  dieser  alten  Beschreibung  aber  sehr 
schlecht,  teilweise  gar  nicht.  Sie  dienen  alle  sektarischen  Zwecken, 
namentlich  der  VerehrunQ-  des  ^iva  und  Visnu.  An  Stelle  der  alten 
]M}i:hen  sind  oft  kirchliche  Legenden  getreten;  theologische  Belehrungen, 
philosophische  Betrachtungen  und  religiöse  Vorschriften  aller  Art  nehmen 
jetzt  die  Stelle  alter  historischer  Überlieferung  und  alter  epischer  Er- 
zählung ein.  In  einigen  Puränas  sind  noch  Register  von  alten  Herrscher- 
geschlechtern erhalten,  und  wenn  sie  auch  unvollständig  und  voll  von 
Irrtümern  sind,  so  darf  man  ihnen  doch  nicht  ohne  weiteres  jede  Glaub- 
würdigkeit absprechen.  Sie  beruhen  unzweifelhaft  auf  alten  Quellen, 
wie  schon  die  oft  wörtliche  Übereinstimmung  der  sonst  voneinander  sehr 
abweichenden  älteren  Puräna  zeigt.  Wie  das  Mahäbhärata  wurden  auch 
die  Puräna  öffentlich  rezitiert,  was  für  verdienstlich  galt.  In  ihnen  selbst 
wird  die  Zahl  der  Puräna  auf  18  angegeben,  wozu  noch  Upapuräna, 
„Unter-Puräna",  kommen,  meist  in  gleicher  Zahl  genannt.  Damit  ist  aber 
die  Reihe  nicht  erschöpft.  Wie  eine  besondere  Upanisad,  so  will  jede 
Sekte  auch  ein  eigenes  Puräna  haben;  ja  es  gibt  ein  Puräna  in  Maräthl- 
sprache,  das  den  Beruf  des  Barbiers  verherrlicht.  Am  meisten  entspricht 
dem  Charakter  der  alten  Puräna  das  Visnupuräna.  Von  seinen  fünf 
Büchern  enthält  das  vierte  so  ziemlich  alles,  was  die  Inder  von  ihrer 
alten  Geschichte  in  Wahrheit  und  Dichtung  wissen.  Es  beginnt  mit  der 
ältesten  Zeit  und  reicht  in  Form  von  Prophezeiungen  bis  weit  in  die 
christliche  Zeit  hinein.  Nächst  ihm  ist  zu  nennen  das  Väyupuräna  und 
das  Märkandeyapuräna,  das  sich  von  allen  andern  dadurch  vorteilhaft 
abhebt,  daß  es  sich  von  sektarischen  Zwecken  fast  ganz  fernhält,  über- 
haupt ein  fast  rein  erzählendes  Werk  ist.  Ein  Abschnitt  in  ihm,  das 
Devimähätmya,  „die  Herrlichkeit  der  Devl",  feiert  die  Durgä,  die  Gemahlin 
Sivas,  und  ist  das  Hauptbuch  für  deren  Verehrer  in  Bengalen.  Manche 
Puräna  sind  als  Ganzes  nicht  erhalten,  sondern  nur  in  einzelnen  Ab- 
schnitten, die  bestimmte  Gottheiten  oder  heilige  Stätten  preisen.  Die 
Puräna  sind  eine  wenig  erfreuliche  Lektüre.  Für  die  Kenntnis  des  spä- 
teren Hinduismus  und  der  Legenden  sind  sie  aber  sehr  wertvoll.  Sie 
harren  noch  einer  wissenschaftlichen  Verarbeitung. 

3.  Die  zweite  Klasse  der  epischen  Poesie  neben  Itihäsa  und  Puräna 
Frühere      bilden  die  Kävya.     Sie  sind  Kunstsfe dichte,  von  einem  Dichter  nach  einem 

Kunstgedtchte,      .  -^  o  / 

die  Kävya.  emheitUchen  Plane  verfaßt.  An  ihrer  Spitze  steht  das  Rämäyana,  „die  Taten 
des  Räma",  von  Välmiki.  Das  Rämäyana  wird  als  das  erste  Kävya  und 
sein  Verfasser    als    erster   Kavi,    d.  h.    erster    Kunstdichter    genannt.     Es 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer,      iqy 

bildet  den  Übergang  von  der  Itihäsapoesie  zu  der  höheren  Kunstdichtung, 
den  Mahäkävya  (S.  199),  mit  denen  es  viele  Berührungspunkte  hat.  Väl- 
miki  soll  der  Tradition  nach  ein  Straßenräuber  gewesen  sein,  der  viele 
Verbrechen  verübte,  später  aber  seine  Untaten  bereute  und  sich  als  Ein- 
siedler von  der  Welt  zurückzog.  Das  Epos  umfaßt  7  Bücher  mit  etwa 
24000  Doppelversen,  meist  Sloka,  aber  auch  kunstvollen  Metren.  Sein 
Held  ist  Räma,  eine  Verkörperung  des  Visnu,  sein  Inhalt  in  Kürze  fol- 
gender. 

In  Ayodhyä,  der  Hauptstadt  der  Kosala,  herrschte  in  alten  Zeiten  ein 
König  namens  Dasaratha,  Er  hatte  vier  Söhne,  Räma  von  der  Kausalyä, 
Bharata  von  der  Kaikeyi,  Laksmana  und  Satrughna  von  der  Sumiträ.  In 
Räma  hatte  sich  der  Gott  Visnu  verkörpert,  um  den  gewaltigen  Götter- 
feind Rävana  auf  Laiikä  zu  besiegen.  Die  Brüder  liebten  sich  sehr.  Be- 
sonders Räma  und  Laksmana  schlössen  sich  eng  aneinander  an,  und  ihr 
Freundschaftsverhältnis  ist  in  Indien  ebenso  gefeiert,  wie  das  von  David 
und  Jonathan  bei  den  Hebräern  und  das  von  Achilleus  und  Patroklos  bei 
den  Griechen.  Erwachsen,  wurden  die  Brüder  von  dem  heiligen  Visvä- 
mitra  an  den  Hof  des  Königs  Janaka  von  Videha  mitgenommen,  der  seine 
Tochter  Sita  dem  zugesagt  hatte,  der  einen  gewaltigen  Bogen  zu  spannen 
imstande  wäre.  Räma  tat  dies  mit  Leichtigkeit  und  errang  so  Sita.  Als 
bereits  alle  Vorbereitungen  getroffen  waren,  um  Räma  zum  Kronprinzen 
und  damit  zum  Nachfolger  des  Dasaratha  zu  weihen,  wußte  die  bucklige 
Sklavin  Mantharä  die  Kaikeyi  zu  bewegen,  die  Krönung  zu  hintertreiben 
und  die  Nachfolge  in  der  Regierung  für  ihren  Sohn  Bharata,  für  Räma 
aber  die  Verbannung  zu  fordern.  Dasaratha,  durch  einen  alten  Eid  ge- 
zwungen, mußte  nachgeben.  Räma,  von  Sita  und  Laksmana  begleitet, 
ging  1 4  Jahre  in  die  Verbannung.  Dasaratha  starb  bald  an  gebrochenem 
Herzen.  Bharata  weigerte  sich,  die  Regierung  anzutreten,  suchte  Räma 
auf  und  nahm,  als  dieser  die  Rückkehr  vor  Ablauf  der  14  Jahre  ablehnte, 
Rämas  Schuhe  mit  sich,  die  er  auf  den  Thron  stellte  und  als  eigentliche 
Regenten  betrachtete.  In  den  Wäldern  verrichten  Räma  und  Laksmana 
viele  gute  Taten,  indem  sie  zahlreiche  Dämonen  und  Ungeheuer  töten. 
Nach  10  Jahren  zogen  sie  nach  Süden  und  dort  verliebte  sich  Sürpanakhä, 
die  Schwester  des  Dämonenfürsten  Rävana  von  Lanka,  in  Räma,  der 
aber  alle  ihre  Anträge  abweist.  Als  sie  dann  Sita  töten  wollte,  schlug 
Laksmana  sie  zurück  und  schnitt  ihr  Nase  und  Ohren  ab.  Rävana  be- 
schloß die  seiner  Schwester  angetane  Schmach  zu  rächen,  verliebte  sich 
aber  sterblich  in  Sita  und  raubte  sie,  nachdem  er  Räma  durch  List 
entfernt  hatte.  Auf  der  Suche  nach  Sita  verbünden  sich  Räma  und  Laks- 
mana mit  Sugriva,  dem  Könige  der  Affen,  den  sie  in  sein  Reich  einsetzen, 
aus  dem  er  von  seinem  Bruder  Välin  vertrieben  worden  war.  Hanumant, 
der  Minister  Sugrivas,  und  Vibhisana,  ein  Bruder  des  Rävana,  schließen  sich 
dem  Zuge  nach  Lanka  an.  Die  Affen  bauen  eine  Brücke  über  das  Meer,  dringen 
auf  ihr  nach  Lanka,  das  man  später  als  Ceylon  gedeutet  hat,  vor,  wo  Rävana 


igS 


Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 


nach  langten  Kämpfen  getötet  und  Sita  befreit  wird.  Da  die  14  Jahre  der 
Verbannung  um  sind,  kehrt  Räma  nach  Ayodhyä  zurück,  wo  ihm  Bharata 
sofort  die  Herrschaft  abtritt.  Damit  schloß  das  alte  Gedicht.  Das  7.  Buch 
führt  nach  einer  langen  ^Abschweifung  über  die  Geschichte  des  Rävana, 
von  Jacobi  die  Rävaneis  genannt,  die  Erzählung  weiter.  Die  Bürger 
reden  darüber,  daß  Räma  die  Sita  wieder  zu  sich  genommen  hat,  ohne 
zu  prüfen,  ob  sie  im  Hause  des  Rävana  ihre  Unschuld  bewahrt  hat. 
Räma  verbannt  Sita,  die  in  der  Einsiedelei  des  Välmlki  Zwillinge  gebiert, 
den  Kusa  und  Lava,  denen  Välmlki  sein  Epos  lehrte.  Schließlich  wird 
Sitäs  Unschuld  bewiesen.  Es  erfolgt  die  Wiedervereinigung  der  Gatten. 
Der  Schluß  des  Gedichtes  beschreibt  ihre  Himmelfahrt.  Buch  i  ist  zum 
größten  Teile,  Buch  7  ganz  unecht.  Auch  in  Buch  2 — 6  finden  sich  Inter- 
polationen, die  aber  meist  leicht  zu  erkennen  sind.  Im  einzelnen  hat  der 
Text  sehr  gelitten.  Er  liegt  uns  in  drei  Bearbeitungen  vor,  die  sehr  er- 
heblich voneinander  abweichen.  Die  Sage  von  Räma  findet  sich  teil- 
weise auch  in  einem  Jätaka  (S.  188  f.)  und  wird  in  eingeschobenen  Stellen 
des  Mahäbhärata  erwähnt,  die  schon  das  Rämäyana  selbst  kennen.  Sie 
gehört  zu  den  beliebtesten  Sagen  Indiens.  Välmlki  gibt  sie  uns  in  der 
Gestalt,  die  sie  von  den  Priestern  erhalten  hat.  Sie  wollten  in  Räma  das 
Muster  eines  Menschen  nach  ihrem  Herzen  darstellen.  Räma  ist  der 
richtige  fromme  Duckmäuser,  der  nie  murrt,  sondern  sich,  wenn  auch 
jammernd,  stets  geduldig  in  das  Schicksal  füg^.  Nie  fällt  er  aus  der  Rolle. 
Alle,  die  sich  mit  ihm  verbünden,  gleichen  ihm.  Wie  Räma  der  Muster- 
mensch, ist  Vibhisana  der  Musterdämon  und  Hanumant  der  Musteraffe. 
Välmlki  hat  ihre  Charakterisierung  vortrefflich  durchgeführt,  ebenso  die 
der  anderen  Personen  der  Sage,  wie  des  Dasaratha,  des  Bharata  und  des 
Välin.  Am  wenigsten  Interesse  für  uns  hat  das  6.  Buch  in  den  Teilen,  die  die 
Kämpfe  zwischen  den  Dämonen  und  den  Affen  schildern.  Wie  im  Mahäbhä- 
rata, sind  sie  auch  hier  weit  ausgesponnen  und  von  ermüdender  Einförmigkeit. 
Das  Rämäyana  ist  in  fast  alle  neueren  arischen  und  drävidischen 
Sprachen  Indiens  übersetzt  worden.  Besonders  berühmt  ist  die  Über- 
setzung des  Tulsi  Das  (f  1624  n.  Chr.)  ins  östliche  Hindi,  ein  Gedicht, 
von  dem  Growse  in  seiner  Übersetzung  sagt,  daß  es  in  Indien  in  jeder- 
manns Händen  ist,  vom  Hof  bis  zur  Hütte,  und  gleichmäßig  von  jeder 
Klasse  der  Hindus  gehört  und  geschätzt  wird,  ob  hoch  oder  niedrig,  reich 
oder  arm,  jung  oder  alt.  Kellogg  versichert,  daß  jeder  Missionar  im 
Gangestale  die  Erfahrung  gemacht  habe,  daß  ein  glückliches  Zitat  aus 
Tulsl  Das  in  der  Predigt  oder  Konversation  einen  Blick  des  Verständ- 
nisses selbst  bei  dem  rohsten  Bauer  erweckt.  Da  Tulsi  Das  alles  An- 
stößige vermieden  hat,  ist  sein  Gedicht  für  die  große  Mehrheit  des  Volkes 
in  Hindüstän  die  Norm,  nach  der  es  sein  Leben  einrichtet,  seine  Bibel. 
Durch  diese  Übersetzung  ist  das  Rämäyana  viel  volkstümlicher  geblieben 
als  das  Mahäbhärata,  obwohl  das  Original  viel  mehr  den  Charakter  eines 
Kunstgedichtes  trägt  als  das  Mahäbhärata. 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     I.  Die  Literatur  der  vorklassischen  Zeit  und  ihre  Ausläufer,      igg 

4.  In  den  späteren  Kunstgedichten,  den  Mahäkävya,  wird  der  Stoff  fast  Spätere  Kunst- 

IfGQlCutC     die 

ausnahmslos  dem  Mahäbhärata  und  Rämäyana  entnommen,  oder  es  werden    MahäkaVya. 
die  Taten  einzelner  Fürsten  verherrlicht.     Der  Stoff  ist  dem  Dichter  aber 
nur  das  Mittel,   um  seine  Kenntnis   der  Rhetorik,   Metrik  und  Grammatik 
zu  zeigen.     Schilderungen  von  Städten,   Bergen,   des  Meeres,   der  Jahres- 
zeiten,  des  Aufgangs   und  Untergangs   und   der  Verfinsterung   von    Sonne 
und   Mond,   von    Belustigungen    im  Wald   und  Wasser,   von  Trinkgelagen 
und  Liebeslust,  von  Ehe,   Geburt  eines  Knaben,  Beratschlagungen,  Boten- 
entsendungen ,    Kämpfen ,    Siegesfeiern    u.  dgl.    in    tadellosem ,    beständig 
wechselndem  Metrum   geschrieben,   voll    von   Künsteleien   aller  Art,   alles 
nach   bestimmt   vorgeschriebener  Schablone   gearbeitet,   bilden  den   Inhalt 
eines  Mahäkävya.    An  Stelle  der  freiströmenden  epischen  Dichtung  ist  die 
gelehrte   Kunstdichtung    g^etreten,    die    von   alten   Stoffen  lebt  und   nichts 
Neues   erfindet.     Lassen   hat  nicht  mit  Unrecht   die  Zeit  der  Mahäkävya 
dem   alexandrinischen   Zeitalter  verglichen.     Wie    Simmias   in   den    Texvo- 
TTaiTvia   seinen   Gedichten   die  Form   einer  Axt   oder   eines  Nachtigalleneis 
oder  der  Flügel  des  Eros,  Dosiades  ihnen  die  eines  Altars  gab,  so  fügen 
die    Dichter    der    Mahäkävya    vom    7.  Jahrhundert    an    in    ihre    Gedichte 
Strophen  ein,  die  die  Gestalt  eines  Schwertes  oder  einer  Lotosblume  oder 
eines  Rades  haben,   die   von  hinten  nach   vorn  und  von  oben  nach  unten 
gelesen  immer  dieselben  Worte  ergeben,  in  denen  nur  zwei  Konsonanten 
vorkommen,   die  Alliteration   und  Reim,   Doppelsinn   und  Wortspiele    ent- 
halten   u.  dgl.     Ein    Dichter,    der    uns    nur    unter    dem    Namen    Kaviräja 
„Dichterkönig-",  bekannt  ist,  hat  sein  Gedicht  so  abgefaßt,  daß  es  in  den- 
selben Worten  je  nach  der  Abteilung  und  Interpretation  zugleich  den  In- 
halt   des    Mahäbhärata    und    des    Rämäyana    wiedergibt.     Andere    legen 
Strophen  ein,  die  man  in  zwei,  ja  bis  sechs  verschiedenen  Sprachen  ver- 
stehen   kann.     Wieder    andere   verfaßten   lange   Gedichte   in   Sanskrit  und 
Präkrit,  deren  Zweck  ist,  die  Grammatik  dieser  Sprachen  durch  Beispiele 
zu  belegen.    So  unnatürlich  und  dem  Wesen  der  Dichtkunst  widersprechend 
solche  Werke  sind,  so  wäre  es  doch  unrecht  zu  glauben,  daß  es  ihnen  an 
dichterischer  Schönheit    ganz    gebricht.     Selbst    in  ihnen   verleugnet    sich 
die  Begabung  der  Inder  nicht,  stimmungsvolle  Naturschilderungen  zu  geben 
und    durch   eingestreute    Sentenzen    und  Vergleiche    scharfe    Beobachtung 
und  Menschenkenntnis   zu  zeigen.     Zur  Wirkung  kommen  die  Mahäkävya 
aber    nur    im  Urtext  und   auch   dann  nur   nach   wiederholter  Lektüre   mit 
Herbeiziehung  der  Kommentatoren. 

In  dieser  Zeit  tritt  uns  zum  erstenmal  eine  Literaturgattung  ent- 
gegen, die  in  ihrer  Form  sehr  altertümlich  ist.  Das  sind  die  CampU  ge- 
nannten Werke.  Sie  bestehen  aus  einer  Mischung  von  Prosa  und  Versen. 
So  knüpfen  sie  an  das  älteste  Epos  und  Drama  an  und  leiten  über  zu  dem 
ganz  in  Prosa  geschriebenen  Roman.  Außer  in  der  Form  unterscheiden  sie 
sich  wenig  von  den  Mahäkävya.  Auch  in  den  Campü  ist  das  eigentliche 
Thema  nebensächlich.    Es  dient  nur  als  Unterlage  für  effektvolle  Schilde- 


200  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

rungen  mit  Wortspielen,  Doppelsinnigkeiten  und  rhetorischen  Figuren,  Alarn- 
kära,  „Schmuck"  g^enannt.  Bereits  Välmlki  hat  im  Rämäyana  Abschnitte,  die 
im  Geiste  der  Mahäkävya  und  Campu  geschrieben  sind.  Die  einzelnen 
Kapitel  des  Rämäyana  führen  denselben  Namen  Sarga  wie  die  der  Mahä- 
kävya. Ganze  Sarga  enthalten  Schilderungen  von  der  bei  den  Mahäkävya  er- 
wähnten Art.  Besonders  zahlreich  sind  sie  im  5.  Buche,  dem  Sundarakända, 
„dem  schönen  Buche",  wo  die  Sarg^a  5  und  7  durchweg-  in  Halb-  und  Ganz- 
reimen geschrieben  sind.  Välmlki  ist  nachweisbar  das  Vorbild  für  viele 
der  klassischen  und  nachklassischen  Dichter  geworden.  Er  selbst  hatte 
gewiß  trotz  seiner  Bezeichnung-  als  erster  Kunstdichter  viele  Vorgänger. 
Jacobi  setzt  als  Entstehungszeit  des  Rämäyana  das  5.,  vielleicht  6.  oder 
8.  vorchristliche  Jahrhundert  an.  Hopkins  verlegt  das  älteste  Mahäbhä- 
rata  ins  4.  Jahrhundert  vor,  das  jüngste  in  dieselbe  Zeit  und  noch  später 
nach  Chr.  Beide  Schätzungen  sind  ganz  unsicher,  die  für  das  Rämäyana 
gewiß  viel  zu  hoch.  Das  aber  steht  auf  Grund  der  Inschriften  heut  fest, 
daß  die  Kunstdichtung  in  Indien  viel  älter  ist,  als  man  früher  glaubte. 

Der  älteste  Dichter  eines  Mahäkävya,  den  wir  bis  jetzt  kennen,  ist 
der  Buddhist  Asvag-hosa,  den  eine  glaub  würdigte  Tradition  an  den  Hof  des 
indoskythischen  Fürsten  Kaniska  versetzt,  als  dessen  Leibarzt  wir  Caraka 
kennen  gelernt  haben.  Asvaghosas  Zeit  ist  danach  die  Mitte  des  i.  Jahr- 
hunderts V.  Chr.  Er  schrieb  ein  Leben  Buddhas,  das  Buddhacarita.,  in 
17  Gesängen,  von  denen  jedoch  nur  14,  und  auch  diese  nicht  vollständig, 
von  ihm  selbst  herrühren,  während  der  Rest  von  einem  nepalesischen 
Pandit  im  Jahre  1830  verfaßt  ist,  der  auch  die  Lücken  des  in  Nepal  vor- 
handenen Archetypus  ausgefüllt  hat.  Cowell  hat  Asvaghosa  den  Ennius 
der  klassischen  Zeit  der  Sanskritpoesie  genannt,  der  Kälidäsa,  dem  indi- 
schen Vergil,  die  erste  Begeisterung  eingeflößt  habe.  Das  stimmt  nicht. 
Wie  die  Buddhisten  überhaupt,  hat  auch  Asvaghosa  seinen  Stoff  dem  Leben 
des  Buddha  entnommen,  und  die  Berührungen  mit  Kälidäsa,  die  unzweifel- 
haft vorhanden  sind,  erklären  sich  daraus,  daß  schon  zur  Zeit  Asvaghosas 
bestimmte  Schilderungen  typisch  geworden  waren,  die  immer  wiederkehren. 
Asvaghosa  zeigt,  daß  damals  die  Technik  der  Dichtkunst  bereits  weit 
vorgeschritten  war,  und  Inschriften  von  Satrapen  der  indoskythischen 
Könige    aus  dem  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  beweisen   dasselbe   für   die   Prosa. 

II.  Die  Literatur  der  klassischen  Zeit  (etwa  320 — 800  n.  Chr.). 
Erst  mit  diesem  Abschnitt  der  Darstellung  betreten  wir  ein  chronologisch 
einigermaßen  sicheres  Gebiet.  Ein  neues  Aufblühen  der  Sanskritliteratur 
fand  statt,  als  die  Dynastie  der  Guptas  die  fremden  Eroberer  verjagte 
und  ein  mächtiges  Reich  auf  nationaler  Grundlage  schuf.  Die  Guptaära 
beginnt  319/320  n.  Chr.,  und  wir  haben  von  ihr  zahlreiche  Inschriften, 
deren  sicher  datierbare  sich  auf  die  Zeit  von  etwa  350 — 550  n.  Chr.  er- 
strecken. Mit  den  Guptas  beginnt  die  Periode,  die  als  das  klassische  Zeit- 
alter   der   Sanskritliteratur    anzusetzen    ist.     Sie    reicht    von   etwa   320   bis 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     II.  Die  Literatur  der  klassischen  Zeit.  201 

ans  Ende  des  8.  Jahrhunderts.  Unter  den  Guptainschriften  befinden  sich 
mehrere,  die  vollständig  den  Charakter  der  Mahäkävya  und  in  der  Prosa 
den  Stil  der  Romane  zeigen. 

Der  Zeit  der  Guptas  gehört  der  gefeiertste  Dichter  Indiens  an,  Kä-  KäUdäsa. 
lidäsa.  In  einem  viel  zitierten  Versus  memorialis  wird  gesagt,  daß  an 
dem  Hofe  des  Vikrama  „neun  Perlen"  lebten,  unter  denen  sich  auch  Kä- 
lidäsa  befand.  Vikrama,  in  vollerer  Form  Vikramäditya,  „Sonne  der  Tapfer- 
keit", ist  aber  kein  Eigenname,  sondern  ein  Ehrentitel,  den  viele  Fürsten 
getragen  haben.  Höchst  wahrscheinlich  war  der  Patron  des  Kälidäsa  der 
König  Candragupta  II.  von  Mälava,  von  dem  wir  Inschriften  aus  den 
Jahren  401/402 — 412/413  haben.  Der  Überlieferung  nach  war  Kälidäsa 
ursprünglich  ein  ungebildeter  Büffelhirt,  den  Kall,  die  Frau  des  Gottes 
^iva,  klug  machte,  worauf  er  sich  ihr  zu  Ehren  Kälidäsa,  „Diener  der 
Kall",  nannte.  Alle  Berichte  stimmen  darin  überein,  daß  er  ein  liederliches 
Leben  führte.  Seinen  Tod  soll  er  durch  die  Hand  einer  Hetäre  gefunden 
haben.  Kälidäsa  hat  sechs  Werke  hinterlassen,  zwei  Mahäkävya,  den 
Raghuvainsa  und  Kumärasainbhava,  drei  Dramen,  Sakuntalä,  Vikravior- 
vasi  und  Mälavikäg7iimitra,  und  ein  lyrisches  Gedicht,  den  MegJiadüta. 
Es  werden  ihm  noch  andere  Werke  zugeschrieben,  aber  mit  Unrecht.  Der 
Raghuvamsa,  sein  frühestes  Werk,  behandelt  in  19  Gesängen  die  Ge- 
schichte der  alten  Herrscher  von  Ayodhyä  aus  dem  Geschlechte  des 
Raghu,  zu  dem  auch  Rärna,  der  Held  des  Rämäyana,  gehört.  Der  Kumä- 
rasainbhava, „die  Entstehung  des  Kumära",  in  7  Gesängen  soll  dem  Titel 
nach  die  Geburt  des  Kriegsgottes  Kumära  schildern,  geht  aber  nur  bis 
zur  Vermählung  des  Gottes  ^iva  mit  Pärvati,  der  Tochter  des  Himälaya. 
Eine  Fortsetzung,  Buch  8 — 17,  führt  die  Erzählung  bis  zur  Tötung  des 
Dämons  Täraka  fort.  Davon  ist  Buch  8  wahrscheinlich  noch  echt.  Buch 
g — 17  sind  dageg^en  sicher  unecht.  Während  Kälidäsa  im  Raghuvamsa 
sich  streng  an  die  für  die  Mahäkävya  geltenden  Regeln  hält,  hat  er  sich 
im  Kumärasambhava  davon  fast  ganz  frei  gemacht.  Die  dichterische  Ent- 
wicklung lassen  auch  die  Dramen  deutlich  erkennen.  Das  Mälavikägni- 
mitra  ist  sein  frühestes  Drama,  unmittelbar  nach  dem  Raghuvamsa  ge- 
schrieben. Es  ist  ein  Schauspiel,  dessen  Stoff  nicht  der  Legende  ent- 
nommen ist,  sondern  die  Liebesgeschichte  des  Königs  Ag^nimitra  und  der 
Mälavikä  behandelt,  die  als  Zofe  der  Königin  erscheint,  sich  aber  schließ- 
lich als  Prinzessin  entpuppt.  Stücke  ganz  gleichen  Gepräges  haben  wir 
in  Indien  viele.  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  daß  das  Mälavikägnimitra 
das  erste  seiner  Art  und  alle  andern  Dramen  desselben  Stoffes  nach  ihm 
gedichtet  sind.  Vielmehr  wird  Kälidäsa  auch  hier  nach  berühmten  Mustern 
gearbeitet  haben;  im  Prolog  erwähnt  er  drei  berühmte  Vorgänger,  von 
deren  Stücken  uns  leider  keins  erhalten  ist.  Einen  großen  Fortschritt 
weist  die  VikramorvasI  auf.  Ihr  Thema  ist  die  alte,  bereits  im  Rgveda 
in  einem  dramatisch  gehaltenen  Itihäsaliede  (S.  167  f.)  behandelte  Legende 
von   König  Purüravas    und    der   Götterhetäre  UrvasI,    über   deren  Verlust 


2  02  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

der  König  wahnsinnig-  wird.  Kälidäsa  hat  die  Fassung  der  Sage  zugrunde 
gelegt,  die  sich  im  Matsyapuräna  findet.  Ihm  eigen  sind  nur  einige 
Rollen,  die  poetische  Durcharbeitung  des  Stoffes  und  die  ganze  Art  der 
Darstellunß-.  Und  diese  ist  vortrefflich.  Kein  indischer  Dramatiker  ohne 
Ausnahme  hat  es  verstanden,  einen  geschürzten  Knoten  anders  als  durch 
sehr  gewaltsame  Mittel  zu  lösen.  Zur  rechten  Zeit  entsteht  hinter  der 
Bühne  Lärm,  und  wir  erfahren,  daß  sich  ein  Elefant  oder  Tiger  oder 
Affe  losgerissen  hat,  worauf  alles  flüchtet.  Oder  eine  Person  gibt  vor, 
von  einer  Schlange  gebissen  zu  sein;  Zauberer  treten  auf,  die  Brände  von 
Palästen  erscheinen  lassen  oder  Doppelgänger  schaffen;  der  Wind  entführt 
einen  Liebesbrief,  der  der  eifersüchtigen  Königin  in  die  Hände  fällt; 
Männer  verkleiden  sich  als  Frauen  und  umgekehrt;  die  einzelnen  Parteien 
spielen  Litrigen  so  verwickelter  Natur  gegeneinander  aus,  daß  der  Zuhörer 
oder  Leser  sich  kaum  noch  zurecht  finden  kann  usw.  Auch  Kälidäsa  hat 
in  allen  drei  Dramen  sich  dieser  Mittel  bedient.  Er  ist  auch  nicht  über 
die  Vorschrift  hinausgekommen,  die  verbietet,  Mord  oder  Tod  auf  die 
Bühne  zu  bringen  oder  ein  Stück  mit  einem  Todesfall  endigen  zu  lassen, 
wodurch  die  Tragödie  Indien  ganz  fremd  ist.  In  der  VikramorvasI  tritt 
der  König  im  4.  Akte  wahnsinnig  auf  und  spricht  und  singt  vorwiegend 
in  Strophen  in  Sanskrit  und  Apabhrarnsa.  Dieses  lyrische  Intermezzo,  an 
sich  hochpoetisch,  fällt  völlig  aus  dem  Rahmen  eines  Dramas  heraus  und 
macht  diesen  Teil  des  Stückes  zur  Oper.  Kälidäsa  hat  hier  als  Vorbild 
das  Rämäyana  gehabt,  und  er  selbst  ist  darin  wieder  oft  nachgeahmt 
worden.  Im  Dekhan  hat  man  alle  Apabhramsastrophen  gestrichen  und 
auch  sonst  das  Stück  umgearbeitet  und  verkürzt,  sehr  zu  seinem  Nachteil. 
Das  Ebenmaß  des  griechischen  Dramas  fehlt  dem  indischen.  Aber  Käli- 
däsa hat  es  verstanden,  aus  seinem  Stoffe  Persönlichkeiten  herauszuarbeiten. 
Besonders  tritt  dies  hervor  in  seinem  gefeiertsten  Werke,  der  Sakuntalä. 
Der  Inhalt  des  Dramas  ist  der  folgende.  Der  König  Duhsanta  kommt 
auf  einer  Jagd  in  die  Einsiedelei  des  heiligen  Kanva,  dessen  Pflegetochter 
Sakuntalä  ist.  Duhsanta  und  Sakuntalä  verlieben  sich  ineinander,  und 
Duhsanta  heiratet  das  Mädchen  nach  dem  für  Krieger  geltenden  Rechte 
der  freien  Liebe.  Sein  Versprechen,  Sakuntalä  an  den  Hof  holen  zu  lassen, 
hält  er  nicht,  weshalb  Kanva  die  Sakuntalä,  die  schwanger  ist,  in  Be- 
gleitung einer  alten  Büßerin  und  zweier  Schüler  zu  Duhsanta  schickt. 
Der  König  leugnet,  die  Sakuntalä  je  gesehen  zu  haben.  Diese  wird  auf 
Veranlassung  ihrer  Mutter,  der  Götterhetäre  Menakä,  in  den  Himmel  ent- 
riickt,  wo  sie  einen  Sohn  gebiert.  Nach  mehreren  Jahren  wird  Duhsanta, 
dem  die  Erinnerung  an  Sakuntalä  zurückgekehrt  ist,  mit  Frau  und  Kind 
wieder\'ereint.  Kälidäsas  Quelle  ist  das  Mahäbhärata.  Im  Epos  ist  Sa- 
kuntalä ein  „derbes  Mannweib".  Kälidäsa  hat  sie  in  ein  schüchternes, 
zartes  Mädchen  verwandelt  und  ihr  in  ihren  Freundinnen  AnusQyä  und 
Priyamvadä  zwei  vortrefflich  gezeichnete  Frauengestalten  zur  Seite 
gestellt.     Der  König  Duhsanta    ist    im   Epos    ein    charakterloser    Mensch. 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     II.  Die  Literatur  der  klassischen  Zeit.  2 Ol 

Kälidäsa  motiviert  seine  Handlungsweise  durch  den  Fluch  eines  Büßers. 
Im  Epos  wird  der  König  durch  eine  Stimme  vom  Himmel  belehrt.  Bei 
Kälidäsa  ist  es  ein  Ring,  den  der  König  der  Sakuntalä  geschenkt  und 
der  sich  im  Magen  eines  Fisches  wiederfindet,  der  Duhsanta  die  Erinne- 
rung zurückruft.  So  hat  Kälidäsa  oft  in  feiner  Weise  geändert.  Der 
Glanzpunkt  des  Dramas  ist  der  4.  Akt,  in  dem  Sakuntalä  vom  Büßerhain 
Abschied  nimmt.  Ohne  rührselig  zu  werden,  hat  Kälidäsa  hier  den  Ab- 
schiedsschmerz aller  Beteiligten  ergreifend  geschildert.  Die  Sakuntalä  ist 
in  Indien  noch  stärker  umgearbeitet  worden  als  die  Vikramorvaäl,  wie 
früher  erwähnt;  dem  Original  am  nächsten  steht  die  bengalische  Rezension. 
Das  lyrische  Gedicht  Kälidäsas,  der  Meghadüta,  „der  Wolkenbote",  oder, 
wie  es  im  Dekhan  heißt,  der  Meghasarndesa,  „der  Auftrag  an  die  Wolke", 
etwa  112  in  sehr  kunstvollem  und  überaus  wohllautendem  Metrum  ge- 
schriebene Strophen,  hat  ein  Motiv,  das  sich  auch  in  einem  Jätaka  findet, 
also  von  Kälidäsa  nicht  erfunden  ist.  Ein  Yaksa,  ein  halbgöttliches  Wesen, 
hat  sich  in  seinem  Amte  vergangen  und  wird  von  seinem  Herrn,  Kubera, 
dem  Gotte  des  Reichtums,  verflucht,  ein  Jahr  lang  von  seiner  Frau  ge- 
trennt zu  sein.  Als  er  einige  Monate  in  der  Verbannung  zugebracht  hat, 
sieht  er  eine  Wolke,  die  nach  Norden,  seiner  Heimat,  zieht.  Er  trägt  der 
Wolke  auf,  seine  Frau  zu  grüßen  und  zu  trösten,  und  beschreibt  ihr  den 
Weg,  den  sie  einschlagen  soll.  Der  Meghadüta  ist  ein  Meisterwerk  der 
Lyrik.  Kälidäsa  hat  den  Ton  der  Elegie  getroffen,  ohne  zu  besonderen 
Kunstgriffen  seine  Zuflucht  zu  nehmen.  Die  Schönheit  der  Dichtung  er- 
kennt man  um  so  deutlicher,  wenn  man  die  zahlreichen  Nachdichtungen 
damit  vergleicht,  die  in  Indien  vorhanden  sind,  und  das  kleine,  einen  ganz 
ähnlichen  Gegenstand  behandelnde  Gedicht  des  Ghatakarpara,  den  die 
Tradition  ebenfalls  unter  die  „neun  Perlen"  rechnet,  also  zu  einem  Zeit- 
genossen Kälidäsas  macht.  Es  treibt  die  Künsteleien  in  Alliteration  und 
Reim  auf  die  Spitze.  Der  Inhalt  fällt  ganz  der  Form  zum  Opfer.  Käli- 
däsa dagegen  weiß  das  an  sich  etwas  einförmige  Thema  durch  immer 
neue  Bilder  abwechslungsreich  zu  gestalten  und  der  Sehnsucht  und  Liebe 
des  Yaksa  am  Schluß  in  unübertrefflich  zarter  Weise  Ausdruck  zu  geben. 
Nirgends  hat  er,  wie  bemerkt,  neue  Stoffe  erfunden.  Wie  weit  er  auf  den 
Schultern  seiner  Vorgänger  steht,  entzieht  sich  unserer  Kenntnis.  Ver- 
gleicht man  ihn  aber  mit  seinen  Nachfolgern,  so  wird  man  ihm  unbedenk- 
lich den  ersten  Platz  unter  den  nichtvedischen  Dichtern  Indiens  einräumen. 
Unter  den  andern  „neun  Perlen"  ist  uns  Dhanvantari  als  Verfasser 
eines  Glossars  der  Materia  medica,  Amarasimha  als  der  älteste  Verfasser 
eines  synonymischen  Wörterbuches  des  Sanskrit  und  durch  wenige  Verse 
bekannt.  Der  in  dem  Versus  memorialis  als  „berühmt"  bezeichnete  Varä-  varähamihira. 
hamihira  ist  der  berühmteste  Astronom  Indiens.  Die  Astronomie  erwuchs 
in  Indien  in  engem  Anschluß  an  den  Opferdienst,  wie  das  als  Vedänga 
bezeichnete  Jyotisa  zeigt,  nahm  aber  später  durch  die  Bekanntschaft  mit 
der  griechischen  Astronomie  zu  echt  indischem  auch  nicht  wenig  griechi- 


204 


Richard  Pischel:   Die  indische  Literatur. 


sches  Material  in  sich  auf.  Sie  umfaßte  als  Teile  die  Berechnung  der 
Gestirne,  die  Nativitätslehre,  d.  h.  Berechnung  der  Zeit  für  Geburt,  Hoch- 
zeit u.  dgl.,  und  die  natürliche  Astrologie,  d.  h.  die  Kenntnis  der  Bewegung 
der  Gestirne  und  ihres  Einflusses  auf  das  menschliche  Leben,  Zeitmessung, 
Omina  und  Portenta,  wie  Vogelflug,  Träume  u.  dgl.  Varähamihira  hat  alle 
Teile  behandelt.  Er  verfaßte  unter  anderem  ein  Kompendium  der  fünf 
ältesten  astronomischen  Lehrbücher,  der  Siddhänta,  und  trat  in  seiner 
astrologischen  Brhatsaiiihitä^  die  für  die  Geschichte  des  Aberglaubens  sehr 
wichtig"  ist,  auch  als  Dichter  im  Stile  der  Mahäkävya  in  sehr  wechselnden, 
kunstvollen  Metren  auf.  Da  er  seine  Berechnungen  mit  dem  Jahre  505 
n.  Chr.  beginnt,  so  ist  entweder  die  Tradition  unrichtig',  die  ihn  unter  die 
„neun  Perlen"  versetzt,  oder  deren  Zeit,  also  auch  die  Kälidäsas,  kann  erst 
das  6.  Jahrhundert  gewesen  sein,  was  nach  den  neueren  Forschungen  wenig 
wahrscheinlich  ist.  Was  uns  von  den  übrigen  zu  den  „neun  Perlen"  ge- 
rechneten Männern  bis  jetzt  bekannt  ist,  ist  wenig  und  in  seiner  Echtheit 
zweifelhaft,  von  Vararuci  nicht  einmal  mit  Sicherheit  zu  sagen,  wer  ge- 
meint ist. 
Amaru.  Der  Zeit  der  „neun  Perlen"  dürfte  nicht  sehr  fern  stehen  Amaru,  der 

Dichter  des  Amarusataka.  Nächst  der  religiösen  hat  keine  Art  der  Lyrik 
in  Indien  so  reichen  Ausdruck  gefunden,  wie  die  der  Reflexion.  In  der 
klassischen  Zeit  hat  sie  die  Form  des  Spruches  und  Sinngedichtes  ange- 
nommen, und  die  Einzelstrophe  gibt  ihr  ihr  eigentümliches  Gepräge.  Der 
Dichter  kleidet  seine  Gedanken  in  Strophen,  von  denen  jede  einzelne  ein 
Ganzes  für  sich  bildet.  Die  Kunst  besteht  darin,  den  Gedanken  in  mög- 
lichst kurzer,  abschließender  Gestalt  vorzutragen,  wobei  Wortspiele,  Doppel- 
sinn, Hindeutung  auf  nicht  ausdrücklich  Gesagtes,  Rätselfragen,  Rede- 
figuren u.  dgl.  eine  Hauptrolle  spielen. 

Auch  wo  ein  bestimmtes  Thema  in  längeren  Gedichten  durchgeführt 
wird,  wie  das  Entsenden  der  Wolke  im  Meghadüta,  tritt  immer  die  Einzel- 
schilderung, die  Kleinmalerei,  in  den  Vordergrund,  nicht  die  Handlung  in 
ihrer  Entwicklung.  Am  häufigsten  sind  solche  Einzelstrophen  zu  Centurien, 
im  Sanskrit  Sataka,  zusammengefaßt  worden,  und  danach  kann  man  diese 
Art  der  lyrischen  Dichtung  als  Satakalyrik  bezeichnen.  Die  Zahl  der 
Strophen  ist  nicht  immer  genau  hundert.  Meist  sind  es  einige  mehr, 
seltener  einige  weniger.  Der  Inhalt  ist  sehr  verschieden.  Teils  sind  die 
Sataka  rein  erotischen,  teils  rein  religiösen,  teils  didaktischen,  teils  be- 
schreibenden Inhalts.  Es  hat  auch  nicht  an  Redekünstlern  gefehlt,  die  es 
verstanden,  die  Worte  so  zu  wählen,  daß  sie  sich  je  nach  der  verschiedenen 
Abtrennung  und  Interpretation  auf  Liebe  oder  Leidenschaftslosigkeit  be- 
ziehen. Später  hat  man  solche  Einzelstrophen  in  Sanskrit  und  Präkrit  in 
Anthologieen  zusammengestellt,  die  Zeugnis  davon  ablegen,  wie  beliebt 
die  Gattung  in  Indien  war.  Ihren  Anfang  können  wir  leider  nicht  nach- 
weisen; sie  tritt  uns  in  Amaru  gleich  auf  ihrem  Höhepunkte  entgegen. 
Amaru  ist   der  größte  Meister   auf   dem   Gebiete    der    erotischen  Einzel- 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     II.  Die  Literatur  der  klassischen  Zeit. 


205 


Strophe.  Er  weiß  immer  neue  Situationen  zu  erfinden  und  ist  ein  ausge- 
zeichneter Kenner  und  Schilderer  der  Frauen.  Nächst  ihm  ist  zu  nennen 
Bhartrhari.  Der  Überheferung  nach  war  er  ein  Bruder  eines  Vikra- 
mäditya,  also  aus  fürstlichem  Geschlecht.  Er  verbrachte  seine  Jugend  in 
großen  Ausschweifungen,  beschloß  aber  am  Sterbebette  seines  Vaters, 
durch  dessen  Kummer  bewogen,  der  Welt  zu  entsagen.  Der  chinesische 
Pilger  I-tsing,  der  673  n.  Chr.  nach  Indien  kam  und  dort  13  Jahre  gelebt 
hat,  berichtet  uns,  daß  Bhartrhari  zum  Buddhismus  übertrat  und  Priester 
wurde.  Jedesmal  aber,  wenn  er  ins  Kloster  ging,  um  Mönch  zu  werden, 
ließ  er  einen  Wagen  vor  dem  Tore  halten,  der  warten  sollte,  bis  er  das 
Mönchtum  satt  hatte.  So  kehrte  er  siebenmal  in  die  Welt  zurück.  I-tsing 
führt  eine  Strophe  des  Bhartrhari  an,  in  der  er  sich  deswegen  Vorwürfe 
macht  und  den  Zwiespalt  seines  Herzens  beklagt.  Ahnliche  Strophen 
finden  sich  im  Sanskrittexte.  Unter  dem  Namen  des  Bhartrhari,  der  auch 
Grammatiker  war  und  nach  I-tsing  in  der  ersten  Hälfte  des  7.  Jahrhunderts 
gelebt  hat,  sind  uns  drei  Sataka  überliefert,  ein  Nitisataka,  „Centurie  der 
Lebensweisheit",  ein  Srrigärasataka,  „Centurie  der  Liebe",  und  ein  Vairägya- 
äataka,  „Centurie  der  Leidenschaftslosigkeit",  deren  Inhalt  sich  aus  ihren 
Namen  ergibt.  Weniger  noch  als  bei  Amaru,  läßt  sich  bei  Bhartrhari  fest- 
stellen, was  der  ursprünglichen  Sammlung  angehört,  da  die  Handschriften 
sehr  schwanken.  Die  Sprüche  sind  aus  sehr  verschiedener  Zeit  und  von 
sehr  verschiedenem  Wert. 

Noch  mehr  gilt  dies  von  einer  dritten  Spruchsammlung,  die  den  Canakya. 
Namen  des  Cänakya,  des  Ministers  des  Königs  Candragupta  im  4.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  trägt.  Kein  einziger  dieser  Sprüche,  die  in  vielen  ganz 
voneinander  abweichenden  Sammlungen  mit  etwa  go  bis  etwa  350  Sprüchen 
vorliegen,  gehört  dem  Cänakya  an.  Cänakya,  dem  Candragupta  seine  Er- 
hebung auf  den  Thron  verdankte,  galt  als  das  Muster  eines  klugen  und 
g-ewandten  Ministers.  So  führte  man  auf  ihn  vieles  zurück,  was  an  Klug- 
heit und  Lebensweisheit  umlief  und  sich  sonst  nicht  unterbringen  ließ. 
Ein  Cänakyam  besagte  in  Indien  nicht  mehr  als  heut  bei  uns  ein  „Mei- 
dinger"  oder  „Calembourg",  natürlich  in  anderem  Sinne.  Viele  dieser 
Sprüche  stammen,  wie  die  Sprache  zeigt,  aus  ganz  später  Zeit.  Bis  ins 
1 8.  Jahrhundert  wurde  die  Satakalyrik  gepflegt,  und  unter  der  großen  Masse 
dieser  Werke  findet  sich  neben  viel  Spreu  auch  viel  Gutes  und  Wertvolles. 

Dem  6„  vielleicht  noch  dem  Anfange  des  7.  Jahrhunderts  gehören  an 
Bhäravi,  der  Dichter  des  Kirätärjuiüya,  und  wahrscheinlich  auch  Bhatti, 
der  Verfasser  des  Rävanavndha,  gewöhnlich  Bhaffikävya,  „Gedicht  des 
Bhatti"  genannt,  das  zugleich  den  Zweck  verfolgt,  die  Regeln  des  Pänini 
und  anderer  Grammatiker  durch  Beispiele  zu  belegen.  Ihre  Gedichte,  zu- 
sammen mit  den  beiden  Kunstepen  Kälidäsas,  mit  dem  Naisadhacarita 
des  Sriharsa  aus  unbekannter  Zeit  und  dem  Si'supälavadha  des  Mägha, 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  7.  Jahrhunderts,  gelten  in  Indien  als  die  Haupt- 
vertreter der  Mahäkävya  und  sind  hochgefeiert. 


2o6 


Richard  Pischel:   Die  indische  Literatur. 


Dandin.  Noch   im   6.  Jahrhundert  lebte  wahrscheinlich  Dandin,   ein   Südinder, 

mit  dem  zuerst  eine  neue  Literaturgattung,  der  Roman,  uns  entgegentritt. 
In  seinem  Dasakumäracarita,  „Erlebnisse  der  zehn  jungen  Leute",  hat  er 
ein  ungemein  interessantes  Bild  der  Kultur  seiner  Zeit  entworfen.  Im 
Gegensatze  zu  seinen  Nachfolgern  schreibt  Dandin,  außer  in  Schilderungen, 
ein  leichtes  und  gutes  Sanskrit,  so  daß  sein  Roman  auch  sprachlich  für 
die  Prosa  wichtig  ist.  Dandin  ist  auch  der  Verfasser  eines  der  besten 
rhetorischen  Werke,  des  Kävyädarsa,  zu  dessen  Regeln  er  sehr  poetische 
Beispiele  gefügt  hat,  vielleicht  auch  des  in  vieler  Hinsicht  bedeutendsten 
indischen  Dramas,  der  Mrcchakatikä,  „des  Tonwägelchens",  in  lo  Akten, 
das  in  der  deutschen  Bearbeitung  unter  dem  Namen  der  Heldin  des  Stückes 
Vasantasenä  bekannt  geworden  ist.  Das  Stück  zeigt  dieselben  erschrecken- 
den sittlichen  Verhältnisse,  wie  das  Dasakumäracarita  und  weist  auf  das 
Dekhan  als  seine  Heimat.  Als  seinen  Verfasser  nennt  es  den  König 
Südraka,  der  aber  im  Prolog  als  bereits  verstorben  erwähnt  wird  und 
sicher  nur  der  Patron  des  Dichters  war,  wie  in  vielen  ähnlichen  Fällen. 
Die  Mrcchakatikä  hat  ihren  Stoff  aus  dem  Volksleben  genommen,  das  ihr 
Dichter  meisterhaft  schildert.  Den  Hintergrund  bildet  eine  Revolution, 
die  dem  Könige  seinen  Thron  kostet.  Spieler,  Diebe,  Schmarotzer,  die 
Hetäre  und  der  buddhistische  Mönch,  der  verarmte  Kaufmann  und  der 
durch  die  Gunst  des  Königs  aus  niedrigen  Verhältnissen  herausgehobene, 
ungebildete  und  sittlich  verkommene  Schwager  des  Königs,  Henker,  Poli- 
zisten und  andere  Personen  werden  in  wahrheitsgetreuer  Darstellung  auf 
die  Bühne  gebracht.  Wir  erhalten  einen  Einblick  in  die  üppige  Wohnung 
einer  gesuchten  Hetäre  und  den  Gang  einer  Gerichtsverhandlung.  So  ist 
das  Stück  eine  Fundgrube  für  die  Kenntnis  seiner  Zeit,  auch  sprachlich 
von  größter  Wichtigkeit,  da  es  uns  Proben  von  mehr  Präkritdialekten  gibt, 
als  irgend  ein  anderes  Drama. 

An   der  Spitze   der  Dichter   des  7.  Jahrhunderts    steht   der  Zeit  nach 

Subandhu.  Subandhu,  dessen  Roman  }^äsavadattä  in  schwülstiger  Prosa  geschrieben 
ist,  in  Indien  aber  wegen  der  rhetorischen  Kunst  der  Darstellung  sehr 
geschätzt  wird.  In  dieser  Zeit  erscheint  als  Patron  der  Dichtkunst  der 
König  von  Sthänesvara  (heut  Thanesar)  Sriharsa  Siläditya  (606 — 648), 
über  den  uns  der  chinesische  Pilger  Hüan-tsang  ausführlichere  Nachrichten 
Bäna.  gegeben  hat.  Sein  Hofpoet  war  Bäna,  der  das  Leben  seines  Gönners  in 
einem  in  schwülstiger  Prosa  geschriebenen  Werke,  d.em.  Harsacariia,  verherr- 
licht hat,  das  wesentlich  ein  Mahäkävya  in  Prosa  ist,  auch,  wie  diese  Gedichte, 
des  Schlusses  entbehrt.  In  ihm,  wie  in  seinem  Roman  Kädatnbarl,  den  sein 
Sohn  nach  des  Dichters  Tode  zu  Ende  führte,  hat  er  Subandhu  stark  be- 
nutzt, was  zu  der  Tradition  stimmt,  die  ihn  als  einen  Mann  schildert,  der 
mit  fremdem  Eigentume  wirtschaftete,  wenn  er  Geld  verdienen  konnte, 
das  ihm  Sriharsa  reichlich  gegeben  haben  soll.  Wie  sein  Schwiegervater 
oder  Schwager  Mayüra  verfaßte  auch  Bäna  in  Konkurrenz  zu  diesem 
ein  religiöses  i^ataka,  an  das  sich  Legenden  knüpfen.    Sriharsa  selbst  wird 


\ 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     III.  Die  Literatur  der  nachklassischen  Zeit. 


207 


als  Dichter  von  drei  Dramen  genannt,  von  denen  zwei  ganz  nach  dem 
Muster  von  Kälidäsas  Mälavikägnimitra  gearbeitet  sind,  besonders  die 
Ratnävall,  das  dritte,  der  Nägmianda,  für  die  religiösen  Verhältnisse  dieser 
Zeit  von  Interesse  ist,  wo  Buddhismus  und  Brahmanismus  friedlich  neben- 
einander lebten.  Der  wahre  Dichter  ist  vielleicht  Dhävaka.  Derselben  Zeit 
gehört  an  Bhartrhari,  die  Verfasser  der  Käsikä  (S.  183),  und  wahrscheinlich 
auch  Visäkhadatta,  der  Dichter  des  Dramas  Mudräräksasa,  in  7  Akten.  viÄakhadatta. 
Dieses  Stück  ist  nächst  der  Mrcchakatikä  das  eigenartigste  unter  den 
indischen  Dramen.  Es  spielt  im  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  am  Hofe  des  Candra- 
gupta  und  will  zeigen,  wie  Cänakya  durch  Intrigen  und  List  Räksasa,  den 
Minister  des  entthronten  Königs,  für  Candragupta  gewinnt  und  dessen 
neue  Herrschaft  sichert.  Das  Stück  hat  also,  wie  die  Mrcchakatikä,  der 
es  in  manchen  Szenen  gleicht,  einen  politischen  Hintergrund.  Es  ist  nach 
einem  einheitlichen  Plane  gearbeitet,  zeichnet  die  einzelnen  Personen 
meisterhaft  und  versteht  es,  den  Leser  in  Spannung  zu  halten.  Visäkha- 
datta steht  als  Dramatiker  unzweifelhaft  viel  höher  als  Bhavabhüti,  den  Bhavabhnti. 
die  Inder  als  den  größten  Dramatiker  nächst  Kälidäsa  feiern,  und  der  sich 
der  Zeit  nach  hier  anschließt.  Bhavabhüti  war  ein  Südinder.  Er  stammte 
aus  einer  angesehenen  Brahmanenfamilie  und  lebte  am  Anfange  des 
8.  Jahrhunderts.  Wir  besitzen  von  ihm  drei  Dramen.  Zwei  davon,  das 
Maliävtracarita  und  das  Uttarai'ämacarita  nehmen  ihren  Stoff  aus  der 
Geschichte  des  Räma.  Beide  haben  7  Akte  und  sind  wesentlich  nur  in 
dramatische  Form  gekleidete  Erzählungen.  Namentlich  das  Mahäviracarita 
ist  eine  sehr  schwache  Leistung.  Die  Szenen  sind  lose  aneinander  gereiht, 
und  der  Stoff  ist  ganz  ungleichmäßig  verarbeitet.  Ausgezeichnet  ist  Bhava- 
bhüti in  Naturschilderungen.  Seine  Sprache  ist  schwerfällig.  Das  dritte 
Stück,  das  Alälatlfiiädhava ,  ist  ein  bürg^erliches  Schauspiel  in  10  Akten. 
Es  behandelt  die  Liebesgeschichte  des  Mädhava  und  der  Mälatl.  Der 
Tradition  nach  war  Bhavabhüti  im  Gegensatz  zu  Kälidäsa  ein  ernster  und 
sittenstrenger  Mann.  Dazu  stimmt,  daß  mit  Ausnahme  einer  Szene  im 
Mälatimädhava  nirgends  sich  etwas  Anstößiges  in  seinen  Stücken  findet, 
und  daß  Bhavabhüti  nicht  die  lustige  Fig"ur  des  indischen  Dramas,  den 
Vidüsaka,  kennt.  Dagegen  liebt  er  es,  Rührszenen  einzuflechten.  Jüngere 
Zeitgenossen  von  ihm,  deren  Stücke  in  Indien  sehr  hoch  gestellt  werden, 
sind  Bhattanäräyana,  dessen  Venisainhära  den  Stoff  aus  dem  Mahäbhä- Bhattanarayana. 
rata  entnommen  hat,  und  Muräri,  dessen  Anargharäghava  auf  dem  Rä-  Muräri. 
mäyana  beruht,  und  der  kaum  noch  als  klassischer  Dichter  angesehen 
werden  kann. 

III.  Die  Literatur  der  nachklassischen  Zeit  (nach  800  n.  Chr.). 
War  schon  einem  Teile  der  Dichter  des  klassischen  Zeitalters  die  Poesie 
nicht  Selbstzweck,  so  ist  dies  noch  viel  weniger  der  Fall  bei  den 
Dichtem  der  nachklassischen  Zeit.  Sie  wollen  an  beliebten  Stoffen  und 
nach  berühmten  Mustern  ihre  Fertigkeit  in  Sanskrit  und  Präkrit  und  ihre 


2o8  Richard  Pischf.l:   Die  indische  Literatur. 

Kenntnis  der  Rhetorik  und  Metrik  zeigen.  Das  Publikum,  an  das  sie  sich 
Avenden,  ist  nicht  die  große  Menge,  die  schon  viele  Jahrhunderte  vor 
Kälidäsa  nichts  mehr  von  Sanskrit  und  Präkrit  verstand,  und  ihre  eigenen 
Stücke  im  Landesdialekt  hatte.  Die  Zuschauer  gehören  noch  mehr  als 
schon  zur  Zeit  Kälidäsas  zur  Gesellschaft  des  Fürstenhofes  und  der  Gelehrten. 
Auf  sie  sind  die  Stücke  zugeschnitten.  Immer  mehr  wird  die  Poesie  höfisch. 
Räjasekhara.  Um  Qoc  Schrieb  der  Maräthe  Räjasekhara  in   lo  langen  Akten  sein 

Bälarämäyana,  und  auf  mindestens  denselben  Umfang  berechnet  war  sein 
Bälabhärafa,  über  dem  er  gestorben  zu  sein  scheint,  da  nur  zwei  Akte 
davon  sich  finden.  Räjasekhara  war  ein  großer  Wortkünstler  und  ist  da- 
durch besonders  bemerkenswert,  daß  er  ein  drittes  Stück,  die  Karpüra- 
manjari,  ganz  in  Präkrit  schrieb.  Als  dramatische  Leistung  steht  auch 
dieses  Stück  wie  ein  viertes,  die  Viddhasälabhanjikä,  nicht  hoch. 

Im  II.  Jahrhundert  ist  der  Mittelpunkt  der  Pflege  der  Kunst  die  Stadt 
Dhärä  in  Mälava,  wo  das  Geschlecht  der  Paramäras  sich  eine  machtvolle 
Stellung  erworben  hatte.     Väkpatiräja  IL,  bekannter  unter  seinem  Namen 

Munja.  Munja,  wird  als  Dichterfreund  gefeiert  und  seine  Freigebigkeit  gepriesen. 
Auch  Rhetorik,  Lexikographie  und  Metrik  blühten  zu  seiner  Zeit.  Kein 
Fürst  der  ganzen  nachvedischen  Zeit  aber  ist,  außer  Vikramäditya,  so  hoch 

Bhoja.  als  Patron  der  Dichter  gefeiert  worden  als  Munjas  Neffe  Bhoja,  von  dem 
wir  eine  Inschrift  aus  dem  Jahre  102 1  besitzen,  und  der  vor  1055/56  ge- 
storben sein  muß.  Er  ist  der  Held  zahlreicher  Sagen  und  Märchen.  An 
seinen  Hof  versetzt  die  Legende  alle  berühmten  Dichter  Indiens,  die  er 
mit  verschwenderischer  Freigebigkeit  beschenkt  haben  soll.  Ihm  selbst 
werden  Werke  über  Rhetorik,  Medizin,  Astronomie,  Grammatik,  Lexiko- 
graphie zugeschrieben,  auch  ein  Sataka  in  Präkrit,  das  in  Dhärä  auf  Stein 
eingegraben  worden  ist.  Bis  jetzt  ist  kein  namhafter  Dichter  bekannt, 
Biihana.  der  mit  Sicherheit  an  Bhojas  Hof  versetzt  werden  kann.  Bilhana,  eine 
der  interessantesten  Dichtergestalten  des  späteren  11.  Jahrhunderts,  gibt 
an,  nie  in  Dhärä  gewesen  zu  sein.  Bilhana  ist  ein  Beispiel  für  die  alte 
Wanderlust  der  Brahmanen.  Geboren  in  Kaschmir,  verließ  er  nach 
vollendeter  Erziehung  seine  Heimat  und  durchwanderte  einen  großen  Teil 
Indiens  bis  über  das  Dekhan  hinaus  auf  die  Insel  Rämesvara.  An  den 
Höfen  kunstliebender  Fürsten  kehrte  er  ein  und  forderte  die  Dichter  zum 
Wettkampf  heraus.  Schließlich  wurde  er  Hofdichter  des  Fürsten  Vikramä- 
dit}'a  Tribhuvanamalla  von  Kalyäna  im  inneren  Dekhan.  Seinen  Gönner 
hat  er  in  einem  Mahäkävya  in  18  Gesängen,  dem  Vikramäiikadevacarita, 
in  vielfach  unhistorischer  und  bombastischer  Weise  gefeiert.  Berühmter 
ist  seine  Caurisuratapancäsikä.,  ein  lyrisches  Gedicht,  das  den  heimlichen 
Liebesgenuß  besingt  und  zu  der  Sage  Anlaß  gegeben  hat,  der  Dichter 
sei  durch  dasselbe  vom  Tode  gerettet  worden,  der  ihm  wegen  eines 
Liebesverhältnisses  mit  einer  Fürstentochter  bevorstand.  Außerdem  schrieb 
Bilhana  noch  ein  unbedeutendes  Drama.  Zwei  andere  Kaschmirer  dieser 
Ksemendra.    Zeit,  Kscmcndra  und  Somadeva,  sind  bereits  oben  (S.  i8g)  als  Bearbeiter 


B.  Die  nichtvedische  Literatur.     III.  Die  Literatur  der  nacliklassischeii  Zeit. 


209 


von  Gunädhyas  Brhatkathä  genannt  worden.  Ksemendra  war  ein  äußerst 
fruchtbarer  und  vielseitiger  Schriftsteller,  der  nicht  nur  die  Brhatkathä, 
sondern  auch  das  Mahäbhärata  und  Rämäyana  in  ein  Kompendium  ver- 
arbeitete und  viele  kleinere  Werke  schrieb,  die  teilweise  sehr  lehrreich 
und  interessant  sind.  Ins  1 1.  Jahrhundert  gehört  wahrscheinlich  auch  noch 
das  eigenartige  Drama  Prabüdhacaiidrodaya  des  Krsnamisra,  ein  theo-  Krsnamisra. 
logisch-philosophisches  Stück,  in  dem  alle  Personen  allegorisch  sind.  Es 
verspottet  mit  scharfem  Witz  die  verschiedenen  Sekten  und  geißelt  ihre 
Arroganz  und  Scheinheiligkeit. 

Am  Anfange  des  12.  Jahrhunderts  ist  Bengalen  ein  Sitz  der  Dicht- 
kunst. Am  Hofe  des  Königs  Laksmanasena,  der  1 1 1 9  die  Regierung  an- 
trat und  selbst  Dichter  gewesen  sein  soll,  lebten  fünf  Männer,  die  nach 
dem  Vorbilde  der  „neun  Perlen"  des  Vikrama  als  die  „fünf  Perlen"  be- 
zeichnet werden.  Zwei  von  ihnen  sind  uns  genauer  bekannt,  Govardhana  Govardhana. 
und  Jayadeva.  Govardhana  ist  der  Verfasser  der  Äryäsapta'satl,  700  im 
Äryämetrum  geschriebener  Strophen,  die  nicht  ohne  Geschick  nach  Prä- 
kritvorbildern  kleine  lyrische  Stimmungsbilder  in  alphabetischer  Anordnung 
geben.  An  Glut  der  Empfindung,  Beherrschung  von  Sprache  und  Metrum 
steht  in  der  ersten  Reihe  der  indischen  Dichter  Jayadeva  aus  Kindubilva  jayadeva. 
in  Bengalen.  Sein  Gttagovinda  ist  ein  Melodrama,  das  in  sinnlicher  Weise 
die  Liebe  des  Krsna  und  der  Rädhä,  ihren  Liebeszwist  und  ihre  Versöh- 
nung schildert.  Das  Gedicht,  in  dem  Alliteration  und  Reim  eine  große 
Rolle  spielen,  scheint  auf  ein  Original  in  Präkrit  zurückzugehen.  Wie 
das  Hohe  Lied,  ist  auch  der  Gitagovinda  mystisch  gedeutet  worden,  in 
Indien  jedoch  nur  einzelne  Strophen  von  einigen  Scholiasten.  Rädhä 
wurde  als  die  menschliche  Seele  und  ihr  Verhältnis  zu  Krsna  als  das 
der  Seele  zu  Gott  aufgefaßt.  In  diesem  Sinne  ist  die  englische  Über- 
setzung von  Arnold  gemacht,  die  daher  von  dem  Original  eine  ganz 
falsche  Vorstellung  gibt.  Zu  wenig  bekannt  ist  die  meisterhafte  Über- 
setzung, die  Rücke rt  von  einigen  Teilen  des  Gedichtes  gegeben  hat. 
Der  Gitagovinda  ist,  wie  Kälidäsas  Meghadüta,  in  Indien  viel  nachgeahmt 
worden.  Jayadeva  hat  auch  in  der  Sprache  des  Volks  gedichtet.  Im  Ädi 
Granth,  der  Bibel  der  Sikhs,  steht  von  ihm  ein  kurzes  Gedicht  in  altem 
Hindi. 

Dem  12.  Jahrhundert  gehört  das  einzige  größere,  historische  Werk 
an,  das  Indien  hervorgebracht  hat,  die  Räjatarangmi  des  Kalhana,  Kaiha^a. 
eines  Kaschmirers.  Kalhana  hat  die  Geschichte  Kaschmirs  von  seiner 
Entstehung  an  bis  auf  die  eigene  Zeit  (um  11 50)  dargestellt,  in  Versen 
und  oft  ganz  märchenhaft,  obwohl  er  gute  Quellen  benutzt  hat,  sogar  die 
alten  Inschriften  des  Landes.  Trotz  aller  Mängel  ist  aber  die  Räjatarangini 
doch  höchst  wertvoll  und  weit  über  den  Rahmen  einer  Lokalgeschichte 
hinaus  für  die  gesamte  Geschichte  Indiens  wichtig,  auch  für  die  Literatur- 
geschichte, da  wir  durch  ihre  Angaben  die  Zeit  einer  Anzahl  wichtiger 
Autoren   mehr   oder  weniger  sicher   bestimmen  können.     Gegenüber  den 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  1 4 


2IO  Richard  Pischel:   Die  indische  Literatur. 

Prabandha  und  Caritra,  die  auch  den  Anspruch  erheben,  historische  Werke 
zu  sein,  ist  die  Räjatararig"ini  ein  kritisches  Werk,  so  vorsichtig"  man  sie 
auch  gebrauchen  muß.  Daß  Kritik  nicht  die  starke  Seite  der  Inder  war, 
Hemacandra.  bcweist  auch  der  große  Jainalehrer  und  Polyhistor  Hemacandra  (1088 — 
1172),  der  auf  fast  allen  Gebieten  der  Sanskritliteratur  und  im  Präkrit 
tätig  war.  Da  viele  seiner  Quellen  verloren  gegangen  sind,  ist  er  für  uns 
sehr  wichtig,  namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Lexikographie  des  Sanskrit 
und  Präkrit. 

Auch  in  den  folgenden  Jahrhunderten  wurde  nach  dem  Vorbilde 
älterer  Schriftsteller  auf  allen  Gebieten  der  Literatur  fleißig  gearbeitet. 
Die  Yeden  fanden  im  14.  Jahrhundert  in  Säyana,  die  Mahäkävya  Käli- 
däsas  und  anderer  im  15.  in  ]\Iallinätha  ihren  bekanntesten  Kommentator. 
Xoch  im  1 6.  Jahrhundert  unter  Kaiser  Akbär  und  seinen  Nachfolgern 
jagannatha.  dichten  eine  Anzahl  lesenswerter  Autoren,  wie  Jagannätha.  Die  Zeit 
der  großen  Dichter  aber  war  längst  vorüber.  Gerade  an  Jagannätha,  dem 
besten  seines  Zeitalters,  kann  man  deutlich  die  Abhängigkeit  von  be- 
rühmten Vorgängen  nachweisen.  Am  Wortschatz  merkt  man,  daß  er  mit 
dem  Wörterbuch  arbeitete.  Die  Schöpferkraft  indischer  Dichter  war 
längst  versiegt. 

Vom  g.  Jahrhundert  an  tritt  eine  Literatur  in  den  Volkssprachen  zu- 
tage. Sie  besteht  zwar  vorwiegend  aus  Übersetzungen  und  Nachahmungen 
der  Sanskritliteratur  und  ist  auch  in  der  Sprache  vielfach  vom  Sanskrit 
beeinflußt,  wirkt  aber  naturgemäß  auf  die  große  Masse,  auch  der  Gebil- 
deten, ganz  anders  als  die  Literatur  in  Sanskrit  und  Präkrit,  deren  Ver- 
ständnis nur  engen  Kreisen  vorbehalten  bleibt. 

Nicht  nur  der  Süden  Vorderindiens,  das  Dekhan  und  Ceylon,  hat  seine 
ganze  Kultur  von  den  arischen  Indem  des  Nordens  erhalten,  ihr  Einfluß 
hat  sich  gewaltig  auch  auf  Hinterindien,  den  Archipel,  Turkestan,  ja  China 
und  Japan  erstreckt.  Indien  hat  im  Osten  dieselbe  kulturhistorische  Mis- 
sion erfüllt,  wie  Griechenland  und  Rom  im  Westen.  Mag  es  selbst  von 
griechisch-römischem  Wissen  in  der  Kunst  und  Astronomie  beeinflußt  sein, 
so  hat  es  seinerseits  dem  Westen  mehr  gegeben  als  von  ihm  empfangen. 
Pythagoras  ist  in  seinen  philosophischen  und  mathematischen  Lehren  von 
den  Indem  beeinflußt  worden,  denen  wir  das  dekadische  Ziffersystem,  die 
Algebra,  das  Schachspiel  verdanken,  und  die  wahrscheinlich  auch  in  der 
Theorie  der  Musik  Europa  vorausgegangen  sind.  Unsere  Märchen  und 
Fabeln  weisen  zum  großen  Teil  auf  Indien  als  ihre  Heimat,  ebenso  das 
Puppen-  und  Schattenspiel,  In  der  wissenschaftlichen  Grammatik  sind  die 
Inder  unsere  Lehrmeister  gewesen;  ihre  Religion  hat  im  Christentum  ihre 
Spuren  hinterlassen,  und  es  ist  noch  nicht  abzusehen,  wie  weit  ihre  Philo- 
sophie auf  das  abendländische  Denken,  ihre  Poesie  auf  die  Europas  be- 
fruchtend einwirken  wird.  Es  ist  schon  ein  großer  Gewinn,  wenn  über 
den  Kreis  der  Sanskritisten  hinaus  immer  mehr  die  Erkenntnis  wächst,  daß 
Indien  dasselbe  Recht  hat,  gehört  zu  werden,  wie  Griechenland  und  Rom. 


Literatur. 

Als  Warren  Hastings  1772  Gouverneur  von  Bengalen  geworden  war,  machte  er  es 
sich  zur  Aufgabe,  die  Herrschaft  der  Engländer  über  Indien,  die  Clive  militärisch  begründet 
hatte,  auf  dem  Verwaltungswege  zu  befestigen.  Zu  diesem  Zwecke  ließ  er  von  elf  Brah- 
manen  ein  Werk  über  indisches  Recht  aus  Sanskritschriften  zusammenstellen,  das  ins 
Persische  und  aus  diesem  durch  Halhed  ins  Englische  übersetzt  wurde.  In  der  Einleitung 
zu  diesem  Code  of  Gentoo  Laws,  or,  Ordinations  of  the  Pundits,  der  1776  in  London 
erschien,  machte  Halhed  die  ersten  ausführlicheren  Angaben  über  das  Sanskrit  und  die 
altindische  Metrik  und  gab  als  Belege  zum  erstenmal  einige  Proben  aus  der  Sanskritliteratur, 
die,  wie  er  sagt,  ,,give  us  no  despicable  Idea  of  the  old  Hindoo  Bards".  Größere  Aufmerk- 
samkeit erregten  die  Übersetzungen  des  philosophischen  Gedichtes  BhagavadgTtä  und  des 
Fabelwerkes  Hitopadeäa,  die  Wilkins  1785  und  1787  erscheinen  ließ.  In  weitere  Kreise 
aber  drang  die  Kunde  von  einer  eigenartigen  indischen  Literatur  erst,  als  William  Jones 
1789  seine  Übersetzung  von  Kälidäsas  Sakuntalä  veröffentlicht  und  Georg  Forster  diese 
1791  ins  Deutsche  übertragen  hatte.  Herder  und  Goethe  feierten  das  indische  Schauspiel 
in  begeisterten  Versen.  Goethe  entnahm  ihm  die  Idee  zu  seinem  Faustprologe  und  erklärte 
1821,  sich  jahrelang  in  die  Bewunderung  der  Sakuntalä  versenkt  zu  haben.  Noch  1830 
schrieb  er  an  Ch6zy,  den  ersten  Herausgeber  des  Originaltextes,  die  äakuntalä  sei  unter  die 
schönsten  Sterne  zu  rechnen,  die  seine  Nächte  vorzüglicher  machten  als  seinen  Tag.  Sonst 
konnte  sich  aber  Goethe  mit  Indien  nicht  befreunden.  Er  entnahm  zwar  den  Stoff  zu 
seinen  Balladen  ,,Der  Gott  und  die  Bajadere"  (1797)  und  ,, Paria"  (1823)  indischen  Legenden, 
die  er  aus  Sonnerats  Reise  nach  Ostindien  und  China  kennen  lernte,  aber  die  Mythologie 
Indiens  mit  ihren  grotesken  Göttergestalten  und  die  indische  Philosophie  waren  ihm  zuwider, 
so  daß  er  nicht  mehr  zu  Indien  zurückkehrte.  Der  Wunsch  Herders,  äakuntalä  möge  aus 
den  reichen  Schätzen  Indiens  bald  dramatische  Geschwister  empfangen,  die  ihr  gleichen, 
ging  nicht  in  Erfüllung.  Außer  auf  sekundären  Quellen  beruhenden  Nachdichtungen  ein- 
zelner Stellen  aus  verschiedenen  indischen  Werken  hat  auch  er  nichts  auf  Indien  Bezüg- 
liches mehr  gedichtet,  obwohl  seine  moralisierende  Richtung  sehr  gut  zu  der  gleichen 
Tendenz  indischer  Kunstdichtung  paßte. 

Nachhaltiger  war  die  Wirkung,  die  Indien  auf  die  Romantiker  ausübte.  Schon  das 
Altertum  und  das  Mittelalter  hatten  Indien  als  das  in  weitester  Ferne  liegende  Wunderland 
mit  einem  romantischen  Schimmer  umwoben.  Je  mehr  nun  von  seiner  Literatur  bekannt 
wurde,  desto  schroffer  trat  der  Gegensatz  zu  der  kalten  Strenge  griechischen  Wesens  hervor. 
Die  schwärmerische  Liebe  zur  Natur,  die  dem  klassischen  Altertum  ganz  fremd  war,  das 
Märchenhafte  und  Phantastische,  das  die  indische  Dichtkunst  durchzog,  das  Ringen  nach 
Wahrheit  und  Erlösung  durch  mystische  Spekulationen,  Askese  und  mönchische  Versenkung, 
die  patriarchalische  Gliederung  des  indisches  Volkes  in  scharf  voneinander  getrennte  Kasten 
—  alles  das  konnte  seinen  Zauber  auf  die  Romantiker  nicht  verfehlen.  So  ist  es  begreiflich, 
daß  der  Begründer  der  Romantik,  Friedrich  von  Schlegel,  sein  Augenmerk  auf  Indien 
richtete.  In  seinem  berühmten  kleinen  Buche  Über  die  Sprache  und  Weisheit  der 
Inder  (1808)  hob  er  den  hohen  Wert  einer  Kenntnis  des  indischen  Altertums  hervor  und 
gab  die  ersten  Proben  von  deutschen  Übersetzungen  aus  dem  Rämäyana,  Mahäbhärata  und 
dem  Gesetzbuche  des  Manu.     Er  war  der  Ansicht,   daß   das    indische  Studium  allein  dahin 

14» 


212  Richard  Pischel:    Die  indische  Literatur. 

führen  dürfte,  die  bis  jetzt  noch  ganz  unbekannten  Gegenden  des  frühesten  Altertums  auf- 
zuhellen, und  daß  es  dabei  an  dichterischen  Schönheiten  und  philosophischem  Tiefsinn  nicht 
minder  reiche  Schätze  darbieten  werde  als  das  griechische.  Schlegel  spricht  hier  eine 
Meinung  aus,  die  noch  lange  herrschend  blieb  und  die  Entwicklung  der  Sanskritphilologie 
ungünstig  beeinflußt  hat.  Alles  was  aus  Indien  kam,  galt  als  uralt.  Mit  Hilfe  des  Sanskrit 
hoffte  man  die  indogermanische  Urzeit  aufhellen  zu  können,  und  lange  waren  es  die  Lin- 
gTiisten,  die  den  Gang  der  Forschung  bestimmten.  Heute  wissen  wir,  daß  die  Werke  der 
indischen  Literatur,  die  damals  zunächst  bekannt  wurden,  erst  aus  späten  nachchristlichen 
Jahrhunderten  stammen.  Auch  die  mit  Recht  viel  gefeierte  Bhagavadgltä,  von  der  AuGUST 
Wilhelm  von  Schlegel  sagte,  sie  sei  das  schönste,  ja  vielleicht  das  einzig  wahrhafte  philo- 
sophische Gedicht,  das  alle  uns  bekannte  Literaturen  aufzuweisen  haben,  und  über  die  Wil- 
helm VON  Humboldt  äußerte,  er  danke  Gott,  daß  er  ihn  so  lange  habe  leben  lassen,  um 
dieses  Gedicht  lesen  zu  können,  gehört  einer  späten  Epoche  der  philosophischen  Spekula- 
tion an.  Die  wirklich  alten  Schriften  der  Inder  dagegen,  die  Veden,  fanden  bei  ihrem 
Bekanntwerden  nicht  die  gleiche  freudige  Aufnahme.  Colebrooke,  einer  der  besten  Kenner 
des  Sanskrit,  erklärte  1805,  daß  der  Inhalt  der  A'eden  kaum  die  Mühe  des  Lesers,  geschweige 
die  des  Übersetzers  lohnen  würde.  Und  als  endlich  1863  die  erste  vollständige  Ausgabe 
des  Rgveda  erschien,  war  es  zunächst  wieder  mehr  die  Sprache,  der  die  Aufmerksamkeit 
der  Forscher  sich  zuwandte,  als  der  Inhalt.  Der  Veda  wurde  als  etwas  von  der  übrigen 
indischen  Literatur  ganz  Verschiedenes  angesehen.  Er  galt  als  ein  indogermanisches,  nicht 
ein  indisches  Denkmal.  Erst  in  den  letzten  20  Jahren  ist  die  Indologie  zu  einem  tieferen 
\"erständnis  der  Sanskritliteratur  fortgeschritten. 

Eine  zusammenfassende  Darstellung  der  indischen  Literatur  nach  chronologischen 
Gesichtspunkten  fehlt  noch.  Ein  erster,  kurzer  \'^ersuch  ist  der  vom  Verfasser  herrührende 
Artikel  "Indische  Literatur'  in  Brockhaus'  Konversations-Lexikon,  14.  Aufl.  Größere  Werke 
sind  M.\x  Müller,  A  History  of  Ancient  Sanskrit  Literature  (Second  edition,  London,  1860^; 
.\.  Weber,  .Akademische  \'orlesungen  über  indische  Literaturgeschichte,  2.  Aufl.  (Berlin, 
1876);  L.  V.  Schroeder,  Indiens  Literatur  und  Kultur  in  historischer  Entwicklung  Xeipzig, 
1887);  A.  B.AUMGARTNER,  Geschichte  der  Weltliteratur.  II.  Die  Literaturen  Indiens  und  Ost 
asiens,  3.  und  4.  Aufl.  (Freiburg  i.  Br.,  1902; ;  A.  Macdonell,  A  History  of  Sanskrit  Lite- 
rature (London,  1903);  H.  Oldfnberg,  Die  Literatur  des  alten  Indien  (Stuttgart  und  Berlin, 
1903);  Victor  Henry,  Les  litteratures  de  l'Inde  (Paris,  1904);  M.  Winternitz,  Geschichte 
der  indischen  Literatur.  Erster  Teil.  Einleitung  und  erster  Abschnitt:  Der  Veda  (Leipzig, 
1905.- 

S.  162.  Kultur  zur  Zeit  des  Rgveda:  H.  Zim.mer,  Altindisches  Leben  (Berlin,  1879); 
Pischel  und  Geldner,  Vedische  Studien,  Band  i — 3  ^Stuttgart,  1889 — 1901),  besonders 
Band  i,  Einleitung.     Für  die  Zeit  des  Buddha:  F.  W.  Rhvs  Davids,  Buddhist  India  '^London, 

1903,- 

S.  168.     Drama:  Sylvain  Ltvi,  Le  theätre  indien  (Paris,   1890). 

S.  177.  Sütra:  A.  HiLLEBRANDT,  Ritual-Litteratur.  Vedische  Opfer  und  Zauber  (Grund 
riß  der  indo-arischen  Philologie  und  Altertumskunde,  Straßburg,   1897). 

S.  180.     ^L^x   Müller,    India,   what    can   it  teach   us?    'London,   1883),    deutsch  von 
C.  Cappeller  unter  dem  Titel:    Indien    in    seiner    weltgeschichtlichen   Bedeutung   (Leipzig. 
1884).     Dagegen  G.  Bühler,   Die  indischen  Inschriften  und  das  Alter  der  indischen  Kunst 
poesie  (Wien,  1890;.     In  der  2.  Aufl.  (London,  1892)  hat  Max  Müller  den  ganzen  Anhang 
fortgelassen. 

S.  181.  Über  die  indische  Philosophie  vergleiche  man  die  Arbeiten  von  P.  Deussen, 
Das  System  des  \'edänta  'Leipzig,  1883^;  Sechzig  Upanishads  des  Veda  aus  dem  Sanskrit 
übersetzt  'Leipzig,  1897);  Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie,  Band  i,  Abteilung  i  und  2 
(Leipzig,  1894.  1899);  und  R.  G.'VRBE,  Die  Sämkhya-Philosophie  (Leipzig,  1894);  Sämkhya 
und  Yoga  (Grundriß  der  indo-arischen  Philologie  und  Altertumskunde,  Straßburg,   1896. 


Literatur. 


213 


S.  183  ff.  Über  die  indische  Rhetorik:  P.  Regnaud,  La  rhdtorique  Sanskrite  (Paris, 
1884),  über  die  erotische  Literatur:  P.Schmidt,  Beiträge  zur  indischen  Erotik  (Leipzig,  1902) 
und  Liebe  und  Ehe  im  alten  und  modernen  Indien  (BerHn,  1904);  über  die  Jurisprudenz: 
J.  JOLLY,  Recht  und  Sitte  (Grundriß  der  indo  -  arischen  Philologie  und  Altertumskunde, 
Straßburg,   1896);    über  die  Medizin:  derselbe,  Medicin  (ebenda,  Straßburg,   1901). 

S.  187.  Literatur  der  Buddhisten:  Rhys  DAVIDS  a.  a.  O.  S.  161  ff. ;  Oldenberg, 
a.  a.  O.  S.  62  ff.;     Literatur  der  Jaina:  A.  Weber,  Indische  Studien   16,  211  ff.;   17,  i  ff. 

S.  191.  Mahäbhärata:  Adolf  Holtzmann,  Das  Mahäbhärata  und  seine  Teile,  4  Bde. 
(Kiel,  1892 — 1895);  E.  W.  Hopkins,  The  Great  Epic  of  India,  its  Character  and  Origin 
(New  York,  1901),  dem  ich  gegenüber  J.  Dahlmann,  Das  Mahäbhärata  als  Epos  und  Rechts- 
buch (Berlin,  1895)  und  Genesis  des  Mahäbhärata  (Berlin,  1899)  wesentlich  beistimme. 
Inhaltsübersicht  gibt  H.  Jacobi,  Mahäbhärata  (Bonn,   1903). 

S.  195.  Puräna:  H.  H.  Wilson,  Works  Vol.  III  (London,  1864)  und  in  der  Preface  zu 
seiner  Übersetzung  des  Visnupuräna,     2.  Aufl.  besorgt  von  F.-E.  Hall  (London,   1864 — 70). 

S.  196.  Rämäyana:  H.  Jacobi,  Das  Rämäyaria  (Bonn,  1893);  A.  Baumgartner,  Das 
Rämäyana  und  die  Räma-Literatur  der  Inder  (Freiburg  i.  Br.,   1894). 

S.  210.  Lexikographie:  Th.  Zachariae,  Die  indischen  Wörterbücher  (Grundriß  der 
indo-arischen  Philologie  und  Altertumskunde,  Straßburg,  1897):  Astronomie:  G.  Thibaut, 
Astronomie,  Astrologie  und  Mathematik  (ebenda,  Straßburg,   1899). 

S.  210.  Allgemeines:  A.  F.  Stenzler,  Über  die  Wichtigkeit  des  Sanskrit-Studiums  und 
seine  Stellung  an  unseren  Universitäten  (Breslau,  1863);  E.  Monseur,  L'Inde  et  l'Occident 
(Bruxelles,  1898);  L.  v.  Schroeder,  Indiens  geistige  Bedeutung  für  Europa  (München,  1899); 
A.  E.  J.  Remy,  The  Influence  of  India  and  Persia  on  the  Poetry  of  Germany  (New  York, 
1901);  A.  Hillebrandt,  Altindien  und  die  Kultur  des  Ostens  (Breslau,  1901);  E.  Kuhn, 
Der  Einfluß  des  arischen  Indiens  auf  die  Nachbarländer  im  Süden  und  Osten  (München,  1903). 


DIE  ALTPERSISCHE  LITERATUR. 

Von 
Karl  Geldner. 


Land  und  Leute.  Einleitung.      Dem    iranischen    Lande    sind    von    der    Natur    feste 

Grenzen  gezogen  durch  das  Randgebirge,  das  vom  Berg  Ararat  aus- 
gehend in  doppeltem  Bogen  ein  weites  Hochland  umspannt.  Hier  war 
unter  einem  Klima,  das  in  schroffem  Wechsel  zwischen  den  äußersten 
Gegensätzen  sich  bewegt,  auf  einem  meist  spröden  Boden,  der  harte 
Arbeit  verlangt,  aber  auch  nicht  unbelohnt  läßt,  ein  starkes  tapferes  Ge- 
schlecht von  hohem,  edlem  Wüchse  und  mit  g'esunden  politischen  In- 
stinkten begabt  erwachsen,  dem  einstmals  in  der  Weltgeschichte  eine 
führende  Rolle  beschieden  war.  Von  allen  alten  Kulturvölkern  ist  das 
iranische  am  frühesten  zu  einer  festen,  die  Jahrhunderte  überdauernden 
nationalen  Einigung  unter  einem  Großkönig  gelangt.  Mit  orientalischem 
Maßstab  gemessen  darf  der  von  Kyros  geschaffene  und  von  Dareios  aus- 
gebaute  persische  Staat   als   ein  Musterstaat  gelten. 

Jenseits  des  Nordrandes  von  Iran  dehnt  sich  die  weite  zentralasiatische 
Steppe  aus.  Hier  lag  die  schwankende  Grenze  und  das  stete  Kampffeld 
zwischen  den  seßhaften  Iraniem  und  den  nomadisierenden  Turaniern. 
Westwärts  trafen  die  vordringenden  Iranier  jenseits  ihres  Grenzgebirges 
in  der  Niederung  des  Tigris  und  Euphrat  mit  den  uralten  semitischen 
Staatengebilden  zusammen,  mit  denen  sie  jederzeit  in  reger  politischer 
und  geistiger  Wechselbeziehung  standen.  Die  ältere  semitische,  besonders 
die  babylonische  Kultur  übte  dabei  auf  die  iranische  zweifellos  einen 
großen  Einfluß  aus,  wenn  sich  auch  dieser  Einfluß  zurzeit  noch  nicht  ge- 
nau bewerten  und  im  einzelnen  feststellen  läßt.  Auf  kleinasiatischem  Boden 
begegneten  die  Iranier  in  ihrem  weiteren  Vordringen  der  überlegenen 
griechischen  Kultur,  vor  der  sie  bei  Salamis  und  noch  später  bei  Gau- 
gamela  die  Waffen  endgültig  strecken  mußten.  Gleichwohl  flößten  den 
Griechen  unter  allen  „Barbaren"  die  Perser  den  meisten  Respekt  ein,  auch 
als  sie  längst  aufgehört  hatten,  ihnen  furchtbar  zu  sein.  Herakleides  von 
Pontos  nennt  die  Perser  die  männlichsten  und  hochherzigsten  unter  den 
Barbaren,  und  schon  Herodot  (9,62)  rühmt  ihnen   nach,    daß    sie    im  Ent- 


Einleitung.  2  I  5 

Scheidungskampf  von  Plataeae  den  Griechen  an  Mut  und  Stärke  nicht 
nachgestanden  haben,  sondern  nur  in  der  Bewaffnung  und  Taktik  sowie 
an  Intelhgenz.  Für  Griechenland  war  das  große  iranische  Nachbarreich 
ein  wichtiger  politischer  Faktor,  mit  dem  es  jederzeit  rechnen  mußte. 
Griechische  Schriftsteller  suchten  sich  über  alle  dortigen  Vorgänge  älteren 
und  neueren  Datums  zu  unterrichten.  Was  wir  vom  alten  Iran  wissen, 
fließt  großenteils  aus  abendländischer  Quelle,  Aber  die  Berichte  der 
Griechen  erstrecken  sich  fast  nur  auf  den  dem  Verkehr  g-eöffneten  Westen 
der  Monarchie.  Von  den  Vorgängen  im  fernen  Osten  jenseits  der  großen 
iranischen  Wüste  ist  nur  wenig  sichere  Kunde  zu  ihnen  gedrungen  und 
daher  kommt  es,  daß  die  Geschichte  von  Ostiran  erst  so  spät  aus  dem 
Dunkel  heraustritt. 

Im  Osten  schließlich  trennte  das  hohe  Grenzgebirge  die  Iranier  von 
den  Sanskrit  redenden  Indern,  denen  sie  unter  allen  nichtiranischen  Völkern 
ethnolog"isch  am  nächsten  stehen.  Der  herrschende  Volksstamm  in  Iran 
wie  in  Nordindien  nannte  sich  in  alter  Zeit  die  Arier  (Skt.  Rryst,  altpers. 
ariya),  und  Iran,  wie  noch  heute  der  offizielle  Name  des  persischen  Reiches 
lautet,  bedeutet  eigentlich  das  Land  der  Arier.  Das  avestische  airyösha- 
yanem  „Land  der  Arier",  sowie  das  spätere  inschriftliche  Airän  umfaßte  den 
ganzen  großen  Länderkomplex,  soweit  die  iranische  Zunge  reichte,  also 
das  heutige  Persien  samt  Balutschistan  und  Afghanistan  und  ging-  nord- 
wärts noch  über  dieses  hinaus.  Im  politischen  Sinn  dehnte  sich  das  alte 
Iran  weit  über  seine  natürlichen  Grenzen  aus,  soweit  als  eben  die  Macht 
der  Perserkönige  reichte.  Griechische  Schriftsteller  beschränken  den  Aus- 
druck Ariane  irrtümlich  auf  den  Osten  Irans. 

Soviel  ist  sicher,  daß  die  Vorfahren  der  Inder  und  Iranier  innerhalb 
der  indogermanischen  Völkergruppe  sich  am  spätesten  getrennt  haben, 
länger  als  die  anderen  in  engerem  Volksverband  und  in  engster  Kultur- 
gemeinschaft verblieben.  Die  völlige  Trennung  beider  Nationalitäten  muß 
jedoch  in  einer  aller  geschichtlichen  Überlieferung  und  Erinnerung  um 
viele  Jahrhunderte  vorausliegenden  Zeit  sich  vollzogen  haben.  Aus  jener 
gemeinsam  durchlebten  Kulturperiode,  der  sog.  arischen  Periode,  haben 
aber  beide  Völker  bei  ihrem  Eintritt  in  die  Geschichte  noch  einen  reichen 
Schatz  an  religiösen  Vorstellungen  und  Kultusformen  als  gemeinsames 
Erbteil  bewahrt.  Ein  noch  beredteres  Zeugnis  für  die  geistige  Verwandt- 
schaft und  das  lange  Zusammenleben  ist  die  beiderseitige  Sprache,  dieses 
wichtigste  Dokument  der  Nationalität.  Indisch  und  Iranisch  auf  ihrer 
ältesten  Stufe  stehen  sich  in  Wortschatz  und  Form,  in  Stil  und  Ausdrucks- 
weise vielfach  so  nahe,  daß  sie  eher  wie  zwei  Dialekte  desselben  Sprach- 
stammes erscheinen. 

Und  doch  haben  sich  trotz  des  gemeinsamen  arischen  Mutterschoßes 
in  ihrer  Sonderentwicklung  diesseits  und  jenseits  des  Indus  zwei  geistig 
ganz  verschieden  geartete  Volkscharaktere  herausgebildet.  Aus  den  Indern 
ward   ein    geistreiches,  spekulatives,  grübelndes,   in    aller  Lust   sich  selbst 


2i6  K-\RL  Geldner:    Die  altpersische  Literatur. 

peinigendes  Volk  mit  ruheloser,  überschwenglicher,  fast  überspannter  Ein- 
bildungskraft begabt  und  doch  wieder  streng  wissenschaftlich,  ein  echtes 
Denkervolk,  das  in  seiner  selbstgeschaffenen  Ideenwelt  ein  mehr  über- 
irdisches Dasein  lebte.  Ihre  iranischen  Vettern  diesseits  des  Indus  sind 
mehr  oberflächlich,  nüchtern,  verstandesmäßig  veranlagt,  genußfroh,  für 
praktische  und  gemeinnützige  Ideale  empfänglich,  in  ihrem  Gemüts-  und 
Phantasieleben  mehr  auf  dem  Boden  der  \Virklichkeit  stehend,  und  sie 
sind  bei  aller  Vorliebe  und  anerkannten  Begabung  für  Poesie  selbst 
in  ihren  größten  Dichtern  der  späteren  Blütezeit  diesem  Grundzug  fast 
immer  treu  geblieben. 

Daß  das  Vaterland  eines  Firdausi  und  Hafis  schon  in  alter  Zeit  eine 
Xationalliteratur  besessen  haben  wird,  ist  wohl  zu  vermuten.  Es  ist  nicht 
wahrscheinlich,  daß  beispielsweise  ein  Volk  von  der  Kulturstufe  der 
Aleder  ganz  illiterat  geblieben  sei.  Aber  gerade  von  der  medischen 
Sprache  ist  so  gut  wie  jede  Spur  verweht.  Die  eigene  Sorglosigkeit  in 
der  literarischen  Überlieferung,  der  Mangel  an  philologischem  Sinn  und 
grammatischer  Schulung  wie  die  vielen  politischen  und  religiösen  Stürme, 
die  über  das  Land  fegten,  das  alles  mag  schuld  daran  sein,  daß  die 
Iranier  das  beste  Erbteil  der  Vergangenheit  bis  auf  wenige  Reste  ver- 
loren haben.  Und  selbst  diese  wenigen  Reste  hat  der  unverwüstliche 
Stein  und  der  nicht  minder  unverwüstliche  Glaubenseifer  vor  dem  Unter- 
gang bewahrt,  nicht  das  rein  antiquarische  Interesse. 

V\^as  auf  unsere  Zeit  gekommen  ist,  verdient  kaum  den  stolzen 
Namen  einer  Literatur.  Es  ist  zwar  für  Sprachwissenschaft,  Geschichte 
und  Religionswissenschaft  von  unschätzbarem  Wert;  aber  vom  rein  lite- 
rarischen Standpunkt  aus  ist  es  armselig  und  wird  von  der  alten  Lite- 
ratur des  benachbarten  Indiens  völlig  in  den  Schatten  gestellt.  Was 
anderswo  Geschichte  der  Literatur  heißt,  muß  sich  hier  auf  die  Be- 
schreibung der  beiden  einzigen  altiranischen  Sprachdenkmale,  der  alt- 
persischen Königsinschriften  und  der  Bibel  des  Zoroastrismus,  des  Avesta, 
beschränken. 

I.  Die  Keilinschriften  der  Achämeniden.  Sobald  Darius  I.  den 
Thron  des  Kyros  sich  gesichert  und  die  abgefallenen  Provinzen  des 
großen  Reiches  nach  langen  Kämpfen  und  mit  wunderbarer  Tatkraft 
wieder  unterjocht  hatte,  begann  er  —  ca.  518  v.  Chr.  — ,  zum  bleibenden 
Gedächtnis  für  die  Mit-  und  Nachwelt  seine  Taten  nach  assyrisch-baby- 
Darius-  Ionischem  Vorbild  auf  Stein  aufzuzeichnen.  So  entstanden  die  großen 
Felseninschriften,  die  unter  all  seinen  Urkunden  die  umfangreichsten  sind 
und  als  die  eigentlichen  Königsedikte  bezeichnet  werden  können.  Darius 
ist  der  erste  Perserkönig,  der  sich  auf  seinen  Inschriften  seiner  Mutter- 
sprache, des  Altpersischen,  bediente,  während  von  Kyros  nur  babylonische 
Inschriften  nachweisbar  sind.  Allerdings  machte  er  der  alten  Sitte  inso- 
weit  ein  Zugeständnis,   als   er  den  meisten  seiner  altpersischen  Urkunden 


inscbriften. 


I.  Die  Keilinschriften  der  Achämeniden. 


2  17 


eine  doppelte  Übersetzung  in  neubabylonischer  und  in  susischer  oder 
neuelamischer  Sprache  und  Keilschrift  zur  Seite  stellte.  Der  altpersische 
Text  bekommt  aber  stets  den  Ehrenplatz  in  der  Mitte,  und  für  ihn  führte 
Darius  eine  besondere  Schrift,  die  altpersische  Keilschrift,  ein.  Diese  ist  Altpersische 
die  vereinfachte  Form  einer  älteren  Keilschriftart,  bezw.  eine  Neubildung, 
die  in  der  Mitte  zwischen  der  alten  Silbenschrift  und  der  Lautschrift  steht, 
leicht  lesbar,  aber  nicht  frei  von  Zweideutigkeiten  ist.  Die  aus  keil-, 
oder  richtiger  gesagt  nag-elförmigen  Strichen  zusammengesetzten  Buch- 
staben sind  je  nach  dem  zur  Verfügung  stehenden  Raum  3,5  bis  8  cm 
hoch  und  scharf  und  akkurat  gemeißelt.  Die  Inschriften  werden  durch 
beigesetzte  Reliefdarstellungen  illustriert.  Der  Leser  wird  mehrfach  direkt 
auf  diese  „Abbildungen"  hingewiesen.  Über  den  Skulpturen  stehen  wie- 
derum kleinere  Aufschriften  als  Erläuterung.  Die  durchweg  kunstvolle 
Ausführung'  im  einzelnen  und  die  kühne,  gigantische  Anlage  mancher 
Edikte  in  schwindelnder  Höhe  an  steilen  Felsabhäng"en  zeugen  von  hoher 
technischer  Vervollkommnung. 

Die  läng'ste  und  bedeutendste  Dariusinschrift  ist  leider  heutigentages   Inschrift  von 

Behistun. 

auch  die  am  weitesten  entrückte  und  am  schwersten  zugängliche.  Nur 
wenige  Pioniere  der  Wissenschaft  haben  sie  mit  eigenen  Augen  gesehen, 
und  nur  einem  —  Sir  Henry  Rawlinson  —  war  es  verg'önnt,  sie  in  müh- 
seliger Arbeit  vollständig  abzunehmen.  Sie  befindet  sich  in  entlegener 
Geg'end  unweit  der  Stadt  Kermanshah  im  persischen  Kurdistan  an  der 
steilsten,  nur  mit  Lebensgefahr  zu  erklimmenden  Felswand  des  Berges 
Behistun  oder  Bisutun  (tö  BaYiCTavov  öpoc),  der  500  Meter  hoch  aus  der 
Ebene  schroff  emporsteigt.  Dort  ist  sie  ungefähr  100  Meter  über  der 
Ebene  an  der  senkrecht  behauenen  Wand  auf  fünf  sorgsam  ausgemeißelten 
und  geglätteten  Tafeln  oder  Kolumnen  eingehauen.  Die  Breite  der 
Tafeln  beträgt  etwas  weniger  als  2  m,  der  Gesamtumfang  beziffert  sich 
auf  etwas  über  400  Zeilen.  Herabsickerndes  Wasser  hat  alle  beschädigt, 
die  fünfte  Tafel  fast  ganz  zerstört.  Über  der  Inschrift  prangt  weithin 
sichtbar  das  Relief  des  Königs,  der  wie  überall  selbst  als  sprechend  ge- 
dacht ist.  Er  zählt  zunächst  seine  Titel,  Ahnen  und  die  von  ihm  be- 
herrschten Länder  auf,  gibt  kurz  sein  Regierungsprogramm  und  dann 
eine  lebendige  Schilderung  der  Reichswirren  nach  dem  Tode  des  Kam- 
byses,  der  Thronusurpation  des  falschen  Bardiya-Smerdis  und  seines 
Sturzes,  der  von  Provinz  zu  Provinz  aufflackernden  Empörungen  und  ihrer 
Unterdrückung  bis  zum  zweiten  Aufstand  von  Babylon.  So  weit  der  In- 
halt der  ersten  drei  Tafeln.  Die  vierte  resümiert  kurz  die  Namen  sämt- 
licher Empörer,  und  dann  wendet  sich  der  König  pathetisch  an  den  Leser. 
Er  verbürgt  eidesstattlich  die  Wahrheit  seiner  Berichte  und  schärft  ihren 
Schutz  und  ihre  Weiterverbreitung  ein.  Das  sieht  ganz  wie  ein  Schluß 
aus  und  die  ursprüngliche  i^ufzeichnung  war  wohl  hier  zu  Ende.  Auf 
der  fünften,  kürzeren  Tafel  wurde  später  der  Bericht  über  den  Feldzug 
gegen  die  Skythen  nachgetragen.     Ein  seltsamer  Zufall  fügte  es,  daß  ge- 


2  1 8  Karl  Geldner  :    Die  altpersische  Literatur. 

rade  die  Relation  dieses  unglücklich  verlaufenen  Feldzuges  von  den 
Naturgewalten  fast  ganz  ausgelöscht  worden  ist. 

Die  Behistuninschrift  ist   also  recht  eigentlich  der  Erinnerung  an  die 
schwerste  Zeit,  an  die  Zeit  der  großen  Revolten  im  Innern  gewidmet.    Sie 
ist  eine  historische  Urkunde  großen  Stils  und  keine  der  anderen  Inschriften 
kann  sich  auch  nur  entfernt  mit  dieser  messen. 
Kuriere  Unter    den    Inschriften    zweiten   Ranges    steht    obenan    diejenige   an 

dem  Felsen  von  Naqsh  i  Rustam  über  der  Grabnische  des  großen  Königs. 
Er  hat  sich  dort  selbst  zu  Lebzeiten  seine  Grabschrift  gesetzt.  Diese  ist 
weit  kürzer  und  allgemeiner  gehalten,  ohne  historische  Details.  Die  streng 
geographisch  angeordnete  Länderliste  zählt  unter  den  Reichsprovinzen 
das  Indusland  auf,  das  auf  der  ersten  Behistuntafel  noch  fehlt.  Jene 
muß  also  vor,  die  Grabschrift  nach  dem  indischen  Feldzug  entworfen 
worden  sein. 

Auch  die  übrig^en  Inschriften  sind  im  Vergleich  zur  Behistuninschrift 
ganz  kurz  gefaßt,  oft  nur  ein  oder  zw^ei  Zeilen.  Besondere  Erwähnung 
verdienen  noch  die  Aufschriften,  die  als  Bauurkunden  an  den  Wänden 
und  Säulen  der  jetzt  in  Trümmern  liegenden  Königspaläste  von  Perse- 
polis  angebracht  sind  und  die  Säuleninschrift,  welche  bei  dem  Bau  des 
Suezkanals  an  der  Stelle  des  alten  von  Darius  vollendeten  Verbindungs- 
kanales  ausgegraben  wurde. 
Charakter  der  Die    Sprache    der   Inschriften    ist    oft    noch    linkisch,    der    Ausdruck 

schlicht,  aber  w'arm,  die  Berichte  bündig,  sachlich  und  frei  von  eitler 
Großsprecherei.  Es  sind  echt  königliche  Worte,  getragen  von  hohem 
Selbstbewußtsein,  von  heiligem  Eifer  für  den  Ruhm  und  die  Größe  des 
Vaterlandes  und  von  ausgesprochener  Religiosität.  „Es  verkündet  der 
König  Darius:  Als  Auramazda  diese  Erde  in  Aufstand  sah,  da  übergab 
er  sie  mir,  zum  König  machte  er  mich;  ich  bin  König.  Nach  dem  Willen 
Gottes  stellte  ich  sie  an  ihren  Platz.  Was  ich  ihnen  sagte,  das  taten  sie, 
wie  es  mein  Wille  war.  Wenn  du  nun  denkst:  'wie  vielfach  waren  jene 
Länder,  welche  der  König  Darius  regierte?',  so  betrachte  das  Bild  (derer), 
die  meinen  Thron  tragen,  so  wirst  du  sie  wissen.  Da  ward  dir  deutlich 
werden:  des  persischen  Mannes  Lanze  ist  fernhin  gedrungen.  Da  wird 
dir  deutlich  werden:  der  persische  Mann  hat  fern  von  Persien  Schlachten 
geschlagen."  —  „Es  spricht  der  König  Darius:  Dieses,  was  getan  wurde 
das  alles  tat  ich  nach  Gottes  Willen.  Gott  brachte  mir  Beistand,  w^äh- 
rend  ich  es  tat.  Gott  schütze  mich  vor  .  ,  .  und  mein  Haus  und  dieses 
Land!  Darum  bitte  ich  Gott,  dies  gewähre  mir  Gott!"  —  „Es  spricht  der 
König  Darius:  Nach  dem  Willen  Gottes  ist  auch  vieles  andere  von  mir 
getan  worden,  was  in  dieser  Inschrift  nicht  beschrieben  ist.  Deswegen 
ist  es  nicht  beschrieben,  damit  niemandem,  der  später  diese  Inschrift  lesen 
wird,  es  zu  viel  erscheine,  was  ich  getan  habe,  und  er  es  nicht  glaube, 
sondern  für  erlogen  halte." 

Das  Bild,   das  uns  die  griechischen  Schriftsteller  von  diesem  größten 


I.  Die  Keilinschriften  der  Achämeniden. 


2  IQ 


König  des  alten  Orients  geben,  wird  durch  seine  eigenen  Inschriften  in 
eine  noch  günstigere  Beleuchtung  gerückt. 

Darius  ist    nicht    nur   der  Begründer    dieser  Keilschriftliteratur,   son-      Darms- 

iTXT-  j  1-  TTT  •  Nachfolger. 

dern  er  hat  auch  selbst  das  Meiste  dazu  beigesteuert.  Was  seine 
Nachfolger  an  Inschriften  hinterlassen  haben,  sind  dürftige,  epigonen- 
hafte Nachahmungen.  Sie  bestehen  zum  größten  Teil  in  der  Wieder- 
holung der  solennen  Formeln  ohne  jeden  originalen  Gedanken  und  sie 
überschreiten  zusammengenommen  nur  wenig  den  Umfang  einer  einzigen 
Behistuntafel.  Sie  lassen  sich  abwärts  bis  Artaxerxes  III.  (358 — 338)  ver- 
folgen. 

Außer  den  Achämenideninschriften  sind  keine  weiteren  Sprachproben  Bedeutung  der 
des  Altpersischen  auf  unsere  Zeit  gekommen,  nur  noch  einzelne  Vokabeln, 
welche  die  Griechen  überliefern.  Die  Entzifferung  der  Inschriften  im  ig.  Jahr- 
hundert hat  also  unsere  Sprachkenntnis  um  eine  völlig  verschollene  Sprache 
bereichert.  Sie  hat  zweitens  der  inneren  Geschichte  des  Perserreiches  neue 
Quellen  erschlossen,  denn  die  Urkunde  am  Behistunberg  ist  gleichsam 
noch  ein  lebendiger  Zeuge  aus  den  sturmbewegten  ersten  Regierungs- 
jahren des  Darius.  Sie  vervollständigt,  berichtigt  oder  bestätigt  die  An- 
gaben der  griechischen  Historiker,  insbesondere  des  Herodot.  So  wird, 
um  nur  einiges  anzuführen,  die  Richtigkeit  der  achämenidischen  Ahnen- 
reihe, die  Herodot  (7,  11)  dem  Xerxes  in  den  Mund  legt,  bis  auf  einen 
leicht  verzeihlichen  Irrtum,  inschriftlich  bestätigt.  Xerxes  sagt  dort:  „Ich 
will  nicht  heißen  der  Sohn  des  Darius,  des  Sohnes  des  Hystaspes,  des 
Sohnes  des  Arsames,  des  Sohnes  des  Ariaramnes,  des  Sohnes  des  Teispes, 
des  Sohnes  des  Kyros,  des  Sohnes  des  Kambyses,  des  Sohnes  des  Teispes, 
des  Sohnes  des  Achämenes,  wenn  ich  nicht  die  Athener  züchtige."  Und 
Darius  sagt  im  Eingang  der  großen  Inschrift:  „Mein  Vater  ist  Vishtäspa, 
der  Vater  des  V.  Arshäma,  der  Vater  des  Arshäma  Ariyärämna,  der  Vater 
des  Ariyärämna  Caishpi,  der  Vater  des  Caishpi  Hakhämani.  Acht  meines 
Geschlechtes,  die  waren  früher  Könige;  ich  bin  der  neunte.  In  zwei  Linien 
sind  wir  Könige."  So  wird  durch  dieselbe  Inschrift  bis  auf  einen  die  Richtig- 
keit der  Namen,  die  Herodot  (3,  70)  den  Mitverschworenen  des  Darius 
gibt,  bestätigt.  Und  wenn  Herodot  2,  158  berichtet,  daß  Darius  den  vom 
König  Necho  begonnenen  Kanal  vom  Nil  bis  zum  Roten  Meer  erneuert 
und  vollendet  habe,  so  bestätigt  die  Suezinschrift  diese  Angabe  mit  dürren 
Worten:  „Ich  befahl,  diesen  Kanal  zu  graben  vom  Piräva  (Nil),  der  in 
Ägypten  fließt,  hin  zu  dem  Meer,  das  von  Persien  kommt.  Dieser  Kanal 
wurde  gegraben." 

Und  drittens  wurden  die  einmal  entzifferten  altpersischen  Texte  der 
Schlüssel  zur  Entzifferung  der  ebenso  dunkeln  und  noch  weit  schwierigeren 
Übersetzungen  und  diese  wieder  der  Ausgangspunkt  für  die  erfolgreiche 
Entzifferung  der  gesamten  fast  unerschöpflichen  Keilschriftliteratur. 
So  haben  die  wenigen  altpersischen  Inschriften  den  Anstoß  zu  einer 
neuen  Wissenschaft    gegeben    und    ein    weit    über  ihre    eigenen    Grenzen 


2  20  Karl  Geldner:    Die  altpersische  Literatur. 

hinausreichendes  Gebiet  der  Geschichte  erschließen  helfen.    Darin  besteht 
ihre  universale  Bedeutung", 
nire  Die    Entzifferung    der  Inschriften,  -deren  Sprache    und  Schrift    gleich 

unbekannte  Größen  waren,  gehört  zu  den  bleibenden  Großtaten  der  Philo- 
logie. Den  ersten  vom  Glück  begünstigten  Ansatz  dazu  machte  Grotefend 
im  Jahre  1802.  Er  prüfte  zwei  kleine,  bis  auf  wenige  Worte  gleichlau- 
tende Inschriften  und  vermutete  in  den  nicht  gleichlautenden  Worten 
Xamen  von  persischen  Königen,  und  zwar  riet  er  gleich  auf  die  richtigen, 
nämlich  Darius  und  Xerxes.  So  gelang  es  ihm  auf  den  ersten  Wurf, 
neun  Zeichen  richtig  zu  bestimmen.  Nun  fügte  sich  in  jahrelanger  wett- 
eifernder Geduldsarbeit  Steinchen  zu  Steinchen,  bis  in  den  vierziger 
Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  durch  Sir  Henry  Rawlinson,  der,  wie 
erwähnt,  auch  die  große  Behistuninschrift  zum  erstenmal  veröffentlichte, 
die  Entzifferung  im  wesentlichen  zum  Abschluß  gebracht  wurde.  Im 
großen  und  ganzen  ist  die  Lösung  und  das  Verständnis  der  altpersischen 
Urkunden  jetzt  sichergestellt.  Im  einzelnen  wird  sich  wohl  noch  manches 
durch  bessere  Worterklärung,  besonders  mit  Hilfe  der  Übersetzungen  und 
durch  richtigere  Lesung  der  mehrdeutigen  Schrift  modifizieren  lassen. 
Was  not  tut,  ist  eine  baldige  erneute  Prüfung  und  genaue  Wiederg-abe 
aller  Inschriften  mit  den  Hilfsmitteln  modemer  Technik.  Wie  A.  V.  Wil- 
liams Jackson,  der  letzte  Besucher  der  Behistuninschrift,  konstatiert,  hat 
bei  dieser  wichtigsten  Inschrift  seit  Rawlinson  die  Zerstörung  schon 
weitere  Fortschritte  gemacht.  Manche  verwaschene  Buchstaben  lassen 
sich  nur  noch  aus  den  tiefer  eingemeißelten  KeilkÖpfen  erkennen,  und 
auch  diese  letzten  Kriterien  schwinden  langsam. 

Und  zum  Schluß  drängt  sich  die  Frage  auf:  sind  wir  mit  unserem 
Altpersisch  überhaupt  schon  zu  Ende  und  wird  nicht  die  Zukunft,  wenn 
einmal  auch  in  Persien  der  Spaten  angesetzt  und  unter  der  Erde  syste- 
matisch gesucht  wird,  noch  belangreicheres  Material  zutage  fördern? 

n.  Die  Avesta-Literatur.     Das  andere  Literaturdenkmal   des   alten 

Irans  ist  die  noch  jetzt  bei  den  Parsen  Indiens  gebrauchte  heilige  Schrift 

Sprache  des    der    Zoroastricr,    das   Avesta.      Sie    ist    in    einer    dem    vedischen    Sanskrit 

Avesta. 

nahe  verwandten  altertümlichen,  wort-  und  formenreichen  und  dadurch 
sehr  ausdrucksfähigen  Sprache  niedergeschrieben,  deren  Xamen  und 
Heimat  niemand  kennt.  Es  läßt  sich  nur  das  eine  mit  Bestimmtheit  sagen, 
daß  es  nicht  die  altpersische  Sprache  ist,  von  der  sie  in  vielen  Punkten 
Heimat  des    sich  Unterscheidet.     Da  wir  sonst  von    keiner  alten  Provinzialmundart  des 

Avesta. 

iranischen  Reiches  irgendwelche  Sprachproben  besitzen  und  anderweitige 
einheimische  Zeugnisse  fehlen,  auch  das  Avesta  selbst  keine  Anhalts- 
punkte gibt,  so  sind  wir  für  das  Ursprungsland  dieses  Idioms  auf  Ver- 
mutungen angewiesen.  Altbaktrisch  oder  Bakthsch,  Altmedisch  sind  rein 
hypothetische  Benennungen.  A  priori  ist  das  Wahrscheinlichste,  daß  die 
Landschaft,    in    der  Zarathushtra    als  Prophet   zuerst   erfolgreich   war,   die 


II.  Die  Avesta-Literatur.  2  2  1 

Heimat  dieser  Sprache  und  bis  zu  einem  gewissen  Grad  des  Avesta 
selbst  ist,  denn  der  Prophet  wird  an  seiner  eigentUchen  Wirkungsstätte 
nicht  in  seiner  Muttersprache  —  dem  Dialekt  von  Atropatene  oder 
Raga  — ,  sondern  in  der  dortigen  Landesmundart  gepredigt  haben. 
Dieses  Land  seines  Wirkens  ist  aber  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
Seist  an  am  unteren  Lauf  des  Hilmend  (Etymandros)  und  am  Käsavasee 
(dem  heutigen  Hamunsee),  jetzt  halb  zu  Persien,  halb  zu  Afghanistan  ge- 
hörig. An  den  Käsavasee  verlegt  die  iranische  Sage  das  Stammland  der 
Kayanierdynastie,  die  mit  dem  König  Vishtäspa  abschloß.  Im  Käsavasee 
ruht  bis  an  das  Ende  der  Welt  der  Samen  des  Zarathushtra,  aus  dem  die 
künftigen  Heilande  geboren  werden  sollen.  Zarathushtra  muß  also,  wenn 
anders  diese  Sage  einen  Sinn  haben  soll,  an  den  Gestaden  dieses  Sees 
gelebt,  bzw.  in  seinen  Fluten  gebadet  und  in  Seistan  dem  König  Vishtäspa, 
seinem  mächtigen  Protektor,  die  neue  Religion  gelehrt  haben. 

Ein  sicherer  Rückschluß  auf  die  Heimat  der  Avestasprache  wird 
erst  dann  möglich  sein,  wenn  es  einmal  gelingen  wird,  von  einer  modernen 
Provinzialmundart  deutliche  Dialektspuren  bis  ins  Avesta  rückwärts  zu 
verfolgen.     Wie    auch    die   Entscheidung  fallen   mag:     weder  die  Sprache    Entwicklung 

.  ^-^  '^'^^  Sprache. 

des  Avesta,  noch  dieses  selbst  ist  auf  die  Grenzen  einer  bestimmten 
Provinz  beschränkt  geblieben.  Die  Sprache,  in  der  Zarathushtra  lehrte, 
ist  in  der  glänzen  Folgezeit  die  typische  Sprache  seiner  Religion  geblieben 
und  mit  deren  Ausbreitung  in  g^anz  Iran  eingebürgert  worden  als  die 
Sprache  der  Kirche,  überall  verstanden,  wo  der  neue  Glaube  Wurzel 
gefaßt  hatte.  Als  Kirchensprache  von  den  Theologen  und  Schriftgelehrten 
fortgebildet  und  fortgepflanzt,  in  Schulen  gelehrt  und  gelernt,  konnte  sie 
ein  künstliches  Leben  führen,  noch  lange  nachdem  sie  im  Volksmund  aus- 
gestorben war.  In  ihr  wurde  geredet,  geschrieben  und  gedichtet,  wo 
immer  in  Iran  eine  Stätte  priesterlicher  Gelehrsamkeit  bestand.  Sie 
spielte  dort  dieselbe  Rolle,  wie  das  Latein  während  des  Mittelalters  im 
Abendland,  wie  das  Hebräisch  in  den  Rabbinerschulen,  wie  das  Sanskrit 
bei  den  Hindus  oder  das  Päli  bei  den  südlichen  Buddhisten.  Deutlich 
unterscheiden  wir  im  Avesta  zwei  Sprachperioden:  die  ältere  Sprache,  in 
der  Zarathushtra  predigte,  den  sogenannten  Gäthädialekt  mit  stark  lokaler 
Färbung,  und  die  jüngere,  fortentwickelte  Sprache  der  organisierten 
Landeskirche,  das  Vulgär- Avestische.  Dieses  ist  eine  Schöpfung  der  Charakter  der 
zoroastrischen  Geistlichkeit.  Der  Dualismus  der  Lehre  ist  auf  die  Sprache 
übergegangen.  Es  gibt  eine  Sprache  für  die  Ketzer  und  eine  solche  für 
die  Gläubigen.  Die  geläufigen  Begriffe,  wie  Kopf,  Auge,  Hand,  Fuß, 
Sohn,  sprechen,  sehen,  gehen,  schaffen,  sterben  werden  im  Ausdruck 
streng  geschieden,  je  nachdem  von  ormazdischen  oder  ahrimanischen  Ge- 
schöpfen die  Rede  ist.  Zu  rein  profanen  literarischen  Zwecken,  zu  in- 
schriftlichen Aufzeichnungen  oder  Münzlegenden  ist  diese  Sprache  wohl 
niemals  verwendet  worden.  In  der  Sasanidenzeit  ist  die  Kenntnis  der 
Avestasprache    in    starker   Abnahme    begriffen.      Ihr    letztes    Überbleibsel, 


22  2  Karl  Geldner:    Die  altpersische  Literatur. 

das  Avesta,  wird  zu  einem  verschlossenen  Buch,  das  auch  für  die  Schrift- 
gelehrten nur  mit  Hilfe  modemer  Kommentare  einigermaßen  verständlich 
bleibt. 

Altpersisch  und  Die  Persis   und   die   unbekannte  Heimat  der  Zarathushtrasprache  sind 

also  in  der  iranischen  Sprachg'eschichte  die  zwei  entgegengesetzten  Pole, 
von  denen  aus,  immer  weitere  Kreise  ziehend,  eine  doppelte  über  den  Mund- 
arten stehende  Schriftsprache  sich  entfaltete.  Wie  das  Altpersische  von 
der  politischen  Machtstellung  der  Persis  getragen  zur  offiziellen  Staats- 
sprache avancierte,  so  entwickelte  sich  die  des  Avesta  zur  Sprache  der 
offiziellen  Landeskirche.  Zwischen  diesen  beiden  expansiven  Sprach- 
entwicklungen ist  die  mundartliche  Literatur  Irans  erstickt. 

Der  Name  der  Persis  und  der  Perser  ist  merkwürdigerweise  dem  Avesta 

Geographie  des  Unbekannt.  Dessen  geographischer  Horizont  reicht  vom  äußersten  Nord- 
westen Irans  bis  zum  äußersten  Nordosten  und  gen  Südost  bis  an  den 
Indus.  Es  nennt  als  bekannte  Landschaften  und  Städte  Sogdiana,  Khoras- 
mien,  das  'tapfere  und  fromme'  Merv,  das  'schöne'  Balkh,  Herat,  Kabul 
mit  dem  Paropanisos,  das  Indusland,  Arachosien,  das  Tal  des  Hilmend 
mit  seinen  Zuflüssen  und  dem  Hamunsee,  der  ausdrücklich  als  im  Osten 
gelegen  bezeichnet  wird,  ferner  Hyrkanien,  Mazenderan  mit  dem  Alborz, 
dem  Zentralgebirge  der  Welt,  das  bis  in  die  Region  der  Gestirne  empor- 
ragt, Raga,  endlich  im  äußersten  Nordwest  Arrän,  das  Stromgebiet  des 
Araxes  und  den  salzigen  Urmiasee.  Der  Länderkomplex,  den  das  Avesta 
umspannt,  liegt  also  von  der  Persis  aus  gerechnet  jenseits  der  zentralen 
Wüste  und  im  großen  Bogen  um  diese  herum.  Auch  geographisch  ist 
das  Bild  von  den  beiden  entgegengesetzten  Polen  zutreffend. 

Avesta undPäiL  Schon   oben  wurde   auf  die  Analogie   zwischen  Avesta  und  Päli  hin- 

gewiesen. Diese  Ähnlichkeit  erstreckt  sich  nicht  allein  darauf,  daß  beide 
weitverbreitete  Kirchensprachen  sind,  die  mit  der  Religion  aus  ihrer 
engern  Heimat  gewandert  sind.  Auch  die  Heimat  des  Päli  ist  noch  nicht 
sicher  nachgewiesen.  Nach  buddhistischer  Tradition  ist  Päli  die  Sprache, 
in  welcher  der  Religionsstifter  einstmals  gepredigt  hat.  Und  selbst  im 
Gebrauch  der  beiden  ety^mologisch  dunklen  Wörter  Päli — Avesta  liegt  eine 
merkwürdige  Übereinstimmung.  Päli  bezeichnet  ursprünglich  die  heilige 
Schrift,  die  Gesamtheit  der  südbuddhistischen  Texte,  insbesondere  im 
Gegensatz  zu  dem  Kommentar,  in  zweiter  Linie  eine  einzelne  Schriftstelle. 
Und  schließlich  wenden  die  Singhalesen  das  Wort  auch  auf  die  von  der 
heiligen  Schrift  unzertrennliche  Sprache  selbst  an.  Genau  dasselbe  ist 
bei  dem  Wort  Avesta  der  Fall.  Es  bedeutet  heiUge  Schrift,  namentlich 
im  Gegensatz  zum  Kommentar  (Zand,  daher  der  falsch  verstandene  Aus- 
druck Avesta  u  Zand,  „heilige  Schrift  und  Auslegung"),  dann  irgend  eine 
Stelle  aus  dieser  oder  ein  Zitat  in  Avestasprache  und  endlich  diese  letztere 
selbst.  Da  alle  Vermutungen  über  ihre  Herkunft  unsicher  sind,  so  wird 
man  gut  daran  tun,  auch  in  Europa  diesem  traditionellen  Sprachgebrauch 
zu  folgen  und  die  Sprache  kurzweg  Avesta  zu  nennen.     Das  Wort  Avesta, 


II.  Die  Avesta-Literatur. 


223 


mittelpersisch  apastäk,  läßt  sich  nicht  vor  der  Sasanidenzeit  nachweisen. 
Vielleicht  gehört  es  zu  Pehlevi  apastän,  Päzend  awastäm  'Vertrauen'  und 
würde  dann  das  allein  zuverlässige  und  glaubwürdige  Buch  bedeuten,  als 
welches  es  von  den  Sasanidenkönigen  proklamiert  wurde. 

Das  Avesta  ist  kein  einzelnes  Buch,  sondern  eine  Schriftensammlung, 
genauer  g-esagt  der  letzte  Überrest  einer  einstmals  umfangreicheren  kirch- 
lichen Literatur,  die  für  den  Mazdagläubigen  dieselbe  Heiligkeit  und  Auto- 
rität besaß  wie  für  den  rechtgläubigen  Hindu  der  Veda,  und  wie  dieser 
einen    großen  Zeitraum  umspannt.     Nach    oben    läßt    sich    für    das  Avesta  Anfänge  der 

,.  .,  ^     •  •     1  -r>w-"i  TT1         1-     r  -1  Avestaliteratur. 

kerne    sichere    Zeitgrenze    ziehen.      Die    ältesten    Uberlieferung-en    reichen 
zurück   bis   in   die   noch  unbestimmbare  Zeit   des  Zarathushtra  und    seines 
Königs  Vishtäspa,  der  mit  dem  Vater  des  Darius  vielleicht  nur  den  Namen 
gemein  hat.    Doch  wird  der  Identität  beider  neuerdings  mehrfach  das  Wort 
geredet.     Aussprüche    und  Reden    des  Propheten,   welche   die  Erinnerung 
festgehalten  oder  spätere  Tradition  ihm  in  den  Mund  gelegt  hatte,  wurden 
gesammelt  und  als  Reliquien  fortgepflanzt.    Aus  dieser  ältesten  Überliefe- 
rung sind  nur  die  wenigen  Gäthäs  oder  Sprüche  erhalten.    Später  begann 
man    homiletische   Erklärungen    dieser    schwerverständlichen   Sprüche    des 
Propheten  zu  verfassen,  ferner  das  Priestergesetz,  das  seinen  Namen  trug, 
und  die  liturgischen  Formeln  und  religiösen  Gesänge,  sowie  die  einzelnen 
Züge    der  Heiligenlegende    zu    fixieren   und   die  Kosmologie    und  die  ira- 
nischen Heldensagen,    soweit    sie   von   theologischem  Interesse   waren,    in 
ein   System    und    in   feste  Chronologie   zu  bring^en.     Ein  genauer  Einblick 
in    das    Werden    und   Wachsen    dieser    Literatur    ist    uns    leider    versagt. 
Okzidentalische  Schriftsteller  nach  Alexander  bezeugen  mehrfach  ihr  Vor- 
handensein.    Nachsasanidische  Parsenschriftsteller  aber  rekapitulieren    die  ihre  Geschichte. 
Hauptpunkte  aus  der  wechselvollen  Geschichte  des  Avesta  von  den  Achä- 
meniden  bis  auf  ihre  Zeit,  uud  ihre  Angaben  erscheinen  in  der  Hauptsache 
gerade    deshalb    glaubwürdig,    weil    sie    nichts   beschönigen   und   alles  er- 
klären.     Danach    bestand    schon    unter    den    Achämeniden    ein    fest   redi- 
gierter und  kanonisierter  Avestatext  in  2  i  Büchern  (Nasks)  mit  zusammen 
1000  Kapiteln.     Dieser  war  auf  Kuhhäuten,  d.  h.  Pergament,  aufgezeichnet 
und    in    zwei    offiziellen  Exemplaren    in    den  Archiven    deponiert   worden, 
nach    der    einen    Überlieferung    auf    Befehl    von    Darius    III.,    nach    der 
anderen    mehr    dogmatischen    schon    auf  Befehl    des  Vishtäspa.     Das  eine 
Exemplar  wurde  von  Alexander  verbrannt,  das  andere  von  den  Griechen 
geraubt.    König"  Vologeses  (welcher  gemeint  sei,  ist  nicht  ersichtlich)  befahl 
für   die  Erhaltung   der  zerstreuten  Reste   der  heiligen   Schrift,    soweit   sie 
noch  in    schriftlicher    oder  mündlicher  Überlieferung   der  Schriftgelehrten 
vorhanden    waren,    zu    sorgen    und    ein    Verzeichnis    davon    aufzustellen. 
Der  erste  Sasanidenkönig  Ardashir  (2  1 2 — 241),  unter  dem  die  zoroastrische 
Religion    und  Kirche    zu    neuer    und    noch    größerer  Macht    als  je    zuvor 
gelangte,    tat    noch    einen   Schritt    weiter.     Er    ließ    die    verstreuten  Teile 
zusammenbringen    und    durch    seinen    Oberpriester    Tanvasar    daraus    ein 


,7  1  Karl  Geldner:    Die  altpersische  Literatur. 

vollständiges  Avesta  herstellen,  das  ein  möglichst  getreues  Abbild  des 
originalen  sein  sollte.  Dieses  neuredigierte  Avesta  kanonisierte  er  und 
setzte  Abschriften  davon  in  Umlauf.  König  Shäpür  I.  {241 — 272)  erweiterte 
diesen  Kanon,  indem  er  auch  die  nichtreligiösen  Schriften  über  Medizin, 
Astrologie,  Geographie  und  Philosophie  sammeln  und  in  korrekter  Ab- 
schrift diesem  einverleiben  ließ.  Endlich  unter  Shäpür  IL  (30g — 37Q) 
regelte  dessen  Kanzler  Ätarpät  die  Naskzählung. 

Die  einheimische  Tradition  läßt  sich  also  in  Kürze  dahin  zusammen- 
fassen: Bestand  einer  heiligen  Schrift  unter  den  Achämeniden,  Aufhören 
der  redaktionellen  Einheit  und  Zerstreuung  der  Schriften  seit  Alexander, 
Vorarbeiten  zur  Wiederherstellung  des  Avesta  unter  einem  Vologeses, 
vollständige  Sammlung  und  Diaskeuase  unter  Ardashir,  Ergänzung  unter 
Shäpür  I.  und  Abschluß  der  Neuredaktion  unter  Shäpür  II. 

Sasaniden-  Das  Avesta    ist    also    eigentlich   ein  Werk    der  Sasanidenzeit;    es   ist 

im  dritten  Jahrhundert  n,  Chr.  auf  Grund  alter  Literaturüberreste  neu 
aufgezeichnet  und  komplettiert  und  vielleicht  damals  aus  dem  älteren 
mangelhaften  Pehlevialphabet  in  die  bekannte  vollständige  Avestaschrift 
umgeschrieben  worden.  Bei  dieser  Aufzeichnung  und  Umschrift  mögen 
manche  —  nach  Andreas  sogar  ganz  erhebliche  —  Fehler  sich  ein- 
o-eschlichen  haben.  Gewissen  Partieen  ist  noch  deutlich  anzusehen,  daß 
sie  aus  lauter  Fragmenten  notdürftig  zusammengeleimt  worden  sind.  Was 
im  einzelnen  der  oder  die  Diaskeuasten  bei  ihrer  Neuordnung  aus  eigenem 
Wissen  ergänzt,  überarbeitet  oder  an  Stelle  des  Verlorenen  untergeschoben 
haben,  entzieht  sich  der  Kritik.  Zu  wirklichen  Korrekturen'  und  zur  Her- 
stellung korrekter  Texte  reichte  ihre  grammatische  Kenntnis  nicht  aus. 
Die  Texte,  die  sich  noch  erhalten  hatten,  mögen  von  verschiedener  Güte 
gewesen  sein.  Hie  und  da  meint  man  an  den  ganz  barbarischen  oder 
modernen  Sprachformen  die  Hand  des  letzten  Redaktors  noch  zu  erkennen. 
Was  unser  Avesta  an  grammatisch  korrekten  Texten  enthält,  das  ist 
sicher  echt  und  wortgetreu  aus  dem  alten  Avesta  herübergenommen. 
Dahin  sind  vor  allem  die  Gäthäs  und  die  großen  Yashts  zu  rechnen.  In- 
haltlich ist,  soweit  wir  aus  unserem  Avesta  schließen  können,  alles  sorg- 
sam vermieden,  was  die  spätere  Zutat  verraten  könnte.  Von  gewissen 
Gebetsformen  abgesehen,  ist  die  später  zum  Dogma  gewordene  Fiktion, 
daß  das  ganze  Avesta  eine  Offenbarung  des  Propheten  sei,  nach  Möglich- 
keit durchgeführt,  oftmals  allerdings  nur  durch  die  einleitenden  Worte: 
„Es  sprach  Ahura  Mazda  zu  Zarathushtra",  oder  „es  fragte  Zarathushtra 
den  Ahura  Mazda".  Auch  jede  Hindeutung  auf  schriftliche  Überlieferung 
wird  vermieden. 

Die  Xasks.  Die  Sasauidenrcdaktion  hat  die  2 1   Nasks   wieder  zusammengebracht, 

allerdings,  wie  die  Parsen  selbst  eingestehen,  manche  darunter  nur  noch 
zu  einem  ganz  kleinen  Teil.  Im  neunten  Jahrhundert  n,  Chr.  waren  von 
den  neuredigierten  Nasks  noch  20  im  Urtext,  19  zugleich  mit  dem  Pehlevi- 
kommentar  vorhanden.     Der  Dinkart,  eine  theologische  Enzyklopädie  aus 


II.  Die  Avesta-Literatur. 


225 


genannter  Zeit,  gibt  eine  z.  T.  sehr  detaillierte  Inhaltsangabe  der  Nasks, 
aus  der  wir  uns  einen  annähernden  Begriff  von  dem  reichhaltigen  Stoif  des 
damaligen  Avesta  machen  können.  Es  enthielt  Bücher  mythisch-historischen 
Inhaltes,  eine  Schöpfungsgeschichte,  Lebensgeschichte  des  Zarathushtra, 
die  Bekehrung-  und  Belehrung  des  Vishtäspa,  eine  Weltgeschichte  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  von  Iran  bis  zur  Verkündigung  der  Religion, 
ferner  Bücher  über  Opferzeremoniell,  Priesteranweisung,  Morallehre  und 
solche  juristischen  Inhaltes  über  Familienrecht,  Eigentum,  Schuldrecht, 
Gottesurteile,  über  Strafrecht  und  Prozeßverfahren,  über  Kriminal-,  Zivil- 
und  Kriegsrecht. 

Von  diesen  zwanzig  Nasks  ist  nur  noch  ein  Extrakt  erhalten,  der  jetzigerUmfang. 
z.  T.  in  neuer  TextgTuppierung  alles  das  enthält,  was  für  den  Kultus  un- 
entbehrlich war.  Ein  einziger  Nask,  der  Vendidäd,  ist  noch  vollständig 
und  unter  seinem  alten  Namen  vorhanden,  zwei  weitere,  wie  scheint,  an- 
nähernd vollständig,  aber  nicht  mehr  unter  ihrem  alten  Titel.  Von  den 
übrigen  existieren  nur  noch  Auszüge  und  Fragmente.  Der  größere  Teil, 
über  drei  Viertel  des  sasanidischen  Bestandes,  insbesondere  die  mehr  für 
Laien  bestimmte  und  die  wissenschaftliche  Literatur  ist  im  Lauf  der  Jahr- 
hunderte zugrunde  gegangen,  als  unter  der  Herrschaft  der  Araber  und  der 
grausamen  Tataren  durch  Bekehrung,  Ausrottung  und  Auswanderung  die 
Reihen  der  Mazdagläubigen  mehr  und  mehr  sich  lichteten. 

So  ist  der  einstmals  stattliche  Kanon  von  widrigen  Schicksalen  zer- 
zaust, auf  den  mäßigen  Umfang  zusammengeschrumpft,  den  er  jetzt  als 
Bibel  und  Kirchenagende  der  Parsen  hat.  Diese  zerfällt  in  vier  Haupt- 
stücke: den  Yasna,  Vispered,  Vendidäd  und  das  weniger  fest  redigierte 
Khorda  (kleine)  Avesta  mit  den  Yashts.  Yasna  und  Vispered  enthalten  die 
Liturgie  für  das  allgemeine  Opfer  zu  Ehren  sämtlicher  Gottheiten,  bei  dem 
auch  der  Vendidäd,  „das  Gesetz",  zum  Vortrag  kommt,  also  hier  etwa  die 
Stelle  unserer  Predigt  vertritt.  Die  Yashts  und  das  kleine  Avesta  ent- 
halten die  feierlichen  Anrufungen  der  einzelnen  Heiligen  und  die  für  die 
mannigfachen  Vorkommnisse  des  Lebens  vorgeschriebenen  Gebete  und 
Formulare.  Nur  der  Vendidäd  deckt  sich  ganz  mit  dem  neunzehnten 
Nask  des  Sasanidenavesta.  Die  übrigen  Bücher  sind  Zusammenstellungen 
aus  anderen  Nasks,  für  die  liturgische  Praxis  arrangiert.  Zum  guten  Glück 
kommen  hierbei  nicht  bloß  simple  Ritualtexte  zum  Vortrag,  sondern  auch 
Stücke,  die  ursprünglich  eine  andere  und  höhere  Bestimmung  hatten,  in 
der  Liturgie  selbst  aber  als  ehrwürdiges  Beiwerk  sich  erhalten  haben. 
Außer  den  vier  Hauptstücken  existieren  zahlreiche  z.  T.  recht  umfangreiche 
Fragmente  aus  den  verlorenen  Nasks  und  einzelne  Zitate,  die  aber  viel- 
fach in  so  trostlosem  Zustand  überliefert  sind,  daß  eine  vollständige  Aus- 
gabe derselben  kaum  lohnt. 

Versuchen  wir  diese  Avestaliteratur  sachlich  in  ihr  Elemente  zu  zer- 
legen, so  lassen  sich  vier  Textgruppen  scheiden:  die  Gebetsformeln,  das 
Gesetzbuch,  die  Yashts  und  die  Gäthäs  oder  Sprüche  des  Propheten. 

Die  Kultur  dek  Gegenwart.     I.  7.  15 


226 


Karl  Geldner:    Die  altpersische  Literatur. 


Die  Gebets- 
formeln. 


Vendidad. 


Charakter. 


Die  Gcbetsformeln  füllen  einen  beträchtlichen  Teil  des  Yasna  und 
Khorda  Avesta  und  den  ganzen  Vispered  aus.  Es  sind  monotone  An- 
rufungen ohne  Gedankeninhalt,  aber  für  die  zoroastrische  Nomenklatur, 
für  die  Feststellung  der  dogmatischen  Begriffe,  der  sakralen  Institutionen, 
für  das  Opferzeremoniell  und  die  kirchliche  Zeiteinteilung,  sowie  für  die 
Rangordnung  der  geistlichen  und  der  himmlischen  Hierarchie  von  Wich- 
tigkeit 

Das  inhaltreichste  Buch  ist  derVendidäd,  das  kirchliche  Gesetz.  Es 
gewährt  einen  Einblick  in  die  religiöse  Moral  und  die  Sitte  der  Mazda- 
gläubigen. Nicht  das  ganze  Buch  ist  dem  Gesetz  gewidmet.  Es  beginnt 
—  vielleicht  nach  biblischem  Muster  —  mit  einer  allerdings  sehr  dürftigen 
Schöpfungsgeschichte:  Ormazd  erschafft  die  dem  Avesta  bekannten  Länder 
und  Ahriman  setzt  seine  Landplagen  hinein.  Es  folgt  dann  ein  episches 
Stück,  z.  T.  in  dem  geläufigen  achtsilbigen  Versmaß  verfaßt:  die  Geschichte 
von  Yima,  dem  iranischen  Königsideal.  Yima  wird  zuerst  von  Gott  als 
Prophet  berufen,  lehnt  aber  ab.  Als  König  inauguriert  er  alsdann  das 
tausendjährige  goldene  Zeitalter  auf  Erden,  nach  dessen  Ablauf  ein  großer 
Winter  mit  der  Sintflut  hereinbricht.  Damit  die  lebende  Welt  nicht  aus- 
sterbe, flüchtet  Yima  mit  den  besten  Exemplaren  aller  Gattungen  von 
Mensch  und  Tier  in  einen  unterirdischen  Garten,  wo  sie  ein  paradiesisches 
Leben  weiterführen. 

Das  eigentliche  Gesetz  beginnt  mit  dem  dritten  Kapitel.  Manche 
Kapitel  sind  inhaltlich  ein  buntes  Durcheinander;  bisweilen  wird  in  längeren 
Exkursen  von  dem  Thema  abgeschweift.  Im  allgemeinen  ist  dem  Gesetz- 
buch der  pedantische  trockne  Lehrton  eigen.  Von  Zeit  zu  Zeit  aber  wird 
die  Rede  gewählter,  der  Gesetzgeber  kleidet  seine  Worte  in  die  Form 
episodischer  Gespräche  und  Erzählungen  oder  anmutig-er  Schilderungen 
und  Gleichnisse  und  seine  Sprache  erhebt  sich  dann  stellenweise  zum 
Pathos  eines  Lehrgedichtes. 

So  schildert  das  dritte  Kapitel  in  poetischer  Form  den  Segen  des 
Landbaues  und  vergleicht  die  fruchtbare  der  Bestellung  harrende  Erde 
mit  der  jungen  Ehefrau.  Am  besten  liest  sich  das  achtzehnte  Kapitel, 
das  letzte  des  eigentlichen  Gesetzbuches.  Es  beginnt  mit  einer  allge- 
meinen, poetischen  Mahnung  an  den  Priesterstand,  nicht  allein  nach  dem 
Buchstaben  des  Gesetzes,  sondern  stets  im  lebendigen  Glauben  zu  wirken. 
Den  echten  Priester  erkenne  man  daran,  daß  er  die  Nacht  über  die  heilige 
Schrift  studiere,  wache  und  bete,  auf  daß  er  nicht  in  Anfechtung  falle. 
Ebenda  wird  ein  humoristisch  gefärbtes  Gespräch  zwischen  dem  Engel 
Sraosha  und  der  Druj  (dem  weiblichen  Satan)  mitgeteilt,  worin  diese  die 
wirksame  Sühne  für  vier  schwere  Sünden  verrät.  —  Die  Vorschrift,  des 
Nachts  das  Feuer  zu  unterhalten  und  früh  aufzustehen,  wird  zu  einer 
längeren  Szene  ausgesponnen.  Dreimal  wendet  sich  zur  Nachtzeit  das 
Feuer  an  den  Schläfer  mit  der  Bitte,  aufzustehen  und  nachzuschüren,  da 
der   Dämon    ihm  bereits   den   Lebensfaden    abschneiden   wolle,    und    beim 


II.  Die  Avesta-Literatur. 


227 


drittenmal  weckt  ums  Morgenrot  der  Haushahn  die  Menschen,  auf  daß 
sie  nicht  die  drei  besten  Dinge,  gutes  Denken,  gutes  Reden,  gutes  Tun 
verschlafen.  Und  nun  entsteht  unter  diesen  ein  edler  Wetteifer  im  Früh- 
aufstehen. „Wer  zuerst  aufsteht,  wird  ins  Paradies  gelangen."  Und  wer 
zuerst  das  Feuer  anschürt,  dem  segnet  es  Haus  und  Seele. 

Den  breitesten  Teil  des  Vendidäd  nimmt  das  Reinheitsgesetz  ein:  der  Reinheitsgesetz. 
Schutz  der  heiligen  Elemente  wie  der  Erde  und  des  Wassers  und  der 
Schutz  des  eigenen  Körpers  gegen  Verunreinigung,  die  Vorbeugungsmaß- 
regeln und  umständlichen  Reinigungszeremonieen  und  Sühnen.  Die  Vor- 
schriften klassifizieren  gewissenhaft  nach  Stoff,  Maß  und  Zahl,  verlieren 
sich  aber  auch  in  übertriebene  Kasuistik. 

Das  zarathushtrische  Gesetz  hat  manche  abstoßende  und  barbtirische 
Gebräuche  sanktioniert,  wie  das  Aussetzen  der  Leichen  auf  den  so- 
genannten Dakhmas  zum  Fraß  für  Geier  und  wilde  Hunde,  die  Hin- 
richtung der  invalid  gewordenen  Leichenträger,  die  strenge  Quarantäne 
der  kranken  Frau.  Auf  der  anderen  Seite  aber  muß  zu  seinem  Lobe 
gesagt  werden,  daß  es  in  dem  weitgehenden  Schutz  der  nützlichen  Tiere, 
in  der  Sorge  für  die  Landeskultur,  Volkswohlfahrt  und  Hygiene  auf 
hoher  Stufe  steht.  Werke  der  Barmherzigkeit,  Pflege  kranker  Tiere, 
Ackerbau,  Melioration  des  Bodens  durch  Bewässerung,  Anpflanzung  von 
Nutzbäumen  werden  als  gottgefällige  Dinge  den  Gläubigen  anempfohlen, 
während  die  Päderastie  und  Prostitution  auf  das  schärfste  verdammt 
werden. 

Alles,  was  Herodot  1,140  von  den  Sitten  der  Magier  erzählt,  ist  als 
echt  zoroastrisches  Gesetz  im  Vendidäd  zu  finden  und  mag  von  Zarathushtra, 
der  nach  dem  Zeugnis  der  alten  Schriftsteller  aus  der  alten  Magierschule 
hervorging,  von  dort  her  übernommen  worden  sein.  Bei  den  Zoroastrieni 
aber  ordnet  sich  die  ganze  Gesetzgebung  einem  einzigen  großen  Gesichts- 
punkt unter:  dem  unablässig  gepredigten  Kampf  gegen  den  Satan  und 
seine  bösen  Geschöpfe,  von  dem  das  ganze  Buch  seinen  Namen  hat,  denn 
Vendidäd  ist  moderne  Korruption  für  vl-daevö-dätem  „das  antidämonische 
Gesetz". 

Und  dieser  Gesichtspunkt  ist  auch  bei  der  Bemessung  der  kirchlichen  strafen 
Strafen  für  eine  Sünde  maßgebend.  Der  angerichtete  Schaden,  der  alle- 
mal dem  Satan  zugute  kommt,  soll  durch  einen  noch  größeren  Nutzen 
kompensiert  werden.  Neben  Geißelung  (um  den  Dämon  aus  dem  Körper 
des  Sündhaften  auszutreiben)  und  Opferungen  nebst  Schenkungen  an  die 
Kirche  werden  auch  solche  an  Glaubensgenossen  und  gemeinnützige 
Werke  auferlegt.  Wer  z.  B.  eine  Wasserotter  erschlägt,  soll  schädliche 
Tiere,  Schlangen,  Schildkröten,  Frösche,  Ameisen,  Würmer  und  Fliegen 
in  bestimmter  Anzahl  töten;  er  soll  einen  Priester,  einen  Krieger  und 
einen  Bauer  vollständig  equipieren,  einen  Kanal,  ein  Stück  Ackerland, 
einen  Stall,  Vieh,  seine  eigene  Tochter  abtreten,  junge  Hunde  aufziehen, 
Hürden  ausbessern,  Hunde  lausen  usw. 


,  ,  g  Karl  Geldner  :    Die  altpersische  Literatur. 

Auch  andere  Gebiete  der  Gesetzgebung  werden  vielfach  gestreift.  In 
das  Gebiet  des  Zivil-  und  Kriminalrechts  schlägt  das  vierte  Kapitel,  in 
dem    die  Verträge    und    die  Vergehen    gegen   Leib    und  Leben   behandelt 

Ante.  werden.  Die  Ausübung  der  Heilkunde  und  die  Honorierung  der  Ärzte 
reg-uliert  das  siebente  Kapitel.  Es  gab  „Messerärzte",  „Kräuterärzte"  und 
„Spruchärzte".  Den  letzteren  wird  der  Vorrang  zuerkannt.  Das  Honorar 
wurde  in  Naturalien  ausbezahlt,  der  Priester  zahlt  mit  einem  Segen.  Die 
Chirurgen  sollen  ihre  Geschicklichkeit  zuerst  an  Ketzern  erproben.  Haben 
sie  nacheinander  drei  Ketzer  zu  Tode  operiert,  so  sind  sie  für  immer 
durchgefallen,  bei  günstigem  Ausgang  sind  sie  approbiert. 

Keuer.  Die  Ketzerrichtcrei  ist  im  Vendidäd  stark  ausgeprägt,  war  aber  nach 

dem  Buchstaben  des  Gesetzes  und  den  frommen  Wünschen  der  Klerisei 
wohl  schlimmer  als  in  Wirklichkeit.  Für  den  Ketzer  ist  der  Tod  das 
beste,  denn  lebend  ist  er  eine  stete  Gefahr  für  Wasser,  Feuer,  für  das 
Vieh  und  die  Frommen.  Ein  toter  Ketzer  verpestet  die  Welt  nicht  mehr, 
so  wenig  wie  ein  vertrockneter  Frosch.  Wenn  man  einem  Ketzer  be- 
gegnet, gibt  man  ihm  als  Segen  einen  Fußtritt,  zweien  steckt  man  die 
Zunge  heraus. 

Der  treue  Gefährte  des  Menschen,  der  Hund,  steht,  wie  schon  Herodot 
1,140  weiß,  fast  auf  gleicher  Stufe  mit  jenem.  „Wenn  ein  Hund  oder  ein 
Mensch  stirbt"  lautet  die  stehende  Formel.  Ein  ganzes  Kapitel  (13)  ist 
seiner  Pflege,  seinen  Arten,  seiner  Wertschätzung  und  Charakteristik  ge- 
widmet. 

Mit  dem  achtzehnten  Kapitel  ist  das  eigentliche  Gesetzbuch  abge- 
schlossen. Das  folgende  schöpft  hauptsächlich  aus  der  Zarathushtra- 
legende.  Es  erzählt,  wie  der  Satan  den  auserwählten  Propheten  zuerst 
verderben  will  und  dann  vergeblich  in  Versuchung  führt,  wie  darauf 
Ormazd  ihm  die  wahre  Religion  offenbart  und  die  Hölle  über  seine 
Geburt  in  Verzweiflung  gerät.  Der  Rest  des  Vendidäd  beschäftigt  sich 
mit  dem  Ursprung  der  Medizin  und  der  Heilung  mit  Wasser  und  dem 
heiligen  Wort. 
Die  Yashts.  Die  Yashts  sind  Anrufungen  der    einzelnen  Heiligen.     Die   kürzeren 

darunter  sind  dürftige  junge  Machwerke.  Nur  die  großen  Yashts  —  neun 
oder  zehn  an  Zahl  —  tragen  ein  charakteristisches  höheres  Gepräge. 
Zwei  davon  stehen  im  Yasna,  alle  übrigen  bilden  eine  besondere  Samm- 
lung, die  dem  14.  Xask  des  ursprünglichen  Avesta  entspricht.  Sie  sind 
z.  T.  aus  kleinen  Liedern  zusammengefügt.  Auf  diese  großen  Yashts  paßt 
am  ehesten  der  Satz  des  Dio  Chrysostomus  (2,60),  daß  Zoroaster  und  die 
Söhne  der  Mager  den  Wagen  des  Zeus  und  das  Gestirn  des  Tages  er- 
habener besungen  hätten  als  Homer  und  Hesiod.  Im  geläufigen  Versmaß 
abgefaßt  —  stellenweise  mit  Prosa  untermischt  —  vertreten  sie  die  Poesie 
der  zoroastrischen  Literatur  und  sind  als  solche  in  mancher  Hinsicht  dem 
Rigv-eda  vergleichbar,  obwohl  sie  an  Schwung  und  poetischer  Kunst  weit 
hinter  der  vedischen   Dichtung    zurückstehen.     Doch    läßt    sich    einzelnen 


II.  Die  Avesta-Literatur. 


229 


Partieen  eine  gewisse  Frische  und  naive  Anmut  nicht  absprechen.  Außer 
den  üblichen  Bitten  geben  sie  eine  Beschreibung  der  PersönUchkeit,  des 
feierUchen  Aufzuges  und  der  Wohnung  der  Gottheiten,  ihrer  Wirksamkeit 
und  Taten  im  Dienste  des  Ormazd,  charakteristischer  Züge  (wie  der  Hei- 
matsUebe  der  Fravashis  oder  Schutzengel)  und  ihrer  Begegnung  mit  dem 
Propheten.  Sie  plaudern  aber  auch  über  allerhand  andere  Dinge  aus  dem 
alltäglichen  Leben  und  g^eben  Bilder  von  Land  und  Leuten  der  iranischen 
Heimat,  wenn  sie  z.  B.  schildern,  wie  Mithra,  der  altarische  Tagesgott,  am 
Morgen  das  ganze  arische  Land  mit  seinen  hohen  Bergen  und  wasserreichen 
Matten,  den  tiefen  Seen  und  reißenden  Strömen  überschaut,  oder  wenn 
sie  uns  an  den  Sitz  eines  wohlhabenden  Iraniers  führen,  der  schon  auf 
Erden  den  Lohn  seiner  Taten  empfängt,  und  seinen  Wohlstand,  sein  Haus, 
seine  Möbel,  seine  schmucken  Frauen  und  Töchter,  seine  Rosse  und  Ka- 
mele schildern  und  die  Schätze,  die  die  Karawanen  aus  allen  Ländern 
für  ihn  bringen. 

Die  Yashts  sind  eine  Fundgrube  für  Mythologie  und  Sagenkunde.  Episches  darin. 
Bald  flechten  sie  einzelne  Episoden  aus  der  iranischen  Sagengeschichte 
ein,  wie  die  Drachenkämpfe  des  Thraetaona  und  Keresäspa,  bald  geben 
sie  einen  vollständigen  Abriß  der  König.s-  und  Heroensage,  die  später 
Firdausi  ausführlich  episch  behandelt  hat.  Die  Chronologie  dieser  mythi- 
schen Geschichte,  die  Reihenfolge  der  beiden  sagenhaften  Königsge- 
schlechter mit  den  verschiedenen  Interregnen  ist  in  allen  wesentlichen 
Punkten  im  Avesta  schon  dieselbe  wie  im  Shahname.  Der  interessante 
19.  Yasht  ist  fast  ganz  der  Königssage  gewidmet.  Hier  wird  meist  in 
skizzenhaften  Umrissen,  nur  stellenweise  in  epischer  Ausführlichkeit  die 
Geschichte  des  hvarenö  d.  h,  der  Glorie,  wir  würden  sagen:  der  iranischen 
Königskrone,  dargestellt.  Es  wird  erzählt,  wie  diese  Glorie  von  den 
Göttern  auf  die  ersten  iranischen  Könige,  die  Paradhätas  übergeht  und 
bei  Yima  ihren  höchsten  Glanz  entfaltet,  aber  schließlich,  als  Yima  der 
Lüge  verfiel,  in  die  Brüche  geht.  Während  des  Interregnums  nach  Yimas 
Sturz  und  Ende  sucht  zunächst  der  Usurpator  des  iranischen  Throns,  Azhi 
Dahäka,  hinter  dem  der  Ahriman  als  treibende  Kraft  steht,  die  Königs- 
krone zu  erlangen,  aber  vergebens.  Geschützt  von  den  Freunden  des 
Ormazd  flüchtet  sich  die  Glorie  auf  den  Grund  des  Sees  Vourukasha. 
Ein  zweiter  Usurpator,  der  Turanier  Franrasyan,  taucht  hier  dreimal  nach 
ihr  und  immer  wieder  entwischt  ihm  die  Königskrone  und  entweicht  in 
unterirdischen  Kanälen,  um  schließlich  am  Käsavasee  zum  Vorschein 
zu  kommen.  Dort  erstrahlt  sie  wieder  in  der  neuerstandenen  Dynastie 
der  Kayanier.  Bei  dieser  erbt  sie  fort,  bis  sie  schließlich  auf  Zarathushtra, 
den  glorreichen  Propheten  und  den  König  Vishtäspa  übergeht.  Der  Yasht 
schließt  mit  einem  apokalyptischen  Ausblick  in  die  Zukunft.  Am  Ende 
der  Welt  bei  dem  Jüngsten  Gericht  wird  der  kommende  Heiland  diese 
siegreiche  Strahlenkrone  tragen.  Der  Yasht  gibt  also  in  nuce  die  Welt- 
geschichte, wie   sie   sich   in  den  Köpfen  der  Zoroastrier  ausmalte. 


2-'o  Karl  Geldner:    Die  altpersische  Literatur. 

Die  Gäthas.  Die  Gäthäs   sind   die   altertümlichsten   und  schwierig^sten  Stücke  des 

ganzen  Buches.  Sie  sind  in  komplizierteren  Versmaßen  gedichtet  und 
bilden  jetzt  den  Kern  des  Yasna,  ursprünglich  einen  besonderen  Nask. 
Sie  gelten  im  g:mzen  Avesta  als  die  heiligsten  Worte,  als  die  unmittel- 
baren Äußerungen  des  Propheten,  während  di^  übrigen  Teile  seine  Lehre 
mehr  referierend  überliefern.  Gäthä  ist  ein  alter  literarischer  Terminus, 
ein  technischer  Ausdruck  für  eine  ganz  besondere  Spruchdiktion.  Bei  den 
Buddhisten  und  Brahmanen  werden  damit  Sprüche  allgemeinen  oder 
resümierenden  Inhalts  bezeichnet,  die  in  die  Prosarede  eingestreut  und 
von  dieser  wieder  leicht  losgelöst  und  besonders  überliefert  wurden.  Im 
Avesta  repräsentieren  die  Gäthäs  die  letzten  Überreste  von  Zoroasters 
Lehrreden. 

Die  Gäthäs  sind  nicht  etwa  in  sich  abgerundete  Moralsprüche  wie 
die  Gäthäs  des  Dhammapada.  Zwar  wird  immer  wieder  von  den  guten 
Gedanken,  Worten  und  Werken  gesprochen,  aber  auf  die  Details  der 
Ihr  Charakter.  Sittenlehre  gehen  sie  nicht  ein.  Es  sind  feierliche  Prophetenworte,  Mah- 
nungen, Weissagungen,  Beteurungen,  bald  an  die  versammelte  Gemeinde 
gerichtet,  meist  aber  im  Zwiegespräch  mit  den  göttlichen  Mächten,  die 
immer  wieder  als  Zeugen  der  Wahrheit  und  um  sichtbaren  Beistand  und 
um  die  Gabe  des  rechten  Wortes  angerufen  werden.  Sie  spiegeln  vom 
ersten  bis  zum  letzten  Vers  das  charakteristische  Bild  eines  von  seiner 
hohen  Mission  durchdrungenen,  mitten  im  Kampf  stehenden  Propheten  und 
Apostels  eines  neuen  Glaubens  wider,  wie  er  wirbt,  mahnt,  die  Lauen  in  ihrem 
Gewissen  aufrüttelt,  daß  sie  zwischen  den  Worten  des  Heils  und  den  ver- 
führerischen Lügen  der  falschen  Propheten  die  rechte  Wahl  treffen  sollen ; 
wie  er  stets  mit  der  Aussicht  auf  materiellen  und  himmlischen  Lohn  lockt 
und  die  Gläubigen  vertröstet,  die  Getreuen  und  Vertrauten,  besonders  die 
fürstlichen  Gönner,  lobt  und  vor  Gott  und  der  Welt  als  Muster  heraus- 
streicht; wie  er  den  Irrlehrern  und  Falschgläubigen  droht  und  flucht  und 
selbst  in  wechselnder  Stimmung  bald  klagt  und  zagt,  bald  hofft  und 
triumphiert;  der  beständig  auf  die  Zusammenkünfte  und  lehrreichen  Unter- 
redungen mit  Ormazd  und  seinen  Engeln  pocht,  an  ihre  Freundschaft 
appelliert,  mit  Bitten  und  Lobeserhebungen  zur  baldigen  Entscheidung 
und  Erfüllung  der  Zusagen  und  Verheißungen  drängt  und  als  Lohn  für 
seine  aufopfernde  Hingabe  an  das  große  Heilswerk  für  sich  selbst  die 
höchsten  Gnadengaben  fordert. 
Lehren.  Unter   den  Dogmen    wird   am    ausführlichsten    erörtert   das  Verhältnis 

der  beiden  uranfänglichen  Zwillingsg^eister,  von  denen  jeder  das  Gegenteil 
des  anderen  sein  will  und  von  denen  der  heilige  der  Geist  des  Ormazd 
selbst  ist.  Die  übrigen  Glaubenssätze  werden  immer  nur  kurz  berührt: 
die  Lehre  von  Gott  dem  Schöpfer  und  seinen  Erzengeln,  das  Schicksal 
der  Seele  nach  dem  Tode  an  der  Brücke  des  Richters  zwischen  Himmel 
und  Hölle,  zeitliche  und  ewige  Vergeltung  der  Werke,  die  Heiligkeit  der 
Kuh,  die  große  Krankheit  der  Welt  und  ihre  Heilung,  der  entscheidende 


II.  Die  Avesta-Literatur. 


231 


Kampf  zwischen  den  beiden  Geistern,  das  große  Weltgericht  mit  der  all- 
gemeinen Feuerprobe  unter  Aufsicht  der  beiden  Opponenten  (des  advo- 
catus  dei  und  des  advocatus  diaboli),  Auferstehung  der  Toten,  das  nahe 
Reich  Gottes,  die  Verteilung  der  Güter  unter  die  Rechtgläubigen,  die 
zeitliche  und  zukünftige  Stellung  des  Propheten  als  des  Richters  neben 
Ormazd. 

Das  Bild  des  Propheten,  wie  es  aus  den  Gäthäs  hervortritt,  ist  Zarathushtra  in 
nicht  das  legendenhafte  des  späteren  Avesta,  sondern  das  einer  histo- 
rischen Persönlichkeit  mit  menschlichen  Zügen.  Er  lebt  inmitten  von 
ungläubigen,  von  Feinden  und  Anfechtungen.  Sein  Verhältnis  zu  dem 
König  Vishtäspa  und  dessen  beiden  Vezieren  tritt  viel  mehr  in  den 
VordergTund.  Die  Texte  sind  reich  an  Anspielungen  auf  einzelne  Feinde, 
auf  Erlebnisse  und  Vorkommnisse,  von  welchen  das  ganze  übrig'e  Avesta 
nichts  mehr  weiß.  Leider  sind  diese  wohl  zum  größten  Teil  authen- 
tischen Prophetenworte  nicht  allzu  umfangreich  und  im  einzelnen  noch 
recht  dunkel. 

Und  dunkel  ist  noch  vieles  in  diesem  alten  Religionsbuch  und  war  Erklärung  des 
es  schon  zur  Zeit  der  Sasaniden,  als  man  eine  ausführliche  erklärende 
Übersetzung  in  der  Pehlevisprache  verfaßte  und  kurze  Avestaglossare  an- 
legte. Leider  ist  die  Übersetzung  nicht  mehr  zu  allen  Teilen  unseres 
Avesta  erhalten;  sie  fehlt  zu  den  großen  Yashts.  Überall  da,  wo  es  sich 
um  die  starren  Satzungen  der  Kirche  handelt,  fußt  der  Kommentator  auf 
guter  alter  Tradition  und  ist  zuverlässig;  aber  ein  mangelhafter  Dolmetscher 
wird  er,  sobald  die  Texte  über  seinen  engen  Horizont  hinausliegen.  Eine 
Avestagrammatik  scheint  von  der  einheimischen  Wissenschaft  überhaupt 
nicht  versucht  worden  zu  sein. 

Seit  x\nquetil  Duperron,  der  in  der  zweiten  Hälfte  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  das  Interesse  Europas  für  das  Avesta  zu  erwecken  verstand, 
ist  dieses  oftmals  übersetzt  und  kommentiert  worden.  Die  Hauptschwierig- 
keiten liegen  nicht  sowohl  in  besonders  dunklen  theologischen  Ideen,  als 
vielmehr  in  der  schwankenden  Überlieferung  und  der  Unbestimmbarkeit 
vieler  Avestawörter.  Um  einzelne  Wörter  dreht  sich  der  ganze  Streit 
zwischen  Philologen  und  Linguisten,  Iranisten  und  Sanskritisten,  Traditio- 
nellen und  Antitraditionellen  schon  seit  fünfzig  Jahren.  Alle  haben  ihr 
Scherflein  zur  Erklärung  beigetragen,  und  doch  gibt  es  kaum  eine  schwie- 
rige Stelle,  bei  der  die  Erklärer  nicht  völlig  auseinandergingen.  Bei 
diesem  noch  unsicheren  unfertigen  Stand  der  Avestaphilologie  darf  es 
nicht  wundernehmen,  wenn  in  weiteren  Kreisen  das  Vertrauen  zu  ihr  bis 
jetzt  ausgeblieben  ist.  Die  frappante  Ähnlichkeit  zwischen  zoroastrischen 
und  christlichen  Lehren  besonders  der  Eschatologie  wird  in  ihren  Kon- 
sequenzen von  den  christlichen  Theologen  zurzeit  noch  zu  wenig  ge- 
würdigt. 

Die  Avestaphilologie  ist  nichts  Dankbares.    Es  drängt  sich  auf  Schritt     wen  des 
und  Tritt  die  Erkenntnis  von  der  Unzulänglichkeit   des  Materials  und  der 


2  ■2  2  K.\.KL  Geldner  :    Die  altpersische  Literatur. 


Hilfsmittel  auf  und  es  fehlt  ihr  der  Reiz,  der  von  der  großen  Literatur 
eines  geistig  hochveranlagten  Volkes  ausgeht.  Der  moralische  Wert  der 
zoroastrischen  Religion  steht  höher  als  die  Schriftstellerei  ihres  Klerus. 
Diese  ist  nüchtern,  monoton,  ermüdend;  der  Dichtung  fehlt  die  poetische 
Ader.  Selbst  die  Gäthäs  erschöpfen  sich  in  ewiger  Wiederholung  der 
gleichen  Gedanken,  nicht  unähnlich  den  Upanishads,  doch  ohne  die  weihe- 
volle Stimmung,  ohne  den  weltumfassenden  Erkenntnisdrang-,  mit  einem 
Wort  ohne  den  Geist  der  Upanishads  in  sich  zu  tragen.  Aber  es  bleibt 
ein  merkwürdig-es  Buch,  diese  Bibel  der  zoroastrischen  Religion,  der 
unter  allen  großen  Religionen  des  Orients  das  traurigste  Los  beschie- 
den war. 


Literatur. 

Die  altpersische  Literaturforschung  beginnt  mit  Carsten  NfEBUHR,  der  (1765)  die  ersten 
genauen  Kopieen  von  Persepolisinschriften  nach  Europa  brachte.  Er  erkannte,  daß  die 
Inschriften  in  verschiedenen  Alphabeten  abgefaßt  seien,  und  daß  die  Schrift  von  hnks  nach 
rechts  läuft.  Des  ersten  wirklichen  Entzifferers  G.  F.  Grotefends  (1802)  ist  schon  im  Texte 
(S.  220)  gedacht  worden.  Von  den  dreizehn  Zeichen,  die  er  zuerst  bestimmte,  haben  sich  in 
der  Folgezeit  nur  vier  als  irrig  erwiesen.  Seinen  Nachfolgern  kam  schon  die  Bekanntschaft 
mit  der  Avestasprache  zu  statten.  E.  Burnouf  (1836)  und  Chr.  Lassen  (1836)  erkannten 
gleichzeitig  den  Charakter  der  altpersischen  Schrift  als  einer  teilweisen  Silbenschrift  durch 
die  Entdeckung  des  den  Konsonanten  inhärierenden  a.  Westergaard  (1843),  vor  allem 
aber  Rawlinson  brachten  reicheres  Inschriftenmaterial  aus  Persien  mit.  Rawlinson  ver- 
öffentlichte 1846  die  vollständige  Kopie  der  großen  Behistuninschrift  nebst  grundlegendem 
Kommentar  und  eine  Bearbeitung  aller  schon  bekannten  Texte.  Rawlinson  entdeckte  die 
Konsonanten  mit  inhärierendem  /  und  //,  J.  Opfert  erkannte  zuerst,  daß  Nasale  vor  Kon- 
sonanten ungeschrieben  bleiben.  Damit  war  die  eigentliche  Entzifferung  abgeschlossen. 
Die  Fortschritte  seit  jener  Zeit  betreffen  nur  noch  einzelne  Worte  und  Formen. 

Handschriften  des  Avesta  waren  schon  vereinzelt  im  17.  und  in  der  ersten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  nach  England  gekommen,  blieben  aber  trotz  wiederholter  Versuche  unent- 
ziffert.  Erst  dem  Franzosen  Anquetil  DuperrON  gelang  es,  während  seines  Aufenthaltes 
in  Indien  (1755 — 1761)  einen  Parsen  als  Lehrer  in  der  heiligen  Schrift  und  Sprache  der 
Zoroastrier  zu  gewinnen.  Anquetil  kam  mit  einer  vollständigen  Übersetzung  des  Avesta 
zurück,  die  auf  den  völlig  unzureichenden  Instruktionen  seines  Lehrers  Däräb  beruht. 
Gleichwohl  erregte  sie  bei  ihrem  Erscheinen  (177 1)  in  der  ganzen  gebildeten  Welt  das 
größte  Aufsehen.  Seltsamerweise  wurde  zunächst  nicht  sowohl  die  Frage  nach  der  Zuver- 
lässigkeit von  Anquetils  Übersetzung,  sondern  die  Frage  nach  der  Echtheit  des  Religions- 
buches selbst  lebhaft  diskutiert.  Der  Streit  um  die  Echtheit  verstummte  erst,  als  durch 
die  Bekanntschaft  mit  dem  Sanskrit  und  die  Sprachvergleichung  die  Echtheit  der  ,,Zend- 
sprache"  außer  Zweifel  gestellt  wurde.  Die  wissenschaftliche  Entzifferung  des  Avesta  haben 
Sanskritisten  angebahnt,  in  erster  Linie  E.  BuRNOUF  (1833),  dem  von  einheimischen  Hilfs- 
mitteln nur  die  Sanskritübersetzung  des  Yasna  von  Neriosengh  (ca.  1200)  zur  Verfügung 
stand.  1852 — 54  gab  N.  L.  Westergaard  zum  erstenmal  den  gesamten  Avestatext  kritisch 
heraus.  F.  Spiegel  veröffentlichte  1853 — 58  die  Pehleviübersetzung.  Diese  ist  seitdem  der 
Zankapfel  der  Erklärer  geblieben.  R.  Roth  und  J.  Darmesteter  repräsentieren  die  äußer- 
sten Extreme  in  der  Wertschätzung  jener  Übersetzung.  Während  der  erstgenannte  sie 
fast  grundsätzlich  verwarf,  folgte  ihr  der  letztere  zu  sklavisch.  Die  jetzige  Generation 
strebt  mehr  einen  Ausgleich  dieser  beiden  Gegensätze  an. 

I.  Die  Achämenideninschriften:  Rawlinson  im  10.  und  11.  Band  des  Journal  of 
the  Royal  Asiatic  Society  (London,  1846 — 47).  Eine  vollständige  Transkription  und  Über- 
setzung der  altpersischen  Texte  geben  F.  H.  Weissbach  und  W.  Bang,  Die  altpersischen 
Keilinschriften  (Leipzig,  1893).  Vgl.  auch  Weissbach  in  Geigers  Grundriß  der  iranischen 
Philologie,  Bd.  II,  S.  54  f.  (Straßburg,  1896),  wo  die  Literatur  vollständig  verzeichnet  ist.  — 
A.  V.  Williams  Jackson,  The  Great  Behistun  Rock  and  Some  Results  of  a  Re-examination 


T -._i  Karl  Geldner:    Die  altpersische  Literatur. 

of  the  old  Persian  Inscriptions   on    it   im  Journal   of  the  American  Oriental  Society  Vol.  24 
(NewHaven,   1903),  S.  77—95- 

II.  Die  Avestaliteratur:  Essays  on  the  sacred  language,  writings,  and  religion  of  the 
Parsis  by  M.\rtin  Haug.  Second  edition  ed.  by  E.  W.  West  (London.  1878)  —  West  in 
The  Sacred  Books  of  the  East,  Vol.  37  (Oxford,  1892).  —  Das  bedeutendste  Werk,  wenn 
auch  im  einzelnen  oft  anfechtbar,  ist:  Le  Zend-Avesta,  traduction  nouvelle  avec  commentaire 
historique  et  philologique  par  J.\mes  D.\rmesteter ,  3  Bände  (Paris,  1892—93).  Darme- 
STETERs  \'ersuch,  die  Gäthäs  zeitlich  möglichst  herabzurücken,  ist  tendenziös;  es  soll  jüdi- 
scher Einfluß,  speziell  durch  Philo,  nahegelegt  werden.  —  Sehr  lichtvoll  sind  die  Aus- 
führungen über  das  Avesta  von  Ed.  Meyer  in  seiner  Geschichte  des  Altertums  I,  S.  501 
—  510.  Das  Auge  des  Historikers  hat  hier  viel  schärfer  gesehen  als  das  der  Philologen. 
Vgl.  auch  Grundriß  der  iranischen  Philologie,  Band  II,  S.  1—53. 


DIE  MITTELPERSISCHE  LITERATUR. 

Von 
Paul  Hörn. 


Einleitung.  Als  Mittelpersisch  oder  Pechlewi,  d,  i.  Parthisch,  be- 
zeichnet man  das  Persische  während  der  Herrschaft  der  Parther  (Arsaciden) 
und  der  Sassaniden,  also  etwa  von  250  v.  Chr.  bis  ca.  650  n.  Chr.  Lite- 
raturwerke in  dieser  Sprache  sind  uns  jedoch  nur  aus  sassanidischer  Zeit 
erhalten  geblieben,  von  den  Parthern  ist  literarisch  bloß  der  Name  auf  die 
Nachwelt  gekommen.  Natürlich  verschwand  das  Pechlewi  nicht  sofort 
endgültig  mit  dem  Untergange  des  Sassanidenreichs;  seine  eigenartigen 
Schriftzeichen  blieben  vielmehr  noch  längere  Zeit  im  Gebrauch,  so  daß 
uns  noch  aus  dem  9.  Jahrhundert  und  später  originale  Pechlewischriften 
erhalten  sind. 

Der  weitaus  größte  Teil  der  auf  uns  gekommenen  mittelpersischen 
Literatur  ist  theologisch,  nur  eine  kleine  Anzahl  Schriften  sind  weltlich. 
Gewiß  hat  bereits  in  der  Sassanidenzeit  die  geistliche  Richtung  überwogen, 
doch  ist  das  Verhältnis  beider  zueinander  damals  schwerlich  schon  so 
ungünstig  für  die  weltliche  gewesen,  wie  es  heute  der  Fall  ist.  Nach  der 
arabischen  Eroberung  haben  sich  die  Perser  im  allgemeinen  mit  einer 
ganz  erstaunlichen  Leichtigkeit  der  neuen  Lage  der  Dinge  angepaßt.  Das 
wertvollste  nationale  Besitztum,  das  man  vielerorts  doch  mit  Zähigkeit 
bewahrte,  war  der  alte  Glaube,  die  Religion  Zoroasters.  So  erhielten  sich 
religiöse  Bücher  leichter  als  profane.  Der  Priesterschaft  lagen  solche 
auch  selbstverständlich  mehr  oder  gar  ausschließlich  am  Herzen,  und  in 
ihren  Kreisen  waren  ja  die  weitaus  meisten  der  knifflichen  Pechlewischrift- 
Kundigen  zu  finden.  Der  Choc,  mit  dem  die  Reiter  der  arabischen 
Wüste  das  persische  Weltreich  nach  allen  Richtungen  durchflutet  und 
über  den  Haufen  geworfen  hatten,  war  so  überraschend  und  überwältigend 
gewesen,  daß  die  Perser  sich  nicht  sogleich  von  ihm  zu  erholen  ver- 
mochten. Erst  allmählich  kam  man  wieder  zu  sich,  aber  dann  gelang  es 
dem  persischen  überlegenen  Geiste  doch  bald,  sich  seine  Besieger  indirekt 
wieder  zu  unterwerfen,  und  als  damit  das  persische  Nationalgefühl  von 
neuem  erstarkte,  besann   man   sich   auch  wieder  auf  seine  Vergangenheit. 


->  ^5  Paul  Hörn:  Die  mittelpersischc  Literatur. 

Da   war  aber  schon   viel   von  der   alten  weltlichen  Literatur  verloren  ge- 
gangen. 

wendidäd,  I.    Die   geistliche  Literatur.     An   der  Spitze   der   mittelpersischen 

*  ^"^^''^°-  geistlichen  Literatur  stehen  die  mit  kurzen  Glossen  oder  längeren  Kommen- 
taren versehenen  Übersetzungen  awestischer  Texte,  von  denen  der  Wendidäd 
und  Xiri7tigisfd/i  die  wertvollsten  sind.  Diese  Übersetzungen  haben  eine 
Bedeutung  nur  als  Hilfsmittel  für  die  Interpretation  und  Texteskritik  des 
Awestas,  doch  erfordert  ihre  nutzvolle  Verwendung  vielen  Takt  und 
Scharfsinn.  Literarisch  haben  sie  keinen  Wert,  da  sie  sich  zu  sklavisch 
an  die  awestischen  Vorbilder  anlehnen,  als  daß  sie  einen  Begriff  der  wirk- 
lichen, lebendigen  Pechlewisprache  zu  geben  vermöchten.  Doch  lernen 
wir  diese  aus  einer  großen  Zahl  anderer  freier  geistlicher  Schriften  kennen. 
Ohne  auf  die  meist  unsichere  Chronologie  einzugehen,  seien  hier  einige 
der  wichtigsten  genannt. 

Bnndehesch.  Dem  Charakter  der  mittelpersischen  Theologie  entspricht  es  durchaus, 

wenn  eine  große  Anzahl  ihrer  Schriften  Kompendien  sind.  Der  Bunda- 
hisch)i  (Bundehesch,  d.  i.  „Das  Fundament")  behandelt  hauptsächlich  die 
Denkan.  Kosmologie  und  Mythologie;  der  sehr  umfangreiche  Denkart  („Das  Re- 
ligionswerk") die  Dogmatik  mit  ihren  Überlieferungen,  die  Kirchen- 
geschichte, sowie  daneben  auch  alle  möglichen  Wissenschaften  (Medizin, 
Astronomie  etc.)  und  kulturgeschichtlichen  Themen.     Der  Dätistän-i  dmik 

Minochired.  („Religiöse  Entscheidungen"),  der  Mcnöt-t  chrat  (Minochired,  d.  i.  „Der  Geist 
des  Verstandes"),  der  Schikand-giunänik  widschär  („Die  zweifelbrechende 
Erklärung"),  der  Schäjast  nä-schäjast  („Erlaubtes  und  Unerlaubtes")  geben 
schon  durch  ihre  Titel  Aufschluß  über  ihren  Inhalt.  Beliebt  ist  bei  diesen 
lehrhaften  Schriften  die  Einkleidung  in  Frage  und  Antwort.  In  ihrem 
Kern  gehen  sie  sämtlich  auf  das  Awesta  zurück  und  berufen  sich  allent- 
halben auf  Partieen  und  Stellen  aus  diesem,  die  heute  verloren  gegangen 
sind.  Sie  spinnen  im  Awesta  gegebene  Andeutungen  weiter  aus  und  ver- 
fahren dabei  gewöhnlich  recht  schematisch.  Wenn  z.  B.  das  Awesta  je 
fünf  besondere  zoroastrische  resp.  unzoroastrische  Orte  aufzählt,  so  erweitert 
der  Minochired    diese    auf  je    zehn.     Wie    die   Phantasie    mitunter    waltet, 

Der  heilige  dafür  liefert  die  Schilderung  des  heilig'en  dreibeinigen  Esels  ein  drastisches 
inige  ^■ßg^gpjgj^  jjj  dem  auf  uns  gekommenen  Awesta  findet  sich  über  ihn  nur 
die  kurze  Bemerkung,  der  heilige  Esel  stehe  im  See  Wourukascha.  Der 
Bundehesch  weiß  nun  ausführlicher  von  ihm  das  Folgende  zu  berichten: 
Er  habe  drei  Beine,  sechs  Augen,  neun  Mäuler,  zwei  Ohren,  ein  Hörn 
und  einen  Höcker.  Sein  Leib  sei  weiß,  seine  Nahrung  geistlich,  das 
ganze  Tier  heilig.  Zwei  seiner  Augen  stünden  am  normalen  Platze,  zwei 
oben  auf  dem  Kopfe  und  zwei  auf  dem  Höcker;  mit  diesen  sechs  Augen 
durchdringe  er  alles.  Von  seinen  neun  Mäulern  habe  er  drei  am  Kopfe, 
drei  auf  dem  Höcker  und  drei  innen  an  den  Weichen.  Jedes  Maul  sei 
so    groß    wie    ein   Haus,    sein  Gesamtumfang    entspreche   dem  des  Berges 


I.  Die  geistliche  Literatur. 


237 


Rerühmte 
Ratgeber. 


Elwend.  Unter  der  Fläche  eines  jeden  seiner  drei  Füße  habe  eine  Herde 
von  tausend  Schafen  Platz,  während  auf  jeder  Fessel  tausend  Reiter  rings 
rundum  reiten  könnten.  Seine  beiden  Ohren  bedeckten  ganz  Mäzenderän. 
Sein  Hörn  sei  wie  von  Gold  und  hohl;  tausend  Einzelhörner  seien  aus 
ihm  herausgewachsen,  der  Größe  nach  je  für  Kamele,  Pferde,  Ochsen  oder 
Esel  passend.  Mit  dem  Home  könne  er  alle  schädlichen  Geschöpfe  ver- 
nichten. Wenn  er  seinen  Hals  ins  Wasser  tauche,  so  entsetze  sich  dieses 
vor  den  Ohren  und  brause  in  Wogen  auf,  so  daß  die  Berge  erzitterten. 
Wenn  er  einen  Schrei  ausstoße,  so  würden  sämtliche  weibliche,  der  guten 
Schöpfung  angehörigen  Wasserwesen  schwanger,  während  die  schwangeren 
der  bösen  Schöpfung  Fehlgeburten  täten.  Wenn  er  ins  Meer  harne,  was 
ebensoviel  ausmache,  wie  wenn  alle  Esel  der  ganzen  Welt  auf  einmal 
zu  harnen  anfingen,  so  würden  dadurch  alle  Wässer  der  sieben  Erdteile 
gereinigt,  die  von  Ahriman  beschmutzt  seien. 

Der  Stumpfsinn  dieser  Phantasie  läßt  sich  nicht  leicht  übertrumpfen. 
Wieviel  davon  etwa  bereits  auf  das  Awesta  kommt,  wissen  wir  nicht;  die  an 
sich  häufig  schon  recht  schablonenhafte  Einbildungskraft  der  Awestadichter 
erscheint  im  Mittelpersischen  jedenfalls  gern  noch  entsprechend  potenziert. 

Die  Belehrung  wird  mit  Vorliebe  einzelnen  berühmten  Ratgebern  in 
den  Mund  gelegt.  So  dem  großen  Schah  Noschirwän  [Audarz-i  Chusraw-i 
Kawäfän)  und  seinem  gefeierten  Vezier  Buzurgmichr  [Pandnämak-i  Wazurg- 
■mitr\  dem  weisen  Oschnar,  der  aus  dem  Awesta  nur  dem  Namen  nach 
bekannt  ist  und  später  als  Minister  des  Kai  Käos  galt  {Aiidarz-i  Oschnar-i 
dänäk\  dem  Obermobed  Aturpät  Märäspand  und  anderen.  Doch  finden 
sich  auch  einfache  Ermahnung"en  anonymer  Väter  an  ihre  Söhne.  Diese 
Schriftg^attung  ist  dann  bei  den  Persern  immer  sehr  beliebt  geblieben 
und  hat  auch  bei  den  Arabern  Schule  gemacht,  deren  zahlreiche  alte 
„Adab"-Bücher  über   feine   Bildung  auf  persische  Vorbilder  zurückgehen. 

In  diesem  Zusammenhang  ist  ferner  ein  Rätselbuch  erwähnenswert,  in 
welchem  der  fromme  Joscht  Frijän  },},  Rätselfragen  des  Zauberers  Acht 
richtig  löst,  während  dieser  keine  einzige  Joschts  zu  beantworten  vermag. 
Der  Zauberer  hatte,  wie  die  griechische  Sphinx,  jeden  umgebracht,  der 
ihm  die  Antwort  schuldig  geblieben  war,  bis  er  endlich  in  Joscht  seinen 
Meister  fand  und  nun  selbst  den  Tod  erleiden  mußte.  Das  Vergnügen 
am  Rätselraten  war  in  Persien  alt,  man  hat  dieses  Spiel  des  Geistes  auch 
später  dort  immer  gern  gepflegt. 

Von   hohem  Interesse    ist    das    Buch    von   Artä  Wiräfs   Himmel-    und    Artä  Wiräf. 
Höllenreise  [Artä    Wiräf-näviak).     Es  ist  auch  rein  theologisch.    Für  ganz 
äußerliche,  rituelle  Verfehlungen,  wie  Sprechen  während  des  Essens  oder 
barfüßiges  Umherlaufen,  verhängt  es  schreckliche  Strafen, 

Eine  religiöse  Disputation  zwischen  dem  Mobed  Aturfarnbag  und  dem 
vom  Zoroastrismus  abgefallenen  „verfluchten"  Abälisch  spielt  ungefähr  im 
Jahre  825  n.  Chr.  in  der  Gegenwart  des  Chalifen  Ma'mün  und  endet 
natürlich  mit  der  siegreichen  Widerlegung  des  Ketzers. 


Rätsel. 


T  ^8  Paul  Hörn:  Die  mittelpersische  Literatur. 

Als  Seelenarzt  verschreibt  der  Priester  die  „Arznei  der  Zufriedenheit" 
[Däruk-i  iliursaniiili)  schon  ganz  in  dem  spcäter  so  beliebten  Stile:  Menge 
ie  einen  Teil  Zufriedenheitserkenntnis,  Beharrlichkeit,  täglicher  Vervoll- 
kommnung usw.  in  einem  Mörser  durcheinander  und  zerstampfe  sie  mit 
dem  Stößel  der  Ehrfurcht.  Dann  siebe  sie  sorgsam  und  nimm  täglich 
zwei  Löffel  voll  zum  Morgengebet  ein. 

chodhäinäme.  II,    Die    wcltlichc    Literatur.     Das    unstreitig    wertvollste   und    in- 

teressanteste Werk  der  weltlichen,  ja  wohl  überhaupt  der  gesamten  Pech- 
lewiliteratur  ist  leider  verloren  gegangen.  Es  war  dies  das  Chwatäinämak 
{Chodlinindf/ic)  oder  „Herrscherbuch",  eine  Geschichte  der  persischen  Könige 
von  der  Urzeit,  d.  h.  dem  völlig  sagenhaften  Gajomarth  an  bis  auf  Chos- 
rau  II.  Parwez  (590 — 628  n.  Chr.),  in  epischem  Charakter.  Sein  Verfasser 
war  der  Dichkän  Dänischwar  gewesen,  der  unter  dem  letzten  Sassaniden 
Jazdegird  III.  gelebt  hat.  Dafür  sind  aber  zwei  andere  Bücher  auf  uns 
gekommen,  die  man  als  wirkliche  Perlen  bezeichnen  kann,  ein  Lob,  mit 
dem  die  Perser  allerdings  sehr  verschwenderisch  umgehen.  Nämlich  das 
Zarerbnch.  JiUkär-i  Zarcräfi  („Das  Andenken  an  Zarer")  und  das  Kdrnämak-i  Artach- 
Buch  von  schatr-i  Päpakän  („Das  Buch  von  den  Taten  Ardeschirs,  des  Sohnes 
Bäbeks").  Beide  enthalten  romanhaft  gefärbte  Historie,  wie  sie  die  mittel- 
persische Überlieferung  durchweg  hervorgebracht  hat.  Reine  Geschichte 
schrieb  man  nicht,  die  historischen  Tatsachen  der  Zeit  bewahrte  nur  die 
offizielle  Hofhistoriographie  auf,  deren  Akten  im  Staatsarchiv  verschlossen 
gehalten  wurden.  An  Stelle  der  Geschichte  ist  der  historische  Roman 
getreten,  seine  Umgestaltungen  der  geschichtlichen  Wahrheit  w^urden  Ge- 
meingut des  Volkes.  Selbst  in  dem  in  völlig  historischer  Zeit  spielenden 
Ardeschirbuche  hat  die  Sage  üppig  gewuchert ;  der  Begründer  des  Sassa- 
nidenreichs  ist  hier  schon  teilweise  zu  einer  mythischen  Persönlichkeit 
geworden,  die  sogar  mit  einem  bösen  Wurm  (Drachen)  kämpft.  In  Arde- 
schir  ist  Cyrus  wieder  aufgelebt,  die  Jugendgeschichte  des  jüngeren  Dy- 
nastiebegründers ist  eine  deutliche  Wiederholung  der  Erlebnisse  des 
älteren.  Beide  Schriften  haben  einen  unverkennbar  epischen  Zug,  wenn  sie 
auch  in  Prosa  abgefaßt  sind.  Besonders  entwickelt  ist  der  epische  Stil  im 
Zarerbuche,  dessen  Verfasser  man  geradezu  einen  Dichter  nennen  könnte. 
Es  finden  sich  hier  bei  aller  der  üblichen  Nüchternheit  pechlewischer 
Diktion  doch  schon  deutliche  Spuren  der  grotesken  Hyperbolik  und 
üppigen  Phantasie,  über  welche  die  neupersischen  Dichter  dann  gleich  so 
reich  verfügen.  Allerdings  erst  die  Dichter.  Die  neupersische  Prosa  ist 
in  ihren  ältesten  Werken  schlicht  und  entwickelt  sich  erst  später  zum 
Zierstile.  Das  Pechlewi  ist  nie  elegant,  es  macht  immer  einen  mehr  oder 
weniger  unbeholfenen  Eindruck.  Der  hauptsächlieh  allein  schriftstellernde 
Klerus  —  auch  w^eltliche  Autoren  hatten  übrigens  von  Hause  aus  eine 
geistliche  Bildung  —  hat  seine  Macht  über  die  Geister  stets  so  straff  wie 
möglich  ausgeübt,  freiere  Regungen  waren  ihm  unsympathisch.  Wie  hoch 


II.  Die  weltliche  Literatur. 


'■39 


die  Geistlichkeit  ihre  Ansprüche  zu  schrauben  suchte,  zeigt  das  einmal 
von  einem  der  Ihren  aufg'estellte  Dogma,  ein  gutes  Werk  sei  dem,  der  es 
vollbring-e,  nur  dann  als  solches  anzurechnen,  wenn  er  es  auf  priesterliche  Ver- 
anlassung ausgeführt  habe;  andernfalls,  eigenmächtig  unternommen,  könne 
es  im  Gegenteil  als  Sünde  bezeichnet  werden.  Das  geht  doch  noch  weit 
über  des  heiligen  Augustins  Lehre,  die  Tugenden  der  Heiden  seien  nichts 
als  glänzende  Laster,  weil  sie  eitler  Selbstgefälligkeit  oder  Ehrsucht  ent- 
sprängen. So  kodifizierte  man  gern  alles  systematisch  und  schematisierte 
es.  Das  hat  der  ganzen  Sprache  ein  bestimmtes  Gepräge  aufgedrückt: 
Sie  klingt  pedantisch.  Dazu  ist  auch  der  Wortvorrat  beschränkt  und  die 
stilistische  Ausbildung  steckt  überhaupt  noch  in  den  Anfängen.  Kargheit 
und  Unbestimmtheit  im  Ausdruck  erschweren  das  Verständnis  außer- 
ordentlich. Einen  hervorragenden  Stilisten  sucht  man  im  gesamten  Pech- 
lewi  vergebens. 

Der  starke  Unterschied  zwischen  dem  Mittelpersischen  und  der  neu-  Dichtwerke? 
persischen  Poesie  ist  außerordentlich  auffällig.  Man  möchte  fast  annehmen, 
daß  hier  schon  die  mittelpersische  Dichtung  eine  Brücke  geschlagen  habe, 
doch  sind  bisher  noch  keine  Spuren  solcher  aufgefunden.  Nur  in  Prosa 
ist  das  Pechlewi  überliefert.  Versuche,  metrische  Stücke  in  ihm  zu  ent- 
decken, sind  nur  ganz  vereinzelt  geblieben  und  kaum  geglückt.  Aber  wie 
erst  der  Scharfsinn  europäischer  Gelehrter  die  dem  Awesta  ganz  geläufigen 
Verse  wieder  aufgespürt  hat,  von  welchen  die  einheimische  Überlieferung 
keine  Ahnung  mehr  hatte,  so  könnten  auch  schließlich  im  Pechlewi  solche 
versteckt  sein.  Das  merkwürdige  Schriftprinzip,  aramäische  Worte  zu 
schreiben  und  sie  doch  persisch  auszusprechen,  wäre  sehr  geeignet,  hier 
die  Erkenntnis  des  wahren  Sachverhaltes  zu  verschleiern. 

Wie  die  Taten  Zarers  und  Ardeschirs  I.  hat  man  auch  diejenigen 
anderer  berühmter  Perser  romanhaft  dargestellt.  Doch  ist  uns  hiervon 
leider  nichts  erhalten  geblieben.  Wir  finden  indes  Niederschläge  bei 
arabischen  Schriftstellern  sowie  im  Schähnäme  Firdausis,  der  durch  die 
Vermittlung  neupersischer  Übersetzungen  auch  das  Chwatäinämak,  die 
Bücher  von  Zarer  und  Ardeschir,  sowie  andere  ähnliche  benutzt  hat.  Nach 
dem,  was  Nöldeke  darüber  zusammengestellt  hat,  würde  uns  das  Buch 
von  Bachräm  Tschobin  vor  allem  willkommen  sein.    Eine  erhaltene  kleine      Kiei^/re 

bcnriften. 

Geschichte  von  Chosrau  II.  und  seinem  klugen  Pagen  kann  für  solche  Ver- 
luste nicht  entschädigen,  wennschon  sie  eine  ganze  Reihe  kulturgeschicht- 
lich interessanter  Mitteilungen  bietet,  die  wir  sonst  aus  dieser  alten  Zeit 
nicht  besitzen.  Das  „Schachbuch"  ( Tschatrangnäniak)  liefert  uns  die  älteste 
persische  Nachricht  über  das  Schach-  und  Nerdspiel.  In  das  Gebiet  der 
Fabel  schlägt  ein  kleiner  „Der  assyrische  Baum"  überschriebener  Text,  in 
Avelchem  ein  Baum  in  Assyrien  und  eine  Ziege  ihre  gegenseitigen  Ver- 
dienste um  die  Menschheit  rühmen.  Geographisch  sind  „Die  Städte  Eräns" 
und  „Die  Wunder  von  Sagastän". 

Umfangreiche   Fragmente    haben    sich    ferner    von  einem  Kodex   des 


2  10  Paul  Horx:  Die  mittelpersische  Literatur. 

bürg-erlicheii  Rechts  im  Sassanidenreich  erhalten,  wozu  sich,  allerdings 
aus  beträchtlich  späterer  Zeit  (vom  i6.  November  1278  datiert),  ein  Ehe- 
kontrakt gesellt.  Auch  ein  mittelpersischer  Briefsteller  findet  sich  bereits. 
Den  Niederschlag  eines  mittelpersischen  Briefes  können  wir  auch  in  der 
persischen  Version  eines  Schreibens  von  Ardeschirs  I.  Großmobed  Tanna- 
sar  (?)  an  Schah  Dschusnasf  von  Taberistän  finden,  die  von  einem  Perser 
zu  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  nach  einer  angeblichen  arabischen  Vorlage 
Ibn  Moqaffas  angefertigt  sein  soll.  Den  Beschluß  macht  ein  lexikalisches 
Werk,  der  Farhang-i  paJilawik. 

Nicht  mit  Stillschweigen  übergehen  dürfen  wir  endlich  die  Über- 
setzungstätigkeit  der  mittelpersischen  Gelehrten.  Besonders  unter  Chosrau 
An6schin\'än,  dem  Begründer  der  berühmten  Akademie  in  Gundeschäpür, 
sind  eine  ganze  Reihe  griechischer  Schriften  über  das  Syrische  ins  Pech- 
lewi  übertragen  worden.  Aus  diesen  flössen  dann  später  arabische  und 
weiter  hebräische,  in  denen  uns  manche  derartige  Werke  (z.  B.  des  Ari- 
stoteles) heute  allein  erhalten  geblieben  sind. 

Eine  Reihe  verloren  gegangener  Pechlewibücher  spiegeln  sich  nur  in 
neupersischen,  von  Zoroastriern  verfaßten  Schriften  wider.  So  eine  Dis- 
putation des  Großmobeds  Dädhär  mit  griechischen  Weisen  vor  dem  Könige 
Schäpür  I.  (241 — 272  n.Chr.).  Mit  am  wichtigsten  sind  unter  diesen  Spät- 
Riwäjats.  lingen  die  Rnväjats  („Traditionen")  über  alle  möglichen  theologischen  Fragen. 
Die  späteren  Pärsen  haben  dann  auch  gern  ältere  Schriftwerke  in  Verse 
gebracht.  Hierher  gehören  ein  Amschasfandiiäme  (Buch  der  7  Genien) 
und  die  Sad  dar  („Hundert  Kapitel"  —  nämlich  aus  dem  Gesamtgebiete 
der  pärsischen  Religion),  deren  metrische  Bearbeitungen  in  neupersischer  und 
gudscheratischer  Sprache  von  der  ältesten,  gleichfalls  erhalten  gebliebenen 
prosaischen  stark  abweichen.  Ohne  unmittelbares  älteres  Vorbild  ist  das 
Zarätuschtnäme  („Das  Buch  von  Zoroaster")  aus  dem  Jahre  1278  n.  Chr., 
welches  die  Legende  von  dem  Religionsstifter  poetisch  behandelt.  Der 
Verfasser  dieses  in  zwei  Tagen  fertig  gestellten  Gedichts,  Zartuscht  Bach- 
räm,  hat  dem  Propheten  außerdem  noch  einen  „Fünfer"  gewidmet,  der  aber 
zum  größten  Teil  verloren  gegangen  ist,  und  ist  auch  sonst  dichterisch 
tätig  gewesen.  Die  pärsischen  Dichtungen  sind  durchgängig  in  dem  alt- 
epischen Mutaqärib-Metrum  abgefaßt;  es  sind  schlechte  und  rechte  Rei- 
mereien ohne  höheren  poetischen  Wert,  Andere  Mäthnäwis  der  Art 
schildern  die  Niederlassung  der  Pärsen  zu  Sandschän  in  Indien  sowie  die 
Ermordung  mehrerer  Priester  durch  Schah  Nizam  (1355  n.  Chr.). 


Literatur. 

Der  vorstehende  Artikel  ist  verfaßt  im  August  1904. 

Im  allgemeinen  vergleiche  man  zur  Pechlewiliteratur  West,  Pahlavi  Literature  in 
Geiger  und  Kuhns  Grundriß  der  iranischen  Philologie,  Band  II,  S.  75 — 129  (Straßburg,  1896 
— 1904)  und  HORN,  Geschichte  der  persischen  Literatur,  S.  34 — 44  (Leipzig,   1901). 

Zu  S.  240.  Das  Zarätustnäme  ist  zuletzt  herausgegeben  worden  von  Fr.  Rosenberg, 
Le  livre  de  Zoroastre  (St.  Petersbourg,   1904). 


Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  16 


DIE  NEUPERSISCHE  LITERATUR. 

Von 
Paul  Hörn. 


Einleitung.     Die    Periode    der    neupersischen  Literatur    beginnt    mit 
der  Zerstörung  des  Reiches  der  Sassaniden  durch  die  Araber  (ca.  650). 

Die  arabische  Eroberung  war  für  Persien  ein  Ereignis  von  ganz 
außerordentlicher  Tragweite.  Religion  und  Sprache  der  Sieger,  die 
doch  ihren  neuen  Untertanen  an  Bildung  und  Kultur  weit  nachstanden, 
wurden  die  herrschenden  in  dem  großen  Reiche.  Zwar  bekehrte  man 
zunächst  die  dem  nationalen  Zoroastrismus  treu  Bleibenden  nicht  mit  Ge- 
walt, aber  wer  unter  der  neuen  Herrschaft  Karriere  machen  wollte,  mußte 
Muslim  sein.  Und  die  Sprache  der  gesamten  Verwaltung,  mochte  sich 
diese  auch  noch  so  eng  an  die  Maximen  des  Sassanidenstaates  anlehnen, 
ward  die  des  Korans.  Direkte  Opposition  liegt  nicht  in  dem  Charakter 
des  Persers.  So  fügte  er  sich  auch  diesmal  in  die  neue  Lag^e  der  Dinge 
und  suchte  ihr  nach  Möglichkeit  die  besten  Seiten  abzugewinnen.  Bei 
seiner  geistigen  Begabung  fiel  es  ihm  nicht  zu  schwer,  die  schwierige 
Sprache  seiner  Besieger  zu  erlernen,  ja  er  brachte  es  sogar  in  Bälde  so 
weit,  daß  er  sie  ebenso  meisterte,  wie  diese  selbst. 
Perser  und  Die  Dichtkunst  stand  bei  den  Arabern  in  höherer  Blüte   als  in  Erän; 

Araber. 

hier  lag  für  den  Perser  ein  ergiebiges  Feld  frischer  Betätigung  offen.  So 
ließ  er  seine  nationale  Literatur,  die  bei  den  neuen  Herren  keinen  Beifall 
fand,  und  wandte  sich  der  arabischen  zu,  deren  Stoffe  und  ganzer  Betrieb 
seinem  Geschmack  ohnehin  zusagen  mußten.  Die  arabische  Anthologie 
Jatimat  ud-dahr  (,>-Di^  einzige  Perle  der  Zeit")  des  Tha'älibi,  eines  ge- 
borenen Persers  (-j-  429/1038  n.  Chr.),  hat  uns  eine  große  Anzahl  arabischer 
Verse  bewahrt,  deren  Verfasser  Perser  waren,  ohne  daß  man  ihnen  die 
fremde  Herkunft  irgendwie  ansieht.  Ganz  das  gleiche  zeigt  sich,  nur  noch 
in  erhöhtem  Maße,  bei  der  Prosa.  Außerordentlich  viele  der  gefeiertsten 
arabischen  Prosaschriftsteller  selbst  noch  des  Abbassidenchalifats  sind  von 
Geburt  Perser  gewesen,  auf  allen  Gebieten  der  Wissenschaft  haben  Perser 
die  Führung  übernommen.  Zierden  der  arabischen  Literatur  wie  die 
Grammatiker  Sibawaihi  (eigentlich  Seboje)  und  Kisäji,  die  Koränausleger 


I.  Die  Anfänge  der  neupersischen  Dichtung,  243 

Zamachschari  und  Baidawi,  die  Geschichtschreiber  Belädhori,  Tabari,  Ibn 
Qotaiba,  Dinawari,  Berüni,  'Utbi,  die  Philosophen  bezw.  Mediziner  Gha- 
zäli,  Räzi  und  Ibn  Sinä  (Avicenna),  der  Jurist  Buchari  und  noch  manche 
andere  sind  von  Hause  aus  Perser  gewesen,  von  weniger  Bedeutenden 
wie  Abu  'Ubaida  u.  a.  einfach  zu  schweigen.  Nur  durch  solche  Zuführung 
edelsten  fremden  Blutes  hat  arabische  Wissenschaft  ihre  bewunderte  Höhe 
erreicht.  Der  persische  Stolz  auf  seine  nationale  Bedeutung  äußerte  sich 
übrigens  schon  in  dieser  frühen  Zeit  ganz  unverhohlen.  Unter  der  Partei 
der  Schu'ubiten,  deren  Bestreben  dahin  ging,  alles  was  arabisch  war, 
herabzusetzen,  bildeten  neben  Syrern,  Nabatäern  und  anderen  Nationen 
die  Perser  weitaus  die  Überzahl,  wie  ja  auch  die'  der  orthodoxen  Sunna 
sich  widersetzende  Schi'a  in  Persien  ihre  eigentliche  Ausbildung  er- 
fahren hat. 

Auf  diese  Weise  drang  also  persischer  Geist  in  breitem  Strome  in  die 
arabische  Literatur  ein.  Aber  auch  die  Perser  lernten  von  den  Arabern. 
Nicht  nur  deren  Sprache.  Vor  allem  übernahmen  sie  ihre  Metrik  und  zu- 
gleich den  Reim.  Diese  allgemeine  Tatsache  erfährt  dadurch  keine  Ein- 
schränkung, daß  gewisse  Versformen,  die  im  Arabischen  sehr  beliebt  sind, 
von  den  Persern  nur  selten  angewendet  werden.  Dafür  schufen  sie  sich 
eigene  neue.  Wirklich  zweisprachig  ist  aber  die  persische  Bildung  bloß 
kurze  Zeit  gewesen.  Als  das  Persische  bald  wieder  die  Oberhand  in  der 
Literatur  gewann,  waren  es  immer  nur  einige  wenige,  die  gleichzeitig 
auch  das  Arabische  beherrschten.  Es  lohnte  sich  nicht  mehr,  die  schwierige 
Sprache  so  eingehend  zu  studieren. 

L  Die  Anfänge  der  neupersischen  Dichtung.  Wann  die  ersten  Die  ältesten 
Verse  nach  der  neuen  Art  in  neupersischer  Sprache  erklungen  sind,  läßt 
sich  begreiflicherweise  nicht  feststellen.  Von  einem  wirklichen  Dichter 
von  Ruf  hören  wir  erst  unter  dem  Tähiridenfürsten  'Abdallah  (f  229/844). 
An  dessen  Hofe  zu  Neschäpür  lebte  Hänzäle  aus  Bädghes,  von  dem  uns 
einige  Verse  erhalten  sind.  Dann  folgen  ein  paar  Dichter  der  ^affariden, 
denen  sich  bald  eine  schon  recht  erhebliche  Anzahl  im  Samanidenreiche 
anschließt,  in  welchem  die  nationalpersische  Dichtung  mächtig  aufblühte. 
Die  Verse  der  ältesten  Poeten  sind  uns  nur  als  Belege  seltener  Wörter 
in  Wörterbüchern  erhalten,  vollständige  Sammlungen  ihrer  Gedichte  sind 
von  keinem  von  ihnen  auf  die  Nachwelt,  gekommen.  Die  arabischen  Lehn- 
worte nehmen  schon  hier  einen  breiten  Raum  ein,  was  auch  später  im 
allgemeinen  so  geblieben  ist. 

Es  ist  nun  bemerkenswert,    daß   sich  bereits   in   den   ältesten  Proben  Charakter  der 

neupersischen 

persischer  Dichtkunst  Züge  finden,    die    ihr  für  alle   Zeiten   als   charakte-     Dichtung. 
ristisch  verblieben  sind.     In  Inhalt  und  Form  ist  schon  früh  in  einem  ge- 
wissen Grade  der  Höhepunkt  erreicht  worden,   den  man   dann  für  immer 
festgehalten  hat.     Nach  persischer  Vorstellung  konnte  man  die  Dichtkunst 
wie  irgend  ein  Gewerbe  erlernen.    Wer  die  Poetik,  Prosodie,  Stilistik  und 

16* 


2^^  Paul  Hörn:  Die  neupersische  Literatur. 

Rhetorik  gründlich  studiert  hatte  und  beherrschte,  dazu  Phantasie  und 
eine  gute  Bildung  besaß,  der  konnte  als  Dichter  auftreten.  Das  alles  war 
ja  nicht  leicht  zu  erwerben,  aber  was  einer  dann  mit  dem  Gelernten  schuf, 
das  mußte  eigentlich  zu  Beginn  seines  Auftretens  schon  ebenso  vollkommen 
sein  wie  zu  Ende  seines  Lebens.  Eines  Dichters  letztes  Werk  brauchte 
nicht  reifer  als  sein  erstes  zu  sein.  Originalität  konnte  sich  nur  mehr  in 
Äußerlichkeiten  zeigen,  der  landläuftige  Betrieb  der  Dichtkunst  bewegte  sich 
immer  in  den  gleichen  Bahnen,  aus  denen  niemand  heraus  konnte.  So 
waren  Eirdausi,  Häfiz  u.  a.  keine  neue  Epochen  einleitenden,  selbständigen 
Größen,  trotzdem  sie  turmhoch  über  allen  ihren  Vorgängern  und  Nach- 
folgern stehen,  sondern  nur  Gipfelpunkte  längst  bestehender  Richtungen, 
die  sie  nicht  etwa  durch  neue  Ideen  umgestalteten,  sondern  denen  sie  nur 
durch  individuell  meisterhafte  Handhabung  der  altgewohnten  Formen  ein 
besonderes  Gepräge  gaben.  Da  es  Wechsel  im  Geschmacke  nicht  gab, 
so  konnte  es  einem  Dichter  kaum  passieren,  daß  er  bei  seinen  Lebzeiten 
etwa  unverdienterweise  nicht  zu  Anerkennung  gelangte  —  höchstens 
äußere  Gründe  konnten  daran  schuld  sein,  nicht  seine  Verse.  Nur  in  der 
Sprache  sind  gelegentlich  Geschmackswandlungen  zu  bemerken:  der  ein- 
fache Stil  der  alten  erzählenden  Mäthnäwis  ward  z,  B.  bald  unbeliebt,  und 
in  der  Prosa  ist  die  Eorm  zeitweilig  Schwankungen  unterworfen  gewesen. 
Es  ist  daher  meist  völlig  unmöglich,  den  Verfasser  eines  neupersischen 
Gedichts  aus  inneren  Gründen  zu  erkennen,  wenn  ihn  kein  äußeres  Merk- 
mal verrät.  Immermanns  berühmtes  Wort  vom  Epigonentum  paßt  auf  die 
Perser  ganz  hervorragend  gut,  besonders  der  Schlußsatz:  Aber  es  geht 
mit  geborgten  Ideen  wie  mit  geborgtem  Gelde:  wer  mit  fremdem  Gute 
leichtsinnig  wirtschaftet,  wird  immer  ärmer  —  nur  daß  die  Perser  so 
glücklich  gewesen  sind,  dies  in  ihrer  Literatur  nie  zu  empfinden. 

Die  Poesie  Unter  solchcn  Umständen  wäre  es,    solange    sich  der  literarische  Ge- 

eine Macht.  .  .  ,, 

schmack  nicht  durchgreifend  änderte,  eigentlich  das  Gescheiteste  gewesen, 
vom  weiteren,  neuen  Dichten  ganz  abzusehen  und  sich  mit  der  Lektüre 
der  alten  Meister  zu  begnügen;  denn  übertreffen  konnte  man  diese  nicht, 
und  etwas  Neues  ließ  sich  in  dem  fest  umspannten  Rahmen  nicht  mehr 
sagen.  Dem  stand  aber  die  große  Bedeutung  der  Poesie  im  täglichen 
Leben  der  Gebildeten  entgegen.  Man  verlangte  bei  jeder  Gelegenheit 
nach  Versen.  Der  höchste  Zorn  eines  Wüterichs  ließ  sich  durch  einen 
glücklich  improvisierten  Reim  bezwingen,  das  bedrohte  Leben  eines  Ein- 
zelnen, ja  ganzer  Städte  konnte  durch  einen  hübschen  Vierzeiler  Schonung 
erlangen.  Anekdoten  über  derartige  Vorfälle  werden  in  Menge  berichtet. 
Aber  nicht  nur  Unheil  zu  beseitigen  half  die  Poesie,  sondern  sie  konnte 
auch  Gunst  erwerben.  Ein  glückliches  Zitat  tat  es  unter  Umständen  wohl 
auch,  aber  wirksamer  war  doch  eine  eigene  Improvisation.  So  dichtete 
man  immer  weiter  und  bewegte  sich  dabei  ohne  Skrupel  in  den  alten 
ausgefahrenen  Gleisen.  Der  Perser  besitzt  bei  aller  seiner  geistigen  Be- 
weglichkeit doch  zugleich  so  viel  Naivetät,  daß  er  sich  über  etwas  Altes 


^  I.  Die  Anfänge  der  neupersischen  Dichtung.  245 

immer  wieder  von  neuem  freuen  kann,  wenn  es  wirklich  hübsch  ist.  Ge- 
radezu stehlen  durfte  ein  Dichter  allerdings  fremdes  geistiges  Eigentum 
nicht,  aber  eines  anderen  Gedanken  zu  „schinden",  d.  h.  ihn  neu  zu  wenden, 
war  erlaubt.  Das  mußte  natürlich  zu  einer  argen  Überschätzung  des  De- 
tails führen.  Man  wird  aber  unter  diesen  Umständen  das  Entzücken  des 
Persers  über  Kleinigkeiten  wie  die  folgende  begreifen:  Jemand  fragt  einen 
Schönen,  was  er  denn  für  einen  reizenden  dunklen  Fleck  auf  seinem  Apfel 
(seiner  Wange)  habe  (die  Orientalen  schwärmen  für  Schönheitsflecke  auf 
zartem  Teint).  Der  erwidert  schlagfertig:  Das  ist  ein  Kern,  der  durch 
das  zarte  Fleisch  hindurchschimmert.  Der  Literarhistoriker  'Aufi,  der  uns 
die  betreffenden  Verse  des  Dichters  'Othmän  ibn  Achmed  aus  Herät  mit- 
teilt, hebt  ausdrücklich  hervor,  daß  dieses  Bild  dessen  Eigentum  und  noch 
von  keinem  anderen  vor  ihm  gebraucht  worden  sei. 

Der  Zwang  der  alles  beherrschenden  Mode  in  der  Literatur  läßt  diese 
viel  weniger  als  ein  Produkt  ihrer  Zeit  erscheinen  wie  anderswo.  Unter 
politisch  ungünstigen  Verhältnissen  dichtet  ein  Dichter  genau  ebenso  wie 
während  der  glänzendsten  Machtentfaltung  seines  Landes,  der  Bettler 
dichtet  im  Grunde  ebenso  wie  der  Schah.  Der  Welteroberer  Sultan 
Machmüd  von  Ghazna  oder  der  „grimme"  türkische  Sultan  Selim  L  machen 
Liebesgedichte,  als  wenn  sie  ganz  niedrige  Sterbliche  wären.  Nicht  als 
ob  die  Liebe  alle  gleich  machte,  nein,  es  war  die  Mode  der  Liebeslyrik, 
der  beide  sich  ganz  selbstverständlich  fügten.  Andernfalls  hätten  sie  das 
Dichten  überhaupt  sein  lassen  müssen. 

Die  Formen,  welche   die  persische  Poesie   immer   am  meisten  bevor-  Die  Formen. 
zugt  hat,  sind  die  folgenden: 

Die  feierliche  Qacide,  das  Preisgedicht,  welches  auch  als  Elegie  ver- 
wendet ward.  Sie  entstammte  dem  Arabischen.  Aus  ihr  schuf  man  durch 
Verkürzung  der  Zeilenzahl  das  leichtere  Ghazel,  die  Ode,  oder  durch  Weg- 
lassung des  ersten  in  sich  reimenden  Verspaares  die  Qit'ä  („Das  Bruch- 
stück"). Das  Rubä'i  („Der  Vierzeiler")  war  dann  eine  völlig  originelle 
persische  Neuschöpfung.  Seine  natürliche  Begabung  für  Epigramme  und 
gedrängte  Aper9us  hat  den  Perser  diese  höchst  charakteristische  Form 
finden  lassen.  Zwei  einleitende,  untereinander  reimende  Halbverse  zeich- 
nen knapp  ein  Milieu;  darauf  folgt,  gewöhnlich  nicht  reimend,  ein  Para- 
doxon, und  die  letzte  Zeile  bringt  dann,  wieder  reimend,  die  Pointe.  Das 
Rubä'i  hat,  gleich  dem  Ghazel,  auch  in  der  Poesie  des  Abendlandes  das 
Bürgerrecht  erlangt.  Ebenfalls  echt  persisch  ist  das  Mäthnäwi  („Das  Ge- 
doppelte"), jedes  längere  Gedicht  mit  fortwährend  wechselnden  Zeilenreimen. 

Recht  äußerlich  erscheint  uns  die  Anordnung  eines  „Divans"  (Samm- 
lung der  Lieder  eines  Dichters,  während  eine  Anthologie  aus  Werken 
mehrerer  Sefine  hieß)  nach  dem  Reim,  nicht  nach  dem  Inhalt.  Es  reizt 
den  Leser  nicht,  wenn  er  eine  ganze  Reihe  Gedichte  mit  dem  gleichen 
Versausgange  hintereinander  findet,  aber  ein  Divan  ist  auch  nicht  zu  fort- 
laufender Lektüre    bestimmt,    sondern    nur    zum  Kosten,    heute    hier    und 


2  46 


Paul  Hörn:  Die  neupersische  Literatur. 


Kom  de  plume 


Samaniden. 


Rüdaki. 


morgen  da.  Die  Ordnung  nach  dem  Reim  will  bloß  das  leichtere  Auf- 
finden ermöglichen. 

Seinen  Namen  nannte  der  Dichter  nie  direkt,  sondern  unter  der  Ver- 
schleierung eines  Pseudonyms,  das  aber  stets  allgemein  bekannt  war. 
Diese  Gewohnheit  ist  ebenfalls  in  Persien  aufgekommen  oder  hat  sich 
doch  hier  zuerst  zu  einem  ständigen  Brauche  herausgebildet.  Sein  nom 
de  plume  sollte  den  Dichter  besser  individualisieren,  als  es  das  bürger- 
liche ISIuhammed,  Achmed,  Hasan  usw.  tun  konnten,  die  ja  jeder  zahllose 
Träg-er  hatten,  und  der  glänze  Stammbaum  ließ  sich  doch  nicht  immer 
wiederholen.  So  nannte  sich  Abu  Hamid  (oder  Abu  Tälib)  Muhammad 
ihn  Abu  Bekr  Ibrahim  Ferideddin  kurz  'Attär  („Drogist"  —  im  Reiche  des 
Geistes)  oder  Muhammed  Tälib  nach  seinem  Geburtsorte  Amul  einfach 
Amuli  („Amuler")  u.  dergl.  m. 

Einen  gewaltigen  Aufschwung  nahm  die  nationalpersische  Literatur 
im  Samanidenreiche.  Hier  sei  aus  der  reichen  Zahl  seiner  Dichter  nur 
deren  größter  genannt:  Rüdaki  —  Firdausi  sparen  wir  aus  bestimmten 
Gründen  für  Machmüd  von  Ghazna  auf.  Aus  Rüdakis  Leben  sind  nur 
einzelne  legendarische  Züge  überliefert.  So  soll  er  blind  zur  Welt  ge- 
kommen sein,  I  300000  Verse  gedichtet  und  auch  an  Geld  Millionen  durch 
seine  Kunst  erworben  haben.  Ähnliche  biographische  Nachrichten  besitzen 
wir,  ausführlicher  oder  dürftiger,  über  die  meisten  Dichter,  doch  halten 
sie  sehr  häufig  kritischer  Forschung  nicht  stand.  Die  Phantasie  ist  allent- 
halben stark  geschäftig  gewesen  und  hat  einen  etwaigen  Kern  üppig  aus- 
geschmückt. 

Von  Rüdakis  vielen  Versen  ist  uns  nur  ein  kleiner  Bruchteil  erhalten 
geblieben,  doch  genügt  er,  um  des  Dichters  Bedeutung  erkennen  zu  lassen. 
Seinen  Ruhm  und  Reichtum  verdankte  er  vor  allem  den  Qa9iden  zum 
Lobe  seiner  fürstlichen  Herren.  Dabei  war  er  aber  auch  in  der  Lyrik 
Meister,  und  eine  Elegie  des  Greises,  der  sehnsüchtig  der  entschwundenen 
Freuden  der  lockeren  Jugend  gedenkt,  ist  nicht  nur  kulturgeschichtlich 
wertvoll. 

Leider  sind  von  seinen  Mäthnäwis  nur  zerstreute  Verszeilen  auf  uns 
gekommen.  Der  Dichter  hatte  das  beliebte  Fabelbuch  „Kaiila  und  Dimna" 
sowie  wohl  auch  den  „Sindbäd"  poetisch  bearbeitet.  Nach  den  Bruch- 
stücken, die  sich  von  beiden  in  Wörterbüchern  wiedergefunden  haben, 
zeichneten  sie  sich  durch  eine  anmutende  Einfachheit  der  Sprache  aus, 
die  von  der  sonst  üblichen  Geziertheit  der  Poesie  sehr  vorteilhaft  abstach. 
Gerade  diese  Natürlichkeit  ist  leider  der  Grund  gewesen,  daß  sich  die 
Gedichte  nicht  erhalten  haben.  Rüdakis  höfische  Poesieen  schrieb  man 
immer  von  neuem  ab,  „Kahla  und  Dimna"  und  „Sindbäd"  hat  man  ver- 
loren gehen  lassen.  Der  Stil  der  Verserzählungen  war  überhaupt  von  An- 
fang an  ein  einfacherer  als  der  der  übrigen  Poesie.  Er  ist  es  dann  auch 
vielfach  in  der  Folgezeit  geblieben,  wie  die  Geschichten  in  'Attärs  „Vögel- 
gesprächen"  oder  Dschämis  „Goldkette"  zeigen,   in    einer  Umgebung,    die 


I.  Die  Anfänge  der  neupersischen  Dichtung.  247 

sonst  von  Redeprunk  und  Gelehrsamkeit  voll  ist.  Rüdaki  hat  für  der- 
artige Erzählungen  nicht  das  bis  dahin  gebräuchliche  epische  Mutaqärib- 
metrum  verwendet,  sondern  das  Ramal.  Das  verlieh  gewissermaßen  einen 
leichteren  Charakter.  Die  Silbenzahl  blieb  zwar  die  gleiche  (ii),  aber  das 
System  wiederholte  sich  nur  drei-  statt  viermal:  _w__  _w___v^_  gegen 
w__iu__|w__|w_.  Das  Mutaqärib  blieb  künftig  allein  dem  Epos  vorbe- 
halten. 

Neben  dem  von  seinen  Fürsten  ihm  verliehenen  Titel  „Dichterkönig" 
hat  die  Nachwelt  Rüdaki  mit  dem  höheren,  weil  einzigen,  „Adam  oder 
Sultan  der  Dichter"  geehrt  und  damit  seine  Stellung  als  ersten  neupersi- 
schen Poeten  ersten  Ranges  anerkannt. 

Aber  nicht  nur  die  Dichtung  blühte  im  Samanidenreiche,  auch  die 
Prosa  der  Wissenschaft  fand  in  ihm  eifrige  Förderung,  und  zwar  in  per- 
sischer Sprache.  Von  der  berühmten,  arabisch  verfaßten  Chronik  des 
Persers  Tabari  und  seinem  ebenfalls  arabischen  Koränkommentare  wurden 
kürzere  persische  Übersetzungen  besorgt.  Ein  zweiter,  groß  angelegter 
Koränkommentar  eines  Anonymus  entstand  von  Haus  aus  in  persischer 
Sprache.  Ferner  entstammt  dieser  Zeit  die  älteste  auf  uns  gekommene, 
neupersische  Handschrift,  ein  pharmakologisches  Werk,  welches  sich  zu- 
gleich als  kalligraphische  Leistung  eines  Dichters  darstellt.  Ein  beredtes 
Zeugnis  für  das  starke  Nationalgefühl  jener  Tage  war  die  Übersetzung 
des  Chodhäiname's,  des  alten  „Herrscherbuchs"  über  die  Geschichte  feräns, 
aus  dem  Arabischen  ins  Neupersische,  die  leider  verloren  gegangen  ist. 

Gleichzeitig    hatte    persische    Poesie    auch    in    dem    anderen    großen,      Bujiden. 
eigentlich  noch  persischeren  Staate   als  dem   der  Samaniden,  im  Bujiden- 
reiche   zu  blühen  begonnen  —  die  Bujiden  hielten  ja  das  Herz  Persiens, 
die   Samaniden   dessen   östliche  Teile.     Aber   es    sind  nur  wenige   Namen 
niederen   Ranges,    die    hier    zu    nennen  wären.      Samaniden    wie    Bujiden  Machmüd  von 

Ghazna. 

fielen  Machmüd  von  Ghazna  zum  Opfer,  dessen  glänzender  Hof  für  die 
Dauer  von  25  Jahren  der  geistige  Mittelpunkt  der  orientalischen  Welt 
wurde.  Machmüd  schuf  durchaus  nichts  Neues,  sondern  vereinigte  nur 
alles,  was  damals  an  Geist  und  Bildung  vorhanden  war,  in  seiner  Residenz. 
Ein  Umstand  machte  ihm  allerdings  das  Persertum  stark  unsympathisch: 
seine  Religion.  Der  Sultan  war  Sunnit,  und  zwar  ein  fanatischer,  die 
Perser  Schiiten.  So  begünstigte  er  die  arabische  Sprache  im  amtlichen 
Gebrauche  vor  der  persischen,  in  der  Poesie  konnte  er  jedoch  deren  Über- 
gewicht nicht  mehr  zurückdrängen.  Das  war  mittlerweile  schon  zu  stark 
gefestigt.  Die  Sprache  des  Hofs  war  das  Türkische,  aber  in  der  Literatur 
beugte  man  sich  vor  den  Besiegten,  ohne  jeden  Versuch,  ihnen  im  eigenen 
Idiom  den  Gegenpart  zu  halten.  Auch  später  haben  die  türkischem  Blute 
entsprossenen  Dynastieen  Persiens  stets  dessen  literarisches  Übergewicht 
anerkannt  und  sich  sogar  selbst  durchweg  als  Perser  g'efühlt,^^^r\\n  'Abbäs 
des  Großen  Hofe,  also  zur  Zeit  der  höchsten  Machtentfaltung  des  modernen 
Persiens,  sprach  man  zwar  ebenfalls  türkisch,  aber  ein  literarisches  Werk 


2  iS  PAXn:,  Hörn:  Die  neupersische  Literatur. 

ist  damals  ebensowenig  in  dieser  Sprache  entstanden  wie  später  unter 
Xädir  Schah  oder  den  Qadscharen.  Machmüd  von  Ghaznas,  der  Seld- 
schuqen,  der  indischen  Großmoghuls  —  aller  dieser  Weltreiche  Poesie  ist 
die  persische  gewesen. 

II.  Die  großen  Namen  der  neupersischen  Dichtkunst.  Der 
Dichterkreis  an  Sultan  Machmüds  Hofe  ist  für  alle  Zeiten  berühmt  ge- 
Firdausi.  worden,  einer  seiner  Namen  gehört  sogar  der  Weltliteratur  an:  Firdausi 
(Firdausi  ist  die  ursprüngliche  arabische  Form  des  Namens,  Firdosi  und 
Firdüsi  dessen  persische  Aussprache).  Firdausi  hat  lange  gewissermaßen 
als  Geschöpf  des  genialen  Eroberers  gegolten.  Dieser  habe  frühzeitig 
des  Dichters  Talent  erkannt  und  ihn  mit  der  Abfassung  des  Schähnämes 
betraut,  das  die  alte  Geschichte  des  von  ihm  eroberten  Reichs  poetisch 
verklären  und  damit  den  neuen  Herrn,  der  pietätvoll  an  die  ruhmreiche 
Vergang-enheit  anknüpfte,  aus  der  Stellung  eines  Usurpators  zu  der  eines 
würdigen  Rechtsnachfolgers  der  nationalen  Herrscher  Persiens  erheben 
sollte.  Dieses  letzte  Ziel  mag  Machmüds  politischem  Scharfblick  allerdings 
vielleicht  vorgeschwebt  haben,  als  er  sich  des  Schähnämes  annahm,  aber 
nicht  als  eines  der  Pflege  bedürftigen,  zarten  Keims,  sondern  als  eines 
bereits  ausgewachsenen,  hochragenden  Baumes.  Die  ganze  Idee  des 
nationalen  Epos  war  schon  samanidisch.  Firdausi  fand  bereits  gegen 
looo  Verse  eines  Dichters  Daqiqi  vor,  dessen  Werk  er  nach  jenes  vor- 
zeitigem Tode  zu  vollenden  oder  vielmehr  erst  tatsächlich  auszuführen 
unternahm.  Übrigens  haben  sich  neuerdings  auch  Verse  aus  einem  epi- 
schen Mäthnäwi  eines  Dichters  Mas'üdi  aus  Merw  gefunden,  das  nach  dem 
Zeugnisse  eines  Arabers  vom  Jahre  355/966  bei  den  Persem  in  so  hohem 
Ansehen  gestanden  haben  soll,  daß  man  es  sogar  mit  Illustrationen  weiter 
überliefert  habe. 

Im  Jahre  389/999  hatte  Firdausi  nach  3 5 jähriger  Arbeit  sein  Gedicht 
in  einer  uns  nicht  mehr  bekannten  Form  abgeschlossen  und  es  einem 
samanidischen  Großen  gewidmet.  Aber  das  Reich  war  schon  zu  arg  zer- 
rüttet, der  Dichter  konnte  keine  Anerkennung  mehr  finden  und  wandte 
sich  daher  später  dem  neu  aufgehenden  Gestirne  in  Ghazna  zu.  Sultan 
Machmüd  nahm  die  Widmung  elf  Jahre  später  an;  er  scheint  aber  die  Er- 
wartungen Firdausis  nicht  in  dem  Maße  erfüllt  zu  haben,  wie  dieser  es 
beansprucht  hatte.  Darum  dichtete  dieser  die  berühmte  Satire  gegen  den 
„Sklavensprößling",  die  alle  im  Schähnäme  ihn  rühmenden  Stellen  aus- 
merzen sollte. 

Firdausis  Schähnäme  ist  das  nationale  Epos  der  Perser  geworden. 
Seine  einfache  Größe  hat  keiner  je  wieder  erreicht.  Es  atmet  einen 
Patriotismus,  der  in  der  gesamten  neupersischen  Literatur  ebenfalls  einzig 
geblieben  ist.  Was  er  schuf,  wußte  der  Dichter  selbst:  er  werde  durch 
sein  Gedicht  ewig  leben,  hat  er  sich  einmal  in  ihm  vorausgesagt.  Das 
ist  in  der  Tat  wahr  geworden.    Allerdings  noch  nicht  zu  seinen  Lebzeiten. 


II.  Die  großen  Namen  der  neupersischen  Dichtkunst.  2AQ 

Firdausi  hat  in  seinem  Epos  seine  Sympathie  für  die  großen  Helden  des 
Zoroastrismus  nie  verhehlt,  und  diese  Begeisterung  für  „Ketzer"  zog  ihm 
das  Mißfallen  des  mohammedanischen  Klerus  zu.  Nach  der  Satire  auf 
Sultan  Machmüd  mußte  er  aus  dessen  Machtbereich  fliehen,  und  unter 
bujidischem  Schutze  dichtete  er  das  fromme  Lied  von  „Jüsuf  und  Zuleichä", 
um  sich  dem  orthodoxen  neuen  Gönner  zu  empfehlen.  Man  kann  daraus 
dem  landflüchtigen  Greise  keinen  Vorwurf  machen;  bewunderungswürdig 
ist  sog-ar  die  Frische,  die  ihn  in  hohem  Alter  noch  ein  Gedicht  von  loooo 
Doppelversen  —  das  Schähnäme  zählt  60000  —  fertig  stellen  ließ.  Aber 
daß  er  in  dem  neuen  Werke  das  alte  förmlich  verflucht  hat,  ist  schmerz- 
lich. Trotzdem  hat  das  Schähnäme,  das  bald  allgemein  durchdrang,  den 
Dichter  unsterblich  gemacht,  „Jüsuf  und  Zuleichä"  ist  dagegen  ganz  in  den 
Hintergrund  getreten. 

In  Deutschland  war  das  Schähnäme  bereits  im  Jahre  1820  durch 
Görres'  Prosabearbeitung  bekannter  geworden,  in  die  Literatur  hat  es 
Graf  Schack  durch  seine  formvollendete  Übersetzung  eingeführt,  neben 
die  später  noch  Rückerts  vortreffliches  „Königsbuch"  getreten  ist.  In 
französischer  und  italienischer  Sprache  existieren  vollständige  Über- 
tragungen von  Mohl  und  Pizzi  (in  Versen),  in  eng'lischer,  die  sich  des 
Werkes  zu  allererst  angenommen  hatte  (1788  durch  Champion),  nur  solche 
einzelner  Partieen.  Das  Schähnäme  bezeichnet  in  der  Weltliteratur  einen 
Markstein  von  unvergänglicher  Schönheit,  wenn  es  auch  begreiflicherweise 
in  seiner  ganzen  Ausdehnung  nur  im  Original  voll  empfunden  werden  kann. 

Das  Schähnäme  hat  in  Persien  Schule  gemacht,  aber  keiner  von 
Firdausis  Nachfolgern  hat  das  große  Vorbild  auch  nur  in  ganz  beschei- 
denem Maße  erreicht.  Zuerst  behandelte  man  Sagenstoffe,  dann  besang 
man  lebende  Herrscher;  aber  die  späteren  „Firdausis  ihrer  Zeit"  sind  alle 
nur  schwache  Stümper  gegen  den  alten  Meister  geblieben,  einen  wirk- 
lichen Epiker  hat  es  nach  ihm  überhaupt  nicht  wieder  gegeben. 

Die  Epik  war  eine  völlig  eigene  Schöpfung  der  Perser.  Hier  hatten 
sie  von  den  Arabern  überhaupt  nichts  lernen  können.  Jedenfalls  haben 
schon  die  mittelpersischen  prosaepischen  Erzählungen,  mag  ihnen  auch 
die  dichterische  äußere  Form  gefehlt  haben,  doch  schon  sehr  viele  innere 
poetische  Schönheiten  enthalten,  welche  treue  Überlieferung  in  die  neu- 
persische Zeit  hinüberführte. 

Firdausi  war  ein  Schüler  des  Dichters  Asadi  gewesen.  Dem  Lehrer  -'^^*'^'- 
gebührt  hier  nicht  nur  der  Pietät  halber  neben  seinem  großen  Schüler 
eine  kurze  Erwähnung,  sondern  auch  um  eigener  literarischer  Verdienste 
willen.  Asadi  hat  nämlich  zuerst  die  sehr  beliebt  gewordene  Gattung  des 
Wettstreitgedichts  (Munäzärä)  in  die  persische  Dichtkunst  eingeführt,  die 
der  abendländischen  Tenzone  auffällig  nahe  steht.  Ursprünglich  war  sie 
wohl  arabisch,  doch  hat  sie  in  persischen  Händen  erst  ihre  eigentliche 
Ausbildung  und  Vollendung  erhalten.  Unter  den  fünf  Munäzäräs  Asadis 
sei  wegen    ihres  Inhalts   hier   die   zwischen  „Araber  und  Perser"  genannt, 


2^0  Paul  Hörn:  Die  neupersische  Literatur. 

weil  der  Dichter  in  ihr  often  den  Vorrang  der  persischen  Rasse  vor  der 
arabischen  besingt,  was  in  arabischer  Sprache  allerdings  schon  i^g  J^^hr- 
hundert  früher  der  Schu'ubit  Abu  'Othmän  Sa'id  getan  hatte.  Das  alt- 
epische Wort  für  „Gentleman"  ward  parsä,  d.  h.  „Perser"  oder  „perser- 
mäßig", während  sich  die  Nation  „Eranier"  (d.  h.  „Arier")  nannte.  Auch 
die  Parther  sind  in  der  Literatursprache  ehrenvoll  auf  die  Nachwelt  ge- 
kommen: Pachlaw,  d.  i.  Parther,  erscheint  im  Schähnäme  in  der  Bedeutung 
„Held".  Die  Zahl  der  späteren  Munäzäräs  ist  eine  außerordentlich  große, 
die  in  ihnen  miteinander  Disputierenden  gehören  den  allerverschiedensten 
Kreisen  an  (z.  B.  Feder  und  Schwert,  Kälte  und  Hitze,  Auge  und  Augen- 
salbe u.  dergl.  m.). 

Sultan  Machmüds  Reich  ward  nach  dessen  Tode  von  den  Seldschuqen 
zertrümmert.  Damit  gab  Ghazna  seine  Rolle  als  Mittelpunkt  der  Literatur 
zunächst  an  die  neue  Residenz  Merw  ab.  Doch  bald  blühten  literarische 
Bestrebungen  auch  in  den  zahlreichen  Hauptstädten  jung  aufkommender 
Machthaber  auf,  ganz  Persien  vom  Osten  zum  Westen  und  vom  Süden 
zum  Norden  ward  von  solchen  durchzogen.  In  die  Periode  der  Seldschuqen- 
und  Atabegenherrschaft  fällt  die  Hauptblüte  der  persischen  schönen  Lite- 
ratur, deren  berühmteste  Namen  Omar  Chajjäm,  Ferideddin  'Attär,  Enweri, 
Nizämi,  Dscheläleddin  Rümi,  Sa'di,  Häfiz  und  Dschämi  sind. 
Omar  Chajjäm.  Der  berühmte  Astronom  und  Mathematiker  Omar  Chajjäm  (7  517/1123) 

ist  der  Meister  des  Rubä'is  geworden.  Durch  Bodenstedts  und  des  Grafen 
Schack  Übersetzungen  ist  der  Dichter  in  Deutschland  kein  Fremder  mehr, 
in  England  und  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  haben  Fitzge- 
ralds Übertragungen  eine  derartige  Begeisterung  hervorgerufen,  daß  man 
allenthalben  Omar  Chajjäm-Vereine  gegründet  hat.  Jedenfalls  ist  der  Dichter 
im  Okzident  bekannter  als  in  seinem  Heimatlande  —  was  übrigens  auch 
für  manche  anderen  persischen  Autoren  gilt,  die  im  Abendlande  gedruckt 
oder  gar  übersetzt  worden  sind,  während  in  Persien  ihre  Werke  nur  hand- 
schriftlich umlaufen. 

Der  vor  fast  800  Jahren  gestorbene  Chajjäm  erscheint  als  ein  ganz 
moderner  Mensch,  nicht  bloß  in  seinen  Gedanken,  sondern  vielfach  auch 
im  Ausdruck.  Denn  die  prägnante  Kürze  des  Vierzeilers  läßt  keine  Breite 
und  keinen  Schwulst  zu,  die  uns  sonst  beim  orientalischen  Stil  so  leicht 
abstoßen.  Omar  Chajjäms  Rubäls  kann  jeder  mit  Genuß  lesen,  Häfizische 
Oden  viele  nur  unter  Einschränkungen.  Der  Dichter  war  ein  Freigeist  und 
hatte  es  ja  der  in  geistlosem  Dogmatismus  erstarrten  priesterlichen  Ortho- 
doxie gegenüber  nicht  allzuschwer;  aber  die  Art,  wie  er  ihr  zuleibe  ging, 
war  bewundernswert.  Mit  gleichen,  geistigen  Waffen  konnte  man  ihn  nicht 
bekämpfen,  so  griff  man  zu  dem  brutalen  Mittel,  ihn  mit  äußerer  Gewalt 
zu  unterdrücken.  Denn  mystisch  deuten  —  die  beliebte  Weise,  wie  sich 
ein  frommer  Geist  mit  der  weltlichen  Lyrik  abfand  —  ließ  sich  Chajjäm 
zu  schwierig.  Besang  ein  Dichter  den  vom  Koran  streng  verbotenen  Wein 
zu  feurig,    so   konnte  jeder,    der   daran  Anstoß    nahm,   die  Sehnsucht  der 


II.  Die  großen  Namen  der  neupersischen  Dichtkunst.  2  5  I 

Seele  zu  Gott  darunter  verstehen;  an  diesem  Weine  sich  bis  zur  Bewußt- 
losigkeit mit  folgendem  „Katzenjammer"  zu  berauschen,  war  nicht  nur  ge- 
stattet, sondern  sogar  verdienstlich.  „Mit  dir,  Geliebter,  will  ich  lieber  in 
der  Christenkirche  als  ohne  dich  im  Paradiese  sein"  war  eine  starke  Blas- 
phemie, wenn  man  es  wörtlich  auf  ein  schönes  Menschenkind  bezog; 
dachte  man  sich  aber  Gott  darunter,  so  war  alles  in  Ordnung.  Das  ging 
indes  bei  Chajjäm  nicht  so  glatt,  der  Widersprüche  bei  ihm  waren  für 
einen  frommen  Muslim  zu  viele,  und  so  tat  ihn  die  Geistlichkeit  in  Acht 
und  Bann.  Die  persönliche  Sicherheit  des  am  Hofe  in  hoher  Gunst 
Stehenden  scheint  man  nicht  haben  gefährden  zu  können,  und  zu  offenen 
Provokationen  ließ  sich  dieser  nicht  hinreißen;  denn  bei  unverhülltem  Un- 
glauben und  Verspottung  religiöser  Anschauungen  versteht  der  Islam 
schließlich  keinen  Spaß.  Aber  im  stillen  war  das  Verhältnis  gespannt, 
und  Chajjäms  Gedichte  blieben  immer  nur  auf  gewisse  Kreise  beschränkt 
und  zirkulierten  im  Verborgenen.  Was  von  den  heute  unter  seinem  Namen 
gehenden  Gedichten  wirklich  echt  und  was  erst  im  Laufe  der  Zeit  sich 
an  seinen  berühmten  Namen  angehängt  hat,  läßt  sich  unmöglich  feststellen. 
Des  Dichters  Geist  atmen  unzweifelhaft  viele  spätere  Stücke,  die  darum 
ihm  zuzuschreiben  keine  Schändung  seines  Andenkens  gewesen  ist. 

Wie  so  zahlreiche  persische  Dichter  war  auch  Omar  Chajjäm  ein  ^üfi.  ^afismus. 
Den  (^üfismus,  der  sich  innerhalb  der  Schi'a  ausgebildet  hatte,  hatten  die 
Perser  als  ein  hochwillkommenes  Mittel  aufgegriffen,  sich  dem  orthodoxen 
Islam  noch  weiter  zu  entwinden.  In  seinem  phantastischen  Wesen  steckte 
ein  gutes  Stück  Poesie.  Kein  Wunder,  daß  er  auf  die  persische  Dichtung 
so  außerordentlich  fruchtbar  eingewirkt  hat.  Es  würde  recht  wenig  wirk- 
lich Bedeutendes  übrig  bleiben,  wenn  man  aus  der  persischen  Literatur 
alles  ausscheiden  wollte,  was  nicht  von  cüfischem  Denken  beeinflußt  ist. 
Nicht  bloß  haben  zahlreiche  Dichter  dem  (^üfismus  einzig  und  allein  ihre 
ganze  Wirksamkeit  geweiht,  sondern  auch  bei  allen  anderen  Themen 
spielen  fortwährend  9Üfische  Ideen  und  Bilder  hinein.  Der  Reiz  eines 
Lyrikers  wie  Häfiz  liegt  g'erade  in  dem  beständigen  Doppelsinne  zwischen 
Mystik  und  Wirklichkeit, 

Den  mystischen  Dichter  leitet  bei  seinem  ewigen  Ringen  nach  der 
Wahrheit  und  seinem  nie  zur  Befriedigung  kommenden  Gottsuchen  eine 
unerschöpfliche  Phantasie,  die  ihn  zu  immer  neuen  Bildern  greifen  läßt, 
um  die  Tiefe  seiner  Sehnsucht  zum  Ausdruck  zu  bring^en.  Diese  Phan- 
tasie können  wir  besonders  in  den  Werken  eines  Ferideddin  'Attär  'Attär. 
(513/1119 — 627/1230)  und  Dscheläleddin  Rümi  {604/1207 — 672/1273)  be- 
wundern. Bei  ihnen  finden  wir  vollständige  Systeme  der  Wandlungen, 
welche  die  Seele  durchzumachen  hat,  bis  sie  in  die  völlige  Einheit  mit 
Gott  einmündet.  In  den  „Vögelgesprächen"  schildert  'Attär  ihre  Pilger- 
fahrt unter  dem  Bilde  einer  höchst  beschwerlichen  Reise,  welche  die 
Vögel   über  sieben  Täler    nach    dem   mystischen  Berge  Qäf  unternehmen. 

Den  Gipfelpunkt  der  mystischen  Dichtung  stellt  Dscheläleddin  Rümis        Rümi. 


2^2  Paul  Hokn  :  Die  neupersische  Literatur. 

„Geistiges  ^läthnäwi"  oder  kurz  „Mäthnäwi",  d.  h.  das  „Mäthnäwi  der 
Mäthnäwis"  dar.  Trotz  seines  enormen  Umfang^s  ist  das  Werk  von  An- 
fang bis  zu  Ende  hoch  poetisch.  Der  Dichter  steht  fortwährend  über 
dem  Philosophen.  Gerade  das  macht  aber  die  Lektüre  so  reizvoll,  während 
es  andrerseits  die  Schwäche  der  Leistung-  bildet.  Das  Schlußziel,  die 
Vernichtung-  des  Ichs  und  seine  Wiedervereinigung  mit  Gott,  dem  großen 
Meere,  aus  dem  es  dereinst  geflossen  ist,  um  durch  die  Zwischenstufen 
des  Steins,  der  Pflanze  und  des  Tieres  Mensch  und  Engel  zu  werden, 
wird  mit  Folgerichtigkeit  herbeigeführt.  Da  Gott  sich  in  allem  und  jedem 
offenbart,  so  kann  der  Mensch  ihn  und  schließlich  auch  sich  selbst  in 
jedem  Dinge  erblicken.  Diese  Konsequenz  ist  an  sich  durchaus  logisch. 
Im  einzelnen  bleibt  aber  vom  Standpunkte  des  Verstandes  vieles  anfecht- 
bar. Der  dichtende  (^üfi  ist  eben  von  der  Richtigkeit  seiner  Anschau- 
ung-en  schon  von  Hause  aus  derartig  überzeugt,  daß  er  streng  wissen- 
schaftliche Beweise  gar  nicht  für  nötig  hält.  Dazu  spricht  er  als  Poet 
mit  glühender  Begeisterung  zu  nicht  minder  Gläubigen,  als  er  selber  einer 
ist.  Gewiß  weiß  er  manchmal  selbst  nicht  genau,  was  er  eigentlich  will. 
Immermanns  Wort  im  „Merlin": 

„Das  Weltgeheimnis  ist  nirgendwo,  es  ist  nicht  hier  und  nicht  dorten, 

Es  schaukelt  sich  wie  ein  unschuldiges  Kind  in  des  Sängers  blühenden  Worten" 

charakterisiert  ihn  treffend.  Aber  damit  begnügt  sich  der  Phantast,  dem 
auch  in  den  Minuten  des  Derwischtanzes,  den  Dscheläleddin  Rümi  selbst 
gestiftet  hat,  nichts  zu  denken,  das  Höchste  ist. 

Die  Wanderung  der  Seele  durch  viele  Stadien  bringt  die  ethische 
Tiefe  in  das  Ganze  hinein.  Das  Ich  hat  selbst  die  Entscheidung  über  sein 
Schicksal;  es  muß  sich  also  bemühen,  des  Aufgehens  in  Gott  würdig  zu 
werden,  und  dazu  bedarf  es  der  höchsten  Tugendhaftigkeit.  Der  Entstehung 
und  Entwicklung  des  persischen  Mystizismus  nachzugehen,  ist  hier  nicht 
der  Ort;  nur  kurz  erwähnt  sei,  daß  er  sehr  viel  dem  Neuplatonismus  ver- 
dankt. 

Die  Leitsätze    seiner  Lehre    erläutert    der  Dichter   stets    durch  Anek- 
doten, Legenden,  Erzählungen  der  verschiedensten  Art.     Diese  Gepflogen- 
heit Avar   schon  vor  Rümi   üblich   gewesen.     Die   kürzeren   oder   längeren 
Geschichten  sind  gewöhnlich  ganz  reizend  erzählt. 
Sa'di.  Das  Weltfremde  des  (^üfismus  zu  mildern,   zu  zeigen,   daß   man  auch 

als  (^üfi  sich  der  Welt  freuen  könne,  war  Sä'di  vorbehalten  (580/1184 — 
690/1291),  einem  über  Hundertjährigen,  wie  sie  unter  den  persischen 
Dichtem  auffällig  zahlreich  sind.  Xach  einer  an  Abenteuern  reichen 
Jugend-  und  Manneszeit  hat  der  Greis  fast  noch  vierzig  Jahre  ruhig  in 
seiner  Vaterstadt  Schiräz  gelebt  und  dort  seine  Tage  beschlossen.  Von 
der  greulichen  Mongolenverwüstung  blieb  Südpersien  verschont,  unter 
kunstsinnigen,  milden  Herrschern  erfreute  sich  Färs  einer  hohen  Blüte. 
Sa'di  ist  eine  seltene  Greisenerscheinung  auf  persischem  Boden,  wo  sich 
sonst    die   Alten    gemeiniglich    höchst    unglücklich   fühlen,   weil    sie    nicht 


II.  Die  großen  Namen  der  neupersischen  Dichtkunst.  2 


Dö 


mehr  genießen  können  wie  die  Jugend.  Sie  werden  dann  mangels  etwas 
Besseren  fromm  und  tuen  Buße  von  den  Sünden  des  vergangenen  lustigen 
Lebens.  Nicht  so  Sa'di.  Er  hat  auch  seinerzeit  alles  genossen,  was  das 
Dasein  ihm  bot,  aber  im  Alter  hat  er  nicht  den  grämlichen  Eindruck,  daß 
es  zwecklos  gewesen  sei.  Die  Erinnerung  an  das  erlebte  Schöne  bleibt 
als  dauernder  Gewinn;  seine  Erfahrungen  teilt  er  anderen  mit,  damit  sie 
daraus  lernen  können.  Wahre  Toleranz  und  echte  Frömmigkeit  sind  die 
Grundzüge  seiner  Ethik,  die  er  im  „Rosengarten"  {Gulisfcm)  und  „Lust- 
garten" {Bostait)  entwickelt.  Der  Gulistän  ist  das  erste  Werk  der  persi- 
schen Literatur,  das  durch  eine  vollständige  Übersetzung  (Olearius'  „Per- 
sisches Rosenthal")  in  Deutschland  wirklich  bekannt  geworden  ist  (1654), 
wie  überhaupt  Sa'di  der  erste  übersetzte  Perser  gewesen  ist  (schon  1634 
in  das  Französische  und  1644  in  das  Lateinische).  Der  Gulistän  ist  eine 
Prosaschrift,  in  die  zahlreiche  Verse  eingestreut  sind,  der  Bostän  dagegen 
ein  reines  Gedicht. 

Sa'di  ist  der  populärste  Moralist  des  Morgenlandes  geworden.  Das 
verdankt  er  nicht  zum  geringsten  Teil  seiner  Lebenskunst,  die  ihn  welt- 
männische Gewandtheit  mit  9Üfischer  Einfachheit  harmonisch  verbinden 
ließ.  Als  die  Mongolen  schließlich  auch  sein  Vaterland  überfluteten,  dich- 
tete er  auch  ihre  Fürsten  an,  wie  er  es  mit  den  verehrten  einheimischen 
Selghuriden  getan  hatte.  Die  neuen  Herren  schenkten  ihm  ihre  Gunst 
ebenfalls  und  verschonten  sein  geliebtes  Schiräz;  so  ward  es  ihm  nicht 
schwer,  sich  mit  den  neuen  Verhältnissen  abzufinden. 

Der  Meister  auf  dem  Gebiete  der  Liebesromanze  in  Versen,  einer  bei  Nizämt. 
den  Persern  sehr  beliebten  Gattung,  ist  Nizami  (535/1 141 — 599/1203).  Schon 
die  altpersische  Literatur  kannte  die  Geschichten  berühmter  Liebespaare: 
aus  griechischen  und  lateinischen  Quellen  hören  wir  von  der  Liebe  der 
Sakenkönigin  Zarinaea  zu  Stryangaeus  (Stryaglius)  oder  von  der  Prinzessin 
Odatis  und  dem  Prinzen  Zariadres.  In  der  neupersischen  Zeit  sind  es 
dann  meist  immer  die  gleichen  Stoffe  gewesen,  welche  die  Dichter  stets 
von  neuem  poetisch  behandelt  haben:  der  Sassanidenherrscher  Chosrau  IL 
und  seine  Lieblingsgemahlin  Schirin  resp.  deren  Verehrer,  der  Baumeister 
Ferhäd;  des  persischen  Don  Juans,  Schah  Bechräm  V.  Gors,  sieben  oder 
acht  Liebesabenteuer  mit  Prinzessinnen  verschiedener  Nationen;  Wämiq 
und  Azrä;  Jüsuf  und  Zuleichä  (die  Frau  Potiphars);  Leilä  und  Medschnün. 
Diese  Stoffe  erschienen  den  Dichtern  ewig  jung  und  schön,  so  daß  die 
Literaturgeschichten  bisher  22,  10,  9,  14  und  18  Bearbeitungen  von  ihnen 
verzeichnen.  Der  Inhalt  aller  „Jüsuf  und  Zuleichäs"  ist  im  Grunde  genau 
der  nämliche,  der  vierzehnte  Jüsuf  sieht  den  früheren  dreizehn  täuschend 
ähnlich,  und  die  achtzehnte  Leilä  gleicht  den  siebzehn  ihr  vorhergegangenen 
höchstens  nicht  im  Haar.  Auch  gewisse  typische  Züge  im  Gange  der 
Handlung  kehren  immer  wieder.  So  verlieben  sich  die  Paare  meist,  ohne 
einander  je  von  Angesicht  zu  Angesicht  gesehen  zu  haben,  auf  eine  Be- 
schreibung,  ein  Bild   oder   einen  Traum  hin;    die  Macht   der  Liebe   ist  so 


2=1  Paul  Hokn:  Die  neupersische  Literatur. 

übenvältigend,  daß  die  keuschesten  Jungfrauen  sich  ohne  Bedenken  über 
alle  Schranken  der  strengen  Sitte  hinwegsetzen.  Abwechslung  kommt 
nur  durch  die  verschiedene  äußere  Kunstfertigkeit  hinein,  mit  der  die 
Dichter  ihre  Vorlage  zu  behandeln  verstehen.  Nicht  zu  erfinden  g-alt  es, 
sondern  zu  finden:  nicht  was  man  sagte,  sondern  wie  man  es  sagte,  war 
das  Wesentliche.  Wer  es  über  sich  brächte,  einmal  alle  achtzehn  bisher 
bekannten  Leilä  und  Medschnüns  hintereinander  durchzulesen,  würde  viel- 
leicht manche  kleineren,  auch  feineren  Züge  zusammenstellen  können,  in 
denen  ein  Dichter  individuell  zu  sein  versucht  hat;  aber  im  allgemeinen 
würde  das  Ergebnis  doch  nur  auf  mehr  oder  minder  geschickte  Phrasie- 
rung  lauten. 

Chosrau  und  Schirin,  Bechräm  Gors  Liebesgeschichten  sowie  Leilä 
und  Medschnün  hat  Xizämi  in  die  Kunstpoesie  eingeführt.  Nach  einem 
jahrelangen,  streng  asketischen  Leben  hatte  er  zunächst  mit  einem  mysti- 
schen Gedichte,  dem  „Schatzhaus  der  Geheimnisse",  begonnen.  In  seinen 
drei  Liebesepen  behandelte  er  nun  nichtkoranische  Stoife,  aber  er  setzte 
dabei  doch  „das  Götzenbild  in  die  Ka'ba",  d.  h.  er  wußte  als  frommer 
Muslim  den  Islam  auch  in  dem  heidnischen  Milieu  in  den  Vordergrund  zu 
rücken.  Da  das  Grundthema  überall  die  Liebe  ist,  so  war  es  ganz  natür- 
lich, daß  die  epische  Erzählung  eine  stark  lyrische  Färbung  erhielt.  Bei 
der  Geschmacksrichtung  der  Perser  ist  es  kein  Wunder,  daß  sie  häufig- 
sogar  in  eine  Zuckersüßheit  ausartete,  die  uns  unerträglich  wird.  Dschämis 
„Jüsuf  und  Zuleichä"  ist  dafür  ein  drastisches  Beispiel,  wie  der  Leser  aus 
V.  Rosenzweig-Schwannaus  Übersetzung  ersehen  kann.  Die  maßlose  Sen- 
timentalität in  desselben  Dichters  „Leilä  und  Medschnün"  spiegelt  sich  in 
Graf  Schacks  eleganter  Verdeutschung  wider.  Unverkennbar  ist  besonders 
in  dem  letzten  Gedichte  die  Ähnlichkeit  mit  der  westeuropäischen  mittel- 
alterlichen Minnestimmung.  Diese  ist  gewiß  von  Hause  aus  orientalisch 
und  augenscheinlich  aus  dem  maurischen  Spanien  bezogen. 

Nizämi  hatte  nun  auch  den  Ehrgeiz,  dem  Schähnäme  ein  ebenbürtiges 
Werk  an  die  Seite  zu  stellen.  Er  wählte  dafür  zum  Helden  Alexander 
den  Großen,  der  ja  nach  persischer  Geschichtsklitterung  ein  Sohn  des 
letzten  Darius  von  einer  byzantinischen  Kaisertochter  geworden  war.  Sein 
„Alexanderbuch"  hat  sich  aber  zu  einem  langatmigen,  mystisch-philosophi- 
schen Opus  ausgewachsen,  der  erste  historisch-epische  Teil  wird  durch 
den  zweiten  spekulativen  ganz  in  den  Hintergrund  gedrängt.  Auch  der 
Stil  ist  himmelweit  von  dem  Firdausis  verschieden. 

Seine  fünf  Mäthnäwis  vereinigte  der  Dichter  zu  einem  „Fünfer",  eine 
Mode,  die  viele  Nachahmer  gefunden  hat  —  gelegentlich  erscheinen  auch 
„Sechser"  oder  „Siebener". 
Emir  Chosrau.  Der  Inder  Emir  Chosrau  (-|-  725/1325)  hat  das  Verdienst,    die  Liebes- 

epik aus  dem  engen  Bannkreise  der  konventionellen  Stoffe  befreit  zu 
haben,  indem  er  neben  Leilä  und  Medschnün  etc.  auch  eine  Liebes- 
geschichte  seiner  Zeit  besang.     Sein  Beispiel  fand  Nachfolger,    aber  be- 


II.  Die  großen  Namen  der  neupersischen  Dichtkunst. 


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sonderen  Wert  kann  keine  dieser  Art  Dichtungen  beanspruchen.  Ein  solcher 
ist  indes  einem  weit  älteren  Werke  der  Gattung,  Fachreddins  „Wis  und  wis  und Rämiu. 
Rämin"  nicht  abzusprechen.  Dieses  Gedicht  behandelt  eine  alte  Volkssage, 
und  zwar  mit  einer  naiven  Frivolität,  wie  wir  sie  sonst  in  der  persischen 
Literatur  nicht  wieder  linden.  Die  junge  Frau  eines  alten  Königs  betrügt 
diesen  fortg-esetzt  mit  seinem  ihr  gleichaltrig'en  Bruder;  die  Schuldigen 
können  einander  sogar  zuletzt  heiraten  und  regieren  glücklich  und  be- 
glückend an  Stelle  des  einfältigen  Alten,  nachdem  dieser  ihnen  den  Ge- 
fallen getan  hat,  auf  der  Jagd  zu  verunglücken.  Die  Sage  hat  ihre  ur- 
sprüngliche populäre  Gestalt  augenscheinlich  ziemlich  getreu  erhalten  und 
von  ihrem  literarischen  Bearbeiter  keine  ästhetische  Einrenkung  erfahren. 

Alte  Überlieferung-  will  wissen,  daß  die  ersten  persischen  Verse  zum  Die  Hofdichtung. 
Lobe  von  Fürsten  gesungen  seien.  Das  wäre  für  Persien  an  sich  keine 
befremdliche  Behauptung;  denn  die  Dichtkunst,  ja  die  gesamte  Literatur 
hat  hier  von  jeher  einen  stark  höfischen  Charakter  gehabt.  Ein  Dichter 
konnte  auf  klingenden  Lohn  seiner  Poesieen  —  und  nach  solchem  mußte 
er  streben,  da  seine  Kunst  sehr  mühsam  zu  erlernen  gewesen  war  —  nur 
bei  hohen  und  höchsten  Herren  rechnen.  Dazu  durfte  er  es  aber  an 
direkten  Verherrlichungen  der  Personen  nicht  fehlen  lassen.  So  hatte 
jeder  Fürst  seine  Hofdichter,  deren  „König"  die  privaten  und  Staatsaktionen 
des  Herrschers  poetisch  zu  verherrlichen  hatte.  Die  Schmeicheleien  konnten 
gar  nicht  grob  genug"  sein,  Orientalen  vertragen  und  leisten  in  dieser  Be- 
ziehung das  unglaublichste.  Schon  in  Firdausis  Schähnäme  singen  drei 
Töchter  eines  Landadligen  den  Schah  Bechräm  Gor  ganz  überschwenglich 
an,  und  dieser  ist  in  seiner  Weinseligkeit  über  die  plumpen  Komplimente 
derartig  entzückt,  daß  er  alle  drei  Mädchen  unverzüglich  zu  Gemahlinnen 
erhebt.  Aber  auch  aus  dem  Munde  von  Männern  und  bei  völliger  Nüchtern- 
heit wirken  solche  Verhimmelungen  immer.  Die  höfische  Panegyrik  bildete 
sich  daher  ganz  natürlich  zu  einer  eigenen  Dichtgattung'  aus.  Als  ihr 
Meister  ist  für  alle  Zeiten  einstimmig  Enweri  (-j-  ca.  586/1190)  anerkannt. 
Die  Künstelei  in  der  Sprache  wie  im  Inhalt  kann  gar  nicht  hoch  genug 
getrieben  werden.  Die  entlegenste  Gelehrsamkeit  wird  an  den  Haaren 
herbeigezogen,  alle  Wissenschaften  müssen  sich  in  den  Dienst  der  Aufgabe 
stellen,  den  Fürsten  zu  feiern.  Auf  diese  Weise  haben  sich  zahllose  Qa- 
ciden  auf  Herrscher  erhalten,  von  denen  die  Geschichte  nichts  weiter  als 
den  Namen  zu  berichten  weiß.  Nach  der  Meinung  ihrer  Lobredner  wären 
sie  aber  die  ersten  und  herrlichsten  aller  Zeiten  gewiesen.  Darius  und 
Alexander  kamen  ihnen  nicht  an  Macht,  Salomo  nicht  an  Weisheit  gleich; 
die  Sonne  war  eine  Perle  im  Meer  ihrer  Huld,  der  Himmel  ein  Bläschen 
darin  u.  dergl.  m. 

Dschingiz  Chans  und  ein  Jahrhundert  später  Timurs  Eroberungszug 
brachten  unsägliches  Elend  über  Persien,  aber  das  geistige  Leben  ward 
doch  auch  in  diesen  schweren  Zeiten  nicht  völlig"  unterdrückt,  sondern  fand 
an  einzelnen  Höfen  Zufluchtsstätten.     Wie   bei   dem  mongolischen-  so  war 


Enweri. 


Häfiz. 


256  Paul  Hörn:  Die  neupersiscbe  Literatur. 

es  auch  bei  Tamerlans  Einfalle  Färs,  das  seine  iVbgeleg-enheit  schützte. 
Wieder  in  Schiräz  blühte  damals  der  größte  Dichter  seiner  Zeit:  Häfiz, 
der  Meister  des  Ghazels  (-J-  1389).  Auch  Häfiz  war  kein  Neuerer  in 
seinem  Gebiete,  der  Lyrik,  der  er  doch  für  alle  Zeiten  den  Stempel  seines 
Geistes  aufgeprägt  hat.  Goethe  hat  ihn  überschätzt,  wenn  er  sagte:  Hafis, 
dir  sich  gleichzustellen,  welch  ein  Wahn!  Denn  Goethe  war  unendlich  mal 
mehr  als  Häfiz.  Des  Persers  Verdienst  bestand  darin,  daß  er  die  bereits  bis  ins 
einzelne  völlig  ausgebildeten  Ideen  der  Liebes-,  Wein-  und  Naturdichtung 
in  einer  eleganten  äußeren  Form  darbot,  die  allg^emein  bezauberte.  Er 
wußte  Wort  und  Geist  in  so  harmonischer  Weise  als  Braut  und  Bräutigam 
zur  Hochzeit  zu  vereinen  (Goethe),  wie  keiner  vor  noch  nach  ihm.  Viele 
seiner  beliebtesten  Verse  sind  gar  nicht  originell,  aber  die  Form,  die  er 
einem  längst  bekannten  Gedanken  gab,  machte  diesen  zu  etwas  Neuem. 
Sogar  in  der  Übersetzung  von  Hammers  hat  Häfiz  eine  großartige  Wir- 
kung in  Deutschland  erzielt:  Goethe  schuf  nach  ihr  seinen  West-östlichen 
Divan,  der  unserer  Literatur  ganz  neue  Seitenpfade  wies.  Und  Boden- 
stedts  Pseudo-Häfiz  Mirza  Schaff}^  hat  einen  der  größten  Bucherfolge  aller 
Zeiten  gehabt. 

Seine  große  Beliebtheit  in  Persien  verdankt  der  Dichter  seiner  Umdeu- 
tungsfähigkeit  ins  Mystische.  Schon  er  selbst  hat  sicher  von  Hause  aus  eine 
solche  beabsichtigt.  Wer  ihn  natürlich  verstehen  wollte,  mochte  dies  tun, 
und  wer  einen  allegorischen  Sinn  in  seinen  Versen  finden  wollte,  kam 
ebenfalls  zu  seinem  Recht.  Das  Weltkind  und  der  Fromme  konnten  sich 
an  demselben  Ghazel  erbauen.  Der  Klerus  fand  sich  bei  dem  beliebten 
Dichter  mit  einer  rein  mystischen  Deutung  ab;  einen  Häfiz,  d.  h.  einen 
der  den  Koran  auswendig  wußte,  konnte  man  nicht  gut  als  Freig'eist 
brandmarken.  Wie  den  Koran,  so  benutzt  der  Perser  noch  heute  Häfizs 
Divan  für  Orakel. 
Dschämi.  Häfiz  ist  für  alle   späteren  Lyriker   das  Vorbild  geblieben.     Über  ihn 

ist  keiner  hinausgekommen.  Höchstens  Dschämi  (817/1414 — 898/1492)  darf 
wegen  der  Universalität  seines  Talents  eine  selbständigere  Stellung  neben 
ihm  beanspruchen.  Als  Verfasser  religiöser  und  weltlicher  Mäthnäwis,  als 
fruchtbarer  Lyriker  und  nicht  minder  gefeierter  Prosaschriftsteller  ist 
Dschämi  überhaupt  der  letzte  wirklich  große  Autor  Persiens  gewesen. 

m.  Die  Epigonen.  Auch  in  der  Gegenwart  wird  im  Reiche  der 
Sonne  und  des  Löwen  weitergedichtet,  und  einzelne  Namen  sind  sogar 
mit  Auszeichnung  zu  nennen;  aber  einen  Vergleich  mit  den  Größen  der 
Vergangenheit  hält  doch  kein  einziger  von  ihnen  aus.  Der  1891  ver- 
storbene Scheibäni  verdient  wegen  der  außerordentlichen  Freimütigkeit 
seiner  Sprache  eine  besondere  Erwähnung.  Jungperser,  wie  in  der  Türkei 
Jungtürken,  gibt  es  im  Reiche  des  Schahs  bisher  noch  nicht;  Scheibäni 
hatte  aber  einen  gewissen  jungpersischen  Zug,  insofern  er  energisch  zu 
Reformen  mahnte,    nicht  nach   europäischen  Mustern,    sondern  von  innen 


III.  Die  Epigonen.     IV.  Das  Theater.  2'^? 

heraus  auf  Grund  der  Gerechtigkeit  und  des  eigenen  Vorteils  der  Dynastie. 
Man  hat  ihn  ruhig"  dichten  lassen  —  seine  derartigen  Verse  durften  aller- 
dings in  Persien  nicht  veröffentlicht  werden,  aber  als  persönlich  treuer 
Anhänger  des  Schahs  und  seines  Hauses  hat  er  außerdem  so  viele  loyale 
Poesieen  g^emacht,  daß  ein  moderner  Anthologist  (Rizäquli  Chan)  doch 
viele  Seiten  damit  füllen  konnte. 

Der  allgemeinen  Schablone  haben  sich  sonst  nur  wenige  entzogen. 
Und  zwar  auch  nicht  in  der  Form  ihrer  Poesieen,  sondern  nur  in  deren 
Inhalte.  So  suchte  sich  Bushäq  aus  Schiräz  (f  ca.  830/1427)  ein  ganz  neues 
Gebiet  in  der  Küche  und  Tafel:  jeder  Vers  seines  Divans  ist  einzig  dem 
Essen  und  Trinken  gewidmet,  i'^/^  Jahrhundert  später  variierte  ihn  Mach- 
müd  Qäri  aus  Jezd,  indem  er  die  Kleidung  zum  alleinigen  Thema  seiner 
Verse  wählte.  Ein  moderner  Dichter,  Schäjek,  warf  sich  auf  die  Besingung 
des  Bettels  und  seiner  Ritter.  Eine  ganze  Reihe  Vertreter  hat  die  Zote  Zote. 
gefunden.  Sogar  Sa'di  hat  dieser  von  jeher  im  Orient  beliebt  gewesenen 
Gattung  des  Witzes  ein  Bändchen  „Spaße"  gewidmet,  das  recht  starke 
Stücke  enthält.  Bezeichnend  ist  es,  daß  das  Kapitel  der  Knabenliebe  hier 
stets  im  Vordergrunde  steht.  Die  unglückliche  Liebe  zu  Jungen  spielt  in 
der  Literatur  eine  ebenso  große  Rolle  wie  die  zu  Frauen  und  Mädchen. 
Das  erklärt  sich  durch  die  untergeordnete  Stellung  des  Weibes  und 
seine  geringe  Durchschnittsbildung.  Persische  Frauen  haben  zwar  auch  Dichterinnen, 
gedichtet,  aber  über  den  üblichen  Dilettantismus  hat  sich  keine  erhoben. 
Bei  der  Ungeniertheit  des  Orients  findet  sich  in  einzelnen  ihrer  Verse  ein 
haut  goüt,  der  dem  bei  Männern  nicht  nachsteht. 

Außerhalb  Persiens  hat  persische  Poesie  in  Indien  wertvolle  Blüten  Persische  Dich- 
getrieben.  An  dem  Hofe  der  kunstsinnigen  Großmoghuls  zu  Delhi  er-  lande, 
wuchs  eine  ausgebreitete  Literatur  in  persischer  Sprache.  Die  Dichter 
'Urfi  (f  999/1591)  und  Feizi  (f  1 004/1 595)  waren  den  zeitgenössischen  Poeten 
Irans  weit  überlegen.  In  der  Türkei  erstand  in  Sultan  Selim  I.  (f  1520) 
ein  Talent,  das  sich  zahlreichen  berühmten  Lyrikern  Persiens  ebenbürtig 
an  die  Seite  stellen  konnte. 

IV.  Das  Theater.  Wohl  schon  älteren  Ursprungs  aber  immer  nur 
einem  bestimmten  Gegenstande  gewidmet  ist  das  persische  Drama.  In 
der  Art  der  Oberammergauer  Festspiele  feiert  man  in  den  ersten  zehn 
Tagen  des  Monats  Muharram  alljährlich  durch  theatralische  Aufführungen 
das  Andenken  an  die  Passion  der  schiitischen  Heiligen  und  Märt}'-rer  'Ali, 
seiner  Söhne  Hassan  und  Hussein,  seines  Enkels  Zein  el-'Abidtn  und 
anderer  Imäme.  Dichtemamen  sind  bis  auf  einen  einzigen  für  diese  Stücke 
nicht  überliefert,  die  gewissermaßen  als  altes  Volksgut  gehen.  Als  solches 
haben  sie  begreiflicherweise  vom  künstlerischen  Standpunkte  ihre  Mängel, 
aber  dramatisches  Geschick  ist  in  ihnen  vielfach  nicht  zu  verkennen.  Die 
„persischen"  Lustspiele  „Der  Vezier  von  Lenkoran"  u.  a.,  welche  neuer- 
dings durch  Übersetzungen  (Reclam,  Hendel)  in  weiteren  Kreisen  bekannt 

Die  Kultur  der  Gegenwart.     I.  7.  I7 


-7  -  S  Paul  Hörn  :  Die  neupersische  Literatur. 

ge"U'orden  sind,  stammen  allerdings  aus  dem  Persischen,  sind  aber  hier 
keine  Originale,  sondern  nur  aus  dem  azerbaidschanischen  Türkisch  über- 
tragen, wo  sie  nach  französischem  Vorbilde  entstanden  waren. 

V.  Die  Volksliteratur.  Von  persischer  Volksliteratur  im  engeren 
Sinne  ist  bisher  nur  wenig  bekannt  geworden. 

Die  Lieder,  welche  von  berufsmäßigen  Sängern  vorgetragen  werden, 
sind  zumeist  im  Grunde  auch  literarisch  oder  doch  stark  durch  den  Kunst- 
stil beeinflußt.  Öfter  läßt  sich  die  Quelle  direkt  nachweisen.  So  werden 
Verse  von  Häfiz,  Omar  Chajjäm  u.  a.  coupletartig-  mit  Zwischenzeilen  oder 
Refrains  durchwoben.  Die  Metra  sind  immer  die  in  der  Kunstpoesie 
üblichen.  Volkstümliche,  nach  dem  Prinzip  der  Silbenzählung  aufgebaute 
Lieder  scheint  es  jedoch  nicht  zu  geben;  eine  derartige  Annahme  beruhte 
wohl  auf  einem  Irrtum,  die  in  Frage  kommenden  Verse  erweisen  sich  bei 
genauerem  Zusehen  wohl  durchg'ängig  als  nach  den  Grundsätzen  der 
Längen-  und  Kürzenmessung  verfaßt.  Manchmal  kann  man  allerdings  bei 
der  Entscheidung  schwanken,  ob  man  es  mit  einem  rein  naiven  Natur- 
produkte zu  tun  habe  oder  ob  man  doch  Anlehnung  an  die  Kunstlyrik 
annehmen  müsse.  Besonders  bei  Vierzeilern.  In  dem  beliebten,  kunst- 
mäßig ausgebildeten  Rubä'i  steckt  sicher  ein  echt  volkstümlicher  Kern. 
Die  Form  an  sich  war  schon  von  Hause  aus  national-persisch,  die  literarische 
Übermalung  hat  ihr  nur  scheinbar  ein  ganz  originelles  neues  Gepräge 
verliehen.  Wenn  das  Volk  singt:  Ich  fürchte,  ich  sterbe  in  der  Fremde, 
und  dann  kommt  mein  Geliebter  und  kennt  meinen  Staub  nicht  —  oder: 
Aus  dem  Mark  meiner  Knochen  mache  ich  einen  Griffel,  das  Blut  meiner 
Adern  verwende  ich  als  Tinte,  die  Hautumhüllung  meines  Herzens  nehme 
ich  als  Papier  und  schreibe  an  mein  Lieb  einen  Brief  —  so  könnten  beide 
Vierzeiler  ohne  Veränderung  in  einem  literarischen  Divane  stehen,  aber 
ebenso  gut  können  sie  auch  echte  Ausflüsse  persischen  natürlichen  Emp- 
findens und  unmittelbar  aus  Volksmund  niedergeschrieben  sein. 

Rein  volkstümlich  sind  Liebes-,  Hochzeits-  und  besonders  Wiegen- 
lieder (letztere  sind  mitunter  sehr  nett  und  kindlich),  Verse  auf  wichtigere 
Ereignisse  der  Zeit  (in  Shukowskis  Sammlung  z.  B.  auf  den  Sturz  des  Prinzen 
Zill-essultän)  und  Gassenhauer,  in  denen  häufig  Tänzerinnen  eine  Rolle 
spielen.  Am  unverfälschtesten  ofi^enbart  sich  das  Volksmäßige  in  dialek- 
tischen Liedern;  hier  finden  sich  Züge,  die  der  Kunstpoesie  völlig  abgehen. 
So  z.  B.  in  gilanischen  „Pälawis"  eine  tiefe  Heimatsehnsucht  oder  sinnliche 
Liebe  in  natürlicher,  nicht  der  konventionellen  Darstellung.  Wenn  dagegen 
Berufsdichter  dialektisch  dichten,  so  verfallen  sie  sofort  in  den  literarischen 
Stil.  Das  läßt  sich  nicht  nur  bei  Männern  wie  Sa'di  und  Häfiz  beobachten, 
die  es  nicht  verschmäht  haben,  gelegentlich  in  schirazischer  Mundart  zu 
reimen,  sondern  auch  bei  populären  Dialektpoeten  wie  dem  gefeierten 
Mäzenderaner  Emir  Päzewäri.  Gelegentlich  sind  übrigens  auch  mundart- 
liche Prosaschriften  verfaßt  werden,  deren  Wirkung  auf  weitere  Kreise  im 


V.  Die  Volksliteratur.     VI.  Die  Prosa.  2  50 

Volke  berechnet  war;   Hädschi  Chalfa  erwähnt  z.  B.  einen  „isfahanischen" 
Koränkommentar  von  Isma'il  ihn  Muhammed  Isfahäni. 

VI.  Die  Prosa.  Aus  der  neupersischen  Prosa  gehört  der  Weltliteratur 
nur  ein  einziges  Werk  an,  nämlich  Sa'dis  Gulistän.  Trotzdem  ist  ihre  Be- 
deutung- aber  doch  eine  außerordentliche,  wenn  sie  auch  hier  nur  in  aller 
Kürze  gestreift  werden  kann. 

Eine  große  Anzahl  der  persischen  Prosawerke  steht  der  Poesie  recht 
nahe  und  ist  sozusagen  Poesie  in  Prosa.  Die  gleiche  bildliche  Aus- 
drucksweise und  dasselbe  fortwährende  Spielen  mit  den  wechselnden  Be- 
deutungen eines  Wortes,  der  nämliche  gezierte  Stil  und  pomphafte  Rede- 
prunk, nur  ohne  Reim,  dafür  aber  ein  schallendes  Alliterations-  und 
Assonanzengeklingel  und  förmliches  Schwelgen  in  Fremdwörtern.  Sehr 
beliebt  ist  das  Einschieben  von  Versen,  seien  es  Zitate  oder  eigens  ad  hoc 
verfertigte  Elaborate  der  Verfasser,  eine  Weise,  die  im  Orient  auf  Indien 
(Kaiila  und  Dimna  usw.)  zurückgehen  wird.  Die  harmonischste  Ver- 
schmelzung von  Prosa  und  Poesie  haben  wir  in  Sa'dis  Gulistän  und  Sa'dis  Ouiistän 
Dschämis  (892/1487)  „FrüWingsgarten"  {Behäristän).  Zu  den  berühmtesten 
Leistungen  der  Kunstprosa  im  weiteren  Sinne  gehören  Fettähis  (843/1439) 
„Schlafgemach  der  Phantasie"  [Schehistän-i  chajäl)  und  Wä'iz  Käschifis 
(f  910/1504)  „Lichter  des  Kanopus"  [Enwär-i  Suhaili).  Fettähis  Werk  hat 
mehrere  eigene  Kommentare  hervorgerufen,  ein  augenfälliger  Beweis 
seiner  Wertschätzung.  Denn  nicht  nur  Fachschriften  erweisen  im  Orient 
ihre  Gediegenheit  dadurch,  daß  sie  andere  reizen,  sie  zu  erläutern,  sondern 
auch  Werke  der  schönen  Literatur.  Enweris  und  Chäqänis  Qaciden  werden 
nicht  zum  geringsten  darum  so  bewundert,  weil  sie  ohne  Kommentar  nie- 
mand ordentlich  verstehen  kann. 

Abstoßend  wirkt  die  übertriebene  Rhetorik  in  der  Briefstellerei.  Ein 
Schreiben,  dessen  ganzer  Inhalt  im  Grunde  die  unbedeutendste  Kleinig- 
keit bildet,  ergeht  sich  mehrere  Seiten  lang  in  den  hochtrabendsten  Redens- 
arten. Auch  in  den  historischen  Dokumenten  ist  es  immer  nur  ein  kleiner 
Kern,  zu  dem  man  erst  nach  Überwindung  einer  sehr  mühseligen  Schale 
gelangt.  Die  Kunst  der  Epistolographie  war  aber  eine  sehr  geschätzte, 
die  Zahl  der  im  Laufe  der  Zeit  verfaßten  „Briefsteller"  ist  beträchtUch. 
Minister  und  andere  höhere  oder  niedere  Staatsbeamte,  Dichter,  Gelehrte 
sind  als  Autoren  vertreten;  ihre  Vorwürfe  bilden  ebenso  Staatsangelegen- 
heiten wie  Ereignisse  des  privaten  täglichen  Lebens.  Die  Musterbriefe 
sind  zum  Teil  fingiert,  zum  Teil  der  Praxis  entnommen.  Daß  auch  an 
stilistischen  Lehrbüchern  kein  Mangel  ist,  ist  selbstverständlich;  die  zahl- 
reich vorhandenen  Poetiken  sind  ebenfalls  zumeist  in  Prosa  abgefaßt.  End- 
lich hat  auch  die  Lexikographie  sehr  achtbare  Leistungen  aufzuweisen. 

Von   weittragender   Bedeutung    ist    die    persische    Erzählungsliteratur  Erzählungen. 
geworden.      Viele    heute    weit  verbreitete   Novellen,  Märchen,  Tiersagen, 
Fabeln,  die  von  Hause  aus  indischen  Ursprungs  sind,  haben  ihre  Wande- 

17* 


2  6o  Paul  Hörn:  Die  neupersische  Literatur. 

rung  nach  dem  Westen  über  Persien  angetreten,  „Kalila  und  Dimna", 
„Die  vierzig-  Veziere"  u.  a.  dgl.  wurden  bei  ihrer  Übertragung-  in  die  Sprache 
Irans  von  persischem  Geiste  durchtränkt,  und  haben  diesen  dann  für  alle 
Zeiten  nicht  wieder  abgestreift.  Auch  der  Grundstock  von  „looi  Nacht" 
gehört  in  diesen  Kreis,  wennschon  bekanntlich  die  heutig-e  Gestaltung  und 
besonders  die  völlig  islamische  Übermalung  der  Sammlung  auf  arabischem 
Boden  vor  sich  gegang-en  ist.  Die  jüng-eren  Übersetzungen  von  Sanskrit- 
werken im  großmog-hulischen  Indien,  sowohl  weltlicher  (Mahäbhärata, 
Rämäjana  u.  a.)  wie  religiöser  (Upanischads  usw.)  sind  zwar  an  Zahl  nicht 
g-ering,  doch  haben  sie  auf  die  Gestaltung-  oder  Entw^icklung  der  persischen 
Literatur  keinen  Einfluß  ausgeübt,  sondern  sind  in  ihr  immer  nur  nicht- 
assimiliertes  Fremdgut  geblieben. 
vorUebe  für  Reich    Vertreten    ist    die    moralische    Literatur.      Der   Perser   hat    ein 

starkes  rhetorisches  Bedürfnis,  schöne  Reden  mit  guten  Pointen  schätzt  er 
außerordentlich.  Schon  im  Mittelpersischen  fanden  wir  die  beliebten 
weisen  Ratgeber,  und  auch  späterhin  fehlen  sie  nicht.  In  das  Schähnäme 
hat  Firdausi  eine  g-roße  Menge  lehrhafter  Reden  eingestreut.  Besonders 
halten  hier  die  Schähe  regelmäßig  solche  bei  ihrer  Thronbesteigung,  ja 
von  verschiedenen  Königen  weiß  der  Dichter  überhaupt  nichts  anderes 
zu  berichten  als  die  Ermahnungen,  die  sie  bei  dieser  Gelegenheit  an  ihre 
Untertanen  richten,  und  die  Versprechungen  einer  guten  Regierung,  die 
sie  für  sich  selbst  abgeben.  Meist  handelt  es  sich  nur  um  Gemeinplätze, 
aber  die  Großen  sind  trotzdem  immer  neugierig,  zu  hören,  was  der  neue 
Herr  zu  sagen  hat.  Die  jüngsten  Prinzen  belehren  die  ältesten  Männer, 
daß  es  eine  Art  hat. 

Im  täglichen  Leben  war  wenig  Gelegenheit,  das  oratorische  Bedürfnis 
zu  befriedigen.  Vor  Gericht  wurde  nicht  plädiert,  und  Volksredner  fanden 
in  einem  autokratischen  Staatswesen,  wo  alles  kurz  von  oben  befohlen 
wurde,  keinen  Wirkungskreis.  Höchstens  konnte  der  Prediger  Zuhörer 
fesseln,  aber  die  CJiuibe  des  islamischen  Gottesdienstes  gestattete  der 
Predigten.  Predigt  prinzipiell  nur  einen  beschränkten  Raum,  und  auch  bei  den  Persern 
hat  sie  merkwürdigerweise  keine  wichtigere  Rolle  erlangt.  Dscheläleddin 
Rümis  Vater  genoß  den  Ruf  eines  geschätzten  Predigers,  doch  sind  der- 
gleichen Mitteilungen  selten.  Die  Aufzeichnung  von  Predigten  zählt  eben- 
falls zu  den  Seltenheiten.  So  blieb  der  Rhetorik  hauptsächlich  die  Literatur 
als  Tummelplatz  übrig,  statt  der  gehörten  Rede  mußte  man  sich  mehr  an 
die  gelesene  halten. 

Als  typische  Ratgeber  treten  in  bunter  Reihe  die  mythischen  Schähe 
Hoscheng  und  Dschemsched,  ferner  Buzurgmichr,  Noschirwän  (Chosrau  I.), 
der  Arzt  Burzoe,  der  weise  Luqmän  u.  a.  auf.  Wertvoller  sind  die  Ethiken 
und  Politiken  von  Männern  der  Praxis.  Der  Enkel  des  berühmten  Zija- 
ridenfürsten  Oäbüs  weihte  475/1082  dem  Andenken  seines  Großvaters  das 
(^äbüsnäme,  die  älteste  Fürstenethik.  Ziemlich  gleichzeitig  verfaßte  Sultan 
Malikschähs  Vezier  Nizäm   el-Mulk   sein    großartiges   Staatshandbuch   des 


VI.  Die  Prosa.  ,^j 

Seldschuqenreichs  {Sijar  el-mulük  oder  Sijäsetnäme).  Das  Genre  des  Adab 
(feines  Benehmen  und  praktische  Philosophie)  ist  dann  ausgiebig  gepflegt 
worden.  Bücher  wie  Nagireddins  aus  Tüs  „Na9irische  Manieren"  {Achlcuj-i 
Nägiri)  vom  Jahre  633/1236  —  nicht  nach  dem  Verfasser,  sondern  nach 
dessen  Gönner  Na9ireddin  'Abderrachmän,  einem  Provinzgouverneur,  be- 
nannt — ,  Wä'iz  Käschifis  (900/1494)  „Muchsinische  Manieren"  [Achläq-i 
Muchsini)  und  Dawänis  (f  908/1502)  „Dschelalische  Manieren"  [Achläq-i 
Dscheläli)  haben  eine  ewige  Berühmtheit  gewonnen  und  immer  neue  Nach- 
ahmungen hervorgerufen. 

UnerschöpfUch  bis  auf  den  heutigen  Tag  ist  auch  die  Produktions-  Geschichte, 
kraft  der  Perser  in  historischen  Werken  gewesen.  In  der  ältesten  Zeit 
war  der  Stil  einfach,  aber  schon  bald  nahm  der  rhetorische  Floskelkram 
überhand.  Die  arabisch  schreibenden  Perser  'Utbi  und  Tha'älibi  unter 
Sultan  Machmüd  von  Ghazna  haben  in  dieser  Beziehung  einen  ersten 
nachhaltigen  Einfluß  ausgeübt.  Doch  ist  auch  später  noch  manches  durch 
Schlichtheit  der  Sprache  erfreuliche  Geschichtswerk  verfaßt  worden,  wenn- 
schon die  gezierte  Prosa,  besonders  seit  Wa99äf,  bei  weitem  das  Über- 
gewicht gewann.  Schheßlich  entartete  diese  völlig.  Ein  Schlachtbericht 
des  Geschichtschreibers  Nadir  Schahs,  des  Mirzä  Muhammed  Mechdt 
Chan,  der  als  der  größte  Stilist  des  1 8.  persischen  Jahrhunderts  bewundert 
ward,  gleicht  einem  der  phrasengedrechselten  „Meisterwerke"  der  Brief- 
stellerei,  die  mit  vielen  Worten  wenig  sagen.  In  Indien  bildete  Kaiser 
Akbars  Premierminister  Abul  Fazl  eine  eigene,  stark  manierierte  Schreib- 
weise aus.  Es  ist  das  Verdienst  Schah  Nä9ireddins  (f  1896)  gewesen,  hier 
reformierend  eingegriffen  zu  haben.  Er  schrieb  seine  Reisetagebücher 
(über  Reisen  in  Persien  und  Europa)  in  der  schlichten,  nüchternen  Sprech- 
weise des  täglichen  Lebens,  und  sein  Beispiel  hat  Nachahmung  gefunden, 
wenn  auch  die  Schriftsteller  nach  ihm  nicht  so  völlig  kunstlos  wie  der 
Herrscher  schreiben. 

Als  Standard  works  der  persischen  Historie  gelten  u.  a. :  Wa99äfs 
(Anfang  des  14.  Jahrhunderts)  „Einteilung  der  Länderbezirke  und  Vor- 
führung der  Zeitläufte"  {Tedschzijef  el-emgär  we  tezdschijet  el-a'gär),  eine 
Fortführung  von  Dschuweinis  (f  682/1283)  Mongolengeschichte;  Reschid 
Tebibs  (f  7 18/13 18)  „Sammlung  der  Geschichten"  [Dschämi'  eifewärich), 
das  durch  Quatremeres  Bearbeitung  der  Epoche  Hulagu  Chans  bekannt 
geworden  ist;  Qazwinis  (730/1330)  „Auserlesene  Geschichte"  [Tärich-i 
guzide)',  Mirchwänds  (Mirchonds;  -]-  903/1498)  siebenbändiger  „Garten 
der  Lauterkeit"  [Raudhei  eggefa),  eine  Universalgeschichte  seit  Erschaffung 
der  Welt,  wie  sie  im  Orient  sehr  beliebt  sind  —  die  große  Wert- 
schätzung dieses  Werkes  hat  eine  Fortführung  um  drei  Bände  bis  auf  die 
Gegenwart  veranlaßt;  Scherefeddins  Kurdengeschichte,  das  Scher efnäme 
(1005/1597);  Muhammed  Mechdis  (1161/1748)  „Geschichte  Nädirschähs" 
{Tärich-i  Nädiri).  Doch  kann  diese  kurze  Auswahl  die  Fülle  des  vor- 
handenen Stoffes  natürlich  nicht  im  entferntesten  erschöpfen.     Eine  große 


202 


Paul  Hörn:   Die  neupersische  Literatur. 


Memoiren. 


Geographie. 


Theologie. 


Verbreitung-  haben  bisweilen  knappe  Kompendien,  wie  Jachjä  Qazwinis 
(948/1541)  „Mark  der  Geschichten"  {Lubb  cttewärich),  gefunden,  die  an  sich 
keinen  selbständig"en  Wert  besitzen. 

Nur  schwach  ist  die  MemoirenHteratur  vertreten,  doch  gibt  es  auf 
diesem  Gebiete  einige  geradezu  hervorragende  Werke.  Vor  allem  Bäbers, 
des  Eroberers  Indiens,  „Erlebnisse"  ( IVägi'äf),  die  schon  zu  Lebzeiten  des 
Verfassers  (f  936/1530)  sowie  dann  später  noch  mehreremal  aus  dem  ost- 
türkischen Original  in  das  Persische  übersetzt  worden  sind.  Zu  ihnen  ge- 
sellt sich  als  gleichwertig  seines  Vetters  Muhammed  Heider  Tärich-i 
Reschidi.  Auch  Emir  Timurs  „Verordnungen"  {Tuzickät)  und  „Annalen" 
{Melfüzäf)  können  echt  sein,  der  letzteren  Inhalt  ist  allerdings  dürftig. 
Den  großzügigen  Werken  Bäbers  und  Prinz  Heiders  stehen  die  Memoiren 
Schah  Tachmäsps  1.(1515 — 1576)  weit  nach;  doch  ist  es  reizvoll,  auch  ein- 
mal einen  kleineren  Geist  vom  Throne  herab  sprechen  zu  hören. 

Reisebeschreibungen,  wie  sie  in  der  arabischen  Literatur  so  hervor- 
ragend vertreten  sind,  finden  sich  in  der  persischen  nur  selten.  Nä^ir-i 
Chosraus  (7  481/1088)  Sefernäme  („Reisebuch")  ist  das  wertvollste  Erzeug- 
nis dieser  Schriftgattung,  die  dann  wieder  in  neuerer  Zeit  durch  die  „Tage- 
bücher" des  Schahs  Näcireddin  vertreten  ist.  In  der  beschreibenden  Erd- 
künde  hat  ebenfalls  die  Neuzeit  das  beste  Werk  hervorgebracht:  Muhammed 
Hassan  Chans  vierbändigen  „Spiegel  der  Städte"  [Mirät  el-buldän),  der 
auch  zugleich  viel  wertvolles,  historisches  Material  enthält.  Die  Anord- 
nimg des  leider  unvollendet  gebliebenen  Werkes  ist  wie  in  Jäqüts  be- 
rühmter Kosmographie  alphabetisch.  Aus  älterer  Zeit  sind  auf  dem  Ge- 
biete der  Erdbeschreibung  Zakarijä  Qazwinis  (-j-  682/1283)  „Wunder  der 
Schöpfung"  ^Edscliaib  cl-//iachlügät)  in  persischer  Übersetzung  an  Ansehen 
nur  von  Hamdalläh  Mustaufis,  ebenfalls  aus  Qazwin  (740/1339),  „Erfreuung 
der  Herzen"  {Xuzhet  el-qiilüb)  erreicht  worden. 

In  der  rein  fachwissenschaftlichen  Literatur  der  Perser  begegnen  wir 
auf  allen  Gebieten  berühmten  Namen;  ob  diese  Literatur  sich  aber  mit 
der  der  Araber  messen  kann,  steht  sehr  zu  bezweifeln.  Jedenfalls  ist  sie 
von  Europäern  bisher  nur  wenig  durchforscht  worden.  Die  Theologie  hat 
ihre  Tätigkeit  den  sämtlichen  Zweigen  ihrer  Disziplin  zugewandt.  Nach 
den  bereits  oben  genannten  alten  Koränkommentaren  haben  in  der  Exe- 
gese Wä'iz  Käschifis  (f  910/1504)  Arbeiten  den  meisten  Anklang  gefunden. 
Am  wertvollsten  sind  jedoch  auf  theologischem  Gebiete  die  Leistungen 
des  Cüfismus.  Neben  dessen  dichterischer  Behandlung  hat  schon  früh- 
zeitig die  gelehrte  eingesetzt,  beide  gehen  vielfach  sich  ergänzend  neben- 
einander her.  So  findet  man  neben  'Attärs  poetischer  Pilgerfahrt  der 
Seele  in  den  „Vögelgesprächen"  dasselbe  Thema  wissenschaftlich  erörtert 
in  Nedschmeddin  Däjes  (620/1223)  »Weg  der  Gottesknechte  aus  diesem 
Leben  zum  zukünftigen"  {Mirgäd  al-ibäd  mm  al-mabdi  ila-l-tnaäd)  u.  dgl.  m. 
Aus  Abu  Sa'id  ibn  Abu'l  Cheirs  (j  440/1049),  des  berühmtesten  alten 
Mystikerpoeten,    Zeit    oder    doch    bald    nach    seinem  Tode    stammt    Abu'l 


VI.  Die  Prosa. 


263 


Hassan  Alts  aus  Ghazna  (f  466/1073)  ältestes  Kompendium  des  (^üfismus 
„Die  Offenbarung  des  Verhüllten"  [Kesch/  el-mahdschüb),  und  nur  wenig 
später  verfaßte  Scheich  Muhammed  Ghazäli  (f  505/11 11)  seine  Kiniijä-ji 
sdädet  („Alchemie  der  Glückseligkeit"),  die  außerordentlich  populär  ge- 
worden ist.  Ghazäli  hat  zwar  seine  Hauptwerke  in  arabischer  Sprache 
geschrieben,  doch  tauchen  bei  näherem  Nachforschen  noch  manche  per- 
sische Schriften  von  ihm  auf;  so  sein  „Rat  der  Fürsten"  {Negihei  el-mulük 
—  häufig-  in  Stambuler  Moscheenbibliotheken  neben  dem  arabischen  Ori- 
ginale) und  sein  bekanntes  Ferzendnätfie  („O  Kind").  Auch  der  große 
Fachreddin  Räzi  (f  606/1209)  hat  eine  Reihe  persischer  Werke  hinterlassen. 

Als  dichtender  wie  gelehrter  Mystiker  gleich  hoch  gefeiert  ist  Dschämi.  Mystik. 
Über  20  prosaische  9Üfische  Abhandlungen  sind  von  ihm  erhalten.  Unter 
den  bald  kürzeren  bald  läng^eren  Kommentaren  zu  eigenen  oder  fremden 
mystischen  Versen,  Gedichten,  Prosatraktaten  verdienen  besonders  die 
knappen  „Lichtblitze"  [LcwaiK)  über  einzelne  Fragen  aus  dem  Gebiete 
des  (^üfismus  eine  Erwähnung.  Die  berühmteste  Prosaschrift  Dschämts 
sind  aber  seine  „Atemzüge  der  Freundschaft"  {Nefehät  el-uns)  mit  Mit- 
teilungen aus  dem  Leben  von  über  600  hervorragenden  Mystikern.  Schon 
andere  waren  ihm  hierin  vorangegangen,  darunter  auch  ein  Dichter,  näm- 
lich Ferideddin  'Attär,  dessen  „Heiligenalbum"  {Tcdhkiret  el-aulijä)  aber 
nur  97  BiogTaphieen  enthalten  hatte.  Neben  solchen  allgemeinen  Wer- 
ken ist  auch  die  Zahl  der  den  einzelnen  Sekten  und  Derwischorden, 
ihren  Häuptern  und  Lehrern  gewidmeten  Schriften  eine  sehr  beträcht- 
liche. Schon  Abu  Sa'id  ibn  Abul  Cheirs  Leben  ist  darunter;  ein  Ur- 
großenkel  von  ihm  hat  es  als  „Die  Geheimnisse  der  Vereinigung  mit 
Gott  auf  den  einzelnen  Stufen  des  Heilwegs  Abu  Sa'ids"  (Esrär  et- 
tauhid  fi  meqämät  Abu,  Said)  beschrieben.  Der  in  Europa  sehr  bekannt 
gewordene  Dcbistän-i  medhähib  („Die  Schule  der  Sekten")  verdient  die  Be- 
deutung nicht,  die  ihm  anfänglich  beigelegt  worden  ist.  Die  neueste 
Sektenbildung  in  Persien,  der  Babismus,  besitzt  ebenfalls  seine  Literatur. 
Sein  Stifter,  der  Bäb,  hat  selbst  eine  ganze  Anzahl  Schriften  verfaßt,  deren 
Stil  vom  persischen  Standpunkte  aus  allerdings  nicht  erfreulich  ist. 

Eng  verbunden  mit  der  Theologie  ist  im  Islam  die  Jurisprudenz,  deren  jurisprudeoz. 
verschiedene  Rechtsschulen  auch  bei  den  Persern  zu  Worte  kommen. 

Im  Orient  ist  von  jeher  das  Streben  nach  Universalwissen  stark  ver-  Enzykiopädieen. 
breitet  gewesen.  Ibn  Sinä  und  Räzi  zählen  in  Persien  zu  den  hervor- 
ragendsten Polyhistoren.  Avicennas  „Weisheitsbuch  des  'Alä- eddin" 
{Dänischnäme-i  'Alä-eddin),  das  er  einem  im  Jahre  433/1042  gestorbenen 
isfahanischen  Fürsten  zu  Ehren  benannt  hat,  behandelt  ausführlich  die 
profanen  Wissenschaften  (Philosophie,  Mathematik,  Musik  nebst  allen 
Unterabteilungen)  außer  der  Medizin.  Räzis  allumfassende  Enzyklopädie 
„Die  Lichtgärten  über  die  Wahrheiten  der  Geheimnisse"  {Hedaiq  el-enwär 
fi  heqaiq  el-esrär)  teilt  den  Gesamtstoff  in  60  „Wissenschaften",  auf  welche 
der  Gelehrte  zwei  frühere  Bearbeitungen  seines  Werkes  mit  nur  40  resp. 


-64 


Pavl  Hörn  :  Die  neupersische  Literatur. 


Medizin. 


57  erweitert  hatte.  Darunter  sind  natürlich  auch  Theologie  und  Recht, 
Stilistik  usw.,  Medizin.  120  wurden  es  dann  bei  Muhammed  ihn  Machmüd 
aus  Amul,  dessen  zwischen  735/1335  und  742/1342  verfaßte  „Kostbarkeiten 
der  Wissenschaftszweige"  {Ne/ä'is  el-ftmün)  alles  nur  in  gedrängtester 
Kürze  streifen. 

Selbstverständlich  haben  neben  solchen  großen  Kompendien  a,uch  die 
einzelnen  Profanwissenschaften  ausführliche  Sonderdarstellungen  gefunden. 
Am  wichtigsten  sind  darunter  die  medizinischen  Lehrbücher,  wennschon 
bei  ihnen  von  Originalität  wohl  am  wenigsten  die  Rede  sein  kann.  Der 
berühmte,  umfangreiche  „Schatz  des  Chwarezmschähs"  {Dhechire-i  Chivä- 
rczmschähi)  von  Abu  Ibrahim  Isma'il  Dschurdschäni  (ca.  504/11 10)  ist  z.B. 
nur  eine  Übertrag'ung  von  Avicennas  Kanon,  was  sein  Verfasser  ver- 
schweigt, während  die  Zusammensteller  anderer  Kompendien  ihre  Unselb- 
ständigkeit meist  offen  eingestehen.  Häufig-  sind  es  kürzere,  populärere 
Werke,  welche  die  größte  Verbreitung  gefunden  haben.  So  in  der  Astro- 
nomie verschiedene  Schriften  Nacireddin  Tüsis  (7  672/1273)  und  die  astro- 
nomischen Tafeln  Ulugh  Begs  (j  853/1449). 


Jungperser.  VII.  S chlußb c tr achtuug.     Wir  haben   oben  einmal  kurz  von  Jung- 

persem gesprochen.  In  Iran  sind  solche  allerdings  kaum  zu  finden  — 
wenn  man  nicht  die  Bäbis  so  ansprechen  will.  Der  Perser  in  Persien 
weiß  nicht,  unter  welcher  Mißwirtschaft  er  lebt,  er  denkt,  es  müsse  so  sein. 
Was  geht's  mich  an?  {pi-men  ce)  —  d.  h,  „Ich  kann  es  ja  doch  nicht  ändern" 
—  ist  die  ständige  Redensart,  mit  der  er  jedes  Eingehen  auf  heikle  Fragen 
abweist.  Aber  die  Perser  im  Auslande  empfinden  unter  den  sie  um- 
gebenden anderen  Verhältnissen,  wie  vieles  anders  sein  könnte.  Uns  gehen 
hier  von  allen  Reformbestrebungen  nur  solche  an,  die  etwa  auf  eine  Neu- 
belebung der  Literatur  hinzielen,  und  da  ist  neuerdings  eine  beachtens- 
werte, wenn  auch  ganz  vereinzelte  Stimme  laut  geworden.  Ein  in  Kairo 
aufgewachsener  Perser,  der  sich  Ibrahim  Beg  nennt,  dessen  nach  Äg}^pten 
ausgewanderter  Vater  eine  herzliche  Anhänglichkeit  an  sein  Vaterland  bei- 
behalten und  auf  seinen  Sohn  vererbt  hatte,  hat  dieses  besucht  und  seiner 
bitteren  Enttäuschung  über  die  Zustände  in  der  geliebten  Heimat  Aus- 
druck geliehen.  Er  sagt  einem  Dichter,  der  ein  zierliches  Gedicht  auf 
einen  Vornehmen  verfaßt  hat,  offen  ins  Gesicht,  diese  Art  und  Weise  zu 
dichten  sei  veraltet.  Für  solche  „Lügenworte"  gäbe  man  nirgends  in  der 
Welt  mehr  einen  Heller  außer  in  Persien.  Taillen  so  dünn  wie  ein  Haar 
gäbe  es  nicht  mehr;  der  Bogen  der  Augenbrauen  sei  zerbrochen,  die  Ga- 
zellenaugen seien  von  der  Angst  vor  ihm  befreit.  Anstatt  der  Schönheits- 
pflästerchen müsse  man  über  das  Mineral  der  Kohle  sprechen,  statt  der 
Statur  wie  eine  Zypresse  oder  Buchsbaum  solle  der  Dichter  von  den 
Nußbäumen  und  Pinien  der  Wälder  Mäzenderäns  reden.  Die  Silberbusigen 
solle  er  in  Ruhe  lassen  und  dafür  Silber  und  Erzminen  umarmen;  den 
Teppich  der  Schwelgerei  zusammenrollen  und   statt  dessen   die  Werkstatt 


VII.  Schlußbetrachtung.  265 

der  heimischen  Teppichweberei  auftun.  Heute  handele  es  sich  um  den 
Augenbhck,  wo  man  den  Pfiff  der  Eisenbahn  vernehmen  werde  (in  Persien), 
und  nicht  um  den  Gesang  der  Nachtigallen  im  Rosengarten.  Den  sinn- 
betörenden Wein  solle  man  dem  schamlosen  Schenken  überlassen  (als 
strenger  Muslim  gestattet  der  Reformer  keinen  Weingenuß)  und  dafür  den 
Opiumhandel  der  Heimat  heben.  Die  Geschichte  von  der  Kerze  und  dem 
Falter  sei  veraltet,  von  der  Gründung  von  Fabriken  für  Kampferkerzen 
solle  man  dichten.  Das  Gerede  von  süßen  Lippen  möge  den  Liebeskranken 
bleiben,  der  Dichter  solle  ein  Lied  von  der  Zuckerrübe,  die  den  Zucker 
liefere,  anheben. 

Unser  Jungperser  schüttet,  wie  so  häufig  radikale  Reformer,  das  Kind 
mit  dem  Bade  aus.  Er  ist  von  europäischen  Anschauungen  beeinflußt,  die 
er  noch  nicht  genügend  verarbeitet  hat.  Denn  merkwürdigerweise  ist  er 
zugleich  ein  begeisterter  Bewunderer  des  Stils  Mirzä  Muhammed  Mechdi 
Chans,  eines  der  größten  Phrasenhelden  aller  Zeiten  und  Völker.  Seine 
Vorliebe  für  diesen  Schriftsteller  ist  allerdings  wohl  erst  durch  den  Stoff, 
den  er  behandelt,  hervorgerufen.  Sein  Held  Nadir  Schah  gilt  Ibrahim 
Beg  als  einer  der  größten  Herrscher  aller  Zeiten,  was  ihm  als  Perser  ja 
nicht  zu  verdenken  ist.  Aber  der  Kern  von  Ibrahim  Begs  Forderungen: 
Umkehr  zum  Natürlichen  ist  berechtigt.  Allerdings  wird  in  Persien  eine 
derartige  „Moderne"  noch  gute  Weile  haben. 

Daß  man  übrigens  orientalische  Literaturwerke  nicht  ausschließlich 
mit  europäischen  Augen  ansehen  darf,  sollte  eigentlich  selbstverständ- 
lich sein.  Aber  doch  fehlen  westliche  Kritiker  oft  genug  in  diesem 
Punkte,  Häfizs  Gedichte  sind  von  einem  echten  Perser  für  Perser  ge- 
schrieben worden,  wer  sie  nicht  unter  diesem  Gesichtswinkel  betrachten 
kann,  kann  ihnen  nicht  gerecht  werden  und  ihre  hohe  Vollendung  nicht 
würdigen. 

Eine  große  Anzahl  von  Werken  der  neupersischen  Literatur  ist  in  ^""g"^*^^^^^; 
europäische  Sprachen  übersetzt  worden,  trotzdem  haben  weitere  Kreise  Sprachen. 
aber  nur  von  verhältnismäßig  wenigen  Namen  (Firdausi,  Sa'di,  Häfiz,  Omar 
Chajjäm)  Kenntnis  genommen.  Einen  wirklichen  Einfluß  auf  die  Literatur 
hat  Persien  in  Deutschland  ausgeübt,  England  und  Frankreich  haben  keine 
ähnliche  Befruchtung  wie  dieses  aus  dem  Orient  erfahren.  Eine  Aus- 
nahme macht  in  England  und  den  Vereinigten  Staaten  Omar  Chajjäm,  der 
dort  Mode  geworden  ist.  In  England  hat  Fitzgeralds  „Übersetzung"  in 
den  letzten  drei  Monaten  des  Jahres  1903  allein  zwanzig  neue  Ausgaben 
erfahren,  außerdem  ist  sie  auch  in  das  Französische  (von  F,  Henri)  über- 
tragen worden.  Diese  Erfolge  haben  Orientalisten  veranlaßt,  prosaische 
Übersetzungen  anderer  Vierzeilerdichter  zu  verfassen,  die  dann  von  dritter 
Hand  poetische  Fassung  erhalten  haben.  So  des  alten  Bäbä  Tähir  'Urjäns 
(7  10 19  n.  Chr.)  KlageUeder:  E.  Heron- Allen  und  Eliz.  C.  Brenton  (London 
1902)  und  100  Rubä'is  Kamäleddins  aus  Isfahän  (f  1237):  Louis  H.  Gray 
und   Ethel  Watts    Mumford    (New  York  1904).     Wie    diejenigen    Chajjäms 


266  Paul  Hörn:  Die  neupersische  Literatur. 

machen  auch  die  Vierzeiler  dieser  Dichter  häufig  einen  frappant  modernen 
Eindruck  und  werden  gewiß  ihren  Leserkreis  finden. 

Überhaupt  der  erste  erfolgTeiche  Übersetzer  eines  neupersischen  Wer- 
kes ist  ein  Deutscher  gewesen:  Olearius'  „Persisches  Rosenthal ^'  (1654) 
erregte  allgemeines  Aufsehen,  was  einige  ihm  vorangegangene  ähnliche 
Leistvmgen  nicht  vermocht  hatten.  Auffälligerweise  hat  ein  so  vortreff- 
licher Kenner  Persiens  und  seiner  Sprache  wie  Pietro  della  Valle,  der 
8  Jahre  lang  im  Lande  gelebt  hat,  in  seiner  höchst  wertvollen  Reise- 
schilderung nichts  von  der  Literatur  zu  berichten  gewußt.  Er  hat  nur  je 
eine  kurze  Bemerkung  über  Sa'di  und  Häfiz,  an  deren  beider  Gräbern 
er  italienische  Verse  gedichtet  hat.  Der  g^e waltige  Impuls,  den  dann  die 
orientalischen  Studien  durch  Sir  William  Jones  zu  Ausgang  des  18,  Jahr- 
hunderts in  Europa  erfuhren,  gewann  einen  wichtigen  Einfluß  auf  die 
abendländischen  Literaturen.  In  Deutschland  wirkten  auf  dem  derart  vor- 
bereiteten Boden  v.  Hammers  Arbeiten  außerordentlich  fruchtbar.  Es 
war  hier  Herder,  der  die  „west-östliche"  Richtung  zuerst  in  die  Literatur 
hineinleitete,  die  dann  Goethe  zum  Siege  führte.  Die  persizierenden 
Dichter  Graf  Platen,  Rückert,  Bodenstedt  nebst  zahllosen  kleineren  und 
kleinsten  hafizischen  Sängern  bauten  die  neue  Weise  schließlich  bis  zum 
Überdruß  aus,  so  daß  selbst  ein  um  die  Einführung  persischer  Poesie  so 
hochverdienter  Mann  wie  der  Graf  Schack  energisch  dagegen  auftrat. 
Daneben  haben  Gelehrte  wie  Rosen  (Dscheläleddin  Rümis  Mäthnäwi), 
Graf  (Vis  und  Rämin,  Sa'di),  Wickerhauser  (Dschämi),  von  Rosenzweig- 
Schwannau  (Häfiz,  Dschämi),  von  Schlechta-Wssehrd  (Plrdausis  „Jüsuf  und 
Zuleichä",  Sa'di)  u.  a.  durch  wirklich  geschmackvolle,  poetische  Verdeut- 
schungen das  Interesse,  gebildeter  Kreise  wachgehalten  und  weiter  ge- 
nährt 


Literatur. 

Der  vorstehende  Artikel  ist,  von  einzelnen  Nachträgen  abgesehen,  verfaßt  im  August  1904. 

Zur  neupersischen  Literatur  sei  im  allgemeinen  verwiesen  auf  Pizzi,  Storia  della  poesia 
persiana  (Torino,  1894);  Eth^,  Neupersische  Literatur  im  Grundriß  der  iranischen  Philo- 
logie, herausgegeben  von  Geiger  und  Kuhn,  Band  II,  S.  212 — 368  (Straßburg,  1896 — 1904); 
HORN,  Geschichte  der  persischen  Literatur  (Leipzig,  1901);  Browne,  A  literary  History  of 
Persia  (London,   1902  [bisher  i  Band]). 

Leider  fehlt  es  im  Neupersischen  noch  allenthalben  an  Vorarbeiten,  die  in  anderen 
Philologieen  ganz  selbstverständlich  sind.  Wir  besitzen  z.  B.  noch  nicht  einmal  Sammlungen 
über  die  Bilder  bei  den  hervorragendsten  Dichtern,  um  die  Originalität  der  Einzelnen  in  oft 
wichtigen  Fällen  feststellen  zu  können.  Eine  Untersuchung  wie  die  G.  Jacobs,  ,,Das  Wein- 
haus nebst  Zubehör  nach  den  fazelen  des  Häfiz"  in  der  Nöldekefestschrift  S.  1055  fg.  ist 
geradezu  ein  Unikum. 

Zu  S.  248.  Mas'üdi's  drei  Verse  finden  sich  bei  Mutahhar  ihn  Tähir  al  -  Maqdisi 
(HuART,  Le  livre  de  la  creation,  Tome  III,  S.  143,  176  bezw.  138,  173  [Paris,  1903]).  Einer 
Qagide  können  sie  natürlich  nicht  angehört  haben,  sondern  nur  einem  Mäthnäwi.  Der  erste 
Vers  wird  ursprünglich  noch  Hezedsch  gewesen  sein  (mit  der  Aussprache  Gewemarth).  — 
Ein  sonst  unbekanntes  Prosaschähnäme  eines  Mu'aijidi  erwähnt  Ibn  Isfendijär  (Browne, 
Gibb  Memorial  Series  II,  S.  18). 

Zu  S.  250.  Omar  Chajjäm :  Vgl.  zuletzt  Christensen,  Omar  Khajjäms  Rubäiyät 
(Koebenhavn,  1903;  französisch  Heidelberg,  1905)  und  dazu  Hartmanns  Anzeige  in  der 
Wiener  Zeitschr.  f.  d.  Kunde  d.  Morgenlands,  Band  XVII,  S.  366  ff. 

Zu  S.  253.  Eine  bisher  ganz  unbekannte  weitere  Bearbeitung  des  Wämiq  und  'Azrä- 
stoffes  hat  ein  Dichter  ^ulhi  geliefert,  der  unter  Akbars  Regierung  aus  seiner  Geburtsstadt 
Herät  nach  Indien  kam.  Er  jhat  sein  Gedicht  dem  Kaiser  gewidmet.  Eine  Handschrift 
(vielleicht   ein  Unikum)   davon   ist  im  Besitze   des  Herrn  A.  G.  Ellis   vom  British  Museum. 

Zu  S.  254.  Dschämis  Jüsuf  und  Zuleicha,  übersetzt  von  ViNCENZ  VON  Rosenzweig- 
ScHWANNAU  (Wien»  1824);  desselben  Dichters  Medschnun  und  Leila  in  deutscher  Nach- 
bildung von  A.  Fr.  Graf  VON  Schack  (Stuttgart,   1890). 

Zu  S.  256.  Zu  Goethes  Westöstlichem  Divan  vgl.  man  jetzt  noch  Burdachs  Aufsatz 
in  den  Sitzungsberichten  der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften  1904,  S.  858  fg. :  ,,Die 
älteste  Gestalt  des  West-östlichen  Divans". 

Zu  S.  257.  Den  Divan  Sultan  Selims  I.  hat  Kaiser  Wilhelm  II.  zum  Geschenk  für 
Sultan  Abdul  Hamid  II.  nach  einer  Textesrezension  P.  HORNs  in  der  Reichsdruckerei  als 
Prachtwerk  drucken  lassen  (s.  Zeitschr.  d.  deutsch,  morg.  Ges.  Band  60,  S.  97  fg.). 

Zu  S.  258.  Proben  volkstümlicher  Poesie  findet  man  bei  Chodzko,  Specimens  of  the 
populär  Poetry  of  Persia  (London,  1842);  DORN,  Die  Gedichtsammlung  des  Emir-i-Pasewary 
(St.  Petersburg,  1866),  sowie  bei  Shukowski,  Anthologie  persischer  Volksdichtung  (russisch 
St.  Petersburg,  1902).  Gelegentlich  dieser  russischen  Publikation  kann  ich  nicht  umhin, 
eine  Klage  zu  erheben.  Es  wird  in  Rußland  viel  Wichtiges  in  orientalibus  veröffentlicht, 
leider  so  häufig  in  russischer  Sprache.  Dabei  beherrschen  die  russischen  Gelehrten  durch- 
gängig das  Französische   oder  Deutsche,    so   daß   sie   in   einer  von   diesen  beiden  Sprachen 


2  58  Paul  Hörn:  Die  neupersisclie  Literatur. 

schreiben  könnten  —  und  so  haben  sie  es  bis  vor  einigen  Jahren  auch  immer  gehalten. 
Wenn  sie  mit  dieser  löbhchen  Gepflogenheit  jetzt  mehr  und  mehr  brechen,  so  können  sie 
sich  nicht  wundern,  wenn  ihre  Arbeiten  vielfach  ignoriert  werden.  Ich  persönlich  würde 
manches  gerne  lesen,  aber  es  kostet  mich  immer  so  unverhältnismäßig  viel  Zeit,  einen 
russischen  Text  zu  bewältigen,  daß  ich  sie  beim  besten  Willen  nicht  mehr  zu  erübrigen 
vermag.  In  Shukowskis  Sammlung  neupersischer  Volkslieder  sind  allerdings  die  Texte 
selbst  in  Originaltypen  gedruckt,  aber  alle  Mitteilungen  über  ihre  Herkunft  sowie  ihre 
Übersetzung  sind  russisch,  mir  daher  leider  unzugänglich  geblieben. 

Zu  S.  264/5.  Zustände  im  heutigen  Persien,  wie  sie  das  Reisebuch  Ibrahim  Begs  ent- 
hüllt.    Aus  dem  Persischen  übersetzt  und  bearbeitet  von  Dr.  Walter  Schulz  (Leipzig,  1903). 

Zu  S.  266.  Zu  Persiens  Einfluß  auf  die  deutsche  Literatur  vgl.  Remy,  The  Influence 
of  India  and  Persia  on  the  Poetry  of  Germany,  Columbia  University  Germanic  Studies,  Vol.  I 
No.  IV  (New-York,   1901). 


DIE  TÜRKISCHE  LITERATUR, 

Von 
Paul  Hörn. 


Einleitung.  Schon  frühzeitig  hat  in  der  Geschichte  des  Islams  das 
Türkentum  eine  Rolle  gespielt.  Eine  ganze  Reihe  Mamlüken  oder  Ghu- 
läme,  ehemalige  Sklaven,  haben  bereits  unter  den  Abbasiden  entscheidend 
in  die  Geschicke  des  Chalifats  eingegriffen.  Solchen  einzelnen  tatkräftigen 
Persönlichkeiten  folgten  ganze  Stämme.  Unter  Machmüd  von  Ghazna 
{1005 — 1030  n.  Chr.)  und  unter  den  Seldschuqen  gehörte  „die  Welt", 
wenigstens  nach  dem  Sprachgebrauche  der  damaligen  Zeit,  den  Türken. 
Die  Kultur  dieser  Reiche  blieb  indessen  die  persische,  es  war  somit  nur 
natürlich,  daß  auch  ihre  Kunstliteratur  durchaus  persisch  ward.  Das  ging 
sogar  so  weit,  daß  man  nicht  einmal  türkisch  schrieb,  sondern  sich  in  lite- 
rarischen Werken  durchgängig-  der  persischen  Sprache  bediente. 

Von  den  Seldschuqen  in  Kleinasien  übernahmen  die  Osmanen  ihre 
Bildung.  Dieses  energische  Volk  bäumte  sich  indes  gegen  die  per- 
sische Bevormundung  auf.  Allerdings  —  wenigstens  in  der  Literatur  — 
nur  mehr  äußerlich,  nicht  im  eigentlichen  Kerne.  Das  osmanische  Selbst- 
gefühl sträubte  sich,  in  der  Sprache  Fremder  zu  schreiben,  die  man  als 
Menschen  gering  achtete,  deren  politische  Schwäche  zu  durchschauen  man 
zahlreiche  Gelegenheiten  hatte  und  die  man  dann  auch  schließlich  besiegte. 
Eine  eigene  Literatur  konnten  die  Osmanen  allerdings  nicht  schaffen,  dazu 
fehlte  es  ihnen  zu  sehr  an  Bildung;  so  übertrugen  sie  die  persische  Weise 
in  ihre  Sprache,  und  entwanden  sich  damit  wenigstens  in  einem  gewissen 
Grade  der  fremden  Fessel.  Charakteristisch  für  das  starre  Türkentum  ist 
übrigens  immer  eine  Abneigung  gegen  alles  Persische  geblieben.  Nach 
biederer  alttürkischer  Anschauung  geht  einem,  der  Persisch  lernt,  auch 
noch  heutzutage  „die  Hälfte  des  Glaubens"  verloren. 

Auch  im  Osten  kam  später  eine  gleiche  Emanzipation  zum  Durch- 
bruch. Das  älteste  uns  erhaltene  türkische  Sprachdenkmal,  das  im  Jahre 
io6g  verfaßte  Kudatku  Bilik  des  Jüsuf  Chac  Hädschib,  kann  uigurisch 
nur  wegen  seiner  Schrift  genannt  werden,  in  Wahrheit  ist  es  ebenfalls 
„tschaghataisch"  oder  osttürkisch,  wie  die  dann  erst  nach  vier  Jahrhunderten 


Osmaaen. 


„Tschagha- 
taisch". 


270 


Paul  Hörn:  Die  türkische  Literatur. 


Perser. 


\vieder  einsetzenden  anderen  „tschaghataischen"  Literaturwerke.  In  Herät 
dichtete  mitten  im  persischen  Kulturkreise  Sultan  Hussen  ibn  Beqaras 
hochbedeutender  Vezier  Mir  'Ali  Scher  (f  1500),  der  Mäzen  Dschämis 
und  zahlreicher  anderer  persischer  Dichter,  mit  zielbewußter  Absicht  ost- 
türkisch und  verfaßte  seine  BiogTaphieen  zeitg^enössischer  Poeten  {Mejälis 
en-7iefais)  in  dem  gleichen  Idiom,  in  dem  auch  Prinz  Muhammed  ^älich 
die  Taten  seines  Dienstherrn  Schebäni  Chan,  allerdings  in  weniger  ele- 
g'anten  Versen  als  der  feinsinnige  Vezier,  feierte  (sein  „Buch  von  Sche- 
bäni" behandelt  speziell  die  Ereignisse  der  Jahre  1499 — 1506).  Sultan 
Baber  (7  1530),  der  Eroberer  Indiens,  schrieb  eine  wertvolle  Selbstbio- 
graphie gleichfalls  in  tschaghataischer  Sprache,  und  noch  über  ein  Jahr- 
hundert später  fällt  Abul  Ghäzis  {f  1664)  „Türkenstammbaum",  eine  Ge- 
schichte der  Mongolen  und  Tataren.  Noch  im  Anfange  des  19.  Jahrhun- 
derts blühte  in  Buchara  tschaghataische  Kunstpoesie,  wie  Namen  wie  'Omar 
Chan  und  Munis  zeigen.  Doch  ist  die  literarische  Tätigkeit  des  türkischen 
Ostens  hinter  der  des  Westens  weit  zurückgeblieben. 
Türken  und  Es   ist  eine  eigenartig'e  Fügomg  des  Geschicks  g'ewesen,   daß  zwei  in 

Charakter  und  Empfinden  so  grundverschiedene  Völkerstämme  wie  Perser 
und  Türken  in  engste  Beziehungen  zueinander  haben  treten  müssen.  Der 
solide,  schwerfällige  Türke  und  der  leichtsinnige,  beweg^liche,  wetter- 
wendische Perser  mußten  sich  eigentlich  im  Grunde  abstoßen.  Aber  einer 
bedurfte  des  andern.  Die  Perser  konnten  die  türkischen  Soldaten  nicht 
entbehren:  Wo  Persien  in  der  islamitischen  Zeit  militärische  Erfolge  er- 
rungen hat,  ist  dies  hauptsächlich  stets  nur  türkischen  oder  kurdischen 
Söldnertruppen  zu  verdanken  gewesen.  Die  Dynastie  der  Sefewiden  hat 
sich  nur  mit  Hilfe  sieben  türkischer  Stämme  erheben  und  behaupten 
können,  deren  einem  auch  die  gegenwärtig  herrschende  Dynastie  der 
Qadscharen  entstammt.  Und  Nadir  Schah,  der  Befreier  von  dem  Afghanen- 
joche, ist  ebenfalls  türkischen  Blutes  gewesen.  Noch  heute  besteht  der 
Kern  des  Heeres  des  Schahs  aus  Angehörigen  nordpersischer  Turkstämme. 
So  oft  aber  auch  Türken  die  Herrschaft  in  Iran  an  sich  gerissen  haben, 
dem  Persertum  blieb  doch  stets  die  geistige  Führung. 

Dies  war  nun  auch  im  osmanischen  Reiche  der  Fall.  Die  spärlichen 
Anfänge  eigener  literarischer  Bestrebungen,  welche  die  Osmanen  aus  ihrer 
zentralasiatischen  Heimat  nach  Kleinasien  mitgebracht  hatten,  wurden 
alsbald  nach  persischem  Muster  gemodelt,  so  daß  alles  etwaige  Originelle 
vollständig  übertüncht  ward.  Die  Sprache  der  Literatur  —  und  zu  ihr 
rechnete  man  allein  die  Kunstschriftstellerei,  nicht  die  volkstümlichen  Dich- 
tungen, die  von  den  „Gebildeten''  verachtet  wurden  —  war  zwar  türkisch, 
ihr  Inhalt  und  ihre  Form  aber  durchaus  persisch.  Das  trat  besonders 
auffällig  in  der  Poesie  hervor.  Hier  betrieb  man  die  persische  Nach- 
ahmung so  sklavisch,  daß  zahlreiche  türkische  Dichter  nichts  zu  sagen 
gewagt  haben,  wofür  sie  nicht  im  Persischen  ein  Vorbild  fanden  —  wie 
wir    als  Trimaner    unsere    lateinischen    Aufsätze    aus    zusammengelesenen 


I,  Die  ältere  türkische  Literatur. 


71 


Cicerophrasen  zusammenstoppelten.  Nachdem  man  sich  einmal  die  per- 
sische Mode  zum  Vorbilde  erkoren  hatte,  blieb  man  ihr  eben  treu,  wenn 
sie  auch  der  eigenen  Natur  innerlich  urzuwider  war.  Die  Biederkeit  und 
Loyalität  des  türkischen  Charakters  ließ  es  nicht  zu,  daß  man  das  einmal 
Erwählte,  das  imponiert  hatte,  wieder  beiseite  warf.  Das  ist  jahrhun- 
dertelang so  geblieben,  bis  erst  in  neuerer  Zeit  eine  Wandlung  eintrat, 
die  zur  Schaffung  einer  Moderne  in  der  Literatur,  diesmal  nach  europäischem 
Vorbilde,  geführt  hat. 

Eines  darf  man  übrigens  bei  der  türkischen  Nachahmung  nicht  außer 
acht  lassen,  weil  es  ihre  Produkte  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  für 
Nichttürken  annehmbar  macht :  In  der  wohllautenden  osmanischen  Sprache 
klingen  die  aus  der  Fremde  entlehnten  Trivialitäten  wunderschön,  ja  nicht 
selten  schöner  als  im  persischen  Original. 

L  Die  ältere  türkische  Literatur.  Solange  die  Vorherrschaft  Die  Anfänge, 
der  Dynastie  Osmans  über  die  übrigen  westtürkischen  Stämme  noch  nicht 
begründet  war,  dichteten  die  einzelnen  Poeten  jeder  in  seinem  Sonder- 
dialekte. Aus  dem  Jahre  1301  n.  Chr.  haben  wir  so  das  Rebäbnävic  („Buch 
der  Laute")  in  seldschuqischer  Sprache  von  Sultan  Weled,  dem  Sohne  des 
großen  persischen  Mystikers  Dscheläleddin  Rümi.  Der  Vater  Rümi  hat 
den  größten  Teil  seines  Lebens  in  Konia,  also  mitten  unter  Türken  ver- 
bracht; seine  dichterischen  Werke  hat  er  indes  sämtlich  in  persischer 
Sprache  abgefaßt.  Aber  indirekt  hat  er  einen  außerordentlichen  Einfluß 
auf  die  Entwicklung  der  westtürkischen  Poesie  ausg'eübt:  die  ältesten 
Dichter  stehen  hier  alle  unter  seinem  Banne. 

Das  Rebäbnäme  sucht  bereits  die  ursprüngliche,  volkstümliche,  tür- 
kische Metrik  des  „Fingerzählens"  {panuaq  hisaby).,  d.  h.  des  Prinzips,  die 
Silben  zu  zählen,  nicht  sie  zu  wägen,  unter  die  persische  zu  beugen.  Selb- 
ständiger hielt  sich  dagegen  in  diesem  Punkte  Jünus  Emre  (f  1307/8),  dessen 
Verse  alttürkischen  Charakter  zeigen. 

Der  erste  namhafte  Kunstdichter  war  dann  'Aschyq  Pascha  (f  1332), 
der  in  seinem  Gharibnäme  („Buch  der  Fremden")  ein  ausführliches  System 
des  (^üfismus  aufstellte. 

Erst  gegen  Ende  des  14.  Jahrhunderts  setzt  die  Kunstlyrik  in  größerem 
Umfange  ein.  Eine  eigenartige  Mischung  von  Nationalem  und  Fremdem 
finden  wir  in  den  Poesieen  Qäzi  Burhäneddins,  eines  feingebildeten  kleinen 
Gewalthabers  in  Erzindschän,  der  1398  den  Turkmenen  vom  weißen 
Hammel  erlag.  Dieser  Westtürke  vereinigte  zentralasiatischen  mit  persi- 
schem Stil,  seine  westtürkische  Sprache  ist  in  auffälliger  Weise  von  Worten 
und  Formen  des  urheimatlichen  Ostens  durchsetzt.  Das  hauptsächliche 
Thema  seiner  Lieder  ist  die  Liebe,  nur  in  ganz  verblaßten  Farben  leuchtet  • 
gelegentlich  auch  die  Mystik  hindurch. 

Alle  die  genannten  Dichter  waren  noch  keine  Osmanen  de  pur  sang 
gewesen.     Den  Dialekt  des   in   Kleinasien   mehr  und  mehr  zur  Oberherr- 


2^2  Paul  Hörn:  Die  türkische  Literatur. 

Schaft  gelangten  Stammes  Osmans  führte  in  der  Schattierung  seiner  Vater- 
stadt Brussa  Sülemän  {j  1403)  durch  sein  Lied  auf  die  Geburt  des  Pro- 
pheten {Jl/i-7ali(/-i  ncbi)  für  alle  Zeiten  siegreich  in  die  Literatur  ein.  Dieses 
Prophetenlied  ist  überhaupt  eine  der  populärsten  Dichtungen  der  Türken 
geworden,  zahlreiche  (über  20)  Nachahmungen  und  Wiederholungen  des 
gleichen  Themas  haben  ihm  seine  Beliebtheit  nicht  streitig  machen  können. 
Xoch  heute  rühren  seine  ehrwürdigen  Verse  alljährlich  während  des  Ge- 
burtsmonats des  Stifters  des  Islams  die  Gläubigen,  denen  sie  bei  Erinnerungs- 
feiern an  dieses  Ereignis  in  Moscheen  oder  Privathäusern  von  eigenen 
„Geburtssäng"ern"  vorg'etrag"en  werden. 

Der  schwere  Schlag,  den  der  junge  osmanische  Staat  in  der  Schlacht 
bei  Angora  (1404)  durch  Timur  erlitt,  vermochte  die  schnelle  Weiterent- 
wicklung der  osmanischen  Literatur  nicht  aufzuhalten.  Die  aufgeschossene 
Saat  ward  kaum  von  dem  über  sie  hinwegfegenden  Sturme  gebeugt. 
Einmal  war  Timur  selbst  ein  Begünstigter  der  Literatur  —  das  gehörte  zu 
den  Fürstenpflichten  —  und  dann  war  sein  Auftreten  in  Kleinasien  so 
vorübergehend,  daß  sich  die  gebrochene  Macht  des  Hauses  Osman  bald 
wieder  erhob.  Die  persische  Weise  kam  völlig  zum  Durchbruch,  die 
Zahl  der  sich  ihrer  bedienenden  türkischen  Dichter  wuchs  ganz  auffällig 
schnell. 
Weitere  Die     persischc    romantische     Mäthnäwidichtung-    ward    unter     Sultan 

Entwicklung.  ^  ^  .  . 

Müräd  IL  (142 1  — 145 1)  durch  Schechi  eingebürgert,  der  Nizämis  „Chosrau 
und  Schirin"  ins  Türkische  übertrug.  Entgegen  seinem  Vorbilde  durch- 
webte er  die  Erzählung  mit  frischen  Gedichten  in  verschiedenen  Vers- 
maßen, eine  Weise,  die  sich  im  persischen  Osten  nur  bei  Emir  Chosrau 
(t  1325)  findet.  Gleichzeitig  machte  sich  auch  wieder  die  Neigung  zum 
Mystizismus,  welcher  die  türkischen  Dichter  überhaupt  zuerst  begeistert 
hatte,  schöpferisch  geltend.  Der  Derwisch  Nesimi  (14 17/18)  und  dessen 
Schüler  Refi'i  wurden  zu  Verherrlichern  der  Hurüfilehre,  die  sie  zu  einem 
beg'eisterten  Schönheitskult  des  Geliebten,  in  welchem  sich  die  Gottheit 
offenbare,  ausbauten. 
Dichtende  Sultän  Müräd    IL    afilt  kritischen    osmanischen    Literarhistorikern    als 

Sultane.  ='  _ 

der  erste  aus  der  stattlichen  Reihe  der  Großherren  und  Prinzen  des  kaiser- 
lichen Hauses,  die  sich  als  Dichter  versucht  haben.  Schon  von  dem  Ahn- 
herrn der  Dynastie,  Osman,  sowie  von  seinem  Sohne  Orchan  werden 
Verse  überliefert,  ihre  Echtheit  erregt  aber  Bedenken,  die  für  Ghazele 
Bäjezids  I.  und  Mehmeds  I.  vielleicht  weniger  schwer  wiegen.  Kein  Wunder, 
daß  das  Beispiel  der  Hohen  und  Allerhöchsten  begeisternd  wirkte.  So 
konnte  v.  Hammer  in  seinem  vierbändigen  Werke  2200  türkische  Dichter 
bis  zum  Ausgange  des  1 8.  Jahrhunderts  aus  schriftlichen  Quellen  zusammen- 
bringen. Das  Osmanische  war  die  gemeinsame  Literatursprache  aller 
Westtürken  geworden. 

Im  Laufe   der  Zeit  hatte  sich  die  Lyrik,   die  anfänglich  rein  mystisch 
gewesen    war,    in    das    Natürliche    umgewandelt.     Die    Dichter    besangen 


I.  Die  ältere  türldsche  Literatur.  21  X 

Natur,  Liebe  und  Wein  und  meinten  auch  just  das,  was  sie  aussprachen.  Jetzt 
trat  eine  Verschmelzung  beider  Standpunkte  ein:  Rose  und  Nachtigall 
bedeuteten  nicht  bloß  die  Blume  und  den  Sing'vogel,  deren  Duft  und  Ge- 
sang man  so  schätzte  und  liebte,  sondern  in  ihnen  symbolisierte  man  zu- 
gleich menschliche  Liebende  und  weiter  seelische  Empfindungen.  Die 
irdische  Liebe  und  die  mystische  Sehnsucht  der  Seele  zu  Gott  flössen  in- 
einander über.  Das  war  aber  keine  Neuerfindung"  des  türkischen  Geistes, 
sondern  auch  nur  wieder  den  Persern  abgelauscht.  Wie  in  Persien  wird 
von  nun  an  die  Poesie  auch  im  osmanischen  Reiche  eine  Macht,  die  in  das 
Leben  der  Gebildeten  einschneidend  eingreift.  Der  geniale  Abenteurer 
Prinz  Dschem,  der  seinem  Bruder  Sultan  Bäjezid  IL  den  Thron  streitig 
machte,  suchte  auf  diesen  durch  Verse  Eindruck  zu  machen  und  erreichte 
damit  immerhin,  daß  der  seine  Ansprüche  zunächst  in  der  gleichen  Form 
zurückwies.  So  hatten  der  Herrscher  von  Chwärezm  Sultan  Schah  und 
sein  Neffe  Tekesch  Chan  in  spitzen  Versen  miteinander  geplänkelt,  ehe 
sie  zu  den  Waffen  griffen,  und  ähnliche  Anekdoten  finden  sich  zahlreich 
überliefert.  Oder  die  letzten  Worte  eines  Sterbenden  bestanden  in  Versen: 
Der  Dichter  Nedschati  schied  derartig  aus  dem  Leben,  wie  es  in  Persien 
von  Kemäl  Isma'il,  Nizäm  el-Mulk,  Sultan  Sandschar,  Ibn  Jemin  und  vielen 
anderen  erzählt  wird.  Thäbit  spottet  einmal  über  die  Herden  der  Dichter; 
in  Stambul  liege  unter  jedem  Pflastersteine  des  Fußsteigs  einer  begraben. 
Sultan  Soliman  I.  stiftete  eigens  das  Amt  eines  „Schahnamemachers" 
{Schehnä?nedschi),  das  sich  allerdings  nicht  lange  hielt,  wie  ja  auch  in 
Persien  die  späteren  „Firdausis  ihrer  Zeit"  durchweg  recht  unbedeutend 
gewesen  sind. 

Nur  selten  überstieg  die  Wertschätzung  des  Persischen  die  sonst  streng 
innegehaltenen  Grenzen  des  Nationalstolzes.  Sultan  Mehmed  IL,  der  Er- 
oberer Konstantinopels,  hat  nicht  nur  Dschämi  ein  Jahresgehalt  ausgesetzt, 
sondern  er  begünstigte  überhaupt  persische  Schöngeister  derartig,  daß  ein 
Türke  aus  Toqät,  der  lange  in  Persien  gereist  war  und  dessen  Sprache 
fließend  sprach,  sich  als  gebornen  Perser  ausgab  und  auf  diese  Weise  zu- 
nächst eine  bessere  Karriere  machte,  als  wenn  er  sein  Türkentum  nicht 
verleugnet  hätte.  Und  Sultan  Selim  L,  der  dem  Schah  die  schwere 
Niederlage  bei  Tschaldirän  beibrachte  und  seinen  Geg'ner  keineswegs 
rücksichtsvoll  behandelte,  hat  einen  Divan  von  über  300  Gedichten  in 
persischer,  nicht  türkischer  Sprache,  hinterlassen.  Dabei  war  Sultan  Selim 
unstreitig  der  begabteste  aller  der  zahlreichen  Dichtersultäne. 

Etwas  völlig  Neues  war  übrigens  die  neue  Weise  auch  auf  türkischem 
Boden  nicht.  Im  Osten,  in  Herät,  hatte  sie  schon  Mir  Alt  Scher  in  das 
Tschaghataische  verpflanzt,  der  berühmte  Vezier,  welcher  unter  dem 
Namen  Newäji  zahlreiche  Dichtungen  und  Prosawerke  hinterlassen  hat. 
Seine  lyrischen  Gedichte  kamen  noch  zu  seinen  Lebzeiten  nach  Stambul 
und  wurden  alsbald  das  Muster  der  osmanischen  Poeten.  Newäjis  Vor- 
bilder   waren  Dschämi    und  Häfiz   gewesen;  beide   waren  natürlich   schon 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  18 


2  7  1  Paitl  Hörn:  Die  türlcische  Literatur. 

vor  ihm  nach  der  Türkei  gedrungen,  aber  der  Schüler  verdrängte  dort 
bald,  wenigstens  für  eine  Zeitlang,  die  eigentlichen  Meister.  Achmed 
Pascha  (-j-  1496/97)  verpflanzte  zuerst  den  osttürkischen  Kunststil  in  das 
Osmanische;  er  leitete  damit  eine  neue  Epoche  ein,  die  schließlich  in 
Bäqi  ihren  Höhepunkt  erreichte.  Der  Grundsatz,  nichts  zu  sagen,  was 
man  nicht  bei  einem  Perser  belegen  konnte,  kam  nun  zur  vollsten  Blüte, 
die  weitere  Entwicklung  der  persischen  Poesie  blieb  in  der  Türkei  für  die 
Dichtung  maßgebend. 

Achmed  Paschas  Ruhm  ward  bald  durch  Nedschäti  (f  1509)  ver- 
dunkelt, der  bis  Bäqi  als  tonangebender  Lyriker  galt.  Auch  dichtende 
Dichterinnen.  Fraucn  treten  nun  auf,  doch  sind  die  Schranken  für  sie  enge  gezogen. 
Die  Sprache  der  bedeutendsten  von  ihnen,  Michris,  fand  ein  Kritiker 
zwar  mädchenhaft,  ihren  Stil  bezeichnete  er  indes  als  ausschweifend,  da 
sie,  die  unvermählt  Gebliebene,  doch  von  Liebe  dichtete.  Und  einer 
anderen,  Zeneb,  verbot  ihr  Gatte  kurzweg  das  Versemachen.  In  der  Türkei 
ist  denn  auch  die  Zahl  der  Dichterinnen  viel  beschränkter  geblieben  als 
in  Persien,  nur  7  nennt  v.  Hammer  in  seiner  großen  Sammlung.  Eine  von 
diesen,  Am,  mußte  sich  geradezu  gröblich  hänseln  lassen. 

Das  romantische  Epos  pflegten  am  erfolgreichsten  Hamdi  (f  1509) 
und  Lämi'i  (7  1531),  letzterer  auch  sonst  ein  höchst  vielseitiger  Schrift- 
steller. Hamdis  „Jüsuf  und  Zuleichä"  —  oder  wie  die  Türken  sprechen: 
Zelichä  —  ist  die  beste  unter  vielen  türkischen  Bearbeitungen  dieses  be- 
liebten Stoffes  geblieben.  Von  Fuzüli  (f  1562)  stammt  eine  der  berühm- 
testen türkischen  Münäzäräs  (Wettstreitgedichte),  nämlich  zwischen  „Wein 
imd  Opium*',  die  der  Verfasser  am  Schluß  vorsichtigerweise  ins  Mystische 
imideutete.  Die  meisten  Dichter  der  Epoche  verdanken  ihr  Alles  den 
Persem;  hätte  Hamdi  nicht  Dschämi  zum  Vorbilde  gehabt,  so  würde  sein 
berühmtes  Gedicht  ganz  anders  ausgefallen  und  kaum  auf  die  Nachwelt 
gekommen  sein,  wie  es  mit  den  ähnlichen  Werken  vieler  seiner  Zeit- 
genossen gegangen  ist.  Doch  haben  gelegentlich  einzelne  selbständigere 
Töne  angeschlagen. 
Die  „Stadt-  Hierher    gehört    vor    allem    Mesihis    (-|-    1512)    Schchirengiz    („Stadt- 

erreger"),  ein  Gedicht,  dessen  Stoff  höchst  charakteristisch  für  den  Orient 
ist.  Die  „Stadterreger"  sind  nämlich  die  Schönen  der  Stadt,  aber  nicht 
et^va  ihre  hübschen  Mädchen,  sondern  vielmehr  junge  Burschen.  Mesihi 
zählt  46  solcher  Schönheiten  des  Bazars  von  Adrianopel  auf  und  schildert 
jeden  kurz  in  zwei  Doppelzeilen.  Diese  Idee  war  originell.  Im  Persischen 
finden  sich  dergleichen  Gedichte  nicht;  den  Titel  mag  Mesihi  aber  aus 
Häfiz  entnommen  haben,  der  in  seinem  achten  Ghazele  von  den  „die  Stadt 
in  Aufruhr  bringenden  süßschmeichelnden  Zigeunerbuben"  spricht.  Das 
Thema  hat  bei  Mesihis  Landsleuten  Anklang  gefunden ;  nach  seinem  Vor- 
gange sind  eine  ganze  Reihe  lokaler  „Stadterreger"  für  Stambul,  Brussa, 
Larissa  usw.  entstanden,  unter  denen,  ganz  vereinzelt,  der  des  'Azizi  (f  1585) 
schöne  Mädchen  besingt    Auch  Rewänis  (-|-  1523/4)  ' Ischretftäme  („Bankett- 


I.  Die  ältere  türkische  Literatur.  27^ 

buch")  hat  einen  originellen  Zug.  Der  Dichter  schildert  hier  eingehend  das 
Zubehör  eines  fröhlichen  Festes:  Wein,  Speisen,  Musik,  die  Zechgenossen  — 
alles  ohne  mystischen  und  symbolischen  Nebensinn.  Jachjä,  ein  geborener 
Albanese  (-}-  1575/76),  erklärte  endlich  ganz  offen,  er  wolle  kein  Zucker- 
werk toter  Perser  in  seinen  Mund  nehmen  und  nicht  übersetzen,  sondern 
nach  seiner  eigenen  Weise  schaffen.  Doch  war  sein  Wollen  größer  als 
sein  Können. 

Aber  dies  waren  nur  Ausnahmen.  Als  Regel  galt  die  Nachahmung  Bäqi. 
eines  persischen  Musters.  Diese  erreichte  in  der  Lyrik  ihren  Höhepunkt 
in  Bäqi  (f  1600).  Sein  Leben  fiel  noch  zum  Teil  in  die  glänzende  Re- 
gierung Sultan  Solimans  des  Großen  (f  1566),  der  selbst  als  Dichter 
(Mühibbi)  Erfolge  errang.  Bäqis  Größe  beruht  ebenfalls  einzig  und  allein 
auf  seiner  Nachahmung-sfähigkeit.  Er  ist  der  vollkommenste  türkische 
Häfiz,  jedoch  ohne  jede  Originalität.  Ließe  sich  nicht  fortwährend  fest- 
stellen, wo  er  jeden  Gedanken  her  hat,  so  könnte  man  ihn  wirklich  be- 
wundern; denn  seine  Beherrschung  der  Sprache  und  des  ganzen  poetischen 
Apparats  ist  erstaunlich.  Als  Sprachmeister  im  allgemeinen  ist  er  seinem 
berühmten  Vorbilde  durchaus  ebenbürtig,  aber  auch  als  Sprachreiniger 
hat  er  für  das  Türkische  hohe  Verdienste,  welche  die  des  Dichters  über- 
ragen. Für  den  letzteren  wäre  es  jedenfalls  günstiger,  wenn  die  Produk- 
tion weniger  massenhaft  aufträte.  Zwar  wäre  der  Jahresdurchschnitt  seines 
Divans,  wenn  man  ihn  berechnen  wollte,  kein  großer,  aber  über  500  Gha- 
zele,  sämtlich  nach  Schema  Häfiz  unmittelbar  nebeneinander,  wirken 
ermüdend.  Weniger  wäre  mehr  gewesen.  Übrigens  ist  es  bei  allen  tür- 
kischen Lyrikern  nicht  immer  Häfiz  direkt,  den  man  kopiert,  sondern  man 
ahmt  ihn  meist  in  Zwischengliedern  nach,  unter  denen  Emir  Schähi 
(f  1453)  ßine  besondere  Rolle  spielt.  Neben  den  Ghazelen  hat  Bäqi 
auch  eine  Anzahl  Qa^iden  hinterlassen,  die  inhaltlich  wertvoller  als 
jene  sind. 

Wenn  schon  bei  einem  wirklichen  Meister  die  tadellos  eingelernte 
Manier  auf  die  Dauer  ungenießbar  werden  kann,  wieviel  mehr  muß  dies 
bei  niederen  Größen  der  Fall  sein.  Schwulst  und  Bombast  überwiegen 
schließlich  und  machen  die  Lektüre  vieler  Nachbeter  einfach  zu  einer 
Unmöglichkeit.  Was  türkische  Beharrlichkeit  leisten  konnte,  zeigt  Fir- 
dewsis  „Buch  von  Salomo"  {Sülemännäme),  das  360  Bände  umfaßte. 
Sultan  Bäjezid  IL,  der  es  bestellt  hatte,  soll  verständigerweise  gleich 
280  oder  270  Stück  davon  haben  verbrennen  lassen,  doch  sind  von  den 
verschonten  80  oder  90  immer  noch  70  auf  uns  gekommen. 

Gegen  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  trat  in  dem  dichterischen  Ge- 
schmack dadurch  eine  Änderung  ein,  daß  die  Werke  'Urfis  (f  1591)  und 
Feizis  (türkisch  Fezt  —  f  1595),  zweier  berühmter  Dichter  an  Akbars 
Hofe  in  Delhi,  über  Persien  nach  Stambul  gelangten.  Die  neue  Richtung 
fand  ihren  Hauptvertreter  in  Nef'i  {f  1635),  einem  maßlosen  Satiriker,  den 
man  so  ernst  nahm,  daß  die  Ulemäs  ein  Fetwä  zu  seiner  Hinrichtung  aus- 


2 '7 6  Paul  Hörn:  Die  türkische  Literatur. 

gaben.  Echt  türkisch  war  bei  ihm  die  derbe  und  plumpe  Roheit, 
während  sonst  eine  übertriebene  Rhetorik  in  die  Dichtung-  hineinkam,  die 
den  geringen  Rest  türkischen  Fühlens  und  Empfindens,  der  sich  etwa 
noch  hier  und  da  versteckt  gehalten  hatte,  völlig  verscheuchte.  Als  My- 
stiker der  Epoche  sei  Nijäzi   (-j-  i6gg)  genannt. 

Im  nächsten  Jahrhundert  gewann  der  Perser  Schewket  (türkische  Aus- 
sprache), der  1695/96  in  Isfahän  starb,  den  mächtigsten  Einfluß  in  der 
Türkei.  Vielleicht  hätte  Mirzä  (^äib  (-|-  1677),  der  den  Persern  selbst  als  der 
Erfinder  eines  ganz  neuen  lyrischen  Stils  galt,  ein  gTÖßeres  Recht  darauf 
gehabt,  zum  türkischen  Muster  zu  werden,  als  Schewket,  aber  Bücher  und 
Dichter  haben  bekanntlich  ihre  Schicksale.  So  ward  letzterer  bis  in  die 
Mitte  des  19,  Jahrhunderts  hinein  das  Ideal  der  Osmanen.  Der  gefeiertste 
Xame  dieser  ganzen  Periode  ist  derjenig^e  Näbis  (f  17 12).  Er  leitete  sie 
ein,  fand  aber  keinen  würdigen  Nachfolger  mehr,  Räghib  Pascha  (f  1762), 
der  berühmte  Großvezier,  Nesch'et  {j-  1780)  und  andere,  deren  Divane  in 
der  Folgezeit  gedruckt  worden  sind,  sind  nur  schwächliche  Epigonen. 

Mehr  und  mehr  kam  jedoch  allmählich  wieder  eine  Hinneigung  zum 
Nationalen  auf.  In  weiten  Kreisen  griff  Beschämung  darüber  Platz,  daß 
man  in  der  Literatur  doch  nur  ein  Tintentürkisch  hervorbringe,  das  zu 
dem  eigentlichen  Empfinden  der  Volksseele  im  schärfsten  Widerspruche 
stehe.  Man  sehnte  sich  unbewußt  nach  der  ursprünglichen  Natürlichkeit, 
die  durch  Aufpfropfung-  fremder  Künstelei  gewaltsam  unterdrückt  worden 
war.  Doch  dachte  man  nicht  daran,  etwa  beim  Volke  selbst  in  die  Lehre 
zu  gehen;  denn  dessen  Literatur  galt  den  Gebildeten  als  verächtlich  und 
minderwertig,  ja  sie  kam  bei  ihnen  als  solche  überhaupt  nicht  in  Be- 
tracht. Man  hatte  also  nichts  an  die  Stelle  dessen  zu  setzen,  das  man 
doch  bekämpfte;  kein  Wunder,  daß  die  Opposition  leicht  von  einer  in 
Hinsicht  auf  ihre  500jährige  Vergangenheit  trotzig  das  Haupt  erhebenden 
Reaktion  hinweggefegt  wurde. 

Aber  auch  diese  Reaktion  vermochte  nichts  mehr  hervorzubringen, 
was  sich  sehen  lassen  konnte,  und  so  setzten  um  die  Mitte  des  19.  Jahr- 
hunderts neue  Reformversuche  ein,  die,  auf  besserem  Untergrunde  fußend, 
zur  Schaffung  einer  türkischen  modernen  Literatur  führten,  die  voraus- 
sichtlich noch  eine  Zukunft  haben  wird. 
Prosa.  Wir  haben  in  unserm  kurzen  Überblick   nur  die  türkische  Poesie  be- 

rücksichtigt. Die  Schöpfungen  der  schöngeistigen  Prosa  treten  ihr  gegen- 
über in  den  Hintergrund.  Selbstverständlich  finden  wir  eine  ganze  Anzahl  der 
im  gesamten  mohammedanischen  Orient  beliebten  Erzählungen,  looi  Nacht 
an  der  Spitze,  auch  in  das  Türkische  übersetzt.  Gelegentlich  sind  solche 
türkische  Bearbeitungen  besser  oder  früher  in  Europa  bekannt  geworden 
als  Übersetzungen  ihrer  Originale  (z.  B.  das  „Papageienbuch"  oder  das 
interessante  persische  Qäbüsnäme).  An  erster  Stelle  steht  unter  allen 
wegen  ihrer  altertümlichen  Sprache  die  Erzählungssammlung  „Freude  auf 
Leid"  {El  feredsch  ba'd  esch-schidde). 


II.  Die  türkische  Moderne. 


77 


Neben  Übersetzungen  haben  sich  Türken  auch  vielfach  als  Kommen- 
tatoren persischer  Werke  verdient  gemacht.  Berühmt  sind  besonders 
Südis  und  Surüris  Kommentare  zu  Häfiz;  die  Surüris  und  Isma'il  Haqqis 
zum  Mäthnäwi  Dscheläleddin  Rümis  sowie  nochmals  der  Surüris  zu 
Fettähis  „Schlafstätte  der  Phantasie"  {Schebistän-i  khaj'äl). 

Die  wissenschaftliche  Literatur  können  wir  hier  ebenfalls  nur  ganz 
kurz  streifen.  In  der  Theologie  und  Jurisprudenz  tritt  ein  arabischer  Ein- 
fluß deutlich  hervor.  In  der  Geschichte  haben  die  Türken  eine  Reihe 
achtungswerter  Leistungen  selbständig  hervorgebracht.  Aus  älterer  Zeit 
hat  auf  diesem  Felde  Kemälpaschazäde  (f  1534)  den  größten  Ruhm  er- 
rungen. Seit  Sultan  Müräd  II.  ward  der  Reichshistoriograph  {wäqy'a-nüwis) 
ein  offizieller  Beamter,  es  ist  daher  eine  fortlaufende  Reihe  Annalen  bis 
in  die  neuere  Zeit  hinein  vorhanden.  Der  Stil  dieser  Werke  ist  leider 
durchgängig  der  der  offiziellen  Dokumente,  also  äußerst  schwülstig.  Je 
länger  sich  die  Perioden  dehnen,  desto  feiner  sind  sie  —  das  ist  die 
Grundregel  dieser  Phrasendrechsler,  die  einen  wertvollen  Inhalt  in  einer 
gräßlichen  Form  bieten.  Von  geographischen  Schriften  können  ebenfalls 
mehrere  von  dauerndem  Werte  genannt  werden:  vor  allem  Ewlijä's  „Ge- 
schichte des  Reisenden"  {Tärikh-i  sej'Jäh)  aus  dem  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts, sodann  Piri  Reis'  „Meerbuch"  {Bahrij'e)  über  das  Ägäische  Meer 
vom  Jahre  1523/24,  Sejjid  Ali  Ekbers  verdienstvolles  Werk  über  China, 
das  allerdings  ursprünglich  persisch  verfaßt,  aber  in  türkischer  Über- 
setzung lithographiert  worden  ist,  sowie  endlich  auch  Hadschi  Chalfas 
(-|-  1658)  bekanntes  Kompendium  „Weltspiegel"  {Dschihännüma). 

IL  Die  türkische  Moderne,  Die  neue  Richtung  in  der  osmanischen 
Literatur  in  der  Mitte  des  ig.  Jahrhunderts  ging  von  den  Jungtürken  aus. 
Wie  diese  politisch  ihr  Vaterland  durch  Zuführung  der  Kultur  Europas 
erneuern  wollten,  so  sollte  auch  in  der  Literatur  eine  entsprechende  Re- 
form statthaben.  Als  Vorbild  wählte  man  leicht  begreiflicherweise  Frank- 
reich, dasjenige  europäische  Land,  das  den  Türken  hauptsächlich  seit 
Sultan  Machmüd  II.  als  das  gebildetste  und  vornehmste  des  Westens  ge- 
golten hatte,  und  das  die  türkische  Jugend  am  besten  aus  eigener  An- 
schauung kannte.  In  seiner  Literatur  fand  man  Natur,  die  man  in  der 
Heimat  vergeblich  suchte.  Eigentlich  wäre  Natürlichkeit  ja  auch  hier  zu 
finden  gewesen,  nämlich  im  Volke;  aber  dessen  einfache  Lieder  und  Bücher 
verachtete  der  Gebildete  als  plebejisch,  wie  überhaupt  die  ungekünstelte 
Ausdrucks-  und  Denkweise  des  gemeinen  Mannes  nicht  literaturfähig  war. 
So  lernte  der  Türke  in  Übersetzungen  Fenelon,  Lafontaine,  die  beiden 
Dumas,  Voltaire,  Paul  de  Cocq^  Eugene  Sue,  Victor  Hugo,  Xavier  de 
Montepin  und  andere  Pseudogrößen  des  zweiten  Kaiserreichs,  Moliere, 
Jules  Verne,  Chateaubriand  nebst  zahllosen  anderen,  Gutes  und  minder 
Gutes,  Altes  und  Neues  bunt  durcheinander  kennen.  Die  verschiedensten 
Richtungen   drängten   ohne   irgendwelche  Überg'änge   auf  ihn  ein.     In  be- 


,Yg  Paul  Hörn:  Die  türkische  Literatur. 

schränktem  Maße  kamen  wohl  auch  andere  Völker  zum  Worte,  doch  haben 
die  Franzosen  den  Haupteinfluß  behalten. 

Eine  Aufklärung-  in  weiteren  Kreisen  ließ  sich  zunächst  vornehmlich 
durch  die  Presse  erwarten,  und  so  waren  die  jungtürkischen  Schriftsteller 
fast  alle  in  erster  Linie  Journalisten.  Zahlreiche  Zeitungen  schössen  allent- 
halben wie  Pilze  aus  der  Erde  hervor,  um  allerdings  häufig  ebenso  plötz- 
Hch  wieder  zu  verschwinden.  Als  Vater  der  türkischen  Moderne  gilt 
Ibrahim  Schinäsi,  der  im  Jahre  1859  ein  Bändchen  Gedichte  in  einer  neuen 
Form  erscheinen  ließ.  Es  waren  zwar  nur  Übersetzungen  aus  Racine, 
Lamartine  und  anderen  Franzosen,  die  im  Original  schon  längst  weiteren 
türkischen  Kreisen  bekannt  waren.  Aber  jetzt  sah  man  sie  zum  erstenmal 
in  türkischem  Gewände,  und  dies  kleidete  sie  sehr  gut.  Es  ließ  sich  also 
auch  auf  Türkisch  das  sagen,  was  man  bis  dahin  nur  in  der  fremden 
Sprache  schön  gefunden  und  bewtmdert  hatte.  Der  Beifall  war  ein  außer- 
ordentlicher, da  man  des  eigenen  Klassizismus  gründlich  überdrüssig  war. 
Die  neue  Weise  fand  zahlreiche  Nachahmer,  die  Schinäsi  an  Schöpfungs- 
kraft weit  überragten. 

Man  war  sich  jedoch  von  vornherein  der  Notwendigkeit  bewußt,  daß 
man  bei  der  Anleihe  in  der  Fremde  seine  Nationalität  nicht  opfern  dürfe. 
Die  jungen  Schriftsteller  wählten  daher  neben  den  Übersetzungen  bald  das 
echttürkische  Leben  zum  Vorwurf,  das  Milli  (Nationale)  ward  dem  Frem- 
den scharf  gegenübergestellt.  Im  Laufe  von  etwas  über  40  Jahren  hat  sich 
eine  reiche  Literatur  entwickelt,  in  der  die  Belletristik,  das  Theater  und 
die  Lyrik  mit  einer  Reihe  guter  Namen  vertreten  sind.  Da  indes  noch 
alles  im  Flusse  ist,  so  ist  hier  nicht  der  Ort,  diese  Moderne  im  einzelnen 
zu  schildern.  Der  Leser,  der  Näheres  über  sie  zu  erfahren  wünscht,  sei 
auf  des  Verfassers  Skizze  in  den  „Literaturen  des  Ostens''  verwiesen. 

in.  Die  Volksliteratur.  Neben  der  Literatur  der  Gebildeten  hat 
natürlich  von  jeher  eine  solche  des  Volkes  bestanden,  und  zwar  im  ganzen 
weiten  Umkreise  der  gesamten  Turkvölker. 

Ein  besonders  reiches  Material  hat  für  die  nordtürkischen  Stämme 
Radloif  gesammelt.  Auch  im  sog.  Tschaghataischen  hat  immer  eine  starke 
Produktivität  geherrscht  und  bis  in  die  Gegenwart  nicht  aufgehört  Der 
Divan  des  Hüwedä  und  das  Volksbuch  von  Meschreb  sind  neuerdings 
aus  diesem  Literaturkreise  bekannt  geworden.  Im  Ädharbaidschän-Tür- 
kischen  haben  wir  neben  Volksliedern  auch  eine  Kunstkomödie  nach  fran- 
zösischem Vorbilde.  Fetch  'Ali  Achundzädes  Lustspiele  „Der  Vezier  von 
Lenkorän",  „Monsieur  Jourdan,  der  Pariser  Botaniker  im  Kaukasus"  u.  a. 
errangen  in  den  fünfziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  im  Theater  zu 
Tiflis  außerordentliche  Erfolge,  so  daß  sie  in  das  Persische  und  aus  diesem 
in  europäische  Sprachen  übersetzt  wurden.  Endlich  ist  im  Osmanischen 
ebenfalls  eine  reiche  Volksliteratur  in  Dichtung  und  Prosa  vorhanden. 
Den  Inhalt  dieser  Bücher  bilden  Märchen,  Schwanke,  Gaunergeschichten, 


III.  Die  Volksliteratur. 


279 


Ritter-  und  Sängerromane,  gereimte  Erzählungen  über  aktuelle  Ereignisse 
oder  berühmte  Begebenheiten  aus  der  Vergangenheit,  Lieder  und  Theater- 
stücke (Possen).  Schriftlich  wird  diese  Literatur  weniger  verbreitet  als 
mündlich.  Eine  eigene  Erzählerzimft  (die  Meddächs)  machte  früher  aus 
dem  Vortrage  der  Märchen  etc.  ein  Gewerbe,  einzelne  besonders  gewandte 
Künstler  errangen  hohen  Ruhm  in  ihrem  Berufe.  Heute  stirbt  die  Zunft 
mehr  und  mehr  aus,  man  fängt  daher  an,  die  Sachen  zu  drucken.  An  die 
Weise  der  Meddächs  knüpfte  die  moderne  Literatur  an.  Statt  im  gezierten, 
persifizierten  Kunststil  erzählte  zuerst  Achmed  Midchat  seine  Novellen  wie 
ein  Meddäch  und  fand  mit  seinem  Beispiele  zahlreiche  Nachahmer.  Eben- 
so entnahm  die  moderne  Lyrik  den  Volksliedern  mit  Glück  einige  Formen. 
Ein  Scharqi  hat  übrigens  Gibb  schon  bei  Nezim  (7  1695)  gefunden. 
Am  weniofsten  konnte  man  für  das  Theater  in  der  Volkskomödie  Brauch- 
bares  finden;  denn  deren  T}'pen  wie  Qawuqlu  und  Oaragöz  mußten  erst 
sehr  stark  verfeinert  werden,  ehe  sie  für  die  höhere  Bühne  fähig  wurden. 
Allerdings  scheinen  Volks-  wie  Schattentheater  früher  auf  einer  wesentlich 
höhern  Stufe  gestanden  zu  haben,  als  sie  aus  der  Gegenwart  bekannt  sind. 
Auf  Qaragözs  angeblichem  Grabe  bei  Brussa  findet  sich  ein  Ghazel, 
welches  das  Schattenspiel  in  einer  Weise  feiert,  wie  es  die  heute  ge- 
läufigen Possen   auch   nicht    entfernt  rechtfertigen  können. 

Wie  andererseits  Poesie  des  höheren  Stils  volkstümlich  umgewandelt 
wurde  —  wobei  sie  unter  Umständen  ganz  sinnlos  werden  konnte  —  zeigt 
ein  Gedicht  eines  Manaw  Sejjidi  in  Mehmed  Tewfiqs  „Helvagesellschaft" 
(Ein  Jahr  in  Konstantinopel).  Der  ehemalige  Bäckermeister  ]\Iustafa  er- 
klärt dazu,  unter  den  „Bänkelsängern"  seien  Leute,  denen  der  gefeierte 
Näbi  nicht  das  Wasser  reiche,  und  hat  damit  für  seinen  unverkünstelten, 
natürlichen  Geschmack  auch  durchaus  recht. 


Literatur. 

Der  vorstehende  Artikel  ist,  von  einigen  Nachträgen  abgesehen,  verfaßt  im  August  1904. 

Eine  Geschichte  der  türkischen  Kunstpoesie  hatte  in  großer  Ausführlichkeit  E.  J.  W.  GiBB 
zu  schreiben  unternommen.  Er  hat  jedoch  nur  den  ersten  Band  seines  Werkes  (History 
of  Ottoman  Poetry  [London,  1900])  selbst  herausgeben  können;  die  Vollendung  des  Ganzen 
ist  aber  gesichert,  da  sich  in  dem  Nachlasse  des  unerwartet  früh  Verstorbenen  ein  Manu- 
skript der  weiteren  Teile  vorgefunden  hat.  E.  G.  Bro\vne  hat  deren  Herausgabe  über- 
nommen und  bereits  drei  weitere  Bände  erscheinen  lassen  (1902,  1904  und  1905).  Für  die  Prosa 
ist  man  noch  heute  auf  die  betreffenden  zusammenfassenden  Abschnitte  in  J.  v.  Hammers 
Geschichte  des  osmanischen  Reiches  angewiesen.  Eine  Skizze  der  modernen  Literatur  seit 
der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  hat  Schreiber  dieses  im  4.  Bande  der  ,, Literaturen  des 
Ostens"  (Leipzig,  1902)  zu  entwerfen  versucht;  Smirnows  russisch  geschriebene  Geschichte 
der  türkischen  Literatur  (St.  Petersburg,   1889)  mußte  ihm  unzugänglich  bleiben. 

Eine  noch  vielversprechende  Belebung  der  türkischen  Studien  ist  der  von  G.  JACOB 
begründeten  ,, Türkischen  Bibliothek"  (Berlin,  Mayer  und  Müller)  zu  danken,  von  der  bisher 
5  Bände  erschienen  sind  (1904  fg.). 

Zu  S.  270.  Das  Babamame  ist  1905  von  Mrs.  Annette  S.  Beveridge  als  erster  Band 
der  Gibb  Memorial  Series  herausgegeben  worden. 

Omar  Chan  und  Munis :  Vambery,  Zwei  moderne  zentralasiatische  Dichter  in  der  Wiener 
Zeitschr.  f.  d.  Kunde  d.  IMorgenlandes,  Bd.  6,  S.  193  fg.  und  S.  269  fg. 

Zu  S.  271.  Jünus  Emre:  Nach  K.  FOY  (Mitteilungen  des  Seminars  für  orientalische 
Sprachen  zu  Berlin,  1902,  Jahrgang  V,  Abteilung  II,  S.  236,  Anm.  i)  wäre  Jünus  Emre  über 
ein  Jahrhundert  später,  nämlich  erst  1439/40  gestorben.  Ob  die  von  dem  Siebenbürger  aus 
Mühlbach  mitgeteilten  zwei  Gedichte  eines  Jonus  dem  Emre  angehören,  bleibt  leider 
zweifelhaft. 

Zu  S.  272.  Zu  den  Dichtungen  der  Sultane  vgl.  G.  Jacob,  Sultan  Solimans  des  Großen 
Divan  in  einer  Auswahl  TBerlin,  1903)  und  Der  Divan  Sultan  Mehmeds  IL  (Berlin,  1904). 
Zum  persischen  Divan  Selims  I.  s.  oben  S.  267  Anm. 

Zu  S.  273.  Die  betr.  Qagide  Thäbits  s.  bei  MENZEL,  Mehmed  Tevfiq,  Ein  Jahr  in  Kon- 
stantinopel, Die  Ramazan-Nächte,  S.  7. 

Zu  S.  274.  Die  Dichterin  Ani:  Siehe  v.  Hammer,  Geschichte  der  osmanischen  Dicht- 
kunst, Band  IV,  S.  39/40. 

Zu  S.  275.  Bäqi:  Vgl.  R.  DvORAK,  Bäki  als  Dichter  in  der  Zeitschrift  der  deutschen 
morgenländ.  Gesellschaft,  Band  42,  S.  560  fg. 

Wie  mir  Kollege  Prof.  Georg  Jacob  in  Erlangen,  der  unermüdliche,  erfolgreiche 
türkologische  Forscher,  mitteilt,  der  diese  Skizze  vor  dem  Druck  durchzusehen  die  Freund- 
hchkeit  hatte  und  bei  dieser  Gelegenheit  manche  beherzigenswerte  Bemerkung  an  den 
Rand  geschrieben  hat,  befinden  sich  die  erhaltenen  Bände  des  Sülemännämes  heute  in  der 
Akademiebibliothek  zu  Budapest. 

Zu  S.  277.  Zu  Piri  Reis'  Werke  vgl.  Herzogs  Aufsatz  in  den  Mitteilungen  des  kais. 
deutsch,  archaeol.  Instituts  zu  Athen,  Band  XXVII  (1902),  S.  416  fg. ;  zu  Ali  Ekbers  Chatäi- 
näme  Schefer,  Melanges  orientaux  (Paris,   1883),  S.  34  fg. 


Literatur.  28 1 

Zu  S.  278.  Über  den  noch  lebenden,  sehr  sympathischen  Dichter  Mehmed  Emin  sind 
inzwischen  zwei  Essays  erschienen.  Der  eine  russisch  von  MiNORSKi  im  2.  Bande  der 
Arbeiten  der  kaiserl.  archäol.  Gesellschaft  zu  Moskau,  3.  Heft  (1903);  der  andere  von 
Fr.  Giese  in  der  Zeitschr.  d.  deutschen  morgenländ.  Gesellschaft,  Band  58,  S.  117 — 146 
(Leipzig,  1904).  Mehmed  Tewfiqs  kulturgeschichtlich  höchst  wertvolles  Werk  ,,Ein  Jahr  in 
Konstantinopel"  hat  Th.  Menzel  zu  übersetzen  unternommen  (Jacobs  ,, Türkische  Bibliothek" 
Band  2,  3,  4,   sowie  Jahrb.  der  Münchener  Orient.  Gesellschaft  II,  S.  108—125). 

Nach  Fr.  Gieses  Beitrag:  ,,Die  Volksszenen"  etc.  in  der  Nöldeke  -  Festschrift  (1906) 
S.  1081  fg.  stockt  seit  etwa  1903  jede  selbständige  literarische  Tätigkeit  in  der  türkischen 
Moderne. 

Die  Volksliteratur:  Vgl.  im  allgemeinen  Vambäry,  Das  Türkenvolk  (Leipzig,  1885 
pasism);  Radloff,  Proben  der  VolksHteratur  der  nördlichen  türkischen  Stämme,  8  Bände 
(St.  Petersburg,  1866 — 99);  A.  Berg6,  Dichtungen  transkaukasischer  Sänger  des  18.  und 
19.  Jahrhunderts  in  adserbeidschanischer  Mundart  (Leipzig,  1868);  M.  Hartmann,  Der  cagha- 
taische  Diwan  Hüwedäs  in  den  Mitteilungen  d.  Seminars  f.  Orient.  Sprachen  zu  Berlin  V, 
1902,  Abt.  II,  S.  132  fg.;  M.  Hartmann,  Der  islamische  Orient,  V,  S.  147  fg.  Mesreb  der 
weise  Narr  und  fromme  Ketzer  (Berlin,  1902);  G.  Jacob,  Türkische  Literaturgeschichte  in 
Einzeldarstellungen,  Heft  I  (einziges  bisher).  Das  türkische  Schattentheater  (Berlin,  1900); 
G.  Jacob,  Die  türkische  Volksliteratur  (Berlin,  1901);  G.  Jacob,  Erwähnungen  des  Schatten- 
theaters in  der  Weltliteratur  zusammengestellt,  3.  Aufl.  (Erlangen,  1906);  I.  KqnOS,  Türkische 
Volksmärchen  aus  Stambul  (Leiden,  1905);  G.  Jacob,  Xoros  kardasch  (Bruder  Hahn),  ein 
orientalisches  Märchen-  und  Novellenbuch  aus  dem  Türkischen  zum  erstenmal  ins  Deutsche 
übertragen  (BerUn,  1906)  (Türk.  Bibl.  Band  5);  I.  KÜNOS,  Ada  Kälei  Török  Nepdalok  (Volks- 
lieder im  Dialekt  von  Ada-käle,  türkisch  und  [leider]  ungarisch)  (Budapest,   1906). 

Achundzädes  ,, Geizhals"  ist  neuerdings  im  Original  herausgegeben  und  übersetzt 
worden  von  L.  BOUVAT,  Journal  asiatique  (Paris,  1904),  S.  259  fg.  Für  die  Kunst  der  Med- 
dächs  vgl.  G.  Jacob,  Vorträge  türkischer  Meddähs  (mimischer  Erzählungskünstler)  (Berlin, 
1904);  H.  Paulus,  Hadschi  Vesvese,  ein  Vortrag  des  türkischen  Meddahs  Na^if  Efendi  ins 
Deutsche  übertragen  (Erlangen,  1905). 

Zu  S.  279.     Zu  dem  Scharqi  Nezims  vgl.  GiBB,  History  of  Ottoman  Poetry  III,  S.  319. 

,,Die  angebliche  Grabinschrift  des  Karagöz",  eine  literarische  Reiseerinnerung  aus  der 
Türkei  von  G.Jacob  in  der  Beilage  zur  ,,Allg.  Zeitung"  (München)  Nr.  86  vom  15.  April  1904, 
S.  84/5,  sowie  Zeitschr.  d.  deutsch,  morg.  Ges.  58,  S.  811  fg. 

Das  Gedicht  Manaw  Sejjidis  bei  G.  Jacob,  Türk.  Bibl.  IV,  S.  50  fg. 


DIE  ARMENISCHE  LITERATUR. 

Von 
Franz  Nikolaus  Finck. 


Beginn  der  Einleitung.     Das  Volk,   dessen  Literatur  hier  kurz   skizziert  werden 

Geschichte.  soU,  betritt  schon  im  6.  vorchristlichen  Jahrhundert  den  Schauplatz  der 
Geschichte,  fast  ein  Jahrtausend  vor  dem  Beginn  seines  hier  darzustellenden 
Schrifttums.  Um  jene  Zeit  sind  die  Armenier  schon  als  Bewohner  der 
Gegenden  bekannt,  die  sie  —  von  geringfügigen  Verschiebungen  ab- 
gesehen —  auch  heute  noch  einnehmen,  deren  gefährliche  Lage  zwischen 
den  Reichen  der  Mächtigen  den  größten  Teil  ihrer  harten  Schicksale  hervor- 
gerufen hat.  Die  Geschichte  der  Armenier  beginnt  sozusagen  mit  einer 
Niederlage,  mit  der  Unterwerfung  unter  die  medische  Herrschaft.  Und  doch 
müssen  sie  als  Eroberer  dort  eingezogen  sein,  wo  sie  heute  noch  wohnen. 
Das  Reich  Denn  ein  mächtiges  Reich,  das  auf  dem  von  ihnen  besetzten  Boden  bestanden 
hatte,  ist  bei  ihrem  Erscheinen  bis  auf  seinen  Namen  fast  spurlos  verschwun- 
den. Dieser  Name  lebt  freilich  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  und  ist  sogar 
weit  über  die  Grenzen  des  Landes  hinausgedrungen,  das  es  einst  bezeich- 
nete, doch  mit  einem  andern,  ihm  nur  durch  ein  Mißverständnis  unterge- 
schobenen Sinn.  Es  ist  der  Name  Ararat,  bei  dem  wir  an  den  ewig 
schneebedeckten  Bergkegel  denken,  der  sich  dort,  wo  Rußland,  Persien 
und  die  Türkei  zusammenstoßen,  zu  weithin  nahe  scheinender  Höhe  empor- 
türmt, ein  Name,  der  jedoch  ursprünglich  nicht  jenen  Berg,  sondern  das 
dort  gelegene  Land  bezeichnete.  In  dem  biblischen  Berichte  über  die 
Landung  der  Arche  Noahs  heißt  es,  daß  sie  „auf  den  Bergen  von  Ararat" 
festgesessen  habe,  und  daß  unter  diesem  Ararat  ein  Land  zu  verstehn  ist, 
ergibt  sich  unverkennbar  deutlich  aus  anderen  Stellen,  besonders  aus  der 
einen  bei  Jesaia  (37,  38),  wo  von  der  Flucht  der  Söhne  des  Königs  Se- 
nacherib  auf  jenes  Gebiet  erzählt  und  dieses  ausdrücklich  das  „Land  Ararat" 
genannt  wird.  Der  Übergang  dieses  Namens  auf  den  jetzt  durch  ihn  be- 
zeichneten Berg  ist  erst  durch  die  unrichtige  alexandrinische  Übersetzung 
veranlaßt  worden,  und  der  Irrtum  hat  sich  dann  sogar  in  hochgelehrte 
Werke  der  neuesten  Zeit  einzuschleichen  gewußt.  Dieses  Land  Ararat 
war  die  Heimat  eines  mächtigen  Volks,  das  von  den  Assyrern  Urartu, 
von  Herodot  Alarodier  genannt  wird,  das  sich  selbst  aber  Chalder  nennt. 


Einleitung.  2  8  ^ 

und  sein  Reich  am  Wansee  mit  dem  dem  Worte  Wan  zugrunde  liegenden 
Namen  Biaina  bezeichnet.  Die  Macht  dieses  Reiches  war  groß  genug, 
um  mit  Assyrien  den  Wettkampf  um  die  erste  Stellung  in  Vorderasien 
aufnehmen  zu  können,  so  groß,  daß  selbst  dem  gewaltigen  Tiglatpilesar  II. 
(745 — 727)  nicht  mehr  als  ein  Zurückdrängen  der  feindlichen  Herrschaft 
auf  ihren  früheren  Bestand  gelang.  Seine  völlige  Zerstörung  blieb,  wie  Einbruch  der 
es  scheint,  dem  Ansturm  barbarischer  Stämme,  der  Kimmerier  und  Skythen,  Skythen. 
vorbehalten,  die  im  7.  Jahrhundert  in  Vorderasien  erschienen.  Und  bei 
Gelegenheit  dieser  großen  Überflutung  sind  auch  wohl  die  Armenier  ein- 
gerückt. Denn  als  der  Sturm  sich  gelegt  hat,  oder  —  sachgemäßer  ge- 
redet —  sobald  wieder  ein  Einblick  in  die  eine  Zeitlang  in  Dunkel  ge- 
hüllten Verhältnisse  dieser  Gegenden  möglich  wird,  sind  sie  im  Besitze  des 
Landes,  in  dem  vorher  das  Reich  Urartu  bestand.  Natürlich  heißt  das 
nicht,  daß  dessen  Bewohner  völlig  ausgerottet  worden  seien.  Daß  ver- 
sprengte Reste  der  chaldischen  Bevölkerung  noch  fortbestanden,  als  das 
Land  schon  bei  den  Nachbarn  Armenien  hieß,  ergibt  sich  aus  Xenophons 
und  Herodots  ausdrücklichem  Zeugnis,  und  sogar  in  christlicher  Zeit 
werden  die  Chalder  noch  von  armenischen  Schriftstellern  als  ein  beson- 
derer Stamm  bezeichnet.  Aber  wenn  diese  Nachrichten  auch  nicht  vor- 
lägen, so  würde  man  doch  nicht  eine  völlige  Ausrottung  der  unterworfenen 
Chalder  annehmen  dürfen,  vielmehr  vermuten  müssen,  daß  noch  manch 
leiblicher  Nachkomme  derselben  unter  denen  lebt,  die  man  Armenier 
nennt.  Nur  das  Volkstum  der  Chalder  ging,  von  den  erwähnten  verein- 
zelten Resten  abgesehn,  zugrunde.  Eine  dem  Chaldischen  fremde,  indo-  Die  arme- 
nische Sprache, 
germanische    Sprache    kam    zur   Herrschaft,    die    armenische.     Man  zählte 

dieselbe  früher  der  Gruppe  der  iranischen  Idiome  zu,  wozu  die  starke 
Beeinflussung  durch  die  persische  Sprache  allerdings  leicht  verführen 
konnte.  Es  steht  aber  fest,  daß  dies  ein  Irrtum  ist,  daß  das  Armenische 
dieser  Gruppe  trotz  mancher  durch  gleiche  Kulturverhältnisse  geschaffenen 
Ähnlichkeit  doch  selbständig  gegenübersteht,  so  selbständig,  wie  das 
Lateinische  neben  dem  Griechischen,  Germanischen,  Keltischen  und  ande- 
ren Zweigen  des  großen  indogermanischen  Stammes  steht.  Auf  welchem 
Wege  die  Armenier  nun  dorthin  gekommen,  und  aus  welchem  Lande  sie 
in  ihre  neue  Heimat  eingedrungen  sind,  das  läßt  sich,  da  es  kein  sicheres 
Zeugnis  gibt,  nur  vermuten.  Einen  nicht  zu  verachtenden  Wink  geben 
jedoch  Herodot  und  Eudoxos,  die  beide  ausdrücklich  erklären,  daß  die 
Armenier  ein  phrygischer  Stamm  seien,  eine  Angabe,  der  das  Wenige, 
was  man  von  der  phrygischen  Sprache  weiß,  wenigstens  nicht  widerspricht. 
So  darf  man  denn,  wenn  auch  nicht  als  sicher  behaupten,  so  doch  nicht  ohne 
Grund  vermuten,  daß  die  Armenier  aus  Europa  stammen,  daß  sie  diesen 
Erdteil  als  eine  Horde  unzivilisierter  Krieger  verlassen  haben,  um  in  Asien 
ein  Kulturvolk  zu  werden.  Das  sind  sie  aber  fraglos  in  erster  Linie  unter 
iranischem  Einfluß  geworden,  der  bei  aller  begreiflichen  Feindseligkeit  so 
stark    war,    daß    erst    das    Christentum    ihn    zu    brechen    vermochte.     Und 


284 


Franz  Nikolaus  Finck:  Die  armenische  Literatur. 


wenn  auch  die  uns  überlieferten  Schrifterzeugnisse  gerade  in  der  grund- 
legenden Zeit  literarischer  Betätigung  fast  ganz  auf  griechischer  Kultur 
erwachsen  sind,  so  ist  es  doch  im  Hinblick  auf  die  Untrennbarkeit  von 
Sprache  und  Literatur  gerechtfertigt,  das  armenische  Schrifttum  als  ein 
europäischen  Geist  zwar  vermittelndes,  aber  doch  wesentlich  orientalisches 
Kulturerzeugnis  anzusehn  und  es  dementsprechend  auch  in  Zusammenhang 
mit  der  Literatur  der  anderen  Völker  iVsiens  zu  behandeln. 

Die  heidnische  L     Charakter    der    armenischen    Literatur    im     allgemeinen. 

Zeit. 

Vereinzelten  Trümmern  gleich  zeugen  ein  paar  Bruchstücke  götter- 
und  heldengeschichtlicher  Dichtung  von  einer  armenischen  Poesie  aus 
heidnischer  Zeit.  Es  sind  die  abgebröckelten  Steine  eines  einst 
vielleicht  stolzen  Baues,  dessen  Größe  man  wohl  ahnen,  aber  nicht  mehr 
erkennen  kann,  gerade  genug,  um  das  ohnehin  schon  zu  Erwartende  zu 
beweisen,  daß  es  auch  damals  schon  Sänge  und  Lieder  gab,  viel  zu  wenig 
jedoch,  als  daß  sich  eine  Würdigung  wagen  ließe.  Und  daß  der  Trümmer 
so  wenige  sind,  ist  keineswegs  ein  Spiel  des  bösen  Zufalls.  Der  Geist,  der 
die  unserer  Beurteilung  zugängliche  armenische  Literatur  durchweht,  läßt 
den  Abscheu  ahnen,  mit  dem  man  auf  die  finstere  Zeit  des  Heidentums 
zurückgeblickt  haben  wird,  läßt  es  als  gewiß  erscheinen,  daß  man  alles, 
was  an  den  alten  Glauben  erinnern  konnte,  mit  Stumpf  und  Stiel  auszu- 
rotten getrachtet  hat. 
chrisüicher  Dcuu   dicsc   Schnell   erblühte  Literatur,   die  zu  reicher  Entfaltung  ge- 

überUeferten  langen  sollte,  ist  nicht  nur  ausgeprägt  christlich,  sondern  fast  unduldsam 
christlich.  Wie  mit  einem  Schlage  setzt  sie,  mit  diesem  Charakter  aus- 
gestattet, im  5.  Jahrhundert  ein  —  denn  die  wenigen  dem  4.  zugeschrie- 
benen Werke,  die  sich  erhalten  haben,  sind  wohl  mindestens  in  der  vor- 
liegenden Fassung  als  jüngere  Schöpfungen  anzusehen  —  zu  einer  Zeit 
also,  wo  die  neue  Lehre  lange  festen  Fuß  gefaßt  hatte,  wo  sie  schon  über 
hundert  Jahre  die  vom  Staate  anerkannte,  von  den  Untertanen  geforderte 
Religion  war,  und  das  Gepräge,  das  dem  armenischen  Schrifttum  bei  seiner 
Begründung  verliehen  worden  ist,  bleibt  im  wesentlichen  unangetastet  bis 
auf  die  neueste  Zeit. 
Vorherrschen  Für  dicsc  sciuc  Gestaltung  ist  allem  Anschein  nach  der  Umstand  von 

des  geistlichen  ,  /^^    ..  .  \      r 

Standes  unter  ausschlaggebender  Bedeutung  geworden,  daß  seine  Lrager  im  Anfang 
steilem.  ausschlicßlich  und  auch  in  späteren  Jahrhunderten  immerhin  ganz  über- 
wiegend Angehörige  des  geistlichen  Standes  waren,  und  zwar  eines  geist- 
lichen Standes,  in  dem  sich  schon  frühzeitig  ein  Streben  nach  Unab- 
hängigkeit von  den  Kirchen  anderer  Länder  geregt  hat,  von  dem  die  er- 
kämpfte Selbständigkeit  mit  eifersüchtiger  Sorge  gewahrt  wurde.  So  war 
es  nur  natürlich,  daß  die  von  ihm  gepflegte  Literatur  christlich  und 
national  zugleich  wurde.  Und  natürlich  war  es  auch,  daß  sich  noch 
eine,  freilich  wohl  kaum  gewollte  Folge  einstellte.  Das  berufsmäßige 
Verzichtleisten  auf  das  Geltendmachen  eigener  Individualität  ließ  es  nicht 


I.  Charakter  der  armenischen  Literatur  im  allgemeinen.     II.  Das  goldene  Zeitalter  (5.  Jahrh.).       285 

ZU  solch  stark  eigenartigen  Persönlichkeiten  kommen,  wie  die  Höchst- 
leistungen der  Kunst  sie  wohl  verlangen  und  zeigen.  Denn  so  deutsch 
beispielsweise  ein  Goethe,  so  englisch  ein  Shakespeare  ist,  so  gibt's  doch 
bei  beiden  etwas,  und  zwar  etwas  sinnfällig  Bedeutendes,  was  nur  ihnen 
eigen,  was  eben  nur  goethisch,  nur  shakespearisch  ist.  Von  den  arme- 
nischen Schriftstellern  ist  keiner  über  seine  nationalen  Schranken  hinaus- 
gewachsen. Sie  stehen  alle  auf  dem  festen  Boden  ihres  Vaterlands,  aber 
sie  sind  auch  alle  nur  Armenier,  und  so  erscheint  ihre  Literatur  dem  die 
Gesamtheit  Überschauenden  wenig'er  als  Kunst  denn  als  ein  schwärmerisch 
feierlicher  Gottes-  und  Vaterlandsdienst. 

i         II.  Das  goldene  Zeitalter  (5.  Jahrhundert).     Diese  Sehnsucht,  Gott  Befreiung  vom 
und  dem  Vaterlande  zugleich  zu  dienen,  war's  denn  auch  recht  eigentlich,     Äniaß  zur 
die  zur  Begründung  des  armenischen  Schrifttums  führte.     Es  galt  die  Be-  der  Literatur. 
freiung  vom  Einfluß  der  syrischen  Kultur,  deren  Begünstigung  auf  Kosten 
des  griechischen  Geistes  zielbewußte  Politik  der  Sassaniden  gewesen  war, 
die  dadurch  ihren   christlichen  Untertanen   die  Annäherung  an  Byzanz  zu 
erschweren    g'edachten    und     ihren     Zweck     auch    tatsächlich     wenigstens 
vorübergehend    erreicht    hatten.     „Denn    der    Gottesdienst    und    die  Vor- 
lesungen   der  Heiligten   Schrift  wurden    in   den  Klöstern  und  Kirchen   der 
armenischen    Gemeinden    syrisch    gehalten",    wie    Lazar    von    Pharpi,    ein 
Geschichtschreiber  des    5.  Jahrhunderts,  berichtet.     Der   erste  Schritt   zur  Aiphabet. 
Beseitigung   dieses   allseitig  tief  empfundenen   Mißstandes    geschah   durch 
die     Zusammenstellung     eines     der     armenischen     Sprache     angemessenen 
Alphabets,    und    der    Mann,    der   diese   folgenschwere    Aufgabe    zu    lösen 
unternahm  und  löste,  war  Mesrop,  ein  Schüler  des  Katholikos  Nerses  des    Mesrop. 
Ersten,  unter  des  Arsaciden  Chosrow  kurzer  Regierung  königlicher  Sekre- 
tär, dann,  des  Weltlebens  überdrüssig,  Mönch,  Klostervorsteher  und  Missio- 
nar,   ein  Mann  von  Bildung    und  Tatkraft    zugleich.     Und    als    das  Werk 
nun    dank    dei    Unterstützung  von   selten   des    damaligen    Oberhaupts    der 
armenischen  Kirche,  des  Katholikos  Sahak  des  Großen,  sowie  des  Königs 
Wramschapuh    zustande   gekommen    war,    „da    freute    man   sich",   wie   der 
schon    erwähnte   Lazar    von  Pharpi   sagt,  „aus   den  syrischen  Qualen   wie 
aus  der  Finsternis  zum  Licht  entronnen  zu  sein". 

So  war  also  ein  armenisches  Schrifttum  möglich  gemacht,  und  Mesrop  Übersetzung  der 

Heiligen  Schrift 

gmg  nun  zusammen  mit  semem  Arbeitsgenossen  und  Herrn,  dem  Katholikos  und  Liturgie. 
Sahak  sowie  den  von  ihnen  beiden  herangebildeten  Schülern  zu  einer 
umfassenden,  planmäßigen  Übersetzertätigkeit  über.  Im  Einklang  mit  dem 
Grundstreben  ihres  ganzen  Unternehmens  faßten  sie  zunächst  das  Ziel  ins 
Auge,  ihrem  Volke  eine  verständliche,  eigene  Heilige  Schrift  und  Liturgie 
zu  geben,  und  indem  sie  auf  dieses  Ziel  losgingen,  bahnten  sie  zugleich 
den  Weg  für  das  Eindringen  des  griechischen  Geistes  oder  vielmehr  für 
dessen  Wiedereindringen.  Denn  der  griechische  Einfluß,  selbstverständlich 
bei  der  bis  zur  Zeit  des  Königs  Pap  (367 — 374)   dem  Stuhle  von  Cäsarea 


2  86  Franz  Nikolaus  Finck:  Die  armenische  Literatur. 

untergeordneten  annenischen  Kirche  und  außerdem  von  Moses  von  Chorene 
auch  noch  ausdrückhch  bezeugt,  war  ja  nur  durch  die  persische  Staats- 
kunst vorübergehend  zurückgedrängt  worden.  An  die  Stelle  der  syrischen 
Liturgie  trat  nun  eine  armenische  Bearbeitung  der  dem  heiligen  Basilius 
zugeschriebenen  griechischen,  was  jedoch  nicht  ausschließt,  daß  vielleicht 
einzelne  Bestandteile  der  S3'^rischen  Ordnung  beibehalten  worden  sind. 
Und  auch  die  Heilige  Schrift,  wegen  Mangels  eines  griechischen  Textes 
zuerst  aus  dem  Syrischen  übersetzt,  wurde  nachher,  sobald  Sahak  in  den 
Besitz  einer  zuverlässigen  griechischen  Handschrift  gelangte,  aus  dieser 
nochmals,  und  wenn  auch  unter  Benutzung  der  ersten  Übersetzung,  so 
doch  immerhin  ganz  von  neuem  ins  Armenische  übertragen, 
überseuungen  Allerdings    hört    auch    der    literarische    Einfluß    der    Syrer    nicht    mit« 

aus  dem  _  •' 

Syrischen,  eiucmmal  auf.  Das  bezeugen  die  Werke,  die  noch  im  Laufe  des  5.  Jahr- 
hunderts ins  Armenische  übertragen  wurden,  wie,  um  nur  das  Wichtigste 
zu  nennen,  Labubnas  Brief  des  Abgar,  die  Homilieen  des  Aphraates,  die 
Kirchengeschichte  und  Chronik  des  Eusebius,  die  Briefe  des  Ignatius  von 
Antiochien  und  vor  allem  die  Werke  Ephraims.  Aber  es  ist  doch  nicht 
zu  verkennen,  daß  der  Strom  des  syrischen  Geistes  damit  stockt,  daß  er 
von  dem  des  griechischen  überflutet  wird.  Nur  ganz  vereinzelt  erscheint 
in  jüngerer  Zeit  hier  und  da  noch  einmal  eine  Übertragung  aus  dem  Syri- 
schen ins  Armenische,  so  noch  im  13.  Jahrhundert  eine  Bearbeitung  der 
Chronik  Michaels  des  Großen,  des  Patriarchen  von  Antiochien.  Von  einem 
Einfluß  syrischer  Kultur  auf  die  armenische  aber  kann  von  Beginn  des 
6.  Jahrhunderts  an  nicht  mehr  die  Rede  sein.  Von  dieser  Zeit  an 
herrscht  auf  lange  hinaus  ausschließlich  griechischer  Geist, 
überseuungen  Wieviel    der    uns    erhaltenen    ausgedehnten  Übersetzungsliteratur    aus 

aus  dem  _  '-'  '-' 

Griechischen,  dem  Griechischcn  schon  dem  5.  Jahrhundert  zuzuschreiben  ist,  wird  sich 
kaum  mit  unanfechtbarer  Gewißheit  entscheiden  lassen.  Wichtiger  als  die 
Feststellung  der  Zahl  der  übertragenen  Schriften  dürfte  aber  auch  wohl 
die  Erkenntnis  sein,  daß  sich  unter  ihnen  auf  jeden  Fall  die  bedeutendsten 
Werke  des  klassischen  Zeitalters  der  griechisch-christlichen  Literatur  be- 
finden —  ein  beredter  Beweis  für  die  bewußte  Planmäßigkeit  der  Kultur- 
vermittlung —  verschiedene  Bücher  des  scharfsinnigen  Athanasius,  die 
gewinnenden  Katechesen  des  Kyrillos  von  Jerusalem,  wichtige  Werke 
der  drei  großen  Kappadoker,  des  vielseitig  großen,  vor  allem  aber  wohl 
als  Mann  der  Tat  bedeutenden  Kirchenfürsten  Basilius,  des  Denkers  im 
Dienste  des  Christentums  Gregor  von  Nyssa  und  des  redegewandten 
Gregor  von  Nazianz,  vor  allem  aber  die  wichtigsten  Homilieen  und 
Kommentare  des  g^roßen  Lehrers  und  Redners  Johannes,  der  sich  durch 
seine  Sprachgewalt  den  ehrenden  Namen  Chrysostomos,  Goldmund,  er- 
worben hat.  Daneben  aber  fehlte  es  auch  nicht  an  der  Übertragung  be- 
deutender oder  doch  mindestens  für  die  damalige  Zeit  bedeutender  Profan- 
werke wie  mehrerer  Schriften  des  Aristoteles,  der  kleinen,  in  ihrer 
Wirkung  aber  nur  von  wenigen  Büchern   erreichten  Grammatik  des  Dio- 


n.  Das  goldene  Zeitalter  (5.  Jahrhundert).  287 

nysios  Thrax  aus  dem  i.  vorchristlichen  Jahrhundert,  der  Alexanderbio- 
graphie des  Pseudo-Kallisthenes  und  anderer  Schriften  mehr. 

Und   diese   planmäßige   Einführung  griechischen   Geistes   wirkte   auch  Origmaiwerke. 
befruchtend  auf  die  Schöpfung  freierer,  vom  fremden  Vorbild  nicht  wesent- 
lich   abhängiger  Werke,    die    das    5.  Jahrhundert    zu    einem    in    der    Tat 
goldenen  Zeitalter  der  armenischen  Literatur  stempeln.     Den  ersten  Rang 
unter  diesen  Arbeiten  behauptet  die  Geschichtschreibung,   der  bedeutend-     Geschicht- 
ste  Ausdruck  des  armenischen  Geistes  und  für  uns  zugleich  nach  wie  vor    ^"^  ^^^  "°^' 
eine  unentbehrliche  Quelle  des  Wissens.    Das  Leben  und  Wirken  Gregors, 
des  Apostels  und  ersten  Bischofs  Armeniens,  dem  das  dankbare  Volk  den 
Namen    Erleuchter    beig'elegt   hat,    bildet    den    Gegenstand    eines    Buches, 
dessen  Verfasser  sich  Agathangelos    nennt,    sich   damit   vielleicht   als   den  Agathangeios. 
Bringer  der  guten  Botschaft  von  der  Bekehrung  Armeniens  zum  Christen- 
tum bezeichnend.     Er  behauptet  ein  Augenzeuge  der  von  ihm  geschilder- 
ten Vorgänge  gewesen   zu  sein  und  diese  im  Auftrage  des  Königs  Trdat 
beschrieben  zu  haben,  ist  aber  wohl  in  Wahrheit  ein  hinter  seinem  Pseu- 
donym geborgener  Schriftsteller,  der   sein  Buch  erst  ein  Jahrhundert  nach 
dem  Verlauf  der    in   ihm  behandelten  Ereignisse    auf  Grund    älterer  Auf- 
zeichnungen  und  Überlieferungen   verfaßt  hat.     Es   ist   eine   liebevoll   ein- 
gehende Darstellung,  die,  halb  Dichtung,  halb  Wahrheit,  dieses  Geschicht- 
liche und  Legendenhafte  harmlos  vereint.   Unter  dem  Namen  eines  gewissen 
Faustus    von    Byzanz    ist    eine    Geschichte   Armeniens   vom   Jahre  344   bis      Faustus 

von  Pvz3iHz. 

zum  Jahre  392  überliefert,  ein  Werk,  das  sprachlich  auffällig  von  dem 
durch  die  Bibelübersetzung  zum  Muster  gestempelten  Dialekte  abweicht 
und  überdies  auch  noch  an  fast  unerträglichem  Schwulst  leidet,  alles  in 
allem  aber  doch  wohl  die  freilich  rauhe  Schale  eines  guten  Kernes  ist. 
Einfach,  markig  kraftvollen  Stils  ist  die  Geschichte  Armeniens  von  388 
bis  485,  die  Lazar  von  Pharpi  zum  Verfasser  hat.    Hier  und  da  ein  wenig       Lazar 

von  Pharpi. 

unklar,  aber  von  anziehender  Wärme  und  wegen  der  gedrängten  Kürze 
beachtenswert  ist  die  Lebensbeschreibung  Mesrops,  des  Begründers  der 
armenischen  Literatur,  die  sein  Schüler  Koriun,  Bischof  in  Georgien,  Konun. 
aufgezeichnet  hat.  Es  ist,  als  wenn  eine  Art  Ehrfurcht  ihn  abgehalten 
hätte,  die  bedeutungsvolle  und  folgenreiche  Tat  durch  viele  Worte  zu 
entweihen,  sie  durch  lange  Erörterungen  als  etwas  hinzustellen,  dessen 
Bedeutung  erst  des  Beweises  bedürfte.  Das  ausführlichste  Werk  in  dieser 
Reihe  aber  ist  die  Geschichte  Armeniens  von  der  naturgemäß  stark  vom 
Nebel  der  Sage  umhüllten  Urzeit  bis  auf  den  Sturz  der  armenischen 
Arsaciden  im  Jahre  428,  als  dessen  Verfasser  Moses  von  Chorene  angegeben       Moses 

von  Chorene. 

wird,  ein  einst  vielleicht  über  Gebühr  gefeiertes  und  allzu  vertrauensselig 
aufgenommenes  Werk,  das  in  jüngster  Zeit  aber  auch  wohl  in  übertriebe- 
nem Maße  zum  Tummelplatz  übereifriger  Skepsis  und  Kritik  gemacht 
worden  ist.  Und  das  ansprechendste  der  Geschichtswerke  des  5.  Jahr- 
hunderts endlich,  das  fraglos  beste  vom  künstlerischen  Standpunkte  ist  die 
Darstellung    des    Heldenkampfes,    den    die    Armenier   in    den    Jahren    von 


2  88  Franz  Nikolaus  Finck:  Die  armenische  Literatur. 

449 — 451    unter   dem  Feldherrn  Wardan   g"egen   die    persische   Übermacht 
unter   Jesdeg^erd    dem    Zweiten    ausgefochten   haben,    das    unvergängliche 

Eiisaeus.  Werk  eines  Augenzeug^en ,  des  Bischofs  Elisaeus,  eines  Darstellers  von 
plastischer  Gestaltungskraft  und  l3^rischer  Glut,  eines  Dichters  von  Gottes 
Gnaden,  der  sich  in  straffer  Selbstzucht  zwingen  möchte,  seine  Kunst 
der  Wahrheit  zum  Opfer  zu  bringen,  der  die  Wahrheit  aber  doch  wie  ein 
Künstler  sagt. 
Andere  Werke.  Doch    die    literarische   Betätigung   des   5.  Jahrhunderts   erschöpft  sich 

keineswegs   in   der  Geschichtschreibung.     Neben  ihr   entwickelt  sich  auch 
noch   eine   beachtenswerte   andere   Schriftstellertätigkeit,  und  in  ihr  ragen 

David  der     drei  Persönlichkeiten  merklich  über  ihre  Zeitgenossen   empor,  David,  der 
Übersetzer  imd  Erklärer  aristotelischer  und  neuplatonischer  Schriften,  der 

Johannes     Unbesiegte  genannt,  Johannes  Mandakuni,  von  480 — 487  das  Oberhaupt  der 

Mandakuni. 

armenischen  Kirche,  der  Verfasser  einer  Reihe  eindringlicher,  kraftvoller 
Esnik  von  Koib.  Predigten,  und  vor  allen  Esnik  von  Kolb,  der  scharfsinnige,  feingebildete 
Verfasser  einer  Streitschrift  „wider  die  Sekten",  eines  religionsgeschicht- 
lich auch  für  uns  noch  hochbedeutenden  Buchs,  der  unangefochtene  und 
unanfechtbare  Meister  des  Stils. 

EinfluB  der  Lite-  HI,  Dic  Zeit  des  Niederganges  (6. —  1 1 .  Jahrhundert).     Dieses  gol- 

ratur  des  ^.  Jahr-  .  .,-,.  ,  .  .    ^  .  ^  .    ^ 

hunderts.  deuc  Zeitalter  der  armenischen  Literatur,  das  weit  reicher  ist  als  sich  aus 
dieser  kurzen  Andeutung  der  Höhepunkte  ohne  weiteres  ergibt,  blieb  nun 
im  wesentlichen  maßgebend  bis  zum  12.  Jahrhundert,  innerhalb  eines 
engeren  Klreises  theologisch  Gebildeter  sogar  für  die  gesamte  Folgezeit, 
eine  Herrschaft,  die  nicht  wundernehmen  kann,  wenn  man  die  g^eschicht- 
lichen  Verhältnisse  des  Landes  ins  Auge  faßt.  Als  die  armenische  Lite- 
ratur begründet  wurde,  stand  der  im  Jahre  387  dem  Griechenreich  zuge- 
fallene Teil  des  Landes  schon  unter  der  Verwaltung  eines  Statthalters  aus 
dem  Volk  der  Herrscher,  und  auch  der  dem  Perserreiche  einverleibte  Teil 
stand  bereits  dicht  vor  dem  Verlust  selbst  seines  letzten  Scheins  von  Selb- 
ständigkeit. Wurde  doch  schon  im  Jahre  428  der  letzte  Arsacide  Artasches 
vom  Perserkönige  Bahram  Gor  entthront.  So  ward  denn  ganz  natürlich 
die  armenische  Kirche  der  einzige  feste  Halt  für  das  Gefühl  der  natio- 
nalen Zusammengehörigkeit,  und  die  Anschauungen  des  geistlichen  Stan- 
des wurden  grundlegend  für  die  Entwicklung  der  Literatur,  und  die 
Sprache  des  Gottesdienstes  und  kirchlichen  Verkehrs,  wie  eine  Hofsprache 
das  Kennzeichen  der  höheren  Klasse,  der  Gebildeten,  gewann  ihre  unzer- 
störbar scheinende  Macht.  Die  Herrschaft  der  Araber,  der  die  Armenier 
um  die  Mitte  des  7.  Jahrhunderts  nach  dem  Sturz  des  Sassanidenreichs 
unterworfen  wurden,  vermochte  dem  alle  mohammedanische  Kultur  schroff 
ablehnenden  Volke  keine  neue  geistige  Zufuhr  zu  bringen,  und  das  gegen 
Ende  des  9.  Jahrhunderts  begründete  Bagratidenreich  war  bei  seiner  immerhin 
nur  bedingten  Macht  ebensowenig  ein  Boden  für  eine  dem  alten  Einfluß  ge- 
wachsene neue  Kultur.    Das  Griechentum  hatte  zu  tiefe  Wurzel  geschlagen, 


III.  Die  Zeit  des  Niederganges  (6. —  ii.  Jahrhundert).  289 

und  auch  der  Bruch  mit  Byzanz,  der  durch  die  Abweisung  der  Satzungen 
des  Konzils  zu  Chalzedon  (451)  eingetreten  war,  hatte  daran  nichts  ändern 
können.  Die  geistigen  Waffen,  mit  denen  in  der  ausgedehnten  Polemik 
gegen  die  verschmähte  und  geschmähte  Lehre  gekämpft  wurde,  entnahm 
man  nach  wie  vor  dem  Arsenal  der  einst  anerkannten  Kulturverleiher  und 
nunmehrigen  GegTier. 

Wie    vorher    bildet    auch   in    dieser   langen  Periode    des   armenischen  Die  Geschicht- 

schreibuug   vom 

Schrifttums     die    Geschichtschreibung     den     wichtigsten    Bestandteil     der  7--ii-  Jaiirhuu- 

dert. 

Literatur.  Und  an  Stoff  zur  Berichterstattung  fehlte  es  in  jenen  unruhigen 
Zeiten  auch  nicht,  ja,  die  veränderten  Verhältnisse  übten  sogar  einen 
wenigstens  für  uns  schätzenswerten  Zwang  aus,  nämlich  den,  die  Auf- 
merksamkeit mehr,  als  es  bisher  geschehn  war,  auch  auf  fremde  Völker 
zu  lenken.  So  liefert  Moses  von  Kalankatu  im  7.  Jahrhundert  eine  Ge- 
schichte der  Albanier,  eines  kaukasischen  Volkes,  das  auf  dem  Gebiete 
des  heutigen  Schirwan  und  südlichen  Daghestan  lebte  und  wohl  in  irgend 
einem  der  zahlreichen  verwandten  Stämme  aufgegangen  ist.  Ungefähr  um 
dieselbe  Zeit  schildert  der  Bischof  Sebeos  die  armenischen  Verhältnisse 
vom  Ende  des  5.  Jahrhunderts  bis  zur  Thronbesteigung  des  Kalifen  Mua- 
wija  (661)  und  aus  jener  Epoche  besonders  die  Kriege  des  Kaisers  Hera- 
kleios  mit  Chosrow  IL,  zum  Schluß  mit  wenigen  Strichen,  aber  mit  der 
Anschaulichkeit  des  Augenzeugen  den  ersten  Einbruch  der  Araber  in 
Persien,  Armenien  und  das  byzantinische  Reich  skizzierend.  Gegen  Ende 
des  8.  Jahrhunderts  verfaßt  der  Presbyter  Leontius  eine  Geschichte  der 
arabischen  Eroberungen  in  Armenien  bis  zum  Jahre  788.  Über  ein  Jahr- 
hundert später  unternimmt  der  Katholikos  Johann  VL  eine  Darstellung 
der  Ereignisse  unter  der  Regierung  der  ersten  drei  Bagratiden  Aschot  I. 
(885—889),  Smbat  L  (892—914)  und  Aschot  IL  (915—928),  eine  Beschrei- 
bung, die  er  ziemlich  äußerlich  durch  eine  auf  älteren  Historikern,  nament- 
lich Moses  von  Chorene  beruhende  einleitende  Erzählung  von  der  Sünd- 
flut an  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  zu  stempeln  versucht.  Thomas 
der  Artsrunier  schreibt  eine  ebenfalls  durch  eine  Einleitung  erweiterte 
Geschichte  der  Fürsten  dieses  Geschlechts  bis  auf  Gagik  I.  Stephan  von 
Taron  verfaßt  eine  bis  auf  das  Jahr  1004  reichende  Chronik  und  Aristakes 
von  Lastivert  eine  Geschichte  der  Zeit  von  989  bis  1071,  in  der  die  im 
Jahre  1 064  erfolgte  Zerstörung  der  Königsstadt  Ani  durch  die  Seldschuken 
unter  Alp-Arslan  und  der  Zusammenbruch  des  ganzen  Bagratidenreiches 
den  Kern  der  Darstellung  bildet. 

Auch    an   Schriftstellern,    die    sich   anderen,    namentlich  theologischen  Andere  werke 

'  ...  der    nachklassi- 

Aufgaben  widmen,  fehlt  es  nicht.  Die  bemerkenswertesten  sind  vielleicht  sehen  Zeit. 
Johannes  von  Odsni,  der  Philosoph,  vom  Jahre  717  bis  zum  Jahre  729 
Katholikos,  der  Verfasser  einer  hochgeschätzten  Synodalrede,  einer  Ab- 
handlung über  die  Menschwerdung  Christi  und  die  beiden  Naturen,  einer 
Streitschrift  gegen  die  Sekte  der  Paulikianer  und  anderer  Werke,  Chos- 
row, der  Verfasser  eines  Kommentars  zum  Brevier  und  eines  solchen  zur 

Diu  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  '9 


2QO  Franz  Nikolaus  Finck:  Die  armenische  IJteratur. 

Liturgie,  sein  an  Ruhm  über  den  Vater  hinausgewachsener  Sohn  Gregor 
von  Narek,  unter  dessen  Schriften  besonders  eine  Sammlung  von  Gebeten 
mit  Recht  verehrt  wird,  und  der  durch  weitverzweigte  Geistestätigkeit 
ausgezeichnete  Statthalter  von  Mesopotamien,  Gregor  Magistros,  vielleicht 
weniger  eine  schöpferische  Natur,  als  ein  Mann  der  feinen  und  vielseitigen 
Bildung,  der  neben  seiner  politischen  Tätigkeit  noch  die  Zeit  fand,  über 
Theolog'ie  und  Grammatik  zu  schreiben,  Proben  seiner  Reimkunst  abzu- 
legen, Plato  vmd  Euklid  zu  studieren  und  stellenweise  zu  übersetzen. 
Die  Zeit  vom  Dicseu    Namcu    ließen    sich    unschwer    manche    andere    anreihen,    die 

de«  als  Verfall,  wohl  Wert  wärcu,  vor  Vergessenheit  geschützt  zu  werden,  und  vieles,  was 
sich  heute  nur  halb  erkennen  läßt,  wird  vielleicht  noch  einmal  in  einem 
günstigeren  Lichte  erscheinen.  Alles  in  allem  aber  kann  man  doch  kaum 
in  Abrede  stellen,  daß  diese  ganze  Periode  trotz  der  großen  Zahl  der 
ihr  angehörenden  Schriften  dem  goldenen  Zeitalter  gegenüber  einen 
Niedergang  bedeutet,  ein  Zehren  vom  ererbten  Gut  ohne  große,  frucht- 
bringende Geisteszufuhr. 

Aufschwung  IV.  Aufschwung  unter   der  Dynastie   der  Rubeniden  (12.  Jahr- 

Dynastie  der  hundert).  Die  Zeit  eines  erneuten  Aufschwungs  kam  erst  mit  der  Wieder- 
erstarkung  der  staatlichen  Macht,  als  Massen  von  Armeniern,  von  den 
Seldschuken  gedrängt,  nach  Kilikien  strömten,  und  als  dann  dort,  wo  man 
sich  gegen  Seldschuken  und  Sarazenen  selbst  zu  schützen  verstand,  wo 
man  von  Byzanz  keine  Hilfe  mehr  zu  erwarten  hatte  und  ihrer  auch  nicht 
bedurfte,  unter  der  im  Jahre  1080  begründeten  Dynastie  der  Rubeniden 
ein  neues  armenisches  Reich  erstand.  Fast  dreihundert  Jahre  blieb  es 
bestehen,  zunächst  als  ein  selbständiges  Fürstentum,  vom  Jahre  11 98  an 
als  Königreich,  das  dann  durch  die  Heirat  Isabellas,  der  Tochter 
Leos  III.,  mit  Amalrich,  dem  Bruder  Heinrichs,  des  siebenten  Königs 
von  C^'pern,  im  Jahre  1342  an  das  Geschlecht  der  Lusignans  fiel  und  im 
Jahre  1375  den  Stürmen  der  ägyptischen  Mameluken  erlag.  Aber  allen 
Gefahren  zum  Trotz,  die  schon  bei  der  Begründung  dieses  Staats  auf  den 
Ausbruch  lauerten,  war  das  Erstarken  politischer  Macht  doch  eine  Be- 
freiung von  schwer  lastendem  Druck  und  nicht  am  wenigsten  wohl  ein 
Losreißen  von  alten,  veralteten  Traditionen.  Zum  erstenmal  erblühte 
nun  auf  armenischem  Boden  eine  volkstümliche  Literatur,  in  den  Augen 
der  nur  am  Klassizismus  des  5.  Jahrhunderts  Messenden  Verrohung  und 
Verfall,  dem  unbefangenen  Beobachter  aber  ein  Aufschwung,  ein  Heraus- 
treten aus  dem  Bann  engherzigen  Gelehrten-  und  Klerikertums  zu  natur- 
wüchsig gesunder  Entfaltung. 
Vorherige  Dieser  Bewcguug   aber  ging    noch    eine    andere   voraus,    in    der    der 

Klassizismus.  Geist  des  5.  Jahrhunderts  noch  einmal  auferstand,  eine  glänzende  Ent- 
faltung von  Gelehrsamkeit  und  Kunst  in  der  dem  Volke  nun  schon 
lange  unverständlich  gewordenen  Sprache,  in  dieser  Beziehung  an  das 
literarische  Schaffen  des  deutschen  Humanismus  erinnernd,  aber  allerdings 


IV.   Aufschwung  unter  der  Dynastie  der  Rubeniden  (r2.  Jahrhundert). 


291 


Nerses 
Schnorhali. 


auch  wohl  nur  in  dieser  einen  Beziehung.  Denn  freie  Geister  waren  es 
nicht,  die  diese  Literatur  schufen,  viehnehr  treue  Anhänger  der  Kirche 
und  wenn  auch  nicht  engherzige,  so  doch  immerhin  tapfere  Verteidiger 
christlichen  Glaubens.  Energisch  kurz  setzt  diese  Bewegung  ein,  und 
schnell  schwingt  sie  sich  empor,  begreiflich  bei  einem  Schrifttum,  das  auf 
der  Arbeit  einer  verhältnismäßig  kleinen  Zahl  von  Männern  beruht,  dessen 
Bestes  deutlich  erkennbar  von  einem  Einzig^en  g^etrag-en  wird.  Dieser  Eine 
war  Nerses,  als  Katholikos  der  vierte  seines  Namens,  meist  aber  und  zwar 
wohl  hauptsächlich  im  Hinblick  auf  die  Anmut  seines  Stils  Schnorhali 
genannt,  ein  Beiname,  der  sich  nur  schwer  dem  Zwang  der  Übertragung 
ins  Deutsche  fügt  und  am  besten  unverändert  übernommen  wird.  Denn 
er  bezeichnet  nicht  nur  den  Anmutigen,  sondern  auch  den  Begnadeten, 
und  man  möchte  doch  von  den  beiden  durch  ein  einziges  Wort  gesetzten 
Denkmälern  am  liebsten  keines  missen,  und  ganz  gewiß  nicht  das  zweite. 
Denn  begnadet  war  Nerses  wie  das  ganze  hochangesehene  Geschlecht, 
dem  er  entstammte.  Geboren  im  Jahre  1102,  mütterlicherseits  ein  Enkel 
des  schon  erwähnten  Statthalters  von  Mesopotamien,  Gregor  Magistros, 
aufgewachsen  in  der  Nähe  seines  Großoheims,  des  gleichfalls  als 
Schriftsteller  geschätzten  Katholikos  Gregor  II.,  des  Märtyrerfreunds, 
seinem  Bruder,  dem  jungerwählten  Katholikos  Gregor  III.,  ein  treuer 
und  kluger  Helfer,  endlich,  schon  hochbejahrt,  dessen  Nachfolger 
im  Amt,  starb  er,  71  Jahre  alt,  den  Platz  seinem  Neffen,  Gregor  IV.^ 
dem  Kinde,  räumend.  Nerses  Schnorhalis  literarische  Tätigkeit  ist  um- 
fassend und  bedeutend.  Als  würdiger,  pflichtbewußter  Walter  seines 
hohen  Amts  erscheint  er  in  all  seinen  Briefen,  unter  denen  nur  zwei  be- 
sonders genannt  sein  mögen,  ein  im  Jahre  1166  erlassenes  enzyklisches 
Schreiben  und  ein  Brief  an  die  Geistlichkeit  von  Samosata  mit  Vorschriften 
für  die  Aufnahme  der  sogenannten  Sonnensöhne,  der  Anhänger  einer  par- 
sischen  Sekte,  in  das  Christentum.  Heiße  Inbrunst  spricht  aus  seinem 
berühmten,  in  viele  Sprachen  übersetzten  Gebet,  das  in  vierundzwanzig 
Teilen  den  verschiedenen  Stunden  des  Tages  angepaßt  ist.  Und  aus  seinen 
dichterischen  Werken  im  engeren  Sinne  endlich  redet,  so  viel  Verskünstelei 
nach  arabischem  Vorbilde  auch  in  ihnen  zutage  tritt,  alles  in  allem  doch 
ein  echter  Dichter,  ein  in  Wahrheit  begnadeter.  Das  gilt  vor  allem  für 
seine  große,  meist  nach  den  Anfangsworten  als  „Jesus  der  Sohn"  bezeich- 
nete Dichtung,  auch  für  seine  Elegie  auf  die  Eroberung  der  Stadt  Edessa 
und  vielleicht  in  erhöhtem  Maße  noch  für  seine  Hymnen. 

Im  Hymnus  erreicht  die  christlich  armenische  Posie  wohl  überhaupt  Hymnanum 
ihren  Höhepunkt,  und  den  Anteil,  den  Nerses  Schnorhali  an  der  Her- 
stellung der  bis  heute  im  Kirchendienst  gebrauchten  Sammlung-  genommen 
hat  —  etwa  ein  Fünftel  des  Ganzen  ist  sein  Eigen  — ,  steht  dem  Besten 
nicht  nach.  Wie  alt  die  einzelnen  Bestandteile  des  heutigen  Hymnariums 
sind,  entzieht  sich  vielfach  unserer  Kenntnis.  Die  Überlieferung  nennt  als 
Verfasser    der    einzelnen    Stücke    eine   Reihe    wohlbekannter  Namen    und 

19* 


2()1 


Franz  Nikolaus  Finck  :  Die  armenische  Literatur. 


schreibt  Verschiedenes  schon  dem  fünften  Jahrhundert  zu.  Wieweit  diese 
Angaben  im  einzehien  stichhaltig-  sind,  muß  vorläufig  dahingestellt  werden. 
Nur  so  viel  steht  fest,  daß  das  heutige  Hymnarium  als  kanonisierte  Samm- 
lung erst  nach  der  Zeit  des  Nerses  Schnorhali  zum  Abschluß  gekommen 
ist,  und  daß  die  Wirkung,  die  es  als  Ganzes  ausübt,  auch  seines  Geistes 
Hauch  in  starkem  Maße  spüren  läßt. 

Andere  Schrift-  Ncrses     Sclinorhali     allein     würde     genügt     haben,     dem     12.    Jahr- 

Kenaissance.  huudcrt  eine  Bcdeutung"  zu  verleihen.  Zum  Glück  für  die  armenische 
Literatur  aber  beruht  sein  Ruhm  doch  nicht  auf  ihm  allein.  Als  Vertreter 
der  Exegese  verdienen  Ignatius  und  Sargis  genannt  zu  werden,  zwei 
Studiengenossen  des  Nerses  Schnorhali  aus  der  Zeit,  wo  er  im  roten 
Ivloster,  einer  damals  berühmten  Stätte  der  Bildung,  unter  Stephans  des 
Gelehrten  Leitung  in  die  Theologie  eingeführt  wurde.  Als  Dichter  taten 
sich  Johannes  der  Diakon,  der  schon  erwähnte  Katholikos  Gregor  IIL, 
der  Katholikos  Gregor  das  Kind  und  Chatschatur  von  Taron  hervor. 
Exeget,  Homilet  und  Dichter  zugleich,  vielleicht  auch  noch  mehr  als 
alles  dies  war  Nerses  von  Lambron,  ein  Neffe  des  Anmutigen  und 
Begnadeten,  und  Mchithar  Gösch  bewährte  sich  als  Rechtslehrer,  Exeget 
und  Fabeldichter. 

Durchbruch  des  Dicscr  Reuaissanceliteratur   des   12.  Jahrhunderts   gegenüber  erweckt 

volkstümlichen  .  ..-,  ^-,  ^  it^i-r 

Schrifttums,  das  SO  wenig  bestechende,  m  einfachstem  Gewände  auftretende  Schrifttum 
der  sich  anschließenden  Zeit  auf  den  ersten  Blick  den  Anschein  des  Ver- 
falls, wenn  auch  mindestens  ein  Dichter  im  Sinne  des  Klassizismus  an- 
erkannt werden  muß,  nämlich  Johannes  von  Ersnka.  Im  Hinblick  auf  die 
Zukunft  aber,  im  Hinblick  auf  eine  neue,  der  alten  Fesseln  ledige  Zeit, 
erscheint  diese  Periode  doch  in  einem  ganz  anderen,  in  einem  durch- 
aus günstigen  Licht.  Es  ist  der  Durchbruch  des  volkstümlichen  Geistes, 
was  ihr  ihr  Gepräge  gibt.  Freilich  entbehrt  diese  nicht  auf  die  Kreise 
der  Gelehrten  beschränkte,  nicht  für  Feinschmecker  bestimmte  Literatur 
jener  geschlossenen,  abgeklärten  Form,  die  dem  Klassizismus  des  5.  Jahr- 
hunderts und  seiner  Renaissance  im  12.  eigen  war.  Auch  fehlte  es  viel- 
leicht überhaupt  an  dem  Versuch,  einen  höheren  Schwung  zu  nehmen. 
Wenigstens  kommt  die  eigentliche  Poesie,  selbst  als  Beigabe  zur  Theologie 
oder  Geschichtschreibung,  kaum  zur  Geltung.  Es  sind  praktische  Ange- 
legenheiten, die  im  Vordergrunde  des  Interesses  stehn,  und  die  wichtig^sten 
Betätigungen  des  literarischen  Schaffens  sind  Erörterungen  über  Handel 
und  Verkehr,  Ackerbau,  Medizin,  Recht  und  Verwaltung.  Und  die  Sprache, 
in  der  dies  alles  zum  Ausdruck  kommt,  ist  die  des  Volks,  das  heißt  die 
des  ganzen  Volks,  nicht  etwa  ein  auf  die  unteren  Schichten  der  Gesell- 
schaft beschränktes  Idiom,  eine  Sprache,  die  neben  dem  Vorzug  der  all- 
gemeinen Verständlichkeit  auch  noch  den  besaß,  hoffähig  zu  sein.  Daß 
dies  der  Fall  war,  beweisen  die  uns  erhaltenen  Aktenstücke  der  könig- 
lichen Kanzlei,  das  beweisen  die  Schriften  des  Kronfeldherrn  Smbat,  des 
Bruders    des    Königs    Hethum  I.,    seine   Chronik,    seine   Übersetzung    der 


V.  Die  Zeit  des  Verfalls  vom    13. —  17.  Jahrhundert.  203 

„Assises  d'Antioche"  und  seine  tief  eingreifende,  zeitgemäße  Erneuerung 
des  altern,  Ende  des  12.  Jahrhunderts  von  Mchithar  Gösch  zusammen- 
gestellten Rechtsbuchs,  das  beweist  die  Chronik,  die  Hethum  von  Korikos 
verfaßt  hat,  ein  Verwandter  und  Altersgenosse  des  gleichnamigen  Königs, 
der  als  zweiter  seines  Namens  den  Thron  von  Kilikien  innehatte.  Ja,  die 
Tatsache  der  Hoffähigkeit  dieser  Sprache  steht  so  fest,  daß  man  schon 
eher  auf  den  Gedanken  verfallen  könnte,  daß  sie  vielleicht  nur  das  Ver- 
kehrsmittel des  Hofs  gewesen  wäre,  von  der  Rede  des  Volks  ebenso  ge- 
schieden wie  die  Sprache  der  Gelehrten  und  Geistlichen.  Aber  dieser 
Auffassung  würde  doch  die  aus  der  Vergleichung  der  heutigen  Mundarten 
gewonnene  Erkenntnis  und  auch  ein  ausdrückliches  Zeugnis  widersprechen, 
nämlich  eine  Bemerkung  des  erwähnten  Kronfeldherrn  Smbat.  Dieser 
sagt  nämlich  in  der  Einleitung  zu  dem  von  ihm  bearbeiteten  Rechtsbuche: 
„In  diesem  Betreff  nun  habe  ich,  Smbat,  Gottes  unwürdiger  und  sünd- 
hafter Diener,  der  Sohn  des  Reichsverwesers  Konstantin  und  Bruder  des 
frommen  Königs  der  Armenier  Hethum,  mich  mit  vieler  Mühe  der  Bear- 
beitung dieses  dem  Sinn  nach  veralteten  Gesetzbuches  unterzogen  .  .  .  und 
ich  habe  es  mit  vieler  Mühe  aus  alter,  schwerfälliger  und  unverständlicher 
Schrift  in  unsere  leichtverständliche  und  allgemeingebräuchliche  Sprache 
übertragen  .  .  .  ."  Diese  volkstümliche  Literatur  wurde  nun  freilich  nicht 
im  entferntesten  das,  was  die  Befreiung  aus  dem  Bann  des  Klassizismus 
hätte  erreichen  können.  Vor  allem  kam  es  auf  dem  Gebiete  der  eigent- 
lichen Poesie,  wo  ja  nun  Gelegenheit  zu  einer  naturwüchsigen,  gesunden 
Entwicklung  war,  doch  nur  zu  recht  bescheidenen  Blüten,  zu  allerlei  netten 
Kleinigkeiten,  und  erst  am  Ausgang  dieser  Bewegung,  erst  im  18.  Jahr- 
hundert, tritt  ein  Volkssänger  auf,  der  etwas  mehr  war  als  ein  sich  quä- 
lender Gelegenheitsdichter,  der  Tifliser  Haruthjun  mit  dem  Dichternamen 
Sajath-Nova,  ein  Sänger,  dem  das  Lied  entquillt,  wie's  aus  dem  Herzen 
zur  Freiheit  drängt.  Aber  auch  die  in  Armenien  nie  ermüdende  Geschicht- 
schreibung und  theologische  Literatur  unterwarf  sich  nur  in  geringem 
Maße  dem  am  Hofe  in  Kilikien  herrschenden  Dialekt.  Nicht  nur  andere 
Mundarten  machten  sich  geltend,  sondern  auch  das  klassische  Element 
versuchte  immer  noch  seine  Stellung  zu  behaupten,  und  so  entstand  viel- 
fach eine  Sprache,  die  allem  Anschein  nach  die  des  5.  Jahrhunderts  sein 
sollte,  unter  dem  Einfluß  der  volkstümlichen  Rede  aber  zu  einem  Gemisch 
des  Alten  und  Neuen  wurde. 

V.  Die  Zeit  des  Verfalls  vom  13. — 17.  Jahrhundert.  Unter  den  sdTreibung'TOrä 
Geschichtschreibern  dieser  Zeit  ist  zunächst  Matthaeus  von  Edessa  zu  er-  'hundert.  ''' 
wähnen,  der  die  wichtigsten  Ereignisse  von  der  Regierung  des  Bagratiden 
Aschot  des  Barmherzigen  bis  zum  Jahre  1132  schildert,  nicht  gerade  immer 
mit  jener  abwägenden  Gerechtigkeit,  die  man  dem  Historiker  wünschen 
möchte  —  sein  Haß  gegen  Byzantiner,  Araber  und  Franken  tritt  unver- 
schleiert  hervor  — ,  auf  jeden  Fall  aber  ein  schätzenswerter  Berichterstatter 


294 


Franz  Nikolaus  Finck:  Die  armenische  Literatur. 


der  denkwürdigen  Kreuzzugszeit.  Eine  Fortführung'  dieses  Werkes  bis 
zum  Jahre  1162,  in  der  vor  allem  wertvolle  Berichte  über  die  Einfälle 
des  Kaisers  Johannes  Komnenos  in  Syrien  und  Kilikien,  die  1144  erfolgte 
Einnahme  Edessas  durch  Zenki,  den  christenfeindlichen  Atabeg  von  Syrien 
und  ^Mesopotamien,  sowie  die  Kriege  seines  Sohnes  Nur-ed-din  mit  Kreuz- 
fahrern geliefert  werden,  hat  Gregor  den  Presbyter  zum  Verfasser.  Samuel 
von  Ani  hat  eine  Chronik  vom  Anfang  der  Welt  bis  zum  Jahre  117g 
hinterlassen,  ein  etwas  trockenes  Buch,  dessen  Darstellung  der  älteren 
Zeit  fast  ganz  auf  Eusebius  und  Moses  von  Chorene  zu  beruhen  scheint. 
Eine  andere  Weltchronik  bis  zum  Jahre  1267  ist  vom  Vardapet  Wardan 
dem  Großen  verfaßt,  einem  vielseitig  bewährten  Schriftsteller,  der  abge- 
sehen von  verschiedenen  theologischen  Abhandlungen  auch  noch  eine 
Geographie  und  eine  Sammlung  von  Fabeln  ausgearbeitet  hat.  Ausführ- 
licheres und  vor  allem  Neues  bietet  diese  Chronik  jedoch  nur  hinsichtlich 
der  Zeit  der  Arsaciden,  während  die  dem  Verfasser  zunächst  liegenden 
Ereignisse  überkurz  abgefertigt  werden.  Von  Kyriakos  von  Gandsak 
stammt  eine  Geschichte  Armeniens  von  der  Zeit  Greg'ors  des  Erleuchters 
bis  zum  Jahre  1267,  kurz  in  allem,  was  die  ältere  Epoche  anbetrifft,  aber 
mit  wichtigen  Nachrichten  über  die  Araber,  Mongolen  und  Türken  aus 
eigener  Anschauung.  Stephan  der  Orbelier  hat  eine  Geschichte  der  Pro- 
vinz Siunikh  hinterlassen  und  Malachia  der  Mönch  eine  wenigstens  inhalt- 
lich interessante  Darstellung  der  Züge  der  Tataren  vom  Jahre  1228  bis 
zum  Jahre  1272.  Thomas  von  Medsoph  schildert  die  Kriege  Timurlenks 
und  vor  allem  die  von  ihm  angerichtete  Verwüstung  Armeniens.  Arakhel 
von  Tauris  endlich  beschreibt  schlicht  und  einfach  die  ihm  naheliegende 
Zeit  vom  Jahre  1601  bis  zum  Jahre  1662,  darin  besonders  die  gewaltsame 
Verschickung  der  Armenier  der  Provinz  Airarat  nach  Ispahan  und  anderen 
Städten  Persiens. 

Weit  weniger  bedeutend  ist  die  theologische  Literatur  dieses  langen 
Zeitraums,  die  wohl  nur  eine  große  Persönlichkeit  hervortreten  läßt,  Gregor 
von  Tathew  (1340 — 14 n),  und  diesen  einen  Mann  auch  nicht  so  sehr  um 
seiner  schriftstellerischen  Kunst  willen  groß  erscheinen  läßt,  als  vielmehr 
wegen  seines  fanatischen  Hasses,  wegen  der  von  seinem  Haß  geschürten 
Glut  im  vaterländischen  Kampf  wider  die  Bestrebungen  der  Unitoren, 
die  römischen  Glauben  und  römischen  Geist  in  Armenien  einzuführen  ver- 
suchten. 

So  hatte  also  der  vielversprechende  Aufschwung  unter  der  Dynastie 
der  Rubeniden  sein  Ziel  doch  nicht  erreicht,  und  erst  der  neuesten  Zeit 
sollte  es  gelingen,  eine  freie,  der  Fesseln  des  Klassizismus  ledige  Literatur 
ins  Leben  zu  rufen,  eine  Literatur,  die  freilich  noch  nicht  derartig  abge- 
schlossen vorliegt,  daß  eine  allseitige  gerechte  Würdigung  möglich  wäre, 
die  aber  auf  alle  Fälle  lebensfähig  ist  und  auf  eigenen  Füßen  steht. 


VI.  Die  Renaissanceliteratur  der  Mchitharisten  (vom    i8.  Jahrhundert  ab).  2QK 

VI.  Die  Renaissanceliteratur  der  Mchitharisten  (vom  i8.  Jahr- 
hundert ab).  Doch  wie  dem  ersten  Versuche  eines  volkstümHchen  Schrift- 
tums eine  Wiederbelebung"  des  klassischen  Geistes  voranging,  deren  mäch- 
tigster Förderer  Nerses  Schnorhali  war,  so  wurde  es  auch  vor  dem  Beginn 
der  vom  europäischen  Geiste  entfachten  neuen  Literatur  noch  einmal  ver- 
sucht, die  Sprache  des  5.  Jahrhunderts  wieder  aufzuwecken.  Dies  geschah, 
als  zu  Anfang-  des  18.  Jahrhunderts  Manuk  von  Sebaste,  der  der  Welt 
unter  seinem  Klosternamen  Mchithar  bekannt  geworden  ist,  die  nach  Mchithar 
diesem  Namen  benannte  Kongregation  gründete.  Geboren  im  Jahre  1676, 
mit  14  Jahren  zum  Diakon,  mit  20  Jahren  zum  Priester  geweiht,  sammelte 
er  unter  dem  Einfluß  der  französischen  Jesuitenmission  schon  im  Jahre  1701 
zu  Konstantinopel  eine  kleine  Schülergemeinde  um  sich,  die  er  nach  der 
Ordensregel  des  heiligen  Antonius  org^anisierte.  Diese  Kongregation,  auf 
heimischem  Boden  nicht  lebensfähig,  versuchte  dann  kurze  Zeit  nachher 
auf  Morea,  das  damals  unter  der  venetianischen  Regierung  stand,  festen 
Fuß  zu  fassen,  was  auch  zu  gelingen  schien,  da  der  ankommenden  Ge- 
nossenschaft in  zuvorkommender  Weise  ein  Platz  zur  Erbauung  eines 
Klosters  und  einer  Kirche  zur  Verfügung  gestellt  wurde.  Um  jedoch  den 
zu  erwartenden  Folgen  der  unglücklichen  Kriege  der  Venetianer  gegen 
die  Türken  auszuweichen  —  mit  der  Eroberung  von  Morea  war  auch  die 
Auslieferung  an  die  über  die  Abtrünnigen  empörte  Geistlichkeit  von  Kon- 
stantinopel zu  befürchten  —  siedelte  Mchithar  im  Jahre  17 15  mit  seiner 
schon  17 12  vom  Papste  Klemens  XI.  bestätigten  Kongregation  nach  Ve- 
nedig über,  wo  er  dann  zwei  Jahre  später  vom  Senate  die  Insel  S.  Lazzaro 
zum  Geschenk  erhielt.  Dort  wie  auch  in  der  nach  Triest  und  später 
nach  Wien  abgezweigten  Gemeinde  wurde  nun  der  Beweis  dafür  erbracht, 
daß  eine  armenische  Kultur  selbst  unter  Preisgebung  der  nationalen 
Kirche  noch  möglich  blieb.  Eine  gewaltige  philologische  Tätigkeit  griff 
Platz,  und  Europa  erhielt  jetzt  erst  einen  tiefen  Einblick  in  das  Leben  des 
armenischen  Geistes,  wurde  jetzt  erst  in  den  Stand  gesetzt,  den  Reichtum 
seiner  literarischen  Schätze  zu  übersehen.  Die  Geschichtschreibung,  Alter- 
tumskunde, Geographie,  Grammatik,  Lexikographie  und  Literaturgeschichte 
wurde  rührig,  ja  mit  bahnbrechender  Energie  betrieben,  und  die  in  den 
Handschriften  geborgenen  Werke  der  Vergangenheit  wurden  der  Welt  zu- 
gänglich gemacht.  In  dieser  Philologentätigkeit  liegt  der  Mechitharisten 
unbestreitbares,  dauerndes  Verdienst.  Weniger  fruchtbar,  ja  fast  verfehlt 
war  dagegen  wohl  der  Versuch,  die  klassische  Sprache  des  5.  Jahrhunderts 
noch  einmal  zum  Ausdruck  erneuter  Geistestätigkeit  zu  machen.  Bei  ge- 
lehrten Werken  konnte  man  sich  die  Gelehrtensprache  schließlich  gefallen 
lassen.  Die  Kunst  aber  sehnte  sich  wie  immer  nach  einem  Ausdruck, 
der  der  Anschauung  angemessen,  mit  ihr  zu  untrennbarer  Einheit  ver- 
bunden war,  und  dieser  konnte  naturgemäß  nicht  mehr  der  des  5.  Jahr- 
hunderts sein. 


Abowjan. 


2  00  Franz  Nikolaus  Finck:  Die  armenische  Literatur. 

Die  moderne  VII.  Die  modeme  Literatur  (ig.  Jahrhundert).     Der  Begründer  der 

neuen ,    von    europäischem   Geiste    entfachten    und   durchwehten   Literatur, 

chatschatur  deren  Schwerpunkt  im  Osten  Armeniens  liegt,  wurde  Chatschatur  Abowjan. 
Geboren  im  Jahre  1804,  durch  einen  sechsjährigen  Studienaufenthalt  an 
der  Universität  Dorpat  in  das  deutsche  Geistesleben  tief  eingeführt,  wurde 
er  nach  seiner  Rückkehr  in  sein  Vaterland  der  zielbewußte  Vermittler 
abendländischer  Kultur  und  zugleich,  eine  echte  Dichtematur,  eben  des- 
halb auch  der  Begründer  einer  trotz  allem  fremden  Einfluß  doch  durch 
und  durch  nationalen  Kunst.  Erfüllt  von  jenem  eigenartig  germanischen 
Geiste,  den  man  nicht  gerade  sonderlich  deutlich  Romantik  nennt,  dem 
Geiste,  der  den  Sieg  über  die  Antike  errang,  ging  Abowjan  an  sein  Werk, 
und  dieser  Geist  ward  ihm  unter  der  formenden  Kraft  seiner  Anschauung 
zum  nationalen  Realismus.  Das  zeigt  wohl  am  besten  sein  Hauptwerk, 
der  Roman  „Die  Wunden  Armeniens",  eine  Erzählung  aus  dem  Leben, 
aus  dem  armenischen  Leben  der  Verfolgung  und  Unterdrückung  durch  die 
persische  Gewalt,  der  jener  Teil  des  Landes,  in  dem  die  Geschichte  spielt, 
seit  den  Tagen  Schah  Abbas  des  Großen  (1586 — 1628)  wieder  unterstand. 
Die  Sprache,  in  der  Abowjan  schrieb,  war  die  seiner  engeren  Heimat, 
seine  Muttersprache  im  eigentlichsten  Sinne,  was  der  Wirkung  seiner  an- 
schaulichen Kunst  gewiß  zum  Vorteil  gereichte.  Aber  es  war  doch  immer- 
hin nur  eine  unter  vielen  Mundarten,  und  diese  eine  war  trotz  Abo wj ans 
sie  adelnder  Persönlichkeit  doch  nicht  mächtig  genug,  um  alle  anderen 
oder  auch  nur  die  Ostarmeniens  zu  verdrängen  oder  in  sich  aufzunehmen. 
Eine  in  dieser  Umgrenzung  gemeinverständliche  Sprache  wurde  erst  durch 
ein  Zurückgreifen  auf  die  ausgebildete  Rede  der  klassischen  Zeit  möglich, 
durch  eine  Verbindung  der  ernst  feierlichen  Sprache  der  alten  Meister  mit 
der  neubefruchtenden,  immer  lebendigen  Ausdrucksweise  des  Volks.  Diese 
vSchöpfung  der  neuostarmenischen  Literatursprache,  die  aber  keineswegs 
nur  eine  Schriftsprache  genannt  werden  darf,  ist  hauptsächlich  dreier 
Männer  Verdienst,  und  diese  drei  sind  Stephan  Nasarjan,  Michael  Nal- 
bandjan  und  Rafael  Patkanjan.  Die  hierdurch  ermöglichte  und  von  den 
Genannten  selbst  schon  angebahnte,  in  gewissem  Sinne  gemeinverständ- 
liche Literatur  weist  einen  starken  Einfluß  abendländischen  Geistes  auf, 
obwohl  es  sich  von  vornherein  nicht  um  bloße  Nachahmung,  sondern  um 
eine  Verarbeitung  handelt,  die  schon  auf  Selbständigkeit  hinweist.  Smbat 
Schah- Asis,  im  Jahre  1841  zu  Aschtarak  geboren,  läßt  vor  allem  Byrons 
mächtige  Einwirkung  spüren,  daneben  aber  auch  wohl  die  eines  Puschkin 
und  Lermontow  und  in  mancher  Hinsicht  auch  die  Heinrich  Heines. 
Eünfzig  Jahre  nach  Byrons  „Hours  of  Idleneß"  veröffentlichte  er  seine  erste 
Sammlung  von  Gedichten  unter  gleicher  Aufschrift,  und  das  nicht  zufällig, 
wie  der  Inhalt  zeigt.  Und  sein  Hauptwerk,  die  längere  Dichtung  „Leos 
Leiden",  kann  Childe  Harolds  wie  auch  Eugen  Onegins  Gevatterschaft 
nicht  in  Abrede  stellen.  Raffi  und  Tserenz,  in  erster  Linie  Vertreter  des 
historischen  Romans  und  unter  diesen  entschieden  die  ersten,  haben  sich 


VII.  Die  moderne  Litenüiir  (19.  Jahrhundert).  207 

ersichtlich  an  abendländischen  Mustern  geschult,  an  Walter  Scott  und 
anderen,  die  schon  von  diesem  g'elernt  hatten.  Gabriel  Ssundukjanz,  der 
beliebte  Schöpfer  satirischer  Lustspiele,  ist  nach  eigenem  Geständnis  stark 
durch  Schillers  Kabale  und  Liebe  sowie  durch  Molieres  Komödien  an- 
geregt und  beeinflußt  worden.  Am  wenigsten  Fremdes  verraten  unter  den 
Erzählern  wohl  L.  Aghajanz  und  P.  Proschjanz,  die  am  festesten  im  hei- 
mischen Boden  wurzeln  und  deshalb  nächst  Abowjan  vielleicht  am  meisten 
Anspruch  auf  Beachtung  ihrer  vorbildlichen  Kraft  haben.  Und  auch  die 
Liederdichtung  endlich,  ihrem  Wesen  nach  weniger  dem  Einfluß  des 
Fremden  ausgesetzt,  hat  schon  manche  verheißende  Blüte  gezeitigt.  Ho- 
wanesjan,  Thumanjan,  Dsaturjan,  Isahakjan  und  Aghajan  verdienen  wohl 
von  den  Ostarmeniem  vor  allen  genannt  zu  werden,  und  von  den  West- 
armeniern sind  wenigstens  zwei,  den  genannten  zeitlich  schon  voraus- 
gehende Dichter  anzuführen,  Mkrtitsch  Beschiktaschljan  und  ganz  besonders 
Petros  Durjan,  der  früh,  im  Alter  von  21  Jahren  von  der  Schwindsucht 
dahingeraffte  Vielversprechende,  der  aber  eben  nur  des  Konfuzius  Wort 
bestätigen  konnte:  „Daß  Blüten  nicht  zu  Früchten  werden,  ach,  das  kommt 
vor." 

Doch  dieses  Wort  gilt  nicht  für  die  ganze  neuarmenische  Literatur.  Ausblick. 
Auf  dem  kaum  urbar  gemachten  Boden  schafft  und  wirkt  schon  ein 
rühriges  Geschlecht.  Wieviel  von  dem  vielen,  das  alljährlich  auf  dem 
Büchermarkte  erscheint,  die  nächste  Zeit  oder  gar  unser  noch  langes 
Jahrhundert  überdauern  wird,  das  vorauszusagen  erfordert  freilich  Pro- 
phetengabe. So  viel  aber  steht  fest,  daß  ein  fester  Grund  da  ist,  auf  dem 
Höheres  mindestens  erwachsen  kann.  Eine  das  ganze  Armenien  beherr- 
schende Sprache  ist  allerdings  noch  immer  nicht  vorhanden  und  wird  in  ab- 
sehbarer Zeit  auch  wohl  nicht  entstehen.  Aber  die  beiden  Literatursprachen, 
die  sich  getrennt  voneinander  im  Osten  und  Westen  entwickelt  haben, 
stehen  einander  doch  so  nahe,  daß  nur  für  den  Schriftsteller  ein  Zwang 
vorliegt,  sich  für  die  eine  oder  andere  zu  entscheiden,  daß  jedes  Werk 
dagegen  Leser  in  beiden  Kreisen  finden  kann.  So  ist  also  immerhin  eine 
schon  weitgehende  Einheit  erzielt,  und  wenn  auch  wohl  manches  von  dem, 
was  jüngere,  hier  nicht  genannte  Dichter  und  Erzähler  g^eschaffen,  bald 
der  Vergessenheit  anheimfallen  wird,  so  dürfen  die  Schaffenden  sich  doch 
mit  der  Überzeugung  trösten,  daß  sie  den  Boden  für  einen  Größeren  be- 
reitet haben.  Denn  es  sind  mehr  unreife  Früchte  als  verwelkte,  die  heute 
geboten  werden,  eine  gute  Vorbedeutung,  ein  hoffnunggewährendes  Ver- 
heißen einer  bevorstehenden  reifen  Kunst. 


Literatur. 

Eine  wenn  auch  kleine  Probe  armenischer  Literatur  ist  dem  Abendlande  schon  in  der 
ersten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  vermittelt  worden,  und  zwar  durch  Johannes  Schilt- 
BERGER  aus  München,  der,  1394  im  Kriege  gegen  die  Türken  in  Gefangenschaft  geraten, 
lange  unfreiwillige  Reisen  durch  Asien  unternahm  und  der  nach  seiner  Rückkehr  verfaßten 
Beschreibung  seiner  Erlebnisse  das  Vaterunser  in  armenischer  und  türkischer  Sprache  als 
Anhang  beigab.  Den  ersten  Versuch  einer  zusammenfassenden  Darstellung  der  armenischen 
Literatur  unternahm  der  Generalabt  der  Mechitharistenkongregation  zu  S.  Lazzaro  SuKlAS 
SOMAL  in  seinen  beiden  zu  gegenseitiger  Ergänzung  verfaßten  Büchern  Quadro  delle  opere 
di  vari  autori  anticamente  tradotte  in  Armeno  (Venezia,  1825)  und  Quadro  della  Storia 
letteraria  di  Armenia  (Venezia,  1825).  Auf  diesen  Werken  beruht  im  wesentlichen  auch 
Carl  Friedrich  Neumanns  Versuch  einer  Geschichte  der  armenischen  Literatur  (Leipzig, 
1836).  Alle  drei  Arbeiten  sind  inzwischen  jedoch  weit  überholt  durch  die  in  westamienischer 
Sprache  verfaßten  Werke  des  im  Jahre  1901  verstorbenen  Mechitharisten  Karekin  Sarbha- 
NALIAN,  Haigagan  hin  tbruthjan  badmuthjun  '^Geschichte  der  alten  armenischen  Literatur, 
3.  Aufl.  [Venedig,  1897]);  Badmuthjun  hajeren  tbruthjan.  Nor  madenakruthjun  (Geschichte 
der  armenischen  Literatur.  Neue  Literatur  [Venedig,  1878])  und  Madenataran  haigagan  thark- 
manuthjanths  nachnjaths  (Bibliothek  der  alten  armenischen  Übersetzungen  [Venedig,  1889]). 
Auch  diese  Arbeiten  lassen  noch  vieles  zu  wünschen  übrig,  sind  aber  —  so  vieles  inzwischen 
im  einzelnen  durch  armenische  und  abendländische  Forscher  geleistet  worden  ist  —  doch 
noch  immer  nicht  durch  eine  gleich  umfassende  Darstellung  ersetzt  worden. 


DIE  GEORGISCHE  LITERATUR. 

Von 
Franz  Nikolaus  Finck. 


Einleitung.  Die  Anfänge  der  uns  überlieferten  georgischen  Lite-  Alter  der 
ratur  reichen  wahrscheinlich  bis  in  das  5.  nachchristliche  Jahrhundert  Literatur. 
zurück.  Sie  bilden  den  Grund  zu  einer  geistigen  Betätigung,  die  im  Laufe 
der  Zeit  zu  freiem,  künstlerisch  bemerkenswertem,  ja  bedeutendem  Schaffen 
führt,  die  naturgemäß  dann  und  wann  auch  wieder  erschlafft,  aber  trotz 
mancher  Unterbrechung  doch  eine  erkennbar  zusammenhängende  Kette 
von  Geistesarbeiten  bildet,  eine  Kette,  die  jene  weit  zurückliegende  Zeit 
mit  unseren  Tagen  verbindet.  Und  doch  ist  das  Volk,  das  sich  dieses 
Schrifttums  rühmen  darf,  bei  uns  kaum  viel  mehr  als  nur  dem  Namen 
nach  bekannt,  und  das  wenige,  was  hierzulande  von  ihm  verlautet,  ist 
noch  obendrein  von  manch  irreführender  Phantasterei  umkränzt.  So  ist 
es  denn  wohl  doppelt  geboten,  der  Skizze  der  Literatur  dieses  Volks  eine 
kurze  Aufklärung  über  es  selbst  vorauszuschicken. 

Die  Georgier  sind  die  Nachkommen  der  alten,  schon  von  Herodot  Georgier  Nach 
unter  den  kaukasischen  Völkern  erwähnten  Iberer,  eines  der  Mitte  der  alten  Iberer, 
gewaltigen  Bergkette  des  Kaukasus  südlich  vorgelagerten  Volks,  dessen 
östliche  Nachbarn  die  später  vermutlich  in  einem  verwandten  Stamm  auf- 
gegangenen Albaner  waren,  das  im  VV'esten  auf  die  den  Alten  weit  eher 
und  weit  mehr  bekannt  gewordenen  Kolcher  stieß,  auf  die  Bewohner 
jenes  Landes,  das  von  den  milesischen  Ansiedlem  für  Aia,  den  Schauplatz 
der  Argonautensage,  gehalten  wurde  und  dank  dem  unvergänglichen 
Leben  jener  dichterischen  Gestalten  auch  weiteren  Kreisen  nahegerückt 
worden  ist.  Der  Name  Georgier  geht  ebenso  wie  die  auf  der  russischen 
Benennung-  beruhende  Bezeichnung  Grusiner  auf  das  türkische  Gürdsch 
zurück.     Die  Selbstbenennung  ist  Kharthweli. 

Diese  Georgier  im   engeren  Sinne,    rund  470000  an  Zahl,    bewohnen  Gegenwärtiger 

A1-I       Wohnsitz  der 

m  zusammenhangenden  großen  Massen   das  Gebiet   der  Kura  von  Achal-     Georgier, 
zieh  bis  Tiflis,  das  des  oberen  und  mittleren  Alasan  und  das  der  Aragwa, 
mithin    den    größten  Teil   der  Kreise  Gori,  Telaw   und  Duschat   des  Gou- 
vernements Tiflis,  finden  sich  aber  auch  in  nicht  geringer  Zahl  außerhalb 


500 


Franz  Nikolaus  Finck:  Die  georgische  Literatur. 


dieses  Gebiets,  mit  anderen  Völkern  vermischt  oder  inselartig  unter  die- 
selben verstreut.  Zu  diesen  Georgiern  im  engeren  JSinne  sind  aber  noch 
verschiedene  andere  Stämme  zu  rechnen,  die  sprachlich  so  eng  mitein- 
ander verkettet  sind,  daß  sie  allen  sie  im  Leben  trennenden  Sonderheiten 
zum  Trotz  an  der  einen,  altüberlieferten  Literatur  gemeinsam  teilzunehmen 
vermögen,  im  Genuß  derselben  und  im  weiteren  Ausbau.  Aufs  allerengste 
imerier  und    Schließen  sich   die  Imerier  und  Gurier   an,    deren  Sprache   sich   so  wenig 

Gurier. 

von  der  eigentlich  georgischen  unterscheidet,  daß  die  Annahme  einer 
Dreiheit  nur  durch  andere  Kennzeichen  g^erechtfertigt  werden  kann,  vor 
allem  durch  die  sinnfälligen  Verschiedenheiten  der  Tracht  und  Hausanlage, 
sowie  der  zwar  nicht  gleich  leicht  zu  erfassenden,  aber  immerhin  erkenn- 
baren geselligen  Äußerungen  der  geistigen  Eigenart.  Hinsichtlich  der 
Tracht  ist  es  besonders  die  Kopfbedeckung  der  Männer,  die  eine  Ab- 
grenzung der  drei  Völker  ermöglicht.  Beim  Georgier  besteht  sie  in  der 
Regel  in  einer  kegelförmigen,  abgestumpften  Schaffellmütze,  beim  Imerier 
in  einem  verzierten,  flachen  Samt-  oder  Stoffstück,  dessen  mit  spitzen  Enden 
versehene  ovale  Form  das  zur  Aufnahme  des  Geschosses  dienende  Leder- 
stück einer  Schleuder  darstellt,  beim  Gurier  in  einem  Turban.  Was  die 
Hausanlage  anbetrifft,  so  herrschen  unter  den  Georgiern  Steinbauten  mit 
flachem  Dach  vor,  die  meist  an  einen  Hügel  angelehnt  und  nicht  selten 
teilweise  oder  ganz  in  die  Erde  eingegraben  sind,  unter  den  Imeriern  von 
einem  breiten  Balken  umgebene  Holzbauten  mit  spitzen  Dächern,  die  man 
mit  Schindeln,  Brettern  oder  Stroh  bedeckt,  unter  den  Guriern,  soweit 
nicht  europäische  Architektur  schon  Eingang  gefunden  hat,  einfache  Woh- 
nungen ohne  Fenster  mit  einer  einzigen  Öifnung  in  der  Decke  und  einem 
Feuerplatz  inmitten  des  Raums.  Die  geselligen  Äußerungen  der  geistigen 
Eigenart  endlich  lassen  in  den  Georgiern  ewig  sorglose,  heitere  große 
Kinder  erkennen,  die  alle  Vorzüge  edlen  Bluts  verraten,  dafür  aber  auch 
ein  wenig  schw^erfällig  im  Denken  und  Handeln  sind,  in  den  Imeriern 
weniger  zuverlässige  Leute,  aber  geistig  weit  regsamere  Unternehmer 
und  in  den  Guriern  listige  und  verschlagene  Fanatiker  ihres  Glaubens 
und  nicht  minder  ihres  Stolzes.  Die  Imerier,  rund  430  000  an  Zahl, 
wohnen  westlich  von  den  eigentlichen  Georgiern,  und  zwar  in  dem  öst- 
lichen Teile  des  Gouvernements  Kutais,  die  Gurier,  etwa  87000  an  Zahl, 
in  dem  noch  weiter  westlich  gelegenen  Kreis  Osurgeti  desselben  Gou- 
vernements. Sprachlich  gehört  zu  den  Guriern  auch  noch  ein  zwar  nicht 
genau  abzuschätzender,  aber  auf  jeden  Fall  beträchtlicher  Teil  der  moham- 
medanischen Adscharen  in  den  Kreisen  Batum  und  Artwin,  deren  Gesamt- 
zahl sich  auf  etwa  55  000  belaufen  dürfte.  Auch  das  kleine,  kaum  mehr 
als  3000  Köpfe  zählende  Volk  der  Mthiuler  im  Kreise  Gori  des  Gouver- 
nements Tiflis  steht  den  eigentlichen  Georgiern  sprachlich  noch  so  nahe, 
daß  nur  von  geringfügiger  mundartlicher  Verschiedenheit  geredet  werden 
darf,  die  sich  hauptsächlich  in  der  stärkeren  Betonung  und  den  durch 
diese    veranlaßten  Verkürzungen    zeigt.     Ein    wenig    weiter    abseits,    aber 


Adscharen. 


Mthiuler. 


I.  Die  Zeit  der  Vorbereitung  (5. —  II.  Jahrhundert),  xoi 

auch    noch    mehr    durch    eigenartige   Sitten,    rechtliche    und   religiöse  Be- 
sonderheiten  als    durch    die   Sprachen    geschieden,   stehen  die  Chewsuren,    chewsuren. 
Pschawen  und  Tuschen   auf  den  Bergen  nordöstlich   vom  eigentlich  geor-    Pschawe«. 

.  _        .       .  .  /-,  Tuschen. 

gischen  Gebiet,  im  ganzen  etwa  18000.  Erst  bei  den  Ingiloiern  mi  Ge-  ingiioier. 
biete  Sakatali,  deren  Stärke  sich  auf  rund  10  000  beläuft,  macht  sich  die 
Verschiedenheit  der  Sprachen  etwas  stärker  fühlbar;  aber  auch  diese  ver- 
mögen sich  noch  ohne  Schwierigkeit  mit  den  Angehörigen  aller  genannten 
Stämme  zu  verständigen,  so  daß  auch  sie  noch  an  einer  georgischen 
Literatur  in  dem  Sinne,  in  dem  sie  hier  zur  Darstellung  gelangen  soll, 
teilhaben.  Für  die  übrigen,  sprachlich  fraglos  verwandten  Völker,  für 
die  Mingrelier,  Lasen  und  Swanen,  gilt  dies  aber  nicht  mehr.    Von  diesen     Mingreiier, 

Lasen,   Swanen. 

drei  Stämmen  sind  die  beiden  erstgenannten  die  Bewohner  des  alten 
Kolchis  und  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch  die,  wenn  auch  nicht  un- 
vermischten  Abkömmlinge  des  dort  einst  angesessenen  Volks,  das  nach 
Herodots  ausdrücklicher,  ausführlich  begründeter  Angabe  aus  Ägypten 
stammte,  seine  ursprüngliche  Sprache  dann  aber  schon  frühzeitig  zugunsten 
des  Idioms  der  Iberer  aufgegeben  haben  muß.  Denn  die  südkauka- 
sischen Mundarten  haben  nichts  aufzuweisen,  was  dazu  berechtigte,  irgend- 
welche Beziehungen  zum  Ägyptischen  oder  einer  anderen  hamitischen 
Sprache  anzunehmen.  Abgesehen  von  verschiedenen  Anklängen  an  die 
Idiome  der  nordkaukasischen  Bergvölker,  die  wenigstens  eine  entfernte 
Verwandtschaft  mit  diesen  als  fast  sicher  erscheinen  lassen,  sondert  sich 
die  ganze  Gruppe  der  eng  zusammengehörigen  südkaukasischen  Mund- 
arten merkwürdig  scharf  von  allen  anderen  Sprachen  ab,  und  ob  für  die 
Gesamtheit  des  kaukasischen  Sprachstammes  Zusammenhänge  mit  einem 
andern  Idiome,  etwa  dem  susischen  oder  chaldischen  anzunehmen  sind, 
dürfte  sich  auf  Grund  der  bis  jetzt  gewonnenen  Kenntnis  kaum  ent- 
scheiden lassen. 

I.  Die  Zeit  der  Vorbereitung  (=;. —  1 1 .  Jahrhundert).    Wie  die  arme- christuch-kirch- 

^     \^  •>  I  _  lieber  Charakter 

nische   Literatur  ist   auch  die   der  benachbarten  Georgier  zu  Beginn  aus-  der  aitgeorgi- 

,  .  sehen  Literatur. 

schließlich  christlich  -  kirchlich.  Es  fehlen  sogar  —  was  aber  vielleicht 
nur  dem  Zufall  gestörter  Überlieferung  zuzuschreiben  ist  —  die  dort 
w^enigstens  in  spärlichen  Resten  erhaltenen  Erinnerungen  aus  heidnischer 
Zeit  ganz  und  gar.  Derselbe  griechisch-christliche  Geist  beherrscht  das 
ganze  alte  Schrifttum.  Nur  scheint  zu  Anfang  nicht  wenig  armenische 
Vermittlung  dieses  Griechentums  vorgelegen  zu  haben,  und  sie  ist  wohl 
erst  nach  der  Trennung  der  beiden  Kirchen  gegen  Ende  des  6.  Jahrhun- 
derts mehr  und  mehr  zurückgewiesen  worden.  Aber  die  Einwirkung 
griechischen  Geistes  vermochte  die  georgische  Literatur  nicht  im  entfern- 
testen derartig  in  den  Bann  zu  schlagen,  wie  die  ihr  anfangs  so  bedeutend 
überlegene  armenische.  Kein  schnellerblühtes,  für  lange,  lange  Zeiten 
vorbildliches  Schrifttum  steht  am  Beginn  der  Entwicklung,  um  nach  jeder 
Epoche    des  Verfalls   von   neuem   auffrischend,  richtunggebend   zu   wirken. 


302  Franz  Nikolaus  Finck:  Die  georgische  Literatur. 

Langsam,  aber  in  anscheinend  stetig  fortschreitender  Arbeit  bricht's  sich 
Bahn,  und  die  Höhepunkte  der  georgischen  kirchlichen  Literatur  fallen 
nicht  in  die  Zeit  ihres  Anfangs,  sondern  in  die  ihres  Abschlusses,  in  die 
Zeit,  wo  eine  in  Armenien  in  gleichem  Maße  nie  erlebte  Befreiung  vom 
rein  kirchlichen  Geiste,  der  Übergang-  einer  wesentlich  theologischen 
Literatur  in  eine  weltliche,  künstlerische  im  eng'eren  Sinne  schon  nahe 
bevorstand.  Auch  die  ältere  kirchliche  Literatur  der  Georgier  hat  allem 
Anschein  nach  einen  beachtenswerten  Reichtum  besessen.  Enthält  doch 
die  älteste  datierte  Handschrift  aus  dem  Jahre  864  schon  52  theologische 
Werke,  ein  beredtes  Zeugnis  dafür,  wie  verbreitet  auch  schon  die  der 
Übersetzung  biblischer  Schriften  erst  folgende  Literatur  war.  Aber  es 
fehlt  doch  gar  sehr  an  Persönlichkeiten,  die  sich  unverkennbar  über  ihre 
Zeitg-enossen  erheben.  Es  lassen  sich  verschiedene  Klöster  im  Lande 
Georgien  selbst  und  außerhalb  seiner  Grenzen  aufzählen,  die  als  hervor- 
ragende Stätten  kirchlicher  Bildung-  berechtigtes  Ansehen  genießen,  aber 
die  Persönlichkeiten  verschwinden  fast  ganz  unter  dem  ausgleichenden 
Druck  der  Genossenschaft.  Erst  im  10.  bzw.  11.  Jahrhundert  treten  zwei 
Männer  auf,  die  sich  merklich  von  ihrer  Umgebung  abheben,  in  denen 
die  eig-entlich  kirchliche  Literatur  der  Georgier  ihre  Höhe  erreicht  zu 
Euthymios.  habcu  schclnt,  der  heilige  Euthymios,  dessen  Tod  in  das  Jahr  1028  fällt, 
Georg  vom    Und  vor  allem  sein  jüngerer  im  Jahre   10 14  geborener  Vetter  Georg  vom 

heiligen  Berge.         .   . 

heiligen  Berge,  d.  h.  aus  dem  weltberühmten  Kloster  auf  dem  Berge 
Athos,  der  hohen  Schule  theolog-ischer  Bildung  für  die  Georgier  der  da- 
maligen Zeit.  Aber  dieser  Höhepunkt  der  altgeorgischen  kirchlichen 
Literatur  ist  keineswegs  der  Höhepunkt  des  georgischen  Schrifttums  über- 
haupt. Die  fanatisch  religiöse  Glut,  die  Armeniens  Geistesbetätigung  vom 
Anfang  an,  fast  bis  auf  unsere  Zeit,  durchströmt,  scheint  dem  georgischen 
Charakter  nicht  eigen  zu  sein.  Zwar  bleiben  auch  sie,  von  vereinzelten, 
halb  und  halb  erzwungenen  Ausnahmen  abgesehen,  dem  Christentum  unter 
drückenden  Verhältnissen  und  in  rauhen  Stürmen  treu.  Aber  die  zahl- 
reichen Vermittlungsarbeiten  der  alten  georgischen  Mönche,  ihre  vielen 
fleißigen  Übersetzungen  und  Bearbeitungen  christlich -griechischer  Werke 
erscheinen  dem  das  Ganze  rückschauend  Überblickenden  zwar  als  Grund- 
legung, aber  nicht  als  wert-  und  richtungsbestimmendes  Vorbild.  Sie  er- 
weisen sich  vielmehr  als  Vorbereitung,  als  Anbahnung  einer  der  geistigen 
Eigenart  des  Volkes  mehr  angemessenen,  weltlich  ritterlichen  Kunst. 

Beginn  der  H.    Die  Blütezeit  (12.  Jahrhundert).     Diese  Befreiung  von   der  Eng- 

Befreiang  von 

ausschließlich  herzigkeit    eines    nur    auf   das  Kirchliche    bedachten   vSinns    beginnt   wohl 

kirchlichem  .  . 

Geist.       schon   unter   der  Regierung  Davids  IIL  (1089 — 1125),    dem    die   seine   be- 
deutende   Wirksamkeit    dankbar    anerkennende    Nachwelt    den    Beinamen 
des  Erneuerers  verliehen  hat,  und  ihren  vollendeten  Sieg  feiert  sie  fraglos 
unter  der  Herrschaft   der  anscheinend    unvergeßlichen,    in    aller   Georgier 
Thamar.      Erinnerung    ewig   lebenden   Königin  Thamar  (11 84 — 12 12),    unter    der    das 


II.    Die  Blütezeit  (12.  Jahrhundert).  ^03 

erstarkte,  von  Trapezimt  bis  zum  Kaspischen  Meere  ausgedehnte  Reich 
ein  Boden  blühenden  Wohlstands  ward,  der  die  dankbare  Nachwelt,  nicht 
lange  prüfend  .und  rechtend,  in  Bausch  und  Bogen  beinahe  alles  Gute 
zuschreibt,  was  das  Land  besitzt,  das  wirklich  Vollbrachte  mit  einer 
Legende  von  weiteren  Verdiensten  umkränzend. 

König  David,    selbst  ein  Dichter,    pflegte   als  solcher  freilich  noch  in       David 

.  .  IT-»         ^'^'-    Erneuerer 

ausgesprochenem  Maße  die  ernste  religiöse  Poesie.  Seme  von  hoher  Be-  als  Dichter, 
geisterung-  getragenen  „Bußlieder"  lassen  deutlich  die  Einwirkung  der 
Psalmen  erkennen,  als  wenn  die  Lieder  des  namensverwandten  Herrschers 
von  Juda  und  Israel  es  ihm  angetan  hätten.  Und  sein  „Testament",  eine 
an  sein  Volk  gerichtete  Mahnrede,  offenbart  ebenfalls  einen  stark  reli- 
giösen, der  Vergänglichkeit  alles  Irdischen  bewußten  Geist.  Und  doch 
darf  wohl  der  Keim  der  Blüte  der  georgischen  Literatur  mit  ihrem  lebens- 
frohen, weltlichen  Gepräge  schon  in  der  Zeit  dieses  Königs  gesucht 
werden.  Denn  in  ihr  beginnt  die  nationale  Erstarkung-,  die  unter  der 
Regierung  seiner  Urenkelin  Thamar  ihre  Vollendung  erreichte  und  die 
unter  ihr  sich  entfaltende  weltfreudige  künstlerische  Tätigkeit  ermöglichte. 
Die  schöne,  hochherzige  Königin  hat  sich  nicht  nur  als  die  schutz- 
gewährende Herrscherin  ein  Verdienst  um  die  Kunst  ihrer  Zeit  erworben. 
Sie  scheint  auch  in  nicht  geringem  Maße  als  die  im  Ritterkreise  verehrte, 
auch  wohl  von  mancher  hoffnungslosen  Liebe  heimlich  angeschwärmte 
hohe  Frau  tief  anregend  gewirkt  zu  haben.  Das  offen  zur  Schau  ge- 
tragene Lob  ist  dabei  vielleicht  am  wenigsten  in  Anschlag-  zu  bringen. 
Selbst  Gregor  Thschachruchadses  einigermaßen  berühmt  gewordenes  Preis-    Thschachru- 

chadse. 

gedieht  ist  doch  wohl  kaum  viel  mehr  als  eine  etwas  langatmige  Ge- 
dankenchrestomathie aus  den  Werken  der  Alten.  Vereidigter  Hofdichter 
zu  sein,  ist  eben  in  allen  Fällen  eine  mißliche  Sache,  selbst  dann,  wenn 
die  anzusingende  Persönlichkeit  das  Geschäft  so  leicht  macht,  wie  die 
liebreizende  Thamar  es  wohl  getan  hat.  Ihr  bestes  Denkmal  ist  die  ganze 
lebensfrohe,  ritterliche,  höfische  Poesie,  die  an  ihrem  Hofe  eine  Art  Wirk- 
lichkeit ward,  das  Zeugnis  einer  weltfrohen,  glücklichen  Zeit,  in  der  man 
nicht  unter  schwer  lastendem  Druck  mit  der  Sorge  des  harten  Lebens  zu 
ringen  hatte,  in  der  sogar  der  Kampf  zum  Spiele  werden  konnte,  zum 
Spiel  des  Rittertums.  Allerdings  ist  der  Einfluß,  den  die  persische  Lite- 
ratur dabei  ausgeübt  hat,  nicht  zu  verkennen.  Aber  wenn  es  sich  auch 
überwiegend  um  Bearbeitung  iranischer  Stoffe,  zum  Teil  vielleicht  nur  um 
mehr  oder  minder  freie  Übersetzungen  handelt,  so  dürfen  die  Georgier 
diese  Literatur  doch  ebensogut  für  eine  eigene  halten,  wie  auch  wir  Hart- 
mann von  Aues,  Gottfried  von  Straßburgs  und  Wolfram  von  Eschenbachs 
Dichtung-en  nicht  für  keltisch -romanisch,  sondern  für  deutsch  erachten. 
Vielleicht  dürfen  sie  es  sogar  mit  noch  mehr  Recht  als  wir,  w^obei  es 
unberücksichtigt  bleiben  darf,  wer  sich  der  größeren  Dichter  rühmen  kann. 
Denn  das  Rittertum  steckt  viel  tiefer  im  Georgier  als  im  Deutschen,  so 
tief,   daß   man   sich  des  Gedankens  nicht  erwehren  kann:    des  sinnreichen 


204  Franz  Nikolaus  Finck:  Die  georgische  Literatur. 

Junkers  Don  Ouixote  von  der  Mancha  Lebensbeschreibung  ist  ziemlich 
eindruckslos  an  ihnen  vorübergegangen.  Wer  Gelegenheit  gehabt  hat, 
der  vor  wenigen  Jahren  veranstalteten  Feier  der  hundertjährigen  Zu- 
gehörigkeit Georgiens  zum  russischen  Reich  mehr  beobachtend  als  mit- 
spielend beizuwohnen,  wird  diesen  Eindruck  nicht  mehr  verwischen  können. 
Das  aber,  was  uns  heute  überlebt,  fast  wie  ein  Theater  vorkommen  muß, 
war  damals  noch  durchaus  begreiflich  und  wohl  auch  berechtigte  Wirk- 
lichkeit, und  die  fremden  Geschichten  von  Abenteuern,  Liebesfeldzügen 
und  Waffenspielen  mußten  eigene  werden,  weil  sie  ganz  dem  eigenen 
Leben  entsprachen. 

Drei  Werke   sind    es   vor    allem,   deren  Ruhm   die   lange  Zeit  bis  auf 
Sargis       unsere  Tage   überdauert  hat,    des  Sargis   von  Thmogwi  Prosabearbeitung 
mog\M.  ^^^  persischen  Sage  von  Wis,  der  Frau  des  Königs  Mobad,    und  Ramin, 
seinem  Bruder    und  Nebenbuhler,    einer  Liebesgeschichte   gleich   der  von 
Tristan  und  Isolde,    die    ein  Jahrhundert  vorher  in  Persien  in  Fachr-eddin 
Assad  Dschurdschani  auch   schon   ihren  Meister  Gottfried  gefunden  hatte, 
Moses  von  Chcni.  des  Moscs    von   Choni    Ritterroman    von  Amiran,    dem  Sohne    des   Dare- 
Schotha.Aschot;dschan,  und  die  alles  überstrahlende  Dichtung  des  Schotha  von  Rusthawi, 
des   Schatzmeisters    der  Königin  Thamar,    das   Epos  Wephchis-Tkaossani, 
„der    mit    der  Tigerhaut",    bis    heute  jedes   Georgiers    Stolz.     Der    Schau- 
platz   der  Dichtung    ist  Arabien.     Der    greise   König  Rostevvan    hat,    der 
Ruhe  begehrend,  seiner  Tochter  Thinathin  die  Herrschaft  übergeben,  wird 
nun  aber  in  seiner  Zurückgezogenheit  doch  durch  den  Gedanken  gequält, 
daß    sich    wohl    kaum    ein    Ritter    im    Lande    finden    werde,    der    es    ver- 
diene,   der   Prinzessin    und    ihres    Reiches   Schützer    zu  sein.     Zwar    steht 
ihr   in    dem    jungen  Befehlshaber  des  Heeres   ein   auserlesener  Ritter  zur 
Seite,    Awthandil,    schlank    wie    die    Zypresse    mit    diamantenfester    Seele, 
dem    auch    das    Rot    der  Wange    schwindet,    wenn    er,    den  Verhältnissen 
seines  Amtes    gehorchend,    der    schönen   Königstochter   fern  weilen  muß, 
dessen  Herzensglut    auch    immer  wieder  ins  Antlitz   dringt,  wenn  es  ihm 
vergönnt   wird,   sich   ihr  zu  nahen.     Aber  sie  scheint  seiner  nicht  sonder- 
lich zu  achten,  und  auch  die  Proben  der  Waffentüchtigkeit,  die  Awthandil 
dem  Könige   bei  einem   eigens   dazu   unternommenen  Jagdzuge   zu  liefern 
verspricht   und   auch   liefert,    führen   ihn  noch  nicht  zum  Ziel.     Ein  glück- 
licher Zufall  muß  ihm   erst  zu  Hilfe  kommen.     Bei  Gelegenheit  der  Jagd, 
auf  der  der  junge  Ritter  seinen  Wert  zu  beweisen  gedachte,    findet  man 
im   Walde    einen    in    ein    Tigerfell    gehüllten,    weinenden    Jüngling.     Der 
König  Rostewan  will   den  Grund   der  Trauer  feststellen  lassen;    aber  der 
junge  Mann  verschwindet,   sich  scheu  zurückziehend,   im  Dickicht,  ehe  es 
noch   geschehen  kann,    und   der  greise  Herrscher  gerät  darüber  in  tiefen 
Kummer.     Da   verspricht  seine  Tochter,    um  ihm  nach  Möglichkeit  Hoff- 
nung   auf  Erfüllung    seines  Wunsches    zu    machen,   den  Ritter  als  Gatten 
anzunehmen,    dem    die  Auffindung    des    seltsamen  Jünglings   gelinge.     Da 
bietet  sich  nun  natürlich  Awthandil  zu  diesem  Unternehmen  an  und  begibt 


III.   Die   Zeit  des  Verfalls  (13.— 17.  Jahrhunderl).  oq- 

sich  auf  die  an  Abenteuern  reiche,  zu  breiter  Entfaltung  der  Erzählungs- 
kunst Anlaß  gebende  Fahrt,  die  ihn  nach  drei  Jahren  denn  auch  zum 
Ziele  führt.  Der  Jüngling  mit  dem  Tigerfell  stellt  sich  als  der  indische 
Prinz  Tariel  heraus,  den  die  Liebe  zur  Königstochter  Nestan  dazu  geführt 
hatte,  deren  Bräutigam  zu  erschlagen,  der  dann,  als  Nestan  für  die  Täterin 
gehalten  und  verstoßen  ward,  sein  Vaterland  verlassen  hatte,  um  die  bald 
Verschollene  aufzusuchen,  und  sich  endlich,  am  Erfolg  verzweifelnd,  in 
sein  Versteck  zurückg'ezogen  hatte.  Dank  seines  Entdeckers  Awthandil 
und  anderer  Hilfe  gelingt  es  ihm  nun,  die  in  einer  scheinbar  unzugäng- 
lichen Burg  gefangen  gehaltene  Nestan  zu  befreien  und  sich  mit  ihr  zu 
vermählen,  während  der  kühne  Abenteurer  und  Held  Awthandil,  nach 
Arabien  zurückgekehrt,  Thinathins  schwererkämpfte  Hand  erhält  und  Erbe 
des  königlichen  Thrones  wird. 

Wieviel  der  Dichter  dieser  Erzählung  fremden  Vorlagen  verdankt, 
läßt  sich  heute  wohl  kaum  mit  befriedigender  Sicherheit  feststellen.  Aber 
auf  jeden  Fall  ist  er  etwas  mehr  gewesen  als  nur  ein  Nacherzähler  ihm 
sei's  mündlich,  sei's  schriftlich  überlieferter  Abenteuerberichte,  vielleicht 
sogar  ganz  bedeutend  mehr.  Nicht  selten  an  Wolfram  von  Eschenbach 
wenigstens  ein  wenig  gemahnend,  sucht  er  in  die  Tiefe  zu  gehen  und  für 
seiner  Seele  Stimmung  einen  Ausdruck  zu  finden.  Nur  dem  Namen  nach 
ist  es  ein  fremder  Schauplatz,  auf  dem  die  Handlung  sich  abspielt.  In 
Wahrheit  ist  es  des  Dichters  Heimatland,  und  es  ist  nicht  unwahrschein- 
lich, daß  er  in  der  indischen  König'stochter  Nestan  seine  hoffnungslos 
geliebte  Herrin  Thamar  selbst  dargestellt  hat,  durch  die  Verlegung  des 
Schauplatzes  wenigstens  unmittelbaren  Anstoß  klug  vermeidend. 

III.  Die  Zeit  des  Verfalls  (13. — 17.  Jahrhundert).  Mit  dem  Tode  zeit  des  Verfalls, 
der  großen  Königin  schwand  auch  bald  Georgiens  Größe.  Die  prunkhaft 
ritterliche  Herrlichkeit  hatte  auch  wohl  zu  leichtfertig  auf  Kosten  eines 
gesunden,  arbeitsfreudigen  Volkstums  gelebt,  sich  überlebt  und  den  letzten 
Rest  der  in  jedem  Ritter  lebenden  Kraft  des  Helden  ertötet.  Auf  jeden 
Fall  war  man  den  Stürmen  nicht  gewachsen,  die  nun  das  Land  überziehen 
sollten,  alle  Kultur  wegfegend,  daß  nicht  viel  mehr  als  eine  Wüste  blieb. 
Kurz  nach  Thamars  Tode  drangen  siegreiche  Mongolen  ins  Land.  Wenig-e 
Jahre  später  erschien  Dschelal- eddin,  der  Sohn  des  von  Dschengis-Chan 
vertriebenen  Chwaresmierschahs  Mohammed  (1199 — 1220),  nach  seinem 
vergeblichen  Versuch,  das  väterliche  Erbe  wiederzuerkämpfen,  sich  nach 
Art  eines  tapferen  Räuberhauptmanns  anderwärts  für  den  Verlust  ent- 
schädigend. Und  kaum  hatte  Georgien  sich  von  den  Gewalttaten  dieses 
Eindringlings  erholt,  als,  im  Jahre  1236,  die  Mongolen  unter  Dschengis- 
Chans  Sohn  von  neuem  verheerend  ins  Land  fielen,  dort  in  wenig^en 
Jahren  alles  untertänig  machten  und  sich  zu  langer  Dauer  einnisteten. 
Wohl  atmete  das  vielgeplagte  Land  noch  einmal  auf,  als  Georg  V.,  der 
Glanzvolle,   im  Jahre   13 18    den  Thron  bestieg.     Aber  ehe  noch  das  Jahr- 

DiE  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  20 


3o6 


Franz  Nikol^vus  Finck:  Die  seoisische  Literatur. 


hundert  zu  Ende  ging,  brach  Timur  Lenk,  der  furchtbarste  aller  Feinde, 
ein,  und  als  sein  Werk  vollbracht  war,  sank  Georgien,  1429  durch  eine 
Teilung  in  die  drei  Fürstentümer  Imercthien,  Kharthlien  und  Kachethien 
zersplittert,  innerlich  zerrüttet  und  erschöpft  zusammen,  um  sich  erst  gegen 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  zu  erneutem  geistigen  Aufschwung,  und  erst  in 
der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  zu  kurzer  staatlicher  Machtent- 
faltung' zu  erholen. 

Auch  dieser  dem  literarischen  Schaffen  so  ungünstigen  Zeit  fehlt  es 
Erzähiungs-  jedoch  uiclit  ganz  und  gar  an  nennenswerten  Leistungen.  Eine  Reihe  von 
Werken  der  Erzählungsliteratur,  meist  wohl  mehr  oder  minder  freie  Be- 
arbeitungen persischer  Vorlagen,  zeigt  doch,  daß  die  echt  georgische 
Lust  am  Fabulieren,  nachdem  sie  einmal  erwacht,  nie  wieder  ganz  und 
gar  unterdrückt  werden  konnte.  Es  ist  die  ganze  stattliche  Reihe  von 
Romanen,  deren  Titel  regelmäßig  auf  -ani  auslautet,  was  etwa  unserer 
Endung  -ade  entspricht,  wie  beispielsweise  die  nach  einem  ossetischen 
König  Algus  benannte  Dichtung-  Algusiani,  eine  übrigens  nur  bescheidenen 
Ansprüchen  genügende  Schöpfung,  nach  dem  Vorbilde  einer  Henriade, 
Jobsiade  und  ähnlicher  Werke  am  besten  als  Algusiade  bezeichnet  würde. 
Der  bekannteste  von  diesen  Romanen  ist  wohl  die  erst  dem  Ende  dieses 
Zeitraumes  angehörige  Sammlung  von  zwölf  durch  eine  Rahmenerzählung 
zusammengehaltenen  Geschichten,  die  nach  der  Prinzessin  Russudan,  deren 
zwölf  Brüder  die  einzelnen  Erzählungen  vortragen,  Russudaniani  genannt 
wird. 
Hechts-  und  Bemerkenswerter  als  diese  Romanliteratur,  die  bei  dem  naheliegenden 

Schreibung.  Vergleich  mit  den  Werken  der  Blütezeit  natürlich  nicht  so  leicht  be- 
stehen kann,  sind  wohl  die  Erzeugnisse  der  Rechts-  und  Geschicht- 
schreibung, vor  allen  die  Gesetze  König-  Georgs  des  Glanzvollen,  die 
später,  zu  Anfang-  des  18.  Jahrhunderts,  zusammen  mit  den  Gesetzen  des 
Atabeg  Beka  und  deren  Vervollständigung  sowie  den  unter  dem  Katho- 
likos  Malachia  aufgestellten  Kanones  dem  Rechtsbuch  des  Königs  Wach- 
tang VL  einverleibt  wurden,  und  die  ebenfalls  dem  14.  Jahrhundert  an- 
gehörigen  kirchlichen  Statuten  des  Katholikos  Arsenios,  eben  dieses 
Schriftstellers  Geschichte  der  Könige  von  Imerethien,  die  aus  dem  15.  Jahr- 
hundert stamm^ende  Beschreibung  des  Distriktes  Ssamzche  Ssaathabago 
von  Johannes  von  Mangli  und  die  Geschichte  der  Zerstörung  Georgiens, 
deren  Verfasser,  der  Katholikos  Domenethi,  im   16.  Jahrhundert  lebte. 

Die  katholische  IV.  Die  Zeit  des  Aufschw^ungs  (17. — 18.  Jahrhundert).    Der  g-eistige 

Mission  ini.-  ^-,..  . 

17.  Jahrhundert.  Aufschwung,  den  Georgien  im  17.  Jahrhundert  nahm,  steht  in  unverkenn- 
barem Zusammenhang  mit  dem  Eindringen  des  abendländischen  Geistes,  ins- 
besondere des  Katholizismus,  den  italienische  Mönche  einführten.  Eine  von 
den  Theatinern  in  Achalzich  gegründete  Missionsanstalt,  die  kurze  Zeit  nach- 
her in  die  Hände  der  Kapuziner  überging,  wurde  der  Ausgangspunkt  für  ihre 
Tätigkeit.    Und  diese  war  von  nicht  geringem  Erfolg.    Denn  wenn  auch  die 


IV.  Die  Zeit  des  Aufschwungs  (17. — 18.  Jahrhundert).  -jqv 

Zahl  der  der  römischen  Kirche  Zugeführten  nicht  allzugroß  gewesen  sein 
mag,  so  ist  doch  der  Umstand  hoch  in  Anschlag  zu  bringen,  daß  der  Ein- 
fluß der  katholischen  Missionare  bis  in  die  höchsten  Kreise  drang,  daß  es 
ihnen  gelang-,  König  Wachtang  selbst  für  ihre  Sache  zu  gewinnen  und 
sogar  höchste  Würdenträger  der  georgischen  Kirche,  wie  den  Katholikos 
Anton  von  Karthlien  und  den  Katholikos  Melchisedek  von  Imerethien. 
Aber  dieser  abendländische  Geist  scheint  trotz  alledem  doch  nicht  die 
alleinige  Ursache  der  Erhebung  gewesen  zu  sein.  Denn  ehe  seine  Ein- 
wirkung noch  deutlich  erkennbar  wird,  vollzieht  sich  schon  ein  literarischer 
Aufschwung,  der  mehr  wie  der  Abschluß  einer  von  europäischen  Ein- 
flüssen noch  unberührten  Zeit,  wie  ein  letztes  Aufflackern  eigener  Glut 
denn  als  der  Beginn  einer  neuen,  von  fremder  Kultur  geschaffenen  Epoche 
erscheint.  Die  erste  bedeutende  Persönlichkeit  dieser  Periode  ist  König 
Theimuras  L,  im  Jahre  1588  g^eboren,  1605  auf  den  Thron  erhoben,  wie  TheVmuras  i. 
in  der  Politik  so  auch  im  geistig^en  und  zumal  literarischen  Schaffen  noch 
stark  unter  Persiens  Einfluß,  wenn  auch  nicht  durchaus  ohne  geistige 
Freiheit.  Denn  neben  Nisamis  Laila  und  Medschnun,  der  ergreifenden 
Darstellung  der  unvergäng-lichen,  immer  und  immer  wieder  einen  Künstler 
bannenden  Liebestragik  zweier  Abkömmlinge  feindlicher  Häuser,  über- 
setzte er  auch  des  Pseudo-Kallisthenes  berühmten  Alexanderroman,  und 
in  seinen  lyrischen  Gedichten  erscheint  er  als  ein  nicht  unbegabter  selb- 
ständiger Künstler,  zumal  da,  wo  es  ihm  von  Herzen  kommt,  wie  nament- 
lich in  dem  Gedicht  auf  den  Märtyrertod  seiner  Mutter,  der  Königin 
Khethewan,  die  im  Jahre  1624  zu  Schiras  ihren  unerschütterlichen  christ- 
lichen Glauben  durch  ein  qualvolles  Dahinscheiden  besiegelte.  Wesentlich 
orientalisch  ist  auch  noch  König  Arthschil,  der  1647  geboren  wurde,  von  Arthschii. 
1664  bis  zum  Jahre  1675  sein  Stammland  Kachethien  regierte,  dann,  mit 
mehrfachen  langen  Unterbrechungen,  Imerethien,  dort  aber  im  Jahre  169g 
seinem  Gegner  Alexander  weichen  mußte  und  darauf  bis  zu  seinem  1712 
eintretenden  Tode  in  Moskau  verweilte.  Sein  Hauptwerk  ist  eine  nach 
ihm  benannte  Dichtung,  das  Arthschiliani,  das  namentlich  durch  seinen 
zweiten  Teil,  der  das  Leben  und  die  Wirksamkeit  TheVmuras'  I.  behandelt, 
Bedeutung-  gewonnen  hat. 

Stark  und  nachhaltig  beginnt  sich  der  vom  Abendlande  neu  entfachte  wachtang  vi. 
Geist  erst  zu  regen,  als  Wachtang  VI.  im  Jahre  1  703  den  Thron  besteigt. 
So  wenig  er  als  Herrscher  vom  Glück  begünstigt  wurde,  so  sehr  war  es 
ihm  vergönnt,  auf  die  Geistesbildung  seines  Zeitalters  tiefg-ehenden  Einfluß 
auszuüben.  Vor  allem  sind  es  zwei  Werke,  die  von  Bedeutung  geworden 
sind,  zwei  Werke,  die  freilich  nicht  von  ihm  selbst  im  eigentlichen  Sinne 
g'eschaffen  wurden,  aber  doch  sicherlich  nicht  ohne  sein  Zutun  entstanden, 
ja  entschieden  seiner  Anregung  zn  danken  sind,  ein  umfassendes  Rechts- 
buch und  die  berühmte  Geschichte  des  Landes,  die  den  Titel  „Das  Leben 
Georgiens"  trägt.  Sein  Zeitgenosse  und  Mitarbeiter  Ssaba-Ssulchan  Orbe-  Ssaba  ssuichan 
liani,    durch   Reisen    in   Europa    mit    abendländischer   Kultur    vertraut   g-e- 

20* 


-,QÜ  Franz  Nikolaus  Finck:  Die  georgische  Literatur. 

worden,  hat  ein  schätzbares  Wörterbuch  seiner  Muttersprache  hinterlassen, 
eine  Beschreibung  seiner  Reisen  und,  wohl  das  wichtigste  seiner  Werke, 
eine  Sammlung  echt  volkstümlicher,  zuweilen  fast  eulenspiegelartiger 
Schwanke  unter  der  Aufschrift  „Buch  der  Weisheit  und  Torheit",  ein  in 
hohem  Grade  bemerkenswertes  Buch,  weil  es  der  pädagogischen  Tendenz 
nach  Art  des  Pantschatantra  zum  Trotz  von  dem  unverwüstlichen  georgi- 
schen Witz  und  Humor  ein  so  deutliches  Zeugnis  ablegt.  Dabei  ist  noch  zu 
beachten,  daß  der  Verfasser  dieser  lustigen  Geschichten  nicht  nur  ein  Fürst, 
sondern  auch  ein  Mönch  war.  Prinz  Wachuschti,  ein  unehelicher  Sohn 
Wachtangs  VI.,  hat  eine  Geschichte  seines  Vaterlandes  und  eine  wertvolle 
geographische  Beschreibung  desselben  hinterlassen.  Den  Höhepunkt  der 
I-iteratur  des  i8.  Jahrhunderts  bedeuten  aber  doch  wohl  für  die  eigentlich 
Da%-id  Gurarai- künstlerische  Tätigkeit  David  Guramischwili ,  dessen  Hauptdichtung 
unter  vielen  anderen  auch  das  Leben  des  Königs  Wachtang  be- 
Kathoiikos     handelt,   in   intellektueller   Hinsicht   der   Katholikos    Anton,   der  vielseitige 


Antoa. 


Vermittler  der  Bildung,  der  Verfasser  einer  umfangreichen  georgischen 
Grammatik,  mehrerer  theologischer  Werke,  einer  Dichtung  auf  verschiedene 
hervorragende  Persönlichkeiten  seines  Vaterlandes  mit  der  Aufschrift 
„Geordnete  Rede",  der  Übersetzer  philosophischer  Arbeiten,  der  auch 
Denker  seiner  Zeit,  Christian  Wolff  und  Friedrich  Baumeister,  seinem 
Volke  zugänglich  zu  machen  versuchte,  der  Bearbeiter  der  Geschichte 
Alexanders  von  Ouintus  Curtius  Rufus,  der  armenischen  Rhetorik  Mchi- 
thars  von  Sebaste,  des  Begründers  des  nach  ihm  benannten  Ordens,  und 
anderer  Schriften. 

Das  19.  Jahr-  V.    Die    Neuzeit.     Der   Beginn   des    ig.  Jahrhunderts   wurde   für   das 

Land  Georgien  ein  nicht  nur  für  die  chronologische  Buchung  bedeutsamer 
Abschnitt  des  Lebens.  Schon  Heraklius  IL,  der  König  von  Kharthlien 
und  Kachethien,  unter  dessen  Regierung  (1781  — 1793)  das  Land  noch 
einmal  einen  letzten  Aufschwung  erlebt  hatte,  hatte  sich,  um  seinem  Volke 
den  Frieden  zu  sichern,  zu  weitgehender  Nachgiebigkeit  dem  russischen 
Reiche  gegenüber  veranlaßt  gesehen.  Ein  Vertrag,  den  er  im  Jahre  1783 
mit  Katharina  II.  schloß,  erklärte  ihn  zum  Vasallen  Rußlands,  jedoch  mit 
dem  Rechte  auf  den  Thron  Georgiens  für  sich  und  seine  Abkömmlinge, 
auf  Unabhängigkeit  der  georgischen  Kirche,  auf  eigene  Verwaltung  und 
Münzprägung.  Sein  Sohn  Georg  XII.  wurde  dementsprechend  auch  noch 
vom  Kaiser  Paul  bestätigt  und  sein  Enkel  David  als  zukünftig'er  Thron- 
erbe anerkannt.  Am  12.  September  des  Jahres  1801,  unter  der  Regierung 
Alexanders  L,  wurde  jedoch  das  Land  dem  russischen  Reiche  als  eine 
Provinz  einverleibt  oder,  nach  dem  Wortlaut  des  vom  Zaren  erlassenen 
Manifestes,  gewissermaßen  in  seinen  mächtigen  Schutz  genommen.  Nicht 
lange  nachher,  im  Jahre  18 10,  trat  auch  Gurien  in  ein  Vasallenverhältnis, 
und  in  demselben  Jahre  wurde  Imerethien  eine  russische  Provinz. 

Dieser  Zusammenbruch  wurde  auch   für  die  geistige  Entwicklung  des 


V.  Die  Neuzeit.  -jqq 

georgischen  Volkes  von  Bedeutung  und  damit  auch  für  seine  Literatur. 
Daß  der  Zutritt  europäischer  Kultur  unter  den  neuen  Verhältnissen  noch 
erleichtert  wurde,  braucht  vielleicht  nicht  allzuhoch  veranschlagt  zu  wer- 
den. Denn  Georgien  hatte  sich  ja  auch  ohne  diese  unerwünschte  Hilfe 
mindestens  schon  hinlänglich  zum  Abendlande  in  Beziehung  zu  setzen  ge- 
wußt. Von  einer  nicht  zu  unterschätzenden  Bedeutung  dürfte  dagegen  die 
eine  schwerwiegende  Folge  der  Unterwerfung  Georgiens  gewesen  sein, 
daß  es  nunmehr  endgültig  mit  dem  schon  lange  nicht  mehr  recht  zeit- 
gemäßen Rittertum  vorbei  war,  daß  fortschrittliche,  demokratische  Ideen 
nun  nicht  mehr  zurückgedrängt  werden  konnten.  In  der  Literatur  kommt 
dies  jedoch  nicht  sofort,  sondern  erst  nach  geraumer  Zeit  zum  Ausdruck. 
Denn  wenn  man  auch  von  der  schriftstellerischen  Tätigkeit  der  vier  Söhne 
des  letzten  Königs,  der  Prinzen  David,  Johannes,  Theimuras  und  Bagrat, 
sowie  der  Wirksamkeit  des  Bischofs  Gabriel  von  Imerethien  absieht,  da 
deren  Arbeiten  gewissermaßen  nur  äußerlich  dem  ig,  Jahrhundert  ange- 
hören, ihrem  Wesen  nach  aber  mehr  als  Ausläufer  der  verflossenen  Zeit 
anzusehen  sind,  so  bleibt  doch  noch  eine  Gruppe  von  Schriftstellern,  die 
den  fortschrittlichen  Ideen  noch  fremd  oder  doch  kühl  gegenüberstehen, 
die  sich  an  der  entschwundenen  Herrlichkeit  erfreuen,  ihren  Verlust  be- 
dauern, keineswegs  aber  mit  der  Vergangenheit  zu  brechen  gedenken. 
Zu  dieser  Gruppe  gehören  Alexander  Tschawtschawadse  (1789 — 1846),  der 
georgische  Anakreon,  wie  man  ihn  genannt  hat,  Gregor  Orbeliani  (1801 
bis  1883),  der  Verherrlicher  seiner  schönen  Heimat,  doch  auch  ein  Sänger 
des  Weins  und  der  Liebe,  Nikolaus  Barathaschwili  {1816 — 1845),  nicht 
wenig  von  Byrons  Geist  angehaucht,  für  dessen  Wirkung  ihn  auch  wohl 
manch  Mißg^eschick  seines  Lebens  besonders  empfänglich  machte,  Wach- 
tang Orbeliani  (181 2 — 1890),  erst  im  Alter  als  Dichter  hervortretend,  nicht 
ohne  Verständnis  für  die  da  schon  um  sich  greifenden  Gedanken  des 
Fortschritts,  mit  dem  Herzen  aber  doch  noch  am  Alten  hängend,  endlich 
auch  Georg  Eristhawi  (181 1  — 1864),  der  vielseitigste  und  tätigste  von  g.  Eristhawi. 
allen,  der  rührige  Übersetzer  fremder  Dichtungen,  der  sich  an  Racine, 
Petrarca,  Schiller,  Puschkin  und  Mickiewicz  versucht,  der  erste  Dramatiker 
und  Begründer  des  georgischen  Theaters  —  sein  Lustspiel  „Die  Teilung", 
am  2.  Januar  1850  von  Liebhabern  aus  dem  Kreise  der  Adligen  gespielt, 
war  die  Eröffnungsvorstellung  — ,  außerdem  noch  ein  arbeitsamer  Jour- 
nalist. 

Diesen  und  anderen  in  ihrem  Gefolg"e  arbeitenden  Dichtern  gegenüber 
erscheint    Elias   Tschawtschawadse    (geboren    1837)    als    der  Führer    einer  ei. Tschawtscha- 

W3.dS6 

neuen  Bewegung,  die  dem  Rittertum  und  seinem  überlebten  Geiste  schroff 
entgegentritt.  Die  erste  seiner  Erzählungen  mit  dem  herausfordernden 
Titel:  „Ist  das  ein  Mensch?",  die  Schilderung  des  in  gedankenlosem  Stumpf- 
sinn auf  Kosten  der  unterdrückten  Bauern  dahinlebenden  Gutsherren,  war 
ein  Ereignis,  das  Bewunderung  und  Entrüstung  zugleich  hervorrief,  aber 
bald  überall  siegreich  durchdrang  und  vorbildlich  für  die  Erzählungskunst 


-.jo  Franz  Nikolaus  Finck:  Die  georgische  Literatur. 

des  modernen  Georgiens  wurde.  Auch  als  Lyriker  und  Epiker  gelangte 
er  zu  hohem  Ansehen,  und  unter  diesen  Schöpfungen  wird  seine  Dichtung 
„Der  Einsiedler"  besonders  geschätzt. 

Von  seinen  Altersgenossen  ist  wohl  Akaki  Tseretheli  der  bedeutendste, 
als  Dramatiker,  als  Verfasser  eines  geschichtlichen  Epos  und  nicht  zu- 
wenigst  als  vielseitiger  Lyriker. 

Eine  nicht  geringe  Schar  mehr  oder  minder  begabter  Schriftsteller 
reiht  sich  an  diese  beiden  an,  nicht  leicht  mit  voller  Gerechtigkeit  abzu- 
schätzen. Als  Dramatiker  sind  wohl  in  erster  Linie  Rafael  Eristhawi, 
Eugen  Thsagareli  und  Alexander  Kasbeg  zu  nennen.  Letzterer  nimmt 
durch  seine  Schilderungen  aus  dem  Volksleben  auch  unter  den  Erzählern 
einen  geachteten  Platz  ein,  von  denen  außer  ihm  noch  Georg  Tseretheli, 
Nikolaus  Lomauri,  Frau  Katharina  Gabaschwili  und  aus  der  alterjüngsten 
Zeit  David  Kldiaschwili  genannt  seien.  Als  Dichter  des  Landlebens,  als 
echter  Heimatsdichter  berührt  sich  der  schon  erwähnte  Rafael  Eristhawi 
mit  den  drei  Bauernsöhnen  aus  dem  pschawischen  Hochland,  Lukas,  Niko- 
laus und  Theodor  Rasikaschwili,  von  denen  der  erstgenannte  wohl  der 
dichterisch  begabteste  in  seiner  poetisch  veranlagten  Familie  ist. 

Ein  abschließendes  Urteil  über  die  neuere  georgische  Literatur  dürfte 
wohl  noch  nicht  möglich  sein.  Auf  der  Bühne  bewegt  sich  noch  viel 
Fremdes  neben  einheimischen  Gestalten,  Moliere,  Schiller,  Alexander 
Dumas,  Sardou,  Ibsen,  Gogol,  Hauptmann  und  Sudermann.  Belletristische 
Zeitschriften  vermitteln  unausgesetzt  den  Geist  des  Abendlandes,  und  es 
ist  ein  undankbares  Geschäft,  da  die  Zukunft  weissagen  zu  wollen.  Nur 
so  viel  darf  man  wohl  behaupten,  daß  die  französische  Kultur  am  meisten 
wirkt  und  auch  am  meisten  wirken  muß.  Denn  trotz  allem  demokratischen 
Ansturm  gegen  das  Alte  hier  und  dort  bildet  ein  unausrottbares  Ritter- 
tum ein  Bindeglied  zwischen  keltischem  und  georgischem  Geist,  wie  der 
für  seinen  Glauben  und  seine  Nationalität  in  ewigem  Ernst  begeisterte 
Armenier  andererseits  sich  immer  wieder  an  den  ihm  darin  verwandten 
Deutschen  wenden  wird. 


Literatur. 

Ein  —  freilich  nicht  gerade  sonderlich  glücklicher  —  Versuch,  das  georgische  Schrift- 
tum darzustellen,  ist  schon  am  Ende  des  1 8.  Jahrhunderts  von  Franz  Carl  Alter  in  seinem 
Buche  Über  die  georgianische  Literatur  (Wien,  1798)  unternommen  worden.  Gründliche 
Forschung  beginnt  auf  diesem  Gebiete  erst  mit  M.  J.  Brosset,  über  dessen  verschiedene 
Arbeiten  die  Bibliographie  analytique  des  ouvrages  de  M.  M.  J.  Brosset  (S.  Petersbourg, 
1887)  Auskunft  gibt.  Unter  seinen  Nachfolgern  sind  besonders  A.  Thsagareli,  N.  Marr 
und  A.  Chachanaschwili  zu  nennen,  von  denen  letzterer  die  einzige  umfassende  Darstellung 
der  georgischen  Literatur  bis  zum  18.  Jahrhundert  unternommen  hat.  Siehe  A.  Chachanow, 
Otscherki  po  istorii  g^usinskoj  slowjestnosti,  I.  II.  III.  (Abriß  der  Geschichte  der  georgischen 
Literatur  [Moskau,  1895.   1897.   1901]). 


DIE  CHINESISCHE  LITERATUR. 

Von 
Wilhelm  Grube. 


Einleitung.  Unter  den  alten  Kulturländern  Asiens  ist  China  das 
einzige,  von  welchem  das  Abendland  weder  unmittelbar  noch  auch  mittel- 
bar beeinflußt  worden  ist.  Ebensowenig  hat  andererseits  China  während 
der  langen  Dauer  seiner  staatlichen  Existenz  vor  der  Einführung  des 
Buddhismus  fremdes  Lehngut  aufzuweisen.  Wohl  aber  hat  die  chinesische 
Gesittung  im  fernen  Osten  weit  über  ihre  nationalen  und  staatlichen 
Grenzen  hinaus  ihre  Herrschaft  ausgedehnt  und  ausgeübt.  Die  zum  Teil 
noch  halbwilden  Nomadenstämme  mongolischer  und  tungusischer  Herkunft, 
die  rätselhaften  Koreaner,  die  in  ihrer  unzugänglichen  Bergwildnis  abge- 
schlossenen Tibetaner,  ja  selbst  die  vorwiegend  unter  indisch-buddhistischem 
Einfluß  stehenden  Völker  Hinterindiens  —  sie  alle  befinden  sich  in  einem 
engeren  oder  weiteren  Abhängigkeitsverhältnis  zu  der  chinesischen  Kultur. 
Vor  allem  aber  das  mächtig  aufstrebende  Japan.  Je  eingehender  wir  uns 
mit  den  rezeptiv  so  hochbeanlagten  Japanern  beschäftigen,  um  so  mehr 
bricht  sich  die  Erkenntnis  Bahn,  daß  sie  erstaunlich  w^enig  geistige  Werte 
selbständig  hervorgebracht,  vielmehr  sich  im  wesentlichen  darauf  be- 
schränkt haben,  aus  chinesischem  Lehn  gut  Kapital  zu  schlagen,  ja,  daß 
sie  trotz  aller  Errungenschaften  der  abendländischen  Zivilisation  ihrem 
geistigen  Habitus  nach  noch  heute  im  Bannkreise  der  chinesischen  Ideen- 
welt stehen. 

Was  von  der  Kultur  Chinas  gilt,  das  gilt  mehr  oder  minder  auch  von 
seiner  Literatur,  die  wenigstens  innerhalb  des  Ausbreitungsgebietes  der 
chinesischen  Schriftsprache,  also  in  Korea,  Japan  und  Annam,  die  gemein- 
same Grundlage  des  geistigen  Lebens  bildet.  Verdient  demnach  die  chine- 
sische Literatur  schon  in  ihrer  Eigenschaft  als  internationaler  Kulturfaktor 
Beachtung  und  Interesse,  so  in  noch  höherem  Grade  durch  ihre  Eigenart 
und  ihr  hohes  Alter:  ein  durchaus  selbständiges  Erzeugnis  des  nationalen 
Geistes,  ist  sie  zugleich  von  allen  Literaturen  des  Altertums  die  einzige, 
die  nach  einer  ununterbrochenen  Dauer  von  vier  Jahrtausenden  noch  in 
unsere  Gegenwart  hineinreicht.    Wie  nun  aber  jede  Kunstgattung  in  bezug 


Einleitung.  ^l  \ 

auf  Art  und  Umfang  ihrer  Ausübung  an  das  Material  und  die  Werkzeuge 
gebunden  ist,  die  sie  zu  ihrer  Verfügung  hat,  so  die  Literatur  an  die 
Sprache,  die  für  sie  Material  und  Werkzeug  zugleich  ist.  Um  zu  veran- 
schaulichen, wie  weit  die  spezifische  Eigenart  der  chinesischen  Literatur 
durch  die  Beschaffenheit  des  Idioms  bedingt  ist,  ercheint  es  daher  uner- 
läßlich, eine  die  wesentlichen  Punkte  heraushebende  Charakteristik  der 
Sprache  vorauszuschicken. 

Man  pflegt  die  indochinesischen  oder  transgangetischen  Sprachen,  zu  Sprache  und 
denen  neben  dem  Chinesischen  die  Taisprachen,  das  Barmanische  und  das 
Tibetische  gehören,  im  Hinblick  auf  ihren  Bau  auch  als  monosyllabische 
oder  isolierende  zu  bezeichnen,  um  durch  diesen  Namen  anzudeuten,  daß 
sie  nur  einsilbige  Wörter  kennen.  Darin  ist  ihre  einzigartige  Sonder- 
stellung innerhalb  der  gesamten  Sprachenwelt  charakterisiert.  Nächst 
dem  Siamesischen  ist  der  Monosyllabismus  am  konsequentesten  im  Chine- 
sischen durchgeführt.  Der  Wortstamm  als  solcher  fällt  hier  mit  dem  Wort 
zusammen  und  unterliegt  keinerlei  Veränderungen,  sei  es  durch  Anfügung 
von  Affixen,  sei  es  durch  Lautwandel  irgend  welcher  Art.  Daraus  ergibt 
sich  zugleich  die  Unmöglichkeit,  Redeteile,  oder  auch  selbständige  gram- 
matische Formen  wie  Kasus,  Numerus,  Person,  Tempus,  Modus  u.  dgl. 
durch  lautliche  Mittel  voneinander  zu  unterscheiden.  Aller  sonstig'en 
Hilfsmittel  bar,  ist  die  Sprache  mithin  lediglich  auf  die  vSyntax,  die 
Gesetze  der  Wortstellung,  als  das  einzige  Mittel  des  grammatischen  Aus- 
drucks ang-ewiesen.  So  kann  z.  B.  der  Wortstamm  sie//,  der  als  solcher 
lediglich  ganz  im  allgemeinen  den  Begriff  des  Früherseins  ausdrückt,  je 
nach  der  Stellung",  die  er  als  Glied  des  Satzganzen  einnimmt,  als  Haupt- 
wort die  Früheren,  die  Alten,  als  Eigenschaftswort  früherer,  voriger,  als 
Umstandswort  früher,  erst,  als  Verhältniswort  vor,  als  Zeitwort  voranstellen 
oder  auch  vorangehen  bedeuten.  In  analog'er  Weise  sind  Subjekts-  und 
Objektsverhältnis,  prädikative  und  attributive  Funktion  u.  dgl.  m.  durch 
feste  vStellungsgesetze  geregelt. 

Bilden  nun  dergestalt  die  Gesetze  der  Wortstellung  das  Grundprinzip, 
sozusagen  das  Gerüst  des  Sprachbaues,  so  kommt  noch  ein  anderer  Faktor 
hinzu,  der  gleichsam  als  Mörtel  zwischen  den  einzelnen  Teilen  und  Gliedern 
des  Satzes  dient.  Es  sind  dies  besondere  Formwörter  teils  pronominalen, 
teils  verbalen  Ursprungs,  die  lediglich  den  Zweck  haben,  gewisse  gram- 
matische Beziehungen,  wne  etwa  Objekts-  oder  Possessivverhältnis,  Numerus, 
Tempus,  Modus  u.  ä.,  anzudeuten,  soweit  solche  sich  nicht  aus  der  Wort- 
stellung oder  aus  dem  logischen  Zusammenhang  von  selbst  ergeben.  In- 
dem die  grammatischen  Hilfswörter  den  starren  Zwang  der  Stellungs- 
gesetze hie  und  da  durchbrechen,  bewirken  sie  zugleich  eine  größere 
Beweglichkeit  und  Mannigfaltigkeit  des  Satzbaues.  Ihnen  allein  verdankt 
die  an  grammatischen  Mitteln  so  arme  Sprache  ihren  nichtsdestoweniger 
hochentwickelten  Periodenbau.  Endlich  aber  verfügt  das  Chinesische 
außerdem  über  eine   große  Anzahl  von  Partikeln,   die  lediglich  dem  Aus- 


5  14  AViLHELM  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

drucke  psychologischer  Modalität  dienen  und  der  Sprache  einen  gemüt- 
lichen Zug  naiver  Subjektivität  verleihen,  der  bisweilen  an  das  Griechische 
oder  Deutsche  erinnert. 

An  ähnlich  einschränkende  Bedingungen  wie  der  grammatische  Bau 
der  Sprache  ist  nun  auch  ihr  Lautwesen  gebunden.  Abgesehen  von  der 
ohnehin  auffallenden  Lautarmut  des  Chinesischen,  bietet  ja  schon  sein 
monosyllabischer  Charakter  wenig  Gelegenheit  zu  größerer  Lautentfaltung, 
und  dazu  kommt  noch,  daß  die  Sprache  keine  Konsonantengruppen,  sondern 
nur  einfache  Konsonanten  kennt.  Bedenkt  man  ferner,  daß  die  nord-  und 
mittelchinesischen  Dialekte  im  Gegensatz  zu  denen  des  Südens  sich  in 
einem  Zustande  völligen  lautlichen  Verfalles  befinden,  daß  z.  B.  hier  noch 
die  Auslaute  k,  /,  /,  ///,  //,  >/g  vorkommen,  dort  kein  Konsonant  außer  ;;, 
und  HO  im  Auslaute  geduldet  wird,  so  wird  man  sich  leicht  eine  Vor- 
stellung von  der  außerordentlich  geringen  Zahl  der  überhaupt  möglichen 
Lautverbindungen  machen  können.  So  zählt  beispielsweise  der  Dialekt 
von  Futschou  als  der  lautreichste  gegen  goo  verschiedene  Lautkomplexe, 
der  von  Kanton  720,  der  von  Schanghai  570,  und  endlich  der  lautärmste 
von  allen,  der  von  Peking,  g-ar  nur  420.  Mit  diesen  420  bis  900  ver- 
schiedenen LautgTuppen  würde  mithin  der  gesamte  Wortschatz  der  Sprache 
nach  der  phonetischen  Seite  hin  erschöpft  sein,  wenn  sie  nicht  zum  Glück 
über  ein  Mittel  verfügte,  welches  ihr  eine  Differenzierung  und  dadurch 
Vervielfältigung  der  vorhandenen  Lautgruppen  ermöglicht.  Dieses  Mittel 
sind  die  sogenannten  Worttöne,  die  zwar  dem  Klange  nach  an  unseren 
rhetorischen  Akzent  erinnern,  jedoch  von  diesem  dadurch  grundverschieden 
sind,  daß  sie  dem  Worte  als  solchem  untrennbar  anhaften.  Die  Worttöne, 
die  nach  den  verschiedenen  Mundarten  zwischen  vier  und  neun  variieren, 
lassen  sich  auf  folgende  vier  Grundtypen  zurückführen:  den  gleichen  Ton, 
bei  dem  die  Stimme  in  gleicher  Höhenlage  verharrt,  den  steigenden, 
ähnlich  unserem  fragenden  „so?",  den  fallenden,  bei  dem  sich  die  Stimme 
senkt,  etwa  wie  bei  dem  erklärenden  oder  bestätigenden  „so",  und  endlich 
den  kurzen  oder  „eingehenden"  Ton,  der  durch  Ausfall  eines  Auslauts- 
konsonanten entstanden  ist. 

So  erheblich  nun  auch  durch  die  Tondifferenzierung  der  Vorrat  an 
dem  Lautcharakter  nach  verschiedenen  Wörtern  zunimmt,  so  reicht  er 
dennoch  keineswegs  aus,  um  den  Bedarf  an  Bedeutungs werten  auch  nur 
annähernd  zu  decken;  vielmehr  bleiben  die  gleichlautenden  Wörter  noch 
immer  so  zahlreich,  daß  sie  auf  Schritt  und  Tritt  zu  Mißverständnissen 
Anlaß  geben.  Um  solche  tunlichst  zu  vermeiden,  bedient  sich  die  Um- 
gangssprache gewisser  stereotyper  Wortzusammensetzungen,  unter  denen 
Verbindungen  sinnverwandter  Wörter  die  wichtigsten  sind.  Aber  selbst 
dies  Verfahren  ist  nicht  immer  ausreichend,  so  daß  in  verzweifelten  Fällen 
als  ultima  ratio  die  Schrift  zu  Hilfe  genommen  werden  muß. 

Bekanntlich  ist  die  chinesische  Schrift  nicht  Buchstaben-,  sondern 
Wortschrift,   in   der  jedes  Wort  nicht  als  bloße  Lautgruppe,   sondern  als 


Einleituntr. 


&• 


315 


Träger  seiner  spezifischen  Bedeutung  durch  ein  selbständiges  Zeichen  ver- 
treten ist,  so  daß  z.  B.  der  Silbe  //  je  nach  ihrem  Bedeutungswerte  140, 
der  Silbe  yil  sogar   184  verschiedene  Schriftzeichen  entsprechen. 

In  ihrem  frühesten  Stadium  bestand  die  chinesische  Schrift  nach- 
weislich aus  Hieroglyphen,  die  teils  Bilder,  teils  Symbole  darstellten,  und 
noch  heute  verraten  zahlreiche  Schriftzeichen,  wie  z.  B.  die  für  Sonne, 
Mond,  Berg,  Wasser,  sowie  insonderheit  für  verschiedene  Tiere  deutlich 
ihren  ursprünglich  ideographischen  Charakter,  wohingegen  symbolische 
Zeichen  als  graphischer  Ausdruck  für  Raumbeziehungen  verwendet  werden. 
Beispiele  dieser  Art  sind  ein  Punkt  über  oder  unter  der  Linie  für  „oben" 
und  „unten**,  ein  durch  eine  Senkrechte  halbierter  Kreis  für  „Mitte*'  u.  dgl.  m. 
Bald  reichte  jedoch  der  Vorrat  an  einfachen  Zeichen  nicht  mehr  aus,  und 
wie  man  sich  in  der  mündlichen  Rede  durch  Wortzusammensetzungen 
geholfen  hatte,  so  schuf  man  nun  in  analoger  Weise  graphische  Ausdrucks- 
mittel für  neue  Bedeutungswerte,  indem  man  einfache  Zeichen  zu  Gruppen 
verband.  In  der  Regel  ergibt  sich  in  solchen  Fällen  der  Sinn  des  zu- 
sammengesetzten Zeichens  aus  der  Kombination  der  Einzelbedeutungen 
seiner  Bestandteile,  wie  etwa  zwei  Bäume  „Wald**,  zwei  Kinder  „Zwillinge", 
Mensch  und  Berg  „Einsiedler**  oder  die  Zeichen  für  „nicht**  und  „gerade** 
miteinander  verbunden  „krumm**  bedeuten.  Verhältnismäßig  neueren  Ur- 
sprungs sind  dagegen  die  überaus  zahlreichen  Schriftzeichen,  in  denen' 
der  eine  Teil  der  Zusammensetzung  das  sog.  Klassenhaupt,  die  Begriffs- 
kategorie erkennen  läßt,  der  das  Wort  seiner  Bedeutung  nach  angehört, 
Avährend  der  andere  Teil,  das  sog.  phonetische  Element,  dessen  Aussprache, 
freilich  nur  annähernd,  angibt.  Mehr  als  die  Hälfte  der  40000  Schrift- 
zeichen besteht  aus  solchen  phonetischen  Zusammensetzungen. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  ein  so  kompliziertes  und  schwerfälliges 
Schriftsystem  wie  das  chinesische  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  gesamte 
geistige  Entwicklung  des  Volkes  bleiben  konnte.  Ist  doch  schon  ein 
Menschenleben  erforderlich,  um  auch  nur  einen  bescheidenen  Teil  des 
Zeichenschatzes  dem  Gedächtnis  einzuprägen,  und  mit  jedem  neuen  Buch, 
das  der  Chinese  zur  Hand  nimmt,  muß  er  darauf  gefaßt  sein,  hie  und  da 
auf  ein  ihm  bisher  unbekanntes  Zeichen  zu  stoßen,  über  dessen  Aussprache 
und  Sinn  ihm  nur  sein  steter  Begleiter,  das  Wörterbuch,  Auskunft  zu 
geben  vermag.  Eine  Folge  der  auf  das  Erlernen  der  Schrift  verwendeten 
und  durch  Vererbung  gesteigerten  Gedächtnistätigkeit  war  ohne  Zweifel, 
daß  diese  allmählich  gegenüber  anderen  geistigen  Funktionen  ein  ent- 
schiedenes Übergewicht  erhielt.  Daher  dürfte  vielleicht  die  Vorliebe  des 
Chinesen  für  philologisch  -  kompilatorische  Arbeit  und  die  daraus  resul- 
tierende Tatsache,  daß  gigantische  Sammelwerke  eine  charakteristische 
Eigentümlichkeit  der  chinesischen  Literatur  bilden,  im  letzten  Grunde  auf 
die  Beschaffenheit  der  Schrift  zurückzuführen  sein. 

Nicht  minder  schwerwiegend  ist  der  Einfluß  der  Schrift  auf  die 
Sprache  und  dadurch  mittelbar  auch  wiederum  auf  die  Literatur  gewesen. 


■;t5  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

Und  zwar  war  er  zwiefacher  Art.  Solange,  wie  das  in  den  ältesten  Zeiten 
der  Fall  war,  die  ohnehin  komplizierten  Charaktere  mit  einem  Schreib- 
stift auf  Holz-  oder  Bambustafeln  eingeritzt  wurden,  wird  man  sich  be- 
strebt haben,  die  Niederschrift  des  Textes  durch  einen  möglichst  geringen 
Aufwand  an  Schriftzeichen  zu  vereinfachen.  Daraus  erklärt  sich  vermut- 
lich die  lapidare  Kürze  des  sprachlichen  Ausdrucks  in  den  ältesten  Literatur- 
denkmälern, die  schwerlich  dem  Charakter  der  mündlichen  Rede  entsprach. 
Daneben  hat  aber  die  Schrift  ihren  Einfluß  auf  die  Sprache  noch  in  psycho- 
logischer und,  wie  besonders  betont  werden  muß,  in  ästhetischer  Richtung- 
geltend gemacht.     Dieser  Punkt  bedarf  einer  Erläuterung. 

Seiner  inneren  Form  und  seinem  grammatischen  Bau  nach  zeichnet 
sich  das  Chinesische  durch  eine  logische  Schärfe  und  durchsichtige  Klar- 
heit aus,  die  kaum  noch  überboten  werden  kann,  denn  durch  die  strenge 
Herrschaft  der  Wortstellungsgesetze  erhält  der  chinesische  Satz  beinahe 
das  starr  mathematische  Gepräge  einer  algebraischen  Formel.  Dazu 
kommt  noch,  daß  das  Wort  als  solches,  im  Gegensatz  zu  dem  BegTiflF, 
den  wir  damit  zu  verbinden  pflegen,  weniger  ein  Individuum  denn  einen 
T)q3us  darstellt.  Der  Einsilbler  /d  z.  B,  bedeutet  für  sich  genommen 
zunächst  nichts  anderes  als  den  Begriff  der  Größe:  erst  aus  seiner  Stellung 
als  Glied  des  Satzganzen  ist  ersichtlich,  ob  er  als  Substantiv,  Adjektiv, 
Adverb  oder  Verb  fungiert,  mit  anderen  Worten,  ob  er  im  Sinne  von 
Größe,  groß,  sehr,  groß  sein  oder  groß  machen  aufzufassen  ist.  Eine  un- 
mittelbare Folge  dieser  Eigentümlichkeit  ist  der  vorwiegend  abstrakt- 
begTiff liehe  Charakter  der  Sprache  und,  damit  Hand  in  Hand  gehend, 
eine  gewisse  Armut  an  plastischer  Anschaulichkeit.  Verstandesmäßig^e 
Nüchternheit  und  Schwunglosigkeit  der  Phantasie  bilden  daher  auch  ein 
kennzeichnendes  Alerkmal  der  chinesischen  Literatur:  wie  der  Chinese 
keine  eigene  Mythologie  besitzt,  so  hat  er  auch  kein  nationales  Epos 
_  hervorgebracht. 

Hier  nun  setzt  die  Schrift  ein,  indem  sie  von  sich  aus  hinzubringt, 
was  der  Sprache  abgeht,  denn  das  Wortzeichen  bietet  gerade,  was  dem 
Worte  fehlt:  die  Anschaulichkeit.  Erst  im  geschriebenen  Worte  kommt 
der  Spieltrieb  der  Einbildungskraft  recht  eigentlich  zur  Entfaltung,  und 
so  manches  Schriftzeichen  zeigt  in  der  Art  seiner  Bildung  und  Zusammen- 
setzung nicht  nur  sinnliche  Anschaulichkeit,  w^enn  z.  B.  zwei  Bäume  „Wald", 
zwei  Menschen  auf  der  Erde  „sitzen",  Hund  und  Mund  „bellen"  bedeuten; 
sondern  oft  genug  auch  sinnig-poetisches  Empfinden,  Humor,  Witz  und 
epigrammatische  Satire  —  man  denke  nur  an  Verbindungen  wie  Weib 
und  Kind  für  „lieben",  ^Mensch  und  reden  für  „treu"  („ein  Mann,  ein  Wort"), 
Weib  und  Besen  für  „Hausfrau",  Mensch  und  Baum  für  „ruhen",  zwei 
Weiber  für  „Zank"  u,  dgl.  m.  Während  sich  mithin  das  chinesische  Wort 
zum  Worte  in  polysyllabischen  »Sprachen,  etwa  dem  Deutschen,  wie  der 
Begriff  zur  Anschauung  verhält,  verhält  sich  umgekehrt  das  chinesische 
Wortzeichen  zum  gesprochenen  Worte  wie  die  Anschauung  zum  Begriff. 


Einleitung.  ^  j  ^ 

Daraus  aber  ergibt  sich  des  weiteren  ein  sehr  wichtiger  Gesichtspunkt 
für  das  Verständnis  und  die  richtige  Würdigung  der  chinesischen  Literatur, 
speziell  der  poetischen:  es  genügt  nicht,  daß  man  ein  chinesisches  Gedicht 
mit  dem  Ohre  allein  aufnehme,  weil  es  sich  immer  zugleich  an  das  Auge 
wendet.  Die  chinesische  Schrift  beschränkt  sich  nicht  darauf,  den  Text 
lediglich  zu  fixieren,  sondern  sie  illustriert  ihn  gleichzeitig-  und  dient 
dadurch  auch  an  ihrem  Teil  als  Mittel  des  dichterischen  Ausdrucks,  Es 
ist  gewiß  bedeutsam,  daß  der  Chinese  sich  für  den  Begriff  „Wort"  des 
Ausdruckes  fsze  bedient,  der  eigentlich  „Schriftzeichen"  bedeutet.  Das 
scheint  zu  beweisen,  daß  dem  naiven  Bewußtsein  das  Schriftbild  näher 
liegt  als  das  Lautbild. 

Die  ersten  Anfäng-e  der  chinesischen  Kultur  verlieren  sich  wie  die  Der  konfudani- 
Anfänge  aller  alten  und  autochthonen  Kulturen  im  Dunkel  einer  sagen-  der  chinesischen 
haften  Vorzeit.  Obwohl  die  chronologisch  sicher  beglaubigte  Geschichte 
erst  mit  dem  Jahre  841  v.  Chr.  beginnt,  reicht  doch  die  schriftliche  Über- 
lieferung' weit  über  diesen  Zeitpunkt  hinaus,  und  schon  in  deren  ältesten 
Denkmälern  erscheint  China  als  ein  monarchisch  regierter  Staat  mit  einer 
reichgegliederten  Beamtenhierarchie,  mit  einem  weitverzweigten  Verwal- 
tung-smechanismus,  mit  althergebrachten  und  streng  beobachteten  sozialen 
sowohl  wie  relig'iösen  Satzungen  und  Bräuchen,  kurz,  als  ein  Staatswesen 
mit  allen  Merkmalen  einer  uralten  Gesittung-.  Aber  dennoch  wird  man 
diese  Kultur,  will  man  sie  mit  einem  kurzen  Schlagwort  charakterisieren, 
als  konfucianisch  bezeichnen  müssen,  mithin  auf  eine  Persönlichkeit  zurück- 
führen, die  einer  verhältnismäßig-  sehr  viel  jüngeren  Zeit  angehört.  Dieser 
scheinbare  Widerspruch  hat  indessen  seine  tiefe  innere  Berechtigung,  denn 
erst  durch  Konfucius  ist  jene  Kultur  zum  bewußten  Besitz  der  Nation 
geworden,  erst  durch  ihn  ward  sich  das  Chinesentum  über  das  Woher  und 
Wohin  seines  geschichtlichen  Daseins  klar,  erst  durch  ihn  erhielt  es  seine 
ausgeprägte  Physiognomie  und  seinen  nationalen  Habitus.  So  ist  auch 
die  im  engeren  Sinne  klassische  Literatur  in  ähnlicher  Weise  als  das 
Werk  des  Konfucius  anzusehen:  nicht  als  ob  er  sie  g-eschaffen  hätte, 
denn  sie  reicht  in  ihren  Anfängen  in  uralte  Zeiten  zurück  und  ist  in 
ihren  letzten  Ausläufern  nachkonfucianisch,  wohl  aber  weil  in  jenen 
Schriftwerken  g-leichsam  die  Summe  seiner  Lebensauffassung  niederg-elegt 
ist,  die  dann  das  Volk  zu  der  seinen  gemacht  hat. 

Das  Leben  des  Konfucius  (551 — 478  v.  Chr.)  fällt  in  eine  Zeit  poli-  Konfucius. 
tischen  Niederganges.  Die  Tschou-Dynastie,  die  schon  seit  600  Jahren 
den  Thron  innehatte,  sank  infolge  des  von  ihr  adoptierten  Feudalsystems 
je  länger  je  mehr  zu  einer  bloßen  Scheinmonarchie  herab,  während  die 
mächtigeren  unter  den  Vasallenfürsten  ihr  zu  wiederholten  Malen  bald 
einzeln,  bald  untereinander  verbunden  die  Spitze  boten.  Konfucius  selbst 
war  aus  einem  kleinen  Duodezstaate,  dem  Fürstentum  Lu,  in  der  heutigen 
Provinz  Schantung-  gelegen,  g-ebürtig,  der  nur  dadurch  zu  historischer 
Berühmtheit  gelangt  ist,   daß   er  die  Heimat   der   beiden  volkstümlichsten 


-l8  "Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

Weisen  Chinas,  des  Konfucius  und  des  Meng-tsze  war.  Ein  günstiges 
Geschick  fugte  es,  daß  Konfucius  in  jungten  Jahren  die  Reichshauptstadt 
besuchen  durfte,  die  damals  gewissermaßen  das  Zentrum  der  Tradition  war 
und  auch  noch  mancherlei  Denkmäler  der  Vergangenheit  in  ihren  Mauern 
barg-.  Im  dortigen  könig^lichen  Archiv  wird  sein  Interesse  für  das  vater- 
ländische Altertum  reiche  Nahrung  gefunden  haben,  denn  wir  finden  ihn 
nach  seiner  Heimkehr  14  Jahre  lang  fern  von  jeder  amtlichen  Tätigkeit, 
emsig  mit  der  Sammlung  und  Sichtung  jener  ehrwürdig'en  Dokumente 
alten  Schrifttums  beschäftigt,  die  seinen  Namen  unsterblich  machen  sollten. 
Nur  vorübergehend  bekleidet  Konfucius  einen  hohen  Verwaltungsposten 
in  seiner  Heimat,  um  ihr  dann,  enttäuscht  durch  die  Erfolglosigkeit  seiner 
Bestrebung-en,  dauernd  den  Rücken  zu  kehren.  13  Jahre  lang  wandert 
er  darauf,  von  einer  stetig  wachsenden  Jüngerschar  umg-eben,  von  Ort  zu 
Ort,  von  Staat  zu  Staat,  bis  er  als  Greis  wieder  ins  Land  seiner  Väter 
heimkehrt,  wo  er  die  fünf  letzten  Lebensjahre  dazu  benutzt,  die  von  ihm 
gesammelten  Texte  endg^ültig  zu  redigieren.  Die  Erfüllung-  seines  Lieb- 
lingswunsches, tätig  auf  die  Geschicke  des  Reiches  einzuwirken  und  es 
womöglich  neuer  Macht  und  Blüte  entgegenzuführen,  blieb  ihm  versagt. 
Arm  an  äußeren  Erfolgen,  hat  dieses  Einzelleben  dennoch  dem  Leben 
eines  ganzen  großen  Volkes  die  Bahn  g-ewiesen,  die  es  nunmehr  seit 
zwei  Jahrtausenden  gewandelt  ist;  selbst  kaum  ein  Schriftsteller  zu  nennen, 
darf  Konfucius  dennoch  als  der  eigentliche  Begründer  der  chinesischen 
Literatur  bezeichnet  werden;  arm  an  eigenen,  schöpferischen  Gedanken, 
ist  er  es  dennoch  gewesen,  der  dem  gesamten  Geistesleben  seiner  Nation 
Inhalt  und  Richtung  gab.  Darin  liegt  seine  weltgeschichtliche  Bedeutung, 
die  weit  über  die  Grenzen  seines  Vaterlandes  hinausreicht. 

Die  Zerfahrenheit  der  politischen  Zustände  sowie  des  sozialen  und 
sittlichen  Lebens  überhaupt  war  es,  die  den  Blick  des  Konfucius  auf  die 
Vergangenheit  lenkte.  In  ihr  erkannte  er  das  goldene  Zeitalter,  in  der 
Rückkehr  zu  den  patriarchalischen  Formen  des  Altertums  sah  er  die 
einzige  Rettung  aus  den  Wirren  einer  verwilderten  Gegenwart.  Daher 
war  auch  bei  seiner  literarischen  Tätigkeit  nicht  etwa  das  theoretische 
Interesse  des  Altertumsforschers  der  leitende  Gesichtspunkt,  sondern  das 
eminent  praktische  Ziel  der  sittlichen  und  politischen  Wiedergeburt  seines 
Volkes.  Keineswegs  war  ihm  darum  zu  tun,  die  literarischen  Denkmäler 
der  Vergangenheit  in  möglichster  Vollständigkeit  der  Nachwelt  zu  über- 
liefern, sondern  nur  darum,  unter  dem  vorhandenen  Material  eine  Aus- 
wahl des  für  seine  Zwecke  Geeignetsten  zu  treffen.  Nur  wenn  man  dies 
im  Auge  behält,  gewinnt  man  den  richtigen  Standpunkt  für  die  Beur- 
teilung der  von  ihm  geschaffenen  klassischen  Literatur  Chinas. 

a) Das Schi-king.  I,  Die  klassischc  Literatur  (ca.  2000  v.  Chr.  bis  zum  2.  Jahrhundert 
n.  Chr.).  I,  Die  fünf  King.  Unter  den  von  Konfucius  gesammelten  und 
redigierten  sog.  fünf  King  oder  kanonischen  Büchern  nimmt  als  Literatur- 


I.  Die  klassische  Literatur  (ca.  2000  v.  Chr.  bis  zum   2.  Jahrhundert  n.  Chr.).  ^ig 

denkmal  unstreitig"  das  Schi-king,  das  kanonische  Liederbuch,  die  vor- 
nehmste Stelle  ein,  eine  Sammlung,  von  der  sich  wohl  ohne  Übertreibung 
sagen  läßt,  daß  sie  zu  den  köstlichsten  poetischen  Schätzen  des  gesamten 
Altertums  gehört  und  einen  unverg'änglichen  Ehrenplatz  in  der  Weltliteratur 
beanspruchen  darf.  Wie  die  ältesten  dieser  Lieder  dem  42.,  die  jüng.sten  dem 
7.  vorchristlichen  Jahrhundert  angehören,  so  lassen  sie  auch  nach  Inhalt  und 
Form  eine  große  Mannigfaltigkeit  erkennen.  Während  zahlreiche  Lieder 
des  ersten  Buches  durchaus  das  Gepräge  echter  Volkslieder  tragen, 
weisen  die  größeren  Oden  und  Opfergesänge  deutlich  die  Merkmale  einer 
bereits  hochentwickelten  Kunstdichtung  auf,  aber  einer  Kunstdichtung 
freilich,  die  im  Gegensatz  zu  ihren  späteren  Auswüchsen  noch  durchaus 
auf  dem  Boden  einer  gesunden  Natürlichkeit  steht.  Die  Stoffe  jener 
Lieder  sind  vielfach  unmittelbar  dem  täglichen  Leben  entnommen;  man 
sieht  das  Volk,  wie  es  leibt  und  lebt,  wie  es  arbeitet  und  feiert,  liebt  und 
leidet,  tändelt  und  scherzt,  klagt  und  jubiliert,  kurz:  alle  Töne  mensch- 
licher Stimmungen  und  Empfindungen  finden  in  ihnen  ihren  Ausdruck. 
Andererseits  vermitteln  die  Gesänge,  die  bei  höfischen  Festlichkeiten  und 
bei  Opferfeiern  vorgetragen  wurden,  ein  lebendig- anschauliches  Bild 
sowohl  der  höfischen  Etikette  wie  der  würdevollen  Einfachheit  des  reli- 
giösen Kultus. 

Die  Überlieferung  berichtet,  daß  die  alten  Könige  auf  ihren  traditio- 
nellen Inspektionsreisen  durch  die  Vasallenstaaten  die  dort  üblichen  Lieder, 
weil  sie  in  ihnen  den  treffendsten  Ausdruck  der  sittlichen  Zustände  zu  er- 
kennen glaubten,  samt  den  zugehörigen  Sangesweisen  sammeln  ließen,  und 
daß  auch  die  Lieder  des  Schi-king  auf  diesen  Brauch  zurückzuführen  seien. 
Es  soll  ursprünglich  dreitausend  solcher  Lieder  g-egeben  haben,  von  denen 
jedoch  nur  350  von  Konfucius  in  seine  Sammlung-  aufgenommen  wurden. 
Was  die  äußere  Form  der  Lieder  anlangt,  so  bestehen  sie  meist  aus 
Strophen  von  gleicher  Verszahl,  während  die  Silbenzahl  der  Verse  zwischen 
vier  und  acht  schwankt.  Sehr  beliebt  ist  der  Reim,  und  oft  kehrt  sogar 
durch  sämtliche  Verse  der  gleiche  Endreim  wieder,  eine  Spielerei,  die 
jedenfalls  auf  den  Reichtum  der  Sprache  an  gleichlautenden  Wörtern 
zurückzuführen  ist.  Eine  weitere  Eigentümlichkeit  der  ältesten  chinesischen 
Dichtung  ist  die  Vorliebe  für  die  Wiederkehr  gleicher  oder  ähnlicher 
Wendungen,  wie  sie  ja  auch  für  die  hebräische  Poesie  charakteristisch 
ist.  Auch  der  Kehrreim  ist  eine  Figur,  die  sehr  häufig  Verwendung 
findet. 

Dem  Schi-king  in  mancher  Beziehung  verwandt  ist  das  Schu-king,b)DasSchukiiig. 
das  oft  mit  falscher  Wiedergabe  des  Titels  als  „Das  Buch  der  Annalen" 
bezeichnet  wird,  während  der  Name,  wörtlich  übersetzt,  „Kanonisches  Buch 
der  Urkunden"  lauten  müßte.  In  dieser  Form  entspricht  der  Titel  auch 
ungleich  besser  dem  Inhalt  des  Textes,  denn  dieser  enthält  weder  eine 
Chronik,  noch  auch  überhaupt  eine  fortlaufende  geschichtliche  Erzählung-, 
sondern  vorwiegend  Reden,  Ermahnungen  und  Erlasse,  die  teils  den  alten 


320  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

Herrschern  selbst,  teils  ihren  Ratgebern  in  den  Mund  gelegt  werden.  Da- 
zwischen finden  sich  freilich  auch  Aufzeichnungen  über  die  Topographie 
sowie  über  die  Verwaltung  des  Reiches,  ja  selbst  ein  Traktat  ethisch- 
philosophischen Inhaltes.  Wichtiger  jedoch  als  der  Inhalt  des  Buches  ist 
seine  Form.  Im  Geg'ensatz  zum  Schi-king  ist  das  Schu-king  allerdings 
Prosa,  aber  —  und  das  ist  wichtig"  —  größtenteils  rhythmische  Prosa. 
Auch  die  soeben  erwähnten  Wiederholung^en  ähnlicher  Wendungen  be- 
gegiien  im  Schu-king  auf  Schritt  und  Tritt.  Endlich  wird  die  prosaische 
Diktion  vielfach  durch  Reimverse  unterbrochen,  die  unmittelbar  in  den 
Zusammenhang  der  Rede  hineinverflochten  sind,  ohne  ihn  zu  unterbrechen. 
Diese  formalen  Eigentümlichkeiten  stellen  den  im  Grunde  poetischen,  bis- 
weilen beinahe  epischen  Charakter  des  Buches  außer  Zweifel,  eine  Tat- 
sache, die  bisher  meist  übersehen  oder  doch  wenig^stens  nicht  genügend 
hervorgehoben  wurde. 

Gleich  den  Liedern  des  Schi-king  gehören  auch  die  Texte,  die  in 
dem  Schu-king  vereinigt  sind,  sehr  verschiedenen  Zeiten  an.  Astrono- 
mische Erwägungen  haben  ergeben,  daß  der  vermutlich  älteste  Bestandteil 
des  Buches,  der  „Kanon  des  Yao"  um  2000  v.  Chr.  geschrieben  sein  muß, 
während  die  jüngsten  Abschnitte  bis  627  oder  624  v.  Chr.  hinabreichen, 
so  daß  das  Schu-king  einen  Zeitraum  von  beinahe  anderthalb  Jahrtausen- 
den umfaßt.  Selbstverständlich  läßt  sich  der  zeitliche  Abstand  zwischen 
den  verschiedenen  Teilen  des  Buches  auch  an  der  Form  des  sprachlichen 
Ausdruckes  erkennen,  doch  harren  die  außerordentlich  verwickelten  und 
schwierig-en  Probleme,  die  hier  eine  wissenschaftliche  Textkritik  zu  über- 
winden hat,  noch  ihrer  Lösung, 
c)  Das vih-king.  Für    das    älteste  Denkmal   des    chinesischen   Schrifttums   gilt    —    und, 

soweit  der  Grundtext  des  Buches  in  Betracht  kommt,  vielleicht  mit  Recht 
—  das  Yih-king  oder  „Kanonische  Buch  der  Wandlungen".  Es  ist  dies 
ursprünglich  eine  Sammlung  von  64  Hexagrammen,  die  ihrerseits  die  mög- 
lichen Kombinationen  von  acht  Trigrammen,  den  sogenannten  pah-kua, 
darstellen  und  aus  parallel  übereinander  geordneten,  teils  ganzen,  teils  ge- 
brochenen Linien  bestehen.  Die  Entstehung  dieser  mystischen  Zeichen 
wird  auf  den  mythischen  Kaiser  P'uh-hi,  ihre  Gruppierung  und  erste  Deu- 
tung auf  Wen-wang,  den  Vater  des  Begründers  der  Tschou-Dynastie, 
zurückgeführt,  der  auch  den  ältesten  Kommentar  zum  Yih-king  verfaßt 
haben  soll. 

Das  Yih-king  hat  als  Handbuch  der  Wahrsagekunst  und  Orakel- 
sammlung gedient;  diesem  Umstände  ist  es  zu  verdanken,  daß  es  von  dem 
Edikt  der  Bücherv'erbrennung  (s.  unten)  nicht  betroffen  wurde  und  daher 
in  unversehrtem  Zustande  erhalten  blieb.  Durch  seinen  abstrus-rätselhaften 
Charakter  hat  es  auf  das  Denken  aller  nachfolgenden  Geschlechter  einen 
unwiderstehlichen  Reiz  ausgeübt  und  dadurch  die  philosophische  Speku- 
lation nachhaltiger  beeinflußt  als  irgend  ein  anderes  Erzeugnis  der  chine- 
sischen Literatur.     Es  ist  bezeichnend,  daß  in  dem  großen,  im  Jahre  1790 


I,  Die  klassische  Literatur  (ca.  2000  v.  Chr.  bis  zum  2.  Jahrhundert  n.  Chr).  ^2  1 

herausgegebenen  Katalog  der  kaiserlichen  Bibliothek  nicht  wenig'er  als 
336  bändereiche  Werke  aufgezählt  werden,  die  sich  ausschließlich  mit  dem 
Yih-king  befassen.  Vor  allem  aber  ist  es  das  unter  dem  Namen  Feng- 
schui,  d.  h.  „Wind  und  Wasser",  bekannte  geomantische  System,  das  hoch 
heute  mit  unverminderter  Gewalt  über  alle  Schichten  der  Nation  seine 
unheilvolle  Herrschaft  ausübt,  ganz  und  gar  ein  Produkt  des  Yih-King. 
Alles  in  allem  g-enommen,  kann  man  somit  wohl  sagten,  daß  das  Buch 
mehr  der  Kultur-  als  der  eigentlichen  Literaturgeschichte  angehört. 

Von  vorwiegend  kulturgeschichtlichem  Interesse  ist  ebenfalls  das  Li-ki,  d)  Das  Li-ki. 
d.  h.  „Aufzeichnungen  über  die  Riten",  eine  Kompilation  teils  zweifellos 
uralter,  teils  aber  auch  verhältnismäßig  modemer,  ritueller  Texte,  die  in 
der  uns  vorliegenden  Fassung  nachweislich  erst  im  2.  Jahrhundert 
unserer  Zeitrechnung  entstanden  ist.  Obwohl  diese  Sammlung  sich  aus 
Bestandteilen  zusammensetzt,  die  nach  Alter  und  Inhalt  die  größte  Ver- 
schiedenheit und  Buntscheckigkeit  aufweisen,  ohne  einen  einheitlichen  Plan 
erkennen  zu  lassen,  ist  sie  nichtsdestoweniger,  mit  kritischer  Vorsicht  be- 
nutzt, als  kulturgeschichtliches  Quellenwerk  von  unschätzbarem  Werte. 

Der  Begriff  des  Li,  dem  eine  das  ganze  innere  und  äußere  Leben  des 
Chinesen  beherrschende  Bedeutung  innewohnt,  beschränkte  sich,  wie  aus 
der  Zusammensetzung  des  betreffenden  Schriftzeichens  hervorgeht,  ursprüng- 
lich wohl  ausschließlich  auf  die  Riten  des  religiösen  Kultus.  Aber  schon 
frühzeitig  erweitert  er  seinen  Umfang,  indem  er  zugleich  die  höfische 
Etikette,  die  gesellschaftlichen  Umgangsformen,  das  schickliche  Verhalten 
in  allen  Vorkommnissen  des  öffentlichen  und  häuslichen  Lebens,  endlich 
sogar  die  jenem  äußeren  Verhalten  entsprechende  innere  Gesinnung  umfaßt 
und  dadurch  die  für  die  ethische  Auffassung  und  die  sittliche  Kultur  der 
Chinesen  so  verhängnisvolle  Gleichsetzung  von  Schicklichkeit  und  Sitt- 
lichkeit herbeiführt.  Dementsprechend  behandelt  denn  auch  das  Li-ki 
neben  dem  religiösen  Ritual  und  dem  höfischen  Zeremoniell  gleichfalls  die 
sowohl  religiösen  als  auch  profanen  Bräuche,  welche  die  wichtigsten 
Momente  des  menschlichen  Lebens:  Geburt,  Namengebung,  Mündigkeits- 
feier, Eheschließung  und  Tod  begleiten;  ja  sogar  das  Familienleben,  der 
Verkehr  zwischen  Ehegatten,  zwischen  Eltern  und  Kindern,  zwischen  den 
Geschwistern  untereinander  steht  ganz  und  gar  unter  der  Herrschaft  des 
Li.  Daher  ist  das  Li-ki  recht  eigentlich  der  Schlüssel  zum  Verständnis  des 
chinesischen  Wesens:  seine  innere  Gebundenheit,  seine  vielgerügte  Un- 
wahrhaftigkeit,  verbunden  mit  einer  souveränen  Beherrschung  der  äußeren 
Formen,  sein  schablonenhafter  Schematismus,  der  jede  freie  Gemütsregung 
im  Keime  erstickt  — ,  lauter  Erscheinungen,  die  von  fremden  Beobachtern 
so  oft  belächelt  und  selten  verstanden  werden,  lassen  sich  nur  auf  Grund 
eingehender  Kenntnis  des  Li-ki  in  ihrer  geschichtlichen  Bedingtheit  be- 
greifen. Wenn  vielleicht  auch  die  Kenntnis  gerade  dieses  Buches  nicht 
in  demselben  Maße  verbreitet  sein  mag,  wie  die  der  übrigen  kanonischen 
und  klassischen  Bücher,  die  jeder  Gebildete,  zum  größten  Teil  wenigstens. 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7  21 


,27  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

auswendig  kennt,  so  ist  es  dafür  mehr  als  sie  alle  dem  Chinesen  in  Fleisch 
und  Blut  übergegangen. 

Außer  dem  Li-ki  existieren  noch  zwei  andere  alte  Ritualkodizes,  die 
im  Gegensatz  zu  jenem  systematisch  geordnete  Zusammenstellungen  sind. 
Das  ein  davon,  das  J-li,  d.  h.  „Konventionelle  Riten",  behandelt  sämtliche 
religiösen  und  profanen  Bräuche  des  öffentlichen  Lebens,  während  das 
andere,  Tschou-li,  „die  Riten  der  Tschou-Dynastie",  mehr  eine  Art  Staats- 
handbuch ist,  welches  den  Beamtenapparat  und  dessen  Funktionen  zum 
Gegenstand  hat  und  daher  ursprünglich  auch  den  zutreffenderen  Titel: 
Tschou-kuan,  d.  h.  „die  Ämter  des  Tschou",  trug.  Es  wird  zwar  für  ein 
Werk  des  Tschou-kung  (12.  Jahrh.  v.  Chr.)  ausgegeben,  dürfte  jedoch  aus 
inneren  Gründen  wohl  eher  in  die  Zeit  der  Han-Dynastie  zu  setzen  sein. 
Bei  der  Wichtigkeit,  die  den  rituellen  Bräuchen  beigemessen  wird,  darf 
es  nicht  wundernehmen,  wenn  die  chinesische  Literatur  an  Ritualwerken 
jeglicher  Art  außerordentlich  reich  ist.  Die  umfangreichste  unter  den 
neueren  Kompilationen  dieser  Gattung  ist  wohl  das  im  Jahre  1753  er- 
schienene Wu-li-f  ung-k'ao,  d.  h.  „vollständige  Untersuchung  der  fünf  Kate- 
gorieen  von  Bräuchen",  Darin  werden  in  hundert  Bänden  der  Reihe  nach 
die  Opferriten,  das  Zeremoniell  für  höfische  Festlichkeiten,  die  Zeremonieen, 
die  beim  Empfange  von  Gästen  bei  Hofe  beobachtet  werden,  militärische 
Bräuche  und  Trauerriten  behandelt, 
e  Das  Tsch'uQ-  Das  einzige  von  den  fünf  kanonischen  Büchern,  welches  nachweislich 

Konfucius  selbst  zum  Verfasser  hat,  ist  das  Tsch'un-ts'iu ,  „Frühling  und 
Herbst",  eine  Chronik  seines  Heimatstaates  Lu,  und  diesem  Umstände 
allein  verdankt  es  wohl  sein  Ansehen,  das  es  sonst  schwerlich  erlangt 
hätte.  Es  enthält  nämlich  weiter  nichts  als  eine  äußerst  dürftige  und 
wortkarge  chronologische  Zusammenstellung  der  wichtigsten  Ereignisse, 
die  sich  in  dem  Zeiträume  zwischen  722  und  481  v.  Chr.  in  jenem  Fürsten- 
tume  zugetragen  haben.  An  sich  ist  das  Büchlein  inhaltlich  und  formell 
gleich  unbedeutend:  seinen  Wert  als  eine  Geschichtsquelle  ersten  Ranges 
erhält  es  erst  durch  das  Tso-tschuan,  den  beigefügten  weitläufigen  Kom- 
mentar, der,  an  die  Geschichte  des  Fürstentums  Lu  anknüpfend,  die  gleich- 
zeitigen Ereignisse  in  den  übrigen  Vasallenstaaten  in  den  Kreis  seiner 
Betrachtung  einschließt  und  als  der  erste  Versuch  einer  zusammenfassenden 
historischen  Darstellung  in  der  chinesischen  Literatur  bezeichnet  werden 
kann.  Bei  einer  vorurteilsfreien  Vergleichung  von  Text  und  Kommentar 
gewinnt  man  den  Eindruck,  daß  vielmehr  dieser  für  den  eigentlichen  Text 
zu  halten  sei,  dem  die  lakonischen  Sätze  des  Tsch'un-ts'iu ,  vielleicht  ein 
von  Konfucius  angefertigter  Auszug  aus  der  offiziellen  Chronik  von  Lu, 
gleichsam  als  Leitsätze  oder  Kapitelüberschriften  vorangestellt  wurden. 
Und  erwägt  man  ferner,  daß  uns  über  die  Existenz  und  Persönlichkeit 
des  Tso  K'iu-ming,  des  angeblichen  Verfassers  des  Tso-tschuan,  absolut 
nichts  Zuverlässiges  bekannt  ist,  so  dürfte  die  Vermutung  doch  vielleicht 
nicht  ohne  weiteres  von   der  Hand   zu   weisen   sein,   daß   es  nicht  sowohl 


I.  Die  klassische  Literatur  (ca.  2000  v.  Chr.  bis  zum   2.  Jahrhundert  n.  Chr.).  ■123 

das  Tsch'un-ts'iu  als  vielmehr  das  Tso-tschuan  sei,  in  dem  wir  ein  Werk 
des  Konfucius  zu  erblicken  hätten.  Jedenfalls  erschiene  dieses  des  Weisen 
würdiger  als  jenes,  und  zugleich  würde  durch  eine  solche  Annahme  der 
hohe  Wert,  den  Konfucius  selbst  seinem  Werke  beimißt,  eine  befriedigende 
Erklärung  finden. 

2.  Die  vier  Schu.  So  hoch  und  unbestritten  nun  aber  auch  die 
Autorität  der  fünf  King  dasteht,  an  Volkstümlichkeit  werden  sie  ent- 
schieden von  den  Sze-schu  oder  vier  klassischen  Büchern  weit  übertroffen. 
Diese  sind  wirklich  im  vollsten  Sinne  Gemeingut  der  Nation,  denn  jeder 
Chinese,  der  über  eine  leidliche  Elementarbildung  verfügt,  kennt  sie  Wort 
für  Wort  auswendig;  zugleich  aber  sind  sie  recht  eigentlich  der  Kanon 
der  konfucianischen  Schule.  Obenan  steht  in  dieser  Beziehung  das  Lun-yü  a)  Das  Lun-yü. 
als  die  einzige  authentische  Quelle  für  die  Kenntnis  der  Lehren  des 
Konfucius.  Schon  die  äußere  Form  des  Buches  ist  charakteristisch.  Es 
besteht,  wie  auch  der  Titel  besagt,  aus  Unterredungen  und  aphoristischen 
Aussprüchen  des  Weisen  und  der  hervorragendsten  unter  seinen  Schülern. 
Alles  andere  eher  als  ein  Systematiker,  beschränkt  sich  Konfucius  darauf, 
Auskunft  zu  geben,  wenn  er  um  eine  solche  angegangen  wird.  Gelegen- 
heit und  Zufall  geben  die  Frage  ein,  nüchtern  und  wortkarg  fällt  in  der 
Regel  die  Antwort  aus.  Nichts  eigentlich  Neues,  aber  um  so  mehr  Brauch- 
bares und  im  praktischen  Leben  Verwertbares.  Die  am  häufigsten  wieder- 
kehrenden Themata  beziehen  sich  auf  das  Gebiet  des  politischen  und  sitt- 
lichen Lebens.  Die  Gegenwart  nach  dem  Vorbilde  des  in  seinen  Augen 
klassischen  Altertums  umzugestalten,  ist  das  stete  Bestreben  des  Meisters, 
daher  denn  auch  Fragen,  die  sich  auf  alte  Überlieferung,  Sitten  und 
Bräuche  beziehen,  mit  liebevoll  eingehender  Pietät  behandelt  werden. 
Das  metaphysische  Bedürfnis  hingegen  bleibt  völlig  unberücksichtigt,  weil 
Konfucius  selbst,  trotz  seiner  angeblichen  Begeisterung  für  das  Yih-king, 
ein  solches  nicht  gekannt  zu  haben  scheint.  Ebenso  nahm  er  die  reli- 
giösen Anschauungen  und  Überlieferungen  des  Altertums  als  etwas  Ge- 
gebenes hin,  ohne  sich  darüber  den  Kopf  zu  zerbrechen:  als  echter  Chinese 
interessiert  er  sich,  soweit  die  Religion  in  Betracht  kommt,  mehr  für 
die  äußeren  Formen  des  Kultus  als  für  den  Glaubensinhalt. 

Schwerlich  ein  Werk  unmittelbarer  Schüler  des  Konfucius,  ist  das 
Lun-yü  vermutlich  erst  gegen  Ende  des  fünften  oder  zu  Anfang  des 
vierten  Jahrhunderts  v.  Chr.  entstanden,  nichtsdestoweniger  ist  es  als  der 
lauteste  und  unverfälschte  Ausdruck  seiner  Lehren  nicht  nur,  sondern 
auch  seiner  Lehrweise  zu  betrachten,  wie  denn  ja  auch  der  Gesprächston, 
in  dem  die  meisten  Äußerungen  und  Sentenzen  gehalten  sind,  durchaus 
den  Stempel  der  auf  treuer  Überlieferung  beruhenden  Echtheit  trägt.  Ein 
reicher  Schatz  schlichter,  tüchtiger  Spruchweisheit,  ist  das  Lun-yü  wohl 
geeignet,  als  Richtschnur  für  das  sittliche  Handeln  zu  dienen.  Literar- 
geschichtlich  ist  es  interessant  als  das  früheste  Denkmal  der  altchine- 
sischen Umgangssprache. 

21* 


^2  4  "Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

b)  Das  Ta-hioh.  Die  beiden  nächstfolgenden  unter  den  vier  klassischen  Büchern,   das 

yung.  °  Ta-hioh  und  das  Tschung-j'ung-,  sind  kurze  Traktate,  die  ursprünglich  zwei 
Kapitel  des  Li-ki  bildeten.  Das  Ta-hioh,  d,  h.  „die  große  Lehre",  be- 
handelt den  Gedanken,  daß  die  Selbstkultur  des  Einzelnen  die  Grundlage 
eines  geordneten  Staatswesens  bilde.  Das  Mittel  zur  Selbstvervollkomm- 
nung- ist  das  Wissen,  welches  seinerseits  auf  dem  Eindringen  in  die  Natur 
der  Dinge  beruht.  Mehr  ins  metaph3'sische  Gebiet  hinübergreifend  ist  das 
Tschung-yung.  Der  Titel  bedeutet,  wörtlich  übersetzt:  „Das  Innehalten 
der  ]\Iitte",  wobei  unter  „Mitte"  das  innere  Gleichgewicht  des  Gemütes  zu 
verstehen  ist,  jener  Zustand,  in  dem  die  Affekte  noch  schlummern.  Dem 
inneren  Gleichgewicht  entspricht  in  der  äußeren  Betätigung  der  Triebe  die 
Harmonie,  und  auf  der  Verknüpfung  beider  beruht  die  sittliche  und  phy- 
sische Weltordnung.  Manches  scheint  darauf  hinzudeuten,  daß  der  Ver- 
fasser des  Tschung-yung,  des  Konfucius  Enkel  Tsze-sze,  dem  vermutlich 
auch  das  Ta-hioh  zuzuschreiben  ist,  mit  der  Lehre  des  Lao-tsze  nicht  ganz 
unbekannt  gewesen  sei, 
d'  Meng-tsze.  Ximmemiehr    hätte    wohl    der  Konfucianismus   die   Machtstellung-    im 

Geistesleben  der  Xation  erlangt,  die  ihm  in  der  Folge  beschieden  ward, 
wenn  er  nicht  in  Meng-tsze  einen  Apostel  gefunden  hätte,  der  wie  kein 
anderer  die  Lehren  des  Meisters  den  Bedürfnissen  der  Zeit  anzupassen, 
sie  philosophisch  zu  vertiefen  und  zugleich  dem  Geschmack  und  Ver- 
ständnis weiterer  Kreise  mundgerecht  zu  machen  verstanden  hat.  Mit 
Recht  ist  daher  das  Buch,  das  seinen  Namen  trägt,  als  das  vierte  der 
Sze-schu  unter  die  klassischen  Schriften  der  konfucianischen  Schule  auf- 
genommen worden. 

Meng-tszes  Leben  (372 — 289  v.  Chr.)  fällt  in  eine  bewegte  Zeit.  Wäh- 
rend der  100  Jahre,  die  seit  dem  Tode  des  Konfucius  bis  zu  seiner  Ge- 
burt vergangen  waren,  hatte  der  staatliche  Zersetzungsprozeß  rapide 
Fortschritte  gemacht,  die  Herrscher  aus  dem  Hause  Tschou  waren  nach- 
gerade zu  bloßen  Schattenkönigen  herabgesunken,  die  nur  noch  dem  Namen 
nach  an  der  Spitze  der  Monarchie  standen,  und  schon  zeigten  sich  die 
Vorboten  kommender  Ereignisse  an  der  stetig  wachsenden  Macht  des 
Vasallenstaates  Ts'in.  Politische  Abenteurer  jeglicher  Richtung  und 
Schattierung  zogen  nach  Art  der  griechischen  Sophisten  als  Wander- 
redner und  politische  Industrieritter  an  den  Fürstenhöfen  umher  und  trieben 
allenthalben  einen  gewinnbringenden  Gesinnungsschacher.  Auch  Meng"- 
tsze  war  ein  politischer  und  philosophischer  Wanderlehrer,  der  auf  die 
Fürsten  seiner  Zeit  einzuwirken  versuchte:  was  ihn  jedoch  von  dem  großen 
Troß  unterscheidet,  ist  sein  tiefer  sittlicher  Ernst  und  seine  Überzeugungs- 
treue.  Durchaus  auf  dem  Boden  der  konfucianischen  Lehren  stehend,  ist 
er  dennoch  nichts  weniger  als  ein  bloßer  Nachbeter  des  Aleisters.  Weniger 
doktrinär  als  Konfucius,  übertrifft  er  diesen  an  dialektischer  Schärfe  und 
philosophischer  Tiefe,  während  er  andererseits  mit  kühnerer  Entschlossen- 
heit vorgeht,  wo  es  gilt,  das  Wohl  und  die  Interessen  des  Volkes  gegen- 


I.  Die  klassische  Literatur  (ca.  2000  v.  Chr.  bis  zum  2.  Jahrhundert  n.  Chr.).  525 

Über  den  politischen  Machthab ern  zu  verfechten.  Es  geht  ein  revolutio- 
närer Zug-  durch  die  Lehren  und  die  Denkweise  des  Meng-tsze,  und 
keiner  vor  ihm  hat  den  uralt  chinesischen  Grundsatz  von  der  göttlich- 
sittlichen Berechtigung  zur  Auflehnung^  wider  die  bestehende  Gewalt  mit 
einer  so  rücksichtslosen  Offenheit  zu  vertreten  gewagt,  wie  er.  Die  poli- 
tischen Ansichten,  die  er  hie  und  da  in  seinen  Gesprächen  mit  ver- 
schiedenen Vasallenfürsten  durchblicken  läßt,  mögen  vielleicht  an  Hoch- 
verrat streifen  —  sie  sind  dennoch  nie  frivol:  wo  es  galt,  zwischen  den 
Interessen  der  herrschenden  Dynastie  und  dem  Wohl  des  Volkes  zu 
wählen,  da  schwand  jedes  kleinliche  Bedenken,  denn  er  wußte,  daß  er  mit 
solcher  Auffassung  der  politischen  Moral  im  Grunde  nur  konservativ 
dachte  und  durchaus  auf  dem  Boden  der  altgeheiligten  Tradition  stand. 
Daß  ihm  politisches  Strebertum  gänzlich  fern  lag,  beweist  die  schonungs- 
lose Offenherzigkeit,  mit  der  er  den  Fürsten  und  deren  Ratgebern  bei 
jeder  sich  bietenden  Geleg'enheit  ihr  Sündenregister  vorhält.  Mehr  in  die 
Tiefe  dringend  als  Konfucius,  geht  er  nicht  wie  jener  metaphysischen 
Frag-en  mit  ängstlicher  Scheu  aus  dem  Wege.  Man  denke  nur  an  den 
berühmten  Dialog  über  die  angeborene  Güte  der  menschlichen  Natur: 
während  Konfucius  diesen  Begriff  einfach  als  gegeben  hinstellt,  sucht 
Meng-tsze  ihn  dialektisch  zu  begründen.  Endlich  aber  gebührt  dem  Meng- 
tsze  ein  Ehrenplatz  in  der  Geschichte  der  chinesischen  Literatur,  weil  er 
es  ist,  dem  die  Chinesen  ihr  erstes  Lesebuch  verdanken.  Gleichviel,  ob 
das  Buch,  das  unter  seinem  Namen  überliefert  ist,  von  ihm  selbst  oder 
von  einem  seiner  Schüler  niedergeschrieben  wurde:  sein  Werk  ist  es 
zweifellos,  denn  es  ist  eine  Schöpfung  aus  einem  Guß,  einheitlich  im  Stil, 
durchaus  individuell  gefärbt  und  originell  in  der  Art  der  Darstellung.  Die 
in  dem  Buche  vorherrschende  Form  des  Dialogs  ist  ja  freilich  an  sich 
nichts  Neues,  denn  sie  findet  sich  nicht  nur  im  Lun-yü,  sondern  sogar 
schon  im  Schu-king;  während  jedoch  der  Dialog  hier  als  ein  naives  Aus- 
drucksmittel der  epischen  Erzählung,  dort  nur  in  der  Form  kurzer,  aus 
dem  Zusammenhang  gerissener  Fragen  und  Antworten  auftritt,  erscheint 
er  bei  Meng-tsze  zum  erstenmal  als  bewußt  künstlerische  Form,  deren  der 
Redner,  auch  darin  seinem  Zeitgenossen  Sokrates  ähnlich,  sich  bedient,  um 
den  Gegner  zu  überreden  und  durch  überlegene  Dialektik  ad  absurdum 
zu  führen. 

Es  ist  entschieden  von  günstigem  Einfluß  auf  Meng-tszes  innere  Ent- 
wicklung gewesen,  daß  er  in  die  Lage  kam,  die  Lehren  seines  Meisters 
gegen  Widersacher  aus  verschiedenen  Lagern  verteidigten  zu  müssen, 
denn  noch  war  Konfucius  trotz  des  hohen  Ansehens,  das  er  schon  damals 
g^enoß,  doch  nicht  mehr  als  ein  primus  inter  pares,  dessen  Autorität  noch 
keineswegs  für  schlechthin  unanfechtbar  galt.  Es  waren  die  Vertreter  von 
zwei  extremen  Richtungen,  Yang  Tschu  und  Moh  Ti,  mit  denen  Meng-tsze 
den  Kampf  aufnahm,  und  das  Streitobjekt  bildete  der  Begriff  und  die 
ethische  Bedeutung   der  Menschenliebe.     Seiner  ganzen  Lebensauffassung 


^,5  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

nach  Sensualist  und  Epikureer,  sah  Yang  Tschu  in  der  Befriedigung  der 
Sinne  den  einzigen  und  höchsten  Lebenszweck  und  gelangte  so  von  seinem 
einseitig  hedonistischen  Standpunkte  aus  zu  einem  bedingungslosen  Egois- 
mus, während  gleichzeitig  sein  praktischer  Eudämonismus  in  einem  theore- 
tischen Pessimismus  wurzelt.  Ihm  gegenüber  vertrat  Moh  Ti,  der  von 
manchen,  übrigens  sehr  mit  Unrecht,  als  Sozialist  bezeichnet  wird,  den  kraß 
entgegengesetzten  Standpunkt  eines  extremen  Altruismus.  Nun  hatte  die 
Menschenliebe  freilich  schon  unter  den  konfucianischen  Kardinaltugenden 
die  vornehmste  Stelle  eingenommen,  aber  im  Grunde  war  Konfucius  dabei 
nie  über  den  Begriff  des  Wohlwollens  hinausgegangen.  Da  trat  Moh  Ti 
auf  und  erweiterte  den  Begriff  der  Menschenliebe  zu  dem  der  „allum- 
fassenden Liebe",  die  sich  auf  alle  Menschen  ohne  Unterschied  in  gleichem 
Maße  zu  erstrecken  habe.  Unstreitig  hat  seine  Lehre  zahlreiche  Berüh- 
rungspunkte mit  der  des  Meng-tsze  aufzuweisen,  aber  nichtsdestoweniger 
bekämpft  dieser  nicht  nur  den  Yang  Tschu,  sondern  auch  ihn  mit  einer  an 
Fanatismus  grenzenden  Leidenschaft.  Kennzeichnend  für  den  Konfucianer 
sind  dabei  die  Argumente,  die  er  wider  seine  Gegner  ins  Feld  führt: 
Yang  Tschu  untergrabe  durch  die  von  ihm  postulierte  Herrschaft  des  Ich 
das  Verhältnis  zwischen  Obrigkeit  und  Untertanen,  während  Moh  Ti  durch 
seine  Lehre  von  der  allumfassenden  Liebe  die  Bande  der  Blutsverwandt- 
schaft zerreiße.  Die  Lehren  beider  seien  daher  als  Irrlehren  auszurotten. 
Fruchtbarer  als  diese  Polemik  war  sein  berühmter  Disput  mit  einem  fast 
unbekannten  Philosophen  namens  Kao  Pu-hai.  In  dem  betreffenden  Dialog 
sucht  Meng-tsze  seine  Lehre  von  der  angeborenen  Güte  der  menschlichen 
Xatur  dialektisch  zu  begründen  und  bezeichnet  Menschlichkeit  und  Gerech- 
tigkeit als  dem  Menschen  von  Xatur  innewohnende  Eigenschaften.  Diese 
Doktrin,  die  heutzutage  zum  eisernen  Bestände  der  chinesischen  Ethik  gehört, 
fand  bald  nach  Meng-tszes  Tode  in  Siün  K'oang  (3.  Jahrh.  v.  Chr.)  einen 
eifrigen  Gegner.  Dieser  Philosoph,  der  sich  zu  seiner  Zeit  großer  Be- 
rühmtheit erfreute,  heute  jedoch  fast  in  Vergessenheit  geraten  ist,  hat  eine 
größere  Anzahl  kurzer  Essays  verfaßt,  die  vorwiegend  ethischen  Fragen 
gewidmet  sind  und  sich  durch  ihre  elegante,  oft  epigrammatisch  zuge- 
spitzte Form  auszeichnen. 

n.  Lao-tsze  und  der  Taoismus.  Gleichzeitig  mit  der  soeben 
flüchtig  skizzierten  Strömung,  die  teils  von  Konfucius  ausging,  teils 
wenigstens  durch  ihn  angeregt  worden  war,  vollzog  sich  eine  nicht 
minder  bemerkenswerte  Bewegung,  die  ganz  anders  geartete  Bahnen  ein- 
schlug und  deren  Vertreter  sich  auf  Lao-tsze  als  ihren  Meister  beriefen. 
Grundverschieden  nach  Ausgangspunkt  und  Ziel,  können  Konfucianismus 
und  Taoismus  geradezu  als  die  entgegengesetzten  Pole  in  der  geistigen 
Entwicklung  Chinas  bezeichnet  werden. 
Lao-tsze.  Steht  das  Bild  des  Konfucius   im  hellen  Lichte   glaubwürdiger  histo- 

rischer Überlieferung  mit  greifbarer  Lebendigkeit  vor  uns,  so  verschwimmt 


n.  Lao-tsze  und  der  Taoismus. 


327 


und  verschwindet  hingegen  die  Gestalt  des  Lao-tsze  fast  gänzlich  im 
Nebel  frommer  Legende.  Wenn  wir  der  Tradition  trauen  dürfen,  fällt  die 
Geburt  des  Lao-tsze  ins  Jahr  604  v.  Chr.,  und  er  wäre  demnach  55  Jahre 
älter  gewesen  als  Konfucius.  Dennoch  scheinen  die  beiden  Männer  nichts 
voneinander  gewußt  zu  haben,  denn  Sze-ma  Ts'iens  Erzählung  von  dem 
Besuch  des  Konfucius  bei  Lao-tsze  trägt  durchaus  den  Stempel  einer 
tendenziösen  Erfindung  der  taoistischen  Schule  an  der  Stirn.  Im  übrigen 
läßt  sich  aus  der  kurzen  Biographie  des  Lao-tsze  im  Schi-ki  nur  ent- 
nehmen, daß  er  lange  Jahre  hindurch  Beamter  am  königlichen  Archiv  der 
Tschou  war,  bis  er  aus  Kummer  über  den  Verfall  der  Dynastie  Amt  und 
Heimat  verließ  und  sich  in  die  Einsamkeit  zurückzog.  Unterwegs  soll 
er  auf  die  Bitte  des  Befehlshabers  eines  Grenzpasses  seine  Lehre  in  einem 
kurzen  Traktate  niedergelegt  haben.  „Darauf  ging  er  fort,  und  niemand 
weiß,  wo  er  geendet." 

Dieser  Traktat  nun  gilt  nach  allgemein  verbreiteter  Annahme  für  xao-teh-king. 
identisch  mit  dem  Tao-teh-king,  dem  „kanonischen  Buch  vom  Tao  und 
der  Tugend",  dem  grundlegenden  Kanon  der  taoistischen  Schule.  Ob  das 
Buch  indessen  tatsächlich  als  ein  Werk  des  Lao-tsze  anzusehen  sei,  ist 
freilich  eine  Frage,  auf  die  wohl  schwerlich  jemals  eine  befriedigende 
Antwort  erfolgen  wird.  W^enn  jedoch  einzelne  Sinologen  so  weit  gehen, 
es  als  dreiste  Fälschung  aus  einer  viel  späteren  Zeit  zu  brandmarken, 
so  ist  das  Afterkritik,  die  vor  einem  besonnenen  Urteil  nicht  standhält. 
Gleichviel,  wem  das  Buch  zuzuschreiben  ist:  unstreitig  ist  es  die  tief- 
sinnigste Schöpfung  des  chinesischen  Geistes,  und  sein  Verfasser  —  er 
mag  nun  Lao-tsze  heißen  oder  anders  —  darf  wohl  als  der  eigen- 
artigste und  selbständigste  Denker  Chinas  bezeichnet  werden,  allerdings 
auch  als  der  dunkelste  von  allen.  Bietet  doch  schon  der  Kern-  und  Angel- 
punkt der  ganzen  Lehre,  der  Begriff  des  Tao,  die  größten  Schwierigkeiten. 
Seinem  Wortsinne  nach  bedeutet  Tao  ursprünglich  Methode,  Norm,  Ver- 
nunftprinzip. In  der  mystisch -dunklen  Ausdrucksweise  des  Tao-teh-king 
hingegen  bezeichnet  der  in  diesem  Sinne  unübersetzbare  Terminus  soviel 
wie  Ursache,  Norm  und  Ziel  des  Seins,  Denkens  und  sittlichen  Handelns. 
Alle  Dinge  sind  aus  dem  Tao  hervorgegangen,  um  nach  vollendetem 
Kreislauf  wieder  in  den  Schoß  des  Tao  zurückzukehren.  Die  Erkenntnis 
beruht  auf  dem  Satze  des  Widerspruchs,  und  alles  Denken  bewegt  sich 
in  Gegensätzen.  Demgemäß  kommt  auch  den  sittlichen  Werten,  die  sich 
gegenseitig  bedingen,  nur  relative  Geltung  zu.  Absolut  ist  das  Tao  allein, 
in  welchem  alle  Gegensätze  aufgehoben  sind.  So  ruht  die  taoistische 
Ethik  im  Gegensatz  zu  der  des  Konfucius  ganz  und  gar  auf  metaphysischer 
Grundlage.  In  seiner  Eigenschaft  als  ethisches  Prinzip  gilt  das  Tao  zu- 
gleich als  Richtschnur  und  Vorbild  des  sittlichen  Handelns.  Daraus  erklärt 
sich  der  Ouietismus  der  taoistischen  Ethik,  der  in  der  Lehre  vom  Nichttun 
seinen  Ausdruck  findet.  An  die  Stelle  des  Handelns  tritt  das  Wirken,  an 
die  Stelle  moralischer  Grund-  und  Lehrsätze  die  vorbildliche  Persönlichkeit. 


^2  8  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

Lieh-tszf.  Weitere  Ausbildung  und  hier  und  da  auch  Vertiefung  erfuhr  die  Lehre 

des  Lao-tsze  zunächst  durch  Lieh-tsze  (vermutUch  dem  5.  Jahrhundert  v.  Chr. 
angehörend),  dessen  Persönlichkeit  und  Lebensschicksale  leider  in  ein 
ebenso  tiefes  Dunkel  gehüllt  sind,  wie  die  seines  Meisters.  Das  merk- 
würdige Buch,  das  seinen  Namen  trägt,  ist  besonders  dadurch  beachtens- 
wert, daß  darin  zum  erstenmal  der  Gegensatz  zwischen  der  Erscheinungs- 
welt und  dem  Ding  an  sich,  resp.  zwischen  dem  wahrnehmenden  Subjekt 
und  dem  wahrgenommenen  Objekt  hervorgehoben  wird.  Dabei  wird  die 
Erscheinung-swelt  als  das  Wirken  des  Nichttuns  erklärt,  wobei  unter 
„Xichttun"  nach  dem  Zusammenhange  nichts  anderes  zu  verstehen  ist,  als 
eben  das  Tao  selbst.  Desgleichen  ist  Lieh-tsze  unter  den  chinesischen 
Denkern  der  erste,  der  sich  ans  Unendlichkeitsproblem  heranwagt.  Über- 
eifrige Kjitiker  haben  freilich  auch  dieses  Buch  für  das  Machwerk  einer 
späteren  Zeit  erklärt,  aber  auch  in  diesem  Falle  kann  man  nur  wieder 
sagen:  gleichviel  wer  sein  Verfasser  war  und  wie  er  hieß  —  die  beiden 
soeben  erwähnten  Erkenntnisprobleme,  die  er  als  erster  aufgestellt  hat, 
sichern  ihm  einen  bleibenden  Platz  in  der  Geschichte  menschlichen 
Denkens. 
Tschuang-tsze.  Der  wcitaus  populärste  unter  den  Vertretern  der  taoistischen  Schule, 

der  einzige  von  ihnen,  der  noch  heute  zu  den  vielgelesenen  Schriftstellern 
gehört,  ist  Tschuang-tsze  oder,  wie  sein  Name  eigentlich  lautet,  Tschuang- 
Tschou,  der  während  der  letzten  Hälfte  des  4.  und  der  ersten  Hälfte  des 
3.  Jahrhunderts  v.  Chr.  lebte  und  sich  zu  Lao-tsze  ähnlich  verhält  wie 
Meng-tsze  zu  Konfucius. 

Es  ist  leicht  begreiflich,  daß  die  tiefsinnige  Mystik  des  Tao-teh-king, 
vereint  mit  der  aphoristischen,  oft  dunkeln  und  rätselhaften  Form  seiner 
Aussprüche  eine  mächtige  und  unwiderstehliche  Anregung  auf  die  Ein- 
bildungskraft ausüben  mußte.  Und  so  ist  denn  in  der  Tat  die  taoistische 
Schule  der  Boden,  auf  dem  das  freie  Spiel  der  Phantasie,  die  ja  bis  dahin 
ein  recht  kümmerliches  Dasein  geführt  hatte,  endlich  zu  voller  Entfaltung 
gelangt.  Zeigt  sich  auch  schon  bei  Lieh-tsze  ein  gewisser  Hang  zum 
Phantastischen,  so  ist  es  doch  erst  Tschuang-tsze,  der  die  Einbildungskraft 
bewußt  in  den  Dienst  künstlerischen  Schaffens  und  Wirkens  stellt.  Sein 
Bilderreichtum  ist  von  größter  Mannigfaltigkeit,  aber  er  verwendet  seine 
Phantasiegebilde  stets  nur  als  dichterische  Ausdrucksform.  Er  ist  der  erste 
und  —  wie  gleich  hinzugefügt  werden  muß  —  der  einzige  Dichterphilo- 
soph, den  China  hervorgebracht  hat.  Dadurch  wird  seine  Stellung  in  der 
chinesischen  Literatur  charakterisiert.  Man  muß  jedoch  noch  ein  anderes 
Moment  berücksichtigen,  um  der  Eigenart  seines  Wesens  völlig  gerecht 
zu  werden.  Tschuang-tsze  war  nicht,  wie  seine  beiden  Vorgänger,  aus- 
schließlich Mystiker,  sondern  es  steckte  zugleich  eine  kräftige  Dosis 
Skeptizismus  in  ihm:  daher  jener  doppelte  Gegensatz,  in  den  er  sich  zur 
Wirklichkeit  stellt  und  der  ihn  zu  Humor,  Ironie  und  Satire  führt.  Seiner 
ganzen   Individualität    nach    war    er    nicht    zum    Systematiker    g-eschaffen, 


II.  Lao-tsze  und  der  Taoismus. 


329 


wohl  aber  hat  er  es  meisterhaft  verstanden,  die  tiefsinnige  Lehre  des 
Lao-tsze  in  ein  anschauUches  Gewand  zu  kleiden  und  dadurch  einem 
größeren  Kreise  zugänglich  zu  machen.  Seine  schriftstellerischen  Vorzüge 
kommen  besonders  auf  dem  Gebiete  des  geistreichen  Apercu  und  des 
Essay  zur  Geltung,  und  als  glänzender  Stilist  findet  Tschuang-tsze  sogar 
von  Seiten  der  Konfucianer  bewundernde  Anerkennung. 

Mit  ihm  hatte  aber  auch  die  taoistische  Richtung  ihren  HöhepunktHanFeUszSund 
erreicht,  und  schon  Han  Fei-tsze  (3.  Jahrhundert  v.  Chr.),  ein  Schüler  des 
Siün  Koang,  nimmt  eine  vermittelnde  Stellung  zwischen  Taoismus  und 
Konfucianismus  ein,  indem  er  die  Lehre  des  Lao-tsze  auf  die  Praxis  des 
politischen  Lebens  anzuwenden  bestrebt  ist  und  dadurch  dem  Quietismus 
der  taoistischen  Ethik  untreu  wird.  Allmählich  beginnt  dann  das  phan- 
tastische Element  derart  in  den  Vordergrund  zu  treten,  daß  es  zu  einer 
völligen  Disziplinlosigkeit  des  Denkens  führt.  Liu  Ngan,  besser  unter  dem 
Namen  Hoai-nan-tsze  bekannt,  bezeichnet  den  Anfang  dieser  auf  ab- 
schüssiger Bahn  sich  bewegenden  Richtung.  Alchemistische  und  mytho- 
logische Elemente  sind  bei  ihm  mit  einem  unklaren  Mystizismus  verquickt, 
so  daß  sich  hier  bereits  deutlich  das  Ziel  erkennen  läßt,  dem  der  Taois- 
mus nunmehr  unaufhaltsam  entgegeneilt. 

Ihrem  innersten  Wesen  nach  durch  und  durch  unchinesisch,  vermochte    verfaii  des 

~..-r-^^  -1  11  T-v  1-1  Taoismus. 

sich  die  taoistische  Philosophie  auf  die  Dauer  nicht  zu  halten.  Der  philo- 
sophischer Spekulation  abgeneigte  und  so  ganz  auf  das  Praktische  ge- 
richtete Sinn  des  Volkes  konnte  sich  unmöglich  mit  einer  Lehre  befreunden, 
welche  Abkehr  vom  Leben  und  Geringschätzung  der  irdischen  Güter 
predigte;  mit  dem  Tao  als  metaphysischem  Prinzip  wußte  er  nichts  anzu- 
fangen, um  so  mächtiger  fühlte  er  sich  dafür  von  dem  mystischen  Cha- 
rakter der  Lehre  ang-ezogen.  Der  Zauber  des  Geheimnisvollen  und 
Wunderbaren  war  es,  der  dem  allem  Phantastischen  zugewandten  Glaubens- 
bedürfnis der  großen  Masse  reichliche  Nahrung  bot,  und  es  ist  völker- 
psychologisch lehrreich,  den  ferneren  Entwicklungsgang  der  taoistischen 
Lehre  zu  verfolgen,  der  hier  freilich  nur  kurz  angedeutet  werden  kann. 

Unter  den  wunderbaren  Eigenschaften,  die  dem  Tao  zugeschrieben 
wurden,  scheinen  seine  ewige  Dauer  und  seine  Ubiquität  den  tiefsten  Ein- 
druck gemacht  zu  haben,  und  da  ja  nach  der  Lehre  des  Lao-tsze  der 
„heilige  Mensch"  das  Tao  in  sich  verkörpert,  so  lag  es  nahe,  den  also 
bevorzugten  Individuen  auch  die  dem  Tao  innewohnenden  übernatürlichen 
Kräfte  zuzuschreiben.  Auf  diese  Weise  entstand  der  Glaube  an  die  soge- 
nannten Sien,  die  durch  den  Besitz  des  Tao  die  Unsterblichkeit  erlangt 
haben,  Wunder  wirken  können  und  eine  Mittelstellung  zwischen  Menschen 
und  Göttern  einnehmen.  Tritt  schon  hierin  die  Wandlung  zutage,  durch 
welche  das  Tao  aus  einem  metaphysischen  Prinzip  zu  einer  Wunderkraft 
versinnlicht  wurde,  so  sank  es  schließlich  zu  einem  bloßen  Zaubermittel 
herab,  das  in  den  Händen  von  Adepten  als  eine  Art  Stein  der  Weisen 
zur  Verlängerung  des  Lebens  und  zur  Herstellung  von  Gold  dient.    Magie 


^  ^o  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

und  Alchemie  bilden  denn  auch  bis  auf  den  heutigen  Tag  die  Berufs- 
tätigkeit der  Taoisten.  Von  dieser  ihrem  ganzen  Charakter  nach  eso- 
terischen Schule  zweigte  sich  aber  schon  frühzeitig  eine  mehr  exoterische 
Richtung  ab,  die  unter  Aufnahme  bereits  vorhandener  Elemente  des  Volks- 
glaubens und,  in  späterer  Zeit  wenigstens,  unter  reichlichen  Entlehnungen 
aus  dem  buddhistischen  Ideenkreise  zum  sogenannten  Vulgärtaoismus 
führte,  der  sich  in  religiösen  Gemeinschaften  organisierte  und  den  Exor- 
zismus als  seine  eigentliche  Domäne  behauptet.  Beide  Richtungen  stehen 
noch  jetzt  in  vollster  Blüte,  und  der  alchemistische  Taoismus  hat  eine 
bändereiche  Literatur  aufzuweisen. 

Man  kann  sagen,  daß  in  der  Periode  vom  6.  bis  zum  3.  Jahrhundert 
V.  Chr.  das  geistige  Leben  in  China  seinen  Höhepunkt  erreicht  hat.  Es 
war  dies  so  recht  eine  Zeit,  in  der  die  Geister  aufeinander  platzten,  denn 
noch  standen  die  verschiedenen  Schulen  einander  als  gleichberechtigte 
Gegner  gegenüber.  Erst  mit  dem  Abflauen  der  taoistischen  Bewegung 
beginnt  die  Alleinherrschaft  des  Konfucianismus  sich  allmählich  vorzu- 
bereiten. So  ist  es  zu  erklären,  wenn  schon  unter  den  philosophischen 
Schriftstellern  der  nächstfolgenden  Jahrhunderte  wohl  eigentlich  nur  zwei 
Yang  Hiung  und  der  Erwähuung  wert  erscheinen.    Der  eine  von  ihnen,  Yang  Hiung  (53  v.  Chr. 

Wang  Tsch'ung.  c:>  o    \ 

bis  18  n.  Chr.),  brachte  es  als  Vertreter  der  konfucianischen  Schule  zu 
großer  Popularität,  obwohl  er  mehr  durch  elegante  Form  als  durch  eigenen 
Ideengehalt  hervorragt.  Mit  seiner  Lehre,  daß  die  menschliche  Natur  ein 
Gemisch  von  Gut  und  Böse  sei,  steht  er  zwischen  dem  Optimismus  des 
Meng-tsze  und  dem  Pessimismus  des  Siün  K'oang  in  der  Mitte.  Ein  un- 
vergleichlich selbständigerer  Denker  ist  dagegen  Wang  Tsch'ung,  der 
bereits  dem  i.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  angehört.  Sein  Stand- 
punkt war  der  des  konsequenten  Materialismus.  Die  Seele  ist  nach  ihm 
ein  Produkt  der  Lebenskraft,  die  ihrerseits  vom  Blute  abhängt;  mithin  hat 
mit  der  Zersetzung  des  Blutes  auch  die  Existenz  der  Seele  ein  Ende. 
Charakteristisch  ist  die  durch  keinerlei  Autoritätsglauben  eingeschüchterte 
Kritik,  die  er  noch  an  Konfucius  und  Meng-tsze  zu  üben  wagt. 

zusamicensturz  HI.    Das    R 6 s t au r a t i o u sz c i t al t Cr    der   Han    (206   v.  Chr.  bis   220 

der  Feudal- 
monarchie, n.  Chr.).  Die  Geschichtschreibung.  Inzwischen  hatten  die  geschicht- 
lichen Ereignisse  einen  Gang  genommen,  der  für  das  Schicksal  des  Konfucia- 
nismus von  folgenschwerer  Bedeutung  wurde.  Schon  zu  Meng-tszes  Zeit 
hatte,  wie  erwähnt,  das  Fürstentum  Ts'in,  dessen  ursprüngliches  Gebiet  in  der 
heutigen  Provinz  Schensi  lag,  die  führende  Stellung  unter  den  rivalisierenden 
Vasallenstaaten  an  sich  gerissen.  Im  Jahre  255  v.  Chr.  brach  die  Tschou- 
Dynastie  nach  fast  tausendjähriger  Herrschaft  zusammen,  und  bald  darauf, 
im  Jahre  221,  vereinigte  der  Fürst  Tscheng  von  Ts'in  als  Schi-hoang-ti, 
d.  h.  „erster  Kaiser",  das  gesamte  Reich  unter  seinem  Zepter.  Dieser 
Regierungswechsel  bedeutet  zugleich  einen  endgültigen  Bruch  mit  dem 
bis  dahin  herrschenden  System,  denn  nunmehr  erhielt  der  bisherige  Feudal- 


III.  Das  Restaurationszeitalter  der  Han  (206  v.  Chr.  bis  220  n.  Chr.).  Die  Geschichtschreibung.      jii 

Staat  den  Charakter  einer  zentralisierten  Monarchie,  den  das  chinesische 
Reich  bis  auf  den  heutigen  Tag  bewahrt  hat.  Im  Gegensatz  zu  den  zahl- 
reichen Rebellionen,  von  denen  die  chinesische  Geschichte  zu  berichten 
weiß,  und  die  sich  stets  nur  gegen  die  herrschende  Dynastie,  aber  nie 
gegen  die  Regierungsform  als  solche  richteten,  ist  dies  (von  den  mißglückten 
Versuchen  der  jüngsten  Gegenwart  abgesehen)  die  einzige  Revolution,  die 
das  Reich  erlebt  hat;  und  daß  diese  nicht  von  unten,  sondern  von  oben 
erfolgte,  ist  gewiß  nicht  minder  bezeichnend  als  die  Tatsache,  daß  einer 
der  größten  Monarchen  Chinas  zugleich  dessen  einziger  Revolutionär  war. 

Auch  in  der  Geschichte  der  chinesischen  Literatur  bezeichnet  diese 
gewaltige  Umwälzung  einen  bedeutsamen  Wendepunkt. 

Nachdem  Schi-hoang-ti  alle  äußeren  Feinde  glücklich  niedergeworfen, 
galt  sein  Kampf  nunmehr  einer  unsichtbaren  Macht,  die  dem  neuen  Regi- 
ment wie  ein  festes  Bollwerk  im  Wege   stand:   der  klassischen  Tradition 

oder,  was  dasselbe  ist,   dem  Konfucianismus.     Um   dieses  Band   zwischen  Die  Bücher- 
verbrennung;. 
Altertum  und  Gegenwart  zu  vernichten,  erließ  der  Kaiser  das  berüchtigte 

Edikt  der  Bücherverbrennung,  durch  welches  die  Konfiskation  und  Aus- 
rottung der  gesamten  geschriebenen  Überlieferung  angeordnet  wurde,  mit 
alleiniger  Ausnahme  von  Schriftwerken,  welche  Medizin,  Wahrsagekunst, 
Ackerbau  und  Baumzucht  zum  Gegenstand  hatten.  Nur  den  70  Mitgliedern 
des  Gelehrtenkollegiums  blieb  der  Besitz  der  auf  den  Index  gesetzten 
Bücher  unter  gewissen  Einschränkungen  auch  fernerhin  gestattet.  Der 
Befehl  wurde  im  Jahre  213  n.  Chr.  mit  unnachsichtlicher  Strenge  aus- 
geführt. Damit  schien  das  Lebenswerk  des  Konfucius  für  alle  Zeiten  ver- 
nichtet, und  es  ist  schwer,  sich  eine  Vorstellung  davon  zu  machen,  welche 
Folgen  jene  drakonische  Maßregel  nach  sich  gezogen  hätte,  wenn  der 
jungen  Dynastie  eine  längere  Lebensdauer  beschieden  gewesen  wäre. 
Aber  schon  vier  Jahre  nach  der  Bücherverbrennung  starb  Schi-hoang-ti, 
und  nach  weiteren  sieben  Jahren  hatten  seine  unfähigen  Nachfolger  völlig 
abgewirtschaftet  und  die  Herrschaft  über  das  Reich  verwirkt. 

Das  neue  Herrscherhaus  der  Han  (206  v.  Chr.  bis  221  n.  Chr.)  behielt 
zwar  die  von  Schi-hoang-ti  geschaffene  Organisation,  wenn  auch  unter 
schonenden  Formen,  bei,  bemühte  sich  jedoch,  dessen  Fehler  gutzumachen, 
indem  es  sich's  angelegen  sein  ließ,  das  zerrissene  Band  der  Tradition 
wiederherzustellen  und  dadurch  die  eigene  Herrschaft  gewissermaßen  zu 
legitimieren.  Es  begann  ein  Zeitalter  der  Restauration.  Alle  Hebel  wurden 
in  Bewegung  gesetzt,  um  zu  retten,  was  noch  zu  retten  war,  und  den  er- 
folgreichen Bemühungen  der  Gelehrten  jener  Zeit,  unter  denen  sich  ein 
Nachkomme  des  Konfucius,  Kung  Ngan-kuoh  mit  Namen,  besonders 
hervortat,  ist  die  klassische  Literatur  Chinas  schließlich  vor  dem  Unter- 
gang bewahrt  worden.  Es  mutet  beinahe  wie  eine  weltgeschichtliche 
Ironie  an,  daß  gerade  jene  Katastrophe,  die  die  Vernichtung  des  Kon- 
fucius herbeiführen  sollte,  in  erster  Linie  zu  seiner  Apotheose  beigetragen 
hat.     Und   schon   ein  Han-Kaiser  war  es,    der  zum  erstenmal   am  Grabe 


■^■,0  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

0  0^ 

des  Kontucius  ein  feierliches  Opfer  darbrachte  und  damit  den  Grund 
zum  Konfucius-Kult  legte,  der  sich  in  der  Folge  über  das  ganze  Reich 
verbreitet  hat. 

Wenn  die  noch  junge  D3mastie  in  der  konfucianischen  Überlieferung 
die  sicherste  Stütze  ihres  Thrones  erblickte,  so  ist  es  begreiflich  genug, 
daß  die  Träger  jener  Überlieferung,  die  Gelehrten,  sich  eines  außerordent- 
lich hohen  Ansehens  erfreuten  und  zu  einem  Einfluß  gelangten,  den  sie 
bis  dahin  nie  in  solchem  IMaße  besessen  hatten.  An  die  Stelle  der  Ge- 
burtsaristokratie tritt  von  nun  an  der  Gelehrtenadel.  Diese  Bevorzugung 
des  Gelehrtentums  führte  jedoch  leider  bald  genug  zu  einem  für  die  poli- 
tische und  kulturelle  Wohlfahrt  des  Reiches  verderblichen  Schematismus. 
Was  die  Han-Kaiser  begonnen  hatten,  wurde  hernach  durch  die  um  das 
Jahr  600  eingeführten  Institution  eines  organisierten  gelehrten  Wettbewerbes 
zum  Abschluß  gebracht.  Seitdem  bilden  die  öffentlichen  Staatsprüfungen, 
bei  denen  ein  einseitig  literarisches  Wissen  den  Ausschlag  gibt,  die  einzige 
und  unerläßliche  Vorbedingung  für  die  öffentliche  Laufbahn,  und  das  zünf- 
tige Gelehrtentum  ist  damit  endgültig  zur  herrschenden  Kaste  erhoben. 

Zunächst  findet  der  Umschwung,  den  die  politischen  Verhältnisse 
auf  geistigem  Gebiete  mit  sich  brachten,  seinen  Ausdruck  in  einem  er- 
neuten Kultus  der  Vergangenheit.  iVn  die  Stelle  des  Produzierens  tritt 
das  Reproduzieren.  Die  aufs  neue  wiedergewonnenen  literarischen  Denk- 
mäler zu  sammeln,  kritisch  zu  sichten,  zu  edieren  und  zu  kommentieren, 
erscheint  als  die  wichtigste  Aufgabe,  und  bei  dieser  Gelegenheit  kommt 
zum  erstenmal  eine  charakteristische  Eigentümlichkeit  des  chinesischen 
Wesens  zu  voller  Entfaltung:  sein  seither  sprichwörtlich  gewordener 
Sammeleifer.  Immerhin  gab  es  ein  Gebiet,  auf  dem  sich  gerade  die 
kompilatorisch-kritische  Arbeit  in  wahrhaft  schöpferischer  Weise  betätigen 
Sze-ma  Ts-ien.  konnte ,  Und  das  war  die  Beschäftigung  mit  der  Geschichte.  In  der  Tat 
ist  das  Zeitalter  der  Han  die  Blütezeit  der  chinesischen  Geschichtschrei- 
bung, denn  Sze-ma  Ts'ien  (geboren  um  145  v.  Chr.)  hat  mit  seinem  Schi-ki, 
den  „Geschichtlichen  Denkwürdigkeiten",  das  erste  Geschichtswerk  großen 
Stiles  geliefert. 

Man  muß  sich  vergegenwärtigen,  was  die  chinesische  Historiographie 
bis  dahin  aufzuweisen  hatte,  um  diese  staunenswerte  Leistung  nach  Ge- 
bühr zu  würdigen  und  den  richtigen  Maßstab  für  ihre  epochemachende 
Bedeutung  zu  gewinnen.  Das  bereits  erwähnte  Tso-tschuan  bietet  ja  zwar 
ein  außerordentlich  reiches  Tatsachenmaterial,  aber  seiner  Komposition 
nach  ist  es  doch  kaum  mehr  als  eine  Sammlung  von  Notizen,  die  an  der 
Hand  des  Tsch'un-ts'iu  in  lockerem  Zusammenhang  aneinander  gereiht 
sind.  Das  Kuoh-yü,  welches  gleich  dem  Tso-tschuan  dem  rätselhaften 
Tso  K'iu-ming  zugeschrieben  wird,  jedoch  in  so  zahlreichen  Punkten  von 
jenem  abweicht,  daß  es  unmöglich  von  demselben  Verfasser  herrühren 
kann,  ist  wiederum  ein  Werk  ganz  anderen  Charakters.  Wie  schon  der 
Titel:  „Gespräche  der  Staaten"  oder  etwa:  „Politische  Gespräche"  besagt. 


III.  Das  RestaurationszÄtalter  der  Han  (206  v.  Chr.  bis  220  n.  Chr.).  Die  Geschichtschreibung.      333 

handelt  es  sich  darin  mehr  um  Reden  als  um  Taten,  Unterredungen 
zwischen  Fürsten  und  Staatsmännern  bilden  denn  auch  den  wesentlichen 
Inhalt  des  Buches,  während  die  geschichtliche  Erzählung  auf  ein  Minimum 
beschränkt  und  gewissermaßen  nur  als  verbindender  Faden  zwischen  den 
Gesprächen  dient.  Ähnlicher  Art  ist  auch  das  Tschan-kuoh-ts'eh,  „die 
Ratschläge  an  die  kämpfenden  Staaten",  ein  Buch,  das  sich  mit  den  Reden 
und  Diskussionen  der  politischen  Wanderredner  während  der  letzten 
250  Jahre  der  Tschou-Dynastie  befaßt.  Und  was  endlich  die  „Bambus- 
annalen",  Tschuh-schu-ki-nien,  betrifft  (so  benannt,  weil  sie  auf  Bambus- 
tafeln geschrieben  waren,  die  im  Jahre  27g  n.  Chr.  bei  der  Plünderung  einer 
fürstlichen  Grabstätte  aufgefunden  wurden),  so  finden  wir  in  ihnen  nichts 
als  eine  ziemlich  dürftige  Chronik,  die  sich  von  den  ältesten  Zeiten  bis 
auf  das  Jahr  29g  v.  Chr.  erstreckt.  Außerdem  scheint  es  freilich  noch 
zahlreiche  offizielle  Annalen  gegeben  zu  haben,  die  jedoch  nicht  mehr 
erhalten  sind.  Vermutlich  sind  sie  größtenteils  ein  Opfer  der  Bücher- 
verbrennung geworden,  obschon  Sze-ma  Ts'ien  einige  von  ihnen  benutzt 
zu  haben  scheint. 

Angesichts  der  völligen  Neuheit  und  gewaltigen  Größe  der  Aufgabe 
darf  das  Werk  wohl  als  eine  literarische  Großtat  ersten  Ranges  bezeichnet 
werden.  Interessant  und  lehrreich  ist  aber  auch  die  Art,  w^ie  Sze-ma 
Ts'ien  die  Aufgabe  gelöst  hat.  Augenscheinlich  nicht  imstande,  den  un- 
geheuren Stoff  als  ein  einheitliches  Ganzes  zu  gestalten,  behilft  er  sich 
damit,  ihn  zu  zerlegen,  statt  ihn  organisch  zu  gliedern.  Dadurch  zerfällt 
das  Werk  in  fünf  gesonderte  Rubriken  oder  Abteilungen,  deren  jede 
gleichsam  ein  selbständiges  Werk  für  sich  darstellt.  Den  Anfang  bilden 
die  „Grundlegenden  Annalen",  in  denen  die  Geschichte  der  Gesamtmonarchie 
behandelt  wird.  Die  Anordnung  ist  streng  chronologisch,  unter  Zugrunde- 
legung der  Regierungsjahre  der  Kaiser.  Daran  schließen  sich  die  „Jahres- 
tabellen", eine  synchronistische  Übersicht  der  Ereignisse  auf  Grund  genea- 
logischer Tabellen  der  regierenden  Häuser.  Höchst  merkw^ürdig  ist  die 
nächstfolgende  Abteilung.  Sie  enthält  unter  dem  Titel:  „Die  acht  Trak- 
tate" acht  Monographieen,  die  der  Reihe  nach  Riten,  Musik,  Metrologie, 
Kalender,  Astrologie,  die  dem  Himmel  und  der  Erde  dargebrachten  Opfer, 
Hydrographie  und  Handel  zum  Gegenstande  haben.  Die  vierte  Abteilung 
behandelt  die  Geschichte  der  Einzelstaaten,  und  den  Schluß  bildet  der  bio- 
graphische Abschnitt,  der  zugleich  der  umfangreichste  und  kulturgeschicht- 
lich wertvollste  Teil  des  ganzen  Werkes  ist. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  bei  einer  solchen  Zerstückelung  des 
Stoffes  einerseits  Zusammengehörendes  oft  auseinandergerissen  werden 
mußte,  w^ährend  sich  andererseits  wiederum  die  Wiederholung  desselben 
Gegenstandes  unter  verschiedenen  Rubriken  nicht  vermeiden  ließ.  Auch 
fehlt  dem  Werke  die  Einheit  des  Stiles,  denn  es  ist  bei  Sze-ma  Ts'ien 
oft  äußerst  schwier,  bisweilen  geradezu  unmöglich,  Eigenes  von  Fremdem 
zu    unterscheiden    und    mit  Sicherheit   zu  bestimmen,  w^o   der  Kompilator 


■1^1  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

aufhört  und  der  Schriftsteller  zu  Worte  kommt.  Es  gehörte  und  gehört  auch 
jetzt  nicht  zu  den  Gepflogenheiten  chinesischer  Schriftsteller,  Zitate  in  jedem 
einzelnen  Falle  als  solche  zu  kennzeichnen,  und  stillschweigende  Entleh- 
nungen ohne  Angabe  der  Quelle  werden  keineswegs  als  literarischer  Dieb- 
stahl aufgefaßt.  Daher  sind  z.  B.  seitenlange  Auszüge  aus  dem  Schu-king 
oder  aus  dem  Tso-tschuan  in  den  Geschichtlichen  Denkwürdigkeiten  durch- 
aus keine  Seltenheit.  So  lange  sich's,  wie  in  solchen  Fällen,  um  Entleh- 
nungen aus  Quellen  handelt,  die  uns  noch  zugänglich  sind,  hat  die  Textkritik 
natürlich  leichtes  Spiel,  aber  man  darf  nicht  vergessen,  daß  ein  großer  Teil 
des  von  Sze-ma  Ts'ien  benutzten  Quellenmaterials  unwiederbringlich  ver- 
loren ist.  Vorwiegend  kompilatorischen  Charakters  sind,  wie  sich  von 
vornherein  envarten  läßt,  die  annalistischen  Abschnitte  des  Werkes,  und 
in  ihnen  ist  denn  auch  das  Unpersönliche  der  Darstellung  und  die  Bunt- 
scheckigkeit des  Stiles  am  leichtesten  wahrzunehmen.  Ganz  anders  der 
biographische  Teil.  Die  Notwendigkeit,  eine  bestimmte  Persönlichkeit  in 
den  Mittelpunkt  der  Darstellung  zu  rücken,  stellt,  abgesehen  von  dem 
unvermeidlichen  Streben  nach  psychologischer  Motivierung,  ganz  andere 
und  ungleich  höhere  Ansprüche  an  die  künstlerische  Gestaltungskraft  des 
Schriftstellers,  als  das  bei  der  schlichten  Erzählung  des  Chronisten  der 
Fall  ist.  Und  wenn  gerade  der  biographische  Teil  als  der  Glanzpunkt 
des  ganzen  Werkes  hervorgehoben  werden  muß,  so  wird  man  nicht  umhin 
können,  dem  schriftstellerischen  Talente  des  Sze-man  Ts'ien  die  höchste 
Bewunderung  zu  zollen.  Die  Darstellung  ist  lebendig  bewegt,  oft  gerade- 
zu spannend,  und  mehrfach  eingestreute  Unterredungen  und  Gespräche 
sowie  anekdotische  Episoden  legen  die  Vermutung  nahe,  daß  der  Verfasser 
für  diesen  Abschnitt  neben  schriftlichen  Quellen  auch  vielfach  die  münd- 
liche Überlieferung  zu  Rate  gezogen  hat.  Wenn  man  bedenkt,  daß  die 
chinesische  Literatur  bis  dahin  nicht  den  bescheidensten  Versuch  einer 
biographischen  Schilderung"  aufzuweisen  hatte,  erscheint  die  Leistung  des 
Sze-ma  Ts'ien  auch  auf  diesem  Gebiete  in  der  Tat  staunenswert. 

Die  epochemachende  literargeschichtliche  Bedeutung  der  Geschicht- 
lichen Denkwürdigkeiten  liegt  indessen  nicht  in  der  Neuheit  und  Größe  des 
Unternehmens  allein,  sondern  ebensosehr  auch  darin,  daß  dieses  Werk 
sämtlichen  nachfolgenden  offiziellen  Historiographen  als  Vorbild  gedient 
hat.  In  seinen  Schwächen  freilich  leider  noch  mehr  als  in  seinen  Vor- 
zügen: ist  es  doch  bezeichnend  genug,  daß  das  schwerfällige  Schema 
der  Geschichtlichen  Denkwürdigkeiten,  von  geringfügigen  Abweichungen 
abgesehen,  in  allen  offiziellen  Reichsannalen  beibehalten  wurde! 

Die  unmittelbare  Fortsetzung  des  Schi-ki  bildet  die  Geschichte  der 
älteren  Han  (206  v.  Chr.  bis  24  n.  Chr.),  die  von  Pan  Piao  (3 — 54)  begonnen 
wurde.  Fortgesetzt  wurde  das  Werk  von  seinem  Sohne  Pan  Ku  und 
dessen  gelehrter  Schwester  Pan  Tschao,  die  sich  auch  als  lyrische  Dichterin 
einen  Namen  gemacht  hat.  Die  Geschichte  der  späteren  Han  (25 — 220) 
wurde   erst  im   5.  Jahrhundert  von  Fan  Yeh  verfaßt,    und   seitdem  besteht 


rV.  Die  Wiederbelebung  der  lyrischen  Dichtung  (4.  Jahrhundert  v.Chr.bis  2.  Jahrhundert  n.Chr.).    ^75 

die  Sitte,  daß  jede  Dynastie  die  Geschichte  ihrer  Vorgängerin  nach  dem 
amtlichen  Aktenmaterial  zusammenstellen  und  veröffentlichen  läßt.  Im 
ganzen  liegen  jetzt  mit  Einschluß  des  Schi-ki  24  solcher  Reichsannalen 
vor,  die  zusammen  die  stattliche  Zahl  von  3164  Büchern  ausmachen:  eine 
Kontinuität  der  geschichtlichen  Überlieferung,  der  sich  keine  andere  Lite- 
ratur zu  rühmen  weiß. 

IV.  Die  Wiederbelebung  der  lyrischen  Dichtung  (4.  Jahrhundert  K-mh  Yüan. 
V.  Chr.  bis  2.  Jahrhundert  n.  Chr.).  Während  dergestalt  die  Prosaliteratur  eine 
ungemein  reiche  und  vielseitige  Entwicklung  erkennen  läßt,  geht  die  Dich- 
tung nahezu  leer  aus.  Tatsache  ist,  daß  uns  gerade  aus  den  drei  Jahrhunderten, 
die  sonst  die  fruchtbarste  Periode  im  chinesischen  Geistesleben  darstellen, 
nicht  ein  einziger  Vers  überliefert  worden  ist.  Politische  und  philosophische 
Fragen  stehen  während  jener  Zeit  durchaus  im  Vordergrunde  und  scheinen 
das  gesamte  Interesse  zu  absorbieren.  Die  jüngsten  Lieder  des  Schi-king 
gehören  dem  7,  Jahrhundert,  und  der  erste  Dichter,  von  dem  die  Geschichte 
dann  wieder  zu  berichten  weiß,  kam  im  Jahre  ;^^2  v.  Chr.,  also  volle 
300  Jahre  später,  zur  Welt.  Es  ist  dies  K'iüh  Yüan,  ein  treuer  Ratgeber 
seines  Fürsten,  der  jedoch  durch  die  Intrigen  neidischer  Rivalen  das  Ver- 
trauen seines  Gebieters  einbüßt  und  schließlich  seinem  Leben  durch  Er- 
tränken ein  Ende  macht.  Noch  heute  wird  sein  Andenken  alljährlich  am 
fünften  Tage  des  fünften  Monats,  dem  sogenannten  Drachenbootfeste,  ge- 
feiert, wobei  seinen  Manen  Opfer  dargebracht  werden.  Die  Elegie  Li-sao, 
d.  h.  „dem  Ungemach  verfallen",  in  der  er  seinem  Groll  über  die  ihm 
widerfahrene  Kränkung  poetischen  Ausdruck  gibt,  hat  seinen  Namen 
berühmt  gemacht.  Der  Dichter  schildert  in  dem  merkwürdigen  Poem, 
wie  er,  am  Grabe  des  alten  heiligen  Kaisers  Schun  um  Erleuchtung 
betend,  sich  plötzlich  von  einem  Drachengespann  in  die  Lüfte  empor- 
gehoben sieht.  Die  Götter  des  Mondes  und  der  Winde  geben  ihm  das 
Geleite,  während  er  am  Firmamente  dahinfährt.  Er  klopft  am  Himmels- 
tor an,  aber  der  Einlaß  wird  ihm  verwehrt.  Darauf  schickt  er  den  Gott 
des  Donners  aus,  um  die  Hand  der  göttlichen  Jungfrau  zu  werben,  die  er 
zu  freien  begehrt,  aber  vergeblich:  sein  Ideal  —  gemeint  ist  damit  der 
Fürst,  der  seinen  Ratschlägen  hartnäckig  das  Ohr  verschließt  —  wird 
ihm  nicht  zuteil.  Vom  Himmel  auf  die  Erde  zurückgekehrt,  irrt  er  auch 
hier  umher,  ohne  sein  Ziel  zu  erreichen.  Noch  einmal  läßt  er  sich,  auf 
Anraten  eines  berühmten  Wahrsagers,  gen  Himmel  emportragen,  aber 
kurz  ist  diesmal  die  Fahrt,  denn  Rosse  und  Wagenlenker  sind  müde  und 
sehnen  sich  heim.  Enttäuscht  und  heimatlos  beschließt  der  Dichter  end- 
lich, dem  Beispiel  des  P'eng  Hien,  eines  sagenhaften  Staatsmanns  des  Alter- 
tums, zu  folgen  und  den  Tod  in  den  Fluten  zu  suchen. 

Was  wir  von  der  älteren  poetischen  Literatur  wissen,  beschränkt 
sich  ausschließlich  auf  die  Lieder  des  Schi-king.  Ihnen  gegenüber  be- 
zeichnet das  Li-sao  eine  völlig  neue  Erscheinung.     Schon  äußerlich:  denn 


-j5  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

mit  seinen  94  vierzeilig-en  Strophen  ist  es  die  erste  chinesische  Dichtung 
von  größerem  Umfang-e.  Noch  weiter  aber  entfernt  es  sich  seinem  inneren 
Wesen  nach  von  der  Poesie  des  Schi-king.  Zum  erstenmal  treten  im 
Li-sao  die  charakteristischen  Merkmale  der  späteren  Kunstdichtung  her- 
vor: ein  verwirrender  Aufwand  an  m5^thologischem,  symbolischem  und 
allegorischem  Flitterkram,  üppig  wuchernde  Phantasie  neben  erheblichem 
Mang-el  an  Anschaulichkeit,  sowie  nicht  minder  die  Anfänge  jener  Vor- 
liebe für  g-elehrte  Anspielungen,  die  in  der  Folge  immer  mehr  überhand 
nahm.  Auch  in  seinem  Versbau  weicht  das  Gedicht  vom  Hergebrachten 
ab,  indem  es  aus  alternierend  gereimten  Versen  von  unregelmäßiger 
Silbenzahl  besteht  und  dadurch  fast  den  Eindruck  rhythmischer  Prosa 
her\-orruft.  K'iüh  Yüan  hat  außer  dem  Li-sao  noch  eine  Anzahl  Opfer- 
gesäng"e  gedichtet,  doch  sind  diese  beinahe  in  Vergessenheit  geraten, 
während  er  durch  jenes  Gedicht  Schule  gemacht  hat:  es  wurde  nämlich 
zum  Protot3-p  einer  Gattung  ähnlicher  Dichtungen,  die  unter  der  Bezeich- 
nung „Elegieen  von  Tsch'u"  (der  Staat  Tsch'u,  der  die  heutige  Provinz 
Hukuang  sowie  die  Teile  der  Provinzen  Honan  und  Nganhoei  umfaßte,  war 
die  Heimat  des  K'iüh  Yüan)  zusammengefaßt  zu  werden  pflegen.  Unter 
den  fünf  Dichtem,  die  während  der  nächsten  150  Jahre  dies  Genre  ver- 
treten, sind  Sun  Yü  und  Kiah  I.  wohl  die  bedeutendsten. 
Die  Lvrik  der         Im  GrTunde  genommen  war  die  Schule  des  K'iüh  Yüan  nicht  viel  mehr 

Han-Zeit. 

als  eme  vorübergehende  Episode,  die  ohne  dauernde  Nachwirkung  blieb, 
denn  schon  im  Zeitalter  der  Han  kehrt  unter  dem  herrschenden  Einfluß 
der  klassizistischen  Richtung  auch  die  Poesie  wieder  zu  den  Vorbildern 
des  klassischen  Altertums  zurück.  Die  knappe  Form  des  Liedes  herrscht 
vor,  und  der  durch  Mei  Scheng  (gest.  140  v.  Chr.)  in  Aufnahme  gebrachte 
fünfsilbige  oder,  wie  wir  sagen  würden,  fünffüßige  Vers  ist  seither  das 
beliebteste  lyrische  Metrum  geblieben.  Im  Gegensatz  zu  der  schwülstigen 
Rhetorik  des  K'iüh  Yüan  und  seiner  Schule  bedeutet  die  Han-Lyrik  eine 
erfreuliche  Rückkehr  zur  Xatur,  und  manche  unter  den  Liedern  des 
Mei  Scheng,  sowie  der  beiden  Dichterinnen  Si-kiün  und  Pan  Tsieh-yü 
gehören  durch  ihren  ungesucht  volkstümlichen  Ton  zu  den  anmutigsten 
Schöpfungen  der  chinesischen  Poesie.  Unter  den  damaligen  Dichtern  glänzen 
sogar  zwei  Kaiser,  Wen-ti  (179 — 157)  und  Wu-ti  (140 — 87),  von  denen 
sich  namentlich  der  letztgenannte  als  begeisterter  Förderer  wissenschaft- 
licher und  künstlerischer  Bestrebungen  hervortat.  Unter  diesem  Herrscher, 
der  dem  religiösen  Kultus  ein  spezielles  Interesse  entgegenbrachte, 
wurde  eine  neue  sakrale  Poesie  ins  Leben  gerufen,  deren  Hauptvertreter 
Sze-ma  Siang-ju  und  Li  Yen-nien  waren.  36  Opferhymnen,  die  uns  in  der 
Geschichte  der  älteren  Han  erhalten  sind,  gewähren  einen  guten  Einblick 
in  das  eigentümliche  Wesen  dieser  Gattung,  in  der  die  naive  Frömmig- 
keit der  alten  Opferlieder  des  Schi-king  durch  eine  gesucht  altertümelnde 
Form  und  gespreizte  Rhetorik  ersetzt  wird.  Es  scheint,  daß  diese  geist- 
liche Dichtung  ganz  auf  ihr  eigentliches  Gebiet,  den  Opferkult,  beschränkt 


V.  Übergangszeit  (3. — 6.  Jahrhundert  n.  Chr.).     Der  Buddhismus.  ^7j 

blieb,   ohne    eine  größere  Volkstümlichkeit  zu   erlangen,  wohingegen  sich 
die  profane  Lyrik  fortan  stets  der  eifrigsten  Pflege  zu  erfreuen  hatte. 

V.  Übergangszeit  (3. — 6.  Jahrhundert  n.  Chr.).  Der  Buddhismus. 
Es  ist  ein  merkwürdiges  geschichtliches  Zusammentreffen,  daß  zwei  ihrer 
Tendenz  und  Wirkung'  nach  entgegengesetzte  Ereignisse,  die  beide  von 
folgenschwerem  Einfluß  auf  die  geistige  Entwicklung  Chinas  wurden,  in 
dieselbe  Periode  fielen:  die  Wiederherstellung  des  Konfucianismus  und 
die  Einführung  des  Buddhismus;  denn  das  erste  Eindringen  buddhistischer 
Lehren  erfolgte  um  den  Beginn  unserer  Zeitrechnung,  also  gleichfalls  im 
Zeitalter   der  Han. 

Damals  hatte  sich  bereits  das  Schisma  vollzogen,  welches  den  Bud- 
dhismus in  eine  südliche  und  eine  nördliche  Schule  trennte.  Der  süd- 
liche Buddhismus,  der  den  ursprünglichen  Charakter  der  Lehre  verhältnis- 
mäßig rein  und  unverfälscht  bewahrt  hat,  blieb  auf  Ceylon  und  Hinter- 
indien beschränkt,  der  nördliche  Buddhismus  hingegen,  dessen  großartige 
Propaganda  sich  allmählich  über  China,  Korea,  Japan,  Tibet  und  die 
Mongolei  erstreckte,  stellt  das  Ergebnis  eines  Entwicklungsprozesses  dar, 
durch  den  die  Religion  Buddhas  schließlich  eine  völlig  neue  Gestalt 
angenommen  hat.  Im  Gegensatz  zu  der  ursprünglichen  Lehre,  nach 
welcher  nur  derjenige  hoffen  durfte,  von  weiteren  Wiedergeburten  befreit 
ins  Nirväna  einzugehen,  der  sich  der  Ordensregel  unterwarf,  d.  h.  der 
Mönch,  verkündet  der  nördliche  Buddhismus  den  neuen  Glauben  an  ein 
fern  im  Westen  gelegenes  Paradies,  das  von  einem  mythischen  Buddha 
namens  Amitäbha  regiert  wird  und  auch  den  Laien  zugänglich  ist,  sofern 
sie  sich  durch  einen  tugendhaften  Wandel  hervortun.  Begreiflicherweise 
hat  dieses  neue  Evangelium  durch  sein  weitherziges  Entgegenkommen 
gegenüber  den  religiösen  Bedürfnissen  der  Menge  sehr  rasch  eine  große 
Popularität  erlangt  und  den  Glauben  an  den  historischen  Buddha  und 
dessen  Lehre  vom  Nirväna  fast  gänzlich  verdrängt.  Wo  immer  ferner 
der  Buddhismus  mit  fremden  Religionen  und  Kultusformen  in  Berührung 
kam,  ist  er  stets  bestrebt  gewesen,  sie  seinem  System  einzuverleiben  und 
sich  ihnen  auch  seinerseits  soviel  als  möglich  anzupassen:  in  dieser  Politik 
der  Zugeständnisse,  die  der  Buddhismus  überall  und  zu  allen  Zeiten  be- 
folgt hat,  liegt  das  Geheimnis  seiner  erstaunlich  rapiden  Ausbreitung.  In 
China  hatte  er  mit  diesem  Verfahren  dem  Taoismus  gegenüber  leichtes 
Spiel,  da  die  Anschauungen  des  Lao-tsze  mit  denen  Buddhas  so  manche 
wesensverwandte  Züge  aufzuweisen  haben,  die  ein  friedliches  Zusammen- 
gehen beider  Richtungen  von  vornherein  zum  mindesten  nicht  aus- 
geschlossen erscheinen  lassen:  hier  wie  dort  das  Streben  nach  der 
Befreiung  des  Individuums  aus  den  Banden  der  Sinnenwelt,  hier  wie  dort 
das  Hinneigen  zu  einer  weltflüchtigen  Askese,  hier  wie  dort  überdies  ein 
geschichtlicher  Entwicklungsgang,  der  schließlich  beide  Lehren  ihrem  ur- 
sprünglichen Wesen  und  Ziel   gänzlich   entfremdet.     In   der  Tat  hat  denn 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  22 


338 


Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 


auch  der  Taoismus  so  zahlreiche  buddhistische  Elemente  in  sich  auf- 
genommen, daß  es  in  vielen  Fällen  kaum  möglich  ist,  Ursprüngliches  von 
Entlehntem  zu  unterscheiden. 

Sehr  viel  schwieriger  mußte  sich  hingegen  der  Kampf  mit  dem  Kon- 
fucianismus  gestalten,  denn  hier  handelte  es  sich  um  zwei  prinzipiell  ent- 
gegengesetzte Weltanschauungen.  Daß  es  dem  Buddhismus  trotzdem 
gelang,  sich  sogar  jenem  gegenüber  durchzusetzen  und  zu  behaupten, 
verdankt  er  ebenfalls  seiner  Anpassungsfähigkeit  und  der  schlauen  Taktik, 
die  Schwäche  des  GegTiers  geschickt  auszunutzen.  Der  altchinesischen 
Naturreligion  sowohl  wie  der  Ahnenverehrung,  die  recht  eigentlich  von 
alters  her  den  Mittelpunkt  des  religiösen  Lebens  bildete,  fehlte  es  an 
sinnlicher  Anschaulichkeit  und  positivem  Glaubensinhalt,  und  was  den 
Konfucianismus  als  solchen  anbetrifft,  so  nahm  er  eben  den  Glauben  der 
Väter  als  etwas  Gegebenes  hin,  stand  jedoch  im  übrigen  religiösen  Fragen, 
solange  sie  nicht  den  Kultus  betrafen,  kühl  und  gleichgültig  gegenüber. 
Hier  nun  sprang  der  Buddhismus  in  die  Bresche.  Aus  seinem  un- 
erschöpflichen Legendenschatz  und  dem  Reichtum  seiner  Mythologie  gab 
er  dem  Glaubensbedürfnis  die  langersehnte  Nahrung,  durch  die  Pracht 
seines  Tempel-  und  Bilderkultes  nahm  er  die  Sinne  gefangen,  besonders 
aber  —  das  ist  die  Hauptsache  —  erfüllte  er  durch  seine  eschatologischen 
Theorieen  von  der  Seelenwanderung  und  den  Wiedergeburten,  von  Para- 
dies und  Hölle  den  bis  dahin  vagen  Glauben  an  ein  Fortleben  nach  dem 
Tode  mit  einem  konkreten  Inhalt.  Jetzt  erhielt  der  x\hnenkult  eine 
wichtige  Erweiterung  durch  die  Einführung  der  buddhistischen  Toten- 
messe, die  den  ausgesprochenen  Zweck  hat,  die  abgeschiedene  Seele  aus 
den  Banden  der  Hölle  zu  befreien  und  geradeswegs  in  die  Gefilde  der 
Seligen  hinüberzugeleiten.  Dieser  Praxis  verdankt  der  Buddhismus  haupt- 
sächlich seine  Popularität,  die  sich  vor  allem  darin  äußert,  daß  sich  die 
buddhistische  Totenmesse  in  China  ganz  allgemein,  sogar  unter  Kon- 
fucianern  strikter  Observanz,  eingebürgert  hat.  So  ist  es  dem  Buddhis- 
mus geglückt,  durch  eine  imaginäre  Herrschaft  über  das  Jenseits  das 
Diesseits  in  seine  Gewalt  zu  bringen. 

Daß  der  Einfluß  des  Buddhismus  sich  keineswegs  auf  die  religiösen 
Anschauungen  beschränkte,  sondern  über  fast  alle  Gebiete  des  geistigen 
Lebens  sich  ausdehnte,  versteht  sich  von  selbst.  Wie  durch  den  Tempel- 
bau die  Architektur,  durch  den  Bilderkult  die  Plastik  und  Malerei  mächtig 
gefördert  wurde,  so  hat  auch  die  Literatur  dem  Buddhismus  vielseitige 
Anregung  und  Befruchtung  zu  verdanken:  schon  allein  dadurch,  daß  sie 
durch  ihn  zum  erstenmal  mit  Erzeugnissen  fremden  Schrifttums  in  un- 
mittelbare Berührung  kam. 
Die  Reise-  Um  die  Mitte  des  i.  Jahrhunderts  unserer  Zeitrechnung  wurde  —  an- 

berichte   der  .  ,  . 

buddhistuchen  geblich  infolge  eines  Traumes,  in  welchem  dem  Kaiser  Ming-ti  ein  gol- 
denes Götterbild  erschienen  war,  das  als  Buddhastatue  gedeutet  wurde  — 
eine  Gesandtschaft  nach  Indien  ausgerüstet,  um  die  fremde  Lehre  an  Ort 


V.  Übergangszeit  (3. — 6.  Jahrhundert  n.  Chr.).     Der  Buddhismus.  •j?q 

und  Stelle  zu  studieren.  Wenige  Jahre  später  kehrten  die  Abgesandten 
mit  einer  reichen  Sammlung  von  heiligen  Büchern  und  Bildern  zurück.  In 
ihrer  Begleitung  befanden  sich  zwei  indische  Geistliche,  die  sich  in  der  da- 
maligen Reichshauptstadt  Lo-yang  (in  der  Nähe  des  heutigen  Ho-nan-fu) 
niederließen  und  nun  ihr  Missionswerk  damit  begannen,  daß  sie  als  ersten 
buddhistischen  Text  das  „Sütra  der  zweiundvierzig  Sätze"  ins  Chinesische 
übertrugen.  Anfangs  scheint  die  Propaganda  nur  langsame  Fortschritte  ge- 
macht zu  haben,  denn  erst  im  4.  Jahrhundert  erhalten  Chinesen  die  Er- 
laubnis, buddhistischen  Mönchsorden  beizutreten.  Bald  darauf,  um  den  Be- 
ginn des  5.  Jahrhunderts,  unternimmt  der  Inder  Kumarajiva  im  Verein  mit 
chinesischen  Priestern  die  Übersetzung  zahlreicher  buddhistischer  Texte, 
und  ungefähr  um  dieselbe  Zeit  tritt  der  chinesische  Mönch  Fah-hien  seine  Fah-hi«n. 
Reise  nach  Indien  an,  in  der  Hoffnung,  dort  ein  vollständiges  Exemplar 
der  kanonischen  Schriften  über  die  religiöse  Disziplin  aufzutreiben.  Sein 
ausführlicher  Bericht  über  die  14  jährige  Reise  enthält  eine  für  die  Kennt- 
nis der  Geschichte  und  Kultur  Zentralasiens  äußerst  wertvolle  Schilderung 
alles  dessen,  was  er  unterwegs  gesehen.  Während  der  folgenden  Jahr- 
hunderte kamen  die  Weltfahrten  ins  heilige  Land  immer  mehr  in  Auf- 
nahme, bis  sie  unter  der  T'ang-Dynastie  (618 — 907)  ihren  Höhepunkt  er- 
reichten. Unter  den  vielen  Reiseberichten  buddhistischer  Pilger  nimmt 
der  des  Hüan-tsang  (geb.  602)  durch  die  Fülle  und  Zuverlässigkeit  seines  Hüan-tsang. 
geographischen,  kulturgeschichtlichen  und  ethnographischen  Materials  un- 
streitig die  erste  Stelle  ein,  und  seine  Übersetzung  und  Bearbeitung  durch 
Stan.  Julien  darf  als  ein  epochemachendes  Ereignis  in  der  Geschichte  der 
orientalischen  Philologie  bezeichnet  werden.  Einer  jener  frommen  Indien- 
fahrer, I-tsing  (634 — 713),  nennt  nicht  weniger  als  60  Pilger,  die  allein 
während  der  ersten  Hälfte  des  7.  Jahrhunderts  die  Reise  zu  den  buddhi- 
stischen Heiligtümern  unternahmen.  Unterdessen  waren  gelehrte  Mönche 
daheim  emsig  beschäftigt,  die  reichen  Bücherschätze,  die  durch  diese 
Pilgerfahrten  ins  Land  kamen,  in  ihre  Muttersprache  zu  übertragen.  So 
entstand  allmählich  eine  reiche  Übersetzungsliteratur,  über  deren  Umfang 
sich  eine  Vorstellung  gewinnen  läßt,  wenn  man  bedenkt,  daß  in  dem 
Zeitraum  zwischen  den  Jahren  67  und  1285  nicht  weniger  als  1440  heilige 
Schriften  des  buddhistischen  Kanons  ins  Chinesische  übersetzt  wurden. 

Die  auf  den  Sturz  der  Han-Dynastie  folgenden  400  Jahre  spielen  in 
der  chinesischen  Literaturgeschichte  im  übrigen  eine  recht  bescheidene 
Rolle.  Es  war  eine  Periode  steter  Unruhen:  innere  und  äußere  Kämpfe 
zerwühlten  das  Land,  in  jähem  Wechsel  jagte  eine  Dynastie  die  andere 
vom  Throne,  zu  wiederholten  Malen  war  das  Reich  geteilt,  zeitweise  sogar 
der  Norden  desselben  von  Barbarenhorden  tungusischen  und  türkischen 
Stammes  unterjocht,  und  fast  schien  die  uralte  Kultur  dem  Untergange 
geweiht,  bis  endlich  das  Haus  T'ang  zur  Herrschaft  gelangte  und  das 
Reich  zu  neuer  Blüte  emporhob.  Eine  solche  Zeit  war  natürlich  litera- 
rischem Schaffen  wenig  günstig:  dennoch  war  sie  zum  mindesten  auf  dem 

22* 


■iAO  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

Gebiete  der  Lyrik  keinesweg's  g^anz  unfruchtbar.  Freilich  bewegt  sich 
diese  noch  ganz  und  gar  in  den  gewohnten  Bahnen.  Der  sinnig -gemüt- 
volle Yang  Fang-  (4.  Jahrhundert),  der  etwas  blasiert  schwermütige  Pao 
Tschao,  sowie  der  talentvolle,  dem  Buddhismus  leidenschaftlich  ergebene 
Kaiser  Wu-ti  der  Liang-Dynastie  (502 — 549)  samt  seinen  beiden  Söhnen  und 
Nachfolgern   sind   die   bekanntesten  unter  den  Poeten  der  damaligen  Zeit. 

VI.  Die  Blütezeit  der  Lyrik  unter  der  T'ang-Dynastie  (618 — 907). 
Mit  der  Herrschaft  des  Hauses  T'ang  beginnt  eine  neue  Epoche:  in  der 
politischen  Geschichte  Chinas  sowohl  wie  nicht  minder  in  der  Geschichte 
seiner  Literatur.  Nach  anderthalb  Jahrtausenden  befand  sich  das  Reich  wieder 
in  einer  äußeren  Machtstellung,  die  seit  den  Tagen  der  Han  nicht  ihres- 
gleichen gehabt  hatte.  Endlich  ruhten  die  Waffen,  die  Künste  des  Friedens 
konnten  sich  wieder  zu  voller  Blüte  entfalten,  und  es  trat  eine  Zeit  all- 
gemeinen Wohlstandes  und  verfeinerten  Lebensgenusses  ein.  Nie  hatte 
bisher  die  chinesische  Gesittung-  auf  solcher  Höhe  gestanden,  und  nie  hat 
sie  diese  Höhe  seitdem  wieder  erreicht.  Heute  noch,  nach  einem  Jahr- 
tausend, lebt  jene  Periode  in  der  Phantasie  des  Volkes  als  eine  Art 
goldenes  Zeitalter,  aus  dem  Roman  und  Drama  mit  Vorliebe  ihre  Stoffe 
schöpfen;  und  diesen  Nimbus,  der  noch  immer  nicht  verblaßt  ist,  verdankt 
sie  in  allererster  Linie  ihren  Dichtern:  es  war  die  Blütezeit  der  chine- 
sischen Lyrik,  ihre  dritte  und  letzte  Periode  und  zugleich  der  Höhepunkt 
ihrer  Entwicklung.  In  China  nicht  nur,  sondern  wohl  fast  in  gleich  hohem 
Maße  auch  in  Japan  sind  die  T'ang-schi,  „die  Gedichte  der  T'ang-Zeit" 
Gemeingut  aller  Gebildeten  geworden,  sie  gelten  schlechthin  als  klassisch 
und  werden  noch  gegenwärtig  als  unerreichte  Muster  ihrer  Gattung  be- 
trachtet. Dieses  hohe  Ansehen  verdanken  sie  aber  nicht  etwa  der  Neu- 
heit ihrer  Stoffe,  auch  nicht  einmal  ihrem  poetischen  Gehalt,  an  welchem 
die  Lieder  des  Schi-king  zum  mindesten  nicht  hinter  ihnen  zurückstehen, 
sondern  recht  eigentlich  ihrer  formalen  Vollendung,  durch  die  der  Über- 
gang von  der  Volksdichtung  zur  Kunstdichtung  endgültig  zum  Abschluß 
gebracht  wird. 

Die  Technik  Da    hier,    wie    gesagt,    die    äußere    Form    der    Dichtung    das    Unter- 

des Versbaues.       ^      •  ■,  •  ftr 

scheidende  ihres  Wesens  ausmacht,  so  ist  es  unerläßlich,  wenigstens  mit 
einigen  Worten  auf  die  Technik  des  Versbaues,  überhaupt  auf  die  äußeren 
Mittel  des  dichterischen  Ausdrucks,  wie  sie  jetzt  zur  Norm  erhoben  wurden, 
einzugehen,  denn  nur  auf  diese  Weise  wird  es  auch  dem  der  Sprache 
Unkundigen  möglich  sein,  sich  eine  einigermaßen  zutreffende  Vorstellung 
vom  poetischen  Schönheitsideal  der  Chinesen  zu  bilden  und  den  richtigen 
Maßstab  für  die  Würdigung  seiner  Dichtkunst  zu  gewinnen. 

Von  Haus  aus  ist  die  Technik  des  Versbaues  durch  den  eigentüm- 
lichen Charakter  der  Sprache  bedingt.  Ihre  Grundelemente  sind  Rhyth- 
mus und  Reim.  Während  jedoch  der  Reim  als  solcher  keiner  näheren 
Erläuterung  bedarf,  beruht  der  Rhythmus  auf  wesentlich  anderen  Voraus- 


VI.  Die  Blütezeit  der  Lyrik  unter  der  T'ang-Dynastie  (6l8 — 907). 


341 


Setzungen  als  bei  uns,  weil  die  rhythmischen  Mittel  polysyllabischer 
Sprachen,  Silbenakzent  und  Quantität,  durch  den  einsilbigen  Bau  des 
Chinesischen  ausgeschlossen  sind.  Da  im  Chinesischen,  wie  schon  er- 
wähnt wurde,  jedem  Worte  sein  spezifischer  Wortton  untrennbar  anhaftet, 
so  gibt  es  überhaupt  keine  unbetonten,  sondern  nur  stärker  oder  schwächer 
betonte  Wörter.  Mithin  gilt  jeder  Einsilbler  zugleich  als  ein  Versfuß. 
Die  Silbenzahl  des  Verses  schwankt  zwischen  zwei  und  acht,  doch  bilden 
fünf-  und  siebenfüßige  Verse  die  Regel.  Meist  pflegen  die  Gedichte  der 
T'ang-Zeit  aus  zwei,  vier  oder  acht  Verspaaren  zu  bestehen,  von  denen 
nur  die  geraden  Verse,  also  der  zweite  und  vierte,  der  sechste  und 
achte  usw.  gereimt  sind,  während  die  ungeraden  reimlos  bleiben.  Wichtig* 
für  den  Rhythmus  ist  die  Cäsur,  die  in  fünffüßigen  Versen  auf  die  dritte, 
in  siebenfüßigen  Versen  auf  die  fünfte  Silbe  folgt,  wobei  stets  das  vor 
der  Cäsur  stehende  Wort  den  Hauptakzent  erhält.  Eine  ähnliche  Rolle 
wie  in  unserer  Metrik  die  Quantität  spielt  in  der  chinesischen  der  Wort- 
ton. Je  nachdem  ein  Wort  den  gleichen  (d.  h.  hohen  oder  tiefen)  oder 
einen  ungleichen  (d.  h,  den  steigenden,  fallenden  oder  eingehenden)  Ton 
hat,  ist  seine  Verwendung  im  Verse  an  bestimmte  Regeln  gebunden. 
So  gilt  für  den  siebenfüßigen  Vers  die  Vorschrift,  daß  die  ungeraden 
Silben  (also  die  erste,  dritte,  fünfte  und  siebente)  jeden  beliebigen  Ton 
haben  dürfen,  wohingegen  die  Töne  der  zwischenliegenden  Silben  in  der 
Weise  miteinander  abwechseln,  daß,  wenn  die  zweite  Silbe  den  gleichen 
Ton  hat,  die  vierte  einen  ungleichen,  die  sechste  wieder  den  gleichen 
haben  muß  und  umgekehrt,  wobei  aber  außerdem  noch  darauf  zu  achten 
ist,  daß  im  zweiten  und  dritten,  vierten  und  fünften,  sechsten  und  siebenten 
Verse  die  einander  je  entsprechenden  Silben  auch  im  Tone  überein- 
stimmen. Der  achte  Vers  richtet  sich  in  seiner  Tonfolge  nach  dem 
ersten.  In  fünffüßigen  Versen  steht  nur  für  die  erste  Silbe  die  Wahl  der 
Tonklasse  frei,  während  die  übrigen  Versfüße  rücksichtlich  des  Worttones 
festen  Regeln  unterliegen.  Bezeichnet  man  den  ad  libitum  freistehenden 
Wortton  durch  einen  Kreis  O,  die  gleichen  Töne  durch  den  Längestrich  — 
und  die  ungleichen  durch  den  griechischen  Zirkumflex,  so  erhält  man  für 
die  in  der  T'ang--Poesie  besonders  beliebten  Vierzeiler  folgendes  Doppel- 
schema: 


Entweder:     O  ^^  —  — 


O 

o 

o 


r>^     r^^j 


00    rN^ 


rs_.    CN^ 


oder:     Q   — 

O 

o  ~  — 
o 


rN^    r>o 


rxj    r>o 


Der  gleichsam  periodische  Wechsel  der  Worttöne  verhält  sich  zum 
Rhythmus  ähnlich  wie  etwa  die  Melodie  zum  Takte  und  verleiht  dem 
Verse  einen  melodiösen  Reiz,  dem  wnr  nichts  Ahnliches  an  die  Seite  zu 
stellen  haben. 

Diesem  äußeren  Rhythmus  der  Akzentuierung  und  des  Tonwechsels 
steht  nun  aber  noch  ein  sozusagen  innerer  Rhythmus  des  Gedankenganges 


•^^2  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

gegenüber,  der  darin  besteht,  daß  je  zwei  aufeinanderfolgende  Verse  mit 
Vorliebe  durch  einen  Parallelismus  der  Ideen  oder  Bilder  charakterisiert 
werden,  der  entweder  auf  dem  Verhältnis  der  Ähnlichkeit  oder  des  Gegen- 
satzes beruht.  Die  folgenden  Strophen  des  Yang  Fang  (übersetzt  von 
Forke,  Blüten  chinesischer  Dichtung,  S.  30)  mögen  das  Gesagte  veran- 
schaulichen (wobei  nur  zu  bemerken  ist,  daß  die  chinesischen  Verse  in 
der  Übertragung  durch  je  zwei  Verszeilen  wiedergegeben  sind): 

Gleichklang  herrscht  im  Tongetriebe, 
Gleiche  Kräfte  ziehn  sich  an ; 
Also  zieht  auch  mich  die  Liebe 
Stets  zu  dem  geliebten  Mann. 

Wie  die  Schatten  nie  verlassen 
Jenen  Körper,  der  sie  schuf, 
Kann  den  Teuren  ich  nicht  lassen, 
Folge  freudig  seinem  Ruf. 

Diesem  Parallelismus  des  Gedankenganges  wird  ferner  noch  womög- 
lich ein  grammatisch -syntaktischer  Parallelismus  hinzugesellt,  der  seiner- 
seits darin  besteht,  daß  in  zwei  aufeinanderfolgenden  Versen  die  einzelnen 
Worte  ihrer  Kategorie  nach  sowohl  wie  nach  ihrer  Stellung  im  Satze 
genau  miteinander  korrespondieren,  so  daß  also,  wenn  wir  unsere  gramma- 
tischen Kategorieen  für  die  chinesischen  substituieren,  jedem  Haupt-, 
Eigenschafts-,  Zeitwort  usw.  des  ersten  Verses  auch  im  folgenden  Verse 
der  gleiche  grammatische  Wert  an  gleicher  Stelle  entsprechen  muß.  Um 
die  Wirkung  eines  derartigen  grammatischen  Parallelismus  einigermaßen 
nachempfinden  zu  können,  muß  man  sich  gegenwärtig  halten,  daß  das 
chinesische  Wort,  dank  seiner  unveränderlichen  Lautgestalt,  viel  mehr  den 
Eindruck  einer  individuellen  Einheit  hervorruft  als  das  Einzelwort  mehr- 
silbiger, zumal  flektierender  Sprachen,  weil  dieses  je  nach  seiner  gramma- 
tischen Form  den  verschiedenartigsten  lautlichen  Wandlungen  unterworfen 
ist,  welche  die  ursprüngliche  Stammform  oft  kaum  wiedererkennen  lassen. 
Dazu  kommt  noch,  daß  im  Chinesischen  jedem  Worte  ein  besonderes 
Schriftzeichen  entspricht  —  ein  Umstand,  der  sehr  erheblich  dazu  bei- 
trägt, die  wechselseitige  Korrespondenz  der  Satzglieder  resp.  Versfüße  so 
augenfällig  zur  Geltung  zu  bringen,  wie  sie  selbst  die  wortgetreueste 
Übersetzung  nicht  einmal  annähernd  wiederzugeben  vermöchte. 

Wie  die  gesamte  bildende  Kunst  der  Chinesen,  so  wird  auch  ihre 
Dichtkunst  —  im  Gegensatz  zum  asymmetrischen  Schönheitsideal  der 
Japaner  —  von  dem  Gesetz  der  Symmetrie  beherrscht,  welches  hier  in 
dem  nach  verschiedenen  Richtungen  durchgeführten  Parallelismus  seinen 
Ausdruck  findet.  Daß  außerdem  auch  die  äußere  Form  der  Schrift,  eine 
geschickte  Wahl  der  Schriftzeichen  nach  der  Art  ihrer  Zusammensetzung 
den  poetischen  Eindruck  gar  erheblich  unterstützen  und  fördern  kann, 
bedarf  nach  den  in  der  Einleitung  vorausgeschickten  Bemerkungen  über 
diesen  Punkt  keiner  näheren  Erläuterung. 


VI.   Die  Blütezeit  der  Lyrik  unter  der  T'ang-Dynastie  (6i8 — 907).  242 

Aus  dem  Gesagten  erhellt  zur  Genüge,  daß  eine  adäquate  Wieder- 
gabe dieser  Dichtungen  so  gut  wie  ausgeschlossen  ist:  nicht  nur  weil  das 
Chinesische  einerseits  und  jede  flektierende  Sprache  andererseits  inkom- 
mensurable Größen  sind,  sondern  in  noch  höherem  Grade,  weil  die  chine- 
sische Poesie  aus  den  bereits  angeführten  Gründen  in  gleichem  Maße 
durch  das  Auge  wie  durch  das  Ohr  aufgenommen  sein  will.  Vollends 
unüberwindlich  erscheinen  die  Schwierigkeiten,  wo  sich's  um  eine  Wieder- 
gabe jener  für  die  chinesische  Lyrik  so  charakteristischen  Vierzeiler  han- 
delt, die  in  unnachahmlich  lakonischer  Kürze  ein  beliebiges  Stimmungsbild 
mehr  anzudeuten  als  auszuführen  pflegen.  Zur  Erläuterung  des  Gesagten 
und  um  dem  Leser  einen  ungefähren  Begriff  dieser  Gattung  zu  vermitteln, 
sei  es  gestattet,  ein  Gedicht  des  Li  T'ai-poh,  des  größten  Lyrikers  der 
T'ang-Zeit,  anzuführen,  das  den  Titel:  „Der  Tan-yang-See"  trägt  und  von 
dem  Dichter  bei  Gelegenheit  einer  Kahnfahrt  auf  jenem  in  der  Nähe 
von  Nanking  gelegenen  See  verfaßt  sein  soll.  In  wortgetreuer  Über- 
setzung lautet  es  folgendermaßen: 

Eine  Schildkröte  lustwandelt  auf  einem  Lotusblatte. 

Ein  Vogel  ruht  im  Innern  einer  Schilfblume. 

Ein  junges  Mägdlein  rudert  einen  leichten  Nachen, 

Die  Töne  seines  Liedes  folgen  dem  fließenden  Gewässer. 

Die  vier  Verszeilen  enthalten  ebensoviele  flüchtig  hingeworfene  Skizzen, 
die  in  dem  äußeren  Rahmen  einer  Strophe  zu  einem  Gesamtbilde  ver- 
bunden sind:  die  Schildkröte  auf  dem  Lotusblatt,  den  schlummernden 
Vogel  in  der  Schilfblume,  das  rudernde  Mädchen  im  Nachen,  endlich  den 
Gesang  der  Jungfrau,  dessen  Töne  mit  dem  Wasser  dahinströmen.  Man 
achte  dabei  auf  den  bis  ins  einzelne  durchgeführten  Parallelismus:  der 
Schildkröte  entspricht  der  Vogel,  dem  Lotusblatt  die  Schilfblume,  dem 
Mädchen  das  Lied,  das  es  singt,  dem  strömenden  Gewässer  die  dahin- 
fließenden Töne  des  Gesanges.  Diese  Symmetrie  der  Glieder,  die  wir  in 
der  Übersetzung  allenfalls  durch  das  Ohr  wahrnehmen,  fällt  in  der  Ur- 
schrift vor  allem  ins  Auge,  weil  dort  die  einzelnen  Wortzeichen,  ähnlich 
den  Figuren  des  Schachbrettes,  symmetrisch  gruppiert  sind.  Die  See- 
landschaft, innerhalb  deren  die  geschilderten  Szenen  sich  abspielen,  und 
die  nur  durch  den  Titel  des  Gedichtes  angedeutet  ist,  auszumalen  und  die 
Einzelbilder  im  Rahmen  des  Ganzen  zu  lokalisieren  und  zu  gruppieren, 
bleibt  dem  Leser  überlassen,  dessen  poetische  Einbildungskraft  das  Werk 
des  Dichters  selbsttätig  zu  ergänzen  hat 

Li  T'ai-poh  (699 — 762)  ist  unstreitig  das  stärkste  Talent  unter  den  Li  X'aipoh. 
Poeten  seiner  Zeit  und  zugleich  der  fruchtbarste  von  ihnen,  denn  seine 
Werke,  zumeist  Lieder  und  Gedichte,  füllen  dreißig  Bände.  Man  könnte 
ihn  als  den  Anakreontiker  unter  den  chinesischen  Lyrikern  bezeichnen: 
fröhliche  Weinlaune  und  ein  harmloser  Genuß  des  Augenblicks  bilden  die 
Grundstimmung  seiner  Lieder,  die  freilich  auch  nicht  selten  eine  pessi- 
mistische Resignation   durchschimmern    lassen.     Wie   die   übrigen  Dichter 


■;  1  1  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

der  T'ang--Periode  kultiviert  er  mit  Vorliebe  das  Genre  kurzer  Stimmungs- 
bilder nach  Art  des  angeführten  Vierzeilers;  daneben  linden  sich  aber 
auch  nicht  wenige  balladenähnliche  Gedichte  erzählenden  Charakters,  in 
denen  bezeichnenderweise  List,  Verschlagenheit  und  Intrige  eine  weit 
mehr  hervortretende  Rolle  spielen  als  offener  Kampf  und  persönlicher 
Mut.  Einen  mehr  romantischen  Zug  bieten  nur  die  sog.  Hieh-k'oh,  eine 
Art  fahrender  Ritter,  die  ein  abenteuerndes  Leben  führen  und  in  ihrem 
oft  seltsamen  Gebaren  gewissermaßen  jenseit  von  Gut  und  Böse  stehen, 
ein  sehr  beliebter  und  dankbarer  T^-pus,  der  in  der  erzählenden  Literatur 
der  Chinesen  häufig  wiederkehrt. 
Tu  Fu.  An  Popularität  kommt  dem  Li  T'ai-poh  sein  Zeitgenosse  Tu  Fu  (712 

bis  770)  am  nächsten,  der  ihm  sowohl  in  der  Wahl  der  Stoffe  als  auch 
in  der  formalen  Behandlung  derselben  nahe  verwandt  ist.  Aber  bei  aller 
äußeren  Ähnlichkeit  springt  doch  auch  andererseits  die  tiefgreifende  Ver- 
schiedenheit sowohl  in  der  Lebensauffassung  wie  in  der  Geschmacks- 
richtung der  beiden  Dichter  in  die  Augen:  dort  heiterer  Lebensgenuß 
und  naive  Anschaulichkeit,  hier  tiefe  Schwermut  und  Reflexion.  Im 
Gegensatz  zu  den  Dichtungen  des  Li  T'ai-poh,  die  sich  bei  allem  tech- 
nischen Raffinement  dennoch  durch  schlichte  Natürlichkeit  des  Empfindens 
auszeichnen,  sind  die  des  Tu  Fu  nur  zu  oft  derart  mit  dem  Ballast  histo- 
rischer und  mythologischer  Anspielungen  belastet,  daß  sie  ohne  fort- 
laufenden Kommentar  kaum  verständlich  sind  —  eine  Eigenschaft  übrigens, 
die  ihren  literarischen  Reiz  in  den  Augen  des  Chinesen  nur  zu  erhöhen 
vermag. 

Die  Zahl  der  lyrischen  Dichter  der  T'ang-Zeit  ist  Legion,  und  die 
im  Jahre  1703  auf  kaiserlichen  Befehl  veranstaltete  und  herausgegebene 
vollständige  Sammlung  ihrer  Werke  weist  die  stattliche  Zahl  von  nahezu 
50000  Gedichten  auf.  Im  allgemeinen  aber  läßt  sich  wohl  sagen,  daß, 
abgesehen  von  einzelnen  aus  der  Masse  hervorragenden  Größen  wie 
Li  T'ai-poh,  Tu  Fu,  Tsze-ngan,  Poh  Kiü-i  und  einigen  anderen,  bei  den 
dii  minorum  gentium  die  dichterische  Individualität  durchweg  hinter  der 
Einheit  des  allen  gemeinsamen  Stiles  zurücktritt.  Und  dasselbe  gilt  nicht 
minder  auch  von  der  lyrischen  Dichtung  der  nachfolgenden  Jahrhunderte, 
die  sich  äußerlich  ganz  und  gar  im  Geleise  der  T'ang-Dichtung  bewegt: 
sie  ist,  verschwindende  Ausnahmen  abgerechnet,  bloße  Nachahmung,  eine 
Art  Pseudoklassizismus,  bei  dem  die  Form  alles,  der  Inhalt  nichts  ist.  Je 
länger  je  mehr  sinkt  die  Dichtkunst  zu  einer  banalen  Verskunst,  zu  einer 
lediglich  technischen  Fertigkeit  und  Fixigkeit  herab,  an  deren  zahllosen 
Produkten  —  denn  die  Produktion  nimmt  allmählich  einen  wahrhaft  er- 
schreckenden Umfang  an  —  das  Reimlexikon  entschieden  stärker  beteiligt 
ist  als  das  Ingenium  des  Dichters.  In  einsamer  Größe  ragt  aus  dieser 
Herde  eines  verseschmiedenden  Banausentums  eigentlich  nur  Yüan  Tsze-ts'ai 
(17 16 — 1797)  hervor,  der  außer  einem  berühmt  gewordenen  Kochbuch  auch 
eine  stattliche  Zahl  von  Gedichten  verfaßt  hat,  denen  das  Lob  erteilt  werden 


VI.  Die  Blütezeit  der  Lyrik  unter  der  T'ang-Dynastie  (6l8 — 907).  ^ac 

kann,  daß  sie  in  der  Tat  den  Stempel  einer  ausg"eprägten  Persönlichkeit 
an  sich  trag"en.  Besonders  als  Satiriker  hat  er  sich  ausgezeichnet.  Im 
übrigen  hat  wohl  der  Kaiser  K'ien-lung  (17 10 — 1799)  mit  seinen  34000  Ge- 
dichten alle  übrigen  Poeten  Chinas  an  Fruchtbarkeit  aus  dem  Felde  ge- 
schlagen. Als  einer  der  größten  Kaiser,  die  China  gehabt  hat,  durfte  er 
sich  immerhin  den  Luxus  gestatten,  nebenbei  auch  ein  mittelmäßiger 
Dichter  zu  sein. 

Schon  frühzeitig  hatte  sich  von  der  gelehrten,  vorwiegend  philologisch-  Der  Essay, 
archäologischen,  historischen  und  philosophischen  Schriftstellerei  eine  be- 
sondere Abart  der  Prosaliteratur  abgezweigt,  die  man  vielleicht  am  besten 
ganz  allgemein  als  Essayistik  bezeichnen  kann.  Es  ist  eine  Art  literarischer 
Kleinkunst,  in  der  das  Hauptgewicht  auf  Eleganz  und  Zierlichkeit  der 
Form  gelegt  wird.  Ihrem  Inhalte  nach  sind  jene  Essays  höchst  mannig- 
faltig, zum  Teil  sind  es  philosophische  Betrachtungen,  zum  Teil  auch 
Meinungsäußerungen  und  Apercus  über  Zeitfragen,  oft  in  der  Form  von 
Eingaben  an  den  Thron;  besonders  beliebt  aber  sind  poetische  Stimmungs- 
bilder und  Schilderung-en,  die  in  der  Prosaliteratur  eine  ähnliche  Stelle 
einnehmen,  wie  die  Lyrik  in  der  metrischen.  Frei  von  dem  Zwange  einer 
ausgeklügelten  Verstechnik,  ist  der  Dichter  in  der  angenehmen  Lage,  in 
diesen  Prosadichtungen  den  Gedanken,  Stimmungen  und  Gefühlen,  die  ihn 
bewegen,  einen  ung-ehemmten  und  unverkrüppelten  Ausdruck  zu  geben, 
und  so  gehören  denn  in  der  Tat  die  poetischen  Schilderungen  und  Para- 
beln dieser  Art  zu  dem  Besten,  was  die  Chinesen  auf  dem  Gebiete  der 
schönen  Literatur  geleistet  haben.  Wang  Hi-tschi  (321 — 379)  ist  zeitlich 
einer  der  ersten  unter  den  chinesischen  Essayisten.  Ihm  folgte  bald  der 
als  glänzender  Stilist  berühmte  T'ao  Yüan-ming  (365 — 427).  Da  er  einer X'ao Yüan-mmg. 
der  besten  Vertreter  der  chinesischen  Prosadichtung  ist,  so  kann  ich  es 
mir  nicht  versagen,  an  dieser  Stelle  seine  berühmte  Parabel  von  der 
Piirsichblütenquelle  in  deutschem  Gewände  wiederzugeben,  denn  besser 
als  durch  langatmige  Definitionen  wird  der  Leser  sich  an  der  Hand  einer 
authentischen  Probe  ein  Bild  von  dem  Charakter  und  der  Beschaffenheit 
dieser  Gattung  machen  können. 

„Während  der  Regierungsperiode  T'ai-yüan  der  Tsin-Dynastie  lebte  zu 
Wu-ling  ein  Mann,  der  seinen  Lebensunterhalt  durch  Fischfang  erwarb. 
Als  er  eines  Tages  seinen  Nachen  stromabwärts  treiben  ließ,  vergaß  er 
die  zurückgelegte  Entfernung,  bis  er  plötzlich  an  einen  Hain  blühender 
Pfirsichbäume  gelangte.  Auf  einer  Strecke  von  einigen  hundert  Schritten 
war  die  Uferböschung'  mit  Pfirsichbäumen  bestanden.  Duftende  Kräuter 
prangten  in  frischem  Grün,  und  herabgefallene  Blüten  bedeckten  den 
Boden.  Der  Fischer  verwunderte  sich  gar  sehr  und  fuhr  weiter,  um 
durch  den  Hain  hindurchzukommen.  Am  Saume  des  Wäldchens,  wo  ein 
Quell  entsprang,  zeigte  sich  ein  Berg,  und  am  Berge  gewahrte  er  eine 
kleine  Öffnung,  in  der  Licht  zu  schimmern  schien.  Da  verließ  er  seinen 
Nachen  und  trat  in  die  Öffnung  hinein,  die  anfangs  so  eng  war,  daß  eben 


>46 


Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 


gerade  ein  Mensch  hindurchgelangen  konnte.  Nachdem  er  etwa  zehn 
Schritte  gegangen  war,  öffnete  sich  die  Höhle  weit,  und  er  sah  ebenes, 
ausgedehntes  Land  vor  sich.  Da  gab  es  prächtige  Häuser,  wohlbestellte 
Äcker,  schöne  Seen,  sowie  Maulbeerbäume  und  verschiedene  Bambus- 
arten; Wege  durchschnitten  die  Felder  kreuz  und  quer,  und  allenthalben 
ließen  sich  Hähne  und  Hunde  vernehmen.  Die  Männer  und  Frauen,  die 
dort  mit  der  Aussaat  beschäftigt  waren,  trugen  durchweg  fremdländische 
Tracht  und  hatten  blondes  Haar,  das  sie  in  Büscheln  trugen.  Alle  schienen 
zufrieden  und  guter  Dinge.  Als  sie  den  Fischer  erblickten,  erschraken 
sie  nicht  wenig  und  fragten  ihn,  von  wannen  er  komme;  nachdem  er 
ihnen  jedoch  Rede  und  Antwort  gestanden,  nötigten  sie  ihn  in  ein  Haus 
und  setzten  ihm  Wein  und  Hühner  vor.  Inzwischen  hatte  sich  die  Kunde 
von  der  Ankunft  des  Fremdlings  verbreitet,  und  alle  eilten  herbei,  um  ihn 
auszufragen.  Sie  selbst  erzählten,  daß  ihre  Vorfahren  sich  zur  Zeit  der 
Ts'in-Dynastie,  um  den  Unruhen  zu  entgehen,  in  diesem  Gebiete  nieder- 
gelassen und  es  nicht  wieder  verlassen  hätten,  so  daß  sie  seitdem  von  der 
Außenwelt  abgeschieden  gewesen.  Sie  fragten,  was  für  ein  Geschlecht 
jetzt  lebe,  denn  sie  wußten  nicht  einmal,  daß  es  eine  Han-Dynastie  ge- 
geben, von  den  Wei  und  Tsin  gar  nicht  zu  reden.  Als  ihnen  der  Mann 
nun  alles  und  jedes,  was  ihm  bekannt  war,  berichtet  hatte,  seufzten  sie 
alle  verwundert,  und  darauf  nötigten  ihn  auch  die  übrigen  alle  in  ihre 
Häuser,  um  ihn  mit  Wein  und  Speisen  zu  bewirten.  So  verweilte  er  dort 
etliche  Tage,  und  als  er  dann  Abschied  nahm  und  sich  entfernen  wollte, 
baten  ihn  die  Leute,  den  Menschen  draußen  nichts  von  dem,  was  er  ge- 
sehen, zu  berichten.  Nachdem  er  seinen  Nachen  erreicht  hatte,  kehrte  er 
auf  demselben  Wege  heim  und  schrieb  unterwegs  alles,  w^as  er  erlebt 
hatte,  nieder.  In  seiner  Heimatprovinz  angelangt,  suchte  er  den  Statt- 
halter auf  und  erzählte  ihm  sein  Abenteuer.  Da  sandte  dieser  Boten  aus, 
die,  seinen  Spuren  folgend,  die  Stätten,  von  denen  er  berichtet  hatte,  auf- 
suchen sollten.  Aber  sie  verirrten  sich  und  vermochten  den  Weg  nicht 
zu  finden.  Als  Liu  Tsze-ki,  ein  hochgeachteter  Gelehrter,  das  erfuhr, 
machte  er  sich  wohlgemut  auf  den  Weg;  aber  auch  er  verfehlte  das  Ziel. 
Er  erkrankte  plötzlich  und  starb.  In  der  Folge  hat  keiner  mehr  den 
Versuch  erneuert." 
HanYü.  Unter  den  Essayisten  der  T'ang-Zeit  steht  Han  Yü  (768 — 824)  obenan, 

der  sich  auch  als  lyrischer  Dichter  ausgezeichnet  hat.  Ein  begeisterter 
Konfucianer,  war  er  zugleich  ein  leidenschaftlicher  Gegner  der  taoistischen 
und  buddhistischen  Irrlehren,  und  unter  seinen  polemischen  Schriften  ist 
die  bekannteste  und  noch  heute  viel  gelesen  seine  an  den  Thron  ge- 
richtete Eingabe  gegen  den  buddhistischen  Reliquienkult,  die  ihm  den 
Zorn  des  Kaisers  eintrug.  Zahlreich  sind  auch  seine  Essays  poetischen 
Inhalts  und  nicht  minder  berühmt  seine  Briefe,  Vorreden  und  sonstige 
Gelegenheitsschriften,  die  um  ihres  Stiles  willen  hochgeschätzt  werden 
und    in    keiner   der   zahlreichen   einheimischen  Chrestomathieen   zu   fehlen 


Vn.  Der  Neukonfucianismus  und  die  Erstarrung  des  geistigen  Lebens  (i  i.  Jahrh.  b.  z.  Gegenw.).      XAI 

pflegen.  Als  Meister  klassischer  Prosa  kennt  Han  Yü  wenige  seines- 
gleichen. Unter  seinen  Zeitgenossen  steht  ihm  wohl  Liu  Tsung-yüan 
(773 — 8 ig)  im  Range  am  nächsten;  im  Gegensatz  zu  Han  Yü  nimmt  er 
jedoch  dem  Buddhismus  gegenüber  einen  durchaus  versöhnlichen  Stand- 
punkt ein. 

Eine  besondere  Abart  der  Essayliteratur  bilden  die  in  einer  Art 
rhythmischer  Prosa  abgefaßten  poetischen  Schilderungen,  die  unter  den 
T'ang  besonders  durch  Tu  Muh  (803  —  852)  kultiviert  werden.  Seine 
poetische  Beschreibung  des  vom  Kaiser  Schi-hoang-ti  erbauten  Palastes 
Ngo-p'ang  ist  ein  vielgepriesenes  Muster  dieser  Art,  welches  jedoch  durch 
die  Pedanterie  seiner  Detailschilderung  und  die  schwülstige  Häufung  von 
Hyperbeln  schwerlich  den  Beifall  europäischer  Leser  finden  dürfte.  Ihre 
letzte  Blütezeit  erlebte  die  Essayliteratur  unter  der  Herrschaft  der  Sung 
(960 — 1126).  Ngou  Yang-siu  (1007 — 1072),  gleich  herv'orragend  als  Ge- 
schichtschreiber, Archäolog  und  Dichter,  der  von  manchen  dem  Han  Yü 
als  ebenbürtig  an  die  Seite  gestellt  wird,  und  Su  Tung-p'o  (1036 — i  loi), 
der  den  Ngou  Yang-siu  bei  ähnlicher  Vielseitigkeit  an  poetischem  Talent 
und  Eleganz  des  iVusdrucks  übertraf,  gehören  zu  den  glänzendsten  Namen 
der  chinesischen  Literatur. 

vn.  Der  Neukonfucianismus  und  die  Erstarrung  des  geistigen  Szs-ma  Kuang. 
Lebens  (11.  Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart).  Ähnlich  dem  Zeitalter  der 
Han  bezeichnet  auch  das  der  Sung  eine  neue  Epoche  der  chinesischen 
Geschichtschreibung,  deren  Hauptvertreter  Sze-ma  Kuang  (loig — 1086)  ist. 
Sein  „Allgemeiner  Spiegel  als  Leitfaden  der  Regierung",  Tsze-tschi-t'ung- 
kien,  ein  gigantisches  Werk,  das  294  Bücher  umfaßt,  ist  seit  den  „Ge- 
schichtlichen Denkwürdigkeiten"  des  Sze-ma  Ts'ien  die  erste  zusammen- 
fassende Geschichtsdarstellung  großen  Stiles.  Später  hat  dann  Tschu  Hi 
den  ursprünglichen  Text  des  Werkes  verkürzt  und  jedes  Kapitel  mit  einer 
in  knappen  Worten  gehaltenen  Inhaltsangabe  versehen.  Übrigens  war 
dieses  immerhin  noch  sehr  bändereiche  Werk,  das  er  freilich  unter  Bei- 
hilfe seiner  Schüler  kompiliert  hat,  nur  eine  Nebenarbeit  des  durch  seine 
Vielseitigkeit  und  Fruchtbarkeit  einzig  dastehenden  Polyhistors. 

Vor  allem  aber  ist  es  die  Philosophie,  die  unter  den  Sung  eine  neue  Xschou-tszg. 
Blütezeit  erlebte.  Die  Chinesen  bezeichnen  die  philosophische  Schule,  die 
jetzt  zur  Geltung  gelangt,  mit  dem  Namen  Sing-li,  der  sich  dem  Sinne 
entsprechend  am  besten  durch  „Vernunftordnung  der  Natur"  wiedergeben 
läßt.  Herv^orgegangen  war  dieses  naturphilosophische  System  aus  einem 
erneuten  Studium  des  Yih-king,  und  sein  eigentlicher  Begründer  ist 
Tschou  Tun-i,  meist  einfach  Tschou-tsze,  d.  h.  „Meister  Tschou"  genannt 
(1017 — 1073).  Schon  im  Yih-king  begegnet  man  der  uralten  Lehre  von 
den  kosmischen  Dualkräften  Yin  und  Yang,  von  denen  jenes  das  dunkle, 
weibliche,  gebärende,  dieses  das  lichte,  männliche,  zeugende  Prinzip  dar- 
stellt.    Das  Verdienst    des  Tschou-tsze    besteht   nun  darin,    daß    er   jenen 


•^  lg  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 


o 


Dualismus  in  einen  Monismus  aufgelöst  hat,  indem  er  die  Dualkräfte  aus 
einem  gemeinsamen  Urprinzip,  dem  T'ai-kih,  „dem  höchsten  Äußersten", 
herleitete,  das  mithin  den  Urgrund  alles  Seins  darstellt.  Tschou-tsze  hatte 
zahlreiche  Schüler,  unter  denen  Tsch'eng  Hao,  Tsch'eng  I  und  Tschang 
Tsai  die  hen'orragendsten  sind:  sie  alle  aber  samt  ihrem  Meister  treten 
an    nachwirkendem    Einfluß    hinter  Tschu  Hi   (1130 — 1200)   zurück.     Auch 

Tschu  Hi.  er  war  ein  Schüler  des  Tschou-tsze,  dessen  Lehre  er  in  ihren  Grund- 
zügen adoptierte,  obwohl  er  in  manchen  Einzelheiten  von  ihr  abwich; 
aber  im  Grunde  liegt  seine  geschichtliche  Bedeutung  mehr  auf  dem  Ge- 
biet der  Textkritik  und  Exegese  als  auf  dem  der  Philosophie.  Indem  er 
die  kanonischen  und  klassischen  Schriften  der  konfucianischen  Schule 
einer  gründlichen  Revision  unterzog-  und  sie  von  den  in  ihnen  enthaltenen 
Widersprüchen  reinigte,  schuf  er  die  Lehren  des  Konfucius  zu  einem  dog- 
matischen System  von  bindender  Autorität  um.  Durch  seinen  Positivis- 
mus hat  der  Xeukonfucianismus  den  Charakter  einer  starren  Orthodoxie 
erhalten,  die  es,  zum  mindesten  theoretisch,  an  Unfehlbarkeitsdünkel  und 
Unduldsamkeit  mit  jeder  anderen  aufnehmen  kann. 

Mit  Tschu  Hi  hat  der  Fortschritt  auf  geistigem  Gebiete  in  China  vor- 
läufig seinen  Abschluß  gefunden.  Der  ohnehin  nie  sonderlich  stark  ent- 
wickelte metaphysische  Trieb  sah  sich  endlich  durch  ein  S3^stem  be- 
friedigt, welches,  so  unvollkommen  es  auch  war,  wenigstens  eine  Antwort 
auf  die  Frage  nach  dem  letzten  Grunde  alles  Seins  zu  geben  schien.  Das 
religiöse  Glaubensbedürfnis  begnügte  sich  mit  der  stillschweigend  akzep- 
tierten und  in  der  Praxis  geduldeten  buddhistischen  Eschatologie.  Das 
sittliche  Handeln  endlich  hatte  in  der  positiven  Ethik  des  Xeukonfucianis- 
mus eine  feste  Norm  gefunden,  an  der  nicht  gerüttelt  werden  durfte  und 
die  jede  weitere  Diskussion  überflüssig  machte.  Im  Jahre  167 1  erließ  der 
Kaiser  K'ang-hi  unter  dem  Titel  Sheng-yü,  „das  heilige  Edikt",  eine  Art 
sittliche  Ermahnung  an  das  Volk,  die  gewissermaßen  die  Quintessenz  der 
offizieUen  Moral  enthält  und  von  dem  Kaiser  Yung-tscheng,  dem  Sohn 
und  Nachfolger  des  K'ang-hi,  eine  erweiterte  Fassung  erhielt.  In  dieser 
erweiterten  Bearbeitung  wird  das  heilige  Edikt  nicht  nur  in  den  Schulen 
auswendig  gelernt,  sondern  auch  am  ersten  und  fünfzehnten  Tage  jedes 
Monats  in  allen  Städten  des  Reiches  kapitelweise  vor  versammeltem 
Volke   öffentlich  vorgelesen. 

Gelehrte  Xur   ein   Gebiet  blieb   übrig,    auf  dem   die   Chinesen   selbst  während 

Sammelwerke. 

der  Periode  geistigen  Stillstandes,  die  nunmehr  seit  sieben  Jahrhunderten 
herrscht,  immerhin  noch  Grroßes  geleistet  haben:  das  der  gelehrten  Sammel- 
arbeit; und  als  Kompilatoren  stehen  sie  allerdings  ohne  Rivalen  da. 
Schon  983  war  eine  Enzyklopädie,  das  T'ai-p'ing-yü-lan,  in  tausend  Büchern 
erschienen;  darin  sind  Auszüge  aus  1690  Werken  zusammengestellt.  Im 
13.  Jahrhundert  verfaßte  darauf  Ma  Tuan-lin  sein  Wen-hien-t'ung-k'ao,  d.h. 
„Eingehende  Erforschung  der  Urkunden",  eine  Enzyklopädie  in  348  Büchern. 
In  24  Sektionen  werden  darin  die  Einteilung  der  Ländereien,  Münzwesen, 


Vn.  Der  Neukonfucianismus  und  die  Erstarrung  des  geistigen  Lebens  (i  i.  Jahrb.  b.  z.  Gegenw.).      taq 

Bevölkerungsstatistik,  Verwaltung,  Zölle,  Handel,  Grundsteuern,  Staats- 
haushalt, gelehrte  Prüfungen,  öffentlicher  Unterricht,  Staatsämter,  Opfer- 
wesen, Ahnenkult,  Hofritual,  Musik,  Kriegswesen,  Strafverfahren,  Literatur, 
Kaisergenealogie,  Lehnswesen,  Sternkunde,  außergewöhnliche  Naturereig- 
nisse, Erdbeschreibung  und  die  Ethnographie  der  Barbarenvölker  be- 
handelt. Aber  bald  wurde  auch  dies  Werk  durch  andere  von  noch 
größerem  Umfange  überflügelt.  So  z.  B.  faßte  der  Ming-Kaiser  Yung-loh 
(1403 — 1424)  den  großartigen  Gedanken,  alles,  was  bis  dahin  auf  sämt- 
lichen Gebieten  der  Literatur,  Philosophie,  Geschichte,  Wissenschaft  und 
Kunst  veröffentlicht  worden  war,  teils  in  Auszügen,  teils  in  vollständigen 
Kopieen  in  einem  großen  Sammelwerke  zu  vereinigen.  Unter  der  Ober- 
leitung von  3  Präsidenten,  5  Direktoren  und  20  Unterdirektoren  waren  2160 
Mitarbeiter  an  dem  Unternehmen  beteiligt,  das  bereits  nach  Ablauf  von 
drei  Jahren  zum  Abschluß  gebracht  ward.  Die  Drucklegung  dieses 
22937  Bücher  umfassenden  „Thesaurus  des  Yung-loh",  Yung-loh-ta-tien, 
mußte  jedoch  wegen  der  unerschwinglichen  Kosten  unterbleiben.  Nach- 
dem die  beiden  vollständigen  Kopieen  bereits  durch  Feuer  vernichtet 
worden  waren,  ist  im  Jahre  1900  bei  dem  Brand  des  Han-lin-Kollegiums 
in  Peking  auch  die  letzte  (unvollständige)  Abschrift  ein  Raub  der  Flammen 
geworden.  Dem  Yung-loh-ta-tien  folgte  bereits  im  Jahre  1725  die  „auf 
kaiserlichen  Befehl  veranstaltete  vollständige  Sammlung  von  Tafeln  und 
Schriften  alter  und  neuer  Zeit",  K'in-ting  ku-kin  t'u-schu  tsih-tsch'eng,  das 
größte  Sammelwerk  der  Welt,  in  welchem  fast  die  ganze  einheimische 
Literatur  Berücksichtigung  gefunden  hat.  Vor  wenigen  Jahren  ist  in 
Schanghai  ein  Neudruck  des  Werkes  in  1628  Bänden  erschienen.  Von 
ähnlichem  Umfange  ist  das  K'in-ting  ta  Ts'ing  hoei-tien  schih-lih,  „die  auf 
kaiserlichen  Befehl  veröffentlichten  Statuten  und  Verordnungen  der  großen 
TsHng-Dynastie'S  eine  vollständige  Sammlung  von  Institutionen  der  gegen- 
wärtig herrschenden  Dynastie  in  920  Bänden.  Und  wenn  man  ferner  in 
Betracht  zieht,  daß  für  jede  Präfektur  nicht  nur,  sondern  fast  für  jeden 
Distrikt  des  Reiches  eine  sich  bis  auf  das  geringfügigste  Detail  er- 
streckende topographisch-historisch-administrative  Beschreibung  existiert, 
so  wird  man  sich  eine  ungefähre  Vorstellung  von  dem  ungeheuren  Um- 
fange dieser  Kompilationsliteratur  machen  können.  China  ist  ja  überhaupt 
das  Land,  wo  nichts  verloren  geht,  und  so  erscheint  auch  nichts  zu  un- 
wichtig, um  gebucht  und  der  Nachwelt  überliefert  zu  werden.  Geborene 
Philologen,  haben  sich  die  Chinesen  seit  jeher  auf  dem  Gebiete  der 
Lexikographie  ganz  besonders  hervorgetan  —  ist  doch  auch  bei  der 
schwierigen  und  komplizierten  Beschaffenheit  der  Schrift  das  Wörterbuch 
ein  unentbehrlicher  Berater,  den  jeder  Chinese  sein  Leben  lang  bei  sich 
führt.  So  ist  es  kein  Wunder,  daß  das  erste  größere  lexikalische  Werk, 
das  von  Hiü  Shen  verfaßte  Schuoh-wen,  in  welchem  gegen  10  000  Schrift- 
zeichen nach  ihrer  Zusammensetzung  und  Bedeutung  erklärt  werden,  be- 
reits dem  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  angehört.     Unter  den  zahlreichen  seitdem 


350 


"Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 


erschienenen  Wörterbüchern  ist  der  unter  der  kaiserlichen  Ägide  zu- 
sammengestellte „Thesaurus  des  K'ang-hi",  K'ang-hi  tsze-tien,  das  ver- 
breitetste;  es  enthält  44449  Schriftzeichen,  von  denen  freilich  fast  die 
Hälfte  teils  veraltet,  teils  außer  Gebrauch  ist.  Unter  der  speziellen  Ober- 
aufsicht des  Kaisers  K'ang-hi  wurde  auch  das  Pei-wen-yün-fu,  eine  be- 
rühmte nach  Reimen  geordnete  Konkordanz  fast  der  gesamten  Literatur 
zusammengestellt;  das  Riesenwerk,  welches  mit  den  Nachträgen  200  Bände 
füllt,  erschien  im  Jahre   171 1. 

In  den  bibliographischen  Sammelwerken  der  Chinesen,  wie  z.  B.  in 
dem  1790  herausgegebenen,  120  Bände  umfassenden  Kataloge  der  kaiser- 
lichen Bibliothek,  pflegt  die  Gesamtliteratur  in  folgende  vier  Kategorieen 
oder  Klassen  eingeteilt  zu  sein: 

I.  King,  kanonische  Bücher,  worunter  jedoch  nicht  nur  die  kano- 
nischen und  klassischen  Bücher  als  solche  zu  verstehen  sind,  sondern 
auch  die  ganze  sich  mit  ihnen  befassende  exegetisch-kritische  Literatur, 
desgleichen  auch  die  Lexikographie. 

n.  Schi,  die  historische  Klasse,  der  sämtliche  Werk  geschichtlichen 
und  geographischen  Inhalts  angehören, 

ni.  Tsze,  die  philosophische  Klasse,  in  der  jedoch  außer  Schriften 
philosophischen  Inhalts,  soweit  diese  sich  nicht  speziell  auf  die  kanonischen 
und  klassischen  Bücher  beziehen,  alles  mit  einbegriffen  ist,  was  wir  etwa 
als  wissenschaftliche  Literatur  bezeichnen  würden,  also  Rechts-  und  Kriegs- 
wissenschaft, Naturkunde  und  Medizin,  Mathematik  und  Astronomie  (resp. 
Astrologie),  Landwirtschaft,  Wahrsagekunst,  die  Essayliteratur  und  Werke 
enzyklopädischen  Charakters.  Auch  die  gesamte  buddhistische  und  taoistische 
Literatur  ist  in  dieser  Klasse  untergebracht. 

IV.  Tsih,  „Sammlungen",  worunter  die  poetische  Literatur  zu  verstehen 
ist,  jedoch  nur  im  engsten  Sinne,  denn  nur  was  in  metrischer  Form  abgefaßt 
ist,  gehört  hierher,  also  eigentlich  nur  die  elegische  und  lyrische  Dichtung, 
wiederum  mit  Ausnahme  des  Schi-king,    das   der  ersten  Klasse  angehört. 

Vin.  Dramatische  und  erzählende  Literatur  (13.  Jahrhundert 
bis  zur  Gegenwart).  Roman  und  Drama  haben,  wie  man  sieht,  in 
dieser  Klassifikation  keine  Berücksichtigung  erfahren,  weil  sie  nach 
chinesischer  Auffassung  überhaupt  nicht  zur  Literatur  im  eigentlichen 
Sinne  gerechnet  werden.  Das  unterscheidende  Moment  zwischen  der 
höheren  und  niederen  Literatur  bildet  nämlich  die  Sprache,  und  die 
geltende  Literatursprache  ist  bis  auf  die  Gegenwart  dieselbe  geblieben, 
die  sie  vor  zwei  Jahrtausenden  war.  Diese  auf  den  ersten  Blick  auf- 
fallende Erscheinung  findet  ihre  Erklärung  in  dem  Entwicklungsgange 
der  chinesischen  Kultur.  Es  waren  zwei  Faktoren,  die  hier  zusammen- 
wirkten: das  Wiederaufleben  des  klassischen  Altertums  im  Restaurations- 
zeitalter der  Han  und  der  gleichzeitig  beginnende  tonangebende  Einfluß 
der   Gelehrtenkaste    als    der   berufsmäßigen   Hüterin    und    offiziellen   Ver- 


VIII.  Dramatische  und  erzählende  Literatur  (13.  Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart).         7:1 

treterin  der  konfucianischen  Literatur.  Die  Gelehrten  monopolisierten  ge- 
wissermaßen die  gesamte  literarische  Produktion,  und  indem  sie  sich  aus- 
schließlich des  altklassischen  Idioms  bedienten,  brachten  sie  dieses  wider- 
standslos zu  allg'emeiner  Geltung.  So  ist  es  gekommen,  daß  die  herrschende 
Schriftsprache  in  China  eine  analoge  Stellung  einnimmt  wie  das  Lateinische 
in  den  abendländischen  Literaturen  des  Mittelalters  und  der  Renaissance- 
zeit. Da  sich  nun  aber  Drama  und  Roman  ihrem  ganzen  Wesen  nach  an 
ein  größeres  Publikum  wenden,  so  konnten  sie  nicht  umhin,  sich  der 
lebenden  Umgangssprache  zuzuwenden.  Das  genügte,  um  sie  in  den 
Augen  des  zünftigen  Gelehrtentums  in  Mißkredit  zu  bringen.  Und  so 
tiefgewurzelt  ist  das  Vorurteil,  daß  die  besseren  Erzeugnisse  der  drama- 
tischen und  erzählenden  Literatur  sich  wohl  oder  übel  mit  einem  Kom- 
promiß zwischen  Literatur-  und  Umgangssprache  begnügen  mußten.  Die 
Folge  davon  war,  daß  ihr  Verständnis  stets  ein  gewisses,  oft  sogar  ein 
sehr  hohes  Maß  von  gelehrter  Bildung  und  Belesenheit  voraussetzt.  Auch 
heute  noch  begegnet  man  der  echten,  unverfälschten  Volkssprache  nur  in 
Schauspielen  und  Erzählungen  niederster  Gattung. 

Die   ersten  Anfänge   der  dramatischen  Kunst  reichen   in  das   früheste     Das  ältere 

Drama. 

Altertum  zurück;  pantomimische  Darstellungen  und  Tänze,  m  welchen  ge- 
schichtliche Szenen,  wie  z.  B.  die  Kämpfe  des  Wu-wang  gegen  den  letzten 
Tyrannen  der  Schang-Dynastie,  vorgeführt  wurden,  pflegten  die  feierliche 
Opferhandlung  zu  begleiten,  und  ähnliche  Tänze  bilden  noch  jetzt  einen 
wichtigen  Bestandteil  des  Staatskultes,  Ob  jedoch  jene  Aufführungen  in 
einem  ursächlichen  Zusammenhang  mit  dem  späteren  Drama  stehen,  ist 
immerhin  fraglich,  wenigstens  bezeichnet  die  landläufige  Überlieferung 
ausdrücklich  den  kunstliebenden  Kaiser  Hüan-tsung-ti  der  T'ang-Dynastie 
(713 — 755)  als  den  eigentlichen  Begründer  der  Schauspielkunst,  weil  er 
an  seinem  Hofe  ein  besonderes  Institut,  den  sogenannten  „Birnbaumgarten", 
ins  Leben  rief,  in  welchem  junge  Leute  beiderlei  Geschlechts  zu  Tänzern, 
Musikern  und  Sängern  ausgebildet  wurden.  Da  wir  jedoch  keinerlei 
Proben  einer  dramatischen  Literatur  aus  jener  Zeit  besitzen,  so  läßt  sich 
auch  nicht  mit  Sicherheit  sagen,  ob  es  sich  damals  schon  um  wirklich 
theatralische  Aufführungen  handelte.  Die  Tatsache,  daß  die  Bezeichnung 
„Zöglinge  des  Birnbaumgartens"  als  eleganter  Ausdruck  für  Schauspieler 
gebraucht  wird,  scheint  jedenfalls  dafür  zu  sprechen,  während  andererseits 
der  durchweg  melodramatische  Charakter  des  chinesischen  Schauspiels 
entschieden  auf  dessen  musikalischen  Ursprung  hinweist.  Besonders  deut- 
lich läßt  sich  das  an  dem  Si-siang-ki,  der  „Geschichte  des  westlichen 
Seitenflügels",  erkennen,  einem  Schauspiel,  das  noch  aus  den  letzten  Jahren 
der  Sung-Dynastie  herrührt.  Es  trägt  ein  vorwiegend  lyrisches  Gepräge, 
indem  der  Prosadialog  auf  Schritt  und  Tritt  von  metrischen  Partieen  unter- 
brochen wird,  die  für  den  Gesang  bestimmt  sind,  während  die  Schwer- 
fälligkeit und  Unbeholfenheit  des  dramatischen  Aufbaues  —  die  Handlung 
zieht   sich   durch   sechzehn,   zum  Teil  ziemlich  locker  aneinander  gefügte 


^  =  2  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 


Szenen  oder  Akte  hin  —  noch  eine  in  ihren  Anfäng'en  befindliche  Technik 
verrät. 

Die  Glanzperiode  der  dramatischen  Dichtung-  ist  das  Zeitalter  der 
Mongolenherrschaft  (1280 — 1368).  Der  Fortschritt  zeigt  sich  vor  allem  in 
dem  strafferen  Gefüge  der  Komposition:  schon  die  Einteilung-  in  vier  bis 
fünf  Akte,  die  jetzt  zur  Reg'el  wird,  verlangte  eine  gedrängtere,  übersicht- 
lich gegliederte  Behandlung  des  Stoffes  und  eine  größere  Einheitlichkeit 
der  Handlung.  Auch  tritt  das  melodramatische  Element  allmählich  mehr 
zurück,  indem  sich  der  Gesang  im  allg'emeinen  auf  eine  der  handelnden 
Personen  beschränkt;  zudem  steht  er  zum  größten  Teil  außerhalb  des 
Ganges  der  Handlung-  und  bildet  gleichsam  die  Vermittlung  zwischen 
Dichter  und  Publikum,  so  daß  er  in  gewissem  Sinne  dem  Chor  der  antiken 
Tragödie  entspricht.  Es  werden  85  dramatische  Dichter  erwähnt,  die 
sämtlich  der  ]\Iongolenzeit  angehören,  und  von  den  564  Stücken,  die  sie 
verfaßt  haben,  sind  hundert  der  besten  zu  einer  Sammlung  vereinigt 
worden,  die  sozusagen  das  klassische  Repertoire  des  chinesischen  Theaters 
darstellt.  Ihrem  Inhalte  nach  zerfallen  sie  in  historische  Dramen,  bürger- 
liche Schauspiele,  Charakterkomödien  und  phantastisch -mythologische 
Zauberdramen.  Unter  den  Stücken  der  erstgenannten  Gattung  erfreut  sich 
„Die  Waise  aus  dem  Hause  Tschao"  sogar  einer  gewissen  europäischen 
Berühmtheit,  weil  sie  Voltaire  den  Stoff  zu  seinem  „Orphelin  de  la  Chine" 
geliefert  hat;  dennoch  beansprucht  wohl  die  Charakterkomödie  durch  ihre 
realistische,  oft  mit  beißendem  Spott  und  derbem  Humor  gewürzte  Sitten- 
schilderung das  größere  Interesse.  Die  mit  Vorliebe  darin  behandelten 
Typen  sind  der  Mandarin  im  allgemeinen,  besonders  aber  der  richterliche 
Beamte,  der  Literat  und  der  Bonze,  deren  Korruption,  Bestechlichkeit, 
Dünkel  und  Scheinheiligkeit  unerschöpflichen  Stoff  bieten.  Aber  es  bleibt 
immer  mehr  oder  weniger  bei  der  stereotypen  Schablone,  und  nur  aus- 
nahmsweise stößt  man  auf  einen  individuellen  Charakter.  Schon  die  Sitte, 
die  handelnden  Personen  nicht  mit  dem  Namen  der  speziellen  Rolle,  deren 
Träger  sie  sind,  sondern,  ähnlich  der  Commedia  dell'arte,  ganz  allgemein 
nach  ihrem  Rollencharakter  zu  bezeichnen,  läßt  durchblicken,  daß  sie  mehr 
als  Figuren,  denn  als  Personen  aufgefaßt  werden.  Das  Bestreben  nach 
feinerer  Charakterisierung  tritt  eigentlich  nur  hin  und  wieder  bei  dem 
vielfach  wiederkehrenden  Soubrettentypus  hervor,  der  gern,  wie  z.  B.  schon 
im  Si-siang-ki,  als  Leiter  der  Intrige  im  Mittelpunkt  der  Handlung  steht 
und  sich  bisweilen  durch  eine  recht  glückliche  Mischung  von  Schalkhaftig- 
keit und  Anmut  auszeichnet. 

Auch  unter  der  Ming-Dynastie  (1368 — 1644)  blühte  die  dramatische 
Dichtung  noch  eine  Weile,  und  „Die  Geschichte  einer  Laute"  (P'i-p'a-ki), 
ein  aus  dem  14.  Jahrhundert  stammendes  Drama,  gilt  sogar  für  eine  der 
besten  Schöpfungen  dieser  Gattung.  Es  ist  indessen  wohl  anzunehmen, 
daß  die  Begeisterung  für  dieses  Stück  mehr  seiner  ethischen  Tendenz  als 
seinen    literarischen  Vorzügen    zuzuschreiben   ist:    es  verherrlicht    nämlich 


Vin.  Dramatische  und  erzählende  Literatur  (13.  Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart).        ^c^ 

die  kindliche  Liebe,  die  bekanntlich  für  die  Krone  aller  Tugenden  gilt. 
In  formaler  Hinsicht  steht  es  dem  Si-siang-ki  am  nächsten  und  muß 
daher  gegenüber  dem  Drama  der  Mongolenzeit  eher  als  ein  Rückschritt 
bezeichnet  werden. 

Von    nun    an   geht    es   mit    der    dramatischen  Dichtung'   vollends    mit    Das  Drama 

CT  r^     ^   •  •  '^^''  Gegenwart. 

Riesenschritten  bergab,  und  was  heutzutage  aur  diesem  uebiete  geleistet 
wird,  darf  kaum  noch  als  zur  Literatur  gehörend  betrachtet  werden.  In 
der  landesüblichen  Klassifikation  des  modernen  Dramas  wird  zwischen 
„Zivilschauspielen"  und  „kriegerischen"  oder  „Militärdramen"  unterschieden. 
Jene  entsprechen  mehr  oder  weniger  unserem  Begriff  des  „Schauspiels", 
während  diese  hauptsächlich  aus  Kampfszenen  und  Akrobatenleistungen 
bestehen ;  ihnen  schließen  sich  dann  noch  die  Rührstücke  an,  K'u-hi,  wört- 
lich übersetzt:  „Wein-"  oder  „Klag^estücke".  x\lle  drei  Gattungen  sind 
teils  historischen,  teils  phantastisch-mythologischen  Inhalts  und  schöpfen 
ihre  Stoffe  durchweg  aus  der  populären  Romanliteratur.  Es  sind  in  der 
Regel  nichts  weiter  als  dramatisierte  oder,  richtig^er  ausgedrückt,  einfach 
dialogisierte  Romanepisoden,  die  oft  g"enug  gänzlich  aus  dem  Zusammen- 
hange herausgerissen  und  natürlich  nur  von  demjenigen  verstanden  wer- 
den können,  der  den  betreffenden  Roman  kennt.  Neben  diesem  „höheren" 
oder,  wie  der  Chinese  sagt,  „guten"  Drama  gibt  es  dann  noch  zahlreiche 
Lustspiele  und  Possen,  in  denen  der  Hanswurst  die  Hauptrolle  spielt: 
verkümmerte  Reste  der  ehemaligen  Charakterkomödie,  zeichnen  sie  sich 
sämtlich  durch  wenig  Witz  und  viel  Behagen  aus.  Der  einzige  Vorzug, 
der  dem  modernen  Drama  nachgerühmt  werden  muß,  ist  seine  Kürze, 
denn  es  besteht  mit  wenigen  Ausnahmen  nur  aus  Einaktern. 

Drama  und  Roman  treten  fast  gleichzeitig  auf  den  Plan,  aber  während  i^er  Roman, 
sich  die  ersten  Anfänge  des  Dramas  bis  in  die  ältesten  Zeiten  zurück- 
verfolgen lassen,  tritt  der  Roman  völlig  unvermittelt  auf:  er  ist  plötzlich 
da,  ohne  daß  sich  über  seinen  Ursprung  auch  nur  eine  Mutmaßung  auf- 
-stellen  ließe.  Noch  auffallender  ist  jedoch,  daß  der  erste  Wurf  zugleich 
der  glücklichste  war:  das  San-kuoh-tschi-yen-i,  „die  erweiterte  Geschichte 
der  drei  Staaten",  nimmt  nicht  nur  zeitlich,  sondern  auch  seinem  Rang 
nach  die  erste  Stelle  in  der  erzählenden  Literatur  Chinas  ein. 

Wie  schon  der  Titel  andeutet,  bilden  die  Kämpfe  zwischen  den  drei 
Sonderstaaten,  in  die  das  Reich  nach  dem  Sturze  der  Han-Dynastie  zer- 
fallen war,  den  Inhalt  der  Erzählung.  Im  Grunde  genommen  kann  jedoch 
das  San-kuoh-tschi  nur  cum  grano  salis  als  historischer  Roman  bezeichnet 
werden,  vielmehr  enthält  es  in  einem  Zyklus  von  Erzählungen  die  aus 
Wahrheit  und  Dichtung  gemischte  Schilderung  einer  ganzen  Epoche,  ist 
also  mehr  Epopöe  als  Roman.  Und  in  der  Tat  bietet  es  dem  Chinesen 
auch  einen  nahezu  vollwertigen  Ersatz  für  das,  was  seiner  Literatur  fehlt: 
das  nationale  Heldenepos.  An  Popularität  steht  es  in  der  gesamten  er- 
zählenden Literatur  Chinas  ohnegleichen  da,  und  selbst  die  des  Lesens 
Unkundigen  sind  mit  seinem  Inhalt  bis  in  alle  Einzelheiten  vertraut,  weil 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  23 


^:  1  Wilhelm  Gritbe:  Die  chinesische  Literatur. 

zahllose  öifentliche  Geschichtenerzähler  in  Stadt  und  Land  für  seine  Ver- 
breitung- sorgen.  Wie  sehr  jene  Erzählungen  dem  Volke  in  Fleisch  und 
Blut  übergegangen  sind,  beweist  nichts  schlag^ender  als  die  Tatsache,  daß 
einer  ihrer  Haupthelden,  der  in  der  Folge  zum  Kriegsgott  erhobene 
Kuan  Yü,  die  durch  das  ganze  Reich  verbreitete  Volkstümlichkeit  seines 
Kultus,  wenn  nicht  ausschließlich,  so  doch  in  allererster  Linie  dem  San- 
kuoh-tschi  verdankt.  Leider  ist  von  dem  Verfasser  des  Buches  außer 
seinem  Namen  nichts  bekannt:  er  heißt  Lo  Kuan-tschung  und  lebte,  wie 
gesagt,  unter  der  Mongolendynastie  der  Yüan. 

Der  gleichen  Zeit  gehört  noch  ein  anderer  Roman  an,  der  sich  eben- 
falls einer  großen  Beliebtheit  erfreut.  Es  ist  dies  die  von  Schi  Nai-ngan 
verfaßte  „Geschichte  des  Flußufers",  Schui-hu-tschuan,  die  sich  mit  den 
Taten  und  Abenteuern  einer  Bande  von  Flußpiraten  befaßt  und  durch 
vielfach  eingestreute  humoristische  Episoden  eine  gewisse  Verwandtschaft 
mit  unsern  alten  Schelmenromanen  zeigt.  Beide  Erzählungen  haben  dem 
modernen  Drama  unerschöpflichen  Stoff  geliefert  und  verdienten  ent- 
schieden in  eine  europäische  Sprache  übersetzt  zu  werden  —  ein  Unter- 
nehmen freilich,  welches  bei  dem  kolossalen  Umfange  der  beiden  Dich- 
tungen wohl  noch  lange  seiner  Ausführung  harren  wird.  Pavies  vor  reich- 
lich einem  halben  Jahrhundert  begonnene  Übersetzung  des  San-kuoh-tschih 
ist  leider  ein  Torso  geblieben.  Übrigens  zeichnen  sich  fast  alle  historischen 
Romane,  an  denen  die  chinesische  Literatur  sehr  reich  ist,  durch  eine 
ähnliche  Ausführlichkeit  aus.  Knapper  in  der  Form  sind  dagegen,  zum 
Teil  wenigstens,  jene  Erzählungen,  die  ihre  Stoffe  dem  täglichen  Leben 
entnehmen  und  ihrem  Inhalte  nach  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ein 
Seitenstück  zum  bürgerlichen  Schauspiel  und  zur  Charakterkomödie  bilden. 
Ein  treffliches  Beispiel  dieser  Art  ist  das  bereits  ins  Englische  und  Fran- 
zösische übersetzte  Hao-k'iu-tschuan,  „die  Geschichte  einer  guten  Gefährtin", 
ein  Roman,  der  aus  der  Zeit  der  Ming-Dynastie  stammt.  Oft  ist  gerade 
in  diesen  Romanen  die  Fabel  nicht  nur  gut  erfunden,  sondern  auch  mit 
vielem  Geschick  und  spannend  erzählt.  Im  allgemeinen  gilt  jedoch  auch 
hier,  was  bereits  vom  Drama  gesagt  wurde:  das  Typische  überwiegt, 
während  die  individuelle  Eigenart  des  Charakters  meist  zu  kurz  kommt, 
und  sogar  da,  wo  die  Charakteristik  an  Schärfe  und  P'einheit  wenig  zu 
wünschen  übrig  läßt,  fehlen  doch  selbst  die  Ansätze  einer  psychologischen 
Analyse  gänzlich.  Beim  Lesen  dieser  Romane  hat  man  in  der  Regel  die 
Empfindung,  Figuren  vor  sich  zu  sehen,  die  gleichsam  durch  einen  ver- 
borgenen Mechanismus  in  Bewegung  gesetzt  werden  und  immer  nur  ruck- 
weise wie  Automaten  oder  Marionetten  agieren,  nicht  lebendige  Menschen, 
die  aus  freiem  Antriebe  handeln  und  unter  dem  Einfluß  äußerer  Verhält- 
nisse eine  innere  Entwicklung  durchmachen.  Wer  jedoch  China  und  das 
Chinesentum  aus  eigener  Anschauung  kennt,  wird  gerade  in  dieser  stereo- 
typen Schablonenhaftigkeit  der  Romanfiguren  das  getreue  Abbild  der 
Wirklichkeit    wiedererkennen.      Unter    dem    nivellierenden    Einfluß    eines 


Viri.  Dramatische  und  erzählende  Literatur  (13.  Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart.).         35  S 

Jahrtausende  alten,  für  sakrosankt  geltenden  gesellschaftlichen  Komments 
ist  dem  Chinesentum  eben  die  höchste  Blüte  aller  Kultur,  die  freie  Persön- 
lichkeit, versagt  geblieben.  Nichtsdestoweniger  ist  der  Roman  ein  Kultur- 
dokument ersten  Ranges,  denn  er  allein  gewährt  einen  Einblick  in  das 
chinesische  Leben,  wie  es  ist,  einen  Einblick  vor  allem  in  das  Innere,  das 
chinesische  Haus,  das  ja  sonst  dem  Fremden  hermetisch  verschlossen 
bleibt,  —  man  denke  nur  an  die  köstlichen  Schilderungen  aus  dem  Leben 
und  Treiben  der  gebildeten  Stände  in  Romanen  wie  das  Yüh-kiao-li  oder 
das  P'ing  Shan  Ling  Yen,  die  durch  Stan.  Juliens  meisterhafte  Übersetzung 
auch  dem  europäischen  Leser  zugänglich  gemacht  sind. 

Unter  den  sittenschildernden  Romanen  genießt  „Der  Traum  in  der 
roten  Kammer'',  Hung-lou-men,  eine  an  poetischen  Szenen  reiche  Liebes- 
geschichte, ein  besonders  hohes  Ansehen.  An  P'ormvollendung  des  Stiles 
ist  das  Buch  auch  in  der  Tat  vielleicht  die  hervorragendste  Schöpfung 
der  chinesischen  Romanliteratur,  doch  wird  es  dem  Leser  nicht  leicht  ge- 
macht, sich  in  dem  Labyrinth  der  2  4  bändigen  Erzählung  mit  ihren 
400  Figuren  zurechtzufinden.  Der  Verfasser  heißt  Ts'ao  Süeh-ki  und  lebte 
im  17.  Jahrhundert.  Um  ein  Jahrhundert  älter  ist  das  Kin  P'ing  Mei,  ein 
naturalistischer  Sittenroman,  der  als  kulturgeschichtliches  Dokument  das 
größte  Interesse  beansprucht.  Von  meisterhafter  Darstellung,  voller  Witz 
und  Humor,  dabei  frivol  bis  zum  frechsten  Zynismus,  bietet  das  Buch  die 
unverhüllt  naturwahre  Schilderung  einer  bis  in  ihre  Wurzeln  korrumpierten 
Gesellschaft.  Sein  Verfasser  Wang  Schi-tscheng  (1526 — 1593),  der  Rabelais 
Chinas,  soll,  bezeichnend  genug,  den  Posten  eines  Justizministers  bekleidet 
haben,  und  kein  Geringerer  als  ein  Bruder  des  Kaisers  K'ang-hi  hat  den 
Roman  ins  Mandschu  übersetzt.  Nichtsdestoweniger  ist  das  Buch  seines 
über  alle  Maßen  anstößigen  Inhalts  wegen  verboten  worden,  was  natür- 
lich  seine  Verbreitung  in  keiner  Weise   zu  beeinträchtigen  vermocht  hat. 

Eine  Gattung  für  sich  sind  endlich  die  Romane  phantastisch-mytho- 
logischen Inhalts,  die  ihre  Stoffe  aus  dem  buddhistischen  und  taoistischen 
Leg"endenschatze  schöpfen  und  denen  das  Zauberdrama  seinen  Ursprung 
verdankt.  Ein  weitverbreitetes  Produkt  dieser  Art  sind  die  „Göttermetamor- 
phosen", Feng-schen-yen-i,  welche  die  Kämpfe  zwischen  Wu-wang,  dem 
Begründer  der  Tschou-Dynastie,  und  dem  letzten  Tyrannen  aus  dem  Hause 
Yin  schildern  und  mit  der  Apotheose  der  hervorragendsten  Kämpfer  aus 
beiden  Lagern  ihren  Abschluß  finden.  Ihnen  nach  Form  und  Inhalt  ver- 
wandt ist  die  „Beschreibung  einer  Wanderung  nach  den  westlichen  Re- 
gionen", Si-yu-ki,  ein  Zyklus  von  Erzählungen,  deren  Hauptheld  der 
buddhistische  Pilger  Hüan-tsang  ist.  Diese  beiden  bändereichen  Zauber- 
romane sind  übrig'ens  zugleich  religionsgeschichtlich  von  nicht  zu  unter- 
schätzender Bedeutung,  denn  die  in  ihnen  enthaltenen  Wundergeschichten 
sind  in  Bausch  und  Bogen  in  den  modernen  Volksglauben  übergegangen, 
und  die  darin  erwähnten  Götter,  deren  das  Feng-schen-yen-i  allein  ein 
ganzes  Tausend   aufzählt,    gehören    sämtlich   dem  populären  Pantheon   an. 

23* 


^  =  5  Wilhelm  Grube:  Die  chinesische  Literatur. 

Die  Novelle.  Neben    dem  Roman    hat  sich  auch  die  Novelle   einer   eifrigen  Pflege 

zu  erfreuen  gehabt.  Zwei  größere  Novellensammlungen  sind  besonders 
hervorzuheben,  von  denen  die  erste,  „Wundersame  Geschichten  aus  alter 
und  neuer  Zeit"  (Kin-ku-k'i-kuan)  bereits  aus  der  Zeit  der  Ming-D3'nastie 
stammt  und  40  Erzählungen  enthält.  In  einer  verhältnismäßig  leichtver- 
ständlichen Sprache  geschrieben,  haben  sie  einen  großen  Leserkreis  ge- 
funden und  sind  zum  Teil  auch  durch  Übersetzungen  in  Europa  bekannt 
geworden.  Sie  behandeln  gTÖßtenteils  galante  Abenteuer,  ergehen  sich 
jedoch  hie  und  da  auch  in  humorvoller  Persiflage  der  verschiedenen 
Formen  des  in  allen  Kreisen  verbreiteten  Aberglaubens.  Die  zweite 
der  in  Rede  stehenden  Sammlungen  trägt  den  Titel:  „Seltsame  Aufzeich- 
nungen aus  der  ,Zuflucht"'  (Liao-tschai-tschi-i).  „Zuflucht"  ist  hier  der 
Name,  den  der  Dichter  (geb.  1622)  seinem  Studierzimmer  gegeben  hat  und 
den  er,  üblicher  Sitte  gemäß,  als  nom  de  plume  führt;  sein  eigentlicher 
Name  ist  P'u  Sung-ling.  Die  meistens  ganz  kurzen  Geschichten  —  es  sind 
ihrer  weit  über  hundert  —  befassen  sich  größtenteils  mit  dem  herrschen- 
den Gespenster-  und  Dämonenglauben  und  gewähren  einen  überaus  lehr- 
reichen Einblick  in  dieses  interessante  Kapitel  der  Völkerpsychologie. 
Manche  von  ihnen  sind  jedoch  von  so  geringem  Umfange,  daß  sie  kaum 
über  den  knappen  Rahmen  der  Anekdote  hinausgehen.  Ihr  Hauptreiz 
liegt  für  den  Chinesen  in  ihrer  stilistischen  Eigenart:  im  Gegensatz  zu 
ähnlichen  Erzeugnissen  der  leichten  Literatur  sind  sie  nämlich  im  Stile  der 
klassischen  Schriftsprache  geschrieben  und  wimmeln  dabei  förmlich  von  lite- 
rarischen Anspielungen  und  gelehrten  Zitaten,  die  dem  Verfasser  reich- 
liche Gelegenheit  geben,  mit  seiner  Belesenheit  zu  glänzen.  Diesem 
Umstände  hat  das  Buch  hauptsächlich  seine  große  Beliebtheit  in  Literaten- 
kreisen zu  verdanken. 

Mit  dem  17.  Jahrhundert  findet  die  erzählende  Literatur  ihren  Abschluß, 
denn  was  seitdem  auf  diesem  Gebiete  produziert  wird,  steht  auf  einem 
ähnlich  niedrigen  Niveau  wie  das  moderne  Drama. 

Schlußbetrachtung.  Der  senile  Zug,  der  seit  bald  einem  Jahr- 
tausend durch  das  ganze  chinesische  Geistesleben  geht,  tritt  auch  in  der 
Literatur  zutage.  Schon  längt  trägt  sie  den  Todeskeim  in  sich,  und  ihr 
Schicksal  war  bereits  von  dem  Augenblick  an  besiegelt,  da  sich  die 
Schriftsprache  von  dem  lebendigen  Idiom  der  Umgangssprache  abzu- 
sondern begann.  Die  unvermeidliche  Folge  dieser  Trennung  war,  daß  die 
Literatur  zum  Sonderprivilegium  einer  gelehrten  Minderheit  wurde,  während 
die  große  Masse  sich  von  jeglicher  Zufuhr  geistiger  Nahrung  abge- 
schnitten sah.  Noch  andere  Momente  traten  hinzu,  die  an  diesem  Ergeb- 
nisse mitwirkten  und  den  Prozeß  beschleunigten.  Sie  lagen  teils  in  der 
ursprünglichen  geistigen  Veranlagung  der  Nation,  teils  in  dem  Gange 
ihrer  geschichtlichen  Entwicklung.  Von  Hause  aus  gleichgültig  gegen 
metaphysische    Spekulation,    haben    die    Chinesen    gegenüber    der    Frage: 


Schlußbetrachtung.  357 

Was  ist  Wahrheit?  zu  allen  Zeiten  den  unfruchtbar  skeptischen  Pilatus- 
Standpunkt  eingenommen.  Weil  sie  nie  das  unerreichbar  Höchste  zu  er- 
streben sich  bemühten,  blieben  sie  auf  den  meisten  Gebieten  menschlicher 
Tätigkeit  weit  hinter  dem  Erreichbaren  zurück.  Weil  sie  sich  mit  der 
sinnenfälligen  Wirklichkeit  begnügten,  rächte  sich  die  Wirklichkeit  durch 
den  Mangel  innerer  Wahrheit.  Weil  sie  endlich  nie  den  Versuch  gewagt 
haben,  durch  Experiment  und  wissenschaftliche  Beobachtung  den  Schleier 
zu  lüften,  der  die  Geheimnisse  der  Natur  verhüllt,  sind  sie  nie  über  den 
schamanistischen  Standpunkt  hinausgekommen,  der  das  ganze  Dasein  als 
unter  der  Herrschaft  böser  und  guter  Geister  stehend  betrachtet.  In  allen 
diesen  Punkten  war  Konfucius  der  vollendetste  Typus  des  Chinesen. 
Daraus  erklärt  sich  die  ungeheure  Macht  seines  Einflusses  psychologisch, 
—  das  Übrige  tat  das  Walten  der  Geschichte.  Durch  seine  Apotheose 
trat  an  die  Stelle  der  Person  ein  Prinzip,  Konfucius  wurde  durch  den 
Konfucianismus  verdrängt,  und  die  heilig  gehaltene  Tradition  erstarrte 
zum  Dogma,  unter  dessen  intellektuellem  und  moralischem  Druck  das 
geistige  und  sittliche  Leben  erstickte.  Nur  von  außen  her  konnte  dem 
siechen  Organismus  noch  frische  Lebenskraft  zugeführt  werden,  und  eine 
Zeitlang  schien  der  Buddhismus  dazu  berufen  zu  sein  —  aber  China  wurde 
nicht  buddhistisch,  dafür  jedoch  der  Buddhismus  chinesisch.  Gegenwärtig 
scheint  nun  China  an  einem  Wendepunkt  angelangt,  wo  sich  die  Frage, 
ob  Sein  oder  Nichtsein,  über  kurz  oder  lang  entscheiden  muß.  Was  keine 
Waffengewalt  erzwingen  konnte,  suchen  jetzt  die  Errungenschaften  der 
abendländischen  Zivilisation,  Handel,  Industrie  und  Wissenschaft,  durch- 
zusetzen. Bereits  scheint  der  Widerstand  gebrochen,  das  Alte  sinkt  in 
Trümmer,  altgeheiligte  Institutionen,  wie  das  staatliche  Prüfungswesen, 
beginnen  modernen  Anforderungen  zu  weichen,  die  lebende  Umgangs- 
sprache macht  schüchterne  Versuche,  sich  zunächst  wenigstens  in  der 
Presse  einzubürgern,  ausländische  Lehrer  werden  überallher  angeworben, 
und  Europäer,  Amerikaner,  Japaner  reißen  sich  in  bekannter  Uneigen- 
nützigkeit  um  die  Ausübung  einer  Kulturmission,  für  die  jeder  nur  sich 
allein  berufen  fühlt.  Ob  aus  den  Ruinen  neues  Leben  blühen  wird  — 
diese  Frage  zu  entscheiden,  muß  freilich  der  Zukunft  überlassen  bleiben. 
Einstweilen  scheint  sich  China  nachgerade  in  einer  Lage  zu  befinden,  die 
an  den  Zauberlehrling  denken  läßt. 


L  iteratur. 

Die  erste  Bekanntschaft  mit  den  Erzeugnissen  der  chinesischen  Literatur  verdankt  das 
Abendland  den  (größtenteils  französischen)  Jesuiten  des  17.  und  18.  Jahrhunderts,  Männern 
wie  INTORCETTA,  NOEL,  COUPLET,  Gaubil,  Amiot,  Cibot,  Lacharme,  Mailla  u.  a.  m.  Aber 
es  dauerte  noch  lange,  bis  man  sich  zu  einer  systematischen  Darstellung  des  gesamten  chine- 
sischen Schrifttums  entschloß.  Unter  den  Versuchen  dieser  Art  ist  WiLH.  Schotts  ,, Ent- 
wurf einer  Beschreibung  der  chinesischen  Literatur"  (Berlin,  1854)  einer  der  frühesten  und, 
wie  gleich  hinzugefügt  werden  muß,  wohl  der  beste.  Dennoch  bietet  er  eben  nicht  mehr 
als  der  Titel  verspricht:  einen  Entwurf,  der  von  einer  annähernden  Vollständigkeit  noch 
ebenso  weit  entfernt  ist  wie  von  einer  den  Anforderungen  strenger  Wissenschaftlichkeit 
genügenden  kritischen  Behandlung  des  Stoffes.  W.  P.  Wassiljews  russisch  geschriebene 
Darstellung  (in  Korschs  Allgem.  Literaturgeschichte  [St.  Petersburg,  1880],  S.  426 — 588) 
zeichnet  sich  durch  eine  oft  verblüffende  Selbständigkeit  der  Auffassung  aus.  Dieser  aus- 
gezeichnete Sinolog,  der  sich  einer  Belesenheit  rühmen  dürfte  wie  nur  die  allerwenigsten 
seiner  Fachgenossen,  vertritt  jedoch,  besonders  in  der  Beurteilung  der  klassischen  Literatur, 
einen  ultraradikalen  Standpunkt,  so  daß  er  durch  seine  allzu  skeptische  Kritik  mitunter  in 
Kritiklosigkeit  verfallt,  ein  Übelstand,  der  nach  Legges  bahnbrechenden  Vorarbeiten  auf 
diesem  Gebiete  doppelt  schwer  ins  Gewicht  fällt  und  den  Wert  der  Arbeit  stark  beein- 
trächtigt. Durchweg  aus  Quellen  zweiter  Hand  geschöpft  ist  der  einschlägige  Abschnitt  im 
2.  Bande  von  A.  Baumgartners  ,, Geschichte  der  Weltliteratur",  3.  u.  4.  verb.  Aufl.  (Frei- 
burg i.  Br.),  S.  475 — 552.  Nichtsdestoweniger  hat  der  Verf.  es  verstanden,  das  ihm  zugäng- 
liche Material  mit  so  großem  Fleiß  und  Verständnis  zu  verwerten  und  zu  gestalten ,  daß 
seine  Arbeiten  gegenüber  den  sonstigen  Leistungen  ähnlicher  Art  die  höchste  Anerkennung 
verdienen.  H.  A.  GlLES'  ,,History  of  Chinese  Literature"  (London,  1901)  enthält  zwar  eine 
reiche  und  gute  Auswahl  von  Übersetzungsproben,  doch  wird  darin  der  historische  Zu- 
sammenhang etwas  stiefmütterlich  behandelt.  Das  Buch  trägt  vorwiegend  den  Charakter 
einer  Sammlung  von  Lesestücken  mit  verbindendem  Text,  ist  aber  vielleicht  gerade  dadurch 
geeignet,  den  Laien  praktisch  in  den  Gegenstand  einzuführen.  In  meiner  ,, Geschichte  der 
chinesischen  Literatur"  f Leipzig,  1902)  habe  ich  mich  bemüht,  die  Literatur  so  viel  als  mög- 
lich in  ihrem  Zusammenhange  mit  der  Geschichte  und  dem  geistigen  Entwicklungsgange 
der  Nation  darzustellen.  Die  vier  letztgenannten  verfolgen  den  Zweck,  den  Gegenstand 
einem  größeren  Leserkreise  zugänglich  zu  machen,  doch  beruhen  sie  sämtlich,  mit  alleiniger 
Ausnahme  des  Baumgartnerschen  Buches,  auf  selbständigem  Quellenstudium.  Eine  streng 
wissenschaftliche  und  den  Stoff  erschöpfende  Gesamtdarstellung  der  chinesischen  Literatur 
liegt  bisher  noch  nicht  vor  und  wird  auch  wohl  angesichts  der  Riesenhaftigkeit  der  Auf- 
gabe und  des  Mangels  an  genügenden  Vorarbeiten  noch  für  lange  Zeit  ein  pium  desiderium 
bleiben. 

Die  nachfolgenden  Literaturangaben  machen  natürlich  keinen  Anspruch  auf  Vollständig- 
keit, sondern  haben  nur  den  Zweck,  dem  Leser  einige  orientierende  Winke  zu  geben. 

S.  318.  J.  Legge,  The  sacred  books  of  China,  in:  The  Sacred  Books  of  the  East,  ed. 
by  F.  >Lvx  MÜLLER,  vol.  111,  XVI,  XXVII,  XXVIII.  —  V.  VON  Strauss,  Schl-klng,  das 
kanonische  Liederbuch  der  Chinesen  (Heidelberg,  1880). 


Literatur. 


359 


S.  323.  Eine  vollständige  Übersetzung  der  vier  klassischen  Bücher  gibt  LEGGE,  The 
Chinese  Classics,  vol.  I  u.  II  (Hongkong  u.  London,   1861;  Band  II  in  2.  Aufl.   1894). 

S.  326.  V.  V.  Strauss,  Laö-tscs  Täo  te  king,  aus  dem  Chinesischen  ins  Deutsche 
übersetzt,  eingeleitet  und  kommentiert  (Leipzig,   1870). 

S.  328.  E.  F.\BER,  Der  Naturalismus  bei  den  alten  Chinesen  (Elberfeld,  1877;  entliält 
eine  Übersetzung  des  Lieh-tsze). 

S.  328.    H.  A.  GiLES,  Chuang  Tzü,  Moralist,  Mystic,  and  Social  Reformer  (London,  1899). 

S.  332.  Ed.  Chavannes,  Les  Memoires  historiques  de  Se-ma  Ts'ien,  trad.  et  annotes 
(Paris,  1895 — 1905).  Es  sind  bisher  die  fünf  ersten  Bände  dieses  bahnbrechenden  Werkes 
erschienen. 

S.  337.    Jos.  Edkins,  Chinese  Buddhism  (London,   1893). 

S.  340.     d'Hervey-Saint-Denys,  Poesies  de  l'epoque  des  Thang  (Paris,   1852). 

S.  342.     A.  Forke,  Blüten  chinesischer  Dichtung  (Magdeburg,   1899). 

S.  347.  MOYRIAC  DE  Mailla,  Histoire  generale  de  la  Chine,  trad.  du  Tong-kien-kang- 
mou.     12  vols.  (Paris,   1777 — 1783). 

S.  351.  Bazin,  Theätre  chinois,  ou  choix  de  pi^ces  de  theätre  comp,  sous  les  empe- 
reurs  mongols  (Paris,  1838).  —  R.  v.  Gottschall,  Theater  und  Drama  der  Chinesen 
(Breslau,  1887). 

S.  353.     Th.  Pavie,  Histoire  des  trois  royaumes,  vol.   1  —  2  (Paris,   1845 — i^dO- 

S.  356.  Das  Liao-tschai-tschi-i  ist  zum  größten  Teil  übersetzt  in  H.  A.  GiLES,  Strange 
Stories  from  a  Chinese  Studio  (London,   1880). 


DIE  JAPANISCHE  LITERATUR. 


Von 
Karl  Florenz. 


Land  und  Leute.  Einleitung.  Auf  den  Inseln,  welche  das  heutige  Kaiserreich  Japan 
bilden,  haben  sich  vor  mehreren  Jahrtausenden,  bis  in  den  Anfang  der 
christlichen  Ära  hinein,  große  Rassenkämpfe  abgespielt.  Die  jetzt  auf 
den  nördlichen  Eilanden  Yezo  und  Sachalin  in  spärlichen  Resten  sitzen- 
den Ainu  waren  einst  das  herrschende  Volk  des  ganzen  Landes,  aber  von 
den  Fluten  zweier  Völkervvanderungen,  deren  eine  sich  vom  nordasia- 
tischen Festlande  über  Korea,  die  andere  von  Süden  her  nach  Japan  er- 
goß, wurden  sie  nach  tapferem  Widerstände  verschlungen  oder  nach 
Norden  abgedrängt.  Die  beiden  neu  eingewanderten  Volksgruppen  hatten 
sich  in  noch  vorhistorischer  Zeit,  ehe  die  Ainu  aus  Mitteljapan  verdrängt 
wurden,  zu  einer  ethnologischen  Einheit  zusammengeschlossen,  welcher  die 
über  Korea  gekommenen  Ural- Altaier,  jedenfalls  das  zivilisiertere  Element, 
den  sprachlichen  Charakter  verliehen. 

Xur  wenig  Zuverlässiges  ist  uns  über  die  Urjapaner  bekannt,  da  ihre 
volkstümlichen  Überlieferungen  mangels  einer  eigenen  Schrift  erst  im  An- 
fang des  8.  Jahrhunderts  n.  Chr.  gesammelt  und  aufgezeichnet  wurden,  zu 
einer  Zeit,  wo  die  Bewohner  dieses  Landes  schon  seit  mehreren  loo  Jahren 
immer  mehr  unter  den  Einfluß  der  zuerst  von  den  Koreanern  vermittelten, 
wirtschaftlich,  technisch  und  geistig  weit  überlegenen  chinesischen  Kultur 
geraten  waren.  Auch  religiöse  Umwandlungen  von  weittragendster  Be- 
deutung hatten  sich  inzwischen  durch  die  Ende  des  6.  Jahrhunderts  be- 
gonnene Einbürgerung  des  indischen  Buddhismus  in  chinesischer  Ver- 
arbeitung angebahnt.  Chinesische  Sprache,  Schrift,  Literatur,  Kunst, 
Religion,  Sitten  und  politische  Einrichtungen  einerseits  und  der  Buddhis- 
mus andererseits  schufen  das  vorher  in  ziemlich  primitiven  Zuständen 
lebende  japanische  Volk,  dem  von  der  Natur  eine  kräftige  Assimilations- 
gabe verliehen  worden  war,  zu  einer  Kulturnation  um.  Die  genannten 
Faktoren  hatten  für  die  Japaner  ebendieselbe  Bedeutung,  wie  die  griechisch- 
römische Kultur  und  das  Christentum  für  die  Völker  von  Mittel-  und 
Nordamerika. 


I.  Die  älteste  Zeit  ( — 794  n.  Chr.).  55 1 

T.  Die  älteste  Zeit  ( — 794  n.  Chr.),  Die  geschriebene  Literatur  Japans 
beginnt  mit  dem  712  n.  Chr.  abgefaßten  Kojiki  „Geschichte  der  Begeben- 
heiten im  Altertum"  und  dem  8  Jahre  jüngeren  Nihongi  „Japanische 
Annalen".  Beide  Werke,  mit  chinesischen  Schriftzeichen  geschrieben,  die 
nur  im  letzteren  zu  reiner  chinesischer  Satzstruktur  geordnet  wurden,  sind 
als  erste  Versuche  geschichtlicher  Darstellung  ungeschickte  Kompilationen, 
trotzdem  aber  von  hohem  Werte,  denn  in  ihnen  sind  mit  leidlicher  Sorg- 
falt die  altüberlieferten  Göttermythen  von  der  Schöpfung  der  Welt  bis 
zum  Ende  des  Götterzeitalters  und  die  ältesten  legendenhaften  Geschichts- 
erzählungen Japans  gesammelt,  aus  denen  sich,  soweit  sie  von  Ereignissen 
vor  dem  5.  Jahrhundert  handeln,  zwar  nicht  viele  historische  Fakta,  aber 
ziemlich  anschauliche  Bilder  der  frühesten  Kulturzustände  entnehmen 
lassen.  Die  letzte  schon  eigentlich  historische  Hälfte  der  „Annalen", 
worin  die  Geschichte  Japans  vom  5,  Jahrhundert  bis  zum  August  697 
fortgeführt  wird,  gewinnt  an  Verläßlichkeit,  je  mehr  sie  sich  der  Ab- 
fassungszeit nähert,  und  auch  die  Zeitangaben  werden  meistens  richtig 
sein.  Dagegen  kann  man  gegenüber  der  unkritischen  Leichtgläubigkeit, 
welche  noch  heute  die  Berichte  des  Nihongi  über  das  sogenannte  erste 
Jahrtausend  der  japanischen  Geschichte  seit  angeblich  660  v,  Chr.  finden, 
nicht  genug  betonen,  daß  die  ganze  diesen  Zeitraum  angehende  Chrono- 
logie kurz  vor  Abfassung  des  Werkes  ad  hoc  willkürlich  erfunden  wurde. 
Die  erst  1872  auf  diese  naive  Geschichtsfälschung  der  „Annalen"  be- 
gründete offizielle  japanische  Ära  „seit  der  Thronbesteigung  des  ersten 
Kaisers"  ist  deshalb  theoretisch-wissenschaftlich  ebenso  wertlos  als  sie 
praktisch  überflüssig  ist. 

Zum  schätzbarsten  Bestandteile  des  Kojiki  und  Nihongi  gehören  etwa  Archaische 
200  archaische  Gedichte,  welche  in  phonetischer  Schreibung  darin  Auf- 
nahme gefunden  haben.  Sie  sind  überall  in  den  erzählenden  Text  ein- 
gestreut und  werden  an  den  betreffenden  Stellen  Göttern,  Göttinnen,  sagen- 
haften Helden  der  Urzeit  und,  in  den  jüngsten  Abschnitten,  historischen 
Personen  in  den  Mund  gelegt.  Wenn  wir  über  die  angeblichen  „Dichter" 
auch  zur  Tagesordnung  übergehen  können,  so  ist  doch  unzweifelhaft,  daß 
in  diesen  Versen  altes  Poesiegut  vorliegt,  das  dem  5, — 7,  Jahrhundert,  in 
einzelnen  Fällen  wohl  auch  noch  früherer  Zeit  angehört.  Wir  besitzen  in 
diesen  Gedichten  [Uta,  d,  i,  „Gesang,  Lied")  das  älteste  japanische  und 
ural-altaische  Sprachmaterial,  Auf  hohen  poetischen  Gehalt  können  sie 
allerdings  keinen  Anspruch  erheben:  sie  sind  der  einfache  Ausdruck  naiver 
Gedanken  und  Empfindungen,  in  der  Mehrzahl  Kampfgesänge,  Trinklieder, 
Glückwunschlieder,  Trauergesänge,  Spottlieder,  Liebeslieder,  Unter  den 
letzteren,  welche  am  zahlreichsten  vertreten  sind,  finden  sich  einige  von 
zarterer  Empfindung;  die  meisten  aber  künden  nur  Wohlgefallen  an  der 
Schönheit  des  Leibes  und  unverhüllte  Begier  nach  sinnlichem  Genuß,  Der 
Allgemeineindruck  ist,  daß  wir  es  mit  einem  selbstbewußten,  kriegerischen, 
sinnlichen,    lebensfrohen  Volke    zu    tun    haben,    das    noch  in    urwüchsigen 


Poesie. 


2  02  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

Verhältnissen  lebt  und  über  eine  mittelmäßige  poetische  Begabung  ver- 
fügt. Von  manchen  Eigenschaften,  welche  der  ganzen  späteren  Lyrik  so 
innig  anhaften,  daß  man  sie  als  spezifisch  japanisch  zu  betrachten  geneigt 
ist,  nämlich  der  Liebe  zur  Natur  und  der  elegisch-sentimentalen  Schwärmerei 
für  ihre  kleinen  und  kleinsten  Erscheinungen,  für  Mond  und  Schnee  und 
Blumen  und  Blüten,  findet  sich  in  den  archaischen  Gedichten  noch  keine 
Spur.  Sie  kommen  erst  Ende  des  7.  und  Anfang  des  8.  Jahrhunderts  zum 
Vorschein,  als  die  Japaner  begonnen  hatten,  die  chinesische  Poesie  nach- 
zubilden, und  sind  auf  chinesischen  Einfluß  zurückzuführen. 
Prosodischcs.  Die  Prosodie  ist  überaus  einfach,  und  ist  es  bis  auf  den  heutigen  Tag 

geblieben.  Sie  kennt  nur  Silbenzählung,  ohne  einen  auf  Akzent  und  Quan- 
tität beruhenden  Rhythmus  und  ohne  Reim.  In  der  ältesten  Poesie  treffen 
wir  Verse  von  4,  5,  6  und  7  Silben  vermischt,  beobachten  aber,  wie  das  Ohr 
sich  immer  mehr  für  den  Gebrauch  von  fünf-  oder  siebensilbigen  Versen 
entscheidet  und  schließlich  den  regelmäßigen  Wechsel  von  Fünf-  und 
Siebensilbem  zum  eisernen  Gesetz  aller  metrischen  Bildung  erhebt.  Die 
Zahl  der  Verse  in  einem  Gedicht  war  ursprünglich  keiner  Beschränkung 
unterworfen.  Erst  mit  dem  Vorwiegen  des  Fünf-Sieben-Metrums  machte 
sich  auch  das  Bedürfnis  nach  bestimmten  Abgrenzungen  fühlbar.  Als 
kleinste  mögliche  Einheit  empfand  man  einen  Dreizeiler  von  5  —  7  —  7 
Silben  {Kata-uta),  den  man  aber  aus  naheliegenden  Gründen  gewöhnlich 
■    verdoppelte    [Sedöka,    zweistämmiges    Lied).      Die    nächst    größte    Einheit 

wurde  ein  Gedicht  aus  den  Silbengruppen  5  —  7  5  —  7  7,  welches  durch  Ein- 
fügung einer  Zäsur  nach  dem  dritten  Verse  einen  ganz  eigentümlichen 
Charakter  erhielt,  nämlich  wie  ein  aus  Hexameter  und  Pentameter  be- 
stehendes Distichon  in  einen  längeren  Obersatz  und  einen  kürzeren  Unter- 
satz 5  —  7  —  5  7  —  7  zerfiel.  Diese  epigrammhafte  Form  von  31  Silben, 
Ta7ika  „Kurzgedicht"  genannt,  welche  gerade  umfangreich  genug  war, 
um  etwas  von  Belang  darin  sagen  zu  können,  aber  zu  knapp,  um  ein 
Ausschweifen  in  breite  Schilderung  zu  gestatten,  wurde  die  Lieblingsform 
der  japanischen  Lyrik.  Schon  im  Kojiki  und  Nihongi  finden  sich  etwa 
60  Lanka  unter  den  200  Gedichten;  in  der  Gedichtsammlung  Manyöshu, 
welche  die  vorklassische  japanische  Poesie  vom  letzten  Viertel  des  7.  Jahr- 
hunderts bis  759  repräsentiert,  sind  4173  Tanka  unter  4497  Gedichten; 
und  in  der  Folgezeit  begegnen  wir,  einige  verschwindende  Ausnahmen 
abgerechnet,  nur  noch  dem  Tanka  als  dem  typischen  japanischen  Gedicht. 
Alle  längeren  Gedichte,  von  sieben  oder  mehr  Versen,  mit  der  Anordnung 

5^7  5^7  5  —  7  7,  5  —  7  5  —  7  5  —  7  5  —  7  7  usw.,  hießen  iVa^«-?^/«  „Lang- 
gedichte". Der  letzte  Siebensilber,  unmittelbar  hinter  den  vorhergehenden 
Siebensilber  gefügt,  sollte  fürs  Ohr  das  Gefühl  des  Abschlusses  geben. 
Unter  den  Langgedichten,  besonders  unter  denen  des  Manyöshu  (das  längste 
zählt  nur  149  Verse),  befinden  sich  einige,  welche  unsern  Balladen  ähneln, 
z.  B.  die   Mär  vom  Fischer  Urashima,   dem  japanischen  Rip  van  Winkle. 


I.  Die  älteste  Zeit  (—794  n.  Chr.).  -35 's 

Da  sie  ein  nicht  geringes  Talent  für  epische  Darstellung  bekunden,  so  ist 
es  sehr  bedauerlich,  daß  das  Monopol,  welches  das  Tanka  erlangte,  diese 
Ansätze  zu  einer  nationalen  Epik  nicht  zur  Entfaltung  kommen  ließ. 
Ebenso  wie  es  die  epische  Poesie  im  Keim  erstickte,  hat  es  auch 
die  Entwicklung  der  Lyrik  verkrüppelt.  Kurze  Gedichte  haben  gewiß 
ihre  Daseinsberechtigung,  und  ein  anmutiger  Gedanke  in  schlagender 
Kürze  vorgetragen  gefällt  uns  jedenfalls  besser  als  überflüssiger  Wort- 
schwall, der  vielleicht  nur  den  Mangel  einer  prägnanten  Idee  verdeckt. 
Der  Japaner  insbesondere,  dessen  natürliche  Veranlagung  ihn  zur  Ge- 
staltung nicht  des  Großen,  Gewaltigen,  Umfassenden,  Komplizierten,  son- 
dern des  Klein-Schönen,  Einfachen  hinzudrängen  scheint,  liebt  in  der 
Poesie  mehr  die  Andeutung,  die  Suggestion,  als  die  Ausführung  ins 
Einzelne,  wie  er  ja  auch  in  der  Malerei  sich  gewöhnlich  mit  einigen  wenigen 
kühn  hingeworfenen,  aber  charakteristischen  Strichen  begnügt.  Langes 
Streben  und  Gewöhnung  hat  ihn  dazu  befähigt,  mit  den  kleinsten  Mitteln 
oft  etwas  Vollkommenes  zu  schaffen.  Und  doch  war  die  einseitige  Be- 
schränkung auf  31  Silben  ein  verhängnisvoller  Fehler.  Es  konnte  gar 
nicht  anders  kommen,  als  daß  die  infolge  des  knappen  Spielraums  eng 
eingeschnürte  Phantasie  allmählich  ihre  Flugkraft  verlor,  daß  man  die- 
selben, ursprünglich  sehr  hübschen  und  interessanten,  Einfälle  bis  zum  Er- 
schöpfen immer  wiederholte,  daß  man  zu  allerlei  Spielereien  und  Mätzchen 
seine  Zuflucht  nehmen  mußte,  um  in  irgendwelcher  Weise  doch  etwas 
Neues  zu  bringen,  kurz,  daß  die  Poesie  versiegte.  Als  gar  die  Lyrik 
vom  13.  Jahrhundert  an  schulenmäßig  betrieben  wurde,  entartete  sie  zum 
schauerlichsten  Meistergesang. 

Gewisse  Schmuckmittel  des  Stils  und  Eigentümlichkeiten,  wodurch  sie 
sich  von  der  Prosa  unterscheidet,  sind  der  Poesie  aller  Völker  eigen,  und 
sie  bedürfen  deshalb  keiner  Erwähnung.  Etwas  Besonderes  haben  die 
Japaner  in  den  „Kissenwörtern"  (Makura-Kotoba),  „Einleitungen"  (Jo)  und 
„Angelwörtern"  (Kenyögen).  Nicht  als  ob  dergleichen  Erscheinungen  nir- 
gends anders  vorkämen,  sondern  weil  sie  hier  zu  einem  festeren  System 
entwickelt  worden  sind.  Ihr  Gebrauch  bietet  dem  Japaner  offenbar  einigen 
Ersatz  für  die  Reize,  welche  anderen  Völkern  ihre  mannigfaltigen  Vers- 
formen, Rhythmen  und  Reime  gewähren,  welche  aber  seine  eigene  mono- 
tone Prosodie  ihm  versagt.  Die  Kissenwörter  sind  schmückende  attribu- 
tivische  Beiwörter,  ähnlich  dem  Epitheton  ornans  bei  Homer:  der  „fern- 
treffende" Apollo,  der  „schnellfüßige"  Achilles.  Beispiele  der  Art  sind:  der 
„kürbisgestaltige  Himmel",  die  „hochscheinende"  Sonne,  das  „vom  Götter- 
wind durchwehte"  Land  Ise,  das  „einge weidige"  Herz,  der  „weißtuchige" 
Schnee,  die  „weniger  als  100  seiende"  Zahl  50  und  viele  hundert  andere,  aus 
Lehrbüchern  erlernbare,  fast  immer  fünfsilbige,  oft  sehr  bizarre  und  wort- 
spielend mit  dem  folgenden  Wort  (oder  nur  einer  Silbe  des  Wortes)  ver- 
bundene Ausdrücke.  Der  ursprünglich  sinnvolle  Schmuck  ist  unter  den 
Händen   der  Poetaster   vielfach    zum   lächerlichen   Unsinn  geworden    und 


354  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

verkürzt  den  ohnehin  so  beschränkten  Spielraum  des  3 1  silbigen  Gedichtes 
noch  weiter  durch  leeren  Floskelkram.  Die  „Einleitungen"  sind  zu  ganzen 
Sätzen  oder  Satzverbindungen  erweiterte  Kissen wörter,  attributivisch  zu 
einem  einzelnen  Wort  oder  Wortteil  gesetzt,  aber  sonst  unabhängig  vom 
gedanklichen  Zusammenhang  des  Gedichtes.  Die  „Angelwörter"  oder 
doppelsinnig  gebrauchten  Wörter  endlich  sind  wortspielende  Ausdrücke, 
die  nach  vom  und  hinten  ein  etymologisch  und  grammatisch  verschiedenes 
Gesicht  zeigen,  so  daß  der  erste  Teil  des  Satzes  kein  logisches  Ende,  der 
zweite  Teil  keinen  logischen  Anfang  hat,  etwa  wie  in  dem  Satze:  „Ein 
Rabe  sitzt  dort  auf  dem  zweigesichtig  ist  der  Gott  Janus"  (Wortspiel 
mit  „Zweige"  und  „zwei-gesichtig").  Um  an  einem  möglichst  kurzen  Bei- 
spiel die  Verwendung  aller  drei  Schmuckmittel  zu  verdeutlichen,  sei  statt 
eines  japanischen  Originals  Goethes  „Blumengruß"  (der  Strauß,  den  ich 
geptlücket  usw.)  gewählt  und  mit  Einleitung,  Kenyögen  und  Kissenwörtern 
ä  la  Japonnaise  versehen: 


\  (Einleitung) 


Es  sind  der  Helden  viele 

Vom  Schwert  durchbohrt  gefallen 

Im  Strauß,  den  ich  gepflücket,  (Kenyögen) 

Grüße  dich  viel  tausendmal, 

Was  mehr  als  hundertmal  ist!  (Kissenwort) 

Ich  habe  mich  oft  gebücket, 

Ach,  wohl  ein  tausendmal, 

Was  mehr  als  hundertmal  ist!  (Kissenwort) 

Und  ihn  ans  Herz  gedrücket. 

Ans  Herz  im  Eingeweide,  (Kissenwort) 

Wie  hunderttausendmal ! 

Solche  Kunstgriffe,  welche  auch  in  den  lyrischen  und  monodischen 
Dramen  sehr  häufig  angewendet  werden,  sind  dem  literarischen  P^ein- 
schmecker  erlesene  Leckerbissen.  Wir  rechnen  die  Wortspielereien  mit 
Recht  zu  den  niedrigen  formalen  Künsten,  bedienen  uns  ihrer  vorzugs- 
weise, wo  es  auf  komische  Wirkungen  abgesehen  ist,  und  würden  uns 
scheuen,  sie  in  edler  Poesie  zu  verwenden.  Die  Anschauung  des  Japaners 
ist  hiervon  grundverschieden.  Wie  häufig  er  auch  das  Wortspiel  für  witzige 
Zwecke  verwendet  —  sein  Witz  ist  sogar  fast  ausschließlich  Wort-  oder 
Klangwitz  — ,  so  sieht  er  doch  darin  nicht  bloß  eine  müßige  Spielerei, 
sondern  im  ernsten  Text  ist  es  ihm  etwas  Elegantes,  Anmutiges,  gerade- 
zu eine  Erhöhung  des  Stils.  Mehrere  europäische  Japanologen  haben 
diesen  Hang  zu  Worttändelei  gerügt:  die  japanische  Antwort  auf  solche 
Kritik  war  stets  ein  Schrei  der  Entrüstung. 
Archaische  An  eigentlichem  poetischen  Gehalt  übertroffen  werden  die  archaischen 

Gedichte  durch  manche  der  gleichaltrigen  Rituale  (IVorüo),  welche  beim 
Shintögottesdienst  rezitiert  wurden.  In  ernster  feierlicher  Prosa,  aber  mit 
den  Schmuckmitteln  des  poetischen  Stils  ausgestattet,  sprechen  sie  von 
den  Taten  der  Götter  und  der  halbgöttlichen  Vorfahren,  von  den  Festes- 
feiem  und  üppigen  Opferspenden.    Besonders  das  größte  unter  ihnen,  das 


Prosa. 


Japan. 


I.  Die  älteste  Zeit  ( — 794  n.  Chr.).  ^65 

„Ritual  der  Großen  Reinigung",  wodurch  die  Entsühnung  des  ganzen 
Landes  von  Unreinheit  und  Sünde  bewirkt  wurde,  nimmt  einen  fast  groß- 
artig zu  nennenden  poetischen  Schwungs.  Daß  diese  psalmartigen  Dichtungen 
mit  ihrem  teils  epischen,  teils  lyrischen  Inhalt  auch  religionsgeschichtlich 
wichtig  sind,  bedarf  kaum  der  Erwähnung.  Den  Norito  ganz  ähnlich  in 
Sprache  und  Stil  waren  die  alten  pomphaften  Proklamationen  der  Kaiser 
(Mikoto-nori  oder  Semmyö)  bei  Thronbesteigung-en,  Todesfällen  hoher 
Personen,  Ermahnungen  an  das  Volk  und  anderen  wichtigen  Anlässen. 
Von  denen  der  archaischen  Zeit,  d.  h.  vor  700,  sind  uns  keine  erhalten, 
aber  62  Stück,  welche  im  8.  Jahrhundert  entstanden,  sind  in  den  ,,Fort- 
gesetzten  Japanischen  Annalen"  (Shoku-Nihongi,  797)  aufgezeichnet.  Alle 
späteren  Proklamationen  wurden  nicht  in  japanischer,  sondern  in  chine- 
sischer Sprache  abgefaßt,  denn  es  kam  jetzt  eine  Periode,  wo  die  fremde 
chinesische  Kultur  das  nationale  Japanertum  allenthalben  überwucherte. 
In  den  letzten  Semmyö  sind  schon  eine  Anzahl  chinesischer  Lehnwörter 
eingemischt. 

Vor  dem  7.  Jahrhundert  war  in  Japan  die  Kenntnis  der  chinesischen    chinesische 

Sprache  und 

Sprache  und  Schrift  aut  die  eingewanderten  Koreaner  und  Chinesen  und  Literatur  in 
deren  Abkömmlinge  beschränkt  g^ewesen.  Aber  seit  der  Regierung  der 
Kaiserin  Suiko  (f  628),  namentlich  unter  der  Leitung  des  ganz  von  konfu- 
zianischen und  buddhistischen  Ideen  erfüllten  Kronprinzen  Shötoku-taishi 
(-|-62i),  begannen  sich  die  Vornehmen,  die  Höflinge,  die  Beamten  immer 
intensiver  mit  dem  Studium  des  Chinesischen  zu  beschäftigen.  Unter  Kaiser 
Tenji  (662 — 671)  wurden  die  ersten  Schulen  für  den  Unterricht  in  der 
fremden  Sprache  errichtet,  und  nach  kaum  100  Jahren  hatte  das  Chine- 
sische eine  Stelle  eingenommen  wie  das  Latein  in  Deutschland  von 
der  Karolinger-  bis  zur  Ottonenzeit.  Bildung  und  Chinesisch  verstehen, 
waren  identische  Begriffe.  Für  alle  Amtsschriften,  Urkunden,  Gesetze, 
Proklamationen,  geschichtlichen  Aufzeichnungen,  für  den  amtlichen  und 
privaten  Schriftverkehr  wurde  nur  Chinesisch  verwendet.  Sich  in  dieser 
Sprache  möglichst  auszubilden,  in  ihr  nicht  nur  Prosa,  sondern  auch 
Gedichte  schreiben  zu  lernen,  wurde  das  einzig^e  Lebensziel  der  Leute  aus 
den  höheren  Ständen,  und  über  dem  Bestreben,  vollgültige  Chinesen  zu 
werden,  vernachlässigten  sie  die  praktische  Lebenstätigkeit,  vergaßen  sie 
ihre  altjapanischen  Tugenden  der  Genügsamkeit,  Abhärtung,  Waffen- 
tüchtig-keit ,  sahen  die  meisten  von  ihnen  auf  alles  Japanische  mit  Ver- 
achtung herab.  Die  dadurch  eingetretene  Verweichlichung  sollte  sich 
später  an  der  kaiserlichen  Familie  und  dem  Hofadel  schwer  rächen,  denn 
in  den  von  der  Residenz  entfernteren  Provinzen  wuchsen  inzwischen  zwar 
ungebildete,  aber  kräftige  Geschlechter  auf,  welche,  als  sie  ihre  Zeit  ge- 
kommen sahen,  den  glänzenden  Kaiserstaat  unter  ihre  Füße  traten  und 
eine  Militärherrschaft  errichteten,  gegen  die  Kaiser  und  Hof  bis  1867 
nicht  wieder  aufzukommen  vermochten:  nur  noch  den  Namen  einstiger 
Macht  tragend,  fristeten  sie  ein  ruhmloses  Dasein. 


o 


56  Kakl  Florenz:  Die  japanische  Literatur, 


Die  vorkiassi-  Die  crstc  Blütczeit,  die  Vorblüte  der  neuen  Kultur,  von   der  wir  hier 

sehe  Poesie  und  ,.,.  .,^.,  ,  ,..  ,  . 

das  Manyosha.  nur  die  literansche  oeite  betrachten  können,  begann  710  mit  der  Fest- 
leg-ung-  der  Hauptstadt  —  vorher  wechselten  die  Residenzen  nämlich  den 
Ort  mit  jeder  Regierung-sära  —  in  Nara,  das  sich  in  der  Zeit,  wo  acht 
Kaiser  dort  regierten,  von  710  bis  784,  aus  einem  ganz  unbedeutenden 
Flecken  in  eine  glänzende  Stadt  mit  prunkenden  Palästen  und  Tempeln 
verwandelte.  Was  aber  in  dieser  Epoche  uns  am  meisten  überrascht  und 
interessiert,  sind  nicht  die  Fortschritte,  welche  die  chinesische  Gelehrsam- 
keit und  Literaturkunde  machte,  sondern  die  Nebenwirkungen,  welche 
diese  auf  die  bisher  so  wenig  entwickelte  nationale  Dichtung  hatte.  Die 
Bekanntschaft  mit  der  formenschönen,  g^efühls-  und  gedankenreichen  chine- 
sischen Poesie,  die  ihnen  im  IVe/i-süan,  der  großen  öobändigen  Anthologie 
der  älteren  Lyrik,  und  in  der  zur  Zeit  herrlich  blühenden  Tang-Dichtung 
vorlag,  eröffnete  den  empfänglichen  Japanern,  wie  die  provenzalische  Lyrik 
unsern  mittelalterlichen  Sängern,  eine  neue  Welt  von  imponierender  Größe 
und  Gewalt  und  regte  alle  ihre  schlummernden  Seelenkräfte  auf.  Man 
lernte  eine  Fülle  von  bisher  nicht  beachteten  äußeren  Erscheinungen  und 
inneren  Vorgängen  in  das  Stoffgebiet  der  Poesie  einbeziehen.  Während 
die  einen,  die  Durchschnittsgelehrten  ohne  produktives  Können,  im  vStile 
der  Chinesen  chinesisch  nachzudichten  trachteten,  wie  man  bei  uns  ohne 
dichterischen  Beruf  zur  bloßen  Betätigung  seiner  philologischen  Kennt- 
nisse lateinische  Verse  drechselte,  fühlten  sich  andere,  von  Natur  dichte- 
risch beanlagte  Männer  bewogen,  die  neuerrungenen  Anschauungen  ihrer 
eigenen  Literatur  zugute  kommen  zu  lassen  und  möglichst  in  japanisches 
Xationalgut  umzuwandeln.  Die  Folge  war  ein  kräftig'  angeregtes  poetisches 
Schaffen,  das  um  so  gehaltreicher  wurde,  als  Japan  das  Glück  hatte,  gleich 
anfangs  einige  wirkliche  Dichter  hervorzubringen.  Am  Eingang-  dieser 
Periode,  welche  wir  die  vorklassische  nennen  können,  steht  als  Pfadfinder 
der  eigenartige,  urjapanische  Hitomar o  (ca.  662—710),  auch  als  Poet  ein 
ausgesprochener  Royalist  und  vShintoist.  Er  hat  seine  Phantasie  und 
seinen  Geschmack  nicht  nur  mit  der  Poesie  der  Chinesen,  sondern  be- 
sonders auch  mit  derjenig^en  der  einheimischen  Norito  befruchtet,  wie  der 
feierliche  hymnenhafte  Ton  und  die  Vorstellungswelt  seiner  Langgedichte 
beweisen.  Männlicher  Ernst,  patriotischer  Stolz,  warme  edle  Empfindung 
charakterisieren  seine  Dichtungen,  unter  denen  sich  einige  schöne  Elegieen 
befinden.  Ebenso  schlicht  und  würdevoll,  ebenso  idealistisch  denkend  und 
in  seiner  Dichtweise  vom  chinesischen  Einfluß  nur  leicht  berührt,  ist  der 
einige  Jahrzehnte  jüngere  Akahito.  Aber  während  für  Hitomaro  die 
Langgedichte  am  charakteristischsten  sind,  zeichnet  sich  Akahito  weit 
mehr  durch  seine  Tanka  aus.  Auch  darin  unterscheiden  sie  sich,  daß 
ersterer  die  Darstellung  der  subjektiven  Gefühle  von  Freud  und  Leid  im 
Menschenleben  bevorzugt,  letzterer  nach  außen  blickt  und  eine  objektive 
Gefühlslyrik  pflegt,  in  der  die  Naturbetrachtung  die  größte  Rolle  spielt. 
Sein    Preislied    auf   den    Fuji-Berg    ist    sein    bekanntestes    Gedicht.     Viel 


I.  Die  älteste  Zeit  ( — 794  n.  Chr.).  367 

Stärker  von  der  chinesischen  Literatur  beeinflußt,  deren  sie  in  hohem  Grade 
Meister  waren,  auch  deutliche  Spuren  der  buddhistischen  Weltanschauung- 
verratend, sind  die  den  erstgenannten  ungefähr  ebenbürtigen  Okura  und 
Yakamochi.  Der  originelle  Okura  (660 — 733),  welcher  längere  Zeit  in 
China  geweilt  hatte  und  in  erster  Linie  viele  chinesische  Gedichte  und 
Essays  verfaßte,  nimmt  insofern  eine  Ausnahmestellung  ein,  als  er  im 
Streben  nach  kräftiger  realistischer  Darstellung,  zu  deren  Stoff  er  sich 
gern  das  niedere  Volksleben  erwählte,  viel  weniger  Gewicht  als  alle 
anderen  auf  gewählte  Feinheit  und  Glätte  des  Ausdrucks  legte  und  un- 
gescheut  auch  vulgäre  Ausdrücke  gebrauchte.  Ein  Gedicht  auf  die  „Armut", 
worin  ein  Armer  einem  noch  Ärmeren  sein  Leid  klagt  und  dessen  Not  zu 
hören  bekommt,  erhebt  sich  in  seiner  fast  ironischen  Schilderung  des 
Elends  der  Paupertät  zu  einer  indirekten  bitteren  Anklage  gegen  die  in 
üppigem  Luxus  schwelgenden  Vornehmen,  ein  Zeichen  männlichen  Frei- 
mutes und  individualistischer  Auffassung,  die  wir  zwar  häufig  bei  chine- 
sischen, sonst  aber  wohl  kaum  bei  japanischen  Lyrikern  finden.  Leider 
besitzen  wir  von  diesem  ungewöhnlichen  Poeten  nur  Gedichte  aus  den 
letzten  sechs  Jahren  seines  Lebens.  Die  meisten  davon  haben  längere 
Einleitungen  über  das  behandelte  Thema,  die  in  elegantem  Chinesisch 
geschrieben  sind.  Yakamochi  (ca.  720 — 785),  aus  dem  berühmten  Krieger- 
geschlecht der  Ötomo,  welches  im  8.  Jahrhundert  eine  ganze  Reihe  von 
Dichtern  und  Dichterinnen  hervorbrachte,  war  ein  liebenswürdiger,  aber 
stolzer  Mann  und  wachte  mit  Argusaugen  über  den  Ruhm  seiner  Familie. 
Die  Tragik  seines  tätigen  Lebens  war  der  Konflikt  mit  der  schon  damals 
mächtig  emporstrebenden,  aus  der  Shintö-Priesterschaft  hervorgegangenen 
Fujiwara-Familie,  welche  vom  10.  bis  12.  Jahrhundert  alle  hohen  Staats- 
ämter monopolisierte,  als  Großwesire  und  Regenten  Baby-Kaiser  nach 
Belieben  einsetzte  und  absetzte,  die  Residenz  in  ein  Luxuslager  ver- 
wandelte, den  altjapanischen  Kriegergeist  wenigstens  im  Zentrum  des 
Landes  verrotten  ließ,  aber  die  Künste  des  Friedens,  die  Wissenschaften 
und  die  chinesische  und  japanische  Literatur  eifrig  pflegte  und  förderte. 
Yakamochi  war  schon  an  und  für  sich  wohl  der  fruchtbarste  Dichter 
jener  Zeit,  aber  es  liegt  noch  ein  anderer  Grund  vor,  warum  von  ihm 
besonders  viele  Gedichte,  Naga-uta  wie  Tanka,  erhalten  sind.  Das  Vor- 
bild der  Chinesen  in  der  Anlegung  von  Anthologieen  nachahmend  —  ich 
erinnere  an  das  schon  genannte  Wen-süan,  die  bevorzugte  Lektüre  der 
altjapanischen  Sinologen  — ,  hatte  bereits  751  Omi  no  Mifune  eine  kleine 
Sammlung  von  in  Japan  verfaßten  chinesischen  Gedichten  (120  Stücke  von 
64  Autoren),  das  Kzvai/üsö,  zusammengestellt.  Y^akamochi  verfolgte  einen 
viel  ehrgeizigeren  Plan.  Er  sammelte  lange  Jahre  hindurch  alle  ihm  zu- 
gänglichen Gedichte  aus  Gegenwart  und  Vergangenheit,  soweit  sie  nicht 
schon  im  Kojiki  und  Nihongi  publiziert  waren,  traf  eine  umfassende  Aus- 
wahl des  brauchbaren  Materials  und  ordnete  dies  vorerst  oberflächlich 
nach    Zeitfolge    und    Gattungen    in    20   Bücher.      Seine    späteren    Lebens- 


^68  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

Schicksale  haben  ihn  offenbar  gehindert,  die  letzte  Hand  an  das  Werk 
zu  leg'en,  und  es  muß  etwa  seit  75g  lieg'en  geblieben  sein,  da  das 
letzte  und  jüng-ste  Gedicht  darin  vom  i./I.  75g  datiert  ist.  Die  Sammlung- 
fuhrt den  Titel  Manyöshfi  „Myriaden-Blätter-Sammlung",  d.  i.  wohl  „Samm- 
lung- [von  Gedichten]  vieler  Generationen",  und  enthält  262  Nag-a-uta, 
4173  Tanka  und  61  Sedöka,  im  ganzen  also  44g6  Gedichte,  welche,  von 
ein  paar  älteren  Stücken  abgesehen,  in  dem  Zeitraum  zwischen  670  und 
75g  entstanden  sind.  Die  Niederschrift  ist  in  teils  phonetisch,  teils  ideo- 
graphisch verwendeten  chinesischen  Schriftzeichen  g-eschehen.  Die  kurzen 
Gedichte  sind  sämtlich,  die  lang-en  Gedichte  meistens  lyrisch.  Von  Ver- 
fassern werden  561  mit  Namen  genannt,  darunter  Kaiser,  Prinzen,  hohe 
und  niedere  Beamte,  Mönche,  Bauern,  Arbeiter;  aber  die  überwiegende 
Mehrzahl  sind  Höflinge.  Ungefähr  70  Autoren  sind  Frauen.  Da  mehr 
als  ein  Viertel  der  Gedichte  anonym  überliefert  ist,  wird  man  die  Zahl 
der  Autoren  auf  mindestens  800  ansetzen  müssen.  Der  Wert  des  in  einer 
so  großen  Sammlung  Gebotenen  ist  selbstverständlich  sehr  ung-leich. 
Einesteils  haben  wir  darunter  hunderte  von  Produkten,  die  schlechthin 
das  Beste  sind,  was  die  japanische  Literatur  bis  heute  erzeugt  hat:  die 
langen  Gedichte  insbesondere  bilden  einen  kostbaren  Schatz,  doppelt 
hoch  zu  bewerten,  weil  die  Gattung  danach  ausstarb;  andernteils  werden 
wir  von  einigen  tausend  handwerksmäßig'  gedrechselten,  geistlosen  Versen 
angeödet.  Des  Guten  ist  aber  so  viel  darin,  daß  wir  nur  dieses  ins  Auge 
zu  fassen  brauchen  und  mit  Bezug-  darauf  behaupten  dürfen,  daß  das 
Manyöshü  eine  schätzenswerte  Bereicherung  der  Weltliteratur  bildet.  Die 
oben  kurz  besprochenen  Dichter  Hitomaro,  Akahito,  Okura  und  Yaka- 
mochi,  die  Hauptvertreter  der  vorklassischen  japanischen  Poesie  der 
Nara-Periode ,  sind  ihrer  Bedeutung  gemäß  am  stärksten  mit  Gedichten 
in  dieser  Anthologie  vertreten.  Der  Kompilator  selber  steuert  von  ihnen 
das  meiste  bei.  Da  in  der  Nara-Zeit  die  Sprache  der  Dichtung-  nichts 
anderes  als  die  feinere  Umgangssprache  war,  so  besitzen  wir  in  den 
Texten  des  Manyöshü  zugleich  das  wertvollste  philologische  Material, 
das  in  der  historischen  und  vergleichenden  Sprachforschung  des  Ostens 
eine  ähnliche  Rolle  spielen  wird,  wie  die  vedischen  und  homerischen 
Texte  in  der  Indogermanistik. 

Vorherrschaft  II.  Dic  erste  Hälfte  des  Mittelalters:  Die  klassische  Literatur 

des  Chinesischen  .  n         •  -i       i-    i  i  i  •    i  tu- 

in  der  Literatur.  (7 g4 — 1186).  Ls  scheiut,  daß  die  ungewohnlich  rasche  und  reiche  Blute 
der  nationalen  Dichtung,  wie  sie  im  Manyöshü  verkörpert  vorliegt,  eine 
Gewaltanstrengnng  war,  worauf  wieder  eine  Erschlaffung  kommen  mußte. 
Daß  aber  eine  so  totale  Ebbe  in  der  japanischen  Poesie  eintreten  würde, 
wie  tatsächlich  der  Fall  war,  hätte  man  kaum  für  möglich  halten  sollen. 
Nur  der  sanguinische  Charakter  der  Japaner  und  die  damit  zusammen- 
hängende Neigimg,  bald  die  unerhörtesten  Anstrengungen  zu  machen, 
bald    die    Flinte    ins    Korn    zu    werfen,    der    schnelle    Wandel    zwischen 


n.  Die  erste  Hälfte  des  Mittelalters:  Die  klassische  Literatur  (794 — 1186).  ^6ü 

Himmelhochjauchzen  und  Zumtodebetrübtsein  erklärt  das  Phänomen.  Von 
den  sechziger  Jahren  des  8.  bis  in  die  letzte  Hälfte  des  9,  Jahrhunderts 
wandten  sich  die  Kaiser,  welche  in  jener  Zeit  immer  den  literarischen 
Ton  angeben,  und  mit  ihnen  die  Höflinge  und  der  ganze  gebildete  An- 
hang wieder  der  ausschließlichen  Pflege  der  chinesischen  Gelehrsamkeit 
und  Dichtung  zu.  Zahlreiche  chinesisch  geschriebene  Werke,  historische, 
g-esetzgeberische,  enzyklopädische,  zeremoniale,  schönliterarische,  markieren 
diese  Epoche.  Seit  Sagas  Regierung  (810 — 823)  wurden  wiederholt  offi- 
zielle, auf  kaiserlichen  Befehl  ausgewählte  Sammlungen  von  chinesischen 
Dichtungen  angelegt,  ein  System,  das  etwa  hundert  Jahre  später  auf  die 
japanische  Literatur  Anwendung  fand.  Von  den  gelehrten  Schriftstellern 
des  9.  Jahrhunderts  verdienen  vor  allem  der  Mönch  Kükai  oder  Köbo 
Daishi  (774 — 835)  und  der  Staatsmann  Sugawara  no  Michizane  (844 
bis  903)  Erwähnung.  Kükai  studierte  von  804 — 806  in  China,  gründete 
darauf  in  Japan  die  buddhistische  Shingon-Sekte  und  leistete  der  Ver- 
breitung des  Buddhismus  die  allergrößten  Dienste.  Er  hat  kräftig  im 
Sinne  einer  Aussöhnung  und  Amalgamierung  von  Buddhismus  und  Shin- 
toismus  gewirkt.  Selten  ist  ein  Gelehrter  ein  so  populärer  Heiliger  ge- 
worden wie  er,  und  eine  große  Menge  von  Mythen  über  seine  vielseitige 
Tätigkeit  hat  sich  um  seine  Person  gebildet.  Er  müßte  hundert  Menschen- 
leben statt  eines  gelebt  haben,  wenn  er  das  geleistet  haben  sollte,  was 
ihm  von  der  Tradition  allen  Ernstes  zugeschrieben  wird.  Michizane 
brachte  es  zu  den  höchsten  Staatsämtern,  endete  aber  in  der  Verbannung. 
Unter  dem  Namen  Tenjin,  „Himmelsgott",  wird  er  vom  Volke  als  Gott  der 
Schönschreibekunst  verehrt  und  besitzt  er  im  ganzen  Lande  zahlreiche 
ihm  geweihte  Tempel.  Außer  vielen  chinesischen  Gedichten  schrieb  er 
auch  Tanka,  ein  Hinweis  darauf,  daß  im  letzten  Viertel  des  Jahrhunderts 
leise  und  allmählich  die  japanische  Poesie  wieder  ihr  Haupt  erhob. 

Obgieich  durchaus  Sinologe,  hat  Michizane  einen  starken  Anteil  an  Niedergang  des 
der  unten  näher  zu  besprechenden  nationalen  Reaktion  gehabt,  welche  in 
seinen  letzten  Lebensjahren  den  Einfluß  des  Chinesentums  lahm  legte,  die 
chinesische  Literatur  in  Verfall  geraten  und  die  japanische  dafür  zu  neuer 
Blüte  heranwachsen  ließ.  China  war  nämlich  inzwischen,  gegen  das  Ende 
der  so  glänzend  beg'onnenen  Herrschaft  der  T'ang-Dynastie,  politisch  und 
moralisch  in  sich  zusammeng^ebrochen.  Im  Angesicht  der  zerrütteten  Zu- 
stände drüben  regte  sich  bei  den  Japanern  ein  ungeheures  Selbstgefühl; 
sie  glaubten  von  China  nichts  mehr  lernen  zu  können.  Auf  Michizanes 
Anraten  895  wurde  der  offizielle  Verkehr  mit  dem  chinesischen  Reiche 
eingestellt,  man  schickte  keine  Gesandten  mehr,  man  sagte  sich  los  von 
dem  Lande,  dessen  Kultur  man  ausgenutzt,  aus  dessen  Geistesleben  man 
sich  bereichert  hatte,  unter  dessen  Führung  man  vom  Kind  zum  reifen 
Manne  emporgewachsen  war. 

Die    chinesische   Sprache    und  Literatur  war  bisher  ein  Imperium  in  ues?scL?aufd\e 
imperio  gewesen.     Jetzt,  wo  man   sich   durch  Abbruch   des  Verkehrs   von     ^sprache.^ 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  24 


0/ 


O  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 


der    Quelle    losgerissen    hatte,    versiegte    in    Japan    die    Lebenskraft    des 
Chinesischen    geradeso,    wie    etwas    später    in   England   die    des   Französi- 
schen,   als    nach    dem  Verluste    der  Normandie    die    intimen  Beziehungen 
zum  französisch  sprechenden  Kontinent   aufgehört   hatten.     Und  wie    das 
Französische  in  England  zwar  als  selbständige  Sprache  verschwand,  aber 
sein  eine  höhere  Kultur  repräsentierender  Wortschatz  ins  Ang^elsächsische 
aufgenommen    und    damit    zu    einer    neuen    Einheit    verschmolzen    wurde, 
ganz    so    ging    es    mit    dem  Chinesischen    in  Japan.     Die   Bedeutung    des 
Chinesischen  als  integrierender  Bestandteil  des  Japanischen  ist  nur  insofern 
viel  gTÖßer,   als   es   alle  die  Funktionen  zu  übernehmen   hatte,  welche  für 
das  Englische  zu  verschiedenen  Zeiten  das  Französische,   das  kontinentale 
Germanisch,   das  klassische  Latein   und  Griechisch  erfüllten.     Der  Prozeß 
der  Amalgamierung  vollzog  sich  natürlich  langsam  und   blieb,  wenigstens 
was  die  Literatur  anbelangt,  fast  drei  Jahrhunderte  geheim,  weil  diese  im 
lo.,   II.  und   12.  Jahrhundert   ausschließlich   höfisch  und   klassisch  war   und 
sich   während    dieser   ganzen    Zeit    in  Poesie    und  Prosa   der  verfeinerten 
rein-japanischen    Sprache    bediente,   welche    gegen    goo    in    der    Residenz 
gesprochen   wurde.     Indem    die    Dichter    also    fürder    an    der    Sprachform 
eines  bestimmten  Zeitabschnittes  als  einer  Idealform  festhielten,   ohne  auf 
die  weiteren  Schicksale   der  lebendigen  Rede  Rücksicht  zu  nehmen,   trat 
allmählich  eine  Spaltung  in  Schriftsprache  und  Umgangssprache  ein,  deren 
Unterschiede  um  so  größer  wurden,  je  länger  sie  getrennt  nebeneinander 
hergingen.     Es  wurde   jedoch    von    manchen   Seiten   wiederholt    eine   An- 
näherung  an   die  Umgangssprache   unternommen,   so  daß  wir   eine   streng 
konservative  und  eine  fortschrittliche  Richtung  beobachten  können.    Vom 
13.  Jahrhundert    an,    d.  h.  nach    der  Kaltstellung    des  Kaiserlichen  Hofes 
und  der  Begründung  der  feudalen  Militärherrschaft  (1186),  bleibt  die  Tanka- 
Lyrik,   das  Lieblingsspielzeug  der  politisch   untätigen  Hof  kreise,   dem  un- 
vermischten  klassischen  Japanisch  für  alle  Zeiten  bis  heute  treu;  aber  die 
hauptsächlich    von    Mönchen    gepflegte    erzählende,    seit    1400    auch    die 
dramatische    Literatur   bedient    sich    der    mit   chinesischen  Elementen   ge- 
mischten   neueren    Sprache.      Die    ersten    bemerkenswerten    fremden    Bei- 
mischungen zeigten  sich  schon  in  einigen  Historien  noch  vor  1200,  z.B.  in 
der  Anekdotensammlung  Konjaku  Monogatari    „Geschichtchen   von  Jetzt 
und  Einst".     Wir    können    die    für    die    Literatur    so   bedeutsame   Sprach- 
geschichte hier    nicht    genauer  verfolgen,    doch   darauf  muß   noch   hinge- 
wiesen werden,   daß  sich  im   17.  Jahrhundert,  wo   die  chinesische  Sprache 
und  Literatur  noch  einmal  zur  Vorherrschaft  gelangte,  unter  den  Händen 
der  Sinologen    eine    sino -japanische   Schriftsprache   ausbildete,   worin    das 
fremde  Element  das  einheimische  mehr  oder  weniger  überwog;  daß  diese 
Sprachmischung  seitdem  in  wissenschaftlichen  wie  belletristischen  Werken 
fortbestand,   in  neuester  Zeit,   wo    die   Einführung   der  westlichen  Kultur 
einen  größeren  Wortschatz   erfordert,    sogar  mit   sehr  verstärkter  Heran- 
ziehung des  Chinesischen  (Bildung  zahlreicher  Komposita  aus  chinesischen 


II.  Die  erste  Hälfte  des  Mittelalters:  Die  klassische  Literatur  (794 — 1186).  ßyi 

Einzelwörtern),  und  daß  auch  die  moderne  Umgangssprache,  in  der  sich 
die  alten  Flexionsendungen  mehr  und  mehr  verschlifFen  und  verflüchtigt 
haben,  denselben  Charakter  angenommen  hat. 

So  schnell  wie  gegen  700  die  Flut  der  im  Manyöshü  niedergelegten      Resultate 

.  .  der  nationalen 

japanischen  Poesie   emporschwoll,   um   nach   wenigen  Jahrzehnten   wieder  Reaktion  in  der 

Literatur. 

abzuflauen    und    ungefähr    ein   Jahrhundert    lang    unter    dem   Schwall    der  Lie.urtumiere. 

.  111  1     1      ••  r  •  Klassizität. 

chinesischen  Literatur  unsichtbar  zu  werden,-  ebenso  schnell  und  kräftig 
erhob  sie  sich  wieder  in  den  neunziger  Jahren  des  9.  Jahrhunderts,  nach- 
dem in  der  Jogwan-Ara  (859 — 876)  eine  nationale  Gegenströmung  ein- 
gesetzt hatte  und  das  Chinesentum  in  Mißkredit  geriet.  Fünf  Männer,  die 
Höflinge  Narihira,  Yasuhide,  Kuronushi  und  die  Bonzen  Ilenjö  und  Kisen, 
und  eine  Frau,  Ono  no  Komachi,  welche  in  dieser  Vorbereitungszeit  einer 
neuen  Blüteperiode  japanisch  dichteten,  zeigten  die  lobenswerten  Eigen- 
schaften des  Tanka  in  solchem  Grade,  daß  die  Späteren  sie  mit  der  land- 
läufigen Übertreibung  als  die  Rokkasen  oder  „sechs  Heiligen  des  Liedes" 
verehrten.  Gegen  890  kam  bei  Hofe  die  Sitte  der  „Lieder -Turniere" 
{Ufa-awasc)  auf,  bei  denen  Herren  und  Damen  in  der  poetischen  Aus- 
führung gegebener  Themen  wetteiferten  und  ein  vom  Kaiser  eingesetzter 
Schiedsrichter  das  Urteil  sprach.  Die  Turniere  haben  zuerst  viel  nütz- 
liche Anregung-  gegeben  und  die  Kräfte  angespornt,  später  aber,  seit 
ca.  960,  lediglich  in  schädlichem  Sinne  gewirkt,  da  sie  den  ohnehin  vor- 
handenen Hang  der  Japaner,  die  Form  über  den  Inhalt,  die  Schönheit 
über  die  Wahrheit  zu  stellen,  zu  sehr  beg'ünstigten  und  zu  Spielerei  und 
unnatürlicher  Künstelei  verleiteten.  Mit  dem  Regierungsantritt  des  kunst- 
sinnigen Kaisers  Daigo  (898)  beginnt  eine  Periode  der  japanischen  Dich- 
tung-,  die  wir  hinsichtlich  ihrer  formalen  Vollendung,  stilistischen  Glätte 
und  Harmonie,  vornehmen  und  maßvollen  Denkweise  als  klassisch  be- 
zeichnen dürfen.  Sie  äußert  sich  metrisch  im  Uta  (Tanka)  —  das  Naga-uta 
schlief  ja  den  Totenschlaf  — ,  prosaisch  in  Liebesnovellen  aus  den  Hof- 
kreisen {Monogatari  „Erzählungen"),  stimmungsvollen  Tagebüchern  [Nikkt), 
Skizzen  und  Miszellen.  Von  der  produktionsreichen  „goldenen  Engi-Ara" 
(goi — 922)  ging  es  mit  schwellender  Kraft  weiter  bis  zum  Höhepunkt  im 
Jahre  1000;  dann  aber  kam  ein  Stillstand  und  allmählicher  Niedergang- 
dieser  rein  höfischen  Literatur,  die  bezeichnenderweise  dem  Schicksal  der 
Fujiwara-Familie  parallel  g'ing.  Als  die  Kriegerklane  der  Taira  und 
Minamoto  im  12.  Jahrhundert  die  Machtstellung  der  Fujiwara  zerbrachen, 
ging  es  auch  mit  der  inneren  Energie  der  höfischen  Poesie  zu  Ende. 
Zwar  wurde  auch  in  den  nächsten  Jahrhunderten  in  Hofadelskreisen  quan- 
titativ noch  viel,  ja  zu  viel  Lyrik  produziert,  weil  man  nichts  anderes 
mehr  als  Singen  und  Spielen  zu  tun  hatte,  aber  es  war  doch  nur  noch 
jämmerliches  Epigonentum,  Geg^en  1200  trat  zum  letztenmal  eine  Gruppe 
von  wirklich  begabten  Dichtern  hervor.  offizielle 

Die    Erzeugnisse    der    klassischen    Lyrik    und    ihrer    Nachtreter    sind  ^og^een  und'° 
öfters    auf  Befehl    der   jeweiligen    regierenden    oder    abgedankten   Kaiser  Liederdiaiter. 

24* 


X'j2  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

ZU  „offiziellen  Anthologieen"  {CJiokiisciisJiu)  gesammelt  worden,  die  nach 
dem  Vorg-ang-  des  Manyöshü  immer  20  Bücher  hatten  (aber  systematischer 
in  Jahreszeitenlieder,  Liebeslieder,  Elegieen  usw.  geordnet)  und  im  Durch- 
schnitt zwischen  1000  und  2000  Lieder  enthielten.  21  solcher  Samm- 
lungen kamen  zwischen  905  und  1438  zustande.  Die  erste,  das  Kokiiishü, 
»Anthologie  aus  alter  und  neuer  Zeit",  905  von  dem  elegantesten  und 
zartsinnigsten  Uta-Dichter  der  Zeit,  Tsurayuki,  im  Verein  mit  drei 
anderen  bekannten  Poeten  veranstaltet,  enthält  in  der  Hauptsache  die 
Dichtung-en  der  vier  Kompilatoren,  ihrer  besten  Zeitgenossen  und  ihrer 
berühmten  Vorläufer,  der  schon  genannten  „sechs  Heiligen".  Was  hier 
geboten  wird,  ist  im  allgemeinen,  mit  Bezug  auf  Inhalt  und  Form  zugleich 
beurteilt,  das  Beste,  was  die  klassische  Lyrik  hervorgebracht  hat.  Wir 
finden  hier  zwar  nie  die  männliche  Kraft  und  Naivetät  und  Ursprünglich- 
keit der  besten  Leistungen  des  Manyöshü,  aber  viel  weibliche  Schönheit, 
Liebenswürdigkeit,  weiche  Grazie,  bezaubernden  Blumenduft,  alles  in  voll- 
endeter sprachlich-stilistischer  Form.  Gewaltiges,  Packendes,  Tiefes  durften 
wir  von  Höflingen  und  Hofdamen,  die  ihr  Leben  in  sorglosem  Leichtsinn, 
nur  genießend,  ohne  jede  ernste  Tätigkeit,  von  Liebesabenteuer  zu  Liebes- 
abenteuer hüpfend,  verbrachten,  nicht  erwarten.  Das,  was  diese  Leute  an 
lyrischen  Gefühlen  zu  verausgaben,  w^as  ihre  Seelen  zu  sagen  hatten,  wird 
eigentlich  in  den  iioo  Liedern  des  Kokinshü  schon  erschöpft,  so  daß  die 
Gedichte  der  späteren  Sammlungen  meist  nur  dieselben  Gedanken,  Empfin- 
dungen, Bilder  und  Gleichnisse  wiederholen  und  modeln  und  wenig  wirk- 
lich Originelles  herbeibringen.  Individuelle  Eigenschaften,  die  für  die 
Persönlichkeit  der  Dichter  charakteristisch  wären,  lassen  sich  nur  selten 
entdecken.  Am  günstigsten  schneidet  unter  den  20  Nachfolgerinnen  des 
Kokinshü  die  achte  „Offizielle",  das  1205  kompilierte  Shin- Kokinshü 
„Neues  K."  ab,  da  gerade  zur  Zeit  seiner  Abfassung,  wie  schon  erwähnt, 
eine  Anzahl  beachtenswerter  Dichter  lebte.  Was  hierauf  folgte,  ist  fast 
alles  öde  Pedanterie,  besonders  nachdem  gegen  Mitte  des  13.  Jahr- 
hunderts Dichtschulen  mit  lächerlich  gekünsteltem  Regelkodex  in  gram- 
matischen wie  rhetorischen  Dingen  aufkamen  und  obendrein  eine  ein- 
zelne Familie,  die  Nachkommen  des  Dichters  Teika,  sich  anmaßte,  allein 
die  Geheimnisse  der  poetischen  Technik  und  des  richtigen  Sprachgebrauchs 
zu  kennen  und  zu  lehren,  wodurch  aus  der  zum  kniff  liehen  Handwerk 
herabgewürdigten  Poesie  die  letzte  Spur  von  Bewegungsfreiheit  aus- 
getrieben wurde.  Als  namhafteste  Lyriker  in  der  mit  dem  Zeitalter  der 
Klassizität  ungefähr  identischen  Heian-Periode,  d.  h.  in  den  rund  400  Jahren 
von  der  Verlegung  der  Hauptstadt  aus  Nara  nach  Heian,  alias  Kyoto, 
bis  zur  Errichtung  der  Militärherrschaft  in  Kamakura  (1185),  sind  nach 
Ki  no  Tsurayuki  (882 — 946)  zu  nennen:  Öshiköchi  no  Mitsune  (859 
bis  907),  der  Mitkompilator  des  Kokinshü;  Oberstaatsrat  Fujiwara  no 
Kintö  (967 — 1041);  Minamoto  no  Toshiyori  (gegen  iioo);  Oberhof- 
meister   Fujiwara    no    Toshinari    (11 13 — 1204).      Der    ruhelos    umher- 


II.  Die  erste  Hälfte  des  Mittelalters:  Die  klassische  Literatur  (794 — 1186).  3-' 3 

wandernde  Bonze  Saigyö-höshi  (11 18 — HQo),  einer  der  liebenswürdig'sten 
Uta-Dichter,  gehört  weniger  nach  seiner  Lebenszeit  als  nach  dem  Geiste 
seiner  Dichtung  in  die  Kamakura-Periode  (1185 — 1333),  welcher  Heroen- 
verehrung und  buddhistischer  Pessimismus  ihr  eigentümliches  Gepräge 
verliehen.  In  dieser  und  der  darauf  folgenden  Muromachi -Periode  (1333 
bis  1600;  die  Hausmeier  dieser  Zeit  hatten  ihren  Palast  in  der  Straße 
Muromachi  in  Kyoto)  heben  wir  hervor  den  Staatsrat  Fujiwara  no  Sada-ie 
(oder  Teika,  1162  — 1241),  einen  mittelmäßigen  Dichter,  aber  den  form- 
vollendetsten Meister  des  Tanka,  mit  dem  die  Diktatorenwirtschaft  auf 
dem  Parnaß  beginnt;  Fujiwara  no  Jetaka  (oder  Karyü,  1158 — 1237), 
als  der  Hitomaro  seiner  Zeit  gepriesen;  den  feinsinnigen  und  dabei  doch 
kraftvollen  dritten  Kamakura-Shogun  Minamoto  no  Sanetomo  (1192 
bis  12  ig),  dessen  verheißungsvolle  Zukunft  leider  durch  die  Hand  eines 
Meuchelmörders  abgeschnitten  wurde;  die  Mönche  Kenkö  (1283 — 1350) 
und  Ton-a  (1293 — 1376)  und  den  Prinzen  Munenaga  (1312  — 1385),  den 
Sohn  des  Kaisers  Go-Daigo. 

Kurz  vor  1400  entwickelte  sich  aus  dem  Uta  eine  eigentümliche  Ab-  Neue  Formen 
art,  das  Renga  oder  „Kettengedicht".  Bei  poetischen  Zusammenkünften  icettengediciue. 
war  es  vielfach  Mode  geworden,  daß  der  Obersatz  und  der  Untersatz 
eines  Uta  von  verschiedenen  Leuten  gedichtet  wurde.  Indem  nun  zu  dem 
Untersatz  des  Uta  ein  Dritter  einen  neuen,  dem  Sinn  nach  dazu  passen- 
den Obersatz,  ein  Vierter  zu  letzterem  wieder  einen  neuen  Untersatz 
improvisierte,  und  so  weiter  ad  infinitum,  entstand  eine  Kette  von  Stollen, 
die  scheinbar  ein  langes  einheitliches  Gedicht,  in  Wirklichkeit  aber  nur 
ein  Mosaikg^ebilde  lose  zusammenhängender  Bestandteile  ausmachten.  Dieser 
Spielerei,  einem  neuen  krassen  Mißbrauch  der  Poesieen,  gab  sich  bald  alt 
und  jung,  vornehm  und  gering,  Priester  und  Laie  mit  Leidenschaft  hin, 
und  man  machte  auch  Kettengedichte  für  sich  allein,  ohne  Beihilfe  anderer. 
Zuerst  waren  die  Renga  ernst,  nach  1500  wurden  aber  mit  Vorliebe 
humoristische  Renga  gedichtet.  Der  Bonze  Sögi  (142 1  — 1502)  gilt  als 
geschicktester  Meister  der  älteren  Art;  der  Shintopriester  Arakida 
Moritake  (1473 — 1549)  und  der  Klausner  Y am asaki  Sökan  (1465 — 1553) 
dagegen  erwarben  sich  einen  Namen  durch  Pflege  der  komischen  Spezies. 
Braucht  es  gesagt  zu  werden,  daß  auch  Rengasammlungen  und  Renga- 
lehrbücher  zum  Vorschein  kamen? 

Die  selbständige  Behandlung  der  Stollen  beim  Kettendichten  hatte  Epigramme, 
eine  weitere  wichtige  Folge.  In  einem  humoristischen  Renga  mußte 
schon  der  Anfangsstollen  [Hokku]  ein  witziges  Element  enthalten,  konnte 
also  ebenfalls  schon  für  sich  als  minimales  komisches  Liedchen  gelten. 
Das  ist  aber  bereits,  wenn  auch  noch  so  unvollkommen,  ein  witziges  Epi- 
gramm. Moritake  und  Sökan  fühlten  das  und  beschränkten  sich  schon  oft 
auf  einen  solchen  17  silbigen  Dreizeiler,  den  man  Hokku  oder  Haikai 
(Humoristisches)  taufte.  Im  Laufe  der  Zeit  wurden  diese  Gedichtchen  immer 
beliebter,  aber  einen  rechten  Wert  konnte  man  ihnen  doch  nicht  beimessen, 


^JA  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

weil  sie  sich  mit  banaler,  witzelnder  Wortspielerei  begnügten.  Da  trat 
durch  einen  einzigen  Mann  ein  gewaltiger  Umschwung  ein.  Matsuo 
Basho  (1643 — 1694),  der  Vasall  eines  Fürsten  in  Ise,  zog  sich  aus  Welt- 
müdigkeit frühe  vom  Amte  zurück,  bewohnte  bald  ein  bescheidenes  Hütt- 
chen in  Yedo,  bald  streifte  er  auf  langen  Pilgerfahrten  im  Lande  umher. 
Er  hatte  seinen  Geist  an  taoistischer  Philosophie,  mit  den  Lehren  der 
grüblerischen  Zen-Sekte  des  Buddhismus  und  mit  altjapanischer  Literatur 
genährt  und  fand  nun  im  Epigramm  das  kongeniale  Ausdrucksmittel  für 
seine  Gefühle  und  Gedanken.  Auch  er  begann  seine  Übungen  mit  der 
witzigen  Manier,  die  natürlich  einem  Manne  seines  Geschmackes  nicht  be- 
hagen konnte.  Nichts  als  die  knappe  Form  mit  ihrem  Wortgeiz  behielt 
er  bei:  diese  machte  er  zum  Gefäß  aller  Regungen  seiner  ernst-nachdenk- 
lichen, poetisch-anmutig  empfindenden  Seele.  Er  schuf  das  poetische  Epi- 
gramm. Infolge  möglichster  grammatisch-stilistischer  Kürzungen,  bei  Ver- 
zicht auf  alle  rhetorischen  Ploskeln,  gewährt  das  Haikai  oft  so  viel  Spiel- 
raum für  den  Gedankenausdruck  als  das  mit  Kissenwörtern  usw.  beladene 
Tanka.  Es  steht  stofflich  unter  keinerlei  beschränkenden  Regeln  und  be- 
dient sich  der  modernen  Sprache  mit  beigemischtem  Chinesisch.  Unter 
solchen  Umständen  vermochte  das  leicht  zu  dichtende  Haikai  sogar  bei 
den  Ungebildetsten  Anklang  und  tätige  Nachahmung"  zu  finden  und  wurde 
bei  der  mittleren  und  unteren  Bevölkerung  das  „Gedicht  par  excellence"; 
bei  den  feiner  Gebildeten  behielt  jedoch  das  Tanka  in  antiker  Sprache 
den  Ehrenplatz.  Das  Hokku  läßt  infolge  der  extremen  Kürze  ein  Aus- 
malen des  Gegenstandes  noch  viel  weniger  zu  als  das  Tanka:  es  ist  ganz 
Skizze,  ganz  Suggestion.  Der  Dichter  greift  aus  seiner  Vorstellung  einen 
einzigen  Zug  heraus,  stellt  ihn  brüsk  hin  und  überläßt  alles  andere  dem 
Spiel  der  Phantasie.  Empfindet  er  wirklich  poetisch  und  besitzt  er  ein 
außerordentliches  Geschick,  sich  in  äußerster  Kürze  charakteristisch  aus- 
zudrücken, so  kann  das  Hokku  ein  Kabinettstück  der  Poesie  werden, 
und  ist  es  unter  den  Händen  von  Bashö  und  einigen  anderen 
auch  manchmal  geworden.  Aber  die  Gefahr,  ins  Unbedeutende,  Ge- 
meinplätzige zu  fallen,  liegt  gar  zu  nahe,  auch  für  den  poetisch  Be- 
gabten. So  haben  wir  denn  in  einer  Hokkuliteratur,  die  ins  Unend- 
liche geht,  eine  kleine  Anzahl  wirklicher  Gedichte,  eine  erkleckliche 
Anzahl  hübscher  Aphorismen  und  Gedankenspäne,  und  — ■  vom  Reste 
schweigt  die  Höflichkeit.  In  den  Epigrammen  Bashös  berührt  uns  sein 
zartes  Naturgefühl  besonders  sympathisch;  über  vielen  der  Liedchen  schwebt 
ein  schwermütiger,  weltentsagender  Geist.  Nicht  weniger  als  5000  Schüler 
sollen  bei  ihm  das  Haikaikomponieren  gelernt  haben.  Zehn  von  ihnen  er- 
langten große  Berühmtheit,  die  „zehn  Weisen  der  Bashöschule".  Unter 
den  weiblichen  Epigrammatisten  wird  eine  Frau  aus  dem  Fürstentum 
Kaga,  welche  in  einem  bäuerlich-groben  Körper  mit  häßlichem  Gesicht 
eine  schöne  Seele  verbarg,  Kaga  no  Chiyo  (1702  — 1774),  am  höchsten 
geschätzt.     Die   Haikaidichtung    steht   noch    heute    in    sehr  großer   Gunst, 


II.  Die  erste  Hälfte  des  Mittelalters:  Die  klassische  Literatur  (794 — 1186).  375 

und  zwar  bei  allen  Klassen  der  Bevölkerung.  Es  gibt  zahlreiche  Vereine, 
welche  sich  ihre  Pflege  angedeihen  lassen,  und  literarische  Zeitschriften 
und  Zeitungen  veröffentlichen  fortwährend  massenhaft  neue  Erzeugnisse. 
Es  ist  nichts  weiter  als  die  Befriedigung  eines  Unterhaltungs-  und  Spiel- 
triebes in  artigem  Wortgeplänkel,  keine  eigentlich  literarische,  am  aller- 
wenigsten eine  dichterische  Tätigkeit. 

Es   ist  hier   der  Platz,   noch   ein  paar   zusätzliche  Worte  von   der  ko-     Komische 

.  und  satirische 

mischen  Dichtung  in  metrischer  rorm  zu  sagen.  Der  Japaner  neigt  trotz  Gedichte, 
der  Bürde  des  pessimistischen  Buddhismus,  die  er  sich  aufgeladen  hat, 
zu  einer  leichten  und  heiteren  Auffassung  des  Lebens,  und  mit  Ernst  und 
Tragik  darf  man  ihn  nicht  zu  lange  belästigen.  Nichts  ist  ihm  zu  heilig^ 
als  daß  er  es  nicht  in  guter  Laune  parodierte.  Die  lustige  Persiflage  des 
Höflingstreibens  schon  in  der  allerältesten  japanischen  Novelle,  der  Er- 
zählung vom  alten  Bambussammler;  die  Karikaturen  der  Götter  in  den 
Possenspielen  bei  Tempelfesten;  die  respektwidrigen  Darstellungen  der 
dummstolzen  Feudalfürsten  und  der  Malefizbonzen  im  mittelalterlichen 
Schwank  (Nö-Kyögen)  und  viele  andere  Erscheinungen  sind  Zeichen  der 
großen  Schalkhaftigkeit,  die  im  japanischen  Naturell  liegt.  Seit  dem 
16.  Jahrhundert  sind  komische  Tanka  und  Hokku,  erstere  Kyöka  „Toll- 
gedicht'S  letztere  Kyöku  „Tollvers"  genannt,  überaus  häufig.  Großenteils 
sind  sie  Parodieen  bekannter  ernster  Gedichte.  Eine  Unterart  der  Toll- 
verse, welche  mit  der  Komik  den  Spott  über  die  Schwächen  und  Tor- 
heiten der  sündigen  Menschheit  verbindet,  also  das  witzige  Epigramm, 
heißt  nach  dem  Begründer  der  Richtung  Senryü.  Viele  von  ihnen  be- 
arbeiten typische  Figuren  der  japanischen  Gesellschaft,  z.  B.  den  Isörö,  den 
Hausparasiten,  und  erinnern  in  ihrer  Weise  an  die  Verslein,  welche  sich 
bei  uns  um  die  „Wirtin"  gruppieren.  Auch  scharfgesalzene  satirische  Ge- 
dichte g-ab  es,  die  sogenannten  Rakushil,  in  Tankaform,  die  namentlich 
gern  politische  Zustände  zur  Zielscheibe  ihres  beißenden  Spottes  nahmen. 
Die  Verfasser  solcher  kitzligen  Produkte  zogen  wohlweislich  den  Schleier 
der  Anonymität  übers  Gesicht,  denn  mit  der  hohen  Obrigkeit  war  in 
Japan  zumal  in  der  Tokugawazeit  (1600 — 1867)  nicht  zu  spaßen. 

Es  ist  auf  den  ersten  Blick  sehr  auffallend,  daß  die  frühesten  Werke  Entstehung  der 

"  Silbenschrift. 

der  Prosaliteratur  erst  gegen  goo,  in  der  Engi-Ara,  auftauchten,  doch  ver-  nie  Frauen  und 

0  •  TT  ••       1         1  "^'^  Prosa. 

liert  diese  Erscheinung-  ihr  Seltsames,  wenn  man  gewisse  Umstände  be- 
denkt. Für  die  verhältnismäßig  kurzen  metrischen  Produkte  konnte  man 
sich  der  phonetisch  gebrauchten  chinesischen  Schriftzeichen  immerhin  be- 
dienen; bei  größeren  Prosatexten  aber  war  dies  System  mit  je  einem 
komplizierten  chinesischen  Wortzeichen  für  je  eine  kurze  Lautsilbe  der 
polysyllabischen  japanischen  Sprache  viel  zu  schwerfällig  und  praktisch 
auf  die  Dauer  undurchführbar.  Nimmt  man  den  Umstand  hinzu,  daß  es 
Sitte  geworden  war,  alle  Schriften  für  den  täglichen  Gebrauch  in  chine- 
sischer Sprache  zu  schreiben  (zum  Eintritt  in  ein  x^Vmt  war  Kenntnis  des 
Chinesischen  absolut  erforderlich),  und  daß  die  Idiosynkrasie  für  die  fremde 


376  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

Literatur  und  Sprache  von  760 — 860  überhaupt  die  Entwicklung  des  Japa- 
nischen zeitweise  stocken  ließ,  so  begreift  man  die  Abwesenheit  einer 
japanischen  Prosaliteratur.  Natürlich  konnte  es  nicht  immer  so  bleiben. 
Die  Schwierigkeit  der  Erlernung  der  fremden  Sprache  und  namentlich 
ihrer  Schreibung  zwang  die  Japaner,  auf  Mittel  und  Wege  zu  denken,  daß 
sie  so  schreiben  wie  sprechen  könnten.  Das  Resultat  langjähriger  Be- 
mühungen war  eine  bequeme  Silbenschrift,  welche  dadurch  entstand,  daß 
man  gewisse  phonetisch  gebrauchte  chinesische  Zeichen  entweder  aus 
ihrer  Ouadratform  verkürzte  {Ka^a-kana-Schvih),  oder  in  der  Kursivform, 
die  man  noch  möglichst  vereinfachte,  übernahm  {fftra-^ajiaSchnft).  Das 
letztere  wurde  das  populäre  System  und  scheint  schon  in  der  zweiten 
Hälfte  des  g.  Jahrhunderts  von  Frauen  viel  gebraucht  worden  zu  sein, 
woher  der  Name  „Frauenschrift"  {Onna-ji).  Dieser  Umstand  hatte  für  die 
Entwicklung  der  Literatur  die  allergrößte  Bedeutung.  Waren  die  Frauen 
vor  der  Engi-Ara  die  einzigen  gewesen,  welche  japanische  Prosa  für  ge- 
wöhnliche Zwecke  schrieben,  und  hatten  sie  dadurch  in  dieser  Besonderheit 
vor  den  Männern  einen  Vorsprung-  gewonnen,  so  blieben  sie  auch  nach 
der  Engi-Ara,  in  welcher  die  Männer  die  Silbenschrift  für  das  Uta  zu  be- 
nutzen begannen,  die  Hauptpflegerinnen  der  japanischen  Prosa.  Viele 
Damen  des  Hofes  lernten  zwar  auch  Chinesisch  und  bildeten  sich  ihre 
Begriffe  von  Stilistik  und  Rhetorik  an  chinesischen  Essays,  aber  sie  ver- 
wendeten das  Gelernte  für  die  Ausbildung  der  nationalen  Prosa,  welche 
unter  ihren  Händen  im  Verlaufe  des  10.  Jahrhunderts  eine  erstaunliche 
Feinheit  der  Phraseologie  und  des  Periodenbaues  erreichte.  Der  Wort- 
schatz ihrer  Werke,  seien  es  Erzählungen  oder  Tagebücher  oder  Miszellen, 
ist  reinstes  Japanisch;  nur  da,  wo  japanische  Äquivalente  überhaupt  nicht 
existierten,  z.  B.  in  Titel-,  Rangbezeichnungen  usw.,  kommen  Lehnwörter 
vor.  Die  japanische  Sprache  hat  niemals  einen  größeren  Reichtum  an 
einheimischen  Wörtern  und  Phrasen,  niemals  mehr  Prägnanz,  Klarheit  und 
Anmut  gezeigt,  als  in  der  Zeit  vom  10. — 12.  Jahrhundert,  wo,  wie  gesagt, 
die  Prosaliteratur  wesentlich  Frauenliteratur  war,  und  mit  vollem  Rechte 
wird  daher  diese  Periode  auch  hinsichtlich  ihrer  prosaischen  Erzeugnisse 
klassisch  genannt. 
KoveUirtik  der  Die  beiden   ältesten  Erzählungen  (Monogatari),   gegen  goo  von   unbe- 

kannten  Verfassern,  sind  das  Taketori  Monogafari,  die  Mär  vom  Bambus- 
sammler, und  das  he  Alonogatari  „Ise-Erzählungen",  d.  i.  x\nekdoten.  Ersteres 
ist  ein  aus  chinesischen,  indisch-buddhistischen  und  japanischen  Elementen 
aufgebautes  Märchen  von  der  auf  die  Erde  verstoßenen  Mondfee  Prinzessin 
Leuchteglanz,  wohinein  humoristische  Episoden  aus  dem  Leben  und  Treiben 
der  Höflinge  verwoben  sind;  letzteres  eine  Sammlung  von  125  kleinen 
Abenteuern  des  Dichters  Narihira,  des  japanischen  Don  Juan,  mit  ca.  250 
eingestreuten,  in  ihrer  Art  reizenden  Kurzgedichten,  die  meistens  von 
Narihira  verfaßt  sein  mögen.  Gegen  g5o  wird  das  in  der  x\nlage  dem 
Ise  Monogatari  sehr   ähnliche    Yamato  Monogatari  „Erzählungen   aus  Ya- 


II.  Die  erste  Hälfte  des  Mittelalters:  Die  klassische  Literatur  (794 — ri86).  •j'jy 

mato"  entstanden  sein,  das  sich  aber  nicht  um  die  angeblichen  Erlebnisse 
nur  einer  Person  dreht.  Humoristischen  Inhalts  sind  die  etwas  jüngeren 
„zehn  Geschichtchen  des  Deich-Staatsrats".  Eine  sehr  beliebte  Gruppe  von 
Monogatari  bestand  aus  „Stiefkind-Geschichten"  mit  den  typischen  Figuren 
des  guten,  schwachen  Vaters,  der  intriganten,  bösartigen  Stiefmutter  und 
dem  lieben,  schönen  Stiefkind  Aschenbrödel;  doch  sind  sie  meistens  ver- 
loren gegangen  und  aus  dem  10.  Jahrhundert  nur  das  Ochikubo  Afonoga- 
/ä;^/ „Geschichte  vom  Mädchen  im  Keller"  erhalten.  Dem  Ende  desselben 
Jahrhunderts  gehört  das  umfangreiche  Utsubo  Monogatari  „die  Höhle"  an. 
Es  enthält  zwar  viele  märchenhafte  Elemente,  aber  auch  sehr  viele 
realistische  Schilderungen  des  Lebens  jener  Zeit. 

Den  Höhepunkt  erreicht  die  ganze  Monogatari-Literatur  gegen  1000 
in  dem  Genji  Alonogatari  der  Hofdame  Murasaki  Shikibu  aus  dem 
berühmten  Fujiw^ara- Geschlecht.  Die  Verfasserin  war  eine  Frau  von 
außerordentlicher  literarischer  Begabung  und  Bildung,  wozu  natürlich  eine 
tüchtige  Kenntnis  der  chinesischen  Klassiker  gehörte.  Ihr  Stil  zeigt  eine 
gewisse  weibliche  Wortschwalligkeit,  ist  aber  sonst  vollendet,  das  schönste 
Japanisch,  das  je  geschrieben  wurde.  Ihre  „Erzählung  vom  Prinzen  Genji", 
54  Bücher  stark,  ist  der  erste  wirkliche  Roman  und  gibt  uns  ein  farben- 
prächtiges Bild  des  Hoflebens  in  Kyoto  mit  seinem  Luxus,  seinem  ver- 
gnüglichen zeittotschlagenden  Treiben,  seiner  bei  allem  glänzenden  Schein 
innerlichen  Hohlheit  und  sittlichen  Entartung.  Prinz  Genji  ist  ein  Frauen- 
jäger, ein  leichtlebiger  Lüstling,  der  von  einem  Liebesabenteuer  zum 
andern  fliegt,  dabei  aber  kein  schlechter  Mann,  sondern  ein  Muster  ritter- 
licher Gesinnung.  Was  wir  an  der  Darstellung  dieses  realistischen  höfi- 
schen Romans  anerkennen  müssen,  ist  die  ethisch-ästhetische  Keuschheit, 
womit  die  Verfasserin  einen  so  faulen  Stoif  behandelt.  Murasaki  Shikibu 
steht  darin  hoch  über  der  realistischen  Novellistik  der  modernen  Tokugawa- 
Periode,  welche  nur  gemeinste  Pornographie  ist.  Das  von  ihren  Lands- 
leuten stets  hochgeschätzte  Werk  fand  sofort  und  später  viele  Nachahmungen, 
meistens  von  Frauenhand,  aber  keine  reicht  auch  nur  im  entferntesten  an 
das  Vorbild  heran.  Es  war,  als  ob  sich  die  novellistische  Leistungsfähigkeit 
mit  diesem  Werke  verausgabt  hätte.  Am  meisten  Beachtung  verdient 
noch  das  gegen  1040  erschienene  Sagoromo  Monogatari,  welches  eine 
Tochter  der  Murasaki  verfaßt  haben  soll,  und  das  wenig  jüngere  Nezame 
Monogatari  „Erzählungen  in  schlaflosen  Nachtstunden".  Die  hiernach  im 
Zeitraum  von  zwei-  bis  dreihundert  Jahren  zum  Vorschein  gekommenen 
höfischen  Monogatari,  alle  in  derselben  Manier  gedichtet,  dieselben  ab- 
gedroschenen Vorgänge  und  Motive  behandelnd,  hinter  dem  Geist  der 
Zeit  immer  mehr  zurückbleibend,  sind  nicht  mehr  erwähnenswert. 

Fast    gleichzeitig    mit    Murasakis   Roman    entstand    ein    höchst  merk-    skizzcn  und 

Aliszcllcn 

würdiges  Buch,  das  Makura  no  Söshi  oder  „Kopfkissen-Hefte"  der  Hof- 
dame Sei  Shönagon.  Inhaltlich  ist  dieses  ebenfalls  in  klassischem 
Japanisch   geschriebene   Buch    von    12    kleinen    Bänden    gar   kein   einheit- 


■^•jP,  Kaki    Florenz:  Die  japanische  Literatur, 

liches  Werk,  sondern  die  bunteste  Zusammen würfelung  der  heterogen- 
sten Dinge:  Anekdoten  aus  dem  Hof  leben,  Landschaftsschilderungen, 
kritische  Bemerkungen  über  das  Treiben  der  Herren  und  Damen  der 
Residenz,  allerlei  Beobachtungen  über  Sitten,  Charaktere,  Geschmacks- 
richtungen. Die  Verfasserin  hat  darin  ohne  nachfolgende  ordnende  Redaktion 
aufgeschrieben,  was  ihr  gerade  einfiel  und  unter  den  Schreibpinsel  geriet. 
Man  hat  dieser  Art  von  kompositionslosen  Kompositionen  die  Bezeichnung 
Zuihitsu,  „dem  Pinsel  folgendes"  kunterbuntes  Allerlei,  gegeben.  Als 
Kunstwerk  hat  ein  solches  Sammelsurium  in  der  Literatur  eigentlich 
keinen  Platz;  Wert  können  bloß  die  einzelnen  Elemente  beanspruchen, 
wenn  sie,  die  überall  die  urpersönlichste  Auffassung  der  Dinge  durch  den 
Autor  zur  Sprache  bringen,  von  einer  bedeutenden  Persönlichkeit  aus- 
gehen. Und  das  ist  allerdings  bei  Sei  Shönagon  der  Fall.  In  allem  Wissen 
der  Zeit  bewandert,  eine  scharfe  Beobachterin  von  Menschen  und  Dingen, 
klug,  witzig,  schlagfertig,  ja  sarkastisch,  weiß  diese  mit  allen  Hunden  ge- 
hetzte Hofdame  ihre  kleinen  Geschichtchen  pikant  zu  erzählen,  die 
Schwächen  ihrer  nicht  sehr  geliebten  Zeitgenossen  aufzudecken  und  dem 
Gelächter  preiszugeben,  und  mit  ihren  oft  bizarren  Meinungsäußerungen 
wenigstens  den  japanischen  Leser  immer  zu  fesseln. 

IIL  Die  zweite  Hälfte  des  Mittelalters:  Die  nachklassische 
Zeit  und  der  Verfall  der  Literatur  (1186 — 1600).  Das  zeitlich 
nächste  Zuihitsu  oder  Skizzenbuch,  12  12  von  dem  buddhistischen  Klausner 
Kamo  no  Chömei  (1154  — 1216)  verfaßt,  ist  das  reinste  Erzeugnis 
der  von  buddhistischen  Ideen  erfüllten  Kamakura-Periode.  Da  der  Autor, 
welcher  sich  mit  fünfzig  Jahren  aus  dem  Hofdienst  als  Bonze  in  die 
Einsamkeit  des  Waldgebirges  zurückzog,  in  einer  kleinen  Hütte  von 
nur  zehn  Fuß  im  Quadrat  (höjö)  lebte,  nannte  er  sein  Werkchen  Höjö-ki 
„Aus  meinem  Hüttchen".  Er  beginnt  mit  Skizzen  einiger  unglück- 
lichen Ereignisse,  die  er  selbst  mit  angesehen  hatte:  einer  ungeheuren 
Feuersbrunst  in  der  Residenz,  eines  verheerenden  Sturmwinds,  einer 
Hungersnot  mit  darauf  folgender  pestartiger  Epidemie,  eines  fürchterlichen 
Erdbebens.  Dann  schildert  er  seinen  Abschied  von  der  Welt,  sein  be- 
scheidenes Hüttchen,  seine  Lebensweise  als  Einsiedler,  stellt  bei  allen 
diesen  Dingen  Betrachtungen  an  und  führt  uns  schließlich  zu  Gemütc, 
daß  das  wahre  Glück  in  der  Beschränkung  auf  sich  selbst,  im  Verzicht 
auf  das  irdische  Genußleben  bestehe.  Ein  tiefer,  schwermütiger  Ernst 
lagert  über  der  kleinen  Schrift.  Ureigenen  Gehalt  besitzt  sie  nicht,  denn 
die  vorgetragenen  Ideen  sind  die  allgemeinen  Ideen  der  Zeit,  hauptsäch- 
lich die  des  Einsiedlerstandes.  Ihr  Wert  besteht  darin,  daß  sie  diese 
allgemein  herrschenden  Anschauungen,  das  Typische  seiner  Zeit,  in  kurzer, 
sinnvoller,  einfacher  und  schöner  Weise  zur  Darstellung  bringt.  Eine 
starke,  individuell  denkende  Persönlichkeit,  gewissermaßen  das  männliche 
Gegenstück    zu   Sei   Shönagon,   tritt   uns    aber  wieder   in   dem  Einsiedler 


III.  Die  zweite  Hälfte  des  Mittelalters:  Die  nachklassische  Zeil  und  der  Verfall  der  Literatur.     370 

Kenkö-höshi  (1283 — 1350)  entgegen.  Wie  Chömei  stammte  er  aus  einer 
Familie  von  Schintopriestern  und  diente  lange  bei  Hofe,  ehe  er  ein 
Klausner  wurde;  aber  es  gelang  ihm  nie,  wie  diesem,  sein  eigenes  Ich 
zu  überwinden.  So  aufrichtig  er  es  mit  der  Entsagung  gemeint  haben 
mag,  das  Weltkind  kommt  bei  ihm  immer  einmal  wieder  zum  Vorschein 
und  hält  die  Alltagsbeurteiler,  die  eine  so  komplizierte  Natur  nicht  zu 
verstehen  vermögen,  zum  besten.  Kenkö-höshi  ist  weder  ein  Heiliger 
noch  ein  unsittlicher,  heuchlerischer  Pfaffe,  wofür  die  einen  oder  die 
anderen  ihn  gewöhnlich  halten,  sondern  ein  weltlich  veranlagter,  mit 
kräftiger  Sinnlichkeit  ausgestatteter  Mensch,  der  sich  mit  mehr  oder 
weniger  Erfolg  die  buddhistischen  Ideale  zu  erkämpfen  sucht,  und  ein 
Schalk  obendrein.  Wie  das  Makura  no  Söhi  enthält  sein  Tsure-zure-gusa 
„Skizzen  aus  müßigen  Stunden"  ohne  Ordnung  und  System  in  243  Ab- 
schnitten eine  Reihe  von  Geschichtchen,  Beobachtungen,  eigenartigen 
Meinungen  über  die  Phänomene  der  Natur  und  Menschheit  und  Aphorismen. 
Auch  zu  einer  einheitlichen  Weltanschauung  hat  er  es  nicht  gebracht, 
denn  neben  der  vorwiegenden  Menge  buddhistischer  Gedanken  findet  sich 
auch  genug,  was  spezifisch  dem  Konfuzianismus,  Taoismus  und  Schintois- 
mus  eigen  ist.  Er  versucht  das  an  und  für  sich  Unvereinbare  miteinander 
zu  vereinen,  die  Gegensätze  unter  einen  Hut  zu  bringen,  und  ist  darin 
ein  echter  Vertreter  seines  Volkstums,  zu  dessen  hervorstechendsten  Eigen- 
tümlichkeiten in  Theorieen  wie  im  praktischen  Leben  der  Hang  zum 
Schließen  von  Kompromissen  gehört.  Das  Tsure-zure-gusa  ist  eines  der 
unterhaltendsten  Bücher  der  japanischen  Literatur.^  Entstanden  ist  es 
zwischen  1334  und  1339,  also  im  Anfang  der  Muromachi-Periode,  stilistisch 
aber  ist  es  ein  Nachläufer  der  klassischen  Heian-Zeit  mit  ganz  wenig 
chinesischen  Beimengungen. 

Um    mit  der  altklassischen  Literatur,   welche  auch  heute  noch  in  der  KiassischeTagc- 

buch-Literatur. 

Lektüre  des  gebildeten  Japaners  eine  viel  größere  Rolle  spielt  als  die 
Erzeugnisse  der  mittelhochdeutschen  Blüteperiode  bei  uns,  vollständig 
abzurechnen,  haben  wir  noch  einen  Blick  auf  die  Tagebücher  und  Reise- 
journale zu  werfen.  Halb  sind  sie  geschichtliche  Tagesberichte,  halb 
Belletristik ;  angenehme  Unterhaltung  ist  ihr  Zweck.  Im  Stil  den  Monogatari 
gleich,  enthalten  sie  auch  zahlreiche  Kurzgedichte  als  wesentlichen  Be- 
standteil. Das  erste  Werk  dieser  Gattung  rührt  von  Tsurayuki,  dem 
Hauptkompilator  des  Kokinshü,  her  und  beschreibt  bald  launig-humoristisch, 
bald  ernst-sentimental  die  zwei  Monate  dauernde  Rückreise  des  Verfassers 
aus  der  Provinz  Tosa,  wo  er  von  930  bis  935  als  Statthalter  gewirkt  hatte, 
nach  der  Hauptstadt.  Charakteristisch  für  die  damaligen  Zustände  ist  es, 
daß  zur  Zeit,  wo  das  Tosa-Tagebuch  (Tosa  Nikki)  entstand,  also  mitten 
in  der  Blüte  der  Tanka,  das  Schreiben  japanischer  Prosa  doch  noch  nicht 
als  eine  männerwürdige  Beschäftigung  galt  und  Tsurayuki  sich  deshalb 
im  Eingang  entschuldigt,  daß  er  eine  „Frauenschrift"  schreibe.  Und  in 
der  Tat,  die  ganze  übrige  Tagebuch-Literatur  der  Heian-Periode  in  japani- 


380  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

scher  Sprache  ist  von  Hofdamen  verfaßt,  unter  denen  Murasaki  Shikibu, 
die  Dichterin  des  Genji-Romans,  und  ihre  begabte  aber  liederhche  Zeit- 
genossin Frau  Izumi  Shikibu  die  erste  Stelle  einnehmen.  Sogar  in  der 
Kamakura-Periode  haben  von  den  fünf  nennenswerten  Nikki  ihrer  drei, 
welche  den  zierlichen  klassischen  Stil  am  treuesten  bewahren,  Frauen  zu 
Autoren;  die  beiden  anderen,  von  Männern  geschrieben,  welche  Reisen 
auf  dem  Tökaidö  von  Kyoto  nach  Kamakura  in  den  Jahren  1223  resp. 
1242  beschreiben,  sind  stilistisch  moderner  und  kräftiger  im  Ton. 
Romantische  Die   letztgenannten  zwei   Taefebücher   suchen   bereits   mit   dem  neuen 

Historien.  .  .  * 

Geist  der  Zeit,  den  das  zwölfte  Jahrhundert  ausbrütete,  Fühlung  zu  ge- 
winnen. Das  Zuströmen  der  Ritter  aus  dem  Westen  und  Osten  des 
Landes  brachte  frisches  Blut  in  die  Hauptstadt  und  es  erfolgte  eine  frucht- 
bare Wechselwirkung  zwischen  ihnen,  die  bisher  der  Literatur  ziemlich 
fem  gestanden  hatten,  und  den  ästhetisch  feingebildeten  Bewohnern  der 
Residenz.  Seit  11 00  war  die  Frauenliteratur  im  Absterben  begriffen  und 
traten  Männer  als  Schreiber  japanischer  Prosa  auf.  Die  langandauernden 
Kämpfe  zwischen  den  Taira  und  Minamoto,  w^elche  die  ganze  Nation  mit 
kriegerischem  Geiste  erfüllten,  beeinflußten  auch  den  literarischen  Ge- 
schmack. Man  wandte  sich  allgemein  von  der  dem  Zeitgeist  fremden 
weiblich-weichen  Klassizität  ab.  Nur  an  dem  konservativen  kaiserlichen 
Hofe  erlebte  diese  trotz  der  veränderten  Verhältnisse  noch  eine  Nach- 
blüte, die  sich  freilich  auf  das  Uta  beschränkte.  Die  übrige  Welt  wandte 
ihre  Aufmerksamkeit  einer  neuen,  aus  dem  Wandel  der  Ding-e  geborenen 
Dichtung  zu:  dem  Heldenepos.  Da  die  japanische  Prosodie  aber  bloß 
über  fünf-  und  siebensilbige  Verse  verfügte  und  solche  Verse  in  großer 
Menge  verwendet  sehr  monoton  klingen,  so  erschienen  die  japanischen 
Heldenepen  nicht  wie  ihre  europäischen  Brüder  in  metrischer,  sondern 
in  prosaischer  Form.  Nur  hin  und  wieder  erhebt  sich  in  einigen  von 
ihnen  die  Sprache  zu  rhythmischem  Schwünge. 

Die  heroischen  Epen,  oder,  wie  wir  sie  vielleicht  passender  nennen 
sollten,  die  romantischen  Historien  der  Kamakura-  und  Muromachi-Zeit 
hatten  ihre  Vorläufer  in  einigen  halbgeschichtlichen  Werken  des  letzten 
Viertels  der  Heian-Periode.  Im  unmittelbaren  Anschluß  an  das  Nihongi 
war  ehedem  eine  Gruppe  von  Reichsgeschichten  in  chinesischer  Sprache 
abgefaßt  worden,  welche  die  Geschichte  Japans  von  697  bis  gegen  900 
in  trockener  chronikenmäßiger  Weise  darstellten;  dann  war  eine  Pause 
von  200  Jahren  eingetreten.  Gegen  iioo  regte  sich  wieder  das  Bedürfnis 
nach  historischen  Schilderungen.  Inzwischen  hatte  sich  aber  die  japanische 
Sprache  durch  die  Monogatari- Literatur  zu  einem  dem  Chinesischen  eben- 
bürtigen Darstellungsmittel  entwickelt,  das  sich  auch  den  gelehrten  Schrift- 
stellern um  so  mehr  empfehlen  mußte,  als  die  Kunst,  ein  gutes  Chinesisch 
zu  schreiben,  in  bedenklichstem  Grade  abnahm.  Da  man  nun  in  den 
Tagebüchern  der  Hofdamen  schon  ein  gut  Stück  Geschichte  vorgearbeitet 
fand,  so  lag  es  nahe,  an  sie  anzuknüpfen  und  von  ihnen  zur  Ausgestaltung 


III.  Die   zweite  Hälfte  des  Mittelalters:  Die  nachklassische  Zeit  und  der  Verfall  der  Literatur.     281 

historischer  Monogatari  weiterzuschreiten.  Man  schrieb  jetzt  Geschichte 
zur  Unterhaltung.  Strenge  geschichtliche  Wtihrheit,  kritische  Prüfung-  der 
Traditionen  wird  man  freilich  von  solcher  Geschichtschreibung  nicht  er- 
warten. Aber  wenn  auch  trüb  als  Quelle  für  den  Historiker,  so  war  sie 
doch  ein  literarischer  Fortschritt.  Die  erste  große  romantische  Historie, 
das  Eigwa  JMonogatari  „Erzählung  von  den  blühenden  Blüten"  deckt  den 
Zeitraum  von  rund  900  bis  iioo  und  verrät  noch  deutlich  ihre  wesentliche 
Herkunft  aus  Frauentagebüchern;  es  soll  auch  von  einer  Hofdame  verfaßt 
worden  sein.  Am  ausführlichsten  wird  darin  die  Epoche  des  Großwesirs 
Michinaga  behandelt  (gegen  1000),  unter  dessen  Regierung  die  Macht 
der  Fujiwara  sich  am  glanzvollsten  entfaltete.  Das  nächstfolgende  Werk, 
Okagami  „der  große  Spiegel  [der  Geschichte]",  ebenfalls  eine  Schilderung 
der  Blüte  der  Fujiwara-Familie  bis  1025,  ist  nicht  mehr  tagebuchmäßig, 
sondern  nimmt  sich  in  der  Anordnung  des  Stoffes  die  „historischen  Denk- 
würdigkeiten" des  Chinesen  Sze-ma  Ts'ien  zum  Vorbild  und  ist  zweifels- 
ohne von  einem  Mann  geschrieben.  Von  da  an  haben  wir,  die  paar 
schon  erwähnten  Tagebücher  ausgenommen,  keine  beachtenswerten  Werke 
mehr  von  Frauenhand. 

Sind     das    Eigwa    und    Okagami    der    Widerschein    der  üppig-weich-       Riuer- 

geschichten. 

liehen  Fnedenszeit  unter  der  Herrschaft  der  Fujiwara,  so  spiegeln  die 
im  nächsten  halben  Jahrhundert  entstandenen  vier  Historien  Högen-, 
Heiji-,  Heike-Monogatari  und  Gempei-Seisuiki  das  Zeitalter  der  Geschlechter- 
kämpfe zwischen  den  feudalen  Familien  der  Taira  oder  Hei  und  der 
Minamoto  oder  Gen,  von  11 56 — 11 85.  Einzelkämpfe  und  Massenschlachten 
in  ausführlichster  Beschreibung  von  sachkundiger  Hand  bilden  den  ganzen 
Inhalt  dieser  Werke,  deren  Helden  nicht  mehr  lebenslustige,  schöngeistige 
Höflinge  und  Hofdamen  sind,  sondern  todverachtende  Ritter  und  Mannen. 
Die  angeborene  Soldatennatur  der  Japaner,  welche  unter  den  besänftigen- 
den Einflüssen  der  chinesischen  Kultur  und  des  Buddhismus  eingeschlummert 
zu  sein  schien,  brach  mit  elementarer  Gewalt  wieder  durch  und  eroberte 
sich  nun  auch  die  Literatur.  Die  Verfasser  der  romantischen  Krieg's- 
historien  sind  sämtlich  unbekannt,  aber  wenigstens  einige  von  ihnen  mögen 
Mönche  vom  Schlage  unseres  Ekkehard,  des  Verfassers  des  Walthari- 
Liedes,  gewesen  sein.  Das  Högen  Monogatari  behandelt  die  kriegerischen 
Tumulte  des  Jahres  Högen  (1156),  das  Heiji  Monogatari  diejenigen  des 
Jahres  Heiji  (1159),  und  beide  werden  im  ersten  Viertel  des  13.  Jahr- 
hunderts entstanden  sein.  Die  beiden  anderen,  viel  größeren  und  kunst- 
volleren Werke,  das  Heike  Monogatari  „Geschichte  der  Hei-Familie"  und 
das  Gernpei-Seisuiki  „Geschichte  der  Blüte  und  des  Verfalls  der  Gen  und 
Hei",  kurz  vor  1250  entstanden,  behandeln  in  einer  langen  Reihe  von 
Episoden  den  Stoff,  welchen  der  letztgenannte  Titel  genauer  bezeichnet. 
Bei  weitem  am  beliebtesten  wurde  das  Heike.  Die  mehr  lyrische,  an  das 
Gefühl  der  Zuhörer  appellierende  und  manchmal  metrisch  gestaltete  Dar- 
stellung  dieses  Werkes   machte   es    für  rezitatorische   Vorträge  besonders 


'}g2  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

geeignet  und  brachte  es  in  die  Pflege  einer  besonderen  Kaste  von  blinden 
Sängern,  welche  wie  unsere  mittelalterlichen  Spielleute  überall  im  Lande 
umherzogen,  es  mit  Begleitung  der  viersaitigen  Biwa,  einer  Art  Mandoline, 
vortrug^en  und  Biwa-höshi  „Biwa-Mönche"  hießen,  weil  sie  ihre  Köpfe  wie 
Mönche  kahl  geschoren  trugen.  Durch  diese  populären  Vorträge,  denen 
Krieger  und  gewöhnliches  Volk  mit  Begeisterung  lauschten,  wurden  die 
Ereignisse  und  Heldenfiguren  (unter  diesen  besonders  Yoshitsune  und  sein 
getreuer  Vasall  Benkei)  der  Gempei-Kämpfe  allgemeines,  unvergängliches 
Volksgut  bis  auf  den  heutigen  Tag  und  sind  seitdem  immer  und  immer 
wieder  sowohl  in  der  epischen  als  in  der  dramatischen  Literatur  dargestellt 
worden. 

Ein  Gegenstück  zum  Heike  ist  das  etwa  125  Jahre  später  von  dem 
Bonzen  Kojima  verfaßte  Taiheiki  „Geschichte  des  großen  Friedens",  dessen 
erst  nachträglich  gebildeter  Titel  uns  nicht  darüber  täuschen  darf,  daß 
auch  hier  fast  nur  von  Krieg  und  Kriegsgeschrei  die  Rede  ist.  Es 
schildert  die  Begebnisse  zwischen  den  Jahren  1318  und  1367,  nämlich  die 
nur  vorübergehend  vom  Glück  begünstigten  Versuche  des  Kaisers  Go- 
Daigo  (Daigo  IL),  die  Hausmeierwirtschaft  zu  beseitigen,  und  die  daraus 
resultierenden  Bürgerkriege,  die  Spaltung  des  Kaiserhauses  in  eine  nörd- 
liche und  eine  südliche  Dynastie  (1392  durch  Kompromiß  beendet).  Das 
Taiheiki  zeigt  noch  mehr  rhetorischen  Schmuck  als  seine  Vorgänger  und 
geht  auch  noch  viel  häufiger  ins  metrische  Gepräge  über.  Es  wurde  bis 
in  die  moderne  Zeit  hinein  von  Rhapsoden,  aber  ohne  musikalische  Be- 
gleitung, vorgetragen.  An  die  großen  Werke  schlössen  sich  allerhand 
kleinere  an,  die  aber  an  literarischem  Werte  weit  unter  jenen  stehen.  Der 
Stoff  einer  dieser  Epopöen,  des  Soga-Mo7iogatari^  welches  von  der  Blut- 
rache der  beiden  Brüder  Soga  am  Mörder  ihres  Vaters  (1193)  erzählt,  ist 
in  der  Folgezeit  unzählige  Male  überarbeitet  worden  und  hat  in  der 
Tokugawa-Periode  eine  wahre  Sintflut  von  Rachegeschichten  und  Rache- 
dramen hervorgerufen.  Die  Bürgerkriege  und  ausländischen  Kämpfe  des 
16.  Jahrhunderts  mit  dem  Auftreten  der  großen  Feldherren  und  Staats- 
männer Xobunaga,  Hideyoshi  und  Jeyasu  brachten  neues  Material  für 
historische  Erzählungen;  doch  wurde  dieses  auf  die  Länge  wenig  aus- 
genutzt, da  die  Tokugawa- Regierung  die  schriftstellerische  Behandlung 
der  neueren  Geschichte  mit  Mißtrauen  verfolgte  und  schließlich  aufs 
strengste  verbot.  Die  Befürchtung  der  Gewalthaber,  daß  sie  leicht  in  der 
Rolle  von  Usurpatoren  dargestellt  werden  könnten  und  so  beim  Volke 
an  Ansehen  verlören,  war  auch  gar  nicht  so  ungerechtfertigt,  denn  schon  ein 
gegen  1345  erschienenes  Werk,  das  Jinnö  Shötöki  „Geschichte  der  recht- 
mäßigen Nachfolge  der  göttlichen  Monarchen"  des  Staatsmanns  Minamoto 
no  Chikafusa,  das  erste  politisch-philosophierende  Tendenzbuch  der  japani- 
schen Literatur,  hatte  die  Berechtigungsfrage  angeschnitten,  und  es  ist 
femer  eine  bekannte  Tatsache,  daß  mehrere  chinesisch  geschriebene 
Reichsgeschichten    aus    der  Tokugawa-Periode    teils    mit,  teils   ohne   Ab- 


in.  Die  zweite  Hälfte  des  Mittelalters:  Die  nachklassische  Zeit  und  der  Verfall  der  Literatur.     ^83 

sieht     der    Verfasser     zum    Sturze     des    Shogunats    sehr    wesentUch    bei- 
getragen haben. 

Wenn  auch  Werke  wie  das  Heike  Monogatari  und  Taiheiki  noch  der    Beginn  der 

.  ,.  .  volkstümlichen 

kunstmäßigen  Literatur  angehören,  so  waren  sie  doch  durch  Sänger  und  Literatur. 
Erzähler  dem  Volke  zugänglich  g-emacht  worden  und  gaben  dadurch 
weitere  Anreg'ung  zur  Schaffung-  einer  volkstümlichen  Erzählungsliteratur. 
Was  das  Volk  in  der  klassischen  und  nachklassischen  Zeit  in  dieser  Hin- 
sicht besessen  haben  mag,  läßt  sich  nur  vermuten,  aber  nicht  nachweisen. 
Die  im  15.  und  16.  Jahrhundert  allmählich  zum  Vorschein  kommenden 
schlicht  und  ungeschickt  abgefaßten  und  großenteils  didaktischen  Volks- 
bücher (Otogi-zöshi)  verarbeiten  Mythen,  Lokalsagen,  buddhistische  Legen- 
den, Tiergeschichten,  Alltagsereignisse  aus  dem  Leben  usw.  und  wimmeln 
von  phantastischen  Wunderlichkeiten,  übermenschlichen  Helden,  Riesen, 
Zwergen,  Teufeln  und  Gespenstern,  so  daß  man  sie  meistens  in  die  Kategorie 
der  Märchen  einreihen  kann.  Seine  eigentliche  Blütezeit  erlebte  das  Märchen 
aber  erst  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts,  als  die  kleinen,  spott- 
billigen, mit  einigten  Bildern  geschmückten  Rot-,  Schwarz-  und  Grünbücher 
die  Literatur  auch  den  Unbegüterten  und  Ungebildeten  zugänglich  machten. 

Einige  der  volkstümlichen  Erzählungen  von  belebterem  Inhalt,  z.  B.  Entstehung  des 
die  Liebesgeschichte  von  Yoshitsune  und  dem  Fräulein  Jöruri,  welche  Dramas  (jöruri). 
zweifelsohne  unter  dem  Einfluß  der  vornehmeren  Kunstpoesie  entstanden 
waren,  erfuhren  übrigens  schon  frühzeitig  eine  exzeptionelle  Behandlung, 
indem  man  sie  ähnlich  wie  die  Ritterepen  in  rezitativartigem  Gesänge 
vortrug".  Seit  etwa  15Q0  trat  zu  diesen  Vorträgen  die  musikalische  Be- 
gleitung der  kurz  vorher  nach  Japan  eingeführten  dreisaitig'en  Gitarre 
(Shamisen),  und  weil  die  eben  genannte  Jöruri-Geschichte  die  populärste 
der  ganzen  Gattung  war,  nannte  man  solche  Romanzendeklamationen  mit 
Gitarrenbegleitung  schlechthin  Jöruri.  Die  Jöruri  waren  also,  vom  literari- 
schen Standpunkt  betrachtet,  epische  Dichtungen.  Diesen  reinen  Charakter 
behielten  sie  jedoch  nicht  lange.  Gegen  1600  begannen  einzelne  Jöruri- 
Sänger  sich  mit  Puppenspielern  zusammenzutun,  welche  die  Vorgänge 
der  Erzählung  durch  das  Spiel  ihrer  Marionetten  verdeutlichten,  was  auf 
die  Texte  die  Rückwirkung  übte,  daß  der  Dialog  der  handelnden  Personen 
mehr  und  mehr  ein  wichtiger  Bestandteil  und  die  Handlung  selber  thea- 
tralischer wurde.  Als  im  letzten  Viertel  des  17.  Jahrhunderts  Chikamatsu 
Monzaemon  sein  bedeutendes  Talent  ganz  auf  das  Jöruri  konzentrierte, 
hatte  dieses  sich  bereits  zu  einem  episch-dramatischen  Mittelding  ent- 
wickelt und  wurde  unter  seinen  Händen  ein  richtiges  Drama,  so  viel 
episch  beschreibende  Elemente  es  auch  beibehielt.  Da  der  Text  des 
Jöruri-Dramas ,  die  beschreibenden  Stellen  sowohl  wie  der  dramatische 
Dialog,  von  einem  einzigen  Sänger,  den  ein  anderer  mit  der  Gitarre  be- 
gleitete, vorgetragen  wurde,  während  gleichzeitig  auf  einer  unserm  Kasperle- 
theater ähnlichen  Bühne  die  nach  und  nach  äußerst  kunstvoll  gestalteten 
Gliederpuppen    mimten,    können    wir    dieses    Drama    am    treffendsten    als 


■i^A  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

monodisches  Drama  bezeichnen.  Zu  gleicher  Zeit  gab  es  noch  ein  anderes, 
von  lebenden  Schauspielern  auf  der  Bühne  dargestelltes  gesungenes  oder 
gesprochenes  Drama,  das  Kabuki,  das  sich  nicht  wie  das  Jöruri  aus 
Romanzen,  sondern  aus  Tanzpantomimen  entwickelte,  und  dem  schon  in 
den  beiden  letzten  Jahrhunderten  der  Muromachi-Periode  in  den  Nö- 
Spielen  und  Nö-Kyögen  eine  recht  beachtenswerte  kunstmäßige  Singspiel- 
und  Possenliteratur  voraufgegangen  war,  woran  sich  namentlich  der  Militär- 
adel ergötzte. 
Das  klassische  Dic  Nö-Spielc  (Nögaku,  Utai,  Yökyoku)  sind  kleine,  an  Handlung  und 

und  i6.  Jahr-  Pcrsoncn  arme,  feierlich-ernste  Dramen,  welche  in  mehr  als  einer  Hinsicht 
an  die  altgriechischen  Tragödien  erinnern.  Ihr  Stil  ist  poetisch,  meist 
lyrisch  gehalten  und  zur  Hälfte  rhythmisch ;  die  Stoffe  sind  aus  Mythen, 
Sagen  und  Heroengeschichten  entnommen;  fast  ausnahmslos  spielt  ein 
buddhistischer  Priester  darin  eine  leitende  Rolle,  und  der  Geist  der  Stücke 
ist  durchaus  buddhistisch,  weil  die  Texte  von  Bonzen  verfaßt  wurden. 
Chorgesänge,  deren  Sänger  auf  einer  Seite  der  dekorationslosen  Bühne 
sitzen,  während  einige  Musikanten  mit  Trommel  und  Flöte  den  Hinter- 
grund einnehmen,  wechseln,  ähnlich  wie  im  gTiechischen  Drama,  mit  den 
Monologen  und  Dialogen.  Die  Schauspieler,  in  prächtigen  Gewändern, 
meist  mit  typischen  Masken  vor  dem  Gesicht,  deklamieren  langsam,  die 
Worte  skandierend,  unter  sparsamen,  feierlichen  Gesten,  so  daß  die  Durch- 
schnittsdauer eines  Stückes  trotz  der  Kürze  des  Textes  bei  der  Aufführung 
eine  Stunde  und  mehr  beträgt.  Wie  bei  den  alten  Griechen  auf  die 
tragische  Trilogie  ein  komisches  Sat3^rspiel  folgte,  so  wird  nach  einem 
ernsten  Nö  auch  immer  eine  Posse,  Nö-Kyögen,  gespielt.  In  der  reinen 
gesprochenen  Sprache  ihrer  Zeit  (15.  und  16.  Jahrhundert)  verfaßt,  sind 
die  chorlosen  Possen  in  der  Stoff behandlung  das  gerade  Gegenteil  der 
Utai.  Alles,  was  in  diesen  groß,  erhaben,  ehrfurchtgebietend  erscheint: 
der  heilige  Buddhapriester,  die  schauerlichen  Dämonen,  Teufel  und  Ge- 
spenster, die  Heldenkrieger,  wird  im  Kyögen  zur  lächerlichen  Fratze.  Die 
hier  ohne  Maske  agierenden  Komödianten,  welche  wie  die  Nö-Spieler 
Mitglieder  erblicher  Schauspielerfamilien  sind,  leisten  ganz  Hervorragendes 
in  der  realistischen  Wiedergabe  ihrer  Rollen.  Es  hat  sich  die  Sitte  heraus- 
gebildet und  bis  heute  erhalten,  gewöhnlich  eine  Serie  von  fünf  Utai 
verschiedener  Stoffkreise  mit  vier  dazwischen  eingeschalteten  Kyögen 
aufzuführen. 

Die  sprachlich  überaus  schwierigen,  mit  vielen  Zitaten  aus  klassischen 
japanischen  und  chinesischen  Gedichten  versetzten  Nö-Spiele  waren  natür- 
lich nie  volkstümlich,  ja  sie  waren  nur  für  den  engen  Kreis  der  Leute, 
die  sich  am  Hofe  der  Schogune  und  Feudalfürsten  bewegten,  gedichtet 
und  wurden  dort  entweder  von  den  privilegierten  fünf  Schauspielerfamilien 
oder  von  den  fürstlichen  und  adligen  Herren  selber  zu  ihrer  Ergötzung 
aufgeführt.  Erst  seit  dem  Fall  der  Schogunatsherrschaft,  also  in  aller- 
neuester  Zeit,   ist   diese  Dramatik   auf  öffentlichen  Bühnen   wirklich  jeder- 


IV.  Die  neuere  Zeit:  Renaissance  und  Blüte  der  Volksliteratur  (l6oo — 1868).  ^gt^ 

mann  zugänglich  geworden,  aber  auch  heute  noch  nimmt  daran  nur  ein 
kleines,  gebildetes  Elitepublikum  teil.  Die  Darstellung  liegt  immer  noch 
in  den  Händen  der  erblichen  Berufsfamilien.  Forschen  wir  nach  dem 
Ursprung  der  seit  etwa  1400  aufgekommenen  Nö-Spiele  und  Kyögen,  so 
ergibt  sich,  daß  sie  einesteils  auf  altjapanische,  religiöse  Tanzpantomimen 
und  Chor-  und  Einzelgesänge,  andernteils  auf  das  chinesische  Drama  der 
Mongolen-Dynastie,  welches  im  14.  Jahrhundert  durch  in  China  gewesene 
Bonzen  bekannt  wurde,  zurückzuführen  sind.  Wir  kennen  fast  nie  die 
Verfasser  der  Texte,  dagegen  öfters  die  Namen  der  musikalischen  Be- 
arbeiter der  Nö-Spiele,  welche  Mitglieder  der  fünf  Familien  und  Schulen 
waren.  Die  Herkunft  dieser  Familien  —  sie  waren  ursprünglich  Tänzer 
des  Kasuga-Schreins  zu  Nara  —  weist  gleichfalls  auf  den  wenigstens 
teilweise  religiösen  Ursprung  der  Spiele  hin.  Die  No- Spieler  erfreuten 
sich  im  Gegensatz  zu  den  verachteten,  Bettlern  gleich  behandelten  Schau- 
spielern des  volkstümlichen  Kabuki -Theaters  einer  geachteten  bürger- 
lichen Stellung. 

Obgleich  das  Nö  und  Kyögen  in  der  Tokugawa-Zeit  bei  den  Vor- 
nehmen, welche  am  volkstümlichen  Theater  gar  keinen  Anteil  nahmen, 
emsig  gepflegt,  ja  zu  einer  Art  von  Staatsaktion  erhoben  wurde,  ist  die 
eigentlich  produktive  Periode  dieser  dramatischen  Gattung  doch  nur  auf 
das  15.  und  16.  Jahrhundert  beschränkt.  Aus  dieser  Zeit  besitzen  wir 
nahe  an  300  Utai  und  wenigstens  ebenso  viele  Possen.  Die  Zahl  der 
letzteren  läßt  sich  schwer  berechnen,  da  die  Schauspielerschulen  noch 
über  ein  beträchtliches  unveröffentlichtes  Repertoire  verfügen. 

IV.  Die  neuere  Zeit:  Renaissance  und  Blüte  der  Volksliteratur  Das  volkstum- 
liche Schauspiel 

(1600 — 1868).  Wie  sehr  die  Nö  und  Kyögen  auf  die  hocharistokratischen  im  17-  Jahrhun- 
Kreise  beschränkt  gewesen  waren  und  dem  Volke  fern  gestanden  hatten, 
ersieht  man  daraus,  daß  das  volkstümliche  Schauspiel,  das  Kabuki,  im 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  noch  einmal  von  neuem  den  Entwicklungs- 
gang aus  der  Tanzpantomime  durchmachte  und  dann  erst  allmählich  aus 
jenen  zu  entlehnen  begann,  statt  sich  gleich  und  unmittelbar  an  sie  an- 
zuschließen. Viel  Zeit  ist  dadurch  verloren,  viel  Kraft  unnütz  vergeudet 
worden.  Das  Kabuki  des  17.  Jahrhunderts  steht  nicht  nur  ästhetisch  und 
technisch,  sondern  leider  auch  moralisch  tief  unter  der  dramatischen  Kunst 
der  vorhergehenden  Epoche.  Eine  ungewöhnliche  sittliche  Verwahrlosung 
der  Bürgerschaft  besonders  in  den  drei  größten  Städten  Kyoto,  Osaka 
und  Yedo  ist  zwar  in  der  ganzen  friedlichen  Tokugawa-Zeit  wahrzunehmen 
und  spiegelt  sich  schamlos  in  der  zeitgenössischen  volkstümlichen  Literatur 
wider,  aber  am  schlimmsten  trieben  es  doch  die  Vertreter  und  Ver- 
treterinnen der  Mimik.  Kein  anständiger  Schriftsteller  schrieb  für  sie, 
welche  die  Kunst  als  Mittel  zur  Prostitution  mißbrauchten,  und  die  Re- 
gierung erließ  Verbot  über  Verbot  gegen  sie.  Ein  bleibendes  Resultat 
des  Kampfes   zwischen  Obrigkeit   und  Mimen  wurde   die  Verbannung-  der 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7.  25 


5g5  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

Frauen  von  der  Bühne,  so  daß  alle  Frauenrollen  seitdem  von  Männern 
gespielt  werden,  ausgenommen  in  einigen  viel  später  gegründeten  Truppen, 
die  nur  aus  Frauen  bestanden.  Der  Mangel  an  geeigneten  Theaterdichtern, 
als  welche  die  Schauspieler  ursprünglich  selber  tätig  waren,  gestattete 
natürlich  keine  rasche  Entwicklung  des  Schauspiels.  Lange  Zeit  ver- 
fertigte man  bloß  höchst  einfache  kleine  Stücke,  die  aus  Tänzen  mit 
Intermezzos  bestanden;  1645  spielte  man  das  erste  zweiaktige  Stück;  gegen 
1660  ließ  man  zum  erstenmal  die  ganz  überflüssigen  Tänze,  das  Erbstück 
der  Kabuki  aus  ihrer  historischen  Entwicklung  vom  Tanzstück  zum  Drama, 
hier  und  da  weg  und  näherte  sich  so  einer  reineren  dramatischen  Form; 
gegen  Ende  des  Jahrhunderts  brachte  man  es  sogar  zu  fünfaktigen  Dramen; 
aber  irgendwelchen  literarischen  oder  gar  poetischen  Wert  besaßen  alle 
diese  für  die  augenblickliche  Bühnenwirkung  hergerichteten  und  der  je- 
weiligen Manier  gewisser  Schauspieler  angepaßten  Stücke  nicht.  Die 
ersten  Dramen,  die  wirklich  als  literarische  Erzeugnisse  bewertet  werden 
können,  ^^nlrden  überhaupt  nicht  für  die  Kabuki -Bühne,  sondern  für  das 
Puppentheater  geschrieben:  ich  meine  die  Jöruri  des  schon  einmal  ge- 
nannten Chikamatsu. 
Blüte  des  Der   aus    einer   Ritterfamilie    des    Südwestens    stammende  Chikamatsu 

"jö^ron."^  Monzaemon  (1653 — 1724),  zuerst  Mönch,  dann  Beamter  in  Kyoto,  schließ- 
lich vom  Ertrag  seiner  Feder  lebender  Schriftsteller,  schloß  1686  mit  dem 
ausgezeichneten  Jöruri-Sänger  Takemoto  Gidayu,  welcher  im  Jahre  vorher 
zu  Osaka  das  Puppentheater  Takemoto-za  gegründet  hatte,  enge  Freund- 
schaft und  schrieb  seitdem  fast  ausschließlich  für  den  Freund  und  sein 
Theater  eine  große  Anzahl  Jöruri.  Die  Gesamtziffer  seiner  dramatischen 
Stücke  beläuft  sich  auf  98,  unter  denen  wir  74  sogenannte  Jidai-mono 
oder  romantisch -historische  und  24  Sewa-mono  oder  bürgerliche  Schau- 
spiele unterscheiden.  Die  Sewa-mono,  deren  erstes  1700  erschien,  waren 
mit  ihrer  realistischen  Darstellung  von  Vorgängen  aus  dem  Alltagsleben 
jedenfalls  für  das  Jöruri  eine  neue  Errungenschaft;  im  Kabuki  waren 
schon  seit  1678  einige  soziale  Stoffe  über  die  Bühne  gegangen.  Die 
bürgerlichen  Stücke  Chikamatsus,  besonders  die  nach  1703  verfaßten 
Liebestod-Tragödien,  verdienen  entschieden  den  Vorzug  vor  seinen  histo- 
rischen Dramen.  Letztere  bringen  uns  phantastische,  unmögliche  Hand- 
lungen ohne  rechte  Motivierung,  lebensunwahre  schematische  Charaktere, 
und  sind  zu  sehr  auf  grobe  opemhafte  Effekthascherei  gearbeitet;  in  den 
besseren  bürgerlichen  Dramen  aber  finden  wir  glaubhafte  Handlungen 
mit  verständlicher  Motivierung,  gute  Zeichnung  der  Charaktere,  besonders 
der  Frauen,  wirklich  dramatische  Konflikte,  deren  Entwicklung  nicht  mehr 
durch  Zufälligkeiten  und  äußere  Schicksalsmächte,  sondern  durch  das  sitt- 
liche Verhalten  der  handelnden  Personen  bestimmt  wird.  In  ihrer  schönen, 
poetischen,  sprachlich -stilistischen  Ausgestaltung  gehören  die  Dramen 
Chikamatsus  zu  den  besten  Werken  der  japanischen  Literatur.  Wir  nennen 
als  sehr  beliebte  Werke   seiner  Muse  die  historischen  Dramen  „Die  Frau 


IV.  Die  neuere  Zeit:  Renaissance  und  Blüte  der  Volksliteratur  (1600 — 1868).  287 

im  Schnee"  (1705),  „Die  Kämpfe  des  Kokusenya"  (17 15)  und  die  bürger- 
lichen Schauspiele  „Der  Liebestod  zu  Sonezaki"  (1703),  „Das  Gebet  bei 
der  Totenfeier"  (Uta-Nembutsu,  1709),  „Der  Eilbote  der  Unterwelt"  (17 11), 
„Die  himmlische  Strafe  in  Amijima"  (1720),  „Der  Frauenmord  in  der  Öl- 
handlung"  (1721).  Der  ungeheure  Erfolg  seiner  Stücke  beim  Publikum 
von  Osaka  ist  indessen  nicht  allein  auf  Rechnung  des  Dichters  zu  setzen, 
sondern  zum  Teil  auch  der  musikalischen  Bearbeitung  durch  seinen  Freund 
Gidayü  zuzuschreiben.  Die  Vortragsweise  dieses  Mannes,  welche  die 
besten  Eigenschaften  aller  bisher  aufgetretenen  Jöruri- Sänger  eklektisch 
in  sich  vereinigte  und  den  Namen  Gidayu  bekam,  ist  nicht  wieder  über- 
troffen worden  und  wurde  mit  der  Zeit  so  allgemein  beliebt,  daß  sie  alle 
anderen  Weisen  beinahe  vollständig  verdrängte.  Heute,  wo  das  Puppen- 
spiel-Jöruri  längst  nicht  mehr  besteht,  sondern  die  Jöruri  nur  noch  in  den 
zahlreichen  Konzerthallen  vorgetragen  werden,  bekommt  man  kaum  etwas 
anderes  als  „Gidayu"  zu  hören:  für  den  Durchschnittsjapaner  sind  Jöruri 
und  Gidayu  identische  Begriffe.  Als  Gidayu  sich  1704  wegen  Kränklich- 
keit vom  Theater  zurückzog,  übernahm  Takeda  Izumo  (1688 — 1756)  die 
Leitung  der  Takemoto-Halle.  Er  ist  ein  beachtenswerter  Dramatiker,  an 
poetischer  Begabung  zwar  seinem  Meister  Chikamatsu  nicht  gewachsen, 
hinsichtlich  seiner  dramatischen  Technik  aber  diesem  überlegen.  Seine 
in  der  Handlung  sehr  mannigfaltigen,  interessanten,  bühnenwirksamen 
Stücke,  im  ganzen  etwa  30,  hat  er  jedoch  selten  allein  ausgearbeitet. 
Seit  1723,  wo  er  den  Prinzen  Daitö  in  Kollaboration  mit  Bunködö  schrieb, 
arbeitete  er  seine  Dramen  gewöhnlich  mit  Namiki  Senryü  (Sösuke)  und 
dem  ehemaligen  Mönch  Miyoshi  Shöraku  in  der  Weise  aus,  daß  jeder 
von  ihnen  auf  Grund  eines  gemeinsam  entworfenen  Planes  einen  oder 
mehrere  Akte  selbständig  ausführte.  Die  Folge  solcher  Zusammenarbeit, 
welche  bei  den  Dramatikern  allgemeine  Sitte  wurde,  war  oft  Mangel  an 
künstlerischer  Einheit,  ja  geradezu  Konfusion.  Die  beiden  berühmtesten 
Schauspiele  Izumos  und  seiner  Genossen,  welche  noch  heute,  für  das 
Kabuki  bearbeitet,  zum  stehenden  Repertoire  jeder  Bühne  gehören,  sind 
das  Tenarai  Kagami  „Spiegel  der  Kalligraphie"  (1746),  die  Geschichte 
des  verbannten  Kanzlers  Sugawara  Michizane  und  seiner  Vasallen,  mit 
dem  hochtragischen  Terakoya-Akte,  und  das  Kana-dehon  Chüshingura 
(1748),  die  Rache  der  47  treuen  Ritter  von  Akao  an  dem  Feinde  ihres 
Lehnsherrn. 

Mit  dem  Takemoto-za  trat  das   1702  in   derselben  Straße  begründete    Das  neuere 

,       ,  ,  .  Schauspiel. 

Toyotake-za  in  immer  schärfere  Konkurrenz,  und  wie  um  jenes,  so  scharten 
sich  auch  um  dieses  zahlreiche  Sänger,  Puppenspieler  und  Dramatiker, 
unter  welch  letzteren  Ki  no  Kaion  (1663 — 1742),  ebenfalls  ein  ins  Welt- 
leben zurückgetretener  Bonze,  hervorragte.  Der  Wettbewerb  der  beiden 
Theater  in  der  Ausstattung  ihrer  Stücke  brachte  auch  das  Marionetten- 
spiel zur  höchsten  Pracht  und  Vollendung.  Trotz  ihrer  Bemühungen  ver- 
loren die  Puppentheater  von  den  sechziger  Jahren  an  allmählich  die  Gunst 

2-* 


-gg  KLarl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

des  Publikums  und  gerieten  zwischen  1780  und  1800  in  vollständigen  Ver- 
fall. Als  HauptgTÜnde  hierfür  haben  wir  zu  betrachten  die  Verschiebung 
des  literarischen  Mittelpunktes  aus  den  Weststädten  Osaka  und  Kyoto 
nach  der  östlichen  Shögun-Residenz  Yedo  in  der  Mitte  des  Jahrhunderts, 
und  den  großen  Aufschwung  des  Kabuki -Theaters,  welches  den  höher 
entwickelten  Geschmack  mehr  befriedigte  als  das  etwas  kindliche  Puppen- 
spiel. Das  bis  1700  so  rohe  Kabuki  hatte  sich  nämlich  inzwischen  unter 
dem  Einflüsse  des  Jöruri  stark  verändert.  Große  Anstrengungen  waren 
dazu  nicht  notwendig  gewesen,  denn  man  übernahm  einfach  die  für  das 
Puppentheater  geschriebenen  Jöruri  und  brachte  sie  leicht  umgearbeitet 
auf  die  Schaubühne.  Dabei  machte  man  sich  nicht  einmal  von  der  halb- 
epischen Technik  der  Jöruri  los,  sondern  ließ  den  von  den  Schauspielern 
übernommenen  eigentlichen  Dialog  von  Stelle  zu  Stelle  durch  einen  in 
einer  Proszeniumloge  untergebrachten  Sänger  (Jöruri — Katari)  und  einen 
Gitarrenspieler  begleiten.  Der  Sänger  beschreibt  sowohl  die  inneren  Ge- 
danken und  Gefühle  der  handelnden  Personen  als  die  äußeren  Vorgänge 
auf  der  Bühne,  oft  sogar  die  Gesten  der  Schauspieler,  was  bei  der  Dar- 
stellung durch  lebende  Menschen  statt  durch  tote  Puppen  nicht  nur  un- 
nötig, sondern  geradezu  lästig  ist  und  die  Schauspieler  öfters  zwingt,  eine 
Stellung  unnatürlich  lange  auszudehnen.  Sogar  bis  zur  Nachahmung  der 
immerhin  doch  eckigen  Gesten  der  Puppen  hat  man  sich  verstiegen.  In 
Yedo  hatte  das  Jöruri  noch  eine  kurze  Nachblüte  und  wurde  noch  mit 
Beifall  aufgeführt,  nachdem  man  im  Westen  schon  seiner  müde  geworden 
war.  Der  satirische  Hiraga  Gennai  (1723— 1779)  schrieb  in  den  sieb- 
ziger Jahren  die  letzten  literarisch  wertvollen  Jöruri.  Die  Produktion 
der  nächsten  Jahrzehnte  war  ganz  unbedeutend  und  erlosch  schließlich 
gegen  1820. 

Die  Schauspieler  benutzten  für  ihre  eigenen  Zwecke  Kyakuhon  ge- 
nannte Text-  und  Regiebücher,  worin  die  von  ihnen  zu  sprechenden 
Worte  und  genaue  szenische  Bemerkungen  mit  Ausschluß  der  Jöruri- 
Elemente  enthalten  waren.  Diese  unsem  europäischen  Dramen  am  näch- 
sten kommenden  Texte  verfaßten  sie  zuerst  selber,  dann  mit  Hilfe  von 
Jöruri-Schreibem;  endlich  traten  aber  besondere  Kyakuhon-Schreiber,  also 
eigentliche  Bühnenschriftsteller  hervor.  Die  namhaftesten  unter  ihnen, 
welche  ihre  Wirkungsstätte  alle  in  Yedo,  dem  nunmehrigen  Heim  der 
Dramatik  und  Xovellistik,  hatten,  sind  seit  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts: 
Tsuuchi  Jihei  (7  1760);  Horigoshi  Saiyö  (1723— 1772),  welcher  die 
noch  bestehende  Sitte  begründete,  zwischen  die  Akte  eines  Schauspiels 
einen  Jöruri-Akt  als  Zwischenspiel  einzuschalten;  Kanal  Sanshö  (seit 
1754  für  das  Xakamura -Theater  tätig),  dessen  soziale  Stücke  mit  span- 
nenden Fabeln  und  recht  geschicktem  Aufbau  auch  um  ihrer  schönen 
Sprache  willen  gepriesen  wurden;  der  gleichfalls  durch  seine  bürger- 
lichen Schauspiele  bekannte  vSakurada  Jisuke  (1734 — 1806),  welcher  die 
Hauptrollen  darin  dem  tüchtigen  Schauspieler  Matsumoto  Köshirö  eigens 


rV.  Die  neuere  Zeit:  Renaissance  und  Blüte  der  Volksliteratur  (1600 — 1868).  rjgq 

auf  den  Leib  schrieb,  auf  diese  Weise  größere  Bühnenwirkung  erzielte 
und  damit  Veranlassung  gab,  daß  sich  hinfort  Dichter  und  Schauspieler 
oft  eng  verbanden;  Namiki  Gohei  (1747 — 1808)  aus  Osaka,  welcher  den 
spezifisch  westlichen  Geschmack  nach  Yedo  verpflanzte;  Tsuruya  Nam- 
boku  (1755 — 1829),  der  für  den  in  Schauerrollen  unübertroffenen  Schau- 
spieler Kikugorö  III,  seine  Gespensterstücke,  z.  B.  das  noch  oft  gespielte 
„Gespenst  von  Yotsuya"  schrieb,  und  Mokuami  (18 16 — 1893),  der  ge- 
schätzteste Bühnendichter  der  neueren  Zeit.  Die  von  Sakurada  auf- 
gebrachte Mode,  die  Stücke  für  bestimmte  Schauspieler  zu  schreiben, 
hat  den  Dramen  als  Kunstwerken  sehr  großen  Abbruch  getan,  denn 
sie  machte  die  Dichter  zu  Sklaven  der  ungebildeten  und  eigensinnigen 
Schauspieler, 

Die  achtziger  Jahre  des  17.  Jahrhunderts  bescherten  dem  japanischen  Erzählende 
Volke  nicht  nur  seinen  berühmtesten  Dramatiker,  sondern  auch  einen 
der  begabtesten  Künstler  der  Erzählung,  Ihara  Saikwaku  (1642 — 1693) 
in  Osaka,  welcher  mit  seiner  1682  herausgekommenen  Erzählung  „Ein 
Lüstling"  den  modernen  naturalistischen  Zeit-  und  Sittenroman  einführte. 
Seine  lebensvollen,  mit  großer  sprachlicher  Gewandtheit  vorgetragenen 
Schilderungen  in  diesem  seinem  Erstlingswerk,  in  „Eine  wollüstige  Frau" 
und  „Fünf  Weiber  der  Lust"  (1686)  zeigen  eine  nicht  gewöhnliche  Kennt- 
nis des  Menschenherzens  und  sogar  poetische  Fähigkeiten,  offenbaren 
aber  auch  zugleich  einen  so  hohen  Grad  sittlicher  Haltlosigkeit  und  Lust 
am  Schmutzig-en,  daß  wir  zwar  den  Dichter  manchmal  bewundern,  dem 
Menschen  aber  unsere  Achtung  versagen  müssen.  Das  Verbot  seiner 
schlüpfrigen  Erzählungen  durch  die  Obrigkeit  führte  Saikwaku  auf  das 
Gebiet  der  Rittergeschichten  und  zu  Volkserzählungen  mit  lehrhafter 
Tendenz,  denen  zwar  das  Anstößige  seiner  früheren  Schriften,  aber  auch 
deren  literarische  Kunst  fehlte.  Mit  dem  ersten  naturalistischen  Sitten- 
schilderer  Saikwaku  ist  die  japanische  Novelle  modernen  Gehalts  sogleich 
mitten  in  die  Dekadenz  hineing-eraten  und  während  der  ganzen  Tokugawa- 
Zeit  auch  darin  stecken  geblieben.  Der  Mangel  an  sittlichen  Idealen  in 
der  breiten  Masse  des  Volkes,  vor  allem  in  der  Bürgerschaft  der  großen 
Städte,  die  in  der  langen  seit  1600  herrschenden  Friedenszeit  zu  nie  da- 
gewesenem Wohlstande  gelangte  und  einer  rein  materiellen  Auffassung 
des  Lebens  frönte,  verhinderte,  daß  die  Literatur,  die  jetzt  endlich  volks- 
tümliche Literatur  geworden  war,  einen  höheren  Aufschwung  nahm.  Unter 
den  vielen  realistischen  Erzählern  der  Tokugawa-Periode  ist  nicht  einer, 
der  in  der  Schilderung  der  sozialen  Zustände  seiner  Zeit  sich  aus  dem 
bloß  Stofflichen  losgerungen  und  ein  Problem  erfaßt  hätte,  wenn  es  auch 
nur  in  der  bescheidenen  Weise  gewesen  wäre,  wie  Chikamatsu  in  einigen 
seiner  bürgerlichen  Trauerspiele  die  Neigungen  des  Individuums  mit  den 
Satzungen  der  Gesellschaft  in  bewußten  Widerstreit  brachte.  Keiner  von 
ihnen  ist  seiner  Nation  ein  geistiger  Führer  geworden;  sie  haben  sich  alle 
von  dem  niedrigen  Geschmack  ihrer  Leser  am  Gängelbande  führen  lassen. 


^go  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

Xach  Saikwakus  Tode  traten  zwei  Männer  in  Kyoto  dessen  litera- 
rische Erbschaft  als  naturalistische  Novellisten  an:  der  Buchhändler  Andö 
Jishö  1^1066  — 1747)  und  der  herunterg'ekommene  Kaufmann  Ejima  Kiseki 
{1667 — 1736).  Eigentlich  verdient  nur  der  letztere  als  Schriftsteller  er- 
wähnt zu  werden,  denn  was  unter  Jishös  Namen  geht,  ist  größtenteils 
von  Kiseki,  im  übrigen  wohl  von  armen  Skribenten,  die  der  ehrgeizige 
Buchhändler  für  sich  schreiben  ließ,  verfaßt  worden.  Saftige  Kurtisanen- 
geschichten und  Schauspieler-Almanache  bildeten  die  Haupterzeugnisse 
des  Hachimonjiya -Verlags,  der  Fimia  Jishös.  Zu  ihnen  kamen  seit  der 
Zeit,  wo  Kiseki  vorübergehend  mit  Jishö  uneinig  war  (zwischen  17 14  und 
17 19),  seine  Bücher  selber  verlegte  und  mit  etwas  Brandneuem  die  Gunst 
der  Leserwelt  zu  erwerben  trachtete,  sogenannte  „Charakterschilderungen", 
worin  gewisse  Typen  der  bürgerlichen  Gesellschaft,  wie  „junge  Leute", 
„jiing-e  Mädchen",  „Väter",  „Handlungsdiener",  in  einer  Reihe  ergötzlicher 
Geschichten  vorgeführt  wurden.  Kiseki  besitzt  nicht  die  Anmut  Saikwakus, 
der  auch  dem  Niedrigen  oft  noch  einen  leidlichen  Anstrich  zu  geben  ver- 
steht, übertrifft  ihn  aber  an  Reichtum  der  Erfindung.  Nach  Kisekis  Hin- 
scheiden arbeitete  der  nicht  unbegabte  Toda  Nanrei  im  selben  Sinne  für 
Hachimonjiya;  mit  seinem  Tode  1750  war  die  leitende  Rolle  der  West- 
städte in  der  Literatur  ausgespielt  und  Yedo,  das  von  nun  an  eine  ähn- 
liche Bedeutung  für  Japan  gewann,  wie  Paris  für  Frankreich  oder  London 
für  England,  trat  an  ihre  Stelle. 

Da  Yedo  ein  sehr  starkes  Kontingent  Samurai  beherbergte,  so  war 
auch  der  Geist  der  übrigen  Bürgerschaft  kräftiger  und  martialischer  als 
beispielsweise  derjenige  der  Bewohner  von  Osaka,  der  Stadt  der  Kauf- 
leute und  Matrosen.  x'Vber  auch  hier  übte  die  zweifellos  höhere  Gesittung 
des  Kriegerstandes  doch  nur  wenig  Einfluß  auf  die  moralische  Gesinnung 
des  „Volkes".  Die  seit  den  siebziger  Jahren  in  Yedo  zahlreich  erschienenen 
reaUstischen  Novelletten  waren  ebenso  schlüpfrig  und  bezogen  ihre  Stoffe 
aus  denselben  verrufenen  Vierteln  wie  ihre  Vorgänger  in  Osaka  und  Kyoto. 
1791  schritt  die  Regierung  gegen  die  Schmutzliteratur  ein,  was  die  Folge 
hatte,  daß  die  realistische  Sittenschilderung  außer  im  komischen  Roman, 
der  seit  1802  zu  blühen  begann,  für  etwa  drei  Jahrzehnte  ruhte  und  die 
Novellisten  fast  nur  im  historisch-romantischen  Gebiete  arbeiteten.  Die 
beiden  bedeutendsten  Schriftsteller  dieser  Richtung  waren  der  Kaufmann 
Santo  Kyöden  (1761 — 1816)  und  Kyokutei  Bakin  (1767 — 1848).  Kyöden 
schrieb  anfangs  kleine,  obszöne  Dirnengeschichten,  die  viel  Beifall  fanden, 
und  wurde  wegen  Nichtachtung  des  Verbotes  vom  Jahre  1791  hart  be- 
straft. Nach  einigen  Jahren  des  Schweigens  kam  er  mit  großen  historisch- 
didaktischen Romanen  heraus.  Zwar  sind  sie,  um  die  grobe  Sensations- 
lust der  Leser  zu  befriedigen,  gar  sehr  mit  abenteuerlichen  Elementen 
vollgepfropft,  aber  doch  meist  im  Plan  geschickt  durchgeführt  und  ein- 
fach und  leicht  verständlich  geschrieben,  was  man  von  den  Werken  seines 
berühmteren  Zeitgenossen  Bakin  nicht  immer  sagen  kann.     Bakin  gilt  im 


IV.  Die  neuere  Zeit:  Renaissance  und  Blüte  der  Volkslileratur  (l6oo — 1868).  3g  i 

allgemeinen  als  der  größte  aller  japanischen  Romanciers.  Die  Frucht- 
barkeit dieses  fleißigen  und  kenntnisreichen  Mannes  aus  ritterlichem  Stande 
war  eine  erstaunliche.  In  den  60  Jahren,  die  er  literarisch  tätig  war,  hat 
er  beinahe  250  Werke  in  rund  2000  Bändchen  hervorgebracht.  Der  um- 
fangreichste und  berühmteste,  wenn  auch  nicht  gerade  beste  seiner 
Romane  ist  das  Hakkcnden  „Geschichte  der  acht  Hunde"  (18 14 — 1841)  in 
106  Bänden.  Noch  vor  Vollendung-  dieses  merkwürdigen  Buches  erblindete 
er,  setzte  aber  trotzdem  seine  Tätigkeit  bis  ans  Lebensende  fort.  Was 
man  von  jeher  an  Bakin  bewundert  hat,  ist  der  Reichtum  seiner  Phantasie 
und  die  schöne,  melodische,  oft  rhythmische  Sprache.  Auch  läßt  sich 
nicht  leugnen,  daß  sein  sittlicher  Ernst  ihn  vorteilhaft  von  den  übrigen 
Novellisten  seiner  Zeit  unterscheidet.  Er  vertritt  eine  strenge,  auf  kon- 
fuzianischen Ideen  mit  buddhistischen  Beimengungen  aufgebaute  Welt- 
anschauung. Indem  er  aber  überall  den  Grundsatz,  daß  das  Gute  ge- 
fördert und  das  Böse  gezüchtigt  werden  müsse,  allzu  systematisch  und 
einseitig  durchführt,  wird  er  oft  pedantisch,  langweilig  und  gezwungen. 
Er  beachtet  viel  zu  wenig  das  wirkliche  Leben,  schafft  nur  ideale  Ge- 
stalten ohne  Fleisch  und  Blut  und  ohne  menschliches  Interesse,  stößt  uns 
beständig-  durch  Schilderung  ganz  unmöglicher  Vorgänge  vor  den  Kopf. 
Trotz  dieser  großen  Schwächen  blieb  er  bis  ans  Ende  der  siebziger  Jahre 
der  unbestrittene  Abgott  des  Romane  lesenden  Publikums.  Dann  aber 
trat  unter  dem  Einfluß  der  allmählich  bekannt  werdenden  abendländischen 
Novellistik  ein  Umschwung  in  der  Wertschätzung  Bakins  ein,  und  wenig- 
stens eine  kleine  kritisch-denkende  Gruppe  eröffnete  mit  Heftigkeit  den 
Kampf  gegen  seine  Lehrhaftigkeit  und  gegen  seine  unmoderne  konfuzia- 
nische Ideenrichtung. 

Der  Japaner  hat  viel  Sinn  für  Humor  und  neigt  zu  einer  leichten, 
heiteren  Auffassung  des  Lebens.  Aber  chinesischer  und  buddhistischer 
Einfluß  haben  in  der  Literatur  das  ureigenste  Naturell  des  Japaners  lange 
nicht  zum  reinen  Ausdruck  gelangen  lassen.  Sein  Humor  drängt  sich 
daher  in  der  älteren  Dichtung  nicht  sonderlich  hervor.  Zum  erstenmal 
entfaltete  er  sich  frei  und  breit  in  den  mittelalterlichen  Possen,  den  Nö- 
Kyögen;  kleine  Erzählungen  mit  berechneter  komischer  Wirkung  kamen 
aber  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  und  komische  Romane 
am  Anfang  des  ig.  Jahrhunderts  zum  Vorschein.  1802  begann  Jippensha 
Ikku  (1765 — 1831),  der  die  nüchterne  Beamtenlaufbahn  einem  vagabun- 
dierenden Zigeunerleben  opferte,  den  Reiseroman  Hiza- kurige  „Auf 
Schusters  Rappen"  zu  veröffentlichen,  in  dem  zwei  übermütige,  etwas 
vulgäre  aber  harmlose  Burschen  aus  Yedo  die  Provinzen  durchstreifen 
und  allerhand  lächerliche  Abenteuer  erleben.  Der  ungeheure  Erfolg  ver- 
anlaßte  den  Verfasser,  bis  zum  Jahre  1822  verschiedene  Fortsetzungen 
folgen  zu  lassen  und  auch  sonst  noch  zahlreiche  Humoresken  zu  schreiben, 
die  jedoch  an  sein  Hiza-kurige,  vielleicht  das  ergötzlichste  Buch  der 
ganzen  japanischen  Literatur,  nicht  entfernt  heranreichen.    Gleichen  Ruhm 


2Q2  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

wie  Ikku  hat  sich  der  Buchhändler  Shikitei  Samba  (1775 — 1822)  als 
Humorist  erworben.  Er  ist  aber  von  anderer  Art.  Ikku  will  nur  zum 
Lachen  reizen,  Samba  dagegen  teilt  zugleich  nach  allen  Seiten  satirische 
Hiebe  aus.  Seine  bekanntesten  Schriften  sind  „Die  Welt  im  Badehaus" 
und  „Die  Welt  in  der  Barbierstube"  (1809 — 1812).  Eigentliche  Romane 
sind  sie  nicht,  denn  es  fehlt  an  einer  zusammenhängenden  Erzählung, 
sondern  lange  Reihen  von  Bildern  aus  dem  Volksleben,  wie  es  sich  an 
den  von  allen  Klassen  des  Volkes  damals  am  häufigsten  besuchten  zwei 
Stätten  des  alten  Yedo  abspielt,  nämlich  in  den  öffentlichen  Badeanstalten 
und  in  den  Barbierstuben.  Für  die  Kenntnis  der  Sitten  und  Gebräuche 
in  der  Tokugawa-Zeit  gibt  es  keine  anderen  Bücher,  die  so  lehrreich  und 
zugleich  so  unterhaltend  wären  wie  diese. 

Da  die  Obrigkeit  die  humoristischen  Sittenschilderungen  ohne  Ein- 
wand hingehen  ließ  —  und  Ikku  zum  Beispiel  verstand  im  Obszönen 
etwas  zu  leisten!  — ,  so  wagte  sich  auch  die  naturalistische  Novelle  wieder 
hervor.  Die  großen  Liebesromane  des  einäugigen  Buchhändlers  Tamenaga 
Shunsui  (1789  — 1842)  mit  ihren  lebenswahren  Schilderungen  der  Be- 
ziehungen der  Geschlechter  zueinander  boten  eine  willkommene  Abwechs- 
lung zu  den  didaktischen,  sich  in  romantischen  Dunst  verflüchtigenden 
Geschichten  Bakins.  Verbummelte,  ausschweifende  Gesellen  und  Lust- 
dimen  nahmen  in  der  erzählenden  Literatur  bald  wieder  die  herrschende 
Stellung  ein,  welche  ihnen  ehedem  von  Saikwaku  angewiesen  worden  war. 
Shunsui  fand  viele  Nachtreten  Der  Unfug  ihrer  liederlichen  Schreiberei 
\^-urde  schließlich  so  bedenklich,  daß  die  besorgte  Regierung  1842  aber- 
mals mit  Keulen  dreinschlug.  Shunsui  wurde  als  gefährlichster  Sitten- 
verderber  in  Handschellen  gelegt  und  starb  während  der  Haft.  Auch 
der  schriftstellemde,  sehr  begabte  Samurai  Ryütei  Tanehiko  (1783  bis 
1842)  wurde  von  dem  Verbot  mit  getroffen,  obwohl  er  nicht  zu  den 
naturalistischen  Liebesromantikern  gehörte.  Sein  182g  begonnener,  aber 
Fragment  gebliebener  und  vortrefflich  illustrierter  Roman  „Eine  Pseudo- 
Murasaki  und  ein  ländlicher  Genji"  ist  die  beste  Nachbildung  des 
klassischen  Genji  Monogatari  und  eines  der  Hauptwerke  der  Tokugawa- 
Literatur.  Die  nächstfolgenden  Jahrzehnte  bis  zum  Übergang  in  die 
neueste  Bewegung  unter  westlichem  Einfluß  haben  zwar  noch  viel  an 
Unterhaltungsschriften  hervorgebracht,  aber  wirklich  bemerkenswerte  Er- 
zähler alten  Stils  sind  nach  Shunsui,  Tanehiko  und  Bakin  nicht  mehr  zu 
verzeichnen. 
Gelehrte  Neben  der  volkstümlichen  Literatur,  an  der  die  gebildeten,  herrschen- 

Literatur. 

Sinologen  und  den  Klasseu,  die  Militärs  und  Beamten,  nur  ausnahmsweise  geringen  An- 

Japanologen. 

teil  nahmen,  ging  während  der  ganzen  Tokugawa-Zeit  noch  eine  gelehrte 
Literatur  in  chinesischer  oder  sinoj apanischer  Sprache  für  eben  jene  be- 
vorzugte Gesellschaftsklasse  einher.  Sie  knüpfte  an  die  Wiederbelebung 
der  chinesischen  Studien  um  1600  an.  Die  Lehren  des  Neukonfuzianismus 
in  Chuhischer  Fassung  wurden  als  maßgebend  fast  allgemein  angenommen 


V.  Die  neueste  Zeit  (seit   1868).  -jg^j 

und  von  der  Regierung  zur  Staatsphilosophie  erhoben.  Der  chinesische 
Geist  bemeisterte  durch  die  Sinologen  noch  einmal  für  mehrere  Jahr- 
hunderte das  japanische  Wesen,  und  selbst  die  japanische  sogenannte 
Kriegerethik  hat  nicht  viel,  das  nicht  auf  chinesische  (manchmal  auch 
buddhistische)  Inspiration  zurückginge.  Die  auf  die  allgemeine  Literatur 
einflußreichsten  Sinologen  waren  der  Pädagog  Kaibara  Ekken  (1630 — 17 14) 
und  der  im  höchsten  Verwaltungsdienst  tätige  Arai  Hakuseki  (1657 — 1725).  Arai. 
Beide  waren  überaus  fruchtbare  Autoren  auf  den  verschiedensten  Gebieten, 
und  man  kann  sich  kaum  einen  größeren  Kontrast  denken,  als  die  sittlich- 
ernsten Schriften  dieser  Männer  und  die  Pornographie  der  volkstümlichen 
Schriftsteller.  Die  Schogune  und  die  meisten  Feudalfürsten  bewährten  sich 
in  der  ganzen  Tokugawa-Periode  als  eifrige  Beförderer  von  Wissenschaft 
und  technischen  Künsten;  dagegen  fand  die  schöne  Literatur,  vom  Uta 
und  den  klassisch  -  lyrischen  Dramen  abgesehen,  leider  keine  Beachtung. 
Die  von  den  Sinologen  stark  übertriebene  Vorliebe  für  alles  Chine- 
sische rief  im  18.  Jahrhundert  eine  japanisch-patriotische  Gegenbewegung 
hervor,  welche  für  Literatur,  Philolog^ie  und  Religion  bedeutungsvoll  ge- 
worden ist.  Wie  die  Sinologen  das  chinesische  Altertum,  so  erforschten 
die  Japanologen  das  japanische.  Ihren  Arbeiten  ist  es  gelungen,  für  die 
Kultur,  Sprache  und  Dichtung  der  ältesten  Zeiten  uns  wieder  ein  richtiges 
Verständnis  zu  vermitteln.  Die  Namen  eines  Kamo  Mabuchi  (1697 — 1769) 
und  Motoori  Norinaga  (1730 — 1801),  zweier  echten  Gelehrten,  sind  mit 
ganz  besonderer  Hochachtung  zu  nennen.  Daß  sie,  und  noch  mehr  ihr 
begabter,  kenntnisreicher,  aber  die  wissenschaftliche  Ehrlichkeit  der  patrio- 
tischen Tendenz  opfernder  Nachfolger  Hirata  Atsutane  (1776 — 1843)  in  Atsutane. 
dem  Bestreben,  das  Japanertum  herauszustreichen,  das  Chinesentum  un- 
gebührlich verkleinern,  ist  eine  unter  den  Umständen  verzeihliche  Schwäche. 
Sie  bemühten  sich  auch,  den  durch  buddhistische  und  konfuzianische  Bei- 
mengungen fast  verwischten  Shintö  in  seiner  alten  Form  wiederherzu- 
stellen und  sind  damit  die  mächtigen  Vorarbeiter  der  „Reinigung"  des 
Shintö  und  seiner  Einsetzung  als  Staatsreligion  im  Anfang  der  gegen- 
wärtigen Meiji-Ära  geworden. 

V.  Die  neueste  Zeit  (seit  1868).  Der  Wiederaufschluß  des  Reiches  für  Die  Gegenwart, 
den  Verkehr  mit  dem  Auslande,  die  Beseitigung  des  Shogunats  und  die 
gleichzeitig  beginnende  Annahme  der  westlichen  Kultur  haben  in  Japan  eine 
Umwälzung  hervorgerufen,  die  an  Gewalt  und  Ausdehnung  sich  mit  jenen 
messen  kann,  welche  einst  durch  die  Übernahme  der  chinesischen  Kultur 
und  des  Buddhismus  bewirkt  wurden.  An  Stelle  des  chinesischen  Einflusses 
trat  jetzt  der  europäische,  und  wie  man  vorzeiten  die  jungen  Leute  zu 
ihrer  höheren  Ausbildung  nach  China  schickte,  so  sandte  man  sie  nun  zu 
gleichem  Zwecke  nach  Europa  und  Amerika.  Der  Einfluß  des  Okzidents 
hat  sich  zunächst  in  politischen,  gesetzgeberischen,  erzieherischen  Reformen, 
in    der    Neubildung    von   Heer    und   Flotte,    in    der  Aneignung   der   mate- 


^Q  I  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

riellen  Vorteile  der  modernen  westlichen  Kultur  geltend  gemacht.  Allmäh- 
lich ist  auch  das  innere  Wesen  der  Japaner  von  der  Geistes-  und  Gefühls- 
welt Europas  berührt  worden,  und  es  steht  zu  erwarten,  daß  auch  die 
unserem  hohen,  materiellen  Aufschwung  zugrunde  liegenden  feineren, 
idealen  Elemente  und  Kräfte  tiefer  eindringen  werden.  Die  Einsichtigen 
haben  längst  beg'riffen,  daß  es  mit  der  bloßen  Nutzanwendung  der  fertigen 
Resultate  fremder  geistiger  Arbeit  nicht  getan  ist. 
Der  europäische  Im    erstcn   Tahrzchnt    der   neuen   Zeit    (Meiii-Ära,  seit   1868)    war    die 

Einfluß     in    der  .  .  .  .  ^ 

Noveiiistik.  Nation  ZU  sehr  mit  staatsrechtlichen  und  volkswirtschaftlichen  Reformen 
beschäftigt  und  die  allgemeine  Gemütsstimmung  zu  unstet  und  zerrissen, 
als  daß  die  schöne  Literatur  dabei  hätte  Fortschritte  machen  können.  Die 
geschmacklosen  Xachtreter  Bakins,  Ikkus  und  Shunsuis  beherrschten  noch 
das  Feld.  Dem  eifrig  betriebenen  Studium  der  fremden  Sprachen,  beson- 
ders des  Englischen,  welches  das  wichtigste  Bildungsmittel  des  Jung- 
japanertums  wurde,  folgte  jedoch  eine  in  steigender  Progression  zu- 
nehmende Übersetzung'sliteratur.  Zuerst  übertrug  man  nur  Bücher  und 
Aufsätze,  die  für  die  praktischen  Bestrebungen  und  für  Erziehung  und 
Wissenschaft  in  Betracht  kamen,  und  solche  verdienstvolle  Männer  wie 
der  nüchtern  denkende,  klar  und  eindrucksvoll  schreibende  „Weise  von 
Mita",  Fukuzawa  Yükichi,  ein  warmer  Verehrer  alles  Angelsächsischen, 
und  der  als  erster  auf  die  deutsche  Geisteswelt  energisch  hinweisende 
Katö  Hiroyuki,  zeitweilig  Rektor  der  Kaiserlichen  Universität  zu  Tokyo, 
standen  zur  Literatur  in  keiner  unmittelbaren  Beziehung.  Gegen  1879 
hatten  sich  die  Verhältnisse  so  weit  gefestigt,  daß  auch  an  eine  Reform 
der  Dichtung  gedacht  werden  konnte.  Man  begann  europäische  Erzäh- 
lungen zu  übersetzen,  hauptsächlich  neuere  englische  Romane  von  Lytton, 
Scott,  Disraeli.  Littons  Ernest  Maltravers  machte  den  Anfang  (1879).  Es 
wurden  im  allgemeinen  solche  Erzeugnisse  begünstigt,  in  denen  sich 
volksrechtliche  Tendenzen  bemerkbar  machten,  und  die  Übersetzer  waren 
auch  fast  alle  politische  Schriftsteller.  Die  Zeitungen,  deren  erste  1872 
das  Licht  der  Welt  erblickte,  und  die  etwas  später  begründeten  Zeit- 
schriften wurden  die  Hauptverbreiter  der  Literatur.  An  den  europäischen 
Romanen  gefiel  die  realistische  Schilderung  und  die  edlere,  gedanken- 
vollere Darstellung.  Von  ihren  Vorzügen  und  ihrem  Wesen  bildete  sich 
zuerst  Tsubouchi  Yüzö  klare  Vorstellungen.  In  seinem  kleinen  Buche 
„Geist  und  Kern  der  Romanliteratur"  (1886)  besprach  dieser  gute  Kenner 
der  englischen  Literatur  die  Anforderungen,  die  man  an  einen  Roman  zu 
stellen  habe,  verwarf  die  Schule  Bakins  mit  ihrer  phantastischen  Unwahr- 
heit und  lenkte  das  Augenmerk  der  vSchriftsteller  auf  die  realistische 
Schilderung  von  Menschencharakteren,  Sitten  und  Zuständen  der  Zeit. 
Vom  Erscheinen  dieser  Schrift,  welche  den  größten  Eindruck  machte, 
rührt  eine  neue  Ära  der  japanischen  Noveiiistik  her,  die  sich  seitdem 
wesentlich  in  der  von  Tsubouchi  angegebenen  Richtung  entwickelte.  In 
eigenen  Novellen  wie  „Studentent)^pen"  (1885/86)  bewies  der  Kritiker,  daß 


V.  Die  neueste  Zeit  (seit   1868).  ?q5 

er  nicht  nur  niederreißen,  sondern  auch  aufbauen  konnte.  Daß  er, 
ein  Graduierter  der  Kaiserlichen  Universität  und  somit  ein  Mann  des 
ang'esehensten  Standes,  unter  die  Romanschreiber  ging-,  die  in  der  Toku- 
gawa-Zeit  ähnlich  wie  die  Dramatiker  und  Schauspieler  eine  fast  verachtete 
Stellung  einnahmen,  hat  die  ganze  Zunft  gesellschaftlich  auf  eine  höhere 
Stufe  gehoben.  Heute,  nach  Verlauf  eines  weiteren  Vierteljahrhunderts, 
braucht  sich  niemand  mehr  seines  schriftstellerischen  Berufes  zu  schämen. 

Auf  der  von  Tsubouchi  eingeschlagenen  Bahn  des  Realismus  folgten 
zahlreiche  junge  Schriftsteller,  unter  denen  Yamada  Bimyösai,  Ozaki  Köyö 
und  Köda  Rohan  die  namhaftesten  sind.  Ersterer  schuf  auch  einen  ganz 
neuen  Stil,  indem  er  statt  der  etwas  altertümlichen  Schriftsprache,  die 
grammatisch  und  lexikalisch  von  der  gesprochenen  Sprache  ziemlich  stark 
abweicht,  sowohl  in  seinen  Novellen  als  in  seinen  Gedichten  eine  der 
modernen  Umgangssprache  sehr  nahekommende  Schreibweise  (Gembun- 
itchi,  Verschmelzung  von  Schrift-  und  Umgangssprache)  wählte.  Er  fand 
damit  Beifall  und  Nachahmer,  unter  ihnen  anfangs  Köyö;  aber  da  die 
bisher  stilistisch  sehr  vernachlässigte  Umgangssprache  sich  natürlich  nicht 
im  Handumdrehen  zu  einem  literarischen  Werkzeug  desselben  Ranges 
wie  die  jahrhundertelang  gepflegte  Schriftsprache  vollenden  ließ,  und 
Köyö  und  Rohan  zeitweise  auf  Stil  und  Sprache  des  200  Jahre  älteren 
Saikwaku  zurückgriffen  und  damit  größeren  Erfolg  hatten,  wurde  Bimyösai 
und  das  Gembun-itchi  wieder  in  den  Hintergrund  gedrängt.  Der  leicht- 
blütige Köyö  (gest.  1903)  ließ  sich  durch  Saikwakus  Einfluß  mehrfach  zu 
bedenklichem  Naturalismus  verleiten,  während  der  charaktervolle  Rohan 
nie  ans  Vulgäre  streifte.  Rohan  schildert  mit  Vorliebe  geniale,  hoch- 
strebende Menschen,  starken  Willen  und  glühende  Leidenschaft,  und  seine 
Figuren  unterscheiden  sich  vorteilhaft  von  den  meist  schwachen,  charakter- 
losen Gestalten  der  anderen  Novellisten.  Er  ist  der  begabteste  Dichter 
der  Gegenwart  und  geht  seine  eigenen  Wege,  unbekümmert  um  die  gerade 
herrschende  Richtung. 

Die  von  den  Realisten  behandelten  Stoffe  waren  im  Durchschnitt 
keine  bedeutenden.  Es  gelang  ihnen  selten,  sich  über  das  Alltägliche  zu 
erheben,  und  den  Problemen  der  Zeit  standen  sie  verständnislos  gegen- 
über. Erst  in  den  letzten  Jahren  haben  einige  wie  Tokutomi  Rokwa  und 
Kinoshita  Naoe  den  Versuch  gemacht,  wichtige  soziale  Fragen  in  ihren 
Romanen  zu  behandeln.  Die  oft  ausgesprochene  Sehnsucht  nach  lesens- 
werten historischen  Romanen  ist  noch  ungestillt  geblieben,  aber  eine 
romantische  Richtung  hat  sich  als  Reaktion  gegen  das  Einförmige  und 
die  nüchterne  Verstandesmäßigkeit  der  Realisten  in  den  neunziger  Jahren 
wieder  bemerkbar  gemacht.  Der  chinesisch -japanische  Krieg  1894/95 
zeitigte  einige  wertlose  Kriegsnovellen;  der  Krieg  von  1904/05  hat  meines 
Wissens  bisher  nur  lyrischen  Widerhall  gefunden.  Mögen  die  modernen 
Novellisten  eine  fremde  Sprache  verstehen  oder  nicht,  der  europäische 
Einfluß  ist  überall  mehr  oder  weniger  deutlich  fühlbar.     Europäisch  heißt 


^q5  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

von  vornherein  Englisch.  Aber  besonders  durch  den  als  Novellist,  Dra- 
matiker und  Kritiker  tätigen  deutschgebildeten  Militärarzt  Mori  Ogai  hat 
seit  etwa  zwanzig  Jahren  auch  die  deutsche  Literatur  immer  wachsenden 
Einfluß  gewonnen.  Höheren  Wert  als  seine  eigenen  Dichtungen  haben 
Moris  vortreifliche  Übersetzungen,  mit  denen  er  der  eigentliche  Begründer 
der  Übersetzungskunst  in  Japan  geworden  ist.  Diese  Kunst  wird  sonst 
sehr  dilettantisch  betrieben;  die  Sucht,  alles  zu  japanisieren  und  dadurch 
meist  gründlich  zu  entstellen,  auch  mangelhaftes  philologisches  und  ästhe- 
tisches Verständnis  der  Originale,  steht  ihrer  Entwicklung  noch  im  Wege. 
Für  die  sehr  beliebten  französischen  Erzähler  Hugo,  Verne,  Dumas, 
Zola  usw.  haben  gewöhnlich  englische  Versionen  den  Vermittler  gespielt. 
Seit  igoi  begann  man  auch  die  Russen  (Tolstoi)  zu  beachten,  und  gleich- 
zeitig versetzte  der  von  einigen  Nervösen  betriebene  Nietzsche-Kult  die 
japanische  Literatur  in  nicht  g'eringe,  aber  schnell  vorübergehende  Auf- 
regung. 
Die  neue  L>Tik.  Vielversprechende  Neuerungen  sind   auf  dem  Gebiete   der  Lyrik  und 

im  Epischen  kleineren  Stils  vorgenommen  worden.  Auch  hier  waren  es 
die  europäischen  Vorbilder,  welche  den  Gedanken  zur  Reform  eingaben. 
Es  ist  das  bleibende  Verdienst  der  Professoren  Toyama,  Yatabe  und 
T.  Inouye,  daß  sie  mit  dem  Monopol  des  Tanka  aufgeräumt,  größere  Ge- 
dichte lyrischen  und  epischen  Inhalts  und  Strophenbildungen  eingeführt 
und  die  moderne,  mit  Chinesisch  gemischte  Schriftsprache  zum  Ausdrucks- 
mittel der  Poesie  erhoben  haben.  Zwar  waren  ihre  eigenen  Leistungen, 
größtenteils  Übersetzungen  englischer  Gedichte,  im  Shintaishi-shö  „Aus- 
wahl von  Gedichten  modernen  Stils",  1882,  wenig  lobenswert  und  er- 
fuhren deshalb  auch  viel  abfällige  Kritik,  aber  das  Eis  war  doch  ge- 
brochen, und  trotz  häufiger  Mißerfolge  unter  den  Händen  unberufener 
Dichterlinge  hat  das  „moderne  Gedicht"  schon  so  viel  Boden  gewonnen, 
daß  man  es  getrost  als  das  Gedicht  der  Zukunft  bezeichnen  darf,  welches 
zwar  das  Tanka  und  Haikai  nicht  völlig  verdrängen,  aber  doch  als  be- 
deutendere Gattung  beiden  voranstehen  wird.  Das  Hübscheste  leistete 
von  den  älteren  Shintaishi-Dichtern  der  schon  genannte  Yamada  Bimyösai, 
der  sich  auch  im  Gedicht  des  Gembun-itchi  bediente;  und  weiterhin  ist 
Toyamas  „Totenkranz"  (i8qi),  eine  episch -lyrische  Erinnerung  an  das 
schreckliche  Ansei-Erdbeben,  wohl  erwähnenswert.  Seine  für  ausdrucks- 
volle Deklamation,  die  er  statt  des  herkömmlichen  monotonen  Abschnurrens 
der  Verse  einzuführen  gedachte,  bestimmten  Gedichte  in  Halbprosa  waren 
ein  Schlag  ins  Wasser;  man  fand  sie  zu  unpoetisch.  Nachdem  das  Interesse 
am  Shintaishi  einige  Jahre  lang  fast  auszulöschen  drohte,  trat  Mitte  der 
neunziger  Jahre  eine  neue  Bewegung  zu  seinen  Gunsten  ein.  Die  metrische 
Form,  ursprünglich  nur  Sieben-Fünfsilber,  wurde  mannigfaltiger,  der  Ton 
frischer  und  schlichter  durch  gelegentliche  Anlehnung  an  die  Volkslieder. 
Vom  Ende  des  chinesischen  Krieges  bis  gegen  1900  blühte  eine  Gefühls- 
lyrik voll  von  naiver,  träumerischer  Liebessehnsucht  und  Naturschwärmerei, 


V.  Die  neueste  Zeit  (seit   l868).  ^gy 

deren  Hauptrepräsentanten  die  Anthologie  Hana-Momiji  „Blüten  und  Herbst- 
blätter" (1896)  von  Omachi,  Takejima  und  Shioi,  und  die  vier  Gedicht- 
sammlungen (Wakana-shu  1897  als  erste)  von  Shimazaki  Töson  sind.  Gleich- 
sam als  Widersacher  der  weichlich-gefühlsseligen  Richtung  dieser  Dichter 
schlug  Doi  Bansui  in  seinen  1899  erschienenen  Gedichten,  worunter  auch 
Episches,  Balladenförmig^es,  einen  kräftig'eren ,  männlicheren  Ton  an.  Um 
Yasano  Tekkan,  der  seit  1900  die  literarische  Zeitschrift  Myöjö  „Heller 
Stern"  herausgibt,  scharten  sich  einige  leidenschaftliche  Erotiker,  die  man 
gewöhnlich  die  Stern-Veilchen-Schule  nennt,  da  Sterne,  Veilchen  und  der- 
gleichen ihre  Lieblingssymbole  der  Liebe  sind.  Die  Minnelyrik  Tekkans 
und  seiner  begabten  Frau  Shöko  weist  stark  sinnliche  Züge  auf.  Beide 
sind  aber  weniger  im  Shintaishi,  als  im  modernisierten  Tanka,  das  sich 
auch  chinesischer  Lehnwörter  bedient  und  die  gesetzmäßige  Zahl  von 
31  Silben  öfters  um  einige  Silben  überschreitet,  bedeutend.  Die  hervor- 
ragendsten Dichter  der  Stern-Veilchen-Schule  sind  Kambara  Yumei  und 
Susukida  Kyükin.  Sie  haben  das  Shintaishi  sowohl  formell  als  inhaltlich 
weiter  entwickelt.  Mit  dem  alten,  etwas  zum  Gassenhauer  neigenden 
Rhythmus  Sieben-fünf  und  Fünf-sieben  haben  sie  fast  aufgeräumt  und  an 
ihre  Stelle  wohlklingendere  Verse  von  Sieben-vier  und  Sechs-fünf  gesetzt. 
Auch  haben  sie  einen  festen  Strophenbau  eingeführt.  Ihre  Strophe  be- 
steht aus  zwei  Stollen  mit  einer  Zäsur  dazwischen,  der  erste  Stollen  aus 
acht,  der  zweite  aus  sechs  Versen.  Sie  ist  also  offenbar  eine  Nachahmung 
des  europäischen  Sonetts,  natürlich  ohne  Reime.  Inhaltlich  ist  die  neuer- 
dings von  ihnen  gezeigte  Vorliebe  für  Stoffe  aus  der  japanischen  Mytho- 
logie und  ein  mystisch  -  symbolischer  Zug  bemerkenswert.  Dies  hängt 
damit  zusammen,  daß  überhaupt  im  letzten  Jahre  (1905)  vom  französischen, 
deutschen  und  englischen  Symbolismus  viel  g-eredet  und  geschrieben  und 
dafür  und  dagegen  gekämpft  worden  ist.  Die  Shintaishi -Dichtung  steht 
somit  jetzt  im  Mittelpunkt  des  poetischen  Interesses,  obgleich  auch  das 
altklassische  Tanka  von  der  Partei  des  O-uta-dokoro,  des  Gedichtsamtes 
am  kaiserlichen  Hofe,  wie  vordem  gepflegt  wird.  Die  Majestäten  selber 
huldigen  eifrig  dem  Tanka -Sport.  Zahlreiche  Autoren  wetteifern  mit- 
einander, und  der  Markt  wird  mit  Gedichtsammlungen  überschwemmt. 
Der  Ausblick  ist  hoffnungsvoll.  Eine  gesunde  Weiterentwicklung  ver- 
langt aber  vor  allem,  daß  sich  die  Dichter  von  dem  vielfach  unklaren 
Gefühlsdusel  und  der  beliebten  Dämmerhaftigkeit  der  Vorstellungen  los- 
machen. Es  ist  auch  ein  Hang  bemerkbar,  im  Gegensatz  zu  der  Wort- 
kargheit der  früheren  Dichtungen  sich  jetzt  in  ungemessene  Breite  zu 
verlieren.  Und  noch  eins:  das  modernste  Shintaishi  hat  sich  zu  sehr  zur 
reinen  Kunstdichtung  entwickelt,  die  nur  von  wenigen  Gebildeten  ge- 
nossen werden  kann.  Die  Kluft  zwischen  Volk  und  Dichtung  ist  eher 
weiter  als  enger  geworden. 

Zum  großen  Epos   scheinen   sich  die  japanischen  Dichter  noch  nicht 
aufschwingen  zu   können.     Der   schon  genannte  T.  Inouye   hat   in  seinem 


jog  KL\IU.  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

chinesisch  geschriebenen  romantischen  Epos  „Weißaster",  das  von  dem 
Japanologen  Ochiai  Xaobumi  in  elegante  altjapanische  Verse  übertragen 
wurde,  schon  1884  ein  nachahmenswertes  Beispiel  gegeben;  er  hat  sich 
auch  1896  an  die  Schaifung  eines  großen  japanischen  Epos  „Das  Lied 
vom  Berge  Hinu"  gemacht,  ist  aber  in  den  Anfängen  stecken  geblieben. 
Nachfolger  hat  er  bisher  nicht  g'efunden,  doch  könnten  sich  aus  solchen 
Arbeiten  wie  ^lizoguchi  Hakuyös  neuerdings  veröffentlichter  Versifizierung 
von  Kikuchi  Yühös  Roman  „Eigene  Schuld"  neue  Anfänge  zum  Versepos 
ergeben. 
Reform  des  Auch  das  japanische  Drama  und  Theater  ist  an  einem  Wendepunkte 

Dramas   und  .  -^^  .     ,   ,  ,  -p^  .  .  <-•     i      • 

Theaters,  semcr  Entwicklung  angelangt.  Den  ersten  wichtigen  Schritt  taten  der 
Direktor  Morita  Kanya  und  der  berühmte  Schauspieler  Danjürö  dadurch, 
daß  sie  sich  bemühten,  das  anständige  Publikum  zu  interessieren  und 
herbeizuziehen.  1888  spielte  Danjürö  sogar  im  Hause  des  Grafen  Inouye 
vor  dem  Kaiser  und  der  Kaiserin-Witwe.  Damit  war  der  Bann  der  Ver- 
achtung, welcher  bisher  auf  dem  Schauspielerstande  geruht  hatte,  hinweg- 
genommen. Die  Truppen  Danjürös,  Kikugorös  usw.  führten  im  allgemeinen 
noch  die  alten  Stücke  aus  der  Tokugawa-Zeit  auf,  nebst  einigen  neueren 
von  Fukuchi,  Yoda  und  Mokuami,  die  aber  im  bisherigen  Gleise  liefen. 
Man  wurde  des  alten  Dramas  nach  und  nach  mit  Recht  überdrüssig.  Es 
fehlte  ihm  an  Einheit  der  Handlung,  es  war  voll  von  romantischen  Über- 
spanntheiten und  unmöglichen  Vorgängen,  ungenügend  in  der  Charakteristik, 
niedrig  im  Geschmack,  oft  obszön,  bombastisch  in  der  Sprache;  im  ganzen 
nur  auf  gekünstelte  Bühneneffekte  gearbeitet,  ohne  Kunstwert.  Diese 
Mängel  zu  beseitigen,  sind  in  den  letzten  20  Jahren  von  Schriftstellern 
und  Schauspielern  viele  Versuche  unternommen  worden,  und  es  läßt  sich 
gar  nicht  leugnen,  daß  man  Fortschritte  gemacht  hat,  wenn  die  Resultate 
der  Bemühungen  auch  noch  sehr  weit  hinter  den  Erwartungen  zurück- 
geblieben sind.  Die  Reformen  wurden  meist  mit  hochtönenden  Phrasen 
verkündet,  aber  mit  ganz  unzureichenden  Kräften  ausgeführt.  Unter  den 
von  Schauspielern  ausgehenden  Bewegungen  erregte  die  der  Söshi-Schau- 
spieler,  einer  Gruppe  politisch  unzufriedener  Leute,  welche  sich  auf  der 
Bühne  auszutoben  gedachten,  unter  Kawakamis  Führung  das  meiste  Auf- 
sehen. Sie  spielten  Stoffe  aus  der  Meiji-Revolution,  dramatisierte  Zeitungs- 
romane und  Bearbeitungen  europäischer  Novellen  und  Theaterstücke.  1893 
ging  Kawakami,  nachdem  er  sich  mit  Frau  Sada  Yakko  vermählt  hatte, 
zum  erstenmal  nach  Frankreich.  Der  extreme  Naturalismus,  die  geschmack- 
lose Neuerungssucht,  der  unkünstlerische,  tobende  Dilettantismus  dieser 
Leute  fand  in  Japan  seinerzeit  nur  bei  der  ungebildeten  Menge  Beifall. 
Daß  man  sie  in  Europa  als  typische  Vertreter  der  japanischen  Schauspiel- 
kunst pries,  war  eine  seltsame  Verirrung.  Zwar  haben  sie  sich  in  den 
letzten  Jahren  gemäßigt  und  vervollkommnet,  aber  die  Schauspieler  der 
alten  Schule  werden  hier  trotz  des  schweren  Verlustes  durch  den  Tod 
Danjürös  und  Kikugorös   1903   und  Sadanjis   1904  noch  immer  höher  ein- 


V.  Die  neueste  Zeit  (seit  1868).  200 

geschätzt.  Den  ersten  allgemeineren  Erfolg  errangen  die  Söshi  nach  dem 
chinesischen  Kriege  mit  ihren  Kriegsdramen,  doch  wirkte  auch  hier  mehr 
die  gereizte  patriotische  Begeisterung  zu  ihren  Gunsten. 

Die  modernen  Dramen,  welche  in  den  letzten  zehn  Jahren  über  die 
Bühne  gingen,  sind  teils  Bearbeitungen  europäischer  Stücke,  wie  Shake- 
speares „Othello",  „Hamlet",  „Kaufmann  von  Venedig",  Molieres  „Geiziger", 
Maeterlincks  „Monna  Vanna",  teils  Dramatisierungen  europäischer  und 
neuester  japanischer  Romane,  teils  Originalstücke.  Von  dramatisierten 
Romanen,  welche  mit  Beifall  aufgenommen  wurden,  seien  hervorgehoben 
Köyös  „Dämon  Gold",  Tokutomi  Rokwas  „Hototogisu"  und  „der  Kuroshiwo", 
Kikuchi  Yühös  „Eigne  Schuld"  und  „die  Milchgeschwister",  Tag^chi 
Kikuteis  „die  Gräfin"  und  „Meoto-nami",  Es  sind  gewöhnlich  rührsame 
Familienstücke  mit  moralisierender  Tendenz  im  Ifflandschen  und  Birch- 
pfeifferschen  Genre.  1897  wurden  zum  erstenmal  durch  Iwaya  Sasanami 
für  die  Jugend  Märchendramen,  darunter  der  „Reineke  Fuchs",  auf  die 
Bühne  gebracht. 

Tsubouchi  und  Mori  haben  auch  bei  der  Reform  des  Dramas  ihre 
starke  Hand,  sowohl  in  der  Kritik  als  in  eigenem  dichterischen  Schaffen, 
gezeigt.  Tsubouchi  griif  erst  die  Unzulänglichkeiten  des  alten  Schau- 
spiels an,  dann  schrieb  er  selber  mehrere  historische  Dramen:  „Maki  no 
Kata",  als  ersten  Teil  einer  unvollendet  gebliebenen  Trilogie,  worin  er 
die  Intrigen  der  Höjö  gegen  die  Minamoto- Familie  behandelte,  „Kiri 
Hito-ha"  und  „Kojöraku-getsu",  welche  den  tragischen  Untergang  des 
Hauses  Toyotomi  zum  Gegenstand  haben.  Es  sind  nicht  gerade  gewaltige, 
erschütternde  Tragödien,  aber  die  Charakteristik  einzelner  Personen  und 
das  geschichtliche  Kolorit  sind  ihm  gut  gelungen  und  die  Sprache  ist 
edel  und  anmutig.  Wiederholt  hat  er  sich  an  Shakespeare  versucht.  Den 
„Julius  Cäsar"  hat  er  früher  als  Jöruri  bearbeitet,  später  auch  gediegenere 
und  sorgfältige  Übersetzungen  des  „Macbeth"  und  „Hamlet"  angestrebt.  Mori 
wies  mit  aller  Entschiedenheit  auf  das  europäische  Drama  als  Vorbild 
hin.  Von  seinen  zahlreichen  vortrefflichen  Übersetzungen  erwähnen  wir 
Lessings  „Philotas"  und  „Emilia  Galotti"  und  Calderons  „Stadtrichter  von 
Zalamea".  Sein  Originaldrama  in  modernen  Versen,  das  „Ninin  Urashima" 
(1892)  hat  zwar  bei  der  Aufführung  wegen  seiner  spärlichen  äußeren 
Handlung  und  der  langen  Dialoge  und  Monologe  keine  Anziehungskraft 
bewiesen,  ist  aber  sonst  mit  Recht  als  eine  tüchtige  Leistung  anerkannt 
worden.  Wie  dieses  Drama  folgt  der  üblichen  europäischen  Technik  auch 
das  Schauspiel  „Kokoro"  von  T.  Kitazato,  der  während  seines  Studien- 
aufenthalts in  Deutschland  schon  mehrere  beachtenswerte  Stücke  in  deut- 
scher Sprache  veröffentlicht  hat.  Vergleicht  man  die  modernen  Werke 
mit  den  älteren  Kabuki,  so  ergibt  sich  in  erster  Linie  die  Absicht,  durch 
Entfernung  der  lyrisch-epischen  Jöruri -Elemente  zu  einer  reinen  drama- 
tischen Form  zu  gelangen.  Die  neueste  Phase  hat  wieder  Tsubouchi 
durch    seine    1905    erschienene    Abhandlung   über    das   „Musikdrama"    ein- 


iQO  Karl  Florenz:  Die  japanische  Literatur. 

geleitet,  in  der  ihm  die  Schaffung-  eines  nationalen  Dramas  nach  Analogie 
der  Richard  Wagnerschen  Musikdramen  vorschwebt.  Die  Tanzpantomime, 
also  gerade  das  von  Wagner  verworfene  Opernballett,  soll  darin  eine 
hervorragende  Rolle  spielen.  Es  scheint  aber,  daß  Tsubouchi,  der  unsers 
Wissens  das  Musikdrama  aus  eigener  Anschauung  nicht  kennt,  diesmal 
durch  rein  theoretische  Klügeleien  auf  Abwege  geraten  ist,  und  seine 
Ausführungen  ermangeln  der  wünschenswerten  Klarheit.  Als  Muster  der 
von  ihm  gedachten  neuen  Gattung  hat  er  zwei  Stücke  veröffentlicht,  den 
„Shinkyoku  Urashima"  (Nov.  1904),  auf  die  bekannte  altjapanische  Rip 
van  Winkle -Sage  gegründet,  und  „Kaguya-hime",  die  Mondfee,  eine 
satirisch  angehauchte  Dramatisierung  des  ältesten  japanischen  Märchen- 
romans Taketori  Monogatari  (Nov.   1905). 

Die  reformatorischen  Absichten  erstrecken  sich  ferner  auf  die  Neu- 
bildung eines  gebildeteren  Schauspielerstandes  und  die  Zulassung  von 
Frauen  als  Darstellerinnen  der  Frauen.  In  einigen  Truppen  ist  die  letztere 
Forderung  bereits  verwirklicht  worden.  Schließlich  denkt  man  auch 
daran,  dem  Drama,  dessen  Bedeutung  als  poetisches  Kunstwerk  und 
ästhetisches  Erziehungsmittel  des  Volkes  allmählich  einleuchtet,  weihe- 
vollere Stätten  als  die  jetzigen  Theater  zu  bereiten,  und  spricht  von  der 
Errichtung  eines  großen  nationalen  Schauspielhauses  nach  westlichem 
Muster. 


Literatur. 

Als  auf  selbständigem  Quellenstudium  fußende  Darstellungen  der  japanischen  Literatur 
sind  bisher  nur  zu  nennen: 

W.  G.  Aston,  A  History  of  Japanese  Literature  (London,   1899).    " 

TOMITSU  Okasaki,    Geschichte  der  japanischen  Nationalliteratur  von  den  ältesten  Zeiten 

bis  zur  Gegenwart  (Leipzig,   1899).     (Eine  ziemlich  dürftige  Zusammenstellung.) 
K.  Florenz,    Geschichte    der   japanischen   Literatur.     Bis   jetzt    erschienen    L  Halbband 

(Leipzig,   1905).     (Band  X  der  Literaturen  des  Ostens  in  Einzeldarstellungen.) 


Die  Kultur  der  Gegenwart.     I.  7.  26 


REGISTER. 

\'on  Dr.  Richard  Böhme. 


Bei  mehrfach  angeführten  Namen  und  Stichworten  sind  die  Hauptstellen  durch  einen  Stern  bezeichnet. 


'Abdullah  bnu  l-Muqafia'.     190. 

Abgar,  Labubnas  Brief  des.     286. 

Abid  ibn  Sharja.     150. 

Abraham.     69.  70. 

Abu  Bekr.     145. 

Abu  Firäs.     139. 

Abu  Hanifa.     148. 

Abu  Ibrahim  Isma'il  Dschurdschäni.     264. 

Abu'1-AIä  al-Maarri.     139. 

Abu'l-Aswad  ad-Doali.     154. 

Abu'l  Atähia.     138. 

Abulfaradsch  Gregorios.     113.  *ii9. 

Abul  Fazl.     261. 

Abul  Ghäzi.     270. 

Abu'l  Hassan  Ali.     263. 

Abu  Michnaf.     150. 

Abu  Nowäs.     138.  139.   155. 

Abu  Obaida.     155. 

Abu  'Othmän  Sa' id.     250. 

Abu  Sa'id  ibn  Abu'l  Cheir.     262.  263. 

Abu  Schäkir.     126. 

Abu  Tammäm.     135. 

Abu  'Ubaida.     243. 

Achämeniden-Inschriften.     2i6ff. 

Achläq-i  Dscheläli,  -i  Muchsini,  -i  Nägiri.     261. 

Achmed  Pascha.     274. 

Achsenäjä.     112. 

Acht,  Zauberer.     237. 

al-Achtal.     138. 

Ackerlieder.     13. 

Adab-Literatur.     '142.  237.  261. 

Adhvaryu.     171. 

Ädityäs.     165. 

Adscharen.     300. 

Agathangelos.    287. 

Aggädä.     106. 

Aghajan.     297. 

Aghajanz,  L.     297. 

Agni.     165.  166, 

Agnivesa.     186. 

Ahia.     80. 

Ahikar,  Geschichte  des  weisen.     log. 


Ahmed  ibn  Hanbai.     148. 

Ahnenkult,  Chinesischer.     338. 

Ainu.     360. 

Akahito.     *366.  368. 

Akhyäna.     167. 

Aktham  ibn  Saifi.     139. 

Alarodier.     282. 

Alexander  der  Große.     128. 

Alexanderbuch  Nizämis.     254. 

Alexanderlegende,  Syrische.      109. 

Alexanderroman.     115.  287.  307. 

Alexius,  Geschichte  des  heiligen.     109 

Algusiani.     306. 

Alliteration.     11. 

Alphabet,  Armenisches.     285. 

Amarasimha.     203. 

Amaru.     204  f. 

Amda  Tsijön.     128. 

Amenemhet  I.,  Unterweisung  des.     32. 

Amenophis  IV.     34. 

Amharische  Sprache.     125.   129. 

Amiran,  Ritterroman  von.     304. 

Amitäbha.     337. 

Amon,  Lieder  auf.     34. 

Amos.     1},.  78.  79.  80.  82.  *88. 

Amr  ibn  Kolthum.     136.   137. 

Amschasfandnäme.     240. 

Anaphora.     11. 

Anargharäghava.     207. 

Anastasi  1.     Papyrus.     36. 

Angiras.     173. 

Äni.     274. 

Anii,  Unterweisung  des.     36. 

Anquetil  Duperron.     231. 

Antar,  Ritterroman  von.      155. 

Antara.     137. 

Anton,  Katholikos.     308. 

Antonios  von  Tagrit.     117. 

Apabhrarnsa.     202. 

Aphraates.     106.  286. 

Apokalypse.      105. 

Apokalyptik.     97. 

Applaus.     9. 


Register. 


403 


Äpri-Lieder.     165. 

Aquila.     113. 

Arabische  Sprache.     132.   134. 

Arai  Hakuseki.     393. 

Arakhel  von  Tauris.     294. 

Arakida  Moritake.     373. 

Aramäische  Sprache.     93.  94.  *io3. 

Äranyaka.     175.   176. 

Ararat.     282. 

Arbeit,  Rhythmus  der.     6. 

— ,  Lied  zur.      16.   58. 

Arbeitslyrik.     7. 

Ardashir.     223. 

Ardeschir,  Buch  von.     238.  239. 

Arlb.     152. 

Arier.     *i6if.  215. 

— ,  Sprache  der.     163. 

Aristakes  von  Lastivert.     289. 

Aristoteles,  Syrische  Übersetzungen  des.  114. 
240. 

— ,  Armenische  Übersetzungen  des.     286. 

Arjuna.     192. 

Armenier.     282.  283. 

Armenische  Sprache.     283. 

Arsenios.     306. 

Artä  Wiräf.     237. 

Arthschil.     307. 

Aryäs.     160. 

AryäsaptasatT.     209. 

Asadf.     249. 

Ascaryaparvan.     195. 

'Aschyq  Pascha.     271. 

al-A'sha.     135.   137. 

Asma'i.     155. 

Aioka.     164.  186. 

Assemani,  Joseph  Simon.     123. 

Assonanz.     11. 

Astakam  Päninlyam.     182. 

Astrologische  babylonische  Literatur.     45. 

Astronomie,  Indische.     203. 

Astronomische  neubabylonische  Inschriften.  47. 

Asuraveda.     174. 

Asurbanipal.     42.  44.  46. 

Asvaghosa.     200. 

Asvin.     165. 

Atabeg  Beka.     306. 

Ätarpät.     224. 

Athanasius.     286.  ^ 

Atharvaveda.     164.  166.  169.  172. 

Atman.     181. 

Atsutane,  Hirata.     393. 

'Attär,  Ferideddin.     246.  *25i.  262.  263. 

Aturfarnbag  und  Abälisch,  Disputation  zwi- 
schen.    237. 

Aturpät  Märäspand.     237. 

Audischö.     117. 

'Aufl.     245. 

Avadäna.     18S. 


Avesta-Sprache.     170.  *220. 

—  -Literatur.     '223.  236. 

—  — ,  Sasanidenredaktion  der.     224. 

—  — ,  Erklärung  der.     231. 
Avicenna.     243.  263.  264. 
Ayurveda.     185. 

'Azizi.     274. 
az-Zohri.     147. 

B. 

Bäbä  Tähir  'Urjän.     265. 

Bäbers  Wäqi'ät.     262.  270. 

Babismus.     263. 

Bachram  Tschobin,  Buch  von.     239. 

Badaräyana.      181. 

Bagrat,  Prinz,  von  Georgien.     309. 

Bagratiden.     289. 

Bahrije  von  Piri  Reis.     277. 

Baidawj.     243. 

Baihaki.     142. 

Bäjezid  I.     272. 

Bäjezid  II.     273.  275. 

Bakairi  in  Brasilien.     3. 

Bakin,  Kyokutei.     *390.  392. 

Bälabharata.     208. 

Bälarämäyana.     208. 

Bambusannalen,  Chinesische.     333. 

Bambussammler,  Mär  vom.     376. 

Bäna.     180.  206. 

Bäqi.     275. 

Baradaeus,  Jacob.     112. 

Bar  All.     n8. 

Barathaschwili,  Nicolaus.     309. 

Bar  Bahlül.     118. 

Bargaumä.     112. 

Bardesanes.     105  f. 

Barditus.     10. 


119. 


Barhebraeus.     11; 

Barzöl.     190. 

Basihus.     286. 

Bauchtanz.     10. 

Baum,  Der  assyrische.     239. 

Becherwahrsagung.     46. 

Bechräm  V.  Gor.     253.  288. 

Behäristän  Dschämis.     259. 

Behistun,  Inschrift  von.     217. 

Belädhori.     150.  151.  243. 

Benfey,  Theodor.     190. 

Bengali.     164. 

Berosus.    48. 

Berufssänger  und  -dichter.     23  f. 

Beschiktaschljan,  Mkrtitsch.     297. 

Beschwörungsformeln,  Babylonische.     45 

Beschwörungslied,  Hebräisches.     63. 

Bhagavadgitä.     195. 

Bharata.     161.  *I92. 

Bhäratlyanätyasästra.     183. 

Bhäravi.     205. 

Bhartshari.     205.  *207. 

26* 


404 


Regdster. 


Bhattaräräyana.     207. 

Bhatti.     205. 

BhavabhQti.     207. 

Bhoja.     168.  ♦208. 

Bhrgu.     173.  •184. 

Biaina.     283. 

Bibelübersetzung,  Äthiopische.     124. 

— ,  Armenische.     285. 

— ,  S>Tische.     104.  *ii3f. 

Bileams  Sprüche.     62.  81. 

Bilhana.     208. 

Bimyösai,  Yaniada.     395.  396. 

Biographie-Literatur,  Arabische.     152. 

— ,  Syrische.     1 10. 

Biruni.     156. 

Biwa-höshi.     382. 

BUmt,  Anne.     133. 

Bodenstedt,  Friedrich  v.     250.  256.  266. 

Bostan,  Sä'dis.     253. 

Brahman.     164.  173.  181. 

Brähmana.     163.  *I74.  177. 

Brahmanaspati.     165. 

Brahmanenleben.     175  f. 

Brahmasütra.     181. 

Brhaspati.     165.  173. 

Brhatkathä.     189. 

Brhatsamhitä.     204. 

Brief,  Mittelpersischer.     240. 

Briefliteratur,  Babylonisch-assyrische.     42. 

— ,  Neupersische.     259. 

Buch  der  Biene  Salomos  von  Bagra.     118. 

—  der  Geheimnisse    des   Himmels    und  der 
Erde.     127. 

—  der  Kriege  Jahves.     60. 

—  des  Redlichen.     60. 
„—  von  Roger".     153. 

—  der  Weisheit  und  Torheit.     308. 
Buchäri.     243. 

Buddha.     187.  188.  200. 
Buddhacarita.     200. 
Buddhismus.     181. 

—  in  China.     337 f.  357. 

—  in  Japan.     359. 

Buddhisten,  Erzählungsliteratur  der.     187. 

Bücher,  Karl.     3.  6. 

Bücherverbrennung,  Schi-hoang-tis  Edikt  der. 

331- 
Bujiden.     247. 
Bundehesch.     236. 
Bundesbuch.     75.  76. 
Bunködö.     387. 
Burdeänä.     112. 
Burzoe.     260. 
Bushäq  aus  Schirdz.     257. 
Bußlied    der   Zukunft    in    der    israelitischen 

Prophetie.     86. 
Bußpsalmen,  Babylonisch-assyrische.     46. 
— ,  Israelitische.     65. 
Buzurgmichr.     237.  260. 


(^alich,  Muhammed.     270. 
CampQ.     199. 
Cänakya.     205. 
Candragupta  IL     201. 
Caraka.     186. 
Caranavyüha.     171. 
Caurisuratapancääikä.     208. 
Causa  causarum.     118. 
Chag  Hadschib,  Jüsuf.     269. 
Chajjam,  Omar.     *2  5o.  265. 
Chalaf  al  ahmar.     155. 
Chalder.     282.  283. 
al-Chalil.     1 54. 
Chammurabi.     *42.  76. 
Chandahsütra.     *I78.  187. 
Chäqani.     259. 
Chatschatur  Abowjan.     296. 

—  von  Taron.     292. 
Chewsuren.     301. 
Chikafusa,  Minamoto  no.     382. 
Chikamatsu  Monzaemon.     383.  *386. 
China.     312. 

Chinesische  Sprache  und  Schrift.     313  ff. 

—  in  Japan.     365. 

— ,  Einfluß  auf  die  japanische.     369 f. 

Chiyo,  Kaga  no.     374. 

Chodhäinäme.     238.  247. 

Chokusenshö.     372. 

Chömei,  Kamo  no.     378. 

Choraimi.     137. 

Chorgesang.     9. 

Chosrau  Anoscharwän.      114.    115.    190.  240. 

260. 
Chosrau,  Emir.     254.  272. 
Chosrau  IL  und  Schirin.     253.  272. 
Chosrow.     289. 

Chronik,  Bücher  der.     96.     105. 
— ,  Kleine  edessenische.     104.   iio. 
Chrysostomos,  Johannes.     286. 
Chutbe.     260. 
Chwatäinämak.     238.  239. 
Comparetti,  Domenico.     24. 
Corroborri.     9.   10. 
Cowell,  Edward  Byles.     200. 
Cranz.     9.   19. 
^üfismus.     251.  262.  271. 


D. 


Daigo.     371. 
Damascius.     48. 
Dänastuti.     166.   173. 
Dandin.     206. 
Daniel.     68. 
Daniel,  Buch.     97.  98. 
Dänischnäme-i'Alaeddin. 
Danjürö.     398. 
Danklied,  Israelitisches. 


263. 


88. 


Register. 


405 


Dankopferlieder,  Hebräische.     65.  88. 

Daqiqi.     248. 

Darius.     214.  *2i6. 

Darük-i  chursandih.     238. 

Daäakumäracarita.     206. 

Däsäs.     161. 

Dätistän-i  denik.     236, 

David.     71. 

Davids  Klage  über  Sauls  und  Jonathans  Fall. 

59- 
—  „letzte  Worte".     61. 
David,  Prinz  von  Georgien.     309. 
David  III.  der  Erneuerer.     302.  *303. 
David  der  Unbesiegte.     288. 
Däwani.     261. 
Debistan-i  medhahib.     263. 
Deboralied.     54.  60. 
Dekalog.     75. 
Denkart.     224.  236. 
Deußen,  Paul.      176. 
Deuterojesaias.     79.  *88. 
Deuteronomium.     95.  96. 
DevuTiähätmya.     196. 
Dhammapada.     188. 
Dhanvantari.     203. 
Dharma^ästra.     177.  *i84. 
Dharmasütra.     177.  *i84. 
Dhävaka.     207. 
Dialog  über  das  Fatum.     105. 
Diatessaron  Tatians.     105. 
Dichkän  Danischwar.     238. 
Dichterinnen,  Japanische.     376  f. 
— ,  Neupersische.     257. 
— ,  Türkische.     274. 
Dichtung,  Überlieferung  der.     23. 
— ,  Arabische  religiöse.     136. 
— ,  Didaktische  ägyptische.     32. 
— ,  Erzählende  ägyptische.     30. 
— ,  Neupersische.     243  ff. 
Digambaräs.     189. 
Dmawari.     243. 
Dinazäd.     143. 
Dinkart.     224.  236. 
Dio  Chrysostomos.     195.  228. 
Dionys  von  Telmahre.     117. 
Dionys'os  Thrax.     287. 
Divan.     245. 
Djähiz.      143. 
Djarir.     135.      138. 
Doctrina  Addaei.     108. 
Doi  Bansui.     397. 
Domenethi.     306. 
Drama,  sein  Ursprung.     20. 
— ,  Chinesisches.     351  ff. 
— ,  Japanisches.     383.  385  f.  398. 
— ,  Indisches.     168  f.   184.  *202.  206. 
— ,  Persisches  257  ff. 
— ,  Türkisches.     279. 
Dramaturgie,  Indische.     183. 


*256. 


59.  263.  273. 


277. 


Draviden.     160. 
Dsaturjan.     297. 
Dschämi.     246.  254 
Dschem.     273. 
Dschemschcd.     260. 
Dschihännüma  Hadschi  Chalfas 
Dschuweini.     261. 
Duauf,  Unterweisung  des.     32. 
Durjan,  Petros.     297. 


E. 

Ebedjesu.     117.   120. 

Edessa.     103.  104.  108. 

Edrisi.     153. 

'Edscha'ib  clmachluqät.     262. 

Eigwa  Monogatari.     381. 

Einheiten,   Literarische,    in  der  israelitischen 

Literatur.     53. 
— ,    — ,    in    den    Büchern    der    israelitischen 

Propheten.     82. 
Einzelgesang.     9. 
Elia.     69.  71.  80.  81. 
Elias  von  Nisibis.     118.   120. 
Elihureden.     93. 
Elisa.     80.  81. 
EHsaeus.     288. 
Elohist.     72. 
Engi-Ära.     371.  375. 

Enwär-i  Suhaili  des  Wä'iz  Käschifi.     259. 
Enweri.     255. 

Enzyklopädieen,  Chinesische.     348. 
— ,  Neupersische.     263. 
Ephraim  von  Nisibis.     *io6.   iio.  286. 
Epigramm,  Japanisches,     yj^^  f. 
Epiphora.     11. 
Epos,  Ursprünge  des.     22. 
— ,  Stil  des.     24. 

— ,  Bedingungen  für  seine  Blüte.     25. 
— ,  Ägyptisches.     35. 
— ,  Babylonisch-assyrisches.     47. 
— ,  Indisches.     167  f.   191. 
— ,  Japanisches.     380.  397. 
— ,  Persisches.     249  f. 
— ,  Türkisches.     274. 
Epu,  Prophezeiungen  des  weisen.     31. 
Eristhawi,  Georg.     309. 
— ,  Rafael.     310. 
Erotik.     14.   15. 
— ,  Indische.     184. 
Erzählungen    der  Taten   und  Schicksale    der 

israelitischen  Propheten.     83. 
ErzählungsUteratur,  Chinesische.     353  ff. 
— ,  -Georgische.     304.  306. 
— ,  Indische.     187. 
— ,  Israelitische.     65. 
— ,  Japanische.     371.  376 f.  389  f. 
— ,  Neupersische.     259. 
Eschatologie,  Israelitische.     68.  77. 


4o6 


Register. 


E^chatologie ,    Ähnlichkeit     der    christlichen 

und  persischen.     231. 
Esel,  Der  heilige  dreibeinige.     236. 
Eskimos.     9.   10.   18. 
Esnik  von  Kolb.     288. 
Esra.     96. 

Esra,  Das  4.  Buch.     125. 
Essay  in  der  chinesischen  Literatur.     345. 
Esüiersage.     69.  97.  143. 
Eudoxos.     283. 
Eusebios,     Kirchengeschichte    des,     syrische 

Übersetzung.     114. 
—  — ,  aiTnenische  Übersetzung.     286. 
Euth>TTiios.     302. 
Evangelien.     105. 
Evangelium  Jesu.     94. 
Ewlija.     277. 
Ezechiel.     68.  i^.  79-  81.  82.  84.  *88. 


Fabel,  Indische.     190. 

— ,  Israelitische.     73. 

— ,  Mittelpersische.     239. 

Fachreddin.     255. 

Fachreddin  Räzi.     263. 

Fa-hien.     339. 

Fan  Yeh.     334. 

Farazdak.     138.  140. 

Farhang-i  pahlawik.     240. 

al-Farrä.     155. 

Faustus  von  Byzanz.     287. 

Feizi.     257.  275. 

Feng-schen-yen-i.     355. 

Feng-schui.     321. 

Feredsch  ba'd  esch-schidde.     276. 

Ferghäni.     152. 

Ferhäd,  Baumeister.     253. 

Ferzendnäme.     263. 

Fetch  'Ali  Achundzäde.     278. 

Fetha  Nagast.     126. 

Fettähi.     259.  277. 

Firdausi.     229.  239.  244.  *248.  255.  260. 

Firdewsis  Buch  von  Salomo.     275. 

Form  der  ägyptischen  Poesie.     29. 

Frauen  in  der  japanischen  Literatur.     376  f. 

—  in  der  neupersischen  Literatur.     257. 

—  in  der  türkischen  Literatur.     274. 
Frauendichtung.     15. 

Freytag,  Gustav.     12. 

Fuh-hi.     320. 

Fujiwara-Famihe.     367.  371.  381. 

Fukuchi.     398. 

Fuzüli.     274. 

G. 

Gabaschwili,  Katharina.     310. 
Gabriel,  Bischof  von  Imerethien.     309. 
Galenos.     114. 


Gäthä.     166. 

Gäthädialekt.     163.     221. 

Gäthas  des  Avesta.     224.  225.  *230. 

Gattungen  der  israelitischen  Literatur.     5  2  ff. 

Gebet.     12. 

Gebete,  Babylonisch-assyrische.     46. 

Gedichte,  Profane,  private,  in  der  israelitischen 

Literatur.     5  8  f. 
— ,  Politische,  — .     60  f. 
Geez-Sprache.     124.  129. 
Gembun-itchi.     395.  396. 
Gempei-Seisuiki.     381. 
,, Genealogie     der    Adligen"     des    Belädhori. 

ISO- 
Genji  Monogatari.     *377.     392. 
Geographie-Literatur,  Arabische.     153. 
— ,  Neupersische.     262. 
— ,  Türkische.     277. 
Georg  V.,   der  Glanzvolle.     305.  306. 
Georg  Bischof  der  Araber.     117. 
Georg  vom  heiligen  Berge.     302. 
Georg  Wardä.     117. 
Georgier.     299. 
Gerlr  s.  Djarlr. 
Gesang.     9. 

Geschichte,  Heilige,  Israels.     96. 
Geschichte  des  beredten  Bauern.     31. 
Geschichtserzählung,  Israelitische.     53.  T}). 
Geschichtsliteratur  der  Abessinier.     128. 
— ,  der  Araber.     149. 
— ,  Armenische.     287.  289.  293. 
— ,  Chinesische.     332.  347. 
— ,  Georgische.     306. 
— ,  Japanische.     361.  381. 
— ,  Neupersische.     261. 
— ,  Syrische.     117. 
— ,  Türkische.     277. 
Geschichtsschreibung,  Israelitische.     96. 
—  Prophetische  israelitische.     87. 
Gesetze,  Babylonische.     43. 
Gespräche    eines    Lebensmüden    mit    seiner 

Seele.     31. 
Gharibname   des  'Aschyq  Pascha.     271. 
Ghatakarpara.     203. 
i    Ghazäli,  Muhammed.     *i56.  243.  263. 
Ghazel.     245.  256. 
Gidayü  Takemoto.     386.  *387. 
Gltagovinda.     209. 
Gleichnisse  der  Aramäer.     108. 
Goethe,  Johann  Wolfgang.    2.  6.  11.  22.  256. 

266. 
,, Göttermetamorphosen".     355. 
Goldziher,  Ignaz.     134. 
Gotama.     181. 
Gottesknecht.     85. 
Govardhana.     209. 
Grammatik,  Arabische.     154. 
— ,  Indische.     177.  182. 
— ,  Syrische.     116.  118. 


Register. 


407 


Granthika.     168. 

Gregor  III.     291.  292. 

Gregor  IV.  das  Kind.     291.  292. 

Gregor  Magistros.     290. 

Gregor  von  Narek.     290. 

Gregor  von  Nazianz.     114.  286. 

Gregor  von  Nyssa.     286. 

Gregor  der  Presbyter.     294. 

Gregor  von  Tathew.     294. 

GrhyasQtra.     177. 

Grimm,  Jakob.     6.  22. 

Grosse,  Ernst.     3. 

Grotefend,  Georg  Friedrich.     220. 

Growse.     198. 

Gudea,  Geierstele  v^on.     42. 

— ,   Kultinschriften.     45. 

Guido  von  Arezzo.     187. 

Gujarätl.     164. 

Gulistan  Sä'dis.     253.     *259. 

Gunädhya.     189. 

Gupta.     160.  167.   180.  *2oo. 

Guramischwili,  David.     308. 

Gurier.     300. 

H. 

Haddjädj.     154. 

hadith.     147.   148. 

Hadschi  Chalfa.     277. 

Hänzäle.     243. 

Häfiz.     244.  251.  *256.  258.  273.  274.  277. 

Haikai.     373  ff. 

Haila  Mikäel.     129. 

Hakkenden  des  Bakin.     391. 

Hakuseki,  Arai.     393. 

al-Hamadhäni.     144. 

Hamann,  Johann  Georg.  2. 

Hamäsa.     141. 

Hamdalläh  Mustaufi.     262. 

Hamdi.     274. 

Hammer- Purgstall,    Joseph    Frhr.   von.     266. 

272.  274. 
Hammurabi  s.  Chammurabi.     *42.  76. 
Han-Dynastie.     322.  *33i.  334.  339. 
Han  Fei-tsze.     329. 
Han  Yü.     346  f. 
Hana-Momiji     397. 
Hao-k'iu-tschuan.     354. 
Hariri.     144. 

al-Härith  ibn  HiUiza.     137. 
Harivamsa.     195. 
Harränier.     121. 
Harsacarita.     206. 
Harun  ar-Rashid.     139.  143.   155. 
Harun  ibn  Sahl.     143. 
Hasan  al-Basri.     147. 
Hassan  Chan,  Muhammed.  262. 
Hegel,  Georg  Wilhelm  Friedrich.     195. 
Heian  oder  Kyoto,  japanische  Hauptstadt.  372. 
Heider's,  Muhammed,  Tärich-i  Reschidi.    262. 


Heiji-Monogatari.     381. 

Heike-Monogatari.     381. 

Heiligenleben,  Syrische.     1 10. 

Hemacandra.     210. 

Henjö.     371. 

Henoch,  Buch.     125. 

Herakleides  von  Pontos.     214. 

Herakleios.     289. 

Heraklius  II.     308. 

Herder,  Johann  (Gottfried,     i.  2.  3.  266. 

Herodot.     214.  219.  227.  283.  301. 

Hetärenwesen  bei  den  Ariern.     162. 

Hethum  von  Korikos.     293. 

Hexaemeron.     116. 

Hieh-k'oh.     344. 

Hieroglyphen.     28. 

Hierotheos  des  Stephan.     113. 

Hindi.     164. 

HindüstänI.     164. 

Hiob.     52.  56.  78.  90.  *9i. 

Hippokrates.     114. 

Hira-ganaSchrift.     376. 

Hiraga  Gennai.     388. 

Hiroyuki,  Katö.     394. 

Hitomaro.     *366.  368. 

Hitopadesa.     190. 

Hiü  Shen.     349. 

Hiza-Kurige  des  Jippensha  Ikku.     391. 

Hoai-nan-tsze.     329. 

Hochschulen,  Arabische.     156. 

Hochzeitslied,  Israelitisches.     59. 

Höllenfahrt  der  Ischtar.     47.  67. 

Hohelied,  Das.     58.  97. 

Hofdichtung,  Neupersische.     255. 

Högen-Monogatari.     381. 

Höj5-ki.     378. 

Hokku.     373. 

Homer.     19.  24. 

Homerübersetzung,  Syrische,  des  Theophilos. 

IIS- 
Hopkins.     200. 
Horigoshi  Saiyo.     388. 
Hosains  Tod.      142. 
Hoscheng.     260. 
Hosea.     79.  *88. 
al-Hotai'a.     138. 
Hotar.     164. 
Howanesjan.     297. 
Hüan-tsang.     206.  339.  355. 
Hüan-tsung-ti.     351. 
Hüwedä.     278. 

Humboldt,  Wilhelm  von.     195. 
Hung-Iou-men.     355. 
Hurüfi-Lehre.     272. 
Hymnarium,  Armenisches.     291. 
Hymnen,  Ägyptische.     30. 
— ,  Babylonisch-assyrische.     45.  46. 
— ,  Hebräische.     56.  64.  89. 
— ,  Syrische  gnostische.     105. 


4o8 


Register. 


Hymnen,  \'edische.     164  ff. 

H>-mnus.     12.  13. 

— ,  Teil  Amama-.     34. 


Ibn  Abbäs.     148. 

Ibn  .Abdalhakam.     142. 

Ibn  Abdrabbihi.     142. 

Ibn  al-Athir.     152. 

Ibn  al-Motazz.     140. 

Ibn  al-Mukaffa.     153. 

Ibn  .\mid.     128. 

Ibn  Assäl.     126. 

Ibn  Batota.     153. 

Ibn  Chaldün.     157. 

Ibn  Djobair.     153. 

Ibn  Guzman.     141. 

Ibn  Habib.     142. 

Ibn  Ishäk.     150. 

Ibn  Kotaiba.     *i42.  243. 

Ibn  Machmüd  aus  Amul,  Muhammed.     264. 

Ibn  Okba.     150. 

Ibn  Rosteh.     153. 

Ibn  Sa'd.     151. 

Ibn  Sinä.     243.  263. 

Ibrahim  Beg.     264. 

Ignatius.     292. 

Ignatius  von  Antiochien     286. 

Ikku,  Jippensha.     391.  392. 

I-Ii.     322. 

Ilias.     19.  24. 

'Imad  addm.     144. 

Imerier.     300. 

Improvisation.     8.  15. 

Imrulkais.     137.   140. 

Individualismus  in  der  israelitischen  Literatur. 

78. 
Indra.     161.   162.  *i65. 
Ingiloier.     301. 
Inouye,  F.     396.  397. 
Inschriften,  Historische  babylonisch-assyrische. 

42. 
Interjektionen.     8. 
Iranier.     214.  216. 
Isaac  von  Antiochia.     107. 
Isaak.     70. 
Isahakjan.     297. 
Ischödäd.     118. 
'Ischremäme  Rewanis.     274. 
Ise  Monogatari.     376. 
Islam.     III.   113.  134.   138.   140.  145. 
Isma'il  Haqql.     277. 
Isma'il  ibn  Muhammed  Isfahäni.     259. 
isnäd.     147. 
Ispahäni.     152. 

Israel,  Verhältnis  von,  zu  Kanaan.     55. 
Isvarakrsna.     181. 
Iteratio.     10. 


Itihäsa.     167. 
Itihäsapurana.     168. 
Itihäsavcda.      174. 
I-tsing.     205.  339. 
Izumi  Shikibu.     380. 
Izumo  Takeda.     387. 


Jachja.     275. 
Jachjä  Qazwini.     262. 
Jackson,  A.  V.  William.     220. 
Jacob  von  Edessa.     116. 
Jacob  von  Sarüg.     107. 
Jacobi,  Hermann.     198.  200. 
Jacobitcn.     112.   118. 
Jagannätha.     210. 
Jahballähä.     120. 


Jahve. 

60.  68.  70. 

Jahvist. 

72. 

Jaimini. 

181. 

Jaina. 

180.   181.  *i89. 

Jakob. 

69.  70.  81. 

Jakobs 

Gesicht.     56. 

Jakubi. 

151. 

Japan. 

312.  360. 

Jaqut. 

153.  262. 

Jätaka. 

188.   198.  203. 

Jatimat 

ud-dahr.     243. 

Jayadeva.     209. 

Jayäditya.     183. 

Jean  Paul.     8. 

Jehovisl 

..     95. 

Jekunö 

Amlak.     125. 

Jeremia 

.     79.  80.  81.  82.  87. 

Jesaja. 

68.  79.  80.  81.  82.  * 

Jesus  b 

en  Sira.     97.  105. 

Jetaka, 

Fujiwara  no.     ;i7;i. 

^88.  89.  90. 


Jidai-mono.     386. 
Jinno  Shötöki.     382. 
Jishö,  Ando.     390. 
Jlvaka  Komärabhacca.     186. 
Jo.     363.  364. 
Jögwan-Ära.     371. 
Johann  VI.,   Katholikos.     289. 
Johann  von  Nikiu.     128. 
Johannes  der  Diakon.     292. 
Johannes  von  Ephesus.     iiof. 
Johannes  von  Ersnka.     292. 
Johannes  Mandakuni.     288. 
Johannes  von  Mangli.     306. 
Johannes  von  Odsni.     289. 
Johannes,  Prinz,  von  Georgien. 
Jonaserzählung.     56.  69.  y;^.  97. 
Jones,  Sir  William.     266. 
Jöruri.     383.  386.  388. 
Joscht  Frijän.     237. 
Josepherzählung.     71. 
Josia.     77.  79.  94. 


309. 


Register. 


409 


Josua  Stylites.     117. 

—  — ,  Der  sog.     1 10. 

Jovian.     106.   109. 

Jubellied  in  der  israelitischen  Prophetie.     86. 

Jubiläen,  Buch  der.     125. 

Judith.     97. 

Julianusroman.     log. 

Julien,  Stanislas.     33g.  355. 

Jungperser.     264. 

Jungtiirken.    277. 

Jünus  Emre.     271. 

Jüsuf  und  Zuleicha.     *249.  253.  254.  274. 

Jyotisa.     179.  203. 

K. 

Ka^'b,  Sohn  des  Zohair.     135. 

Käbuki.     384.  *385.  388. 

Kadambarl.     206. 

Kadesch,  Gedicht  auf  die  Schlacht  bei.     35. 

Kaibara  Ekken.     393. 

Kaion,  Ki  no.     387. 

Kalewala.     24. 

Kalhana.     209. 

Kälidäsa.     170.   179.  200.  *2oi. 

Kalrlag  we  Damnag.    115.  I2i.  *i9o.  246.  260. 

Kamakura-Zeit.     372.  380. 

Kamäleddin.     265. 

Kämasütra  des  Vätsyäyana.     184. 

Kamo  Mabuchi.     393. 

Kampflied.     16. 

Kana-dehon  Chüshingura.     387. 

Kanai  Sanshö.     388. 

K'anghi.     348. 

K''ang-hi-tsze-tien.     350. 

Kanya  Morita.     398. 

Kao  Pu-hai.     326. 

Kapila.     181. 

Kappadoker,  Die  drei  großen.     286. 

Karbeg,  Alexander.     310. 

Karna.     194. 

Karpüramanjari.     208. 

Karyü.     yj^. 

Käsava-See.     221.  229. 

Kasida.     136.  245. 

Käsikä  des  Vämana  und  Jayäditya.     183.  207. 

Kasten  der  Arier.     163. 

Kata-kana-Schrift.     376. 

Kata-uta.     362. 

Käthaka.     173. 

Kathäsaritsägara.     189. 

Kätyäyana.     183. 

Kaumudi.     182. 

Kaviräja.     199. 

Kävya.     196. 

Kävyädaria.     206. 

Kawakami.     398. 

Kayanierdynastie.     221.  229. 

Kebra  Nagast.     128. 


Kehrreim.     8.  g. 

Keilinschriften  der  Achämeniden.     2 16  ff. 

Keilschrift,  Persische.     217. 

Kellogg.     198. 

Kemälpaschazäde.     277. 

Kenkö.     373. 

Kenkö-höshi.     379. 

Kenyogen.     363.   364. 

Keschf  el-mahdschüb.     263. 

Kettengedicht,  Japanisches.     373. 

Ketzer,  Behandlung  der,  nach  dem  Vendidäd. 
228. 

Khartweli.     299. 

Khorda  Avesta.     225.  226. 

Kiah  I.     336. 

K'ien-Iung.     345. 

Kikuchi  Yuhö.     398. 

Kikugorö  III.     38g.  3g8. 

Kimijä-ji  sa'  ädet.     263. 

King,  Die  fünf.     318. 

Kin-ku-k'i-kuan.     356. 

Kin  P'ing  Mei.     355. 

K'in-ting    ku-kin    t'u-schu   tsih-tsch'eng.     34g. 

K'in  ting  ta  Ts'ing  hoei-tien  schihlih.     34g. 

Kintö,  Fujiwara  no.     372. 

Kirätärjunlya.     205. 

Kisäi.     *I55.  242. 

Kiseki,  Ejima.     3go. 

Kisen.     371. 

Kitazato,  T.     3gg. 

K'iüh  Yüan.     335  f. 

Klagegesang,     ig. 

Klagelied,  Hebräisches.     64.  65.  86.  88.  *8g. 

,, Klassenbuch"  des  Ibn  Sa'd.     151. 

KIdiaschwili,  David.     310. 

Königslied,  Israelitisches.     58.  *6i. 

Kohelet.     go.  g7. 

Kojiki.     361.  362. 

Kojima.     382. 

Kokinshu.     372. 

Kolarier.     160. 

Komachi,  Ono  no.     371. 

Komait.     137. 

Kommentare,  Türkische,  zu  persischen  Wer- 
ken.    277. 

Konfucius,  Konfucianismus.  *3i7.  31g.  322. 
323.  324.  325.  326.  327.  330.  331.  338.  357. 

Konjaku  Monogatari.     370. 

„Kopfkissen-Hefte".     377. 

Koran.     log.  136.   140.  *I44. 

— ,  Exegese  des.     148.  247.  25g.  262. 

Koreaner.     312.  360. 

Koriun,  Bischof  in  Georgien.     287. 

Kosmogonieen.     5.   13. 

Kossäs.     141 

Köyö,  Ozaki.     3g5. 

Kremer,  A.  von.     138.   13g. 

Kriegslied.     16. 

— ,  Israelitisches.     60. 


4IO 


Register. 


Krsna.     193.  194.  195. 

Krsna  Dvaipäyana.     191. 

Krsnami^ra.     209. 

Ksatriya.     163. 

Ksemendra  Vyäsadäsa.     1S9.  20S. 

Kuan  Yü.     354. 

Kudatku  Bilik.     269. 

K'u-hi.     353. 

Kujundschik,     Asurbanipals     Bibliothek 

44. 
Kükai.     369. 
Kultusdekalog.     75. 
Kultusdichtung,  Israelitische.     63. 
Kultussagen,  Israelitische.     70. 
Kumarajiva.     339. 
Kumärasarnbhava.     20 1 . 
K'ung  Ngan-kuoh.     331. 
KuntäpasOkta.     174. 
Kuoh-\-ü.     332. 
Kuronushi.     371. 
Kuru.     192. 
Kwaifüsö.     367. 
Kyakuhon.     388. 
Kyöden,  Santo.     390. 
Kyöka  und  Kyöku.     375. 
K>Tiakos  von  Gandsak.     294. 
K\Tillos  von  Jerusalem.     286. 
K\TOS.     214.  216.  238. 
Kj^ükin,  Susukida.     397. 


Labid.     137.     140. 

Labubna.     286. 

Laksmanasena.     209. 

Lällbalä.     125. 

Lämi  i.     274. 

Lao-tsze.     324.  *326.  329.  2>2,7- 

Lasen.     301. 

Lassen,  Christian.     199. 

Lazar  von  Pharpi.     285.  ^287. 

„Leben  Georgiens,  Das."     307. 

Legenden  in  der  israelitischen  Literatur. 

— ,  Äthiopische.     127. 

— ,  S^-rische.     108.  118. 

LeichenHed,  Israelitisches.     59.  86. 

Leilä  und  Medschnün.     253.  254.  307. 

Lenadialekt.     164. 

Leontius.     289. 

Ler}',  de.     i. 

Lessing,  Gotthold  Ephraim,     i. 

Lewä'ih  Dschimls.     263. 

Lexikographie,  Chinesische.     349. 

— ,  Mittelpersische.     240. 

— ,  Syrische.     118. 

Liao-tschai-tschi-i.     356. 

Liebeslieder,  Äg^'ptische.     36. 

— ,  Israelitische.     58. 

Liebesromanze,  Persische.     253  f. 


Lieder  in  der  Literatur  Israels.     52.  58. 

— ,  Gottesdienstliche,  — .     62. 

— ,  Philosophische,  des  Rgveda.      169. 

— ,  Religiöse    und    auf   den    König,    in    der 

äg^'ptischen  Literatur.     34  f. 
— ,   — ,  Hebräische  des  Einzelnen.     64. 
— ,  \'olkstümliche,  in  der  neupersischen  Lite- 
ratur.    258. 
zu.       Lieder-Turniere,  Japanische.     371. 
Lieh-tsze      328. 
I   Lik  Atkü.     129. 
I    Li-ki.     *32i.  324. 
Li-sao,  Elegie.     335  f. 
Li  T'ai-poh.     343  f. 
Literatur,  Anfänge  der.     i  ff. 

Ägyptische.     28  ff. 

—  medizinische  und  Zauber-,     t,;^. 

Äthiopische.     124  ff. 

Altpersische  2i4ff. 

Arabische.     132!?. 

Aramäische.     103  ff. 

Armenische.     282  ff. 

Babylonisch-assyrische.     40  ff. 

Chinesische.     312  ff. 

Demotische.     37. 

Georgische.     299. 

Indische.     160  ff. 

Israelitische.     5 1  ff. 

— ,  Fremder  Einfluß  auf  die.     55f. 

— ,  Charakteristisches  der.     57. 

Mittelpersische.     235  ff. 

Neupersische.     242  ff. 

Syrische.     103  ff. 

Türkische.     269  ff. 
Literatursprache,  Chinesische.     350.  356. 

Indische.     163. 

Japanische.     370.  395. 

Neuostarmenische.     296. 
Liturgie,  Armenische.     286. 
—  in  der  israelitischen  Prophetie.     86. 
Liu  Ngan  s.  Hoai-nan-tsze.     329. 
Liu  Tsung-yüan.     347. 
97.       Li  Yen-nien.     336. 

24. 

354- 
^10. 


Lönnrot,  Elias.     23. 
Lo  Kuan-tschung. 
Lomauri,  Nikolaus. 


und    individueller. 


Lorinser.     195. 

Lucian.     19.  114. 

Lun-yü.     323. 

Luqmän.     260. 

Lyrik.     2. 

— ,  Gattungen   chorischer 

12. 
— ,  Ägyptische.     30.  36. 
— ,  Chinesische,  der  Han-Zeit.     336. 
—  — ,  unter  der  T'ang-Dynastie.     340. 
— ,  Indische.     204  f. 
— ,  Israehtische.     58  f. 
— ,  —  prophetische.     86. 


Register. 


411 


Lyrik,  Israelitische  religiöse.     62. 

— ,  Japanische.     362.  366 f.  *37i.  396. 

— ,  Türkische.     271. 


M. 

Machmüd  von  Ghazna.     245.  ■*247.  261. 

Madäini.     151. 

Märchen.     23. 

— .  Äg)^ptische.     30.  *33.  *t,j. 

— ,  Indische.     i8g. 

— ,  Israelitische.     jT)- 

— ,  Japanische.     383. 

Märchendramen,  Japanische.     399. 

Märtyrerakten,  Syrische,     iio. 

Mäthnävvis.     240.  244.  245.  252.  272. 

Mägha.     205. 

Mahäbhärata.     162.    167.   168.    170.  171.  180. 

184.  *i9i.  198.  200.   202. 
Mahäbhäsya.     169. 
Mahäbhäsya  des  Patanjali.     183. 
Mahäkävya.     197.  ^199.  201.  205. 
Mahäncätaka.     168. 
Mahäparinibbänasutta.     188. 
Mahävira.     1 89. 
Mahäviracarita.     207. 
Makämen.     144. 
Makura-Kotoba.     363. 
Makura  no  Söshi.     377. 
Malachia,  Kanones  des  Katholikos.     306. 
Malachia  der  Mönch.     294. 
Mälatimädhava.     207. 
Mälavikägnimitra.     201. 
Mälik.     148. 
Mallinätha.     210. 
Mänaväs.     185. 
Mandäer.     122. 
Mäni.     122. 
,, Manieren",      Dschelalische,     Muchsinische, 

Nagirische.     261. 
Mann  Gottes.     109. 
Mansen,  Bärenkultus  der.     21. 
al-Mansür.     135. 

Manu,  Gesetzbuch  des.     171.  *i84. 
Manyöshü.     362.  ^368.  372. 
Märä  bar  Sarapion,  Brief  des.     104. 
Maräthü.     164. 
Märkandeyapuräna.     196. 
Maroni  ten.     123. 
Märüthä.     iio. 
Masüdi.     152.  248. 
Matsumoto  Köshirö.     388. 
Matsuo  Basho.     374. 
Matsyapuräna.     202. 
Matthaeus  von  Edessa.     293. 
Ma  Tuan-lin.     348. 
Mavias  Sieg,  Lieder  auf.     135. 
Mayüra.     206. 
Mchithar  von  Sebaste.     295.     308. 


Mchithar  Gösch,  Rechtsbuch  des.     293. 

Mchitharisten.     295. 

Mechdi  Chan,   Mirza  Muhammed.     261.  265. 

Meddächs.     279. 

Medizin,  Indische.     185. 

— ,  Neupersische.     264. 

Medizinische  Literatur  der  Ägypter.     2,2,. 

—  —  der  Babylonier.     45. 

Meghadüta.     201.  *203. 

Mehmed  I.     272. 

Mehmed  II.     273. 

Meiji-Ära.     393. 

Mei  Scheng.     336. 

Melchiten.     iii. 

Melito  von  Sardes.     105. 

Memoirenliteratur,  Neupersische.     262. 

Meng-tsze.     318.  *324.  330. 

Menschenliebe  im  Konfuzianismus.     326. 

Meschreb,  Volksbuch  von.     278. 

Mesihi.     274. 

Mesrop.     285.  287. 

Metrik,  Indische.     178.  183. 

— ,  Japanische.     362. 

— ,  Türkische.     271. 

Mewlid-i  nebi  Sülemän's.     272. 

Micha  ben  Jimla.     80. 

Michael,  jakobitischer  Patriarch.  117.  119.  286. 

Michizane,  Sugawara  no.     369. 

Mjchris.     274. 

Midchat,  Achmed.     279. 

Mifune,  Omi  no.     367. 

Mizoguchi  Hakuyö.     398. 

Miklosich,  Franz  von.     24. 

Mikoto-nori.     365. 

Militärdramen,  Chinesische.     353. 

Mimärnsä  des  Jaimini.     181. 

Mimus,  Indischer.     184. 

Minamoto.     371.  380. 

Ming-Dynastie.     352. 

Mingrelier.     301. 

Ming-ti.     338. 

Minochired.     236. 

Mir  'Ali  Scher.     270.  273. 

Mirät  el-buldän  des  Muhammed  Hassan  Chan. 

262. 
Mtrchwänd.     261. 
Mirzä  ^äib.     276. 
Mispat.     75. 

Mission,  Katholische,  in  Georgien.     306. 
Mitäksarä  des  Vijnänesvara.     184. 
Mithra.     229. 

Mitsune,  Oshiköchi  no.     372. 
Miyoshi  Shöraku.     387. 
Mo'allakät.     137. 
Moäwia.     150.  289. 
Moderne,  Die  türkische.     277. 
al-Mofaddhal.     139. 
Mohammed.     109.    134.    135.    140.    144.    145. 

146.   150.  153. 


412 


Reffister. 


Moh  Ti.     325.  326. 

Mokuanii.     389.  39S. 

Mokaddasi.     1 53. 

Mongolenherrschaft  in  China.     352. 

Monogatari.     371.  '376. 

Monologe  der  israelitischen  Propheten.  83.  86. 

Monophysiten,  Monophysitismus.    in  f.    121. 

Monotheismus.     79. 

—  des  Judentums.     94. 
Montaigne,  Michel,     i.  17. 
Mori  Ögai.     396.  399. 
Moses.     55.  71.  75.  81.  95. 

—  von  Choni.     304. 

—  von  Chorene.     286.  *287.  289.  294. 

—  von  Kalankatu.     289. 

—  von  Mardm.     123. 
Motammim.     140. 
Motoori  Norinaga.     393. 
Mrcchakatikä.     206. 
Mthiuler.     300. 
Mudräräksasa.     207. 
Mühibbi.     275. 
Müllenhoff,  Karl.     2.  25. 

Müller,  David  Heinrich.     136.   146. 

— ,  Max.     170.  180. 

Miiräd  II.     272.  277. 

Munäzürä.     249. 

Mundäs.     160. 

Munenaga.     273- 

Munja.     208. 

Murari.     207. 

Murasaki  Shikibu.     377.  380. 

Muromachi-Periode.     379. 

Musikwissenschaft,  Indische.     187. 

Mutaqärib-Metrum.     247. 

Mystik,  Neupersische.     263. 

Mythen,  Babylonisch-assyrische.     47. 

Mythus  in  der  iraelitischen  Literatur.     66  f. 


N. 
Näbi.     276. 
an-Näbigha.     137. 
Nagireddin,  Schah.     261. 
—  aus  Tüs.     261.  264. 
Nägir-i  Chosrau.     262. 
Nadir  Schah.     261.  270. 
Nänie.     18. 
Nägänanda.     207. 
Naga-uta.     362.  367.  371. 
Naisadhacarita.     205. 
Nala  und  DamayantT.     193. 
Nalbhandjan,  Michael.     296. 
Namiki  Gohei.     389. 
Namiki  SenryO.     387. 
Nanrei,  Toda.     390. 
Naobumi,  Ochiai.     398. 
Naoe,  Kinoshita.     395. 
Naqsh  i  Rustam.     218. 


Nara,  japanische  Hauptstadt.     366. 
Narämsin.     42. 
Närä^amsi.     166.  167.  174. 
Näräyana.     190. 
Narihira.     371.  376. 
Narse.     112. 

Nasarjan,  Stephan.     296. 
Nasks  des  Avedatextes.     223.  *224. 
Nathanparabel.     73. 
Naturlaute.     8. 

Naturmensch,   sein  \'erhältnis   zu  den  Natur- 
erscheinungen, Tieren,  Pflanzen.     5. 
Ne9ihet  el  mulük.     263. 
Nedschäti.     274. 
Nedschmeddin  Däjes.     262. 
Nefä'is  el  funün.     264. 
Nefehät  el-uns  Dschämis.     263. 
Nefl'.     275. 
Nehemia.     96. 

Neidhart  von  Reuenthal.     10. 
Neocorus.     10. 
Nerses  von  Lambron.     292. 
—  Schnorhali.     291.  292. 
Nesch'et.     276. 
Nesimi.     272. 

Nestorianer,  Nestorianismus.      iii.   116.   118. 
Neukonfuzianismus.     *347.  392. 
Newäji.     273. 
Nezame  Monogatari.     377. 
Nezlm.     279. 
Ngou  Yang-siu.     347. 
Nihongi.     361.  362.  380. 
Nijäzi.     276. 
Nikki.     371.  379. 
Nilus  Eremita.     134. 
Ninive,  Literatur  aus.     43. 
Nirangistan.     236. 
Nirukta.     178. 
Nirväna.     337. 
Nitisataka.     205. 
Niyantha  Näyaputta.     189. 
Nizäm  el-Mulk.     260. 
Nizämi.     253.  254.  272. 
Noah.     71. 

Nöldeke,  Theodor.     137.  239. 
No-Kyögen.     375.  '384. 
Nomokanon  das  Barhebraeus.     119. 
Norito.     364.  366. 

Noschirwän.     114.   115.   190.  237.  240.  260. 
Nö-Spiele,  Japanische.     384  f. 
Novelle,  Chinesische.     356. 
— ,  Israelitische.     54.  71. 
— ,  Japanische.     389.  394. 
Nuzhet  el-qulüb.     262. 
Nyäya  des  Gotama.     181. 

o. 

Obaidallah  ibn  al-Horr.     140. 
Ochikubo  Monogatari.     377. 


Register. 


413 


Offenbarung  Johannis.     97. 

—  durch  das  Wort  bei  den  israelitischen  Pro- 
pheten.    84. 

Ökagami.     381. 

Okura.     *36-/.  368. 

Olearius'     Übersetzung    des    Gulistän.      253. 

_  266. 

Omachi.     397. 

Omar  ibn  abi  Rabi'a.     138. 

Omentexte,  Babylonische.     44. 

Onna  ji.     376. 

Opfer  in  Indien.     174 f.     177. 

Opferfeier.      12. 

Orakel  der  israelitischen  Propheten.     80.  81. 

*83.  85. 
Orbeliani,  Gregor  und  Wachtang.     309. 
Ormazd.     224.  228.     230. 
Oschnar.     237. 
Osmanen.     269. 
'Othman  ibn  Achmed.     245. 
Otogi-zöshi.     383. 

P. 

Padapätha.     178. 

pah-kua.     320. 

Pälawis.     258. 

Pali.     163.  187.  222. 

Pandu.     192. 

Pänini.     163.   169.   179.  180.  *i82.  205. 

Pan  Ku.     334. 

Pan  Piao.     334. 

Pantomime.     20. 

Pan  Tschao.     334. 

Pantschatantra.     115.   143.   180.  *i9o. 

Pan  Tsieh-yü.     336. 

Pao  Tschao.    340. 

Papageienbuch.     276. 

Papier ,   seine  Erfindung   durch  die  Ägypter. 

28. 
Papierfabrikation,  Arabische.     154. 
Papyrus  Anastasi  1.     36. 
Paradhätas.     229. 
Parallelismus  in  der  Poesie.     11. 

—  membrorum    in    der    ägyptischen   Poesie. 
29- 

—  —  in  der  babylonischen  religiösen  Poesie. 
46. 

—  —  in  der  israelitischen  Poesie.     53. 

—  —  in  der  chinesischen  Lyrik.     343. 
Pariksit.     169.  174.   193. 

Patanjali.     183. 
Patkanjan,  Rafael.     296. 
Paulos,  Syrische  Logik  des.     114. 
Paulus  von  Telia.     113. 
Päzewäri,  Emir.     258. 
Pechlewi.     235.  238. 
Pei-wen-yün-fu.     350. 
Pentateuch.     94.  95. 
Perser.     214    235.  242.  270. 


Perserkrieges,  Syrische  Geschichte  des.     110. 

Peschltä.     105. 

Petavatthu.     188. 

Phantasie.     5. 

Pharao,  Lieder  auf  den.     35. 

Pharisäismus.     94. 

Philippos ,  Verfasser    des    Dialogs    über    das 

Fatum.     105. 
Philologie,  Arabische.     153  ff. 
Philosophie,  Chinesische.     347. 

—  Indische.     181. 

Philoxenos  von  Mabbog.     112.   113. 

Pingala.     178.   179. 

P'ing  Shan  Ling  Yen.     355. 

P'i-p'a-ki.     352. 

Piri  Reis.     277. 

Pi^äcaveda.     174. 

Platen,  August  Graf  von.     266. 

Plutarch.     114. 

Poesie  s.  Dichtung. 

—  im  israelitischen  Prophetentum.     83. 
Poh  Kiü-i.     344. 
Prabodhacandrodaya.     209. 

Prakrit.     163.   180. 
Prasasti.     167. 
Präti^äkhya.     178. 
,, Prediger".     90.  97. 
Predigten,  Neupersische.     260. 
Priesterkodex.     94.  95.  96. 
Propheten,  Israelitische.     68.  *78. 
— ,  — ,  ihre  Herrschaft.     94. 
— ,  — ,  nachexilische.     97. 
Prophetenbuch  des  Ezechiel.     82. 
Prosa,  Ägyptische.     37. 

—  im  israelitischen  Prophetentum.     83. 
— ,  Japanische  archaische.     364  f. 

— ,  — ,  vor  der  Engi-Ära.     376  f. 

—  in  der  türkischen  Literatur.     276. 
Prosadichtung,  Anfänge  der.     22. 
Proschjanz,  P.     297. 

Proverbien,     90.  97. 

Psalmen,    Hebräische.     52.    56.    62.    78.    87. 

*88.  97. 
Pschawen.     301. 
Pseudonym    in    der   neupersischen    Literatur. 

246. 
Ptahhotp.     32. 

Puppenspiel,  Indisches.     184. 
—,  Japanisches.     383.  386. 
— ,  Türkisches.     279. 
Puräna.     167.  168.  180.  184.  *I95. 
Puränaveda.      174. 
P'u  Sung-hng.     356. 


Qäbusnäme.  260. 
Qa^ide  s.  Kasida. 
Qadscharen.     270. 


Q. 

276. 


414 


Register. 


Qaragöz.     279. 

Qäri,  Machmüd.     257. 

Qäzi  Burhäneddin.     271. 

Qazwint.     261. 

Qit'ä.     245. 

R. 

Rabbülä  von  Edessa.     105. 

Rätsel.     12. 

— ,  Mittelpersische.     237. 

—  Salomos.     60. 
Rafti.     296. 
Räghib  Pascha.     276. 
Raghuvamsa.     20 1 . 
Räja^ekhara.     208. 
Räjatarangini.     173.  209. 
Rakushu.     375. 
Ramal.     247. 

Rämäyana.     170.  *i96.  200.  202. 

Ramses  III.     35. 

Rasikaschwili,  Lukas,  Nikolaus  und  Theodor. 

310. 
Rassudaniani.     306. 
Ratnävali.     207. 
Rävanavadha.     205. 
räwi.     141. 

Rawlinson,  Sir  Henry.     217.  220. 
Razi.     243.  263. 
Rbhu.     165. 
Rcas.     172. 

Rebäbname  von  Sultan  Weled.     271. 
Recht,  Indisches.     184. 
— ,  Mittelpersisches.     240. 
Rechtsbuch  Wachtangs  VI.     306. 
Rechtshteratur,  Georgische.     306. 
Rechtsschulen,  Arabische.     148. 
Reden,  Scheit-  und  Mahn-,  der  Propheten.  87. 
Redjez.     136. 
Refi'i.     272. 
Refrain.     8.  9.  *ii. 
Reichsannalen,  Chinesische.     335. 
Reigen.     10.   14. 
Reim.     11. 

Reinheitsgesetz  des  Avesta.     227. 
Reiseberichte  buddhistischer  Pilger.     339. 
— ,  Japanische.     379. 

Rehgion,  Verhältnis  der  Urpoesie  zur.     12. 
Renga.     373. 
Reschid  Tebib.     261. 
Rewäni.     274. 
Rhetorik,  Indische.     183. 

—  in  der  neupersischen  Literatur.     260. 
Rhythmus.     6. 

— ,  Akzentuierender,  der  hebräischen  Metrik. 

53. 
Rgv'eda.     161.  162.  *i64.  187. 
Ringelreihen.     15. 
Rink,  Hinrich  Johannes.     3. 
Rittergeschichten,  Japanische.     381, 


Ritual  der  großen  Reinigung.     365 

Ritualtexte,  Babylonisch-assyrische. 

Riwäjats.  240. 

Rizaquli  Chan.  257. 

Rohan,  Koda.     395. 

Rokkasen.     371.  372. 

Rokwa,  Tokutomi.     395. 

Roman,  Chinesischer.     353  ff. 

— ,  Indischer.     206. 

— ,  Japanischer.     377.  389. 

— ,  Mittelpersischer  historischer.     238 

Rousseau,  Jean  Jacques,     i. 

Rubä'i.     245.  250.  258. 

Rubeniden.     290. 

Rüdaki.     246  f. 

Rückert,   Friedrich.     8 

266. 
Ruhmlied.     17. 
Rümi,  Dscheläleddin. 
Ruth.     97. 


46. 


144.    193.    209.    249. 


'251.  271.  277. 


s. 

Sabier.     121. 

Sacharia.     68.  84. 

Sada-ie,  Fujiwara  no.     373. 

Sadanji.     398. 

Sada  Yakko.     398. 

Sad  dar.     240. 

Sa'dt.     *252.  257.  258.  259. 

Sage  in  der  israelitischen  Literatur.     69  fif. 

—  — ,  Niederschrift  der.     72. 

Sagen,  Israelitische.     56. 

Sagoromo  Monogatari.     377. 

Sahak  der  Große.     285.  286. 

Saif  ibn  Omar.     151. 

Saigyö-höshi.    373. 

Saikwaku,  Ihara.     '"389.  392.  395. 

Sajath-Nova.     293. 

Sakuntalä.     179.  201.  *202. 

Sakurada  Jisuke.     388. 

Salomo.     71. 

Salomos  ,, Weisheit".     59.  90. 

Salomo  von  Bagra.     118. 

Samaniden.     246. 

Sämaveda.   170. 

Samba,  Shikitei.     392. 

Sarnhitä.     164. 

Sarnhitäpätha.     177. 

Sarnkara.     181. 

Sämkhya  des  Kapila.     181. 

Sämkhyakärikä  des  Isvarakrsna.     181. 

Sammlungen    in   der  israelitischen   Literatur. 

54- 
Samuel.     71. 
Samuel  von  Ani.     294. 
Sä^idilya.     175. 

Sanemoto,  Minamoto  no.  373. 
San-kuoh-tschi-yen-i.  353.  354. 
Sanskrit.     163.   180. 


Register. 


415 


Sapor.     106.  109.  HO. 

Sarasin,  Fritz  und  Paul.     3. 

Sargis.     293. 

Sargis  von  Thmogwi.     304. 

Sargon  I.     45. 

Sarpaveda.     174. 

Sassanami,  Iwaya.     399. 

Sataka-Lyrik.     204. 

Satapathabrähmana.     175. 

Satire.     19. 

— ,  Japanische.     375. 

Saul.     7 1 . 

Savitar.     165. 

Sävitri.     193. 

Säyana.     210. 

Schachbuch,  Das  mittelpersische.     239. 

Schack,  Adolf  Graf  von.    249.  250.  254.  266. 

Schähi,  Emir.     275. 

Schahname.     239.  *248.  255.  260. 

„Schahnamemacher".     273. 

Schäjast  na-schajast.     236. 

„Schatzhaus  der  Geheimnisse"  Nizämis.    254. 

Schatzhöhle.     109. 

Schauspiel  s.  Drama. 

Schebäni,  Buch  von.     270. 

Schebistan-i  chajäl  Fettähis.     259. 

Schechi.     272. 

Schehirengiz  Mesihis.     274. 

Scheibäni.     256. 

Scherefeddin.     261. 

Schewket.     276. 

Schiefner,  Franz  Anton  von.     25. 

Schi-hoang-ti.     330.  331. 

Schikand-gumänik  widschär.     236. 

Schi-ki.     327.  *332. 

Schi-king.     *3i8.  335.  340. 

Schiller,  Friedrich.     7.   18. 

Schi  Nai-ngan.     354. 

Schinäsi,  Ibrahim.     278. 

Schlegel,  Friedrich  von.     2. 

— ,  Wilhelm  von.     2.  25. 

Schopenhauer,  Arthur.     176. 

Schotha  von  Rusthawi.     304. 

Schrift,  Ägyptische.     28. 

— ,  Keil-.     41. 

Schriftgelehrsamkeit,  Israelitische.     94.  95, 

Schriftsprache,  Moderne  arabische.     157. 

—  .s.  auch  Literatursprache. 

Schu,  Die  vier.     323. 

Schui-hu-tschuan.     354. 

Schu-king.    *3i9.  334. 

Schulliteratur,  Ägyptische.     36. 

Schuoh-wen.     349. 

Schwerttanz.     10. 

Seba',  Lied  des.     60. 

Sebeos.     289. 

Sedoka.     362. 

Sefernäme  des  Nägir-i  Chosrau.     262. 

Sefine.     245. 


Segen  Jakobs  und  Segen  Mosis.     62. 

Sei  Shönagon.     y]"].  378. 

Seistan  am  Hilmend.     221. 

Sejjid  All  Ekbcr.     277. 

Selim  I.     245.  257.  273. 

Semmyö.     365. 

SenryQ.     375. 

Ser'ata  mangest.     129. 

Sergios  von  Resch  Ainä.     115. 

Severus  von  Mär  Mattai.     119. 

Sewa-mono.     386. 

Shäfin.     148. 

Shamisen  383. 

Shäpur  I.  und  II.     224. 

Shehrazäd.     143. 

Sheng-yü.     348. 

Shimazaki  Töson.     397. 

Shin-Kokinshü.    372. 

Shintaishi.     396.  397. 

Shintoismus.     369. 

Shöko.     397. 

Shoku  Nihongi.     365. 

Shötoku-taishi.     365. 

Shunsui,  Tamenaga.     392. 

Sibawaih.     *I54.  242. 

Siddhänta.     189.  204. 

Sidney,  Philipp,     i. 

Sieben  Schläfer.     108. 

Siegeslied,  Israelitisches.     59.  *6i. 

Sijäsetnäme.     261. 

Si-kiün.     336. 

äiksä.     *I78.   187. 

Silbenschrift,  Japanische.     376. 

Simeon,  Geschichte  des  heiligen,     iio. 

Simeon  von  Beth  Arschäm.     112. 

Sirnhäsanadvätrimsikä.     190. 

Simson.     62.  71. 

Sindbad-Buch.     121.   143.  246. 

Sing-li.     347. 

Singtanz.     20. 

Sintfiutbericht.     44.  56. 

Sinuhe,  Leben  des.     31. 

Sirat  Antar.     142. 

Si-siang-ki.     351.  352. 

Sisupälavadha.     205. 

Siün  K'oang.     326.  329.  330. 

Siva.     196. 

Si-yu-ki.     355. 

Skizzenbücher,  Japanische.     377  f. 

Sloka.     183. 

Smärtasütra.     177. 

Smbat  der  Kronfeldherr.     292.  293. 

Smbat  Schah-Asis.     296. 

Smrti.     177.  184. 

Sega  Monogatari.     382. 

Sögi.     373. 

Soliman  I.     273. 

Soliman  II.,  der  Große.     275. 

Soma.     162.   165.  168. 


4i6 


Register. 


Somadeva.     189.  208. 

Somanätha.     187. 

Söshi-Schauspielcr.     39S.  399. 

Sozomenos.     135. 

Spieltrieb.     7. 

Spottlied,  Israelitisches.     58.  *6i.  86. 

Sprache  des  unzivilisierten  Volks.     4. 

Sprenger,  Aloys.     133. 

Spruchdichtung,  Israelitische.     90.  97. 

Sprüche  der  israelitischen  Propheten.     82. 

Srautasütra.     177. 

Sriharsa.     205. 

ärlharsa  Ölläditya.     206. 

Srhgärasataka.     205. 

Ssaba-Ssulchan  Orbeliani.     307. 

Ssundukjanz,  Gabriel.     297. 

„Stadterreger".     274. 

Stegreiflied.     8. 

Steinen,  Karl  von  den.     3. 

Stephan  der  Orbelier.     294. 

Stephan,  Sohn  ^üdaile's.     112. 

Stephan  von  Taron.     289. 

Stem-Veilchen-Schule.     397. 

Stiefkind-Geschichten,  Japanische.     377. 

Subandhu.     206. 

Sudäs.     161. 

Südi.     277. 

Südraka.     206. 

Sühngesänge.     12. 

Sülemän.     272. 

Sülemännäme  Firdewsis.     275. 

Suiko.     365. 

Sukasaptati.     191. 

Öulbasütra.     177. 

Sumerer.     40. 

Sundarakända.     200. 

Sung-Dynastie.     347. 

Sun  Yü.     336. 

Suren  des  Korans.     145.  146. 

Surüri.     277. 

Süsenjös.     128. 

Susruta.     1 86. 

Sütra.     177. 

—  der  zweiundvierzig  Sätze.     339. 

Suttanipäta.     188. 

Suttapitaka.     188. 

Su  Tung-p'o.     347. 

Svetämbaräs.     189. 

Swanen.     301. 

Synaxarion.     128. 

Syrische  Sprache.     104. 

Sze-ma  Kuang.     347. 

Sze-ma  Siang-ju.     336. 

Sze-ma  Ts'ien.     327.  *332.  347.  381. 

Sze-schu.     323. 


Tabari.     148.  151.  *i52.  243.  247. 


,,Tage  der  Araber".     141. 
Tagebuchliteratur,  Klassische  japanische.   379. 
Tagebücher    der   Könige    Israels    und  Judas. 
73- 


135-   136. 


348. 


376. 


569.  371.  373.  397. 


25- 


143.  260. 


Tachmäsp.     262. 


Taghlib. 
Ta-hioh.     324. 
Taiheiki.     382. 
T'ai-p'ing-yü-lan. 
Taira.     371.  380. 
Takejima.     397. 
Taketori  Monogatari. 
Takt.     8. 

Tanehiko,  Ryütci.     392. 
T'ang-Dichtung.     366. 

—  -Dynastie.     339.  369. 
T'ang-schi.     340.  341. 
Tanka.    362.  366.  367. 
Tanvasar.     224. 
Tanz.     10.   12.   14.  20. 
Taoismus.     327.  337. 
Tao-teh-king.     '327.  328. 
T'ao  Yüan-ming.     345. 
Tarafa.     137. 
Targüme.     104. 
Tärikh-i   sejjäh  Ewlijäs.     277. 
Tataren,  Heldensagen  der  minussischen. 
Tatians  Diatessaron.     105. 
Tausend  und  eine  Nacht. 
Tedhkiret  el-aulijä.     263. 
Teika.     373. 
Tekkan,  Yasano.     397. 
Teil  Amamä-Hymnus. 

—  — ,  Keilschriftbriefe 
Tempelchroniken.  74. 
Tenarai  Kagami.  387. 
Tenji.     365. 

Testament,    Altes.      51  f.    66  f.    95.    98.    105. 

113- 
— ,  Einfluß  der  ägyptischen  Literatur  auf  das 

Alte.     38. 
— ,  Verwandtschaft  von  Erzählungsstoffen  des 

Alten,    mit    nicht    direkt     beeinflussenden 

Literaturen.     56. 
— ,  Neues.     105. 
Tha'älibi.     242.  261. 
Thäbit.     273. 
Thäbit  ibn  Kurra.     121. 
Thamar.     302.  *303. 
Theater  s.  Drama. 
Theimuras  I.     307. 
— ,  Prinz,  von  Georgien.     309. 
Theodoros  von  Mopsuhestia.     114. 
Theologie,  Äthiopische.     126. 
— ,  Armenische.     289.  294. 
— ,  Georgische.     302. 
— ,  Neupersische.     262. 
— ,  Syrische.     1 11.   1 18. 
Theophilos,  Syrische  Homerübersetzung  des. 

115. 


34- 
zu. 


43-  55- 


Register. 


417 


Thomas  der  Artsrunier.     289. 

—  von  Harkel.     1 14. 

—  von  Marga.      1 18. 

—  von  Medsoph.     294. 
Thomas-Akten.     105.      108. 
Thsagareli,  Eugen.     310. 
Thschachruchadse,  Gregor.     303. 
Thumanjan.     297. 
Thutmosis  III.     34.  35.  yj. 


Tibetaner.     312. 


186. 


Tierheilkunde,  Indische. 

Tierpoesic.     14. 

Tiglatpilesar  II.     283. 

Tigräi  und  Tigre.     130. 

Timotheos,  Patriarch.      113. 

Timur.     272.  305. 

Timurs,  Emir,  Tuzukat  und  Melfüzät.     262. 

Titos  von  Bostra.     114. 

Tobias.     97. 

Tobit-ßuch.     109. 

Tokugavvazeit.     375. 

Ton-a.     373. 

Tora.     74.  *g5. 

— ,  Prophetische.     87. 

Tosa  Nikki.     379. 

Toshinari,  Fujiwara  no.     372. 

Toshiyori,  Minamoto  no.     372. 

Totemismus.     5. 

Totenkult.     5. 

Totenlied.     18. 

— ,  Israelitisches.     59.  86. 

Totentexte,  Ägyptische,     ij^. 

Toyama.     396. 

Tradition,  Mohammedanische.     146. 

—  des  Rgveda.     169. 

Träume  der  israelitischen  Propheten.     84. 

Traum.     5. 

Trinklieder,  Israelitische.     58.  86. 

Tripitaka.     187. 

Ts'ao  Süeh-ki.     355. 

Tschagataisch.     269.  278. 

Tschang  Tsai.     348. 

Tschan-kuoh-ts'eh.     ■}>'})'})■ 

Tschawtschawadse,  Alexander.     30g. 

— ,  Elias.     309. 

Tsch'eng  I.     348. 

Tsch'eng  Hao.     348. 

Tschou-Dynastie.     317.  324.  330. 

Tschou-kuan.     322. 

Tschou-li.     322. 

Tschou-tsze.     347  f. 

Tsch'u,  Elegieen  von.     336. 

Tschu  Hi.     347.  348. 

Tschuang-tsze.     328. 

Tschuh-min-ki.     333. 

Tschung-yung.     324. 

Tsch'un-ts'iu.     322.  332. 

Tserenz.     296. 

Tseretheli,  Akaki.     310 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  7. 


Tseretheli,  Georg.     310. 
Tso  K'iu-ming.     322.  332. 
Tso-tschuan.     322.  332.  334. 
Tsubouchi  Yüzö.     394.  399. 
Tsurayuki,  Ki  no.     *372.  37g. 
Tsurezure-gusa.     379. 
Tsuruya  Namboku.     389. 
Tsuuchi  Jihei.     388. 
Tsze-ngan.     344. 
Tsze-sze.     324. 
Tsze-tschi-t'ung-kien.     347. 
Türken.     270. 
Tu  Fu.     344. 
Tu  Muh.     347. 
Tulsl  Das.     198. 
Turanier.     214. 
Tuschen.     301. 

u. 

üdayana.     170. 

Udgätar.     164.  171. 

Übersetzungen,  Äthiopische,  aus  dem  Ara- 
bischen.    126. 

— ,  Armenische,  aus  dem  Syrischen  und  aus 
dem  Griechischen.     286. 

— ,     Chinesische ,     buddhistischer    Schriften. 

339- 
— ,  Japanische,    aus    europäischen  Sprachen. 

394-  396.  399- 
— ,  Mittelpersische.     240. 

—  neupersischer  Literatur  in  europäische 
Sprachen.     265. 

— ,  Syrische,  aus  dem  Arabischen.     121. 

— _  — ^  aus  dem  Griechischen.     113.   120. 

— _  — _  aus  dem  Persischen.     115. 

Uhland,  Ludwig.     20.  25. 

Ulugh  Beg.     264. 

Umgangssprache,   Moderne   arabische.      157. 

— ,  Chinesische.     351.  357. 

— ,  Japanische.     370.  395. 

UnterhaltungsHteratur,  Arabische.     141. 

— ,  Chinesische.     353  ff. 

— ,  Indische.     206. 

— ,  Japanische.     377.  389. 

Unterweisung,  Briefliche,  in  der  ägyptischen 

Literatur.     36. 
Upanisad.     *I76.  232. 
Urartu,  Das  Reich.     282. 
Urformen  der  Poesie.     lof. 
Urmusik.     8  f. 
Urpoesie,  Chorische.     7. 

—  — ,  Verhältnis  zur  Religion.     12. 
'Urfi.     257.  275. 

Urvasi  s.  Vikramorvasi. 
Uta,  Japanische.     361.  380. 
Uta-awase.     371. 
'Utbi.     243.  261. 
Utsubo  Monogatari.     377. 
Uttararämacarita.     207. 

27 


4i8 


Register. 


A'ätersagen,  Israelitische.     6g. 

Vägbhata.     i86. 

A'airägAasataka.     205. 

Vaisesika  des  Kanada.     181. 

A'älakhilya.     169. 

Valle,  Pietro  della.     266. 

Välmiki.     196.   197.  198.  200. 

Vämadeva.     165. 

Vämana.     183. 

X'araruci.     183.  204. 

\'aruna.     165. 

V'asantasenä.     2c6. 

\'äsavadattä.     206. 

\asistha.     165. 

Vatsyäyana.     1 84. 

\  ä\aipuräna.     196. 

\'edänga.     178. 

Vedänta  des  Bädaräyana.     181. 

\'eden.     164  ff. 

Vedisch.     163. 

A'endidäd.     225.  *226. 

Venlsarnhära.     207. 

\'erkündigungen  der  Zukunft  im  israelitischen 

Prophetentum.     85. 
Versbau,  Chinesischer.     340. 
Vertragsurkunden,  Babylonische.     43. 
Vetälapancavirnsatikä.      190. 
Veziere,  Die  vierzig.     260. 
Vidüsaka.     207. 

Vierzeiler,  Chinesische.     341.  343. 
\"ijnänesvara.     184. 
\'ikramähkadevacarita.     208. 
Vikramonasl.     201.  202. 
Villemarque.     10. 
Visäkhadatta.     207. 
Vishtäspa.     221.  223.  231. 
Visionen    der    israelitischen    Propheten.     83. 

*84. 
Visnu.     165.   196.   197. 

Purana.     196. 

Visnusarman.     190. 

A'lspered.     225. 

Visvamitra.     165.  166.  197. 

Visve  Deväs.     165. 

,, Vögelgespräche".     262. 

Volkslieder,  Ägyptische.     30. 

— ,  Arabische.     141. 

Volksliteratur,  Armenische.     290.  292. 

— ,  Japanische.     383.  385  f. 

— ,  Persische.     258. 

— ,  Türkische.     278. 

Volkspoesie.     i. 

Volkssprache    in    der    ägyptischen    Literatur. 

34-  36.  37- 
Volkssprachen  in  Indien.     163.   164. 
Vologeses.     223. 
Voltaire,  Francjois  Marie  Arouet  de.     2. 


\'ratyabuch. 
Vyäsa.     191. 


174. 


W. 


Wa^(;af.     261. 

Wachtang  VI.     306.  307.  308. 

Wächterlied   in    der  israelitischen   Prophetie. 

86. 
Wahrsagebücher,   Babylonisch-assyrische.  46. 
Waise,  Die,  aus  dem  Hause  Tschao.     352. 
Wä'iz  Käschifi.     259.  261.   262. 
Wakidi      151. 
Walda  Hcjwat.     127. 
Wallfahrtslied,  Hebräisches.     64. 

—  in  der  israelitischen  Prophetie.     86. 
Wamiq  und  Azra.     253. 

Wang  Hitschi.     345. 
Wang  Schi-tscheng.     355. 
Wang  Tsch'ung.     330. 
Wardä,  Georg.     117. 
W^ardan  der  Große.     294. 
W^aschuschti,  Prinz.     308. 
Watschandis.     11.  14. 
Wechselgesang  in  den  Psalmen.     89. 
Weddas  auf  Ceylon.     3.  4.  9. 
Weisheit  Salomos.     59.  90. 
Weisheitsdichtung,  Israelitische.     90. 
Weled,  Sultan.     271. 
Wellhausen,  Julius.     96. 
Weltchroniken,  Äthiopische.     128. 
— ,  Syrische.      117. 
W^eltliteratur.     2. 
Wendidäd.     236. 

—  s.  auch  Vendrdad. 
Wen-hien-t'ung-k'ao.     348. 
Wen-süan.     366.  367. 
Wen-ti.     336. 
Wen-wanh.     320. 
Wephchistkaossani.    304. 
Wessobrunner  Gebet.     13. 
W^ettstreitgedicht,  Persisches.     249. 
— ,  Türkisches.     274. 

Wis  und  Ramin.     255.  304. 

Worttöne  der  chinesischen  Sprache.    314.  341. 

Wramschapuh.     285. 

Wu-li-t'ung-k'ao.     322. 

Wu-ti.     336.  340. 


X. 


Xenophon.     283. 
Xerxes.     219. 


Y. 

Yajnagäthä.     166. 
Yäjnavalkya.     175.  *i85. 
— ,  Gesetzbuch  des.     171. 
YajQrnsi.     172. 
Yajurveda.     171. 


184. 


Register. 


4rg 


Yakamochi.     367.  368. 
Yama.     165.  187. 
Yamasaki  Sokan.     373. 
Yamato  Monogatari.     376. 
Yang  Fang.     340.  342. 
Yang  Hiung.     330. 
Yang  Tschou.     325.  326. 
Yao,  Kanon  des.     320. 
Yashts  des  Avesta.     224.  225. 
Yäska.     178.   180. 
Yasna.     225.  226. 
Yasuhide.     371. 
Yatabe.     396. 
Yedo.     390.  • 

Yih-king.     *32o.  323.  347. 
Yima.     226.  229. 
Yoda.     398. 

Yoga  des  Pataiijali.     181. 
Yoshitsune.     382.  383. 
Yüan-Tsze-ts'ai.     344  f. 
Yühkiao-li.     355. 
Yükichi,  Fukuzawa.     394. 
Yümei,  Kambara.     397. 
Yung-loh.     349. 
Yung-tscheng.     348. 


^228. 


27.  229.  231.  235. 


Zacharias  von  Mytilene.     iii. 

Zakarija  Qazwini.     262. 

Zamachshari.     148.  243. 

Zand.     222. 

Zar'a  Jakob,  König.      128. 

Zar'a  Ja'qob.     127. 

Zarathushtra.     *22o.  223 

Zarätuschtnäme.     240. 

Zarerbuch.     238.  239. 

Zartuscht  Bachram.     240. 

Zauberei.     12. 

Zauberhteratur,  Ägyptische. 

Zauberromane,  Chinesische. 

Zehngebote.     75. 

Zehnkönigsschlacht,  Indische.     161.  166. 

Zeichen  der  israehtischcn  Propheten.     81. 

Zenabs  Lebensbeschreibung  des  Königs  Theo- 

doros.     130. 
Zeneb.     274. 

Zivilschauspiele,  Chinesische.     353. 
Zohair.     137. 
Zoroaster  s.  Zarathushtra. 
Zuihtsu.     378. 


33- 
355- 


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