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DIE KULTUR DER GEGENWART
IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL HINNEBERG
DIE KULTUR DER GEGENWART
TEIL I ABTEILUNG IX
DIE OSTEUROPÄISCHEN
LITERATUREN
UND
DIE SLAWISCHEN SPRACHEN
A. BEZZENBERGER • A. BRÜCKNER • V. v. JAGIC
J. MÄCHAL • M. MURKO • F. RIEDL • E. SETÄLÄ
G. SUITS • A. THUMB • A.WESSELOVSKY ■ E.WOLTER
1908
BERLIN UND LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER
SOI
768672,
PUBLISHED SEPTEMBER 24, 1908
PRIVILEGE OF COPYRIGHT IN THE UNITED STATES
RESERVED UNDER THE ACT APPROVED MAKCH 3, 1905,
BY B. G. TEUBNER LEIPZIG
ALLE RECHTE,
EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN
INHALTSVERZEICHNIS.
I. DIE SLAWISCHEN SPRACHEN .... 1-39
Von VATROSLAV VON JAGIC.
Einleitung i — 2
A. Die slawischen Sprachen im allgemeinen 2 — 13
1. Vorgeschichtliches 2 — 4
II. Anfänge der Geschichte 4 — 6
III. Slawische Sprachen in der neuen Heimat 6 — 8
IV. Die Bekehrung der Slawen zum Christentum, die kirchenslawische
Sprache 8 — 13
B. Die slawischen Einzelsprachen 13—39
I. Russische Sprache 13 — 18
II. Ruthenische Sprache 18 — 19
III. Bulgarische Sprache 19 — 22
IV. Serbokroatische Sprache 22 — 26
V. Slowenische Sprache 26 — 27
VI. Böhmische Sprache 27 — 30
VII. Slowakische Sprache 30 — 31
VIII. Ober- und Niederlausitz-Sorbische Sprache 31
IX. Polnische Sprache 32 — 35
Schlußbetrachtung 35 — 36
Literatur 37—39
II. DIE SLAWISCHEN LITEFL\TUREN . . . 40-245
I. DIE RUSSISCHE LITERATUR 40-152
Von ALEXIS WESSELOVSKY.
Einleitung 40—42
A. Von den ältesten Zeiten bis zum
Ausgang des 18. Jahrhunderts 42—51
I. Von den Anfängen bis zu Peter dem Großen 42 — 47
II. Von Peter dem Großen bis zu Alexander 1 47 — 51
VI Inhaltsverzeichnis.
• Seite
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts 51 — 88
I. Alexandrinische Periode 51 — 58
II. Das Zeitalter Nikolaus' 1 58—88
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts 88 — 146
I. Epoche der Reformen 88 — 122
II. Die achtziger und neunziger Jahre 122 — 136
III. Neues Jahrhundert 136 — 146
Literatur 147 — 152
n. DIE POLNISCHE LITERATUR 153-175
\'0N ALEX.A.NDER BRÜCKNER.
Einleitung 153 — 154
I. Die Literatur des 16. — 18. Jahrhunderts 154 — 157
II. Die Literatur des 19. Jahrhunderts bis zum Aufstand von 1863 .... 157 — 165
III. Die Literatur seit dem .\uf5tand von 1863 165 — 174
Literatur 175
m. DIE BÖHMISCHE LITERATUR 176-193
\'0N JAN MÄCHAL.
Einleitung 176 — 179
I. Die altböhmische Literatur 179 — 180
II. Die böhmische Reformation 180 — 184
III. Das goldene Zeitalter (1527— 1620) 184 — 187
IV. Der Verfall der Literatur 187—188
V. Das 19. Jahrhundert 188 — 192
Literatur 193
IV. DIE SÜDSLAWISCHEN LITERATUREN 194-245
Von M.A.TTHIAS MURKO.
Einleitung 194 — 197
A. Die Literatur in der kirchenslawischen Sprache
und unter dem überwiegenden Einfluß von Byzanz .... 197 — 210
I. Die altkirchenslawische Periode 197 — 204
II. Das kirchenslawische Schrifttum seit dem 12. Jahrhundert 204 — 210
B. Die Literatur in den Nationalsprachen
und unter dem Einfluß des Abendlandes 210—243
I. Ältere Periode (bis zum Aufklärungszeitalter) 210 — 220
II. Moderne Periode 220 — 243
Schlußbemerkung 243 — 244
Literatur 245
Inhaltsverzeichnis. VII
III. DIE NEUGRIECHISCHE LITERATLiR . . 246-264
Von albert THUMB.
Einleitung 246—247
I. Die ältere gelehrte Literatur und die Wissenschaft . ■ 247 — 249
II. Die Volkssprache und die Volkspoesie. . . - 249 — 252
III. Die schöne Literatur bis zur Begründung des griechischen Staates . . 252 — 255
IV. Die Literatur unter der Herrschaft der Schriftsprache 255 — 259
V. Die Literatur im Zeichen des Sprachkampfes 259 — 261
Schluß 262
Literatur 263—264
IV. DIE FINNISCH-UGRISCHEN LITERATUREN 265-353
L DIE UNGARISCHE LITERATUR 265-308
Von FRIEDRICH RIEDL.
Einleitung 265—266
I. Das Mittelalter 266—269
II. Das Renaissance-Zeitalter 269 — 272
III. Das Zeitalter der Reformation 273 — 278
IV. Das Zeitalter der Gegenreformation 278 — 281
V. Das 18. Jahrhundert 282—284
VI. Das 19. Jahrhundert 284—307
Literatur 308
IL DIE FINNISCHE LITERATUR 309-332
Von EMIL SETÄLÄ.
Einleitung 309—310
I. Die mittelalterliche \'olkspoesie 310 — 314
II. Begründung und erste Schicksale der finnischen Schriftsprache (1542
— 1642) 314—315
III. Erwachen des Heimatgefühls (die Zeit der sogenannten Fennophilen,
1642— 1809J 316—318
IV. Die erste nationale Erweckung, der Kampf der Dialekte (1809 — 1835) 318 — 320
V. Die Zeit der großen geschlossenen Werke der Volkspoesie und der
neuen nationalen Erweckung (1835 — 1860) 320 — 323
VI. Die Neuzeit (1860 bis zur Gegenwart) 323—33'
Literatur 33-
in. DIE ESTNISCHE LITERATUR . .' 333-353
\-0N GUST.W SUITS.
Einleitung 333 — 334
I. Das katholische Zeitalter (13. bis 16. Jahrhundert) 334—337
II. Das protestantische Zeitalter (16. bis 18. Jahrhundert) 337—341
III. Das Emporkommen der genuin-estnischen Literatur (19. Jahrhundert) . 341—350
IV. Die neueste Zeit 350—352
Literatur 353
Vni Inhaltsverzeichnis,
Seite
Y. DIE LITAUISCH-LETTISCHEN LITERATUREN 354-378
I. DIE LITAUISCHE LITERx\TUR 354-371
Von ADALBERT BEZZENBERGER.
Einleitung 354 — 357
I. Die litauische Literatur bis zum Anfang des 1 8. Jahrhunderts 357—302
II. Die Literatur des 1 8. Jahrhunderts 362—364
III. Die Literatur des 19. Jahrhunderts 364—368
Literatur 369—371
IL DIE LETTISCHE LITERATUR 372-378
Von EDUARD WOLTER.
Einleitung 372—373
1. Die lettische Literatur bis zum Jahre 1850 373—375
II. Von 1850 bis zur Gegenwart 375 — 377
Schluß 377
Literatur 378
Register 379—396
DIE SLAWISCHEN SPRACHEN.
Von
Vatroslav von Jagic.
Einleitung:. Seit voreeschichtlichen Zeiten waren östliche Nachbarn Die Slawen öst-
* ° . , ,^^ _ liehe Nachbarn
der Deutschen die Slawen. Einst nicht weiter gegen den Westen Europas der Deutschen.
. Ihre geofjra-
als bis in das Weichselgebiet, an die Karpaten und die pannonische phische Grup-
pierung.
Ebene, gegen den Süden bis an die untere Donau reichend, drangen sie
in den letzten Jahrhunderten der sogenannten Völkerwanderung viel
weiter vor. Im Westen über die ganze östliche Hälfte Deutschlands bis
gegen Hamburg an der Elbe, im Hannoverschen bis über die Elbe, in
Mitteldeutschland bis an die Saale. Im Süden über den größeren Teil
der Balkanhalbinsel bis an die nordadriatische Küstenstrecke und Inseln
sowie an die alpinen Hinterländer. Der ungestörte Besitz in dieser Aus-
dehnung dauerte jedoch nicht lange. Schon seit den Zeiten Karls des
Großen begann die Verdrängung der politisch und wirtschaftlich schwachen
slawischen Ansiedlung aus den den Deutschen nächst gelegenen Gebieten;
mit der politischen Unterwerfung und der energisch betriebenen deutschen
Kolonisation ging die Entnationalisierung der zahlreichen slawischen Volks-
stämme Hand in Hand. Jetzt trifft man in Deutschland nur noch ganz
geringe Überreste der einst weit verbreitet gewesenen slawischen Be-
völkerung, so in Pommern, in Westpreußen, in der Ober- und Niederlausitz.
Von diesen Oasen mitten unter der deutschen Bevölkerung sind allerdings
zu unterscheiden jene durch die Machtentfaltung Deutschlands an dieses
angegliederten Slawen, deren unmittelbare ethnische Fortsetzung außer-
halb des deutschen Machtgebietes liegt, so die Polen und Cechen im
Norden, die Slowenen im Süden. Wenn man heute von den Nordwest-
slawen spricht, versteht man darunter zunächst alle Überreste der Slawen
in Deutschland (die Sorben der Ober- und Niederlausitz, die Kaschuben
und Slowinzen Westpreußens und Pommerns), ferner die Polen (auch Ma-
suren genannt) und die Cechen (nebst den Slowaken Nordungams). Unter
der Benennung Ostslawen sind immer die Russen gemeint, deren süd-
russische Abzweigung, zumal in Galizien, Bukowina und Ungarn den
Die Kultur der Gegenwart. I. 9. I
2 Vatroslav von Jagic: Die slawischen Sprachen.
Namen Ruthenen führt. Zu den Südslawen rechnet man Slowenen,
Kroaten - Serben und Bulgaren. Die heutige Gesamtzahl aller Slawen
dürfte rund 125 Millionen betragen.
A. Die slawischen Sprachen im allgemeinen.
Der Gesamt- I. Vo r ßf 6 s chi ch 1 1 1 ch 6 s. Die fremdsprachigen Einwohner auf dem
name Wenden * ...
oder Slawen, jetzt deutschen Boden führen, soweit sie slawischer Zunge sind, in dem
die Geschichte deutschen Munde, wenn man von den zur individuellen Geltung gekom-
hmde^rt n. Chr. meuen Cechen und Polen absieht, die Benennung Wenden oder Winden.
Oben in Sachsen und Preußen ist der Name in der ersten Form
(als Wenden), unten in den innerösterreichischen Ländern (Steiermark,
Kärnten, Krain) in der zweiten Form (als Winden) gebräuchlich. Die Be-
nennung selbst ist uralt, sie reicht bis in die Zeiten eines Tacitus, Plinius
und Ptolemäus zurück. Als „Venetae" oder „Venedae" tauchen die Slawen
als östliche Nachbarn der Deutschen ungefähr zur gleichen Zeit in der
Geschichte auf wie die Germanen, d. i. zu Beginn unserer Zeitrechnung.
Doch kein Tacitus fand sich für sie. Sie vermochten nicht den Römern
so zu imponieren wie die alten Germanen. Erst um mehrere Jahrhunderte
später, seitdem auch sie begannen, die Grenzen des oströmischen Reiches
durch Einfälle ernstlich zu beunruhigen, gedachten ihrer etwas eingehender
zwei mittelmäßige Geschichtschreiber des 6. Jahrhunderts, ein lateinisch ge-
bildeter Gote (Jordanes) und ein griechisch gebildeter Byzantiner (Prokopios).
Bis zu dieser Zeit beschränkte sich die Kenntnis der griechisch-römischen
Kulturwelt bezüglich der Slawen auf die Nennung einiger Namen; nichts
von ihrem Leben, nichts von ihrer Stammesgliederung, nichts von ihren
Einrichtungen. Das lange Stillschweigen erklärt sich zum Teil aus ihrer
dem Gesichtskreis der antiken Welt entrückten geographischen Lage, zum
Teil aber auch aus einigen wohlbekannten Zügen ihres Nationalcharakters:
aus der Schwerfälligkeit, infolge deren sie statt des selbständigen Auf-
tretens meist erwarteten, von anderen geschoben zu werden; aus ihrem
Mangel an Initiative, der vieles durch ihre Massen aber unter fremdem
Namen vollführt sein ließ.
Seit den frühesten Zeiten bis auf unsere Tage fiel das Gemeinsame
im Wesen der slawischen Völker stärker den fremden Beobachtern in die
Augen, als es bei ihnen selbst zum Bewußtsein kam. Daher die Vorherr-
schaft der Gesamtbenennung unter dem Namen „Venetae", wozu später
der einheimische Name „Sclaveni" oder „Sclavi" (slawisch „Slovene") hin-
zutrat. Beide Namen bleiben bei den byzantinischen und fränkischen
Chronisten auch dann sehr geläufig, als die Einzclbenennungen nach den
Stämmen (seit dem 8. und g. Jahrhundert) schon aufgekommen waren.
Wenn im 6. Jahrhundert bei den Byzantinern abermals zwei Namen
parallel nebeneinander genannt werden, Slawen und Anten, so liegt der
A. Die slawische Sprachen im allgemeinen. I. VorgeschichtHches. 7
Gedanke nahe, daß darin möglicherweise durch ein besonderes Medium
übermittelt dieselben früher erwähnten Slowenen und Wenden wiederkehren.
Jedenfalls ist auch diese Hervorkehrung zweier Namen nicht so zu ver-
stehen, als ob nicht damals schon eine große Anzahl von Einzelstämmen
unter ihren besonderen Benennungen vorhanden gewesen wäre, die sich
teils aus geographischen oder physischen Verhältnissen ableiteten, teils gene-
tischen Ursprungs waren. Doch in einer gewissen Entfernung konnten sie
von den fremden Schriftstellern nicht gehört und nicht wahrgenommen
werden. Daß das richtig ist, beweist ein wenige Jahrhunderte nachher
niedergeschriebener geographischer Bericht über die Slawen, der von
einem süddeutschen (bayerischen) Anonymus herrührt; in diesem wimmelt
es geradezu von Stammes- und Gaubenennungen (zum Teil schwer er-
klärlich).
Versetzt man den Verlauf der Völkerwanderung, soweit es sich dabei inJividuaiisie-
um die Slawen handelt, in das 4., 5. und 6. Jahrhundert n. Chr., so gewinnt gen slawischen
T • Hauptsprachen
man den ungefähren Zeitpunkt der zustande gekommenen Individualisierung um die Zeit der
o r> * • T^ 1 • 1 ■ Völkerwande-
der Slawen nach den Stämmen. Auch die Trennung der einst mehr ein- rung.
heitlichen Sprache in größere Dialekte, aus denen später die jetzigen
Hauptsprachen hervorgingen, mag spätestens in den ersten Jahrhunderten
unserer Zeitrechnung sich vollzogen haben, jedenfalls vor dem Eintritt in
die Völkerwanderungsepoche. Schon damals nämlich, als die Slawen noch
in ihrer vorgeschichtlichen Heimat hinter den Karpaten und dem rechten
Ufer der Weichsel per immensa spatia verbreitet waren, müssen sich in
ihrer Sprache verschiedene Abweichungen, gleichsam die ersten Risse
in dem einheitlichen Sprachbau, gezeigt haben. Wenn es auch damals
noch keine ausgesprochenen nationalen und sprachlichen Individualitäten
gab, die man heute unter den Namen Polen, Cechen, Serben, Kroaten,
Russen, Bulgaren usw. versteht — einige von diesen Benennungen sind
bekanntlich späten, fremden Ursprungs, andre lu-alt, vorgeschichtlich, be-
gegnend an verschiedenen Orten — so ist man dennoch berechtigt zu
glauben, daß die späteren slawischen Hauptsprachen schon damals, in
der vorgeschichtlichen Urheimat, angefangen hatten, sich zu individuali-
sieren. Charakteristische Eigentümlichkeiten des slawischen Sprachtypus
im allgemeinen bildet die Vorliebe für die breiteren {c, s, s) und die
engeren (c, s, z) Zischlaute, für die Zusammenziehung der Diphthonge in
einfache Vokale {ni-oi in ^, ei in /, au-oii in u, eu in y), für den vokalischen
Auslaut (Abfall der Konsonanten s, r, f, teilweise m-n). Durch diese
Kennzeichen hebt sich die slawische Sprachgruppe aus der baltoslawischen
vorausgegangenen Gemeinsamkeit ab. Unmittelbar vor der Wanderungs-
periode müssen aber innerhalb dieser gemeinsamen Züge sich jene indi-
vidualisierenden Merkmale entwickelt haben, die den heutigen Einzel-
sprachen zugrunde liegen. Diese kamen freilich nicht alle auf einmal,
nicht alle zur selben Zeit und in gleichem Umfang auf. Lange Daaer
Viele Jahrhunderte dauerte die slawische gemeinsame Vorgeschichte, """^KinS. *"
A Vatroslav von Jagic: Die slawischen Sprachen.
innerhalb deren die Absonderung des slawischen Sprachtypus aus der
baltoslawischen Gemeinsamkeit und durch das allmählige Anwachsen der
Differenzen die Trennung in die slawischen Hauptsprachen zustande kam.
Im Verlaufe dieser Zeit machte alles Gemeinsame den natürlichen Weg
der Evolution durch, die sich auch in der Sprache abspiegelt. Der ge-
meinsame Wortvorrat aller slawischen Sprachen ist noch heute so um-
fangreich, so tief eingreifend in alle Sphären des Volkslebens, daß das
trennende Einzelsprachige dagegen fast ganz in den Hintergrund tritt. Ein
sprechender Beweis für die lange Dauer des gemeinsamen Lebens aller
Slawen, der engen Beziehungen der Gesamtheit zu ihren Teilen und der
gemeinsamen Arbeit an der fortschreitenden Kultur. Einen stark bemerk-
baren Einschlag in den gemeinsamen Wortschatz aller Slawen bilden die
zahlreichen Entlehnungen aus den germanischen Sprachen, hauptsächlich
wohl dem Gotischen, wodurch ein bedeutender uralter Kultureinfluß der
Deutschen auf die Slawen konstatiert werden kann. Ausdrücke wie kniiczi
(König) für die Bezeichnung der Fürstenwürde, lassen auf die Bekanntschaft
der Slawen mit diesem Worte wahrscheinlich als Folge der politischen
Abhängigkeit schließen, während in pcnczi (Pfennig) und stlezi-sklczi
(Schilling) die Beeinflussung im Handelsverkehr, in user^gii oder iiser£zi
(Ohrring) die Bekanntschaft mit fremden Schmuckgegenständen, in slcmü
(Helm) mit fremder Bewaffnung, in clilcbü (Laib) mit der Nahrung, in
chysi'i (Haus) mit dem Hausbau sich kundgibt. In Viehzucht und Ackerbau,
in Waldwirtschaft, Bienenzucht und Fischfang erscheinen sie viel selb-
ständiger, gaben auch einiges an die Nachbarn ab (z. B. skoft'i, plugü).
Ticnnungdurcii II. Anfänge der Geschichte. Als für die Slawen die Zeit der Aus-
äußere Erweitc-
rung ohne innere breitung aus ihrer osteuropäischen Urheimat in der Richtung nach dem
Gesamtbildes. Westeu (in das Oder- und Elbegebiet), nach dem Südwesten (nach Böhmen,
Mähren und in das Flußgebiet der oberen Donau) und nach dem Süden
(über Pannonien in die norischen und dinarischen Alpen, in die Hämus-
länder hinter der unteren Donau) anbrach — die Ursachen dieser Bewe-
gfung bleiben unaufgeklärt; es kann Übervölkerung, Hungersnot, es kann
aber auch ein im Rücken auf sie ausgeübter Druck gewesen sein —
ergossen sie sich in Massen, zuerst wahrscheinlich in jener Rich-
tung, wo man ihnen keinen oder nur geringen Widerstand entgeg'en-
setzte. Das war im Westen der Fall, wo sie öde, von den germanischen
Stämmen verlassene Gebiete vorfanden. Etwas später, und zwar nachdem
die südlicher gelegenen Teile derselben durch die Berührung mit den
asiatischen Völkern (Hunnen, Avaren, Bulgaren) und mit einigen euro-
päischen (Daken, Geten, Langobarden) verschiedene Erfahrungen gemacht
und 'für die wirksame Offensive sich kampfbereit gefühlt hatten, eröfi'neten
sie ihre Einfälle auch über die Grenzen des oströmischen Reiches. Doch
selbst aus dieser verhältnismäßig .späten Zeit sind uns irgendwelche Nach-
richten von ihrem Auftreten unter hervorragenden Anführern oder von
A. Die slawischen Sprachen im allgemeinen. II. Anfänge der Geschichte. c
den Oberhäuptern einzelner Stämme nicht überliefert. Das ganze gleicht
mehr einer Massenbewegung, vollzieht sich in der Art eines Elementar-
ereignisses. Man darf dabei die Vermutung aussprechen, daß neben den
ortsnachbarschaftlichen und vielleicht auch sakralen Verbänden hauptsäch-
lich die Sprachverwandtschaft, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, für
die Wahl des Anschlusses in der eingeschlagenen Richtung maßgebend
war. Was sich durch größere Sprachverständlichkeit aneinander gebunden
fühlte, zog nach einer Richtung zusammen aus, z. B. die ganze Masse der
nordwestslawischen Stämme. Von gewaltsamen Durchbrüchen einzelner
Stämme durch die Mitte anderer, wodurch die uralte Nachbarschaft und
Angliederung zerstört worden wäre, erzählt die Geschichte der slawischen
Völkerwanderung wenig oder gar nichts. Die bei einem byzantinischen
Geschichtschreiber (dem Kaiser Konstantinos Porphyrogennetos) aus dem
10. Jahrhundert überlieferte Sage von dem angeblichen Zug der Kroaten
und Serben aus der nördlichen Heimat (von jenseits der Karpaten her)
nach dem Süden in ihre heutigen Wohnsitze , erregt in dieser Form bei
den kritischen Geschichtsforschern unserer Tage ebenso starke Bedenken
wie bei den slawischen Sprachforschem. Eine zweite Überlieferung ähn-
licher Art, die von dem Zug zweier Stämme in Rußland, aus dem an die
polnische Grenze anstoßenden Westen bis gegen Wolga, von den Radi-
micen und Vjaticen, berichtet, hat sich in der ältesten russischen Chronik
erhalten, und viele glauben, daß sie auf Tatsachen beruht. Das ist aber
auch alles. Im ganzen und großen darf man doch sagen, daß die zwischen
dem 4. und 6. Jahrhundert erfolgte Ausbreitung der Slawen über ihre
früheren Grenzen hinaus dem alten ethnischen Bilde nur eine räumliche
Ausdehnung verliehen hat, ohne die einzelnen Figuren des alten Bildes
zu verwischen. Für diese Annahme einer nur räumlichen Verschiebung Verschiedene
XTbergangs-
ohne gewaltsame Umwälzungen im Innern spricht die noch jetzt wahr- diaiekte.
nehmbare Harmonie zwischen der geographischen Gruppierung und den
sprachlichen Verwandtschaftsverhältnissen der einzelnen slawischen Volks-
stämme. Je zwei slawische Nachbargebiete befinden sich regelmäßig zu-
gleich in den Beziehungen der nächsten Sprachverwandtschaft, wobei
die Übergänge von der Sprache des einen zu der des anderen durch das
Zusammentreffen beiderseitiger Züge vermittelt werden, so daß man in
solchen Fällen mit Recht von den Übergangsdialekten sprechen darf.
In dieser Weise wird das ganze nordwestslawische Sprachgebiet, von jetzt
und einst, durch die charakteristische Aussprache c-dz{z) für die ursprüng-
liche Lautgruppe ij-dj wie durch ein einigendes Band zusammengehalten,
zum Unterschied von der Aussprache c-di{z) für dieselbe Lautgruppe bei
den Ostslawen (Russen) und von c(c)-d'(J) oder sf-zd bei den Südslawen.
In derselben Weise, nur durch ein anderes Merkmal, nämlich durch die
Lautgruppe oro-olo-ere wird die ganze Masse der Ostslawen (Russen) ab-
gesondert von den übrigen Slawen, die dafür bald ra-la, re-le sprechen
(die südlichen und der böhmisch -slowakische Sprachstamm), bald ro-lo,
Vatroslav von Jagic: Die slawischen Sprachen.
Die Kette durch-
Dio sprachliclu-n
Vorgänge inner,
halb der neuen
Heimat lange
Zeit dvmltel.
re-lc (die Polen, Sorben und andere Slawen Deutschlands). Ein drittes
Merkmal, die Anwendung der Konjunktion da (daß) zur Verbindung der
Objektivsätze (wofür sonst cto, ze, i'z verwendet wird) charakterisiert alle
südslawischen Dialekte. Man kann darnach, in den gröbsten Umrissen,
von den slawischen d'ö-Sprachen (polnisch, böhmisch, sorbisch), von den
slawischen Orö-Sprachen (russisch) und von den slawischen Z),?-Sprachen
(südslawisch) reden. Was aber die Übergangsdialekte betrifft, so läßt sich
schön konstatieren, daß innerhalb der russischen Sprachgruppe der am
weitesten gegen Westen vorgeschobene weißrussische Dialekt schon
einige Züge unverkennbarer Beziehung zur nächstbenachbarten polnischen
Sprachgruppe aufweist; oder daß das Wendische (Sorbische) der Ober-
lausitz Anlehnungen an das Cechische, das der Niederlausitz an das
Polnische zeigt; oder daß das Slowakische Nordungams (und Ostmährens)
schon den Übergang zur südslawischen Gruppe vermittelt; oder daß
innerhalb der südslawischen Sprachgruppe der A'^^y-Dialekt (nach knj-quid
so benannt) Nordkroatiens (Murinsel-Warasdin-Agram bis gegen Karlstadt)
einen Übergang vom Slowenischen zum Serbokroatischen herstellt; daß in
Mazedonien die Sprache der dortigen Slawen sowohl zum Serbischen als
noch mehr zum Bulgarischen Beziehungen hat. Die Zahl solcher Über-
gänge wäre noch größer, wenn nicht die vormals ununterbrochene Kette
der slawischen Besiedelung durch fremde Einwanderung und die infolge
davon eingetretene Entnationalisierung mehrere Verbindungsglieder ein-
gebüßt hätte. Durch die allmähliche Rumänisierung der dakischen Slawen,
die in Siebenbürgen, Bukowina und Walachei ansässig waren, war das
Band zerrissen, das einst die östlichen Südslawen, nach heutiger Benennung
Bulgaren, mit den südlichen Ostslawen (den Stämmen wie Tiverci, Ulici)
verknüpfte. Die zu Ende des 9. Jahrhunderts erfolgte Einwanderung der
Magyaren in die pannonische Ebene hob den Zusammenhang auf, der
vormals zwischen den zu den Südslawen gerechneten parmonischen Slo-
wenen und den Vorfahren der heutigen Slowaken, die noch jetzt ihre
Sprache ebenfalls slowenisch nennen, bestand. Der gänzliche Untergang
mehrerer slawischer Volksstämme in Deutschland verdunkelte einiger-
maßen die verwandtschaftlichen Beziehungen der übrig gebliebenen zu-
einander, so daß über das Verwandtschaftsverhältnis der Kaschuben zu-
den Polen und der polabischen Slawen zu den Kaschuben und Polen noch
jetzt unter den Gelehrten Meinungsverschiedenheit herrscht. Auch auf
der Hämushalbinsel hat das Zurückweichen des slawischen Elementes teils
vor dem griechischen, teils vor dem türkischen und albanesischen die
Lockerung der Beziehungen hervorgerufen, die allerlei Streitfragen nach
sich zieht, unter anderem auch die Lösung des Problems von der Heimat
der kirchenslawischen Sprache fast unmöglich macht.
in. Slawische Sprachen in der neuen Heimat, Zwischen dem
Zeitpunkt der ersten Niederlassungen der Slawen in den neuokkupierten
A. Die slawischen Sprachen im allgcnieinen. III. Slawische Sprachen in der neuen Heimat. y
Ländern im zentralen und südöstlichen Europa und der ersten Verwendung
ihrer Sprache für welche immer Aufzeichnung liegt ein Abstand von
mehreren Jahrhunderten, der für die Geschichte der slawischen Sprachen
fast nichts als unausfüllbare Lücken hinterlassen hat. Es entzieht sich
nämlich unsrer Kenntnis ganz und gar, welche Entwicklungsphasen die
einzelnen slawischen Sprachen während dieser Zeit bis zum Beginn des
Schrifttums (frühestens im 9. Jahrhundert, zum Teil erst im 11., 12., 13.
Jahrhundert) durchgemacht haben. Man tappt im Finstem herum. Es
wurde sogar die Vermutung ausgesprochen, daß die heutigen Unterschiede
zwischen den slawischen Sprachen, ihr Heraustreten aus dem Zustand der
ursprünglichen Einheit, erst auf dem Boden der neu bezogenen Ansied-
lungen vor sich gegangen sei. Allein sehr gewichtige Gründe sprechen
gegen die Aimahme einer so späten Entstehung der slawischen Haupt-
sprachen nach ihrem individuellen Typus. Anderseits liegt der Gedanke
nahe, daß neu entstandene Lebensverhältnisse, ein andrer Boden, ein
anderes Klima, die seitens der vorgefundenen früheren Bevölkerung aus-
geübte Beeinflussung — daß alles das doch auch auf den Organismus der
Sprache einwirken mußte. Aber wie, in welcher Richtung? Sichere
Tatsachen liegen nicht vor. Man ist auf Vermutungen angewiesen, die
mehr oder minder scharfsinnig lauten, aber nicht bewiesen werden können.
Nach der Theorie, die den geringsten Abstand von der Ursprünglichkeit
bei denjenigen slawischen Sprachen voraussetzen läßt, die bis auf diesen
Tag auf ihrer uralten Scholle oder nicht weit davon ansässig sind, sollte
man diejenige Entwicklungsphase für die ursprünglichste oder für die ihr
am nächsten stehende halten, in welcher sich die polnische und russische
Sprache befinden. Nur muß man dabei von der späteren Ausbreitung
absehen und auf die nachweisbar uralten Sitze sich beschränken. Nehmen
wir diese theoretische Kombination an und fragen wir, was dabei heraus-
kommt. Die Probe führt zu keinem sicheren Resultate. Z. B. man wäre nicht
abgeneigt, die Verhärtung des südslawischen Vokalismus (wo jedes e und i
hart wie im deutschen klingt, nicht wie russisch-polnisches 'c, ■'/) oder den Die Gründe der
Verlust des Unterschiedes in der Aussprache zwischen i und y (letzteres Differenzierung
ungefähr wie ü auszusprechen) den Einflüssen des neuen Milieu zuzuschreiben.
Allein schon die polnische und russische Sprache zeigen nicht einen
gleichen Grad der Erweichung ihres Konsonantismus; dieser ist entschieden
stärker entwickelt im Polnischen als im Russischen, und innerhalb des
Russischen selbst steht der süd- oder kleinrussische Vokalismus, wenigstens
bezüglich des Vokals e, heute schon ganz auf dem südslawischen Stand-
punkt voller Verhärtung und hat auch den Unterschied zwischen i und y
ebenfalls aufgegeben zugunsten eines dritten, harten Vokals. Oder man
möchte vermuten, daß die Abneigung gegen das erweichte r (wie r' aus-
zusprechen), die man in der Mehrzahl der südslawischen Dialekte wahr-
nimmt, vielleicht auf Rechnung der südlichen Heimat zu setzen sei;
allein dieselbe Erscheinung charakterisiert auch den weißrussischen Dialekt,
8 Vatroslav von Jagic: Die slawischen Sprachen.
der doch seit undenkbaren Zeiten auf derselben Scholle sitzt. Wie inner-
halb der nächst verwandten Dialekte in lautlicher Beziehung Divergenzen
herrschen können, zeigt das Böhmische mit seinem, allerdings erst in ge-
schichtlichen Zeiten aus / entwickelten r (ri auszusprechen) gegenüber
dem Slowakischen, das von f nichts wissen will. Es wurde auch betreffs
/, das im Böhmischen in den letzten fünf Jahrhunderten aus der Übung
gekommen, die Vermutung ausgesprochen, daß dieser Verlust auf den
deutschen Einfluß zurückzuführen sei. Allein das Lausitzsorbische kennt
noch heute /, und doch war dort der deutsche Einfluß mindestens eben
so groß wie in Böhmen. Warum lebt der Nasalismus in der polnischen
Sprache noch heute, während die nächsten Nachbarn gegen Osten und Süd-
westen (die Russen und die Böhmen) diesen Charakterzug schon sehr früh,
vor Beginn der Geschichte aufgegeben haben? Warum lebt im Russi-
schen und in den südslawischen Sprachen noch heute die bewegliche Be-
tonung, während die nächsten Nachbarn im Westen (die Polen und Böhmen)
immer eine bestimmte Silbe (polnisch — vorletzte, böhmisch — erste)
betonen? Warum ist im Polnischen und Russischen die Quantität (lange
Vokale) im Verlaufe von Jahrhunderten verloren gegangen, während das
Böhmische die langen Silben so belastet, daß sie stark in der Aussprache
hervortreten? Warum unterscheidet sich das Bulgarische durch Quantitäts-
losigkeit vom Serbischen? Auf alle diese Fragen haben wir augenblick-
lich nur eine Antwort: ignoramus. Die verschiedenen Phasen der sprach-
lichen Evolution kreuzen sich durcheinander, ohne daß man imstande
wäre, überall den Grund ihrer Entstehung ausfindig zu machen.
IV. Die Bekehrung der Slawen zum Christentum, die kirchen-
slawische Sprache. Die früheste Bekehrung eines slawischen Volks-
stammes zum Christentum geschah im 7. Jahrhundert, an der Ostküste
des Adriatischen Meeres, im alten Dalmatien, wo sich kurz vorher die
Kroaten und Serben im offenen Land ihr neues Heim gegründet hatten,
während in den vielen befestigten Küstenstädten, kleineren und größeren,
die romanische Bevölkerung fortlebte. Dem Einfluß dieser romanischen
Christen und dem hohen Ansehen ihrer kirchlichen Organisation (Aquileia,
Salona, Dioclea) ist wohl auch die so früh vor sich gegangene Bekehrung
der Kroaten und Serben zu verdanken. Doch vermochte der bald darauf
hier entstandene kleine christlich -kroatische Staat mit seinen halb slawi-
schen, halb romanischen Einrichtungen auf die Entwicklung der Volks-
sprache nicht den geringsten Einfluß auszuüben, um ihr zur literarischen
Verwendung zu verhelfen. Nicht die geringste Spur eines geschriebenen
Textes in der kroatischen Volkssprache ist zu finden, weder ein Gebet
oder Predigt, noch eine Beicht- oder Eidesformel. Alles Geschriebene
wurde in lateinischer Sprache geführt, wie überall im frühesten Mittel-
alter, wo Roms Einfluß sich geltend machte. Um so höher ist ein Er-
eignis des 9. Jahrhunderts anzuschlagen, durch welches neben den beiden
A. Die slawischen Sprachen im allgemeinen. IV. Die Bekehrung der Slawen zum Christentum. g
Trägern der damaligen christlichen Kultur in Ost- und Westeuropa, der
griechischen und lateinischen Sprache, noch eine dritte, d. h. die slawische
Sprache zur Herrschaft in der Kirche und durch diese auch in den
übrigen Zweigen des öffentlichen Lebens gelangte. Das war das Werk
zweier gebildeter Männer aus Saloniki, Konstantin (Kyrillos) und Methodios.
Beide Griechen von Geburt und durch Erziehung, von vornehmer Abkunft,
waren infolge äußerer Verhältnisse mit der slawischen Bevölkerung der ihre Entstehung
^ , , infolge von
Gegend in Berührung und Verkehr gekommen. Beseelt von dem Missions- Missionstätig-
eifer zur Verteidigung oder Verbreitung des Christentums, der namentlich
bei dem jüngeren Bruder (Konstantin) stark hervortrat, beschränkten sie
sich zuletzt, bei ihrer dritten und letzten Missionsreise, die in das Land
der Slawen (mährisch -pannonischen) gerichtet war — die zwei früheren
galten dem Orient, den Sarazenen nnd Chazaren — , nicht mehr auf die
bloße Verkündigung des christlichen Glaubens. Sie benutzten jetzt die
Gelegenheit, um für die ihnen von früher her bekannten Slawen, mit deren
Sprache sie nach einem Dialekt schon längst vertraut gewesen sein dürften,
etwas Größeres zu leisten, als man sonst von den gewöhnlichen Missionaren
erwartet. Sie traten als Erfinder einer auf den griechischen Vorbildern
beruhenden slawischen Schrift auf — in neuerer Zeit hält man das Glago-
litische für ihre nach der griechischen Minuskelschrift gemachte Erfindung,
das eigentliche Cyrillische aber für eine bald darauf erfolgte Umänderung
nach dem Muster der griechischen Unzialschrift — und als Begründer
einer slawischen Literatursprache durch die Übersetzung der Heiligen
Schrift und verschiedener, den liturgischen Zwecken dienender Kirchen-
bücher leisteten sie geradezu Bahnbrechendes. Als gelehrte Byzantiner,
deren Blicke weit nach dem Oriente schweiften, kannten sie die kirchliche
Organisation des christlichen Orientes, wo es auch solche christlichen
Kirchen gab, die weder die griechische noch die lateinische Sprache ge- Verdrängung
° ' ° r- o ^„5 Mahren und
brauchten. Nach diesem Muster führten sie auch bei den ihrer Missions- Pannonien.
tätigkeit anvertrauten Slawen eine ähnliche Organisation ein. Die groß-
artigen Folgen ihres Schrittes werden sie damals wohl nicht geahnt
haben, ja fürs erste gefährdete der Konflikt, in welchen sie wegen der
slawischen Sprache mit Rom kamen, ihr Werk in Mähren und Pannonien
so stark, daß es wohl gänzlichen Schiffbruch erlitten hätte, wenn ihm
nicht anderswo, in den Ländern, die der deutschrömischen Machtsphäre
entrückt waren — in Bulgarien und Mazedonien — , günstigere Aufnahme,
nachdrucksvollere staatliche Unterstützung zuteil geworden wäre und wenn
nicht die bereits früher zum christlichen Glauben bekehrten Kroaten und
Serben, die sich unter der Botmäßigkeit der dalmatinisch-römischen Hier-
archie nicht sehr behaglich fühlten, jetzt mit entschiedener Vorliebe eben-
falls der kirchenslawischen Sprache sich zugewendet hätten.
In der Geschichte der slawischen Sprachen, auf die es hier allein
ankommt, hatte das erwähnte Ereignis die wichtige Folge, daß um die
Mitte des g. Jahrhunderts ein slawischer Dialekt, durch die eigens für ihn
jO Vatroslav von Jagiö: Die slawischen Sprachen.
kombinierte Schrift graphisch fixiert, infolge der gleichzeitigen Über-
setzungs versuche, zur Literatursprache aller zum Christentum bekehrten
Slawen, soweit sie den orientalischen Ritus befolgten, erhoben wurde.
Ähnlich wie einst die Goten, so bekamen jetzt die Slawen, zunächst
wenigstens der südliche Zweig derselben, eine eigene liturgische und
Sie budet den literarische Sprache, die um mehrere Jahrhunderte früher in der Schrift
de^^wbsen- ' gepflegt wurde, als sich ähnliche Bedürfnisse bei anderen Slawen fühlbar
'" Sprächt" machten. Seit dem Bestand der slawischen Philologie (d. h. seit dem
orsc ung. j-^^^ ^^^ 1 8. Jahrhunderts) gibt diese Sprache die Grundlage des gesamten
sprachwissenschaftlichen Studiums ab als der älteste Repräsentant des
slawischen Sprachtypus überhaupt, ausgestattet mit feinen Lauteigentüm-
lichkeiten und beachtenswertem Formenreichtum, die sowohl der ver-
gleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen zugute kommen,
wie sie auch die Einsicht in den grammatischen Organismus aller slawi-
schen Einzelsprachen wesentlich fördern. Viele Erscheinungen der slawi-
schen Einzelsprachen, die sich als kümmerliche Überreste eines früheren
Zustandes der genauen Analyse nahezu entziehen, bekommen erwünschte
Beleuchtung durch die reichen, von jenem alten Dialekt erhaltenen Paral-
lelen, deren große Anschaulichkeit Tatsachen erschließt, die sonst nur
durch theoretische Kombinationen und H3'pothesen erreichbar wären.
Der Dialekt selbst als solcher muß einem slawischen Volksstamme, der
irgendwo im Hinterland der ägäischen Meeresküste zwischen Saloniki
und Konstantinopel angesiedelt war, abgelauscht worden sein. Die dor-
tigen Volksstämme nannten sich ohne Zweifel mit dem so oft wieder-
kehrenden Namen „Slowenen", und ihre Sprache war „slowenisch". Später
Sie hat doppci- wurde diese ethnische Benennung durch den politischen Namen Bulgaren
in den Hintergrund geschoben. So kommt es, daß die kirchenslawische
Sprache in der Wissenschaft bald „altslowenisch" bald „altbulgarisch"
heißt. Da sie aber zuerst bei den mährischen und pannonischen Slawen
zur liturgisch -literarischen Anwendung kam — auch diese nannten sich
damals wohl Slowenen, nur darf man aus der gleichen Benennung nicht
gleich auf die volle Stammes- oder Sprachidentität schließen — , wurde
von einigen namhaften Gelehrten des ig. Jahrhunderts die Ansicht von
ihrer mährisch- pannonischen Abkunft vertreten. Namentlich die „panno-
nische" Theorie wurde glänzend vertreten durch Gelehrte wie Kopitar
und Miklosich; sie stützte sich hauptsächlich auf einige Germanismen im
liturgischen Wortschatz der kirchenslawischen Sprache, die allerdings
leichter in Pannonien oder Mähren als in Mazedonien Aufnahme finden
konnten. Doch ist diese Tat.sache auch mit der Annahme der südlichen
Heimat des Kirchendialektes ganz gut vereinbar. Einzelne liturgische
Ausdrücke, die bereits vor der Mission der salonikischen Brüder und
ihrer Jünger durch die deutschen Priester und Prediger der Salzburger
Kirche in Mähren und Pannonien eingebürgert worden waren, konnten
leicht nachträglich in die kirchenslawische Sprache aufgenommen werden,
A. Die slawischen Sprachen im allgemeinen. IV. Die Bekehrung der Slawen zum Christentum, i i
selbst wenn diese ihrem sonstigen Charakter nach und von Haus aus ein
mazedonischer Dialekt war. Übrigens ist es noch sehr fraglich, ob alle
Germanismen der altkirchenslawischen Sprache, die in ihren ältesten Denk-
mälern vorkommen, gerade aus dem Althochdeutschen des g. Jahrhunderts,
und nicht schon früher, entlehnt sind.
In der Eigfenschaft als liturgisch-literarisches Organ der Kirche bahnte ihre weite
° '^ ° Verbreitung.
sich der bevorzugte Dialekt schnell den Weg weit über die Grenzen
seines ursprünglichen Geltungsgebietes. Er wanderte aus einem slawi-
schen Land ins andere, überall dorthin, wo der Gottesdienst in der slawi-
schen Sprache verrichtet wurde. Das bezog sich zunächst auf alle Süd-
slawen, nur die pannonischen Slowenen kamen bald außer Betracht, es
blieben aber die Bulgaren, Serben, Kroaten, vielleicht auch ein Teil der
Slowenen, dann aber (seit dem i o. Jahrhundert) auch auf die Gesamtheit
der Ostslawen (Russen). Überall hier fungierte die Kirchensprache nach
den mittelalterlichen Begriffen zugleich als Staats- oder Gemeindesprache,
ganz in der Art des Latein bei den romanischen und germanischen
Völkern. In ihrer weltlichen Funktion unterlag sie, den mannigfaltigen
Bedürfnissen entsprechend, verschiedenen lokalen Beeinflussungen in Laut-
ausgestaltung, in Formen, namentlich aber im erweiterten Wortvorrat.
Seit dem 1 1 . Jahrhundert kann man vom bulgarischen, russischen, serbi-
schen, kroatischen „Kirchenslawisch" sprechen. Erwähnenswert ist außer-
dem, daß der kirchenslawische Dialekt in seiner mittelalterlichen Ver-
wendung für längere Zeit auch beträchtliche Gebiete nichtslawischer
Zunge unter seine Herrschaft bekommen hatte. Das galt für Moldau und
Walachei im Süden und für Litauen im Norden.
Die Herrschaft des Kirchenslawischen als der mittelalterlichen Lite- nir allmähliches
Zurückweichen
ratursprache aller orthodoxen Slawen dauerte viele Jahrhunderte. In mit der Be-
^ schränkung auf
Rußland bis in die Zeiten Peters des Großen, bei den Serben und Bul- das Gebiet der
Kirche.
garen bis zum Ausgang des 1 8. Jahrhunderts. Während der ganzen Dauer
mittelalterlicher Zustände war diese im Grunde tote Sprache ihr einziges
literarisches Organ, allerdings nicht so einheitlich wie etwa das mittel-
alterliche Latein. Der Gesamtinhalt des geistigen Lebens, mag dieses
noch so arm gewesen sein, fand in dieser Sprache seinen Ausdruck.
Dieser Umstand führte zu allerlei sprachlichen Mischungen, wobei die
Volkselemente in sehr ungleichem Maße mitwirkten. Im Laufe des 15.,
16., bis zu Ende des 17. Jahrhunderts hatten sich in Rußland allein zwei
merklich voneinander abweichende Literatursprachen entwickelt: eine nord-
östliche, moskowitische, in sich einheitliche, dem echten kirchenslawischen
Typus näher, und eine südwestliche (man könnte sie wilnaische nennen),
in welcher das Kirchenslawische nicht bloß vom volkstümlichen Weiß-
russischen, sondern auch von der polnischen Sprache stark beeinflußt war.
Mit der letzteren berührte sich aufs engste auch die literarische Sprache
der Kijewer scholastischen Gelehrsamkeit, nur daß hier statt der weiß-
russischen die kleinrussischen Elemente mitspielten. Peter der Große gab
j , Vatroslav von jAGid;: Die slawischen Sprachen.
den ersten gewaltigen Stoß der bisherigen Alleinherrschaft der kirchen-
slawisch-moskowitischen Literatursprache in Rußland. Er gestattete freie
In Rußland. Anwendung neuer, unter dem holländischen Einfluß modernisierter Schrift-
züge, der sogenannten grazdanskischen Typen, für den Druck geschicht-
licher und Manufakturwerke, wie er sich selbst ausdrückte. Die bis dahin
üblichen geschnörkelten, mit Abbreviaturen versehenen Schriftzüge und
Typen blieben den Drucken kirchlichen Inhaltes vorbehalten. Dadurch
kam der Dualismus einer weltlichen und einer geistlichen Literatur schon
in äußerer Gestalt zum Ausdruck. Die mit rücksichtsloser Eile und Ge-
schwindigkeit auf Betreiben des Zaren ausgeführten Übersetzungen ver-
schiedenartigster Werke aus den europäischen Literaturen rissen auch in
Anwendung der Sprache die Schranken der bisherigen toten Überliefe-
rung nieder, die weltliche Literatur trieb durch ihren neuen, bisher un-
erhörten Inhalt in die Bahn der lebendigen Volkssprache. So machten
die Verhältnisse Peter den Großen selbst zum Hauptförderer der neuen
Richtung in der russischen Literatursprache, was auch seine bisher wenig
gewürdigte, in russischer Sprache geführte Korrespondenz bestätigt. Von
nun an blieb die kirchenslawische Sprache in Rußland auf liturgische
Zwecke beschränkt. Selbst die Theologie als Wissenschaft und die
Kanzelberedsamkeit werden nunmehr ausschließlich in der russischen
Sprache gepflegt, diese besprengt allerdings mit dem ins Kirchenslawische
getünchten Weihwedel.
Bei den Bei den orthodoxen Südslawen (Bulgaren, Serben), die anfangs, seit
dem 10. Jahrhundert, nicht bloß für die eigenen Bedürfnisse sorgten, son-
dern selbst Rußland fertige Produkte ihrer literarischen Tätigkeit über-
mittelten, hörte nachher, seit dem politischen Untergang ihrer Staaten im
14. und 15. Jahrhundert, allmählich die Pflege der kirchenslawischen Lite-
ratur gänzlich auf. Einige während des 15. und 16. Jahrhunderts im Lande
entstandenen Druckereien mußten wegen der Ungunst der Verhältnisse,
unter dem drückenden Joch der Türkenherrschaft, ihre Arbeit einstellen.
Den geringen Bedarf an liturgischen Büchern, soweit er nicht von Venedig
aus oder durch Handschriften, die man noch immer fortsetzte, gedeckt
werden konnte, lieferte in den letzten drei Jahrhunderten Rußland, dessen
russisch gefärbte Kirchensprache allmählich den serbischen und bulgari-
schen Tj'pus des Kirchenslawischen aus dem kirchlichen Leben Serbiens
und Bulgariens ganz verdrängte. Viel trug" dazu auch die in Kijew er-
haltene höhere Bildung der serbischen und bulgarischen Geistlichkeit bei.
Als im Laufe des 18. Jahrhunderts bei den Serben Südungarns und Sla-
woniens, die erst kurz vorher diese Gebiete besiedelt hatten, um Grenz-
wachdienst gegen die Türken zu leisten, eine Bewegung zugunsten der
Schulbildung und Literatur sich bemerkbar machte, erschien auch ihnen
das Gemisch der Kirchensprache in russischer Fassung mit den serbi-
schen Volkselementen als das nächstgelegene Mittel zur Begründung
einer weltlichen Literatur. Man nannte diese Sprache „slawoserbisch".
B. Die slawischen Einzelsprachen. I. Russische Sprache. I 5
Ihre Herrschaft dauerte jedoch nicht lange. Das Ende des i8. Jahr-
hunderts (Dositije Obradovic, ein Kind des Josephinischen Zeitalters) und
vor allem die reformatorische Wirksamkeit Vuk Karadzics zu Anfang des
19. Jahrhunders schafften auch bei den Serben die letzten Reste jener
mittelalterlichen Zustände ab. Die reine serbische Volkssprache trat in
ihre Rechte als das alleinige Organ des öffentlichen Lebens und der
Literatur. In Bulgarien vollzog sich derselbe Emanzipationsprozeß etwas
später und langsamer. So haben jetzt alle orthodoxen Slawen zwar noch
immer eine und dieselbe kirchenslawische Sprache, nämlich den russischen
T}^us derselben, doch beschränkt ausschließlich auf den liturgischen Ge-
brauch. Diesem sind viel engere Grenzen gezogen als etwa der lateini-
schen Sprache in der katholischen Kirche.
B. Die slawischen Einzelsprachen.
I. Russische Sprache. Keine von den heutigen slawischen Sprachen Die russische
hat so enge Beziehungen zur kirchenslawischen aufrechterhalten wie die ste^'^ueziehua.
moderne russische. Das erklärt sich nicht aus ihrer nächsten oder größten slawischen, "
Verwandtschaft mit dem Kirchenslawischen, sondern aus der an den
kirchenslawischen Elementen geübten Schonung zu der Zeit, als die lite-
rarische Emanzipation der russischen Sprache begann. Das Kirchen-
slawische war nämlich so in Eleisch und Blut des sehr religiösen und
seine liturgische Sprache verehrenden großrussischen Volkes gedrungen,
daß selbst dann, als man bewußt inssisch schreiben wollte, unbemerkt
viele kirchenslawische Ausdrücke, ja selbst Sprachformen standhielten, da
man sie nicht als etwas Fremdes in dem russischen Sprachorganisraus
fühlte. Vieles davon ist selbst bis auf den heutigen Tag unangetastet
geblieben, einzelnes tritt allmählich bei dem fortgesetzten Nationalisierungs-
prozeß in den Hintergrund. Diese Tatsache allein würde schon aus-
reichenden Grund abgeben, warum nach der kirchenslawischen zuerst die
russische Sprache an die Reihe kommen und mit einigen Worten charak-
terisiert werden soll. Aus Cherson, einer griechischen Stadt an der Nord-
küste des Schwarzen Meeres, kam der Überlieferung zufolge das Christen-
tum zu Ende des lo. Jahrhunderts nach Rußland, zunächst nach Kijew.
Die russischen Slawen bezogen es in der slawischen Form, weil neben
der höheren Hierarchie, die anfangs aus Griechen bestand, als die eigent-
lichen Arbeiter an der Bekehrung die slawischen Priester aus dem byzan-
tinischen und bulgarischen Reich tätig waren. Diese brachten das fertige
Werk, die kirchenslawische Sprache und die in dieselbe übersetzten
Werke, nach Rußland. Somit wurde jener oben geschilderte südslawische
Dialekt, den die beiden salonikischen Brüder zur Kirchensprache machten,
zugleich die Kirchen-, Literatur- und Staatssprache der Russen, allerdings
mit geringfügigen Modifikationen hauptsächlich lautlicher Natur, welche
14
Vatroslav von Jagic: Die slawischen Spraclien.
>ie Loslösung
der Volks-
sprache von
slawischen.
Drei Haupt-
(lialoktc der
russischen
Sprache.
den wesentlichen Eigentümlichkeiten des russischen Sprachorganismus
Rechnung trugen. Die sonstigen Volkselemente, Sprachformen und Wort-
schatz, treten in den in Rußland geschriebenen Sprach- und Literaturdenk-
mälern nur sehr schüchtern zum Vorschein, in sehr ungleichem Maße sich
einstellend, am zahlreichsten in solchen literarischen Leistungen, wo der
ganze Gedankenkreis oder die genaue Bezeichnung der auf dem russi-
schen Boden sich abspielenden Ereignisse mit den in der kirchenslawi-
schen Sprache vorrätigen Mitteln nicht leicht wiederzugeben war, wie
z. B. bei der Abfassung von Gesetzen oder Urkunden weltlichen Inhalts
oder auch in der über äußere und innere Verhältnisse Rußlands berich-
tenden Annalistik. Das Bemühen, überall die aus dem slawischen Süden
übernommene Kirchensprache anzuwenden, entlockte einem alten russi-
schen Schriftsteller den Ausspruch: die russische und slawische (d. h.
kirchenslawische) Sprache sei ein und dasselbe. Das war in der Tat das
Glaubensbekenntnis aller damaligen Schriftgelehrten Rußlands, zumal
jener, die in dem Kijewer Höhlenkloster den Hauptsitz ihrer schriftstelle-
rischen Tätigkeit hatten.
Es gehört keineswegs zu leichten Aufgaben der geschichtlichen
Sprachforschung, aus den über sehr viele russische Sprach- und Literatur-
denkmäler zerstreuten volkstümlichen Elementen ein vollständiges Bild der
durch das Kirchenslawische in den Hintergrund geschobenen Volkssprache
in ihrer echten Gestalt zu gewinnen. In erwünschter Vollständigkeit liegt
eine derartige wissenschaftliche Leistung noch gar nicht vor. Dennoch
gestatten schon die bisherigen Forschungen, den Satz aufzustellen, daß
bereits im ii. Jahrhundert — aus dieser Zeit besitzen wir neben vielen
undatierten auch datierte Originaltexte von 1057, 1073, 1076, 1092, 1095
usw. — die altrussische Sprache nicht nur im allgemeinen mit ihren
heutigen Merkmalen, sondern selbst mit einigen, noch heute nachweis-
baren dialektischen Eigentümlichkeiten ausgestattet war. Z. B. um Alt-
nowgorod herum konnte man schon damals die Laute c und c verwechseln,
wie noch heute; ebenso konnte man das gedehnte e als / aussprechen.
Dieses Hervorschimmern zweier Eigentümlichkeiten, die noch heute leben,
läßt mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Existenz noch anderer Züge
schließen, die wir nicht belegen können, weil sie in den Sprachdenk-
mälern jener Zeiten nicht vertreten sind. Also dialektische Züge gab es
in der altrussischen Sprache schon in der ältesten durch Sprachdenkmäler
kontrollierbaren Zeit, d.h. im 1 1. Jahrhundert und gewiß noch viel früher.
Damit sei allerdings nicht gesagt, daß schon damals alles so entwickelt
war wie heute. Heute unterscheidet man nämlich drei russische Haupt-
dialekte: den großrussischen, der sich vom höchsten Norden (Archangelsk)
südwärts hinter Moskau, ungefähr bis Kursk und Voronez erstreckt und
östlich über Ural hinaus nach Sibirien reicht; den weißrussischen, der von
der polnischen Sprachgrenze ostwärts bis gegen Smolensk geht, südwärts
bis Prijiet und Pinsk; den klein- oder südrussischen, der unterhalb des
B. Die slawischen Einzelsprachen. I. Russische Sprache. I e
groß- und weißrussischen beginnt, den ganzen Süden bis ans Schwarze
Meer und östlich bis an den Don einnimmt und außerhalb Rußlands noch
in Bukowina, Galizien (bis Lemberg), ferner in dem an Galizien an-
grenzenden ungarischen Gebirgsland gesprochen wird. Der gToßrussische
Dialekt bildet die Grundlage der heutigen russischen Literatursprache,
der klein- oder südrussische der heutigen ruthenischen Literatursprache;
der mittlere, weißrussische, kam zwar durch einige Jahrhunderte in der ihre allmähliche
Ausgestaltung.
gewesenen Literatursprache des litauisch -weißrussischen Sprachgebietes
(mit Wilna als Zentrum) zur Geltung, wenn auch nicht in der reinen,
volkstümlichen Gestalt, nachher aber mußte er zuerst vor der Herrschaft
der polnischen, dann vor der der russischen Sprache die Segel streichen.
Nicht alle Unterscheidungsmerkmale dieser drei Dialekte in ihrer heutigen
Gestalt reichen bis in die ältesten Zeiten zurück. Einige mögen schon
in frühesten Jahrhunderten vorhanden gewesen sein, andere traten erst
später hinzu. Die Scheidung zwischen den älteren und jüngeren Merk-
malen zu treffen, ist die Aufgabe der Wissenschaft, die in diesen Fragen
noch nicht ihr letztes Wort gesprochen hat. Es hat den Anschein, daß
erst in den Jahrhunderten des politischen Sonderlebens der weiß- und
kleinrussischen Sprachgebiete gegenüber dem nordöstlichen moskowitischen
Rußland diese südwestlichen Dialekte, unter der anhaltenden Einwirkung
des polnischen Staatswesens mit seiner Sprache, Religion und Kultur,
ihre besondere, individuell ausgeprägte Gestalt erhalten haben. Innerhalb
des Großrussischen unterscheidet man einen nördlichen, bis nahe an Moskau
reichenden (?-Dialekt und einen südlichen (/-Dialekt. Dieser Zweiteilung
können wir durch Belege erst aus dem Ende des 14. Jahrhunderts bei- Die russische
Literatur-
kommen. Der ^-Dialekt wird so genannt wegen der Aussprache jedes spräche beruht
auf dem Mos-
unbetonten 0 breit und offen, ganz ähnlich dem Vokal a. In diesem Punkt i^aucr Dialekt.
gehört auch das Weißrussische zum a-Dialekt, während das Süd- oder
Kleinrussische die reine Aussprache des o wahrt. Die Moskauer Sprache,
aus welcher im 18. Jahrhundert die gegenwärtige russische Literatur-
sprache hervorging, kann als gemäßigter c?-Dialekt bezeichnet werden,
sie bildet gleichsam den Übergang vom o- zum ^-Dialekt. In der Tat
vereinigt die russische Literatursprache einige nordgroßrussische mit
einigen südgroßrussischen Zügen. Die Aussprache des unbetonten o als a
ist ein südgroßrussischer Zug (in einigen Worten wird selbst nach der
Konzession der Orthographie in der Schriftsprache a statt des etymolo-
gisch berechtigten o geschrieben, z. B. bar du, kaldc statt bordn, koldc),
dagegen ist die harte Aussprache der dritten Person singularis und pluralis
auf / (z. B. bildet, idi'it) ein nordgroßrussischer Zug, welchem im Südgroß-
russischen das erweichte /' gegenübersteht {bi'idet\ id/tf).
Einzelne Texte weltlichen Inhalts (z. B. Urkunden, die vielfach nach
fremden mittelalterlichen Originalen ausgearbeiteten Erzählungen und Ro-
mane, volkstümliche Schauspiele usw.) hatten schon während des 16. und
17. Jahrhunderts den volkstümlichen russischen Sprachformen und Phrasen
l5 Vatroslav von Jagic: Die slawischen Sprachen.
weiten Spielraum gewährt. Doch erst die gewaltige Reform Peters
des Großen, die den europäischen Einflüssen Tür und Tor öffnete,
leistete auch der Europäisierung der Sprache entschiedensten Vorschub,
sie förderte ihre Verweltlichung, ihre Nationalisierung. Da trat ein Mann
Lomonosov ab auf, der in der russischen Literatur eigentlich als der Begründer der
russischen Lite, modemeu Literatursprache gepriesen wird, in dessen Wirksamkeit auf
dem Gebiet der Literatur, der Wissenschaften und der Sprache selbst
sich die Reformgedanken Peters des Großen verkörperten. Das war
M. Lomonosov. Aus dem hohen Norden stammend, dessen russische Be-
völkerung sich damals vielleicht noch mehr als heute durch einen kräf-
tigen Menschenschlag und reiche in epischer Behaglichkeit dahinfließende
Sprache auszeichnete, verstand er seinen ihm angeborenen Sprachschatz
mit dem in Moskau herrschenden Geschmack der damaligen Intelligenz
(Hof, Adel, höhere Geistlichkeit, reicher Kaufmannsstand) in Einklang zu
bringen und dadurch in seinen Werken, in welchen er als Prosaschrift-
steller und Dichter zugleich tätig war, eine für seine Zeitgenossen und
auch die nachfolgenden Generationen mustergültige russische Literatur-
sprache zu schaffen. In der Tat bleibt seine Sprache in ihren wesent-
lichen Zügen bis auf den heutigen Tag aufrecht. Nur stilistisch wurde
ihr nachher größere Beweglichkeit, leichterer Gang, feinerer Schliff zuteil.
Das erreichte sie namentlich durch die anhaltende Übersetzungstätigkeit
und fleißige Nachahmung fremder, zumeist französischer Muster, wobei
sich Karamzin als Schriftsteller feinsten Geschmacks und Puschkin als
Dichter von klassischer Formvollendung auszeichneten. Diese beiden
Neue Etappen Namcu bilden in der Entwicklungsgeschichte der russischen Sprache die
in der Vervoll- ^ o r a i j-
kommnunK. nächsten zwei nach Lomonosov erklommenen Stuten. Auch die spateren,
nach Puschkin folgenden Vertreter der russischen Literatur in Versen und
Prosa, deren Werke jetzt schon zumeist das Gemeingut der ganzen Kultur-
welt bilden, gelten zugleich als weitere Etappen für die herrliche Ent-
faltung der russischen Sprache. Reichtum und Kraft des Ausdrucks,
Originalität des Stiles, gepaart mit der Plastik und Eleganz des ge-
läuterten Geschmacks — das sind die sprachlichen Vorzüge der Werke
eines Krylov, Gribojedov, Lermontov, Nekrasov, A. Majkov, Fet u. a. in
Versen, eines Aksakov, Turgenjev, Goncarov, Tolstoj und Cechov in
Prosa — , um nur die bekanntesten Namen zu nennen. Ihrer bedeutenden
literarischen Wirksamkeit verdankt die heutige russische Sprache nicht
bloß den weiten Umfang eines reichen Wortschatzes, sondern auch die
Präzision des Ausdrucks und große Schmiegsamkeit an den behandelten
Stoff, mag es sich um die Schilderung der Natur und menschlicher Arbeit,
um die Analyse psychischer Prozesse oder um philosophische Betrach-
tungen handeln.
Grammatische Für die .Sprache Lomonosovs, um sie grammatisch zu analysieren,
Hehandlunt; . , -l j
der Sprache, sorgte er selbst. Er schrieb eine Grammatik und eine Knetorik der
russischen Sprache, die sich wesentlich im Rahmen seiner literarischen
B. Die slawischen Einzelsprachen. I. Russische Sprache. I -j
Leistungen bewegten. Die Sprache Karamzins und seiner Schule schwebte
dem Grammatiker Grec vor, als er seine grammatischen Lehrbücher ver-
faßte, die durch mehrere Dezennien den russischen Sprachunterricht in
den Mittelschulen beherrschten. Der mächtige Aufschwung, den die
Sprache seit Puschkin und nach ihm genommen, spiegelt sich zwar teil-
weise in den neuen Lehrbüchern ab, allein erschöpfend kam er bisher in
keinem sprachwissenschaftlichen Werk zur Darstellung. Dazu fehlen auch
monographische Vorarbeiten, die erst in jüngster Zeit sich langsam ein-
stellen. Derzeit besitzt man wenigstens die ersten Versuche einer Cha-
rakteristik der Sprache Puschkins und Gogols. Die reiche Fundgrube
späterer Schriftsteller, z. B. Turgenjevs, der selbst zu wiederholten Malen
seinen Zeitgenossen den korrekten Gebrauch der schönen russischen
Sprache ans Herz legte, blieb bisher unberührt. Etwas mehr wurde für
die Hebung und Sichtung des Wortschatzes getan. Die zu verschiedenen
Zeiten gelieferten lexikalischen Publikationen der gewesenen russischen
Akademie und der jetzigen russischen Abteilung der kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften in St. Petersburg enthalten wertvolles Material sowohl
für die Literatursprache wie auch für die großrussischen Dialekte. Eine
imponierende, noch jetzt unübertroffen dastehende Leistung war das große
Wörterbuch der heutigen großrussischen Volkssprache von Wladimir Dal;
in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts abgefaßt, ist es jetzt in der
dritten Auflage im Erscheinen begriffen. Unter den doppelsprachigen
Hilfsmitteln (russisch-deutsch, russisch -französisch usw.) ragt durch den
Umfang und innere Reichhaltigkeit das Wörterbuch Pawlowskis hervor.
Bei aller Ungunst der inneren Verhältnisse Rußlands, die der freien Ent-
wicklung der russischen Literatur große Hindemisse in den Weg legen,
macht die russische Sprache so schnelle Fortschritte auf allen Gebieten
der Literatur, der Wissenschaften und Künste, daß keines von den der-
zeitigen lexikalischen Hilfsmitteln mit ihrer Entwicklung gleichen Schritt
hält. Eine vor zwanzig Jahren begonnene neue Ausgabe des akademi-
schen Wörterbuchs schreitet leider sehr langsam vorwärts. Die russische
Sprache ist zugleich die einzige unter allen slawischen, die auch auf ihre intematio-
. nale Bedeutung
internationalen Verkehr rechnen kann. Obwohl von Rußland aus für ihre in Aussicht.
Verbreitung außerhalb der Reichsgrenzen nicht das geringste geschieht,
ja der Verkehr der russischen Werke mit dem Ausland sogar großen
Schwierigkeiten seitens des mißtrauischen Polizeisystems unterworfen ist,
macht dennoch die Verbreitung der Kenntnis der russischen Sprache im
Ausland mit jedem Jahr neue Fortschritte. Deutschland steht in dieser
Hinsicht obenan, soweit man das nach der großen Zahl der russischen
Grammatiken und anderer zur Erlernung dieser Sprache bestimmten Hilfs-
mittel beurteilen kann. Auch solche Tatsachen, wie der Zudrang zum
russischen Sprachunterricht in Berlin, geben ein beredtes Zeugnis für den
weiten Umfang des russischen Sprachstudiums in Deutschland ab. Leider
bleibt die wissenschaftliche Pflege dieser Sprache im natürlichen Zu-
DiE Kultur der Gegenw.\rt. I. 9. 3
jg Vatroslav von Jagic: Die sla%vischen Sprachen.
sammenhang mit dem ganzen Inhalt der slawischen Philologie an den
deutschen Universitäten weit hinter den berechtigten Erwartungen zurück,
Ruthenischoder 11. Ruthcnischc Sprache. Man bezeichnet den klein- oder süd-
auch Ukrainisch russischen Dialekt, wenn vom ihm als einer Literatursprache die Rede ist,
in deutscher Benennung gewöhnlich als ruthenische Sprache, wobei man
hauptsächlich Galizien und Bukowina im Auge hat, wo sich dermalen
diese Sprache freier als in Rußland entwickeln kann, wo sie sich nicht
nur in der Literatur, sondern auch im niederen und höheren Schulunter-
richt und auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens gesetzliche An-
erkennung verschafft hat. Und doch liegt ihre Wiege nicht hier, sondern
in Rußland, in der Ukraina, weswegen man sie dann und wann auch
ukrainisch nennt. Hier wurde ihr in der zweiten Hälfte des i8. Jahr-
hunderts zuerst in rein volkstümlicher Gestalt die literarische Pflege zuteil.
Kotijarevski als Was nämUch Lomonosov fürs Großrussische, das war Kotljarevski fürs
Senischen"'^ Kleinrussischc oder Ruthenische: der erste Vertreter dieser Sprache in
sprich". der Literatur und als solcher ihr Begründer. Seinem Beispiele folgten
nachher viele, z. B. der volkstümliche Erzähler Kvitka-Ovsjanenko und
der bedeutendste bisherige Dichter der Kleinrussen Sevcenko — beide
ukrainische Musterschriftsteller, die auch von den Schriftstellern Galiziens
und der Bukowina als feste Grundlage der ruthenischen Sprache an-
gesehen werden. Das Verhältnis verschob sich allmählich und der
Gravitationspunkt wanderte nach Galizien, wo seit der Mitte des ig. Jahr-
hunderts das Ruthenische ein weites Feld der Betätigung gewonnen hat.
Doch ist diese Wanderung in die westliche Peripherie mit einigen Miß-
ständen verbunden. Gegenwärtig durchlebt die ruthenische Sprache in
Galizien eine wahre Sturm- und Drangperiode. Die mit fast fieberhafter
Hast betriebene Pflege derselben, selbst unter Anwendung auf die ent-
legensten Gebiete der praktischen Wissenschaften, bevor noch bedeutende
Talente für die einzelnen Fächer vorhanden sind, wirft Fragen auf, deren
gelungene Lösung nicht immer leicht ist. Die Sprache wird zu eilig mit
unzähligen Neologismen belastet, sie läuft Gefahr, ihre Natürlichkeit und
Volkstümlichkeit einzubüßen. Sie entfernt sich immer mehr von den
mustergültigen ukrainischen Vorbildern. Das Bestreben, die sprachliche
Individualität und Selbständigkeit des Ruthenischen gegenüber dem Russi-
schen möglichst stark zur Geltung zu bringen, verleitet so manchen
Schriftsteller zu allerlei nach polnischen und deutschen Vorbildern aus-
geklügelten Neologismen, denen man vor dem uralten gesamtrussischen
Erbgut den Vorzug gibt, um nur etwas Neues, etwas vom Großrussi-
Die ruthenische schcu Verschiedenes zu schaffen. Man kann diese, dem wohlverstande-
zcichcn der ncu Intcrcssc für die natürliche Entwicklung der kleinrussischen Sprache
Drangporiode. Zuwiderlaufenden Übertreibungen unmöglich gutheißen. Solchen Ge-
fahren könnte durch möglichst große Beteiligung an dem Kulturwerk
seitens der tüchtigen Kenner der Sprache Ukrainas in Rußland selbst am
B. Die slawischen Eiuzelspiachen. II. Rutherische Sprache. III. Bulgarische Sprache. jg
wirksamsten vorgebeugt werden. Leider waren bisher gerade solche Männer
nur in verhältnismäßig geringer Anzahl anzutreffen, weil das in Rußland
herrschende Unterdrückungssystem vielversprechende Talente von der
Pflege des Einheimischen, Ukrainischen fernhielt. Man darf die Hoffnung
auf Besserung dieser ungesunden Verhältnisse nicht aufgeben. Dann wird
sich die Überzeugung Bahn brechen, daß neben der russischen Sprache
und Literatur, die immer mehr den Charakter einer Weltsprache und
Weltliteratur annimmt, auch eine kleinrussische oder ruthenische Literatur
ebensogut bestehen kann, wie neben der deutschen Weltsprache das
Vlämische oder Niederländische und Holländische, weiter das Dänische,
Norwegische und Schwedische vmgestört leben und literarisch gepflegt
werden, wie neben dem Französischen auch das Provenzalische, neben
dem Englischen das Keltische in Wales oder Irland seine volle Existenz-
berechtigung hat. In welcher Weise und mit welchem Erfolg das Ruthe-
nische neben den übrigen slawischen Sprachen seine Aufgabe erfüllen
wird, das läßt sich nicht voraussagen. Weder grammatisch noch lexika-
lisch ist die Sprache bisher genügend erforscht, obwohl es an dialekti-
schen Untersuchungen nicht mangelt. Für praktische Zwecke bestimmte
Lehrbücher sind in genügender Zahl vorhanden. Ein den ersten Bedürf-
nissen entgegenkommendes ruthenisch- deutsches Wörterbuch umfaßt bei
weitem nicht den ganzen Sprachschatz.
ni. Bulgarische Sprache. Der an Sprachformen unter allen sla-
wischen Sprachen reichste kirchenslawische Dialekt stammt, wie bereits
gesagt, aus den Gegenden, die heute zum bulgarischen Sprachgebiet ge-
rechnet werden. Das charakteristischste Verwandtschaftsband zwischen
dem Altkirchenslawischen und der heutigen bulgarischen Sprache besteht
in den für das urslawische tj-dj eintretenden Lautgruppen sf-zd; nost-mezda =
spricht noch heute der Bulgare, und zwar unter allen Slawen er allein,
ganz so (nur vielleicht etwas härter), wie wir es für den Dialekt voraus-
zusetzen haben, aus welchem die kirchenslawische Sprache hervorgegangen
ist. Während aber das Kirchenslawische durch den größten Deklinations-
und Konjugationsformenreichtum sich auszeichnet, hat das heutige Bul-
garische unter allen slawischen Sprachen einzig und allein die einstigen
Deklinationsformen gänzlich eingebüßt. Bei Anwendung eines postposi-
tiven (an jede Art des Nomens anhängbaren) Artikels besitzt es eine
einzige Singularform als Casus generalis für alle Verhältnisse des Singu-
lars und ebenso eine einzige Pluralform für alle Verhältnisse des Plurals.
Die verschiedenen Präpositionen kommen hier so wie in den romanischen
Sprachen zu Hilfe. Die Übereinstimmung dieser Art der Kasusbildung
zwischen dem Bulgarischen und Rumänischen, teilweise auch Albanesischen,
führte einige Gelehrte, z. B. Miklosich, zu der Annahme einer Beein-
flussung aller dieser Sprachen seitens der alten thrakischen Bevölkerung
— eine Ansicht, die schon deswegen auf die bulgarische Sprache keine
Bulgarische
Sprache in
nächsten
Beziehungen
um Altkirchen-
slawischen.
2 0 Vatroslav von Jagic; Die slawischen Spractien.
Sie hat die alten Anwendung finden kann , weil ihr Deklinationsverlust in eine Zeit fällt,
formen ein- da auf der Balkanhalbinsel keine thrakischen Volksstämme mehr lebten.
Eher ließe sich die Ansicht hören, daß das Rumänische allein auf die
besagte Neubildung der bulgarischen Deklination einen Einfluß ausübte.
Die Bulgaren lebten in der Tat seit den ältesten Zeiten in inniger Be-
rührung mit den Rumänen im Balkan- und Donaugebiet, ebenso in Maze-
donien, und da diese ein älteres ethnisches Element auf der Halbinsel
repräsentieren als die Slawen, so ist eine Einflußnahme ihrerseits auf die
Entwicklung der bulgarischen Sprache keineswegs ausgeschlossen. In
neuester Zeit zieht man allerdings vor, von jeder fremden Beeinflussung
bei der merkwürdigen Neugestaltung der bulgarischen Deklination abzu-
sehen und die Gründe dafür eher in dem lautlichen Charakter der Sprache
selbst zu suchen, z. B. im Zusammenfallen verschiedener Vokale in einem
einzigen trüben, etwas nach a ausklingenden Laut, wodurch wenigstens in
den vokalisch auslautenden Sprachformen gleich mehrere Kasus des Sin-
gulars zusammenfallen. Mag es sich damit so oder anders verhalten,
jedenfalls spielt dabei der nachgesetzte Artikel nicht die Rolle eines nach-
träglichen, erst nach dem Deklinationsverfall aufgekommenen Sprach-
mittels, da wir vielmehr durch einige Dialekterscheinungen nachweisen
können, daß auch der nachgesetzte Artikel mit verschiedenen Kasus-
endungen versehen sein kann. Man wird bei diesem Vorgang einiger-
maßen an die zusammengesetzte Deklination des Adjektivs in allen sla-
wischen Sprachen erinnert, wo die Casus obliqui teilweise nur beim
angehängten Pronomen volle Formen behalten, beim Adjektiv selbst aber
nicht. Z. B. der Dativus plur. statt des vollen dobromü 4- ivm — dieses
Bildungsprinzip lebt noch heute im Litauischen — kennt seit urslawischen
Zeiten nur die Form dobrii -\- iinü. In ähnlicher Weise mag in einigen
Casus obliqui der bulgarischen Deklination zunächst die Endung des Sub-
stantivs aufgegeben worden sein, weil sie an dem postpositiven Pronomen
sichtbar war, bis dann die Nominativ-Akkusativ-Form des Singulars und
Plurals als Casus generalis alle anderen Endung-en sowohl beim Nomen
als auch beim nachgesetzten Pronomen (Artikel) beseitigte. Diese moderne
bulgarische Deklination — die Konjugation blieb bis auf den Verlust der
Infinitivform sonst aufrecht erhalten — macht durchaus nicht den Eindruck
eines in sehr früher Zeit fertig gewordenen Prozesses. Im Gegenteil, viele
Überreste einstiger Kasusformen, die in der Volkssprache überall noch
hervortreten, sehen einer vor nicht langer Zeit eingetrockneten Quelle
ähnlich.
Sie ist erst im Man muß im Bulgarischen ebenso wie im Altrussischen hinter der
19. Jahrhundert ^
in Volkstum- Alleinherrschaft der kirchenslawischen Sprache in den Sprach- und Literatur-
licher Form zur ^ '
Geltung denkmälern aller Jahrhunderte die Spuren des Volkstümlichen mühsam
gekommen. ■' '■
aufsammeln — eine Arbeit, die noch nicht in ausreichender Weise aus-
geführt ist. Das älteste Denkmal, in welchem schon viele Belege für die
Evolution der bulgarischen Sprache in moderner Richtung zu finden sind,
B. Die slawischen Einzelsprachen. III. Bulgarische Sprache. 2 I
datiert aus der Mitte des 14. Jahrhunderts (die Troja-Sage). Doch erst im
17. und 18. Jahrhundert schrieb man volkstümUche Texte, meist apokr\'phe
Erzählungen, den biblischen Stoffen entnommen, in einer Sprache, die den
modernen Charakter des Bulgarischen in Lauten und Formen schon ent-
schieden hervortreten läßt. Der Grundsatz, in der Volkssprache Bücher
zu schreiben, kam in Bulgarien noch später zur Anerkennung als in
Serbien. Das geschah unter dem Einfluß der Romantik des vorigen Jahr-
hunderts, die bekanntlich die Pflege des Volkstümlichen als einen hoch-
wichtigen Faktor des Kulturlebens anerkannte. Zum Teil wirkte auch
das Beispiel der Serben mit. Doch ging man in der bulgarischen Sprache
nicht so energisch mit der Ausschaltung aller nichtvolkstümlichen Ele-
mente vor, wie es im Serbischen durch Vuk Karadzic geschah. Die Geltend-
machung der Rechte der Volkssprache schreitet dort langsamer vorwärts,
die Literatursprache bewegt sich konservativer. Die moderne bulga-
rische Sprache steht außerdem noch immer unter sehr starkem Einfluß des
Russischen; dieses gilt in Bulgarien als die nächstgegebene Kultursprache
zur Stütze der einheimisch-nationalen, ungefähr in der Weise, wie bei den
übrigen Süd- und Nordslawen die deutsche, beziehungsweise für Dal-
matien die italienische Sprache die Signatur fremder Beeinflussung bildet.
Die konservative Richtung der bulgarischen Literatursprache spiegelt sich
auch in der Orthographie wieder, die sich im russischen Fahrwasser be-
wegt und nicht alle phonetischen Eigentümlichkeiten der Sprache sichtbar
werden läßt.
Die bulgarische Sprache zerfällt in mehrere Dialekte, die erst in
neuester Zeit fleißig erforscht werden, weniger direkt in wissenschaftlichen
Abhandlungen, als indirekt durch die Publikation des folkloristischen
Materials mit möglichst treuer Bewahrung aller sprachlichen Eigentümlich-
keiten. Man unterscheidet vor allem die ostbulgarischen Dialekte von
den westbulgarischen. Die ersteren, die wieder in nord- und südost-
bulgarische Mundarten zerfallen, sind in mancher Hinsicht origineller,
selbständiger als die letzteren. Auch die gegenwärtige Literatursprache
stützt sich auf das Ostbulgarische, das im Süden des Balkans (Panagjuriste,
Koprivstica, Kotel usw.) gesprochen wird, etwas gemäßigt durch die
nächste Nähe des Westbulgarischen. Die Residenzstadt Sofia selbst liegt
im Bereich des Westbulgarischen, der sogenannten Schopen. Eine etwas
abgesonderte Stellung nehmen die mazedonischen Dialekte ein, die sowohl
in lautlicher Beziehung als im Wortvorrat manche Anklänge an das Serbische
zeigen. Durch den Verlust der Deklination und den Gebrauch des post-
positiven Artikels (sogar in dreifacher Gestalt) schließt sich dennoch das
Mazedonische im überwiegenden Teil näher an das Bulgarische als an
das Serbische an. Der neuerdings gemachte Vorschlag, einen Dialekt
Mazedoniens zur Schriftsprache des Landes zu machen, müßte, selbst wenn
er gut gemeint ist, als überflüssige Zersplitterung der geistigen Kräfte
entschieden zurückgewiesen werden. Welches Schicksal immer dem viel-
2 2 Vatroslav von Jagi6: Die slawischen Sprachen.
geprüften Land in nächster Zukunft beschieden sein mag, geistig ist es
schon jetzt durch Kirche und Schule an Bulgarien, so wie Altserbien, so
weit es noch slawisch ist, an Serbien gekettet.
Während an der grammatischen Erforschung des Bulgarischen in
neuester Zeit recht fleißig gearbeitet wird — kleine Lehrbücher zu prak-
tischen Zwecken sind in genügender Zahl vorhanden - — läßt die lexi-
kalische Bearbeitung noch sehr viel zu wünschen übrig. Das in Rußland
vor mehr als 20 Jahren erschienene Wörterbuch von Duvernois genügt
weder dem heutigen Zustande der Literatursprache noch den gegen-
wärtigen Kenntnissen der Dialekte.
Dia angestrebte IV. Serbokroatische Sprache. Was man heute unter dieser Be-
Eiaheit der ^ * ^ ^
serbokroati- neonung Zusammenfaßt, ist das noch nicht vollständig erzielte Resultat der
sehen Sprache.
Einheitsbestrebungen, die sich zu verschiedenen Zeiten mit ungleicher
Kraft äußerten, namentlich im vorigen Jahrhundert bewußt zum Durch-
bruch kamen, als der Vuksche Panserbismus und der Gajsche Illyrismus
unter verschiedenen Fahnen auf dasselbe Ziel lossteuerten. Vollständige
Einheit der Literatursprache zwischen den Serben und Kroaten ist zwar
jetzt in der Theorie erreicht, doch nicht in der Rückwirkung auf das Volk.
Die Serben bedienen sich bei gleicher Sprache einer durch Vuk reformierten
cyrillischen, die Kroaten der im Geiste der böhmischen Orthographie orga-
nisierten lateinischen Schrift, und da hinter diesem Unterschied der Schrift
der religiöse Dualismus (Orthodoxie, Katholizismus) und der Dualismus
des Namens (Serben, Kroaten) mit divergierenden Zukunftsidealen steckt,
so sind die äußeren Kennzeichen nicht so indifferent hier wie etwa der
doppelte Schriftgebrauch in der deutschen Sprache. Die weitesten Kreise
des Volkes betrachten vielmehr noch immer nur die literarischen Erzeug-
nisse einer Schrift als ihr geistiges Eigentum, wodurch sie selbst den Ab-
satz und damit zugleich die Produktionsfähigkeit auf die Hälfte reduzieren.
Statt einer Literatur bei einem sieben bis acht Millionen zählenden Volk,
die unter günstigen Umständen Beträchtliches leisten könnte, bestehen in
der Wirklichkeit zwei kleinere Literaturen, mit je drei bis vier Millionen
Die voUe Eini- Anhängern eine jede derselben. In früheren Jahrhunderten, da der Religions-
Faktoren: unterschied noch viel tiefer in das Leben des Volkes eingriif, nahm die
Religion, Name,
Schrift. Absonderung der orthodoxen Serben von den katholischen Kroaten noch
viel schärfere Formen an. Die Anhänger der orientalischen Orthodoxie
anerkannten während ihrer einstigen staatlichen Selbständigkeit und auch
nachher, unter dem türkischen Joch, die ausschließliche Geltung der
kirchenslawischen Sprache, die ihre Kirchen-, Staats- und Literatursprache
zugleich war. Ganz anders gestaltete sich das Leben bei den Katholiken,
die im kirchlichen und staatlichen Leben unter der Herrschaft der latei-
nischen Sprache standen, dafür aber zu Ende des 15. Jahrhunderts, die
westeuropäischen, zumal italienischen Einflüsse auf sich einwirken lassend,
in nationaler Sprache eine Literatur zustande brachten, die zum Teil aus
B. Die slamschcn Einzelsprachen. IV. Serbokroatische Sprache. 23
allerlei Erbauungsbüchem in Prosa, vorwiegend jedoch aus Dichtungen
weltlichen und geistlichen Inhalts bestand, in denen lateinische und italieni-
sche Muster nachgeahmt wurden. Diese in den dalmatinischen Küsten-
städten und einigen Inseln des Adriatischen Meeres (vor allem Lesina),
hauptsächlich jedoch in Ragusa aufgekommene Literatur, brachte es im 16.
und noch mehr im 17. Jahrhundert zu einer solchen Blüte, daß einige von
ihren poetischen Produkten zu den hervorragendsten Leistungen aller sla-
wischen Literaturen jener Zeit gerechnet werden dürfen. Sie zeichnen
sich durch wohlklingende, mit der Weichheit des Italienischen wetteifernde
Sprache aus, die den ragusanischen Lokaldialekt durch die Rücksicht-
nahme auf die schöne Volkssprache Bosniens und Herzegowinas veredelte.
Man nannte diese Literatursprache der Ragusaner slowinisch {slovinski).
Der größere Teil dieser literarischen Produktion blieb allerdings hand-
schriftlich beschränkt auf den engen Leserkreis derselben Stadt und per-
sönlicher Freunde; selbst das große Epos „Osman" erschien erst im
IQ. Jahrhundert im Druck. Nur Stoffe geistlichen Inhalts fanden Verbrei-
tung durch den Druck, der in Venedig, Rom, Ancona usw. besorgt wurde,
mit lateinischen Buchstaben in ungeregelter Orthographie. Nur ein ge-
ringer Bruchteil wurde in cyrillischer Schrift für die katholischen Hinter-
länder Dalmatiens (Bosnien und Herzegowina) zurechtgelegt, bis später die
Franziskaner, als die einzigen Träger der katholischen Kultur in diesen
Ländern, auch hier der lateinischen Schrift unter den Katholiken des
Landes Verbreitung verschafften.
Wenn auch diese literarische Produktion, soweit sie Norddalmatien Die Haupt-
und die Inseln umfaßte, in dem sogenannten ca - Dialekte (die Wörtchen Sieg des
. , , . ■ T 11 1 .■ -n -s/ti-Dialektes.
ca = quid, sfo = quid-, kaj = quid dienen zur allerkürzesten Benennung
der dialektischen Unterschiede innerhalb der serbokroatischen Sprache)
geführt wurde, zogen doch manche Schriftsteller den wohlklingenden und
mehr verbreiteten i/ö-Dialekt vor, selbst wenn sie von Haus aus den rauheren
t:>-Dialekt sprachen. Man pflegte sich immer wieder auf Bosnien und
Herzegowina als das Land mit der schönsten Volkssprache zu berufen.
So gab sich schon im 17. Jahrhundert die Tendenz kund, eine einheitliche
Literatursprache auf Grund des i/ö-Dialektes zu schaffen, mag man sie
slowinisch oder illyrisch oder kroatisch genannt haben. Ja selbst in die
orthodox-serbischen Länder wurde von Ragusa aus der schriftliche Ge-
brauch der reinen Volkssprache hineing-etragen. Der kleine Freistaat
unterhielt nämlich mit den serbischen und bosnischen Hinterländern sehr
regen Handelsverkehr, der häufig genug zu schriftlichen Abmachungen,
in der Form von Urkunden und Verträgen, führte. Zu diesem Zwecke
hatten die klugen, weitblickenden Ragusaner eine eigene serbische Kanzlei
in ihrer Stadt errichtet, die mit den Vertretern der besagten Länder und
auch einzelnen vornehmen Persönlichkeiten den schriftlichen Verkehr be-
sorgte, alle Vereinbarungen der betreffenden Parteien mit cyrillischer Schrift
in ihrem Dialekte, sozusagen nach ihrem Diktat niederschrieb und ein
24
Vatroslav von Jagic: Die slawischen Sprachen.
)er kroatischt
früher slowe-
nische
/^-^y-Dialekt.
Die Aufgabt
des lllyrisniu
Exemplar davon in dem Archive von Ragusa aufbewahrte. Dieser hoch
entwickelten Sorgfalt der Republik für das Archivwesen verdankt die
Geschichte der serbischen Sprache ihre ältesten, edelsten Perlen. Durch
Ragusas Vermittlung besitzen wir Dokumente der Sprache in ihrer reinen
Gestalt aus einer Zeit, da sonst weder im Osten noch im Westen des
serbokroatischen Sprachgebietes die echte Volksprache zur Anwendung
gekommen war.
In Nordkroatien, nördlich von dem Fluß Kulpa und Korana bis zur
Mur, und östlich über Sissek hinaus bis Virovitiz herrscht seit jeher der
sogenannte /C-rty'- Dialekt, mit dem der westlichen Nachbarn in Steiermark
nahe verwandt, doch nicht identisch. Jetzt heißt er im Munde des Volkes
„chorvaiisck^^ {horvaiski), vor dem Ende des 17. Jahrhunderts führte das
ganze Land zwischen Save und Drave den Namen Slawonien; dieser latei-
nisch-magj'arischen Form des Namens entsprach im Munde des Volkes
augenscheinlich die Benennung „Äö^^^wj/'ö kraljcsfvo" oder „Slovciiski orsag",
daher auch der Name des Dialektes „slovenski j'czit^, wie er in den
ältesten, aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammenden Druckwerken aus-
drücklich genannt wird. Einst mag dieser Dialekt unter dem letzt-
genannten Namen weiter gegen Osten, über Virovitiz hinaus, sich erstreckt
haben. Allein während der Türkenherrschaft bekam das heutige Slawonien
eine neue von jenseits der Save eingerückte Bevölkerung, die den sfo-
Dialekt spricht. Daher bleibt jetzt der /'^/-Dialekt auf den nordwestlichen
Teil des einstigen Regnum Sclavoniae, der seit dem Ende des 17. Jahr-
hunderts den Namen Kroatien führt, beschränkt. In diesem Dialekt hat
sich seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine kleine, nicht un-
interessante Literatur entwickelt, die mit dem Siege des lUyrismus und
mit ihm des i/ö-Dialektes, ihren Abschluß fand. Dieser Wechsel in der
Benennung einzelner Provinzen, der auch auf den Namen der Sprache
reagierte, erzeugte in der sprachwissenschaftlichen Literatur nicht geringe
Verwirrung, in der sich selbst hervorragende Kenner, wie Safafik oder
Kopitar, nicht ganz zurechtzufinden vermochten. Von nun an führten alle
drei Dialekte des westlichen, sogenannten kroatischen Sprachgebietes den-
selben Namen. Der t^?-Dialekt Norddalmatiens, Istriens und der Inseln
hieß seit jeher kroatisch (Itrvatski, harvatski). Der i/ö-Dialekt der Katho-
liken Dalmatiens und Bosniens (mit Ausschluß jener von Ragusa und
Bocche di Cattaro) nahm aus Gründen der religiösen Zusammeng-ehörigkeit
denselben Namen an, um sich von den Anhängern der orientalischen Ortho-
doxie, die sich Serben nannten, abzusondern. Endlich der /v?y-Dialekt
Nordkroatiens erhielt denselben Namen {/lorvnfski) seit der politischen Um-
benennung seines Sprachgebietes als Kroatien statt Slawonien. An die
Stelle dieser drei Dialekte eine einheitliche Literatursprache zu schaffen,
' xrnd zwar auf Grundlage des durch die literarische Pflege am weitesten
gediehenen und geschichtlich im gTÖßten Ansehen stehenden ragusanischen
iVf-Dialektes, der zugleich die Brücke bildete zur Einigung in der Sprache
B. Die slawischen Einzelsprachen. IV. Serbokroatische Sprache. 25
mit den Serben — das war das nächste angestrebte Ziel des Gajschen
Illyrismus in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Um keiner Provinz mit ihrem Sondernamen den Vorzug zu geben und
den Neid der übrigen zu erwecken, einigte man sich auf den nicht ganz
fremden Namen „illyrisch", einmal darum, weil diese Benennung seit Jahr-
hunderten in den wissenschaftlichen Werken, zumal wenn sie lateinisch
oder italienisch geschrieben wurden, sich eingebürgert hatte (selbst ein-
heimische Schriftsteller nannten dann und wann ihre Sprache so), dann
aber auch wegen der damals noch vielfach geglaubten Ansicht, daß die
alten Illyrier Slawen waren. Der Illyrismus erreichte in der Tat sein
nächstes Ziel: das literarische Leben der Katholiken Kroatiens, Slawoniens,
Dalmatiens und Bosniens nahm eine einheitliche sprachliche Form an. Nun
konnte auch der tote illyrische Namen in den Hintergrund treten und dem,
genetischen, im Volke lebenden (wenn auch nicht überall) kroatischen
Platz machen. Da aber die Wirksamkeit Vuks und seiner Anhänger im Der Vuksche
Panserbismus.
Wesen für dieselbe Sache, nur in anderer Form und unter dem anderen
Namen, Propaganda machte, war auf die Dauer der Konflikt zwischen
den beiden Einheitsbestrebungen, der großserbischen und gToßkroatischen,
unausweichlich. Er spitzte sich zum nationalpolitischen Antagonismus
zwischen den Serben und Kroaten zu, wobei den führenden Geistern mehr
die Vergangenheit als die Zukunft vor Augen schwebte. Glücklicherweise
blieb bei allen widerwärtigen Zänkereien die errungene Einheit in der
Literatursprache als etwas Selbstverständliches unangetastet, ja sie macht
schöne Fortschritte, nachdem alle Teile des ganzen, politisch elend zer-
rissenen Sprachgebietes an der gemeinsamen Kulturarbeit sich lebhaft be-
teiligen.
Wie schon gesagt, die serbo-kroatische Sprache zerfällt in drei Haupt- J^'"^^^^'
dialekte: den s/o-, ca- und /{'öy-Dialekt. Der erste, der wohlklingendste
vokalreichste, ist auch zugleich der verbreitetste : er umfaßt Serbien bis
nach Altserbien hinein, Bosnien, Herzegowina, Dalmatien und Monte-
negro, die südöstlichen Teile Kroatiens, ganz Slawonien und Teile von
Südung-am. Der zweite, hinter dem ersten zurückweichend, lebt jetzt noch
in Norddalmatien (bis hinter Spalato) und auf den gegenüberliegenden
Inseln, im küstenländischen Kroatien (bis gegen Karlstadt nach Norden)
und in Istrien. Diesen Dialekt sprechen auch die Kroaten Ungarns um
Odenburg herum und an der Leitha. Der dritte umfaßt, wie schon erwähnt,
das nordwestliche Kroatien, etwa von Karlstadt bis an die Mur (die Komi-
tate Agram, Kreuz, jetzt Belovar, Warasdin und die ganze Murinsel). Der
j/c-Dialekt, für den sich Vuk und Gaj eingesetzt hatten, beherrscht gegen-
wärtig die ganze serbokroatische Literatur. Doch gibt es auch in diesem
Dialekt kleine Verschiedenheiten in der Aussprache; eine derselben bildet
noch jetzt den toten Punkt, über den die Literatursprache nicht zur Ein-
heit gelangen konnte. Das ursprachlich lange c wird bald als /, bald als c
(beide kvirz oder lang), jbald als ije-je (das erste lang, das zweite kurz)
26 Vatroslav von JagiÖ: Die slawischen Sprachen.
ausgesprochen. Darnach unterscheidet man drei Unterdialekte, einen /-,
einen r- und einen ;k'-Dialekt. Der erste lebt im Westen (z. B. in Sla-
wonien, Bosnien, in Südungarn — fast ausschließlich bei den Katholiken)
und wird in der Literatur nicht mehr angewendet. Der zweite beherrscht
den Osten (Syrmien und Teile Südungarns, Serbien nebst Altserbien) und
gilt jetzt als der literarische Dialekt der Serben, soweit sie Belgrad als
ihr Zentrum ansehen. Der dritte (genannt der südliche) lebt in Monte-
negro und Herzegowina, im Ragusagebiet und Bocche di Cattaro, bei den
Orthodoxen Kroatiens, Bosniens und Slawoniens. In diesem Dialekt
werden alle Bücher, die in lateinischer Schrift erscheinen, gedruckt, aber
auch die mit cyrillischer Schrift gedruckten, wenn sie in Kroatien, Bos-
nien und Montenegro erscheinen, wenden diesen Dialekt an. Die Begründer
der modernen serbischen Literatursprache, Vuk Stefanovic Karadzic und
Grjuro Daniele , hatten zwar auch den Serben des Königreichs den süd-
lichen Dialekt anempfohlen, doch konnten sie damit nicht auf die Dauer
durchdringen.
Fein entfaltete Die scrbokroatischc Sprache ist reich an feinen Betonungsunterschieden,
Betonung. . . . ^ . * '
wie keine andere slawische. Sie besitzt betonte und unbetonte Längen,
und auf jeder Quantität kann die Betonung steigend oder fallend sein.
Für alle diese Unterschiede besteht seit der zweiten Auflage des Vuk-
schen Wörterbuches genaue graphische Bezeichnung, deren Durchführung
nebst Vuk namentlich Daniele zu verdanken ist. Im gewöhnlichen Ge-
brauch wendet man allerdings die Bezeichnung nicht an. Die dialektische
Erforschung der Sprache macht Fortschritte, der lexikalische Reichtum
wird fleißig gesammelt (in Belgrad), das große historische Wörterbuch der
Agramer Akademie schreitet langsam vorwärts (jetzt in L).
Der Protestan- V. Slowcnlsche Sprachc. Die in Steiermark (südlich der Drau),
tismus der Er- ^ ^ ''
Wecker der Kämten (nur noch in einigen Tälern), Krain, Nordistrien und im Küsten-
slowenischen ^ 6 /> )
Sprache. land von Triest bis Görz (teilweise auch in Norditalien) wohnenden Slawen
bilden jetzt den Volksstamm der Slowenen, von den Deutschen „Winden"
oder die „Windischen" genannt, die sich literarisch um Laibach als ihr
geistiges Zentrum gruppieren. Sie sind sehr rührig in der Pflege ihrer
Sprache, deren erste Anfänge in die Zeit der protestantischen Bewegung
fallen. Die neue Lehre hatte in Krain starken Anklang gefunden und
zur Übersetzung der Bibel und einiger anderer Werke (Postillen, Gesang-
buch) geführt. Große Schwierigkeiten waren dabei zu überwinden, ohne
grobe Germanismen kam das Werk nicht zustande (es wimmelte nicht
nur von deutschen Fremdwörtern, sondern selbst der deutsche Artikel
wurde durch ein demonstratives Pronomen mitübersetzt!). Die im 17. Jahr-
hundert nachgefolgte katholische Reaktion trug sehr wenig zur sprach-
lichen Berichtigung der ersten literarischen Versuche des Protestantismus
bei. Auch das 18. Jahrhundert blieb unproduktiv. Erst zu Ende des-
selben zeigten sich die ersten Anzeichen einer neuen geistigen Bewegung,
B. Die slawischen Einzelsprachen. V. Slowenische Sprache. VI. Böhmische Sprache. 2 7
die vor allem die Pflege der arg vernachlässigten Sprache bezweckte.
Vodnik und seine Zeitgenossen, unterstützt von dem edel gesinnten Baron
Zois, warfen sich auf das Studium der Volkssprache, um zunächst für ihre
eigene ganz deutsche Denk- und Ausdrucksweise erträgliche slowenische
Sprachformen und Wendungen ausfindig zu machen. Neben Vodnik sind
namentlich Suppan und Ravnikar zu nennen. Doch übertraf sie alle an Neuer Auf-
ausgezeichneter Kenntnis seines krainischen Dialektes der begabte lyrische <ion dreißiger
Dichter Presem. Die zu seiner Zeit aufgekommene illyrische Bewegung 19. jahrhun-
in Agram, die auch die Slowenen in den Kreis der sprachlich-literarischen
Einheitsbestrebungen hineinziehen wollte, stieß bei Presem auf entschiedene
Gegnerschaft, die ihr hier den Todesstoß gab. Doch in einer anderen
Form ging der Illyrismus auch für die Slowenen nicht ganz verloren. In
gemäßigter Weise befürwortete Bleiweis den Anschluß an das Illyrische
(Kroatische), so vor allem in der Orthographie, dann aber auch in vielen
Punkten der grammatischen Formen, der Syntax und des Wortschatzes.
Es war ein Grundsatz der Bleiweisschen Richtung, bei jeder unerläßlichen
Neuerung der slowenischen Schriftsprache vor allem das benachbarte
Illyrische sich gegenwärtig zu halten. Nachher trat dagegen eine Reaktion
auf, deren Postulat in der größeren Selbständigkeit der slowenischen
Sprache und dem fleißigen Studium der Sprache des Volkes nach ein-
zelnen Gegenden gipfelte. In neuerer Zeit gibt es auch Anhänger einer
stärkeren Rücksichtnahme auf das Böhmische oder Russische, doch sind
die Erfolge der letzteren Richtungen nur gering.
Das Slowenische ist reich an dialektischer Mannigfaltigkeit. Man Dialektische
unterscheidet vor allem das Ober- und das Unterkrainische, femer das
Görzische und das Resjanische (in Norditalien). In Kärnten die Gailtaler
und Jauntaler Mundart. In Steiermark hat der östliche Dialekt gegenüber
dem südwestlichen seine Eigentümlichkeiten, an ihn schließt sich am
nächsten das Slowenische der Bewohner Ungarns jenseits der Mur. Eine
Reihe guter kleiner Monographien über diese Dialekte ist bereits ge-
schrieben worden. Die Schriftsprache basiert hauptsächlich auf der imter-
krainischen Mundart. Praktische Grammatiken sind in genügender Zahl
vorhanden, auch ein gutes Wörterbuch (von Pletersnik).
VI. Böhmische Sprache. Geringe Spuren des einstigen Lebens uje böhmische
der kirchenslawischen Sprache auch in Böhmen können zwar nachgewiesen sehr fruh lite-
werden, doch begann hier die literarische Anwendung der echten Volks-
sprache, ganz unabhängig von der kirchenslawischen Beeinflussung, schon
sehr früh, spätestens im 12. Jahrhundert. Den ersten Anstoß gaben aller-
lei lateinische Texte, die zunächst mit böhmischen oder böhmisch-slawischen
interlinealen Glossen versehen wurden. Als nächstes Bedürfnis stellte sich
die Übersetzung des Psalters und anderer Teile der Bibel ein. Schon im
1 3. Jahrhundert tauchten versifizierte Legenden in reicher Anzahl auf. Aber
auch weltliche Stoffe, z. B. der Roman von Alexander dem Großen, blieben
2 8 Vatroslav von Jagic: Die slawischen Sprachen.
dem Interesse der böhmischen Schriftsteller jener Zeiten nicht fern. Im
13. und 14. Jahrhundert erreichte die böhmische Literatur eine so reiche
Entwicklung in dieser Richtung, daß für diese Zeit keine andere slawische
Literatur ihr zur Seite gestellt werden kann. Die damalige altböhmische
Sprache war noch reich an Sprachformen, die nachher gänzlich außer
Gebrauch kamen und verloren gingen (z. B. Aorist und Imperfekt). Die
verschiedenen Umlautsprozesse,- die zum Teil erst damals ins Leben traten,
wie der Übergang von ja in //, behandelte die Sprache mit großer Fein-
fühligkeit ohne störendes Eingreifen der Analogie. Häufiger Gebrauch
der lateinischen Graphik für böhmische Laute erzielte auch gewisse Unter-
scheidungen, denen erst das vertiefte Studium der Originaltexte in neuerer
Zeit auf die Spur kam. Allerdings waren derartige Versuche zunächst
Hus' orthogra- individuell, ohne Schule zu bilden. Erst Jan Hus führte das Prinzip der
p isc e e orm. ■(jjj^gj.g(,j^gj(j^j,g slawischer Zischlaute durch diakritische Zeichen mit ziem-
licher Konsequenz durch (er bediente sich der Punkte) und gilt darum als
der Vater der heutigen böhmischen Orthographie. Die zentrale Lage
Prags, das sehr früh über ganz Böhmen dominierte, war der Entfaltung
großer Dialektunterschiede in Böhmen nicht günstig. In den altböhmischen
Texten haben dialektische Verschiedenheiten nur schwache Spuren hinter-
lassen. Auf mährischen Ursprung glaubt man allerdings bei manchen
Denkmälern aus gewissen Lauteigentümlichkeiten schließen zu dürfen.
Sicher ist, daß schon damals sowohl in Böhmen wie in Mähren Dialekte
vorhanden waren, die im Laufe von Jahrhunderten wenigstens in Böhmen
eher ab- als zunahmen. In Mähren können spätere Verschiebungen der
Bevölkerung stattgefunden haben. Noch jetzt gilt Mähren als das Land
von reich entfalteten Dialektunterschieden, worüber wir vortrefflich unter-
Reiche diaiek- richtet sind. Die Forschimgen Bartos' u. a. veranschaulichen uns das ganze
in Mähren. Bild mundartlicher Differenzen sozusagen von Dorf zu Dorf. Man weiß
daraus, daß einige Hauptmerkmale des Slowakischen schon durch Ost-
mähren stark verbreitet sind, so daß man in dialektischer Beziehung das
ganze Land in eine böhmische und eine slowakische Hälfte einteilen
könnte. War es auch in alter Zeit so oder sah einst Altmähren in seinem
ganzen Umfange dem heutigen östlichen Teil gleich? Das letztere anzu-
nehmen liegt um so näher, da ja die meisten dieser Züg-e, wodurch sich
das Ostmährische vom Böhmischen unterscheidet, einen älteren Sprach-
zustand vorstellen. Dann würde für das altmährische Reich des 9. Jahr-
hunderts eine größere sprachliche Einheitlichkeit in seinem ganzen Um-
fang, mit Einschluß des heutigen sogenannten slowakischen Sprachgebietes,
anzunehmen sein, und die Sprache Altmährens würde sich nicht ganz un-
beträchtlich jenem kirchenslawischen Dialekt nähern, den die salonikischen
Brüder seinerzeit hierher brachten. Doch ist damit nicht gesagt, daß die
Sprache Altmährens, selbst wenn man die heutigen slowakischen" Dialekte
als ihre wahren Deszendenten bezeichnet, aus der böhmischen Sprach-
gruppe ausgeschieden und in ein näheres Verwandtschaftsverhältnis zu
B. Die slawischen Einzelsprachen. VI. Böhmische Sprache. 2 g
der südslawischen Sprache gebracht werden dürfte. Wenn in neuester
Zeit bezüglich des Slowakischen diese Theorie aufgestellt wird, so kann
man sie auf sich beruhen lassen, solange keine Beweise dafür erbracht
werden können. Einzelne mit den südslawischen (slowenischen, kroatischen)
Dialekten übereinstimmende Erscheinungen, die ganz der Stellung des
Slowakischen auf dem Grenzgebiet und Übergang zum Südslawischen ent-
sprechen, können das Schwergewicht der Gesamtheit nicht aufheben, die
dem Slowakischen innerhalb der böhmischen Sprachgruppe den Platz
anweist.
Während das Altböhmische bis zu Ende des 14. Jahrhunderts haupt- Das goldene
rr -TT 1 • T T T Zeitalter der
sächlich Legendenstorfe, meistens in Versen behandelte, erweiterte Jan Hus böhmischen
, . Sprache und ihr
die Aufgaben der böhmischen Sprache für die Behandlung theologisch- Niedergang,
dogmatischer und philosophischer Fragen in Prosa; dazu kam auch die
juridische Prosa. In der Dichtung trat man bei der Wahl weltlicher,
mittelalterlich-ritterlicher .Stoffe in die Fußstapfen der deutschen Literatur;
originell wurde dagegen das Kirchenlied gepflegt, das unter den Böhmischen
Brüdern gToßen Aufschwung nahm. Das war auch das goldene Zeitalter
der böhmischen Sprache, in welchem auch schon die ersten Betrachtungen
über den grammatischen Charakter derselben angestellt wurden. Werke,
wie Jan Blahoslavs grammatische, stilistische und selbst dialektologische
Beobachtungen über die böhmische Sprache würde man vergebens in den
übrigen slawischen Literaturen jener Zeit suchen. So fein war damals
der Sinn für die richtige Anwendung der Sprache entwickelt. Der bald
darauf folgende Humanismus hat für die böhmische Sprache keine große
Bedeutung, wenn auch durch gelehrte lexikalische Vergleichungen jetzt
die ersten Bausteine für ein etymologisches Wörterbuch gegeben wurden.
Dann kam aber (nach 162 1) eine traurige Zeit der Bedrückung und Ver-
folgung der böhmischen Sprache. Alles böhmisch Geschriebene oder
Gedruckte wurde unter dem Vorwand, daß dahinter etwas Antikatholisches
stecken könnte, mit Bann belegt, zahllose Sprach- und Literaturdenkmäler
fielen der Verfolgungswut zum Opfer. Die freie Entwicklung der böh-
mischen Sprache -wrirde gehemmt, in den wenigen Leistungen dieser
traurigen Epoche zeigte sich Gedankenarmut und Geschmacksverirrung.
Wo der freie Gedanke fehlte, stellte sich Wortklauberei ein. Diese
Periode der Erniedrigung der böhmischen Sprache hielt an bis zu den
Zeiten Kaiser Josephs IL Da begann infolge der auf die Volksbildung
verwendeten Sorgfalt, mag auch diese zunächst die Form des germani-
sierenden Zentralismus angenommen haben, ein neues Leben auch in
Böhmen sich zu regen. Die Befreiung vom kirchlichen Druck kam auch
der böhmischen Sprache zugute. Aufgeklärte Männer, darunter der geniale Die wieder-
Dobrovsky, erhoben ihre Stimme zugunsten der Pflege der böhmischen geleitet durch
Sprache, wobei zugleich der Wunsch laut zum Ausdruck kam, daß man schenReformea.
nicht an die unmittelbar vorausgehende Periode traurigen Andenkens an-
knüpfen, sondern in die Fußstapfen der böhmischen Brüder treten und die
^O Vatroslav von JagiC: Die slawischen Sprachen.
Sprache der Kralicer Bibel sich zum Muster nehmen solle. Dieser Rat
wurde auch befolgt und trug reichliche Früchte. Die grammatische Ana-
lyse der böhmischen Sprache bekam durch das große kritische Talent
Dobrovskys neue Gestalt, die Grundsätze der böhmischen Versifikation
wurden auf neue Basis gestellt. Die .Sprache zog in die Schulen von der
untersten bis zur Universität als Lehrgegenstand ein, Gesellschaften zur
Pflege derselben bildeten sich, die romantische Liebe für das Volkstüm-
liche überschritt selbst die Grenzen des Erlaubten und führte zu den be-
kannten Fälschungen. Besser wurde der Sprache durch reichliche Über-
setzungen aus modernen Literaturen (deutsch, französisch, englisch) gedient,
sie bereicherte sich an Wort- und Phrasenschatz. Die schöpferische Kraft
origineller Talente blieb hinter der Menge der Produktion allerdings stark
zurück. Die Sprache gewann dadurch allmählich einen hohen Grad der
Ausdrucksfähigkeit für alle Bedürfnisse des modernen Kulturlebens, doch
die Originalität des Stiles nahm nicht in gleichem Grade zu. Die moderne
böhmische Sprache ist sehr reich, aber etwas farblos geworden. Sie kann
sich in der Urwüchsigkeit der Ausdrucksweise weder mit der russischen
oder polnischen noch mit der serbischen messen.
Grammatisch- Das mit Vorliebe gepflegte ethnographische Studium neuerer Zeit
Behandlung, kommt natürlich auch der Sprache zugute, die Dialekte werden erforscht,
das folkloristische Material fleißig gesammelt, wodurch auch dem lexi-
kalischen Vorrat neue Schätze zufließen. Die Anzahl der den praktischen
Zwecken dienenden Lehrbücher ist sehr groß, die wissenschaftliche Er-
forschung der Sprache ruhte zuletzt fast ganz auf den Schultern eines
Mannes (f Gebauer), dem die slawische Sprachforschung eine historische
Grammatik und ein historisches Wörterbuch der böhmischen Sprache ver-
dankt (beides noch unvollendet). Die lexikalische Aufnahme des gegen-
wärtigen Sprachschatzes steht noch nicht auf der Höhe, um allen Bedürf-
nissen zu entsprechen.
Trennung der
Slowaken von
der böhmische
Literatur-
sprache.
VII. Slowakische Sprache. Die der slawischen Rasse angeborene
Zersplitterungssucht brachte im Laufe des 19. Jahrhunderts auf dem farben-
reichen Sprachenteppich einige neue Figuren zum Vorschein, darunter
auch die slowakische Literatursprache. In dem von den Slowaken be-
wohnten nordungarischen Gebirgsland geht es allerdings dialektisch recht
bunt zu, doch alle Mundarten der Slowaken werden durch Ostmähren als
das Verbindungsglied mit Böhmen zu einer großen SprachgTuppe ver-
bunden, die unter normalen Verhältnissen, nach dem Beispiele anderer
Völker und Länder (Deutschlands, Frankreichs, Italiens) ganz gut und ver-
nünftig mit einer Literatursprache sich hätte begnügen können. Und doch
kam es anders. In der Slowakei hielten die Protestanten, worunter sich
viele Exulanten aus Böhmen befanden, an der böhmischen Sprache, die
sie als liturgische verehrten, fest. Schon aus religiösem Gegensatz dazu
unternahmen die Katholiken, seitdem sie im 18. Jtdirhundert aiiflngen zu
B. Die slawischen Einzelsprachen. VII. Slowakische Sprache. Vni. Sorbische Sprache. 31
schreiben, das lokale Slowakische zu pflegen. Nach verschiedenen Schwan-
kungen hin und her — man war nämlich in der Wahl des Dialektes, der
zur Schriftsprache auserkoren werden sollte, nicht gleich einig — bekam
die Ansicht jener Oberhand, die für die Slowaken eine eigene slowakische
Literatursprache zu haben wünschten. Das geschah um die Mitte des
vorieen Jahrhunderts, während Böhmen mit sich selbst zu Hause genug Begünstigung
^ J ' ^ der Trennung
ZU schaffen hatte, um mit gehörigem Nachdruck davor zu warnen. Die durch die
Magyaren.
bald darauf durch den Dualismus in der Monarchie wiederhergestellte
Herrschaft der Magyaren in Ungarn akzeptierte und sanktionierte die
Trennung der Slowaken von den Böhmen um so bereitwilliger, als ja die
Slowaken dadurch der Magyarisierung zugänglicher wurden. So existiert
seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine eigene slowakische
Literatursprache, für welche die slowakischen Philologen grammatische
Regeln vorschrieben, nach denen sie sich zu richten hat. In neuester
Zeit wird behauptet, die gegenwärtige Literatursprache sei noch immer
nicht rein slowakisch, es müsse noch so mancher Bohemismus ausgemerzt
werden. Selbst wenn auch das geschieht, wird die gereinigte slowa-
kische Literatursprache, solange sie gänzlich Jausgeschlossen ist aus
der Schule und dem politischen Leben, nur ein kümmerliches Dasein
fristen können.
Vin. Ober- und Niederlausitz-Sorbische Sprache. Solche zwei lausitz-sor-
bische Dialekte
winzige Literatursprachen, in noch mehr verkleinertem Maßstabe, als es beim infolge der
^ kirchlichen
Slowenischen und Slowakischen der Fall ist, birgt Deutschland sogar zwei Spaltung,
in seiner Mitte, eine in der Oberlausitz und die andere in der Niederlausitz.
Freilich sind das jetzt nur die letzten Überreste des einst (vor tausend
Jahren) mächtig gewesenen Volksstammes der Sorben, der nördlich bis
Köpenick, dann über Zossen nach Dahme und an der Elbe gegenüber
der Saalemündung bis in die Gegend von Fulda reichte und westwärts
bei Kissingen an die fränkische Saale und an die Grenze Württembergs.
In diesem Gebiete liegt die Wiege so bedeutender Städte, wie Leipzig,
Dresden, Meißen u. a., deren Namen slawischen Ursprungs sind. Das
wenige, was von alledem den „Wenden" heute übrig geblieben, zerfällt
infolge der religiösen Trennung in die katholische Oberlausitz und die
protestantische Niederlausitz, und da das Schrifttum der beiden Ländchen
erst nach dieser Trennung begann, so trennten sich gleich anfangs die
Katholiken von den Protestanten im Dialekt, was vor der Glaubensspal-
tung kaum geschehen wäre, weil die Unterschiede zwischen Ober- und
Niederlausitzischem ganz unbedeutend sind, z.B. was der eine c'ic/iy spricht,
lautet beim andern sichy, der eine sagt proso, der andere psoso u. ä. m.
Die Kompromißversuche, jetzt eine einheitliche Schriftsprache zu gründen,
dürften wohl zu spät kommen.
X2 Vatroslav von Jagic: Die slawischen Sprachen.
Spätes Auf- IX. Polnische Sprache. Auffallend spät gelangte nach unserer
kommen der pol- ^ . ^ j~, - . ^ . . ^^
nischen Sprache Kcnntnis die polnische Sprache zur schriftlichen Anwendung. Obgleich
' alle Bedingungen da waren, ein nationalpolnischer Staat, frühe Bekehrung
zum Christentum, verwandtschaftliche Beziehungen zu der christlichen
Umgebung (den Böhmen, Russen und Deutschen), und obgleich das Bei-
spiel der Nachbarn zur Nachahmung hätte anregen können (die böhmischen
Slawen besaßen ganz gewiß um das Jahr 1200 schon viele böhmisch
geschriebene Texte), beginnt es sich bei den Polen doch erst um die Mitte
des 14. Jahrhunderts zu regen. Soll man der Vermutung Raum geben,
daß die christlichen Polen anfangs mit den zu ihnen gebrachten böhmischen
Büchern sich begnügten? Beweise dafür liegen nicht vor, wenn es auch
bekannt ist, daß in den ältesten polnischen Texten (aus dem 14. und 15.
Jahrhundert) Bohemismen nachgewiesen werden können. Man schließt
daraus entweder auf unmittelbare böhmische Vorlagen oder auf die aus
der Lektüre böhmischer Texte geschöpfte literarische Übung und Vor-
bereitung. Weniger wahrscheinlich wäre die Annahme, daß die Priester
böhmischer Nationalität selbst bei der Abfassung der ältesten polnischen
Texte sich beteiligt haben. Kurz und gut, polnische Texte, kleineren und
größeren Umfangs, tauchen vor der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts
nicht auf. Sie sind auch in dieser Zeit noch große Seltenheit, wenigstens
für uns. Man muß vorsichtshalber diesen Zusatz hinzufügen, da ja vieles,
wovon wir keine Ahnung haben, verloren gehen konnte. Sind ja doch
keine zwei Dezennien vergangen seit der Zeit, daß Bruchstücke, polnischen
Text enthaltend, entdeckt wurden — ganz in böhmischer Art zur Ein-
falzung lateinischer Manuskripte verwendet — , die dem bis dahin immer
an erster Stelle genannten Psalter von St. Florian den Vorrang" streitig
machen. Die schmalen Streifen stellen das Bruchstück einer Predigt in
polnischer Sprache dar und gestatten die Vermutung, daß es solche Dinge
zu jener Zeit in größerer Anzahl gab. Doch über die Mitte des 14. Jahr-
hunderts führt uns auch diese Entdeckung nicht hinaus. Die polnische
Sprache war gerade damals in einem Stadium des Übergangs von dem
beinahe ganz schon aufgegebenen Inventar alter Sprachformen in den
neuen, heutigen Zustand begriffen. Mit der im Altböhmischen noch reich-
lich angetroffenen Herrschaft der alten Aoriste und Imperfekte war es
hier im Polnischen schon vorbei; kaum wenige Beispiele haben sich noch
erhalten, um in dieser Beziehung den Vergleich zwischen den altböhmischen
und altpolnischen Formen zu ermöglichen. Der noch heute lebende Na-
salismus, der jetzt das Polnische als das Französische des Nordens er-
SchwicriBkcit scheinen läßt, war selbstverständlich auch damals vorhanden, doch seinem
der polnischen
Graphik, damaligen lautlichen Charakter ist wegen der ganz unzulänglichen
Graphik sehr schwer beizukommen. Das sehr früh eingeführte Zeichen O
kann alle möglichen Lautnüanzen ausdrücken, gewiß ist damit nicht ge-
meint, daß es damals nur einen Nasallaut gegeben habe. Vieles spricht
dafür, daß die damalige polnische Sprache noch Quantitätsunterschiede
B. Die slawischen Einzelsprachen. IX. Polnische Sprache. 23
bei den Vokalen kannte. Diese mögen schon damals den polnischen
Nasalismus aus der urslawischen Phase in ein anderes, dem heutigen
Zustand näher stehendes Stadium gebracht haben. Auch dialektische
Unterschiede treten im Altpolnischen nur sehr schwach entgegen (etwa
in den sogenannten Gnesener Fragmenten und in städtischen Eides-
formeln). In den Literaturdenkmälern polnischer Sprache scheint von
allem Anfang an die Sprache des Adels, der sich um den Hof gruppierte,
maßgebend gewesen zu sein; das Vulgäre, aber auch das Dialektische,
wurde femgehalten. Der Charakter der altpolnischen Denkmäler während
des 14. und 15. Jahrhunderts war aufs Praktische, auf die Bedürfnisse des
Lebens gerichtet (Psalmen und Gebetbücher, beides zumeist für edle
Frauen bestimmt, dann Eidesformeln und die Übertragung der Gesetze
ins Polnische), für die geistige Unterhaltung vermittelst des geschriebenen
Wortes scheint man noch wenig Sinn gehabt zu haben. Selbst die in
der böhmischen Literatur so zahlreich vertretenen versifizierten Legenden
kommen im Altpolnischen nur in ganz geringer Anzahl vor.
Die feinen Unterschiede in der Aussprache polnischer Vokale und
mouillierter Konsonanten waren mit den gewöhnlichen Mitteln der latei-
nischen Schrift nicht leicht wiederzugeben. Daraus erklären sich die früh
begonnenen und öfters wiederholten Versuche, darin Ordnung zu schaffen.
Die der böhmischen Orthographie abgeborgten diakritischen Zeichen
drangen nicht überall durch, man wollte i und c nicht, obschon man z
hatte und selbst c s i hinzukamen. Auch die Bezeichnung der sogenannten
gesenkten (ursprünglich gedehnten) Vokale als d ö e (ausgesprochen bei-
nahe wie 0, ZI, i) unterlag verschiedenen Schwankungen, bis man zuletzt
bei a die Bezeichnung aufgab und nur noch ö e übrig blieb.
Die protestantische Bewegung führte auch bei den Polen zu bedeuten- Goldenes Zeit-
den Resultaten, die sich in der Literatur und Sprache abspiegelten. Im Ricbtuagen.
ganzen war die Sprache der Anhänger des neuen Glaubens grobkörniger,
volkstümlicher, jene der katholischen Humanisten feiner, aristokratischer.
Als tjrpische Repräsentanten könnten auf der einen Seite Rej, auf der
andern Kochanowski gelten. Der Humanismus brachte Polen in nähere
Beziehung mit Frankreich und Italien, wovon der feine Geschmack des
sogenannten goldenen Zeitalters der polnischen Literatur viel g-ewann.
Doch diese Schule der schönen Form und des feinen Geschmacks dauerte
nicht lange. Die parlamentarische in lateinischer Sprache geübte Bered-
samkeit, die von der Klassizität weit entfernt war, brachte auch in den
Gebrauch der polnischen Sprache im Leben und in der Literatur eine
übermäßige Fülle lateinischer Elemente, die sich geradezu bis zum Mak-
karonismus steigerte. Im 18. Jahrhundert trat unter dem französischen
Einfluß eine Reaktion dagegen ein, doch zugleich wurde die Sprache
bis zur unnatürlichen Steifheit durch räsonnierende Spitzfindigkeiten ge-
maßregelt. Erst die nationale Romantik zu Ende des 1 8. und in der Neuer Anf-
ersten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts gab durch die Bereicherung der Lite- der Romaatii
Die Kultur der Gegenwart. I. 9. 3
■lA Vatroslav von jAGi(i: Die slawischen Sprachen.
ratur mit neuen Stoffen auch der polnischen Sprache neuen Schwung,
der noch andauert.
Die pohlische Literatursprache wollte seit ihrem frühesten Auftreten
vorzüglich den vornehmen Kreisen der Gesellschaft dienen. Auch ihr
erster Grammatiker war von vornehmer, polnisch-französischer Abkunft.
Nur für die praktischen Bedürfnisse der nächsten Nachbarn, der Deutschen,
wurden auch Lehrbücher in deutscher Sprache abgefaßt. Im i8. Jahr-
hundert unterzog sich ein angesehener Piarist (Kopczynski) der wichtigen
patriotischen Aufgabe, den Unterricht der polnischen Sprache in den
Schulen nach verschiedenen Altersstufen zu regeln, verschiedene Lehr-
bücher abzufassen und philosophisch-pädagogische Kommentare dazu zu
schreiben. Ihm schwebten französische Muster vor, seine grammatischen
Grundsätze richteten sich nach der französischen Grammaire raisonnee.
Die Folgen dieser Auffassung pflanzten sich in der polnischen Grammatik
fort bis in die Mitte des ig. Jahrhunderts. Eine gewisse klassische Steif-
heit beherrschte wenigstens die Theorie auch dann noch, als es im Leben
der Sprache viel freier zuging. Sehr spät schloß sich die polnische
Grammatik der neuen auf Vergleichung verwandter Sprachen, zumal der
Die dialektische altkirchenslawischcn, basierten Richtung an. Auch für das Studium der
Erforschung
mangelhaft, polnischcn Dialekte wollte man sich lange Zeit nicht besonders erwärmen,
was zum Teil in der Besorgnis, daß dadurch die Einheit der Literatur-
sprache Schaden leiden könnte, begründet gewesen sein mag. Erst die
letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts suchten das früher Versäumte
nachzuholen (die Schule Malinowskis). Man unterscheidet ein Großpolen
(mit uraltem Mittelpunkt Gnesen) und ein Kleinpolen (mit Krakau als
Zentrum), doch sind damit keine ausgesprochenen Dialekte bezeichnet, da
vielmehr auf beiden Seiten mehrere dialektische Unterschiede vorhanden
sind. Auch das sogenannte Masurische, d. h. die Aussprache der breiten
Zischlaute c i i eng zugespitzt zu c s z, ist eine Eigenschaft, die sich
über verschiedene Dialekte erstreckt. Manches Eigentümliche, namentlich
im Nasalismus, charakterisiert die schlesische Mundart, die auch zu den
best erforschten gehört. Das gesamte polnische Sprachgebiet ist dialek-
tisch bei weitem noch nicht erschöpfend durchforscht. Verhältnismäßig"
viel Aufmerksamkeit wurde dem Kaschubischen in grammatischer und
Das Kaschu- lexikalischer Hinsicht gewidmet. Es steht unzweifelhaft dem Polnischen
bischo und ° . ^ . T . . .
Poiabisciic. am nächsten, allein man könnte es dennoch nicht auf g'leiche Linie mit
irgendeinem polnischen Dialekt stellen. Wenn man die von Hilferding
und Schleicher vorgeschlagene umfassendere Benennung „lechisch" für
beides gelten lassen wollte, so wäre nichts dagegen einzuwenden, nur
bleibt es auch dann noch fraglich, ob das Polabische ebenfalls dazu
gehört oder nicht, da es jedenfalls vom Polnischen weiter absteht als das
Kaschubische.
Eine umfangreichere, geschichtlich angelegte Grammatik der polnischen
Sprache geht uns noch ab, Vorarbeiten dazu (Übersicht der Formen) sind
B. Die slawischen Einzelspraclicn. X. Schlußbctrachlung. ßj
vorhanden. Für praktische Erlernung der Sprache liegen genug Lehr-
bücher vor. Lexikalisch war die Sprache fleißig durchstudiert (nach lite-
rarischen Quellen) schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts durch Linde,
dessen umfangreiches Wörterbuch für seine Zeit eine musterhafte Leistung
war. Ein neues geschichtlich angelegtes Wörterbuch erwartet man von
der Krakauer Akademie. Gegenwärtig lenken die Aufmerksamkeit auf
sich das von dem verstorbenen Karlowicz leider nicht zu Ende gebrachte
Wörterbuch der polnischen Dialekte und das neue in Warschau erscheinende
Wörterbuch der polnischen Sprache, dessen Hauptzweck der möglichst
erschöpfende Wortreichtum bildet, jedoch ohne geschichtlichen Hintergrund.
X. Schlußbetrachtung. Wie die gegebene Übersicht zeigt, ist die Große Zahi de
° = * ° ' slawischen
Zahl der slawischen Sprachen, die auf das Recht, als Literatursprache zu sprachen.
gelten, Anspruch erheben, gar nicht klein. Neun verschiedene vSprachen
bekommt man, selbst wenn man Ober- und Niederlausitz als eine Einheit
zählt; zwölf sogar, wenn man diese zwei Sprachen voneinander trennt
und auch das Kaschubische vom Polnischen absondert, endlich auch das
Kirchenslawische mitzählt. Dabei sind gewesene, oder nicht mehr zur
literarischen Anwendung kommende Sprachen gar nicht mitgerechnet, wie
das Westrussische des 16. und 17., das Kirchenslawische auf dem rumä-
nischen Gebiet, das Slawoserbische des 18. Jahrhunderts, das Kaj-'Kxoa.-
tische des 16. und der folgenden Jahrhunderte (bis 1840). Durch die
Größe der Bevölkerung, die ja als natürliche Grrundlage wesentlich ins
Gewicht fällt, steht die russische Sprache obenan, sie allein könnte sich
in dieser Beziehung mit den größten europäischen Sprachen messen, zu-
mal wenn man die ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel in Be-
tracht zieht. Sie ist auch die einzige, die auf eine Rolle im internationalen
Verkehr rechnen kann, wenn nicht schon jetzt, so in nicht ferner Zukunft, die
durch die Wendung der inneren Zustände Rußlands zur freieren Entfaltung
der geistig'en Kräfte des Volkes wesentlich näher gerückt werden könnte.
Zu kleineren, doch mit reichhaltigem literarischen Hintergrund ausgestatteten
Sprachen gehören die polnische und böhmische. Alten Datums ist auch ""re Zukunft
die wohlklingende serbokroatische Sprache, die unter vernünftiger Aus-
beutung der gegebenen Bedingungen es zur kräftigen Literatur mittlerer
Größe, gleich etwa der polnischen oder böhmischen, bringen könnte.
Ob es der ruthenischen Sprache gelingen wird, den vollen ethnischen
Umfang in den Dienst einer einheitlichen Schriftsprache und Literatur zu
bringen, das bleibt der Zukunft vorbehalten; sie würde dann nach der
Zahl der Bevölkerung selbst die polnische übertreffen. Jungen Datums,
aber durch glückliche geographisch-politische Lage begünstigt, wird die
bulgarische Sprache jedenfalls den ihr gebührenden Platz behaupten.
Unbedingt schwach und klein bleiben die slowenische und slowakische
Sprache, beide außerdem in ihrer Existenz bedroht von den mächtigen
Nachbarn nichtslawischer Zunge. Das Sorbische der Ober- und Nieder-
3*
•35 Vatroslav von Jagic: Die slawischen Sprachen.
lausitz kann sich nur halten, solange Deutschland diese ethnographischen
Oasen begünstigt.
Notwendigkeit Das gegenseitige Verwandtschaftsverhältnis unter allen slawischen
icre" Versen- Sprachen ist allerdings viel inniger als bei den germanischen und roma-
un'|™cht"t"der nischen Sprachen. Dennoch können sich die Gebildeten, deren Gedanken
wrndt^schaft'^der Über die Grenzen der täglichen Lebensbedürfnisse hinausgreifen, nur zur
Sp7ädien" Not untereinander verständigen, mit der größten Anspannung der ganzen
Aufmerksamkeit. Die allgemeine Kenntnis einer slawischen Sprache ist
derzeit unter den Slawen noch nicht vorhanden, wenn auch die russische
teils durch Zwang (in Polen), teils durch kulturellen Einfluß (in Bulgarien)
einige Eroberungen bereits gemacht hat auch außerhalb ihrer natürlichen
Grenzen. Für jetzt noch läuft ihr die deutsche Sprache im internationalen
Verkehr der Slawen entschieden den Rang ab.
Literatur.
Einleitung. Über die Slawen als Ostnachbam der Deutschen bleibt noch imnier
als ein klassisches Orientierungswerk das Buch von K. Zeuss: „Die Deutschen und ihre
Nachbarstämme" (1837). Für die gegenwärtigen Kenntnisse manches Veraltete oder Über-
flüssige enthalten die „Slawischen Altertümer" von P. J. Safari'k (1837). Auch der zweite
Band der „Deutschen Altertumskunde" von K. Müllenhoff (1887) kommt in Betracht. In
neuester Zeit ist das in böhmischer Sprache erscheinende, ausführhch angelegte Buch
L. NlEDERLEs (1904 — 1906J dazu bestimmt, alles Frühere zu ersetzen. Geistreich in russischer
Sprache geschrieben ist das kleine Werk PoGODlNs (1901). Dieser kritischen Richtung in
der slawischen Altertumskunde steht eine nationalistische gegenüber , deren Hauptgedanke
darin gipfelt, daß die Slawen seit uralten Zeiten über die ganze östliche Hälfte Germaniens
fals Sueven usw.1 verbreitet waren. Die zwei hauptsächlichsten Vertreter dieser Richtung im
ig. Jahrhundert waren A. Sembera (1868) und J. Pervvolf (1884— 1885), in neuerer Zeit
der ungemein fleißige und belesene, aber unkritische BoGUStAWSKi.
A. Die slawischen Sprachen im allgemeinen.
1. Vorgeschichtliches. II. Anfänge der Geschichte. III. Slawische Sprachen
in der neuen Heimat. Nach dem Vorbilde A. Kuhns und Ad. Pictets hat man auf lin-
guistische Kombinationen aufgebaute Kulturbilder der alten Slawen vielfach gezeichnet. Der
bedeutendste Versuch in russischer Sprache von A. BUDILOVIC (1878— 1882) ist nicht zu
Ende geführt. Eine urslawische Grammatik geht uns noch ab. Etwas nähert sich der Auf-
gabe die vergleichende Slawische Grammatik von W. VONDRÄK (1906). FORTUNATOV und
seine Schüler (Uljanov, PORZEZiriSKi, Lj.^punov) bearbeiten einzelne Partien der slawischen
Grammatik mit besonderer Rücksicht aufs Litauische. Nach dieser Richtung ist auch ZUBATY
in Prag tätig. Ein et>'mologisches Wörterbuch der slawischen Sprachen ist bis jetzt nur in,
der Bearbeitung MiklOSICHs (1886) vorhanden (reiches, unverarbeitetes slawisches Material).
Eine neue Leistimg auf diesem Gebiet verspricht Berneker zu liefern. Die Entlehnungen
des slawischen Wortschatzes aus orientalischen Sprachen haben MiKLOSiCH (1884^1890)
MeliORANSKIJ und KORä (1902 — 1905) behandelt; aus den germanischen Uhlenbeck (1899,
im Archiv für slav. Ph.), allgemein Matzenauer (1870) und neuerdings Strekelj. Die
Klassifikation der slawischen Sprachen, von Dobrovsky begonnen, später von Maksimovic,
Safari'k, Kopitar, Miklosich, namentlich von Schleicher nach seiner Stammbaumtheorie
behandelt, trat durch die Theorie des Johannes Schmidt in ein neues Stadium ein; jetzt
erfreut sich die Annahme von Übergangsdialekten großer Verbreitung, vgl. Baudouin DE
Courtenays Ausführungen in einer Dorpater Vorlesung (1884) und in dem russischen enzy-
klopädischen Wörterbuch (Bd. XXXj. Die Frage über die Entstehungszeit der slawischen
Dialekte hat nach Hirts Vorgang und Muster Lj. Stojanovic in einem Vortrage der serbischen
Akademie (1896) behandelt, doch ist er auf Widerspruch gestoßen (Jagic, Oblak, Arch. f.
sl. Ph. XIX), vgl. auch eine Kombination Sobolevski.Is im Archiv für slawische Philologie,
Bd. XXV).
IV. Die kirchenslawische Sprache. Zur Frage über den Ursprung und die Heimat
vgl. jetzt Jagic, ,,Zur Entstehungsgeschichte" (erschienen in den Denkschriften der Wiener
^8 Vatroslav von Jagic: Die slawischen Sprachen.
Akademie 1900). Über die Tätigkeit der Slawenapostel hat zuletzt in böhmischer Sprache
Pastrnek (1902) geschrieben, ohne alle dunklen Punkte aufgehellt zu haben. Subjektive
Einfälle verschiedener Gelehrter (Friedrich, Götz, L.wianskij, Brückner) müssen zurück-
gewiesen werden. Eine Geschichte des Einflusses der kirchenslawischen Sprache auf die
einzelnen slawischen Sprachen geht uns noch ab, nur bezüglich der russischen Sprache ist
von BULIÖ 1893 ein Werk erschienen. Auch eine ausführliche Grammatik der kirchen-
slawischen Sprache mit Berücksichtigung ihres Entwicklungsganges nach Jahrhunderten fehlt
noch. Nach den ältesten Denkmälern ist die Sprache analysiert seit dem großen Werke
MiKXOSiCHs in dem Handbuch A. Leskiens (4. Aufl. 1905) und in dem Buch VONDRÄKs (1900).
In russischer Sprache ist das Buch Sobolevskijs (1891) zu erwähnen.
B. Die slawischen Einzelsprachen.
I. Die russische Sprache. Die geschichtliche Erforschung der russischen Sprache
nach Jahrhunderten haben seit KoLOSOV (1872) hauptsächlich Sobolevskij und Schachmatov
behandelt. Die , .Vorträge" des ersteren sind bis jetzt (1903) in drei Auflagen (russisch) er-
schienen. Schachmatov zeichnet nebst Einzelforschungen das Bild der Entstehung der
russischen Dialekte (etwas subjektiv) in einem knappen Vortrag (wiederholt erschienen, zu-
letzt 1899). Die Erforschung der jetzigen großrussischen Dialekte hat neuerdings die russische
Abteilung der Akademie der Wissenschaften in die Hand genommen, leider ohne ein be-
sonderes Organ dafür bestimmt zu haben. Ein kurzes Resümee über die bis in die neunziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts gemachten Forschungen hat SoBOLEVSKIJs ,, Versuch" (in
russischer Sprache 1897) geliefert. Fürs Weißrussische hat grammatisch und ethnographisch
das Hervorragendste Karskij (1893— 1905) geleistet. Die Analyse der sprachlichen Eigen-
tümlichkeiten der bedeutendsten Schriftsteller seit LOMONOSOV behandelt jetzt monographisch
E. BUDUE. Als Lautphysiologiker verdient Bogoridickij aus Kasan und Broch aus Chri-
stiana erwähnt zu werden.
II. Ruthenische Sprache. Großen Wert haben fürs Kleinrussische die Leistungen
Potebnjas (seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrh. bis 1S83) und die flott geschrie-
benen Skizzen ZiTECKIJs (1876, 1893). Manchen guten geschichtlichen Rückblick enthalten
die Studien Ogonowskis (1890), dessen kleinrussische Grammatik, nach Osadcas Buch, die
meiste Verbreitung in Galiziens Schulen gefunden. Über die Dialekte gab vor 35 Jahren
eine zusammenfassende Darstellung MichalCuk (1872) in dem großen Werke Cubinskis.
Seither sind neue Beiträge erschienen namentlich von Werchratskij und Hnatjuk haupt-
sächlich für Galizien, für Ungarn auch von OLAF Broch.
III. Bulgarische Sprache. Sie wird seit MiKLOSICHs (1852) und BlLjARSKls (1859,
russisch) Einzeldarstellungen geschichtlich von P. Lavrov (1893) erforscht, für die Gegen-
wart und die dialektische Erforschung kommen die Arbeiten MiLETICs und CONEVs haupt-
sächlich in Betracht. Fürs Mazedonische war äußerst wertvoll der dialektologische Beitrag
von V. Oblak (1896).
I\'. Serbokroatische Sprache. Sie beruhte bis in die siebziger Jahre wesentlich
auf den Leistungen (praktischen und theoretischen) VUK Karad2ic5s und den Forschungen
seines jüngeren Freundes und Beraters GjURO DaniciÖs, der neben einer guten Formen-
lehre der modernen Sprache auch eine Geschichte der Deklination und Konjugation (1874),
dann über die Wurzeln (1877) und Stämme (1876) geschrieben hat. P'ein sind seine Analysen
der Betonung, worin später A. Leskien (1885, 1893) weiter geforscht hat. Zur Dialekt-
forschung haben Re.^etar (1900, 1907), Belic (1905) und O. Broch (1903) viel beigetragen.
Jetzt ist die ausführlichste Grammatik der modernen Literatursprache von M. MARETl<i (1899)
und das beste Wörterbuch neben jenem VuKs das von Broz-Ivekovk!: (1901). Für den
sogenannten /t^/'-Dialekt bietet eine Zusammenfassung der bisherigen Erforschung das russisch
geschriebene Buch von Lukjanenko (1905).
V. Slowenische Sprache. Sie ist nach den im Laufe des 19. Jahrhunderts er-
schienenen Grammatiken von Kopitar, Dajnko, Metelko, Jane^iö, Levstik am reich-
Literatur. ^g
hakigsten vertreten in dem betreflenden Abschnitt der vergl. Grammatik MiKLOSiCHs. Viele
feine Beobachtungen lieferte auch Pat. St. Skrabec auf den Umschlägen seiner dem Kultus
des heiligen Franziskus gewidmeten Monatsschrift. Die Erforschung der Dialekte kann
einige gute Beiträge (von Strekelj, Oswald u. a.) aufweisen. Die Sprache der Bewohner
des Resiatales in Nordostitalicn hat BaudOUIN de Courtenay zu wiederholten Malen be-
handelt.
VI. Böhmische Sprache. Sie wurde grammatisch auf wissenschaftliche Grundlage
gestellt durch DOBROVSKV'. Fürs Altböhmische waren lange Zeit störend die vielen Fäl-
schungen, durch die das Bild der echten Sprache in den Analysen Safaäi'ks (1847) und
Jos. JireCeks (1870) verschoben wurde. Erst in neuerer Zeit hat J. Gebauer ein ausführ-
liches Gebäude der geschichtlichen Laut- und Formenlehre errichtet (1894 — 1898), im Zu-
sammenhang mit seinem altböhmischen Wörterbuch (bis zum Buchstaben M gelangt), für
dessen Vollendung wohl gesorgt werden wird. Die Dialektologie hat ihren reichen Nähr-
boden in Mähren: nach dem noch immer nicht unbrauchbar gewordenen Buch .Sember.\s
(1864) hat darin Hervorragendes Bartos (1886 — 1895) geleistet. Das für seine Zeit klassische
Wörterbuch JUNGMANNs (1835 — 1839) ist durch das neue von KOTT nicht in den Schatten
gestellt.
VIL Slowakische Sprache. Das Slowakische als Schriftsprache wurde nach Ber-
NOLÄK zu Ende des 18. Jahrhunderts, im vorigen Jahrhundert durch Stur (1846) behandelt.
Im Schulgebrauch war lange Zeit die Grammatik von Hattala (1864). Jetzt sucht den
Purismus auf die Spitze zu treiben Czambel (1906). Die Erforschung der Dialekte hat
Pastrnek in den neunziger Jahren mit Erfolg betrieben, doch nicht zu Ende geführt.
VIII. Ober- und Niederlausitz ^ Sorbische Sprache. Die beiden lausitz-
sorbischen Dialekte haben in Pfuhls Grammatik (1867) und W'örterbuch (1866), dann in dem
schönen Werke Muckes ('1891) (einer von der Jablonowskischen Gesellschaft preisgekrönten
Grammatik der niederlausitzsorbischen Sprache) ihre Behandlung gefunden. Für die letztere
Sprache ist jetzt auch das Wörterbuch von Dr. E. MucKE druckfertig.
IX. Polnische Sprache. Eine ausführliche geschichtlich angelegte Grammatik bildet
noch eine Lücke. Das ältere Buch von M.AiECKi (1863 u. 1879) wird jetzt durch Krynski
(1903 die 3. Auflage) verdrängt. Die wissenschaftliche Dialektologie hat Luc. Malinowski
mit seiner Druckforschung der schlesischen Mundart 1873 begonnen und begründet, woran
jetzt fleißig fortgearbeitet wird (z. B. von Kaz. NitSCH). Ein feiner Beobachter der laut-
physiologischen Erscheinungen ist Rozwadowskl Fürs Kaschubische und Slovinzische sind
die Forschungen BiSKUPSKis, BrONISCHs und namentlich Fr. Lorentz' zu nennen. Das
Polabische beschäftigt auch nach dem grundlegenden Werke Schleichers (1871) noch
immer verschiedene Forscher (Kalina, Mucke, Porzezinski, MikkOLA).
DIE RUSSISCHE LITERATUR.
Von
Alexis Wesselovsky.
Land und Leute. Einleitung. Unermeßliche, undurchdringliche Wälder, die noch in
Setzung der den letzten Jahrhunderten sowohl den westeuropäischen als auch den ost-
Bevüikerung. Esiatischcn Wanderer oder reisenden Kaufmann staunen machten, begrenzt
von einer fast völlig gleichmäßigen, von zahlreichen Flüssen durchströmten
Ebene, im Süden unabsehbare Steppen, im Norden unfruchtbares, melan-
cholisches Sumpfland — das ist das Milieu des russischen Volkes bei
seinem Erscheinen auf dem Schauplatz der Geschichte, die Umgebung,
in der es, wenigstens in seinen Grundbestandteilen, trotz seiner Erobe-
rungen und Kolonisationen, bis auf den heutigen Tag lebt. Das ist die
zweite Heimat derjenigen slawischen Stämme, die auf der Suche nach
günstigeren Lebensbedingungen ihre Wohnplätze an den Karpaten und
am oberen Lauf der Weichsel im 8. Jahrhundert verließen, um im neuen
Lande allmählich zu einem Volke zu verschmelzen und eine mehr als
tausendjährige Geschichte zu erleben. Ihr ursprünglicher Bestand ver-
änderte sich bald. Verschiedenartige Völkerschaften vermischten sich mit
ihnen. Nach den beharrlichen kolonisatorischen Versuchen bei den
schwachen Stämmen der Finnen floß ihnen finnisches Blut zu; ferner kam
es zu einer Mischung mit Elementen asiatischer Horden, die, auf Erobe-
rungszügen begriffen, von der Steppe her ins Land einfielen, und mit
Elementen der in kultureller Beziehung aktiven, mit sozialer Tatkraft
begabten Skandinavier oder Waräger. Letzteren war es beschieden,
nachdem sie bei der Begründung der ersten Städte und eines internatio-
nalen Handels eine einflußreiche Rolle gespielt hatten, an der Ausgestal-
tung des Staatsbaues mitzuarbeiten und ihre Wirksamkeit in einer nicht
stammverwandten Umgebung, der sie sich rasch assimilierten, durch Über-
tragung ihrer speziellen Bezeichnung — Rhus — auf das gesamte Volk
Hesiedelung und .
staatenbiiJu.>g. ZU kroucn.
kSÜu "ünTdie An die Stelle der primitiven Staatsform der Stammesgemeinschaften
"^Hyzanz"" traten mit der Zeit kompliziertere staatliche Formen. Das weite Gebiet
Einleitung. a I
vom Dnjepr bis zum Wolchow und dem Ladogasee wurde mit einem Netz
selbständiger kleiner Reiche überzogen, unter denen sowohl das Fürstentum
mit beratender Volksstimme als auch — wie etwa in den Handelszentren
Nowgorod und Pskow — eine fast republikanische Verfassung vertreten war,
und vor äußeren Gefahren schützte ein föderativer Verband der Einzelstaaten
unter der Hegemonie Kiews, dessen Herrscher, gleichsam zur Führerrolle
prädestiniert, zur Würde von Großfürsten emporgestiegen waren. Dadurch
hat, trotz feindseliger Überfälle und Verwüstungen, das russische Volk
in den ersten Jahrhunderten seiner historischen Existenz mit erwachender
Tatkraft die Eigenart seiner Lage sich nutzbar zu machen gewußt. Die pro-
duktiven Kräfte wurden vermehrt, Wälder ausgeholzt, große Strecken Landes
besät, Flüsse befahren, ihre Ufer besiedelt und weitgehende internationale
Handelsbeziehungen angebahnt. Zwei Meere leuchteten und lockten in
der Ferne wie Pforten, die in die Freiheit, in die große Welt führten,
und sehr lange vor Peter dem Großen, der „ein Fenster nach Europa
durchschla.gen wollte", hat der Unternehmungsgeist des Volkes zu jenen
Ausgängen vorzudringen verstanden. Mutige Kriegszüge und Handels-
interessen führten nach Konstantinopel; durch den Verkehr Nowgorods
mit den skandinavischen und deutschen Ländern wurden anfänglich öko-
nomische, später kulturelle Beziehungen zu Nordeuropa angeknüpft. Als
sich von Byzanz und von der sich unter byzantinischem Einfluß befind-
lichen südslawischen Welt aus ein Strom von Büchergelehrsamkeit und
religiöser Propaganda über Rußland ergoß, stieß die aus der Fremde im-
portierte Kultur auf urwüchsige Formen volkstümlichen Schaffens.
Das waren reichhaltige Schätze einer primitiven Dichtkunst. Das Di«
damals wie heute vorwiegend Ackerbau treibende Volk war mit dem
Leben der Natur aufs innigste verwachsen und lieh seinen poetischen
Vorstellungen von der Natur und ihren Kräften in Märchen, Gesängen
und Spielen Ausdruck, die nicht selten von dramatischer Lebendigkeit
erfüllt waren und im Laufe der Jahrhunderte seinem Gedächtnis nicht
entschwunden sind. Das heroische Element, denkwürdige Begebenheiten
aus den Kämpfen mit zahllosen Feinden, Heldentaten der mit hervor-
ragenden Kräften begabten Verteidiger und Anführer verherrlichte es im
Liede. Und wenn es ihm nicht gelungen ist, seine eigene Mythologie
harmonisch auszubauen, so hat es doch seine Gesänge und deren Helden
mythologisch gestaltet, indem es historische Tatsachen wunderbar deutete
und reelle Persönlichkeiten mit übernatürlichen Eigenschaften ausstattete.
Diesen Gesängen (Bylinen) war eine vielhundertjährige Geschichte be-
schieden. Indem die Urgesänge, dank den zwischen den verschiedenen
Stämmen bestehenden Beziehungen, mannigfache Elemente in sich auf-
nahmen, aus der Sangeswelt der Nomaden Mittelasiens und den melan-
cholischen Weisen der Finnen neue Anregung schöpften, indem das ira-
nische Heldenepos durch Vermittlung der Tataren und Nordkaukasier in
ihnen Widerhall fand und in der Folge den Bylinen sogar naheliegende
4^
Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
Motive der europäischen Literatur assimiliert wurden, entwickelten sie
sich immer weiter und erhielten sich durch die Kunst ihrer Interpreten
— der Rhapsoden. Sie folgten den Begebnissen des Volkslebens und
wurden .später zu einer besonderen Art historischer Gesänge, die zum
Beispiel den Einzug der russischen Truppen in Paris (1814) oder den
Kampf mit den Engländern und Franzosen (1854 — 55) zu schildern ver-
mochten, jedoch auch die sagenhafte Vergangenheit nicht vernachlässigten
und in dieser zwiefachen Gestalt ins 20. Jahrhundert überkommen sind,
so daß im Norden des europäischen Rußlands und in Sibirien Hunderte, ja
fast Tausende dieser Gesänge niedergeschrieben werden konnten.
Volkstümlich- Das dem Volksbewußtsein teure Erbe, die dichterische Deutung der
keit und Bücher- °
Weisheit. Natur, die Sagen, Gebräuche, Märchen und Lieder, begegnete dem Einfluß
der byzantinischen Kultur, die dem Volke mit dem Christentum nicht nur
das Alphabet des Cyrillus, sondern auch die klassische Sprache der slawo-
nischen Bibelübersetzung gebracht hatte, und fand vor der asketischen
Mönchsweisheit und der weltfremden, abstrakten Büchergelehrsamkeit
keine Gnade. Eine Aussöhnung der beiden Strömungen erschien unmög-
lich. Unter dem Zwange der wachsenden Bedeutung der Gelehrsamkeit,
die sich auf die Macht der Fürsten, auf die Autorität der Geistlichkeit
und der Klöster stützte, zog sich das volkstümliche Element in die Ver-
borgenheit zurück und gedieh dort in der bisherigen Weise oder lernte
zu zwei Göttern beten, indem es unter dem Deckmantel des Christentums
seine Liebe zur alten Überlieferung verbarg. Als es die Züge der
letzteren in der geheimnisvollen Welt der von der Kirche verurteilten
Apokryphen erkannte, schuf es aus apokryphischen Motiven und den
Weisen des Volksliedes, durch Bearbeitung der Legenden, die es lieb-
gewonnen hatte, da sie den Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur zu
enthalten schienen, und aus Beschreibungen des Lebens edler, gerechter
Männer, die für das Volk gelitten hatten, den bis auf den heutigen Tag
existierenden Typus des „g-eistlichen Gedichts" (ein Mittleres zwischen
dem mystischen Hymnus und dem epischen Gesänge).
A. Von den ältesten Zeiten bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts.
Anfange der pro- j_ Von den Anfängen bis zu Peter dem Großen. Im Verlaufe der
lanen Literatur. '^^
Erste wichtiüo 2git aber mußte notwendigerweise das reale Leben in den Gesichtskreis der
-■Vnzcichen ihrer ^
sozialen Bcdeu- Bücherweisheit treten. Innere Unruhen, P'eindseligkeiten und Uneinigkeiten
unter den Fürstentümern, äußere Gefahren und das Zunehmen sozialer Un-
gleichheit und Willkür riefen die ersten weltlichen Schriftsteller auf den
Plan und stellten sie vor das Problem des Kulturkampfes. Als Vorboten der
gesellschaftlichen Satire, die im ig. Jahrhundert eine Reihe bedeutender
Vertreter fand, machen sie sich ihre Vorgeschrittenheit zunutze und treten
mit scharfen Anklagen hervor. Ihre Unfähigkeit, das Leben zu beschönigen,
A. Von den ältesten Zeiten bis zumAusgang des i8. Jahrh. I.Von denAnfängen bis zu Peter d.Gr. ^3
ihre unbedingte Wahrheitsliebe läßt in ihnen noch einen anderen charakte-
ristischen Zug der späteren literarischen Entwicklung ihres Volkes in
die Erscheinung treten — die starke Neigung zum Realismus. Die „Be-
lehrung" von Wladimir Monomach enthält viele humane, an die Regenten
gerichtete Ratschläge und Warnungen (u. a. einen entschiedenen Protest
gegen die Todesstrafe) und ist mit Unzufriedenheit durchsetzt. In der
„Bittschrift" eines unschuldig in einem entlegenen Kerker schmachten-
den Arrestanten namens Daniel an seinen Fürsten kennzeichnet der un-
bekannte Verfasser die sich breitmachende Ungerechtigkeit und Willkür.
Der demokratische Unwille, der aus diesem Erzeugnis des 1 2. Jahrhunderts
spricht, läßt es den politischen Streitschriften der Gegenwart dem Geiste
nach verwandt erscheinen. Ein noch breiteres und ergreifenderes Bild
von dem Zustand des Landes zur Zeit seiner beginnenden Zerstückelung
und seiner politischen Erniedrigung entrollt sich in der „Mär vom Feld-
zuge des Igor" aus demselbea Jahrhundert. Ein Häuflein kühner Fürsten
opfert sich mit seiner Heerschar für die Befreiung des Volkes von ge-
fährlichen Feinden, dem tapferen Steppenvolke der Polowzen oder Ku-
manen. Teilnahmlos läßt man sie untergehen. Die ehemalige Solidarität
besteht nicht mehr. In seiner Trauer und Entrüstung fordert der Dichter
alle abtrünnigen oder selbstzufriedenen und egoistischen Machthaber vor
seinen Richterstuhl und zerschmettert sie im Namen des russischen Volks
durch seinen Wahrspruch. Er offenbart zugleich ein großes dichterisches
Talent; die lebendige und dramatische Schilderung des Feldzuges, der
Schlachten und der Gefangenschaft, die poetische Zeichnung der Natur,
die psychologische Charakterisierung des Haupthelden, die reiche Symbolik
des Stils, die sich hauptsächlich an die Volksgesänge anlehnt, weist der
Dichtung, abgesehen von ihrer sozialen und satirischen Bedeutung, einen
hohen Rang in der alten russischen Literatur an. Was die Chanson de
Roland den Franzosen und das Nibelungenlied den Deutschen ist, das ist
diese Mär dem russischen Volke. Ihre Entdeckung und Veröffentlichung
(1800) übte eine starke Wirkung auf die russische Gesellschaft aus, und
die gleiche Wirkung wurde überall erzeugt, wo diese Schöpfung in Über-
setzungen bekannt wurde. Man erinnere sich der feinen Äußerungen
Wilhelm Grimms über diesen Gegenstand (Wilhelm Grimms kleinere
Schriften).
Das Aufblühen einer weltlichen, von der geistlichen Bildung un- Schicksal der
' ° ^ . Bildung zur Zeit
abhängigen Literatur, die sich schon frühzeitig zu Schöpfungen einer der Tataren-
50 hohen ideellen Reife und künstlerischen Schönheit als fähig er- Nowgorod.
wiesen hatte, wurde im Keime erstickt, als die Tataren ins Land ein-
drangen und seine Herren wurden. Wegen der ständigen Gefahren, die
den südrussischen Ländern drohten, fanden Übersiedelungen in die zen-
tralen Gebiete und noch weiter bis hinter die Wolga hin in großem
Umfange statt. Die ökonomischen Wirkungen dieser Verschiebung blieben
nicht aus; es entstanden neue Fürstentümer, Städte und Klöster, und mit
44
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
turellen Hell
lam Moska
Widerhall wo
europäische
Gedanken.
.Maiim Gre
der Kolonisation verbreiteten sich auch die Errungenschaften der Bildung.
Die Auswanderer trugen ihre Gesänge, ihre Gebräuche, das belehrende
byzantinische Schrifttum, die Lebensbeschreibungen der Streiter für die
russische Kirche, die historischen Aufzeichnungen und Annalen in entlegene
Gegenden, doch die Gefahr, die der Kultur drohte, war unabwendbar. Die
Ahnungen des Dichters erfüllten sich. Das in kleine staatliche Einheiten
zerfallene Land konnte keinen einmütigen Widerstand leisten. Mit dem
politischen Niedergang trat in der kulturellen Entwicklung ein Stillstand
ein. Zwei Jahrhunderte verliefen in erdrückender Abhängigkeit und
hinterließen in den politischen Ansichten und in der Sitte des Volkes die
Spuren des Siegers. Nur in Nowg-orod, das außerhalb der Einflußsphäre
der Tataren lag, fand die Kultur gedeihlichen Boden: dort wurden die
Beziehungen zur Hanse und zu Skandinavien befestigt, es entwickelte sich
eine lokale Literatur, unter dem Einfluß der deutschen Gedankenwelt er-
wachte das religiöse Freidenkertum, und die erste Sekte mit stark demo-
kratischen Prinzipien wurde gegründet.
Anfange der kni- Als die nationale Selbsttätigkeit wiedergeboren wurde, als sie sich
im ganzen Lande organisierte, um das Joch abzuschütteln, und der Aus-
gangspunkt der Befreiungsbewegung, Moskau, die jüngste unter den
russischen Städten, die erst im 12. Jahrhundert auf dem Schauplatze der
Geschichte erscheint, an Stelle der früheren, nunmehr längst erstorbenen
Zentren der Kultur und des politischen Lebens rasch emporblühte, konnten
die jäh abgerissenen Fäden der Zivilisation unter den günstigeren Lebens-
bedingungen des Moskauer Großfürstentums, um das sich, dank der be-
harrlichen Bemühungen seiner Regenten, ganz Rußland zu scharen be-
gann, weiter gesponnen werden. Die ehemaligen Quellen der Bildung
waren aber nicht mehr erreichbar oder versiegt. Für die russischen
Schriftsteller gab es weder einen Weg zur Wissenschaft und Literatur von
Byzanz, das von den Türken unterjocht worden war, noch zu den Süd-
slawen oder den Schöpfungen der östlichen Kultur, die ihnen früher von
byzantinischen Kompilatoren vermittelt worden waren. Der Gang der
Ereignisse wies auf eine Annäherung an die westliche Kultur hin. Ein
Widerschein der Gedankenwelt der Renaissance begann auch in Rußland
leise aufzuleuchten. Die Verkündigung einer Aufklärung, eines sitt-
lichen und sozialen Aufschwungs, ja selbst eine neue Kunst fand dort
Eingang. Pioniere dieser Bewegung waren eine Gruppe italienischer
Künstler, die unter Iwan ITI. aufgetaucht war und sowohl auf die Archi-
tektur als auch auf die kirchliche Malerei einen starken Einfluß ausübte,
und der unter dem Namen Maxim Grek in der Geschichte der russi-
schen Bildung fortlebende Albanier, der seine hervorragenden Fähig-
keiten in Italien zur Entfaltung gebracht hatte. Als leidenschaftlicher
sozialer Agitator und Publizist entwickelte er in Hunderten von Schriften
dem Volke, das ihm in seinen Träumen als Befreier des europäischen Ostens
erschien, die Notwendigkeit vernünftiger Staatsformen, einer gerechten
A. Von den ältesten Zeiten bis zum Ausgang des 1 8. Jahrh. I. Von den Anfängen bis zu Peter d. Gr. 4 5
Gesetzgebung und einer Ausbreitung des Wissens. Einst hatte er voll
Begeisterung den Reden Savonarolas gelauscht und sich von der Un-
erschrockenheit dieses Mannes hinreißen lassen. Nun war auch er bereit,
für seine Überzeugungen zu leiden, und hat auch tatsächlich dank der
Unduldsamkeit der Kirche schwere Verfolgungen ertragen müssen. Seine
Tätigkeit bedeutet eine neue Epoche in der Geschichte der Literatur, die
sich zu Beginn der literarischen Entwicklung in den Dienst der sozialen
Bestrebungen gestellt hatte und ihnen bis auf den heutigen Tag treu
geblieben ist.
Maxim Grek findet bereits aufmerksame Hörer; er wird das Haupt Der Kreis von
. Maxim Grek.
eines Kreises neuer Menschen, die sich mit der bisherigen Stagnation, iwan der
' . . Sclireckhche.
der nationalen Exklusivität und dem Absolutismus, diesen Grundprinzipien DieUteraturder
der Moskauer Politik nicht zufrieden geben konnten. Der bedeutendste
unter den Schülern Maxims, Fürst Kurbsky, wurde der erste russische
Emigrant. Von seinem polnischen Zufluchtsorte aus geißelte er die
Schwächen des Moskauer Staatsbaues und focht in einem höchst inter-
essanten Briefwechsel mit Iwan dem Schrecklichen in sehr geschickter
Weise ein Turnier aus. Die hohe Bedeutung des Buchdrucks wurde eben-
falls von Maxim, der in Italien Aldo Manucci nahe gestanden hatte, ver-
kündet, und aus dem Moskauer Kreise gingen die Urheber der russischen
Buchdruckerkunst hervor. Unter den letzteren war es besonders der
Diakonus Iwan FedorofF, der in seiner durchs ganze Land getragenen
Propaganda für den Buchdruck einen solchen Idealismus und eine solche
Begeisterung an den Tag legte, wie sie den Aposteln dieser großen Er-
findung eigen zu sein pflegten.
Die Überzeugung von der Notwendigkeit lebendiger Beziehungen
zur westeuropäischen Kultur errang immer neue Siege. Sie übertrug
sich sogar auf einen scheinbar unbedingten Vertreter des Absolutismus
— auf Iwan den Schrecklichen, in dessen komplizierter, widerspruchs-
voller, begabter, jedoch zerrütteter Seele eine starke Neigung zum Euro-
päertum erwachte. Wenn sein Kampf mit den vermeintlich revolutionären
Mächten zeitweilig ruhte und die unmenschlichen, vom Verfolgungswahn
diktierten Hinrichtungen aufhörten, fand diese Neigung in der Entsendung
geeigTieter Persönlichkeiten nach Deutschland zur Anwerbung von Spezia-
listen aller Art, in den regen Beziehungen zu England und in einer de-
mütigen Verehrung der Königin Elisabeth ihren Ausdruck. Die Aus-
breitung der neuen Überzeugungen bedeutete bereits eine so große Gefahr
für den orthodoxen Konservatismus, daß seine Anhänger es für nötig
hielten, einen Kodex strenger Sittenregeln zu verfassen, um den schädi-
genden Einflüssen entgegentreten zu können. Und dasselbe 16. Jahr-
hundert, das im Leben des russischen Volkes zweifellos eine Zeit des
Umschwimges bedeutet, sah das Erscheinen des „Domostroi", einer eigen-
artigen Anleitung zu einem mustergültigen Leben in der Familie, in der
Gesellschaft und im Staat, die von strenger Religiosität erfüllt war, un-
a() Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
bedingte Unterordnung unter die Autorität, eiserne Zucht in der Familie,
völlige Unterwerfung des Weibes forderte und Furcht vor aller Bildung
an den Tag legte.
Selbständige Aber selbst die breiteren Schichten des Volkes zeigten in jener Zeit
Volks- .
bestrcbungcn im eine Unverhohlene Neigung zur neuen Kultur, zwar nicht im Zarentum
Biidungseinfluß Moskau, sondcm in dem von dem nationalen Kern losgerissenen, unter
der Wissen" Polcns Herrschaft geratenen Grenzlande. Kiew, das einst die Wiege der
russischen Bildung gewesen war, widmete sich nunmehr mit erneutem
Eifer der Ausbreitung des Wissens. Das war die Tat und das Verdienst
kleiner Leute, der Bürger und Bauern, die das Recht der Nationalität
verteidigten, Brüderschaften gründeten, mit vereinten Kräften ein System
von Lehranstalten — elementaren, mittleren und Hochschulen — schufen,
der Bildungspropaganda des Polentums Widerstand entgegensetzten, ihr
jedoch Methoden und Wissen entlehnten, um sie zum Nutzen des eigenen
Volkes zu verwenden. Während Moskau sich noch im Vorstadium euro-
päischer Kultur befand, wurde im südwestlichen Rußland schon am Ende
des i6. Jahrhunderts das Kiewer Kollegium (später zu einer Akademie
ausgestaltet) begründet, woselbst der Grundstein zur russischen Wissen-
schaft gelegt und die Kunstdichtung geschaffen wurde, indem die Lehrer u. a.
die ersten Schuldramen dichteten und sie zur Aufführung brachten. Die
Einflußsphäre dieser Pflanzstätte der Bildung erweiterte sich bald. Die
polnische Kultur wurde zur Vermittlerin zwischen den erwachenden literari-
schen Bedürfnissen und der Produktion des Abendlandes. Ein frischer
Zug weltlicher Anschauungen drang in die enge, sorgsam behütete Ab-
geschlossenheit des gesamten russischen Lebens. Aus dem Polnischen
übertragene Romane und Novellen sprachen von bisher verbotenen Dingen;
die Leidenschaften, der Kultus der Frau, die realen Lebensverhältnisse,
der Spott der Skepsis oder der harmlosen Heiterkeit, die Tragödie der
Liebe oder der Sarkasmus des Decamerone Boccaccios — alles wurde
nunmehr zugänglich gemacht und übte eine unwiderstehliche Anziehungs-
kraft aus.
Die Aufki.iru.ig Im 1 j. Jahrhundert übertrugen sich die Wogen der Aufklärung nach
17. Jahrhundert. Moskau. Die anhaltenden revolutionären Erschütterungen der Periode der
Politische °
Schriften. Wirren, die andauernde polnische Okkupation und der den Ausländern
in weitem Umfange, wenn auch widerwillig g-ewährte freie Zutritt unter-
gruben die ehemals gewahrte Isolierung. Das Bedürfnis nach neuen
Ideen, Formen und Menschen, nach lebendigen Beziehungen zu der Außen-
welt, sowie nach einer Entfaltung der Selbsttätigkeit war nach der Bei-
legung der Wirren natürlich. Dennoch mußte ein volles Jahrhundert, die
lange Zeit bis zum Erscheinen Peters des Großen, verstreichen, ehe diesem
Bedürfnis Genüge geleistet wurde. Die südrussische Bildung- samt ihren
europäischen Quellen wird endlich im zentralen Rußland heimisch. In
Moskau wurde durch die Gründung einer geistlichen Akademie ein wissen-
schaftlicher Mittelpunkt geschaffen. Mit Hilfe deutscher Lehrmeister (des
A. Von den ältesten Zeiten bis zum Ausgang des iS.Jahrh. II. Von Peter d. Gr. bis zu Alexander I. ^y
protestantischen Pastors Joh. Gottfr. Gregor)^) und ihrer russischen Zöglinge
kam ein weltliches Theater zustande, auf dessen Bühne sowohl pathetische
Dramen als auch heitere Komödien in Übersetzungen zur Aufführung ge-
langten und selbst das Repertoire aus Shakespeares Zeiten (ein Drama
Marlowes) Aufnahme fand. Die Verbreitung übertragener Novellen regte
interessante Versuche einheimischer Schriftsteller an, und das Bild des
zeitgenössischen Lebens spiegelte sich in den Werken dieser frühesten
Vorgänger Gogols in ungeschminkter Treue. Das Volksleben wird jedoch
auch der viel strengeren Kritik der erwachenden sozialpolitischen Be-
trachtung unterworfen. In einer polemisch gehaltenen (in Schweden,
während der Emigrantenjahre des Autors verfaßten) Beschreibung des
ganzen russischen nationalen Systems, die ein Mitglied des auswärtigen
Amtes, Kotoschichin, geliefert hat, wird der Stillstand der Entwicklung,
die Unwissenheit und Knechtschaft erbarmungslos gekennzeichnet. Die
Überzeugung von der Notwendigkeit umfassender Reformen, von der
diese Arbeit getragen wird, kreuzt sich mit dem Traum der großen
Befreiungsmission des wiedergeborenen Landes: von seinen alten Ge-
brechen befreit, wird es stark und rein dem gesamten Slawentum als Retter
erscheinen. Dieser Traum, der zum erstenmal den Gedanken der späteren
Slawophilen zum Ausdruck bringt, war das Credo des Kroaten Krishanitsch,
eines aus dem fernen Süden eingewanderten, äußerst talentvollen Fremd-
lings, der den größten Teil seines Lebens der Verkündigung reformato-
rischer Ideen und allslawischer Politik gewidmet hat und seine gefähr-
lichen, aufrührerischen Reden mit einer langjährigen Verbannung nach
Sibirien büßen mußte, woselbst seine hervorragendsten Werke zustande
gekommen sind.
IL Von Peter dem Großen bis zu Alexander I. Die Gedanken- Peter der GroSe
uad seine Zeit.
weit, aus der solche überzeugte Vertreter des Kulturfortschrittes heraus-
gewachsen waren, trieb unaufhaltsam dem Europäertum entgegen. Die
schäumende Energie Peters des Großen brachte in diese Bewegung jenes
fieberhafte Treiben, das alles Zögern und alle Folgerichtigkeit in der An-
eignung fremder Errungenschaften, die dem russischen Entwickelungsstande
oft um ein oder zwei Jahrhunderte voraus waren, beiseite schob und den
verschiedenartigsten Strömungen der abendländischen Kultur zu folgen
suchte. Ein Programm der Volksbildung von noch nie dagewesenem Um-
fange wurde entwickelt. Durch zahllose Übersetzungen wurden die Sozial-
wissenschaften, die Geschichte, die exakte Forschung, die Technik, das
Militär- und Seewesen dem Volke zugänglich gemacht. In Peter selbst,
der durch keine Schule gegangen, aber mit genialem Verständnis begabt
war und bei einem Leibniz und Christian Wolff Rat und Hilfe zu suchen
pflegte, glühte eine unauslöschliche Begeisterung für die Wissenschaften.
Der hingebende Kultus, den er mit ihnen trieb, läßt seine oft brutal hervor-
brechende Eigenmächtigkeit in einem milderen Lichte erscheinen. Die
,g Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
zwar nicht zahlreichen, aber aufrichtigen Reformenthusiasten aus allen
Schichten der Gesellschaft widmeten sich nunmehr auch diesem Kultus
und bemühten sich, wie z. B. der Publizist-Autodidakt Possoschkoff, ein
Bauer aus Moskaus Umgebung, der in kunstloser Form treffende volks-
wirtschaftliche Betrachtungen zur Darstellung brachte und ein System
des Schulwesens, angefangen von der obligatorischen Volksschule bis
zur Universität, entwarf, gemeinsam mit dem Zaren das Vaterland empor-
zuziehen, während Millionen am Werke waren, den Aufschw^ung zu ver-
hindern. Die Entwicklung der Literatur im engeren Sinne des Wortes
rückte, inmitten dieser steten Sorge um das unmittelbar Nützliche, auf
den zweiten Plan; der Zar-Reformator, dem auch auf diesem Gebiete die
Führerrolle zuzufallen schien, war von schriftstellerisch nur mittelmäßig
begabten Leuten umgeben. Der allgemeine Geist dieser Epoche, die den
Kulturfortschritt auf ihr Banner geschrieben hatte und den kommenden Zeiten
vermachte, sowie die Erkenntnis der hohen Bedeutung des gedruckten
Wortes, erzogen jedoch ein Schriftstellergeschlecht, dessen Jugend zwar
in die Blütezeit der reformatorischen Tätigkeit Peters fiel, dessen Schaffen
aber der folgenden Periode angehörte. Diese Männer hatten Peter viel-
leicht nie persönlich gekannt, doch griffen sie seine Anregungen auf und
hielten ihm die Treue, als nach seinem Ableben die Reaktion hereinbrach,
die seine wichtigsten Schöpfungen zu vernichten drohte. Sie waren das
lebendige Glied, das die Epoche der Reformen mit dem Zeitalter der Auf-
klärung, des Enzyklopädismus, verband, und zugleich die Stammväter der
neuen russischen Literatur.
Die Vollender Aus allen Gesellschaftsschichten waren sie hervorgegangen. An ihrer
Peters des Spitze aber stand wiederum ein Vertreter des Bauerntums, Lomonossoff,
Großen.
Lomonossoff und der von den Ufern des Weißen Meeres um der Wissenschaft willen nach
genossen. Moskau gekommen war und sich später in Deutschland der Natur-
geschichte und der Philosophie gewidmet hatte. Er war ein hervor-
ragender Geist von europäischem Ruf, Denker und Dichter zugleich,
ein Reformator der russischen Dichtkunst, ein demokratischer Publizist
und der Begründer der ersten russischen Universität in Moskau (1755).
Auf den Grenzgebieten seines Arbeitsfeldes, auf dem Gebiete der Satire,
des Drama.s, der Komödie, der Journalistik und Geschichtschreibung taten
sich seine Zeitgenossen Kantemir, Ssumarokoff und Tatischtscheff hervor,
Männer, unter denen oft Uneinigkeit herrschte, und die sich untereinander
befehdeten, die jedoch alle in gleicher Weise den höheren Interessen der
Kultur und der Arbeit zum Wohle des Volkes ergeben waren. Es hatte
fast den Anschein, als erweitere die Entwicklung der Kunstdichtung die
Kluft zwischen den ungebildeten Massen und den verfeinerten oberen
Schichten der Gesellschaft, die von den Reformen Peters am meisten er-
griffen worden waren. Dennoch wurden die allgemeinen Volksinteressen
nie aus dem Auge gelassen und fanden in Lomonossoff einen fanatischen
Verteidiger. Jene Männer fühlten die ganze Schwere der Verantwortlich-
A. Von den ältesten Zeiten bis zum Ausgang des 1 8. Jahrh. II. Von Peter d. Gr. bis zu Alexander I. ^q
keit ihres Berufes und unterwarfen sich nicht dem herrschenden Obskuran-
tismus, der Schreckensherrschaft Birons. Als sie von der Bühne traten,
stand die Sonne hoch, vom Westen her drangen der befreiende Geist
einer neuen Philosophie, der streitbare Sarkasmus Voltaires, die staats-
männische Weisheit Montesquieus und die aufklärenden Lehren der En-
zyklopädisten ins Land. Die alten Prinzipien gerieten ins Wanken, und
das Evangelium der Humanität wurde den rechtlosen, in Finsternis dahin-
lebenden Volksschichten verkündet.
Unaufhaltsam griff die Befreiungsbewegung um sich, gleichviel ob sie Die Epoche
in der Person Katharinas IL eine demonstrativ leidenschaftliche Be- Der Enzykiopä-
schützerin fand, oder ob sie von selten dieser „Semiramis des Nordens", Die literarischen
' ^ Parteien.
dieser Freundin der Philosophen, die den Glauben an ihre Ideale verloren
hatte und durch das Selbstherrschertum vergiftet worden war, in der
zweiten Hälfte ihrer Regierungszeit Bedrängnis und Verfolgung erdulden
mußte. Anfangs hatte die Bewegung unter dem Protektorat der schrift-
stellernden Kaiserin gestanden, die, ohne literarisch hervorragend begabt
zu sein, sich auf allen Gebieten versuchte und die Führerrolle nicht aus
der Hand geben wollte. Dann aber war es zu einem Zusammenstoß mit
Individualitäten gekommen, die sich nicht von oben beeinflussen lassen
wollten, sondern ihre eigenen Wege gingen und vor einer offenen Dar-
legung ihrer Überzeugungen nicht zurückschreckten. Damals entstanden die
ersten literarischen Parteien: die gemäßigt-fortschrittliche mit Katharina
an der Spitze, die von der Idee der Nächstenliebe und der sittlichen
Vervollkommnung getragene Richtung, die ihren Ausgangspunkt im Frei-
maurertum nahm, femer die Partei der Anhänger des politischen Fort-
schrittes, radikaler Reformen, allgemeineuropäischer Zivilisation, und
schließlich die Gruppe jener Leute, die im Gegensatz zu den anderen an
dem nationalen System festhielten, sich vor der alten Überlieferung beugten
und es fertig brachten, eine äußerlich europäische Lebensform mit dem
längst erloschenen Geiste der Vergangenheit zu erfüllen. Von diesem
Hintergründe heben sich die Gestalten einiger Männer ab, die viel Talent,
nicht wenig Originalität und — was noch wichtiger ist — als Bürger
einen seltenen Mut besaßen.
Die Regrentin, von der scheinbar alle Initiative ausging, suchte mit ?.<=■■ Kampf der
ö ' o C" Literatur mit der
den Koryphäen Europas in Verbindung zu treten, unterhielt mit Voltaire CeseWschafts-
einen scharfsinnigen Briefwechsel, lockte Diderot nach Petersburg, lauschte yJ^°Y'.'^°^' ,
mit Interesse seinen geistvollen Improvisationen über die Wiedergeburt Radischtschew.
Rußlands durch konstitutionelle Freiheit, um später keinen seiner Rat-
schläge zu befolgen. Während sie sich im Ruhme des philosophisch-
humanitären Glaubensbekenntnisses sonnte, das sie in der „Instruktion" für
die zur Ausarbeitung von Gesetzen einberufene Kommission ausgesprochen
hatte (obgleich die Lage des Volkes sich verschlimmerte, die angekündigten
Reformen zurückgezogen wurden und die Willkür überall Platz griff),
verkörperte sich der geistige Gehalt der Epoche in den begabtesten
DiH Kultur der Gegenwart. I. o. 4
50
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
Schriftstellern. Der tatkräftige Philanthrop und Freimaurer Nowikoff trat
für wahre Bildung- ein, indem er die allgemeine Volksschule schuf, große Ver-
lagsanstalten, die Rußland mit Übersetzungen nützlicher Werke versorgten,
gründete, sich an die Spitze der besten russischen Zeitung stellte und eine
Reihe von satirischen Zeitschriften ins Leben rief, um nicht nur die allgemein
menschlichen Gebrechen ans Licht zu ziehen, sondern um vor allen Dingen
die empörenden russischen Verhältnisse, insbesondere die Institution der Leib-
eigenschaft, zu geißeln. Letztere hatte sich unter dem Einfluß volkswirt-
schaftlicher Verhältnisse erst in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts
entwickelt und entfesselte bereits ein Jahrhundert später einen Sturm der
Entrüstung in der Literatur. Die Abhandlungen in den Zeitschriften Xowi-
koffs stimmen in ihren abstoßenden Schilderungen der Leibeigenschaft
mit der düsteren Tragik der Komödie Vonwisins „Nedorossl" überein und
werden nur von dem leidenschaftlichen Protest des besten politischen
Schriftstellers Rußlands im 1 8. Jahrhundert, Radischtschew, übertroffen.
In der nach dem Muster der „Sentimental Journey" Sternes verfaßten
„Reise von Petersburg nach Moskau" weist Radischtschew, der die belle-
tristische Form um des leichteren Verständnisses willen wählte, mit äußerster
Schärfe auf die bestehende Knechtschaft hin und schildert ausführlich, wie
die Befreiung der Bauern in gerechter Weise vollzogen werden könnte. Für
ihn ist dies wie im 19. Jahrhundert für Turgenieff die Kardinalfrage. Um
das Übel zu bekämpfen, leistete er gleich dem Verfasser der „Memoiren
eines Jägers" seinen „Hannibal-Schwur". Wie er in einem Kapitel über
die Geschichte der Zensur die Freiheit des gedruckten Wortes kategorisch
fordert, so kommt er durch zahllose Beispiele von Unterdrückung zur
Überzeugung von der Notwendigkeit einer völligen Befreiung der Be-
völkerung und der Zuweisung von Land an die Bauern.
Verfolgung der Eine der besten Stellen des Buches ist die phantastische Schilderung
Katharina, cines TrEumes : die Wahrheit kommt zu einem Herrscher, der von schein-
bar ergebenen Höflingen umgeben ist und vom Elend seines Volkes
keine Ahnung hat; sie öffnet ihm die Augen, und nun offenbart sich ihm
die entsetzliche Lage des Landes und die Erbärmlichkeit der Höflinge in
ihrer ganzen Blöße. Radischtschew hatte wahrscheinlich eine solche Er-
leuchtung auch für Katharina erhofft. Doch die Wahrheit, die in ihm,
Nowikoff, Vonwisin und anderen Verfechtern des Freiheitsgedankens ihre
Vertreter fand, war im anscheinend philosophischen Zeitalter ein unliebsamer
und gefährlicher Gast. Radischtschew büßte seinen politischen Liberalismus
mit Verbannung in einen entlegenen Winkel Sibiriens, und der politisch
neutrale Freimaurer Nowikoff wurde für seine Predigt der Humanität und
Zivilisation in die Festung gesperrt, die er erst als gebrochener Greis
wieder verließ. Jedes freiheitliche Wort in der Literatur, wie z. B. eine von
Knjaschnin verfaßte Tragödie, „Wadim", die die alte republikanische Ver-
fassung Nowgorods verherrlichte, war Verfolgungen ausgesetzt. Das schier
endlose Martyrium der russischen Schriftstcllerwelt nahm seinen Anfang.
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Alexandrinische Periode. 51
In trüber Stimmung beschloß die russische Gesellschaft und mit ihr Reaktion unter
Katharina und
die Literatur das 1 8. Jahrhundert. Katharina und ihr Nachfolger Paul, i'aui. Besinn der
Aloxandrini-
ein Fanatiker des Konservatismus, der sich nicht einmal wie seine Mutter sehen Epoche.
wenigstens in den Jugendjahren für die Ideale seiner Zeit begeistert hatte
und nun die sinnlose Aufgabe auf sich nahm, ihnen entgegenzutreten, das
Leben rückwärts strömen zu lassen, schienen unter dem Eindruck der
französischen Revolution und der Volksaufstände im eigenen Reiche alles
tun zu wollen, um die soziale und literarische Bewegung zu schwächen
und unschädlich zu machen. Endlich herrschte Schweigen, die Ruhe des
Kirchhofs — aber das war nur Schein. Im geheimen gediehen die Ideen,
die bereits Wurzel gefaßt hatten, und die Traditionen der leitenden lite-
rarischen Kreise wurden treulich bewahrt, ja sie traten gelegentlich, sogar
während der unerträglichen Regierungszeit des Zaren Paul, ans Tages-
licht. Im Jahre 1801 machte die Palastrevolution der Tyrannei ein Ende
und in Alexander L, der nach Katharinas Willen, den Neigungen seines
Vaters zum Trotz, von einem ausländischen Pädagogen, Laharpe, in den
Ideen der Menschlichkeit und Zivilisation erzogen worden war, bestieg ein
Vertreter der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts den Thron.
Jetzt endlich lösten sich die von der Reaktion niedergehaltenen Kräfte,
der Zusammenhang der Gedankenevolution wurde wiederhergestellt und
verkündete den Beginn eines goldenen Zeitalters.
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts.
(Zeitalter Alexanders I. und Nikolaus' I.)
I. Alexandrinische Periode. Obgleich die Beseitigung aller »ie ersten
=> 6 & SrhriftsteUerdes
Entwicklungshemmnisse und die Befreiuner der im Volke schlummernden lu. Jahrhunderts.
° ° .. Sliukowsky,
Kräfte tatsächlich als Devise der neuen Ära gelten konnten, verliefen n^'™schko«F und
° ' il.ro Nachfolger.
die ersten Jahre farblos, ohne nennenswerte schöpferische Leistungen
— so sehr hätten die andauernden reaktionären Einflüsse alle Energie
und Schaffenskraft gelähmt. Als aber eine junge Generation heran-
reifte, die, in größerer P"reiheit aufgewachsen, über eine seltene Aus-
lese glänzender Talente verfügte, deren Ziel es war, die Förderung der
sozialen Bestrebungen mit künstlerischer Reife zu verbinden, trat die Be-
deutung der vollzogenen Umwälzung deutlich hervor. Der Weg wurde
dieser Jugend von zwei Vorläufern, die bereits im 18. Jahrhundert auf-
getreten waren, gewiesen: von Shukowsky, dem Dichter der „Gefühlsselig-
keit", „des süßen Wahnes", der nebelhaften Träume, der zuerst unter dem
Einfluß von Grray, Young und Bürger gestanden und sich dann für Schiller
und die deutschen Romantiker begeistert hatte, und von dem Realisten
Batiuschkoff, der ein Verehrer plastischer Schönheit und leidenschaftlicher
Affekte war. Als Vertreter zweier entgegengesetzter Richtungen schienen
sie besonders dazu geeignet, der Dichtkunst die nötige Mannigfaltig-
4*
52
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur
keit und Fülle der Entwicklung zu verleihen, sowie ihre Befreiung aus den
Banden des pseudo-klassischen Formalismus und des äußerlichen Glanzes,
der besonders von dem begabten Dershawin, dem Barden Katharinas, in die
Poesie hineingetragen worden war, zu vollziehen. Ihre Nachfolger waren eine
Gruppe sie weit überragender Talente, die berufen waren, eine tiefe Spur
im Leben und in der Kunst ihrer Zeit zu hinterlassen. In erster Reihe war
es Gribojedoff, der seine Anklagen gegen die Gesellschaft im Gewände der
Komödie vorzutragen wußte, femer Puschkin, der von einem ganzen Stabe
von Dichtern, Kritikern und Publizisten umgeben war und über die literarisch
tonangebenden Organe „Der Polarstern" und der „Moskauer Telegraph"
verfügte, schließlich aber die liberalen Vertreter der Universitätswissen-
schaften, insbesondere die Juristen. Ihre Nachfolger waren die Repräsen-
tanten des bürgerlichen Typus, die sich eben durchzusetzen begannen,
unter anderen der tiefsinnige, redliche und unabhängige Tschaadaew,
dem es gelang, selbst Puschkin auf die Bahnen eines politischen Dichters
zu führen.
Der Kampf des Die fortschrittUche Strömung stieß aber bald auf den Widerstand der
Nationalismus °
mit der fort- von ihr aufgerüttelten konservativen Kreise der Literatur und Gesell-
schrittlichen
Richtung. Schaft, die sich bereits im i8. Jahrhundert in der Bekämpfung zivili-
satorischer und revolutionärer Ideen der Reaktion angeschlossen hatten.
Den konstitutionellen Bestrebungen, den allgemeinmenschlichen Kultur-
interessen, der politischen und religiösen Gedankenfreiheit wurde das
Bild einer idealisierten Vergangenheit, das feste Gefüge der bestehen-
den Staatsverfassung, die patriarchalische, unbegrenzte Macht des Allein-
herrschers, die Ehrfurcht vor den unerschütterlichen Traditionen der recht-
gläubigen Kirche entgegengehalten. In dem Widerstreben gegen den
Geist der neuen Zeit begegneten sich die Nationalisten, Mystiker, Klerikalen
und Dunkelmänner. Die drohende Gefahr einer napoleonischen Invasion
und später der Einfall der französischen Armee ins Land gewährten ihnen
die Möglichkeit, die Vertretung europäischer Kulturideale als Landesverrat
zu kennzeichnen. Die Wirksamkeit patriotischer Pamphlete, politischer
Tragödien und der hetzenden Propaganda der Presse, die Verspottung des
Kosmopolitismus und der Gallomanie in der Komödie hatte aber im Jahre
1812 keineswegs ihren Höhepunkt erreicht, sondern sie verschärfte sich
noch, als der mächtige Feind vernichtet war, Europa von den revolutio-
nären Ideen befreit schien und Rußland die unvorhergesehene Aufgabe
zufiel, die Führerrolle bei diesem Rettungsversuch zu übernehmen. In der
Reihe der Gegner allen Fortschritts stand der Historiker Karamsin, der
mit den Idealen seiner Jugend gebrochen, seine bedeutende literarische,
journalistische und kritische Begabung unter dem Druck der Reaktion
erstickt hatte, um sich lange Jahre hindurch mit erstaunlichem Fleiße der
Erforschung des Altertums hinzugeben, als deren Ergebnis neben der
wertvollen Sichtung geschichtlicher Tatsachen seine Verehrung für die
alten Grundlagen des Staates und seine konservativen Tendenzen zu be-
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Alexandrinische Periode. jj
trachten sind, die (insbesondere in dem „Memorandum über das alte und
neue Rußland") den anmaßenden Neuerungen gegenüber als sogenannte
„Lehren der Geschichte" ihren Ausdruck fanden.
Als Alexander den Thron bestieg, erklärte er im Geiste seiner Groß- nie Reaktu
, , . unter AleL-ini
mutter regieren zu wollen. Seine innere Politik wies tatsächlich eine und ihre u
- . r, , , Sachen.
gewisse Übereinstimmung mit derjenigen Katharinas auf: wie bei dieser
folgte auch unter ihm einer Periode demonstrativer Hinneigung zu Fort-
schritt und Freiheit die Reaktion. In den ersten Monaten seiner Regie-
rungszeit hatte er den Mut gehabt, Radischtschew, diesem gefährlichen
Radikalen aus der Epoche Katharinas, nicht nur die volle Freiheit wiederzu-
geben, sondern ihn auch in ein Reorganisationskomitee zu berufen, ihm die
Möglichkeit zu gewähren, seine erstaunlichen Fähigkeiten in den Dienst der
Gesamtheit zu stellen und eine neue, vielversprechende Tätigkeit zu ent-
falten. Leider setzte Radischtschew selber zum großen Leidwesen aller
Freunde der Freiheit seinem Schaffen ein Ziel, indem er in einem Anfall
von H}TDOchondrie, an der er seit seiner sibirischen Verbannung litt, Hand
an sich legte. Im Laufe der Zeit aber änderten sich die Anschauungen
des Zaren immer mehr — der liberale Regent selbst war nicht wiederzu-
erkennen. Die mystische Stimmung, die sich seiner nach dem wunder-
baren Ausgang einer furchtbaren Krisis bemächtigt hatte, der Wahn, daß
ihm die Rolle der Vorsehung zugefallen sei, die Einflüsse der Schöpfer
der Heiligen Allianz sowie inländischer und ausländischer Berater, die
ihn einzuschüchtern suchten, das krankhafte Mißtrauen, das in Verfol-
gungswahn auszuarten drohte, und endlich das langsam aber sicher
wirkende Gift der unumschränkten Herrschaft brachten diesen Wechsel
zustande. Sowohl die junge Literatur in ihrem allgemeinen Entwick-
lungsgange als auch ihre wichtigsten Vertreter hatten die reaktionäre
Schwenkung, die nunmehr konsequent durchgeführt wurde, bis auf die
Neige auszukosten.
Obgleich der literarischen Produktion beständig entgegengearbeitet Ryiejew
wurde, hat sie dennoch ihre Pflicht erfüllt, indem sie nicht nur dem künstle- seine Komö(
rischen Geist treu blieb, sondern auch eine Pflanzstätte des sozialen Fort-
schrittes wurde. Die stetig wachsende politische Bewegung diente ihr, wenn^
sie auch nur in geheimen Verbänden gedieh, als Stützpunkt; ihre Repräsen-
tanten waren in der Mehrzahl der Fälle loyal gesinnte Männer, die den
deutschen Tugendbund zum Vorbild nahmen und anfangs keine revolutio-
nären Ziele verfolgten, sondern lediglich von dem Streben beseelt waren, der
Willkür und dem Obskurantismus die geschlossene Kraft der Kämpfer für
eine freie Kulturentwicklung und das Wohl des Volkes entgegenzustellen.
Mit der Hingabe an die Ideen einer neuen Zeit, die viele von ihnen wäh-
rend eines Kriegsdienstes in Westeuropa sich zu eigen gemacht hatten,
verbanden sie oft tiefe Pietät für die nationale Vergangenheit, in der sie
nicht knechtische Ergebenheit und Quietismus, sondern Beispiele für
heroische Begeisterung und Bürgermut fanden. So enthalten die politischen
54
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
Dichtungen des edlen Rylejew, der nach dem Aufstand des Jahres 1825
gehängt worden ist, einen Zyklus von historischen Liedern, die „Dumy",
in welchem eine Reihe bedeutender russischer Männer von den ältesten
Zeiten bis zum ig. Jahrhundert geschildert werden. Ebenso erging von
Gribojedoff, dem eigentlichen Urheber der sozialen Komödie Rußlands,
die Aufforderung an die charakterlose zeitgenössische Gesellschaft, sich
sittlich zu erheben, von der ständigen Entlehnung fertiger Formen und
Gedanken Abstand zu nehmen und den ihr eigentümlichen nationalen
Gehalt zur Geltung zu bringen, obgleich Gribojedoff europäische Bildung
zu schätzen wußte und die Rechte des Fortschritts den reaktionären An-
griffen gegenüber verteidigte. Der Held seines Stückes „Verstand schafft
Leiden", das trotz einer gewissen Ähnlichkeit mit Molieres „Misanthrope"
und Wielands „Geschichte der Abderiten" eine selbständige Bearbeitung
eines Themas von allgemein menschlichem Interesse, den Kampf einer
hervorragenden Persönlichkeit mit der Gesellschaft, zur Darstellung bringt,
ist der Repräsentant der Ansichten und Stimmungen der jungen Gene-
ration. Der beißende Spott und die scharfen Anklagen, mit denen er
die aristokratische Gesellschaft Moskaus, die höfische Kriecherei und den
Bureaukratismus überschüttete, die zahlreichen Ausfälle gegen den blinden
Bildungshaß und andererseits die glühenden Reden des Volksfreundes ver-
liehen diesem Werk eine Bedeutung, die seine Zeit überdauert hat. Die
Antwort der Regierung Alexanders auf das freie Wort des Dichters war
ein Verbot der Aufführung des Stücks. Der Druck des Werkes durfte
nur in Fragmenten, die zudem von der Zensur entstellt worden waren,
erfolgen; doch in Zehntausenden von Abschriften wurde die Komödie
Gemeingut aller, und ihre Verse prägten sich dem Gedächtnisse des Volkes
ein. Noch jetzt, im 20. Jahrhundert, behauptet sie, obgleich die in ihr
geschilderten Sitten und gesellschaftlichen Beziehungen sich scheinbar
völlig geändert haben, ihren Platz unter den besten Erzeugnissen der
Literatur, und sie hat nicht aufgehört, durch die Wahrheit der Grundidee
sowie durch die sittliche Macht ihrer sozialen Lehren auf die Geister
einer neuen Zeit zu wirken.
Verschärfte ßig Kräfte einer Generation, aus deren Mitte Schriftsteller von solcher
tjeheime poli-
tuci.c Tätigkeit Bedeutung hervorgingen, erstarkten im Kampf mit der anwachsenden
nhant'mitder j^eaktion. Die Volksbewegungen in Europa, die Revolution in Spanien
und Neapel, die große Verschwörung der italienischen Karbonari, die
Bewegung der griechischen Insurgenten und der deutschen studierenden
Jugend erweckten in den fortschrittlichen Kreisen starke Sympathie, denn
diese waren von jenem Kosmopolitismus beherrscht, dem jede freiheit-
liche Bewegung, wo sie auch erstehen mochte, nahestand. Das Hinweg-
sehen über nationale Schranken war ein charakteristisches Merkmal des
europäischen Liberalismus der zwanziger Jahre. Die Schöpfungen Byrons,
dem es in höherem Maße als irgendeinem anderen Dichter beschieden
war, diesem großmütigen Kosmopolitismus mit Wort und Tat zu dienen,
Literatur.
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Alexandrinische Periode. c =
fanden damals in Rußland Eingang und entfesselten die ersten Stürme
der Begeisterung. Im Toben der inneren Kämpfe und der allgemein-
europäischen Bewegung verwandelten sich die Gesellschaftsgruppen,
die die Wohlfahrt des Volks und die friedliche Entwicklung auf ihre
Fahnen geschrieben hatten, in geheime politische Verbände. Die Lite-
ratur folgte diesen Wandlungen und spiegelte die nervöse Unruhe und
die fieberhafte Erregung wider. Wenn der Held der Gribojedoffschen
Komödie, Tschazky, dessen Freidenkertum die Gesellschaft mit der bös-
willigen Erfindung von seiner Verrücktheit rächte, den Entschluß faßt,
diese Gesellschaft zu verlassen, in der es nicht möglich ist, ein ehr-
licher und unabhängiger Mensch zu bleiben, so offenbart sich in diesem
Entschluß die Stärke des in ihm ausgelösten Affektes. Die Verteidi-
gung und Durchführung von Überzeugungen durfte aber in dieser Weise
nicht gehandhabt werden. Rylejew und seine Genossen, die sowohl
über hohe politische Begabung als auch über literarisches Talent ver-
fügten und später den Aufstand vom 14. Dezember 1825 in Szene setzten,
wählten einen anderen Weg; sie blieben in der Gesellschaft und entfal-
teten da eine rege Propaganda für ihre Ideen. Gribojedoff stand diesem
Kreise der zukünftigen „Dekabristen" nahe und wurde dort als genialer
Mensch hoch geschätzt, doch enthüllte man dem Dichter, um ihn zu schonen,
nicht alle Pläne. Da er als Diplomat häufig von Rußland abwesend war,
in Persien und im Kaukasus lebte, war es ihm unmöglich, einen ständigen
Konnex mit den Verschwörern aufrecht zu erhalten. Nicht ihm war es
deshalb beschieden, der Tyrtäos der Partei zu sein. Das war vielmehr
das Los des jungen Puschkin, der als politischer Dichter mit Glanz
debütierte und bald an die erste Stelle trat.
Die Traditionen eines adligen Milieu, eine französische weltliche Er- P"schkii
Ziehung, ein literarischer Geschmack, der geistreichen Witz über alles "•steavi
stellte, Galanterie und Frivolität, die aus der mächtigen Bewegung des
18. Jahrhunderts in Frankreich nichts als eine Salonpoesie zu gewinnen
vermocht hatten, könnten als Präludium zu dem müßigen Dasein eines
epikuräischen Abbe, der mit der Dichtkunst spielte, oder eines Marquis,
der mit Reimen Kunststücke zuwege brachte, gute Dienste leisten, sie
passen aber wenig als Vorspiel zum Leben eines großen Dichters. Schon
auf dem Lyzeum wurde Puschkin vom Geiste der neuen Zeit berührt,
die freiheitlichen Ideen fanden in den Vorlesungen der jungen Profes-
soren Widerhall; aus dem Leben der Gesellschaft, die von der Reaktion
terrorisiert wurde, drangen allerlei Mitteilungen hinter die Mauern der
privilegierten Anstalt und wurden von Puschkin mit beißenden Epigrammen
aufgenommen.. Als er ins öffentliche Leben trat und die ganze Wirklich-
keit sich vor ihm auftat, gewann in ihm zunächst die politische Richtung
die Oberhand. Sein heißer Wunsch, die Knechtschaft vernichtet zu sehen
und die „Morg'enröte der Freiheit" zu begrüßen, seine Anklagen gegen
die Leiter der Reaktion und sein ironisches Verhalten dem obersten Ge-
56
Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
walthaber gegenüber, verschafften den ungedruckten Werken des radi-
kalen Dichters große Popularität. Die Schärfe dieser oppositionellen
Lyrik ließ sie besonders gefährlich erscheinen.! Beinahe hätte er sie, ins-
besondere die „Ode an die Freiheit", in der dem Tyrannen zur Warnung
die Hinrichtung Ludwigs XVL gepriesen wurde, mit einer Verbannung
nach Sibirien büßen müssen. Doch als Puschkin aus dem Kreise seiner
Tätigkeit gewaltsam entfernt wurde und die Krim als Exil zugewiesen
erhielt, übte er in seiner südlichen Einöde noch schärfere Kritik; seine
Erregung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Da trat ihm zum ersten Male
Byron entgegen. Sein persönliches Leben und seine Poesie erglühten
nunmehr in einem neuen Lichte.
Entwicklung der Die äußere Umgebung, in der Puschkins Begeisterung für Byron
kins"Die"unter entflammte, war von exotischer Pracht. Die Schönheit der Berge des
By'rons ierfaß- Kaukasus, die zarten Landschaftsbilder der Krim, die Poesie des Meeres
lEligenOncgln"! Und endlich die Melancholie der Steppen Bessarabiens, auf denen schon
einmal ein verbannter Dichter (Ovid) geweilt hatte, bildeten den Hinter-
grund zu seinen Dichtungen im Genre des „Corsair", des „Giaur" und
der „Bride of Abydos". Ln Mittelpunkt stand der Typus des Kämpfers
gegen die soziale Ordnung, so wie er von Byron geschaffen worden
war. Die kosmopolitische Freiheitsliebe, die Byron beseelt hatte, be-
mächtigte sich auch Puschkins. Die Befreiung Griechenlands lag ihm
ebensosehr am Herzen wie die Wiedergeburt seines unglücklichen Vater-
landes: als die griechischen Freischaren in den benachbarten Moldau-
ländem einen der zahlreichen verzweifelten Aufstände gegen die Türken
ins Leben zu rufen versuchten, glaubte Puschkin darin das Vorspiel
einer russischen Revolution zu sehen und schlug in seiner Lyrik noch
leidenschaftlichere Töne an. Jedoch auch Byrons Satire veranlaßte den
Jünger zu einer selbständigen Arbeit, die weit über seinen früheren
Leistungen stand. Unter dem Einfluß des „Don Juan" begann Puschkin
eines seiner bedeutendsten Werke, den in Versen geschriebenen Roman
„Eugen Onegin", der von nun an in der Form lose zusammenhängen-
der Bilder aus dem Leben der Hauptstadt und des Dorfes der zwan-
ziger Jahre lange Zeit hindurch sein treuer Begleiter war. Das Gedicht
enthielt Schilderungen nordischer Natur und Sitten mit geistreichen Ab-
schweifungen und Auseinandersetzungen über alle möglichen sozialen,
moralphilosophischen und literarischen Themata und prachtvolle Cha-
rakterisierungsversuche, vor allem die anmutige Gestalt der Träumerin
Tatjana, die sich in der Stille des Dorfes zur zarten Blüte entfaltet hatte,
und den gelangweilten, lebensmüden Onegin, den „Moskowiter im Gewände
des Childe Harold". In einer Fülle von Gedanken und einer in der
russischen Dichtkunst bisher unerreichten Formenschönheit entfaltete sich
das Talent des Dichters. Durch das eingehende Studium Shakespeares,
Goethes und Byrons vermochte Puschkin seinen Arbeiten eine Grund-
lage im Sinne der neuen Kultur zu geben. Das wachsame Auge der
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Alexandrinische Periode. 57
geheimen Polizei erkannte aber bald bei dem in der Verbannung weilen-
den Freigeist die Symptome trotzigen Beharrens in seinen Irrtümern:
unvermutet wurde er aus dem Süden entfernt, auf seinem einsamen
Stammgute im Nordwesten Rußlands angesiedelt und unter strenge Auf-
sicht gestellt.
Die neue Wendung seines Geschicks übte nicht nur auf seine Tätig- Puschkin wäh-
keit, sondern auch auf die Richtung seiner Lebensziele eine tiefe Wir- t<-n Verbannung.
kung aus. In der ländlichen Abgeschiedenheit verlor er den Zusammen- an die reine
hang mit der fortschrittlichen Partei. Bei aller Begeisterungsfähigkeit
war er aber wenig beharrlich und eignete sich daher nicht zu dauernder
politischer Arbeit. Die maßgebenden liberalen Kreise durchschauten ihn
in dieser Beziehung und zogen sich von ihm zurück. Das Mißlingen des
griechischen Aufstandes wirkte niederschmetternd auf ihn und erschütterte
seinen Glauben an die Möglichkeit eines Sieges politischer Bewegungen.
Stille war um ihn her und ein Lebenszuschnitt wie zu großväterlichen
Zeiten. Zum ersten Male jetzt trat er dem Sein und Denken des
ihm bisher unbekannt gebliebenen Volkes nahe. Noch hatten sich die
Stürme der Jugend nicht gelegt, doch senkte sich bereits der Segen
eines Schaffens, das die Gegenwart und die ferne Vergangenheit, All-
gemeinmenschliches und Individuelles miteinander zu verbinden wußte,
auf die stille Zelle des Einsiedlers herab. Die lyrischen und satirischen
Stimmungen wichen jetzt häufig der Gedankenarbeit des Dramaturgen
und Romanschriftstellers. Die endgültige Hinwendung zur objektiven
Kunst war noch nicht vollzogen, doch ist der Wandlungsprozeß schon
angedeutet, wenn Puschkin in der Dichtung „Die Zigeuner" den von ihm
bis jetzt bevorzugten Typus des Übermenschen verläßt und in dem histo-
rischen Drama „Boris Godunoff" die Bilder der Periode innerer russischer
Wirren wachruft. Nunmehr suchte er aus den Werken Shakespeares „das
Geheimnis der freien und breiten Behandlung der Charaktere, des durch
die Persönlichkeit bedingten dramatischen Konflikts, die Kunst der Ver-
knüpfung individueller Tragik mit der Psychologie der Massen" zu er-
gründen und das historische Drama an die Stelle der pseudoklassischen
Tragödie zu setzen. Gleichzeitig wurde seine hervorragende Begabung
für die epische Erzählung offenbar.
Die soziale Bewegung, die ihren Dichter eingebüßt hatte, wuchs oerAufstandam
14.Dezemb.1S25,
nichtsdestoweniger unaufhaltsam weiter. Der Tod Alexanders und das seine Bedeutung
° für die GeseU-
Interregnum beschleunigten die Krisis: am 14. Dezember 1825 brach der schaft und die
Sturm der Revolution los. Mit Waffengewalt wurde sie niedergeworfen, Die Memoiren
^^ , „ . derDekabristen.
entfachte aber im neuen Machthaber einen Haß gegen den Geist der Zeit
und das freie Denken, der in ihm den Verdacht, daß die Lehren der
Dekabristen in irgendeiner Form wieder auferstehen könnten, für alle
Zeit Wurzel fassen ließ. Das Urteil des obersten Gerichtes, Hinrichtungen
und Verbannungen vertilgten eine ganze Generation hervorragender
Männer. Unter den 1 1 6 Angeklagten gab es nicht wenig talentvolle
rg Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
Schriftsteller; die Verschwörer aus den Reihen der Armee und Gesellschaft
waren hochentwickelte Persönlichkeiten ; die literarischen Begabungen
mancher von ihnen entfalteten sich während ihres langen (dreißig Jahre
dauernden) Aufenthaltes in Sibirien, der sich nur allmählich erträglicher
zu gestalten begann. Auf diese Weise entstand die überaus interessante,
größtenteils erst in letzter Zeit veröffentlichte Literatur der Memoiren
der Dekabristen, die eine reiche Fülle dramatischer Momente und meister-
hafte Schilderungen der inneren und äußeren Erlebnisse der Verfasser
während ihrer Verbannung enthält. Diese Memoiren sind ein wertvolles
Material zur Kulturgeschichte jener Zeit, und mancher moderne Schrift-
steller hat aus ihnen Anregung geschöpft — so z. B. Nekrassoff, der in
seiner schönen Dichtung „Russische Frauen" den Mut der treuen Gefähr-
tinnen, die ihren Männern in die Verbannung gefolgt waren, besungen hat
und L. Tolstoi, der einen Roman „Die Dekabristen" zu schreiben begann.
Die wichtigsten Kennzeichen des nun einziehenden reaktionären Geistes
war ein starkes Sinken des Niveaus der Literatur, die Entwicklung einer
käuflichen Presse, die vor der Obrigkeit zu kriechen verstand, alles Große
und Gute in den Staub zog, Männer wie Puschkin, Gogol und ihre Nach-
folger verleumdete, schließlich die offensichtliche Betonung des Prinzips
der unumschränkten Gewalt, welches in der berühmten Formulierung des
Ministers Uwaroff den orthodoxen Klerikalismus mit einer „offiziellen
Volkstümlichkeit" verband und dem neuen Regime als Grundlage diente.
Während der in mancher Beziehung- trüben Zeiten Alexanders hatte es
immerhin Lichtblicke gegeben, war der Widerschein einer humanen Er-
ziehung und einer aufgeklärten Philosophie zuweilen aufgeflammt. Die
neue Zeit — die Epoche Nikolaus' L — kannte nur militärische Zucht
und rücksichtslose Energie.
Der Hcginn der IL Das Zeitalter Nikolaus' L Die Epoche Nikolaus' drückte auch
Epoche Niko-
laus'. Ihr Einiiuß dem Leben des bedeutendsten Vertreters der Literatur, der nur durch
Das Ergebnis Zufall der Vemichtung entgangen war, ihren Stempel auf. Wie Ludwig XIV.
der Dichtkunst . f ,. ^ .
Puschkins wiih- Moliere zu sich herangezogen hatte, so war es auch für Nikolaus ein fes-
ictzten Lebens- seludcr Gedanke, einen Mann wie Puschkin an seiner Seite zu sehen
und sein eisernes Zeitalter durch dessen Dichtkunst zu verschönern. Mit
dem Versprechen, ihm nach jahrelanger Verbannung die Freiheit wieder-
zugeben, lockte er ihn zu sich heran, sagte ihm völlige Zensurfreiheit zu
und erweckte in ihm die Hoffnung auf wichtige Reformen, nachdem das
anfangs unvermeidliche terroristische Regierungssystem seine Pflicht getan
haben würde. Puschkin kehrte zu seiner ehemaligen Wirksamkeit zurück,
als er sich absolute Überzeugungsfreiheit zugesichert, aber seinerseits der
Regierung versprochen hatte, ihr in keiner Weise hinderlich zu sein. Sein
stillschweigender Protest, der ein Festhalten an früheren Ideen erraten ließ,
bewirkte jedoch, daß die Gesellschaft sich von ihm zurückzog- und die offi-
zielle Welt ihm Mißtrauen entgegenbrachte. Bald sah er sich in seiner
ß. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. en
Hoffnung auf Reformen irgendwelcher Art getäuscht, und drückend kam
es ihm zum Bewußtsein, daß er nunmehr an das harte Regiment gefesselt
sei. Die Regierung war allerdings bemüht, die Bande, die ihn an die
ihm fremde Welt des Hofes ketten sollten, zu vergolden, indem sie ihn
gegen seinen Willen zum Kammerjunker machte, doch engte sie seine
Selbständigkeit immer mehr ein. Seine einzige Zuflucht wurde die Dicht-
kunst. Schon während der letzten Zeit seiner Verbannung hatte er
sich der reinen, von jeder Tendenz freien Poesie gewidmet; nun gab
er sich ihr für immer hin. Von seinen Zeitgenossen wenig gewürdigt,
bestand er kaum vor der Kritik. Er unterwarf sich aber dem Richter-
spruch seines künstlerischen Gewissens und suchte seinen Geschmack
durch eingehende Studien der Weltliteratur zu bilden. Er erwarb sich
dabei so umfassende Kenntnisse, daß er in dieser Beziehung mit dem
alten Goethe verglichen werden konnte. Seine Phantasie trug ihn in un-
absehbare Regionen: das mittelalterliche Leben, die Legenden des fernen
Südens (Don Juan), die sagenhafte Vergangenheit Rußlands, die Epoche
Peters des Großen, des von ihm am meisten bewunderten Helden der
neueren russischen Geschichte, Bilder aus Katharinas Zeiten während des
Pugatschoffschen Aufstandes, meisterhafte Bearbeitungen von Motiven der
Volksdichtung, Pathos, Schmerz und Humor, ernste und heitere Schönheit,
Lebenstreue des Realismus — dies alles umfaßte seine Kunst, in der der
tief innige Lyriker, der Dramaturg („Boris Godunoff"; eine Reihe vorzüg-
licher Einakter, „Der Steinerne Gast", „Mozart und Salieri", „Der geizige
Ritter") und der Romanschriftsteller („Die Tochter des Hauptmanns", eine
Schilderung Rußlands während der Pugatschoffschen Meuterei) sich im
Wettkampf zu befinden schienen. Als nach dem Tode Puschkins die
erste Ausgabe seiner sämtlichen Werke zusammengestellt wurde, offen-
barte sich den überraschten Blicken eine Fülle unsterblicher Schöpfungen,
die bis dahin eifersüchtig gehütet worden waren; die Kraft seines steten
künstlerischen Fortschrittes erweckte zu spät Staunen und aufrichtige
Bewunderung.
Während seiner letzten Lebensjahre wurde es schon bemerkbar, daß die „'^"'<=*'^. Schuie
^ 1 uscnkins. Der
Gesellschaft und die literarischen Kreise sich ihm wieder zuzuwenden be- philosophische
Kreis in Moskau.
g-annen. Die schwere Krisis des Mißtrauens und der Entfremdung war i'uschkin als
= '^ Journalist.
Überwunden. Von der ersten Schule Puschkins waren kaum Spuren zu- "^^ Auftretea
Gogols.
rückgeblieben, und die Reihen jener Kämpen, die mit Puschkin unter dem
Zeichen Byrons auf den Plan getreten waren, hatten sich stark gelichtet.
Jetzt traten an ihrer Statt Männer auf, die einer jüngeren Generation an-
gehörten, den Umschwung der Dezemberrevolution nicht selbst unmittelbar
erlebt hatten und in ihren Sympathien unbefangen waren. Zuerst war es
ein Kreis junger Moskauer Ästhetiker und Dilettanten der Philosophie,
die Goethe und Schelling verehrten und dem Traume nachhingen, daß
dem russischen Volke die Führerrolle in der Kulturentwicklung zufallen
würde, nachdem sie Deutschland entglitten sei, und daß Puschkin den Ruhm
5o Alexis Wessf.lovsky : Die russische Literatur.
und die universale Bedeutung eines Goethe erlangen könnte. Der
Idealismus dieser Jünglinge, deren nationale Hoffnungen sie zu Vorläufern
der Slawophilen stempeln, fand in der Literatur noch keinen deutlichen
Ausdruck. Ihre Sympathie, die sie Puschkin zu Beginn der Krisis bezeugt
hatten, sowie die Freundschaft Puschkins mit dem damals nach Moskau
verbannten großen polnischen Dichter Mickiewicz, der zu ihrem Kreise
gehörte, hatten nur moralische Bedeutung. Es kam aber die Zeit, da
frische, aktive literarische Talente sich um Puschkin scharten, eine neue,
wichtigere Schule sich zu bilden begann und die von Puschkin nach
Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten gegründete Zeitschrift der „Zeit-
genosse" die Führerschaft innerhalb der neuen Literatur übernehmen
konnte. Diese Zeit schlingt ein enges Band zwischen dem Dichter und
der literarischen Bewegung der folgenden Periode. Sein Vermächtnis
wurde von seinem größten Schüler, Gogol, treu gepflegt.
Gogol. In jugendlichem Selbstbewußtsein, getragen von der Hoffnung „die
Sein Talent und ... -,7. t~»i -li
sein Charakter. Hauptstadt ZU erobem" und sich einen Weg zum Kuhme zu bahnen,
basein inPeters- hatte der ehrgeizige Gogol die stille, gemütliche Ukraine verlassen und
Erzhiüungen. slch in dcu Kampf ums Dasein gestürzt, um, wie alle unverstandenen
Talente der Provinz, an den Stätten der Kultur nicht Lorbeeren, son-
dern Enttäuschungen zu ernten. Er verfügte über eine unerschöpfliche
Komik und Beobachtungsgabe; seine Phantasie vermochte so lebendige
Bilder zu schaffen, daß sie gelegentlich den Charakter von Halluzinationen
annehmen konnten; es kamen über ihn aber auch Zeiten einer tiefen ihm
erblich überkommenen Melancholie. Auch in der Selbstanalyse war er
Meister, der Humor, der „unter Tränen lächelt", stand ihm zu Gebote,
doch alles das war noch unklar, unausgeglichen, ihm selbst kaum bewußt.
Die Schule hatte ihm wenig gegeben, die erste Jugend hatte er sorglos
verlebt, bis die Stunde des Erwachens schlug und es ihn zu selb-
ständiger Arbeit drängte. Da raffte er alle Energie zusammen, der
Glaube an sich selbst wies ihm den Weg, und mit wenig Groschen in der
Tasche zog der unerfahrene Jüngling aus, um sein Glück zu suchen. Nicht
das Schriftstellertum, sondern die praktische Tätigkeit des Juristen, des
Verteidigers der Bedrückten zog ihn an. Naive Unkenntnis der Wirklich-
keit, vor allem des damaligen Gerichtswesens, in welchem für das Ritter-
tum eines Don Quixote kein Platz war, spiegelt sich in diesen Träumen.
Das Petersburger Leben bereitete ihm einen rauhen Empfang; es verurteilte
ihn zu allerlei Qualen und Mißerfolgen, zwang ihn an alle Türen zu
klopfen, sich in allen Berufen zu versuchen, als Lehrer, als Beamter, als
Zeichner, ja selbst als Schauspieler, zeigte ihm die nackte Wirklichkeit,
brachte ihn mit Menschen aller Schattierungen in Berührung, sperrte ihn
mit den ihm unsympathischen „Helden der Tinte" zusammen in Kanzleien
ein — und lieferte dem zukünftigen Sittenschilderer ein reichhaltiges
Material. Sein letzter Versuch, der ständigen Not zu entgehen — die Ver-
öffentlichung einer Reihe von Skizzen aus dem Volksleben seiner engeren
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. 61
Heimat — änderte plötzlich die ganze Situation. In diesen Erzählungen
spiegelt sich noch nicht die schwer erworbene Kenntnis des realen Lebens;
auf ihnen ruht der Hauch der Dorfidylle, der Sentimentalität, der Romantik;
inmitten aller Unbill war es ihm offenbar ein Trost gewesen, der fernen
Heimat, des südlichen Himmels und des schlichten, unverdorbenen Volkes
zu gedenken. Doch die Anzeichen der künstlerischen Meisterschaft machen
sich bereits geltend, der Humor leuchtet auf, das Lachen geht in sanfte
Wehmut über. Niemand hatte bisher in dieser Weise geschrieben; un-
willkürlich horchte man auf. Der Erfolg, dessen sich diese Erzählungen,
die bald in Buchform erschienen („Abende auf dem Landgut bei Dikanka"),
zu erfreuen hatten, ihre sympathische Beurteilung seitens der Kritik, wiesen
Gogol sein eigentliches Gebiet innerhalb der Literatur an.
Damals wurde er von Puschkin entdeckt. Dieser erkannte sofort sein Puschkin und
sein Einnuß auf
hervorragendes Talent und beschloß, seinem Schicksal eine neue Wendung Gosoi.
zu geben. Seine literarischen und gesellschaftlichen Freunde halfen ihm,
und über den von der Not geplagten, hungrigen Glücksucher, den niemand
kannte und den niemand brauchte, schüttete Fortuna nun ihr Füllhorn
aus. Seine schriftstellerischen Erfolge bewegten sich in aufsteigender
Linie. Ihn schwindelte, der Glaube an seine Kraft wurde zur Selbstüber-
hebung, seine reiche Natur streute jetzt mit Leichtigkeit ihre Schätze
aus. Puschkin aber gab auf seinen jungen Freund acht. Er durchschaute
die Lücken seiner Bildung und erkannte die Gefahren eines Uber-
wucherns der Phantasie und der Komik. Da er die Umbildung Gogols
auf sich genommen hatte, wies er ihn auf das Studium der bedeutend-
sten Schriftsteller der Satire, besonders auf Moliere und Cervantes hin, hieß
ihn seine Begabung in den Dienst der Allgemeinheit stellen und veran-
laßte ihn, statt gelegentliche Beobachtungen und Erfahrungen zu behandeln,
künstlerische Probleme, die das ganze Leben umfassen, in Angriff zu nehmen.
Es war Puschkin nicht beschieden, die Entwicklung des Talents Gogols
bis zu seiner vollen Reife zu leiten, doch hat er ihn auf den rechten Weg
gewiesen, hat eine große Reihe seiner Schöpfungen durch das Gewicht
seiner Autorität unterstützt und ihm das Thema zu zwei seiner größten
Werke in die Hand gegeben. Er war das künstlerische Gewissen und
der Schutzengel Gogols. Nach dem Tode Puschkins war Gogol untröst-
lich und glaubte, diesen Schicksalsschlag nicht überleben zu können.
Die Romantik der kleinrussischen Erzählungen Gogols verglühte bald, ^^""^"'^fj"^^
Zum letztenmal war sie in seinem schönen Versuch, die epische Yer-^^''^°e°^- oie
^ „Petersburger
gangenheit seiner Heimat, den Heroismus des Kampfes der Kosaken mit u^j"^,!^'"^*''^",,
den Polen in „Tarass Bulba" neu erstehen zu lassen, aufgeflammt. In dieser =•"♦ <^e° moder-
^ nen Romaa.
Erzählung scheinen die alten Volkslieder, die Gogol grenzenlos liebte,
widerzuhallen. Andererseits zeigte sich in diesem Werke sein Interesse für
das europäische Mittelalter, insbesondere für die chansons de gestes: die
Schilderung der Schlacht, die schließlich durch Zweikämpfe zwischen
tapferen Kosaken und polnischen Helden zum Austrag gebracht wird, ge-
52 Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
mahnt an die letzten Kämpfe der Gefährten Rolands mit den Mauren;
endlich macht sich auch der Einfluß Walter Scotts bemerkbar. Das ganze
Werk ist von einer nervösen Lyrik und einer tiefen Ehrfurcht vor dem
Volkstum durchdrungen. Doch die erfreulichen Bilder des Dorflebens
und die Gestalten der Vergangenheit verblaßten und verloren sich in der
Dämmerung; das Leben der Gegenwart mit seinen Widersprüchen, seinen
Gebrechen und seiner Ungleichheit lockte Gogol immer mehr zu sich
heran und reizte ihn zum Kampfe. Wer so wie er die ganze Schwere des
struggle for life ausgekostet hatte, der wußte von ihm zu erzählen und
konnte den Zeitgenossen über manches die Augen öffnen. Am Leser
zog nun eine Reihe enterbter, armseliger, rechtloser Leute, die unter
einer allzu schweren Last zusammengebrochen waren, vorüber. Vor Balzac
und Dickens und lange vor Dostojewsky, der in seinem ersten Roman
„Arme Leute" die Bahnen seines großen Lehrers betrat, hat Gogol, nach-
dem er sich von der Romantik befreit und mutig in das Meer des realen
Lebens gestürzt hatte, in seinen „Petersburger Erzählungen" („Der Mantel",
„Die Aufzeichnungen eines Geisteskranken", „Der Newsky Prospekt"
u. a. m.) mit grellen, wahrheitsgetreuen Farben die Opfer der sozialen Ord-
nung, die Parias, gezeichnet und ist im Namen der Gerechtigkeit und
Menschlichkeit für sie eingetreten. Das war eine brüderliche, warm
empfundene Tat, eine Predigt der Demokratie und Gleichheit, ein „didak-
tischer Realismus", wie er seit jener Zeit für die neue russische Literatur
charakteristisch ist. Doch die in den Dienst der Humanität gestellten
Ideen beschwerten nicht die künstlerische Form; Gogols Humor stand in
voller Blüte, ungezwungen und wahrheitsgetreu entrollte sich das Lebens-
bild der Gesellschaft imd ihrer Stiefkinder; im „Newsky Prospekt" stehen
im glanzvollen Getriebe der eleganten Straße hoch und niedrig, Reich-
tum und Armut, Willkür und Schutzlosigkeit einander gegenüber.
Die reiche Begabung Gogols erschöpfte sich aber nicht in der
Kunst des Erzählers. Sainte-Beuve hat feinsinnig bemerkt, daß in den
Menschen, die ein seelisches Gleichgewicht erlangt haben und vom
Leben am meisten ernüchtert worden sind, oft „un poete mort jeune" ver-
borgen sei. In Gogol, der hauptsächlich als großer realistischer Erzähler
im Gedächtnis der Nachwelt fortlebt, ist von frühester Jugend an ein
Hang zum Theater bemerkbar gewesen. In seinen Studentenjahren hatte
er erstaunliches schauspielerisches Talent als Komiker bewiesen, und in
der Zeit der Krisis hatte ihn dies Talent beinahe auf die Bühne geführt.
Auch als er erfolglos versuchte, als Historiker die Laufbahn eines akade-
mischen Lehrers zu betreten, lebte in ihm die Sehnsucht nach Bühnen-
erfolgen und lenkte ihn von seinen Arbeiten ab; wenn er sich von seinen
Vorlesungen und Folianten losriß, „sah er einen mit einem lachenden
Publikum gefüllten Zuschauerraum vor sich", und der Traum, ein Lustspiel
zu schreiben, ließ ihm keine Ruhe. Während der ganzen mittleren Periode
seiner Wirksamkeit streiten sich in ihm der Erzähler und der Dramaturg.
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. 63
Mit dem Erscheinen der „Toten Seelen" gewann der Erzähler die Ober-
hand, doch wird es immer eine offene Frage bleiben, ob in Gogol nicht
„un ecrivain dramatique mort jeune" den höheren Ausdruck seines Talentes
gefunden hätte.
Nachdem er ein nicht zensurgemäßes Lustspiel, das uns nur in ein- uer Höhepunkt
, , derBühneakunst
z einen Bruchstücken erhalten ist, in kühnen Strichen entworfen hatte, in Gogols.
,,Der Revisor"
welchem er, wie in den Petersburger Erzählungen, die bureaukratische
Welt der Hauptstadt vor Augen führte, fühlte er sich als echter Komiker
angeregt, auf der Basis einer in damaliger Zeit recht banalen Fabel —
der Mystifizierung einer entlegenen Provinzialstadt durch einen Aben-
teurer, der sich außerordentliche Machtvollkommenheiten anmaßt — den
Plan zu seinem Lustspiel „Der Revisor" zu entwerfen. Zwei Welten traten
hier einander gegenüber: die der Provinzialbeamten, deren auf gegen-
seitigem Einvernehmen beruhenden Willkür, Bestechlichkeit und Raub-
gier das Volk preisgegeben ist, und die Welt des unerreichbar fernen
Zentrums der Regierung, das bei völliger Unkenntnis des Landes von
Falschheit, Glanz und dem leichtsinnigen Treiben der Großstadt um-
geben ist. Jene beiden Welten kommen in unerwarteter Weise mit-
einander in Berührung, wodurch große Aufregung entsteht. In einer
Landstadt verbreitet sich das Gerücht, daß ein hoher Beamter zur
allgemeinen Revision den Ort besuchen werde. Eine Panik bricht aus;
die Einwohner des moralisch versumpften Nestes halten einen unbe-
deutenden, zufällig anwesenden Petersburger jungen Mann für den ge-
strengen Richter, der seine Mission inkognito zu erfüllen gedenkt, und
legen es ihm nahe, die Rolle des Revisors zu übernehmen. Er nimmt
daraufhin alle Ehrungen als den seinen Talenten gebührenden Tribut
entgegen und läßt seiner Phantasie die Zügel schießen. Er ist aber
kein gewerbsmäßiger Betrüger, kein bewußter Chevalier d'industrie, auch
kein krankhafter Lügner, sondern ein virtuosenhafter Improvisator, der
nie weiß, wohin ihn die Phantasie führen wird, der an seine eigene
Größe tatsächlich glaubt, obgleich er in Petersburg als unbedeutendes
Subjekt in der Masse verschwindet. Als ihm mitten in seinen sorg-
losen Betrügereien der Gedanke kommt, daß man ihn möglicherweise
mit einem anderen verwechselt habe und er daraufhin verschwindet,
nachdem er kurz vorher verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Stadt-
hauptmann angeknüpft hat, welchen er als Revisor in erster Reihe hätte
revidieren und dem Gericht übergeben sollen, da erwachen die Leute aus
der Hypnose. Ein zufällig aufgegriffener Brief des vermeintlichen Dik-
tators klärt alles auf. Von der Tragikomödie des allgemeinen Betruges
fühlen sich die Leute, die eine nicht geringe Lebenserfahrung besitzen,
tief beschämt. Sie ahnen schon, daß ihr häuslicher Skandal Gegenstand
allgemeiner Erheiterung werden wird, ja möglicherweise kommt jemand
auf den Gedanken, ihn als Thema eines Lustspiels zu behandeln. „Warum
lacht ihr? Ihr lacht ja euch selbst aus!" ruft der Stadthauptmann
64
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
denen zu, die sich gescheuter dünken, und erinnert mit diesen Worten
daran, daß die typischen russischen Mißstände hier an dem Gebaren in
einem Provinzstädtchen illustriert worden sind. Die Theaterzensur ver-
langte damals, daß die Tugend siegen müsse, deshalb erscheint, als das
peinliche Erwachen den Höhepunkt der Verwirrung erreicht hat, ein
Gendarm in der Tür und verkündet mit lauter Stimme, daß der echte
Revisor nunmehr eingetroffen sei und alle zu sich entbiete. Das Lust-
spiel schließt mit der stummen Szene des Erstarrens aller angesichts des
nahenden Gerichts.
Bedeutung des Die im Lustspiel geschilderten Verhältnisse der Verwaltung und der
die russische Gesellschaft existieren jetzt ebensowenig wie die von Gribojedoff ent-
worfenen Typen des Moskauer Lebens. Der Grundgedanke des „Revisors",
der Einspruch gegen den Stillstand der Entwicklung und das Willkür-
regiment, behält aber für alle Zeiten seinen Wahrheitswert und wird stets
verstanden werden. Indem das Stück jede schroffe Äußerung vermeidet
und die Schilderungen der entsetzlichen Rechtlosigkeit des Volkes in bei-
nahe liebenswürdige Formen kleidet, hat es nicht nur für seine Zeit die
Aufgaben einer wahren Komödie erfüllt. Eine ganze Reihe lebendiger
Typen ist der Ertrag der feinen Charakterisierungskunst Gogols. In erster
Reihe stehen der Stadthauptmann, ein alter Schurke und Tartüffe, und
sein Besieger, der „Revisor" Chlestakofif Der unerschöpfliche Humor Gogols
hat das Stück mit einer solchen Fülle geistreicher und heiterer Einfälle
gewürzt, die sich dem Gedächtnis des Volkes für alle Zeit eingeprägt
haben, daß das Lustspiel nicht nur soziale Bedeutung hat, sondern auch
einen auf der russischen Bühne noch nicht dagewesenen Triumph der
Das Schicksal Komik bedeutet. Gogol hatte aber viele Kämpfe zu bestehen, ehe es
des „Revisors" . ° I- i
auf der }!ühne. ihm gelang, die Bühne zu erobern und mit dem großen Publikum Fühlung
Gogols Reise ins , , . , o •
Ausland. ZU gewiuuen. Die Theaterzensur erklärte sich gegen ihn, von allen Seiten
wurde er in feindselige Intriguen verwickelt, und das Verbot des „Revisor"
schien unvermeidlich. Glücklicherweise wurde der gordische Knoten durch
den Einspruch des Kaisers gelöst. Aber obwohl eine der seltenen wohl-
tätigen Einmischungen Nikolaus' in literarische Dinge den „Revisor" rettete,
gelang es doch nicht, die Regierungskreise mit dem Stück auszusöhnen, da
diese die Bloßstellung der administrativen Zustände als blutige Beleidig"ung
empfanden. Der ersten Aufführung (1836) wohnte die ganze vornehme Welt
bei, die Demokraten waren nur in geringer Zahl vertreten. Das Mißfallen
derjenigen Persönlichkeiten, die sich getroffen fühlten, wuchs von Akt zu
Akt; zuweilen wurde gelacht, da es eben unmöglich war, nicht zu lachen,
doch war es nur der Anwesenheit des Kaisers zu danken, daß das Stück
nicht ausgepfiffen wurde. Diese feindselige Stimmung wirkte auf Gogol
so stark, daß er in seiner Verzweiflung das Theater vor dem Schluß des
Stückes verließ. In der nächsten Aufführung änderte sich das Bild; statt
der vornehmen, aber korrumpierten Gesellschaft erschienen die gesunden Ele-
mente des Volkes und bereiteten dem „Revisor" einen Erfolg, der sich
tion.
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. 65
ZU einem wahren Triumphe gestaltete — aber die überstandene Pein hatte
Gogol allzu stark erschüttert. Er hätte im Hinblick auf das, was Moliere,
Lesage, Beaumarchais und GribojedofF vor ihm durchgemacht hatten, auf
einen Kampf gefaßt sein sollen, aber offenbar hatte er eine derartig feind-
selige Stimmung nicht erwartet. Er hielt sein Erlebnis für ein Ungemach,
das das Schicksal gerade ihm aufbürdete, und in seinem krankhaften Zu-
stande hegte er jetzt nur den einen Wunsch, die undankbare Gesellschaft zu
verlassen und weit fort zu gehen, aber nicht um seiner Tätigkeit zu entsagen,
sondern um in der Fremde „über seine literarischen Verpflichtungen reif-
lich nachzudenken". Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande! rief er
aus, als er Rußland verließ, um eine große Reise durch das westliche
Europa anzutreten, die zum Vorspiel einer fast ständigen Abwesenheit von
der Heimat wurde. Erst kurz vor seinem Tode kehrte er heim. Beständig
gedachte er aber der Heimat und arbeitete zu ihrem Nutzen, ganz wie
es nach ihm Turgenjeff getan hat.
Während an den umflorten Augen Gogols die Landschaften Mittel- Gogol ahRoman-
^ ^ scliriftsteller.
deutschlands, des Rheins und des Genfer Sees vorüberflogen, war der „Die toten
' . Seelen". Ihre
Plan zu einem neuen Werke, das gleichzeitig mit dem „Revisor" ent- erste Konzep-
worfen, aber nur in den ersten Kapiteln ausgeführt worden war, sein
ständiger Begleiter, wenn es auch seinem Gedächtnis stark entrückt und
unter den mitgenommenen Schriftstücken ganz vergraben war. Es handelte
sich bei dem neuen Werke nicht um eine Komödie, die sowohl in der Fabel
begrenzt, als auch an eine bestimmte Form gebunden ist, vielmehr sollte nun
das ganze Leben geschildert werden. Ein Sittenepos wuchs heran, in dem alle
Schichten der Gesellschaft, im Lichte eines in die Tiefe dringenden Humors
gezeichnet, ihre Stelle fanden. Der äußere Zusammenhang der geschilderten
Begebnisse wurde durch eine Anekdote hergestellt, die in den damaligen
Verhältnissen der Leibeigenschaft ihre Begründung fand: ein betrügerischer
Spekulant, dem es bekannt ist, daß die Zählung der Bauern nur alle zehn
Jahre erfolgt, und daß die während dieser Frist Verstorbenen unter den
Lebenden verzeichnet werden, kauft die toten Seelen für einen Spottpreis
auf, um sie in einer Bank als Eigentum zu verpfänden und auf diese
Weise zu Reichtum zu gelangen. Der reisende Spekulant kommt natür-
lich mit einer Menge Menschen zusammen, wodurch Gogol Gelegenheit
findet, alle möglichen Typen zu schildern. Als Gegenbild des „Ritters
von der traurigen Gestalt", der umherreist, um menschliches Leiden zu
lindern und die Unglücklichen und Verfolgten zu beschützen, ist der Held
dieser Erzählung schon an sich ein interessantes Objekt für psychologische
Studien. Durch den Zickzackkurs, den er auf der Jagd nach Beute durch
den Sumpf des menschlichen Lebens nimmt, bekommt der Leser Gelegen-
heit, in die verborgensten Winkel des Volkstums zu blicken. Dieses
Sujet wurde in der ersten Fassung des Romans mit kühnem Humor be-
handelt. Der Verfasser, der ein unnachahmlicher Vorleser war, machte
Puschkin mit seinem Werke bekannt und war höchst erstaunt, als auf
DiB Kultur der Gegenwart. L 9. 5
56 Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
dem Antlitz seines aufmerksamen Zuhörers, vor dessen innerem Auge sich
eine Reihe urkomischer Szenen abspielten, das Lächeln allmählich schwand,
und dem Ausdrucke der Trauer Platz machte: „Mein Gott, wie traurig
Ausführung des steht's um unser Rußland!" rief dieser plötzlich aus. Dem Humo-
„Toten Seelen", risten, der sich selbst unbewußt, Ankläger und zugleich Erzieher seines
„Göttlichen Volkes War, wurde das Wesen der von ihm vollbrachten Tat und seines
Soziale und lite- ferneren Berufs immer klarer. Sein Gesichtsfeld erweiterte sich, die
rarische Bedeu- ^-.^ ...,.,, t-, -t
tung der Dich- Romanform genügte mm nicht mehr, zum Erstaunen der Leser und der
Kritik benannte er die „Toten Seelen" ein „Poem". Er vergleicht die-
jenigen Schriftsteller, die das Große, Edle, Heroische darstellen, die der
Masse schmeicheln, mit denen, die sich voll Selbstverleugnung zur
Schilderung des Traurigen, Niedrigen und Abstoßenden verurteilen; wäh-
rend jene Lorbeeren ernten, müssen diese die Gleichgültigkeit und
Ablehnung der Gesellschaft, die die Bedeutung des Lachens nicht zu
fassen vermag, auf sich nehmen. Die schwere Arbeit, die er über-
nommen hatte, suchte er mit seiner begeisterten Hingabe an die Heimat
zu verschmelzen, deren Zukunft er in leuchtenden Farben malt. Die
„Toten Seelen" sind ein erstes Manifest des russischen Realismus, der
von Seiten Gogols noch in einigen anderen Werken verschärft wurde
(z. B. in dem Stücke „Beim Verlassen des Theaters nach der Auf-
führung eines Lustspiels"). Andererseits wird in den „lyrischen" Epi-
soden des Romans eine krankhafte Neigung zur Mystik offenbar, die
früher von jugendlichem Frohsinn übertönt worden war, aber nur ver-
stummte, um mit besonderer Kraft wiederzuerstehen, als Gogol den
Finger der Vorsehung auf sich gerichtet zu sehen vermeinte und sich
zum erstenmal zum großen geheimnisvollen Werk der allgemeinen Er-
weckung berufen fühlte. Die Mystik trübte ihm den Blick und so ver-
knüpfte er seine Ideale mit den zurzeit gegebenen Zuständen in Rußland,
ohne gewahr zu werden, daß die Willkür, der Militarismus, der Bureau-
kratismus und das Bestehen der Leibeigenschaft mit dem Fortschritt un-
vereinbar waren. In einem späteren Teile der Dichtung sagt der kranke
und schwache Gogol, daß alles, was im zeitgenössischen Rußland Bewußt-
sein hat, auf welcher sozialen Stufe es auch sei, danach schmachte, das
magische Wort „Vorwärts!" zu vernehmen. Er selbst hat damals dieses
Wort seinen Zeitgenossen nicht zugerufen, er bestand nicht darauf, daß
mit der überlebten Ordnung der Dinge radikal gebrochen werden müsse, ja
er versuchte sogar in den letzten Jahren vor seinem Tode sich und andere
davon zu überzeugen, daß innerhalb der Grenzen des Bestehenden Ver-
besserungen und Erleichterungen möglich seien, und brachte durch seine
versöhnenden Tendenzen sowohl die junge Generation als auch die Lite-
ratur gegen sich auf. Wenn auch seine theoretischen Begründungen schwach
waren, so hat er doch in der Analyse des Lebens, seiner Formen und Typen
Großes geleistet. Mit Ausnahme einiger Seiten des russischen Volkslebens
(z. B. des Bauernstandes, der zuerst von Turgenieff geschildert worden ist) hat
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. 57
er das ganze zeitgenössische Milieu in seinen Roman „Die Toten Seelen"
aufgenommen. Das war das eigentliche Rußland, aber doch ein vorsintflut-
liches, in seiner Brutalität und Rückständigkeit mißgestaltetes Rußland,
das dort geschildert wurde. Von dem allgemeinen Hintergrunde heben sich
einzelne Gestalten ab, eine Reihe prächtiger Porträts, vor allem der Held
des Romans Tschitschikoff, der nicht mit den harten Zügen des Verbrecher-
tums ausgestattet ist, sondern im Gegenteil, mit den einschmeichelnden,
gewinnenden Manieren eines anständigen Menschen mit gemäßigter Welt-
anschauung. Der milde Ton der Satire wird hier wie im „Revisor" an-
geschlagen, doch aus der Fülle moralisch mißgestalteter Persönlichkeiten
gewinnt man eine Vorstellung von den geradezu entsetzlichen Zuständen
des realen Lebens. Im Plan des Romans ist ein Widerhall von Dantes
„Divina Commedia" bemerkbar. Bei Gogol, der viele Jahre in Italien
zugebracht und eine große Verehrung' für Dante gewonnen hatte, konnte
wohl der Gedanke auftauchen, sein Werk nach dem Plane seines großen
Vorgängers zu gestalten. Je weiter die „Toten Seelen" gediehen und er
— wie er sich ausdrückte — durch einen bescheidenen Eingang, den Vor-
raum einer Hütte, in die hellen Räume eines wunderbaren Gebäudes ge-
langte, desto mehr befreite er sich von der Formlosigkeit einer Erzählung,
der gar keine Disposition zugrunde lag, um die großartige Architektur
eines dreibändigen Werkes an ihre Stelle zu setzen. Der zweite Band
war als ein Gegenstück zum Purgatorio geplant; den Menschen, die in
diesem Teile geschildert werden sollten, eröffnet sich die Möglichkeit
einer Läuterung im Geiste der Nächstenliebe. Der Held selbst ist
sittlich erschüttert und bereit, sein Kreuz auf sich zu nehmen. In der
Ferne winkt die völlige Erlösung, das irdische Paradies, das Reich der
Wahrheit und des Guten. Gogol war von diesem zweiten Bande nicht
befriedigt, ließ ihn unvollendet und vernichtete sogar einen Teil davon
vor seinem Tode. Glücklicherweise ist er an die lichtvollen Bilder
des dritten Bandes, in welchem Himmelsbewohner in menschlicher Ge-
stalt erscheinen sollten, überhaupt nicht herangetreten. Die großartige
Mystik des Paradieses von Dante war nur in den Zeiten des unmittel-
baren, reinen Glaubens möglich. Den idealen Helden Gogols, die
einer realen Basis ermangelten, wäre nicht nur das Los ähnlicher
mißlungener Versuche Turgeniefi^s, Gontscharoffs und Tolstois be-
schieden gewesen, sondern solche Fiktionen hätten am Schlüsse eines
durch und durch realistischen Romans diesem geradezu sein Todesurteil
besiegelt.
Der große Fortschritt, der in der sozialen Tendenz der „Toten Seelen" SchnftsteUer-
lag, hatte ebensolche Schwierigkeiten zu überwinden, wie die Neue- „Die natürliche
rungen des „Revisor". Gogol, der das Manuskript des ersten Bandes Angreifer. "^^
aus dem Auslande heimgebracht hatte und die überspannte Hoffnung
hegte, daß sein heißer Wunsch, dem allgemeinen Wohl zu dienen, sympa-
thisch aufgenommen werden würde, war empört über die Engherzigkeit der
5*
Leb,
58 Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
Zensur, die den Roman verbot und eine Reihe Anklagen gegen ihn erhob.
Sie warf Gogol Untergrabung der Gesetze und Beleidigung der Stände vor;
im Grundgedanken des ganzen Werkes erblickte sie eine Verhöhnung der
Dogmen, da die Seelen ja unsterblich seien. Als das Buch nach langen
Kämpfen, nach vielen Unterredungen und Zugeständnissen endlich er-
scheinen konnte, vergiftete die feindselige Haltung der konservativen
Kreise und die Kritik ihrer Presse Gogol die Freude an der aufrich-
tigen Begeisterung, die ihm von allen Freunden einer freiheitlichen,
humanen Literatur entgegengebracht wurde. Die tadelnden Kritiker und
rückständigen Journalisten faßten Gogol und seine jungen Nachfolger
zu einer Gruppe zusammen, die sie mit ihrem Haß verfolgten. Um den,
wie sie es nannten, extremen und schamlosen Realismus dieser Richtung
zu brandmarken, legten sie dieser den Spottnamen „die natürliche
Schule" bei, ein Name, der aber wirklich bezeichnend war und der
also schon einige Jahrzehnte vor dem Auftreten der naturalistischen
Schriftsteller in Frankreich, an deren Spitze Emile Zola stand, zum
Panier wurde, um das sich Turgenieff, Gontscharow, Dostojewsky und
Saltykoff scharten.
letzte Die große Verantwortlichkeit, die Gogol auf sich lasten fühlte, ver-
"cogois. mochte er nicht zu ertragen; die harten Prüfungen, die er in seiner
als Moralist und schriftstellerischen Tätigkeit zu überstehen hatte, untergruben seine Ge-
Brief Beiinskys. sundheit, da seine Nervenkonstitution ihn für alle Unbill empfänglich
machte. Nach einer schweren Krankheit ließ seine Energie und Schöpfer-
kraft nach. In dem Geiste dieses einsamen Mannes, der sich beständig
auf Reisen befand, begannen sich religiöse Wahnideen und mönchisch-
asketische Neigungen zu entwickeln. Sein Werk aber war fest begründet
und konnte nicht vernichtet werden. Als einige Jahre später aus seiner
Feder die „Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden" er-
schienen, eine Sammlung von Betrachtimgen über zeitgenössische Fragen,
die von pietistisch-versöhnendem Geiste durchweht waren, erhob sich
wider den Verfasser alles, was ihm sein geistiges Wachstum zu verdanken
hatte, und der beste Erklärer Gogols, das Haupt der kritischen Schule, die
sich im Zusammenhang mit Gogols Richtung entwickelt hatte, Belinsky,
schrieb ihm aus Salzbrunn, also fern von der russischen Postzensur, einen
Brief voller Anklagen, der ihm die Augen öffnen und ihm zeigen sollte,
daß er am Rande eines Abgrundes stehe, daß Rußland „weder Mj-stizis-
mus noch Pietismus und Asketismus, sondern Zivilisation, Bildung und
Humanität benötige". Trotz alledem betonte in diesem leidenschaftlichen
Briefe der strenge Kritiker, der die Mißbilligung mit wehem Herzen aus-
gesprochen hatte, die Größe der künstlerischen Tat Gogols. Gogol war
durch den Zwiespalt, den er selbst ins Leben gerufen hatte, tief erschüttert;
er schien aus einem Traum zu erwachen, kehrte zur Arbeit zurück, wurde
schmerzlich gewahr, daß er das Leben noch nicht genügend kannte, unter-
brach seine Reise und widmete sich in der Heimat neuen Studien. Doch
B. Die erste Hälfte des I<). Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. 6g
seine Energie und Schöpferkraft waren gebrochen, der Tod stand vor
der Tür. Die Episode mit Behnsky, unter der alle gebildeten Lands-
leute moralisch gelitten, hatte aber den Erfolg, die literarische Be-
wegung zu kräftigen. Seit der von Puschkin ausgegangenen Anregung
hatte sie nun ein zweites höchst wichtiges Entwicklungsstadium durch-
gemacht und entfaltete um die Mitte der vierziger Jahre eine neue,
reiche Blüte.
Da Puschkin in der meisterhaften Handhabung der künstlerischen Schicksal der
Prosa und der Sittenschilderung im Roman schon so bald in Gogol Puschkin. Das
einen Nachfolger gefunden hatte, war es möglich, daß der wichtigste Lermontoff"
Zweig seines literarischen Vermächtnisses, die Lyrik, die Offenbarung
des inneren Seelenlebens des Dichters, in Verfall geraten konnte. Weit-
sichtige Beobachter prophezeiten auch bereits angesichts des ungeheuren
Aufschwungs, den jetzt der Roman nahm, daß die Lyrik für lange
Zeit verstummt sei und daß die Zukunft dem Roman mit seiner all-
seitigen Wiedergabe des Lebens gehöre. Das Auftreten einer glänzen-
den, ja phänomenalen Persönlichkeit strafte diese Prophezeiungen Lügen.
Inmitten der allgemeinen Erschütterung, infolge des Todes Puschkins
(1837), der im Duell mit einem leichtfertigen, den höheren Kreisen ange-
hörenden Abenteurer, dem — wie eine Clique anonymer Verleumder und
Feinde des Dichters behauptete — glücklichen Verehrer seiner Frau, ge-
fallen war, ertönte plötzlich eine starke, mutige Stimme, die den Hin-
geschiedenen in herrlichen Worten pries und diejenigen, welche ihn zu-
grunde gerichtet hatten, verdammte. Die kraftvollen, mächtigen Verse
und die Aufrichtigkeit der Entrüstung, die in ihnen ihren Ausdruck fand,
ergriffen alle. Der offiziellen Welt, die durch ihre lügnerische Haltung
Puschkin gegenüber der üppigen Entwicklung feindseliger Ränke den
Boden bereitet hatte und sogar dem toten Dichter so viel Mißtrauen ent-
gegenbrachte, daß sie eine öffentliche Bestattung verbot und seine Leiche
heimlich, bei Nacht, in Begleitung von Gendarmen in ein Kloster der
Provinz schaffen ließ — dieser offiziellen Welt samt ihren Knechten
wurde der Fehdehandschuh zugeworfen. Sie nahm ihn auf und war be-
reit, sich mit der ganzen Schwere ihrer Repressalien auf den Beleidiger
der Ehre des Staates, des Adels und des Militärs zu stürzen. Mit Ver-
folgung und Gericht bedrohte sie ihren Ankläger, einen jungen Garde-
Offizier.
So trat Lermontoff, einer der größten Dichter, die das russische Volk Charakteristik
hervorgebracht hat, in die Öffentlichkeit. Wie ein Meteor tauchte er Seine ersten
am literarischen Himmel auf, offenbarte eine poetische Begabung-, die fungcn und die
Dramen seiner
vielleicht diejenige Puschkins übertraf, eine scharf gezeichnete Persönlich- Jugendjahre.
keit voller Kontraste und Leidenschaften, ein Talent, das in der Sehnsucht
nach unerforschten Gebieten des Gedankens und Gefühls mit titanenhaftem
Mut den Raum durchmaß und — stürzte, von einem blinden Zufall ge-
troffen, der ebenso sinnlos war wie das Duell, in dem Puschkin ums Leben
70
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
kam. Früh schon hatte er die Bitterkeit und die Lüge des Lebens kennen
gelernt; durch Erfahrung und Bücher belehrt, sah er bald Ungleichheit
und Ungerechtigkeit um sich her, bahnte sich einen Weg zur Freiheit
und behauptete seine Persönlichkeit trotz aller Schranken der hochmütigen,
vornehmen Gesellschaftsklasse, der er angehörte. Mit dem Denken er-
wachte auch das Gefühlsleben; frühzeitig, wie Dante, verliebte er sich.
In seinen ersten dichterischen Versuchen als Knabe und in seinen Jugend-
dramen, die den Einfluß Schillers und Lessings nicht verleugnen können,
glühte bereits ein unruhiges Feuer: der Trieb nach Erkenntnis und des
Zweifels Stachel ist in ihnen lebendig. Da er immer auf sich allein an-
gewiesen war und in seinem Inneren schwere Kämpfe ausfocht, von denen
niemand etwas wußte, glaubte er zum Unglück prädestiniert zu sein, doch
trat er dem Schicksal stolz entgegen. Er fühlte, daß in seiner Natur ein
verhängnisvoller Zwiespalt vorhanden war: der erbarmungslose Verstand
negierte das, wozu ihn der Sturm der Leidenschaften drängte. So trat er
ins Leben. Als auch er dem Einfluß Byrons unterlag und mit Staunen
und Beben erkannte, daß sich in diesem Dichter derselbe Kampf ab-
gespielt hatte wie in seiner Seele, war sein Schicksal entschieden. Seine
kampflustige, protestierende Dichtung spiegelte nunmehr deutlich den Ein-
fluß Byrons wieder, und zwar zuletzt in so hohem Grade, daß der scharf-
sinnige Kritiker Georg Brandes das beste Werk Lennontoffs, den Roman
„Ein Held unserer Zeit", das vollkommenste Ergebnis der Wirkung Byrons
auf die europäische Dichtkunst nennen konnte.
Die Gedichte Er war nicht imstande, mit der bestehenden Ordnung, die Puschkin
Puschkins Tod Verhängnisvoll geworden war, ein Kompromiß zu schließen; vom Geist
des Liberalismus ergriffen, der in Rußland von Radischtschew und den
Dekabristen ausging und infolge der Julirevolution beträchtlich erstarkt
war, gab er sich nicht nur in seinen Jugendwerken, sondern auch im
Leben dem Kultus der machtvollen Persönlichkeit hin, doch offenbarte er
vorerst nur in temporären Aufwallungen politischen Spürsinn. Seine
Helden waren Räuber vom Typus des „Corsair" oder ein altrussischer
Krieger, ein geheimnisvoller Unbekannter, der der Welt Trotz bietet, ein
ergrimmter Fanatiker, der sich an die Spitze eines Bauernaufstandes stellt,
der rachsüchtige und verwegene Kaukasier Ismael-bey, der den tragischen
Konflikt zweier Rassen, zweier Zivilisationen in sich erlebt — oder ein
finsterer Dämon, ein gefallener Engel, der einem reinen und schönen Ge-
schöpfe Gottes naht, um es durch Erweckung der Liebe dem Verderben
zu weihen und dann stolz im unendlichen Raum zu entschwinden. Der Tod
Puschkins und das abstoßende Bild gesellschaftlicher Verrottung, das sich
bei dieser Gelegenheit entrollt hatte, übten eine befreiende Wirkung auf
den Dichter aus. Die vom Schicksal gezeichneten Helden fesselten jetzt
seine Phantasie nicht mehr. Nur der „Dämon", der als lebendige Erinnerung
an einen Jugendtraum Lermontoff teuer war, blieb bis zu seinem Tode sein
treuer Begleiter und wurde vielen Neubearbeitungen unterworfen, deren
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. U. Das Zeitalter Nikolaus' I. 71
letzte Fassung eine hohe Stufe der Vollendung erreichten. Die Verpflich-
tungen dem Vaterlande gegenüber, die Notwendigkeit, die eigenen Fähig-
keiten in dessen Dienst zu stellen, erhielten nun entscheidende Bedeutung.
Als Lermontoff strafweise in den Kaukasus versetzt worden war, wo er sich
in harter militärischer Umgebung, gleichzeitig aber auch inmitten einer groß-
artigen alpinen Natur befand, und das freie Leben der Berge, das seit seiner
ersten Reise als Knabe in seinem Gedächtnis fortgelebt hatte, zum zweiten
Male beobachten konnte, beschritt er neue Bahnen. Von nun an war nicht
mehr der einseitig erfaßte Byronismus, der ihn bisher beherrscht hatte,
sein Leitstern, sondern der wahre Geist Byrons, des Kämpfers für Fort-
schritt und Freiheit. Die Berührung mit dem Leben und den fortschritt-
lich gesinnten Geistern der Literatur, von denen er sich früher, als Dichter-
dilettant, ferngehalten hatte, förderten ihn jetzt in seiner Arbeit. Als er in
den Norden zurückkehrte, war er in seiner Entwicklung bereits weit vor-
geschritten, und diese Umwandlung fand in einer scharfen Selbstkritik,
in der Verurteilung seiner Vergangenheit — kurz in einer öffentlichen
Beichte ihren Ausdruck. Das war der Sinn des Romans „Ein Held unserer
Zeit«.
In einer sehr ungewöhnlichen Form, die scheinbar gar keinem be- ■.£« HeU
° ° _ ^ unserer Zeit".
Stimmten Plane entsprang (Erzählung, Episoden, Erinnerungen), erschien die Seine avito-
Schilderung der seelischen Entwicklung einer hochbegabten Persönlichkeit, künstlerische
die sich einer großen Kraft bewußt ist, ohne für sie Betätigung zu finden, Bedeutung.
und an Egoismus und stolzer Selbstüberhebung zugrunde geht. Es ist das
Charakterbild eines Märtyrers seiner eigenen Erregungen und Stimmungen,
die dann auch anderen, insbesondere den Frauen, die in den Bann der
dämonenhaften Erscheinung geraten, zur Qual g-ereichen. Petschorin ist
kein Repräsentant seines Jahrhunderts, er ist nur „Einer der Helden seiner
Zeit", wie ihn der Verfasser anfänglich mit wehmütiger Ironie nennen wollte,
einer der Unbefriedigten, die zu gemeinnütziger Tätigkeit untauglich
sind und den Kampf mit dem Bösen nicht auf sich zu nehmen vermögen.
Wenn aber dieser Held eines verfehlten Lebens von der Bühne tritt und
das traurige Antlitz des Wanderers, der in freiwilliger Verbannung die
Einöden des Ostens aufsuchen will, zum letztenmal auftaucht, erweckt er
unwillkürlich das Mitgefühl des Lesers. Solche Feinheit der Analyse,
die nur dadurch möglich war, daß dem Roman Erlebtes, Autobiographi-
sches zugrunde lag, war in der russischen Literatur noch nicht dagewesen.
Doch nicht nur der Held allein, sondern auch die ihn umgebenden Per-
sönlichkeiten, stärkere Charaktere, Alltagsmenschen und schöne Frauen-
gestalten, sind mit gleicher Meisterschaft gezeichnet; ebenso ist das Leben
und die Natur des Kaukasus — das Milieu der letzten Phase im Leben
des Helden — mit ungewöhnlicher koloristischer Kunst geschildert. Die
sich in einem solchen Rahmen abspielende tragische Geschichte eines
begabten Menschen ist das erste bedeutende Ereignis in der Chronik
des russischen psychologischen Romans. Wie die realistische Sitten-
^2 Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
Schilderung in erzählender Form als das literarische Vermächtnis Gogols
zu betrachten ist, so führt vom „Helden unserer Zeit" eine ununter-
brochene Stufenfolge bis zu den psychologischen Studien Turgenieffs und
seiner Zeitgenossen.
Der übertritt Die Beichte hatte Lermontoff das Herz erleichtert, das Urteil war ge-
das Lager der sprocheu — nun trat der Dichter endgültig in die Weite des Lebens
Literatur. Sein hinaus. Die Tiefe und Innigkeit seiner hinreißenden Lyrik, die Schön-
voikswohi und heit seiner Verse ist später niemals übertroffen worden, der Schwung seiner
piütziicbcr ioi. Phantasie zeigte eine hohe künstlerische Reife und erstrahlte in den
Dichtungen, die im Kaukasus entstanden waren, in vollem Glänze. Ler-
montoff wurde nunmehr von der liberalen literarischen Bewegung mit fort-
gerissen. Eine neue Strafverfügung, laut der er nach einem kurzen
Aufenthalt im nördlichen Rußland wiederum, und zwar für immer, in den
Kaukasus verschlagen wurde, verschärfte seine oppositionelle Stimmung;
stärker denn je fühlte er die Bande, die ihn mit dem Volke verknüpften,
und wurde sich der Verpflichtungen bewußt, die ihm daraus erwuchsen ;
mit jeder Schöpfung erklomm er, getragen von der allgemeinen Sympathie,
eine höhere Stufe der Vollkommenheit — da endete ein verhängnisvolles
Duell im Jahre 1841 dieses reiche Leben und vernichtete die Hoffnungen,
zu denen es berechtigt hatte.
Die geistige Das Etwachen des Volks zur Selbsttätigkeit , das trotz aller
dreißiger Jahre. Hemmnissc in Gogol und Lermontoff eine hohe künstlerische Kraft
Dieliterariscliea
Kreise Moskaus, zum Ausdruck gebracht hatte, offenbarte sich auch in dem Aufkeimen
Ästhetiker und einer neuen Bewegung im Reiche der Gedanken. Die Moskauer Uni-
versitätsjugend, die jener älteren Generation philosophierender und
ästhetisierender Dilettanten, welche Puschkin in der Zeit der BedrängTiis
mit ihren Sympathien unterstützt hatten, gefolgt war, wurde zum Fer-
ment, das den geistigen Gehalt der fortschrittlichen Literatur der vier-
ziger Jahre zur Entwicklung brachte. Im idealen Streben nach Bildung
und Wissen fanden sich Menschen verschiedener Herkunft und ver-
schiedener Bildungsgrade zusammen, die miteinander dem gemeinschaft-
lichen Ziele friedlich zusteuerten. Unter diesen Studenten ragten bereits
zwei ]\Iänner hervor: das zukünftige Haupt der Kritik, der Sohn eines
armen Kreisarztes, Belinsky, der die Provinz samt ihren minderwertigen
Schulen verlassen hatte, um in der alma mater die wahre Wissenschaft zu
suchen — und die Zierde der russischen Publizistik, Alexander Herzen,
der aus den aristokratischen Kreisen Moskaus stammte. Ursprünglich
war es das philosophisch-ästhetische Gebiet, auf dem sich die Mehrzahl
dieser Enthusiasten begegnete; die deutsche Philosophie gewann wieder
mächtigen Einfluß, namentlich war es Hegel, der die Geister beherrschte.
Doch neben den Philosophen machte sich ein kleiner, unabhängiger Kreis
bemerkbar, der sich durch das abstrakte Denken nicht befriedigt fühlte,
um so mehr aber von den politischen und sozialen Problemen angezogen
wurde.
Politikc
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. 11. Das Zeitalter Nikolaus' I. yß
Herzen, der von Kindheit an das Freidenkertum eines Voltaire und Alexander
die Gedankenwelt der französischen Revolution in sich aufgenommen hatte
und unter dem starken Eindruck des Unterganges der Dekabristen zur
Reife gelangt war, hing freiheitlichen Träumen nach und erwärmte sich samt
seinem besten Freunde Ogareff, der später sowohl das Schicksal des Emi-
granten als auch die Tätigkeit des Publizisten mit ihm teilte, an den
politisch gefärbten Dichtungen Schillers. Er unterlag nicht dem Einfluß
Hegels, vielmehr zogen ihn die Naturwissenschaften an, die auch während
seiner Universitätsjahre sein Sondergebiet waren; unter den zeitgenössi-
schen sozialen Systemen fesselte ihn dasjenige Saint-Simons, und über
seinem Kreise wehte schon die Fahne der sozialen Bewegung. Die Ver-
bannung in einen entlegenen Winkel des nordöstlichen Rußlands (Wjatka),
die Herzen bei seinem Eintritt in das öffentliche Leben, gleich nach der
Absolvierung seiner Studien, traf und ihn aus der Zahl der Anführer der
Jugend strich, trennte ihn nur äußerlich von seinem Kreise. Seine Dienst-
jahre in der Provinz gaben seinen reformatorischen Forderungen eine reale
Basis, da er nun Gelegenheit fand, die entsetzliche Rückständigkeit des
russischen Lebens genau kennen zu lernen. Als er zurückkehrte, besaß
er das volle Rüstzeug der Erfahrung, war gereift und hatte sich durch
Lektüre weiter gebildet. In Moskau und später in Petersburg scharten
sich die oppositionellen Elemente, die sich in ihrem nationalen Kampfe
mit der allgemeinen europäischen Beweg'ung der Zeit vor 1848 solidarisch
fühlten, wieder um ihn.
Während Herzen sich kraftvoll den Weg zu einer Tätigkeit, die r.eiiasky; seine
*-• ^ ersten kritischen
seinem Charakter und seiner glänzenden Begabung entsprach, bahnte, J;>|^|''^g°"
befand sich Belinsky, diese leidenschaftliche Kämpfernatur, die Herzen
an Einfluß gleichkam und sich später mit ihm vereinigte, noch völlig im
Bann der Philosophie, baute mit seinen Freunden Luftschlösser, die von
Optimismus getragen waren, suchte in einseitiger Anwendung der Lehre
Hegels die Vemünftigkeit der Wirklichkeit, also auch vor allen Dingen
der russischen Verhältnisse, zu beweisen, trotz der Sorge und Not, die
er seit früher Jugend kannte, trotz der Rechtlosigkeit und Finsternis, die
ihn umgaben und die sich gegen jeden Quietismus und alle Versöhnlich-
keit aufzulehnen schienen. Doch schon in den ersten Abhandlungen
dieses jungen Mannes, der wegen „Unfähigkeit" aus der Universität
gewiesen worden war, trat so viel kritischer Scharfsinn, so viel Liebe
zur Literatur seines Volkes, deren falsche Götzen er zu vernichten,
deren Ideengehalt er zu erweitem suchte, kam ein so flammender Glaube
an die Literatur des russischen Volkes zutage, daß ein Verharren solcher
originellen Kraft in den Nebeln der Abstraktion ausgeschlossen erschien.
Und in der Tat, als der geradsinnige, logisch veranlagte Belinsky das System,
durch dessen Folgerichtigkeit er geblendet worden war, zu Ende gedacht
hatte, sah er mit Entsetzen, wohin es führte. Er brach nun mit den
Illusionen, die jetzt seinen Haß erregten, und wandte sich der geistigen
,74
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
Führung der erwachenden Massen zu, eine Laufbahn, die seine erstaun-
lichen Fähigkeiten zur Entfaltung brachte. Hier wartete seiner auch
der Ruhm.
Neue Organisa- Während Belinsky nach der Unterdrückung des „Teleskop", dessen
Kreise. Die hervorragender Mitarbeiter er war, nach Petersburg übersiedelte, fand in
'und die siawo- den Kreisen der Moskauer Jugend eine weitere Differenzierung der Kräfte
statt. Es handelte sich nicht nur um die Scheidung einer philosophisch-
ästhetischen und einer politischen Richtung, sondern es entwickelte sich
auch ein weiterer Zwiespalt auf dem Boden des alten Gegensatzes von
Europäertum und nationalem Gedanken. Daß die Anhänger beider Prinzipien
ursprünglich von der westeuropäischen Kultur beeinflußt worden sind,
ist nicht zu bezweifeln. Die von der deutschen Wissenschaft angeregten
philosophisch -historischen Träume hatten eine Gruppe der ehemaligen
Freunde Belinskys und Herzens, an deren Spitze der edle Enthusiast
Aksakoff stand, zur Theorie von einer im höchsten Grade originellen
russischen Kultur geführt , während die Auffassung der deutschen
Romantik vom Volkstum und Altertum dem Kultus, den sie mit der
russischen Vergangenheit trieben, den Stempel aufdrückte. Da sie die
Vergangenheit, so wie sie wirklich war, nicht kannten, erschien sie
ihnen im milden Lichte des Friedens und Glücks. Die wissenschaftlich
historische Forschung wurde durch sie fast gar nicht gefördert. Dafür
wurden sie gewissermaßen zu Nachfolgern der reaktionären Russo-
philen, die zu den Zeiten Katharinas aufgetaucht waren und am Anfang
des Jahrhunderts in Schischkoff einen fanatischen Vertreter gefunden
hatten. Weder diese jungen Schwärmer noch einzelne Denker einer
älteren Generation, wie z. B. der Dichter, Redner und Theologe Chom-
jakoff, die sich jenen anschlössen, sind jemals zum Obskurantismus über-
gegangen, doch wurde in der Hitze der Polemik und dank dem maß-
losen Eifer ungebetener, einseitiger Kampfgenossen viel Überflüssiges und
Unduldsames gesagt. Belinsky mit seinem Petersburger Kreise und der
humane Gelehrte Professor Granowsky, der in Moskau an die Stelle
Belinskys getreten war, bildeten das Lager der „Westeuropäer", als dessen
Vorläufer der Denker Tschaadajeff mit seinem vernichtenden Urteil über
die russische Vergangenheit und seinem Drange nach westlicher Kultur
angesehen werden kann. Die „Westeuropäer" wurden mit der Zeit als
hoffnungslose, in den Bann des Freidenkertums geratene Verräter Ruß-
lands betrachtet. Ihr Streit mit den Slawophilen zog sich Jahrzehnte
hindurch hin und ist eigentlich bis zum heutigen Tage nicht ver-
stummt, da sich hinter der Maske der modernen Slawophilen oftmals
jene Gegner der freiheitlichen Bewegung verbergen, die den Westen als
den Krater verdammen, aus dem sich das revolutionäre Gift über das
Anföng'ij"einer° friedliche Rußland ergießt.
'Kritik!"''Dir Dtis große organisatorische Talent Belinskys, das sich oft'enbarte, als
^Tt liciin^kv^ er die Leitung der besten Zeitschrift jener Zeit, der „Vaterländischen
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. yj
Annalen", übernahm und begabte Schriftsteller und Dichter in großer Zahl
zu ihm strömten, verlieh der Schule der „Europäer" eine hervorragende
Bedeutung. Während die Moskauer Slawophilen die Zeiten der Groß-
väter in lockenden Farben malten, stellten sich die „Westeuropäer" an
die Spitze der Literatur und gestalteten sie zu einem wichtigen Rüstzeug
der sozialen Wiedergeburt. Ihr Führer, der das künstlerische Richter-
amt der Kritik gewahrt wissen wollte, sprach ihr außerdem den ver-
antwortungsvollen Beruf einer Erzieherin des Volkes zu. Angesichts der
Farblosigkeit der Tagespresse und der Unmöglichkeit, aktuelle Fragen
in ihr zu verhandeln, hatten derartige Arbeiten die Aufgabe, sowohl Leit-
artikel zu sein als auch kritische Analyse zu bieten. Auf diese Weise
entstand die für russische Verhältnisse typische „publizistische Kritik", die
nach Belinsky eine ganze Reihe hervorragender Kräfte aufwies und erst
in neuester Zeit den wichtigsten Teil ihrer Verpflichtungen einer kampfes-
mutigen, energischen Presse übergeben konnte. Indem Belinsky den
künstlerischen Wert der literarischen Werke in seinen Kritiken tiefsinnig
abschätzte, dabei aber auch die in ihnen berührten Lebensfragen zur
Sprache brachte, auf die geringsten S3'mptome des Fortschritts in Ruß-
land reagierte, die Entwicklung des Denkens und Schaffens im übrigen
Europa mit scharfem Auge verfolgte, durch seinen meisterhaften Stil,
seinen wannen, überzeugungsvollen Ton und den sittlichen Adel seiner
Persönlichkeit wirkte, war er jedem denkenden Menschen Freund und
Lehrer. Seine gewöhnlich nicht mit Namen gezeichneten Aufsätze
drangen in die entlegensten Orte des Reichs. Während Gogol in seiner
mystischen Ekstase die Augen aller in Rußland auf sich gerichtet ge-
glaubt hatte, befand sich Belinsky tatsächlich in dieser Lag"e. In solcher
Schule wuchs jene Generation von Künstlern heran, der es beschieden
war, der russischen Literatur die Welt zu erobern. Die neue Bewegung
machte sich zuerst in der Entwicklung des Romans geltend. Als
Sammelpunkt für hervorragende Neuerscheinungen auf dem Gebiete
des Romans dienten zu der Zeit, da Belinsky an der Spitze ihres kriti-
schen Teiles stand, die „Vaterländischen Annalen" und später der ganz
in den Händen der jungen Schriftstellergruppe befindliche „Zeitgenosse",
der Belinsky — allerdings zu spät, erst kurz vor seinem Tode — größere
Freiheit gewährte.
Das erste bedeutungsvolle Ereignis innerhalb dieses Kreises war eine Entwicklung
des Komans.
Erzählung aus der Feder Herzens. Sie trug den Titel „Wer ist schuld?" Herzen; sein
. . . Roman „AVer
und ragte unter den mit dem Pseudonym Iskander gezeichneten Artikeln ist schuld?- und
^ die MemoireD '.
Herzens, seinen geistreichen Causerien über Zeitfragen, seinen Schilde- „Gedanken und
Krionerungen'*.
rungen aus dem Leben der Provinz, seinen meisterhaften Essays aus dem
Gebiete der Naturwissenschaften oder der sozialen Ethik, als das beste
Erzeugnis der „russischen Periode" dieses Schriftstellers hervor. Die
Fabel, deren Kernpunkt in einem unlösbaren Konflikt der Gefühle lag,
war einfach und von warmer Sympathie mit dem leidensreichen Los des
76
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
Weibes durchweht. Mit feinem psychologischen Takt wird der Seelen-
zustand der drei HauptjDersonen geschildert: der begabten, feinsinnigen, in
der Öde des Provinzlebens hinwelkenden Heldin, ihres Gatten, eines
Lehrers, dem es einst gelungen war, sie aus einer ihrer unwürdigen Lage
zu befreien, der ihr aber kein Verständnis entgegenbringt und sie ins
alltägliche Sein herabzieht, und schließlich eines zufällig in der Umgegend
als Gast weilenden Mannes, der viel gereist, viel gesehen und viel ge-
dacht hat und sich durch die verhängnisvolle Macht der Wahlverwandt-
schaft zu der jungen Frau hingezogen fühlt. Der unlösbare Konflikt dieses
Dramas ist von der Hand eines psychologisch denkenden Künstlers ge-
zeichnet und spielt sich im Rahmen ländlicher und provinzstädtischer
Verhältnisse ab, die wahrheitsgetreu und mit Humor geschildert sind.
Hierin verrät sich vielleicht im allgemeinen der Einfluß Gogols, doch
offenbart sich in diesem Werke Originalität und außerordentlicher Scharf-
sinn. Im Schaffen Herzens, dieses vielseitig- begabten Menschen, bei dem
damals das publizistische Talent noch nicht zum Durchbruch gekommen
war, bildete der Roman „Wer ist schuld?" samt einigen Novellen gleich-
sam eine belletristische Oase; seine Hauptkraft entfaltete sich auf anderem
Gebiete, doch in der Geschichte des russischen psychologischen Romans
ist dies nach Lermontoff die zweite bedeutsame Etappe. Innerhalb der
künstlerischen Tätigkeit Herzens ist es das Vorspiel zu seinem umfang-
reichen, epochemachenden Memoirenwerk „Gedanken und Erinnerungen"
(in den Jahren 1853— 1868 verfaßt), in welchem die Geschichte der russi-
schen Gesellschaft und der politischen Bewegung in Europa vom Beginn
des Jahrhunderts bis zum Ende der sechziger Jahre und die Autobio-
graphie des Verfassers mit einer Schärfe und Wahrheitstreue dargestellt
ist, die der historischen Schilderungskunst Tolstois in „Krieg und Frieden"
nicht nachsteht.
TurBenicff. Als Iwan TuTgeuicff, noch vor kurzem Student der Berliner Universi-
Schöpfuiigen. tat, sich Bclinsky vorstellte und sich durch sein lebhaftes Interesse für die
„Die Me — ■"" ■'
Jägers" Kulturprobleme, durch seine Begeisterung für die Reformbestrebungen,
imd ihre soziale
Bedeutung, insbesondere für die Aufhebung der Leibeigenschaft, durch die Ver-
schmelzung von Europäertum und volkstümlicher Gesinnung', als ein Ver-
treter der jungen Generation erwies, die nun zur Arbeit schritt, und als
der feine Beobachter Belinsky in den Gedichten und Erzählungen des
Jünglings die Kennzeichen seines Talents entdeckte, da war eine neue lite-
rarische Epoche angebrochen, der es beschieden war, mit der Zeit die
reformatorische Bewegung zu inspirieren. Die ersten Versuche Tur-
genieffs trugen, trotz der Reife der Gedanken, den Stempel der Un-
erfahrenheit und Nachahmung; sowohl in der Wahl der Themata als auch
in ihrer Bearbeitung kreuzten sich die Einflüsse Puschkins, Lermontoffs,
Byrons und George Sands. Er schilderte problematische Naturen; aus
seinen Schriften sprach die Enttäuschung, daß es keine Arbeit zum
Wohle der Allgemeinheit gibt. Eine kleine Skizze aus dem Dorf-
B. Uie erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. 77
leben, die in Belinskys „Zeitgenossen" abgedruckt war, deutete auf die
Möglichkeit solcher Arbeit als Mittel zur Befreiung hin und wies damit
Turgenieff den Weg zu seiner Wirksamkeit. Es war die Zeit, als in
den bedeutendsten Literaturen Europas das Interesse für das Dorfleben
lebendig wurde; Auerbachs Dorfgeschichten, die Bauernromane der George
Sand, „Les Paysans" von Balzac schufen eine neue Richtung. Turgenieff,
der die neuen Strömungen in der Literatur aufmerksam verfolgte, hätte
sich aus allgemeinen Gründen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit dieser
Richtung ansschließen können; tatsächlich waren für ihn die russischen
sozialen Verhältnisse, die der Literatur erblich überkommene Aufgabe, der
Befreiung zu dienen, und eigene trübe Erfahrungen von entscheidender Be-
deutung. Denn zu derselben Zeit, als im Westen an der Rehabilitierung
der von der kapitalistischen Gesellschaftsordnung vernachlässigten Be-
völkerungsklasse gearbeitet wurde, gestaltete sich im Vaterlande Turgenieffs
die Verteidigung der Interessen des Bauernstandes zum Protest gegen die
Leibeigenschaft und zum Rufe nach Freiheit. Nicht mit sentimentalen,
idyllischen Schilderungen, wie sie in der deutschen und französischen
Literatur im Überfluß vorhanden waren, sondern mit einer realistischen
Wiedergabe des Lebens, mußte man auf das Publikum zu wirken suchen,
wie dies Radischtschew, Vonwisin und Nowikoff getan hatten. Turgenieff
verfügte in dieser Beziehung über eine fast erdrückende Sachkenntnis.
Von Kindheit an hatte er die Wirkungen der Leibeigenschaft vor x\ugen
gehabt, in seiner eigenen Mutter war die Härte gegen die Untergebenen
in einer ganz besonders krassen Weise, die bei den Augenzeugen geradezu
Entsetzen erregte, zum Durchbruch gekommen, so daß er schon früh
den Entschluß faßte, Vergeltung zu üben, und sich gelobte, alle seine
Kräfte der Bekämpfung der Leibeigenschaft zu weihen, deren Abschaffung
ihm als erstes Erfordernis aller Reformen erschien. Die Macht der Ver-
hältnisse gab ihm das Programm für eine Reihe von Skizzen in die Hand,
deren erste im Jahre 1847 gleichsam die Rolle eines Versuchsballons
spielte (um dieselbe Zeit erschien auch eine Bauernnovelle Grigorowitschs
„Das Dorf"). Im Laufe einiger Jahre entstand die umfangreiche Samm-
lung von Erzählungen, die unter dem Namen „Memoiren eines Jägers"
bekannt sind und mannigfache Seiten des Provinzlebens berühren, in erster
Reihe aber die wahrheitsgetreue Schilderung der bäuerischen Lebensart
vor der Emanzipation zum Gegenstande haben. Als sie einzeln erschienen,
wurden sie geduldet, als sie aber im Jahre 1852 zu einem Bande ver-
einigt wurden, entrollte sich ein so niederschmetterndes Bild, daß die Ver-
folg-ung des Verfassers in die Wege geleitet wurde. Auf den „Memoiren
eines Jägers", die ganz offenbar eine Tendenz befolgten, gleichzeitig aber
eine reiche Auswahl künstlerischer Porträts und prachtvolle Natur-
schilderungen enthielten, ruht heute noch der Stempel jener Stimmung,
der sie ihre Entstehung verdankten und die so stark war, daß sie auch
während Turgenieffs Aufenthalt in Frankreich, woselbst die meisten von
Weitere Ent-
wicklung des
Romans. Gon-
tscharoff und
seine „Gewöhn
liehe Ge-
schichte".
y8 Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
ihnen verfaßt wurden, nicht abklang. In der Agitation für die Leibeigenen-
befreiung spielten sie dieselbe Rolle, die „Onkel Toms Hütte" in der Ge-
schichte der Negeremanzipation beschieden war.
Außer der vornehmen Gestalt Turgenieffs, den die Schule des Lebens
und der Einfluß sozialer Ideen aus seinem privilegierten Milieu gerissen
hatten, tauchten im Kreise Belinskys auch andere Typen moderner Menschen
auf. Von der Wolga her war Nekrassoff um der Wissenschaft willen in
die Hauptstadt gekommen. Hier wurde ihm bald das Los eines obdach-
losen Proletariers zuteil. Bettler fanden ihn ohnmächtig auf offener Straße
liegend und retteten ihn vom Hungertode; er kämpfte dann verzweifelt
um seine Existenz, indem er sich der entnervenden journalistischen Klein-
arbeit unterzog. Unter dem starken Einfluß Belinskys raffte er sich auf
und fand, nachdem er einige romantische Gedichte geschrieben hatte, den
würdigen Ausdruck für die Bitterkeit, den Kummer und den Zorn, die sich
in ihm angehäuft hatten. Durch die Veröffentlichung einiger Dichtungen
ganz neuer Art, die dem Leben des Volkes ebenso nahe standen wie die
Skizzen Turgenieffs, lenkte er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Die
Schöpfungen Lermontoffs erschienen neben der Lyrik des neuen Poeten
wie ein herrlicher Prolog; Lermontoff hatte erst kurz vor seinem Tode
jene enge Fühlung mit dem Leben des Volks gefunden, die Nekrassoff
von Anfang besaß. Doch war er kein Autodidakt von der Art des
russischen Burns, Kolzoff, dessen naive Lieder mit dem Gepräge echten
Dorflebens, vom Aroma der südrussischen Steppe und von unbestimmter
Melancholie durchweht, bis zum heutigen Tage unvergessen sind. Dank
Nekrassoff fand eine Demokratisierung der Dichtung statt. Die kunst-
volle Dichtung- wurde zur Domäne einiger Jünger der „reinen Kunst",
unter denen Apollon Maikoff, Tiutschew und A, Tolstoi zu erheblicher
Bedeutung gelangten; der Hauptstrom aber schlug die Richtung ein,
welche die aufklärende Bewegung der Literatur zugewiesen hatte.
Die satte, friedlich schlummernde Kaufmannschaft des Wolgagebietes,
- welche in der Person Nekrassoffs einen Kämpfer für des Volkes Not ge-
*n- liefert hatte, vervollständigte nun die Schar moderner Schriftsteller durch
Entsendung eines eigenartigen Vertreters ihrer unberührten Kräfte —
Gontscharoffs. In einem malerisch gelegenen Ort jener Gegend hatte er
eine sorglose Kindheit verträumt und erwachte erst, als er auf der
Universität Moskau mit der Kultur in Berührung kam, als seine träge,
phlegmatische Natur die elektrisierende Wirkung spürte, die einerseits
von der Schule Gogols, andererseits von der ihr verwandten sozialen
Richtung der we.steuropäischen Literatur ausging. Die Träume seines
Idealismus zerrannen bald angesichts der Wirklichkeit, die er in Peters-
burg kennen lernte, wo er, statt eine gemeinnützige Tätigkeit auszuüben,
Karriere zu machen suchen sollte. Den schweren Konflikt, den er durch-
lebt hatte, schilderte er mit großer psychologischer Treue in seinem ersten
Roman, der an autobiographischen Zügen reich ist; der Titel desselben
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. yn
„Eine gewöhnliche Geschichte" khngt traurig-, wie die Erkenntnis von dem
unvermeidlichen, alltäglichen Untergang idealer Bestrebungen. Das Thema
des Erstlingswerkes Gontscharoffs war demjenigen des „Pere Goriot"
Balzacs verwandt. Im übrigen hielt er dem Vermächtnis Gogols die Treue,
indem er das ihm verhaßte hauptstädtische Leben bis in die Details, die
Lebensart, die Charaktere und auch die Sprache in allen ihren Fein-
heiten berücksichtigte, wobei der Humor nur gelegentlich zum Durchbruch
kam. Doch zu dem Protest gegen den verknöcherten Bureaukratismus,
der diesem gleichmäßigen Menschen fast unwillkürlich entschlüpft war,
gesellte sich der Wunsch, auch eine andere Seite der Frage zu beleuchten.
Gleichzeitig mit der „Gewöhnlichen Geschichte" hatte Gontscharoff den
Plan zu seinem besten Roman „Oblomoff" gefaßt und seine Ausarbeitung
begonnen. Hier handelte es sich um die Schilderung des Lebens der
russischen Landedelleute vor der Einführung der Reformen — jener
Klasse, die im Geiste der Leibeigenschaft und der Standesvorurteile groß-
gezogen worden war und auf Kosten von Sklavenarbeit träge vegetierte.
Der Verfasser zeichnete in einer vorzüglichen Episode „Der Traum
Oblomoffs" das Bild der auf dem Lande verbrachten Kindheit seines
Helden, der sich von hindämmernder Tatenlosigkeit umgeben sieht, führte
ihn dann in das Milieu der Hauptstadt und schildert seine kläglichen
Versuche, sich aufzuraffen, auf die Höhe seiner Zeit zu gelangen,
um schließlich das alte Prinzip der Passivität triumphieren zu lassen.
Indem er auch den geringsten seelischen Makel seines unglücklichen
Helden schonungslos aufdeckte, hat Gontscharoff noch am Ende der
vierziger Jahre durch die abschreckende Schilderung der Trägheit, die
er an sich selbst beobachten konnte, zur Energieentfaltung, Selbsttätigkeit
und reorganisatorischer Arbeit veranlassen wollen. Es gelang ihm zu-
nächst ebensowenig, sich in diesem Sinne völlig auszusprechen, wie es
Turgenieff in seinen „Memoiren eines Jägers" oder Nekrassoff in seinen
volkstümlichen Dichtungen gelungen war. Den Höhepunkt ihres Könnens
erreichten diese Autoren in den sechziger Jahren, während der Reform-
periode. Doch darf die Bedeutung der ersten Versuche jener Generation,
die das Werk Gogols aus seinen ermattenden Händen übernommen hatte,
nicht unterschätzt werden.
In den gebildeten Schichten der Gesellschaft machte sich parallel Das Anwachsen
. , ,. • t T~t 1 • n ^^^^ politischen
mit den literarischen Bestrebungen ein verschärftes sozialpolitisches Inter- Interesses.
esse bemerkbar. Schon Herzen, der Rußland, wie man damals annahm, BakuninimAus-
nur für eine Weile verlassen hatte, lenkte seine Schritte nach Frankreich, Jer jungen PoU-
um dort den herannahenden Umschwung von 1848 in der Nähe kennen bürg.
zu lernen. In journalistischen Briefen aus Paris, die würdig sind, den ''"^^^'^ """^ '''
Briefen Heines vmd Börnes an die Seite gestellt zu werden, führte er
dem Leser das innere Leben des erregten Landes und die herrschenden
sozialen Lehren vor Augen. Dieselbe Anziehungskraft übte Frankreich
auf Turgenieff aus, der in den radikalen Kreisen von Paris einem der
8o Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
ersten Führer der ehemaligen philosophischen Gemeinde in Moskau, dem
späteren Apostel des Anarchismus, Michael Bakunin, begegnete. Dieser
war vom orthodoxen Hegelianismus zunächst zum linken Flügel der
Hegeischen Schule und dann zur aktiven revolutionären Arbeit über-
gegangen, die ihn zu den exzentrischen Taten in Baden, Dresden, Prag,
verleitete, und wurde nun neben Herzen ein Vermittler zwischen dem
erwachenden politischen Denken in Rußland und dem europäischen Fort-
schritt. Jedoch auch in Rußland selbst bildeten sich, fast vor den Augen
der Machthaber, Verbände junger Leute, die sich dem Studium der
wichtigsten politischen Theorien widmeten, den Gang der Befreiungs-
arbeit im Westen beobachteten, den für Rußland wünschenswerten Staats-
bau theoretisch ausarbeiteten und die Taktik zu seiner Realisierung ent-
warfen. Der bedeutendste dieser Verbände, dessen Seele Petraschewsky
war, der in seiner kraftvollen Natur an die Besten unter den Dekabristen
erinnerte, verfügte auch über zahlreiche literarische Talente; viele Schrift-
steller der folgenden Periode haben hier ihre geistige Taufe erhalten. Auch
in diesem Kreise war Belinsky die Rolle des Beschützers zugefallen. Bis zu
seinen letzten Tagen lagen ihm, trotz seiner Krankheit, die höchsten Auf-
gaben seiner Zeit am Herzen, und er begrüßte freudig die Versammlungen
der Jugend zur bewußten politischen Tätigkeit. Als aus jenem Kreise
ein erstklassiges literarisches Talent hervorging, das sich der Gruppe
Turgenieff, Nekrassoff, Gontscharoff einfügte, trat der Zusammenhang
zwischen künstlerischem, literarischen Schaffen und dem politischen Denken
noch deutlicher zutage. Dieses Talent war Dostojewsky.
Dostojewski. Er steuerte der Bewegung die ungewöhnliche, nervöse Feinfühligkeit
Seine Charakte- S 6 .s ' fe
risicrung. Seine seines Temperamentes bei, das sowohl auf die Erscheinungen des öffent-
literarischen.
sozialen und liehen Lebens des Volkes als auch auf die Geheimnisse der psychischen
moralpbilosophi-
scbeuinteressen. Welt reagierte, femer seine ekstatische Verehrung der Macht des W^issens,
Sein erster ^ ^ _
Roman. die berufen ist, die Menschheit im Geiste der Brüderlichkeit und Gleichheit
neu erstehen zu lassen, und seine aufrichtige Sorge um „die Erniedrigten
und Beleidigten", deren trauriges Los durch eine ideale Staatsordnung un-
möglich gemacht werden sollte; die Gedanken des jungen Studenten der
Ingenieurschule galten am allerwenigsten seinem Spezialfach, er hing viel-
mehr sozialen Träumereien nach, die mit einer eigentümlichen poetischen
Religiosität verwebt waren, begeisterte sich für die edlen Reden der Helden
Schillers, für die Größe Shakespeares, den Realismus Gogols, sympathisierte
mit den Romanen von Balzac und Eugene Sue, die die Hefe der Gesellschaft
schilderten, ihr Schicksal beleuchteten, ihre Greuel und ihre Gebrechen
aufdeckten, um für die Untergehenden in die Schranken zu treten. Im
Kreise Petraschewskys fand Dostojewsky neue Anhaltspunkte für das,
was in einsamen Grübeleien und bei leidenschaftlicher nächtlicher Lektüre
in ihm wogte und sich zu formen begann. Der erste Versuch Dostojewskys,
sein Roman „Arme Leute", der von einem belehrenden Ton völlig frei
war, jedoch in jeder Zeile der anspruchslosen Erzählung das Mitgefühl für
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. gi
die Parias der Gesellschaft wachrief, war eine Offenbarung: das Thema
war scheinbar von Gogol vorbereitet, auch die beiden handelnden Per-
sonen in ihrer hoffnungslosen Armut und Ergebenheit, die sich trotz ihres
harten Loses menschliche Würde und die Unmittelbarkeit des Gefühls ge-
wahrt haben, sind dem Geiste nach dem Helden einer der besten der
Petersburger Erzählungen Gogols, nämlich des „Mantels" verwandt, doch
ist das ähnliche Thema von dem jungen Romanschriftsteller mit einer
so ergreifenden Innigkeit und ungewöhnlichen Schlichtheit behandelt,
daß diese Erzählung durchaus den Eindruck eines originellen Kunst-
werks machte.
Mit der glanzvollen Erscheinung Dostojewskys war der erstaun- Die ersten
liehe Zufluß von Kräften zur neuen Schule nicht abgeschlossen. Einige rikers'^Sa'itykoC
Gedichte, zwei recht gute Erzählungen, die starke Schlaglichter auf die nung.
herrschende Gesetzlosigkeit und Bestechlichkeit warfen, einige Über-
setzungen aus Byron, sind noch keine literarischen Heldentaten, und doch
mußte der große Satiriker Saltykoff nur um ihretwillen leiden. Er wurde
aus seiner Tätigkeit in brutaler Weise herausgerissen und viele Jahre
lang, bis zum Beginn des neuen Regimes, durch unfreiwillige Dienste
an das ferne Gebiet Wjatka gefesselt, wo auch Herzen die realen
russischen Verhältnisse kennen gelernt hatte. Reich an Erfahrung kehrte
Saltykoff aus der Verbannung zurück. Die ersten bedeutenden Proben
seines Talentes, die „Skizzen aus der Provinz", stammen zwar aus den
Jahren 1856 — 57, doch berührt sich der Dichter seiner geistigen Entwick-
lung nach, die einerseits durch den Einfluß Gogols und Belinskys, anderer-
seits gleich der Dostojewskys durch die französische sozialpolitische Be-
wegung vor der P'ebruarrevolution bedingt war, mit der ruhmvollen Periode
der vierziger Jahre.
Der reformatorische Gedanke scheint damals auch bei den Verfechtern Konzessionen
des alten Regimes Wurzel gefaßt und sie zu Konzessionen im Geiste an den Geist der
der Zeit geneigt gemacht zu haben. Die Regierung, die schon eine ge- schroffer über-
wisse Milde in der Handhabung der Zensur bewiesen und das Anwachsen tion.DasSchick-
der sozialen Energie in der Literatur geduldet hatte, deren Vertreter, Petraschewskys.
Schüler Belinskys wie eines Valerian Maikoff, für die politische Auf-
klärung der Massen kämpften, begann sogar die Befreiung der Bauern
vorzubereiten. Freilich betrieb sie ihre Vorbereitungen in sehr geheimnis-
voller Weise und machte nur rätselhafte Andeutungen, wie zum Beispiel
in der Rede Nikolaus' an die Edelleute, die dem Wunsch „dem Menschen
alles Menschliche wiederzugeben" Ausdruck lieh. Der erschütternde Ein-
druck der Februarrevolution, die aus den wichtigsten europäischen Ländern
fortgesetzt einlaufenden Nachrichten von der Krisis, die die alte Ordnung
durchzumachen hatte, und von der Ausbreitung des revolutionären Brandes
bereiteten jedoch den versöhnenden Tendenzen ein schnelles Ende. Alle
Ansätze zur Neugestaltung wurden wieder aufgegeben, an die Stelle der Duld-
samkeit traten die schärfsten Maßnahmen zur Bändigung der aufrührerischen
Die Kultur der Gegenwart. I. 9. 6
82 Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
Geister, die Literatur wurde von neuem das Opfer einer schonungslosen
Zensur, die Universitätswissenschaften wurden aufs äußerste beschränkt,
die gefährlichen Lehrgegenstände, z. B. die Philosophie, verboten und eine
nur begrenzte Anzahl von Studenten zum Besuch der Hochschulen zu-
gelassen. Die Gefährten Petraschewskys wurden zu Staatsverbrechern
gestempelt; eine weitläufige Untersuchung-, welche die Wurzeln des Übels
aufdecken sollte, endete mit der Verurteilung aller Beschuldigten zum Tode.
Dies Urteil wurde ihnen auf einem öffentlichen Platz bekannt gegeben,
dann aber in Verbannung, Zwangsarbeit und andere Strafen umgewandelt.
Die Maßnahmen gegen die einzelnen Vertreter der Literatur sollten letztere
von den gefahrlichen Elementen befreien. Die Verbannung Saltykoffs hatte
hierzu das Vorspiel gebildet. Dostojewsky, dem auf dem Platze des Seme-
noffschen Regimentes gleichzeitig mit seinen Gesinnungsgenossen das
Todesurteil verkündet worden war, wurde nach Sibirien deportiert, in
jenes „Totenhaus", das seine Gesundheit untergrub, und von dem der
Dichter eine so erschütternde Schilderung gegeben hat. Der jugendliche ,
Pleschtscheew wurde zum Soldaten der Linientruppen an der Grenze der
asiatischen Steppen gemacht. Die Unterdrückung wurde folgerichtig und
energisch durchgeführt; sie währte sieben Jahre lang, bis zur Thron-
besteigung Alexanders IL Die Ruhe war hergestellt, sie glich aber, wie
zu Pauls Zeiten, der Stille des Kirchhofes.
Inmitten des allgemeinen Schweigens pulsierte das Leben nur in der
Die Belletristik schöuen Literatur, die bei der neuen Ordnung der Dinge mehr oder
Reaktion, Die Weniger geduldet wurde. Sie war genötigt, sich von den Banden, die sie
Turgenieffs. mit den sozialen Problemen verknüpften, zu befreien, und wurde zur rein ob-
jektiven Kunst. Doch die Begabung und die zielbewußte Vorbereitung der
bedeutendsten Schriftsteller ließ es nicht zu, daß sie sich dem Leben völlig
entfremdeten. Ihre Studien gingen in die Tiefe, der Roman wurde im
wesentlichen psychologisch und galt der Geschichte der Persönlichkeit.
Diese war aber durch die allgemeinen Lebensbedingungen bestimmt;
die Nachkommen des Lermontoffschen Petschorin, müde, unter der Ziel-
losigkeit des Lebens leidende Schiffbrüchige, erwiesen sich als die Opfer
der Rückständigkeit und der Unterdrückung. Zugleich wurde der Roman
durch eine Fülle neuer Beobachtungen bereichert. So kam Turgenieff,
der nach dem Erscheinen der „Memoiren eines Jägers" in Buchform zu-
erst in Polizeiarrest genommen und dann nach seinem Gute verschickt
worden war, mit der heimatlichen Scholle wieder in engere Berührung,
trat nicht nur dem Leben der Bauern, sondern auch demjenigen der be-
sitzenden Klassen näher und fand darin neue Inspiration für sein S chaffen.
Damals wurden in komplizierten Dispositionen die später ausgearbeiteten
Werke entworfen, die den Übergang von den Miniaturnovellen des Jägers
zu den großen Romanen bilden. In Petersburg, im Arrest, hatte er
noch seine in ihrer Schlichtheit und Innigkeit wunderbare Studie nach
der Natur, die Erzählung „Mumu" geschrieben, einen neuen Beitrag zur
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. 83
Literatur der Emanzipation, doch ließ er dieser rührenden Geschichte vom
armen taubstummen Bauer und seinem einzigen Freunde, einem Hündchen,
keine Versuche der Genremalerei mehr folgen, sondern Erzählungen aus
dem mit dem Bauerntum verwachsenen Leben des Landadels, die wegen
der Feinheit der Analyse und der Einheitlichkeit der Gedankenführung
als Vorläufer seines „Rudin" und des „Adeligen Nestes" zu betrachten
sind. Auch das Talent Nekrassoffs wuchs und reifte; der Sänger des
traurigen Loses des Volkes vermochte zwar nicht sich völlig auszu-
sprechen, doch leuchtet aus seinen Schilderungen des Lebens der arbeiten-
den Klassen, aus seinen lyrischen Improvisationen, die in eigenartige volks-
tümliche Formen geprägt sind, die Stärke seiner humanen Sympathien.
In jener schweren Zeit offenbarte sich das seltene Talent desjenigen Fortschritte <ier
Mannes, der berufen war, an dem Fortschritt der Komödie mitzuwirken, Ostrowsky und
die, seitdem Gogol den Roman zu pflegen begonnen hatte, verwaist war. Schriften
Ostrowsky hatte sich nicht unter dem Einfluß Belinskys entwickelt; ein
Zufall fügte es, daß die Gegner des letzteren, die Slawophilen, dieses ur-
wüchsige Talent entdeckten. Daß es ihnen gelang, in die ersten Arbeiten
Ostrowskys für das Theater Moralisierendes und Theoretisierendes hinein-
zutragen, tut seinem Realismus, der Lebenstreue seiner Milieuschilderungen,
seinem unerschöpflichen Humor und seiner herrlichen Sprache keinen
Abbruch. Er debütierte mit einem Theaterstück, wie es mancher andere
erst beim Abschluß seiner Laufbahn zu leisten vermag. Ostrowsky war
in jenem patriarchalischen Teil Moskaus aufgewachsen, der mit einer rück-
ständigen, vorsintflutlichen Kaufmannschaft bevölkert war, inmitten zweifel-
hafter, kommerzieller Manöver, die sein Vater, ein im Handelsressort be-
schäftigter Anwalt, überwachen mußte, und er hatte Gelegenheit gehabt,
die Menschen und Sitten jener Kreise-, die in den „male bolge" der
Hölle Dantes ihre Stelle hätten finden können, kennen zu lernen. In
seiner Komödie „Der Bankrott" brachte er ihre Schliche ans Tageslicht
und wurde in bezug auf die bisher von der Literatur unberührte kauf-
männische Sphäre in derselben Weise zum Entdecker, wie es Turgenieff
in bezug auf die Bauernschaft gewesen war. In Ostrowskys Stück wurde
keine einzige politische Frage behandelt, auch gab es darin keine gefähr-
lichen Reden über gesellschaftliche Gebrechen und über die Notwendig-
keit, ihnen ein Ende zu bereiten, doch lag in der Geißelung einer der
Stützen der alten Ordnung so viel verborgene Kraft, daß die Hüter dieser
Ordnung sich durch das unbedingte Verbot des Stückes für die Bühne
rächten. Wiederum wuchs ein Talent, das die Epoche der Reaktion er-
leben mußte, trotz aller poliz?eilichen Aufsicht, mit jedem Werke. Der Fall
des alten Regimes fand Ostrowsky gerüstet. Nachdem er mit seinen ehe-
maligen Lehrmeistern gebrochen hatte, stürzte er sich in den Strudel der
aufklärenden und reformatorischen Bewegung der sechziger Jahre. schichte seiner
Der große geistige Vorrat der vorangegangenen, an Aufregvmgen nTcb'seine?
reichen Epoche unterstützte offensichtlich die Schriftsteller, die an der Spitze E^Sungen.
84
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
der literarischen Entwicklung standen, in ihrer schöpferischen Arbeit. Die
Reaktion wäre sonst zweifellos imstande gewesen, mit ihrem giftigen Atem
jedes aufstrebende Talent zu ersticken, dessen Jugend in die Periode ihrer
Herrschaft fiel. In der allertrübsten Zeit offenbarte sich die Volkskraft in
einer unerwarteten Erscheinung, in einem der bedeutendsten Schriftsteller
nicht nur Rußlands, sondern der ganzen Welt, nämlich in Leo Tolstoi.
Er hatte sich einsam entwickelt und stand den Ideen und Unruhen jener
Epoche fem. Zur Zeit des Umschwunges vom Liberalismus zur Reaktion
und zum Stillstande im sozialen Leben war er noch jung und allzusehr
durch seine persönlichen Erlebnisse in Anspruch genommen gewesen.
Belinsky stand nicht mehr im Zenith seiner einflußreichen Wirksamkeit.
Die literarischen, sozialen und sittlichen Anschauungen Tolstois scheinen
sich unabhängig von Raum und Zeit geformt zu haben. Für die Poesie, die
Phantasie, den Kultus der Schönheit, hatte er nur Hohn oder Verachtung.
Die Wissenschaft, die ihre Geheimnisse weder dem Schüler fremdländischer
Hauslehrer, noch dem Studenten einer der mangelhaftesten Universitäten,
nämlich der Kasanschen, offenbart hatte, der in fieberhafter Unruhe von einer
Fakultät zur andern überging, um schließlich das akademische Studium auf
halbemWege abzubrechen, die Wissenschaft flößte ihm wegen ihrer Ziellosig-
keit, Leblosigkeit und Pedanterie die gleiche Verachtung ein. Frühzeitig
verwaist und dem Drange seiner Neigungen preisgegeben, schwamm er mit
dem Strom und opferte einige Jahre seiner Jugend und Frische dem Epi-
kuräertum des weltlichen und gutsherrlichen Lebens. In der reumütigen,
schonungslos scharfen Beleuchtung der späteren „Beichte" erscheint diese
Zeit in tiefste Finsternis gehüllt; sie war dem „Egoismus, der Eitelkeit
und der Sinnlichkeit" geweiht, sie beraubte ihn des ihm in der „fried-
vollen, poesiereichen Kindheit" anerzogenen religiösen Gefühls; „kein
Laster, keine verbrecherische Handlung blieb damals unversucht, was die
Angehörigen seines Kreises nicht hinderte, ihn dennoch für einen recht
moralischen Menschen zu halten". Jedoch weder der Lebensüberdruß von
Puschkins Onegin, noch das Dämonenhafte eines Petschorin waren das
Ergebnis dieses stürmischen Lebensgenusses. Inmitten des Chaos däm-
merte das Licht der Wiedergeburt. Die Selbstanatyse setzte ein; dunkle
Neigungen und Gedanken über den Sinn und die Ziele des Lebens, die
ihm, wie er in den kürzlich erschienenen, hochinteressanten Fragmenten
seiner Memoiren bezeugt, schon in der Kindheit aufgetaucht waren, kämpften
mit den Einflüsterungen des Egoismus; immer deutlicher fühlte er die
Bande, die ihn mit dem unglücklichen, geknechteten Volk, in dessen Mitte
er seit seiner frühen Jugend gelebt hatte, verknüpfte. Aus einer system-
losen Lektüre, die sowohl Puschkin, Gogol, Lermontoff, als auch Montes-
quieu, Rousseau, Sterne und Dickens galt, begannen ihm Anregungen zu
erwachsen, die ihn auf eine neue Bahn wiesen. Rousseau, der Tolstoi
seit seinen Jugendjahren gefesselt hatte und der bis auf den heutigen Tag
seinen Zauber auf ihn ausübt, offenbarte sich ihm in seiner Predigt von
B. Die erste Hälfte des ig. Jahrhunderts. II. Das Zeitalter Nikolaus' I. 85
der Brüderlichkeit, der Rückkehr zur Natur, der Vereinfachung des Lebens
und der sittUchen Vervollkommnung'. Es trieb Tolstoi fort aus dem Milieu
und von den Menschen, denen er die Verderbnis seiner Seele verdankte.
Für einen radikalen Versuch, das Leben nach völlig anderen Prinzipien
neu zu gestalten, war die Zeit noch nicht gekommen; für die Freigebung
seiner Bauern, wodurch ihm eine schwere Sünde von der Seele genommen
worden wäre, fehlte ihm noch das richtige Verständnis und die nötige
Energie, doch mit der Befreiung seiner selbst durfte er nicht zögern. Die
Rückkehr seines älteren Bruders aus dem Kaukasus, wo er im Heere
gedient hatte, veranlaßte ihn plötzlich, im Jahre 1851, der vornehmen
Welt Valet zu sagen und sich in die Abgeschiedenheit der kaukasischen
Berge zurückzuziehen.
Durch viele Generationen war dies der Weg, der verfehlte und über- Tolstoi im Km-
kasus, im
flüssige Existenzen zum Heldentod im Kampfe mit den Bergbewohnern Türkenkriege
o "1 1 r"i T X 1 • 1 und bei Sebasto-
oder doch zur kriegerischen Stählung rührte; dieses Los schien auch poi.
Tolstoi beschieden zu sein: der künftige Apostel des Friedens, der große
Ankläger des Krieges ist nicht leicht im Volontär-Artilleristen oder dem
späteren Kanonier, den das Schicksal in eines der unbedeutendsten
Kosakendörfer des nördlichen Kaukasus an der Grenze des Tscherkessen-
landes verschlagen hatte, wiederzuerkennen. Auch der junge Offizier
verrät ihn nicht, der sich nach seinen eigenen Worten an dem großartigen
Kampfe bei Silistria während des Türkenfeldzuges nicht satt sehen konnte,
oder der während der Belagerung Sebastopols „Gott dafür dankte, daß
es ihm vergönnt sei, so viel Heldenmut zu sehen und in einer so ruhm-
vollen Zeit zu leben", und der meinte, „daß das Bombardement vom
5. November die glänzendste und ruhmvollste Tat nicht nur der russischen,
sondern auch der Weltgeschichte sei . . ." Offenbar bedurfte es dieser
letzten Lehre, um die begonnene Umbildung Tolstois für alle Zeit zu
sichern und ihn einen Ausweg finden zu lassen.
Mit dem Kaukasus stehen jedoch nicht allein die vorübergehenden Die icrzahiung
„Die Kosaken"
militärischen Neigungen Tolstois in Zusammenhang. In der primitiven als Markstein
eines seelischen
Umgebung, in der er sich dem kriegerischen Berufe widmete, kamen ihm Wendepunktes
die ersten Inspirationen und Ideen, die sich in der Folgezeit zu einer
selbständigen Lehre entwickeln sollten. Eine der besten Erzählungen
Tolstois „Die Kosaken", die viel später, im Jahre 1860, in Hyeres in
Frankreich geschrieben worden ist, jedoch mit der im Kaukasus zu-
gebrachten Zeit im engsten Zusammenhang steht und durchaus autobio-
graphischen Charakter hat, spiegelt das damals Erlebte und Empfundene
deutlich wieder. Auf den Helden der Erzählung, Olenin, der sich vom
lauten, lockeren städtischen Treiben losgerissen hat, macht das naive,
unberührte Leben im Kosakendorf an der Grenze Rußlands einen starken
Eindruck. Die dort herrschenden Gebräuche und Sitten, der arglose
kriegerische Heldenmut, die physische und sittliche Kraft, die Unbefangen-
heit des Gefühls, das der Natur angepaßte Leben, die harmonischen Ge-
85 Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
sänge des Volkes, das alles ist ihm neu und erhebt sein Gemüt. Es ist nicht
leicht, in diese verschlossene Welt einzudringen, doch fühlt er sich leiden-
schaftlich zu ihr hingezogen; die Liebe zu einem jungen Kosakenmädchen,
die mit elementarer Gewalt in ihm aufflammt, verstärkt sein Verlangen
mit der Vergangenheit zu brechen und unter den schlichten Menschen,
die von den Gebrechen der großen Welt frei sind, ein neues Leben zu
beginnen. Das alles sind Stimmungen und Gedanken, die der Verfasser
selbst durchlebt hat. Die Darstellung des ersten Versuches Tolstois, sein
Leben zu vereinfachen, die mit vorzüglichen nach dem Leben gezeich-
neten Porträts aus dem Volke und prachtvollen Schilderungen der Natur
des Kaukasus, die ihn in ihrer Majestät tief ergriffen hatte, geschmückt ist,
gewährt einen tiefen Einblick in die Entwicklungsgeschichte seiner Seele.
Das Mißlingen einer Annäherung an das Volk, die romantische Episode,
die darin ihren Abschluß fand, daß der verwöhnte Bezwinger von Frauen-
herzen einem schlichten, tapferen Kosaken das Feld räumen mußte, die
traurige Entdeckung, daß sich hinter dem scheinbaren Vertrauen und der
Freundschaft der Kinder der Natur Berechnung und Argwohn verbargen,
schließlich die sich ihm aufdrängende Notwendigkeit, seinem Traum zu
entsagen und fortzugehen, ohne zurückzuschauen — das alles ist ein Ge-
misch von Dichtung und Wahrheit, in dem die Hoffnungen und Zweifel
eines Menschen vibrieren, der auf der Grenzlinie zweier Welten steht
und das für ihn unerreichbare gelobte Land vor sich liegen sieht.
„Kindheit" un.i Doch die Arbeit der Selbstanalyse ließ, bevor sie in dieser künst-
lerisch abgefaßten Beichte zum Ausdruck kam, in Tolstoi noch während
seines Aufenthaltes im Kaukasus den Plan reifen, sein ganzes Leben in
der Erinnerung durchzublättern und den Verlauf der „vier Lebensalter"
zu reproduzieren. In den Ruhepausen zwischen kriegerischen Expeditionen,
inmitten von Mühen und Gefahren, trug ihn die Phantasie in seine Kind-
heit zurück, rief Gefühle und Gedanken wach, die damals in ihm lebendig
gewesen waren, versetzte ihn in die Übergangszeit der ersten Jugendjahre
mit ihren Zweifeln, Träumen, Verfehlungen und Schroffheiten, der be-
ginnenden Entwicklung seines noch unsteten Charakters. Die beiden
ersten Lebensperioden, die „Kindheit" imd die „Knabenjahre", deren auto-
biographischer Bearbeitung Tolstoi sich zunächst unterzogen hatte, schickte
der Anfänger auf dem Gebiete der Literatur ohne Namensnennung, nur mit
seinen Initialen versehen, an den „Zeitgenossen". Wie die ersten Versuche
Gontscharoffs und Dostojewskys machte auch das Erstlingswerk Tolstois
einen starken Eindruck und ließ ein vielversprechendes literarisches Talent
erkennen. Der Verlust Gogols war noch nicht verschmerzt, die Kunde
vom Tode des Mannes (1852), der das energische Wollen zu entflammen
gewußt hatte und selbst geschwächt und seelisch zerschlagen der finsteren
Askese anheimgefcillen war, hielt die Geister noch in Erregung, als im
Juni desselben Jahres die „Kindheit" erschien und neue Hoffnungen auf
die Fortentwicklung der Literatur erweckte. Mit einem kargen Material
B. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. 11. Das Zeitalter Nikolaus' I. 8?
ausgerüstet, ohne den Rahmen der Darstellung des Seelenlebens eines
Kindes zu verlassen, unter Vermeidung alles Effektvollen, Sentimentalen
und Moralisierenden, ohne irgendwelche Vorbilder zu haben, trug der
Verfasser, indem er sich ausschließlich auf Selbstanalyse stützte, über
eine fest gefügte Geschmacksrichtung, die auf romantischen Erfindungen,
dem Heldentum Byrons und der sozialen Satire basierte, den Sieg
davon. Abgesehen von einer leichten Retouche und wenigen Zusätzen
offenbarte er das, was er gesehen und erfahren, was ihm sein künst-
lerisches Gedächtnis bewahrt hatte. Seine später erschienene „Jugend"
blieb ein unvollendeter Torso; die autobiographische Aufgabe, die sie er-
füllen sollte, ist in der Folge in einer ganzen Reihe von Werken, ein-
schließlich der „Kreutzersonate", erledigt worden. Angeregt durch die
Bekenntnisse des genialen Schriftstellers aus seinen Kindheit- und Knaben-
jahren entstand in der Weltliteratur bald eine ganze Gruppe kinderpsycho-
logischer Darstellungen, doch hat sich das Erstling'swerk Tolstois bis zu
dem heutigen Tage eine erstaunliche Frische und unnachahmliche Origi-
nalität bewahrt. Die unklaren Regungen und Träume des Knaben sind
das einleitende Kapitel zur Geschichte des komplizierten Entwicklungs-
ganges der Seele eines der Lehrer der Menschheit.
Der Name Tolstois beschließt eine Reihe der bedeutendsten Ute- Neue Kritiker,
rarischen Persönlichkeiten, älterer und ganz junger Kräfte, die das ver- schewsky.
antwortungsvolle Amt auf sich genommen hatten, die Überlieferungen der Journalistik.
Literatur inmitten der Herrschaft der Reaktion zu überwachen. Ihnen nehmen des
wurde die Unterstützung einer ihrer würdigen Kritik nicht zuteil; die
Nachfolger Belinskys erwiesen sich als nörgelnde Pedanten, die für die
Ideen ihrer Zeit gar kein Verständnis hatten, vor ihnen zurückschreckten
und den Wunsch hegten, die Literatur wieder in das sichere Fahrwasser
der objektiven Kunst zu lenken. Erst am Schluß dieser Periode erstand
der Journalistik in der Person eines jungen Lehrers, der aus dem Kreise
der Provinzgeistlichkeit stammte und ins arbeitsreiche Leben eines Peters-
burger Pädagogen eine heiße Liebe zur Wissenschaft und gediegene
Selbstbildung, der die Routine der Universität nicht genügte, mitgebracht
hatte, wieder ein begabter Kritiker. Als der Name Tschernischewsky
auf den Seiten des Nekrassoffschen „Zeitgenossen" zu erscheinen begann, fand
das klägliche Interregnum der literarischen Kritik sein Ende, indem aus
einer Reihe von Abhandlungen über die nach Gogol benannte Periode
der Literatur von neuem eine führende, erziehende Stimme ertönte. Das
Schicksal dieser Abhandlungen bietet anschauliche Beweise für die be-
stehenden anormalen Verhältnisse und die Unduldsamkeit der Zensur. Sie
verstümmelte die Abhandlungen nicht nur, sondern verbot auch den Namen
Belinskys zu nennen. Letzterer durfte nur unter der umschreibenden Be-
zeichnung eines „Kritikers der Epoche Gogols" zitiert werden. Überhaupt
wurde es immer schwieriger, sich über irgendein beliebiges Thema zu
äußern; die Politik der Bezähmung der Geister führte zu einer ungeheuren
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
eineFolgen,
Vermehrung der Zensuren, die bei allen erdenklichen Behörden eingeführt
und auf diese Weise in den Stand gesetzt wurden, kein wahres Wort
über diese Institutionen laut werden zu lassen. Schließlich gab es nicht
weniger als siebzehn Zensuren.
Während die öffentliche Meinung zum Schweigen gebracht worden
war, wurde unter dem Einfluß des selbstzufriedenen Militarismus, der sich
die ersten Stellungen im Staate zueigen gemacht hatte, und der religiösen
Herrschsucht, die nach der Macht im Orient strebte, der unglückselige
Türkenkrieg unternommen, der in einen hoffnungslosen Kampf mit einer
starken europäischen Koalition ausartete. Der früher in Zusammenstößen
mit unkultivierten Gegnern oder mit den Volksheeren Polens und Ungarns
leicht erworbene Kriegsruhm wurde Nikolaus untreu — sein glücklicher
Stern war untergegangen. Zwar bewiesen zahllose Heldentaten die Un-
erschöpflichkeit der geistigen Stärke des Volkes, die sich trotz aller
Unterdrückung erhalten hatte, doch vereinigten sich die Unfähigkeit der
Heeresleitung, der völlige Mangel an Kriegsbereitschaft, die Rückständig-
keit der militärischen Organisation, entsetzliche Unterschlagungen und
Veruntreuungen, um das Land, nachdem es sich in dem Wahn gewiegt
hatte, die führende Rolle in der Weltpolitik zu spielen, die Schmach
eines feindlichen Einfalles, die heldenhafte aber fruchtlose Verteidigung
Sebastopols und einen drückenden Friedensschluß erleben zu lassen. Der
alte morsche Staatsbau, der zuschanden geworden war, erzitterte in
seinen Fugen, der klägliche Zusammenbruch seiner hochmütigen An-
sprüche spannte den wachsenden Unwillen der Bevölkerung aufs äußerste.
In den Reihen der Verteidiger Sebastopols, die für ihr unglückliches
Vaterland starben, wurden die ersten Anklagen gegen die Anstifter
alles Unheils laut — die von Leo Tolstoi und einigen jungen Kriegs-
genossen im volkstümlichen Ton verfaßten satirischen Lieder, die die
unfähigen Generäle Nikolaus' verspotteten.
Das Nahen eine
Periode der
sozialen Wiedei
geburt.
Alexander 11.
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.
(Von Alexander II. bis zur Gegenwart.)
I. Epoche der Reformen. Es war allen ersichtlich, daß die Befreiung
nahte. Die lange gefesselten Volkskräfte drängten der Freiheit entgegen;
das Erwachen zu einem tätigen Leben nach der Lethargie war süß und
erweckte schöne Hoffnungen; wie am Schluß der .Schreckensherrschaft
Pauls und zu Beginn der Ära Alexanders I. herrschte eine optimistische
Stimmung. An der Notwendigkeit radikaler Reformen konnte kein Zweifel
bestehen, der Hauptschuldige an der neuen Katastrophe, die er zu über-
leben nicht imstande war, hatte dies schon vor 1848 eingesehen. Die
grausame Lehre, die sie erteilte, persönliche Erfahrungen und die Er-
kenntnis der Schädlichkeit des alten Systems, der Selbsterhaltungstrieb,
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. gg
die zwar nicht wissenschaftlich pädagogische, aber humane Erziehung,
die der Dichter Shukowsky dem nachmaligen Alexander II. vor den
Augen seines strengen Vaters zuteil werden ließ, endlich die Probleme,
die innerhalb des Lebens der Gesellschaft und der Literatur erwuchsen
— alles dies prädestinierte diesen Prinzen zum Befreier und Friedens-
fürsten. Umgeben von den Helfershelfern und Kreaturen seines Vor-
gängers, vor deren Überzahl die wenigen Anhänger des neuen Regimes
weichen mußten, wie einstmals die Mitglieder des Comite de salut publique
unter Alexander I. vor den unwissenden Reaktionären, die Katharina
und Paul überlebt hatten, hat Alexander IL, der keine genügende
Willensstärke besaß und anfangs kein klares Programm aufgestellt hatte,
die auf ihn gesetzten Hoffnungen zuerst nicht voll erfüllt. Die vorsich-
tigen Schritte zur wichtigsten reformatorischen Tat — der Befreiung der
Bauern — wurden erst zwei Jahre , nachdem das neue Regime ans
Ruder gekommen war, unternommen, und es kostete einen fünf Jahre
langen bitteren Kampf zwischen den liberalen Elementen der Gesellschaft
und dem Bunde des reaktionären Adels und der alten Hofpartei, ehe die
Reform zur Durchführung gelangen konnte. Wenn aber auch die Neu-
gestaltungen noch lange keine festen Formen annahmen, so war doch die
Richtung der inneren Politik durch eine gewisse Duldsamkeit Forderungen
und Auffassungen gegenüber, sowie durch einige Zugeständhisse an die
Bildung und durch die Bereitschaft gekennzeichnet, Mißbräuche, die sich
während der früheren Regierung eingebürgert hatten, der Kontrolle der
Öffentlichkeit anheimzugeben, wodurch eine Neuordnung des Lebens vorbe-
reitet werden sollte. Die liberalen Anschauungen in Taten umzusetzen, war
nicht leicht; die allmächtige bureaukratische und militärische Partei lei-
stete bei den ersten Versuchen Widerstand; sie protestierte und suchte
auch fernerhin die Befreiungsbewegung aufzuhalten. Unter diesen unsteten
Verhältnissen mußte die Literatur bis zum Jahre 1866 sich durchringen,
als zwar nicht die lang ersehnte Preßfreiheit, wohl aber gewisse Erleich-
terungen gewährt wurden, die sich in einem Aufschwung der Publizistik
kundgaben. Allerdings mußten auch sie, gleich den übrigen Reformen,
bald einschränkende Bestimmungen über sich ergehen lassen.
Dennoch war der Wert der Umkehr so bedeutend, daß das Ende wieder-
des unglückseligen Krieges und der Herrscherwechsel als der Beginn Liberalismus.
einer neuen Epoche auch in der Literatur betrachtet werden kann. Vor Kekabristenund
. anderer Ver-
allen Dingen wurde eine Verbindung mit den besten Vertretern einer bannten
früheren Periode, die in der Verbannung schmachteten, hergestellt. Die- Saitykoff). '
jenigen Dekabristen, die die Befreiung erlebten, kehrten aus Sibirien und
vom Kaukasus zurück. In dem ehrfurchtgebietenden Zuge der ergrauten
Patriarchen der Freiheit, die sich das Heiligtum ihrer Überzeugungen
gewahrt hatten, lag etwas sittlich Erhebendes. Auch ihre jüngeren Nach-
folger, die Opfer der Unterdrückungen der vierziger Jahre, Saitykoff,
Dostojewsky, Pleschtscheew, der Dichter Schewtschenko, der bedeutendste
QO
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
Repräsentant der selbständig- sich entwickelnden kleinrussischen Litera-
tur, konnten endlich Wjatka, Sibirien oder das kaspische Gebiet ver-
lassen und ihre ung-ebrochenen Kräfte, ihre ganze Energie wiederum in
den Dienst der literarischen Arbeit stellen, während die greisen Deka-
bristen für die neue Gesellschaft zu Reliquien wurden. Außerdem tauch-
ten ganz neue Menschen auf.
Die Deraokrati- Dic Veränderung in dem Bestände der literarischen Kräfte, die sich
ratur in 'ihren bereits früher bemerkbar gemacht hatte, tat sich nun, da alles, was Leben
in ihren Auf- uud Begabuug in sich fühlte, zur Mitarbeit berufen schien, in einem Zu-
fluß von Talenten aus allen Schichten der Gesellschaft kund. Schon da-
mals als Belinsky, der Sohn eines Arztes, oder der schlichte Bürger Kolzoff
gleichwertige Mitglieder der russischen „Republique des belles lettres"
wurden, hatte die Demokratisierung der vornehmen Literatvu:, deren füh-
rende Geister Leute privilegierter Stände und feiner Bildung waren, be-
gonnen; jetzt fand plötzlich eine Überflutung mit demokratischen Ele-
menten statt, die dem Schriftstellertum Kräfte aus bisher unberührten
Volksschichten zuführte. Auch die Themata und Probleme der Lite-
ratur wurden sämtlichen Gesellschaftsklassen entnommen. Es genügte
nicht mehr, für die Geringen und Enterbten einzutreten, wie es früher
menschenfreundlich gesinnte Kreise getan hatten. Jene sollten für sich
selbst reden, ihr Leben und ihre Bedürfnisse sollten durch sie selbst
offenbar werden. An die Stelle der problematischen Naturen, der dämonen-
haften Helden, der „Überflüssigen", traten nun arbeitende Menschen, denen
ein dunkles, freudloses Dasein beschieden war, die den Lebenskampf
des Alltag-s kämpften. Gogols Studien hatten nicht alle Lebensformen
umfaßt, die neuen Welten, die Turgenieff und Ostrowsky erschlossen
hatten, konnten nur als ein Präludium gelten — mm sollte sich das
ganze Leben in der Literatur spiegeln. Die nivellierende Bewegung,
die in den sechziger Jahren begann, ist von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ge-
wachsen, um in der Gegenwart zur Hefe der Gesellschaft herabzusteigen
und ihre Leiden, ihr Elend sowie ihre Rache zu beleuchten.
DieEnt^yicklung Mit der Schilderung der nackten Wirklichkeit war eine eifrige Be-
sehen Arbeit, arbeitung der Probleme, die sie nahe legte, verknüpft. Während ihre
seine „Glocke". Behandlung früher für unerlaubt und g'efährlich gegolten hatte, nahm
scbaftiichen slc uunmchr eine hervorragende Stelle im Leben des Volkes ein. Freilich
Unteisuchungcii ,,,,. .... ,.,Ty j
in Rußland. Der versuchte mau schon bald, sie zu unterdrucken und in den Hintergrund
laktenWisscM- ZU drängen — jedoch ganz ohne Erfolg. Die Gedanken, die sich inmitten
retrograder Strömungen in den Geistern lebendig erhalten hatten, die
freiheitlichen Ideen, die vom Westen her ins Land eingedrungen waren, er-
blühten unter dem Einfluß der europäischen Sozialwissenschaften und der
sozialen Praxis. Die erste freie russische Druckerei, die Alexander Herzen
in London geschaffen hatte, seine Zeitschrift „Der Polarstern" und die leiden-
schaftliche publizistische Zeitung „Die Glocke", vor deren erbarmungslosen
Anschuldigungen alles erbebte, was die alte Ordnung in Rußland zu ver-
schafte
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. qi
teidigen wagte, ergänzten in kraftvoller Weise die schwere Arbeit der nur
teilweise befreiten russischen Presse. Die reiche Begabung Herzens offen-
barte neue Seiten. Dank ihm erstand endlich die politische Journali.stik.
Die bürgerlichen Wirren während der Revolution von 1848 in Frankreich
hatten ihn tief erschüttert, und da ihm der Glaube an die Heilkraft des
europäischen Liberalismus verloren gegangen war, verband er von nun
an mit seinem Anklägeramt schöpferische Arbeit, indem er in dem histo-
rischen Entwicklungsgang des russischen Volkes jene Grundlagen zu er-
forschen suchte, auf welchen ohne starke Erschütterungen die Realisierung
der großen Aufgaben des Sozialismus möglich wäre. Die bevorstehende
Befreiung der Bauern veranlaßte auch die heimatliche Journalistik zu
derartigen Studien — soweit sich dies bewerkstelligen ließ. Indem sie
die Leser in das Wesen des Systems Robert Owens einweihte, die „Natio-
nalökonomie" John Stuart Mills (in der Bearbeitung Tschernischewskys)
frei kommentierte und die soziale Bewegung in Deutschland samt der
Tätigkeit Lassalles aufmerksam verfolgte, schuf sie zugleich eine ganze
Literatur nationalökonomischer und juristischer Werke über den gemein-
samen Grundbesitz der Bauern und über andere Spezialfragen der Volks-
wirtschaft.
Gleichzeitig mit der Ausbreitung sozialpolitischer Ideen erblühten die
exakten Wissenschaften, die einerseits wegen ihrer positiven Ergebnisse,
andererseits wegen des Einspruchs, den sie veralteten klerikalen Anschau-
ungen und der Unduldsamkeit in Fragen der Moralität gegenüber er-
hoben, besonders wertvoll erschienen. Unter ihrem Einfluß schwand alles
Wahnhafte, Chimärische, das die Geister bedrückte. Das Tatsächliche,
Gemeinnützige, das was eine vernünftige Wirklichkeit schafft, .sollte nun
die alten Lebensformen ersetzen. Sogar Tschemischewsky hielt es da-
mals für zweckmäßig, in dem Roman „Was tun?" seine Ansichten über
eine künftige normale Ordnung der Dinge dem lesenden Publikum in
belletristischer Form auseinanderzusetzen. Einer der begeisterten An-
hänger der Bewegung, der junge und phänomenal begabte Kritiker
Pissarew, hielt den Realismus in der weitesten Bedeutung des Wortes
für ihre Lösung. In einer solchen geistigen Atmosphäre konnte die Lite-
ratur nur eine ausgesprochen realistische Richtung einschlagen, um so
mehr als sie durch das Vermächtnis der Schule Gogols hierzu prädesti-
niert war.
Schon die ersten Erzeugnisse der neuen Periode tragen dieses Ge- uie wichtigsten
° ° Ergebnisse der
präge. Die „Skizzen aus der Provinz" von Saltykoff schildern die Fäulnis Entwickiungs-
. - T-i • o ^-^ L;escbichte des
und Finsternis des Provinzlebens; später schwang der Satiriker seine Geißel Romans der
gegen die Gewissenlosigkeit und Gesetzlosigkeit, gegen den falschen Glanz saitykoff. Dosto-
der großstädtischen Kreise, die den Reformen gegenüber in feindseliger Hai- „Memoiren aus
tung verharrten. Ostrowsky befreite seine urwüchsige Begabung von den iiausc.
Fesseln des ihm aufgezwungenen Joches einer nationalen Idealisierung
altrussischer Prinzipien und gab, nachdem er eine Reise ins Innere Rußlands
92
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
gemacht und dasselbe so gesehen hatte, wie es tatsächlich war und nicht
wie es unter dem Gesichtswinkel der Slawophilen erschien, in dem Stücke
„Die Pflegetochter" eine Schilderung der Unmenschlichkeit der Leibeigen-
schaft. In seinem ergreifenden Drama „Das Gewitter" führte er den Zu-
schauer in die Tiefen einer entlegenen, in Unwissenheit, Unduldsamkeit
und Roheit verkommenen alten Stadt, in deren Atmosphäre „helle Licht-
strahlen" wie die Heldin des Stückes, die nur im Selbstmord einen Aus-
weg findet, erlöschen und untergehen. Dostojewsky kehrte mit einer er-
schütterten Gesundheit, mit kranken Nerven, mystischen Träumen und
einer Vorliebe für die finsteren Seiten des Daseins aus Sibirien zurück,
doch hatte er die „Memoiren aus einem Totenhause" in Händen, jene
Anklageschrift gegen das ganze barbarische System des Gerichts und des
Strafverfahrens. Diese Beichte eines Menschen, dessen einzige Schuld
in der Unabhängigkeit seiner Gesinnung bestanden hatte und der für vier
Jahre mit Mördern und Verbrechern zusammen eingesperrt worden war
(später mußte er als Soldat in Sibirien dienen), ist voll so ungekünstelter
Wahrheit, daß der Leser von den Schilderungen des Lebens der Aus-
gestoßenen, Unglücklichen, Elenden und Verlorenen geradezu überwältigt
wird. Die neuere europäische Literatur besitzt nicht wenig Memoiren
und Beichten von Gefangenen und künstlerische Schilderungen des
Gefängnislebens; auch in der modernen russischen Literatur hat nach
Dostojewsky der talentvolle Dichter Jakubowitsch (Melschin) über seine
Erfahrungen, die er im Gefängnis gesammelt hatte, berichtet, und Tschechow
hat eine Beschreibung der Insel Sachalin, auf der Verbannte angesiedelt
wurden, geliefert, in der uns die bleichen Schatten trauriger oder Ent-
setzen erregender Menschen in großer Zahl entgegentreten. Doch in der
Reihe derartiger Schöpfungen werden die Erinnerungen Dostojewskys
stets ihre selbständige und hervorragende Bedeutung behalten. Indem
er den wahren Grund seiner Verbannung, daß es ein politisches Ver-
brechen war, verbarg und der Erzählung die Form von Aufzeichnungen
eines ihm Unbekannten gab, der wegen der Ermordung seiner Frau zur
Zwangsarbeit verurteilt worden war, nahm er ihr jedes persönliche Mo-
ment; auch die rührende Poesie der Selbstverleugnung und Religiosität,
welche „I miei prigioni" Silvio Pellicos erfüllt und zu dessen ehemaligem
Leben im Dienste der Freiheit seines Vaterlandes in Gegensatz tritt,
fehlt hier vollständig. Es finden sich auch keine Äußerungen des Un-
willens, keine scharfen Verurteilungen, keine Appellationen an die Mensch-
lichkeit, keine bestimmten Forderungen von Reformen; in ungewöhnlich
schlichter Weise entrollt sich vor unseren Augen das Bild des Lebens
im „Totenhause" mit all seiner Bitterkeit und seinem Leid, mit seinen
kurzen Lichtblicken und naiven Freuden; eine lange Reihe Menschen
zieht an uns vorüber, wir hören ihre Stimmen, ihre groben Reden und
vernehmen das Stöhnen grausam Gestrafter, die nach 2000 Knuten-
hieben halbtot in das Gefängnisspital geschafft werden. Das ist kein
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. gj
Roman, obgleich der Verfasser das Werk in der Überschrift so nennt,
kein belletristisches Pamphlet, keine tendenziöse Anklageschrift, doch er-
tönt aus der Wiedergabe des Erlebten und Gesehenen der Ruf nach
Brüderlichkeit und sozialer Gerechtigkeit. Von Zeit zu Zeit dringen Licht-
strahlen durch die Finsternis; der Verfasser will nicht wie seine Vorgänger
Eugene Sue und Dickens unter allen Umständen einen göttlichen Funken
in der Seele des Verbrechers entdecken, doch übersieht er nicht die ein-
fachen freundschaftlichen Beziehungen, die ihn mit einigen Zwangsarbeitern
verbanden, und vergißt nicht das Aufleuchten von Zärtlichkeit und Mit-
leid inmitten einer Umgebung, die ihm, dem „Adligen", wie sie ihn
nannten, größtenteils feindselig gegenüberstand. In Freiheit gesetzt,
trauert er nicht wie der Gefangene von Chillon um das verlassene
Gefängnis, schließt aber seinen düsteren Bericht in schmemiütiger Stim-
mung ab.
Indem er sich auf dies Gebiet begab, das noch kein russischer Schrift-
steller berührt hatte, folgte Dostojewsky einmal den menschenfreundlichen
Neigungen seines ehemaligen Kreises und dem Triebe seiner eigenen Näch-
stenliebe, die in der Folgezeit einen krankhaften Charakter annahm, so
daß er sogar in den letzten Jahren vor seinem Ende seine Verurteilung
zur Zwangsarbeit um der Erleuchtung willen, die seinem Geiste durch sie
zuteil geworden war, segnete. Gleichzeitig entsprach er damit aber auch der
traditionellen, weichen Volksstimmung den Arrestanten, Gefangenen und
namentlich den nach Sibirien Verbannten gegenüber, die die schlichten Leute
als „Unglückliche" betrachten, denen zu Hilfe zu eilen sie immer bereit sind.
Eine solche Vertiefung in die Welt des Verbrechens, vmd eine solche Ver-
schmelzimg mit der Volksseele hatte der Realismus Gogols, der doch so
kraftvoll und allumfassend schien, nicht gekannt.
Inmitten der allgemeinen Wiedergeburt machte die literarische Evo- Neue Emwicic-
lution große Fortschritte. An erster Stelle stand der Roman, der für der Kunst Tur-
geniefFs.
lange Zeit dominierende Bedeutung gewann. Er brach mit den überlebten, „Rudin-, „Das
^ ^ ^ , ,. Adelsnest" und
verblaßten Typen des schiffbrüchigen Helden und der unverstandenen, dahm- „Am Vorabend".
welkenden Frau und widmete sich der Erforschung uud Darstellung neuer
Lebenserscheinungen der Gesellschaft. Turgenieff, den das Erwachen
des Vaterlandes mit neuen Kräften zu beleben schien und der eine Zeit-
lang sogar bereit war, die Dichtung mit der praktischen Publizistik und
der Mitarbeit an der Reform der bäuerlichen Verhältnisse zu vertauschen,
verkörperte in seinen Werken die einander folgenden Entwicklungsstadien
der Individualität. Schon in den „Memoiren eines Jägers" findet sich
neben den realistisch gehaltenen Typen die meisterhaft skizzierte Gestalt
eines willenlosen, tatenlosen „Hamlet der Provinz". Ihr folgt an den
Grenzmarken einer neuen Epoche der Typus der Übergangszeit, Rudin, mit
seiner glänzenden, sieghaften Dialektik, seiner beredten Verkündigung von
Ideen, die zu verwirklichen ihm nicht beschieden ist. Nachdem er seine
reichen Kräfte in unfruchtbarer Erregung verzehrt und in der Heimat
94
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
kein Feld der Tätigkeit gefunden hatte, stirbt er auf den Barrikaden von
Paris für die Freiheit eines fremden Volkes; damals dachte Turgenieff,
daß ein Mann vom Schlage Bakunins, des Prototyps Rudins, sein Leben
in gleicher Weise beschließen könnte. Traurig auch ist zu jener Zeit das
Los der Frau, deren Streben zum Licht und zu neuem Leben unter der
Bürde der sittlichen und religiösen Traditionen zusammensinkt. Das ist
Lisas Schicksal in der Erzählung „Das Adelsnest". Es handelt sich hier
um die Geschichte einer träumerischen Persönlichkeit mit humanen Be-
strebungen und aufrichtigem Gefühl , die jedoch nicht den Mut hat, die
Schranken der Moral zu durchbrechen; Rudin sucht einen ehrlichen Tod,
um sich seines freudlosen Geschicks zu entledigen, Lisa aber begräbt ihr
junges Leben im Kloster. Doch die Befreiung nahte. Nur ein Jahr liegt
zwischen dem „Adelsnest" und dem Roman „Am Vorabend", und doch
macht sich hier schon die fieberhafte Erregung, die sich der Gesellschaft
bemächtigt hatte, stark bemerkbar. Turgenieff konnte den russischen Typus
des für das Gemeinwohl Arbeitenden vorläufig ebensowenig mit festen
Umrissen zeichnen, als er dessen crcdo bestimmt anzugeben vermocht
hätte, und machte daher einen jener bulgarischen Patrioten zu seinem
Helden, die in Rußland eine Zuflucht fanden und nach gründlicher Vor-
bereitung den kühnen, verzweifelten Versuch wagten, ihr Vaterland zu
befreien. Die zielbewußte, energische Persönlichkeit Jnssarows scheint
berufen zu sein dem echten russischen, politischen Romanhelden den Weg
zu bahnen; die dialektischen Künste Rudins sind in unermeßliche Fernen
gerückt. Neben dem fremdländischen Agitator und Anführer der Lisur-
genten steht aber bereits das feurige russische Mädchen, das sich durch
seinen Idealismus und seine Selbstaufopferung hinreißen läßt, das um der Idee
willen alle vertrauten Beziehungen löst und an der Seite des ihr teuren
Gesinnungsgenossen furchtlos Gefahren entgegengeht. Mit seiner Helene
macht Turgenieff den ersten bedeutenden Versuch, die Psychologie des
aktiven weiblichen Heldentums zu entwickeln. Helene ist die Vor-
läuferin jener Generation heroischer Frauen, welche in der modernen
russischen Literatur (wie auch in der skandinavischen Dichtung im Drama
Ibsens und seiner Genossen) an die führende Stelle getreten sind. Ob-
gleich dieser Roman Turgenieffs in der Sprache der sechziger Jahre
tendenziös genannt werden müßte, da er sich eine erziehliche Aufgabe
stellt, so weist er dennoch in künstlerischer Beziehung einen großen Fort-
schritt auf; die Zeichnung der Charaktere, die psychologische Treue, die
meisterhaften Schilderungen und die Prägung eines originellen „Turge-
nieffschen" Stils übten eine bezaubernde Wirkung aus, — vielleicht war
das die einzige Epoche, in der die Bedeutung Turgeniefts einstimmig
und unbestritten anerkannt wurde.
Gontscharoffunj Das Grundproblcm jener Zeit — der Bruch mit der Vergangenheit
?dri'rotcst°g(t'en uud der Sieg der Freiheit, der wahren Zivilisation, sowie die Verteidigung
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. gj
ins Leben. Er war längst geplant und langsam niedergeschrieben worden,
so daß er das Licht der Welt erblickte, als der Frühling ins Land gezogen
war und der Drang zu neuem Leben sich auf Schritt und Tritt geltend
machte. Das in ihm gezeichnete Bild träger Untätigkeit, die sich auf
Kosten von Sklavenarbeit breit macht, erschien der in der Erneuerung
begriffenen Gesellschaft wie ein Vorwurf. „Oblomoif" hat zu seiner Zeit
der fortschrittlichen Bewegung keinen geringen Dienst erwiesen — nicht
dadurch freilich, daß GontscharofF dem willenlosen Helden, dieser typischen
nationalen Erscheinung, einen Deutschen namens Stoltz, die Verkörperung
rastloser, praktischer Arbeit, an die Seite stellte — denn er hatte letzteren
lediglich zu einem unternehmenden, sich stets bereichernden Kapitalisten
gemacht, ohne ihm Interesse für das Wohl der Allgemeinheit ein-
zuhauchen — , sondern durch die entschlossene und zugleich ruhige Kritik
des ganzen Systems der ehemaligen Lebensformen, das er nicht mit Phrasen,
sondern durch die Konsequenzen, zu denen es führte, widerlegte.
Auch die Kritik beeilte sich auf die soziale Bedeutung dieses Romans Der Fortschritt
der literarisch
hinzuweisen, die neueste Charakterisierung der eingewurzelten Gebrechen sozialen Rich-
zu studieren und die Vorgänger des Helden Gontscharoffs zu kennzeichnen. DobroHuboff.
So kehrten für die Kritik jene ruhmvollen Tage wieder, da sie die Führerin
der geistigen Bewegung gewesen war. Mehr denn je mußte sie nun die
Pflichten der Publizistik erfüllen; hatte sie sich eines hervorragenden
Werkes bemächtigt, so WTirden die sozialen Bedingungen, die zur Be-
arbeitung des betreffenden Themas Veranlassung gegeben hatten, sowie die
angeregten Fragen und ihre Beziehungen zum Volksleben in noch größerer
Vollständigkeit, als dies zur Zeit Belinskys der Fall gewesen war, erörtert.
Die Polemik gegen die Anhänger des alten Regimes wurde mit großer
Schonungslosigkeit und Leidenschaft gefülirt, und die neu erblühte satirische
Journalistik sekundierte der Kritik mit ihrem Hohn. In den Reihen der
Scharfschützen dieser satirischen Hilfstruppen befanden sich nicht selten
hervorragende Schriftsteller und Kritiker. Sogar der „Zeitgenosse" hielt
es für angebracht, eine vortreffliche humoristische Beilage herauszugeben.
In den sechziger Jahren war aber, wie zuzeiten Voltaires, das Lachen nur
eines der mannigfachen, gleichberechtigten Kampfmittel. Seine Benutzung
tat der strengen Ausarbeitung der reformatorischen Überzeugnngen in
keiner Weise x'Vbbruch. Die beste, eigenartigste Verbindung von an-
klagendem Humor mit dem Ernst einer liberalen Propaganda und der
Führung des literarischen Fortschrittes lieferte die kurze aber bedeutungs-
volle Tätigkeit Dobroliuboffs, des würdigen Nachfolgers Belinskys. Der
junge Kritiker hatte bereits bei seinem literarischen Debüt eine hervor-
ragende Stellung gewonnen, doch ging er, weil er die Kräfte seines
zarten Organismus in leidenschaftlicher Arbeit rasch erschöpfte, zugrunde,
als sein Talent und sein Einfluß ihren Höhepunkt erreicht hatten. Es war
Tschernischewsky, dem sein Ruf bereits die führende Rolle in der Lite-
ratur eingetragen hatte und der nach Abschluß seiner kritischen Tätigkeit
q5 Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
durch große volkswirtschaftliche und soziologische Werke die Lorbeeren
eines populären Publizisten erntete, der in DobroliubofF ein kritisches
Talent von Gottes Gnaden entdeckt und ihm die Herrschaft überlassen
hatte. Dobroliuboff wurde tatsächlich das wichtigste Bindeglied in der
Literatur jener Zeit. In seinen Erklärungen und Analysen schlössen sich
die bedeutenden Erzeugnisse der neuen Periode zu einem anschaulichen
Bilde der literarischen Bewegung zusammen; ihr kulturhistorischer Hinter-
grund und ihre Ideenfolge traten klar hervor; die Betonung der sozialen
Aufgaben der Kunst durch den jungen Kritiker bekehrte die Zögernden
und Schwankenden, und nicht selten gelangen ihm wirkliche Eroberungen,
indem er solche, die sich (wie einst Gogol) weder der Schätze, über die
sie verfügten, noch der falschen Bahn, auf der sie sich bewegten, bewußt
waren, seinem Lager zuführte. So hat er mit seinen erstaunlichen
Aufsätzen über das von Ostrowsky entdeckte „dunkle Reich" den talent-
vollen Dramaturgen besiegt, mit seiner Studie über das durch die Leib-
eigenschaft bedingte, sich fortpflanzende psychische Übel, das im „Oblo-
moff" geschildert wird, Gontscharoff mit starker Hand unterstützt, als
dieser von der nüchternen, satirischen Behandlung der Sitten zum Kampfe
überging. Der Roman Turgenieffs „Am Vorabend", der von Ahnungen
und Erwartungen erfüllt ist, aber den noch nicht ausgeprägten T3rpus des
politisch tätigen Russen durch einen Fremdling ersetzt, hat Dobroliu-
boff ebenfalls zu einer Studie mit der charakteristischen Überschrift
„Wann wird es wirklich Tag?" veranlaßt, die zum Vorwärtsschreiten auf-
fordert und vom Glauben getragen ist, daß die Entfaltung der Selbst-
tätigkeit des Volkes unter allen Umständen erfolgen müsse. Wie die
überzeugten „Westeuropäer" der vorangegangenen Periode sah er in der
europäischen Kultur den Weg, der zum Ziele führte; die freiheitlichen
Bestrebungen der zeitgenössischen Völker, insbesondere der heldenhafte
Kampf der Italiener im Jahre 1859, erfüllten ihn mit Begeisterung, doch
gehörten seine besten Gedanken dem Wohle des eigenen Volkes; ihm
wünschte er nicht nur nach westeuropäischem Muster veredelte Staats-
formen, sondern eine radikale Wiedergeburt. Dieser Wunsch sollte nicht
zu seinen Lebzeiten in Erfüllung gehen. Der Tod ereilte ihn am „Vor-
abend" der Reformen und der wachsenden politischen Gärung. Als einige
Monate vor seinem Ende die von den Feinden der Freiheit geschmälerte
und abgeschwächte Befreiung der Bauern verkündet wurde, erlosch er
allmählich nach einer Reise in den Süden Europas, auf der er vergeblich
Heilung gesucht hatte. Ein kurzes, schwermütiges Gedicht, das er vor
seinem Tode verfaßt hat, gibt dem Gedanken Ausdruck, daß er sterben
müsse, weil er sein Vaterland ehrlich geliebt und ihm alle seine Kräfte
geopfert habe.
lieRimi der Ära Es nahte dlc Zeit der Verwirklichung längst angesagter Reformen.
Charakteristik Das Streben der Regierung, während der Ausarbeitung und Einführung
st,-n Vertreter, der neuen Lebensformen eine Annäherung an die liberalen, ja sogar an
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. q-j
die oppositionellen Elemente zu erreichen, trug Früchte, die für das öffent-
liche Leben von Bedeutung waren, der Regierung selbst aber bald unbe-
quem wurden, so sehr sie sich auch bemühte, das Banner der Kultur auf-
recht zu halten. In den Provinzkomitees, die die Grundlagen der Bauem-
emanzipation vorzubereiten hatten, sogar im Zentralkomitee, das sie
endgültig ausarbeitete, wurden Reden und Vorschläge laut, die in gewissen
Kreisen für gefährliche, nur vorübergehend zu duldende Volksverführung
galten; so erklärten z. B. energische Männer die Ständeordnung und
die Privilegien für einen der größten Schäden des russischen Lebens
und waren zur radikalen Umgestaltung des Bodenbesitzes, zu einer Ver-
schmelzung mit dem Bauerntum bereit. Um die Justizreform bemühten
sich ehrliche, charakterfeste Männer, Gegner jener empörenden Rechts-
pflege, die vom Volke verwünscht und von der Literatur an den Pranger
gestellt wurde. Wenn sich in der Auffassung der Bauernfrage der Ein-
fluß der neuen volkswirtschaftlichen Theorien und gleichzeitig die Achtung
vor der russischen Organisation des gemeinsamen Grundbesitzes (Obsch-
tschina) bemerkbar machte, so brachten die Schöpfer der Justizreform dem
durch Ungerechtigkeit und Bestechlichkeit erdrückten Volke die öffent-
liche, unabhängige Rechtsprechung, die demokratische Institution der
Geschworenen- und wählbaren Friedensgerichte, sowie die Gleichheit vor
dem Gesetz. Auch in den Projekten der anderen Reformen, in der Orga-
nisation der lokalen Selbstvertvaltung', in den Versuchen, die Preßfreiheit
durchzusetzen, offenbarte sich derselbe freiheitliche Idealismus, der die
führenden Geister der sechziger Jahre beseelte, jener Epoche, die von
den Freiheitsgegnem als eine Zeit des gewaltsamen Umsturzes und unter-
schiedsloser Verneinung geschildert worden ist.
Nicht nur die praktischen Politiker, die ihre ganze Kraft für die Aus- i^'«J'^''g«Gene-
^ . . . rat.on 2u Beginn
Gestaltung des Lebens einsetzten, wurden von diesem aktiven Idealismus ^^<^^ sechziger
° ° . Jahre in ihrem
getragen. Auch jene neue Gruppe junger Männer, die bald über das Kampfe gegen
° ° ■' ff i b > moralische und
ganze Land verbreitet war und wirklich in der Negation das erstrebens- ■■eiigiose vomr-
werte Ziel zu sehen schien, entfaltete eine kraftvolle Tätigkeit, indem
sie einen Kreuzzug gegen die veralteten sittlichen und religiösen An-
schauungen eröffnete, während die Politik für sie auf den zweiten Platz
rückte. Die Stützen, die ihr die westliche Kultur bot, waren die Natur-
wissenschaften, die Erfolge des Materialismus, sowie die radikalen Rich-
tungen in der historischen Erforschung des Christentums und der dog-
matischen Kritik. Mit Hilfe dieser tödlichen Waffen versuchte sie die Vor-
urteile und drückende altväterliche Überlieferungen, die Vorschriften einer
finsteren Moral zu zerstören, die Gefühle und Triebe zu befreien und die
Forderung der individuellen Selbstbestimmung, sowie der Frauenemanzi-
pation aufzustellen. Sie lag mit der Ästhetik und Metaphysik im Kampfe,
warf der Dichtkunst älteren Typus' Weichlichkeit, Unwahrheit und Un-
kenntnis des Lebens vor und schien in ihrer Polemik die Grundlagen der
Kunst zu untergraben. In den literarischen Werken und noch mehr in
Die Kultur der Gegenwart. I. 9. 7
qg Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
den Neuerungen, die überall, in der Familie, in dem Verhalten der Jugend
der älteren Generationen gegenüber zutage traten, machte sich nicht
wenig herausfordernde Überspanntheit geltend, und manchem gemäßigten
Manne standen die Haare zu Berge, wenn er von den Prinzipien hörte,
die von den Neuerem verkündet wurden. Dieser kampflustigen Be-
wegung lagen aber dieselben freiheitlichen Gedanken zugrunde, die von
den Anhängern der Reform vertreten wurden; sie war vom Glauben
an die Erlösung durch eine wissenschaftliche Weltanschauung getragen,
und leuchtete ihr die Zukunft der zur freien Kraftentfaltung gelangten
Gesellschaft in lichten Farben — so schufen die Bilderstürmer, die sich
gegen die schönen Träume einer älteren Generation auflehnten, neue
Ideale. In dieser Schule erwuchsen die Streiter für Freiheit und Kultur
einer neuen Zeit. Die Extreme und Einseitigkeiten wurden später fallen
gelassen, und als den Grundlagen aller Entwicklung Gefahr drohte, be-
gaben sich auch jene Männer auf die Arena des politischen Kampfes.
Eine starke geistige Kraft, die noch nicht völlig ins Gleichgewicht ge-
kommen ist, tritt uns in der meisterhaften Schilderung einer solchen
Persönlichkeit in Turgenieffs Roman „Väter und Söhne" entgegen, dann
aber auch im Kritiker Pissarew, der das Urbild eines solchen Typus im
realen Leben verkörperte und mit seiner leidenschaftlichen Verkündigung
der neuen Ideale die reine und lichtvolle Erscheinung Dobroliuboffs in
den Schatten stellte.
Verschiedene Die gelstigc Regsamkeit der Epoche tat sich auch in der verstärkten
der Literatur: Tätigkeit zweier literarisch-sozialer Richtungen kund. Der romantische
die iTaTik'aicn Natioualismus der Slawophilen, der absolut nicht gefährlich war, zu Niko-
näre Presse, laus' Zeiten aber für verdächtig gegolten hatte und bedrängt worden war,
trat nun frei hervor. Obgleich er an den Geist der Zeit Zugeständnisse
machte, indem er die Befreiung der Bauern und die Abschaffung des
alten Gerichtsverfahrens forderte, brachte er immer wieder seine alten
Argumente vor, die die Gefahren des Europäertums dartun sollten. Mit
mystischer Feierlichkeit wies er auf die Grundlagen des Volkslebens hin,
die zu Unrecht dem Vergessen preisgegeben wurden. Ihm kam Dosto-
jewsky mit seinen zwei Zeitschriften auf halbem Wege entgegen, der
mit Bedauern darauf hinwies, daß man das russische Volk der heimat-
lichen Scholle entfremdet habe, und eine Rückkehr zu ihr als das wich-
tigste Erfordernis des Augenblicks bezeichnete. Immer gewaltiger tönte
von London her die „Glocke" Herzens, die in Rußland über eine große
Anzahl hervorragender anonymer Mitarbeiter verfügte. Die reaktionäre
Presse aber, die die offiziösen Publizisten der Epoche Nikolaus' bei weitem
überflügelt und den früheren Genossen Herzens und Bakunins, den ehe-
maligen Universitätslehrer, Philosophen und Dichter Katkoff, zu ihrem
ErSnungen. Führer auserschen hatte, schmiedete bereits die Waffen zum Kampfe mit
iSjewsky, dem gefährlichen Gegner.
'zritgenossen'" Indem sich die einzelnen Richtungen voneinander schieden, fand eine
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. gg
neue Verteilung der literarischen Kräfte statt. Turgenieff schritt in der
ersten Reihe der fortschrittlich Gesinnten und erweiterte immer mehr den
Kreis sozialer Erscheinungen und Typen, die er zu ergründen suchte;
Ostrowsky unterstützte diese Bewegung, indem er sich in seinen Lustspielen
nicht mehr auf die Schilderung des Lebens der Kaufmannschaft beschränkte,
sondern die Zustände der gesamten Gesellschaft jener Epoche beleuchtete.
Die Lyrik Nekrassoffs, die der von Belinsky empfangenen Anregung treu
geblieben war, entfaltete nun sowohl in intellektueller als auch in moralischer
Beziehung größere Mannigfaltigkeit. Die Sympathie, die sie dem Volke
entgegenbrachte, ihr Glaube an den endlichen Triumph der allgemeinen
Freiheit, die Aufrufe und Ermunterungen, die sie denjenigen, welche für
Fortschritt und Aufklärung kämpften, zuteil werden ließ, die zornigen An-
griffe, die sie gegen das alte System führte — alles dies verschaffte ihr
eine hervorragende politische Bedeutung, ohne ihre künstlerische Entwick-
lung zu hemmen. Die zahlreichen Gedichte Nekrassoffs, die das Leben
der Bauernschaft in lebendigen Farben, mit feinem psychologischen Ver-
ständnis schildern, gehören auch ihrer Form nach zu den besten literarischen
Studien dieser Art. Gleichzeitig trat auch die publizistische Bedeutung
Nekrassoffs zutage. Sein „Zeitgenosse", der nicht nur über bedeutende
belletristische Mitarbeiter, sondern auch über solche Meister der Publizistik
wie Tschemischewsky verfügte, übernahm innerhalb der legalen Presse
dieselbe führende Rolle, die die „Glocke" in der Emigrantenliteratur inne-
hatte. Gontscharoff war nicht imstande, der rasch vorwärts schreitenden,
kampfesmutigen literarischen Bewegung zu folgen; er wanderte langsam
auf dem Pfade wohlwollender Gesinnung, ersann und verfaßte seinen
letzten großen Roman „Der Absturz", der eine meisterhafte Schilderung
der alternden Lebensformen enthält, zugleich aber ein geringes Verständnis
für die neue Lebensgestaltung an den Tag legt. Die Mystik, der Dosto-
jewsky schon während der Verbannung verfallen war, entwickelte sich
immer mehr; mit Abscheu wandte er sich von den „Demagogen" ab, die
er später in seinen „Dämonen" heftig angriff, und gab sich der Schöpfung
großer Romane hin, die den politischen Wirren fem standen, vielmehr
tiefgründende pathologische Studien über die Leiden, Schrecknisse und
Krankheiten der Menschheit waren. Auch Leo Tolstoi wandte sich von
der öffentlichen Tätigkeit ab, obgleich er anfänglich an den sozialen Fort-
schritt geglaubt, als einer der ersten „Friedensvermittler" an der Bauern-
emanzipation teilgenommen und mit Feuereifer die Bestrebungen der Volks-
bildung sich zu eigen gemacht hatte, für die das Tolstoische Gut „Jassnaja
Poljana" mit seiner Musterschule und der pädagogischen Zeitschrift gleichen
Namens einer der wichtigsten Stützpunkte zu werden versprach. Mangel
an Verständnis und Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen Ständen
machten ihm die schwierigen Verpflichtungen des Vermittlers zur Bürde,
und er warf sie infolgedessen ab. Die Schulfrage ließ er im Stich,
weil ihn die Erkenntnis quälte, daß er die richtige Methode der Volks-
7*
• lOO Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
belehrung nicht zu finden vermochte, während er alle vorhandenen
Theorien über diesen Gegenstand für falsch hielt. Die ersten Autoritäten
der europäischen, insbesondere der deutschen Pädagogik, gewährten ihm
in den Unterredungen, die er mit ihnen pflog, keine Befriedigung, auch
billigte er nicht die Einrichtungen der von ihnen gegründeten Schulen.
Insbesondere empörte ihn die Einmischung der Regierung, die in seiner
erzieherischen Tätigkeit rebellische Hintergedanken witterte und während
einer Abwesenheit Tolstois die pädagogische Oase von Jassnaja Poljana
vernichtete. Tolstoi, der sich durch die Anteilnahme am aktuellen
Leben von der sich in seiner Seele vollziehenden sittlichen Wandlung
nicht mehr ablenken lassen wollte, kehrte wieder zur literarischen Tätig-
keit zurück, die jene innere Arbeit in aller Vollständigkeit widerspiegeln
sollte. Zu einer Zeit, als die brennendsten Fragen des russischen Lebens
entschieden wurden und der Kampf mit der Reaktion im vollen Gange
war, ließ Tolstoi die „Kosaken" drucken und entwarf den Plan zu seinem
Roman „Krieg und Frieden".
Die äiLßerste Das Waren die Rollen, die die bedeutendsten Vertreter der älteren
Linke in der ^ ^ . .
Literatur, pissa- Schriftstellergeneration mnerhalb der sozialen Bewegung übernommen
Bedeutung, hatten. Wieviel Leben und Entschlossenheit war hingegen in dem ganz
jungen Lager, das sich um die Zeitschrift „Das russische Wort" und seinen
Leiter Pissarew scharte! Hier schrak man vor keiner Opposition zurück,
und keine Hoffnung auf ein besseres, freieres Leben war zu kühn. Pissarew,
der sich mit dem langsamen Fortschreiten der offiziellen Reform nicht
zufrieden geben konnte, stellte sich das Ziel, die sozialen Anschauungen
unabhängig von ihr umzugestalten und die Rechte der Persönlichkeit zu
erweitern. Indem er zur Fahne der alleinseligTnachenden Wissenschaft
schwor, schien er in der Hitze der Polemik fähig zu sein, alles zu ver-
neinen, was dem Volke nicht zum offensichtlichen Nutzen gereichte und
seine Entwicklung nicht zu fördern vermochte. Vor seinen Augen fand, wie
es schien, weder die Poesie, noch irgend eine andere Kunst Gnade. Der
junge Kritiker unternahm es sogar, mit seinen kampfesmutigen Artikeln
den Kultus Puschkins zu vernichten, doch bald sah er ein, daß er extreme
Forderungen stellte, zog sie zurück und kam zu einer präziseren und
klareren Formulierung seines credo. Er kämpfte nun für die Hebung
des Ideengehaltes der Literatur und hoffte, daß sie in dieser Beziehung
den Literaturen des Westens, die er sehr hoch schätzte, in würdiger
Weise nacheifern würde. Er suchte ihr Kraft und Freiheit zu verleihen,
gleichwie er auf dem Gebiete der Sittlichkeit die Vorurteile und die
engherzigen Schranken der alten Moral niederriß und der persönlichen
Freiheit Geltung verschaffte. Die Abhandlungen Pissarews waren glän-
zend geschrieben, erregten die Geister und blendeten auch dann, wenn
sie in der Polemik übertrieben. In ihnen offenbarte sich sowohl ein
starkes kritisches Talent als auch die Fähigkeit zu tiefgründender Analyse.
Unter den Meistern der russischen Kritik gebührte ihm ein hervor-
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. loi
ragender Platz; er war der wahre Vorkämpfer der äußersten Linken in
der literarisch-sozialen Bewegung^ der sechziger Jahre; reiche Hoffnungen
wurden durch seinen frühen Tod zerstört.
Die Entwicklung der Reformen stieß bei den ersten Versuchen, den Reform und
Worten Taten folgen zu lassen, auf große Hindernisse. Die Hofpartei und
die adelige Opposition hatten eine Taktik ausgearbeitet, mit deren Hilfe
es ihnen gelang, den Reformator unschlüssig und schwankend zu machen
und Abänderungen allzu liberaler Gesetzentwürfe zu erlangen. Ein inter-
essantes Dokument jener Zeit ist das Tagebuch von A. Nikitenko, der
es verstand, als Professor und Kritiker der Wissenschaft zu dienen und
gleichzeitig bei der Zensur im Interesse der reaktionären Politik als ein-
flußreiche Persönlichkeit tätig zu sein. Dieses Werk gewährt einen
Blick hinter die Kulissen jener Zeit und beweist, daß beim Zaren, der
scheinbar darauf bedacht war, dem Volke zur freien Meinungsäuße-
rung Gelegenheit zu geben und ihr Rechnung tragen zu wollen, eine
starke Neigung vorhanden war, Verbote zu erlassen und die, wie es
hieß, zügellose Literatur in die gehörigen Schranken zu weisen. Dasselbe
galt bezüglich aller anderen Reformen. Als nach der Verkündigung der
Bauememanzipation und nach der Verzögerung der tatsächlichen Durch-
führung dieser Reform an verschiedenen Orten Unruhen sich bemerkbar
machten und die Repression allenthalben begann, stellte sich die innere Poli-
tik die sonderbare Doppelaufgabe, das Programm der Reformen einzuhalten,
gleichzeitig aber das Freidenkertum zu unterdrücken. Das frische Leben, das
in den Universitäten aufkeimte, die Gärung unter der Jugend, die vorläufig
durchaus keinen revolutionären Charakter trug, die Gründung einer „freien
Universität" in Petersburg, in welcher die ganze Stadt zusammenströmte,
um den Vorlesungen der beliebtesten Professoren beizuwohnen, schließlich
die rätselhaften, zahlreichen Feuersbrünste in Petersburg im Jahre 1862,
die eine Panik hervorriefen und deren Entstehung auf die Initiative einer
Organisation von Rebellen zurückgeführt wurde, dies alles diente als Vor-
wand, um Verbote zu erlassen, Arrest und Verbannung zu verhängen.
Auch die Reihen der Literaten lichteten sich. Tschernischewsky, der eine
imgeheure Popularität genoß, wurde in die Festung gesperrt und dann auf
Grund eines gesetzlosen Strafverfahrens, dessen Motivierung bis zum heu-
tigen Tage unaufgeklärt geblieben ist, nach Sibirien verschickt. Erst
Ende der siebziger Jahre verbesserte sich sein Los.
Auch Pissare w wurde, da sein Einfluß auf die junge Generation als
höchst unbequem empfunden wurde, in der Festung interniert, doch wurde
ihm gestattet, journalistisch tätig zu sein. In seiner Zelle verfaßte er Abhand-
lungen, die seine Überzeugungen in keiner Weise verleugneten. Auch
die moderne Dichtkunst wurde in der Person des talentvollen Michailoff,
des vorzüglichen Übersetzers Heines und Berangers, des ersten Vorkämpfers uer polnische
der Frauenbewegung in Rußland, nicht geschont. seine^^wirkLg
Die reaktionäre Politik erhielt noch größeres Gewicht, als sich zu '"ofseiuchaft!'^
I02 Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
der Gärung der Geister in der russischen Gesellschaft die Vorboten des
polnischen Aufstandes gesellten und die maßgebenden Kreise beständig
von der Furcht geplagt wurden, daß die radikalen Elemente beider Völker
gemeinsame Sache machen könnten, eine Furcht, die sich als begründet
erwies, als Herzen nach langem Zögern oifen aussprach, daß er mit der
polnischen Sache vollständig sympathisiere. Die Regierung wurde von einer
eifrigen, reaktionären, in Unterstellungen unerschöpflichen Fresse unter-
stützt, die den Zusammenschluß aller wahren Patrioten befürwortete und
sich nicht scheute, sogar die eiserne Diktatur des Generals Murawieff zu
verherrlichen. Dieser suchte alle Spuren des Polentums in Litauen aus-
zurotten, indem er sich einerseits auf militärische Gewalt, andererseits auf
freiwillige Mitarbeiter stützte, die seinem Rufe folgten, um ihrer ver-
krachten Existenz im unglücklichen Lande zu neuem Glänze zu verhelfen.
In den Kreisen, wo noch vor kurzem das Wohl des Volkes als die treibende
Kraft aller Maßnahmen gegolten hatte, herrschte jetzt ein Chaos, in welchem
bald die Fähigkeit Freund und Feind, Gut und Böse zu unterscheiden,
verloren ging. Die Unduldsamkeit der regierenden Klassen schien sich
auch auf ihre Gegner zu übertragen. Bei der geringsten Veranlassung
brausten sie auf und protestierten im Kreise der eigenen Bundesgenossen.
Turgenieffs Der Roman Turgenieffs „Väter und Söhne", der in objektiver Weise
andSöhn6";'de? den GegBnsatz zwischen den Generationen klarzulegen suchte, jedoch
Geneliogie^e's der neu erstehenden Typus, dessen Vertreter Basaroff war, in den
Mittelpunkt des Interesses stellte, freilich ohne die beiderseits bestehen-
den Schwächen zu verhüllen, wurde als ein Verrat an der russischen
Jugend betrachtet. Der Verfasser, der, als er Gelegenheit gefunden hatte,
einen Repräsentanten der neuen Generation genau zu beobachten, von der
Eigenart eines solchen Charakters derartig in Bann geschlagen worden
war, daß er keine Ruhe mehr gefunden, und ihr Leben, ihr Wagen und
Leiden in Gedanken mit durchlebt hatte, der als er den frühen Tod dieses
kraftvollen Menschen beschrieb, so ergriffen war, daß er sich abwenden
mußte, um das Manuskript mit seinen Tränen nicht zu benetzen, der den
Tod Basaroffs zu einer Apotheose gestaltet hatte — dieser Mann wurde als
Feind der Jugend gebrandmarkt und ein Bundesgenosse der Gewalt genannt.
Als Turgenieff nach der Drucklegung des Romans nach Petersburg kam,
wurde er einerseits der Gegenstand heftiger Angriffe seitens der Liberalen,
andererseits wurde er von den Konservativen mit Liebenswürdigkeiten und
Lobpreisungen überschüttet. Das von ihm völlig unbekannten Würden-
trägern gelegentlich gespendete Lob erfüllte ihn mit Entsetzen. Nur eine
Stimme erhob sich zur Verteidigung Basaroffs, als eines positiven Cha-
rakters, und seines Schöpfers Turgenieff — das war die Stimme Pissarews.
Der Kritiker freute sich über die Kraft und den Mut, mit dem Basaroff
sich von den Banden der Autorität zu befreien wußte, über seine For-
derung, den natürlichen Drang gewähren zu lassen und der Persönlichkeit
zu ihrem Rechte zu verhelfen. Während Pissarew in Basaroflf die Hoff-
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen.
103
nung des jungen Rußlands sah, verband man mit seinem Namen am ent-
gegengesetzten Pol der Gesellschaft die Vorstellung von gefährlicher
Sittenverderbnis, von der Verneinung der Grundlagen der bestehenden
sozialen Ordnung, ja von politischem Freidenkertum, das fast an revolutio-
näre Propaganda grenzte. Die aus der Phraseologie der zwanziger Jahre
stammende, von einem journalistischen Aristarchen geprägte Bezeichnung
„Nihilist"' für solche junge Literaten, die den Gesetzen der Ästhetik Hohn
sprachen, wurde, nachdem sie von Turgenieff den Vertretern der Jugend
in den Mund gelegt worden war, für lange Zeit ein Synonym für das
Wort Empörer. Sie trat an die Stelle der Bezeichnungen „Voltairianer",
„Freimaurer", „Jakobiner", „Carbonaro", mit denen in früheren Zeiten ge-
fährliche Leute in der russischen Gesellschaft belegt worden waren.
Turgenieff, der ganz unabsichtlich durch eine vorurteilslose Betrach-
tung der Dinge ein so beklagenswertes Mißverständnis hervorgerufen ;
hatte und zum Anhänger der Reaktion gestempelt worden war, hatte
unter den Folgen des mangelhaften Verständnisses schwer zu leiden.
Mit der großen Popularität, deren er sich erfreut hatte, war es vorbei,
man vermied es, seinen Namen im Druck zu nennen, oder gab ihm, wenn
man ihn envähnte, beleidigende Epitheta. Diese Kränkungen brachten
ihn auf den Gedanken, der literarischen Tätigkeit zu entsagen. Die
geistige Abspannung", die Erkenntnis der Zwecklosigkeit der dichterischen
Tat, wenn das Band zwischen dem Schriftsteller und dem Publikum so
leicht zerrissen werden kann, veranlaßten ihn zu dem traurigen Ausruf:
„Es ist genug!" Der Ausruf wurde zur Überschrift einer kleinen, wert-
vollen autobiographischen Skizze. Diese Energielosigkeit konnte aber
nicht lange anhalten, der Glaube an seine Kraft mußte neu erstehen.
Die Neigungen des Künstlers, des Psychologen und Beobachters gewannen
wieder die Oberhand, doch lag auf Turgenieffs Schaffen der folgenden
Jahre der untrügliche Widerschein seiner Enttäuschung und seiner Skepsis.
Als Turgenieff, nachdem er einige Novellen verfaßt hatte, im Jahre 1867
mit seinem „Rauch" zum Typus des umfangreichen Romans zurückkehrte,
durchwob er die künstlerisch ausgesponnene Liebesgeschichte, die ihm als
Vorwurf diente, mit zahlreichen scharf satirischen Schilderungen. Er
geißelte in ihnen die Nichtigkeit und Hohlheit der höheren Gesellschafts-
kreise, die glänzenden Generäle, die sich zur Bezähmung und Unterwerfung
der Widerspenstigen immer bereit fanden, die zynischen, unwissenden
Administratoren und Streber, die sich unter dem „arbre russe" in Baden-
Baden zusammenfanden, daneben aber auch die radikalen, selbstbewußten
unbedeutenden Schreier. Eine der Hauptpersonen des Romans ist Potugin,
ein objektiver Zeuge und Beurteiler der menschlichen Komödie, mit einem
unerschütterlichen Glauben an die Heilkraft der Zivilisation. In seinen
polemischen Ausfällen werden Irrtümer und Abgeschmacktheiten der ex-
tremen Nationalisten und Slawophilen, aber auch die schwachen Seiten
ihrer Gegner, der radikalen Doktrinäre, erbarmungslos ans Licht gezogen.
Turgenieffs
.eiden wegen
eines Romans
„Väter und
Söhne".
104
Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
Als der Held des Romans Litwinoff Baden-Baden verläßt, wo er manches
gehört und erlebt hatte, was ihn an die Ungereimtheiten seiner heimat-
lichen Verhältnisse gemahnte, und in Gedanken versunken die Stadt samt
allem, was ihn dort erregt und empört hatte, in den Rauchwolken der
Lokomotive verschwinden sieht, scheint es ihm, daß alles, alle Anschau-
ungen und Überzeugungen sämtlicher Schattierungen nichts weiter sind als
trügerischer Rauch, der in nichts zerrinnt.
Die Abwesen- In der krankhaften Sucht TurgeniefFs, von nun an fem von der
von Jer Heimat Heimat ZU leben, zeigte es sich, daß die ihm beigebrachte Wunde, die
tere Aussöhnung von Seinen Gegnern immer wieder aufgerissen wurde, noch nicht ver-
liehen Meinung, narbt war. Die Beobachtungen, die Turgenieff an den im Auslande leben-
den Russen anstellte, und die er bei Gelegenheit seiner kurzen Reisen in
die Heimat ergänzte, bewahrten den großen Schriftsteller aber vor den
Folgen einer dauernden Abwesenheit, wie sie sich bei Gogol geltend ge-
macht hatten, und erhielten seinem künstlerischen Schaffen die Lebens-
treue. Seine Aussöhnung mit den tonangebenden Persönlichkeiten, den
Kritikern, Publizisten und der Jugend, nicht aber mit der großen Masse
des Publikums, das sich dem Zauber seiner Schöpfungen nie hatte ent-
ziehen können — erfolgte spät, erst vier Jahre vor dem Tode Turge-
niefFs, als sich die Heimkehr des geächteten Dichters zu einem Triumph-
zug gestaltete.
Die Demoraii- Die Gesellschaft, in der einem Manne wie Turgenieff ein Vergehen
Gesellschaft, vorgeworfen worden war, das er nicht begangen hatte, und in der ihm
andererseits um seines den Konservativen tatsächlich nie erwiesenen
Dienstes willen demonstrative Ehrungen zuteil geworden waren, offen-
barte eine starke Verwirrung der Begriffe. Die Ideen des Fortschrittes
und der Freiheit liefen Gefahr, vergessen oder durch die Sorgen des
Alltags in den Hintergrund gedrängt zu werden. Die beiden ersten Atten-
tate auf das Leben Alexanders IL, die weder von der polnischen noch
von der russischen Aktionspartei veranlaßt worden waren, sondern einer
persönlichen Initiative entsprangen, boten den Führern der Reaktionäre
eine willkommene Veranlassung, unter Benutzung aller Erfahrungen, die
sie im Kampfe mit Polen gewonnen hatten, Ruhe und Ordnung im Inneren
Rußlands herzustellen. Die Lage der Literatur, der erprobten Gefährtin
der sozialen BewegTing', gestaltete sich immer trauriger; die Schläge, die
gegen die liberale oder die radikale Partei geführt wurden, schädigten
gleichzeitig die literarischen Kräfte. Nicht die Geistesarbeit, sondern die
finanzielle Spekulation, das einträgliche Konzessionswesen beim Eisenbahn-
bau, das Gründertum im Bankfache wurden von oben herab gefördert.
Es tauchten Finanzgenies auf, die geschickt zu mystifizieren verstanden;
man handelte mit allem, in erster Linie mit seinen Überzeugungen. Die
Demoralisation und die Käuflichkeit drang in die höchsten Kreise der
Gesellschaft. Um das Volk vor dem Freidenkertum zu bewahren, wurde
ein äußerlich dem klassischen Bildungsideal huldigendes, tatsächlich aber
C. Die zweite Hälfte des ig. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. 105
vom Geiste des Obskurantismus durchwehtes Mittelschulsystem aus-
gearbeitet, welches das hohe Erbe der antiken Gedankenwelt zum Gegen-
stand einer stumpfsinnigen geistigen Gymnastik degradierte, die jungen
Köpfe ausdörrte und gegen das Gift des freien Denkens immun machte.
Unter solchen Umständen erschien die Ausgestaltung des einst geplanten AUschwächung
und Umäade-
Reformwerkes wie ein seltsamer Widerspruch. Inmitten der Repressalien, rung der Refor-
nien. Die ersten
der polnischen und russischen Konspirationen und Wirren gelangten so schritte der
1 r^ • 1 Tx^* „freien" Presse
wichtige Reformen wie die Umgestaltung des Gerichtswesens, die Jtm- und ihre Be-
. T • • kämpfung.
führung der Selbstverwaltung der Provinzen durch die Institution des
Semstwo, das in der Befreiungsbewegung am Anfang des 20. Jahrhun-
derts eine hervorragende Rolle spielte, und die Milderung der Preß-
gesetze, zur Durchführung. Die Gesellschaft kam jedem dieser Kultur-
fortschritte entgegen, hielt das Ideal eines humanen und öffentlichen Ge-
richtes hoch, war bereit, jeden Mißbrauch ans Licht zu ziehen, geneigt,
die Semstwoidee auf breiter Basis zu verwirklichen, und wußte zur Er-
reichung der kulturellen Ziele die Freiheit der Presse zu benutzen. Die
unabhängige und unparteiische Rechtsprechung, die in den sechziger
Jahren selbstlose Vertreter fand, die Beredsamkeit hervorragender Advo-
katen und einige großartige Prozesse, die das Übel bis in seine Wurzeln
verfolgten, führten jedoch zu einer Einschränkung der Jurisdiktion der
Geschworenen, zu einer privilegierten Stellung der Vertreter der Gewalt
und der höheren Stände dem Gerichte gegenüber und zum Ausschluß
der Öffentlichkeit in unbequemen, kompromittierenden Fällen. Die be-
freite Presse büßte ihre ersten Taten mit Konfiskationen, mit der Ein-
führung der dreifachen Verwarnung nach französischem Muster und mit
dem Erscheinungsverbot. Die beiden wichtig.sten Organe, der „Zeit-
genosse" und „Das russische Wort", hatten bereits ihr Erscheinen ein-
stellen müssen, eine der politisch harmlosen Zeitschriften Dostojewskys
hatte dasselbe Los, und dieser Maßregelung- folgten zahlreiche andere,
die sowohl periodischen Zeitschriften wie auch Büchern galten. Doch
das Bestreben, die Presse völlig mundtot zu machen, war ein Unding, die
literarische Beeinflussung der Gesellschaft konnte nicht mehr lahm gelegt
werden. Unter dem Druck der Verhältnisse nahm letztere für lange Zeit
eine sehr eigenartige Form an, die in den Literaturen anderer Völker
nicht ihresgleichen findet. Zwischen dem einflußreichen Schriftsteller und
seinem Publikum entwickelte sich ein geheimes Einvernehmen. Die
großen und starken Gedanken, die Anklagen gegen die bestehenden Die Allegorie
Zustände, wurden zwischen den Zeilen gelesen; der Leser hatte unter äsopische Aus-
bestimmten Namen und Bezeichnungen gewisse Persönlichkeiten zu ver- SaitykoC
stehen, und wenn er die leichte Hülle der Allegorie einer scheinbar
harmlosen Erzählung lüftete, erkannte er die Schilderung realer Verhält-
nisse. Dieses Verfahren erinnerte an die Technik der Fabeln des Alter-
tums, nur daß man die Tiere aus dem Spiele ließ. Derjenige Schrift-
steller, welchem es am besten gelang, die Masse auf diese Weise erziehlich
. io6 Alexis "Wesselovsky : Die russische Literatur.
ZU beeinflussen und zu lenken, war Saltykoff. Er eiferte aber beständig
gegen den Druck, der ihm die freie Rede unmöglich machte und ihn
zwang, zu einer „sklavischen" Allegorie zu greifen, die er als eine „äsopische"
zu bezeichnen pflegte.
charakterisie- Doch wie gestaltete sich diese Sprache unter seiner Feder, was wurde
tischen Satire aus der Satire, diesem Lieblingskinde der neuen russischen Literatur, als
die Spottlust Saltykoffs sich ihrer bemächtigt hatte! Zu Beginn der neuen
Epoche hatte noch in seinen Werken der Gogolsche Humor, das Lachen
unter Tränen, Widerhall gefunden, nun aber verschwand er völlig. An die
Stelle des melancholischen Humoristen trat ein galliger Pessimist, ein Tadler
und Verächter, in der Kunst des Entlarvens ein zweiter Swift, der die
Niederträchtigkeit, das Verbrechen, die Raubsucht, den Obskurantismus,
die Verschwörung gegen das Volkswohl als solche kennzeichnete. Und
dies alles wurde mit scheinbar geringen, ja beschränkten Mitteln, unter
dem stets wachen Auge der Zensur erreicht. Es hatte den Anschein, daß
diese satirischen Experimente, die sich auf dem gefalirvollen Grenzgebiete
bewegten, das die Anklage wegen Hochverrats nicht ausgeschlossen er-
scheinen ließ, halbe Maßnahmen, unvollendete Reden bleiben sollten. Allein,
im Gegenteil, für ein Regierungssystem, in dem die Reaktion mit den Jahren
immer mehr die Oberhand gewann, gab es keinen furchtbareren Ankläger.
Die geistige Führerschaft, die infolge von Mißverständnissen anläßlich des
polnischen Aufstandes den Händen Herzens entglitten war, ging auf Salty-
koff über. Bis an das Ende seiner Tage wußte er seine hervorragende
Stellung zu wahren und schilderte während mehr als drei Jahrzehnten in
zahlreichen Werken die Geschichte der russischen Gesellschaft. Selbst
als er physisch erschüttert und von den Ärzten schon völlig aufgegeben
war, schwang er noch die Geißel der Satire. Es wird die Zeit kommen,
da man die Satiren Saltykofi^s gleich den Schriften Rabelais' und Swifts
„Gulliver" mit Kommentaren und Erläuterungen der Personen und Verhält-
nisse, auf die sie gemünzt waren, herausgeben wird. Vorläufig sind noch
die Anzüglichkeiten und Hinweise im Gedächtnis aller lebendig, und die
Lebensarbeit des mutigen Vertreters des öffentlichen Gewissens steht uns
in vollendeter, einheitlicher Form vor Augen. Weil Saltykoff unter seinem
verächtlichen Lachen, im Gegensatz zu Swift, scharf umgrenzte sozial-poli-
tische Ideale hegte, waren die Grundgedanken seiner Werke mit seltener
Folgerichtigkeit durchgeführt und trug sein Schaffen den Stempel un-
wandelbarer Überzeugungen. Wenn er den Schleier, unter dem er seine
Ideale verbarg, gelegentlich lüftete und vom eigenen Leben etwas verlauten
ließ, offenbarte sich in dem Pessimisten ein Mann, der von der Befreiung des
Volkes und seinem Wohl träumte, Gesinnungen, mit denen er unter dem
Einfluß der europäischen Bewegung, am Ende der vierziger Jahre, ins
öffentliche Leben getreten war. Der langwährende Kampf mußte not-
wendig im Laufe der Zeit die dunklen Farben in seiner Satire verschärfen
und sie allmählich vorherrschend werden lassen, obgleich Saltykoff' in
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. 107
nicht geringerem Maße als Gogol, Gribojedoff und Ostrowsky über
sprudelnden Humor verfügte. Wie frisch und treffend war der Witz des
sarkastischen Beobachters zu Beginn des Kampfes! Unter dem Eindruck
der russischen Eroberungen in Mittelasien, der Besetzung Taschkents und uieXhemataSai-
.-_.. »1 1 tvkofFs und ihre
anderer Heldentaten, die eine förmliche Invasion von Ausbeutern und Behandiung.oie
Glückssuchern zur Folge hatten, gestaltete Saltykoff das Bild der „Herren "dic„Pompa-'
Taschkenter"; er schildert darin verschiedene Formen der Gewinnsucht und schichte einer
des Parasitismus; so zählt er auch Murawieffs Schergen zur Familie der „Goiow'iefFs«
„Taschkenter", deren Mitglieder wie hungrige Wölfe durch Rußland strichen
und zusahen, ob sie aus der Unterdrückung oder den Eroberungen Vorteil
ziehen könnten. Um das System der inneren Politik zu geißeln, das unfähige
hauptstädtische Günstlinge, die nach einem epikuräischen Leben trachteten,
zu bevollmächtigten Provinzgouverneuren machte, entwarf Saltykoff eine
Reihe geistreicher Skizzen nach der Natur, die er unter dem gemeinsamen
Namen „Die Pompadours" zusammenfaßte. Auch die praktische Philosophie
der „Mäßigkeit und Akkuratesse" machte der Satiriker zum Gegenstande
seiner Studien. Er schilderte seinen vermeintlichen Freund GlumofF, der die
Sinnlosigkeit und die Gefahren der liberalen Ideen einzusehen gelernt hat,
um nunmehr mit einflußreichen und wohlgesinnten Leuten freundschaftlich
zu verkehren und sich als reuiger Sünder im Geiste des Konservatismus
auszusprechen. Fast schien es, als wollte sich Saltykoff völlig vom ak-
tuellen Leben abwenden und Historiker werden. Aus einer Reihe sati-
rischer Erzählungen erwächst „Die Geschichte einer Stadt", doch blicken
unter dem Deckmantel des Märchens und des humoristischen Beiwerks
die Begebenheiten des russischen Lebens bis zur jüngsten Vergangenheit
in so untrüglicher Weise hervor, daß „Die Geschichte einer Stadt" im
Grunde nichts anderes ist als die humoristische Geschichte des Landes
und seiner bedeutenden Politiker und Regenten im ig. Jahrhundert. Be-
vor Salt)-koff von dieser Abschweifung zu seiner publizistischen Tätigkeit
zurückkehrte, schuf er seinen einzigen großen Roman, dem die Miseren
des Tages fern lagen, nämlich „Die Golowleffs". Diese Erzählung, die
düstere Schilderungen der aufgehobenen, jedoch noch nicht verschwun-
denen Leibeigenschaft und mit starker Hand gezeichnete Charaktere der
Sklavenbesitzer, insbesondere des raubgierigen Hypokriten und Quälgeistes
„Juduschka", enthält, tat nicht nur die hohe Bedeutung des Verfassers dar,
sondern erwies auch der Gesellschaft einen großen Dienst, indem sie ein
System an den Pranger stellte, dessen Wiederherstellung die Gegner des
Fortschritts wünschten.
Die Satire Saltykoffs wurde in ihrer umfassenden Lebensfülle und uie Beteiligung
der Komödie an
Originalität niemals übertroffen, doch fanden ihre Themata in der zeit- der sozialen
. Bewegung.
genössischen Komödie Widerhall. Der durch seinen Roman „Tausend Pissemsky,
* ... Ostrowsky und
Seelen" bekannte Pissemsky kämpfte in einigen Lustspielen gegen den Xoistou
Verderb der finanziellen Spekulation. Ostrowsky brachte die Anklagen
der Reaktionäre gegen die Reformen auf die Bühne und zog die Sitten-
schritte
jo8 Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
losigkeit und Straflosigkeit der höheren Stände ans Licht. Obgleich
Ostrowsky nicht so stark wie Saltykoff von Mitgefühl für die Leiden
seiner Heimat ergriffen war, auch nicht wie jener über eine Sprache ver-
fügte, die die Herzen der Menschen zu entflammen verstand, so konnte er
doch der Mißgestalt des Lebens nicht als müßiger Zuschauer gegenüber-
stehen. Der Anteil, den er, eingedenk des Vermächtnisses Dobroliuboffs,
an der Verteidigung der Kultur nahm, verhalf der russischen Komödie zu
einer neuen Blüte, die im Laufe ihrer späteren Entwicklung nur noch
einmal erreicht wurde, und zwar als aus der Feder des Verfassers von
,,Anna Karenina" ganz unerwartet die soziale Komödie „Die Früchte der
Bildung" erschien. Außer einer scharfsinnigen Verhöhnung des in der
großen Welt zur Mode gewordenen Spiritismus bot sie eine charakteri-
stische Schilderung des bestehenden Gegensatzes zwischen dem vermeint-
lich zivilisierten Herrenstand und den völlig unkultivierten Bauern, die
sich in der Komödie den vom Schicksal Bevorzugten gegenüber ironisch
verhalten. Auf diese Weise ist der Verkündigung der Tolstoischen Lehre
ein heiteres Blatt hinzugefügt worden.
Fort- Wenn der politische Kampf der Literatur zu Beginn der siebziger
Demokratisie- Jahre sich immer schwieriger gestaltete, so war doch ihr soziales Programm
ratur. in genügender Vollständigkeit gekennzeichnet, und dies war das nicht ge-
ringe Verdienst derjenigen Talente, die aus den niederen, rechtlosen, wirt-
schaftlich unterdrückten Schichten des Volkes hervorgegangen waren.
Ihre Jugend war in die Zeit des Aufdämmerns eines neuen Tages ge-
fallen; als sie auf der Höhe standen, war es wieder finster geworden. Als
Abkömmlinge von gebildeteren Bauern, Handwerkern und der mittellosen
Geistlichkeit der Provinz, als Leute ohne Profession, sind sie die ersten
Vertreter des Proletariats, einige von ihnen, wie z. B. der begabte Belletrist
Lewitoff, können sogar als Vorgänger der von Maxim Gorki geschilderten
„Barfüßler" gelten. Mit wenigen Ausnahmen sind sie alle zeitlebens
Schiffbrüchige geblieben. Eine höhere Stufe der Kunst vermochten sie
nicht zu erreichen; die freiheitlichen Gedanken, die in den sechziger
Jahren in der Luft lagen, ersetzten ihnen die höhere Bildung, jedoch die
Kraft des Realismus war ihnen eigen. Sie wußten von den traurigen
Lebensbedingungen der Kreise, denen sie entstammten, und von dem
eigenen bitteren Lose zu erzählen. So schilderten die Proletarier, während
die tonangebende Literatur mit der Klärung großer kultureller Fragen
beschäftigt war, in ihren oft kunstlosen und unbeholfenen Erzählungen und
Skizzen Dinge und Verhältnisse, von denen die große Mehrzahl des Publi-
kums überhaupt keinen Begriff hatte. Der Eindruck, den sie hervor-
riefen, war so stark, daß die Leser vom Genuß der hohen Kunst eines
Turgenieff abgelenkt wurden und sich der etwas ungeschliffenen „nüch-
verschicdene temeu Prosa" eines Reschetnikoff mit ihrer niederdrückenden Düsterheit
Richtungen in j .
der üeiietristik zuwandtcn.
des Proletariats. D^r näclistc Schritt auf dem Wege der Demokratisierung der Lite-
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. log
ratur zeitigte noch nicht die theoretische Begründung der neuen Richtung,
doch näherte man sich ihr bereits. Die innere Arbeit begann; aus der
Fülle des vorhandenen Materials wurden Anklagen gegen die Gesellschaft
und den Staat laut. Was die Erzähler aus dem Volke vorbrachten, hatten
sie erlebt; es war mit ihnen verwachsen und erstand in unverfälschter
Lebenstreue; nicht um des Effektes willen, sondern weil es sich um die
Wahrheit handelte, scheuten sie sich nicht. Entsetzliches, Abstoßendes und
Unmenschliches zu schildern. Der eine führte die Leser in die Kirchen-
schule, wo stumpfsinnige Lehrbücher in barbarischer Weise, mit Hilfe
von Schlägen und anderen Martern eingebläut wurden, wo der Trunk
herrschte und ganze Generationen zugrunde richtete; ein anderer lüftete
die Geheimnisse der Werkstatt, schilderte die unmenschliche Überbürdung
der Arbeiter, die Tyrannei der Meister, die völlige Nichtachtung jeglicher
persönlichen Rechte; ein dritter beschrieb die Zufluchtsorte der vom Leben
Zerschlagenen, in den großen Städten, die Masse von Herumtreibern, die
Enterbten der Gesellschaft; ein vierter, der begabte Lyriker Ssurikoff, im-
provisierte zuerst als Setzer, dann als Händler mit altem Eisen, seine
melancholischen Weisen und suchte sich zum Licht und zur Freiheit durch-
zuringen, während andere Mitglieder dieser Gruppe in ihren Skizzen die
Verhältnisse der Bauernschaft behandelten. Einige von ihnen (Nefedoff),
die als Bauernsöhne ihre Beziehungen zum Dorfe aufrechterhalten hatten,
lebten und schrieben dort lange, nachdem sie sich bereits einen Namen
gemacht hatten, andere (Gleb Usspenski, Slatowratski) wurden, nachdem
sie die dünne Scheidewand, die sie vom Bauerntum trennte, niedergerissen
hatten, mit ihm so vertraut, daß sie für spezielle Kenner der bäuerlichen
Lebensart gelten konnten. Die einen vermieden eine idealisierte Dar-
stellung der unverdorbenen Kräfte des Volks, um durch unverhohlene
Hinweise auf seine Unwissenheit, Lasterhaftigkeit und Roheit überzeugend
zu wirken, andere hingegen entdeckten unter der rauhen Schale ungeahnte
Schätze, obgleich auch sie die Gebrechen des Volkes erkannten. Schon
begannen sich in der volkstümlichen Belletristik zwei verschiedene Rich-
tungen geltend zu machen, die sich in den achtziger Jahren zur künst-
lerischen und philosophisch-sozialen Schule ausgestalteten.
Es war fast ein Ding der Unmöglichkeit, von der Bewegung, welche Das streben
1 j 1 nach einer
die Geister beherrschte, nicht mit fortgerissen zu werden, und dennoch reinen Kunst.
' ° • /- -Alexis Tolstoi
wurden m den sechziger Jahren Versuche gemacht, mi Gegensatz zum und Mai-koir.
utilitaristischen Geiste der Zeit die reine Kunst zu pflegen. Graf Alexis
Tolstoi war es, der den Niedergang der Schönheit in der Kunst beklagte
und zu ihrer Verteidigung einen Kreuzzug ins Leben rief. In seelenvollen
Gedichten richtete er an die Freunde des Schönen die Aufforderung,
„gegen den Strom zu schwimmen", in lyrischen Improvisationen suchte er
ferne Zeiten auf, bearbeitete alte Legenden und wurde zu einem nationa-
listischen Romantiker. Das Interesse, das er dem Altertum entgegen-
brachte, veranlaßte ihn, sich der dramaturgischen Tätigkeit zuzuwenden.
I j O Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
In einer Trilogie, die Boris Godunoff, eine der wichtigsten Persönlich-
keiten der „Periode der Wirren", in ihrem Aufstieg, auf der Höhe der
Macht und in ihrem Fall behandelt (ihr zweiter Teil, das Drama „Zar
Feodor Joannowitsch" ist kürzlich durch die Aufführungen des Moskauer
Theaters in Deutschland bekannt geworden), offenbarte er eine nicht g^e-
ringe dramatische Begabung, doch gelang es ihm nicht, eine Schule zu
begründen. Auch ApoUon Maikoff gelang dies nicht, dessen pracht-
volle Neubelebungen der antiken Welt, anthologische Dichtungen und
Schilderungen aus dem römischen Leben, einer einsamen Insel inmitten
eines aufgeregten Meeres glichen. Während Maikoff die herrschende Rich-
tung in Rußland scharf verurteilte, stand A. Tolstoi, trotz seines Priester-
amtes am Altare der Schönheit, den Vorgängen um ihn her nicht so
fremd gegenüber, als es den Anschein haben konnte. Seine kleinen sati-
rischen Gesänge, deren einer das erste Jahrtausend der russischen Ge-
schichte in so grellen Farben zeichnet, daß er in der Saltykoffschen „Ge-
schichte einer Stadt" seine Stelle hätte finden können, seine später auf-
gefundenen Briefe und Bekenntnisse angesichts des verschärften Obsku-
rantismus bewiesen, daß die Ästhetik sein Gefühl für die Leiden des
Vaterlandes nicht zu ertöten vermocht hatte.
Nicht durch den Kultus des Schönen, sondern durch die Hingabe an
eine große Idee wurden auch zwei geniale Künstler der allgemeinen Be-
wegung immer mehr entfremdet. Jenseits der Schranken des gegebenen
Augenblicks beschritten sie ohne Zaudern den Weg, den jeder von ihnen
selbst erkoren hatte. Die sechziger Jahre mit ihrer leidenschaftlichen
Negation und der eilfertigen Umgestaltung des Lebens, die siebziger
Jahre mit ihrer revolutionären Agitation, dem Anwachsen des Kon-
servatismus und ihren zwei Kriegen zogen vorüber, und jene zwei un-
beugsamen Denker gingen ihre einsame Straße. Das waren Dostojewsky
und Leo Tolstoi.
Dostojewsky. Es hätte weulg Zweck, das Schaffen Dostojewskys nach seiner Rück-
SeineAbneigung c^ . . . . ^ , • i '7 • 1 • 1 i i_
gegen die zeit- kehr aus Sibirien im Zusammenhang mit der Zeitgeschichte zu betrachten.
Bewegung. Der Eine solchc Studie würde nur Zwiespalt und Ablehnung, die sich schließ-
Dostojewsky- . ^.,.,. ,,-'■• • rri j-i
Kultus lieh ZU Gereiztheit und Lntrustung steigern, oiienbaren und nicht nur zu
einer verzerrten Darstellung" der gegfnerischen Parteien, sondern auch zu
einem vernichtenden Urteil über eine ganze Generation führten. Der
krankhaft erregten Phantasie Dostojewskys schien bisweilen das Ringen
um den Fortschritt eine dämonische Eingebung zu sein. Das Heer der
Teufel, das bei Gogol in seinen krankhaften Zuständen zur Erklärung der
Laster und Mängel der Menschen in die Erscheinung trat, ist auch seinem
Schüler zu Willen und führt im Roman „Die Dämonen" mit den Betrügern
und Betrogenen einen wilden Totentanz auf. Von diesem Standpunkte
wich Dostojewsky nicht mehr ab. Als er sich am Ende seines Lebens
wieder als Publizist betätigte, indem er die einzig in ihrer Art dastehende,
von Anfang bis zum Ende von ihm selbst verfaßte Zeitschrift „Das Tage-
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. i i j
buch des Schriftstellers" herausgab, fanden die Leser neben musterhafter
Belletristik belehrende und polemische Auseinandersetzungen, die den
zeitbewegenden Ideen kalt gegenüberstanden. Die Macht dieses höchst
eigenartigen Schriftstellers war aber so groß, daß die Gesellschaft sich
trotz der ständigen Meinungsverschiedenheiten dem Zauber seines Schaf-
fens, das in die geheimsten Winkel des Menschenherzens hineinleuchtete
vmd der Literatur eine Reihe bisher unbekannter Typen mit tiefen Kon-
flikten und einer komplizierten Psychopathologie schenkte, nicht zu ent-
ziehen vermochte. Wenn er selbst öffentlich auftrat, was sehr selten
geschah, schien ein hypnotischer Zwang von ihm auszugehen. Dies war
auch der Fall, als er bei Gelegenheit der Enthüllung eines Denkmals für
Puschkin in Moskau im Jahre 1880 unter den Koryphäen der literarischen
Welt als Redner auftrat und in mystisch verzückten Worten die ge-
heimnisvollen Tiefen der russischen Seele pries. Die Erregung der Zu-
hörer war eine derartig starke, daß einige ohnmächtig wurden, während
andere so sehr im Banne des Redners standen, daß sie erst später,
nachdem sie aus der Hypnose erwacht waren und den Gedankengang der
Rede wiederherstellten, sich von der Gewalt des Eindrucks Rechenschaft
zu geben und ihre Nichtübereinstimmung mit den geäußerten Ansichten zu
formulieren vermochten.
Eine ununterbrochene, während des ganzen Lebens geübte Selbst- Psychologie,
•L-Li T^ ■ i'ic -IT'- .^ l'sycliopatlio-
beobachtung setzte Dostojewsky m den Stand, die temsten Schattierungen ^gie und
krankhafter Seelenzustände zu ergründen; pathologische Erscheinungen Oostojewskys.
zogen ihn an; er wurde unwillkürlich einseitig, dafür konzentrierte er aber
auch seine ganze Kraft auf die Bearbeitung dieses Gebietes. In seinen
Werken schilderte er durchweg krankhaft veranlagte, von den Unzuläng-
lichkeiten des Lebens gequälte und gebrochene, erbitterte Menschen, my-
stische Träumer, religiös Erregte, Leute, die ihre Kraft in einem lockeren
Lebenswandel aufreiben und niederen Lüsten frönen, und Verbrecher. Sein
Schaffen wurde zu einer Heimstätte für die große Schar der Geistes-
kranken. Obgleich er bei der Abfassung „menschlicher Dokumente", die
er dem realen Leben entnommen hatte, kein wissenschaftliches Ziel ins
Auge faßte, wie dies Zola oder Ibsen getan hätten, so unternahm er
dennoch, ohne vor dem Äußersten des anormalen Lebens zurückzu-
schrecken, tiefdringende Analysen und entwickelte dabei einen solchen
Scharfsinn, daß die Psychiatrie seine künstlerische Arbeit später mit ihrer
Autorität zu decken vermochte. Das „Totenhaus" hatte ihn gegen die
Schrecknisse der Geisteskrankheiten gestählt, die Jahre der Verbannung,
während welcher er überdies an Epilepsie gelitten hatte, ließen sich
nicht aus seinem Leben löschen; die Krankengeschichte mancher seiner
Helden weist die Züge seines eigenen Leidens auf Doch der Künstler
griff auch zur Fiktion, schilderte das Seelenleben erfundener Persönlich-
keiten, und dennoch war das Bild von ergreifender Wahrheitstreue. Merk-
würdigerweise berichteten die Zeitungen über die Ermordung eines ver-
112 Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
ächtlichen, habgierigen Wucherers durch einen vom Mißgeschick ver-
folgten jungen Mann unmittelbar nach dem Ercheinen von „Schuld und
Sühne" und entsprach das Drama im reellen Leben vollständig den Schil-
derungen der Fiktion. Wenn Dostojewsky die Macht der Überlegung
überschätzte, die dem Mörder die soziale Nutzlosigkeit einer alten reichen
Frau, die Notwendigkeit, ihr brachliegendes Kapital zum Wohle der
Menschen zu verwenden und der ungerechten Verteilung der Güter zu
steuern, vor Augen führte, und hierin wohl die größte Schwäche des
Werkes liegt, so ist doch das komplizierte Seelendrama des den in-
telligenten Kreisen angehörigen Verbrechers, die Fixierung des Mord-
gedankens, das verhängnisvolle Zusammentreffen verschiedener Umstände,
die den Entschluß rasch reifen lassen, die wahnwitzig schnell vollzogene
Ermordung und Beraubung und die unaufhörliche Qual, das Auftreten von
Halluzinationen und sinnlosen Handlungen, der Kampf der Finsternis mit
dem noch nicht verlöschten Licht und schließlich das freiwillige Bekenntnis
des Mörders mit ergreifender Kraft geschildert. Das ist der Vorwurf des
besten Romans Dostojewskys „Schuld und Sühne", dessen Schilderungen
der Seele des Verbrechers unmittelbar entnommen zu sein scheinen, und
der deshalb von zahlreichen Kriminalisten, Psychiatern und Soziologen
studiert worden ist.
Sittliche, Obgleich Dostojewsky sich dem zeitgenössischen Leben immer mehr
deraokra^tischo entfremdete und der künstlerischen Psychopathologie zuwandte, hielt
Dostojewskys. er dennoch an den Überzeugungen seiner Jugend fest. Ihm blieb das
Bewußtsein von der Gleichheit der Menschen, der gegenüber Besitz-,
und Standesunterschiede nichts bedeuten, stets gegenwärtig, und sein
aufrichtiger Demokratismus veranlaßte ihn, seine Sympathien vorzugs-
weise den Armen, Rechtlosen und Verfolgten zuzuwenden. Inmitten der
sittlichen Zerrüttung und Liederlichkeit der höheren Schichten der Gesell-
schaft und des Kampfes ums Dasein der Plebejer fühlen sich die Gleich-
gesinnten und Leidensgefährten zueinander hingezogen. Im „Idioten" wen-
det sich Fürst Myschkin, der sich der Vorurteile und der Unduldsamkeit
seines Kreises schämt, seinen armen Mitbrüdern zu, entsagt seinen Privi-
legien, um mit der Masse zu verschmelzen und wird infolgedessen für
geisteskrank gehalten. Seine nivellierenden Anschauungen finden bei
einem gefallenen, aber mit einem starken sittlichen Gefühl begabten
Mädchen Widerhall. In „Schuld und Sühne" fühlt sich RaskolnikofF
zum elenden, dem Trünke ergebenen Marmeladoff und seiner Tochter,
die sich, um ihre Familie zu retten, der Prostitution ergeben hat, hin-
gezogen. Alexis Karamasoff, ein Mann von reinster Gesinnung und
Nächstenliebe, der berufen scheint, das Leben der Gesellschaft merklich
zu beeinflussen, findet den Schlüssel zu den Seelen der sinnlichen, launischen,
aber dennoch zu gToßmütigen Handlungen fähigen Gruschenka, des vom
Unglück niedergedrückten, bettelarmen Stabskapitäns und seines sterbenden
kleinen Sohnes. Das Auftreten hochherziger Regnangen erweist sich als
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrliunderts. I. Epoche der Reformen. 11^
von dem Bildungsgrade der Menschen unabhängig; auch die Geringen ver-
mögen einen moralischen Halt zu bieten und einen tiefgreifenden Einfluß
auszuüben. So führt die fast gänzlich ungebildete Sonja Marmeladoff
Raskolnikoff durch ihr allumfassendes Verzeihen zur Wiedergeburt und
zur Erlösung. Die Neigung Dostojewskys, der Lasterhaftigkeit und Härte
der Menschen ein Gegengewicht zu bieten, wuchs unaufhaltsam und ver-
anlaßte ihn schließlich dazu, rein ideale Charaktere zu schaffen. Natürlich
steuerte er auf diese Weise demselben Mißerfolge entgegen, den seine
nicht weniger bedeutenden Vorgänger erlitten hatten. Er begab sich auf
denselben Pfad, den Gogol in seiner letzten Lebenszeit betreten hatte,
suchte die Offenbarung bei den Predigern mönchischen Heldentums und
gewährte ihren Gestalten Einlaß in seine Romane. Jedoch der Geist
der Aufrichtigkeit und Schlichtheit, der in Dostojewsky lebte, sein Haß
gegen den Aberglauben, die Gewalttätigkeit und den Betrug, die im
Namen der Religion verübt werden — jener Haß, der in einer Episode
der „Brüder Karamasoff", welche das zornige Verhör Christi durch den
Großinquisitor schildert, zum Ausdruck kommt — bewirkten, daß das im
Roman gezeichnete Bild eines greisen, ehrwürdigen Mönches, der voller
göttlicher Eingebungen und Vorahnungen ist, die Züge volkstümlicher
Schlichtheit trägt und die Aufgabe zu haben scheint, auf den Ersatz
der toten klerikalen Moral durch einen demokratischen Zusammenschluß
schlicht gläubiger Menschen unter der Führung geliebter Hirten hinzu-
weisen. Wie Dostojewsky das Problem der religiösen, auf die Kultur-
arbeit eines seelisch reinen Laien und nicht auf mönchische Entsagung
gegründeten Wiedergeburt der Menschheit gelöst hätte, läßt sich schwer
sagen. Der dritte Band der „Brüder Karamasoff", der die weitere Ent-
wicklung des einzigen moralisch intakten Mitgliedes dieser entarteten Fa-
milie, Alexis, behandeln sollte, blieb ungeschrieben.
Wenn auch der Kreis der unbedingten Verehrer des großen Roman-
schriftstellers seine Beantwortung der wichtigsten Lebensfragen gläubig
hinnimmt und in den von ihm geschaffenen positiven Persönlichkeiten den
Zielpunkt der seelischen Entwicklung sieht, so wird doch der unbefangene
Beurteiler stets zu der Überzeugung kommen, daß seine Stärke nicht in
lichtvollen Phantasien, in seiner Theorie von einer besseren Zukunft und in
seiner religiösen Predigt liegt, sondern in seinen erstaunlichen Schilderungen
der dunklen Seiten des psychischen und sozialen Lebens, in seiner Sezier-
kunst, die die Schäden der Menschheit offenbart, in seiner Fähigkeit,
boshaften Eigenwillen, sinnlichen Egoismus und Roheit ohne Scheu ans
Licht zu ziehen, einer Fähigkeit, um derentwillen er von einem der
besten russischen Kritiker der Neuzeit, Michailowsky, als ein „unbarm-
herziges Talent" bezeichnet worden ist. Nachdem er sein Leben lang
für die Leidensgeschichte der Menschheit Material gesammelt und in
seinen Romanen vorzügliche psychiatrische und kriminalistische Studien
veröffentlicht hatte, wollte er seine sämtlichen Beobachtungen zu einem
Die Kultur der Gegenwart. I. g. 8
IIA Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
Bilde der sozialen Geschichte von den zwanziger Jahren an zusammen-
fassen. Dieser Plan wurde nicht verwirklicht; selbst im kleineren Maß-
stabe, in den auf drei Bände berechneten „KaramasofFs", gedieh er
nicht zur vollkommenen Ausführung, doch enthält die Geschichte dieser
kranken Familie, in der sich starke Leidenschaften, sinnloser Eigenwille,
sinnliche Gier und Roheit vererben — eine Geschichte, die die Schilde-
rung einer Reihe anderer anormaler Persönlichkeiten einschließt, die
mit den Brüdern und dem verachteten, schamlosen Vater, dem Urheber
alles Übels und aller Leiden, in Berührung kommen — überaus merk-
würdige „menschliche Dokumente". Sie drücken nieder und quälen und
fesseln dennoch. Zeitweise scheint der Erzähler zu ermüden; es stellen
sich Längen, Abschweifungen und überflüssige Episoden ein, aber dann
wandelt sich das Bild plötzlich: mit übermenschlicher Kraft fesselt er
wieder die Aufmerksamkeit, führt erschütternde Szenen vor Augen und
schreitet über die bodenlosen Tiefen menschlicher Bosheit und Leiden.
Dostojewsky, der auch für zarte, weiche Schilderungen begabt war,
der einige wunderbare, der kindlichen Seele gewidmete Studien hinter-
lassen hat, vermochte in der Sphäre gerade entgegengesetzter Affekte
eine unvergleichliche Macht zu entfalten. Seine Lorbeeren, die er als
Prophet und Philosoph geerntet hat, sind jetzt verwelkt; der späteren
Generation wurde sein Konservatismus zur Last; immerhin gibt es in
der Weltliteratur der neueren Zeit wenige psychologisch vorgehende Ro-
manschriftsteller, die einen Vergleich mit Dostojewsky nicht zu fürchten
brauchen.
Leo Tolstoi In den bewegten Zeiten der sechziger und siebziger Jahre ging ein
inmitten der
Bewegung der anderer großer Denker und Künstler, Tolstoi, seme eigenen Bahnen.
Siebzigerjahre. Nachdem er aufgehört hatte, sich an der Bauernreform und der Organi-
seiner seibstän- sierung der Volksbildung zu beteiligen, hatte er die praktische Tätigkeit
anschauung. Überhaupt aufgegeben und sich um so mehr der Gedankenarbeit zugewandt.
In den Werken der Übergangszeit spiegeln sich seine Zweifel und sein
Schwanken. Sein Glaube an den Fortschritt war erschüttert. Zwei
Reisen durch Europa hatten in ihm einen ungünstigen Eindruck hinter-
lassen. Die europäische Zivilisation war ihm kleinbürgerlich und seelen-
los erschienen; die Begegnungen mit Ausnahmeerscheinungen, mit Leuten,
die sich einer intensiven geistigen Tätigkeit oder der sozialen Arbeit hin-
gaben, vermochten ihn nicht auszusöhnen. Tolstoi legte sich keine
Rechenschaft darüber ab, daß sich gerade damals im Westen bedeutende
Bewegungen vorbereiteten, die am Ende des 19. Jahrhunderts zum Aus-
bruch kamen, und sprach, besonders in seiner Erzählung „Luzem", ein
entschiedenes Verdammungsurteil über die europäische Welt aus — über
die Welt, die ihm später sowohl als Künstler als auch als Moralist so viel
Verständnis entgegengebracht hat. Es waren aber keine nationalistischen
oder slawophilen Betrachtungen, die ihn auf den Gegensatz der nutz-
losen Verfeinerung der Kultur — auf die naive Weltanschauung der Volks-
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. 115
massen hinwiesen. Sein Olenin hatte schon längst versucht, zu dieser
Lebensquelle vorzudringen; Rousseau hatte ihm bereits vor langen Jahren
den einzigen Weg, der zur Gesundung führt, bezeichnet. Tolstois Ge-
danken schlugen jetzt immer wieder diese Bahnen ein. Die Tendenz
offenbarte sich nicht nur dann, wenn er in seinen Erzählungen die Welt
der „Bauern" und die Welt der „Herrschaften" einander gegenüber-
stellte, sondern machte sich auch in jenem monumentalen Werke gel-
tend, das damals entstand, und, wie es schien, berufen war, nicht das
neue Leben zur Darstellung zu bringen, sondern längst Vergangenes
wieder zu erwecken. Jene Gedanken erwiesen sich nicht nur als Pfand
für eine lichtere Zukunft, sondern auch als Schlüssel zum Verständnis
der Vergangenheit.
Der Gedanke, die Geschichte der Gesellschaft durch mehrere Gene- Tolstois „Krieg
und Frieden".
rationen hindurch in einer umfangreichen Erzählung zu schildern, der be- Die Prinzipien
reits sowohl Puschkin und Lermontoff als auch Dostojewsky gefesselt sehen Romans.
hatte, wurde im Roman „Krieg und Frieden" zu einer Zeit realisiert, als
das Bedürfnis nach der Lösung moralischer Probleme in Tolstoi stark
gärte. Eine Periode der Seelenruhe nach seiner aus Liebe erfolgten Ver-
heiratung ermöglichte ihm, die große Arbeit, die er schon längst geplant
hatte, in Angriff zu nehmen, und seine neue Geistesrichtung ließ ihm das
Vergangene in einem eigenartigen Lichte erscheinen. Die Künstler, von
denen die Vergangenheit bearbeitet worden war, hatten, einschließlich
Puschkin, einige erprobte Methoden hinterlassen. Dem historischen Drama
dienten die Königstragödien Shakespeares als Muster, auf dem Gebiete
des Romans gab Walter Scott den Ton an, für die historische Darstellung
war Karamsin maßgebend. Der Verfasser von „Krieg und Frieden"
lehnte aber sämtliche Autoritäten ab, ging selbständig vor und schuf sich
seine Formen selbst. Ihm lag die Tradition, die gangbare Handhabung
der politischen und Kriegsgeschichte ebenso fem, wie das Dichten nach
einem gegebenen Muster. Er verstand, aus Ereignissen und Strömungen
den Geist der Völker und Zeiten hervorzuzaubern. Die Aureole, die die
großen Persönlichkeiten umstrahlt, hielt ihn nicht ab, ihren menschlichen
Eigenschaften, ihrem Seelenleben als Forscher näher zu treten. Im Rahmen
der Schilderung einer langen Spanne Zeit (von 1805 — 1813, im Epilog
das Jahr 1820) wird eine Reihe psychologischer Skizzen aus dem Leben
aller Schichten der Gesellschaft gegeben; auf breiter Basis wird die Bio-
graphie der einzelnen Persönlichkeiten, die mit der Fabel des Romans in
Zusammenhang stehen, entwickelt, und Szenen voll dramatischen Lebens
werden zur Darstellung gebracht. Im Laufe jener denkwürdigen Jahre
gestalten sich aber die einzelnen Menschenschicksale zu einer zusammen-
hängenden Geschichte von ganzen Familien und Generationen. Napoleon,
Kutusoff, die Schlacht von Borodino, der Brand Moskaus im Jahre 1812,
der tragische Vorabend des Untergangs, der Rußland drohte — anderer-
seits Szenen aus dem Dorfleben, Soldatensitten, patriarchalische Verhält-
Il6 Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
nisse des Provinzadels, humorvolle Dialoge zwischen gefangenen Fran-
zosen und ihren gutmütigen Besiegem, das Sprachgewirr der inter-
nationalen Petersburger Salons, die angesichts der historischen Ereignisse
so leichtfertig und so nichtig erscheinen — kurz, das Hohe und Alltäg-
liche, das Bleibende und das Flüchtige bildeten das Material, aus dem
Tolstoi ein wunderbares Gebäude schuf. Ihm genügte aber nicht die
Harmonie der einzelnen Teile des Werkes, die Folgerichtigkeit des Plans,
Das moraiisciie die Wahrheit des Kolorits. Die Erzählung vom gigantischen Kampf der
„Krieg und Völker und der Staaten gibt ihm aufs neue Veranlassung, den Gesetzen,
Frieden". ° S > >
die das Leben der Menschheit beherrschen, forschend nachzusinnen. Nicht
der geniale Scharfblick der Heerführer und Regenten, nicht die Taktik
des Generalstabs, nicht die toten Konstruktionen der Staats- und Kriegs-
wissenschaften, sondern der Geist der Volksmassen, die vereinten Willens-
regungen der schlichten Leute, ihr unbemerktes Heldentum und ihre
Passivität sind für die großen Ereignisse entscheidend und als die trei-
benden Faktoren der Geschichte zu betrachten. Als Wortführer der
Masse erscheint der Soldat Piaton Karatajew mit seiner wenig kompli-
zierten Moralphilosophie, die vom Geiste der Brüderlichkeit, Duldsam-
keit und Selbstaufopferung getragen ist. Vor ihm beugt sich ein so
blasierter Weltmann, wie der Graf Pierre Besuchoff, der zufällige Ge-
nosse seiner Gefangenschaft. Der Reichtum, die Privilegien der Kultur,
die moderne aus Frankreich überkommene Lebensanschauung erscheinen
ihm nun nichtig und trügerisch; die sanften, gleichmäßigen und auf-
richtigen Reden Karatajews, denen alle Gelehrsamkeit fernliegt, ergreifen
dagegen die Seele und geben ihr die „innere Freiheit". Karatajews
letzte Erzählung, eine Parabel, die er im Kreise der Gefangenen in
der Nacht am Lagerfeuer vorträgt, erscheint Pierre später in der Er-
innerung wie die Verkündigung eines neuen Evangeliums. Karatajew ist
der erste Vertreter der von nun an bei Tolstoi häufig vorkommenden
Verkündiger einer ausgleichenden, allvergebenden Moral und zugleich das
Urbild eines in der neuesten russischen Literatur heimischen Typus, der
neuerdings in der bekannten Gestalt des alten Luka im „Nachtasyl" in
die Erscheinung getreten ist. Als er von französischen Marodeuren in
verräterischer Weise erschossen wird, trauert nur sein Hund, sein unzer-
trennlicher Begleiter, an seiner Leiche. Mit seinem Verschwinden erstirbt
der Lebensnerv der Erzählung.
Die Selbst- Das Ideal Karatajews, das demjenigen des „stolzen Verstandes, der
analyse Tolstois ■' ' Ja "
und der Wende, selbstzufriedenen Wissenschaft, die sich anschickt, die ewigen Geheimnisse
„Die Beichte", ^jd Offenbarungen des Glaubens zu zergliedern und zu erklären", und
der Theorie des Fortschrittes, die „alle Völker auf das gleiche Niveau der
Entwicklung zwingen will", gerade entgegengesetzt ist, dieses Ideal „des
Lebens in Gott", „des Lebens um der Seele willen", ist von nun an von
Tolstoi unablösbar. Der sittliche Kern dieses Ideals ging immer mehr
in sein Bewußtsein über, regte ihn immer wieder zu neuen Forschungen
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. 117
an, brachte ihn den Lehren derjenigen russischen Sekten näher, die die
Moral der Brüderlichkeit hochhalten, führten ihn mit einzelnen Persön-
lichkeiten aus dem Volke zusammen, die über das Wesen des Lebens
gegrübelt hatten, veranlaßte ihn zum Studium der unabhängigen Sitten-
lehrer aller Völker und aller Zeiten, zu einer noch eingehenderen Beschäf-
tigung mit der frühesten Periode des Christentums und führte den Wahrheits-
sucher schließlich zu einer reinen, geläuterten, religiösen Anschauung. Sein
ganzes Leben, sein Irren und Fehlen erschienen nun vor dem Richterstuhl
seines Gewissens, und das Ergebnis war Tolstois erschütternde „Beichte".
Doch in dieser Krisis wurde neues Leben gewonnen. Die von aller kleri-
kalen Verzerrung freie christliche Moral, der Glaube an die Macht der
Liebe und der Selbstvervollkommnung lassen die eitlen Sorgen und
Lockungen der Welt in nichts zerrinnen. Die Peripetien des sozialen
und politischen Lebens Europas und Rußlands ließen von nun an den
Denker unberührt. Weder die Wendung der Geschicke Frankreichs und
Deutschlands nach 1870 noch der Kampf mit der Reaktion in Rußland
und die revolutionären Erschütterungen, noch der serbische und der Orient-
krieg 1877 — 78 spiegeln sich in seinen Werken wieder. Er spinnt gelassen
seine Gedanken aus, stellt den Irrungen der Menschheit die allein er-
lösende Lehre entgegen, postuliert als eines der Grunddogmen, dem uns
zugefügten Bösen keinen Widerstand zu leisten, verhält sich seiner künstle-
rischen Tätigkeit gegenüber, die nur leichtfertigen und sündigen Zwecken
gedient hatte, immer schroffer und sucht seine schriftstellerische Begabung
in den Dienst der Moralpredigt zu stellen.
Tolstois letzter Roman älteren Typus' „Anna Karenina" trägt be- „Anna Kare-
reits den Stempel des sich vollziehenden Wandels. Auf der einen Seite
findet sich hier eine breite, für jemand, der den Flitter der Welt bereits
abgelegt hat, allzu breite Schilderung der sittenlosen höheren Gesellschaft,
in deren Mittelpunkt Anna und der Gegenstand ihrer unglückseligen Liebe,
der glänzende, physisch kraftvolle, jedoch oberflächliche Wronsky stehen.
Auf der anderen Seite wird in Parallele hierzu die seelische Entwicklung Das romantische
Levins, eines aus dem gleichen Milieu stammenden Mannes, geschildert, Element des
der unter dem Gesichtswinkel des Romans betrachtet kein besonderes In- künstlerische
teresse einflößt, jedoch als Gegenbild zur allgemeinen Sittenverderbnis, in
seinem Irren und endlichen Siege ein neues autobiographisches Bekenntnis
zur Darstellung" bringt. Die künstlerische Bearbeitung ist diesen Elementen
nicht in gleicher Weise zuteil geworden. Das Sündhafte, Eitle, Sinnliche
und Tragische steht durchaus im Vordergrunde des künstlerischen Inter-
esses, während das belehrende Moment sich ausschließlich auf die Ver-
kündigung von befreienden Wahrheiten stützt. In der erprobten Weise
des großen Realisten wird das müßige, verzärtelte Leben, das Anna mit
ihrem korrekten, hochgestellten, aber beschränkten Manne führt, das plötz-
liche Aufflammen der Leidenschaft bei der ersten Begegnung zwischen Anna
und Wronsky, ihr Kampf mit ihrem Gatten und der Welt für ihr Gefühl
Il8 Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
und das Aufkeimen der Enttäuschung, die sie an ihrem Geliebten erleben
sollte, geschildert. Das Werk, das höchstwahrscheinlich um der mora-
lischen Belehrung willen ersonnen worden war, und ein hartes, von der
Rache der Gottheit handelndes Bibelwort als Motto trägt, wurde zur Er-
zählung vom tragischen Geschicke einer Frauenseele, die unwillkürlich
Sympathie erregt. Die letzten Stunden Annas, in denen sie zum Selbst-
mord getrieben wird, ihr Irren durch die Straßen Moskaus in der Hoff-
nung, Wronsky wiederzusehen, die Gedanken, Entschlüsse und tausend
nichtige Details ihres Lebens, die sich in ihr Bewußtsein drängen und ihr
Gehirn zu sprengen drohen, als sie auf ihrer Wanderung an das Eisenbahn-
geleise kommt imd sie sich plötzlich in die Erinnerung zurückruft, daß
ihre erste Begegnung mit Wronsky mit dem Selbstmord eines Unglück-
lichen zusammenfiel, der sich von einem Zuge hatte töten lassen, das
Aufleuchten der Erkenntnis, wo für sie der Ausgang liegt, und ihr Tod
auf den Schienen — das alles gehört nicht nur zu den besten Partien
des Romans, sondern wird allezeit ein Beispiel tiefer psychologischer
Analyse und künstlerischer Meisterschaft bleiben.
Levin und die Levln, der berufen ist, inmitten der sündigen Welt die positiven Prin-
Philosophie des . . ... . p... . , t^- i r
schlichten zipicn ZU Vertreten, ist nicht mit verführerischen Eigenschaften ausgestattet;
Nächsteoiiebc. bei ihm ist alles ungekünstelt und ordnet sich den natürlichen Trieben
unter. Er kann sich mit den „falschen Ergebnissen des Fortschrittes und
der Reformen und mit den Lehren der Wissenschaft, die von der Unzer-
störbarkeit der Materie, der Erhaltung der Kraft und von dem Kampf
ums Dasein redet, aber unfähig ist, den Sinn des Lebens zu erklären,
nicht aussöhnen", ihn stößt der „Stolz und die Spitzfindigkeit des Verstandes"
ab, dagegen lauscht er auf die Stimme des Richters in seiner eigenen
Brust. Die Verarbeitung seiner Anschauungen ist schwerfällig, sein Werk
gedeiht langsam. Während einer gefahrvollen Niederkunft seiner Frau eilen
seine Gedanken zu Gott, „der allein verzeihen und retten kann". Als er
bei Gelegenheit eines Gespräches mit einem ganz einfachen Manne diesen
in schlichter Weise sagen hört, daß unser gegenwärtiges Leben Gott, der
Wahrheit und unserem Nächsten geweiht sein müsse, verschwinden alle
seine religiösen Zweifel und das sittliche Ziel seines Lebens wird ihm klar.
Weder die Theologie, die sich „gegen das Gute, diese einzige Bestimmung
des Menschen", gleichgültig" verhält, noch der Verstand, sondern die ge-
heimnisvolle Kraft, die „alle Menschen, Millionen verschiedenartigster Na-
turen, Weise und Thoren, Kinder und Greise, Bauern, Bettler und Könige
einander nahebringen kann, indem sie alle dasselbe begreifen lehrt und
ihnen das Ziel des Lebens weist, um dessentwillen es sich allein zu leben
verlohnt", diese geheimnisvolle Kraft gibt ihm die sittliche Freiheit — ,
und wiederum ist es ein unkultivierter Mensch, der das rechte Wort für
Die Propaganda sis ZU finden Weiß.
"'"Lehr"*'"* Für die Entwicklung der von Tolstoi verkündeten Lehre sind die
eSiungen. Darlegungen Levins zweifellos von Bedeutung; in künstlerischer Beziehung
B. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. ijq
erscheinen sie farblos und deuten den beginnenden Zerfall der Produktion
Tolstois in zwei fast heterogene Elemente an. Es ist Tolstoi nie gelungen,
die genialen Grundlagen seiner Kunst zu paralysieren, so oft er auch die
Bedeutungslosigkeit seiner früheren Schriften behauptet haben mag. Von
Zeit zu Zeit bricht der unsterbliche Funken, selbst wenn die belehrende
Tendenz ihre höchste Spannung erreicht, mit neuem Glanz hervor, so
z. B. in „Iwan Iljitschs Tod", in der „Macht der Finsternis" und in der
„Auferstehung". Die geistige Energie Tolstois ist aber von nun an auf
den Ausbau eines sozial-ethischen Systems gerichtet. Um dieses Systems
willen hat der Wahrheitsucher manche harte Polemik ausgefochten. Er
glaubte, daß die Wissenschaft durch seine Lehren bis in ihre Grundlagen
erschüttert würde und war, wie sein Vorbild Rousseau nach der Veröffent-
lichung der Dissertation über die Schädlichkeit der Wissenschaft, gelegent-
lich genötigt, Äußerungen zurückzunehmen, die auf ihn den Schein werfen
konnten, ein moderner Herostratus zu sein. Die Nationalökonomie mit
ihrer, wie es ihm schien, falschen Sorge für das Gemeinwohl, nannte er
einseitig, listig, eine Sklavin des Kapitals, und richtete seine Pfeile gegen
sie. Die Philanthropie, die sich anschickt, die Not durch materielle Hilfe-
leistung zu lindern, empörte ihn, und als er einst zur Zeit einer Volks-
zählung in Moskau die Zufluchtsstätten der Ärmsten besuchte und die
Schrecknisse der Verlumpung und Verkommenheit sah, suchte er andere,
rein seelische Heilmittel gegen das soziale Elend. Das Bild einer von
der Schmach der Ungleichheit befreiten Arbeitsgemeinschaft, die Leute
aller Berufe und aller Bildungsgrade vereinigen, keinen religiösen oder
polizeilichen Zwang', keine Gewalttätigkeit, keinen Krieg und kein Blut-
verg'ießen dulden sollte — ein Ansatz zu einem normalen, von der Lehre
Christi getragenen Leben — begann anfangs in unklaren, dann aber in
immer deutlicheren Umrissen hervorzutreten. In einzelnen Gegenden Ruß-
lands bildeten sich bereits Gruppen von Anhängern dieser Lehre, auch
wurden ihrem Geiste entsprechende soziale Reformen versucht; es ent-
stand eine neue Sekte, der „Tolstoismus", und die Zahl der Typen in
der russischen Gesellschaft wurde durch den „Tolstowetz" bereichert. Die
schriftstellerische Begabung des Meisters wurde in den Dienst der Pro-
paganda seiner Lehre gestellt. Seine ketzerische Ästhetik, die er später
in dem Traktat „Was ist die Kunst?" formuliert hat, indem er nicht
das Schöne als die Grundlage des künstlerischen Schaffens gelten ließ,
sondern das sittlich Veredelnde, das die Menschen durch das ewige Prin-
zip der Liebe vereinigt, diese Ästhetik fand in seinen Werken praktische
Anwendung. Er schrieb zahlreiche kleine Erzählungen, die bis auf die letzten
politisch erregten Jahre in Millionen von Exemplaren verbreitet wurden
und dem Volksbewußtsein die Grundbegriffe seiner Lehre in der leicht-
faßlichen Form von Gleichnissen einprägten. Diese Lehre hat mancherlei
Wandlungen erlebt, ehe sie die Bahnen des neuesten friedlichen Tolstoi-
schen Anarchismus einschlug' — jenes Anarchismus, der jegliche Gewalt-
J20 Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
tätigkeit, jeden staatlichen Zwang ausschließt, und um der Brüderschaft
aller Menschen willen alle nationalen und patriotischen Leidenschaften
von sich weist. Der Einfluß seiner Predigt, die von einer eminenten
künstlerischen Begabung getragen wurde, drang weit über die Grenzen
Rußlands. In der Eroberung Europas durch die russische Literatur, die
in den achtziger Jahren zu einem bedeutenden Kulturfaktor wurde, fällt
Tolstoi wohl eine der wichtigsten Rollen zu.
Während Dostojewsky und Tolstoi sich von den Wirren der Gegen-
wart abwandten und ihre eigenen Wege gingen, stellte die große Mehrzahl
der Schriftsteller ihre Kraft in den Dienst des Augenblicks. Die Be-
„Der Gang zum wegung, die sich in den siebziger Jahren der Jugend bemächtigte und als
Turgenieffs „Gang zum Volke" bezeichnet wurde, war die Antwort auf verschärfte reak-
" ^" " " tionäre Maßnahmen. Hunderte von meist noch recht unerfahrenen jungen
Leuten, Männer und Frauen, legten Bauemtracht an und trugen die frei-
heitlichen Gedanken unter die breite Masse des Volks. Oft hatten diese
Enthusiasten ihre Selbstverleugnung nicht nur mit Einkerkerung- und
Verbannung zu büßen, sondern wurden auch von denen gerichtet, für
die sie litten, weil das Volk die Propaganda nicht verstand und durch sie
aus seiner Ruhe aufgeschreckt wurde. Diese schwere Übergangszeit ist
von Turgenieff, der die Rolle des Zeitgeschichtschreibers wiederum über-
nahm, in seinem letzten Roman „Neuland" geschildert worden. Das Motto
dieses Werks, das fast agronomisch klingt, gibt schon den Schlüssel zum
Verständnis des Mißerfolges jener Bestrebungen in die Hand. Sie mußten
fehlschlagen, da die Saat auf unbeackerten Boden fiel. Wiederum traten
in diesem Romane Junge, heißblütige Menschen auf; in vieler Beziehung
gelang es Turgenieff, das Typische und Charakteristische zu erfassen; daß
seine Sympathie auf selten derjenigen war, die dem Untergange entgegen-
gingen, war ersichtlich, aber die Zeichnung des positiven Charakters,
Solomins, mit seiner geheimnisvollen Ausführung des Planes einer steten
Arbeit im Dienste des wahren Fortschritts, war ebenso mißglückt, wie
diejenige des Stoltz bei Gontscharoff. Wenn auch die öffentliche Mei-
nung die Objektivität der Beurteilung der „illegalen" Bestrebungen an-
erkannte, die damals von einer Gruppe konservativer Schriftsteller mit
Schmähungen überhäuft zu werden pflegte, so war sie doch unzufrieden,
daß Turgenieff die mangelhafte Vorbereitung und die betrübende Nutz-
losigkeit der jungen Bemühungen betont hatte. Jetzt, nach Jahren, weiß
man, daß er recht hatte; nicht solche Leute wie sein Neschdanoff
haben die Siege der Befreiungsbeweg-ung errungen. Die Verbindungen,
die Turgenieff während seines dauernden Aufenthaltes in Paris mit den
russischen radikalgesinnten Kreisen im Auskmd gewann, insbesondere seine
Bekanntschaft mit Peter Lawroff, einem Manne von umfassender Gelehr-
samkeit und großer Tatkraft, ersetzten ihm die Beziehungen, die er ehe-
mals mit Herzen, Ogareff und Bakunin unterhalten hatte, und brachten
ihn mit den Männern des Tages in Berührung. Nach dem Erscheinen
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. I. Epoche der Reformen. 121
des „Neuland" gelangte seine Kompetenz in politischen Fragen bald
wieder zur Anerkennung", und seine letzte Reise nach Rußland führte
zu einer völligen Aussöhnung. Wiederum lauschten alle seiner Stimme.
Kurz \'0r seinem Tode schrieb er „Senilia" oder „Gedichte in Prosa", „Gedichte in
. j T-* Prosa".
in welchen in der Form von Gedankensplittern, Lrmnerungen und Be-
urteilungen die Tagesfragen, der Chauvinismus und das Märtyrertum der
jung-en Generation behandelt wurden. Eines von diesen Gedichten, „Die
Schwelle", das erst im Jahre 1905 gedruckt werden konnte und die Ver-
achtung schildert, die ein Teil des Volkes denjenigen, welche um seinet-
willen leiden, entgegenbringt, während ein anderer Teil des Volkes sie
für heilig hält, klingt wie ein Segen, den der Dichter dem Umschwung,
den er ahnend kommen sieht, erteilt.
Während Turgenieff von seiner Pariser Warte aus die soziale Be- „DioVateriändi-
^ ^ , sehen Annalen"
wegfunsf verfolgte, wich Saltykoff nicht von seinem Posten inmitten des unter Saitykoff.
° = => ' ^ Der Fortschritt
Kampfes. Seine Satiren hatten nun mehr denn je die Bedeutung des der Kritik und
^ -' f N.Michailowsky.
höchsten publizistischen Tribunals. Als er Redakteur der „Vaterländischen Zwei Rich-
tungen in der
Annalen" geworden war, verschaffte er ihnen den Einfluß eines tonan- Erforschung des
* ' . Volks.
gebenden Organs, den die Zeitschrift unter Belinsky bereits besessen hatte. ciobUsspensky.
Die besten belletristischen Talente wurden seine Mitarbeiter. An die
Spitze des kritischen Teiles trat der letzte bedeutende russische Kritiker,
Nikolai Michailowsky, ein Mann, der mit einem Feingefühl für die
Neuerscheinungen in der Literatur völlige Unabhängigkeit des Urteils den
Korj^phäen gegenüber verband, über eine umfassende philosophische
Bildung verfügte, dabei aber den Naturwissenschaften und der Soziologie
lebhaftes Interesse entgegenbrachte. Seine Hingabe an den politischen
Radikalismus kann erst gegenwärtig voll gewürdigt werden, da manchedei
Intimes aus seinem Wirken erst nach seinem Tode bekannt geworden ist.
Die Zeitschrift war der Erforschung sämtlicher Lebenserscheinungen, vor
allem dem Studium der Bauernfrage gewidmet. In ihr kamen die beiden
Richtungen zu Wort, die sich bereits in den sechziger Jahren unter den
Männern, die dem Dorfe ein besonderes Interesse entgegenbrachten,
geltend gemacht hatten. Der Vertreter der einen dieser Richtungen war
Gleb Usspensky, der anfangs das städtische Proletariat geschildert hatte,
dann aber, nachdem er unter Bauern gelebt und zahlreiche Beobach-
tungen gesammelt hatte, den Entschluß faßte, in seinen Erzählungen
den Bauer, so wie er wirklich ist, ohne seine schwachen Seiten zu be-
mänteln, und die Gedankenwelt, von der er beherrscht wird, zur Darstel-
lung zu bringen. Lange vor dem Erscheinen von Zolas „La Terre" und
Polenz's „Büttnerbauer" hat er in seiner „Macht der Erde" auf den ge-
waltigen Einfluß, den die Mutter Erde auf das Denken und Tun des
Ackermannes ausübt, auf seine Liebe zu ihr und seinen leidenschaft-
lichen Wunsch, sie zu beherrschen, hingewiesen. Die andere Richtung-,
die in Slatowratsky ihren Vertreter fand, stellte der in den zivilisierten
Schichten der Gesellschaft bestehenden Fäulnis die gesunde Kraft des
122 Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
Bauerntums entgegen und forderte zu einer Wiedergeburt im Schöße
des Volkes auf. In der Erzählung „Bauern als Geschworene" wird die
Unbefangenheit, das Wahrheitsgefühl und der natürliche Gerechtigkeits-
sinn gekennzeichnet, den die ersten bäuerlichen Teilhaber an der tief-
greifenden Reform der Rechtspflege bewiesen hatten. Unter all diesen Mit-
arbeitern der „Vaterländischen Annalen", die das Leben und seine Be-
dürfnisse zu erforschen suchten, nahm der Redakteur Saltykoff eine maß-
gebende Stellung ein. Sein Weg war schwer und dornenvoll. Die
Machthaber konnten nur durch eine entscheidende Tat — durch die
Unterdrückung der Zeitschrift, die bereits im Jahre 1884 erfolgte — dieses
gefährlichen Gegners Herr werden. Einige Novellen und Skizzen Salty^-
koffs, von denen fast keine in ihrer ursprünglichen Gestalt erschien,
konnten überhaupt nicht veröffentlicht werden. Als er eine Serie „Briefe
an eine Tante" (d. h. Rußland) zu schreiben begann, in denen er die
wichtigsten Tagesfragen streifte, fragte er witzig bei seiner verehrten
Verwandten an, was denn aus dem oder jenem besonders interessanten
Briefe geworden sei? Die Post sei wohl nachlässig gewesen und habe ihn
nicht bestellt.
s IL Die achtziger und neunziger Jahre. In dieser Zeit hatte
man das Gefühl, als lebte man in einem Kreise, dem nicht nur alle
Fröhlichkeit und aller Sinn für Komik abhanden gekommen war, sondern
der es überhaupt verlernt hatte, freudvolle Stimmungen zu erleben. Über
ihm hingen, wie über den Träumen der Patrioten, der Mystik Dostojewskys
und der Predigt Tolstois schwere Wolken, die den Verstand und das Ge-
wissen bedrückten. Die Anstrengungen des orientalischen Krieges, zahl-
lose politische Prozesse, kühne Anschläge, außerordentliche Maßnahmen
zur Aufrechterhaltung der Ordnung, endlich die „Diktatur des Herzens"
von Loris-Melikoif, die niemand befriedigte — dies alles übte einen
ständigen Druck auf die Gesellschaft aus und ließ jede Hoffnung auf
bessere Zeiten verstummen. In dieser Stimmung lag die Wurzel des
Pessimismus, der in den achtziger Jahren, da tatsächlich alles im Nebel
versank und die Ausmerzung des liberalen reformatorischen Geistes als
politische Losung galt, epidemisch wurde. Die Symptome der heran-
nahenden Melancholie machten sich bereits bei der jüngeren Genera-
tion bemerkbar, welche ins Leben trat, als die Reaktion Wurzel ge-
schlagen hatte und ihre vernichtende Wirkung von Jahr zu Jahr in ver-
stärktem Maße geltend machte. Die krankhafte Reflexion war nicht die
Folge eines tapferen Zusammenstoßes, wie er den älteren Schriftstellern
beschieden war, oder eines verzweifelten revolutionären Zweikampfes, wie
er nur von wenigen fanatisch begeisterten Persönlichkeiten ausgefochten
wurde, sondern lediglich das Ergebnis der traurigen Zeitverhältnisse.
Wenn eine solche Stimmung über eine zerrissene kranke Seele kam, so
war vorauszusehen, wohin dies führen mußte. Dies war das Schicksal
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Die achtziger und neunziger Jahre. 123
Wssewolod Garschins, des talentvollsten Belletristen der siebziger und
achtziger Jahre.
Garschin, der in der beklemmenden Atmosphäre ersticken zu müssen wssewoiod
glaubte, begeisterte sich anfangs für den Gedanken einer slawischen Be-
freiung, der, wie er meinte, dem Kriege von 1877 zugrunde lag. Er
glaubte, dem Kampfe nicht fem bleiben zu können, an dem die große
Masse seiner Landsleute notgedrungen sich beteiligen mußte. So trat
er als Volontär in die Armee ein. Während seines Heeresdienstes sah
er alle Schrecknisse eines unmenschlichen Schlachtens, den Triumph
des Todes, Unterschlagungen und allerlei andere Mißbräuche. Das un-
gewöhnliche Schicksal eines Soldaten aus seinem Regiment, der verwundet
vier volle Tage lang auf dem Schlachtfelde gelegen und namenlos ge-
litten hatte, diente Garschin als Vorwurf zu der Erzählung „Vier Tage
auf dem Schlachtfelde", welche die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich
zog. Sowohl aus dieser Erzählung als auch aus den „Memoiren des Ge-
meinen IwanofF" sprachen viel dramatische Kraft, tiefe Humanität und eine
starke Abneigung gegen den Krieg. In den Schriften Garschins offen-
barte sich ein dem Antimilitarismus Tolstois verwandter Ideengang'; da er
äußerst feinfühlig und psychisch belastet war, entwarf er traurige Schilde-
rungen in Fällen, in denen eine gesundere Natur lebhaften Protest erhoben
hätte. Kaum war Garschin von einer Wunde geheilt, hängte er das Kriegs-
handwerk an den Nagel und wandte sich wieder dem gesellschaftlichen
Leben zu, dessen er überdrüssig geworden war. Sein zerrüttetes Nerven-
system vermochte aber die herrschenden Laster nicht mehr zu ertragen.
Er erbebte angesichts der sozialen Ungleichheit, des schweren Loses der
Arbeiter und der Armut des Volkes und begann nun Erzählungen zu
veröffentlichen, die das verborgene Leiden der Unterdrückten und Un-
glücklichen darstellen. Sie sind oft sehr eigentümlich in der P~orm, ent-
halten schroffe Übergänge, Sprünge in der Darstellung, sogar Schilde-
rungen von Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Einige von ihnen
erschöpfen sich in der Wiedergabe von Psychosen, die fast immer aus
der Betrachtung des Übels und der Leiden erwachsen und in einem
tiefen Weltschmerz wurzeln. Die Lösung ist immer tragisch; oft haben
die Bilder eine düstere Größe. In der „Roten Blume", die im Garten
einer Irrenanstalt erblüht, ist, wie ein Kranker glaubt, „alles Böse der
Welt enthalten: alles unschuldig vergossene Blut, alle Tränen und alle
Galle hat sie in sich aufgesogen". Dies geheimnisvolle, schreckliche
Wesen, Ariman genannt, ist das Gegenbild Gottes, das eine bescheidene,
unschuldige Gestalt angenommen hat. Diese Blume muß ausgerissen und
vernichtet werden; dabei ist aber zu verhüten, daß sie sterbend alles Böse,
das sie enthält, über die Welt ausströmt. Gegen diesen allgemeinen Feind
zieht der irrsinnige Menschenfreund in den Kampf, trunken vor Stolz bei
dem Gedanken, daß vor ihm noch keiner das Übel der ganzen Welt auf
einmal zu bekämpfen gewagt hat. Völlig erschöpft geht er in der Nacht
124 Alexis Wessfxovskv : Die russische Literatur.
hinaus, um die letzte Blüte zu vernichten, sinkt dann bewußtlos auf sein
Bett und nimmt die Blume, die er fest umklammert hält, mit in sein
Grab, während sein Gesicht helle Freude ausdrückt. In einer anderen
Erzählung malt der Künstler Rjabinin alle Schrecknisse des Martj'riums,
das der Arbeiter einer Kesselfabrik zu erdulden hat, wenn die schweren
Schläge des Hammers auf den Kessel, in dem er arbeitet, niedersausen,
in Brust und Kopfe dröhnen, ihn des Gehörs berauben und schließlich
seinen frühen Tod herbeiführen. Dieses Bild ist ein stummer Zeuge der
Grausamkeit der Menschen, ein Symbol der Ungleichheit, die Rjabinin
fast um den Verstand bringt. Kaum hat er sich von seinem nervösen
Zusammenbruch etwas erholt, so entsagt er der Kunst, die ihm große
Erfolge verhieß, und wird Dorflehrer, um dem Volke dienen zu können.
Der hoffnungslos kranke Verfasser brachte den Personen seiner Erzäh-
lungen ein unendliches Mitgefühl entgegen. Er kannte sein Los, flüchtete
mit seinen Gedanken mehrfach in Sanatorien und schrieb dann wieder Er-
zählungen, deren Düsterheit nur selten durch ein lichtes Bild oder durch
wehmütigen Humor erhellt wird. In einem seiner Krankheitsanfälle hing
er beständig Selbstmordg-edanken nach, schließlich konnte er ihrer nicht
mehr Herr werden, trat aus seiner Wohnung- auf die Treppe hinaus und
stürzte sich durch ihre Lichtung. So wurde das Verzeichnis der talent-
vollen russischen Schriftsteller der Gegenwart, die vorzeitig' starben und
reiche Hoffnungen mit sich begruben, um einen teuren Namen bereichert.
Der nächste in dieser Reihe war Nadson. Die ersten Eindrücke von
den sozialen Zuständen erhielten er und Garschin zu gleicher Zeit. Die
verschärfte Reaktion der achtziger Jahre vermochte hier wie dort nur
eine Tendenz zur Entwicklung zu bringen, zu der der Grund bereits
früher gelegt worden war. In Nadson lebte ein leidenschaftliches Sehnen
nach Licht, Freude und Schönheit. Seiner jüdischen Abstammung ver-
dankte er die üppige Phantasie und die seelenvolle Tiefe seiner Lyrik.
Es kränkte ihn, daß seine Ideale und Träume den im Leben triumphie-
renden Prinzipien zuwider waren — daher das melancholische Kolorit vieler
seiner Dichtungen. Epikuräertum lag' seiner Kunst fern, ihn lockten keine
persönlichen Genüsse. Die Freiheit und das Gute rief er an und glaubte,
„daß die Welt, der Qualen müde, ihre Augen voll traurigen Flehens zur
ewigen Liebe erheben werde". Die Kämpfer für das Wohl des Volks ehrte
er nicht weniger, als es die eigentlichen politischen Dichter taten. In seinem
Gedicht, in dem er das in Nizza auf dem Grabe Herzens errichtete Denk-
mal verherrlichte, entwarf er ein schönes Bild vom großen Publizisten.
Im breiten Strome der von ihm gepredigten Wiedergeburt erklingt seine
junge lyrische Beichte in Tönen wahren Gefühls. Früh schon erregte er
die allgemeine Aufmerksamkeit, begegnete maßloser Begeisterung aber
ebensoviel unverhohlener Mißgunst. Wie ein glänzender Stern war er am
Himmel der russischen Dichtkunst erschienen, aber auch er war, wie
Garschin, dem Siechtum verfallen. Das Gift der Tuberkulose wütete in
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Die achtziger und neunziger Jahre. 125
seinem Körper. Erschöpft verließ er die Heimat und suchte im milderen
Klima Heilung. Hilfsbereite Freunde überhoben ihn aller Sorgen und
verzögerten auf diese Weise das Ende. Der Dichter wurde zum Schatten
seiner selbst. In seiner Lyrik sprach sich die Vorahnung der nahe be-
vorstehenden ewigen Trennung vom Leben aus. Die menschliche Bosheit
beschleunigte ihren Eintritt, indem sie aus der Tatsache bereitwilliger
Hilfeleistung Material zu Unterstellungen gewann. Wenn der Tod John
Keats' mit der niederschmetternden Wirkung der feindseligen Kritik, die
seine Dichtkunst erfuhr, zusammenhing, so hat auf Nadson, den russischen
Keats, der sich in der warmen Luft der südlichen Krim zu erholen
schien, eine der in der Presse verbreiteten Insinuationen wie ein vernich-
tender Schlag gewirkt. Bis auf den heutigen Tag hat die Popularität
Nadsons keine Einbuße erlitten; selbst in der politisch bewegten Gegen-
wart wird das Wenige, das er in seinem kurzen Leben zu schaffen ver-
mochte, da es den Stempel wahrer Kunst trägt, in zahlreichen Ausgaben
verbreitet. Die jüngsten Generationen haben nicht wenige dichterische
Beeabuneen hervorgebracht, aber wenn auch der beste unter den Der äußerste
* ° o ' Nationalismus
modernen Dichtern, P. Jakubowitsch, mehr philosophische Gedankentiefe und seine
^ theoretische
und politischen Radikalismus besitzt, so ist doch in Aadson der letzte »egrUnduns.
begnadete Lyriker Rußlands zu Grabe getragen worden.
Die Krisis des Jahres 1881 kam nicht nur in einer Änderung des
Regimes und in dem Wechsel der machthabenden Persönlichkeiten zum
Ausdruck, sondern auch in der Richtung, die die Entwicklung des
Volkes von nun an nehmen sollte. Die Konzessionen, die dem Libe-
ralismus gemacht worden waren, das ehemals vorhanden gewesene
Streben nach kultureller Solidarität mit Europa, wurden nunmehr als
Verrat an den Grundlagen des Volkstums betrachtet. Die Ermordung
Alexanders IL wurde mit der Reformbewegung, an die eine gewisse
Duldsamkeit der Presse gegenüber, die ländliche Selbstverwaltung, die
neu organisierte Gerichtsbarkeit noch gemahnten, in einen schier unbe-
greiflichen Zusammenhang gebracht. Alledem mußte ein Ende bereitet
und der Fehler mit der Wurzel ausgerottet werden. Europa und dem
Kosmopolitismus sollte ein scharf umgrenzter Nationalismus gegenüber-
treten; das Ideal einer patriarchalischen Macht, wie sie vor dem Zeitalter
Peters bestanden hatte, sollte neu erstehen und mit ihm die friedlichen
Tugenden gehorsamer Bürger. Mit der Austilgung alles dessen, was an
das Zeitalter Alexanders IL erinnerte, wurde ein idealisiertes 17. Jahrhun-
dert an die Stelle des 19. gesetzt. Wenn das offizielle Programm auf diesen
Ton gestimmt war, so machte sich auch in der Gesellschaft und in der
Literatur eine ähnliche nationalistische Bewegung geltend; die Romane
Boborykins, eines feinfühligen Beobachters des Gesellschaftslebens, spie-
gelten diese neue soziale Strömung, als pathologische Erscheinung, wider.
Die Epigonen der Slawophilen, deren Vorfahren einen demokratischen,
oppositionellen Standpunkt vertreten hatten, schlössen sich der herrschenden
126 Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
Richtung an und erklärten Westeuropa den Krieg, um die Wiedergeburt
des nationalen Lebens in die Wege zu leiten. Es trat eine konservative
literarische Schule der „Volkstümlichkeit" auf den Plan, die mit der
Volksseele einen mystischen Kultus trieb. Wenn ihr auch jeder mora-
lische Zwang bei der Verbreitung ihrer Ideen fern lag, so erwies sie
sich doch als sehr unduldsam. Sie kannte das Dorf leben, vertrat eine
gewisse Richtung der volkstümlichen Belletristik und verfügte über zwei
oder drei gute journalistische Kräfte. Unter der Fahne solcher und ähn-
licher Strömungen wurde die „russische Idee" und die russische Selb-
ständigkeit verfochten, als wenn sie nicht schon im Laufe von anderthalb
Jahrhunderten von den besten Schriftstellern ohne jegliche aggressive
Tendenz verkündet worden wäre, sondern erst die Überwindung der re-
volutionären Wirren die Organisation des Volkslebens dem Verständnis
nahe gebracht hätten, während doch bereits zahlreiche Generationen von
Historikern, Ethnographen, Juristen und Statistikern an seiner Erforschung
gearbeitet hatten.
Turgenieffs und Der Einfluß des Nationalismus und der politischen Reaktion lastete
„Vcrgesseno schwer auf der allgemeinen Bildung, der Wissenschaft und Literatur. Das
höhere Schulwesen sank immer tiefer, die Entwicklung' der akademischen
Tätigkeit wurde durch neue Universitätsstatuten und durch die Entfernung
gefährlicher Elemente aus dem Professorenkollegium eingeschränkt. Daß
auf diese Weise eine Reihe glänzender, wissenschaftlicher Begabungen
brachgelegt wurden, wurde nicht berücksichtigt. Das außerordentlich
imposante Begräbnis Turgenieffs in St. Petersburg, das Hunderte von
Deputationen in die Hauptstadt führte , deren Prozession sich mehrere
Meilen weit bis zum Friedhof von Wolkowo hinzog, woselbst, wie im
Poets Corner in der Westminster-Abtei, die großen Schriftsteller und die
anderen um das öffentliche Wohl verdienten Männer vereint ruhen — diese
Kundgebung der allgemeinen Sympathie für die fortschrittliche Literatur
war die letzte zulässige Demonstration zu Ehren des alten Liberalismus.
Im folgenden Jahre wurde die Zeitschrift Saltykoffs verboten. Der große
Satiriker war nun genötigt, für seine Arbeiten in anderen Zeitschriften,
sogar in den Feuilletons der Zeitungen Unterkunft zu suchen. Er wählte
jetzt noch öfter die Form eines Märchens. Seine Märchen klingen aber
traurig, und tief ist die Moral, die aus ihnen spricht. Als Saltykoff
bereits von den Ärzten aufgegeben war, schleuderte er noch von seinem
Krankenlager aus Anklagen gegen das neue Regime. Er war empört,
daß die Grundbegriffe, die ehemals die Welt gelenkt hatten, daß die
Worte Gewissen, Vaterland, Menschheit und andere mehr in der allge-
meinen Demoralisierung abhanden gekommen waren. Er beschloß, sie
den Menschen ins Gedächtnis zurückzurufen, und tatsächlich fand man
nach seinem Tode auf dem Schreibtisch den Anfang seiner Arbeit: „Ver-
faß d^Wsson- gessene Worte".
"^'"sloWj'cff."'" Auch die Wissenschaft schickte sich an, die verloren gegangenen Be-
C. Die zweite Hälfte des ig. Jahrhunderts. II. Die achtziger und neunziger Jahre. 127
griife durch ihre humanisierende Predigt zu retten. Unter den Vertretern
der Philosophie war es der beredte und sowohl durch seine sittliche Rein-
heit als auch durch seinen Idealismus fesselnde Wladimir Ssolowjeff,
der diese Aufgabe auf sich nahm. Er erkannte das tödliche Gift des un-
duldsamen Nationalismus und trat für die Idee des allgemein Menschlichen
in die Schranken, lehnte sich gegen die Intoleranz auf, stand unerschütter-
lich auf dem Boden der Gewissensfreiheit und bekämpfte inmitten der
Judenhetzen den Antisemitismus. Im Namen der Menschlichkeit wandte
er sich gegen die harten Kriminalstrafen und hielt zu Beginn der neuen
Periode eine bemerkenswerte öffentliche Vorlesung ab, in der er sich
gegen die Todesstrafe aussprach. Auch aus Jassnaja Poljana ertönte der
Mahnruf, der Liebe, des Guten, der Brüderlichkeit eingedenk zu sein, und
ein lebhafter Protest gegen die Hinrichtungen, doch schien nichts die er-
nüchternd wirkende konservative Bewegung aufhalten zu können. Ein
Nachlassen der Energie, das sich schon früher in einem niederdrückenden
Pessimismus bemerkbar gemacht hatte, bemächtigte sich einer ganzen
Generation in ihren Hoffnungen getäuschter Menschen. Dies spiegelte
sich in der Belletristik wieder, die auf diesem pathologischen Boden er-
wuchs, insbesondere im Schaffen Anton Tschechoffs, eines der Koryphäen
der modernen Literatur.
Abseits vom Wege dieser Schule des Pessimismus steht jedoch ein Koroienko and
Mann von großer Begabung, der sich unter dem Einfluß der voran- Schriften.
gehenden liberalen Periode, fern von den literarischen Zentren selbst-
ständig entwickelt hatte und inmitten der herrschenden Depression und
Mutlosigkeit an das ewig bewegende, lebendige Prinzip gemahnte. Die
Verbannung in das östliche Sibirien, welche die Jugend Wladimir Koro-
le n kos verdüsterte, hatte ihn nicht geschwächt, sondern seine Begabung
und seine Gedanken konzentriert und gestählt. Aus einer kleinrussisch-
polnischen Ortschaft gebürtig, wurde er in ein Milieu verpflanzt, das dem
„Totenhause" Dostojewskys glich, und lernte im entlegenen, völlig anders
als seine engere Heimat gearteten Lande das traurige Los der von der
Gesellschaft Verstoßenen, der Bewohner der Gefängnisse und der „An-
siedler" kennen. Diese Erlebnisse machten auf ihn einen starken Ein-
druck, und als er in das europäische Rußland zurückkehrte, trat er mit
einer Erzählung hervor, die dem Leser eine unbekannte Welt erschloß.
„Makars Traum" eröffnete in der Belletristik die Reihe künstlerischer
ethnographischer Studien über Sibirien, die später in den meisterhaften
Erzählungen des russisch-polnischen Schriftstellers Seroschewsky, in den
Novellen Tans, sowie in anderen literarischen Erzeugnissen von Verbannten
ihre weitere Entwickelung fanden. „Makars Traum", der sich in einer
völlig kulturlosen Umgebung abspielt, enthält feine psychologische Beob-
achtungen. Makar ist ein Nachkomme ehemaliger russischer Ansiedler in
einer weltverlorenen, öden Gegend, die sich mit heidnischen Aboriginem,
den Jakuten, vermischt hatten und sich in ihren Lebensgewohnheiten, ihrer
128 Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
Sprache und ihren Anschauungen wenig von ihnen unterschieden. Schwach
glimmt in ihm der Glaube an eine große göttliche Macht, die für ihn die
Gestalt des Tojon der Jakuten angenommen hat; seine Begriffe von dem
Sittlichen, von Gut und Böse, sind primitiv. Mit dem Vermittler zwischen
Gott und den Menschen, einem alten, heruntergekommenen Priester, wird
gesungen, gezankt und geprügelt. Nach einem solchen berauschenden
Abenteuer sieht Makar einen sonderbaren Traum. Ihm träumt, daß er
gestorben und daß der Tag der Abrechnung- gekommen sei. Von allen
Seiten strömen die Toten, zu Fuß oder beritten zu Tojon. Makar tritt
gleichzeitig mit dem armen Pfäfflein Jwan, der bereits vor mehreren Jahren
gestorben war, vor den gestrengen Richter, und da fallen ihm alle seine
begangenen Sünden ein, seine Schelmenstreiche, seine heftigen Begierden
und seine Roheit. Die Schale, die von seinen Sünden belastet wird, sinkt
tief. Aber im Herzen des Wilden gibt es auch menschliche Regungen:
seiner Seele ist das Streben zum Guten nicht fremd; alle Unbill, alle Gewalt-
tätigkeit und alles Unglück, das ihm in so reichem Maße zuteil geworden
war, erwacht in ihm im schmerzlichen Erinnern. Und er wundert sich, daß
ihm, dem Wortkargen, der fast das Sprechen verlernt hat, plötzlich die Zunge
gelöst wird, daß seine Rede frei von seinen Lippen fließt und alle die
Erniedrigten und Verfolgten vor Gott verteidigt. Die Schale der Wage,
welche die guten Gedanken enthält, sinkt jetzt immer tiefer . . . Die Be-
schreibung dieses Traumes eines armen beschränkten Mannes, der in einer
rauhen Natur lebt, ist in einem so warmen Tone gehalten und so voll
Mitgefühl mit den Verstoßenen, daß sie, da sie überdies in künstlerischer
Form abgefaßt war, große Sympathie für den Verfasser erweckte. Korolenko
bekennt in seinen Erinnerungen, daß anfangs Turgenieff, dann Nekrassoff
und Dobroliuboff, schließlich die ganze Literatur jener Zeit auf ihn ein-
gewirkt und ihm eine neue Welt erschlossen haben. Tatsächlich rief
zweito Periode, seine Erzählung die Erinnerung an die größten Meister wach. Es folgte
eine Reihe Novellen aus dem sibirischen Leben. In ihnen wurden nicht
nur die bekannten Typen der Gefängnisse und Bergwerke geschildert,
sondern auch eigenartige Charaktere von Ansiedlem, die das Verlangen
nach kühnen Abenteuern, nach einem heldenhaften Kampf mit der Natur,
starke Leidenschaften, Eifersucht und Rachsucht in die sibirische Einöde
verpflanzten. Korolenko zeichnet auch weibliche Gestalten, die den Stempel
der Willensstärke und des Kampfesmutes trugen, wilde Ehen, Ansätze zu
neuen Formen des Familienlebens, Flüchtlinge aus Sachalin, verschiedene
Typen von Arrestanten, unter ihnen einen Mann, der durch Zufall zum Mörder
geworden war und dem Verfasser die Anregung zu einer seiner besten Schil-
derungen gegeben hatte. Neben den sibirischen Bildern, die mit der jüng-
sten Vergangenheit Korolenkos in Zusammenhang standen, tauchten andere
auf, — Bilder aus seiner in der Ukraine zugebrachten Kindheit und Jugend;
es entstand eine neue Serie von Erzählungen, mit farbigen Schilderungen aus
dem Leben der kleinrussischen, polnischen und jüdischen Volksslämmc, mit
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Die achtziger und neunziger Jahre. 120
poetischen Naturbeschreibungen und einer Seelenanalyse, die in den kinder-
psychologischen Studien „In schlechter Gesellschaft" und „Der blinde Musi-
kant" besonders zur Geltung kommt und weder von Tolstoi noch von
Dostojewsky, diesen bedeutendsten Darstellern der Kindesseele, in den
Schatten gestellt wird. Endlich fühlte er sich zu den großrussischen Verhält-
nissen, insbesondere zu denen der Wolgagegend hingezogen, woselbst er,
nachdem er kurze Zeit die Freiheit genossen hatte, angesiedelt wurde und
wirken durfte. Damit beginnt die dritte Periode in Korolenkos Schaffen, das Die dritte
sich nunmehr auf der Grenze der literarischen und publizistischen Tätigkeit Vorwiegen der
bewegt. Die Träume des Romantikers, die psychologischen Beobachtungen, sozialen
die er einst mit einer stark realistischen Schilderung der Schattenseiten
des Lebens zu verbinden gewußt hatte, treten jetzt in den Hintergrund
und machen der praktischen Wirksamkeit zum Wohle des Volkes Platz.
Das Elend des „Hungerjahres" spannte seine Energie: er besuchte die
notleidenden Ortschaften, organisierte Hilfsaktionen und sammelte durch
die ständige Berührung mit dem Volke ein reiches Beobachtungsmaterial,
das er aber selten in künstlerische Formen prägte. Er ließ es vielmehr
die überzeugende Sprache des Tatsächlichen reden. Nishni-Nowgorod,
wo der Schriftsteller lange leben mußte, wurde eines der in intellektueller
Beziehung vorgeschrittensten Zentren der Provinz. Die Organisation
statistischer, ethnographischer und ökonomischer Untersuchungen über das
Bauerntum, die von jungen Kräften ausgeführt wurden, eine Belebung der
gesamten Wolgapresse, die bald darauf den ersten Arbeiten Maxim Gorkis
Unterkunft gewähren sollte, das waren die Tatsachen, die die Bedeutung
Korolenkos auf das soziale Gebiet verlegten und seinen Ruf als Publizisten
außer Frage stellten. Als er endlich die Freizügigkeit erlangte und in
die Hauptstadt übersiedelte, begleitete ihn bei seinem Scheiden von Nishni-
Nowgorod der Ausdruck allgemeiner Sympathie und Liebe. Der Verlust,
den die Literatur als Kunst dadurch erlitt, daß ein erstklassiges Talent
sich der aktiven Arbeit des Alltages zuwandte, war groß. Offenbar war
Korolenko der Meinung, daß der gegebene Augenblick anderes als Pflege
der Belletristik erheische. Die Sorge um das Wohl des Volkes stand für
ihn im Vordergrunde des Interesses. Die publizistische Tätigkeit, die
Korolenko nun in seiner Zeitschrift „Russischer Reichtum" entfaltete, er-
hebt sich hoch über das Durchschnittsniveau der von der Presse geleisteten
sozialen Arbeit. In den letzten Jahren des verschärften Kampfes hat sie
große Kühnheit bewiesen und nicht wenig zur Aufdeckung veralteter
Übel beigetragen. Wenn Korolenko von Zeit zu Zeit zur Kunst zurück-
kehrt und ein großrussisches Sittenbild schafft, eine Erzählung aus dem
sibirischen Leben niederschreibt, oder in autobiographischen Aufzeich-
nungen, denen er die Form der „Geschichte eines Zeitgenossen" ge-
geben hat, seine Kindheit, seine halbpolnische Erziehung, seine Eindrücke
vom polnischen Aufstande 1863 und die ersten Anzeichen des Einflusses
der freiheitlichen Literatur der sechziger Jahre in lebhaften Farben
Die Kultur der Gegenwart. L 9. q
I30
Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
schildert, dann fühlt man, daß eine große Kraft eingedämmt und der prak-
tischen Nützlichkeit geopfert wird.
Koroienko und Dicsc Kraft erlag nie dem Drucke des Pessimismus, wie schwierig
Vertreter die Verhältnisse sein mochten, unter denen Koroienko schaffen mußte.
gegengesetzter Wenn auch die Tatsachen, über die er berichtete, düster und abschreckend
waren, so leuchtete doch aus der Art ihrer Darstellung und ihrer Be-
wertung der unerschütterliche Glaube an eine bessere Zukunft und an die
Notwendigkeit des Kampfes. Während der freudlosen Zustände der
siebziger und achtziger Jahre war eine solche unwandelbare Überzeugungs-
treue eine seltene Ausnahme, deshalb war auch nicht Koroienko der Dol-
metsch der herrschenden Stimmung, sondern Anton Tschechoff, ein
wahrer Sohn seiner Zeit, der sich von ihrem bedrückenden Einfluß nie zu
befreien vermochte, sich vergeblich nach Licht, Freude und Freiheit sehnte
und nach dem negativen Ausfall seiner am eigenen Volke angestellten
Beobachtungen zu einer pessimistischen Beurteilung der allgemein mensch-
lichen Verhältnisse gelangte.
TschechoBf. Tschechoff war nicht mit trüben Erfahrungen belastet oder mit einer Prä-
Der Huraor in "
seinen frühesten dispositiou zur Melancholie ins Leben getreten, auch hatte er den mensch-
lichen Chimären nicht immer als kühler Skeptiker gegenüber gestanden.
Auf seiner schönen Stirn spiegelte sich Heiterkeit, mit unerschöpflichem
Humor hatte er alle Zufälligkeiten und Wunderlichkeiten des Lebens in
scharfsinnigen Parodien, amüsanten Sittenbildern und lebendigen Dialogen
beleuchtet und mit einigen Strichen Charaktere gezeichnet. Die Erstlings-
werke Tschechoffs muß man in humoristischen Blättern suchen; er hat
ihnen später die Aufnahme in die Sammlungen seiner Werke schroff ver-
wehrt. Aus ihnen sprach harmlose Fröhlichkeit, und sie hatten dem Ver-
fasser, einem unbekannten Neuling, im Kampf ums Dasein in erster Linie
als Erwerbsquelle gedient. Das Leben zeigte sich ihm nicht von der an-
ziehenden Seite; die nüchterne medizinische Bildung, die er erhielt,
schien dazu angetan, seine heitere Spottlust in Fesseln zu schlagen.
Aber Tschechoff suchte schon in seiner Jugend, wie einstmals Gogol, der
nach seinem eigenen Bekenntnis seine Begabung für die Komik gerade
dann, wenn das Schicksal sich besonders trübe gestaltete, stark auszu-
beuten pflegte, im Lachen, im Ersinnen amüsanter Situationen Vergessen
und Ablenkung von allzu unerfreulichen Eindrücken. Der Humor blieb
ihm auch über die Jug'end hinaus treu, war während seiner ganzen Wirk-
samkeit sein Begleiter und erlahmte erst in den letzten Jahren völliger
Kränklichkeit; er ist einer der Hauptzüge seines Talents. Von jeher zeigte
Tschechoff Neigung für die Miniaturform der Novelle und hat eine große
Menge solcher Skizzen nach der Natur hinterlassen. Lange fesselte ihn
das Spiel mit Kontrasten: nach der Schilderung einer traurigen, tragischen
oder schmachvollen Seite des Lebens griff er wieder zu seiner mutwilligen
Manier und bereicherte seine „comt^die humaine" um neue Züge. Mit den
Jahren aber büßte sein Humor an Feuer ein, und hinter der scheinbaren
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Die achtziger und neunziger Jahre. jji
Ruhe, mit der der Satiriker heitere Episoden aus dem Leben schilderte,
verbarg sich ironische Verachtung.
Die trüben Erfahrungen der siebziger und achtziger Jahre lenkten Die allmählich
TschechofF immer entschiedener von der ursprünglichen Richtung seiner Pessimismus bei
Gedanken und Studien ab. Die Kritik, die in seinen humoristischen
Skizzen die Anzeichen eines großen Talents zu entdecken glaubte, welches
das Leben, wie es tatsächlich ist, ins Auge faßt, unterstützte die sich in
Tschechoff vollziehende Wendung und wies ihm neue Wege. Tschechoff
brach mit der ephemeren Arbeit für humoristische Blätter, ging im Jahre
1888 zur künstlerischen Erzählung über, befreite sich von den beengenden
Forderungen eines bestimmten literarischen Genres und folgte den großen
Meistern des Wortes in der Darstellung des gesamten Inhalts des Volks-
lebens.
Saltykoff hatte nicht lange vorher dasselbe Leben, dieselbe Gesell- Die FüUe und
Schaft geschildert, in der Darstellung Tschechoffs lag aber weniger kampfes- ueit der Lebens-
mutige Gereiztheit und Anklage. In unendlicher Reihe entrollte sich die den Werken
Geschichte der sozialen Schäden. Mit der Wißbegier und Konzentration
eines Naturforschers oder Arztes, der seine Diagnose zu stellen hat,
studierte und reproduzierte er ihre Symptome. Für ihn gab es keine ver-
pönten Gebiete, nichts, was ihn aufhalten konnte; die Gesellschaftsschichten
aller Gegenden Rußlands, die ganze Mannigfaltigkeit der Differenzen eines
großen Landes machte er zum Gegenstand seiner Studien. Aus dem Süden
gebürtig, war er durch seinen Entwicklungsgang mit den nordrussischen
kulturellen Verhältnissen verwachsen, stand seiner Herkunft nach dem
Volke nahe und nahm dennoch an allem teil, was auf den Höhen der
Kultur gedacht und geschaffen wurde, war Zeuge des üppigen, faden
Lebens der privilegierten .Stände und andererseits ein freiwilliger Besucher
Sachalins, das er bereiste, um dem gleichgültigen Publikum über die bar-
barische Organisation des Lebens der Verbannten die Augen zu öffnen —
ein Unternehmen, das seine Gesundheit untergrub — , und dies alles trug
er in sein Schaffen hinein, das sich nicht bestechen ließ und keine Nach-
sicht kannte. Wie ein Spiegel reflektierte er das Bild welker, willenloser,
niedergeschlagener Leute, die Herrschaft des satten Egoismus, die Un-
wissenheit und Rechtlosigkeit des Volkes. Nirgends winkte Erlösung. Das
Sinken der Energie, die seelische Verstocktheit und Erstarrung, in der die
Gesellschaft lebte, nahm bei einzelnen Naturen einen krankhaften Cha-
rakter an. Leute, die in Freiheit lebten, befanden sich in einem ähn-
lichen Zustande wie solche Kranke, die man in Irrenanstalten unter-
zubringen pflegt. Tschechoff, dem das medizinische Interesse nahelag,
ging, nachdem er die pathologischen Erscheinungen der Gesellschaft
studiert hatte, zu psychiatrischen Studien über. Er schreckte vor der
Wiedergabe der schlimmsten Krankheitssymptome nicht zurück und
brachte ihnen mehr wissenschaftliches Verständnis entgegen als seine
Vorgänger Gogol, Dostojewsky und Garschin, so daß die russische psy-
9*
132
Alexis Wesselotsky: Die russische Literatur.
chopathologische Erzählungskunst, die bereits hervorrag'ende Leistungen
zutage gefördert hatte, mit dem Erscheinen von TschechofFs Erzählungen
.Zelle Nr. 6" und „Der schwarze Mönch" einen starken Fortschritt ver-
zeichnen konnte.
Die Themata Was ist das aber für eine Gesellschaft, deren Helden Neurastheniker
uad TypeD in
den Erzähiuugeu sind, Und deren Stimmung durch Langeweile und Niedergeschlagenheit
Tscbechoffs.
charakterisiert ist! Der melancholische Vertreter der Intelligenz, der zu
jeglicher Tätigkeit unfähig ist, pflegt sich, wie der Held der Erzählung
„Das Duell" tut, mit dem Bewußtsein zu trösten, daß er ein außergewöhn-
licher, unverstandener Mensch, der direkte Nachkomme jener Leute sei,
die ehemals als problematische Naturen bezeichnet wurden. Derjenige aber,
der sich physische Kraft und Initiative bewahrt hat, blickt verächtlich auf
jenen herab, wie dies Von Koren, die zweite Hauptperson derselben vor-
züglichen Erzählung, tut, der sogar ein Duell nur deswegen provoziert, um
dem verachteten Simulanten und Komödianten eine Lehre zu erteilen und
sich am eigenen Siege zu ergötzen. Ob die Rettung nur bei solchen
Kraftnaturen liegt, die selbstbewußt und despotisch ins Leben greifen, ist
eine offene Frage. Möglicherweise wird die Erlösung durch die Frau er-
folgen, die sich jahrhundertelang in der Selbstaufopferung geübt hat und
von einem heißen Tatendi-ang beseelt ist. Tschechoff stellte aber nicht
wie Turgenieff und Ibsen den einseitig weiblichen Heldentypus in den
Vordergrund. In vielen seiner besten Erzählungen aus dem Dorfleben
oder aus dem Leben der Gesellschaft schildert er das ständige Leiden und
die Erniedrigung des Weibes und seinen Hang zur Lüge und Liederlichkeit,
der sich durch Auflehnung gegen sein Geschick entwickelt hat. Unerfahrene,
eigenwillige Persönlichkeiten, die sich mühselig zur Freiheit und Selbstän-
digkeit durchringen, zeichnet er selten. Eine solche Persönlichkeit ist die
Heldin der Erzählung „Die Frau", die zur Unabhängigkeit erwacht und nach
einer nützlichen Tätigkeit verlangt. Inmitten der Not des Hungerjahres ver-
mag sie das formelle Verhalten ihres bureaukratisch gesinnten Mannes der
Volksnot gegenüber nicht zu billigen. Zwischen ihr vmd den Dorfleuten
entwickeln sich Beziehungen der Solidarität; der Aufruhr in ihr wächst,
der Kampf gegen die despotischen Ansprüche ihres Mannes führt fast
zum Bruch, doch die Aufrichtigkeit ihrer Selbstverleugnung erweckt
schließlich in ihrem Manne und strengen Verurteiler ein verwandtes Gefühl,
und fast widerwillig schließt er sich ihren philanthropischen Bestrebungen
an, denen sie, um des Leidens und der Gerechtigkeit willen, alles zu
opfern bereit ist. In der Schar der welken, vom Leben gebrochenen oder
unpersönlichen Frauenseelen könnte diese kleine Siegerin einen erfreulichen
Eindruck machen. Aber die Hoffnungen, die sie erweckt, sind schwach
und nichtig, denn die überwiegende Mehrzahl der Frauen ist zu einem
freudlosen Dasein verdammt. Um sie her feiern der Egoismus und die
Sinnlichkeit Orgien. Wer sich aller Greuel solcher Zustände bewußt wird,
läuft Gefahr, den Verstand zu verlieren und Selbstmord zu verüben. So
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Die .-ichtziger und neunziger Jahre. ij^
erleidet der Student Wassilieff, der von Kameraden in ein verrufenes
Haus gelockt wird, einen Nervenanfall, als er die unmenschliche Zügel-
losigkeit vermeintlich anständiger Leute gewahrt, welche die Seele, die
Würde und die Gesundheit armer, hungerleidender Frauen mit Füßen
treten. Ein derartiger Zeitvertreib dünkt ihm ein organisiertes Morden; in
einer Gesellschaft zu leben, die solches duldet, ist ihm ein unerträglicher
Gedanke, und nur mit Mühe gelingt es, ihn einem gewaltsamen Tode zu
entreißen.
Bei der erschütternden Schilderung dieses hilflosen Protestes macht Eigentümiich-
der Verfasser eine Bemerkung, die sich zweifellos auf ihn selbst bezieht. Be'^Vbua'g'^
Sein Wassilieff hat, wie es heißt, schriftstellerisches Talent, doch finden sein'^ ,!mensch-
seine Freunde, daß die Begabung dieses Anfängers sehr eigentümlich ge-
artet ist. „Es gibt Leute mit literarischer, szenischer, künstlerischer Ver-
anlagung, sein spezifisches Talent aber ist die sympathische Einfühlung.
Er hat ein feines Verständnis für den Schmerz. Wie ein guter Schau-
spieler Stimme und Bewegungen anderer wiederzugeben vermag, so ver-
.steht Wassilieff fremdes Leiden in seiner Seele neu erstehen zu lassen;
wenn er Tränen sieht, weint er; in der Nähe eines Kranken wird er
selbst krank und stöhnt; wenn er irgendwo Vergewaltigung sieht, so
glaubt er, sie an sich selbst zu erleben." Ebenso ist TschechofF, wenn
er in seinen Erzählungen eine unübersehbare Reihe verwerflicher Er-
scheinungen vorführt, nicht bloßer Berichterstatter, aber auch kein erbitterter
Ankläger oder Moralist, der gelegentlich gute Lehren vorträgt. Der Reiz
seiner Kunst liegt eben darin, daß er sympathisch mitempfindet, daß
die Schmerzen, Tränen, Leiden und Gewalttätigkeiten, die er schildert,
scheinbar von ihm selbst erlebt sind und in dem Leser die gleiche Illu-
sion erwecken.
Es gehörte viel Mut und gleichzeitig aufrichtiges Mitgefühl dazu, um, Tschechoä uad
T.T^,,PP. . -r-.. ,, T--V-T-» 1 • 1 • Tolstoi als Schil-
wie dies ischechon m semer Erzählung „Die Bauern" tat, das niedrige derer jes Volkes
Niveau der Sittlichkeit und der geistigen Entwickelung im Dorfe, das leicht und „Die M.icht
zur Idealisierung Anlaß gibt, zur Darstellung zu bringen. „Die Bauern"
stellen mit den freimütigen Enthüllungen Usspenskys und mit Tolstois
düsterer „Macht der Finsternis" eine bedeutsame Gruppe in der literarischen
Erforschung des Lebens der Landbevölkerung dar. Durch die von Tolstoi
geschilderte Finsternis bricht aber ein heller Strahl, wenn einer der Bauern
die Moral der Brüderlichkeit des großen Schriftstellers in schlichter Form
verkündet; Tschechoff kennt dergleichen nicht. Die nackte Lebenswahrheit
soll nach ihm durch sich selbst auf ihr Gegenbild, das Licht, den Fortschritt
und die Menschlichkeit verweisen, sie scheint ihm nicht philosophische
Belehrung, sondern praktische Fürsorge für das Dorf zu fordern. Seine
Sympathien sind zweifellos demokratisch gefärbt; er wäre ja auch den
Traditionen der gesamten modernen Literatur untreu geworden, wenn er
sich auf die Seite des kulturellen Hochmuts der Herrschenden geschlagen
hätte. Zu den Niedrigen und in bescheidenen Verhältnissen Lebenden
134
Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur,
fühlt er sich hingezogen. Unter ihnen hofft er noch einige wenige Men-
schen zu finden, auf welche sich das allgemeine Verdammungsurteil nicht
erstrecken darf. Aber auch, solange der Mensch noch nicht erwachsen
ist, solange die Gemeinheit von ihm noch nicht Besitz ergriffen und die
sinnlichen Triebe nicht erwacht sind, lohnt es sich, sein Seelenleben mit
Die Psychologie Aufmerksamkeit und Teilnahme zu ergründen. Daher sind die Kinder für
Tschechoff. Tschechoff freundliche Oasen in der Wüste. Mit Liebe versenkt er sich in
Tierlebens, ihr naives Selbstbewußtsein und schildert gern ihre Eindrücke bei der Be-
rührung mit den sie umgebenden Menschen und Dingen. Die stark auto-
biographisch gefärbte Erzählung „Die Steppe" ist durch ilire Schilderung des
Erwachens einer Kinderseele inmitten der freien Steppe, auf welcher der
Knabe seine erste Reise unternimmt, der „Kindheit" Tolstois ebenbürtig.
Die Urwüchsigkeit der kindlichen Eindrücke regt leicht dazu an, den
Versuch zu wagen, das Seelenleben der Tiere, die ebenfalls zu den Lieb-
lingen Tschechoffs gehören, zu enträtseln. Die Geschichte der kleinen
„Kaschtanka" und ihrer Dressurgenossen, einer Gans, eines Schweines und
eines Katers, die Zeichnung ihrer Charaktere, die Heiterkeit und Beweg-
lichkeit des Hündchens, die Nachdenklichkeit und Kränklichkeit der alten,
schwindsüchtigen Gan.s, deren plötzlich eintretender Todeskampf und Tod
meisterhaft geschildert sind, gehört zu den besten künstlerischen Leistungen
auf dem Gebiete der Tierpsychologie.
Tschechoff als In Seiner letzten Periode versuchte sich Tschechoff als Dramaturg.
Die junge Generation, die sich erst jetzt an das Studium Tschechoffs
macht, sieht in seinen szenischen Werken, die vom Moskauer „Künst-
lerischen Theater" meisterhaft dargestellt werden, die Krone dessen, was
er geschrieben hat. Der plötzliche Durchbruch einer entschiedenen drama-
tischen Begabung, ein starkes Hervortreten des szenischen Elements ist
aber bei Tschechoff nicht zu verzeichnen. Wenn man an seine Stücke
den üblichen Maßstab anlegt, offenbart sich mancher Fehlgriff. Ibsen hat
auf der Höhe seines Schaffens mehr künstlerisches Geschick im Aufbau
des Ganzen bewiesen und in der packenden Kraft des Konfliktes leiden-
schaftlichere Töne angeschlagen. An die Bühnenwerke Tschechoffs muß
man mit ganz anderen Erwartungen herantreten; ihre Eigenart weist ihnen
einen besonderen Platz an. Seine Dramen kennen keine starken Persön-
lichkeiten, die mit der gesellschaftlichen Ordnung oder mit dem Schicksal
im Kampfe liegen, keine Kollision von Pflicht und Gefühl; auch treten
sie nicht in den Dienst einer Tendenz. In ihnen leben dieselben traurigen,
willenlosen oder farblosen Persönlichkeiten, die seine Erzählungen be-
völkern. Ihre Anziehungskraft beruht nicht auf der Tragödie einer mäch-
tigen Individualität, sondern auf der Mutlosigkeit und den Seufzern eines
verfehlten Loben.s. Das, was die Novelle mit Hilfe von Beschreibungen
und einem meisterhaften Dialog nicht wiederzugeben vermag, wurde greif-
bar und plastisch in der szenischen Illusion; des Zuschauers bcmächtig't
sich tiefe Melancholie. Vor seinen Augen ziehen Leute vorüber, die vom
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Die achtziger und neunziger Jahre. xjj
Leben aufgerieben und mürbe gemacht worden sind. Die Handlimg spielt
sich meistens auf dem Lande ab, wo ehemals geistig rege Menschen durch
die Mühsal des Alltags in der Einsamkeit zu denken und zu kämpfen ver-
lernt haben. Wenn sie sich dem Trunk ergeben, so bedeutet dies einen
kleinmütigen Protest gegen den Mißerfolg ihres Lebens. Doch auch die
Persönlichkeiten, die zufallig ins Dorf verschlagen werden, sind nicht
besser — da handelt es sich einmal um einen unbedeutenden Gelehrten,
der ein Vierteljahrhundert lang die Gedanken anderer auf dem Katheder
breitgetreten hat und durch Scheinerfolge verwöhnt worden ist (in „Onkel
Wanja"), oder um einen „bekannten Schriftsteller", der ohne Glauben an
seine Sache seine vielgelesenen Werke mechanisch neu bearbeitet, oder
um einen jungen dekadenten Dichter, der seiner Sucht nach Originalität
nicht Einhalt zu gebieten vennag (in der „Möwe"). Die „naufrages de la
vie" treten in Tschechoffs Dramen in Scharen auf. Der Umschwung, den
die Befreiung der Bauern für den Herrenstand bedeutet, die Notwendig-
keit, sich mit dieser Tatsache abzufinden, und die Unfähigkeit, sich mit ihr
auszusöhnen, sind für den Dichter ein dankbares Motiv, und in der Tat
handelt das letzte Drama Tschechoffs „Der Kirschgarten" vom Nieder-
gang und Verfall eines alten Geschlechts , das nicht imstande ist, die neue
Zeit zu verstehen. Sogar die Träume und Hoffnungen, die selbst bei die-
sem Menschengeschlechte nicht verstummen wollen, tragen den Stempel
des Krankhaften. In den „Drei Schwestern" träumt der Oberst Werschinin,
der selbst im Leben Schiffbruch gelitten hat und von der allgemeinen
Not niedergedrückt worden ist, von den glücklichen Zuständen, die in
zwei- oder dreihundert Jahren realisiert sein werden. In „Onkel Wanja'*
vertiefen sich der Held des Stückes und seine traurige Gefährtin, ein
alterndes Mädchen, nach der Abfahrt der Petersburger Gä.ste, die einen
Lichtstrahl in ihrem Leben bedeutet hatten, wiederum in ihre eintönige,
stumpfsinnige wirtschaftliche Tätigkeit und hängen dem Gedanken nach,
daß die Erlösung einmal kommen, daß das Erbarmen alles irdische Leid,
alles Übel überfluten und daß das Leben dann zart und süß wie eine Lieb-
kosung sein wird. Die Hingabe an eine Hoffnung, einen trügerischen
Wahn ist aber das Los nicht vieler dramatischer Gestalten Tschechoffs.
Andere werden von dem Gedanken beherrscht, „daß man leben und sein
Kreuz auf sich nehmen müsse". Eine der „Drei Schwestern" wird Volk.s-
schuUehrerin, will „ihr ganzes Leben denen weihen, die ihrer vielleicht
bedürfen und arbeiten, arbeiten!" Die jüngere Schwester, die selbst „noch
leben möchte", kann nicht umhin, die Frage aufzuwerfen: „Warum leben,
warum leiden wir? Wenn man das wüßte!" Dieses ungelöste Rätsel
quält manche der schwachen, willenlosen Persönlichkeiten; oft endigen die
Dramen mit einem Selbstmord.
Sowohl die Dramen Tschechoffs als auch die lebenswahre, traurige T3chl?choff?°in*
Chronik seiner Zeit, die er in seinen Novellen niederlegte, sind mit jenen "'iefchen'^de'^''
schweren Tagen, die Rußland damals durchlebte, unlösbar verknüpft. Im ^"'"'J-eban!"''^'^'
j ,(j Alexis Wessfxovsky : Die russische Literatur.
■ Starken Aufschwung der befreienden Bewegung, deren Augenzeuge zu
sein ihm nicht vergönnt war, verblaßten seine Bilder. Auch in dem
Lande, von dem er einst so viel Trauriges berichten mußte, erwachte
das Leben; nicht Willensschwäche und Neurasthenie ist nunmehr das
Zeichen der Zeit, sondern Kampf der Kräfte und Leidenschaften. Das
wahrhaft Künstlerische, das niemals stirbt, wird auch in den Schöpfungen
Tschechoffs unvergänglich bleiben, die Negation und der niederdrückende
Pessimismus, die aus ihnen sprechen, werden aber in besseren Zeiten
traurige Erinnerungen an ehemalige Leiden und Nöte sein.
Die neunziger III. Neues Jahrhundert. Der tief wurzelnde Pessimisinus hatte
E^che des Auf- offenbar den Blick des kranken Schriftstellers getrübt; weder bemerkte
"vX°kraf" er die Anzeichen der nahenden Wiedergeburt, noch glaubte er, der die
Überzeugung hatte, daß die Fäulnis und Ungerechtigkeit der Gesellschafts-
ordnung unabänderlich seien, an die Realisierbarkeit idealer Träume. In
seinen Dramen schlug er immer wieder dieselben Töne an; nur in den
allerletzten Erzählungen scheint etwas Licht durchzubrechen: der Typus
des hingebenden, sich selbstverleugnenden Weibes taucht gleichsam als
Vorbote eines besseren Menschenschlages auf. Das Leben aber schritt
weiter. Die neue Ära, die versucht hatte, sich auf die Traditionen
des vorangehenden Regimes zu stützen, stieß bald auf Tatsachen, welche
die völlige Unhaltbarkeit jener Prinzipien und das Anwachsen der
sozialen Kräfte dartaten, welch letztere zur Zeit der Reaktion nicht ge-
rostet, sondern im Gegenteil sich konzentriert und vermehrt hatten. Es
war, als wenn elektrische Ströme die Gesellschaft durchzuckten und
hier und da helle Funken schlugen. Diejenigen Volksschichten, welche
von der Bildung, von der Teilnahme an der allgemeinen Kultur fern-
gehalten worden waren, leisteten jetzt Gegenwehr. Nach der Stag-
nation der achtziger Jahre wies das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahr-
hunderts einen Zufluß von Lebensenergie auf. Die Literatur spiegelte die
soziale Strömung wieder. Mehr denn je war sie demokratisch. Der
DcrWiderschein morsche soziale Bau, von dem Tolstoi in seinem Roman „Auferstehung"
Schwungs in" der ein entsctzUches Bild entworfen, in welchem er den oberen Schichten
^Auferstehung'' der Gescllschaft, der Regierung, dem Adel, dem Gericht, der Kirche,
'°'Auftre't'e„/"'die christHchen Gebote der Liebe und Menschlichkeit entgegengehalten
Maxim Gork.s. j^^^^^^ ^^-^ ^.^ Kräfte Überall emporstreben, um sich an der Umgestal-
tung des Lebens zu beteiligen. In diesem Roman, der die Propaganda
Tolstois unvermittelt unterbrach, heben sich zwei Hauptfiguren vom
dunklen Hintergrunde ab: der von den Lastern der Gesellschaft beinahe
vergiftete Ncchljudoff und ein von ihm einst verführtes Landmädchen, das
der Prostitution zugeführt und dann in eine Kriminalangelegenheit ver-
wickelt wird. Die Moral des Romans läuft wieder darauf hinaus, daß
den Lockungen der Welt, den sozialen Vorrechten und dem Reichtum
entsagt werden muß. Der Aristokrat Ncchljudoff nähert sich brüdor-
C. Die zweite Hälfte des IQ. Jahrhunderts. III. Neues Jahrhundert. i ^y
lieh der verbannten Plebejerin und folgt ihr freiwillig nach Sibirien, um
sie nie wieder zu verlassen. Jedoch nicht nur auf dem Boden der Sitt-
lichkeit, der seelischen „Auferstehung", die alle gesellschaftlichen Unter-
schiede aufhebt, kündete sich die demokratische Tendenz der Literatur
an. Mehr denn je ergriffen Angehörige derjenigen Schichten der Gesell-
schaft, deren Stunde gekommen war, das Wort. Es handelte sich nicht
mehr um Vertreter des Bauernstandes, die sich einige Bildungsbrocken
zu eigen gemacht hatten und nun die Nöte und Wünsche ihres Standes
zum Ausdruck brachten; sondern auch dem Proletariat entstammende
Schriftsteller erhoben selbstbewußt und vernehmlich ihre Stimmen. Im
Laufe der letzten Dezennien hatte das Proletariat nicht nur durch das
Wachsen der Industrie, sondern auch durch die Schar der aus der Ge-
sellschaft ausgestoßenen, schiffbrüchigen, heimatlosen und verarmten Leute,
die den Nacken v'or der privilegierten Sattheit nicht beugen wollten,
eine Zunahme erfahren.
Als Alexis Peschkoff unter dem Pseudonym Maxim Gorki anfänglich Das Proletariat
■^ . . '^^ und die Lebens-
in bescheidenen Provinzblättem, dann in der einflußreichen Presse die art der „BarfuB-
' ler" in der Dar-
ersten Schilderungen des Proletariats zu entwerfen begann, war sein Stellung Goricis.
Seine Beziehun-
Erfolg in gleichem Maße durch sein Talent als auch durch die Eigen- gen zur äueren
^ . ° '^ Literatur und
tümlichkeiten der sozialen Schicht, der er entstammte, und die er seine selbstän-
dige Beisteuer.
meisterhaft darzustellen verstand, verbürgt. Bereits die Realisten der
sechziger Jahre hatten die „Hefe" darzustellen begonnen; Dostojewsky, Koro-
lenko, in jüngster Zeit Melschin (der Dichter Jakubowitsch) hatten mit
ihren Schilderungen der Gefängnisse und zahlreicher Typen der Parias
der Gesellschaft einen wichtigen Beitrag zu ihrer Psychologie geliefert
und die Rolle, die sie im sozialen Organismus spielen, gekennzeichnet!
die westeuropäische Literatur hatte hier schon in den vierziger Jahren
Bresche geschlagen. Daß aber aus der Mitte dieser Geächteten ein Mann
hervorging, der nicht nur reich an bitteren Erfahrungen -war, sondern
auch über Talent verfügte und kühne Gedanken über eine neue, bessere
Gesellschaftsordnung zu äußern wagte, war noch nicht dagewesen. Gorki,
der die Schwere des Kampfes ums Dasein ausgekostet, sich in ge-
ringen Gewerben versucht und das Schicksal der „Arbeitslosen" geteilt
hatte, führte die Leser mitten in diese Welt hinein und wußte sie,
trotzdem der Boden durch die realistische Schule bereitet worden war,
zu erschüttern. Vor ihren Augen zog eine lange Reihe von Persönlich-
keiten vorüber: die Hefe der großen Städte und der südlichen Hafen-
plätze, die Bewohner von Verbrecherhöhlen und Nachtasylen, Herum-
treiber, die, jeder Menschenwürde bar, sich in Lumpen hüllen. Doch in
den verrohten, halb trunkenen „Barfüßlern" spielen sich starke seelische
Erregungen ab, Unwille über die herrschende Ungleichheit und Ungerech-
tigkeit und Sehnsucht nach einem besseren Leben. Trotz aller Ver-
kommenheit liegt in ihnen etwas Lichtes und Hoffnungsvolles. Zu diesen
Leuten muß man herabsteigen, wenn man von der Zivilisation ausruhen
i;8 Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
will. Es handelte sich bei Gorki nicht um eine Variation über das Thema
der „Chanson des gueux", die, inmitten der kapitalistischen Gesellschafts-
ordnung, laut verkündet, daß „les gueux sont des gens heureux", sondern
um die Wiedergabe von Licht und Schatten in der Welt der Armut
und der Rechtlosigkeit. Es war bedeutungsvoll, daß der Aufruf zum
Ausgleich der sozialen Ungerechtigkeit gerade aus den Reihen jener
Leute ertönte.
Ein Zyklus von Erzählungen, deren Motive sämtlich demselben Milieu
entnommen waren, bereicherte den Bestand des russischen Realismus
nicht nur um lebhafte Charakterisierungen, sondern auch um eine lebendige
Sprache. Das ganze Personal des Barfüßlertums war auf dem Plan. Schon
drohte die Gefahr der Einseitigkeit. Auch machte sich mit der Zeit die
Neigung zur Idealisierung dieser Volksschicht bemerkbar, die ja ebenso
nahe lag, wie ehemals die Idealisierung des Bauerntums. Der Glaube,
daß alle Tugenden und gesunden Kräfte der Gesellschaft lediglich unter
den Schiffbrüchigen heimisch seien und daß alle Hoffnungen ausschließ-
lich auf ihnen ruhen, wäre ebenso unbegründet, wie die vor hundert
Jahren von der Räuberromantik aufgestellte Behauptung, daß die Bildung
von Räuberbanden eine hervorragende Form des Protestes gegen die
gesellschaftliche Ordnung sei. Andere Seiten des Proletariats, insbesondere
die Arbeiterbewegung-, hat Gorki anfangs nicht behandelt. Sein humanes
und gerechtes Eintreten für die Parias war nicht nur mit einer leiden-
schaftlichen Feindseligkeit gegen eine Lebensordnung, die sie aus der
Gesellschaft verstoßen hatte, gepaart, sondern auch mit einer starken Ab-
neigung gegen die Kultur überhaupt und gegen diejenige hervorragende
Gruppe ihrer mannigfachen Vertreter, die in der russischen Termino-
Gorkis Ver- logie Seit den siebziger Jahren als „Intelligenz" bezeichnet wird. In der
„Intelligenz". Hitze dcs Protestes und der Herausforderung entfuhren ihm manche Aus-
sprüche, die er später, als er in der Selbsterziehung weiter vorgeschritten
war, in den Neuauflagen seiner Erzählungen abschwächte oder strich.
Der Eindruck, den das unvermittelte Auftreten eines solchen Verteidigers
der Enterbten, der mächtigen Gegnern den Fehdehandschuh zuwarf, her-
Die große Popn- vorrief. War, trotz aller Unklarheiten, ein gewaltiger und übertrug sich
larität Gorkis. ' ' ' o o es
von Rußland aus auf das übrige Europa und die Neue Welt Zahlreiche
Übersetzungen vermittelten die Bekanntschaft mit den Werken desjenigen,
der augenscheinlich berufen war, der Neuorganisation des Lebens als
Apostel zu dienen. In der russischen Literatur erstand eine Gruppe
junger Schriftsteller, die sich eng an Gorki anschlössen, seine Unzufrieden-
heit, seinen Radikalismus teilten, das Ungezwungene seiner Kunst an-
nahmen, jedoch nicht über sein bedeutendes Talent verfügten und infolge-
dessen ihn nur mit mehr oder weniger Geschick nachzuahmen vermochten.
In den neunziger Jahren standen zwei literarische Schulen in seltsamem
Kontrast einander gegenüber: einerseits die extremen Realisten, Bilder-
stürmer lind Demokraten und andererseits die Vertreter des künstlich
C. Die zweite Hälfte des 19. Jalirhunderts. III. Neues Jalirhundert. j ^g
aus Frankreich verpflanzten „Symbolismus", die sich in demonstrativer Zwei
TTT- T-vii 1-1 1 ^j • • «1 nebeneinander
Weise „Dekadenten" nannten und sich vor der Zeitstimmung- in das bestehende
Gebiet der romantischen Mystik hinüberflüchteten. In ihrer virtuosen- radikai-iemo-
haften Handhabung des Verses, einer geheimnisvollen Verworrenheit die symbou-
der Form und einer übernatürlichen Kombination der Farben und Töne
waren sie ebenso gekünstelt und aristokratisch, als die Schule Gorkis
das Erzeugnis und das letzte Wort des demokratischen Realismus
war. Einige Dichter der älteren Generation, die zum Teil, wie z. B.
N. Minsky und Mereschkoffsky, der Schöpfer mehrerer historisch - philo-
sophischer Romane, sehr talentvoll waren, gingen zu den Dekadenten
über. Diese hatten in ihren Reihen geschickte Übersetzer (K. Balmont)
und nicht unbegabte Lyriker (Valery Briussoff), doch war Vereinsamung
ihr Los. Als das ganze Land von der Freiheitsbewegung ergriifen wurde,
warfen mehrere von ihnen ihre Lyra beiseite, stiegen von ihrem Sockel
herab und schlössen sich dem kampfesmutigen Radikalismus an. Nunmehr
schufen auch sie eine politische Lyrik, die den Schöpfungen ihrer ge-
wohnheitsmäßigen Vertreter in bezug auf die Kühnheit des Tones um
nichts nachstand.
Die Entwicklung der entgegengesetzten Richtung und ihres wichtigsten
Vertreters nahm einen folgerichtigeren Verlauf. Gorki ließ eine Zeitlang
die Form der Novelle beiseite und schrieb umfangreiche Romane; auch Gorkis Romane,
beschränkte er sich nicht mehr auf die Darstellung der Welt des Proletariats,
sondern zog die Gesamtheit des Lebens in den Kreis seiner Betrachtung.
In den ersten Romanen „Foma GordejefF" und „Die Drei" offenbarte sich
wiederum die Eigenart seines Talents und seiner geistigen Entwicklung.
Dort, wo er Beobachtetes und Erlebtes schilderte, wo es sich um aus
dem Leben gegriffene Menschen, Szenen und Sitten handelte, besonders
aber wo persönliche Erinnerungen, autobiographische Momente in Frage
kamen, trat eine hohe Meisterschaft zutage, die den Traditionen der besten
Belletristik früherer Zeiten folgte. Ein beträchtlicher Teil des Romans
„Foma Gordejeff", der in der Wolgagegend spielt, ist in dieser Weise
kraftvoll und lebendig geschrieben. In der Schilderung des Lebensschick-
sals der „Drei", das sich inmitten des Verbrechertums, der Ausschweifung
und aller Leiden des Gewerbestandes, des Kleinbürgertums und der städti-
schen Armut abspielt, schreckt Gorki ebensowenig vor dem Entsetzlichen
zurück, wie dies vor ihm Dostojewsky getan hatte. Jedoch die Feder, die
diese lebenswahren Bilder zu zeichnen verstand, war ungeschickt, wo es,
wie in „Gordejeff", darauf ankam, sogenannte zivilisierte Menschen zu
schildern. Jene zornige Erregung, mit der Gordejeff einer Versammlung
namhafter Kaufleute, aus deren Mitte er hervorgegangen ist, die nackte,
fürchterliche Wahrheit ins Gesicht schleudert, ist vom sozialen Stand-
punkt aus vollkommen begreiflich und sehr eindrucksvoll, aber man fühlt,
daß hinter dieser Herausforderung keine greifbare Überzeugung steht,
daß der Mann, dem sie in den Mund gelegt wird, die Wahrheit ergründen
140
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
will, ihr nahe ist und sie dennoch nicht klar zu formulieren vermag-. Die-
selbe kampfesmutige Lyrik durchdrang auch Gorkis kurze, packende Er-
güsse, die, oft in das lichte Gewand einer Allegorie gehüllt, sich wie Ge-
dichte in Prosa lasen. Ihre Deutung war nicht schwer, ihr Zielpunkt lag
zutage, und wer diese Improvisationen, wie z. B. „Das Lied vom Falken"
oder „Der Sturmvogel", las oder hörte, mußte sie um ihres Feuers und
ihrer Kraft willen freudig begrüßen. Neben dem Pessimismus TschechofFs,
der in den sozialen Verhältnissen wurzelte, erstand in derselben Gesell-
schaft eine aktive, kampfesfrohe Kraft.
Gleich TschechoflF verließ auch Gorki die vielversprechende Laufbahn
, des Romanschriftstellers, um sich dem Drama zu widmen. Aus den ersten
Versuchen war ein rasches Wachsen seines Verständnisses und Könnens
ersichtlich. Dem Drama „Die Kleinbürger", das noch ein Motiv aus
den sechziger Jahren — den niederdrückenden Einfluß des spießbürger-
lichen Geistes auf die Entwicklung freiheitlicher Ideen — mit nicht ge-
ringem Feuer behandelte und sowohl hinreißende Reden als auch eine
Reihe lebendiger Porträts enthielt, jedoch szenische Unerfahrenheit dartat,
folgte sofort Gorkis bestes Stück, dessen Titel in der jetzt populären
deutschen Übersetzung insofern entstellt worden ist, als er nur den Ort
der Handlung — „Das Nachtasyl" — bezeichnet, während eigentlich die
ganze Hefe der Gesellschaft im Drama gezeichnet werden soll. Wiederum
tauchten in der Erinnerung Gorkis Personen und Geschehnisse aus dem
Leben der Proletarier auf, und die Bühne bevölkerte sich mit Gestalten,
die wegen ihres Realismus und ihrer psychologischen W^ahrheit unver-
gänglich sein werden. Plötzlich war dem Verfasser auch die Bühnen-
technik aufgegangen; das Wehklagen, die zornigen Reden, Proteste
und Forderungen, die von der Bühne her erschallten, vereinigten sich
zu einem mächtigen, drohenden Chorus. Das belehrende Element erwies
sich auch hier als am wenigsten wertvoll. Der an sich vorzüglich
charakterisierte Raisonneur des Stückes, Luka, der in seiner Person ein
Gemisch von Herzlichkeit, Humanität, scharfsinniger Beobachtungsgabe
und feinem Humor vereinigt, verfügt über eine Philosophie, die, da sie in
den Anschauungen der Bewohner des Nachtasyls eine Umwälzung hervor-
ruft, auch dem Zuschauer als befreiende Wahrheit imponieren müßte.
Aber diese Philosophie trägt in die bereits bekannten moralphilosophischen
Lehren der verschiedenen Sittenprediger der Tolstoischen Werke keine
neuen Gesichtspunkte hinein, und die Behauptung Lukas, daß „Alle um
des Besseren willen leben" oder die Reflexionen Satins, der sich Lukas
Auffassungen angeeignet hat, daß „alles in dem Menschen und alles für
den Menschen ist", sind zu allgemein gehalten und zu unbestimmt. Den-
noch bedeutet dieses Stück, das überall, wohin es vom Ruhme Gorkis ge-
tragen wurde, vermöge seiner sozialen und künstlerischen Bedeutung einen
starken Eindruck hervorgerufen hat, bis zum heutigen Tage den Höhe-
punkt in Gorkis Schaffen. Seitdem geht es mit seiner dramatischen Kunst
C. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. III. Neues Jahrhundert. 141
bersrab. In einigen Stücken gfriff er wieder auf sein früher behandeltes Die Evolution
° '^ '^ Gorkis. Rück-
Thema — die Nutzlosigkeit der „Intelligenz" zurück, doch beschränkte er nang seiner lite-
_ rarischeu Tätig-
sich auf die Rolle des Satirikers, und es gelang ihm nicht, die nötige keit. Diese wird
" ^ .der Politik ge-
szenische Belebung zu erzeugen. Die schroffe Verurteilung der Führerin opfert.
des geistigen und sittlichen P'ortschrittes der Gesellschaft, der Intelligenz
im wahren und besten Sinne des Worts, jener Kulturmacht, die kraft
ihres erleuchtenden Einflusses auch die Wiedergeburt Gorkis selbst er-
möglicht hatte, war ein unfruchtbares Unternehmen. Seine Anklagen
richteten sich jetzt entweder gegen die große Klasse der Privilegierten, die
europäische Tracht tragen, Handel treiben, dem Gewinn nachgehen, dem
Kapitalismus und der Exploitation frönen, kurz gegen die Bourgeois, die
sich ungerechtfertigterweise zur Intelligenz rechnen, oder gegen die Empor-
kömmlinge aus dem Arbeiterstande, die im Dünkel ihres vermeintlichen
Bildungsbesitzes ihre frühere Lebensart verleugnen, oder schließlich gegen
die Gleichgültigkeit der Wissenschaft und ihrer Vertreter, der „Kinder der
Sonne", die die Nöte und Leiden des Volkes und die geistige Finsternis,
in der es lebt, ignorieren. Die dramatische Kraft des „Nachtasyls" kehrte
aber nicht wieder; öfters kommen Mißgriffe vor: wenn Gorki z. B. in den
„Kindern der Sonne" den Gegensatz zwischen der Wissenschaft und der
Kunst einerseits und dem Leben andererseit schildert, so wählt er als
Vertreter der ersteren nicht etwa Gelehrte und Künstler, sondern Dilet-
tanten, die auch im besten Falle nichts für das Wohl des Volkes zu tun
imstande sind. Jedoch auch mit der absoluten Idealisierung" der Masse ist
es vorbei. In demselben Drama wird Gorki von einem gesunden Instinkt
getrieben, den Konflikt des Wissens mit der Unwissenheit, dem Vorurteile,
dem elementaren Herdengefühl, zur Darstellung zu bringen, indem er
schildert, wie die durch den Ausbruch einer Epidemie hervorgerufene
Panik die Masse gegen ihre Helfer, die Arzte, aufbringt. Auf dieser Bahn
hätte der begabte Autor neue Möglichkeiten finden können, die Grund-
gedanken seiner Kunst zu entwickeln. Aber das Leben nahm ihn in Be-
schlag. Der politische Kampf, der sich immer mehr zuspitzte, wies ihm
einen neuen Weg. Der Romanschriftsteller und Dramaturg wich dem
politischen Satiriker und Propagandisten. Als solchen sehen wir ihn in
seinem neuesten Roman „Die Mutter", in welchem die stark idealisierte
Gestalt einer von der Freiheitsbewegung hingerissenen älteren Frau aus
dem Volke im Mittelpunkte sozialer Kämpfe und Bestrebungen steht, und
die von der Strömung ergriffenen Arbeiter häufig in schwungvoller,
ihrem Bildungsgrad nicht entsprechender, literarischer Form den Ge-
danken des Schriftstellers Ausdruck geben. Die Evolution Gorkis ist
aber noch lange nicht abgeschlossen. Man hat Amerika „das Land der
unbegrenzten Möglichkeiten" genannt. Dieses Epitheton paßt auch auf
das Schaffen Gorkis.
Der anfänglich enge Freundeskreis Gorkis, der mit ihm oder neben Der literarische
. Kreis Gorkis.
ihm literarisch tätig war, und in dessen Arbeiten an der Scheide zweier
142
Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
Jahrhunderte sich das sozialpolitische Erwachen der Gesellschaft aus langer
Lethargie spiegelte, erweiterte sich immer mehr. Das Vermächtnis der
großen Vorgänger, die Idee eines sozialen Berufes der Literatur, machten
sich in weitestem Umfange geltend. Die Begebnisse des aktuellen Lebens,
die sich entweder neu entwickelten oder zur Reife gelangten, bildeten jetzt
den fast ausschließlichen Hintergrund der literarischen Schöpfungen. Es
entstand eine Gruppe talentvoller Belletristen, die sich die Lebensschick-
sale der russischen Juden nicht nur deshalb zum Gegenstand ihrer Be-
handlung wählten, weil viele von ihnen, wie Juschkewitsch und Aisman
aus diesem Milieu stammten, sondern weil ihr Gewissen sie dazu trieb.
So bringt z. B. das Drama Tschirikoffs „Die Juden" Tatsachen aus den
Judenmetzeleien zur Darstellung. Die Arbeiterbewegung fand ihre eifrigen
Interpreten. Die Schattenseiten des Militärlebens wurden mutig ans Licht
gezogen; und die Erzählung „Der Zweikampf" von Kuprin, die diese
Aufgabe in Angriff nimmt, gehört zu den besten Erzeugnissen der mo-
dernen Literatur. Endlich war es Leonid Andrejeff, der sich in seinem
Schaffen nicht auf enger umgrenzte Gebiete und Fragen beschränkte,
sondern das ganze zeitgenössische Leben zu umfassen suchte tmd sein
Talent in üppiger Weise zur Entfaltung brachte.
Leonid Andrejeff. Es War nicht scin Los, in früher Jugend den Kampf ums Dasein
und die langsame Selbstbildung, die dem Strebenden läng-st von der
Kultur assimilierte Wahrheiten zu offenbaren pflegt, auf sich nehmen
zu müssen. Ihm war es vergönnt, sowohl seine Geistesgaben und seine
Empfänglichkeit für das Schöne als auch seine altruistischen und freiheit-
lichen Neigungen normal zu entwickeln. Seine Tätigkeit als Rechts-
anwalt brachte ihn mit den negativen Lebenserscheinungen in unmittel-
bare Berührung. Er gab sich dem Studium der Menschen, ilirer Leiden-
schaften, Kämpfe und Krankheiten hin und bewies einen Scharfblick, der
eines Naturforschers oder Arztes, namentlich eines Psychiaters würdig ge-
wesen wäre. Schon in seinen ersten Erzählungen, die dem Alltagsleben
schlichter Leute entnommen sind, tritt außer einer erstaunlichen Beobach-
tungsgabe das Tschechoffsche „menschliche Talent" und eine hervorragende
stilistische und künstlerische Begabung, die in Bildern, aber auch in lebens-
DicBei^chtunK voller Prosa zu reden weiß, zutage. Bald offenbarte sich bei Andrejeff die
und Psychologie > ö .... V ■ ,
in seinen Eriäh- Neipfungf, sich in die kranke Seele zu versenken und die smnhchen Triebe,
hingen. ö o> '
das Verbrecherische, Grausame und Anormale zum Gegenstande seiner
Forschungen zu machen. Mit einer Willensstärke, die an diejenige Dosto-
jew.skys gemahnte, aber bisweilen sie auch übertraf, scheute er nicht vor
Bildern und Situationen zurück, die den Leser an die Grenze des Erträg-
lichen führen; dies geschah aber nicht aus Freude an der Sensation,
Die Periode der ^ tit« • i i ■ TA-
Bevorzugung sondern lediglich im Interesse der wahren Wirklichkeit. Die geistige
psychopatholo- . , . ., t'ti - j
gisciier Umnachtung eines armen Dorfpriesters in ihren übergangen von der
religiösen Skepsis zur Gotteslästerung und endlich zur Ekstase (im
„Leben Wassili Fiweiskys") ist mit einer Meisterschaft geschildert, die
C. Die iweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. III. Neues Jahrhundert. 14J
Tschechoffs Leistungen in seinen psychiatrischen Erzählungen die Wage
hält, doch ist die Analyse der Krankheitssymptome vielleicht allzusehr in
den Vordergrund gerückt, so daß die äußerste Grenze für dieses literarisch-
medizinische Genre als erreicht betrachtet werden muß. Allein die un-
glückseligen Verhältnisse der jüngsten russischen Vergangenheit bewogen
Andrejeff, noch weiter zu gehen. Das Gewissen des Volkes und die aufs
höchste gesteigerte sittliche Entrüstung über den endlosen japanischen
Krieg fanden einen würdigen Ausdruck in der Literatur. Während zahl-
reiche Schriftsteller freiwillig auf den Kriegsschauplatz eilten, um als
Augenzeugen die Greuel des Krieges zu beschreiben, und Leo Tolstoi in
einem Pamphlet Sieger und Besiegte aufforderte, um des christlichen Ge-
botes der Liebe willen den Kampf einzustellen, äußerte sich der Antimili-
tarismus bei Andrejeff in einer seiner scharfsinnigsten Studien zur sozialen
Pathologie, in dem „Roten Lachen". Dieser Krieg, in welchem, dank der ..d^is rote
chronischen Niederlagen und endlosen Metzeleien, öfters als je zuvor Grenzmarke
° •' zwischen der
Geisteskrankheiten in der russischen Armee auftraten, dient hier als psychopathoio-
gischen und
Rahmen für die Geschichte mehrerer Fälle von Irrsinn. Da Andrejeff nicht sozialen Rich-
tung Andrejeffs-
wie Garschin alle Phasen des blutigen Kampfes miterlebte, so entwarf er
auf Grund von Erzählungen und Korrespondenzen mit flammender Phan-
tasie Bilder und Szenen aus diesem Kriege, der in ein Chaos der Ver-
nichtung ausgeartet war, und zeigte, wie solche Erlebnisse zu einer Ein-
buße des Verstandes führen können. Bei einem der unglücklichen Helden
der Andrejeffschen Erzählung bewirkt der Anblick des in Strömen fließen-
den Blutes das Auftreten einer fixen Idee. Wie dem von Garschin ge-
schilderten Irrsinnigen alles Übel der Welt in der roten Blume sj'mboli-
siert erscheint, so sieht jener Unglückliche bei allen Menschen das stumpf-
sinnige „rote Lachen". Er sieht es auf den Gesichtern der verstümmelten
Leichen, am Himmel, an der Sonne, ja schließlich meint er, es ergösse
sich über die ganze Erde. Hiermit zahlte der begabte Schriftsteller zum
letztenmal der Neigung, die Finsternis, die Psychose, das Furchtbare zur
Darstelltmg zu bringen, seinen Tribut. Gleichzeitig trat er mit dieser Er-
zählung in den Dienst der Allgemeinheit. In ihm selbst vollzog sich
eine wichtige Wendung.
Seit jener Zeit spiegeln sich in seinen Werken die Probleme und °''\\?^,fg'*"
Sorgen des gegenwärtigen Lebens in Rußland. In seiner Erzählung „Die s'^e'^Erz^h
Christin" zieht er mit dem Feuer eines Tolstoi den Formalismus und '^f^" "J"*
die Verlogenheit der herrschenden Moral ans Licht; indem er schildert,
wie ein gefallenes Weib die Eidesleistung vor Gericht verweigert, weil
ihr das Entsetzliche ihrer Lage zum Bewußtsein kommt und sie sich
nicht für würdig hält, Christin zu heißen, kennzeichnet er den Kon-
trast zwischen diesem Herzensschrei und dem Geist einer falschen
Kultur, die ihr kein Verständnis entgegen zu bringen vermag. Die Er-
zählung „Der Gouverneur" ist dagegen dem Strudel der Revolution ent-
nommen, steht, indem sie die an einem Vertreter der Gewalt vollzogene
144
Alexis Wksselovskv . Die russische Literatur.
Heimzahlung für seine Repression zur Darstellung bringt, ganz auf dem
Boden des politischen Kampfes und ist von den Leidenschaften des ge-
gebenen Augenblicks durchglüht. Andrejeff tat noch einen weiteren
Schritt, als er zu allgemeinen Fragen überging und sein Erstlingswerk
„Zu den auf dem Gebiete des Dramas, „Zu den Sternen", veröffentlichte. Ohne die
Zivilisation, das Wissen, die höhere Bildung und Intelligenz mit den end-
losen Leiden und Nöten des Volkes in einen schroffen Gegensatz zu
bringen, schildert Andrejeff den Ernst, die Weltabgeschiedenheit der reinen,
hohen Wissenschaft und den unaufhaltsamen Kampf des Volkes um seine
Freiheit, der von jener wenig verstanden und nicht unterstützt wird. In
einem phantastischen Bergschloß, aber nicht in demjenigen Manfreds, in
welchem sich die nicht erloschenen Leidenschaften eines starken Menschen
verbargen, sondern in einem Observatorium, das nahe den Sternen gelegen
ist, lebt eine Anzahl Streiter der Wissenschaft, die unter der Leitung eines
großen Astronomen die Erscheinungen und Gesetze der himmlischen Welt
zu erforschen trachten. In der Ferne aber, tief unten auf der sündigen
Erde fließt Blut und lehnen sich Menschen voller Verzweiflung gegen die
Unterdrückung auf. Die Nachrichten, die aus dem Krater der Revolution
nach oben dringen, stören zunächst die vornehme Ruhe des Gelehrten,
der wichtigen Entdeckungen auf der Spur ist, wirken dann aber nieder-
schmetternd auf ihn, als er erfährt, daß Menschen, die ihm nahe stehen,
dem Untergange geweiht sind. Persönliche und allgemein menschliche
Gefühle müssen sich also notwendigerweise geltend machen, aber trotz
alledem ist die Wissenschaft groß und heilig, ihre Entwicklung unendlich,
das Leiden einzelner Menschen, ja ganzer Generationen, angesichts der Offen-
barungen der Weltgesetze, nichtig, und es gibt keinen Tod, nur ewiges,
unvergängliches Leben. Die himmlischen Leuchten erhellen die Welt, es
strahlt die majestätische Natur, die Wankelmütigen und Zweifelnden aber,
die es zu irdischen Götzen treibt, verwünschen ihre Stummheit, ihre Kälte
und ihre Priester. . . . Eine Lösung des Problems gibt Andrejeff nicht,
doch zeigt er es in seiner ganzen Bedeutung. Derjenige, welcher ein
solches Problem aufzuwerfen und zu beleuchten versteht, der im Schau-
spiel „Savva" oder „Ignis sanaf' einen fanatischen Anarchisten mit mäch-
tigen Strichen zeichnet und in seinem allerneuesten, tief empfundenen,
symbolischen Drama „Das Leben des Menschen" ein Bild der Tragik des
Menschenschicksals in solcher Weise entrollt, beweist hervorragende Be-
gabung. Sie tritt übrigens in allen seinen mannigfachen Studien und in
seiner ganzen Entwicklung zutage. Leonid Andrejeff ist daher zweifellos
eine der größten Hoffnungen der neuen russischen Literatur.
Die i.eutiBe Die Literatur, die sich als Zeugin und Gefährtin der sozialen Be-
üpllctristik, ^ .
Nieiicrsang der wcgung vom Streite marxistischer, idealistischer und tolstoischer Ideen
küusticrischen
und vorwicücii umgcben sah, den Zusammenprall der konservativen, konstitutionellen und
essen, sozialistischer Parteien erlebte, und schließlich in Gemeinschaft mit dem
Volke zum Kampfe überging-, mußte notwendig die Folgen der allgemeinen
schluu. 1^5
Anspannung der Kräfte an sich selbst verspüren. Da diese Kräfte sich auf
einem ganz anderen Gebiet entluden, hatte die Literatur scheinbar eine Ein-
buße zu verzeichnen. Es hieß sogar, daß sie nicht in Betracht käme, wenn
die wichtigsten Existenzfragen eines Volkes zur Entscheidung drängten. So
wurde der Literatur ein neuer Weg gewiesen, und wie immer in derartigen
historischen Momenten machte sie sich mit fieberhaftem Eifer ans Werk.
Es entstand sowohl eine Belletristik als auch eine Poesie, die mit den
Ereignissen des Tages eng verknüpft waren. Letztere sind voller Tragik,
so daß sie, wenn ihnen eine geschickte literarische Form gegeben wird,
schon von selbst starken Eindruck machen und die Frage nach dem Grade
des künstlerischen Könnens des Verfassers in den Hintergrund drängen.
Unter solchen Umständen konnte z. B. der jüngste der Belletristen, Arzy-
bascheff, zum beliebten Schriftsteller werden. In seinen Erzählungen
werden einzelne Momente aus der Geschichte der Attentate und der „Straf-
expeditionen" dargestellt. Aber auch inmitten der allgemeinen Erregung
und der Inanspruchnahme sämtlicher Interessen durch die Tragödie, die sich
im realen Leben abspielt, schwindet im künstlerischen Schaffen nicht alle
Tradition. Allerdings gibt es keine „reine", leidenschaftslose Kunst, für
deren Harmonie im gegebenen Augenblick tatsächlich kein Raum ist, da- Die Möglichkeit
für findet aber eine Verquickung von Kunst und Leben statt. Unter den quickung beider.
jüngeren Schriftstellern bürgt schon der Name Andrejeff hierfür, aber auch lioroienko,
' ^ , "" . Schemtschu-
die ältere Schrittstellergeneration steht nicht nach: das Schaffen Koro- srimikow,
^ Boborykin.
lenkos gehört jetzt ebensosehr der sozialen Bewegung als der Kunst; die
höchst originelle lyrische Satire des greisen Alexis Schemtschuschni-
kow ist von L^nabhängigkeitssinn und Vaterlandsliebe durchdrungen;
der vielseitige, philosophisch gebildete Boborykin, der fast ein halbes
Jahrhundert lang die verschiedenen Phasen des russischen Lebens verfolgt
und in seinen zahlreichen Romanen eine lebendige Chronik der mannig-
faltigen Strömungen, Leiden und Errungenschaften niedergelegt hat, tritt
jetzt als mitfühlender Beobachter und Beurteiler der historischen Ereig-
nisse auf; er ist in seiner publizistischen Tätigkeit ein leidenschaftlicher
Ankläger und z. B. in seinen neuesten novellistischen Skizzen „Die an
der Heimat Krankenden" ein warmer Anwalt seines Vaterlandes.
Schluß. Im Zustand höchster Erregung durchlebt die russische Literatur Allgemeine
die Gegenwart. Da sie schon jahrhundertelang die Leiden, Bestrebungen Aufgaben der
und Kämpfe des Volkes mit ihm geteilt hat, mußte sie auch die schwerste fang des 2o.jahr-
Krisis seiner Geschichte mit ihm durchmachen. Von Anfang an waren blick auf ihre
Zukunft.
die besten Vertreter des Volksgedankens in ihren Forderungen und
Äußerungen demokratisch gewesen. Die Literatur hatte stets, im Zeitalter
Iwans des Schrecklichen, während der Reaktion unter Katharina, unter
Nikolaus I. und später, Apostel der Kultur, der Bildung und Gerechtigkeit
ins Treffen geschickt. Eine Beschützerin der Lebenswahrheit in der künst-
lerischen Darstellung, hat sie sich von jeher zum Realismus bekannt, und
Diu Kultur der Gegenwart. I. 9. 10
146 Alexis Wesselovsky: Die russische Literatur.
die unendliche Reihe seiner Anhänger, vom Verfasser des Liedes vom
Feldzug Igors an bis zu Gogol, Turgenieff und Saltykoff hat aus dem
Volkstum große Reichtümer gehoben. Auf das reale Leben des Volkes
gestützt, war es ihr möglich, die realistische Zeichnung mit der Satire zu
verbinden. Im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte betrachtete sie sich
im engen Zusammenhang mit der geistigen Bewegung, unterstützte alle
wichtigen reformatorischen Ideen ebenso wie das Suchen nach neuen
Bahnen, spiegelte sie das selbstbewußte Vorgehen der Bilderstürmer
während der sechziger Jahre, den Pessimismus der achtziger Jahre und
die gegenwärtige Freiheitsbewegung wider, nahm die Verkündigung der
Vereinfachung des Lebens und des Tolstoischen Evangeliums der Liebe
auf sich und verstand gleichzeitig die Schönheit Puschkinscher oder Ler-
montoffscher Dichtung zu pflegen. So war sie zu allen Zeiten die wich-
tigste Erzieherin des Volkes. Anfangs bedurfte sie der Unterstützung
abendländischer kultureller Werte, aber dann erlangte sie einen so hohen
Grad von Selbständigkeit, daß sich ein rückläufiger Einfluß auf Westeuropa
geltend machte, der ihr einen hervorragenden Platz in der Geschichte der
Weltliteratur sicherte. Die trostlose Behauptung Tschaadaeffs , des ein-
samen Denkers aus der Zeit Nikolaus' I., daß die russische Kultur un-
fruchtbar sei und daß ihre einzige Rettung in einer völligen Verschmelzung
mit der westeuropäischen liege, ist durch die Tatsachen widerlegt worden.
Die Bahn, welche die russische Literatur von nun an einschlägt, ist durch
die Folgerichtigkeit ihrer gesamten Entwicklung und durch die von ihr
heilig gehaltene Überlieferung bestimmt. Wenn erst die gegenwärtige
schwere Krisis überstanden ist und das Land auf dem Boden einer freien,
friedlichen Entwicklung seine Wiedergeburt feiert, dann wird sich auch die
Literatur wieder als die wichtigste Stütze und Verteidigerin der Kultur
erweisen.
Literatur.
Die wissenschaftliche Bearbeitung der russischen Literaturgeschichte begann erst in
den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Ihr gingen seit dem Ende des 17. Jahr-
hunderts einzelne V'ersuche von Beschreibungen des Barbestands der Literatur voraus,
die teils die Form bibliographischer Verzeichnisse hatten , teils mit Angaben über das
Leben und die Werke der Schriftsteller versehene Wörterbücher waren. Der Stamm-
vater der russischen bibliographischen Forschung war Sylvester Medwedeff, einer der
ersten Vertreter der Bildung in Moskau unmittelbar vor dem Zeitalter Peters des Großen;
wegen seiner freien Anschauungen lud er den Haß der alten kirchlichen Partei auf sich
und wurde infolge von Denunziationen hingerichtet. Unter seinen gelehrten und pole-
mischen Schriften befindet sich eine interessante Übersicht des Schrifttums, ,,Ein Ver-
zeichnis der Bücher und ihrer Verfasser". Es ist bemerkenswert, daß NOVHKOFF, nach
Medw'EDEFF die bedeutendste Erscheinung auf dem Gebiete der hterarischen Forschung im
18. Jahrhundert, ebenfalls ein hervorragender Pionier der Kultur war. Sein , .Versuch
eines historischen Wörterbuches der russischen Schriftsteller" und sein , .Dramatisches
Lexikon", die viele wertvolle, durch die Zufälligkeit der alphabetischen Ordnung ihres Zu-
sammenhangs beraubte Angaben über die neue Literatur, den Lebensgang der Verfasser,
ja sogar über die Entstehungsgeschichte der Werke, insbesondere der dramatischen, ent-
halten, aber den Stoff nicht zu einer Darstellung der Epochen, Richtungen und Schulen
verarbeiten, bildeten den Übergang zu wissenschaftlichen Forschungen und Darstellungen.
Die alte Literatur und die Volksdichtung wurden zwar in diesen Werken nicht berücksichtigt,
doch die sich am Ende des 18. Jahrhunderts geltend machende Bewegung zugunsten der
Herausgabe und Erläuterung der Denkmäler aus alter Zeit, sowie der Sammlung von
X'olksliedem und Sagen, förderte die Erforschung der Literatur der früheren Jahrhunderte.
Wiederum begegnen wir hier der Mitarbeit Nowikoffs, der in seiner vielbändigen ,, Alt-
russischen Bibliothek" außer historischen und diplomatischen Dokumenten viele Werke
,, alter Dichter" abgedruckt hat. Die epochemachende Entdeckung und Herausgabe eines
so hervorragenden Nationalgutes wie „Das Lied vom Feldzuge Igors", bemerkenswerte
.•\rbeiten einer Gruppe von Gelehrten, die sich am Anfang des ig. Jahrhunderts in Peters-
burg um den Kanzler Grafen RUMJANZEW scharten, unter ihnen die des Vaters der russischen
Philologie Wostokoff, und die ersten Sammlungen von Volksliedern erweiterten beträchtlich
den Horizont. Der Ertrag der Bearbeitungen der neuen und alten Literatur fiel aber merklich
zugunsten der letzteren aus. Der Kampf der neuen Richtungen — der Romantik, des
Byronismus, der Puschkinschen Schule — mit dem klassischen ancien regime gewährte
weder für eine objektive Betrachtung noch für eine wissenschaftliche Bewertung der jüngsten
Vergangenheit Raum. Jedoch innerhalb der Universitäten begann sich eine Art historisch-
literarischer Wissenschaft auszubilden. Der beredte Nadeshdin, der Lehrer des nachmaligen
Kritikers" Belinskv, [riß die Moskauer studentische Jugend hin, indem er die Entwicklung
der russischen Literatur in den Rahmen der Weltliteratur einfügte. Er ließ von dem po-
lemischen Tone, den er in seiner Dissertation „De poesi romantica" angeschlagen hatte, ab
und kam der modernen Dichtung entgegen. In jenem Werke hatte er die russische Poesie
1^8 Alexis Wksselovskv: Die russische Literatur.
mit der Weltliteratur auch schon in Zusammenhang gebracht, aber lediglich um einen
parteiischen Streit gegen Byron und seine russischen Anhänger auszufechten. Während die
dilettantenhaften Versuche Nadeshdins den Prolog zur wissenschaftlichen Behandlung der
Literatur auf den Universitäten bilden, erstanden in den kritischen Arbeiten Belinskys
die Grundlagen der historischen Entwicklung der neuen Literatur nach Peter dem Großen
in klarer und wohldurchdachter Form. Der Serie seiner feurigen Abhandlungen ,, Lite-
rarische Phantasien" diente die Geschichte der gesamten Literatur als Hintergrund. Die
Analyse der bedeutenden Theaterstücke Gribojedoffs und Gogols wurde mit einer Reihe
Charakterbilder älterer Komödiendichter eingeleitet. Die klassischen Abhandlungen über
Puschkin legten den Zusammenhang seines Schaffens mit der älteren russischen Dichtkunst
dar und waren zugleich die erste Monographie über den Dichter, die sich auf die Analyse
seiner Schöpfungen gründete. Das Beispiel Bf.LINSKVS wirkte noch in den fünfziger Jahren
nach, indem TschernySCHEWSKY in seinem ,, Umriß der Gogolschen Periode der russischen
Literatur" den Spuren seines großen Vorgängers folgte und Belinskys eigener Wirksamkeit
einen hervorragenden Platz in der Geschichte der jüngsten literarischen Epoche anwies.
Unterdessen hatte sich auch das Sammeln von wertvollem Material verstärkt, auf das sich die
Forschung über die alte Literatur und die Volksdichtung stützen konnte. Gleichzeitig
mit der Herausgabe vieler Denkmäler der alten Buchliteratur erschienen eine von Peter
KiREjEWSKY zusammengestellte Volksliedersammlung, eine von Afanasjeff herausgegebene
Sammlung von Märchen und Dahls ,, Erläuterndes Wörterbuch der großiüssischen
Sprache", das zum ersten Male das ausdrucksvolle Werkzeug der Literatur, die lebendige,
von Tltrgenjeff später in so beredten Worten gepriesene Sprache in ihrem ganzen Um-
fange zur Darstellung brachte — Werke, die eine Lebensarbeit bedeuten. Aus dem
Staube der Jahrhunderte erstanden die Gestalten vergessener, doch bemerkenswerter
Schriftsteller, wie z. B. des Emigranten Kotoschichin. Die Arbeiten des Moskauer
Professors SCHEWYREW, eines der Pioniere auf diesem Gebiete, trugen aber den Stempel
slawophiler Romantik und einer einseitigen Bevorzugung der kirchlichen Literatur. Allein
zwei Schülern ScHEWVREWS, Busl.\je\v und Tichonrawoff, war es beschieden, die
Untersuchungen über die Literatur vor Peter dem Großen und die Volkspoesie aus
diesen Banden zu befreien und sie auf wissenschaftlichen Boden zu stellen. Der Einfluß
der deutschen Forschung, insbesondere der Brüder Grimm, und die Anwendung der
vergleichenden Methode regten zur Selbsttätigkeit an. Der Klerikalismus Schewyrews
wurde bald überflügelt, und da sich Gelehrsamkeit und Talent in Buslajew vereinigt fanden,
nahmen seine „Historischen Studien über die volkstümliche Literatur und Kunst" (1861)
bald nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in weiten Kreisen der Gesellschaft
eine hervorragende Stellung ein. Zum erstenmal war in diesen vorzüglichen Studien der
Geist der ehemaligen Kultur des eigenen Volkes lebendig geworden. Als sich den beiden
Begründern der literarhistorischen Wissenschaft ALEXANDER Pypin hinzugesellte, der mit
seiner an vergleichendem Material außerordentlich reichen Dissertation über ,,Die Literatur-
geschichte der alten Erzählungen und Märchen" vom Jahre 1857 aus der Schar der Peters-
burger Universitätsjugend hervortrat und mit jeder neuen Arbeit den Horizont seiner For-
schungen erweiterte, war das Schicksal der Geschichte der Literatur gesichert. Die Be-
arbeitung der Peter dem Großen folgenden Epoche und der neuen Literatur, die in der
zweiten Hälfte der fünfziger Jahre einen lebhafteren Aufschwung nahm, stellte das Gleich-
gewicht wieder her, das durch die übliche einseitige Beschäftigung mit dem Altertum er-
schüttert worden war. Nunmehr wurde eine kritische Ausgabe der Werke der großen
Schriftsteller (PUSCHKIN in den Jahren 1855 — 57, Gogol im Jahre 1860), eine Veröftcnt-
lichung des auf sie bezüglichen biographischen Materials und das Erscheinen der ersten
Arbeiten über ihr Leben und Wirken möglich. Die ,, Geschichte der alten und neuen russischen
Literatur" von Galachoff, die bei Gribojedoff abbricht, war der erste Versuch einer Dar-
stellung der gesamten Entwicklung der Literatur, von ihren ersten Anfängen bis zur
klassischen Zeit. Die Mängel dieses Werkes, das von einem Spezialisten auf dem Gebiete
der neuen Literatur, ohne genauere Kenntnis der älteren Zeit, verfaßt worden war, sind von
Literatur
149
Tu HONRAWOFI" in einer eingehenden, bemerkenswerten Kritik ans Licht gezogen worden.
Infolgedessen wurde eine zweite Auflage des Buches veranstaltet, in der ganze Teile aus
der Feder anerkannter Speziahsten stammten. Die umfangreiche (jeschichte der alten No-
velle war z. B. von Alexander Wesselovsky verfaßt. Jedoch, trotz dieser wesenüichcn
Verbesserungen, war es Galachoff nicht beschieden , als Geschichtschreiber der gesamten
Literatur an erster Stelle zu stehen. Hierzu war PvpiN berufen, der sich zu dieser Arbeit
lange vorbereitet hatte. Nach dem Erscheinen seiner Dissertation wandte er sich der
systematischen Bearbeitung der wichtigsten von der Literatur der Neuzeit gestellten Fragen
zu. Die Geschichte des Freimaurertums, die ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts (,,Die
soziale Bewegung unter Alexander L"), die Strömungen der dreißiger und vierziger Jahre
(,, Charakteristik literarischer Schulen"), sowie die biographischen Studien über Belinsky,
SaLTYKOFF und Nekrassoff dienten dem Forscher als Übergangsstufen zur Bearbeitung
der jüngsten Vergangenheit. Das Ende des vorigen Jahrhunderts zeichnete sich überhaupt
durch eine besondere Belebung des Interesses für die letzten Epochen der Literatur aus.
Die Schöpfungen der bedeutendsten Schriftsteller erschienen in monumentalen Ausgaben mit
dem gesamten Apparat der Kritik und umfangreichen Koinmentaren (die Puschkinausgabe
wurde im .Auftrage der Akademie der Wissenschaften von Efremoff und MOROSOFF unter-
nommen, die Gogolausgabe wurde von Tichon'RAWOFF und ScHöNROCK, die Werke Belinskys
von Wengerow redigiert). Die biographische Bearbeitung erfuhr große Modifikationen; das
Verhältnis der Schriftsteller zu den Geistesströmungen und den Grundfragen des Lebens,
wie 2. B. zur Emanzipation der Leibeigenen, ihre Stellung zu den Kämpfen der sechziger
Jahre um soziale und sittliche Ideale oder zur Lehre Tolstois, wurde zum Gegenstande spezieller
Untersuchungen. Die vergleichende Methode, die bei der Erläuterung der alten Literatur
so viele Resultate zutage gefördert hatte, wurde nun auch bei der Behandlung der Neuzeit
angewandt und die Frage nach der Bedeutung des westeuropäischen Einflusses auf das
russische Leben scharf formuliert. Es wurde nicht nur die Geschichte der neueren Literatur,
sondern die der neuesten geschaffen. Jedoch ein noch größerer und fruchtbarerer Fortschritt
wurde vielleicht durch die allseitige Erforschung der älteren Zeit erzielt. Ganze Schulen von
Forschern machten sich an die Untersuchung der Volksdichtung, ihrer Elemente, ihrer
Quellen, ihrer historischen Grundlagen, ihrer Beeinflussung durch das Epos des Orients
fSTA.ssoFF, Wsewolod Miller, Potanin) oder durch die westeuropäische Literatur (Alex-
ander Wesselovsky, Shdanoff, Jagiö). Eine derartige Fülle wissenschafdich bearbeiteter
Materialien mußte notwendig zu einer Gesamtdarstellung der Uterarischen Entwicklung von
den Anfängen bis zur Gegenwart führen. Diese Aufgabe löste Pypin in seiner umfang-
reichen ,, Geschichte der russischen Literatur". Er zog das Fazit alles dessen, was je zur
Erforschung dieses Gegenstandes geschehen war, indem er diejenigen Ergebnisse einer
.Arbeit von anderthalb Jahrhunderten ans Licht zog, welche von nun an für das Ver-
ständnis der Evolution maßgebend werden mußten; er verband mit seinen Forschungen
eine Untersuchung der sozialen Strömungen , dieses für das Schicksal der russischen
Literatur so bedeutsamen Faktors, wobei die durchsichtige Klarheit seiner Darstellungen
und seine umfassenden Kenntnisse sich die Wage hielten. Pypin, der seine Kräfte
außerdem an ähnlichen Arbeiten, wie z. B. an der ,, Geschichte der russischen Ethno-
graphie" oder an der ,, Geschichte der slawischen Literaturen" bereits erprobt hatte, machte
sich mit Begeisterung an das letzte Werk seines an wissenschaftlichen Leistungen reichen
Lebens. Die zweite Auflage, die bald erforderlich wurde, wies Verbesserungen auf; für eine
Fortentwicklung des W^erkes war bereits gesorgt, als der Tod den unermüdlichen Gelehrten
ereilte. Die posthumen Erinnerungen seines Lebens, das ihn mit allen literarisch be-
deutenden Persönlichkeiten in Berührung gebracht hatte, lieferten selbst ein wertvolles, ein
halbes Jahrhundert umfassendes Kapitel zur Geschichte der Literatur. Durch PVPINS Werk
hatten die wissenschaftlichen Untersuchungen die erforderliche Reife erlangt. Noch steht viel
Arbeit bevor, namentlich bezüglich der komplizierten Erscheinungen am Ende des ig. und
zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die den Inhalt der Literatur der Gegenwart bilden. Sie
sind am Schlüsse des Pypinschen Werkes nur in ihren Hauptzügen kurz erwähnt. Es werden
I50
Alexis Wesselovsky : Die russische Literatur.
bereits Versuche unternommen, die Entwicklung des russischen sozialen Gedankens zur Dar-
stellung zu bringen, die Philosophie der russischen Literatur zu ergründen, den Klassenkampf
im Laufe ihrer Geschichte zu verfolgen oder sie m den Rahmen der gesamten Entwicklung
des Volkes einzufügen, wie dies der zur Zeit beste Kulturhistoriker Rußlands, MiliUKOFF
und neben ihm in allerneuester Zeit der begabte junge Gelehrte JWANOW - Rasltmnik
getan haben.
Pypin, Geschichte der russischen Literatur, 2. Aufl. (St. Petersburg, 1902 — 3; russisch).
Galachoff, Geschichte der alten und neuen russischen Literatur, 2. Aufl. (St. Peters-
burg, 1880; russisch).
Skabitschewsky, Geschichte der neusten Literatur (1891; russ.l.
Orest Miller, Die russische Literatur nach Gogol, 2. Aufl. (1906; russ.).
OVSJANIKO-KULIKOWSKI, Geschichte der russischen Intelligenz (Moskau, 1906; russ.j.
IwanOFF-Rasumnik, Geschichte der russischen sozialen Ideen (St. Petersburg, 1907; russ.).
Alexis Wesselovsky, Der Einfluß des Westens auf die neue russische Literatur,
3. Aufl. (Moskau, 1906; russ.).
MlLIUKOFF, Abriß der russischen Kulturgeschichte (St. Petersburg, 1896 — 1902; russ.).
Alex, von Reinhold, Geschichte der russischen Literatur von ihren Anfängen bis
auf die neueste Zeit (Leipzig, 1886).
P. KrOPOTKIN, Ideals and realities in russian literature (London, 1905).
Prof. Alex. Brückner, Geschichte der russischen Literatur (Leipzig, 1905).
Melchior de VOGÜß, Le roman russe (1886).
DUNLOP, Hislory of prose fiction. New edition by H. Wilson (.Abschnitt über die
Geschichte des russischen Romans; (London, i888j.
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Tolstoi).
E. Zabel, Russische Literaturbilder (Berlin, 1907) (Gogol, Puschkin, Dostojewsky,
Gontscharoff, Tolstoi, TurgeniefF, Gorki etc.).
DUPUY, Les grands maitres de la litterature russc au 19 sifecle (1885).
SeidlITZ, W. A. Joukofisky, ein russisches Dichterleben (1870).
Alexander Wesselovsky, W. A. Schukoffsky (St. Petersburg, 1904; russ.).
Raina TyrnÄva, Nicolas Gogol, ecrivain et moraliste (Ai.x, 1901 1.
Ernst BorkOWSKY, Turgenjew (,, Geisteshelden") (Berlin, 1903).
Zabel, Turgenjew, Eine literarische Studie (Berlin, 1884).
Emile Aumant, Ivan Tourguenief. La vie et l'oeuvre (Paris, 1906).
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N. Hoffmann, Dostojewski (1899).
J. Müller, Dostojewski (Straßburg, igo2j.
Gaston Loygue, Un homme de genie. Th. M. Dostojewsky. Etüde me'dico-psycho-
logique (Lyon, 1904).
O. Sperber, Die sozialpolitischen Ideen Alexander Herzens (Leipzig, 1894).
Raph. Löwenfelü, Leo N. Tolstoi, sein Leben, seine Werke, seine Weltanschauung
(1892).
Derselbe, Gespräche über und mit Tolstoi (Leipzig, 1901).
Ward, Prophets of the nineteenth Century (Carlyle, Ruskin, Tolstoi; (1900}. — Karl
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BlRlUKOFF, Tolstois Biographie und Memoiren (Wien, 1906).
H. OSTVVAl.n, Maxim Gorki („Die Literatur") (1905).
E. Dii.i.oN, Max. Gorky. His life and writings (London, 1902).
Reich an literarischen Proben aus der russischen Literatur von den ältesten Zeiten bis
zur Gegenwart ist die Anthology of russian literature from the earliest period to the present
time, by Leo Wiener, profcss. at Harvard University (New-York, 1903); viele Übersetzungen
Literatur. I ^ I
russischer Gedichte bietet auch das dilettantenhafte Buch von Newmarch, „Poetry and pro-
gress in Russia" (London, 1907).
S. 41 — 42. Von der Volksdichtung:
Wilhelm Wollner, Untersuchungen liber die Volksepik der Großrussen (Leipzig, 1879).
V. jAGid, Die christlich -mythologische Schicht in der russischen Volksepilc (Archiv
für slawische Philologie, I).
S. 44 — 49. Zur Geschichte der Annäherung Rußlands an Westeuropa:
A. Brückner, Die Europäisierung Rußlands (Gotha, 1888).
S. 46. Die Zeit der Wirren ist dargestellt von
K. WaLISZEWSKI, La crise revolutionnaire, 1584 — 1614 (Paris, 1906).
Von der Geschichte der Leibeigenschaft handelt:
Engelmann, Die Leibeigenschaft in Rußland (1884).
Einen Umriß der Literatur der Bauememanzipation gibt
W. Semewsky, Die Bauemfrage in Rußland im XVIII. und XIX. Jahrhundert (St. Peters-
burg, 1888; russisch).
S. 48. Die gesamte Literatur des Zeitalters Peters des Großen ist bearbeitet und biblio-
graphisch verzeichnet von
PekarSKY, Die Wissenschaft und Literatur zur Zeit Peters des Großen (St. Petersburg
1862; russisch).
S. 48. Über die sozial-politischen Anschauungen Possoschkoffs:
A.Brückner, Ideen und Zustände in Rußland zur Zeit Peters des Großen (Leipzig, 1878).
S. 49. Zum Verhältnis Katharinas II. zur europäischen Gedankenwelt:
M.\urice Tourneux, Diderot et Catherine II (1899).
LARivifeRE, Catherine II et la revolution fran(;aise (1895).
Die Memoiren Katharinas (im französ. Texte) erschienen 1907 in St. Petersburg.
Das Buch RadischtschefiTs ist zum erstenmal mit Varianten in Petersburg 1905 wieder
abgedruckt worden.
Zur Charakteristik der Gesellschaft, der politischen Bewegungen und der Literatur unter
Alexander I.:
Th. Schiemann, Geschichte Rußlands unter Kaiser Nicolaus I. (Berlin, 1904). (Der
erste Band handelt von der Regierungszeit Alexanders.)
S. 50 — 55. Über den Byronismus Puschkins, Lermontoffs und anderer russischer
Dichter:
Alexis Wesselovskv, Studien und Charakteristiken, 3. Aufl. Moskau, 1907 (Studien
über den Byronismus.)
Zur Charakteristik des Realismus in der russischen Literatur in seinem Zusammenhang
mit der realistischen Richtung in Westeuropa:
David Sauv.^GEOT, Le realisme et le naturalisme dans la litterature et dans l'art (1889).
Zur Charakteristik Lermontofis:
Fried. Bodenstedt, Erinnerungen aus meinem Leben (Berlin, 1888).
S. loi und 105. Die Zeit der Reformen unter Alexander II. in ihrer Bedeutung als
Hintergrund der Literatur:
GOLOWATSCHOFF, Ein Jahrzehnt der Reformen (1872).
Dschanschieff, Aus der Zeit der großen Reformen (Moskau, 1894; russisch).
Unter den nicht zahlreichen deutschen Übertragungen der Werke SaltykofFs befindet
sich die Übersetzung seines einzigen Romans ,,Die Golowljeffs" in der Reclam-Ausgabe.
Zur Literatur über Tolstoi :
Albert Sorel, Tolstoi historien. Conference (1888V
Iwan Strannik, La religion de Tolstoi (Revue de Paris, 1902';.
W. BODE, Was ist uns Tolstoi? (Freies Wort, 1902; 11).
15^
Alexis Wesselovskv : Die russische Literatur.
S. 114 — 119. Von der sittlichen Idee bei Tolstoi und Usspensky handelt:
G. PoLONSKV, Gewissen, Ehre und Verantwortung. Liter-psychologische Studien
(Ibsen, Gleb Usspensky, Tolstoi), München, 1899.
S. 131 — 142. Zur Literatur über Tschechofi" und Gorki siehe die Abhandlungen von
M.V.Brandt (Deutsche Rundschau, 1902); Leo Berg (Westermanns Monatshefte, 1902.)
Krausold, Naturgenie und Kuhurgeist bei Gorki (Freistatt, 1902; 4). — PORITZKY,
H. Heine, Dostojewsky, Gorkij. Essays (Leipzig, 1902).
P. POLLAK (Umschau, 1903; VII).
Ostwald (Nord und Süd, 1904); A. Tschechoff als Diagnostiker (Neue Bahnen,
1904; IV).
A. Frh. V. Engelhardt, Der russische Maupassant (A. TschecholT; i'Liter. Echo,
1898; 3).
E. DiLLON, Max. Gorky, his life and writings (1902;.
DIE POLNISCHE LITERATUR.
Von
Alexander Brückner.
Einleitung. Ein eigenartiges Schauspiel, nicht nur unter den sla- Spate Anßn
wischen Literaturen, gewährt die polnische, die, allein unter ihnen, eine
ununterbrochene Vergangenheit in stetem Zusammenhang mit der abend-
ländischen Kultur aufzuweisen hat, ohne sich jedoch vor dem 19. Jahr-
hundert über die Bedeutung" einer bloßen Landesliteratur erhoben zu
haben. Allerdings hat sie sich erst spät entwickeln können. Polens
Lage, nicht weit genug, um, wie Rußland, vor jeder Umklammerung
durch fremde Elemente gesichert zu sein, nicht nahe genug an den
Brennpunkten der Kultur; der Ausschluß von Meer und Gebirge; die
einförmig weite Ebene, die zur Zerstreuung der Wohnsitze einlud und
das Aufkommen von Stadt und städtischem Leben hinderte; verspäteter
Eintritt in die Geschichte — ist doch das Christentum fast anderthalb
Jahrhunderte nach der Bekehrung des benachbarten Mähren angenommen;
ungünstige äußere Verhältnisse, namentlich die Zersplitterung des alten
Piastenreiches in Teilgebiete und infolgedessen frühe bedeutende Ver-
luste, Schlesiens, Pommerns, des alten Preußen, das nach Ausweis seiner
Sprache auf dem besten Wege war, polnisch zu werden: — alles das
hinderte ein Gedeihen auch der nationalen Literatur. Allerdings wurde
diese, in Polen wie in Ungarn, noch mehr durch die Vorherrschaft des
Latein in Schrift und Schule, Amt und Kirche, sowie durch die fremden
Elemente in den Städten mit ihrer zum Teil deutschen Bürgerschaft
zurückgehalten; der allmächtige Druck des Lateinischen fand längere Zeit
keinerlei Gegengewicht. Das änderte sich, als die politische Machtent-
faltung des großenteils wiedervereinten Landes der Plasten im friedlichen
Bunde mit dem Litauen-Rußland der Jagellonen die nationalen Grund-
lagen für immer festete und als geistige Tätigkeit schon durch die an-
sehnliche wissenschaftliche Arbeit, die an der Leuchte des Nordens, an
der Universität Krakau, geleistet wurde, erwachte. Jetzt erst, seit dem
16. Jahrhundert, im Zeichen von Humanismus und Reformation, erfolgte
die Entwicklung' einer nationalen Literatur, sofort die aller Nachbarländer,
l CA Alexander Brückner: Die polnische Literatur.
nicht nur Ungarns oder Böhmens, weit überragend. Diese Literatur wurde,
was der Staat ward — eine ständische und ländliche; sie repräsentierte
den Adel, seine Interessen' und Ideale, mit stark ausgeprägten nationalen
Zügen, denen sich bald auch konfessionelle zugesellten.
Der ständische Der Adel uämllch hatte jeglichen Einfluß des — national längst assi-
Charakter des
alten Staates miliertcn — Burg'ertums (um von dem schließlich zur Hörigkeit herab-
Literatur. gesunkenen, einst halbfreien Bauern zu schweigen) aufgesogen, die königliche
Macht atomisiert, eine Adelsrepublik mit einem Wahlkönig an der Spitze
geschaffen. Im ungetrübten Genuß seiner „goldenen Freiheit" — galt doch
allein durch diese dem polnischen Adel jeder ausländische, auch Fürsten-
adel, als ein inferiorer — diesen Schatz argwöhnisch vor jeglichen Unter-
nehmungen der Krone hütend, betrachtete sich der Adel als eine Brüder-
schaft, durch keinerlei Vorrang, Orden, Titel unterschieden, dem slawischen
Gleichheitstriebe auch hierin getreu. Aller Rechte sich erfreuend, der
Pflichten sich entschlagend, hauste er auf den Einzelhöfen und verlor
so allmählich die Aktionsfähigkeit, seinen politischen Ehrgeiz und Instinkt,
endlich die militärische Tüchtigkeit. Er hing zähe an dem Hergebrachten
trotz offenkundiger Schäden; hielt sich sicher, weil er niemand bedrohte;
verachtete, slawischer Ungebundenheit frönend, städtisches und höfisches
Leben, ohne zu ahnen oder zu achten, was alles um ihn herum vorging,
bis er sich schließlich von großen Militärdespotien umgeben sah, die sich
das nunmehr wehrlose Land zur sicheren Beute erwählten, indem sie ihre
angeblichen Rechte aus ihrer Übermacht herleiteten. Diesem allmählichen
Niedergang von der Höhe politischer Macht, auf der die Jagelionen Herr-
scher auch noch Böhmens und Ungarns gewesen waren, entsprach der
Niedergang von Kultur und Literatur.
Auch hier schied das bürgerliche Element im 1 7. Jahrhundert völlig
aus, nur in Literatur und Leben einen Einschlag urkräftigen, sarmatischen
Humors zurücklassend; die Reaktion vertilgte durch die Jesuiten jegliche
protestantische Elemente, löschte sogar das Andenken an die alte Ge-
wissens- und Glaubensfreiheit aus, welche Polen zu einem Asyl für alle
Neuerer gemacht hatte, wo schon 1565 — 1585 die modernen Gewissens-
kämpfe eines Tolstoi, zum Teil mit seinen Argumenten sogar, ausgefochten
wurden; wo die Juden, in ungestörter Pflege ihres talmudischen Wissens,
die Waffen gegen das Christentum schmiedeten, deren sich nach zwei
Jahrhunderten die französischen Enzyklopädisten erfolgreich bedienen
sollten; wo das orthodoxe Russentum zum ersten Male den Anschluß an
europäisches Denken und Wissen fand, was nur in dem damals polnischen
Kiew, nicht in Moskau, geschehen konnte.
Das 16. und 1. Die Literatur des 16. — 18. Jahrhunderts. Von dieser
Vielseitigkeit geistiger Interessen gab auch die schöne Literatur be-
redtes Zeugnis. Wohl war ihre rein nationale Entwicklung durch das
Eingreifen des Humanismus gestört; sie bildete sich fortan nur an
I. Die Literatur des l6. — 18. Jahrhunderts. 1^5
klassischen, später ausschließlich an römischen, zuletzt auch italieni-
schen Mustern. Formen, ja Stoffe waren fremd, aber rein nationales
Fühlen und Denken sprach, zumal im 17. Jahrhundert, sogar aus den
Umdichtungen des Horaz oder Tasso. Schon 1560 — 1580 war diese
nachahmende Literatur durch Jan Kochanowski, ihren Ronsard, auf
hohe künstlerische Stufe gebracht, doch glitt sie hinab, als Dilet-
tanten die ästhetischen Forderungen herabdrückten, die Kritik schwieg
und geistiges Interesse zu erlahmen begann. Alles im Lande, oft von
König, Ministern und Magnaten an, dichtete, ohne doch den Musen
treu fürs Leben zu bleiben, ohne nach Vollkommenheit zu ringen, das
Können merklicher zu steigern, eigene Wege zu suchen. Nur ver-
schwindend wenige machten Ernst mit ihrer Poesie — Prosa existierte noch
nicht für ästhetische Zwecke; aber auch die in der Poesie ihren Lebens-
beruf fanden, dienten mit ihrer Feder nicht der Schönheit, sondern der
Wahrheit, patriotischen Pflichten und eigenen Herzensbedürfnissen. Ganz
ausgeschaltet, beim Mangel höfischen vmd städtischen Lebens, blieb das
Theater, bis auf die Schulkomödie der Jesuiten, mit ihren drastischen
Intermedien voll derben, altpolnischen Witzes. Neben der religiösen und
erotischen Lyrik, die in den Bahnen des Marinismus erfolgreich wandelte,
obgleich dem Leben selbst sentimentale Anwandlungen und jeglicher
Frauenkult noch völlig fremd waren, blühte das didaktische und nament-
lich das epische Gedicht. Das 17. Jahrhundert, mit seinen stolzen Triumphen,
seinem erschütternden Heroismus und tiefsten Fall, schwellte von selbst
die epischen Segel, und in den langatmigen historischen und romantischen
Epopöen, nach dem Muster der Pharsalia oder des Befreiten Jerusalem,
Rasenden Roland und Adone — alles frühzeitig trefflich übersetzt —
kam das Charakteristische von Sprache und Denken zum vollsten Aus-
druck. Sonst spiegelte sich in der satirischen Poesie, die noch auf
jenen Kochanowski zurückgriff, der Niedergang der Zeit; in der epi-
grammatischen und anekdotenhaften, der saftige und kömige Humor
des alten Polen. Die Prosa, im 16. Jahrhundert durch die bedeutendsten
Kanzelredner aller Konfessionen und politische Schriftsteller imposant
vertreten, fand immer geringere Pflege, verrohte im Ausdruck und ver-
knöcherte im Geiste. Großen Schaden wirkte die andauernde, schul-
mäßige Huldigung lateinischen Musen, welche die besseren Köpfe so
fesselte, daß das Polnische förmlich zu einer Sprache zweiten Grades,
für Frauen und Volk herabsank, daß man für alles im größeren Stil Ge-
dachte, in Historie, Politik, Epistel der fremden Sprache sich bediente,
daß die Jesuitenlyriker, z. B. Sarbiewski, der christliche Horaz, nur
lateinisch dichteten. Zwar hielten religiöse und politische Beredsamkeit
an der Landessprache fest, aber sie verhunzten sie durch ihre lateinischen
Brocken, einer Mischsprache, einem „Makkaronismus" die Wege ebnend,
der noch heute im polnischen Stil nachklingt. Je weniger im Leben zu
preisen übrig blieb, desto höher stieg in der Literatur die panegyrische
1 c5 Alexander Brückner: Die polnische Literatur.
Flut, die den Maßstab für Verdienste und Anerkennung verrückte und mit
dem Gifte der Schmeichelei kritische Regungen der Gewissen betäubte.
Trotzdem blieb bis an das Ende des 1 7. Jahrhunderts die Geschichte der
Literatur wie die des Landes reich an interessanten Erscheinungen.
Uasis.jahrhiin- Anders ward dies erst in der Zeit der Sachsenkönige, 1698 — 1763,
keform. als der Adel die Hände in den Schoß legte, jeden Gedanken an Reformen
aufgab und Rußland die Erhaltung polnischer Anarchie gewährleistete,
als man in der Kultur noch weiter zurückblieb, in der Literatur nur die
alten Formen und Stoffe immer gedankenloser und trivialer wiederkaute,
z. B. immer noch fremde Romane, den Telemaque oder die Dionea, in
Verse brachte, religiöse Gedichte in Unmassen fabrizierte und allem
Aberglauben frönte. Der Zusammenhang Polens mit dem Abendlande
war jedoch viel zu alt und innig, als daß er auf die Dauer hätte unter-
bunden bleiben können. Die zusehends größere Verarmung des Landes
und Verödung des Geistes rief zur Umkehr, die, jetzt nach französischen
Mustern und Vorbildern geleitet, dem Lande die Segnungen der Kultur
zuwenden sollte. Das Wirken des Königs Leszczynski (le philosophe bien-
faisant) und anderer Patrioten leitete die moralische und materielle Wieder-
geburt ein. Aber für die politische und militärische war die lange ver-
säumte Zeit nicht mehr einzuholen. Als das adlige Volk mit seinen Privi-
legien und Vorrechteii selbst aufräumte und den modernen Staat ohne
jegliche Revolution aufzurichten begann, erwürgte fremde Übermacht
Polen. Sein letzter König, Stanislaw August, und dessen Berater waren
der schwierigsten aller Lagen nicht gewachsen. Aber wenn sie auch den
Staat selbst nicht mehr zu retten vermochten, schufen sie in wetteifernder
Arbeit neue, unzerstörbare Kulturgüter, französischer Losung folgend;
riefen doch Rousseau wie Mably den um Rat fragenden zu: Klärt euch
auf, dann wird man euch verschlingen, doch niemals verdauen können.
Auch die Literatur brachte während dieser letzten Periode einer viel-
fach nur scheinbaren politischen Selbständigkeit noch nicht das große
nationale Werk. Aber der geistige Bann der Sachsenzeit, ihre Isolierung,
das Zurückgebliebensein Polens — wie übrigens anderer katholischer
Staaten — war gebrochen. Die Literatur streifte alte Einseitigkeit und
Vorurteile ab , behielt ihren männlichen patriotisch-politischen Zug, und,
ohne in den Schlachtruf der Enzyklopädisten einzustimmen, wirkte sie für
Aufklärung der Geister. Und wie die politische Reformbewegung in der
Konstitution des 3. Mai (1791), einem Denkmal humaner und fortschritt-
licher Gesinnung, und in Kosciuszkos energischer und demokratischer
Tätigkeit gipfelte, so konnte auch die jetzt in französische, pseudoklas-
sische Bahnen gedrängte Literatur sich rühmen, die sächsische Ig-noranz
und Intoleranz überwunden, die Sache des bon sens, in allen (politischen
und privaten) Verhältnissen, des guten Geschmackes, einer gefälligen
Sprache und zierlicher Formen zum Siege geführt zu haben. Bei diesem
weder plötzlichen noch gewaltsamen Abbruch alles Alten ragte natürlicher-
II. Die Liti'ralur des 10. Jahrhunderts bis zum Aufstand von 1863. 15^
weise die Pflege der Satire hervor, einer mehr moralisierenden übrigens,
weil noch immer Geistliche das Hauptkontingent der Literaten stellten;
allen voran der ermländische Bischof Krasicki, kein Glaubenseiferer mehr
wie sein großer Vorgänger (Hosius), dafür ein bei esprit, ausgezeichneter
Satiriker und Fabeldichter ersten Ranges. Jetzt erstand eine Publizistik;
ein Theater mit eigenem, hauptsächlich komischem Repertoire; der didak-
tische Roman in der Prosa, die endlich in ihre während der Sachsenzeit
völlig verlorenen Rechte wieder eintrat; auch hörte das Einschütten pol-
nischen Wassers in das Meer der lateinischen Literatur auf. Bei dem
ausschließlichen Hervorkehren des Verstandesmäßigen vertraten das Ge-
fühl nur sentimentale Ergüsse mehrerer Lyriker. Phantasie fand keinen
Spielraum, und im Dienste kosmopolitischer Aufklärungsideen betätigte
sich das nationale Element oft nur in Sprache und Wahl des Stoffes; es
trat gegen die Weise des 1 7. Jahrhunderts stark zurück. Eingeleitet
ward nunmehr die Vorherrschaft des Französischen. Konnte auch fran-
zösische Politik in Polen keine Erfolge aufweisen, so siegten französischer
Ton, Sitte und Sprache. Man fühlte die nationale Wahlverwandtschaft
heraus, z. B. im Frauenkult, der immer bezeichnender die Polen vor den
übrigen Slawen heraushob (heute noch mehr wie zuvor). Übrigens gipfelte
die Literatur der letzten Jahre (1788 — 1792) in der politischen, in dem
Kampfe um das Reformwerk der Maikonstitution. Auf das fruchtlose
Ringen mit der Übermacht folgte baldige Erschöpfung, und in unheim-
licher Stille wurden Staat und Selbständigkeit zu Grabe getragen.
IL Die Literatur des iq. Jahrhunderts bis zum Aufstand von Die Warschaus
^ •' Pseudoklassik.
1863. Das ig. Jahrhundert brachte die Umwälzung in der Lage des Volkes
und in der Bedeutung seiner Literatur. Die ersten Dezennien verliefen
noch in den alten Bahnen, wenigstens für die Literatur. Die Welt war in
Trümmer geschlagen, aber noch herrschte in Warschau wie in Paris un-
angefochten der pseudoklassische Zopf in Ode und Tragödie, im epischen
und beschreibenden Gedicht. Freilich, die einst viel bewunderten, geleckten
und gezierten Sächelchen dieser „Klassiker" überlebten nicht einmal ihre
Schöpfer, und alles ward vergessen bis auf dasjenige, was damals die
literarische Salonzunft über die Achseln ansah, weil das Genre kein
„höheres" war: die Komödien des Grafen Alexander Fredro sind noch
heute nicht veraltet, sie verkörpern unvergängliche nationale Typen der
Gentry, eine ganze Galerie prächtiger Gestalten, obwohl der Graf, der
letzte Dilettant großen Stiles, keinerlei Fühlung mit der Bühne unterhielt
und, durch Kritik der Gegner sowie Stillschweigen der Freunde gereizt,
seine Feder zerbrach.
Die Hauptleistung dieser Zeit, zumal der Jahre 1815 — 1830, als der
Kriegslärm endlich verrauscht war, lag nicht auf literarischem Gebiete.
Nicht genug kann bewundert werden, was das durch die Napoleonischen
Kriege ausgesogene und an den Rand des Bankrotts gebrachte Land, das
j cg Alexander Brückner: Die polnische Literatur.
kleine „Kongreßpolen", das sich allein durch Kaiser Alexanders I. Rechts-
gefühl einer weitgehenden Autonomie erfreute, in der kurzen Spanne Zeit
an Kulturarbeit geschaffen hat, für Schule, Justiz, Finanzen, Militär.
Da bewiesen die Polen, daß sie, sich selbst überlassen, ohne fremde Be-
vormundung, den gebildetsten Völkern es gleichmachen konnten. Mit den
Warschauer Klassikern wetteiferte, wenigstens im Unterrichts wesen, die
Wilnoer Hochschule: unverwüstlich blieb, was beide leisteten, mochte dabei
auch die schöne Literatur leer ausgehen. Dafür wurden die Bedingungen
ihres Wachstumes neu geschaffen. In den Schulen der Klassiker reiften
die künftigen Romantiker heran. In die Jahre 1820 — 1830 fallt nämlich
das Eindringen der romantischen „Pest" über die bis dahin sorgsam ge-
hüteten Grenzen des polnischen Parnasses.
Die Entwicklung der vorausgegangenen Jahrhunderte hatte über das alte
polnisch-litauisch-russische Reich einen gleichmäßigen adeligen Firnis ge-
breitet. Der politischen Union von Lublin 1569, dieser in der Geschichte
einzig dastehenden friedlichen Eingliederung gewaltiger, ethnographisch und
konfessionell disparater Massen, war eine moralische und kulturelle Union
gefolgt. Das Polentum machte friedliche Eroberungen weit über seine
Grenzen. Adel und Bürger in Litauen, Wolhynien, Podolien wurden
polnisch, und nur der Bauer behielt sein litauisches, weiß- oder klein-
russisches Idiom, seinen orthodoxen Glauben, seine altslawischen Sitten
und Traditionen. Polnischer Einfluß, Sprache, Buch und Sitte er-
streckten sich bis Moskau und Jassy. Die alte, durch Adel und Geistlich-
keit vertretene „klassische" Literatur kannte nun keinerlei provinziale
Unterschiede; sie mied alles Charakteristische, Niedere, Vulgäre als nicht
vereinbar mit ihrem Rationalismus und Kosmopolitismus; sie reinigte
sorgfältig die Sprache — ganz wie in Frankreich. Für sie existierte nur
ein Polen, mochte auch das staatliche Gefüge auseinandergerissen sein;
ein Geist der Aufklärung; eine Sprache, die salonmäßige; eine Poetik,
die Boileaus; eine Reihe von Mustern, Horaz und Racine, Vergil und
Voltaire; sie bequemte sich nie zum Volke herab, blieb seinem Wesen
völlig und absichtlich fremd.
r Es war nun die Romantik, die im Namen des Originalen und Natio-
nalen den Partikularismus zu Ehren brachte; die das Volk und dessen
Traditionen in Geg^enwart und Vergangenheit pietätvoll aufsuchte, seinem
Treiben ahnungsvoll lauschte; die Charakteristisches hervorhob; die trennte,
statt zu einigen. Als Verwirrung und Benebelung der Köpfe, als Rück-
kehr zum Geister- und Aberglauben, als Aufruhr der Gefühle und Phan-
tasie gegen die alleinseligmachende „raison" wurde die Romantik von
den Wortführern der Salonliteratur, von den Warschauer Klassikern und
Wilnaer Freimaurern beargwöhnt und befehdet. Ungestüme Jugend
faßte die neue Geistesrichtung, anders als in Deutscliland oder Frankreich,
nicht nur als ästhetischen Protest des national fühlenden Individuums gegen
seichte Aufklärerci, sondern verflocht mit der literarischen die politische
11. Die Literatur des 19. Jahrhunderts bis zum Aufstand von 1S63. j cg
und soziale Revolution, und der Sturm auf die drei Einheiten wie auf
den Cours des Laharp'e wurde zu einem Sturm auf das Belvedere des
Großfürsten-Statthalter, die romantische zur politischen Umwälzung: auch
dies hatten die Klassiker vorausgesehen, doch nicht zu beschwören ver-
mocht.
Rufer im Streit war der große „Litauer", Urpole seinem Blute nach, Adam iiickie-
Adam Mickiewicz. Aufgewachsen noch unter der pseudoklassischen naie' Erhebung
Poetik hatte er sich früh dem idealen Überschwange Schillers, dann dem "'' ^
Pessimismus Byrons (Goethes überlegene Ruhe hat auf die temperament-
volle polnische Literatur, ebenso wie die Objektivität Shakespeares, nur
wenig Einfluß geübt), zugewendet. Unglückliche Liebe, politische Ver-
folgungen, glühender Patriotismus wiesen seinem poetischen Schaffen neue
Bahnen. Von Balladen und Romanzen, einem phantastischen Werther-
drama („Die Ahnenfeier"), wandte er sich nationalen Stoffen zu. In seinem
romantischen Epos „Konrad Wallenrod" opferte der Litauer-Hochmeister
Ehre und Gewissen, Liebe und Glück, eigenes und fremdes, nur um das
Vaterland zu rächen; das Gedicht, trotz der fernsten Vergangenheit des
Vorwurfes, mit seinem glühenden Kolorit und loderndem Gefühl, zündete
wie ein Blitzstrahl. Der „Litauer" stand nicht vereinzelt da; ebensolche
„Ukrainzen" hoben ungeahnte Schätze poetischer Motive aus dem Leben
und Weben der Steppe, aus den Traditionen der Kosaken. Jetzt erst fand
die einstige Union von Lublin poetische Verkörperung; die litauischen
und russischen Marken dankten dem Mutterlande erst jetzt die jahrhundert-
alte Pflege geistiger Güter — trotz aller Ungunst und allen Umschwungs
der Zeiten. So zersprangen die engen Fesseln konventioneller Kunst; so
wurde nationaler Gehalt, oder was als solcher erschien, der Poesie er-
stritten; von selbst wurde sie volkstümlicher und slawischer, in der ein-
zigen Periode, da in Polen slawophile Tendenzen aus dem Umlaufe nicht
ausgeschlossen waren.
Da brach die politische Katastrophe herein. Ein nie gesehenes Schau-
spiel bot sich dem erstaunten Europa: die im ganz ungleichen Kampfe
nach tapferer Gegenwehr Überwundenen ergaben sich nicht, verließen das
Vaterland, und unter einmütigem Beifall der gesitteten Welt zog die pol-
nische Emigration, Aristokraten und Demagogen, Abgeordnete und Geist-
liche, Generale und Professoren, Beamte und Publizisten, Fürsten und
Bürger, nach Frankreich, in der sicheren Erwartung, möglichst bald wie-
der in den Kampf „für unsere und euere Freiheit" zu ziehen. Und als
diese Aussicht in immer nebelhaftere F"erne rückte, wurde der Pole zu
einem „ewigen Revolutionär", jedem Freiheitsruf froh entgegenjauchzend,
sein bloßer Name eine Losung für den Tyrannenhaß, ein Greuel für jede
Polizistenseele. Auf fremder Wahlstatt, sogar in der Türkei und Ägypten,
verspritzte er jetzt sein Blut, und 1848 errang in Ungarn die größten Er- Mch'^i'sj^/^nd
folge der polnische General von 1831. Mckiewi'cz^a^f
Mit dieser Emigration verlegte auch die Literatur ihre Penaten nach "^"^schaffenT"
l6o Alexandkk BrCcknkk: Die polnische Literatur.
Paris. Durch zwei Dezennien ward die fremde, ungeliebte Stadt, die der
ländliche Pole schon ihres Lärmes wegen mied, Sitz der polnischen füh-
renden Geister. Und unter Entbehrungen aller Art, materiellen und drücken-
deren moralischen; in der zehrenden Sehnsucht nach dem verlorenen Pa-
radies, nach der trauten Heimat; in Schmerz und bangen, immer wieder
getäuschten Hoffnungen; auf dem heißen Boden des Welttrubels sind alle
die Perlen nationaler Literatur, die jetzt erst wahrhaft groß werden sollte,
entstanden: ein einziges Schauspiel der Geschichte der Weltliteratur, eines
der vielen polnischen Rätsel.
Obenan stand Mickiewicz , in rastloser Tätigkeit, den nationalen
Kampf mit der Feder jetzt aufnehmend. In evangelischen Parabeln und
messianischen Verheißungen (die Lamennais nachahmte) sprach er den
Verbannten Trost zu; schilderte in lebhaft bewegter, dramatischer Form,
was ihm als Anfang der Verfolgungen und Kämpfe galt, die Verhöre und
Gefängnisse in Wilno von 1824; rechnete mit russischen Gewalthabern
in der blutigen Satire „Petersburg" (auch einer „Winterreise") ab. Sein
Konrad — zu diesem hatte sich der liebegirrende Gustav der früheren
„Ahnenfeier" gehäutet — forderte in titanischem Trotz Himmel und Gott als
den Zaren, nicht den Vater der Welt, in die Schranken. Aber nicht dem
vermessenen Lästerer, sondern dem demütig zerknirschten Pater wurde
die Gnade der Prophetie und tröstender Zukunftsvisionen zuteil. Denn mit
dem Dichter selbst, der in Rom seinen Glauben wiedergefunden hatte,
war eine tiefe religiöse Veränderung vorgegangen. Zuletzt flüchtete
Mickiewicz vor dem unfruchtbaren Politisieren und Konspirieren, aus dem
Fegefeuer der Parteien und Losungen, vor den Beschuldigungen und Ver-
dächtigungen, in die frohen Visionen seiner Jugend: aus dem, was daheim
das sinnende Kind, der träumende Knabe erschaut und erlauscht hatten,
erwuchs das größte poetische Werk slawischer Literaturen, „Herr Thaddäus",
die schönste moderne Epopöe: ein „Hermann und Dorothea", transponiert
in adeliglitauisches, ländliches Leben; seine zwölf Gesänge eine Reihe
von Bildern und Szenen: aus der Natur — bis zum Gequak der Frösche und
Gesumme der Fliegen; aus der Menschenwelt, mit ihren Durchschnittstypen,
die nur von dem freiwilligen Büßer im Mönchshabit überragt und geleitet
werden. Was diesen heiteren Bildern, voll des Glanzes der Abendsonne, die
zum letzten Male eine für immer versinkende Welt beleuchtet, den Wert
leiht, der sie weit über alle modernen Epen stellt, ist, neben der außer-
ordentlichen Kunst des Meisters, seines Naturgefühles und Farbensinnes,
neben der unübertroffenen Plastik seiner Landschaften und Gegenden, das
bewegte Gefühl; die Tränen unter dem Lächeln, ja unter der leichten
Ironie; die innige Sympathie, die sich dem Leser mitteilt. Stellenweise
übermannt den Verbannten, Heimatlosen das Gefühl. Aber kaum hat er
dem gepreßten Herzen Luft gegeben, weist er wieder in epischer Ruhe
und Gemächlichkeit seine Bilder, der Hasen- oder Bärenjagd, des Politi-
sierens in der Schenke, des Kampfes mit den Russen, der Anschläge
II. Die Literatur des 19. Jahrhunderts bis zum Aul'stand von 18O3. 161
einer Kokette, der lieblichen Unschuld vom Lande. Ein ländliches Epos,
wie es dem ackerbauenden Volke zukommt, von dem patriarchalischen
Treiben litauisch-polnischer Vergangenheit am Vorabende der gewaltigen
Völkerflut von 1812, deren Wellen an das stille, weltentrückte Eiland
schlagen; wie jedes Meisterwerk von täuschender Leichtigkeit in der Aus-
führung, doch vergebens blieben die Versuche anderer, es nachzuahmen
oder fortzusetzen.
Von der klassischen, ruhigheiteren, sonnigklaren Größe des Mickiewicz, juUus Ste«.icki.
von den scharf umrissenen Konturen sogar seiner Traumbilder und Vi-
sionen, von der Innigkeit und Tiefe seines Gefühls, von den patriotischen
Tendenzen seines Schaffens, sticht doppelt ab das Werk seines großen
Rivalen, Julius Siowacki, des Chopins (mit dem er außerordentlich vieles
teilte) unter den Dichtem. Beweglicher, erregbarer vertritt er förmlich
das musikalische Element. Von unendlich reicher Phantasie, mit Vorliebe
nach dem Phantastischen greifend, voller Scheu vor allem Banalen, schuf
er sich selbst ein unglückliches, aber poetisches Leben. Er ersehnte den
Nachruhm, weil er unverstanden dahin ging; denn dem Philister blieb seine
große Kunst ein Buch mit sieben Siegeln, und erst die Nachwelt flocht ihm
ihre Kränze. Slowacki ist Dichter der Moderne; er hat ihre Entwicklung
förmlich vorweg genommen; den vollendeten Bau von Vers und Strophe,
dagegen die von Mickiewicz hausbacken erscheinen; die unübertroffene
Meisterschaft der Sprache, des geftigigsten Werkzeuges in seinen Händen;
das Suchen nach entlegenen Stoffen; das Symbolisieren und AUegorisieren;
die melancholische Grundstimmung, die Müdigkeit, den Weltschmerz, das
Gegenstück zum Optimismus des Mickiewicz. Dabei wahrt Slowacki sich
das Recht, die Wege nach dem Ideal zu weisen, ewige Wahrheiten zu ent-
schleiern und zu künden. So rivalisiert mit dem litauischen Homer der
wolhynische Ariosto, doch nicht nur den romantischen Epiker, wir bewundem
in ihm auch den Lyriker und Dramatiker. Hat er auch kein technisch voll-
endetes Bühnenstück — mit der Bühne hatte der Emigrant keinerlei
Fühlung — geschaffen: seine polnischer Urzeit entnommenen Tragödien sind
doch im größten Stile gehalten und die vollendetsten Visionen einer imagi-
nären Welt, die hoch über der werktäglichen prangt, ihren eigenen Ge-
setzen folgt und auch uns durch das Walten ihres Verhängnisses erschauern
läßt. Gegenüber der männlichen Ruhe und Sicherheit des aus den litau-
ischen Wäldern hervortretenden Riesen ist er gleichsam die schillernde
Sirene (aus Warschaus Wappen) mit ihrem Unbestand und Launen, die
Adel und Priester des Volkes bitter spüren müssen; mit ihrer berückenden,
geheimnisvollen Schönheit. Doch umzittert seine farbensprühendsten Visionen
ein Hauch tiefer Schwermut; unstillbare Tränen umfloren ihm Blick und
Stimme. Neben gewaltigen, düsteren und grellen Bildern, neben den ge-
wagtesten satirischen Ausfällen (zumal in seinem „Beniowski", einem Pen-
dant zum Byronschen „Don Juan") liebt er die diskreteste Pinselführung
und Liebesidyllen, wie „In der Schweiz", sind das Zarteste und Keuscheste
Die K-jltur dkr Gegenwart. I. q. i i
j()2 Alexander Brückner: Die polnische Literatur.
■ der erotischen Poesie aller Zeiten — auch ihr Untergrund kein Granit,
sondern ein Tränenmeer. So ist Slowacki Schmelz und Wohllaut selbst;
was er berührt, fremde oder eigene Motive, löst poetische Wellen aus;
er schafft Stimmung wie kein anderer, in romantischen Landen der treff-
lichste Führer. Seine Kunst ist nicht für die Menge, ist Kaviar fürs
Volk. Es fehlt ihr die einfache Klarheit, Ghreifbarkeit; sie quält eher und
beunruhigt den naiven Leser, daher zählt er unter Ästheten und ihren
Adepten die überzeugtesten Bewunderer, denen die derbere Kost des Li-
tauers nicht mehr munden mag. Auch Siowacki, trotz seiner poetischen
Extravaganzen, stellte sich in den Dienst des Ideals, der Menschenvervoll-
kommnung; die Brotesser zu verengein ist seiner Kunst höchstes Ziel ge-
wesen; er diente Fortschritt und Wahrheit, und niemand war strengerer
Richter über das eigene Volk, als dieser Feind der Klerisei und der
Aristokraten.
Neben den Verherrlicher altruistischer Gefühle , neben den Epiker
Mickiewicz; neben den Egotisten und Phantasten Siowacki, trat der Dichter
der Reflexion, Graf Zygmunt Krasinski, der — übrigens nicht einzige —
„anonyme Dichter" der Polen, ein Sohn masowischen Bodens. Gegenüber
der robusten, normalen Entwicklung des Mickiewicz; gegenüber der zarten
Pflege durch Frauenhände, die Siowackis Feminismus groß zog, imponiert
die treibhausartige Frühreife des Krasinski, die an Shelley mahnt. Den
Knaben, der bändereiche historische Romane verbrach — Walter Scott
hatte es ja vor 1830 allen angetan — überraschte die Novemberrevolution,
an der er nicht teilnehmen durfte. Nachdem er in allen möglichen pro-
saischen Formen (er scheute lange den Vers) die Russen verwünscht
hatte, erhob sich schließlich vor dem sinnenden Christen die eine Frage:
wie weit denn Rache gehen dürfe und was sie schaffe; vor dem Aristo-
kraten die andere: was bringt uns die Zukunft, die unvermeidliche soziale
Revolution mit dem Untergange aller alten Ordnung, was ist ihr Endziel?
Jenes engere, polnischem Verständnis besonders nahe Problem behandelte
sein „Iridion", das dramatische Gedicht (in fast rhythmischer Prosa) von
dem Griechen, der sein entwürdigtes Vaterland an dem völkerverderbenden
Rom, und wäre es um den Preis seiner Seele (Einschlag des Faustmotivs)
rächen wird; der zur Rache alle Gegner Roms, auch die unterirdischen,
die Christen aufruft. Aber das Werk der Rache muß mißlingen, mag es
sogar Heilige betören. Den, der es geplant, rettet vor der ewigen Ver-
damnis nur die heiße Liebe zum Vaterlande, doch muß er seine Verirrung
in harter, entsagender Arbeit büßen; die Lösung ist somit eine andere,
als die im „Konrad Wallenrod" gebotene, eine christliche, keine heidnische.
Meisterhaft ist die Vision des Heliogabalschen Roms: Roms Poesie hat
unter Polen die trefflichsten Künder gefunden. Das zweite, heute so ak-
tuelle Problem behandelt das noch freier und loser gebaute Drama „Die
ungöttliche Komödie", deren größte Schwäche das Fehlen des Verses
ausmacht, den sie gebieterisch heischt; es ist dies das Werk eines 2 1 jäh-
II. Die Literatur des Hl. Jahrhunderts bis /.um Aufstand von 1863. 15-1
rigen Jünglings, 1834 vollendet, doch als nach vielen Dezennien von Er-
fahrungen und Versuchen Bjömson das gleiche Thema behandelte, hat
der bejahrte Norweger den Krasiiiski nicht zu überbieten, kaum zu er-
reichen vermocht. Die Namen der kämpfenden Parteien („Aristokraten"
und „Demokraten") sind in diesem Pendant zur Göttlichen Komödie (einer
Lieblingsdichtung der Polen) zwar unzeitgemäß, desto zeitgemäßer da-
gegen der Kampf selbst, der Besitzlosen gegen die Besitzenden. Es han-
delt sich um keine Ideale, nur um einen Tausch, auf daß die Hungrigen
die Stelle der Satten einnehmen, worauf bei der Ungleichheit mensch-
licher Veranlagung das alte Spiel von neuem beginnen wird. Morsch und
feige ist die „Aristokratie" — niemand hat die Philippika des Grafen gegen
seine Standesgenossen zu übertreffen vermocht: nach ihm gebührt ihr nur
Vertilgung und Vergessen; aber die „Demokratie" steuert demselben Ziele
zu, trotz aller Tiraden von Gleichheit und Brüderlichkeit, und ebenso
schonungslos reißt Krasinski diese Larve von ihrem Gesicht. Über dem
Abgrund, in den die Repräsentanten beider versinken, erhebt sich das
Zeichen des Kreuzes, des Sieges des Galiläers, der christlichen Liebe;
eine bessere poetische Lösung ist ausgeschlossen. Krasinski blieb jedoch
bei diesen großen Konzeptionen stehen; der Philosoph und Publizist töte-
ten schließlich den Dichter, der sich in pantheistischen Visionen und in
Bekämpfungen der ihm unsympathischen politischen und sozialen Tages-
losungen verlor, nvir selten noch zu großem lyrischem Schwünge sich
erhebend.
Philosophie oder richtiger Mystik hatte auch die Pfade der Mickiewicz Die mystische
und Slowacki und so vieler anderer gekreuzt. Unter dem Einfluß des Emigrations/
„Messianismus" des Litauers A. Towianski schwor Mickiewicz das Dichten MessiaAismus
des A. To-
ab, um Apostel der neuen Lehre vom Katheder der Sorbonne aus zu wiän'ski.
werden; derselbe Einfluß schuf das eitle Weltkind Slowacki zum grübelnden
Anachoreten um. Mystische Einschläge, die noch höher in der polnischen
Literatur hinaufreichen, sind ihr bis heute, auch bei Gegnern und Be-
kämpfem dieser Mystik, immanent. Ein mystischer Glaube an die be-
sondere Mission des neuen auserwählten Volkes ließ, wie das alte den
Monotheismus, so das neue das Evangelium der Gerechtigkeit und Liebe
vertreten, um dafür zum Opfer verurteilt zu werden; nur so ließen sich mit
dem Glauben an eine weise und gütige Vorsehung die schweren Schicksals-
schläge, die die Nation trafen, versöhnen; man verherrlichte die Einrich-
tungen der glorreichen Republik, die allerdings für Engel, kaum für Sterb-
liche bestimmt schienen; man begeisterte sich mit Recht für die eigene
Geschichte und Polens werbende Kraft, für seine schmählich gelohnte
Opferfähigkeit, als z. B. den Entsatz Wiens die Losung, welche Maria
Theresia zur ersten Teilung Polens gab, vergalt. So entstand der Glaube
des polnischen Messianismus, daß das Volk berufen sei, das neue Evan-
gelium der Liebe zu predigen, der höchsten Evolution, dem Reiche
des Heiligen Geistes durch das Sicherheben und Festhalten am „Ton"
l54 Alexander Brückner: Die polnische Literatur.
vorzuarbeiten, die Beziehungen der Staaten und der Menschheit, nicht
nur der Individuen, zu verchristlichen; das Opfer schnödesten Ver-
rates am Christentum im Namen materiellster Herrschsucht, die Unter-
legenen, schienen eine neue moralische Weltordnung dem Sieger künden
zu sollen. Bei allen Überschwenglichkeiten und Einseitigkeiten, die diese
Lehre stark diskreditieren, darf nicht übersehen werden, welche hohe An-
forderungen sie an den einzelnen stellt, und das Ziel, dem sie zustrebt,
die Veredlung der Menschheit, könnte nicht höher und schöner gesteckt
werden. Der Messianismus setzte sich über offizielle Kirche und Staat
hinweg, leugnete engen Patriotismus, verschmähte die liberalbourgeoisen
Institutionen, den Schacher der Parlamente, jegliches Politisieren und Kon-
spirieren und spaltete nur noch mehr die an sich schon zersplitterte Emi-
gration. Nach dem Jahre 1850 glitt ihr die führende Leitung aus den
Händen; die großen Dichter waren verstummt; Tod oder Amnestie
lichteten rasch ihre Reihen; der bedeutendste Epigone dieser Emigration, der
treffliche Publizist Julian Klaczko, gab das Schreiben polnischer Artikel
auf, um in geistreichen Essays über Politik und zuletzt über Dante und
Renaissance in französischer Sprache sich ein größeres Publikum zu er-
obern.
Während die Poesie der Emigration nach dem Höchsten rang, sorgte
man daheim (1831 — 1863) für den täglichen Bedarf der Literatur; besonderes
' Verdienst erwarb sich der vielseitige, überaus fruchtbare Romanschriftsteller
Jözef Kraszewski; erst seine polnischen Werke verdrängten die fran-
zösischen aus der Lesewelt; dann der Romanschriftsteller und Dramatiker
Jözef Korzeniowski, der zuerst nach Fredro ein solides polnisches Re-
pertoire zimmerte; neben ihnen brachte eine stattliche Reihe von Epikern
und Romanciers die altadeligen Traditionen zu Ehren, in förmlichem Wett-
streit mit dem „Herr Thaddäus", oder huldigte demokratischen Tendenzen,
indem sie den Kreis adeliger Ausschließlichkeit durchbrach und die
Sache des Volkes, der Freiheit, ja der Revolution vertrat. Gepflegt wurde
der historische Roman, der nur aus dem 1 8. Jahrhundert bedeutende, lebens-
frische Bilder brachte; der Künstlerroman, der soziale und Bauernroman,
der der Emanzipation von 1 86 1 vorausgriff; der satirische blieb unbedeutend.
Mit dem historischen Drama rang man vergebens; auch das historische
Epos leistete desto weniger, mit je größerem Applomb es auftrat. Desto
besser gelangen einem Pol oder Syrokomla die kleineren Genrebilder
aus der Vergangenheit und ihrem ländlichen patriarchalischen Treiben;
unter den Lyrikern reichte nur der jugendliche Ujejski mit seinen tief
erschütternden und doch versöhnenden Klagen des Jeremias (infolge der
Vorgänge von 1846) an die Höhe der Emigrationspoesie. Zahlreicher
traten jetzt auch Schriftstellerinnen hervor; es ist merkwürdig, wie spät
das schöne Geschlecht, das in Polen so oft das stärkere ist, in die Lite-
ratur eingreift; das 17. und 18. Jahrhundert bieten nur ganz vereinzelte
Erscheinungen, im iq. Jahrhundert mehren sie sich, aber bis 1863 war man
III. Die Literatur seit dem Aufstand von 1S63. 165
von der modernen Invasion des polnischen Parnasses durch die Frauen
weit entfernt. Das Gedankenreichste und Formvollendetste leistete die
„Enthusiastin" Zmichowska, doch mied sie schließlich jede Exaltation,
verurteilte die Träumereien und fand den Weg zu ersprießlicher Förde-
rung, nicht den der Emanzipation nach Art der G. Sand, sondern den
der Humanität.
III. Die Literatur seit dem Aufstand von 1803. In dieses Ute- Die Katastrophe
von i86j und
rarische Leben, das offenbar einer Erneuerung, Verjüngung entgegentrieb der.n Folgen.
TT- • T^n 1 1 Bankrott der
— die alten Losungen verloren ihre Wirkung, die Pflege der exakten aitin Romantik.
und sogar der historischen Wissenschaften blieb arg zurück, Philosophie
fehlte völlig, der Anschluß an die europäische Gedankenwelt war wieder-
um recht lose geworden — schlug nun, die notwendige Entwicklung
überstürzend, eine neue politische Katastrophe herein, der Aufstand von
1863, der eigentliche Abschluß der polnischen Romantik. Schmerzliche
Enttäuschungen ernüchterten die Nation; sie brach mit der romantischen,
abenteuerlichen, unverantwortlichen Politik; jetzt hieß es, unter neuen,
ungleich schwierigeren Lebensbedingungen, nach dem Verluste jeglicher
Autonomie, nach zahllosen Einbußen an Blut und Mitteln, die tiefen
Wunden heilen, das Versäumte nachholen, der Entwicklung des sozialen
Lebens sich anpassen, in den Rahmen der neuen Welt, ihrer Industrie,
ihres Verkehrs sich eingliedern. Mit einem Male verlor die Romantik
ihren Kredit; die noch unlängst so gefeierten Traditionen, die konfessionelle,
ständische, nationale Engherzigkeit und Einseitigkeit, verleugnete man im
Namen des Fortschrittes und der „organischen Arbeit'', die die nationalen
Grundlagen umgestalten sollten. Die „positivistische" Jugend räumte mit
altväterlichem Erbgut auf, begeisterte sich für Darwin und Comte, für
Buckle und Mill, für Büchner und Vogt, verpönte Träumen, Phantasie und
Poesie, zumal die lyrische und epische. Gelten ließ sie nur die dramatische
Literatur, um von der Bühne herab Propaganda für die neuen Ideen zu
treiben, und den tendenziösen Roman. In der Tat verstummte die Poesie,
d. h. sie fand keine Hörer mehr; nur die wenigsten, wirklichen Künstler, be-
sonders Asnyk, ließen sich durch dieses lärmende Treiben nicht beirren,
und von Siowackis Bahnen ausgehend, rang sich dieser Lyriker zu einer
neuen evolutionistischen Weltauffassung durch, doch mied er die Kämpfe des
Tages. Desto breiteren Raum nahm das Drama ein, Thesenstücke nach Art
der Franzosen (Augier, Dumas), obwohl der Tendenz gerade dasjenige nicht
huldigte, was allein bleibenden Wert behalten sollte, Bliziiiskis Bilder
aus dem Treiben der Gentry, der er selbst angehörte und die er mit
Sympathie und doch wahrheitsgemäß darstellte, in köstlicher Sprache und
mit viel Laune, national und charakteristisch in jedem Zug, tieferen Kon-
flikten jedoch aus dem Wege gehend. Noch intensiver pflegte man den
Roman: der alternde Kraszewski imponierte auch ferner durch seine un-
glaubliche Arbeitskraft und -lust, doch trat er jetzt mit Vorliebe mit
j56 Alexander Brückner: Die polnische Literatur.
ungezählten historischen Romanen auf; neben ihm der demokratische
und revolutionäre Jez, der als erster unter den Polen die Freiheits-
kämpfe der Balkanvölker zu historischen Romanen verwertete oder in
sozialen Erzählungen die Schwächen polnischer Gesellschaft bis zur Kari-
katur entstellte und seine eigenen demokratischen Ideale verherrlichte.
Diese Vertreter des Alten, die den Forderungen der neuen Zeit sich an-
paßten, wie Kraszewski und Jez, oder sie ignorierten, wie Blizinski im
Tendenziöse, Drama Und manch anderer im Roman, übertraf weit durch seinen Einfluß
''Titeratur. " auf die Warschaucr Jugend, die ihn blind verehrte, Alexander Swieto-
wi^toc °™5'- (,j^Q^\-g].j^ einer der glänzendsten Stilisten. Kein Dichter, im Grunde Dia-
lektiker und Sophist, Meister des epigrammatischen Stiles, an Voltaire
oder Herzen erinnernd, wagte er sich, abgesehen von seiner Publizistik,
an große dramatische Konzeptionen, und die Lesedramen, die er schuf,
gehören zu den interessantesten der Weltliteratur. Unübertroffen bleibt
seine Wiederbelebung des alten Athen, die Darstellung der rhetorischen
Leistungen des Perikles und der Wortgefechte der Sophisten, trotz des Ein-
mischens allermodernster Losungen; weniger befriedigt sein Dramenzyklus,
der die Entwicklung der Menschheit von der primitiven Horde bis zur Kultur
und Humanität darstellt; seiner 'Apotheose der Liebe und ihrer veredelnden
Wirkungen, sowie seinen Anklagen der Religion, d. i. des Aberglaubens
und der Pfaffen, fehlt nur, wie den Dramen des ICrasinski, rhythmischer
Zauber und Wucht der Verse; die stahlharte und haarscharfe Klinge seines
Geistes führt er im sozialen Drama gewandter. Doch auch hier interessierte
ihn nicht Aktion oder Charakteristik, nur die dialektische Entwicklung,
das Hinüber- und Herüberwerfen von Paradoxen, Sarkasmen, Aphorismen,
das Rededuell von Meistern des geistigen Rapiers: eine Kunst, nicht für
die Menge geschaffen, die sich von den verstandesmäßigen Deduktionen
des Darwinisten und Individualisten trotz ihrer blendenden Form nicht
angezogen fühlte.
Rückschläge. Diese Gunst der Menge eroberte spielend ein anderer, der bis heute
SeinJ^Epen'Tn ein Liebling der Massen geblieben ist, Henryk Sienkiewicz, obwohl oder
KuHurronTane. vielleicht Weil im Grunde seine Kunst einen Rückfall in avitische Tradi-
tionen und Illusionen bedeutete; sein eigentliches Auftreten in der Lite-
ratur, nach 1883, bedeutete bereits die nahende Überwindung des positi-
vistischen Momentes. Auch er hatte noch vor einem Dezennium, wie die
übrigen Zöglinge der Warschauer „Hauptschule", der einstigen Universität,
als Positivist mit realistischen Novellen und als Publizist mit geistreichen
und satirischen Feuilletons begonnen, und frühe schon fiel die Vielseitig-
keit seines Könnens auf; sein eigentliches Feld fand er jedoch erst,
als er, dem angeborenen Naturell nachgebend, unbekümmert um die
Mahnungen einer doktrinären Kj-itik, von der unbefriedigenden klein-
lichen Gegenwart, der Belebung vergangener Zeiten, ihres nationalen
Glanzes, ihrer erschütternden Katastrophen und erhebenden Triumphe
sich zuwandte, der neue Homer der altpolnischen Epopöe. Erst hier kam
III. Die Literatur seit dem Aufstand von 1863. 167
ZU ihrem Rechte seine unglaubliche Erzählerkunst, die unübertroffene
Plastik und Lebhaftigkeit seiner Vision der Vergangenheit. Das von rea-
listischer und tendenziöser Kleinmalerei übersättigte Publikum, nicht nur
das polnische, verschlang mit Heißhunger seine schier endlosen historischen
Romane. In einer Trilogie, „Mit Feuer und Schwert", „Die Sintflut", „Herr
Wolodyjowski", schilderte er Gipfel und Abgrund polnischen Ringens mit
den Feinden im 1 7. Jahrhundert, wobei er der Zensur wegen die Russen
beiseite lassen mußte, sich dadurch der effektvollsten Züge beraubend —
der erste Teil der Trilogie errang beispiellosen Erfolg-, wie ihn nur
Walter Scott 1815 zu verzeichnen gehabt hatte. Des Gegensatzes halber
stieg er zu modemer Haarspalterei herab, das Seelenleben eines Deka-
denten in „Ohne Dogma" analysierend; etwas philiströse Moral verzapfte
er in „Familie Polaniecki", aber bald riß er sich wieder von dieser
intimen und modernen Kunst ab und wandte sich großen historischen
Kompositionen zu. Nun ließ er in „Quo Vadis" über Macht und Sinnes-
rausch des kaiserlichen Roms das unterirdische mit seiner Askese und
Liebe, mit seiner Demut und Ergebenheit siegen: es ist dies derjenige
Roman, der in der gesamten Weltliteratur den größten Erfolg errungen
hat, nicht nur etwa in Nordamerika und England, sondern auch in so
exklusiven, gegen alles Fremde unzugänglichen Literaturen, wie die
französische. Mit den „Kreuzrittern" betrat er wieder die Bahn, auf der
er mit Matejkos Polens Vergangenheit glorifizierenden Gemälden wett-
eiferte; doch legte er bald die Feder nieder. Zu bewundern bleibt
die Unerschöpflichkeit des Erzählers; das sich Überbieten von Bildern
und Szenen; das meisterhafte Knüpfen und Lösen von Schwierigkeiten;
die Fülle charakteristischer Gestalten, jede mit ihrer besonderen Sprache
und Geste, ob es mm eine schwärmerische Jungfrau, ein Falstaff oder
ein Ritter ohne Furcht und Tadel ist; die Anpassungsfähigkeit des
Künstlers an jegliche Lage, ob er nun perverse Raffiniertheit einer
absterbenden Zivilisation oder frisch pulsierendes Leben derbsten Mittel-
alters, heroische Instinkte eines jugendfrischen Volkes oder antike sinn-
liche Grazie verkörpert. Sein Talent ist, wie es ja Slawen zukommt,
ausschließlich episch, und man merkt, wie der Meister selbst Gefallen
findet am ausführlichsten Schildern und Erzählen, an den farbenprächtigen
Bildern mit ihrem bewegten Fonds zahlloser, stets eigenartiger Figuren.
Seine Kunst stellte sich immer ausschließlicher in den Dienst der Ver-
gangenheit, ihrer Sympathien und Antipathien; kein Wunder daher, daß
er bei der eigenen Nation, deren Aufmerksamkeit er für immer fesseln
zu sollen schien, namentlich bei der Jugend, auf wachsende Opposition
stieß, auf ein Auflehnen gegen seinen Einfluß, ein Ablehnen seines Stand-
punktes, ja seiner Kunst sogar.
Die eigentliche Entwicklung der modernen Literatur, seit 1890, geht der^^Serae^
denn auch auf anderen Bahnen vor sich, nicht in dem adelig-traditionellen ^"^Xo' ""'
Geiste, sondern dem demokratischen Zuge der Zeit folgend. Dieser kün- K'ofz^zko.'
158 Alexander Bkickner: Die polnische Literatur.
dete sich bereits an in dem jetzt vierzigjährigen Schaffen der Frau
E. von Orzeszko, einer der bedeutendsten, beliebtesten Schriftstellerinnen
der Weltliteratur, die z. B. in Rußland besonders geschätzt wird. Trotz der
Unzahl ihrer Romane und Novellen hat sie bezeichnenderweise niemals
(außer in Judenerzählungen aus römischer Zeit) an dem historischen Altar
geopfert. Sie begann als Tendenzschriftstellerin, die, unabhängig von
der Warschauer Bewegung, für die Emanzipation des Weibes eintrat;
aber auf polnischem Boden nahm auch die Emanzipationslust eine be-
sondere, engere Form an. Im Grunde genommen ist die Orzeszko bis
heute tendenziös in ihrem Schaffen geblieben, aber wie hat sich ihre
Kunst vervollkommnet, wie ist ihr Stil präziser und energischer geworden,
ihr Horizont erweitert, ihr Naturgefühl verfeinert — nur das Herz, die
Sympathie für alle Unterdrückten, Unwissenden, Verlassenen hat die
ursprüngliche Tiefe bewahrt. Für Polen wurde sie Ruferin im Streit,
und trotz aller ihrer Mäßigung verdarb sie es für immer mit kon-
servativen und klerikalen Kreisen; wagte sie es doch z. B. die Unlöslich-
keit der Ehe und ihre Folgen zu beleuchten; von Herzens- und Familien-
geschichten stieg sie zur Darstellung von Land und Leuten, Juden und
Bauern, doch mit Vorliebe verblieb sie in ihren eigentlichen Kreisen,
auf den Adelshöfen in der entlegenen Provinz. In den breit angelegten
Romanen zeichnet sie die polnische Welt in ihren litauischen und weiß-
russischen Winkeln am Niemen, mit dem lebhaftesten Sinn für das Land-
schaftliche, ausgehend von den seit der Bauernbefreiung 1861 und dem
Aufstande 1863 von Grund aus veränderten Bedingungen, die Muster und
Ideale weisend, nach denen jeder sein Verhalten zum Nächsten und zum
Boden einrichte. Sie betonte stets die einigenden und humanen Motive,
fand sich ab mit den Schwächen und Unvollkommenheiten in wehmütiger
Resignation, die sich mit dem Alter bis zum Pessimismus verdüsterte,
und trotzdem mahnte sie unverzagt zur Mühe und Aufopferung für die
„alten Scherben" (den bildlichen Stil lehrte sie der russische Zensor), in-
dem sie gegen jegliches frivole Lockern der traditionellen Bande prote-
stierte und die Jagd nach der „Pastete", nach dem Lebensgenüsse, sowie das
Huldigen vor fremden Götzen, die Preisgabe des Heimes und Volkes ver-
urteilte. Sie sucht moderne Losungen mit den traditionellen zu versöhnen,
predigt das Evangelium der Arbeit und Liebe, trachtet den unter den Füßen
zusehends weichenden Grund zu retten und zu sichern, lenkt die Aufmerk-
samkeit auf den Juden mit seinem Fanatismus und seiner Unwissenheit, auf
den Bauer mit seinem Aberglauben und seiner Gefühlstiefe, auf den Klein-
adeligen mit seinem Stolz und seiner Zähigkeit, auf die Vornehmen, die
großen Kinder, die verirrten und verführten, doch ohne didaktische Aufdring-
lichkeit; trotz ihrer Ausführlichkeit; der Gehobenheit einer fa.st dichterischen
Sprache ; der Neigung zum Idealisieren, erzielt sie mitunter durch die knappste
Diktion, strengste Objektivität und die einfachsten Züge den größten Er-
folg, zumal wo jegliche Tendenz sich in der epischen Fülle verflüclitigt.
III. Die Literatur seit dem Aufstand von 1863. i6q
Während in der Frauenliteratur der ^Velt Parallelen zur Orzeszko sich Maria
ohne weiteres finden ließen, bleibt Maria Konopnicka unübertroffen, ja
unerreicht. Sie ist, was bei Frauen so selten, eine Dichterin von männ-
licher Kraft, ihren modernen Sangesbrüdern weit überlegen, ein großes
episches und lyrisches Talent, eine Meisterin des Ausdrucks, die auf dem
Boden der Tatsächlichkeit haftend, allem Exotischen, Phantastischen aus-
weicht. Die Warschauer Positivisten zählten auch sie zu den ihrigen;
ihren fortschrittlichen und demagogischen Melodien legte sie förmlich die
Texte unter, aber bald streifte sie alles Tendenziöse ab, verherrlichte
heimisches Land und Leute, schilderte Eindrücke der Fremde, zumal italie-
nischer Kunst und Natur, und schuf schließlich das einzige, das Bauern-
epos großen Stiles, das die Lücke in der Weltliteratur ausfüllt, das den
Vergleich mit allen heroischen, romantischen, religiösen, historischen und
bürgerlichen Epen siegreich besteht. So schuf die „aristokratische" pol-
nische Literatur — diesen Vorwurf formulierten mit Nachdruck und einst
nicht mit Unrecht Russen — das Bauern- und zwar das Auswandererepos.
Denn die Rhapsodien und Oktaven des „Herr Balzer in Brasilien" schil-
dern nicht Kämpfe und Nöte auf der heimischen Scholle; die aus allen
Gegenden Polens bunt zusammengewürfelte Schar müht sich im verg'eb-
lichen Ringen mit den Elementen, mit dem Klima, mit Pest und Hunger,
mit Nagern und Schlangen, bis der Haufe von Skeletten im panischen
Entsetzen und doch im tiefsten, unwandelbaren Gottvertrauen den Weg
zur Küste, nach der Überfahrt, zu dem trauten Glockengeläut der Dorf-
kirche sich bahnt, um den sicheren Tod zu finden: alles in den Mund des
ehrbaren Dorfschmiedes gelegt, der die selbsterlebten Wunder und
Schrecken mit erstaunlicher Anschaulichkeit, überwältigendem Gefühl,
herber Einfachheit, ohne einen weibischen Zug, mit männlicher Kraft
wiedergibt. Daß ein solches Werk Frauenhände schufen, ist nicht das
geringste der W^under, an denen polnische Literaturgeschichte reich ist.
Dieses Bauernepos wird nun bezeichnend für einen Hauptzug modern- Die voikstum
ster polnischer Literatur, für ihre Volkstümlichkeit. Zwar haben auch im Leben und in
die Alteren, schon wegen ihres ausgeprägten ländlichen Charakters, Ba
Bauernleben und -typen dargestellt, in den Idyllen des Simonides (1612),
die neben Nachahmungen des Theokrit und Vergil rotrussisches Dorf-
leben ungeschminkt wiedergaben, wie im „Wiesiaw" des Brodzinski (1820),
einem bäuerlichen „Hermann und Dorothea", der von sentimentalen An-
wandlungen nicht frei war; der litauische Bums, Syrokomla, Kraszewski
mit seinen Bauernromanen, arbeiteten der Bauememanzipation kräftig vor;
es wurden sogar in den Mundarten polnischer Bauern, im Kaschubischen
oder Oberschlesischen, meist humoristische Sachen geschrieben. Heute
geht jedoch der volkstümliche Zug ungleich tiefer, ist keine zufallige
oder vorübergehende Anwandlung mehr, ist die notwendigste Voraus-
setzung oder Ergänzung jeglicher nationalkultureller Arbeit geworden.
Lange nämlich war man in der gröbsten Täuschung über Stärke und
lyo Alexander Brückner : Die polnische Literatur.
Beschaffenheit polnischen nationalen Wesens befangen. Man nahm als
selbstverständlich an, daß man mit dem Adel durch Expropriationen und
Konfiskationen fertig werden, die Geistlichkeit durch Druck von Rom aus
mürbe machen, das bürgerliche Element durch Amt und Schule ent-
nationalisieren und den Bauer gegen seinen Bedrücker-Herrn ausspielen
könne, indem man ihm das Polentum mit den „polnischen Zeiten" der
Rechtlosigkeit und Robot als Greuel, die Fremden als die Erlöser von
diesem Drucke, als seine Retter darstellte. Alles stimmte vorzüglich;
übersehen war nur eine Kleinigkeit, das Nationalgefühl, und dieses machte
den Strich durch die ganze Rechnung. Denn als der Bauer merkte, wo-
hin das System schließlich abzielte, daß er seiner Sprache und Natio-
nalität wegen verfolgt wurde — zahlte man doch schon im i8. Jahr-
hundert Prämien für Entnationalisierung an Geistliche und Lehrer, etwa
wie Schußprämien für Wölfe, und erklärte sogar Ortsnamen den Krieg
— da erkannte der bis dahin loyalste und frömmste Untertan auf der
ganzen Welt, in Regierung und Geistlichkeit seinen gefährlichsten Feind,
und heute wächst täglich diese Entfremdung, die nur den Monarchismus,
die Loyalität und sogar den Katholizismus selbst gefährdet, ohne der
fremden Sache zu nützen.
Auf diesem Granit des Polentums nun, auf der polnischen Bauem-
welt, baut sich zum Teil die Literatur selbst auf. Es zeigt sich dies
schon in der Sprache: die modernen Schriftsteller verjüngen und kräftigen
sie, schöpfend aus dem Jugendbrunnen der Bauernsprache, zum Ent-
setzen der zünftigen Puristen, die nur das salonmäßige Polnisch, wie es
durch die Romantiker nach der klassischen Starrheit aufgefrischt ward,
gelten lassen wollen. Es zeigt sich dies in der Wahl der Stoffe: Bauern-
novellen, -romane und -dramen nehmen einen immer größeren Raum ein;
ja, Schriftsteller gehen aus dem Volke unmittelbar hervor, sind Bauern-
söhne oder steigen zu ihm herab, sie heiraten z. B. Bäuerinnen und leben
auf dem Dorfe. Diese Bauernliteratur erst dringt in die Tiefen der
Volksseele; sie begnügt sich nicht mehr mit dem äußerlichen ethno-
graphischen Aufputz in Brauch, Lied, Sprache; sie erschließt die Gefühls-
welt und Denkweise des Bauern, jegliche sentimentale oder idjdlische
Anwandlung verpönend. Die meisten modernen Schriftsteller schöpfen
aus der Volksliteratur oder steuern ihr bei; Sienkiewicz hat nur seine
alte Sprache ihr angemodelt; die Orzeszko entnahm dem Volksleben ihre
schönsten Schöpfungen; mit Konopnicka wetteifert Reymont, der große
Epiker in Prosa, namentlich in seiner Epopöe „Die Bauern", die das gesamte
Dorfleben, nicht nur seine tragischen, komischen oder idyllischen Ausschnitte,
mit wunderbarer Plastik zur unübertroffenen Darstellung bringt. Von be-
sonderer Bedeutung für die Literatur ward dann die Tatra, das Gebirge,
sein Volk und dessen Sprache, für die Verjüngung" der Lyrik wie für die
Bereicherung der Stoffe; ein Sohn der unwirtlichen Berge selbst, Orkan,
schildert in hnmer größer angelegten Werken ihr Elend, die Starrheit
III. Die Literatur seit dem Aufstand von 1863. lyi
der grandiosen Natur, die Träumer und Propheten, die in dieser Um-
gebung- entstehen. So schmilzt das Eis, das wie diese Berge, so diese
Bauernwelt bedeckt hielt; das polnische Bauerntum ist nationalem Be-
wußtsein gewonnen.
In dieser unabwendbaren, natumotwendigen Bauemmanie und Bauern- Die altruistische
manier geht jedoch die polnische Moderne nicht auf. Ein anderer sie be- Vertreter',- Prus
herrschender Zug ist der Altruismus, das Einschärfen der Pflichten
gegen die Gesamtheit. Die bedeutendsten Vertreter dieser Richtung sind
der alte Prus und der junge Zeromski. Prus hatte als Positivist, Feuille-
tonist und Humorist begonnen, ehe er seine Beobachtungen des täglichen
Lebens und seiner Triebkräfte in größeren Schöpfungen verwertete: auch
er errang mit einer Bauerngeschichte, die das zähe Haften des Bauern
an der Scholle verherrlicht, den ersten großen Erfolg; er wandte sich
dann sozialen Romanen zu, von grandioser Gedankentiefe, mit wunderbaren
Gestalten („Die Emanzipantinnen"); in seinem Roman aus der Zeit der
Pharaonen, mit dem der Dichter den Professor (Ebers) um viele Längen
schlug, huldigte er dem Evolutionismus, denn sein Reformator unterliegt, aber
seine Überwinder selbst werden diese Reformen ausführen müssen. Ungleich
eigenartiger ist Zeromskis großes Talent; er ist kein Epiker, kein Fabu-
list, wie Sienkiewicz; seine Romane zerflattern in lose Schilderungen, die
auf einen Grundton gestimmt sind: gallige Ausfälle gegen bourgeoise
Heuchelei, erschütternde, mit innerlichen Tränen und Blut geschriebene
Schilderungen menschlichen Unglückes; sein Held in den „Heimlosen"
wird, anders als Ibsens „Volksfeind", von vornherein den Versuchungen
eigenen Glückes, eigenen Herdes an der Seite der Geliebten, widerstehen,
um zum sozialen Kampfe die Arme sich frei zu erhalten. Die losen
Stimmungsbilder Zeromskis ergreifen mächtiger, als die abgerundetsten
Schöpfungen anderer; seine energische, konzentrierte Diktion — ganz wie
sein Gefühl — , in ihrer oft schneidenden Schärfe, sticht von dem tempe-
ramentlosen Wortgeschwall anderer förmlich befremdend ab; er bleibt
Meister der Schilderung, wenn er auch die Gebote der Komposition
verachtet.
Zeit und Umstände bedingen allerlei Spezialisierungen — so die Andere Batmen
sibirischen Novellen und Skizzen eines Szymaiiski oder Sieroszewski, „MoJeme«.
die auf Grund eigener Anschauungen verfaßt sind, endigen doch so vieler
Polen Zukunftsträume in dem Eis der Tundren; Sieroszewski ist zugleich
hervorragender Ethnograph, seine Schilderungen Ostasiens unübertroffen.
Lange vor Kipling pflegte Dygasinski das Tierepos, die heimische Tierwelt
behandelnd und der Allegorie weniger huldigend. Satirische Romane aus
der besten Gesellschaft bringt Weyssenhoff, ausgezeichnet durch diskrete
Pinselführung, so daß das satirische Element kaum durchleuchtet und die
Schilderungen dadurch nur naturwahrer werden. Von historischen Romanen
wimmelt es geradezu; der eigentliche realistische Roman — trotzdem alle
Genannten Realisten sind — mit seinen Kraßheiten erotischer Art ist
iy2 Alexander Brückner: Die- polnische Literatur.
ausgeschlossen: die slawischen Musen sind immer keusch. Das äußerste
wagte noch eine Frau (Zapolska); erst Stanislaw Przybyszewski, von
der deutschen Literatur und ans dem Kreise Strindbergs kommend,
infizierte die polnische Literatur mit dem Kultus der nackten Seele, der
Androgyne, der sexuellen Verirrungen, des Übermenschen; der Romancier
jedoch, der in der deutschen Sprache die gewagtesten Probleme behandelte,
schien auf dem polnischen Boden sich eines anderen zu besinnen,
wenigstens behandeln seine polnischen Dramen sämtlich die Folgen, die
die Verletzung moralischer Satzungen nach sich zieht; er schreckte jetzt
eher ab, als daß er verführte und verwirrte.
Unverhältnismäßig groß ist die Zahl der Lyriker, die die Gleichgültig-
keit des großen Publikums gegen Verse endlich gebrochen haben. Diese
Neubelebung der Poesie ging von fremden Anregungen aus; die Par-
nassier, Symbolisten, Satanisten sogar fanden in Polen gelehrige Schüler,
die sich selbst zu Meistern entwickelten. So Kazimierz Tetmajer (die
deutschen Namen besagen nichts; schon der Urgroßvater dieses Moder-
nisten huldigte polnischen Musen, wie Weyssenhoffs Ahne an der Mai-
konstitution von lyqi mitwirkte), der in der Verherrlichung der Tatra sich
den Geist gesund badete von Pessimismus und Sinnlichkeit, dem die
größte Mannigfaltigkeit von Tönen und Bildern zu Gebote steht — im
Gegensatze zu der Herbheit und Schroffheit des Sohnes der Kujawischen
Hügellandschaft, J. Kasprowicz, der vom Volksdichter und Sozialisten
ausgegangen, für seinen Weltschmerz den erschütterndsten, nicht den har-
monischsten Ausdruck fand; beide Lyriker wandten sich mit großem Er-
folg dem Roman und Drama zu.
Eine besondere Stellung nimmt der Maler und Dichter Stanislaw
Wyspianski ein, der Maler, der dem Dichter die fertigen Tableaus stellt;
der an Slowacki erinnert nicht nur durch die Macht des Wortes, die
befremdenden, ja beängstigenden Konzeptionen, sondern durch die Auf-
fassung- von der Aufgabe des Dichters als ■;wi/cs, als geistiger Führer
seines Volkes. Er findet die eigenartigsten Effekte, grandiose oder nur
groteske; ist tief und geheimnisvoll, dunkel mit Absicht und kapriziös
und bizarr zugleich. Überall scheint er zu Hause zu sein; antike Stoffe
(Meleager, Protesilaus) verwertete er in der Art eines Maeterlinck und
doch gab er eine imposante Vision heroischer Zeit; er behandelte die
nationale Sage um des Stimmungszaubers willen, den er ihr willkürlich
lieh; er setzte die Rhapsodien des Slowacki fort, den Konflikt zwischen
König und Bischof (Stanislaus), in epischer und dramatischer Form, und
erzielte die prächtigsten malerischen Wirkungen, schuf im einzelnen wahre
Perlen der Poesie. Im gewaltigen Sprunge versetzte er sich in das
19. Jahrhundert, in die Schilderung militärischer, politischer, geistiger
Kämpfe der polnischen Generale, Diplomaten und Dichter; unterwarf in
seinen phantastischen Dramen der schärfsten Kritik, die Geißel des Slo-
wacki schwingend über Gerechte und Ungerechte, die Schlagworte des
]H. Die Literatur seil dcni Aufstand von 18(13. I -_5
Tages, sogar die „Bauernmanie", die Schwächen der Nation, das selbst-
gefällige Wiegten in Träumen, die Abwendung des Blickes zur Vergangen-
heit, zu den Gräbern, wovon nichts zu erhoffen ist; so wirft er sich als
Führer und „Befreier" auf, im einzelnen unklar und widerspruchsvoll, in
vielem treffend und packend. Seinen Dramen ist nicht gleicher Erfolg
beschieden gewesen; den größten erzielte „Die Hochzeit'', trotz ihrer Alle-
gorien und Symbole, durch die satirischen Ausfälle, den wirbelnden Rhyth-
mus der Form, die aufs höchste gesteigerte Spannung-. Trotz aller Phan-
tastik und Kaprizen ist seine Poesie durchaus bodenständig, im Grunde
selbst eine Poesie der Gräber, möglich nur in den Stimmungen, die
Krakaus ehrwürdige Denkmäler auslösen.
An diese Kor^'phäen reiht sich eine beängstigend große Reihe von Koma., umi
Dichtern und Belletristen. Da nämlich dem Polen die Tätigkeit in Amt
und Heer meist unmöglich gemacht wird, muß sich der Überschuß geistiger
Kräfte auf literarischem Gebiete ausladen; Dekadenten, Komödianten,
Reporter wenden sich hierher; mit Männern wetteifern Frauen, weniger
in L3'rik und Drama, als in Roman und Novelle, die bekannten Eigen-
heiten weiblicher Belletristik meist wahrend, die süßen Herzensbedräng-
nisse, das Idealisieren, zumal der Männer, die Weitschweifigkeit. x\m
leersten geht das Drama aus; noch immer ringt man mit dem historischen
in zahllosen Schöpfungen, die es über einen Achtungserfolg nie gebracht
haben; Ibsen und Maeterlinck, Hauptmann und Wolzogen werden nach-
geahmt, oft mit großem Glück; so erregfte Kisielewski mit seinen Dramen
von Bildungsphilistern, von ihren Netzen, in die sich der Aufstrebende
verstrickt, von dem intelligenten „Lumpengesindel", berechtigtes Aufsehen;
einzelne Volksstücke imponieren durch die Konsequenz der Durchführung,
einzelne soziale durch das unbeabsichtigte Zusammentreffen mit Tages-
ereignissen — aber alles bietet eher vielversprechende Ansätze, Anläufe
ist immer noch nicht die entscheidende dramatische Tat, der das slawische
weichere, träumerischere Naturell, seine wesentlich lyrische und epische
Veranlagung, noch immer nicht gewachsen scheint.
Im Leben des polnischen Volkes nimmt die Literatur eine ungleich Bedeutung una
Rolle der Litc-
hohere, umfassendere Bedeutung an, als dies bei anderen Volkern der ratür im natio-
, naien Leben.
Fall ist. Die über zwanzig Millionen Köpfe zählende Nation ist seit Die Literatur als
^ . seine Weckerin
Über einem Jahrhundert jeglicher politischen Selbständigkeit beraubt, und Hüterin.
Zwar fügte es ein gütiges Schicksal, daß bis jetzt wenigstens abwechselnd
auf je einem Teilgebiete die Möglichkeit ungehinderterer Entfaltung geboten
war. So war zuletzt an Galizien die Reihe gekommen, einer Autonomie
sich zu erfreuen, eine führende Rolle einzunehmen. Die alte Königstadt
Krakau, so lange eine Stadt der Ruinen und Traditionen, erhebt in Kunst,
Wissenschaft und Literatur berechtigten Anspruch, als Dolmetscherin
nationalen Geistes und geistiger Arbeit zu gelten. Das materiell, an
Menschenzahl und Mitteln, ungleich reichere Kongreßpolen ist gelähmt
durch das herrschende Russifikationssystem, das die materielle und geistige
lyA Alexander BRf<rKNER: Die polnische Literatur.
Entwicklung der Nation nur auf jede erdenkliche Weise unterdrückt.
Kein Wunder daher, daß wegen der schmerzlichen Überraschungen, die
sie täglich an den slawischen „Brüdern" (Bruder war Kain auch) erleben,
bei den Polen slawophile Tendenzen vollständig verraucht sind; daher die
Gleichgültigkeit oder Abneigung anderer Slawen gegen die Polen, die
erst jetzt, nicht ohne den mächtigen Einfluß der polnischen Literatur,
langsam zu weichen beginnt. Naturgemäß sind es die katholischen Slawen,
Kroaten und Böhmen, die sich noch am ehesten angezogen fühlen, die
orthodoxen scheidet ja schon die Konfession. Im Posenschen werden die
heute gegen früher ungleich geringeren Mittel durch den Kampf gegen
die Entnationalisierung ganz in Anspruch genommen.
Unter solchen Umständen ist die Literatur das wichtigste nationale
Band. Buch, Zeitung, Theater, ja Predigt und Kirchenlied haben für den
Polen somit eine ganz andere Bedeutung als z. B. für den Deutschen;
wäre es möglich, könnte der Deutsche dieser Dinge ganz entraten, da er sein
Volkstum durch das nationale Amt, Heer, Schule usw. völlig gesichert
weiß, sich hier ungestört voll ausleben kann. Von alledem hat der Pole
nichts, das alles muß ihm seine Literatur ersetzen. Ein notdürftiger, gar
fragwürdiger Ersatz; man könnte sogar zweifeln, ob auf die Dauer dieser
Ersatz das nationale Bewußtsein aufrecht zu erhalten vermag; die Erfah-
rung eines ganzen Jahrhunderts lehrt jedoch, daß in der Tat auch ohne
politische die nationale Selbständigkeit gewahrt bleiben kann, freilich
muß sie auf breiter kultureller und nationaler Basis gestützt sein.
Die Literatur ist nun der glänzendste und einwandfreieste Zeuge der
Jahrhunderte alten Kulturarbeit der polnischen Nation; unter den slawi-
schen allen ragt sie durch die Fülle und Größe ihrer Talente hervor; ihr
makelloses Schild haben stets reine Hände hoch gehalten; zweideutige
Existenzen oder Richtungen sind ihr fremd. Sie steckt sich die höchsten
Ziele und ruht auf der sichersten Basis; sie verkörpert den großen demo-
kratischen und realistischen Zug der Zeit, ohne ihren alten Idealen untreu
geworden zu sein; die reiche Elite ihrer Geister trägt vor der Nation
die Leuchte wahrer Humanität. Mag auch Polens politische Sache unter-
legen sein, aus seiner Literatur ertönt ihm allezeit das siirsum corda. Trotz
fremden Druckes hält sie unentwegt an den abendländischen Grundlagen
der nationalen Kultur fest, läßt sich durch keine slawophilen Velleitäten
beirren und vergibt doch nichts ihrem slawischen Charakter, der ja in der
Starrheit griechischer Kirche, in der Barbarei kyrillischer Schrift, im
julianischen Kalender und mongolischen Despotismus durchaus nicht auf-
geht, wie man es der Welt weismachen möchte. Niemals revolutionär
und zerstörend, niemals aufreizend und minierend; immer mäßigend und
warnend, aufklärend und erhebend, tröstend und stärkend zieht diese
Literatur ihre eigenen Wege. Keiner anderen Literatur der Welt ist eine
gleich schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe zugewiesen worden;
keine andere zeigt sich dieser Aufgabe gleich gewachsen.
Literatur.
Die vorstehende Monographie ist im Jahre 1903 verfaßt und vor dem Druck nur kurz
revidiert.
Nachdem die polnische Literaturgeschichte, seit des Simon Starowolski Hekatontas
vom Jahre 1625, sich hauptsächhch mit bio- und bibliographischen Ausführungen begnügt
hatte, ist sie durch die bändereichen Werke des M. WisZNIEWSKi und W. A. MaciejowSKI,
die beide jedoch nur bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts vordrangen, seit den vierziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts auf wissenschaftliche Grundlage gestellt worden. .Seit 1870 beson-
ders setzte dann eine monographische Bearbeitung des reichen Stoffes ein , die sich gleich-
mäßiger auf die Vergangenheit erstreckte und die Neuzeit verständnisvoll berücksichtigte.
Die Ergebnisse dieser Forschungen sind zusammengefaßt in den beiden ,,Historja literatury
polskiej" des P. Chmielowski (Warschau, 1900; 6 Bände) und des Grafen St. Tarnowski
(Krakau, igooff. ; 6 Bände); ihnen war vorausgegangen eine knappe, sehr anziehend ge-
schriebene Darstellung von Wi. SPASOWICZ in dem Gesamtwerke über slawische Litera-
turen von Pypin -Spasowicz, das auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Vgl. außerdem
A. Brückner, Geschichte der polnischen Literatur (Leipzig, IQ02) in der Amelangschen
Sammlung ,, Literaturen des Ostens". Die Bibliographie der polnischen Literatur erschöpfte
Karl Estreicher in seiner vielbändigen Bibliografja polska f Krakau, 1880 ff.).
DIE BÖHMISCHE LITERATUR.
Von
Jan Mächal.
Einleitung. Die böhmische Sprache gehört zu der westlichen Gruppe
der slawischen Sprachen; ihr Gebiet erstreckt sich über Böhmen, Mähren,
Schlesien, die Slowakei (im nordwestlichen Teile Ungarns) und spora-
disch auch Niederösterreich. Auf diesem weiten Gebiete unterscheidet
man noch heutzutage drei besondere Dialektgruppen: die tschechische,
die mährische und slowakische mit verschiedenen Mundarten. Die mittel-
tschechische Mundart in der Umgebung Prags als die Sprache des mäch-
tigsten böhmischen Stammes (der Tschechen) wurde zur allgemeinen Litera-
tursprache erhoben.
Die Slowaken, die seit dem 1 1. Jahrhundert von den Böhmen für
immer politisch getrennt und mit der Geschichte des ungarischen Staates
verbunden waren, blieben doch in enger geistiger und literarischer Ver-
bindung mit den Böhmen und bedienten sich bis zu Ende des i8. Jahr-
hunderts der böhmischen Schriftsprache. Erst im Laufe des ig. Jahrhun-
derts trennten sie sich von der böhmischen Literatursprache ab und be-
gannen in eigener Mundart zu schreiben.
Die älteste Nach der alten Überlieferung, welche der älteste böhmische Chronist
Böhmens. Kosmas (f 1125) verzeichnet hat, waren die Böhmen, von ihrem Stamm-
vater Cech geleitet, in einer weit zurückliegenden Epoche nach Böhmen
gekommen. Aber der genaue Zeitpunkt der Besitznahme Böhmens und
Mährens durch die böhmischen Slawen läßt sich bei dem völligen Mangel
historischer Quellen nicht mit Gewißheit ermitteln. Gewöhnlich nimmt
man an, daß sie erst in den ersten Jahrhunderten n. Chr. nach dem
Abzüge der Markomannen und Quaden eingewandert waren. Aber die
neueren archäologischen Forschungen belehren uns, daß ein Teil Böhmens
bereits in der vorchristlichen Epoche von einem Volke slawischer Abkunft
bewohnt war, und man kann mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß
dies Slawen böhmischen Stammes waren. Die Besiedelung einzelner Ge-
biete erfolgte natürlich nicht auf einmal, sondern dauerte längere Zeit,
indem ein Stamm oder Geschlecht nach dem anderen seine ursprüngliche
tinleituiig. lyy
Heimat jenseits der Karpaten verließ und neue Länder in Besitz nahm.
Die neuen Ansiedler bildeten anfangs keine politisch organisierten Ein-
heiten, sondern waren in einzelne Stämme zersplittert, welche eigene
Herrscher hatten und sich sprachlich durch dialektische Eigentümlich-
keiten voneinander unterschieden.
Die Slawen hatten ursprünglich nur einen Teil des heutigen Böhmens
inne; neben ihnen wohnten in Böhmen und in den benachbarten Ländern
zwei der berühmtesten Zweige zweier Hauptvölker des alten Europa, die
gallischen Bojer (im 4. — i. Jahrhundert v.Chr.) und nach ihnen die deut-
schen Markomannen und Quaden (in den ersten Jahrhunderten n. Chr.).
Von den Bojern erbte das Land den Namen „Boiohemum, Böheim". In
welchem Verhältnisse sich die böhmischen Slawen zu ihren Nachbarn, den
Bojern und Markomannen, befanden, läßt sich nicht ermitteln, wahrschein-
lich ist es aber, daß sie die Oberherrschaft derselben anerkennen mußten.
Im 6. Jahrhundert wurden die Böhmen, sowie mehrere andere slawische
Stämme von den wilden Awaren abhängig gemacht. Von dem drücken-
den Awarenjoche hat sie erst der fränkische Feldherr Samo im Jahre 623
befreit. Dem halb mythischen König Samo wird auch die Gründung eines
großen slawischen Staates, dessen Kern Böhmen war, zugeschrieben. Sein
Reich löste sich aber nach seinem Tode auf. Der älteste Herzog in
Böhmen, dessen Andenken die böhmische Sage bewahrt hat, war Krok,
dessen Tochter Libusa sich mit Pfemysl vermählte. Pfemysl wird nicht
bloß als Ahnherr des in Böhmen lange regierenden Geschlechtes der
Pfemysliden, sondern auch als Gesetzgeber des Landes in der böhmischen
Sage gepriesen.
In Mähren herrschte im g. Jahrhundert der Herzog Mojmir, welcher Großmähr.
den ersten Grund zu dem Großmährischen Reiche gelegt hatte. Er be-
wältigte die kleineren Fürsten in Mähren, besetzte das ganze nördliche
Ufer der Donau vom Mannhardsberge an bis zum Einflüsse der Gran,
machte auch Böhmen von sich abhängig und vereinte in seinem Reiche
die sämtlichen Kräfte der Mährer, Slowaken und Böhmen. Sein Neffe
Rastislav befestigte noch mehr die Macht Großmährens und faßte den
Plan, dasselbe ganz unabhängig von dem fränkischen Reiche zu machen.
Er kämpfte glücklich mit Ludwig dem Deutschen und berief die Slawen-
apostel Cyrill und Method in sein Land (863), um dies auch in kirch-
licher Hinsicht von dem Einflüsse der Deutschen zu befreien. Es gelang
ihm wirklich, seinem Lande politische Unabhängigkeit zu verschaffen;
als er auf dem Gipfel seiner Macht stand, wurde er von seinem ehr-
geizigen Neffen Svatopluk verraten und den Deutschen ausgeliefert. Nach
ihm herrschte Svatopluk, der die Macht und den Glanz des Groß-
mährischen Reiches nicht nur erhalten, sondern auch ansehnlich vermehrt
und befestigt hatte. Nach Svatopluks Tode entstanden aber infolge der
Zwietracht seiner Söhne große Wirren im ganzen Lande, die böhmischen
Herzoge fielen vom mährischen Reiche ab und die vordringenden Magyaren
Die Kultur der Gegenwart. I. 9. 12
178
Jan Machai.: Die böhmische Literatur
rc-hi-n-
lie L
I Mühn:
machten im Jahre go6 dem Bestände Großmährens ein traurige? Ende.
Das Land wurde eine Beute der Magyaren, nur der westhche Teil Mährens
gelangte später an Böhmen.
Nach dem Tode des mächtigen Svatopluk konnte auch Böhmen als un-
mittelbarer Nachbar des großen Deutschen Reiches seine Unabhängigkeit
von Deutschland nicht lange behaupten. Die böhmische Nation unterwarf
sich teils freiwillig dem deutschen Einflüsse, teils verteidigte sie beharr-
lich ihre nationale Selbständigkeit. Somit bildet die gegenseitige, bald
freundschaftliche, bald feindliche Berührung des slawischen und deutschen
Elements und der Widerstand gegen die gänzliche Germanisierung den
wesentlichen Inhalt der ganzen böhmischen Geschichte bis auf unsere Zeit.
Über das geistige Leben und die Bildung des böhmischen Volkes
vor dessen Bekehrung zum Christentum ist uns aus dem Altertum nichts
Genaueres überliefert worden. Die älteren, angeblich noch aus heidnischer
Zeit stammenden Denkmäler, wie z. B. das Gericht der Libusa und die
Königinhofer Handschrift, erwiesen sich als neuere Fälschungen. Die
ersten Versuche, die Böhmen, Mährer und Slowaken zu christianisieren,
fallen vor die Mitte des 9. Jahrhunderts. Unter den Mährern erwarb sich die
christliche Lehre wenigstens zu Anfang des 9. Jahrhunderts schon einzelne
Anhänger und Bekennen Doch erst unter Mojmir, der sich zum christ-
lichen Glauben bekannte, faßte das Christentum festere Wurzeln. Im
Jahre 830 nahm der slowakische Fürst im Neitraer Gebiete, Pribina, das
Christentum aus deutsch - römischer Quelle an. Im Jahre 845 wurden
14 böhmische Stammesfürsten samt ihrem Gefolge in Regensburg ge-
tauft. Aber die allgemeine Verbreitung des Christentums unter dem Volke
begann erst mit der segensreichen Tätigkeit der Slawenapostel Cyrill und
Method, welche den Völkern Großmährens die griechische Liturgie und
slawische Kirchensprache brachten und den Sieg des Christentums über
das Heidentum vollendeten. Aus den Händen Methods nahm auch der
böhmische Fürst Bofivoj (um das Jahr 873) die Taufe an. In Böhmen
machte sich jedoch schon unter Borivoj neben der griechisch-slawischen
Liturgie der deutsch - lateinische Ritus geltend, welcher allmählich der
herrschende wurde. Die letzte Zufluchtsstätte der slawischen Liturgie in
Böhmen, das Kloster von Säzava, wurde im Jahre 1097 den lateinischen
Mönchen ausgeliefert.
Obwohl die kirchenslawische Literatur unter den Böhmen keine große
Verbreitung erlangte, so gibt es doch einige alte kirchenslawische Denk-
mäler, welche Spuren von Bohemismen aufweisen und ohne Zweifel auf
dem böhmisch-slowakischen Boden entstanden sind; zu ihnen gehören die
Kiewer und Prager glagolitischen Fragmente und die altslawischen
Legenden vom heiligen Wenzel und Ludmila.
Mit dem Siege des deutsch-lateinischen Kirchentums machte sich bei
den Böhmen auch der Einfluß der germanisch-romanischen Kultur für
immer geltend. Unter diesem Einflüsse entstanden die ersten Anfänge
I. Die altböhmische Lileralur. lyg
der literarischen Tätigkeit in Böhmen. Zu den ältesten literarischen Denk-
mälern gehören Legenden von böhmischen Heiligen (Wenzel und
Ludmila) und Chroniken — die älteste von Kosmas (1045 — 1125) — ,
welche lateinisch geschrieben sind. Böhmisch geschriebene Denkmäler
stammen erst aus dem 13. Jahrhundert.
In der folgenden Darstellung will ich bloß die großen leitenden Ideen,
welche die böhmische Literatur bewegten, und die bedeutsamsten führen-
den Geister innerhalb der Literaturbewegung herausheben.
I. Die altböhmische Literatur. Nach ihrer Bekehrung zum christ-
lichen Glauben schlössen sich die Böhmen eng an die christlich-europäische
Kultur an und nahmen eifrig an den heilsamen Früchten derselben teil.
Das geistig regsame und für fremde Einflüsse leicht empfängliche Volk ergriff
begierig und verfolgte mit seltenem Eifer alles, was ihm die damalige Zeit
in bezug auf Bildung und Gesittung darbot. Unter den mächtig^en Ein-
drücken der christlichen Kultur entstanden auch die ersten Anfänge der
literarischen Tätigkeit in Böhmen. Die große hierarchische und theolo-
gische Beweg-ung des 11. und 12. Jahrhunderts, welche im benachbarten
Deutschland eine reiche nationale Literatur hervorrief, konnte nicht anders
als belebend und fördernd auf die Anfänge der böhmischen Literatur
wirken.
Die Geistlichen in Böhmen entwickelten seit dem 13. Jahrhundert Geistliche
Dichtun^
eme rege literarische Tätigkeit, übersetzten einzelne Teile der Heiligen
Schrift, dichteten Kirchenlieder, biblische Geschichten, Legenden, be-
lehrende Gedichte usw. Ihrem Bemühen ist es zu danken, daß eine
blühende geistliche Dichtung erstand und eine volkstümliche poetische
Sprache und Verskunst ausgebildet wurde.
Bei der nahen politischen und kulturellen Berührung mit dem christ- Ritterliche
liehen Westen, besonders mit Deutschland, hatten die Böhmen auch bald
Gelegenheit, neben der geistlichen Dichtung die romantische Poesie des
Mittelalters kennen zu lernen. Es ist bekannt, daß an den Höfen der
böhmischen Könige Wenzel L, Ottokar IL und Wenzel IL deutsche Dichter
und Sänger sich besonderer Gunst erfreuten und auf Schutz und Förderung
rechnen konnten. Reinmar von Zweter, Meister Sigeher, Heinrich von
Freiberg u. a. hielten sich in Böhmen auf und trugen viel dazu bei, hier
das Interesse für die ritterlich-romantische Dichtkunst zu wecken. Ihrem
Beispiele folgten einheimische Dichter, welche, von der ritterlichen Poesie
begeistert, mittelalterliche Sagenstoffe in böhmischer Sprache bearbeiteten.
Alexander der Große, Tristan, Tandarois, Laurin, Dietrich von Bern, Her-
zog Ernst, Reinfried von Braunschweig und andere Helden wurden in die
böhmische Literatur eingeführt und ihre abenteuerlichen Schicksale in
langen Gedichten besungen.
Als dann mit dem Verfalle des Rittertums die ritterliche Poesie ge- Didaktische und
, dramatische
sunken war und verschiedene Gattungen der Spruchdichtung und des Dichtung.
jgo Jan Machai.: Die böhmische Literatur.
Lehrgedichtes auftauchten, fanden auch diese Dichtuugsarten in Böhmen
zahlreiche Vertreter, welche didaktische, satirische und allegorische Ge-
dichte verfaßten. Namentlich das kirchliche Drama stand im 14. Jahr-
hundert in hohem Ansehen; zahlreiche Marienspiele, Oster- und Passions-
spiele wurden in dieser Zeit gedichtet und aufgeführt. Der böhmische
„Quacksalber" (Mastickäf) ist überhaupt das älteste bisher bekannte Denk-
mal eines entwickelten Osterspieles in der ganzen europäischen Literatur.
Unter der Regierung Karls IV. gelangte die altböhmische Literatur
zur höchsten Blüte. Sie ist zwar unter dem Einflüsse lateinischer, deutscher
und französischer Vorbilder und Muster entstanden, aber man darf darin
nicht immer bloße Nachahmungen sehen. Die böhmischen Dichter wußten
auch die von außen erhaltenen Eindrücke mit selbständiger Geisteskraft
und dem Nationalgeiste gemäß zur weiteren Entwicklung zu bringen. Wie
stark das Nationalgefühl schon damals entwickelt war, davon zeugen z. B.
die warm empfundenen national -patriotischen Kundgebungen, welche in
dem böhmischen Alexanderliede und in den didaktischen Gedichten des
Smil Flaska von Pardubic enthalten sind. Aber besonders nachdrucks-
voll tritt das nationale Moment bei dem Verfasser der Dalimil sehen
Reimchronik hervor, der bei jeder Gelegenheit seine Antipathie gegen
die Deutschen ausspricht, die Vorliebe für die Fremde und die Nach-
ahmungssucht seiner Landsleute tadelt und leidenschaftlich für die Er-
haltung der nationalen Ehre und der heimischen Sitten eintritt. Selb-
ständig und originell sind auch die ältesten Denkmäler der Rechtsliteratur
(Das Buch des alten Herrn von Rosenberg und Erklärungen des böh-
mischen Landrechtes von Andreas v. Dube), welche, die ältesten Rechts-
gebräuche in Böhmen enthaltend, urwüchsigen böhmischen Geist bekunden.
IL Die böhmische Reformation. In die Regierungszeit Karls IV.
fallen auch die ersten Anfänge einer großen geistigen und religiösen Be-
wegung, welche nicht nur zu den großartigsten Erscheinungen im Geistes-
leben der böhmischen Nation gehört, sondern auch in der Geschichte der
europäischen Zivilisation eine hervorragende Rolle spielt. Es ist dies die
böhmische Reformation, welche der deutschen um fast ein Jahrhundert
voranging. Natürlich entsproß auch diese mächtige Reformbewegung, der
sogenannte Hussitismus, dem damaligen Zeitgeiste und den geistigen
Interessen der Christenheit überhaupt, welche von der Notwendigkeit einer
Kirchenreform überzeugt war, aber in Böhmen fand diese Zeitströmung"
zuerst einen imposanten und zugleich volkstümlichen Ausdruck.
Die Stiftung der Während früher die europäische Kultur den Böhmen nur einseitig
PraRcr Univcr- . ^ *
sität. vermittelt war, erschloß ihnen Karl IV. die geistigen Schätze der ganzen
gebildeten Welt. Von Italien aus strömte schon damals nach Böhmen
der frische Hauch der wiedererwachenden klassischen Bildung, welche
den Geschmack läuterte und eine neue Weltanschauung mit sich brachte.
Nach dem Mustor der Pariser Universität, die damals in gelehrten
11. Die böhmische Refoimation. l8l
Dingen tonangebend war, wurde die Universität zu Prag eingerichtet
(1348) und übernahm von ihrem Vorbilde neue Ideen, namentlich auch die
gelehrte Opposition gegen die Autorität des Papstes und der Hierarchie.
Für die allgemeine Verbreitung der wissenschaftlichen Bildung, sowie
für kirchenreformatorische Bestrebungen war die Stiftung der Prager Uni-
versität von unermeßlicher Bedeutung. Die Universität, welche die oberste
Leitung des ganzen Unterrichtswesens im Lande innehatte, förderte und
unterstützte das bereits bestehende Bestreben, auch Nichtgeistlichen und
Laien die Möglichkeit zu bieten, sich literarisch ausbilden und religiöse
vSchriften, besonders die Heilige Schrift, lesen und auslegen zu können.
Eine kurze Spanne Zeit erwies sich als hinreichend, die allgemeine Bildung
dermaßen zu heben, daß die Böhmen zu den gebildetsten Völkern Mittel-
europas gezählt wurden.
Die philosophisch - morahschen Schriften des Ritters Thomas von &Mni:
Stitny (1331 — 1401) liefern den besten Beweis davon, daß es schon zu
Zeiten Karls IV. unter den gebildeten Laien Männer gab, die es wagten,
religiöse Fragen selbständig zu erörtern und mit den Geistlichen und ge-
lehrten Doktoren in betreff der Aufklärung und Erziehung des Volkes zu
wetteifern. Stitny ist einer der bedeutendsten Männer des 14. Jahrhunderts.
Er hat sich das gesamte philosophisch- theologische Wissen seiner Zeit
zu eigen gemacht und war ernstlich bestrebt, in seinen Schriften eine ab-
geschlossene und einheitliche Weltanschauung, soweit dies damals über-
haupt möglich war, zu entwerfen. Darum wird er gewöhnlich als der erste
slawische Philosoph bezeichnet, womit aber nicht gesagft werden soll, daß
er der Stifter irgendeines neuen philosophischen Systems gewesen wäre.
Seine Schriften, welche für die weitesten Kreise der Leser bestimmt
waren, verfaßte er nur böhmisch, weshalb ihm die Schulgelehrten und
Theologen Vorwürfe machten, daß er es wagte, über theologische und
philosophische Dinge in der gemeinen Volkssprache zu schreiben. Stitny
beherrschte die Sprache seines Vaterlandes mit so bewundernswerter
Meisterschaft, daß er mit Recht als der beste altböhmische Prosaiker an-
gesehen wird. Als begeisterter Anwalt der Sittenreinheit und echten
Religiosität schließt er sich eng an die frommen Sittenprediger in Böhmen
an, die als die Vorkämpfer des Magisters Hus bekannt sind. Karl IV.
bemühte sich nämlich, eine Reform des Klerus in seinem Lande einzuführen,
und unterstützte die Tätigkeit eifriger Kanzelredner, welche gegen die
weltliche und kirchliche Verderbnis predigten und die Rückkehr zu der
wahren apostolischen Kirche forderten. Die bedeutendsten unter ihnen
waren Konrad Waldhauser, Johann Milic und der Pariser Magister
Mathias von Janov. Obgleich diese Eiferer wesentlich von den Lehren
der katholischen Kirche noch nicht abwichen, gehören sie doch zu den
unmittelbaren Vorkämpfern der nahen religiösen Bewegung.
Johann Hus (1369— 1415) vereinigte in seiner Person als Professor hus.
der Prager Universität und als populärer Prediger an der Bethlehems-
jg, Jan Machal: Die böhmische Literatur.
kapelle die beiden Hauptströmungen, welche auf die Entstehung des Hussi-
tismus am meisten eingewirkt haben. In seinen Predigten eiferte er für
die sittliche Hebung des Volkes sowie für die Besserung der kirchlichen
Zustände. Zum Konflikte mit der Hierarchie kam es erst dann, als Hus
die Lehrsätze Wiclifs öffentlich verteidigte. Er fand in ihnen, klar und
systematisch ausgedrückt, fast dieselben reformatorischen Ideen, welche
auch der böhmischen religiösen Bewegung zugrunde lagen. In seinen
lateinischen und böhmischen Schriften verfocht er das wahre Christen-
tum und verbreitete die Wiclifische Lehre, daß die Kirche nur aus einer
Gemeinde von Auserwählten und Gerechten bestehen solle und daß zu
ihr nur diejenigen gehören können, die ein wirklich christliches Leben
führen und durch Gottes Gnade und ihre Rechtlichkeit zum Heile be-
stimmt seien. Das Oberhaupt dieser wahren Kirche könne nicht der
Papst sein, sondern nur Christus selbst, dessen Lehre unverdorben in der
Heiligen Schrift enthalten und einzig für den Christen bindend sei. Für
die wirkliche Erkenntnis der wahren christlichen Lehre genüge der eigene
Verstand des Menschen; darum solle niemand verfolgt werden, wenn er
sich nach seinem Verstände die Heilige Schrift auslege. Indem also Hus
zum ersten Male die Idee der Gewissens- und Denkfreiheit proklamierte
und die Autorität der Hierarchie entschieden verwarf, gehört er zu den
edlen Vorkämpfern einer neuen Epoche in der Entwicklung des mensch-
lichen Geistes.
Die religiöse Bewegung in Böhmen hatte gleich von vornherein infolge
besonderer politischer und sozialer Umstände auch eine scharfe nationale
Färbung angenommen. Hus war demnach nicht nur ein großer Refor-
mator, sondern auch ein begeisterter Patriot, der die Rechte der böhmischen
Nation unerschrocken verteidigte. Um die Hebung der vaterländischen
Sprache und Literatur hat er sich große Verdienste erworben. Er ersann
ein neues, einfaches und präzises System der böhmischen Orthographie,
kämpfte gegen den inneren Verfall der Sprache, sorgte für die Reinigung
der Schriftsprache, und noch vor seinem Tode ermahnte er die Fürsten,
Herren, Ritter, Geistlichen und Bürger, dafür Sorge zu tragen, „daß die
böhmische Sprache nicht untergehe". Seine zahlreichen böhmischen Schriften
zeichnen sich durch sprachliche Reinheit, stilistische Vollkommenheit und
kernigen Ausdruck aus und gehören zu den hervorragendsten Produkten
der Literatur.
ijie Husjit.n- Dem Konstanzer Konzil erschienen die neuen Bestrebungen der
böhmischen Reformation entschieden verwerflich und verdammenswert.
Hus wurde als Ketzer zum Tode verurteilt, verbrannt und die zurück-
gebliebene Asche in den nahen Rhein gestreut. Durch diese Gewalttat
wurden die aufgeregten Gemüter in Böhmen und Mähren noch mehr ge-
reizt. Es folgten dann die stürmischen Hussitenkriege, der Anfang einer
ergreifenden historischen Tragödie, welche erst nach 200 Jahren mit der
Katastrophe am Weißen Berge ihr Ende fand. Die Hussiten ergriffen das
kriege.
n. Die böhmische Reformation. 183
Schwert für die höchsten Ideale der Menschheit, für Religion, Nationalität
und Freiheit. Aber die Resultate ihrer Bestrebungen und Opfer waren
für sie selbst nicht so erfreulich, als man hätte erwarten können. Groß
und von längerer Dauer waren bloß die nationalen Erfolge ihres Kampfes.
Denn die böhmische Sprache, die böhmische Nationalität überhaupt, ge-
wannen im ganzen Lande die Oberhand, das nationale Bewußtsein wurde
gesteigert, das politische Ansehen Böhmens befestigt und erhöht. Aber
die Bestrebungen nach einer durchgreifenden kirchlichen Reform erfüllten
sich kaum halbwegs. Nach der Niederwerfung der Taboritenpartei, welche
die Ideale der ersten Reformatoren am treuesten bewahrt hatte, wurde
die hussitische Bewegung eigentlich zum Stillstande gebracht. Auch die
geplanten sozialen Reformen wurden mit Ausnahme der Säkularisation
der geistlichen Güter nicht durchgeführt. Nach der Schlacht bei Lipan
hörte das demokratische Element auf, eine selbständige Rolle im Lande
zu spielen, und das gemeine Volk blieb geknechtet wie früher.
Trotzdem fielen die ursprünglichen Ideale der böhmischen Reformation cheicicky.
nicht gänzlich der Vergessenheit anheim. Ein hervorragender Denker und
Schriftsteller, Peter Chelcicky (f 1460), der in die Fußstapfen der ersten
Reformatoren trat, ergriff und erhob die verlassene Fahne von neuem.
Chelcickys Anschauungen wurden zwar in gewisser Hinsicht von den ein-
heimischen Urhebern der hussitischen Bewegung, von Wiclif und der
Sekte der Waldenser beeinflußt, aber er unterwarf sich ihrer Autorität
nicht, sondern vertiefte sich in die Heilige Schrift und schöpfte aus dieser
reinen Quelle seine Ideen. Darum ist seine Lehre namentlich in ihren
letzten Konsequenzen ziemlich selbständig und neu. Zur Belehrung frommer
Christen schrieb er zuerst eine „Postille", in welcher bereits die Grund-
ideen seines ganzen Systems enthalten sind; später führte er die dort aus-
gesprochenen Ansichten in seinem wichtigen Werke „Das Netz des Glaubens"
erschöpfend aus. Alles, was menschlichen Ursprungs ist — politische und
kirchliche Einrichtungen, hundertjährige Traditionen, philosophische und
theologische Lehren — verwirft er unbarmherzig. Er kennt nur ein Ziel
— Christi Gesetz zu erfüllen. Nach seiner Überzeugung hatten nur die
ersten Christen den echten Glauben, und ihre Organisation war ein Muster
und sollte es für alle Zukunft bleiben. Der Abfall von diesem Vorbilde
wurde durch die Vereinigung der Kirche mit der staatlichen Macht ver-
ursacht. Aber der Staat ist für die wahren Christen nur ein notwendiges
Übel. Der echte Christ soll sich daher auf keinerlei Weise an der welt-
lichen Macht beteiligen, sondern alle Ungerechtigkeiten demütig ertragen
dem Übel nicht widerstreben, nicht Rache üben. Besonders scharf spricht
sich Chelcicky gegen den Krieg aus: „Widerrief denn Gott seine Gebote:
Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht fremdes Gut begehren, an deinem
Nächsten keine Gewalt üben?" Unter den Christen sollen auch keine
„Rotten", d. h. verschiedene Stände vorkommen ; ihre soziale Ordnung soll
auf Freiheit, Gleichheit und Liebe gegründet sein.
] 34 Jan Machal: Die böhmische Literatur.
Die Ansichten Chelcickys erscheinen in mancher Beziehung ganz
modern, und die Fragen, welche er aufwirft und löst, stimmen nicht selten
mit den heutigen sozialen Problemen überein. Obwohl seine Begeisterung
und sein ganzer Charakter noch im Mittelalter wurzeln, verläßt er doch
bei vielen Fragen das Milieu des Mittelalters und betritt den Boden der
Neuzeit. Selbst sein Stil hat einen Anhauch moderner Art; zwar ist er
hie und da etwas weitschweifig, aber zugleich stark, bilderreich und nicht
ohne poetischen Schwung. Bald fand seine Lehre eifrige Anhänger, welche
eine ideale Kirchengemeinde, wie er sie im Sinne hatte, zu stiften be-
strebt waren.
Die religiöse Bewegung gab der gesamten Literatur dieser Zeit eine
vorwiegend theologische Richtung. Die Katholiken sowie die Anhänger
der kirchlichen Reform, welche sich im Laufe der Zeit in verschiedene
Sekten geschieden hatten, verteidigten in lateinischen und böhmischen
Schriften ihren Glauben, suchten mit aufrichtiger Liebe und gesundem
Verstände nach religiöser Wahrheit und schufen eine reiche theologische
Literatur. Selbst die Poesie trat in den Dienst der Kirche und ward ein
Widerhall der religiösen und sozialen Streitigkeiten.
III. Das goldene Zeitalter (1527 — 1620). Neue Ideen und neue
Formen kamen in die Literatur durch zwei neue Kulturströmungen, den
Humanismus und die böhmische Brüdergemeinde, welche zu Ende des
1 5. Jahrhunderts die leitende Rolle in der Fortentwickelung der Literatur
übernahmen und in der Folgezeit einen außerordentlichen Aufschwung
der Nationalliteratur verursachten. Dazu kam noch die befreiende Wir-
kung der deutschen Reformation. Bisher standen die Böhmen als „Ketzer"
isoliert, überall gehaßt und geschmäht, fast von der Welt abgeschnitten;
selbst die Schulen des Auslandes blieben ihnen verschlossen. Luther,
den die Gegner spöttisch „einen Hussiten und Ketzer" schmähten, rehabi-
litierte gleichsam ihre nationale Ehre — wenigstens in Deutschland, so
daß es ihnen wieder ermöglicht wurde, ausländische Universitäten zu
besuchen und an dem Fortschritte der Wissenschaften teilzunehmen.
Die ersten Keime der humanistischen Bewegung brachte nach Böhmen
Francesco Petrarca selbst, der sich am Hofe Karls IV. einer besonderen
Gunst und Verehrung erfreute; aber erst als sich der Sturm der Hussiten-
kriege gelegt hatte und Böhmen wieder in nähere Verbindung mit Italien
getreten war, machte sich der Einfluß des neuen Zeitgeistes geltend. Einen
hervorragenden Vertreter fand der Humanismus inBohuslav Hassenstein
von Lobkovic (1460 — 1512), der sich längere Zeit an den Hochschulen
Italiens aufgehalten hatte und für die klassische Bildung aufrichtig be-
geistert war. Er widmete sein ganzes Interesse dem Studium der Alten,
der Anlegung einer der wertvollsten Bibliotheken seiner Zeit und der
Pflege der Dichtkunst. In brieflicher Verbindung mit allen bedeutenden
Männern seiner Zeit stehend, verfaßte er zahlreiche lateinische Gedichte,
III. Das goldene Zeitalter (1527 — 1620). ige
die ihm damals und auch in der Folgezeit europäischen Ruhm eintrugen.
Seinem Beispiele folgte eine Reihe anderer Humanisten, welche später die
lateinische Poesie in Böhmen zur üppigen Entfaltung brachten, aber auf
die Fortschritte der Nationalliteratur gar keinen Einfluß ausübten.
Viel tiefer erfaßten jedoch den Geist der klassischen Renaissance
jene böhmischen \'ertreter des Humanismus, welche im Einklänge mit den
reformatorischen Bestrebungen in Böhmen die scharfen Waffen der neu-
erwachten Kultur gegen den Verfall der Kirche und der Gesellschaft
richteten und die Erfolge der klassischen Bildung zur Hebung und Be-
reicherung der Nationalliteratur verwerteten. An der Spitze dieser be-
geisterten Verehrer der klassischen Literatur stand der wackere Patriot
und geistreiche Jurist Viktorin Kornel von Vsehrd (1460 — 1520).
Wie tief er von dem Geiste der klassischen Bildung durchdrungen war,
davon zeugt sein monumentales Werk „Neun Bücher vom Recht und Ge-
richte in Böhmen", welches ein anschauliches Bild des böhmischen Landes-
rechtes und der damaligen sozialen Verhältnisse entwirft und in der
Methode, Auffassung und Form echte humanistische Tendenzen kundgibt.
Auch in anderen Schriften hinterließ Vsehrd wahre Muster klassischen
Stils. Seine patriotische Gesinnung und sein edles Einstehen für die
Hebung der nationalen Literatur ist in folgenden Worten enthalten: „Ob-
gleich ich auch lateinisch schreiben könnte wie andere meinesgleichen, so
will ich doch, da ich weiß, daß ich ein Böhme bin, zwar lateinisch lernen,
aber böhmisch schreiben und sprechen." Ähnlich wie Vsehrd dachten
auch andere böhmische Humanisten, denen die klassische Gelehrsamkeit
nur als Mittel dazu diente, ihren Landsleuten einen neuen Vorrat von
Bildungselementen zu erschließen und die nationale Sprache und Literatur
nach dem Muster der klassischen zu heben. Zu diesen patriotisch ge-
sinnten Humanisten gehören besonders Gregor Hruby von Jeleni,
Wenzel Pisecky, Sigismund Hruby, Nikolaus Konäc von Ho-
distkov u. a.
Zur selben Zeit, als die meist aus Mitgliedern der Aristokratie und D'« böhmische
* Brüder-
gelehrter Kreise zusammengesetzte humanistische Gesellschaft wissen- trememde.
schaftliche und ästhetische Ideale verfolgte, entwickelte sich aus dem
Schöße der niederen Volksschichten die böhmische Brüdergemeinde,
welche für religiöse und sittliche Ideale begeistert war. Die Begründer der
Brüdergemeinde waren ernstlich bestrebt, nach der Lehre Chelcickys zu
leben, eine ideale Kirchengesellschaft zu stiften und das Himmelreich auf
Erden zu begründen, welches aus der inneren Wiedergeburt des Menschen
im Geiste der tätigen Liebe, Demut, Einfalt und Güte bestehen sollte, wie
es in den ersten Zeiten des Christentums der Fall gewesen war. Um das
sittliche Ideal des Christentums verwirklichen zu können, sollte der wahre
„Bruder" der Welt und ihrer Macht entsagen und nur das Gesetz der
christlichen Liebe erfüllen. Niemand sollte Anteil an der weltlichen Macht
nehmen, indem er Staatsämter bekleidete, Richter wäre, Kriegsdienste
l86 Jan Mächax : Die böhmische Literatur.
leistete, Handel triebe usw. Aber im Laufe der Zeit entstanden im
Schöße der Unität Zweifel über die asketische Lehre, welche die Brüder-
gemeinschaft für immer zu einer Art von Klostergemeinde verwandelte
und dadurch ihre freie Entwicklung hemmte. Einige gelehrte Brüder und
Theologen versuchten es daher, die Unität zu reorganisieren und ihre
Lehre mehr den Bedürfnissen des wirklichen Lebens anzupassen. In dieser
neuen Gestaltung nahm die Beliebtheit der Brüdergemeinde bei Adeligen
und gelehrten Männern so zu, daß sich die Zahl ihrer Anhänger in
Böhmen und Mähren mit jedem Jahre mehrte. Da sich die Brüder er-
folgreich bemühten, den nationalen Geist in der größten Reinheit zu er-
halten, überall Schulen errichteten und aufrichtig für die Ausbildung
der Muttersprache sorgten, erwarben sie sich große Verdienste um die
Fortschritte der nationalen Literatur,
uie Literatur. Der Humanismus und die Brüdergemeinde, obwohl in bezug auf
ihren Ursprung, Zweck und Mittel ganz verschieden, ergänzten sich doch
gegenseitig und griffen entscheidend in die Entwickelung der Literatur
ein, welche unter ihrem Einflüsse zu üppiger Blüte gelangte, so daß die
Periode 1527 — 1620 mit Hinsicht auf den äußeren Umfang der literari-
schen Produktion und die klassische Ausbildung der Sprache oft „das
goldene Zeitalter" genannt wird. Aber die eigene nationale Inspiration
trat in dieser Epoche doch allmählich zurück, und dem Inhalte nach stand
die Literatur wieder unter fremden Einflüssen.
Die Poesie wurde sehr fleißig gepflegt, aber nur kirchliche und reli-
giöse Lieder haben eine selbständige Bedeutung. Sie wurden meist von
den Mitgliedern der Brüderunität zur geistigen Erbauung und zum Gebrauche
beim Gottesdienste gedichtet und in umfangreichen Kanzionalen sorgfaltig
gesammelt, welche prachtvoll au.sgestattet auch für die Geschichte der
Musik und Malerei einen hohen Wert haben. Den Mittelpunkt der lite-
rarischen Tätigkeit bildeten verschiedene Zweige der Wissenschaften.
Der bedeutendste Schriftsteller der Brüderunität war Johann ßlahoslav
(1523 — 1571), einer der aufgeklärtesten und edelsten Geister jener Zeit,
welcher um seiner Gelehrsamkeit und seines theologischen Scharfsinnes
willen die Unität in der Fremde erfolgreich vertrat und ein neues Auf-
blühen derselben herbeiführte. Er übersetzte das Neue Testament aufs neue
aus dem Griechischen und gab dadurch den Anstoß zu einer musterhaften
Übersetzung der ganzen Bibel aus dem Originaltexte, wodurch die be-
rühmte Kralicer Bibel, das unvergängliche Denkmal der böhmischen
Sprache, entstanden ist. Seine literarische Tätigkeit war überaus fruchtbar;
er verfaßte eine böhmische Grammatik, schrieb die Geschichte der Brüder-
unität, dichtete und sammelte Kirchenlieder, entwarf eine Theorie der
Musik und Dichtkunst usw. Der Geschichte hatte sich eine lange Reihe
von Schriftstellern zugewandt, die teils zeitgenössische Begebenheiten
schilderten (Bartes Pisaf, Sixt von Ottersdorf, Blahoslav, Cer-
venka, Budovec von Budov, Dacicky von Heslov) oder Chroniken
IV. Der Vci-raU der Literatur. jg?
von Böhmen verfaßten (W. Häjek von Libocan, Kuthen von Springs-
berg-, Lupäc von Hlavacov), teils ihre Landsleute mit der Weltgeschichte
bekannt machten (Kocin von Kocinet, P. Vorlicny, Hozius). Besonders
große Verdienste um die Förderung der historischen Literatur erwarb sich
Daniel Adam von Veleslavin (1545 — -1599), der berühmte „architypo-
graphus Pragensis", welcher historische Werke schrieb, seine Freunde zur
literarischen Tätigkeit aufmunterte, ihre Schriften verbesserte und verlegte.
Er stand längere Zeit an der Spitze der Literatur als ihr charakteristischer
Vertreter, und B. Baibin konnte mit vollem Rechte von ihm sagen: „Quid-
quid doctum et eruditum Rudolphe IL imperante in Bohemia lucem aspexit,
Veleslavinum vel autorem vel interpretem vel adiutorem vel ad extremum
typographum habuit." Sein Stil und seine Sprache galten lange Zeit als
Muster der Klassizität. Sehr reich war die Literatur dieser Zeit auch an geo-
graphischen Büchern und Reisebeschreibungen, welche, von einheimischen
Wallfahrern (Kabätnik, Joh. Hassenstein von Lobkovic, Prefat
von Vlkanov, Harant von Polzic, Wratislaw von Mitrovic) ver-
faßt, interessante Nachrichten über fremde Länder und Völker enthielten.
Aber zu den wichtigsten literarischen Denkmälern gehören juristische und
sozialpolitische Werke der Rechtsgelehrten Ctibor Tovacovsky von
Cimburk, Kornel von V.sehrd, Christian von Koldin und Karl
von Zerotin. Auch in anderen Zweigen der Wissenschaften erschienen
mehr oder weniger wichtige und selbständige Arbeiten, namentlich in der
Philologie, Mathematik, Astronomie, Botanik, Medizin u. a.
IV. Der Verfall der Literatur. Auf dieser Höhe erhielt sich die
Literatur nicht lange. Die verhängnisvolle Schlacht am Weißen Berge
(1620) versetzte der nationalen Selbständigkeit und der Literatur einen
furchtbaren Schlag. Nach den schrecklichen Hinrichtungen und Landes-
verweisungen der Anführer des Aufstandes begann eine unbarmherzige
Verfolgung aller Akatholiken. Die besten Geister der Nation sahen sich
gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und begaben sich in die Verbannung.
Das Land wurde schändlich verwüstet, die Bevölkerung in jeder Hinsicht
entkräftet und unterdrückt. Die böhmischen Bücher, die für Ausflüsse
und Stärkungsmittel der Ketzerei galten, wurden überall massenhaft ver-
nichtet. Die Literatur lebte fast nur von den Überresten der früheren
Entwickelung und verfiel mit dem Nationalgefühl einem allmählichen
Absterben.
Aber auch in diesen traurigen Zeiten gab die Vorsehung dem böhmi-
schen Volke einen großen Schriftsteller und Denker, der sich in der Ge-
schichte der menschlichen Bildung einen unsterblichen Namen erworben
hat. Es ist dies der weltberühmte Begründer der modernen Pädagogik,
Johann Arnos Komensky (Comenius 1592 — 1670), eine der geistig' her-
vorragendsten Persönlichkeiten jener Zeit. Er war der letzte erhabene Ver-
treter der religiös-sittlichen Bewegung", die sich seit dem 13. Jahrhundert
l88 Jan Mächal: Die böhmische Literatur.
in Böhmen vollzogen hat. Komensky gehörte der Gemeinde der böhmi-
schen Brüder an, war lange Zeit ihr Hauptvertreter und Verteidiger und
blieb durch sein ganzes Leben den Idealen der Brüdergemeinde treu.
Die Verbesserung der menschlichen Dinge war das Ziel, welches er
sich als Lebensaufgabe gesteckt hatte; diese erhabene Idee bildet das
Grundmotiv seiner theologischen, pädagogischen und philosophischen Werke.
Da er in der Erziehung der Jugend das beste und sicherste Mittel sah,
eine Verbesserung der menschlichen Dinge im weitesten Umfange herbei-
zuführen, so war er unermüdlich bestrebt, neue unfehlbare Grundlagen
für eine bessere Jugendbildung zu finden. Und wirklich gelang es ihm,
ein Erziehungsideal aufzustellen, das allgemein anerkannt und überall
angenommen wurde. Wodurch er sich aber namentlich als ein gott-
begnadeter Erzieher der Menschheit auszeichnet, das ist das erhabene Ziel,
welches er seinem pädagogischen System gesteckt hatte: nicht das Wissen
selbst, sondern wahres Menschentum, die auf Gott gerichtete Sittlichkeit,
ist ihm das letzte und eigentliche Ziel jedes Unterrichtes und jeder Er-
ziehung. Seine pansophischen und irenischen Bestrebungen, welche der
Verbreitung wahrer Humanität, der Verträglichkeit und evangelischen
Liebe zusteuern, haben ihm eine hervorragende Bedeutung in der Ge-
schichte der Reformbestrebungen der Menschheit gesichert. Mit Recht
nannte er sich selbst „einen Mann der Sehnsucht", denn viele seiner Ideale
sind erst in der Folgezeit zum Gemeingute aller Wohlgesinnten und Wür-
digen in Europa geworden. Bei allen seinen kosmopolitischen, nach dem
Glück der ganzen Menschheit trachtenden Bestrebungen war Komensky
ein feuriger Patriot und betonte nachdrücklich in seinem Erziehungs-
system das Prinzip der Nationalität und der Muttersprache. Seine „Didaktik"
entstammte eigentlich einer patriotischen Gesinnung; er schrieb sie ur-
sprünglich in der Muttersprache, für seine Nation und in der Hoffnung,
dadurch der vaterländischen Sprache zu einer hohen Blüte zu verhelfen,
Kenntnisse, Sitten und Frömmigkeit in seinem Vaterlande zu verbreiten.
Die böhmische Sprache bereicherte er durch zahlreiche Schriften, welche
zu den Perlen der vaterländischen Literatur gehören.
Das Wieder- V. Das IQ. Jahrhundert. Zu Ende des i8. Jahrhunderts erreichte
Sprache und der Verfall der Nationalität und mit ihr auch der Literatur seinen Kulmi-
nationspunkt. Der siegreichen Gegenreformation war es wirklich gelungen,
alle Spuren der früheren Bildung fast gänzlich zu vertilgen und das Volk
geistig zu unterjochen; aber das Nationalgefühl und die Geschichte ver-
mochte sie dem Volke trotz alledem nicht zu nehmen. Bei der ersten
günstigen Gelegenheit konnte das unterdrückte Nationalgefühl wieder auf-
leben. Und diese Gelegenheit sollte sich bald darbieten. Den ersten
Anstoß dazu gab die aufklärerische und philanthropische Bewegung im
1 8. Jahrhundert, als im Namen der Humanität, Toleranz und Aufklärung der
Kampf gegen den Obskurantismus sowie für die Religions- und Gewissens-
V. Das 19. Jahvhundeil. i8q
freiheit von neuem aufgenommen wurde. Die vom Kaiser josef IL, einem
begeisterten Anhänger der Aufklärung, unternommenen freisinnigen Re-
formen, namentlich die Befreiung der Bauern und das Toleranzedikt, boten
zunächst die Möglichkeit einer Wiedergeburt der böhmischen Nationalität.
Es traten gelehrte Historiker und Philologen auf, welche die literarische
Bedeutung und die Rechte der böhmischen Sprache verteidigten, sich mit
der vaterländischen Geschichte beschäftigten und ältere Literaturdenkmäler
herausgaben. Dadurch wurde die von der Gegenreformation gewaltsam
unterbrochene Verbindung mit der ruhmreichen Vergangenheit wieder
hergestellt.
Unter den gelehrten Männern, welche die Wiedergeburt der böhmischen
Nation vorbereiteten, ragt besonders die erhabene Gestalt eines genialen
Forschers Josef Dobrovsky hervor, dessen wissenschaftlicher Ruf weit
über die Grenzen des Vaterlandes hinausdrang. Seine philologisch-histo-
rischen Arbeiten lieferten nicht nur feste Grundlagen zur weiteren Er-
forschung der slawischen Sprachen und Literaturen, sondern sie gaben
auch der ganzen nationalen und literarischen Bewegung eine gesamtslawische
Richtung. Die Böhmen begannen sich als ein Teil der großen slawischen
Welt zu fühlen und suchten in der slawischen Idee Schutz und Stütze für
ihre nationalen Bestrebungen. Auf den von Dobrovsky gelegten Grundlagen
baute dann der um die Hebung der Nationalliteratur hochverdiente Schrift-
steller und unermüdliche Forscher Josef Jungmann weiter, indem er in
seinem großen Wörterbuche den ganzen Wortschatz der Sprache sammelte
und in der ausführlichen Geschichte der böhmischen Literatur zuerst doku-
mentarisch nachwies, wie reich und mannigfaltig die ältere literarische Pro-
duktion gewesen. Eine epochale Bedeutung hatten auch die gelehrten
Arbeiten P. J. Safai^iks, welche sich mit der Erforschung slawischer
Altertümer, Literaturen und Sprachen befaßten und gleichsam eine wissen-
schaftliche Apologie des Slawentums enthielten, wodurch sie das Inter-
esse aller Slawen weckten und somit die Idee der Wechselseitigkeit be-
deutend förderten. Hierauf stellte sich der vaterländische Historiker und
anerkannte politische Führer der Böhmen Franz Palacky (1798 — 1876)
zur Lebensaufgabe, seinem Volke ein ausführliches und pragmatisches
Bild der böhmischen Historie zu geben. Seine monumentale „Geschichte
von Böhmen" gehört zu den bedeutendsten und einflußreichsten Werken
der neueren Literatur.
Die gelehrten Arbeiten der genannten Schriftsteller und Patrioten
stützten und befestigten den Bau der böhmischen Renaissance. Die
Schriftsprache wurde neu ausgearbeitet und veredelt, das historische Be-
wußtsein erwachte mehr und mehr, Vaterlandsliebe und Nationalgefühl
wuchsen und wurden stark.
Die ersten Schritte der neuböhmischen Poesie dagegen waren sehr Poetische
mühsam und schwankend. Bei dem gänzlichen Mangel an älteren poe-
tischen Überlieferungen mußte man völlig von neuem anfangen. Anfangs
igo Jan Machai.: Die böhmische Literatur.
griff man darnach, was am nächsten lag, nämlich nach den deutschen
Mustern und Vorbildern, welche man übersetzte oder nachahmte, wo-
durch teils einzelne Gattungen der anakreontischen und idyllischen Dich-
tung, teils phantastische Ritterromane in die Literatur eingeführt wurden.
Zu weiterer Entfaltung kam die böhmische Poesie erst durch den bereits
als .Sprachforscher ■ genannten Josef Jungmann, einen ausgezeichneten
Kenner der europäischen Literatur, welcher durch musterhafte Übersetzungen
aus Bürger, Goethe, Schiller, Milton, Chateaubriand u. a. die einheimische
Literatur bereicherte, neue Dichtungsarten in die Literatur einführte und
eine klangvolle poetische Sprache ausbildete. Gleichzeitig mit den ersten
Anfängen einer intensiveren literarischen Tätigkeit äußerte sich auch das
Verlangen nach einer selbständigen Nationalliteratur, welche im Volke
selbst wurzelnd den geistigen Bedürfnissen des Volkes entspräche, und
man fand zwei Mittel, die Verwirklichung dieses Bestrebens anzubahnen:
erstens einen näheren Anschluß an die slawischen Literaturen und zweitens
die Volkspoesie. Der patriotische Dichter J. Kollär, welcher als Student
in Jena an dem berühmten Wartburgfeste teilgenommen, rief, angeregt
durch die Stimmung der jungen deutschen Generation, in scliwungvollen
und begeisterten Sonetten auch die zerstreuten Slawen zur Eintracht und
Einheit auf und feuerte sie an zu dem großen Werke der Humanität,
welches ihnen nach Herders Andeutungen bevorstand. Seine von heißer
Vaterlandsliebe überquellenden Gesänge machten auf alle Gemüter tiefen
Eindruck, sie weckten die Schlummernden und spornten die Kalten an
und stärkten das Nationalgefühl. Dann übernahm F. L. Celakovsky die
Aufgabe, die vaterländische Poesie in nationalem und slawischem Geiste
zu erneuem und den Böhmen die poetischen Quellen anderer slawischer
Stämme zugänglich zu machen. Aus seinen kunstvollen Gedichten klingen
uns zuerst die reinsten Töne der slawischen Volkslieder entgegen. An
diese zwei bedeutendsten Dichter der böhtnischen Renaissance reihten sich
andere Schriftsteller, und ihrem Bemühen ist es zu danken, daß nament-
lich die volkstümliche Balladendiclitung und der historische Roman eine
hohe und kunstmäßige Ausbildung erreichten. Erben als Balladendichter,
Tyl, Marek und Chocholousek als Novellisten, Klicpera und Tyl
als Dramatiker gehören zu den einflußreichsten Vertretern der poetischen
Literatur in der ersten Hälfte des ig. Jahrhunderts.
Weitere Ent- Das Rcvolutionszeitalter 1 830 — 1848, welches das politische uud soziale
Wicklung der .
Poesie. Leben in ganz Europa tief erschütterte und die Literatur mit neuen Fragen
und Problemen überhäufte, hatte auch in Böhmen trotz dem schweren
politischen Drucke einen Umschwung der Gesinnung zur Folge. Der bis-
herige zahme und idyllische Patriotismus belcam eine schärfere politische
Färbung. Das stürmische Jahr 1848 brachte zwar den Böhmen die er-
sehnte Befreiung nicht, aber der neue Zeitgeist war doch von gewaltiger
Wirkung auf den Inhalt der Literatur. Unter dem Einflüsse Byrons, George
Sands und besonders des jungen Deutschlands nahm die Literatur eine
V. Das 19. Jahrhundert. igi
neue Richtung. Man hörte auf, volkstümliche und patriotische Motive ein-
seitig zu bearbeiten, und nahm in den Kreis der Poesie allgemein mensch-
liche Ideen und Probleme auf. Das Programm der neuen Dichterschule
lautete folgendermaßen: „Lernen wir von anderen Völkern, erkennen wir
den Grad ihrer Entwicklung, befreunden wir uns mit ihrer Gedankenwelt
und verarbeiten wir dann in uns alles dies mit dem, was wir schon mit
der Muttermilch eingesogen und in unserem Vaterlande erkannt haben, zu
einem neuen Ganzen; gewiß wird es dann slawisch sein, weil wir als
Slawen nicht anders bilden können." Unter den Vorkämpfern dieser
neuen Richtung waren Mächa, der erste böhmische Byronist, und
Havlicek, ein geistreicher Satiriker, Kritiker und Publizist, besonders
einflußreich.
An die Spitze der neuen literarischen Schule traten zwei begabte
Dichter, Hälek und Neruda. Hdlek bezauberte die Zeitgenossen durch
seine Produktivität, Vielseitigkeit, schwung-volle Phantasie und wohllautende
Sprache; von höherer Bedeutung für den Fortschritt der Literatur war
jedoch Neruda. Tiefe Reflexionen über die Naturerscheinungen und die
Schicksale der leidenden Menschheit, realistische Detailmalerei, kerniger
Humor sowie eine künstlerische Sprache sichern seinen Gedichten und
Erzählungen einen dauernden Wert. An die genannten Dichter schlössen
sich andere Schriftsteller und Novellisten an, welche einen neuen Auf-
schwung der ganzen Literatur veranlaßten. Heyduk, ein Sänger voll
tiefen Gemüts, Pfleger-Moravsky, Nemcovä, Svetlä, Tfebizsky,
Vlcek, Schulz, §milovsky als hervorragende Vertreter des Romans,
Jeräbek und Bozdech als Dramatiker verdienen noch ausdrücklich
genannt zu werden.
In den siebziger Jahren trat eine neue Dichtergeneration auf, welche
noch konsequenter als ihre Vorgänger den Gesichtskreis der böhmischen
Poesie erweiterte und die poetische Produktion zu einer ungeahnten Höhe
erhob. Die Führerrolle dieses Dichterkreises übernahm Vrchlicky, ein
überaus elastischer und universeller Geist, welcher der vaterländischen
Poesie die geistigen Schätze anderer Völker erschloß und ein ganzes Meer
von neuen Tönen in dieselbe einführte. Staunenswerte Produktivität,
leichtbewegter Schwung der Phantasie, Großartigkeit der Konzeption und
blendender Reichtum des poetischen Ausdruckes sind die hervorstechend-
sten Merkmale seines außerordentlichen Talentes. Während Vrchlicky
durch die blendende Farbenpracht seiner Poesie die ganze jüngere Gene-
ration an sich riß, war Zeyer, eine sensitive und träumerische Dichter-
seele, eher ein Vorgänger der Moderne in der böhmischen Poesie. Aber
am treuesten bewahrte die nationalen Traditionen Svat. Cech, der popu-
lärste böhmische Dichter, dessen echt nationale Poesie nicht nur patriotische
Motive in meisterhafter Vollendung wiedergibt, sondern auch von hohen
sozialen und politischen Ideen der Gegenwart durchdrungen ist. Andere
namhafte Repräsentanten dieses Dichterkreises, der sich besonders um die
IQ2 Jan MAchal: Die böhmische Literatur.
Zeitschrift „Lumir" gruppierte, sind: Slädek, Mokry, Quis, Pokorny,
Stasek, Kvapil, Klastersky, Kaminsky, Herites u. a.
In den achtziger Jahren begann der Realismus erfrischend auf die
Literatur einzuwirken. Unter seinem Einflüsse erreichte namentlich der
Roman und das Drama eine hohe künstlerische Entfaltung. Der überaus
fruchtbare Schriftsteller Jiräsek schuf in seinen großartigen Gemälden
aus der vaterländischen Geschichte eine neue kunstvolle Art historischen
Romans. Realistische Skizzen und Erzählungen aus dem Volksleben
zeichnen Rais, Klostermann, Slejhar, Sumin, Noväkovä, AI. Mrstik,
Holecek u.a. Soziale und politische Romane schreiben Arbes, Simäcek,
W. Mrstik, Svoboda, Herrmann, Laichter, Vikovä-Kunetickä,
Svobodovä, Hladik, Dyk usw. Die Eröffnung des großen National-
theaters in Prag (1881) bewirkte auch einen neuen Aufschwung der dra-
matischen Poesie. Stroupeznicky, Preissovä, Mrstik, Simäcek,
Svoboda, Hubert, Stolba, Kvapil, Jiräsek, Hilbert, Dyk gehören
nebst Vrchlicky und Zeyer zu den fruchtbarsten dramatischen Autoren.
Als hervorragende Vertreter der realistischen und impressionistischen
Richtung in der Poesie können besonders die Dichter Machar und
Sova genannt werden.
Der Modernismus fand unter der jüngeren Generation zahlreiche be-
geisterte Vertreter, welche ein neues Klang- und Schönheitsideal in der
Poesie verbreiteten und die künstlerische Kritik zu einer hohen Entfaltung
brachten, aber der bisherige Gang der Literatur w^urde durch ihr Bemühen
nicht wesentlich beeinflußt. Die Literatur der Gegenwart zeigt vielmehr
Vorliebe für die nationalen Ideen, welche seit Neruda die Literatur be-
herrschten, und bringt dieselben im modernen Zeitgeist zur weiteren Ent-
wicklung.
Obgleich sich die ganze neuere Literatur unter den schwersten poli-
tischen und sozialen Umständen entwickelte, machte sie doch in einer
verhältnismäßig kurzen Zeit einen ungeheueren und bewunderungswürdigen
Fortschritt. Ihre eigene nationale Eigenart und Individualität sorgfältig
wahrend, wußte sie sich die bedeutendsten Ideen und literarischen Werte,
welche in der europäischen Literatur herrschten, zu eigen zu machen und
die tiefe Kluft, welche das neuerwachte böhmische Schrifttum von der
Weltliteratur trennte, allmählich auszugleichen. So hat sich das böhmische
Volk mit eigner Kraft wieder den Platz in der Reihe der gebildeten
Völker errungen, um die geistigen Schätze der Menschheit vermehren zu
helfen.
Literatur.
Ältere Werke:
J. DOBROVSKY, Geschichte der böhmischen Sprache und älteren Literatur (Prag, 1818).
J. Jungmann, Historie literatury ceske, 2. Aufl. (Prag, 1849). (Bibliographisch geordnet.)
A. V. Sembera, Dejiny feci a literatury Ceskoslovenske. 1. 4. Aufl. (Wien, 1878);
II. 3. Aufl. (Wien, 1872). (Bibliographische Übersicht.)
K. TlEFTRUNK, Historie literatury ceske, 2. Aufl. (Prag, i88o> (Schulbuch.)
J. JlREtEK, Rukovet k dfijinäm literatury feske de konce XVlIl. vfeku (Prag, 1874 — 76).
(Ein wertvolles biographisches und bibliographisches Nachschlagebuch.)
F. PALACKf , Geschichte von Böhmen (Prag, 1836 ff.).
Neuere Werke:
A. N. Pypin, Geschichte der slavischen Literaturen. II. B., 2. Hälfte. Cecho-SIowaken.
Übertragen von T. Pech (Leipzig, 1884). (Der erste gelungene Versuch einer pragmatischen
Geschichte der böhmischen Literatur.)
Jaroslav Vlcek, Dfejiny ceske literatury (Prag, 1897 ff.). fDie beste böhmische Lite-
raturgeschichte, welche noch nicht beendet ist.)
V. Flajshans, Pfsemnictvi ceske slovem i obrazem (Prag, 1901). (Eine populäre Dar-
stellung der böhmischen Literatur mit Illustrationen.)
J. JakubeC und A. NovÄk, Geschichte der cechischen Literatur. Die Literaturen des
Ostens V. 1 (Leipzig, 1907).
Der Darstellung der neueren böhmischen Literatur ist ein großes Sammelwerk ge-
widmet: ,,Literatura ceskä 19. stolet!", welches seit dem Jahre 1902 in Prag (J. Laichters
Verlag) erscheint.
Gegenwart. I.
DIE SÜDSLAWISCHEN LITERATUREN.
Von
Matthias Murko.
Einleitung. „Südslawen" ist ein geographischer Begriff für die
Slowenen, Kroaten, Serben und Bulgaren, die trotz verschiedenartiger
historischer Schicksale sprachlich sehr nahe verwandt sind, so daß die
Kroaten und Serben, die doch unter der Spaltung zwischen Rom und
Byzanz am meisten gelitten haben, sogar dieselbe Schriftsprache besitzen.
Der Unterschied äußert sich heute nur in der Schrift, da die katholischen
Kroaten die lateinische, die orthodoxen Serben die cyrillische gebrauchen.
Doch kommt man mit diesem Kriterium des Alphabetes und der Religion
selbst für die Gegenwart nicht aus, in der Vergangenheit waren aber
die Verhältnisse noch viel komplizierter, denn weder gehörten die
Kroaten ausschließlich dem Okzident, noch die Serben nur dem Orient
an, sondern bildeten nach ihrer Lagerung die Zwischenstufe zwischen den
Slowenen, die frühzeitig ganz dem romanisch-germanischen Kulturkreise
zufielen, und den Bulgaren, bei denen sich die Einflüsse von Byzanz und
des Orients überhaupt am meisten geltend machten. Trotz dieser großen
kulturellen Unterschiede gab es immer lebhafte Wechselbeziehungen
zwischen den Südslawen, einzelne Literaturperioden sind mehreren Stämmen
gemeinsam, die heutigen Völkemamen hatten im Laufe der Zeiten einen
verschiedenen Umfang, die Bildung der vier Nationalitäten mit drei Schrift-
sprachen ist überhaupt erst ein Produkt des 1 9. Jahrhunderts (früher waren
neben dem allgemeinen slawischen und dem pseudogelehrten illyrischen
Namen noch die landschaftlichen Bezeichungen krainerisch, dalmatinisch,
ragusanisch. bosnisch, slawonisch u. a. üblich), die Grenzen zwischen Bul-
garen und Serben sind noch strittig, zwischen Serben und Kroaten über-
haupt unbestimmbar. Daß bei solchen Streitfragen die sprachlichen
Merkmale nicht allein maßgebend sind, folgt schon aus den modernen
linguistischen Vorstellungen, denn auch die südslawischen Sprachen bilden
in der Tat eine Kette allmählich ineinander übergehender Dialekte. Das
beste Beispiel bietet Proyinzialkroatien, das sprachlich zur slowenischen
Einleitung. IQ5
Dialektengruppe zu schlagen ist, historisch und kulturell aber immer einen
Bestandteil des kroatischen Volkes bildete.
Aus diesen Gründen empfiehlt sich eine von der üblichen Betrachtungs-
weise abweichende synchronistische Darstellung der südslawischen Litera-
turen, bei welcher der Anteil der einzelnen Landschaften an der Über-
nahme und Ausbildiuig der großen, die Menschheit bewegenden Ideen in
den Vordergrund zu stellen ist. Dabei ergibt sich eine Teilung in zwei
große, durch die Befestigung der Türkenherrschaft unter den Südslawen
in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts getrennte Perioden: in der
ersten herrscht die kirchenslawische Sprache und überwiegt der Einfluß
von Byzanz, in der zweiten kommen unter westeuropäischem Einflüsse die
Nationalsprachen zur Geltung.
Die Vorfahren der heutigen Südslawen, welche ihre Gebiete im 6. und
7. Jahrhundert bevölkerten, treten bei den griechischen und abendländischen
Schriftstellern unter dem Namen der Slowenen (ZKXaßrivoi, ZKXdur|VOi,
ZKXaßivoi, ZKXdßoi, Sclaveni, Sclavini, Sclavi) auf, der auch in allen älteren
einheimischen Quellen erscheint, erst allmählich durch die staatlichen
Namen bulgarisch, serbisch und kroatisch verdrängt wurde, im Westen
noch lange üblich blieb und bei dem am meisten vorgeschobenen Stamm
noch fortlebt (ebenso in der Gesamtbezeichnung der Slawen). Schon in
ihrer Heimat jenseits der Karpathen traten die Südslawen mit der römi-
schen Kulturwelt hauptsächlich durch Vermittlung der Germanen in Be-
rührung und besiedelten nun Länder, in denen bedeutende Reste der
griechischen und römischen Kultur erhalten blieben und von ihren Aus-
strahlungspunkten, Byzanz und Rom, aus neu belebt wurden. So finden
wir die Südslawen frühzeitig auf einer verhältnismäßig hohen Kulturstufe,
wovon namentlich die zahlreichen slawischen Fremdwörter im Magya-
rischen ein beredtes Zeugnis ablegen.
Die altslawische zügellose Demokratie begann bald dem römischen staaten-
Staatsbegriii zu weichen, wenn wir vom meteorartig auftauchenden west-
slawischen Staat des rätselhaften Samo absehen, müssen wir allerdings
hervorheben, daß den ersten und mächtigsten südslawischen Staat der .süd-
türkische — nicht finnische — Volksstamm der Bulgaren (überschritt die
Donau 67g) zwischen der Donau und dem Balkan gründete und nach dem
Süden und Nordwesten ausbreitete. Das Herrschervolk ging im Laufe
von mehr als zwei Jahrhunderten in den slawischen Volksmassen vollständig
auf. Bulgariens größter Herrscher Symeon (893 — 927), der Byzanz beerben
wollte und bis zum Adriatischen Meere vordrang, war ganz und gar ein
Slawe mit byzantinischer Bildung. Die Entstehung eines großen süd-
slawischen Staates verhinderten die Folgen der Spaltung zwischen Ost-
und West-Rom. In den westlichen Gebieten des alten Dalmatien bildete
sich der kroatische Staat, in dem sich byzantinische, fränkische und rö-
mische Einflüsse bekämpften, bis mit dem Regierungsantritt Branimirs (879)
ein vollständiger Umschwung zugunsten Roms und des Abendlandes ein-
,3,
iq5 Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
trat. Im Flußgebiet der Tara, des Lim und_Ibar übernahm der Stamm
der Serben in der ersten Hälfte des lo. Jahrhunderts die Führung über
die Dynasten, die bis an die Adria herrschten, so daß die Anfänge des
serbischen Staates ebenfalls in der Sphäre der römischen Kultur und
Kirche lagen. Nur die Slowenen brachten es zu keiner dauernden Staaten-
gründung, kamen schon ge^en Ende des 8. Jahrhunderts unter fränkische
Herrschaft und teilten weiter die Schicksale der deutschen Alpenländer.
Keine geringe Rolle spielte immerhin in der Begründung der slawischen
Liturgie und Literatur ein slowenisches Fürstentum am Plattensee in
Unter-Pannonien, das teilweise nach Steiermark bis Pettau herüberreichte.
Auch in der Annahme des Christentums gingen die Südslawen ihren
zahlreicheren Brüdern im Norden voran. Die römische Staatskirche lebte
an der adriatischen Küste kräftig fort, aber auch im Innern der Balkan-
halbinsel war sie nicht ganz erloschen, weshalb die Christianisierung hier
mit geringen Ausnahmen ganz friedlich vor sich ging. Verhängnisvoll
gestaltete sie sich nur für die Slowenen, gegen welche die Bayernfürsten
Religions- und zugleich Unterwerfungskriege führten; eine heidnische
Reaktion wurde 772 endgültig unterdrückt. Die Taufe der Kroaten wird
gewöhnlich zu früh datiert, denn die Begleitumstände setzen bereits eine
höhere staatliche Organisation voraus, die erst für das Ende des 8. Jahr-
hunderts beglaubigt ist. Der „Bischof von Kroatien" hatte keinen festen
Sitz. Die Mehrzahl der Bischöfe befand sich aber in den romanischen
Küstenstädten, und die erzbischöfliche Gewalt über ganz Dalmatien und
Kroatien bis zur Donau strebte schon um 8.'i2 die Kirche von Spalato an.
x\us diesem Verhältnis werden die heftigen Kämpfe um die slawische
Liturgie im 10. und 11. Jahrhundert begreiflich. Die oströmischen und
bulgarischen Serben erhielten ihr Christentum von Byzanz, aber ein großer
Teil derselben wurde in den Küstengebieten von Rom bekehrt und bis
zur Konsolidierung des serbischen Staates am linde des 12. Jahrhunderts
beherrscht, was für die Frage von der Bildung der serbischen Nationalität
sehr wichtig ist. Zuletzt nahmen das Christentum die bereits sehr mäch-
tigen Bulgaren an, im Jahre 864 oder Anfang 865. Fürst Boris legte
sich auch den Namen seines kaiserlichen Paten in Byzanz, Michael, bei,
trat aber aus Furcht für seine Unabhängigkeit mit Rom in Berührung,
das jedoch durch Starrsinn in Personalfragen Bulgarien und damit auch
andere Slawen für inimer verlor (870).
i Leben Über das geistige Leben der heidnischen Südslawen haben wir wenig
Sudslawen. Nachrichtcn. Über ihre religiösen Anschauungen, Sitten und Bräuche
können wir aus heutigen Volksliedern, Sagen, Märchen, Sprichwörtern,
abergläubischen Gebräuchen, Zaubersprüchen und Rätseln keine weit-
gehenden Schlüsse ziehen. Mag auch der Bulgare oder Serbe bei der
Ausübung seiner religiösen Bräuche in Wirklichkeit mehr an einen Heiden
als Christen erinnern, so hängen diese doch auf das innigste mit dem
Christentum, namentlich mit seinem Festkalender, zusammen. Die Pro-
hcidn
A. Die Literatur in der kirchenslawischen Sprache. 1. Die altkirchenslawische Periode. igj
dukte des Volksgeistes verraten auch zahlreiche mündliche und literarische
Einflüsse von Ost und West, namentlich die der apokryphen Literatur, so
daß sie nicht mehr an die Spitze der Literaturgeschichte gestellt werden
können.
A. Die Literatur in der kirchenslawischen Sprache und unter dem
tiberwiegenden Einfluß von Byzanz.
I. Die altkirchenslawische Periode. Die Südslawen gehen Die altslawische
. Kirchensprache.
ihren nördlichen Brüdern namentlich in der Literatur weit voran. Die
römischen und griechischen Buchstaben, mit denen sie zu schreiben an-
fingen, wurden bald durch zwei slawische Schriften abgelöst; ein süd-
slawischer, wahrscheinlich ein makedonischer oder auch ostbulgarischer
Dialekt wurde zur slawischen Kirchen- und Literatursprache erhoben.
Diese kirchenslawische, in den einheimischen Quellen „slowenisch" ge-
nannte Sprache spielte die Rolle des mittelalterlichen Latein bei allen
orthodoxen slawischen Völkern bis ins i q. Jahrhundert und lebt noch heute
im Gottesdienst bei den orthodoxen Serben, Bulgaren und Russen, bei
den mit Rom unierten Ruthenen, auch bei kleinen Bruchteilen unierter
Bulgaren, Kroaten und sogar Magyaren, überdies bei einem beträchtlichen
Teil römisch-katholischer Kroaten am Adriatischen Meere fort, so daß sie
nach der lateinischen die am meisten verbreitete liturgische Sprache der
christlichen Welt bildet. Eine große Rolle spielte die kirchenslawische
Sprache auch im geistlichen und staatlichen Leben der Rumänen, eine
weniger bedeutende bei den Albanesen und Litauern.
Merkwürdigerweise wurde die Konzession einer slawischen Liturgie uie siawen-
° ° apostel Cyrill
zuerst nicht Byzanz, sondern Rom abgerungen, dazu auf einem überwiegend und Method.
■' ' 6 S '_ ° Die slawische
nordslawischen Gebiet, im großmährischen Reiche, das am rechten Donau- Liturgie in
*' o • Mähren und
ufer allerdings au^h die pannonischen Slowenen, also Südslawen, be- Pannonien.
herrschte. Fürst Rastislav wollte sich vom fränkischen Reiche unabhängig
machen und eine Landeskirche mit Hilfe von Byzanz organisieren, erhielt
aber zuerst nur eine der üblichen religiös-politischen Missionen (863), für
welche die Machthaber in Konstantinopel (Michael III.. Bardas. Photius)
allerdings die besten Kräfte auswählten, den frommen Priester Konstantin,
der wegen seiner großen Gelehrsamkeit der^J'hilosoph genannt wurde,
und seinen Bruder, den diplornatischen Laienmönch Method. Diese
„Slawenapostel", die aber weder die Mährer noch die Südslawen zu be-
kehren brauchten (in alten slawischen Quellen werden sie richtiger „Lehrer
der Slawen" genannt), stammten aus Thessalonike (Saloniki) und beherrsch-
ten sehr gut die Sprache der nächsten Umgebung oder sonst einen sla-
wischen Dialekt des byzantinischen Reiches. Wenigstens Bruchstücke des
Evangelistars brachten sie schon nach Mähren, dessen Bevölkerung ihre
Sprache leicht verstehen konnte, und übersetzten hier die wichtigsten, für
den Gottesdienst notwendigen Bücher, speziell auch die Messe. Diese
log Matthias Mürko: Die südslawischea Literaturen.
Neuerung stieß auf den größten Widerstand der lateinisch-deutschen Geist-
lichkeit, hinter der die fränkische Großmacht stand. Die Brüder brauchten
daher zur Krönung ihres Werkes einen höheren Schutz und wanderten,
mit der Macht der Verhältnisse rechnend, nach Rom (867), wohin sie
ohnehin eine Berufung erhalten hatten.
*- Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß bereits Hadrian II. die sla-
wische Liturgie billigte. Das Werk der Brüder erlitt jedoch einen großen
Schaden durch den Tod Konstantins in Rom (14. Februar 86g), der kurz
zuvor in ein Kloster eingetreten war und den Namen Cyrill angenommen
hatte, wurde aber auch von Method allein mit Erfolg fortgesetzt. Fürst
Kocel am Plattensee erbat sich ihn als Erzbischof. Die Idee, für Panno-
nien und Mähren das alte Bistum Sirmium und das Exarchat für Illvricum
wiederherzustellen, ist natürlich nicht dem Kopfe des bescheidenen slo-
wenischen Fürsten und fränkischen Vasallen entsprungen, sondern der
„Stuhl des heiligen Andronikus" sollte für Rom den Rechtsgrund für eine
neue kirchliche Organisation auf dem Boden der Missionstätigkeit bayrischer
Bischöfe bilden und durch den Exarchen von Illyricum der Anspruch auf
die Donauslawen gegen Byzanz, das unter Photius die erste Kirchen-
spaltung versuchte (8671. behauptet werden.
Wegen der Wirren in Mähren , wo Rastislav von seinem Neifen
Svatopluk an die Deutschen ausgeliefert worden war, blieb Method am
Plattensee, wurde aber bald von den benachbarten deutschen Bischöfen
gefangen genommen, bis ihn nach dritthalb Jahren Johannes VIII. befreite.
Er hatte aber auch unter Svatopluk keinen leichten Stand, doch der ge-
nannte große Diplomat auf dem päpstlichen Stuhle billigte (880) in feier-
licher Weise die slawische Liturgie mit der Bedingung, daß bei der Messe
das Evangelium zuerst lateinisch gelesen werde. Die fortwährenden Kämpfe
hinderten Method nicht an einer weiteren Übersetzungstätigkeit. Nach
seinem Tode (6. April 885) wurde jedoch infolge der Umtriebe seines
Suffragans und Gegners Wiching die slawische Liturgie von Stephan V.
<jl verboten, wofür eine Erklärung auch in den großen Wirren am päpstlichen
Hofe zu suchen ist, und die Methodianer wurden von Svatopluk, der immer
eine Antipathie gegen den Schützling seines Oheims und gegen die reli-
giösen Streitigkeiten hatte, aus dem Lande gejagt. Den größten Schaden
hatte von seiner Inkonsequenz Rom, denn die slawische Liturgie wurde
in der Folgezeit zum stärksten und ausgiebigsten Kampfmittel gegen
seinen Einfluß im slawischen Osten.
Zwei slawische Paläographische, sprachliche und historische Gründe sprechen dafür,
Alphabete. ^^^ Konstantin das glagolitische Alphabet zusammengestellt hat. Man
erkennt darin eine Stilisierung der griechischen Minuskel und Kursive;
für die zahlreichen speziell slawischen Laute wurden Zeichen durch Ver-
änderung oder Kombinierung der griechischen hergestellt oder neu er-
funden oder aus einem, vielleicht sogar aus mehreren orientalischen Alpha-
beten entlehnt. Das fälschlich cyrilli.sch genannte Alphabet, welches mit
A. Die Literatur in der kirclienslawisclien Spraclie. I. Die altkirchenslawische Periode. iqq
der griechischen Unzialschrift bis auf die slawischen, meist aus der glago-
litischen Schrift entlehnten Schriftzeichen geradezu identisch ist, kam erst
in Bulgarien auf. Die älteste, in Makedonien gefundene cyrillische In-
schrift stammt aus dem Jahre 993. Die Glagoliza stand jedoch bei allen
Südslavven einige Zeit in Gebrauch und war sogar in Rußland nicht un-
bekannt. Heute lebt sie nur noch in den römisch-katholischen liturgischen
Büchern der Kroaten an der Adria fort, bei denen sie im Laufe der Zeit
eine eckige Gestalt annahm, doch ist diese „kroatische" Glagoliza mit der
älteren runden „bulgarischen" identisch.
Der Umfang des Übersetzungswerkes der Slawenapostel steht nicht Die ersten
fest. Auf jeden Fall hat auch Method nicht alle Bücher des Alten Testa- „slawischen
ments übersetzt. Zur Grundlage diente natürlich der griechische Text,
und zwar in der Lukianischen Redaktion. Abgesehen von nur geringen
Freiheiten gaben die Brüder das Original genau wieder, wurden aber dem
Geist der „slowenischen" Sprache, namentlich ihrer Syntax, gerecht, wodurch
sie sich ungemein vorteilhaft von späteren sklavischen Übersetzern unter-
scheiden. Bemerkenswert ist die Reinheit für christliche BegriiTe, mit
denen keine heidnischen Reminiszenzen verknüpft sind. Zu diesem Zwecke
behielten sie allerdings griechische Wörter mehr als billig bei und nahmen
auch mehrere in Pannonien und Mähren bereits nationalisierte lateinisch-
deutsche Ausdrücke auf. Überhaupt blieben die ersten Übersetzungen
von lateinischen und sogar deutschen Texten nicht unberührt. Fraglich
ist, ob auf Method bereits die Anpassung an den römischen Ritus zurück-
geht, aber jedenfalls sind die ersten Versuche in dieser Hinsicht sehr alt.
Daß sich auch die lateinisch-deutsche Geistlichkeit in den slowenischen Die ältesten
Denkmäler der
Gebieten nicht bloß auf die Predigt in der Volkssprache beschränkte, lehren Slowenen.
die Freisinger Denkmäler (in München), eine Beichtformel, eine Homilie
über die Beichte und ein Beichtgebet, die von Paläographen in das 10.
oder II. Jahrhundert verlegt werden. Diese Abschriften stehen den
ältesten erhaltenen glagolitischen und cyrillischen Denkmälern an Alter
durchaus nicht nach und repräsentieren die erste bekannte, allerdings sehr
unbeholfene Aufzeichnung" irgend einer slawischen Sprache in lateinischer
Schrift; ebenso sind sie die ältesten Denkmäler einer lebenden slawischen
Sprache. Eine Beeinflussung" derselben durch altkirchenslawische Vor-
lagen ist fraglich, wohl ist aber das zweite in die älteste kirchenslawische
Literatur geraten.
Eine dauernde Zufluchtsstätte fand die kirchenslawische Sprache und Biute der ait-
Literatur südlich der Save und der Donau, wo sie sofort im „goldenen sehen Literatur
Zeitalter" des bulgarischen Reiches unter Symeon, einem „neuen Ptolo-
maeus", wie ihn die Zeitgenossen nannten, am Hofe von Preslav ihre
höchste Blüte erreichte. Bald nach dem Tode Methods kamen Kliment
und einige andere Jünger nach Bulgarien, wo sie in den makedonischen
Gebieten um Ochrida herum im Geiste der pannonisch-mährischen Tradition
fortwirkten, so daß wir auf allen Gebieten eine konservativere makedo-
2 00 Matthias Murko; Die südslawischen Literaturen.
nische Schule gegenüber der von Byzanz mehr abhängigen ostbulgarischen
unterscheiden können. Das Westreich dauerte auch länger, aber selbst
nach seiner Vernichtung (1018) ließ Basilios II. die autokephale bulga-
rische Kirche in Ochrida bestehen, die allerdings schon im 12. Jahr-
hundert zu einem Bollwerk des Hellenismus wurde. Damit erreichte auch
die bedeutendste Periode der kirchenslawischen Literatur und ihrer alter-
tümlichen Sprache ein Ende.
Groß ist die Zahl bekannter und noch mehr unbekannter Übersetzer
und Kompilatoren in ganz Bulgarien, gering die der originellen und volks-
tümlichen Leistungen. Am besten ist die einheimische Homiletik ver-
treten, namentlich durch Kliment und Presbyter Kozma, der die Sekte der
Bogomilen bekämpfte. Die beiden Apostellegenden, von denen die Me-
thods gewiß nach Makedonien zu verlegen ist, bewahren ein schönes
Gleichgewicht zwischen Rom und Byzanz, weshalb sie sehr alt sein
müssen, und haben bezüglich ihrer historischen Glaubwürdigkeit durch
neuere Urkundenfunde nur gewonnen. Später kamen noch Legenden
bulgarischer Heiliger dazu, die als Eremiten hinter ihren orientalischen
Mustern durchaus nicht zurückblieben. Der bedeutendste ist Joann von
Ryl (-}- 946). Eine glänzende Leistung ist die Verteidigung der slawischen
Schrift und Bibelübersetzung gegen die Griechen durch den Mönch Hrabr
aus dem Anfang des 10. Jahrhunderts.
Bezüglich der neu übersetzten biblischen Bücher fällt es auf, daß die
kommentierten Propheten dem Text der alexandrinischen Redaktion folgen.
Überhaupt tritt speziell Makedonien durch die Athosklöster mit Palästina
und dem Sinai früh in Verkehr, so daß eine Reihe alter glagolitischer
Denkmäler nicht zufällig im Sinaikloster und in Jerusalem aufgefunden
worden ist.
Große Werke der theologischen Literatur wurden wegen ihrer
Schwierigkeit und auch mit Rücksicht auf ihr Publikum nicht immer ganz
übersetzt. So nahm Joann Exarch von Bulgarien aus der Theologie des
Johannes von Damaskos nur den dritten Teil „über den wahren Glauben",
aber selbst von dessen 100 Kapiteln nur 48, die ihm zur Aufklärung des
bulgarischen Volkes besonders wichtig erschienen. Charakteristisch ist
aber für diesen Hauptvertreter des symeonischen ostbulgarischen Kreises
eine große Kompilation Si's/odiirv (Hexaemeron), der Versuch einer
theologisch-philosophischen Erklärung der Schöpfungsgeschichte. Symeon
selbst vereinigte Auszüge aus den Predigten des Johannes Chrysostomos,
der auch bei den Slawen eine dominierende Stellung gewann, im Zlafosfnij
(Goldbach). Besonders charakteristisch ist aber eine auf seinen Befehl
angefertigte große Katene, die in dem Izhornik des Kiewer Fürsten
Svjatoslav aus dem Jahre 1073 erhalten ist; 25 Kirchenväter des Abend-
und des Morgenlandes, Dogmatiker wie Exegeten, sind neben anderen
Artikeln in dieser Kompilation vertreten.
Daß die Übersetzer nicht immer ihrer Aufgabe gewachsen waren.
A. Die Literatur in der kirclienslawischen Sprache. I. Die altliirchenslawisclie Periode. 201
zeigt die Behandlung der Kirchenpoesie, die ohnehin schon in der Zeit
der Nachblüte und des Verfalles zu den Slawen geraten ist. So wurden
zu Ende des 10. oder Anfang des 11. Jahrhunderts in Bulgarien oder auf
dem Athos die liturgischen Menäen in der Redaktion des Klosters
Studion (in Konstantinopel) buchstäblich, ohne Beachtung des Sinnes,
des Rhythmus und des poetischen Schmuckes der Akrosticha übersetzt.
Solcher Stumpfsinn war allerdings nicht allgemein, denn man hatte im
9. und 10. Jahrhundert in Bulgarien auch ein recht gutes Verständnis für
die Feinheiten der griechischen Kirchenpoesie, wie ihre Nachahmungen
in rhythmischen, zwölfsilbigen, mit einer Zäsur nach der fünften Silbe
versehenen und durch Akrosticha gebundenen Versen ohne Reim und
Refrain beweisen.
In dem Überwiegen mönchischer Interessen übertrifft schon die alt-
bulgarische Literatur ihr byzantinisches Muster. Besonders auffällig tritt
das bei der Behandlung geschichtlicher Werke hervor. Nicht ein einziger
der zahlreichen und bedeutenden byzantinischen Geschichtschreiber ist
übersetzt worden, nicht einmal Bruchstücke aus solchen, die über die
Slawen handeln. Dafür finden wir aber die Mönchschroniken des Johannes
Malalas und des Georgios Hamartolos und dürftige Chronographen. Die
Existenz bulgarischer Chroniken ist bloß bezeugt. Eine Kompilation
„Hellenischer und römischer Chronograph", in dessen älterer Redaktion
die Namen türkisch-bulgarischer Fürsten und Reste ihrer Sprache erhalten
sind, wird noch dem Zeitalter Symeons zugeschrieben.
Sonst sucht man aber, wenn man noch von einer Übersetzung des
Physiologus absieht, vergebens Spuren wissenschaftlicher Interessen. Be-
sonders zu bedauern ist die Tatsache, daß vom klassischen Altertum so
gut wie gar nichts in den schriftlichen Besitz der Slawen übergegangen
ist. Nur Aristoteles wurde auch bei ihnen der Philosoph der Kirche.
Man darf jedoch das Bildungsniveau der Balkanslawen nicht bloß nach
ihren Übersetzungen beurteilen, denn einzelne Persönlichkeiten, wie der
Zar Symeon und der Mönch Hrabr, standen auf der Höhe der damaligen
griechischen Bildung, die Beziehungen zu den Griechen waren immer leb-
haft und viele hervorragende griechische Schriftsteller hüteten slawische
Herden.
Die umfangreiche theologische Literatur konnte aber ebensowenig Ltoatur^
wie anderswo die fromme Neugierde und das Gemüt der Slawen be-
friedigen und ihnen die früheren religiösen Vorstellungen ersetzen. Da-
her finden wir allen Indices und Verboten der „lügenhaften", „geheimen",
„verworfenen" Bücher zum Trotz eine ungemein reichhaltige und stark
verbreitete apokryphe Literatur, die ihnen hauptsächlich vom Orient, aber
auch vom Okzident, vermittelt wurde.
Zur Verbreitung der Apokryphen trug sehr viel die .Sekte der Bogo- ° 3/^^'!;^^
milen bei, die gegen die Mitte des 10. Jahrhunderts unter dem Zaren
Peter in Bulgarien auftauchte, durch fünf Jahrhunderte die Geschichte der
20 2 Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
Balkanslawen mächtig beeinflußte und auch im Abendlande bis zu den
Pyrenäen und dem Niederrhein und selbst in England zahlreiche An-
hänger (Manichäer, Patarener, Katharer, Albigenser usw.) fand. Durch
armenische und syrische Grenzwächter und Kolonisten in Thrakien ver-
mittelte Byzanz die Lehren orientalischer Sekten, namentlich der Pauli-
kianer, die den Manichäismus ins Land brachten. Der Polemist Kozma
beschuldigt einen Popen Bogumil als Urheber der „manichäischen Häresie",
doch wir wissen nicht, inwieweit er die nach ihm genannte Sekte organi-
siert hat, da sich ihre Lehre im fortwährenden Fluß befand und uns zum
Teil nur aus byzantinischen und späteren lateinischen Quellen (über Bos-
nien, Dalmatien, Slawonien) bekannt ist. Nach Kozma führten die Bogo-
milen ein sehr strenges und ernstes Leben, verwarfen den üblichen Gottes-
dienst, die Hierarchie und das ganze Alte Testament, waren stolz auf ihre
Bücherweisheit und Kenntnis zukünftiger Dinge, verbreiteten neue Lehren
und Fabeln, verdammten die Reichen und predigten Ungehorsam gegen
die Boljaren und den Zaren samt seinen Beamten. Wir sehen darin An-
klänge an die altslawische Demokratie und einen Protest gegen die unter
Peter byzantinisierte Kirche und den byzantinisierten Feudalstaat. Diese
Opposition bekam durch die byzantinische Herrschaft noch neue Nahrung.
Übrigens finden wir schon am Ende des lo. Jahrhunderts eine Spal-
tung: die bulgarische Kirche näherte sich mehr dem christlichen Stand-
punkte, die Drag'ovicer Kirche in Makedonien hielt sich strenger an die
paulikianische Lehre. Die ursprünglich nationale Sekte wirkte zersetzend
auf die südslawischen Staaten, und beim Vordringen der Türken wurden
ihre in Bulgarien und Bosnien verfolgten Anhänger zu Volksverrätern.
Der mohammedanische Adel in Bosnien und Herzegowina hat meist bogo-
milische Vorfahren. Die Reste der Paulikianer in Bulgarien wurden im
I 7. Jahrhundert katholisch.
Es ist schwer zu bestimmen, welche Apokryphen direkt auf die
Bogomilen zurückgehen. Auch die Bestimmung des Alters und der
Herkunft der kirchenslawischen Apokryphen gehört zu den wichtigsten
Fragen der Zukunft. Auf jeden Fall stammt der größte Teil von den
Südslawen und aus dieser Periode. Darunter gibt es mehrere, deren
griechisches Original nicht bekannt ist. Zu den ältesten Übersetzungen
gehört das Nikodemus-Evangelium nach einer lateinischen Vorlage; für
spätere Übersetzungen kommen auch andere abendländische Quellen in
Betracht.
Prosa- Die Leidenschaft der Byzantiner, Verse zu machen, eigneten sich die
Slawen nicht an. Dafür fanden aber von den mittelalterlichen Prosa-
dichtungen ihren Weg auch zu ihnen der Alexanderroman des Pseudo-
Kallisthenes (Redaktion B') und die orientalischen Erzählungen von Bar-
laam und Joasaph, Stephanites und Ichnilates, die in griechischer Fassung
unbekannte Geschichte vom „weisen Akyrios" (hebr. Achikar, arab. Haikar),
die Sagen von Salomon und Kitovras und vom babylonischen Reich.
A. Die Literatur in der kirchenslawischen Sprache. I. Die altkirchensla^rische Periode. 203
Die byzantinische Kaisersage ist durch die Revelation des Methodios
„von Patara" vertreten.
Schon zu Methods Zeiten hatte die slawische Liturgie auch bei den DieaitsiawUche
. . Kircbensprache
Kroaten der adnatischen Küste festen Fuß gefaßt, wo sie vom Bistum bei den Kroatien
Spalato bis an die Grenzen der Slowenen in Istrien noch heute als ein in
der römischen Kirche einzig dastehendes Privilegium ein allerdings
kümmerliches Dasein fristet. Vorübergehend war sie eine Bundes-
genossin Roms gegen die zu Photius haltenden dalmatinischen Bischöfe,
die ihr nach ihrer Aussöhnung mit dem Papste den heftigsten Krieg er-
klärten. Doch konnten sie die Beschlüsse der Synoden von Spalato (925,
928, 1059/60) nicht vernichten, denn selbst Gregor VII. wagte an den
Grenzen des byzantinischen Einflusses keine gefährlichen Experimente.
Ausdrücklich wurde sie auch nie verboten, wohl aber durch Innocenz IV.
1248 anerkannt. Um diese Zeit war schon der römische Ritus durch-
geführt; dementsprechend wurden auch allmählich Änderungen der glago-
litischen Kirchenbücher nach dem Texte der Vulgata vorgenommen. Die
dialektischen Eigentümlichkeiten der serbokroatischen Sprache fanden
ebenfalls schon bis zum 13. Jahrhundert Eingang. Das älteste Denkmal
dieser Sprache ist eine glagolitische Inschrift der Kirche der heiligen
Lucia bei Baäka auf Veglia (1100). Die allgemeine Literatursprache des
Abendlandes herrschte jedoch auch in Kroatien, denn alle erhaltenen Ur-
kunden seiner nationalen Fürsten und Könige sind lateinisch geschrieben.
Die slawische Kirchen- und Schriftsprache fand dauernde Ausbreitung SchiuSbetrach-
tuiigen über das
fast bei allen Balkanslawen; nur die romanischen Städte des alten Dal- aitkircheo-
slawische
matien und teilweise auch ihre slawischen Gebiete, namentlich die des Schrifttum.
Erzbistums Ragusa, ' entzogen sich diesem Einfluß. Ein Jahrhundert nach
ihrer Begründung kam sie auch nach Rußland, das noch lange die
literarischen Erzeugnisse der Südslawen bezog, seit dem 13. Jahr-
hundert aber ihnen auch die seinigen lieferte; diesen Wechselverkehr
vermittelten namentlich Athos und Konstantinopel. Bei einer so großen
Verbreitung nahm die gemeinsame Schriftsprache seit dem 11. Jahr-
hundert überall lokale Eigentümlichkeiten an. Die literarische Einheit
erhielt jedoch einen großen Riß durch die definitive Kirchenspaltung im
II. Jahrhundert, doch hörte der Wechselverkehr zwischen den Anhängern
der griechischen und römischen Kirche auch nach dieser Zeit nicht ganz auf.
Die altkirchenslawische Sprache trug wesentlich zur Ausbreitung und
Stärkung der christlichen Zivilisation bei; durch sie erhielten die Süd-
slawen einen bedeutenden Vorsprung vor anderen Völkern des Südostens,
ihre nationale Unabhängigkeit fand an ihr eine bedeutende Stütze. Für
die Wissenschaft bildet sie heute den Ausgangspunkt jeglichen Studiums
der slawischen Sprachen, denn sie ist drei bis vier Jahrhunderte vor
anderen Slawinen aufgezeichnet worden. Bis zur Reformation bildete sie
neben der lateinischen und griechischen die einzige liturgische Sprache
Europas; an Alter und Bedeutung ihrer literarischen Denkmäler steht sie
204
Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
zwar hinter den liturgischen Sprachen des Orients zurück, doch kann sich
keine derselben mit ihr messen, was ihre Verbreitung und den Umfang
ihrer Literatur anbelangt, namentlich der übersetzten, die nicht bloß für
textkritische Studien der griechischen Originale von Bedeutung ist, son-
dern uns manche sogar allein erhalten hat. Man kann dieser Übersetzungs-
literatur trotz aller Schwächen auch die Bewunderung nicht versagen,
wenn man bedenkt, wie lange die lateinische Kirche brauchte, um reden
zu lernen. Dagegen ist es verkehrt, von einem besonderen slawischen
Kulturtypus neben dem griechischen und lateinischen des Mittelalters zu
sprechen, denn die Slawen haben einfach die durch fortwährende Orientali-
sierung entstellte und absterbende Kultur von Byzanz übernommen. Und
selbst von der byzantinischen Mumie haben sie nur Bruchstücke erhalten,
dabei aber auch die Abneigung gegen die „Lateiner", so daß mit dem
Falle von Konstantinopel für sie schon alle Kulturquellen versiegten. So
wurde die Kirchensprache für die orthodoxen Slawen allmählich aus
einem vSegen zum Fluch, ein Organ des Rückstandes und Rückschrittes;
jeder Fortschritt der Nationalsprachen und einer wirklich slawischen Kultur
auf Grundlage der allgemein-europäischen wurde durch den Kampf gegen
sie und durch ihre endgültige Zurückdrängung in die Kirche (im 19. Jahr-
hundert!), durch die Emanzipation vom Orient und durch die Annäherung
an den Okzident erreicht.
Mjtteibuipi- IL Das kirchenslawische Schrifttum seit dem 12. Jahrhun-
riscbe Literatur. r^ . , -ht« i it ■•i-äci t-ij
dert. Seit dem Niedergange der byzantinischen Macht gegen Lnde des
12. Jahrhunderts wurden in den neuen slawischen Balkanstaaten abermals
günstige Bedingungen für die kirchenslawische Literatur geschaffen, die
sich inhaltlich ganz in den alten Geleisen fortbewegte und nur durch dia-
lektische Merkmale ihre Herkunft verrät.
So hat auch der Ausdruck „mittelbulgarische" Literatur hauptsächlich
sprachliche Bedeutung. Das wieder aufgerichtete bulgarische Reich (1186
bis 1393) mit dem Sitze in Trnovo erhielt jedoch erst im Zaren Joann
Alexander (1331 — 1365) abermals einen mächtigen Förderer der Literatur,
für den auch künstlerisch reich ausgestattete Werke geschrieben wurden,
und erreichte vor seiner Vernichtung durch die Türken eine beachtens-
werte Stufe geistiger Kultur, die mit den religiösen Strömungen des
byzantinischen Reiches in innigstem Zusammenhange steht. Namentlich
das Hesychastentum fand von Athos aus sofort Eingang in Bulgarien;
sein Begründer Gregorios Sinaites begab sich auf einige Zeit sogar unter
den Schutz des Zaren Joann Alexander und fand daselbst bedeutende
Schüler. Die Mystik der Hesychasten, die allerdings durch starken Aske-
tismus entstellt wurde, siegte über die rührigen Bogomilen und andere
Sekten; ihr Vertreter war auch der letzte Patriarch von Trnovo, Euthymij
(seit ungefähr 1373), zugleich der bedeutendste Schriftsteller der ganzen
mittelbulgarischen Periode. Euthymij übersetzte liturgische Bücher (u. a.
A. Die Literatur in der kirchenslawischen Sprache. II. Das kirchenslawische Schrifttum. 205
die Liturgie des Johannes Chrysostomos und des hl. Jakob) und schrieb
Lobreden, Legenden, Offizien bulgarischer und griechischer Heiliger,
namentlich solcher, deren Reliquien die neuen Zaren nach Trnovo ge-
bracht hatten, und Sendschreiben über religiöse Fragen. Er hielt sich in
jeder Hinsicht streng an die zeitgenössischen byzantinischen Mu.ster und
ahmte ihre gekünstelte Rhetorik so sklavisch nach, daß seine kirchen-
slawische Sprache wie eine Kopie der griechischen erscheint. Von dem-
selben Geiste war auch seine Reform der Kirchenbücher getragen, deren
Orthographie und Sprache er überdies archaisierte. Diese unvolkstüm-
lichen Bestrebungen gelang'ten durch bulgarische Flüchtlinge in Serbien,
in der Moldau und Walachei, besonders aber in Rußland zur Geltung:
einer von ihnen, Camblak, gehört sogar der Literatur aller dieser Länder an.
Bulgarien hat auch in dieser Periode zahlreiche Übersetzungen auf-
zuweisen, die hauptsächlich dem Gebiete der Asketik und Mystik ange-
hören. Viele „Übersetzungen" sind aber nur Modernisierungen der alten
im Geiste des Euthymij, der aber schon Vorgänger hatte. Das älteste
Denkmal ist ein 121 1 übersetztes Synodikon des Zaren Boril, das gegen
die Irrlehren gerichtet ist und erst im 14. Jahrhundert Zusätze über bul-
garische Zaren, Zarinnen, Patriarchen, Bischöfe und Boljaren erhalten hat.
Sonst ist für das geschichtliche Interesse wichtig der Umstand, daß ein
für den Zaren Joann Alexander 1345 geschriebener Kodex neben der neu
übersetzten Chronik des Manasse (mit wertvollen Illustrationen zur bul-
garischen Geschichte) auch eine trojanische Sage enthält, die nach einer
lateinischen oder italienischen Vorlage mit Zügen mittelalterlicher Romantik
bei den Kroaten am Quarnero übersetzt worden ist. Immerhin haben wir
auch wichtige Bruchstücke einer bulgarischen Chronik aus dieser Periode.
Den wichtigsten Mittelpunkt erhielt die kirchenslawische Literatur am ^l" kirchen
Ausgang des Mittelalters in Serbien, das seit dem 14. Jahrhundert auch Literatur
die christliche Vormacht der Balkanhalbinsel bildete und Bulgarien über-
lebte, denn nach der verhängnisvollen Schlacht am Kosovo polje (138g)
bot es als türkischer und seit 1 403 auch als ungarischer Vasallenstaat der
Literatur und Kunst noch eine hervorragende Zufluchtstätte, bis es zu
einer türkischen Provinz wurde (1459). Aber auch nach dieser Zeit be-
wahrten die Serben besser das alte Erbe als die Bulgaren, denn die ser-
bischen Flüchtlinge in Ungarn und Slawonien erfreuten sich einer privi-
legierten Stellung und die Klöster der Fruska gora, die meistens aus dem
16. Jahrhundert herrühren, wurden zu einem serbischen Athos.
Der eigentliche Begründer des serbischen Staates, Stefan Nemanja,
der dessen Mittelpunkt von der Adria nach Rascien (heute Novi pazar)
verlegte, wurde in Ribnica (bei Podgorica in Montenegro) katholisch ge-
tauft (1122 oder 1123), erhob aber aus politischen Gründen die Orthodoxie
zur Staatsreligion und starb (1200) als Mönch Symeon auf dem Athos,
wohin er seinem jüngsten Sohne Sava gefolgt war. Sein ältester Sohn
und Nachfolger, Stefan der Erstgekrönte, holte sich aber noch immer die
Serbi<
2o6 Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
Königskrone aus Rom (12 17), während Sava in Nikaea zum autokephalen
Erzbischof von Serbien geweiht wurde (12 19) und als tüchtiger Organi-
sator der Orthodoxie endgültig zum Siege verhalf. Symeon und Sava
gründeten auf dem Athos das Kloster Chilandar, das noch unter den
Türken längere Zeit den geistigen Mittelpunkt des serbischen Volkes
bildete. Die übrigen Kulturzentren (Klöster, Bischofsstühle, Residenzen
der Könige und Zaren) lagen in Altserbien und in den umliegenden Ge-
bieten; auch der Sitz des serbischen Patriarchats (seit 1346) Pec (Ipek) ist
heute auf albanesischem Boden zu suchen. Von ihrem Stammlande aus
richteten die serbischen Herrscher ihre Blicke hauptsächlich nach dem
Südosten — Zar Dusan wollte sogar Byzanz erobern — so daß Makedonien
auch seine serbische Kulturperiode hatte. Erst nach der Schlacht an der
Marica (137 1) gelangte der Mittelpunkt des serbischen Staatswesens in
das heutige südliche Serbien und endlich im 15. Jahrhundert an die Donau
(Belgrad, Smederevo).
Dieser Vergangenheit entsprechend ist die serbische Kultur nicht ein-
heitlich, denn starke abendländische Einflüsse blieben im Lande immer
mächtig. Das gilt namentlich von der kirchlichen Architektur und Malerei,
auf welchen Gebieten eigentlich erst das unselbständige Serbien ganz
byzantinisch wurde. Von der größten Wichtigkeit ist diese Tatsache für
alle Erzeugnisse des Volksgeistes. Die geschriebene Literatur ist natur-
gemäß byzantinisch, wurde aber einfach fertig aus Bulgarien und Make-
donien herübergenommen. Die serbische Redaktion der Bücher entstand
allmählich und ist durchaus nicht das Werk des ersten bekannten ser-
bischen Schriftstellers, des hl. Sava.
Ihre Abhängigkeit vom Athos verrät die serbische Literatur durch
ihren ganz mönchischen, namentlich asketischen Charakter. Auffällig ist
auch eine besondere Bevorzugung der Mönche von Syrien, speziell des
Sabbasklosters bei Jerusalem und des Berges Sinai. Erzbischof Nikodim
führte auch das gottesdienstliche Typikon von Jerusalem ein (131g), das
wie alles Südslawische seinen Weg nach Rußland fand. Das reiche hand-
schriftliche Übersetzungsmaterial serbischer Redaktion wurde noch wenig"
gewürdigt, namentlich für die theologische Literatur der Byzantiner, und
die Frage, was speziell in Serbien übersetzt worden ist, kann nicht ge-
nügend beantwortet werden. Von den Übertragungen byzantinischer
Chroniken gehört die des Zonaras hierher. Poetische Leistungen der
Byzantiner, wie das Lehrgedicht Spaneas und die Menandersentenzen,
wurden auch jetzt, wahrscheinlich in Makedonien, ihres künstlerischen
Gewandes entkleidet.
Selbständige Leistungen hat vSerbien auf dem Gebiete der Hagio-
graphie, in den Lebensbeschreibungen seiner Herrscher und Erzbischöfe,
die aber ihrem Charakter nach auch zur Hagiographie gehören und nur
in Ermangelung besserer Quellen historisch wertvoll sind, in der Annalistik,
Gesetzgebung und Grammatik aufzuweisen. Die besten Biographien sind die
A. Die Literatur in der kirchenslawischen Sprache. II. Das kirchenslawische Schrifttum. 207
erste und letzte. Sava schildert schlicht, natürlich und mit Angabe histori-
scher Daten das Leben seines Vaters, während schon sein gekrönter Bruder
Stefan denselben Gegenstand ganz legendarisch behandelt und durch An-
häufung von Zitaten und Phrasen anschwellen läßt. Den engsten Anschluß
an die byzantinischen Muster verrät Konstantins von Kostenec (mit dem
Beinamen der Philosoph) Biographie des Despoten Stefan Lazarevic (ge-
schrieben 1431/32), die sprachlich zwar ungenießbar ist, inhaltlich aber die
bedeutendste historische Leistung der Südslawen repräsentiert. Derselbe
Konstantin brachte aus Bulgarien auch die reformatorischen .sprachlichen
Bestrebungen des Euthymij, die er in einem ausführlichen Traktat verewigte.
Charakteristisch für die serbischen Verhältnisse ist das einheimische und
mitteleuropäische Elemente enthaltende Gesetzbuch des Zaren Stefan Duäan
aus dem Jahre 1349, bei dessen Abfassung als Muster wahrscheinlich nicht
so sehr die systematisch angelegten Nomokanones samt dem darin ent-
haltenen weltlichen Recht der Byzantiner als die Statuten der Städte des
adriatischen Küstenlandes dienten.
Einen Pufferstaat zwischen Orient und Okzident bildete Bosnien (mit Bosnien.
Herzegowina), in dem meist die beiden Kirchen feindliche Sekte der
Bogomilen (Patarener) herrschte. Ihnen haben wir altertümliche, auf gla-
golitische Quellen zurückgehende cyrillische Texte des Neuen Testamentes
und der Psalmen zu verdanken, denn wie in manchen anderen Punkten
näherten sie sich auch in der Anerkennung einzelner Bestandteile des
Alten Testaments ihren abendländischen Genossen. Der Cyrillismus in
Bosnien ging seine eigenen Wege und bewahrte auch eine altertümliche
Orthographie, doch die Sprache der bosnischen Urkunden — die älteste
und zugleich erste cyrillische, stammt aus dem Jahre 1189 — und In-
schriften ist sehr volkstümlich, was auch bezüglich der slawischen Kor-
respondenz der Ragusaner gilt. Die eigenartige bosnische cyrillische
Schrift war auch bei den Katholiken des Landes, in den österreichischen
Grenzgebieten und teilweise in Dalmatien bis ins 18. Jahrhundert üblich.
Die Periode vom 1 3. bis 1 5. Jahrhundert ist auch die Blütezeit der Glagolitische
glagolitischen Literatur der nordwestlichen Kroaten an der Adria. Ihre Kroaten.
Trägerin, die slawische Liturgie innerhalb der römischen Kirche, drang
aus den Küstengebieten sogar in das Innere von Kroatien und in die
nordwestlichen Gegenden Bosniens vor; auch in den küstenländischen
slowenischen Gebieten und selbst in Krain war sie sporadisch vertreten.
Karl IV. bevölkerte das von ihm gegründete (i347)"'Emauskloster in Prag
mit kroatischen Benediktinern, die auch nach Krakau geholt wurden (1390).
Diese Episoden blieben jedoch ohne Bedeutung. Nur ein 1395 in Prag'
geschriebener glagolitischer Evangelientext brachte es zu einer großen
Berühmtheit: mit einer älteren cyrillischen Handschrift zusammengebunden
kam er über Konstantinopel nach Rheims, wo die französischen Könige
auf diesen geheimnisvollen Texte Ja sacre den Krönungseid leisteten.
Die Handschriften und ältesten Drucke liturgischer Bücher (Missale
2o8 Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
in Venedig 1483) sind wichtig für das Studium der altkirchenslawischen
Texte und ihrer Sprache. Der Wechselverkehr mit den Balkanslawen
wurde auch durch die Kirchenspaltung nicht ganz unterbrochen, denn wir
finden bei den Kroaten auf Makedonien zurückgehende Handschriften,
wichtige Apokryphen, darunter eine dem bulgarischen Popen Jeremija
zugeschriebene Sammlung, den weisen Akyrios u. ä. Die Literatur befand
sich auch hier fast ausschließlich in den Händen der Geistlichkeit, aber
mehr in den der weltlichen, und beschränkte sich auf Kompilationen und
Übersetzungen (natürlich aus dem Lateinischen) von Ordensregeln, Legen-
den , Moralisationen , Traktaten , Sendschreiben (auch apokryphen) und
Predigten, sowie auf Handbücher für Geistliche. Beachtenswert sind
Kirchengesänge in achtsilbigen Versen mit Reimpaaren und in Zwölf-
silbern, die durch paarweise Binnen- und Endreime gebunden sind. In
diesen Gedichten herrscht schon ganz die Volkssprache, die auch sonst
die kirchenslawischen Elemente immer mehr verdrängt.
Besondere Wichtigkeit für die Sprachgeschichte und das Volksleben
haben zahlreiche Privaturkunden und Rechtsdenkmäler, die neben den
lateinischen und italienischen Statuten dalmatinischer Städte Beachtung
verdienen. Das älteste erhaltene ist das Statut von Vinodol im kroatischen
Küstenlande (1288), das ein schönes Beispiel bietet, wie Gewohnheitsrecht
von der Bevölkerung selbst kodifiziert wird. Sogar Orte unter öster-
reichischer Herrschaft, wie Kastav, Veprinac und Trsat, weisen solche
Denkmäler auf. In bosnischer cyrillischer Schrift ist das Statut von
Poljica (südlich von Spalato) geschrieben, das sich ausdrücklich kroatisch
nennt.
Die westliche Literatur ist durch Übersetzungen einer romantischen
Trojasage (s. mittelbulg. Literatur), der Visio Tundali, des Liicidarius (aus
dem Böhmischen) und des Buches des weisen Cato vertreten.
Aus den westlichen Gebieten der Kroaten und Serben stammen noch
ein Alexanderroman, in dem der Welteroberer als christlicher Held er-
scheint, die „Sage vom indischen Reich" (Epistel des Presbyters Johannes)
und die Ritterromane von Tristan und Buovo d'Antona (Bueves d'Hanstone).
Die drei letzten Werke sind aber nur in der russischen Literatur erhalten,
der also auch ihre westeuropäischen Stoffe zuerst durch die Südslawen
vermittelt wurden.
Im 15. Jahrhundert wurden die slawischen Balkanstaaten vernichtet
(zuletzt Bosnien 1463, Herzegowina 1483), im 16. Jahrhundert gelangten
selbst Slawonien und der größte Teil des dalmatinischen Festlandes unter
die Herrschaft der Türken, nur von Kroatien blieben größere Reste übrig.
Die Türkenzeit hatte schwerwiegende Folgen auch für das geistige Leben
der Südslawen. Die Literatur verlor die Stütze des Adels und der Fürsten,
von den letzten Literaten wanderten mehrere nach Rußland aus; die ortho-
doxen Klöster erfüllten noch einige Zeit ihre literarische Mission und
machten sich sogar in der südöstlichen Herzegowina die Buchdruckerei zu
A. Die Literatur in der kirchenslawischen Sprache. II. Das liirchenslawische Schrifttum. 20Q
eigen (angeblich der erste cyrillische, aber unbekannte Druck, ein Horolo-
gium, wurde in Venedig 1493, der zweite, ein Oktoich, 1494 in Cetinje her-
gestellt), aber sie verarmten bald oder verschwanden ganz. Zum Türkenjoch
kam aber das vielleicht noch schlimmere der ohnehin zum geistigen Still-
stande verurteilten griechischen Kirche, denn der Phanar machte mit der
Pforte gute Geschäfte auf Kosten seiner meist slawischen Ausbeoitungsobjekte
und erwirkte zuletzt nicht bloß die Vernichtung des serbischen Patriarchates
von Ipek, sondern auch der gräzisierten autokephalen Kirche von Ochrida
(1767). Ein Glück war es für die Balkanslawen, daß die Griechen wegen
des großen Unterschiedes zwischen ihrer künstlich konservierten Literatur-
und der Umgangssprache keine besondere Assimilationsfähigkeit besaßen.
Die Türken selbst verfolgten mit besonderem Mißtrauen die Katholiken
wegen ihrer Zugehörigkeit zur abendländischen Christenheit und hinderten
nach Kräften den Zufluß europäischer Bildungsmittel, so daß z. B. die auch
für die türkischen Slawen bestimmten cyrillischen und glagolitischen
Drucke der Protestanten fast gar nicht über die Grenzen gekommen sind.
Einheimische Leistungen haben nur die bosnischen Franziskaner aufzu-
weisen, deren Erbauungsschriften in Italien gedruckt wurden. Die ortho-
doxen Serben und Bulgaren richteten aber ihre Blicke nach Rußland, das
ihnen durch Büchersendungen und andere fromme Gaben die Dienste, die
sie sich für die Grundlage seiner Kultur erworben hatten, vergalt.
Die Türkenherrschaft bedeutet anderseits für die große Mehrzahl der
Südslawen eine ethnographische Rekreation. Die Türken brachten aller-
dings eine ganz verschiedenartige, nicht geringe Kultur, die sich nament-
lich in zahlreichen türkischen Fremdwörtern und in den arabischen und
persischen Elementen der Volksliteratur, besonders in der sinnlichen Glut
und Farbenpracht der mohammedanischen Volkslyrik äußert, aber sie ent-
nationalisierten nicht gewaltsam, vielmehr wurden die eingewanderten
Osmanen namentlich in den bosnisch-kroatischen Grenzgebieten slawisiert,
und mengten sich überhaupt in das Leben der Raja nicht ein. Daher
konnte sogar eine Rückkehr zu jenen Sitten und Gebräuchen erfolgen,
welche die mittelalterliche Gesetzgebung und Staatsgewalt bekämpften.
Durch diese Verhältnisse und durch die zahlreichen Wanderungen, nament-
lich der Serben, nach dem Norden und Westen, wurden auch die kul-
turellen Unterschiede verwischt, was viel zur ethnischen Einheit der
Kroaten und Serben beitrug.
Die Kriege und die fortwährenden Grenzkämpfe mit den Türken Das epische
1-111 1 * r- Zeitalter der
bilden aber auch das epische Zeitalter aller Südslawen, dem selbst die sudsiawea
Slowenen ihre schönsten Balladen zu verdanken haben. Mit den ersten
Zusammenstößen in Makedonien beginnt die mündlich erhaltene Helden-
sage der Serben und Bulgaren, ihre Stoffe und Lieder wandern mit der
Verlegung der Kampfplätze nach dem Norden und Westen, und die groß-
artige Volksepik der Serben und Kroaten erhält ihre hohe künstlerische
Ausbildung durch die Verbindung mit romanischen Kulturelementen der
Die Kultur der Gegenwart. I. 9. 14
2IO Matthias Murko; Die südslawischen Literaturen.
westlichen Gebiete, aus denen sie wieder nach den östlichen zurückflutet.
Das Volkslied einigt sogar die Bekenner der drei Religionen, denn es
bietet nicht bloß dieselbe Sprache und Form, sondern auch den gleichen
Inhalt, allerdings in verschiedener Beleuchtung. Für das Studium des
Werdens und der Lebensbedingungen der Volksepik bietet das schönste
Beispiel das konservative Epos der bosnischen Mohammedaner.
B. Die Literatur in den Nationalsprachen und unter dem Einfluß
des Abendlandes.
I. Altere Periode (bis zum Aufklärungszeitalter). Mit dem Anbruch
der Neuzeit trat auch bei den Südslawen ein großer Umschwung auf
geistigem Gebiete ein, denn Humanismus und Renaissance, Reformation
und Gegenreformation übten in den westlichen und nordwestlichen Gebieten
eine große Wirkung auf sie aus: die Grundlagen der modernen Kultur
fanden aus dem Okzident bald ihren Weg dahin, die Volkssprache kam
zur Herrschaft und so wurde erst die Möglichkeit für nationale Literaturen
auf südslawischem Boden geschaffen. Diese Errungenschaften blieben ur-
sprünglich allerdings auf die Anhänger der römischen Kirche beschränkt,
doch machte sich ihr Einfluß allmählich auch bei denen der griechischen
geltend, die dann im Zeitalter der Aufklärung und Romantik vollständig
dem europäischen Kulturleben zugeführt wurden.
Da ganz Dalmatien im lebhaftesten Verkehr mit Italien stand, so
nahm es auch an seiner Kulturentwicklung starken Anteil; so wurden
z. B. die ersten Klöster des populären Franziskanerordens, der sich für
die Balkanslawen in den Türkenzeiten besondere Verdienste erwarb, in
Dalmatien von seinem Stifter selbst gegründet. Immerhin fand Italiens
Einführung der „Vulgärsprache" in die Literatur nicht sofort Nachahmung,
denn die ostadriatischen Küstengebiete hatten ja ihre slawische Kirchen-
sprache in glagolitischer und cyrillischer Schrift; die eigentlichen Sitze
der Kultur, die Städte, sprachen aber noch ihren besonderen romanischen
Dialekt und wurden erst gegen Ausgang des Mittelalters durch ihre Um-
gebung vollständig slawisiert. Für die geistigen Bedürfnisse dieser städti-
schen slawischen Bevölkerung begann man nun die Volkssprache in
lateinischer Schrift zu schreiben. Ein derartiges Lektionar, das nut-
wendigste Handbuch der Geistlichkeit, können wir bis ins 1 4. Jahrhundert
verfolgen; im Jahre 1495 erschien es als das erste, in der „Gotik" ge-
druckte Buch. Die Buchdruckerkunst und die von ihr getragene mäch-
tige geistige Bewegung förderten überhaupt die Ausbreitung der lateini-
schen Schrift, der zuerst die glagolitische Schrift der Kroaten, die natio-
nalste von den „nationalen" Alphabeten Europas, zum Opfer fiel und auf
die liturgischen Bücher beschränkt wurde.
Dalmatien hatte wie Italien blühende Munizipien, von denen sich
B. Die Literatur in den Natiomilsprachen. I. Altere Periode. 2 I I
namentlich Nona, Zara, Sebenico, Trau, Spalato, Lesina und Cattaro einen
Ehrenplatz in der südslawischen Literaturgeschichte sicherten. In der
ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts befanden sich bereits alle diese Städte
unter der Herrschaft Venedigs, das mit seinen Beamten auch die italie-
nische Sprache importierte, die aber erst allmählich zur Umgangssprache
wurde, denn im 16. Jahrhundert sprach man zu Hause noch überall slawisch.
So wird trotz der Herrschaft der lateinischen und italienischen Sprache
im öffentlichen Leben die Pflege einer slawischen Literatur begreiflich,
denn auch die Patrizier gaben ihren innigsten Gefühlen in der Mutter-
sprache Ausdruck, namentlich wenn sie sich an die Frauen wendeten, die
also auch in der Entwicklung der südslawischen Literatur eine bedeutende
Rolle spielen. Immerhin wurden die slawischen Musen in den oberdalma-
tinischen Städten meist bereits im 1 7. Jahrhundert zum Schweigen ge-
bracht, wozu die fortschreitende Italianisierung derselben besonders viel
beitrug.
Die stärkste und dauerndste Pflege fand aber die serbokroatische Kagusa.
Literatur in Ragusa (slawisch Dubrovnik), die schönsten Blüten trieb die
Kunstdichtung in diesem ,,südslawischen Athen". Unter byzantinischer
(bis 1205), venezianischer (bis 1358), ungarischer (bis 1526) und türkischer
(bis 1806) Oberhoheit entwickelte sich im südlichen Dalmatien eine zwar
kleine (in ihrer Glanzperiode zählte sie 1587 ungefähr 30000 Einwohner),
aber reiche Adelsrepublik, die den ganzen Handel der Balkanländer mit
dem Abendlande vermittelte, die Konkurrenz mit dem übermächtigen
Venedig aushielt und selbst in der Türkenzeit durch kluge Politik ihre
Freiheit bewahrte, so daß sie das einzige christliche Staatswesen auf dem
Balkan blieb. Diese Stadt, deren Bewohner noch im 13. Jahrhundert
schlecht slawisch sprachen, bildete sich, obgleich auch hier Lateinisch und
Italienisch das öffentliche Leben beherrschten, am meisten zu einem slawi-
schen Gemeinwesen aus und bewahrte diesen Charakter bis zur Vernich-
tung ihrer Freiheit durch die Franzosen (1806).
Man spricht mit Recht von einer dalmatinisch-ragusanischen Literatur, Daimatinisch-
ragusanische
die durch Sprache, Form und Ideen em Ganzes bildet, aber nicht einheit- Literatur.
lieh ist, denn sie repräsentiert einen langen Entwicklungsgang des mensch-
lichen Geistes vom Ausgange des Mittelalters bis zu den Ideen des
18. Jahrhunderts; doch ihren eigentlichen Ruhm bildet die Zeit der
Renaissance, die unter italienischer Einwirkung in ganz Dalmatien früher
(um 1500) begann, als in irgend einem Lande, den bedeutendsten Ver-
treter in Ragusa aber erst im 17. Jahrhundert hervorbrachte. Dieser Re-
naissance auf dem verhältnismäßig kleinen dalmatinischen, speziell ragu-
sanischen Gebiete hat unter den slawischen Literaturen nur die polnische
etwas Ahnliches an die Seite zu stellen.
Auch die südslawische Renaissance geht mit dem Humanismus einher. Hamamsmas in
Im 15. und 16. Jahrhundert gab es von Istrien bis Budua (der südlichsten ^Kroatien""
Spitze Dalmatiens) und auch in Kroatien und Slawonien zahlreiche Lieb-
14*
2 12 Matthias Murko : Die südslawischen Literaturen.
haber des klassischen Altertums, die häufig unmittelbare Schüler der her-
vorragendsten italienischen Humanisten waren und sich auch die Würde
eines poeta laureatus aus Italien geholt hatten; viele von ihnen wirkten
wenigstens vorübergehend als Professoren und Rektoren in Italien, selbst
die Sorbonne, I.öwen und deutsche Universitäten (Matthias Garbitius Illy-
ricus in Tübingen) hatten südslawische Lehrer; die Humanisten, deren sich
der ungarische König Matthias Corvinus für seine wissenschaftlichen Be-
strebungen bediente, stammten meist aus Dalmatien und Kroatien. Über-
haupt finden wir Südslawen (auch aus Bosnien) auf verschiedenen Gebieten
des staatlichen Lebens, der Wissenschaft und Kunst zu Hause und in der
Fremde in hervorragender Weise tätig; sogar der Verfasser der ersten
italienischen Grammatik (15 16), Fortunio, war ein dalmatinischer „Schia-
vone". Naturgemäß waren namentlich die ersten Vertreter der Türken-
literatur Südslawen, von denen der bedeutendste, Bartholomäus Georgijevic,
aus dem südwestlichen Kroatien stammte. Auf ihre „illyrische" (die
Wiederbelebung dieses und anderer klassischen Namen beginnt im
1 5. Jahrhundert und geht auf die Humanisten zurück) Herkunft waren die
meisten Humanisten stolz; manche wollten echte Nachkommen der Römer
sein und den „scythicus sermo" ihrer Vaterstadt verdrängen, wie der
Ragusaner Aelius Lampridius Cerva (1463 — 1520), der als Schüler des
Julius Pomponius Laetus im 22. Lebensjahre in Rom zum Dichter gekrönt
wurde und unter dem Beifall der Kardinäle die Komödien des Plautus
erklärte; viele brachten aber der einheimischen Sprache und Volksliteratur
große Liebe entgegen, wie Georgius Sisgoreus aus Sebenico, der die
Silvae des Statins vor Poliziano nachahmte und uns eine begeisterte
Schilderung der slawischen Volkslieder und Gebräuche hinterließ (De situ
Illyriae et civitate Sibenici a. 1487); andere schrieben lateinisch und sla-
wisch, ja es gibt Dichter und Schriftsteller, die sich überdies noch der
italienischen Sprache bedienten.
Der Humanismus bekam zwar durch die Jesuiten und andere Ordens-
schulen einen anderen Inhalt, doch behauptete sich die lateinische Sprache
in Dalmatien und Kroatien sogar als Organ der Poesie bis ins iq. Jahr-
hundert viel zäher als anderswo. Ragusa lieferte noch im 1 8. Jahrhundert
einen würdigen Schüler des Lukrez, Benedikt Stay, der die Philosophie
des Cartesius (erste Ausgabe 1744) und Newtons (1755, vollendet 17Q2)
in Verse brachte, und während Voß den Homer verdeutschte, übertrugen
die Ragusaner R. Kunic die Ilias und B. Zamagna die Odyssee noch ein-
mal in die lateinische Sprache; diese Übersetzungen, wie die anderer
griechischer Dichter, erfreuen sich allerdings der Wertschätzung der
Philologen. Eine Gesamtdarstellung des südslawischen Humanismus wäre
eine verdienstvolle Tat und die Agramer Akademie wird ihren „alten
kroatischen Srhriftstollern" wohl bald eine Sammlung „Scriptores latini
Slavorum meridionalium" hinzufügen müssen, denn namentlich die poetischen
Leistungen der älteren Humanisten sind meist nur in Handschriften zerstreut.
B. Die Literatur in den Nationalsprachen. I. Ältere Periode. 2 1 3
Als „Vater der kroatischen Literatur" wird der Spalatiner Marko Anfanger der
'Kunstdichtung
Marulic gepriesen, dessen lipos Judita 1501 vollendet und 1521 zum in SpaUto.
erstenmal gedruckt wurde; doch beruft sich er selbst auf Vorgänger, und
mittelalterliche Kirchengesänge wurden schon erwähnt. Marulic war ein
Polyhistor, der durch seine moralphilosophischen Schriften, besonders
durch das Werk „De institutione bene beateque vivendi" (gedruckt 1511
und noch neunmal, übersetzt ins Deutsche, Französische, Italienische,
Spanische und Böhmische) einen Weltruf genoß. Seiner Gesinnung nach
steckt er noch im Mittelalter als tief fühlender Mystiker, während er in
seinen kroatischen Gedichten als trefflicher Realist erscheint, also eine
echt slaw'ische Mischung repräsentiert. Die biblische Geschichte der
Judith (ebenso die der Susanna) „schmückte" er (nach eigenem Geständnis)
durch zahlreiche gelungene Zusätze aus und gab ihr eine antitürkische
Tendenz (das erste deutsche Drama dieser Art erschien 1544). Den In-
halt seiner lateinischen Werke gab er durch populäre slawische Gedichte
wieder, die zum Teil direkt für seine Schwester und andere Nonnen des
Benediktinerinnenklosters in Trau bestimmt waren. Daneben dichtete er
aber schon recht lustige Faschingsscherze (Contrasti).
Zur Zeit Marulics gab es in Spalato und Trau schon geistliche Geistliche
Schauspiele, meist Übersetzungen italienischer Rappresentazioni (slawisch
prikazanja); einfachere Mysterien dürften älter sein und aus mehr nörd-
lichen Gebieten stammen. Besonders gepflegt wurde das geistliche Schau-
spiel noch im 1 7. Jahrhundert auf Lesina, wo es nicht wie in Italien für
Höfe, sondern für das Volk bestimmt war, für dessen Felder und Wein-
gärten der Engel im Epilog Gottes Segen erbittet. In Ragusa zeigt da-
gegen die Bearbeitung ähnlicher biblischer Stoffe schon zu Beginn des
1 6. Jahrhunderts den Charakter des Kunstdramas.
Einen Abklatsch der Liebeslyrik der Ritter der Provence finden wir Troubadoure in
am Ausgang des Mittelalters auch in Dalmatien. Dem Ende des 15. Jahr-
hunderts gehören noch die „ersten Sänger" von Ragusa an, Sisko Men-
cetic(i457— 1527) und Gjore Drzic, echte Troubadoure (nicht Petrarchisten),
deren formvollendete und geschmeidige Sprache jedoch schon eine längere
Vorbereitungsperiode voraussetzt. Ähnlich müssen die Verhältnisse auch
in anderen Städten gewesen sein, denn Dichternamen werden mehrfach
auch aus Oberdalmatien überliefert, und auf Lesina finden wir einen her-
vorragenden Petrarchisten, H. Lucic, dessen Dichtungen 1505 — 1515 in
Trau entstanden sind. Natürlich nimmt sich die Ritterpoesie im Munde
des ragusanischen Patriziers und Bürgers — die beiden Dioskuren sind
auch ihrem Stande nach vorbildlich für die übrigen Dichter Ragusas —
noch sonderbarer aus als an den italienischen Höfen. Auf dieser Grundlage
und unter dem Einfluß Petrarcas entwickelte sich die Liebeslyrik in Ragusa
weiter, bekommt dann einen klassizistischen Einschlag und findet in Dinko
Ranjina, dessen „Verschiedene Lieder" 1563 in Florenz erschienen, und in
Dinko Zlataric Vertreter, die schon ganz den klassischen Mustern folgen.
214
Matthias Muuko: Die südslawischen Literatui-
Die daiuiati- Einen ähnlichen Entwicklungsgang finden wir auf allen übrigen Ge-
lische Literatur bieten. Beachteuswert ist es, wie früh die bedeutendsten Muster in Dal-
rnatien Nachahmung fanden. So kam die Karnevalsdichtung aus Florenz
gleich nach Ragusa, Sannazaros Arcadia (1502) wurde von dem Zaratiner
Zoranic in den Planinc (1536) früher nachgeahmt als in irgend einer
Literatur, Torquato Tassos Schäferspiel Aminta wurde in einer gelungenen
Übersetzung (unter dem Titel Ljubmir) des Ragusaners Dinko Zlataric
ein Jahr früher gedruckt (1580) als das Original, auch Guarinis Pastor fido
wurde zum erstenmal bereits 1592 von dem Ragusaner Lukarevic über-
setzt. Daneben bemerken wir aber in der dalmatinischen Renaissance
auch einen starken Konservatismus, der sich namentlich in der Form
äußert. Die Kunstdichtung beginnt mit dem bereits aus den Kirchen-
gesängen bekannten, durch paarweise Binnen- und Endreime den Dichter
beengenden Zwölfsilber, dessen Herkunft noch nicht klargestellt ist, und
mit dem Achtsilber (der Rhythmus ist in beiden überwiegend trochäisch),
die fast alleinherrschend blieben, auch in den Übersetzungen aus dem
Italienischen. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß auch andere
Verse (vom Fünf- bis Sechzehnsilber), Reimstellungen und künstliche
Strophenformen vorkommen, sogar in den volkstümlichen geistlichen
Schauspielen.
Die dalmatinischen Schüler der Italiener haben ihre Eigenart in der
Poesie stark zur Geltung gebracht und übertreffen ihre Lehrer häufig
durch erfreulichen Realismus und Humor. So schrieb gleich zu Beginn
des 16. Jahrhunderts der Ragusaner Goldschmied A. Cubranovic ein oft
nachgeahmtes Faschingsgedicht Jegjiipka (Agj-pterin = Zigeunerin), die
mit dem italienischen Muster nur den äußeren Rahmen gemeinsam hat,
sonst aber ungleich schöner ausgefallen ist und eine ragusanischen Frauen
weissagende echte Zigeunerin darstellt, die der Dichter zuletzt dazu be-
nutzt, um der von ihm angebeteten Frau die Liebe zu erklären. Ebenso
überragt P. Hektorovic (aus Lesina) mit seinem Ribai/jc (gedruckt 1568)
die italienischen Fischeridyllen durch lebenswahre Schilderung dreier mit
Fischern zugebrachter Tage, aus deren Munde er die ersten Volkslieder
(sogar mit Noten) aufgezeichnet hat. Die Schäferspiele wurden in Ragusa
aus Tragödien zu Komödien, die sich durch humoristischen Realismus aus-
zeichnen und im Hirtenkostüm die Liebesdichtung geradezu persiflieren.
Die höchste Stufe erreichte hierin Marin Drzic, wohl der bedeutendste
Dichter Ragusas im 16. Jahrhundert, der auch als Nachahmer der plauti-
nischen Komödie, in welcher er den Dienern die Hauptrolle im Gegen-
satz zu den Italienern wiedergab, den damaligen italienischen Komödien-
dichtern durchaus gewachsen war. In keiner italienischen Stadt, selbst
nicht in Florenz und Venedig, finden wir eine solche Fülle von lokalen
Anspielungen. Auf diese Weise wurden sogar in Übersetzungen nicht
bloß die Namen nationalisiert.
Dagegen konnte der auf das Positive gerichtete Sinn der Dalmatiner
B. Die Literatur in den Nationalsprachen. I. Altere Periode. 2 1 5
Dantes Adlerflug- in die Höhen dichterischer Phantasie nicht mitmachen.
Immerhin verdient Beachtung das allegorische Epos Pclegrin, eine Dar-
stellung des Menschen in den drei Zuständen der Sünde, Besserung und
Vervollkommnung, des Ragusaner Benediktiners Mavro Vetranic, einer
vielseitigen dichterischen Individualität, eines Zeitgenossen der ersten
Troubadoure, dem aber das klassische Altertum bereits eine unerschöpf-
liche Quelle der Poesie bot. Auffällig ist auch der mosaikartige Charakter
mancher Nachahmungen (z. B. Zoranics Planine), worin aber die Italiener
ebenfalls als Muster dienten. In der pseudoklassischen Tragödie blieben
die Ragusaner allzusehr von ihnen abhängig-.
Das 17. Jahrhundert, das schon stark von der jesuitischen Schul-
bildung und dem Marinismus beeinflußt war, gab dem Slawentum den
größten Dichter vor dem 19. Jahrhundert in dem Ragusaner Ivan Gun-
dulic {1588 — 1638). Besonderen Ruhm sicherte er sich durch das letzte
und beste Hirtenspiel Diibravka (1628), das einen Hymnus auf die Frei-
heit Ragusas bildet. Die reiche dalmatinische Türkenliteratur erreichte
den Höhepunkt in seinem christlichen romantischen Epos Osmrii, das
dem Ideal eines solchen näher steht als sein Vorbild, Tassos „Befreites
Jerusalem". Der auch mit der südslawischen Volkspoesie genau vertraute
Dichter gibt im knappen achtsilbigen Metrum eine historisch wahre und
psychologisch tiefe , ungemein poetische Schilderung der Niederlage
Osmans bei Chocim (162 1) durch den polnischen Königssohn Vladislav
und seines darauffolgenden Sturzes. Der strenge Katholik, bei dem die
Liebe eines christlichen Helden zu einer Heidin ausgeschlossen war, hat
den türkischen Geist so tief aufgefaßt, wie kein Dichter vor und wenige
nach ihm. Auch in dem Urteil über den Untergang Griechenlands steht
er viel höher als Tasso.
Ein Nachfolger Gundulics ist Gjon Palmotic (1606 — 1657), der als
der fruchtbarste ragusanische Dramatiker hervorragt und noch mehr durch
seine Krisfijiidi:, eine auf die Hebung der religiösen Gefühle berechnete
Nachdichtung der humanistischen Christias des M.H.Vida, berühmt geworden
ist. Der letzte große Dichter Ragusas ist Ignjat Gjorgjic (1675 — 1737)'
ursprünglich Jesuit, dann Benediktiner, der vorher Liebeslieder gesungen
hatte und dann die fast bei allen Dichtern obligate religiöse Lyrik durch
seine „Seufzer der Büßerin Magdalena" und seine Nachdichtung des
ganzen Psalters würdig abgeschlossen hat. Sein Spottlied „Marunko" ist
ein gelungenes Beispiel der heroisch-komischen Dichtung. Er führte die
Ballade in Ragusa ein und gebrauchte zuerst die Muttersprache für
wissenschaftliche Prosa, in der man sich immer der lateinischen oder
italienischen Sprache bediente.
Viel stärker machte sich im 17. und 18. Jahrhundert der Geist der Wirkungende
, Gegenreforraa
Gegenreformation in der Poesie des übrigen Dalmatien geltend, obgleich tion.
sie unter dem Einfluß Ragnsas stand. So dichtete der Curzolaner P. Kana-
velic eine religiös-romantische Epopöe von monströsem Umfang über das
2i5 Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
Leben des heiligen Ivan von Trau; der Spalatiner J. Kavanjin be-
handelte in ähnlicher Weise die Geschichte vom armen Lazarus mit vielen
Exkursen über kroatische Könige und Helden. Umdichtungen von Legenden,
theologische Erbauungsschriften und Psalmen finden wir außerhalb Spalatos
noch auf Brazza, Lissa und in Sebenico. Auch geistliche Schauspiele sind
aus verschiedenen Orten bezeugt. Weltliche Dichtungen über das Erd-
beben von Ragusa und die Befreiung Wiens, sowie zu Ehren des Polen-
königs Johann Sobieski und des Prinzen Eugen von Savoyen haben nur
historischen Wert. Den Helden von Siget, Nikola Zrinjski, besang schon
1584 (nach 18 Jahren!) der Zaratiner B. Karnarutic, der im 17. und
18. Jahrhundert einige Nachfolger im Barockstil fand.
Aus denselben Ursachen wie in Italien folgte auch in Dalmatien der
Renaissance ein geistiger Rückgang; er wurde nur noch verstärkt durch
die Italianisierung der venezianischen Städte, namentlich aber durch die
Vernichtung des Wohlstandes Ragusas, das sich von dem großen Erd-
beben 1667 nie mehr erholen und die Konkurrenz mit den großen abend-
ländischen Handelsstaaten nicht aushalten konnte. Iminerhin wirkten in
Ragusa die guten literarischen Traditionen bis ins ly. Jahrhundert fort;
schon in der ersten Hälfte des i8. Jahrhunderts wurden daselbst fast alle
Stücke Molieres in Prosa übersetzt, beziehungsweise bearbeitet und stark
lokalisiert; ebenso wählte man auch später die besten Werke der fran-
zösischen und italienischen Dramatik, während selbst Agram noch kein
Theater hatte oder sich mit Bearbeitungen untergeordneter deutscher
Stücke begnügte.
Die unmittelbaren Wirkungen der dalmatinisch-ragusanischen Literatur
waren durch die politischen Verhältnisse auf ein enges Gebiet beschränkt.
Überdies wurden ihre Werke zum großen Teil bis ins i8. Jahrhundert nur
handschriftlich verbreitet, und gerade einige der besten blieben ungedruckt
(z. B. Gundulics Osman erschien ganz erst 182b). Daran war vor allem
der Umstand schuld, daß es in ganz Dalmatien noch keine Druckerei gab;
Venedig hinderte in seinen Gebieten diese und andere Bildungsmittel aus
egoistischen Gründen, Ragusa wälzte aber die Verantwortlichkeit für die
Zensur vor dem türkischen Suzerän von sich ab und ließ seine Bücher,
die den Türken häufig nicht genehm sein konnten, in Italien drucken.
Berechnet war aber diese Literatur für alle Südslawen, speziell für die
auf dem Balkan, von dem namentlich die Ragusaner Handelsleute sehr gute
Vorstellungen hatten ; in der Tat übte sie auf Bosnien, Kroatien, Slawonien,
ja sogar auf weiter im Osten gelegene Gebiete eine viel größere Wirkung
aus, als man gewöhnlich meint, und die Periode der „kroatischen Wieder-
geburt" oder des „lUyrismus" im ly. Jahrhundert beruht zum größten Teil
auf ihr. In dieser südslawischen Kunstdichtung begegnen wir aber auch
allerdings unklaren panslawistischen Anschauungen, wie sie bei den übrigen
Slawen jener Zeit nur in Chroniken und lexikalisch-grammatischen Arbeiten
vorkommen. Und nicht genug kann die in der romantischen Begeisterung-
B. Die Literatur in den Nationalsprachcn. I. Altere Periode. 2 17
tiir das Volkstum ganz übersehene Tatsache betont werden, daß die hohe
geistige Kultur der dalmatinischen Städte den größten Einfluß auf die
gesamte mündliche Volksliteratur der Südslawen ausgeübt, wie umgekehrt
die Kunstdichtung von ihr sehr viele Elemente angenommen hat;
Wie überall wirkte auch bei den Südslawen die Reformation belebend Kc.tormation.
auf die Nationalsprachen, ja die Slowenen, die seit dem lo. Jahrhundert
wieder im 15. kleine sprachliche Denkmäler aufzuweisen haben, verdanken
ihr die Begründung ihrer („neuslowenischen") Schriftsprache und Literatur.
Dank den starken Beziehungen der innerösteri;eichischen Länder zu
Deutschland fand die neue Lehre auch auf slowenischem Sprachboden
große Anhängerschaft unter dem Adel, in den Städten und bei der niederen
Geistlichkeit. Zu ihrer Befestigung und Weiterverbreitung bediente man
sich der Volkssprache. Der Prediger Primus Trüber (geb. 1508 in
Rasica in Unterkrain, starb als Pfarrer von Derendingen in Württern- ,
berg 1586) flüchtete aus Laibach nach Württemberg (1548), wo er unter
Patronanz seines Landsmannes Michael Tiffernus, des Kanzlers des Herzogs
Christoph, und des kroatischen Humanisten Matthias Garbitius lUyricus ein
Abecedarium und einen Katechismus mit Erklärungen in Versen drucken
konnte (1550, nur diese in deutscher Schrift, alle späteren in der latei-
nischen). Die Mittel für die Fortsetzung dieses Werkes sammelte Peter
Paul Vergerius, der gewesene Bischof von Capodistria, dann nahmen sich
der Sache die Stände von Steiermark, Kärnten und Krain und mit be-
sonderem Eifer der gewesene steirische Landeshauptmann Baron Johann
Ungnad aus Kärnten an, der in Urach und Tübingen eine Druckerei für
südslawische Bücher, speziell auch für glagolitische und cyrillische, er-
richtete. Die slowenischen Protestanten wollten nämlich mit Unterstützung-
deutscher Fürsten und Städte nicht bloß die katholischen und orthodoxen
Kroaten, Serben und Bulgaren, sondern auch die konnationalen „Türken"
auf dem ganzen Balkan bekehren.
Den Slowenen brachte diese Bewegung einzelne Bücher der Heiligen pie protestan-
Schrift, Kirchenordnungen, Katechismen, Postillen (Spangenberg, Luther), der Slowenen.
geistliche Gesangbücher, den ersten Kalender, das ganze Neue Testament
(1582) von Trüber, die ganze Bibel „aus den Brunnquellen der Original-
sprachen" von Georg Dalmatin, die erste Grammatik (Arcticae horulae,
beide Wittenberg 1584) mit einem weiten Ausblick über die slawischen
Sprachen von Adam Bohoric, einem Schüler Melanchthons, und das
erste Wörterbuch des deutschen Historiographen Hieronymus Megiser
(Dictionarium quattuor linguarum, Graz 1592). Unter die geistlichen
Lieder fanden auch katholische und volkstümliche Aufnahme, Spottlieder
gegen die katholische Geistlichkeit werden erwähnt, Anfänge weltlicher
Poesie findet man in dem letzten, ebenfalls in Tübingen gedruckten
Buche (1595), in J. Snojlsiks Übersetzung des Llitherschen Katechismus
des Philipp Barbatus. Um 1600 war die Gegenreformation unter den
Slowenen schon durchgeführt, eine große Menge Bücher wurden in diesem
2i8 Matthias Mirko: Die südslawischen Literaturen.
und im folgenden Jahre verbrannt. Sogar Bohorics Grammatik wurde
verboten, nur die Bibel Dalmatins durften Geistliche mit besonderer Be-
willigaing gebrauchen. Dadurch eigneten sich auch alle katholischen
Schriftsteller die protestantischen Grundlagen der aus Unterkrain stam-
menden Schriftsprache an. Ein Katechismus des Cisterciensers Leonhard
Pachenecker erschien schon 1574 in Graz.
Die protestanti. Nur propagandistischen Zwecken dienten auch die in Urach und
für die Kroaten Tübingen mit latciulscher, glagolitischer und cyrillischer Schrift gedruckten
serbokroatischen Bücher (1561 — 1564), darunter das Neue Testament (glago-
litisch 1562, cyrillisch 1563). Die Leitung hatte Trüber, die eigentlichen
Arbeiter waren Anton Dalmatin und Stefan Konzul aus Istrien, die
aber seinen Intentionen, die Bücher der großen Mehrzahl der Kroaten und
Serben verständlich zu machen, nicht entsprachen, denn sie legten auch den
cyrillischen Texten die glagolitischen mit ihren nordwestlichen Lokalismen
zugrunde. Ihre Übersetzung ist überdies keineswegs einheitlich, denn sie
bedienten sich des lateinisch gedruckten, volkstümlichen Lektionars und
des kirchenslawischen Missais, die fehlenden Teile übertrugen sie aus der
Vulgata mit Hilfe der slowenischen Übersetzung Trubers. Einige prote-
stantische Drucke wurden auch in Nedeljisce auf der Murinsel (südwest-
liches Ungarn) hergestellt. Diese ganze Tätigkeit hatte jedoch selbst bei
den Kroaten keinen unmittelbaren Erfolg, obwohl die Reformation bei
ihnen viele offene und geheime Anhänger, namentlich in den humanisti-
schen Kreisen, hatte und die deutsche Kirche einen ihrer bedeutendsten
und streitbarsten Theologen, Matthias Flacius Illyricus, aus Istrien erhielt.
GcBcii- Die literarische Tätigkeit der Gegenreformation beschränkte sich bei
den Slowenen auf umfangreiche Predigtensammlungen und Erbauungs-
schriften. Nur geistliche Schauspiele werden aus Krain und auch aus
Steiermark (bei den Jesuiten in Maria Rast bei Marburg" um ijotj) bezeugt.
Auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft erhielt jedoch Krain sehr
viele Anregungen aus Italien; z. B. gab es italienische Opern Vorstellungen
in Laibach zehn Jahre früher als in Paris. Ein treues Bild des damaligen
slowenischen Volkslebens hinterließ J. W. Valvasor in seiner „Ehre des
Herzogtums Krain" (1689).
Bedeutend waren dagegen die Wirkungen der Gegenreformation bei
den übrigen Südslawen, denn Rom selbst nahm die Durchführung der
entsprechenden Beschlüsse des Tridentinischen Konzils in Angriff, um die
slawischen Bücher der Häretiker zu paralysieren, den Katholizismus in
der Türkei zu stärken und die „Schismatiker" in den venezianischen, öster-
reichischen und türkischen Provinzen zu gewinnen. Zu diesem Zwecke
wurden besondere illyrische Kollegien zur Heranbildung der Geistlichkeit
in Rom, Loretto, Bologna gegründet (die Ordensgeistlichkeit bekam ohnehin
die höhere Bildung meist in Italien), die Propaganda förderte oder besorgte
selbst die Herausgabe der entsprechenden Bücher in lateinischer, glagoli-
tischer und cyrillischer Schrift (seit 1582) und schickte tüchtig geschulte
B. Die Literatur in den Nationalsprachen. I. Ältere Periode. 2 IQ
Missionäre und Visitatoren in die türkischen Provinzen. Im Vordergrunde
stehen auch hier die Jesuiten, die namentUch aus ihrer Niederlassung in
Ragusa, gegen die sich der Senat lange wehrte, einen Angelpunkt zur
Wiedergewinnung des Balkans machen wollten. In Ragusa fanden sich
sogar Politiker, welche meinten, daß wie im Okzident die römische im
.slawischen Grient die ragusanische Sprache herrschen sollte. Diese uni-
versalen Bestrebungen der katholischen Kirche trugen auch wesentlich
zur Einheit der serbokroatischen Schriftsprache bei; denn wie in Süd-
deutschland die Jesuiten Luthers Sprache in ihren Schulen lehrten, so
wählten sie auch im slawischen Süden den am meisten verbreiteten Dialekt,
den schon der erste Grammatiker B. Kasic (Cassius: Institutionum linguae
illyricae libri duo, Romae 1604), ein Jesuit von der Insel Pago, in Bosnien
suchte, worin ihm andere Grammatiker und die Lexikographen (darunter
waren Micalia und Dellabella gebürtige Italiener), sowie viele Schrift-
steller (namentlich Gj. Palmotic) auch in der Praxis folgten, die alle den
bosnischen Dialekt für den schönsten hielten; gebildete Männer mußten
allerdings an den zahlreichen Italianismen und Latinismen der dalma-
tinischen Städte Anstoß nehmen und an der eigenartigen, jedoch von tür-
kischen Elementen nicht freien Volkssprache des Binnenlandes ihre Freude
haben. Auf diese Weise gewinnen auch die cyrillisch und lateinisch (in
diesem Alphabet zuerst 16 13) gedruckten Erbauungsschriften der bosnischen
Franziskaner erhöhte Bedeutung. Da überdies die meisten Südslawen
in der Türkei vereinigt waren, so gelangte die Literatur der adriatischen
Küstengebiete und Bosniens nach Slawonien, das noch nach seiner Be-
freiung (169g) der bosnischen Franziskanerprovinz bis 1757 angehörte, nach
Südungarn und selbst bis nach Bulgarien, wo in den Missionsschulen die-
selben „illyrischen" Bücher gebraucht wurden. Sogar einheimische Schrift-
steller in serbokroatischer Sprache hat Bulgarien aufzuweisen (P. Baksic,
K. Pejkic, F. Stanislavov). Bezüglich der Volkssprache machte Rom
sogar auf rituellem Gebiete den Katholiken weitgehende Konzessionen,
wie Ritual rimski des erwähnten Jesuiten Kasic (Rom 1640) beweist, weil
viele Geistliche der lateinischen Sprache nicht genügend mächtig waren.
Nur eine verkehrte Maßregel hatten die Unionsbestrebungen Roms zur
Folge, denn ihnen zuliebe wurden die glagolitischen Kirchenbücher russi-
fiziert (seit 1648, am stärksten das Missale von 1741; erst 1893 wurde
unter Leo XIII. die kroatische Redaktion wiederhergestellt).
Etwas abseits und zum Teil im Zusammenhang mit Ungarn stand die
Literatur dieser Periode in den Resten Kroatiens. Unter den Dichtern
finden wir zwei historische Persönlichkeiten, die beiden in Wiener
Neustadt 1671 hingerichteten kroatischen Magnaten, den Banus Grafen
Peter Zrinjski, der in seiner Gedichtsammlung „Adrianskoga mora
Sirena" auch eine „Belagerung Sigets", eine Paraphrase des magyarischen
Epos seines Bruders Nikolaus, hinterließ, und seinen Schwager Franz
K. Frankopan, der noch im Kerker verschiedene Lieder sang. Zrinjskis
2 20 Matthias Murko: Die südslawischen Literaluren.
ehrgeizige Gemahlin Katharina ist auch die erste bekannte Schriftstellerin
(von den Gedichten der von den Zeitgenossen viel gefeierten Flora Zuzoric
aus Ragusa ist nichts erhalten), die ihren „Reisegefährten" (Venedig 1661)
aus patriotischem Gram, daß es so wenige kroatische Bücher gäbe, drucken
ließ. Kroatien hat beachtenswerte lexikographische (Habdelic, Belostenec,
J&mbresic) und historische Arbeiten aufzuweisen.
A Kacic. Eine merkwürdige Blüte trieb das Interesse für vaterländische Ge-
. schichte in dem Razgovo'r iigodni naroda sloviiiskoga (die älteste bekannte
Ausgabe 1759, die angeblich zweite ist für 1756 bezeugt) des Franzis-
kaners Andrija Kacic-Miosic aus der Umgebung von Makarska in
Dalmatien, der seinem Volke, das lateinische und italienische historische
Werke nicht lesen konnte, die Taten der „slawischen Helden" ganz im
Stile des serbokroatischen Volksepos besang, auch einige echte Volks-
lieder aufnahm (vor Percy!) und dadurch eines der bis auf den heutigen
Tag gelesensten Volksbücher schuf, aus dem die Welt durch die Über-
setzungen Herders die ersten Vorstellungen von der südslawischen Volks-
poesie erhielt.
Anfänge Jes Als in Österreich noch die Ideen der Gegenreformation herrschten,
Westeuropa!-
sehen Kultur- wurdcn die Serbischen Ansiedlungen im östlichen Slawonien und südlichen
Serben. Ungam durch die große Einwanderung der Serben unter dem Patriarchen
von Pec, Arsenije Camojevic, der mit den sich zurückziehenden kaiser-
lichen Truppen gemeinsame Sache gemacht hatte, verstärkt und erhielten
eine kirchlich nationale Autonomie (1690); der Metropolit (seit 1848 Patriarch)
dieser neuen serbischen autokephalen Kirche nahm seinen Sitz in Karlo-
witz. Vorübergehend kam noch Serbien bis Nis unter österreichische
Verwaltung (17 18 — 1739). Auf diese Weise traten die Serben mit dem
europäischen Kulturleben in Berührung und mußten nun auf die Sicherung
ihrer Religion und Nationalität, die identische Begriffe waren, bedacht
sein. Da man für ihre geistigen Bedürfnisse nicht rechtzeitig zu sorgen
verstand (die erste Druckerei wurde erst 1771 in Wien bewilligt) und sie
durch Unionsbestrebungen kopfscheu machte, so blieben ihre Blicke auch
in Österreich auf das glaubensverwandte Rußland gerichtet. An die Kar-
lowitzer Lateinschule kam 1726 Maksim Suvorov aus Moskau mit russisch-
kirchenslawischen Lehrbüchern, 1733 wurden fünf Lehrer aus Kiew be-
rufen. So wurde die lateinisch-polnische Scholastik der Kleinrussen auch
zu den Serben gebracht, und in den Jahren 1730 — 1740 wurde die „slaweno-
serbische Sprache", ein kirchenslawisch-russisch-serbisches Gemisch, be-
gründet, das einer normalen Entwicklung der serbischen Literatur so viele
Hindemisse bereitete. Auch die Anfänge der Kunstdichtung weisen pol-
nisch-russische syUabische (13) Verse auf.
Das zeiuuer O. Modcmc Periode. Fortan nimmt Österreich einen ent-
scheidenden Einfluß auf die kulturelle Entwicklung der Südslawen und
mit dem Steigen seines geistigen Niveaus im Aufklärungszeitalter be-
R. Die Literatur in den Nationalsprachen. II. Moderne Periode. 22 1
ginnt auch bei ihnen neues Leben. Die auf die materielle und morali-
sche Hebung des Volkes berechneten Maßregeln der Kaiserin Maria
Theresia und Josefs II. mußte man den breiten Schichten mundgerecht
machen, und so wurden zahlreiche volkswirtschaftliche und medizinische
Schriften, Katechismen und allerlei andere Lehrbücher von der Regie-
rung selbst in der Volkssprache herausgegeben oder wenigstens von
ihr angeregt. Das Germanisierungssystem schuf also eine bei den Süd-
slawen bis dahin fast unbekannte Literatur. Natürlich stellten sich die
daran beteiligten Männer, von denen viele große Bewunderer Josefs IT.
waren, auch höhere Aufgaben, um so mehr, als die literarische Pro-
duktion Wiens den Provinzen ein gutes Beispiel bot. Übrigens bezog
man die Aufklärungsphilosophie und ihre Literatur durch österreichische
Vermittlung nicht bloß aus Deutschland, sondern auch direkt aus Frank-
reich und zum Teil über Italien. Die französische Herrschaft in Dalmatien
und dann in den „illyrischen Provinzen" (1809 — 1813) wirkte nur auf die
Slowenen belebend, die patriarchalischen Kroaten und Serben hatten für
ihre Ideen wenig Verständnis. Die Literatur der Slowenen, in Kroatien
und Slawonien sowie bei den österreichischen Serben hat daher in der
zweiten Hälfte des 18. und zu Anfang des iq. Jahrhunderts sehr viele ge-
meinsame Züge, was namentlich durch Übersetzungen und Bearbeitungen
derselben Werke zum Ausdruck kommt.
Die Slowenen erhielten die Anfänge der Kunstpoesie im Laibacher nei
Almanach „Pisanice" (1779 — 1781), in dem man noch zwischen quanti-
tierender und akzentuierender Metrik schwankte, vortrefflich lokalisierte
Übersetzungen zweier Lustspiele, die von den Dilettanten der besten
Stände in Laibach 1789 aufgeführt wurden, darunter Beaumarchais' „Hoch-
zeit des Figaro" (gedruckt 1790), den Vorboten der französischen Revo-
lution, von dem Historiker A. Linhart, den ersten Dichter V. Vodnik
(1758 — 181 9), einen Anakreontiker im Volkston, von ihm die erste Zeitung
(1797 — 1800), eine katholische Übersetzung der Bibel (1784 — 1802) von
J. Japelj und B. Kumerdej. Diese und andere Männer versammelte
der hochgebildete Baron Sigismund Zois um sich, der auch Vodnik
die Weisung gab, „im Volkstone und fürs Volk" zu schreiben. An diesem
kleinen Beispiel sieht man es besonders deutlich, wie sehr „die Wieder-
geburt" der slawischen Völker schon ins 18. Jahrhundert fällt.
Bei den Kroaten steht Slawonien mit einigen aus der Lika in Bei de
Kroatien stammenden Schriftstellern im Vordergrunde. Die charakte-
ristischeste Erscheinung ist der Grenzeroffizier Matija Reljkovic, der die
im Siebenjährigen Kriege in Preußen (als Gefangener in Frankfurt a. O.)
und Sachsen gesammelten Erfahrungen dazu benützte, um seinen slawo-
nischen Landsleuten im Safir (Dresden 1761) ein Bild vorzuhalten, wie sie
sind und sein sollten. Das mit großem Erfolg und starker Polemik aufge-
nommene Werk schrieb er im Metrum (zehnsilbig) und Stil der serbo-
kroatischen Volkspoesie, „weil alle meine Landsleute Sänger und von
2 22 Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
Natur Dichter sind". Für die epischen Zustände seines Volkes war er
jedoch durchaus nicht begeistert, denn in den Unterhaltungen der Spinn-
stube, in nachbarlichen Zusammenkünften und im Kolotanz erblickt er
Reste der Türkenherrschaft, und von den Volksliedern nennt er die über
den Lieblingshelden des Volkes Kraljevic Marko ausdrücklich „nichtsnutz".
Ebenso eifert er gegen andere Sitten und Gebräuche, die von den Roman-
tikern des 19. Jahrhunderts als Nationalheiligtümer betrachtet wurden, und
gibt z. B. ganz nüchterne Vorschriften über Hochzeiten. In der zweiten
Auflage (1779) konnte er seinen Slawoniern nachrühmen, daß sie sich
schon manchen Fortschritt angeeignet haben. Außerdem veröffentlichte
er eine populäre Darstellung des Naturrechtes, eine Sammlung („Allerlei")
moralphilosophischcr Aufsätze, Fabeln des Bilpai (aus dem Französischen) und
Äsops, eine Schrift über die Schafzucht und eine slawonisch-deutsche
Grammatik. In einem pseudoklassischen Epos verherrlichte Jos. Krmpotic
Josefs II. Reise in die Krim, verschiedene Episoden seines Türkenkrieges
und heldenmütige Offiziere fanden aber Sänger im Stile der Volkspoesie.
Auch der gelehrte Archäologe P. Katancic schlägt in seinen pseudo-
klassischen Oden und Idj'llen starke nationale Töne an.
Bei den Serben. Besonders eifrig waren im Herausgeben von Büchern die Serben, die
viel nachzuholen hatten und zur Belehrung ihres Volkes auch deshalb
mehr Übersetzungen und Bearbeitungen lieferten, weil bei ihnen die
Kenntnis der lateinischen und deutschen Sprache weniger verbreitet war.
Und dieses Volk, das noch ganz in einer orientalischen religiösen Exklu-
sivität lebte, brachte den radikalsten Vertreter der Aufklärungsideen unter
D. obradovir. den Südslawcu hervor, Dositije Obradovic (1739 oder 1744 — 1811).
Nach dreijährigem Aufenthalt in dem Kloster Hopovo (Syrmien), in dem
er sich unter sehr weltlichen Mönchen der strengsten Askese befleißigte,
floh er (1760), von Wissensdurst getrieben, in die Welt, um sich als „ser-
bischer Anacharsis" seine Bildung aus ganz Europa, hauptsächlich aus
W^ien und von der Universität Halle zu holen und sie als popularisierender
Schriftsteller und zuletzt als Erzieher der Söhne Karagjorgjes und als
erster Verweser des serbischen Unterrichtswesens zu verwerten. 1783 er-
schien in Leipzig seine Autobiographie (2ivot i prikljucenija), ein durch
Inhalt und Form revolutionäres Buch, ergänzt durch die Briefe (1788), die
zusammen zu den intimsten Bekenntnissen des 18. Jahrhunderts gehören.
In diesen und in anderen Werken (die wichtigsten: Ratschläge der ge-
sunden Vernunft, Fabeln, Sammlung moralischer Belehrungen, Ethik des
Italieners Soave) steht er nicht bloß auf dem Standpunkt der Aufklärungs-
philosophie, sondern häufig auf dem der protestantischen Theologie, ist
ein Kosmopolit, obwohl ihm der „Nationalstolz'' nicht fremd blieb, und
predigt religiöse Toleranz, namentlich gegenüber den Katholiken und
mohammedanischen Brüdern derselben Sprache, was für jene Zeit fast
kühner erscheint als das Eifern gegen Fasten, Reliquien, Klöster und un-
nütze Kirchenbauten, die durch Unterrichtsanstaltcn und Spitäler zu er-
B, Die Literatur in den Nationalsprachen. II. Moderne Periode. 2 2 "i
setzen wären. Bis an sein Lebensende blieb er ein glühender Verehrer
Josefs II. Er wollte eine dem einfachen Volke verständliche Sprache
schreiben, konnte sich aber von kirchenslawischen und russischen Ele-
menten nicht freimachen und überließ eine Reform der Orthographie
künftigen Geschlechtern.
Unter einem Volke, dessen Bischöfe Maria Theresia nicht einmal
einen Katechismus liefern konnten, ist Obradovic eine besonders hervor-
ragende Erscheinung. Er fand natürlich starke Gegnerschaft unter der
Geistlichkeit, doch die allerdings spärliche weltliche Intelligenz und
namentlich die folgende Generation brachten ihm große Verehrung ent-
gegen und sein Beispiel wirkte ungemein anregend: seit dem hl. Sava
nahm er in der Tat den größten Einfluß auf die Richtung der serbischen
Kultur. So gab sein unmittelbarer Schüler E. Jankovic den Serben die Anfänge der
erste Komödie (1787), eine Übersetzung von Goldonis „I mercanti", um Dramatik,
ihre Vorurteile gegen das Theater zu bekämpfen. Doch der eigentliche ratur und Lyrik.
Schöpfer des serbischen Theaters ist Joakim Vujic, der in den Jahren
1805 — 1847 zahlreiche Stücke von Kotzebue, Iffland und weniger be-
deutenden Dramatikern übersetzte und bearbeitete ; die erste Vorstellung"
gab er mit Dilettanten 18 13 in Pest, wanderte dann mit Truppen in Süd-
ungarn herum und kam 1835 nach Kragujevac in Serbien, um den Fürsten
Milos zu ergötzen. In ähnlicher Weise erzog man sich auf dem Gebiete
der Erzählungsliteratur das Publikum durch Übersetzungen und Nach-
ahmungen moralphilosophischer Schriften, der Robinsonaden und Ritter-
romane, die äußerlich oft ganz serbisch aussehen. Die Kunstdichtung be-
ginnt mit der Frühlingspoesie (1765) und folgt weiteren deutschen Mustern
des 18. Jahrhunderts; besonders zäh hielten sich bis in die ersten Jahr-
zehnte des ig. Jahrhunderts S. Gessners Idyllismus und die pseudoklas-
sische Odenpoesie, die den bedeutendsten von Klopstock stark beeinflußten
Vertreter in dem Mönch und späteren Bischof Lukijan Musicki (1777
bis 1837) fand.
So wurde endlich auch der serbische Parnaß mit griechisch-römischen Romantik.
Göttern bevölkert. Unterdessen wogte schon der Kampf um eine ganz
neue Richtung, welche die reine Volkssprache in die Literatur einführen
und diese ganz auf Grundlage der Erzeugnisse des „Nationalgeistes" auf-
bauen wollte. Diese Bestrebungen bedeuten den größten Umschwung im
geistigen Leben der Südslawen, und noch mehr als bei den Nordslawen
wurden sie durch die deutsche Romantik, namentlich durch die jüngere,
patriotische, hervorgerufen, die während der Befreiungskriege ihren Sitz
in Wien aufgeschlagen hatte. Aus ihren Zeitschriften und aus den Vor-
lesungen der Brüder Schlegel erschollen auch zu den Südslawen die
Rufe nach Pflege der Muttersprache, der nationalen Eigenart und der
Liebe zum engeren Vaterlande; doch wurde gerade in dieser Richtung
ein ganz neuer Begriff des Patriotismus geschaffen, denn die wahre Heimat
erblickte man nun in der Sprache. Von besonderer Bedeutung war aber
224
Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
noch die volksfreundliche Wirksamkeit des Erzherzogs Johann in den
Alpenländem. Die deutschen Zeitschriften der südlichen Provinzen inter-
essierten sich liebevoll für das slawische Volkstum und öffneten ihre
Spalten auch slowenischen und kroatischen LiteraturerzeugTiissen. Die
ersten Äußerungen des neuen Geistes waren die Gründung einer „societas
slovenica" (1810) durch Grazer Studenten und einer „windischen Lehr-
kanzel" durch die steirischen Stände, ein Zirkular des Agramer Bischofs
M. Vrhovac (eines Josefiners!) an seine Geistlichkeit in Kroatien und
Slawonien (18 13), sie möge Volkslieder und andere Erzeugnisse des Volks-
geistes sammeln, und eine 1815 in Wien gedruckte Broschüre des Kroaten
Ant. Mihanovic über die Nützlichkeit und Notwendigkeit einer Literatur
in der vaterländischen Sprache.
Doch hatten alle diese Bemühungen keinen unmittelbaren Erfolg,
denn der Boden war noch zu wenig vorbereitet. Während z. B. Napoleons
Auftreten überall die nationalen Kräfte weckte, wurde der aus Paris
zurückkehrende kroatische Banus im Namen des „senatus populusque
Zagrabiensis" noch lateinisch angesungen. Von der größten Wichtigkeit
war dagegen die Wirksamkeit des Slowenen B. Kopitar in Wien, der
aus dem Laibacher Kreise des Barons S. Zois kam, als Beamter der Hof-
bibliothek und slawischer Zensor aber ganz in das Fahrwasser der
Romantik geriet, in deren Organen er slawistische und slawische Inter-
essen mit großem Eifer vertrat. In seiner slowenischen Grammatik (1808)
und in seinen Aufsätzen setzte er sich für die reine Volkssprache, die
nur der Bauer habe, und für eine vernünftige Graphik ein, in der jedem
Laut ein eigenes Zeichen entspreche, schwärmte für Dialekte und suchte
Sammler für alle Erzeugnisse des Volksgeistes. Das Schicksal führte ihm
nur einen zu, aber ein zum Glück von der Schule unverdorbenes Genie
aus Serbien, durch dessen Ausbildung zum Reformator der serbischen
Schriftsprache und Literatur der Gründer der Wiener slawistischen Schule
mehr fortlebt als durch seine bedeutenden philologischen Leistungen.
Vuk Stefanovic Karadzic (1787 — 1864) wurde in Trsic im nord-
westlichen Serbien geboren, seine Eltern stammten aber aus Drobnjak in
der Herzegowina (heute Montenegro), so daß er den „südlichen" Dialekt
sprach. Nach dem unglücklichen Ausgang des ersten serbischen Aufstandes
kam er nach Wien (18 13), wo er Kopitars Aufmerksamkeit durch einen
volkstümlich geschriebenen Artikel auf sich lenkte. Auf seine Anregung
schrieb er eine Grammatik der Volkssprache (18 14) und gab zwei Bänd-
chen Volkslieder heraus (18 14, 181 5), die sofort Aufsehen erregten. Doch
von der Tradition in Schrift und Sprache konnte auch er sich nicht gleich
frei machen, und erst unter Kopitars dauernder Anleitung stellte er sich
auf den Standpunkt, daß man die reine Volkssprache vollkommen pho-
netisch schreiben müsse, weshalb er aus der cyrillischen Schrift eine
Menge Buchstaben beseitigte, dafür aber neue, glücklich gebildete und
das lateinische j einführte. Diese Reform wurde in seinem serbischen
B. Die Literatur in den NatiunaUprachen. II. Moderne Periode. 225
Wörterbuch (Rjecnik 1818), das eine gründlich umgearbeitete Grammatik
enthielt und auch durch seine ethnographischen Artikel hervorragte, sowie
durch die neue große „Leipziger" Ausgabe der serbischen Volkslieder
(drei Bände 1823 — 1824, der vierte 1833 in Wien) festgelegt. Maßgebend
war dabei der herzegowinische Dialekt seines Vaterhauses. Die Geistlich-
keit mit dem gelehrten Metropoliten Stratimirovic an der Spitze war über ein
solches Beginnen, das angeblich die serbische Kirche und Nation bedrohte,
entrüstet; besonderes Ärgernis erregte das häretische / und die Einführung
des „Ochsenhirtenjargons" an Stelle der alten ehrwürdigen Kirchensprache.
Doch Karadzic ging seine Wege, gestützt auf Kopitar und Jakob Grimm,
und besonders ermuntert durch die enthusiastische Aufnahme der ser-
bischen Volkslieder in Deutschland (Übersetzungen des Frl. Talvj 1825,
1826, W. Gerhards 1828 u. a.) und in der übrigen gebildeten Welt, wobei
namentlich die lebhafte Teilnahme Goethes ins Gewicht fiel. Er schuf
auch Muster serbischer Prosa, sammelte in klassischer Weise alle Erzeug-
nisse des Volksgeistes und beschrieb die nationalen Sitten und Gebräuche.
Nach seinen Reisen in Dalmatien und Montenegro stützte er sich mehr
auf den südwestlichen Dialekt, der mit der Schriftsprache der Ragusaner
geradezu identisch war. Da unterdessen auch die Kroaten in Agram ihre
Literatur hauptsächlich auf die Basis der alten dalmatinisch-ragusanischen
gestellt hatten, so konnte unter Teilnahme Karadzics in einem Wiener
Manifest (,1850) der angesehensten Philologen (darunter des Slowenen
Miklosich) und Schriftsteller beider durch die Geschichte getrennter Stämme
erklärt werden, daß die Kroaten und Serben eine Schriftsprache haben.
Die Ideen Karadzics fanden jedoch lange keinen allgemeinen An-
klang, namentlich in Serbien nicht, wo seine Orthographie seit 1832, seit
1852 sogar seine Werke verboten waren; die Orthographie wurde erst
1860 für Privatdrucke und 1808 ganz freigegeben, obgleich der Kampf
wissenschaftlich durch den Philologen Gj. Daniele und in der Literatur
durch den Dichter Branko Radice vic, den Abgott der Jugend, schon 1847
entschieden war. Ganz abgesehen von politischen Gründen handelte es
sich dabei nicht bloß um Orthographie und Sprache, sondern um den
Kampf zweier Weltanschauungen, einer demokratischen romantisch-natio-
nalen und einer oligarchischen pseudoklassischen, welche in Österreich
ihre Stütze an der Hierarchie, in Serbien aber an der aus Osterreich be-
zogenen Intelligenz hatte. Karadzic wollte eine wirkliche nationale Lite-
ratur und bekämpfte daher die pseudoserbischen Romane eines Vidakovic,
während seine Gegner, die sich um die Jahrbücher der „Matica Srpska"
(seit 1826) scharten, veralteten Mustern folgten und gegen ihn auch Dos.
Obradovic ausspielten, von dem er ausdrücklich erklärte, daß sein und
Reljkovics Eifern gegen die nationalen Sitten und Gebräuche eine „Dumm-
heit" gewesen sei. Was aber der endgültige Sieg der Volkssprache zu
bedeuten hat, zeigt das Beispiel der Griechen, die den gleichzeitig be-
ginnenden Kampf bis auf den heutigen Tag nicht ausgefochten haben.
226 Matthias Murko : Die südslawischen Literaturen.
Der Nationalis- Wie schwcr sich der reine Nationalismus in der Literatur die Bahn
bischen Kunst- brach, zeigt Sima Milutinovic aus Sarajevo, ein nicht besonders glück-
licher Berater Goethes und W. Gerhards, der in seinem Epos „Srbijanka"
(1826) die serbischen Freiheitskämpfe unter Karagjorgje im Geiste der
Volkspoesie besang, dabei aber des griechisch-römischen Olymps und
anderer klassischer Akzidenzien nicht entbehren konnte. Diesen Einfluß
seines Lehrers überwand selbst das Genie des größten serbischen Dichters,
des letzten geistlichen Fürsten von Montenegro, Petar II. Petrovic
Njegos (1813 — 1851), erst in seinen späteren Dichtungen, von denen
namentlich der „Bergkranz" hervorragt, worin er Bilder aus dem montene-
grinischen Leben zu Anfang des 18. Jahrhunderts schuf, als das Land an
einem Weihnachtsabend gewaltsam von den Türken befreit wurde. Diese
lyrisch-epische „serbische Iliade" in dramatischer Form bringt die montene-
grinische Volksseele am besten zum Ausdruck. Wie ungünstig jedoch
die Bedingungen für eine Literatur in Montenegro waren, zeigt die Tat-
sache, daß die Typen der von ihm errichteten Druckerei im nächsten
Türkenkriege (1852 — 1853) zu Gewehrkugeln umgegossen wurden.
Die Romantik Allmählich und vielseitiger wurde die „nationale Wiedergeburt" der
bei denSlowenen
nnd Kroaten. Sloweneu Und Kroaten vorbereitet, um im Jahre 1830 sofort mit großem
Erfolge in Erscheinung zu treten. Das allgemeine Interesse für die ser-
bische Volkspoesie, die romantische Literatur der Tschechen, Polen und
Russen, die politische Gärung in Europa, namentlich der Aufstand der
Polen, von denen einige in Graz und Laibach interniert wurden und
direkt die polnischen romantischen Ideen verbreiteten, trugen viel dazu
bei. In Kroatien und Slawonien kam das Beispiel der Magyaren, noch
mehr aber die Opposition gegen ihre Expansionsgelüste hinzu, doch wird
ihr Einfluß auf die Entstehung des Agramer Illyrismus überschätzt, denn
die Gründe dafür lagen viel tiefer. Ganz sinnlos aber ist die magyarische
Darstellung, die im Illyrismus, der naturgemäß zu einer politischen Be-
wegung werden mußte, ein Werk des russischen Panslawismus und der
österreichischen Kamarilla erblickte.
Die romantische Mit wirklichen literarischen Leistungen traten zuerst die Slowenen in
Slowenen, dem Laibaclicr Almanach „Kranjska Cbelica" (vier Bändchen 1830 — 1833,
das fünfte erschien wegen der Zensurverhältnisse erst 1848) hervor; sein
geistiger Vater war der gelehrte Bibliothekar Cop, sein bedeutendster
Mitarbeiter der Advokaturskandidat Franz Preseren (1800 — 1849), der
größte Dichter der Slowenen und der beste Lyriker des slawischen Südens
(ihm gilt Anast. Grüns Ode „An meinen Lehrer"). Beide waren echte
Kinder der deutschen Romantik mit ihrem Interesse für die Weltliteratur.
Als ergreifender Sänger der Disharmonie zwischen Ideal und Wirklich-
keit erinnert Preseren namentlich durch seine Betonung des majestätischen
und Märtyrerberufs des Dichters an Byron und Mickiewicz, folgt aber
doch mehr Petrarca und den deutschen Romantikern. Besonders groß
erscheint er in der meisterhaften Handhabung aller möglichen Kunst-
B. Die Literatur in den Nationalsprachcn. II. Moderne Periode. 227
formen, so daß der nicht besonders umfangreiche Band seiner „Poezije"
(1847) geradezu eine vollständige slowenische Poetik ausmacht (ohne
Drama), in der ein Sonettenkranz und Ghaselen (die ersten wurden 1833
gedruckt) nicht fehlen. An Formenreichtum übertraf die kleine slowenische
Literatur damals sogar alle slawischen, was um so auffälliger ist, als
Preseren ohne heimische Muster dastand. Trotzdem ist er aber in seinem
innigsten Wesen, nicht bloß der Sprache nach, die ebenfalls unsere Be-
wunderung hervorruft, durchaus national, denn im Geiste der Romantik
vertiefte er sich ganz in sein Volk, für das er auch nur aus Liebe
schrieb.
Nach vielen Bemühungen (seit 1824) gelang es mit Protektion des
Erzherzogs Johann endlich auch den Slowenen, die Bewilligung zur Her-
ausgabe einer von J. Bleiweis redigierten Zeitschrift „Novice" (1843) zu er-
langen, die neben landwirtschaftlichen und gewerblichen (seit 1848 auch
politischen) Interessen auch die literarischen vertreten konnte und es
immer mehr tat, bis es zur Gründung eines ausschließlich der Literatur
gewidmeten Organs „Slovenski Glasnik" (1858 — 1868) kam. Als Dichter
der „Novice" ragt Jovan Vesel- Koseski hervor, der romantischen
Nationalismus mit Schillerschem Pathos predigte.
Die interessanteste Erscheinung ist der Agramer „Illyrismus". Den Der lUy'-
bisherigen landschaftlichen Literaturen, der dialektischen und orthographi-
schen Zersplitterung wollte man durch eine gemeinsame Schriftsprache
des „dreieinigen Königreichs" (Kroatien, Dalmatien, .Slawonien) abhelfen,
bezog dann Bosnien und die Herzegowina ein, suchte die Serben und Slo-
wenen zu gewinnen und dachte auch an die noch ganz unbekannten Bul-
garen. Der ganze slawische Süden sollte also literarisch geeinigt werden
und eine nationale Gruppe neben Tschechen, Polen und Russen im Sinne
der „slawischen Wechselseitigkeit" Jan Kolldrs bilden. Dabei bewiesen
die Hauptstadt und ganz Provinzialkroatien, das im Mittelpunkt dieser Be-
wegung stand, eine große Selbstentäußerung, denn sie entsagten ihrem
gutentwickelten und literarisch durchaus nicht armen Dialekt und wählten
den der Mehrzahl „der drei Königreiche" und der übrigen serbokroatischen
Sprachgebiete. Als Muster wählte man hauptsächlich die alten dalmati-
nischen und namentlich die ragusanischen Schriftsteller, ließ aber auch die
Volkslieder V. Karadzics nicht unbeachtet; ja ein so konsequenter Roman-
tiker wie Stanko Vraz wollte die neue Literatur theoretisch ganz auf
dem Volkslied aufbauen; praktisch folgte auch er den Ragusanern, obgleich
er in ihnen nur Italiener im slawischen Kleide sah. Diese Bestrebungen
mußten naturgemäß zur einheitlichen Schriftsprache führen, obwohl die-
meisten Serben vom Illyrismus nichts wissen wollten, denn die tiefen viel-
hundertjährigen historischen, religiösen und kulturellen Unterschiede konnte
alle brüderliche Begeisterung nicht überbrücken. Dazu beruhte der Name
„Illyrier", der als nationaler alle historischen ersetzen sollte, nur auf einer
pseudogelehrten Kombination, die allerdings seit dem Humanismus stark
15*
2 28 Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
in Umlauf war (man machte in Osterreich sogar die orthodoxen Serben
offiziell zu Illyriern, Napoleon schuf die „provinces illyriennes" und Öster-
reich behielt das Königreich Ill3Tien bei), und ganz falsch war die Meinung,
daß die alten Illyrier, zu denen man bei der romantischen Flucht in das
graue Altertum die berühmten Vorfahren fand, Slawen waren. Der Name
trug also den Todeskeim in sich, bevor ihn die österreichische Regierung
verbot (1843, er wurde übrigens auch in Schulbüchern in der Ära Bach
weiter gebraucht). Eine dauernde Errungenschaft war dagegen Lj. Gajs
Reform der lateinischen Schrift (1830, 1835), wobei man die auf Hus zurück-
gehenden diakritischen Zeichen der böhmischen „organischen Orthographie"
wählte, jedoch an der etymologischen Schreibweise festhielt (Hauptunter-
schied gegenüber V. Karadzic). Diese Orthographie ging auch zu den
Slowenen, die vorübergehend stark in das illyrische Fahrwasser gerissen
wurden, über.
Das Hauptverdienst am Illyrismus wird Ljudevit Gaj (i8og — 1872) zu-
geschrieben, doch bezieht sich das hauptsächlich auf die allerdings schwer
durchgesetzte Gründung einer Zeitung mit einer literarischen Beilage
„Danica" (seit 1835), sonst war aber der rührige Journalist und Agitator
literarisch und noch mehr wissenschaftlich unbedeutend; sogar das Pro-
gramm des Illyrismus wurde von anderen, namentlich vom Grafen Janko
Draskovic, dem politischen Kopf der Bewegung, früher und besser defi-
niert, die Durchführung lag aber ohnehin in den Händen der Mitarbeiter
Gajs. In der Nationalisierung des gesamten Kulturlebens gingen die
Kroaten am weitesten, denn sie schufen sich sogar ihre Oper und Musik
(auch Kleidung!), petitionierten um eine gelehrte (iesellschaft und hatten
im slawischen Süden die erste und lange unerreichte Revue „Kolo". Im
Landtage gebrauchte jedoch der Schriftsteller und Historiker I. Kukuljevic
die Nationalsprache zum erstenmal 1843, und erst 1847 wurde die Kroati-
sierung der Ämter beschlossen, während die Kroaten bis dahin die
Magyarisierungsbestrebungen durch das Festhalten an der lateinischen
Sprache aufzuhalten suchten.
Auch in der schönen Literatur versuchten sich die Illyrier auf allen
Gebieten erfolgreich. Unter den zahlreichen Liebes- und Vaterlands-
dichtern — die romantische Überschätzung der Poesie finden wir auch
im slawischen Süden — gebührt der erste Platz Stank o Vraz (1810 bis
1851), einem aus Steiermark gebürtigen Slowenen, der hauptsächlich seine
Heimat in der Sprache der Illyrier verherrlichte. Dieser allseitige Kenner
der den Romantikern zusagenden Weltliteratur, ein Jugendfreund des
Meisters der Slawistik, Fr. Miklosich, erinnert mehrfach an die den Slawen
überhaupt sympathische schwäbische Schule, sucht alle europäischen Formen
der Lyrik einzuführen, huldigt der romanischen Auffassung der Ballade
und Romanze, läßt orientalische Einflüsse auf sich einwirken und pflegt
schon die politische Satire; besondere Verdienste erwarb er sich auch als
Sammler slowenischer Volkslieder (gab nur einen Teil heraus 1839) und
B. Die Literatur in den Nationalsprachen. II. Moderne Periode. 22g
erster Kritiker. Als Epiker ragt hervor Ivan Mazuranic (Banus 1873
bis i88o), der den mehrhundertjährigen Gegensatz zwischen Christentum
und Islam in einer Episode der türkisch-montenegrinischen Kämpfe („Smail
Cengic Agas Tod") mit dramatischer Knappheit zusammenfaßte {1846) und
dabei die Nachahmung klassischer Muster (er ergänzte auch zwei fehlende
Gesänge des Gundulicschen Osman) und des Volksliedes in glücklichster
Weise vereinigte. Angesichts des Kreuzes über dem Lovcen ruft er den
Völkern des Erdballs auch die Verdienste der südslawischen Vormauer
des Christentums ins Gedächtnis: „Nie mehr nannten sie euch dann Bar-
baren, Daß ihr starbet, als sie müßig waren." Der ideenreichste und zu-
gleich bedeutendste Dichter der Kroaten ist Peter Preradovic (1818 bis
1872), der als Offizier (zuletzt General) deutsch zu singen angefangen
hatte, wie so viele Südslawen, dann aber als „Wanderer" (eine herrliche
Allegorie!) zu seinem Volke zurückkehrte und einem mystischen Patriotis-
mus in der Art der polnischen Messianisten und russischen Slawophilen
huldigte; er war zu reflexiv und nicht so kühn wie die Polen, wirkte da-
her auch nicht so hinreißend und verhängnisvoll.
Was die Wirkungen des Illj^rismus anbelangt, verdient noch hervor-
gehoben zu werden, daß zwar die bosnischen Franziskaner sofort zu seinen
Anhängern zählten, dagegen Dalmatien sich nur zögernd und mit Vor-
behalt anschloß. Die alten Traditionen, lokaler Patriotismus und besonders
die starke Italianisierung der höheren Schichten, die unter der österreichi-
schen Herrschaft noch Fortschritte machte, waren dafür maßgebend. Be-
zeichnend ist die Tatsache, daß Italien einen großen demokratischen
Patrioten und Schriftsteller N. Tommaseo aus Sebenico erhielt, der aber
seine „Scintille" teilweise zuerst in seiner Muttersprache schrieb und sie
auch „illyrisch" veröffentlichte (1844), überhaupt mit rührender Treue an
seinem dalmatinischen Vaterlande und seiner slawischen Bevölkerung hing
und sie namentlich wegen ihrer Volkslieder idealisierte. Wenige ein-
heimische Schriftsteller impften den Slawen so messianistische Vorstellungen
ein, daß sie Europa enieuem werden, wenn sie sich nur nicht vom fremden
Wesen verderben lassen.
Die großen Enttäuschungen des Sturmiahres 1848 — am bittersten Lange Dauer der
=> ° J T ^ südslawischen
waren die der Kroaten — hatten eine starke Depression auch in der Komantik
Literatur zur Folge. Doch die Grundlagen der modernen nationalen
Kultur waren schon so fest, daß sie auch die germanisatorische Ära des
Bachschen Absolutismus nicht mehr erschüttern konnte, vielmehr zu einer
unerwünschten Stabilisierung der Schattenseiten derselben beitrug. Während
nämlich der Romantismus in Westeuropa um 1850 abgestorben war, ließ
man bei den Südslawen die Phantasie weiter über den Verstand herrschen
und huldigte im verstärkten Maße dem Kultus der Vergangenheit und
der Idealisierung des eigenen Volkstums. Als dann die Verfassungsära
in Österreich wieder eine freiere Entfaltung der nationalen Kräfte ermög-
lichte (seit 1860), bediente man sich derselben Mittel in den Kämpfen um
230
Matthias Mukko: Die südslawischen Literaturen.
Siowe
die „Nationalität", welche in der Tat zu einer fortschreitenden Sozialisierung"
der Gesellschaft führten (das ist der tiefere Sinn der österreichischen
Nationalitätenkämpfe), die nur nicht so schnell vor sich gehen konnte wie
z. B. einst die Nationalisierung der deutschen Fürsten und höheren Stände.
Darin liegt der Grund, daß die Literatur, die also ebenso nationale wie
soziale Aufgaben zu erfüllen hatte, noch Jahrzehnte unter der Herrschaft
der romantischen Ideen blieb, obgleich sie sich verschiedenen neuen Strö-
mungen nicht verschloß.
Spätromantik Am Wenigsten machte sich der romantische Historismus bei den
mungen bei den Sloweuen bemerkbar, da sie keine selbständige Vergangenheit hatten und
höchstens für urslawische Zeiten oder für einen nebelhaften Panslawismus
schwärmen konnten. Um so enger ist dagegen ihr Anschluß an das Volk,
an seine unverdorbene Sprache, die man fern von den Städten suchen
mußte, und namentlich an das Volkslied, wobei auch Gesänge anderer
slawischer Völker, speziell die der Kroaten und Serben, eifrig nachgeahmt
wurden. Darauf beruhen die Vorzüge der naiven, gemütvollen und
plastischen Lyrik und der Skizzen aus dem Volksleben des Unterkrainers
Franz Levstik. Die idyllischen Felder und die majestätischen Berge
Oberkrains fanden in dem Pessimisten Simon Jenko ihren berufenen
Sänger (von ihm stammt die slowenische, bei den übrigen Slawen stark
verbreitete Marseillaise „Naprej zastava Slave"). Auf dem Gebiete der
Erzählung und des Romans ragt Jos. Jurcic hervor, der sich zwar Walter
Scott zum Muster nahm, in der Schilderung des Bauernstandes und der
aus ihm hervorgegangenen Intelligenz aber schon echte realistische Züge
aufweist.
Eine Kritik der durch nationale Engherzigkeit und Rücksichten auf
konservative Kreise gebundenen Literatur versuchte schon Levstik, aber
der eigentliche Reformator wurde sein und Jurcics engster Landsmann
Jos. Stritar (geb. 1836, Gymnasialprofessor in Wien). Es ist bezeichnend,
daß er in einer klassischen Vorrede zu einer neuen Ausgabe der Poesien
Preserens (1866) den Slowenen ihren größten Dichter sozusagen entdecken
und dann die Berechtigung einer Liebeslyrik überhaupt verteidigen mußte.
Seine „Lieder" (1869), seine Zeitschrift „Zvon" (1870, 1876 — 1880) und die
„Wiener Sonette" (1873) leiten eine neue Epoche ein. Stritar ist der
Schöpfer einer mustergültigen Prosa und der vielseitigste slowenische
Schriftsteller, der immer einen europäischen Horizont und ein slawisches
Herz verrät und seinen Landsleuten die Hochhaltung der Kunst, nament-
lich der Poesie, die aber „Herrin" und nicht „Dienerin" sein soll, und der
Ideale des Lichts und der Freiheit verkündet. Von den Slawen, den
ewigen Duldern, erwartet er eine Lösung der sozialen Frage im Geiste
der Liebe. Nur in diesem Punkte erinnert er noch an die verschiedenen
slawischen Romantiker.
Die Weiterentwicklung der slowenischen Literatur mit Laibach als natür-
lichem Zentrum, wo 1864 die literarische Gesellschaft „Slovenska Matica"
B. Die Literatur in den Nationalsprachen. II. Moderne Periode. 23 1
gegründet wurde, steht im Zeichen Preserens und Stritars. Die Lyrik
förderte besonders Simon Gregorcic, die „Görzer Nachtigall", die sich
aus der geistlichen Zelle nach dem entschwundenen Paradies der Gebirgs-
welt zurücksehnt. Als prinzipieller Realist hat Anton Askerc Dauerndes
in seinen Romanzen und Balladen geschaffen, die volkstümlich bleiben,
selbst wenn ihnen der Dichter die Form „orientalischer Legenden" gibt,
z. B. um eine Satire auf den bewaffneten Frieden oder auf die sozialen
Reformen eines „Chans" vorzubringen. Auch in seinen jüngsten Dich-
tungen, in denen er die slowenischen Protestanten mit moderner Tendenz
feiert, gelingen ihm nur die realistischen Schilderungen des Treibens der
Zeit. Ein Realist ist auch Janko Kersnik in seinen Erzählungen und
Romanen aus dem Bauern- und Kleinstädterleben. Den Gesellschafts- und
historischen Tendenzroman vertritt Ivan Tavcar.
Bei den Kroaten wurde der Illyrismus zum Teil von denselben Per- ;
sonen, aber unter „südslawischem" Namen und mit größerem Ernst nament-
lich auf wissenschaftlichem Gebiete weitergeführt. So wurde der frühere
patriotische Dichter und Vaterlandssänger Ivan Kukuljevic jetzt ein
verdienstvoller Historiker, speziell auf dem Gebiete der Literatur- und
Kunstgeschichte, der in seinem „Archiv für südslawische Geschichte" (seit
1851) der Gründung der „südslawischen Akademie der Wissenschaften" in
Agram (1867) vorarbeitete, die dann in ihren Publikationen hauptsächlich
auf dem Gebiete der Geschichte und Philologie der Süd.slawen Bedeuten-
des leistete. Diese mit großer Begeisterung und mit vielen Opfern ver-
bundenen wissenschaftlichen Bestrebungen wurden durch die Eröffnung der
„kroatischen" Universität (1874) gekrönt. Über beiden Instituten waltete
der Geist und die freigebige Hand des Bischofs Strossmayer in Djakovo,
des großen Mäcens der künstlerischen und wissenschaftlichen Bestrebungen
bei allen Südslawen, des berühmten oppositionellen Redners des Vatikani-
schen Konzils, dessen tolerante Anschauungen, die er auch dem Protestan-
tismus entgegenbrachte, nicht bloß ein Ausdruck seiner hohen Geistes-
bildung, sondern auch des kroatischen Milieus und einer gewissen Tradition
waren, denn zwischen Katholiken und Orthodoxen bestehen in den gemischten
südslawischen Ländern Beziehungen, die z. B. Russen und Polen nie ver-
stehen können. Immerhin stießen der Name „südslawisch" und überhaupt
das ganze Wesen des alten „Illyrismus" auf Widerstand der von E. Kvaternik
und Anton Starcevic begründeten „Rechtspartei", die ursprünglich auf
politischem Gebiete die ungarische Unabhängigkeitspartei kopierte (seit
i86i), dann aber die historische kroatische Individualität auch in allen
kulturellen Fragen immer mehr in den Vordergrund rückte, also dieselben
Konsequenzen des romantischen Nationalismus zog, von dem die Mehrzahl
der Serben nie abweichen wollte. Es kann jedoch betont werden, daß
gerade auch in dieser Periode viele Serben aus Kroatien und Dalmatien
an den belletristischen und wissenschaftlichen Publikationen der Kroaten
Anteil nahmen.
232
Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
Von den Dichtern der absolutistischen Ära verdient der beste, Luka
Botic, Beachtung, weil er in auffälliger Weise das romantische Interesse
für den Orient mit dem Nationalismus vereinigte: acht Jahre nach dem
antitürkischen Epos Mazuranics feierte dieser Dalmatiner, der sich in Bos-
nien und Herzegowina nach Katalonien und Andalusien in den Zeiten der
Araber versetzt fühlte, in seiner epischen Dichtung „Pobratimstvo" eine
Verbrüderung des mohammedanischen Elements mit dem christlichen. Da-
neben beginnt um diese Zeit der bosnische Franziskaner Grgo Marti c die
zeitgenössischen Kämpfe zwischen Türken und Christen zu besingen und
schließt mit der Okkupation von Bosnien und Herzegowina. In diesem
volkstümlichen Epos gibt es meisterhafte Episoden, das ganze Werk wurde
aber überschätzt. Romantische Novellen, halb ethnographische Skizzen,
Dramen aus der kroatischen Geschichte im Stil Shakespeares (M. Bogovic)
und Anfänge eines nationalen Lustspiels (besonders I. Jurkovic) vervoll-
ständigten das Bild.
Im Jahre 1860 bekam die Dramatik einen festen Boden durch die
Einführung der kroatischen Sprache (an Stelle der deutschen) im Agramer
Theater. Ein eigentliches Lesepublikum schuf durch seine Novellen und
Romane erst August Senoa (1838 — 1881), der sich seine Stoffe aus
Kroatiens, namentlich Agrams Vergangenheit holte, auch die Gegenwart
nicht vernachlässigte, alle Stände mit Sympathie schilderte und seine Per-
sonen idealisierte, so daß der Literatur auch bei ihm noch die Rolle einer
nationalen Erzieherin zufällt. Neben ihm ragt besonders als Novellist der
fruchtbare und vielseitigere Jos. E. Tomic hervor. Durch seine patrio-
tischen Romanzen und Balladen und durch seine feinsinnigen kritischen
Würdigungen der bedeutendsten Erzeugtiisse der kroatischen Poesie vom
Standpunkte der Herbartschen Ästhetik blieb Fr. Markovic lange maß-
gebend (vgl. besonders Gj. Arnold, Jovan Hranilovic).
i Realistische Schilderungen waren bei Schriftstellern, die dem Volke
nahe standen, schon öfters anzutreffen (Jurkovic, Senoa u. a.), doch der
Realismus, der die Literatur dem wirklichen Leben nahe brachte, hielt
seinen Einzug erst zu Anfang der achtziger Jahre, gelangte aber bald zur
Herrschaft, die er bis 1895 behauptete. Die wichtigsten und größten
sozialen Romane erschienen seit 1886. Von dem französischen Naturalis-
mus eignete sich E. Kumicic nur eine größere Kühnheit in der .Schilde-
rung pikanter und brutaler Episoden an, die wir auch in seinen viel-
gelesenen romantisch-historischen Romanen antreffen, sonst übten aber die
großen Russen, namentlich Turgenjew, den entscheidendsten Einfluß aus.
Ein scharfer .Satiriker war A. Kovaöic, der erste Literat, der in Oppo-
sition gegen die ganze Gesellschaft trat. .§andor Gjalski (Pseudonym für
Ljubomir Babic) schilderte besonders anziehend den Kleinadel des nord-
westlichen Kroatien (Zagorien) aus dem Vormärz und den sechziger
Jahren und stürzte sich dann auch auf psychologische, philosophische und
soziale Probleme. Das Thema der „Toten Kapitalien" (Mensch und Boden)
B. Die Literatur in den Nationals|)rachcn. I]. Moderne Periode. 233
im fruchtbaren Slawonien behandelte mit besonderem Ernst Jos. Kozarac.
Der letzte bedeutende Realist ist der Form nach Leskovar, der aber
schon die feinsten Nuancen seelischer Kämpfe etwas einförmig schildert.
Die Literatur dezentralisiert sich. Ihre realistischen Darsteller fanden
außer den bereits genannten Landschaften auch Istrien, das kroatische
Küstenland (V. Novak), Ragusa, die ehemalige Militärgrenze und zuletzt
auch Bosnien. Hier tritt in den Vordergrund das Problem, wie sich das
Land mit der neuen Zivilisation abfinden soll, das auch die ersten moham-
medanischen Erzähler Osman-Azis und Edhem Mulabdic behandeln.
In der Poesie blieb auch in der Periode des Realismus die frühere Niueste Poesie
idealistische Richtung herrschend, verfiel aber dem Radikalismus und zu-
letzt der Resignation und dem Pessimismus, der den talentvollsten Ver-
treter in dem gedankentiefen, auf den Höhen der Menschheit wandelnden
S. Kranjcevic fand, der sich zum bedeutendsten modernen Dichter ent-
wickelt hat. Der Poesie des Absterbens seiner Vaterstadt Ragusa gab
Ivo Vojnovic Ausdruck (Dubrovacka trilogija). Überhaupt tritt neben
Agram und Kroatien eine größere Gruppe dalmatinischer Dichter auf, bei
denen sich klassische, italienische und andere romanische Einflüsse stark
geltend machen, besonders in dem Kultus der Form und des Wohlklanges.
Den Anfang macht der in allen Farben schillernde A. Tresic-Pavicic,
der auch ein Thema wie das Ende der römischen Republik (Finis rei-
publicae) dramatisch bearbeitet hat.
Bei den Serben entwickelt sich die Literatur dies- und jenseits der Die romantische
„Oinladina" der
Donau unter ähnlichen Verhältnissen, denn auch in Serbien, wo 1848 Serben.
ebenfalls das Wort „Reform" bekannt wurde, folgte eine Reaktion und
dann eine freiere Ära nach dem Dynastiewechsel im Jahre 1858. Übrigens
blieb die literarische Führung noch bis 1870 bei den österreichischen
Serben, deren Intelligenz sich nach 1848 in der neugeschaffenen serbischen
Vojvodina ansammelte und ihr Kulturzentrum von Pest nach Neusatz ver-
legte, wohin 1864 auch die Matica Srpska übersiedelte. Nach 1860 ist
ein großer Umschwung bemerkbar, der sich vor allem in der Gründung
mehrerer rein literarischer Zeitschriften (die bisherigen waren Zeitungs-
beilagen) äußerte; in den Vordergrund tritt die Jugend der ungarischen
Anstalten, des Belgrader Lyzeums und der Universitäten Wien und Prag,
die sich in der „Omladina" (Jug'end) eine feste Organisation schafft (1866
bis 1872) und dabei ausdrücklich an den Belgrader „Verband der serbi-
schen Jugend" des Jahres 1847 anknüpft. Der serbische nationalpatriotische
Romantismus erreichte seinen Höhepunkt in diesem Jugendbunde, der von
der serbischen Regierung wegen seiner liberalen, von der ungarischen
wegen seiner panserbischen Tendenzen verfolgt und 1872 in Ungarn auf-
gelöst wurde, nachdem er schon 1870 einen Stoß durch den Einbruch der
aus Rußland importierten positivistischen Ideen erlitten hatte.
Man kann in der Tat diese ganze romantische Periode von 1848 bis
1871 unter dem Namen der Omladina zusammenfassen. Ihr Ideenkreis
234
Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
war natürlich Wandlungen unterworfen und nicht einheitlich. Ursprüng-
lich begeisterte man sich für die tschechisch-slowakischen-panslawistischen
Theorien Jan Kolldrs und L. Stürs, nicht für die der Moskauer Slawo-
philen, denn auch für die orthodoxen Serben war Prag das slawische
Mekka, und im Jahre 1863 stand die Jugend auf selten der Polen, aus deren
Literatur anfangs wie bei den Kroaten viel mehr übersetzt wurde als aus
der russischen. Neben diesen slawischen Einflüssen waren aber besonders
mächtig die deutschen, namentlich die des Jungen Deutschland, an das
schon der Name Omladina erinnert, und gleich darauf die magyarischen.
Die Ideen der europäischen Demokratie fanden schon 1848 Anklang, in
den sechziger Jahren hatte die Omladina direkte Beziehungen zu ihren
hervorragenden Vertretern und hoffte namentlich mit Hilfe der revolutio-
nären Emigranten eine Einigung der Serben herbeizuführen. Beachtens-
wert sind auch die besonderen Sympathien der Omladina für das legen-
darische Montenegro. Den serbischen Romantismus charakterisieren da-
her ein liberaler Nationalismus, Kultus der Vergangenheit, Vorliebe für
die Volkspoesie und orientalische Dichtung, Überschätzung der Poesie,
die aber bezeichnenderweise hauptsächlich bei den österreichisch-ungari-
schen Serben in Erscheinung tritt, Bevorzugung der Lyrik und überhaupt
exaltierte Begeisterung. Aus den ursprünglichen „Slawen" wurden ex-
klusive Serben, bei denen die Idee einer rein serbischen Kultur bis zum
Wahnwitz gesteigert wurde, so daß man unter anderem ein Zeichen echten
Serbentums, das ebenfalls das morsche Europa erneuern sollte, sogar in
der türkischen Kleidung und speziell in dem Fez erblickte, den übrigens
schon Vuk Karadzic auch in der Kirche nie ablegte. Seit 1860 sind alle
bedeutenderen Männer einer ganzen Generation und die ersten politischen
Parteien aus der Omladina hervorgegangen.
Den Reformen V. Karadzics verhalf die Omladina zum Siege und
Branko Radicevic (1824 — 1853) war ihr erster und lange überschätzter
Dichter, der an Stelle der klassizistischen Kunstformen mit jugendlicher
Kühnheit das leichtere moderne Metrum und die Strophe der damaligen
deutschen Dichtung und der serbischen Volkspoesie einführte, worin er
übrigens schon Vorgänger hatte, und sich als Liebeslyriker in ähnlicher
Weise Heines Lied zum Muster nahm. Durch seine nicht besonders ge-
lungenen Nachahmungen der Epen Byrons machte er die Hajduken, deren
Verherrlichung die Mehrzahl der jüngeren Volkslieder gewidmet ist, auch
in der Literatur populär. Besonders wirkungsvoll war seine Satire „Put"
auf die pseudoklassische Literatur und Vuks Gegner. Einen durch-
greifenden Erfolg hatte er aber erst in den sechziger Jahren, als die
literarische Physiognomie einer Reihe noch Jahrzehnte wirkender Dichter
zur Ausbildung gelangte. Darunter finden wir den berühmtesten und be-
liebtesten, fruchtbarsten und universellsten Vertreter des serbischen Par-
nasses, Zmaj Jovan Jovanovic (1833 — 1904), der trotzdem noch kein
Dichter im europäischen Stil ist. Zmaj, ein Schüler Radiöevics und des
ß. Die Literatur in den Nationalspraclicn. U. Moderne Periode. 2 5 i
Magyaren Petöti, ist ein ausgesprochener Lyriker, bei dem die Tendenz-
poesie des Jungen Deutschland, die orientalische Dichtung, namentlich
Nachdichtungen Bodenstedts, und besonders Heine tiefe Spuren hinter-
lassen haben. Verdienste erwarb er sich auch als Übersetzer und es
charakterisiert ihn und das serbische Volkslied die Tatsache, daß einige
seiner Übersetzungen aus Petöfi Volkslieder geworden sind. Das stärkste
dichterische Temperament ist Gjuro Jaksic, bedeutender als Epiker und
einer der fruchtbarsten Erzähler, der das Mittelalter und die Türken-
kämpfe idealisierte und den Bauer liebte, ohne seine Natur erkannt zu
haben. Durch große literarische Kultur zeichnet sich Laza Kostic aus,
ein tüchtiger Shakespeareübersetzer und Shakespearomane, der das erste
serbische Drama „Maksim Crnojevic" nach einem bekannten Volksliede in
Jamben schrieb (1863, in Buchform 1866), also vom Metrum der Volkspoesie
abwich, obwohl sie gerade er zum „nationalen Evangelium" stempelte. Der
absoluteste Verehrer der Volkspoesie war J. Novic aus Otocac, der Sohn
eines adeligen Grenzeroffiziers, Student in Halle und Jena, der fünfzehn Jahre
ein Hajdukenleben auf dem nordwestlichen Balkan führte, daher besondere
Gelegenheit fand, in den Geist des Volksepos einzudringen, das er nach-
ahmte, als er die Kosovoschlacht (Lazarica 1847) '^"d andere Ereignisse
der serbischen und montenegrinischen Geschichte und sogar den Krim-
krieg besang, ohne in dieser Nachahmung glücklich zu sein. Auch für
die orientalische Dichtung- hatten die Serben ihre Muster zu Hause, da
ihnen die Liebeslyrik der Mohammedaner in Fleisch und Blut über-
gegangen war; das beste Beispiel dafür bietet Jovan Ilijc, ursprünglich
ein Didaktiker und Halbklassiker.
Zur nationalistischen Romantik gehört auch Fürst Nikola von Monte-
negro, der sich seinen großen Vorgänger zum Muster genommen hat, ihn
aber in keiner Weise erreicht; der Inhalt seiner Dichtungen verrät einen
guten Politiker auch in der Poesie.
In der Erzählimgsliteratur gibt es sehr viel Romantik und Sentimen-
talität; nicht umsonst wurde Goethes „Werther" 1844 übersetzt. Immer-
hin gab es Schriftsteller, die den mittelalterlichen Feudalismus zurück-
drängten und zeitgenössische Zustände mit einem gewissen Realismus
behandelten; so schilderte Bogoboj Atanackovic in dem Roman „Zwei
Idole" (1852) den Kampf zwischen Serben und Mag^'aren und Milorad
Sapcanin hinterließ das Zeitbild eines dichtenden romantischen „Träumers"
(Sanjalo).
Einen heftigen Gegner erhielt die ganze bisherige Literatur in Sve- Positiv ismus be
tozar Markovic, der mit dem Bulgaren Ljuben Karavelov den Sozia-
lismus als letztes Wort der Wissenschaft aus Rußland nach Serbien ver-
pflanzte. Der russische Student kannte zwar die deutschen Sozialisten,
doch propagierte er hauptsächlich die Doktrinen Cernysevskijs, Dobroljubovs
und Pisarevs. Daher auch seine scharfen Ausfälle gegen die „Ästhetiker"
und gegen die serbische Kunstpoesie. Das Heil Serbiens erblickte er in
2 36 Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
der Hauskommunion (Zadruga) und in anderen primitiven Zuständen, so
daß er wider seinen Willen zu einem reaktionären Nationalisten wurde.
Er starb schon im 28. Lebensjahre, sonst wäre er wohl wie viele Ge-
sinnungsgenossen ein gewöhnlicher radikaler Politiker geworden. In der
bei Literatur überwog der Einfluß Gogoljs und anderer Russen, um so mehr
als der Realismus auch von Westeuropa vordrang. Auch das konsequente
Studium des Volkes führte zu demselben Ziele. So erfreuten sich einer
großen Anerkennung die Erzählungen Milan Milicevics aus Serbien,
die eigentlich nur folkloristische Skizzen sind, und die viel höher stehen-
den Erzählungen vStefan M. Ljubisa's aus Süddalmatien und Montenegro.
Der eigentliche Begründer der künstlerischen realistischen Erzählung
wurde der Arzt Laza Lazarevic (1851 — 1891), der die patriarchalischen
Zustände, wie sie in den Jahren 1860 — 1885 in den Städten und auf dem
Lande des reichen Savegebietes herrschten, mit großer Treue und offen-
kundiger Sympathie verewigte. Den realistischen Roman begründete
Jaksa Ignjatovic.
Skizzen, Idyllen, Novellen und auch Romane aus dem Dorf-, seltener
aus dem Stadtleben verschiedener serbischer Gebiete, Bosnien, Herzego-
wina und sogar Altserbien nicht ausgeschlossen, folgten in großer Zahl
und bilden ein literarisches Genre, das Beste, was Serbien aufweisen kann.
Zu den hervorragendsten Vertretern dieser Richtung gehören der poesie-
und liebevolle Janko Veselinovic, Ilija V. Vukicevic, Svetislav Rankovic,
dessen Roman „Zar der Berge" (ein Hajduke, d. i. Räuber) sich beson-
derer Anerkennung erfreut, Borisav Stankovic, Kocic u. a. Mit Humor
und scharfer Satire geißelt Stefan Sremac die gesellschaftlichen Zustände.
Als der beste Satiriker gilt Radoje Domanovic, der das letzte Jahrzehnt
der Obrenovice verewigt hat. Eine besondere Stellung nimmt der Dal-
matiner Simo Matavulj ein, dem Erzählungen und Romane aus Dal-
matien, Montenegro und der Herzegowina viel besser gelungen sind
als die aus dem Belgrader Leben, bei dessen Schilderung er schon
modernen Strömungen folgt,
■csie Eine realistische Poesie haben die Serben nicht erhalten. Den Über-
eil, treibungen einförmiger Nachahmungen des Volksliedes und der Verhöh-
nung der Poesie (Sv. Markovic) folgte ein Rückschlag zum Klassizismus
durch den Reflexionslyriker Vojislav Ilijc (i86i — 1894), der damit Schule
machte, speziell auch bei einem Kreis junger Talente in der Herzegowina,
wo doch die Volkspoesie in höchster Blüte steht. Sogar die Kosovo-
schlacht besingt N. Gjoric in einem groß angelegten Epos in gereimten (!)
Hexametern. Im Drama, das 1869 durch Eröifnung eines ständigen
Theaters in Belgrad eine feste Stütze erhielt, wurde die starke Über-
wucherung historisch-romantischer Stücke hauptsächlich durch Lust.spiele
aus dem zeitgenössischen Leben (in deutschen Übersetzungen sind Bra-
nislav Nu.sic und Milovan Gli.sic zugänglich) zurückgedrängt. Sehr stark
ist bei den .Serben die literarische Kritik vertreten.
B. Die Lilenitur in den Nationalsprachen. II. Moderne Periode.
Die Wissenschaft fand in Serbien eine Pflegestätte in der „Gesell-
schaft der serbischen Literatur" (1847), die dann in die „serbische gelehrte
Gesellschaft" und endlich in die serbische Akademie der Wissenschaften
{1886) umgestaltet wurde. Auch die „Matica Srpska" in Neusatz bringt
namentlich in neuester Zeit streng wissenschaftliche Publikationen. Einer
besonderen Vorliebe erfreuen sich noch immer die das nationale Leben
berührenden Disziplinen. Die aus einem unbedeutenden Lyzeum (1838)
hervorgegangene „Hochschule" in Belgrad wurde iqo5 zur Universität
erhoben.
Schon der bisherige Entwicklungsgang zeigt, daß die Literatur der
Südslawen immer mehr zu einem organischen Teil des nationalen Lebens
wird, aus dem engen nationalen Vorstellungskreis heraustritt und sich
dem Ideenkreis des europäischen Kulturlebens anschließt. Einflüsse ver-
schiedener Literaturen sind bemerkbar, besonders aber die der französi-
schen seit den neunziger Jahren. Meist im Zeichen des französischen
Symbolismus wird auch der Kampf um die Freimachung der Kunst von
allen Nebenzwecken und um die Individualität des Künstlers geführt.
Bei den Slowenen, die Zolas Naturalismus nur vorübergehend kennen
lernten, fanden junge lyrische Talente von Verlaine u. a. bald den Weg
zu ihrem Volkstum (so Aleksandrov-Murn über Pu.skin, Koljcov und
Mickiewicz). An der Spitze dieser Richtung, die den feinsten Gefühlen
in geläuterten heimatlichen Tönen Ausdruck zu geben versteht, steht
jetzt O. Zupancic. Auf erzählendem und dramatischem Gebiete kämpft
der überaus fruchtbare I. Cankar unermüdlich gegen alle hergebrachten
Anschauungen der „Philister" und erreicht als symbolistischer und im-
pressionistischer Erzähler — seine Lieblingshelden sind Träumer und
ewige Vagabunden — eine solche künstlerische Höhe, daß er der be-
deutendste Vertreter der Moderne unter den Südslawen genannt werden
kann. Es verdient Beachtung, daß ein so kleiner und in seiner Existenz
am meisten bedrohter Volksstamm wie der slowenische eine Literatur, in
der das Prinzip l'art pour l'art auf die Spitze getrieben wird, verträgt
und erhält.
Seit den achtziger Jahren macht sich bei den Slowenen eine spezi-
fisch katholische Richtung stark bemerkbar, die ursprünglich sehr negativ
war, sich aber dann den nationalen Verhältnissen anpaßte und mit ihren
Literaturerzeugnissen hauptsächlich den breiteren Massen entgegenkommt.
Eine katholische Moderne unter tschechischem Einfluß kam über die An-
fange nicht hinaus.
Der heftigste Kampf um die Moderne wurde bei den Kroaten seit
1895 durch zehn Jahre geführt. Dabei kreuzten und paralysierten sich
die verschiedenartigsten, von Nord (hauptsächlich aus Prag und Wien)
und West kommenden Strömungen mit den einheimischen. Es ist charak-
teristisch, daß sich zu den „Jungen" auch der Schöpfer des modernen
sozialen und psychologischen kroatischen Romans, Sandor Gjalski, schlug.
Katholische
Richtung bei
238
Matthias Mdrko: Die südslawischen Literaturen.
welcher meinte, daß die jungen Elemente den deduktiven und ideologi-
schen Standpunkt verlassen und dem Evolutionsprinzip huldigen, dabei
aber auf einem konsequent nationalen Standpunkt stehen müßten. In
Wirklichkeit wollte jedoch diese neue Generation viel mehr modern sein,
kam aber in ihren erzählenden Leistungen über Skizzen und dilettanten-
haften Impressionismus nicht hinaus und führte ihren Kampf auch nicht
mit der nötigen Ausdauer. Am besten ist sie in der Poesie durch den
Lyriker Mihovil Nikolic, durch den Neohellenisten Vladimir Vidric und
durch den Verehrer der italienischen und dalmatinisch - slawischen Re-
naissance Milan Begovic (Pseudonym: Xeres de la Maraja!) vertreten.
Siegreich blieb eine dalmatinisch -romanische, idealistische Reaktion und
der Agramer idealistische Traditionalismus, der in der literarischen Ge-
sellschaft „Matica Hrvatska" seine stärkste Stütze hat. Die dalmatinische
Richtung verrät teilweise einen starken katholischen Einschlag, in Agram
hat aber speziell der Neokatholizismus etwas Anklang gefunden.
lei den Serben. Unter den Serben wurde der Herzegowiner Jovan Ducic aus einem
patriotischen Sänger ein beachtenswerter Anhänger der französischen
Svmbolisten und Dekadenten. Neben ihm steht an der Spitze der
heutigen Dichtung der Belgrader Milan Rakic, der sich für seinen Pessi-
mismus Alfred de Vigny, Leconte de Lisle, Baudelaire zum Muster ge-
nommen hat.
•teuere Litera- Dje ucuere Literatur der Bulgaren erfordert eine abgesonderte Dar-
orderBulgareii.
Historischer stcUung, da sic sehr jung ist und sich nicht organisch im Gefolge
der europäischen Geistesstromungen entwickelt hat. Der lange geistige
Stillstand des Volkes, das mit seiner kirchenslawischen Literatur an der
Spitze der Slawen stand, illustriert am besten die Folgen des weltlichen
Joches der Türken und des geistlichen der Griechen. Nicht einmal die
Buchdruckerkunst ist bis zu den Bulgaren gekommen, das erste mittel-
bulgarische Evangelium wurde in der Walachei gedruckt (15 12), sonst
bezogen die Bulgaren ihre Kirchenbücher von den Russen und Serben.
Das erste für Bulgaren bestimmte Büchlein („Abagar" von F. Stanis-
lavov) mit apokryphen Gebeten in der Volkssprache erschien in Rom
(1641) in der Gestalt der cyrillischen Drucke der bosnischen Franzis-
kaner und ist im Grunde g-enommen serbo-kroatisch (s. o. Gegenreforma-
tion). In Sammelhandschriften kirchlichen und apokryphen Inhaltes sind
auch Neuübersetzungen zu finden. Nur handschriftlich wurde auch die
an die Spitze der neubulgarischen Literatur zu stellende „Slavobulga-
rische Geschichte" des Mönches Pajsij (1762) verbreitet, der im Atho.s-
kloster Chilandar die Anregung zu dieser hochpatriotischen, aber un-
kritischen Chronik von dem serbischen Historiker J. Raic, einem Kiewer
Zögling, erhielt. Nach dem Muster griechischer und serbischer Aufklärer
übersetzte der Bischof Sofronij von Vraca den „Syntipas" (1802) und
Asops Fabeln; nur seine ebenfalls aus dem Griechischen übersetzten
Sonntagspredigten wurden 1806 als erstes bulgarisches Buch in der Wa-
B. Die Literatur in den Nationalsprachen. 11. Moderne Periode. 2 XQ
lachei gedruckt. Der eigentliche Wiedererwecker und geradezu Entdecker
der Bulgaren war J. Venelin, ein ungarischer Ruthene, der sich an der
Lemberger Universität romantische Anschauungen angeeignet, die Bul-
garen in Bessarabien kennen gelernt und dann in Moskau weitere An-
regungen für sein russisches Werk „Die alten und gegenwärtigen Bul-
garen" (1829) erhalten hatte. Wichtiger als seine weiteren Arbeiten war
sein Verkehr mit bulgarischen Kaufleuten in Odessa. V. Aprilov, der bis
dahin wie alle Bulgaren mit einiger Bildung für den Hellenismus ge-
schwärmt hatte, wurde nun von der Liebe für seine Nationalität ergriffen
und gründete im Verein mit Palauzov 1835 die erste bulgarische Schule
in ihrer Vaterstadt Gabrovo unter Leitung des um die Aufklärung in
Bulgarien hochverdienten Mönches Neofit. Da wollten auch andere Orte
nicht zurückbleiben (in zehn Jahren gab es schon fünfzig neue Volks-
schulen), und seit 1840 besuchten immer mehr Bulgaren höhere Schulen
im Ausland. 1S50 wurde ein bulgarisches Seminar für Lehrer und Geist-
liche in Philippopel gegründet. Die nötigen Lehrbücher und andere Bil-
dungswerke wurden aus dem Griechischen, Serbischen, Russischen und
Französischen übersetzt. 1844 gründete K. Fotinov die erste Zeitschrift
in Smyrna, 1846 Bogorov die erste Zeitung „Blgarski Orel" in Leipzig,
die 1848 als „Caregradski Vestnik" nach Konstantinopel übersiedelte und
dazu beitrug, daß die türkische Residenz das geistige Zentrum der Bul-
garen wurde, die sich zuerst von den Griechen freizumachen suchten und
schon 1845 in einer Petition an den Sultan die Wahl der Bischöfe durch
das Volk und eine Vertretung in der Patriarchatssynode und im Laienrat
forderten. Nach dem Pariser Frieden, der einige Erleichterungen auch
der bulgarischen Raja brachte, vertrieben viele Städte ihre griechischen
Bischöfe, und 1860 wurde am Ostersonntag in Konstantinopel die Tren-
nung von der griechischen Kirche proklamiert. Nicht bloß die Unnach-
giebigkeit der geistlichen und weltlichen Elemente des Patriarchats
drängte die Bulgaren zu diesem Schritte, sondern auch der Umstand, daß
in der Türkei mit der Kirche die Nationalität rechtlich identisch war.
Nach langen Kämpfen, bei denen auch eine Union mit Rom als Mittel
diente, wurde 1870 mit einem Ferman des Sultans das bulgarische Ex-
archat in Konstantinopel errichtet und 1872 das erste Oberhaupt der
bulgarischen Kirche gewählt. Durch diese Organisation gewannen die
Bulgaren einen großen Vorsprung unter den Slawen der Türkei, denn im
Ferman waren sogar Bischofsitze in Nis und Pirot im heutigen Serbien
vorgesehen. Dieser geistigen Befreiung folgte die von Emigranten und
Revolutionären vorbereitete politische durch Rußland. Das vom Berliner
Kongresse geschaffene Fürstentum Bulgarien (1878), mit dem sich 1885
das autonome Ost-Rumelien vereinigte, ermöglichte dem bulgarische Volke
erst eine vollständige Entwicklung seiner geistigen Kräfte. Dabei schuf
Bulgarien in kluger Weise keine Staatskirche nach dem Beispiel Griechen-
lands, so daß das Exarchat auch weiter alle Bulgaren vereinigt.
240
Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
Der Charakter der Literatur wurde durch den skizzierten Entwicklungs-
gang des bulgarischen Volkes beeinflußt. Ursprünglich wollten die Schrift-
steller nur aufklären und im nationalen Patriotismus erziehen, ohne an
eine Verletzung der Loyalität gegenüber der Türkei nur zu denken. In
Literatur- der Sprachc hielten sich lange die russisch-kirchenslawischen Elemente,
später übte auch das Altbulgarische einen starken Einfluß auf die viel-
umstrittene und bis heute nicht rationell gelöste Frage der Orthographie
aus, die russische Sprache ließ durch die an ihrer Literatur genährten
und durch direkt in Rußland erzogene Schriftsteller und später durch die
russische Verwaltung starke Spuren zurück. Der ostbulgarische Dialekt,
der die Oberhand gewann, fand schon in die Fibel des P. Berovic (1824)
Eingang.
Die Liter.-itur Das Geburtsjahr der bulgarischen Kunstpoesie ist 1845, als eine
und politischen größere, auf dem Volkslied beruhende Ballade „Stojan und Rada" in
kämpfe.' Odessa erschien. An das Volkslied schloß sich auch der rührige Jour-
nalist Petko Raco Slavejkov an, der die Lyrik der Russen nachahmte
und sich Motive auch aus griechischen und serbischen Dichtern holte.
Die Lieder dieses Dichters, dessen eigentliches Gebiet die Liebeslyrik
war, bildeten eine nationale Tat, denn sie verdrängten die griechischen.
Dasselbe Verdienst haben auch andere Sänger, darmiter der Anakreontiker
Zafirov, der Venus und Amor bulgarisierte. Das erste ganz kunstlose
Epos lieferte G. Rakovski in seinem „Bergwanderer" (1857), worin Balkan-
hajduken erzählen, wie sie die Tyrannei der Türken und Griechen von
ihrer Heimstätte vertrieben habe.
Rakovski ist auch der Typus eines romantischen Archäologen und
Folkloristen und zugleich der Stammvater der bulgarischen Revolutionäre,
die seit dem Krimkriege im Auslande, namentlich in Rumänien, eine leb-
hafte Tätigkeit als Journalisten und .Schriftsteller entfalteten und ein Über-
gewicht über die einheimische loyale und durch Zensurfesseln beengte
Literatur erlangten. Die Poesie der Emigranten enthält nicht bloß Zornes-
ausbrüche gegen die Türken, sondern schlägt auch viel stärkere Akzente
gegen die Griechen und die reichen Bulgaren, die mit beiden paktierten,
an. Auf Seiten aller Verfolgten steht schon Ljuben Karavelov, noch
mehr aber ist der ihn an Talent überragende Hr. Botjov ein Sänger der
sozialen Sklaven. Dieser Freiheitskämpfer, der ein abenteuerliches Land-
streicherleben führte, endete im Einklang mit seiner Poesie (1876), nach-
dem er sich des österreichischen Dampfschiffes „Radetzky" bemächtigt
hatte, um in Bulgarien einzufallen. Mit revolutionären Gedichten trat auch
der .spätere Ministerpräsident St. Stambulov zuerst in die Öffentlichkeit
(1877). Für das Epos fehlte die Stimmung; nur Balladen und Romanzen
im Volkstone konnten gedeihen. Begreiflich ist die Vorliebe für die
Satire. Die erste Originalerzählung, welche die schrecklichen Schicksale
einer bulgarischen „Armen Familie" schilderte, veröffentlichte 1860 in
Konstantinopel V. Drumev, der .später als Politiker bekannt gewordene
B. Die Literatur in den Nationalsprachen. II. Moderne Periode. 24 I
Metropolit Kliment. Der fruchtbarste Erzähler war aber der erwähnte
Ljuben Karavelov (1837 — 1879), der als rücksichtsloser Kämpfer gegen
Türken, Griechen und einheimische Ausbeuter des Volkes, als Beschützer
der Liebe, der verfolgten Unschuld und der Gefallenen und als Lobredner
der nationalen Sitten und der nationalen Vergangenheit häufig so über-
treibt, daß er zum Pamphletisten wird. In seinen russisch geschriebenen
Erzählungen — zwei von moralischer Entrüstung gegen das Belgrader
Leben strotzende sind serbisch — hält er noch Maß, aber in ihren bul-
garischen Bearbeitungen paßte er sich dem Geschmack seiner Landsleute
durch einen zügellosen Stil an, der Schule machte.
Eine große Rolle spielten dramatische Vorstellungen. Das erste
Originallustspiel, das die Korruption eines griechischen Bischofs in Bul-
garien zum Gegenstande hat, erschien 1863. Der eigentliche Begründer
des bulgarischen Theaters ist D. Vojnikov (1833 — 1878), ein Lehrer mit
französischer Bildung, der zuerst Schulbücher über Literatur, bulgarische
Sprache und Geschichte schrieb und sich auch die künstlerische Ausbil-
dung der Jugend zum Ziele setzte; mit seinen eigenen Deklamations- und
Gesangstücken hatte er noch Glück, aber das erste europäische Konzert
in Bulgarien im Jahre 1863 nahmen ihm die Bürger von Sumen sehr übel,
weil er ihre Jugend zu — Zigeunern erzog. Daher wanderte er zu den
fortschrittlicheren Bulgaren im rumänischen Braila, wo er eine Dilettanten-
truppe gründete und mit ihr 1866 die erste Vorstellung in Bukarest in
Anwesenheit des rumänischen Fürsten gab. Sein Beispiel fand in Rumänien
und Bulgarien starke Nachahmung. Vojnikov lieferte auch die nötigen
Stücke, historische Dramen und Sittengemälde, wobei er sogar Moliere
nachahmte. Künstlerisch sind seine Dramen ohne Bedeutung, groß war
dagegen ihre Wirkung auf die Hebung des bulgarischen Nationalbewußt-
seins. Unter den vielen nicht höher stehenden Nachfolgern finden wir
auch L. Karavelov mit einem revolutionären Drama; nur V. Drumevs
„Ivanku, der Mörder Äsen I." (erschien 1872 in ßraila) ragt durch Sprache
und Komposition hervor und gehört bis auf den heutigen Tag zu den
besten Originalschöpfungen. Beachtenswert ist in dieser Periode die nicht
geringe Zahl der Übersetzungen der bedeutendsten Erzeugnisse europäischer
Literatur; so sind unter den Dramatikern vertreten Voltaire, Moliere, V. Hugo,
Schiller (Räuber), Lessing (Emilia Galotti).
Die Folgen der politischen Befreiung der Mehrzahl der Bulgaren DieLitcratur seit
traten in der schönen Literatur nicht gleich in Erscheinung. Nicht bloß Selbständigkeit.
die Zöglinge aller möglichen europäischen und sogar amerikanischen
Schulen, sondern alles, was lesen und schreiben konnte, drängte sich in
den Staatsdienst und in die Reihe der Politiker. Eine echt orientalische
Atomisierung des öffentlichen Lebens und eine maßlose Parteiwut machte
sich in den politischen und satirischen Zeitungen bemerkbar, deren im
Laufe von 20 Jahren mehr als 300 zu erscheinen anfingen und meist ein
kurzes Leben fristeten. Mit geringen Ausnahmen waren und sind sie arm
Die Kultur der Gegenwart. I. q. i6
242
Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
an verschiedenartigen Nachrichten, aber reich an politischem Tratsch und
Gezänk. Auch allerlei Zeitschriften, deren man schon über loo zählt,
erreichten keine besondere Höhe, doch gibt es in der letzten Zeit schon
tüchtige literarische und Fachorgane. Die Wissenschaft fand ihre Pflege
in der „Bulgarischen literarischen Gesellschaft", die bereits 1869 in Braila
gegründet und 1882 in Sofia erneuert wurde. Für die Vaterlandskunde
erwarb sich auf allen Gebieten besondere Verdienste das Ministerium für
Volksaufklärung durch Herausgabe eines „Sbomik", in dem neben Ab-
handlungen über bulgarische Geschichte, Sprache und Literatur nament-
lich zahlreiche folkloristische Materialien hervorragen. In dieser Richtung
ist auch in Einzelpublikationen Beachtenswertes geleistet worden. Immer-
hin verfügen die Bulgaren noch heute über kein entsprechendes Wörter-
buch und sind auch in der Grammatik nicht über sehr gute Vorarbeiten
hinausgekommen. Die in Sofia 1888 eröffnete „Hochschule" wurde
1894 als Universität organisiert.
Das Bedürfnis und Verständnis einer höheren Literatur machte all-
mählich Fortschritte, besonders mit der Heranbildung einer zahlreicheren
Intelligenz im In- und Auslande. Die Sprache der Poesie und Prosa und
der Vers weisen bereits eine schöne Ausbildung auf, dagegen fällt es den
Dichtern schwer, sich über die Tageseindrücke zu erheben, und noch
schwerer, größere Stoffe künstlerisch zu gestalten.
Von diesen Mängeln ist auch der fruchtbarste, vielseitigste und be-
deutendste bulgarische Schriftsteller Ivan Vazov (geboren 1850) nicht frei.
Dieser Südbulgare verließ den Kaufmannsstand und ergänzte seine ein-
heimische Schulbildung durch russische und französische Lektüre. Als
Lyriker besang er noch die Leiden des bulgarischen Volkes, dann die
folgenschweren weiteren Ereignisse, den serbisch-bulgarischen Krieg nicht
ausgenommen, und holte sich auch schon Eindrücke aus Italien (1884).
Wichtiger als zwei Bauernidjdlen, welche die Türkenzeit schildern, sind
seine größeren und kleineren Prosaerzählungen, die das alte und neue
Bulgarien als dankbaren Gegenstand behandeln. Die beste Leistung ist
sein in viele Sprachen übersetzter Roman, „Unter dem Joche", in dem
das bulgarische Leben am Vorabend des russisch-türkischen Krieges ver-
ewigt ist. Vazov versuchte sich auch als Lustspieldichter, aber ohne be-
sonderen Erfolg.
Hinter diesem Meister des bulgarischen Verses bleibt K. Velickov in
seinen „konstantinopolitanischen" und „italienischen" Sonetten zurück, über-
trifft ihn aber an innerer Tiefe. Der Satiriker und Refiexionslyriker,
dessen Tendenz die nationale Selbsterkenntnis ist, St. Mihajlovski, behandelt
in dem Gedichte vom „Übel" den Sündenfall. Des volkstümlichen Epikers
Penco Slavejkov „Blutiges Lied" ist die bedeutendste Leistung auf diesem
Gebiet. Den Liebeslyriker K. Hristov hat Vazov selbst als „Stolz unserer
Literatur" eingeführt. Dem ganzen Elend eines jungen Menschen unserer
Zeit gibt P. Javorov Ausdruck.
Schlußbemerkung. 243
Eine Abschließung- von der Kulturwelt kann man der jüngsten sla-
wischen Literatur nicht vorwerfen, eher ein zu schwaches Eindringen in
die bulgarische Volksseele. In dieser Hinsicht ist jedoch ein Fortschritt
zu verzeichnen, namentlich in den kleineren Erzählungen und Skizzen
aus dem Volksleben (vgl. die Serben), die den jüngeren Belletristen, wie
Veselin (d. i. T. Vlajkov), M. Georgiev, A. Strasimirov, O. Todorov, Elin-
Pelin (d. i. D. Ivanov), G. Stamatov u. a. besonders gelingen. Der heitere
Satiriker A. Konstantinov hat in dem Typus des „Baj Ganju" die bul-
garischen Schwächen vereinigt. A. Strasimirovs Roman „Die Schreckens-
zeit" schildert die Periode nach dem Sturze des Fürsten Alexander.
Die schwächste Seite der Literatur bildet wie bei allen Slawen auch
bei den Bulgaren das Drama. Ein ständiges Theater wurde in Sofia
1907 eröffnet.
Schlußbemerkung. So stehen am Anfange des 20. Jahrhunderts auch .M^i^^'Jschen
alle Südslawen im Getriebe der allgemeinen europäischen Kultur und be- Literaturen,
rechtigen zur Hoffnung, daß sie zur Vermehrung der Güter der Menschheit
auch ihr Scherflein beitragen werden. Die Slowenen, deren Volksmassen
kulturell am meisten entwickelt sind, die künstlerisch hochbegabten Kroaten
und Serben und die fleißigen und arbeitsamen Bulgaren zeigen immer mehr
Interesse und Verständnis für Kunst und Wissenschaft, und mit der steigenden
Sicherheit ihrer nationalen Existenz werden auch die in ihnen schlummern-
den Kräfte für höhere Aufgaben frei. Die Literatur wird sich natürlich
auf den nationalen Grundlagen entwickeln müssen, sich aber von fremden
Einflüssen nicht abschließen dürfen, wobei eine Einseitigkeit schon des-
halb nicht zu befürchten ist, weil die Slowenen, Kroaten und Serben
unter deutschem und italienischem, überhaupt romanischem Kultureinfluß
stehen und noch immer viele Serben und Bulgaren ihre Bildung an ver-
schiedenen Hochschulen Europas genießen. Zur Selbstkritik innerhalb der
einzelnen Stämme wird auch eine unbefangene Wertschätzung und Kon-
trolle der sprachlich so nah verwandten Nachbarn treten müssen. Nament-
lich auf dem Gebiet der Wissenschaft sind die Südslawen viel mehr gegen-
seitig auf sich angewiesen, als sie es wegen ihrer politischen und religiös-
nationalen Eifersüchteleien fühlen. Das beste Beispiel bietet das dringende
Bedürfnis eines kritischen Zentralorganes. Vor allem wird aber die Aus-
breitung und Vertiefung der modernen Kultur die bestehenden Gegensätze
zwischen Kroaten und Serben immer mehr ausgleichen, so daß einer
Schriftsprache auch wirklich eine Literatur entsprechen wird. Der Unter-
schied zwischen der cyrillischen und lateinischen Schrift, welch letztere
einen starken Gewinn bei den Mohammedanern zu verzeichnen hat, wii"d
auf den zwischen der „deutschen" und lateinischen herabsinken. Lehrreich
ist auch der Einfluß, den Bosnien und Herzegowina in jüngster Zeit auf
die Orthographie ausgeübt haben. Als die Länder, deren Sprache schon
Jahrhunderte mustergültig war, der europäischen Kultur erschlossen wurden
i6»
244
Matthias Murko: Die südslawischen Literaturen.
(1878), brachten einsichtsvolle Männer auch die phonetischen Grundsätze
Vuk Karadzics vollständig zur Geltung, so daß alle amtlichen Publikationen
auch dem Buchstaben nach in beiden Schriften identisch sind. Diesem
Beispiel folgten dann die kroatische und österreichische Regierung, so
daß heute alle Kroaten und Serben eine phonetische Orthographie besitzen,
die dem Ideale einer solchen bei den europäischen Völkern am nächsten
kommt. Da die Kroaten und Serben mehr als acht Millionen zählen, so
sind die Bedingungen für einen Aufschwung ihrer Literatur besonders
günstig. Für ihr Verhältnis zu den Slowenen ist bezeichnend die Tat-
sache, daß die slowenische „Matica" (literarische Gesellschaft) in Laibach
seit 1906 ein Werk in serbisch -kroatischer Sprache und die kroatische in
Agram ein solches in slowenischer Sprache herausgibt und daß volkstüm-
liche Universitätsvorträge in Laibach von Professoren der Agramer Uni-
versität gehalten werden (seit 1906/7).
Literatur.
Die südslawische Literaturgeschichte liegt noch im argen. Eine einheimische, modernen
Anforderungen entsprechende Gesamtdarstellung irgend einer südslawischen Literatur, wie
sie bei Nordslawen mehrfach vorhanden sind, gibt es nicht. Auch gute Monographien über
einzelne Perioden und Schriftsteller sind nicht genügend vorhanden. Für die ältere Literatur
kommen die Arbeiten der Russen, die ja die literarischen Erzeugnisse der Südslawen besser
aufbewahrt haben als sie selbst, sehr stark in Betracht.
Die erste ,, Geschichte der südslawischen Literatur" schrieb der böhmische Slawist
P. J. §.\FAftfK. während seines Aufenthaltes unter den Serben in NeusaU (bis 1833). Dieses
gründliche Werk ist leider erst nach seinem Tode erschienen (Prag, 1864), hat aber noch
heute wegen der nach dem Inhalt geordneten bibliographischen Angaben seinen Wert nicht
verloren. Paralleldarstellungen der bulgarischen, serbokroatischen und slowenischen Lite-
ratur gab der Russe A. N. Pypin in seiner im Verein mit dem Polen W. D. SPASOWICZ
herausgegebenen ,, Geschichte der slawischen Literaturen", L Band (Petersburg, 1879), die
deutsche Übersetzung von Traugott PECH (Leipzig, 1880). Das Werk war für seine Zeit eine
vortretfüche Leistung, besonders mit Rücksicht darauf, daß es mit den in Petersburg vor-
handenen literarischen Hilfsmitteln geschrieben wurde ; am schwächsten ist der slowe-
nische Teil.
Die beste Übersicht der Einzelliteraturen geben zwei Schulbücher: Istorija srpske
knjizevnosti von StOJAN NovakoviÖ (2. umgearbeitete Auflage, Belgrad, 187 1), der sein
Werk zum Nachteil der serbokroatischen Literaturgeschichte im Stiche gelassen hat;
Blgarska literatura von A. Teodorov (die i. Auflage, die wegen der Literaturangaben für
wissenschaftliche Zwecke mehr zu empfehlen ist, Philippopel, 1896, die 2., abgekürzte und
verbesserte, 1901).
Eine fleißige, aber nicht immer verläßliche Sammlung biographischer und bibliogra-
phischer Materialien bietet die vierbändige slowenische Literaturgeschichte von Dr. K.Glaser
(Zgodovina slovenskega slovstva, Laibach, 1894 — 1898). Der biographisch -bibliographischen
Methode folgt sehr auch die illustrierte kroatische und serbische Literaturgeschichte von
Dr. DURO SuRMlN (Povjest knjizevnosti hrvatske i srpske. Agram, 1898).
Eine Gesamtdarstellung der südslawischen Literaturen im Stile dieser Übersicht wird
der Verfasser in der Sammlung ,,Die Literaturen des Ostens" (Leipzig, C. F. Amelangs Ver-
lag) veröffentlichen.
Bibliographische Werke :
Franc Simoniö, Slovenska bibliografija, I. del: Knjige (1550 — 1900) (Laibach, 1903 — 1905).
Ivan KukuljeviÖ Sakcinski, Bibliografia hrvatska. I (Agram, 1860). — Dodatak (Nach-
trag), 1863.
StOJAN NOVAKOV16, Srpska bibliografija za noviju knjiiSevnost 1741 — 1867 (Belgrad, 1869).
Ergänzungen vom J. 1868^1884 (mit Unterbrechungen) im Glasnik der serbischen ge-
lehrten Gesellschaft.
A. Teodorov, Blgarski knigopis, I (1641 — 1877) im IX. Bande des Sbornik za narodni
umotvorenija nauka i knizina des Ministeriums für Volksauf klärung (Sofia, 1893). Er-
gänzungen im PeriodiCesko Spisanie.
DIE NEUGRIECHISCHE LITERATUR.
Von
Albert Thumb.
Einleitung. Die Literatur des heutigen griechischen Volkes steht
unter einem Zwiespalt der sprachlichen Form, wie er sonst in Europa
nirgends in gleicher Weise vorkommt. Zwei Sprachen, die innerlich, d. h.
in ihrem lautlichen, flexivischen, syntaktischen und lexikalischen Gefüge
durch eine Kluft von fast zwei Jahrtausenden voneinander getrennt sind,
bilden geradezu zwei Literaturen, die etwa dem Nebeneinander der Sans-
krit- und Prakritliteratur, des mittelalterlichen Latein und der romanischen
Volkssprachen zu vergleichen sind. Die beiden Kreise schneiden sich
wohl da und dort, wie auch die beiden Sprachformen auf der mittleren
Linie Kompromisse schließen — aber der Inhalt der beiden literarischen
Strömungen zeigt doch grundsätzliche Verschiedenheiten, deren Ursachen
nicht andere sind als diejenigen, welche die „Diglossie" der heutigen
Griechen bedingen. Seit jener geistigen Bewegung der ausgehenden An-
tike, die man mit dem Schlagwort des Attizismus bezeichnet, und der
eine allgemeine starke Neigung zu jeglicher Art des Archaisierens zu-
grunde liegt, seit den Tagen einer sinkenden Kultur, wo Redekünstler
die mangelnde Originalität durch äußerliches Nachahmen der klassischen
Form zu ersetzen suchten, hat das griechische Schrifttum den Anschluß
an die Sprache des Lebens verloren. Die neue Entwicklung, die* mit
Polybios einsetzte, wurde unterbrochen; noch verhängTiisvoUer war aber
für die Folgezeit, daß auch das Christentum, das in der Bibel und in
seinen frühesten Schriftwerken sich über die Regeln der literarischen
Sprache hinweggesetzt hatte, mit seiner inneren Hellenisierung auch die
äußere Form änderte und ganz in die Bahnen des herrschenden profanen
Schrifttums einlenkte. So sind die Erzeugnisse der Vulgärsprache bis in
die jüngste Zeit immer nur sprunghaft auftretende Erscheinungen, während
die Hauptmasse der Literaturprodukte in ununterbrochenem Zusammenhang
aus der Werkstätte einer abgestorbenen Sprache hervorgeht, in der nur
ab und zu, widerwillig und oft unbewußt, Elemente der lebenden Sprache
verwendet werden: so entstand eine Sprache, die weder alt- noch neu-
I. Die ältere gelehrte Literatur und die Wissenschaft. Zi^."]
griechisch ist, die vollends unter den Händen ungebildeter und geschmack-
loser Skribenten zu einem makkaronistischen Gemengsei alter und neuer
Wörter und Fonnen wird — eine Sprache von Epigonen ohne Originalität
und Geschmack.
I. Die ältere sfelehrte Literatur und die Wissenschaft. In Die Herrschsaft
ö der archaisie-
der griechischen Literatur spielt quantitativ die archaisierende Schrift- rcnden Sprache.
spräche, die sogenannte Kaöapeucuca (die „Reinsprache"), eine so vor-
herrschende Rolle, daß der Literarhistoriker die in ihr geschriebenen
Werke nicht ignorieren darf, selbst wenn er nur den Regungen der
Volkssprache den echten Titel „neugriechisch" zuerkennt. In der Prosa
stehen die Richtungen am schroffsten einander gegenüber. Von der Un-
geheuerlichkeit, dem Volk das Altgriechische wieder aufzwingen zu wollen,
ist man allerdings abgekommen , aber die Sprache, welche heute in ge-
lehrten Werken, in Zeitungen, Gesetzen, Verordnungen usw. angewendet
wird, ist gerade noch altertümlich genug. Je weiter wir zum Mittelalter
hinaufsteigen, um so mehr tritt die Volkssprache hinter den Erzeugnissen
der überkommenen Sprache zurück. Von welchem Zeitpunkt an soll man
überhaupt von einer neugriechischen Literatur sprechen? Wie ein fein-
sinniger griechischer Schriftsteller einmal bemerkt hat, beginnt für die
heutigen Griechen die Neuzeit erst mit ihrem Freiheitskampf — und daß sie
den Übergang zur neuen Zeit noch nicht völlig gefunden haben, das ergibt
sich aus der Tatsache, daß man noch um eine moderne Literatursprache
kämpft; die Griechen haben jene Umwälzung noch nicht vollzogen, die am
Ausgang des Mittelalters den lateinischen Völkern mit der lingua volgaris
das Bewußtsein des eigenen Volkstums brachte. Die Ereignisse, welche
für Westeuropa das Anbrechen einer neuen Zeit bedeuten, sind für die
geistige Entwicklung des Ostens ohne positive Wirkung gewesen. Das
Jahr 1453 brachte eine schwere Zeit der Knechtschaft, die jede weitere
und neue Entwicklung hemmte, den Sinn für die höheren Güter des Lebens
unterdrückte. Wo sich geistiges Leben auch fernerhin zeigt, wandelt es
weiter in den Bahnen der Byzantiner. Männer wie Laskaris oder Bessarion,
welche nach dem Fall Konstantinopels griechische Wissenschaft und Lite-
ratur nach dem Westen brachten, sind natürlich echte Byzantiner, aber
auch die folgende Zeit bedeutet keine Änderung: das beweisen die ge-
lehrten Griechen, die im 16. Jahrhundert mit dem Tübinger Professor
Martin Crusius im Briefwechsel standen, das zeigt die Schriftstellerei des
in Chios geborenen, im Westen aufgewachsenen Leo AUatios, der neben
einer vielseitigen gelehrten Tätigkeit auch als panegyrischer Dichter im
alten Stil hervortrat (Gedichte auf Papst Urban VIII., die Königin Christine
von Schweden). Der geistige und materielle Aufschwimg des 18. Jahr-
hunderts, der die Griechen wieder aus der dumpfen Resignation der
Knechtschaft herausriß, erzeugte keine geistige Revolution, sondern nur
die Wiederbelebung alter Tradition: dem Volke die geistigen Güter der
i8. und iQ.Jahi
2a8 Albert Thumb: Die neugriechische Literatur.
entschwundenen Zeit wieder zugänglich zu machen und es dadurch auf
ein höheres Niveau der Bildung zu heben, war die Aufgabe der Männer,
welche durch Gründung und Leitung nationaler Schulen sich die größten
Verdienste um ihr Volk erworben haben. Die Phanarioten, welche im
Dienste der Pforte Einfluß und Reichtum gewannen, die Kauf laute von
Chios, Hydra und Spetsa und anderen Inseln, die durch ihren regen
geschäftlichen Sinn den Handel des Mittelmeeres an sich zogen, verwen-
deten ihre Reichtümer, um Schule und Wissenschaft zu fördern; an die
alte Patriarchenschule zu Konstantinopel schlössen sich seit Ende des
17. Jahrhunderts Neugründungen an, von denen einige (Chios, Patmos,
Dimitsana im Peloponnes) als höhere Bildungsstätten in der griechischen
Welt großes Ansehen gewannen. Neue Bahnen wurden freilich weder
der Literatur noch der Wissenschaft eröffnet; die byzantinische Gelehr-
samkeit wirkte weiter und schuf eine Form der Bildung, welche der Masse
des Volkes fremd bleiben mußte. Der Augenblick wurde wieder einmal
versäumt, wo durch eine gründliche Reform dem Schrifttum neues Leben
eingehaucht werden konnte, und der esoterische Charakter der Bildung
verhinderte bis zum heutigen Tage, daß die Schule Trägerin einer natio-
nalen und lebendigen Sprache wurde.
Der Dichter, den man aus dem 18. Jahrhundert nennen muß, Kon-
stantin Dapontes {1707 — 178g), zeigt zwar keine Abneigung gegen die
Volkssprache und verwendet sie sogar, seltsam gemischt mit altgriechischen
Formen, in seinen moralisierenden und panegyrischen Dichtungen („Frauen-
spiegel", Xpr)CTor|9eia u. a.); aber er ist doch mit dem Besten seiner Kunst,
den Kirchenliedern (besonders Hymnen auf die Mutter Gottes) nur ein
Nachfahr der byzantinischen Kirchenpoesie.
1 In der Wissenschaft nehmen theologische Fragen immer noch einen
großen Raum ein; im übrigen herrscht die Neigung zu polyhistorischer
Umfassung weiter Wissensgebiete; daraus ergab sich eine oft erstaunliche
Produktivität, aber keine Originalität. Es ist byzantinischer Geist, nur
daß jetzt nicht mehr das Wissen des Altertums, sondern das des fort-
geschrittenen Westens bearbeitet wird. Eugenios Bulgaris (17 16 — 1806)
ist ein hochbegabter und universal gebildeter Vertreter dieser Schrift-
stellerei; Theologie und Philosophie sind die Mittelpunkte seiner Tätig-
keit. Ein anderer, Konstantin Oikonomos (1780 — 1857), ein gefeierter
Theologe, Lehrer und Kanzelredner, der schon in die Zeit des neuerstan-
denen Hellas hinüberreicht, ist ein griechischer Humanist, dem das Alt-
griechische näher stand als die Frage, wie Wissenschaft und Bildung den
wirklichen Bedürfnissen des Volkes anzupassen seien.
Bis zum heutigen Tag beruht die Wissenschaft der Griechen auf un-
selbständiger Nachahmung der „Franken"; große Entdeckungen hat sie
nicht aufzuweisen — ja sie bedeutet nicht einmal eine Summe hervor_
ragender Kleinarbeit, welche Europa unbedingt nötigte, von ihr besonders
Kenntnis zu nehmen. Nicht einmal in der archäologischen Erforschung
n. Die Vollissprache und die Volkspoesie. 24g
des eigenen Landes und im Studium der byzantinischen Philolog-ie haben
die Griechen die Führung, wenngleich sie hier einige tüchtige Kräfte be-
sitzen; Altertum und Byzanz sind Schlagwörter, an denen man sich wohl
oft begeistert, die aber bis jetzt keinen originellen Inhalt zu erzeugen
vermochten. Doch gibt es eine glänzende Ausnahme: Georg Hatzidakis
hat die wissenschaftliche Erforschung des Neugriechischen und seiner Dia-
lekte begründet — aber er ist so gut wie ohne Schüler und findet nur
im Ausland Interesse für seine Tätigkeit, weil die Masse seiner Lands-
leute die Volkssprache viel zu sehr verachtet, als daß man sie ernsthafter
Studien würdigte.
Doch es ist hier nicht der Ort, die Entwicklung der griechischen
Wissenschaft weiter zu verfolgen. Sofern es sich aber um die literarische
Form handelt, müssen wenigstens zwei Geschichtswerke genannt werden,
Spyridon Trikupis' Geschichte des griechischen Aufstandes (1853) und
K. Paparrigopulos' Geschichte des griechischen Volkes (2. Aufl., 1886
bis 1887), deren mittelalterlicher und neuzeitlicher Teil auch als das Er-
gebnis eigener Forschung wertvoll ist.
Die Einheitlichkeit der griechischen Kunstprosa seit den Anfängen Das Künstliche
*^ ^ . (-, ^^^ Schnft-
von Byzanz bis heute hat gewiß etwas Imponierendes; daß eine Sprach- spräche.
form über einen Zeitraum von nahezu zwei Jahrtausenden die Literatur
beherrscht und in ihre Fesseln zwingt, ist in Europa einzig. Man darf
sich freilich «icht darüber täuschen, daß doch nur die Äußerlichkeiten
der Sprache, meist nur die flexivische Form und die Wortwahl, alt ge-
blieben sind. Wer aber nicht Altgriechisch gelernt hat, versteht diese
Sprache nicht; kein Wunder, daß ein lebendiges Sprachgefühl ihr gegen-
über nicht besteht. Wie das Mönchslatein mischt sie die Formen, Wörter
und Konstruktionen verschiedener Zeiten. Im Prinzip ist die Kaöapeücuca
natürlich durchaus puristisch und sucht Lehnwörter oder vulgäre Wörter
des täglichen Lebens durch antikisierende Neubildungen zu ersetzen, wo
immer es möglich ist; eine immense Arbeit wurde auf diese scheinbare
„Verbesserung" der Sprache verwendet. Und doch, wie illusorisch ein
solcher Purismus ist, zeigt gerade diese Schriftsprache in der viel tiefer
ins Sprachleben eingreifenden Gestaltung des Ausdrucks, wo fremde Idio-
tismen, besonders Gallizismen, nicht selten sind. Dieser Fehler wird be-
sonders durch die Zeitungen und die zahlreichen, oft nachlässig gemachten
Übersetzungen französischer Romane begünstigt, wie denn auch die ein-
heimische Romanproduktion, die das Lesebedürfnis der Halbgebildeten zu
befriedigen hat, meist den Stempel nachgemachter ausländischer Ware
trägt.
II. Die Volkssprache und die Volkspoesie. Während die Schrift- Die voiks-
* spräche.
spräche in toten Formen weiter überliefert wurde, folgte die lebende
Sprache dem Gesetz einer stetigen Entwicklung; die Keime der neu-
griechischen Volkssprache finden sich bereits in der sogenannten Koine,
250
Albert Thumb: Die neugriechische Literatu
der gesprochenen Sprache des hellenistischen Zeitalters; aus dieser Sprach-
form, die im wesentlichen auf attischer Grundlage ruht, erwuchsen — mit
Ausnahme des tsakonischen Dialekts — alle neugriechischen Dialekte,
auch die eigenartigen und altertümlichen Mundarten vom Pontes, von
Kappadokien und Cypern. Die Differenzierung der Dialekte hat jeden-
falls schon im Laufe des ersten christlichen Jahrtausends begonnen; die
Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit derselben wird von den Anhängern
der Schriftsprache als Beweis dafür angeführt, daß es keine einheitliche,
für die Literatur verwendbare Volkssprache gebe. Aber die Gesamtheit
der Dialekte stellt eine Sprachform dar, die in ihrem Charakter moderner
ist als die Schriftsprache; außerdem gibt es eine „Durchschnittssprache",
die überall verstanden und auch literarisch verwendet wird: im Volks-
lied und in der Kunstpoesie.
Die volkstümliche Prosa, zu der schon im Mittelalter auf Cypern ein
beachtenswerter Anlauf genommen worden war, hat erst in der aller-
jüngsten Zeit eine gewisse Bedeutung gewonnen: denn die Chroniken und
Volksbücher (z. B. über Alexander den Großen oder die Schwanke des
Bertoldos u. dgl.) sind von geringem literarischen Wert — ganz abgesehen
davon, daß sie in ihrem makkaronistischen Griechisch nur sehr unvoll-
kommene Vertreter der Volkssprache sind. Diese fand ihren echtesten
Ausdruck in der Volkspoesie, deren reicher Schatz das kostbarste Er-
zeugnis neugriechischen Geisteslebens ist; sie steht auf einem hohen dich-
terischen Niveau und enthält nicht wenige Perlen. Der Liederschatz des
Volkes ist nicht erst das Produkt der jüngsten Zeit; doch nur selten ist
es uns möglich, das Alter einzelner Stücke zu bestimmen — schon des-
halb nicht, weil die schöpferische Phantasie des Volkes die Texte be-
ständig um- und weiterdichtet. Aber daß in der Tiefe des Volkslebens,
abseits von der offiziellen Literatur, sogar Motive des klassischen Alter-
tums fortgepflanzt wurden, das sehen wir bei einem neugriechischen Tanz-
lied, dem sogenannten „Schwalb enlied": das ihm zugrunde liegende Motiv
findet sich schon in einem bei Athenäus überlieferten Lied, das einst die
Kinder bei der Ankunft des Frühling-s auf Rhodos sangen. Ein ziemlich
hohes Alter der erotischen Lyrik ergibt sich ferner aus dem inhaltlichen
und formalen Zusammenhang, der zwischen „rhodischen" Liebesliedern des
14. Jahrhunderts und verschiedenen neugriechischen Volksliedern besteht.
Andererseits ist aber das byzantinische Nationalepos von Digenis Akritas,
dem Grenzfürsten, der das Christentum im Osten des Reiches gegen die
Sarazenen verteidigte, in Trümmer zerschlagen, von denen nur noch einige
Stücke im Osten des griechischen Sprachgebietes zu finden sind. Das
historische Bewußtsein des Volkes ist überhaupt jung. Einen tiefen und
erschütternden Eindruck machte der Fall von Konstantinopel, so daß er
nicht nur unmittelbar eine Reihe von Klageliedern (epnvoi) hervorrief,
sondern auch mit einem Kranz von Legenden umsponnen wurde, die das
Volkslied weiter erzählte. Die Mehrzahl der historischen Volkslieder be-
II. Die Volkssprache und die Volkspoesie. 251
schäftigt sich jedoch mit einer viel jüngeren Zeit: sie besingen die Kleften,
jene tollkühnen und todesmutigen Freischärler, die in den Zeiten der elen-
desten Knechtschaft in den Bergen die Freiheit suchten und mit den
Türken in unaufhörlichem Kampfe lagen. In diesen Liedern lebt noch
die epische Begabung, welche einst die Heldengesänge von Achill und
Aias geschaffen hat.
Nicht nur historische Stoife, sondern auch freie Schöpfungen der Lied vom toten
Phantasie werden im Volkslied dichterisch gestaltet. Von allgemeiner
literarischer Bedeutung ist das düstere Lied vom toten Bruder, das durch
Bürgers „Lenorenritt" auch unserer Literatur angehört; im griechischen
Volkslied dürfen wir, wie neuere Forschungen gezeigt haben, die Urform
des Motivs sehen. Seine Wurzel ist der unheimliche Vampyrglaube,
die Vorstellung, daß ein von Sünden oder irgendeinem Fluch geplagter
Mensch im Grabe nicht Ruhe finde, sondern nächtlichenveile auf der Erde
umherwandeln müsse, um die Menschen und gerade seine Angehörigen
zu schrecken.
Leidenschaft, wilder Schmerz und rührende Klage finden ihren eigen- Miroiogien und
Charos - Lieder.
artigen Ausdruck in den Mirologien oder Klageliedern, die von den
Frauen an der Bahre eines teuren Toten gesungen werden. Diese Miro-
logien bewegen sich nicht immer in festen Formen; sie sind oft nur ge-
hobene Prosa, wie sie persönliches Erleben eingibt, bald episch das Schicksal
des Verstorbenen erzählend, bald traute Zwiesprach mit dem Toten hal-
tend oder dem Gefühl des Schmerzes Ausdruck verleihend. Solche Dich-
tung des Augenblicks läßt sich nicht leicht wiedergeben; einige Lieder
von fester Form dienen den klagenden Frauen als Ausgangspunkt ihrer
Improvisationen. Die schönsten Vertreter der Gattung zeichnen sich durch
dramatische Kraft und pointierte Kürze aus und verraten eine lebhafte
Phantasie, die Gemälde von ergreifender Anschaulichkeit zu schaffen weiß.
Diese Züge steigern sich vielleicht zu höchster Wirkung in der Gruppe
von Liedern, die sich mit Charos, dem Todesgotte, beschäftigen; Name
und Vorstellung sind mit dem alten Charon, dem Fährmann des Hades,
identisch. Der Tod wird nicht etwa als Skelett dargestellt, sondern als
ein kräftiger Mann, der auf schwarzem Rosse auszieht, um seine Opfer
zu suchen, für die er nur grausamen Hohn übrig hat. Wie der kraft-
und jugendstrotzende Mensch mit dem Tode ringt, wird als Allegorie in
mehreren Variationen dargestellt („Charos und der Hirte", „Charos und
das Mädchen"). Eines der Charoslieder ist durch Goethes Übersetzung
berühmt geworden: es beschreibt den Zug des Todes und vereinigt er-
habene Naturschilderung mit feinem Sinn für allegorische Darstellung.
Das Lied begleitet den Griechen von der Wiege bis zur Bahre, im Liebespoesie.
Liede singen Jüngling und Jungfrau von der Liebe Lust und Leid, Hoch-
zeitslieder begleiten das junge Paar in das eheliche Heim; der Schmerz
der Trennung, das Leben in der Fremde und deren Verlockungen werden
verschiedentlich behandelt. Das Düstere und Unheimliche, Schilderung
2C2 Albert Thumb: Die neugriechische Literatur.
von Kampf und Tod sind nicht etwa der einzige Grundzug der Volks-
poesie. Selbst der Klefte ist empfänglich für die Freuden des Daseins:
ein epirotisches Lied schildert uns die Kleften, wie sie freudig den Früh-
ling erwarten, um den auf die Berge ziehenden Hirtenmädchen Küsse zu
rauben. Hierbei ist das erotische Element nur angedeutet; aber die Zahl
der Lieder, welche die Liebe zum Inhalt haben, ist fast unerschöpflich;
dichterische Begabung, lebhaftes Empfinden und Phantasie, Scherz und
Ernst, Witz und Pointe äußern sich in den mannigfachsten und anmutigsten
Formen. Die Gemütstiefe des deutschen Liedes findet sich nur selten;
das rein sinnliche Moment tritt in den Vordergrund, jedoch ohne die las-
zive Ausdrucksweise der südslawischen Erotik; und es ist seltsam, wie
neben dem einfachen Ausdruck natürlichen Empfindens sich oft ein Re-
flektieren, eine Selbstironie zeigt, die an die Lyrik Heines erinnert. Man
beobachtet die Eigenart der Volksdichtung auf kleinstem Raum in den
zahlreichen Zweizeilen (Disticha), die mit unseren Schnadahüpfeln ver-
glichen worden sind; in wenigen Worten, meist in anschaulichen Gleich-
nissen, die gern der umgebenden Natur entnommen werden, geben sie
kleine Momentbildchen, die durch die Kühnheit des Gedankens (Beseelung
der Natur) und treffende Charakteristik überraschen: allgemeine Sentenzen
wechseln mit Liedchen, die das einzelne Erlebnis schildern; die ganze
Skala der Empfindungen, besonders der schmerzlichen, alle Variationen
des vielseitigen Themas werden berührt. Von den Sprüchwörtern ab-
gesehen (deren Zahl ungeheuer ist) sind diese Zweizeilen vielleicht am
besten geeignet, einen Einblick in die griechische Volksseele zu geben.
IIL Die schöne Literatur bis zur Begründung des griechischen
Staates. Die neugriechische Volkspoesie ist des Interesses würdig, das
ihr Goethe einst geschenkt hat; die Weltliteratur darf an diesen Erzeug-
nissen menschlichen Geistes nicht vorübergehen. An diese nationale
Poesie und Sprache muß sich daher die Kunstliteratur anlehnen, und in
ihren schönsten Blüten tut sie es auch. Freilich entwickelte sich die neu-
griechische Poesie an fremden Mustern — aber diese wirkten nur dann
fördernd, wenn sie sich mit dem Geist vermählten, den das Volkslied
atmet. Das gilt von den Dichtungen, welche im Laufe des i6. und
17. Jahrhunderts in Kreta entstanden und für die Insel das Aufblühen
einer neuen Literatur ankündeten.
Literatur Kretas An der Spltze Steht eine dramatisierte Geschichte vom Opfer
17. Jahrhundert. Abrahams (16. Jahrhundert), die zwar die Bearbeitung eines italienischen
Mysterienspiels zu sein scheint, aber durch die der Volkspoesie ent-
nommenen Motive und besonders durch die psychologische Behandlung
der Mutterliebe durchaus als ein Erzeugnis griechischer Literatur zu be-
trachten ist. Viel stärker tritt das italienische Element in zwei andern
Werken hervor. Schon der Name des einen der beiden Dichter,
Vitzentios Kornaros, verrät das Milieu, in welchem diese Literatur
in. Die schöne Literatur bis zur Begründung des griechischen Staates. 253
gedieh: außer den Jonischen Inseln hat itahenische Kultur nirgends so
tiefe Wurzeln geschlagen wie auf Kreta. Wie sehr aber auf dieser Insel
doch das griechische Element den Grundton der dortigen Kultur angibt,
erhellt wiederum aus der Tatsache, daß eine venezianische Familie einen
griechischen Dichter hervorgebracht hat. V. Komaros (Cornaro), der
wahrscheinlich zu Beginn des 16. Jahrhunderts lebte, gehörte der be-
rühmten Dogenfamilie an, der auch Tasso entstammte. Sein Epos „Eroto-
kritos" (fünf Gesänge in etwa 10 000 gereimten Versen), ein Ritterroman,
der die romantische Liebe und die Abenteuer des Helden erzählt, ist eine
naive Mischung von abendländischem Rittertum, neugriechischer Volksart
und antikem mythologischem Beiwerk; als Ganzes künstlerischen An-
forderungen nicht genügend, zeigt es doch dramatische und lyrische
Schönheiten im einzelnen. Mag auch der Dichter durch italienische Vor-
bilder geleitet sein, so fehlt es ihm doch nicht an Originalität; das beweist
er schon durch seine Beherrschung der Sprache; der Dichter hat durch
die Verwendung des kretischen Dialekts ein Vorbild geschaffen, wie die
Volkssprache literarisch zu gestalten sei. Das Epos ist ein beliebtes
Volksbuch geworden, von dem einzelne Episoden in entlegenen Dörfern
sogar wie Volkslieder behandelt werden.
Ein gleicher Ruhm ist einem andern kretischen Dichter, dem Georgios
Chortakis (um 1600), nicht zuteil geworden; seine Tragödie „Erophile" ist
ein mord- und greuelreiches Schauerdrama, dessen nächstes Vorbild in einem
seinerzeit berühmten Drama des i6. Jahrhunderts, der Orbecche des
Giraldi, zu suchen ist. Auch in der Technik, so z. B. in den lyrischen
Intermezzi (ivTep^ebia) verrät der Dichter italienischen Einfluß, zeigt aber
doch gerade in dem stark hervortretenden lyrischen Element die Eigenart
seines Volkes.
Von Kreta aus hätte ein Aufschwung der neugriechischen Literatur,
vor allem die Schöpfung einer modernen Literatursprache erfolgen können,
wenn nicht die schöpferischen und poetischen Kräfte, die sich dort zu
entfalten begannen, durch die türkische Eroberung (1669) in ihrer Ent-
wicklung jäh gehemmt worden wären. Die neue Literatur, welche etwa Literatur
um 1800 einsetzt, knüpfte nicht an Kreta an; sie stand entweder unter
dem Einfluß des Klassizismus (besonders des sprachlichen) und des Aus-
landes, oder sie lehnte sich unmittelbar an die Volkspoesie an. Eine
scharfe Scheidung dieser Elemente ist übrigens gerade bei den beiden
ältesten Dichtem, die wir nennen müssen, kaum vorzunehmen. So ist der
Thessalier Rigas (als Vorkämpfer der griechischen Freiheit 1798 von den
Türken hingerichtet) mit seinen patriotischen Liedern in Sprache und In-
halt stark durch die Antike beeinflußt, aber im Gefühl ein Vertreter seines
Volkes; Athanasios Christopulos aus Kastoria in Mazedonien (1770 —
1847) verdient zwar wegen seiner gewandten und anmutigen Handhabung
der Volkssprache erwähnt zu werden; aber seine leicht tändelnden Lied-
chen in der Art unserer Anakreontiker sind ohne Tiefe des Gefühls oder
2=4 Albert Thumb: Die neugriechische Literatur.
der Gedanken. Ernsteren Inhalts und in der Form an das heimische
Volkshed und die heimische Mundart sich anschließend sind die lyrischen
Gedichte, Fabeln und Satiren des Epiroten Joannis Vilaras (177 1 — 1823);
indem Vilaras die Volkssprache auch in der Prosa verwendete, ging er
seinen Landsleuten mit gutem Beispiel voran — freilich ohne damit
sonderlichen Eindruck zu machen. Denn die Sprachfrage hatte schon die
Richtung genoinmen, welche der Literatur des 19. Jahrhunderts den
Stempel aufdrücken sollte. Man war bereits eifrig dabei, die Sprache zu
„reinigen"; darunter verstand man nicht nur die Beseitigung italienischer
und türkischer Lehnwörter, sondern auch die Verbannung echt griechischer,
aber „vulgärer" Wörter, und man schreckte selbst vor dem äußersten
nicht zurück, wenn es galt, allgemein gebrauchte aber „häßliche" (xubaToc)
Wörter durch solche von antiker Form zu ersetzen. Diese schulmeister-
liche Tätigkeit wurde von Jakobos Rizos Nerulos in einem Lustspiel
KopaKicTiKd (18 13) köstlich verspottet: es werden uns zwei alte Pedanten
vorgeführt, welche mit ihrer Jagd nach altgriechischen Ausdrücken der
Schrecken ihrer Umgebung sind; der junge Mann aber, der die Tochter
des einen dieser Sonderlinge liebt, weiß die Schwäche der beiden Alten
auszunützen, um zum Ziele zu kommen — ganz wie es sich in einem
Lustspiel geziemt.
Der Mann, auf den mit dem Titel KopaKicTiKÖ (eigentlich zu KÖpaKac
„Rabe") angespielt wird, ist der ausgezeichnete Philologe Adamantios
Korais aus Chios (1748 — 1803), einer der glühendsten Patrioten, ein Er-
zieher seines Volkes, das er durch Bildung für die Freiheit reif zu machen
bestrebt war. An den Übertreibungen jener Eiferer, die, wie z. B. Dukas,
für eine nahezu altgriechische vSprachform eintraten, ist er unschuldig:
Korais vertritt den cu|aßißac|aöc, den Kompromiß zwischen Volks- und
Schriftsprache, und hat über Wesen und Aufgabe einer Literatursprache
gesündere Anschauungen als die Mehrzahl der Puristen, welche die Prin-
zipien jenes Mannes zu vertreten glauben. Aber wie dem auch sei,
Korais ist der Vater des herrschenden Systems. Als der griechische
Freiheitskampf zu einem freien griechischen Staate geführt hatte, sah
sich die Nation vor die Aufgabe gestellt, in europäischer Weise alle ihre
öffentlichen Angelegenheiten zu regeln — und dazu gehörte auch die
Entscheidung über die sprachliche Form, in der die Äußerungen des
öffentlichen Lebens zum Ausdruck kommen sollten. Zwischen Korais und
Vilaras entschied man sich für jenen, ja man ging noch über ihn hinaus.
Für die Prosa blieb die Volkssprache ausgeschlossen, und es ist z. B. sehr
zu bedauern, daß der frische Zug, welcher durch Perrävos' Geschichte
von Suli und Parga (1815) geht, nicht auch die Wahl der Sprache beein-
flußte. Die Memoiren, welche der Freiheitskämpfer Theodor Kolokotronis
Sieg der in der Volkssprache verfaßte (1851), haben nicht den Wert eines Litcratur-
"äXprTJhe" Werkes,
j'iofer'^vaw. Wenn sich die Griechen zu Beginn ihrer „Neuzeit" anders entschieden
Sprachreforn
rV. Die Literatur unter der Herrschaft der Schriftsprache. 2 "i S
haben als die übrigen Völker Europas, bei denen nationale Sprache und
nationale Literatur zusammen erwuchsen, so haben hierbei nicht rein lite-
rarische Motive den Ausschlag- gegeben. So mag zunächst darauf hin-
gewiesen werden, daß den national empfindenden Griechen die Volks-
sprache „verekelt" wurde durch die Art und Weise, wie die Jesuiten bei
ihrer Propaganda davon Gebrauch machten. Viel wichtiger ist aber ein
anderes Moment. Der europäische Philhellenismus, der aus der Be-
geisterung für das klassische Altertum erwachsen ist, hatte eigentlich den
Freiheitskampf der Griechen zu einem glücklichen Ende geführt, und
man begreift den Wunsch der Griechen, durch eine dem Altgriechischen
nahestehende Schriftsprache aller Welt und besonders den philhellenischen
Kreisen zu zeigen, daß sie die natürlichen Erben der alten Hellenen
seien. Denn J. Ph. Fallmerayer hatte 182g den Satz ausgesprochen, daß
es überhaupt keine Griechen mehr gebe, daß die alte Bevölkerung von
Hellas durch die Slawenflut hinweggeschwemmt worden sei. Europa
hatte die Griechen unterstützt, weil es sich für die Nachkommen der alten
Marathonkämpfer zu erwärmen glaubte — und nun sollte das nur eine
Illusion gewesen sein. Kein Wunder, daß sich die Grriechen um die
schlimmen politischen Folgen bangten, welche die Enttäuschung Europas
für den jungen Staat haben konnte. Wenn jedoch die Griechen nur ihre
Schriftsprache als Legitimation ihrer Herkunft hätten, dann wäre es um
diese schlimm bestellt. Wenn irgend etwas, dann beweist die griechische
Volkssprache, das neugriechische Volkstum den innem Zusammenhang
alter und neuer Nationalität, und heute herrscht unter den Kundigen kein
Zweifel, daß Fallmerayers Hypothese verfehlt ist. Die heutigen Griechen
dürfen mit vollem Recht die Nachkommen der alten genannt werden,
wenngleich sie durch Mischung fremdes Blut in sich aufgenommen haben
— wie jedes andere Volk Europas. Die Aufregung der Griechen über
Fallmerayer ist verständlich, aber zu bedauern ist, daß sie den Wahn be-
festigen half, der die literarische Entwicklung des Volkes hemmte und
schädigte.
IV. Die Literatur unter der Herrschaft der Schriftsprache.
Die im Jahre 1837 eröifnete Universität Athen ist von Anfang an der
Mittel- und Stützpunkt der gelehrten Sprache und Literatur gewesen und
bis zum heutigen Tage geblieben. Als Professor gehörte ihr eine Zeitlang
Alexander Rangavis (Rangabe, 1810 — 1892) an, der „bewußteste und
ausgeprägteste Verfechter des Klassizismus". Mit Deutschland verknüpft
ihn seine Jugend und sein Alter; in München als Kadett erzogen, be-
kleidete er in -der letzten Periode seines Lebens lange Jahre den Posten
des griechischen Gesandten am Berliner Hof. Er ist ein ebenso viel-
seitiger wie feingebildeter Geist. Zum Offizier bestimmt, als Diplomat im
Staatsdienst verwendet, widmete er sich außerdem philologischen und
archäologischen Studien und bereicherte die Literatur seines Volkes nicht
256 Albert Thumb: Die neugriechische Literatur.
nur mit Übersetzungen fremder Meisterwerke, sondern auch mit eigenen
Dichtungen, Dramen („Die dreißig Tyrannen", „Phrosyni", „Hochzeit des
Kutrulis"), Romanen („Fürst von Morea" — übrigens ein guter Vertreter
des historischen Romans), epischen und lyrischen Gedichten. Aber da
Rangavis ganz im Bann einer exklusiven Sprachform stand und in erster
Linie ein Gelehrter war, so ist er trotz seiner poetischen Fähigkeiten
kein nationaler Dichter geworden. Nur in wenigen Gedichten hat er
Sprache und Inhalt des Volksliedes mit der geläuterten Form der Kunst-
dichtung verschmolzen, hat aber — man muß sagen leider — diese Rich-
tung nicht weiter verfolgt.
Die pedantische und unnatürliche Sprachform rächte sich am bittersten
im Drama. Auch den heutigen Griechen ist dramatische Begabung nicht
abzusprechen: pointierte Rede und Gegenrede findet sich häufig im
Volksliede (s. oben). Aber eine Büchersprache kann nur ein Buchdrama
hervorbringen, das zwar sehr schöne pathetische Reden enthalten mag,
aber der Seele, des Lebens ermangelt. Und solche Werke bleiben Buch-
dramen auch dann, wenn sie alle sonstigen Vorzüge dramatischer Rich-
tung besäßen. Weder Rangavis (der Vater und der Sohn) noch Dimitrios
Vernardakis („Maria Doxapatri", „Merope" und besonders „Fausta") haben
ein nationales Drama geschaffen, so packend bisweilen ihre Stoffe sind.
Die Zahl der Dramen ist zwar verblüffend groß — eine Preiskonkurrenz
ruft jährlich mindestens ein Dutzend hervor, aber ihre Menge steht in um-
gekehrtem Verhältnis zu ihrem Wert.
Zu dem steifen Prunk der Tragödien eines Rangavis stehen einige
Lustspiele in erfrischendem Gegensatz: hier darf sich die Natur eher
hervorwagen. Die „Korakistika" des Rizos Nerulos wurden schon er-
wähnt (N. ist auch Verfasser von zwei Tragödien in Versen, „Polyxena" und
„Aspasia"), und es ist bezeichnend, daß gerade die Sprachfrage den Stoff
zu einem Lustspiel liefert: wo philologische Fragen so unmittelbar wie in
Griechenland die Fragen des Lebens berühren, ist eben dafür bei allen
Gebildeten Interesse vorhanden. So wählte auch Dimitrios Vyzantios
dieses Thema für sein Lustspiel „BaßuXiuvia" (1840), das freilich mehr durch
Komik im einzelnen als durch seine burleske Handlung- interessiert. Der
Dichter führt uns in die sehr gemischte Gesellschaft von Griechen der
verschiedensten Landschaften, die über ihre gegenseitigen sprachlichen Miß-
verständnisse in heftigen Streit geraten; die Hauptfigur aber, der gelehrte
Pedant (XoTiiuTaTOc), wird mit seinem sonderbaren Gerede von keinem ver-
standen, von allen verspottet.
So wichtig für die Gestaltung eines Dramas eine lebensvolle Sprache
ist, so macht sie doch von selbst noch kein Drama. Denn auch die jüngste
Bewegung, von der weiter unten zu handeln ist, hat noch keinen großen
Wurf aufzuweisen: die dramatischen Versuche von Psichari und Eftaliotis
sind an sich interessant, aber kaum von dramatischer Wirkung. Eftaliotis
hat den bemerkenswerten Versuch gemacht, den volkstümlichen Stoff der
rV. Die Literatur unter der Herrschaft der Schriftsprache. 257
Lenorenballade (s. oben) dramatisch zu bearbeiten; aber der über drei
Akte eines Dramas verfolgte Stoff hat dabei an seiner packenden Wirkung
stark eingebüßt. Das Zeug zum Dramatiker steckte in dem früh verstorbenen,
talentvollen Jannis Kambisis (1872 — 1902), der in einigen Dramen („Farce
des Lebens", „Miß Anna Couxley", „Die Kurden") nach der Art Ibsens
die athenische Gesellschaft schildert, in einem Märchenspiel („Der Ring
der Mutter") von Gerhart Hauptmann beeinflußt ist. Kambisis stand über-
haupt stark unter fremdem, besonders deutschem Einfluß : er war ein glühen-
der Verehrer Goethes und Nietzsches — allerdings auch ein Vertreter des
modernen Symbolismus. Als er starb, war er noch ganz in der Entwick-
lung. Als Kritiker ging er seine eigenen Wege ; mit Psichari und anderen
Anhängern der Volkssprache war er nur durch diese, nicht aber durch
seine sonstigen Anschauungen verbvmden.
Dasjenige Literaturgebiet, das am wenigsten unter dem Sprachkampf i-yrik.
zu leiden hatte, ist auch am besten und reichsten ausgebaut, die Lyrik;
hier wo die Sprache des Herzens Grundbedingung ist, wurde die Herr-
schaft der Volkssprache nie ernstlich bestritten. Dabei wirkte mit, daß
die Lyrik im neunzehnten Jahrhundert gleich durch zwei hervorragende
Dichter eröffnet wurde, und daß die Führung- Männern zufiel, die unter
natürlichen literarischen Verhältnissen aufgewachsen waren: Dionysios
Solomos (1798 — 1857) stammte aus Zante, Aristotelis Valaoritis (1824
— 1879) aus Santa Maura (Leukas). Den Jonischen Inseln verdankt das
moderne Griechenland in künstlerischer Beziehung sehr viel; denn die
wenigen Maler und Musiker, welche das Land aufzuweisen hat, stammen
ebenfalls von dort. Als Besitzungen Venedigs der türkischen Barbarei
entrückt, genossen die Jonischen Inseln die Vorteile einer großen Kultur;
und wenn die „Heptanesier" sich in allen künstlerischen Dingen durch
geläuterten Geschmack auszeichnen, so ist gewiß die italienische Luft
daran schuld. An der italienischen Sprache, mit der diese Griechen von
Kind auf vertraut waren, lernten sie die Vorzüge einer dem Leben ent-
stammenden Schriftsprache kennen und schätzen; gab es doch Männer,
die der griechischen und italienischen Literatur angehören (wie z. B. Fos-
kolos und Solomos).
Solomos ist der bedeutendste Dichter der heutigen Griechen; aber soiomc
erst die jüngste Generation lernte ihn verstehen und würdigen. Auch
Solomos gehörte wie Koniaros einer Familie italienischen Ursprungs an;
durch seine Erziehung wurde er überdies mit italienischem Wesen völlig
vertraut, und in seinen Dichtungen verbindet er die Bildung eines alten
Kulturvolkes mit der Eigenart eines neu aufstrebenden Volkes. Die neu-
griechische Volkspoesie war ihm der Born, aus dessen klarer Flut er
schöpfte. Am berühmtesten ist sein großer Dithyrambus auf die Freiheit,
der durch patriotische und poetische Begeisterung, durch die Kühnheit
der Phantasie und die Kraft einer edlen, aber natürlichen Sprache die
Ehre verdient hat, zum Nationalhymnus des jungen Griechenland zu wer-
DiE Kultur der Gegenwart. I. q. 17
2 1:8 AXBERT Thumb: Die neugriechische Literatur.
den. Eine andere größere Dichtung, der Hymnus auf Byron, ist ein
würdiger Ausdruck der Dankbarkeit, den das griechische Volk dem großen
Philhellenen schuldet. Aber auch in seinen kleineren Gedichten (so in
dem Stimmungsbild „Die Vergiftete") schlägt er die ergreifenden Töne
des wahren Dichters an, und in einer lyrischen Rhapsodie „Lambros", die
unvollendet geblieben ist, behandelt er in neuer und origineller Weise
die Schuld eines ahnungslosen Incestes, also jenes ethische Thema er-
schütternder Tragik, das Sophokles' Oedipus und Schillers Braut von
Messina zugrunde liegt.
valaoritis. Solomos ist ein Vertreter des echten Klassizismus, nicht jenes fal-
schen, den die Anhänger der KaOapeüouca wünschen. Als Romantiker
darf Valaoritis bezeichnet werden. Das seiner Heimat benachbarte
Epirus mit seinen Kleften und Kleftenliedern lieferte ihm Form und Stoff
seiner Dichtungen; sie sind zur Kunstdichtung erhobene Volkspoesie: den
Charosliedern hat er ein „Totenlied" (NeKpiKfi ibbn) zur Seite gestellt, das
in Empfindung und Stimmung ganz den Geist des Volksliedes atmet.
Seine epischen Werke (in denen freilich die lyrischen Partien am besten
sind) sollten die Begeisterung für die jüngste Heldenzeit des Volkes
lebendig erhalten: die „Phroso" führt uns an den Hof des mächtigen und
blutgierigen Ali Pascha von Jannina, der „Diakos" schildert die Helden-
taten des gleichnamigen Kleften und Freiheitskämpfers.
Sonstige Lyriker. Der Boden, dem Solomos entstammt, hat auch noch andere, jenem
verwandte, wenn auch nicht ebenbürtige Dichter hervorgebracht; der
Raum verbietet es, mehr als die Namen zu nennen; es sind der mystisch-
empfindsame Julios Typaldos aus Cefalonia (1814 — 1883), der dem Vala-
oritis verwandte Georgios Tertsetis aus Zante, sowie zwei Männer, die die
Verbindung mit der Gegenwart herstellen, G. Markoras aus Korfu (geb.
1826) und Stephan Martzokis aus Zante (geb. 1855).
Nur einer der jonischen Griechen, Andreas Kalvos aus Zante, folgt
in seinen patriotischen Oden den Bahnen desjenigen Klassizismus, der im
griechischen Königreich offiziell war. Neben ihm und dem schon ge-
nannten Rangavis sind zwei Brüder aus einer fürstlichen Phanarioten-
familie, Alexander (1803 — 1863) und Panagiotis (1806 — 1868) Sutsos,
tonangebende Vertreter dieser Richtung — beide lyrisch begabt, aber doch
keine wirklichen Dichter; der eine, Alexander, ein überspannt temperament-
voller Chauvinist, der in Satiren und halb-epischen Dichtungen „Der Ver-
bannte", „Das türkenkämpfende Hellas" seinen verbissenen Haß gegen
Kapodistrias, gegen die bayrische Regentschaft und gegen die Türken
zum Ausdruck brachte, der andere eine sentimentale und pessimistische
Natur, die sich tatenloser Empfindung hingibt (vgl. die zwei größeren
Werke „Der Wanderer" und „Leandros").
Daß bei dem bis in die siebziger Jahre herrschenden Geist die Poesie
des Herzens, die Lyrik, nicht gedeihen konnte, kann nicht überraschen.
Wirkliche Talente wie Zalakostas (1805— 1888) oder Achilleus Para-
V. Die Literatur im Zeichen des Sprachkampfes. 2 SQ
schos (1833— 1895) wurden durch die akademischen Preisgerichte hübsch
im Zaum gehalten, so daß sich ihr dichterisches Empfinden nur gelegentUch
ausleben konnte — dann natürlich in der Sprache, die durch das Volkslied
geadelt ist; den akademischen Preis erhielt aber z. B. Zalakostas nicht für
solche Leistungen, sondern für das Gedicht auf die ruhmvolle Verteidigung
von Mesolongi (Tö MecoXÖYTiov), das mit seinen abgestorbenen Formen und
Versen ein Anachronismus gegen jene Männer ist, die, vom Kleftengeist
beseelt, die zähe Verteidigung der hartbedrängten Stadt durchführten.
V. Die Literatur im Zeichen des Sprachkampfes. SprachUche Der Kampf i
Unnatur führt zur literarischen Verödung. Aber der Genius eines Volkes ^Sprach^
läßt sich durch akademische Vorschriften auf die Dauer nicht unter-
drücken. Ende der siebziger Jahre brach der Sturm los, der von Jahr zu
Jahr heftiger wurde und immer mehr zum reinigenden Gewitter zu werden
scheint. E. Roidis forderte in scharfer Kritik der bestehenden Zustände,
daß die Poesie in die Bahnen einlenken müsse, welche durch das Volks-
lied und einen Dichter wie Solomos vorgezeichnet sind. Und es erstanden
bald in Georg Drosinis und Kostas Palamas zwei Lyriker, die echter
poetischer Empfindung in einer natürlichen Sprache Ausdruck zu geben
wissen. Die Zahl der Lyriker, welche seit 1880 mit wechselndem Glück
die gleichen Forderungen erfüllten, ist recht beträchtlich; über die Einzelnen
zu sprechen verbietet der Raum, auch ist die Lyrik nicht mehr die
charakteristischste Erscheinung in der Literatur des modernen Griechen-
lands. Als naXXiapoi, d. h. als Dichter mit der „langen Mähne" von den
Gegnern der neuen Bewegung verspottet, haben es diese „Jüngst-Griechen"
erreicht, daß in der lyrischen Poesie heute die Herrschaft der Volkssprache
kaum bestritten wird. A.ber nachdem diese Position erobert war, galt es
für die Anhänger der Opposition, weitere Gebiete zu gewinnen. Es war
von großer Bedeutung, daß die von Drosinis und Politis geleitete Zeit-
schrift 'GcTia der neuen Richtung eine Heimstätte bot; mit Geschmack
und Zurückhaltung vertrat sie die neuen Ideen. Sie ging leider 1894 ein,
die Zeitschriften, die folgten, sind radikaler und weniger vorsichtig; daß
beim Eingehen der einen Zeitschrift immer wieder neue in den Kampf
einrücken, zeigt, daß die Sprachfrage nicht mehr zur Ruhe kommt, bis
eine Entscheidung herbeigeführt sein wird. Der Kampf trat in eine ent-
scheidende Krisis durch die Tätigkeit von Jean Psichari, einem in j. Psichari.
Paris als Professor der neugriechischen Philologie wirkenden Griechen.
Mit der teils empfindsamen, teils stark räsonierenden und satirischen Be-
schreibung einer Reise nach Griechenland (Tö xaSibi |uou, 1888, 2. Aufl. 1905)
übernahm er die Führung im Kampf und gab das Zeichen zu einem neuen
Stunn gegen die Kaöapeüouca. In diesem Buche, dessen „vulgäre" Sprache
bei den Anhängern der bestehenden Ordnung helle Entrüstung hervorrief,
predigte er das Evangelium der Volkssprache in glühenden Worten; im
Gegensatz zu anderen, wie Roidis, die in ihren Erörterungen sich der
17*
2 5o Albert Thumb: Die neugriechische Literatur.
Schriftsprache bedienten, verband Psichari die Propaganda des Wortes
und der Tat: in wissenschaftlichen Aufsätzen wie in Novellen, Romanen
und Dramen schuf er eine Sprachform der Prosa, die nicht nur jeglichen
Gedankenausdrucks fähig ist, sondern auch durch ihren eleganten und
leichten Fluß wohltuend berührt gegenüber der toten Steifheit der Ka6a-
peuouca. Als Schriftsteller ist er schwer zu beurteilen, da er zu vielseitig
schillernd ist; in seinem „Roman der griechischen Seele" (Toveipo lou
fiawipri, 1897) nimmt er den höchsten Flug, indem er uns einen Helden
des Geistes schildert — eine Art Faustnatur, der doch eigentlich das
fehlt, was zum Helden in erster Linie gehört, der Tatendrang, die höchste
Aktivität; denn sein Janniris ist schließlich doch nur ein Gelehrter, ein
Schriftsteller, ein Dichter, ein homme d'esprit, mögen diese Gaben auch
in höchster Potenz vorhanden sein — und so hat Psichari vielleicht wirk-
lich die geheimste Natur seines Volkes idealisiert. Es ist übrigens be-
merkenswert, daß Psichari in dem Kampfe, den er entfesselt hat, von
seinen Geg'nern immer nur als Sprachreformer, nicht als Schriftsteller an-
gegriffen wird; nur der schon genannte Kambisis hat in mehr schwärme-
rischen als klaren Ausführungen die literarische Richtung von Psichari
bekämpft, indem er ihr den lebendigen Geist des neugriechischen Volks-
tums abstritt. Aber Kambisis vertritt selbst einen so ungriechischen
Symbolismus und steht so sehr unter der Herrschaft einer fremden Ideen-
welt, daß man diesem Urteil keine allzugroße Bedeutung beimessen kann.
Hat doch Psicharis Auftreten wie mit Zauberkraft eine bodenständige
Literaturgattung zum Leben erweckt, die bis dahin fast ganz fehlte: die
heimatliche Dorf- und Seenovelle.
Im Bann des Klassizismus hatte die Erzählungskunst (die durch einige
historische Romane und Novellen vertreten war) wenig Eigenart: griechi-
scher Ursprung wäre ihnen in fremder Übersetzung kaum anzusehen. Das
gilt auch noch von Drosinis' anmutiger Novelle „Amaryllis" (1886), die
durch ihre ungekünstelte Sprache den Übergang zu einer neuen Technik
der erzählenden Prosa bildet. Aber in anderen Erzählungen zeigt dieser
Schriftsteller ein feines Verständnis für die Regungen der Volksseele,
ebenso wie der schon genannte Palamas mit seinem „Tod eines Palli-
karen". Aber erst das Beispiel von Psichari hat eine Reihe jüngerer
Talente ermutigt, sich in den Dienst dieser heimischen Novelle und der
Volkssprache zu stellen; gewandte und gemütvolle Erzähler wie z. B.
Chatzopulos, Christovasilis, Eftaliotis, Epachtitis, Karkavitsas schildern uns
in anschaulichen Farben die Bauern des Peloponnes oder die Hirten von
Epirus oder die aus Rauheit und Weichheit seltsam gemischten Seeleute
der Inseln; das Denken und Fühlen des Volkes, seine Freuden und
Schmerzen, sein Tun und Treiben wird uns bald in ausgeführten Novellen,
bald in kleinen Skizzen vor Augen geführt. Sie sind das Gegenstück
zum Volkslied, das sie in der trefflichsten Weise illustrieren. Die objek-
tive Darstellung ist ein bemerkenswertes Kennzeichen dieser Schilderungen:
V. Die Literatur im Zeichen des Sprachkampfes. 201
das persönliche Empfinden des Erzählers tritt hinter dem Erzählten fast
ganz in den Hintergrund.
In der Pflege solcher Heimatskunst reifte die Volkssprache heran, um Sonstige Prosa
für größere Aufgaben Verwendung finden zu können. Zwar ist der natio-
nale Roman großen Stils (von Psichari abgesehen) noch nicht gepflegt
worden, aber schon wagt man sich an die Kunst der wissenschaftlichen
Prosa. Auch hier ist Psichari vorangegangen; seinem Beispiel folgte vor
allem die Geschichte des neugriechischen Volkes von Eftaliotis (McTopia
Tric Ptuiaioctjvric I. igoi). Man bewundert in diesem Werke die Eleganz
und Beweglichkeit des Ausdrucks, die glückliche Wiedergabe wissen-
schaftlicher Termini und die Kraft der Sprache, die sich besonders in der
psychologischen Charakterschilderung bewährt.
Die allerjüngste Phase in der Entwicklung einer neuen Sprache und Bibei-
■> '=' o i Übersetzung vo:
Literatur wird im Jahre igoo durch den Kampf um die Bibelübersetzung 1900 und ihr
eingeleitet. A. Pallis, ein in England lebender Grieche, veröffentlichte
eine Probe seiner Übersetzung des Neuen Testamentes und rief dadurch
eine Studentenrevolte hervor, die sich gegen die Neuerer und Ketzer
richtete ; die Hintermänner des Putsches sind in den Kreisen der Reaktio-
näre zu suchen. Vulgärgriechische Bibelübersetzungen gab es zwar schon
vorher, und man regte sich darüber nicht besonders auf; aber dieser neue
Versuch wurde von den Puristen mit religiösen und politischen Fragen
verquickt, und mit der brutalen Gewalt verband man die Androhung des
kirchlichen Bannfluches, um die Übersetzung und ihre Anhänger unmög-
zu machen. So wenig verständlich es für uns erscheint, daß eine litera-
rische Bewegung zum Blutvergießen führt, so können wir doch verstehen,
warum die Anhänger des Alten gerade eine volkstümliche Übersetzung
der Bibel für gefahrlich halten und gegen sie mit allen Mitteln vorgehen :
ein Buch wie die Bibel wirkt vorbildlich auch in seinem äußeren Ge-
wand; da die neugriechische Literatur noch keinen Dante oder Goethe
hervorgebracht hat, so versuchen es die Vertreter des Neuen, durch
Übersetzung fremder Meisterwerke die literarische Lebensfähigkeit der
Volkssprache zu erweisen. Als IQ03 eine volkstümliche Bearbeitung von
Äschylos' Orestie in Athen aufgeführt wurde, griffen die Gegner wieder
zum gleichen Kampfmittel; es gab im Theater eine Revolte, die nur nicht
so blutig verlief wie diejenige um die Bibel. So hat sich schließlich die
Sprachfrage zu einem Kampf um die Übersetzungen zugespitzt; in der
jüngsten Zeit (1Q04) hat Pallis die schon i8g2 begonnene Iliasübersetzung
zu Ende geführt, ja er hat sich zusammen mit Marketis an eine noch
schwierigere Aufgabe gewagt, an eine Übertragung der einleitenden Ab-
schnitte von Kants Kritik der reinen Vernunft; sie überrascht durch ihre
Klarheit und die meist sehr glückliche Wiedergabe philosophischer Ter-
mini. Diese Aufgabe ist vielleicht vorläufig noch eine Kraftvergeudung,
aber sie zeugt von dem Mut und der Zuversicht, welche die Anhänger
der neuen Richtung in sich fühlen.
202 Albert Thumb: Die neugriechische Literatur.
Die sprachlich- S c h 1 u ß. Die neugriechischc Literatur steht zurzeit mitten in einer
literarische . t t^
Krisis und ihre Krisis. Seit dem Altertum ist die Entstehung einer durchaus neuen Lite-
nationale
Bedeutung, raturform und Literaturblüte immer wieder gehemmt worden. Auf Poly-
bios und die frühchristliche Literatur folgten die Sophisten der Kaiser-
zeit; neue Keime der frühbyzantinischen Epoche werden durch die rein
äußerliche Renaissance der Komnenen erstickt, die auf Kreta einsetzende
Vulgärliteratur wird durch die Türkenherrschaft gestört; aufSolomos folgt
endlich zum drittenmal ein pedantischer Klassizismus. Die jüngste Literatur
lenkt nun wieder unter dem starken Widerspruch der „Akademiker" in
die Bahn ein, welche zuletzt von Solomos beschritten worden war; die
Leidenschaft des Kampfes und das Interesse des Volkes scheint stärker
denn je zu sein. Die Anhänger des Neuen kämpften für die höchsten
Güter ihres Volkes, für eine nationale Sprache, eine nationale Literatur
und überhaupt für nationale Eigenart.
Das Recht des Lebens ist auf der Seite der Neuerer, und man muß
dem Genius des Volkes wünschen, daß nicht wieder Gewalt und Unver-
stand die Weiterentwicklung guter Keime hemmen. Mehr als die Literatur
allein steht auf dem Spiele; die Sprachfrage berührt nicht nur die Literatur
und die nationale Erziehung, sondern auch die politische Stellung des
griechischen Staates: die Expansionskraft des Volkes ist (z. B. in Make-
donien) durch die unerquicklichen Sprachverhältnisse gehemmt, die sich
natürlich am meisten in den Schulen der Diaspora störend bemerkbar
machen. Ein Volk, das seine Muttersprache preisgibt und sogar be-
schimpft, verzichtet schon halb auf seine Existenz — wenigstens in Europa.
Im politischen und kulturellen Wettbewerb mit den übrigen Völkern des
Balkans wird Griechenland nur dann auf die Dauer erfolgreich konkurrieren
können, wenn es in allen Gebieten des Lebens und so auch im Ausdruck
seiner Gedanken nicht erstarrt, sondern dem Fortschritt und der natür-
lichen Entwicklung huldigt.
Literatur.
Erst die jüngste Zeit hat eine Darstellung der neugriechischen Literatur gebracht,
welche auf die innere Entwicklung und die treibenden Kräfte hinweist (s. u.). Die Ge-
schichte der neugriechischen Literatur von P. NICOLAI (Leipzig, 1876) kommt nur als stoffliches
Repertorium in Betracht; die Literaturgeschichten von Rangavis und Sanders sind nur
eine dürftige Aneinanderreihung literarischer Tatsachen; sie stehen übrigens ganz im Bann
der Schriftsprache, mit deren Maßstab die Schriftsteller gemessen werden. Eine kurze, aber
geistvolle Würdigung der neugriechischen Poesie gab G. Meyer, der ausgezeichnete Kenner
der ganzen Balkanphilologie, in den Essays und Studien zur Sprachgeschichte und Volks-
kunde I (18S5) S. 309 ff. und II (1893) S. 260 ff. K. Dieterich, Geschichte der byzantinischen
und neugriech. Literatur (Leipzig, 1902), hat zuerst in einer größeren Darstellung den Ver-
such 'gemacht, das Thema innerlich und wissenschaftlich zu erfassen; so konstruktiv der
\''erfasser in vielen Punkten ist (eine Folge des Mangels an eindringenden Detailarbeiten),
so hat er doch die Haupttriebkräfte der Entwicklung, besonders die Wirkung der zwie-
spältigen sprachlichen Verhältnisse, richtig gezeichnet. Die Anmerkungen geben Auskunft
bibliographischer Art. Wichtige Repertorien für die ältere Zeit sind: E. Legrand, Biblio-
graphique hellenique ou description raisonnde des ouvrages publies par des Grecs au 15. et
16. si^cle, 2 Bde. (Paris, 1885), bzw. ... au 17. sifecle, 5 Bde. (1894— 1903); K. N. Zdeac,
Neoe\Xr)viKti OiXoXoyia. BiOTpciq)iai tiIiv iv toTc YP^I-'^aci 6iaXa|an)(ivTyuv 'EWrivujv, 1453 —
1821 (Athen, 1868). — Über neuere Erscheinungen der neugriech. Philologie (Sprache und
Literatur) seit 1890 orientieren meine Berichte im Anzeiger der Indogerm. Forschungen I.
VI. IX. XIV. XV.
Ausgaben: Unternehmungen wie unsere Reclambibliothek sind schon in den An-
fängen stecken geblieben, so die 'CWriviKr') BißXioSiiKri von Barth und Wilberg, i i Hefte,
und ZaK£\Xapiou BißXio6riKr| toO XaoO, 8 Hefte.
Chrestomathien: M1TSOTAKIS, Chrestomathie der neugriech. Schrift und Umgangs-
sprache (Berlin, 1895), Legr.\ND und Pernot, Chrestomathie grecque moderne (Paris, i8g8).
Eine reichhaltige Auswahl lyrischer Stücke bei A. TaTKÖTTOuXoc, N^a XaiKr] ävSoXo-fia
(Athen, 1899).
S. 249. Über die neugriechische Volkssprache vgl. die orientierende Skizze von
A. Thumb, Die neugr. Sprache (Freiburg, 1891); femer desselben Handbuch der neugr.
Volkssprache (1895); weiteres in den schon genannten Berichten. Über die ,, Sprachfrage"
handelt am ausführlichsten K. Krumbacher, Das Problem der neugriech. Schriftsprache
(München, 1902) und zuletzt A. Thumb in den Neuen Jahrb. f. d. klass. Altertum XVII (igo6).
S. 250. Der tsakonische Dialekt, der an der Ostküste des Peloponnes in der alten
Kynuria gesprochen wird, ist ein Nachkomme des alüakonischen Dialekts.
S. 250. Volkspoesie: Die reichhaltigste Sammlung ist Passow, Popularia carmina
Graeciae recentioris (Leipzig, 1860). Treffliche deutsche Übertragungen von G. Meyer
(Stuttgart, 1890) und H. LÜBKE (Berlin, 1895).
S. 250. Zum Epos von Digenis Akritas: Gegen die Bezeichnung als byzantinisches
Nationalepos erhebt K. Dieterich a. a. O. Widerspruch, doch sehe ich keinen zwingenden
Grund, davon abzugehen.
264 Albert Thumb: Die neugriechische Literatur.
S. 250. Die Lieder auf den Fall Konstantinopels sind zuletzt behandelt von
Krumbacher in den Sitzungsberichten der Bayer. Akademie 1901.
S. 251. Zur epischen Begabung des neugriech. Volkes vgl. G. Mever, Essays I, 312.
S. 251. Über die Gestalt des Charos vgl. besonders Hesseling, Charos (Leiden, 1897).
S. 252. Sprichwörter: N. f. TToXiTric, MeXdToi Tiepi toO ßiou ToO '6\\r|viKoO XaoO.
TTapoiniai (seit 1899; erschienen sind 4 Bde.).
S. 252. Über das Opfer Abrahams vgl. Psichari, Revue de Paris 1903 (April). Das
italienische Vorbild ist noch nicht gefunden. Auf die griechischen Elemente des Stückes
weist besonders K. Dieterich hin.
S. 253. Zu Rigas; bei den ihm zugeschriebenen Liedern steht nicht immer dessen
Urheberschaft fest.
S. 254. Über die Memoiren des Kolokotronis vgl. Rev. des Etudes grecques VI, 92 ff.
S. 254. Daß erst mit dem Freiheitskampf für die Griechen die Neuzeit begonnen
hat, ist eine treffende Bemerkung von A. BiK^Xac, Aia\iit\c Kai dvanviiceic (."Vthen, 1893)
S. 100 ff.
S. 256. Dramen von Psichari in dessen Buch fiä tö PtunaiiKO G^arpo (Athen, 1901).
Das Buch enthält ein Drama und eine Komödie.
S. 256f. In allerjüngster Zeit ist ein zweites Volkslied, die Sage von der , .Artabrücke",
dramatisiert worden: Tö dvexTiiun'^o v" TT. Xöpv (1906); zwar gilt hier ähnliches wie für
den Versuch von Eftaliotis; aber im 3. Akt erweckt der Verfasser durch eine teils psycho-
logische, teils allegorische Vertiefung des Sagenstoffes das Interesse des Lesers.
S. 257. Über die Schätzung von Solomos bei der heutigen Generation vgl. z. B.
K. TTaXafiäc, rpafi^ara I (Athen, 1904), ferner Pal.'\MAS' Vorrede zur Gesamtausgabe des
Dichters (Athen, 1901).
S. 258. Daß Valaoritis als Romantiker zu bezeichnen sei, erkannte K. DiETERICH.
S. 259. Werke von Drosinis: 'IcToi dpdxvric (1880), ZxaXaKTiToi (1881), €i60XXia (1885),
'A|adpavTO (1890), Airifrii-iaTa Kai dvaiaviiceic (1886) u. a.
S. 259. Werke von Palamas: Td Tpafou&ia Tf|c iraTpiöoc (lou (1886), Td ludria xfic
ijiuxnc nou (1890), "iaiußoi Kai dvdTraicToi (1897), 'H dcdXcurr) Zuuri (1904), '0 6uj&6KdXofo<; toö
rOq)TOU (1907) u. a.
S. 259. Über die Zeitschriften, welche die moderne Bewegung vertreten, vgl. Krum-
BACHER, Sprachfrage, S. 121 f. Gegenwärtig wirkt die Wochenzeitung ,,'0 Noundc" in
diesem Sinn. Die neuste Gründung (1907) ist eine Monatschrift „'HTil<J'Jf'" f"'' lyrische Poesie.
S. 259. Werke von Psichari (fidvvric Vuxdpr|c) außer den schon genannten: Zu)i?i
Kl dfdiTri CTi^ novaSid (1905); kleine Schriften: Pö&a Kai (ifjXa, 4 Bde. (1902 — 1907); Töveipo
ToO fiawlpri ist von Ps. auch französisch bearbeitet (Le Reve de Yanniri, 1898).
S. 260. Kambisis contra Psichari: '0 Vuxapiciuöc k' i*| Zwf\. Tö TTcpio&iKÖv |aac I
(1900). Gegen Kambisis wendet sich G. VOKOS in derselben Zeitschrift III, 182 ff.
S. 260. Romanliteratur aus älterer Zeit: außer Rangavis (s.S.255f.) sind zu nennen
Vikelas' ,,Lukis Laras" (in Übersetzung bei Reclam) und Kalligas' ,,Thanos Vlekas";
Xenos' ,, Heldin des Freiheitskampfes" verrät zwar einen phantasievollen und fesselnden
Erzähler, gehört aber doch mehr in die Kategorie der Kolportageromane.
S. 260. Auswahl aus der neueren Erzählungsliteratur in den 'CXXiiviKO ^lll■f'l^aTa
(Athen, 1896).
S. 261. Pallis' Übersetzung der Evangelien erschien Liverpool, 1901. Über die ein-
zelnen Motive des Kampfes gegen die Übersetzung vgl. A. Thumb in den Grenzboten 1902
(I) S. 137 ff
S. 261. Zur Aeschylosrevolte vgl. Krumbacher, Beilage zur Allgemeinen Zeitung
1904, Nr. 4.
DIE UNGARISCHE LITERATUR.
Von
Friedrich Riedl.
Einleitung. Vor mehr als tausend Jahren vollzog sich in dem Teil
Europas, den die Karpathen umgürten und die Donau und Theiß durch-
strömen, ein erstaunliches, in seinen Folgen überraschendes Ereignis:
plötzlich erscheinen hier zum allgemeinen Entsetzen in dem Herzen des
christlichen Europa, wilde, heidnische Reiterscharen, besetzen das Land
und machen es zum Mittelpunkt ihrer unglaublich weit reichenden Beute-
züge. Bald erscheinen sie hoch im Norden und äschern Bremen ein,
bald dringen sie südwärts bis zur athenischen Akropolis, schlagen ihr
Lager im Angesichte des ewigen Rom unter den Riesenbogen des
Aquäduktes auf (bis wohin es selbst Attila der Gottesgeißel nicht ver-
gönnt war vorzudringen), hausen zu Subiaco in den Gärten Neros und
pochen selbst an die goldene Pforte der Konstantinus-Stadt. Im Westen
übersteigen sie sogar die Pyrenäen und verbreiten überall zu Lande auf
ihren Pferden das nämliche Entsetzen wie ihre Zeitgenossen, die Wikinger
auf ihren Schiffen zur See. Aber noch erstaunlicher ist es, daß diese
berittenen Horden, welche ihre kleinen flinken Rosse in dem Ilissus und
dem Ebro, in der Elbe und dem Tiberis tränkten, im Zentrum ihrer
Raubzüge, in Ungarn, einen bleibenden starken Staat zu bilden im-
stande waren.
Das ist um so bemerkenswerter, da vor den Ungarn kein einziges
Volk hier seßhaft werden konnte. Es wohnten hier die Kelten, gründeten
Städte und verschwanden. Unter dem ersten römischen Kaiser, unter
Augustus, erscheinen dann die Erzadler der römischen Legionen in den
panuonischen Urwäldern: hier arbeitet der weiseste aller Regenten, Marcus
Aurelius, an seinen philosophischen Schriften; hier wird der letzte Nach-
kömmling des großen Augustus, der kleine Augustus, Romulus Augustulus,
geboren. Und mit seiner Jammergestalt verschwindet die römische Herr-
schaft aus Ungarn. Es kommen und verschwinden die Hunnen, deren
mächtigster Fürst, Attila, seine Holzpaläste zwischen der Donau und der
Theiß erbaut; es kommen und verschwinden die Longobarden, die Ge-
266
Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
charakterzug
der ungarischei
Literatur.
Alleste
Erwähnung de
ungarischen
Literatur
piden, die Jazygen und die ringbewohnenden Avaren. Endlich erscheinen
die Ungarn, und es geUngt ihnen, was noch keinem gelang: sie bilden
hier unter feindlichen Völkern einen bleibenden und mächtigen Staat, der
im 14. und 15. Jahrhundert, als die großen nationalen Staatsgebilde
Europas noch kaum existieren, unter genialen Königen, wie Ludwig von
Anjou und Mathias Corvinus, eine Rolle ersten Ranges spielt.
Jedes europäische Volk hat eine besondere Gabe. Die Griechen und
die Italiener die Kunst, die Römer das Recht, die Deutschen die Meta-
physik und die wissenschaftliche Methode, die Engländer die bürgerliche
Freiheit und die Gabe der Kolonisation, die Franzosen den Geschmack
und den Stil. Das Meisterwerk des ungarischen Volkes war die Bildung
und die Erhaltung des ungarischen Staates, welcher das Produkt eines
tausendjährigen mühsamen, oft verzweifelten Kampfes ist.
Damit hängt auch der Hauptcharakterzug der ungarischen Literatur
zusammen. Die treibende Kraft in ihr ist das Bestreben der Erhaltung der
Rasse: die ungarische Poesie ist in erster Reihe Ausdruck des National-
gefühls. Diese stark nationale Tendenz, dieses Vorwiegen des Gattungs-
gedankens erklärt sich zur Genüge aus dem Schicksale des stets um seine
nationale Existenz und um seine Unabhängigkeit kämpfenden ungarischen
Volkes. Der Grundsatz: l'art pour l'art fand hier keine Anwendung:
das Allgemein-Menschliche tritt zurück. Alle bedeutenden Dichter der
Magyaren, von der ältesten Zeit angefangen, stehen im Dienste der
nationalen Idee; die Poesie wird zum Mittel der Stammeserhaltung. Es
gibt vielleicht keine andere Literatur, deren Inspiration so einheitlich
wäre wie die der ungarischen. Das Gefühl der nationalen Existenz ist
das Fundament aller dichterischen Erzeugnisse.
Die älteste Erwähnung der ungarischen Poesie linden wir in Ekke-
hards Annalen. Im Jahre 926 besetzte ein Schwärm ungarischer Reiter
das Kloster St. Gallen am Bodensee. Nach der Mahlzeit „begannen sie
weinwarm ein ungefüges Singen" — wie Scheffel in seinem Roman Ekke-
hard die Chronik getreu überträgt. Sie sangen zu ihren Göttern. (Scheffel
setzt eigentümlicherweise voraus, daß die Ungarn die Liebesgeschichte
Attilas und der byzantinischen Prinzessin Honoria besangen.)
Auch die Legende des heiligen Gerhard weiß von ungarischer Poesie.
Als der Heilige, einer der Apostel Ungarns, ein kleiner Venezianer voll
Geist und Feuer (-{- 1047), einmal mit seinem Gefährten Walther in einer
waldigen Gegend Ungarns bei einem Bürger übernachtet, hört er das
Geräusch einer Mühle und Gesang. Es war eine Bäuerin, welche die
Arbeit an ihrer Handmühle mit Gesang, vielleicht mit einem Arbeitslied
begleitete, worüber der Heilige und sein Begleiter lächelten. x\udis
symphoniam Ungarorum? fragte Gerhard.
I. Das Mittelalter. Als die Ungarn sich in der jazygischen Tief-
ebene, in der deserta Avarorum, wie der Annalist Regino sagt, und
I. Das Mittelalter. 267
in Pannonien bleibend niederließen und ihren Staat gründeten, traten sie
zugleich in das europäische Mittelalter ein und wurden der mittelalter-
lichen Kultur teilhaftig.
Die Literatur des Mittelalters hat in ganz Europa gemeinsame Eigen-
tümlichkeiten, welche darauf beruhen, daß die Religion, die Kultusformen
und die Kultussprache gemeinsam waren. Das Mittelalter ist vor allem
ein religiöses Zeitalter: die religiöse Literatur war im Mittelalter eben in-
folge der Gemeinsamkeit des Kultus einig'ermaßen eine internationale.
Die mittelalterliche Literatur in ungarischer Sprache ist beinahe aus-
schließlich religiös, und so werden wir es natürlich finden, daß sie viel
aus dem gemeinsamen lateinischen Poesieschatz des Mittelalters schöpfte:
aus der Legendenliteratur, besonders aus der Leg-enda Aurea und der
Hymnenpoesie.
Das erste ungarische Buch (d. h. eigentlich der erste große Kodex), Legenden.
der nach seinem Besitzer so genannte Ehrenfeldkodex, enthält die Legende
des hinreißenden Schwärmers, des liebenswürdigsten Heiligen: des St. Fran-
ciscus von Assisi. Es ist eine kompilierte Übersetzung aus dem Anfang
des 15. Jahrhunderts. Unter den Legenden finden wir auch die in den
meisten europäischen Literaturen eingebürgerte von Barlam und Josaphat,
der bekanntlich eigentlich Buddha ist, und damit ist die Gestalt des
großen Religionstifters vom fernen Ganges bis an die Ufer der Theiß vor-
gerückt. Diese Legende von Buddha-Josaphat (dessen Kirche übrigens in
Palermo steht und dessen Reliquien in Amsterdam aufbewahrt werden)
findet sich in einem Kodex vom Anfang des 16. Jahrhunderts, beruht je-
doch auf einer älteren Vorlage: überhaupt wird die Literatur des Mittel-
alters großenteils aus Handschriften des i6. Jahrhunderts, welche aber auf
ältere Originale zurückgehen, erschlossen.
Unter den Legenden nehmen die ungarischen Heiligenlegenden be-
sonderes Interesse in Anspruch. Es hat vielleicht keine Herrscherfamilie
gelebt, welche der Kirche so viel Heilige gegeben wie die der Arpäden
(11. — 13. Jahrhundert). Stefan, der Begründer des Christentums, sein früh-
verstorbener Sohn Emmerich, der König Ladislaus (f 10Q5), Margarete,
die Tochter Belas IV., und Elisabeth, ihre Nichte — alle diese Heiligen
stammen aus der Arpädenfamilie. Der Lieblingsheilige des ungarischen
Volkes war Ladislaus, von dem die Legende erzählt, daß er kurz vor seinem
Tode zum Führer des ersten Kreuzzuges gewählt wurde. Hymnen in
ungarischer und lateinischer Sprache, Legenden in der Kirche und im
Volksmunde, Malereien auf Pergament in den Codices und Fresken auf
den Kirchenwänden verherrlichen seine ritterliche Gestalt, in der das
nationale und das religiöse Ideal sich vereinigen. Wir finden ihn auf den
mittelalterlichen Goldmünzen ebenso wie in der Bildhauerkunst: in Nagy
Värad (Großwardein) stand sein Erzbild zu Pferde — die einzige und erste
erzene Reiterstatue des Mittelalters, die auf einem öffentlichen Platz zu
sehen war — , das Werk zweier Künstler aus Kolozsvär (Klausenburg).
2 68 Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
„Dein Bild — so singt die alte ungarische Hymne — steht auf hohem
Steine, wo es strahlt wie die Sonne, wo es gleißt wie das Gold."
Wie mehrere andere Literaturen besitzt auch die ungarische eine
große Darstellung der Katharinen-Legende in Versen. In derselben Zeit,
in welcher Pinturicchio in den Prachtsälen des Papstes das Leben dieser
in der Renaissance so beliebten Heiligen mit heiterer Lebenslust an die
Wände malte, schrieb ein ungarischer Mönch, dessen Namen wir nicht
kennen, in asketischem Sinne die Legende der Katharina von Alexandrien
— die erste große ungarische Kunstdichtung, die uns erhalten ist.
Sage von der Die einzigc geistige Lichtquelle des ungarischen Mittelalters war die
Religion. Was sich aus dem Mittelalter in ungarischer Sprache erhalten
— Legenden, Hymnen, Gebete, Bibelfragmente — alles weist auf diese
Vorherrschaft des religiösen Geistes hin. Auch das älteste erhaltene
Sprachdenkmal ist ein religiöses: eine Grabrede (um 1200). Es gab je-
doch, wenn auch keine weltliche Kunstdichtung, doch eine Volkspoesie.
Unermüdlich schaffte der Volksgeist mit ewiger Seele. Seine Erzeug-
nisse müssen wir in lateinischen Quellen suchen. Die Chroniken haben
uns ohne Absicht, vielleicht sogar wider Willen, Bruchstücke der alten
nationalen Sagen erhalten. Das älteste Produkt der ungarischen Phan-
tasie, welches sich, wenn auch nicht eben wörtlich, doch wie es scheint
in ziemlich getreuer Überarbeitung erhalten hat, ist wohl die Sage von
dem weißen Pferde, eine Sage, welche die Besitzergreifung des Landes
im g. Jahrhundert behandelt. Am schönsten und treuesten wird sie in
der Chronik des Marcus erzählt. Als die Ungarn in ihr heutiges Vater-
land kommen, fordern sie den dort herrschenden Slawenkönig Svatopluk
auf, ihnen Wasser, Erde und Gras zu übersenden. Mit Freuden tut er es,
da die Ungarn ihm dafür ein weißes Pferd, mit goldenem Zaum und Sattel
schenken. Als er es annimmt, erklären sie, daß das Land nun ihnen gehört,
da er es mit seinem Geschenk, das sie symbolisch auffassen, ihnen für das
weiße Pferd zum Tausch gegeben.
Hannensagen. Die mittelalterlichen ungarischen Chroniken fassen die Ungarn als
Nachkommen der Hunnen auf und erzählen auch in sagenhafter Weise
die Geschichte Attilas und seiner Nachkommen. Was hier erzählt wird,
deckt sich teilweise mit der deutschen Heldensage, es sind aber auch
merkwürdige Abweichungen zu verzeichnen. Es ist viel darüber gestritten
worden, woher diese ungarischen Hunnensagen stammen. Zweifellos gehen
sie großenteils in letzter Instanz auf die germanischen Sagen zurück: die
Art der Vermittelung ist noch nicht bestimmt nachgewiesen.
Am wichtigsten ist unter diesen ungarischen Hunnensagen die von
Csaba, weil sie zweifellos eine nationale Tendenz hat. Die Chroniken er-
zählen von zwei Gemahlinnen Attilas: die eine ist Kriemhild, die andere
Honoria, die Tochter des griechischen Kaisers. Der Sohn der Kriemhilde
heißt Aladar; Honoriens Sohn heißt Csaba, ein Name der auch in unga-
rischen Ortsbenennungen vorkommt. Nach Attilas Tode entsteht ein
II. Das Renaissance-Zeitalter. 2 00
Kampf zwischen den zwei Brüdern: die Germanen ergreifen natürlich die
Partei der Kriemhilde, während die Hunnen für Csaba kämpfen. Eine
Schlacht wird geschlagen, wie sie die Welt noch nicht gesehen. Sie
dauerte 15 Tage. In dieser Schlacht, welche Klriemhildens Schlacht
(proelium Crumhelt) heißt, werden die Hunnen besiegt. Nach dieser furcht-
baren Völkerschlacht flieht Csaba zu seinem Großvater, dem Kaiser von
Byzanz. Doch vergebens versucht der Kaiser seinen Enkel zum Bleiben
zu bewegen: Csaba kehrt nach Scythien zurück. Dreitausend Hunnen
retteten sich aus der Riesenschlacht und zogen nach Siebenbürgen, wo
sie, damit man sie weiterhin nicht verfolge, den Namen Sz ekler an-
nahmen. Als die Ungarn dann unter Arpäd in das einstmalige Land ihres
Vorfahren Attila zurückkehren, schließen sich ihnen die Szekler, die gleich-
sam Vorposten gebildet, an.
In dieser Csabasage, wie wir sie in den mittelalterlichen ungarischen
Chroniken finden, sind sichtbarlich weltgeschichtliche und sagenhafte Ele-
mente in eine stark nationale Beleuchtung gerückt.
Aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts stammt auch die älteste Erste Bibel-
ungarische Bibelübersetzung, die sich in drei Fragmenten erhalten hat. " ^"° "°^'
Ein Fragment bewahrt die Münchener, eins die Wiener Hofbibliothek, eins
das Szekler- Museum in Siebenbürgen.
Diese erste Bibelübersetzung hängt mit der geistigen Revolution zu-
sammen, die Huß bewirkte. Huß wollte die Bibel unter das Volk bringen:
die Bibel fürs Volk! Unter den Hörern, die an der Prager Universität
seinen Feuerworten lauschten, waren auch Ungarn: zwei dieser, zwei Fran-
ziskaner, Valentin von Ujlak und wahrscheinlich Thomas von Pecs (Fünf-
kirchen), unternahmen es, den Anweisungen ihres Meisters folgend, die
Bibel in das Ungarische zu übersetzen. Der Hussitismus verbreitete sich
nun rasch in Ungarn. Es war zu befürchten, daß Ungarn, wie Böhmen,
hussitisch würde. Man mußte energisch auftreten. Der Papst sandte, um
den Hussitismus auszurotten, den Inquisitor Jacobus de Marchia aus, der
dann nicht nur die Lebenden, sondern auch solche Toten verfolgte, die
des Hussitismus verdächtigt wurden: man brach ihre Gräber auf und ver-
brannte die Leichname. Kamenic (bei Peterwardein) besonders war ein
Nest der Hussiten: hier wirkten auch die zwei Franziskaner, die vor der
Verfolgung des päpstlichen Inquisitors nachts nach der Moldau flüchten
mußten, wo damals viele ungarische Hussiten lebten, für welche sie die
Bibel — zum erstenmal in eine ural-altaische Sprache — übersetzten.
IL Das Renaissance-Zeitalter. Ungarn war eines der ersten Mathias
Länder, welche von dem Frühlingshauch der Renaissance berührt wurden. Re
Es ist dies dem König Mathias Corvinus (f 1490) zu verdanken, der eifrig
bestrebt war, einen Kanal zu graben, welcher die neue Strömung aus
Italien nach Ungarn leiten sollte. Auf Mathias, den bedeutende Huma-
nisten erzogen und der ein echter Renaissance-Fürst war, ruht all der
2yo Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
Glanz und all der Schatten seines großen Zeitalters. Den Bestrebungen
und dem Chrakter nach gibt es sogar in Italien keinen typischeren Ver-
treter der Renaissance. Mathias Corvinus ist der erste moderne Mensch
in Ungarn. Sein Charakter und seine Bildung, seine Neigungen und seine
Vorurteile, seine Phantasie und sein Temperament wurzeln alle gleicher-
maßen im Renaissance-Boden.
Im Menschen der Renaissance sind unbezähmbare Leidenschaften mit
Pracht- und Kunstliebe eng verknüpft: wir finden in ihm lebhafte Phan-
tasie, vielseitige Geistesfähigkeiten, dabei aber Hinterlist und leeren
rhetorischen Prunk; neben dem begeisterten Verständnis der Antike rohen
Aberglauben, neben feinen Umgangsformen grausam-wilde Energie. So
war dies auch bei Mathias.
Seine Phantasie hat etwas Gewalttätiges und Exzentrisches: ein
Schmelzofen, in dem edle Metalle zwischen rauchenden Schlacken zischend
glühen. Bald will er König von Böhmen, bald deutscher Kaiser werden,
dann will er die Donaureiche erobern, die Türken christianisieren und in
den Kaukasus drängen. Er, der Ungarn mit so viel positivem Sinn neu
organisiert, glaubt unter abenteuerlichen Vorwänden ein Anrecht auf den
Thron des Sultans zu haben, weil einst eine seiner Verwandten in den
Harem kam.
Das in der Renaissance erwachte Gefühl der Individualität steigert
sich bei ihm wie bei den Fürsten Italiens zu einem Überwuchern des
Willens und der Persönlichkeit. Einmal verleiht er einem kleinen sieben-
jährigen italienischen Knaben die höchste geistliche Würde Ungarns.
Einer Urkunde zufolge sendete man dann aus Italien Spielzeug dem neuen
Primas von Ungarn. Seine Lieblinge erhebt er rasch in die höchsten
Stellungen, schmettert sie aber, wie sie sein Mißfallen erregen, gleich
wieder in den Staub.
Er ist Renaissance-Tyrann auch in der bewußten Auswahl der Mittel,
um große Ziele zu erreichen. Seine Politik wie seine Phantasie haben
einen großartigen Zug. Seine Politik beruht auf internationalen Berech-
nungen, deren feine Fäden von Karl dem Kühnen bis Teheran
reichen. Alle sind für ihn Figuren seines Schachbrettes. Seine vielseitigen
Kombinationen werden durch seine leicht erregbare Phantasie und kalt
berechnenden Verstand gelenkt Im Dienste seiner außerordentlichen
Pläne steht seine Schlauheit. Er rechnet immer mit den zwei Haupt-
schwächen der Menschen: mit ihrer Eitelkeit und ihrer Geldgier. Er
streut überall goldene Worte und goldene Münzen. Er ist ein Meister
der feinen Form; aber wenn diese ihr Ziel nicht erreicht, tritt gleich seine
gewalttätige Raubtiematur auf. Er gehört auch als Staatsmann der
Renaissance an und ist ein Schüler Macchiavells vor Macchiavell. In
ihm sehen wir die zügellose Energie und reiche Phantasie einer Renais-
sance-Natur in ihrer furchtbar- schönen Urkraft in Tätigkeit.
Der Kunstinstinkt seines Zeitalters offenbart sich bei Mathias in
n. Das Renaissance-Zeitalter. 27 1
Staatsbildungen und politischen Kombinationen. Er ist ein Künstler in
der Politik, wie Benedetto da Majano oder Giovanni Dalmata an seinem
Hofe Künstler im Steine sind.
Mathias Corvinus war ein begeisterter Freund der Renaissance, und
seine Liebe zu ihr zeigte sich in vielfacher Hinsicht. Er versammelte an
seinem Hof berühmte Humanisten: in seinem Auftrag schrieb dort sein
Hofastronom, der große Regiomontanus, seine Ephemerides, welche die
großen geographischen Entdeckungen ermöglichten; dort verfaßte Antonius
Bonfini seine ausführliche ungarische Geschichte (Decades); dort trieb
sich auch der wohlbeleibte, redegewandte Renaissance - Bummler Marzio
Galeotto herum, der ein ganzes Buch über den großen König schrieb.
Mathias berief auch bedeutende Künstler nach Ofen: Giovanni Dal-
mata war sein Leibarchitekt, aber auch der junge Benedetto Majano, der
später den Palazzo Strozzi in Florenz erbaute, und der Ferrarese Ercole
de Roberti und Fierevanti aus Bologna waren auf den Ruf des Königs
nach Ungarn gekommen. Diejenigen Künstler, die persönlich nicht kommen
konnten, sendeten wenigstens ihre Werke: so Verrocchio, Filippino Lippi,
Lionardo da Vinci — um nur die größten Namen zu nennen. Mathias,
wollte eine neue Dynastie gründen; darum hatte er in diesem kunst-
liebenden Zeitalter die Glorie, welche ihm die Kunst verlieh, nötiger als
ein Sprößling einer alten Herrscherfamilie.
Mathias Corvinus wäre kein echter Renaissance-Fürst gewesen, wenn
er nicht antike Überreste gesammelt hätte: Statuen, Inschriften, Säulen-
fragmente und Gemmen. Wichtiger als seine Antikensammlung war seine
Bibliothek, die berühmte Corvina, die größte und prächtigste Bücher-
sammlung diesseits der Alpen. In dieser wunderbaren Kollektion standen
Kodices, welche der größte Miniaturenmaler, Attavantes, verfertigt hatte
und welche ihm teurer bezahlt wurden als dem Rafifael ein Gemälde.
Der König — so berichtet ein damaliger Humanist — liest auch nachts,
und man findet zwischen seinen Polstern den Curtius Rufus und den
Livius. Die Agenten des Mathias bereisten sogar Kleinasien, um klassische
Handschriften für ihn zu kaufen. Seit dem furchtbaren Schiffbruch des
ungarischen Staates im i6. Jahrhundert sind jedoch die Schätze der
Corvina wie die Teile eines Wrackes weithin zerstreut.
Übrigens fand auch die Buchdruckerkunst unter Mathias in Ofen eine
Stätte — früher als z. B. in England.
In der Residenzstadt Ofen lebten damals neben den gelehrten Ita-
lienern auch ungarische Gelehrte und Schriftsteller, so der berühmte
Historiker Johann von Thürocz, der aus Quellen erster Hand arbeitete.
Besonders zwei hervorragende Männer sind es, die unsere Aufmerksam-
keit fesseln. Beide schrieben lateinisch; doch ihr Gegensatz war so groß,
als ob ein weltgeschichtliche Epochen trennender Abgrund zwischen ihnen
klaffen würde. Der erste, der Dichter Janus Pannonius, eine strahlende
Erscheinung, lebte in Macht und Ehren am Hofe, ein Liebling des mäch-
2^2 Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
tigen Königs. Der andere, Pelbartus, wohnte als armer Predigermönch
im Franziskanerkloster in der Nähe des prachtvollen königlichen Palastes,
ohne ihn zu betreten. Der eine ist die Verkörperung des Renaissance-
Geistes, der andere ist das typische Mittelalter.
janusPaanonius Janus Pannonius (Johann von Csezmicze) war Humanist, Schüler des
berühmten Guarino und lateinischer Dichter im Geiste der Renaissance.
Er wurde in Italien erzogen. Der Florentiner Vespasiano Bisticci sagt
von ihm: er war so hinreißend liebenswürdig, daß jeder, der mit ihm
sprach, ihn liebgewann, selbst in Italien glich ihm niemand, er war le
delizie del mondo. 24 Jahre alt kam er in seine Heimat zurück, wo
er gehoben durch sein Talent und seine Liebenswürdigkeit schon zwei
Jahre später Bischof von Fünfkirchen mit einem ungeheuren Einkommen
wird. Er wurde schnell der Liebling des Mathias und verfaßte die in
klassischem Latein geschriebenen Briefe des Königs. Doch schon wenige
Jahre später finden wir ihn, nachdem er in eine Verschwönmg verw-ickelt
war, geächtet von seinem Protektor, als Flüchtling in Kroatien, wo er
38 Jahre alt stirbt. Sein Hauptwerk ist ein lateinisches Epos, dessen
Held der jetzt in der Frarikirche in Venedig begrabene Feldherr Marcello
ist. In einem anderen Werke, einer Epistel an dem Humanisten Constanti
besingt er die Eroberung der bosnischen Feste Jaitza durch Mathias Cor-
vinus. Daß er auch die Lieblingsdichtgattung der Humanisten, das Epi-
gramm, eifrig pflegte, ist natürlich.
Pelbartus Ein ganz anders gearteter Geist als Janus Pannonius war Pelbartus
von Temesvar => *= ^ ^^
(t 1504). von Temesvar. Ihm lächelte die neu aufgegangene Sonne Homers noch
nicht, er war ein leidenschaftlicher Gegner des Humanismus. „Homer ist
berühmt — schreibt er — und noch berühmter ist Virgil, aber beide sind
ungläubig und voll böser Sitten. Die Logiker und Aristoteles sind ver-
flucht." Pelbartus war einer der allerberühmtesten Prediger des Jahrhun-
derts: seine im Ausland oft aufgelegten lateinischen Reden wurden in
ganz Europa als Muster betrachtet. Sein Hauptwerk ist das Pomerium,
der Obstgarten, eine Sammlung von Predigten, nach der er sich pomerius
nannte. Er wählte diesen Namen, „weil wie in dem pomerium, dem
Obstgarten, Obst und Blumen zu finden sind, so sind in meinem Werke
viele Predigten, gottgefällige Früchte und Blumen der Wissenschaft". Die
Werke des Franziskanermönches waren auch eine Hauptquelle der zeitge-
nössischen Prosaliteratur in ungarischer Sprache.
Ungarische Dlc erstcn Strahlen der ungarischen weltlichen Poesie fallen auf die
weltliche Poesie . ^^ ,-, .
unter Mathias großc Gestalt dcs Mathias Corvinus. Eine kleine Gruppe von Gedichten,
die ältesten weltlichen, haben ihn zum Mittelpunkt. Das erste dieser Ge-
dichte ist ein kurzer Lobgesang bei Gelegenheit der Königswahl (1458);
das ausführlichste ist ein episches Gedicht, welches erzählt, wie Mathias
die Grenzfestung Schabatz an der Save von den Türken eroberte. Dieses
Gedicht ist vielleicht eins von denjenigen Heldenliedern, welche dem Zeug-
nisse Galeottos zufolge bei den Gastmählern des Königs gesungen wurden.
III. Das Zeitalter der Reformation.
273
III. Das Zeitalter der Reformation. Das 16. Jahrhundert steht
in Ungarn unter dem Doppeleinfluß der Schlacht von Mohäcs (1526) und
der Reformation.
Die Schlacht von Mohäcs, in welcher der König, die Blüte des Adels
und der Bischöfe fällt, ist eine der größten Katastrophen der Weltge-
schichte. Der eigentliche Zusammenbruch erfolgt aber erst im Jahre 1547,
in welchem das unglückliche Land in drei Teile geteilt wird. Das Herz
des Landes mit der Hauptstadt gehört nun der Türkei an; ein Streifen
im Norden und Westen kommt unter österreichische Oberhoheit, Sieben-
bürgen bildet einen kleinen selbständigen Staat. Die Schlacht von Mohäcs
und ihre Folgen haben der ungarischen Lyrik Jahrhunderte hindurch ihren
bleibenden Charakter verliehen: sie ist von nun an vorwiegend patriotisch
und melancholisch. Diesen melancholischen Grundzug behält sie bis zum
Auftreten des Neuschöpfers von Ungarn, Stephan Szechenyis.
So wie die Türkenkriege das patriotische, so entfachte die Reforma-
tion das religiöse Gefühl. Je mehr ein teurer Besitz bedroht ist, um so
mehr lieben wir ihn. Die neue Lehre faßt sehr schnell Wurzel in Ungarn.
Schon 1523 findet man es nötig ein Gesetz zu erlassen, welches die
Anhänger Luthers mit dem Tode bestraft. Übrigens versuchte schon zwei
Jahre früher der einflußreichste Politiker und der größte Jiu-ist Ungarns,
Stephan Werböczy, Luther selbst in Worms bei einem Gastmahl, zu dem
er den Reformator eingeladen, von seinen Grundsätzen abzubringen. Die
Reformation übte einen großen Einfluß auf die Entwicklung der ungari-
schen Literatur aus. Sie gab vor allem Anlaß zu einer polemischen Lite-
ratur: zuerst griffen die Protestanten an, die Katholiken verteidigten sich,
und diese Streitliteratur wurde eine wahrhafte Gymnastik der ungarischen
Prosa, welche im Kampf schnell heranreifte.
Auch die vielfältigen Bibelübersetzungen dieses Jahrhunderts sind der B'bei-
Übersetzungen.
Reformation zu verdanken, welche die Bibel, diese ewige Quelle der
Poesie, auch in Ungarn eifrigst verbreitete. Großen Einfluß auf die Ver-
breitung der Reformation hatte Melanchthon, der praeceptor Germaniae,
von dem man sagen kann, daß er auch praeceptor Hungariae war.
Er hatte in Wittenberg etwa 500 ungarische Hörer, die dann seinen Geist
in Wort und Schrift verbreiteten. Der Gesandte Ferdinands schreibt im
Jahre 1540: „Das ungarische Volk und der Adel sind überall verfinstert
von den neuen Lehren, und die Geistlichen und die Lehrer kommen bei-
nahe alle aus der Schule Melanchthons." Unter den Bibelübersetzem
dieses Jahrhunderts sind die folgenden die interessantesten: Johann Sylvester
war Professor der hebräischen Sprache an der Universität Wien und über-
setzte das Neue Testament. Er ist eigentlich noch nicht Lutheraner, son-
dern Erasmianer, wie denn Erasmus von Rotterdam das Vorbild der ersten
Bibelübersetzer war. In der Einleitung der Bibelübersetzung des Sylvester
kommen die ersten ungarischen auf Silbenlänge und -kürze beruhenden
Distichen vor, wodurch bewiesen war, was später zu glänzender Entfaltung
DiB Kultur dxr Gbgbnwart. I. 9. 18
274
Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
Stoffkreise t
poetischet
Erzählunge
kam, daß die ungarische Sprache ebenso für den quantitierenden wie für
den akzentuierenden Rhythmus geeignet ist.
Ein Impressionist, der mit jeder Strömung schwamm, w^ar der Bibel-
übersetzer Kaspar Heltai. Er war Geistlicher, Missionar, Buchdrucker,
Pamphletist, Historiker, Fabeldichter, Übersetzer; er war katholisch, dann,
nachdem er in Wittenberg Melanchthon gehört, Protestant, dann Kalvinist,
endlich Unitarier. Von Geburt ein Sachse aus der Umgegend von Her-
mannstadt lernte er erst spät, i6 Jahre alt, ungarisch und zeichnete sich
dann durch vielseitige, unermüdliche ungarische Schriftstellertätigkeit aus.
Fünfzehn Jahre arbeitete er und seine Gefährten an der ungarischen Bibel,
ohne sie ganz vollenden zu können. Dem reformierten Geistlichen zu
Gönz (in der Nähe von Kaschau), Kaspar Kärolyi, gelang es endlich, nach-
dem so viele es vor ihm vergebens versucht hatten, in den Jahren 1587
— 1590 zuerst die ganze Bibel ungarisch zu veröffentlichen. Diese Bibel-
übersetzung ist noch heute das verbreitetste ungarische Buch.
Aber nicht nur die Prosaliteratur reifte unter der Einwirkung- der
Reformation, sondern auch die Poesie. Luthers Bestreben, den Gläubigen
in der Kirche nicht passiv zu belassen, sondern ihn durch Kirchengesang
zu einem tätigen Teilnehmer des Gottesdienstes zu machen — dieses Be-
streben bewirkte auch in Ungarn ein Aufblühen des Kirchenliedes. Doch
nicht nur die Lyrik war zum Gesang bestimmt.
Die herrschende Dichtungsgattung in diesem Jahrhundert ist die sang-
bare poetische Erzählung. Ich weiß nicht, ob es bei anderen Völkern in
diesem Zeitalter vorkommt, was in Ungarn eben nicht selten war, daß
Dichter aus dem Kreise der hohen Aristokratie ihre eigenen Novellen im
Gesänge vortragen.
Der Kreis, aus dem die Stoffe dieser kleinen zum Gesang bestimmten
Epen bestehen, ist dem Geist des Zeitalters entsprechend ein vielfacher.
Das meiste Interesse erregten diejenigen Erzählungen, welche die Vor-
fälle der Gegenwart, die Ereignisse der Türkenkriege behandelten. Wir
werden die Beliebtheit dieser Gattung natürlich finden, wenn wir die ent-
scheidende Wichtigkeit der damaligen Vorgänge auf dem Kriegsschau-
platze bedenken. Unter diesen wandernden und singenden Journalisten —
wenn ich sie so nennen darf — ragt in der Mitte des Jahrhunderts am
meisten Sebastian Tinödi hervor. Tinödi war der berühmteste der fahren-
den Sänger, der Fiedler, die sich nach ihrem Musikinstrument lantos nannten
{lant = Laute, eine Art Mandoline). Tinödi war kein echter Dichter:
er war ein gewissenhafter, oft auf Grund von Akten arbeitender Bericht-
erstatter, der die Zeitereignisse in patriotischem Geiste, aber ohne Inspi-
ration in Versen ausführlich erzählte.
Am sympathischsten sind uns diejenigen Vers-Chroniken Tinödis, welche
die heroischen Kämpfe gegen die Türken schildern: das Häuflein Soldaten
des Szondi in der Feste Dr6gely, das sich nicht ergeben will; vergebens
bietet der türkische Pascha den Abzug der Besatzung an: sie wählen den
III. Das Zeitalter der Reformation.
275
Tod. Eine andere Verschronik berichtet von der Belagerung Erlaus,
welches durch den Heldenmut des ungarischen Befehlshabers Stephan
Dobö alle Angriffe siegreich zurückschlug. Sogar die Frauen Erlaus
nahmen an dem verzweifelten Kampfe teil. Die minutiöse Genauigkeit,
mit der Tinödi diese Belagerung erzählt, macht ihn zu einer wichtigen
Quelle für die Geschichtschreiber dieser Zeit, von denen ihn aber manche,
wie z. B. Nikolaus Istvänfi (der Sohn des unten erwähnten Dichters Paul
Istvänfi) in Schilderung dieser Ereignisse an Erzählertalent, ja sogar an
Poesie übertreffen.
Der zweite Stoffkreis der Epiker ist der biblische. Er hängt mit der
Reformation zusammen, die starkes Interesse für die Bibel erweckte.
Aber auch diese biblischen Gegenstände werden von nationalem Stand-
punkt aus behandelt: bei David, der den Riesen niederschlägt, bei Judith,
die ihre Vaterstadt von dem fremden Eroberer errettet, denkt man an
Ungarn, das um seine Existenz mit den Türken kämpft.
Ein dritter Stoff kreis ist der antike; mit Gier trinken die Menschen
aus den neu eröffneten Quellen, die man der Renaissance zu verdanken
hat. Als Vorlage benutzten die Dichter nicht immer klassische Werke,
sondern mittelalterliche, wie Guido da Columna.
Die eigentlichen novellistischen Stoffe werden Boccaccio, Petrarca
und Aeneas Sylvius entnommen, die mit der Verbreitung' der Buchdrucker-
kunst bekannt wurden. Paul Istvänfi, der in Padua studierte und zu den
vornehmsten Männern gehörte, behandelte die Geschichte der Dulderin
Griseldis in Versen nach der Prosabearbeitung des Petrarca. Ein anderer
angesehener Würdenträger, der auch bei Mohäcs gekämpft, der Ober-
gespan Kaspar Raskai, verfaßte zur Unterhaltung seiner Gastgeber die
„schöne Chronik" vom Ritter Francisco und seiner Frau — welche auf
Boccaccio beruht. Das größte poetische Talent des 16. Jahrhunderts,
Valentin Balassa, übersetzt Euryalus und Lucretia des Papstes Pius IL
(Enea Sylvio), eine mit vielen klassischen Reminiszenzen erzählte schlüpf-
rige Liebesgeschichte, die sich wirklich in Siena ereignete, als der Kaiser
Siegmund, in dessen Gefolge auch der größte Türkenbesieger, Johann
Hunyadi, war, dort weilte: ihr Held war der Kanzler des Kaisers, Kaspar
Schlick, der auch in Ungarn reich begütert war; die Heldin war wahr-
scheinlich die Frau eines berühmten sienesischen Rechtsgelehrten.
Von größerem Interesse sind diejenigen poetischen Erzählungen, die Ungarische
einen ungarischen Stoff bearbeiten. Die poetischste unter diesen ist die fuhrung der
Sultanstochter
Erzählung von Szilägyi und Hajmäsi, das Werk emes Ungenannten, und XoWi.
der im Gefängnis dichtete. Zwei ungarische Helden schmachten im Ge-
fängnis zu Konstantinopel. Die Tochter des Sultans hört den einen im
Kerker singen, sucht die zwei Gefangenen auf und verspricht sie zu be-
freien und mit ihnen zu fliehen. Sie tun es und es gelingt. An der
Grenze aber kämpfen die zwei Ungarn, mit denen die Kaiserstochter
flieht, einen Zweikampf, denn jeder liebt das schöne Mädchen. Der eine,
2t6 Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
Hajmäsi, wird besiegt, worauf ihn Reue erfaßt, um so mehr da er Weib
und Kind zu Hause hat, und er läßt die Sultanstochter seinem glücklichen
Gefährten.
Diese Erzählung, die auch den Stoff einer Szekler Volksballade bildet,
lehnt sich an historische Persönlichkeiten an. Im Jahre 1432 kam ein
blinder Türke nach Ungarn, der auch seine Familie mit sich brachte. Es
war der wegen Thronstreitigkeiten geblendete Bruder des furchtbaren
Bajazid. Die Tochter dieses nach Ungarn übergesiedelten Thronpräten-
denten wurde vom Volke Katharina Kaiser genannt und trat in Beziehung
zu einem Hajmäsi, der Obergespan, war und zu dem Onkel des Königs
Mathias Corvinus, Michael Szilägyi, der zweimal in Konstantinopel ge-
fangen saß.
Auch Peter Ilosvay hat uns in seiner Reimchronik von Nikolaus Toldi
einen altungarischen Sagenstoff erhalten. Ilosvay verlegt die Handlung
in die glänzende Zeit Ludwigs des Großen, unter dessen Herrschaft tat-
sächlich ein Nikolaus Toldi gelebt hat.
Toldi zeichnet sich durch ungeheure Kraft aus; wir sehen ihn zuerst
auf dem Lande unter Feldarbeitenr; dann finden wir ihn in der königlichen
Residenz, wo er durch seine Stärke dem Könige auffällt. Er besiegt
einen böhmischen und einen italienischen Ritter, welche für unbesiegbar
galten. Als Kaiser Karl IV. von Ludwig dem Großen so wie von
einem Vasallen Tribut verlangt, begleitet Toldi seinen König nach Prag
und flößt dem Kaiser und den um ihn versammelten elf Königen Respekt
ein, während die Ungarn Prag einnehmen.
Eines der Motive, die in Toldis Geschichte vorkommen (der Held fällt
infolge der List einer Witwe nachts zum Fenster hinaus und geht dann
mit Gefährten ein Grab ausrauben) findet seine Analogie in einer Novelle
des Boccaccio; ein anderes Motiv (vor dem Zweikampf, den Toldi mit
dem böhmischen Ritter auf der Margareten-Insel ausficht, stößt er den
einen Kahn in die Donau: „Nur ein Kahn ist notwendig, da nur einer von
uns lebend die Insel verläßt") kommt auch in der Tristansage und bei
Gottfried von Straßburg vor.
Valentin Baiassa Der größte Dichter des 16. Jahrhunderts ist der Lyriker Valentin
Balassa, der gewalttätige Sohn dieser gewalttätigen Zeit. Eine stürmische
Natur, die nirgends ihr Bleiben hatte und sich in wilder Leidenschaft und
in Melancholiekrisen verzehrte. Wie der junge Sophokles bei der Sala-
misfeier zieht auch Balassa zuerst die Aufmerksamkeit als Tänzer auf
sich. Bei der Krönung Rudolfs II. wird er als geschicktester Tänzer
ausgewählt, den nationalen Schäfertanz vorzuzeigen. x\ls Jüngling finden
wir ihn in Erlau, in der Stadt, die so heroisch den Sturm der Türken ab-
geschlagen. Erlau war für Balassa, wie er selbst sagt, die Schule der
Tapferkeit, sie war aber auch die Schule der Leiden. Die unglückliche
Liebe zur Frau des Festungskommandanten (der Tochter des von Tinödi
besungenen Stephan Losonczy, der im Türkenkampfe fiel), verbitterte
III. Das Zeitalter der Reformation. 277
Balassas Leben. Sie ist der Hauptgegenstand seiner Liebeslyrik: als sie
nach Jahren Witwe wird, weist sie den wilden und gewalttätigen Freier
von neuem ab.
Charakteristisch für Balassa ist die Art, wie er heiratete. Eines
schönen Tages erscheint Balassa mit seiner Base aus der Heldenfamilie
der Dobö in Sdrospatak, geht zur Kirche und tritt nach der Messe mit
den Mädchen und seinen Reisigen vor den Altar und läßt sich durch
einen eigens mitgebrachten Geistlichen trauen. Hierauf fordert er die
Schlüssel der Festung, geht auf den Burgplatz und erklärt dem erstaunten
Volk, daß er Herr der Frau imd der Festung sei. Doch konnte er weder
die eine noch die andere behalten. Sein Leben ist von nun an eine Kette
von Verfolgungen. Die Verwandten seiner Frau setzen es durch, daß die
Ehe als eine blutschänderische für ungültig-, sein Sohn für rechtlos erklärt
werde. Man beschuldigt ihn (vielleicht weil er g-ut türkisch spricht) so-
gar, daß er Mohammedaner geworden. Man bestreitet seine Besitzungen.
Seine Leibeigenen, die er übrigens furchtbar behandelte, verklagen ihn.
Überall Prozesse und Haß. Da verläßt ihn, den alle verlassen, auch seine
Frau, um derentwillen er so viel gelitten. Nachdem er viel herumgeirrt, be-
steigt er einmal nachts sein Roß und flieht nach Polen, bis nach Danzig (das
damals noch zu Polen gehörte). Nach drei Jahren kehrt er zurück. Er
fühlt, daß ihm nur eines geblieben: für sein Vaterland zu sterben. Bei
der Belagerung von Gran wird er tödlich verwundet und stirbt in dieser
protestantischen Zeit als frommer Katholik.
V. Balassa ist der bedeutendste Lyriker bis auf Petöfi. Der Kreis,
aus dem er seine Stoffe wählt, ist nicht sehr reich, aber vom Gefühl
durchglüht. Hauptsächlich besingt er seine ruhelose, leidenschaft-
durchwühlte Liebe. Sein zweiter Kreis ist das Soldatenleben, welches
damals noch poetischer war als heute, weil es nicht so sehr unter dem
Drill der Kaserne stand, sondern mehr frischer, abenteuerlicher Wagemut
unter freiem Himmel war. Eine dritte Gruppe bilden seine Wanderlieder;
wandern heißt bei ihm so viel als von dem Dämon seines eigenen
Temperamentes und von unerbittlichen Feinden getrieben ruhel<JS herum-
irren. In der Zeit der Verfolgung hat er nur einen Trost: die Religion.
Balassa ist dem religiösen Charakter des 16. Jahrhunderts entsprechend in
erster Linie religiöser Dichter, dessen weltliche Lieder bloß handschrift-
lich verbreitet wurden, während seine religiösen Lieder die am häufigsten
aufgelegten Gedichte der folgenden zwei Jahrhunderte waren.
Was ihn im Leben unglücklich machte, das eben gibt seiner Poesie
den hohen Wert: die Stärke seiner Affekte. Er hat auf das dürre Stoppel-
feld seines theologisch-polemisierenden Zeitalters die Lavaglut seiner Ge-
fühle ergossen. Überraschend ist auch seine graziöse Verstechnik, die
teilweise auf Volksweisen, teilweise auf romanischen Mustern beruht.
Balassa führte auch das Naturgefühl in die ungarische Poesie ein:
vor ihm war die Natur noch stumm in unserer Poesie — eine unentdeckte
2y8 Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
Welt wie Amerika. Balassa ist der erste, der die Erscheinungen der
äußeren Natur mit den Erscheinungen der Seele in Parallele stellt.
Fabeldichtung. Da die Hauptrichtung dieses Jahrhunderts eine reflektierende und
moralisierende ist, werden wir es für natürlich finden, daß die Aesopische
Fabeldichtung mehrere Vertreter fand, unter denen Kaspar Heltai, dem
Boner, Steinhöwel und Burckard Waldis als Muster dienten, der beste
Erzähler ist.
IV. Das Zeitalter der Gegenreformation. Die erste Hälfte des
17. Jahrhunderts ist in Ungarn wie in dem größten Teile Europas die
Zeit der Antireformation. Am Anfange des Jahrhunderts war der Pro-
testantismus in Ungarn sehr verbreitet. Der größte Teil des Adels, sogar
der Palatinus, der Stellvertreter des Königs, war protestantisch. Der
päpstliche Gesandte berichtet mit Verzweiflung nach Rom, daß im ganzen
Lande nur 300 katholische Geistliche zu finden sind — also ungefähr so
viele wie in einer einzigen größeren Stadt Italiens. Da trat als Haupt der
Peter Pazmany Gegenreformation der Kardinal Peter Päzmänv auf. Man kann ohne QToße
(I57O-1637). .. * ., T^, , , . . - . , , *
Übertreibung' sagen: Pazmany wurde in einem protestantischen Ungarn
geboren und starb in einem katholischen Ungarn.
Päzmäny wurde in Großwardein geboren. Sein Geburtsort prädesti-
nierte ihn schon einigermaßen für seinen Beruf: diese Stadt war die erste
Feste der Jesuiten, hier wirkte der erste ungarische Jesuit Szantö, der
auch den von kalvinischen Eltern stammenden Päzmäny beeinflußte. Der
jung-e Päzmäny kam dann als Jesuit nach Rom, wo Bellarmin, der große
Jesuitenprediger und Theologe, entscheidenden Einfluß auf ihn übte: er wollte
eine Art Bellarmin für Ungarn werden. Diesem großen Zwecke dienen
dann seine glänzende Feder, seine hinreißende Rhetorik und rücksichts-
lose Energie. Nach 16 jähriger Abwesenheit kehrt er in sein Vaterland
zurück. Mit 46 Jahren ist er der höchste geistliche Würdenträger Ungarns
und hochangesehener Ratgeber des Kaisers. Es wäre ein Irrtum, in
Päzmäny nur einen hochbegabten Jesuiten mit internationaler Tendenz zu
sehen: dieser Jesuit war ein echt ungarischer Edelmann mit stark aus-
gesprochenem Nationalgefühl, der sogar das protestantenfreundliche Sieben-
bürgen im Interesse des Ungarntums für eine politische Notwendigkeit
hielt. Päzmäny ist der erste bedeutende ungarische Prosaschriftsteller.
Er hat, um es kurz zu sagen, der ungarischen Prosa Kraft verliehen.
Seine Vorgänger hatten alle etwas Flaches, Kompliziertes und Unbe-
stimmtes. Sie waren primitiv und doch zugleich geziert — wie dies bei
Anfängern zu sein pflegt.
Sein vorzüglichstes Werk sind seine Predigten, worin Päzmäny die
Gabe der großen katholischen Prediger, die oft mystischen Dogmen
mit plastischen, oft aus dem Alltagsleben entnommenen Vergleichen zu
verdeutlichen und allgemein verständlich zu machen, glänzend bewährt
Die abstrakten Begriffe werden bei ihm sichtbar. Sein theologisches
TV. Das Zeitalter der Gegenreformation. 2 7Q
Hauptwerk ist der „Führer zur göttlichen Wahrheit". Die erste
Hälfte erklärt die christlichen Lehrsätze, die zweite polemisiert mit der
protestantischen Auffassung. In seinen polemischen Schriften ist er der
Zeitrichtung entsprechend oft derb, übertriift aber seine Gesinnungsgenossen
und Gegner an Schlagfertigkeit und Geistesschärfe.
Um den Geist der Antireformation zu verbreiten, hat Päzmäny auch
viele Schulen ins Leben gerufen. Er gründete auch eine Hochschule in
Tymau, aus deren Stamm die heutig"e Budapester Universität herauswuchs.
Diesen großen katholischen Stiftungen gegenüber verdoppelten die
Protestanten, welche auch schon früher große Schulstifter waren, ihren
Eifer. Ihre zwei wichtigsten Hochschulen waren die in Gyulafehervar
(Karlsburg) in Siebenbürgen und die in Saröspatak. Die Karlsburger
Hochschule gründete der größte Fürst, den Siebenbürgen besessen, der
Schwager Gustav Adolfs, Gabriel Bethlen, der auch an dem Dreißigjährigen
Kriege teilnahm. In die von ihm gegründete Hochschule berief er
den Dichter Martin Opitz, der hier drei Jahre weilte; hier unterrichtete
später auch der erste ungarische Philosoph, der sympathische und unglück-
liche Bauemsohn, Johann Cseri von Apäcza (1625 — 1659), der in Holland,
wo er seine Studien betrieb, mit der Philosophie des Cartesius bekannt
wurde und dann in ungarischer Sprache eine Ungarische Enzyklo-
pädie schrieb, in welcher er die Philosophie ganz im Descartes'schen
Sinne behandelt — eine der ersten Darstellungen der Prinzipien des
großen Denkers im Ausland.
Unter der Obhut des großen Kardinals Päzmäny studierte in der vonNii
ihm begründeten Schule zu Tymau zwei Jahre der Urenkel des berühmten (
Helden von Sziget, Nikolaus Zrinyi.
Nikolaus Zrinyi gehört zu den interessantesten Dichtergestalten der
Weltliteratur. Er ist der größte ungarische Poet dieses Jahrhunderts; er
ist aber zugleich auch sein größter ungarischer Feldherr. Der gelehrte
Holländer Tollius, der ihn in seinem königlich eingerichteten Schloß zu
Csäktorn3'a aufsucht, preist ihn als Humanisten, während die ungarischen
Zeitgenossen den Staatsmann und glühenden Patrioten in ihm verehren.
Man könnte die Worte Geibels auf ihn anwenden: „Ein Sänger und ein
Held wie Walter, und rein sein Schild wie sein Gedicht!"
Seine ganze Laufbahn hat etwas ganz Außerordentliches. In dem
Alter, wo andere Kinder mit Holzsäbeln Holzsoldaten fällen, nahm er
schon an wirklichen Gefechten teil und lernte so früh die Türkenkämpfe
kennen, die er später besang. In seinem achten Jahre ist er Bannerherr,
dessen Unterschrift zur Gültigkeit der neuen Gesetze notwendig war.
Noch als Kind verliert er seinen noch jungen ritterlichen Vater, der, wie
man glaubte, durch Wallenstein aus Neid vergiftet starb. Mit 16 Jahren
bereist er Italien, wo er wohl desjenigen Dichterwerk kennen lernte,
welcher sein Vorbild wurde: Das befreite Jerusalem, und besucht den
Papst, der den Sprößling des berühmten Heldengeschlechtes freundlich
28o Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
empfing. Mit z i Jahren ist er Banus von Kroatien. Als Feldherr zeichnete
er sich besonders in den Türkenkriegen des Jahres 1663/64 aus. Empört
über den unwürdigen Frieden von Großwardein zieht er sich noch in dem-
selben Jahre (1664) in seine Feste Csäktornya zurück und beginnt in der
Überzeugung, daß Ungarn von dem Kaiser seine Befreiung nicht erhoffen
kann, mit den Feinden Österreichs zu verhandeln. Man verspricht ihm die
Königskrone von Ungarn. Da stirbt er plötzlich auf einer Jagd: ein Eber
hatte ihm mit seinen Hauern den Hals durchstoßen. Das Gerücht be-
hauptete, sein Todfeind, der österreichische Feldherr Montecuccoli habe
ihn meuchlings ermorden lassen. Die Devise Zrinyis war: Sors bona,
nihil aliud, tatsächlich fehlte jedoch ihm und seiner ganzen Familie
nichts als das Glück. Der jüngere Bruder des Dichters, Peter Zrinyi, der
auch das Epos des Nikolaus ins Kroatische übersetzte, starb auf dem Schafott;
dessen Tochter, die herrliche Helene Zrinyi, die heldenmütige Verteidigerin
von Munkäcs, starb verbannt in Kleinasien; ihr Sohn, der Freiheitsheld
Fürst Franz Räkoczi, starb auch im türkischen Exil am Marmarameere.
Der Sohn des Nikolaus Zrinyi fiel von Türkenhand, der Sohn Peters wurde
in lebenslänglicher österreichischer Haft wahnsinnig.
Das Hauptwerk Zrinyis ist ein großes Epos: Die Belagerung von
Sziget. Das Gedicht verherrlicht den Heldentod des Nikolaus Zrinyi, des
Urgroßvaters des Dichters, der mit kleiner Besatzung die Feste von
Szigetvär verteidigte und endlich, da sie der riesigen Übermacht des
Sultans Soliman gegenüber nicht mehr zu halten war, in einem Ausfall
mit der ganzen Besatzung den Heldentod fand. Der Auffassung des
Dichters zufolge ist Ungarn in Sünden versunken; als Strafe sendet Gott
die Türken, doch Zrinyi opfert sich für das Ungarntum, tötet bei
seinem letzten Ausfall den Sultan (was ein sagenhafter Zug ist) und stirbt
mit allen seinen Gefährten den Heldentod. Vor den Augen Zrinyis
schwebte das große Muster Virgils und Tassos. Er hat aber auch von
Ariosto und einem kroatischen Dichter Karnarutic, der dasselbe Thema
behandelte, manches gelernt.
Seine Sprache ist etwas rauli, manchmal noch unbehilflich, aber
voller Kraft, in der sich der große Charakter des Verfassers ausdrückt.
Die Komposition verrät den energischen Feldherm, der jede Abteilung
an den gehörigen Platz zu stellen weiß. Er ist Rassenkenner und schildert
türkische und ungarische Charaktere in ihren unterschiedlichen Merkmalen.
Das Lagerleben, die Schlachten, den Kriegsrat, das alles beschreibt er
wie jemand, der mit diesen Sachen auf das genaueste vertraut ist. Zrinyi
hat vielfach Tasso nachgeahmt, im Grunde aber ist er Ungar geblieben.
In seinem Werke sehen wir den wortkargen, stolzen, gefühlvollen, tat-
kräftigen und großmütigen Magnaten und Feldherm vor uns, während
uns aus dem Gcrusalcmmc liberata das religiös-exaltierte, sinnlich-schmach-
tende Auge des Italieners glühend anblickt.
Das Leben und die Werke Zrinyis bilden eine geschlossene Einheit;
IV. Das Zeitalter der Gegenreformation. 28 1
der Dichter und der Prosaiker verfolgt ein und dasselbe Ziel wie der
Feldherr und Staatsmann Zrinyi: die Befreiung Ungarns von der Türken-
herrschaft mit nationaler Kraft.
In demselben Jahre, in welchem Nikolaus Zrinyi, die Hoffnung und der Stefan
Gyöngyösy
Stolz Ungarns, in dem Walde bei Kursanecz verblutend gefunden vmrde, (1625—1704).
erschien ein episches Gedicht, welches berufen war, eine viel größere
Wirkung auszuüben als das Zrinyi-Epos. Es war die Venus von Murdny
des Stefan Gyöngyösy, der ein zeitgenössisches Ereignis behandelte,
das in ganz Europa Aufsehen erregte. Der zur kaiserlichen Partei ge-
hörige Feldherr Franz Wesselenyi belagerte die fast uneinnehmbare natio-
nale Festung Muräny, deren Befehlshaber eine wegen ihrer Schönheit und
ihres Geistes berühmte Frau, die Gräfin Marie Szechy war. Als sich die
zwei feindlichen Führer, der Belagerer und die Kommandantin der Feste,
einmal begegneten, verliebten sie sich ineinander: Marie Szechy ermög-
lichte es dann, daß Wesselenyi nachts insgeheim mit einem Teile seines
Heeres auf einer Strickleiter in die Festung drang und mit einem Schlag
Herr der schönen Frau und der berühmten Feste wurde.
Gyöngyösy ist Barockdichter, ein Zeitgenosse der architektonischen
Schöpfungen, welche die edlen Linien der Renaissance durchbrechen und
verbiegen, der Bildwerke, welche durch eine unmotivierte Bewegung auf-
fallen, der unnatürlichen Gärten, welche die geraden Flächen der Gebäude
fortsetzen wollen, der Allongeperücken, welche falsche Würde verleihen.
Dem Geschmack seines Zeitalters entsprechend, arbeitet Gyöngyösy fort-
während mit einem mythologisch-allegorischen Apparate, wie dies schon
der Titel seines Werkes zeigt: Die dem Mars gesellte Venus von
Muräny. Auch in seinen Metaphern zeigt sich das Gezierte, Unnatürliche,
Schwülstige der Barockzeit. Gyöngj'ösy ist der Epiker der Eheschließung.
Neben der überraschenden Heirat der Marie Szechy behandelte er in
einem anderen Werke: Der aus der Asche entstandene Phönix das
Liebesverhältnis und die Ehe des siebenbürgischen Magnaten, späteren
Fürsten von Siebenbürgen Johan Kemeny mit Anna Lönyay. Den Hinter-
grund des mittleren Teiles bildet ein furchtbares Ereignis der Siebenbürger
Geschichte: die ganze Armee, die zur Hilfe des schwedischen Königs
Karls X. nach Polen zog und in der sich auch Kemeny befindet, fällt in
Gefangenschaft und alle werden Sklaven der Tataren. Ein drittes Ge-
dicht handelt von der Hochzeit der früher erwähnten Helene Zrinyi (der
Tochter Peter Zrinyis) mit dem berühmten Kuruczenführer Thököly.
Gyöngyösy ist der Gegensatz Zrinyis: statt der männlichen Herbheit
finden wir bei ihm schwülstigen Prunk, statt der einheitlichen Kompo-
sition ein bloßes Nacheinander der Ereignisse. An Wohllaut der Sprache,
Schönheit der Beschreibungen, fesselndem Interesse der Handlung über-
trifft jedoch Gyöngyösy, der Barockschüler des Ovid, seinen Vorgänger
Zrinyi, den Spätrenaissanceschüler Virgils.
282 Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
V. Das 18. Jahrhundert. Zweiundzwanzig Jahre nach dem Tode
des Dichters Nikolaus Zrinyi war Ofen wieder in Christenhand: Ungarn
war von dem türkischen Joch befreit. Man sollte glauben, daß nach
diesem glücklichen Ereignis gleich ein großer Aufschwung aller nationalen
Kräfte eingetreten sei: statt dessen sehen wir eine tiefe Depression, besonders
nach dem Mißlingen der Freiheitskämpfe des Franz Raköczi (1703 — 1711); da
scheint es, als ob alle Quellen der Kunst ausgetrocknet wären, nur der
ewige Brunnen der Volkspoesie rauscht in der Stille. Was sind die Ur-
sachen dieser auffallenden Erscheinung?
Ungarn war nach der Türkenherrschaft und den Türkenkriegen er-
schöpft, da es besonders an Menschenmaterial furchtbare Einbuße erlitten.
Aber auch finanziell war es erschöpft, die Soldaten der Christenheere
haben ebensoviel Schaden verursacht wie die Türken; außerdem machte
die Zollpolitik Österreichs das verarmte und entvölkerte Land zu einer
Ausbeutekolonie. Die Aristokratie Ungarns geriet in den Bannkreis des
Wiener Hofes und vergaß um die Mitte des Jahrhunderts ihre Mutter-
sprache. Der gebildete ßürgerstand sprach zumeist deutsch, die Gelehrten
schrieben lateinisch. Nach dem Räköczischen Kriege gab es Jahre, in
welchen nur 3 — 4 ungarische Bücher erschienen. Viel geistigen Schaden
richtete auch die sogenannte Revision an, welche die besten ausländischen
Bücher verbot, und die Zensur, welche inländische Geistesprodukte hemmte.
Das Verzeichnis der verbotenen Bücher wurde amtlich veröffentlicht, später
aber wurde sogar dieses Verzeichnis verboten, weil das Publikum daraus
die Titel der gefährlichen Bücher ersehen konnte.
Aufblühen der Doch konnte selbst in dieser Periode des geistigen Stillstandes das
Volkspoesie. , .
große nationale Pathos der Räköczischen Freiheitskriege nicht verrauschen,
ohne in der Dichtkunst Spuren zurückzulassen. Der Impuls der großen
politischen Ereignisse zeigt sich in dem Aufblühen der Volkspoesie am
Anfang des Jahrhunderts. Unter den Soldaten Räköczis entwickelte sich
eine eigentümliche, oft wilde, aber dennoch tiefgefühlte und hochpoetische
Lagerpoesie, die sogenannte Kuruczendichtung. Kuruczen hieß man die
ungarischen Aufständigen, die gegen Osterreich kämpften; besonders
nannte man so die Soldaten Thökölys in der zweiten Hälfte des 1 7. und
die Franz Räköczis am Anfang des 18. Jahrhunderts. Diese Kuruczen-
gedichte — Lieder und Balladen — gehören zu den schönsten Erzeug-
nissen der ungarischen Volksdichtung. Das ungarische Stammgefühl, der
Haß gegen die Unterdrücker, der Schmerz über das Elend des Vater-
landes, die nationale Exaltation lodern darin in hellen Flammen.
Kiemeas Mikes ^.n den pfroßen Namen Räköczis knüpft sich auch das bedeutendste
(1690— 17611. ° ^ ^ _
Prosawerk dieser Epoche, die Briefe aus der Türkei des Klemens
Mikes, welche allerdings erst viel später, am Ende des Jahrhunderts, im
Druck erschienen. Als Franz Räköczi 1 7 1 1 ins Exil ging, aus dem er nie
mehr zurückkehrte, als er seine Familie, seine Zukunftsträume, seine uner-
meßlichen Reichtümer zurückließ, begleitete ihn der junge Mikes überall-
V. Das i8. Jahrhundert. 283
hin. Er war sein treuer Gefährte in Frankreich am Hofe des Sonnen-
königs; er folgte seinem Fürsten in die Türkei, lebte — ein treuer Diener
seines Herrn — an seiner Seite im traurigen Exil zu Rodosto am Marmara-
meer; und als sein Fürst starb, drückte er ihm die Augen zu. Wie der
Vater starb später auch der Sohn, Joseph Räköczi, in den Armen des
Klemens Mikes. Die Eindrücke des Rodostoer Lebens, die Ereignisse
im nahen Konstantinopel, die Früchte seiner vielseitigen Lektüre, das sind
die Gegenstände, die Mikes in seinen türkischen Briefen mit einer
liebenswürdigen Schalkheit, und in einem durchsichtigen Prosastil be-
handelt, der in dieser traurigen Zeit nicht seinesgleichen hat. Die Briefe
des Mikes sind keine wirklichen Briefe, er wählte die Briefform, um in
ihr seine Memoiren zu schreiben, eine literarische Form, die für solchen
Zweck vielleicht einzig dasteht.
Der Schlaf der Literatur dauerte bis 1772. Er war übrigens — wieuas Erwachen
der Schlaf des Körpers — zugleich ein Kräftesammeln. Das Erwachen (1747—1811).
geschah folgendermaßen: In der ungarischen Leibgarde, welche die Kaiserin
Maria Theresia in Wien errichtete, befand sich als Offizier ein junger,
schöner Landedelmann mit wenig Schulbildung: Georg Bessenyei. In
Wien, wo er seiner geistigen Zurückgebliebenheit inne wurde und wo er
dann mit gToßer Ambition und Empfänglichkeit sich zu bilden anfing,
lernte er die französische Literatur und die damals auch in Wien herrschende
Geistesrichtung der Aufklärung kennen. Sein Ideal ist Voltaire. Sein
Bestreben ist, eine ungarische Literatur, ungarische Geistestätigkeit ins
Leben zu rufen. Zu diesem Zwecke bildete er mit mehreren seiner Ge-
fährten aus der ungarischen Leibgarde einen literarischen Kreis. Im
Jahre 1772 erschien sein erstes Werk: Die Tragödie des Agis, ein
ganz im französischen klassischen Stil geschriebenes Drama, dessen aus
der spartanischen Geschichte entlehnten Stoff auch Gottsched behandelt
hatte. Es finden sich darin die drei Einheiten, der elegante reflektierende
Dialog und der g-alante Ton des französischen Dramas ohne die feine
Psychologie und glänzende Diktion. Wie Voltaire wollte auch Bessenyei
von der Bühne weitschallend die Ideen der Aufklärung verkünden — was
sonderbar ist, da damals noch keine ungarische Bühne existierte.
Trotz aller Mängel war die Tragödie epochemachend, denn mit ihr
fängt das literarische Leben in Ungarn wieder an. Wenn in einem Zimmer
mehrere schlafen und einer erwacht, so weckt er durch seine Bewegungen
auch die übrigen. So geschah es auch hier. Bessenyei erweckte die
Geister; er schrieb noch mehrere Dramen, die für sich keine große Be-
deutung haben: die Wichtigkeit seiner Mission bestand darin, daß er den
Impuls gab. Er und seine Gefährten, welche die damals in Wien wie
übrigens auch in ganz Europa in höchstem Ansehen stehende französische
Literatur zum Muster nahmen, bilden die sogenannte firanzösische Schule.
Die Geistlichkeit dagegen, die natürlicherweise eine lateinische Bildung
hatte, ahmte, als das literarische Leben sich zu entfalten begann, in erster
284 Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
Reihe Horaz und Virgil nach. Die Dichter dieser Richtung' nennt man
die klassische Schule. Der bedeutendste Erbe dieser Dichtergruppe war
Daniel Berzsen}'! (1776 — 1836), der größte Odendichter Ungarns, der in
die Horazsche Form glühenden ungarischen Patriotismus goß und unter allen
Ungarn am meisten das Erhabene zu erreichen wußte. Aber nicht alle
Dichter wendeten sich nach dem Auslande: die ungarischen Traditionen,
vor allem das Muster Gyöngyösys wirkten noch fort; ungarische Stoffe, in
ungarischem Versmaß mit nationaler Tendenz — das war das Ziel der
nationalen Schule. Das Zentrum der nationalen Bildung in dieser Zeit war
Debreczin, das kalvinistische Rom, die größte echt ungarische Stadt. Hier
wurde Michael Csokonai, der bedeutendste Dichter der nationalen Gruppe
geboren; hier starb er im Alter von 31 Jahren. Sein Leben war ein un-
stetes Wanderleben, und doch ist er die einzige wahre Dichterindividualität
des 1 8. Jahrhunderts. Er erinnert an Bürger, aber er bleibt, auch wenn er
nachahmt, immer Ungar. Verschiedene Richtungen sind in seiner Lyra
vertreten: derber Humor und tiefes Naturgefühl, anakreontisches Ge-
tändel und echt volkstümlicher Liederton. In seinem komischen Epos
Dorothea oder Sieg der Damen über den Prinzen Karneval finden
sich in etwas fadem, allegorischem Rahmen viele komische Beobachtungen
und prächtige ungarische Typen. Das Epos erzählt eine komische Schlacht
zwischen den alten Jungfern, deren Führer Dorothea ist, und dem personi-
fizierten Karneval.
Die Resultate. VI. Das IQ. Jahrhundert. Das 19. Jahrhundert hat in Ungarn
eine größere Bedeutung als alle früheren seit der Eroberung des Landes.
Herodot sagte: Ägypten sei ein Geschenk des Nils, ähnlicherweise könnte
man sagen: Ungarn ist ein Geschenk des 19. Jahrhunderts.
Als sich die Sonne des 19. Jahrhunderts erhob, war wenig Hoffnung
am Horizonte Ungarns. Herder hält in seinen Ideen die Ungarn für ein
Volk, das im Aussterben begriffen ist. Bekümmert fragten sich die
Patrioten, ob Herder nicht recht behalten werde. Wie die edelsten
Geister Ungarns über das Schicksal ihres Vaterlandes dachten, ersehen
wir aus der berühmten Ode Berzsenyis: An die Ungarn. Ungarn ist
dem Gedichte zufolge einem langsamen Tode geweiht. Wir müssen
diesen Verfall und Untergang der Nation mit Resignation erdulden, denn
nach dem ehernen Gesetz der Weltgeschichte gehen alle großen Staaten,
wie Troja, Babylon, Karthago und Rom zugrunde. Ein angesehener
Dichter schrieb an Kazinczy: „Auch ich bin genötigt, meinem Volke den
Untergang zu prophezeien."
Da trat plötzlich eine große Wendung ein. Am Anfange des Jahr-
hunderts schien es — als ob alles verloren sei, und doch war alles gerettet.
Das große Zeitalter war schon vorbereitet. Während äußerlich noch
nichts zu sehen war, fing es unten im Schöße der Erde schon an, unsicht-
bar zu keimen, Wurzeln zu treiben, die Lebenssäfte begannen zu kreisen.
VI. Das iq. Jahrhundert. 285
und die Pflanze entwickelte sich: unsichtbar, weil im Herzen der Menschen.
Als ob die Natur eine letzte große Anstrengung machen würde, dieses
Volk zu retten, und die großen Männer auf die erste Hälfte des Jahr-
hunderts konzentrieren würde. Vörösmart}', Petöfi, Arany, die größten
ungarischen Dichter, sind Zeitgenossen der größten ungarischen Staats-
männer: Szechenyi, Kossuth und Deäk. Binnen kurzer Zeit, während
2 — 3 Jahrzehnten erwecken diese Männer ihr Volk aus dem tatenlosen,
dumpfen Schlummer, gießen Selbstvertrauen und Hoffnung- in sein Herz,
gestalten es zur Nation, sichern mit ihrer Weisheit seine Zukunft und
verklären es mit der Glorie ihrer Poesie.
Die größte Umgestaltung Ungarns zeigt sich besonders in drei Rich-
tungen: in der Politik, in der Literatur und in der Volkswirtschaft. Die
große Veränderung in der Politik besteht darin, daß Ungarn unter der
Führung Kossuths aus einem Ständestaat zu einem nationalen Staate wird,
in welchem die Reste der Leibeigenschaft, die Klassen und Stände mit
ihren verschiedenen Rechten aufhören. Die konstitutionelle Selbständig-
keit dieses neugebildeten Nationalstaates, Österreich gegenüber, sicherte
dann Deäk in dem Ausgleiche von 1867.
In diesem neuorganisierten Staate blüht die Literatur auf einmal in
ungeahnter Fülle und Schöne empor. Zuerst schafft sich die Literatur durch
die Spracherneuerung Kazinczys ein neues Organ zur Vervollkommnung
der Prosa; gleich darauf begründet der 25jährige Vörösmarty eine glänzende
poetische Sprache und Diktion: mit seinem Epos die Flucht Zaläns
hebt sich strahlend die Sonne dieser Glanzzeit, in den vierziger Jahren
brennt sie ihren heißesten Mittag und geht goldglühend mit dem Epos
Toldis Liebe von Arany (1879) unter. Das dritte Gebiet, auf welchem
Ungarn eine wesentliche Umgestaltung erleidet, ist das der materiellen
Kultur. Es ist das Werk Stefan Szechenyis, der im Gegensatz zu den
übrigen genialen Staatsmännern Ungarns einen lebhaften Sinn für die
praktischen Fragen, für Kredit und Assoziation hatte. Ihm ist es in erster
Reihe zu verdanken, daß aus dem Ungarn, welches Herder für einen im
Sterben begriffenen Staat hielt, dasjenige Ungarn geworden, welches
Kaiser Wilhelm IL am 21. September 1898 zu Ofen „in sympathischer
Bewunderung" mit dem Ausspruch charakterisierte, daß es seine Millen-
niumsfeier in „überraschender Herrlichkeit" feierte.
So große Resultate wären unmöglich gewesen ohne große Tugenden. Die Gefühle.
Dem ungarischen Volksglauben gemäß muß ein Haus, um fest bestehen
zu können, in seinen Grundmauern mit einem Opfer von Menschenblut
benetzt werden. Solch ein Gebäude ist das heutige Ungarn. Das Opfer
bei seiner Grundsteinlegung war das selbstaufopfernde Leben seiner edelsten
Söhne in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Außergewöhnliche Talente
und Charaktere mußten kommen, um in dieser Welt des Egoismus und der
Lässigkeit solche außergewöhnliche Resultate zu erzielen. Welche Be-
geisterung, welche Opferwilligkeit ist in diesem Heroenzeitalter der ungari-
2 86 Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
sehen Kultur bei den Führern zu finden, von Kazinczy angefangen, der
am Ende des i8. Jahrhunderts seine Notizen in dem Gefängnisturm von
Kufstein mit seinem eigenen Blut schreibt, bis zu Petöfi, der 1849 mit
26 Jahren glorreich auf dem Schlachtfelde stirbt! Die Dichter Verseghy,
Bacsänyi, SzentjöbiSzabö, Czüczor, Madäch mußten im Gefängnis schmachten,
Kossuth mußte im Exil sterben, der größte Staatsmann Ungarns, Graf
Stefan Szechenyi, mußte verzweifelt über das Schicksal seines Vater-
landes zum Selbstmörder werden — billiger war es Ungarn nicht gegeben,
sich die Freiheit und das Leben zu erringen.
Es bedurfte großer Herzen und glühender Exaltation, um diese Nation
neu zu gründen. Im Jahre 1795 wurden in Ofen auf dem Felde, welches
seitdem im Ungarischen das Feld des Blutes heißt, die Mitglieder der
sogenannten Martinovicsischen „Verschwörung" enthauptet; nachdem der
aufgeregte Henker dreimal auf Sigray geschlagen, ehe sein stolzes Haupt
fiel, wurde Laczkovics, dann der die Marseillaise singende Szentmarjai,
dann der schwärmerische Hajnoczy und endlich der gelehrte Martinovics
hingerichtet; am nächsten Tage fand man an blutiger Stelle festgewurzelt
einen duftenden Rosenstrauch. Auf solche Weise erblühte auch die unga-
rische Literatur aus dem Blute der Märtyrer. — Am Ende des 1 8. Jahrhunderts
reiste ein junger Edelmann nach Siebenbürgen. „Gegen Abend — schreibt
er in seinem Tagebuch — kam ich auf einen hohen Berg, wo Ungarn an
Siebenbürgen grenzt. Unter mir sah ich eine überraschende, prächtige,
aber mein Herz zerschmetternde Szenerie: im Westen sah ich die ung-ari-
sche Ebene in reinem Abendgolde; im Osten brandete das Wäldermeer
von Siebenbürgen. Auch mein Herz geriet in Brandung, ich warf mich
auf die Grenzlinie unter Tränengüssen nieder und schwur: Ich, ein armer
ungarischer Edelmann, doch Abkomme derjenigen, die hier eine glorreiche
Nation gegründet, werde aus meinem Herzblut und meinen innigsten
Gefühlen wie die Seidenraupe aus ihrem Innern einen P'aden spinnen, mit
welchem ich unsere aussterbende Nationalität durch Sprache, Gefühl und
Schrift weiter am Leben erhalten werde."
Dieser Jüngling begann wirklich „den Faden zu spinnen". Es war
Alexander Kisfaludy.
Ein junger ungarischer Magnat sah auf seiner Orientreise im Jahre 18 18
in Athen erschüttert die Ruinen der schönsten Gebäude der Welt. Sollte
sein Vaterland auch so untergehen? Er leistete sich den Schwur: „Wenn
nötig, werde ich allein mein armes Volk aus seinem Verfall erheben und
einer schönen Zukunft entgegenführen."
Er hielt den Schwur. Es war Stefan Szechenyi.
Die Sprach- Ehe die Literatur ihre Blüte erreichen konnte, mußte sie ein voll-
erncucruog am
Anfang des kommenes Organ für den Ausdruck haben. Dies zu schaffen, war das
19. Jahrhunderts. '^
Ziel der Spracherneuerung, die eng mit dem Namen Franz Kazinczys ver-
knüpft ist.
Es ist nicht leicht, einem Ausländer einen Begriff von der Sprach-
VI. Das 19. Jahrhundert. 287
erneuerung zu geben, so daß er ihre Bedeutung, ohne sie zu überschätzen,
doch richtig erkenne. Spracherneuerung nennen wir das Bestreben einer
Gruppe von Schriftstellern, die ungarische Sprache mit neuen Wörtern
und Stilwendungen zu bereichern. Franz Kazinczy war der Führer dieser
Bewegung, welche jedoch schon früher anfing und ihn überlebte. Die
Worte erfanden die Schriftsteller selbst, teilweise den ungarischen Wort-
bildungsgesetzen gemäß, teilweise auf eine höchst willkürliche Weise. Das
Resultat war die künstliche Transfusion von etwa zehntausend neugebildeten
Wörtern in den Körper der ungarischen Sprache. Es war eine ganze Revo-
lution, die wie jede Revolution zu Übertreibungen führte. Die Wort-
fabrikation nahm so sehr überhand, daß beinahe schon die Reinheit der
Sprache bedroht war: die Zahl der neugebildeten Wörter, welche man in
die ungarische Sprache hineinzuschmuggeln versuchte, welche jedoch die
gesunde Xatur der ungarischen Sprache gleich abgestoßen hat, betrug
vielleicht mehr als 20000.
Es entstand eine große Reaktion gegen die Übertreibungen der
Spracherneuerer, der Neologen, bis endlich (wie gewöhnlich nach großen
Umwälzungen) ein Kompromiß zustande kam, welcher einen Teil der neu-
geschaffenen Wörter als bleibenden Bestandteil des ungarischen Sprach-
schatzes akzeptierte.
Der Führer dieser wichtigen Bewegung, Franz Kazinczy, war kein Franz Kazinczy
Dichter von hohem Rang, aber doch ein Bahnbrecher, ein Inspirator und
Meister des Geschmackes. Er war sehr wohlbewandert in der Weltliteratur
und wohl einer der ersten außerhalb Deutschlands, die Schillers und
Goethes Bedeutung erkannten. Sein Ideal war das Allgemein-Menschliche,
wie es etwa Goethe in der Iphigenie verklärt. Mit Schmerz mußte
Kazinczy am Ende seines Lebens bemerken, daß die junge Generation, vor
allem der geniale Michael Vörösmarty, sich von diesem abstrakten allgemein-
gültigen Ideal lossagt und eine entschieden nationale Tendenz verfolgt.
Man suchte nicht mehr das allgemein rein Menschliche, sondern das speziell
rein Ungarische. Kazinczy war wie ein Vater, der die Sprache seiner
Söhne nicht mehr versteht.
Der Sprachemeuerung' sieht man es an, daß ihr Führer ein Zeit-
genosse der französischen Revolution war. Wie die Revolutionäre die
Tradition nicht zu schätzen wußten und die Resultate tausendjähriger
Entwicklung mit einem Schlage beseitigen und alles der raison pure
gemäß umgestalten wollten, so mißachtete auch Kazinczy die Sprach-
tradition, das durch Jahrtausende langsam Gewordene, und trachtete es
einem abstrakten Ideal zuliebe plötzlich umzuändern.
Kazinczy suchte nicht nur die Sprache zu verschönern und zu be-
reichem, er wollte auch den Geschmack veredeln. Zu diesem Zwecke
übersetzte er vieles aus dem ausländischen Literaturschatz und suchte auch
durch Rat auf die Zeitgenossen zu wirken. Ein Hauptmittel dazu war seine
Korrespondenz. Er war die höchste Autorität in literarischen Angelegen-
2 88 Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
heiten. Alles wendete sich an ihn. Seine Korrespondenz, welche viel-
leicht die größte der Weltliteratur ist und nur mit der Voltaires ver-
glichen werden kann, ersetzte eine literarische Zeitschrift. Es ist eine für
ihn charakteristische Tatsache, daß die Portospesen seiner Riesenkorre-
spondenz viel zur Vermehrung seiner finanziellen Kalamitäten beitrugen.
Aieiander An der Schwclle der Blütezeit stehen die Gebrüder Kisfaludy, die
Kisfalady ■' '
(1772— 1844). ungefähr zu derselben Zeit wirkten wie die Brüder Schlegel. Der ältere
Alexander ist der größte Lyriker seines Zeitalters. Seine Liebeslieder
(Die Liebe Himfys) haben das Publikum im Sturm erobert — was bis
dahin kein einziger ungarischer Dichter sagen konnte. „In den sonnigen
Tälern der Provence ist der Minnesang entsprossen" singt Uhland. Auch
die Liebespoesie Kisfaludys stammt aus der Provence und hat vielleicht
daher ihre Glut, ihre süße Melodie und ihre Formschönheit. Er kam in
den Napoleonischen Kriegen als Kriegsgefangener in die Provence und
sah auch Avignon, was für ihn von um so größerer Bedeutung war, als er
in der Poesie als Vorbild den Sänger von Vaucluse: Petrarca betrachtete.
In seinen kleineren epischen Gedichten, Sagen der ungarischen Vor-
zeit, wendet er sich, wie die zeitgenössische Romantik überhaupt, zum
Mittelalter, zum Ritterwesen; jedoch sieht Kisfaludy im Mittelalter nicht
das hehre religiöse, sondern das nationale Zeitalter. Er liebt die Ver-
gangenheit, weil in ihr Ungarn frei und mächtig war.
Karl Kisfaludy Während Alexander Kisfaludy, der Dichter der unglücklichen Liebe,
'' " als Muster eines klugen Landedelmannes gemächlich und angesehen auf
seinem Landgut lebte, kämpfte sein Bruder Karl schwer um seine Existenz
und um den Lorbeerkranz. Als Maler bereiste er Italien; zurückgekehrt lebte
er in Pest notdürftig' von seinen Malereien, die der Schuhmacher, bei dem
er wohnte, verkaufte. Im 31. Jahre betrat er die Laufbahn, für die er
prädestiniert war: die des dramatischen Dichters.
Das Drama. Das ungarischc Drama war eben damals zu Anfang des 19. Jahr-
hunderts in der Jugendgärung. Unter allen Dichtungsarten hatte sich das
Drama am spätesten entwickelt, da das städtische Leben — welches die
Vorbedingung des Dramas ist — eben bei dem ungarischen Element
späteren Ursprunges ist. Auch war die Entwicklung des Dramas keine
kontinuierliche: das weltliche Drama entsprang nicht aus dem alten
geistlichen. In einem Legendenkodex vom Anfang des 16. Jahrhunderts
findet sich die wörtliche Übersetzung eines Dramas der Roswitha: des
Dulcitius, nur daß der Dialog durch erzählenden Text verbunden
ist. Das 16. Jahrhundert war übrigens in Ungarn wie auch in Deutsch-
land die Zeit des satirisch-theologischen Tendenzdramas. In dieser
Gattung ist das interessanteste Produkt das Drama: Der Verrat des
Meinhard Balassa, vielleicht das Werk eines unitarischen Predigers,
welches nicht ohne Kraft einen mächtigen und gewalttätigen Raub-
ritter (einen Verwandten des Dichters Balassa), dem für Geld Ehre
und Rehgion feil ist, an den Pranger stellt. Im 17. und 18. Jahr-
VI. Das 19. Jahrhundert. 28Q
hundert ist es bloß die Schule, welche in Ungarn das Drama pflegt. Die
erste öffentliche Theatervorstellung von Bedeutung fand im Jahre 1790
zu Ofen in einem Klostergebäude statt, welches Joseph II. zu einem
Theater umgestalten ließ. Ein Enthusiast, Ladislaus Kelemen, stand an
der Spitze der Truppe, welche nicht nur des Erwerbes halber, sondern
aus Patriotismus, um die ungarische Sprache und Literatur zu verbreiten,
spielte. Das Kelemensche Theater, welches in sein Repertoire auch Lessing,
Schiller und Goethe aufgenommen hatte, hielt sich nicht lange, aber das
Eis war gebrochen: das Bühnenwesen verbreitete sich immer mehr und
mehr, und nun war es an den Dichtern, die Bühne mit ungarischen Pro-
dukten zu versehen. In dieser Zeit, im günstigen Augenblicke, trat Karl
Kisfaludy auf. Sein epochales Hauptverdienst besteht darin, daß er auf
die Bühne nicht nur Stücke in ungarischer Sprache — wie seine Vor-
gänger — sondern wirklich (und nicht bloß hieher lokalisierte) ungarische
Sujets und ungarische Charaktere brachte. Er ist mit seinen Lustspielen
der Begründer des wahrhaft ungarischen Dramas. Die Lustspielform und
Technik dagegen ist ganz die damals modische, die von Kotzebue und
Kömer. Unter seinen Tragödien ragt am meisten Irene hervor. Den
Stoff entnahm Kisfaludy dem großen Mathematiker Wolfgang von Bölyai,
der außer seinen großartigen mathematischen Werken auch Dramen schrieb.
Irene ist ein schönes Griechenmädchen, welches nach der Eroberung von
Konstantinopel als Gefangene in das Serail Mahomets IL kommt. Der
Sultan vergißt über ihre Liebe den Krieg, als er jedoch die Unzufrieden-
heit der Krieger sieht und an der Liebe Irenes zu zweifeln anfängt, er-
sticht er sie.
Ein weiteres Hauptverdienst Karl Kisfaludys, neben der Begründung
des ungarischen Dramas, ist die Herausgabe eines jährlich erscheinenden
Almanachs, der Aurora, wodurch er ein Mittel fand, der ungarischen Lite-
ratur ein Publikum heranzubilden und zugleich die talentiertesten Schrift-
steller in einen Kreis in die Hauptstadt zu konzentrieren. Ungarn hatte bis
dahin kein literarisches Zentrum: vermittelst des Taschenbuches Aurora
gab Kisfaludy dem literarischen Leben auf einmal einen Führer und einen
Mittelpunkt.
Neben diesen bahnbrechenden Geistern steht noch eine edle tief- ^'^"^ ^°'"°^
(1790— 1838).
sympathische Gestalt: Franz Kölcsey. Ein schwärmerischer Idealist, wie
aus einem Drama Schillers herausgehoben, der in seine Studien und in
seine Gedanken versunken, einmal ein ganzes Jahr sein Haus nicht verläßt.
Er hatte in seiner Jugend ein Auge verloren und das gab seinem feinen
"blassen Gesicht mit der hohen Stirn einen überirdisch-melancholischen
Ausdruck, Auch in seiner Lyrik finden wir eine feine, unbestimmt
nebelhafte Melancholie und Sentimentalität. Was ihn jedoch weit über
seine sentimentalen deutschen Zeitgenossen, z. B. Matthisson, erhebt, ist der
große Zug des Patriotismus, der tiefe patriotische Schmerz, der ihn seinen
eigenen Schmerz vergessen läßt. Kölcsey war unter den großen Rednern
Die Kultur der Gegenwart. I. 9. I9
2QO Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
■ des damaligen politischen Lebens der poetischste, das Vorbild des größten
Redners: Kossuths. Das berühmteste Gedicht Kölcseys ist seine Hymne,
der Nationalhymnus der Ungarn, dessen Hauptgedanke folgender ist:
Ungarn hat im Laufe der Geschichte so viel gelitten, daß es durch seine
Leiden die Sünden der Vergangenheit und die der Zukunft gesühnt hat.
Die Blütezeit Die Blütezeit der ungarischen Literatur fällt in die Jahre 1820 — 1880,
" LuTratur. °° in welchen die zwei größten Dramatiker, Josef Katona und Emerich
Madach, ihre Meisterwerke veröffentlichen, Michael Vörösmarty die
poetische Sprache begründet, Alexander Petöfi, der größte Lyriker,
Johann Arany, der größte Epiker, und Maurus Jökai, der berühmteste
Romanschriftsteller leben und wirken. In dieser glorreichen Zeit treten
auch die drei größten Staatsmänner auf: der Begründer des modernen
Ungarn: Stefan Szechenyi, der Führer der Unabhängigkeitsbewegung:
Ludwig Kossuth, und der Weise des Landes, der Stifter des Ausgleiches
zwischen Ungarn und Österreich: Franz Deäk.
Konstitutive Ihre Sonnenhöhe erreicht die ungarische Literatur in den zwei Jahr-
BUHezeit/'^ Zehnten vor dem Freiheitskampfe (1848). Diese Glanzperiode entstand
durch die Vereinigung zweier Faktoren: der nationalen patriotischen Be-
geisterung mit der allgemeinen europäischen demokratischen Strömung.
Jede große Idee, jedes große Gefühl ist anfangs der Besitz eines kleinen
Kreises, aus dem sie dann leuchtend und wärmend weiter dringen. So
war es auch mit der patriotischen Exaltation: zuerst zündet sie bei den
an der Spitze der Nation stehenden Männern, dann dringt sie in die
weiteren Kreise und ergreift die Nation. Diese Jahre waren die Zeit der
Begeisterung und des Pathos; das Gemeingefühl erreicht einen Grad
von Wärme wie nie zuvor. Die Poesie Vörösmartys, Petöfis und Aranys
entfaltet sich dann schnell in diesem günstigen Klima.
Zu diesem nationalen Hochgefühl gesellt sich als zweites konstitutives
Element die Wirkung der demokratischen Ideen, welche sich damals in
ganz Europa verbreiteten. Das Volk kommt in die Mode. Die Poesie
Aranys und Petöfis beruht auf der Volkspoesie. „Die Volkspoesie — schreibt
Petöfi seinem Freunde Arany — ist die wahre Poesie. Vereinigen wir
uns, daß sie die herrschende werde! Wenn das Volk in der Poesie herrscht,
wird es auch bald in der Politik zum Herrschen kommen, und das ist die
Aufgabe dieses Jahrhunderts."
Um es zusammenzufassen: Den warmen ungarischen Frühling durch-
brauste unter erhebenden Donnerschlägen und befruchtendem Regenschauer
das Gewitter der europäischen Demokratie.
So entstand die reiche Vegetation der Blütezeit.
Joseph Katona Im Jahre 182 1 erschien Bank Bän von Joseph Katona, die beste
>79o >3o- 'pj.^gQ^jg^ (jie je ein Ungar geschrieben. Sie übte damals gar keine
Wirkung und kam bei Lebzeiten des Verfassers auch nicht auf die Bühne,
da die Zensur das Stück verbot, wahrscheinlich weil darin eine Königin
ermordet wird, was den Untertanen als schlechtes Beispiel hätte dienen
VI. Das 19. Jahrhundert. 2QI
können, stand doch das Schicksal der Marie Antoinette, die eine nahe
Verwandte des damals regierenden Königs war, noch allseits in lebhaftem
Andenken.
Katonas Bank Bän behandelt denselben Stoff wie Grillparzers Ein
treuer Diener seines Herrn. Beide Dichter entnahmen ihn dem Ge-
schichtswerke des Bonfini. Der Unterschied ist im Grunde genommen
darauf zurückzuführen, daß aus Grillparzers Drama der beleidigte Beamte,
aus dem des Katona der verletzte Patriot spricht. Bdnk Bdn ist das
Drama des nationalen Pathos, das Drama des Ungamtums, welches sich
gegen jede Fremdherrschaft auflehnt. Es ist dies das immer wieder-
kehrende Grundthema der ungarischen Geschichte mit den bleibenden,
echt ungarischen Charaktertypen, der aufbrausenden, im Grunde aber doch
loyal gesinnten Opposition. Auch die demokratische Tendenz ist in Bank
Bän vertreten in der Gestalt eines Bauers, der das Elend und die Leiden
des Volkes verkörpert.
Bei Katona tötet der Palatinus Bank Bän die Königin Gertrudis (die
Mutter der heiligen Elisabeth) in Abwesenheit ihres Gatten, des Königs
Andreas IL Der Reichspalatin tötet die Königin, er, der Stellvertreter
des Königs tötet dessen Frau, der Ritter ein schwaches Weib, der loyale
Untertan seine Herrin — wie war das möglich? Katona macht es uns
durch seine dramatische Kunst verständlich. Wir sehen in Bank Bän die
Leidenschaft keimen, wachsen und furchtbar explodieren: wir sehen in ihm
den beleidigten Gatten, der die Ehre seiner Frau, den Patrioten, der sein
Land rächt, wir sehen den edlen, doch leidenschaftlichen Mann, den
außer dem erlittenen Unrecht auch momentane Ursachen tief erregen und
den die Königin noch im entscheidenden Moment furchtbar reizt.
Katonas Werk ist voll erschütternder Tragik und in der einfachen,
manchmal holprigen Sprache erreicht es doch oft eine Wucht und Erhaben-
heit des Ausdruckes, wie die allergrößten Tragiker. In Bank Bän zeichnet
er nicht nur die Geschichte einer verzehrenden Leidenschaft, sondern das
Wechselwirken verschiedener, miteinander furchtbar kämpfender Gefühle.
Katonas Drama ist nach dem Vorbilde Shakespeares geschrieben, aber
ganz von nationalem Geiste erfüllt.
Im Gegensatz zu dem unbekannt gestorbenen Joseph Katona machte Michael
der junge Michael Vörösmarty mit seinem Epos: Die Flucht Zaläns (1800—1855).
epochale Wirkung. Sprachlich und stilistisch hat dieses Werk eine ähn-
liche Bedeutung wie die Messiade Klopstocks. Vörösmarty begründete
mit diesen majestätisch flutenden, der antiken Prosodie folgenden Hexa-
metern, vielleicht den klangschönsten seit Virgil, die Sprache der ungari-
schen Poesie. Der Stoff dieses heroischen Epos ist aus der Geschichte
der Eroberung Ungarns genommen: Zalän ist ein in Ungarn residierender
bulgarischer Fürst, den Arpäd mit seinen Ungarn besiegt, zur Flucht
über die Donau zwingt und dadurch den Ungarn ihr heutiges Vaterland
erwirbt.
19*
2Q2 Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
Zaläns Flucht ist ein Werk des patriotischen Schmerzes. Um es zu
verstehen, müssen wir nicht nur in des Dichters Land, sondern auch in
des Dichters Zeit zurückgehen. In den Jahren, als Vörösmarty sein Epos
schrieb, versuchte Metternich die ungarische Konstitution zu suspendieren:
der ungarische Reichstag wurde nicht einberufen, die verbrieften Rechte
der ungarischen Nation wurden nicht beachtet. Vörösmarty wollte in
seinem Epos der Nation ein Bild der alten Heldengröße vorhalten. Auf
die düstere und leidenschaftliche Pracht der Diktion war neben diesen
politischen Umstand noch ein anderer von Einfluß: des Dichters unglück-
liche Liebe zu Etelka Perczel, die ihn tief erregte und die er in allen
seinen Jugendwerken verherrlicht. Auch die Stoffwahl ist leicht erklär-
lich: Arpäd war damals sozusagen in der Mode, eine ganze Reihe von
Zeitgenossen trug sich mit dem Gedanken, Arpäd zum Helden eines Epos
zu machen, wurde doch die Chronik des Anonymus, welche die Er-
oberung" Ungarns ausführlich erzählt , eben damals lebhaft kommen-
tiert und auch übersetzt. Als Vorbild für die Darstellung diente das
ewige Muster des heroischen Epos: Virgil; auf den Ton war auch Ossian
von Einfluß, den Kazinczy zu jener Zeit übersetzte. Zu der erregten
patriotischen Stimmung gesellten sich noch die erregenden Eindrücke des
griechischen Freiheitskampfes.
Der durch das Beispiel Virgils gebotene mythologische Apparat be-
reitete große Schwierigkeit, weil der Glaube der alten Ungarn, der Zeit-
genossen Arpäds, so gut wie ganz unbekannt war. Da man die Ungarn
als orientalisches Volk damals gern in Verbindung mit den Persem
brachte, nahm Vörösmarty ein dualistisches Prinzip an: einen Gott der
Ungarn, den Hadur (Herr des Kampfes) und seinen Gegner, das Prinzip
des Bösen vertretend: den Armäny (Ahriman).
In den ersten Jahren seiner Dichtertätigkeit schrieb Vörösmarty Epen.
Nach Zalän behandelte er in Cserhalom den populärsten Helden des
Mittelalters, Ladislaus den Heiligen {■\ iog2). Cserhalom ist der Name des
Ortes, wo er die Kumanier besiegte. In Eger erzählt er die helden-
mütige Verteidigung Erlaus gegen die türkische Übermacht. Mit düsterer
Glut beleuchtet er in dem Epos Die zwei Nachbarschlösser mittel-
alterliche Schreckenszenen: Aus dem Kriege zurückgekehrt findet der junge
Ritter Tiham^r das Familienschloß leer, denn die feindliche Nachbarfamilie
der Käldor hat die Bewohner alle getötet. Wir sehen nun die Rache
Tihamers: er tötet im Zweikampf die Mitglieder und Angehörigen des
Nachbarschlosses, zwei Brüder töten sich nachts aus Irrtum gegenseitig,
das letzte Mitglied der Familie Käldor, die holde Enikö, stirbt vor Ent-
setzen, als Tihamer in dem Panzer ihres Vaters zu ihr eintritt und sie erst
dann, als er das Visier zurückschlägt, sieht, daß ihr Vater durch Tihamer
getötet worden. Aber auch Tihamer findet keine Ruhe mehr im Leben;
nach diesem furchtbaren Ereignis wird er von wahnsinniger Reue erfaßt.
Ein Zeitgenosse, der Dichter Berzscnyi, nannte dieses Werk Vörösmartys,
VI. Das 19. Jahrhundert. 293
wegen seines Stoffes, ein kannibalisches; jedoch kuhniniert die Plastik der
Sprache, die Kraft der Beschreibung des Dichters eben in diesem Werk.
Vörösmarty war in der zweiten Hälfte seiner Laufbahn vorwiegend
Dramatiker. Er besaß jedoch weder genug psychologische Kraft, lebens-
warme Charaktere zu schaffen, noch die Gabe, eine Kette von Ereignissen
wahrscheinlich darzustellen. Seine Neigung, Dramen zu schreiben, erklärt
sich aus seiner großen Vorliebe für alles Leidenschaftliche und aus dem
Aufblühen des Theaterwesens und der dramatischen Literatur in dieser
Zeit. Besonders die romantische Schule Frankreichs mit Viktor Hugo an
der Spitze war damals in Mode und übte großen Einfluß auf Vörösmartys
Dramen aus. Die edle Sprache Vörösmartys wurde maßgebend für das
ungarische Drama. Seine berühmtesten Dramen sind Banus Marot,
welches zur Zeit der Türkenherrschaft spielt und besonders stark den Ein-
fluß des romantischen Dramas verrät, sowie das Märchenspiel Csongor
und Tünde, im Geiste von Shakespeares Sommernachtstraum, sprach-
lich ein melodiöses Meisterwerk. Am größten ist er als Lyriker. Seine
Phantasie hat etwas Visionäres, das hier vollständig zur Geltung kommt.
Wie vom Fieber ausgebrütet ziehen aufgeregte Traumbilder an ihm vorüber.
Auch in seinem berühmten Gedicht, dem Aufruf (Szözat), welches neben
dem Hymnus Kölcseys zum Nationallied der Ungarn wurde, sehen wir
diesen Zug seiner Phantasie. Wie im Frühjahre kalte und warme Luft-
strömungen, so kämpfen in diesem Lied Hoffnung und Verzweiflung, der
Geist der neuen Zeit, der Geist Szechenyis mit dem alten Fatalismus. Das
Gedicht ermahnt die Ungarn zur Treue gegen ihr Vaterland, in welchem sich
die großen Taten ihrer Geschichte abgespielt. Der Wendepunkt ist nahe.
Die bessere Zeit muß heranbrechen, denn es ist unmöglich, daß so viel
Kraft, Geist und Wille vergebens gestrebt hätten. Oder wenn es so sein
muß, wird der großartige Tod kommen und die Nationen Europas werden
tränend das ungeheuere Grab umstehen, in welches man das ganze
ungarische Volk begTäbt. — Das Exzentrische von Vörösmartys Wesen
zeigt sich auch darin, daß neben den hochpathetischen, visionären Gedichten
seine schönsten die ganz einfachen, beinahe naiven sind. Die große Be-
deutung Michael Vörösmartys läßt sich folgendermaßen zusammenfassen:
Vörösmarty, mit dem das goldene Zeitalter der Poesie anfängt, gab der
ungarischen Literatur das Sprachorgan, welches alle Späteren benutzten.
In seiner Dichtung fließen, wie in einem gewaltigen Strome, die früher
getrennten Richtungen, die klassische, die formschön aber kalt war, und
die nationale, die warm, aber nicht edel genug war, zusammen. Unter
allen Dichtern Ungarns hat Vörösmarty die glühendste Phantasie, die höchste
Inspiration: er ist wirklich ein vates, ein Dichter, dessen im heiligen
Wahnsinn rollendes Auge vom Himmel seiner Träume immer wieder zur
ungarischen Erde niederblickt.
Vörösmarty war der erste Dichter, der von dem Ertrag seiner Feder
leben konnte. Eine Zeit hindurch war er auch Abgeordneter, aber der un-
2QA Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
glückliche Ausgang des Freiheitskampfes von 1848 hat ihn dann ganz ge-
brochen. Er starb von innenaus.
Aieiander jjti Jahrc 1844 besuchte Vörösmarty ein ganz junger Wanderkomödiant,
(1823— 1849). um ihm ein Manuskript Gedichte zu überreichen. Dem blassen Jüngling
sah man die kaum überstandene schwere Krankheit und das viele durch-
littene Elend an: aber in seinen großen, schwärmerisch-wilden Augen
glühte die Ahnung zukünftigen Ruhmes. Das Schicksal gewährte diesem
Anfänger nur noch fünf Jahre Lebenszeit: doch in dieser kurzen Spanne
Zeit sollte er das Reich der ungarischen Dichtung umgestalten und den
höchsten Gipfel des Ruhmes und der Poesie erreichen. Es war Alexander
Petöfi, dessen erste Gedichte dann unter der Ägide seines großen Vor-
gängers Vörösmarty erschienen.
Das Leben Petöfis war ein unstetes Wanderleben: wir finden ihn in
seiner Kindheit beinahe jedes Jahr, in seiner Jünglingszeit beinahe jede
Woche an einem anderen Ort. Er schwankt jahrelang zwischen zwei
Laufbahnen: der des Dichters und der des Schauspielers. Nachdem sein
Vater, ein Fleischhauermeister, ihm wegen seiner Bühnenneigung jede
Unterstützung versagt, wird er mit siebzehn Jahren plötzlich Soldat; in
den Entbehrungen und der Krankheit, die er da ausstehen muß, tröstet
ihn nur die Poesie. Nachdem er dann als Schauspieler mit Wandertruppen
viel herumgeirrt, entschließt er sich, 21 Jahre alt, ganz dem Schriftsteller-
beruf zu leben. Das bezwingende Feuer und die Unmittelbarkeit seiner
Poesie verschaffen ihm schnell Dichterruhm. Mit 24 Jahren heiratet er, und
es gibt wohl keinen Dichter der Weltliteratur, der die Poesie der Ehe so
durchgefühlt und so vielfach besungen hätte wie Petöfi. Am Anfange
der ungarischen Revolution, die er voraussah und ersehnte, spielt er eine
hervorragende Rolle, so besonders am 15. März 1848, als man in einem
unblutigen Volksaufstande die Preßfreiheit erringt. Am Ende des Jahres
nimmt er ..als x\djutant Berns an der Verteidigung Siebenbürgens gegen
die der österreichischen Armee zu Hilfe eilenden Russen teil: am 31. Juli
1849 wird der 26jährige Dichter in der Schlacht bei Schäßburg von Ko-
saken, die das Heer Bems umzingelten, getötet. Er starb, wie er es
wünschte und prophetisch in mehreren Gedichten vorausgesagt, im Frei-
heitskampf und ruht mit seinen Honv^dgefährten im namenlosen Massen-
grabe.
Außerordentlich wie sein Leben ist auch seine Dichtung-. Er ist der
größte Lyriker Ungarns und eine der hinreißendsten Gestalten der Welt-
literatur überhaupt. Auf dem Boden der Volkspoesie stehend, übernimmt
er aus ihr die Komposition und den Stil des Volksliedes: er pfropft die
wilde Rose des Volksliedes in das edle Reis der Kunstpoesie. Und eben
weil er vom Volksliede ausgeht, ist er auch der Dichter der Natur und
Natürlichkeit überhaupt, eine wahrhaft lyrische Natur. Fortwährend zittern
in ihm Gefühle und suchen Ausdruck im Liede. Indifferenz ist ihm un-
bekannt. Er ist Impressionist im höchsten Sinne des Wortes, übervoll mit
VI. Das 19. Jahrhundert. 205
tiefen Gefühlen und Begeisterung. Alle Gefühle, alle Neigungen: der
Patriotismus, die Freundschaft, die Liebe, politische Sympathien, die Poesie,
dies alles wird bei ihm gleich zur Leidenschaft. „Wie das Echo der Wüste",
sagt er selbst, „antworte ich auf einen Ruf mit hunderten." Er übergibt
sich schrankenlos den Eindrücken des Momentes, genießt und leidet mit
einer Intensität wie vielleicht niemand. Opportunität und Zwang sind ihm
unleidlich; er will auch die Freiheit bis zum Extrem genießen. Im Privat-
leben zeigt er eine befremdende Unruhe, manchmal sogar eine übermütige
Oberflächlichkeit; im Dienste seines Freiheitsideales jedoch ist er gründ-
lich und ausdauernd. Auch hier ging er bis zum Äußersten, bis zum
Heldentode für die Freiheit.
Eben weil seine Seele fortwährend bewegt, fortwährend von Gefühlen
durchflutet und hochgestimmt ist, vermag er auch immer aufrichtig zu sein
wie das Volkslied. Er gibt uns seine Individualität ohne Hinterhalt und
ohne Rest; er darf uns alles sagen, er wird nie trivial, weil er eine
poetische Natur von Grund aus ist. So erzählt er uns, was vor ihm
keiner gewagt hätte, daß er kein Geld hat, daß er hungert, daß er zer-
fetzte Kleider trägt, daß sein Vater ihn geprügelt — und bleibt dennoch
hochpoetisch. Wenn man Apollo ist, kann man auch nackt erscheinen.
Weil er so natürlich und aufrichtig ist wie das Volkslied, besitzt er
auch dessen Einfachheit und Durchsichtigkeit: im Gegensatz zur rheto-
rischen Poesie seiner Zeit spricht aus ihm Naivität und instinktive Wahr-
heitsliebe. Hellodemde, tiefinnige Gefühle äußerst einfach ausgesprochen
— das ist die Petöfische Poesie. Bei aller Einfachheit ist er jedoch nie
matt, seine Poesie ist immer lebhaft, beinahe fieberhaft durchfühlt und
erreicht schnell den Siedepunkt der Exaltation. Seine Einfachheit und
Aufrichtigkeit ergeben vereint jene Unmittelbarkeit, die seine Dichtung
ebenso wie die Volkspoesie in hohem Grade auszeichnet.
Petöfi, der zuerst wagte, schrankenlos aufrichtig zu fühlen, war auch
der erste, der wagte, aufrichtig zu sehen. Alle seine Vorgänger haben
das ungarische Alföld gekannt, sie haben die Pußta, die melancholischen
Tsarden, seine Pferdehirten und Herden, die Betyaren und die Bauern
gesehen, ohne darin Poesie zu finden. Petöfi hat das Alföld für die Poesie
entdeckt: seine schrankenlose Unermeßlichkeit war für ihn Sinnbild der
Freiheit. Aber auch die ganze Natur sah er mit andern Augen als seine
Vorgänger: sie ist ihm Erweiterung des Ichs, ein teurer Lebensgefährte.
So sagt er einmal seiner Geliebten: „Küsse mich, doch leg' die Lippen
an meine Lippen sachte nur — wir dürfen aus dem Traum nicht wecken
die sanft entschlummerte Natur."
Da die Freiheit der natürliche Zustand der Menschen ist, so folgt für
Petöfi aus seiner Natürlichkeit auch sein Freiheitssinn. Freiheit geht ihm
über alles. Das Motto seiner Gedichte wie seines Lebens ist: „Ich be-
darf beider, der Freiheit und der Liebe. Für meine Liebe opfere ich mein
Leben, für die Freiheit opfere ich meine Liebe."
296
Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
Auch seine lyrische Form entspringt dem Volksliede. Das ungarische
VolksUed bedient sich als Eröffnung mit Vorliebe eines Bildes aus der
Außenwelt, z. B.: „Hoch oben ziehen die Kraniche und rufen laut, doch
du, mein Mädchen, bist mir böse und rufst mich nicht." [Die Kraniche
werden weiter nicht erwähnt.] Petöfi veredelt diese Form, indem er das
vorangestellte Bild der Außenwelt in organischen Zusammenhang mit
dem Grundthema des Gedichtes bringt. Am Septembersende sieht er
z. B. vom bergumkränzten Koltoer Schloßparke aus, wo er seine Flitter-
wochen verlebt, Frühschnee auf den Gipfeln: „Noch blühen im Tale die
Blumen des Parkes, vor dem Fenster grünen noch die Pappeln, doch
siehst du dort oben die Winterswelt? Schon deckt der Schnee die hohen
Firne! Ein Sommer mit flammenden Strahlen, der ganze Lenz blüht noch
in meinem Jugendherze, doch schon sprenkelt Grau mein dunkles Haar,
der Reif des Frühwinters fiel schon auf mein Haupt." Auch hier dient
ein Bild der Außenwelt als Eröffnungsakkord, nur daß es hier vergeistigt
zur Innenwelt, zu einem Symbol des Seelenlebens wird.
Petöfi schrieb auch epische Gedichte, er war aber eine zu subjektive
Natur, um wahrhaftig Epiker sein zu können. Sein berühmtestes episches
Gedicht Held Jänos ist ganz in volkstümlichem Stil gehalten. Die
Hauptperson ist ein Schäfer, der Soldat wird und nach wunderbaren
Abenteuern sich mit seiner Geliebten, von der er lange getrennt war, ver-
einigt. Die Personen, der Ton, der Hintergrund — alles ist echt volkstüm-
lich: auch die Elemente des Wunderbaren, die in dem Gedicht vorkommen,
sind nicht mythologische Kombinationen, wie z. B. in dem großen National-
epos von Zrinyi oder Vörösmarty, sondern aus der Phantasie des ungarischen
Volkes, seinem Märchenschatze entnommen,
johan Araoy Wie im Leben, so steht auch in der Poesie neben Petöfi sein Freund
' ''"' ^ ' und Mitarbeiter Johan Arany. Auch Arany steht auf dem Grunde der
Volkspoesie. Während Petöfi das Volkslied veredelte, schöpfte Arany aus
dem Reichtum der Volkssprache und wendete den Stil der epischen Volks-
dichtung an.
Arany war der Sohn eines armen Landmannes, der zwar ein Adels-
diplom besaß, jedoch es nicht zur Geltung bringen konnte. So wie Petöfi,
verließ auch Arany das Kollegium, um Wanderkomödiant zu werden.
Doch sah er schnell seinen Irrtum ein, kehrte voll Reue in seine Heimat-
stadt zurück, wo er zuerst Schullehrer, dann städtischer Notar wurde. Kr
trat spät als Dichter auf, mit 29 Jahren, einem Alter, das Petöfi gar nicht
erreichte. Nach dem unglücklichen Ausgange des Freiheitskampfes vom
Jahre 1848/49 verlor er Amt und Vermögen. Verzweiflung und Melan-
cholie ergriff ihn, er sah sich und sein Vaterland dem Abgrunde nahe.
Im Jahre 1851 wurde er als Gymnasialprofessor nach Nagj'-Körös be-
rufen, wo er neun Jahre verblieb. „Ich mache wenig Besuche", schrieb
er in einem Briefe, „all meine Unterhaltung ist der Friedhof, unter
dessen schattigen Bäumen ich frische Frühlingsluft, den süßen Hauch der
VI. Das 19. Jahrhundert. 207
Wiesen einatme. Vielleicht bin ich darum so selten heiter." Die letzten
22 Jahre seines Lebens verlebte Arany in der Hauptstadt. Aus dem
prächtigen Palaste der Akademie der Wissenschaften, in welchem er
später als Generalsekretär wohnte, sehnte sich der Dichter fortwährend
nach dem einfachen Städtchen zurück, wo er seine Jugend verlebte.
Der größte Schmerz, den dieser zur Melancholie neigende Mann er-
litt, war der Tod seiner erwachsenen Tochter. Man tröstete ihn, daß mit
den Jahren sich der Schmerz lindern werde. „Ich fühle", antwortete der
Dichter, „daß dieser Schmerz gleich einer großen La.st um so schwerer
wird, je weiter man ihn trägt."
Arany war der geborene Epiker, wie Petöfi der Lyriker par excel-
lence: schamhaft verbarg er seine Gefühlswelt und erschien trotz aller
Sensibilität äußerlich ruhig, wie er denn auch kein einziges Liebesgedicht
hat. Alle Gefühle richteten sich bei ihm nach innen und gelangten nicht
leicht zum äußeren lyrischen Ausdruck. Sein Hauptcharakterzug ist eine
realistische Kontemplation, welche sich mit Vorliebe dem Geg^enstande
der Epik: der Vergangenheit zuwendet. Er ist ein vorzüglicher Beob-
achter, eine gewisse nüchterne Klarheit des Geistes verbindet er mit tiefer
poetischer Inspiration. Die Verbindung dieser grundverschiedenen Eigen-
tümlichkeiten verleiht seiner Poesie einen höchst originellen Charakter.
Arany dichtete sein ganzes Leben hindurch an zwei großen epischen
Kompositionen. Der Held der einen ist der sagenhafte mittelalterliche
Recke Nikolaus Toldi; die andere behandelt den hunnischen Sagenkreis,
Attila und seine Nachfolger. Doch bloß die Tolditrilogie wurde ganz
fertig. Den Stoff zum ersten Teil des Toldi entnahm Arany der alten
Reimchronik des Ilosvai, vertiefte ihn jedoch psychologisch. Die Hand-
lung, welche sich in acht Tagen abspielt, ist einfach und volkstümlich
wie die Gestalten des Epos. Nikolaus Toldi entzweit sich mit seinem
älteren Bruder, der ihn, um ihn von der väterlichen Erbschaft auszu-
schließen, gleich einem Bauer erziehen ließ und schlecht behandelte. Von
seinem arglistigen Bruder gereizt, tötet Nikolaus, ohne es zu wollen, dessen
Diener, wird flüchtig, erreicht die Hauptstadt, wo er einen riesenstarken,
bisher immer siegreichen Tschechen im Zweikampf besiegt und dafür von
dem König Ludwig dem Großen zum Ritter geschlag-en wird, während
sein Bruder die verdiente Strafe empfängt. Diese Geschichte des Empor-
ringens einer edlen Natur ist ihrem Gegenstand, ihrer Sprache und
ihrer Vortragsweise nach ganz volkstümlich.
Der nachträglich eingefügte zweite Teil der Tolditrilogie, Toldis
Liebe, behandelt das Mannesalter des Helden, seine unglückliche Liebe
zu Piroska Rozgonyi und die Abenteuer, welche er in dem italienischen
Feldzug Ludwigs des Großen besteht. Toldis Liebe ist ein romantisches
Epos, welches uns in die an Kämpfen reiche mittelalterliche Ritterwelt
hineinführt.
Der letzte Teil, Toldis Abend, führt uns das Lebensende Toldis vor.
2q8 Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
Zerfallen mit dem Hofe, der einer neuen Ordnung der Dinge huldigt,
wähnt der Greis sein Leben abgeschlossen und gräbt sich selbst ein Grab.
Da kommt ein Bote und ruft ihn zu einem Zweikampf mit einem italie-
nischen Ritter, der die Ungarn straflos verhöhnt. Der Alte reitet als
Mönch verkleidet wirklich nach Ofen und züchtigt den Übermütigen.
Aber er sieht immer deutlicher, daß er in die neue Zeit nicht paßt. Er
stürzt zusammen, der letzte stolze Baum eines schon abgeholzten Waldes.
Im letzten Gesang bestattet man ihn in das Grab, das er sich selbst be-
reitet. In Toldis Abend sehen wir den melancholischen Humor des
Verfalles. Der alte Toldi ist ebenso im Verfall begriifen wie das Haus,
in dem er wohnt, wie sein Garten, wie sein treuer Diener, sein Roß, ja
wie seine Zeit, das Mittelalter. Der Verfall hat immer etwas Komisches,
da er die Idee des Gegensatzes hervorruft, hier jedoch wird er durch
Liebe und Sympathie, die der alte Toldi erweckt, zum Humor gemildert.
BudasTod ist das Anfangsstück der zweiten epischen Trilogie. Auf
Grund von Andeutungen, welche in alten Chroniken versprengt sind, stellt
Arany den Bruderzwist Attilas und Budas (Bledas, den die deutsche Sage
Blödelin nennt) dar. Infolge tragischer Schicksalsfügung ermordet Attila
seinen Bruder. Doch auch ihn erreicht das Verhängnis: Krimhilde er-
mordet ihn und sein Weltreich geht unter seinen Söhnen zugrunde. Doch
die Nachfolger der Hunnen, die Ungarn, werden wiederkehren und das
Land Attilas, Ungarn, zurückerobern.
Jedes dieser Epen hat eine andere Vortragsweise: inBudasTod einen
altertümlichen orientalischen Schmelz, als ob es ein die Bildung des
19. Jahrhunderts besitzender Zeitgenosse Attilas geschrieben hätte. Doch
nicht nur im Stil, sondern auch in der Art der Charakteristik unterscheiden
sich die Epen. In Toldis Liebe wendet Arany schon eingehende psy-
chologische Analyse an, welche den modernen Roman kennzeichnet. Doch
in allen seinen Epen haben seine Charaktere wie seine Auffassung etwas
ursprünglich Magyarisches.
Die berühmtesten Gedichte Aranys sind seine Balladen. Sie sind ganz
in volkstümlichem Stil gehalten, als Muster dienten die schottischen und
ungarischen Volksballaden. Alle sind fieberhaft pulsierend, lückenhaft auf-
zählend und schildern nicht so sehr das tragische Ereignis, als seine er-
regende Wirkung. Die Form ist vorwiegend dialogisch, die Ereignisse
sind in mysteriöses Dunkel getaucht. Arany ist der Dichter des Ge-
wissens und liebt es daher, die Vergeltung in das Gewissen des Ver-
brechers zu verlegen: daher kommt auch das Motiv des Wahnsinns in
seinen Balladen so oft vor.
Arany ist der größte Meister der ungarischen Sprache. Kein anderer
Dichter erreicht seinen Sprachreichtum: alle Quellen der ungarischen
Sprache rauschen in seinen Werken. Er greift bis ins Tiefste des Volks-
idioms und beutet auch die halbvergessene Sprache vergangener Jahr-
hunderte aus.
VI. Das 19. Jahrhundert. 2QQ
Seine Phantasie hat drei auffallende Eigentümlichkeiten: sie hat etwas
Realistisches. Arany hält als ausgezeichneter Beobachter immer, sogar im
höchsten poetischen Flug, die Wirklichkeit vor Augen. Mit seinem Be-
obachtungstalente hängt auch ihre zweite Eigenschaft zusammen: der
Detailsinn; er bemerkt und beschreibt jede charakteristische Kleinigkeit.
Drittens: er sieht und zeichnet mit Vorliebe die seelischen Erscheinungen
auch in ihrer körperlichen Wirkung; bei den Affekten schildert er auch
die äußerlichen körperlichen Veränderungen, welche sie hervorrufen. Er
ist der Dichter der Ausdrucksbewegungen.
Das Zeitalter der großen Dichter war auch das goldene Zeitalter der
Redner und Staatsmänner, deren Wirken in engem Zusammenhang mit
dem Aufblühen der Literatur steht. Die Dichter Franz Kölcsey und der
Baron Josef Eötvös gehören zu den bedeutendsten Rednern; die großen
Staatsmänner Stefan Szechenyi, Ludwig Kossuth und Franz Deäk sind
wieder ihrerseits literarisch tätig. Gemeinsam ist ihnen allen, den Dichtern
wie den Rednern, die patriotische Begeisterung, das nationale Pathos und
das Streben, die Nation aufzuwecken.
In demselben Jahre, in dem Vörösmartys Epos, Die Flucht Zaläns, Gr. Stefan
mit welchem die Blütezeit der ungarischen Literatur anhebt, erschien, tritt (1791— 1860).
auch Graf Stefan Szechenyi auf, indem er durch eine große Stiftung die
Errichtung einer Akademie der Wissenschaft ermöglichte.
Szechenyi ist der große Reformator Ungarns. Es gibt vielleicht kein
Beispiel in der neueren Zeit, daß ein Mann eine so große Wirkung auf
ein ganzes Volk ausgeübt hätte als Szechenyi. Szechenyi ist eine äußerst
interessante, romantisch angehauchte tragische Persönlichkeit. Er schwankt
fortwährend zwischen Schmerz und Entzücken, zwischen peinigendem
Zweifel und schwärmerischer Beg-eisterung für seine große Mission: ein
Volk zu erheben. Eine grüblerische, tieffühlende Natur, welche ihre Rosen
mit den Domen des Spottes und der Ironie beschützt. Seit seinem Jüng-
lingsalter kämpfte er fortwährend mit dem Selbstmordgedanken, dessen
Opfer er schließlich im Jahre 1860 wurde. Er war sehr ähnlich den ro-
mantischen Helden seines Lieblingsdichters Byron: melancholisch, schwär-
merisch, unter dem Gewissensdruck einer eingebildeten Sündentat furchtbar
leidend, doch dabei leidenschaftlich, tatkräftig und energisch.
Im Anfang war die Tat. Szechenyi begann seine Reformtätigkeit
mit der Gründung gemeinnütziger Institutionen, bald griff er jedoch zur
Feder und schrieb seine drei wichtigen Werke: Kredit, Licht und
Stadium, mit welchen er dem Leben seiner Nation eine neue Richtung
g'ab. Diese Werke sind nach dem Ausdruck Aranys drei zum Himmel
ragende Pyramiden an der Grenze unseres Seins und Nichtseins. Schon
sein erstes Werk Kredit legt Zeugenschaft ab, daß dieser romantische
Schwärmer auch einen vorzüglichen praktischen Sinn hat. Die Not-
wendigkeit eines leichtzugänglichen Kredits, die Schwerfälligkeit des
Prozeßwesens, die Unzweckmäßigkeit des feudalen Großbesitzes, dje Auf-
■3QQ Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
hebung der Lehnsarbeit, die Schaffung von besseren Verkehrsmitteln —
das waren die behandelten praktischen Probleme. Szechenyi hat in der
Irrenanstalt von Döbling (wo auch Lenau seine letzten Jahre verbrachte)
ein deutsches Buch, Blick auf den anonymen Rückblick, geschrieben,
welches im geheimen in London gedruckt wurde. In einem etwas wiene-
risch gefärbten Deutsch greift er in nervöser, aphoristischer Weise, bald
mit Ironie, bald mit Pathos das Regime Bachs an, als dieses in einem
Rückblick betitelten offiziösen Werk mit Lob überhäuft wurde.
Sz6chenyis Verdienste sind epochemachend. Vor allem lenkte er die
Aufmerksamkeit auf die stark vernachlässigten Fragen der materiellen
Kultur. Ungarn muß reicher werden, dann wird es auch freier und ge-
bildeter sein. Epochal wirkte Szechenyi auch dadurch, daß er seiner
Nation wieder Vertrauen einflößte. Vor ihm glaubte man, daß alles Große
in der Vergangenheit liegt, auf welche der Verfall folgen muß. Szechenyi
gab dem modernen Ungarn sein Losungswort: Ungarn war nicht, sondern
wird! Wir müssen unseren stärksten Fehler, die Indolenz, besiegen, die
Schuld nicht immer in der österreichischen Politik, sondern in uns suchen,
wir müssen praktischer und tätiger sein, um frei zu werden. Szechenyi be-
zeichnete aber nicht nur das Ziel, sondern auch die dahin führenden Wege.
Das Hauptwerk Szechenyis war die Erhebung und Stärkung der unga-
rischen Nation durch die Mittel der westlichen Kultur. Seine ungeheure
Wirkung erklärt sich daraus, daß aus ihm der mächtigste Instinkt des
ungarischen Volkes, die Rassenerhaltung, mit der Kraft des Genius
spricht.
Ludwig Kossuth In den vierziger Jahren begann Szechenyi unpopulär zu werden, und
(I 02-1 94). ^^^^ verführerischem Glänze erhob sich das Gestirn des großen Agitators
Ludwig Kossuth. Wie Szechenyi den Glauben an die Zukunft Ungarns,
so verkörpert Kossuth das nationale Pathos, den Gedanken der Unab-
hängigkeit Ungarns. Er wirkte anfangs als Journalist, wurde aber bald
Führer der Nation und die Hauptgestalt des ungarischen Freiheitskampfes
von 1848/49. Seine zwei Hauptbestrebungen in dieser fieberhaft erregten
Zeit, deren größter, hinreißendster Redner er war, bildeten die Befreiung
des Leibeigenen und die vollständige Sicherung der ungarischen Konsti-
tution. Nach der Waffenstreckung von Vilägos verließ er Ungarn, das er
niemals wiedersah, und lebte 45 Jahre im Exil, wo er auch seine wich-
tigen Memoiren verfaßte. Wie das ungarische Volk ihn verehrt, dafür
genügt ein Beispiel: Als man seine Leiche nach Ungarn brachte, kamen
ganze Dorfgemeinden an die Eisenbahnstrecke und erwarteten kniend mit
entblößtem Haupt den Trauerwaggon.
Franz DeAk Neben Kossuth ist der größte Redner Ungarns Franz Deäk. In den
' °^~' ' ■ konstitutionellen Kämpfen der sechziger Jahre ist er der Führer. Sein
wichtigstes Werk ist der Ausgleich zwischen Ungarn und Osterreich.
Sein Talent ist in vieler Hinsicht dem Kossuths entgegengesetzt. Der
Ton Deäks ist ruhig, während Kossuth tief vibrierend auf die Phantasie
VI. Das 19. Jahrhundert. -JOI
und die Leidenschaften wirkt. Die klare Argtimentation Deäks überzeugt
die Hörer, während die rhetorische Verve Kossuths sie hinreißt. Die
Nation zu gToßen Taten zu entflammen war die Aufgabe des einen, wäh-
rend es Deäk g"egeben war, sein Volk aus verhäng'nisvoller Lage mit
weiser Mäßigung und freimütiger Festigkeit hinauszuführen. Er ist wahr-
haftig der „Weise der Nation", der alles mit altklassischer Klarheit und
Standhaftigkeit abwägend seine Politik auf das Gewissen und den Ge-
rechtigkeitssinn gründet.
In dieser Blütezeit der Literatur reifte auch rasch die modernste aller Der Roman.
Dichtungsgattungen, der Roman, heran.
Die Geschichte des ungarischen Romanes spiegelt mehrere Ent-
wicklungsphasen der europäischen Romanliteratur zurück. Ln 18. Jahr-
hundert trat der heroische Roman in der für die ungarische Prosa wich-
tigen Übersetzung von Calprenedes endloser Kassandra auf. Der Über-
setzer Alexander Bdröczy war ein Mitgenosse des Bahnbrechers Bessenyei.
Eine Art Robinsonade in Versen mit Reiseabenteuern in einer exotischen
Welt schrieb der pensionierte General Josef Gvadänyi: sein Paul Rontö
ist Reisebegleiter des weltberühmten Abenteurers Moriz Benyovszky, der
in Sibirien gefangen war und als König von Madag-askar starb. Den senti-
mentalen Roman vertrat auf echt poetische Art der feurige Josef Kärmän
mit der Novelle Der Nachlaß Fannys. Es ist dies das Tagebuch eines
armen Mädchens, das in Liebesschmerz verwelkt. Ihrem Vorbilde Werther
gegenüber hat die Novelle einen Vorteil: die sentimentalen Ergüsse sind
in den Mund eines jungen Mädchens gelegt.
Im dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erscheint der erste Gesell-
schaftsroman, der den Kampf des neuen Szechenyischen und des alten
Ungarns darstellt, Haus Belteky von Andreas Fäy.
Ungefähr in dieselbe Zeit fällt auch die Begründung des historischen
Romanes durch den siebenbürgischen Baron Nikolaus Jösika, der unter
der Einwirkung Walter Scotts schrieb. Viel tiefer drang in die Geschichte
Baron Josef Eötvös ein, der nicht nur als Romanschriftsteller, sondern Br.josefEötvös
auch als lyrischer Dichter, Gelehrter und Staatsmann von hervorragender
Bedeutung war und zweimal auch an der Spitze des Unterrichtsministe-
riums stand. Seine literarische Tätigkeit wie sein Leben hat eine ideale
Richtung; seine Reflexionen sind immer von Gefühlen erwärmt, so daß
von ihm wirklich der Satz Vauvenargues gilt: Les grandes pensees vien-
nent du coeur. Sein erster Roman, Der Karthäuser, gehört zu derselben
Familie zu der Chateaubriands Renee, welche das mal de siecle inspiriert.
Doch hat der Roman des Eötvös eine moralische Basis, welche den ver-
wandten Romanen fehlt; sein Hauptgedanke ist: nur der Egoist findet
keinen Trost. In seinem Helden Gustav sehen wir das Bekämpfen und
allmähliche Besiegen des Egoismus. Der Roman hat die Form einer
Selbstbiographie, welche ein Mönch in der furchtbaren Grand -Chartreuse
schreibt. Gustav ist ein junger und reicher französischer Graf, der nach
302 Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
vielen Verführungen dem Leben, in welchem er so bittere Früchte ge-
pflückt, entsagt und Karthäuser wird.
Nach diesem bilderreichen und schwärmerischen Roman schrieb Eötvös
den Tendenzroman Der Dorfnotar, einen heftigen Angriff gegen die
damalige Komitatsmißwirtschaft und gegen die Unterdrückung der Leib-
eigenen. Sein dritter Roman ist ein historischer, Ungarn im Jahre 15 14,
und schildert auf Grund eingehender historischer Studien eines der furcht-
barsten Ereignisse der ungarischen Geschichte: den großen Bauern-
aufstand.
Das soziale Problem, welches Eötvös in diesem Roman behandelt,
analysiert der Philosoph Eötvös eingehend in dem staatswissenschaftlichen
Werke Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts
auf den Staat. Sein Ausgangspunkt ist, daß die drei Hauptideen un-
serer Zeit, die Freiheit, die Gleichheit und die Nationalität, welche als
mächtige Volksinstinkte die Führung der Geister übernommen haben, sich
einander widersprechen. Wie Montesquieu, neigt auch Eötvös dem eng-
lischen Staatsideale zu.
Ein schönes Buch, das auch den deutschen Aphorismensammlungen
oft als Quelle dient, ist das Buch der Gedanken. Mehrere hundert
Aphorismen eines tiefreligiösen und feingestimmten, poetischen Idealisten,
der das Gefühl für einen sichereren Wegweiser hält als die Vernunft.
Auch in seinen klassischen Denkreden wie in seiner Lyrik zeigt sich ein
gewisser sentimentaler Idealismus.
Wie sein Zeitgenosse Eötvös schrieb Sigismund Kemeny Romane,
Br. Sigismund kämpfte für die parlamentarische Regierungsform und war wie Eötvös
(1814— 1875). Mitarbeiter an dem großen Werke des Ausgleiches mit Österreich. In
seinem Wesen liegt etwas Schwerfälliges, er zeichnet sich jedoch da-
durch aus, daß er für jedes Problem die tiefste Lösung sucht.
Die vorzüglichsten Werke Sigismund Kemenys sind seine historischen
Romane. Er wendete die analytische Methode Balzacs auf den historischen
Roman an. In der Geschichte interessiert ihn der innere Mensch, die Ge-
fühle und Leidenschaften des Zeitalters. Sein Grundsatz war, daß ein
Zeitalter nur dann verständlich ist, wenn man die seelische Konstitution
seiner Menschen kennt. Die religiöse Schwärmerei und Sektenbildung
studiert er in dem Roman Die Schwärmer. Diese Schwärmer sind die
Sabbatianer, deren geringe Überreste noch heute in Siebenbürgen, wo sie
auch im 16. Jahrhundert entstanden, zu finden sind.
Der berühmteste Roman Kemenys ist Düstere Zeit, welcher nicht
die Tragödie einer Sekte, sondern die eines ganzen Volkes darstellt. Die
düstere Zeit ist diejenige, in welcher die Türken zur Zeit der Königin
Isabella die Hauptstadt Ofen in Besitz genommen haben. Wie sich dieses
allertraiirigste Ereignis der ungarischen Geschichte vorbereitete, wie sich
Volk, Königin und alle Staatsmänner täuschen, wie sich das tragische
Verhängnis gleich einem Riesenvogel mit dunkeln Flügeln immer tiefer
auf das unglückliche Land herabsenkt, wie aller Edelmut, aller Verstand,
VI. Das ig. Jahrhundert. ^03
alles Bestreben vergebens ist — dies alles wird von Kem^ny mit tra-
gischer Gewalt und mit einer bis zu den Wurzeln des Herzens dringenden
Psychologie dargestellt.
Der gelesenste und liebenswürdigste ungarische Romanschriftsteller Maurus jokai
_, (1825 — 1904).
ist Maurus Jökai. Er nahm an den Freiheitsbewegungen von 1848
als Freund Petöfis teil und spielte später auch als Redakteur und Ab-
geordneter eine angesehene Rolle. Bei seinem 50jährigen Schriftsteller-
jubiläum überreichte man ihm ein Nationalgeschenk von 200000 Kronen.
Jökai ist einer der produktivsten Romanschriftsteller der Neuzeit.
Seine hervorragendste Eigenschaft ist seine unerschöpfliche Erfindungs-
gabe. Er hat viele hundert fesselnde Erzählungen erdacht, von denen
keine der anderen gleicht. Nicht minder bestrickend ist sein Erzählungs-
talent, das an die großen Novellisten der romanischen Literaturen gemahnt.
Er hat die Erzählungsart der ungarischen Anekdote veredelt und gehoben:
daher stammt sein Feuer, seine Lebhaftigkeit, seine Leichtigkeit (vielleicht
auch seine Oberflächlichkeit). Seine Liebenswürdigkeit wird noch ge-
steigert durch seinen Humor, der, ohne Tiefe und Bitterkeit zu kennen,
anmutig, leicht und lebensfrisch ist. Wie seine Erfindungsgabe, so scheint
auch seine buntschaukelnde Phantasie schier unerschöpflich.
Doch nicht nur seine Vorzüge, auch seine Schwächen sind leicht zu
bemerken. Jökai ist eigentlich kein großer Menschenkenner, er sieht nicht
in die Tiefe des Herzens. Seine Psychologie hat nicht selten etwas Aben-
teuerliches. Jökai sucht das Überraschende, und seine Personen ändern
manchmal demzulieb plötzlich ihren Charakter. Seine historischen Romane
sind bunt und unterhaltend, dringen aber nicht in den Zeitgeist ein. Die
gelungensten seiner Romane sind diejenigen, welche das Ungarn seiner
Zeit schildern. An erster Stelle steht unter diesen Der neue Guts-
herr, welcher das Zeitalter des Absolutismus und die Akklimatisierung
eines magyarenfeindlichen Österreichers in Ungarn in höchst unterhalten-
der Weise malt. Die indolente, hochmütige Aristokratie vor der Zeit
Szechenyis porträtiert er in dem Roman Der ungarische Nabob; die
darauf folgende Generation, welche, von Szechenyi elektrisiert, lernen und
fortschreiten will, schildert Zoltän Kdrpäthy.
Die Gabe des außerordentlich leichten Fabulierens bei Jökai erinnert
an seinen berühmten französischen Zeitgenossen Dumas, doch erhebt er
sich über ihn durch seinen echt poetischen Zug: seinen liebenswürdigen
Humor und seine Naturliebe.
Die demokratische Bewegung der vierziger Jahre hat den Bauern r>as Drama,
niclit nur in der Politik, in der lyrischen und epischen Dichtung, sondern
auch in der dramatischen in Mode gebracht. Der Schöpfer des Volks-
schauspieles, welches uns die Welt des ungarischen Bauers vorführt
und einen angenehmen Kontrast zu den wahnsinnigen Leidenschaften
des damals so beliebten und viel nachgeahmten romantischen Dramas
bildete, ist Eduard Szigligeti, der in seiner Jugend selbst Schauspieler war Szigifeti.
304
Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
und mit viel Glück die verschiedenen ungarischen Volkstypen auf die
Bühne brachte.
Gregor Csiky Szig"ligeti schricb auch bürgerliche Schauspiele, auf deren Gebiet sein
bedeutender Nachfolger Gregor Csiky war, ein Geistlicher, der jedoch den
geistlichen Stand verließ und sich dann ganz dem Drama widmete. Wenn
man ihn fragte, woher er als Geistlicher seine Weltkenntnis geschöpft,
pflegte er zu antworten: „Ich war Referent in den Heiratsangelegenheiten
beim Konsistorium und habe da so viel verborgenes Elend kennen ge-
lernt." Csiky war nicht so sehr Gefühlsmensch wie Logiker; er hatte starkes
Gefühl für charakteristische Züge und kräftigen Aufbau der dramatischen
Handlung. Seine Genregestalten erinnern manchmal an Dickens. Beson-
ders exzelliert er in der Charakteristik der fragwürdigen und verdächtigen
Großstadttypen, welche er in scharf naturalistischer Beleuchtung vorführt.
So besonders in den Dramen Die Proletarier und Glänzendes Elend,
Emerich Madach Der letzte Ausläufer der Blütezeit gehört auch der dramatischen Lite-
(1823— 1864). °
ratur an. Es ist Emerich Madäch, der, 38 Jahre alt, im Jahre 1861
als reicher Edelmann und Abgeordneter das dramatische Gedicht die
Tragödie des Menschen veröffentlichte. Es war sein erstes Werk, das
im Druck erschien. Während die übrigen Meisterwerke der ungarischen
Literatur der patriotische Schmerz inspirierte, spricht aus der Tragödie
des Menschen die Melancholie der Weltgeschichte. Madäch faßt in der
Tragödie des Menschen die ganze Weltgeschichte als ein Trauerspiel
auf. Der Held dieser Tragödie ist die ganze Menschheit, wir sehen ihre
ganze Vergangenheit, ihre Gegenwart, sogar ihre Zukunft, bis die Mensch-
heit auf dem ausgekühlten Erdball ausstirbt.
Wir sind in dem Werk auf biblischem Boden: nachdem der erste
Mensch Adam auf den Rat Luzifers von dem Baume der Erkenntnis ge-
gessen und aus dem Paradies vertrieben wurde, wünscht er in dem Elend
des Exils einen Blick in die Zukunft seines Geschlechtes zu werfen, damit
er sehe, wofür es leidet und kämpft. Luzifer, der die Menschheit ver-
derben will, senkt nun einen Schlaf auf das erste Menschenpaar, während-
dessen sich ihm die Zukunft in Traumbildern entrollt. Adam träumt dem-
nach die Weltgeschichte, indem Luzifer ihn die Hauptepochen der Ge-
schichte im Traume durchleben läßt. Der Held jedes Traumbildes ist
Adam, der Repräsentant der Menschheit, in dem sich die charakteristischen
Ideen der betreffenden Epoche verkörpern. Adam sieht sich dermaßen in
jedem Traumbild in einem anderen Zeitalter und durchkämpft die geistigen
Kämpfe aller Generationen. In jedem Traumbild, in jeder Epoche sehen
wir Adam, unzufrieden mit dem gegenwärtigen Zustand der Menschheit,
sich ein neues Ideal zum Ziel setzen: das nächste Traumbild erfüllt den
Wunsch Adams, aber enttäuscht ihn immer wieder. Die Weltgeschichte
erscheint als eine Kette von verlorenen Illusionen oder, um einen Aus-
druck Schopenhauers zu gebrauchen, als der schwere Traum, das Alp-
drücken der Menschheit.
VI. Das ig. Jahrhundert. '^O',
Adam durchlebt nun im Traume als ägyptischer Pharao die orienta-
lische Despotie, als Miltiades die athenische Demokratie, als Römer die
Verfallszeit des kaiserlichen Roms, als Kreuzfahrer die Zeit des toten Buch-
stabenglaubens und des F"anatismus im mittelalterlichen Byzanz. Dann
ist er Keppler und dann wieder Danton, in der Erfüllung seines neuen
Ideals immer nur Enttäuschung findend. Nun kommt er in das Zeitalter,
da das Geld allmächtig ist: in das moderne London. Und von nun an
übertritt er die Schwelle der Gegenwart: er sieht den sozialistischen Zu-
kunftsstaat; er sieht den Phalanstere, wo die Welt nur mehr eine große
Kaserne ist. Am Ende des Traumes findet Adam die Menschheit ihrem
Aussterben nahe: die ausgekühlte Sonne, deren rote Scheibe Adam für
den Mond hält, beleuchtet eine ewige Winterlandschaft, in der die letzten
Menschen als Eskimos kümmerlich ihr Leben fristen.
La farce est jouee. Adam, der an der Wiege und dem Grabe der
Menschheit gestanden, erwacht. Der Traum war ein Leben — das Leben
der Menschheit. Doch erscheint ihm, was er gesehen, so entsetzlich, daß
er diesen zukünftigen Qualen durch seinen Tod vorbeugen will. Da
naht sich ihm Eva und flüstert ihm verschämt das erste Geheimnis zu:
daß sie sich Mutter fühle. Adam fällt reuig auf die Knie: „Herr, du hast
gesiegt!" Am Ende erscheint Gott und verweist als Trost im Drangsal
der zukünftigen Geschicke auf die Ideale, die in der Seele des Menschen
vorhanden sind. Kämpfe und vertraue!
Gott verweist also gegenüber dem Pessimismus der Weltgeschichte
auf die Tröstungen des individuellen Lebens, auf Liebe, Vertrauen und
Poesie.
Der Pessimismus Madächs hat zweierlei Quellen: die eine ist der
x\bsolutismus des Bach'schen Regimes, der das Ungartum mit Vernich-
tung bedrohte; die andere entspringt aus dem Familienleben des Dichters.
Während der Freiheitskriege hatten walachische Rotten die Schwester
des Dichters und ihre Familie mit furchtbarer Grausamkeit niedergemetzelt.
Nach dem Freiheitskampfe saß Madäch selbst im Gefängnis, und kurze
Zeit darauf verließ ihn seine junge Frau schmählich für immer.
Auf Madäch haben besonders Goethes Faust (Luzifer— Mephisto) und
Byrons Kain gewirkt. Die Tragödie des Menschen ist groß in der Auf-
fassung und geistreich im einzelnen, doch sind die Reflexionen nicht
immer durch das Medium der Phantasie durchgegangen, sie bekommen
nicht immer poetische Flügel. Die Komposition des Werkes nötigt den
Dichter zu starken Verkürzungen in der Charakteristik: die Umwandlungen
Adams könnten eigentlich bloß das Resultat einer längeren Entwicklung
sein und nicht in dem Verlauf eines Aktes vor sich gehen. Wenn in
Adam — Pharao die Idee des demokratischen Staates erwacht, so sind zur
Entstehung dieser Idee andere psychologische Vorbedingungen notwendig,
als sie bei einem Pharao vorhanden sind.
Um Arany gruppiert sich ein Kreis von Dichtern, die ihm auch °Aranj's."
Die Kultur der Gegenwart. I, g. 20
3o6
Friedrich Riedl: Die ungarische Literatur.
Michael Tompa persönlich nahestanden. Der bedeutendste unter ihnen ist Michael Tompa,
' ''""' ■ eine äußerst gefühlvolle, elegische Natur, die in rauhem Leben viel litt.
Er war Sohn eines armen Schuhmachers, rang sich empor und lebte als
reformierter Pfarrer in der Provinz. Neben der volkstümlichen Richtung,
in welcher er Arany und Petöfi verwandt ist, zeichnete er sich auch im
allegorischen Gedicht aus, dessen Aufblühen die damaligen politischen
Verhältnisse erklären: durfte man doch viele patriotische Wahrheiten nur
in allegorischer Hülle ausdrücken. Eine Spezialität seiner Poesie sind die
Blumenmärchen, in denen Blumen als handelnde Personen auftreten:
fleurs animees. Trotz aller Sinnigkeit und Zartheit machen jedoch diese
Gedichte in größerer Zahl einen etwas erzwungenen und süßlichen Ein-
druck. Frischer und kräftiger ist Tompa in seinen poetischen Erzäh-
lungen und am poetischsten in seinen elegisch-religiösen Dichtungen.
Zum Freundeskreise Aranys gehörte auch der vorzüglichste Kritiker
Paul Gyuiai der ungarischcn Literatur: Paul Gyulai, der gegenwärtig als pensionierter
"^^ ' ' ^ ' Universitätsprofessor und als Redakteur in Budapest lebt. Eine scharf
ausgesprochene, intransigente, durch und durch wahrhafte, stark polemische
Individualität. Als ob er die Unpopularität suchen wollte, nahm er immer
Stellung gegen beliebte Vorurteile. Ihn, der aufrichtig und bescheiden ist,
verletzte die Selbstbewunderung und Charlatanerie, welche er oft sogar
bei sehr talentierten Zeitgenossen fand. Die meisten Einschätzungen der
ungarischen literarischen Werte gehen auf ihn zurück. Gegenüber den
neueren Snobs war er auch immer Hüter der guten ungarischen Tradition.
Paul Gyulai ist nicht nur der bedeutendste Kritiker, sondern überhaupt
der größte Meister der literatur-historischen Prosa. Seine Novellen, unter
welchen „Der letzte Gutsherr des Herrenhauses" die vorzüglichste ist,
zeichnen sich nicht so sehr durch Erfindungsgabe und Phantasie, als durch
eingehende liebevolle Charakteristik und poetische Stimmung aus. Seine
lyrischen Gedichte sind einfach, gedrungen, ohne jede Emphase. Über
den Gefühlen schwebt bei ihm mildernd und besänftigend die Reflexion.
Doch spürt man an einer gewissen Bitterkeit nicht selten den leidenschaft-
lichen Kritiker. Neben Gyulai wirkten als Kritiker der scharfsinnige
Franz Salamon und Eugen Peterfy, der tragisch angehauchte, feinsinnigste
Essayist unserer Literatur. Wie Gyulai war auch der harmonisch ge-
stimmte, liebenswürdige Ästhetiker August Greguss ein Herold von
Aranys Größe.
Eine ähnliche Richtung wie Gyulai verfolgten seine Freunde: Karl
Szdsz, der treffliche Übersetzer, Ladislaus Arany, der Sohn des großen
Dichters, der in seinem unter dem Einfluß Puschkins geschriebenen Epos
„Der Held der Fata Morgana" eine Art ungarischen Don Quixote-Typus
zeichnet, und Josef Levay. Kristallhelle Gedanken in kristallener Form,
Kunstverständnis und große Sorgfalt in der Ausführung charakterisieren
die Gedichte des letzteren.
Gegenüber diesem Freundesbund, über dem das Gestirn Aranys
VI. Das 19. Jahrhundert. ^oj
leuchtet, stehen zwei pessimistische Lyriker: der leidenschaftliche, bizarre,
ins Maßlose und Großartiofe strebende Johann Vaida, der unser Zeitalter Johann vajda
(1827— 1897).
„eine organisierte Verschwörung der Mittelmäßigkeit gegen das Außer-
ordentliche" nannte, — und der pessimistische, frühverstorbene Julius Re-
viczky, der Schüler Schopenhauers und Heines, der, mit verzehrender
Krankheit und Armut kämpfend, bald die Nichtigkeit des Seins und die
Resig-nation, bald fieberhaften Willen zum Leben aussprach.
Die gegenwärtige Literatur ist durch folgende Eigentümlichkeiten ge- Die zeitgenös
^. .-r^. ., Tir'T-' ■ sische Literat!
kennzeichnet: Sie ist vor allem eine Lpigonenliteratur. Wie Lpigonenzeit-
alter überhaupt, nimmt sie die letzten Klassiker, in diesem Falle besonders
Arany, zum Muster und zeichnet sich vor allem durch Ausbildung der
dichterischen Technik aus. Das volkstümliche Element tritt etwas in den
Hintergrund, die Behandlung allgemeiner Probleme nimmt zu; auch kann
man ein Aufblühen der kurzatmigen Feuilletonnovelle verzeichnen, was
dem wachsenden Einfluß der Tagesblätter zuzuschreiben ist. Auch die
sezessionistische Symbolik erhebt mit affektiertem Augenaufschlag ihr
Haupt in der Lyrik. Unter den jetzt wirkenden Romanschriftstellern sind
die bedeutendsten die auch in Deutschland durch Übersetzungen vorteil-
haft bekannten Koloman Mikszäth und Franz Herczeg. Ihre Werke,
sowie die auch in Deutschland oft gespielten Dramen Ludwig Döczis
treten jedoch aus dem Rahmen meiner Darstellung heraus, welche sich
auf die noch in reicher Tätigkeit befindlichen zeitgenössischen Schriftsteller-
individualitäten nicht erstreckt.
Ebensowenig" kann eine Charakteristik der historischen Literatur oder Die wissen-
° . Schaft.
Überhaupt der wissenschaftlichen Leistungen meine Aufgabe sein. Im all-
gemeinen will ich bloß erwähnen, daß besonders diejenigen wissenschaft-
lichen Disziplinen gepflegt werden, welche sich auf Ungarn beziehen, so
in erster Linie ungarische Geschichte und Sprachwissenschaft. Das größte
wissenschaftliche Genie Ungarns war der Sprachforscher Nikolaus Revai
(-j- 1807), der Begründer der historischen Grammatik der ungarischen
Sprache, mit welcher er seiner Zeit und der europäischen Wissenschaft
vorausgeeilt war.
In allen Epochen, in allen bedeutenden Erscheinungen dieser Literatur ScWuß.
war die treibende Kraft der nationale Impuls, der Gedanke der Rassen-
erhaltung. Ohne Verständnis dieser treibenden Kraft wäre die ungarische
Literatur ebenso unverständlich, wie ein großer Maschinenfabrikraum ohne
Kenntnis der Dampfkraft, welche die Räder treibt und die Kurbel bewegt.
Über die Bedeutung der ungarischen Literatur ist natürlich ein ob-
jektives Urteil schwer zu fällen, doch kann man, wie mir scheint, durch
den Vergleich mit anderen Literaturen etwa zu folgendem Resultate
kommen: Die Prosaliteratur entspricht den Erwartungen, die man einem
Volke gegenüber stellen kann, welches die Geschichte und die Seelenzahl
des ungarischen Volkes hat; die poetische — glaube ich — übertrifft
diese Erwartungen.
Literatur.
Ich berücksichtige hier bloß die Literatur der ungarischen Literaturgeschichte in
deutscher Sprache.
Der Begründer der ungarischen Literaturgeschichte, Franz Toldy (Schädel), hat sein
erstes grundlegendes Werk deutsch geschrieben: Handbuch der ungarischen Poesie,
2 Bde. (Pest und Wien, 1828). Es ist dies eine Anthologie ungarischer Gedichte teilweise
mit deutscher Übersetzung. Die Einleitung gibt eine kurze Geschichte der ungarischen
Dichtung; darin legte der damals 23jährige TOLDY wenigstens in großen Zügen die Grund-
lagen der ungarischen Literaturgeschichte dar.
Von den späteren eingehenderen Werken TOLDYs sind zwei auch ins Deutsche über-
setzt: Geschichte der ungarischen Dichtung von der ältesten Zeit bis auf
Alexander Kisfaludy. Übersetzt von G. Steinacker (1863). Es sind dies \'orträ^e,
welche jedoch bloß bis zum Anfang der Blütezeit der ungarischen Dichtung reichen.
Das zweite, ein umfangreiches Spezialwerk TOLDYs, ist seine Geschichte der unga-
rischen Literatur im Mittelalter, übersetzt von M. Kolbenhayer (1865). — Toldys
grundlegendes Werk ist heute in mancher Beziehung schon veraltet.
Ausführlich behandelt die ungarische Literatur bis auf die neueste Zeit J. H. SCHWICKER
in seiner Geschichte der ungarischen Literatur (1889), 944 Seiten. ScHWiCKER war
eigentlich kein Fachmann: sein Buch, welches auch Proben in Übersetzung enthält, ist nicht
ohne Verdienst, aber nicht immer verläßlich.
Knapper, auch die neueste Literatur berücksichtigend, ist I. KONT, Geschichte der
ungarischen Literatur (1906) (Literaturen des Ostens III).
Essays und Monographien über ungarische Dichter finden sich in den Zeitschriften:
Literarische Berichte aus Ungarn (1877 — 80), Ungarische Revue (1881 — 95), wo
auch viele Übersetzungen, Register dazu 1894; ferner in; Das moderne Ungarn, Essays
und Skizzen herausgegeben von A. Nem^.nyi (1E883). (Über Alex. Kisfaludy, Arany, Petöfi.)
Auch Adolf Dux gibt einige Charakteristiken von ungarischen Dichtem in seinem Buch:
Aus Ungarn (1879). (Über Vörösmarty und die jüngste Literatur.) Weitere Literaturangaben
in dem erwähnten Werke von J. Kont (S. 262 — 265).
Aussprache, ä, i = ah, eh; cz, <r = z; f j = tsch; ny = nj ; gy =• A]\ sz = ss;
s = seh; z = i. Ausnahmen: Szechenyi (sprich Sehtschehni); Eütvös (sprich Ötwösch);
Madäch (sprich Madätsch). Betont ist immer die erste Silbe.
DIE FINNISCHE LITERATUR.
Von
Emil Setälä.
Einleitung. Das Finnische ist ein Zweig der finnisch-ugrischen ^Die^finnkch-^
Sprachfamilie, von deren Gliedern, außer dem Finnischen, nur das Un- famiUe.
garische und Estnische Literatursprachen im eigentlichen Sinne des Wortes
sind. Die Verwandtschaft der finnisch-ugrischen Sprachen, die wissen-
schaftlich bewiesen ist, obwohl das Verhältnis des Sprachstammes zu den
sogenannten uralaltaischen Sprachen einer- und zu den indogermanischen
anderseits noch unaufgeklärt ist, weist natürlicherweise auf das Vor-
handensein einer finnisch-ugrischen Ursprache hin. Wo diese Ursprache
entstanden ist, bildet eine ebenso umstrittene Frage wie das Problem der
indogermanischen Urheimat.
Mit viel srrößerer Gewißheit darf man dagegen schließen, daß die Die Urheimat
o ^ ^ _ _ der Ostsee-
Ursprache, von der die heutigen im engeren Sinne zusammengehörigen finnen.
ostseefinnischen Sprachen, darunter das Finnische und Estnische, zunächst
ihren Ursprung herleiten, in dem Gebiete südlich des Finnischen J\Ieer-
busens ihre Heimat gehabt hat. Nachbarn der Ostseefinnen waren in
diesen Zeiten engerer Gemeinschaft einerseits Balten, anderseits und zwar
etwas später Germanen; die Spuren dieser Berührungen sind in der
Sprache und Kultur der Ostseefinnen deutlich zu erkennen.
Der Besfinn der Einwanderung der Finnen in Finnland scheint in die Die Einwande-
ö o ^ ^ ning der Finnen
ersten nachchristlichen Jahrhunderte verlegt werden zu müssen; sie ist -»ch Finnland,
offenbar nach und nach im Verlauf mehrerer Jahrhunderte vor sich ge-
gangen, ganz in ähnlicher Weise wie die friedliche Eroberung Binnen-
finnlands für die Kultur in historischer Zeit. Die Finnen fanden in Finn-
land eine Bewohnerschaft vor — die archäologischen Denkmäler bezeugen,
daß Finnland wenigstens schon ein paar Jahrtausende vor Christi Geburt
besiedelt gewesen ist, wahrscheinlich teils von Germanen, teils von Lappen;
die ältesten germanischen Einwohner Finnlands scheinen wenigstens der
Hauptsache nach in den Finnen aufgegangen zu sein, wogegen die heute
in den verschiedenen Küstengegenden von Finnland ansässigen Schweden
im wesentlichen Nachkommen späterer Zuwanderer sind, während die
310
Emil Setälä: Die firmische Literatur.
Lappen vor der finnischen Kolonisation immer weiter nach Norden zurück-
gewichen oder fennisiert worden sind. Von den nächsten Stammverwandten
der Finnen bUeben die einen in der Nähe der früheren gemeinschaftlichen
Wohnsitze im Süden des Finnischen Meerbusens zurück, andere rückten
in die heutigen Gouvernements Olonez und Archangel im Osten ein.
Die sprachliche Gemeinschaft löste sich natürlicherweise mit der Erwei-
terung des Wohngebietes auf. Es entstanden besondere, deutlich unter-
schiedene sprachliche Typen (wie z. B. das Estnische, Livische, Wepsische),
in anderen Fällen ganze Dialektketten, zwischen denen keine scharfe
Grenze bestand.
Das finnische Die politischen und kulturellen Verhältnisse schlössen, nachdem Finn-
land mit Schweden vereinigt worden war, die verschiedenen nach Finn-
land übergesiedelten finnischen Stämme zu einem Volke zusammen, wel-
ches eine im wesentlichen einheitliche Sprache besitzt. Heute wird finnisch
von ungefähr drei Millionen gesprochen; außer kleineren Sprachgebieten
bzw. Kolonien in Ingermanland, Sibirien, Schweden, Norwegen und Nord-
amerika lebt die große Mehrzahl der Finnen im Großfürstentum Finn-
land. Bemerkenswert ist jedoch, daß nach Osten hin keine scharfe Sprach-
grenze vorhanden ist, sondern daß die karelischen Dialekte östlich der
finnländischen politischen Grenze eine direkte Fortsetzung der östlichen
Dialekte Finnlands bilden, ebenso, daß die Sprachformen auf der Grenze
zwischen dem finnischen und estnischen Gebiet einander so nahe stehen,
daß ohne besondere Schwierigkeit ein gegenseitiger Gedankenaustausch
stattfinden konnte — ein Umstand, der von großer Bedeutung ist, da er
den dauernden und befruchtenden Austausch des Folklorematerials über
die Sprachgrenze hinüber ermöglichte.
Die finnische Der äußcrc Klang der finnischen Sprache, ihr Vokalreichtum und die
gleichmäßige Verteilung der Konsonanten und Vokale machten das Fin-
nische wie von selbst zu einer geeig'neten Sprache der Dichtung, sobald
nur das Metrum mit der Sprache im Einklang stand. Dazu kam der
große Reichtum der Sprache an lautmalenden Wörtern, die nach vor-
handenen Mustern bis ins Unendliche neug-ebildet werden konnten und
die mit ihrem sprachlichen Stimmungswert die Laut- und Farbennüanzen
der Natur wiederzugeben geeignet waren. Das Volk hatte für Poesie
einen offenen Sinn und reiche dichterische Begabung; Liedersänger und
Wortbildner waren schon in alten Zeiten ganz besonders geachtet.
Die Volkspoesie L Die mittelalterliche Volkspoesie. Die Volkspoesie darf mit
und Kunstdich- . ,-, ,
tunt'. vollem Recht emen Platz m der Literaturgeschichte beanspruchen. Sie
ist in Wirklichkeit ebenso gut individuell, ebenso gut eine künstlerische
Hervorbringung wie das poetische Produkt irgendeines bekannten Autors.
Natürlich ist ein Unterschied in dem Maß von Bewußtsein, das ein „Volks-
dichter", und dem, das ein „Kunstdichter" von seinen Mitteln und seinen
Zwecken hat, in diesem Punkt kann wohl aber niemand eine bestimmte
I. Die mittelalterliche VolUspoesie. j I I
Grenze ziehen. Spezifisch Icennzeichnend für den Volksdichter ist, daß
der unbekannte Autor, da er keinen Aufzeichner oder „Verleger" hat,
unmittelbar sein Publikum als „Abschreiber" und „Verleger", das Ge-
dächtnis seiner Zuhörer als die „Bücherei" benutzt, die seine Werke
aufbewahren soll. Weiter ist zu beachten, daß der „Abschreiber" oder
„Verleger" in diesem Fall selbständiger als ein gewöhnlicher „Abschreiber"
oder „Verleger" ist oder sein kann: er kann die Werke verschiedener
Dichter — meist nur durch unabsichtliche Gedankenassoziation, aber auch
bewußt — nicht nur zu einem „Bande" vereinigen, sondern sie sogar
gewissermaßen zu einem Werke zusammenschweißen; und wenn er selbst
etwas von einem Dichter in sich hat, kann auf diese Weise ein ganz
neues Werk entstehen, das sich jedoch auf die Arbeit seiner Vorgänger
stützt.
In welche Zeit die ersten Anfänse der finnischen Volkspoesie zurück- Anfänge der
* '^ Volkspoesie.
gehen, läßt sich nicht auch nur annähernd feststellen; in dieser Beziehung
entscheiden weder die formalen noch die stofflichen Argumente etwas.
Da von der Dichtung der älteren Zeiten in den Tagen, wo sie gesungen
worden, nichts aufgezeichnet ist, kann die Frage nach ihrem Alter im
allgemeinen nur auf dem Wege der Schlußfolgerung entschieden werden.
Die finnische Volkspoesie hat nur eine einzige Liedform geschaffen, Die Liedform.
die in dichterischen Produkten aller Gattungen zur Anwendung gekommen
ist, aber eine Liedform, die sowohl in ihrem Bau als in ihrem Schmuck
eigenartig ist und von den antiken wie den modernen abweicht. Ihr
Metrum ist achtsilbig, aus vier Trochäen aufgebaut — dem Anschein nach
überaus einfach, in Wirklichkeit aber recht kunstvoll, da das Ringen
zwischen Wort- und metrischem Akzent und die Zäsur einen sehr ab-
wechslungsreichen Eindruck hervorrufen. Als äußerer Schmuck dient die
Alliteration, der Stabreim, und als Verstärkung und Füllung des Gedankens
der Parallelismus der Glieder, der Gedankenreim. Es kann kein Zweifel
darüber bestehen, daß dieses Metrum ein finnisch-estnisches ist; gewisse
Kennzeichen scheinen darauf hinzuweisen, daß es in einer primitiveren
Form finnisch-mordwinisch sein könnte, also in die Jahrhunderte vor un-
serer Zeitrechnung zurückgehen würde, obwohl es natürlich in diesem
Punkte keine Sicherheit gibt.
Was die stoffliche Seite dieser Poesie betrifft, so gibt sie ebensowenig ^'^ s?°'ff '•'"■
' ö o ünnischen
Aufschluß über den ersten Ursprung der Dichtungsart. Die ältesten voikspoesie.
Lieder, die auf uns gekommen sind, sind allerdings in heidnischen Zeiten
gesungen worden. Die heidnischen Finnen wußten von Väinämöinen und
Ilmarinen zu erzählen, beides nach der ursprünglichen Auffassung des
Volkes Götter, jener der Gott des Wassers, dieser der der Luft. Man
darf aber nicht vergessen, daß das Heidentum in Karelien und Ingerman-
land bis fast in die Neuzeit reichte, weshalb sich also auch hierfür kein
sicherer Terminus ex quo fixieren läßt. Außerdem liefert das Vorkommen
von heidnischen Namen in einem Liede keinen absoluten Beweis für den
312
Emil Setälä: Die finnische Literatur.
heidnischen Ursprung des Liedes, vielmehr finden sich manche Beispiele
dafür, daß heidnische Namen in Liedern mit katholischen Motiven an die
Stelle von katholischen gesetzt worden sind. Anderseits läßt es sich auch
durchaus nicht beweisen, daß das finnische Lied nicht in sehr alten Zeiten
wurzeln kann; das Erbe jener Zeiten haben hauptsächlich nur die späteren
Stoffe im Gedächtnis des Volkes verdrängt.
Die Stoffe, die die Phantasie des Volkes besonders angeregt haben,
waren dieselben, die die Legenden- und Ritterpoesie des Mittelalters dar-
bot. Wir finden hier die gleichen Motive, die in der Legendendichtung
anderer Völker auftreten, wir finden aber auch häufig Motive erhalten, die
ohne Zweifel durch andere Völker hierher gelangt, anderwärts jedoch
spurlos verschwunden sind. Und selbst in den Fällen, wo sich die ent-
sprechenden Lieder anderswo behauptet haben, hat das Gedächtnis des
finnischen Volkes mehrfach mit wunderbarer Genauigkeit ursprüngliche,
anderswo verwischte Züge bewahrt. Und was noch bemerkenswerter ist:
jene anderswoher eingewanderten Motive sind nicht bloß sklavisch nach-
gebildet worden, sie treten uns in finnischem Geiste umgedichtet, mit
spezifisch finnischen Zügen ausgeschmückt und in eine finnische Umgebung
verlegt entgegen. Insbesondere verraten die nordkarelischen Liedersänger
poetisches Talent: in ihrer Darstellung gewinnt der Dialog- eine hin-
reißende Lebendigkeit und beginnen die Gestalten zu leben.
Legenden. Um aus den behandelten Motiven ein paar Beispiele herauszugreifen,
sei erwähnt, daß das Leben der Jungfrau und des Heilands eine ganze
Serie von Liedern geschaffen hat, die im Munde der nordkarelischen
Sänger die deutliche Tendenz zeigen, sich zu einer ganzen umfangreichen
Messiade auszugestalten. Wir begeg-nen auch hier unter dem bleichen
nordischen Himmel der Maria Magdalena, der stolzen sündigenden Jung-
frau, die Jesus in der Hülle eines karelischen Hirten am Brunnen findet
und der er ihre Sünden vorhält Wir begegnen hier dem reichen Manne
und Lazarus als dem Hausherrn und dem von ihm hartherzig behandelten
Knecht. Christi Tod erscheint als Legende vom Tode des finnischen
Helden Lemminkäinen, den der blinde Hirt tötet, um dann seinen Leichnam
in den Strom von Tuonela zu werfen, aus dem ihn die Mutter rettet und
zu neuem Leben erweckt. Zu den allerschönsten Legenden gehört ein
ingermanländisches Lied, in dem erzählt wird, wie Gottes Sohn zur Zeit,
als noch keine Sonne und kein Mond am Himmel stand, Sonne und Mond
als Lichtspender den Menschen schenkte; er setzte die Sonne in eine
Tanne mit goldenem Wipfel, zuerst auf einen unteren Ast, wo sie nur den
Reichen schien, dann aber auf die Bitte der Armen auf einen höheren
Ast, wo sie auf Reiche und Arme, Wohlhabende und Bettler gleichmäßig
strahlte. Ein einheimisches Legendenmotiv finden wir in dem Liede vom
Tode Bischof Heinrichs behandelt, in der Erzählung von dem ersten
Glaubensboten in Finnland, den ein finnischer Heide ums Leben brachte.
Ritterbaii.idc. Auch die Ritterballade hat Ableger in Finnland — sie ist über
I. Die mittelalterliche Volkspoesie ^I_j
Schweden hierher gekommen, wo sie um das 14. Jahrhundert ihre höchste
Blüte erreichte. Wir haben hier die Erzählung von der jungen Maid
Inkeri, deren Bräutigam gerade anlangt, als sie einem anderen Manne
vermählt werden soll; ähnlich das Lied von Anterus, der sich aus Gram
das Leben nimmt, als sein junges Weib stirbt, und mit ihr in einem Grabe
begraben wird — beides Motive, die zunächst aus Schweden stammen.
Auf einheimischer geschichtlicher Grundlage ist die Ritterballade er-
wachsen, die von allen am höchsten gestellt werden muß, Elinas Tod, die
Erzählung von dem Ritter, der aus Eifersucht sein anmutiges Weib und
seinen kleinen Sohn verbrennt und sich danach in seinen Gewissensqualen
selber umbringt; dieses Lied ist wegen seiner Charakteristik und seiner
dramatischen Kraft — seine knappe Diktion nähert sich der dramatischen
Darstellungsart — die schönste Perle der finnischen mittelalterlichen
Dichtung.
Wie angedeutet, ist das Alter der Lieder häufig schwer genau zu
bestimmen, da sie nicht in der Zeit aufgezeichnet sind, wo sie zuerst ge-
sungen wurden. Die reichen Stoffe des Mittelalters vermischten sich mit den
alten Vorstellungen, und da sproß eine vielgestaltige Dichtung empor, die
sich bis in die neuere Zeit weiter entfaltet hat; die Frucht dieser Ent-
faltung waren die epischen Lieder, die den Hauptbestandteil des finnischen
Volksepos Kalevala bilden.
Von den anderen Gattungen der Dichtung reicht ohne Zweifel die weitere
reiche lyrische Poesie, in welcher die meisten Ereignisse des finnischen voikspoesie.
Volkslebens, meistens aber die traurigen, ihre poetische Behandlung ge-
funden haben, in frühe Zeiten zurück, wiewohl sie natürlich durch immer
neue Gebilde vermehrt worden ist. Dasselbe gilt von der didaktischen
Poesie, welche die Sprichwörter und Rätsel bergen, und den Sagen und
Märchen in Prosa, unter denen wir fast alle allgemein internationalen
Motive, verfinnischt und nach Finnland verlegt, wiederfinden.
Eine ganz eigentümlich finnische Gattung der Poesie stellen die Zauberiieder.
Zauberlieder dar, in denen manche ein uraltes Erbe eines uralten Scha-
manismus erblickt haben. Soviel die Forschung indessen bisher ermittelt
hat, sind sie in ihren Urmotiven als westeuropäische, aus katholischer
Zeit stammende Zaubersprüche zu betrachten, die auf finnischem Grund
und Boden beträchtlich vermehrt und ausgebaut worden sind und, was
das merkwürdigste ist, vielfach ein von echtem Naturgefühl zeugendes
poetisches Gewand erhalten haben.
Aus gewissen Umständen zu schließen war unter den Adeligen, Geist- Die Urheber
liehen und Bürgern Finnlands das Finnische die Hauptumgangssprache;
dies wird u. a. dadurch bewiesen, daß die mittelalterliche Dichtung Mo-
tive aus dem Leben dieser Stände aufweist, und ohne Zweifel ist zum
mindesten ein beträchtlicher Teil der fraglichen Poesie von Vertretern
dieser Bevölkerungsklassen hervorgebracht worden. Sie standen jedoch
in ihrer Bildung nicht besonders hoch über dem finnischen freien Bauer;
314 Emil Setälä: Die finnische Literatur.
die Kenntnis des Schreibens war selten, es gab offenbar niemand, der
finnische Lieder hätte aufzeichnen können oder sie als dessen wert an-
gesehen hätte. Die besten Hüter des Gesangs waren die gedächtnisstarken
Männer aus dem Volke, die den Zuhörern Hand in Hand mit einem Be-
gleiter die alten Überlieferungen vortrug-en. Unter ihnen waren jedenfalls
auch begabte Individuen, die selber als schaffende Dichter den Reichtum
der Volkspoesie vermehrten.
In der Wanderung der Volkspoesie lassen sich zwei Strömungen er-
kennen, eine von Süden nach Norden, vom estnischen Sprachgebiet über
Ingermanland nach Karelien, und eine zweite von Westen nach Osten.
Oft entwickelten sich ganz einfache estnische Motive in Karelien, wo sich
der südliche und der westliche Liederstrom vereinigten, zu epischen Lied-
schöpfungen mit Gestalten, die der heidnischen Zeit angehörten, West-
finnland hat hauptsächlich Legenden- und Balladenpoesie aus mittelalter-
lichen Motiven geschaffen.
IL Begründung und erste Schicksale der finnischen Schrift-
sprache (1542 — 1642). Außer der Volkspoesie hat das ganze Mittelalter
in Finnland weiter keine Literatur hervorgebracht als eine Anzahl latei-
nischer religiöser Lieder und Schulgesänge, die von finnischen Bischöfen
und Geistlichen herrührten, sowie eine lateinische Bischofschronik. Auch
in schwedischer Sprache ist in Finnland während des Mittelalters, von amt-
lichen Dokumenten abgesehen, nichts geschrieben worden als Übersetzungen
von Stücken des Alten Testaments und Heiligenbiographien von einem
wahrscheinlich aus Schweden stammenden Mönche. Und die einzigen
gleichzeitigen Denkmäler des Finnischen sind die finnischen Namen, die
in lateinischen oder altschwedischen Urkunden vorkommen; mitunter findet
man in diesen ganze finnische Sätze, woraus zu entnehmen ist, daß die
mündliche Verhandlung" vor Gericht damals wie auch stets in späterer
Zeit auf Finnisch vor sich ging, obwohl das Protokoll nicht finnisch ge-
führt wurde. Die Namen und Sätze der betreffenden Urkunden, deren
älteste dem 13. Jahrhundert angehören, sind mithin die frühesten direkten
Denkmäler der finnischen Sprache.
Obwohl das Latein die Sprache der Kirche war, heißt es doch, die
geistlichen Würdenträger hätten am Ausgang des 15. Jahrhunderts die
Anordnung getroffen, daß einige Gebete allsonntäglich in den Kirchen
auf Finnisch hergesagt und ihre Übersetzung, um gedächtnisstörender
Vertauschung" von Wörtern vorzubeugen, schriftlich festgelegt werden
sollte. Hiervon hat sich jedoch in der gleichzeitigen Niederschrift nichts
erhalten, obwohl es möglich ist, daß einige Niederschriften des 16. Jahr-
hunderts auf den Übersetzungen aus katholischer Zeit fußen. Daß sich
im Gebrauch der finnischen Sprache irgendeine bestimmte Gewohnheit
herausgebildet hatte und daß eine Art finnische „Gemeinsprache" ent-
standen war, können wir daraus schließen, daß, als die finnische Schrift-
n. Begründung und erste Schicksale der finnischen Schriftsprache. ^ j ;
spräche gegründet wurde, alle Schriftsteller ohne bedeutendere Ab-
weichungen derselben Sprachform folgten.
Der Erstling der finnischen gedruckten Literatur ist die von dem eigent- Michael
liehen Glaubensreformator Finnlands, dem Bischof Michael Agricola,
wahrscheinlich 1542 herausgegebene finnische Fibel. Er ließ auch einige
andere Bücher auf Finnisch erscheinen: ein ziemlich umfangreiches Gebet-
buch, ein Rituale, eine Liturgie und Teile der Bibel; am aller wichtigsten
war das 1548 veröffentlichte Neue Testament. Agricolas Bücher waren
Übersetzungen oder fremden Vorbildern nachgeschaffene Werke, doch
begegnet man in ihnen auch Äußerungen seiner eigenen kräftigen Per-
sönlichkeit, Partien, in denen die markige, oft mit Sprichwörtern gewürzte
Diktion an den Lehrmeister der Reformation, Luther, erinnert. Er war
seiner ganzen Veranlagung nach ein Mann der trockenen Prosa, so daß
man, wenn in den unter seinem Namen veröffentlichten Büchern hin und
wieder einmal ein poetischer Hauch zu verspüren ist, Zweifel hegen kann,
ob man es mit Agricola selbst oder mit einem seiner Mitarbeiter, deren
er auch hatte, zu tun hat. Trotzdem hat er es auch mit dem Dichten in
finnischer Sprache versucht. Obwohl ohne allen ästhetischen Wert haben
diese dichterischen Versuche doch kulturgeschichtliche Bedeutung; am
bemerkenswertesten ist darunter das Verzeichnis alter finnischer Gott-
heiten in der Vorrede zum Psalter, eine der wichtigsten Quellen der
finnischen Mythologie.
Die Sprachform, die Agricola in seinen Büchern anwandte, war der
Dialekt der damaligen Hauptstadt Finnlands, der Dialekt von Abo, der
zu der Zeit allein als „Suomen kieli", „Finnisch" bezeichnet wurde. Zu-
gleich begann er jedoch schon mit dem Verfahren, das in der Folgezeit
mit Erfolg akzeptiert worden ist, d. h. er entlehnte Wörter, Formen und
Redewendungen aus anderen Dialekten.
Aus derselben Zeit wie AeTicolas Bücher stammt eine handschriftliche, Sonstige
Literatur.
aber ungedruckt gebliebene Übersetzung des Landrechts des Königs
Christopher, die erste Schrift, die ein weltliches Thema in finnischer
Sprache behandelt. Sonst aber war alle Literatur, die in der nächsten
Folgezeit erschien, fast ausschließlich geistlicher Art. Sie bestand haupt-
sächlich in Übersetzung-en; Erwähnung verdient jedoch eine in den Jahren
162 1 — 25 erschienene umfängliche Postille von dem Bischof Ericus Erici,
die den Stempel der Originalität trägt und außerdem von einer bedeu-
tenden theologischen Gelehrsamkeit zeugt. Geistliche Dichtung erschien
eine reiche Menge, besonders für den Kirchengesang, doch sind diese
Erzeugnisse hinsichtlich des Sprachgebrauchs und der poetischen Schön-
heit recht schwach. Ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der fin-
nischen Literatur war die Herausgabe der ganzen Bibel in finnischer Sprache
im Jahre 1642.
2 1 6 Emil Setälä : Die finnische Literatur.
III. Erwachen des Heimatgefühls (die Zeit der sogenannten
Fennophilen, 1642 — 1809). Die Reformation drängte das Latein in den
Hintergrund, aber die politische Verbindung mit Schweden, die erhöhte
politische Machtstellung Schwedens und die Überlegenheit der schwe-
dischen Kultur bewirkten, daß in Finnland nicht vorzugsweise das Fin-
nische, sondern in bemerkenswertem Grade das Schwedische die Rolle
des Lateins übernahm. Das Schwedische wurde mit der Hebung des
Kulturniveaus nach und nach immer mehr die Sprache der höheren
Stände, die durch Beamte von Schweden her eine stetige Vermehrung
erfuhren.
Aber trotz der wachsenden Bedeutung der schwedischen Sprache und
ganz unabhängig von der Umgangssprache der Bewohner des Landes
hatte sich in Finnland seit alten Zeiten ein gewisses finnisches Sonder-
gefühl ausgebildet, welches deutlich eine neue Anregung" empfing, als die
ideellen Bestrebungen des Landes in der 1640 in Abo gegründeten Uni-
versität einen Sammelpunkt erhielten. Obwohl Finnland einen Teil des
schwedischen Reiches bildete, hatte doch unter den Finnen die Anschauung
Platz gegriffen, daß ihr Land infolge seiner geographischen Lage, der
Eigenheiten, Sitten, der Sprache und Stammeserinnerungen seines Volkes
etwas anderes sei als nur eine schwedische Provinz.
Und dieses Sondergefühl kam auch in der Literatur zum Ausdruck.
In den akademischen Übungen, wo in panegyrischen Aussprüchen das
Lob der Heimat erhoben wurde, begann ein Ton durchzuklingen, welcher
bezeugte, daß den Vortragenden, wenn vielleicht auch nur verschwommen,
ein Bild von einer gemeinschaftlichen finnischen Heimat, ja einem Vater-
land vorschwebte. Dieses Gefühl und diese Anschauung bemächtigten
sich teilweise sogar der im Lande ansässigen Schweden; so beschäftigte
sich z. B. der aus Schweden gebürtige Professor Eskil Petraeus, später
Bischof, lebhaft mit dem Finnischen, er stand an der Spitze des finnischen
Bibelübersetzungskomitees und schrieb die erste uns erhaltene finnische
Grammatik, 164g, anderer Beispiele zu geschweigen. Vor allem aber
zündete dieses Gefühl — trotz einer teilweisen Gegenströmung — natür-
licherweise unter den Söhnen Finnlands selbst.
Von den ältesten „Fennophilen" — so nannte man die Anhänger dieser
finnisch-nationalen Richtung — ist der bemerkenswerteste der Bischof
Daniel Juslenius, ein sehr warmer Freund des finnischen Landes und
Volkes, zugleich aber ein durchaus unkritischer Geist, den wahrscheinlich
die phantastischen Bestrebungen begeisterten, deren Vorkämpfer in
Schweden Olov Rudbeck war. Bei dem Unternehmen, die Geschichte
der Heimat darzustellen, versuchte er zu zeigen, daß die Finnen das beste
und tapferste Volk der Welt seien, versuchte er auch auf Grund der
Volkspoesie das hohe Alter und den hohen Stand der finnischen Kultur
nachzuweisen u. a. m.; alte und mächtige Verwandte der finnischen Sprache
glaubte er im Hebräischen und Griechischen aufspüren zu können — ein
III. Erwachen des Heimatgefühls (die Zeit der so^jenannten Fennophilen, 1642 — iSog). ^ij
Bemühen, in dem er nicht der erste noch der einzige war, und welches
auch den positiven Vorteil brachte, daß sich die Grammatik der finnischen
Sprache aus den Fesseln des Lateins losrang und die erste auf den Cha-
rakter der Sprache gegründete Grammatik das Tageslicht erblickte. Jeden-
falls aber gebührt Juslenius das Verdienst, durch seine Wärme das Inter-
esse angefacht zu haben; er hat in dieser Beziehung auch das direkte
Verdienst, daß er der erste eigentliche Sammler finnischer Volkspoesie
ist — obwohl seine Sammlungen verloren gegangen sind — , femer der
Verfasser des ersten diesen Namen verdienenden finnischen Wörterbuches.
Ohne Zweifel empfing von ihm die erhabenste Gestalt dieser Zeit, Henrik
Gabriel Porthan (1739 — 1804), die Anregung zu Forschungen im Sinne
des heimatlichen Gedankens.
Porthan, ein von den Aufklärungsbestrebungen der Zeit berührter Ponhan.
Geist, war seinem ganzen Wesen nach in ebenso hohem Maße kritisch,
als Juslenius phantastisch war. Er war von Fach eigentlich klassischer
Philolog, seine philologische Forschung wurde aber auf die Heimat ge-
lenkt und führte ihn dadurch auf ganz neue Bahnen. Die Veröffentlichung
der alten Bischofschronik leitete ihn auf die Erforschung der heimatlichen
Geschichte, auf die er erstmals, ohne Zweifel vom Geist der Göttinger
historischen Schule angeweht, eine wirklich wissenschaftliche Methode
anwandte, welche eine kritische Wertschätzung der Quellen mit umfaßte.
Er versuchte im Anschluß an die Bestrebungen , zu deren Urhebern
G. W. Leibniz gehörte, die aber in Finnland schon früher unabhängig von
diesem aufgetaucht waren, die Sprache als historisches Beweismittel zu
verwerten und mit ihrer Hilfe ein Gesamtbild von der alten finnischen Kultur
zu entwerfen — ein Versuch, der als solcher vorher weder auf finnisch-
ugrischem noch auf indogermanischem Boden unternommen worden war.
Er dehnte seine Forschungen, indem er sich auch mit ungarischen Ge-
lehrten in Verbindung setzte, auf die anderen finnisch-ugrischen Sprachen
aus, während er die bis dahin so beliebten Vergleichungen mit dem He-
bräischen und Griechischen fallen ließ. Er zog, teils durch Juslenius' Bei-
spiel angeregt, teils von der Begeisterung für die „Ossianischen Gesänge"
Macphersons ergriffen, auch die finnische Volkspoesie, ihren Bau und
ihre religiösen Vorstellungen in den Kreis seiner Untersuchungen. Und
da hat er ebenfalls Gedanken ausgesprochen, die lange nach seiner Zeit
Früchte gezeitigt haben, Gedanken über das Wandern der Volkspoesie
und über die Rekonstruktion von Produkten der Volksdichtung auf Grund
der verschiedenen Varianten. Neben diesen ideellen Bestrebungen fesselten
ihn zugleich die in jener Zeit erwachten wirtschaftlichen Probleme, die
auf die Hebung der Bebauung- und des Wohlstands des Landes abzielten.
Kurz, er, dieser letzte Polyhistor der finnländischen Universität, umfaßte
mit einem Blick das nationale Arbeitsgebiet in seiner ganzen Weite.
Er war der Repräsentant eines ganzen Zeitalters, um ihn gruppierten sich
alle anderen Träger einheimischer Ideen als Schüler oder Mitarbeiter.
7 1 8 Emil Setälä : Die finnische Literatur.
Geistliche und Die Literatur, in der diese Bestrebungen ihren Niederschlag fanden,
' war ausschließlich entweder lateinisch oder zu einem kleineren Teil schwe-
disch geschrieben. Die oberen Stände mußten ihre literarischen Bedürf-
nisse — soweit sie solche hatten — aus dem schwedischen Schrifttum be-
friedigen, welches bereits Bedeutung zu gewinnen begann, ja sich am
Ausgang dieses Zeitabschnittes zu seiner ersten Blüte erhob; die finnische
Literatur hatte nur die Aufgabe, dem niederen Volk und dessen Bedürf-
nissen zu dienen. Diese Literatur hielt sich denn auch nach wie vor
hauptsächlich nur innerhalb der Grenzen der Erbauungsliteratur, ohne so-
gar auf dem Gebiete der geistlichen Dichtung sich allzu oft zu höheren,
literarisch wertvollen Leistungen aufzuschwingen. Die Kirchenliederdichter
versuchten die in der Poesie anderer Völker üblichen Formen nach-
zuahmen, ohne jedoch über solchen Formensinn und die allseitige Beherr-
schung ihrer eigenen Sprache zu verfügen, daß aus ihrem Dichten eine
Kunst hervorgegangen wäre. Nur in Ausnahmefällen ist zu beobachten,
daß die Form und die Schmuckmittel der Volkspoesie auf die geistliche
Dichtung eingewirkt haben. Und eine ganz spezielle Ausnahme bildet
eine sehr beliebt gewordene und von dichterischer Begabung zeugende,
ziemlich umfangreiche Dichtung eines sonst unbekannten Pfarrers namens
Matthias Salamnius: „Ilo-Laulu Jesuxesta" (Freudenlied auf Jesus), i6go,
die ganz in dem alten Volksmetrum verfaßt war. Die weltliche finnische
Dichtung war großenteils Gelegenheitsdichtung, zunächst nach schwedischen
Vorbildern, teilweise auch war sie durch historische Ereignisse, besonders
die Greuel des Nordischen Krieges veranlaßt. Gering an Zahl sind auch
hierunter die Produkte, denen wegen dichterischen Gefühls oder der
Schönheit von Bildern poetischer Wert zuzuerkennen ist. Bemerkenswert
ist das Eindringen der Form der Volkspoesie in die weltliche Dichtung;
die besten Hervorbringungen dieser Dichtung- sind denn auch die, die
sich am nächsten an die in der Volkspoesie bearbeitete Form und deren
Muster anlehnen.
Volkslieder. Das Volk Sang natürlich nach wie vor seine alten Lieder, und neue
wurden hinzugedichtet. Daß diese Dichtung Aufmerksamkeit zu erregen
begann, beweist die Übertragung ihrer Form auf die eben berührten
Gattungen der Poesie und ihre wissenschaftliche Behandlung. Abgesehen
von den Proben, die in wissenschaftlichen Untersuchungen zur Veröffent-
lichung gelangten — das erste finnische Volkslied wurde 1675 gedruckt — ,
erschienen um diese Zeit auch die ersten Sammlungen von Volkspoesie,
Sprichwörter und Rätsel enthaltend.
AnfanK der Die erste finnische Zeitung versandte im Jahre 1775 ihre Probenummer,
erschien aber, einmal monatlich einen halben Bogen stark, nur ein Jahr
lang, 1776.
Zeitungslite
Lage Finnla
IV. Die erste nationale Erweckung (der Kampf der Dialekte,
1809 — 1835). Der Krieg des Jahres 1808 — 1809 zerriß die Bande, die
rV. Die erste nationale Erweckung (der Kampf der Dialekte, 1809 — 1835). 3 IQ
Schweden und Finnland jahrhundertelang miteinander verknüpft hatten,
und Finnland trat in eine neue politische Stellung: es wurde als ein Staat
mit eigener Staatsverfassung mit dem russischen Reiche vereinigt. „Finn-
land ist unter die Zahl der Nationen erhoben", das waren die Worte, mit
denen Alexander I. auf dem Landtag zu Borgo die neue Stellung charak-
terisierte. „Schweden sind wir nicht, Russen wollen wir nicht werden, also
müssen wir Finnen sein", so lautete die Reflexion, die der Finne an-
gesichts der neuen Lage der Dinge notgedrungen anstellte. Und zugleich
erwachte der Gedanke, daß das Finnische, welches in diesem neuen Staate
die Sprache der überwiegenden Mehrheit war, nicht in der bisherigen
Stellung verbleiben dürfe, sondern nach und nach zum eigentlichen Organ
der einheimischen Kultur erhoben werden müsse. Außer der veränderten
Situation trug die über Schweden nach Finnland gelangte Romantik,
welche volle Entwicklung der Individualität, auch der nationalen Indi-
vidualität, forderte, zur Schaffung finnisch-nationaler Bestrebungen bei.
So bahnte sich eine — anfangs allerdings unbestimmte — Bewegung an,
die schon damals von ihren Gegnern den Namen „Fennomanie" erhielt,
der ihr bis zu dieser Stunde geblieben ist. Diese Ideen der finnischen
nationalen Bestrebungen kamen sowohl in der schwedischen als in der
finnischen Literatur Finnlands zum Ausdruck.
Es war natürlich, daß sich diese Bestrebungen, soweit sie sich in Di<
positiver Arbeit äußerten, auf die Schaffung einer finnischen Literatur auch
auf anderen Gebieten als dem geistlichen, auf das sie sich bisher im
wesentlichen beschränkt hatte, richteten. Einer der ersten Bahnbrecher
der finnischen Literatur zu dieser Zeit war Jaakko Juteini (1781 — 1855),
ein Schüler Porthans und ein außerordentlich produktiver Schriftsteller,
der sich in seinem Schaffen sowohl der Versform als der Prosa bedient,
ja sich sogar im Drama versucht hat. Seine Begeisterung und sein Inter-
esse waren jedoch größer als seine künstlerische Begabung; selbst von
der Philosophie der Aufklärung durchdrungen, war sein eigentliches Haupt-
ziel die Erweckung und Aufklärung des niederen Volkes. Für ein höher
gebildetes Publikum versuchte auf den verschiedenen Gebieten der Lite-
ratur und Wissenschaft in finnischer Sprache Carl Axel Gottlund (1796
— 1875) zu schreiben, eine unerschütterlich energische, aber zugleich
äußerst eigenwillige Persönlichkeit, die auch in formell sprachlicher Hin-
sicht durchaus eigene Wege g"ing und dadurch ihre Schriften selber für
das Publikum fast ungenießbar machte. Von der Anwendung des Finni-
schen in lyrischer Dichtung besitzen wir aus dieser Zeit manche sehr
hübsche Proben. 1834 erschien sogar ein Trauerspiel in finnischer Sprache,
das erste seiner Art: eine kunstlose Bearbeitung von Shakespeares Mac-
beth, in Finnland lokalisiert und in dem alten finnischen Metrum verfaßt,
von Jakob Fredrik Lagervall. Finnische Zeitungen wurden gegründet
und fanden im Volke ziemlich weite Verbreitung.
Zu derselben Zeit, wo man das Finnische auf den verschiedenen Ge-
320
Emil Setalä: Die t'mnische Literatur.
bieten anzuwenden versuchte, erwachte auch die Frage nach der Sprachform :
sollte man sich mit der oft von Svethizismen durchtränkten und stilarmen
Sprache der geistlichen Literatur begnügen, oder sollte man vielmehr den
reicheren Dialekt des Ostfinnischen, der durch die Volkslieder bekannt
zu werden begann, der Schriftsprache zugrunde legen? Aber nicht genug
damit tauchte auch eine Richtung in Dingen der Sprachrichtigkeit auf,
die, von dem Leitsatz „schreib wie du sprichst" ausgehend, dahin führte,
daß jeder anfing seinen eigenen Dialekt zu schreiben. Diese Richtung,
die manche Anhänger gewann, darunter als einen der eifrigsten Gottlund,
bedrohte die junge finnische Schriftsprache mit völliger Zerrüttung und
beschwor den Kampf herauf, an dem sich sowohl die Grammatiker als
die Schriftsteller beteiligt haben, und nach welchem man diesem Zeit-
abschnitte den Namen „Periode des Kampfs der Dialekte" gegeben hat.
Bauern- Zwel dlcser Periode eigentümliche Erscheinungen müssen noch be-
dicbtuiig. .
rührt werden. Die eine ist die Bauerndichtung, die sich unter dem Em-
fluß der alten Dichtung und der Gelegenheitsdichtung der Gebildeten
schon in der vorausgehenden Zeit geregt hatte, aber erst jetzt, wo offen-
bar zunächst die von Juteini ausgehende nationale Erweckung den weiteren
Anstoß gab, ihre eigentliche Blüte erreichte. Diese bäuerlichen Dichter,
unter denen Paavo Korhonen (1775 — 1840) der hervorragendste ist, haben
manches recht treffende Gedicht, vorzugsweise auf Verhältnisse und Er-
eignisse in ihrer Heimat, gemacht, aber mitunter sogar auch allgemeinere
Dinge in ihren Liedern behandelt; unter anderen haben sie oft von der
zurückgesetzten Stellung- der finnischen Sprache gesungen. Die Gedichte
der bäuerlichen Dichter verbreiteten sich, meist handschriftlich, aber auch
gedruckt ziemlich weit, jedenfalls aber können sie es bei der allgemein
beeinträchtigenden Trockenheit ihrer Phantasie nicht annähernd mit der
eigentlichen Volkspoesie aufnehmen.
Einsammlung Eine zweite eigentümliche Erscheinung bezeichnet die Einsammlung
;er Volkspoesie.
der Volkspoesie. Die Begeisterung hierfür schrieb sich zum Teil von
den Bestrebungen zu Porthans Zeiten her, zum Teil war sie durch
J. G. Herders Werke und Schriften hervorgerufen worden. Zu den eifrig-
sten Sammlern zählten der Sprachforscher A. J. Sjögren, der früher er-
wähnte Gottlund, der Arzt Z. Topelius senior und vor allem Elias Lönnrot.
So wurde hauptsächlich das Material unter Dach gebracht, das nachmals
Lönnrot für das finnische Nationalepos verwendet hat; ein Teil der Ergeb-
nisse dieser Sammelarbeit wurde in bescheidenen Heften mehrere Jahre
hindurch in fortgesetzten Publikationen veröffentlicht.
Kaievai.1. V. Die Zeit der großen geschlossenen Werke der Volks-
poesie und der neuen nationalen Erweckung (1835 — 1860). Die
erste Anregung zur Verschmelzung der finnischen Volkslieder zu einem
Ganzen hatte Elias Lönnrot (1802 — 1884) des hervorragenden Gelehrten
Reinhold v. Beckers biographisches Gemälde von Väinämöinen gegeben,
V. Die Zeit der großen geschlossenen Werke der Volkspoesie. 7 2 i
in dem die Einzelzüge der verschiedenen Lieder gesammelt erschienen.
Nach mehreren Versuchen, alte Lieder des finnischen Volkes zu kleineren
Einheiten zusammenzufassen, beschloß Lönnrot schließlich, alle epischen
Lieder, besonders diejenigen, in denen heidnische Gestalten auftreten, zu
einem einheitlichen Ganzen zu verarbeiten; neben den epischen Bestand-
teilen verweitete er hierfür zugleich eine große Menge von lyrischen
Gesängen und Zauberliedern. Dieses merkwürdige Werk, welches all-
gemein große Aufmerksamkeit erregte, erschien 1835 im Verlag der 1831
gegründeten und in der Folgezeit um die finnische Literatur hoch ver-
dienten Finnischen Literaturgesellschaft unter dem Namen „Kalevala" und
184g in einer neuen, bedeutend erweiterten Auflage.
Mehr als einmal ist die Frage aufgeworfen worden: ist das Kalevala
ein Volksepos? Natürlich ist es kein Volksepos in dem Sinne, daß es ein
kollektives Dichtwerk des Volkes darstellte und daß das Volk es einmal
in dem ganzen Umfang gesungen hätte, in dem es uns in dem gedruckten
Kalevala entgegentritt; wie schon oben ausgesprochen, gibt es solche
kollektiven Dichtwerke überhaupt nicht, auch ist es undenkbar, daß ein
Volk ein so weitschichtiges Werk, wie es das Kalevala ist, als Ganzes in
seinem Gedächtnis hätte aufbewahren können. Aber es ist ein Volksepos
erstens in dem Sinne, daß alle seine einzelnen Teile von Männern aus
dem Volke — nicht von Angehörigen der oberen Stände — geschaffen,
von Geschlecht auf Geschlecht vererbt und jeweils ausgestaltet worden
sind — , Lönnrots eigene Zutaten waren durchaus belanglos. Es ist ein
Volksepos ferner in dem Sinne, daß die karelischen Sänger bereits vieles
in dem Liedermaterial verknüpft hatten und daß Lönnrot in der Gruppie-
rung und Disposition des Stoffes die von den Sängern angedeutete An-
ordnung befolgen konnte. Es ist auch in dem Sinne ein Volksepos, daß
es eine außerordentlich treffende Schilderung des finnischen Volkslebens
und zugleich eine großartige Offenbarung des finnischen Volksgeistes dar-
stellt. Was dabei von Lönnrot stammt, ist, daß er in den hauptsächlich von den
Volkssängern herrührenden Rahmen alle ihm zugänglichen und mit dem
Gegenstand verträglichen Volkslieder einpaßte und so ein weit umfang-
reicheres Ganzes entstehen ließ, als je ein Volkssänger geboten hatte. Und
dabei verfuhr er nicht wie ein schaffender Dichter und nicht wie ein Wissen-
schaftsmann, sondern wie ein reproduzierender und verschmelzender Volks-
sänger. „Lönnrot unterscheidet sich", sagt von ihm Julius Krohn, „von
seinen Vorgängern hauptsächlich nur dadurch, daß er alle Schätze des
Volksgesanges in unvergleichlich höherem Maße kannte als irgend einer
von diesen und somit eine viel reichere Quelle besaß, aus der er schöpfen
konnte. Dazu kommt gewiß noch ein durch literarische Bildung ver-
feinertes poetisches Gefühl bei der Wahl der Zutaten. Andererseits jedoch
steht Lönnrot dennoch auch hierin, was die Unbewußtheit des Schaffens
betrifft, seinen Vorgängern ganz nahe. Selten ist einer von diesen im-
stande, selbst auch nur ein mittelmäßiges reines Gedicht zu verfassen, ob-
DiE Kultur der Gegenwart. I. 9. 21
322
Emil Setäla: Die finnische Literatur.
gleich sie bei der Ausbildung des Gesanges oft einen bewunderungswerten
poetischen Instinkt zeigen." Die Komposition des Kalevala ist in bezug
auf Haupthandlung und Einheitlichkeit zwar nicht einwandfrei: die Epi-
soden sind im Verhältnis zur Haupthandlung' zu breit ausgesponnen, in
einigen Punkten finden sich störende Wiederholungen und Widersprüche,
aber trotz dieser Mängel ist es ein packendes Werk dank seinem un-
gekünstelten zarten Naturgefühl, seiner frischen Naturmalerei, seiner leben-
digen Diktion und besonders dank der treffenden Charakterzeichnung der
handelnden Personen.
Kanteietar und Auf die Veröffentlichung des Kalevala folgte unter dem Namen
andere Volks-
poesie. „Kanteletar" (1840) eine Sammlung von lyrischen Liedern und nicht für
das Epos verwerteten Balladen, die Lönnrot in derselben Weise durch Ver-
schmelzung der einzelnen Varianten, allerdings nur zu kleinen Einheiten,
redigiert hatte. Ferner ließ er Sammlungen von Sprichwörtern, Rätseln
und schließlich an seinem Lebensabend {1880) eine Sammlung von Zauber-
liedern erscheinen. Das Kalevala und diese anderen Veröffentlichungen
Lönnrots wurden die Ecksteine der finnischen Literatur, die von früher
her nichts hiermit Vergleichbares aufzuweisen hatte.
Die neue natio- Die Erschließung der finnischen Geisteswelt im Kalevala und der
übrigen finnischen Volkspoesie gab den Anstoß zu einer neuen kräftigen
nationalen und vaterländischen Erweckung, zu einer Erweckung, die dies-
mal einen großen Teil der gebildeten Stände des Landes mit sich fortriß.
Das finnische Vaterlandsgefühl und das Gefühl der Zusammengehörigkeit
des finnischen Volkes fand damals an erster Stelle einen Ausdruck in der
schwedischen Literatur des Landes; sprachen doch die gebildeten Stände
der Zeit alle schwedisch. Joh. Ludv. Runebergs klassisch-harmonische
Züge tragende, aber der finnischen Muse verwandte schwedischsprachige
Dichtung entzündete in den Gebildeten des Landes Vaterlandsliebe und
Nationalgefühl. Der Hegeische Philosoph Johan Vilh. Snellman rief
durch seine vielseitige, auch schwedisch geübte schriftstellerische Tätigkeit
mit überzeugender Kraft das Interesse an sozialen und politischen Fragen in
Finnland wach; besonders gewann er einen großen Teil des gebildeten
Publikums für den Gedanken, daß es eine Lebensbedingung für das finnische
Volk sei, das Finnische zur Sprache der Bildung zu machen und das Volk
zu nationalem Bewußtsein zu erwecken.
Natürlich mußte diese Erweckung auch auf die finnische Literatur
zurückwirken, in der Versuche in verschiedenen Richtungen unternommen
wurden. Diese Versuche vermochte sogar das Zensurverbot einer licht-
scheuen und reaktionären Regierung von 1850 nicht zu unterdrücken,
welches nur religiöse und landwirtschaftliche Schriften auf Finnisch zu
drucken erlaubte, obgleich es, so unnatürlich wie es war, nicht aufrecht
erhalten werden konnte. Weitere Schöpfungen von höherem Wert ent-
standen jedoch neben den erwähnten Werken der Volkspoesie noch nicht.
Als das Hauptergebnis der Tätigkeit dieser Zeit können wir nur die Be-
VI. Die Neuzeit (I^6o bis zur Gegenwart). 523
festigung der finnischen Schriftsprache betrachten in der Weise, daß ihr
traditionelles westfinnisches Äußere beibehalten wurde, daß sie aber eine
starke Bereicherung' durch ostfinnisches Material erfuhr — an erster Stelle
verdanken wir Lünnrot die Erzielung- dieses günstigen Resultates.
VI. Die Neuzeit (1860 bis zur Gegenwart). Die Neuzeit, die Zeit der
eigentlichen Kunstpoesie in der finnischen Literatur, beginnt erst mit dem
Auftreten von A. Oksanen und Aleksis Kivi, deren größere Werke in den
sechziger Jahren erschienen. Zu gleicher Zeit kam die nationale Be-
wegung immer mehr in Aufschwung, welcher Umstand auch der Literatur
sein Gepräge aufdrückte; als der energischste Vorkämpfer der nationalen
Sache war der Historiker und Staatsmann Yrjö Koskinen tätig, der Be-
gründer der historischen Literatur in finnischer Sprache und einer natio-
nalen Auffassung der einheimischen Geschichte.
Oksanen — ein Pseudonym, dessen Träger ein Wissenschaftsmann, oksan
der Professor der finnischen Sprache und Literatur August Ahlqvist (1826
bis i88g), war — ist der erste finnische Kunstdichter in der eigentlichen
Bedeutung des Wortes. Er ist nicht sehr produktiv gewesen — die lyri-
schen Gedichte, die seine strenge Selbstkritik der Überlieferung wert er-
achtet hat, umfassen eine einzige Sammlung, den Band „Säkeniä" (Funken).
Aber seine Dichtung, die in der Klarzügigkeit der Form und der Innigkeit
des Gefühls einerseits mit der Poesie Runebergs, anderseits mit der des
Kalevala verwandt ist, ist echte Lyrik, die die Empfindungen und Kämpfe
eines starken Herzens widerspiegelt: seinen bebenden Schmerz über die
niedrige Stellung des finnischen Volkstums, seine jubelnde Zuversicht auf
den Sieg der guten Mächte des Rechts und der Kultur, den quälenden
Zweifel in der beengten Brust, ja bisweilen die Liebesglut und den wilden
Taumel des Genusses. Und besonders in formeller Hinsicht ist seine un-
gezierte und zugleich kraftvolle Poesie geradezu epochemachend in der
finnischen Literatur geworden. Während Oksanens eigener Schaffenszeit
erhob sich neben ihm als lyrischer Dichter nur Suonio — eigentlich Suonio
Julius Krohn (1835 — 1888) — seiner Dichternatur nach ebenso zart und
feinfühlig als Oksanen männlich und kernig, seiner allgemeinen Richtung
nach mehr europäisch und allgemeinmenschlich, obwohl zugleich vom
finnischen Nationalgeist angeregt. Beide haben sie auch sowohl in künstle-
rischer als in wissenschaftlicher Produktion der finnischen Prosa gedient.
Die bisher originellste Gestalt der finnischen Literatur ist jedoch Kivi.
Aleksis Kivi (1834 — 1872), wie Lönnrot der Sohn eines Dorfschneiders,
der den Typus des tawastländischen Stammes in die Literatur eingeführt
hat wie Lönnrot den karelischen. Mit der Bibel und dem Kalevala als
Ausgangspunkten in der eigenen Literatur, mit Homer, Cervantes und
Shakespeare als Lehrmeistern in der Weltliteratur, mit dem tawastländi-
schen, in seiner Jugend noch recht primitiven Volksleben als unversieg-
licher Quelle machte sich Aleksis Kivi daran, ein Drama in finnischer
324
Emil Setälä: Die finnische Literatur.
Sprache zu schaffen, bevor es noch eine finnische Bühne gab. Das Kale-
vala schenkte ihm den Vorwurf zu seinem ersten Schauspiel, zu der
finsteren Hamletgestalt des Kalevala, „KuUervo"; aus der Bibel und dem
daran geknüpften Glauben seiner Kindheit erwuchs das von religiöser Be-
geisterung verklärte Bild der „Lea", das er in einem mit orientalischer
Stimmung gesättigten, herrlichen dramatischen Gedicht zeichnete. Aber
in seiner wirklichen Größe tritt uns Kivi erst als Schilderer des tawast-
ländischen Volkslebens in der unvergleichlichen Volkskomödie „Nummi-
suutarit" (Die Schneider der Heide) und in dem umfangreichen Roman
aus dem Volksleben „Seitsemän veljestä" (Die sieben Brüder) entgegen.
Wie uns Lönnrot als der letzte Volkssänger ein karelisches Volksepos
gegeben, so hat Kivi in seinen „Sieben Brüdern" sozusagen ein tawast-
ländisches Volksepos geschaffen, ohne wie Lönnrot über fertige Arbeit
des Volkes zu verfügen und dessen Komposition benutzen zu können; aber
er nahm alles aus dem Volke selbst, er fühlte alles mit dem Herzen des
Mannes aus dem Volke und sah es mit dem Auge des Mannes aus dem
Volke, sich von dem zu schildernden nur darin unterscheidend, daß er das
Leben, das ihn umgab, anschaulich zu machen verstand; gerade hierin ist
Aleksis Kivi unter den Schilderern des Volkslebens vielleicht einzig
in seiner Art in der Weltliteratur. Allerdings ist die Komposition
nicht tadellos, zahlreiche Episoden werden mit epischer Breite aus-
geführt, aber trotzdem verliert die Handlung nie ihr Hauptziel aus dem
Auge, und hin und wieder entfaltet sie einen wahrhaft dramatischen
Schwung — der größte Teil des Romans ist denn auch in der Form des
Dialogs abgefaßt. In der Kunst der Charakterisierung einer der ersten
Psychologen, in seinem manchmal zügellos burlesken Humor unübertroffen
dastehend, hat er das Leben mit unbestechlichem Realismus gezeichnet,
unbedenklich mit allen Kraftmitteln der tawastländischen Volkssprache
schaltend und waltend; zugleich aber schimmert durch alles der idealistische
Glaube an den Sieg der Kultur über die rohe Kraft der Natur wie des
Menschen, und die Sprache erhebt sich mit ihren stilistischen Mitteln, den
homerischen Vergleichen und Epitheten, wie mit ihren Klangmitteln, der
Alliteration und der aus der Bibel bekannten von dem Gewöhnlichen ab-
weichenden Wortstellung zu hochpathetischer Wirkung.
Die Kritik der Zeit zollte Kivi nicht die verdiente Anerkennung,
und die Nacht des Wahnsinns umschattete seinen Geist, bevor er zur
vollen Entwicklung gelangt war; in der Folgezeit aber ist Aleksis Kivi —
zusammen mit dem Kalevala — der Ausgangspunkt für alle finnischen
Prosaisten geworden.
Volks- Die literarische Wirkung, die von Aleksis Kivi ausging', regte Männer
zu schriftstellerischer Tätigkeit an, die selbst den breiteren Schichten des
Volkes angehören. Ähnlich wie die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts
mehrere Bauerndichter hervorbrachte, so traten in der zweiten Hälfte
verschiedene Männer aus dem Volke hervor, die sich der Form der Prosa-
VI. Die Neuzeit (1860 bis zur Gegenwart). 325
erzählung- bedienen. Die Produktion dieser Volksschriftsteller — speziell
der finnischen Literatur eigentümlich — nähert sich in der Lebenstreue
der eigentlichen Volkspoesie, wenn sie auch nicht deren Naturfrische
besitzt, läßt aber zugleich, besonders in Stil und Komposition, Einflüsse
von Seiten der bewußten Kunstdichtung erkennen. In dieser literarischen
Form begegnen uns mehrfach mit wirksamem Realismus und psycho-
logischer Wahrheit gezeichnete Bilder aus der Welt des Volkes, wiewohl
der Sinn für Komposition gewöhnlich zu wenig entwickelt ist, als daß
der Erzähler Längen und Schwächen des Aufbaus zu beseitigen vermocht
hätte. Am bekanntesten ist von diesen Schriftstellern der Landküster
Pietari Päivärinta (geb. 1827), der bereits in vorgerücktem Alter wäh-
rend einer Krankheit darauf verfiel, seine eigene anspruchslose Lebens-
geschichte zu erzählen, was er mit einer epischen Objektivität und einer
herzerquickenden Offenheit tat, die an Groldsmiths Landpfarrer von Wake-
field erinnert. Er hat in zahlreichen Erzählungen auf eine in ihrer Schlicht-
heit tief ergreifende Weise das Volksleben mit seinen Kämpfen gegen
Mangel und sittlich schädigende Kräfte geschildert. Unter seinen vielen
Nachfolgern finden wir auch solche, die es mit außerordentlichem psycho-
logischen Scharfblick und tüchtiger Gestaltungskraft verstanden haben, uns
in das Seelenleben des Volkes einzuführen (so vor allem Kauppis-Heikki).
Die Anfänge der wirklich mit den europäischen literarischen Be- Dje GeneraHon
*-> ^ _^ der achtziger
strebungen der ausgeprägt modernen Gegenwart in lebendiger Berührung Jahre,
stehenden finnischen Literatur fallen erst in die achtziger Jahre. Das
Dichtergeschlecht, welches sich damals regte und großenteils unter sich
in enger Wechselwirkung stand, war gleichfalls bei dem Volke selbst in
die Schule gegangen, mit dem seine Vertreter meistens enge Fühlung
hatten, und aus dessen Leben die meisten die Stoffe zu ihren ersten Her-
vorbringungen entnommen haben. Das Beispiel Kivis und der Volks-
schriftsteller hatte den Blick für die tief menschliche Seite des umgeben-
den Lebens geschärft und führte dadurch von selbst zum Realismus. Aber
hierzu kamen die starken Einflüsse des Auslands, zunächst seitens der
skandinavischen, aber auch der französischen, russischen usw. Literatur,
Die damalige realistische Richtung der ausländischen Literatur fand an-
fangs einen außerordentlich kräftigen Widerhall — Hand in Hand mit dem
einheimischen Realismus — , um aber bald anderen Strömungen Platz zu
machen. Der gegenseitige Zusammenhang, den wir einigermaßen bei der
erstmals bewußt nach der befruchtenden Berührung mit Europa strebenden
Generation der achtziger Jahre beobachten können, ist bei der nachfolgen-
den Generation, die gleichsam noch vorwärts tastet, ohne sich selbst zu
finden, nicht zu erkennen.
Auf dem Gebiet der erzählenden Dichtung ist der hervorragendste Erzählende
° ° Dichtung.
Repräsentant des Geschlechts der achtziger Jahre und der ganzen neueren juhani Aho.
Zeit Juhani Aho (geb. 1861). Von seinen Vorgängern hatte er den treff-
sicheren Realismus geerbt, sein Humor und seine epische Breite waren
'2 2 0 Emil Setälä: Die finnische Literatur.
dem Volkscharakter eigene Züge, zugleich aber hatte er starke Eindrücke
von der damaligen europäischen Literatur empfangen. Von der Schilde-
rung des Volkslebens ausgehend hat er nach und nach alle Volksschichten
des Landes in den Kreis seiner Darstellung gezogen. Seine Stoffe hat
er mit besonderer Vorliebe solchen Übergangszeiten entnommen, wo die
neue Kultur und Bildung und die ältere Zeit mit ihren Gewohnheiten
aufeinander stoßen. Außer in den ausgezeichneten kleinen Gemälden ge-
schieht dies in den umfangreichen Romanen, in denen der Kampf zwi-
schen dem Christentum und dem Heidentum in Finnland oder das Ein-
dringen der religiösen und nationalen Erweckung ins Volk dargestellt ist.
Im Roman großen Stils beherrscht er jedoch den Stoff, den er zu sehr
häuft, nicht genug, seine Hauptstärke liegt in der Stimmungsmalerei, und
am abgeklärtesten erscheint seine Kunst im Rahmen des „Spanes"
(„Lastuja"), des kurzen Stimmungsgedichts in Prosa oder des Kulturbilds.
Besonders Hervorragendes hat Juhani Aho in der Naturschilderung ge-
leistet; keiner hat wie er mit den Mitteln der Sprache die träumerische
Schönheit der finnischen Seenlandschaft und den wundermilden Reiz der
hellen Sommernacht wiederzugeben verstanden. Mit sein größtes Verdienst
ist die Erhebung des finnischen Stils auf die Stufe der höchsten künstle-
rischen Vollendung: breit, geschmeidig und klar schmiegt er sich mit
sprachlichem Wohlklang den feinsten Nüanzen der herrschenden Stim-
mung an; sein Stil hat denn auch erzieherisch auf den modernen finnischen
Sprachgebrauch überhaupt eingewirkt.
Mit Juhani Aho in seinem dichterischen Temperament verwandt ist
Santeri Ingman, dem in mehreren kleinen Erzählungen, besonders den
humoristischen, manches gelungen ist, was als Sittenschilderung und tref-
fende feine psychologische Beobachtung bleibenden Wert besitzt, dessen
Hauptverdienst es aber ist, den finnischen historischen Roman angebahnt
zu haben. Er hat nämlich in ein paar umfangreichen Romanbänden die
finnischen Verhältnisse des i6. Jahrhunderts zu schildern unternommen und
dies auf eine fesselnde und spannende wie auch — trotz der Blässe und
der mangelnden Sorgfalt des Stils — künstlerische Weise, besonders in
der Situationsschilderung, getan.
Den Gegensatz zu Juhani Ahos tendenz- und philosophieloser Erzäh-
lung bildet Arvid Järnefelts literarische Produktion. Jämefelt begann mit
einer fesselnden Kulturschilderung der Bestrebungen und Ideale der Jugend
während der achtziger Jahre, wandte sich aber danach einer schriftstelle-
rischen Tätigkeit zu, die sich gegen die traditionellen Anschauungen rich-
tete, sie angriff und auch verletzte, und bietet statt dessen die Ideale
und die Askese der Tolstoischen Weltanschauung und die nachdrückliche
Aufforderung zur Werktätigkeit zugunsten der weniger glücklich Ge-
stellten. Mit jedem Werk ist Arvid Järnefelt immer mehr von der Manier
des predigenden Tendenzschriftstellers zurückgekommen, die seine ersten
Werke dieser Richtung beeinträchtigte, und hat sich immer mehr zu
VI. Die Neuzeit (1860 bis zur Gegenwart). ^27
einem Schriftsteller emporgearbeitet, der seine Ideen mit künstlerischen
Mitteln ausdrückt, so daß er heute unbedingt in die Front der Vertreter
der finnischen Literatur zu stellen ist.
Juhani Ahos breiter und klarer Stil hat viele Nachahmer gefunden, Pakkaia.
doch haben sich auch gegenteilige Bestrebungen geltend gemacht. Juhani
Ahos weit weniger produktiver Altersgenosse Teuvo Pakkala hat be-
sonders in seinem letzten Werk, der psychologischen Schilderung eines
jungen Weibes, äußerste Gedrungenheit des Ausdrucks angestrebt, die
sich unter Beiseitelassung der Schilderung des Milieus allein auf die dar-
zustellenden Personen beschränkt und dabei deren Seelenleben aus den
Situationen oder den Stimmungen und Äußerungen der einzelnen Figuren
hervorleuchten zu lassen versucht. Sein Bestes hat Teuvo Pakkala in
Schilderungen des Lebens des Kleinstadtproletariats und besonders der
Psychologie der Kinder gegeben.
Über die Erzähler der jüngeren Generation, unter denen sich auch Erzähler der
mehrere weibliche hervorgetan haben, läßt sich zurzeit noch nichts Ab- Generation.
schließendes sagen. Wir finden in ihren Produkten viel frisches Streben;
wir sehen sie bemüht, bald eine minutiöse Analyse der Menschenseele zu
geben, bald die wechselnden Folgen der Stimmungen festzuhalten, bald
das Geschaute zu einem sozialen Roman zu gestalten, bald wiederum mit
jugendlichem Trotz die Erhebung des Individuums gegen die allgemeinen
sozialen Ideen zu schildern. Wir nennen von den Vertretern der jungen
Generation zuerst Volter Kilpi, den Dichter der subjektiven Empfindung,
der in seinen Gedichten in Prosa Bathseba, Parsifal und Antinous, mehr
Reflexionslyriker als Erzähler, Gemälde voll farbiger Glut geschaffen hat;
seine lyrisch schwungvolle Sprache und sein Stil zeigen neben teilweiser
Unbeholfenheit ein bemerkenswertes Gepräge der Originalität, versteigen
sich aber leicht zur Manieriertheit. Von den Schriftstellerinnen erwähnen
wir Maila Talvio, deren kräftiges Temperament sich immer mehr dem
Gebiet der sozialen Bestrebungen zugewendet hat, ohne daß sie jedoch
in ihren Romanen zu künstlerischer Reife gelangt wäre. Und wir er-
wähnen schließlich den Decknamen Johannes Linnankoski, der mit einem
recht aufsehenerregenden Reflexionsdrama debütierte, sich aber mit seinem
letzten Buch, dem „Lied von der feuerroten Blume", d. h. einem hohen
Lied der Liebe, um Haupteslänge über die anderen erhoben hat. Das
Buch schildert in romantischem Licht mit feiner Poesie die Liebe eines
Mannes aus dem Volke, eines finnischen Don Juan zum Weibe, eine Liebe,
die sich intensiv von einem Gegenstand auf den anderen überträgt, bis
schließlich ein echtes tiefes und beständiges Gefühl den Helden ganz .
überwältigt. Obwohl eingewandt werden kann, daß die einzelnen Bilder
sich fast mit zu gleichartigen Typen aneinander reihen und daß der Ge-
schmack des Verfassers nicht immer sicher in seiner Wahl ist, besitzt
dieses Buch doch Verdienste, die es hoch stellen: es verrät mehr Tem-
perament, als wir bei irgendeinem anderen finnischen Schriftsteller finden,
328
Emil Setalä: Die finnische Literatur.
und es zeigt eine Frische und einen Schwung in den Schilderungen und
in der Darstellung, der den Leser mit Zauberkraft packt.
Das Drama Das Drama ist in der finnischen Literatur viel spärlicher vertreten
als die erzählende Dichtung. Sein hervorragendster Bannerträger war
Minna Canth. Frau Minna Canth (1844 — 1897), die gleichfalls der Dichtergeneration der
achtziger Jahre angehört, und zwar als einer der einflußreichsten Geister,
ja teilweise als der Mittelpunkt derselben. Auch sie begann als Künderin
des Volkslebens mit zwei Volksdramen, in denen Kivis Vorgang zu ver-
spüren war, und die mit ihrem lebendigen Witz und ihren vortrefflichen
Typen von großer dramatischer Begabung zeugen. Später trat sie in
ihren Werken als Anwalt des Arbeitervolks, der Armen und besonders
der Frau auf, indem sie mit greller Farbengebung soziale Mißstände ent-
hüllte; dieselben Ideen verfocht sie auch in Novellenform. In ihren letzten
Schöpfungen wiederum spiegeln sich die neuen Richtungen, die in der
europäischen Literatur zur Herrschaft gelangt waren, die romantische
Gegenströmung des Realismus sowie die Tolstoische Weltanschauung-.
Im größten und wichtigsten Teil ihrer Werke war Minna Canth Tendenz-
schriftstellerin, und mit dieser Tatsache hängen die künstlerischen Mängel
zusammen, die ihrem Schaffen anhaften, aber auch die Kraft, mit der sie
auf ihre Zeitgenossen wirkte. Ihre Tendenz war aber nicht von der Art,
daß ihre Gestalten abstrakte Schemen gewesen wären, sie hat wirkliche
Menschen gestaltet, die, wiewohl die Schilderung mitunter an Einseitig-
keiten litt, stets lebten und fühlten.
Die finnische Bühne, die, von früheren gelegentlichen Aufführungen
abgesehen, seit 1872 besteht — heute unter deai Namen Finnisches National-
theater bekannt — , hat unter ihrem talentvollen und energischen Begründer
und Leiter Kaarlo Bergbom (gest. 1906) neben dem klassischen Repertoire,
den Dramen von Shakespeare, Moliere, Ibsen und der Moderne die Belebung
des originalfinnischen Dramas als ihr Spezialgebiet betrachtet. Für diese
Bühne sind eine Menge einheimische Originalwerke entstanden; die einen
haben nur ein kurzes Leben gehabt, andere haben sich einen dauernden
Platz im Spielplan errungen. Mehrere der früher erwähnten Schriftsteller,
Arvid Järnefelt, Teuvo Pakkala, Santeri Ingman, sogar auch Juhani Aho
— als Dramatisator eines seiner Romane — , so auch die später als Ly-
riker zu nennenden Gebrüder Leino, haben sich auch im Bühnenstück
versucht. Doch hat es keiner der Bühnenschriftsteller zu der drama-
tischen Kraft Aleksis Kivis und Minna Canths gebracht, will man hier nicht
Gustaf von Numers mitrechnen, der als Dramatiker eine etwas eigen-
tümliche Stellung einnimmt: er hat seine phantasievollen und leben-
sprühenden Dramen — unter denen ein Trauerspiel mit der obengenannten
Volksballade „Elinas Tod" als Thema hervorragt — schwedisch geschrieben,
aber unter den Auspizien der finnischen Bühne aufführen lassen.
Einige neuere finnische Bühnendichtungen sind eher lyrische als drama-
tische Schöpfungen oder eher Buch- als Bühnendramen. So sind Juho
VI. Die Neuzeit (1860 bis zur Gegenwart). ^2g
Heikki Erkkos dramatische Dichtungen nach Motiven aus der Bibel und
dem Kalevala reich an hoch stimmungsvollen lyrischen Partien und an
Reflexionslyrik, zugleich aber ist ihre dramatische Handlung von geringer
Bedeutung. Von seinen lyrischen Dramen überragt „Aino", deren Motiv
das tragische Schicksal der gleichnamigen jungfräulichen Gestalt des Kale-
vala bildet, mit seiner feinen Poesie und seiner vollendeten Diktion vieles,
was die finnische Literatur hervorgebracht hat. Erkkos dramatische
Dichtungen haben trotz ihres lyrischen Tones auch von der Bühne aus
zu fesseln vermocht; dagegen ist es nicht gelungen, Johannes Linnankoskis
Erstlingswerk „Der ewige Kampf" auf die Bühne zu bringen, ein Ge-
dankendrama, das an Byrons „Kain" und an die „Tragödie des Menschen"
des Ungarn Madäch erinnert und in dem der Verfasser im Schicksale
Kains das Ringen des Menschen nach Fortschritt und Harmonie, die er
durch den Sieg" über sich selbst gewinnt, schildert.
Einen breiten Raum nimmt in der dichterischen Produktion der neu- Die Lyrik.
sten Zeit die Lyrik ein, in der bei uns wie anderswo jene allgemeinen
Motive: die wechselnden Empfindungen des Menschenherzens, Heimat und
Vaterland, der Sieg der nationalen Sache und der große Schmerz des
Vaterlands beim Hereinbrechen der äußeren Not ihren Ausdruck finden.
Neben leerer Gefühlsaufwallung und Produkten von geringerem Wert hat
diese poetische Gattung auch literarisch wirklich Vollwertiges gezeitigt.
Nur einige hervorstechende Persönlichkeiten seien genannt.
Paavo Cajander (geb. 1846), der Shakespeare-Übersetzer, dessen cajander.
Übertragungen sich mit den besten Übersetzungen der Werke des großen
Briten messen können, hat auch eigene formell vollendete, ihrem Inhalt
nach plastisch großzügige Gedichte gedichtet. Wir finden darunter Bal-
laden im Geiste Schillers und Uhlands, Dichtungen, die von hohem vater-
ländischem Pathos oder auch von tiefer und inniger Stimmung getragen
sind; seine Leier ist nicht tönereich, aber von tiefem Klang. Er wie auch
Kaarlo Kramsu (1855 — 1895), ein früh dahingegangener Dichter, der be- Kramsu.
sonders wegen seiner auch formell hervorragenden Balladen nach Themen
aus der finnischen Geschichte Erwähnung verdient, gehören zunächst der
Zeit und Richtung an, die von Oksanen und Suonio ihren Ausgang nehmen.
Ein Sohn dieser Zeit war auch J. H. Erkko (1849 — 1906), ein außerordentlich Erkko.
begabter Lyriker, dessen beste Gedichte einen ähnlich naturfrischen und
feinen poetischen Duft ausströmen wie die Blüten der Volksdichtung, zu-
gleich aber von einer anmutigen persönlichen Kunst zeugen. Am ech-
testen zeigt sich seine Poesie in seinen frühesten Werken, Hirtenliedern,
die mit ihrem echten Gefühl und ihrer feinen Ausdrucksform einen hohen
Rang in der dichterischen Skala einnehmen. In seinen späteren Liedern
waltet je länger je mehr die Reflexionspoesie ob, der auch seine oben-
erwähnten Dramen am besten zuzuzählen sind.
In Erkkos Gedichten konnte man noch manchmal herausfühlen, wie Die jüngeren
„ . .. Lyriker.
die Form mit dem Inhalt rang. Was die jüngste Generation von der äl-
330
Emil Setälä: Die finnische Literatur.
teren unterscheidet, ist die große formelle Meisterschaft, die die Form-
gebung gleichsam spielend beherrscht. Zu dieser sprachlichen Meister-
schaft hat mit seiner wohlklingenden und farbenreichen, obwohl etwas
flachen Lyrik Kasimir Leino, ein Glied der Schriftstellergeneration der
achtziger Jahre, den Weg gebahnt. Als ihr eigentlicher Vollender aber
ist der jüngere Bruder des Genannten, Eino Leino, zu betrachten. Mit
sehr jungen Jahren hat dieser begonnen, außerordentlich fruchtbar ist er
gewesen, mag auch unter seinen Schöpfungen manches sein, dem kein
langes Leben beschieden ist. Aber schon in seinen ersten Liedern hatte
er mit einer Sprache, der alle Töne zu Gebote stehen, eine echte lyrische
Inspiration offenbart, die den Leser berauscht und mit sich fortreißt, und
die Zahl der wirklichen Kunstwerke seiner Lyrik hat sich in dem Grade
gemehrt, wie der Dichter fortgeschritten ist. Am allerhöchsten hat sich
Eino Leinos Kunst erhoben in den „Helkaliedern", einer Sammlung von
Balladen, die aus derselben Stimmung geboren sind wie die Volks-
balladen des Mittelalters. Sie bieten metrisch dieselbe Stilform, die das
alte Volkslied verwendet, und sie haben sich die Errungenschaften nutzbar
gemacht, die die im Laufe der langen Zeit weiter ausgebildete Sprache
des Volksliedes gezeitigt hat, aber zugleich erscheinen Komposition und
Stil durch die Mittel einer bewußten Kunst verklärt.
Von den übrigen jungen I^yrikeni — unter ihnen sind auch mehrere,
die poetisch Wertvolles geschaffen haben — nenne ich schließlich nur
noch O. Manninen, der eine kleine, aber für die finnische Literatur hoch
bedeutende Sammlung überaus kunstvoller Gedichte veröffentlicht hat und
der außerdem als Moliere-, Heine- und Runeberg-Ubersetzer aufgetreten
ist — oder sagen wir lieber, deren Werke mit einer Fertigkeit und Vir-
tuosität finnisch umgedichtet hat, die in unserer I^iteratur nicht ihres-
gleichen hat.
'• In Übersetzungen hat sich die finnische Literatur auch das Beste zu
eigen zu machen versucht, was die Weltliteratur zu bieten hat; vieles
fehlt natürlich noch, aber viel ist auch schon getan.
Auch auf den verschiedenen Gebieten der Wissenschaft ist die fin-
nische Sprache angewandt worden; obwohl mehrere dieser Gebiete, die der
Geschichte, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Philosophie usw., aller-
dings der Nationalliteratur zuzurechnen sind, lassen wir sie hier beiseite.
Zeitschriften für allgemeine Bildung: Literatur, Wissenschaft, Kunst, soziale
und politische Angelegenheiten existieren, im Anschluß an vereinzelte
frühere Unternehmen, dauernd seit 1866; in den letzten Zeiten sind immer
mehr SpezialZeitschriften für wissenschaftliche und soziale Sonderinteressen
ins Leben getreten.
Durch die Kulturarbeit, die auf den verschiedenen Gebieten geleistet
worden ist, hat sich die finnische Sprache zu einer allseitigen Kultur-
sprache ausgebildet — dies ist eine der wichtigsten Errungenschaften der
VI. Die Neuzeit (1860 bis zur Gegenwart). 571
bisherigen Tätigkeit. Die Arbeit, der in der Entwicklung anderer Völker
eine lange Zeit hat gewidmet werden können, mußte schnell, eigentlich
im Verlauf einiger weniger Jahrzehnte getan werden. Brachte doch die
finnische Literatur in literarisch fixierter Form erst im Kalevala die erste
bemerkenswerte originale Schöpfung hervor, und danach hat innerhalb
siebzig Jahren die Entwicklung vom Stadium der Folklore, vom Volksepos
zu einer zum Niveau der modernen Richtungen des heutigen Europa em-
porstrebenden Literatur vollzogen werden müssen. Diese Entwicklungs-
arbeit ist ermöglicht worden durch die Kultur der Sprache und Dichtung,
an der das Volk selbst seit unvordenklichen Zeiten in seiner Poesie ge-
schaffen hat. Es offenbart sich darin denn auch der der finnischen Literatur
ureigene Zug, daß sich zu allen Zeiten Leute aus den tiefsten Schichten
des Volkes mit in literarischem Schaffen betätigt haben, imd das Beste,
was Finnland bisher in der Literatur hervorgebracht hat, ist aus dem
Schöße des Volkes selbst hervorgegangen. Die finnische I^iteratur ist in
der wirklichen Bedeutung des Wortes eine demokratische Literatur. Der
Mangel einer Aristokratie finnischer Sprache verhinderte in früherer Zeit
die Entstehung einer schriftlich überkommenen Literatur; die einzigen
Aristokraten waren im Volke diejenigen, die, obwohl an Bildung ihrer
Umgebung gleichstehend, den Kuß der Muse empfangen hatten, die die
Gabe besaßen, auszudrücken und anschaulich zu machen, was in den an-
deren lebte. Auch ohne Schrifttum behauptete sich diese Dichtung, die
Sprache ausbauend und den poetischen Sinn des Volkes ausbildend, und
sie hat auch das Auftreten der Bauerndichter der neueren Zeit und der
anderen Volksschriftsteller ermöglicht. Die Zeit der Volksdichter und
Volksschriftsteller scheint dahingeschwunden zu sein. Es ist die Zeit ge-
kommen, wo die „chinesische Mauer" gegen Europa bis auf den Grund
fallen muß, wo man erwarten darf, daß die tief im Linern des Volkes
schlummernde dichterische Kraft mit den bewußten Mitteln der Kunst
ihren Ausdruck finden wird.
Literatur.
Die wichtigste Arbeit über die finnische Literaturgeschichte liefert J. Krohn in seinem
Werk „Suomalaisen kirjallisuuden vaiheet" (= Die Schicksale der finnischen Literatur, 1877).
Eine kurzgefaßte Übersicht über dieselbe gibt B. F. GoDENHJELM, Oppikirja suomalaisen
kirjallisuuden historiassa'' (1904), englisch von E. D. BUTLER unter dem Titel „Handbook of
the history of Finnish Literature" (London, 1896). Eine deutsche Übersicht finden wir in
Ernst Brausewetters „Finnland im Bilde seiner Bildung und seiner Dichter" (1899).
Grundlegend für die Volkspoesie, aber etwas veraltet, ist J. Krohn, Suomalaisen kirjalli-
suuden historia. I. Kalevala (= Finnische Literaturgeschichte, l. Kalevala, 1885; auch eine
schwedische Übersetzung existiert). Auf der Höhe der Forschung stehen J. Krohn, Kan-
telettaren tutkimuksia (= Kanteletar-Forschungen), hrsg. von K. Krohn(I90o) und K. KROHN,
Kalevala-runojen historia (Geschichte der Kalevala-Runen) I — IV (1903—6).
Einige speziellere Hinweise mögen hier hinzugefügt werden.
S. 309. Über die finnisch- baltischen Berührungen siehe Thomsen, Beröringer mellem
de finske og de baltiske Sprog (1890), über die finnisch-germanischen Beziehungen Thomsen,
Einfluß der germanischen Sprachen auf die finnisch-lappischen (1870) und SetäLÄ, Zur Her-
kunft und Chronologie der älteren germanischen Lehnwörter in den ostseefinnischen
Sprachen (1906).
S. 313. Über die Zauberlieder siehe K. Krohn, Wo und wann entstanden die finni-
schen Zauberlieder (Finnisch-ugrische F'orschungen, Zeitschr. hrsg. von Set,\lä und K. Krohn,
I-II).
S. 321. Siehe J. Krohn, Die Kalevala vom ästhetischen Standpunkt betrachtet; D. COM-
p.\retti, II Kalevala (1891), deutsch: Der Kalevala (1892); K. Krohn, Zur Kalevalafrage
(Finnisch-ugrische Forschungen, L Anz. S. 185) und die daselbst zitierte Literatur.
S. 330. Von literarischen Zeitschriften sind zu erwähnen: Kirj allinen kuukauslehti
(= Literarisches Monatsblatt) (1866— 1880) und Valvoja (= Der Wächter) (1881 bis zur
Gegenwart), in welchen das Wertvollste der finnischen Literatur angezeigt worden ist.
Von den Kalevala- Übersetzungen seien die deutschen von SCHIEFNER (1852) und
H. Paul (1885 — 6) erwähnt; der letztgenannte hat auch die Kanteletar (1882) ins Deutsche
übertragen. Sonst existieren deutsche Übersetzungen einiger Werke von PäivaRINTA, Ju-
HANi Aho (Novellen, EUis Ehe, Panu u. a.) und Arvid Järnefelt ; auch liegt eine bisher un
gedruckte deutsche Übersetzung von Aleksis Kivis ,, Sieben Brüdern" von Dr. G. Schmidt vor.
DIE ESTNISCHE LITERATUR.
Von
Gustav Suits.
Einleitung. Dem deutschen Publikum gegenüber dürfte die est-
nische Literatur schon wegen ihres durch direkte und nachhaltige deutsche
Einwirkungen bedingten historischen Werdeganges ein gewisses Inter-
esse beanspruchen, um so mehr zu einer Zeit, wo die „Nationalitäten-
frage" in den Ostseeprovinzen Rußlands politische und kulturelle Bedeu-
tung gewonnen hat: wo es sich um eine mit Unerbittlichkeit sich voll-
ziehende Umgestaltung der Machtverhältnisse zwischen dem dortigen bal-
tisch-deutschen Element und der indigenen Bevölkerung, d. h. den Esten
und Letten handelt. Lidessen ist man über die Verhältnisse dieser empor-
kommenden Völker im allgemeinen noch sehr wenig orientiert, und auch
das wenige, was von ihnen verlautet, zeigt sich nicht selten von manch irre-
führender Phantasterei umnebelt. So wird es denn wohl nicht überflüssig
sein, der Skizze der estnischen Literatur einige notwendigste Daten
über dieses Volk selbst und seine Geschichte vorauszuschicken.
Die Esten sind ein „westfinnisches" oder „ostseefinnisches" Volk, Abstammung
" ' und Sprache
dessen Sprache bei all ihren Variationen nur eine Mundart des jenseits Jer Esten,
des Meerbusens in Finnland gesprochenen Idioms darstellt : wenn der
Gang der Geschichte ein anderer gewesen wäre, so hätten Finnisch und
Estnisch vielleicht ebenso zu einer gemeinsamen Literatursprache ver-
schmolzen werden können wie die vielen deutschen Dialekte. Als Grund- Wohnsitz der
Esten.
und Urbevölkerung haben die Esten die ganze Provinz Estland inne,
ebenso bewohnen sie in zusammenhängenden Massen die ganze nördliche
Hälfte Livlands und die benachbarten Inseln. Eine west-östlich gerichtete
Linie von der südlichen Spitze des Peipussees bis an den Rigaschen
Meerbusen bezeichnet ungefähr die Sprachgrenze, auf welcher sie mit
den Letten zusammenstoßen. Außerhalb dieses Gebiets, des eigentlichen
Wohnsitzes der Esten, finden sich noch sporadische estnische Kolonien in
verschiedenen Gouvernements Rußlands. Die Gesamtzahl der Esten beläuft Gegenwärtige
Zahl der Esten.
sich gemäß der letzten Volkszählung vom Jahre 1897 auf 1002738 Indi-
viduen, welches einen beträchtlichen Zuwachs gegen frühere etwa 600 000
334
Gustav Sluts: Die estnische Literatur.
Baltisch-
deutsches
Element.
Politisch-soziale
Entwicklung.
Estnische
Volkspoesle
um die Mitte des ig. Jahrhunderts bedeutet. Nebst ursprünglichen Ein-
wohnern des Landes kommen in geringerer Anzahl Deutsche, Russen und
Schweden vor. Was die ersteren betrifft, so gibt es hier durchaus kein
deutsches Volk; nur der Adel, die Stammbürger der Städte und ein Teil
der Geistlichkeit sind deutsch, resp. deutschsprechend. Das Vorhanden-
sein deutschen Elementes in den Ostseeprovinzen sowie die überragende
Machtstellung desselben viele Jahrhunderte hindurch erklärt sich aus den
historischen Geschicken des Landes. An der Wende des u. Jahrhunderts
erschienen Kreuzfahrer aus Deutschland in Livland. Die Eingeborenen,
in jener Phase der politischen Entwicklung angegriffen, welche der
Bildung eines monarchischen Staatsorganismus vorausging, mußten der
überwiegenden Waffengewalt der Schwertritter erliegen und wurden von
diesen auf lange Zeiten in die härteste Sklaverei geschlagen. Erst nach
der Auflösung- des deutsch-livländischen Ritterstaates erhoben die fremden
Regierungen, denen das Land anheimfiel, ihre Stimmen zugunsten des
unterjochten Bauemvolkes. Die schwedische griff energischer durch als
die polnische, indem sie bestrebt war, auch in den Ostseeprovinzen eine
ähnliche Entwicklung anzubahnen wie in Finnland, wo die Eroberer das
unterworfene Volk ihrer eigenen Gesetze und Zivilisation teilhaft machten.
Allein die Kriege, in welche Karl XII. den ganzen Norden stürzte, ließen
jene Bestrebungen wieder ins Stocken geraten. Und Peter der Große,
der die Anhänglichkeit der neuerworbenen Provinzen für sich gewinnen
wollte, gestand dem Adel als damaligem politischen Machtfaktor derselben
alle seine früheren Privilegien zu. So kam im Beginn des 1 8. Jahrhunderts
alles wieder auf den alten Fuß. Erst gegen Ende des philosophischen
und revoltierenden Jahrhunderts wurde die Bauernfrage von neuem an-
geregt, allein die Schlichtung derselben zog sich noch in die Länge hin.
Es bedurfte kapitalistischer Umgestaltung der Produktionsverhältnisse wie
auch wiederholter Bauernaufstände, bis die Emanzipation im Verlauf des
19. Jahrhunderts endlich durchgeführt wurde, wonach eine natürlichere
Entwicklung ihren Anlauf nehmen konnte.
Es darf uns also nicht wundernehmen, wenn wir von einem Schritt-
tum bewußt estnischer Prägung, von einer estnischen Nationalliteratur, eigent-
lich nicht früher reden können als seit dem Mündigwerden des Estentums
im 19. Jahrhundert. Nichtsdestoweniger reichen die ältesten Denkmäler
der estnischen Sprache in ein ziemlich hohes Alter, bis in das 13. Jahr-
hundert hinauf. Freilich sind jene Sprachdokumente eher in philologischer
Hinsicht als für die Entwicklung der Literatur von Bedeutung. Wir haben
jedoch eine zu großem Reichtum angewachsene mittelalterliche dichterische
Produktion der Esten hervorzuheben: ihre traditionelle Volkspoesie, ihre
„ungeschriebenen Bücher".
Die Frage nach
der Entstehung
"^ voiks^es'ic!'" Esten an folkloristischen Schätzen aus grauer Vorzeit an ihren gegen-
I. Das katholische Zeitalter (13. bis 16. Jahrhundert). Was die
I. Das katholische Zeitalter (13. — 16. Jahrhundert). tt:
wärtigen Wohnort am Baltischen Meere mitgebracht haben, läßt sich mit
genügender Zuverlässigkeit nicht ermitteln. In den letztverflossenen Jahr-
zehnten hat sich immer schroffer die Ansicht erhoben, welche die Ent-
stehung der finnisch-estnischen — wie auch der germanisch-skandinavischen
— Sagen und Lieder in verhältnismäßig späte Zeit und oft unter christ-
lichen Einfluß zu rücken sich bestrebt hat. In der vorliegenden kleinen
Skizze kann hierauf nicht näher eingegangen werden; auf Grund der
neueren Forschung dürfen wir aber jedenfalls mit einer gewissen Sicher-
heit annehmen, daß die estnische Volksphantasie sich hauptsächlich wohl
erst im Zwielicht des Katholizismus und Heidentums produktiv entfaltet hat.
Mit ihrem prunkvollen Gottesdienst, lateinisch gemurmelten Gebet-
formeln, Legenden und Apokryphen war die katholische Kirche gewiß
g-eeignet, auf naive, unwissende Landeskinder Eindruck zu machen und
unter ihnen eine ganz eigenartige heidnische Reaktion hervorzurufen.
Was nun die religiösen Vorstellungen der Esten betrifft, so weichen Religiöse vor-
hierüber die Ansichten noch wesentlich voneinander ab. Während vor Esten,
einer noch nicht langen Zeit phantasievolle Schriftsteller uns über allerlei
„heidnische Herrlichkeiten" zu berichten wußten und in Bausch und Bogen
sogar behauptet wurde, die Esten seien bereits Monotheisten gewesen, ist
die heutige wissenschaftliche Forschung durch eine schärfere Prüfung
immer mehr und mehr zu der Einsicht gelangt, daß die altestnische Religion,
welcher ursprünglich der Totenkultus zugrunde gelegen haben wird, sich
nie zu jener Fülle und Mannigfaltigkeit von mythenbildender Konzeption
entwickelt hat, wie etwa die skandinavische oder auch die finnische Mytho-
logie. Als charakteristisch dürfte wohl auch die Tatsache bezeichnet Finnisch-
werden, daß fast sämtliche Zauberlieder der Esten ursprünglich in Finn- Beziehungen.
land entstanden und den Esten erst durch Entlehnungen zugekommen sind.
Dagegen entstammt aber der größere Teil der finnisch-estnischen epischen
Lieder dem estnischen Sprachgebiet und ist von dort aus durch münd-
liche Kommunikationen nach Finnland verbreitet worden, so daß den
Esten solchergestalt z. B. am StofFbestande des finnischen Kalevala ein
sehr beträchtlicher Anteil zufällt. Dieser auffallende Austausch herüber
und hinüber hat nicht nur dank der nahen geographischen Lage und Ver-
wandtschaft der Sprachen beider sich leicht vermittelt, sondern ist auch
durch die Gleichheit des althergebrachten, beiden gemeinsamen Vers-
maßes, dessen Grundlage die vierfüßige trochäische Zeile mit schwachem
Ausgange bildet, und andere Homogenitäten im voraus begünstigt worden.
Nebst den sowohl folkloristisch wie dichterisch bedeutenden epischen Gattungen
Liedern schließt der Kreis der estnischen Volkspoesie zahlreich vertretene voikspoesie.
und in mancher Hinsicht bemerkenswerte Gattungen von Märchen, Sprich-
wörtern, Rätseln usw. in sich, Ihre innerste Seele, ihre zarteste Blüte
und ihr größter Reichtum tritt uns jedoch erst in der Lyrik, dem eigent-
lichen Volksliede, entgegen.
Nicht auf ewig heiteren musischen Gefilden ist das estnische Volks- ^^Voiffued?''*
2-y() Gustav Suits: Die estnische Literatur.
lied entsprossen: Not und Kampf haben dieses Volk singen gelehrt, eine
traurige Feierlichkeit liegt über seiner Dichtung. Und es ist keine rosige
l'art pour l'art-Dichtung die eines expropriierten, übervorteilten „vierten
Standes": es steckt oft eine scharfe soziale Kritik in seinen Tristien. Es
werden oft phantasievolle Bilder vorgemalt, wie Herr und Knecht die Rollen
tauschen, wie der Dienende sich auf eigene Hand die Gerechtigkeit ver-
scliafft. Ebenso klagt das von den Seinigen selbst mißhandelte und ver-
lassene Waisenkind sein Leid an der Mutter Grab und hört Trostesworte
heraufklingen. Aber das Lied dient gelegentlich auch zum Ausdruck der
Freude: wenn es hell aufjauchzt auf dem Spielplatze der Jugend, dem
Dorfanger, oder das Glück der Hochzeit verherrlicht. Im allgemeinen
hat die Ader dieser Dichtung sich so voll und ergiebig ergossen, daß es
wirklich wenige Momente im Leben des Estenvolkes gibt, welche im
Liede nicht ihre poetische Behandlung gefunden hätten. So ertönt das
Volkslied, von den Fremden verachtet, von den Esten selbst hochgeschätzt,
durch alle Wandel der Zeiten bis in das i8. Jahrhundert hinein. Wie
sich dann neue, absorbierende Einflüsse geltend machten und wie die ver-
schwindenden Überlieferungen des Volkes für die Nachwelt und wissen-
schaftliche Forschung gerettet wurden — darauf werden wir noch Gelegen-
heit haben zurückzukommen.
Anfange Daß die Esteu in heidnischer Zeit eine Schrift gehabt hätten, ist
estnischen
Schrifttums, nicht wahrscheinlich, wenn sie auch immerhin durch eigenartige Zeichen
dem Gedächtnis in gewissen Fällen zu Hilfe gekommen sein mögen, wie
solches z. B. die sogenannten sirddlaiiad, d. i. Kalenderstäbe, andeuten.
Die Anfänge des estnischen Schrifttums stehen allerdings erst mit der
fremden Eroberung und Einführung" des Christentums in Zusammenhang.
Was hat denn das estnische Schrifttum an Sprach- und Schriftdenkmälern
in dem Zeiträume vom 13. bis in das 16. Jahrhundert aufzuweisen? Es
sind keine in estnischer Sprache verfaßten schriftlichen Dokumente aus
jener Zeit vorhanden: nur einige in kulturhistorischer und philologischer
Hinsicht interessante Brocken haben sich aus gewissen alten Urkunden
sammeln lassen. Vor allem verdient Erwähnung eine Chronik aus den
Origtnes Anfangsjahrzehuteu des 13. Jahrhunderts: Origmes Livoiriae, geschrieben
von einem zum Priester herangebildeten Landeseing-eborenen, Heinrich
dem Letten. Nebst äußerst wichtigen und charakteristischen Aufklärungen
über die Eroberungsgeschichte und damaligen Kulturzustände der Esten
haben sich in seinem Werke manche altestnischen Namen und Sprach-
beispiele aufbewahrt. Als das Zweitälteste Denkmal der estnischen Sprache
ist ein dänisches Zinsbuch, der sogenannte Libcr ccnsus Daniac (oder
Koiig Valdemars Jordebog) zu bezeichnen; ein etwa um 1240 abgefaßter
Teil desselben bezieht sich auf Estland und enthält über 500 estnische
Ortsnamen. Die Einführung des Christentums war hierzulande an und
für sich jedoch kein Sporn zur Literatur. Während übrigens noch Hein-
rich der Lette an seinem Beispiele die Tatsache illustriert, daß anfangs
II. Das protestantische Zeitalter (i6. — 18. Jahrhundert). 337
auch eingeborene Knaben zu Geistlichen herangebildet wurden, scheint
man später den Undeutschen, nachdem es gelungen war, sie unter das
Joch der Hörigkeit und Schollenpflichtigkeit zu bring'en, immer seltener
den Weg zu der Schulbildung gewährt zu haben: ein Umstand, welcher
das Aufkeimen einer volkstümlichen Literatur von vornherein unmöglich
machte. Dazu wurde von einem rigaschen Erzbischof (Henning) bei der
Strafe der Exkommunikation verboten, auch kirchliche Bücher in die
Landessprache zu übersetzen! Dennoch sollten die Priester, wie dieses
aus Kirchenstatuten und Synodalverordnungen jener Zeit hervorgeht, die
Predigt, soweit solche neben dem liturgischen Gottesdienst stattfand, in
der Volkssprache halten, ferner ihren Pfarrkindem Pater noster, Ave Maria P"^^)- ""^''^
•^ . . usw. in der
und Credo in eben dieser Sprache beibringen. Allerdings wurden aber Volkssprache.
jene Anordnungen nicht allzu streng genommen, und sowohl die geist-
lichen Väter wie auch das Volk selbst hielten lateinische Gebete für wirk-
samer und kräftiger.
Erst gegen Ablauf der katholischen Zeit erfahren wir von Tätigkeit
einiger für Kirche und Schule besorgten Prälaten. So mußten z. B. die
zur Kirmes bei der Einsammlung der Ernte und Abgabe des Kirchen-
zehnten versammelten ßauemkinder vom Stiftsvogte und den Land-
knechten im Pafer noster, Ave Maria usw. überhört werden, worauf der
Erzbischof diejenigen, welche das Examen gut bestanden hatten, mit
Essen traktierte, die übrigen aber mit Ruten strafen ließ.
Aus diesen letzten Tagen des Katholizismus rührt auch die erste
eventuell im Druck erschienene estnische Schrift her: ein vom Bischof
Johannes Kievel im Jahre 1517 herausg'egebener katholischer Katechis- Joi'annesKievei.
mus. Man hat jedoch dieses möglicherweise irgendwo in Deutschland
gedruckte Buch bis heute nicht ans Tageslicht fördern können. Ebenso
existieren nur der Angabe nach etwaige zur Zeit der katholischen Re-
aktion in Livland von zwei Jesuiten, Ambrosius Weltherus (isqi) und Ambrosius
•' ' V JV / Weltherus und
Wilhelm Buccius (1622) herausgegebene estnische Schriften. Es ist übri- wiiheim
gens nicht unmöglich, daß in Deutschland — möglicherweise in Brauns-
berg, wo die Iiistitiitioi/es Esthoiiicae von Wilhelm Buccius erschienen
sind, etwa in der Bibliothek des dortigen katholischen Gymnasiums —
ein Exemplar jener estnischen Schriften noch aufzufinden sein würde, was
für die estnische Sprachforschung allerdings nicht uninteressant sein dürfte.
IL Das protestantische Zeitalter (16. — 18. Jahrhundert). Die weit- AUgememe
^ ... Charakteristik.
bewegenden Epochen des Humanismus und der Renaissance streiften die
Esten nicht; daß jene gewaltigen Dramen menschlichen Geistes sich über-
haupt abgespielt hatten, davon erfuhren die Esten viel später. Aber auch
die Errungenschaften der Reformation, welche in den Ostseeprovinzen
verhältnismäßig früh, nämlich schon im Jahre 1522 siegreichen Eingang
gefunden und sich rasch verbreitet hatte, dürfen im Sinne der Hebung
und Aufklärung des Landvolks nicht überschätzt werden.
Die Kultur der Gegenwart. I. 9. 22
jjg Gustav Suits: Die estnische Literatur.
Vor allem hat Luthers Lehre, indem sie ja überall am meisten dem
Bürgerstande zugute kam, die Lage des baltischen Bauernstandes keines-
falls direkt oder wesentlich gebessert: wie wir wissen, erkannte doch
Luther selbst die Berechtigung der Leibeigenschaft an und predigte ein-
dringlich die göttliche Einsetzung der weltlichen Obrigkeit. Und es ist
bezeichnend, daß die estnischen Bauern in den meisten Fällen für die
Verkündigung des Evangeliums kein großes Interesse an den Tag legten,
sondern noch lange Zeit, im geheimen wenigstens, ihre „katholische Mytho-
logie" der lutherischen Theologie vorzogen. Fragen wir nun ganz im
allgemeinen, was für ein Fortschritt in der Volksbildung- durch die Re-
formation erfolgt ist, so läßt sich dieser nach dem Maß der in das Volk
KirchUcher gedrungenen Lehren, Dogmen und ABC-Kenntnis bestimmen. Die Auf-
Literatur, gäbe der kirchlichen Propaganda in der Volkssprache war auch der
Beweggrund zu einer „estnischen" Literatur, welche tatsächlich bis in das
IQ. Jahrhundert sowohl dem Inhalte wie der Form nach die Schöpfung des
schriftstellernden lutherischen Klerus, meist deutscher Herkunft, vorstellt
und als solche jeder genuin -estnischen Originalität entbehrt. Die est-
nischen Schriften aus jener Zeit sind vornehmlich Volkslehrbücher reli-
giösen Inhalts, außerdem sind sie größtenteils Übertrag-ungen oder Nach-
bildungen.
Franz Witte. Luthcrs Katechisuius, übersetzt von Franz Witte und gedruckt in Lübeck
auf Kosten des Ordensmeisters Galen, soll schon im Jahre 1553 erschienen
sein. Allein man kennt auch diese Edition nur dem Titel nach, indem sie
nirgends mehr zu finden ist, und aus dem 1 6. Jahrhundert liegt bisher also
Haudschriftiiciie noch kein estnisches Buch vor. In den letzten Jahrzehnten hat man jedoch
einige bisher unbekannt gebliebene Schriftstücke ans Licht gefördert, wie
etwa das „Juramentum der Undudeschen" und Bruchstücke einer estnischen
Übersetzung des stiftischen livländischen Bauernrechts, welche äußeren
Merkmalen und textlich gegebenen Anhaltspunkten nach in das 16. Jahr-
hundert verlegt werden dürfen. Außerdem besitzen wir ein Sprachdoku-
nient, dessen Datum es unzweifelhaft dem genannten Jahrhundert zuweist —
sii)idinud dürpt se 2g kitc aprilis Anno Christi i. j. 8. p. — und welches die
Übersetzung einer vom Rate der Stadt Dorpat ausgegebenen Kundschaft
darstellt. F^ür das wichtigste handschriftliche Denkmal der estnischen
Sprache aus dem Reformationszeitalter gelten indessen neununddreißig
Georg Müller, estnische Predigten von Georg Müller, gehalten 1600 — 1606 in Reval.
Nebst charakteristischen Kulturbildern aus jener Zeit sind die Predigten
für den Philologen in sprachhistorischer Hinsicht von bedeutendem Wert.
Aus stetig sich wiederholenden und sich gleich bleibenden Wendungen
Müllers geht es hervor, daß sich schon eine gewisse literarische Tradition
im Estnischen gebildet hatte. Daraus dürfen wir wohl schließen, daß die
Evangelien und Episteln schon seit längerer Zeit von sprachgeübteren
Pastoren übersetzt waren und in handschriftlicher Fassung kursierend schon
gewissermaßen eine stereotype Form gewonnen hatten.
II. Das protestantische Zeitalter (i6. — 18. Jahrhundert). 339
Desgleichen ergibt es sich aus seinen Predigten, daß man schon im
vorhergegangenen Jahrhundert unternommen hatte, lutherische Kirchen-
lieder ins Estnische zu übertragen. Diese handschriftlich vorhandenen
Materialien hat zuerst Mag". Henricus Stahl gesammelt und unter seinem Henncus stahi.
Namen veröffentlicht. Sein „Hand- und Haußbuch für die Pfarherren vnd
Haußväter Ehstnischen Fürstenthumbs", welches von 1 63 2— 1 638 in vier Teilen
erschien, gilt bisher für das älteste estnische Druckdenkmal, von dem
Exemplare noch vorliegen. Ferner hat Stahl sich durch eine auf Kosten
der Königin Christina gedruckte Postille und die erste estnische Sprach-
lehre „Anführung zu der Ehstnischen Sprach" hervorgetan. Seine Werke
wurden mit großem Beifall aufgenommen und hatten schmeichelhafte Ge-
dichte zur Folge, in welchen der Verfasser als „Blume des Vaterlandes"
und ein „zweiter Luther" begrüßt wurde. Stahls Einfluß hat sich indessen stahis verhäng-
für die Entwicklung der estnischen Sprache und Literatur sehr verhäng-
nisvoll erwiesen. Mitten in Gärungen und Schwankungen in bezug auf
Grammatik und Orthographie stehend, mußte er sich entweder für die
korrekten Formen und die naturgemäße Schreibart erklären oder die nach
lateinisch-deutschem Schema erkünstelte Theorie konsequent durchführen.
Er entschied sich für das letztere, und das Unglück war geschehen, unter
dessen Folgen die estnische Sprache noch heute zu leiden hat. Ebenso
hat sich Stahl um die Entwicklung der estnischen Literatur in einer ge-
wissen Richtung nicht wenig- verdient gemacht, indem er so glorreich
die später geradezu zu erschreckender Produktivität angewachsene Kate-
chismen-, Gebet- und Predigtbüchermache in der Volkssprache eröffnete.
Gleichzeitig mit Stahl gab Joachim Rossihnius in Dorpat die Evan- Joachim
Rossihnius.
gehen, die Episteln und die Leidensgeschichte Christi heraus. Doch er-
gänzt sich die Tätigkeit Rossihnius' und Stahls in einer Hinsicht nicht: sie
schreiben in zwei verschiedenen Dialekten. Die estnische Sprache hat Zwci Haupt-
dialekte der est-
nämlich zwei Hauptdialekte: den nordlichen oder sogenannten revalschen nischenSprache.
und den südlichen oder werro-dörptschen, welch letzterer jetzt nur in
17 Kirchspielen gesprochen wird. Die Werke Stahls sind in dem reval-
schen, die von Rossihnius in dem werro-dörptschen Dialekt geschrieben.
Obgleich der Unterschied zwischen den beiden Dialekten bedeutend ge-
ringer war als etwa zwischen Hochdeutsch und Plattdeutsch, entstanden
in der wenig verbreiteten estnischen Sprache also doch die Anfänge
zweier Schrifttume. Dieser Umstand hat auf die Entwicklung der est-
nischen Literatur vielfach hemmend gewirkt, bis der revalsche Dialekt
sich im ig. Jahrhundert als Literatursprache endgültig behauptete.
Nach Stahl war man im allgemeinen nur bestrebt, in seinen Pußstapfen
fortzuwandeln, sein Werk in seinem Geiste fortzusetzen. So wird z. B. für Kirchenlied im
, . Estnischen.
Katechismen viel Sorge getragen. Und da die aus dem Deutschen ohne
Rhythmus und Reim wörtlich übersetzten, von Stahl seinem Hand- und
Hausbuch angehängten Kirchenlieder zum Gesang- völlig unbrauchbar sind,
so vereinigen sich einige Prediger, solche in Reim und Versmaß zu bringen,
34°
Gustav Suits: Die estnische Literatur.
Bibel-
übersetzung.
lloclizcitslicdc
und es erscheint das erste Gesangbuch im Revalestnischen (1656). Allein
das Kirchenlied, eine wertvolle Spezialität des Protestantismus in Deutsch-
land, klingt rauh und unfügig im Estnischen: den Herren Pastoren, welche
die Übersetzung verfertigten, ging so ziemlich die Fähigkeit ab, den
Pegasus in der Volkssprache zu meistern. Das Kirchenlied im Estni-
nischen ist durchaus keine einheimische Schöpfung, abgesehen vielleicht
von einigen späteren, spezifisch baltischen Originalen, die oft gewissen
ganz „irdischen" Zwecken der Kirche zu dienen hatten, etwa derartigen wie:
„Wen man hat zum Knecht gemacht, diene auch, diene auch." Eine weitere
und zwar die wichtigste und schwierigste Aufgabe der lutherischen Geist-
lichkeit bestand darin, die Bibel dem Volke in seiner eigenen Sprache zu-
gänglich zu machen. Oftmals und wiederholt ergingen seitens der Bischöfe
und Konsistorien Aufforderungen an die Prediger, die Heilige Schrift ins
Estnische zu übersetzen, allein die Unvollkommenheit der Sprachkenntnis,
die Zwistigkeiten unter den Verkündigern des Evangeliums, endlich die
ausgebrochenen schweren Kriege gestatteten solches lange nicht. Ab-
gesehen von zwei vorangegangenen Übertragungen des Neuen Testaments
konnte die ganze Bibel im Estnischen erst 1739 erscheinen, welches als
die einzige literarische Großtat des Protestantismus im Estenlande zu be-
zeichnen ist. Was die Erforschung und Ausbildung der estnischen Sprache
betrifft, so wird diese von Stahls Epigonen in den irreführenden Spuren
des Meisters fortgesetzt. Gewisse Verbesserungen werden von B. G. For-
selius gewagt, das größte Verdienst um die estnische Kirchensprache hat
sich jedoch Johann Hornung erworben, indem er in seiner Graiiimafica
Eslhonica die Eigenheit des Estnischen besser aufgefaßt hat als alle seine
Vorgänger.
Da die ganze literarische Produktion also auf das Monopol des schrift-
stellernden Klerus beschränkt war und das leibeigene Volk in seinem
Elend um so mehr mit den Freuden eines besseren Jenseits getröstet
werden mußte, so sucht man in diesem zelotischen Zeitalter vergeblich
nach einer hervorragenden, ja überhaupt nach einer künstlerischen Leistung.
Dennoch hat es an Versuchen in dieser Richtung nicht ganz gefehlt,
wenn solche auch kein großes literarisches Interesse bean.spruchen dürfen
und nur vereinzelt anzutreffen sind. Zu Stahls Tagen, wo der Panegyris-
mus, die Krankheit der Zeit, das ganze Leben der höheren Gesellschaft
durchdrang, wo man bei jeder erdenklichen Gelegenheit mit hochfliegenden
Reden und in das Geschmackloseste ausschweifenden Gedichten auftrat,
wurde durch das Erscheinen der ersten Bücher im Estnischen plötzlich
eine bizarre Begeisterung für diese Sprache aufgewirbelt, und so hat man
dem Zeitgeiste auch in einigen platten estnischen Lob- und Hochzeitsliedem
Tribut gezollt. Als ein zweites, mehr bemerkenswertes Beispiel dürfte ein
aus der Zeit des großen nordischen Krieges herrührendes estnisches
Klagelied über die Zerstörung der Stadt Dorpat namhaft gemacht werden,
welches dadurch eine Beachtung verdient, daß es das erste uns bekannte
III. Das Emporkommen der genuin-estnischen Literatur (19. Jahrhundert). 341
genuin- estnische literarische Erzeugnis vorstellt, indem es von einem ge-
borenen Esten Käsu Hans (Hans Kes) verfaßt ist. Es ließen sich noch k^su Hans,
einige derartige „Ausnahmen" anführen, welche aber nur die Regel des
kirchlichen Imprimaturs bestätigen und ihrem poetischen Wert nach von
noch geringerer Bedeutung sind als die vorher genannten. Eine relative
Befreiung von der Engherzigkeit des nur auf das Kirchliche bedachten
Sinnes macht sich erst an der Wende des 18. Jahrhunderts geltend, wo
mehrere rationalistisch angehauchte Schriftsteller, wie Fr. G. Arvelius,
Fr. Willmann, J. W. Luce und andere mit ihren belehrenden Volksbüchern, Arvdius, wiu-
moralisierenden Erzählungen und Fabeln auftraten. Aber schon um ihrer
praktisch-didaktischen Natur willen gingen auch dieser Richtung die
Eigenschaften eines künstlerischen Schaffens ab; zudem war sie ihren
Stoffen nach meist unselbständig und noch ganz ungeschickt im Ausdruck,
wenngleich eine größere Richtigkeit der Sprache sich gegen Früheres
nicht verkennen läßt. Charakteristisch ist die Tatsache, daß estnische
Volksdichtung, welche sich viele Jahrhunderte hindurch als lebendige Volksdichtung
Macht erhalten hatte, gegen Ende des 1 8. Jahrhunderts verkümmerte oder des Zeitalters.
in flache Trivialität auszulaufen begann. Eine naive Weltanschauung
wich immer mehr und mehr zurück vor den schwarzen Talaren der
Pastoren. Von Grund aus zerstört wurde sie indessen durch Herrnhut:
wo Herrnhut-Lieder ertönten, da verstummten alle anderen Gesänge.
Indem nun den Überlieferungen des Volkes Vergessenheit drohte, wurde
zum Sammeln estnischer Runen der erste Anstoß gegeben — und zwar
von Herder, der den livländischen Pastor Hupel veranlaßte, ihm für seine
„Stimmen der Völker" einige Beiträge zu senden.
III. Das Emporkommen der genuin-estnischen Literatur
(ig. Jahrhundert). Die Grundsätze der rationalistischen Philosophie hallten Umschwung in
Anschauungen.
zu Beginn des ig. Jahrhunderts auch in diesem gesegneten Lande des
bigotten Obskurantismus und der feudalen Willkür wider und bereiteten
wenigstens theoretisch die Wiedergeburt des geknebelten Estenvolkes
vor, dessen natürliche Entwicklung das „baltische Mongolenjoch" um
600 Jahre aufgehalten hatte. Nach zunehmendem Maße der Humanisie-
rung des herrschenden Standes fing man an, die „Undeutschen", unter
welchen und durch welche man lebte, als Menschen anzuerkennen und
sich für ihre Sprache und ihre traditionellen Überlieferungen zu inter-
essieren. Dem Prinzip, wenngleich nicht dem Wesen nach wurde i8ig
auch die Leibeigenschaft aufgehoben, wodurch immerhin ein Heraufstreben
unter den Eingeborenen selbst entstehen konnte. Einen geistigen Mittel- Estophiien.
punkt für alle literarischen und folkloristischen Bestrebungen damaliger,
vorwiegend aus intelligenten Pastoren sich rekrutierenden Estophiien
bildete die von J. H. Rosenplänter (1782 — 1846) in deutscher Sprache j. h. Rosen-
plänter.
herausgegebene Zeitschrift „Beiträge zur genaueren Kenntnis der ehst-
nischen Sprache". Unter manchen verdienten deutschen Mitarbeitern der
342
Gustav Suits : Die estnische Literatur
Nationale „Beiträge" erblicken wir auch die ersten nationalen Schriftsteller. Es ist
bemerkenswert, daß gerade diejenigen Männer, welche die eigentliche
estnische Nationalliteratur begründeten und als glänzende Sterne kom-
menden Generationen voranleuchteten, Anhänger des Rationalismus waren
oder doch zum Rationalismus hinneigten. So tritt uns gleich ein Frei-
Kr. jaak Peter- denker, eine „moderne Seele" in Kr. Jaak Petersen (1801 — 1822), dem
ersten „Jungesten" par excellence entg'egen. Wie er der erste war, der
das nationale Element in seiner Person bewußt betonte, so war er auch
der erste, der im Estnischen bisher nie gehörte Töne anzuschlagen wagte.
Zu einer höheren Bildung gelangt, selten reich veranlagt, mit lebhaftem
Gefühl begabt, wurde er zum ersten wahren Dichter der Esten. Allein
im schweren Kampfe ums Dasein welkte er, einsam und unverstanden,
rasch dahin und starb schon in seinem 21. Lebensjahre den frühen Tod
der Götterlieblinge. Petersens gewissermaßen einzig dastehende Erschei-
nung haben indessen seine klerikalen Landsleute lange nicht genügend
würdigen können, ja man hat diesen Namen von so verheißungsvollem
Inhalt bis in die jüngste Zeit nur einigen nicht zu überschätzenden folklo-
ristischen und philologischen Leistungen nach gekannt, bis erst vor kurzem
auf Petersens DichteqDersönlichkeit und auf sein intimes Schaffensgebiet
mit gebührendem Nachdruck hingewiesen worden ist. Einen desto größeren
Erfolg und eingreifenden Einfluß auf die Literatur erzielte dagegen, trotz
o. w. Masing. mannigfacher Anfehdungen, der Prediger O. W. Masing (1763 — 1832). Der-
jenige Teil von Masings Tätigkeit, welcher ihm die meisten Freunde und
Feinde erwarb, zugleich sein hervorragendstes Verdienst, besteht darin,
daß er der Volkssprache endgültig dazu verhalf, zur Schriftsprache er-
hoben zu werden. Als Volksschriftsteller suchte Masing durch belehrende
Bücher auf das Volk einzuwirken; auch machte er den Versuch, ein est-
nisches Wochenblatt — „Marahwa näddalaleht"' ■ — herauszugeben, welches
jedoch bald eingehen mußte. Nach Masing verdient ehrenvolle Erwähnung
ein Mann, der zwar mit Schriftstellern seiner Zeit, wie es scheint, nicht
in Verbindung stand, aber doch zu den warmherzigsten Estophilen zählte:
Graf Peter Graf Petcr Mantcuffel (1786 — 1842). Indem seine Gedichte und Erzählungen
Manteuffel. \ / t / &
aus dem Volksleben von einem erotisch akzentuierten und sprach-
gewandten poetischen Talent Zeugnis ablegen, repräsentieren sie zugleich
den einzigartigen Fall in der Geschichte der estnischen Literatur, daß
auch eine adlige Person sich dieser Sprache zum belletristischen Aus-
drucksmittel bedient hat — und in einem so untergeordneten Geschäfte
wie die Aufklärung des Volkes anzutreffen ist.
Wenn auch notwendig im Zeichen der Didaktik stehend, wird die
Literatur in der Volkssprache immer vielseitiger und umfangreicher,
so daß schon in den drei Anfangsjahrzehnten des Jahrhunderts fast
doppelt so viele estnische Schriften erschienen sind wie in drei Jahr-
Rcaktions- hunderten seit 1500 — 1800. Es schien also eine erfreuliche Entwicklung
Periode. ^ ^
im Emporgang zu sein, als reaktionäre Strömungen sich in verschiedenen
III. Das Emporkommen der genuin-estnischen Literatur (19. Jahrhundert). ^/^t^
Richtungen wieder kraß breit machten. Da das vogelfreie Volk durch
die Gesetze von 1819 jedes Eigentumsrechts an Grund und Boden ver-
lustig erklärt worden war, hatte die Emanzipation sich t/e facto als
eine Fiktion herausgestellt. Vermöge der entschiedenen Rückwärts-
pressung in den vierziger Jahren gestalteten sich die Verhältnisse für die
nationale Bevölkerung zu einem noch härteren ökonomischen Druck als
früher um. Auch in mittelmäßig gTiten Jahren konnte der Bauer es
nicht erschwingen, reines Roggenbrot zu essen, welchem nicht Spreu
und bitterschmeckendes Unkraut in großer Menge beigemischt gewesen
wäre! Um seine geistige Nahrung war es jedenfalls nicht besser bestellt, da
die literarischen Bestrebungen der Aufklärung.smänner erschlaffen mußten
und in andere Hände, die der autoritativen Mächte, herübergingen. In
dieser Reaktionsperiode nahmen die Bemühungen der Estophilen vor-
nehmlich ein gelehrtes Gepräge an, während die Tendenz, auf das Selbst-
bewußtsein der Masse unmittelbar einzuwirken, immer mehr zurücktrat.
18^0 war in Dorpat, dem Sitz der Universität, die „Gelehrte Estnische Gelehrte
'^^ ^ ' . . . Estnische
Gesellschaft" ins Leben gerufen worden, mit der Aufgabe, „die Kenntnis Gesellschaft.
der Vorzeit und Gegenwart des estnischen Volkes, seiner Sprache und
Literatur, sowie des von ihm bewohnten Landes zu fördern". Mit für
eine ihrer wichtigsten Pflichten hielt sie das Sammeln, die Herausgabe und
Bearbeitung der im Erlöschen begriffenen estnischen Volkspoesie. Die ruhm-
beflügelte Kunde von dem neuerschienenen finnischen Kalcvala hatte sich
rasch über den Meerbusen nach Estland verpflanzt, und einem von den
hervorragendsten Mitgliedern der Gesellschaft, Fr. R. Fählmann (1798 — Fr. r. Fähimam
1850), der selbst aus dem Volke hervorgegangen war, legte sich der Ge-
danke nahe, auch im Estnischen ähnliches zu schaffen. Schon als junger
Student war Fählmann unermüdlich bestrebt gewesen, die Märchen und
Lieder des Volkes zu sammeln, unter welchen es ihm besonders diejenigen
angetan hatten, die von einem sagenhaften Helden des Volkes, dem
Kalewipoeg, zu berichten wußten. Die Ausführung des Vorhabens, „die
zerstreuten Teile des Kaleivipoeg in ein Ganzes zu vereinigen", wurde Kaiewipoeg.
jedoch durch seine anstrengende Praxis als vielbeschäftigter Arzt und
einen unerwartet früh erfolgten Tod vereitelt. Fählmann hat sich ge-
wissermaßen auch als Dichter hervorgetan, sich mit Vorliebe antiker Vers-
maße bedienend; einige seiner Epigramme dürfen sowohl der Form wie
dem Inhalt nach als „klassisch" angesehen werden. Aller Wahrscheinlichkeit
nach hat er auch gewissen, von ihm selbst für volkstümlich ausgegebenen
wunderschönen, aber höchst apokryphischen estnischen Mythendichtungen
(wie z. B. Koif ja Hämarik) die Gaben seiner eigenen Phantasie unter-
schoben und die Esten ganz unverdient zu manchen ihrer alten Götter
verholfen — eine pin frmis, wie sie auch anderswo von guten Patrioten
in der besten Absicht begangen worden ist.
Die Erbschaft Fählmanns trat nach dessen Tode sein intimer Freund Fr. r. Kreutz
wald.
und Kollege Fr. R. Kreutzwald (1803 — 1882) an. Wenn irgend jemand, so
344
Gustav Suits : Die estnische Literatur.
Setzung des
schien Kreutzwald, der selbst fortwährend die estnischen Sagen gesammelt
hatte, seinen Kenntnissen und seiner dichterischen Begabung nach der
seiner harrenden großen Aufgabe gewachsen. Es war dies die Herausgabe
des Kalezui-E^os. Auf sich selbst allein angewiesen, von sehr wenigen
nur verstanden, ging Kreutzwald an die Lösung der Aufgabe, deren
Bewältigung schon rein äußerlich eine Riesenarbeit darstellt. Die Anzahl
"k'äiewipoeg. dcr Lieder und Varianten, welche Kreutzwald bei der Zusammensetzung
des Kalewipoeg vorlagen, wird etwa auf 2000 geschätzt. Das Gros des
ihm zu Gebote stehenden Materials bestand aber aus Prosaerzählungen,
Nach langen Erwägungen entschloß sich Kreutzwald, alle in Betracht
kommenden Lieder- und Sagenbruchstücke in einheitlicher Form so ein-
ander anzureihen, daß sie ein Ganzes bilden sollten. Und als die geeig-
netste Darstellungsform empfahl sich ihm das genuine Volkslied, um so mehr,
weil er im Lauf der Arbeit die Überzeugung gewonnen hatte, daß vor
Jahrhunderten die ganze /■Ct7l£zvi-Sa.ge in gebundener Rede existiert haben
müsse, eine Ansicht, welche sich jedoch nicht rechtfertigen läßt. In der
Tat kennen die in das Epos eingeschalteten Lieder nur in seltenen Fällen
einen benamseten Helden, in noch selteneren einen Helden namens Kaleivi-
poeg; auch beziehen sich nicht alle von Kreutzwald verwerteten Sagen
auf den Titelhelden. Außer vielen aus der Natur der Arbeit selbst her-
vorgehenden Schwierigkeiten hatte Kreutzwalds Werk noch mit ver-
schiedenen Komplikationen von außen her zu kämpfen, so z. B. mit dem
Entdeckungsgeist der allzurührigen Zensur, bevor in den Verhandlungen der
Gelehrten Estnischen Gesellschaft der Knlnvipoeg, üks ernicmuistene Eesti
jut {„Kalewtpoeg, eine estnische Sage") in 20 Gesängen, im ganzen 19047
dimetrische Verse enthaltend, von 185-7 — 1861 veröffentlicht werden konnte.
Deutsche Über- In der ersten Ausgabe befindet sich neben dem estnischen Originaltext
Setzungen des
Kaiewipoeg. auch ciuc, nur bescheidenen Ansprüchen genügende deutsche Übersetzung
des Heldengedichts. Dagegen dürfte aber unter mannigfachen späteren
die von Fr. Löwe besorgte deutsche Übertragung des Kalcwipocg geeignet
sein, das estnische Epos auch einem weiteren Publikum zu erschließen.
Die Bedeutung Und wohl mit gutem Recht hat das estnische Nationalepos das Interesse
des estnischen
Epos. ausländischer Gelehrten für sich beansprucht und zuerst auf diesen kleinen
Volksstamm aufmerksam gemacht: denn trotz der ährenlesenden, form-
gebenden und vielfach ziemlich „freien" Kompositionsarbeit Kreutzwalds
ist und bleibt der Kalcwipucg seinem Kern nach „ein volkstümliches
Werk, voll des köstlichen Reichtums der estnischen Lebensweisheit". Für
das estnische Volk selbst bildet das Werk indessen nicht nur ein wert-
volles Denkmal seiner poetischen Vergangenheit: das Erscheinen des
Kaleioipocg wurde zugleich zum Ausgang.spunkt für eine neue Periode im
estnischen Leben, die der nationalen Regeneration, wo die weit ausein-
ander klaffenden Dialektgruppen des namenlosen „Landvolkes" {inaara/iwas)
sich zu einer bewußten, untrennbaren Gemeinschaft, zum estnischen Volke
{Eesd rahwas), zusammenfügten. So war Kreutzwald vergönnt, das Werden
in. Das Emporkommen der genuin-estnischen Literatur (19. Jahrhundert). 345
einer ganz neuen Welt zu bewirken; sein Lebenswerk war voll Menschen
und Werke, die noch kommen sollten. Bahnbrechend und epochemachend Krcutzwaia als
. Dichter.
hat Kreutzwald, ein berufener Dichter, sich auch um die estnische Kunst-
poesie verdient gemacht und sich vor allem durch sein großzügiges lyro-
episches Poem Lembitu den Ruhm des poeta laurcalus der Esten erworben.
Seine innere Entwicklung bewegte sich in der ansteigenden Linie eines
harmonisch veranlagten, auf ständigen Ausbau der Kräfte hinstrebenden
Geistes: er begann als Romantiker und endete, zu einer ruhig klaren, an
die Dichter der besten Zeiten gemahnenden Harmonie künstlerischer
Fähigkeiten gelangl, als Klassiker. In seinem äußeren Lebenslauf spiegelte
sich indessen wahrheitsgetreu das rauhe Geschick und das zähe Aufvvärts-
streben des Volksstammes wider, dem er entsprossen war.
Solange das ackerbauende Estenvolk nur sein Stückchen Land von den
Großherren in Pacht hatte, bildete es gewissermaßen ein „Nomadenvolk", bei
dem von einer wirtschaftlichen und geistigen Entwicklung kaum die Rede
sein konnte. Erst als in den sechziger Jahren im Interesse des Staates eine prätendier und
geistiger Auf-
Reihe von legislatorischen Verfügungen zugunsten der baltischen Bauern schwung in den
getroffen wurde und infolgedessen u. a. die Auskaufung des bäuerlichen Jahren.
Grundes und Bodens in Fluß kam, trat ein gedeihlicheres, nimmer ruhendes
Fortschreiten auf allen Gebieten des estnischen Lebens ein. Bis dahin
war keine eigentliche Kontinuität in der Pflege der estnischen Literatur
vorhanden gewesen, auch die Bestrebungen der für die Sprache und
Folklore der Eingeborenen interessierten deutschsprechenden Estophilen
waren nur stoß- und ruckweise vor sich gegangen. Je mehr nun aber
der Boden des Tales sich dem Berg gegenüber erhob, desto mehr Kräfte
meldeten sich ununterbrochen aus dem Volke heraufsteigend auch lite-
rarisch zum Worte. Und desto mehr zogen sich deutsche oder halb-
deutsche Kreise zurück, bis die literarische Produktion zuletzt in ihrem
ganzen Umfange von der nationalen Gesellschaft selbst übernommen
wurde. Von den letzten Repräsentanten deutscher Zunge auf dem Ge-
biete der estnischen Sprache und Folklore verdienen hervorgehoben zu
werden: H. Neus (1795 — 1876), ein Mann, welchem die Folklore viel h. Neus.
schuldet, dann Ed. Ahrens (1803 — 1863), welcher der jetzigen estnischen m. Ahrcns.
Grammatik und Orthographie den Grund legte, und endlich der viel-
verdiente Akademiker J. F. Wiedemann (1805 — 1887), der die estnische J-F-Wiedemann.
Forschung- mit mehreren kapitalen Werken sprachwissenschaftlicher und
ethnographischer Art bereicherte. Allerdings nur allmähhch und mit
größten Schwierigkeiten kämpfend, konnten die erlahmten, unterbundenen
Kräfte des Volkes sich emporraffen und Kulturwerte hervorbringen. Es
ist bezeichnend, daß nicht ein ästhetisch gebildeter, intelligenter Dichter
wie Kreutzwald, der in stiller Hoheit seiner Poesie gewissermaßen aus
dem Zusammenhang der estnischen Literatur auswächst, sondern ein „zur
Belehrung und Unterhaltung des estnischen Volkes" schreibender Kantor
J. W. Jannsen (1819— 1890) lange Zeit für dessen populärsten und belieb- J. w. j.
346 Gustav Suits : Die estnische Literatur.
testen Schriftsteller galt. So bedeutungslos und überlebt auch Jannsen
heute in seinen Darbietungen erscheint, ergänzte er (ein Volkserzähler
im Stile W. O. v. Horns, aus dessen „Spinnstube" er vieles ins Estnische
übertrug) übrigens doch Kreutzwalds Tätigkeit als Praktikus, der sich
dem Bildungsniveau der Masse anzupassen und auf sie unmittelbar an-
regend einzuwirken wußte. 1857 — in demselben Jahre, wo mit dem
Drucke des Kalccvipocg begonnen wurde — begründete er durch seinen
PernoPcstimces. Periio Postiviccs („Pemauer Postbote") die estnische Presse, welche sich
seitdem eines kontinuierlichen Fortschreitens erfreut hat. Also brach sich
eine estnisch-nationale Bewegung auf religiös -sittlicher Grundlage Bahn.
Ein Strom symptomatischer Begeisterung durchrauschte die Herzen des
Volkes, als man 1869 in Dorpat das 50jährige Jubiläum der Freilassung
durch ein allgemeines Gesangsfest feierte, wo Liedertexte, Jannsenscher
„Estiand.Estiand Fabrikation , etwa von der Originalität wie: „Estland, Estland über alles",
über alles!- ' & )) ) )
„Die Wacht am Embach", den vaterländischen Gefühlen zum Ausdruck
verhalfen. Nach welcher Himmelsrichtung die tapfere Wacht am Em-
bach ihre Stirn richten sollte, das war eine Frage, welche noch nicht
gestellt wurde. Man fühlte sich nur ergriffen von Frühlingsrausch, er-
füllt von naivem Vertrauen auf eine verheißungsvolle Zukunft des est-
nischen Volkes, die man im romantischen Zeichen des Nationalismus
aufgehen sah. Und schon war den Esten auch ein Geschlecht von Dich-
tern und Prosaschriftstellern erwachsen, denen die nationale Begeisterung
die Segel schwellte. Allen diesen romantisch angehauchten Geistern
stand Jannsens Tochter Lydia, in der estnischen Literatur gewöhnlich
Lydia Koiduia. unter ihrem Pseudonym Koidula (1843 — 1886) bekannt, würdig voran.
Ihre Gedichte zeichnete sie Emajöe Ööpik („Die Nachtigall des Embachs")
— und in der Tat ist sie die erste wirkliche Nachtigall des in Wonne und
Wehe erwachenden estnischen Frühlings. Sie ist es auch, an deren Namen
die estnische Novellistik sich anknüpft, und von der das estnische Drama
unmittelbar ausgeht. Ihre Dominante blieb jedoch eine melancholisch aus-
Die Lyrik, klingende Lyrik, welche überhaupt das vorwiegende Element der est-
nischen Romantik bildet. Neben ihr und nach ihr, ohne an sie heranzu-
reichen, machte sich eine Überfülle von Verseschmieden breit, die als
Gesinnungspoeten in erster Linie an allem Estnischen Freude hatten, dann
aber auch die erste Liebe, die Gottesfurcht und Kaisertreue besangen.
Im allgemeinen gehören sie der Geschichte der estnischen Literatur nur
als Masse an, aus der höchst vereinzelt Individualitäten hervortreten. Distin-
guierte Talente gibt es überhaupt nicht. In den Vordergrund dürften viel-
Kuhibars, leicht drei Namen gerückt werden: Fr. Kuhlbars, M. Weske (1843 — 1890)
Reinwald, und A, Reinwald.
Die zwei überragenden und beherrschenden Geister, welche die
Zeit hatte, waren eben keine poetischen Genies, sondern Männer der
jakcb Hurt und nationalen Tat: Jakob Hurt (1839 — 1906) und C. R. Jakobson (1841 — 1882).
Das Jubeljahr 1869 hatte außer Gesangseligkeit auch zwei ernstere
III. Das Emporkommen der genuin-estnischen Literatur (19. Jahrhundert). 347
Dinge mit sich gebracht: nämhch die Gründung eines literarischen Ver- Der estnische
literarische
eins [Ecsti Kirjaniccslc Sclfs 1872) und den Vorsatz, eine höhere est- verein.
nische Schule zu etablieren, welche zum Andenken an die Freilassung"
unter Alexander I. den Namen Alexanderschule {Alcksandrikool) führen
sollte. Die Seele dieser beiden im Vordergrunde aller nationalen Inter-
essen stehenden Unternehmungen war der Pastor Jakob Hurt. Er ver-
stand unter den Esten eine so lebhafte Teilnahme für die Schule zu er-
wecken, daß selbst Bettler ihr Scherflein für diese beitrugen und im
g-anzen eine Kollekte von etwa looooo Rubel zusammenkam. Auch die
Tätigkeit des literarischen Vereins darf in den ersten zehn Jahren seines
Bestehens unter Hurts Auspizien als eine fruchtbare bezeichnet werden.
Inzwischen war eine von C. R. Jakobson angeführte, mit radikaleren
Grundsätzen und Mitteln vorwärtsrückende Richtung aufgekommen, welche
darauf ausging, das klerikal-konservative Prinzip aus der leitenden Stel-
lung des literarischen Vereins und der Alexanderschule zurückzudrängen,
was ihr auch gelang. Jakobson, der in seinem Kampf gegen eine alte
Welt das sozial-reformatorische Moment und die national-politische Rea-
lität des Zeitalters zu verkörpern schien, hatte mit einem Schlage das
Herz des Volkes gewonnen: er galt nun für den Mann, von dem man
glaubte, daß er Wälder fällen, Sümpfe austrocknen und gefährliche Tiere
töten könne. Aber kaum hatte er den Sieg über die „Pastorenpartei"
davongetragen, als er schon 1882 plötzlich starb, ohne die von ihm er-
wartete Herkulesarbeit geleistet zu haben. Seine gewaltige Persönlichkeit
war allerdings größer als sein politisches und literarisches Werk. Seine
Nachfolger erwiesen sich meist als Leute, die das, was ihnen an Einsicht Die Reaktion
° . . n.ich Jakobson.
abging, durch die Phrase reichlich ersetzten, und mit ihrem Estentum
Geschäfte machten. Und schon hielt auch die Russifikation demorali-
sierend und verheerend ihren Einzug. Die Alexanderschule wurde mit
russischer Unterrichtssprache eröffnet, der literarische Verein sistiert.
Etwa eine halbe Million hatte das Volk für verschiedene Zwecke geopfert;
aber das meiste ging verloren. Viele Patrioten zogen sich vom öffent-
lichen Leben zurück, darunter auch Jakob Hurt. Unverdrossen setzte er
aber als Dr. Hurt seine wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der
estnischen Forschung fort; insbesondere kam es ihm dabei auf eine, von
ihm schon im literarischen Verein mit besonderem Nachdruck betonte
Arbeit an: das Sammeln der letzten noch erhaltenen Überlieferungen der Die Betätigung
_- ,, auf dem Gebiet
estnischen Volkspoesie. 1888 publizierte er eine Aufforderung an das Volk, der Folklore.
seine alten Schätze in dem noch letztmöglichen Augenblicke der Ver-
gänglichkeit zu entziehen. Keine andere Vergütigung konnte den Auf-
geforderten für ihre Mühe versprochen werden als eine mention honorable
in regelmäßig erscheinenden Berichten. Das Resultat fiel jedoch über
alle Erwartungen günstig aus. Es bildet dies geradezu ein einzig-
artiges Kapitel in der Geschichte der folkloristischen Sammlung, wie
ein Volk wirklich selbst, aus der Initiative eines einzigen aufopfernden
^^^g Gustav Suits: Die estnische Literatur.
Mannes in den schwierigsten Verhältnissen ein enormes Material von
zirka 45000 alten Liedern, 10000 Sagen und Märchen, 52000 Sprich-
wörtern, 40000 Rätseln, 60000 Punkten abergläubischer Gebräuche usw.
gehoben hat.
M. j. Eisen, Neben und nach Hurt arbeitet noch ein anderer Pastor, M. T. Eisen
J. Bert;mann, . ' ''
M. Lipp. mit großem Fleiß am Sammeln von Folklore. Während Hurt vor allem
die schnell verschwindenden Lieder retten wollte, hat Eisen sein Haupt-
augenmerk auf die Prosaüberlieferungen gerichtet. Außerdem hat sich
Eisen als ein fruchtbarer Vielschreiber in der Literatur bekannt ge-
macht. Seinen poetischen Leistungen nach steht er in einer Linie
mit J. Bergmann und M. Lipp, die von ihren theologisch geschulten und
Epische patriotisch gesinnten Musen mit einigem Glück zu epischen Gedichten
Dichtung. .
angeregt wurden, im Grunde aber doch wenig poetische Naturen sind
und insbesondere in ihrer Lyrik unbehilflich das ewig Alltägliche ihres
Innenlebens offenbaren. Die Kraft versaget diesen Nachempfindern, wenn
sie Leidenschaften schildern wollen, eine große Freude, einen großen
Schmerz. In der Weltanschauung dieser Gruppe ähnlich, an dichte-
jakob Tan.ra rischeu Qualitäten ihr vielleicht überlegen, erscheinen Jakob Tamm und
und Jakob Liiw. .
Jakob Liiw, die ihren Ruf als die lesbarsten epischen Talente der est-
nischen Romantik leider durch zahlreiche geschmacklose Gelegenheits-
reiraereien sehr geschädigt haben; ihren dann und wann durchklingen-
den Schulmeisterton wird der wohlmeinende Leser schon mit in den
G. E. Luij;.-!. Kauf nehmen müssen. Dasselbe gilt mutatis mutandis von G. E. Luiga,
der in seinen Darbietungen einen vorwiegend lyrischen Eindruck macht.
AUgemeine Nach Selbständigen, in eigener Welterkenntnis wurzelnden, ästhetisch
Charakteristik. r- • c^ •• r
gebildeten, erlesenen Geistern, nach bahnbrechenden Schöpfungen und
wirksamen Literaturströmungen würden wir in dem ganzen Zeitraum von
den achtziger Jahren bis zum Jahrhundertausgang allerdings vergeb-
lich suchen. Ungeachtet dessen, daß ganze Hekatomben von Versen
auf dem Altar des Vaterlandes geopfert worden sind, spürt man in den
meisten Hervorbringungen doch kein elementares, organisches, wurzel-
echtes Verwachsensein mit dem heimatlichen Boden, keine solche Selb-
ständigkeit der Auffassung, welche man eine spezifisch estnische nennen
könnte, sondern die gesamte estnische Dichtung zeigt sich mit Elementen
durchsetzt, die bedenklich deutsch anmuten: das Wort „Nachahmung",
„Nachempfindung" umfaßt die ganze Geschichte der estnischen Literatur.
Daß das Nationale noch nicht im Stoffe liegt, sondern daß es auf den
Geist, auf die Weltanschauung ankommt, die sich daraus spricht, davon
Patriotische legen auch die patriotischen Erzähler — wie Jakob Pärn, Lilli Suburg,
Erzählung. J. Körw, J. Järw und viele andere — ein im negativen Sinne beredtes
Zeugnis ab. Insbesondere waren es die Schilderungen der Vorzeit in
einfältig-idyllischem Geiste und der historische Roman ohne allzugroße
historische Treue, mit Vorliebe aus der Zeit der deutschen Eroberung im
13. — 14. Jahrhundert, die auf lang hinein den beliebtesten Tummelplatz
III. Das Emporkommen ilcr genuin-estnischen Literatur (19. Jahrhundert). 7 ig
für allerlei Dilettantismus und Spekulation abgaben. Es war eine auch
anderswo nicht unbekannte Art des Schaffens der Leute, die sich ein-
bildeten, wenn sie altnationale Namen irgendeiner Chronik entnehmen
und sie mit Zügen von Walter Scott, Chateaubriand, Eugene Sue oder
Alexander Dumas bekleiden, so sei der nationale Roman schon fertig!
Von den populärsten Vertretern der geschichtlichen Erzählung sind zu
nennen: Ed. Bornhöhe (Brunberg) und A. Saal, der erste bodenwüchsiger Ed. Bomhöhe,
und realistischer, der zweite pathetischer und abenteuerlicher. Eine we-
niger prätenziöse Novellistik ohne vaterländisches Pathos, eine schlichte. Volkstümliche
wahrheitsgetreue Schilderung des primitiven, auf althergebrachter Tra-
dition beruhenden Volkslebens auf dem Lande, oder ein liebevolles Ver-
senken in das Detail einer estnischen Landschaft — diese Art von Dar-
stellung hat nur höchst vereinzelte Pfleger gefunden. Es sind vor allem
nur zwei Erzähler, die durch ihre feinere Beobachtungsgabe, gemütsvollere
Sittenschilderung und manche gelungene volkstümliche Gestalt eine hervor-
ragendere Stellung einnehmen: A. Kitzberg und Juhan Liiw. Was eine a. Kitzberg und
Seltenheit in der sie umgebenden Massenproduktion ausmacht: sie haben
Temperament. Ein goldener, liebenswürdiger Humor waltet in den meisten
intim erfaßten Szenen und anschaulich gegebenen Charakterbildern Kitz-
bergs; eine tief-melancholische, in Wahnsinn ausmündende Unterströmung
zieht sich durch die schmerzhaft sehnsuchtsvollen Bücher Juhan Liiws
hindurch. In einzelnen Erzählungen hat auch J. Mändmets etwas Glück j. Mändmets.
gehabt, ohne zu ausgeprägter Eigenart und einheitlicher Gesamtwirkung
zu kommen. Das Gros der Romanliteratur lieferten jedoch zahlreiche
Übersetzungen, und zwar zumeist Übersetzungen deutscher „Familienlite-
ratur" und englisch - amerikanischer Kriminalromane von höchst bedenk-
lichem Wert.
Schlimm genug sah es auf dem Gebiet der dramatischen Dichtung Dramatische
aus. Auf den Brettern der Dilettantenbühnen lösten sich Kotzebues
und Ifflands Produkte von Jahr zu Jahr ab, die nicht bloß übersetzt,
sondern auch in den estnischen Originalstücken nachgeahmt wurden;
Klassiker wie Shakespeare, Moliere, Voltaire, Schiller hatten nur wenig
Anklang. Im allg-emeinen hinterläßt das Drama den Eindruck der größten
Schwäche der estnischen Literatur. Es überrascht dies auf eine Seite überblick aber
hin, denn das Volk hat jahrzehntelang gerade für das Theaterwesen ein wesen.
ganz besonderes Interesse an den Tag gelegt; in allen Städten und viel-
fach auch auf dem flachen Lande bestehen Vereine, die in regelmäßiger
Wiederkehr Theateraufführungen veranstalten. Da man aber einer sach-
kundigen, systematischen Leitung wie einer gut eingerichteten Bühne mit
berufsmäßigen Schauspielern entbehrte, blieb man unbehilflich auf dem
alten Fleck des berufenen und unberufenen Dilettantismus stehen; es gab
ja lange auch kein theaterfähiges estnisches Publikum. Erst in der alier-
jüngsten Gegenwart, der Zeit eines frischen Vorwärtsdringens der Esten
auf der ganzen Linie, sind zwei ständige und künstlerischen Ansprüchen
35°
Gustav Suits : Die estnische Literatur.
Rechnung zu tragen bestrebte estnische Theater in Dorpat und Reval
ins Dasein getreten.
Dilettantismus Überblicken wir die eben durchlaufene Literaturperiode, so erscheint
zeichnendes sic uns in ihrer Gesamtheit im Zeichen des Dilettantismus. Da In-
Merkmal der ,
estnischen telligeuz im Lande nicht allzuviel vorhanden gewesen ist, so hat der
Literatur. _,. .
Einzelne seine Tätigkeit zumeist nach verschiedenen Richtungen hin ver-
wenden und — keineswegs zum Vorteile — auf allen möglichen Gebieten
zersplittern müssen. Als zwei eklatanteste Beispiele dieser allgemeinen
K. A. Hermann unheilsamcn Zersplitterung der Kräfte dürften hier Dr. K. A. Hermann und
A. Grenzstein. A. Grenzsteiu, die zwei tonangebenden Antagonisten in der estnischen
Literatur und Journalistik des nii de sicclc angeführt werden, die sich in
den verschiedensten Literaturgattungen versucht, aber kaum in einer da-
von etwas Vollendetes geschaffen haben. Hermann — „kein Talent, doch
ein Charakter" — und Grenzstein — „kein Charakter, doch ein Talent"
— zeigen sich zugleich als zwei typische Repräsentanten der unfähigen,
phrasenhaften und an einem fühlbaren Mangel an Rückgrat krankenden
Generation der nachachtziger Jahre, die den Gewaltmaßregeln und Ver-
suchungen der konsequent um sich greifenden Russifikation auf jeden
Fall nicht gewachsen war. Die Kraft des Volkes schien gebrochen, das
vernichtete Selbstvertrauen hatte Mutlosigkeit und Resignation zur Folge,
der sich auch die Dichtung anschmiegte. Melancholie, Schwärmerei, ele-
gisches Seufzen und Klagen ergreift in bedeutendem Maße auch die besten
Anna Haawa Lyriker der trauererfüllten Tage: Anna Haawa und K. E. Sööt. Die älteren
" Dichter, die bisweilen noch den leeren Ruf: „Es lebe Estland!" anzu-
stimmen versuchten, platteten sich von Tag zu Tag ab, indem ihre Pro-
duktion immer mehr und mehr zum seichten, langweiligen Lehrgedicht
Die estnische herabsank oder sich in bombastischem Phrasenwulst verlor. Also bekundet
genheit am Aus- die cstnische Literatur am Ausgange des Jahrhunderts, der Luft und des
hunderts. Lichtes berautjt und der Gewalt eines unerhörten Systems von Zensur-
willkür preisgegeben, weder Enthusiasmus noch Leidenschaft, den ihr
auferlegten nationalen Kampf ums Dasein auszufechten, geschweige
denn die chinesischen Mauern einzureißen, durch welche man sie so
lange den Anforderungen der Neuzeit verschlossen hatte. Es wollte
nahezu erscheinen, als müsse sie in ihrem Gefängnisse verschmachten
und an ihrer einseitigen, kraftlosen nationalen Abgeschlossenheit zugrunde
gehen.
Die Jahre des IV. Die neucste Zeit. Die letzten Jahre haben jedoch einen ge-
Dranges. Wältigen geistigen Umschwung und eine stürmisch vorwärtsdringende Be-
wegung unter den Esten hervorgerufen. Kaum war das alte Regime
ins Schwanken geraten, so regte sich wieder auch die unterbundene
Lebensenergie des Volkes — und tatkräftiger als je zuvor. Eine Rege-
neration der nationalen Idee hatte durch sein Flammenwort der Redak-
j. Tünisson. teur der ältesten estnischen Zeitung Poslimccs J. Tönisson, ein Schüler
IV. Die neueste Zeil.
351
Kants und Schillers, schon vor Ablauf des alten Jahrhunderts eingeleitet;
im neuen zieht er aus seiner Theorie die praktischen Konsequenzen und
erfüllt so das Ideal des nationalen Zeitalters, in dessen Gedanken und Be-
strebungen er noch durchaus wurzelt, obgleich er als deren höchste Spitze
dieselben bereits überragt. Sonst eine wellenwerfende Persönlichkeit auf
fast allen Gebieten des estnischen Lebens, hat er, von Anfang an mit
moralischen Begriffen operierend, die neubelebte nationale Richtung zu
keinen bedeutenden ästhetischen Hervorbringungen befähigt. Zweifels-
ohne verdankt man den Männern alten Schlages manche wertvolle Be-
förderung der Literatur praktischer Art sowie auch die Neugründung des
literarischen Vereins (1907). Doch nicht von den Überzeugungen und DasAufkommen
Anschauungen nationaler Formation geht die neueste estnische Literatur- und Naturalis-
entwicklung aus, sondern von einem kritisch -analytischen Geiste der in
den trostlosen neunziger Jahren geborenen Skepsis, von einer Richtung
mit bewußten realistischen und naturalistischen Tendenzen, die in ihren
besten Vertretern darauf abzielt, die estnische Literatur aus den Schranken
des exklusiven Nationalismus in die gesamteuropäische Kulturatmosphäre
emporzuheben. Ed. Wilde, der in der ersten Hälfte seines Schaffens leichte Ed. wiide.
humoristische Novellen und feuilletonistische Familienromane produziert
hatte, entpuppt sich um igoo herum als literarischer Vorkämpfer der
neuen Ideen, indem er sich ernster sozialer und kulturhistorischer Stoffe
bemächtigt und große Zolamäßige Romane, wie z. B. „Den Aufstand in
Machtem" [Mahtra sö'da), schreibt. Zu ihm gesellt sich mit seinen sati-
rischen Novellen Ernst Petersen, ein weniger produktiver, aber an Tiefe e. Peterson.
und Eigenart der Begabung Wilde überlegener Schriftsteller, der in zür-
nender Liebe zu seinem Volke spricht und in seinen mit etwas groben
Strichen aber sicher und markant gezeichneten Wirklichkeitsschilderungen
eine scharfe Gesellschaftskritik ausübt. An Wilde und Peterson schließt
sich in einigem Abstände eine hauptsächlich an der russischen Literatur
erzogene literarische Jugend an, von deren leistungsfähigsten Vertretern
O. H. Münther, A. Hansen und Mait Metsanurk (Pseud.) zu nennen sind. o. h. MUnther,
A. Hansen,
Wie ein roter Faden zieht sich durch die Erzählungen der angeführten MaitMetsanurk.
Prosadarsteller die immer schroffer hervortretende Verschärfung der Gegen-
sätze zwischen der baltisch - deutschen und der estnischen Gesellschaft
und die immer mehr sich ausprägende Scheidung der Geister unter den
Esten selbst hindurch; und noch in weiter Ferne erscheint das goldene
Zeitalter der estnischen Literatur, wo eine sonnenerhellte Dichtung heiter
lächelnd Kränze winden könnte. Eine weniger politischen als kulturellen
und ästhetischen Idealen nachstrebende Gruppe von jungen radikalen Ver-
fassern stellt allerdings „Das junge Estland" {Noor-Eesfi) dar, das sich seit „Das junge
1905 zu einer gemeinsamen literarischen Tätigkeit zusammengeschlossen
hat. Von dessen Autoren scheint Fr. Mihkelson, ein zupackendes, erfolg- Fr. Mihkeison.
reich nach einer eigenen Diktion suchendes Talent, das wohl noch einiger
Reife und Versenkung" bedarf, im Augenblicke als der hoffnungsvollste
35'
Gustav Suits : Die estnische Literatur.
Schluß- dazustehen. Es dürfte überhaupt für die jüngste Richtung in der estni-
schen Literatur bezeichnend sein, daß sie nicht nur das poetische Stoff-
gebiet zu erweitern versucht, sondern auch die Sprache mit besonderer
Sorgfalt behandelt und allmählich eine neue ausgebildetere Technik er-
zwingt. Neben der gegenwärtig tonangebenden Gruppe der estnischen
„Moderne", dem ebengenannten „jungen Estlande", haben unter jüngeren
Belletristen noch versucht, ihre eigenen Wege einzuschlagen: E. Enno,
J. Lattik und J. Lintrop. Im allgemeinen ist die Zahl der produzierenden
Kräfte eine entschieden zunehmende. So verschiedenartig auch ihre In-
teressen und Fähigkeiten sind, müssen sie alle bewußt und unbewußt,
wie im Banne einer über ihnen waltenden Macht, zu einem und demselben
Zwecke zusammenwirken: zur Umgestaltung der estnischen Literatur.
Literatur.
Ein erster Versuch, die estnische Literatur darzustellen, ist in den vierziger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts von H. Jürgenson durch seine Kurze Geschichte der estnischen
Literatur gemacht worden (Verhandl. der Gelehrt. Estn. Gesellschaft zu Dorpat, B. I). Eine
zweite, gründlichere, aber nunmehr veraltete Abhandlung Viron nykylsemmästä kirjal-
lisuudesta (Über die neuere estnische Literatur. Helsingfors, 1856) rührt von dem finnischen
Professor A. Ahlqvist her. Femer verdient Erwähnung Paul Hunfalvvs Reise in den
Ostseeprovinzen Rußlands (Übersetzung aus dem Ungarischen. Leipzig, i874\ welche neben
interessanten Betrachtungen über baltische Kulturzustände auch ein Kapitel über die est-
nische Literatur enthält. \'on neuesten Orientierungsversuchen über diesen Gegenstand
könnten, mit Rücksicht auf ein weiteres Publikum, noch genannt werden: in deutscher
Sprache eine Übersicht über die Entwicklung der estnischen Poesie von A. Jürgenstein
(Aus fremden Zungen X\'ll, 10) und in russischer Sprache ein Artikel von Ed. Wirgo,
Einiges über die estnische Literatur (^Vjestnik Inostrannyi Literatury 1907, 11). In der est-
nischen Sprache selbst verdankt man die erste und bisher die einzige ausführliche Gesamt-
darstellung der Literatur Dr. K. A. Hermann, dem Lektor der estnischen Sprache an der
Universität Dorpat. Wohl kann seine Eesti kirjanduse ajalugu (Geschichte der estnischen
Literatur. Dorpat, 1898 , ein mehr in die Breite als in die Tiefe gehendes Werk, modernen
literaturhistorischen Ansprüchen nicht gerecht werden, ist aber doch als Nachschlagebuch
gewiß von Wert. Die Geschichte der estnischen Literatur von T. Sander TEesti kirjanduse
ajalugu 1 und 11 [Dorpat, 1899 — 1901]) ist durch den früh erfolgten Tod des Verfassers leider
ein Torso geblieben. Einzelne wertvolle Spezialstudien und mannigfache kleinere Beiträge
zur Kenntnis der älteren estnischen Literatur- und Kulturgeschichte hat W. Reim.\n gehefert,
ein ebenso tüchtiger wie eifriger Durchstöberer von alten Rumpelkammern.
Eine einsichtsvolle Übersicht über das Sammeln estnischer Runen hat O. K.ALLAS
gegeben (Finnisch-ugrische Forschungen [1902] Bd. II).
Zur zahlreichen Kalewipoegliteratur vergleiche man: Kalewipoeg, aus dem Estnischen
übertragen von F. Löwe, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen herausgegeben von
W. Relman (Reval, 1900), Leopold von Schroeder, Zur Entstehungsgeschichte des Kaie,
wipoeg (Verhandlungen der Gelehrt. Estn. Ges. B. XVll) und U. Karttunen, Kalevipoegin
kokoonpano (Die Zusammensetzung des Kalewipoeg. Helsingfors, 1905).
X>re Kultur der Gegenwart. L 9.
DIE LITAUISCHE LITERATUR.
Von
Adalbert Bezzenberger.
Das litauische Einleitungf. Die Litauer Q;ehören zu einer den Slawen nahestehen-
Volk. ° °
den, aber besonderen indogermanischen Völkergruppe, die heute nur aus
ihnen und den Letten besteht, ehemals aber auch die verschollenen Jat-
wägen und die im 1 7. Jahrhundert ausgestorbenen Preußen umfaßte. Dem
Preußischen gegenüber bilden Litauisch und Lettisch eine engere sprach-
liche Einheit. Die häufig neben den Litauern genannten Zemaiten (Sa-
maiten, Samogizier) sind kein besonderer Volksstamm, sondern nur eins
der vielen, mundartlich geschiedenen Glieder der litauischen Nationalität
(im wesentlichen die Bewohner des russischen Kreises Telsch). Die Ge-
samtzahl der Litauer läßt sich annähernd auf höchstens zwei Millionen
schätzen und verringert sich in Preußen von Jahr zu Jahr.
Sprachgrenzen. Das heutige litauischc Sprachgebiet erstreckt sich vom Ostufer des
Kurischen Haffs bis fast zur Düna, von der Südgrenze Kurlands bis
Goldap und beinahe bis Grodno und Wilna, und es scheint, daß seine
gegenwärtigen Grenzen sich ungefähr mit denjenigen decken, in welchen
das litauische Volk gegen Ende seiner Vorgeschichte wohnte.
Die Anfange der Dieser Zeitabschnitt reichte bis in das 11. Jahrhundert, in dem die
Geschichte, lltauische Geschichte mit russischen Einfallen begann, um nach kurzer
Glanzzeit ruhmlos durch die Union von Dublin (1569) zu enden. Ihr Ver-
lauf war bestimmt in erster Linie durch die Mittelstellung Litauens zwi-
schen der byzantinischen und der abendländischen Christenheit, in zweiter
durch dynastische Rücksichten, und ihre Grundzüge sind vorwiegend bio-
graphisch. Ihren ersten weltgeschichtlichen Anlauf nahm sie unter Ringold,
Herrn von Kernow (nördlich von Wilna) — einem der zahlreichen Gebiete,
in die das damalige Litauen zerfiel — und seinem Sohne Mindowe, der
sich 1250 taufen ließ und von Innocenz IV. als König von Litauen an-
erkannt wurde. Sein Ziel, die Herstellung eines litauisch-russischen Staates,
hat er zwar nicht erreicht, aber doch einen gewissen Zusammenhang Li-
tauens geschaffen.
Einleitung. 355
Nach Mindowes gewaltsamem Tode (er fiel 1263 durch Verschwörer-
hand) war Litauen der Kampfplatz zweier einheimischer Parteien: einer
heidnisch -nationalen und einer christlich-russischen, bis Lutuwer, wahr-
scheinlich Fürst von Eirogaly in Zemaiten, seine Dynastie zur groß-
fürstlichen Herrschaft brachte. Durch glückliche Kriege mit Polen und
dem Deutschen Orden, der damals bereits Preußen bis zum Memelstrom
unterworfen hatte, wurde von Lutuwers Söhnen Witen (seit 1293) und
Gedimin (seit 1316) der von Mindowe erstrebte Einheitsstaat geschaffen, HersteUang
• f • 1 TwT • -,.... nT* 1 1 • eines Einheits-
und obgleich in diesem die litauische Nationalität in der Minderheit Staates.
war und seine Bevölkerung zu zwei Dritteln aus Russen bestand, so
hatte er doch die Kraft, sich gegen Moskau und gegen die Ordens-
macht im Westen und im Norden zu behaupten. Hat doch ein Heeres-
zug um 1325 verbündete Litauer und Polen bis in die Mark Branden-
burg geführt!
Dieser Staat fiel nach Gedimins Tode (1341 oder 1342) an dessen
sieben Söhne und seinen Bruder Woin, und da dieselben ihn unter sich
teilten und demnächst ihre besondere Politik trieben, würde er bald am
Ende gewesen sein, wenn nicht zwei der Söhne: Olgerd und Keistut — oigerd und
jener vorwiegend Diplomat, dieser Krieger; jener für den Osten inter-
essiert, dieser ein leidenschaftlicher Feind des Ordens und durchaus heid-
nischer Litauer — eingegriffen und gewaltsam durchgesetzt hätten, daß
Olgerd als oberherrlicher Großfürst von seinen Brüdern anerkannt wurde.
In Wirklichkeit teilte er aber die Herrschaft mit Keistut und überließ
diesem den Westen, um selbst seinen russischen Plänen nachzugehen.
Nur in der furchtbaren Schlacht bei Rudau unweit Königsberg (6. Febr.
1370), in der 120000 Krieger fochten, sehen wir beide einmal vereinigt.
Diese Schlacht wurde freilich gegen Winrich von Kniprode verloren,
allein weder durch sie, noch durch seine zahllosen Litauerzüge, noch
durch zweimalige Gefangennahme Keistuts vermochte der Orden den
Widerstand zu brechen, welchen dieser heldenhafte Gegner dem Ansturm
der abendländischen Ritterschaft entgegensetzte. Gleichzeitig aber war
Olgerd mit großem Erfolge gegen die Moskowiter, die Polen und die
Tataren Südrußlands tätig, und so kam es, daß bei seinem Tode (1377)
der litauische Staat sich ausdehnte von der Ugra und Oka bis zum Bug
und von dem Baltischen bis zum Schwarzen Meer.
Zu seinem Nachfolger in der Oberherrschaft hatte Olgerd seinen wiadystaw-
Lieblingssohn, den hochbegabten Jagiello bestimmt, und Keistut hatte
dies gebilligt. Allein trotz dieser Zustimmung fühlte sich Jagiello durch
seinen Oheim oder doch durch dessen Söhne in dem Grade bedroht, daß
er mit dem Hochmeister und dem livländischen Meister geheime Verträge
abschloß, welche Keistut der gesamten Ordensmacht preisgaben. Die
Folge dieser Verräterei waren innere Wirren, in deren Verlauf Keistut
sich verleiten ließ, in Begleitung seines Sohnes Witowt in Jagiellos Lager witowt.
zu verhandeln. Er wurde hier aber festgenommen, und am fünften Tage
23.
•,1-^ Adalbert Bezzenberger: Die litauische Literatur.
darauf fand man ihn, den mehr als 80jährigen, in seinem Gefängnis tot —
wahrscheinlich auf Jagiellos Befehl erdrosselt (1382). Er ist der letzte der
litauischen Fürsten, die nach heidnischem Brauche bestattet sind. Seine
Gemahlin Birute ließ Jagiello ertränken, ihre Verwandten hinrichten, Witowt
aber gefangen halten. Durch eine List seiner Gattin wurde dieser in-
dessen befreit und begann sofort einen Kampf um seine Stellung, der
nach manchen Zwischenfällen Jagiello veranlaßte, ihm den Länderbesitz
Keistuts und die großfürstliche Würde zuzugestehen (1392) — Bewilli-
gungen, die Jagiello unbedenklich erscheinen konnten, seit ihm seine
Vermählung mit der polnischen Königin Hedwig (1386) einen starken
Rückhalt gegeben hatte. Er wurde bei dieser Gelegenheit Christ, er-
hielt den Taufhamen Wiadyslaw und trat alsdann selbst als Bekehrer
Litauens auf, das nunmehr zu seinem Unglück mit den Geschicken Polens
verknüpft war.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß Witowt die Gefahren erkannt hat,
mit welchen diese Verbindung sein Volk bedrohte, und daß das Streben,
sie abzuwenden, zugleich aber den Orden in Schach zu halten, die Trieb-
feder seiner ferneren Politik gewesen ist. Von Anfang bis Ende seiner
großfürstlichen Regierung sehen wir ihn bemüht, Litauen zu kräftigen
und ihm als unabhängigem Staatskörper eine nach beiden Seiten aus-
schlaggebende Stellung zu sichern, und wenn er dabei selbst vor Verrat
und Wortbruch nicht zurückscheute, kann das Gesamturteil über ihn doch
nur ein bewunderndes sein. Es war gewiß eine Verräterei, daß er nach
der Schlacht von Tannenberg zuerst die Belagerung der Marienburg auf-
gab, allein diesem Abzug lag eine geniale Berechnung zugrunde, denn
er lähmte dadurch in dem für die Geschichte unserer Ostmarken ent-
scheidendsten Augenblick die polnische Macht und ermöglichte den Frie-
den von Thom (141 1). Und vielleicht noch genialer waren seine Be-
mühungen um eine kirchliche Union seiner Untertanen, unter denen vor
Jagiellos Bekehrung bereits das russische Bekenntnis Eingang gefunden
hatte. Gelangen diese Bemühungen, so war Litauen der Macht des pol-
nischen Klerus verschlossen. Allein eine Gesandtschaft von zwanzig seiner
Bischöfe griechischen Bekenntnisses — an ihrer Spitze der auf sein Be-
treiben dem Moskauer Metropoliten entgegengestellte Metropolit von Kiew
— die er (der selbst .dreimal den Glauben gewechselt hat) nach Konstanz
sandte, um eine Vereinigung der griechischen und der römischen Kirche
anzubahnen, kehrte erfolglos heim, und Witowts Unionsbestrebungen
waren damit gescheitert. Keineswegs sind sie aber wirkungslos gewesen,
sondern haben Konstellationen von großer Tragweite ergeben. Sie er-
warben dem Großfürsten nämlich das Vertrauen der Utraquisten, und in-
folgedessen boten ihm die Hussiten nach König Wenzels Tode die böh-
mische Krone an. — Witowt ging auf diesen Ruf ein, konnte ihm aber
wegen der Ungun.st der Verhältnisse nicht folgen und erklärte sich in
dieser Lage bereit, die ihm bereits dreimal von Kiuser Sigismund an-
I. Die litauische Literatur bis zum Anfang des l8. Jahrhunderts. 357
getragene Königskrone Litauens anzunehmen. Was Sigismund hierbei er-
strebte, war die Spaltung der polnisch-litauischen Macht, während die
Krönung für Witowt die Unabhängigkeit seines Landes und Volkes von
dem polnischen Reichstage und der Gnesener Synode, ja eine Zukunft
Litauens bedeutete, welche Rußland zuteil geworden ist.
Um diese Gefahren abzuwenden, verwehrten die Polen der Krönungs-
gesandtschaft Sigismunds den Durchzug; Witowt aber, der, obwohl schwer
krank, sie in festlicher Versammlung in Wilna erwartet hatte, fiel auf der
Heimkehr von dort nach seiner Residenz Troki vom Pferde und starb
am 27. Oktober 1430. Der letzte bedeutende Erfolg seiner Politik war Festlegung der
der Frieden am See Melno (1422), welcher die Ostgrenze des preußischen preJmsch"^''und
Ordenslandes bis auf den heutigen Tag festlegte. Durch ihn wurde die ""^^""^
livländische Ordensmacht isoliert und Litauen in Polangen ein Zugang
zum Meere gegeben, zugleich aber auch die spätere kulturelle und kon-
fessionelle Verschiedenheit zwischen Preußisch- und Russisch-Litauen an-
gebahnt.
Mit Witowt schied die letzte machtvolle Persönlichkeit der litauischen
Geschichte, die letzte zugleich, deren Regiment dem litauischen Volke
eine freie nationale Kulturentwicklung in greifbare Nähe rückte. Soll er
sich doch mit dem Gedanken getragen haben, an Stelle des Russischen,
das von den Fürstenhöfen aus tief in sein Volk gedrungen war, das Li-
tauische zur Hof- und Kanzleisprache zu machen. Nunmehr aber stand
Litauen unter einer Vormundschaft, die seine Nationalität im besten Falle Litauen unter
schonte und es verstanden hat, die Menge des litauischen Volkes seiner mmdschaft.
Geschichte zu entfremden und in eine Abhängigkeit zu bringen, der sich
auch die wenigen nicht haben entziehen können, in welchen der nationale
Gedanke fortlebte. Abgesehen von der allerneusten Zeit kann demzufolge
von einer echt litauischen Literatur kaum die Rede sein. Was man ihr
zurechnet, sind vielmehr fast ausschließlich fremde oder fremd gedachte
Werke in litauischer Sprache, und ungeschminkte alte Konzeptionen
des litauischen Volksgeistes sind nur in der mündlichen Überlieferung er-
halten. Es würde daher etwas Versöhnliches haben, daß das am frühesten Der aitest
datierte litauische Sprachdenkmal (1512) eine Volkslied-, eine „Daina"- litauische Text.
Strophe ist, wenn sein Alter nicht einigen Zweifeln unterläge, und die
Art seiner Überlieferung (auf einem gewebten Schürzen- oder Strumpf-
band) nicht einen gar zu kleinlichen Eindruck machte.
L Die litauische Literatur bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts.
Von diesem Kuriosum abgesehen, verdanken wir die ersten litauischen
Texte dem reformatorischen Eifer, mit dem Albrecht von Brandenburg
sich der geistigen Hebung des von ihm in ein weltliches Herzogtum um-
gewandelten preußischen Ordenslandes annahm. An der Spitze dieser
Texte steht die leider aus zweiter Hand überkommene Übersetzung eines
Kirchenliedes von Stanislaus Rapagelanus aus einer Adelsfamilie des Rapageian.
358
Adalbert Bezzenbkrger : Die litauische Literatur.
jenseitigen Litauens, einem der ersten Professoren der von Herzog Albrecht
gegründeten Universität Königsberg (f 1545), und es war einer der ersten
Stipendiaten, welche der Herzog auf seine Kosten hier studieren ließ,
Moswid. Martinus Moswidius (seit 154g Pfarrer in Ragnit, •{- 1562 ebenda), dem
man die ältesten Veröffentlichungen in litauischer Sprache verdankt: eine
Übersetzung des Lutherschen Katechismus und mehrerer Kirchenlieder
(1547) und einiger anderer geistlicher Gesänge (1549; beides gedruckt in
Königsberg). Der ersten Schrift ist eine doppelte Einleitung (lateinisch
und litauisch) mit bemerkenswerten Äußerungen über das noch unverhüllt
bestehende litauische Heidentum vorgesetzt, und bemerkenswert ist es
auch, daß sie sich nicht an die Litauer des Herzogtums Preußen, sondern
„ad magnum ducatum Lituaniae", an „Litauer und Zemaiten" wendet. We-
niger als die Hebung des biblischen Unterrichts in den preußisch-litauischen
Gemeinden bezweckte Moswids Katechismusübersetzung also die Verbrei-
tung der lutherischen Lehre in ganz Litauen — ein propagandistischer
Versuch, der aber nicht den geringsten Erfolg gehabt hat.
Nach dem Erscheinen des zweiten Moswidschen Schriftchens ver-
gingen zehn Jahre, ehe wieder eine Veröffentlichung in litauischer Sprache
Forma erfolgtc: eine Übersetzung des Taufformulars der preußischen Kirchen-
ordnung von 1558 und des Kirchenliedes „Christ unser Herr zum Jordan
kam" (Forma chrikstima, Königsberg 1559). Auch sie erscheint aber als
Vorläufer, denn den nächst ältesten litauischen Text kennt man nur in
einer Abschrift von 1573, und in Fluß kommt die litauische Literatur erst
oiffenbüttier einige Jahre später. Jener Text besteht in einer umfänglichen Postille,
die ein Ungenannter mit Benutzung ähnlicher Werke für den Gebrauch
von Geistlichen angefertigt und wahrscheinlich nicht für den Druck be-
stimmt hat. Der Inhalt lehrt, daß der Verfasser theologisch gebildet und
mit den Verhältnissen Ostpreußens vertraut war; nicht minder, daß er
unter Litauern gelebt und nach 1552 geschrieben hat. Wo er zu suchen
ist, muß dahingestellt sein, da seine Sprache mundartlich nicht zu be-
stimmen ist.
Während diese ältesten Texte keine faßbare Wirkung hinterlassen
haben, stoßen wir im Jahre 1579 auf zwei Werke, die nicht ohne nach-
weislichen Erfolg geblieben sind. Damals veröffentlichte nämlich der
wiUent. Königsberger Pfarrer Bartholomäus Willent (f 1587) seine Übertragung
des Lutherschen Enchiridions und der sonntäglichen Evangelien und Epi-
Bretkunas. Stein, Und in demselben Jahre begann Janas Bretkunas (al. Bretkius,
Bretke), Pfarrer in Labiau, später in König-sberg- (f 1602 oder 1603), seine
höchst wertvolle, leider nicht erschienene Bibelübersetzung (vollendet 1,590;
die Handschrift in der Königsberger Kg"l. und Universitätsbibliothek). Dem-
selben verdanken wir auch eine litauische Postille (2 Bände, Königsberg
1591) und ein Gesangbuch (Königsberg 158g), das aber nicht sein aus-
schließliches Eigentum ist.
Welche Aufnahme Bretkes Postille gefunden hat, läßt sich nicht
I. Die litauische Literatur bis zum Anfang des l8. Jahrhunderts. 359
erkennen, während der Erfolg seines Gesangbuches, der Willentschen
Schriften und auch der Bretkeschen Bibel literargeschichtlich am Tage
liegt. Im Jahre 1612 veröffentlichte nämlich Lazarus Sengstock (geb. sengswck.
1562 in Lübeck, f 162 1 als Pfarrer in Königsberg) eine neue Ausgabe
von Willents Texten und eine geistliche Liedersammlung, die Bestandteile
jenes Gesangbuches aufgenommen und den späteren litauischen Gesang-
büchern übermittelt hat. Das nächstfolgende {1666) war das des Tilsiter
Pfarrers Daniel Klein, dem außerdem die ersten uns bekannten Dar- J^!«'"- Sappuhn.
Die ersten preu-
stellungen der litauischen Sprache zu danken sind (Grammatica lituanica, ß|!':''-i''=i"'.s':'>'=''
^ Grammatiken.
Königsberg 1653; Compendium lituanico-germanicum, ebenda 1654). An
sie reihte sich zunächst des Pfarrers Christoph Sappuhn [j- 1659) Com-
pendium grammaticae lithuanicae, König.sberg 1673, veröffentlicht von
Theophil Schultz (1662 Pfarrer in Kattenau).
Was femer den Erfolg der Bretkeschen Bibel betrifft, so bildet seine J-f^'^^'^Psaiter.
Psalmenübersetzung die Grundlage des im Jahre 1625 von Johannes
Rhesa (f 1629 als Pfarrer in Königsberg) herausgegebenen „Psalter
Davids, deutsch und littawisch" — freilich auch nur die Grundlage, denn
Bretkes Text ist hier von J. Rhesa und einigen dazu verordneten Geist-
lichen revidiert und der deutschen Version Luthers genähert, während
„zu den rühmlichen Eigenschaften und Vorzügen, welche man an der Bret-
kischen Übersetzung wahrnimmt, gehöret eine musterhafte Treue und Über-
einstimmung mit der Ursprache der heiligen Schrift" (L. J. Rhesa, Ge-
schichte der lit. Bibel, König^sberg 181 6, S. 10).
Man darf wohl annehmen, daß J. Rhesa in gleicher Weise auch
andere Abschnitte der Bretkeschen Bibelhandschrift zu verwerten beab-
sichtigt hat. Da er aber durch seinen frühzeitigen Tod hieran verhindert
wurde und keiner seiner preußischen Amtsbrüder sein Werk fortsetzte,
so hat es geraume Zeit gedauert, ehe die übrigen Teile der Bibel den
preußischen Litauern in ihrer Sprache zugänglich gemacht wurden. Erst
das Jahr 1701 brachte ihnen eine Übersetzung des Neuen Testaments ^^^ °«"e Testa-
•' ' ^ ment von 1701.
(gedruckt in Königsberg), und zwar als Geschenk des Landesherrn aus
Anlaß seiner Königskrönung. Dieselbe ist aber hauptsächlich von einem
Geistlichen des jenseitigen Litauens, Samuel Bythner, angefertigt,
von Bretke unabhängig und versucht, beiden Hälften Litauens sprach-
lich gerecht zu werden. In Preußen hat sie keinen Anklang gefunden,
und deshalb erschien hier im Jahre 1727 eine neue Übersetzung des
Neuen Testaments und der Psalmen, der 1734/35 die ganze Bibel in Erscheinen der
ersten vollstän-
litauischer Sprache folgte. Auf ihre späteren Revisionen gehe ich hier digenBibeiuber-
. , . Setzung.
nicht ein.
Zur Vervollständigung des vorstehenden Abrisses der preußisch-
litauischen Literatur bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts bedarf es hier-
nach nur noch der Erwähnung der im Jahre 1600 in Königsberg erschie-
nenen Übersetzung der Margaritha theologica und zweier kleiner Traktate
von Simon Waischnoras (Pfarrer in Ragnit; gest. 1600); ferner eines Waischnoras.
^50 Adalbert Bezzenberger: Die litauische Literatur.
litauischen Katechismus „in noch dreien Sprachen von einem ungenannten"
Obrigkeitliche von 1670, der verschollen ist, und endlich einiger obrigkeitlicher Mandate,
Verordnungen, wie solche bcsondcrs an den Kirchtüren publiziert wurden. Zwei von
ihnen (1578) wenden sich gegen kirchliche Mißstände der damals immer
noch zum Heidentum neigenden Litauer, ein drittes (1589) gegen die
hausierenden Schotten. Selbstverständlich begegnen solche Plakatverord-
nungen in litauischer Sprache auch in der Folgezeit und kommen noch
heute vor.
Die ältere Wenden wir uns nun zu der älteren Literatur des heute russischen
russisch -litau-
ische Literatur. Litauens, so ist zwar auch sie fast ausschließlich religiös, im übrigen aber
von derjenigen des preußischen Litauens wesentlich verschieden. Während
diese in ihrem Hintergrunde auf Schritt und Tritt das deutsche lutherische
Kirchenregiment und dessen Fürsorge für eine bäuerliche Bevölkerung
zeigt, die keine nationalen Aspirationen hegt, während sie daher auch
dogmatisch einheitlich ist, führt jene in Kreise, in denen noch Traditionen
Konfessionelle Witowts lebten, uud ist von vornherein in eine katholische und eine kal-
vinistische Richtung gespalten. Zum Verständnis der ersteren genügt eine
Erinnerung an Jagiellos Bekehrungsbemühungen und an die Stellung,
welche die katholische Lehre und Kirche in Polen stets eingenommen hat.
Um aber die kalvinistische Richtung zu verstehen, muß man wissen, daß
in der Mitte des 16. Jahrhunderts durch den Einfluß des Fürsten Nikolaus
Czarny Radziwil das reformierte Bekenntnis weite Verbreitung in dem
litauischen Adel gefunden hat und auf diesem Wege auch in einen Teil
der Landbevölkerung gedrungen ist — freilich nur, um schon bald unter
dem Druck des königlichen Hauses und der Staatskirche dort wieder auf-
gegeben und hier stark zurückgedrängt zu werden. Nur in verhältnis-
mäßig wenigen Gemeinden hat es sich seit damals bis heute erhalten.
Ihren Mittelpunkt bildet die reformierte Wilnaer Synode.
Katholische Der älteste katholisch-litauische Text (1595) ist die durch einige Bei-
gaben vermehrte Übersetzung einer polnischen Version des spanischen
Katechismus, den der Jesuit Ledesma verfaßt hat. Diese Übersetzung ist
Dauksza. gemacht von Michael Dauksza, Kanonikus von Zemaiten, aus adligem
Geschlecht. Wegen der mundartlichen Färbung ihrer Sprache fand sie
aber außerhalb seines Sprengeis Widerstreben, und ein Ungenannter ver-
fertigte deshalb eine neue Übersetzung (1605) desselben Katechismus in
ostlitauischem Dialekt. Noch ehe sie erschien, war aber von Dauksza
ein anderer, weit umfängHcherer Text (eine polnische Postille des Jesuiten
Jakob Wujek, f 1597) in seine Muttersprache übertragen, und diese Über-
setzung (erschienen 1599) erregt, abgesehen von ihrem sprachlichen Wert,
besonderes Interesse dadurch, daß in ihr nicht nur der Kleriker, sondern
auch der litauische Patriot zu uns spricht. Ihr Vorwort ist zwar polnisch
geschrieben, aber Dauksza fordert in ihm für das Litauische nichts Ge-
ringeres, als „gleiche literarische Rechte, wie für die polnische, römische,
griechische und andere Sprachen".
I. Die litauische Literatur bis zum Anfang des l8. Jahrhunderts. ^6l
Die nächste Fortsetzung dieser Anfange ist ziffermäßig nicht un-
bedeutend, inhaltlich aber so reizlos, daß ich von ihrer eingehenden Dar-
legung absehe. Was aus ihr hervorgehoben zu werden verdient, ist nur
die literarische Tätigkeit der Jesuiten Konstantin Szyrwid (geb. 1564, Szyrwid.
T • •ITT- TT 1 Jachnowicz.
f 1631 in Wilna) und Jan Jachnowicz (•]- 1668 m Wilna). Von den
Werken des letzteren, der polnisch und litauisch geschrieben hat, kennen
wir freilich leider nur die Titel (sechs werden überliefert), diejenigen
Szyrwids dagegen sind mit Ausnahme seiner „Clavis linguae lithuanicae"
(Wilna 1630) wohl bekannt. Es sind dies die „Punkty kazai'i" (litauisch
und polnisch; Wilna I 162g, II 1644) und das „Dictionarium trium lingua-
rum" (Wilna 1629; später wiederholt aufgelegt). Dies Wörterbuch (pol-
nisch-lateinisch-litauisch) war für die „studiosa iuventus" bestimmt, während
die Punkty Predigten oder vielmehr Predigtdispositionen enthalten, welche
die Nachricht illustriert, daß Szyrwid an den Festtagen früh dem Land-
volke litauisch, mittags der Aristokratie polnisch und abends Leuten aller
Berufsklassen wieder litauisch predigte — eine Überlieferung, die zu-
gleich die damaligen gesellschaftlichen und sprachlichen Zustände der
Hauptstadt Litauens veranschaulicht. Als rustikale, dem Polnischen unter-
geordnete Sprache erscheint das Litauische auch in einigen polnischen Poinisch-iitau-
Zwischenspielen aus dem Jesuitenkolleg zu Kroze in Zemaiten (Mitte des spiele.
17. Jahrhunderts).
Fast zu derselben Zeit und in derselben Weise wie die katholische Reformierte
setzt die reformierte litauische Literatur ein. Ihren Anfang bildet nämlich
ein von dem Edelmann Malcher Pitkiewicz im Jahre 1598 in Wilna Pitkiewicz.
herausgegebenes Übersetzungswerk, das in polnischer und litauischer
Sprache einen Katechismus, Gesänge, Psalmen und eine kurze Agende
enthält, und zwei Jahre später erschien die große „Postilla lietuwiszka" PostiUe von 1600.
(Wilna 1600). Diesen beiden Werken folgte zunächst, soweit wir wissen,
ein Sammelband, dessen erste Ausgabe indessen verschollen ist. Die
zweite, 1653 in Keidan gedruckt, umfaßt eine gereimte Übersetzung
der Psalmen und geistlicher Lieder aus dem Polnischen, eine Postille,
Gebete und einen Katechismus und pflegt unter dem Titel ihres ersten
Bestandteiles „Kniga Nobaznistes" zitiert zu werden. Die Fassung des Knyga
. . . - Nobaznystös.
Inhalts ist die Arbeit mehrerer Geistlichen und eines Laien, des Keidaner
Bürgermeisters Stephan Telega.
Kurz nach dem Erscheinen dieser Ausgabe kamen die litauischen
Reformierten in sehr schlimme Lage. In dem damals beginnenden zweiten
schwedisch-polnischen Kriege hatten sie sich gleich den übrigen Dissi-
denten des polnisch -litauischen Staates auf Seite der eindringenden
Schweden gestellt und mußten dafür nach deren Abzüge schwer büßen.
Um so höher ist es zu achten, daß sie in dieser Zeit der Verarmung und
Bedrückung an die große Aufgabe einer Bibelübersetzung gingen. Leider Die chyiü-
ist dieselbe nicht zur vollen Ausführung gekommen. Wohl wurde der
Text in Edinburg in Druck gegeben, und dieser war 1662 bis zum Ende
x()2 Adalbert Bezzenberger : Die litauische Literatur. •
der Psalmen vorgeschritten. Allein der Mangel an Mitteln verbot seine
Fortsetzung, und die Druckbogen werden der Makulierung anheimgefallen
sein. So erklärt es sich, daß trotz eifrigster Nachforschungen nur drei
unvollständige Exemplare dieser Übersetzung gefunden sind, die mit gutem
Grunde die Chylinskische heißt. — Ganz verschollen ist ein reformierter
Katechismus, der 1681 auf Kosten der Fürstin Karolina Ludwika Radziwil
gedruckt sein soll.
In weltlichem Gebrauch erscheint das Russisch-Litauische bis zur
Eidesformea. Mitte des 1 8. Jahrhunderts nur in einigen Eidesformen.
IL Die Literatur des i8. Jahrhunderts. Während alle oben-
genannten Texte für ein allgemeines Interesse immerhin den Reiz des
Anfänglichen haben, kann das Litauen des i8. Jahrhunderts auf den ihm
ferner Stehenden literarisch nur dadurch wirken, daß in diesem Zeitraum
Donalitius gedichtet und das litauische Volkslied seinen Eingang in die
Weltliteratur gefunden hat. Beides genügt aber, um ihm für immer Be-
achtung zu sichern.
Doniutius. Christian Donalitius ist am i. Januar 17 14 in Lasdinehlen bei
Gumbinnen als Sohn eines Freibauern geboren, hat in Königsberg studiert
und war seit 1743 Pfarrer in Tollmingkehmen, wo er am 18. Februar 1780
gestorben ist. Genauere Nachrichten über sein Leben bieten einige in
der Anmerkung zu dieser Seite genannte Schriften zur Genüge. Wenn
man ihn einen Nationaldichter nennt, so ist dies insofern unzutreffend, als
das litauische Volk ihn nicht kennt; richtig aber, insofern er als National-
Litauer — freilich als klassisch-gebildeter — empfunden und gedichtet
hat. Sein Versmaß — • der Hexameter, „den er noch vor dem Erscheinen
der ersten Gesänge des Klopstockschen Messias anzuwenden den Mut
hatte" — ist zwar unlitauisch, aber durchaus volkstümlich, wahr und einfach,
„eminent realistisch" sind seine Schilderungen: der Natur, der Jahreszeiten,
des Volkslebens und des Volkes, unter dem er wohnte — litauischer
Scharwerker, die unter der Zucht deutscher Amtmänner standen und von
Kolonisten umgeben waren, die Friedrich Wilhelms I. Sorge für das durch
die Pest entvölkerte Land eingeführt hatte. Seine Beherrschung der
Sprache ist meisterhaft, und der hohe poetische Wert seiner Dichtungen
unbestritten. Er selbst scheint sie freilich recht bescheiden eingeschätzt
und nur zur Unterhaltung seiner Freunde bestimmt zu haben. Was von
ihnen erhalten ist, hat jedenfalls erst lange nach seinem Tode den Weg in
die Öffentlichkeit gefunden. Es besteht in sechs Fabeln und fünf Idyllen,
von denen vier die Jahreszeiten behandeln und von Rhesa unter dem
Namen „das Jahr" zusammengefaßt sind.
Zeigt das 16. und 17. Jahrhundert die Litauer als ein „annes ver-
terbtes Volk", um dessen Seelenheil es übel bestellt ist, schildert sie
hiiipp Ruhig.— Donalitius in ihrer bäuerlichen Urwüchsigkeit, so war es Philipp Ruhig
)as Volkslied & ' ffa
(Daina). (geb. 1675, -)- 1749 als Pfarrer in Walterkehmen, einer Nachbargemeinde
n. Die Literatur des l8. Jahrhunderts. 363
von Donalitius' Kirchspiel), der zuerst einen Blick in die Feinheit ihres
inneren Lebens, in die Schönheit ihres überwältigend reichen Volksgesanges
gewährte und damit zugleich Lessing für diesen gewann. „Es ist nicht Lessing über
lange", schreibt Lessing im ^3. Literaturbrief {1759), „als ich in Ruhigs Volkslied.
Littauischem Wörterbuche blätterte, und am Ende der vorläufigen Betrach-
tungen über diese Sprache, eine hierher gehörige Seltenheit antraf, die
mich unendlich vergnügte. Einige Littauische Dainos oder Liederchen,
nämlich, wie sie die gemeinen Mädchen daselbst singen. Welch ein naiver
Witz! Welche reizende Einfalt! Sie haben in dem Littauischen Wörter-
buche nichts zu suchen: ich will Ihnen die zwei artigsten also nach
Ruhies ÜbersetzunsT, daraus abschreiben" .... Diese Stelle ist von Herder, Herders
° * r 1 j MitteUung
Volkslieder I S. 10 abgedruckt, und die Anregung, auf Damos zu fahnden, litauischer
-r^ tiT , 1 --1 VolksUeder.
ist ihm also vermutlich durch sie geworden. Das genannte Werk enthalt
deren acht: sieben im L Band (S. 31 ff., iiiff., 213), die er von P[ro-
fessor] K[reutzfeld] in K[önigsberg] empfangen hat (S. 316), und eine im IL
(S. 104). Nur diese letzte gehört zu den von Ruhig mitgeteilten, erscheint
hier aber nicht in dessen wörtlicher Verdeutschung, sondern in einer
Übersetzung, „nach dem Silbenmaß des Originals", und eben diese Wieder-
Cfabe („Ich habs sfesagt- schon meiner Mutter") gefiel Goethe so, daß er Goethe und das
=> ^ ' ö ö / o _ ' _ litauischeVolks-
sie wörtlich in die „Fischerin" (1782) aufnahm — jenes Singspiel, das mit Ued.
dem unvergleichlichen „Erlkönig" beginnt.
Eine andere Beziehung Goethes zu dem litauischen Volksgesang
wurde durch die Rhesasche Dainasammlung hergestellt, die ihn zu einer
Anzeige veranlaßte, und auch hier nimmt er eine sehr freundliche Stellung
zu diesen Dichtungen ein. Ihr Wesen besprechend schlägt er hier für
ihre Art den Namen „Zustandsgedicht" vor. Es erscheint mir aber frag-
lich, ob ihn Goethe heute noch allgemein auf die Daina anwenden würde,
wo wir durch die Bemühungen Stanewiczs, Dowkonts, Nesselmanns, Daina-
^ Sammlungen.
Schleichers, Fortunatovs und Millers, Anton Juskevics, Leskiens und Brug-
manns, Bassanovics und vieler anderer weit mehr Daina-Texte kennen,
als Goethe vorlagfen. In Wahrheit gibt es wie keine Situation, in der wesennudAiter
* ° .des litauischen
solche Lieder nicht entstanden sind, so keinen Ton, der in ihnen nicht an- Volksliedes.
geschlagen wäre, keine poetische Kategorie, der sich nicht größere oder
kleinere Daina-Gruppen von selbst unterordneten, und wenn man gesagt
hat, der litauische Volksgesang sei durchaus lyrisch, so ist dies dahin zu
berichtigen, daß er heute vorwiegend der Lyrik angehört oder nahe steht,
während geschichtliche, sagenhafte und mythologische Züge in ihm sehr
spärlich sind. — Diese Armut darf aber nicht zu der Auffassung ver-
leiten, daß die Daina etwas Junges sei. Ihre durchschnittlich altfränkische
Szenerie, die textliche Einheitlichkeit vieler preußisch- und russisch-
litauischer Lieder, zahlreiche höchst intime Berührungen zwischen dem
litauischen und dem lettischen Volksgesange und endlich eine nicht weg-
zuleugnende Beziehung des ersteren zu dem slawischen (insbesondere
wohl dem kleinrussischen) Volksliede, die nicht von heute oder gestern
ßÖA Adalbert Bezzenberger : Die litauisclie Literatur.
ist — alles das verbürgt vielmehr ihr Alter. Überdies liegen aus dem
1 6. und 1 7. Jahrhundert Zeugnisse für den litauischen Volksgesang vor,
und wenn darin von Heldenliedern berichtet wird, so erhärtet dies die
sehr nahe liegende Vermutung, daß die Epik, unzweifelhaft durch den
Gang der Geschichte, in Litauen allmählich zurückgedrängt ist. Im Laufe
der Zeit hat das litauische Volkslied aber überhaupt sehr gelitten, und
leider ist ihm gerade in unserer Ära der größte Schaden zugefügt. Wer
sich eingehend mit ihm beschäftigt, wird oft erschreckt sein durch das
Stück- und Flickwerk, die Stümpereien und Plattheiten, die er an Stelle
alter schöner Lieder und Strophen findet. Rühmend muß es aber gesagt
sein, daß die Zote dem litauischen Volksgesange bisher fast ganz fremd
geblieben ist.
Melodien. Was das Wort „Volksgesang" in sich schließt, daß nämlich das ein-
zelne Lied im Gesänge lebt, gilt im besonderen Maße von dem litauischen,
und so ist es denn selbstverständlich, daß die zahllosen Dainos zahllose,
und nebenbei bemerkt, oft sehr schöne Melodien zur Seite haben. Auch
ihnen hat sich ein rühmlicher Sammeleifer zugewandt. Während aber
einige der Texte durch Chamisso vollendete Umprägungen erfahren haben,
hat der künstlerische Gehalt noch keiner Dainamalodie an einem großen
Komponisten einen Interpreten gefunden, denn Chopins litauisches Lied
ist ganz unlitauische Musik.
III. Die Literatur des ig. Jahrhunderts. Zeigt sich die litau-
ische Literatur des 16., 17. und 18. Jahrhunderts fast durchweg im Talar,
so hat diejenige unserer Zeit dafür eine um so mannigfaltigere Her-
kunft und Richtung; und verfolgt jene im einzelnen einen mehr oder
weniger partikularistischen Zweck, so bringt diese dafür um so leb-
hafter den national - litauischen Einheitsgedanken zum Ausdruck. Um
Erstarkendes dicsc Verschiebung vollkommen zu erklären, genügt nicht die Erinne-
VolksbeWUßt- . 1-r» 1-1XT'l-" ... TT
Seins. Poiitisciie rung an die Starke Betonung, die das Nationalitatspnnzip im ig. Jahr-
hundert überall gefunden — an die Hebung der Volksbildung, die sich
in ihm vollzogen — an den Eingang, welchen die politische Agitation
seit Dezennien beim Volke gesucht hat. Vielmehr sind hier auch zwei
besondere Umstände zu berücksichtigen, und zwar zunächst die Aufmerk-
samkeit, die seit fünfzig Jahren, von Schleicher an, der wundervollen
Sprache und den volkstümlichen Überlieferungen der Litauer seitens der
Wissenschaft zugewandt und nicht ohne starke Wirkung auf das Selbst-
gefühl des begabten Volkes geblieben ist. Noch folgenreicher für seine
Die Be- literarische Entwicklung war aber das, daß neuerdings unter wirklichem
amerikanischen oder Vermeintem Druck der heimatlichen Verhältnisse viele Litauer nach
Amerika ausgewandert .sind und sich dort, besonders wie es scheint in
Pennsylvanien, zu eifriger Pflege ihres Volkstums zusammengefunden haben.
Auf diesem Wege ist eine ansehnliche amerikanisch-litauische Literatur
entstanden, die noch täglich zunimmt, in der alten Welt eifrig vertrieben
ühunge
lerikan
Emigranten.
111. Die Literatur des 19. Jahrhunderts. 365
wird und auf die europäischen Litauer einen in jeder Hinsicht bedeutenden
Einfluß ausübt — einen Einfluß, den man richtig beurteilen wird, wenn
ich sage, daß diese Emigrantenliteratur nirgends die politischen Maximen
und nationalen Aspirationen ihrer Urheber verhüllt. Man mag hierüber
denken, wie man will — anerkennen muß man aber, daß durch das
Zusammenwirken der litauischen Intelligenz diesseits und jenseits des
Ozeans in iünsrster Zeit eine Literatur erwachsen ist, die nach Umfang Umfang und
■> o . Gehalt der
und Vielseitigkeit Staunen erregt, und deren Sprache sich mehr und neueren
mehr einer allgemeinen litauischen Schriftsprache nähert. Während ein
fleißiger Versuch einer litauischen Bibliographie aus dem Jahre 1875 alles
in allem, die Werke über Litauen eingerechnet, 223 Nummern aufführt,
sind nur in Amerika von i8go — 1900 weit über hundert litauische Texte
erschienen, und von den drei neuesten buchhändlerischen Verzeichnissen
litauischer Publikationen enthält das von M. Saunus in Tilsit kürzlich
ausgegebene 435 Nummern, von zwei in Wilna erschienenen aber das
eine (aus dem Jahre 1906 von Petras Vileisis) 773 und das andere (der
Buchhandlung „Lietuva" von 1907) sogar 1208 Nummern, und zwar mit
Beschränkung auf die von der russischen Zensur erlaubten Veröff"ent-
lichungen.
Blickt man heute auf die Entwicklung der litauischen Literatur im
letzten Jahrhundert zurück, so bemerkt man von vornherein neben ihrer
immer weiter gepflegten erbaulichen Richtung- ein der weltlichen Volks-
schrift zugewandtes Streben. Es offenbart sich zuerst in der Übersetzung
eines Schriftchens über Bienenzucht und Rhesas Übersetzung der Äso-
pischen Fabeln, weiter in vStanewiczs Dainos, tritt besonders kräftig in
den Schriften Dowkonts (s. unten) hervor, führt zur Herausgabe von
Kalendern, Zeitungen und volkstümlichen Erzählungen, leitet von ihnen Zeitungen.
zur Novelle und bemächtigt sich schließlich ziemlich aller Gebiete des
menschlichen Denkens und Wissens: Erzählungen, Novellen, Romane,
Dramen, Gedichte, geographische, geschichtliche, politische, volks- und land-
wirtschaftliche, medizinische, pädagogische Schriften, Volksüberlieferungen
(namentlich Märchen) — alles das kann man heute in litauischer Zunge
lesen. Aber freilich: macht man sich von dem Zauber dieser unvergleich-
lichen Sprache frei und hält sich nur an den Inhalt dieser Literatur, so
findet ein moderner Kulturmensch in ihr nicht eben viel, was ihn empor-
hebt — abgesehen natürlich von ihren zahlreichen Übersetzungen, unter Übersetzungen
denen z. B. Kraszewskis Witolorauda (Posen 1881) nicht befremdet, während
z. B. Äschylus' Gefesselter Prometheus (Wilna 1905), Byrons Kain (Plymouth
Pa. 1903) und Maeterlincks Monna Vanna (Riga 1905) sehr überraschen,
zugleich aber eine eindrucksvolle Vorstellung von den litauischen Lesern
und Schreibern unserer Zeit geben. Und ohne zu leugnen, daß manche
moderne litauische Dichtung geschickt gemacht, manche warm empfunden
ist, so ist die neue litauische Literatur in Summa zu dilettantisch und re-
produktiv, als daß dieser Eindruck nicht das bedeutendste wäre, was sie
366
Adalbert Bezzenberger : Die litauische Literatur.
ZU geben vermag. Sie zeigt einen Volksstamm, der nach jahrhunderte-
langer Abhängigkeit sich seiner großen Geschichte besinnt, im erfolg-
reichen Bemühen, sich zu bilden und geistig zur Geltung zu bringen.
Ob dies Bestreben politisch bequem ist oder nicht, ist eine Frage für sich.
Auch wer sie verneint, wird aber dem patriotischen Idealismus der Führer
Die Litoomanen. der sogenannten Lituomanen, der Rührigkeit eines Bassanowicz, Jankus,
Szliupas Anerkennung nicht versagen können.
Neuere Ein Eingehen auf alle bemerkenswerteren lebenden litauischen Schrift-
Schriftsteller. ... . . , . t^..-,-, -, i , , . , • , -, r
steller ist mir m den meisten t allen aus Mangel an biogTaphischem Ma-
terial nicht möglich, und eine Auswahl würde ein schiefes Bild geben.
Ich sehe von ihnen daher des weiteren ab und beschränke mich, zum
Schluß die wichtigeren der verstorbenen des ig. Jahrhunderts vorzuführen,
soweit dies nicht schon genügend geschehen ist.
Dowkont. Simon Dowkont, geb. 28. Oktober 1793 in Kiwillen (Kreis Telsch),
gest. 24. November 1864 in Popeljany (Kreis Schaulen), hat in Wilna stu-
diert, in Dorpat den Magistergrad erworben, das Ausland besucht, dann
Beamtenstellungen in Riga und Petersburg eingenommen, später mehrere
Jahre als Privatmann bei Wolonczewski und den Rest seines Lebens in
seinem Sterbeort zugebracht. Seine literarische Tätigkeit war ausschließ-
lich seinem Volke und im besonderen den Zemaiten gewidmet, deren
Mundart er sich auch in seinen zahlreichen Schriften bediente. Viele der-
selben sind ungedruckt geblieben, und die erschienenen sind anonym oder
unter Pseudon3^men veröffentlicht. Sie sind, abgesehen von seiner Daina-
sammlung, alle in Prosa, von sehr verschiedenem Inhalt und zum Teil
Übersetzungen. Soweit die Persönlichkeit Dowkonts in ihnen hervortritt,
ist sie sympathisch, und sein Hauptwerk „Buda senowes-Letuwiü" (Peters-
burg 1845), gewissermaßen eine Religions- und Kulturgeschichte des alten
Litauens, zeigt ihn als einen sehr belesenen und gut gebildeten Mann.
Sein Stil ist vortrefflich, seine Sprache schwer, aber eine Schatzkammer
für den Linguisten.
wrfonczewski. Glcich Dowkont ist .Matäus Kazimir Wolonczewski ein Zemaite
des Telscher Kreises. Er ist in Nastrenen am 17. Februar 1801 geboren
und als Bischof seiner Heimat-Diözese am 17. Mai 1875 in Kowno ge-
storben. Auch er suchte als litauischer Patriot sein Volk durch zahlreiche
Prosaschriften zu bilden, ließ sich dabei aber fast ausschließlich von kirch-
lichen Gesichtspunkten leiten. Sein bekanntestes Werk ist eine zwei-
bändige Geschichte des Bistums Zemaiten (Zemajtiu Wiskupiste, Wilna
1848). Ob eine nicht umfängliche, aber doch reichhaltige und sehr an-
ziehende Schilderung des zemaitischen Bauernlebens in Form einer Er-
zählung „Palangos Juze" („Joseph aus Polangen") (erste mir bekannte Aus-
gabe [anonym] Wilna 1863, letzte [unter W.'s Namen] Tilsit 1902) von
ihm ist, erscheint mir nicht ausgemacht.
Kurschat. Ein ganz anderes Bild als die schriftstellerische Tätigkeit Dowkonts
und Wolonczewskis, gewährt diejenige Friedrich Kurschats (geboren
III. Die Literatur des 19. Jahrhunderts. 367
24. April 1806 in Noragehlen [Reg.-Bez. Gumbinnen], 1841 Lektor des
Litauischen an der Universität Königsberg, 1 844 lit. Militärprediger ebenda,
gestorben 23. August 1884 als außerordentlicher Professor im Seebad Cranz).
Auch er war Nationallitauer und hat es ausgesprochen, daß er sein Leben
lang für das Volk seiner Geburt gearbeitet hat, aber was ihn dabei er-
füllte, war nicht nationaler Lebensmut, sondern das Streben eines frommen
und königstreuen Mannes, seine „durch die Ungunst der Umstände eiligen
Schrittes ihrem Untergange entgegengedrängte Nationalität" geistlich zu
versehen und ihr sprachliches Erbe zu sichern. In der Wissenschaft hat
er sich durch seine grammatikalische und lexikalische Behandlung seiner
Muttersprache einen unvergänglichen Namen erworben. Den Litauern
aber ist er am bekanntesten durch seine revidierte Ausgabe des Neuen
Testaments, seine Neubearbeitung des litauischen Gesangbuchs, einen
Katechismus und besonders durch die von 1849 — 1880 von ihm heraus-
gegebene und fast ganz allein geschriebene kleine religiös- politische
Wochenschrift „Keleiwis" (der „Wanderer").
An Talent und Originalität über den anderen neueren litauischen Jacoby.
Schriftstellern steht der Deutsche Rudolf Jacoby (geboren 14. Februar
181 7 in Tilsit, gestorben 24. Februar 1881 als Pfarrer in Memel). Es ist
zwar nur eine Kleinigkeit, ein Brief in Memeler Mundart (Mitteil. d. lit.
liter. Gesellschaft I S. 61 — 80), was ihm die litauische Literatur verdankt,
aber dieser kurze Text ist eine Perle der Literatur überhaupt. Er zeigt
eine bewundernswerte Vertrautheit mit Sprache und Geist des litauischen
Bauern und schildert mit einer Unbefangenheit, einem liebenswürdigen
Humor, der höchst wohltuend sowohl von dem Kinderlehrenton wie von
der patriotischen Phrase absticht, womit nur zu viele original-litauische
Publikationen uns langweilen. Nicht mit Unrecht ist Jacoby mit Dickens
verglichen, und es ist nur schade, daß dieser Brief so litauisch ist, daß
seine Übersetzung seinen Reiz abstreifen würde.
Weit weniger günstig urteile ich über einen anderen deutsch-litauischen Sauerwein.
Schriftsteller, obgleich gerade dieser im preußischen Litauen sehr populär
ist: G. J. J. Sauerwein (geboren etwa 1838 zu Bantelen [?] in Hannover
und unlängst gestorben). Er war wohl das größte sprachliche Genie, das
die Erde hervorgebracht hat, aber wissenschaftlich ganz unfruchtbar und
nach meinen persönlichen Eindrücken von der fixen Idee benommen, daß
er zum Anwalt nationaler Minoritäten bestimmt sei. Diese Einbildung
brachte ihm wie die Lappen und die Sorben des Spreewaldes, so die
Litauer nahe und ließ ihn, den geborenen Weifen, unter ihnen dema-
gogisch auftreten. Mancherlei ist von ihm in litauischen Zeitungen ver-
öffentlicht, darunter Gedichte, die höchst gewandt gemacht, aber eben
gemacht sind.
Wirkliche Poesie bietet dagegen Anton Baranowskis großes Ge- Baranowski.
dicht auf den Wald seines Heimatortes Oniksty („Anykszczu Szilelis",
Ausgabe von H. Weber, Weimar 1882 unter dem Titel Ostlitauische
•5^8 Adalbert Bezzenberger: Die litauische Literatur.
Texte I). Über Baranowskis Leben kann ich nicht mehr sagen, als daß
er 1865 Professor an der römisch -kathoUschen geistlichen Akademie in
Petersburg, 1876 Professor und Inspektor im bischöflichen Priesterseminar
in Kowno war und am 26. November 1902 als Bischof von Seiny ge-
storben ist. Von seinen Landsleuten wird ihm, wohl mit Unrecht, eine
weitgehende Hinneigung zum Polentum vorgeworfen. In der sprach-
wissenschaftlichen Welt genießt er als Kenner und Erforscher der russisch-
litauischen Sprache großes Ansehen. Außer Anykszczu Szilelis gibt es
von ihm mehrere Gedichte. Ich kenne davon aber nur das unbedeutende
„Lietuwos senowes paminejimas" („Gedenken an Litauens Vorzeit", Auszra
1883 S. 8).
Literatur.
Eine Gesamtdarstellung der litauischen Literatur in der litauischen Schrift „Lietu,
viszkiejie Rasztai ir Rasztininkai. Raszlaviszka Perzvalga parengta Lietuvos Myletojo. Kaszta
Baltimores Md. L. M. Draugystes" (Tilzeje [Tilsit], 1890); angeblich von J. Szlixipas. —
Ein vortreffliches Hilfsmittel ist M. Stankiewicz' Bibliografia litewska od 1547 do 1701 r.
(Krakow, 1889).
S. 354. Über die Jatwägen A. Sjögren, Memoires de l'Academie de St. Petersbourg
VI. Serie (Sciences politiques) T. IX S. 161. — Eine Karte des litauischen Sprachgebiets in
KURSCH-ATS litauischer Grammatik (Halle, 1876). — Wegen der Geschichte Litauens vgl.
besonders V. B. AntonOVIC, Oferkb istoriji velikago knjazestwa litovskago I (Kiew, 1878)
und Caro, Geschichte Polens.
S. 355. Über Witowt: A. Barbasev, Vitovtb i jego politika do Grjunvahdenskoj bitvy
(1410) (Petersburg, 1885); K. LOHMEYER, Witowd, Großfürst von Litauen (-]- 1430) in den
Mitteilungen der litauischen literar. Gesellschaft II S. 203.
S. 357. Die aus dem Jahre I5I2(?) überlieferte Dainastrophe ist mitgeteilt von Neh.
RING in den Beiträgen zur Kunde der indogermanischen Sprachen XV S. 139. — Über
Rapagelan s. TSCHACKERT, Urkundenbuch zur Reformationsgeschichte des Herzogtums
Preußen I S. 259, 289, III S. 99 (Nr. 1765).
S. 358. Ausgabe der ersten Schrift des Moswidius von A. Bezzenberger (Litauische
und lettische Drucke I [Göttingen, 1874]), der zweiten von Z. Celichowski (M. Mosswida
Waitkuna przekiad litewski pieäni Te deum laudamus z r. 1549 [Poznaö, 1897]). — Ausgabe
der Forma chrikstima von A. BEZZENBERGER a. a. O. II (Göttingen, 1875). — W- Gaigalat,
Die Wolfenbütteler litauische Postillenhandschrift aus dem Jahre 1573 in: Mitteilungen der
litauischen literarischen Gesellschaft V S. i ff., 177 ff., 231 ff. — Ausgabe der Willentschen
Texte von F. Bechtel (Göttingen, 1882). — Proben der Bretkunschen Bibel in den Litau-
ischen Studien von L. Geitler (Prag, 1875) S. 12 und in der Litauischen Chrestomathie
von E.Wolter (Petersburg, 1901. 1904) S. 471 (beide ungenau). — Proben der Postille des
Bretkunas gaben Geitler in Rad jugosl. ak. XL und Wolter a. a. O. S. 17.
S. 359. Über Sengstock s. Bechtel a. a. O. — Über die weitere Geschichte des preuß.
htauischen Gesangbuches s. R. Schwede in Mitteilungen der litauischen literar. Gesellschaft
III S. 396.
S. 360. Der Katechismus von 1670 ist erwähnt von Lepner, Der preusche Littauer,
S. 108 des Neudrucks. — Die ältesten Mandate sind herausgegeben von F. Nesselmann,
N. Preuß. Provinz. Blätter A. F. I S. 241, A. Bezzenberger, Götting. Nachrichten 1877 S. 241
und Beiträge zur Kunde der indogerm. Sprachen II S. 119. — Über Dauksa: Rasztai ir
Rasztininkai S. 10; Wolter in Mitteilungen der lit. liter. Gesellschaft IV S. 363. Ausgabe
seiner Katechismusübersetzung von E. Wolter: „Litovskij Katichizist N. Daukäi" (Peters-
burg, 1886). — Ausgabe des Katechismus von 1605 von J. Bystron: Katechism Ledesmy
(Krakau, 1890). — Probe von Dauksas Postillenübersetzung in der Chrestomathie Wolters
(S. 27), der auch eine Ausgabe begonnen hat (I. Heft, Petersburg, 1904).
S. 361. Ausgabe des ersten Teiles der Punkty kazaö von R. Garbe, Szyrwids Punkty
Kazaii vom J. 1629 (Göttingen, 1884). Probe des zweiten bei Wolter a. a. O. S. 61. —
Wegen der erwähnten Zwischenspiele s. A. Brückner im Archiv für slaw. Philologie XIII
Die Kultur der Gegenwart. I. 9. 24
37°
Adalbert Bezzenberger: Die litauische Literatur.
S. 212. — Über Pitkiewicz und seine Übersetzung Brückner a. a. O. S. 557. — Eine Probe
der Postilla von 1600 bei Wolter a. a. O. S. 464. — Probestücke aus Kniga Nobaznystes
bei Wolter a. a. O. S. 62. — J. Sembrzycki, Die polnischen Reformierten und Unitarier
in Preußen in: Altpreuß. Monatsschrift XXX S. 20fr. — Über die sehr verwickelte Ge-
schichte der Chyliiiskischen Bibel s. H. Reinhold in Mitteilungen der lit. liter. Gesellschaft
IV S. 105, 207 (mit Textproben).
S. 362. Hinsichtlich der Eidesformen s. J. Sprogis in den Izvcstija imperat. Akad.
Naukb IV Nr. 4 (1896) S. 415; E. Wolter in Mitteil. d. lit. liter. Gesellsch. II S. 299; der-
selbe, Chrestomathie S. 268. — Ausgaben des Donalitius von L. J. Rhesa (der Jahreszeiten
in „Das Jahr" [Königsberg, 1818], der Fabeln in ,,Aisöpas arba Päsakos" usw. [Königsberg,
1824]), A. Schleicher (Chr. Donaleitis lit. Dichtungen [Petersburg, 1865]), G. H. F. Nesselmann
(Chr. Donalitius' lit. Dichtungen [Königsberg, 1869]). Übersetzungen von Rhes.-v und Nessel-
mann a. a. O. und L. Passarge (Chr. Donalitius' lit. Dichtungen [Halle, 1894]). Vgl. außer-
dem F. Tetzner, Die Slawen in Deutschland (Braunschweig, 1902) S. 49, Altpreuß. Monats-
schrift XXXIII S. 18, 190, XXXIV S. 277, 409, XXXVI S. 305, XXXIX S. 138, Zeitschr. f.
Kulturgeschichte N. F. 111 S. 291, Unsere Dichter in Wort und Bild VI (Leipzig, 1896). —
Donalitius' Sittenschilderungen werden durch ältere und zugleich wertvollere nichtlitauische
Prosabehandlungen des lit. Volkes (namenüich die von Pr.\torius und Lepner) ergänzt.
S. 363. DainaProben sind zwar schon früher gedruckt, bestehen aber in unbedeuten-
den Bruchstücken und sind ohne Wirkung geblieben. — RuHlGs Übersetzungen stehen in
seiner Betrachtung der littauischen Sprache (Königsberg, 1745) S. 74 ff. — Dainä (Mehr-
zahl Dainos) ist der litauische Name des weltlichen Liedes (neuerdings auch des nicht-
gesungenen). Die an Verstorbene gerichteten Lieder bezeichnet man mit dem Sonder-
namen Raüdos (so heißen alle Totenklagen). — Die Ergänzung von Herders Abkürzungen
ergibt sich aus S. Bock, Versuch einer wirtschaftlichen Naturgeschichte von dem König-
reich Ost- und Westpreußen I (Dessau, 1782) S. 155. — Dainos oder lit. Volkslieder ge-
sammelt, übersetzt usw. von L. J. Rhesa (Königsberg. 1825; neue Auflage von Friedr. Kur-
schat [Berlin, 1843]). — Rhesa (Ludwig Jedemin) ist 1777 in Karwaiten (Kur. Nehrung)
geboren und 1841 als Professor der Theologie in Königsberg gestorben. — Goethes Anzeige
steht in der V'ollständ. Ausgabe letzter Hand XLVI (1833) S. 364. — Daynas Zemaycziu
surynktas yr yszdutas par Symona Stanewicze (Wilna, 1829). Über Stanewicz, der auch
selbst litauisch gedichtet hat, s. Mitteil, der lit. liter. Ges. 111 S. 458 und Rasztai ir Raszti-
ninkai S. 31. — [Dowkont] Dajnes Ziamajtiü (Petersburg, 1846). — Litauische Volkslieder
gesammelt, kritisch bearbeitet und metrisch übersetzt von G. H. F. Nesselmann (Berlin, 1853).
— Litauisches Lesebuch und Glossar von August Schleicher (Prag, 1857) S. 33 ff.— [Fortu-
natov u. Miller] Litovskija narodnyja pesni. Aus den Moskauer Universitätsschriften ohne
Titelblatt. — JuäKEVics Daina-Sammlungen : Lietüviäkos Däjnos, 3 Bände (1569 Lieder) (Kasan,
1880— 1882); Lietüviskos svotbines Däjnos (Hochzeitslieder), Petersburg, 1883 (lioo Lieder).
Eine Anzahl von Liedern enthält auch seine höchst wertvolle ,,Svotbine Reda Velünyciu Lietüviu"
(Kasan, 1880), die unter dem Titel „Hochzeitsgebräuche der Wieionischen Litauer" in das
Deutsche übersetzt ist (Mitteil. d. lit. liter. Ges. III S. 134, 201, 321). Ein großes htauisches
Wörterbuch, das A. JuSkeviC (geb. 18 19, f 1880) hinterlassen hat, wird von der Peters-
burger, eine Daina-Melodien-Sammlung (s. unten) von der Krakauer Akademie herausgegeben.
Bei allen seinen Arbeiten unterstützte ihn treulich sein Bruder JONAS JuSkevic (geb. 1815,
■]■ 1886), der auch selbst Dainos (Litovskija narodnyja pesni, Petersburg, 1867; aus den
Zapiski der Petersburger Akademie) herausgegeben und eine hübsche litauische Arbeit über
die litauischen Dialekte (Ka+bos letuviszko lezuvo [Petersburg, i86i]) veröffentlicht hat.
Über das Leben der Brüder, die das Ansehen des Litauischen in Rußland sehr gefördert
haben s. Rasztai ir Rasztininkai S. 85 ff.; Mitteil. d. lit. liter. Gesellsch. II S. 409 und die
litauische Zeitschrift ,,Auszra" (Tilsit) 1883, S. 248. — Litauische Volkslieder und Märchen,
gesammeh von A. Lkskien und K. Brugman (Straßburg, 1882). — [Basanovic] Ozkabaliij
Dainos (aus der litauischen Vierteljahrsschrift ,,Dirva" [Shenandoah Pa.] 1902). — ,,Die
Materie ihres Gesanges oder vielmehr Geheuls sind Buhlenlieder, sie handeln auch von
Literatur. ■lyi
solchen Sachen, was ihnen nur einfällt oder vor Augen stehet": Lepner, Der preusche
Littauer, Neudruck S. 73 (abgedruckt bei Tetzner, Dainos, Reclams Universal]- Bibliothek
Nr. 3694, S. 20). — Über das Wesen der Daina neuerdings Chr. Bartsch in: Mitteil. d.
lit. liter. Ges. I S. 1S6 (vgl. desselben Dainu Balsai I S. XXI; und Verf. in: Zeitschrift f.
vergleich. Literaturgeschichte und Renaissance-Literatur N. F. I S. 268). Vgl. auch R. VAN DER
Meulen, Die Naturvergleiche in den Liedern und Totenklagen der Litauer (Leiden, 1907).
S. 364. Zeugnisse über Heldenlieder: Tetzner, Dainos S. 5. Vgl. Wolter in Mitteil,
d. lit. liter. Ges. V S. 311. — Chr. Bartsch, Dainu Balsai. Melodien litauischer Volks-
lieder mit Textübersetzung usw., 2 Bände (Heidelberg, 1886. 1889). — Melodje ludowe
litewskie zebrane przez A. Juszkiewicza . . . wydane przez Z. Noskowskiego i J. Baudouin'a
de Courtenay, L (Krakow), Akademja umiej^tnoäci igoo (mit den Bildern der Brüder Ju§-
kevic). — In theoretischer Beziehung wichtig ist die Programm-Abhandlung von L. Nast,
Die Volkslieder der Litauer inhaltlich und musikalisch (Gymnasium zu Tilsit, Ostern 1893).
— Es gibt auch litauische kirchliche Originalmelodien. Eine Sammlung derselben enthält
W. Hoffheinz, Giesmiu Balsai (Tilsit, 1894 [Kommissionsverlag von C.Winter, Heidelberg]).
S. 365. Litauische Bibliographie von 1875: J. KARiOwacz, O jgzyku litewskim S. 331
(in den Rozprawy der Krakauer .Akademie, T. II S. 135 ff. Für 1903 — 1906: H. Reinhold,
Mitteil. d. lit. liter. Ges. V S. 483. — Ein Verzeichnis der litauischen Erbauungsschriften aus
dem Jahre 1852 in: Neues evangehsches Gemeindeblatt VII Nr. 33 (Königsberg, 1852). —
Der Titel des Schriftchens über die Bienenzucht ist: Naudingos Biczü Knygeles . . . nü
D. G. S[ettegast; Präzentor in Prökuls] (Königsberg, 1806). — Der älteste Kalender ist der
von i.. IwiÄSKKI (über ihn: Rasztai ir Rasztininkai S. 39) seit 1846 in Wilna heraus-
gegebene. — Andere Kalender: Mitteil. d. lit. liter. Gesellsch. IV S. 355 und Katalog der
Bibliothek der lit. liter. Gesellsch. (Tilsit, 1892) S. 8. — Den ersten Ansatz des litauischen
Zeitungswesens bildet das Missionsblatt ,,Nusidäwimai apie Ewangelijös Praplätinima" (seit
1832 in Königsberg erschienen, Herausgeber Präzentor Kelch). Die angeblich erste Zeitung
,,Lietuwininku Prietelius" (Memel, 1848, Herausgeber Pfarrer Zippel) kenne ich nur dem
Namen nach. Es folgt Kltrschats ,,Keleiwis" (s. oben S. 367). Nicht mehr vollständige
Verzeichnisse in Mitteilungen der lit. liter. Gesellschaft IV S. 343, Rasztai ir Rasztininkai S. 223.
— Die ältesten volkstümlichen Erzählungen, die ich kenne, sind ,,Sziauleniszkis Senelis"
(,,Der Greis aus Szaulen" [Wilna, 1861]; vgl. Kariowicz O j^zyku litewskim S. 356 Nr. r86)
und Pafegos Juze" (s. S. 366). — Eine der ersten Novellen dürfte die sehr harmlose sein:
„Jons ir Aniutia" (,,Hans und Annchen" [Petersburg, 1877]; angeblich von P. NERVS, Rasztai
ir Rasztininkai S. 90).
S. 366. Dr. med. Jonas B.\SSano\vicz (geb. 22. Nov. 1851 in Ozkaballen, Gouv. Su-
walki, später Arzt in Vama), Herausgeber umfangreicher volkskundlicher Sammlungen und
Verfasser zahlreicher Schriften etymologisch - geschichtlicher Art, hat besonders erfolgreich
durch die Zeitschrift „Auszra", d.i. ,, Morgenrot" (Tilsit, 1883— 1886) gewirkt (mehr in Rasztai
ir Rasztininkai S. 168).— Martin JankUS, geb. 1858 in Bittehnen, Kreis Ragnit, bäuerlicher
Besitzer ebenda (Rasztai ir Rasztininkai S. 195). — Von J. SZLIUPAS' Leben weiß ich nur,
daß er 1885 nach Amerika ausgewandert ist (Auszra 1884 S. 359), wo er eine besonders
rege Tätigkeit entfaltet hat. — Über Dowkont: Auszra 1883 S. 13, 41, 249; 1885 S. 88;
Rasztai ir Rasztininkai S. 32 und besonders Wolter in Mitteil. d. lit. liter. Ges. III S. 260
(vgl. II S. 414). — Über Woionczewski : Mitteil. d. lit. liter. Ges. III S. 102, Rasztai ir Raszti-
ninkai S. 52. — Über Fr. Kurschat: Göttinger gel. Anzeigen 1885 S. 905^; Auszra 1883
S. 102; Rasztai ir Rasztininkai S. 45.
S. 367. Über R. Jacoby: Mitteil. d. lit. literar. Ges. I S. 252; Rasztai ir Rasztininkai
S. 135. — Über Sauerwein: Rasztai ir Rasztininkai S. loi. — Über Baranowski: Rasztai ir
Rasztininkai S. 81; Mitteil. d. lit. liter. Ges. V S. 319.
DIE LETTISCHE LITERATUR.
Von
Eduard Wolter.
Land und Leute. Einleitung. Der lettische Volksstamm bildet mitsamt den heute
noch finnisch redenden Esten den Grundbestandteil der genuinen Land-
bevölkerung der russischen Ostseeprovinzen. Baltisch - lettische Sprach-
bevölkerung finden wir gegenwärtig in Kurland, Livland, im Gouverne-
ment Witepsk und als preußische Kuren auf der Nehrung und am Strande
■ nördlich von Memel.
Die Gesamtzahl lettisch sprechender und verstehender Leute bemißt
sich auf ungefähr zwei Millionen. Davon kommen auf Kur- und Liv-
land je 500000, auf die Witepsker „Lethigaller" 300000 und der Rest auf
die ausgewanderten Letten in den Gouvernements Pleskau, Kovno, Now-
gorod, Wjatka, in St. Petersburg und sonst in Rußland. Ebenso sind
noch Letten in den Vereinigten Staaten Nordamerikas, sowie in Brasilien
ansässig.
Schon frühzeitig hat Sage (Dietrich von Bern) und Geschichte von
den Letten zu berichten gewußt, ebenso wie die historisch vergleichende
Sprachforschung eine Reihe interessanter Entlehnungen estisch - lettischer
Wörter durch die Finnen entdeckt hat. Mit den Dünaansiedlungen lübischer
Kaufleute am Ausgang des 12. Jahrhunderts und der Begründung der
Handelsstadt Riga am Einfluß des Rigabaches in die Düna beginnt die
Eroberung und Christianisierung der Letten. Aber bis auf das Refor-
mationszeitalter ist die Pflege nationaler Gesittung und Sprache daselbst
nur bescheiden gewesen. Das seiner Stammesältesten und seiner natio-
nalen Aristokratie (bei den verwandten Litauern führten diese das Volk
zur Begründung eigenen Staatswesens und eigener Literatur) beraubte
Lettenvolk sank zu hörigen Bauern herab; ohne gebildetere leitende
Führer stand es den historischen Ereignissen des Landes passiv gegen-
über. Dennoch hat es seine traditionelle Volksliteratur in reicher Fülle
bewahrt und wenn auch nur langsam und bisher wenig aufgehellt seine
poetische Sprachsymbolik unter dem Andrang deutscher städtischer Kultur
und höfischer Sitte entwickelt. Die Akademie der Wissenschaften zu
I. Die lettische Literatur bis zum Jahre 1850. 072
St. Petersburg ist so imstande gewesen, 28406 lettische Volkslieder nebst
Varianten (Latwju dainas), von Kr. Barons gesammelt und geordnet, zu
veröffentlichen. Ebenso sind 6002 Sagen und Legenden in 524 Kirch-
spielen unter Teilnahme von 850 Sammlern aufgeschrieben und größten-
teils publiziert worden.
I. Die lettische Literatur bis zum Jahre 1850. Die
Versuche in lettischer Literatur sind in das Jahr 1530 zu setzen, in
welchem der Prediger Nikolaj Ramm in Riga das Vaterunser ins Lettische
übersetzte. Der erste Druck von Luthers „Kleinem Katechismus" er-
schien 1586 in Königsberg bei Heinrich Osterberger, 1587 dann Undeutsche
Psalmen und geistliche Lieder, welche in den Kirchen des Fürstentums
Kurland, Semgallien und in Livland gesungen werden, auf Kosten und
Initiative des Herzogs Gotthard Kettler. Dieser Grundstock lettischer
evangelischer Volksliteratur erweiterte sich allmählich zu einer allseitig
entwickelten Volksbildungsliteratur mit ausgebildeter Schriftsprache, dem
Lettischen angepaßter Rechtschreibung und den religiösen Bedürfnissen
entsprechendem Inhalte. Zahllose Gesangbücher mit gegen 800 Nummern
wurden veröffentlicht: aus den agendarischen Kollekten und Perikopen
entstand die vollständige Übersetzung der Heiligen Schrift und zahl-
reiche Predigtensammlungen. Die Bibel wurde 1685 — i68g in Riga ge-
druckt, der lettische Text zusammengestellt von Ernst Glück, Pastor zu
Marienburg, mit Christoph Witten als Gehilfen. Die zweite Auflage
erschien 173g, besorgt von Jakob Benjamin Fischer, livländischem
Generalsuperintendenten, gewidmet der Kaiserin Anna und dem Herzog
Biron; sie ist von Aug. Bielenstein im Jahre 1865 und 1877 sprachlich wie
exegetisch emendiert worden. Die sogenannte Bibelperiode 1685 — 1750
hat [neben ihren eigenen Leistungen das Verdienst, die ersten Versuche
weltlicher Literatur hervorgerufen zu haben.
Neben der literarischen Hauptströmung, welche zur Ausbildung letti- Literatur der
sehen Schrifttums auf evangelisch - lutherischer Basis führte, hat sich Letten in Kur-
hundert Jahre nach der Begründung dieser Literatur zu Gegenreforma- couvemement
tionszwecken eine katholische Unterströmung bemerkbar gemacht, welche
von 1604 beziehentlich 1672 beginnend bis zum Jahre 1870 andauerte
dann von 1904 ab neu begonnen hat und seitdem in der Herausgabe von
drei Zeitungen, Kalendern, Gebets- und Schulbüchern zu Zwecken der
Volks- und Kindererziehung sich betätigt.
Nachdem das lettische Volk, nach Bielensteins Ausdruck, aufgehört Ausbildung
hatte, ein taubstummes zu sein und die Buchdruckerkunst zur Volks- Schriftsprache,
erziehung benutzte, trat die Entwicklung der Sprache in eine neue
Phase. Zunächst wurde das deutsche Alphabet durch Georg Manzelius
(1593 — 1654) an lettische Lautverhältnisse angepaßt und Wörterbücher
und Phraseologien zusammengestellt. 1644 erschien Rehehusens Manu-
ductio ad linguam lettonicam, icjor neu herausgegeben von A. Bielen-
374
Eduard Wolter: Die lettische Literatur.
stein, Magazin XX, 2. 1685 kam G. Dresseis Kurze Anleitung und
H. Adolphis „Erster Versuch" ans Licht.
Weltliche Erheblich später als die religiöse ist die Literatur weltlichen Inhaltes
Literatur. , ^^ .
erschienen. Ihre ersten Anfänge sind Gespräche (Latwiskas sarunas)
Manzels vom Jahre 1638, Melchior Vossius' Gedicht vom Jahre 1631
(Andreae Rivini Coclum ferrestre poeticum) und verschiedene Schwur-
formeln aus dem Jahre 1638, 1688 und 1696 (letztere aus den Gerichts-
akten über Witepsker Gütergrenzstreitigkeiten). Der erste lettische
Dichter und Schriftsteller nationaler Herkunft war St ein eck, Pastor in
stender. Tuckum, geb. 1681, gest. 1735. Von besonderer Bedeutung- ist Stender (1714
— 1796). Außer grammatischen Werken verfaßte Stender lettische Erzäh-
lungen (Pasakas un stahsti 1766), Gedichte und Gesänge (Jaunas singes
1774), gab belehrende Bücher über Natur und Welt (Augstas gudribas
grahmata) und geistliche Lieder heraus. Ein Freund der Aufklärung, be-
gründete er im Jahre 1763 das Kalenderwesen der Letten in Kurland (Jauna
A. j. stender. uH Wezza Laikagrahmata). Stenders Zeitgenossen und Nachahmer waren
Loskiel, Baumbach, Matschewski, M. Stobbe und vor allem sein Sohn
Alexander Joh. Stender (1744— 1819), Verfasser des ersten Lustspiels
„Schuhpu Bertuls". Dieser erste dramatische Versuch behandelt nach
Holberg die Erzählung vom Bauern Bertul, der, zum Herren gemacht, sein
Glück nicht zu benutzen weiß. Im Jahre 1797 gab Stobbe das erste
lettische Jahrbuch als periodische Druckschrift heraus. Doch mißlang
der Versuch, eine beständige Zeitschrift zu gründen, bis aufs Jahr 1822,
Die erste jn welchem, von Pastor Watson in Lesten begründet, die erste Zeitung,
lettischeZeitung.
Latweeschu Awise, der lettische Aviso, herauskam.
Begründung der Mit der Aufhcbung der Leibeigenschaft und Gewährung bürgerlicher
lettischen Volks-
schule. Freiheit trat die Forderung der Elementarbildung für die Letten in den
Vordergrund. Der kurländische Pastor Joh. Chr. Wolter (1799 — 1857) in
Zirau-Dserwen veranlaßte die Gründung der kurländischen Volksschule.
Mit Hilfe des in Königsberg gebildeten Lehrers A. Bergmann bildete er
die ersten Volk.slehrer aus, bis dann die Ritterschaft ein Seminar in
Irmlau begründete. Gleichzeitig trat das Problem hervor, in welcher
Sprache die „Bauern" zu unterrichten und zu bilden wären. In den Ver-
handlungen der kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst vom
Jahre 1819 wurde von Conradi die Frage „Wäre die Metamorphose der
Letten ins Deutsche zu beklagen?" aufgeworfen, eifrig diskutiert und
besonders von dem oben genannten Pastor Watson und von Brinken zu-
gunsten des Lettischen entschieden. Ein Volk, führten sie aus, könne
stets nur durch seine Sprache gebildet werden. Die lettische sei reich
und geschmeidig, in kirchlicher Hinsicht bereits gebildet, in juristischer
und politischer durchaus bildungsfähig. Der lettische \'olksstamm, mit
den Litauern etwa 4 — 5 Millionen, habe seine Mission zwischen Ger-
manen und Slawen. Der Hang, deutsch zu lernen, gehe nicht aus Liebe
zur deutschen Kultur und Sprache hervor, sondern aus Hochmut, in der
II. Von i8;o bis zur Gegenwart. 375
Meinung, durch die deutsche Sprache in den Herrenstand überzugehen.
Die Aufhebung der Leibeigenschaft dürfe nicht das Ende der lettischen Ge-
schichte bilden, sondern den Beginn einer besseren, erfreulicheren Periode.
Die Sprachmetamorphose würde neue, für den Volkscharakter nachteilige
Sitten erzeugen. Denn die Einheit des sozialen Lebens hänge nicht von
der Verschiedenheit der Sprache ab, sie werde nur gehindert durch die
Verschiedenheit der Bildung-, des Berufs und der Sitten. Wahre Religion
und Religiosität fordere den Gebrauch der Muttersprache. Für den ge-
meinsamen Patriotismus sei die Einheit der Regierungsverfassung maß-
gebender als die Einheit der Sprache. Diese Ideen bestimmten in der
Zukunft den Bildungsgang und die Entwicklungsgeschichte des Letten-
volkes wie auch der Literatur.
Aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts von lettischen Dichtem zu
nennen ist vor allem der blinde Indrik(i783 — 1828), welcher eine drama-
tische Allegorie über die „Befreiung" sowie verschiedene patriotische Verse
und Gelegenheitsgedichte verfaßte. Sein Beschützer und Verehrer war
Pastor Elberfeld in Apricken (1756 — i8ig), der Verfasser eines längeren
Originaldramas „Behrtulis un Maia". Die anderen Schriftsteller, welche
das Zeitalter Alexanders des Glückseligen besangen, Kr. Frd. Launitz,
Köhler, Girgenson, Vogt, waren zugleich eifrige Mitarbeiter des Watson-
schen Latweeschu Awise. Im Jahre 1824 wurde von R. v. Klot die lettische
literarische Gesellschaft begründet und damit die provinziell geteilten liv-
ländischen und kurländischen Volksbildner zu gemeinsamer Tätigkeit ver-
einigt.
IL Von 1850 bis zur Gegenwart. Im Verlaufe des ig. Jahrhunderts
war in den Städten beständig der Wohlstand lettischer Handwerker und
Kaufleute gewachsen, die Universitäten, das Polytechnikum in Riga, die
technischen Hochschulen, das Konservatorium in St. Petersburg lieferten
mehr und mehr Staatsbeamte verschiedenster Art, Juristen, Pastoren, Medi-
ziner, ebenso wie Techniker, Fabrikanten, Künstler und Musiker von let-
tischer Herkunft. Die Folge war, daß in kleinen baltischen Städten unter
den Stadtverordneten lettische Majoritäten entstehen konnten. Alle diese
Verhältnisse wirkten auf die Neuentwicklung lettischer Nationalliteratur
fordernd ein, besonders auf die periodische Presse, trotz des Waltens
strenger Zensur und anderer Aufsichtsbehörden. Vom Jahre 1825 — 1850
nimmt die Zahl der lettischen Schriftsteller baltischer Herkunft stetig zu.
Besonders verdient machte sich Anß Lieventhal (1803 — 1877), Leitan
(1815 — 1874), der Begründer der weitverbreiteten Zeitung Majas weesis
(Hausfreund), und Ernst Dünsbergis (1816 — 1Q02), einer der fruchtbarsten
Schriftsteller, der mehr als 100 Bücher, Übersetzungen wie Originalschriften,
verfaßte. Im Jahre 1860 hatte die Latweeschu Awise 3600, 1870 5000 Abon-
nenten. In Livland gab Pastor Treu 1832 — 1846 den Lettischen Volks-
freund heraus. Die junglettische Partei begründete 1864 die Petersburger
T^-jt Eduard Wolter: Die lettische Literatur.
Petersburger Zeitung (Petersburgas Awises) mit Ch. Woldemar an der Spitze, unter Mit-
Zeitung. Wirkung von G. Barons und Juris Allunan. Dieser Feuermeteor rief viel
Ärgernisse in den baltischen Kreisen hervor, was ein baldiges Ende her-
B. Dihrik. beiführte. 1868 begann unter B. Dihriks Redaktion der Baltische Bote,
1878 unter A, Webers Leitung die Stimme (Balss) zu erscheinen, heute
die verbreitetste lettische Zeitung mit 25 — 30000 Lesern. 1875 — 1880
traten unter G. Mater s Redaktion die Zeitungen der Baltische Landbauer
(Balt. Semkopis) und der Rechtsbote (Teesu wehstnesis) hervor. 1886 be-
Deenas Lapo. gann die für einen gebildeteren Leserkreis bestimmte „Deenas Lapo" zu
erscheinen, die unter veränderungs vollen Zeitverhältnissen als „Unsere
Zeit" (Müsu laiki), dann „Unser Leben" (Müsu dzlwe) bis heute fortbesteht
und augenblicklich gegen 1 2 000 Abonnenten besitzt. Redakteure des
Blattes waren Bergmann, Stutschka und der bekannte Symbolist und
Goetheübersetzer Rainis-Pleekschan. Die erste Zeitung ohne Präventiv-
zensur erschien 1901 als Petersburgas Awises und in neuester Zeit eine
zweite unter verschiedener Benennung, Petersburgas Atbalß, Pateesiba,
Progreß, Newas Wilni, sowie auch eine lettische illustrierte Künstler-
Neueste Zeit and Zeitschrift Swari zu nennen ist. Die letzten Ereignisse im russischen
Zeitungsverhält- .
nisse. Reiche haben aber die Zeitungsverhältnisse so verändert, daß an eine
Kontinuität gewisser Richtungen nicht mehr gedacht werden kann. Be-
sonders mannigfaltig ist die Umbenennung konfiszierter Zeitungen in Neu-
ausgaben. Die Zahl der beständigen Subskribenten hat bedeutend ab-
genommen, während der Einzelverkauf sich enorm erweitert hat. Monats-
zeitschriften werden bis auf 2000 Exemplaren gebracht.
Zu den Hauptteilnehmern der nationalistischen junglettischen Periode
von 1850 — 1880 gehören außer Ch. Woldemar noch A. Spahgis (1820
— 1870), der Verfasser der Schrift Zustände des freien Bauernstandes in
Kurland, Juris Allunan (1832 — 1864), Heineübersetzer und Sprachkünstler,
Kaspar Beesbardis (1806 — 1886), Juris Neikens (1826 — 1868), ein
klassischer Erzähler, Otto Kronwald (1837 — 1875), ein idealer National-
politiker, der Verfasser der „Nationalen Bestrebungen", Sprachbildner,
die Gebrüder Kaudsit Matiß (geb. 1818) und Reinis (geb. 1839), die
Mehrneeku gemeinsamen Verfasser des berühmten Romans „Mehrneeku laiki" (Die
neue Landvermessung), der eine treffende Schilderung der Epoche der
Übergangszeit veränderter Landbearbeitung, von der Leibeigenschaft
zur kapitalistischen Produktionsform enthält. Neben diesen verdienen er-
wähnt zu werden Andrejs Pumpurs (1841 — 1902), Verfasser eines Kunst-
epos Latschplehßis, Fr.Brihwsemneeks-Treuland (geb. i848),bekannt als
Sammler ethnographischer Märchen, Texte, Beschwörungsformeln, Sprich-
wörter und Rätsel, Auseklis (Krogsemju Mikus) 1850 — 1879, Verfasser
patriotischer Gedichte und Stimmungsbilder aus grauer Vorzeit, A. Weber,
der langjährige Vorsitzende der Zinibas Komisija des lettischen Vereins
zu Riga und, heute fast vergessen, John Pawasser und J. Lauten-
bach, Lektor der lettischen Sprache in Dorpat und Verfasser der Schrift
bchluu. 377
Skizzen zur Geschichte der htauisch-lettischen Volkspoesie, Textparallelen
und Anmerkungen, Dorpat 1896. Der beste lettische Kritiker ist Theodor Lettische
Zeifert, der Verfasser obengenannter Chrestomathie sowie des Schriftchens
über die Entwicklung lettischer Nationalpoesie Musu tautas dzejas pamosanas
(1893) und vieler lettischer Literaturübersichten. Die Faustübersetzung von
Rainis-Pleekschan, der auch durch eigene gedankenreiche Lyrik sich
einen Namen gemacht hat, ist eine Musterleistung in sprachlicher, wie in
dichterischer Hinsicht. Die kleinen Geister nationaler Poesie mit falschen
Göttern und allen möglichen mythischen Gestalten wurden verdrängt
vom gesunden Realismus eines Apsihcha Jehkaps und Fritz Malberg.
Unter den zeitgenössischen Dichtem könnten der lettische Dramatiker
und Novellist Rudolf Blaumann und die Dichterin Elsa Rosenberg Dichterin
(Aspasia) jeder Nationalliteratur zur Zierde gereichen. Von Elsa Rosen-
berg-Pleekschan (geb. 1868 in Kurland), erschienen 1888 die Dramen
„Rächer", 1892 Das Sonnenmädchen (im Geiste von Shelleys Königin Mab),
1894 Die Waidelotin, Die Hexe und Verlorene Rechte, und 1895 Das un-
erreichte Ziel, sowie die Novelle Der Kampf um die Zukunft. Sie ist die
Hauptrepräsentantin der jungen Strömung der lettischen Literatur, welche
neues Leben in die lettische Literatur brachte. Besonders effektvoll und
politisch gefürchtet war in den letzten Jahren ihr Märchendrama Der
Silberschleier (Sidraba Schkidrauts), das, an zeitgenössische politische Ver-
hältnisse anklingend, ein eigentümliches poetisches Vorahnen der Ereig-
nisse verriet. Dieses Stück brachte ausverkaufte Häuser, worauf dann
strengstes Verbot der Aufführung folgte.
Schluß. Aus der obigen Übersicht wurde klar, daß die anfänglich
zum Zwecke religiöser Unterweisung gegründete lettische Literatur all-
mählich sich zu einem wichtigen Mittel der Volksbildung erweitert hat und
dann infolge der historisch und wirtschaftlich veränderten Verhältnisse
zu einem Haupthebel der Nationalselbsterkenntnis und endlich auch sozial-
politischer Selbstbestimmung geworden ist. Das lettische Volk hat heute
aufgehört, sich vorschreiben zu lassen, was literarischer Bearbeitung wert
und wichtig ist, und beginnt auch im geistigen Leben seine eigenen Wege
zu gehen. Literatur und Sprache des Lettenlandes sind so weit aus-
gebildet, daß sie weiterer nationaler Selbsterziehung zu dienen imstande
sind. Freilich, das Milieu, das die Literaturbedingungen hervorbrachte, ist
noch wenig aufgehellt, weil eine Kulturgeschichte des Balticums, sowie
die Geschichte der Zensur und Regierungspolitik des letzten Jahrhunderts
noch nicht geschrieben ist.
Literatur.
Lettische Literatur und Sprache sind bearbeitet worden vom historischen wie bibhographi-
schen Standpunkte aus. Von Chrestomathien ist zu nennen: Theodor Seiferts Latwee-
schu rakstneezibas chrestomatija I — IIL Versuche summarischer Gesamtübersichten gaben
I. Bernhard Dihrik in Latweeschu rakstneeziba, Das lettische Schrifttum bis zum Jahre
1860 (Riga), 8, 50 Seiten; 2. PawaSARU Jahnis in der Sammelschrift Das lettische \'olk
(Latwiju Tauta) (Mitau, 1893), i. Lieferung: Die lettische Literatur bis zur Freiheits-
epoche oder Aufhebung der Leibeigenschaft der Letten im Anfang des 19. Jahrhunderts
3. Lihgotnu Jehkabs Latweeschu literatura (Riga, 1906), 352 Seiten, eine Kompilation
mit spezialisierter Periodeneinteilung und Aufzählung von 146 lettischen Autoren und kurzer
Besprechung ihrer Hauptwerke und Tendenzen; 4. (russisch): P. R. BERGS, Etwas über die
Literatur der Letten, in den Nachrichten (Izvestija) der Büchermagazine der Firma M .O. Wolf
in St. Petersburg 111 (1900), Nr. 12, S. 142 — 146; 5. A. BlELENSTElN, Ein glückliches Leben
(Riga, 1904), 468 Seiten, vor allem in den Abschnitten Die lettische nationale Bewegung
S. 390 ff. und Die lettische literarische Gesellschaft S. 389 ff. — Lettische \'olksliteratur be-
handelt Baron Gustav Manteuffel in i. Bibliographische Notiz über lettische Schriften
von 1604 — 1871 in hochlettischer oder sogenannter oberländischer resp. polnisch -liv'ändi-
scher Mundart, Magazin der lettischen literarischen Gesellschaft, 17. Band (1885), S. 181 —
204; 2. Lotwa i jej pieäni gminne, d. i. Lettland- Latuwa und sein Volkshed, S. 166 — 260,
in dem Jubiläumsband zum Andenken an Adam Mickiewicz 1798 — 1898. — Von JOH. Berg
und J. ScHABLOWSKY wurde herausgegeben in Mitau ein lettischer Bücherindex ,, Latweeschu
rakstneezibas rahditajs", 1893 und 1899 in zwei Bänden, in dem 4228 Titel gangbarer und
teilweise seltener Werke verzeichnet sind.
S. 372, Z. II. Vgl. A. BlELENSTElN, Grenzen des lettischen Volksstammes (1892).
S. 372, Z. 14. Vgl. A. N. Wesselofsky, Russkije i Wiltini w sagS o Tidreke Bemskom
(Veronskom) (St. Petersburg, 1906).
S. 375, Z. 17 V. u. Außer Dorpat besuchten die in russischen Schulen erzogenen Letten
die Universitäten zu St. Petersburg und Moskau, einige wenige die griechisch-katholische
geistliche Akademie.
S. 376, Z. I. WOLDEMAR (1825 — 1891) war nicht allein lettischer Schriftsteller und
deutscher Publizist, sondern auch reger Volksbildner und Agitator, von 1872 ab in Moskau
als Sekretär der Gesellschaft zur Förderung des Seewesens und Kauffahrtei in Rußland tätig,
sowie Mitbegründer der Freiwilligen Flotte.
REGISTER.
Von Dr. Richard Böhme.
Bei mehrfach ;
und Stichworten sind die Hauptstellen durch einen Stern bezeichnet.
Abo. 315. 316.
„Absturz, Der", Goncarovs. 99.
Achikar s. Akyrios.
Adel, Polnischer. 154.
Adolphi, H. 374.
Aeneas Sylvius. 275.
Äschylus. 261. 365.
Aesop. 238. 365.
Afanasjeff, Alexander Nikolajewitsch 148.
Agram. 25. 27. 216. 225. 238. 244.
Agricola, Michael. 315.
Ahlqvist, August. »323. 353.
,, Ahnenfeier, Die", von Mickiewicz. 159. 160.
Aho, Juhani. •325. 327. 328.
Ahrens, Ed. 345.
Aisman. 142.
Akademie der Wissenschaften , Moskauer. 46.
— — , Serbische. 237.
— — , Südslawische. 231.
— — , Ungarische. 299.
Aksakov, A. 16. 74.
Akyrios, Der weise. 202. 208.
Aladar. 268.
Albanesen. 197.
Albanesisch. 19.
Albrecht von Brandenburg. 357.
Aleksandrikool. 347.
Aleksandrov-Murn. 237.
Alexander I. von Rußland. 51. *S3- 57- 158.
319- 347-
Alexander II. von Rußland. 82. '89. loi.
104. 125.
Alexanderhed , Böhmisches. 180.
Alexanderroman. 27. 202. 208.
Alexander d. Gr., Neugriechisches Volksbuch
über. 250.
Ali Pascha von Janina. 258.
Allatios, Leo. 247.
Alhanz, Heilige. 53.
Allunan, Juris. 376.
Alphabet, Glagohtisches. 198.
Altnowgorod. 14.
Altruismus in der polnischen Literatur. 171.
Andrejeff, Leonid. 142.
„Anführung zu der Ehstnischen Sprach" von
H. Stahl. 339.
„Annalen, Vaterländische". 74. 121. 126.
Anten. 2.
Anterus, Lied von. 313.
Apokryphen in den südslawischen Literaturen.
201.
Apostellegenden, Altkirchenslawische. 200.
Aprilov, V. 239.
Arany, Johann. 285. 290. *296. 29g. 305.
306. 307.
Arany, Ladislaus. 306.
Aquileja. 8.
Arbes, Jakob. 192.
Ariost, Lodovico. 280.
Aristoteles. 20 1. 272.
Arnold, Gj. 232.
Arpäd. 269. 291. 292.
Arpäden. 267.
Arvelius, Fr. G. 341.
Arzybascheff. 145.
Askerc, Anton. 231.
Asnyk, Adam. 165.
Atanackovic, Bogoboj. 235.
Athen. 255.
Athenäus. 250.
Athosklöster. 200. 201. 203. 206.
Attavantes. 271.
Attila. 265. 266. 268. 269. 297. 298.
Attizismus. 246.
Auerbach, Berthold. 77.
, .Auferstehung" von L.Tolstoi. 119. 136.
Aufstand, Polnischer. 102. 106. 129. 165.
168. 226.
„Aufstand, Der, in Machtern", Wildes. 351.
Augustus, Kaiser. 265.
,, Aurora", Almanach K. Kisfaludys. 289.
Auseklis. 376.
Avaren. 4. 177. 266.
Awise, Latweeschu. 374. 375.
Awises, Petersburgas. 376.
Babic, Ljubomir s. Gjalski, Sandor.
,,Baßu\tuvia" von Vyzantios. 256.
Babylonischen Reich, Sage vom. 202.
Bach, Alexander Frhr. von. 300. 305.
Bacsänyi, Jos. 286.
Baksic, P. 219.
Bakunin, Michael. 80. 94. 120.
Balassa, Valentin. 275. '276.
38o
Regislei.
„Balassa, Der Verrat des Meinhard". 288.
Balbi'n, B. 187.
Balmont, K. 139.
Balzac, Honore de. 62. 77. 79. 80. 302.
„Balzer in Brasilien, Herr", von Maria Ko-
nopnicka. i6g.
,,Bänk Bän" von J. Katona. 290.
,,Banus Maröt" Vörosmartys. 293.
Baranowski, Anton. 367.
Barbatus, Philipp. 217.
Bardas von Byzanz. 197.
, .Barfüßler". 137.
Barlaam und Joasaph. 202. 267.
Bäröczy, Alexander. 301.
Barons, G. 376.
Barons, Kr. 373.
Bartos, Pfsar. 28. 186.
Basilios II. von Byzanz. 200.
Bassanovic. 363. 366.
Batiuschkoff, Konst. 51.
Baudelaire, Charles. 238.
,, Bauern, Die", Tschechoffs. 133.
Bauernbefreiung in Rußland. 81. 89. 91. 96.
98. loi. 135.
Bauerndichtung, Finnische. 320.
Bauernliteratur, Polnische. 170.
Bauemrecht, Stiftisches livländisches. 338.
Becker, Reinhold v. 320.
Beesbardis, Kaspar. 376.
Begovid, Milan. 238.
,, Beichte" Tolstois. 117.
Bela IV, 267.
Belgrad. 26. 206. 236. 237.
Belinsky, Wissarion. 68. 69. 72. '73. 74. 75. 76.
80. 81. 83. 84. 87. 90. 99. 121. 147. 148. 149.
Bellarmin, Robert. 278.
Belovar. 25.
Bern, Joseph. 294.
Benediktiner. 207.
,,Beniowski" Siowackis. i6i.
Benyovszky, Moriz. 301.
Bergbom, Kaarlo. 328.
,, Bergkranz" Petar II. Petrovics. 226.
Bergmann, A. 374. 376.
Bergmann, J. 348.
Berovic, P. 240.
Bertoldos, Schwanke des. 250.
Berzscnyi, Daniel. 284. 292.
Bessarion, Johannes. 247.
Bessenyci, Georg. 283. 301.
Bethlen, Gabriel. 27g.
Bibel, Chylihskische. 361.
— , Kralicer. 30. 186.
Bibelübersetzung, Estnische. 339. *34o.
— , Finnische. 314. 315.
— , Lettische. 373.
— , Litauische. 358. 361.
— , Neugriechische. 261.
— , Ungarische. 269. '273.
Bielenstein, August. 373.
Biographien, Serbische. 206 f.
Biron von Kurland. 49.
Birute, Gemahlin Keistuts. 356.
Bischofschronik, Lateinische finnische. 314.
317-
Bisticci, Vespasiano. 272.
,, Bittschrift" Daniels. 43.
Björnson, Björnstjeme. 163.
Blahoslav, Jan. 29. 186.
Blaumann, Rudolf. 377.
Bleda = Blödelin. 298.
Bleiweis, J. 27. 227.
,,Blgarski Orel". 239.
„Blick auf den anonymen Rückblick" Sze-
chenyis. 300.
Blizinski, Josef. 165.
Boborykin, P. 125. 145.
Boccaccio, Lodovico. 46. 275. 276.
Bocche di Cattaro. 24. 26.
Bodenstedt, Friedrich. 235.
Böhmen. 28. 30. 31. 176. *i78. 184. 189.
Böhmische Sprache. '27. 176.
Bogomilen. 200. *20i. 204. 207.
Bogorov, J. A. 239.
Bogovic, M. 232.
Bogumil, Pope. 202.
Bohoric, Adam. 217. 218.
Bojer. 177.
Bolyai, Wolfgang von. 28g.
Boner, Ulrich. 278.
Bontini, Antonius. 271. 291.
Boril von Bulgarien. 205.
Boris von Bulgarien. 196.
Bofivoj von Böhmen. 178.
Bornhöhe, Ed. 34g.
Bosnien. 23. 25. 26. '207. 208. 216. 227. 243.
Boti<i, Luka. 232.
Botjov, H. 240.
Bozdfich, Emanuel. igi.
Braila. 241. 242.
Brandenburg, Albrecht von. 357.
Branimir von Kroatien. ig5.
Brazza. 216.
Bretkunas, Janas. 358.
Brihwsemneeks-Treuland, Fr. 376.
Brinken. 374.
Briussoff, Valery. 13g.
Brodziriski, Kazimierz. l6g.
Bruder, Lied vom toten. 251.
Brüdergemeinde, Böhmische. 2g. 184. '185. 188.
Brugmann, Karl. 363.
Buccius, Wilhelm. 337.
Buchdruck, Cyrillischer. 208. 217. 218.
— in Rußland. 45.
— , Sein Einfluß auf die Ausbreitung der
lateinischen Schrift unter den Slawen. 210.
— in Ungarn. 271.
Budapest. 27g. s. auch Ofen.
Register.
381
„Budas Tod" Aranys. 298.
Budovec von Budov. 186.
Bürger, Gottfried August. 51. 190. 251. 284.
Bukarest. 242.
Bukowina. 15. 18.
Bulgaren. 2. 3. 4. 10. 11. 12. 13. 20. 194.
195. 196. 197. 204. 206. 209. 217. 219.
227. «238. 243.
Bulgarien als Sitz der altkirchenslawischen
Literatur. 199 ff.
Bulgarische Sprache. 19 ff.
Bulgaris, Eugenios. 248.
Buovo d' Antona. 208.
Buslajew, Fedor Iwanowitsch. 148.
Bylinen. 41.
Byron, Lord, George Gordon Noel. 54. 56.
59. 70. 71. 76. 81. 87. 148. 159. 190. 226.
234. 258. 299. 305. 329. 365.
Bythner, Samuel. 359.
Byzanz. 41. 44. 194. 195. 196. 197. 198. 200.
202. 203. 204. 24g.
Cajander, Paavo. 329.
Calprenfede, Gautier de Costes, Seigneur de
La. 301.
Camblak. 205.
Cankar, I. 237.
Canth, Minna. 328.
Caregradski Vfistnik. 239.
Carnojevic, Arsenije. 220.
Cartesius, Renatus. 212. 279.
Cassius s. Kasic.
Cato, Buch des weisen. 208.
Cattaro. 211.
Cerva, Aelius Lampridius. 212.
Cervantes de Saavedra, Migfuel. 61. 323.
Chamisso, Adalbert. 364.
Charoslieder. '251. 258.
Chateaubriand, Franqois Rene Vicomte de.
190. 301. 349.
Chatzopulos. 260.
Chelcicky, Peter. »183. 185.
Cherson. 13.
Chilandar, Kloster. 206. 238.
Chios. 248.
Chmielowski, P. 175.
Chocholousek, Prokop. 190.
Chomjakoff, Ale.xej Stephanowitsch. 74.
Chopin, Frederic. 364.
Chortakis, Georgios. 253.
Chorvatisch. 24.
Christentum , Bekehrung der Böhmen, Mähren
und Slowaken zum. 178.
— , Bekehrung der Kroaten und Serben zum.
8. 196.
,, Christin, Die", Andrejeffs. 143.
Christopulos , Athanasios. 253.
Christovasilis. 260.
292.
279.
Pannonius, Janus.
Chronik des Anonymus , Ungarische
Chroniken, Bulgarische. 205.
— , Lateinische, in Böhmen. 179.
Chrysostomos , Johannes. 200. 205.
Columna, Guido da. 275.
Conradi. 374.
Corvina, Bibliotheca. 271.
,,Cmojevic, Maksim". 235.
Crusius, Martin. 247.
Csaba, Sage von. 268 f.
Csäktomya. 279. 280.
,,Cserhalom" Vörösmartys.
Cseri von Apacza, Johann
Csezmicze, Johann von =
Csiky, Gregor. 304.
Csokonai, Michael. 284.
,,Csongor und Tünde" Vörösmart>'s. 293
Cypeni. 250.
Cyrillismus in Bosnien. 207.
Czüczor , Gregor. 286.
Cech, Svat. 191.
Cechen. i. 2. 3. 176.
Cechov, Anton. 16. 92. 127. '130. 143.
Celakovsky, Franz Ladislav. 190.
Cervenka. 186.
Cop. 226.
Öubranovic, A. 214.
D.
Dacicky von Keslov. 186.
„Dämon. Der", Lermontoffs. 70.
„Dämonen, Die", Dostojewskis. 1 10.
Dahl, s. Dal.
„Daina". 357. »363.
Daken. 4.
Dal, \\ladimir Iwanowitsch. 17. 148.
Dalmata, Giovanni. 271.
Dalmatien. 25. 207. 208. *2io. 221. 227. 229.
Dalmatin, Anton. 218.
Dalmatin, Georg. 217. 218.
,,Danica". 228.
Daniele, Gjuro. 26. 225.
Dante Alighieri. 67. 215.
Dapontes, Konstantin. 248.
Dauksza, Michael. 360.
Deäk, Franz. 285. 290. 29g. *3oo.
Debreczin. 284.
Decades des Bonfini. 271.
Deenas Lapo. 376.
Dekabristen. 55. '57. 70. 73. 89. 90.
Dekadenten in der russischen Literatur. 13g.
Dellabella. 219.
Dershawin, Gawriel. 52.
Deutschland, Das Junge. 234. 235.
„Diakos" Valaoritis'. 258.
Dialekte der böhmischen Sprache. 28. 176.
— der bulgarischen Sprache. 21.
Register.
Dialekte der estnischen Sprache. 339.
— der finnischen Sprache. 310. 315. 320.
— der neugriechischen Sprache. 250.
— der polnischen Sprache. 34.
— der russischen Sprache. 14. 38.
— der serbokroatischen Sprache. 23 ff.
— der slowenischen Sprache. 27.
Dickens, Charles. 62. 84. 93. 304.
Didaktische Dichtung, Böhmische. 180.
Diderot, Denis. 49.
Digenis Akritas. 250.
,,Diglossie" der heutigen Griechen. 246.
Dihrik, Bernhard. 376.
,, Diktatur des Herzens" Loris Mehkoffs. 122.
Dimitsana. 248.
Dnjepr. 41.
Diociea. 8.
Dobö, Stephan. 275.
DobroHuboff, Nikolaj. '95. 98. 108. 128. 235.
Dobrovsky, Josef. 29. 30. *i89.
Döczy, Ludwig. 307.
,, Dogma, Ohne," Sienkiewicz'. 167.
Domanovii, Radoje. 236.
„Domostroi". 45.
Donalitius, Christian. 362.
,, Dorfnotar, Der," Eötvös'. 302.
,, Dorothea oder Sieg der Damen über den
Prinzen Karneval" Csokonais. 284.
Dorpat. 343. 346. 350.
— , Klagelied über die Zerstörung von. 340.
Dostojewsky, Fedor. 62. 68. *8o. 82. 86.
89. *92. 98. 99. 105. 'iio. 115. 129. 131.
137. 139- 142.
Dowkont, Simon. 363. 365. *366.
Drama, Böhmisches. 180. igo. 191. 192.
— , Bulgarisches. 241.
— , Dalmatinisch-ragusanisches. 213. 215.
— , Estnisches. 349.
— , Finnisches. 319. 323. '328.
— , Kroatisches. 232.
— , Lettisches. 374. 375. 377.
— , Neugriechisches. 253. *256.
— , Polnisches. 161. 162. 164. 165. 166. 172. 173.
— , Russisches. 134. 140. 144.
— , Serbisches. 223. 235." 236.
— , Ungarisches. 283. 288. 290. 293. 303.
(s. auch die einzelnen Dramentitel.)
Draskoviö, Graf Janko. 228.
,,Drei, Die", Gorkis. 139.
Dressel, G. 374.
Drosinis, (Jcorg. "259. 260.
Drumev, V. = Kliment, Metropolit.
Dri\6, Gjore. 213.
Drzic, Marin. 214.
Dschem, Bruder Bajazids. 276.
Dubif, Andreas v. 180.
,,Dubravka" Gunduliös. 215.
DuCii, Jovan. 238.
Düna. 354.
Dünsbergis, Ernst. .375.
,, Düstere Zeit" Kemenys. 302.
Dukas, Johannes. 254.
„Dulcitius". 288.
Dumas, Ale.xander. 349.
,,Dumy" Rylejews. 54.
Dusan, Stefan, von Serbien. 206. 207.
Duvernois. 22.
Dygasinski, Adolf. 171.
Dyk. 192.
E.
Eftaliotis, 256. 260. 261.
,,Eger" Vorösmartys. 292.
Ehrenfeldkodex. 267.
Eisen, M. J. 348.
Ekkehard. 266.
Elberfeld, Pastor. 375.
,, Elend, Glänzendes", Csikys. 304.
Elin-Pelin = Ivanov, D.
„Elinas Tod". 313.
Elisabeth von England. 45.
Elisabeth, Die heilige. 267.
„Emanzipantinnen, Die," von Prus. 171.
Emauskloster in Prag. 207.
Emigrationsliteratur, Litauisch-amerikanische.
364 f-
— , Polnische. 164.
Emmerich, Der heilige. 267.
Enno, E. 352.
Enzyklopädie, LTngarische, des Johann Cseri.
279.
Enzyklopädismus. 49.
Eötvös, Josef. 299. *30i.
Epachtitis, Jannis. 260.
Ephemerides des Regiomontan. 271.
Epos, Böhmisches. 179. 190.
Bulgarisches. 240.
Dalmatinisch-ragusanisches. 213. 215.
Estnisches. 344. 348.
Finnisches. 321.
Kroatisches. 222. 229.
Neugriechisches. 250. 253.
Polnisches. 155. 160. 164. 169.
Serbisches. 226. 236.
Südslawisches. 209.
Ungarisches. 272. 274. 280 f. 284. 285.
291. 296. 297.
(s. auch die einzelnen Epentitel.)
Erasmus von Rotterdam. 273.
Erici, Ericus. 315.
Erkko, Juho Heikki. 329.
,, Erophile" Chortakis'. 253.
„Erotokritos" von Kornaros. 253.
Esten, Estnisch. ♦333. 339.
„'€cTia". 259.
, .Estland, Das junge". 351.
Estnische Gesellschaft, Gelehrte. 343.
Estnischer literarischer Verein. 347. 351.
Estophilen. 341 f. 343- 345-
Register.
383
Estreicher, Karl. 175.
Euthymij, Patriarch von Trnovo. 204. 207.
Exarchat, Bulgarisches. 239.
F.
Fabel, Ungarische. 278.
Fählmann, Fr. R. 343.
Fallmerayer, J. Ph. 255.
Fay, Andreas. 301.
Februarrevolution. 81.
Fedoroff, Iwan. 45.
Fennomanie. 319.
Fennophilen. 316.
Fet, Afanassij = Schenschin. 16.
,, Feuer undSchwert.Mit", vonSienkiewicz. 167.
Fibel, Finnische, Agricolas. 315.
Fiedler, Die ungarischen, 274.
Fierevanti. 27 1 .
Finnisch, Finnland. 309. 310. 3l4f. 319. 320.
333- 334-
Fischer, Jakob Benjamin. 373.
Flacius Illyricus, Matthias. 218.
Flaska, Smil, von Pardubic. 180.
,, Flucht Zaläns" Vörösmartys. 285. •291. 299.
Folklore, Estnische. 347.
Forma chrikstima. 3 5 8.
Forselius, B. G. 340.
Fortunatov. 363.
Fortunio. 212.
Foskolos. 257.
Fotinov, K. 239.
Fragmente, Gnesener. 33.
Francisco, Chronik vom Ritter, und seiner
Frau. 275.
Franciscus von Assisi. 267.
Frankopan, Franz K. 219.
Franziskaner, Bosnische. 20g. 210. 219. 229.
238.
Französisch, Vorherrschaft des, in Polen. 157.
Frau, Die, in der polnischen Literatur. 168.
— , — , — russischen Literatur. 94. 132.
Frauenbewegung in Rußland. loi.
Fredro, Graf Alexander. 157.
Freidenkertuni. loi. 104.
Freiheitskampf der Griechen. 253. 255. 292.
— , Ungarischer. 290. 294. 296. 300.
Freisinger Denkmäler. 199.
Friedrich Wilhelm L 362.
,, Früchte der Bildung" von L. Tolstoi. 108.
Fruska gora, Klöster der. 205.
,, Führer zur götüichen Wahrheit" Päzmänys.
279.
G.
Gabrovo. 23g.
Gaj, Ljudevit. 22. 25. 228.
Galachoff, A. 148. 149.
Galeotto, Marzio. 271. 272.
Galizien. 15. 18. 173.
Gallen, Sankt. 266.
,,Gang zum Volke". 120.
Garbitius Illyricus, Matthias. '212. 217.
Garschin, Wssewolod. *I33. 131. 143.
Gebauer, Jan. 30.
,, Gedichte in Prosa" Turgenieffs. 121.
Gedimin von Litauen. 355.
Gegenreformation. 188. 189. 215. 217. 218.
220. 278.
Geisüiche Dichtung, Böhmische. 179.
Geistliches Gedicht, Russisches. 42.
Geographische Literatur, Böhmische. 187.
Georgiev, M. 243.
I Georgijeviö, Bartholomäus. 212.
i Gepiden. 265.
Gerhard, Legende des heiligen. 266.
Gerhard, W. 225. 226.
Gesangbücher, Litauische. 359. 367.
,, Geschichte, Die, einer Stadt" Saltykoffs. 107.
Geschichtsliteratur, .»Mtbulgarische. 201. 205.
— , Böhmische. 1S6. 189.
— , Finnische. 316. 317. 323.
— , Kroatische. 231.
— , Neugriechische. 249. 261.
— , Ungarische. 271.
Gesetzbuch des Stefan Dusan. 207.
Geßner, Salomon. 223.
Geten. 4.
Giraldi, Cintio. 253.
Girgenson. 375.
Gjalski, Sandor. 232. 237.
Gjoric, N. 236.
Gjorgjiö, Ignjat. 215.
Glagolitisch. 9. 198.
Glagolitische Fragmente, Wiener und Prager.
178.
— Literatur der Kroaten. 207.
Glisic, Milovan. 236.
,, Glocke, Die". 90. 98. 99.
Glück, Ernst. 373.
Gnesen. 34. 357.
Gnesener Fragmente. 33.
Godunoff, Boris, iio.
Görz. 26.
Goethe, Johann Wolfgang, 56. 59. 159. 190.
225. 226. 235. 252. 257. 287. 289. 305. 363.
Gogol, Nikolaus. 17. 58. '60. 72. 75. 76. 80.
81. 83. 84. 86. 90. 93. 96. 104. 107. HO.
113. 130. 131. 148. 236.
Goldap. 354.
Goldoni, Carlo. 223.
Goldsmith, Oliver. 325.
,,Golowleffs, Die", Saltykoffs. 107.
Goncarov, Iwan. 16. 67. 68. '78. 86. '94.
96. 99. 120.
„Gordejeff, Foma", Gorkis. 139.
Gorki, Maxim. 108. 116. '137.
Gottfried von Straßburg. 276.
Gottlund, Carl Axel. *3i9. 320.
Gottsched, Johann Christoph. 283.
384
Register.
„Gouverneur, Der," Andrejeffs. 143.
Grammatik, Estnische. 340. 345.
— , Finnische. 3r6. 317.
— , Lettische. 373.
— , Litauische. 359. 361. 367.
— , Polnische. 34.
— , Ungarische. 307.
Granowsky. 74.
Gray, Thomas. 51.
Grec, Nikolaj Iwanowitsch. 17.
Gregor VIL, Papst. 203.
Gregorcic, S. 231.
Gregorios Sinaites. 204.
Gregory, Johann Gottfried. 47.
Greguß, August. 306.
Grek, Maxim. 44 f.
Grenzstein, A. 350.
Gribojedov, Alexander. 16. 52. '54. 55. 64.
107. 148.
Grigorowitsch, Dimitry Wassiljewitsch. "]"].
Grillparzer, Franz. 291.
Grimm, Wilhelm. 43. 148.
Grimm, Jacob. 225.
Grodno. 354.
Großrussisch. 14. 15.
Großwardein, Friede von. 280.
Guarini, Giovanni Battista. 214. 272.
Gundulic, Ivan. 215. 216.
,, Gutsherr, Der letzte, des Herrenhauses" von
P. Gyulai. 306.
,, — , Der neue", Jökais. 303.
Gvadanyi, Josef. 301.
Gyöngyösy, Stefan. *28i. 284.
Gyulai, Paul. 306.
Gyulafehervav, Hochschule zu. 279.
H.
Haawa, Anna. 350.
Hadrian IL, Papst. 198.
Hagiographie, Serbische. 206.
Hajek von Libocan, Wenzel. 187.
Hajmdsi. 275.
Hajnoczy. 286.
Hälek, V. 191.
Hamartolos, Georgios. 201.
,,Hand und Haußbuch für die Pfarrherren
vnd Haußväter Ehstnischen Fürstenthumbs"
von H. Stahl. 339.
Handschrift, Königinhofer. 178.
Handschriften, Estnische. 338.
Hanse. 44.
Hansen, A. 351.
Hatzidakis, Georg. 249.
Hau])tmann, Gerhart. 257.
,,Haus B^lteky" Fdys. 301.
Havlicek, Karl. 191.
Hedwig von Polen. 356.
PIcgcI, Georg Wilhelm Friedrich. 72. 73.
Hciligcnlegenden, Ungarische. 267.
,, Heimlosen, Die," Zeromskis. 171.
Heine, Heinrich. 234. 235. 252. 307. 330,
Heinrich, Bischof von Finnland. 312.
Heinrich von Freiberg. 179.
Heinrich der Lette. 336.
Hektorovic, P. 214.
,,Held, Ein, unserer Zeit" Lermontoffs. 71
,, — der Fata Morgana" von L. Arany. 306.
,, — JÄnos" Petöfis. 296.
Heldensagen, Russische, s. Bylinen.
Heltai, Kaspar. '274. 278.
Henning, Erzbischof von Riga. 337.
Herczeg, Franz. 307.
Herder, Johann Gottfried. 190. 284. 285.
320. 341. 363.
Herites. 192.
Hermann, K. A. 350.
Herrmann. 192.
Hermhut- Lieder. 341.
Herzegowina. 23. 25. 26. 207. 208. 227. 243.
Herzen, Alexander. 72. '73. '75. 79. 81. 90.
91. 98. 102. 106. 120. 124. 166.
Hesychastentum. 204.
Hilbert. 192.
Hirtenspiele s. Schäferspiele.
Hladfk. 192.
,, Hochzeit, Die", Wyspiahskis. 173.
Höhlenkloster, Kijewer. 14.
Holecek. 192.
Homer. 212. 261. 272. 323.
Honoria, byzant. Prinzessin. 266. 268.
Horatius, Q., Flaccus. 155. 284.
Hörn, W. O. v. 346.
Hornung, Johann. 340.
Hozius. 187.
Hrabr, Mönch. 200. 201.
Hranilovic, Jovan. 232.
Hristov, K. 242.
Hruby, Gregor, von Jeleni. 185.
Hruby, Sigismund. 185.
Hugo, Victor. 293.
Humanismus. 29. 33. 154. 184. 211. 227.
Hunnen. 4. 265. 269.
Hunnensagen. 268.
Hunyadi, Johann. 275.
Hupel, Pastor. 341.
Hurt, Jakob. 346. '347.
Hus, Johann. 28. 29. »iSi. 228. 269.
Hussiten, Hussitenkriege. 182. 184. 356.
Hussitismus. 180. 182. 269.
Hydra, Insel. 248.
Hymnen, Ungarische. 267.
I.
Ibsen, Henrik. 94. 132. 134. I73. 257. 328.
,, Idiot, Der", Dostojewskis. 112.
Iffland, August Wilhelm. 223, 349.
Ignjatovii, Jaksa. 236.
,,Igor, Mär vom Feldzuge des". 43. 147.
Register.
385
lliasubersetzung, Neugriechische. 261.
llijc, lovan. 235.
Ihjc, Vojislav. 236.
lUyrismus. 22. 24. 25. 27. 21 2. 216. 226. *227.23i.
llosvay, Peter. 276. 297.
llmarinen, finn. Gott der Luft. 311.
„lloLaulu-Jesuxesta". 318.
Indischen Reich, Sage vom. 208.
Indrik. 375.
Ingman, Santeri. *326. 328.
Inkeri, Erzählung von. 313.
Innozenz IV., Papst. 203. 354.
,,lnstitutiones Esthonicae" von Buccius. 337.
„Intelligenz", Gorkis Kampf gegen die. 138.
141.
Ionische Inseln. 257.
Ipek. 206. 209.
,, Irene" von K. Kisfaludy. 289.
,,Iridion" Krasihskis. 162.
Iskander = Herzen, Ale.\ander. 75.
Istrien. 26. 211.
Istvanfi, Nikolaus. 295.
Istvänfi, Paul. 275.
Ivanov, D. 243.
Iwan III., der Schreckliche. 44. •45.
„Iwan Iljitschs Tod" L.Tolstois. 119.
Iwanow-Rasumnik. 150.
Izbornik des Svjatoslav. 200.
Jachnowicz, Jan. 361.
Jacobus de Marchia. 269.
Jacoby, Rudolf. 367.
Jämefelt, Arvid. '326. 328.
Järw, J. 348.
Jagelionen. 153. 154.
Jagiello,Wiadislaw, von Litauen. '355.356.360.
Jakob, Der heilige. 205.
Jakobson, C. R. 346. '347.
Jaksic, Gjuro. 235.
Jakubowitsch, P. 92. 125. 137.
Jankovic, E. 223.
Jankus. 366.
Jannsen, J. W. 345.
Janov, Mathias von. 181.
Japelj, J. 221.
Jassnaja Poljana. 99. 100. 127.
Jassy. 158.
Jatwägen. 354.
Javorov, P. 242.
Jazygen. 266.
Jehkaps, Apsihcha. 377.
Jenko, Simon. 230.
Jeräbek, Franz. 191.
Jeremija, Pope. 208.
Jesuiten. 219. 255. 278.
Jez, Thomas Theodor = Milkowski, Sigis-
mund. 166.
Jiräsek, Alois. 192.
Die Kultur der Gegenwart. I. 9.
Joann Alexander von Bulgarien. 204. 205.
Joann Exarch von Bulgarien. 200.
Joann von Ryl. 200.
Johann, Erzherzog. 224. 227.
Johannes VIII., Papst. 198.
Johannes von Damäskos. 200.
Johannes, Presbyter. 208.
Jökai, Maurus. 290. '303.
Jordanes. 2.
Jordebog, Kong Valdemars. 336.
Joseph II. 2g. 18^. 221. 223. 289.
Jösika, Nikolaus. 301.
Jovanovi(^, Zmaj Jovan. 234.
,, Juden, Die", Tschirikoffs. 142.
„Judita" Marulics. 213.
Jungmann, Josef. 189. 190.
,,Juramentum der Undudeschen". 338.
Jurcii, Jos. 230.
Jurkovic, I. 232.
Juschkewitsch. 142.
Juskevic, Anton. 363.
Juslenius, Daniel. 316 f.
Juteini, Jaakko. '319. 320.
K.
Kabätnfk. 187.
Kacic-Miosic, Andrija. 220.
Kärnten. 26. 27.
Käsu, Hans. 341.
Kaiser, Katharina. 275.
Kaisersage, Byzantinische. 203.
Kalevala. 3i3-*32i.323-324-329- 331- 335- 343-
Kalewipoeg. 343. «344. 346.
Kalvos, Andreas. 258.
Kambisis, Jannis. 257. 260.
Kamenic bei Peterwardein. 269.
Kaminsky. 192.
Kanavelic, P. 215.
Kant, Immanuel. 261. 351.
,,Kanteletar". 322.
Kantemir, Fürst Antioch. 48.
Kappadokien. 250.
Karadzic, Vuk Stefanovic. 13. 21. 22. 25. 26.
*224. 227. 228. 234. 244.
,,Karamasoff', Die Brüder," Dostojewskys. 113 f.
Karamzin, Nikolaus. 16. 17. '52. 115.
Karavelov, Ljuben. 235. 240. '241.
,, Karenina, Anna," L.Tolstois. 117.
Karkavitsas. 260.
Karl IV., Kaiser. 180. 181. 184. 207. 276.
Karl XII. von Schweden. 334.
Kariowicz. 35. 220.
Karlsburg, Hochschule zu. 279.
Kärmän, Josef. 301.
Karnarutic, B. *2l6. 280.
Karnevalsdichtung in Dalmatien. 214.
Kdrolyi, Kaspar. 274.
,, Karthäuser, Der", Eötvös'. 301.
Kaschuben. 1. 6.
25
386
Register.
Kaschubisch. 34. 35.
Kasic, B. 2 ig.
Kasprowicz, J. 172.
„Kassandra" Calprenfedes. 301.
Kastav. 208.
Katancic, P. 222.
Katechismus, Litauischer, von einem Un-
genannten. 360.
— ■ — (1595)- 360.
— , — (1681). 362.
KaOapeuouca. 247. 249. 259. 260.
Katharina II. *49. 50. 51. 53. 59.
Katharinenlegende, Ungarische. 268.
Katkoff, Michail Nikiforowitsch. 98.
Katona, Josef. 290 f.
Kaudsit, Matiß und Reinis. 376.
Kauppis-Heikki. 325.
Kavanjin, J. 216.
Kazinczy, Franz. 284. 285. 286. '287. 292.
Keistut von Litauen. 355.
Kelemen, Ladislaus. 289.
Kelten. 265.
Kemeny, Johan. 281.
Kemeny, Sigismund. 302.
Kersnik, Janko. 231.
Kievel, Johannes. 337.
Kijew. II. 12. 13. 41. •46. 154. 356.
Kilpi, Volter. 327.
Kind, Das, in der russischen Literatur. 86. 134.
,, Kinder der Sonne" Gorkis. 141.
,, Kindheit, Die," Tolstois. 86.
Kirche, Serbische. 220.
Kirchenlied in böhmischer Sprache. 29. 186.
— in estnischer Sprache. 339.
— •, Finnisches. 318.
— in litauischer Sprache. 357. 358. 359.
— , Ungarisches. 274.
Kirchenpoesie, Südslawische. 201. 208. 214.
— , Byzantinische. 248.
Kirchenslawisch. '9. 13. 19. 22. 27. 28. 35.
37. 178. '197. 203. 208. 210.
Kirejewsky, Peter. 148.
Kisfaludy, Alexander. 286. •288.
Kisfaludy, Karl. 288. *289.
Kisielewski. 173.
Kitzberg, A. 34g.
Kivi, Aleksis. '323. 325. 328.
Klaczko, Julian. 104.
Klassizismus, Neugriechischer. 255. 258. 262.
Klästersky. 192.
Klcften. 251. 252. 258.
Klein, Daniel. 359.
„Kleinbürger, Die", Gorkis. 140.
Kleinrussisch. 14. 15.
Klicpera, V. K. 190.
Kliment, Metropolit. 199. 200. 240. 241.
Klopstock, Friedrich Gottheb. 223.
Klostennann. 192.
Klot, R. V. 375.
Kniga Nobaznystes. 361.
Kniprode, Winrich von. 355.
Knjaschnin, Jakob. 50.
Kocel, Fürst, am Plattensee. 198.
Kochanowski, Jan. 33. 155.
Kocic. 236.
Koci'n von Kocinet. 187.
Köhler. 375.
Kölcsey, Franz. '289. 293. 299.
Königinhofer Handschrift. 178.
Kömer, Theodor. 289.
Körw, J. 348.
Koidula, Lydia. 346.
Koine. 249.
Koldin, Christian von. 187.
Koljcov. 237.
Kolldr, Jan. 190. 227. 234.
Kollegium, Kijewer. 46.
,,Kolo", Revue. 228.
Kolokotronis, Theodor. 254.
Kolzoff, Alexander. 78. go.
Komenius, Johann Amos. 187.
Komödie, Dalmatinischragusanische. 214.
— , Neugriechische. 254. 256.
— , Polnische. 157.
— , Russische. 52. 54. 63 f. 83. 99. 107. 134.
— , Ungarische. 28g.
,, Komödie, Die ungöttliche," Krasinskis. 162.
Konäc von Hodistkov, Nikolaus. 185.
Kongießpolen. 158. 173.
Konopnicka, Maria. i6g. 170.
Konstantin von Kostenec. 207.
Konstantinopel. 41. 23g. 247. 250. 283. 289.
s. auch Byzanz.
Konstantinos Porphyrogennetos. 5.
Konstantinov, A. 243.
Konstanz, Konzil von. 182. 356.
Konstitution des 3. Mai (1791). 156. 157. 172.
Konzul, Stefan. 218.
Kopczyhski, 34.
Kopitar, Bartholomäus. 10. 24. '224. 225.
Korais, Adaniantios. 254.
,,KopaKiCTiKa" Nerulos'. 254. 256.
Korhonen, Paavo. 320.
Kornaros Vitzentios. '252. 257.
Korolenko, Wladimir. '127. 137. 145.
Korzeniowski, Jözef. 164.
,, Kosaken, Die," L. Tolstois. 85. 100.
Kosciuszko, Thaddäus. 156.
Koskinen, Yrjö. 323.
Kosmas. 176. 179.
Kosmopolitismus, Russischer. 52. 54.
Kosovopolje, Schlacht am. 205. 235. 236.
Kossuth, Ludwig. 285. 286. 290. 299. '300.
Kostic, Laza. 235.
Kotljarevski, Iwan Petrowitsch. 18.
Kotoschichin. 47. 148.
Kotzebue, August Friedrich Ferdinand von.
223. 289. 349.
Register.
387
Kovacic, A. 232.
Kozarac, Josef. 233.
Kozma, Presbyter. 200. 202.
Krain. 26. 207. 218.
Krakau. 34. 153. 173. 207.
Kramsu, Kaarlo. 329.
Kranjcevic, S. 233.
„Kranjska Cbelica". 226.
Krasicki, Ignaz. 157.
Krasinski, Graf Zygmunt. *i62. 166.
Kraszewski, Jözef. *i64. 165. 169. 365.
„Kredit" Szdchenyis. 299.
Kreta. 252 f.
„Kreutzersonate" L. Tolstois. 87.
Kreutzwald, Fr. R. 343 ff.
„Kreuzritter, Die," Sienkiewiczs. 167.
,, Krieg und Frieden" L.Tolstois. 100. *II5.
Kriemhild. 268. 269. 298.
Krimkrieg. 88.
Krishanitsch, Jurij. 47.
,,Kristijada" Palmotics. 215.
Kritik, Publizistische, in Rußland. 75. 87. 95.
— , Literarische, in Serbien. 236.
— , — , in Ungarn. 306.
Krmpotic, Jos. 222.
Kroaten. 2. 3. 5. 8. 9. 11. 22. 25. 194. ig6.
197. 199. 203. 205. 207. 217. 218. 221. 225.
228. 229. 231. 237. 243. 244.
Kroatien. 24. 25. 207. 208. 211. 216. 219.
227. 280.
Krohn, Juhus. 321. «323. 332.
Krok, Herzog. 177.
Kronwald, Otto. 376.
Krylov, Iwan. 16.
Kuhlbars, Fr. 346.
Kukuljevic, Ivan. 228. 231. 245.
Kumanen. 43. 292.
Kumerdej, B. 221.
Kumicic, E. 232.
Kunic, R. 212.
Kunstprosa, Griechische. 249.
Kuprin. 142.
Kurösky, Fürst Andrej Michajlowitsch. 45.
Kurland. 354.
Kurschat, Friedrich. 366.
Kuruczendichtung. 282.
Kuthen von Springsberg. 187.
Kvapil, F. und J. 192.
Kvatemik, E. 231.
Kvitka-Ovsjanenko. 18.
Kyrillos. *9. 13. 42. 177. 178. '197.
L.
,, Lachen, Das rote," Andrejeffs. 143.
Laczkovics. 286.
Ladislaus von Ungarn. 267. 292.
Ladogasee. 41.
Lagervall, Jakob Fredrik. 319.
Laharpe, Jean-Fran^ois de. 51. 159.
Laibach. 26. 218. 230. 244.
Laichter. 192.
Lamennais, Felicitd. 160.
Landrecht des Königs Christopher. 315.
Langobarden. 4.
Lantos. 274.
Lappen. 309. 310.
Laskaris, Konstantinos. 247.
Lassalle, Ferdinand. 91.
Latein, Verwendung des, in der böhmischen
Literatur. 178. 184 f.
— , — , in der finnischen Literatur. 3i4f. 318.
— , Druck des, auf die polnische Kultur und
Literatur. 153. 155.
Lattik, J. 352.
Launitz, Kr. Fr. 375.
Lausitz, Ober- und Nieder-. 31.
Lautenbach, J. 376.
Lawroff, Peter. 120.
Lazarevic, Laza. 236.
,, Leben des Menschen, Das", Andrejeffs. 144.
Leconte de Lisle, Charles Marie. 238.
Ledesma. 360.
Legenden, Finnische. 312.
— , Ungarische. 267.
— vom heiligen Wenzel und Ludmila. 178.
Leibeigenschaft, Estnische. 334. 341.
— , Lettische. 374.
— , Russische. 50. 77. 92. 95. 107.
Leibniz, Gottfried Wilhelm. 47. 317.
Leino, Kasimir und Eino. 328. "330.
Leitan. 375.
Lemminkäinen, finn. Held. 312.
Leo XIII., Papst. 219.
Lermontov, Mich. i6. '69. 76. 78. 84. 115.
Lesina. 23. 211. 213.
Leskien, .\ugust. 363.
Leskovar. 233.
Lessing, Gotthold Ephraim. 70. 241. 289. 363.
Leszczynski, Stanislaus. 156.
Letten. 354. 372.
L^vay, Josef. 306.
Levstik, Franz. 230.
Lewitoff, A. 108.
Lexikographie, Böhmische. 29. 30. 189.
— , Bulgarische. 22.
— , Finnische. 317.
— , Litauische. 361. 367.
— , Polnische. 35.
— , Russische. 17.
— , Serbokroatische. 26. 220.
Liber census Daniae. 336.
Libusa. 177.
— , Gericht der. 178.
„Liebe Himfys" von A. Kisfaludy. 288.
Liebespoesie, Neugriechische. 251 f.
Liedersänger, Finnische. 310. 312.
Liedform der finnischen Volkspoesie. 311.
Lieventhal, Anß. 375.
25*
Liiw, Jakob. 348.
Lüw, Juhan. 349.
Linde, Samuel Gottlieb. 35.
Linhart, A. 221.
Linnankoski, Johannes. '327. 329.
Lintrop, J. 352.
Lipp, M. 348.
Lippi, Filippino. 271.
Lissa. 216.
Litauen. 11. 354.
Litauer, Litauisch. 197. '354. 357.
Literatur, Böhmische. 1 76 ff.
— , Dalmatinisch-ragusanische. 211 ff.
— , Estnische. 333 ff.
— , Finnische. 309 ff.
— , Glagolitische, der Kroaten. 207.
— in Kirchenslawischer Sprache, 197 ff-
— , Lettische. 372 ff.
— , Litauische. 354 ff.
— , Mittelbulgarische. 204 ff.
— , Neugriechische. 246 ff.
— , Polnische. 153 ff.
— , Russische. 40 ff.
— , Ungarische. 265 ff.
Literaturen, Südslawische. 194 ff.
Literatursprache, Bulgarische. 21. 240.
— , Estnische. 339.
— , Polnische, 34.
— , Neugriechische. 247. 254.
— , Russische. 12. 15. 16.
— , Serbokroatische. 25.
— , Slowakische. 31.
Lituomanen. 366.
Liturgie, Slawische. 196. 197. 198. 203. 207.
Livland. 333. 334.
Ljubisa, Stefan M. 236.
,,Ljubmir" Zlatarics. 214.
Lobkovic, Bohuslav Hassenstein von. 184. 187.
Lönnrot, Elias. 320 f. 323. 324.
Löwe, Fr. 344.
Lomonosow, Mich. 16. '48.
Longobarden. 265.
Lönyay, Anna. 281.
Loris-Melikoff, Michail Tarielowitsch. 122.
Losonczy, Stephan. 276.
Lublin, Union von. 158. 159. 354.
Lucic, H. 213.
Lucidarius. 208.
Lucretius Carus, T. 212.
Ludmila, Legende von. 178. 179.
Ludwig von Anjou. 266.
Luce, J. W. 341.
Ludwig der Große von L'ngarn. 276. 297.
Luiga, G. E. 348.
Lukarevic. 214.
,,Lumfr", böhm. Zeitschrift. 192.
Lupdö von Hlavaiov. 187.
Luther, Martin. 184. 217. 273. 274. 315. 338.
358- 359-
Lutuwer von Eirogaly. 355.
Lyrik, Böhmische. 190. 191.
— , Bulgarische. 240.
— in Dalmatien. 213.
— , Estnische. 346. 350.
— , Finnische. 319. 323. '329.
— , Neugriechische. 250. *257. 259.
— , Polnische. 155. 164. 165. 169. 172.
— , Russische. 57. 59. '69. 78. 99. 124. 139.
— , Serbische. 235.
— , Slowenische. 226. 231.
— , Ungarische. 273. 276. 2S4. 288. 289. 293.
294.
M.
Mably, Gabriel Bonnot de. 156.
Mächa, K. J. 191.
Machar, J. S. 192.
„Macht der Finsternis" L. Tolstois. 119. 133.
Maciejowski, W. A. 175.
Macpherson, James. 317.
Maddch, Emerich. 286. 290. 304. 329.
Mähren. 9. 10. 28. 176. 177. 178. 197. 198.
Mändmets, J. 349.
Maeterlinck, Maurice. 172. 173. 365.
Magyaren. 6. 31. 177. 197. '266.
Mahoraet IL 289.
Mait Metsanurk. 351.
Majano, Benedetto da. 271.
Majkov, ApoUon. 16. 78. •iio.
Majkov, Valerian. 81.
,,Makars Traum" Korolenkos. 127.
Malalas, Johannes. 201.
Malberg, Fritz. 377.
Mahnowski, Luc. 34.
HaXXiapoi. 259.
Manasse, Chronik des. 205.
Manichäismus. 202.
Manninen, O. 330.
Manteuffel, Graf Peter. 342.
Manucci, Aldo. 45.
Manzelius, Georg. 373. 374.
Marcus Aurelius. 265.
Marek, Jan J. 190.
Margarete, Die heilige. 267.
Margaritha theologica. 359.
Maria Theresia. 221. 283.
Marica, Schlacht an der. 206.
Marienburg. 356.
Marketis. 261.
Markomanen. 176. 177.
Markoras, G. 258.
Markovic, Fr. 232.
Markovic, Svetvzas. 235. 236.
Martid, Grgo. 232.
Martinovics. 286.
Martzokis, Stephan. 258.
Marulic, Marko. 213.
„Marunko" Gorgjids. 215.
Masing, O. W. 342.
Register.
389
Mastickäf. 180.
Masurisch. 34.
Matavulj. Simo. 236.
„Matica Hrvatska". 238.
„Matica Srpska". 225. 233. 237.
Matthias Corvinus, König. 212. 266. '269. 276.
Matthisson, Friedrich. 289.
Mazedonien. 200. 206. 208. 262.
Mazedonisch. 21.
Mazuranic, Ivan. 229. 232,
Medwedeff, Sylvester. 147.
„Mehrneeku laiki" von M. u. R. Kaudsit. 376.
Megiser, Hieronymus. 217.
Melanchthon, Philipp. 217. 273. 274.
Melno-See, Friede am. 357.
Melschin = Jakubowitsch. 92. 125. 137.
, .Memoiren eines Jägers" Turgenieffs. '77.79.
82. 93-
Menaeen, Liturgische. 201.
Menandersentenzen. 206.
Mencetic, Sisko. 213.
Mereschkofisky, D. 139.
Messianismus, Polnischer. 163.
Methodios. 9. 13. 177. 178. *I97. 199. 200. 203.
Methodios von Patara. 203.
Mettemich, Fürst Clemens Lothar W. 292.
Micalia. 219.
Michael IH. 197.
Michailoff (A. Scheller;. loi.
Michailowsky, Nikolai. 113. 121.
Mickiewicz, Adam. 60. '159. 161. 162. 163.
226. 237.
Mihajlovski, St. 242.
Mihkelson, Fr. 351.
Mikes, Klemens. 282 f.
Miklosich, Franz von. 10. 19. 225. 228.
Mikszäth, Koloman. 307.
Milfc, Johann. 181.
Milicevic, Milan. 236.
Miliukofi'. 1 50.
Mill, John Stuart. 91.
Miller. 363.
Milton, John. 190.
Milutinovic, Sima. 226.
Mindowe von Litauen. '354. 355.
Minsky, N. 139.
Mirologien. 251.
Mitrovic, Wratislaw von. 187.
Mittelschulsystem, Russisches. 105.
Mohäcs, Schlacht von. 273. 275.
Mojmir, Herzog. 177. 178.
Mokry. 192.
Moldau, n.
Molifere, Jean-Baptiste Poquelin. 54. 5S. 61.
216. 241. 328. 330. 349.
Monomach, Großfürst Wladimir. 43.
Montecuccoli, Raimund Graf. 2S0.
Montenegro. 25. 26. 226. 234.
Montesquieu, Charles Secondat de. 49. 84. 302.
Moskau. '44. 46. 154. 158. 355.
Moswidius, Martinus. 358.
Mrstik, AI. und \V. 192.
Müller, Georg. 338.
Münther, O. H. 351.
Mulabdic, Edhem. 233.
Munkäcs. 280.
Muräny. 281.
MurawiefT, Alexander Graf. 102. 107.
Murinsel. 25. 218.
Musicki, Lukijan. 223.
,, Mutter, Die," Gorkis. 141.
Mystik in der polnischen Literatur. 163.
N.
,,Nabob, Der ungarische," Jökais. 303.
,, Nachbarschlösser, Die zwei," V'örösmartys.
292.
„Nachlaß Fannys, Der," Karmans. 301.
„Nachtasyl, Das," Gorkis. 140.
Nadeshdin. 147. 148.
Nadson, S. 124.
Napoleon. 228.
Nasalismus, Polnischer. 32. 33.
Nationalismus, Russischer. 125. 127.
Naturgefuhl in der ungarischen Poesie. 277.
Nedelji'sce. 218.
NefedofT. 109.
Neikens, Juris. 376.
Nekrasov, Nik. 16. 58. *78. 7g. 83. 99. 1 28. 149.
Nemcovd, Bozena. 191.
Neofit, Mönch. 23g.
Neruda, Johann. 191. 192.
Nerulos, Jakobos Rizos. 254. 256.
Nesselmann, G. H. F. 363.
,,Netz des Glaubens" Chelcickys. 183.
,, Neuland" Turgenieffs. 120.
Neus, H. 345.
Neusatz. 233.
Newton, Isaak. 212.
Nietzsche, Friedrich. 257.
Nihilist. 103.
Nikitenko, A. 10 1.
Nikodemus-Evangelium. 202.
Nikodim, Erzbischof. 206.
Nikola von Montenegro, Fürst. 235.
Nikolaus I. von Rußland. 58. 64. 81. 88.
Nikolic, Mihovil. 238.
Nona. 211.
Novak, V. 233.
Noväkovä. 192.
Novelle, Estnische. 349. 351.
— , Neugriechische. 260.
— , Ungarische. 275.
Novic, J. 235.
„Novice". 227.
Nowgorod. 41. 44. 50.
— , Nischni-. 129.
Xowikoff', Nik. 50. 77. 147.
390
Register.
Numers, Gustaf von. 328.
Nusii, Branislav. 236.
„Oblomoff" Goncarovs. 7g. 95.
Obradovic, Dositije. 13. *222. 225.
Ochrida. 199. 200. 209.
Österreich, Einfluß von, auf die südslawische
Kultur. 220.
Ofen. 271. 282. 286. 289.
Ogarefi". 73. 120.
Oikonomos, Konstantin. 248.
Oksanen = Ahlqvist, August. '323. 329.
Olgerd von Litauen. 355.
,,Omladina", Serbische. 233 f.
,,Onegin, Eugen", Puschkins. 56.
,, Opfer Abrahams". 252.
Opitz, Martin. 279.
Orbecche. 253.
Orden, Deutscher. 355. 356.
Origines Livoniae. 336.
Orkan. 170.
Orzeszko, Ehse von. 168. 170.
Osman, Epos. 23. 215. 216. 229.
Osman-Azis. 233.
Ostrowsky, Alexander. 83. 90. 91.96.99. 107.
Ossian. 292.
Ostseefinnen, Urheimat der. 309.
Ottersdorf, Sixt von. 186.
Ottokar II. von Böhmen. 179.
Ovidius Naso, P. 281.
Owen, Robert. 91.
P.
Pachenecker, Leonhard. 218.
Päivärinta, Pietari. 325.
Pärn, Jakob. 348.
Pajsij. 238.
Pakkala, Teuvo. '327. 328.
Palacky, Franz. 189.
Palamas, Kostas. 259. 260.
Palanzov. 239.
Pallis, A. 261.
Palmotiö, Gjon. 215. 219.
Pannonien. 9. 10. 198. 267.
Pannonius, Janas. 271. '272.
Panserbismus. 22. 25.
Paparrigopulos, K. 249.
Paraschos, Achilleus. 258.
Parteien, Literarische, in Rußland. 49.
Patarcncr s. Bogomilen.
Patmos. 248.
Paul I. von Rußland. 51.
Paulikianer. 202.
Pawasser, John. 376.
Pawlowski. 17.
Pdzmdny, Peter. 278.
Pejkiö, K. 219.
Pelbartus von Temesvar. 272.
Maxim.
122. 127.
226.
160.
277. 285. 2S6. 290.
213. 226. 275. 288.
,,Pelegrin" Vetranics. 215.
Pellico, Silvio. 92.
Perczel, Etelka. 292.
Perno Postimees. 346.
Perrävos. 254.
Peschkoff, Alexis =: Gorki,
Pessimismus in Rußland.
Petar II. Petroviö Njegos.
Peter von Bulgarien. 201.
Peter der Große, 'ii. 16. 41. 46. *47. 59. 334.
P^terfy, Eugen. 306.
,, Petersburg" von Mickiewicz.
Petersen, Ernst. 351.
Peterson, Kr. Jaak. 342.
Petöfi, -Alexander. 235.
*294. 306.
Petraeus, Eskil. 316.
Petrarca, Francesco. 18;^
Petraschewsky. 80. 82.
Pferd, Sage von dem weißen. 268.
Pfleger-Moravsky, G. 191.
Phanarioten. 248.
Philhellenismus. 255.
Philippopel. 239.
Philosophische Literatur, Böhmische. 181.
,, Phönix, Der aus der Asche entstandene"
Gyöngyösis. 281.
Photius. 197. 198. 203.
,,Phroso" von Valaoritis. 258.
Physiologus. 201.
Piasten. 153.
Pinturicchio, Bernardino. 268.
,,Pisanice". 221.
Pisecky, Wenzel. 185.
Pissarew. 91. 98. *ioo. loi. 102. 235.
Pissemsky, .Alexej Feofilaktowitsch. 107.
Pitkiewicz, Malcher. 361.
Plakatverordnungen, Obrigkeitliche, in litaui-
scher Sprache. 360.
„Planine" von Zoranic. 214. 215.
Plautus, T. Maccius. 212.
Pleschtscheew, A. 82. 89.
Pletersnik. 27.
,,Pobratimstvo" Botics. 232.
Pokorny. 192.
Pol, Wincenty. 164.
Polabisch. 34.
,,Potaniecki, Familie", von Sienkiewicz.
„Polarstem, Der". 52. 90.
Polen. I. 2. 3. 6. 355. 357.
Polnische .Sprache. 32 ff.
Polenz, Wilhelm v. 121.
Pohtis. 259.
Poljica. 208.
Polowzen. 43.
Polybios. 246. 262.
Polzic, Harant. 187.
„Pomerium" des Pelbartus. 272.
Pomponius Laetus, Julius. 212.
167.
Register.
391
Pontos. 250.
Porthan, Henrik Gabriel. *3I7. 319. 320.
Possoschkoff. 48.
Postille, Bretkes. 358.
— lietuwiszka. 351.
— , Wolfenbüttler. 358.
— Wujeks. 360.
Prag. 28. 207. 234.
— , Universität zu. 181.
Preissovä. 192.
Pfemysl. 177.
Preradovic, Peter. 229.
Preseren, Franz. 27. *226. 230. 231.
Presse, Freiheit der, in Rußland. 105.
— , — , in Ungarn. 294.
Preußen. 354. 355.
Pribina, slowak. Fiirst. 178.
Prokopios. 2.
Proletariats-Belletristik, Russische. 108 f. 137.
,, Proletarier, Die," Csikys. 304.
Protestantismus s. Reformation.
Prus, Boleslaw = Glowacki, Alex. 171.
Przybyszewski, Stanislaw. 172.
Psalter von St. Florian. 32.
— J. Rhesas. 359.
Pseudoklassik, Warschauer. 159.
Psichari, Jean. 256. 257. '259.
Pskow. 41.
Pumpurs, Andrejs. 376.
Puschkin, Alex. Sergejewitsch. 16. 17. 52. '55.
'58. 61. 69. 70. 72. 76. 100. III. 115. 148.
237. 306.
Pypin, Alexander. 148. 149. 245.
Q.
Quaden. 176. 177.
Quis. 192.
,,Quo vadis?" von Sienkiewicz. 167.
R.
Radicevic, Branko. 225. '234.
Radimicen. 5.
Radischtschew, Alexander. 50. 53. 70. 77.
Radziwil, Fürst Nikolaus Czamy. 360.
Radziwil, Fürstin Karolina Ludwika. 362.
Ragusa. '23. 26. 203. 207. *2ii. 212. 213.
214. 215. 216. 219. 233.
Raic, J. 238.
Rainis-Pleekschan. 376. 377.
Rais. 192.
Rakic, Milan. 238.
Räkoczi, Franz. 280. 282.
Räkoczi, Joseph. 283.
Rakovski, G. 240.
Ramm, Nikolaj. 373.
Rangavis, Alexander. *255. 258.
Ranjina, Dinko. 213.
Rankovic, Svetislav. 236.
Rapagelanus, Stanislaus. 357.
Raskai, Kaspar. 275.
Rastislav, Fürst. 177. 197. 198.
Rationalismus, Bedeutung des, für die est-
nische Literatur. 342.
„Rauch" von Turgenieff. 103.
Ravnikar. 27.
,,Razgovor ugodni naroda slovinskoga". 220.
Reaktion, Russische. 53 ff.
Realismus, Kroatischer. 232,
— , Serbischer. 236.
„Recht und Gerichte in Böhmen, Neun Bücher
vom", von Vsehrd. 185.
Rechtsliteratur, Böhmische. 180. 185. 187.
Rechtspartei, Kroatische. 231.
Reformation, Bedeutung der, für die estnische
Literatur. 337 ff.
— , — , für die finnische Literatur. 316.
— , — , für die slowenische Literatur. 217.
— , — , für die ungarische Literatur. 273.
275. 258.
— , Böhmische. 180.
Reformen in Rußland. 96 f
Regino. 266.
Regiomontan (Johann Müller). 271.
Rehehusen. 373.
„Reichtum, Russischer". 129.
Reimchronik, Dalimilsche. 180.
Reinmar von Zweier. 179.
Reinwald, A. 346.
Rej, Mikolaj. 33.
Reljkovic, Matija. 221. 225.
Renaissance. 269f.
Reschetnikofi", F. 108.
Revai, Nikolaus. 307.
Reval. 350.
Reviczky, Julius. 307.
,, Revisor, Der", von Gogol. 63 f.
Reymont, Wiadisiaw. 170.
Rhesa, J. »359. 362. 363. 365.
Rhodos. 250.
Rhus. 40.
Rigas, Konstantin. 253.
Ringold von Kemow. 354.
Ritterballade, Finnische. 312 f.
Ritterpoesie in Dalmatien. 213.
Roberti, Ercole de. 271.
Roidis, E. 259.
Rom. 195. 196. 197. 198. 200. 203. 206. 218.
219. 239.
Roman, Der böhmische. 190. 191. 192.
— , Der estnische. 348. 351.
— , Der finnische. 324. 325 ff.
— , Der kroatische. 232.
— , Der neugriechische. 261.
— , Der polnische. 162. 164. 165. 166 fl^. 171.
173-
-, Der russische.
78 ff. 82. 91. 93.
-, Der serbische.
56. 59. 62. 65.
99. 139. 142 ff.
223. 235. 236.
71. 75 ff.
392
Register.
Roman, Der slowenische. 231. 237.
— , Der ungarische. 301.
(S. auch die einzelnen Romantitel.;
Romantik, Einfluß der, auf die finnische Lite-
ratur. 319.
— in Polen. 15S.
— in Serbien. 223. 233 f.
— , Slowenische. 226. 230.
Romulus Augustulus. 265.
Ronto, Paul. 301.
Rosenberg, Das Buch des alten Herrn von. 1 80.
Rosenberg-Pleekschan, Elsa. 377.
Rosenplänter, J. H. 341.
Rossihnius, Joachim. 339.
Roswitha. 288.
Rousseau, Jean-Jacques. 84. 115. 119. 156.
Rudau, Schlacht bei. 355.
Rudbeck, Olov. 316.
Ruhig, Philipp. 362.
Rumänen. 6. 20. 197.
Rumänisch. 19. 20.
Rumjanzew, Graf N. 147.
Runeberg, John Ludvig. 322. 323. 330.
Runen, Esmische. 347.
Russen, i. 3. 5. 11. 197.
Russische Literatur. 40 ff.
— Sprache. *I3. 35. 38.
Ruthenen. 2. 197.
Ruthenische Sprache. 18.
Rylejew, Konr. 54. 55.
Saal, A. 349.
Sabbaskloster. 206.
Sabbatianer. 302.
Sagen, Ungarische. 268.
— , Finnische. 313.
Sainte-Beuve, Charles Augustin. 62.
Saint-Simon, Claude de. 73.
Salamnius, Matthias. 318.
Salamon, Franz. 306.
Salomon und Kitovras, Sage von. 202.
Salona. 8.
Saltykoff, Mich. 68. *8l. 82. 89. 91. »106.
121. 122. 126. 131. 149.
Samaiten, Samogyzier. 354.
Samo, König. 177. 195.
Sand, George. 76. 77. 165. 190.
Sannozaro, Jacopo. 214.
Sappuhn, Christoph. 359.
Sarbicwski. 155.
Särospatak. 277. 279.
Satire, Polnische. 157. 160.
— , Russische. 54. 81. *io6. 145.
— , Serbische. 236.
Sauerwein, G. J. J. 367.
Saunus, M. 365.
Sava. 205. 206. 207. 223.
Savonarola, Girolamo. 45.
Savoyen, Prinz Eugen von. 216.
„Sawa" von Andrejeff. 144.
Säyawa, Kloster von. 178.
,,Sbornik" in Sofia. 242.
Schäferspiele. 214. 215.
Schauspiele, Geistliche kroatische. 213. 216.
Scheflel, Viktor Joseph. 266.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph. 59.
Schemtschuschnikov, Alexis. 145.
Schewtschenko, Taras Grigorjewitsch. 89.
Schewyrefif. 148.
Schiller, Friedrich. 51. 70. 73. 80. 159. 190.
241. 258. 287. 289. 349. 351.
SchischkofF, .Admiral. 74.
Schlegel, August Wilhelm und Friedrich. 223.
Schleicher, August. 363. 364.
Schhck, Kaspar. 275.
Schopen. 21.
Schrift, Bosnisch-cyrillische. 207.
— , Grazdanskische. I2.
Schriftsprache, Estnische. 342.
— , Finnische. »314. 323.
— , Lettische. 373.
— , Neugriechische. 247. 249. 254. 255.
Schriftstellerinnen in Polen. 164.
,, Schuld und Sühne" von Dostojewski. 112.
Schuldrama, Russisches. 46.
Schule, Die natürliche, in Rußland. 68.
— , Die radikal-demokratische und die sym-
bolische, in Rußland. 139.
Schulkomödie der Jesuiten in Polen. 155.
Schultz, Theophil. 359.
, .Schwärmer, Die" Kemenys. 302.
Schwalbenlied. 250.
Schweden. 309. 310. 316. 319.
„Scintille" Tommaseos. 229.
Sclaveni, Sclavi. 2. 195.
Scott, Walter. 62. 1 15. 162. 167. 230. 301. 349.
Sebastopol. 88.
Sebenico. 211. 216.
,, Seelen, Die toten", von Gogol. 65.
Semstwo. 105.
Sengstock, Lazarus. 359.
Serben. 12. 13. 21. 22. 24. 25. 26. 194. 196.
197. 205. 209. 217. 218. 220. 222. 227. 233.
238. 243. 244.
Serbokroatische Sprache. 22.
Seroschewsky. 127.
Shakespeare, William. 56. 57. 80. 115. 159.
232. 235. 291. 293. 319. 323. 328. 329. 349-
Shelley, Percy Bysshe. 162.
Shukowsky, Wassilij Andrejewitsch. 51. 89.
Siebenbürgen. 273. 278. 294.
Sienkiewicz, Henryk. *i66. 170.
Sieroszewski. 171.
Sigeher, Meister. 179.
Sigismund, Kaiser. 275. 356. 357.
Sigray. 286.
Simonides. 169.
393
„Sintflut, Die," von Sienkiewicz. 167.
Sirmium. 198.
Sirwilauad. 336.
Sisgoreus, Georgius. 212.
Sjögren, A. J. 320.
Skandinavien. 44.
Slddek, J. 192.
Slatowratski, Nik. 109. 121.
Slavejkov, Penco. 242.
Slavejkov, Petko Raco. 240.
Slavi-en. 'i. 20. 176 f.
Slaweno-serbische Sprache. 220.
Slawobulgarische Geschichte Pajsijs. 238.
Slawonien. 24. 25. 26. 208. 211. 216. 219.
221. 227.
Slawophilen. 74. 83. 92. 98. 125. 234.
Slawoserbisch. 12.
,,Slovenska Matica". 230.
„Slovenski Glasnik". 227.
Siowacki, Julius. *i6i. 162. 163. 165. 172.
Slowaken. l. 6. 31. 176. 178.
Slowakisch. 4. 28. 29. '30.
Slowenen. I. 2. 3. IG. II. 26. 27. 194. 195.
196. 197. 203. 217. 221. 226. 227. 229. 237.
243. 244-
Slowenische Sprache. 26 ff.
Slowinisch. 23.
Slowinzen. i.
„Smail Cengid Agas Tod". 22g.
Smederevo. 206.
Snellman, Johan Vilhelm. 322.
Snojlsik, J. 217.
Sobieski, Johann. 216.
Sööt, K. E. 350.
Sofia. 21. 242. 243.
Sofronij von Vraca, Bischof. 238.
Soliman, Sultan. 2S0.
Solomos, Dionysios. '257. 259. 262.
Sophokles. 258. 276.
Sorben, i. 6. 31.
Sorbische Sprache in der Ober- und Nieder-
lausitz. 31.
Sova, A. 192.
Sozialismus. 91. 235.
Spahgis, A. 376.
Spalato. 203. 211. 213. 216.
Spangenberg, Cyriacus. 217.
Spaneas, Lehrgedicht. 206.
Spasowicz, Wl. 175. 245.
Spetsa. 248.
Sprachemeuerung, Ungarische. 286.
Sprachfrage, Neugriechische. 259 ff.
Sprichwörter, Estnische. 348.
— , Finnische. 313. 318. 322.
— , Neugriechische. 252.
„Srbijanka" Milutinovics. 226.
Sremac, Stefan. 236.
Ssolowjeff, Wladimir. 127.
Ssumarokoff, Alexander Petrowitsch. 48.
Staatengründungen, Südslawische. 195.
Stahl, Henricus. *339. 340.
Stamatov, G. 243.
Stambulov, St. 240.
Stanewicz. 363. 365.
Stanislavov, F. 219. 238.
Stanislaw August von Polen. 156.
Stankovic, Borisav. 236.
Starcevic, Anton. 231.
Starowolski, Simon. 175.
Stasek. 192.
Statins, P. Papinius. 212.
Stay, Benedikt. 212.
Stefan von Ungarn. 267.
Stefan Lazarevic. 207.
Stefan Nemanja. 205.
Stefan der Erstgekrönte. 205. 207.
Steiermark. 26. 27. 218.
Steineck, Pastor. 374.
Steinhöwel, Heinrich. 278.
Stender, Alexander Joh. 374.
Stephan V., Papst. 198.
Stephanites und Ichnilates. 202.
, .Steppe, Die", Tschechoffs. 134.
Sterne, Lawrence. 84.
„Sternen, Zu den", Andrejeffs. 144-
Stobbe, M. 374.
,,Stojan und Rada". 240.
Strasimirov, A. 243.
Stratimirovic, Metropolit. 225.
Strindberg, August. 172.
Stritar, Josef. 230. 231.
Stroßmayer, Bischof. 231.
Stroupeznicky. 192.
Studion, Kloster. 201.
Stutschka. 376.
Suburg, Lilli. 348.
Sue, Eugene. 80. 93. 349.
Südslawen. I94ff.
Südungam. 25. 26.
Sultanstochter, Entführung der. 275.
Sumin. 192.
Suonio = Krohn, Julius. '323. 329.
Suppan. 27.
Sutsos, Alexander und Panagiotis. 258.
MSuvorov, aksim. 220.
Svatopluk, Herzog. *I77. 178. 198. 268.
Svetlä, Karolina = Muzäkovä, Johanna. 191.
Svjatoslav, Fürst von Kijew. 200.
Svoboda. 192.
Svobodovä. 192.
Swi(;tocho\vski, Alexander. 166.
Swift, Jonathan. 106.
Sylvester, Johann. 273.
Symeon von Bulgarien. 195. 199. 200. 201.
Synode, Gnesener. 357.
— , Wilnaer. 360.
Synodikon des Zaren Boril. _ 205.
,,Syntipas". 238.
394
Register.
Syrmien. 26.
Syrokomla, Wiadisiaw = L. Kondratowicz.
164. 169.
Szabö, Dav. 286.
Szantö. 278.
Szäsz, Karl. 306.
Szechenyi, Stephan. 273. 285. 286. 290. '299.
Szdchy, Gräfin Marie. 281.
Szekler. 269.
Szentmarjai. 286.
„Sziget, Die Belagerung von", von Zrinyi. 280.
Szigligeti, Eduard. 303.
Szilägyi und Hajmdsi. 295.
Szilägyi, Michael. 276.
Szliupas. 366.
Szymahski. 171.
Szyrwid, Konstantin. 361.
S.
SafaHk, P. J. 24. »189. 245.
Sap6anin, Milorad. 235.
Senoa, August. 232.
Sestodnev. 200.
äevcenko. 18.
Simacek. 192.
älejhar. 192.
ämilovsky. 191.
Stitny, Thomas von. 181.
Stolba. 192.
ätür, Ludevit. 234.
äubert. 192.
T.
(Mit Tsch beginnende Namen s. auch unter C.)
Taboriten. 183.
„Tagebuch, Das, des Schriftstellers" Dosto-
jewskys. 1 10.
Talvio, Maila. 327.
Talvj = T. A. L. v. Jacobi. 225.
Tamm, Jakob. 348.
Tan. 127.
Tannenberg, Schlacht von. 356.
Tarnowski, Graf St. 175.
Tasso, Torquato. 155. 214. 215. 253. 279. 280.
Tataren. 41. 43. 44. 355.
Tatischtscheff, Wassilij Nikititsch. 48.
Tavcar, Ivan. 231.
Telega, Stefan. 361.
,, Telegraph, Moskauer". 52.
,, Teleskop". 74.
Tertsetis, Georgios. 258.
Testament, Altes. 199. 207. 314.
— , Neues. 207. 218. 261. 273. 315. 340.
359- 367.
Tetmajer, Kazimierz. 172.
Texte du sacre. 207.
— , Älteste litauische. 358.
,,Thaddäus, Herr," von Mickiewicz. 160.
Theater, Estnisches. 349.
— , Finnisches. 328.
— , Russisches. 47.
— , Serbisches. 223.
— , Ungarisches. 289.
— , s. auch Drama, Komödie.
Theokrit. 169.
Theologische Literatur, Böhmische. 181. 183.
i86.
— , Kroatische. 207 f.
— , Südslawische. 199 ff.
Thököly. 281. 282.
Thomas von Pecs. 269.
Thorn, Friede von. 356.
Thürocz, Johann von. 271.
Tichonravvoff, N. 148. 149.
Tierepos, Polnisches. 171.
Tierpsychologie in der russischen Literatur.
134-
Tiffernus, Michael. 217.
Tinödi, Sebastian. '274. 276.
Tiverci. 6.
Todorov, O. 243.
Tönisson, J. 350.
Toldi, Reimchronik von Nikolaus. 276. 297.
Toldi = Trilogie von Arany. 285. '297.
ToUius. 279.
Tolstoi, Alexis Graf. 78. •109.
Tolstoj, Leo Graf. 16. 58. 67. 76. '84. 99.
100. 108. *ii4. 123. 129. 133. 136. 143. 326.
Tolstoismus. 119.
Tomic, Jos. E. 232.
Tommaseo, N. 229.
Tompa, Michael. 306.
Topehus, Zacharias. 320.
,, Totenhaus, Memoiren aus einem", von Do-
stojewsky. 92. in.
Tovacovsky von Cimburk, Ctibor. 187.
Towianski, A. 163.
,, Tragödie des Agis" von Bessenyei. 283.
,, — des Menschen" Madächs. 304.
Trau. 211. 213. 216.
Trebfzsky. 191.
Tresic-Pavicic, A. 233.
Treu, Pastor. 375.
Triest. 26.
Trikupis, Spyridion. 249.
Tristanroman. 208.
Tristansage. 276.
Trnovo. 204. 205.
Trojasage. 205. 208.
Troubadoure, Dalmatinische. 213.
Trsat. 208.
Trüber,- Primus. 217. 218.
Tschaadaew. 52. 74. 146.
Tschernischewsky, Nikolaj Ciawrilowitsch. 87.
91. 95. 99. lol. 148. 235.
Tschirikoff. 142.
, .Türkei, Briefe aus der", des Mikes. 282.
Register.
395
Türken. 44. 251.
Türkenherrschaft in den slawischen Balkan-
staaten. 208.
Türkenkriege. 273. 274. 279. 280. 282.
Turgenjev, Iwan. 16. 17. 65. 66. 67. 68. 72.
•76. 79. 82. 90. '93. 96. 98. 99. '102 108.
•120. 126. 128. 132. 148. 232.
Tyl, Joseph Kajetan. igo.
Typaldos, Julies. 258.
Typen s. Schrift.
Tymau. 279.
u.
Übergangsdialekte, Slawische. 5.
Übersetzungen, Altkirchenslawische. 199. 204.
205.
— , Bulgarische. 239. 241.
— , Estnische. 338. 340. 349.
— , Finnische. 314. 315. 329. 330.
— , Kroatische. 208.
— , Litauische. 357 ff. 360. 365.
— , Neugriechische. 249. 256.
— , Serbische. 206.
— , Ungarische. 287.
Ujejski, Komel. 164.
Ukraine. 18.
Uli«. 6.
Ungarn. 265. '266. 282. 284.
,, — im Jahre 1514" Eötvös'. 302.
Ungnad, Baron Johann. 217.
Union von Lublin. 158. 159.
Unität s. Brüdergemeinde, Böhmische.
Universität zu Abo. 316.
— zu Athen. 255.
— zu Belgrad. 237.
— zu Budapest. 279.
— zu Dorpat. 343.
— , Freie, zu St. Petersburg. loi.
— zu Prag. 181.
— zu Sofia. 242.
Universitätsjugend, Die Moskauer. 72.
Usspenski, Gleb. 109. 121. 133.
Uwaroflf, .Alexej Sergejewitsch. 58.
Väinämöinen , finnischer Gott des Wassers.
311. 320.
„Väter und Söhne" von Turgenieff. 98. 102.
Vajda, Johann. 307.
Valaoritis, .Aristotelis. 257. *258.
Valentin von Ujlak. 269.
Valvasor, J. W. 218.
Vazov, Ivan. 242.
Veglia, Kirche der heiligen Lucia bei Baska
auf. 203.
Veleslavin, Daniel Adam von. 187.
Velickov, K. 242.
Venedig. 211. 216.
Venelin, J. 239.
Venetae. 2.
„Venus von Murdny" von Gyöngyösy. 281
Veprinac. 208.
Vergerius, Peter Paul. 217.
Vergilius Maro, P. 272. 280. 281. 284. 292.
Verlaine, Paul. 237.
Vemardakis, Dimitrios. 256.
Verrocchio, .Andrea del. 271.
Verschroniken, Ungarische. 274.
,, Verschwörung", Martinovicsische. 286.
Verseghy, Franz. 286.
VeselKoseski, Jovan. 227.
Veselin = Vlajkov, T.
Veselinovic, Janko. 236.
Vetranic, Mavro. 215.
Vida, M. H. 215.
Vidakovic. 225.
Vidric, Vladimir. 238.
Vigny, Alfred de. 238.
Vikovä-Kunetickä. 192.
Vilägos, Waüfenstreckung von. 300.
Vilaras, Joannis. 254.
Vileisis, Petrus. 365.
Vinci, Lionardo da. 271.
Vinodol, Statut von. 208.
Visio Tundali. 208.
Vjaticen. 5.
Vlajkov, T. 243.
Vlcek. 191.
Vlkanov, Prefat von. 187.
Vodnik, V. 27. 221.
Vörösmarty, Michael. 285. 287. 290. '291 .
296. 299.
Vogt. 375.
Vojnikov, D. 241.
Vojnovic, Ivo. 233.
Volksepik, Finnische. 321. 324.
— , Serbisch-kroatische. 209.
Volkslieder, Estnische. 335.
— , Finnische. 311. 318.
— , Lettische. 373.
— , Litauische. 363.
— , Neugriechische historische. 250,
— , Serbische. 225.
— . Slowenische. 228.
Volkspoesie, Estnische. 334. 341. 347.
— , Finnische. 310 fr. 317. 320 ff.
— , Neugriechische. 250. 257.
— , Russische. 41 f.
— , Slawische. 190.
— , Südslawische. 220. 221. 224.
— , Ungarische. 268. 282. 290. 295. 296.
Volksschriftsteller, Estnische. 342.
— , Finnische. 325.
Volksschule, Lettische. 374.
Volkssprache, Estnische. 337. 342.
— , Neugriechische. 246. *249. 253. 254. 255.
259. 261.
— , Bemühungen für die slawische. 224.
396
Register.
Voltaire, Fran^ois- Marie Arouet de. 49. 73.
166. 241. 283. 349.
Vonwisin, Denis. 50. 77.
Vorlicny, P. 187.
Vossius, Melchior. 374.
Vraz, Stanko. 227. '228.
Vrchlicky, Jaroslav. igi. 192.
Vrhovac, M. 224.
Vsehrd, Viktorin Komel von. '185. 187.
Vujic, Joakim. 223,
Vukicevic, llija V. 236.
Vyzantios, Dimitrios. 256.
w.
Waischnoras, Simon. 359.
Walachei. 11.
Waldenser. 183.
Waldhauser, Konrad. 181.
Waldis, Burkard. 278.
„VVallenrod, Konrad". 159. 162.
Wallenstein, Albrecht von. 279.
Waräger. 40.
Warasdin. 25.
Watson, Pastor. 374.
Weber, A. 376.
Weißrussisch. 14. 15.
Weltherus, Ambrosius. 337.
Wenden, Winden. 2. 3. 26. 31.
Wenzel, Legenden vom heiligen. 178. 179.
Wenzel, Kaiser. 356.
Wenzel I. und IL von Böhmen. 179.
Werböczy, Stephan. 273.
Weske, M. 346.
Wessel^nyi, Franz. 281.
,, Westeuropäer". 74. 96.
Weyssenhoff, Josef. 171. 172.
Wiching. 198.
Wiclif, John. 182. 183.
Wiedemann, J. F. 345.
Wieland, Christoph Martin. 54.
Wilde, Ed. 351.
Willent, Bartholomäus. 358.
Willmann, Fr. 341.
Wilna. 354.
„Winterreise" von Mickiewicz. 160.
Wiszniewski, M. 175.
Witen von Litauen. 355.
Witowt von Litauen. 355. '356. 360.
Witte, Franz. 338.
Witten, Christoph. 373.
Wörterbücher s. Lexikographie.
Woin von Litauen. 355.
Wolchow. 41.
Woldemar, Ch. 376.
Wolff, Christian. 47.
„Wolodyjowski, Herr", von Sienkicvvicz. 167.
Wolonczewski, Matäus Kazimir. 366.
Wolter, Joh. Chr. 374.
„Wort, Das russische". 100. 105.
Wostokoff. 417.
Wujek, Jakob. 360.
Wyspianski, Stanislaw. 172.
X.
Xeres de la Maraja = Begovic, Milan.
Young, Eduard. 51
Zadruga. 236.
Zafirov. 240.
Zalakostas. 258.
Zalän. 285. 291.
Zamagna, B. 212.
Zapolska. 172.
Zara. 211.
Zauberlieder, Estnische. 335.
— , Finnische. 313. 322.
Zeifert, Theodor. 377.
,, Zeitgenosse, Der". 60. 75. 86. 87. 95. 99.
105.
Zeitungsliteratur, Böhmische. 192.
— , Estnische. 346. 350.
— , Finnische. 318. 319.
— , Kroatische. 228.
— , Lettische. 374. 375. *376.
— , Litauische. 365. 367.
— , Neugriechische. 259.
— , Russische. 52. 60. 74. 75. 86. 87. go. 95.
98. 99. IOC. 105. 110. 121. 126. 129.
— , Slowenische. 221. 227. 230.
— , Ungarische. 289.
Zemaiten. 354. 366.
Zensur in Rußland. 50. 67. 87.
Zeromski, Stefan. 171.
2erotin, Karl von. 187.
Zeyer, J. 191. 192.
Zlataric, Dinko. 213. 214.
,,Zlatostruj". 200.
Zmichowska. 165.
Zois, Baron Sigismund. 27. 221. 224.
Zola, Emile. 68. 121. 237.
,,Zoltän Kärpäthy" Jokais. 303.
Zonaras. 206.
Zoranic. 214. 215.
Zrinyi, Helene. 280. 281.
Zrinyi, Katharina. 2S0.
Zrinyi, Nikolaus, Verteidiger von Sziget. 216.
Zrinyi, Nikolaus der Dichter. '279. 282. 296.
Zrinyi, Peter. 219. 280.
Zupanciö, O. 237.
Zuzoriö, Flora. 220.
Zweizeilen, Neugriechische. 252.
Zwischenspiele, Polnisch-litauische. 361.
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PG Bezzenberger, A
501 Die osteuropäischen
Bii Literaturen und die slawischen
Sprachen
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