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Full text of "Die osteuropäischen Literaturen und die slawischen Sprachen"

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DIE  KULTUR  DER  GEGENWART 


IHRE  ENTWICKLUNG  UND  IHRE  ZIELE 


HERAUSGEGEBEN    VON 


PAUL  HINNEBERG 


DIE  KULTUR  DER  GEGENWART 

TEIL  I   ABTEILUNG  IX 


DIE  OSTEUROPÄISCHEN 
LITERATUREN 

UND 
DIE  SLAWISCHEN  SPRACHEN 


A.  BEZZENBERGER  •  A.  BRÜCKNER  •  V.  v.  JAGIC 
J.  MÄCHAL  •  M.  MURKO  •  F.  RIEDL  •  E.  SETÄLÄ 
G.  SUITS  •  A.  THUMB  •  A.WESSELOVSKY  ■  E.WOLTER 


1908 

BERLIN  UND  LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER 


SOI 


768672, 


PUBLISHED  SEPTEMBER  24,  1908 

PRIVILEGE  OF  COPYRIGHT  IN  THE  UNITED  STATES 

RESERVED  UNDER  THE  ACT  APPROVED  MAKCH  3, 1905, 

BY  B.  G.  TEUBNER  LEIPZIG 


ALLE  RECHTE, 
EINSCHLIESSLICH  DES  ÜBERSETZUNGSRECHTS,  VORBEHALTEN 


INHALTSVERZEICHNIS. 


I.  DIE  SLAWISCHEN  SPRACHEN   ....  1-39 
Von  VATROSLAV  VON  JAGIC. 

Einleitung i — 2 

A.  Die  slawischen  Sprachen  im  allgemeinen 2 — 13 

1.  Vorgeschichtliches 2 — 4 

II.  Anfänge  der  Geschichte 4 — 6 

III.  Slawische  Sprachen  in  der  neuen  Heimat 6 — 8 

IV.  Die    Bekehrung    der    Slawen    zum    Christentum,    die    kirchenslawische 
Sprache 8 — 13 

B.  Die  slawischen  Einzelsprachen 13—39 

I.  Russische  Sprache 13 — 18 

II.  Ruthenische  Sprache 18 — 19 

III.  Bulgarische  Sprache 19 — 22 

IV.  Serbokroatische  Sprache 22 — 26 

V.  Slowenische  Sprache 26 — 27 

VI.  Böhmische  Sprache 27 — 30 

VII.  Slowakische  Sprache 30 — 31 

VIII.  Ober-  und  Niederlausitz-Sorbische  Sprache 31 

IX.  Polnische  Sprache 32 — 35 

Schlußbetrachtung 35 — 36 

Literatur 37—39 


II.  DIE  SLAWISCHEN  LITEFL\TUREN  .  .  .  40-245 

I.  DIE  RUSSISCHE  LITERATUR 40-152 

Von  ALEXIS  WESSELOVSKY. 

Einleitung 40—42 

A.   Von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum 

Ausgang  des  18.  Jahrhunderts 42—51 

I.  Von  den  Anfängen  bis  zu  Peter  dem  Großen 42 — 47 

II.  Von  Peter  dem  Großen  bis  zu  Alexander  1 47 — 51 


VI  Inhaltsverzeichnis. 

•  Seite 

B.  Die  erste  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 51 — 88 

I.  Alexandrinische  Periode 51 — 58 

II.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  1 58—88 

C.  Die  zweite  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 88 — 146 

I.  Epoche  der  Reformen 88 — 122 

II.  Die  achtziger  und  neunziger  Jahre 122 — 136 

III.  Neues  Jahrhundert 136 — 146 

Literatur 147 — 152 


n.  DIE  POLNISCHE  LITERATUR 153-175 

\'0N  ALEX.A.NDER  BRÜCKNER. 

Einleitung 153 — 154 

I.  Die  Literatur  des  16. — 18.  Jahrhunderts 154 — 157 

II.  Die  Literatur  des  19.  Jahrhunderts  bis  zum  Aufstand  von   1863  ....  157 — 165 

III.  Die  Literatur  seit  dem  .\uf5tand  von   1863 165  — 174 

Literatur 175 


m.  DIE  BÖHMISCHE  LITERATUR 176-193 

\'0N  JAN  MÄCHAL. 

Einleitung 176 — 179 

I.  Die  altböhmische  Literatur 179 — 180 

II.  Die  böhmische  Reformation 180 — 184 

III.  Das  goldene  Zeitalter  (1527— 1620) 184 — 187 

IV.  Der  Verfall  der  Literatur 187—188 

V.  Das   19.  Jahrhundert 188 — 192 

Literatur 193 

IV.  DIE  SÜDSLAWISCHEN  LITERATUREN 194-245 

Von  M.A.TTHIAS  MURKO. 

Einleitung 194  — 197 

A.  Die  Literatur  in  der  kirchenslawischen  Sprache 

und  unter  dem  überwiegenden  Einfluß  von  Byzanz   ....  197 — 210 

I.  Die  altkirchenslawische  Periode 197 — 204 

II.  Das  kirchenslawische  Schrifttum  seit  dem   12.  Jahrhundert 204 — 210 

B.  Die  Literatur  in  den  Nationalsprachen 

und  unter  dem  Einfluß  des  Abendlandes 210—243 

I.  Ältere  Periode  (bis  zum  Aufklärungszeitalter) 210 — 220 

II.  Moderne  Periode 220 — 243 

Schlußbemerkung 243 — 244 

Literatur 245 


Inhaltsverzeichnis.  VII 

III.  DIE  NEUGRIECHISCHE  LITERATLiR   .  .  246-264 
Von  albert  THUMB. 

Einleitung 246—247 

I.  Die  ältere  gelehrte  Literatur  und  die  Wissenschaft    .  ■ 247 — 249 

II.  Die  Volkssprache  und  die  Volkspoesie.    .    .  - 249 — 252 

III.  Die  schöne  Literatur  bis  zur  Begründung  des  griechischen  Staates    .    .  252 — 255 

IV.  Die  Literatur  unter  der  Herrschaft  der  Schriftsprache 255 — 259 

V.  Die  Literatur  im  Zeichen  des  Sprachkampfes 259 — 261 

Schluß 262 

Literatur 263—264 


IV.    DIE    FINNISCH-UGRISCHEN    LITERATUREN  265-353 

L  DIE  UNGARISCHE  LITERATUR 265-308 

Von  FRIEDRICH  RIEDL. 

Einleitung 265—266 

I.  Das  Mittelalter 266—269 

II.  Das  Renaissance-Zeitalter 269 — 272 

III.  Das  Zeitalter  der  Reformation 273 — 278 

IV.  Das  Zeitalter  der  Gegenreformation 278 — 281 

V.  Das  18.  Jahrhundert 282—284 

VI.  Das   19.  Jahrhundert 284—307 

Literatur 308 

IL  DIE  FINNISCHE  LITERATUR 309-332 

Von  EMIL  SETÄLÄ. 

Einleitung 309—310 

I.  Die  mittelalterliche  \'olkspoesie 310 — 314 

II.  Begründung  und    erste   Schicksale   der  finnischen  Schriftsprache  (1542 

—  1642) 314—315 

III.  Erwachen   des  Heimatgefühls    (die  Zeit   der   sogenannten  Fennophilen, 

1642— 1809J 316—318 

IV.  Die  erste  nationale  Erweckung,  der  Kampf  der  Dialekte  (1809 — 1835)  318 — 320 
V.  Die  Zeit   der  großen   geschlossenen  Werke    der  Volkspoesie    und   der 

neuen  nationalen  Erweckung  (1835 — 1860) 320 — 323 

VI.  Die  Neuzeit  (1860  bis  zur  Gegenwart) 323—33' 

Literatur 33- 

in.    DIE  ESTNISCHE  LITERATUR    .   .' 333-353 

\-0N  GUST.W  SUITS. 

Einleitung 333 — 334 

I.  Das  katholische  Zeitalter  (13.  bis   16.  Jahrhundert) 334—337 

II.  Das  protestantische  Zeitalter  (16.  bis  18.  Jahrhundert) 337—341 

III.  Das  Emporkommen  der  genuin-estnischen  Literatur  (19.  Jahrhundert)  .  341—350 

IV.  Die  neueste  Zeit 350—352 

Literatur 353 


Vni  Inhaltsverzeichnis, 

Seite 

Y.  DIE  LITAUISCH-LETTISCHEN  LITERATUREN  354-378 

I.  DIE  LITAUISCHE  LITERx\TUR 354-371 

Von  ADALBERT  BEZZENBERGER. 

Einleitung 354 — 357 

I.  Die  litauische  Literatur  bis  zum  Anfang  des  1 8.  Jahrhunderts 357—302 

II.  Die  Literatur  des  1 8.  Jahrhunderts 362—364 

III.  Die  Literatur  des  19.  Jahrhunderts 364—368 

Literatur 369—371 

IL  DIE  LETTISCHE  LITERATUR 372-378 

Von  EDUARD  WOLTER. 

Einleitung 372—373 

1.  Die  lettische  Literatur  bis  zum  Jahre  1850 373—375 

II.  Von  1850  bis  zur  Gegenwart 375 — 377 

Schluß 377 

Literatur 378 

Register 379—396 


DIE  SLAWISCHEN  SPRACHEN. 

Von 
Vatroslav  von  Jagic. 


Einleitung:.   Seit  voreeschichtlichen  Zeiten  waren  östliche  Nachbarn  Die  Slawen  öst- 

*  °  .  ,  ,^^  _  liehe  Nachbarn 

der  Deutschen  die  Slawen.     Einst  nicht  weiter  gegen  den  Westen  Europas  der  Deutschen. 

.  Ihre  geofjra- 

als    bis    in    das    Weichselgebiet,    an    die    Karpaten    und    die    pannonische  phische    Grup- 
pierung. 
Ebene,  gegen  den  Süden  bis  an  die  untere  Donau  reichend,   drangen  sie 

in  den  letzten  Jahrhunderten  der  sogenannten  Völkerwanderung  viel 
weiter  vor.  Im  Westen  über  die  ganze  östliche  Hälfte  Deutschlands  bis 
gegen  Hamburg  an  der  Elbe,  im  Hannoverschen  bis  über  die  Elbe,  in 
Mitteldeutschland  bis  an  die  Saale.  Im  Süden  über  den  größeren  Teil 
der  Balkanhalbinsel  bis  an  die  nordadriatische  Küstenstrecke  und  Inseln 
sowie  an  die  alpinen  Hinterländer.  Der  ungestörte  Besitz  in  dieser  Aus- 
dehnung dauerte  jedoch  nicht  lange.  Schon  seit  den  Zeiten  Karls  des 
Großen  begann  die  Verdrängung  der  politisch  und  wirtschaftlich  schwachen 
slawischen  Ansiedlung  aus  den  den  Deutschen  nächst  gelegenen  Gebieten; 
mit  der  politischen  Unterwerfung  und  der  energisch  betriebenen  deutschen 
Kolonisation  ging  die  Entnationalisierung  der  zahlreichen  slawischen  Volks- 
stämme Hand  in  Hand.  Jetzt  trifft  man  in  Deutschland  nur  noch  ganz 
geringe  Überreste  der  einst  weit  verbreitet  gewesenen  slawischen  Be- 
völkerung, so  in  Pommern,  in  Westpreußen,  in  der  Ober-  und  Niederlausitz. 
Von  diesen  Oasen  mitten  unter  der  deutschen  Bevölkerung  sind  allerdings 
zu  unterscheiden  jene  durch  die  Machtentfaltung  Deutschlands  an  dieses 
angegliederten  Slawen,  deren  unmittelbare  ethnische  Fortsetzung  außer- 
halb des  deutschen  Machtgebietes  liegt,  so  die  Polen  und  Cechen  im 
Norden,  die  Slowenen  im  Süden.  Wenn  man  heute  von  den  Nordwest- 
slawen  spricht,  versteht  man  darunter  zunächst  alle  Überreste  der  Slawen 
in  Deutschland  (die  Sorben  der  Ober-  und  Niederlausitz,  die  Kaschuben 
und  Slowinzen  Westpreußens  und  Pommerns),  ferner  die  Polen  (auch  Ma- 
suren  genannt)  und  die  Cechen  (nebst  den  Slowaken  Nordungams).  Unter 
der  Benennung  Ostslawen  sind  immer  die  Russen  gemeint,  deren  süd- 
russische   Abzweigung,    zumal    in    Galizien,    Bukowina    und    Ungarn    den 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9.  I 


2  Vatroslav  von  Jagic:    Die  slawischen  Sprachen. 

Namen  Ruthenen  führt.  Zu  den  Südslawen  rechnet  man  Slowenen, 
Kroaten  -  Serben  und  Bulgaren.  Die  heutige  Gesamtzahl  aller  Slawen 
dürfte  rund   125   Millionen  betragen. 


A.  Die  slawischen  Sprachen  im  allgemeinen. 
Der  Gesamt-  I.   Vo r  ßf  6 s chi ch 1 1 1  ch 6 s.     Die   fremdsprachigen   Einwohner   auf  dem 

name   Wenden  *  ... 

oder  Slawen,  jetzt  deutschen  Boden  führen,  soweit  sie  slawischer  Zunge  sind,  in  dem 
die  Geschichte  deutschen  Munde,  wenn  man  von  den  zur  individuellen  Geltung  gekom- 
hmde^rt  n.  Chr.  meuen  Cechen  und  Polen  absieht,  die  Benennung  Wenden  oder  Winden. 
Oben  in  Sachsen  und  Preußen  ist  der  Name  in  der  ersten  Form 
(als  Wenden),  unten  in  den  innerösterreichischen  Ländern  (Steiermark, 
Kärnten,  Krain)  in  der  zweiten  Form  (als  Winden)  gebräuchlich.  Die  Be- 
nennung selbst  ist  uralt,  sie  reicht  bis  in  die  Zeiten  eines  Tacitus,  Plinius 
und  Ptolemäus  zurück.  Als  „Venetae"  oder  „Venedae"  tauchen  die  Slawen 
als  östliche  Nachbarn  der  Deutschen  ungefähr  zur  gleichen  Zeit  in  der 
Geschichte  auf  wie  die  Germanen,  d.  i.  zu  Beginn  unserer  Zeitrechnung. 
Doch  kein  Tacitus  fand  sich  für  sie.  Sie  vermochten  nicht  den  Römern 
so  zu  imponieren  wie  die  alten  Germanen.  Erst  um  mehrere  Jahrhunderte 
später,  seitdem  auch  sie  begannen,  die  Grenzen  des  oströmischen  Reiches 
durch  Einfälle  ernstlich  zu  beunruhigen,  gedachten  ihrer  etwas  eingehender 
zwei  mittelmäßige  Geschichtschreiber  des  6.  Jahrhunderts,  ein  lateinisch  ge- 
bildeter Gote  (Jordanes)  und  ein  griechisch  gebildeter  Byzantiner  (Prokopios). 
Bis  zu  dieser  Zeit  beschränkte  sich  die  Kenntnis  der  griechisch-römischen 
Kulturwelt  bezüglich  der  Slawen  auf  die  Nennung  einiger  Namen;  nichts 
von  ihrem  Leben,  nichts  von  ihrer  Stammesgliederung,  nichts  von  ihren 
Einrichtungen.  Das  lange  Stillschweigen  erklärt  sich  zum  Teil  aus  ihrer 
dem  Gesichtskreis  der  antiken  Welt  entrückten  geographischen  Lage,  zum 
Teil  aber  auch  aus  einigen  wohlbekannten  Zügen  ihres  Nationalcharakters: 
aus  der  Schwerfälligkeit,  infolge  deren  sie  statt  des  selbständigen  Auf- 
tretens meist  erwarteten,  von  anderen  geschoben  zu  werden;  aus  ihrem 
Mangel  an  Initiative,  der  vieles  durch  ihre  Massen  aber  unter  fremdem 
Namen  vollführt  sein  ließ. 

Seit  den  frühesten  Zeiten  bis  auf  unsere  Tage  fiel  das  Gemeinsame 
im  Wesen  der  slawischen  Völker  stärker  den  fremden  Beobachtern  in  die 
Augen,  als  es  bei  ihnen  selbst  zum  Bewußtsein  kam.  Daher  die  Vorherr- 
schaft der  Gesamtbenennung  unter  dem  Namen  „Venetae",  wozu  später 
der  einheimische  Name  „Sclaveni"  oder  „Sclavi"  (slawisch  „Slovene")  hin- 
zutrat. Beide  Namen  bleiben  bei  den  byzantinischen  und  fränkischen 
Chronisten  auch  dann  sehr  geläufig,  als  die  Einzclbenennungen  nach  den 
Stämmen  (seit  dem  8.  und  g.  Jahrhundert)  schon  aufgekommen  waren. 
Wenn  im  6.  Jahrhundert  bei  den  Byzantinern  abermals  zwei  Namen 
parallel    nebeneinander  genannt  werden,  Slawen  und  Anten,    so  liegt  der 


A.   Die  slawische  Sprachen  im  allgemeinen.      I.   VorgeschichtHches.  7 

Gedanke  nahe,  daß  darin  möglicherweise  durch  ein  besonderes  Medium 
übermittelt  dieselben  früher  erwähnten  Slowenen  und  Wenden  wiederkehren. 
Jedenfalls  ist  auch  diese  Hervorkehrung  zweier  Namen  nicht  so  zu  ver- 
stehen, als  ob  nicht  damals  schon  eine  große  Anzahl  von  Einzelstämmen 
unter  ihren  besonderen  Benennungen  vorhanden  gewesen  wäre,  die  sich 
teils  aus  geographischen  oder  physischen  Verhältnissen  ableiteten,  teils  gene- 
tischen Ursprungs  waren.  Doch  in  einer  gewissen  Entfernung  konnten  sie 
von  den  fremden  Schriftstellern  nicht  gehört  und  nicht  wahrgenommen 
werden.  Daß  das  richtig  ist,  beweist  ein  wenige  Jahrhunderte  nachher 
niedergeschriebener  geographischer  Bericht  über  die  Slawen,  der  von 
einem  süddeutschen  (bayerischen)  Anonymus  herrührt;  in  diesem  wimmelt 
es  geradezu  von  Stammes-  und  Gaubenennungen  (zum  Teil  schwer  er- 
klärlich). 

Versetzt  man  den  Verlauf  der  Völkerwanderung,  soweit  es  sich  dabei  inJividuaiisie- 
um  die  Slawen  handelt,  in  das  4.,  5.  und  6.  Jahrhundert  n.  Chr.,  so  gewinnt  gen  slawischen 

T    •  Hauptsprachen 

man  den  ungefähren  Zeitpunkt  der  zustande  gekommenen  Individualisierung  um  die  Zeit  der 

o  r>  *  •        T^  1  •  1  ■  Völkerwande- 

der  Slawen  nach  den  Stämmen.  Auch  die  Trennung  der  einst  mehr  ein-  rung. 
heitlichen  Sprache  in  größere  Dialekte,  aus  denen  später  die  jetzigen 
Hauptsprachen  hervorgingen,  mag  spätestens  in  den  ersten  Jahrhunderten 
unserer  Zeitrechnung  sich  vollzogen  haben,  jedenfalls  vor  dem  Eintritt  in 
die  Völkerwanderungsepoche.  Schon  damals  nämlich,  als  die  Slawen  noch 
in  ihrer  vorgeschichtlichen  Heimat  hinter  den  Karpaten  und  dem  rechten 
Ufer  der  Weichsel  per  immensa  spatia  verbreitet  waren,  müssen  sich  in 
ihrer  Sprache  verschiedene  Abweichungen,  gleichsam  die  ersten  Risse 
in  dem  einheitlichen  Sprachbau,  gezeigt  haben.  Wenn  es  auch  damals 
noch  keine  ausgesprochenen  nationalen  und  sprachlichen  Individualitäten 
gab,  die  man  heute  unter  den  Namen  Polen,  Cechen,  Serben,  Kroaten, 
Russen,  Bulgaren  usw.  versteht  —  einige  von  diesen  Benennungen  sind 
bekanntlich  späten,  fremden  Ursprungs,  andre  lu-alt,  vorgeschichtlich,  be- 
gegnend an  verschiedenen  Orten  —  so  ist  man  dennoch  berechtigt  zu 
glauben,  daß  die  späteren  slawischen  Hauptsprachen  schon  damals,  in 
der  vorgeschichtlichen  Urheimat,  angefangen  hatten,  sich  zu  individuali- 
sieren. Charakteristische  Eigentümlichkeiten  des  slawischen  Sprachtypus 
im  allgemeinen  bildet  die  Vorliebe  für  die  breiteren  {c,  s,  s)  und  die 
engeren  (c,  s,  z)  Zischlaute,  für  die  Zusammenziehung  der  Diphthonge  in 
einfache  Vokale  {ni-oi  in  ^,  ei  in  /,  au-oii  in  u,  eu  in  y),  für  den  vokalischen 
Auslaut  (Abfall  der  Konsonanten  s,  r,  f,  teilweise  m-n).  Durch  diese 
Kennzeichen  hebt  sich  die  slawische  Sprachgruppe  aus  der  baltoslawischen 
vorausgegangenen  Gemeinsamkeit  ab.  Unmittelbar  vor  der  Wanderungs- 
periode müssen  aber  innerhalb  dieser  gemeinsamen  Züge  sich  jene  indi- 
vidualisierenden Merkmale  entwickelt  haben,  die  den  heutigen  Einzel- 
sprachen zugrunde  liegen.  Diese  kamen  freilich  nicht  alle  auf  einmal, 
nicht  alle  zur  selben  Zeit  und  in  gleichem  Umfang  auf.  Lange  Daaer 

Viele   Jahrhunderte  dauerte  die  slawische  gemeinsame  Vorgeschichte,  """^KinS.  *" 


A  Vatroslav  von  Jagic:  Die  slawischen  Sprachen. 

innerhalb  deren  die  Absonderung  des  slawischen  Sprachtypus  aus  der 
baltoslawischen  Gemeinsamkeit  und  durch  das  allmählige  Anwachsen  der 
Differenzen  die  Trennung  in  die  slawischen  Hauptsprachen  zustande  kam. 
Im  Verlaufe  dieser  Zeit  machte  alles  Gemeinsame  den  natürlichen  Weg 
der  Evolution  durch,  die  sich  auch  in  der  Sprache  abspiegelt.  Der  ge- 
meinsame Wortvorrat  aller  slawischen  Sprachen  ist  noch  heute  so  um- 
fangreich, so  tief  eingreifend  in  alle  Sphären  des  Volkslebens,  daß  das 
trennende  Einzelsprachige  dagegen  fast  ganz  in  den  Hintergrund  tritt.  Ein 
sprechender  Beweis  für  die  lange  Dauer  des  gemeinsamen  Lebens  aller 
Slawen,  der  engen  Beziehungen  der  Gesamtheit  zu  ihren  Teilen  und  der 
gemeinsamen  Arbeit  an  der  fortschreitenden  Kultur.  Einen  stark  bemerk- 
baren Einschlag  in  den  gemeinsamen  Wortschatz  aller  Slawen  bilden  die 
zahlreichen  Entlehnungen  aus  den  germanischen  Sprachen,  hauptsächlich 
wohl  dem  Gotischen,  wodurch  ein  bedeutender  uralter  Kultureinfluß  der 
Deutschen  auf  die  Slawen  konstatiert  werden  kann.  Ausdrücke  wie  kniiczi 
(König)  für  die  Bezeichnung  der  Fürstenwürde,  lassen  auf  die  Bekanntschaft 
der  Slawen  mit  diesem  Worte  wahrscheinlich  als  Folge  der  politischen 
Abhängigkeit  schließen,  während  in  pcnczi  (Pfennig)  und  stlezi-sklczi 
(Schilling)  die  Beeinflussung  im  Handelsverkehr,  in  user^gii  oder  iiser£zi 
(Ohrring)  die  Bekanntschaft  mit  fremden  Schmuckgegenständen,  in  slcmü 
(Helm)  mit  fremder  Bewaffnung,  in  clilcbü  (Laib)  mit  der  Nahrung,  in 
chysi'i  (Haus)  mit  dem  Hausbau  sich  kundgibt.  In  Viehzucht  und  Ackerbau, 
in  Waldwirtschaft,  Bienenzucht  und  Fischfang  erscheinen  sie  viel  selb- 
ständiger, gaben  auch  einiges  an  die  Nachbarn  ab  (z.  B.  skoft'i,  plugü). 

Ticnnungdurcii  II.  Anfänge  der  Geschichte.    Als  für  die  Slawen  die  Zeit  der  Aus- 

äußere  Erweitc- 

rung  ohne  innere  breitung  aus  ihrer  osteuropäischen  Urheimat  in  der  Richtung  nach  dem 
Gesamtbildes.  Westeu  (in  das  Oder-  und  Elbegebiet),  nach  dem  Südwesten  (nach  Böhmen, 
Mähren  und  in  das  Flußgebiet  der  oberen  Donau)  und  nach  dem  Süden 
(über  Pannonien  in  die  norischen  und  dinarischen  Alpen,  in  die  Hämus- 
länder  hinter  der  unteren  Donau)  anbrach  —  die  Ursachen  dieser  Bewe- 
gfung  bleiben  unaufgeklärt;  es  kann  Übervölkerung,  Hungersnot,  es  kann 
aber  auch  ein  im  Rücken  auf  sie  ausgeübter  Druck  gewesen  sein  — 
ergossen  sie  sich  in  Massen,  zuerst  wahrscheinlich  in  jener  Rich- 
tung, wo  man  ihnen  keinen  oder  nur  geringen  Widerstand  entgeg'en- 
setzte.  Das  war  im  Westen  der  Fall,  wo  sie  öde,  von  den  germanischen 
Stämmen  verlassene  Gebiete  vorfanden.  Etwas  später,  und  zwar  nachdem 
die  südlicher  gelegenen  Teile  derselben  durch  die  Berührung  mit  den 
asiatischen  Völkern  (Hunnen,  Avaren,  Bulgaren)  und  mit  einigen  euro- 
päischen (Daken,  Geten,  Langobarden)  verschiedene  Erfahrungen  gemacht 
und 'für  die  wirksame  Offensive  sich  kampfbereit  gefühlt  hatten,  eröfi'neten 
sie  ihre  Einfälle  auch  über  die  Grenzen  des  oströmischen  Reiches.  Doch 
selbst  aus  dieser  verhältnismäßig  .späten  Zeit  sind  uns  irgendwelche  Nach- 
richten   von  ihrem  Auftreten    unter  hervorragenden  Anführern  oder  von 


A.  Die  slawischen  Sprachen  im  allgemeinen.     II.  Anfänge  der  Geschichte.  c 

den  Oberhäuptern  einzelner  Stämme  nicht  überliefert.  Das  ganze  gleicht 
mehr  einer  Massenbewegung,  vollzieht  sich  in  der  Art  eines  Elementar- 
ereignisses. Man  darf  dabei  die  Vermutung  aussprechen,  daß  neben  den 
ortsnachbarschaftlichen  und  vielleicht  auch  sakralen  Verbänden  hauptsäch- 
lich die  Sprachverwandtschaft,  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit,  für 
die  Wahl  des  Anschlusses  in  der  eingeschlagenen  Richtung  maßgebend 
war.  Was  sich  durch  größere  Sprachverständlichkeit  aneinander  gebunden 
fühlte,  zog  nach  einer  Richtung  zusammen  aus,  z.  B.  die  ganze  Masse  der 
nordwestslawischen  Stämme.  Von  gewaltsamen  Durchbrüchen  einzelner 
Stämme  durch  die  Mitte  anderer,  wodurch  die  uralte  Nachbarschaft  und 
Angliederung  zerstört  worden  wäre,  erzählt  die  Geschichte  der  slawischen 
Völkerwanderung  wenig  oder  gar  nichts.  Die  bei  einem  byzantinischen 
Geschichtschreiber  (dem  Kaiser  Konstantinos  Porphyrogennetos)  aus  dem 
10.  Jahrhundert  überlieferte  Sage  von  dem  angeblichen  Zug  der  Kroaten 
und  Serben  aus  der  nördlichen  Heimat  (von  jenseits  der  Karpaten  her) 
nach  dem  Süden  in  ihre  heutigen  Wohnsitze ,  erregt  in  dieser  Form  bei 
den  kritischen  Geschichtsforschern  unserer  Tage  ebenso  starke  Bedenken 
wie  bei  den  slawischen  Sprachforschem.  Eine  zweite  Überlieferung  ähn- 
licher Art,  die  von  dem  Zug  zweier  Stämme  in  Rußland,  aus  dem  an  die 
polnische  Grenze  anstoßenden  Westen  bis  gegen  Wolga,  von  den  Radi- 
micen  und  Vjaticen,  berichtet,  hat  sich  in  der  ältesten  russischen  Chronik 
erhalten,  und  viele  glauben,  daß  sie  auf  Tatsachen  beruht.  Das  ist  aber 
auch  alles.  Im  ganzen  und  großen  darf  man  doch  sagen,  daß  die  zwischen 
dem  4.  und  6.  Jahrhundert  erfolgte  Ausbreitung  der  Slawen  über  ihre 
früheren  Grenzen  hinaus  dem  alten  ethnischen  Bilde  nur  eine  räumliche 
Ausdehnung  verliehen  hat,  ohne  die  einzelnen  Figuren  des  alten  Bildes 
zu   verwischen.     Für   diese   Annahme    einer   nur   räumlichen  Verschiebung  Verschiedene 

XTbergangs- 

ohne  gewaltsame  Umwälzungen  im  Innern  spricht  die  noch  jetzt  wahr-  diaiekte. 
nehmbare  Harmonie  zwischen  der  geographischen  Gruppierung  und  den 
sprachlichen  Verwandtschaftsverhältnissen  der  einzelnen  slawischen  Volks- 
stämme. Je  zwei  slawische  Nachbargebiete  befinden  sich  regelmäßig  zu- 
gleich in  den  Beziehungen  der  nächsten  Sprachverwandtschaft,  wobei 
die  Übergänge  von  der  Sprache  des  einen  zu  der  des  anderen  durch  das 
Zusammentreffen  beiderseitiger  Züge  vermittelt  werden,  so  daß  man  in 
solchen  Fällen  mit  Recht  von  den  Übergangsdialekten  sprechen  darf. 
In  dieser  Weise  wird  das  ganze  nordwestslawische  Sprachgebiet,  von  jetzt 
und  einst,  durch  die  charakteristische  Aussprache  c-dz{z)  für  die  ursprüng- 
liche Lautgruppe  ij-dj  wie  durch  ein  einigendes  Band  zusammengehalten, 
zum  Unterschied  von  der  Aussprache  c-di{z)  für  dieselbe  Lautgruppe  bei 
den  Ostslawen  (Russen)  und  von  c(c)-d'(J)  oder  sf-zd  bei  den  Südslawen. 
In  derselben  Weise,  nur  durch  ein  anderes  Merkmal,  nämlich  durch  die 
Lautgruppe  oro-olo-ere  wird  die  ganze  Masse  der  Ostslawen  (Russen)  ab- 
gesondert von  den  übrigen  Slawen,  die  dafür  bald  ra-la,  re-le  sprechen 
(die  südlichen   und   der  böhmisch -slowakische   Sprachstamm),   bald   ro-lo, 


Vatroslav  von  Jagic:    Die  slawischen  Sprachen. 


Die  Kette  durch- 


Dio  sprachliclu-n 
Vorgänge  inner, 
halb  der  neuen 
Heimat  lange 
Zeit  dvmltel. 


re-lc  (die  Polen,  Sorben  und  andere  Slawen  Deutschlands).  Ein  drittes 
Merkmal,  die  Anwendung  der  Konjunktion  da  (daß)  zur  Verbindung  der 
Objektivsätze  (wofür  sonst  cto,  ze,  i'z  verwendet  wird)  charakterisiert  alle 
südslawischen  Dialekte.  Man  kann  darnach,  in  den  gröbsten  Umrissen, 
von  den  slawischen  d'ö-Sprachen  (polnisch,  böhmisch,  sorbisch),  von  den 
slawischen  Orö-Sprachen  (russisch)  und  von  den  slawischen  Z),?-Sprachen 
(südslawisch)  reden.  Was  aber  die  Übergangsdialekte  betrifft,  so  läßt  sich 
schön  konstatieren,  daß  innerhalb  der  russischen  Sprachgruppe  der  am 
weitesten  gegen  Westen  vorgeschobene  weißrussische  Dialekt  schon 
einige  Züge  unverkennbarer  Beziehung  zur  nächstbenachbarten  polnischen 
Sprachgruppe  aufweist;  oder  daß  das  Wendische  (Sorbische)  der  Ober- 
lausitz Anlehnungen  an  das  Cechische,  das  der  Niederlausitz  an  das 
Polnische  zeigt;  oder  daß  das  Slowakische  Nordungams  (und  Ostmährens) 
schon  den  Übergang  zur  südslawischen  Gruppe  vermittelt;  oder  daß 
innerhalb  der  südslawischen  Sprachgruppe  der  A'^^y-Dialekt  (nach  knj-quid 
so  benannt)  Nordkroatiens  (Murinsel-Warasdin-Agram  bis  gegen  Karlstadt) 
einen  Übergang  vom  Slowenischen  zum  Serbokroatischen  herstellt;  daß  in 
Mazedonien  die  Sprache  der  dortigen  Slawen  sowohl  zum  Serbischen  als 
noch  mehr  zum  Bulgarischen  Beziehungen  hat.  Die  Zahl  solcher  Über- 
gänge wäre  noch  größer,  wenn  nicht  die  vormals  ununterbrochene  Kette 
der  slawischen  Besiedelung  durch  fremde  Einwanderung  und  die  infolge 
davon  eingetretene  Entnationalisierung  mehrere  Verbindungsglieder  ein- 
gebüßt hätte.  Durch  die  allmähliche  Rumänisierung  der  dakischen  Slawen, 
die  in  Siebenbürgen,  Bukowina  und  Walachei  ansässig  waren,  war  das 
Band  zerrissen,  das  einst  die  östlichen  Südslawen,  nach  heutiger  Benennung 
Bulgaren,  mit  den  südlichen  Ostslawen  (den  Stämmen  wie  Tiverci,  Ulici) 
verknüpfte.  Die  zu  Ende  des  9.  Jahrhunderts  erfolgte  Einwanderung  der 
Magyaren  in  die  pannonische  Ebene  hob  den  Zusammenhang  auf,  der 
vormals  zwischen  den  zu  den  Südslawen  gerechneten  parmonischen  Slo- 
wenen und  den  Vorfahren  der  heutigen  Slowaken,  die  noch  jetzt  ihre 
Sprache  ebenfalls  slowenisch  nennen,  bestand.  Der  gänzliche  Untergang 
mehrerer  slawischer  Volksstämme  in  Deutschland  verdunkelte  einiger- 
maßen die  verwandtschaftlichen  Beziehungen  der  übrig  gebliebenen  zu- 
einander, so  daß  über  das  Verwandtschaftsverhältnis  der  Kaschuben  zu- 
den  Polen  und  der  polabischen  Slawen  zu  den  Kaschuben  und  Polen  noch 
jetzt  unter  den  Gelehrten  Meinungsverschiedenheit  herrscht.  Auch  auf 
der  Hämushalbinsel  hat  das  Zurückweichen  des  slawischen  Elementes  teils 
vor  dem  griechischen,  teils  vor  dem  türkischen  und  albanesischen  die 
Lockerung  der  Beziehungen  hervorgerufen,  die  allerlei  Streitfragen  nach 
sich  zieht,  unter  anderem  auch  die  Lösung  des  Problems  von  der  Heimat 
der  kirchenslawischen  Sprache  fast  unmöglich  macht. 

in.    Slawische  Sprachen   in  der   neuen  Heimat,     Zwischen  dem 
Zeitpunkt    der   ersten  Niederlassungen    der  Slawen  in  den  neuokkupierten 


A.  Die  slawischen  Sprachen  im  allgcnieinen.     III.  Slawische  Sprachen  in  der  neuen  Heimat.       y 

Ländern  im  zentralen  und  südöstlichen  Europa  und  der  ersten  Verwendung 
ihrer  Sprache  für  welche  immer  Aufzeichnung  liegt  ein  Abstand  von 
mehreren  Jahrhunderten,  der  für  die  Geschichte  der  slawischen  Sprachen 
fast  nichts  als  unausfüllbare  Lücken  hinterlassen  hat.  Es  entzieht  sich 
nämlich  unsrer  Kenntnis  ganz  und  gar,  welche  Entwicklungsphasen  die 
einzelnen  slawischen  Sprachen  während  dieser  Zeit  bis  zum  Beginn  des 
Schrifttums  (frühestens  im  9.  Jahrhundert,  zum  Teil  erst  im  11.,  12.,  13. 
Jahrhundert)  durchgemacht  haben.  Man  tappt  im  Finstem  herum.  Es 
wurde  sogar  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  die  heutigen  Unterschiede 
zwischen  den  slawischen  Sprachen,  ihr  Heraustreten  aus  dem  Zustand  der 
ursprünglichen  Einheit,  erst  auf  dem  Boden  der  neu  bezogenen  Ansied- 
lungen  vor  sich  gegangen  sei.  Allein  sehr  gewichtige  Gründe  sprechen 
gegen  die  Aimahme  einer  so  späten  Entstehung  der  slawischen  Haupt- 
sprachen nach  ihrem  individuellen  Typus.  Anderseits  liegt  der  Gedanke 
nahe,  daß  neu  entstandene  Lebensverhältnisse,  ein  andrer  Boden,  ein 
anderes  Klima,  die  seitens  der  vorgefundenen  früheren  Bevölkerung  aus- 
geübte Beeinflussung  —  daß  alles  das  doch  auch  auf  den  Organismus  der 
Sprache  einwirken  mußte.  Aber  wie,  in  welcher  Richtung?  Sichere 
Tatsachen  liegen  nicht  vor.  Man  ist  auf  Vermutungen  angewiesen,  die 
mehr  oder  minder  scharfsinnig  lauten,  aber  nicht  bewiesen  werden  können. 
Nach  der  Theorie,  die  den  geringsten  Abstand  von  der  Ursprünglichkeit 
bei  denjenigen  slawischen  Sprachen  voraussetzen  läßt,  die  bis  auf  diesen 
Tag  auf  ihrer  uralten  Scholle  oder  nicht  weit  davon  ansässig  sind,  sollte 
man  diejenige  Entwicklungsphase  für  die  ursprünglichste  oder  für  die  ihr 
am  nächsten  stehende  halten,  in  welcher  sich  die  polnische  und  russische 
Sprache  befinden.  Nur  muß  man  dabei  von  der  späteren  Ausbreitung 
absehen  und  auf  die  nachweisbar  uralten  Sitze  sich  beschränken.  Nehmen 
wir  diese  theoretische  Kombination  an  und  fragen  wir,  was  dabei  heraus- 
kommt. Die  Probe  führt  zu  keinem  sicheren  Resultate.  Z.  B.  man  wäre  nicht 
abgeneigt,  die  Verhärtung  des  südslawischen  Vokalismus  (wo  jedes  e  und  i 
hart  wie  im  deutschen  klingt,  nicht  wie  russisch-polnisches  'c,  ■'/)  oder  den  Die  Gründe  der 
Verlust  des  Unterschiedes  in  der  Aussprache  zwischen  i  und  y  (letzteres  Differenzierung 
ungefähr  wie  ü  auszusprechen)  den  Einflüssen  des  neuen  Milieu  zuzuschreiben. 
Allein  schon  die  polnische  und  russische  Sprache  zeigen  nicht  einen 
gleichen  Grad  der  Erweichung  ihres  Konsonantismus;  dieser  ist  entschieden 
stärker  entwickelt  im  Polnischen  als  im  Russischen,  und  innerhalb  des 
Russischen  selbst  steht  der  süd-  oder  kleinrussische  Vokalismus,  wenigstens 
bezüglich  des  Vokals  e,  heute  schon  ganz  auf  dem  südslawischen  Stand- 
punkt voller  Verhärtung  und  hat  auch  den  Unterschied  zwischen  i  und  y 
ebenfalls  aufgegeben  zugunsten  eines  dritten,  harten  Vokals.  Oder  man 
möchte  vermuten,  daß  die  Abneigung  gegen  das  erweichte  r  (wie  r'  aus- 
zusprechen), die  man  in  der  Mehrzahl  der  südslawischen  Dialekte  wahr- 
nimmt, vielleicht  auf  Rechnung  der  südlichen  Heimat  zu  setzen  sei; 
allein  dieselbe  Erscheinung  charakterisiert  auch  den  weißrussischen  Dialekt, 


8  Vatroslav  von  Jagic:    Die  slawischen  Sprachen. 

der  doch  seit  undenkbaren  Zeiten  auf  derselben  Scholle  sitzt.  Wie  inner- 
halb der  nächst  verwandten  Dialekte  in  lautlicher  Beziehung  Divergenzen 
herrschen  können,  zeigt  das  Böhmische  mit  seinem,  allerdings  erst  in  ge- 
schichtlichen Zeiten  aus  /  entwickelten  r  (ri  auszusprechen)  gegenüber 
dem  Slowakischen,  das  von  f  nichts  wissen  will.  Es  wurde  auch  betreffs 
/,  das  im  Böhmischen  in  den  letzten  fünf  Jahrhunderten  aus  der  Übung 
gekommen,  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  dieser  Verlust  auf  den 
deutschen  Einfluß  zurückzuführen  sei.  Allein  das  Lausitzsorbische  kennt 
noch  heute  /,  und  doch  war  dort  der  deutsche  Einfluß  mindestens  eben 
so  groß  wie  in  Böhmen.  Warum  lebt  der  Nasalismus  in  der  polnischen 
Sprache  noch  heute,  während  die  nächsten  Nachbarn  gegen  Osten  und  Süd- 
westen (die  Russen  und  die  Böhmen)  diesen  Charakterzug  schon  sehr  früh, 
vor  Beginn  der  Geschichte  aufgegeben  haben?  Warum  lebt  im  Russi- 
schen und  in  den  südslawischen  Sprachen  noch  heute  die  bewegliche  Be- 
tonung, während  die  nächsten  Nachbarn  im  Westen  (die  Polen  und  Böhmen) 
immer  eine  bestimmte  Silbe  (polnisch  —  vorletzte,  böhmisch  —  erste) 
betonen?  Warum  ist  im  Polnischen  und  Russischen  die  Quantität  (lange 
Vokale)  im  Verlaufe  von  Jahrhunderten  verloren  gegangen,  während  das 
Böhmische  die  langen  Silben  so  belastet,  daß  sie  stark  in  der  Aussprache 
hervortreten?  Warum  unterscheidet  sich  das  Bulgarische  durch  Quantitäts- 
losigkeit  vom  Serbischen?  Auf  alle  diese  Fragen  haben  wir  augenblick- 
lich nur  eine  Antwort:  ignoramus.  Die  verschiedenen  Phasen  der  sprach- 
lichen Evolution  kreuzen  sich  durcheinander,  ohne  daß  man  imstande 
wäre,  überall  den  Grund  ihrer  Entstehung  ausfindig  zu  machen. 

IV.  Die  Bekehrung  der  Slawen  zum  Christentum,  die  kirchen- 
slawische Sprache.  Die  früheste  Bekehrung  eines  slawischen  Volks- 
stammes zum  Christentum  geschah  im  7.  Jahrhundert,  an  der  Ostküste 
des  Adriatischen  Meeres,  im  alten  Dalmatien,  wo  sich  kurz  vorher  die 
Kroaten  und  Serben  im  offenen  Land  ihr  neues  Heim  gegründet  hatten, 
während  in  den  vielen  befestigten  Küstenstädten,  kleineren  und  größeren, 
die  romanische  Bevölkerung  fortlebte.  Dem  Einfluß  dieser  romanischen 
Christen  und  dem  hohen  Ansehen  ihrer  kirchlichen  Organisation  (Aquileia, 
Salona,  Dioclea)  ist  wohl  auch  die  so  früh  vor  sich  gegangene  Bekehrung 
der  Kroaten  und  Serben  zu  verdanken.  Doch  vermochte  der  bald  darauf 
hier  entstandene  kleine  christlich -kroatische  Staat  mit  seinen  halb  slawi- 
schen, halb  romanischen  Einrichtungen  auf  die  Entwicklung  der  Volks- 
sprache nicht  den  geringsten  Einfluß  auszuüben,  um  ihr  zur  literarischen 
Verwendung  zu  verhelfen.  Nicht  die  geringste  Spur  eines  geschriebenen 
Textes  in  der  kroatischen  Volkssprache  ist  zu  finden,  weder  ein  Gebet 
oder  Predigt,  noch  eine  Beicht-  oder  Eidesformel.  Alles  Geschriebene 
wurde  in  lateinischer  Sprache  geführt,  wie  überall  im  frühesten  Mittel- 
alter, wo  Roms  Einfluß  sich  geltend  machte.  Um  so  höher  ist  ein  Er- 
eignis des  9.  Jahrhunderts  anzuschlagen,  durch  welches  neben  den  beiden 


A.  Die  slawischen  Sprachen  im  allgemeinen.     IV.  Die  Bekehrung  der  Slawen  zum  Christentum.       g 

Trägern  der  damaligen  christlichen  Kultur  in  Ost-  und  Westeuropa,  der 
griechischen  und  lateinischen  Sprache,  noch  eine  dritte,  d.  h.  die  slawische 
Sprache  zur  Herrschaft  in  der  Kirche  und  durch  diese  auch  in  den 
übrigen  Zweigen  des  öffentlichen  Lebens  gelangte.  Das  war  das  Werk 
zweier  gebildeter  Männer  aus  Saloniki,  Konstantin  (Kyrillos)  und  Methodios. 
Beide  Griechen  von  Geburt  und  durch  Erziehung,  von  vornehmer  Abkunft, 
waren   infolge   äußerer  Verhältnisse   mit    der   slawischen  Bevölkerung   der  ihre  Entstehung 

^  ,       ,  infolge  von 

Gegend  in  Berührung  und  Verkehr  gekommen.  Beseelt  von  dem  Missions-  Missionstätig- 
eifer zur  Verteidigung  oder  Verbreitung  des  Christentums,  der  namentlich 
bei  dem  jüngeren  Bruder  (Konstantin)  stark  hervortrat,  beschränkten  sie 
sich  zuletzt,  bei  ihrer  dritten  und  letzten  Missionsreise,  die  in  das  Land 
der  Slawen  (mährisch -pannonischen)  gerichtet  war  —  die  zwei  früheren 
galten  dem  Orient,  den  Sarazenen  nnd  Chazaren  — ,  nicht  mehr  auf  die 
bloße  Verkündigung  des  christlichen  Glaubens.  Sie  benutzten  jetzt  die 
Gelegenheit,  um  für  die  ihnen  von  früher  her  bekannten  Slawen,  mit  deren 
Sprache  sie  nach  einem  Dialekt  schon  längst  vertraut  gewesen  sein  dürften, 
etwas  Größeres  zu  leisten,  als  man  sonst  von  den  gewöhnlichen  Missionaren 
erwartet.  Sie  traten  als  Erfinder  einer  auf  den  griechischen  Vorbildern 
beruhenden  slawischen  Schrift  auf  —  in  neuerer  Zeit  hält  man  das  Glago- 
litische für  ihre  nach  der  griechischen  Minuskelschrift  gemachte  Erfindung, 
das  eigentliche  Cyrillische  aber  für  eine  bald  darauf  erfolgte  Umänderung 
nach  dem  Muster  der  griechischen  Unzialschrift  —  und  als  Begründer 
einer  slawischen  Literatursprache  durch  die  Übersetzung  der  Heiligen 
Schrift  und  verschiedener,  den  liturgischen  Zwecken  dienender  Kirchen- 
bücher leisteten  sie  geradezu  Bahnbrechendes.  Als  gelehrte  Byzantiner, 
deren  Blicke  weit  nach  dem  Oriente  schweiften,  kannten  sie  die  kirchliche 
Organisation  des  christlichen  Orientes,  wo  es  auch  solche  christlichen 
Kirchen  gab,  die  weder  die  griechische  noch  die  lateinische  Sprache  ge-    Verdrängung 

°        '  °  r-  o         ^„5  Mahren  und 

brauchten.  Nach  diesem  Muster  führten  sie  auch  bei  den  ihrer  Missions-  Pannonien. 
tätigkeit  anvertrauten  Slawen  eine  ähnliche  Organisation  ein.  Die  groß- 
artigen Folgen  ihres  Schrittes  werden  sie  damals  wohl  nicht  geahnt 
haben,  ja  fürs  erste  gefährdete  der  Konflikt,  in  welchen  sie  wegen  der 
slawischen  Sprache  mit  Rom  kamen,  ihr  Werk  in  Mähren  und  Pannonien 
so  stark,  daß  es  wohl  gänzlichen  Schiffbruch  erlitten  hätte,  wenn  ihm 
nicht  anderswo,  in  den  Ländern,  die  der  deutschrömischen  Machtsphäre 
entrückt  waren  —  in  Bulgarien  und  Mazedonien  — ,  günstigere  Aufnahme, 
nachdrucksvollere  staatliche  Unterstützung  zuteil  geworden  wäre  und  wenn 
nicht  die  bereits  früher  zum  christlichen  Glauben  bekehrten  Kroaten  und 
Serben,  die  sich  unter  der  Botmäßigkeit  der  dalmatinisch-römischen  Hier- 
archie nicht  sehr  behaglich  fühlten,  jetzt  mit  entschiedener  Vorliebe  eben- 
falls der  kirchenslawischen  Sprache  sich  zugewendet  hätten. 

In  der  Geschichte  der  slawischen  Sprachen,  auf  die  es  hier  allein 
ankommt,  hatte  das  erwähnte  Ereignis  die  wichtige  Folge,  daß  um  die 
Mitte  des  g.  Jahrhunderts  ein  slawischer  Dialekt,  durch  die  eigens  für  ihn 


jO  Vatroslav  von  Jagiö:    Die  slawischen  Sprachen. 

kombinierte  Schrift  graphisch  fixiert,  infolge  der  gleichzeitigen  Über- 
setzungs versuche,  zur  Literatursprache  aller  zum  Christentum  bekehrten 
Slawen,  soweit  sie  den  orientalischen  Ritus  befolgten,  erhoben  wurde. 
Ähnlich  wie  einst  die  Goten,  so  bekamen  jetzt  die  Slawen,  zunächst 
wenigstens  der  südliche  Zweig  derselben,  eine  eigene  liturgische  und 
Sie  budet  den  literarische  Sprache,  die  um  mehrere  Jahrhunderte  früher  in  der  Schrift 
de^^wbsen- '  gepflegt  wurde,  als  sich  ähnliche  Bedürfnisse  bei  anderen  Slawen  fühlbar 
'"  Sprächt"  machten.  Seit  dem  Bestand  der  slawischen  Philologie  (d.  h.  seit  dem 
orsc  ung.  j-^^^  ^^^  1 8.  Jahrhunderts)  gibt  diese  Sprache  die  Grundlage  des  gesamten 
sprachwissenschaftlichen  Studiums  ab  als  der  älteste  Repräsentant  des 
slawischen  Sprachtypus  überhaupt,  ausgestattet  mit  feinen  Lauteigentüm- 
lichkeiten und  beachtenswertem  Formenreichtum,  die  sowohl  der  ver- 
gleichenden Grammatik  der  indogermanischen  Sprachen  zugute  kommen, 
wie  sie  auch  die  Einsicht  in  den  grammatischen  Organismus  aller  slawi- 
schen Einzelsprachen  wesentlich  fördern.  Viele  Erscheinungen  der  slawi- 
schen Einzelsprachen,  die  sich  als  kümmerliche  Überreste  eines  früheren 
Zustandes  der  genauen  Analyse  nahezu  entziehen,  bekommen  erwünschte 
Beleuchtung  durch  die  reichen,  von  jenem  alten  Dialekt  erhaltenen  Paral- 
lelen, deren  große  Anschaulichkeit  Tatsachen  erschließt,  die  sonst  nur 
durch  theoretische  Kombinationen  und  H3'pothesen  erreichbar  wären. 
Der  Dialekt  selbst  als  solcher  muß  einem  slawischen  Volksstamme,  der 
irgendwo  im  Hinterland  der  ägäischen  Meeresküste  zwischen  Saloniki 
und  Konstantinopel  angesiedelt  war,  abgelauscht  worden  sein.  Die  dor- 
tigen Volksstämme  nannten  sich  ohne  Zweifel  mit  dem  so  oft  wieder- 
kehrenden Namen  „Slowenen",  und  ihre  Sprache  war  „slowenisch".  Später 
Sie  hat  doppci-  wurde  diese  ethnische  Benennung  durch  den  politischen  Namen  Bulgaren 
in  den  Hintergrund  geschoben.  So  kommt  es,  daß  die  kirchenslawische 
Sprache  in  der  Wissenschaft  bald  „altslowenisch"  bald  „altbulgarisch" 
heißt.  Da  sie  aber  zuerst  bei  den  mährischen  und  pannonischen  Slawen 
zur  liturgisch -literarischen  Anwendung  kam  —  auch  diese  nannten  sich 
damals  wohl  Slowenen,  nur  darf  man  aus  der  gleichen  Benennung  nicht 
gleich  auf  die  volle  Stammes-  oder  Sprachidentität  schließen  — ,  wurde 
von  einigen  namhaften  Gelehrten  des  ig.  Jahrhunderts  die  Ansicht  von 
ihrer  mährisch- pannonischen  Abkunft  vertreten.  Namentlich  die  „panno- 
nische"  Theorie  wurde  glänzend  vertreten  durch  Gelehrte  wie  Kopitar 
und  Miklosich;  sie  stützte  sich  hauptsächlich  auf  einige  Germanismen  im 
liturgischen  Wortschatz  der  kirchenslawischen  Sprache,  die  allerdings 
leichter  in  Pannonien  oder  Mähren  als  in  Mazedonien  Aufnahme  finden 
konnten.  Doch  ist  diese  Tat.sache  auch  mit  der  Annahme  der  südlichen 
Heimat  des  Kirchendialektes  ganz  gut  vereinbar.  Einzelne  liturgische 
Ausdrücke,  die  bereits  vor  der  Mission  der  salonikischen  Brüder  und 
ihrer  Jünger  durch  die  deutschen  Priester  und  Prediger  der  Salzburger 
Kirche  in  Mähren  und  Pannonien  eingebürgert  worden  waren,  konnten 
leicht  nachträglich  in  die  kirchenslawische  Sprache  aufgenommen  werden, 


A.  Die  slawischen  Sprachen  im  allgemeinen.    IV.  Die  Bekehrung  der  Slawen  zum  Christentum,      i  i 

selbst  wenn  diese  ihrem  sonstigen  Charakter  nach  und  von  Haus  aus  ein 
mazedonischer  Dialekt  war.  Übrigens  ist  es  noch  sehr  fraglich,  ob  alle 
Germanismen  der  altkirchenslawischen  Sprache,  die  in  ihren  ältesten  Denk- 
mälern vorkommen,  gerade  aus  dem  Althochdeutschen  des  g.  Jahrhunderts, 
und  nicht  schon  früher,  entlehnt  sind. 

In  der  Eigfenschaft  als  liturgisch-literarisches  Organ  der  Kirche  bahnte     ihre  weite 

°  '^  °  Verbreitung. 

sich  der  bevorzugte  Dialekt  schnell  den  Weg  weit  über  die  Grenzen 
seines  ursprünglichen  Geltungsgebietes.  Er  wanderte  aus  einem  slawi- 
schen Land  ins  andere,  überall  dorthin,  wo  der  Gottesdienst  in  der  slawi- 
schen Sprache  verrichtet  wurde.  Das  bezog  sich  zunächst  auf  alle  Süd- 
slawen, nur  die  pannonischen  Slowenen  kamen  bald  außer  Betracht,  es 
blieben  aber  die  Bulgaren,  Serben,  Kroaten,  vielleicht  auch  ein  Teil  der 
Slowenen,  dann  aber  (seit  dem  i  o.  Jahrhundert)  auch  auf  die  Gesamtheit 
der  Ostslawen  (Russen).  Überall  hier  fungierte  die  Kirchensprache  nach 
den  mittelalterlichen  Begriffen  zugleich  als  Staats-  oder  Gemeindesprache, 
ganz  in  der  Art  des  Latein  bei  den  romanischen  und  germanischen 
Völkern.  In  ihrer  weltlichen  Funktion  unterlag  sie,  den  mannigfaltigen 
Bedürfnissen  entsprechend,  verschiedenen  lokalen  Beeinflussungen  in  Laut- 
ausgestaltung, in  Formen,  namentlich  aber  im  erweiterten  Wortvorrat. 
Seit  dem  1 1 .  Jahrhundert  kann  man  vom  bulgarischen,  russischen,  serbi- 
schen, kroatischen  „Kirchenslawisch"  sprechen.  Erwähnenswert  ist  außer- 
dem, daß  der  kirchenslawische  Dialekt  in  seiner  mittelalterlichen  Ver- 
wendung für  längere  Zeit  auch  beträchtliche  Gebiete  nichtslawischer 
Zunge  unter  seine  Herrschaft  bekommen  hatte.  Das  galt  für  Moldau  und 
Walachei  im  Süden  und  für  Litauen  im  Norden. 

Die  Herrschaft   des  Kirchenslawischen   als   der   mittelalterlichen  Lite-  nir  allmähliches 

Zurückweichen 

ratursprache    aller   orthodoxen    Slawen    dauerte    viele    Jahrhunderte.     In    mit  der  Be- 

^  schränkung    auf 

Rußland   bis   in   die   Zeiten  Peters  des  Großen,   bei   den   Serben   und  Bul-  das  Gebiet  der 

Kirche. 

garen  bis  zum  Ausgang  des  1 8.  Jahrhunderts.  Während  der  ganzen  Dauer 
mittelalterlicher  Zustände  war  diese  im  Grunde  tote  Sprache  ihr  einziges 
literarisches  Organ,  allerdings  nicht  so  einheitlich  wie  etwa  das  mittel- 
alterliche Latein.  Der  Gesamtinhalt  des  geistigen  Lebens,  mag  dieses 
noch  so  arm  gewesen  sein,  fand  in  dieser  Sprache  seinen  Ausdruck. 
Dieser  Umstand  führte  zu  allerlei  sprachlichen  Mischungen,  wobei  die 
Volkselemente  in  sehr  ungleichem  Maße  mitwirkten.  Im  Laufe  des  15., 
16.,  bis  zu  Ende  des  17.  Jahrhunderts  hatten  sich  in  Rußland  allein  zwei 
merklich  voneinander  abweichende  Literatursprachen  entwickelt:  eine  nord- 
östliche, moskowitische,  in  sich  einheitliche,  dem  echten  kirchenslawischen 
Typus  näher,  und  eine  südwestliche  (man  könnte  sie  wilnaische  nennen), 
in  welcher  das  Kirchenslawische  nicht  bloß  vom  volkstümlichen  Weiß- 
russischen, sondern  auch  von  der  polnischen  Sprache  stark  beeinflußt  war. 
Mit  der  letzteren  berührte  sich  aufs  engste  auch  die  literarische  Sprache 
der  Kijewer  scholastischen  Gelehrsamkeit,  nur  daß  hier  statt  der  weiß- 
russischen  die  kleinrussischen  Elemente  mitspielten.    Peter  der  Große  gab 


j  ,  Vatroslav  von  jAGid;:    Die  slawischen  Sprachen. 

den  ersten  gewaltigen  Stoß  der  bisherigen  Alleinherrschaft  der  kirchen- 
slawisch-moskowitischen  Literatursprache  in  Rußland.  Er  gestattete  freie 
In  Rußland.  Anwendung  neuer,  unter  dem  holländischen  Einfluß  modernisierter  Schrift- 
züge, der  sogenannten  grazdanskischen  Typen,  für  den  Druck  geschicht- 
licher und  Manufakturwerke,  wie  er  sich  selbst  ausdrückte.  Die  bis  dahin 
üblichen  geschnörkelten,  mit  Abbreviaturen  versehenen  Schriftzüge  und 
Typen  blieben  den  Drucken  kirchlichen  Inhaltes  vorbehalten.  Dadurch 
kam  der  Dualismus  einer  weltlichen  und  einer  geistlichen  Literatur  schon 
in  äußerer  Gestalt  zum  Ausdruck.  Die  mit  rücksichtsloser  Eile  und  Ge- 
schwindigkeit auf  Betreiben  des  Zaren  ausgeführten  Übersetzungen  ver- 
schiedenartigster Werke  aus  den  europäischen  Literaturen  rissen  auch  in 
Anwendung  der  Sprache  die  Schranken  der  bisherigen  toten  Überliefe- 
rung nieder,  die  weltliche  Literatur  trieb  durch  ihren  neuen,  bisher  un- 
erhörten Inhalt  in  die  Bahn  der  lebendigen  Volkssprache.  So  machten 
die  Verhältnisse  Peter  den  Großen  selbst  zum  Hauptförderer  der  neuen 
Richtung  in  der  russischen  Literatursprache,  was  auch  seine  bisher  wenig 
gewürdigte,  in  russischer  Sprache  geführte  Korrespondenz  bestätigt.  Von 
nun  an  blieb  die  kirchenslawische  Sprache  in  Rußland  auf  liturgische 
Zwecke  beschränkt.  Selbst  die  Theologie  als  Wissenschaft  und  die 
Kanzelberedsamkeit  werden  nunmehr  ausschließlich  in  der  russischen 
Sprache  gepflegt,  diese  besprengt  allerdings  mit  dem  ins  Kirchenslawische 
getünchten  Weihwedel. 
Bei  den  Bei    den  orthodoxen  Südslawen  (Bulgaren,  Serben),   die    anfangs,   seit 

dem  10.  Jahrhundert,  nicht  bloß  für  die  eigenen  Bedürfnisse  sorgten,  son- 
dern selbst  Rußland  fertige  Produkte  ihrer  literarischen  Tätigkeit  über- 
mittelten, hörte  nachher,  seit  dem  politischen  Untergang  ihrer  Staaten  im 
14.  und  15.  Jahrhundert,  allmählich  die  Pflege  der  kirchenslawischen  Lite- 
ratur gänzlich  auf.  Einige  während  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  im  Lande 
entstandenen  Druckereien  mußten  wegen  der  Ungunst  der  Verhältnisse, 
unter  dem  drückenden  Joch  der  Türkenherrschaft,  ihre  Arbeit  einstellen. 
Den  geringen  Bedarf  an  liturgischen  Büchern,  soweit  er  nicht  von  Venedig 
aus  oder  durch  Handschriften,  die  man  noch  immer  fortsetzte,  gedeckt 
werden  konnte,  lieferte  in  den  letzten  drei  Jahrhunderten  Rußland,  dessen 
russisch  gefärbte  Kirchensprache  allmählich  den  serbischen  und  bulgari- 
schen Tj'pus  des  Kirchenslawischen  aus  dem  kirchlichen  Leben  Serbiens 
und  Bulgariens  ganz  verdrängte.  Viel  trug"  dazu  auch  die  in  Kijew  er- 
haltene höhere  Bildung  der  serbischen  und  bulgarischen  Geistlichkeit  bei. 
Als  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts  bei  den  Serben  Südungarns  und  Sla- 
woniens, die  erst  kurz  vorher  diese  Gebiete  besiedelt  hatten,  um  Grenz- 
wachdienst gegen  die  Türken  zu  leisten,  eine  Bewegung  zugunsten  der 
Schulbildung  und  Literatur  sich  bemerkbar  machte,  erschien  auch  ihnen 
das  Gemisch  der  Kirchensprache  in  russischer  Fassung  mit  den  serbi- 
schen Volkselementen  als  das  nächstgelegene  Mittel  zur  Begründung 
einer    weltlichen    Literatur.      Man    nannte    diese    Sprache    „slawoserbisch". 


B.  Die  slawischen  Einzelsprachen.     I.  Russische  Sprache.  I  5 

Ihre  Herrschaft  dauerte  jedoch  nicht  lange.  Das  Ende  des  i8.  Jahr- 
hunderts (Dositije  Obradovic,  ein  Kind  des  Josephinischen  Zeitalters)  und 
vor  allem  die  reformatorische  Wirksamkeit  Vuk  Karadzics  zu  Anfang  des 
19.  Jahrhunders  schafften  auch  bei  den  Serben  die  letzten  Reste  jener 
mittelalterlichen  Zustände  ab.  Die  reine  serbische  Volkssprache  trat  in 
ihre  Rechte  als  das  alleinige  Organ  des  öffentlichen  Lebens  und  der 
Literatur.  In  Bulgarien  vollzog  sich  derselbe  Emanzipationsprozeß  etwas 
später  und  langsamer.  So  haben  jetzt  alle  orthodoxen  Slawen  zwar  noch 
immer  eine  und  dieselbe  kirchenslawische  Sprache,  nämlich  den  russischen 
T}^us  derselben,  doch  beschränkt  ausschließlich  auf  den  liturgischen  Ge- 
brauch. Diesem  sind  viel  engere  Grenzen  gezogen  als  etwa  der  lateini- 
schen Sprache  in  der  katholischen  Kirche. 


B.   Die  slawischen  Einzelsprachen. 

I.  Russische  Sprache.  Keine  von  den  heutigen  slawischen  Sprachen  Die  russische 
hat  so  enge  Beziehungen  zur  kirchenslawischen  aufrechterhalten  wie  die  ste^'^ueziehua. 
moderne  russische.  Das  erklärt  sich  nicht  aus  ihrer  nächsten  oder  größten  slawischen, " 
Verwandtschaft  mit  dem  Kirchenslawischen,  sondern  aus  der  an  den 
kirchenslawischen  Elementen  geübten  Schonung  zu  der  Zeit,  als  die  lite- 
rarische Emanzipation  der  russischen  Sprache  begann.  Das  Kirchen- 
slawische war  nämlich  so  in  Eleisch  und  Blut  des  sehr  religiösen  und 
seine  liturgische  Sprache  verehrenden  großrussischen  Volkes  gedrungen, 
daß  selbst  dann,  als  man  bewußt  inssisch  schreiben  wollte,  unbemerkt 
viele  kirchenslawische  Ausdrücke,  ja  selbst  Sprachformen  standhielten,  da 
man  sie  nicht  als  etwas  Fremdes  in  dem  russischen  Sprachorganisraus 
fühlte.  Vieles  davon  ist  selbst  bis  auf  den  heutigen  Tag  unangetastet 
geblieben,  einzelnes  tritt  allmählich  bei  dem  fortgesetzten  Nationalisierungs- 
prozeß in  den  Hintergrund.  Diese  Tatsache  allein  würde  schon  aus- 
reichenden Grund  abgeben,  warum  nach  der  kirchenslawischen  zuerst  die 
russische  Sprache  an  die  Reihe  kommen  und  mit  einigen  Worten  charak- 
terisiert werden  soll.  Aus  Cherson,  einer  griechischen  Stadt  an  der  Nord- 
küste des  Schwarzen  Meeres,  kam  der  Überlieferung  zufolge  das  Christen- 
tum zu  Ende  des  lo.  Jahrhunderts  nach  Rußland,  zunächst  nach  Kijew. 
Die  russischen  Slawen  bezogen  es  in  der  slawischen  Form,  weil  neben 
der  höheren  Hierarchie,  die  anfangs  aus  Griechen  bestand,  als  die  eigent- 
lichen Arbeiter  an  der  Bekehrung  die  slawischen  Priester  aus  dem  byzan- 
tinischen und  bulgarischen  Reich  tätig  waren.  Diese  brachten  das  fertige 
Werk,  die  kirchenslawische  Sprache  und  die  in  dieselbe  übersetzten 
Werke,  nach  Rußland.  Somit  wurde  jener  oben  geschilderte  südslawische 
Dialekt,  den  die  beiden  salonikischen  Brüder  zur  Kirchensprache  machten, 
zugleich  die  Kirchen-,  Literatur-  und  Staatssprache  der  Russen,  allerdings 
mit   geringfügigen   Modifikationen   hauptsächlich   lautlicher  Natur,    welche 


14 


Vatroslav  von  Jagic:    Die  slawischen  Spraclien. 


>ie    Loslösung 

der  Volks- 
sprache   von 

slawischen. 


Drei    Haupt- 

(lialoktc    der 

russischen 

Sprache. 


den  wesentlichen  Eigentümlichkeiten  des  russischen  Sprachorganismus 
Rechnung  trugen.  Die  sonstigen  Volkselemente,  Sprachformen  und  Wort- 
schatz, treten  in  den  in  Rußland  geschriebenen  Sprach-  und  Literaturdenk- 
mälern nur  sehr  schüchtern  zum  Vorschein,  in  sehr  ungleichem  Maße  sich 
einstellend,  am  zahlreichsten  in  solchen  literarischen  Leistungen,  wo  der 
ganze  Gedankenkreis  oder  die  genaue  Bezeichnung  der  auf  dem  russi- 
schen Boden  sich  abspielenden  Ereignisse  mit  den  in  der  kirchenslawi- 
schen Sprache  vorrätigen  Mitteln  nicht  leicht  wiederzugeben  war,  wie 
z.  B.  bei  der  Abfassung  von  Gesetzen  oder  Urkunden  weltlichen  Inhalts 
oder  auch  in  der  über  äußere  und  innere  Verhältnisse  Rußlands  berich- 
tenden Annalistik.  Das  Bemühen,  überall  die  aus  dem  slawischen  Süden 
übernommene  Kirchensprache  anzuwenden,  entlockte  einem  alten  russi- 
schen Schriftsteller  den  Ausspruch:  die  russische  und  slawische  (d.  h. 
kirchenslawische)  Sprache  sei  ein  und  dasselbe.  Das  war  in  der  Tat  das 
Glaubensbekenntnis  aller  damaligen  Schriftgelehrten  Rußlands,  zumal 
jener,  die  in  dem  Kijewer  Höhlenkloster  den  Hauptsitz  ihrer  schriftstelle- 
rischen Tätigkeit  hatten. 

Es  gehört  keineswegs  zu  leichten  Aufgaben  der  geschichtlichen 
Sprachforschung,  aus  den  über  sehr  viele  russische  Sprach-  und  Literatur- 
denkmäler zerstreuten  volkstümlichen  Elementen  ein  vollständiges  Bild  der 
durch  das  Kirchenslawische  in  den  Hintergrund  geschobenen  Volkssprache 
in  ihrer  echten  Gestalt  zu  gewinnen.  In  erwünschter  Vollständigkeit  liegt 
eine  derartige  wissenschaftliche  Leistung  noch  gar  nicht  vor.  Dennoch 
gestatten  schon  die  bisherigen  Forschungen,  den  Satz  aufzustellen,  daß 
bereits  im  ii.  Jahrhundert  —  aus  dieser  Zeit  besitzen  wir  neben  vielen 
undatierten  auch  datierte  Originaltexte  von  1057,  1073,  1076,  1092,  1095 
usw.  —  die  altrussische  Sprache  nicht  nur  im  allgemeinen  mit  ihren 
heutigen  Merkmalen,  sondern  selbst  mit  einigen,  noch  heute  nachweis- 
baren dialektischen  Eigentümlichkeiten  ausgestattet  war.  Z.  B.  um  Alt- 
nowgorod herum  konnte  man  schon  damals  die  Laute  c  und  c  verwechseln, 
wie  noch  heute;  ebenso  konnte  man  das  gedehnte  e  als  /  aussprechen. 
Dieses  Hervorschimmern  zweier  Eigentümlichkeiten,  die  noch  heute  leben, 
läßt  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  auf  die  Existenz  noch  anderer  Züge 
schließen,  die  wir  nicht  belegen  können,  weil  sie  in  den  Sprachdenk- 
mälern jener  Zeiten  nicht  vertreten  sind.  Also  dialektische  Züge  gab  es 
in  der  altrussischen  Sprache  schon  in  der  ältesten  durch  Sprachdenkmäler 
kontrollierbaren  Zeit,  d.h.  im  1 1.  Jahrhundert  und  gewiß  noch  viel  früher. 
Damit  sei  allerdings  nicht  gesagt,  daß  schon  damals  alles  so  entwickelt 
war  wie  heute.  Heute  unterscheidet  man  nämlich  drei  russische  Haupt- 
dialekte: den  großrussischen,  der  sich  vom  höchsten  Norden  (Archangelsk) 
südwärts  hinter  Moskau,  ungefähr  bis  Kursk  und  Voronez  erstreckt  und 
östlich  über  Ural  hinaus  nach  Sibirien  reicht;  den  weißrussischen,  der  von 
der  polnischen  Sprachgrenze  ostwärts  bis  gegen  Smolensk  geht,  südwärts 
bis   Prijiet   und   Pinsk;    den   klein-   oder    südrussischen,   der   unterhalb  des 


B.  Die  slawischen  Einzelsprachen.     I.  Russische  Sprache.  I  e 

groß-  und  weißrussischen  beginnt,  den  ganzen  Süden  bis  ans  Schwarze 
Meer  und  östlich  bis  an  den  Don  einnimmt  und  außerhalb  Rußlands  noch 
in  Bukowina,  Galizien  (bis  Lemberg),  ferner  in  dem  an  Galizien  an- 
grenzenden ungarischen  Gebirgsland  gesprochen  wird.  Der  gToßrussische 
Dialekt  bildet  die  Grundlage  der  heutigen  russischen  Literatursprache, 
der  klein-  oder  südrussische  der  heutigen  ruthenischen  Literatursprache; 
der  mittlere,   weißrussische,   kam   zwar   durch   einige  Jahrhunderte   in   der  ihre  allmähliche 

Ausgestaltung. 

gewesenen  Literatursprache  des  litauisch -weißrussischen  Sprachgebietes 
(mit  Wilna  als  Zentrum)  zur  Geltung,  wenn  auch  nicht  in  der  reinen, 
volkstümlichen  Gestalt,  nachher  aber  mußte  er  zuerst  vor  der  Herrschaft 
der  polnischen,  dann  vor  der  der  russischen  Sprache  die  Segel  streichen. 
Nicht  alle  Unterscheidungsmerkmale  dieser  drei  Dialekte  in  ihrer  heutigen 
Gestalt  reichen  bis  in  die  ältesten  Zeiten  zurück.  Einige  mögen  schon 
in  frühesten  Jahrhunderten  vorhanden  gewesen  sein,  andere  traten  erst 
später  hinzu.  Die  Scheidung  zwischen  den  älteren  und  jüngeren  Merk- 
malen zu  treffen,  ist  die  Aufgabe  der  Wissenschaft,  die  in  diesen  Fragen 
noch  nicht  ihr  letztes  Wort  gesprochen  hat.  Es  hat  den  Anschein,  daß 
erst  in  den  Jahrhunderten  des  politischen  Sonderlebens  der  weiß-  und 
kleinrussischen  Sprachgebiete  gegenüber  dem  nordöstlichen  moskowitischen 
Rußland  diese  südwestlichen  Dialekte,  unter  der  anhaltenden  Einwirkung 
des  polnischen  Staatswesens  mit  seiner  Sprache,  Religion  und  Kultur, 
ihre  besondere,  individuell  ausgeprägte  Gestalt  erhalten  haben.  Innerhalb 
des  Großrussischen  unterscheidet  man  einen  nördlichen,  bis  nahe  an  Moskau 
reichenden  (?-Dialekt  und  einen   südlichen   (/-Dialekt.     Dieser  Zweiteilung 

können   wir   durch   Belege   erst  aus   dem   Ende   des    14.  Jahrhunderts   bei-  Die  russische 

Literatur- 
kommen.    Der  ^-Dialekt  wird  so   genannt  wegen   der  Aussprache  jedes  spräche  beruht 

auf   dem    Mos- 

unbetonten  0  breit  und  offen,  ganz  ähnlich  dem  Vokal  a.  In  diesem  Punkt  i^aucr  Dialekt. 
gehört  auch  das  Weißrussische  zum  a-Dialekt,  während  das  Süd-  oder 
Kleinrussische  die  reine  Aussprache  des  o  wahrt.  Die  Moskauer  Sprache, 
aus  welcher  im  18.  Jahrhundert  die  gegenwärtige  russische  Literatur- 
sprache hervorging,  kann  als  gemäßigter  c?-Dialekt  bezeichnet  werden, 
sie  bildet  gleichsam  den  Übergang  vom  o-  zum  ^-Dialekt.  In  der  Tat 
vereinigt  die  russische  Literatursprache  einige  nordgroßrussische  mit 
einigen  südgroßrussischen  Zügen.  Die  Aussprache  des  unbetonten  o  als  a 
ist  ein  südgroßrussischer  Zug  (in  einigen  Worten  wird  selbst  nach  der 
Konzession  der  Orthographie  in  der  Schriftsprache  a  statt  des  etymolo- 
gisch berechtigten  o  geschrieben,  z.  B.  bar  du,  kaldc  statt  bordn,  koldc), 
dagegen  ist  die  harte  Aussprache  der  dritten  Person  singularis  und  pluralis 
auf  /  (z.  B.  bildet,  idi'it)  ein  nordgroßrussischer  Zug,  welchem  im  Südgroß- 
russischen das  erweichte  /'   gegenübersteht  {bi'idet\  id/tf). 

Einzelne  Texte  weltlichen  Inhalts  (z.  B.  Urkunden,  die  vielfach  nach 
fremden  mittelalterlichen  Originalen  ausgearbeiteten  Erzählungen  und  Ro- 
mane, volkstümliche  Schauspiele  usw.)  hatten  schon  während  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts  den  volkstümlichen  russischen  Sprachformen  und  Phrasen 


l5  Vatroslav  von  Jagic:    Die  slawischen  Sprachen. 

weiten  Spielraum  gewährt.  Doch  erst  die  gewaltige  Reform  Peters 
des  Großen,  die  den  europäischen  Einflüssen  Tür  und  Tor  öffnete, 
leistete  auch  der  Europäisierung  der  Sprache  entschiedensten  Vorschub, 
sie  förderte  ihre  Verweltlichung,  ihre  Nationalisierung.  Da  trat  ein  Mann 
Lomonosov  ab  auf,  der  in  der  russischen  Literatur  eigentlich  als  der  Begründer  der 
russischen  Lite,  modemeu  Literatursprache  gepriesen  wird,  in  dessen  Wirksamkeit  auf 
dem  Gebiet  der  Literatur,  der  Wissenschaften  und  der  Sprache  selbst 
sich  die  Reformgedanken  Peters  des  Großen  verkörperten.  Das  war 
M.  Lomonosov.  Aus  dem  hohen  Norden  stammend,  dessen  russische  Be- 
völkerung sich  damals  vielleicht  noch  mehr  als  heute  durch  einen  kräf- 
tigen Menschenschlag  und  reiche  in  epischer  Behaglichkeit  dahinfließende 
Sprache  auszeichnete,  verstand  er  seinen  ihm  angeborenen  Sprachschatz 
mit  dem  in  Moskau  herrschenden  Geschmack  der  damaligen  Intelligenz 
(Hof,  Adel,  höhere  Geistlichkeit,  reicher  Kaufmannsstand)  in  Einklang  zu 
bringen  und  dadurch  in  seinen  Werken,  in  welchen  er  als  Prosaschrift- 
steller und  Dichter  zugleich  tätig  war,  eine  für  seine  Zeitgenossen  und 
auch  die  nachfolgenden  Generationen  mustergültige  russische  Literatur- 
sprache zu  schaffen.  In  der  Tat  bleibt  seine  Sprache  in  ihren  wesent- 
lichen Zügen  bis  auf  den  heutigen  Tag  aufrecht.  Nur  stilistisch  wurde 
ihr  nachher  größere  Beweglichkeit,  leichterer  Gang,  feinerer  Schliff  zuteil. 
Das  erreichte  sie  namentlich  durch  die  anhaltende  Übersetzungstätigkeit 
und  fleißige  Nachahmung  fremder,  zumeist  französischer  Muster,  wobei 
sich  Karamzin  als  Schriftsteller  feinsten  Geschmacks  und  Puschkin  als 
Dichter  von  klassischer  Formvollendung  auszeichneten.  Diese  beiden 
Neue  Etappen  Namcu   bilden   in   der  Entwicklungsgeschichte   der  russischen  Sprache  die 

in  der  Vervoll-  ^  o        r  a         i       j- 

kommnunK.  nächsten  zwei  nach  Lomonosov  erklommenen  Stuten.  Auch  die  spateren, 
nach  Puschkin  folgenden  Vertreter  der  russischen  Literatur  in  Versen  und 
Prosa,  deren  Werke  jetzt  schon  zumeist  das  Gemeingut  der  ganzen  Kultur- 
welt bilden,  gelten  zugleich  als  weitere  Etappen  für  die  herrliche  Ent- 
faltung der  russischen  Sprache.  Reichtum  und  Kraft  des  Ausdrucks, 
Originalität  des  Stiles,  gepaart  mit  der  Plastik  und  Eleganz  des  ge- 
läuterten Geschmacks  —  das  sind  die  sprachlichen  Vorzüge  der  Werke 
eines  Krylov,  Gribojedov,  Lermontov,  Nekrasov,  A.  Majkov,  Fet  u.  a.  in 
Versen,  eines  Aksakov,  Turgenjev,  Goncarov,  Tolstoj  und  Cechov  in 
Prosa  — ,  um  nur  die  bekanntesten  Namen  zu  nennen.  Ihrer  bedeutenden 
literarischen  Wirksamkeit  verdankt  die  heutige  russische  Sprache  nicht 
bloß  den  weiten  Umfang  eines  reichen  Wortschatzes,  sondern  auch  die 
Präzision  des  Ausdrucks  und  große  Schmiegsamkeit  an  den  behandelten 
Stoff,  mag  es  sich  um  die  Schilderung  der  Natur  und  menschlicher  Arbeit, 
um  die  Analyse  psychischer  Prozesse  oder  um  philosophische  Betrach- 
tungen handeln. 
Grammatische  Für    die    .Sprache   Lomonosovs,    um    sie    grammatisch    zu   analysieren, 

Hehandlunt;  .  ,  -l        j 

der  Sprache,  sorgte    er    selbst.      Er   schrieb    eine    Grammatik    und    eine    Knetorik    der 
russischen   Sprache,    die   sich   wesentlich   im   Rahmen   seiner   literarischen 


B.  Die  slawischen  Einzelsprachen.     I.  Russische  Sprache.  I  -j 

Leistungen  bewegten.  Die  Sprache  Karamzins  und  seiner  Schule  schwebte 
dem  Grammatiker  Grec  vor,  als  er  seine  grammatischen  Lehrbücher  ver- 
faßte, die  durch  mehrere  Dezennien  den  russischen  Sprachunterricht  in 
den  Mittelschulen  beherrschten.  Der  mächtige  Aufschwung,  den  die 
Sprache  seit  Puschkin  und  nach  ihm  genommen,  spiegelt  sich  zwar  teil- 
weise in  den  neuen  Lehrbüchern  ab,  allein  erschöpfend  kam  er  bisher  in 
keinem  sprachwissenschaftlichen  Werk  zur  Darstellung.  Dazu  fehlen  auch 
monographische  Vorarbeiten,  die  erst  in  jüngster  Zeit  sich  langsam  ein- 
stellen. Derzeit  besitzt  man  wenigstens  die  ersten  Versuche  einer  Cha- 
rakteristik der  Sprache  Puschkins  und  Gogols.  Die  reiche  Fundgrube 
späterer  Schriftsteller,  z.  B.  Turgenjevs,  der  selbst  zu  wiederholten  Malen 
seinen  Zeitgenossen  den  korrekten  Gebrauch  der  schönen  russischen 
Sprache  ans  Herz  legte,  blieb  bisher  unberührt.  Etwas  mehr  wurde  für 
die  Hebung  und  Sichtung  des  Wortschatzes  getan.  Die  zu  verschiedenen 
Zeiten  gelieferten  lexikalischen  Publikationen  der  gewesenen  russischen 
Akademie  und  der  jetzigen  russischen  Abteilung  der  kaiserlichen  Akademie 
der  Wissenschaften  in  St.  Petersburg  enthalten  wertvolles  Material  sowohl 
für  die  Literatursprache  wie  auch  für  die  großrussischen  Dialekte.  Eine 
imponierende,  noch  jetzt  unübertroffen  dastehende  Leistung  war  das  große 
Wörterbuch  der  heutigen  großrussischen  Volkssprache  von  Wladimir  Dal; 
in  den  sechziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  abgefaßt,  ist  es  jetzt  in  der 
dritten  Auflage  im  Erscheinen  begriffen.  Unter  den  doppelsprachigen 
Hilfsmitteln  (russisch-deutsch,  russisch -französisch  usw.)  ragt  durch  den 
Umfang  und  innere  Reichhaltigkeit  das  Wörterbuch  Pawlowskis  hervor. 
Bei  aller  Ungunst  der  inneren  Verhältnisse  Rußlands,  die  der  freien  Ent- 
wicklung der  russischen  Literatur  große  Hindemisse  in  den  Weg  legen, 
macht  die  russische  Sprache  so  schnelle  Fortschritte  auf  allen  Gebieten 
der  Literatur,  der  Wissenschaften  und  Künste,  daß  keines  von  den  der- 
zeitigen lexikalischen  Hilfsmitteln  mit  ihrer  Entwicklung  gleichen  Schritt 
hält.  Eine  vor  zwanzig  Jahren  begonnene  neue  Ausgabe  des  akademi- 
schen Wörterbuchs  schreitet  leider  sehr  langsam  vorwärts.  Die  russische 
Sprache    ist    zugleich    die    einzige    unter    allen    slawischen,    die    auch    auf  ihre  intematio- 

.  nale   Bedeutung 

internationalen  Verkehr  rechnen  kann.  Obwohl  von  Rußland  aus  für  ihre  in  Aussicht. 
Verbreitung  außerhalb  der  Reichsgrenzen  nicht  das  geringste  geschieht, 
ja  der  Verkehr  der  russischen  Werke  mit  dem  Ausland  sogar  großen 
Schwierigkeiten  seitens  des  mißtrauischen  Polizeisystems  unterworfen  ist, 
macht  dennoch  die  Verbreitung  der  Kenntnis  der  russischen  Sprache  im 
Ausland  mit  jedem  Jahr  neue  Fortschritte.  Deutschland  steht  in  dieser 
Hinsicht  obenan,  soweit  man  das  nach  der  großen  Zahl  der  russischen 
Grammatiken  und  anderer  zur  Erlernung  dieser  Sprache  bestimmten  Hilfs- 
mittel beurteilen  kann.  Auch  solche  Tatsachen,  wie  der  Zudrang  zum 
russischen  Sprachunterricht  in  Berlin,  geben  ein  beredtes  Zeugnis  für  den 
weiten  Umfang  des  russischen  Sprachstudiums  in  Deutschland  ab.  Leider 
bleibt    die    wissenschaftliche    Pflege    dieser   Sprache    im   natürlichen    Zu- 

DiE  Kultur  der  Gegenw.\rt.    I.  9.  3 


jg  Vatroslav  von  Jagic:    Die  sla%vischen  Sprachen. 

sammenhang   mit    dem    ganzen   Inhalt    der   slawischen  Philologie    an  den 
deutschen  Universitäten  weit  hinter  den  berechtigten  Erwartungen  zurück, 

Ruthenischoder  11.    Ruthcnischc   Sprache.     Man    bezeichnet   den    klein-   oder   süd- 

auch  Ukrainisch  russischen  Dialekt,  wenn  vom  ihm  als  einer  Literatursprache  die  Rede  ist, 
in  deutscher  Benennung  gewöhnlich  als  ruthenische  Sprache,  wobei  man 
hauptsächlich  Galizien  und  Bukowina  im  Auge  hat,  wo  sich  dermalen 
diese  Sprache  freier  als  in  Rußland  entwickeln  kann,  wo  sie  sich  nicht 
nur  in  der  Literatur,  sondern  auch  im  niederen  und  höheren  Schulunter- 
richt und  auf  allen  Gebieten  des  öffentlichen  Lebens  gesetzliche  An- 
erkennung verschafft  hat.  Und  doch  liegt  ihre  Wiege  nicht  hier,  sondern 
in  Rußland,  in  der  Ukraina,  weswegen  man  sie  dann  und  wann  auch 
ukrainisch  nennt.  Hier  wurde  ihr  in  der  zweiten  Hälfte  des  i8.  Jahr- 
hunderts zuerst  in  rein  volkstümlicher  Gestalt  die  literarische  Pflege  zuteil. 

Kotijarevski  als  Was  nämUch  Lomonosov  fürs  Großrussische,  das  war  Kotljarevski  fürs 
Senischen"'^  Kleinrussischc  oder  Ruthenische:  der  erste  Vertreter  dieser  Sprache  in 
sprich".  der  Literatur  und  als  solcher  ihr  Begründer.  Seinem  Beispiele  folgten 
nachher  viele,  z.  B.  der  volkstümliche  Erzähler  Kvitka-Ovsjanenko  und 
der  bedeutendste  bisherige  Dichter  der  Kleinrussen  Sevcenko  —  beide 
ukrainische  Musterschriftsteller,  die  auch  von  den  Schriftstellern  Galiziens 
und  der  Bukowina  als  feste  Grundlage  der  ruthenischen  Sprache  an- 
gesehen werden.  Das  Verhältnis  verschob  sich  allmählich  und  der 
Gravitationspunkt  wanderte  nach  Galizien,  wo  seit  der  Mitte  des  ig.  Jahr- 
hunderts das  Ruthenische  ein  weites  Feld  der  Betätigung  gewonnen  hat. 
Doch  ist  diese  Wanderung  in  die  westliche  Peripherie  mit  einigen  Miß- 
ständen verbunden.  Gegenwärtig  durchlebt  die  ruthenische  Sprache  in 
Galizien  eine  wahre  Sturm-  und  Drangperiode.  Die  mit  fast  fieberhafter 
Hast  betriebene  Pflege  derselben,  selbst  unter  Anwendung  auf  die  ent- 
legensten Gebiete  der  praktischen  Wissenschaften,  bevor  noch  bedeutende 
Talente  für  die  einzelnen  Fächer  vorhanden  sind,  wirft  Fragen  auf,  deren 
gelungene  Lösung  nicht  immer  leicht  ist.  Die  Sprache  wird  zu  eilig  mit 
unzähligen  Neologismen  belastet,  sie  läuft  Gefahr,  ihre  Natürlichkeit  und 
Volkstümlichkeit  einzubüßen.  Sie  entfernt  sich  immer  mehr  von  den 
mustergültigen  ukrainischen  Vorbildern.  Das  Bestreben,  die  sprachliche 
Individualität  und  Selbständigkeit  des  Ruthenischen  gegenüber  dem  Russi- 
schen möglichst  stark  zur  Geltung  zu  bringen,  verleitet  so  manchen 
Schriftsteller  zu  allerlei  nach  polnischen  und  deutschen  Vorbildern  aus- 
geklügelten Neologismen,  denen  man  vor  dem  uralten  gesamtrussischen 
Erbgut    den  Vorzug  gibt,    um    nur    etwas  Neues,    etwas    vom    Großrussi- 

Die  ruthenische  schcu  Verschiedenes  zu  schaffen.  Man  kann  diese,  dem  wohlverstande- 
zcichcn  der    ncu  Intcrcssc   für   die  natürliche  Entwicklung  der  kleinrussischen  Sprache 

Drangporiode.  Zuwiderlaufenden  Übertreibungen  unmöglich  gutheißen.  Solchen  Ge- 
fahren könnte  durch  möglichst  große  Beteiligung  an  dem  Kulturwerk 
seitens  der  tüchtigen  Kenner  der  Sprache  Ukrainas  in  Rußland  selbst  am 


B.  Die  slawischen  Eiuzelspiachen.     II.  Rutherische  Sprache.         III.  Bulgarische  Sprache.      jg 

wirksamsten  vorgebeugt  werden.  Leider  waren  bisher  gerade  solche  Männer 
nur  in  verhältnismäßig  geringer  Anzahl  anzutreffen,  weil  das  in  Rußland 
herrschende  Unterdrückungssystem  vielversprechende  Talente  von  der 
Pflege  des  Einheimischen,  Ukrainischen  fernhielt.  Man  darf  die  Hoffnung 
auf  Besserung  dieser  ungesunden  Verhältnisse  nicht  aufgeben.  Dann  wird 
sich  die  Überzeugung  Bahn  brechen,  daß  neben  der  russischen  Sprache 
und  Literatur,  die  immer  mehr  den  Charakter  einer  Weltsprache  und 
Weltliteratur  annimmt,  auch  eine  kleinrussische  oder  ruthenische  Literatur 
ebensogut  bestehen  kann,  wie  neben  der  deutschen  Weltsprache  das 
Vlämische  oder  Niederländische  und  Holländische,  weiter  das  Dänische, 
Norwegische  und  Schwedische  vmgestört  leben  und  literarisch  gepflegt 
werden,  wie  neben  dem  Französischen  auch  das  Provenzalische,  neben 
dem  Englischen  das  Keltische  in  Wales  oder  Irland  seine  volle  Existenz- 
berechtigung hat.  In  welcher  Weise  und  mit  welchem  Erfolg  das  Ruthe- 
nische neben  den  übrigen  slawischen  Sprachen  seine  Aufgabe  erfüllen 
wird,  das  läßt  sich  nicht  voraussagen.  Weder  grammatisch  noch  lexika- 
lisch ist  die  Sprache  bisher  genügend  erforscht,  obwohl  es  an  dialekti- 
schen Untersuchungen  nicht  mangelt.  Für  praktische  Zwecke  bestimmte 
Lehrbücher  sind  in  genügender  Zahl  vorhanden.  Ein  den  ersten  Bedürf- 
nissen entgegenkommendes  ruthenisch- deutsches  Wörterbuch  umfaßt  bei 
weitem  nicht  den  ganzen  Sprachschatz. 


ni.  Bulgarische  Sprache.  Der  an  Sprachformen  unter  allen  sla- 
wischen Sprachen  reichste  kirchenslawische  Dialekt  stammt,  wie  bereits 
gesagt,  aus  den  Gegenden,  die  heute  zum  bulgarischen  Sprachgebiet  ge- 
rechnet werden.  Das  charakteristischste  Verwandtschaftsband  zwischen 
dem  Altkirchenslawischen  und  der  heutigen  bulgarischen  Sprache  besteht 
in  den  für  das  urslawische  tj-dj  eintretenden  Lautgruppen  sf-zd;  nost-mezda  = 
spricht  noch  heute  der  Bulgare,  und  zwar  unter  allen  Slawen  er  allein, 
ganz  so  (nur  vielleicht  etwas  härter),  wie  wir  es  für  den  Dialekt  voraus- 
zusetzen haben,  aus  welchem  die  kirchenslawische  Sprache  hervorgegangen 
ist.  Während  aber  das  Kirchenslawische  durch  den  größten  Deklinations- 
und Konjugationsformenreichtum  sich  auszeichnet,  hat  das  heutige  Bul- 
garische unter  allen  slawischen  Sprachen  einzig  und  allein  die  einstigen 
Deklinationsformen  gänzlich  eingebüßt.  Bei  Anwendung  eines  postposi- 
tiven (an  jede  Art  des  Nomens  anhängbaren)  Artikels  besitzt  es  eine 
einzige  Singularform  als  Casus  generalis  für  alle  Verhältnisse  des  Singu- 
lars und  ebenso  eine  einzige  Pluralform  für  alle  Verhältnisse  des  Plurals. 
Die  verschiedenen  Präpositionen  kommen  hier  so  wie  in  den  romanischen 
Sprachen  zu  Hilfe.  Die  Übereinstimmung  dieser  Art  der  Kasusbildung 
zwischen  dem  Bulgarischen  und  Rumänischen,  teilweise  auch  Albanesischen, 
führte  einige  Gelehrte,  z.  B.  Miklosich,  zu  der  Annahme  einer  Beein- 
flussung aller  dieser  Sprachen  seitens  der  alten  thrakischen  Bevölkerung 
—  eine  Ansicht,  die   schon   deswegen   auf  die   bulgarische  Sprache   keine 


Bulgarische 
Sprache   in 

nächsten 
Beziehungen 
um  Altkirchen- 
slawischen. 


2  0  Vatroslav  von  Jagic;    Die  slawischen  Spractien. 

Sie  hat  die  alten  Anwendung  finden  kann ,  weil  ihr  Deklinationsverlust  in  eine  Zeit  fällt, 
formen  ein-  da  auf  der  Balkanhalbinsel  keine  thrakischen  Volksstämme  mehr  lebten. 
Eher  ließe  sich  die  Ansicht  hören,  daß  das  Rumänische  allein  auf  die 
besagte  Neubildung  der  bulgarischen  Deklination  einen  Einfluß  ausübte. 
Die  Bulgaren  lebten  in  der  Tat  seit  den  ältesten  Zeiten  in  inniger  Be- 
rührung mit  den  Rumänen  im  Balkan-  und  Donaugebiet,  ebenso  in  Maze- 
donien, und  da  diese  ein  älteres  ethnisches  Element  auf  der  Halbinsel 
repräsentieren  als  die  Slawen,  so  ist  eine  Einflußnahme  ihrerseits  auf  die 
Entwicklung  der  bulgarischen  Sprache  keineswegs  ausgeschlossen.  In 
neuester  Zeit  zieht  man  allerdings  vor,  von  jeder  fremden  Beeinflussung 
bei  der  merkwürdigen  Neugestaltung  der  bulgarischen  Deklination  abzu- 
sehen und  die  Gründe  dafür  eher  in  dem  lautlichen  Charakter  der  Sprache 
selbst  zu  suchen,  z.  B.  im  Zusammenfallen  verschiedener  Vokale  in  einem 
einzigen  trüben,  etwas  nach  a  ausklingenden  Laut,  wodurch  wenigstens  in 
den  vokalisch  auslautenden  Sprachformen  gleich  mehrere  Kasus  des  Sin- 
gulars zusammenfallen.  Mag  es  sich  damit  so  oder  anders  verhalten, 
jedenfalls  spielt  dabei  der  nachgesetzte  Artikel  nicht  die  Rolle  eines  nach- 
träglichen, erst  nach  dem  Deklinationsverfall  aufgekommenen  Sprach- 
mittels, da  wir  vielmehr  durch  einige  Dialekterscheinungen  nachweisen 
können,  daß  auch  der  nachgesetzte  Artikel  mit  verschiedenen  Kasus- 
endungen versehen  sein  kann.  Man  wird  bei  diesem  Vorgang  einiger- 
maßen an  die  zusammengesetzte  Deklination  des  Adjektivs  in  allen  sla- 
wischen Sprachen  erinnert,  wo  die  Casus  obliqui  teilweise  nur  beim 
angehängten  Pronomen  volle  Formen  behalten,  beim  Adjektiv  selbst  aber 
nicht.  Z.  B.  der  Dativus  plur.  statt  des  vollen  dobromü  4-  ivm  —  dieses 
Bildungsprinzip  lebt  noch  heute  im  Litauischen  —  kennt  seit  urslawischen 
Zeiten  nur  die  Form  dobrii  -\-  iinü.  In  ähnlicher  Weise  mag  in  einigen 
Casus  obliqui  der  bulgarischen  Deklination  zunächst  die  Endung  des  Sub- 
stantivs aufgegeben  worden  sein,  weil  sie  an  dem  postpositiven  Pronomen 
sichtbar  war,  bis  dann  die  Nominativ-Akkusativ-Form  des  Singulars  und 
Plurals  als  Casus  generalis  alle  anderen  Endung-en  sowohl  beim  Nomen 
als  auch  beim  nachgesetzten  Pronomen  (Artikel)  beseitigte.  Diese  moderne 
bulgarische  Deklination  —  die  Konjugation  blieb  bis  auf  den  Verlust  der 
Infinitivform  sonst  aufrecht  erhalten  —  macht  durchaus  nicht  den  Eindruck 
eines  in  sehr  früher  Zeit  fertig  gewordenen  Prozesses.  Im  Gegenteil,  viele 
Überreste  einstiger  Kasusformen,  die  in  der  Volkssprache  überall  noch 
hervortreten,  sehen  einer  vor  nicht  langer  Zeit  eingetrockneten  Quelle 
ähnlich. 

Sie  ist  erst  im  Man    muß    im   Bulgarischen    ebenso   wie    im   Altrussischen    hinter   der 

19.  Jahrhundert  ^ 

in  Volkstum-    Alleinherrschaft  der  kirchenslawischen  Sprache  in  den  Sprach-  und  Literatur- 
licher Form  zur  ^  ' 

Geltung       denkmälern    aller  Jahrhunderte    die    Spuren    des    Volkstümlichen    mühsam 

gekommen.  ■'  '■ 

aufsammeln  —  eine  Arbeit,  die  noch  nicht  in  ausreichender  Weise  aus- 
geführt ist.  Das  älteste  Denkmal,  in  welchem  schon  viele  Belege  für  die 
Evolution   der  bulgarischen  Sprache  in  moderner  Richtung  zu  finden  sind, 


B.  Die  slawischen  Einzelsprachen.     III.  Bulgarische  Sprache.  2  I 

datiert  aus  der  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  (die  Troja-Sage).  Doch  erst  im 
17.  und  18.  Jahrhundert  schrieb  man  volkstümUche  Texte,  meist  apokr\'phe 
Erzählungen,  den  biblischen  Stoffen  entnommen,  in  einer  Sprache,  die  den 
modernen  Charakter  des  Bulgarischen  in  Lauten  und  Formen  schon  ent- 
schieden hervortreten  läßt.  Der  Grundsatz,  in  der  Volkssprache  Bücher 
zu  schreiben,  kam  in  Bulgarien  noch  später  zur  Anerkennung  als  in 
Serbien.  Das  geschah  unter  dem  Einfluß  der  Romantik  des  vorigen  Jahr- 
hunderts, die  bekanntlich  die  Pflege  des  Volkstümlichen  als  einen  hoch- 
wichtigen Faktor  des  Kulturlebens  anerkannte.  Zum  Teil  wirkte  auch 
das  Beispiel  der  Serben  mit.  Doch  ging  man  in  der  bulgarischen  Sprache 
nicht  so  energisch  mit  der  Ausschaltung  aller  nichtvolkstümlichen  Ele- 
mente vor,  wie  es  im  Serbischen  durch  Vuk  Karadzic  geschah.  Die  Geltend- 
machung der  Rechte  der  Volkssprache  schreitet  dort  langsamer  vorwärts, 
die  Literatursprache  bewegt  sich  konservativer.  Die  moderne  bulga- 
rische Sprache  steht  außerdem  noch  immer  unter  sehr  starkem  Einfluß  des 
Russischen;  dieses  gilt  in  Bulgarien  als  die  nächstgegebene  Kultursprache 
zur  Stütze  der  einheimisch-nationalen,  ungefähr  in  der  Weise,  wie  bei  den 
übrigen  Süd-  und  Nordslawen  die  deutsche,  beziehungsweise  für  Dal- 
matien  die  italienische  Sprache  die  Signatur  fremder  Beeinflussung  bildet. 
Die  konservative  Richtung  der  bulgarischen  Literatursprache  spiegelt  sich 
auch  in  der  Orthographie  wieder,  die  sich  im  russischen  Fahrwasser  be- 
wegt und  nicht  alle  phonetischen  Eigentümlichkeiten  der  Sprache  sichtbar 
werden  läßt. 

Die  bulgarische  Sprache  zerfällt  in  mehrere  Dialekte,  die  erst  in 
neuester  Zeit  fleißig  erforscht  werden,  weniger  direkt  in  wissenschaftlichen 
Abhandlungen,  als  indirekt  durch  die  Publikation  des  folkloristischen 
Materials  mit  möglichst  treuer  Bewahrung  aller  sprachlichen  Eigentümlich- 
keiten. Man  unterscheidet  vor  allem  die  ostbulgarischen  Dialekte  von 
den  westbulgarischen.  Die  ersteren,  die  wieder  in  nord-  und  südost- 
bulgarische Mundarten  zerfallen,  sind  in  mancher  Hinsicht  origineller, 
selbständiger  als  die  letzteren.  Auch  die  gegenwärtige  Literatursprache 
stützt  sich  auf  das  Ostbulgarische,  das  im  Süden  des  Balkans  (Panagjuriste, 
Koprivstica,  Kotel  usw.)  gesprochen  wird,  etwas  gemäßigt  durch  die 
nächste  Nähe  des  Westbulgarischen.  Die  Residenzstadt  Sofia  selbst  liegt 
im  Bereich  des  Westbulgarischen,  der  sogenannten  Schopen.  Eine  etwas 
abgesonderte  Stellung  nehmen  die  mazedonischen  Dialekte  ein,  die  sowohl 
in  lautlicher  Beziehung  als  im  Wortvorrat  manche  Anklänge  an  das  Serbische 
zeigen.  Durch  den  Verlust  der  Deklination  und  den  Gebrauch  des  post- 
positiven Artikels  (sogar  in  dreifacher  Gestalt)  schließt  sich  dennoch  das 
Mazedonische  im  überwiegenden  Teil  näher  an  das  Bulgarische  als  an 
das  Serbische  an.  Der  neuerdings  gemachte  Vorschlag,  einen  Dialekt 
Mazedoniens  zur  Schriftsprache  des  Landes  zu  machen,  müßte,  selbst  wenn 
er  gut  gemeint  ist,  als  überflüssige  Zersplitterung  der  geistigen  Kräfte 
entschieden  zurückgewiesen  werden.     Welches  Schicksal  immer  dem  viel- 


2  2  Vatroslav  von  Jagi6:    Die  slawischen  Sprachen. 

geprüften  Land  in  nächster  Zukunft  beschieden  sein  mag,  geistig  ist  es 
schon  jetzt  durch  Kirche  und  Schule  an  Bulgarien,  so  wie  Altserbien,  so 
weit  es  noch  slawisch  ist,  an  Serbien  gekettet. 

Während  an  der  grammatischen  Erforschung  des  Bulgarischen  in 
neuester  Zeit  recht  fleißig  gearbeitet  wird  —  kleine  Lehrbücher  zu  prak- 
tischen Zwecken  sind  in  genügender  Zahl  vorhanden  - —  läßt  die  lexi- 
kalische Bearbeitung  noch  sehr  viel  zu  wünschen  übrig.  Das  in  Rußland 
vor  mehr  als  20  Jahren  erschienene  Wörterbuch  von  Duvernois  genügt 
weder  dem  heutigen  Zustande  der  Literatursprache  noch  den  gegen- 
wärtigen Kenntnissen  der  Dialekte. 

Dia  angestrebte  IV.    Serbokroatische  Sprache.     Was   man  heute  unter  dieser  Be- 

Eiaheit  der  ^  *  ^  ^ 

serbokroati-    neonung  Zusammenfaßt,  ist  das  noch  nicht  vollständig  erzielte  Resultat  der 

sehen    Sprache. 

Einheitsbestrebungen,  die  sich  zu  verschiedenen  Zeiten  mit  ungleicher 
Kraft  äußerten,  namentlich  im  vorigen  Jahrhundert  bewußt  zum  Durch- 
bruch kamen,  als  der  Vuksche  Panserbismus  und  der  Gajsche  Illyrismus 
unter  verschiedenen  Fahnen  auf  dasselbe  Ziel  lossteuerten.  Vollständige 
Einheit  der  Literatursprache  zwischen  den  Serben  und  Kroaten  ist  zwar 
jetzt  in  der  Theorie  erreicht,  doch  nicht  in  der  Rückwirkung  auf  das  Volk. 
Die  Serben  bedienen  sich  bei  gleicher  Sprache  einer  durch  Vuk  reformierten 
cyrillischen,  die  Kroaten  der  im  Geiste  der  böhmischen  Orthographie  orga- 
nisierten lateinischen  Schrift,  und  da  hinter  diesem  Unterschied  der  Schrift 
der  religiöse  Dualismus  (Orthodoxie,  Katholizismus)  und  der  Dualismus 
des  Namens  (Serben,  Kroaten)  mit  divergierenden  Zukunftsidealen  steckt, 
so  sind  die  äußeren  Kennzeichen  nicht  so  indifferent  hier  wie  etwa  der 
doppelte  Schriftgebrauch  in  der  deutschen  Sprache.  Die  weitesten  Kreise 
des  Volkes  betrachten  vielmehr  noch  immer  nur  die  literarischen  Erzeug- 
nisse einer  Schrift  als  ihr  geistiges  Eigentum,  wodurch  sie  selbst  den  Ab- 
satz und  damit  zugleich  die  Produktionsfähigkeit  auf  die  Hälfte  reduzieren. 
Statt  einer  Literatur  bei  einem  sieben  bis  acht  Millionen  zählenden  Volk, 
die  unter  günstigen  Umständen  Beträchtliches  leisten  könnte,  bestehen  in 
der  Wirklichkeit  zwei  kleinere  Literaturen,  mit  je  drei  bis  vier  Millionen 
Die  voUe  Eini-  Anhängern  eine  jede  derselben.  In  früheren  Jahrhunderten,  da  der  Religions- 
Faktoren:      unterschied  noch   viel  tiefer    in    das  Leben   des  Volkes  eingriif,   nahm   die 

Religion,  Name, 

Schrift.  Absonderung  der  orthodoxen  Serben  von  den  katholischen  Kroaten  noch 
viel  schärfere  Formen  an.  Die  Anhänger  der  orientalischen  Orthodoxie 
anerkannten  während  ihrer  einstigen  staatlichen  Selbständigkeit  und  auch 
nachher,  unter  dem  türkischen  Joch,  die  ausschließliche  Geltung  der 
kirchenslawischen  Sprache,  die  ihre  Kirchen-,  Staats-  und  Literatursprache 
zugleich  war.  Ganz  anders  gestaltete  sich  das  Leben  bei  den  Katholiken, 
die  im  kirchlichen  und  staatlichen  Leben  unter  der  Herrschaft  der  latei- 
nischen Sprache  standen,  dafür  aber  zu  Ende  des  15.  Jahrhunderts,  die 
westeuropäischen,  zumal  italienischen  Einflüsse  auf  sich  einwirken  lassend, 
in  nationaler  Sprache  eine  Literatur  zustande  brachten,   die  zum  Teil  aus 


B.  Die  slamschcn  Einzelsprachen.     IV.  Serbokroatische  Sprache.  23 

allerlei  Erbauungsbüchem  in  Prosa,  vorwiegend  jedoch  aus  Dichtungen 
weltlichen  und  geistlichen  Inhalts  bestand,  in  denen  lateinische  und  italieni- 
sche Muster  nachgeahmt  wurden.  Diese  in  den  dalmatinischen  Küsten- 
städten und  einigen  Inseln  des  Adriatischen  Meeres  (vor  allem  Lesina), 
hauptsächlich  jedoch  in  Ragusa  aufgekommene  Literatur,  brachte  es  im  16. 
und  noch  mehr  im  17.  Jahrhundert  zu  einer  solchen  Blüte,  daß  einige  von 
ihren  poetischen  Produkten  zu  den  hervorragendsten  Leistungen  aller  sla- 
wischen Literaturen  jener  Zeit  gerechnet  werden  dürfen.  Sie  zeichnen 
sich  durch  wohlklingende,  mit  der  Weichheit  des  Italienischen  wetteifernde 
Sprache  aus,  die  den  ragusanischen  Lokaldialekt  durch  die  Rücksicht- 
nahme auf  die  schöne  Volkssprache  Bosniens  und  Herzegowinas  veredelte. 
Man  nannte  diese  Literatursprache  der  Ragusaner  slowinisch  {slovinski). 
Der  größere  Teil  dieser  literarischen  Produktion  blieb  allerdings  hand- 
schriftlich beschränkt  auf  den  engen  Leserkreis  derselben  Stadt  und  per- 
sönlicher Freunde;  selbst  das  große  Epos  „Osman"  erschien  erst  im 
IQ.  Jahrhundert  im  Druck.  Nur  Stoffe  geistlichen  Inhalts  fanden  Verbrei- 
tung durch  den  Druck,  der  in  Venedig,  Rom,  Ancona  usw.  besorgt  wurde, 
mit  lateinischen  Buchstaben  in  ungeregelter  Orthographie.  Nur  ein  ge- 
ringer Bruchteil  wurde  in  cyrillischer  Schrift  für  die  katholischen  Hinter- 
länder Dalmatiens  (Bosnien  und  Herzegowina)  zurechtgelegt,  bis  später  die 
Franziskaner,  als  die  einzigen  Träger  der  katholischen  Kultur  in  diesen 
Ländern,  auch  hier  der  lateinischen  Schrift  unter  den  Katholiken  des 
Landes  Verbreitung  verschafften. 

Wenn   auch    diese    literarische   Produktion,   soweit   sie  Norddalmatien    Die  Haupt- 
und  die  Inseln  umfaßte,    in   dem   sogenannten   ca  -  Dialekte   (die  Wörtchen      Sieg  des 

.  ,        ,       .  ■         T  11       1    .■  -n  -s/ti-Dialektes. 

ca  =  quid,  sfo  =  quid-,  kaj  =  quid  dienen  zur  allerkürzesten  Benennung 
der  dialektischen  Unterschiede  innerhalb  der  serbokroatischen  Sprache) 
geführt  wurde,  zogen  doch  manche  Schriftsteller  den  wohlklingenden  und 
mehr  verbreiteten  i/ö-Dialekt  vor,  selbst  wenn  sie  von  Haus  aus  den  rauheren 
t:>-Dialekt  sprachen.  Man  pflegte  sich  immer  wieder  auf  Bosnien  und 
Herzegowina  als  das  Land  mit  der  schönsten  Volkssprache  zu  berufen. 
So  gab  sich  schon  im  17.  Jahrhundert  die  Tendenz  kund,  eine  einheitliche 
Literatursprache  auf  Grund  des  i/ö-Dialektes  zu  schaffen,  mag  man  sie 
slowinisch  oder  illyrisch  oder  kroatisch  genannt  haben.  Ja  selbst  in  die 
orthodox-serbischen  Länder  wurde  von  Ragusa  aus  der  schriftliche  Ge- 
brauch der  reinen  Volkssprache  hineing-etragen.  Der  kleine  Freistaat 
unterhielt  nämlich  mit  den  serbischen  und  bosnischen  Hinterländern  sehr 
regen  Handelsverkehr,  der  häufig  genug  zu  schriftlichen  Abmachungen, 
in  der  Form  von  Urkunden  und  Verträgen,  führte.  Zu  diesem  Zwecke 
hatten  die  klugen,  weitblickenden  Ragusaner  eine  eigene  serbische  Kanzlei 
in  ihrer  Stadt  errichtet,  die  mit  den  Vertretern  der  besagten  Länder  und 
auch  einzelnen  vornehmen  Persönlichkeiten  den  schriftlichen  Verkehr  be- 
sorgte, alle  Vereinbarungen  der  betreffenden  Parteien  mit  cyrillischer  Schrift 
in   ihrem   Dialekte,    sozusagen    nach    ihrem  Diktat    niederschrieb    und    ein 


24 


Vatroslav  von  Jagic:    Die  slawischen  Sprachen. 


)er   kroatischt 
früher    slowe- 
nische 
/^-^y-Dialekt. 


Die  Aufgabt 
des  lllyrisniu 


Exemplar  davon  in  dem  Archive  von  Ragusa  aufbewahrte.  Dieser  hoch 
entwickelten  Sorgfalt  der  Republik  für  das  Archivwesen  verdankt  die 
Geschichte  der  serbischen  Sprache  ihre  ältesten,  edelsten  Perlen.  Durch 
Ragusas  Vermittlung  besitzen  wir  Dokumente  der  Sprache  in  ihrer  reinen 
Gestalt  aus  einer  Zeit,  da  sonst  weder  im  Osten  noch  im  Westen  des 
serbokroatischen  Sprachgebietes  die  echte  Volksprache  zur  Anwendung 
gekommen  war. 

In  Nordkroatien,  nördlich  von  dem  Fluß  Kulpa  und  Korana  bis  zur 
Mur,  und  östlich  über  Sissek  hinaus  bis  Virovitiz  herrscht  seit  jeher  der 
sogenannte  /C-rty'- Dialekt,  mit  dem  der  westlichen  Nachbarn  in  Steiermark 
nahe  verwandt,  doch  nicht  identisch.  Jetzt  heißt  er  im  Munde  des  Volkes 
„chorvaiisck^^  {horvaiski),  vor  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  führte  das 
ganze  Land  zwischen  Save  und  Drave  den  Namen  Slawonien;  dieser  latei- 
nisch-magj'arischen  Form  des  Namens  entsprach  im  Munde  des  Volkes 
augenscheinlich  die  Benennung  „Äö^^^wj/'ö  kraljcsfvo"  oder  „Slovciiski  orsag", 
daher  auch  der  Name  des  Dialektes  „slovenski  j'czit^,  wie  er  in  den 
ältesten,  aus  dem  16.  und  17.  Jahrhundert  stammenden  Druckwerken  aus- 
drücklich genannt  wird.  Einst  mag  dieser  Dialekt  unter  dem  letzt- 
genannten Namen  weiter  gegen  Osten,  über  Virovitiz  hinaus,  sich  erstreckt 
haben.  Allein  während  der  Türkenherrschaft  bekam  das  heutige  Slawonien 
eine  neue  von  jenseits  der  Save  eingerückte  Bevölkerung,  die  den  sfo- 
Dialekt  spricht.  Daher  bleibt  jetzt  der  /'^/-Dialekt  auf  den  nordwestlichen 
Teil  des  einstigen  Regnum  Sclavoniae,  der  seit  dem  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts den  Namen  Kroatien  führt,  beschränkt.  In  diesem  Dialekt  hat 
sich  seit  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  eine  kleine,  nicht  un- 
interessante Literatur  entwickelt,  die  mit  dem  Siege  des  lUyrismus  und 
mit  ihm  des  i/ö-Dialektes,  ihren  Abschluß  fand.  Dieser  Wechsel  in  der 
Benennung  einzelner  Provinzen,  der  auch  auf  den  Namen  der  Sprache 
reagierte,  erzeugte  in  der  sprachwissenschaftlichen  Literatur  nicht  geringe 
Verwirrung,  in  der  sich  selbst  hervorragende  Kenner,  wie  Safafik  oder 
Kopitar,  nicht  ganz  zurechtzufinden  vermochten.  Von  nun  an  führten  alle 
drei  Dialekte  des  westlichen,  sogenannten  kroatischen  Sprachgebietes  den- 
selben Namen.  Der  t^?-Dialekt  Norddalmatiens,  Istriens  und  der  Inseln 
hieß  seit  jeher  kroatisch  (Itrvatski,  harvatski).  Der  i/ö-Dialekt  der  Katho- 
liken Dalmatiens  und  Bosniens  (mit  Ausschluß  jener  von  Ragusa  und 
Bocche  di  Cattaro)  nahm  aus  Gründen  der  religiösen  Zusammeng-ehörigkeit 
denselben  Namen  an,  um  sich  von  den  Anhängern  der  orientalischen  Ortho- 
doxie, die  sich  Serben  nannten,  abzusondern.  Endlich  der  /v?y-Dialekt 
Nordkroatiens  erhielt  denselben  Namen  {/lorvnfski)  seit  der  politischen  Um- 
benennung  seines  Sprachgebietes  als  Kroatien  statt  Slawonien.  An  die 
Stelle  dieser  drei  Dialekte  eine  einheitliche  Literatursprache  zu  schaffen, 
'  xrnd  zwar  auf  Grundlage  des  durch  die  literarische  Pflege  am  weitesten 
gediehenen  und  geschichtlich  im  gTÖßten  Ansehen  stehenden  ragusanischen 
iVf-Dialektes,  der  zugleich  die  Brücke  bildete  zur  Einigung  in  der  Sprache 


B.  Die  slawischen  Einzelsprachen.     IV.  Serbokroatische  Sprache.  25 

mit  den  Serben  —  das  war  das  nächste  angestrebte  Ziel  des  Gajschen 
Illyrismus  in  den  dreißiger  und  vierziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts. 
Um  keiner  Provinz  mit  ihrem  Sondernamen  den  Vorzug  zu  geben  und 
den  Neid  der  übrigen  zu  erwecken,  einigte  man  sich  auf  den  nicht  ganz 
fremden  Namen  „illyrisch",  einmal  darum,  weil  diese  Benennung  seit  Jahr- 
hunderten in  den  wissenschaftlichen  Werken,  zumal  wenn  sie  lateinisch 
oder  italienisch  geschrieben  wurden,  sich  eingebürgert  hatte  (selbst  ein- 
heimische Schriftsteller  nannten  dann  und  wann  ihre  Sprache  so),  dann 
aber  auch  wegen  der  damals  noch  vielfach  geglaubten  Ansicht,  daß  die 
alten  Illyrier  Slawen  waren.  Der  Illyrismus  erreichte  in  der  Tat  sein 
nächstes  Ziel:  das  literarische  Leben  der  Katholiken  Kroatiens,  Slawoniens, 
Dalmatiens  und  Bosniens  nahm  eine  einheitliche  sprachliche  Form  an.  Nun 
konnte  auch  der  tote  illyrische  Namen  in  den  Hintergrund  treten  und  dem, 
genetischen,  im  Volke  lebenden  (wenn  auch  nicht  überall)  kroatischen 
Platz  machen.     Da  aber  die  Wirksamkeit  Vuks  und  seiner  Anhänger   im  Der  Vuksche 

Panserbismus. 

Wesen  für  dieselbe  Sache,  nur  in  anderer  Form  und  unter  dem  anderen 
Namen,  Propaganda  machte,  war  auf  die  Dauer  der  Konflikt  zwischen 
den  beiden  Einheitsbestrebungen,  der  großserbischen  und  gToßkroatischen, 
unausweichlich.  Er  spitzte  sich  zum  nationalpolitischen  Antagonismus 
zwischen  den  Serben  und  Kroaten  zu,  wobei  den  führenden  Geistern  mehr 
die  Vergangenheit  als  die  Zukunft  vor  Augen  schwebte.  Glücklicherweise 
blieb  bei  allen  widerwärtigen  Zänkereien  die  errungene  Einheit  in  der 
Literatursprache  als  etwas  Selbstverständliches  unangetastet,  ja  sie  macht 
schöne  Fortschritte,  nachdem  alle  Teile  des  ganzen,  politisch  elend  zer- 
rissenen Sprachgebietes  an  der  gemeinsamen  Kulturarbeit  sich  lebhaft  be- 
teiligen. 

Wie  schon  gesagt,  die  serbo-kroatische  Sprache  zerfällt  in  drei  Haupt-  J^'"^^^^' 
dialekte:  den  s/o-,  ca-  und  /{'öy-Dialekt.  Der  erste,  der  wohlklingendste 
vokalreichste,  ist  auch  zugleich  der  verbreitetste :  er  umfaßt  Serbien  bis 
nach  Altserbien  hinein,  Bosnien,  Herzegowina,  Dalmatien  und  Monte- 
negro, die  südöstlichen  Teile  Kroatiens,  ganz  Slawonien  und  Teile  von 
Südung-am.  Der  zweite,  hinter  dem  ersten  zurückweichend,  lebt  jetzt  noch 
in  Norddalmatien  (bis  hinter  Spalato)  und  auf  den  gegenüberliegenden 
Inseln,  im  küstenländischen  Kroatien  (bis  gegen  Karlstadt  nach  Norden) 
und  in  Istrien.  Diesen  Dialekt  sprechen  auch  die  Kroaten  Ungarns  um 
Odenburg  herum  und  an  der  Leitha.  Der  dritte  umfaßt,  wie  schon  erwähnt, 
das  nordwestliche  Kroatien,  etwa  von  Karlstadt  bis  an  die  Mur  (die  Komi- 
tate  Agram,  Kreuz,  jetzt  Belovar,  Warasdin  und  die  ganze  Murinsel).  Der 
j/c-Dialekt,  für  den  sich  Vuk  und  Gaj  eingesetzt  hatten,  beherrscht  gegen- 
wärtig die  ganze  serbokroatische  Literatur.  Doch  gibt  es  auch  in  diesem 
Dialekt  kleine  Verschiedenheiten  in  der  Aussprache;  eine  derselben  bildet 
noch  jetzt  den  toten  Punkt,  über  den  die  Literatursprache  nicht  zur  Ein- 
heit gelangen  konnte.  Das  ursprachlich  lange  c  wird  bald  als  /,  bald  als  c 
(beide  kvirz  oder  lang),  jbald   als  ije-je   (das   erste  lang,    das   zweite  kurz) 


26  Vatroslav  von  JagiÖ:    Die  slawischen  Sprachen. 

ausgesprochen.  Darnach  unterscheidet  man  drei  Unterdialekte,  einen  /-, 
einen  r-  und  einen  ;k'-Dialekt.  Der  erste  lebt  im  Westen  (z.  B.  in  Sla- 
wonien, Bosnien,  in  Südungarn  —  fast  ausschließlich  bei  den  Katholiken) 
und  wird  in  der  Literatur  nicht  mehr  angewendet.  Der  zweite  beherrscht 
den  Osten  (Syrmien  und  Teile  Südungarns,  Serbien  nebst  Altserbien)  und 
gilt  jetzt  als  der  literarische  Dialekt  der  Serben,  soweit  sie  Belgrad  als 
ihr  Zentrum  ansehen.  Der  dritte  (genannt  der  südliche)  lebt  in  Monte- 
negro und  Herzegowina,  im  Ragusagebiet  und  Bocche  di  Cattaro,  bei  den 
Orthodoxen  Kroatiens,  Bosniens  und  Slawoniens.  In  diesem  Dialekt 
werden  alle  Bücher,  die  in  lateinischer  Schrift  erscheinen,  gedruckt,  aber 
auch  die  mit  cyrillischer  Schrift  gedruckten,  wenn  sie  in  Kroatien,  Bos- 
nien und  Montenegro  erscheinen,  wenden  diesen  Dialekt  an.  Die  Begründer 
der  modernen  serbischen  Literatursprache,  Vuk  Stefanovic  Karadzic  und 
Grjuro  Daniele ,  hatten  zwar  auch  den  Serben  des  Königreichs  den  süd- 
lichen Dialekt  anempfohlen,  doch  konnten  sie  damit  nicht  auf  die  Dauer 
durchdringen. 
Fein  entfaltete  Die  scrbokroatischc  Sprache  ist  reich  an  feinen  Betonungsunterschieden, 

Betonung.  .  .  .        ^  .  *  ' 

wie  keine  andere  slawische.  Sie  besitzt  betonte  und  unbetonte  Längen, 
und  auf  jeder  Quantität  kann  die  Betonung  steigend  oder  fallend  sein. 
Für  alle  diese  Unterschiede  besteht  seit  der  zweiten  Auflage  des  Vuk- 
schen  Wörterbuches  genaue  graphische  Bezeichnung,  deren  Durchführung 
nebst  Vuk  namentlich  Daniele  zu  verdanken  ist.  Im  gewöhnlichen  Ge- 
brauch wendet  man  allerdings  die  Bezeichnung  nicht  an.  Die  dialektische 
Erforschung  der  Sprache  macht  Fortschritte,  der  lexikalische  Reichtum 
wird  fleißig  gesammelt  (in  Belgrad),  das  große  historische  Wörterbuch  der 
Agramer  Akademie  schreitet  langsam  vorwärts  (jetzt  in  L). 

Der   Protestan-  V.    Slowcnlsche   Sprachc.     Die  in   Steiermark   (südlich   der  Drau), 

tismus   der    Er-  ^  ^  '' 

Wecker  der    Kämten  (nur  noch  in  einigen  Tälern),  Krain,  Nordistrien  und  im  Küsten- 

slowenischen  ^  6  />  ) 

Sprache.  land  von  Triest  bis  Görz  (teilweise  auch  in  Norditalien)  wohnenden  Slawen 
bilden  jetzt  den  Volksstamm  der  Slowenen,  von  den  Deutschen  „Winden" 
oder  die  „Windischen"  genannt,  die  sich  literarisch  um  Laibach  als  ihr 
geistiges  Zentrum  gruppieren.  Sie  sind  sehr  rührig  in  der  Pflege  ihrer 
Sprache,  deren  erste  Anfänge  in  die  Zeit  der  protestantischen  Bewegung 
fallen.  Die  neue  Lehre  hatte  in  Krain  starken  Anklang  gefunden  und 
zur  Übersetzung  der  Bibel  und  einiger  anderer  Werke  (Postillen,  Gesang- 
buch) geführt.  Große  Schwierigkeiten  waren  dabei  zu  überwinden,  ohne 
grobe  Germanismen  kam  das  Werk  nicht  zustande  (es  wimmelte  nicht 
nur  von  deutschen  Fremdwörtern,  sondern  selbst  der  deutsche  Artikel 
wurde  durch  ein  demonstratives  Pronomen  mitübersetzt!).  Die  im  17.  Jahr- 
hundert nachgefolgte  katholische  Reaktion  trug  sehr  wenig  zur  sprach- 
lichen Berichtigung  der  ersten  literarischen  Versuche  des  Protestantismus 
bei.  Auch  das  18.  Jahrhundert  blieb  unproduktiv.  Erst  zu  Ende  des- 
selben zeigten  sich  die  ersten  Anzeichen  einer  neuen  geistigen  Bewegung, 


B.  Die  slawischen  Einzelsprachen.     V.  Slowenische  Sprache.     VI.  Böhmische  Sprache.       2  7 

die  vor  allem  die  Pflege  der  arg  vernachlässigten  Sprache  bezweckte. 
Vodnik  und  seine  Zeitgenossen,  unterstützt  von  dem  edel  gesinnten  Baron 
Zois,  warfen  sich  auf  das  Studium  der  Volkssprache,  um  zunächst  für  ihre 
eigene  ganz  deutsche  Denk-  und  Ausdrucksweise  erträgliche  slowenische 
Sprachformen  und  Wendungen  ausfindig  zu  machen.  Neben  Vodnik  sind 
namentlich  Suppan  und  Ravnikar  zu  nennen.  Doch  übertraf  sie  alle  an  Neuer  Auf- 
ausgezeichneter Kenntnis  seines  krainischen  Dialektes  der  begabte  lyrische  <ion  dreißiger 
Dichter  Presem.  Die  zu  seiner  Zeit  aufgekommene  illyrische  Bewegung  19.  jahrhun- 
in  Agram,  die  auch  die  Slowenen  in  den  Kreis  der  sprachlich-literarischen 
Einheitsbestrebungen  hineinziehen  wollte,  stieß  bei  Presem  auf  entschiedene 
Gegnerschaft,  die  ihr  hier  den  Todesstoß  gab.  Doch  in  einer  anderen 
Form  ging  der  Illyrismus  auch  für  die  Slowenen  nicht  ganz  verloren.  In 
gemäßigter  Weise  befürwortete  Bleiweis  den  Anschluß  an  das  Illyrische 
(Kroatische),  so  vor  allem  in  der  Orthographie,  dann  aber  auch  in  vielen 
Punkten  der  grammatischen  Formen,  der  Syntax  und  des  Wortschatzes. 
Es  war  ein  Grundsatz  der  Bleiweisschen  Richtung,  bei  jeder  unerläßlichen 
Neuerung  der  slowenischen  Schriftsprache  vor  allem  das  benachbarte 
Illyrische  sich  gegenwärtig  zu  halten.  Nachher  trat  dagegen  eine  Reaktion 
auf,  deren  Postulat  in  der  größeren  Selbständigkeit  der  slowenischen 
Sprache  und  dem  fleißigen  Studium  der  Sprache  des  Volkes  nach  ein- 
zelnen Gegenden  gipfelte.  In  neuerer  Zeit  gibt  es  auch  Anhänger  einer 
stärkeren  Rücksichtnahme  auf  das  Böhmische  oder  Russische,  doch  sind 
die  Erfolge  der  letzteren  Richtungen  nur  gering. 

Das  Slowenische  ist  reich  an  dialektischer  Mannigfaltigkeit.  Man  Dialektische 
unterscheidet  vor  allem  das  Ober-  und  das  Unterkrainische,  femer  das 
Görzische  und  das  Resjanische  (in  Norditalien).  In  Kärnten  die  Gailtaler 
und  Jauntaler  Mundart.  In  Steiermark  hat  der  östliche  Dialekt  gegenüber 
dem  südwestlichen  seine  Eigentümlichkeiten,  an  ihn  schließt  sich  am 
nächsten  das  Slowenische  der  Bewohner  Ungarns  jenseits  der  Mur.  Eine 
Reihe  guter  kleiner  Monographien  über  diese  Dialekte  ist  bereits  ge- 
schrieben worden.  Die  Schriftsprache  basiert  hauptsächlich  auf  der  imter- 
krainischen  Mundart.  Praktische  Grammatiken  sind  in  genügender  Zahl 
vorhanden,  auch  ein  gutes  Wörterbuch  (von  Pletersnik). 

VI.  Böhmische  Sprache.  Geringe  Spuren  des  einstigen  Lebens  uje  böhmische 
der  kirchenslawischen  Sprache  auch  in  Böhmen  können  zwar  nachgewiesen  sehr  fruh  lite- 
werden,  doch  begann  hier  die  literarische  Anwendung  der  echten  Volks- 
sprache, ganz  unabhängig  von  der  kirchenslawischen  Beeinflussung,  schon 
sehr  früh,  spätestens  im  12.  Jahrhundert.  Den  ersten  Anstoß  gaben  aller- 
lei lateinische  Texte,  die  zunächst  mit  böhmischen  oder  böhmisch-slawischen 
interlinealen  Glossen  versehen  wurden.  Als  nächstes  Bedürfnis  stellte  sich 
die  Übersetzung  des  Psalters  und  anderer  Teile  der  Bibel  ein.  Schon  im 
1 3.  Jahrhundert  tauchten  versifizierte  Legenden  in  reicher  Anzahl  auf.  Aber 
auch  weltliche  Stoffe,  z.  B.  der  Roman  von  Alexander  dem  Großen,  blieben 


2  8  Vatroslav  von  Jagic:    Die  slawischen  Sprachen. 

dem  Interesse  der  böhmischen  Schriftsteller  jener  Zeiten  nicht  fern.  Im 
13.  und  14.  Jahrhundert  erreichte  die  böhmische  Literatur  eine  so  reiche 
Entwicklung  in  dieser  Richtung,  daß  für  diese  Zeit  keine  andere  slawische 
Literatur  ihr  zur  Seite  gestellt  werden  kann.  Die  damalige  altböhmische 
Sprache  war  noch  reich  an  Sprachformen,  die  nachher  gänzlich  außer 
Gebrauch  kamen  und  verloren  gingen  (z.  B.  Aorist  und  Imperfekt).  Die 
verschiedenen  Umlautsprozesse,-  die  zum  Teil  erst  damals  ins  Leben  traten, 
wie  der  Übergang  von  ja  in  //,  behandelte  die  Sprache  mit  großer  Fein- 
fühligkeit ohne  störendes  Eingreifen  der  Analogie.  Häufiger  Gebrauch 
der  lateinischen  Graphik  für  böhmische  Laute  erzielte  auch  gewisse  Unter- 
scheidungen, denen  erst  das  vertiefte  Studium  der  Originaltexte  in  neuerer 
Zeit  auf  die  Spur  kam.  Allerdings  waren  derartige  Versuche  zunächst 
Hus'  orthogra-  individuell,  ohne  Schule  zu  bilden.  Erst  Jan  Hus  führte  das  Prinzip  der 
p  isc  e  e  orm.  ■(jjj^gj.g(,j^gj(j^j,g  slawischer  Zischlaute  durch  diakritische  Zeichen  mit  ziem- 
licher Konsequenz  durch  (er  bediente  sich  der  Punkte)  und  gilt  darum  als 
der  Vater  der  heutigen  böhmischen  Orthographie.  Die  zentrale  Lage 
Prags,  das  sehr  früh  über  ganz  Böhmen  dominierte,  war  der  Entfaltung 
großer  Dialektunterschiede  in  Böhmen  nicht  günstig.  In  den  altböhmischen 
Texten  haben  dialektische  Verschiedenheiten  nur  schwache  Spuren  hinter- 
lassen. Auf  mährischen  Ursprung  glaubt  man  allerdings  bei  manchen 
Denkmälern  aus  gewissen  Lauteigentümlichkeiten  schließen  zu  dürfen. 
Sicher  ist,  daß  schon  damals  sowohl  in  Böhmen  wie  in  Mähren  Dialekte 
vorhanden  waren,  die  im  Laufe  von  Jahrhunderten  wenigstens  in  Böhmen 
eher  ab-  als  zunahmen.  In  Mähren  können  spätere  Verschiebungen  der 
Bevölkerung  stattgefunden  haben.  Noch  jetzt  gilt  Mähren  als  das  Land 
von  reich  entfalteten  Dialektunterschieden,  worüber  wir  vortrefflich  unter- 
Reiche  diaiek-  richtet  sind.  Die  Forschimgen  Bartos'  u.  a.  veranschaulichen  uns  das  ganze 
in  Mähren.  Bild  mundartlicher  Differenzen  sozusagen  von  Dorf  zu  Dorf.  Man  weiß 
daraus,  daß  einige  Hauptmerkmale  des  Slowakischen  schon  durch  Ost- 
mähren stark  verbreitet  sind,  so  daß  man  in  dialektischer  Beziehung  das 
ganze  Land  in  eine  böhmische  und  eine  slowakische  Hälfte  einteilen 
könnte.  War  es  auch  in  alter  Zeit  so  oder  sah  einst  Altmähren  in  seinem 
ganzen  Umfange  dem  heutigen  östlichen  Teil  gleich?  Das  letztere  anzu- 
nehmen liegt  um  so  näher,  da  ja  die  meisten  dieser  Züg-e,  wodurch  sich 
das  Ostmährische  vom  Böhmischen  unterscheidet,  einen  älteren  Sprach- 
zustand vorstellen.  Dann  würde  für  das  altmährische  Reich  des  9.  Jahr- 
hunderts eine  größere  sprachliche  Einheitlichkeit  in  seinem  ganzen  Um- 
fang, mit  Einschluß  des  heutigen  sogenannten  slowakischen  Sprachgebietes, 
anzunehmen  sein,  und  die  Sprache  Altmährens  würde  sich  nicht  ganz  un- 
beträchtlich jenem  kirchenslawischen  Dialekt  nähern,  den  die  salonikischen 
Brüder  seinerzeit  hierher  brachten.  Doch  ist  damit  nicht  gesagt,  daß  die 
Sprache  Altmährens,  selbst  wenn  man  die  heutigen  slowakischen"  Dialekte 
als  ihre  wahren  Deszendenten  bezeichnet,  aus  der  böhmischen  Sprach- 
gruppe   ausgeschieden   und    in    ein   näheres  Verwandtschaftsverhältnis   zu 


B.    Die  slawischen  Einzelsprachen.     VI.  Böhmische  Sprache.  2  g 

der  südslawischen  Sprache  gebracht  werden  dürfte.  Wenn  in  neuester 
Zeit  bezüglich  des  Slowakischen  diese  Theorie  aufgestellt  wird,  so  kann 
man  sie  auf  sich  beruhen  lassen,  solange  keine  Beweise  dafür  erbracht 
werden  können.  Einzelne  mit  den  südslawischen  (slowenischen,  kroatischen) 
Dialekten  übereinstimmende  Erscheinungen,  die  ganz  der  Stellung  des 
Slowakischen  auf  dem  Grenzgebiet  und  Übergang  zum  Südslawischen  ent- 
sprechen, können  das  Schwergewicht  der  Gesamtheit  nicht  aufheben,  die 
dem  Slowakischen  innerhalb  der  böhmischen  Sprachgruppe  den  Platz 
anweist. 

Während  das  Altböhmische  bis  zu  Ende   des   14.  Jahrhunderts  haupt-    Das  goldene 

rr  -TT  1  •  T         T  T  Zeitalter  der 

sächlich  Legendenstorfe,  meistens  in  Versen  behandelte,  erweiterte  Jan  Hus    böhmischen 

,  .  Sprache  und  ihr 

die  Aufgaben  der  böhmischen  Sprache  für  die  Behandlung  theologisch-  Niedergang, 
dogmatischer  und  philosophischer  Fragen  in  Prosa;  dazu  kam  auch  die 
juridische  Prosa.  In  der  Dichtung  trat  man  bei  der  Wahl  weltlicher, 
mittelalterlich-ritterlicher  .Stoffe  in  die  Fußstapfen  der  deutschen  Literatur; 
originell  wurde  dagegen  das  Kirchenlied  gepflegt,  das  unter  den  Böhmischen 
Brüdern  gToßen  Aufschwung  nahm.  Das  war  auch  das  goldene  Zeitalter 
der  böhmischen  Sprache,  in  welchem  auch  schon  die  ersten  Betrachtungen 
über  den  grammatischen  Charakter  derselben  angestellt  wurden.  Werke, 
wie  Jan  Blahoslavs  grammatische,  stilistische  und  selbst  dialektologische 
Beobachtungen  über  die  böhmische  Sprache  würde  man  vergebens  in  den 
übrigen  slawischen  Literaturen  jener  Zeit  suchen.  So  fein  war  damals 
der  Sinn  für  die  richtige  Anwendung  der  Sprache  entwickelt.  Der  bald 
darauf  folgende  Humanismus  hat  für  die  böhmische  Sprache  keine  große 
Bedeutung,  wenn  auch  durch  gelehrte  lexikalische  Vergleichungen  jetzt 
die  ersten  Bausteine  für  ein  etymologisches  Wörterbuch  gegeben  wurden. 
Dann  kam  aber  (nach  162 1)  eine  traurige  Zeit  der  Bedrückung  und  Ver- 
folgung der  böhmischen  Sprache.  Alles  böhmisch  Geschriebene  oder 
Gedruckte  wurde  unter  dem  Vorwand,  daß  dahinter  etwas  Antikatholisches 
stecken  könnte,  mit  Bann  belegt,  zahllose  Sprach-  und  Literaturdenkmäler 
fielen  der  Verfolgungswut  zum  Opfer.  Die  freie  Entwicklung  der  böh- 
mischen Sprache  -wrirde  gehemmt,  in  den  wenigen  Leistungen  dieser 
traurigen  Epoche  zeigte  sich  Gedankenarmut  und  Geschmacksverirrung. 
Wo  der  freie  Gedanke  fehlte,  stellte  sich  Wortklauberei  ein.  Diese 
Periode  der  Erniedrigung  der  böhmischen  Sprache  hielt  an  bis  zu  den 
Zeiten  Kaiser  Josephs  IL  Da  begann  infolge  der  auf  die  Volksbildung 
verwendeten  Sorgfalt,  mag  auch  diese  zunächst  die  Form  des  germani- 
sierenden Zentralismus  angenommen  haben,  ein  neues  Leben  auch  in 
Böhmen  sich  zu  regen.  Die  Befreiung  vom  kirchlichen  Druck  kam  auch 
der  böhmischen  Sprache  zugute.  Aufgeklärte  Männer,  darunter  der  geniale  Die  wieder- 
Dobrovsky,  erhoben  ihre  Stimme  zugunsten  der  Pflege  der  böhmischen  geleitet  durch 
Sprache,  wobei  zugleich  der  Wunsch  laut  zum  Ausdruck  kam,  daß  man  schenReformea. 
nicht  an  die  unmittelbar  vorausgehende  Periode  traurigen  Andenkens  an- 
knüpfen, sondern  in  die  Fußstapfen  der  böhmischen  Brüder  treten  und  die 


^O  Vatroslav  von  JagiC:    Die  slawischen  Sprachen. 

Sprache  der  Kralicer  Bibel  sich  zum  Muster  nehmen  solle.  Dieser  Rat 
wurde  auch  befolgt  und  trug  reichliche  Früchte.  Die  grammatische  Ana- 
lyse der  böhmischen  Sprache  bekam  durch  das  große  kritische  Talent 
Dobrovskys  neue  Gestalt,  die  Grundsätze  der  böhmischen  Versifikation 
wurden  auf  neue  Basis  gestellt.  Die  .Sprache  zog  in  die  Schulen  von  der 
untersten  bis  zur  Universität  als  Lehrgegenstand  ein,  Gesellschaften  zur 
Pflege  derselben  bildeten  sich,  die  romantische  Liebe  für  das  Volkstüm- 
liche überschritt  selbst  die  Grenzen  des  Erlaubten  und  führte  zu  den  be- 
kannten Fälschungen.  Besser  wurde  der  Sprache  durch  reichliche  Über- 
setzungen aus  modernen  Literaturen  (deutsch,  französisch,  englisch)  gedient, 
sie  bereicherte  sich  an  Wort-  und  Phrasenschatz.  Die  schöpferische  Kraft 
origineller  Talente  blieb  hinter  der  Menge  der  Produktion  allerdings  stark 
zurück.  Die  Sprache  gewann  dadurch  allmählich  einen  hohen  Grad  der 
Ausdrucksfähigkeit  für  alle  Bedürfnisse  des  modernen  Kulturlebens,  doch 
die  Originalität  des  Stiles  nahm  nicht  in  gleichem  Grade  zu.  Die  moderne 
böhmische  Sprache  ist  sehr  reich,  aber  etwas  farblos  geworden.  Sie  kann 
sich  in  der  Urwüchsigkeit  der  Ausdrucksweise  weder  mit  der  russischen 
oder  polnischen  noch  mit  der  serbischen  messen. 
Grammatisch-  Das    mit   Vorliebe    gepflegte    ethnographische    Studium    neuerer    Zeit 

Behandlung,  kommt  natürlich  auch  der  Sprache  zugute,  die  Dialekte  werden  erforscht, 
das  folkloristische  Material  fleißig  gesammelt,  wodurch  auch  dem  lexi- 
kalischen Vorrat  neue  Schätze  zufließen.  Die  Anzahl  der  den  praktischen 
Zwecken  dienenden  Lehrbücher  ist  sehr  groß,  die  wissenschaftliche  Er- 
forschung der  Sprache  ruhte  zuletzt  fast  ganz  auf  den  Schultern  eines 
Mannes  (f  Gebauer),  dem  die  slawische  Sprachforschung  eine  historische 
Grammatik  und  ein  historisches  Wörterbuch  der  böhmischen  Sprache  ver- 
dankt (beides  noch  unvollendet).  Die  lexikalische  Aufnahme  des  gegen- 
wärtigen Sprachschatzes  steht  noch  nicht  auf  der  Höhe,  um  allen  Bedürf- 
nissen zu  entsprechen. 


Trennung  der 
Slowaken  von 
der  böhmische 
Literatur- 
sprache. 


VII.  Slowakische  Sprache.  Die  der  slawischen  Rasse  angeborene 
Zersplitterungssucht  brachte  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  auf  dem  farben- 
reichen Sprachenteppich  einige  neue  Figuren  zum  Vorschein,  darunter 
auch  die  slowakische  Literatursprache.  In  dem  von  den  Slowaken  be- 
wohnten nordungarischen  Gebirgsland  geht  es  allerdings  dialektisch  recht 
bunt  zu,  doch  alle  Mundarten  der  Slowaken  werden  durch  Ostmähren  als 
das  Verbindungsglied  mit  Böhmen  zu  einer  großen  SprachgTuppe  ver- 
bunden, die  unter  normalen  Verhältnissen,  nach  dem  Beispiele  anderer 
Völker  und  Länder  (Deutschlands,  Frankreichs,  Italiens)  ganz  gut  und  ver- 
nünftig mit  einer  Literatursprache  sich  hätte  begnügen  können.  Und  doch 
kam  es  anders.  In  der  Slowakei  hielten  die  Protestanten,  worunter  sich 
viele  Exulanten  aus  Böhmen  befanden,  an  der  böhmischen  Sprache,  die 
sie  als  liturgische  verehrten,  fest.  Schon  aus  religiösem  Gegensatz  dazu 
unternahmen    die  Katholiken,   seitdem  sie    im    18.  Jtdirhundert  aiiflngen  zu 


B.  Die  slawischen  Einzelsprachen.     VII.   Slowakische  Sprache.     Vni.  Sorbische  Sprache.       31 

schreiben,  das  lokale  Slowakische  zu  pflegen.  Nach  verschiedenen  Schwan- 
kungen hin  und  her  —  man  war  nämlich  in  der  Wahl  des  Dialektes,  der 
zur  Schriftsprache  auserkoren  werden  sollte,  nicht  gleich  einig  —  bekam 
die  Ansicht  jener  Oberhand,  die  für  die  Slowaken  eine  eigene  slowakische 
Literatursprache  zu  haben  wünschten.  Das  geschah  um  die  Mitte  des 
vorieen  Jahrhunderts,  während  Böhmen    mit    sich   selbst   zu  Hause  genug  Begünstigung 

^  J  '  ^        der  Trennung 

ZU  schaffen    hatte,    um    mit  gehörigem  Nachdruck  davor  zu  warnen.     Die     durch  die 

Magyaren. 

bald  darauf  durch  den  Dualismus  in  der  Monarchie  wiederhergestellte 
Herrschaft  der  Magyaren  in  Ungarn  akzeptierte  und  sanktionierte  die 
Trennung  der  Slowaken  von  den  Böhmen  um  so  bereitwilliger,  als  ja  die 
Slowaken  dadurch  der  Magyarisierung  zugänglicher  wurden.  So  existiert 
seit  den  fünfziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  eine  eigene  slowakische 
Literatursprache,  für  welche  die  slowakischen  Philologen  grammatische 
Regeln  vorschrieben,  nach  denen  sie  sich  zu  richten  hat.  In  neuester 
Zeit  wird  behauptet,  die  gegenwärtige  Literatursprache  sei  noch  immer 
nicht  rein  slowakisch,  es  müsse  noch  so  mancher  Bohemismus  ausgemerzt 
werden.  Selbst  wenn  auch  das  geschieht,  wird  die  gereinigte  slowa- 
kische Literatursprache,  solange  sie  gänzlich  Jausgeschlossen  ist  aus 
der  Schule  und  dem  politischen  Leben,  nur  ein  kümmerliches  Dasein 
fristen  können. 

Vin.    Ober-   und   Niederlausitz-Sorbische    Sprache.      Solche  zwei lausitz-sor- 

bische  Dialekte 

winzige  Literatursprachen,  in  noch  mehr  verkleinertem  Maßstabe,  als  es  beim     infolge  der 

^  kirchlichen 

Slowenischen  und  Slowakischen  der  Fall  ist,  birgt  Deutschland  sogar  zwei  Spaltung, 
in  seiner  Mitte,  eine  in  der  Oberlausitz  und  die  andere  in  der  Niederlausitz. 
Freilich  sind  das  jetzt  nur  die  letzten  Überreste  des  einst  (vor  tausend 
Jahren)  mächtig  gewesenen  Volksstammes  der  Sorben,  der  nördlich  bis 
Köpenick,  dann  über  Zossen  nach  Dahme  und  an  der  Elbe  gegenüber 
der  Saalemündung  bis  in  die  Gegend  von  Fulda  reichte  und  westwärts 
bei  Kissingen  an  die  fränkische  Saale  und  an  die  Grenze  Württembergs. 
In  diesem  Gebiete  liegt  die  Wiege  so  bedeutender  Städte,  wie  Leipzig, 
Dresden,  Meißen  u.  a.,  deren  Namen  slawischen  Ursprungs  sind.  Das 
wenige,  was  von  alledem  den  „Wenden"  heute  übrig  geblieben,  zerfällt 
infolge  der  religiösen  Trennung  in  die  katholische  Oberlausitz  und  die 
protestantische  Niederlausitz,  und  da  das  Schrifttum  der  beiden  Ländchen 
erst  nach  dieser  Trennung  begann,  so  trennten  sich  gleich  anfangs  die 
Katholiken  von  den  Protestanten  im  Dialekt,  was  vor  der  Glaubensspal- 
tung kaum  geschehen  wäre,  weil  die  Unterschiede  zwischen  Ober-  und 
Niederlausitzischem  ganz  unbedeutend  sind,  z.B.  was  der  eine  c'ic/iy  spricht, 
lautet  beim  andern  sichy,  der  eine  sagt  proso,  der  andere  psoso  u.  ä.  m. 
Die  Kompromißversuche,  jetzt  eine  einheitliche  Schriftsprache  zu  gründen, 
dürften  wohl  zu  spät  kommen. 


X2  Vatroslav  von  Jagic:    Die  slawischen  Sprachen. 

Spätes  Auf-  IX.    Polnische    Sprache.      Auffallend    spät    gelangte    nach    unserer 

kommen  der  pol-  ^     .       ^  j~,  -      .  ^    .  .  ^^ 

nischen  Sprache  Kcnntnis  die  polnische  Sprache  zur  schriftlichen  Anwendung.  Obgleich 
'  alle  Bedingungen  da  waren,  ein  nationalpolnischer  Staat,  frühe  Bekehrung 
zum  Christentum,  verwandtschaftliche  Beziehungen  zu  der  christlichen 
Umgebung  (den  Böhmen,  Russen  und  Deutschen),  und  obgleich  das  Bei- 
spiel der  Nachbarn  zur  Nachahmung  hätte  anregen  können  (die  böhmischen 
Slawen  besaßen  ganz  gewiß  um  das  Jahr  1200  schon  viele  böhmisch 
geschriebene  Texte),  beginnt  es  sich  bei  den  Polen  doch  erst  um  die  Mitte 
des  14.  Jahrhunderts  zu  regen.  Soll  man  der  Vermutung  Raum  geben, 
daß  die  christlichen  Polen  anfangs  mit  den  zu  ihnen  gebrachten  böhmischen 
Büchern  sich  begnügten?  Beweise  dafür  liegen  nicht  vor,  wenn  es  auch 
bekannt  ist,  daß  in  den  ältesten  polnischen  Texten  (aus  dem  14.  und  15. 
Jahrhundert)  Bohemismen  nachgewiesen  werden  können.  Man  schließt 
daraus  entweder  auf  unmittelbare  böhmische  Vorlagen  oder  auf  die  aus 
der  Lektüre  böhmischer  Texte  geschöpfte  literarische  Übung  und  Vor- 
bereitung. Weniger  wahrscheinlich  wäre  die  Annahme,  daß  die  Priester 
böhmischer  Nationalität  selbst  bei  der  Abfassung  der  ältesten  polnischen 
Texte  sich  beteiligt  haben.  Kurz  und  gut,  polnische  Texte,  kleineren  und 
größeren  Umfangs,  tauchen  vor  der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts 
nicht  auf.  Sie  sind  auch  in  dieser  Zeit  noch  große  Seltenheit,  wenigstens 
für  uns.  Man  muß  vorsichtshalber  diesen  Zusatz  hinzufügen,  da  ja  vieles, 
wovon  wir  keine  Ahnung  haben,  verloren  gehen  konnte.  Sind  ja  doch 
keine  zwei  Dezennien  vergangen  seit  der  Zeit,  daß  Bruchstücke,  polnischen 
Text  enthaltend,  entdeckt  wurden  —  ganz  in  böhmischer  Art  zur  Ein- 
falzung  lateinischer  Manuskripte  verwendet  — ,  die  dem  bis  dahin  immer 
an  erster  Stelle  genannten  Psalter  von  St.  Florian  den  Vorrang"  streitig 
machen.  Die  schmalen  Streifen  stellen  das  Bruchstück  einer  Predigt  in 
polnischer  Sprache  dar  und  gestatten  die  Vermutung,  daß  es  solche  Dinge 
zu  jener  Zeit  in  größerer  Anzahl  gab.  Doch  über  die  Mitte  des  14.  Jahr- 
hunderts führt  uns  auch  diese  Entdeckung  nicht  hinaus.  Die  polnische 
Sprache  war  gerade  damals  in  einem  Stadium  des  Übergangs  von  dem 
beinahe  ganz  schon  aufgegebenen  Inventar  alter  Sprachformen  in  den 
neuen,  heutigen  Zustand  begriffen.  Mit  der  im  Altböhmischen  noch  reich- 
lich angetroffenen  Herrschaft  der  alten  Aoriste  und  Imperfekte  war  es 
hier  im  Polnischen  schon  vorbei;  kaum  wenige  Beispiele  haben  sich  noch 
erhalten,  um  in  dieser  Beziehung  den  Vergleich  zwischen  den  altböhmischen 
und  altpolnischen  Formen  zu  ermöglichen.  Der  noch  heute  lebende  Na- 
salismus,   der   jetzt    das   Polnische    als    das  Französische    des  Nordens   er- 

SchwicriBkcit  scheinen  läßt,  war  selbstverständlich  auch  damals  vorhanden,  doch  seinem 

der  polnischen 

Graphik,  damaligen  lautlichen  Charakter  ist  wegen  der  ganz  unzulänglichen 
Graphik  sehr  schwer  beizukommen.  Das  sehr  früh  eingeführte  Zeichen  O 
kann  alle  möglichen  Lautnüanzen  ausdrücken,  gewiß  ist  damit  nicht  ge- 
meint, daß  es  damals  nur  einen  Nasallaut  gegeben  habe.  Vieles  spricht 
dafür,    daß    die    damalige    polnische   Sprache   noch  Quantitätsunterschiede 


B.  Die  slawischen  Einzelsprachen.     IX.  Polnische  Sprache.  23 

bei  den  Vokalen  kannte.  Diese  mögen  schon  damals  den  polnischen 
Nasalismus  aus  der  urslawischen  Phase  in  ein  anderes,  dem  heutigen 
Zustand  näher  stehendes  Stadium  gebracht  haben.  Auch  dialektische 
Unterschiede  treten  im  Altpolnischen  nur  sehr  schwach  entgegen  (etwa 
in  den  sogenannten  Gnesener  Fragmenten  und  in  städtischen  Eides- 
formeln). In  den  Literaturdenkmälern  polnischer  Sprache  scheint  von 
allem  Anfang  an  die  Sprache  des  Adels,  der  sich  um  den  Hof  gruppierte, 
maßgebend  gewesen  zu  sein;  das  Vulgäre,  aber  auch  das  Dialektische, 
wurde  femgehalten.  Der  Charakter  der  altpolnischen  Denkmäler  während 
des  14.  und  15.  Jahrhunderts  war  aufs  Praktische,  auf  die  Bedürfnisse  des 
Lebens  gerichtet  (Psalmen  und  Gebetbücher,  beides  zumeist  für  edle 
Frauen  bestimmt,  dann  Eidesformeln  und  die  Übertragung  der  Gesetze 
ins  Polnische),  für  die  geistige  Unterhaltung  vermittelst  des  geschriebenen 
Wortes  scheint  man  noch  wenig  Sinn  gehabt  zu  haben.  Selbst  die  in 
der  böhmischen  Literatur  so  zahlreich  vertretenen  versifizierten  Legenden 
kommen  im  Altpolnischen  nur  in  ganz  geringer  Anzahl  vor. 

Die  feinen  Unterschiede  in  der  Aussprache  polnischer  Vokale  und 
mouillierter  Konsonanten  waren  mit  den  gewöhnlichen  Mitteln  der  latei- 
nischen Schrift  nicht  leicht  wiederzugeben.  Daraus  erklären  sich  die  früh 
begonnenen  und  öfters  wiederholten  Versuche,  darin  Ordnung  zu  schaffen. 
Die  der  böhmischen  Orthographie  abgeborgten  diakritischen  Zeichen 
drangen  nicht  überall  durch,  man  wollte  i  und  c  nicht,  obschon  man  z 
hatte  und  selbst  c  s  i  hinzukamen.  Auch  die  Bezeichnung  der  sogenannten 
gesenkten  (ursprünglich  gedehnten)  Vokale  als  d  ö  e  (ausgesprochen  bei- 
nahe wie  0,  ZI,  i)  unterlag  verschiedenen  Schwankungen,  bis  man  zuletzt 
bei  a  die  Bezeichnung  aufgab  und  nur  noch  ö  e  übrig  blieb. 

Die  protestantische  Bewegung  führte  auch  bei  den  Polen  zu  bedeuten-  Goldenes  Zeit- 
den  Resultaten,  die  sich  in  der  Literatur  und  Sprache  abspiegelten.  Im  Ricbtuagen. 
ganzen  war  die  Sprache  der  Anhänger  des  neuen  Glaubens  grobkörniger, 
volkstümlicher,  jene  der  katholischen  Humanisten  feiner,  aristokratischer. 
Als  tjrpische  Repräsentanten  könnten  auf  der  einen  Seite  Rej,  auf  der 
andern  Kochanowski  gelten.  Der  Humanismus  brachte  Polen  in  nähere 
Beziehung  mit  Frankreich  und  Italien,  wovon  der  feine  Geschmack  des 
sogenannten  goldenen  Zeitalters  der  polnischen  Literatur  viel  g-ewann. 
Doch  diese  Schule  der  schönen  Form  und  des  feinen  Geschmacks  dauerte 
nicht  lange.  Die  parlamentarische  in  lateinischer  Sprache  geübte  Bered- 
samkeit, die  von  der  Klassizität  weit  entfernt  war,  brachte  auch  in  den 
Gebrauch  der  polnischen  Sprache  im  Leben  und  in  der  Literatur  eine 
übermäßige  Fülle  lateinischer  Elemente,  die  sich  geradezu  bis  zum  Mak- 
karonismus  steigerte.  Im  18.  Jahrhundert  trat  unter  dem  französischen 
Einfluß  eine  Reaktion  dagegen  ein,  doch  zugleich  wurde  die  Sprache 
bis  zur  unnatürlichen  Steifheit  durch  räsonnierende  Spitzfindigkeiten  ge- 
maßregelt. Erst  die  nationale  Romantik  zu  Ende  des  1 8.  und  in  der  Neuer  Anf- 
ersten Hälfte   des   1 9.  Jahrhunderts  gab   durch  die  Bereicherung  der  Lite-  der    Romaatii 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9.  3 


■lA  Vatroslav  von  jAGi(i:    Die  slawischen  Sprachen. 

ratur    mit    neuen   Stoffen    auch    der    polnischen   Sprache    neuen   Schwung, 
der  noch  andauert. 

Die  pohlische  Literatursprache  wollte  seit  ihrem  frühesten  Auftreten 
vorzüglich  den  vornehmen  Kreisen  der  Gesellschaft  dienen.  Auch  ihr 
erster  Grammatiker  war  von  vornehmer,  polnisch-französischer  Abkunft. 
Nur  für  die  praktischen  Bedürfnisse  der  nächsten  Nachbarn,  der  Deutschen, 
wurden  auch  Lehrbücher  in  deutscher  Sprache  abgefaßt.  Im  i8.  Jahr- 
hundert unterzog  sich  ein  angesehener  Piarist  (Kopczynski)  der  wichtigen 
patriotischen  Aufgabe,  den  Unterricht  der  polnischen  Sprache  in  den 
Schulen  nach  verschiedenen  Altersstufen  zu  regeln,  verschiedene  Lehr- 
bücher abzufassen  und  philosophisch-pädagogische  Kommentare  dazu  zu 
schreiben.  Ihm  schwebten  französische  Muster  vor,  seine  grammatischen 
Grundsätze  richteten  sich  nach  der  französischen  Grammaire  raisonnee. 
Die  Folgen  dieser  Auffassung  pflanzten  sich  in  der  polnischen  Grammatik 
fort  bis  in  die  Mitte  des  ig.  Jahrhunderts.  Eine  gewisse  klassische  Steif- 
heit beherrschte  wenigstens  die  Theorie  auch  dann  noch,  als  es  im  Leben 
der  Sprache  viel  freier  zuging.  Sehr  spät  schloß  sich  die  polnische 
Grammatik  der  neuen  auf  Vergleichung  verwandter  Sprachen,  zumal  der 
Die  dialektische  altkirchenslawischcn,    basierten   Richtung    an.     Auch  für  das  Studium  der 

Erforschung 

mangelhaft,  polnischcn  Dialekte  wollte  man  sich  lange  Zeit  nicht  besonders  erwärmen, 
was  zum  Teil  in  der  Besorgnis,  daß  dadurch  die  Einheit  der  Literatur- 
sprache Schaden  leiden  könnte,  begründet  gewesen  sein  mag.  Erst  die 
letzten  Dezennien  des  19.  Jahrhunderts  suchten  das  früher  Versäumte 
nachzuholen  (die  Schule  Malinowskis).  Man  unterscheidet  ein  Großpolen 
(mit  uraltem  Mittelpunkt  Gnesen)  und  ein  Kleinpolen  (mit  Krakau  als 
Zentrum),  doch  sind  damit  keine  ausgesprochenen  Dialekte  bezeichnet,  da 
vielmehr  auf  beiden  Seiten  mehrere  dialektische  Unterschiede  vorhanden 
sind.  Auch  das  sogenannte  Masurische,  d.  h.  die  Aussprache  der  breiten 
Zischlaute  c  i  i  eng  zugespitzt  zu  c  s  z,  ist  eine  Eigenschaft,  die  sich 
über  verschiedene  Dialekte  erstreckt.  Manches  Eigentümliche,  namentlich 
im  Nasalismus,  charakterisiert  die  schlesische  Mundart,  die  auch  zu  den 
best  erforschten  gehört.  Das  gesamte  polnische  Sprachgebiet  ist  dialek- 
tisch bei  weitem  noch  nicht  erschöpfend  durchforscht.  Verhältnismäßig" 
viel   Aufmerksamkeit    wurde    dem    Kaschubischen    in    grammatischer   und 

Das  Kaschu-   lexikalischer  Hinsicht    gewidmet.     Es    steht    unzweifelhaft  dem  Polnischen 

bischo   und  °  .  ^  .  T    .      .  . 

Poiabisciic.  am  nächsten,  allein  man  könnte  es  dennoch  nicht  auf  g'leiche  Linie  mit 
irgendeinem  polnischen  Dialekt  stellen.  Wenn  man  die  von  Hilferding 
und  Schleicher  vorgeschlagene  umfassendere  Benennung  „lechisch"  für 
beides  gelten  lassen  wollte,  so  wäre  nichts  dagegen  einzuwenden,  nur 
bleibt  es  auch  dann  noch  fraglich,  ob  das  Polabische  ebenfalls  dazu 
gehört  oder  nicht,  da  es  jedenfalls  vom  Polnischen  weiter  absteht  als  das 
Kaschubische. 

Eine  umfangreichere,  geschichtlich  angelegte  Grammatik  der  polnischen 
Sprache  geht  uns  noch  ab,  Vorarbeiten  dazu  (Übersicht  der  Formen)  sind 


B.  Die  slawischen  Einzelspraclicn.      X.   Schlußbctrachlung.  ßj 

vorhanden.  Für  praktische  Erlernung  der  Sprache  liegen  genug  Lehr- 
bücher vor.  Lexikalisch  war  die  Sprache  fleißig  durchstudiert  (nach  lite- 
rarischen Quellen)  schon  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  durch  Linde, 
dessen  umfangreiches  Wörterbuch  für  seine  Zeit  eine  musterhafte  Leistung 
war.  Ein  neues  geschichtlich  angelegtes  Wörterbuch  erwartet  man  von 
der  Krakauer  Akademie.  Gegenwärtig  lenken  die  Aufmerksamkeit  auf 
sich  das  von  dem  verstorbenen  Karlowicz  leider  nicht  zu  Ende  gebrachte 
Wörterbuch  der  polnischen  Dialekte  und  das  neue  in  Warschau  erscheinende 
Wörterbuch  der  polnischen  Sprache,  dessen  Hauptzweck  der  möglichst 
erschöpfende  Wortreichtum  bildet,  jedoch  ohne  geschichtlichen  Hintergrund. 

X.  Schlußbetrachtung.     Wie  die  gegebene  Übersicht  zeigt,  ist  die  Große  Zahi  de 

°  =     *  °    '  slawischen 

Zahl  der  slawischen  Sprachen,  die  auf  das  Recht,  als  Literatursprache  zu  sprachen. 
gelten,  Anspruch  erheben,  gar  nicht  klein.  Neun  verschiedene  vSprachen 
bekommt  man,  selbst  wenn  man  Ober-  und  Niederlausitz  als  eine  Einheit 
zählt;  zwölf  sogar,  wenn  man  diese  zwei  Sprachen  voneinander  trennt 
und  auch  das  Kaschubische  vom  Polnischen  absondert,  endlich  auch  das 
Kirchenslawische  mitzählt.  Dabei  sind  gewesene,  oder  nicht  mehr  zur 
literarischen  Anwendung  kommende  Sprachen  gar  nicht  mitgerechnet,  wie 
das  Westrussische  des  16.  und  17.,  das  Kirchenslawische  auf  dem  rumä- 
nischen Gebiet,  das  Slawoserbische  des  18.  Jahrhunderts,  das  Kaj-'Kxoa.- 
tische  des  16.  und  der  folgenden  Jahrhunderte  (bis  1840).  Durch  die 
Größe  der  Bevölkerung,  die  ja  als  natürliche  Grrundlage  wesentlich  ins 
Gewicht  fällt,  steht  die  russische  Sprache  obenan,  sie  allein  könnte  sich 
in  dieser  Beziehung  mit  den  größten  europäischen  Sprachen  messen,  zu- 
mal wenn  man  die  ihr  zur  Verfügung  stehenden  staatlichen  Mittel  in  Be- 
tracht zieht.  Sie  ist  auch  die  einzige,  die  auf  eine  Rolle  im  internationalen 
Verkehr  rechnen  kann,  wenn  nicht  schon  jetzt,  so  in  nicht  ferner  Zukunft,  die 
durch  die  Wendung  der  inneren  Zustände  Rußlands  zur  freieren  Entfaltung 
der  geistig'en  Kräfte  des  Volkes  wesentlich  näher  gerückt  werden  könnte. 
Zu  kleineren,  doch  mit  reichhaltigem  literarischen  Hintergrund  ausgestatteten 
Sprachen  gehören  die  polnische  und  böhmische.  Alten  Datums  ist  auch  ""re  Zukunft 
die  wohlklingende  serbokroatische  Sprache,  die  unter  vernünftiger  Aus- 
beutung der  gegebenen  Bedingungen  es  zur  kräftigen  Literatur  mittlerer 
Größe,  gleich  etwa  der  polnischen  oder  böhmischen,  bringen  könnte. 
Ob  es  der  ruthenischen  Sprache  gelingen  wird,  den  vollen  ethnischen 
Umfang  in  den  Dienst  einer  einheitlichen  Schriftsprache  und  Literatur  zu 
bringen,  das  bleibt  der  Zukunft  vorbehalten;  sie  würde  dann  nach  der 
Zahl  der  Bevölkerung  selbst  die  polnische  übertreffen.  Jungen  Datums, 
aber  durch  glückliche  geographisch-politische  Lage  begünstigt,  wird  die 
bulgarische  Sprache  jedenfalls  den  ihr  gebührenden  Platz  behaupten. 
Unbedingt  schwach  und  klein  bleiben  die  slowenische  und  slowakische 
Sprache,  beide  außerdem  in  ihrer  Existenz  bedroht  von  den  mächtigen 
Nachbarn    nichtslawischer  Zunge.     Das  Sorbische    der  Ober-   und  Nieder- 

3* 


•35  Vatroslav  von  Jagic:    Die  slawischen  Sprachen. 

lausitz  kann  sich  nur  halten,  solange  Deutschland  diese  ethnographischen 

Oasen  begünstigt. 

Notwendigkeit  Das    gegenseitige    Verwandtschaftsverhältnis    unter    allen    slawischen 

icre"  Versen-  Sprachen   ist  allerdings  viel  inniger   als   bei  den  germanischen  und  roma- 

un'|™cht"t"der  nischen  Sprachen.     Dennoch  können  sich  die  Gebildeten,  deren  Gedanken 

wrndt^schaft'^der  Über  die  Grenzen  der  täglichen  Lebensbedürfnisse  hinausgreifen,  nur  zur 

Sp7ädien"     Not  untereinander  verständigen,  mit  der  größten  Anspannung  der  ganzen 

Aufmerksamkeit.     Die   allgemeine  Kenntnis   einer  slawischen  Sprache  ist 

derzeit  unter  den  Slawen  noch  nicht  vorhanden,  wenn  auch  die  russische 

teils  durch  Zwang  (in  Polen),  teils  durch  kulturellen  Einfluß  (in  Bulgarien) 

einige  Eroberungen  bereits  gemacht  hat  auch  außerhalb  ihrer  natürlichen 

Grenzen.    Für  jetzt  noch  läuft  ihr  die  deutsche  Sprache  im  internationalen 

Verkehr  der  Slawen  entschieden  den  Rang  ab. 


Literatur. 

Einleitung.  Über  die  Slawen  als  Ostnachbam  der  Deutschen  bleibt  noch  imnier 
als  ein  klassisches  Orientierungswerk  das  Buch  von  K.  Zeuss:  „Die  Deutschen  und  ihre 
Nachbarstämme"  (1837).  Für  die  gegenwärtigen  Kenntnisse  manches  Veraltete  oder  Über- 
flüssige enthalten  die  „Slawischen  Altertümer"  von  P.  J.  Safari'k  (1837).  Auch  der  zweite 
Band  der  „Deutschen  Altertumskunde"  von  K.  Müllenhoff  (1887)  kommt  in  Betracht.  In 
neuester  Zeit  ist  das  in  böhmischer  Sprache  erscheinende,  ausführhch  angelegte  Buch 
L.  NlEDERLEs  (1904 — 1906J  dazu  bestimmt,  alles  Frühere  zu  ersetzen.  Geistreich  in  russischer 
Sprache  geschrieben  ist  das  kleine  Werk  PoGODlNs  (1901).  Dieser  kritischen  Richtung  in 
der  slawischen  Altertumskunde  steht  eine  nationalistische  gegenüber ,  deren  Hauptgedanke 
darin  gipfelt,  daß  die  Slawen  seit  uralten  Zeiten  über  die  ganze  östliche  Hälfte  Germaniens 
fals  Sueven  usw.1  verbreitet  waren.  Die  zwei  hauptsächlichsten  Vertreter  dieser  Richtung  im 
ig.  Jahrhundert  waren  A.  Sembera  (1868)  und  J.  Pervvolf  (1884— 1885),  in  neuerer  Zeit 
der  ungemein  fleißige  und  belesene,  aber  unkritische  BoGUStAWSKi. 

A.   Die  slawischen  Sprachen  im  allgemeinen. 

1.  Vorgeschichtliches.  II.  Anfänge  der  Geschichte.  III.  Slawische  Sprachen 
in  der  neuen  Heimat.  Nach  dem  Vorbilde  A.  Kuhns  und  Ad.  Pictets  hat  man  auf  lin- 
guistische Kombinationen  aufgebaute  Kulturbilder  der  alten  Slawen  vielfach  gezeichnet.  Der 
bedeutendste  Versuch  in  russischer  Sprache  von  A.  BUDILOVIC  (1878— 1882)  ist  nicht  zu 
Ende  geführt.  Eine  urslawische  Grammatik  geht  uns  noch  ab.  Etwas  nähert  sich  der  Auf- 
gabe die  vergleichende  Slawische  Grammatik  von  W.  VONDRÄK  (1906).  FORTUNATOV  und 
seine  Schüler  (Uljanov,  PORZEZiriSKi,  Lj.^punov)  bearbeiten  einzelne  Partien  der  slawischen 
Grammatik  mit  besonderer  Rücksicht  aufs  Litauische.  Nach  dieser  Richtung  ist  auch  ZUBATY 
in  Prag  tätig.  Ein  et>'mologisches  Wörterbuch  der  slawischen  Sprachen  ist  bis  jetzt  nur  in, 
der  Bearbeitung  MiklOSICHs  (1886)  vorhanden  (reiches,  unverarbeitetes  slawisches  Material). 
Eine  neue  Leistimg  auf  diesem  Gebiet  verspricht  Berneker  zu  liefern.  Die  Entlehnungen 
des  slawischen  Wortschatzes  aus  orientalischen  Sprachen  haben  MiKLOSiCH  (1884^1890) 
MeliORANSKIJ  und  KORä  (1902 — 1905)  behandelt;  aus  den  germanischen  Uhlenbeck  (1899, 
im  Archiv  für  slav.  Ph.),  allgemein  Matzenauer  (1870)  und  neuerdings  Strekelj.  Die 
Klassifikation  der  slawischen  Sprachen,  von  Dobrovsky  begonnen,  später  von  Maksimovic, 
Safari'k,  Kopitar,  Miklosich,  namentlich  von  Schleicher  nach  seiner  Stammbaumtheorie 
behandelt,  trat  durch  die  Theorie  des  Johannes  Schmidt  in  ein  neues  Stadium  ein;  jetzt 
erfreut  sich  die  Annahme  von  Übergangsdialekten  großer  Verbreitung,  vgl.  Baudouin  DE 
Courtenays  Ausführungen  in  einer  Dorpater  Vorlesung  (1884)  und  in  dem  russischen  enzy- 
klopädischen Wörterbuch  (Bd.  XXXj.  Die  Frage  über  die  Entstehungszeit  der  slawischen 
Dialekte  hat  nach  Hirts  Vorgang  und  Muster  Lj.  Stojanovic  in  einem  Vortrage  der  serbischen 
Akademie  (1896)  behandelt,  doch  ist  er  auf  Widerspruch  gestoßen  (Jagic,  Oblak,  Arch.  f. 
sl.  Ph.  XIX),  vgl.  auch  eine  Kombination  Sobolevski.Is  im  Archiv  für  slawische  Philologie, 
Bd.  XXV). 

IV.  Die  kirchenslawische  Sprache.  Zur  Frage  über  den  Ursprung  und  die  Heimat 
vgl.  jetzt  Jagic,  ,,Zur  Entstehungsgeschichte"  (erschienen   in  den  Denkschriften  der  Wiener 


^8  Vatroslav  von  Jagic:    Die  slawischen  Sprachen. 

Akademie  1900).  Über  die  Tätigkeit  der  Slawenapostel  hat  zuletzt  in  böhmischer  Sprache 
Pastrnek  (1902)  geschrieben,  ohne  alle  dunklen  Punkte  aufgehellt  zu  haben.  Subjektive 
Einfälle  verschiedener  Gelehrter  (Friedrich,  Götz,  L.wianskij,  Brückner)  müssen  zurück- 
gewiesen werden.  Eine  Geschichte  des  Einflusses  der  kirchenslawischen  Sprache  auf  die 
einzelnen  slawischen  Sprachen  geht  uns  noch  ab,  nur  bezüglich  der  russischen  Sprache  ist 
von  BULIÖ  1893  ein  Werk  erschienen.  Auch  eine  ausführliche  Grammatik  der  kirchen- 
slawischen Sprache  mit  Berücksichtigung  ihres  Entwicklungsganges  nach  Jahrhunderten  fehlt 
noch.  Nach  den  ältesten  Denkmälern  ist  die  Sprache  analysiert  seit  dem  großen  Werke 
MiKXOSiCHs  in  dem  Handbuch  A.  Leskiens  (4.  Aufl.  1905)  und  in  dem  Buch  VONDRÄKs  (1900). 
In  russischer  Sprache  ist  das  Buch  Sobolevskijs  (1891)  zu  erwähnen. 

B.  Die  slawischen  Einzelsprachen. 

I.  Die  russische  Sprache.  Die  geschichtliche  Erforschung  der  russischen  Sprache 
nach  Jahrhunderten  haben  seit  KoLOSOV  (1872)  hauptsächlich  Sobolevskij  und  Schachmatov 
behandelt.  Die  , .Vorträge"  des  ersteren  sind  bis  jetzt  (1903)  in  drei  Auflagen  (russisch)  er- 
schienen. Schachmatov  zeichnet  nebst  Einzelforschungen  das  Bild  der  Entstehung  der 
russischen  Dialekte  (etwas  subjektiv)  in  einem  knappen  Vortrag  (wiederholt  erschienen,  zu- 
letzt 1899).  Die  Erforschung  der  jetzigen  großrussischen  Dialekte  hat  neuerdings  die  russische 
Abteilung  der  Akademie  der  Wissenschaften  in  die  Hand  genommen,  leider  ohne  ein  be- 
sonderes Organ  dafür  bestimmt  zu  haben.  Ein  kurzes  Resümee  über  die  bis  in  die  neunziger 
Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  gemachten  Forschungen  hat  SoBOLEVSKIJs  ,, Versuch"  (in 
russischer  Sprache  1897)  geliefert.  Fürs  Weißrussische  hat  grammatisch  und  ethnographisch 
das  Hervorragendste  Karskij  (1893— 1905)  geleistet.  Die  Analyse  der  sprachlichen  Eigen- 
tümlichkeiten der  bedeutendsten  Schriftsteller  seit  LOMONOSOV  behandelt  jetzt  monographisch 
E.  BUDUE.  Als  Lautphysiologiker  verdient  Bogoridickij  aus  Kasan  und  Broch  aus  Chri- 
stiana erwähnt  zu  werden. 

II.  Ruthenische  Sprache.  Großen  Wert  haben  fürs  Kleinrussische  die  Leistungen 
Potebnjas  (seit  den  sechziger  Jahren  des  vorigen  Jahrh.  bis  1S83)  und  die  flott  geschrie- 
benen Skizzen  ZiTECKIJs  (1876,  1893).  Manchen  guten  geschichtlichen  Rückblick  enthalten 
die  Studien  Ogonowskis  (1890),  dessen  kleinrussische  Grammatik,  nach  Osadcas  Buch,  die 
meiste  Verbreitung  in  Galiziens  Schulen  gefunden.  Über  die  Dialekte  gab  vor  35  Jahren 
eine  zusammenfassende  Darstellung  MichalCuk  (1872)  in  dem  großen  Werke  Cubinskis. 
Seither  sind  neue  Beiträge  erschienen  namentlich  von  Werchratskij  und  Hnatjuk  haupt- 
sächlich für  Galizien,  für  Ungarn  auch  von  OLAF  Broch. 

III.  Bulgarische  Sprache.  Sie  wird  seit  MiKLOSICHs  (1852)  und  BlLjARSKls  (1859, 
russisch)  Einzeldarstellungen  geschichtlich  von  P.  Lavrov  (1893)  erforscht,  für  die  Gegen- 
wart und  die  dialektische  Erforschung  kommen  die  Arbeiten  MiLETICs  und  CONEVs  haupt- 
sächlich in  Betracht.  Fürs  Mazedonische  war  äußerst  wertvoll  der  dialektologische  Beitrag 
von  V.  Oblak  (1896). 

I\'.  Serbokroatische  Sprache.  Sie  beruhte  bis  in  die  siebziger  Jahre  wesentlich 
auf  den  Leistungen  (praktischen  und  theoretischen)  VUK  Karad2ic5s  und  den  Forschungen 
seines  jüngeren  Freundes  und  Beraters  GjURO  DaniciÖs,  der  neben  einer  guten  Formen- 
lehre der  modernen  Sprache  auch  eine  Geschichte  der  Deklination  und  Konjugation  (1874), 
dann  über  die  Wurzeln  (1877)  und  Stämme  (1876)  geschrieben  hat.  P'ein  sind  seine  Analysen 
der  Betonung,  worin  später  A.  Leskien  (1885,  1893)  weiter  geforscht  hat.  Zur  Dialekt- 
forschung haben  Re.^etar  (1900,  1907),  Belic  (1905)  und  O.  Broch  (1903)  viel  beigetragen. 
Jetzt  ist  die  ausführlichste  Grammatik  der  modernen  Literatursprache  von  M.  MARETl<i  (1899) 
und  das  beste  Wörterbuch  neben  jenem  VuKs  das  von  Broz-Ivekovk!:  (1901).  Für  den 
sogenannten  /t^/'-Dialekt  bietet  eine  Zusammenfassung  der  bisherigen  Erforschung  das  russisch 
geschriebene  Buch  von  Lukjanenko  (1905). 

V.  Slowenische  Sprache.  Sie  ist  nach  den  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  er- 
schienenen Grammatiken   von  Kopitar,  Dajnko,  Metelko,  Jane^iö,  Levstik  am  reich- 


Literatur.  ^g 

hakigsten  vertreten  in  dem  betreflenden  Abschnitt  der  vergl.  Grammatik  MiKLOSiCHs.  Viele 
feine  Beobachtungen  lieferte  auch  Pat.  St.  Skrabec  auf  den  Umschlägen  seiner  dem  Kultus 
des  heiligen  Franziskus  gewidmeten  Monatsschrift.  Die  Erforschung  der  Dialekte  kann 
einige  gute  Beiträge  (von  Strekelj,  Oswald  u.  a.)  aufweisen.  Die  Sprache  der  Bewohner 
des  Resiatales  in  Nordostitalicn  hat  BaudOUIN  de  Courtenay  zu  wiederholten  Malen  be- 
handelt. 

VI.  Böhmische  Sprache.  Sie  wurde  grammatisch  auf  wissenschaftliche  Grundlage 
gestellt  durch  DOBROVSKV'.  Fürs  Altböhmische  waren  lange  Zeit  störend  die  vielen  Fäl- 
schungen, durch  die  das  Bild  der  echten  Sprache  in  den  Analysen  Safaäi'ks  (1847)  und 
Jos.  JireCeks  (1870)  verschoben  wurde.  Erst  in  neuerer  Zeit  hat  J.  Gebauer  ein  ausführ- 
liches Gebäude  der  geschichtlichen  Laut-  und  Formenlehre  errichtet  (1894 — 1898),  im  Zu- 
sammenhang mit  seinem  altböhmischen  Wörterbuch  (bis  zum  Buchstaben  M  gelangt),  für 
dessen  Vollendung  wohl  gesorgt  werden  wird.  Die  Dialektologie  hat  ihren  reichen  Nähr- 
boden in  Mähren:  nach  dem  noch  immer  nicht  unbrauchbar  gewordenen  Buch  .Sember.\s 
(1864)  hat  darin  Hervorragendes  Bartos  (1886 — 1895)  geleistet.  Das  für  seine  Zeit  klassische 
Wörterbuch  JUNGMANNs  (1835 — 1839)  ist  durch  das  neue  von  KOTT  nicht  in  den  Schatten 
gestellt. 

VIL  Slowakische  Sprache.  Das  Slowakische  als  Schriftsprache  wurde  nach  Ber- 
NOLÄK  zu  Ende  des  18.  Jahrhunderts,  im  vorigen  Jahrhundert  durch  Stur  (1846)  behandelt. 
Im  Schulgebrauch  war  lange  Zeit  die  Grammatik  von  Hattala  (1864).  Jetzt  sucht  den 
Purismus  auf  die  Spitze  zu  treiben  Czambel  (1906).  Die  Erforschung  der  Dialekte  hat 
Pastrnek  in  den  neunziger  Jahren  mit  Erfolg  betrieben,  doch  nicht  zu  Ende  geführt. 

VIII.  Ober-  und  Niederlausitz  ^  Sorbische  Sprache.  Die  beiden  lausitz- 
sorbischen Dialekte  haben  in  Pfuhls  Grammatik  (1867)  und  W'örterbuch  (1866),  dann  in  dem 
schönen  Werke  Muckes  ('1891)  (einer  von  der  Jablonowskischen  Gesellschaft  preisgekrönten 
Grammatik  der  niederlausitzsorbischen  Sprache)  ihre  Behandlung  gefunden.  Für  die  letztere 
Sprache  ist  jetzt  auch  das  Wörterbuch  von  Dr.  E.  MucKE  druckfertig. 

IX.  Polnische  Sprache.  Eine  ausführliche  geschichtlich  angelegte  Grammatik  bildet 
noch  eine  Lücke.  Das  ältere  Buch  von  M.AiECKi  (1863  u.  1879)  wird  jetzt  durch  Krynski 
(1903  die  3.  Auflage)  verdrängt.  Die  wissenschaftliche  Dialektologie  hat  Luc.  Malinowski 
mit  seiner  Druckforschung  der  schlesischen  Mundart  1873  begonnen  und  begründet,  woran 
jetzt  fleißig  fortgearbeitet  wird  (z.  B.  von  Kaz.  NitSCH).  Ein  feiner  Beobachter  der  laut- 
physiologischen Erscheinungen  ist  Rozwadowskl  Fürs  Kaschubische  und  Slovinzische  sind 
die  Forschungen  BiSKUPSKis,  BrONISCHs  und  namentlich  Fr.  Lorentz'  zu  nennen.  Das 
Polabische  beschäftigt  auch  nach  dem  grundlegenden  Werke  Schleichers  (1871)  noch 
immer  verschiedene  Forscher  (Kalina,  Mucke,  Porzezinski,  MikkOLA). 


DIE  RUSSISCHE  LITERATUR. 

Von 

Alexis  Wesselovsky. 


Land  und  Leute.  Einleitung.     Unermeßliche,  undurchdringliche  Wälder,    die   noch   in 

Setzung  der  den  letzten  Jahrhunderten  sowohl  den  westeuropäischen  als  auch  den  ost- 
Bevüikerung.  Esiatischcn  Wanderer  oder  reisenden  Kaufmann  staunen  machten,  begrenzt 
von  einer  fast  völlig  gleichmäßigen,  von  zahlreichen  Flüssen  durchströmten 
Ebene,  im  Süden  unabsehbare  Steppen,  im  Norden  unfruchtbares,  melan- 
cholisches Sumpfland  —  das  ist  das  Milieu  des  russischen  Volkes  bei 
seinem  Erscheinen  auf  dem  Schauplatz  der  Geschichte,  die  Umgebung, 
in  der  es,  wenigstens  in  seinen  Grundbestandteilen,  trotz  seiner  Erobe- 
rungen und  Kolonisationen,  bis  auf  den  heutigen  Tag  lebt.  Das  ist  die 
zweite  Heimat  derjenigen  slawischen  Stämme,  die  auf  der  Suche  nach 
günstigeren  Lebensbedingungen  ihre  Wohnplätze  an  den  Karpaten  und 
am  oberen  Lauf  der  Weichsel  im  8.  Jahrhundert  verließen,  um  im  neuen 
Lande  allmählich  zu  einem  Volke  zu  verschmelzen  und  eine  mehr  als 
tausendjährige  Geschichte  zu  erleben.  Ihr  ursprünglicher  Bestand  ver- 
änderte sich  bald.  Verschiedenartige  Völkerschaften  vermischten  sich  mit 
ihnen.  Nach  den  beharrlichen  kolonisatorischen  Versuchen  bei  den 
schwachen  Stämmen  der  Finnen  floß  ihnen  finnisches  Blut  zu;  ferner  kam 
es  zu  einer  Mischung  mit  Elementen  asiatischer  Horden,  die,  auf  Erobe- 
rungszügen begriffen,  von  der  Steppe  her  ins  Land  einfielen,  und  mit 
Elementen  der  in  kultureller  Beziehung  aktiven,  mit  sozialer  Tatkraft 
begabten  Skandinavier  oder  Waräger.  Letzteren  war  es  beschieden, 
nachdem  sie  bei  der  Begründung  der  ersten  Städte  und  eines  internatio- 
nalen Handels  eine  einflußreiche  Rolle  gespielt  hatten,  an  der  Ausgestal- 
tung des  Staatsbaues  mitzuarbeiten  und  ihre  Wirksamkeit  in  einer  nicht 
stammverwandten  Umgebung,  der  sie  sich  rasch  assimilierten,  durch  Über- 
tragung   ihrer   speziellen   Bezeichnung  —  Rhus  —  auf  das  gesamte  Volk 

Hesiedelung  und  . 

staatenbiiJu.>g.  ZU  kroucn. 

kSÜu  "ünTdie  An  die  Stelle   der   primitiven  Staatsform   der  Stammesgemeinschaften 

"^Hyzanz""     traten   mit   der  Zeit   kompliziertere   staatliche  Formen.     Das   weite    Gebiet 


Einleitung.  a  I 

vom  Dnjepr  bis  zum  Wolchow  und  dem  Ladogasee  wurde  mit  einem  Netz 
selbständiger  kleiner  Reiche  überzogen,  unter  denen  sowohl  das  Fürstentum 
mit  beratender  Volksstimme  als  auch  —  wie  etwa  in  den  Handelszentren 
Nowgorod  und  Pskow  —  eine  fast  republikanische  Verfassung  vertreten  war, 
und  vor  äußeren  Gefahren  schützte  ein  föderativer  Verband  der  Einzelstaaten 
unter  der  Hegemonie  Kiews,  dessen  Herrscher,  gleichsam  zur  Führerrolle 
prädestiniert,  zur  Würde  von  Großfürsten  emporgestiegen  waren.  Dadurch 
hat,  trotz  feindseliger  Überfälle  und  Verwüstungen,  das  russische  Volk 
in  den  ersten  Jahrhunderten  seiner  historischen  Existenz  mit  erwachender 
Tatkraft  die  Eigenart  seiner  Lage  sich  nutzbar  zu  machen  gewußt.  Die  pro- 
duktiven Kräfte  wurden  vermehrt,  Wälder  ausgeholzt,  große  Strecken  Landes 
besät,  Flüsse  befahren,  ihre  Ufer  besiedelt  und  weitgehende  internationale 
Handelsbeziehungen  angebahnt.  Zwei  Meere  leuchteten  und  lockten  in 
der  Ferne  wie  Pforten,  die  in  die  Freiheit,  in  die  große  Welt  führten, 
und  sehr  lange  vor  Peter  dem  Großen,  der  „ein  Fenster  nach  Europa 
durchschla.gen  wollte",  hat  der  Unternehmungsgeist  des  Volkes  zu  jenen 
Ausgängen  vorzudringen  verstanden.  Mutige  Kriegszüge  und  Handels- 
interessen führten  nach  Konstantinopel;  durch  den  Verkehr  Nowgorods 
mit  den  skandinavischen  und  deutschen  Ländern  wurden  anfänglich  öko- 
nomische, später  kulturelle  Beziehungen  zu  Nordeuropa  angeknüpft.  Als 
sich  von  Byzanz  und  von  der  sich  unter  byzantinischem  Einfluß  befind- 
lichen südslawischen  Welt  aus  ein  Strom  von  Büchergelehrsamkeit  und 
religiöser  Propaganda  über  Rußland  ergoß,  stieß  die  aus  der  Fremde  im- 
portierte Kultur  auf  urwüchsige  Formen  volkstümlichen  Schaffens. 

Das  waren  reichhaltige  Schätze  einer  primitiven  Dichtkunst.  Das  Di« 
damals  wie  heute  vorwiegend  Ackerbau  treibende  Volk  war  mit  dem 
Leben  der  Natur  aufs  innigste  verwachsen  und  lieh  seinen  poetischen 
Vorstellungen  von  der  Natur  und  ihren  Kräften  in  Märchen,  Gesängen 
und  Spielen  Ausdruck,  die  nicht  selten  von  dramatischer  Lebendigkeit 
erfüllt  waren  und  im  Laufe  der  Jahrhunderte  seinem  Gedächtnis  nicht 
entschwunden  sind.  Das  heroische  Element,  denkwürdige  Begebenheiten 
aus  den  Kämpfen  mit  zahllosen  Feinden,  Heldentaten  der  mit  hervor- 
ragenden Kräften  begabten  Verteidiger  und  Anführer  verherrlichte  es  im 
Liede.  Und  wenn  es  ihm  nicht  gelungen  ist,  seine  eigene  Mythologie 
harmonisch  auszubauen,  so  hat  es  doch  seine  Gesänge  und  deren  Helden 
mythologisch  gestaltet,  indem  es  historische  Tatsachen  wunderbar  deutete 
und  reelle  Persönlichkeiten  mit  übernatürlichen  Eigenschaften  ausstattete. 
Diesen  Gesängen  (Bylinen)  war  eine  vielhundertjährige  Geschichte  be- 
schieden. Indem  die  Urgesänge,  dank  den  zwischen  den  verschiedenen 
Stämmen  bestehenden  Beziehungen,  mannigfache  Elemente  in  sich  auf- 
nahmen, aus  der  Sangeswelt  der  Nomaden  Mittelasiens  und  den  melan- 
cholischen Weisen  der  Finnen  neue  Anregung  schöpften,  indem  das  ira- 
nische Heldenepos  durch  Vermittlung  der  Tataren  und  Nordkaukasier  in 
ihnen  Widerhall  fand   und   in   der  Folge   den  Bylinen  sogar  naheliegende 


4^ 


Alexis  Wesselovsky  :  Die  russische  Literatur. 


Motive  der  europäischen  Literatur  assimiliert  wurden,  entwickelten  sie 
sich  immer  weiter  und  erhielten  sich  durch  die  Kunst  ihrer  Interpreten 
—  der  Rhapsoden.  Sie  folgten  den  Begebnissen  des  Volkslebens  und 
wurden  .später  zu  einer  besonderen  Art  historischer  Gesänge,  die  zum 
Beispiel  den  Einzug  der  russischen  Truppen  in  Paris  (1814)  oder  den 
Kampf  mit  den  Engländern  und  Franzosen  (1854  —  55)  zu  schildern  ver- 
mochten, jedoch  auch  die  sagenhafte  Vergangenheit  nicht  vernachlässigten 
und  in  dieser  zwiefachen  Gestalt  ins  20.  Jahrhundert  überkommen  sind, 
so  daß  im  Norden  des  europäischen  Rußlands  und  in  Sibirien  Hunderte,  ja 
fast  Tausende  dieser  Gesänge  niedergeschrieben  werden  konnten. 
Volkstümlich-  Das  dem  Volksbewußtsein  teure  Erbe,    die   dichterische  Deutung  der 

keit  und  Bücher-  ° 

Weisheit.  Natur,  die  Sagen,  Gebräuche,  Märchen  und  Lieder,  begegnete  dem  Einfluß 
der  byzantinischen  Kultur,  die  dem  Volke  mit  dem  Christentum  nicht  nur 
das  Alphabet  des  Cyrillus,  sondern  auch  die  klassische  Sprache  der  slawo- 
nischen  Bibelübersetzung  gebracht  hatte,  und  fand  vor  der  asketischen 
Mönchsweisheit  und  der  weltfremden,  abstrakten  Büchergelehrsamkeit 
keine  Gnade.  Eine  Aussöhnung  der  beiden  Strömungen  erschien  unmög- 
lich. Unter  dem  Zwange  der  wachsenden  Bedeutung  der  Gelehrsamkeit, 
die  sich  auf  die  Macht  der  Fürsten,  auf  die  Autorität  der  Geistlichkeit 
und  der  Klöster  stützte,  zog  sich  das  volkstümliche  Element  in  die  Ver- 
borgenheit zurück  und  gedieh  dort  in  der  bisherigen  Weise  oder  lernte 
zu  zwei  Göttern  beten,  indem  es  unter  dem  Deckmantel  des  Christentums 
seine  Liebe  zur  alten  Überlieferung  verbarg.  Als  es  die  Züge  der 
letzteren  in  der  geheimnisvollen  Welt  der  von  der  Kirche  verurteilten 
Apokryphen  erkannte,  schuf  es  aus  apokryphischen  Motiven  und  den 
Weisen  des  Volksliedes,  durch  Bearbeitung  der  Legenden,  die  es  lieb- 
gewonnen hatte,  da  sie  den  Schlüssel  zu  den  Geheimnissen  der  Natur  zu 
enthalten  schienen,  und  aus  Beschreibungen  des  Lebens  edler,  gerechter 
Männer,  die  für  das  Volk  gelitten  hatten,  den  bis  auf  den  heutigen  Tag 
existierenden  Typus  des  „g-eistlichen  Gedichts"  (ein  Mittleres  zwischen 
dem  mystischen  Hymnus  und  dem  epischen  Gesänge). 


A.   Von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts. 
Anfange  der  pro-  j_  Von  den  Anfängen  bis  zu  Peter  dem  Großen.    Im  Verlaufe  der 

lanen    Literatur.  '^^ 

Erste    wichtiüo  2git  aber  mußte  notwendigerweise  das  reale  Leben  in  den  Gesichtskreis  der 

-■Vnzcichen  ihrer  ^ 

sozialen  Bcdeu-  Bücherweisheit  treten.  Innere  Unruhen,  P'eindseligkeiten  und  Uneinigkeiten 
unter  den  Fürstentümern,  äußere  Gefahren  und  das  Zunehmen  sozialer  Un- 
gleichheit und  Willkür  riefen  die  ersten  weltlichen  Schriftsteller  auf  den 
Plan  und  stellten  sie  vor  das  Problem  des  Kulturkampfes.  Als  Vorboten  der 
gesellschaftlichen  Satire,  die  im  ig.  Jahrhundert  eine  Reihe  bedeutender 
Vertreter  fand,  machen  sie  sich  ihre  Vorgeschrittenheit  zunutze  und  treten 
mit  scharfen  Anklagen  hervor.    Ihre  Unfähigkeit,  das  Leben  zu  beschönigen, 


A.  Von  den  ältesten  Zeiten  bis  zumAusgang  des  i8.  Jahrh.  I.Von  denAnfängen  bis  zu  Peter  d.Gr.     ^3 

ihre  unbedingte  Wahrheitsliebe  läßt  in  ihnen  noch  einen  anderen  charakte- 
ristischen Zug  der  späteren  literarischen  Entwicklung  ihres  Volkes  in 
die  Erscheinung  treten  —  die  starke  Neigung  zum  Realismus.  Die  „Be- 
lehrung" von  Wladimir  Monomach  enthält  viele  humane,  an  die  Regenten 
gerichtete  Ratschläge  und  Warnungen  (u.  a.  einen  entschiedenen  Protest 
gegen  die  Todesstrafe)  und  ist  mit  Unzufriedenheit  durchsetzt.  In  der 
„Bittschrift"  eines  unschuldig  in  einem  entlegenen  Kerker  schmachten- 
den Arrestanten  namens  Daniel  an  seinen  Fürsten  kennzeichnet  der  un- 
bekannte Verfasser  die  sich  breitmachende  Ungerechtigkeit  und  Willkür. 
Der  demokratische  Unwille,  der  aus  diesem  Erzeugnis  des  1 2.  Jahrhunderts 
spricht,  läßt  es  den  politischen  Streitschriften  der  Gegenwart  dem  Geiste 
nach  verwandt  erscheinen.  Ein  noch  breiteres  und  ergreifenderes  Bild 
von  dem  Zustand  des  Landes  zur  Zeit  seiner  beginnenden  Zerstückelung 
und  seiner  politischen  Erniedrigung  entrollt  sich  in  der  „Mär  vom  Feld- 
zuge des  Igor"  aus  demselbea  Jahrhundert.  Ein  Häuflein  kühner  Fürsten 
opfert  sich  mit  seiner  Heerschar  für  die  Befreiung  des  Volkes  von  ge- 
fährlichen Feinden,  dem  tapferen  Steppenvolke  der  Polowzen  oder  Ku- 
manen.  Teilnahmlos  läßt  man  sie  untergehen.  Die  ehemalige  Solidarität 
besteht  nicht  mehr.  In  seiner  Trauer  und  Entrüstung  fordert  der  Dichter 
alle  abtrünnigen  oder  selbstzufriedenen  und  egoistischen  Machthaber  vor 
seinen  Richterstuhl  und  zerschmettert  sie  im  Namen  des  russischen  Volks 
durch  seinen  Wahrspruch.  Er  offenbart  zugleich  ein  großes  dichterisches 
Talent;  die  lebendige  und  dramatische  Schilderung  des  Feldzuges,  der 
Schlachten  und  der  Gefangenschaft,  die  poetische  Zeichnung  der  Natur, 
die  psychologische  Charakterisierung  des  Haupthelden,  die  reiche  Symbolik 
des  Stils,  die  sich  hauptsächlich  an  die  Volksgesänge  anlehnt,  weist  der 
Dichtung,  abgesehen  von  ihrer  sozialen  und  satirischen  Bedeutung,  einen 
hohen  Rang  in  der  alten  russischen  Literatur  an.  Was  die  Chanson  de 
Roland  den  Franzosen  und  das  Nibelungenlied  den  Deutschen  ist,  das  ist 
diese  Mär  dem  russischen  Volke.  Ihre  Entdeckung  und  Veröffentlichung 
(1800)  übte  eine  starke  Wirkung  auf  die  russische  Gesellschaft  aus,  und 
die  gleiche  Wirkung  wurde  überall  erzeugt,  wo  diese  Schöpfung  in  Über- 
setzungen bekannt  wurde.  Man  erinnere  sich  der  feinen  Äußerungen 
Wilhelm  Grimms  über  diesen  Gegenstand  (Wilhelm  Grimms  kleinere 
Schriften). 

Das   Aufblühen    einer    weltlichen,    von    der    geistlichen    Bildung    un-   Schicksal  der 

'  °  ^    .  Bildung  zur  Zeit 

abhängigen  Literatur,  die  sich  schon  frühzeitig  zu  Schöpfungen  einer  der  Tataren- 
50  hohen  ideellen  Reife  und  künstlerischen  Schönheit  als  fähig  er-  Nowgorod. 
wiesen  hatte,  wurde  im  Keime  erstickt,  als  die  Tataren  ins  Land  ein- 
drangen und  seine  Herren  wurden.  Wegen  der  ständigen  Gefahren,  die 
den  südrussischen  Ländern  drohten,  fanden  Übersiedelungen  in  die  zen- 
tralen Gebiete  und  noch  weiter  bis  hinter  die  Wolga  hin  in  großem 
Umfange  statt.  Die  ökonomischen  Wirkungen  dieser  Verschiebung  blieben 
nicht  aus;  es  entstanden  neue  Fürstentümer,  Städte   und  Klöster,  und  mit 


44 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


turellen    Hell 
lam       Moska 
Widerhall  wo 

europäische 

Gedanken. 

.Maiim    Gre 

der  Kolonisation  verbreiteten  sich  auch  die  Errungenschaften  der  Bildung. 
Die  Auswanderer  trugen  ihre  Gesänge,  ihre  Gebräuche,  das  belehrende 
byzantinische  Schrifttum,  die  Lebensbeschreibungen  der  Streiter  für  die 
russische  Kirche,  die  historischen  Aufzeichnungen  und  Annalen  in  entlegene 
Gegenden,  doch  die  Gefahr,  die  der  Kultur  drohte,  war  unabwendbar.  Die 
Ahnungen  des  Dichters  erfüllten  sich.  Das  in  kleine  staatliche  Einheiten 
zerfallene  Land  konnte  keinen  einmütigen  Widerstand  leisten.  Mit  dem 
politischen  Niedergang  trat  in  der  kulturellen  Entwicklung  ein  Stillstand 
ein.  Zwei  Jahrhunderte  verliefen  in  erdrückender  Abhängigkeit  und 
hinterließen  in  den  politischen  Ansichten  und  in  der  Sitte  des  Volkes  die 
Spuren  des  Siegers.  Nur  in  Nowg-orod,  das  außerhalb  der  Einflußsphäre 
der  Tataren  lag,  fand  die  Kultur  gedeihlichen  Boden:  dort  wurden  die 
Beziehungen  zur  Hanse  und  zu  Skandinavien  befestigt,  es  entwickelte  sich 
eine  lokale  Literatur,  unter  dem  Einfluß  der  deutschen  Gedankenwelt  er- 
wachte das  religiöse  Freidenkertum,  und  die  erste  Sekte  mit  stark  demo- 
kratischen Prinzipien  wurde  gegründet. 
Anfange  der  kni-  Als   die   nationale  Selbsttätigkeit  wiedergeboren  wurde,   als   sie   sich 

im  ganzen  Lande  organisierte,  um  das  Joch  abzuschütteln,  und  der  Aus- 
gangspunkt der  Befreiungsbewegung,  Moskau,  die  jüngste  unter  den 
russischen  Städten,  die  erst  im  12.  Jahrhundert  auf  dem  Schauplatze  der 
Geschichte  erscheint,  an  Stelle  der  früheren,  nunmehr  längst  erstorbenen 
Zentren  der  Kultur  und  des  politischen  Lebens  rasch  emporblühte,  konnten 
die  jäh  abgerissenen  Fäden  der  Zivilisation  unter  den  günstigeren  Lebens- 
bedingungen des  Moskauer  Großfürstentums,  um  das  sich,  dank  der  be- 
harrlichen Bemühungen  seiner  Regenten,  ganz  Rußland  zu  scharen  be- 
gann, weiter  gesponnen  werden.  Die  ehemaligen  Quellen  der  Bildung 
waren  aber  nicht  mehr  erreichbar  oder  versiegt.  Für  die  russischen 
Schriftsteller  gab  es  weder  einen  Weg  zur  Wissenschaft  und  Literatur  von 
Byzanz,  das  von  den  Türken  unterjocht  worden  war,  noch  zu  den  Süd- 
slawen oder  den  Schöpfungen  der  östlichen  Kultur,  die  ihnen  früher  von 
byzantinischen  Kompilatoren  vermittelt  worden  waren.  Der  Gang  der 
Ereignisse  wies  auf  eine  Annäherung  an  die  westliche  Kultur  hin.  Ein 
Widerschein  der  Gedankenwelt  der  Renaissance  begann  auch  in  Rußland 
leise  aufzuleuchten.  Die  Verkündigung  einer  Aufklärung,  eines  sitt- 
lichen und  sozialen  Aufschwungs,  ja  selbst  eine  neue  Kunst  fand  dort 
Eingang.  Pioniere  dieser  Bewegung  waren  eine  Gruppe  italienischer 
Künstler,  die  unter  Iwan  ITI.  aufgetaucht  war  und  sowohl  auf  die  Archi- 
tektur als  auch  auf  die  kirchliche  Malerei  einen  starken  Einfluß  ausübte, 
und  der  unter  dem  Namen  Maxim  Grek  in  der  Geschichte  der  russi- 
schen Bildung  fortlebende  Albanier,  der  seine  hervorragenden  Fähig- 
keiten in  Italien  zur  Entfaltung  gebracht  hatte.  Als  leidenschaftlicher 
sozialer  Agitator  und  Publizist  entwickelte  er  in  Hunderten  von  Schriften 
dem  Volke,  das  ihm  in  seinen  Träumen  als  Befreier  des  europäischen  Ostens 
erschien,    die    Notwendigkeit    vernünftiger    Staatsformen,    einer    gerechten 


A.  Von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Ausgang  des  1 8.  Jahrh.  I.  Von  den  Anfängen  bis  zu  Peter  d.  Gr.     4  5 

Gesetzgebung  und  einer  Ausbreitung  des  Wissens.  Einst  hatte  er  voll 
Begeisterung  den  Reden  Savonarolas  gelauscht  und  sich  von  der  Un- 
erschrockenheit  dieses  Mannes  hinreißen  lassen.  Nun  war  auch  er  bereit, 
für  seine  Überzeugungen  zu  leiden,  und  hat  auch  tatsächlich  dank  der 
Unduldsamkeit  der  Kirche  schwere  Verfolgungen  ertragen  müssen.  Seine 
Tätigkeit  bedeutet  eine  neue  Epoche  in  der  Geschichte  der  Literatur,  die 
sich  zu  Beginn  der  literarischen  Entwicklung  in  den  Dienst  der  sozialen 
Bestrebungen  gestellt  hatte  und  ihnen  bis  auf  den  heutigen  Tag  treu 
geblieben  ist. 

Maxim   Grek   findet   bereits   aufmerksame   Hörer;   er  wird    das  Haupt  Der  Kreis  von 

.  Maxim    Grek. 

eines   Kreises    neuer   Menschen,    die    sich    mit   der  bisherigen   Stagnation,      iwan  der 

'  .     .  Sclireckhche. 

der  nationalen  Exklusivität  und  dem  Absolutismus,  diesen  Grundprinzipien  DieUteraturder 
der  Moskauer  Politik  nicht  zufrieden  geben  konnten.  Der  bedeutendste 
unter  den  Schülern  Maxims,  Fürst  Kurbsky,  wurde  der  erste  russische 
Emigrant.  Von  seinem  polnischen  Zufluchtsorte  aus  geißelte  er  die 
Schwächen  des  Moskauer  Staatsbaues  und  focht  in  einem  höchst  inter- 
essanten Briefwechsel  mit  Iwan  dem  Schrecklichen  in  sehr  geschickter 
Weise  ein  Turnier  aus.  Die  hohe  Bedeutung  des  Buchdrucks  wurde  eben- 
falls von  Maxim,  der  in  Italien  Aldo  Manucci  nahe  gestanden  hatte,  ver- 
kündet, und  aus  dem  Moskauer  Kreise  gingen  die  Urheber  der  russischen 
Buchdruckerkunst  hervor.  Unter  den  letzteren  war  es  besonders  der 
Diakonus  Iwan  FedorofF,  der  in  seiner  durchs  ganze  Land  getragenen 
Propaganda  für  den  Buchdruck  einen  solchen  Idealismus  und  eine  solche 
Begeisterung  an  den  Tag  legte,  wie  sie  den  Aposteln  dieser  großen  Er- 
findung  eigen    zu    sein   pflegten. 

Die  Überzeugung  von  der  Notwendigkeit  lebendiger  Beziehungen 
zur  westeuropäischen  Kultur  errang  immer  neue  Siege.  Sie  übertrug 
sich  sogar  auf  einen  scheinbar  unbedingten  Vertreter  des  Absolutismus 
—  auf  Iwan  den  Schrecklichen,  in  dessen  komplizierter,  widerspruchs- 
voller, begabter,  jedoch  zerrütteter  Seele  eine  starke  Neigung  zum  Euro- 
päertum  erwachte.  Wenn  sein  Kampf  mit  den  vermeintlich  revolutionären 
Mächten  zeitweilig  ruhte  und  die  unmenschlichen,  vom  Verfolgungswahn 
diktierten  Hinrichtungen  aufhörten,  fand  diese  Neigung  in  der  Entsendung 
geeigTieter  Persönlichkeiten  nach  Deutschland  zur  Anwerbung  von  Spezia- 
listen aller  Art,  in  den  regen  Beziehungen  zu  England  und  in  einer  de- 
mütigen Verehrung  der  Königin  Elisabeth  ihren  Ausdruck.  Die  Aus- 
breitung der  neuen  Überzeugungen  bedeutete  bereits  eine  so  große  Gefahr 
für  den  orthodoxen  Konservatismus,  daß  seine  Anhänger  es  für  nötig 
hielten,  einen  Kodex  strenger  Sittenregeln  zu  verfassen,  um  den  schädi- 
genden Einflüssen  entgegentreten  zu  können.  Und  dasselbe  16.  Jahr- 
hundert, das  im  Leben  des  russischen  Volkes  zweifellos  eine  Zeit  des 
Umschwimges  bedeutet,  sah  das  Erscheinen  des  „Domostroi",  einer  eigen- 
artigen Anleitung  zu  einem  mustergültigen  Leben  in  der  Familie,  in  der 
Gesellschaft   und  im  Staat,    die  von  strenger  Religiosität  erfüllt  war,   un- 


a()  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

bedingte  Unterordnung   unter  die  Autorität,  eiserne  Zucht  in  der  Familie, 
völlige  Unterwerfung    des  Weibes   forderte   und  Furcht  vor   aller  Bildung 
an  den  Tag  legte. 
Selbständige  Aber  selbst  die  breiteren  Schichten  des  Volkes  zeigten   in  jener  Zeit 

Volks-  . 

bestrcbungcn  im  eine  Unverhohlene  Neigung  zur  neuen  Kultur,  zwar  nicht  im  Zarentum 
Biidungseinfluß  Moskau,  sondcm  in  dem  von  dem  nationalen  Kern  losgerissenen,  unter 
der  Wissen"  Polcns  Herrschaft  geratenen  Grenzlande.  Kiew,  das  einst  die  Wiege  der 
russischen  Bildung  gewesen  war,  widmete  sich  nunmehr  mit  erneutem 
Eifer  der  Ausbreitung  des  Wissens.  Das  war  die  Tat  und  das  Verdienst 
kleiner  Leute,  der  Bürger  und  Bauern,  die  das  Recht  der  Nationalität 
verteidigten,  Brüderschaften  gründeten,  mit  vereinten  Kräften  ein  System 
von  Lehranstalten  —  elementaren,  mittleren  und  Hochschulen  —  schufen, 
der  Bildungspropaganda  des  Polentums  Widerstand  entgegensetzten,  ihr 
jedoch  Methoden  und  Wissen  entlehnten,  um  sie  zum  Nutzen  des  eigenen 
Volkes  zu  verwenden.  Während  Moskau  sich  noch  im  Vorstadium  euro- 
päischer Kultur  befand,  wurde  im  südwestlichen  Rußland  schon  am  Ende 
des  i6.  Jahrhunderts  das  Kiewer  Kollegium  (später  zu  einer  Akademie 
ausgestaltet)  begründet,  woselbst  der  Grundstein  zur  russischen  Wissen- 
schaft gelegt  und  die  Kunstdichtung  geschaffen  wurde,  indem  die  Lehrer  u.  a. 
die  ersten  Schuldramen  dichteten  und  sie  zur  Aufführung  brachten.  Die 
Einflußsphäre  dieser  Pflanzstätte  der  Bildung  erweiterte  sich  bald.  Die 
polnische  Kultur  wurde  zur  Vermittlerin  zwischen  den  erwachenden  literari- 
schen Bedürfnissen  und  der  Produktion  des  Abendlandes.  Ein  frischer 
Zug  weltlicher  Anschauungen  drang  in  die  enge,  sorgsam  behütete  Ab- 
geschlossenheit des  gesamten  russischen  Lebens.  Aus  dem  Polnischen 
übertragene  Romane  und  Novellen  sprachen  von  bisher  verbotenen  Dingen; 
die  Leidenschaften,  der  Kultus  der  Frau,  die  realen  Lebensverhältnisse, 
der  Spott  der  Skepsis  oder  der  harmlosen  Heiterkeit,  die  Tragödie  der 
Liebe  oder  der  Sarkasmus  des  Decamerone  Boccaccios  —  alles  wurde 
nunmehr  zugänglich  gemacht  und  übte  eine  unwiderstehliche  Anziehungs- 
kraft aus. 
Die  Aufki.iru.ig  Im   1  j.  Jahrhundert  übertrugen  sich  die  Wogen  der  Aufklärung  nach 

17.  Jahrhundert.  Moskau.    Die  anhaltenden  revolutionären  Erschütterungen  der  Periode  der 

Politische  ° 

Schriften.  Wirren,  die  andauernde  polnische  Okkupation  und  der  den  Ausländern 
in  weitem  Umfange,  wenn  auch  widerwillig  g-ewährte  freie  Zutritt  unter- 
gruben die  ehemals  gewahrte  Isolierung.  Das  Bedürfnis  nach  neuen 
Ideen,  Formen  und  Menschen,  nach  lebendigen  Beziehungen  zu  der  Außen- 
welt, sowie  nach  einer  Entfaltung  der  Selbsttätigkeit  war  nach  der  Bei- 
legung der  Wirren  natürlich.  Dennoch  mußte  ein  volles  Jahrhundert,  die 
lange  Zeit  bis  zum  Erscheinen  Peters  des  Großen,  verstreichen,  ehe  diesem 
Bedürfnis  Genüge  geleistet  wurde.  Die  südrussische  Bildung-  samt  ihren 
europäischen  Quellen  wird  endlich  im  zentralen  Rußland  heimisch.  In 
Moskau  wurde  durch  die  Gründung  einer  geistlichen  Akademie  ein  wissen- 
schaftlicher Mittelpunkt  geschaffen.     Mit  Hilfe  deutscher  Lehrmeister  (des 


A.  Von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Ausgang  des  iS.Jahrh.  II.  Von  Peter  d.  Gr.  bis  zu  Alexander  I.    ^y 

protestantischen  Pastors  Joh.  Gottfr.  Gregor)^)  und  ihrer  russischen  Zöglinge 
kam  ein  weltliches  Theater  zustande,  auf  dessen  Bühne  sowohl  pathetische 
Dramen  als  auch  heitere  Komödien  in  Übersetzungen  zur  Aufführung  ge- 
langten und  selbst  das  Repertoire  aus  Shakespeares  Zeiten  (ein  Drama 
Marlowes)  Aufnahme  fand.  Die  Verbreitung  übertragener  Novellen  regte 
interessante  Versuche  einheimischer  Schriftsteller  an,  und  das  Bild  des 
zeitgenössischen  Lebens  spiegelte  sich  in  den  Werken  dieser  frühesten 
Vorgänger  Gogols  in  ungeschminkter  Treue.  Das  Volksleben  wird  jedoch 
auch  der  viel  strengeren  Kritik  der  erwachenden  sozialpolitischen  Be- 
trachtung unterworfen.  In  einer  polemisch  gehaltenen  (in  Schweden, 
während  der  Emigrantenjahre  des  Autors  verfaßten)  Beschreibung  des 
ganzen  russischen  nationalen  Systems,  die  ein  Mitglied  des  auswärtigen 
Amtes,  Kotoschichin,  geliefert  hat,  wird  der  Stillstand  der  Entwicklung, 
die  Unwissenheit  und  Knechtschaft  erbarmungslos  gekennzeichnet.  Die 
Überzeugung  von  der  Notwendigkeit  umfassender  Reformen,  von  der 
diese  Arbeit  getragen  wird,  kreuzt  sich  mit  dem  Traum  der  großen 
Befreiungsmission  des  wiedergeborenen  Landes:  von  seinen  alten  Ge- 
brechen befreit,  wird  es  stark  und  rein  dem  gesamten  Slawentum  als  Retter 
erscheinen.  Dieser  Traum,  der  zum  erstenmal  den  Gedanken  der  späteren 
Slawophilen  zum  Ausdruck  bringt,  war  das  Credo  des  Kroaten  Krishanitsch, 
eines  aus  dem  fernen  Süden  eingewanderten,  äußerst  talentvollen  Fremd- 
lings, der  den  größten  Teil  seines  Lebens  der  Verkündigung  reformato- 
rischer Ideen  und  allslawischer  Politik  gewidmet  hat  und  seine  gefähr- 
lichen, aufrührerischen  Reden  mit  einer  langjährigen  Verbannung  nach 
Sibirien  büßen  mußte,  woselbst  seine  hervorragendsten  Werke  zustande 
gekommen  sind. 

IL  Von  Peter  dem  Großen  bis  zu  Alexander  I.    Die  Gedanken- Peter  der  GroSe 

uad   seine  Zeit. 

weit,  aus  der  solche  überzeugte  Vertreter  des  Kulturfortschrittes  heraus- 
gewachsen waren,  trieb  unaufhaltsam  dem  Europäertum  entgegen.  Die 
schäumende  Energie  Peters  des  Großen  brachte  in  diese  Bewegung  jenes 
fieberhafte  Treiben,  das  alles  Zögern  und  alle  Folgerichtigkeit  in  der  An- 
eignung fremder  Errungenschaften,  die  dem  russischen  Entwickelungsstande 
oft  um  ein  oder  zwei  Jahrhunderte  voraus  waren,  beiseite  schob  und  den 
verschiedenartigsten  Strömungen  der  abendländischen  Kultur  zu  folgen 
suchte.  Ein  Programm  der  Volksbildung  von  noch  nie  dagewesenem  Um- 
fange wurde  entwickelt.  Durch  zahllose  Übersetzungen  wurden  die  Sozial- 
wissenschaften, die  Geschichte,  die  exakte  Forschung,  die  Technik,  das 
Militär-  und  Seewesen  dem  Volke  zugänglich  gemacht.  In  Peter  selbst, 
der  durch  keine  Schule  gegangen,  aber  mit  genialem  Verständnis  begabt 
war  und  bei  einem  Leibniz  und  Christian  Wolff  Rat  und  Hilfe  zu  suchen 
pflegte,  glühte  eine  unauslöschliche  Begeisterung  für  die  Wissenschaften. 
Der  hingebende  Kultus,  den  er  mit  ihnen  trieb,  läßt  seine  oft  brutal  hervor- 
brechende  Eigenmächtigkeit    in    einem    milderen  Lichte    erscheinen.     Die 


,g  Alexis  Wesselovsky:   Die  russische  Literatur. 

zwar  nicht  zahlreichen,  aber  aufrichtigen  Reformenthusiasten  aus  allen 
Schichten  der  Gesellschaft  widmeten  sich  nunmehr  auch  diesem  Kultus 
und  bemühten  sich,  wie  z.  B.  der  Publizist-Autodidakt  Possoschkoff,  ein 
Bauer  aus  Moskaus  Umgebung,  der  in  kunstloser  Form  treffende  volks- 
wirtschaftliche Betrachtungen  zur  Darstellung  brachte  und  ein  System 
des  Schulwesens,  angefangen  von  der  obligatorischen  Volksschule  bis 
zur  Universität,  entwarf,  gemeinsam  mit  dem  Zaren  das  Vaterland  empor- 
zuziehen, während  Millionen  am  Werke  waren,  den  Aufschw^ung  zu  ver- 
hindern. Die  Entwicklung  der  Literatur  im  engeren  Sinne  des  Wortes 
rückte,  inmitten  dieser  steten  Sorge  um  das  unmittelbar  Nützliche,  auf 
den  zweiten  Plan;  der  Zar-Reformator,  dem  auch  auf  diesem  Gebiete  die 
Führerrolle  zuzufallen  schien,  war  von  schriftstellerisch  nur  mittelmäßig 
begabten  Leuten  umgeben.  Der  allgemeine  Geist  dieser  Epoche,  die  den 
Kulturfortschritt  auf  ihr  Banner  geschrieben  hatte  und  den  kommenden  Zeiten 
vermachte,  sowie  die  Erkenntnis  der  hohen  Bedeutung  des  gedruckten 
Wortes,  erzogen  jedoch  ein  Schriftstellergeschlecht,  dessen  Jugend  zwar 
in  die  Blütezeit  der  reformatorischen  Tätigkeit  Peters  fiel,  dessen  Schaffen 
aber  der  folgenden  Periode  angehörte.  Diese  Männer  hatten  Peter  viel- 
leicht nie  persönlich  gekannt,  doch  griffen  sie  seine  Anregungen  auf  und 
hielten  ihm  die  Treue,  als  nach  seinem  Ableben  die  Reaktion  hereinbrach, 
die  seine  wichtigsten  Schöpfungen  zu  vernichten  drohte.  Sie  waren  das 
lebendige  Glied,  das  die  Epoche  der  Reformen  mit  dem  Zeitalter  der  Auf- 
klärung, des  Enzyklopädismus,  verband,  und  zugleich  die  Stammväter  der 
neuen  russischen  Literatur. 
Die  Vollender  Aus  allen  Gesellschaftsschichten  waren  sie  hervorgegangen.    An  ihrer 

Peters  des     Spitze  aber  stand  wiederum  ein  Vertreter  des  Bauerntums,  Lomonossoff, 

Großen. 

Lomonossoff  und  der  von  den  Ufern  des  Weißen  Meeres  um  der  Wissenschaft  willen  nach 
genossen.  Moskau  gekommen  war  und  sich  später  in  Deutschland  der  Natur- 
geschichte und  der  Philosophie  gewidmet  hatte.  Er  war  ein  hervor- 
ragender Geist  von  europäischem  Ruf,  Denker  und  Dichter  zugleich, 
ein  Reformator  der  russischen  Dichtkunst,  ein  demokratischer  Publizist 
und  der  Begründer  der  ersten  russischen  Universität  in  Moskau  (1755). 
Auf  den  Grenzgebieten  seines  Arbeitsfeldes,  auf  dem  Gebiete  der  Satire, 
des  Drama.s,  der  Komödie,  der  Journalistik  und  Geschichtschreibung  taten 
sich  seine  Zeitgenossen  Kantemir,  Ssumarokoff  und  Tatischtscheff  hervor, 
Männer,  unter  denen  oft  Uneinigkeit  herrschte,  und  die  sich  untereinander 
befehdeten,  die  jedoch  alle  in  gleicher  Weise  den  höheren  Interessen  der 
Kultur  und  der  Arbeit  zum  Wohle  des  Volkes  ergeben  waren.  Es  hatte 
fast  den  Anschein,  als  erweitere  die  Entwicklung  der  Kunstdichtung  die 
Kluft  zwischen  den  ungebildeten  Massen  und  den  verfeinerten  oberen 
Schichten  der  Gesellschaft,  die  von  den  Reformen  Peters  am  meisten  er- 
griffen worden  waren.  Dennoch  wurden  die  allgemeinen  Volksinteressen 
nie  aus  dem  Auge  gelassen  und  fanden  in  Lomonossoff  einen  fanatischen 
Verteidiger.     Jene  Männer  fühlten  die  ganze  Schwere  der  Verantwortlich- 


A.  Von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Ausgang  des  1 8.  Jahrh.  II.  Von  Peter  d.  Gr.  bis  zu  Alexander  I.     ^q 

keit  ihres  Berufes  und  unterwarfen  sich  nicht  dem  herrschenden  Obskuran- 
tismus, der  Schreckensherrschaft  Birons.  Als  sie  von  der  Bühne  traten, 
stand  die  Sonne  hoch,  vom  Westen  her  drangen  der  befreiende  Geist 
einer  neuen  Philosophie,  der  streitbare  Sarkasmus  Voltaires,  die  staats- 
männische Weisheit  Montesquieus  und  die  aufklärenden  Lehren  der  En- 
zyklopädisten ins  Land.  Die  alten  Prinzipien  gerieten  ins  Wanken,  und 
das  Evangelium  der  Humanität  wurde  den  rechtlosen,  in  Finsternis  dahin- 
lebenden Volksschichten  verkündet. 

Unaufhaltsam  griff  die  Befreiungsbewegung  um  sich,  gleichviel  ob  sie    Die  Epoche 
in    der    Person    Katharinas    IL    eine    demonstrativ    leidenschaftliche    Be-  Der  Enzykiopä- 
schützerin  fand,  oder  ob  sie  von  selten  dieser  „Semiramis   des  Nordens",  Die  literarischen 

'  ^  Parteien. 

dieser  Freundin  der  Philosophen,  die  den  Glauben  an  ihre  Ideale  verloren 
hatte  und  durch  das  Selbstherrschertum  vergiftet  worden  war,  in  der 
zweiten  Hälfte  ihrer  Regierungszeit  Bedrängnis  und  Verfolgung  erdulden 
mußte.  Anfangs  hatte  die  Bewegung  unter  dem  Protektorat  der  schrift- 
stellernden  Kaiserin  gestanden,  die,  ohne  literarisch  hervorragend  begabt 
zu  sein,  sich  auf  allen  Gebieten  versuchte  und  die  Führerrolle  nicht  aus 
der  Hand  geben  wollte.  Dann  aber  war  es  zu  einem  Zusammenstoß  mit 
Individualitäten  gekommen,  die  sich  nicht  von  oben  beeinflussen  lassen 
wollten,  sondern  ihre  eigenen  Wege  gingen  und  vor  einer  offenen  Dar- 
legung ihrer  Überzeugungen  nicht  zurückschreckten.  Damals  entstanden  die 
ersten  literarischen  Parteien:  die  gemäßigt-fortschrittliche  mit  Katharina 
an  der  Spitze,  die  von  der  Idee  der  Nächstenliebe  und  der  sittlichen 
Vervollkommnung  getragene  Richtung,  die  ihren  Ausgangspunkt  im  Frei- 
maurertum  nahm,  femer  die  Partei  der  Anhänger  des  politischen  Fort- 
schrittes, radikaler  Reformen,  allgemeineuropäischer  Zivilisation,  und 
schließlich  die  Gruppe  jener  Leute,  die  im  Gegensatz  zu  den  anderen  an 
dem  nationalen  System  festhielten,  sich  vor  der  alten  Überlieferung  beugten 
und  es  fertig  brachten,  eine  äußerlich  europäische  Lebensform  mit  dem 
längst  erloschenen  Geiste  der  Vergangenheit  zu  erfüllen.  Von  diesem 
Hintergründe  heben  sich  die  Gestalten  einiger  Männer  ab,  die  viel  Talent, 
nicht  wenig  Originalität  und  —  was  noch  wichtiger  ist  —  als  Bürger 
einen  seltenen  Mut  besaßen. 

Die   Regrentin,    von   der   scheinbar   alle   Initiative   ausging,   suchte  mit  ?.<=■■  Kampf  der 

ö  '  o       C"  Literatur  mit  der 

den  Koryphäen  Europas  in  Verbindung  zu  treten,  unterhielt   mit  Voltaire   CeseWschafts- 
einen  scharfsinnigen  Briefwechsel,  lockte  Diderot  nach  Petersburg,  lauschte    yJ^°Y'.'^°^'  , 
mit  Interesse    seinen    geistvollen  Improvisationen    über    die   Wiedergeburt  Radischtschew. 
Rußlands    durch    konstitutionelle   Freiheit,    um    später   keinen    seiner   Rat- 
schläge   zu    befolgen.     Während    sie    sich    im   Ruhme    des    philosophisch- 
humanitären Glaubensbekenntnisses  sonnte,  das  sie  in  der  „Instruktion"  für 
die  zur  Ausarbeitung  von  Gesetzen  einberufene  Kommission  ausgesprochen 
hatte  (obgleich  die  Lage  des  Volkes  sich  verschlimmerte,  die  angekündigten 
Reformen    zurückgezogen    wurden    und    die    Willkür    überall    Platz    griff), 
verkörperte    sich    der    geistige    Gehalt    der  Epoche    in    den    begabtesten 

DiH  Kultur  der  Gegenwart.    I.  o.  4 


50 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


Schriftstellern.  Der  tatkräftige  Philanthrop  und  Freimaurer  Nowikoff  trat 
für  wahre  Bildung-  ein,  indem  er  die  allgemeine  Volksschule  schuf,  große  Ver- 
lagsanstalten, die  Rußland  mit  Übersetzungen  nützlicher  Werke  versorgten, 
gründete,  sich  an  die  Spitze  der  besten  russischen  Zeitung  stellte  und  eine 
Reihe  von  satirischen  Zeitschriften  ins  Leben  rief,  um  nicht  nur  die  allgemein 
menschlichen  Gebrechen  ans  Licht  zu  ziehen,  sondern  um  vor  allen  Dingen 
die  empörenden  russischen  Verhältnisse,  insbesondere  die  Institution  der  Leib- 
eigenschaft, zu  geißeln.  Letztere  hatte  sich  unter  dem  Einfluß  volkswirt- 
schaftlicher Verhältnisse  erst  in  den  vierziger  Jahren  des  17.  Jahrhunderts 
entwickelt  und  entfesselte  bereits  ein  Jahrhundert  später  einen  Sturm  der 
Entrüstung  in  der  Literatur.  Die  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften  Xowi- 
koffs  stimmen  in  ihren  abstoßenden  Schilderungen  der  Leibeigenschaft 
mit  der  düsteren  Tragik  der  Komödie  Vonwisins  „Nedorossl"  überein  und 
werden  nur  von  dem  leidenschaftlichen  Protest  des  besten  politischen 
Schriftstellers  Rußlands  im  1 8.  Jahrhundert,  Radischtschew,  übertroffen. 
In  der  nach  dem  Muster  der  „Sentimental  Journey"  Sternes  verfaßten 
„Reise  von  Petersburg  nach  Moskau"  weist  Radischtschew,  der  die  belle- 
tristische Form  um  des  leichteren  Verständnisses  willen  wählte,  mit  äußerster 
Schärfe  auf  die  bestehende  Knechtschaft  hin  und  schildert  ausführlich,  wie 
die  Befreiung  der  Bauern  in  gerechter  Weise  vollzogen  werden  könnte.  Für 
ihn  ist  dies  wie  im  19.  Jahrhundert  für  Turgenieff  die  Kardinalfrage.  Um 
das  Übel  zu  bekämpfen,  leistete  er  gleich  dem  Verfasser  der  „Memoiren 
eines  Jägers"  seinen  „Hannibal-Schwur".  Wie  er  in  einem  Kapitel  über 
die  Geschichte  der  Zensur  die  Freiheit  des  gedruckten  Wortes  kategorisch 
fordert,  so  kommt  er  durch  zahllose  Beispiele  von  Unterdrückung  zur 
Überzeugung  von  der  Notwendigkeit  einer  völligen  Befreiung  der  Be- 
völkerung und  der  Zuweisung  von  Land  an  die  Bauern. 
Verfolgung  der  Eine  der  besten  Stellen  des  Buches  ist  die  phantastische  Schilderung 

Katharina,  cines  TrEumes :  die  Wahrheit  kommt  zu  einem  Herrscher,  der  von  schein- 
bar ergebenen  Höflingen  umgeben  ist  und  vom  Elend  seines  Volkes 
keine  Ahnung  hat;  sie  öffnet  ihm  die  Augen,  und  nun  offenbart  sich  ihm 
die  entsetzliche  Lage  des  Landes  und  die  Erbärmlichkeit  der  Höflinge  in 
ihrer  ganzen  Blöße.  Radischtschew  hatte  wahrscheinlich  eine  solche  Er- 
leuchtung auch  für  Katharina  erhofft.  Doch  die  Wahrheit,  die  in  ihm, 
Nowikoff,  Vonwisin  und  anderen  Verfechtern  des  Freiheitsgedankens  ihre 
Vertreter  fand,  war  im  anscheinend  philosophischen  Zeitalter  ein  unliebsamer 
und  gefährlicher  Gast.  Radischtschew  büßte  seinen  politischen  Liberalismus 
mit  Verbannung  in  einen  entlegenen  Winkel  Sibiriens,  und  der  politisch 
neutrale  Freimaurer  Nowikoff  wurde  für  seine  Predigt  der  Humanität  und 
Zivilisation  in  die  Festung  gesperrt,  die  er  erst  als  gebrochener  Greis 
wieder  verließ.  Jedes  freiheitliche  Wort  in  der  Literatur,  wie  z.  B.  eine  von 
Knjaschnin  verfaßte  Tragödie,  „Wadim",  die  die  alte  republikanische  Ver- 
fassung Nowgorods  verherrlichte,  war  Verfolgungen  ausgesetzt.  Das  schier 
endlose  Martyrium  der    russischen  Schriftstcllerwelt   nahm    seinen  Anfang. 


B.    Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.      I.    Alexandrinische  Periode.  51 

In  trüber  Stimmung  beschloß   die  russische  Gesellschaft   und  mit  ihr  Reaktion  unter 

Katharina      und 

die    Literatur    das    1 8.  Jahrhundert.     Katharina    und    ihr  Nachfolger  Paul,  i'aui.  Besinn  der 

Aloxandrini- 

ein  Fanatiker  des  Konservatismus,  der  sich  nicht  einmal  wie  seine  Mutter  sehen  Epoche. 
wenigstens  in  den  Jugendjahren  für  die  Ideale  seiner  Zeit  begeistert  hatte 
und  nun  die  sinnlose  Aufgabe  auf  sich  nahm,  ihnen  entgegenzutreten,  das 
Leben  rückwärts  strömen  zu  lassen,  schienen  unter  dem  Eindruck  der 
französischen  Revolution  und  der  Volksaufstände  im  eigenen  Reiche  alles 
tun  zu  wollen,  um  die  soziale  und  literarische  Bewegung  zu  schwächen 
und  unschädlich  zu  machen.  Endlich  herrschte  Schweigen,  die  Ruhe  des 
Kirchhofs  —  aber  das  war  nur  Schein.  Im  geheimen  gediehen  die  Ideen, 
die  bereits  Wurzel  gefaßt  hatten,  und  die  Traditionen  der  leitenden  lite- 
rarischen Kreise  wurden  treulich  bewahrt,  ja  sie  traten  gelegentlich,  sogar 
während  der  unerträglichen  Regierungszeit  des  Zaren  Paul,  ans  Tages- 
licht. Im  Jahre  1801  machte  die  Palastrevolution  der  Tyrannei  ein  Ende 
und  in  Alexander  L,  der  nach  Katharinas  Willen,  den  Neigungen  seines 
Vaters  zum  Trotz,  von  einem  ausländischen  Pädagogen,  Laharpe,  in  den 
Ideen  der  Menschlichkeit  und  Zivilisation  erzogen  worden  war,  bestieg  ein 
Vertreter  der  französischen  Philosophie  des  18.  Jahrhunderts  den  Thron. 
Jetzt  endlich  lösten  sich  die  von  der  Reaktion  niedergehaltenen  Kräfte, 
der  Zusammenhang  der  Gedankenevolution  wurde  wiederhergestellt  und 
verkündete  den  Beginn  eines  goldenen  Zeitalters. 


B.  Die  erste  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 

(Zeitalter  Alexanders  I.  und  Nikolaus'  I.) 
I.     Alexandrinische    Periode.      Obgleich    die   Beseitigung   aller     »ie  ersten 

=>  6        &  SrhriftsteUerdes 

Entwicklungshemmnisse   und   die  Befreiuner   der  im  Volke  schlummernden  lu.  Jahrhunderts. 

°  °    ..  Sliukowsky, 

Kräfte    tatsächlich    als   Devise    der   neuen   Ära   gelten   konnten,    verliefen n^'™schko«F und 

°  '  il.ro  Nachfolger. 

die  ersten  Jahre  farblos,  ohne  nennenswerte  schöpferische  Leistungen 
—  so  sehr  hätten  die  andauernden  reaktionären  Einflüsse  alle  Energie 
und  Schaffenskraft  gelähmt.  Als  aber  eine  junge  Generation  heran- 
reifte, die,  in  größerer  P"reiheit  aufgewachsen,  über  eine  seltene  Aus- 
lese glänzender  Talente  verfügte,  deren  Ziel  es  war,  die  Förderung  der 
sozialen  Bestrebungen  mit  künstlerischer  Reife  zu  verbinden,  trat  die  Be- 
deutung der  vollzogenen  Umwälzung  deutlich  hervor.  Der  Weg  wurde 
dieser  Jugend  von  zwei  Vorläufern,  die  bereits  im  18.  Jahrhundert  auf- 
getreten waren,  gewiesen:  von  Shukowsky,  dem  Dichter  der  „Gefühlsselig- 
keit", „des  süßen  Wahnes",  der  nebelhaften  Träume,  der  zuerst  unter  dem 
Einfluß  von  Grray,  Young  und  Bürger  gestanden  und  sich  dann  für  Schiller 
und  die  deutschen  Romantiker  begeistert  hatte,  und  von  dem  Realisten 
Batiuschkoff,  der  ein  Verehrer  plastischer  Schönheit  und  leidenschaftlicher 
Affekte  war.  Als  Vertreter  zweier  entgegengesetzter  Richtungen  schienen 
sie    besonders    dazu    geeignet,    der   Dichtkunst    die    nötige    Mannigfaltig- 

4* 


52 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur 


keit  und  Fülle  der  Entwicklung  zu  verleihen,  sowie  ihre  Befreiung  aus  den 
Banden  des  pseudo-klassischen  Formalismus  und  des  äußerlichen  Glanzes, 
der  besonders  von  dem  begabten  Dershawin,  dem  Barden  Katharinas,  in  die 
Poesie  hineingetragen  worden  war,  zu  vollziehen.  Ihre  Nachfolger  waren  eine 
Gruppe  sie  weit  überragender  Talente,  die  berufen  waren,  eine  tiefe  Spur 
im  Leben  und  in  der  Kunst  ihrer  Zeit  zu  hinterlassen.  In  erster  Reihe  war 
es  Gribojedoff,  der  seine  Anklagen  gegen  die  Gesellschaft  im  Gewände  der 
Komödie  vorzutragen  wußte,  femer  Puschkin,  der  von  einem  ganzen  Stabe 
von  Dichtern,  Kritikern  und  Publizisten  umgeben  war  und  über  die  literarisch 
tonangebenden  Organe  „Der  Polarstern"  und  der  „Moskauer  Telegraph" 
verfügte,  schließlich  aber  die  liberalen  Vertreter  der  Universitätswissen- 
schaften, insbesondere  die  Juristen.  Ihre  Nachfolger  waren  die  Repräsen- 
tanten des  bürgerlichen  Typus,  die  sich  eben  durchzusetzen  begannen, 
unter  anderen  der  tiefsinnige,  redliche  und  unabhängige  Tschaadaew, 
dem  es  gelang,  selbst  Puschkin  auf  die  Bahnen  eines  politischen  Dichters 
zu  führen. 
Der  Kampf  des  Die  fortschrittUche  Strömung  stieß  aber  bald  auf  den  Widerstand  der 

Nationalismus  ° 

mit  der  fort-    von    ihr    aufgerüttelten    konservativen    Kreise    der    Literatur    und    Gesell- 

schrittlichen 

Richtung.  Schaft,  die  sich  bereits  im  i8.  Jahrhundert  in  der  Bekämpfung  zivili- 
satorischer und  revolutionärer  Ideen  der  Reaktion  angeschlossen  hatten. 
Den  konstitutionellen  Bestrebungen,  den  allgemeinmenschlichen  Kultur- 
interessen, der  politischen  und  religiösen  Gedankenfreiheit  wurde  das 
Bild  einer  idealisierten  Vergangenheit,  das  feste  Gefüge  der  bestehen- 
den Staatsverfassung,  die  patriarchalische,  unbegrenzte  Macht  des  Allein- 
herrschers, die  Ehrfurcht  vor  den  unerschütterlichen  Traditionen  der  recht- 
gläubigen Kirche  entgegengehalten.  In  dem  Widerstreben  gegen  den 
Geist  der  neuen  Zeit  begegneten  sich  die  Nationalisten,  Mystiker,  Klerikalen 
und  Dunkelmänner.  Die  drohende  Gefahr  einer  napoleonischen  Invasion 
und  später  der  Einfall  der  französischen  Armee  ins  Land  gewährten  ihnen 
die  Möglichkeit,  die  Vertretung  europäischer  Kulturideale  als  Landesverrat 
zu  kennzeichnen.  Die  Wirksamkeit  patriotischer  Pamphlete,  politischer 
Tragödien  und  der  hetzenden  Propaganda  der  Presse,  die  Verspottung  des 
Kosmopolitismus  und  der  Gallomanie  in  der  Komödie  hatte  aber  im  Jahre 
1812  keineswegs  ihren  Höhepunkt  erreicht,  sondern  sie  verschärfte  sich 
noch,  als  der  mächtige  Feind  vernichtet  war,  Europa  von  den  revolutio- 
nären Ideen  befreit  schien  und  Rußland  die  unvorhergesehene  Aufgabe 
zufiel,  die  Führerrolle  bei  diesem  Rettungsversuch  zu  übernehmen.  In  der 
Reihe  der  Gegner  allen  Fortschritts  stand  der  Historiker  Karamsin,  der 
mit  den  Idealen  seiner  Jugend  gebrochen,  seine  bedeutende  literarische, 
journalistische  und  kritische  Begabung  unter  dem  Druck  der  Reaktion 
erstickt  hatte,  um  sich  lange  Jahre  hindurch  mit  erstaunlichem  Fleiße  der 
Erforschung  des  Altertums  hinzugeben,  als  deren  Ergebnis  neben  der 
wertvollen  Sichtung  geschichtlicher  Tatsachen  seine  Verehrung  für  die 
alten  Grundlagen   des  Staates  und  seine  konservativen  Tendenzen  zu  be- 


B.    Die  erste  Hälfte  des    19.  Jahrhunderts.     I.    Alexandrinische  Periode.  jj 

trachten  sind,  die  (insbesondere  in  dem  „Memorandum  über  das  alte  und 
neue  Rußland")  den  anmaßenden  Neuerungen  gegenüber  als  sogenannte 
„Lehren  der  Geschichte"  ihren  Ausdruck  fanden. 

Als  Alexander  den  Thron  bestieg,  erklärte  er  im  Geiste  seiner  Groß-   nie  Reaktu 

,  ,  .  unter  AleL-ini 

mutter    regieren    zu    wollen.      Seine    innere    Politik    wies   tatsächlich    eine    und  ihre  u 

-  .  r,  ,  ,  Sachen. 

gewisse  Übereinstimmung  mit  derjenigen  Katharinas  auf:  wie  bei  dieser 
folgte  auch  unter  ihm  einer  Periode  demonstrativer  Hinneigung  zu  Fort- 
schritt und  Freiheit  die  Reaktion.  In  den  ersten  Monaten  seiner  Regie- 
rungszeit hatte  er  den  Mut  gehabt,  Radischtschew,  diesem  gefährlichen 
Radikalen  aus  der  Epoche  Katharinas,  nicht  nur  die  volle  Freiheit  wiederzu- 
geben, sondern  ihn  auch  in  ein  Reorganisationskomitee  zu  berufen,  ihm  die 
Möglichkeit  zu  gewähren,  seine  erstaunlichen  Fähigkeiten  in  den  Dienst  der 
Gesamtheit  zu  stellen  und  eine  neue,  vielversprechende  Tätigkeit  zu  ent- 
falten. Leider  setzte  Radischtschew  selber  zum  großen  Leidwesen  aller 
Freunde  der  Freiheit  seinem  Schaffen  ein  Ziel,  indem  er  in  einem  Anfall 
von  H}TDOchondrie,  an  der  er  seit  seiner  sibirischen  Verbannung  litt,  Hand 
an  sich  legte.  Im  Laufe  der  Zeit  aber  änderten  sich  die  Anschauungen 
des  Zaren  immer  mehr  —  der  liberale  Regent  selbst  war  nicht  wiederzu- 
erkennen. Die  mystische  Stimmung,  die  sich  seiner  nach  dem  wunder- 
baren Ausgang  einer  furchtbaren  Krisis  bemächtigt  hatte,  der  Wahn,  daß 
ihm  die  Rolle  der  Vorsehung  zugefallen  sei,  die  Einflüsse  der  Schöpfer 
der  Heiligen  Allianz  sowie  inländischer  und  ausländischer  Berater,  die 
ihn  einzuschüchtern  suchten,  das  krankhafte  Mißtrauen,  das  in  Verfol- 
gungswahn auszuarten  drohte,  und  endlich  das  langsam  aber  sicher 
wirkende  Gift  der  unumschränkten  Herrschaft  brachten  diesen  Wechsel 
zustande.  Sowohl  die  junge  Literatur  in  ihrem  allgemeinen  Entwick- 
lungsgange als  auch  ihre  wichtigsten  Vertreter  hatten  die  reaktionäre 
Schwenkung,  die  nunmehr  konsequent  durchgeführt  wurde,  bis  auf  die 
Neige  auszukosten. 

Obgleich  der  literarischen  Produktion  beständig  entgegengearbeitet  Ryiejew 
wurde,  hat  sie  dennoch  ihre  Pflicht  erfüllt,  indem  sie  nicht  nur  dem  künstle-  seine  Komö( 
rischen  Geist  treu  blieb,  sondern  auch  eine  Pflanzstätte  des  sozialen  Fort- 
schrittes wurde.  Die  stetig  wachsende  politische  Bewegung  diente  ihr,  wenn^ 
sie  auch  nur  in  geheimen  Verbänden  gedieh,  als  Stützpunkt;  ihre  Repräsen- 
tanten waren  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  loyal  gesinnte  Männer,  die  den 
deutschen  Tugendbund  zum  Vorbild  nahmen  und  anfangs  keine  revolutio- 
nären Ziele  verfolgten,  sondern  lediglich  von  dem  Streben  beseelt  waren,  der 
Willkür  und  dem  Obskurantismus  die  geschlossene  Kraft  der  Kämpfer  für 
eine  freie  Kulturentwicklung  und  das  Wohl  des  Volkes  entgegenzustellen. 
Mit  der  Hingabe  an  die  Ideen  einer  neuen  Zeit,  die  viele  von  ihnen  wäh- 
rend eines  Kriegsdienstes  in  Westeuropa  sich  zu  eigen  gemacht  hatten, 
verbanden  sie  oft  tiefe  Pietät  für  die  nationale  Vergangenheit,  in  der  sie 
nicht  knechtische  Ergebenheit  und  Quietismus,  sondern  Beispiele  für 
heroische  Begeisterung  und  Bürgermut  fanden.   So  enthalten  die  politischen 


54 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


Dichtungen  des  edlen  Rylejew,  der  nach  dem  Aufstand  des  Jahres  1825 
gehängt  worden  ist,  einen  Zyklus  von  historischen  Liedern,  die  „Dumy", 
in  welchem  eine  Reihe  bedeutender  russischer  Männer  von  den  ältesten 
Zeiten  bis  zum  ig.  Jahrhundert  geschildert  werden.  Ebenso  erging  von 
Gribojedoff,  dem  eigentlichen  Urheber  der  sozialen  Komödie  Rußlands, 
die  Aufforderung  an  die  charakterlose  zeitgenössische  Gesellschaft,  sich 
sittlich  zu  erheben,  von  der  ständigen  Entlehnung  fertiger  Formen  und 
Gedanken  Abstand  zu  nehmen  und  den  ihr  eigentümlichen  nationalen 
Gehalt  zur  Geltung  zu  bringen,  obgleich  Gribojedoff  europäische  Bildung 
zu  schätzen  wußte  und  die  Rechte  des  Fortschritts  den  reaktionären  An- 
griffen gegenüber  verteidigte.  Der  Held  seines  Stückes  „Verstand  schafft 
Leiden",  das  trotz  einer  gewissen  Ähnlichkeit  mit  Molieres  „Misanthrope" 
und  Wielands  „Geschichte  der  Abderiten"  eine  selbständige  Bearbeitung 
eines  Themas  von  allgemein  menschlichem  Interesse,  den  Kampf  einer 
hervorragenden  Persönlichkeit  mit  der  Gesellschaft,  zur  Darstellung  bringt, 
ist  der  Repräsentant  der  Ansichten  und  Stimmungen  der  jungen  Gene- 
ration. Der  beißende  Spott  und  die  scharfen  Anklagen,  mit  denen  er 
die  aristokratische  Gesellschaft  Moskaus,  die  höfische  Kriecherei  und  den 
Bureaukratismus  überschüttete,  die  zahlreichen  Ausfälle  gegen  den  blinden 
Bildungshaß  und  andererseits  die  glühenden  Reden  des  Volksfreundes  ver- 
liehen diesem  Werk  eine  Bedeutung,  die  seine  Zeit  überdauert  hat.  Die 
Antwort  der  Regierung  Alexanders  auf  das  freie  Wort  des  Dichters  war 
ein  Verbot  der  Aufführung  des  Stücks.  Der  Druck  des  Werkes  durfte 
nur  in  Fragmenten,  die  zudem  von  der  Zensur  entstellt  worden  waren, 
erfolgen;  doch  in  Zehntausenden  von  Abschriften  wurde  die  Komödie 
Gemeingut  aller,  und  ihre  Verse  prägten  sich  dem  Gedächtnisse  des  Volkes 
ein.  Noch  jetzt,  im  20.  Jahrhundert,  behauptet  sie,  obgleich  die  in  ihr 
geschilderten  Sitten  und  gesellschaftlichen  Beziehungen  sich  scheinbar 
völlig  geändert  haben,  ihren  Platz  unter  den  besten  Erzeugnissen  der 
Literatur,  und  sie  hat  nicht  aufgehört,  durch  die  Wahrheit  der  Grundidee 
sowie  durch  die  sittliche  Macht  ihrer  sozialen  Lehren  auf  die  Geister 
einer  neuen  Zeit  zu  wirken. 
Verschärfte  ßig  Kräfte  einer  Generation,  aus  deren  Mitte  Schriftsteller  von  solcher 

tjeheime  poli- 

tuci.c  Tätigkeit  Bedeutung  hervorgingen,  erstarkten  im  Kampf  mit  der  anwachsenden 
nhant'mitder  j^eaktion.  Die  Volksbewegungen  in  Europa,  die  Revolution  in  Spanien 
und  Neapel,  die  große  Verschwörung  der  italienischen  Karbonari,  die 
Bewegung  der  griechischen  Insurgenten  und  der  deutschen  studierenden 
Jugend  erweckten  in  den  fortschrittlichen  Kreisen  starke  Sympathie,  denn 
diese  waren  von  jenem  Kosmopolitismus  beherrscht,  dem  jede  freiheit- 
liche Bewegung,  wo  sie  auch  erstehen  mochte,  nahestand.  Das  Hinweg- 
sehen über  nationale  Schranken  war  ein  charakteristisches  Merkmal  des 
europäischen  Liberalismus  der  zwanziger  Jahre.  Die  Schöpfungen  Byrons, 
dem  es  in  höherem  Maße  als  irgendeinem  anderen  Dichter  beschieden 
war,   diesem  großmütigen  Kosmopolitismus  mit  Wort  und  Tat  zu  dienen, 


Literatur. 


B.  Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Alexandrinische  Periode.  c  = 

fanden  damals  in  Rußland  Eingang  und  entfesselten  die  ersten  Stürme 
der  Begeisterung.  Im  Toben  der  inneren  Kämpfe  und  der  allgemein- 
europäischen Bewegung  verwandelten  sich  die  Gesellschaftsgruppen, 
die  die  Wohlfahrt  des  Volks  und  die  friedliche  Entwicklung  auf  ihre 
Fahnen  geschrieben  hatten,  in  geheime  politische  Verbände.  Die  Lite- 
ratur folgte  diesen  Wandlungen  und  spiegelte  die  nervöse  Unruhe  und 
die  fieberhafte  Erregung  wider.  Wenn  der  Held  der  Gribojedoffschen 
Komödie,  Tschazky,  dessen  Freidenkertum  die  Gesellschaft  mit  der  bös- 
willigen Erfindung  von  seiner  Verrücktheit  rächte,  den  Entschluß  faßt, 
diese  Gesellschaft  zu  verlassen,  in  der  es  nicht  möglich  ist,  ein  ehr- 
licher und  unabhängiger  Mensch  zu  bleiben,  so  offenbart  sich  in  diesem 
Entschluß  die  Stärke  des  in  ihm  ausgelösten  Affektes.  Die  Verteidi- 
gung und  Durchführung  von  Überzeugungen  durfte  aber  in  dieser  Weise 
nicht  gehandhabt  werden.  Rylejew  und  seine  Genossen,  die  sowohl 
über  hohe  politische  Begabung  als  auch  über  literarisches  Talent  ver- 
fügten und  später  den  Aufstand  vom  14.  Dezember  1825  in  Szene  setzten, 
wählten  einen  anderen  Weg;  sie  blieben  in  der  Gesellschaft  und  entfal- 
teten da  eine  rege  Propaganda  für  ihre  Ideen.  Gribojedoff  stand  diesem 
Kreise  der  zukünftigen  „Dekabristen"  nahe  und  wurde  dort  als  genialer 
Mensch  hoch  geschätzt,  doch  enthüllte  man  dem  Dichter,  um  ihn  zu  schonen, 
nicht  alle  Pläne.  Da  er  als  Diplomat  häufig  von  Rußland  abwesend  war, 
in  Persien  und  im  Kaukasus  lebte,  war  es  ihm  unmöglich,  einen  ständigen 
Konnex  mit  den  Verschwörern  aufrecht  zu  erhalten.  Nicht  ihm  war  es 
deshalb  beschieden,  der  Tyrtäos  der  Partei  zu  sein.  Das  war  vielmehr 
das  Los  des  jungen  Puschkin,  der  als  politischer  Dichter  mit  Glanz 
debütierte  und  bald  an  die  erste  Stelle  trat. 

Die  Traditionen  eines  adligen  Milieu,  eine  französische  weltliche  Er-  P"schkii 
Ziehung,  ein  literarischer  Geschmack,  der  geistreichen  Witz  über  alles  "•steavi 
stellte,  Galanterie  und  Frivolität,  die  aus  der  mächtigen  Bewegung  des 
18.  Jahrhunderts  in  Frankreich  nichts  als  eine  Salonpoesie  zu  gewinnen 
vermocht  hatten,  könnten  als  Präludium  zu  dem  müßigen  Dasein  eines 
epikuräischen  Abbe,  der  mit  der  Dichtkunst  spielte,  oder  eines  Marquis, 
der  mit  Reimen  Kunststücke  zuwege  brachte,  gute  Dienste  leisten,  sie 
passen  aber  wenig  als  Vorspiel  zum  Leben  eines  großen  Dichters.  Schon 
auf  dem  Lyzeum  wurde  Puschkin  vom  Geiste  der  neuen  Zeit  berührt, 
die  freiheitlichen  Ideen  fanden  in  den  Vorlesungen  der  jungen  Profes- 
soren Widerhall;  aus  dem  Leben  der  Gesellschaft,  die  von  der  Reaktion 
terrorisiert  wurde,  drangen  allerlei  Mitteilungen  hinter  die  Mauern  der 
privilegierten  Anstalt  und  wurden  von  Puschkin  mit  beißenden  Epigrammen 
aufgenommen..  Als  er  ins  öffentliche  Leben  trat  und  die  ganze  Wirklich- 
keit sich  vor  ihm  auftat,  gewann  in  ihm  zunächst  die  politische  Richtung 
die  Oberhand.  Sein  heißer  Wunsch,  die  Knechtschaft  vernichtet  zu  sehen 
und  die  „Morg'enröte  der  Freiheit"  zu  begrüßen,  seine  Anklagen  gegen 
die   Leiter   der  Reaktion   und  sein  ironisches  Verhalten  dem  obersten  Ge- 


56 


Alexis  Wesselovsky  :  Die  russische  Literatur. 


walthaber  gegenüber,  verschafften  den  ungedruckten  Werken  des  radi- 
kalen Dichters  große  Popularität.  Die  Schärfe  dieser  oppositionellen 
Lyrik  ließ  sie  besonders  gefährlich  erscheinen.!  Beinahe  hätte  er  sie,  ins- 
besondere die  „Ode  an  die  Freiheit",  in  der  dem  Tyrannen  zur  Warnung 
die  Hinrichtung  Ludwigs  XVL  gepriesen  wurde,  mit  einer  Verbannung 
nach  Sibirien  büßen  müssen.  Doch  als  Puschkin  aus  dem  Kreise  seiner 
Tätigkeit  gewaltsam  entfernt  wurde  und  die  Krim  als  Exil  zugewiesen 
erhielt,  übte  er  in  seiner  südlichen  Einöde  noch  schärfere  Kritik;  seine 
Erregung  hatte  ihren  Höhepunkt  erreicht.  Da  trat  ihm  zum  ersten  Male 
Byron  entgegen.  Sein  persönliches  Leben  und  seine  Poesie  erglühten 
nunmehr  in  einem  neuen  Lichte. 
Entwicklung  der  Die    äußere    Umgebung,    in    der    Puschkins    Begeisterung    für    Byron 

kins"Die"unter  entflammte,  war  von  exotischer  Pracht.  Die  Schönheit  der  Berge  des 
By'rons  ierfaß-  Kaukasus,  die  zarten  Landschaftsbilder  der  Krim,  die  Poesie  des  Meeres 
lEligenOncgln"!  Und  endlich  die  Melancholie  der  Steppen  Bessarabiens,  auf  denen  schon 
einmal  ein  verbannter  Dichter  (Ovid)  geweilt  hatte,  bildeten  den  Hinter- 
grund zu  seinen  Dichtungen  im  Genre  des  „Corsair",  des  „Giaur"  und 
der  „Bride  of  Abydos".  Ln  Mittelpunkt  stand  der  Typus  des  Kämpfers 
gegen  die  soziale  Ordnung,  so  wie  er  von  Byron  geschaffen  worden 
war.  Die  kosmopolitische  Freiheitsliebe,  die  Byron  beseelt  hatte,  be- 
mächtigte sich  auch  Puschkins.  Die  Befreiung  Griechenlands  lag  ihm 
ebensosehr  am  Herzen  wie  die  Wiedergeburt  seines  unglücklichen  Vater- 
landes: als  die  griechischen  Freischaren  in  den  benachbarten  Moldau- 
ländem  einen  der  zahlreichen  verzweifelten  Aufstände  gegen  die  Türken 
ins  Leben  zu  rufen  versuchten,  glaubte  Puschkin  darin  das  Vorspiel 
einer  russischen  Revolution  zu  sehen  und  schlug  in  seiner  Lyrik  noch 
leidenschaftlichere  Töne  an.  Jedoch  auch  Byrons  Satire  veranlaßte  den 
Jünger  zu  einer  selbständigen  Arbeit,  die  weit  über  seinen  früheren 
Leistungen  stand.  Unter  dem  Einfluß  des  „Don  Juan"  begann  Puschkin 
eines  seiner  bedeutendsten  Werke,  den  in  Versen  geschriebenen  Roman 
„Eugen  Onegin",  der  von  nun  an  in  der  Form  lose  zusammenhängen- 
der Bilder  aus  dem  Leben  der  Hauptstadt  und  des  Dorfes  der  zwan- 
ziger Jahre  lange  Zeit  hindurch  sein  treuer  Begleiter  war.  Das  Gedicht 
enthielt  Schilderungen  nordischer  Natur  und  Sitten  mit  geistreichen  Ab- 
schweifungen und  Auseinandersetzungen  über  alle  möglichen  sozialen, 
moralphilosophischen  und  literarischen  Themata  und  prachtvolle  Cha- 
rakterisierungsversuche, vor  allem  die  anmutige  Gestalt  der  Träumerin 
Tatjana,  die  sich  in  der  Stille  des  Dorfes  zur  zarten  Blüte  entfaltet  hatte, 
und  den  gelangweilten,  lebensmüden  Onegin,  den  „Moskowiter  im  Gewände 
des  Childe  Harold".  In  einer  Fülle  von  Gedanken  und  einer  in  der 
russischen  Dichtkunst  bisher  unerreichten  Formenschönheit  entfaltete  sich 
das  Talent  des  Dichters.  Durch  das  eingehende  Studium  Shakespeares, 
Goethes  und  Byrons  vermochte  Puschkin  seinen  Arbeiten  eine  Grund- 
lage   im    Sinne    der   neuen   Kultur    zu    geben.     Das   wachsame   Auge    der 


B.  Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Alexandrinische  Periode.  57 

geheimen  Polizei  erkannte  aber  bald  bei  dem  in  der  Verbannung  weilen- 
den Freigeist  die  Symptome  trotzigen  Beharrens  in  seinen  Irrtümern: 
unvermutet  wurde  er  aus  dem  Süden  entfernt,  auf  seinem  einsamen 
Stammgute  im  Nordwesten  Rußlands  angesiedelt  und  unter  strenge  Auf- 
sicht gestellt. 

Die  neue  Wendung  seines  Geschicks  übte  nicht  nur  auf  seine  Tätig-  Puschkin  wäh- 
keit,  sondern  auch  auf  die  Richtung  seiner  Lebensziele  eine  tiefe  Wir- t<-n  Verbannung. 
kung  aus.  In  der  ländlichen  Abgeschiedenheit  verlor  er  den  Zusammen-  an  die  reine 
hang  mit  der  fortschrittlichen  Partei.  Bei  aller  Begeisterungsfähigkeit 
war  er  aber  wenig  beharrlich  und  eignete  sich  daher  nicht  zu  dauernder 
politischer  Arbeit.  Die  maßgebenden  liberalen  Kreise  durchschauten  ihn 
in  dieser  Beziehung  und  zogen  sich  von  ihm  zurück.  Das  Mißlingen  des 
griechischen  Aufstandes  wirkte  niederschmetternd  auf  ihn  und  erschütterte 
seinen  Glauben  an  die  Möglichkeit  eines  Sieges  politischer  Bewegungen. 
Stille  war  um  ihn  her  und  ein  Lebenszuschnitt  wie  zu  großväterlichen 
Zeiten.  Zum  ersten  Male  jetzt  trat  er  dem  Sein  und  Denken  des 
ihm  bisher  unbekannt  gebliebenen  Volkes  nahe.  Noch  hatten  sich  die 
Stürme  der  Jugend  nicht  gelegt,  doch  senkte  sich  bereits  der  Segen 
eines  Schaffens,  das  die  Gegenwart  und  die  ferne  Vergangenheit,  All- 
gemeinmenschliches und  Individuelles  miteinander  zu  verbinden  wußte, 
auf  die  stille  Zelle  des  Einsiedlers  herab.  Die  lyrischen  und  satirischen 
Stimmungen  wichen  jetzt  häufig  der  Gedankenarbeit  des  Dramaturgen 
und  Romanschriftstellers.  Die  endgültige  Hinwendung  zur  objektiven 
Kunst  war  noch  nicht  vollzogen,  doch  ist  der  Wandlungsprozeß  schon 
angedeutet,  wenn  Puschkin  in  der  Dichtung  „Die  Zigeuner"  den  von  ihm 
bis  jetzt  bevorzugten  Typus  des  Übermenschen  verläßt  und  in  dem  histo- 
rischen Drama  „Boris  Godunoff"  die  Bilder  der  Periode  innerer  russischer 
Wirren  wachruft.  Nunmehr  suchte  er  aus  den  Werken  Shakespeares  „das 
Geheimnis  der  freien  und  breiten  Behandlung  der  Charaktere,  des  durch 
die  Persönlichkeit  bedingten  dramatischen  Konflikts,  die  Kunst  der  Ver- 
knüpfung individueller  Tragik  mit  der  Psychologie  der  Massen"  zu  er- 
gründen und  das  historische  Drama  an  die  Stelle  der  pseudoklassischen 
Tragödie  zu  setzen.  Gleichzeitig  wurde  seine  hervorragende  Begabung 
für  die  epische  Erzählung  offenbar. 

Die    soziale    Bewegung,    die    ihren  Dichter    eingebüßt    hatte,    wuchs  oerAufstandam 

14.Dezemb.1S25, 
nichtsdestoweniger    unaufhaltsam   weiter.      Der   Tod  Alexanders    und    das  seine  Bedeutung 

°  für    die    GeseU- 

Interregnum  beschleunigten  die  Krisis:    am   14.  Dezember   1825  brach  der  schaft  und  die 
Sturm  der  Revolution  los.     Mit  Waffengewalt   wurde   sie   niedergeworfen,  Die    Memoiren 

^^     ,  „     .       derDekabristen. 

entfachte  aber  im  neuen  Machthaber  einen  Haß  gegen  den  Geist  der  Zeit 
und  das  freie  Denken,  der  in  ihm  den  Verdacht,  daß  die  Lehren  der 
Dekabristen  in  irgendeiner  Form  wieder  auferstehen  könnten,  für  alle 
Zeit  Wurzel  fassen  ließ.  Das  Urteil  des  obersten  Gerichtes,  Hinrichtungen 
und  Verbannungen  vertilgten  eine  ganze  Generation  hervorragender 
Männer.      Unter    den    1 1 6    Angeklagten    gab    es    nicht    wenig   talentvolle 


rg  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

Schriftsteller;  die  Verschwörer  aus  den  Reihen  der  Armee  und  Gesellschaft 
waren  hochentwickelte  Persönlichkeiten ;  die  literarischen  Begabungen 
mancher  von  ihnen  entfalteten  sich  während  ihres  langen  (dreißig  Jahre 
dauernden)  Aufenthaltes  in  Sibirien,  der  sich  nur  allmählich  erträglicher 
zu  gestalten  begann.  Auf  diese  Weise  entstand  die  überaus  interessante, 
größtenteils  erst  in  letzter  Zeit  veröffentlichte  Literatur  der  Memoiren 
der  Dekabristen,  die  eine  reiche  Fülle  dramatischer  Momente  und  meister- 
hafte Schilderungen  der  inneren  und  äußeren  Erlebnisse  der  Verfasser 
während  ihrer  Verbannung  enthält.  Diese  Memoiren  sind  ein  wertvolles 
Material  zur  Kulturgeschichte  jener  Zeit,  und  mancher  moderne  Schrift- 
steller hat  aus  ihnen  Anregung  geschöpft  —  so  z.  B.  Nekrassoff,  der  in 
seiner  schönen  Dichtung  „Russische  Frauen"  den  Mut  der  treuen  Gefähr- 
tinnen, die  ihren  Männern  in  die  Verbannung  gefolgt  waren,  besungen  hat 
und  L.  Tolstoi,  der  einen  Roman  „Die  Dekabristen"  zu  schreiben  begann. 
Die  wichtigsten  Kennzeichen  des  nun  einziehenden  reaktionären  Geistes 
war  ein  starkes  Sinken  des  Niveaus  der  Literatur,  die  Entwicklung  einer 
käuflichen  Presse,  die  vor  der  Obrigkeit  zu  kriechen  verstand,  alles  Große 
und  Gute  in  den  Staub  zog,  Männer  wie  Puschkin,  Gogol  und  ihre  Nach- 
folger verleumdete,  schließlich  die  offensichtliche  Betonung  des  Prinzips 
der  unumschränkten  Gewalt,  welches  in  der  berühmten  Formulierung  des 
Ministers  Uwaroff  den  orthodoxen  Klerikalismus  mit  einer  „offiziellen 
Volkstümlichkeit"  verband  und  dem  neuen  Regime  als  Grundlage  diente. 
Während  der  in  mancher  Beziehung-  trüben  Zeiten  Alexanders  hatte  es 
immerhin  Lichtblicke  gegeben,  war  der  Widerschein  einer  humanen  Er- 
ziehung und  einer  aufgeklärten  Philosophie  zuweilen  aufgeflammt.  Die 
neue  Zeit  —  die  Epoche  Nikolaus'  L  —  kannte  nur  militärische  Zucht 
und  rücksichtslose  Energie. 

Der  Hcginn  der  IL  Das  Zeitalter  Nikolaus' L     Die  Epoche  Nikolaus'  drückte  auch 

Epoche  Niko- 

laus'.  Ihr  Einiiuß  dem    Leben    des    bedeutendsten   Vertreters    der    Literatur,    der  nur   durch 
Das  Ergebnis   Zufall  der  Vemichtung  entgangen  war,  ihren  Stempel  auf.    Wie  Ludwig  XIV. 

der    Dichtkunst  .  f    ,.  ^  . 

Puschkins  wiih-  Moliere  zu  sich  herangezogen  hatte,  so  war  es  auch  für  Nikolaus  ein  fes- 
ictzten  Lebens-  seludcr  Gedanke,  einen  Mann  wie  Puschkin  an  seiner  Seite  zu  sehen 
und  sein  eisernes  Zeitalter  durch  dessen  Dichtkunst  zu  verschönern.  Mit 
dem  Versprechen,  ihm  nach  jahrelanger  Verbannung  die  Freiheit  wieder- 
zugeben, lockte  er  ihn  zu  sich  heran,  sagte  ihm  völlige  Zensurfreiheit  zu 
und  erweckte  in  ihm  die  Hoffnung  auf  wichtige  Reformen,  nachdem  das 
anfangs  unvermeidliche  terroristische  Regierungssystem  seine  Pflicht  getan 
haben  würde.  Puschkin  kehrte  zu  seiner  ehemaligen  Wirksamkeit  zurück, 
als  er  sich  absolute  Überzeugungsfreiheit  zugesichert,  aber  seinerseits  der 
Regierung  versprochen  hatte,  ihr  in  keiner  Weise  hinderlich  zu  sein.  Sein 
stillschweigender  Protest,  der  ein  Festhalten  an  früheren  Ideen  erraten  ließ, 
bewirkte  jedoch,  daß  die  Gesellschaft  sich  von  ihm  zurückzog-  und  die  offi- 
zielle Welt  ihm  Mißtrauen   entgegenbrachte.     Bald  sah    er   sich   in   seiner 


ß.  Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     II.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  en 

Hoffnung  auf  Reformen  irgendwelcher  Art  getäuscht,  und  drückend  kam 
es  ihm  zum  Bewußtsein,  daß  er  nunmehr  an  das  harte  Regiment  gefesselt 
sei.  Die  Regierung  war  allerdings  bemüht,  die  Bande,  die  ihn  an  die 
ihm  fremde  Welt  des  Hofes  ketten  sollten,  zu  vergolden,  indem  sie  ihn 
gegen  seinen  Willen  zum  Kammerjunker  machte,  doch  engte  sie  seine 
Selbständigkeit  immer  mehr  ein.  Seine  einzige  Zuflucht  wurde  die  Dicht- 
kunst. Schon  während  der  letzten  Zeit  seiner  Verbannung  hatte  er 
sich  der  reinen,  von  jeder  Tendenz  freien  Poesie  gewidmet;  nun  gab 
er  sich  ihr  für  immer  hin.  Von  seinen  Zeitgenossen  wenig  gewürdigt, 
bestand  er  kaum  vor  der  Kritik.  Er  unterwarf  sich  aber  dem  Richter- 
spruch seines  künstlerischen  Gewissens  und  suchte  seinen  Geschmack 
durch  eingehende  Studien  der  Weltliteratur  zu  bilden.  Er  erwarb  sich 
dabei  so  umfassende  Kenntnisse,  daß  er  in  dieser  Beziehung  mit  dem 
alten  Goethe  verglichen  werden  konnte.  Seine  Phantasie  trug  ihn  in  un- 
absehbare Regionen:  das  mittelalterliche  Leben,  die  Legenden  des  fernen 
Südens  (Don  Juan),  die  sagenhafte  Vergangenheit  Rußlands,  die  Epoche 
Peters  des  Großen,  des  von  ihm  am  meisten  bewunderten  Helden  der 
neueren  russischen  Geschichte,  Bilder  aus  Katharinas  Zeiten  während  des 
Pugatschoffschen  Aufstandes,  meisterhafte  Bearbeitungen  von  Motiven  der 
Volksdichtung,  Pathos,  Schmerz  und  Humor,  ernste  und  heitere  Schönheit, 
Lebenstreue  des  Realismus  —  dies  alles  umfaßte  seine  Kunst,  in  der  der 
tief  innige  Lyriker,  der  Dramaturg  („Boris  Godunoff";  eine  Reihe  vorzüg- 
licher Einakter,  „Der  Steinerne  Gast",  „Mozart  und  Salieri",  „Der  geizige 
Ritter")  und  der  Romanschriftsteller  („Die  Tochter  des  Hauptmanns",  eine 
Schilderung  Rußlands  während  der  Pugatschoffschen  Meuterei)  sich  im 
Wettkampf  zu  befinden  schienen.  Als  nach  dem  Tode  Puschkins  die 
erste  Ausgabe  seiner  sämtlichen  Werke  zusammengestellt  wurde,  offen- 
barte sich  den  überraschten  Blicken  eine  Fülle  unsterblicher  Schöpfungen, 
die  bis  dahin  eifersüchtig  gehütet  worden  waren;  die  Kraft  seines  steten 
künstlerischen  Fortschrittes  erweckte  zu  spät  Staunen  und  aufrichtige 
Bewunderung. 

Während  seiner  letzten  Lebensjahre  wurde  es  schon  bemerkbar,  daß  die  „'^"'<=*'^.  Schuie 

^  1  uscnkins.    Der 

Gesellschaft  und  die  literarischen  Kreise  sich  ihm  wieder  zuzuwenden  be-  philosophische 

Kreis  in  Moskau. 

g-annen.     Die    schwere  Krisis   des   Mißtrauens    und   der  Entfremdung   war    i'uschkin  als 

=  '^  Journalist. 

Überwunden.     Von   der  ersten  Schule  Puschkins  waren  kaum  Spuren  zu-  "^^  Auftretea 

Gogols. 

rückgeblieben,  und  die  Reihen  jener  Kämpen,  die  mit  Puschkin  unter  dem 
Zeichen  Byrons  auf  den  Plan  getreten  waren,  hatten  sich  stark  gelichtet. 
Jetzt  traten  an  ihrer  Statt  Männer  auf,  die  einer  jüngeren  Generation  an- 
gehörten, den  Umschwung  der  Dezemberrevolution  nicht  selbst  unmittelbar 
erlebt  hatten  und  in  ihren  Sympathien  unbefangen  waren.  Zuerst  war  es 
ein  Kreis  junger  Moskauer  Ästhetiker  und  Dilettanten  der  Philosophie, 
die  Goethe  und  Schelling  verehrten  und  dem  Traume  nachhingen,  daß 
dem  russischen  Volke  die  Führerrolle  in  der  Kulturentwicklung  zufallen 
würde,  nachdem  sie  Deutschland  entglitten  sei,  und  daß  Puschkin  den  Ruhm 


5o  Alexis  Wessf.lovsky  :  Die  russische  Literatur. 

und  die  universale  Bedeutung  eines  Goethe  erlangen  könnte.  Der 
Idealismus  dieser  Jünglinge,  deren  nationale  Hoffnungen  sie  zu  Vorläufern 
der  Slawophilen  stempeln,  fand  in  der  Literatur  noch  keinen  deutlichen 
Ausdruck.  Ihre  Sympathie,  die  sie  Puschkin  zu  Beginn  der  Krisis  bezeugt 
hatten,  sowie  die  Freundschaft  Puschkins  mit  dem  damals  nach  Moskau 
verbannten  großen  polnischen  Dichter  Mickiewicz,  der  zu  ihrem  Kreise 
gehörte,  hatten  nur  moralische  Bedeutung.  Es  kam  aber  die  Zeit,  da 
frische,  aktive  literarische  Talente  sich  um  Puschkin  scharten,  eine  neue, 
wichtigere  Schule  sich  zu  bilden  begann  und  die  von  Puschkin  nach 
Überwindung  zahlreicher  Schwierigkeiten  gegründete  Zeitschrift  der  „Zeit- 
genosse" die  Führerschaft  innerhalb  der  neuen  Literatur  übernehmen 
konnte.  Diese  Zeit  schlingt  ein  enges  Band  zwischen  dem  Dichter  und 
der  literarischen  Bewegung  der  folgenden  Periode.  Sein  Vermächtnis 
wurde  von  seinem  größten  Schüler,  Gogol,  treu  gepflegt. 
Gogol.  In   jugendlichem   Selbstbewußtsein,   getragen  von   der  Hoffnung    „die 

Sein  Talent  und  ...  -,7.  t~»i  -li 

sein  Charakter.  Hauptstadt  ZU  erobem"  und  sich  einen  Weg  zum  Kuhme  zu  bahnen, 
basein  inPeters-  hatte  der  ehrgeizige  Gogol  die  stille,  gemütliche  Ukraine  verlassen  und 
Erzhiüungen.  slch  in  dcu  Kampf  ums  Dasein  gestürzt,  um,  wie  alle  unverstandenen 
Talente  der  Provinz,  an  den  Stätten  der  Kultur  nicht  Lorbeeren,  son- 
dern Enttäuschungen  zu  ernten.  Er  verfügte  über  eine  unerschöpfliche 
Komik  und  Beobachtungsgabe;  seine  Phantasie  vermochte  so  lebendige 
Bilder  zu  schaffen,  daß  sie  gelegentlich  den  Charakter  von  Halluzinationen 
annehmen  konnten;  es  kamen  über  ihn  aber  auch  Zeiten  einer  tiefen  ihm 
erblich  überkommenen  Melancholie.  Auch  in  der  Selbstanalyse  war  er 
Meister,  der  Humor,  der  „unter  Tränen  lächelt",  stand  ihm  zu  Gebote, 
doch  alles  das  war  noch  unklar,  unausgeglichen,  ihm  selbst  kaum  bewußt. 
Die  Schule  hatte  ihm  wenig  gegeben,  die  erste  Jugend  hatte  er  sorglos 
verlebt,  bis  die  Stunde  des  Erwachens  schlug  und  es  ihn  zu  selb- 
ständiger Arbeit  drängte.  Da  raffte  er  alle  Energie  zusammen,  der 
Glaube  an  sich  selbst  wies  ihm  den  Weg,  und  mit  wenig  Groschen  in  der 
Tasche  zog  der  unerfahrene  Jüngling  aus,  um  sein  Glück  zu  suchen.  Nicht 
das  Schriftstellertum,  sondern  die  praktische  Tätigkeit  des  Juristen,  des 
Verteidigers  der  Bedrückten  zog  ihn  an.  Naive  Unkenntnis  der  Wirklich- 
keit, vor  allem  des  damaligen  Gerichtswesens,  in  welchem  für  das  Ritter- 
tum eines  Don  Quixote  kein  Platz  war,  spiegelt  sich  in  diesen  Träumen. 
Das  Petersburger  Leben  bereitete  ihm  einen  rauhen  Empfang;  es  verurteilte 
ihn  zu  allerlei  Qualen  und  Mißerfolgen,  zwang  ihn  an  alle  Türen  zu 
klopfen,  sich  in  allen  Berufen  zu  versuchen,  als  Lehrer,  als  Beamter,  als 
Zeichner,  ja  selbst  als  Schauspieler,  zeigte  ihm  die  nackte  Wirklichkeit, 
brachte  ihn  mit  Menschen  aller  Schattierungen  in  Berührung,  sperrte  ihn 
mit  den  ihm  unsympathischen  „Helden  der  Tinte"  zusammen  in  Kanzleien 
ein  —  und  lieferte  dem  zukünftigen  Sittenschilderer  ein  reichhaltiges 
Material.  Sein  letzter  Versuch,  der  ständigen  Not  zu  entgehen  —  die  Ver- 
öffentlichung einer  Reihe  von  Skizzen  aus  dem  Volksleben  seiner  engeren 


B.  Die  erste  Hälfte  des    19.  Jahrhunderts.     II.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  61 

Heimat  —  änderte  plötzlich  die  ganze  Situation.  In  diesen  Erzählungen 
spiegelt  sich  noch  nicht  die  schwer  erworbene  Kenntnis  des  realen  Lebens; 
auf  ihnen  ruht  der  Hauch  der  Dorfidylle,  der  Sentimentalität,  der  Romantik; 
inmitten  aller  Unbill  war  es  ihm  offenbar  ein  Trost  gewesen,  der  fernen 
Heimat,  des  südlichen  Himmels  und  des  schlichten,  unverdorbenen  Volkes 
zu  gedenken.  Doch  die  Anzeichen  der  künstlerischen  Meisterschaft  machen 
sich  bereits  geltend,  der  Humor  leuchtet  auf,  das  Lachen  geht  in  sanfte 
Wehmut  über.  Niemand  hatte  bisher  in  dieser  Weise  geschrieben;  un- 
willkürlich horchte  man  auf.  Der  Erfolg,  dessen  sich  diese  Erzählungen, 
die  bald  in  Buchform  erschienen  („Abende  auf  dem  Landgut  bei  Dikanka"), 
zu  erfreuen  hatten,  ihre  sympathische  Beurteilung  seitens  der  Kritik,  wiesen 
Gogol   sein    eigentliches  Gebiet  innerhalb    der  Literatur  an. 

Damals  wurde  er  von  Puschkin  entdeckt.    Dieser  erkannte  sofort  sein    Puschkin  und 

sein  Einnuß  auf 

hervorragendes  Talent  und  beschloß,  seinem  Schicksal  eine  neue  Wendung  Gosoi. 
zu  geben.  Seine  literarischen  und  gesellschaftlichen  Freunde  halfen  ihm, 
und  über  den  von  der  Not  geplagten,  hungrigen  Glücksucher,  den  niemand 
kannte  und  den  niemand  brauchte,  schüttete  Fortuna  nun  ihr  Füllhorn 
aus.  Seine  schriftstellerischen  Erfolge  bewegten  sich  in  aufsteigender 
Linie.  Ihn  schwindelte,  der  Glaube  an  seine  Kraft  wurde  zur  Selbstüber- 
hebung, seine  reiche  Natur  streute  jetzt  mit  Leichtigkeit  ihre  Schätze 
aus.  Puschkin  aber  gab  auf  seinen  jungen  Freund  acht.  Er  durchschaute 
die  Lücken  seiner  Bildung  und  erkannte  die  Gefahren  eines  Uber- 
wucherns  der  Phantasie  und  der  Komik.  Da  er  die  Umbildung  Gogols 
auf  sich  genommen  hatte,  wies  er  ihn  auf  das  Studium  der  bedeutend- 
sten Schriftsteller  der  Satire,  besonders  auf  Moliere  und  Cervantes  hin,  hieß 
ihn  seine  Begabung  in  den  Dienst  der  Allgemeinheit  stellen  und  veran- 
laßte  ihn,  statt  gelegentliche  Beobachtungen  und  Erfahrungen  zu  behandeln, 
künstlerische  Probleme,  die  das  ganze  Leben  umfassen,  in  Angriff  zu  nehmen. 
Es  war  Puschkin  nicht  beschieden,  die  Entwicklung  des  Talents  Gogols 
bis  zu  seiner  vollen  Reife  zu  leiten,  doch  hat  er  ihn  auf  den  rechten  Weg 
gewiesen,  hat  eine  große  Reihe  seiner  Schöpfungen  durch  das  Gewicht 
seiner  Autorität  unterstützt  und  ihm  das  Thema  zu  zwei  seiner  größten 
Werke  in  die  Hand  gegeben.  Er  war  das  künstlerische  Gewissen  und 
der  Schutzengel  Gogols.  Nach  dem  Tode  Puschkins  war  Gogol  untröst- 
lich und  glaubte,  diesen  Schicksalsschlag  nicht  überleben  zu  können. 

Die  Romantik  der  kleinrussischen  Erzählungen  Gogols  verglühte  bald,  ^^""^"'^fj"^^ 
Zum    letztenmal   war    sie    in    seinem    schönen   Versuch,    die    epische  Yer-^^''^°e°^-  oie 

^  „Petersburger 

gangenheit  seiner  Heimat,  den  Heroismus  des  Kampfes  der  Kosaken  mit  u^j"^,!^'"^*''^",, 
den  Polen  in  „Tarass  Bulba"  neu  erstehen  zu  lassen,  aufgeflammt.    In  dieser  =•"♦  <^e°  moder- 

^  nen  Romaa. 

Erzählung  scheinen  die  alten  Volkslieder,  die  Gogol  grenzenlos  liebte, 
widerzuhallen.  Andererseits  zeigte  sich  in  diesem  Werke  sein  Interesse  für 
das  europäische  Mittelalter,  insbesondere  für  die  chansons  de  gestes:  die 
Schilderung  der  Schlacht,  die  schließlich  durch  Zweikämpfe  zwischen 
tapferen  Kosaken  und  polnischen  Helden  zum  Austrag  gebracht  wird,  ge- 


52  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

mahnt  an  die  letzten  Kämpfe  der  Gefährten  Rolands  mit  den  Mauren; 
endlich  macht  sich  auch  der  Einfluß  Walter  Scotts  bemerkbar.  Das  ganze 
Werk  ist  von  einer  nervösen  Lyrik  und  einer  tiefen  Ehrfurcht  vor  dem 
Volkstum  durchdrungen.  Doch  die  erfreulichen  Bilder  des  Dorflebens 
und  die  Gestalten  der  Vergangenheit  verblaßten  und  verloren  sich  in  der 
Dämmerung;  das  Leben  der  Gegenwart  mit  seinen  Widersprüchen,  seinen 
Gebrechen  und  seiner  Ungleichheit  lockte  Gogol  immer  mehr  zu  sich 
heran  und  reizte  ihn  zum  Kampfe.  Wer  so  wie  er  die  ganze  Schwere  des 
struggle  for  life  ausgekostet  hatte,  der  wußte  von  ihm  zu  erzählen  und 
konnte  den  Zeitgenossen  über  manches  die  Augen  öffnen.  Am  Leser 
zog  nun  eine  Reihe  enterbter,  armseliger,  rechtloser  Leute,  die  unter 
einer  allzu  schweren  Last  zusammengebrochen  waren,  vorüber.  Vor  Balzac 
und  Dickens  und  lange  vor  Dostojewsky,  der  in  seinem  ersten  Roman 
„Arme  Leute"  die  Bahnen  seines  großen  Lehrers  betrat,  hat  Gogol,  nach- 
dem er  sich  von  der  Romantik  befreit  und  mutig  in  das  Meer  des  realen 
Lebens  gestürzt  hatte,  in  seinen  „Petersburger  Erzählungen"  („Der  Mantel", 
„Die  Aufzeichnungen  eines  Geisteskranken",  „Der  Newsky  Prospekt" 
u.  a.  m.)  mit  grellen,  wahrheitsgetreuen  Farben  die  Opfer  der  sozialen  Ord- 
nung, die  Parias,  gezeichnet  und  ist  im  Namen  der  Gerechtigkeit  und 
Menschlichkeit  für  sie  eingetreten.  Das  war  eine  brüderliche,  warm 
empfundene  Tat,  eine  Predigt  der  Demokratie  und  Gleichheit,  ein  „didak- 
tischer Realismus",  wie  er  seit  jener  Zeit  für  die  neue  russische  Literatur 
charakteristisch  ist.  Doch  die  in  den  Dienst  der  Humanität  gestellten 
Ideen  beschwerten  nicht  die  künstlerische  Form;  Gogols  Humor  stand  in 
voller  Blüte,  ungezwungen  und  wahrheitsgetreu  entrollte  sich  das  Lebens- 
bild der  Gesellschaft  imd  ihrer  Stiefkinder;  im  „Newsky  Prospekt"  stehen 
im  glanzvollen  Getriebe  der  eleganten  Straße  hoch  und  niedrig,  Reich- 
tum und  Armut,  Willkür  und  Schutzlosigkeit  einander  gegenüber. 

Die  reiche  Begabung  Gogols  erschöpfte  sich  aber  nicht  in  der 
Kunst  des  Erzählers.  Sainte-Beuve  hat  feinsinnig  bemerkt,  daß  in  den 
Menschen,  die  ein  seelisches  Gleichgewicht  erlangt  haben  und  vom 
Leben  am  meisten  ernüchtert  worden  sind,  oft  „un  poete  mort  jeune"  ver- 
borgen sei.  In  Gogol,  der  hauptsächlich  als  großer  realistischer  Erzähler 
im  Gedächtnis  der  Nachwelt  fortlebt,  ist  von  frühester  Jugend  an  ein 
Hang  zum  Theater  bemerkbar  gewesen.  In  seinen  Studentenjahren  hatte 
er  erstaunliches  schauspielerisches  Talent  als  Komiker  bewiesen,  und  in 
der  Zeit  der  Krisis  hatte  ihn  dies  Talent  beinahe  auf  die  Bühne  geführt. 
Auch  als  er  erfolglos  versuchte,  als  Historiker  die  Laufbahn  eines  akade- 
mischen Lehrers  zu  betreten,  lebte  in  ihm  die  Sehnsucht  nach  Bühnen- 
erfolgen und  lenkte  ihn  von  seinen  Arbeiten  ab;  wenn  er  sich  von  seinen 
Vorlesungen  und  Folianten  losriß,  „sah  er  einen  mit  einem  lachenden 
Publikum  gefüllten  Zuschauerraum  vor  sich",  und  der  Traum,  ein  Lustspiel 
zu  schreiben,  ließ  ihm  keine  Ruhe.  Während  der  ganzen  mittleren  Periode 
seiner  Wirksamkeit  streiten  sich  in  ihm  der  Erzähler  und  der  Dramaturg. 


B.  Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     II.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  63 

Mit  dem  Erscheinen  der  „Toten  Seelen"  gewann  der  Erzähler  die  Ober- 
hand, doch  wird  es  immer  eine  offene  Frage  bleiben,  ob  in  Gogol  nicht 
„un  ecrivain  dramatique  mort  jeune"  den  höheren  Ausdruck  seines  Talentes 
gefunden  hätte. 

Nachdem   er   ein   nicht   zensurgemäßes   Lustspiel,    das   uns  nur  in  ein-  uer  Höhepunkt 

,  ,       derBühneakunst 

z einen  Bruchstücken  erhalten  ist,   in  kühnen  Strichen   entworfen   hatte,   in       Gogols. 

,,Der    Revisor" 

welchem  er,  wie  in  den  Petersburger  Erzählungen,  die  bureaukratische 
Welt  der  Hauptstadt  vor  Augen  führte,  fühlte  er  sich  als  echter  Komiker 
angeregt,  auf  der  Basis  einer  in  damaliger  Zeit  recht  banalen  Fabel  — 
der  Mystifizierung  einer  entlegenen  Provinzialstadt  durch  einen  Aben- 
teurer, der  sich  außerordentliche  Machtvollkommenheiten  anmaßt  —  den 
Plan  zu  seinem  Lustspiel  „Der  Revisor"  zu  entwerfen.  Zwei  Welten  traten 
hier  einander  gegenüber:  die  der  Provinzialbeamten,  deren  auf  gegen- 
seitigem Einvernehmen  beruhenden  Willkür,  Bestechlichkeit  und  Raub- 
gier das  Volk  preisgegeben  ist,  und  die  Welt  des  unerreichbar  fernen 
Zentrums  der  Regierung,  das  bei  völliger  Unkenntnis  des  Landes  von 
Falschheit,  Glanz  und  dem  leichtsinnigen  Treiben  der  Großstadt  um- 
geben ist.  Jene  beiden  Welten  kommen  in  unerwarteter  Weise  mit- 
einander in  Berührung,  wodurch  große  Aufregung  entsteht.  In  einer 
Landstadt  verbreitet  sich  das  Gerücht,  daß  ein  hoher  Beamter  zur 
allgemeinen  Revision  den  Ort  besuchen  werde.  Eine  Panik  bricht  aus; 
die  Einwohner  des  moralisch  versumpften  Nestes  halten  einen  unbe- 
deutenden, zufällig  anwesenden  Petersburger  jungen  Mann  für  den  ge- 
strengen Richter,  der  seine  Mission  inkognito  zu  erfüllen  gedenkt,  und 
legen  es  ihm  nahe,  die  Rolle  des  Revisors  zu  übernehmen.  Er  nimmt 
daraufhin  alle  Ehrungen  als  den  seinen  Talenten  gebührenden  Tribut 
entgegen  und  läßt  seiner  Phantasie  die  Zügel  schießen.  Er  ist  aber 
kein  gewerbsmäßiger  Betrüger,  kein  bewußter  Chevalier  d'industrie,  auch 
kein  krankhafter  Lügner,  sondern  ein  virtuosenhafter  Improvisator,  der 
nie  weiß,  wohin  ihn  die  Phantasie  führen  wird,  der  an  seine  eigene 
Größe  tatsächlich  glaubt,  obgleich  er  in  Petersburg  als  unbedeutendes 
Subjekt  in  der  Masse  verschwindet.  Als  ihm  mitten  in  seinen  sorg- 
losen Betrügereien  der  Gedanke  kommt,  daß  man  ihn  möglicherweise 
mit  einem  anderen  verwechselt  habe  und  er  daraufhin  verschwindet, 
nachdem  er  kurz  vorher  verwandtschaftliche  Beziehungen  mit  dem  Stadt- 
hauptmann angeknüpft  hat,  welchen  er  als  Revisor  in  erster  Reihe  hätte 
revidieren  und  dem  Gericht  übergeben  sollen,  da  erwachen  die  Leute  aus 
der  Hypnose.  Ein  zufällig  aufgegriffener  Brief  des  vermeintlichen  Dik- 
tators klärt  alles  auf.  Von  der  Tragikomödie  des  allgemeinen  Betruges 
fühlen  sich  die  Leute,  die  eine  nicht  geringe  Lebenserfahrung  besitzen, 
tief  beschämt.  Sie  ahnen  schon,  daß  ihr  häuslicher  Skandal  Gegenstand 
allgemeiner  Erheiterung  werden  wird,  ja  möglicherweise  kommt  jemand 
auf  den  Gedanken,  ihn  als  Thema  eines  Lustspiels  zu  behandeln.  „Warum 
lacht   ihr?     Ihr   lacht  ja    euch    selbst    aus!"    ruft   der    Stadthauptmann 


64 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


denen  zu,  die  sich  gescheuter  dünken,  und  erinnert  mit  diesen  Worten 
daran,  daß  die  typischen  russischen  Mißstände  hier  an  dem  Gebaren  in 
einem  Provinzstädtchen  illustriert  worden  sind.  Die  Theaterzensur  ver- 
langte damals,  daß  die  Tugend  siegen  müsse,  deshalb  erscheint,  als  das 
peinliche  Erwachen  den  Höhepunkt  der  Verwirrung  erreicht  hat,  ein 
Gendarm  in  der  Tür  und  verkündet  mit  lauter  Stimme,  daß  der  echte 
Revisor  nunmehr  eingetroffen  sei  und  alle  zu  sich  entbiete.  Das  Lust- 
spiel schließt  mit  der  stummen  Szene  des  Erstarrens  aller  angesichts  des 
nahenden  Gerichts. 
Bedeutung  des  Die   im  Lustspiel  geschilderten  Verhältnisse  der  Verwaltung  und  der 

die  russische  Gesellschaft  existieren  jetzt  ebensowenig  wie  die  von  Gribojedoff  ent- 
worfenen Typen  des  Moskauer  Lebens.  Der  Grundgedanke  des  „Revisors", 
der  Einspruch  gegen  den  Stillstand  der  Entwicklung  und  das  Willkür- 
regiment, behält  aber  für  alle  Zeiten  seinen  Wahrheitswert  und  wird  stets 
verstanden  werden.  Indem  das  Stück  jede  schroffe  Äußerung  vermeidet 
und  die  Schilderungen  der  entsetzlichen  Rechtlosigkeit  des  Volkes  in  bei- 
nahe liebenswürdige  Formen  kleidet,  hat  es  nicht  nur  für  seine  Zeit  die 
Aufgaben  einer  wahren  Komödie  erfüllt.  Eine  ganze  Reihe  lebendiger 
Typen  ist  der  Ertrag  der  feinen  Charakterisierungskunst  Gogols.  In  erster 
Reihe  stehen  der  Stadthauptmann,  ein  alter  Schurke  und  Tartüffe,  und 
sein  Besieger,  der  „Revisor"  Chlestakofif  Der  unerschöpfliche  Humor  Gogols 
hat  das  Stück  mit  einer  solchen  Fülle  geistreicher  und  heiterer  Einfälle 
gewürzt,  die  sich  dem  Gedächtnis  des  Volkes  für  alle  Zeit  eingeprägt 
haben,  daß  das  Lustspiel  nicht  nur  soziale  Bedeutung  hat,  sondern  auch 
einen  auf  der  russischen  Bühne  noch  nicht  dagewesenen  Triumph  der 
Das  Schicksal  Komik   bedeutet.     Gogol   hatte    aber  viele  Kämpfe  zu  bestehen,   ehe    es 

des    „Revisors"  .  °  I-  i 

auf  der  }!ühne.  ihm  gelang,  die  Bühne  zu  erobern  und  mit  dem  großen  Publikum  Fühlung 

Gogols  Reise  ins  ,  ,  .  ,  o     • 

Ausland.  ZU  gewiuuen.  Die  Theaterzensur  erklärte  sich  gegen  ihn,  von  allen  Seiten 
wurde  er  in  feindselige  Intriguen  verwickelt,  und  das  Verbot  des  „Revisor" 
schien  unvermeidlich.  Glücklicherweise  wurde  der  gordische  Knoten  durch 
den  Einspruch  des  Kaisers  gelöst.  Aber  obwohl  eine  der  seltenen  wohl- 
tätigen Einmischungen  Nikolaus'  in  literarische  Dinge  den  „Revisor"  rettete, 
gelang  es  doch  nicht,  die  Regierungskreise  mit  dem  Stück  auszusöhnen,  da 
diese  die  Bloßstellung  der  administrativen  Zustände  als  blutige  Beleidig"ung 
empfanden.  Der  ersten  Aufführung  (1836)  wohnte  die  ganze  vornehme  Welt 
bei,  die  Demokraten  waren  nur  in  geringer  Zahl  vertreten.  Das  Mißfallen 
derjenigen  Persönlichkeiten,  die  sich  getroffen  fühlten,  wuchs  von  Akt  zu 
Akt;  zuweilen  wurde  gelacht,  da  es  eben  unmöglich  war,  nicht  zu  lachen, 
doch  war  es  nur  der  Anwesenheit  des  Kaisers  zu  danken,  daß  das  Stück 
nicht  ausgepfiffen  wurde.  Diese  feindselige  Stimmung  wirkte  auf  Gogol 
so  stark,  daß  er  in  seiner  Verzweiflung  das  Theater  vor  dem  Schluß  des 
Stückes  verließ.  In  der  nächsten  Aufführung  änderte  sich  das  Bild;  statt 
der  vornehmen,  aber  korrumpierten  Gesellschaft  erschienen  die  gesunden  Ele- 
mente  des  Volkes   und  bereiteten  dem  „Revisor"    einen  Erfolg,    der  sich 


tion. 


B.   Die  erste  Hälfte  des    19.  Jahrhunderts.     II.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  65 

ZU  einem  wahren  Triumphe  gestaltete  —  aber  die  überstandene  Pein  hatte 
Gogol  allzu  stark  erschüttert.  Er  hätte  im  Hinblick  auf  das,  was  Moliere, 
Lesage,  Beaumarchais  und  GribojedofF  vor  ihm  durchgemacht  hatten,  auf 
einen  Kampf  gefaßt  sein  sollen,  aber  offenbar  hatte  er  eine  derartig  feind- 
selige Stimmung  nicht  erwartet.  Er  hielt  sein  Erlebnis  für  ein  Ungemach, 
das  das  Schicksal  gerade  ihm  aufbürdete,  und  in  seinem  krankhaften  Zu- 
stande hegte  er  jetzt  nur  den  einen  Wunsch,  die  undankbare  Gesellschaft  zu 
verlassen  und  weit  fort  zu  gehen,  aber  nicht  um  seiner  Tätigkeit  zu  entsagen, 
sondern  um  in  der  Fremde  „über  seine  literarischen  Verpflichtungen  reif- 
lich nachzudenken".  Der  Prophet  gilt  nichts  in  seinem  Vaterlande!  rief  er 
aus,  als  er  Rußland  verließ,  um  eine  große  Reise  durch  das  westliche 
Europa  anzutreten,  die  zum  Vorspiel  einer  fast  ständigen  Abwesenheit  von 
der  Heimat  wurde.  Erst  kurz  vor  seinem  Tode  kehrte  er  heim.  Beständig 
gedachte  er  aber  der  Heimat  und  arbeitete  zu  ihrem  Nutzen,  ganz  wie 
es  nach  ihm  Turgenjeff  getan  hat. 

Während    an    den   umflorten    Augen  Gogols   die   Landschaften    Mittel- Gogol  ahRoman- 

^  ^  scliriftsteller. 

deutschlands,    des    Rheins    und    des    Genfer   Sees   vorüberflogen,    war   der     „Die  toten 

'  .  Seelen".     Ihre 

Plan  zu  einem  neuen  Werke,  das  gleichzeitig  mit  dem  „Revisor"  ent-  erste  Konzep- 
worfen,  aber  nur  in  den  ersten  Kapiteln  ausgeführt  worden  war,  sein 
ständiger  Begleiter,  wenn  es  auch  seinem  Gedächtnis  stark  entrückt  und 
unter  den  mitgenommenen  Schriftstücken  ganz  vergraben  war.  Es  handelte 
sich  bei  dem  neuen  Werke  nicht  um  eine  Komödie,  die  sowohl  in  der  Fabel 
begrenzt,  als  auch  an  eine  bestimmte  Form  gebunden  ist,  vielmehr  sollte  nun 
das  ganze  Leben  geschildert  werden.  Ein  Sittenepos  wuchs  heran,  in  dem  alle 
Schichten  der  Gesellschaft,  im  Lichte  eines  in  die  Tiefe  dringenden  Humors 
gezeichnet,  ihre  Stelle  fanden.  Der  äußere  Zusammenhang  der  geschilderten 
Begebnisse  wurde  durch  eine  Anekdote  hergestellt,  die  in  den  damaligen 
Verhältnissen  der  Leibeigenschaft  ihre  Begründung  fand:  ein  betrügerischer 
Spekulant,  dem  es  bekannt  ist,  daß  die  Zählung  der  Bauern  nur  alle  zehn 
Jahre  erfolgt,  und  daß  die  während  dieser  Frist  Verstorbenen  unter  den 
Lebenden  verzeichnet  werden,  kauft  die  toten  Seelen  für  einen  Spottpreis 
auf,  um  sie  in  einer  Bank  als  Eigentum  zu  verpfänden  und  auf  diese 
Weise  zu  Reichtum  zu  gelangen.  Der  reisende  Spekulant  kommt  natür- 
lich mit  einer  Menge  Menschen  zusammen,  wodurch  Gogol  Gelegenheit 
findet,  alle  möglichen  Typen  zu  schildern.  Als  Gegenbild  des  „Ritters 
von  der  traurigen  Gestalt",  der  umherreist,  um  menschliches  Leiden  zu 
lindern  und  die  Unglücklichen  und  Verfolgten  zu  beschützen,  ist  der  Held 
dieser  Erzählung  schon  an  sich  ein  interessantes  Objekt  für  psychologische 
Studien.  Durch  den  Zickzackkurs,  den  er  auf  der  Jagd  nach  Beute  durch 
den  Sumpf  des  menschlichen  Lebens  nimmt,  bekommt  der  Leser  Gelegen- 
heit, in  die  verborgensten  Winkel  des  Volkstums  zu  blicken.  Dieses 
Sujet  wurde  in  der  ersten  Fassung  des  Romans  mit  kühnem  Humor  be- 
handelt. Der  Verfasser,  der  ein  unnachahmlicher  Vorleser  war,  machte 
Puschkin    mit    seinem  Werke    bekannt    und    war  höchst   erstaunt,    als   auf 

DiB  Kultur  der  Gegenwart.    L  9.  5 


56  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

dem  Antlitz  seines  aufmerksamen  Zuhörers,  vor  dessen  innerem  Auge  sich 

eine  Reihe  urkomischer  Szenen  abspielten,  das  Lächeln  allmählich  schwand, 

und    dem  Ausdrucke   der  Trauer  Platz    machte:  „Mein   Gott,  wie  traurig 

Ausführung  des  steht's     um     unser    Rußland!"    rief    dieser    plötzlich     aus.      Dem    Humo- 

„Toten Seelen",  risten,   der   sich   selbst   unbewußt,  Ankläger   und   zugleich  Erzieher   seines 

„Göttlichen     Volkes  War,  wurde   das  Wesen  der  von   ihm  vollbrachten  Tat  und   seines 

Soziale  und  lite-  ferneren   Berufs    immer    klarer.     Sein    Gesichtsfeld    erweiterte    sich,    die 

rarische  Bedeu-  ^-.^  ...,.,,  t-,  -t 

tung  der  Dich-  Romanform  genügte  mm  nicht  mehr,  zum  Erstaunen  der  Leser  und  der 
Kritik  benannte  er  die  „Toten  Seelen"  ein  „Poem".  Er  vergleicht  die- 
jenigen Schriftsteller,  die  das  Große,  Edle,  Heroische  darstellen,  die  der 
Masse  schmeicheln,  mit  denen,  die  sich  voll  Selbstverleugnung  zur 
Schilderung  des  Traurigen,  Niedrigen  und  Abstoßenden  verurteilen;  wäh- 
rend jene  Lorbeeren  ernten,  müssen  diese  die  Gleichgültigkeit  und 
Ablehnung  der  Gesellschaft,  die  die  Bedeutung  des  Lachens  nicht  zu 
fassen  vermag,  auf  sich  nehmen.  Die  schwere  Arbeit,  die  er  über- 
nommen hatte,  suchte  er  mit  seiner  begeisterten  Hingabe  an  die  Heimat 
zu  verschmelzen,  deren  Zukunft  er  in  leuchtenden  Farben  malt.  Die 
„Toten  Seelen"  sind  ein  erstes  Manifest  des  russischen  Realismus,  der 
von  Seiten  Gogols  noch  in  einigen  anderen  Werken  verschärft  wurde 
(z.  B.  in  dem  Stücke  „Beim  Verlassen  des  Theaters  nach  der  Auf- 
führung eines  Lustspiels").  Andererseits  wird  in  den  „lyrischen"  Epi- 
soden des  Romans  eine  krankhafte  Neigung  zur  Mystik  offenbar,  die 
früher  von  jugendlichem  Frohsinn  übertönt  worden  war,  aber  nur  ver- 
stummte, um  mit  besonderer  Kraft  wiederzuerstehen,  als  Gogol  den 
Finger  der  Vorsehung  auf  sich  gerichtet  zu  sehen  vermeinte  und  sich 
zum  erstenmal  zum  großen  geheimnisvollen  Werk  der  allgemeinen  Er- 
weckung berufen  fühlte.  Die  Mystik  trübte  ihm  den  Blick  und  so  ver- 
knüpfte er  seine  Ideale  mit  den  zurzeit  gegebenen  Zuständen  in  Rußland, 
ohne  gewahr  zu  werden,  daß  die  Willkür,  der  Militarismus,  der  Bureau- 
kratismus  und  das  Bestehen  der  Leibeigenschaft  mit  dem  Fortschritt  un- 
vereinbar waren.  In  einem  späteren  Teile  der  Dichtung  sagt  der  kranke 
und  schwache  Gogol,  daß  alles,  was  im  zeitgenössischen  Rußland  Bewußt- 
sein hat,  auf  welcher  sozialen  Stufe  es  auch  sei,  danach  schmachte,  das 
magische  Wort  „Vorwärts!"  zu  vernehmen.  Er  selbst  hat  damals  dieses 
Wort  seinen  Zeitgenossen  nicht  zugerufen,  er  bestand  nicht  darauf,  daß 
mit  der  überlebten  Ordnung  der  Dinge  radikal  gebrochen  werden  müsse,  ja 
er  versuchte  sogar  in  den  letzten  Jahren  vor  seinem  Tode  sich  und  andere 
davon  zu  überzeugen,  daß  innerhalb  der  Grenzen  des  Bestehenden  Ver- 
besserungen und  Erleichterungen  möglich  seien,  und  brachte  durch  seine 
versöhnenden  Tendenzen  sowohl  die  junge  Generation  als  auch  die  Lite- 
ratur gegen  sich  auf.  Wenn  auch  seine  theoretischen  Begründungen  schwach 
waren,  so  hat  er  doch  in  der  Analyse  des  Lebens,  seiner  Formen  und  Typen 
Großes  geleistet.  Mit  Ausnahme  einiger  Seiten  des  russischen  Volkslebens 
(z.  B.  des  Bauernstandes,  der  zuerst  von  Turgenieff  geschildert  worden  ist)  hat 


B.  Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     II.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  57 

er  das  ganze  zeitgenössische  Milieu  in  seinen  Roman  „Die  Toten  Seelen" 
aufgenommen.  Das  war  das  eigentliche  Rußland,  aber  doch  ein  vorsintflut- 
liches, in  seiner  Brutalität  und  Rückständigkeit  mißgestaltetes  Rußland, 
das  dort  geschildert  wurde.  Von  dem  allgemeinen  Hintergrunde  heben  sich 
einzelne  Gestalten  ab,  eine  Reihe  prächtiger  Porträts,  vor  allem  der  Held 
des  Romans  Tschitschikoff,  der  nicht  mit  den  harten  Zügen  des  Verbrecher- 
tums ausgestattet  ist,  sondern  im  Gegenteil,  mit  den  einschmeichelnden, 
gewinnenden  Manieren  eines  anständigen  Menschen  mit  gemäßigter  Welt- 
anschauung. Der  milde  Ton  der  Satire  wird  hier  wie  im  „Revisor"  an- 
geschlagen, doch  aus  der  Fülle  moralisch  mißgestalteter  Persönlichkeiten 
gewinnt  man  eine  Vorstellung  von  den  geradezu  entsetzlichen  Zuständen 
des  realen  Lebens.  Im  Plan  des  Romans  ist  ein  Widerhall  von  Dantes 
„Divina  Commedia"  bemerkbar.  Bei  Gogol,  der  viele  Jahre  in  Italien 
zugebracht  und  eine  große  Verehrung'  für  Dante  gewonnen  hatte,  konnte 
wohl  der  Gedanke  auftauchen,  sein  Werk  nach  dem  Plane  seines  großen 
Vorgängers  zu  gestalten.  Je  weiter  die  „Toten  Seelen"  gediehen  und  er 
—  wie  er  sich  ausdrückte  —  durch  einen  bescheidenen  Eingang,  den  Vor- 
raum einer  Hütte,  in  die  hellen  Räume  eines  wunderbaren  Gebäudes  ge- 
langte, desto  mehr  befreite  er  sich  von  der  Formlosigkeit  einer  Erzählung, 
der  gar  keine  Disposition  zugrunde  lag,  um  die  großartige  Architektur 
eines  dreibändigen  Werkes  an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Der  zweite  Band 
war  als  ein  Gegenstück  zum  Purgatorio  geplant;  den  Menschen,  die  in 
diesem  Teile  geschildert  werden  sollten,  eröffnet  sich  die  Möglichkeit 
einer  Läuterung  im  Geiste  der  Nächstenliebe.  Der  Held  selbst  ist 
sittlich  erschüttert  und  bereit,  sein  Kreuz  auf  sich  zu  nehmen.  In  der 
Ferne  winkt  die  völlige  Erlösung,  das  irdische  Paradies,  das  Reich  der 
Wahrheit  und  des  Guten.  Gogol  war  von  diesem  zweiten  Bande  nicht 
befriedigt,  ließ  ihn  unvollendet  und  vernichtete  sogar  einen  Teil  davon 
vor  seinem  Tode.  Glücklicherweise  ist  er  an  die  lichtvollen  Bilder 
des  dritten  Bandes,  in  welchem  Himmelsbewohner  in  menschlicher  Ge- 
stalt erscheinen  sollten,  überhaupt  nicht  herangetreten.  Die  großartige 
Mystik  des  Paradieses  von  Dante  war  nur  in  den  Zeiten  des  unmittel- 
baren, reinen  Glaubens  möglich.  Den  idealen  Helden  Gogols,  die 
einer  realen  Basis  ermangelten,  wäre  nicht  nur  das  Los  ähnlicher 
mißlungener  Versuche  Turgeniefi^s,  Gontscharoffs  und  Tolstois  be- 
schieden gewesen,  sondern  solche  Fiktionen  hätten  am  Schlüsse  eines 
durch  und  durch  realistischen  Romans  diesem  geradezu  sein  Todesurteil 
besiegelt. 

Der  große  Fortschritt,  der  in  der  sozialen  Tendenz  der  „Toten  Seelen"    SchnftsteUer- 
lag,    hatte    ebensolche    Schwierigkeiten    zu    überwinden,    wie    die    Neue- „Die  natürliche 
rungen    des    „Revisor".     Gogol,    der    das    Manuskript    des    ersten   Bandes     Angreifer.  "^^ 
aus    dem   Auslande    heimgebracht    hatte    und    die    überspannte    Hoffnung 
hegte,  daß  sein  heißer  Wunsch,  dem  allgemeinen  Wohl  zu  dienen,  sympa- 
thisch aufgenommen  werden  würde,  war  empört  über  die  Engherzigkeit  der 

5* 


Leb, 


58  Alexis   Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

Zensur,  die  den  Roman  verbot  und  eine  Reihe  Anklagen  gegen  ihn  erhob. 
Sie  warf  Gogol  Untergrabung  der  Gesetze  und  Beleidigung  der  Stände  vor; 
im  Grundgedanken  des  ganzen  Werkes  erblickte  sie  eine  Verhöhnung  der 
Dogmen,  da  die  Seelen  ja  unsterblich  seien.  Als  das  Buch  nach  langen 
Kämpfen,  nach  vielen  Unterredungen  und  Zugeständnissen  endlich  er- 
scheinen konnte,  vergiftete  die  feindselige  Haltung  der  konservativen 
Kreise  und  die  Kritik  ihrer  Presse  Gogol  die  Freude  an  der  aufrich- 
tigen Begeisterung,  die  ihm  von  allen  Freunden  einer  freiheitlichen, 
humanen  Literatur  entgegengebracht  wurde.  Die  tadelnden  Kritiker  und 
rückständigen  Journalisten  faßten  Gogol  und  seine  jungen  Nachfolger 
zu  einer  Gruppe  zusammen,  die  sie  mit  ihrem  Haß  verfolgten.  Um  den, 
wie  sie  es  nannten,  extremen  und  schamlosen  Realismus  dieser  Richtung 
zu  brandmarken,  legten  sie  dieser  den  Spottnamen  „die  natürliche 
Schule"  bei,  ein  Name,  der  aber  wirklich  bezeichnend  war  und  der 
also  schon  einige  Jahrzehnte  vor  dem  Auftreten  der  naturalistischen 
Schriftsteller  in  Frankreich,  an  deren  Spitze  Emile  Zola  stand,  zum 
Panier  wurde,  um  das  sich  Turgenieff,  Gontscharow,  Dostojewsky  und 
Saltykoff  scharten. 
letzte  Die   große  Verantwortlichkeit,    die  Gogol   auf  sich  lasten  fühlte,   ver- 

"cogois.  mochte  er  nicht  zu  ertragen;  die  harten  Prüfungen,  die  er  in  seiner 
als  Moralist  und  schriftstellerischen  Tätigkeit  zu  überstehen  hatte,  untergruben  seine  Ge- 
Brief  Beiinskys.  sundheit,  da  seine  Nervenkonstitution  ihn  für  alle  Unbill  empfänglich 
machte.  Nach  einer  schweren  Krankheit  ließ  seine  Energie  und  Schöpfer- 
kraft nach.  In  dem  Geiste  dieses  einsamen  Mannes,  der  sich  beständig 
auf  Reisen  befand,  begannen  sich  religiöse  Wahnideen  und  mönchisch- 
asketische Neigungen  zu  entwickeln.  Sein  Werk  aber  war  fest  begründet 
und  konnte  nicht  vernichtet  werden.  Als  einige  Jahre  später  aus  seiner 
Feder  die  „Ausgewählten  Stellen  aus  dem  Briefwechsel  mit  Freunden"  er- 
schienen, eine  Sammlung  von  Betrachtimgen  über  zeitgenössische  Fragen, 
die  von  pietistisch-versöhnendem  Geiste  durchweht  waren,  erhob  sich 
wider  den  Verfasser  alles,  was  ihm  sein  geistiges  Wachstum  zu  verdanken 
hatte,  und  der  beste  Erklärer  Gogols,  das  Haupt  der  kritischen  Schule,  die 
sich  im  Zusammenhang  mit  Gogols  Richtung  entwickelt  hatte,  Belinsky, 
schrieb  ihm  aus  Salzbrunn,  also  fern  von  der  russischen  Postzensur,  einen 
Brief  voller  Anklagen,  der  ihm  die  Augen  öffnen  und  ihm  zeigen  sollte, 
daß  er  am  Rande  eines  Abgrundes  stehe,  daß  Rußland  „weder  Mj-stizis- 
mus  noch  Pietismus  und  Asketismus,  sondern  Zivilisation,  Bildung  und 
Humanität  benötige".  Trotz  alledem  betonte  in  diesem  leidenschaftlichen 
Briefe  der  strenge  Kritiker,  der  die  Mißbilligung  mit  wehem  Herzen  aus- 
gesprochen hatte,  die  Größe  der  künstlerischen  Tat  Gogols.  Gogol  war 
durch  den  Zwiespalt,  den  er  selbst  ins  Leben  gerufen  hatte,  tief  erschüttert; 
er  schien  aus  einem  Traum  zu  erwachen,  kehrte  zur  Arbeit  zurück,  wurde 
schmerzlich  gewahr,  daß  er  das  Leben  noch  nicht  genügend  kannte,  unter- 
brach seine  Reise  und  widmete  sich  in  der  Heimat  neuen  Studien.   Doch 


B.  Die   erste  Hälfte  des    I<).  Jahrhunderts.      II.   Das   Zeitalter  Nikolaus'  I.  6g 

seine  Energie  und  Schöpferkraft  waren  gebrochen,  der  Tod  stand  vor 
der  Tür.  Die  Episode  mit  Behnsky,  unter  der  alle  gebildeten  Lands- 
leute moralisch  gelitten,  hatte  aber  den  Erfolg,  die  literarische  Be- 
wegung zu  kräftigen.  Seit  der  von  Puschkin  ausgegangenen  Anregung 
hatte  sie  nun  ein  zweites  höchst  wichtiges  Entwicklungsstadium  durch- 
gemacht und  entfaltete  um  die  Mitte  der  vierziger  Jahre  eine  neue, 
reiche  Blüte. 

Da  Puschkin  in  der  meisterhaften  Handhabung  der  künstlerischen  Schicksal  der 
Prosa  und  der  Sittenschilderung  im  Roman  schon  so  bald  in  Gogol  Puschkin.  Das 
einen  Nachfolger  gefunden  hatte,  war  es  möglich,  daß  der  wichtigste  Lermontoff" 
Zweig  seines  literarischen  Vermächtnisses,  die  Lyrik,  die  Offenbarung 
des  inneren  Seelenlebens  des  Dichters,  in  Verfall  geraten  konnte.  Weit- 
sichtige Beobachter  prophezeiten  auch  bereits  angesichts  des  ungeheuren 
Aufschwungs,  den  jetzt  der  Roman  nahm,  daß  die  Lyrik  für  lange 
Zeit  verstummt  sei  und  daß  die  Zukunft  dem  Roman  mit  seiner  all- 
seitigen Wiedergabe  des  Lebens  gehöre.  Das  Auftreten  einer  glänzen- 
den, ja  phänomenalen  Persönlichkeit  strafte  diese  Prophezeiungen  Lügen. 
Inmitten  der  allgemeinen  Erschütterung,  infolge  des  Todes  Puschkins 
(1837),  der  im  Duell  mit  einem  leichtfertigen,  den  höheren  Kreisen  ange- 
hörenden Abenteurer,  dem  —  wie  eine  Clique  anonymer  Verleumder  und 
Feinde  des  Dichters  behauptete  —  glücklichen  Verehrer  seiner  Frau,  ge- 
fallen war,  ertönte  plötzlich  eine  starke,  mutige  Stimme,  die  den  Hin- 
geschiedenen in  herrlichen  Worten  pries  und  diejenigen,  welche  ihn  zu- 
grunde gerichtet  hatten,  verdammte.  Die  kraftvollen,  mächtigen  Verse 
und  die  Aufrichtigkeit  der  Entrüstung,  die  in  ihnen  ihren  Ausdruck  fand, 
ergriffen  alle.  Der  offiziellen  Welt,  die  durch  ihre  lügnerische  Haltung 
Puschkin  gegenüber  der  üppigen  Entwicklung  feindseliger  Ränke  den 
Boden  bereitet  hatte  und  sogar  dem  toten  Dichter  so  viel  Mißtrauen  ent- 
gegenbrachte, daß  sie  eine  öffentliche  Bestattung  verbot  und  seine  Leiche 
heimlich,  bei  Nacht,  in  Begleitung  von  Gendarmen  in  ein  Kloster  der 
Provinz  schaffen  ließ  —  dieser  offiziellen  Welt  samt  ihren  Knechten 
wurde  der  Fehdehandschuh  zugeworfen.  Sie  nahm  ihn  auf  und  war  be- 
reit, sich  mit  der  ganzen  Schwere  ihrer  Repressalien  auf  den  Beleidiger 
der  Ehre  des  Staates,  des  Adels  und  des  Militärs  zu  stürzen.  Mit  Ver- 
folgung und  Gericht  bedrohte  sie  ihren  Ankläger,  einen  jungen  Garde- 
Offizier. 

So  trat  Lermontoff,  einer  der  größten  Dichter,  die  das  russische  Volk  Charakteristik 
hervorgebracht  hat,  in  die  Öffentlichkeit.  Wie  ein  Meteor  tauchte  er  Seine  ersten 
am   literarischen   Himmel    auf,    offenbarte    eine    poetische    Begabung-,    die  fungcn  und  die 

Dramen     seiner 

vielleicht  diejenige  Puschkins  übertraf,  eine  scharf  gezeichnete  Persönlich-    Jugendjahre. 
keit  voller  Kontraste  und  Leidenschaften,  ein  Talent,  das  in  der  Sehnsucht 
nach  unerforschten  Gebieten  des  Gedankens  und  Gefühls  mit  titanenhaftem 
Mut   den   Raum    durchmaß    und  —  stürzte,    von   einem  blinden  Zufall  ge- 
troffen, der  ebenso  sinnlos  war  wie  das  Duell,  in  dem  Puschkin  ums  Leben 


70 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


kam.  Früh  schon  hatte  er  die  Bitterkeit  und  die  Lüge  des  Lebens  kennen 
gelernt;  durch  Erfahrung  und  Bücher  belehrt,  sah  er  bald  Ungleichheit 
und  Ungerechtigkeit  um  sich  her,  bahnte  sich  einen  Weg  zur  Freiheit 
und  behauptete  seine  Persönlichkeit  trotz  aller  Schranken  der  hochmütigen, 
vornehmen  Gesellschaftsklasse,  der  er  angehörte.  Mit  dem  Denken  er- 
wachte auch  das  Gefühlsleben;  frühzeitig,  wie  Dante,  verliebte  er  sich. 
In  seinen  ersten  dichterischen  Versuchen  als  Knabe  und  in  seinen  Jugend- 
dramen, die  den  Einfluß  Schillers  und  Lessings  nicht  verleugnen  können, 
glühte  bereits  ein  unruhiges  Feuer:  der  Trieb  nach  Erkenntnis  und  des 
Zweifels  Stachel  ist  in  ihnen  lebendig.  Da  er  immer  auf  sich  allein  an- 
gewiesen war  und  in  seinem  Inneren  schwere  Kämpfe  ausfocht,  von  denen 
niemand  etwas  wußte,  glaubte  er  zum  Unglück  prädestiniert  zu  sein,  doch 
trat  er  dem  Schicksal  stolz  entgegen.  Er  fühlte,  daß  in  seiner  Natur  ein 
verhängnisvoller  Zwiespalt  vorhanden  war:  der  erbarmungslose  Verstand 
negierte  das,  wozu  ihn  der  Sturm  der  Leidenschaften  drängte.  So  trat  er 
ins  Leben.  Als  auch  er  dem  Einfluß  Byrons  unterlag  und  mit  Staunen 
und  Beben  erkannte,  daß  sich  in  diesem  Dichter  derselbe  Kampf  ab- 
gespielt hatte  wie  in  seiner  Seele,  war  sein  Schicksal  entschieden.  Seine 
kampflustige,  protestierende  Dichtung  spiegelte  nunmehr  deutlich  den  Ein- 
fluß Byrons  wieder,  und  zwar  zuletzt  in  so  hohem  Grade,  daß  der  scharf- 
sinnige Kritiker  Georg  Brandes  das  beste  Werk  Lennontoffs,  den  Roman 
„Ein  Held  unserer  Zeit",  das  vollkommenste  Ergebnis  der  Wirkung  Byrons 
auf  die  europäische  Dichtkunst  nennen  konnte. 
Die  Gedichte  Er  war  nicht   imstande,   mit    der  bestehenden  Ordnung,   die  Puschkin 

Puschkins  Tod  Verhängnisvoll  geworden  war,  ein  Kompromiß  zu  schließen;  vom  Geist 
des  Liberalismus  ergriffen,  der  in  Rußland  von  Radischtschew  und  den 
Dekabristen  ausging  und  infolge  der  Julirevolution  beträchtlich  erstarkt 
war,  gab  er  sich  nicht  nur  in  seinen  Jugendwerken,  sondern  auch  im 
Leben  dem  Kultus  der  machtvollen  Persönlichkeit  hin,  doch  offenbarte  er 
vorerst  nur  in  temporären  Aufwallungen  politischen  Spürsinn.  Seine 
Helden  waren  Räuber  vom  Typus  des  „Corsair"  oder  ein  altrussischer 
Krieger,  ein  geheimnisvoller  Unbekannter,  der  der  Welt  Trotz  bietet,  ein 
ergrimmter  Fanatiker,  der  sich  an  die  Spitze  eines  Bauernaufstandes  stellt, 
der  rachsüchtige  und  verwegene  Kaukasier  Ismael-bey,  der  den  tragischen 
Konflikt  zweier  Rassen,  zweier  Zivilisationen  in  sich  erlebt  —  oder  ein 
finsterer  Dämon,  ein  gefallener  Engel,  der  einem  reinen  und  schönen  Ge- 
schöpfe Gottes  naht,  um  es  durch  Erweckung  der  Liebe  dem  Verderben 
zu  weihen  und  dann  stolz  im  unendlichen  Raum  zu  entschwinden.  Der  Tod 
Puschkins  und  das  abstoßende  Bild  gesellschaftlicher  Verrottung,  das  sich 
bei  dieser  Gelegenheit  entrollt  hatte,  übten  eine  befreiende  Wirkung  auf 
den  Dichter  aus.  Die  vom  Schicksal  gezeichneten  Helden  fesselten  jetzt 
seine  Phantasie  nicht  mehr.  Nur  der  „Dämon",  der  als  lebendige  Erinnerung 
an  einen  Jugendtraum  Lermontoff  teuer  war,  blieb  bis  zu  seinem  Tode  sein 
treuer  Begleiter  und    wurde  vielen  Neubearbeitungen  unterworfen,    deren 


B.  Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     U.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  71 

letzte  Fassung  eine  hohe  Stufe  der  Vollendung  erreichten.  Die  Verpflich- 
tungen dem  Vaterlande  gegenüber,  die  Notwendigkeit,  die  eigenen  Fähig- 
keiten in  dessen  Dienst  zu  stellen,  erhielten  nun  entscheidende  Bedeutung. 
Als  Lermontoff  strafweise  in  den  Kaukasus  versetzt  worden  war,  wo  er  sich 
in  harter  militärischer  Umgebung,  gleichzeitig  aber  auch  inmitten  einer  groß- 
artigen alpinen  Natur  befand,  und  das  freie  Leben  der  Berge,  das  seit  seiner 
ersten  Reise  als  Knabe  in  seinem  Gedächtnis  fortgelebt  hatte,  zum  zweiten 
Male  beobachten  konnte,  beschritt  er  neue  Bahnen.  Von  nun  an  war  nicht 
mehr  der  einseitig  erfaßte  Byronismus,  der  ihn  bisher  beherrscht  hatte, 
sein  Leitstern,  sondern  der  wahre  Geist  Byrons,  des  Kämpfers  für  Fort- 
schritt und  Freiheit.  Die  Berührung  mit  dem  Leben  und  den  fortschritt- 
lich gesinnten  Geistern  der  Literatur,  von  denen  er  sich  früher,  als  Dichter- 
dilettant, ferngehalten  hatte,  förderten  ihn  jetzt  in  seiner  Arbeit.  Als  er  in 
den  Norden  zurückkehrte,  war  er  in  seiner  Entwicklung  bereits  weit  vor- 
geschritten, und  diese  Umwandlung  fand  in  einer  scharfen  Selbstkritik, 
in  der  Verurteilung  seiner  Vergangenheit  —  kurz  in  einer  öffentlichen 
Beichte  ihren  Ausdruck.  Das  war  der  Sinn  des  Romans  „Ein  Held  unserer 
Zeit«. 

In    einer    sehr   ungewöhnlichen   Form,    die   scheinbar  gar  keinem  be-     ■.£«  HeU 

°  °  _  ^       unserer  Zeit". 

Stimmten  Plane  entsprang  (Erzählung,  Episoden,  Erinnerungen),  erschien  die  Seine  avito- 
Schilderung  der  seelischen  Entwicklung  einer  hochbegabten  Persönlichkeit,  künstlerische 
die  sich  einer  großen  Kraft  bewußt  ist,  ohne  für  sie  Betätigung  zu  finden,  Bedeutung. 
und  an  Egoismus  und  stolzer  Selbstüberhebung  zugrunde  geht.  Es  ist  das 
Charakterbild  eines  Märtyrers  seiner  eigenen  Erregungen  und  Stimmungen, 
die  dann  auch  anderen,  insbesondere  den  Frauen,  die  in  den  Bann  der 
dämonenhaften  Erscheinung  geraten,  zur  Qual  g-ereichen.  Petschorin  ist 
kein  Repräsentant  seines  Jahrhunderts,  er  ist  nur  „Einer  der  Helden  seiner 
Zeit",  wie  ihn  der  Verfasser  anfänglich  mit  wehmütiger  Ironie  nennen  wollte, 
einer  der  Unbefriedigten,  die  zu  gemeinnütziger  Tätigkeit  untauglich 
sind  und  den  Kampf  mit  dem  Bösen  nicht  auf  sich  zu  nehmen  vermögen. 
Wenn  aber  dieser  Held  eines  verfehlten  Lebens  von  der  Bühne  tritt  und 
das  traurige  Antlitz  des  Wanderers,  der  in  freiwilliger  Verbannung  die 
Einöden  des  Ostens  aufsuchen  will,  zum  letztenmal  auftaucht,  erweckt  er 
unwillkürlich  das  Mitgefühl  des  Lesers.  Solche  Feinheit  der  Analyse, 
die  nur  dadurch  möglich  war,  daß  dem  Roman  Erlebtes,  Autobiographi- 
sches zugrunde  lag,  war  in  der  russischen  Literatur  noch  nicht  dagewesen. 
Doch  nicht  nur  der  Held  allein,  sondern  auch  die  ihn  umgebenden  Per- 
sönlichkeiten, stärkere  Charaktere,  Alltagsmenschen  und  schöne  Frauen- 
gestalten, sind  mit  gleicher  Meisterschaft  gezeichnet;  ebenso  ist  das  Leben 
und  die  Natur  des  Kaukasus  —  das  Milieu  der  letzten  Phase  im  Leben 
des  Helden  —  mit  ungewöhnlicher  koloristischer  Kunst  geschildert.  Die 
sich  in  einem  solchen  Rahmen  abspielende  tragische  Geschichte  eines 
begabten  Menschen  ist  das  erste  bedeutende  Ereignis  in  der  Chronik 
des    russischen    psychologischen   Romans.     Wie    die    realistische    Sitten- 


^2  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

Schilderung    in    erzählender  Form  als  das  literarische   Vermächtnis   Gogols 
zu    betrachten    ist,    so    führt    vom    „Helden    unserer    Zeit"    eine    ununter- 
brochene Stufenfolge  bis  zu  den  psychologischen  Studien  Turgenieffs   und 
seiner  Zeitgenossen. 
Der  übertritt  Die  Beichte  hatte  Lermontoff  das  Herz  erleichtert,  das  Urteil  war  ge- 

das  Lager  der  sprocheu    —    nun    trat    der    Dichter    endgültig    in    die  Weite    des    Lebens 
Literatur.   Sein  hinaus.     Die  Tiefe   und  Innigkeit    seiner   hinreißenden  Lyrik,    die   Schön- 
voikswohi  und  heit  seiner  Verse  ist  später  niemals  übertroffen  worden,  der  Schwung  seiner 
piütziicbcr  ioi.  Phantasie    zeigte    eine    hohe    künstlerische    Reife    und    erstrahlte    in    den 
Dichtungen,   die  im  Kaukasus  entstanden  waren,   in  vollem  Glänze.     Ler- 
montoff wurde  nunmehr  von  der  liberalen  literarischen  Bewegung  mit  fort- 
gerissen.     Eine    neue    Strafverfügung,    laut    der    er    nach    einem    kurzen 
Aufenthalt  im  nördlichen  Rußland  wiederum,  und  zwar  für  immer,  in  den 
Kaukasus   verschlagen  wurde,    verschärfte  seine  oppositionelle  Stimmung; 
stärker  denn  je  fühlte   er   die   Bande,  die  ihn  mit  dem  Volke  verknüpften, 
und  wurde    sich  der  Verpflichtungen  bewußt,    die    ihm    daraus   erwuchsen ; 
mit  jeder  Schöpfung  erklomm  er,  getragen  von  der  allgemeinen  Sympathie, 
eine  höhere  Stufe  der  Vollkommenheit  —  da  endete  ein  verhängnisvolles 
Duell  im  Jahre  1841   dieses  reiche  Leben  und  vernichtete  die  Hoffnungen, 
zu    denen    es    berechtigt    hatte. 
Die  geistige  Das     Etwachen     des    Volks     zur     Selbsttätigkeit ,     das     trotz     aller 

dreißiger  Jahre.  Hemmnissc     in    Gogol     und    Lermontoff    eine    hohe    künstlerische    Kraft 

Dieliterariscliea 

Kreise  Moskaus,  zum  Ausdruck  gebracht  hatte,  offenbarte  sich  auch  in  dem  Aufkeimen 
Ästhetiker  und  einer  neuen  Bewegung  im  Reiche  der  Gedanken.  Die  Moskauer  Uni- 
versitätsjugend, die  jener  älteren  Generation  philosophierender  und 
ästhetisierender  Dilettanten,  welche  Puschkin  in  der  Zeit  der  BedrängTiis 
mit  ihren  Sympathien  unterstützt  hatten,  gefolgt  war,  wurde  zum  Fer- 
ment, das  den  geistigen  Gehalt  der  fortschrittlichen  Literatur  der  vier- 
ziger Jahre  zur  Entwicklung  brachte.  Im  idealen  Streben  nach  Bildung 
und  Wissen  fanden  sich  Menschen  verschiedener  Herkunft  und  ver- 
schiedener Bildungsgrade  zusammen,  die  miteinander  dem  gemeinschaft- 
lichen Ziele  friedlich  zusteuerten.  Unter  diesen  Studenten  ragten  bereits 
zwei  ]\Iänner  hervor:  das  zukünftige  Haupt  der  Kritik,  der  Sohn  eines 
armen  Kreisarztes,  Belinsky,  der  die  Provinz  samt  ihren  minderwertigen 
Schulen  verlassen  hatte,  um  in  der  alma  mater  die  wahre  Wissenschaft  zu 
suchen  —  und  die  Zierde  der  russischen  Publizistik,  Alexander  Herzen, 
der  aus  den  aristokratischen  Kreisen  Moskaus  stammte.  Ursprünglich 
war  es  das  philosophisch-ästhetische  Gebiet,  auf  dem  sich  die  Mehrzahl 
dieser  Enthusiasten  begegnete;  die  deutsche  Philosophie  gewann  wieder 
mächtigen  Einfluß,  namentlich  war  es  Hegel,  der  die  Geister  beherrschte. 
Doch  neben  den  Philosophen  machte  sich  ein  kleiner,  unabhängiger  Kreis 
bemerkbar,  der  sich  durch  das  abstrakte  Denken  nicht  befriedigt  fühlte, 
um  so  mehr  aber  von  den  politischen  und  sozialen  Problemen  angezogen 
wurde. 


Politikc 


B.  Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     11.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  yß 

Herzen,  der  von  Kindheit  an  das  Freidenkertum  eines  Voltaire  und  Alexander 
die  Gedankenwelt  der  französischen  Revolution  in  sich  aufgenommen  hatte 
und  unter  dem  starken  Eindruck  des  Unterganges  der  Dekabristen  zur 
Reife  gelangt  war,  hing  freiheitlichen  Träumen  nach  und  erwärmte  sich  samt 
seinem  besten  Freunde  Ogareff,  der  später  sowohl  das  Schicksal  des  Emi- 
granten als  auch  die  Tätigkeit  des  Publizisten  mit  ihm  teilte,  an  den 
politisch  gefärbten  Dichtungen  Schillers.  Er  unterlag  nicht  dem  Einfluß 
Hegels,  vielmehr  zogen  ihn  die  Naturwissenschaften  an,  die  auch  während 
seiner  Universitätsjahre  sein  Sondergebiet  waren;  unter  den  zeitgenössi- 
schen sozialen  Systemen  fesselte  ihn  dasjenige  Saint-Simons,  und  über 
seinem  Kreise  wehte  schon  die  Fahne  der  sozialen  Bewegung.  Die  Ver- 
bannung in  einen  entlegenen  Winkel  des  nordöstlichen  Rußlands  (Wjatka), 
die  Herzen  bei  seinem  Eintritt  in  das  öffentliche  Leben,  gleich  nach  der 
Absolvierung  seiner  Studien,  traf  und  ihn  aus  der  Zahl  der  Anführer  der 
Jugend  strich,  trennte  ihn  nur  äußerlich  von  seinem  Kreise.  Seine  Dienst- 
jahre in  der  Provinz  gaben  seinen  reformatorischen  Forderungen  eine  reale 
Basis,  da  er  nun  Gelegenheit  fand,  die  entsetzliche  Rückständigkeit  des 
russischen  Lebens  genau  kennen  zu  lernen.  Als  er  zurückkehrte,  besaß 
er  das  volle  Rüstzeug  der  Erfahrung,  war  gereift  und  hatte  sich  durch 
Lektüre  weiter  gebildet.  In  Moskau  und  später  in  Petersburg  scharten 
sich  die  oppositionellen  Elemente,  die  sich  in  ihrem  nationalen  Kampfe 
mit  der  allgemeinen  europäischen  Beweg'ung  der  Zeit  vor  1848  solidarisch 
fühlten,  wieder  um  ihn. 

Während    Herzen    sich    kraftvoll    den   Weg    zu    einer    Tätigkeit,    die  r.eiiasky;  seine 

*-•  ^  ersten  kritischen 

seinem  Charakter  und  seiner  glänzenden  Begabung  entsprach,  bahnte,  J;>|^|''^g°" 
befand  sich  Belinsky,  diese  leidenschaftliche  Kämpfernatur,  die  Herzen 
an  Einfluß  gleichkam  und  sich  später  mit  ihm  vereinigte,  noch  völlig  im 
Bann  der  Philosophie,  baute  mit  seinen  Freunden  Luftschlösser,  die  von 
Optimismus  getragen  waren,  suchte  in  einseitiger  Anwendung  der  Lehre 
Hegels  die  Vemünftigkeit  der  Wirklichkeit,  also  auch  vor  allen  Dingen 
der  russischen  Verhältnisse,  zu  beweisen,  trotz  der  Sorge  und  Not,  die 
er  seit  früher  Jugend  kannte,  trotz  der  Rechtlosigkeit  und  Finsternis,  die 
ihn  umgaben  und  die  sich  gegen  jeden  Quietismus  und  alle  Versöhnlich- 
keit aufzulehnen  schienen.  Doch  schon  in  den  ersten  Abhandlungen 
dieses  jungen  Mannes,  der  wegen  „Unfähigkeit"  aus  der  Universität 
gewiesen  worden  war,  trat  so  viel  kritischer  Scharfsinn,  so  viel  Liebe 
zur  Literatur  seines  Volkes,  deren  falsche  Götzen  er  zu  vernichten, 
deren  Ideengehalt  er  zu  erweitem  suchte,  kam  ein  so  flammender  Glaube 
an  die  Literatur  des  russischen  Volkes  zutage,  daß  ein  Verharren  solcher 
originellen  Kraft  in  den  Nebeln  der  Abstraktion  ausgeschlossen  erschien. 
Und  in  der  Tat,  als  der  geradsinnige,  logisch  veranlagte  Belinsky  das  System, 
durch  dessen  Folgerichtigkeit  er  geblendet  worden  war,  zu  Ende  gedacht 
hatte,  sah  er  mit  Entsetzen,  wohin  es  führte.  Er  brach  nun  mit  den 
Illusionen,    die  jetzt  seinen   Haß   erregten,  und   wandte   sich  der  geistigen 


,74 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


Führung  der  erwachenden  Massen  zu,  eine  Laufbahn,  die  seine  erstaun- 
lichen Fähigkeiten  zur  Entfaltung  brachte.  Hier  wartete  seiner  auch 
der  Ruhm. 

Neue  Organisa-  Während  Belinsky   nach    der  Unterdrückung    des  „Teleskop",    dessen 

Kreise.   Die    hervorragender  Mitarbeiter  er  war,  nach  Petersburg    übersiedelte,   fand  in 

'und  die  siawo-  den  Kreisen  der  Moskauer  Jugend  eine  weitere  Differenzierung  der  Kräfte 
statt.  Es  handelte  sich  nicht  nur  um  die  Scheidung  einer  philosophisch- 
ästhetischen und  einer  politischen  Richtung,  sondern  es  entwickelte  sich 
auch  ein  weiterer  Zwiespalt  auf  dem  Boden  des  alten  Gegensatzes  von 
Europäertum  und  nationalem  Gedanken.  Daß  die  Anhänger  beider  Prinzipien 
ursprünglich  von  der  westeuropäischen  Kultur  beeinflußt  worden  sind, 
ist  nicht  zu  bezweifeln.  Die  von  der  deutschen  Wissenschaft  angeregten 
philosophisch -historischen  Träume  hatten  eine  Gruppe  der  ehemaligen 
Freunde  Belinskys  und  Herzens,  an  deren  Spitze  der  edle  Enthusiast 
Aksakoff  stand,  zur  Theorie  von  einer  im  höchsten  Grade  originellen 
russischen  Kultur  geführt ,  während  die  Auffassung  der  deutschen 
Romantik  vom  Volkstum  und  Altertum  dem  Kultus,  den  sie  mit  der 
russischen  Vergangenheit  trieben,  den  Stempel  aufdrückte.  Da  sie  die 
Vergangenheit,  so  wie  sie  wirklich  war,  nicht  kannten,  erschien  sie 
ihnen  im  milden  Lichte  des  Friedens  und  Glücks.  Die  wissenschaftlich 
historische  Forschung  wurde  durch  sie  fast  gar  nicht  gefördert.  Dafür 
wurden  sie  gewissermaßen  zu  Nachfolgern  der  reaktionären  Russo- 
philen,  die  zu  den  Zeiten  Katharinas  aufgetaucht  waren  und  am  Anfang 
des  Jahrhunderts  in  Schischkoff  einen  fanatischen  Vertreter  gefunden 
hatten.  Weder  diese  jungen  Schwärmer  noch  einzelne  Denker  einer 
älteren  Generation,  wie  z.  B.  der  Dichter,  Redner  und  Theologe  Chom- 
jakoff,  die  sich  jenen  anschlössen,  sind  jemals  zum  Obskurantismus  über- 
gegangen, doch  wurde  in  der  Hitze  der  Polemik  und  dank  dem  maß- 
losen Eifer  ungebetener,  einseitiger  Kampfgenossen  viel  Überflüssiges  und 
Unduldsames  gesagt.  Belinsky  mit  seinem  Petersburger  Kreise  und  der 
humane  Gelehrte  Professor  Granowsky,  der  in  Moskau  an  die  Stelle 
Belinskys  getreten  war,  bildeten  das  Lager  der  „Westeuropäer",  als  dessen 
Vorläufer  der  Denker  Tschaadajeff  mit  seinem  vernichtenden  Urteil  über 
die  russische  Vergangenheit  und  seinem  Drange  nach  westlicher  Kultur 
angesehen  werden  kann.  Die  „Westeuropäer"  wurden  mit  der  Zeit  als 
hoffnungslose,  in  den  Bann  des  Freidenkertums  geratene  Verräter  Ruß- 
lands betrachtet.  Ihr  Streit  mit  den  Slawophilen  zog  sich  Jahrzehnte 
hindurch  hin  und  ist  eigentlich  bis  zum  heutigen  Tage  nicht  ver- 
stummt, da  sich  hinter  der  Maske  der  modernen  Slawophilen  oftmals 
jene  Gegner  der  freiheitlichen  Bewegung  verbergen,  die  den  Westen  als 
den  Krater  verdammen,    aus    dem    sich    das    revolutionäre   Gift   über  das 

Anföng'ij"einer°  friedliche  Rußland  ergießt. 

'Kritik!"''Dir  Dtis  große  organisatorische  Talent  Belinskys,   das  sich  oft'enbarte,   als 

^Tt  liciin^kv^  er    die  Leitung    der    besten    Zeitschrift    jener    Zeit,    der  „Vaterländischen 


B.  Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     II.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  yj 

Annalen",  übernahm  und  begabte  Schriftsteller  und  Dichter  in  großer  Zahl 
zu  ihm  strömten,  verlieh  der  Schule  der  „Europäer"  eine  hervorragende 
Bedeutung.  Während  die  Moskauer  Slawophilen  die  Zeiten  der  Groß- 
väter in  lockenden  Farben  malten,  stellten  sich  die  „Westeuropäer"  an 
die  Spitze  der  Literatur  und  gestalteten  sie  zu  einem  wichtigen  Rüstzeug 
der  sozialen  Wiedergeburt.  Ihr  Führer,  der  das  künstlerische  Richter- 
amt der  Kritik  gewahrt  wissen  wollte,  sprach  ihr  außerdem  den  ver- 
antwortungsvollen Beruf  einer  Erzieherin  des  Volkes  zu.  Angesichts  der 
Farblosigkeit  der  Tagespresse  und  der  Unmöglichkeit,  aktuelle  Fragen 
in  ihr  zu  verhandeln,  hatten  derartige  Arbeiten  die  Aufgabe,  sowohl  Leit- 
artikel zu  sein  als  auch  kritische  Analyse  zu  bieten.  Auf  diese  Weise 
entstand  die  für  russische  Verhältnisse  typische  „publizistische  Kritik",  die 
nach  Belinsky  eine  ganze  Reihe  hervorragender  Kräfte  aufwies  und  erst 
in  neuester  Zeit  den  wichtigsten  Teil  ihrer  Verpflichtungen  einer  kampfes- 
mutigen, energischen  Presse  übergeben  konnte.  Indem  Belinsky  den 
künstlerischen  Wert  der  literarischen  Werke  in  seinen  Kritiken  tiefsinnig 
abschätzte,  dabei  aber  auch  die  in  ihnen  berührten  Lebensfragen  zur 
Sprache  brachte,  auf  die  geringsten  S3'mptome  des  Fortschritts  in  Ruß- 
land reagierte,  die  Entwicklung  des  Denkens  und  Schaffens  im  übrigen 
Europa  mit  scharfem  Auge  verfolgte,  durch  seinen  meisterhaften  Stil, 
seinen  wannen,  überzeugungsvollen  Ton  und  den  sittlichen  Adel  seiner 
Persönlichkeit  wirkte,  war  er  jedem  denkenden  Menschen  Freund  und 
Lehrer.  Seine  gewöhnlich  nicht  mit  Namen  gezeichneten  Aufsätze 
drangen  in  die  entlegensten  Orte  des  Reichs.  Während  Gogol  in  seiner 
mystischen  Ekstase  die  Augen  aller  in  Rußland  auf  sich  gerichtet  ge- 
glaubt hatte,  befand  sich  Belinsky  tatsächlich  in  dieser  Lag"e.  In  solcher 
Schule  wuchs  jene  Generation  von  Künstlern  heran,  der  es  beschieden 
war,  der  russischen  Literatur  die  Welt  zu  erobern.  Die  neue  Bewegung 
machte  sich  zuerst  in  der  Entwicklung  des  Romans  geltend.  Als 
Sammelpunkt  für  hervorragende  Neuerscheinungen  auf  dem  Gebiete 
des  Romans  dienten  zu  der  Zeit,  da  Belinsky  an  der  Spitze  ihres  kriti- 
schen Teiles  stand,  die  „Vaterländischen  Annalen"  und  später  der  ganz 
in  den  Händen  der  jungen  Schriftstellergruppe  befindliche  „Zeitgenosse", 
der  Belinsky  —  allerdings  zu  spät,  erst  kurz  vor  seinem  Tode  —  größere 
Freiheit  gewährte. 

Das  erste  bedeutungsvolle  Ereignis  innerhalb  dieses  Kreises  war  eine    Entwicklung 

des  Komans. 

Erzählung   aus    der  Feder  Herzens.     Sie  trug  den  Titel  „Wer  ist  schuld?"    Herzen;  sein 

.  .        .  Roman  „AVer 

und  ragte   unter  den  mit  dem  Pseudonym  Iskander  gezeichneten  Artikeln  ist  schuld?- und 

^  die     MemoireD '. 

Herzens,    seinen    geistreichen   Causerien    über    Zeitfragen,    seinen  Schilde-  „Gedanken  und 

Krionerungen'*. 

rungen  aus  dem  Leben  der  Provinz,  seinen  meisterhaften  Essays  aus  dem 
Gebiete  der  Naturwissenschaften  oder  der  sozialen  Ethik,  als  das  beste 
Erzeugnis  der  „russischen  Periode"  dieses  Schriftstellers  hervor.  Die 
Fabel,  deren  Kernpunkt  in  einem  unlösbaren  Konflikt  der  Gefühle  lag, 
war  einfach  und  von  warmer  Sympathie   mit   dem  leidensreichen  Los  des 


76 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


Weibes  durchweht.  Mit  feinem  psychologischen  Takt  wird  der  Seelen- 
zustand  der  drei  HauptjDersonen  geschildert:  der  begabten,  feinsinnigen,  in 
der  Öde  des  Provinzlebens  hinwelkenden  Heldin,  ihres  Gatten,  eines 
Lehrers,  dem  es  einst  gelungen  war,  sie  aus  einer  ihrer  unwürdigen  Lage 
zu  befreien,  der  ihr  aber  kein  Verständnis  entgegenbringt  und  sie  ins 
alltägliche  Sein  herabzieht,  und  schließlich  eines  zufällig  in  der  Umgegend 
als  Gast  weilenden  Mannes,  der  viel  gereist,  viel  gesehen  und  viel  ge- 
dacht hat  und  sich  durch  die  verhängnisvolle  Macht  der  Wahlverwandt- 
schaft zu  der  jungen  Frau  hingezogen  fühlt.  Der  unlösbare  Konflikt  dieses 
Dramas  ist  von  der  Hand  eines  psychologisch  denkenden  Künstlers  ge- 
zeichnet und  spielt  sich  im  Rahmen  ländlicher  und  provinzstädtischer 
Verhältnisse  ab,  die  wahrheitsgetreu  und  mit  Humor  geschildert  sind. 
Hierin  verrät  sich  vielleicht  im  allgemeinen  der  Einfluß  Gogols,  doch 
offenbart  sich  in  diesem  Werke  Originalität  und  außerordentlicher  Scharf- 
sinn. Im  Schaffen  Herzens,  dieses  vielseitig-  begabten  Menschen,  bei  dem 
damals  das  publizistische  Talent  noch  nicht  zum  Durchbruch  gekommen 
war,  bildete  der  Roman  „Wer  ist  schuld?"  samt  einigen  Novellen  gleich- 
sam eine  belletristische  Oase;  seine  Hauptkraft  entfaltete  sich  auf  anderem 
Gebiete,  doch  in  der  Geschichte  des  russischen  psychologischen  Romans 
ist  dies  nach  Lermontoff  die  zweite  bedeutsame  Etappe.  Innerhalb  der 
künstlerischen  Tätigkeit  Herzens  ist  es  das  Vorspiel  zu  seinem  umfang- 
reichen, epochemachenden  Memoirenwerk  „Gedanken  und  Erinnerungen" 
(in  den  Jahren  1853— 1868  verfaßt),  in  welchem  die  Geschichte  der  russi- 
schen Gesellschaft  und  der  politischen  Bewegung  in  Europa  vom  Beginn 
des  Jahrhunderts  bis  zum  Ende  der  sechziger  Jahre  und  die  Autobio- 
graphie des  Verfassers  mit  einer  Schärfe  und  Wahrheitstreue  dargestellt 
ist,  die  der  historischen  Schilderungskunst  Tolstois  in  „Krieg  und  Frieden" 
nicht  nachsteht. 
TurBenicff.  Als  Iwan  TuTgeuicff,  noch  vor  kurzem  Student  der  Berliner  Universi- 


Schöpfuiigen.    tat,  sich  Bclinsky  vorstellte  und  sich  durch  sein  lebhaftes  Interesse  für  die 

„Die    Me — ■""  ■' 


Jägers"    Kulturprobleme,    durch    seine    Begeisterung    für    die  Reformbestrebungen, 

imd  ihre  soziale 

Bedeutung,  insbesondere  für  die  Aufhebung  der  Leibeigenschaft,  durch  die  Ver- 
schmelzung von  Europäertum  und  volkstümlicher  Gesinnung',  als  ein  Ver- 
treter der  jungen  Generation  erwies,  die  nun  zur  Arbeit  schritt,  und  als 
der  feine  Beobachter  Belinsky  in  den  Gedichten  und  Erzählungen  des 
Jünglings  die  Kennzeichen  seines  Talents  entdeckte,  da  war  eine  neue  lite- 
rarische Epoche  angebrochen,  der  es  beschieden  war,  mit  der  Zeit  die 
reformatorische  Bewegung  zu  inspirieren.  Die  ersten  Versuche  Tur- 
genieffs  trugen,  trotz  der  Reife  der  Gedanken,  den  Stempel  der  Un- 
erfahrenheit  und  Nachahmung;  sowohl  in  der  Wahl  der  Themata  als  auch 
in  ihrer  Bearbeitung  kreuzten  sich  die  Einflüsse  Puschkins,  Lermontoffs, 
Byrons  und  George  Sands.  Er  schilderte  problematische  Naturen;  aus 
seinen  Schriften  sprach  die  Enttäuschung,  daß  es  keine  Arbeit  zum 
Wohle    der    Allgemeinheit    gibt.      Eine    kleine    Skizze    aus    dem    Dorf- 


B.  Uie  erste  Hälfte  des    19.  Jahrhunderts.     II.   Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  77 

leben,  die  in  Belinskys  „Zeitgenossen"  abgedruckt  war,  deutete  auf  die 
Möglichkeit  solcher  Arbeit  als  Mittel  zur  Befreiung  hin  und  wies  damit 
Turgenieff  den  Weg  zu  seiner  Wirksamkeit.  Es  war  die  Zeit,  als  in 
den  bedeutendsten  Literaturen  Europas  das  Interesse  für  das  Dorfleben 
lebendig  wurde;  Auerbachs  Dorfgeschichten,  die  Bauernromane  der  George 
Sand,  „Les  Paysans"  von  Balzac  schufen  eine  neue  Richtung.  Turgenieff, 
der  die  neuen  Strömungen  in  der  Literatur  aufmerksam  verfolgte,  hätte 
sich  aus  allgemeinen  Gründen  der  Menschlichkeit  und  Gerechtigkeit  dieser 
Richtung  ansschließen  können;  tatsächlich  waren  für  ihn  die  russischen 
sozialen  Verhältnisse,  die  der  Literatur  erblich  überkommene  Aufgabe,  der 
Befreiung  zu  dienen,  und  eigene  trübe  Erfahrungen  von  entscheidender  Be- 
deutung. Denn  zu  derselben  Zeit,  als  im  Westen  an  der  Rehabilitierung 
der  von  der  kapitalistischen  Gesellschaftsordnung  vernachlässigten  Be- 
völkerungsklasse gearbeitet  wurde,  gestaltete  sich  im  Vaterlande  Turgenieffs 
die  Verteidigung  der  Interessen  des  Bauernstandes  zum  Protest  gegen  die 
Leibeigenschaft  und  zum  Rufe  nach  Freiheit.  Nicht  mit  sentimentalen, 
idyllischen  Schilderungen,  wie  sie  in  der  deutschen  und  französischen 
Literatur  im  Überfluß  vorhanden  waren,  sondern  mit  einer  realistischen 
Wiedergabe  des  Lebens,  mußte  man  auf  das  Publikum  zu  wirken  suchen, 
wie  dies  Radischtschew,  Vonwisin  und  Nowikoff  getan  hatten.  Turgenieff 
verfügte  in  dieser  Beziehung  über  eine  fast  erdrückende  Sachkenntnis. 
Von  Kindheit  an  hatte  er  die  Wirkungen  der  Leibeigenschaft  vor  x\ugen 
gehabt,  in  seiner  eigenen  Mutter  war  die  Härte  gegen  die  Untergebenen 
in  einer  ganz  besonders  krassen  Weise,  die  bei  den  Augenzeugen  geradezu 
Entsetzen  erregte,  zum  Durchbruch  gekommen,  so  daß  er  schon  früh 
den  Entschluß  faßte,  Vergeltung  zu  üben,  und  sich  gelobte,  alle  seine 
Kräfte  der  Bekämpfung  der  Leibeigenschaft  zu  weihen,  deren  Abschaffung 
ihm  als  erstes  Erfordernis  aller  Reformen  erschien.  Die  Macht  der  Ver- 
hältnisse gab  ihm  das  Programm  für  eine  Reihe  von  Skizzen  in  die  Hand, 
deren  erste  im  Jahre  1847  gleichsam  die  Rolle  eines  Versuchsballons 
spielte  (um  dieselbe  Zeit  erschien  auch  eine  Bauernnovelle  Grigorowitschs 
„Das  Dorf").  Im  Laufe  einiger  Jahre  entstand  die  umfangreiche  Samm- 
lung von  Erzählungen,  die  unter  dem  Namen  „Memoiren  eines  Jägers" 
bekannt  sind  und  mannigfache  Seiten  des  Provinzlebens  berühren,  in  erster 
Reihe  aber  die  wahrheitsgetreue  Schilderung  der  bäuerischen  Lebensart 
vor  der  Emanzipation  zum  Gegenstande  haben.  Als  sie  einzeln  erschienen, 
wurden  sie  geduldet,  als  sie  aber  im  Jahre  1852  zu  einem  Bande  ver- 
einigt wurden,  entrollte  sich  ein  so  niederschmetterndes  Bild,  daß  die  Ver- 
folg-ung  des  Verfassers  in  die  Wege  geleitet  wurde.  Auf  den  „Memoiren 
eines  Jägers",  die  ganz  offenbar  eine  Tendenz  befolgten,  gleichzeitig  aber 
eine  reiche  Auswahl  künstlerischer  Porträts  und  prachtvolle  Natur- 
schilderungen enthielten,  ruht  heute  noch  der  Stempel  jener  Stimmung, 
der  sie  ihre  Entstehung  verdankten  und  die  so  stark  war,  daß  sie  auch 
während  Turgenieffs  Aufenthalt  in  Frankreich,    woselbst    die    meisten  von 


Weitere    Ent- 

wicklung   des 

Romans.      Gon- 

tscharoff  und 

seine  „Gewöhn 

liehe  Ge- 

schichte". 

y8  Alexis  Wesselovsky  :  Die  russische  Literatur. 

ihnen  verfaßt  wurden,  nicht  abklang.  In  der  Agitation  für  die  Leibeigenen- 
befreiung spielten  sie  dieselbe  Rolle,  die  „Onkel  Toms  Hütte"  in  der  Ge- 
schichte der  Negeremanzipation  beschieden  war. 

Außer  der  vornehmen  Gestalt  Turgenieffs,  den  die  Schule  des  Lebens 
und  der  Einfluß  sozialer  Ideen  aus  seinem  privilegierten  Milieu  gerissen 
hatten,  tauchten  im  Kreise  Belinskys  auch  andere  Typen  moderner  Menschen 
auf.  Von  der  Wolga  her  war  Nekrassoff  um  der  Wissenschaft  willen  in 
die  Hauptstadt  gekommen.  Hier  wurde  ihm  bald  das  Los  eines  obdach- 
losen Proletariers  zuteil.  Bettler  fanden  ihn  ohnmächtig  auf  offener  Straße 
liegend  und  retteten  ihn  vom  Hungertode;  er  kämpfte  dann  verzweifelt 
um  seine  Existenz,  indem  er  sich  der  entnervenden  journalistischen  Klein- 
arbeit unterzog.  Unter  dem  starken  Einfluß  Belinskys  raffte  er  sich  auf 
und  fand,  nachdem  er  einige  romantische  Gedichte  geschrieben  hatte,  den 
würdigen  Ausdruck  für  die  Bitterkeit,  den  Kummer  und  den  Zorn,  die  sich 
in  ihm  angehäuft  hatten.  Durch  die  Veröffentlichung  einiger  Dichtungen 
ganz  neuer  Art,  die  dem  Leben  des  Volkes  ebenso  nahe  standen  wie  die 
Skizzen  Turgenieffs,  lenkte  er  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  sich.  Die 
Schöpfungen  Lermontoffs  erschienen  neben  der  Lyrik  des  neuen  Poeten 
wie  ein  herrlicher  Prolog;  Lermontoff  hatte  erst  kurz  vor  seinem  Tode 
jene  enge  Fühlung  mit  dem  Leben  des  Volks  gefunden,  die  Nekrassoff 
von  Anfang  besaß.  Doch  war  er  kein  Autodidakt  von  der  Art  des 
russischen  Burns,  Kolzoff,  dessen  naive  Lieder  mit  dem  Gepräge  echten 
Dorflebens,  vom  Aroma  der  südrussischen  Steppe  und  von  unbestimmter 
Melancholie  durchweht,  bis  zum  heutigen  Tage  unvergessen  sind.  Dank 
Nekrassoff  fand  eine  Demokratisierung  der  Dichtung  statt.  Die  kunst- 
volle Dichtung-  wurde  zur  Domäne  einiger  Jünger  der  „reinen  Kunst", 
unter  denen  Apollon  Maikoff,  Tiutschew  und  A,  Tolstoi  zu  erheblicher 
Bedeutung  gelangten;  der  Hauptstrom  aber  schlug  die  Richtung  ein, 
welche  die  aufklärende  Bewegung  der  Literatur  zugewiesen  hatte. 

Die  satte,  friedlich  schlummernde  Kaufmannschaft  des  Wolgagebietes, 
-  welche  in  der  Person  Nekrassoffs  einen  Kämpfer  für  des  Volkes  Not  ge- 
*n-  liefert  hatte,  vervollständigte  nun  die  Schar  moderner  Schriftsteller  durch 
Entsendung  eines  eigenartigen  Vertreters  ihrer  unberührten  Kräfte  — 
Gontscharoffs.  In  einem  malerisch  gelegenen  Ort  jener  Gegend  hatte  er 
eine  sorglose  Kindheit  verträumt  und  erwachte  erst,  als  er  auf  der 
Universität  Moskau  mit  der  Kultur  in  Berührung  kam,  als  seine  träge, 
phlegmatische  Natur  die  elektrisierende  Wirkung  spürte,  die  einerseits 
von  der  Schule  Gogols,  andererseits  von  der  ihr  verwandten  sozialen 
Richtung  der  we.steuropäischen  Literatur  ausging.  Die  Träume  seines 
Idealismus  zerrannen  bald  angesichts  der  Wirklichkeit,  die  er  in  Peters- 
burg kennen  lernte,  wo  er,  statt  eine  gemeinnützige  Tätigkeit  auszuüben, 
Karriere  zu  machen  suchen  sollte.  Den  schweren  Konflikt,  den  er  durch- 
lebt hatte,  schilderte  er  mit  großer  psychologischer  Treue  in  seinem  ersten 
Roman,    der    an  autobiographischen  Zügen   reich  ist;    der  Titel   desselben 


B.  Die  erste  Hälfte  des    19.  Jahrhunderts.      II.  Das   Zeitalter  Nikolaus'  I.  yn 

„Eine  gewöhnliche  Geschichte"  khngt  traurig-,  wie  die  Erkenntnis  von  dem 
unvermeidlichen,  alltäglichen  Untergang  idealer  Bestrebungen.  Das  Thema 
des  Erstlingswerkes  Gontscharoffs  war  demjenigen  des  „Pere  Goriot" 
Balzacs  verwandt.  Im  übrigen  hielt  er  dem  Vermächtnis  Gogols  die  Treue, 
indem  er  das  ihm  verhaßte  hauptstädtische  Leben  bis  in  die  Details,  die 
Lebensart,  die  Charaktere  und  auch  die  Sprache  in  allen  ihren  Fein- 
heiten berücksichtigte,  wobei  der  Humor  nur  gelegentlich  zum  Durchbruch 
kam.  Doch  zu  dem  Protest  gegen  den  verknöcherten  Bureaukratismus, 
der  diesem  gleichmäßigen  Menschen  fast  unwillkürlich  entschlüpft  war, 
gesellte  sich  der  Wunsch,  auch  eine  andere  Seite  der  Frage  zu  beleuchten. 
Gleichzeitig  mit  der  „Gewöhnlichen  Geschichte"  hatte  Gontscharoff  den 
Plan  zu  seinem  besten  Roman  „Oblomoff"  gefaßt  und  seine  Ausarbeitung 
begonnen.  Hier  handelte  es  sich  um  die  Schilderung  des  Lebens  der 
russischen  Landedelleute  vor  der  Einführung  der  Reformen  —  jener 
Klasse,  die  im  Geiste  der  Leibeigenschaft  und  der  Standesvorurteile  groß- 
gezogen worden  war  und  auf  Kosten  von  Sklavenarbeit  träge  vegetierte. 
Der  Verfasser  zeichnete  in  einer  vorzüglichen  Episode  „Der  Traum 
Oblomoffs"  das  Bild  der  auf  dem  Lande  verbrachten  Kindheit  seines 
Helden,  der  sich  von  hindämmernder  Tatenlosigkeit  umgeben  sieht,  führte 
ihn  dann  in  das  Milieu  der  Hauptstadt  und  schildert  seine  kläglichen 
Versuche,  sich  aufzuraffen,  auf  die  Höhe  seiner  Zeit  zu  gelangen, 
um  schließlich  das  alte  Prinzip  der  Passivität  triumphieren  zu  lassen. 
Indem  er  auch  den  geringsten  seelischen  Makel  seines  unglücklichen 
Helden  schonungslos  aufdeckte,  hat  Gontscharoff  noch  am  Ende  der 
vierziger  Jahre  durch  die  abschreckende  Schilderung  der  Trägheit,  die 
er  an  sich  selbst  beobachten  konnte,  zur  Energieentfaltung,  Selbsttätigkeit 
und  reorganisatorischer  Arbeit  veranlassen  wollen.  Es  gelang  ihm  zu- 
nächst ebensowenig,  sich  in  diesem  Sinne  völlig  auszusprechen,  wie  es 
Turgenieff  in  seinen  „Memoiren  eines  Jägers"  oder  Nekrassoff  in  seinen 
volkstümlichen  Dichtungen  gelungen  war.  Den  Höhepunkt  ihres  Könnens 
erreichten  diese  Autoren  in  den  sechziger  Jahren,  während  der  Reform- 
periode. Doch  darf  die  Bedeutung  der  ersten  Versuche  jener  Generation, 
die  das  Werk  Gogols  aus  seinen  ermattenden  Händen  übernommen  hatte, 
nicht  unterschätzt  werden. 

In    den   gebildeten    Schichten    der    Gesellschaft    machte    sich    parallel  Das  Anwachsen 

.         ,  ,.  •       t  T~t  1  •  n  ^^^^     politischen 

mit  den  literarischen  Bestrebungen  ein  verschärftes  sozialpolitisches  Inter-     Interesses. 
esse  bemerkbar.     Schon  Herzen,    der  Rußland,    wie  man  damals  annahm,  BakuninimAus- 
nur  für  eine  Weile  verlassen  hatte,  lenkte  seine  Schritte  nach  Frankreich,  Jer  jungen  PoU- 
um    dort    den    herannahenden  Umschwung  von   1848    in   der  Nähe    kennen        bürg. 
zu   lernen.     In   journalistischen   Briefen    aus   Paris,    die    würdig    sind,    den    ''"^^^'^  """^  ''' 
Briefen   Heines    vmd   Börnes    an    die   Seite    gestellt    zu   werden,   führte    er 
dem  Leser  das  innere  Leben  des  erregten  Landes  und  die   herrschenden 
sozialen  Lehren    vor  Augen.     Dieselbe   Anziehungskraft   übte    Frankreich 
auf  Turgenieff  aus,    der   in    den  radikalen  Kreisen  von  Paris    einem   der 


8o  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

ersten  Führer  der  ehemaligen  philosophischen  Gemeinde  in  Moskau,  dem 
späteren  Apostel  des  Anarchismus,  Michael  Bakunin,  begegnete.  Dieser 
war  vom  orthodoxen  Hegelianismus  zunächst  zum  linken  Flügel  der 
Hegeischen  Schule  und  dann  zur  aktiven  revolutionären  Arbeit  über- 
gegangen, die  ihn  zu  den  exzentrischen  Taten  in  Baden,  Dresden,  Prag, 
verleitete,  und  wurde  nun  neben  Herzen  ein  Vermittler  zwischen  dem 
erwachenden  politischen  Denken  in  Rußland  und  dem  europäischen  Fort- 
schritt. Jedoch  auch  in  Rußland  selbst  bildeten  sich,  fast  vor  den  Augen 
der  Machthaber,  Verbände  junger  Leute,  die  sich  dem  Studium  der 
wichtigsten  politischen  Theorien  widmeten,  den  Gang  der  Befreiungs- 
arbeit im  Westen  beobachteten,  den  für  Rußland  wünschenswerten  Staats- 
bau theoretisch  ausarbeiteten  und  die  Taktik  zu  seiner  Realisierung  ent- 
warfen. Der  bedeutendste  dieser  Verbände,  dessen  Seele  Petraschewsky 
war,  der  in  seiner  kraftvollen  Natur  an  die  Besten  unter  den  Dekabristen 
erinnerte,  verfügte  auch  über  zahlreiche  literarische  Talente;  viele  Schrift- 
steller der  folgenden  Periode  haben  hier  ihre  geistige  Taufe  erhalten.  Auch 
in  diesem  Kreise  war  Belinsky  die  Rolle  des  Beschützers  zugefallen.  Bis  zu 
seinen  letzten  Tagen  lagen  ihm,  trotz  seiner  Krankheit,  die  höchsten  Auf- 
gaben seiner  Zeit  am  Herzen,  und  er  begrüßte  freudig  die  Versammlungen 
der  Jugend  zur  bewußten  politischen  Tätigkeit.  Als  aus  jenem  Kreise 
ein  erstklassiges  literarisches  Talent  hervorging,  das  sich  der  Gruppe 
Turgenieff,  Nekrassoff,  Gontscharoff  einfügte,  trat  der  Zusammenhang 
zwischen  künstlerischem,  literarischen  Schaffen  und  dem  politischen  Denken 
noch  deutlicher  zutage.  Dieses  Talent  war  Dostojewsky. 
Dostojewski.  Er  steuerte  der  Bewegung  die  ungewöhnliche,  nervöse  Feinfühligkeit 

Seine  Charakte-  S        6  .s  '  fe 

risicrung.  Seine  seines  Temperamentes  bei,   das  sowohl  auf  die  Erscheinungen   des  öffent- 

literarischen. 

sozialen  und    liehen  Lebens  des  Volkes  als  auch  auf  die  Geheimnisse   der  psychischen 

moralpbilosophi- 

scbeuinteressen.  Welt  reagierte,  femer  seine  ekstatische  Verehrung  der  Macht  des  W^issens, 

Sein  erster  ^  ^  _ 

Roman.  die  berufen  ist,  die  Menschheit  im  Geiste  der  Brüderlichkeit  und  Gleichheit 
neu  erstehen  zu  lassen,  und  seine  aufrichtige  Sorge  um  „die  Erniedrigten 
und  Beleidigten",  deren  trauriges  Los  durch  eine  ideale  Staatsordnung  un- 
möglich gemacht  werden  sollte;  die  Gedanken  des  jungen  Studenten  der 
Ingenieurschule  galten  am  allerwenigsten  seinem  Spezialfach,  er  hing  viel- 
mehr sozialen  Träumereien  nach,  die  mit  einer  eigentümlichen  poetischen 
Religiosität  verwebt  waren,  begeisterte  sich  für  die  edlen  Reden  der  Helden 
Schillers,  für  die  Größe  Shakespeares,  den  Realismus  Gogols,  sympathisierte 
mit  den  Romanen  von  Balzac  und  Eugene  Sue,  die  die  Hefe  der  Gesellschaft 
schilderten,  ihr  Schicksal  beleuchteten,  ihre  Greuel  und  ihre  Gebrechen 
aufdeckten,  um  für  die  Untergehenden  in  die  Schranken  zu  treten.  Im 
Kreise  Petraschewskys  fand  Dostojewsky  neue  Anhaltspunkte  für  das, 
was  in  einsamen  Grübeleien  und  bei  leidenschaftlicher  nächtlicher  Lektüre 
in  ihm  wogte  und  sich  zu  formen  begann.  Der  erste  Versuch  Dostojewskys, 
sein  Roman  „Arme  Leute",  der  von  einem  belehrenden  Ton  völlig  frei 
war,  jedoch  in  jeder  Zeile  der  anspruchslosen  Erzählung  das  Mitgefühl  für 


B.  Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     II.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  gi 

die  Parias  der  Gesellschaft  wachrief,  war  eine  Offenbarung:  das  Thema 
war  scheinbar  von  Gogol  vorbereitet,  auch  die  beiden  handelnden  Per- 
sonen in  ihrer  hoffnungslosen  Armut  und  Ergebenheit,  die  sich  trotz  ihres 
harten  Loses  menschliche  Würde  und  die  Unmittelbarkeit  des  Gefühls  ge- 
wahrt haben,  sind  dem  Geiste  nach  dem  Helden  einer  der  besten  der 
Petersburger  Erzählungen  Gogols,  nämlich  des  „Mantels"  verwandt,  doch 
ist  das  ähnliche  Thema  von  dem  jungen  Romanschriftsteller  mit  einer 
so  ergreifenden  Innigkeit  und  ungewöhnlichen  Schlichtheit  behandelt, 
daß  diese  Erzählung  durchaus  den  Eindruck  eines  originellen  Kunst- 
werks machte. 

Mit  der  glanzvollen  Erscheinung  Dostojewskys  war  der  erstaun-  Die  ersten 
liehe  Zufluß  von  Kräften  zur  neuen  Schule  nicht  abgeschlossen.  Einige  rikers'^Sa'itykoC 
Gedichte,  zwei  recht  gute  Erzählungen,  die  starke  Schlaglichter  auf  die  nung. 
herrschende  Gesetzlosigkeit  und  Bestechlichkeit  warfen,  einige  Über- 
setzungen aus  Byron,  sind  noch  keine  literarischen  Heldentaten,  und  doch 
mußte  der  große  Satiriker  Saltykoff  nur  um  ihretwillen  leiden.  Er  wurde 
aus  seiner  Tätigkeit  in  brutaler  Weise  herausgerissen  und  viele  Jahre 
lang,  bis  zum  Beginn  des  neuen  Regimes,  durch  unfreiwillige  Dienste 
an  das  ferne  Gebiet  Wjatka  gefesselt,  wo  auch  Herzen  die  realen 
russischen  Verhältnisse  kennen  gelernt  hatte.  Reich  an  Erfahrung  kehrte 
Saltykoff  aus  der  Verbannung  zurück.  Die  ersten  bedeutenden  Proben 
seines  Talentes,  die  „Skizzen  aus  der  Provinz",  stammen  zwar  aus  den 
Jahren  1856  —  57,  doch  berührt  sich  der  Dichter  seiner  geistigen  Entwick- 
lung nach,  die  einerseits  durch  den  Einfluß  Gogols  und  Belinskys,  anderer- 
seits gleich  der  Dostojewskys  durch  die  französische  sozialpolitische  Be- 
wegung vor  der  P'ebruarrevolution  bedingt  war,  mit  der  ruhmvollen  Periode 
der  vierziger  Jahre. 

Der  reformatorische  Gedanke  scheint  damals  auch  bei  den  Verfechtern    Konzessionen 
des    alten    Regimes    Wurzel    gefaßt   und   sie    zu   Konzessionen    im   Geiste  an  den  Geist  der 
der  Zeit  geneigt  gemacht  zu  haben.     Die  Regierung,   die  schon   eine   ge-  schroffer  über- 
wisse Milde  in  der  Handhabung  der  Zensur  bewiesen  und  das  Anwachsen  tion.DasSchick- 
der    sozialen    Energie    in    der    Literatur    geduldet    hatte,    deren   Vertreter,  Petraschewskys. 
Schüler    Belinskys    wie    eines   Valerian    Maikoff,    für    die    politische    Auf- 
klärung  der   Massen    kämpften,    begann  sogar   die   Befreiung   der  Bauern 
vorzubereiten.    Freilich  betrieb  sie  ihre  Vorbereitungen  in  sehr  geheimnis- 
voller Weise   und   machte   nur  rätselhafte  Andeutungen,  wie  zum  Beispiel 
in  der  Rede  Nikolaus'  an  die  Edelleute,  die  dem  Wunsch  „dem  Menschen 
alles  Menschliche  wiederzugeben"  Ausdruck  lieh.     Der  erschütternde  Ein- 
druck der  Februarrevolution,  die  aus  den  wichtigsten  europäischen  Ländern 
fortgesetzt  einlaufenden  Nachrichten  von  der  Krisis,  die  die  alte  Ordnung 
durchzumachen  hatte,  und  von  der  Ausbreitung  des  revolutionären  Brandes 
bereiteten  jedoch  den  versöhnenden  Tendenzen   ein   schnelles  Ende.     Alle 
Ansätze  zur  Neugestaltung  wurden  wieder  aufgegeben,  an  die  Stelle  der  Duld- 
samkeit traten  die  schärfsten  Maßnahmen  zur  Bändigung  der  aufrührerischen 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9.  6 


82  Alexis  Wesselovsky  :  Die  russische  Literatur. 

Geister,  die  Literatur  wurde  von  neuem  das  Opfer  einer  schonungslosen 
Zensur,  die  Universitätswissenschaften  wurden  aufs  äußerste  beschränkt, 
die  gefährlichen  Lehrgegenstände,  z.  B.  die  Philosophie,  verboten  und  eine 
nur  begrenzte  Anzahl  von  Studenten  zum  Besuch  der  Hochschulen  zu- 
gelassen. Die  Gefährten  Petraschewskys  wurden  zu  Staatsverbrechern 
gestempelt;  eine  weitläufige  Untersuchung-,  welche  die  Wurzeln  des  Übels 
aufdecken  sollte,  endete  mit  der  Verurteilung  aller  Beschuldigten  zum  Tode. 
Dies  Urteil  wurde  ihnen  auf  einem  öffentlichen  Platz  bekannt  gegeben, 
dann  aber  in  Verbannung,  Zwangsarbeit  und  andere  Strafen  umgewandelt. 
Die  Maßnahmen  gegen  die  einzelnen  Vertreter  der  Literatur  sollten  letztere 
von  den  gefahrlichen  Elementen  befreien.  Die  Verbannung  Saltykoffs  hatte 
hierzu  das  Vorspiel  gebildet.  Dostojewsky,  dem  auf  dem  Platze  des  Seme- 
noffschen  Regimentes  gleichzeitig  mit  seinen  Gesinnungsgenossen  das 
Todesurteil  verkündet  worden  war,  wurde  nach  Sibirien  deportiert,  in 
jenes  „Totenhaus",  das  seine  Gesundheit  untergrub,  und  von  dem  der 
Dichter  eine  so  erschütternde  Schilderung  gegeben  hat.  Der  jugendliche  , 
Pleschtscheew  wurde  zum  Soldaten  der  Linientruppen  an  der  Grenze  der 
asiatischen  Steppen  gemacht.  Die  Unterdrückung  wurde  folgerichtig  und 
energisch  durchgeführt;  sie  währte  sieben  Jahre  lang,  bis  zur  Thron- 
besteigung Alexanders  IL  Die  Ruhe  war  hergestellt,  sie  glich  aber,  wie 
zu  Pauls  Zeiten,   der  Stille  des  Kirchhofes. 

Inmitten  des  allgemeinen  Schweigens  pulsierte  das  Leben  nur  in  der 
Die  Belletristik  schöuen  Literatur,  die  bei  der  neuen  Ordnung  der  Dinge  mehr  oder 
Reaktion,  Die  Weniger  geduldet  wurde.  Sie  war  genötigt,  sich  von  den  Banden,  die  sie 
Turgenieffs.  mit  den  sozialen  Problemen  verknüpften,  zu  befreien,  und  wurde  zur  rein  ob- 
jektiven Kunst.  Doch  die  Begabung  und  die  zielbewußte  Vorbereitung  der 
bedeutendsten  Schriftsteller  ließ  es  nicht  zu,  daß  sie  sich  dem  Leben  völlig 
entfremdeten.  Ihre  Studien  gingen  in  die  Tiefe,  der  Roman  wurde  im 
wesentlichen  psychologisch  und  galt  der  Geschichte  der  Persönlichkeit. 
Diese  war  aber  durch  die  allgemeinen  Lebensbedingungen  bestimmt; 
die  Nachkommen  des  Lermontoffschen  Petschorin,  müde,  unter  der  Ziel- 
losigkeit des  Lebens  leidende  Schiffbrüchige,  erwiesen  sich  als  die  Opfer 
der  Rückständigkeit  und  der  Unterdrückung.  Zugleich  wurde  der  Roman 
durch  eine  Fülle  neuer  Beobachtungen  bereichert.  So  kam  Turgenieff, 
der  nach  dem  Erscheinen  der  „Memoiren  eines  Jägers"  in  Buchform  zu- 
erst in  Polizeiarrest  genommen  und  dann  nach  seinem  Gute  verschickt 
worden  war,  mit  der  heimatlichen  Scholle  wieder  in  engere  Berührung, 
trat  nicht  nur  dem  Leben  der  Bauern,  sondern  auch  demjenigen  der  be- 
sitzenden Klassen  näher  und  fand  darin  neue  Inspiration  für  sein  S  chaffen. 
Damals  wurden  in  komplizierten  Dispositionen  die  später  ausgearbeiteten 
Werke  entworfen,  die  den  Übergang  von  den  Miniaturnovellen  des  Jägers 
zu  den  großen  Romanen  bilden.  In  Petersburg,  im  Arrest,  hatte  er 
noch  seine  in  ihrer  Schlichtheit  und  Innigkeit  wunderbare  Studie  nach 
der  Natur,   die  Erzählung  „Mumu"   geschrieben,   einen    neuen    Beitrag   zur 


B.  Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     II.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  83 

Literatur  der  Emanzipation,  doch  ließ  er  dieser  rührenden  Geschichte  vom 
armen  taubstummen  Bauer  und  seinem  einzigen  Freunde,  einem  Hündchen, 
keine  Versuche  der  Genremalerei  mehr  folgen,  sondern  Erzählungen  aus 
dem  mit  dem  Bauerntum  verwachsenen  Leben  des  Landadels,  die  wegen 
der  Feinheit  der  Analyse  und  der  Einheitlichkeit  der  Gedankenführung 
als  Vorläufer  seines  „Rudin"  und  des  „Adeligen  Nestes"  zu  betrachten 
sind.  Auch  das  Talent  Nekrassoffs  wuchs  und  reifte;  der  Sänger  des 
traurigen  Loses  des  Volkes  vermochte  zwar  nicht  sich  völlig  auszu- 
sprechen, doch  leuchtet  aus  seinen  Schilderungen  des  Lebens  der  arbeiten- 
den Klassen,  aus  seinen  lyrischen  Improvisationen,  die  in  eigenartige  volks- 
tümliche Formen  geprägt  sind,  die  Stärke  seiner  humanen  Sympathien. 

In  jener  schweren  Zeit  offenbarte  sich  das  seltene  Talent  desjenigen  Fortschritte  <ier 
Mannes,  der  berufen  war,  an  dem  Fortschritt  der  Komödie  mitzuwirken,  Ostrowsky  und 
die,  seitdem  Gogol  den  Roman  zu  pflegen  begonnen  hatte,  verwaist  war.  Schriften 
Ostrowsky  hatte  sich  nicht  unter  dem  Einfluß  Belinskys  entwickelt;  ein 
Zufall  fügte  es,  daß  die  Gegner  des  letzteren,  die  Slawophilen,  dieses  ur- 
wüchsige Talent  entdeckten.  Daß  es  ihnen  gelang,  in  die  ersten  Arbeiten 
Ostrowskys  für  das  Theater  Moralisierendes  und  Theoretisierendes  hinein- 
zutragen, tut  seinem  Realismus,  der  Lebenstreue  seiner  Milieuschilderungen, 
seinem  unerschöpflichen  Humor  und  seiner  herrlichen  Sprache  keinen 
Abbruch.  Er  debütierte  mit  einem  Theaterstück,  wie  es  mancher  andere 
erst  beim  Abschluß  seiner  Laufbahn  zu  leisten  vermag.  Ostrowsky  war 
in  jenem  patriarchalischen  Teil  Moskaus  aufgewachsen,  der  mit  einer  rück- 
ständigen, vorsintflutlichen  Kaufmannschaft  bevölkert  war,  inmitten  zweifel- 
hafter, kommerzieller  Manöver,  die  sein  Vater,  ein  im  Handelsressort  be- 
schäftigter Anwalt,  überwachen  mußte,  und  er  hatte  Gelegenheit  gehabt, 
die  Menschen  und  Sitten  jener  Kreise-,  die  in  den  „male  bolge"  der 
Hölle  Dantes  ihre  Stelle  hätten  finden  können,  kennen  zu  lernen.  In 
seiner  Komödie  „Der  Bankrott"  brachte  er  ihre  Schliche  ans  Tageslicht 
und  wurde  in  bezug  auf  die  bisher  von  der  Literatur  unberührte  kauf- 
männische Sphäre  in  derselben  Weise  zum  Entdecker,  wie  es  Turgenieff 
in  bezug  auf  die  Bauernschaft  gewesen  war.  In  Ostrowskys  Stück  wurde 
keine  einzige  politische  Frage  behandelt,  auch  gab  es  darin  keine  gefähr- 
lichen Reden  über  gesellschaftliche  Gebrechen  und  über  die  Notwendig- 
keit, ihnen  ein  Ende  zu  bereiten,  doch  lag  in  der  Geißelung  einer  der 
Stützen  der  alten  Ordnung  so  viel  verborgene  Kraft,  daß  die  Hüter  dieser 
Ordnung  sich  durch  das  unbedingte  Verbot  des  Stückes  für  die  Bühne 
rächten.  Wiederum  wuchs  ein  Talent,  das  die  Epoche  der  Reaktion  er- 
leben mußte,  trotz  aller  poliz?eilichen  Aufsicht,  mit  jedem  Werke.  Der  Fall 
des  alten  Regimes  fand  Ostrowsky  gerüstet.  Nachdem  er  mit  seinen  ehe- 
maligen Lehrmeistern  gebrochen  hatte,  stürzte  er  sich  in  den  Strudel  der 
aufklärenden  und  reformatorischen  Bewegung  der  sechziger  Jahre.  schichte   seiner 

Der    große    geistige    Vorrat    der    vorangegangenen,    an    Aufregvmgen    nTcb'seine? 
reichen  Epoche  unterstützte  offensichtlich  die  Schriftsteller,  die  an  der  Spitze    E^Sungen. 


84 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


der  literarischen  Entwicklung  standen,  in  ihrer  schöpferischen  Arbeit.  Die 
Reaktion  wäre  sonst  zweifellos  imstande  gewesen,  mit  ihrem  giftigen  Atem 
jedes  aufstrebende  Talent  zu  ersticken,  dessen  Jugend  in  die  Periode  ihrer 
Herrschaft  fiel.  In  der  allertrübsten  Zeit  offenbarte  sich  die  Volkskraft  in 
einer  unerwarteten  Erscheinung,  in  einem  der  bedeutendsten  Schriftsteller 
nicht  nur  Rußlands,  sondern  der  ganzen  Welt,  nämlich  in  Leo  Tolstoi. 
Er  hatte  sich  einsam  entwickelt  und  stand  den  Ideen  und  Unruhen  jener 
Epoche  fem.  Zur  Zeit  des  Umschwunges  vom  Liberalismus  zur  Reaktion 
und  zum  Stillstande  im  sozialen  Leben  war  er  noch  jung  und  allzusehr 
durch  seine  persönlichen  Erlebnisse  in  Anspruch  genommen  gewesen. 
Belinsky  stand  nicht  mehr  im  Zenith  seiner  einflußreichen  Wirksamkeit. 
Die  literarischen,  sozialen  und  sittlichen  Anschauungen  Tolstois  scheinen 
sich  unabhängig  von  Raum  und  Zeit  geformt  zu  haben.  Für  die  Poesie,  die 
Phantasie,  den  Kultus  der  Schönheit,  hatte  er  nur  Hohn  oder  Verachtung. 
Die  Wissenschaft,  die  ihre  Geheimnisse  weder  dem  Schüler  fremdländischer 
Hauslehrer,  noch  dem  Studenten  einer  der  mangelhaftesten  Universitäten, 
nämlich  der  Kasanschen,  offenbart  hatte,  der  in  fieberhafter  Unruhe  von  einer 
Fakultät  zur  andern  überging,  um  schließlich  das  akademische  Studium  auf 
halbemWege  abzubrechen,  die  Wissenschaft  flößte  ihm  wegen  ihrer  Ziellosig- 
keit, Leblosigkeit  und  Pedanterie  die  gleiche  Verachtung  ein.  Frühzeitig 
verwaist  und  dem  Drange  seiner  Neigungen  preisgegeben,  schwamm  er  mit 
dem  Strom  und  opferte  einige  Jahre  seiner  Jugend  und  Frische  dem  Epi- 
kuräertum  des  weltlichen  und  gutsherrlichen  Lebens.  In  der  reumütigen, 
schonungslos  scharfen  Beleuchtung  der  späteren  „Beichte"  erscheint  diese 
Zeit  in  tiefste  Finsternis  gehüllt;  sie  war  dem  „Egoismus,  der  Eitelkeit 
und  der  Sinnlichkeit"  geweiht,  sie  beraubte  ihn  des  ihm  in  der  „fried- 
vollen, poesiereichen  Kindheit"  anerzogenen  religiösen  Gefühls;  „kein 
Laster,  keine  verbrecherische  Handlung  blieb  damals  unversucht,  was  die 
Angehörigen  seines  Kreises  nicht  hinderte,  ihn  dennoch  für  einen  recht 
moralischen  Menschen  zu  halten".  Jedoch  weder  der  Lebensüberdruß  von 
Puschkins  Onegin,  noch  das  Dämonenhafte  eines  Petschorin  waren  das 
Ergebnis  dieses  stürmischen  Lebensgenusses.  Inmitten  des  Chaos  däm- 
merte das  Licht  der  Wiedergeburt.  Die  Selbstanatyse  setzte  ein;  dunkle 
Neigungen  und  Gedanken  über  den  Sinn  und  die  Ziele  des  Lebens,  die 
ihm,  wie  er  in  den  kürzlich  erschienenen,  hochinteressanten  Fragmenten 
seiner  Memoiren  bezeugt,  schon  in  der  Kindheit  aufgetaucht  waren,  kämpften 
mit  den  Einflüsterungen  des  Egoismus;  immer  deutlicher  fühlte  er  die 
Bande,  die  ihn  mit  dem  unglücklichen,  geknechteten  Volk,  in  dessen  Mitte 
er  seit  seiner  frühen  Jugend  gelebt  hatte,  verknüpfte.  Aus  einer  system- 
losen Lektüre,  die  sowohl  Puschkin,  Gogol,  Lermontoff,  als  auch  Montes- 
quieu, Rousseau,  Sterne  und  Dickens  galt,  begannen  ihm  Anregungen  zu 
erwachsen,  die  ihn  auf  eine  neue  Bahn  wiesen.  Rousseau,  der  Tolstoi 
seit  seinen  Jugendjahren  gefesselt  hatte  und  der  bis  auf  den  heutigen  Tag 
seinen  Zauber  auf  ihn  ausübt,   offenbarte  sich  ihm  in   seiner  Predigt  von 


B.  Die  erste  Hälfte  des   ig.  Jahrhunderts.     II.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  85 

der  Brüderlichkeit,  der  Rückkehr  zur  Natur,  der  Vereinfachung  des  Lebens 
und  der  sittUchen  Vervollkommnung'.  Es  trieb  Tolstoi  fort  aus  dem  Milieu 
und  von  den  Menschen,  denen  er  die  Verderbnis  seiner  Seele  verdankte. 
Für  einen  radikalen  Versuch,  das  Leben  nach  völlig  anderen  Prinzipien 
neu  zu  gestalten,  war  die  Zeit  noch  nicht  gekommen;  für  die  Freigebung 
seiner  Bauern,  wodurch  ihm  eine  schwere  Sünde  von  der  Seele  genommen 
worden  wäre,  fehlte  ihm  noch  das  richtige  Verständnis  und  die  nötige 
Energie,  doch  mit  der  Befreiung  seiner  selbst  durfte  er  nicht  zögern.  Die 
Rückkehr  seines  älteren  Bruders  aus  dem  Kaukasus,  wo  er  im  Heere 
gedient  hatte,  veranlaßte  ihn  plötzlich,  im  Jahre  1851,  der  vornehmen 
Welt  Valet  zu  sagen  und  sich  in  die  Abgeschiedenheit  der  kaukasischen 
Berge  zurückzuziehen. 

Durch  viele  Generationen  war  dies  der  Weg,  der  verfehlte  und  über-  Tolstoi  im  Km- 

kasus,  im 

flüssige   Existenzen    zum   Heldentod    im    Kampfe  mit    den  Bergbewohnern   Türkenkriege 

o    "1   1  r"i  T  X  1    •  1      und  bei  Sebasto- 

oder    doch    zur    kriegerischen    Stählung    rührte;    dieses    Los    schien    auch  poi. 

Tolstoi  beschieden  zu  sein:  der  künftige  Apostel  des  Friedens,  der  große 
Ankläger  des  Krieges  ist  nicht  leicht  im  Volontär-Artilleristen  oder  dem 
späteren  Kanonier,  den  das  Schicksal  in  eines  der  unbedeutendsten 
Kosakendörfer  des  nördlichen  Kaukasus  an  der  Grenze  des  Tscherkessen- 
landes  verschlagen  hatte,  wiederzuerkennen.  Auch  der  junge  Offizier 
verrät  ihn  nicht,  der  sich  nach  seinen  eigenen  Worten  an  dem  großartigen 
Kampfe  bei  Silistria  während  des  Türkenfeldzuges  nicht  satt  sehen  konnte, 
oder  der  während  der  Belagerung  Sebastopols  „Gott  dafür  dankte,  daß 
es  ihm  vergönnt  sei,  so  viel  Heldenmut  zu  sehen  und  in  einer  so  ruhm- 
vollen Zeit  zu  leben",  und  der  meinte,  „daß  das  Bombardement  vom 
5.  November  die  glänzendste  und  ruhmvollste  Tat  nicht  nur  der  russischen, 
sondern  auch  der  Weltgeschichte  sei  .  . ."  Offenbar  bedurfte  es  dieser 
letzten  Lehre,  um  die  begonnene  Umbildung  Tolstois  für  alle  Zeit  zu 
sichern  und  ihn  einen  Ausweg  finden  zu  lassen. 

Mit   dem   Kaukasus   stehen    jedoch   nicht    allein   die    vorübergehenden  Die    icrzahiung 

„Die    Kosaken" 

militärischen    Neigungen    Tolstois    in    Zusammenhang.      In    der    primitiven   als  Markstein 

eines  seelischen 

Umgebung,  in  der  er  sich  dem  kriegerischen  Berufe  widmete,  kamen  ihm  Wendepunktes 
die  ersten  Inspirationen  und  Ideen,  die  sich  in  der  Folgezeit  zu  einer 
selbständigen  Lehre  entwickeln  sollten.  Eine  der  besten  Erzählungen 
Tolstois  „Die  Kosaken",  die  viel  später,  im  Jahre  1860,  in  Hyeres  in 
Frankreich  geschrieben  worden  ist,  jedoch  mit  der  im  Kaukasus  zu- 
gebrachten Zeit  im  engsten  Zusammenhang  steht  und  durchaus  autobio- 
graphischen Charakter  hat,  spiegelt  das  damals  Erlebte  und  Empfundene 
deutlich  wieder.  Auf  den  Helden  der  Erzählung,  Olenin,  der  sich  vom 
lauten,  lockeren  städtischen  Treiben  losgerissen  hat,  macht  das  naive, 
unberührte  Leben  im  Kosakendorf  an  der  Grenze  Rußlands  einen  starken 
Eindruck.  Die  dort  herrschenden  Gebräuche  und  Sitten,  der  arglose 
kriegerische  Heldenmut,  die  physische  und  sittliche  Kraft,  die  Unbefangen- 
heit des  Gefühls,    das  der  Natur  angepaßte  Leben,   die  harmonischen  Ge- 


85  Alexis  Wesselovsky  :  Die  russische  Literatur. 

sänge  des  Volkes,  das  alles  ist  ihm  neu  und  erhebt  sein  Gemüt.  Es  ist  nicht 
leicht,  in  diese  verschlossene  Welt  einzudringen,  doch  fühlt  er  sich  leiden- 
schaftlich zu  ihr  hingezogen;  die  Liebe  zu  einem  jungen  Kosakenmädchen, 
die  mit  elementarer  Gewalt  in  ihm  aufflammt,  verstärkt  sein  Verlangen 
mit  der  Vergangenheit  zu  brechen  und  unter  den  schlichten  Menschen, 
die  von  den  Gebrechen  der  großen  Welt  frei  sind,  ein  neues  Leben  zu 
beginnen.  Das  alles  sind  Stimmungen  und  Gedanken,  die  der  Verfasser 
selbst  durchlebt  hat.  Die  Darstellung  des  ersten  Versuches  Tolstois,  sein 
Leben  zu  vereinfachen,  die  mit  vorzüglichen  nach  dem  Leben  gezeich- 
neten Porträts  aus  dem  Volke  und  prachtvollen  Schilderungen  der  Natur 
des  Kaukasus,  die  ihn  in  ihrer  Majestät  tief  ergriffen  hatte,  geschmückt  ist, 
gewährt  einen  tiefen  Einblick  in  die  Entwicklungsgeschichte  seiner  Seele. 
Das  Mißlingen  einer  Annäherung  an  das  Volk,  die  romantische  Episode, 
die  darin  ihren  Abschluß  fand,  daß  der  verwöhnte  Bezwinger  von  Frauen- 
herzen einem  schlichten,  tapferen  Kosaken  das  Feld  räumen  mußte,  die 
traurige  Entdeckung,  daß  sich  hinter  dem  scheinbaren  Vertrauen  und  der 
Freundschaft  der  Kinder  der  Natur  Berechnung  und  Argwohn  verbargen, 
schließlich  die  sich  ihm  aufdrängende  Notwendigkeit,  seinem  Traum  zu 
entsagen  und  fortzugehen,  ohne  zurückzuschauen  —  das  alles  ist  ein  Ge- 
misch von  Dichtung  und  Wahrheit,  in  dem  die  Hoffnungen  und  Zweifel 
eines  Menschen  vibrieren,  der  auf  der  Grenzlinie  zweier  Welten  steht 
und  das  für  ihn  unerreichbare  gelobte  Land  vor  sich  liegen  sieht. 
„Kindheit"  un.i  Doch   die   Arbeit   der  Selbstanalyse   ließ,    bevor   sie    in   dieser   künst- 

lerisch abgefaßten  Beichte  zum  Ausdruck  kam,  in  Tolstoi  noch  während 
seines  Aufenthaltes  im  Kaukasus  den  Plan  reifen,  sein  ganzes  Leben  in 
der  Erinnerung  durchzublättern  und  den  Verlauf  der  „vier  Lebensalter" 
zu  reproduzieren.  In  den  Ruhepausen  zwischen  kriegerischen  Expeditionen, 
inmitten  von  Mühen  und  Gefahren,  trug  ihn  die  Phantasie  in  seine  Kind- 
heit zurück,  rief  Gefühle  und  Gedanken  wach,  die  damals  in  ihm  lebendig 
gewesen  waren,  versetzte  ihn  in  die  Übergangszeit  der  ersten  Jugendjahre 
mit  ihren  Zweifeln,  Träumen,  Verfehlungen  und  Schroffheiten,  der  be- 
ginnenden Entwicklung  seines  noch  unsteten  Charakters.  Die  beiden 
ersten  Lebensperioden,  die  „Kindheit"  imd  die  „Knabenjahre",  deren  auto- 
biographischer Bearbeitung  Tolstoi  sich  zunächst  unterzogen  hatte,  schickte 
der  Anfänger  auf  dem  Gebiete  der  Literatur  ohne  Namensnennung,  nur  mit 
seinen  Initialen  versehen,  an  den  „Zeitgenossen".  Wie  die  ersten  Versuche 
Gontscharoffs  und  Dostojewskys  machte  auch  das  Erstlingswerk  Tolstois 
einen  starken  Eindruck  und  ließ  ein  vielversprechendes  literarisches  Talent 
erkennen.  Der  Verlust  Gogols  war  noch  nicht  verschmerzt,  die  Kunde 
vom  Tode  des  Mannes  (1852),  der  das  energische  Wollen  zu  entflammen 
gewußt  hatte  und  selbst  geschwächt  und  seelisch  zerschlagen  der  finsteren 
Askese  anheimgefcillen  war,  hielt  die  Geister  noch  in  Erregung,  als  im 
Juni  desselben  Jahres  die  „Kindheit"  erschien  und  neue  Hoffnungen  auf 
die  Fortentwicklung  der  Literatur  erweckte.     Mit   einem  kargen  Material 


B.  Die  erste  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     11.  Das  Zeitalter  Nikolaus'  I.  8? 

ausgerüstet,  ohne  den  Rahmen  der  Darstellung  des  Seelenlebens  eines 
Kindes  zu  verlassen,  unter  Vermeidung  alles  Effektvollen,  Sentimentalen 
und  Moralisierenden,  ohne  irgendwelche  Vorbilder  zu  haben,  trug  der 
Verfasser,  indem  er  sich  ausschließlich  auf  Selbstanalyse  stützte,  über 
eine  fest  gefügte  Geschmacksrichtung,  die  auf  romantischen  Erfindungen, 
dem  Heldentum  Byrons  und  der  sozialen  Satire  basierte,  den  Sieg 
davon.  Abgesehen  von  einer  leichten  Retouche  und  wenigen  Zusätzen 
offenbarte  er  das,  was  er  gesehen  und  erfahren,  was  ihm  sein  künst- 
lerisches Gedächtnis  bewahrt  hatte.  Seine  später  erschienene  „Jugend" 
blieb  ein  unvollendeter  Torso;  die  autobiographische  Aufgabe,  die  sie  er- 
füllen sollte,  ist  in  der  Folge  in  einer  ganzen  Reihe  von  Werken,  ein- 
schließlich der  „Kreutzersonate",  erledigt  worden.  Angeregt  durch  die 
Bekenntnisse  des  genialen  Schriftstellers  aus  seinen  Kindheit-  und  Knaben- 
jahren entstand  in  der  Weltliteratur  bald  eine  ganze  Gruppe  kinderpsycho- 
logischer Darstellungen,  doch  hat  sich  das  Erstling'swerk  Tolstois  bis  zu 
dem  heutigen  Tage  eine  erstaunliche  Frische  und  unnachahmliche  Origi- 
nalität bewahrt.  Die  unklaren  Regungen  und  Träume  des  Knaben  sind 
das  einleitende  Kapitel  zur  Geschichte  des  komplizierten  Entwicklungs- 
ganges der  Seele  eines  der  Lehrer  der  Menschheit. 

Der  Name  Tolstois  beschließt  eine  Reihe  der  bedeutendsten  Ute-  Neue  Kritiker, 
rarischen  Persönlichkeiten,  älterer  und  ganz  junger  Kräfte,  die  das  ver-  schewsky. 
antwortungsvolle  Amt  auf  sich  genommen  hatten,  die  Überlieferungen  der  Journalistik. 
Literatur  inmitten  der  Herrschaft  der  Reaktion  zu  überwachen.  Ihnen  nehmen  des 
wurde  die  Unterstützung  einer  ihrer  würdigen  Kritik  nicht  zuteil;  die 
Nachfolger  Belinskys  erwiesen  sich  als  nörgelnde  Pedanten,  die  für  die 
Ideen  ihrer  Zeit  gar  kein  Verständnis  hatten,  vor  ihnen  zurückschreckten 
und  den  Wunsch  hegten,  die  Literatur  wieder  in  das  sichere  Fahrwasser 
der  objektiven  Kunst  zu  lenken.  Erst  am  Schluß  dieser  Periode  erstand 
der  Journalistik  in  der  Person  eines  jungen  Lehrers,  der  aus  dem  Kreise 
der  Provinzgeistlichkeit  stammte  und  ins  arbeitsreiche  Leben  eines  Peters- 
burger Pädagogen  eine  heiße  Liebe  zur  Wissenschaft  und  gediegene 
Selbstbildung,  der  die  Routine  der  Universität  nicht  genügte,  mitgebracht 
hatte,  wieder  ein  begabter  Kritiker.  Als  der  Name  Tschernischewsky 
auf  den  Seiten  des  Nekrassoffschen  „Zeitgenossen"  zu  erscheinen  begann,  fand 
das  klägliche  Interregnum  der  literarischen  Kritik  sein  Ende,  indem  aus 
einer  Reihe  von  Abhandlungen  über  die  nach  Gogol  benannte  Periode 
der  Literatur  von  neuem  eine  führende,  erziehende  Stimme  ertönte.  Das 
Schicksal  dieser  Abhandlungen  bietet  anschauliche  Beweise  für  die  be- 
stehenden anormalen  Verhältnisse  und  die  Unduldsamkeit  der  Zensur.  Sie 
verstümmelte  die  Abhandlungen  nicht  nur,  sondern  verbot  auch  den  Namen 
Belinskys  zu  nennen.  Letzterer  durfte  nur  unter  der  umschreibenden  Be- 
zeichnung eines  „Kritikers  der  Epoche  Gogols"  zitiert  werden.  Überhaupt 
wurde  es  immer  schwieriger,  sich  über  irgendein  beliebiges  Thema  zu 
äußern;  die  Politik  der  Bezähmung  der  Geister  führte  zu  einer  ungeheuren 


Alexis  Wesselovsky:  Die   russische  Literatur. 


eineFolgen, 


Vermehrung  der  Zensuren,  die  bei  allen  erdenklichen  Behörden  eingeführt 
und  auf  diese  Weise  in  den  Stand  gesetzt  wurden,  kein  wahres  Wort 
über  diese  Institutionen  laut  werden  zu  lassen.  Schließlich  gab  es  nicht 
weniger  als  siebzehn  Zensuren. 

Während  die  öffentliche  Meinung  zum  Schweigen  gebracht  worden 
war,  wurde  unter  dem  Einfluß  des  selbstzufriedenen  Militarismus,  der  sich 
die  ersten  Stellungen  im  Staate  zueigen  gemacht  hatte,  und  der  religiösen 
Herrschsucht,  die  nach  der  Macht  im  Orient  strebte,  der  unglückselige 
Türkenkrieg  unternommen,  der  in  einen  hoffnungslosen  Kampf  mit  einer 
starken  europäischen  Koalition  ausartete.  Der  früher  in  Zusammenstößen 
mit  unkultivierten  Gegnern  oder  mit  den  Volksheeren  Polens  und  Ungarns 
leicht  erworbene  Kriegsruhm  wurde  Nikolaus  untreu  —  sein  glücklicher 
Stern  war  untergegangen.  Zwar  bewiesen  zahllose  Heldentaten  die  Un- 
erschöpflichkeit der  geistigen  Stärke  des  Volkes,  die  sich  trotz  aller 
Unterdrückung  erhalten  hatte,  doch  vereinigten  sich  die  Unfähigkeit  der 
Heeresleitung,  der  völlige  Mangel  an  Kriegsbereitschaft,  die  Rückständig- 
keit der  militärischen  Organisation,  entsetzliche  Unterschlagungen  und 
Veruntreuungen,  um  das  Land,  nachdem  es  sich  in  dem  Wahn  gewiegt 
hatte,  die  führende  Rolle  in  der  Weltpolitik  zu  spielen,  die  Schmach 
eines  feindlichen  Einfalles,  die  heldenhafte  aber  fruchtlose  Verteidigung 
Sebastopols  und  einen  drückenden  Friedensschluß  erleben  zu  lassen.  Der 
alte  morsche  Staatsbau,  der  zuschanden  geworden  war,  erzitterte  in 
seinen  Fugen,  der  klägliche  Zusammenbruch  seiner  hochmütigen  An- 
sprüche spannte  den  wachsenden  Unwillen  der  Bevölkerung  aufs  äußerste. 
In  den  Reihen  der  Verteidiger  Sebastopols,  die  für  ihr  unglückliches 
Vaterland  starben,  wurden  die  ersten  Anklagen  gegen  die  Anstifter 
alles  Unheils  laut  —  die  von  Leo  Tolstoi  und  einigen  jungen  Kriegs- 
genossen im  volkstümlichen  Ton  verfaßten  satirischen  Lieder,  die  die 
unfähigen  Generäle  Nikolaus'  verspotteten. 


Das  Nahen  eine 

Periode  der 

sozialen  Wiedei 

geburt. 

Alexander  11. 


C.  Die  zweite  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts. 
(Von   Alexander  II.   bis   zur   Gegenwart.) 

I.  Epoche  der  Reformen.  Es  war  allen  ersichtlich,  daß  die  Befreiung 
nahte.  Die  lange  gefesselten  Volkskräfte  drängten  der  Freiheit  entgegen; 
das  Erwachen  zu  einem  tätigen  Leben  nach  der  Lethargie  war  süß  und 
erweckte  schöne  Hoffnungen;  wie  am  Schluß  der  .Schreckensherrschaft 
Pauls  und  zu  Beginn  der  Ära  Alexanders  I.  herrschte  eine  optimistische 
Stimmung.  An  der  Notwendigkeit  radikaler  Reformen  konnte  kein  Zweifel 
bestehen,  der  Hauptschuldige  an  der  neuen  Katastrophe,  die  er  zu  über- 
leben nicht  imstande  war,  hatte  dies  schon  vor  1848  eingesehen.  Die 
grausame  Lehre,  die  sie  erteilte,  persönliche  Erfahrungen  und  die  Er- 
kenntnis  der   Schädlichkeit   des   alten   Systems,    der    Selbsterhaltungstrieb, 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  gg 

die  zwar  nicht  wissenschaftlich  pädagogische,  aber  humane  Erziehung, 
die  der  Dichter  Shukowsky  dem  nachmaligen  Alexander  II.  vor  den 
Augen  seines  strengen  Vaters  zuteil  werden  ließ,  endlich  die  Probleme, 
die  innerhalb  des  Lebens  der  Gesellschaft  und  der  Literatur  erwuchsen 
—  alles  dies  prädestinierte  diesen  Prinzen  zum  Befreier  und  Friedens- 
fürsten.  Umgeben  von  den  Helfershelfern  und  Kreaturen  seines  Vor- 
gängers, vor  deren  Überzahl  die  wenigen  Anhänger  des  neuen  Regimes 
weichen  mußten,  wie  einstmals  die  Mitglieder  des  Comite  de  salut  publique 
unter  Alexander  I.  vor  den  unwissenden  Reaktionären,  die  Katharina 
und  Paul  überlebt  hatten,  hat  Alexander  IL,  der  keine  genügende 
Willensstärke  besaß  und  anfangs  kein  klares  Programm  aufgestellt  hatte, 
die  auf  ihn  gesetzten  Hoffnungen  zuerst  nicht  voll  erfüllt.  Die  vorsich- 
tigen Schritte  zur  wichtigsten  reformatorischen  Tat  —  der  Befreiung  der 
Bauern  —  wurden  erst  zwei  Jahre ,  nachdem  das  neue  Regime  ans 
Ruder  gekommen  war,  unternommen,  und  es  kostete  einen  fünf  Jahre 
langen  bitteren  Kampf  zwischen  den  liberalen  Elementen  der  Gesellschaft 
und  dem  Bunde  des  reaktionären  Adels  und  der  alten  Hofpartei,  ehe  die 
Reform  zur  Durchführung  gelangen  konnte.  Wenn  aber  auch  die  Neu- 
gestaltungen noch  lange  keine  festen  Formen  annahmen,  so  war  doch  die 
Richtung  der  inneren  Politik  durch  eine  gewisse  Duldsamkeit  Forderungen 
und  Auffassungen  gegenüber,  sowie  durch  einige  Zugeständhisse  an  die 
Bildung  und  durch  die  Bereitschaft  gekennzeichnet,  Mißbräuche,  die  sich 
während  der  früheren  Regierung  eingebürgert  hatten,  der  Kontrolle  der 
Öffentlichkeit  anheimzugeben,  wodurch  eine  Neuordnung  des  Lebens  vorbe- 
reitet werden  sollte.  Die  liberalen  Anschauungen  in  Taten  umzusetzen,  war 
nicht  leicht;  die  allmächtige  bureaukratische  und  militärische  Partei  lei- 
stete bei  den  ersten  Versuchen  Widerstand;  sie  protestierte  und  suchte 
auch  fernerhin  die  Befreiungsbewegung  aufzuhalten.  Unter  diesen  unsteten 
Verhältnissen  mußte  die  Literatur  bis  zum  Jahre  1866  sich  durchringen, 
als  zwar  nicht  die  lang  ersehnte  Preßfreiheit,  wohl  aber  gewisse  Erleich- 
terungen gewährt  wurden,  die  sich  in  einem  Aufschwung  der  Publizistik 
kundgaben.  Allerdings  mußten  auch  sie,  gleich  den  übrigen  Reformen, 
bald  einschränkende  Bestimmungen  über  sich  ergehen  lassen. 

Dennoch    war    der  Wert    der  Umkehr   so    bedeutend,    daß    das    Ende       wieder- 
des    unglückseligen    Krieges    und    der    Herrscherwechsel    als    der    Beginn    Liberalismus. 
einer  neuen  Epoche  auch  in    der  Literatur   betrachtet  werden    kann.     Vor  Kekabristenund 

.  anderer   Ver- 

allen   Dingen    wurde    eine    Verbindung    mit    den    besten   Vertretern    einer       bannten 

früheren  Periode,  die  in  der  Verbannung  schmachteten,  hergestellt.  Die-  Saitykoff). ' 
jenigen  Dekabristen,  die  die  Befreiung  erlebten,  kehrten  aus  Sibirien  und 
vom  Kaukasus  zurück.  In  dem  ehrfurchtgebietenden  Zuge  der  ergrauten 
Patriarchen  der  Freiheit,  die  sich  das  Heiligtum  ihrer  Überzeugungen 
gewahrt  hatten,  lag  etwas  sittlich  Erhebendes.  Auch  ihre  jüngeren  Nach- 
folger, die  Opfer  der  Unterdrückungen  der  vierziger  Jahre,  Saitykoff, 
Dostojewsky,  Pleschtscheew,  der  Dichter  Schewtschenko,  der  bedeutendste 


QO 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


Repräsentant  der  selbständig-  sich  entwickelnden  kleinrussischen  Litera- 
tur, konnten  endlich  Wjatka,  Sibirien  oder  das  kaspische  Gebiet  ver- 
lassen und  ihre  ung-ebrochenen  Kräfte,  ihre  ganze  Energie  wiederum  in 
den  Dienst  der  literarischen  Arbeit  stellen,  während  die  greisen  Deka- 
bristen für  die  neue  Gesellschaft  zu  Reliquien  wurden.  Außerdem  tauch- 
ten ganz  neue  Menschen  auf. 
Die  Deraokrati-  Dic  Veränderung   in   dem  Bestände  der   literarischen  Kräfte,  die  sich 

ratur  in  'ihren  bereits  früher  bemerkbar  gemacht  hatte,  tat  sich  nun,  da  alles,  was  Leben 
in  ihren  Auf- uud  Begabuug  in  sich  fühlte,  zur  Mitarbeit  berufen  schien,  in  einem  Zu- 
fluß von  Talenten  aus  allen  Schichten  der  Gesellschaft  kund.  Schon  da- 
mals als  Belinsky,  der  Sohn  eines  Arztes,  oder  der  schlichte  Bürger  Kolzoff 
gleichwertige  Mitglieder  der  russischen  „Republique  des  belles  lettres" 
wurden,  hatte  die  Demokratisierung  der  vornehmen  Literatvu:,  deren  füh- 
rende Geister  Leute  privilegierter  Stände  und  feiner  Bildung  waren,  be- 
gonnen; jetzt  fand  plötzlich  eine  Überflutung  mit  demokratischen  Ele- 
menten statt,  die  dem  Schriftstellertum  Kräfte  aus  bisher  unberührten 
Volksschichten  zuführte.  Auch  die  Themata  und  Probleme  der  Lite- 
ratur wurden  sämtlichen  Gesellschaftsklassen  entnommen.  Es  genügte 
nicht  mehr,  für  die  Geringen  und  Enterbten  einzutreten,  wie  es  früher 
menschenfreundlich  gesinnte  Kreise  getan  hatten.  Jene  sollten  für  sich 
selbst  reden,  ihr  Leben  und  ihre  Bedürfnisse  sollten  durch  sie  selbst 
offenbar  werden.  An  die  Stelle  der  problematischen  Naturen,  der  dämonen- 
haften Helden,  der  „Überflüssigen",  traten  nun  arbeitende  Menschen,  denen 
ein  dunkles,  freudloses  Dasein  beschieden  war,  die  den  Lebenskampf 
des  Alltag-s  kämpften.  Gogols  Studien  hatten  nicht  alle  Lebensformen 
umfaßt,  die  neuen  Welten,  die  Turgenieff  und  Ostrowsky  erschlossen 
hatten,  konnten  nur  als  ein  Präludium  gelten  —  mm  sollte  sich  das 
ganze  Leben  in  der  Literatur  spiegeln.  Die  nivellierende  Bewegung, 
die  in  den  sechziger  Jahren  begann,  ist  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt  ge- 
wachsen, um  in  der  Gegenwart  zur  Hefe  der  Gesellschaft  herabzusteigen 
und  ihre  Leiden,  ihr  Elend  sowie  ihre  Rache  zu  beleuchten. 
DieEnt^yicklung  Mit  der  Schilderung   der  nackten  Wirklichkeit   war   eine   eifrige  Be- 

sehen Arbeit,    arbeitung   der   Probleme,    die   sie   nahe   legte,    verknüpft.     Während    ihre 
seine  „Glocke".  Behandlung    früher    für    unerlaubt    und    g'efährlich    gegolten    hatte,    nahm 
scbaftiichen     slc  uunmchr  eine  hervorragende  Stelle  im  Leben  des  Volkes  ein.    Freilich 

Unteisuchungcii  ,,,,.  ....  ,.,Ty  j 

in  Rußland.  Der  versuchte  mau  schon  bald,  sie  zu  unterdrucken  und  in  den  Hintergrund 
laktenWisscM-  ZU  drängen  —  jedoch  ganz  ohne  Erfolg.  Die  Gedanken,  die  sich  inmitten 
retrograder  Strömungen  in  den  Geistern  lebendig  erhalten  hatten,  die 
freiheitlichen  Ideen,  die  vom  Westen  her  ins  Land  eingedrungen  waren,  er- 
blühten unter  dem  Einfluß  der  europäischen  Sozialwissenschaften  und  der 
sozialen  Praxis.  Die  erste  freie  russische  Druckerei,  die  Alexander  Herzen 
in  London  geschaffen  hatte,  seine  Zeitschrift  „Der  Polarstern"  und  die  leiden- 
schaftliche publizistische  Zeitung  „Die  Glocke",  vor  deren  erbarmungslosen 
Anschuldigungen  alles  erbebte,  was  die  alte  Ordnung  in  Rußland  zu  ver- 


schafte 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  qi 

teidigen  wagte,  ergänzten  in  kraftvoller  Weise  die  schwere  Arbeit  der  nur 
teilweise  befreiten  russischen  Presse.  Die  reiche  Begabung  Herzens  offen- 
barte neue  Seiten.  Dank  ihm  erstand  endlich  die  politische  Journali.stik. 
Die  bürgerlichen  Wirren  während  der  Revolution  von  1848  in  Frankreich 
hatten  ihn  tief  erschüttert,  und  da  ihm  der  Glaube  an  die  Heilkraft  des 
europäischen  Liberalismus  verloren  gegangen  war,  verband  er  von  nun 
an  mit  seinem  Anklägeramt  schöpferische  Arbeit,  indem  er  in  dem  histo- 
rischen Entwicklungsgang  des  russischen  Volkes  jene  Grundlagen  zu  er- 
forschen suchte,  auf  welchen  ohne  starke  Erschütterungen  die  Realisierung 
der  großen  Aufgaben  des  Sozialismus  möglich  wäre.  Die  bevorstehende 
Befreiung  der  Bauern  veranlaßte  auch  die  heimatliche  Journalistik  zu 
derartigen  Studien  —  soweit  sich  dies  bewerkstelligen  ließ.  Indem  sie 
die  Leser  in  das  Wesen  des  Systems  Robert  Owens  einweihte,  die  „Natio- 
nalökonomie" John  Stuart  Mills  (in  der  Bearbeitung  Tschernischewskys) 
frei  kommentierte  und  die  soziale  Bewegung  in  Deutschland  samt  der 
Tätigkeit  Lassalles  aufmerksam  verfolgte,  schuf  sie  zugleich  eine  ganze 
Literatur  nationalökonomischer  und  juristischer  Werke  über  den  gemein- 
samen Grundbesitz  der  Bauern  und  über  andere  Spezialfragen  der  Volks- 
wirtschaft. 

Gleichzeitig  mit  der  Ausbreitung  sozialpolitischer  Ideen  erblühten  die 
exakten  Wissenschaften,  die  einerseits  wegen  ihrer  positiven  Ergebnisse, 
andererseits  wegen  des  Einspruchs,  den  sie  veralteten  klerikalen  Anschau- 
ungen und  der  Unduldsamkeit  in  Fragen  der  Moralität  gegenüber  er- 
hoben, besonders  wertvoll  erschienen.  Unter  ihrem  Einfluß  schwand  alles 
Wahnhafte,  Chimärische,  das  die  Geister  bedrückte.  Das  Tatsächliche, 
Gemeinnützige,  das  was  eine  vernünftige  Wirklichkeit  schafft,  .sollte  nun 
die  alten  Lebensformen  ersetzen.  Sogar  Tschemischewsky  hielt  es  da- 
mals für  zweckmäßig,  in  dem  Roman  „Was  tun?"  seine  Ansichten  über 
eine  künftige  normale  Ordnung  der  Dinge  dem  lesenden  Publikum  in 
belletristischer  Form  auseinanderzusetzen.  Einer  der  begeisterten  An- 
hänger der  Bewegung,  der  junge  und  phänomenal  begabte  Kritiker 
Pissarew,  hielt  den  Realismus  in  der  weitesten  Bedeutung  des  Wortes 
für  ihre  Lösung.  In  einer  solchen  geistigen  Atmosphäre  konnte  die  Lite- 
ratur nur  eine  ausgesprochen  realistische  Richtung  einschlagen,  um  so 
mehr  als  sie  durch  das  Vermächtnis  der  Schule  Gogols  hierzu  prädesti- 
niert war. 

Schon   die   ersten  Erzeugnisse   der    neuen   Periode    tragen   dieses    Ge-  uie  wichtigsten 

°  °  Ergebnisse     der 

präge.    Die  „Skizzen  aus  der  Provinz"  von  Saltykoff  schildern  die  Fäulnis  Entwickiungs- 

.  -  T-i  •  o  ^-^  L;escbichte  des 

und  Finsternis  des  Provinzlebens;  später  schwang  der  Satiriker  seine  Geißel    Romans  der 
gegen  die  Gewissenlosigkeit  und  Gesetzlosigkeit,  gegen  den  falschen  Glanz  saitykoff. Dosto- 
der großstädtischen  Kreise,  die  den  Reformen  gegenüber  in  feindseliger  Hai-  „Memoiren  aus 
tung  verharrten.    Ostrowsky  befreite  seine  urwüchsige  Begabung  von  den       iiausc. 
Fesseln    des    ihm    aufgezwungenen    Joches    einer    nationalen    Idealisierung 
altrussischer  Prinzipien  und  gab,  nachdem  er  eine  Reise  ins  Innere  Rußlands 


92 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


gemacht  und  dasselbe  so  gesehen  hatte,  wie  es  tatsächlich  war  und  nicht 
wie  es  unter  dem  Gesichtswinkel  der  Slawophilen  erschien,  in  dem  Stücke 
„Die  Pflegetochter"  eine  Schilderung  der  Unmenschlichkeit  der  Leibeigen- 
schaft. In  seinem  ergreifenden  Drama  „Das  Gewitter"  führte  er  den  Zu- 
schauer in  die  Tiefen  einer  entlegenen,  in  Unwissenheit,  Unduldsamkeit 
und  Roheit  verkommenen  alten  Stadt,  in  deren  Atmosphäre  „helle  Licht- 
strahlen" wie  die  Heldin  des  Stückes,  die  nur  im  Selbstmord  einen  Aus- 
weg findet,  erlöschen  und  untergehen.  Dostojewsky  kehrte  mit  einer  er- 
schütterten Gesundheit,  mit  kranken  Nerven,  mystischen  Träumen  und 
einer  Vorliebe  für  die  finsteren  Seiten  des  Daseins  aus  Sibirien  zurück, 
doch  hatte  er  die  „Memoiren  aus  einem  Totenhause"  in  Händen,  jene 
Anklageschrift  gegen  das  ganze  barbarische  System  des  Gerichts  und  des 
Strafverfahrens.  Diese  Beichte  eines  Menschen,  dessen  einzige  Schuld 
in  der  Unabhängigkeit  seiner  Gesinnung  bestanden  hatte  und  der  für  vier 
Jahre  mit  Mördern  und  Verbrechern  zusammen  eingesperrt  worden  war 
(später  mußte  er  als  Soldat  in  Sibirien  dienen),  ist  voll  so  ungekünstelter 
Wahrheit,  daß  der  Leser  von  den  Schilderungen  des  Lebens  der  Aus- 
gestoßenen, Unglücklichen,  Elenden  und  Verlorenen  geradezu  überwältigt 
wird.  Die  neuere  europäische  Literatur  besitzt  nicht  wenig  Memoiren 
und  Beichten  von  Gefangenen  und  künstlerische  Schilderungen  des 
Gefängnislebens;  auch  in  der  modernen  russischen  Literatur  hat  nach 
Dostojewsky  der  talentvolle  Dichter  Jakubowitsch  (Melschin)  über  seine 
Erfahrungen,  die  er  im  Gefängnis  gesammelt  hatte,  berichtet,  und  Tschechow 
hat  eine  Beschreibung  der  Insel  Sachalin,  auf  der  Verbannte  angesiedelt 
wurden,  geliefert,  in  der  uns  die  bleichen  Schatten  trauriger  oder  Ent- 
setzen erregender  Menschen  in  großer  Zahl  entgegentreten.  Doch  in  der 
Reihe  derartiger  Schöpfungen  werden  die  Erinnerungen  Dostojewskys 
stets  ihre  selbständige  und  hervorragende  Bedeutung  behalten.  Indem 
er  den  wahren  Grund  seiner  Verbannung,  daß  es  ein  politisches  Ver- 
brechen war,  verbarg  und  der  Erzählung  die  Form  von  Aufzeichnungen 
eines  ihm  Unbekannten  gab,  der  wegen  der  Ermordung  seiner  Frau  zur 
Zwangsarbeit  verurteilt  worden  war,  nahm  er  ihr  jedes  persönliche  Mo- 
ment; auch  die  rührende  Poesie  der  Selbstverleugnung  und  Religiosität, 
welche  „I  miei  prigioni"  Silvio  Pellicos  erfüllt  und  zu  dessen  ehemaligem 
Leben  im  Dienste  der  Freiheit  seines  Vaterlandes  in  Gegensatz  tritt, 
fehlt  hier  vollständig.  Es  finden  sich  auch  keine  Äußerungen  des  Un- 
willens, keine  scharfen  Verurteilungen,  keine  Appellationen  an  die  Mensch- 
lichkeit, keine  bestimmten  Forderungen  von  Reformen;  in  ungewöhnlich 
schlichter  Weise  entrollt  sich  vor  unseren  Augen  das  Bild  des  Lebens 
im  „Totenhause"  mit  all  seiner  Bitterkeit  und  seinem  Leid,  mit  seinen 
kurzen  Lichtblicken  und  naiven  Freuden;  eine  lange  Reihe  Menschen 
zieht  an  uns  vorüber,  wir  hören  ihre  Stimmen,  ihre  groben  Reden  und 
vernehmen  das  Stöhnen  grausam  Gestrafter,  die  nach  2000  Knuten- 
hieben   halbtot    in    das    Gefängnisspital    geschafft    werden.      Das    ist    kein 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  gj 

Roman,  obgleich  der  Verfasser  das  Werk  in  der  Überschrift  so  nennt, 
kein  belletristisches  Pamphlet,  keine  tendenziöse  Anklageschrift,  doch  er- 
tönt aus  der  Wiedergabe  des  Erlebten  und  Gesehenen  der  Ruf  nach 
Brüderlichkeit  und  sozialer  Gerechtigkeit.  Von  Zeit  zu  Zeit  dringen  Licht- 
strahlen durch  die  Finsternis;  der  Verfasser  will  nicht  wie  seine  Vorgänger 
Eugene  Sue  und  Dickens  unter  allen  Umständen  einen  göttlichen  Funken 
in  der  Seele  des  Verbrechers  entdecken,  doch  übersieht  er  nicht  die  ein- 
fachen freundschaftlichen  Beziehungen,  die  ihn  mit  einigen  Zwangsarbeitern 
verbanden,  und  vergißt  nicht  das  Aufleuchten  von  Zärtlichkeit  und  Mit- 
leid inmitten  einer  Umgebung,  die  ihm,  dem  „Adligen",  wie  sie  ihn 
nannten,  größtenteils  feindselig  gegenüberstand.  In  Freiheit  gesetzt, 
trauert  er  nicht  wie  der  Gefangene  von  Chillon  um  das  verlassene 
Gefängnis,  schließt  aber  seinen  düsteren  Bericht  in  schmemiütiger  Stim- 
mung ab. 

Indem  er  sich  auf  dies  Gebiet  begab,  das  noch  kein  russischer  Schrift- 
steller berührt  hatte,  folgte  Dostojewsky  einmal  den  menschenfreundlichen 
Neigungen  seines  ehemaligen  Kreises  und  dem  Triebe  seiner  eigenen  Näch- 
stenliebe, die  in  der  Folgezeit  einen  krankhaften  Charakter  annahm,  so 
daß  er  sogar  in  den  letzten  Jahren  vor  seinem  Ende  seine  Verurteilung 
zur  Zwangsarbeit  um  der  Erleuchtung  willen,  die  seinem  Geiste  durch  sie 
zuteil  geworden  war,  segnete.  Gleichzeitig  entsprach  er  damit  aber  auch  der 
traditionellen,  weichen  Volksstimmung  den  Arrestanten,  Gefangenen  und 
namentlich  den  nach  Sibirien  Verbannten  gegenüber,  die  die  schlichten  Leute 
als  „Unglückliche"  betrachten,  denen  zu  Hilfe  zu  eilen  sie  immer  bereit  sind. 
Eine  solche  Vertiefung  in  die  Welt  des  Verbrechens,  vmd  eine  solche  Ver- 
schmelzimg mit  der  Volksseele  hatte  der  Realismus  Gogols,  der  doch  so 
kraftvoll  und  allumfassend  schien,  nicht  gekannt. 

Inmitten   der   allgemeinen  Wiedergeburt   machte  die   literarische  Evo-  Neue  Emwicic- 
lution    große    Fortschritte.     An    erster    Stelle    stand    der   Roman,    der    für  der  Kunst  Tur- 

geniefFs. 

lange  Zeit  dominierende  Bedeutung  gewann.    Er  brach  mit  den  überlebten,  „Rudin-,   „Das 

^  ^    ^  ,     ,.         Adelsnest"    und 

verblaßten  Typen  des  schiffbrüchigen  Helden  und  der  unverstandenen,  dahm-  „Am Vorabend". 
welkenden  Frau  und  widmete  sich  der  Erforschung  uud  Darstellung  neuer 
Lebenserscheinungen  der  Gesellschaft.  Turgenieff,  den  das  Erwachen 
des  Vaterlandes  mit  neuen  Kräften  zu  beleben  schien  und  der  eine  Zeit- 
lang sogar  bereit  war,  die  Dichtung  mit  der  praktischen  Publizistik  und 
der  Mitarbeit  an  der  Reform  der  bäuerlichen  Verhältnisse  zu  vertauschen, 
verkörperte  in  seinen  Werken  die  einander  folgenden  Entwicklungsstadien 
der  Individualität.  Schon  in  den  „Memoiren  eines  Jägers"  findet  sich 
neben  den  realistisch  gehaltenen  Typen  die  meisterhaft  skizzierte  Gestalt 
eines  willenlosen,  tatenlosen  „Hamlet  der  Provinz".  Ihr  folgt  an  den 
Grenzmarken  einer  neuen  Epoche  der  Typus  der  Übergangszeit,  Rudin,  mit 
seiner  glänzenden,  sieghaften  Dialektik,  seiner  beredten  Verkündigung  von 
Ideen,  die  zu  verwirklichen  ihm  nicht  beschieden  ist.  Nachdem  er  seine 
reichen    Kräfte    in    unfruchtbarer   Erregung    verzehrt    und    in   der  Heimat 


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Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


kein  Feld  der  Tätigkeit  gefunden  hatte,  stirbt  er  auf  den  Barrikaden  von 
Paris  für  die  Freiheit  eines  fremden  Volkes;  damals  dachte  Turgenieff, 
daß  ein  Mann  vom  Schlage  Bakunins,  des  Prototyps  Rudins,  sein  Leben 
in  gleicher  Weise  beschließen  könnte.  Traurig  auch  ist  zu  jener  Zeit  das 
Los  der  Frau,  deren  Streben  zum  Licht  und  zu  neuem  Leben  unter  der 
Bürde  der  sittlichen  und  religiösen  Traditionen  zusammensinkt.  Das  ist 
Lisas  Schicksal  in  der  Erzählung  „Das  Adelsnest".  Es  handelt  sich  hier 
um  die  Geschichte  einer  träumerischen  Persönlichkeit  mit  humanen  Be- 
strebungen und  aufrichtigem  Gefühl ,  die  jedoch  nicht  den  Mut  hat,  die 
Schranken  der  Moral  zu  durchbrechen;  Rudin  sucht  einen  ehrlichen  Tod, 
um  sich  seines  freudlosen  Geschicks  zu  entledigen,  Lisa  aber  begräbt  ihr 
junges  Leben  im  Kloster.  Doch  die  Befreiung  nahte.  Nur  ein  Jahr  liegt 
zwischen  dem  „Adelsnest"  und  dem  Roman  „Am  Vorabend",  und  doch 
macht  sich  hier  schon  die  fieberhafte  Erregung,  die  sich  der  Gesellschaft 
bemächtigt  hatte,  stark  bemerkbar.  Turgenieff  konnte  den  russischen  Typus 
des  für  das  Gemeinwohl  Arbeitenden  vorläufig  ebensowenig  mit  festen 
Umrissen  zeichnen,  als  er  dessen  crcdo  bestimmt  anzugeben  vermocht 
hätte,  und  machte  daher  einen  jener  bulgarischen  Patrioten  zu  seinem 
Helden,  die  in  Rußland  eine  Zuflucht  fanden  und  nach  gründlicher  Vor- 
bereitung den  kühnen,  verzweifelten  Versuch  wagten,  ihr  Vaterland  zu 
befreien.  Die  zielbewußte,  energische  Persönlichkeit  Jnssarows  scheint 
berufen  zu  sein  dem  echten  russischen,  politischen  Romanhelden  den  Weg 
zu  bahnen;  die  dialektischen  Künste  Rudins  sind  in  unermeßliche  Fernen 
gerückt.  Neben  dem  fremdländischen  Agitator  und  Anführer  der  Lisur- 
genten  steht  aber  bereits  das  feurige  russische  Mädchen,  das  sich  durch 
seinen  Idealismus  und  seine  Selbstaufopferung  hinreißen  läßt,  das  um  der  Idee 
willen  alle  vertrauten  Beziehungen  löst  und  an  der  Seite  des  ihr  teuren 
Gesinnungsgenossen  furchtlos  Gefahren  entgegengeht.  Mit  seiner  Helene 
macht  Turgenieff  den  ersten  bedeutenden  Versuch,  die  Psychologie  des 
aktiven  weiblichen  Heldentums  zu  entwickeln.  Helene  ist  die  Vor- 
läuferin jener  Generation  heroischer  Frauen,  welche  in  der  modernen 
russischen  Literatur  (wie  auch  in  der  skandinavischen  Dichtung  im  Drama 
Ibsens  und  seiner  Genossen)  an  die  führende  Stelle  getreten  sind.  Ob- 
gleich dieser  Roman  Turgenieffs  in  der  Sprache  der  sechziger  Jahre 
tendenziös  genannt  werden  müßte,  da  er  sich  eine  erziehliche  Aufgabe 
stellt,  so  weist  er  dennoch  in  künstlerischer  Beziehung  einen  großen  Fort- 
schritt auf;  die  Zeichnung  der  Charaktere,  die  psychologische  Treue,  die 
meisterhaften  Schilderungen  und  die  Prägung  eines  originellen  „Turge- 
nieffschen"  Stils  übten  eine  bezaubernde  Wirkung  aus,  —  vielleicht  war 
das  die  einzige  Epoche,  in  der  die  Bedeutung  Turgeniefts  einstimmig 
und  unbestritten  anerkannt  wurde. 
Gontscharoffunj  Das    Grundproblcm    jener    Zeit  —  der  Bruch    mit   der  Vergangenheit 

?dri'rotcst°g(t'en  uud  der  Sieg  der  Freiheit,  der  wahren  Zivilisation,  sowie  die  Verteidigung 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  gj 

ins  Leben.  Er  war  längst  geplant  und  langsam  niedergeschrieben  worden, 
so  daß  er  das  Licht  der  Welt  erblickte,  als  der  Frühling  ins  Land  gezogen 
war  und  der  Drang  zu  neuem  Leben  sich  auf  Schritt  und  Tritt  geltend 
machte.  Das  in  ihm  gezeichnete  Bild  träger  Untätigkeit,  die  sich  auf 
Kosten  von  Sklavenarbeit  breit  macht,  erschien  der  in  der  Erneuerung 
begriffenen  Gesellschaft  wie  ein  Vorwurf.  „Oblomoif"  hat  zu  seiner  Zeit 
der  fortschrittlichen  Bewegung  keinen  geringen  Dienst  erwiesen  —  nicht 
dadurch  freilich,  daß  GontscharofF  dem  willenlosen  Helden,  dieser  typischen 
nationalen  Erscheinung,  einen  Deutschen  namens  Stoltz,  die  Verkörperung 
rastloser,  praktischer  Arbeit,  an  die  Seite  stellte  —  denn  er  hatte  letzteren 
lediglich  zu  einem  unternehmenden,  sich  stets  bereichernden  Kapitalisten 
gemacht,  ohne  ihm  Interesse  für  das  Wohl  der  Allgemeinheit  ein- 
zuhauchen — ,  sondern  durch  die  entschlossene  und  zugleich  ruhige  Kritik 
des  ganzen  Systems  der  ehemaligen  Lebensformen,  das  er  nicht  mit  Phrasen, 
sondern  durch  die  Konsequenzen,  zu  denen  es  führte,  widerlegte. 

Auch  die  Kritik  beeilte  sich  auf  die  soziale  Bedeutung  dieses  Romans  Der  Fortschritt 

der    literarisch 

hinzuweisen,  die  neueste  Charakterisierung  der  eingewurzelten  Gebrechen  sozialen  Rich- 
zu  studieren  und  die  Vorgänger  des  Helden  Gontscharoffs  zu  kennzeichnen.  DobroHuboff. 
So  kehrten  für  die  Kritik  jene  ruhmvollen  Tage  wieder,  da  sie  die  Führerin 
der  geistigen  Bewegung  gewesen  war.  Mehr  denn  je  mußte  sie  nun  die 
Pflichten  der  Publizistik  erfüllen;  hatte  sie  sich  eines  hervorragenden 
Werkes  bemächtigt,  so  WTirden  die  sozialen  Bedingungen,  die  zur  Be- 
arbeitung des  betreffenden  Themas  Veranlassung  gegeben  hatten,  sowie  die 
angeregten  Fragen  und  ihre  Beziehungen  zum  Volksleben  in  noch  größerer 
Vollständigkeit,  als  dies  zur  Zeit  Belinskys  der  Fall  gewesen  war,  erörtert. 
Die  Polemik  gegen  die  Anhänger  des  alten  Regimes  wurde  mit  großer 
Schonungslosigkeit  und  Leidenschaft  gefülirt,  und  die  neu  erblühte  satirische 
Journalistik  sekundierte  der  Kritik  mit  ihrem  Hohn.  In  den  Reihen  der 
Scharfschützen  dieser  satirischen  Hilfstruppen  befanden  sich  nicht  selten 
hervorragende  Schriftsteller  und  Kritiker.  Sogar  der  „Zeitgenosse"  hielt 
es  für  angebracht,  eine  vortreffliche  humoristische  Beilage  herauszugeben. 
In  den  sechziger  Jahren  war  aber,  wie  zuzeiten  Voltaires,  das  Lachen  nur 
eines  der  mannigfachen,  gleichberechtigten  Kampfmittel.  Seine  Benutzung 
tat  der  strengen  Ausarbeitung  der  reformatorischen  Überzeugnngen  in 
keiner  Weise  x'Vbbruch.  Die  beste,  eigenartigste  Verbindung  von  an- 
klagendem Humor  mit  dem  Ernst  einer  liberalen  Propaganda  und  der 
Führung  des  literarischen  Fortschrittes  lieferte  die  kurze  aber  bedeutungs- 
volle Tätigkeit  Dobroliuboffs,  des  würdigen  Nachfolgers  Belinskys.  Der 
junge  Kritiker  hatte  bereits  bei  seinem  literarischen  Debüt  eine  hervor- 
ragende Stellung  gewonnen,  doch  ging  er,  weil  er  die  Kräfte  seines 
zarten  Organismus  in  leidenschaftlicher  Arbeit  rasch  erschöpfte,  zugrunde, 
als  sein  Talent  und  sein  Einfluß  ihren  Höhepunkt  erreicht  hatten.  Es  war 
Tschernischewsky,  dem  sein  Ruf  bereits  die  führende  Rolle  in  der  Lite- 
ratur eingetragen  hatte  und  der  nach  Abschluß  seiner  kritischen  Tätigkeit 


q5  Alexis  Wesselovsky :  Die  russische  Literatur. 

durch  große  volkswirtschaftliche  und  soziologische  Werke  die  Lorbeeren 
eines  populären  Publizisten  erntete,  der  in  DobroliubofF  ein  kritisches 
Talent  von  Gottes  Gnaden  entdeckt  und  ihm  die  Herrschaft  überlassen 
hatte.  Dobroliuboff  wurde  tatsächlich  das  wichtigste  Bindeglied  in  der 
Literatur  jener  Zeit.  In  seinen  Erklärungen  und  Analysen  schlössen  sich 
die  bedeutenden  Erzeugnisse  der  neuen  Periode  zu  einem  anschaulichen 
Bilde  der  literarischen  Bewegung  zusammen;  ihr  kulturhistorischer  Hinter- 
grund und  ihre  Ideenfolge  traten  klar  hervor;  die  Betonung  der  sozialen 
Aufgaben  der  Kunst  durch  den  jungen  Kritiker  bekehrte  die  Zögernden 
und  Schwankenden,  und  nicht  selten  gelangen  ihm  wirkliche  Eroberungen, 
indem  er  solche,  die  sich  (wie  einst  Gogol)  weder  der  Schätze,  über  die 
sie  verfügten,  noch  der  falschen  Bahn,  auf  der  sie  sich  bewegten,  bewußt 
waren,  seinem  Lager  zuführte.  So  hat  er  mit  seinen  erstaunlichen 
Aufsätzen  über  das  von  Ostrowsky  entdeckte  „dunkle  Reich"  den  talent- 
vollen Dramaturgen  besiegt,  mit  seiner  Studie  über  das  durch  die  Leib- 
eigenschaft bedingte,  sich  fortpflanzende  psychische  Übel,  das  im  „Oblo- 
moff"  geschildert  wird,  Gontscharoff  mit  starker  Hand  unterstützt,  als 
dieser  von  der  nüchternen,  satirischen  Behandlung  der  Sitten  zum  Kampfe 
überging.  Der  Roman  Turgenieffs  „Am  Vorabend",  der  von  Ahnungen 
und  Erwartungen  erfüllt  ist,  aber  den  noch  nicht  ausgeprägten  T3rpus  des 
politisch  tätigen  Russen  durch  einen  Fremdling  ersetzt,  hat  Dobroliu- 
boff ebenfalls  zu  einer  Studie  mit  der  charakteristischen  Überschrift 
„Wann  wird  es  wirklich  Tag?"  veranlaßt,  die  zum  Vorwärtsschreiten  auf- 
fordert und  vom  Glauben  getragen  ist,  daß  die  Entfaltung  der  Selbst- 
tätigkeit des  Volkes  unter  allen  Umständen  erfolgen  müsse.  Wie  die 
überzeugten  „Westeuropäer"  der  vorangegangenen  Periode  sah  er  in  der 
europäischen  Kultur  den  Weg,  der  zum  Ziele  führte;  die  freiheitlichen 
Bestrebungen  der  zeitgenössischen  Völker,  insbesondere  der  heldenhafte 
Kampf  der  Italiener  im  Jahre  1859,  erfüllten  ihn  mit  Begeisterung,  doch 
gehörten  seine  besten  Gedanken  dem  Wohle  des  eigenen  Volkes;  ihm 
wünschte  er  nicht  nur  nach  westeuropäischem  Muster  veredelte  Staats- 
formen, sondern  eine  radikale  Wiedergeburt.  Dieser  Wunsch  sollte  nicht 
zu  seinen  Lebzeiten  in  Erfüllung  gehen.  Der  Tod  ereilte  ihn  am  „Vor- 
abend" der  Reformen  und  der  wachsenden  politischen  Gärung.  Als  einige 
Monate  vor  seinem  Ende  die  von  den  Feinden  der  Freiheit  geschmälerte 
und  abgeschwächte  Befreiung  der  Bauern  verkündet  wurde,  erlosch  er 
allmählich  nach  einer  Reise  in  den  Süden  Europas,  auf  der  er  vergeblich 
Heilung  gesucht  hatte.  Ein  kurzes,  schwermütiges  Gedicht,  das  er  vor 
seinem  Tode  verfaßt  hat,  gibt  dem  Gedanken  Ausdruck,  daß  er  sterben 
müsse,  weil  er  sein  Vaterland  ehrlich  geliebt  und  ihm  alle  seine  Kräfte 
geopfert  habe. 
lieRimi  der  Ära  Es    nahte    dlc   Zeit    der  Verwirklichung  längst  angesagter  Reformen. 

Charakteristik   Das  Streben    der  Regierung,   während    der  Ausarbeitung   und  Einführung 
st,-n  Vertreter,  der  neuen  Lebensformen   eine  Annäherung  an  die   liberalen,  ja  sogar  an 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  q-j 

die  oppositionellen  Elemente  zu  erreichen,  trug  Früchte,  die  für  das  öffent- 
liche Leben  von  Bedeutung  waren,  der  Regierung  selbst  aber  bald  unbe- 
quem wurden,  so  sehr  sie  sich  auch  bemühte,  das  Banner  der  Kultur  auf- 
recht zu  halten.  In  den  Provinzkomitees,  die  die  Grundlagen  der  Bauem- 
emanzipation  vorzubereiten  hatten,  sogar  im  Zentralkomitee,  das  sie 
endgültig  ausarbeitete,  wurden  Reden  und  Vorschläge  laut,  die  in  gewissen 
Kreisen  für  gefährliche,  nur  vorübergehend  zu  duldende  Volksverführung 
galten;  so  erklärten  z.  B.  energische  Männer  die  Ständeordnung  und 
die  Privilegien  für  einen  der  größten  Schäden  des  russischen  Lebens 
und  waren  zur  radikalen  Umgestaltung  des  Bodenbesitzes,  zu  einer  Ver- 
schmelzung mit  dem  Bauerntum  bereit.  Um  die  Justizreform  bemühten 
sich  ehrliche,  charakterfeste  Männer,  Gegner  jener  empörenden  Rechts- 
pflege, die  vom  Volke  verwünscht  und  von  der  Literatur  an  den  Pranger 
gestellt  wurde.  Wenn  sich  in  der  Auffassung  der  Bauernfrage  der  Ein- 
fluß der  neuen  volkswirtschaftlichen  Theorien  und  gleichzeitig  die  Achtung 
vor  der  russischen  Organisation  des  gemeinsamen  Grundbesitzes  (Obsch- 
tschina)  bemerkbar  machte,  so  brachten  die  Schöpfer  der  Justizreform  dem 
durch  Ungerechtigkeit  und  Bestechlichkeit  erdrückten  Volke  die  öffent- 
liche, unabhängige  Rechtsprechung,  die  demokratische  Institution  der 
Geschworenen-  und  wählbaren  Friedensgerichte,  sowie  die  Gleichheit  vor 
dem  Gesetz.  Auch  in  den  Projekten  der  anderen  Reformen,  in  der  Orga- 
nisation der  lokalen  Selbstvertvaltung',  in  den  Versuchen,  die  Preßfreiheit 
durchzusetzen,  offenbarte  sich  derselbe  freiheitliche  Idealismus,  der  die 
führenden  Geister  der  sechziger  Jahre  beseelte,  jener  Epoche,  die  von 
den  Freiheitsgegnem  als  eine  Zeit  des  gewaltsamen  Umsturzes  und  unter- 
schiedsloser Verneinung  geschildert  worden  ist. 

Nicht  nur  die  praktischen  Politiker,  die  ihre  ganze  Kraft  für  die  Aus- i^'«J'^''g«Gene- 

^  .  .  .  rat.on  2u  Beginn 

Gestaltung  des  Lebens  einsetzten,   wurden  von   diesem  aktiven  Idealismus  ^^<^^  sechziger 

°  °  .  Jahre    in   ihrem 

getragen.     Auch    jene    neue  Gruppe    junger   Männer,    die    bald    über    das  Kampfe   gegen 

°  °  ■'  ff         i        b  >  moralische    und 

ganze  Land  verbreitet  war  und  wirklich  in  der  Negation  das  erstrebens-  ■■eiigiose  vomr- 
werte  Ziel  zu  sehen  schien,  entfaltete  eine  kraftvolle  Tätigkeit,  indem 
sie  einen  Kreuzzug  gegen  die  veralteten  sittlichen  und  religiösen  An- 
schauungen eröffnete,  während  die  Politik  für  sie  auf  den  zweiten  Platz 
rückte.  Die  Stützen,  die  ihr  die  westliche  Kultur  bot,  waren  die  Natur- 
wissenschaften, die  Erfolge  des  Materialismus,  sowie  die  radikalen  Rich- 
tungen in  der  historischen  Erforschung  des  Christentums  und  der  dog- 
matischen Kritik.  Mit  Hilfe  dieser  tödlichen  Waffen  versuchte  sie  die  Vor- 
urteile und  drückende  altväterliche  Überlieferungen,  die  Vorschriften  einer 
finsteren  Moral  zu  zerstören,  die  Gefühle  und  Triebe  zu  befreien  und  die 
Forderung  der  individuellen  Selbstbestimmung,  sowie  der  Frauenemanzi- 
pation aufzustellen.  Sie  lag  mit  der  Ästhetik  und  Metaphysik  im  Kampfe, 
warf  der  Dichtkunst  älteren  Typus'  Weichlichkeit,  Unwahrheit  und  Un- 
kenntnis des  Lebens  vor  und  schien  in  ihrer  Polemik  die  Grundlagen  der 
Kunst   zu   untergraben.     In    den    literarischen  Werken    und   noch   mehr  in 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9.  7 


qg  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

den  Neuerungen,  die  überall,  in  der  Familie,  in  dem  Verhalten  der  Jugend 
der  älteren  Generationen  gegenüber  zutage  traten,  machte  sich  nicht 
wenig  herausfordernde  Überspanntheit  geltend,  und  manchem  gemäßigten 
Manne  standen  die  Haare  zu  Berge,  wenn  er  von  den  Prinzipien  hörte, 
die  von  den  Neuerem  verkündet  wurden.  Dieser  kampflustigen  Be- 
wegung lagen  aber  dieselben  freiheitlichen  Gedanken  zugrunde,  die  von 
den  Anhängern  der  Reform  vertreten  wurden;  sie  war  vom  Glauben 
an  die  Erlösung  durch  eine  wissenschaftliche  Weltanschauung  getragen, 
und  leuchtete  ihr  die  Zukunft  der  zur  freien  Kraftentfaltung  gelangten 
Gesellschaft  in  lichten  Farben  —  so  schufen  die  Bilderstürmer,  die  sich 
gegen  die  schönen  Träume  einer  älteren  Generation  auflehnten,  neue 
Ideale.  In  dieser  Schule  erwuchsen  die  Streiter  für  Freiheit  und  Kultur 
einer  neuen  Zeit.  Die  Extreme  und  Einseitigkeiten  wurden  später  fallen 
gelassen,  und  als  den  Grundlagen  aller  Entwicklung  Gefahr  drohte,  be- 
gaben sich  auch  jene  Männer  auf  die  Arena  des  politischen  Kampfes. 
Eine  starke  geistige  Kraft,  die  noch  nicht  völlig  ins  Gleichgewicht  ge- 
kommen ist,  tritt  uns  in  der  meisterhaften  Schilderung  einer  solchen 
Persönlichkeit  in  Turgenieffs  Roman  „Väter  und  Söhne"  entgegen,  dann 
aber  auch  im  Kritiker  Pissarew,  der  das  Urbild  eines  solchen  Typus  im 
realen  Leben  verkörperte  und  mit  seiner  leidenschaftlichen  Verkündigung 
der  neuen  Ideale  die  reine  und  lichtvolle  Erscheinung  Dobroliuboffs  in 
den  Schatten  stellte. 

Verschiedene  Die  gelstigc  Regsamkeit  der  Epoche  tat  sich  auch  in  der  verstärkten 

der  Literatur:  Tätigkeit  zweier  literarisch-sozialer  Richtungen  kund.  Der  romantische 
die    iTaTik'aicn  Natioualismus  der  Slawophilen,  der  absolut  nicht  gefährlich  war,  zu  Niko- 

näre  Presse,  laus'  Zeiten  aber  für  verdächtig  gegolten  hatte  und  bedrängt  worden  war, 
trat  nun  frei  hervor.  Obgleich  er  an  den  Geist  der  Zeit  Zugeständnisse 
machte,  indem  er  die  Befreiung  der  Bauern  und  die  Abschaffung  des 
alten  Gerichtsverfahrens  forderte,  brachte  er  immer  wieder  seine  alten 
Argumente  vor,  die  die  Gefahren  des  Europäertums  dartun  sollten.  Mit 
mystischer  Feierlichkeit  wies  er  auf  die  Grundlagen  des  Volkslebens  hin, 
die  zu  Unrecht  dem  Vergessen  preisgegeben  wurden.  Ihm  kam  Dosto- 
jewsky  mit  seinen  zwei  Zeitschriften  auf  halbem  Wege  entgegen,  der 
mit  Bedauern  darauf  hinwies,  daß  man  das  russische  Volk  der  heimat- 
lichen Scholle  entfremdet  habe,  und  eine  Rückkehr  zu  ihr  als  das  wich- 
tigste Erfordernis  des  Augenblicks  bezeichnete.  Immer  gewaltiger  tönte 
von  London  her  die  „Glocke"  Herzens,  die  in  Rußland  über  eine  große 
Anzahl  hervorragender  anonymer  Mitarbeiter  verfügte.  Die  reaktionäre 
Presse  aber,  die  die  offiziösen  Publizisten  der  Epoche  Nikolaus'  bei  weitem 
überflügelt  und  den  früheren  Genossen  Herzens  und  Bakunins,  den  ehe- 
maligen   Universitätslehrer,    Philosophen   und  Dichter  Katkoff,    zu  ihrem 

ErSnungen.  Führer  auserschen  hatte,  schmiedete  bereits  die  Waffen  zum  Kampfe  mit 
iSjewsky,    dem  gefährlichen   Gegner. 

'zritgenossen'"  Indem  sich  die  einzelnen  Richtungen  voneinander  schieden,  fand  eine 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  gg 

neue  Verteilung  der  literarischen  Kräfte  statt.  Turgenieff  schritt  in  der 
ersten  Reihe  der  fortschrittlich  Gesinnten  und  erweiterte  immer  mehr  den 
Kreis  sozialer  Erscheinungen  und  Typen,  die  er  zu  ergründen  suchte; 
Ostrowsky  unterstützte  diese  Bewegung,  indem  er  sich  in  seinen  Lustspielen 
nicht  mehr  auf  die  Schilderung  des  Lebens  der  Kaufmannschaft  beschränkte, 
sondern  die  Zustände  der  gesamten  Gesellschaft  jener  Epoche  beleuchtete. 
Die  Lyrik  Nekrassoffs,  die  der  von  Belinsky  empfangenen  Anregung  treu 
geblieben  war,  entfaltete  nun  sowohl  in  intellektueller  als  auch  in  moralischer 
Beziehung  größere  Mannigfaltigkeit.  Die  Sympathie,  die  sie  dem  Volke 
entgegenbrachte,  ihr  Glaube  an  den  endlichen  Triumph  der  allgemeinen 
Freiheit,  die  Aufrufe  und  Ermunterungen,  die  sie  denjenigen,  welche  für 
Fortschritt  und  Aufklärung  kämpften,  zuteil  werden  ließ,  die  zornigen  An- 
griffe, die  sie  gegen  das  alte  System  führte  —  alles  dies  verschaffte  ihr 
eine  hervorragende  politische  Bedeutung,  ohne  ihre  künstlerische  Entwick- 
lung zu  hemmen.  Die  zahlreichen  Gedichte  Nekrassoffs,  die  das  Leben 
der  Bauernschaft  in  lebendigen  Farben,  mit  feinem  psychologischen  Ver- 
ständnis schildern,  gehören  auch  ihrer  Form  nach  zu  den  besten  literarischen 
Studien  dieser  Art.  Gleichzeitig  trat  auch  die  publizistische  Bedeutung 
Nekrassoffs  zutage.  Sein  „Zeitgenosse",  der  nicht  nur  über  bedeutende 
belletristische  Mitarbeiter,  sondern  auch  über  solche  Meister  der  Publizistik 
wie  Tschemischewsky  verfügte,  übernahm  innerhalb  der  legalen  Presse 
dieselbe  führende  Rolle,  die  die  „Glocke"  in  der  Emigrantenliteratur  inne- 
hatte. Gontscharoff  war  nicht  imstande,  der  rasch  vorwärts  schreitenden, 
kampfesmutigen  literarischen  Bewegung  zu  folgen;  er  wanderte  langsam 
auf  dem  Pfade  wohlwollender  Gesinnung,  ersann  und  verfaßte  seinen 
letzten  großen  Roman  „Der  Absturz",  der  eine  meisterhafte  Schilderung 
der  alternden  Lebensformen  enthält,  zugleich  aber  ein  geringes  Verständnis 
für  die  neue  Lebensgestaltung  an  den  Tag  legt.  Die  Mystik,  der  Dosto- 
jewsky  schon  während  der  Verbannung  verfallen  war,  entwickelte  sich 
immer  mehr;  mit  Abscheu  wandte  er  sich  von  den  „Demagogen"  ab,  die 
er  später  in  seinen  „Dämonen"  heftig  angriff,  und  gab  sich  der  Schöpfung 
großer  Romane  hin,  die  den  politischen  Wirren  fem  standen,  vielmehr 
tiefgründende  pathologische  Studien  über  die  Leiden,  Schrecknisse  und 
Krankheiten  der  Menschheit  waren.  Auch  Leo  Tolstoi  wandte  sich  von 
der  öffentlichen  Tätigkeit  ab,  obgleich  er  anfänglich  an  den  sozialen  Fort- 
schritt geglaubt,  als  einer  der  ersten  „Friedensvermittler"  an  der  Bauern- 
emanzipation teilgenommen  und  mit  Feuereifer  die  Bestrebungen  der  Volks- 
bildung sich  zu  eigen  gemacht  hatte,  für  die  das  Tolstoische  Gut  „Jassnaja 
Poljana"  mit  seiner  Musterschule  und  der  pädagogischen  Zeitschrift  gleichen 
Namens  einer  der  wichtigsten  Stützpunkte  zu  werden  versprach.  Mangel 
an  Verständnis  und  Feindseligkeiten  zwischen  den  verschiedenen  Ständen 
machten  ihm  die  schwierigen  Verpflichtungen  des  Vermittlers  zur  Bürde, 
und  er  warf  sie  infolgedessen  ab.  Die  Schulfrage  ließ  er  im  Stich, 
weil  ihn  die  Erkenntnis   quälte,  daß   er  die  richtige  Methode   der  Volks- 

7* 


•  lOO  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

belehrung  nicht  zu  finden  vermochte,  während  er  alle  vorhandenen 
Theorien  über  diesen  Gegenstand  für  falsch  hielt.  Die  ersten  Autoritäten 
der  europäischen,  insbesondere  der  deutschen  Pädagogik,  gewährten  ihm 
in  den  Unterredungen,  die  er  mit  ihnen  pflog,  keine  Befriedigung,  auch 
billigte  er  nicht  die  Einrichtungen  der  von  ihnen  gegründeten  Schulen. 
Insbesondere  empörte  ihn  die  Einmischung  der  Regierung,  die  in  seiner 
erzieherischen  Tätigkeit  rebellische  Hintergedanken  witterte  und  während 
einer  Abwesenheit  Tolstois  die  pädagogische  Oase  von  Jassnaja  Poljana 
vernichtete.  Tolstoi,  der  sich  durch  die  Anteilnahme  am  aktuellen 
Leben  von  der  sich  in  seiner  Seele  vollziehenden  sittlichen  Wandlung 
nicht  mehr  ablenken  lassen  wollte,  kehrte  wieder  zur  literarischen  Tätig- 
keit zurück,  die  jene  innere  Arbeit  in  aller  Vollständigkeit  widerspiegeln 
sollte.  Zu  einer  Zeit,  als  die  brennendsten  Fragen  des  russischen  Lebens 
entschieden  wurden  und  der  Kampf  mit  der  Reaktion  im  vollen  Gange 
war,  ließ  Tolstoi  die  „Kosaken"  drucken  und  entwarf  den  Plan  zu  seinem 
Roman  „Krieg  und  Frieden". 
Die  äiLßerste  Das  Waren   die  Rollen,    die   die  bedeutendsten  Vertreter  der   älteren 

Linke  in  der      ^  ^  .  . 

Literatur,  pissa-  Schriftstellergeneration  mnerhalb  der  sozialen  Bewegung  übernommen 
Bedeutung,  hatten.  Wieviel  Leben  und  Entschlossenheit  war  hingegen  in  dem  ganz 
jungen  Lager,  das  sich  um  die  Zeitschrift  „Das  russische  Wort"  und  seinen 
Leiter  Pissarew  scharte!  Hier  schrak  man  vor  keiner  Opposition  zurück, 
und  keine  Hoffnung  auf  ein  besseres,  freieres  Leben  war  zu  kühn.  Pissarew, 
der  sich  mit  dem  langsamen  Fortschreiten  der  offiziellen  Reform  nicht 
zufrieden  geben  konnte,  stellte  sich  das  Ziel,  die  sozialen  Anschauungen 
unabhängig  von  ihr  umzugestalten  und  die  Rechte  der  Persönlichkeit  zu 
erweitern.  Indem  er  zur  Fahne  der  alleinseligTnachenden  Wissenschaft 
schwor,  schien  er  in  der  Hitze  der  Polemik  fähig  zu  sein,  alles  zu  ver- 
neinen, was  dem  Volke  nicht  zum  offensichtlichen  Nutzen  gereichte  und 
seine  Entwicklung  nicht  zu  fördern  vermochte.  Vor  seinen  Augen  fand,  wie 
es  schien,  weder  die  Poesie,  noch  irgend  eine  andere  Kunst  Gnade.  Der 
junge  Kritiker  unternahm  es  sogar,  mit  seinen  kampfesmutigen  Artikeln 
den  Kultus  Puschkins  zu  vernichten,  doch  bald  sah  er  ein,  daß  er  extreme 
Forderungen  stellte,  zog  sie  zurück  und  kam  zu  einer  präziseren  und 
klareren  Formulierung  seines  credo.  Er  kämpfte  nun  für  die  Hebung 
des  Ideengehaltes  der  Literatur  und  hoffte,  daß  sie  in  dieser  Beziehung 
den  Literaturen  des  Westens,  die  er  sehr  hoch  schätzte,  in  würdiger 
Weise  nacheifern  würde.  Er  suchte  ihr  Kraft  und  Freiheit  zu  verleihen, 
gleichwie  er  auf  dem  Gebiete  der  Sittlichkeit  die  Vorurteile  und  die 
engherzigen  Schranken  der  alten  Moral  niederriß  und  der  persönlichen 
Freiheit  Geltung  verschaffte.  Die  Abhandlungen  Pissarews  waren  glän- 
zend geschrieben,  erregten  die  Geister  und  blendeten  auch  dann,  wenn 
sie  in  der  Polemik  übertrieben.  In  ihnen  offenbarte  sich  sowohl  ein 
starkes  kritisches  Talent  als  auch  die  Fähigkeit  zu  tiefgründender  Analyse. 
Unter    den    Meistern    der    russischen    Kritik    gebührte    ihm    ein    hervor- 


C.  Die  zweite  Hälfte  des    19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  loi 

ragender  Platz;  er  war  der  wahre  Vorkämpfer  der  äußersten  Linken  in 
der  literarisch-sozialen  Bewegung^  der  sechziger  Jahre;  reiche  Hoffnungen 
wurden  durch  seinen  frühen  Tod  zerstört. 

Die  Entwicklung  der  Reformen  stieß  bei  den  ersten  Versuchen,  den  Reform  und 
Worten  Taten  folgen  zu  lassen,  auf  große  Hindernisse.  Die  Hofpartei  und 
die  adelige  Opposition  hatten  eine  Taktik  ausgearbeitet,  mit  deren  Hilfe 
es  ihnen  gelang,  den  Reformator  unschlüssig  und  schwankend  zu  machen 
und  Abänderungen  allzu  liberaler  Gesetzentwürfe  zu  erlangen.  Ein  inter- 
essantes Dokument  jener  Zeit  ist  das  Tagebuch  von  A.  Nikitenko,  der 
es  verstand,  als  Professor  und  Kritiker  der  Wissenschaft  zu  dienen  und 
gleichzeitig  bei  der  Zensur  im  Interesse  der  reaktionären  Politik  als  ein- 
flußreiche Persönlichkeit  tätig  zu  sein.  Dieses  Werk  gewährt  einen 
Blick  hinter  die  Kulissen  jener  Zeit  und  beweist,  daß  beim  Zaren,  der 
scheinbar  darauf  bedacht  war,  dem  Volke  zur  freien  Meinungsäuße- 
rung Gelegenheit  zu  geben  und  ihr  Rechnung  tragen  zu  wollen,  eine 
starke  Neigung  vorhanden  war,  Verbote  zu  erlassen  und  die,  wie  es 
hieß,  zügellose  Literatur  in  die  gehörigen  Schranken  zu  weisen.  Dasselbe 
galt  bezüglich  aller  anderen  Reformen.  Als  nach  der  Verkündigung  der 
Bauememanzipation  und  nach  der  Verzögerung  der  tatsächlichen  Durch- 
führung dieser  Reform  an  verschiedenen  Orten  Unruhen  sich  bemerkbar 
machten  und  die  Repression  allenthalben  begann,  stellte  sich  die  innere  Poli- 
tik die  sonderbare  Doppelaufgabe,  das  Programm  der  Reformen  einzuhalten, 
gleichzeitig  aber  das  Freidenkertum  zu  unterdrücken.  Das  frische  Leben,  das 
in  den  Universitäten  aufkeimte,  die  Gärung  unter  der  Jugend,  die  vorläufig 
durchaus  keinen  revolutionären  Charakter  trug,  die  Gründung  einer  „freien 
Universität"  in  Petersburg,  in  welcher  die  ganze  Stadt  zusammenströmte, 
um  den  Vorlesungen  der  beliebtesten  Professoren  beizuwohnen,  schließlich 
die  rätselhaften,  zahlreichen  Feuersbrünste  in  Petersburg  im  Jahre  1862, 
die  eine  Panik  hervorriefen  und  deren  Entstehung  auf  die  Initiative  einer 
Organisation  von  Rebellen  zurückgeführt  wurde,  dies  alles  diente  als  Vor- 
wand, um  Verbote  zu  erlassen,  Arrest  und  Verbannung  zu  verhängen. 
Auch  die  Reihen  der  Literaten  lichteten  sich.  Tschernischewsky,  der  eine 
imgeheure  Popularität  genoß,  wurde  in  die  Festung  gesperrt  und  dann  auf 
Grund  eines  gesetzlosen  Strafverfahrens,  dessen  Motivierung  bis  zum  heu- 
tigen Tage  unaufgeklärt  geblieben  ist,  nach  Sibirien  verschickt.  Erst 
Ende  der  siebziger  Jahre  verbesserte  sich  sein  Los. 

Auch  Pissare w  wurde,  da  sein  Einfluß  auf  die  junge  Generation  als 
höchst  unbequem  empfunden  wurde,  in  der  Festung  interniert,  doch  wurde 
ihm  gestattet,  journalistisch  tätig  zu  sein.  In  seiner  Zelle  verfaßte  er  Abhand- 
lungen, die  seine  Überzeugungen  in  keiner  Weise  verleugneten.  Auch 
die  moderne  Dichtkunst  wurde  in  der  Person  des  talentvollen  Michailoff, 
des  vorzüglichen  Übersetzers  Heines  und  Berangers,  des  ersten  Vorkämpfers  uer  polnische 
der  Frauenbewegung  in  Rußland,  nicht  geschont.  seine^^wirkLg 

Die    reaktionäre  Politik    erhielt    noch    größeres    Gewicht,    als    sich    zu  '"ofseiuchaft!'^ 


I02  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

der  Gärung  der  Geister  in  der  russischen  Gesellschaft  die  Vorboten  des 
polnischen  Aufstandes  gesellten  und  die  maßgebenden  Kreise  beständig 
von  der  Furcht  geplagt  wurden,  daß  die  radikalen  Elemente  beider  Völker 
gemeinsame  Sache  machen  könnten,  eine  Furcht,  die  sich  als  begründet 
erwies,  als  Herzen  nach  langem  Zögern  oifen  aussprach,  daß  er  mit  der 
polnischen  Sache  vollständig  sympathisiere.  Die  Regierung  wurde  von  einer 
eifrigen,  reaktionären,  in  Unterstellungen  unerschöpflichen  Fresse  unter- 
stützt, die  den  Zusammenschluß  aller  wahren  Patrioten  befürwortete  und 
sich  nicht  scheute,  sogar  die  eiserne  Diktatur  des  Generals  Murawieff  zu 
verherrlichen.  Dieser  suchte  alle  Spuren  des  Polentums  in  Litauen  aus- 
zurotten, indem  er  sich  einerseits  auf  militärische  Gewalt,  andererseits  auf 
freiwillige  Mitarbeiter  stützte,  die  seinem  Rufe  folgten,  um  ihrer  ver- 
krachten Existenz  im  unglücklichen  Lande  zu  neuem  Glänze  zu  verhelfen. 
In  den  Kreisen,  wo  noch  vor  kurzem  das  Wohl  des  Volkes  als  die  treibende 
Kraft  aller  Maßnahmen  gegolten  hatte,  herrschte  jetzt  ein  Chaos,  in  welchem 
bald  die  Fähigkeit  Freund  und  Feind,  Gut  und  Böse  zu  unterscheiden, 
verloren  ging.  Die  Unduldsamkeit  der  regierenden  Klassen  schien  sich 
auch  auf  ihre  Gegner  zu  übertragen.  Bei  der  geringsten  Veranlassung 
brausten  sie  auf  und  protestierten  im  Kreise  der  eigenen  Bundesgenossen. 
Turgenieffs  Der  Roman  Turgenieffs  „Väter  und  Söhne",   der  in  objektiver  Weise 

andSöhn6";'de?  den  GegBnsatz  zwischen  den  Generationen  klarzulegen  suchte,  jedoch 
Geneliogie^e's  der  neu  erstehenden  Typus,  dessen  Vertreter  Basaroff  war,  in  den 
Mittelpunkt  des  Interesses  stellte,  freilich  ohne  die  beiderseits  bestehen- 
den Schwächen  zu  verhüllen,  wurde  als  ein  Verrat  an  der  russischen 
Jugend  betrachtet.  Der  Verfasser,  der,  als  er  Gelegenheit  gefunden  hatte, 
einen  Repräsentanten  der  neuen  Generation  genau  zu  beobachten,  von  der 
Eigenart  eines  solchen  Charakters  derartig  in  Bann  geschlagen  worden 
war,  daß  er  keine  Ruhe  mehr  gefunden,  und  ihr  Leben,  ihr  Wagen  und 
Leiden  in  Gedanken  mit  durchlebt  hatte,  der  als  er  den  frühen  Tod  dieses 
kraftvollen  Menschen  beschrieb,  so  ergriffen  war,  daß  er  sich  abwenden 
mußte,  um  das  Manuskript  mit  seinen  Tränen  nicht  zu  benetzen,  der  den 
Tod  Basaroffs  zu  einer  Apotheose  gestaltet  hatte  —  dieser  Mann  wurde  als 
Feind  der  Jugend  gebrandmarkt  und  ein  Bundesgenosse  der  Gewalt  genannt. 
Als  Turgenieff  nach  der  Drucklegung  des  Romans  nach  Petersburg  kam, 
wurde  er  einerseits  der  Gegenstand  heftiger  Angriffe  seitens  der  Liberalen, 
andererseits  wurde  er  von  den  Konservativen  mit  Liebenswürdigkeiten  und 
Lobpreisungen  überschüttet.  Das  von  ihm  völlig  unbekannten  Würden- 
trägern gelegentlich  gespendete  Lob  erfüllte  ihn  mit  Entsetzen.  Nur  eine 
Stimme  erhob  sich  zur  Verteidigung  Basaroffs,  als  eines  positiven  Cha- 
rakters, und  seines  Schöpfers  Turgenieff  —  das  war  die  Stimme  Pissarews. 
Der  Kritiker  freute  sich  über  die  Kraft  und  den  Mut,  mit  dem  Basaroff 
sich  von  den  Banden  der  Autorität  zu  befreien  wußte,  über  seine  For- 
derung, den  natürlichen  Drang  gewähren  zu  lassen  und  der  Persönlichkeit 
zu  ihrem  Rechte    zu  verhelfen.     Während  Pissarew  in  Basaroflf  die  Hoff- 


C.  Die  zweite  Hälfte  des    19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen. 


103 


nung  des  jungen  Rußlands  sah,  verband  man  mit  seinem  Namen  am  ent- 
gegengesetzten Pol  der  Gesellschaft  die  Vorstellung  von  gefährlicher 
Sittenverderbnis,  von  der  Verneinung  der  Grundlagen  der  bestehenden 
sozialen  Ordnung,  ja  von  politischem  Freidenkertum,  das  fast  an  revolutio- 
näre Propaganda  grenzte.  Die  aus  der  Phraseologie  der  zwanziger  Jahre 
stammende,  von  einem  journalistischen  Aristarchen  geprägte  Bezeichnung 
„Nihilist"'  für  solche  junge  Literaten,  die  den  Gesetzen  der  Ästhetik  Hohn 
sprachen,  wurde,  nachdem  sie  von  Turgenieff  den  Vertretern  der  Jugend 
in  den  Mund  gelegt  worden  war,  für  lange  Zeit  ein  Synonym  für  das 
Wort  Empörer.  Sie  trat  an  die  Stelle  der  Bezeichnungen  „Voltairianer", 
„Freimaurer",  „Jakobiner",  „Carbonaro",  mit  denen  in  früheren  Zeiten  ge- 
fährliche Leute  in  der  russischen  Gesellschaft  belegt  worden  waren. 

Turgenieff,  der  ganz  unabsichtlich  durch  eine  vorurteilslose  Betrach- 
tung der  Dinge  ein  so  beklagenswertes  Mißverständnis  hervorgerufen ; 
hatte  und  zum  Anhänger  der  Reaktion  gestempelt  worden  war,  hatte 
unter  den  Folgen  des  mangelhaften  Verständnisses  schwer  zu  leiden. 
Mit  der  großen  Popularität,  deren  er  sich  erfreut  hatte,  war  es  vorbei, 
man  vermied  es,  seinen  Namen  im  Druck  zu  nennen,  oder  gab  ihm,  wenn 
man  ihn  envähnte,  beleidigende  Epitheta.  Diese  Kränkungen  brachten 
ihn  auf  den  Gedanken,  der  literarischen  Tätigkeit  zu  entsagen.  Die 
geistige  Abspannung",  die  Erkenntnis  der  Zwecklosigkeit  der  dichterischen 
Tat,  wenn  das  Band  zwischen  dem  Schriftsteller  und  dem  Publikum  so 
leicht  zerrissen  werden  kann,  veranlaßten  ihn  zu  dem  traurigen  Ausruf: 
„Es  ist  genug!"  Der  Ausruf  wurde  zur  Überschrift  einer  kleinen,  wert- 
vollen autobiographischen  Skizze.  Diese  Energielosigkeit  konnte  aber 
nicht  lange  anhalten,  der  Glaube  an  seine  Kraft  mußte  neu  erstehen. 
Die  Neigungen  des  Künstlers,  des  Psychologen  und  Beobachters  gewannen 
wieder  die  Oberhand,  doch  lag  auf  Turgenieffs  Schaffen  der  folgenden 
Jahre  der  untrügliche  Widerschein  seiner  Enttäuschung  und  seiner  Skepsis. 
Als  Turgenieff,  nachdem  er  einige  Novellen  verfaßt  hatte,  im  Jahre  1867 
mit  seinem  „Rauch"  zum  Typus  des  umfangreichen  Romans  zurückkehrte, 
durchwob  er  die  künstlerisch  ausgesponnene  Liebesgeschichte,  die  ihm  als 
Vorwurf  diente,  mit  zahlreichen  scharf  satirischen  Schilderungen.  Er 
geißelte  in  ihnen  die  Nichtigkeit  und  Hohlheit  der  höheren  Gesellschafts- 
kreise, die  glänzenden  Generäle,  die  sich  zur  Bezähmung  und  Unterwerfung 
der  Widerspenstigen  immer  bereit  fanden,  die  zynischen,  unwissenden 
Administratoren  und  Streber,  die  sich  unter  dem  „arbre  russe"  in  Baden- 
Baden  zusammenfanden,  daneben  aber  auch  die  radikalen,  selbstbewußten 
unbedeutenden  Schreier.  Eine  der  Hauptpersonen  des  Romans  ist  Potugin, 
ein  objektiver  Zeuge  und  Beurteiler  der  menschlichen  Komödie,  mit  einem 
unerschütterlichen  Glauben  an  die  Heilkraft  der  Zivilisation.  In  seinen 
polemischen  Ausfällen  werden  Irrtümer  und  Abgeschmacktheiten  der  ex- 
tremen Nationalisten  und  Slawophilen,  aber  auch  die  schwachen  Seiten 
ihrer  Gegner,  der  radikalen  Doktrinäre,  erbarmungslos  ans  Licht  gezogen. 


Turgenieffs 
.eiden    wegen 
eines  Romans 

„Väter  und 
Söhne". 


104 


Alexis  Wesselovsky  :  Die  russische  Literatur. 


Als  der  Held  des  Romans  Litwinoff  Baden-Baden  verläßt,  wo  er  manches 
gehört  und  erlebt  hatte,  was  ihn  an  die  Ungereimtheiten  seiner  heimat- 
lichen Verhältnisse  gemahnte,  und  in  Gedanken  versunken  die  Stadt  samt 
allem,  was  ihn  dort  erregt  und  empört  hatte,  in  den  Rauchwolken  der 
Lokomotive  verschwinden  sieht,  scheint  es  ihm,  daß  alles,  alle  Anschau- 
ungen und  Überzeugungen  sämtlicher  Schattierungen  nichts  weiter  sind  als 
trügerischer  Rauch,  der  in  nichts  zerrinnt. 
Die    Abwesen-  In    der    krankhaften    Sucht    TurgeniefFs,    von    nun    an    fem    von    der 

von  Jer  Heimat  Heimat   ZU   leben,    zeigte  es   sich,    daß  die  ihm  beigebrachte  Wunde,    die 
tere Aussöhnung  von    Seinen  Gegnern    immer  wieder    aufgerissen  wurde,    noch    nicht    ver- 
liehen Meinung,  narbt  war.     Die  Beobachtungen,  die  Turgenieff  an  den  im  Auslande  leben- 
den Russen  anstellte,  und  die  er  bei  Gelegenheit  seiner  kurzen  Reisen  in 
die  Heimat    ergänzte,    bewahrten    den   großen  Schriftsteller  aber  vor  den 
Folgen  einer  dauernden  Abwesenheit,  wie  sie  sich  bei  Gogol  geltend  ge- 
macht hatten,    und    erhielten    seinem    künstlerischen  Schaffen  die  Lebens- 
treue.    Seine  Aussöhnung    mit    den    tonangebenden  Persönlichkeiten,    den 
Kritikern,  Publizisten  und   der  Jugend,    nicht    aber  mit  der  großen   Masse 
des  Publikums,    das   sich   dem   Zauber  seiner  Schöpfungen  nie  hatte  ent- 
ziehen   können  —  erfolgte    spät,    erst    vier    Jahre    vor    dem   Tode   Turge- 
niefFs, als  sich  die  Heimkehr   des  geächteten  Dichters  zu  einem  Triumph- 
zug gestaltete. 
Die  Demoraii-  Die  Gesellschaft,   in    der   einem  Manne   wie   Turgenieff   ein  Vergehen 

Gesellschaft,  vorgeworfen  worden  war,  das  er  nicht  begangen  hatte,  und  in  der  ihm 
andererseits  um  seines  den  Konservativen  tatsächlich  nie  erwiesenen 
Dienstes  willen  demonstrative  Ehrungen  zuteil  geworden  waren,  offen- 
barte eine  starke  Verwirrung  der  Begriffe.  Die  Ideen  des  Fortschrittes 
und  der  Freiheit  liefen  Gefahr,  vergessen  oder  durch  die  Sorgen  des 
Alltags  in  den  Hintergrund  gedrängt  zu  werden.  Die  beiden  ersten  Atten- 
tate auf  das  Leben  Alexanders  IL,  die  weder  von  der  polnischen  noch 
von  der  russischen  Aktionspartei  veranlaßt  worden  waren,  sondern  einer 
persönlichen  Initiative  entsprangen,  boten  den  Führern  der  Reaktionäre 
eine  willkommene  Veranlassung,  unter  Benutzung  aller  Erfahrungen,  die 
sie  im  Kampfe  mit  Polen  gewonnen  hatten,  Ruhe  und  Ordnung  im  Inneren 
Rußlands  herzustellen.  Die  Lage  der  Literatur,  der  erprobten  Gefährtin 
der  sozialen  BewegTing',  gestaltete  sich  immer  trauriger;  die  Schläge,  die 
gegen  die  liberale  oder  die  radikale  Partei  geführt  wurden,  schädigten 
gleichzeitig  die  literarischen  Kräfte.  Nicht  die  Geistesarbeit,  sondern  die 
finanzielle  Spekulation,  das  einträgliche  Konzessionswesen  beim  Eisenbahn- 
bau, das  Gründertum  im  Bankfache  wurden  von  oben  herab  gefördert. 
Es  tauchten  Finanzgenies  auf,  die  geschickt  zu  mystifizieren  verstanden; 
man  handelte  mit  allem,  in  erster  Linie  mit  seinen  Überzeugungen.  Die 
Demoralisation  und  die  Käuflichkeit  drang  in  die  höchsten  Kreise  der 
Gesellschaft.  Um  das  Volk  vor  dem  Freidenkertum  zu  bewahren,  wurde 
ein  äußerlich  dem  klassischen  Bildungsideal  huldigendes,   tatsächlich  aber 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   ig.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  105 

vom  Geiste  des  Obskurantismus  durchwehtes  Mittelschulsystem  aus- 
gearbeitet, welches  das  hohe  Erbe  der  antiken  Gedankenwelt  zum  Gegen- 
stand einer  stumpfsinnigen  geistigen  Gymnastik  degradierte,  die  jungen 
Köpfe   ausdörrte    und   gegen  das  Gift  des  freien  Denkens  immun  machte. 

Unter  solchen  Umständen  erschien  die  Ausgestaltung  des  einst  geplanten  AUschwächung 

und  Umäade- 

Reformwerkes  wie  ein  seltsamer  Widerspruch.    Inmitten  der  Repressalien,  rung  der  Refor- 

nien.  Die  ersten 

der    polnischen   und   russischen   Konspirationen   und  Wirren   gelangten    so    schritte  der 

1  r^       •    1  Tx^*         „freien"    Presse 

wichtige   Reformen  wie  die   Umgestaltung    des   Gerichtswesens,    die   Jtm-  und    ihre   Be- 

.  T  •         •  kämpfung. 

führung  der  Selbstverwaltung  der  Provinzen  durch  die  Institution  des 
Semstwo,  das  in  der  Befreiungsbewegung  am  Anfang  des  20.  Jahrhun- 
derts eine  hervorragende  Rolle  spielte,  und  die  Milderung  der  Preß- 
gesetze, zur  Durchführung.  Die  Gesellschaft  kam  jedem  dieser  Kultur- 
fortschritte entgegen,  hielt  das  Ideal  eines  humanen  und  öffentlichen  Ge- 
richtes hoch,  war  bereit,  jeden  Mißbrauch  ans  Licht  zu  ziehen,  geneigt, 
die  Semstwoidee  auf  breiter  Basis  zu  verwirklichen,  und  wußte  zur  Er- 
reichung der  kulturellen  Ziele  die  Freiheit  der  Presse  zu  benutzen.  Die 
unabhängige  und  unparteiische  Rechtsprechung,  die  in  den  sechziger 
Jahren  selbstlose  Vertreter  fand,  die  Beredsamkeit  hervorragender  Advo- 
katen und  einige  großartige  Prozesse,  die  das  Übel  bis  in  seine  Wurzeln 
verfolgten,  führten  jedoch  zu  einer  Einschränkung  der  Jurisdiktion  der 
Geschworenen,  zu  einer  privilegierten  Stellung  der  Vertreter  der  Gewalt 
und  der  höheren  Stände  dem  Gerichte  gegenüber  und  zum  Ausschluß 
der  Öffentlichkeit  in  unbequemen,  kompromittierenden  Fällen.  Die  be- 
freite Presse  büßte  ihre  ersten  Taten  mit  Konfiskationen,  mit  der  Ein- 
führung der  dreifachen  Verwarnung  nach  französischem  Muster  und  mit 
dem  Erscheinungsverbot.  Die  beiden  wichtig.sten  Organe,  der  „Zeit- 
genosse" und  „Das  russische  Wort",  hatten  bereits  ihr  Erscheinen  ein- 
stellen müssen,  eine  der  politisch  harmlosen  Zeitschriften  Dostojewskys 
hatte  dasselbe  Los,  und  dieser  Maßregelung-  folgten  zahlreiche  andere, 
die  sowohl  periodischen  Zeitschriften  wie  auch  Büchern  galten.  Doch 
das  Bestreben,  die  Presse  völlig  mundtot  zu  machen,  war  ein  Unding,  die 
literarische  Beeinflussung  der  Gesellschaft  konnte  nicht  mehr  lahm  gelegt 
werden.  Unter  dem  Druck  der  Verhältnisse  nahm  letztere  für  lange  Zeit 
eine  sehr  eigenartige  Form  an,  die  in  den  Literaturen  anderer  Völker 
nicht  ihresgleichen  findet.  Zwischen  dem  einflußreichen  Schriftsteller  und 
seinem  Publikum  entwickelte  sich  ein  geheimes  Einvernehmen.  Die 
großen  und  starken  Gedanken,  die  Anklagen  gegen  die  bestehenden  Die  Allegorie 
Zustände,  wurden  zwischen  den  Zeilen  gelesen;  der  Leser  hatte  unter  äsopische  Aus- 
bestimmten Namen  und  Bezeichnungen  gewisse  Persönlichkeiten  zu  ver-  SaitykoC 
stehen,  und  wenn  er  die  leichte  Hülle  der  Allegorie  einer  scheinbar 
harmlosen  Erzählung  lüftete,  erkannte  er  die  Schilderung  realer  Verhält- 
nisse. Dieses  Verfahren  erinnerte  an  die  Technik  der  Fabeln  des  Alter- 
tums, nur  daß  man  die  Tiere  aus  dem  Spiele  ließ.  Derjenige  Schrift- 
steller, welchem  es  am  besten  gelang,  die  Masse  auf  diese  Weise  erziehlich 


.  io6  Alexis  "Wesselovsky  :  Die  russische  Literatur. 

ZU  beeinflussen  und  zu  lenken,  war  Saltykoff.    Er  eiferte  aber  beständig 
gegen    den  Druck,    der    ihm    die    freie  Rede   unmöglich    machte    und  ihn 
zwang,  zu  einer  „sklavischen"  Allegorie  zu  greifen,  die  er  als  eine  „äsopische" 
zu  bezeichnen  pflegte. 
charakterisie-  Doch  wie  gestaltete  sich  diese  Sprache  unter  seiner  Feder,  was  wurde 

tischen  Satire  aus  der  Satire,  diesem  Lieblingskinde  der  neuen  russischen  Literatur,  als 
die  Spottlust  Saltykoffs  sich  ihrer  bemächtigt  hatte!  Zu  Beginn  der  neuen 
Epoche  hatte  noch  in  seinen  Werken  der  Gogolsche  Humor,  das  Lachen 
unter  Tränen,  Widerhall  gefunden,  nun  aber  verschwand  er  völlig.  An  die 
Stelle  des  melancholischen  Humoristen  trat  ein  galliger  Pessimist,  ein  Tadler 
und  Verächter,  in  der  Kunst  des  Entlarvens  ein  zweiter  Swift,  der  die 
Niederträchtigkeit,  das  Verbrechen,  die  Raubsucht,  den  Obskurantismus, 
die  Verschwörung  gegen  das  Volkswohl  als  solche  kennzeichnete.  Und 
dies  alles  wurde  mit  scheinbar  geringen,  ja  beschränkten  Mitteln,  unter 
dem  stets  wachen  Auge  der  Zensur  erreicht.  Es  hatte  den  Anschein,  daß 
diese  satirischen  Experimente,  die  sich  auf  dem  gefalirvollen  Grenzgebiete 
bewegten,  das  die  Anklage  wegen  Hochverrats  nicht  ausgeschlossen  er- 
scheinen ließ,  halbe  Maßnahmen,  unvollendete  Reden  bleiben  sollten.  Allein, 
im  Gegenteil,  für  ein  Regierungssystem,  in  dem  die  Reaktion  mit  den  Jahren 
immer  mehr  die  Oberhand  gewann,  gab  es  keinen  furchtbareren  Ankläger. 
Die  geistige  Führerschaft,  die  infolge  von  Mißverständnissen  anläßlich  des 
polnischen  Aufstandes  den  Händen  Herzens  entglitten  war,  ging  auf  Salty- 
koff über.  Bis  an  das  Ende  seiner  Tage  wußte  er  seine  hervorragende 
Stellung  zu  wahren  und  schilderte  während  mehr  als  drei  Jahrzehnten  in 
zahlreichen  Werken  die  Geschichte  der  russischen  Gesellschaft.  Selbst 
als  er  physisch  erschüttert  und  von  den  Ärzten  schon  völlig  aufgegeben 
war,  schwang  er  noch  die  Geißel  der  Satire.  Es  wird  die  Zeit  kommen, 
da  man  die  Satiren  Saltykofi^s  gleich  den  Schriften  Rabelais'  und  Swifts 
„Gulliver"  mit  Kommentaren  und  Erläuterungen  der  Personen  und  Verhält- 
nisse, auf  die  sie  gemünzt  waren,  herausgeben  wird.  Vorläufig  sind  noch 
die  Anzüglichkeiten  und  Hinweise  im  Gedächtnis  aller  lebendig,  und  die 
Lebensarbeit  des  mutigen  Vertreters  des  öffentlichen  Gewissens  steht  uns 
in  vollendeter,  einheitlicher  Form  vor  Augen.  Weil  Saltykoff  unter  seinem 
verächtlichen  Lachen,  im  Gegensatz  zu  Swift,  scharf  umgrenzte  sozial-poli- 
tische Ideale  hegte,  waren  die  Grundgedanken  seiner  Werke  mit  seltener 
Folgerichtigkeit  durchgeführt  und  trug  sein  Schaffen  den  Stempel  un- 
wandelbarer Überzeugungen.  Wenn  er  den  Schleier,  unter  dem  er  seine 
Ideale  verbarg,  gelegentlich  lüftete  und  vom  eigenen  Leben  etwas  verlauten 
ließ,  offenbarte  sich  in  dem  Pessimisten  ein  Mann,  der  von  der  Befreiung  des 
Volkes  und  seinem  Wohl  träumte,  Gesinnungen,  mit  denen  er  unter  dem 
Einfluß  der  europäischen  Bewegung,  am  Ende  der  vierziger  Jahre,  ins 
öffentliche  Leben  getreten  war.  Der  langwährende  Kampf  mußte  not- 
wendig im  Laufe  der  Zeit  die  dunklen  Farben  in  seiner  Satire  verschärfen 
und    sie    allmählich    vorherrschend    werden   lassen,    obgleich  Saltykoff'  in 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  107 

nicht  geringerem  Maße  als  Gogol,  Gribojedoff  und  Ostrowsky  über 
sprudelnden  Humor  verfügte.  Wie  frisch  und  treffend  war  der  Witz  des 
sarkastischen  Beobachters  zu  Beginn  des  Kampfes!  Unter  dem  Eindruck 
der  russischen  Eroberungen  in  Mittelasien,  der  Besetzung  Taschkents  und  uieXhemataSai- 

.-_..  »1  1   tvkofFs  und  ihre 

anderer  Heldentaten,  die  eine  förmliche  Invasion  von  Ausbeutern  und  Behandiung.oie 
Glückssuchern  zur  Folge  hatten,  gestaltete  Saltykoff  das  Bild  der  „Herren  "dic„Pompa-' 
Taschkenter";  er  schildert  darin  verschiedene  Formen  der  Gewinnsucht  und  schichte  einer 
des  Parasitismus;  so  zählt  er  auch  Murawieffs  Schergen  zur  Familie  der  „Goiow'iefFs« 
„Taschkenter",  deren  Mitglieder  wie  hungrige  Wölfe  durch  Rußland  strichen 
und  zusahen,  ob  sie  aus  der  Unterdrückung  oder  den  Eroberungen  Vorteil 
ziehen  könnten.  Um  das  System  der  inneren  Politik  zu  geißeln,  das  unfähige 
hauptstädtische  Günstlinge,  die  nach  einem  epikuräischen  Leben  trachteten, 
zu  bevollmächtigten  Provinzgouverneuren  machte,  entwarf  Saltykoff  eine 
Reihe  geistreicher  Skizzen  nach  der  Natur,  die  er  unter  dem  gemeinsamen 
Namen  „Die  Pompadours"  zusammenfaßte.  Auch  die  praktische  Philosophie 
der  „Mäßigkeit  und  Akkuratesse"  machte  der  Satiriker  zum  Gegenstande 
seiner  Studien.  Er  schilderte  seinen  vermeintlichen  Freund  GlumofF,  der  die 
Sinnlosigkeit  und  die  Gefahren  der  liberalen  Ideen  einzusehen  gelernt  hat, 
um  nunmehr  mit  einflußreichen  und  wohlgesinnten  Leuten  freundschaftlich 
zu  verkehren  und  sich  als  reuiger  Sünder  im  Geiste  des  Konservatismus 
auszusprechen.  Fast  schien  es,  als  wollte  sich  Saltykoff  völlig  vom  ak- 
tuellen Leben  abwenden  und  Historiker  werden.  Aus  einer  Reihe  sati- 
rischer Erzählungen  erwächst  „Die  Geschichte  einer  Stadt",  doch  blicken 
unter  dem  Deckmantel  des  Märchens  und  des  humoristischen  Beiwerks 
die  Begebenheiten  des  russischen  Lebens  bis  zur  jüngsten  Vergangenheit 
in  so  untrüglicher  Weise  hervor,  daß  „Die  Geschichte  einer  Stadt"  im 
Grunde  nichts  anderes  ist  als  die  humoristische  Geschichte  des  Landes 
und  seiner  bedeutenden  Politiker  und  Regenten  im  ig.  Jahrhundert.  Be- 
vor Salt)-koff  von  dieser  Abschweifung  zu  seiner  publizistischen  Tätigkeit 
zurückkehrte,  schuf  er  seinen  einzigen  großen  Roman,  dem  die  Miseren 
des  Tages  fern  lagen,  nämlich  „Die  Golowleffs".  Diese  Erzählung,  die 
düstere  Schilderungen  der  aufgehobenen,  jedoch  noch  nicht  verschwun- 
denen Leibeigenschaft  und  mit  starker  Hand  gezeichnete  Charaktere  der 
Sklavenbesitzer,  insbesondere  des  raubgierigen  Hypokriten  und  Quälgeistes 
„Juduschka",  enthält,  tat  nicht  nur  die  hohe  Bedeutung  des  Verfassers  dar, 
sondern  erwies  auch  der  Gesellschaft  einen  großen  Dienst,  indem  sie  ein 
System  an  den  Pranger  stellte,  dessen  Wiederherstellung  die  Gegner  des 
Fortschritts  wünschten. 

Die   Satire   Saltykoffs    wurde    in    ihrer    umfassenden  Lebensfülle    und  uie  Beteiligung 

der  Komödie  an 

Originalität   niemals   übertroffen,    doch   fanden    ihre   Themata    in    der   zeit-    der  sozialen 

.  Bewegung. 

genössischen    Komödie  Widerhall.      Der    durch    seinen   Roman   „Tausend     Pissemsky, 

*  ...  Ostrowsky     und 

Seelen"    bekannte    Pissemsky    kämpfte    in   einigen   Lustspielen   gegen    den        Xoistou 
Verderb    der   finanziellen    Spekulation.     Ostrowsky   brachte    die    Anklagen 
der  Reaktionäre   gegen  die  Reformen  auf  die  Bühne  und  zog  die  Sitten- 


schritte 


jo8  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

losigkeit  und  Straflosigkeit  der  höheren  Stände  ans  Licht.  Obgleich 
Ostrowsky  nicht  so  stark  wie  Saltykoff  von  Mitgefühl  für  die  Leiden 
seiner  Heimat  ergriffen  war,  auch  nicht  wie  jener  über  eine  Sprache  ver- 
fügte, die  die  Herzen  der  Menschen  zu  entflammen  verstand,  so  konnte  er 
doch  der  Mißgestalt  des  Lebens  nicht  als  müßiger  Zuschauer  gegenüber- 
stehen. Der  Anteil,  den  er,  eingedenk  des  Vermächtnisses  Dobroliuboffs, 
an  der  Verteidigung  der  Kultur  nahm,  verhalf  der  russischen  Komödie  zu 
einer  neuen  Blüte,  die  im  Laufe  ihrer  späteren  Entwicklung  nur  noch 
einmal  erreicht  wurde,  und  zwar  als  aus  der  Feder  des  Verfassers  von 
,,Anna  Karenina"  ganz  unerwartet  die  soziale  Komödie  „Die  Früchte  der 
Bildung"  erschien.  Außer  einer  scharfsinnigen  Verhöhnung  des  in  der 
großen  Welt  zur  Mode  gewordenen  Spiritismus  bot  sie  eine  charakteri- 
stische Schilderung  des  bestehenden  Gegensatzes  zwischen  dem  vermeint- 
lich zivilisierten  Herrenstand  und  den  völlig  unkultivierten  Bauern,  die 
sich  in  der  Komödie  den  vom  Schicksal  Bevorzugten  gegenüber  ironisch 
verhalten.  Auf  diese  Weise  ist  der  Verkündigung  der  Tolstoischen  Lehre 
ein  heiteres  Blatt  hinzugefügt  worden. 
Fort-  Wenn    der    politische   Kampf   der  Literatur   zu   Beginn    der   siebziger 

Demokratisie-  Jahre  sich  immer  schwieriger  gestaltete,  so  war  doch  ihr  soziales  Programm 
ratur.  in  genügender  Vollständigkeit  gekennzeichnet,  und  dies  war  das  nicht  ge- 
ringe Verdienst  derjenigen  Talente,  die  aus  den  niederen,  rechtlosen,  wirt- 
schaftlich unterdrückten  Schichten  des  Volkes  hervorgegangen  waren. 
Ihre  Jugend  war  in  die  Zeit  des  Aufdämmerns  eines  neuen  Tages  ge- 
fallen; als  sie  auf  der  Höhe  standen,  war  es  wieder  finster  geworden.  Als 
Abkömmlinge  von  gebildeteren  Bauern,  Handwerkern  und  der  mittellosen 
Geistlichkeit  der  Provinz,  als  Leute  ohne  Profession,  sind  sie  die  ersten 
Vertreter  des  Proletariats,  einige  von  ihnen,  wie  z.  B.  der  begabte  Belletrist 
Lewitoff,  können  sogar  als  Vorgänger  der  von  Maxim  Gorki  geschilderten 
„Barfüßler"  gelten.  Mit  wenigen  Ausnahmen  sind  sie  alle  zeitlebens 
Schiffbrüchige  geblieben.  Eine  höhere  Stufe  der  Kunst  vermochten  sie 
nicht  zu  erreichen;  die  freiheitlichen  Gedanken,  die  in  den  sechziger 
Jahren  in  der  Luft  lagen,  ersetzten  ihnen  die  höhere  Bildung,  jedoch  die 
Kraft  des  Realismus  war  ihnen  eigen.  Sie  wußten  von  den  traurigen 
Lebensbedingungen  der  Kreise,  denen  sie  entstammten,  und  von  dem 
eigenen  bitteren  Lose  zu  erzählen.  So  schilderten  die  Proletarier,  während 
die  tonangebende  Literatur  mit  der  Klärung  großer  kultureller  Fragen 
beschäftigt  war,  in  ihren  oft  kunstlosen  und  unbeholfenen  Erzählungen  und 
Skizzen  Dinge  und  Verhältnisse,  von  denen  die  große  Mehrzahl  des  Publi- 
kums überhaupt  keinen  Begriff  hatte.  Der  Eindruck,  den  sie  hervor- 
riefen, war  so  stark,  daß  die  Leser  vom  Genuß  der  hohen  Kunst  eines 
Turgenieff  abgelenkt  wurden   und   sich   der  etwas  ungeschliffenen  „nüch- 

verschicdene    temeu  Prosa"   eines   Reschetnikoff  mit   ihrer  niederdrückenden  Düsterheit 

Richtungen      in  j . 

der  üeiietristik  zuwandtcn. 

des  Proletariats.  D^r   näclistc    Schritt   auf  dem  Wege    der   Demokratisierung   der  Lite- 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  log 

ratur  zeitigte  noch  nicht  die  theoretische  Begründung  der  neuen  Richtung, 
doch  näherte  man  sich  ihr  bereits.  Die  innere  Arbeit  begann;  aus  der 
Fülle  des  vorhandenen  Materials  wurden  Anklagen  gegen  die  Gesellschaft 
und  den  Staat  laut.  Was  die  Erzähler  aus  dem  Volke  vorbrachten,  hatten 
sie  erlebt;  es  war  mit  ihnen  verwachsen  und  erstand  in  unverfälschter 
Lebenstreue;  nicht  um  des  Effektes  willen,  sondern  weil  es  sich  um  die 
Wahrheit  handelte,  scheuten  sie  sich  nicht.  Entsetzliches,  Abstoßendes  und 
Unmenschliches  zu  schildern.  Der  eine  führte  die  Leser  in  die  Kirchen- 
schule, wo  stumpfsinnige  Lehrbücher  in  barbarischer  Weise,  mit  Hilfe 
von  Schlägen  und  anderen  Martern  eingebläut  wurden,  wo  der  Trunk 
herrschte  und  ganze  Generationen  zugrunde  richtete;  ein  anderer  lüftete 
die  Geheimnisse  der  Werkstatt,  schilderte  die  unmenschliche  Überbürdung 
der  Arbeiter,  die  Tyrannei  der  Meister,  die  völlige  Nichtachtung  jeglicher 
persönlichen  Rechte;  ein  dritter  beschrieb  die  Zufluchtsorte  der  vom  Leben 
Zerschlagenen,  in  den  großen  Städten,  die  Masse  von  Herumtreibern,  die 
Enterbten  der  Gesellschaft;  ein  vierter,  der  begabte  Lyriker  Ssurikoff,  im- 
provisierte zuerst  als  Setzer,  dann  als  Händler  mit  altem  Eisen,  seine 
melancholischen  Weisen  und  suchte  sich  zum  Licht  und  zur  Freiheit  durch- 
zuringen, während  andere  Mitglieder  dieser  Gruppe  in  ihren  Skizzen  die 
Verhältnisse  der  Bauernschaft  behandelten.  Einige  von  ihnen  (Nefedoff), 
die  als  Bauernsöhne  ihre  Beziehungen  zum  Dorfe  aufrechterhalten  hatten, 
lebten  und  schrieben  dort  lange,  nachdem  sie  sich  bereits  einen  Namen 
gemacht  hatten,  andere  (Gleb  Usspenski,  Slatowratski)  wurden,  nachdem 
sie  die  dünne  Scheidewand,  die  sie  vom  Bauerntum  trennte,  niedergerissen 
hatten,  mit  ihm  so  vertraut,  daß  sie  für  spezielle  Kenner  der  bäuerlichen 
Lebensart  gelten  konnten.  Die  einen  vermieden  eine  idealisierte  Dar- 
stellung der  unverdorbenen  Kräfte  des  Volks,  um  durch  unverhohlene 
Hinweise  auf  seine  Unwissenheit,  Lasterhaftigkeit  und  Roheit  überzeugend 
zu  wirken,  andere  hingegen  entdeckten  unter  der  rauhen  Schale  ungeahnte 
Schätze,  obgleich  auch  sie  die  Gebrechen  des  Volkes  erkannten.  Schon 
begannen  sich  in  der  volkstümlichen  Belletristik  zwei  verschiedene  Rich- 
tungen geltend  zu  machen,  die  sich  in  den  achtziger  Jahren  zur  künst- 
lerischen und  philosophisch-sozialen  Schule  ausgestalteten. 

Es  war  fast  ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  von  der  Bewegung,  welche   Das  streben 

1       j  1         nach  einer 

die    Geister   beherrschte,    nicht  mit  fortgerissen   zu  werden,    und    dennoch  reinen  Kunst. 

'  °  •  /-  -Alexis  Tolstoi 

wurden  m  den  sechziger  Jahren  Versuche  gemacht,  mi  Gegensatz  zum  und  Mai-koir. 
utilitaristischen  Geiste  der  Zeit  die  reine  Kunst  zu  pflegen.  Graf  Alexis 
Tolstoi  war  es,  der  den  Niedergang  der  Schönheit  in  der  Kunst  beklagte 
und  zu  ihrer  Verteidigung  einen  Kreuzzug  ins  Leben  rief.  In  seelenvollen 
Gedichten  richtete  er  an  die  Freunde  des  Schönen  die  Aufforderung, 
„gegen  den  Strom  zu  schwimmen",  in  lyrischen  Improvisationen  suchte  er 
ferne  Zeiten  auf,  bearbeitete  alte  Legenden  und  wurde  zu  einem  nationa- 
listischen Romantiker.  Das  Interesse,  das  er  dem  Altertum  entgegen- 
brachte,  veranlaßte    ihn,   sich   der   dramaturgischen  Tätigkeit  zuzuwenden. 


I  j  O  Alexis  Wesselovsky  :  Die  russische  Literatur. 

In  einer  Trilogie,  die  Boris  Godunoff,  eine  der  wichtigsten  Persönlich- 
keiten der  „Periode  der  Wirren",  in  ihrem  Aufstieg,  auf  der  Höhe  der 
Macht  und  in  ihrem  Fall  behandelt  (ihr  zweiter  Teil,  das  Drama  „Zar 
Feodor  Joannowitsch"  ist  kürzlich  durch  die  Aufführungen  des  Moskauer 
Theaters  in  Deutschland  bekannt  geworden),  offenbarte  er  eine  nicht  g^e- 
ringe  dramatische  Begabung,  doch  gelang  es  ihm  nicht,  eine  Schule  zu 
begründen.  Auch  ApoUon  Maikoff  gelang  dies  nicht,  dessen  pracht- 
volle Neubelebungen  der  antiken  Welt,  anthologische  Dichtungen  und 
Schilderungen  aus  dem  römischen  Leben,  einer  einsamen  Insel  inmitten 
eines  aufgeregten  Meeres  glichen.  Während  Maikoff  die  herrschende  Rich- 
tung in  Rußland  scharf  verurteilte,  stand  A.  Tolstoi,  trotz  seines  Priester- 
amtes am  Altare  der  Schönheit,  den  Vorgängen  um  ihn  her  nicht  so 
fremd  gegenüber,  als  es  den  Anschein  haben  konnte.  Seine  kleinen  sati- 
rischen Gesänge,  deren  einer  das  erste  Jahrtausend  der  russischen  Ge- 
schichte in  so  grellen  Farben  zeichnet,  daß  er  in  der  Saltykoffschen  „Ge- 
schichte einer  Stadt"  seine  Stelle  hätte  finden  können,  seine  später  auf- 
gefundenen Briefe  und  Bekenntnisse  angesichts  des  verschärften  Obsku- 
rantismus bewiesen,  daß  die  Ästhetik  sein  Gefühl  für  die  Leiden  des 
Vaterlandes  nicht   zu  ertöten  vermocht  hatte. 

Nicht  durch  den  Kultus  des  Schönen,  sondern  durch  die  Hingabe  an 
eine  große  Idee  wurden  auch  zwei  geniale  Künstler  der  allgemeinen  Be- 
wegung immer  mehr  entfremdet.  Jenseits  der  Schranken  des  gegebenen 
Augenblicks  beschritten  sie  ohne  Zaudern  den  Weg,  den  jeder  von  ihnen 
selbst  erkoren  hatte.  Die  sechziger  Jahre  mit  ihrer  leidenschaftlichen 
Negation  und  der  eilfertigen  Umgestaltung  des  Lebens,  die  siebziger 
Jahre  mit  ihrer  revolutionären  Agitation,  dem  Anwachsen  des  Kon- 
servatismus und  ihren  zwei  Kriegen  zogen  vorüber,  und  jene  zwei  un- 
beugsamen Denker  gingen  ihre  einsame  Straße.  Das  waren  Dostojewsky 
und  Leo  Tolstoi. 
Dostojewsky.  Es  hätte  weulg  Zweck,  das  Schaffen  Dostojewskys  nach  seiner  Rück- 

SeineAbneigung  c^ .     .    .  .         ^  ,  •        i  '7    •  1  •    1  i  i_ 

gegen  die  zeit-  kehr  aus  Sibirien  im  Zusammenhang  mit  der  Zeitgeschichte  zu  betrachten. 
Bewegung.  Der  Eine  solchc  Studie  würde  nur  Zwiespalt  und  Ablehnung,  die  sich  schließ- 

Dostojewsky-        .  ^.,.,.  ,,-'■•  •  rri  j-i 

Kultus  lieh  ZU  Gereiztheit  und  Lntrustung  steigern,  oiienbaren  und  nicht  nur  zu 
einer  verzerrten  Darstellung"  der  gegfnerischen  Parteien,  sondern  auch  zu 
einem  vernichtenden  Urteil  über  eine  ganze  Generation  führten.  Der 
krankhaft  erregten  Phantasie  Dostojewskys  schien  bisweilen  das  Ringen 
um  den  Fortschritt  eine  dämonische  Eingebung  zu  sein.  Das  Heer  der 
Teufel,  das  bei  Gogol  in  seinen  krankhaften  Zuständen  zur  Erklärung  der 
Laster  und  Mängel  der  Menschen  in  die  Erscheinung  trat,  ist  auch  seinem 
Schüler  zu  Willen  und  führt  im  Roman  „Die  Dämonen"  mit  den  Betrügern 
und  Betrogenen  einen  wilden  Totentanz  auf.  Von  diesem  Standpunkte 
wich  Dostojewsky  nicht  mehr  ab.  Als  er  sich  am  Ende  seines  Lebens 
wieder  als  Publizist  betätigte,  indem  er  die  einzig  in  ihrer  Art  dastehende, 
von  Anfang  bis  zum  Ende  von  ihm  selbst  verfaßte  Zeitschrift  „Das  Tage- 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  i  i  j 

buch  des  Schriftstellers"  herausgab,  fanden  die  Leser  neben  musterhafter 
Belletristik  belehrende  und  polemische  Auseinandersetzungen,  die  den 
zeitbewegenden  Ideen  kalt  gegenüberstanden.  Die  Macht  dieses  höchst 
eigenartigen  Schriftstellers  war  aber  so  groß,  daß  die  Gesellschaft  sich 
trotz  der  ständigen  Meinungsverschiedenheiten  dem  Zauber  seines  Schaf- 
fens, das  in  die  geheimsten  Winkel  des  Menschenherzens  hineinleuchtete 
vmd  der  Literatur  eine  Reihe  bisher  unbekannter  Typen  mit  tiefen  Kon- 
flikten und  einer  komplizierten  Psychopathologie  schenkte,  nicht  zu  ent- 
ziehen vermochte.  Wenn  er  selbst  öffentlich  auftrat,  was  sehr  selten 
geschah,  schien  ein  hypnotischer  Zwang  von  ihm  auszugehen.  Dies  war 
auch  der  Fall,  als  er  bei  Gelegenheit  der  Enthüllung  eines  Denkmals  für 
Puschkin  in  Moskau  im  Jahre  1880  unter  den  Koryphäen  der  literarischen 
Welt  als  Redner  auftrat  und  in  mystisch  verzückten  Worten  die  ge- 
heimnisvollen Tiefen  der  russischen  Seele  pries.  Die  Erregung  der  Zu- 
hörer war  eine  derartig  starke,  daß  einige  ohnmächtig  wurden,  während 
andere  so  sehr  im  Banne  des  Redners  standen,  daß  sie  erst  später, 
nachdem  sie  aus  der  Hypnose  erwacht  waren  und  den  Gedankengang  der 
Rede  wiederherstellten,  sich  von  der  Gewalt  des  Eindrucks  Rechenschaft 
zu  geben  und  ihre  Nichtübereinstimmung  mit  den  geäußerten  Ansichten  zu 
formulieren  vermochten. 

Eine    ununterbrochene,    während    des    ganzen   Lebens    geübte   Selbst-    Psychologie, 

•L-Li  T^  ■  i'ic  -IT'-  .^  l'sycliopatlio- 

beobachtung  setzte  Dostojewsky  m  den  Stand,  die  temsten  Schattierungen  ^gie  und 
krankhafter  Seelenzustände  zu  ergründen;  pathologische  Erscheinungen  Oostojewskys. 
zogen  ihn  an;  er  wurde  unwillkürlich  einseitig,  dafür  konzentrierte  er  aber 
auch  seine  ganze  Kraft  auf  die  Bearbeitung  dieses  Gebietes.  In  seinen 
Werken  schilderte  er  durchweg  krankhaft  veranlagte,  von  den  Unzuläng- 
lichkeiten des  Lebens  gequälte  und  gebrochene,  erbitterte  Menschen,  my- 
stische Träumer,  religiös  Erregte,  Leute,  die  ihre  Kraft  in  einem  lockeren 
Lebenswandel  aufreiben  und  niederen  Lüsten  frönen,  und  Verbrecher.  Sein 
Schaffen  wurde  zu  einer  Heimstätte  für  die  große  Schar  der  Geistes- 
kranken. Obgleich  er  bei  der  Abfassung  „menschlicher  Dokumente",  die 
er  dem  realen  Leben  entnommen  hatte,  kein  wissenschaftliches  Ziel  ins 
Auge  faßte,  wie  dies  Zola  oder  Ibsen  getan  hätten,  so  unternahm  er 
dennoch,  ohne  vor  dem  Äußersten  des  anormalen  Lebens  zurückzu- 
schrecken, tiefdringende  Analysen  und  entwickelte  dabei  einen  solchen 
Scharfsinn,  daß  die  Psychiatrie  seine  künstlerische  Arbeit  später  mit  ihrer 
Autorität  zu  decken  vermochte.  Das  „Totenhaus"  hatte  ihn  gegen  die 
Schrecknisse  der  Geisteskrankheiten  gestählt,  die  Jahre  der  Verbannung, 
während  welcher  er  überdies  an  Epilepsie  gelitten  hatte,  ließen  sich 
nicht  aus  seinem  Leben  löschen;  die  Krankengeschichte  mancher  seiner 
Helden  weist  die  Züge  seines  eigenen  Leidens  auf  Doch  der  Künstler 
griff  auch  zur  Fiktion,  schilderte  das  Seelenleben  erfundener  Persönlich- 
keiten, und  dennoch  war  das  Bild  von  ergreifender  Wahrheitstreue.  Merk- 
würdigerweise  berichteten   die  Zeitungen   über   die   Ermordung    eines  ver- 


112  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

ächtlichen,  habgierigen  Wucherers  durch  einen  vom  Mißgeschick  ver- 
folgten jungen  Mann  unmittelbar  nach  dem  Ercheinen  von  „Schuld  und 
Sühne"  und  entsprach  das  Drama  im  reellen  Leben  vollständig  den  Schil- 
derungen der  Fiktion.  Wenn  Dostojewsky  die  Macht  der  Überlegung 
überschätzte,  die  dem  Mörder  die  soziale  Nutzlosigkeit  einer  alten  reichen 
Frau,  die  Notwendigkeit,  ihr  brachliegendes  Kapital  zum  Wohle  der 
Menschen  zu  verwenden  und  der  ungerechten  Verteilung  der  Güter  zu 
steuern,  vor  Augen  führte,  und  hierin  wohl  die  größte  Schwäche  des 
Werkes  liegt,  so  ist  doch  das  komplizierte  Seelendrama  des  den  in- 
telligenten Kreisen  angehörigen  Verbrechers,  die  Fixierung  des  Mord- 
gedankens, das  verhängnisvolle  Zusammentreffen  verschiedener  Umstände, 
die  den  Entschluß  rasch  reifen  lassen,  die  wahnwitzig  schnell  vollzogene 
Ermordung  und  Beraubung  und  die  unaufhörliche  Qual,  das  Auftreten  von 
Halluzinationen  und  sinnlosen  Handlungen,  der  Kampf  der  Finsternis  mit 
dem  noch  nicht  verlöschten  Licht  und  schließlich  das  freiwillige  Bekenntnis 
des  Mörders  mit  ergreifender  Kraft  geschildert.  Das  ist  der  Vorwurf  des 
besten  Romans  Dostojewskys  „Schuld  und  Sühne",  dessen  Schilderungen 
der  Seele  des  Verbrechers  unmittelbar  entnommen  zu  sein  scheinen,  und 
der  deshalb  von  zahlreichen  Kriminalisten,  Psychiatern  und  Soziologen 
studiert  worden  ist. 
Sittliche,  Obgleich  Dostojewsky  sich   dem  zeitgenössischen  Leben  immer  mehr 

deraokra^tischo  entfremdete  und  der  künstlerischen  Psychopathologie  zuwandte,  hielt 
Dostojewskys.  er  dennoch  an  den  Überzeugungen  seiner  Jugend  fest.  Ihm  blieb  das 
Bewußtsein  von  der  Gleichheit  der  Menschen,  der  gegenüber  Besitz-, 
und  Standesunterschiede  nichts  bedeuten,  stets  gegenwärtig,  und  sein 
aufrichtiger  Demokratismus  veranlaßte  ihn,  seine  Sympathien  vorzugs- 
weise den  Armen,  Rechtlosen  und  Verfolgten  zuzuwenden.  Inmitten  der 
sittlichen  Zerrüttung  und  Liederlichkeit  der  höheren  Schichten  der  Gesell- 
schaft und  des  Kampfes  ums  Dasein  der  Plebejer  fühlen  sich  die  Gleich- 
gesinnten und  Leidensgefährten  zueinander  hingezogen.  Im  „Idioten"  wen- 
det sich  Fürst  Myschkin,  der  sich  der  Vorurteile  und  der  Unduldsamkeit 
seines  Kreises  schämt,  seinen  armen  Mitbrüdern  zu,  entsagt  seinen  Privi- 
legien, um  mit  der  Masse  zu  verschmelzen  und  wird  infolgedessen  für 
geisteskrank  gehalten.  Seine  nivellierenden  Anschauungen  finden  bei 
einem  gefallenen,  aber  mit  einem  starken  sittlichen  Gefühl  begabten 
Mädchen  Widerhall.  In  „Schuld  und  Sühne"  fühlt  sich  RaskolnikofF 
zum  elenden,  dem  Trünke  ergebenen  Marmeladoff  und  seiner  Tochter, 
die  sich,  um  ihre  Familie  zu  retten,  der  Prostitution  ergeben  hat,  hin- 
gezogen. Alexis  Karamasoff,  ein  Mann  von  reinster  Gesinnung  und 
Nächstenliebe,  der  berufen  scheint,  das  Leben  der  Gesellschaft  merklich 
zu  beeinflussen,  findet  den  Schlüssel  zu  den  Seelen  der  sinnlichen,  launischen, 
aber  dennoch  zu  gToßmütigen  Handlungen  fähigen  Gruschenka,  des  vom 
Unglück  niedergedrückten,  bettelarmen  Stabskapitäns  und  seines  sterbenden 
kleinen  Sohnes.     Das  Auftreten    hochherziger  Regnangen   erweist   sich   als 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrliunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  11^ 

von  dem  Bildungsgrade  der  Menschen  unabhängig;  auch  die  Geringen  ver- 
mögen einen  moralischen  Halt  zu  bieten  und  einen  tiefgreifenden  Einfluß 
auszuüben.  So  führt  die  fast  gänzlich  ungebildete  Sonja  Marmeladoff 
Raskolnikoff  durch  ihr  allumfassendes  Verzeihen  zur  Wiedergeburt  und 
zur  Erlösung.  Die  Neigung  Dostojewskys,  der  Lasterhaftigkeit  und  Härte 
der  Menschen  ein  Gegengewicht  zu  bieten,  wuchs  unaufhaltsam  und  ver- 
anlaßte  ihn  schließlich  dazu,  rein  ideale  Charaktere  zu  schaffen.  Natürlich 
steuerte  er  auf  diese  Weise  demselben  Mißerfolge  entgegen,  den  seine 
nicht  weniger  bedeutenden  Vorgänger  erlitten  hatten.  Er  begab  sich  auf 
denselben  Pfad,  den  Gogol  in  seiner  letzten  Lebenszeit  betreten  hatte, 
suchte  die  Offenbarung  bei  den  Predigern  mönchischen  Heldentums  und 
gewährte  ihren  Gestalten  Einlaß  in  seine  Romane.  Jedoch  der  Geist 
der  Aufrichtigkeit  und  Schlichtheit,  der  in  Dostojewsky  lebte,  sein  Haß 
gegen  den  Aberglauben,  die  Gewalttätigkeit  und  den  Betrug,  die  im 
Namen  der  Religion  verübt  werden  —  jener  Haß,  der  in  einer  Episode 
der  „Brüder  Karamasoff",  welche  das  zornige  Verhör  Christi  durch  den 
Großinquisitor  schildert,  zum  Ausdruck  kommt  —  bewirkten,  daß  das  im 
Roman  gezeichnete  Bild  eines  greisen,  ehrwürdigen  Mönches,  der  voller 
göttlicher  Eingebungen  und  Vorahnungen  ist,  die  Züge  volkstümlicher 
Schlichtheit  trägt  und  die  Aufgabe  zu  haben  scheint,  auf  den  Ersatz 
der  toten  klerikalen  Moral  durch  einen  demokratischen  Zusammenschluß 
schlicht  gläubiger  Menschen  unter  der  Führung  geliebter  Hirten  hinzu- 
weisen. Wie  Dostojewsky  das  Problem  der  religiösen,  auf  die  Kultur- 
arbeit eines  seelisch  reinen  Laien  und  nicht  auf  mönchische  Entsagung 
gegründeten  Wiedergeburt  der  Menschheit  gelöst  hätte,  läßt  sich  schwer 
sagen.  Der  dritte  Band  der  „Brüder  Karamasoff",  der  die  weitere  Ent- 
wicklung des  einzigen  moralisch  intakten  Mitgliedes  dieser  entarteten  Fa- 
milie, Alexis,  behandeln  sollte,  blieb  ungeschrieben. 

Wenn  auch  der  Kreis  der  unbedingten  Verehrer  des  großen  Roman- 
schriftstellers seine  Beantwortung  der  wichtigsten  Lebensfragen  gläubig 
hinnimmt  und  in  den  von  ihm  geschaffenen  positiven  Persönlichkeiten  den 
Zielpunkt  der  seelischen  Entwicklung  sieht,  so  wird  doch  der  unbefangene 
Beurteiler  stets  zu  der  Überzeugung  kommen,  daß  seine  Stärke  nicht  in 
lichtvollen  Phantasien,  in  seiner  Theorie  von  einer  besseren  Zukunft  und  in 
seiner  religiösen  Predigt  liegt,  sondern  in  seinen  erstaunlichen  Schilderungen 
der  dunklen  Seiten  des  psychischen  und  sozialen  Lebens,  in  seiner  Sezier- 
kunst, die  die  Schäden  der  Menschheit  offenbart,  in  seiner  Fähigkeit, 
boshaften  Eigenwillen,  sinnlichen  Egoismus  und  Roheit  ohne  Scheu  ans 
Licht  zu  ziehen,  einer  Fähigkeit,  um  derentwillen  er  von  einem  der 
besten  russischen  Kritiker  der  Neuzeit,  Michailowsky,  als  ein  „unbarm- 
herziges Talent"  bezeichnet  worden  ist.  Nachdem  er  sein  Leben  lang 
für  die  Leidensgeschichte  der  Menschheit  Material  gesammelt  und  in 
seinen  Romanen  vorzügliche  psychiatrische  und  kriminalistische  Studien 
veröffentlicht  hatte,   wollte   er  seine   sämtlichen   Beobachtungen   zu   einem 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  g.  8 


IIA  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

Bilde  der  sozialen  Geschichte  von  den  zwanziger  Jahren  an  zusammen- 
fassen. Dieser  Plan  wurde  nicht  verwirklicht;  selbst  im  kleineren  Maß- 
stabe, in  den  auf  drei  Bände  berechneten  „KaramasofFs",  gedieh  er 
nicht  zur  vollkommenen  Ausführung,  doch  enthält  die  Geschichte  dieser 
kranken  Familie,  in  der  sich  starke  Leidenschaften,  sinnloser  Eigenwille, 
sinnliche  Gier  und  Roheit  vererben  —  eine  Geschichte,  die  die  Schilde- 
rung einer  Reihe  anderer  anormaler  Persönlichkeiten  einschließt,  die 
mit  den  Brüdern  und  dem  verachteten,  schamlosen  Vater,  dem  Urheber 
alles  Übels  und  aller  Leiden,  in  Berührung  kommen  —  überaus  merk- 
würdige „menschliche  Dokumente".  Sie  drücken  nieder  und  quälen  und 
fesseln  dennoch.  Zeitweise  scheint  der  Erzähler  zu  ermüden;  es  stellen 
sich  Längen,  Abschweifungen  und  überflüssige  Episoden  ein,  aber  dann 
wandelt  sich  das  Bild  plötzlich:  mit  übermenschlicher  Kraft  fesselt  er 
wieder  die  Aufmerksamkeit,  führt  erschütternde  Szenen  vor  Augen  und 
schreitet  über  die  bodenlosen  Tiefen  menschlicher  Bosheit  und  Leiden. 
Dostojewsky,  der  auch  für  zarte,  weiche  Schilderungen  begabt  war, 
der  einige  wunderbare,  der  kindlichen  Seele  gewidmete  Studien  hinter- 
lassen hat,  vermochte  in  der  Sphäre  gerade  entgegengesetzter  Affekte 
eine  unvergleichliche  Macht  zu  entfalten.  Seine  Lorbeeren,  die  er  als 
Prophet  und  Philosoph  geerntet  hat,  sind  jetzt  verwelkt;  der  späteren 
Generation  wurde  sein  Konservatismus  zur  Last;  immerhin  gibt  es  in 
der  Weltliteratur  der  neueren  Zeit  wenige  psychologisch  vorgehende  Ro- 
manschriftsteller, die  einen  Vergleich  mit  Dostojewsky  nicht  zu  fürchten 
brauchen. 
Leo  Tolstoi  In    den    bewegten  Zeiten   der   sechziger   und  siebziger  Jahre  ging  ein 

inmitten  der 

Bewegung  der  anderer  großer  Denker  und  Künstler,  Tolstoi,  seme  eigenen  Bahnen. 
Siebzigerjahre.  Nachdem  er  aufgehört  hatte,  sich  an  der  Bauernreform  und  der  Organi- 
seiner seibstän-  sierung  der  Volksbildung  zu  beteiligen,  hatte  er  die  praktische  Tätigkeit 
anschauung.  Überhaupt  aufgegeben  und  sich  um  so  mehr  der  Gedankenarbeit  zugewandt. 
In  den  Werken  der  Übergangszeit  spiegeln  sich  seine  Zweifel  und  sein 
Schwanken.  Sein  Glaube  an  den  Fortschritt  war  erschüttert.  Zwei 
Reisen  durch  Europa  hatten  in  ihm  einen  ungünstigen  Eindruck  hinter- 
lassen. Die  europäische  Zivilisation  war  ihm  kleinbürgerlich  und  seelen- 
los erschienen;  die  Begegnungen  mit  Ausnahmeerscheinungen,  mit  Leuten, 
die  sich  einer  intensiven  geistigen  Tätigkeit  oder  der  sozialen  Arbeit  hin- 
gaben, vermochten  ihn  nicht  auszusöhnen.  Tolstoi  legte  sich  keine 
Rechenschaft  darüber  ab,  daß  sich  gerade  damals  im  Westen  bedeutende 
Bewegungen  vorbereiteten,  die  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts  zum  Aus- 
bruch kamen,  und  sprach,  besonders  in  seiner  Erzählung  „Luzem",  ein 
entschiedenes  Verdammungsurteil  über  die  europäische  Welt  aus  —  über 
die  Welt,  die  ihm  später  sowohl  als  Künstler  als  auch  als  Moralist  so  viel 
Verständnis  entgegengebracht  hat.  Es  waren  aber  keine  nationalistischen 
oder  slawophilen  Betrachtungen,  die  ihn  auf  den  Gegensatz  der  nutz- 
losen Verfeinerung  der  Kultur  —  auf  die  naive  Weltanschauung  der  Volks- 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  115 

massen  hinwiesen.  Sein  Olenin  hatte  schon  längst  versucht,  zu  dieser 
Lebensquelle  vorzudringen;  Rousseau  hatte  ihm  bereits  vor  langen  Jahren 
den  einzigen  Weg,  der  zur  Gesundung  führt,  bezeichnet.  Tolstois  Ge- 
danken schlugen  jetzt  immer  wieder  diese  Bahnen  ein.  Die  Tendenz 
offenbarte  sich  nicht  nur  dann,  wenn  er  in  seinen  Erzählungen  die  Welt 
der  „Bauern"  und  die  Welt  der  „Herrschaften"  einander  gegenüber- 
stellte, sondern  machte  sich  auch  in  jenem  monumentalen  Werke  gel- 
tend, das  damals  entstand,  und,  wie  es  schien,  berufen  war,  nicht  das 
neue  Leben  zur  Darstellung  zu  bringen,  sondern  längst  Vergangenes 
wieder  zu  erwecken.  Jene  Gedanken  erwiesen  sich  nicht  nur  als  Pfand 
für  eine  lichtere  Zukunft,  sondern  auch  als  Schlüssel  zum  Verständnis 
der  Vergangenheit. 

Der  Gedanke,   die  Geschichte    der  Gesellschaft  durch  mehrere  Gene- Tolstois  „Krieg 

und     Frieden". 

rationen  hindurch  in  einer  umfangreichen  Erzählung  zu  schildern,  der  be-  Die  Prinzipien 
reits  sowohl  Puschkin  und  Lermontoff  als  auch  Dostojewsky  gefesselt  sehen  Romans. 
hatte,  wurde  im  Roman  „Krieg  und  Frieden"  zu  einer  Zeit  realisiert,  als 
das  Bedürfnis  nach  der  Lösung  moralischer  Probleme  in  Tolstoi  stark 
gärte.  Eine  Periode  der  Seelenruhe  nach  seiner  aus  Liebe  erfolgten  Ver- 
heiratung ermöglichte  ihm,  die  große  Arbeit,  die  er  schon  längst  geplant 
hatte,  in  Angriff  zu  nehmen,  und  seine  neue  Geistesrichtung  ließ  ihm  das 
Vergangene  in  einem  eigenartigen  Lichte  erscheinen.  Die  Künstler,  von 
denen  die  Vergangenheit  bearbeitet  worden  war,  hatten,  einschließlich 
Puschkin,  einige  erprobte  Methoden  hinterlassen.  Dem  historischen  Drama 
dienten  die  Königstragödien  Shakespeares  als  Muster,  auf  dem  Gebiete 
des  Romans  gab  Walter  Scott  den  Ton  an,  für  die  historische  Darstellung 
war  Karamsin  maßgebend.  Der  Verfasser  von  „Krieg  und  Frieden" 
lehnte  aber  sämtliche  Autoritäten  ab,  ging  selbständig  vor  und  schuf  sich 
seine  Formen  selbst.  Ihm  lag  die  Tradition,  die  gangbare  Handhabung 
der  politischen  und  Kriegsgeschichte  ebenso  fem,  wie  das  Dichten  nach 
einem  gegebenen  Muster.  Er  verstand,  aus  Ereignissen  und  Strömungen 
den  Geist  der  Völker  und  Zeiten  hervorzuzaubern.  Die  Aureole,  die  die 
großen  Persönlichkeiten  umstrahlt,  hielt  ihn  nicht  ab,  ihren  menschlichen 
Eigenschaften,  ihrem  Seelenleben  als  Forscher  näher  zu  treten.  Im  Rahmen 
der  Schilderung  einer  langen  Spanne  Zeit  (von  1805 — 1813,  im  Epilog 
das  Jahr  1820)  wird  eine  Reihe  psychologischer  Skizzen  aus  dem  Leben 
aller  Schichten  der  Gesellschaft  gegeben;  auf  breiter  Basis  wird  die  Bio- 
graphie der  einzelnen  Persönlichkeiten,  die  mit  der  Fabel  des  Romans  in 
Zusammenhang  stehen,  entwickelt,  und  Szenen  voll  dramatischen  Lebens 
werden  zur  Darstellung  gebracht.  Im  Laufe  jener  denkwürdigen  Jahre 
gestalten  sich  aber  die  einzelnen  Menschenschicksale  zu  einer  zusammen- 
hängenden Geschichte  von  ganzen  Familien  und  Generationen.  Napoleon, 
Kutusoff,  die  Schlacht  von  Borodino,  der  Brand  Moskaus  im  Jahre  1812, 
der  tragische  Vorabend  des  Untergangs,  der  Rußland  drohte  —  anderer- 
seits Szenen  aus  dem  Dorfleben,  Soldatensitten,  patriarchalische  Verhält- 


Il6  Alexis  Wesselovsky :  Die  russische  Literatur. 

nisse  des  Provinzadels,  humorvolle  Dialoge  zwischen  gefangenen  Fran- 
zosen und  ihren  gutmütigen  Besiegem,  das  Sprachgewirr  der  inter- 
nationalen Petersburger  Salons,  die  angesichts  der  historischen  Ereignisse 
so  leichtfertig  und  so  nichtig  erscheinen  —  kurz,  das  Hohe  und  Alltäg- 
liche, das  Bleibende  und  das  Flüchtige  bildeten  das  Material,  aus  dem 
Tolstoi  ein  wunderbares  Gebäude  schuf.  Ihm  genügte  aber  nicht  die 
Harmonie  der  einzelnen  Teile  des  Werkes,  die  Folgerichtigkeit  des  Plans, 
Das  moraiisciie  die  Wahrheit  des  Kolorits.  Die  Erzählung  vom  gigantischen  Kampf  der 
„Krieg  und    Völker  und  der  Staaten  gibt  ihm  aufs  neue  Veranlassung,  den   Gesetzen, 

Frieden".  °  S  >  > 

die  das  Leben  der  Menschheit  beherrschen,  forschend  nachzusinnen.  Nicht 
der  geniale  Scharfblick  der  Heerführer  und  Regenten,  nicht  die  Taktik 
des  Generalstabs,  nicht  die  toten  Konstruktionen  der  Staats-  und  Kriegs- 
wissenschaften, sondern  der  Geist  der  Volksmassen,  die  vereinten  Willens- 
regungen der  schlichten  Leute,  ihr  unbemerktes  Heldentum  und  ihre 
Passivität  sind  für  die  großen  Ereignisse  entscheidend  und  als  die  trei- 
benden Faktoren  der  Geschichte  zu  betrachten.  Als  Wortführer  der 
Masse  erscheint  der  Soldat  Piaton  Karatajew  mit  seiner  wenig  kompli- 
zierten Moralphilosophie,  die  vom  Geiste  der  Brüderlichkeit,  Duldsam- 
keit und  Selbstaufopferung  getragen  ist.  Vor  ihm  beugt  sich  ein  so 
blasierter  Weltmann,  wie  der  Graf  Pierre  Besuchoff,  der  zufällige  Ge- 
nosse seiner  Gefangenschaft.  Der  Reichtum,  die  Privilegien  der  Kultur, 
die  moderne  aus  Frankreich  überkommene  Lebensanschauung  erscheinen 
ihm  nun  nichtig  und  trügerisch;  die  sanften,  gleichmäßigen  und  auf- 
richtigen Reden  Karatajews,  denen  alle  Gelehrsamkeit  fernliegt,  ergreifen 
dagegen  die  Seele  und  geben  ihr  die  „innere  Freiheit".  Karatajews 
letzte  Erzählung,  eine  Parabel,  die  er  im  Kreise  der  Gefangenen  in 
der  Nacht  am  Lagerfeuer  vorträgt,  erscheint  Pierre  später  in  der  Er- 
innerung wie  die  Verkündigung  eines  neuen  Evangeliums.  Karatajew  ist 
der  erste  Vertreter  der  von  nun  an  bei  Tolstoi  häufig  vorkommenden 
Verkündiger  einer  ausgleichenden,  allvergebenden  Moral  und  zugleich  das 
Urbild  eines  in  der  neuesten  russischen  Literatur  heimischen  Typus,  der 
neuerdings  in  der  bekannten  Gestalt  des  alten  Luka  im  „Nachtasyl"  in 
die  Erscheinung  getreten  ist.  Als  er  von  französischen  Marodeuren  in 
verräterischer  Weise  erschossen  wird,  trauert  nur  sein  Hund,  sein  unzer- 
trennlicher Begleiter,  an  seiner  Leiche.  Mit  seinem  Verschwinden  erstirbt 
der  Lebensnerv  der  Erzählung. 
Die  Selbst-  Das   Ideal    Karatajews,   das   demjenigen   des   „stolzen  Verstandes,   der 

analyse  Tolstois  ■'  '  Ja  " 

und  der  Wende,  selbstzufriedenen  Wissenschaft,  die  sich  anschickt,  die  ewigen  Geheimnisse 
„Die  Beichte",  ^jd  Offenbarungen  des  Glaubens  zu  zergliedern  und  zu  erklären",  und 
der  Theorie  des  Fortschrittes,  die  „alle  Völker  auf  das  gleiche  Niveau  der 
Entwicklung  zwingen  will",  gerade  entgegengesetzt  ist,  dieses  Ideal  „des 
Lebens  in  Gott",  „des  Lebens  um  der  Seele  willen",  ist  von  nun  an  von 
Tolstoi  unablösbar.  Der  sittliche  Kern  dieses  Ideals  ging  immer  mehr 
in  sein  Bewußtsein  über,  regte  ihn  immer  wieder  zu  neuen  Forschungen 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  117 

an,  brachte  ihn  den  Lehren  derjenigen  russischen  Sekten  näher,  die  die 
Moral  der  Brüderlichkeit  hochhalten,  führten  ihn  mit  einzelnen  Persön- 
lichkeiten aus  dem  Volke  zusammen,  die  über  das  Wesen  des  Lebens 
gegrübelt  hatten,  veranlaßte  ihn  zum  Studium  der  unabhängigen  Sitten- 
lehrer aller  Völker  und  aller  Zeiten,  zu  einer  noch  eingehenderen  Beschäf- 
tigung mit  der  frühesten  Periode  des  Christentums  und  führte  den  Wahrheits- 
sucher schließlich  zu  einer  reinen,  geläuterten,  religiösen  Anschauung.  Sein 
ganzes  Leben,  sein  Irren  und  Fehlen  erschienen  nun  vor  dem  Richterstuhl 
seines  Gewissens,  und  das  Ergebnis  war  Tolstois  erschütternde  „Beichte". 
Doch  in  dieser  Krisis  wurde  neues  Leben  gewonnen.  Die  von  aller  kleri- 
kalen Verzerrung  freie  christliche  Moral,  der  Glaube  an  die  Macht  der 
Liebe  und  der  Selbstvervollkommnung  lassen  die  eitlen  Sorgen  und 
Lockungen  der  Welt  in  nichts  zerrinnen.  Die  Peripetien  des  sozialen 
und  politischen  Lebens  Europas  und  Rußlands  ließen  von  nun  an  den 
Denker  unberührt.  Weder  die  Wendung  der  Geschicke  Frankreichs  und 
Deutschlands  nach  1870  noch  der  Kampf  mit  der  Reaktion  in  Rußland 
und  die  revolutionären  Erschütterungen,  noch  der  serbische  und  der  Orient- 
krieg 1877 — 78  spiegeln  sich  in  seinen  Werken  wieder.  Er  spinnt  gelassen 
seine  Gedanken  aus,  stellt  den  Irrungen  der  Menschheit  die  allein  er- 
lösende Lehre  entgegen,  postuliert  als  eines  der  Grunddogmen,  dem  uns 
zugefügten  Bösen  keinen  Widerstand  zu  leisten,  verhält  sich  seiner  künstle- 
rischen Tätigkeit  gegenüber,  die  nur  leichtfertigen  und  sündigen  Zwecken 
gedient  hatte,  immer  schroffer  und  sucht  seine  schriftstellerische  Begabung 
in   den  Dienst   der  Moralpredigt  zu  stellen. 

Tolstois    letzter  Roman    älteren    Typus'    „Anna    Karenina"    trägt    be-  „Anna  Kare- 
reits   den  Stempel  des   sich   vollziehenden  Wandels.     Auf  der  einen  Seite 
findet  sich  hier  eine   breite,   für  jemand,   der  den  Flitter   der  Welt  bereits 
abgelegt  hat,  allzu  breite  Schilderung  der  sittenlosen  höheren  Gesellschaft, 
in  deren  Mittelpunkt  Anna  und  der  Gegenstand  ihrer  unglückseligen  Liebe, 
der  glänzende,  physisch  kraftvolle,  jedoch  oberflächliche  Wronsky   stehen. 
Auf  der  anderen  Seite  wird  in  Parallele  hierzu  die  seelische  Entwicklung  Das  romantische 
Levins,   eines   aus   dem    gleichen  Milieu   stammenden  Mannes,   geschildert,   Element  des 
der  unter  dem  Gesichtswinkel  des  Romans  betrachtet  kein  besonderes  In-    künstlerische 
teresse  einflößt,  jedoch  als  Gegenbild  zur  allgemeinen  Sittenverderbnis,  in 
seinem  Irren  und  endlichen  Siege  ein  neues  autobiographisches  Bekenntnis 
zur  Darstellung"  bringt.    Die  künstlerische  Bearbeitung  ist  diesen  Elementen 
nicht  in  gleicher  Weise  zuteil  geworden.     Das  Sündhafte,  Eitle,  Sinnliche 
und  Tragische  steht  durchaus  im   Vordergrunde    des   künstlerischen   Inter- 
esses,   während   das   belehrende  Moment   sich   ausschließlich    auf  die  Ver- 
kündigung von   befreienden   Wahrheiten   stützt.     In    der   erprobten   Weise 
des  großen  Realisten  wird  das  müßige,  verzärtelte  Leben,   das  Anna  mit 
ihrem  korrekten,  hochgestellten,  aber  beschränkten  Manne  führt,  das  plötz- 
liche Aufflammen  der  Leidenschaft  bei  der  ersten  Begegnung  zwischen  Anna 
und  Wronsky,  ihr  Kampf  mit  ihrem  Gatten  und  der  Welt  für  ihr  Gefühl 


Il8  Alexis  Wesselovsky :  Die  russische  Literatur. 

und  das  Aufkeimen  der  Enttäuschung,  die  sie  an  ihrem  Geliebten  erleben 
sollte,  geschildert.  Das  Werk,  das  höchstwahrscheinlich  um  der  mora- 
lischen Belehrung  willen  ersonnen  worden  war,  und  ein  hartes,  von  der 
Rache  der  Gottheit  handelndes  Bibelwort  als  Motto  trägt,  wurde  zur  Er- 
zählung vom  tragischen  Geschicke  einer  Frauenseele,  die  unwillkürlich 
Sympathie  erregt.  Die  letzten  Stunden  Annas,  in  denen  sie  zum  Selbst- 
mord getrieben  wird,  ihr  Irren  durch  die  Straßen  Moskaus  in  der  Hoff- 
nung, Wronsky  wiederzusehen,  die  Gedanken,  Entschlüsse  und  tausend 
nichtige  Details  ihres  Lebens,  die  sich  in  ihr  Bewußtsein  drängen  und  ihr 
Gehirn  zu  sprengen  drohen,  als  sie  auf  ihrer  Wanderung  an  das  Eisenbahn- 
geleise kommt  imd  sie  sich  plötzlich  in  die  Erinnerung  zurückruft,  daß 
ihre  erste  Begegnung  mit  Wronsky  mit  dem  Selbstmord  eines  Unglück- 
lichen zusammenfiel,  der  sich  von  einem  Zuge  hatte  töten  lassen,  das 
Aufleuchten  der  Erkenntnis,  wo  für  sie  der  Ausgang  liegt,  und  ihr  Tod 
auf  den  Schienen  —  das  alles  gehört  nicht  nur  zu  den  besten  Partien 
des  Romans,  sondern  wird  allezeit  ein  Beispiel  tiefer  psychologischer 
Analyse  und  künstlerischer  Meisterschaft  bleiben. 
Levin  und  die  Levln,  der  berufen  ist,  inmitten  der  sündigen  Welt  die  positiven  Prin- 

Philosophie   des      .     .  ...  .  p...  .       ,  t^-  i      r 

schlichten  zipicn  ZU  Vertreten,  ist  nicht  mit  verführerischen  Eigenschaften  ausgestattet; 
Nächsteoiiebc.  bei  ihm  ist  alles  ungekünstelt  und  ordnet  sich  den  natürlichen  Trieben 
unter.  Er  kann  sich  mit  den  „falschen  Ergebnissen  des  Fortschrittes  und 
der  Reformen  und  mit  den  Lehren  der  Wissenschaft,  die  von  der  Unzer- 
störbarkeit der  Materie,  der  Erhaltung  der  Kraft  und  von  dem  Kampf 
ums  Dasein  redet,  aber  unfähig  ist,  den  Sinn  des  Lebens  zu  erklären, 
nicht  aussöhnen",  ihn  stößt  der  „Stolz  und  die  Spitzfindigkeit  des  Verstandes" 
ab,  dagegen  lauscht  er  auf  die  Stimme  des  Richters  in  seiner  eigenen 
Brust.  Die  Verarbeitung  seiner  Anschauungen  ist  schwerfällig,  sein  Werk 
gedeiht  langsam.  Während  einer  gefahrvollen  Niederkunft  seiner  Frau  eilen 
seine  Gedanken  zu  Gott,  „der  allein  verzeihen  und  retten  kann".  Als  er 
bei  Gelegenheit  eines  Gespräches  mit  einem  ganz  einfachen  Manne  diesen 
in  schlichter  Weise  sagen  hört,  daß  unser  gegenwärtiges  Leben  Gott,  der 
Wahrheit  und  unserem  Nächsten  geweiht  sein  müsse,  verschwinden  alle 
seine  religiösen  Zweifel  und  das  sittliche  Ziel  seines  Lebens  wird  ihm  klar. 
Weder  die  Theologie,  die  sich  „gegen  das  Gute,  diese  einzige  Bestimmung 
des  Menschen",  gleichgültig"  verhält,  noch  der  Verstand,  sondern  die  ge- 
heimnisvolle Kraft,  die  „alle  Menschen,  Millionen  verschiedenartigster  Na- 
turen, Weise  und  Thoren,  Kinder  und  Greise,  Bauern,  Bettler  und  Könige 
einander  nahebringen  kann,  indem  sie  alle  dasselbe  begreifen  lehrt  und 
ihnen  das  Ziel  des  Lebens  weist,  um  dessentwillen  es  sich  allein  zu  leben 
verlohnt",  diese  geheimnisvolle  Kraft  gibt  ihm  die  sittliche  Freiheit  — , 
und  wiederum  ist  es  ein  unkultivierter  Mensch,  der  das  rechte  Wort  für 
Die  Propaganda  sis  ZU  finden  Weiß. 
"'"Lehr"*'"*  Für    die    Entwicklung    der    von    Tolstoi    verkündeten  Lehre   sind    die 

eSiungen.    Darlegungen  Levins  zweifellos  von  Bedeutung;  in  künstlerischer  Beziehung 


B.   Die   zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  ijq 

erscheinen  sie  farblos  und  deuten  den  beginnenden  Zerfall  der  Produktion 
Tolstois  in  zwei  fast  heterogene  Elemente  an.  Es  ist  Tolstoi  nie  gelungen, 
die  genialen  Grundlagen  seiner  Kunst  zu  paralysieren,  so  oft  er  auch  die 
Bedeutungslosigkeit  seiner  früheren  Schriften  behauptet  haben  mag.  Von 
Zeit  zu  Zeit  bricht  der  unsterbliche  Funken,  selbst  wenn  die  belehrende 
Tendenz  ihre  höchste  Spannung  erreicht,  mit  neuem  Glanz  hervor,  so 
z.  B.  in  „Iwan  Iljitschs  Tod",  in  der  „Macht  der  Finsternis"  und  in  der 
„Auferstehung".  Die  geistige  Energie  Tolstois  ist  aber  von  nun  an  auf 
den  Ausbau  eines  sozial-ethischen  Systems  gerichtet.  Um  dieses  Systems 
willen  hat  der  Wahrheitsucher  manche  harte  Polemik  ausgefochten.  Er 
glaubte,  daß  die  Wissenschaft  durch  seine  Lehren  bis  in  ihre  Grundlagen 
erschüttert  würde  und  war,  wie  sein  Vorbild  Rousseau  nach  der  Veröffent- 
lichung der  Dissertation  über  die  Schädlichkeit  der  Wissenschaft,  gelegent- 
lich genötigt,  Äußerungen  zurückzunehmen,  die  auf  ihn  den  Schein  werfen 
konnten,  ein  moderner  Herostratus  zu  sein.  Die  Nationalökonomie  mit 
ihrer,  wie  es  ihm  schien,  falschen  Sorge  für  das  Gemeinwohl,  nannte  er 
einseitig,  listig,  eine  Sklavin  des  Kapitals,  und  richtete  seine  Pfeile  gegen 
sie.  Die  Philanthropie,  die  sich  anschickt,  die  Not  durch  materielle  Hilfe- 
leistung zu  lindern,  empörte  ihn,  und  als  er  einst  zur  Zeit  einer  Volks- 
zählung in  Moskau  die  Zufluchtsstätten  der  Ärmsten  besuchte  und  die 
Schrecknisse  der  Verlumpung  und  Verkommenheit  sah,  suchte  er  andere, 
rein  seelische  Heilmittel  gegen  das  soziale  Elend.  Das  Bild  einer  von 
der  Schmach  der  Ungleichheit  befreiten  Arbeitsgemeinschaft,  die  Leute 
aller  Berufe  und  aller  Bildungsgrade  vereinigen,  keinen  religiösen  oder 
polizeilichen  Zwang',  keine  Gewalttätigkeit,  keinen  Krieg  und  kein  Blut- 
verg'ießen  dulden  sollte  —  ein  Ansatz  zu  einem  normalen,  von  der  Lehre 
Christi  getragenen  Leben  —  begann  anfangs  in  unklaren,  dann  aber  in 
immer  deutlicheren  Umrissen  hervorzutreten.  In  einzelnen  Gegenden  Ruß- 
lands bildeten  sich  bereits  Gruppen  von  Anhängern  dieser  Lehre,  auch 
wurden  ihrem  Geiste  entsprechende  soziale  Reformen  versucht;  es  ent- 
stand eine  neue  Sekte,  der  „Tolstoismus",  und  die  Zahl  der  Typen  in 
der  russischen  Gesellschaft  wurde  durch  den  „Tolstowetz"  bereichert.  Die 
schriftstellerische  Begabung  des  Meisters  wurde  in  den  Dienst  der  Pro- 
paganda seiner  Lehre  gestellt.  Seine  ketzerische  Ästhetik,  die  er  später 
in  dem  Traktat  „Was  ist  die  Kunst?"  formuliert  hat,  indem  er  nicht 
das  Schöne  als  die  Grundlage  des  künstlerischen  Schaffens  gelten  ließ, 
sondern  das  sittlich  Veredelnde,  das  die  Menschen  durch  das  ewige  Prin- 
zip der  Liebe  vereinigt,  diese  Ästhetik  fand  in  seinen  Werken  praktische 
Anwendung.  Er  schrieb  zahlreiche  kleine  Erzählungen,  die  bis  auf  die  letzten 
politisch  erregten  Jahre  in  Millionen  von  Exemplaren  verbreitet  wurden 
und  dem  Volksbewußtsein  die  Grundbegriffe  seiner  Lehre  in  der  leicht- 
faßlichen Form  von  Gleichnissen  einprägten.  Diese  Lehre  hat  mancherlei 
Wandlungen  erlebt,  ehe  sie  die  Bahnen  des  neuesten  friedlichen  Tolstoi- 
schen  Anarchismus   einschlug'  —  jenes  Anarchismus,  der  jegliche  Gewalt- 


J20  Alexis  Wesselovsky :  Die  russische  Literatur. 

tätigkeit,  jeden  staatlichen  Zwang  ausschließt,  und  um  der  Brüderschaft 
aller  Menschen  willen  alle  nationalen  und  patriotischen  Leidenschaften 
von  sich  weist.  Der  Einfluß  seiner  Predigt,  die  von  einer  eminenten 
künstlerischen  Begabung  getragen  wurde,  drang  weit  über  die  Grenzen 
Rußlands.  In  der  Eroberung  Europas  durch  die  russische  Literatur,  die 
in  den  achtziger  Jahren  zu  einem  bedeutenden  Kulturfaktor  wurde,  fällt 
Tolstoi  wohl  eine  der  wichtigsten  Rollen   zu. 

Während  Dostojewsky  und  Tolstoi  sich  von  den  Wirren  der  Gegen- 
wart abwandten  und  ihre  eigenen  Wege  gingen,  stellte  die  große  Mehrzahl 
der  Schriftsteller  ihre  Kraft  in  den  Dienst  des  Augenblicks.  Die  Be- 
„Der  Gang  zum  wegung,  die  sich  in  den  siebziger  Jahren  der  Jugend  bemächtigte  und  als 
Turgenieffs  „Gang  zum  Volke"  bezeichnet  wurde,  war  die  Antwort  auf  verschärfte  reak- 
"  ^"  "  "  tionäre  Maßnahmen.  Hunderte  von  meist  noch  recht  unerfahrenen  jungen 
Leuten,  Männer  und  Frauen,  legten  Bauemtracht  an  und  trugen  die  frei- 
heitlichen Gedanken  unter  die  breite  Masse  des  Volks.  Oft  hatten  diese 
Enthusiasten  ihre  Selbstverleugnung  nicht  nur  mit  Einkerkerung-  und 
Verbannung  zu  büßen,  sondern  wurden  auch  von  denen  gerichtet,  für 
die  sie  litten,  weil  das  Volk  die  Propaganda  nicht  verstand  und  durch  sie 
aus  seiner  Ruhe  aufgeschreckt  wurde.  Diese  schwere  Übergangszeit  ist 
von  Turgenieff,  der  die  Rolle  des  Zeitgeschichtschreibers  wiederum  über- 
nahm, in  seinem  letzten  Roman  „Neuland"  geschildert  worden.  Das  Motto 
dieses  Werks,  das  fast  agronomisch  klingt,  gibt  schon  den  Schlüssel  zum 
Verständnis  des  Mißerfolges  jener  Bestrebungen  in  die  Hand.  Sie  mußten 
fehlschlagen,  da  die  Saat  auf  unbeackerten  Boden  fiel.  Wiederum  traten 
in  diesem  Romane  Junge,  heißblütige  Menschen  auf;  in  vieler  Beziehung 
gelang  es  Turgenieff,  das  Typische  und  Charakteristische  zu  erfassen;  daß 
seine  Sympathie  auf  selten  derjenigen  war,  die  dem  Untergange  entgegen- 
gingen, war  ersichtlich,  aber  die  Zeichnung  des  positiven  Charakters, 
Solomins,  mit  seiner  geheimnisvollen  Ausführung  des  Planes  einer  steten 
Arbeit  im  Dienste  des  wahren  Fortschritts,  war  ebenso  mißglückt,  wie 
diejenige  des  Stoltz  bei  Gontscharoff.  Wenn  auch  die  öffentliche  Mei- 
nung die  Objektivität  der  Beurteilung  der  „illegalen"  Bestrebungen  an- 
erkannte, die  damals  von  einer  Gruppe  konservativer  Schriftsteller  mit 
Schmähungen  überhäuft  zu  werden  pflegte,  so  war  sie  doch  unzufrieden, 
daß  Turgenieff  die  mangelhafte  Vorbereitung  und  die  betrübende  Nutz- 
losigkeit der  jungen  Bemühungen  betont  hatte.  Jetzt,  nach  Jahren,  weiß 
man,  daß  er  recht  hatte;  nicht  solche  Leute  wie  sein  Neschdanoff 
haben  die  Siege  der  Befreiungsbeweg-ung  errungen.  Die  Verbindungen, 
die  Turgenieff  während  seines  dauernden  Aufenthaltes  in  Paris  mit  den 
russischen  radikalgesinnten  Kreisen  im  Auskmd  gewann,  insbesondere  seine 
Bekanntschaft  mit  Peter  Lawroff,  einem  Manne  von  umfassender  Gelehr- 
samkeit und  großer  Tatkraft,  ersetzten  ihm  die  Beziehungen,  die  er  ehe- 
mals mit  Herzen,  Ogareff  und  Bakunin  unterhalten  hatte,  und  brachten 
ihn    mit    den    Männern    des   Tages   in    Berührung.     Nach   dem    Erscheinen 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     I.  Epoche  der  Reformen.  121 

des  „Neuland"  gelangte  seine  Kompetenz  in  politischen  Fragen  bald 
wieder  zur  Anerkennung",  und  seine  letzte  Reise  nach  Rußland  führte 
zu  einer  völligen  Aussöhnung.  Wiederum  lauschten  alle  seiner  Stimme. 
Kurz    \'0r   seinem    Tode    schrieb   er    „Senilia"    oder   „Gedichte    in  Prosa",  „Gedichte  in 

.  j     T-*  Prosa". 

in  welchen  in  der  Form  von  Gedankensplittern,  Lrmnerungen  und  Be- 
urteilungen die  Tagesfragen,  der  Chauvinismus  und  das  Märtyrertum  der 
jung-en  Generation  behandelt  wurden.  Eines  von  diesen  Gedichten,  „Die 
Schwelle",  das  erst  im  Jahre  1905  gedruckt  werden  konnte  und  die  Ver- 
achtung schildert,  die  ein  Teil  des  Volkes  denjenigen,  welche  um  seinet- 
willen leiden,  entgegenbringt,  während  ein  anderer  Teil  des  Volkes  sie 
für  heilig  hält,  klingt  wie  ein  Segen,  den  der  Dichter  dem  Umschwung, 
den  er  ahnend  kommen  sieht,  erteilt. 

Während    Turgenieff   von    seiner   Pariser  Warte   aus    die   soziale   Be-  „DioVateriändi- 

^  ^  ,  sehen  Annalen" 

wegfunsf   verfolgte,   wich   Saltykoff  nicht   von   seinem  Posten   inmitten    des  unter  Saitykoff. 

°         =  =>        '  ^  Der    Fortschritt 

Kampfes.      Seine   Satiren    hatten    nun    mehr    denn    je    die   Bedeutung    des  der  Kritik  und 

^  -'  f  N.Michailowsky. 

höchsten  publizistischen  Tribunals.    Als  er  Redakteur  der  „Vaterländischen    Zwei  Rich- 
tungen   in    der 
Annalen"    geworden  war,    verschaffte    er    ihnen    den   Einfluß    eines    tonan-  Erforschung  des 

*  '  .  Volks. 

gebenden  Organs,  den  die  Zeitschrift  unter  Belinsky  bereits  besessen  hatte.  ciobUsspensky. 
Die  besten  belletristischen  Talente  wurden  seine  Mitarbeiter.  An  die 
Spitze  des  kritischen  Teiles  trat  der  letzte  bedeutende  russische  Kritiker, 
Nikolai  Michailowsky,  ein  Mann,  der  mit  einem  Feingefühl  für  die 
Neuerscheinungen  in  der  Literatur  völlige  Unabhängigkeit  des  Urteils  den 
Korj^phäen  gegenüber  verband,  über  eine  umfassende  philosophische 
Bildung  verfügte,  dabei  aber  den  Naturwissenschaften  und  der  Soziologie 
lebhaftes  Interesse  entgegenbrachte.  Seine  Hingabe  an  den  politischen 
Radikalismus  kann  erst  gegenwärtig  voll  gewürdigt  werden,  da  manchedei 
Intimes  aus  seinem  Wirken  erst  nach  seinem  Tode  bekannt  geworden  ist. 
Die  Zeitschrift  war  der  Erforschung  sämtlicher  Lebenserscheinungen,  vor 
allem  dem  Studium  der  Bauernfrage  gewidmet.  In  ihr  kamen  die  beiden 
Richtungen  zu  Wort,  die  sich  bereits  in  den  sechziger  Jahren  unter  den 
Männern,  die  dem  Dorfe  ein  besonderes  Interesse  entgegenbrachten, 
geltend  gemacht  hatten.  Der  Vertreter  der  einen  dieser  Richtungen  war 
Gleb  Usspensky,  der  anfangs  das  städtische  Proletariat  geschildert  hatte, 
dann  aber,  nachdem  er  unter  Bauern  gelebt  und  zahlreiche  Beobach- 
tungen gesammelt  hatte,  den  Entschluß  faßte,  in  seinen  Erzählungen 
den  Bauer,  so  wie  er  wirklich  ist,  ohne  seine  schwachen  Seiten  zu  be- 
mänteln, und  die  Gedankenwelt,  von  der  er  beherrscht  wird,  zur  Darstel- 
lung zu  bringen.  Lange  vor  dem  Erscheinen  von  Zolas  „La  Terre"  und 
Polenz's  „Büttnerbauer"  hat  er  in  seiner  „Macht  der  Erde"  auf  den  ge- 
waltigen Einfluß,  den  die  Mutter  Erde  auf  das  Denken  und  Tun  des 
Ackermannes  ausübt,  auf  seine  Liebe  zu  ihr  und  seinen  leidenschaft- 
lichen Wunsch,  sie  zu  beherrschen,  hingewiesen.  Die  andere  Richtung-, 
die  in  Slatowratsky  ihren  Vertreter  fand,  stellte  der  in  den  zivilisierten 
Schichten    der   Gesellschaft    bestehenden    Fäulnis    die    gesunde   Kraft    des 


122  Alexis  Wesselovsky :  Die  russische  Literatur. 

Bauerntums  entgegen  und  forderte  zu  einer  Wiedergeburt  im  Schöße 
des  Volkes  auf.  In  der  Erzählung  „Bauern  als  Geschworene"  wird  die 
Unbefangenheit,  das  Wahrheitsgefühl  und  der  natürliche  Gerechtigkeits- 
sinn gekennzeichnet,  den  die  ersten  bäuerlichen  Teilhaber  an  der  tief- 
greifenden Reform  der  Rechtspflege  bewiesen  hatten.  Unter  all  diesen  Mit- 
arbeitern der  „Vaterländischen  Annalen",  die  das  Leben  und  seine  Be- 
dürfnisse zu  erforschen  suchten,  nahm  der  Redakteur  Saltykoff  eine  maß- 
gebende Stellung  ein.  Sein  Weg  war  schwer  und  dornenvoll.  Die 
Machthaber  konnten  nur  durch  eine  entscheidende  Tat  —  durch  die 
Unterdrückung  der  Zeitschrift,  die  bereits  im  Jahre  1884  erfolgte  —  dieses 
gefährlichen  Gegners  Herr  werden.  Einige  Novellen  und  Skizzen  Salty^- 
koffs,  von  denen  fast  keine  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt  erschien, 
konnten  überhaupt  nicht  veröffentlicht  werden.  Als  er  eine  Serie  „Briefe 
an  eine  Tante"  (d.  h.  Rußland)  zu  schreiben  begann,  in  denen  er  die 
wichtigsten  Tagesfragen  streifte,  fragte  er  witzig  bei  seiner  verehrten 
Verwandten  an,  was  denn  aus  dem  oder  jenem  besonders  interessanten 
Briefe  geworden  sei?  Die  Post  sei  wohl  nachlässig  gewesen  und  habe  ihn 
nicht   bestellt. 

s  IL    Die    achtziger    und    neunziger  Jahre.     In  dieser  Zeit  hatte 

man  das  Gefühl,  als  lebte  man  in  einem  Kreise,  dem  nicht  nur  alle 
Fröhlichkeit  und  aller  Sinn  für  Komik  abhanden  gekommen  war,  sondern 
der  es  überhaupt  verlernt  hatte,  freudvolle  Stimmungen  zu  erleben.  Über 
ihm  hingen,  wie  über  den  Träumen  der  Patrioten,  der  Mystik  Dostojewskys 
und  der  Predigt  Tolstois  schwere  Wolken,  die  den  Verstand  und  das  Ge- 
wissen bedrückten.  Die  Anstrengungen  des  orientalischen  Krieges,  zahl- 
lose politische  Prozesse,  kühne  Anschläge,  außerordentliche  Maßnahmen 
zur  Aufrechterhaltung  der  Ordnung,  endlich  die  „Diktatur  des  Herzens" 
von  Loris-Melikoif,  die  niemand  befriedigte  —  dies  alles  übte  einen 
ständigen  Druck  auf  die  Gesellschaft  aus  und  ließ  jede  Hoffnung  auf 
bessere  Zeiten  verstummen.  In  dieser  Stimmung  lag  die  Wurzel  des 
Pessimismus,  der  in  den  achtziger  Jahren,  da  tatsächlich  alles  im  Nebel 
versank  und  die  Ausmerzung  des  liberalen  reformatorischen  Geistes  als 
politische  Losung  galt,  epidemisch  wurde.  Die  Symptome  der  heran- 
nahenden Melancholie  machten  sich  bereits  bei  der  jüngeren  Genera- 
tion bemerkbar,  welche  ins  Leben  trat,  als  die  Reaktion  Wurzel  ge- 
schlagen hatte  und  ihre  vernichtende  Wirkung  von  Jahr  zu  Jahr  in  ver- 
stärktem Maße  geltend  machte.  Die  krankhafte  Reflexion  war  nicht  die 
Folge  eines  tapferen  Zusammenstoßes,  wie  er  den  älteren  Schriftstellern 
beschieden  war,  oder  eines  verzweifelten  revolutionären  Zweikampfes,  wie 
er  nur  von  wenigen  fanatisch  begeisterten  Persönlichkeiten  ausgefochten 
wurde,  sondern  lediglich  das  Ergebnis  der  traurigen  Zeitverhältnisse. 
Wenn  eine  solche  Stimmung  über  eine  zerrissene  kranke  Seele  kam,  so 
war    vorauszusehen,    wohin   dies    führen    mußte.     Dies   war    das   Schicksal 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     II.  Die  achtziger  und  neunziger  Jahre.      123 

Wssewolod  Garschins,  des  talentvollsten  Belletristen  der  siebziger  und 
achtziger  Jahre. 

Garschin,  der  in  der  beklemmenden  Atmosphäre  ersticken  zu  müssen  wssewoiod 
glaubte,  begeisterte  sich  anfangs  für  den  Gedanken  einer  slawischen  Be- 
freiung, der,  wie  er  meinte,  dem  Kriege  von  1877  zugrunde  lag.  Er 
glaubte,  dem  Kampfe  nicht  fem  bleiben  zu  können,  an  dem  die  große 
Masse  seiner  Landsleute  notgedrungen  sich  beteiligen  mußte.  So  trat 
er  als  Volontär  in  die  Armee  ein.  Während  seines  Heeresdienstes  sah 
er  alle  Schrecknisse  eines  unmenschlichen  Schlachtens,  den  Triumph 
des  Todes,  Unterschlagungen  und  allerlei  andere  Mißbräuche.  Das  un- 
gewöhnliche Schicksal  eines  Soldaten  aus  seinem  Regiment,  der  verwundet 
vier  volle  Tage  lang  auf  dem  Schlachtfelde  gelegen  und  namenlos  ge- 
litten hatte,  diente  Garschin  als  Vorwurf  zu  der  Erzählung  „Vier  Tage 
auf  dem  Schlachtfelde",  welche  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  sich 
zog.  Sowohl  aus  dieser  Erzählung  als  auch  aus  den  „Memoiren  des  Ge- 
meinen IwanofF"  sprachen  viel  dramatische  Kraft,  tiefe  Humanität  und  eine 
starke  Abneigung  gegen  den  Krieg.  In  den  Schriften  Garschins  offen- 
barte sich  ein  dem  Antimilitarismus  Tolstois  verwandter  Ideengang';  da  er 
äußerst  feinfühlig  und  psychisch  belastet  war,  entwarf  er  traurige  Schilde- 
rungen in  Fällen,  in  denen  eine  gesundere  Natur  lebhaften  Protest  erhoben 
hätte.  Kaum  war  Garschin  von  einer  Wunde  geheilt,  hängte  er  das  Kriegs- 
handwerk an  den  Nagel  und  wandte  sich  wieder  dem  gesellschaftlichen 
Leben  zu,  dessen  er  überdrüssig  geworden  war.  Sein  zerrüttetes  Nerven- 
system vermochte  aber  die  herrschenden  Laster  nicht  mehr  zu  ertragen. 
Er  erbebte  angesichts  der  sozialen  Ungleichheit,  des  schweren  Loses  der 
Arbeiter  und  der  Armut  des  Volkes  und  begann  nun  Erzählungen  zu 
veröffentlichen,  die  das  verborgene  Leiden  der  Unterdrückten  und  Un- 
glücklichen darstellen.  Sie  sind  oft  sehr  eigentümlich  in  der  P~orm,  ent- 
halten schroffe  Übergänge,  Sprünge  in  der  Darstellung,  sogar  Schilde- 
rungen von  Halluzinationen  und  Wahnvorstellungen.  Einige  von  ihnen 
erschöpfen  sich  in  der  Wiedergabe  von  Psychosen,  die  fast  immer  aus 
der  Betrachtung  des  Übels  und  der  Leiden  erwachsen  und  in  einem 
tiefen  Weltschmerz  wurzeln.  Die  Lösung  ist  immer  tragisch;  oft  haben 
die  Bilder  eine  düstere  Größe.  In  der  „Roten  Blume",  die  im  Garten 
einer  Irrenanstalt  erblüht,  ist,  wie  ein  Kranker  glaubt,  „alles  Böse  der 
Welt  enthalten:  alles  unschuldig  vergossene  Blut,  alle  Tränen  und  alle 
Galle  hat  sie  in  sich  aufgesogen".  Dies  geheimnisvolle,  schreckliche 
Wesen,  Ariman  genannt,  ist  das  Gegenbild  Gottes,  das  eine  bescheidene, 
unschuldige  Gestalt  angenommen  hat.  Diese  Blume  muß  ausgerissen  und 
vernichtet  werden;  dabei  ist  aber  zu  verhüten,  daß  sie  sterbend  alles  Böse, 
das  sie  enthält,  über  die  Welt  ausströmt.  Gegen  diesen  allgemeinen  Feind 
zieht  der  irrsinnige  Menschenfreund  in  den  Kampf,  trunken  vor  Stolz  bei 
dem  Gedanken,  daß  vor  ihm  noch  keiner  das  Übel  der  ganzen  Welt  auf 
einmal  zu  bekämpfen  gewagt  hat.     Völlig  erschöpft  geht  er  in  der  Nacht 


124  Alexis  Wessfxovskv :  Die  russische  Literatur. 

hinaus,  um  die  letzte  Blüte  zu  vernichten,  sinkt  dann  bewußtlos  auf  sein 
Bett  und  nimmt  die  Blume,  die  er  fest  umklammert  hält,  mit  in  sein 
Grab,  während  sein  Gesicht  helle  Freude  ausdrückt.  In  einer  anderen 
Erzählung  malt  der  Künstler  Rjabinin  alle  Schrecknisse  des  Martj'riums, 
das  der  Arbeiter  einer  Kesselfabrik  zu  erdulden  hat,  wenn  die  schweren 
Schläge  des  Hammers  auf  den  Kessel,  in  dem  er  arbeitet,  niedersausen, 
in  Brust  und  Kopfe  dröhnen,  ihn  des  Gehörs  berauben  und  schließlich 
seinen  frühen  Tod  herbeiführen.  Dieses  Bild  ist  ein  stummer  Zeuge  der 
Grausamkeit  der  Menschen,  ein  Symbol  der  Ungleichheit,  die  Rjabinin 
fast  um  den  Verstand  bringt.  Kaum  hat  er  sich  von  seinem  nervösen 
Zusammenbruch  etwas  erholt,  so  entsagt  er  der  Kunst,  die  ihm  große 
Erfolge  verhieß,  und  wird  Dorflehrer,  um  dem  Volke  dienen  zu  können. 
Der  hoffnungslos  kranke  Verfasser  brachte  den  Personen  seiner  Erzäh- 
lungen ein  unendliches  Mitgefühl  entgegen.  Er  kannte  sein  Los,  flüchtete 
mit  seinen  Gedanken  mehrfach  in  Sanatorien  und  schrieb  dann  wieder  Er- 
zählungen, deren  Düsterheit  nur  selten  durch  ein  lichtes  Bild  oder  durch 
wehmütigen  Humor  erhellt  wird.  In  einem  seiner  Krankheitsanfälle  hing 
er  beständig  Selbstmordg-edanken  nach,  schließlich  konnte  er  ihrer  nicht 
mehr  Herr  werden,  trat  aus  seiner  Wohnung-  auf  die  Treppe  hinaus  und 
stürzte  sich  durch  ihre  Lichtung.  So  wurde  das  Verzeichnis  der  talent- 
vollen russischen  Schriftsteller  der  Gegenwart,  die  vorzeitig'  starben  und 
reiche  Hoffnungen  mit  sich  begruben,  um  einen  teuren  Namen  bereichert. 
Der  nächste  in  dieser  Reihe  war  Nadson.  Die  ersten  Eindrücke  von 
den  sozialen  Zuständen  erhielten  er  und  Garschin  zu  gleicher  Zeit.  Die 
verschärfte  Reaktion  der  achtziger  Jahre  vermochte  hier  wie  dort  nur 
eine  Tendenz  zur  Entwicklung  zu  bringen,  zu  der  der  Grund  bereits 
früher  gelegt  worden  war.  In  Nadson  lebte  ein  leidenschaftliches  Sehnen 
nach  Licht,  Freude  und  Schönheit.  Seiner  jüdischen  Abstammung  ver- 
dankte er  die  üppige  Phantasie  und  die  seelenvolle  Tiefe  seiner  Lyrik. 
Es  kränkte  ihn,  daß  seine  Ideale  und  Träume  den  im  Leben  triumphie- 
renden Prinzipien  zuwider  waren  —  daher  das  melancholische  Kolorit  vieler 
seiner  Dichtungen.  Epikuräertum  lag'  seiner  Kunst  fern,  ihn  lockten  keine 
persönlichen  Genüsse.  Die  Freiheit  und  das  Gute  rief  er  an  und  glaubte, 
„daß  die  Welt,  der  Qualen  müde,  ihre  Augen  voll  traurigen  Flehens  zur 
ewigen  Liebe  erheben  werde".  Die  Kämpfer  für  das  Wohl  des  Volks  ehrte 
er  nicht  weniger,  als  es  die  eigentlichen  politischen  Dichter  taten.  In  seinem 
Gedicht,  in  dem  er  das  in  Nizza  auf  dem  Grabe  Herzens  errichtete  Denk- 
mal verherrlichte,  entwarf  er  ein  schönes  Bild  vom  großen  Publizisten. 
Im  breiten  Strome  der  von  ihm  gepredigten  Wiedergeburt  erklingt  seine 
junge  lyrische  Beichte  in  Tönen  wahren  Gefühls.  Früh  schon  erregte  er 
die  allgemeine  Aufmerksamkeit,  begegnete  maßloser  Begeisterung  aber 
ebensoviel  unverhohlener  Mißgunst.  Wie  ein  glänzender  Stern  war  er  am 
Himmel  der  russischen  Dichtkunst  erschienen,  aber  auch  er  war,  wie 
Garschin,   dem   Siechtum   verfallen.     Das   Gift  der  Tuberkulose  wütete   in 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     II.   Die  achtziger  und  neunziger  Jahre.      125 

seinem  Körper.  Erschöpft  verließ  er  die  Heimat  und  suchte  im  milderen 
Klima  Heilung.  Hilfsbereite  Freunde  überhoben  ihn  aller  Sorgen  und 
verzögerten  auf  diese  Weise  das  Ende.  Der  Dichter  wurde  zum  Schatten 
seiner  selbst.  In  seiner  Lyrik  sprach  sich  die  Vorahnung  der  nahe  be- 
vorstehenden ewigen  Trennung  vom  Leben  aus.  Die  menschliche  Bosheit 
beschleunigte  ihren  Eintritt,  indem  sie  aus  der  Tatsache  bereitwilliger 
Hilfeleistung  Material  zu  Unterstellungen  gewann.  Wenn  der  Tod  John 
Keats'  mit  der  niederschmetternden  Wirkung  der  feindseligen  Kritik,  die 
seine  Dichtkunst  erfuhr,  zusammenhing,  so  hat  auf  Nadson,  den  russischen 
Keats,  der  sich  in  der  warmen  Luft  der  südlichen  Krim  zu  erholen 
schien,  eine  der  in  der  Presse  verbreiteten  Insinuationen  wie  ein  vernich- 
tender Schlag  gewirkt.  Bis  auf  den  heutigen  Tag  hat  die  Popularität 
Nadsons  keine  Einbuße  erlitten;  selbst  in  der  politisch  bewegten  Gegen- 
wart wird  das  Wenige,  das  er  in  seinem  kurzen  Leben  zu  schaffen  ver- 
mochte, da  es  den  Stempel  wahrer  Kunst  trägt,  in  zahlreichen  Ausgaben 
verbreitet.  Die  jüngsten  Generationen  haben  nicht  wenige  dichterische 
Beeabuneen     hervorgebracht,     aber    wenn    auch     der    beste     unter     den  Der  äußerste 

*  °  o  '  Nationalismus 

modernen   Dichtern,   P.  Jakubowitsch,   mehr   philosophische  Gedankentiefe     und  seine 

^  theoretische 

und   politischen    Radikalismus   besitzt,    so    ist    doch    in   Aadson    der    letzte    »egrUnduns. 
begnadete  Lyriker  Rußlands  zu  Grabe  getragen  worden. 

Die  Krisis  des  Jahres  1881  kam  nicht  nur  in  einer  Änderung  des 
Regimes  und  in  dem  Wechsel  der  machthabenden  Persönlichkeiten  zum 
Ausdruck,  sondern  auch  in  der  Richtung,  die  die  Entwicklung  des 
Volkes  von  nun  an  nehmen  sollte.  Die  Konzessionen,  die  dem  Libe- 
ralismus gemacht  worden  waren,  das  ehemals  vorhanden  gewesene 
Streben  nach  kultureller  Solidarität  mit  Europa,  wurden  nunmehr  als 
Verrat  an  den  Grundlagen  des  Volkstums  betrachtet.  Die  Ermordung 
Alexanders  IL  wurde  mit  der  Reformbewegung,  an  die  eine  gewisse 
Duldsamkeit  der  Presse  gegenüber,  die  ländliche  Selbstverwaltung,  die 
neu  organisierte  Gerichtsbarkeit  noch  gemahnten,  in  einen  schier  unbe- 
greiflichen Zusammenhang  gebracht.  Alledem  mußte  ein  Ende  bereitet 
und  der  Fehler  mit  der  Wurzel  ausgerottet  werden.  Europa  und  dem 
Kosmopolitismus  sollte  ein  scharf  umgrenzter  Nationalismus  gegenüber- 
treten; das  Ideal  einer  patriarchalischen  Macht,  wie  sie  vor  dem  Zeitalter 
Peters  bestanden  hatte,  sollte  neu  erstehen  und  mit  ihm  die  friedlichen 
Tugenden  gehorsamer  Bürger.  Mit  der  Austilgung  alles  dessen,  was  an 
das  Zeitalter  Alexanders  IL  erinnerte,  wurde  ein  idealisiertes  17.  Jahrhun- 
dert an  die  Stelle  des  19.  gesetzt.  Wenn  das  offizielle  Programm  auf  diesen 
Ton  gestimmt  war,  so  machte  sich  auch  in  der  Gesellschaft  und  in  der 
Literatur  eine  ähnliche  nationalistische  Bewegung  geltend;  die  Romane 
Boborykins,  eines  feinfühligen  Beobachters  des  Gesellschaftslebens,  spie- 
gelten diese  neue  soziale  Strömung,  als  pathologische  Erscheinung,  wider. 
Die  Epigonen  der  Slawophilen,  deren  Vorfahren  einen  demokratischen, 
oppositionellen  Standpunkt  vertreten  hatten,  schlössen  sich  der  herrschenden 


126  Alexis  Wesselovsky :  Die  russische  Literatur. 

Richtung  an  und  erklärten  Westeuropa  den  Krieg,  um  die  Wiedergeburt 
des  nationalen  Lebens  in  die  Wege  zu  leiten.  Es  trat  eine  konservative 
literarische  Schule  der  „Volkstümlichkeit"  auf  den  Plan,  die  mit  der 
Volksseele  einen  mystischen  Kultus  trieb.  Wenn  ihr  auch  jeder  mora- 
lische Zwang  bei  der  Verbreitung  ihrer  Ideen  fern  lag,  so  erwies  sie 
sich  doch  als  sehr  unduldsam.  Sie  kannte  das  Dorf  leben,  vertrat  eine 
gewisse  Richtung  der  volkstümlichen  Belletristik  und  verfügte  über  zwei 
oder  drei  gute  journalistische  Kräfte.  Unter  der  Fahne  solcher  und  ähn- 
licher Strömungen  wurde  die  „russische  Idee"  und  die  russische  Selb- 
ständigkeit verfochten,  als  wenn  sie  nicht  schon  im  Laufe  von  anderthalb 
Jahrhunderten  von  den  besten  Schriftstellern  ohne  jegliche  aggressive 
Tendenz  verkündet  worden  wäre,  sondern  erst  die  Überwindung  der  re- 
volutionären Wirren  die  Organisation  des  Volkslebens  dem  Verständnis 
nahe  gebracht  hätten,  während  doch  bereits  zahlreiche  Generationen  von 
Historikern,  Ethnographen,  Juristen  und  Statistikern  an  seiner  Erforschung 
gearbeitet  hatten. 
Turgenieffs  und  Der  Einfluß  des  Nationalismus  und  der  politischen  Reaktion  lastete 
„Vcrgesseno  schwer  auf  der  allgemeinen  Bildung,  der  Wissenschaft  und  Literatur.  Das 
höhere  Schulwesen  sank  immer  tiefer,  die  Entwicklung'  der  akademischen 
Tätigkeit  wurde  durch  neue  Universitätsstatuten  und  durch  die  Entfernung 
gefährlicher  Elemente  aus  dem  Professorenkollegium  eingeschränkt.  Daß 
auf  diese  Weise  eine  Reihe  glänzender,  wissenschaftlicher  Begabungen 
brachgelegt  wurden,  wurde  nicht  berücksichtigt.  Das  außerordentlich 
imposante  Begräbnis  Turgenieffs  in  St.  Petersburg,  das  Hunderte  von 
Deputationen  in  die  Hauptstadt  führte ,  deren  Prozession  sich  mehrere 
Meilen  weit  bis  zum  Friedhof  von  Wolkowo  hinzog,  woselbst,  wie  im 
Poets  Corner  in  der  Westminster-Abtei,  die  großen  Schriftsteller  und  die 
anderen  um  das  öffentliche  Wohl  verdienten  Männer  vereint  ruhen  —  diese 
Kundgebung  der  allgemeinen  Sympathie  für  die  fortschrittliche  Literatur 
war  die  letzte  zulässige  Demonstration  zu  Ehren  des  alten  Liberalismus. 
Im  folgenden  Jahre  wurde  die  Zeitschrift  Saltykoffs  verboten.  Der  große 
Satiriker  war  nun  genötigt,  für  seine  Arbeiten  in  anderen  Zeitschriften, 
sogar  in  den  Feuilletons  der  Zeitungen  Unterkunft  zu  suchen.  Er  wählte 
jetzt  noch  öfter  die  Form  eines  Märchens.  Seine  Märchen  klingen  aber 
traurig,  und  tief  ist  die  Moral,  die  aus  ihnen  spricht.  Als  Saltykoff 
bereits  von  den  Ärzten  aufgegeben  war,  schleuderte  er  noch  von  seinem 
Krankenlager  aus  Anklagen  gegen  das  neue  Regime.  Er  war  empört, 
daß  die  Grundbegriffe,  die  ehemals  die  Welt  gelenkt  hatten,  daß  die 
Worte  Gewissen,  Vaterland,  Menschheit  und  andere  mehr  in  der  allge- 
meinen Demoralisierung  abhanden  gekommen  waren.  Er  beschloß,  sie 
den  Menschen  ins  Gedächtnis  zurückzurufen,  und  tatsächlich  fand  man 
nach  seinem  Tode  auf  dem  Schreibtisch  den  Anfang  seiner  Arbeit:  „Ver- 
faß d^Wsson-  gessene  Worte". 
"^'"sloWj'cff."'"  Auch  die  Wissenschaft  schickte  sich  an,  die  verloren  gegangenen  Be- 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   ig.  Jahrhunderts.     II.  Die  achtziger  und  neunziger  Jahre.      127 

griife  durch  ihre  humanisierende  Predigt  zu  retten.  Unter  den  Vertretern 
der  Philosophie  war  es  der  beredte  und  sowohl  durch  seine  sittliche  Rein- 
heit als  auch  durch  seinen  Idealismus  fesselnde  Wladimir  Ssolowjeff, 
der  diese  Aufgabe  auf  sich  nahm.  Er  erkannte  das  tödliche  Gift  des  un- 
duldsamen Nationalismus  und  trat  für  die  Idee  des  allgemein  Menschlichen 
in  die  Schranken,  lehnte  sich  gegen  die  Intoleranz  auf,  stand  unerschütter- 
lich auf  dem  Boden  der  Gewissensfreiheit  und  bekämpfte  inmitten  der 
Judenhetzen  den  Antisemitismus.  Im  Namen  der  Menschlichkeit  wandte 
er  sich  gegen  die  harten  Kriminalstrafen  und  hielt  zu  Beginn  der  neuen 
Periode  eine  bemerkenswerte  öffentliche  Vorlesung  ab,  in  der  er  sich 
gegen  die  Todesstrafe  aussprach.  Auch  aus  Jassnaja  Poljana  ertönte  der 
Mahnruf,  der  Liebe,  des  Guten,  der  Brüderlichkeit  eingedenk  zu  sein,  und 
ein  lebhafter  Protest  gegen  die  Hinrichtungen,  doch  schien  nichts  die  er- 
nüchternd wirkende  konservative  Bewegung  aufhalten  zu  können.  Ein 
Nachlassen  der  Energie,  das  sich  schon  früher  in  einem  niederdrückenden 
Pessimismus  bemerkbar  gemacht  hatte,  bemächtigte  sich  einer  ganzen 
Generation  in  ihren  Hoffnungen  getäuschter  Menschen.  Dies  spiegelte 
sich  in  der  Belletristik  wieder,  die  auf  diesem  pathologischen  Boden  er- 
wuchs, insbesondere  im  Schaffen  Anton  Tschechoffs,  eines  der  Koryphäen 
der  modernen  Literatur. 

Abseits  vom  Wege  dieser  Schule  des  Pessimismus  steht  jedoch  ein  Koroienko  and 
Mann  von  großer  Begabung,  der  sich  unter  dem  Einfluß  der  voran-  Schriften. 
gehenden  liberalen  Periode,  fern  von  den  literarischen  Zentren  selbst- 
ständig entwickelt  hatte  und  inmitten  der  herrschenden  Depression  und 
Mutlosigkeit  an  das  ewig  bewegende,  lebendige  Prinzip  gemahnte.  Die 
Verbannung  in  das  östliche  Sibirien,  welche  die  Jugend  Wladimir  Koro- 
le n  kos  verdüsterte,  hatte  ihn  nicht  geschwächt,  sondern  seine  Begabung 
und  seine  Gedanken  konzentriert  und  gestählt.  Aus  einer  kleinrussisch- 
polnischen  Ortschaft  gebürtig,  wurde  er  in  ein  Milieu  verpflanzt,  das  dem 
„Totenhause"  Dostojewskys  glich,  und  lernte  im  entlegenen,  völlig  anders 
als  seine  engere  Heimat  gearteten  Lande  das  traurige  Los  der  von  der 
Gesellschaft  Verstoßenen,  der  Bewohner  der  Gefängnisse  und  der  „An- 
siedler" kennen.  Diese  Erlebnisse  machten  auf  ihn  einen  starken  Ein- 
druck, und  als  er  in  das  europäische  Rußland  zurückkehrte,  trat  er  mit 
einer  Erzählung  hervor,  die  dem  Leser  eine  unbekannte  Welt  erschloß. 
„Makars  Traum"  eröffnete  in  der  Belletristik  die  Reihe  künstlerischer 
ethnographischer  Studien  über  Sibirien,  die  später  in  den  meisterhaften 
Erzählungen  des  russisch-polnischen  Schriftstellers  Seroschewsky,  in  den 
Novellen  Tans,  sowie  in  anderen  literarischen  Erzeugnissen  von  Verbannten 
ihre  weitere  Entwickelung  fanden.  „Makars  Traum",  der  sich  in  einer 
völlig  kulturlosen  Umgebung  abspielt,  enthält  feine  psychologische  Beob- 
achtungen. Makar  ist  ein  Nachkomme  ehemaliger  russischer  Ansiedler  in 
einer  weltverlorenen,  öden  Gegend,  die  sich  mit  heidnischen  Aboriginem, 
den  Jakuten,  vermischt  hatten  und  sich  in  ihren  Lebensgewohnheiten,  ihrer 


128  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

Sprache  und  ihren  Anschauungen  wenig  von  ihnen  unterschieden.  Schwach 
glimmt  in  ihm  der  Glaube  an  eine  große  göttliche  Macht,  die  für  ihn  die 
Gestalt  des  Tojon  der  Jakuten  angenommen  hat;  seine  Begriffe  von  dem 
Sittlichen,  von  Gut  und  Böse,  sind  primitiv.  Mit  dem  Vermittler  zwischen 
Gott  und  den  Menschen,  einem  alten,  heruntergekommenen  Priester,  wird 
gesungen,  gezankt  und  geprügelt.  Nach  einem  solchen  berauschenden 
Abenteuer  sieht  Makar  einen  sonderbaren  Traum.  Ihm  träumt,  daß  er 
gestorben  und  daß  der  Tag  der  Abrechnung-  gekommen  sei.  Von  allen 
Seiten  strömen  die  Toten,  zu  Fuß  oder  beritten  zu  Tojon.  Makar  tritt 
gleichzeitig  mit  dem  armen  Pfäfflein  Jwan,  der  bereits  vor  mehreren  Jahren 
gestorben  war,  vor  den  gestrengen  Richter,  und  da  fallen  ihm  alle  seine 
begangenen  Sünden  ein,  seine  Schelmenstreiche,  seine  heftigen  Begierden 
und  seine  Roheit.  Die  Schale,  die  von  seinen  Sünden  belastet  wird,  sinkt 
tief.  Aber  im  Herzen  des  Wilden  gibt  es  auch  menschliche  Regungen: 
seiner  Seele  ist  das  Streben  zum  Guten  nicht  fremd;  alle  Unbill,  alle  Gewalt- 
tätigkeit und  alles  Unglück,  das  ihm  in  so  reichem  Maße  zuteil  geworden 
war,  erwacht  in  ihm  im  schmerzlichen  Erinnern.  Und  er  wundert  sich,  daß 
ihm,  dem  Wortkargen,  der  fast  das  Sprechen  verlernt  hat,  plötzlich  die  Zunge 
gelöst  wird,  daß  seine  Rede  frei  von  seinen  Lippen  fließt  und  alle  die 
Erniedrigten  und  Verfolgten  vor  Gott  verteidigt.  Die  Schale  der  Wage, 
welche  die  guten  Gedanken  enthält,  sinkt  jetzt  immer  tiefer  .  .  .  Die  Be- 
schreibung dieses  Traumes  eines  armen  beschränkten  Mannes,  der  in  einer 
rauhen  Natur  lebt,  ist  in  einem  so  warmen  Tone  gehalten  und  so  voll 
Mitgefühl  mit  den  Verstoßenen,  daß  sie,  da  sie  überdies  in  künstlerischer 
Form  abgefaßt  war,  große  Sympathie  für  den  Verfasser  erweckte.  Korolenko 
bekennt  in  seinen  Erinnerungen,  daß  anfangs  Turgenieff,  dann  Nekrassoff 
und  Dobroliuboff,  schließlich  die  ganze  Literatur  jener  Zeit  auf  ihn  ein- 
gewirkt und  ihm  eine  neue  Welt  erschlossen  haben.  Tatsächlich  rief 
zweito  Periode,  seine  Erzählung  die  Erinnerung  an  die  größten  Meister  wach.  Es  folgte 
eine  Reihe  Novellen  aus  dem  sibirischen  Leben.  In  ihnen  wurden  nicht 
nur  die  bekannten  Typen  der  Gefängnisse  und  Bergwerke  geschildert, 
sondern  auch  eigenartige  Charaktere  von  Ansiedlem,  die  das  Verlangen 
nach  kühnen  Abenteuern,  nach  einem  heldenhaften  Kampf  mit  der  Natur, 
starke  Leidenschaften,  Eifersucht  und  Rachsucht  in  die  sibirische  Einöde 
verpflanzten.  Korolenko  zeichnet  auch  weibliche  Gestalten,  die  den  Stempel 
der  Willensstärke  und  des  Kampfesmutes  trugen,  wilde  Ehen,  Ansätze  zu 
neuen  Formen  des  Familienlebens,  Flüchtlinge  aus  Sachalin,  verschiedene 
Typen  von  Arrestanten,  unter  ihnen  einen  Mann,  der  durch  Zufall  zum  Mörder 
geworden  war  und  dem  Verfasser  die  Anregung  zu  einer  seiner  besten  Schil- 
derungen gegeben  hatte.  Neben  den  sibirischen  Bildern,  die  mit  der  jüng- 
sten Vergangenheit  Korolenkos  in  Zusammenhang  standen,  tauchten  andere 
auf,  —  Bilder  aus  seiner  in  der  Ukraine  zugebrachten  Kindheit  und  Jugend; 
es  entstand  eine  neue  Serie  von  Erzählungen,  mit  farbigen  Schilderungen  aus 
dem  Leben  der  kleinrussischen,  polnischen  und  jüdischen  Volksslämmc,  mit 


C.  Die  zweite  Hälfte  des    19.  Jahrhunderts.     II.  Die  achtziger  und  neunziger  Jahre.      120 

poetischen  Naturbeschreibungen  und  einer  Seelenanalyse,  die  in  den  kinder- 
psychologischen Studien  „In  schlechter  Gesellschaft"  und  „Der  blinde  Musi- 
kant" besonders  zur  Geltung  kommt  und  weder  von  Tolstoi  noch  von 
Dostojewsky,  diesen  bedeutendsten  Darstellern  der  Kindesseele,  in  den 
Schatten  gestellt  wird.  Endlich  fühlte  er  sich  zu  den  großrussischen  Verhält- 
nissen, insbesondere  zu  denen  der  Wolgagegend  hingezogen,  woselbst  er, 
nachdem  er  kurze  Zeit  die  Freiheit  genossen  hatte,  angesiedelt  wurde  und 
wirken  durfte.  Damit  beginnt  die  dritte  Periode  in  Korolenkos  Schaffen,  das  Die  dritte 
sich  nunmehr  auf  der  Grenze  der  literarischen  und  publizistischen  Tätigkeit  Vorwiegen  der 
bewegt.  Die  Träume  des  Romantikers,  die  psychologischen  Beobachtungen,  sozialen 
die  er  einst  mit  einer  stark  realistischen  Schilderung  der  Schattenseiten 
des  Lebens  zu  verbinden  gewußt  hatte,  treten  jetzt  in  den  Hintergrund 
und  machen  der  praktischen  Wirksamkeit  zum  Wohle  des  Volkes  Platz. 
Das  Elend  des  „Hungerjahres"  spannte  seine  Energie:  er  besuchte  die 
notleidenden  Ortschaften,  organisierte  Hilfsaktionen  und  sammelte  durch 
die  ständige  Berührung  mit  dem  Volke  ein  reiches  Beobachtungsmaterial, 
das  er  aber  selten  in  künstlerische  Formen  prägte.  Er  ließ  es  vielmehr 
die  überzeugende  Sprache  des  Tatsächlichen  reden.  Nishni-Nowgorod, 
wo  der  Schriftsteller  lange  leben  mußte,  wurde  eines  der  in  intellektueller 
Beziehung  vorgeschrittensten  Zentren  der  Provinz.  Die  Organisation 
statistischer,  ethnographischer  und  ökonomischer  Untersuchungen  über  das 
Bauerntum,  die  von  jungen  Kräften  ausgeführt  wurden,  eine  Belebung  der 
gesamten  Wolgapresse,  die  bald  darauf  den  ersten  Arbeiten  Maxim  Gorkis 
Unterkunft  gewähren  sollte,  das  waren  die  Tatsachen,  die  die  Bedeutung 
Korolenkos  auf  das  soziale  Gebiet  verlegten  und  seinen  Ruf  als  Publizisten 
außer  Frage  stellten.  Als  er  endlich  die  Freizügigkeit  erlangte  und  in 
die  Hauptstadt  übersiedelte,  begleitete  ihn  bei  seinem  Scheiden  von  Nishni- 
Nowgorod  der  Ausdruck  allgemeiner  Sympathie  und  Liebe.  Der  Verlust, 
den  die  Literatur  als  Kunst  dadurch  erlitt,  daß  ein  erstklassiges  Talent 
sich  der  aktiven  Arbeit  des  Alltages  zuwandte,  war  groß.  Offenbar  war 
Korolenko  der  Meinung,  daß  der  gegebene  Augenblick  anderes  als  Pflege 
der  Belletristik  erheische.  Die  Sorge  um  das  Wohl  des  Volkes  stand  für 
ihn  im  Vordergrunde  des  Interesses.  Die  publizistische  Tätigkeit,  die 
Korolenko  nun  in  seiner  Zeitschrift  „Russischer  Reichtum"  entfaltete,  er- 
hebt sich  hoch  über  das  Durchschnittsniveau  der  von  der  Presse  geleisteten 
sozialen  Arbeit.  In  den  letzten  Jahren  des  verschärften  Kampfes  hat  sie 
große  Kühnheit  bewiesen  und  nicht  wenig  zur  Aufdeckung  veralteter 
Übel  beigetragen.  Wenn  Korolenko  von  Zeit  zu  Zeit  zur  Kunst  zurück- 
kehrt und  ein  großrussisches  Sittenbild  schafft,  eine  Erzählung  aus  dem 
sibirischen  Leben  niederschreibt,  oder  in  autobiographischen  Aufzeich- 
nungen, denen  er  die  Form  der  „Geschichte  eines  Zeitgenossen"  ge- 
geben hat,  seine  Kindheit,  seine  halbpolnische  Erziehung,  seine  Eindrücke 
vom  polnischen  Aufstande  1863  und  die  ersten  Anzeichen  des  Einflusses 
der    freiheitlichen    Literatur    der     sechziger    Jahre     in    lebhaften    Farben 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    L  9.  q 


I30 


Alexis  Wesselovsky  :  Die  russische  Literatur. 


schildert,  dann  fühlt  man,  daß  eine  große  Kraft  eingedämmt  und  der  prak- 
tischen Nützlichkeit  geopfert  wird. 
Koroienko  und  Dicsc  Kraft    erlag   nie    dem  Drucke    des  Pessimismus,    wie    schwierig 

Vertreter     die    Verhältnisse    sein    mochten,    unter   denen   Koroienko    schaffen   mußte. 


gegengesetzter  Wenn  auch  die  Tatsachen,  über  die  er  berichtete,  düster  und  abschreckend 
waren,  so  leuchtete  doch  aus  der  Art  ihrer  Darstellung  und  ihrer  Be- 
wertung der  unerschütterliche  Glaube  an  eine  bessere  Zukunft  und  an  die 
Notwendigkeit  des  Kampfes.  Während  der  freudlosen  Zustände  der 
siebziger  und  achtziger  Jahre  war  eine  solche  unwandelbare  Überzeugungs- 
treue eine  seltene  Ausnahme,  deshalb  war  auch  nicht  Koroienko  der  Dol- 
metsch der  herrschenden  Stimmung,  sondern  Anton  Tschechoff,  ein 
wahrer  Sohn  seiner  Zeit,  der  sich  von  ihrem  bedrückenden  Einfluß  nie  zu 
befreien  vermochte,  sich  vergeblich  nach  Licht,  Freude  und  Freiheit  sehnte 
und  nach  dem  negativen  Ausfall  seiner  am  eigenen  Volke  angestellten 
Beobachtungen  zu  einer  pessimistischen  Beurteilung  der  allgemein  mensch- 
lichen Verhältnisse  gelangte. 
TschechoBf.  Tschechoff  war  nicht  mit  trüben  Erfahrungen  belastet  oder  mit  einer  Prä- 

Der    Huraor    in  " 

seinen  frühesten  dispositiou  zur  Melancholie  ins  Leben  getreten,  auch  hatte  er  den  mensch- 
lichen Chimären  nicht  immer  als  kühler  Skeptiker  gegenüber  gestanden. 
Auf  seiner  schönen  Stirn  spiegelte  sich  Heiterkeit,  mit  unerschöpflichem 
Humor  hatte  er  alle  Zufälligkeiten  und  Wunderlichkeiten  des  Lebens  in 
scharfsinnigen  Parodien,  amüsanten  Sittenbildern  und  lebendigen  Dialogen 
beleuchtet  und  mit  einigen  Strichen  Charaktere  gezeichnet.  Die  Erstlings- 
werke Tschechoffs  muß  man  in  humoristischen  Blättern  suchen;  er  hat 
ihnen  später  die  Aufnahme  in  die  Sammlungen  seiner  Werke  schroff  ver- 
wehrt. Aus  ihnen  sprach  harmlose  Fröhlichkeit,  und  sie  hatten  dem  Ver- 
fasser, einem  unbekannten  Neuling,  im  Kampf  ums  Dasein  in  erster  Linie 
als  Erwerbsquelle  gedient.  Das  Leben  zeigte  sich  ihm  nicht  von  der  an- 
ziehenden Seite;  die  nüchterne  medizinische  Bildung,  die  er  erhielt, 
schien  dazu  angetan,  seine  heitere  Spottlust  in  Fesseln  zu  schlagen. 
Aber  Tschechoff  suchte  schon  in  seiner  Jugend,  wie  einstmals  Gogol,  der 
nach  seinem  eigenen  Bekenntnis  seine  Begabung  für  die  Komik  gerade 
dann,  wenn  das  Schicksal  sich  besonders  trübe  gestaltete,  stark  auszu- 
beuten pflegte,  im  Lachen,  im  Ersinnen  amüsanter  Situationen  Vergessen 
und  Ablenkung  von  allzu  unerfreulichen  Eindrücken.  Der  Humor  blieb 
ihm  auch  über  die  Jug'end  hinaus  treu,  war  während  seiner  ganzen  Wirk- 
samkeit sein  Begleiter  und  erlahmte  erst  in  den  letzten  Jahren  völliger 
Kränklichkeit;  er  ist  einer  der  Hauptzüge  seines  Talents.  Von  jeher  zeigte 
Tschechoff  Neigung  für  die  Miniaturform  der  Novelle  und  hat  eine  große 
Menge  solcher  Skizzen  nach  der  Natur  hinterlassen.  Lange  fesselte  ihn 
das  Spiel  mit  Kontrasten:  nach  der  Schilderung  einer  traurigen,  tragischen 
oder  schmachvollen  Seite  des  Lebens  griff  er  wieder  zu  seiner  mutwilligen 
Manier  und  bereicherte  seine  „comt^die  humaine"  um  neue  Züge.  Mit  den 
Jahren  aber  büßte  sein  Humor  an  Feuer  ein,    und  hinter   der   scheinbaren 


C.  Die   zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     II.  Die  achtziger  und  neunziger  Jahre.       jji 

Ruhe,   mit    der  der  Satiriker  heitere  Episoden    aus   dem  Leben  schilderte, 
verbarg  sich  ironische  Verachtung. 

Die  trüben  Erfahrungen  der  siebziger  und  achtziger  Jahre  lenkten  Die  allmählich 
TschechofF  immer  entschiedener  von  der  ursprünglichen  Richtung  seiner  Pessimismus  bei 
Gedanken  und  Studien  ab.  Die  Kritik,  die  in  seinen  humoristischen 
Skizzen  die  Anzeichen  eines  großen  Talents  zu  entdecken  glaubte,  welches 
das  Leben,  wie  es  tatsächlich  ist,  ins  Auge  faßt,  unterstützte  die  sich  in 
Tschechoff  vollziehende  Wendung  und  wies  ihm  neue  Wege.  Tschechoff 
brach  mit  der  ephemeren  Arbeit  für  humoristische  Blätter,  ging  im  Jahre 
1888  zur  künstlerischen  Erzählung  über,  befreite  sich  von  den  beengenden 
Forderungen  eines  bestimmten  literarischen  Genres  und  folgte  den  großen 
Meistern  des  Wortes  in  der  Darstellung  des  gesamten  Inhalts  des  Volks- 
lebens. 

Saltykoff  hatte  nicht  lange  vorher  dasselbe  Leben,  dieselbe  Gesell-  Die  FüUe  und 
Schaft  geschildert,  in  der  Darstellung  Tschechoffs  lag  aber  weniger  kampfes-  ueit  der  Lebens- 
mutige Gereiztheit  und  Anklage.  In  unendlicher  Reihe  entrollte  sich  die  den  Werken 
Geschichte  der  sozialen  Schäden.  Mit  der  Wißbegier  und  Konzentration 
eines  Naturforschers  oder  Arztes,  der  seine  Diagnose  zu  stellen  hat, 
studierte  und  reproduzierte  er  ihre  Symptome.  Für  ihn  gab  es  keine  ver- 
pönten Gebiete,  nichts,  was  ihn  aufhalten  konnte;  die  Gesellschaftsschichten 
aller  Gegenden  Rußlands,  die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  Differenzen  eines 
großen  Landes  machte  er  zum  Gegenstand  seiner  Studien.  Aus  dem  Süden 
gebürtig,  war  er  durch  seinen  Entwicklungsgang  mit  den  nordrussischen 
kulturellen  Verhältnissen  verwachsen,  stand  seiner  Herkunft  nach  dem 
Volke  nahe  und  nahm  dennoch  an  allem  teil,  was  auf  den  Höhen  der 
Kultur  gedacht  und  geschaffen  wurde,  war  Zeuge  des  üppigen,  faden 
Lebens  der  privilegierten  .Stände  und  andererseits  ein  freiwilliger  Besucher 
Sachalins,  das  er  bereiste,  um  dem  gleichgültigen  Publikum  über  die  bar- 
barische Organisation  des  Lebens  der  Verbannten  die  Augen  zu  öffnen  — 
ein  Unternehmen,  das  seine  Gesundheit  untergrub  — ,  und  dies  alles  trug 
er  in  sein  Schaffen  hinein,  das  sich  nicht  bestechen  ließ  und  keine  Nach- 
sicht kannte.  Wie  ein  Spiegel  reflektierte  er  das  Bild  welker,  willenloser, 
niedergeschlagener  Leute,  die  Herrschaft  des  satten  Egoismus,  die  Un- 
wissenheit und  Rechtlosigkeit  des  Volkes.  Nirgends  winkte  Erlösung.  Das 
Sinken  der  Energie,  die  seelische  Verstocktheit  und  Erstarrung,  in  der  die 
Gesellschaft  lebte,  nahm  bei  einzelnen  Naturen  einen  krankhaften  Cha- 
rakter an.  Leute,  die  in  Freiheit  lebten,  befanden  sich  in  einem  ähn- 
lichen Zustande  wie  solche  Kranke,  die  man  in  Irrenanstalten  unter- 
zubringen pflegt.  Tschechoff,  dem  das  medizinische  Interesse  nahelag, 
ging,  nachdem  er  die  pathologischen  Erscheinungen  der  Gesellschaft 
studiert  hatte,  zu  psychiatrischen  Studien  über.  Er  schreckte  vor  der 
Wiedergabe  der  schlimmsten  Krankheitssymptome  nicht  zurück  und 
brachte  ihnen  mehr  wissenschaftliches  Verständnis  entgegen  als  seine 
Vorgänger  Gogol,   Dostojewsky   und    Garschin,   so    daß   die   russische  psy- 

9* 


132 


Alexis  Wesselotsky:  Die  russische  Literatur. 


chopathologische   Erzählungskunst,    die   bereits    hervorrag'ende   Leistungen 
zutage  gefördert   hatte,  mit  dem  Erscheinen  von  TschechofFs  Erzählungen 
.Zelle   Nr.  6"   und   „Der   schwarze   Mönch"    einen   starken   Fortschritt    ver- 
zeichnen  konnte. 
Die  Themata  Was  ist  das  aber  für  eine  Gesellschaft,  deren  Helden  Neurastheniker 

uad  TypeD    in 

den  Erzähiuugeu  sind,   Und    deren    Stimmung    durch   Langeweile    und    Niedergeschlagenheit 

Tscbechoffs. 

charakterisiert  ist!  Der  melancholische  Vertreter  der  Intelligenz,  der  zu 
jeglicher  Tätigkeit  unfähig  ist,  pflegt  sich,  wie  der  Held  der  Erzählung 
„Das  Duell"  tut,  mit  dem  Bewußtsein  zu  trösten,  daß  er  ein  außergewöhn- 
licher, unverstandener  Mensch,  der  direkte  Nachkomme  jener  Leute  sei, 
die  ehemals  als  problematische  Naturen  bezeichnet  wurden.  Derjenige  aber, 
der  sich  physische  Kraft  und  Initiative  bewahrt  hat,  blickt  verächtlich  auf 
jenen  herab,  wie  dies  Von  Koren,  die  zweite  Hauptperson  derselben  vor- 
züglichen Erzählung,  tut,  der  sogar  ein  Duell  nur  deswegen  provoziert,  um 
dem  verachteten  Simulanten  und  Komödianten  eine  Lehre  zu  erteilen  und 
sich  am  eigenen  Siege  zu  ergötzen.  Ob  die  Rettung  nur  bei  solchen 
Kraftnaturen  liegt,  die  selbstbewußt  und  despotisch  ins  Leben  greifen,  ist 
eine  offene  Frage.  Möglicherweise  wird  die  Erlösung  durch  die  Frau  er- 
folgen, die  sich  jahrhundertelang  in  der  Selbstaufopferung  geübt  hat  und 
von  einem  heißen  Tatendi-ang  beseelt  ist.  Tschechoff  stellte  aber  nicht 
wie  Turgenieff  und  Ibsen  den  einseitig  weiblichen  Heldentypus  in  den 
Vordergrund.  In  vielen  seiner  besten  Erzählungen  aus  dem  Dorfleben 
oder  aus  dem  Leben  der  Gesellschaft  schildert  er  das  ständige  Leiden  und 
die  Erniedrigung  des  Weibes  und  seinen  Hang  zur  Lüge  und  Liederlichkeit, 
der  sich  durch  Auflehnung  gegen  sein  Geschick  entwickelt  hat.  Unerfahrene, 
eigenwillige  Persönlichkeiten,  die  sich  mühselig  zur  Freiheit  und  Selbstän- 
digkeit durchringen,  zeichnet  er  selten.  Eine  solche  Persönlichkeit  ist  die 
Heldin  der  Erzählung  „Die  Frau",  die  zur  Unabhängigkeit  erwacht  und  nach 
einer  nützlichen  Tätigkeit  verlangt.  Inmitten  der  Not  des  Hungerjahres  ver- 
mag sie  das  formelle  Verhalten  ihres  bureaukratisch  gesinnten  Mannes  der 
Volksnot  gegenüber  nicht  zu  billigen.  Zwischen  ihr  vmd  den  Dorfleuten 
entwickeln  sich  Beziehungen  der  Solidarität;  der  Aufruhr  in  ihr  wächst, 
der  Kampf  gegen  die  despotischen  Ansprüche  ihres  Mannes  führt  fast 
zum  Bruch,  doch  die  Aufrichtigkeit  ihrer  Selbstverleugnung  erweckt 
schließlich  in  ihrem  Manne  und  strengen  Verurteiler  ein  verwandtes  Gefühl, 
und  fast  widerwillig  schließt  er  sich  ihren  philanthropischen  Bestrebungen 
an,  denen  sie,  um  des  Leidens  und  der  Gerechtigkeit  willen,  alles  zu 
opfern  bereit  ist.  In  der  Schar  der  welken,  vom  Leben  gebrochenen  oder 
unpersönlichen  Frauenseelen  könnte  diese  kleine  Siegerin  einen  erfreulichen 
Eindruck  machen.  Aber  die  Hoffnungen,  die  sie  erweckt,  sind  schwach 
und  nichtig,  denn  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Frauen  ist  zu  einem 
freudlosen  Dasein  verdammt.  Um  sie  her  feiern  der  Egoismus  und  die 
Sinnlichkeit  Orgien.  Wer  sich  aller  Greuel  solcher  Zustände  bewußt  wird, 
läuft  Gefahr,   den  Verstand   zu  verlieren  und  Selbstmord   zu   verüben.     So 


C.  Die   zweite  Hälfte  des    19.  Jahrhunderts.      II.   Die   .-ichtziger  und  neunziger  Jahre.       ij^ 

erleidet  der  Student  Wassilieff,  der  von  Kameraden  in  ein  verrufenes 
Haus  gelockt  wird,  einen  Nervenanfall,  als  er  die  unmenschliche  Zügel- 
losigkeit  vermeintlich  anständiger  Leute  gewahrt,  welche  die  Seele,  die 
Würde  und  die  Gesundheit  armer,  hungerleidender  Frauen  mit  Füßen 
treten.  Ein  derartiger  Zeitvertreib  dünkt  ihm  ein  organisiertes  Morden;  in 
einer  Gesellschaft  zu  leben,  die  solches  duldet,  ist  ihm  ein  unerträglicher 
Gedanke,  und  nur  mit  Mühe  gelingt  es,  ihn  einem  gewaltsamen  Tode  zu 
entreißen. 

Bei  der  erschütternden  Schilderung  dieses  hilflosen  Protestes  macht  Eigentümiich- 
der  Verfasser  eine  Bemerkung,  die  sich  zweifellos  auf  ihn  selbst  bezieht.  Be'^Vbua'g'^ 
Sein  Wassilieff  hat,  wie  es  heißt,  schriftstellerisches  Talent,  doch  finden  sein'^  ,!mensch- 
seine  Freunde,  daß  die  Begabung  dieses  Anfängers  sehr  eigentümlich  ge- 
artet ist.  „Es  gibt  Leute  mit  literarischer,  szenischer,  künstlerischer  Ver- 
anlagung, sein  spezifisches  Talent  aber  ist  die  sympathische  Einfühlung. 
Er  hat  ein  feines  Verständnis  für  den  Schmerz.  Wie  ein  guter  Schau- 
spieler Stimme  und  Bewegungen  anderer  wiederzugeben  vermag,  so  ver- 
.steht  Wassilieff  fremdes  Leiden  in  seiner  Seele  neu  erstehen  zu  lassen; 
wenn  er  Tränen  sieht,  weint  er;  in  der  Nähe  eines  Kranken  wird  er 
selbst  krank  und  stöhnt;  wenn  er  irgendwo  Vergewaltigung  sieht,  so 
glaubt  er,  sie  an  sich  selbst  zu  erleben."  Ebenso  ist  TschechofF,  wenn 
er  in  seinen  Erzählungen  eine  unübersehbare  Reihe  verwerflicher  Er- 
scheinungen vorführt,  nicht  bloßer  Berichterstatter,  aber  auch  kein  erbitterter 
Ankläger  oder  Moralist,  der  gelegentlich  gute  Lehren  vorträgt.  Der  Reiz 
seiner  Kunst  liegt  eben  darin,  daß  er  sympathisch  mitempfindet,  daß 
die  Schmerzen,  Tränen,  Leiden  und  Gewalttätigkeiten,  die  er  schildert, 
scheinbar  von  ihm  selbst  erlebt  sind  und  in  dem  Leser  die  gleiche  Illu- 
sion erwecken. 

Es  gehörte  viel  Mut  und  gleichzeitig  aufrichtiges  Mitgefühl  dazu,  um,  Tschechoä  uad 

T.T^,,PP.  .  -r-.. ,,  T--V-T-»  1  •       1    •  Tolstoi  als  Schil- 

wie  dies  ischechon  m  semer  Erzählung  „Die  Bauern"  tat,  das  niedrige  derer  jes Volkes 
Niveau  der  Sittlichkeit  und  der  geistigen  Entwickelung  im  Dorfe,  das  leicht  und  „Die  M.icht 
zur  Idealisierung  Anlaß  gibt,  zur  Darstellung  zu  bringen.  „Die  Bauern" 
stellen  mit  den  freimütigen  Enthüllungen  Usspenskys  und  mit  Tolstois 
düsterer  „Macht  der  Finsternis"  eine  bedeutsame  Gruppe  in  der  literarischen 
Erforschung  des  Lebens  der  Landbevölkerung  dar.  Durch  die  von  Tolstoi 
geschilderte  Finsternis  bricht  aber  ein  heller  Strahl,  wenn  einer  der  Bauern 
die  Moral  der  Brüderlichkeit  des  großen  Schriftstellers  in  schlichter  Form 
verkündet;  Tschechoff  kennt  dergleichen  nicht.  Die  nackte  Lebenswahrheit 
soll  nach  ihm  durch  sich  selbst  auf  ihr  Gegenbild,  das  Licht,  den  Fortschritt 
und  die  Menschlichkeit  verweisen,  sie  scheint  ihm  nicht  philosophische 
Belehrung,  sondern  praktische  Fürsorge  für  das  Dorf  zu  fordern.  Seine 
Sympathien  sind  zweifellos  demokratisch  gefärbt;  er  wäre  ja  auch  den 
Traditionen  der  gesamten  modernen  Literatur  untreu  geworden,  wenn  er 
sich  auf  die  Seite  des  kulturellen  Hochmuts  der  Herrschenden  geschlagen 
hätte.     Zu    den    Niedrigen    und    in    bescheidenen    Verhältnissen    Lebenden 


134 


Alexis  Wesselovsky  :  Die  russische  Literatur, 


fühlt  er  sich  hingezogen.  Unter  ihnen  hofft  er  noch  einige  wenige  Men- 
schen zu  finden,  auf  welche  sich  das  allgemeine  Verdammungsurteil  nicht 
erstrecken  darf.  Aber  auch,  solange  der  Mensch  noch  nicht  erwachsen 
ist,  solange  die  Gemeinheit  von  ihm  noch  nicht  Besitz  ergriffen  und  die 
sinnlichen  Triebe  nicht  erwacht  sind,  lohnt  es  sich,  sein  Seelenleben  mit 
Die  Psychologie  Aufmerksamkeit  und  Teilnahme  zu  ergründen.  Daher  sind  die  Kinder  für 
Tschechoff.  Tschechoff  freundliche  Oasen  in  der  Wüste.  Mit  Liebe  versenkt  er  sich  in 
Tierlebens,  ihr  naives  Selbstbewußtsein  und  schildert  gern  ihre  Eindrücke  bei  der  Be- 
rührung mit  den  sie  umgebenden  Menschen  und  Dingen.  Die  stark  auto- 
biographisch gefärbte  Erzählung  „Die  Steppe"  ist  durch  ilire  Schilderung  des 
Erwachens  einer  Kinderseele  inmitten  der  freien  Steppe,  auf  welcher  der 
Knabe  seine  erste  Reise  unternimmt,  der  „Kindheit"  Tolstois  ebenbürtig. 
Die  Urwüchsigkeit  der  kindlichen  Eindrücke  regt  leicht  dazu  an,  den 
Versuch  zu  wagen,  das  Seelenleben  der  Tiere,  die  ebenfalls  zu  den  Lieb- 
lingen Tschechoffs  gehören,  zu  enträtseln.  Die  Geschichte  der  kleinen 
„Kaschtanka"  und  ihrer  Dressurgenossen,  einer  Gans,  eines  Schweines  und 
eines  Katers,  die  Zeichnung  ihrer  Charaktere,  die  Heiterkeit  und  Beweg- 
lichkeit des  Hündchens,  die  Nachdenklichkeit  und  Kränklichkeit  der  alten, 
schwindsüchtigen  Gan.s,  deren  plötzlich  eintretender  Todeskampf  und  Tod 
meisterhaft  geschildert  sind,  gehört  zu  den  besten  künstlerischen  Leistungen 
auf  dem  Gebiete  der  Tierpsychologie. 
Tschechoff  als  In    Seiner    letzten  Periode    versuchte  sich   Tschechoff    als    Dramaturg. 

Die  junge  Generation,  die  sich  erst  jetzt  an  das  Studium  Tschechoffs 
macht,  sieht  in  seinen  szenischen  Werken,  die  vom  Moskauer  „Künst- 
lerischen Theater"  meisterhaft  dargestellt  werden,  die  Krone  dessen,  was 
er  geschrieben  hat.  Der  plötzliche  Durchbruch  einer  entschiedenen  drama- 
tischen Begabung,  ein  starkes  Hervortreten  des  szenischen  Elements  ist 
aber  bei  Tschechoff  nicht  zu  verzeichnen.  Wenn  man  an  seine  Stücke 
den  üblichen  Maßstab  anlegt,  offenbart  sich  mancher  Fehlgriff.  Ibsen  hat 
auf  der  Höhe  seines  Schaffens  mehr  künstlerisches  Geschick  im  Aufbau 
des  Ganzen  bewiesen  und  in  der  packenden  Kraft  des  Konfliktes  leiden- 
schaftlichere Töne  angeschlagen.  An  die  Bühnenwerke  Tschechoffs  muß 
man  mit  ganz  anderen  Erwartungen  herantreten;  ihre  Eigenart  weist  ihnen 
einen  besonderen  Platz  an.  Seine  Dramen  kennen  keine  starken  Persön- 
lichkeiten, die  mit  der  gesellschaftlichen  Ordnung  oder  mit  dem  Schicksal 
im  Kampfe  liegen,  keine  Kollision  von  Pflicht  und  Gefühl;  auch  treten 
sie  nicht  in  den  Dienst  einer  Tendenz.  In  ihnen  leben  dieselben  traurigen, 
willenlosen  oder  farblosen  Persönlichkeiten,  die  seine  Erzählungen  be- 
völkern. Ihre  Anziehungskraft  beruht  nicht  auf  der  Tragödie  einer  mäch- 
tigen Individualität,  sondern  auf  der  Mutlosigkeit  und  den  Seufzern  eines 
verfehlten  Loben.s.  Das,  was  die  Novelle  mit  Hilfe  von  Beschreibungen 
und  einem  meisterhaften  Dialog  nicht  wiederzugeben  vermag,  wurde  greif- 
bar und  plastisch  in  der  szenischen  Illusion;  des  Zuschauers  bcmächtig't 
sich  tiefe  Melancholie.     Vor  seinen  Augen  ziehen  Leute  vorüber,  die  vom 


C.  Die  zweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     II.  Die  achtziger  und  neunziger  Jahre.      xjj 

Leben  aufgerieben  und  mürbe  gemacht  worden  sind.  Die  Handlimg  spielt 
sich  meistens  auf  dem  Lande  ab,  wo  ehemals  geistig  rege  Menschen  durch 
die  Mühsal  des  Alltags  in  der  Einsamkeit  zu  denken  und  zu  kämpfen  ver- 
lernt haben.  Wenn  sie  sich  dem  Trunk  ergeben,  so  bedeutet  dies  einen 
kleinmütigen  Protest  gegen  den  Mißerfolg  ihres  Lebens.  Doch  auch  die 
Persönlichkeiten,  die  zufallig  ins  Dorf  verschlagen  werden,  sind  nicht 
besser  —  da  handelt  es  sich  einmal  um  einen  unbedeutenden  Gelehrten, 
der  ein  Vierteljahrhundert  lang  die  Gedanken  anderer  auf  dem  Katheder 
breitgetreten  hat  und  durch  Scheinerfolge  verwöhnt  worden  ist  (in  „Onkel 
Wanja"),  oder  um  einen  „bekannten  Schriftsteller",  der  ohne  Glauben  an 
seine  Sache  seine  vielgelesenen  Werke  mechanisch  neu  bearbeitet,  oder 
um  einen  jungen  dekadenten  Dichter,  der  seiner  Sucht  nach  Originalität 
nicht  Einhalt  zu  gebieten  vennag  (in  der  „Möwe").  Die  „naufrages  de  la 
vie"  treten  in  Tschechoffs  Dramen  in  Scharen  auf.  Der  Umschwung,  den 
die  Befreiung  der  Bauern  für  den  Herrenstand  bedeutet,  die  Notwendig- 
keit, sich  mit  dieser  Tatsache  abzufinden,  und  die  Unfähigkeit,  sich  mit  ihr 
auszusöhnen,  sind  für  den  Dichter  ein  dankbares  Motiv,  und  in  der  Tat 
handelt  das  letzte  Drama  Tschechoffs  „Der  Kirschgarten"  vom  Nieder- 
gang und  Verfall  eines  alten  Geschlechts ,  das  nicht  imstande  ist,  die  neue 
Zeit  zu  verstehen.  Sogar  die  Träume  und  Hoffnungen,  die  selbst  bei  die- 
sem Menschengeschlechte  nicht  verstummen  wollen,  tragen  den  Stempel 
des  Krankhaften.  In  den  „Drei  Schwestern"  träumt  der  Oberst  Werschinin, 
der  selbst  im  Leben  Schiffbruch  gelitten  hat  und  von  der  allgemeinen 
Not  niedergedrückt  worden  ist,  von  den  glücklichen  Zuständen,  die  in 
zwei-  oder  dreihundert  Jahren  realisiert  sein  werden.  In  „Onkel  Wanja'* 
vertiefen  sich  der  Held  des  Stückes  und  seine  traurige  Gefährtin,  ein 
alterndes  Mädchen,  nach  der  Abfahrt  der  Petersburger  Gä.ste,  die  einen 
Lichtstrahl  in  ihrem  Leben  bedeutet  hatten,  wiederum  in  ihre  eintönige, 
stumpfsinnige  wirtschaftliche  Tätigkeit  und  hängen  dem  Gedanken  nach, 
daß  die  Erlösung  einmal  kommen,  daß  das  Erbarmen  alles  irdische  Leid, 
alles  Übel  überfluten  und  daß  das  Leben  dann  zart  und  süß  wie  eine  Lieb- 
kosung sein  wird.  Die  Hingabe  an  eine  Hoffnung,  einen  trügerischen 
Wahn  ist  aber  das  Los  nicht  vieler  dramatischer  Gestalten  Tschechoffs. 
Andere  werden  von  dem  Gedanken  beherrscht,  „daß  man  leben  und  sein 
Kreuz  auf  sich  nehmen  müsse".  Eine  der  „Drei  Schwestern"  wird  Volk.s- 
schuUehrerin,  will  „ihr  ganzes  Leben  denen  weihen,  die  ihrer  vielleicht 
bedürfen  und  arbeiten,  arbeiten!"  Die  jüngere  Schwester,  die  selbst  „noch 
leben  möchte",  kann  nicht  umhin,  die  Frage  aufzuwerfen:  „Warum  leben, 
warum  leiden  wir?  Wenn  man  das  wüßte!"  Dieses  ungelöste  Rätsel 
quält  manche  der  schwachen,  willenlosen  Persönlichkeiten;  oft  endigen  die 
Dramen  mit  einem  Selbstmord. 

Sowohl  die  Dramen  Tschechoffs  als  auch  die  lebenswahre,  traurige  T3chl?choff?°in* 
Chronik  seiner  Zeit,  die  er  in  seinen  Novellen  niederlegte,  sind  mit  jenen  "'iefchen'^de'^'' 
schweren  Tagen,  die  Rußland  damals  durchlebte,  unlösbar  verknüpft.     Im  ^"'"'J-eban!"''^'^' 


j  ,(j  Alexis   Wessfxovsky  :  Die  russische  Literatur. 

■  Starken  Aufschwung  der  befreienden  Bewegung,  deren  Augenzeuge  zu 
sein  ihm  nicht  vergönnt  war,  verblaßten  seine  Bilder.  Auch  in  dem 
Lande,  von  dem  er  einst  so  viel  Trauriges  berichten  mußte,  erwachte 
das  Leben;  nicht  Willensschwäche  und  Neurasthenie  ist  nunmehr  das 
Zeichen  der  Zeit,  sondern  Kampf  der  Kräfte  und  Leidenschaften.  Das 
wahrhaft  Künstlerische,  das  niemals  stirbt,  wird  auch  in  den  Schöpfungen 
Tschechoffs  unvergänglich  bleiben,  die  Negation  und  der  niederdrückende 
Pessimismus,  die  aus  ihnen  sprechen,  werden  aber  in  besseren  Zeiten 
traurige  Erinnerungen  an  ehemalige  Leiden  und  Nöte  sein. 

Die  neunziger  III.    Neues    Jahrhundert.      Der    tief   wurzelnde    Pessimisinus    hatte 

E^che  des  Auf- offenbar   den   Blick   des   kranken   Schriftstellers    getrübt;    weder  bemerkte 
"vX°kraf"   er   die    Anzeichen   der  nahenden  Wiedergeburt,    noch  glaubte  er,   der  die 
Überzeugung  hatte,  daß  die  Fäulnis  und  Ungerechtigkeit  der  Gesellschafts- 
ordnung unabänderlich   seien,  an  die  Realisierbarkeit  idealer  Träume.     In 
seinen  Dramen    schlug   er   immer   wieder    dieselben  Töne    an;    nur   in    den 
allerletzten  Erzählungen   scheint   etwas   Licht    durchzubrechen:    der  Typus 
des    hingebenden,   sich  selbstverleugnenden  Weibes   taucht    gleichsam    als 
Vorbote    eines   besseren  Menschenschlages  auf.     Das  Leben    aber  schritt 
weiter.      Die    neue    Ära,    die    versucht    hatte,    sich    auf    die    Traditionen 
des  vorangehenden  Regimes  zu  stützen,  stieß  bald  auf  Tatsachen,  welche 
die     völlige     Unhaltbarkeit    jener     Prinzipien     und     das     Anwachsen     der 
sozialen  Kräfte  dartaten,   welch    letztere    zur  Zeit   der  Reaktion   nicht   ge- 
rostet,  sondern    im  Gegenteil  sich  konzentriert  und  vermehrt  hatten.     Es 
war,    als    wenn    elektrische    Ströme    die     Gesellschaft    durchzuckten     und 
hier    und   da   helle   Funken   schlugen.     Diejenigen  Volksschichten,    welche 
von    der   Bildung,    von   der  Teilnahme    an    der    allgemeinen    Kultur    fern- 
gehalten   worden    waren,    leisteten    jetzt    Gegenwehr.      Nach     der    Stag- 
nation   der    achtziger  Jahre    wies    das    letzte   Jahrzehnt   des   vorigen  Jahr- 
hunderts einen  Zufluß  von  Lebensenergie  auf.    Die  Literatur  spiegelte  die 
soziale    Strömung    wieder.      Mehr    denn    je    war    sie    demokratisch.      Der 
DcrWiderschein  morsche   soziale  Bau,    von   dem  Tolstoi   in  seinem  Roman  „Auferstehung" 
Schwungs  in" der  ein    entsctzUches    Bild    entworfen,    in    welchem    er   den    oberen    Schichten 
^Auferstehung'' der    Gescllschaft,    der    Regierung,    dem   Adel,    dem    Gericht,   der  Kirche, 
'°'Auftre't'e„/"'die   christHchen  Gebote   der   Liebe   und    Menschlichkeit    entgegengehalten 
Maxim  Gork.s.  j^^^^^^    ^^-^    ^.^   Kräfte    Überall    emporstreben,    um  sich   an  der  Umgestal- 
tung des  Lebens    zu  beteiligen.     In   diesem  Roman,   der  die  Propaganda 
Tolstois     unvermittelt    unterbrach,     heben    sich     zwei    Hauptfiguren     vom 
dunklen  Hintergrunde  ab:   der   von    den  Lastern   der  Gesellschaft   beinahe 
vergiftete  Ncchljudoff  und  ein  von  ihm  einst  verführtes  Landmädchen,  das 
der  Prostitution    zugeführt    und    dann    in    eine    Kriminalangelegenheit    ver- 
wickelt   wird.     Die  Moral    des  Romans    läuft    wieder    darauf   hinaus,    daß 
den    Lockungen    der  Welt,    den    sozialen   Vorrechten    und   dem   Reichtum 
entsagt    werden    muß.      Der    Aristokrat    Ncchljudoff   nähert    sich    brüdor- 


C.  Die   zweite   Hälfte   des    IQ.  Jahrhunderts.      III.   Neues   Jahrhundert.  i  ^y 

lieh  der  verbannten  Plebejerin  und  folgt  ihr  freiwillig  nach  Sibirien,  um 
sie  nie  wieder  zu  verlassen.  Jedoch  nicht  nur  auf  dem  Boden  der  Sitt- 
lichkeit, der  seelischen  „Auferstehung",  die  alle  gesellschaftlichen  Unter- 
schiede aufhebt,  kündete  sich  die  demokratische  Tendenz  der  Literatur 
an.  Mehr  denn  je  ergriffen  Angehörige  derjenigen  Schichten  der  Gesell- 
schaft, deren  Stunde  gekommen  war,  das  Wort.  Es  handelte  sich  nicht 
mehr  um  Vertreter  des  Bauernstandes,  die  sich  einige  Bildungsbrocken 
zu  eigen  gemacht  hatten  und  nun  die  Nöte  und  Wünsche  ihres  Standes 
zum  Ausdruck  brachten;  sondern  auch  dem  Proletariat  entstammende 
Schriftsteller  erhoben  selbstbewußt  und  vernehmlich  ihre  Stimmen.  Im 
Laufe  der  letzten  Dezennien  hatte  das  Proletariat  nicht  nur  durch  das 
Wachsen  der  Industrie,  sondern  auch  durch  die  Schar  der  aus  der  Ge- 
sellschaft ausgestoßenen,  schiffbrüchigen,  heimatlosen  und  verarmten  Leute, 
die  den  Nacken  v'or  der  privilegierten  Sattheit  nicht  beugen  wollten, 
eine  Zunahme  erfahren. 

Als  Alexis  Peschkoff  unter  dem  Pseudonym  Maxim  Gorki  anfänglich  Das  Proletariat 

■^  .  .  '^^  und  die  Lebens- 

in    bescheidenen    Provinzblättem,    dann    in    der    einflußreichen   Presse    die  art  der  „BarfuB- 

'  ler"  in  der  Dar- 

ersten    Schilderungen    des    Proletariats    zu    entwerfen    begann,    war    sein  Stellung  Goricis. 

Seine  Beziehun- 

Erfolg    in    gleichem   Maße    durch   sein    Talent   als   auch   durch    die   Eigen-  gen  zur  äueren 

^  .    °  '^  Literatur   und 

tümlichkeiten    der    sozialen    Schicht,     der     er     entstammte,     und     die     er  seine    selbstän- 
dige   Beisteuer. 

meisterhaft  darzustellen  verstand,  verbürgt.  Bereits  die  Realisten  der 
sechziger  Jahre  hatten  die  „Hefe"  darzustellen  begonnen;  Dostojewsky,  Koro- 
lenko,  in  jüngster  Zeit  Melschin  (der  Dichter  Jakubowitsch)  hatten  mit 
ihren  Schilderungen  der  Gefängnisse  und  zahlreicher  Typen  der  Parias 
der  Gesellschaft  einen  wichtigen  Beitrag  zu  ihrer  Psychologie  geliefert 
und  die  Rolle,  die  sie  im  sozialen  Organismus  spielen,  gekennzeichnet! 
die  westeuropäische  Literatur  hatte  hier  schon  in  den  vierziger  Jahren 
Bresche  geschlagen.  Daß  aber  aus  der  Mitte  dieser  Geächteten  ein  Mann 
hervorging,  der  nicht  nur  reich  an  bitteren  Erfahrungen  -war,  sondern 
auch  über  Talent  verfügte  und  kühne  Gedanken  über  eine  neue,  bessere 
Gesellschaftsordnung  zu  äußern  wagte,  war  noch  nicht  dagewesen.  Gorki, 
der  die  Schwere  des  Kampfes  ums  Dasein  ausgekostet,  sich  in  ge- 
ringen Gewerben  versucht  und  das  Schicksal  der  „Arbeitslosen"  geteilt 
hatte,  führte  die  Leser  mitten  in  diese  Welt  hinein  und  wußte  sie, 
trotzdem  der  Boden  durch  die  realistische  Schule  bereitet  worden  war, 
zu  erschüttern.  Vor  ihren  Augen  zog  eine  lange  Reihe  von  Persönlich- 
keiten vorüber:  die  Hefe  der  großen  Städte  und  der  südlichen  Hafen- 
plätze, die  Bewohner  von  Verbrecherhöhlen  und  Nachtasylen,  Herum- 
treiber, die,  jeder  Menschenwürde  bar,  sich  in  Lumpen  hüllen.  Doch  in 
den  verrohten,  halb  trunkenen  „Barfüßlern"  spielen  sich  starke  seelische 
Erregungen  ab,  Unwille  über  die  herrschende  Ungleichheit  und  Ungerech- 
tigkeit und  Sehnsucht  nach  einem  besseren  Leben.  Trotz  aller  Ver- 
kommenheit liegt  in  ihnen  etwas  Lichtes  und  Hoffnungsvolles.  Zu  diesen 
Leuten   muß    man    herabsteigen,    wenn  man  von  der  Zivilisation  ausruhen 


i;8  Alexis  Wesselovsky :  Die  russische  Literatur. 

will.  Es  handelte  sich  bei  Gorki  nicht  um  eine  Variation  über  das  Thema 
der  „Chanson  des  gueux",  die,  inmitten  der  kapitalistischen  Gesellschafts- 
ordnung, laut  verkündet,  daß  „les  gueux  sont  des  gens  heureux",  sondern 
um  die  Wiedergabe  von  Licht  und  Schatten  in  der  Welt  der  Armut 
und  der  Rechtlosigkeit.  Es  war  bedeutungsvoll,  daß  der  Aufruf  zum 
Ausgleich  der  sozialen  Ungerechtigkeit  gerade  aus  den  Reihen  jener 
Leute  ertönte. 

Ein  Zyklus  von  Erzählungen,  deren  Motive  sämtlich  demselben  Milieu 
entnommen  waren,  bereicherte  den  Bestand  des  russischen  Realismus 
nicht  nur  um  lebhafte  Charakterisierungen,  sondern  auch  um  eine  lebendige 
Sprache.  Das  ganze  Personal  des  Barfüßlertums  war  auf  dem  Plan.  Schon 
drohte  die  Gefahr  der  Einseitigkeit.  Auch  machte  sich  mit  der  Zeit  die 
Neigung  zur  Idealisierung  dieser  Volksschicht  bemerkbar,  die  ja  ebenso 
nahe  lag,  wie  ehemals  die  Idealisierung  des  Bauerntums.  Der  Glaube, 
daß  alle  Tugenden  und  gesunden  Kräfte  der  Gesellschaft  lediglich  unter 
den  Schiffbrüchigen  heimisch  seien  und  daß  alle  Hoffnungen  ausschließ- 
lich auf  ihnen  ruhen,  wäre  ebenso  unbegründet,  wie  die  vor  hundert 
Jahren  von  der  Räuberromantik  aufgestellte  Behauptung,  daß  die  Bildung 
von  Räuberbanden  eine  hervorragende  Form  des  Protestes  gegen  die 
gesellschaftliche  Ordnung  sei.  Andere  Seiten  des  Proletariats,  insbesondere 
die  Arbeiterbewegung-,  hat  Gorki  anfangs  nicht  behandelt.  Sein  humanes 
und  gerechtes  Eintreten  für  die  Parias  war  nicht  nur  mit  einer  leiden- 
schaftlichen Feindseligkeit  gegen  eine  Lebensordnung,  die  sie  aus  der 
Gesellschaft  verstoßen  hatte,  gepaart,  sondern  auch  mit  einer  starken  Ab- 
neigung gegen  die  Kultur  überhaupt  und  gegen  diejenige  hervorragende 
Gruppe  ihrer  mannigfachen  Vertreter,  die  in  der  russischen  Termino- 
Gorkis  Ver-  logie  Seit  den  siebziger  Jahren  als  „Intelligenz"  bezeichnet  wird.  In  der 
„Intelligenz".  Hitze  dcs  Protestes  und  der  Herausforderung  entfuhren  ihm  manche  Aus- 
sprüche, die  er  später,  als  er  in  der  Selbsterziehung  weiter  vorgeschritten 
war,  in  den  Neuauflagen  seiner  Erzählungen  abschwächte  oder  strich. 
Der  Eindruck,  den  das  unvermittelte  Auftreten  eines  solchen  Verteidigers 
der  Enterbten,  der  mächtigen  Gegnern  den  Fehdehandschuh  zuwarf,  her- 
Die  große Popn- vorrief.    War,    trotz    aller  Unklarheiten,    ein   gewaltiger  und  übertrug  sich 

larität  Gorkis.  '  '  '  o  o  es 

von  Rußland  aus  auf  das  übrige  Europa  und  die  Neue  Welt  Zahlreiche 
Übersetzungen  vermittelten  die  Bekanntschaft  mit  den  Werken  desjenigen, 
der  augenscheinlich  berufen  war,  der  Neuorganisation  des  Lebens  als 
Apostel  zu  dienen.  In  der  russischen  Literatur  erstand  eine  Gruppe 
junger  Schriftsteller,  die  sich  eng  an  Gorki  anschlössen,  seine  Unzufrieden- 
heit, seinen  Radikalismus  teilten,  das  Ungezwungene  seiner  Kunst  an- 
nahmen, jedoch  nicht  über  sein  bedeutendes  Talent  verfügten  und  infolge- 
dessen ihn  nur  mit  mehr  oder  weniger  Geschick  nachzuahmen  vermochten. 
In  den  neunziger  Jahren  standen  zwei  literarische  Schulen  in  seltsamem 
Kontrast  einander  gegenüber:  einerseits  die  extremen  Realisten,  Bilder- 
stürmer   lind    Demokraten    und    andererseits    die    Vertreter    des    künstlich 


C.  Die  zweite  Hälfte  des    19.  Jalirhunderts.     III.  Neues  Jalirhundert.  j  ^g 

aus    Frankreich    verpflanzten    „Symbolismus",    die    sich    in    demonstrativer         Zwei 

TTT-  T-vii  1-1  1  ^j     •         •  «1  nebeneinander 

Weise  „Dekadenten"  nannten  und  sich  vor  der  Zeitstimmung-  in  das  bestehende 
Gebiet  der  romantischen  Mystik  hinüberflüchteten.  In  ihrer  virtuosen-  radikai-iemo- 
haften  Handhabung  des  Verses,  einer  geheimnisvollen  Verworrenheit  die  symbou- 
der  Form  und  einer  übernatürlichen  Kombination  der  Farben  und  Töne 
waren  sie  ebenso  gekünstelt  und  aristokratisch,  als  die  Schule  Gorkis 
das  Erzeugnis  und  das  letzte  Wort  des  demokratischen  Realismus 
war.  Einige  Dichter  der  älteren  Generation,  die  zum  Teil,  wie  z.  B. 
N.  Minsky  und  Mereschkoffsky,  der  Schöpfer  mehrerer  historisch  -  philo- 
sophischer Romane,  sehr  talentvoll  waren,  gingen  zu  den  Dekadenten 
über.  Diese  hatten  in  ihren  Reihen  geschickte  Übersetzer  (K.  Balmont) 
und  nicht  unbegabte  Lyriker  (Valery  Briussoff),  doch  war  Vereinsamung 
ihr  Los.  Als  das  ganze  Land  von  der  Freiheitsbewegung  ergriifen  wurde, 
warfen  mehrere  von  ihnen  ihre  Lyra  beiseite,  stiegen  von  ihrem  Sockel 
herab  und  schlössen  sich  dem  kampfesmutigen  Radikalismus  an.  Nunmehr 
schufen  auch  sie  eine  politische  Lyrik,  die  den  Schöpfungen  ihrer  ge- 
wohnheitsmäßigen Vertreter  in  bezug  auf  die  Kühnheit  des  Tones  um 
nichts  nachstand. 

Die  Entwicklung  der  entgegengesetzten  Richtung  und  ihres  wichtigsten 
Vertreters  nahm  einen  folgerichtigeren  Verlauf.  Gorki  ließ  eine  Zeitlang 
die  Form  der  Novelle  beiseite  und  schrieb  umfangreiche  Romane;  auch  Gorkis  Romane, 
beschränkte  er  sich  nicht  mehr  auf  die  Darstellung  der  Welt  des  Proletariats, 
sondern  zog  die  Gesamtheit  des  Lebens  in  den  Kreis  seiner  Betrachtung. 
In  den  ersten  Romanen  „Foma  GordejefF"  und  „Die  Drei"  offenbarte  sich 
wiederum  die  Eigenart  seines  Talents  und  seiner  geistigen  Entwicklung. 
Dort,  wo  er  Beobachtetes  und  Erlebtes  schilderte,  wo  es  sich  um  aus 
dem  Leben  gegriffene  Menschen,  Szenen  und  Sitten  handelte,  besonders 
aber  wo  persönliche  Erinnerungen,  autobiographische  Momente  in  Frage 
kamen,  trat  eine  hohe  Meisterschaft  zutage,  die  den  Traditionen  der  besten 
Belletristik  früherer  Zeiten  folgte.  Ein  beträchtlicher  Teil  des  Romans 
„Foma  Gordejeff",  der  in  der  Wolgagegend  spielt,  ist  in  dieser  Weise 
kraftvoll  und  lebendig  geschrieben.  In  der  Schilderung  des  Lebensschick- 
sals der  „Drei",  das  sich  inmitten  des  Verbrechertums,  der  Ausschweifung 
und  aller  Leiden  des  Gewerbestandes,  des  Kleinbürgertums  und  der  städti- 
schen Armut  abspielt,  schreckt  Gorki  ebensowenig  vor  dem  Entsetzlichen 
zurück,  wie  dies  vor  ihm  Dostojewsky  getan  hatte.  Jedoch  die  Feder,  die 
diese  lebenswahren  Bilder  zu  zeichnen  verstand,  war  ungeschickt,  wo  es, 
wie  in  „Gordejeff",  darauf  ankam,  sogenannte  zivilisierte  Menschen  zu 
schildern.  Jene  zornige  Erregung,  mit  der  Gordejeff  einer  Versammlung 
namhafter  Kaufleute,  aus  deren  Mitte  er  hervorgegangen  ist,  die  nackte, 
fürchterliche  Wahrheit  ins  Gesicht  schleudert,  ist  vom  sozialen  Stand- 
punkt aus  vollkommen  begreiflich  und  sehr  eindrucksvoll,  aber  man  fühlt, 
daß  hinter  dieser  Herausforderung  keine  greifbare  Überzeugung  steht, 
daß  der  Mann,  dem  sie  in  den  Mund  gelegt  wird,  die  Wahrheit  ergründen 


140 


Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 


will,  ihr  nahe  ist  und  sie  dennoch  nicht  klar  zu  formulieren  vermag-.  Die- 
selbe kampfesmutige  Lyrik  durchdrang  auch  Gorkis  kurze,  packende  Er- 
güsse, die,  oft  in  das  lichte  Gewand  einer  Allegorie  gehüllt,  sich  wie  Ge- 
dichte in  Prosa  lasen.  Ihre  Deutung  war  nicht  schwer,  ihr  Zielpunkt  lag 
zutage,  und  wer  diese  Improvisationen,  wie  z.  B.  „Das  Lied  vom  Falken" 
oder  „Der  Sturmvogel",  las  oder  hörte,  mußte  sie  um  ihres  Feuers  und 
ihrer  Kraft  willen  freudig  begrüßen.  Neben  dem  Pessimismus  TschechofFs, 
der  in  den  sozialen  Verhältnissen  wurzelte,  erstand  in  derselben  Gesell- 
schaft eine  aktive,  kampfesfrohe  Kraft. 

Gleich  TschechoflF  verließ  auch  Gorki  die  vielversprechende  Laufbahn 
,  des  Romanschriftstellers,  um  sich  dem  Drama  zu  widmen.  Aus  den  ersten 
Versuchen  war  ein  rasches  Wachsen  seines  Verständnisses  und  Könnens 
ersichtlich.  Dem  Drama  „Die  Kleinbürger",  das  noch  ein  Motiv  aus 
den  sechziger  Jahren  —  den  niederdrückenden  Einfluß  des  spießbürger- 
lichen Geistes  auf  die  Entwicklung  freiheitlicher  Ideen  —  mit  nicht  ge- 
ringem Feuer  behandelte  und  sowohl  hinreißende  Reden  als  auch  eine 
Reihe  lebendiger  Porträts  enthielt,  jedoch  szenische  Unerfahrenheit  dartat, 
folgte  sofort  Gorkis  bestes  Stück,  dessen  Titel  in  der  jetzt  populären 
deutschen  Übersetzung  insofern  entstellt  worden  ist,  als  er  nur  den  Ort 
der  Handlung  —  „Das  Nachtasyl"  —  bezeichnet,  während  eigentlich  die 
ganze  Hefe  der  Gesellschaft  im  Drama  gezeichnet  werden  soll.  Wiederum 
tauchten  in  der  Erinnerung  Gorkis  Personen  und  Geschehnisse  aus  dem 
Leben  der  Proletarier  auf,  und  die  Bühne  bevölkerte  sich  mit  Gestalten, 
die  wegen  ihres  Realismus  und  ihrer  psychologischen  W^ahrheit  unver- 
gänglich sein  werden.  Plötzlich  war  dem  Verfasser  auch  die  Bühnen- 
technik aufgegangen;  das  Wehklagen,  die  zornigen  Reden,  Proteste 
und  Forderungen,  die  von  der  Bühne  her  erschallten,  vereinigten  sich 
zu  einem  mächtigen,  drohenden  Chorus.  Das  belehrende  Element  erwies 
sich  auch  hier  als  am  wenigsten  wertvoll.  Der  an  sich  vorzüglich 
charakterisierte  Raisonneur  des  Stückes,  Luka,  der  in  seiner  Person  ein 
Gemisch  von  Herzlichkeit,  Humanität,  scharfsinniger  Beobachtungsgabe 
und  feinem  Humor  vereinigt,  verfügt  über  eine  Philosophie,  die,  da  sie  in 
den  Anschauungen  der  Bewohner  des  Nachtasyls  eine  Umwälzung  hervor- 
ruft, auch  dem  Zuschauer  als  befreiende  Wahrheit  imponieren  müßte. 
Aber  diese  Philosophie  trägt  in  die  bereits  bekannten  moralphilosophischen 
Lehren  der  verschiedenen  Sittenprediger  der  Tolstoischen  Werke  keine 
neuen  Gesichtspunkte  hinein,  und  die  Behauptung  Lukas,  daß  „Alle  um 
des  Besseren  willen  leben"  oder  die  Reflexionen  Satins,  der  sich  Lukas 
Auffassungen  angeeignet  hat,  daß  „alles  in  dem  Menschen  und  alles  für 
den  Menschen  ist",  sind  zu  allgemein  gehalten  und  zu  unbestimmt.  Den- 
noch bedeutet  dieses  Stück,  das  überall,  wohin  es  vom  Ruhme  Gorkis  ge- 
tragen wurde,  vermöge  seiner  sozialen  und  künstlerischen  Bedeutung  einen 
starken  Eindruck  hervorgerufen  hat,  bis  zum  heutigen  Tage  den  Höhe- 
punkt in  Gorkis  Schaffen.    Seitdem  geht  es  mit  seiner  dramatischen  Kunst 


C.  Die  zweite  Hälfte  des    19.  Jahrhunderts.     III.  Neues  Jahrhundert.  141 

bersrab.     In   einigen   Stücken   gfriff  er   wieder   auf  sein   früher  behandeltes   Die  Evolution 
°  '^  '^  Gorkis.    Rück- 

Thema —  die  Nutzlosigkeit  der  „Intelligenz"  zurück,  doch  beschränkte  er  nang  seiner  lite- 

_  rarischeu  Tätig- 

sich   auf  die   Rolle    des   Satirikers,    und   es   gelang   ihm   nicht,   die   nötige  keit.  Diese  wird 

"         ^  .der  Politik  ge- 

szenische Belebung  zu  erzeugen.     Die  schroffe  Verurteilung  der  Führerin        opfert. 

des  geistigen  und  sittlichen  P'ortschrittes  der  Gesellschaft,  der  Intelligenz 
im  wahren  und  besten  Sinne  des  Worts,  jener  Kulturmacht,  die  kraft 
ihres  erleuchtenden  Einflusses  auch  die  Wiedergeburt  Gorkis  selbst  er- 
möglicht hatte,  war  ein  unfruchtbares  Unternehmen.  Seine  Anklagen 
richteten  sich  jetzt  entweder  gegen  die  große  Klasse  der  Privilegierten,  die 
europäische  Tracht  tragen,  Handel  treiben,  dem  Gewinn  nachgehen,  dem 
Kapitalismus  und  der  Exploitation  frönen,  kurz  gegen  die  Bourgeois,  die 
sich  ungerechtfertigterweise  zur  Intelligenz  rechnen,  oder  gegen  die  Empor- 
kömmlinge aus  dem  Arbeiterstande,  die  im  Dünkel  ihres  vermeintlichen 
Bildungsbesitzes  ihre  frühere  Lebensart  verleugnen,  oder  schließlich  gegen 
die  Gleichgültigkeit  der  Wissenschaft  und  ihrer  Vertreter,  der  „Kinder  der 
Sonne",  die  die  Nöte  und  Leiden  des  Volkes  und  die  geistige  Finsternis, 
in  der  es  lebt,  ignorieren.  Die  dramatische  Kraft  des  „Nachtasyls"  kehrte 
aber  nicht  wieder;  öfters  kommen  Mißgriffe  vor:  wenn  Gorki  z.  B.  in  den 
„Kindern  der  Sonne"  den  Gegensatz  zwischen  der  Wissenschaft  und  der 
Kunst  einerseits  und  dem  Leben  andererseit  schildert,  so  wählt  er  als 
Vertreter  der  ersteren  nicht  etwa  Gelehrte  und  Künstler,  sondern  Dilet- 
tanten, die  auch  im  besten  Falle  nichts  für  das  Wohl  des  Volkes  zu  tun 
imstande  sind.  Jedoch  auch  mit  der  absoluten  Idealisierung"  der  Masse  ist 
es  vorbei.  In  demselben  Drama  wird  Gorki  von  einem  gesunden  Instinkt 
getrieben,  den  Konflikt  des  Wissens  mit  der  Unwissenheit,  dem  Vorurteile, 
dem  elementaren  Herdengefühl,  zur  Darstellung  zu  bringen,  indem  er 
schildert,  wie  die  durch  den  Ausbruch  einer  Epidemie  hervorgerufene 
Panik  die  Masse  gegen  ihre  Helfer,  die  Arzte,  aufbringt.  Auf  dieser  Bahn 
hätte  der  begabte  Autor  neue  Möglichkeiten  finden  können,  die  Grund- 
gedanken seiner  Kunst  zu  entwickeln.  Aber  das  Leben  nahm  ihn  in  Be- 
schlag. Der  politische  Kampf,  der  sich  immer  mehr  zuspitzte,  wies  ihm 
einen  neuen  Weg.  Der  Romanschriftsteller  und  Dramaturg  wich  dem 
politischen  Satiriker  und  Propagandisten.  Als  solchen  sehen  wir  ihn  in 
seinem  neuesten  Roman  „Die  Mutter",  in  welchem  die  stark  idealisierte 
Gestalt  einer  von  der  Freiheitsbewegung  hingerissenen  älteren  Frau  aus 
dem  Volke  im  Mittelpunkte  sozialer  Kämpfe  und  Bestrebungen  steht,  und 
die  von  der  Strömung  ergriffenen  Arbeiter  häufig  in  schwungvoller, 
ihrem  Bildungsgrad  nicht  entsprechender,  literarischer  Form  den  Ge- 
danken des  Schriftstellers  Ausdruck  geben.  Die  Evolution  Gorkis  ist 
aber  noch  lange  nicht  abgeschlossen.  Man  hat  Amerika  „das  Land  der 
unbegrenzten  Möglichkeiten"  genannt.  Dieses  Epitheton  paßt  auch  auf 
das  Schaffen  Gorkis. 

Der   anfänglich   enge  Freundeskreis  Gorkis,   der   mit  ihm  oder  neben  Der  literarische 

.  Kreis  Gorkis. 

ihm  literarisch  tätig  war,  und   in    dessen  Arbeiten   an   der  Scheide   zweier 


142 


Alexis  Wesselovsky:   Die  russische  Literatur. 


Jahrhunderte  sich  das  sozialpolitische  Erwachen  der  Gesellschaft  aus  langer 
Lethargie  spiegelte,  erweiterte  sich  immer  mehr.  Das  Vermächtnis  der 
großen  Vorgänger,  die  Idee  eines  sozialen  Berufes  der  Literatur,  machten 
sich  in  weitestem  Umfange  geltend.  Die  Begebnisse  des  aktuellen  Lebens, 
die  sich  entweder  neu  entwickelten  oder  zur  Reife  gelangten,  bildeten  jetzt 
den  fast  ausschließlichen  Hintergrund  der  literarischen  Schöpfungen.  Es 
entstand  eine  Gruppe  talentvoller  Belletristen,  die  sich  die  Lebensschick- 
sale der  russischen  Juden  nicht  nur  deshalb  zum  Gegenstand  ihrer  Be- 
handlung wählten,  weil  viele  von  ihnen,  wie  Juschkewitsch  und  Aisman 
aus  diesem  Milieu  stammten,  sondern  weil  ihr  Gewissen  sie  dazu  trieb. 
So  bringt  z.  B.  das  Drama  Tschirikoffs  „Die  Juden"  Tatsachen  aus  den 
Judenmetzeleien  zur  Darstellung.  Die  Arbeiterbewegung  fand  ihre  eifrigen 
Interpreten.  Die  Schattenseiten  des  Militärlebens  wurden  mutig  ans  Licht 
gezogen;  und  die  Erzählung  „Der  Zweikampf"  von  Kuprin,  die  diese 
Aufgabe  in  Angriff  nimmt,  gehört  zu  den  besten  Erzeugnissen  der  mo- 
dernen Literatur.  Endlich  war  es  Leonid  Andrejeff,  der  sich  in  seinem 
Schaffen  nicht  auf  enger  umgrenzte  Gebiete  und  Fragen  beschränkte, 
sondern  das  ganze  zeitgenössische  Leben  zu  umfassen  suchte  tmd  sein 
Talent  in  üppiger  Weise  zur  Entfaltung  brachte. 

Leonid  Andrejeff.  Es  War  nicht  scin  Los,  in  früher  Jugend  den  Kampf  ums  Dasein 
und  die  langsame  Selbstbildung,  die  dem  Strebenden  läng-st  von  der 
Kultur  assimilierte  Wahrheiten  zu  offenbaren  pflegt,  auf  sich  nehmen 
zu  müssen.  Ihm  war  es  vergönnt,  sowohl  seine  Geistesgaben  und  seine 
Empfänglichkeit  für  das  Schöne  als  auch  seine  altruistischen  und  freiheit- 
lichen Neigungen  normal  zu  entwickeln.  Seine  Tätigkeit  als  Rechts- 
anwalt brachte  ihn  mit  den  negativen  Lebenserscheinungen  in  unmittel- 
bare Berührung.  Er  gab  sich  dem  Studium  der  Menschen,  ilirer  Leiden- 
schaften, Kämpfe  und  Krankheiten  hin  und  bewies  einen  Scharfblick,  der 
eines  Naturforschers  oder  Arztes,  namentlich  eines  Psychiaters  würdig  ge- 
wesen wäre.  Schon  in  seinen  ersten  Erzählungen,  die  dem  Alltagsleben 
schlichter  Leute  entnommen  sind,  tritt  außer  einer  erstaunlichen  Beobach- 
tungsgabe das  Tschechoffsche  „menschliche  Talent"  und  eine  hervorragende 
stilistische  und  künstlerische  Begabung,  die  in  Bildern,  aber  auch  in  lebens- 

DicBei^chtunK  voller  Prosa  zu  reden  weiß,  zutage.    Bald  offenbarte  sich  bei  Andrejeff  die 

und  Psychologie  >  ö  ....  V   ■    , 

in  seinen  Eriäh-  Neipfungf,  sich  in  die  kranke  Seele  zu  versenken  und  die  smnhchen  Triebe, 

hingen.  ö        o>  ' 

das  Verbrecherische,  Grausame  und  Anormale  zum  Gegenstande  seiner 
Forschungen  zu  machen.  Mit  einer  Willensstärke,  die  an  diejenige  Dosto- 
jew.skys  gemahnte,  aber  bisweilen  sie  auch  übertraf,  scheute  er  nicht  vor 
Bildern  und  Situationen  zurück,  die  den  Leser  an  die  Grenze  des  Erträg- 
lichen   führen;    dies    geschah    aber    nicht    aus   Freude    an    der    Sensation, 

Die  Periode  der  ^  tit«         •    i  i      ■  TA- 

Bevorzugung    sondern    lediglich    im    Interesse    der    wahren    Wirklichkeit.     Die    geistige 

psychopatholo-  .  ,  .         .,  t'ti  -  j 

gisciier  Umnachtung  eines  armen  Dorfpriesters  in  ihren  übergangen  von  der 
religiösen  Skepsis  zur  Gotteslästerung  und  endlich  zur  Ekstase  (im 
„Leben   Wassili  Fiweiskys")    ist    mit    einer    Meisterschaft   geschildert,    die 


C.  Die  iweite  Hälfte  des   19.  Jahrhunderts.     III.  Neues  Jahrhundert.  14J 

Tschechoffs  Leistungen  in  seinen  psychiatrischen  Erzählungen  die  Wage 
hält,  doch  ist  die  Analyse  der  Krankheitssymptome  vielleicht  allzusehr  in 
den  Vordergrund  gerückt,  so  daß  die  äußerste  Grenze  für  dieses  literarisch- 
medizinische Genre  als  erreicht  betrachtet  werden  muß.  Allein  die  un- 
glückseligen Verhältnisse  der  jüngsten  russischen  Vergangenheit  bewogen 
Andrejeff,  noch  weiter  zu  gehen.  Das  Gewissen  des  Volkes  und  die  aufs 
höchste  gesteigerte  sittliche  Entrüstung  über  den  endlosen  japanischen 
Krieg  fanden  einen  würdigen  Ausdruck  in  der  Literatur.  Während  zahl- 
reiche Schriftsteller  freiwillig  auf  den  Kriegsschauplatz  eilten,  um  als 
Augenzeugen  die  Greuel  des  Krieges  zu  beschreiben,  und  Leo  Tolstoi  in 
einem  Pamphlet  Sieger  und  Besiegte  aufforderte,  um  des  christlichen  Ge- 
botes der  Liebe  willen  den  Kampf  einzustellen,  äußerte  sich  der  Antimili- 
tarismus bei  Andrejeff  in  einer  seiner  scharfsinnigsten  Studien  zur  sozialen 
Pathologie,  in  dem  „Roten  Lachen".  Dieser  Krieg,  in  welchem,  dank  der  ..d^is  rote 
chronischen    Niederlagen    und    endlosen    Metzeleien,    öfters    als    je    zuvor    Grenzmarke 

°  •'  zwischen  der 

Geisteskrankheiten    in    der    russischen    Armee    auftraten,    dient    hier    als  psychopathoio- 

gischen  und 

Rahmen  für  die  Geschichte  mehrerer  Fälle  von  Irrsinn.    Da  Andrejeff  nicht   sozialen  Rich- 
tung Andrejeffs- 

wie  Garschin  alle  Phasen  des  blutigen  Kampfes  miterlebte,  so  entwarf  er 
auf  Grund  von  Erzählungen  und  Korrespondenzen  mit  flammender  Phan- 
tasie Bilder  und  Szenen  aus  diesem  Kriege,  der  in  ein  Chaos  der  Ver- 
nichtung ausgeartet  war,  und  zeigte,  wie  solche  Erlebnisse  zu  einer  Ein- 
buße des  Verstandes  führen  können.  Bei  einem  der  unglücklichen  Helden 
der  Andrejeffschen  Erzählung  bewirkt  der  Anblick  des  in  Strömen  fließen- 
den Blutes  das  Auftreten  einer  fixen  Idee.  Wie  dem  von  Garschin  ge- 
schilderten Irrsinnigen  alles  Übel  der  Welt  in  der  roten  Blume  sj'mboli- 
siert  erscheint,  so  sieht  jener  Unglückliche  bei  allen  Menschen  das  stumpf- 
sinnige „rote  Lachen".  Er  sieht  es  auf  den  Gesichtern  der  verstümmelten 
Leichen,  am  Himmel,  an  der  Sonne,  ja  schließlich  meint  er,  es  ergösse 
sich  über  die  ganze  Erde.  Hiermit  zahlte  der  begabte  Schriftsteller  zum 
letztenmal  der  Neigung,  die  Finsternis,  die  Psychose,  das  Furchtbare  zur 
Darstelltmg  zu  bringen,  seinen  Tribut.  Gleichzeitig  trat  er  mit  dieser  Er- 
zählung in  den  Dienst  der  Allgemeinheit.  In  ihm  selbst  vollzog  sich 
eine  wichtige  Wendung. 

Seit   jener    Zeit    spiegeln    sich    in   seinen   Werken   die   Probleme    und   °''\\?^,fg'*" 
Sorgen   des   gegenwärtigen  Lebens  in  Rußland.    In  seiner  Erzählung  „Die  s'^e'^Erz^h 
Christin"    zieht    er    mit    dem    Feuer    eines    Tolstoi    den    Formalismus    und    '^f^"  "J"* 
die  Verlogenheit    der   herrschenden  Moral   ans  Licht;    indem   er  schildert, 
wie   ein   gefallenes  Weib    die   Eidesleistung   vor  Gericht    verweigert,   weil 
ihr    das   Entsetzliche    ihrer   Lage    zum   Bewußtsein    kommt    und    sie    sich 
nicht    für    würdig    hält,    Christin    zu    heißen,    kennzeichnet    er    den    Kon- 
trast   zwischen     diesem    Herzensschrei    und    dem    Geist    einer    falschen 
Kultur,   die   ihr  kein  Verständnis  entgegen   zu   bringen   vermag.     Die  Er- 
zählung „Der  Gouverneur"   ist  dagegen   dem  Strudel  der  Revolution   ent- 
nommen, steht,   indem   sie  die  an   einem  Vertreter  der  Gewalt  vollzogene 


144 


Alexis  Wksselovskv  .   Die  russische  Literatur. 


Heimzahlung  für  seine  Repression  zur  Darstellung  bringt,  ganz  auf  dem 
Boden  des  politischen  Kampfes  und  ist  von  den  Leidenschaften  des  ge- 
gebenen Augenblicks  durchglüht.  Andrejeff  tat  noch  einen  weiteren 
Schritt,  als  er  zu  allgemeinen  Fragen  überging  und  sein  Erstlingswerk 
„Zu  den  auf  dem  Gebiete  des  Dramas,  „Zu  den  Sternen",  veröffentlichte.  Ohne  die 
Zivilisation,  das  Wissen,  die  höhere  Bildung  und  Intelligenz  mit  den  end- 
losen Leiden  und  Nöten  des  Volkes  in  einen  schroffen  Gegensatz  zu 
bringen,  schildert  Andrejeff  den  Ernst,  die  Weltabgeschiedenheit  der  reinen, 
hohen  Wissenschaft  und  den  unaufhaltsamen  Kampf  des  Volkes  um  seine 
Freiheit,  der  von  jener  wenig  verstanden  und  nicht  unterstützt  wird.  In 
einem  phantastischen  Bergschloß,  aber  nicht  in  demjenigen  Manfreds,  in 
welchem  sich  die  nicht  erloschenen  Leidenschaften  eines  starken  Menschen 
verbargen,  sondern  in  einem  Observatorium,  das  nahe  den  Sternen  gelegen 
ist,  lebt  eine  Anzahl  Streiter  der  Wissenschaft,  die  unter  der  Leitung  eines 
großen  Astronomen  die  Erscheinungen  und  Gesetze  der  himmlischen  Welt 
zu  erforschen  trachten.  In  der  Ferne  aber,  tief  unten  auf  der  sündigen 
Erde  fließt  Blut  und  lehnen  sich  Menschen  voller  Verzweiflung  gegen  die 
Unterdrückung  auf.  Die  Nachrichten,  die  aus  dem  Krater  der  Revolution 
nach  oben  dringen,  stören  zunächst  die  vornehme  Ruhe  des  Gelehrten, 
der  wichtigen  Entdeckungen  auf  der  Spur  ist,  wirken  dann  aber  nieder- 
schmetternd auf  ihn,  als  er  erfährt,  daß  Menschen,  die  ihm  nahe  stehen, 
dem  Untergange  geweiht  sind.  Persönliche  und  allgemein  menschliche 
Gefühle  müssen  sich  also  notwendigerweise  geltend  machen,  aber  trotz 
alledem  ist  die  Wissenschaft  groß  und  heilig,  ihre  Entwicklung  unendlich, 
das  Leiden  einzelner  Menschen,  ja  ganzer  Generationen,  angesichts  der  Offen- 
barungen der  Weltgesetze,  nichtig,  und  es  gibt  keinen  Tod,  nur  ewiges, 
unvergängliches  Leben.  Die  himmlischen  Leuchten  erhellen  die  Welt,  es 
strahlt  die  majestätische  Natur,  die  Wankelmütigen  und  Zweifelnden  aber, 
die  es  zu  irdischen  Götzen  treibt,  verwünschen  ihre  Stummheit,  ihre  Kälte 
und  ihre  Priester.  . . .  Eine  Lösung  des  Problems  gibt  Andrejeff  nicht, 
doch  zeigt  er  es  in  seiner  ganzen  Bedeutung.  Derjenige,  welcher  ein 
solches  Problem  aufzuwerfen  und  zu  beleuchten  versteht,  der  im  Schau- 
spiel „Savva"  oder  „Ignis  sanaf'  einen  fanatischen  Anarchisten  mit  mäch- 
tigen Strichen  zeichnet  und  in  seinem  allerneuesten,  tief  empfundenen, 
symbolischen  Drama  „Das  Leben  des  Menschen"  ein  Bild  der  Tragik  des 
Menschenschicksals  in  solcher  Weise  entrollt,  beweist  hervorragende  Be- 
gabung. Sie  tritt  übrigens  in  allen  seinen  mannigfachen  Studien  und  in 
seiner  ganzen  Entwicklung  zutage.  Leonid  Andrejeff  ist  daher  zweifellos 
eine  der  größten  Hoffnungen  der  neuen  russischen  Literatur. 
Die  i.eutiBe  Die   Literatur,    die    sich    als   Zeugin    und    Gefährtin    der    sozialen   Be- 

üpllctristik,  ^  . 

Nieiicrsang  der  wcgung    vom   Streite    marxistischer,    idealistischer   und   tolstoischer    Ideen 

küusticrischen 

und  vorwicücii  umgcben  sah,  den  Zusammenprall  der  konservativen,  konstitutionellen  und 

essen,        sozialistischer  Parteien  erlebte,    und   schließlich   in  Gemeinschaft   mit   dem 

Volke  zum  Kampfe  überging-,  mußte  notwendig  die  Folgen  der  allgemeinen 


schluu.  1^5 

Anspannung  der  Kräfte  an  sich  selbst  verspüren.  Da  diese  Kräfte  sich  auf 
einem  ganz  anderen  Gebiet  entluden,  hatte  die  Literatur  scheinbar  eine  Ein- 
buße zu  verzeichnen.  Es  hieß  sogar,  daß  sie  nicht  in  Betracht  käme,  wenn 
die  wichtigsten  Existenzfragen  eines  Volkes  zur  Entscheidung  drängten.  So 
wurde  der  Literatur  ein  neuer  Weg  gewiesen,  und  wie  immer  in  derartigen 
historischen  Momenten  machte  sie  sich  mit  fieberhaftem  Eifer  ans  Werk. 
Es  entstand  sowohl  eine  Belletristik  als  auch  eine  Poesie,  die  mit  den 
Ereignissen  des  Tages  eng  verknüpft  waren.  Letztere  sind  voller  Tragik, 
so  daß  sie,  wenn  ihnen  eine  geschickte  literarische  Form  gegeben  wird, 
schon  von  selbst  starken  Eindruck  machen  und  die  Frage  nach  dem  Grade 
des  künstlerischen  Könnens  des  Verfassers  in  den  Hintergrund  drängen. 
Unter  solchen  Umständen  konnte  z.  B.  der  jüngste  der  Belletristen,  Arzy- 
bascheff,  zum  beliebten  Schriftsteller  werden.  In  seinen  Erzählungen 
werden  einzelne  Momente  aus  der  Geschichte  der  Attentate  und  der  „Straf- 
expeditionen" dargestellt.  Aber  auch  inmitten  der  allgemeinen  Erregung 
und  der  Inanspruchnahme  sämtlicher  Interessen  durch  die  Tragödie,  die  sich 
im  realen  Leben  abspielt,  schwindet  im  künstlerischen  Schaffen  nicht  alle 
Tradition.  Allerdings  gibt  es  keine  „reine",  leidenschaftslose  Kunst,  für 
deren  Harmonie  im  gegebenen  Augenblick  tatsächlich  kein  Raum  ist,  da-  Die  Möglichkeit 
für  findet  aber  eine  Verquickung  von  Kunst  und  Leben  statt.  Unter  den  quickung beider. 
jüngeren  Schriftstellern  bürgt  schon  der  Name  Andrejeff  hierfür,  aber  auch      lioroienko, 

'  ^  ,  ""  .  Schemtschu- 

die    ältere   Schrittstellergeneration    steht   nicht   nach:    das   Schaffen   Koro-      srimikow, 

^  Boborykin. 

lenkos  gehört  jetzt  ebensosehr  der  sozialen  Bewegung  als  der  Kunst;  die 
höchst  originelle  lyrische  Satire  des  greisen  Alexis  Schemtschuschni- 
kow  ist  von  L^nabhängigkeitssinn  und  Vaterlandsliebe  durchdrungen; 
der  vielseitige,  philosophisch  gebildete  Boborykin,  der  fast  ein  halbes 
Jahrhundert  lang  die  verschiedenen  Phasen  des  russischen  Lebens  verfolgt 
und  in  seinen  zahlreichen  Romanen  eine  lebendige  Chronik  der  mannig- 
faltigen Strömungen,  Leiden  und  Errungenschaften  niedergelegt  hat,  tritt 
jetzt  als  mitfühlender  Beobachter  und  Beurteiler  der  historischen  Ereig- 
nisse auf;  er  ist  in  seiner  publizistischen  Tätigkeit  ein  leidenschaftlicher 
Ankläger  und  z.  B.  in  seinen  neuesten  novellistischen  Skizzen  „Die  an 
der  Heimat  Krankenden"  ein  warmer  Anwalt  seines  Vaterlandes. 

Schluß.  Im  Zustand  höchster  Erregung  durchlebt  die  russische  Literatur    Allgemeine 
die  Gegenwart.    Da  sie  schon  jahrhundertelang  die  Leiden,  Bestrebungen  Aufgaben    der 
und  Kämpfe  des  Volkes  mit  ihm  geteilt  hat,  mußte  sie  auch  die  schwerste  fang  des  2o.jahr- 
Krisis   seiner  Geschichte   mit   ihm   durchmachen.      Von   Anfang    an   waren  blick   auf  ihre 

Zukunft. 

die  besten  Vertreter  des  Volksgedankens  in  ihren  Forderungen  und 
Äußerungen  demokratisch  gewesen.  Die  Literatur  hatte  stets,  im  Zeitalter 
Iwans  des  Schrecklichen,  während  der  Reaktion  unter  Katharina,  unter 
Nikolaus  I.  und  später,  Apostel  der  Kultur,  der  Bildung  und  Gerechtigkeit 
ins  Treffen  geschickt.  Eine  Beschützerin  der  Lebenswahrheit  in  der  künst- 
lerischen Darstellung,  hat  sie  sich  von  jeher  zum  Realismus  bekannt,  und 

Diu  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9.  10 


146  Alexis  Wesselovsky:  Die  russische  Literatur. 

die  unendliche  Reihe  seiner  Anhänger,  vom  Verfasser  des  Liedes  vom 
Feldzug  Igors  an  bis  zu  Gogol,  Turgenieff  und  Saltykoff  hat  aus  dem 
Volkstum  große  Reichtümer  gehoben.  Auf  das  reale  Leben  des  Volkes 
gestützt,  war  es  ihr  möglich,  die  realistische  Zeichnung  mit  der  Satire  zu 
verbinden.  Im  Laufe  der  letzten  beiden  Jahrhunderte  betrachtete  sie  sich 
im  engen  Zusammenhang  mit  der  geistigen  Bewegung,  unterstützte  alle 
wichtigen  reformatorischen  Ideen  ebenso  wie  das  Suchen  nach  neuen 
Bahnen,  spiegelte  sie  das  selbstbewußte  Vorgehen  der  Bilderstürmer 
während  der  sechziger  Jahre,  den  Pessimismus  der  achtziger  Jahre  und 
die  gegenwärtige  Freiheitsbewegung  wider,  nahm  die  Verkündigung  der 
Vereinfachung  des  Lebens  und  des  Tolstoischen  Evangeliums  der  Liebe 
auf  sich  und  verstand  gleichzeitig  die  Schönheit  Puschkinscher  oder  Ler- 
montoffscher  Dichtung  zu  pflegen.  So  war  sie  zu  allen  Zeiten  die  wich- 
tigste Erzieherin  des  Volkes.  Anfangs  bedurfte  sie  der  Unterstützung 
abendländischer  kultureller  Werte,  aber  dann  erlangte  sie  einen  so  hohen 
Grad  von  Selbständigkeit,  daß  sich  ein  rückläufiger  Einfluß  auf  Westeuropa 
geltend  machte,  der  ihr  einen  hervorragenden  Platz  in  der  Geschichte  der 
Weltliteratur  sicherte.  Die  trostlose  Behauptung  Tschaadaeffs ,  des  ein- 
samen Denkers  aus  der  Zeit  Nikolaus'  I.,  daß  die  russische  Kultur  un- 
fruchtbar sei  und  daß  ihre  einzige  Rettung  in  einer  völligen  Verschmelzung 
mit  der  westeuropäischen  liege,  ist  durch  die  Tatsachen  widerlegt  worden. 
Die  Bahn,  welche  die  russische  Literatur  von  nun  an  einschlägt,  ist  durch 
die  Folgerichtigkeit  ihrer  gesamten  Entwicklung  und  durch  die  von  ihr 
heilig  gehaltene  Überlieferung  bestimmt.  Wenn  erst  die  gegenwärtige 
schwere  Krisis  überstanden  ist  und  das  Land  auf  dem  Boden  einer  freien, 
friedlichen  Entwicklung  seine  Wiedergeburt  feiert,  dann  wird  sich  auch  die 
Literatur  wieder  als  die  wichtigste  Stütze  und  Verteidigerin  der  Kultur 
erweisen. 


Literatur. 

Die  wissenschaftliche  Bearbeitung  der  russischen  Literaturgeschichte  begann  erst  in 
den  fünfziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts.  Ihr  gingen  seit  dem  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts einzelne  V'ersuche  von  Beschreibungen  des  Barbestands  der  Literatur  voraus, 
die  teils  die  Form  bibliographischer  Verzeichnisse  hatten ,  teils  mit  Angaben  über  das 
Leben  und  die  Werke  der  Schriftsteller  versehene  Wörterbücher  waren.  Der  Stamm- 
vater der  russischen  bibliographischen  Forschung  war  Sylvester  Medwedeff,  einer  der 
ersten  Vertreter  der  Bildung  in  Moskau  unmittelbar  vor  dem  Zeitalter  Peters  des  Großen; 
wegen  seiner  freien  Anschauungen  lud  er  den  Haß  der  alten  kirchlichen  Partei  auf  sich 
und  wurde  infolge  von  Denunziationen  hingerichtet.  Unter  seinen  gelehrten  und  pole- 
mischen Schriften  befindet  sich  eine  interessante  Übersicht  des  Schrifttums,  ,,Ein  Ver- 
zeichnis der  Bücher  und  ihrer  Verfasser".  Es  ist  bemerkenswert,  daß  NOVHKOFF,  nach 
Medw'EDEFF  die  bedeutendste  Erscheinung  auf  dem  Gebiete  der  hterarischen  Forschung  im 
18.  Jahrhundert,  ebenfalls  ein  hervorragender  Pionier  der  Kultur  war.  Sein  , .Versuch 
eines  historischen  Wörterbuches  der  russischen  Schriftsteller"  und  sein  , .Dramatisches 
Lexikon",  die  viele  wertvolle,  durch  die  Zufälligkeit  der  alphabetischen  Ordnung  ihres  Zu- 
sammenhangs beraubte  Angaben  über  die  neue  Literatur,  den  Lebensgang  der  Verfasser, 
ja  sogar  über  die  Entstehungsgeschichte  der  Werke,  insbesondere  der  dramatischen,  ent- 
halten, aber  den  Stoff  nicht  zu  einer  Darstellung  der  Epochen,  Richtungen  und  Schulen 
verarbeiten,  bildeten  den  Übergang  zu  wissenschaftlichen  Forschungen  und  Darstellungen. 
Die  alte  Literatur  und  die  Volksdichtung  wurden  zwar  in  diesen  Werken  nicht  berücksichtigt, 
doch  die  sich  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  geltend  machende  Bewegung  zugunsten  der 
Herausgabe  und  Erläuterung  der  Denkmäler  aus  alter  Zeit,  sowie  der  Sammlung  von 
X'olksliedem  und  Sagen,  förderte  die  Erforschung  der  Literatur  der  früheren  Jahrhunderte. 
Wiederum  begegnen  wir  hier  der  Mitarbeit  Nowikoffs,  der  in  seiner  vielbändigen  ,, Alt- 
russischen Bibliothek"  außer  historischen  und  diplomatischen  Dokumenten  viele  Werke 
,, alter  Dichter"  abgedruckt  hat.  Die  epochemachende  Entdeckung  und  Herausgabe  eines 
so  hervorragenden  Nationalgutes  wie  „Das  Lied  vom  Feldzuge  Igors",  bemerkenswerte 
.•\rbeiten  einer  Gruppe  von  Gelehrten,  die  sich  am  Anfang  des  ig.  Jahrhunderts  in  Peters- 
burg um  den  Kanzler  Grafen  RUMJANZEW  scharten,  unter  ihnen  die  des  Vaters  der  russischen 
Philologie  Wostokoff,  und  die  ersten  Sammlungen  von  Volksliedern  erweiterten  beträchtlich 
den  Horizont.  Der  Ertrag  der  Bearbeitungen  der  neuen  und  alten  Literatur  fiel  aber  merklich 
zugunsten  der  letzteren  aus.  Der  Kampf  der  neuen  Richtungen  —  der  Romantik,  des 
Byronismus,  der  Puschkinschen  Schule  —  mit  dem  klassischen  ancien  regime  gewährte 
weder  für  eine  objektive  Betrachtung  noch  für  eine  wissenschaftliche  Bewertung  der  jüngsten 
Vergangenheit  Raum.  Jedoch  innerhalb  der  Universitäten  begann  sich  eine  Art  historisch- 
literarischer Wissenschaft  auszubilden.  Der  beredte  Nadeshdin,  der  Lehrer  des  nachmaligen 
Kritikers" Belinskv,  [riß  die  Moskauer  studentische  Jugend  hin,  indem  er  die  Entwicklung 
der  russischen  Literatur  in  den  Rahmen  der  Weltliteratur  einfügte.  Er  ließ  von  dem  po- 
lemischen Tone,  den  er  in  seiner  Dissertation  „De  poesi  romantica"  angeschlagen  hatte,  ab 
und  kam  der  modernen  Dichtung  entgegen.     In  jenem  Werke  hatte  er  die  russische  Poesie 


1^8  Alexis  Wksselovskv:  Die  russische  Literatur. 

mit  der  Weltliteratur  auch  schon  in  Zusammenhang  gebracht,  aber  lediglich  um  einen 
parteiischen  Streit  gegen  Byron  und  seine  russischen  Anhänger  auszufechten.  Während  die 
dilettantenhaften  Versuche  Nadeshdins  den  Prolog  zur  wissenschaftlichen  Behandlung  der 
Literatur  auf  den  Universitäten  bilden,  erstanden  in  den  kritischen  Arbeiten  Belinskys 
die  Grundlagen  der  historischen  Entwicklung  der  neuen  Literatur  nach  Peter  dem  Großen 
in  klarer  und  wohldurchdachter  Form.  Der  Serie  seiner  feurigen  Abhandlungen  ,, Lite- 
rarische Phantasien"  diente  die  Geschichte  der  gesamten  Literatur  als  Hintergrund.  Die 
Analyse  der  bedeutenden  Theaterstücke  Gribojedoffs  und  Gogols  wurde  mit  einer  Reihe 
Charakterbilder  älterer  Komödiendichter  eingeleitet.  Die  klassischen  Abhandlungen  über 
Puschkin  legten  den  Zusammenhang  seines  Schaffens  mit  der  älteren  russischen  Dichtkunst 
dar  und  waren  zugleich  die  erste  Monographie  über  den  Dichter,  die  sich  auf  die  Analyse 
seiner  Schöpfungen  gründete.  Das  Beispiel  Bf.LINSKVS  wirkte  noch  in  den  fünfziger  Jahren 
nach,  indem  TschernySCHEWSKY  in  seinem  ,, Umriß  der  Gogolschen  Periode  der  russischen 
Literatur"  den  Spuren  seines  großen  Vorgängers  folgte  und  Belinskys  eigener  Wirksamkeit 
einen  hervorragenden  Platz  in  der  Geschichte  der  jüngsten  literarischen  Epoche  anwies. 
Unterdessen  hatte  sich  auch  das  Sammeln  von  wertvollem  Material  verstärkt,  auf  das  sich  die 
Forschung  über  die  alte  Literatur  und  die  Volksdichtung  stützen  konnte.  Gleichzeitig 
mit  der  Herausgabe  vieler  Denkmäler  der  alten  Buchliteratur  erschienen  eine  von  Peter 
KiREjEWSKY  zusammengestellte  Volksliedersammlung,  eine  von  Afanasjeff  herausgegebene 
Sammlung  von  Märchen  und  Dahls  ,, Erläuterndes  Wörterbuch  der  großiüssischen 
Sprache",  das  zum  ersten  Male  das  ausdrucksvolle  Werkzeug  der  Literatur,  die  lebendige, 
von  Tltrgenjeff  später  in  so  beredten  Worten  gepriesene  Sprache  in  ihrem  ganzen  Um- 
fange zur  Darstellung  brachte  —  Werke,  die  eine  Lebensarbeit  bedeuten.  Aus  dem 
Staube  der  Jahrhunderte  erstanden  die  Gestalten  vergessener,  doch  bemerkenswerter 
Schriftsteller,  wie  z.  B.  des  Emigranten  Kotoschichin.  Die  Arbeiten  des  Moskauer 
Professors  SCHEWYREW,  eines  der  Pioniere  auf  diesem  Gebiete,  trugen  aber  den  Stempel 
slawophiler  Romantik  und  einer  einseitigen  Bevorzugung  der  kirchlichen  Literatur.  Allein 
zwei  Schülern  ScHEWVREWS,  Busl.\je\v  und  Tichonrawoff,  war  es  beschieden,  die 
Untersuchungen  über  die  Literatur  vor  Peter  dem  Großen  und  die  Volkspoesie  aus 
diesen  Banden  zu  befreien  und  sie  auf  wissenschaftlichen  Boden  zu  stellen.  Der  Einfluß 
der  deutschen  Forschung,  insbesondere  der  Brüder  Grimm,  und  die  Anwendung  der 
vergleichenden  Methode  regten  zur  Selbsttätigkeit  an.  Der  Klerikalismus  Schewyrews 
wurde  bald  überflügelt,  und  da  sich  Gelehrsamkeit  und  Talent  in  Buslajew  vereinigt  fanden, 
nahmen  seine  „Historischen  Studien  über  die  volkstümliche  Literatur  und  Kunst"  (1861) 
bald  nicht  nur  in  der  Wissenschaft,  sondern  auch  in  weiten  Kreisen  der  Gesellschaft 
eine  hervorragende  Stellung  ein.  Zum  erstenmal  war  in  diesen  vorzüglichen  Studien  der 
Geist  der  ehemaligen  Kultur  des  eigenen  Volkes  lebendig  geworden.  Als  sich  den  beiden 
Begründern  der  literarhistorischen  Wissenschaft  ALEXANDER  Pypin  hinzugesellte,  der  mit 
seiner  an  vergleichendem  Material  außerordentlich  reichen  Dissertation  über  ,,Die  Literatur- 
geschichte der  alten  Erzählungen  und  Märchen"  vom  Jahre  1857  aus  der  Schar  der  Peters- 
burger Universitätsjugend  hervortrat  und  mit  jeder  neuen  Arbeit  den  Horizont  seiner  For- 
schungen erweiterte,  war  das  Schicksal  der  Geschichte  der  Literatur  gesichert.  Die  Be- 
arbeitung der  Peter  dem  Großen  folgenden  Epoche  und  der  neuen  Literatur,  die  in  der 
zweiten  Hälfte  der  fünfziger  Jahre  einen  lebhafteren  Aufschwung  nahm,  stellte  das  Gleich- 
gewicht wieder  her,  das  durch  die  übliche  einseitige  Beschäftigung  mit  dem  Altertum  er- 
schüttert worden  war.  Nunmehr  wurde  eine  kritische  Ausgabe  der  Werke  der  großen 
Schriftsteller  (PUSCHKIN  in  den  Jahren  1855  —  57,  Gogol  im  Jahre  1860),  eine  Veröftcnt- 
lichung  des  auf  sie  bezüglichen  biographischen  Materials  und  das  Erscheinen  der  ersten 
Arbeiten  über  ihr  Leben  und  Wirken  möglich.  Die  ,, Geschichte  der  alten  und  neuen  russischen 
Literatur"  von  Galachoff,  die  bei  Gribojedoff  abbricht,  war  der  erste  Versuch  einer  Dar- 
stellung der  gesamten  Entwicklung  der  Literatur,  von  ihren  ersten  Anfängen  bis  zur 
klassischen  Zeit.  Die  Mängel  dieses  Werkes,  das  von  einem  Spezialisten  auf  dem  Gebiete 
der  neuen  Literatur,  ohne  genauere  Kenntnis  der  älteren  Zeit,  verfaßt  worden  war,  sind  von 


Literatur 


149 


Tu  HONRAWOFI"  in  einer  eingehenden,  bemerkenswerten  Kritik  ans  Licht  gezogen  worden. 
Infolgedessen  wurde  eine  zweite  Auflage  des  Buches  veranstaltet,  in  der  ganze  Teile  aus 
der  Feder  anerkannter  Speziahsten  stammten.  Die  umfangreiche  (jeschichte  der  alten  No- 
velle war  z.  B.  von  Alexander  Wesselovsky  verfaßt.  Jedoch,  trotz  dieser  wesenüichcn 
Verbesserungen,  war  es  Galachoff  nicht  beschieden ,  als  Geschichtschreiber  der  gesamten 
Literatur  an  erster  Stelle  zu  stehen.  Hierzu  war  PvpiN  berufen,  der  sich  zu  dieser  Arbeit 
lange  vorbereitet  hatte.  Nach  dem  Erscheinen  seiner  Dissertation  wandte  er  sich  der 
systematischen  Bearbeitung  der  wichtigsten  von  der  Literatur  der  Neuzeit  gestellten  Fragen 
zu.  Die  Geschichte  des  Freimaurertums,  die  ersten  Dezennien  des  19.  Jahrhunderts  (,,Die 
soziale  Bewegung  unter  Alexander  L"),  die  Strömungen  der  dreißiger  und  vierziger  Jahre 
(,, Charakteristik  literarischer  Schulen"),  sowie  die  biographischen  Studien  über  Belinsky, 
SaLTYKOFF  und  Nekrassoff  dienten  dem  Forscher  als  Übergangsstufen  zur  Bearbeitung 
der  jüngsten  Vergangenheit.  Das  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  zeichnete  sich  überhaupt 
durch  eine  besondere  Belebung  des  Interesses  für  die  letzten  Epochen  der  Literatur  aus. 
Die  Schöpfungen  der  bedeutendsten  Schriftsteller  erschienen  in  monumentalen  Ausgaben  mit 
dem  gesamten  Apparat  der  Kritik  und  umfangreichen  Koinmentaren  (die  Puschkinausgabe 
wurde  im  .Auftrage  der  Akademie  der  Wissenschaften  von  Efremoff  und  MOROSOFF  unter- 
nommen, die  Gogolausgabe  wurde  von  Tichon'RAWOFF  und  ScHöNROCK,  die  Werke  Belinskys 
von  Wengerow  redigiert).  Die  biographische  Bearbeitung  erfuhr  große  Modifikationen;  das 
Verhältnis  der  Schriftsteller  zu  den  Geistesströmungen  und  den  Grundfragen  des  Lebens, 
wie  2.  B.  zur  Emanzipation  der  Leibeigenen,  ihre  Stellung  zu  den  Kämpfen  der  sechziger 
Jahre  um  soziale  und  sittliche  Ideale  oder  zur  Lehre  Tolstois,  wurde  zum  Gegenstande  spezieller 
Untersuchungen.  Die  vergleichende  Methode,  die  bei  der  Erläuterung  der  alten  Literatur 
so  viele  Resultate  zutage  gefördert  hatte,  wurde  nun  auch  bei  der  Behandlung  der  Neuzeit 
angewandt  und  die  Frage  nach  der  Bedeutung  des  westeuropäischen  Einflusses  auf  das 
russische  Leben  scharf  formuliert.  Es  wurde  nicht  nur  die  Geschichte  der  neueren  Literatur, 
sondern  die  der  neuesten  geschaffen.  Jedoch  ein  noch  größerer  und  fruchtbarerer  Fortschritt 
wurde  vielleicht  durch  die  allseitige  Erforschung  der  älteren  Zeit  erzielt.  Ganze  Schulen  von 
Forschern  machten  sich  an  die  Untersuchung  der  Volksdichtung,  ihrer  Elemente,  ihrer 
Quellen,  ihrer  historischen  Grundlagen,  ihrer  Beeinflussung  durch  das  Epos  des  Orients 
fSTA.ssoFF,  Wsewolod  Miller,  Potanin)  oder  durch  die  westeuropäische  Literatur  (Alex- 
ander Wesselovsky,  Shdanoff,  Jagiö).  Eine  derartige  Fülle  wissenschafdich  bearbeiteter 
Materialien  mußte  notwendig  zu  einer  Gesamtdarstellung  der  Uterarischen  Entwicklung  von 
den  Anfängen  bis  zur  Gegenwart  führen.  Diese  Aufgabe  löste  Pypin  in  seiner  umfang- 
reichen ,, Geschichte  der  russischen  Literatur".  Er  zog  das  Fazit  alles  dessen,  was  je  zur 
Erforschung  dieses  Gegenstandes  geschehen  war,  indem  er  diejenigen  Ergebnisse  einer 
.Arbeit  von  anderthalb  Jahrhunderten  ans  Licht  zog,  welche  von  nun  an  für  das  Ver- 
ständnis der  Evolution  maßgebend  werden  mußten;  er  verband  mit  seinen  Forschungen 
eine  Untersuchung  der  sozialen  Strömungen ,  dieses  für  das  Schicksal  der  russischen 
Literatur  so  bedeutsamen  Faktors,  wobei  die  durchsichtige  Klarheit  seiner  Darstellungen 
und  seine  umfassenden  Kenntnisse  sich  die  Wage  hielten.  Pypin,  der  seine  Kräfte 
außerdem  an  ähnlichen  Arbeiten,  wie  z.  B.  an  der  ,, Geschichte  der  russischen  Ethno- 
graphie" oder  an  der  ,, Geschichte  der  slawischen  Literaturen"  bereits  erprobt  hatte,  machte 
sich  mit  Begeisterung  an  das  letzte  Werk  seines  an  wissenschaftlichen  Leistungen  reichen 
Lebens.  Die  zweite  Auflage,  die  bald  erforderlich  wurde,  wies  Verbesserungen  auf;  für  eine 
Fortentwicklung  des  W^erkes  war  bereits  gesorgt,  als  der  Tod  den  unermüdlichen  Gelehrten 
ereilte.  Die  posthumen  Erinnerungen  seines  Lebens,  das  ihn  mit  allen  literarisch  be- 
deutenden Persönlichkeiten  in  Berührung  gebracht  hatte,  lieferten  selbst  ein  wertvolles,  ein 
halbes  Jahrhundert  umfassendes  Kapitel  zur  Geschichte  der  Literatur.  Durch  PVPINS  Werk 
hatten  die  wissenschaftlichen  Untersuchungen  die  erforderliche  Reife  erlangt.  Noch  steht  viel 
Arbeit  bevor,  namentlich  bezüglich  der  komplizierten  Erscheinungen  am  Ende  des  ig.  und 
zu  Beginn  des  20.  Jahrhunderts,  die  den  Inhalt  der  Literatur  der  Gegenwart  bilden.  Sie 
sind  am  Schlüsse  des  Pypinschen  Werkes  nur  in  ihren  Hauptzügen  kurz  erwähnt.    Es  werden 


I50 


Alexis   Wesselovsky :  Die  russische  Literatur. 


bereits  Versuche  unternommen,  die  Entwicklung  des  russischen  sozialen  Gedankens  zur  Dar- 
stellung zu  bringen,  die  Philosophie  der  russischen  Literatur  zu  ergründen,  den  Klassenkampf 
im  Laufe  ihrer  Geschichte  zu  verfolgen  oder  sie  m  den  Rahmen  der  gesamten  Entwicklung 
des  Volkes  einzufügen,  wie  dies  der  zur  Zeit  beste  Kulturhistoriker  Rußlands,  MiliUKOFF 
und  neben  ihm  in  allerneuester  Zeit  der  begabte  junge  Gelehrte  JWANOW  -  Rasltmnik 
getan  haben. 

Pypin,  Geschichte  der  russischen  Literatur,  2.  Aufl.  (St.  Petersburg,    1902  —  3;  russisch). 

Galachoff,  Geschichte  der  alten  und  neuen  russischen  Literatur,  2.  Aufl.  (St.  Peters- 
burg,  1880;     russisch). 

Skabitschewsky,  Geschichte  der  neusten  Literatur  (1891;  russ.l. 

Orest  Miller,  Die  russische  Literatur  nach  Gogol,  2.  Aufl.  (1906;  russ.). 

OVSJANIKO-KULIKOWSKI,    Geschichte   der  russischen   Intelligenz   (Moskau,    1906;  russ.j. 

IwanOFF-Rasumnik,  Geschichte  der  russischen  sozialen  Ideen  (St.  Petersburg,  1907;  russ.). 

Alexis  Wesselovsky,  Der  Einfluß  des  Westens  auf  die  neue  russische  Literatur, 
3.  Aufl.  (Moskau,  1906;  russ.). 

MlLIUKOFF,   Abriß   der  russischen  Kulturgeschichte  (St.  Petersburg,   1896 — 1902;  russ.). 

Alex,  von  Reinhold,  Geschichte  der  russischen  Literatur  von  ihren  Anfängen  bis 
auf  die  neueste  Zeit  (Leipzig,   1886). 

P.  KrOPOTKIN,  Ideals  and  realities  in  russian  literature  (London,   1905). 

Prof.  Alex.  Brückner,  Geschichte  der  russischen  Literatur  (Leipzig,   1905). 

Melchior  de  VOGÜß,  Le  roman  russe  (1886). 

DUNLOP,  Hislory  of  prose  fiction.  New  edition  by  H.  Wilson  (.Abschnitt  über  die 
Geschichte  des  russischen  Romans;  (London,   i888j. 

Georg  Br.andes,  Menschen  und  Werke  (1894)  (Puschkin,  Lermontoft',  Dostojcwsky, 
Tolstoi). 

E.  Zabel,  Russische  Literaturbilder  (Berlin,  1907)  (Gogol,  Puschkin,  Dostojewsky, 
Gontscharoff,  Tolstoi,  TurgeniefF,  Gorki  etc.). 

DUPUY,  Les  grands  maitres  de  la  litterature  russc  au   19  sifecle  (1885). 

SeidlITZ,  W.  A.  Joukofisky,  ein  russisches  Dichterleben  (1870). 

Alexander  Wesselovsky,  W.  A.  Schukoffsky  (St.  Petersburg,  1904;  russ.). 

Raina  TyrnÄva,  Nicolas  Gogol,  ecrivain  et  moraliste  (Ai.x,   1901  1. 

Ernst  BorkOWSKY,  Turgenjew  (,, Geisteshelden")  (Berlin,   1903). 

Zabel,  Turgenjew,  Eine  literarische  Studie  (Berlin,   1884). 

Emile  Aumant,  Ivan  Tourguenief.     La  vie  et  l'oeuvre  (Paris,   1906). 

SaitsCHIK,  Die  Weltanschauung  Dostojewskis  und  Tolstois  (Dresden,  s.  a.) 

N.  Hoffmann,  Dostojewski  (1899). 

J.  Müller,  Dostojewski  (Straßburg,   igo2j. 

Gaston  Loygue,  Un  homme  de  genie.  Th.  M.  Dostojewsky.  Etüde  me'dico-psycho- 
logique  (Lyon,   1904). 

O.  Sperber,  Die  sozialpolitischen  Ideen  Alexander  Herzens  (Leipzig,   1894). 

Raph.  Löwenfelü,  Leo  N.  Tolstoi,  sein  Leben,  seine  Werke,  seine  Weltanschauung 
(1892). 

Derselbe,  Gespräche  über  und  mit  Tolstoi  (Leipzig,   1901). 

Ward,  Prophets  of  the  nineteenth  Century  (Carlyle,  Ruskin,  Tolstoi;  (1900}.  —  Karl 
RÖSSNER,  Moderne  Propheten,   1907  (u.  a.  Tolstoi). 

BlRlUKOFF,  Tolstois  Biographie  und  Memoiren  (Wien,   1906). 

H.  OSTVVAl.n,  Maxim  Gorki  („Die  Literatur")  (1905). 

E.  Dii.i.oN,  Max.  Gorky.     His  life  and  writings  (London,   1902). 

Reich  an  literarischen  Proben  aus  der  russischen  Literatur  von  den  ältesten  Zeiten  bis 
zur  Gegenwart  ist  die  Anthology  of  russian  literature  from  the  earliest  period  to  the  present 
time,  by  Leo  Wiener,  profcss.  at  Harvard  University  (New-York,  1903);  viele  Übersetzungen 


Literatur.  I  ^  I 

russischer  Gedichte  bietet  auch  das  dilettantenhafte  Buch  von  Newmarch,  „Poetry  and  pro- 
gress  in  Russia"  (London,   1907). 

S.  41 — 42.     Von  der  Volksdichtung: 

Wilhelm  Wollner,  Untersuchungen  liber  die  Volksepik  der  Großrussen  (Leipzig,  1879). 

V.  jAGid,  Die  christlich -mythologische  Schicht  in  der  russischen  Volksepilc  (Archiv 
für  slawische  Philologie,  I). 

S.  44 — 49.     Zur  Geschichte  der  Annäherung  Rußlands  an  Westeuropa: 

A.  Brückner,  Die  Europäisierung  Rußlands  (Gotha,   1888). 

S.  46.     Die  Zeit  der  Wirren  ist  dargestellt  von 

K.  WaLISZEWSKI,  La  crise  revolutionnaire,   1584 — 1614  (Paris,   1906). 

Von  der  Geschichte  der  Leibeigenschaft  handelt: 

Engelmann,  Die  Leibeigenschaft  in  Rußland  (1884). 

Einen  Umriß  der  Literatur  der  Bauememanzipation  gibt 

W.  Semewsky,  Die  Bauemfrage  in  Rußland  im  XVIII.  und  XIX.  Jahrhundert  (St.  Peters- 
burg,  1888;  russisch). 

S.  48.  Die  gesamte  Literatur  des  Zeitalters  Peters  des  Großen  ist  bearbeitet  und  biblio- 
graphisch verzeichnet  von 

PekarSKY,  Die  Wissenschaft  und  Literatur  zur  Zeit  Peters  des  Großen  (St.  Petersburg 
1862;  russisch). 

S.  48.     Über  die  sozial-politischen  Anschauungen  Possoschkoffs: 

A.Brückner,  Ideen  und  Zustände  in  Rußland  zur  Zeit  Peters  des  Großen  (Leipzig,  1878). 

S.  49.     Zum  Verhältnis  Katharinas  II.  zur  europäischen  Gedankenwelt: 

M.\urice  Tourneux,  Diderot  et  Catherine  II  (1899). 

LARivifeRE,  Catherine  II  et  la  revolution  fran(;aise  (1895). 

Die  Memoiren  Katharinas  (im  französ.  Texte)  erschienen  1907  in  St.  Petersburg. 

Das  Buch  RadischtschefiTs  ist  zum  erstenmal  mit  Varianten  in  Petersburg  1905  wieder 
abgedruckt  worden. 

Zur  Charakteristik  der  Gesellschaft,  der  politischen  Bewegungen  und  der  Literatur  unter 
Alexander  I.: 

Th.  Schiemann,  Geschichte  Rußlands  unter  Kaiser  Nicolaus  I.  (Berlin,  1904).  (Der 
erste  Band  handelt  von  der  Regierungszeit  Alexanders.) 

S.  50 — 55.  Über  den  Byronismus  Puschkins,  Lermontoffs  und  anderer  russischer 
Dichter: 

Alexis  Wesselovskv,  Studien  und  Charakteristiken,  3.  Aufl.  Moskau,  1907  (Studien 
über  den  Byronismus.) 

Zur  Charakteristik  des  Realismus  in  der  russischen  Literatur  in  seinem  Zusammenhang 
mit  der  realistischen  Richtung  in  Westeuropa: 

David  Sauv.^GEOT,   Le  realisme  et  le  naturalisme  dans  la  litterature  et  dans  l'art  (1889). 

Zur  Charakteristik  Lermontofis: 

Fried.  Bodenstedt,  Erinnerungen  aus  meinem  Leben  (Berlin,   1888). 

S.  loi  und  105.  Die  Zeit  der  Reformen  unter  Alexander  II.  in  ihrer  Bedeutung  als 
Hintergrund   der  Literatur: 

GOLOWATSCHOFF,  Ein  Jahrzehnt  der  Reformen  (1872). 

Dschanschieff,  Aus  der  Zeit  der  großen  Reformen  (Moskau,   1894;  russisch). 

Unter  den  nicht  zahlreichen  deutschen  Übertragungen  der  Werke  SaltykofFs  befindet 
sich  die  Übersetzung  seines  einzigen  Romans  ,,Die  Golowljeffs"  in  der  Reclam-Ausgabe. 

Zur  Literatur  über  Tolstoi : 

Albert  Sorel,  Tolstoi  historien.  Conference  (1888V 

Iwan  Strannik,  La  religion  de  Tolstoi  (Revue  de  Paris,   1902';. 

W.  BODE,  Was  ist  uns  Tolstoi?    (Freies  Wort,   1902;  11). 


15^ 


Alexis   Wesselovskv  :  Die   russische   Literatur. 


S.  114 — 119.     Von  der  sittlichen  Idee  bei  Tolstoi  und  Usspensky  handelt: 

G.    PoLONSKV,     Gewissen,    Ehre    und    Verantwortung.      Liter-psychologische    Studien 

(Ibsen,  Gleb  Usspensky,  Tolstoi),  München,   1899. 

S.  131  — 142.     Zur  Literatur  über  Tschechofi"  und  Gorki  siehe  die  Abhandlungen  von 
M.V.Brandt  (Deutsche  Rundschau,  1902);  Leo  Berg  (Westermanns  Monatshefte,  1902.) 
Krausold,    Naturgenie    und  Kuhurgeist    bei  Gorki    (Freistatt,    1902;   4).  —  PORITZKY, 

H.  Heine,  Dostojewsky,  Gorkij.  Essays  (Leipzig,   1902). 
P.  POLLAK  (Umschau,   1903;  VII). 
Ostwald    (Nord    und    Süd,    1904);     A.  Tschechoff  als    Diagnostiker   (Neue    Bahnen, 

1904;  IV). 

A.   Frh.   V.   Engelhardt,     Der  russische   Maupassant    (A.   TschecholT;     i'Liter.   Echo, 

1898;  3). 

E.  DiLLON,  Max.  Gorky,  his  life  and  writings  (1902;. 


DIE  POLNISCHE  LITERATUR. 

Von 
Alexander  Brückner. 


Einleitung.  Ein  eigenartiges  Schauspiel,  nicht  nur  unter  den  sla- Spate  Anßn 
wischen  Literaturen,  gewährt  die  polnische,  die,  allein  unter  ihnen,  eine 
ununterbrochene  Vergangenheit  in  stetem  Zusammenhang  mit  der  abend- 
ländischen Kultur  aufzuweisen  hat,  ohne  sich  jedoch  vor  dem  19.  Jahr- 
hundert über  die  Bedeutung"  einer  bloßen  Landesliteratur  erhoben  zu 
haben.  Allerdings  hat  sie  sich  erst  spät  entwickeln  können.  Polens 
Lage,  nicht  weit  genug,  um,  wie  Rußland,  vor  jeder  Umklammerung 
durch  fremde  Elemente  gesichert  zu  sein,  nicht  nahe  genug  an  den 
Brennpunkten  der  Kultur;  der  Ausschluß  von  Meer  und  Gebirge;  die 
einförmig  weite  Ebene,  die  zur  Zerstreuung  der  Wohnsitze  einlud  und 
das  Aufkommen  von  Stadt  und  städtischem  Leben  hinderte;  verspäteter 
Eintritt  in  die  Geschichte  —  ist  doch  das  Christentum  fast  anderthalb 
Jahrhunderte  nach  der  Bekehrung  des  benachbarten  Mähren  angenommen; 
ungünstige  äußere  Verhältnisse,  namentlich  die  Zersplitterung  des  alten 
Piastenreiches  in  Teilgebiete  und  infolgedessen  frühe  bedeutende  Ver- 
luste, Schlesiens,  Pommerns,  des  alten  Preußen,  das  nach  Ausweis  seiner 
Sprache  auf  dem  besten  Wege  war,  polnisch  zu  werden:  —  alles  das 
hinderte  ein  Gedeihen  auch  der  nationalen  Literatur.  Allerdings  wurde 
diese,  in  Polen  wie  in  Ungarn,  noch  mehr  durch  die  Vorherrschaft  des 
Latein  in  Schrift  und  Schule,  Amt  und  Kirche,  sowie  durch  die  fremden 
Elemente  in  den  Städten  mit  ihrer  zum  Teil  deutschen  Bürgerschaft 
zurückgehalten;  der  allmächtige  Druck  des  Lateinischen  fand  längere  Zeit 
keinerlei  Gegengewicht.  Das  änderte  sich,  als  die  politische  Machtent- 
faltung des  großenteils  wiedervereinten  Landes  der  Plasten  im  friedlichen 
Bunde  mit  dem  Litauen-Rußland  der  Jagellonen  die  nationalen  Grund- 
lagen für  immer  festete  und  als  geistige  Tätigkeit  schon  durch  die  an- 
sehnliche wissenschaftliche  Arbeit,  die  an  der  Leuchte  des  Nordens,  an 
der  Universität  Krakau,  geleistet  wurde,  erwachte.  Jetzt  erst,  seit  dem 
16.  Jahrhundert,  im  Zeichen  von  Humanismus  und  Reformation,  erfolgte 
die  Entwicklung'  einer  nationalen  Literatur,  sofort  die  aller  Nachbarländer, 


l  CA  Alexander  Brückner:  Die  polnische  Literatur. 

nicht  nur  Ungarns  oder  Böhmens,  weit  überragend.    Diese  Literatur  wurde, 
was  der  Staat  ward  —  eine   ständische   und    ländliche;    sie   repräsentierte 
den  Adel,  seine  Interessen'  und  Ideale,  mit  stark  ausgeprägten  nationalen 
Zügen,  denen  sich  bald  auch  konfessionelle  zugesellten. 
Der  ständische  Der  Adel  uämllch  hatte  jeglichen  Einfluß  des  —  national  längst  assi- 

Charakter    des 

alten  Staates  miliertcn  —  Burg'ertums  (um  von  dem  schließlich  zur  Hörigkeit  herab- 
Literatur.  gesunkenen,  einst  halbfreien  Bauern  zu  schweigen)  aufgesogen,  die  königliche 
Macht  atomisiert,  eine  Adelsrepublik  mit  einem  Wahlkönig  an  der  Spitze 
geschaffen.  Im  ungetrübten  Genuß  seiner  „goldenen  Freiheit"  —  galt  doch 
allein  durch  diese  dem  polnischen  Adel  jeder  ausländische,  auch  Fürsten- 
adel, als  ein  inferiorer  —  diesen  Schatz  argwöhnisch  vor  jeglichen  Unter- 
nehmungen der  Krone  hütend,  betrachtete  sich  der  Adel  als  eine  Brüder- 
schaft, durch  keinerlei  Vorrang,  Orden,  Titel  unterschieden,  dem  slawischen 
Gleichheitstriebe  auch  hierin  getreu.  Aller  Rechte  sich  erfreuend,  der 
Pflichten  sich  entschlagend,  hauste  er  auf  den  Einzelhöfen  und  verlor 
so  allmählich  die  Aktionsfähigkeit,  seinen  politischen  Ehrgeiz  und  Instinkt, 
endlich  die  militärische  Tüchtigkeit.  Er  hing  zähe  an  dem  Hergebrachten 
trotz  offenkundiger  Schäden;  hielt  sich  sicher,  weil  er  niemand  bedrohte; 
verachtete,  slawischer  Ungebundenheit  frönend,  städtisches  und  höfisches 
Leben,  ohne  zu  ahnen  oder  zu  achten,  was  alles  um  ihn  herum  vorging, 
bis  er  sich  schließlich  von  großen  Militärdespotien  umgeben  sah,  die  sich 
das  nunmehr  wehrlose  Land  zur  sicheren  Beute  erwählten,  indem  sie  ihre 
angeblichen  Rechte  aus  ihrer  Übermacht  herleiteten.  Diesem  allmählichen 
Niedergang  von  der  Höhe  politischer  Macht,  auf  der  die  Jagelionen  Herr- 
scher auch  noch  Böhmens  und  Ungarns  gewesen  waren,  entsprach  der 
Niedergang  von  Kultur  und  Literatur. 

Auch  hier  schied  das  bürgerliche  Element  im  1 7.  Jahrhundert  völlig 
aus,  nur  in  Literatur  und  Leben  einen  Einschlag  urkräftigen,  sarmatischen 
Humors  zurücklassend;  die  Reaktion  vertilgte  durch  die  Jesuiten  jegliche 
protestantische  Elemente,  löschte  sogar  das  Andenken  an  die  alte  Ge- 
wissens- und  Glaubensfreiheit  aus,  welche  Polen  zu  einem  Asyl  für  alle 
Neuerer  gemacht  hatte,  wo  schon  1565 — 1585  die  modernen  Gewissens- 
kämpfe eines  Tolstoi,  zum  Teil  mit  seinen  Argumenten  sogar,  ausgefochten 
wurden;  wo  die  Juden,  in  ungestörter  Pflege  ihres  talmudischen  Wissens, 
die  Waffen  gegen  das  Christentum  schmiedeten,  deren  sich  nach  zwei 
Jahrhunderten  die  französischen  Enzyklopädisten  erfolgreich  bedienen 
sollten;  wo  das  orthodoxe  Russentum  zum  ersten  Male  den  Anschluß  an 
europäisches  Denken  und  Wissen  fand,  was  nur  in  dem  damals  polnischen 
Kiew,  nicht  in  Moskau,  geschehen  konnte. 

Das  16.  und  1.     Die     Literatur     des     16. — 18.    Jahrhunderts.       Von     dieser 

Vielseitigkeit  geistiger  Interessen  gab  auch  die  schöne  Literatur  be- 
redtes Zeugnis.  Wohl  war  ihre  rein  nationale  Entwicklung  durch  das 
Eingreifen     des    Humanismus    gestört;     sie    bildete     sich     fortan    nur    an 


I.  Die  Literatur  des   l6. — 18.  Jahrhunderts.  1^5 

klassischen,  später  ausschließlich  an  römischen,  zuletzt  auch  italieni- 
schen Mustern.  Formen,  ja  Stoffe  waren  fremd,  aber  rein  nationales 
Fühlen  und  Denken  sprach,  zumal  im  17.  Jahrhundert,  sogar  aus  den 
Umdichtungen  des  Horaz  oder  Tasso.  Schon  1560 — 1580  war  diese 
nachahmende  Literatur  durch  Jan  Kochanowski,  ihren  Ronsard,  auf 
hohe  künstlerische  Stufe  gebracht,  doch  glitt  sie  hinab,  als  Dilet- 
tanten die  ästhetischen  Forderungen  herabdrückten,  die  Kritik  schwieg 
und  geistiges  Interesse  zu  erlahmen  begann.  Alles  im  Lande,  oft  von 
König,  Ministern  und  Magnaten  an,  dichtete,  ohne  doch  den  Musen 
treu  fürs  Leben  zu  bleiben,  ohne  nach  Vollkommenheit  zu  ringen,  das 
Können  merklicher  zu  steigern,  eigene  Wege  zu  suchen.  Nur  ver- 
schwindend wenige  machten  Ernst  mit  ihrer  Poesie  —  Prosa  existierte  noch 
nicht  für  ästhetische  Zwecke;  aber  auch  die  in  der  Poesie  ihren  Lebens- 
beruf fanden,  dienten  mit  ihrer  Feder  nicht  der  Schönheit,  sondern  der 
Wahrheit,  patriotischen  Pflichten  und  eigenen  Herzensbedürfnissen.  Ganz 
ausgeschaltet,  beim  Mangel  höfischen  vmd  städtischen  Lebens,  blieb  das 
Theater,  bis  auf  die  Schulkomödie  der  Jesuiten,  mit  ihren  drastischen 
Intermedien  voll  derben,  altpolnischen  Witzes.  Neben  der  religiösen  und 
erotischen  Lyrik,  die  in  den  Bahnen  des  Marinismus  erfolgreich  wandelte, 
obgleich  dem  Leben  selbst  sentimentale  Anwandlungen  und  jeglicher 
Frauenkult  noch  völlig  fremd  waren,  blühte  das  didaktische  und  nament- 
lich das  epische  Gedicht.  Das  17.  Jahrhundert,  mit  seinen  stolzen  Triumphen, 
seinem  erschütternden  Heroismus  und  tiefsten  Fall,  schwellte  von  selbst 
die  epischen  Segel,  und  in  den  langatmigen  historischen  und  romantischen 
Epopöen,  nach  dem  Muster  der  Pharsalia  oder  des  Befreiten  Jerusalem, 
Rasenden  Roland  und  Adone  —  alles  frühzeitig  trefflich  übersetzt  — 
kam  das  Charakteristische  von  Sprache  und  Denken  zum  vollsten  Aus- 
druck. Sonst  spiegelte  sich  in  der  satirischen  Poesie,  die  noch  auf 
jenen  Kochanowski  zurückgriff,  der  Niedergang  der  Zeit;  in  der  epi- 
grammatischen und  anekdotenhaften,  der  saftige  und  kömige  Humor 
des  alten  Polen.  Die  Prosa,  im  16.  Jahrhundert  durch  die  bedeutendsten 
Kanzelredner  aller  Konfessionen  und  politische  Schriftsteller  imposant 
vertreten,  fand  immer  geringere  Pflege,  verrohte  im  Ausdruck  und  ver- 
knöcherte im  Geiste.  Großen  Schaden  wirkte  die  andauernde,  schul- 
mäßige Huldigung  lateinischen  Musen,  welche  die  besseren  Köpfe  so 
fesselte,  daß  das  Polnische  förmlich  zu  einer  Sprache  zweiten  Grades, 
für  Frauen  und  Volk  herabsank,  daß  man  für  alles  im  größeren  Stil  Ge- 
dachte, in  Historie,  Politik,  Epistel  der  fremden  Sprache  sich  bediente, 
daß  die  Jesuitenlyriker,  z.  B.  Sarbiewski,  der  christliche  Horaz,  nur 
lateinisch  dichteten.  Zwar  hielten  religiöse  und  politische  Beredsamkeit 
an  der  Landessprache  fest,  aber  sie  verhunzten  sie  durch  ihre  lateinischen 
Brocken,  einer  Mischsprache,  einem  „Makkaronismus"  die  Wege  ebnend, 
der  noch  heute  im  polnischen  Stil  nachklingt.  Je  weniger  im  Leben  zu 
preisen  übrig  blieb,    desto   höher   stieg  in  der  Literatur   die   panegyrische 


1  c5  Alexander  Brückner:  Die  polnische  Literatur. 

Flut,  die  den  Maßstab  für  Verdienste  und  Anerkennung  verrückte  und  mit 
dem  Gifte   der   Schmeichelei   kritische  Regungen   der   Gewissen   betäubte. 
Trotzdem  blieb  bis  an  das  Ende  des   1 7.  Jahrhunderts    die  Geschichte  der 
Literatur  wie  die  des  Landes  reich  an  interessanten  Erscheinungen. 
Uasis.jahrhiin-  Anders   ward    dies    erst   in    der  Zeit    der  Sachsenkönige,    1698  — 1763, 

keform.  als  der  Adel  die  Hände  in  den  Schoß  legte,  jeden  Gedanken  an  Reformen 
aufgab  und  Rußland  die  Erhaltung  polnischer  Anarchie  gewährleistete, 
als  man  in  der  Kultur  noch  weiter  zurückblieb,  in  der  Literatur  nur  die 
alten  Formen  und  Stoffe  immer  gedankenloser  und  trivialer  wiederkaute, 
z.  B.  immer  noch  fremde  Romane,  den  Telemaque  oder  die  Dionea,  in 
Verse  brachte,  religiöse  Gedichte  in  Unmassen  fabrizierte  und  allem 
Aberglauben  frönte.  Der  Zusammenhang  Polens  mit  dem  Abendlande 
war  jedoch  viel  zu  alt  und  innig,  als  daß  er  auf  die  Dauer  hätte  unter- 
bunden bleiben  können.  Die  zusehends  größere  Verarmung  des  Landes 
und  Verödung  des  Geistes  rief  zur  Umkehr,  die,  jetzt  nach  französischen 
Mustern  und  Vorbildern  geleitet,  dem  Lande  die  Segnungen  der  Kultur 
zuwenden  sollte.  Das  Wirken  des  Königs  Leszczynski  (le  philosophe  bien- 
faisant)  und  anderer  Patrioten  leitete  die  moralische  und  materielle  Wieder- 
geburt ein.  Aber  für  die  politische  und  militärische  war  die  lange  ver- 
säumte Zeit  nicht  mehr  einzuholen.  Als  das  adlige  Volk  mit  seinen  Privi- 
legien und  Vorrechteii  selbst  aufräumte  und  den  modernen  Staat  ohne 
jegliche  Revolution  aufzurichten  begann,  erwürgte  fremde  Übermacht 
Polen.  Sein  letzter  König,  Stanislaw  August,  und  dessen  Berater  waren 
der  schwierigsten  aller  Lagen  nicht  gewachsen.  Aber  wenn  sie  auch  den 
Staat  selbst  nicht  mehr  zu  retten  vermochten,  schufen  sie  in  wetteifernder 
Arbeit  neue,  unzerstörbare  Kulturgüter,  französischer  Losung  folgend; 
riefen  doch  Rousseau  wie  Mably  den  um  Rat  fragenden  zu:  Klärt  euch 
auf,  dann  wird  man  euch  verschlingen,  doch  niemals  verdauen  können. 

Auch  die  Literatur  brachte  während  dieser  letzten  Periode  einer  viel- 
fach nur  scheinbaren  politischen  Selbständigkeit  noch  nicht  das  große 
nationale  Werk.  Aber  der  geistige  Bann  der  Sachsenzeit,  ihre  Isolierung, 
das  Zurückgebliebensein  Polens  —  wie  übrigens  anderer  katholischer 
Staaten  —  war  gebrochen.  Die  Literatur  streifte  alte  Einseitigkeit  und 
Vorurteile  ab ,  behielt  ihren  männlichen  patriotisch-politischen  Zug,  und, 
ohne  in  den  Schlachtruf  der  Enzyklopädisten  einzustimmen,  wirkte  sie  für 
Aufklärung  der  Geister.  Und  wie  die  politische  Reformbewegung  in  der 
Konstitution  des  3.  Mai  (1791),  einem  Denkmal  humaner  und  fortschritt- 
licher Gesinnung,  und  in  Kosciuszkos  energischer  und  demokratischer 
Tätigkeit  gipfelte,  so  konnte  auch  die  jetzt  in  französische,  pseudoklas- 
sische Bahnen  gedrängte  Literatur  sich  rühmen,  die  sächsische  Ig-noranz 
und  Intoleranz  überwunden,  die  Sache  des  bon  sens,  in  allen  (politischen 
und  privaten)  Verhältnissen,  des  guten  Geschmackes,  einer  gefälligen 
Sprache  und  zierlicher  Formen  zum  Siege  geführt  zu  haben.  Bei  diesem 
weder  plötzlichen  noch  gewaltsamen  Abbruch  alles  Alten  ragte  natürlicher- 


II.   Die   Liti'ralur  des    10.  Jahrhunderts   bis   zum   Aufstand   von    1863.  15^ 

weise  die  Pflege  der  Satire  hervor,  einer  mehr  moralisierenden  übrigens, 
weil  noch  immer  Geistliche  das  Hauptkontingent  der  Literaten  stellten; 
allen  voran  der  ermländische  Bischof  Krasicki,  kein  Glaubenseiferer  mehr 
wie  sein  großer  Vorgänger  (Hosius),  dafür  ein  bei  esprit,  ausgezeichneter 
Satiriker  und  Fabeldichter  ersten  Ranges.  Jetzt  erstand  eine  Publizistik; 
ein  Theater  mit  eigenem,  hauptsächlich  komischem  Repertoire;  der  didak- 
tische Roman  in  der  Prosa,  die  endlich  in  ihre  während  der  Sachsenzeit 
völlig  verlorenen  Rechte  wieder  eintrat;  auch  hörte  das  Einschütten  pol- 
nischen Wassers  in  das  Meer  der  lateinischen  Literatur  auf.  Bei  dem 
ausschließlichen  Hervorkehren  des  Verstandesmäßigen  vertraten  das  Ge- 
fühl nur  sentimentale  Ergüsse  mehrerer  Lyriker.  Phantasie  fand  keinen 
Spielraum,  und  im  Dienste  kosmopolitischer  Aufklärungsideen  betätigte 
sich  das  nationale  Element  oft  nur  in  Sprache  und  Wahl  des  Stoffes;  es 
trat  gegen  die  Weise  des  1 7.  Jahrhunderts  stark  zurück.  Eingeleitet 
ward  nunmehr  die  Vorherrschaft  des  Französischen.  Konnte  auch  fran- 
zösische Politik  in  Polen  keine  Erfolge  aufweisen,  so  siegten  französischer 
Ton,  Sitte  und  Sprache.  Man  fühlte  die  nationale  Wahlverwandtschaft 
heraus,  z.  B.  im  Frauenkult,  der  immer  bezeichnender  die  Polen  vor  den 
übrigen  Slawen  heraushob  (heute  noch  mehr  wie  zuvor).  Übrigens  gipfelte 
die  Literatur  der  letzten  Jahre  (1788 — 1792)  in  der  politischen,  in  dem 
Kampfe  um  das  Reformwerk  der  Maikonstitution.  Auf  das  fruchtlose 
Ringen  mit  der  Übermacht  folgte  baldige  Erschöpfung,  und  in  unheim- 
licher Stille    wurden  Staat  und  Selbständigkeit  zu  Grabe  getragen. 

IL    Die  Literatur   des   iq.  Jahrhunderts   bis    zum  Aufstand  von  Die  Warschaus 

^     •'  Pseudoklassik. 

1863.  Das  ig.  Jahrhundert  brachte  die  Umwälzung  in  der  Lage  des  Volkes 
und  in  der  Bedeutung  seiner  Literatur.  Die  ersten  Dezennien  verliefen 
noch  in  den  alten  Bahnen,  wenigstens  für  die  Literatur.  Die  Welt  war  in 
Trümmer  geschlagen,  aber  noch  herrschte  in  Warschau  wie  in  Paris  un- 
angefochten der  pseudoklassische  Zopf  in  Ode  und  Tragödie,  im  epischen 
und  beschreibenden  Gedicht.  Freilich,  die  einst  viel  bewunderten,  geleckten 
und  gezierten  Sächelchen  dieser  „Klassiker"  überlebten  nicht  einmal  ihre 
Schöpfer,  und  alles  ward  vergessen  bis  auf  dasjenige,  was  damals  die 
literarische  Salonzunft  über  die  Achseln  ansah,  weil  das  Genre  kein 
„höheres"  war:  die  Komödien  des  Grafen  Alexander  Fredro  sind  noch 
heute  nicht  veraltet,  sie  verkörpern  unvergängliche  nationale  Typen  der 
Gentry,  eine  ganze  Galerie  prächtiger  Gestalten,  obwohl  der  Graf,  der 
letzte  Dilettant  großen  Stiles,  keinerlei  Fühlung  mit  der  Bühne  unterhielt 
und,  durch  Kritik  der  Gegner  sowie  Stillschweigen  der  Freunde  gereizt, 
seine  Feder  zerbrach. 

Die  Hauptleistung  dieser  Zeit,  zumal  der  Jahre  1815 — 1830,  als  der 
Kriegslärm  endlich  verrauscht  war,  lag  nicht  auf  literarischem  Gebiete. 
Nicht  genug  kann  bewundert  werden,  was  das  durch  die  Napoleonischen 
Kriege  ausgesogene  und  an  den  Rand  des  Bankrotts  gebrachte  Land,  das 


j  cg  Alexander  Brückner:  Die  polnische  Literatur. 

kleine  „Kongreßpolen",  das  sich  allein  durch  Kaiser  Alexanders  I.  Rechts- 
gefühl einer  weitgehenden  Autonomie  erfreute,  in  der  kurzen  Spanne  Zeit 
an  Kulturarbeit  geschaffen  hat,  für  Schule,  Justiz,  Finanzen,  Militär. 
Da  bewiesen  die  Polen,  daß  sie,  sich  selbst  überlassen,  ohne  fremde  Be- 
vormundung, den  gebildetsten  Völkern  es  gleichmachen  konnten.  Mit  den 
Warschauer  Klassikern  wetteiferte,  wenigstens  im  Unterrichts wesen,  die 
Wilnoer  Hochschule:  unverwüstlich  blieb,  was  beide  leisteten,  mochte  dabei 
auch  die  schöne  Literatur  leer  ausgehen.  Dafür  wurden  die  Bedingungen 
ihres  Wachstumes  neu  geschaffen.  In  den  Schulen  der  Klassiker  reiften 
die  künftigen  Romantiker  heran.  In  die  Jahre  1820 — 1830  fallt  nämlich 
das  Eindringen  der  romantischen  „Pest"  über  die  bis  dahin  sorgsam  ge- 
hüteten Grenzen  des  polnischen  Parnasses. 

Die  Entwicklung  der  vorausgegangenen  Jahrhunderte  hatte  über  das  alte 
polnisch-litauisch-russische  Reich  einen  gleichmäßigen  adeligen  Firnis  ge- 
breitet. Der  politischen  Union  von  Lublin  1569,  dieser  in  der  Geschichte 
einzig  dastehenden  friedlichen  Eingliederung  gewaltiger,  ethnographisch  und 
konfessionell  disparater  Massen,  war  eine  moralische  und  kulturelle  Union 
gefolgt.  Das  Polentum  machte  friedliche  Eroberungen  weit  über  seine 
Grenzen.  Adel  und  Bürger  in  Litauen,  Wolhynien,  Podolien  wurden 
polnisch,  und  nur  der  Bauer  behielt  sein  litauisches,  weiß-  oder  klein- 
russisches Idiom,  seinen  orthodoxen  Glauben,  seine  altslawischen  Sitten 
und  Traditionen.  Polnischer  Einfluß,  Sprache,  Buch  und  Sitte  er- 
streckten sich  bis  Moskau  und  Jassy.  Die  alte,  durch  Adel  und  Geistlich- 
keit vertretene  „klassische"  Literatur  kannte  nun  keinerlei  provinziale 
Unterschiede;  sie  mied  alles  Charakteristische,  Niedere,  Vulgäre  als  nicht 
vereinbar  mit  ihrem  Rationalismus  und  Kosmopolitismus;  sie  reinigte 
sorgfältig  die  Sprache  —  ganz  wie  in  Frankreich.  Für  sie  existierte  nur 
ein  Polen,  mochte  auch  das  staatliche  Gefüge  auseinandergerissen  sein; 
ein  Geist  der  Aufklärung;  eine  Sprache,  die  salonmäßige;  eine  Poetik, 
die  Boileaus;  eine  Reihe  von  Mustern,  Horaz  und  Racine,  Vergil  und 
Voltaire;  sie  bequemte  sich  nie  zum  Volke  herab,  blieb  seinem  Wesen 
völlig  und  absichtlich  fremd. 

r  Es  war  nun  die  Romantik,  die  im  Namen  des  Originalen  und  Natio- 

nalen den  Partikularismus  zu  Ehren  brachte;  die  das  Volk  und  dessen 
Traditionen  in  Geg^enwart  und  Vergangenheit  pietätvoll  aufsuchte,  seinem 
Treiben  ahnungsvoll  lauschte;  die  Charakteristisches  hervorhob;  die  trennte, 
statt  zu  einigen.  Als  Verwirrung  und  Benebelung  der  Köpfe,  als  Rück- 
kehr zum  Geister-  und  Aberglauben,  als  Aufruhr  der  Gefühle  und  Phan- 
tasie gegen  die  alleinseligmachende  „raison"  wurde  die  Romantik  von 
den  Wortführern  der  Salonliteratur,  von  den  Warschauer  Klassikern  und 
Wilnaer  Freimaurern  beargwöhnt  und  befehdet.  Ungestüme  Jugend 
faßte  die  neue  Geistesrichtung,  anders  als  in  Deutscliland  oder  Frankreich, 
nicht  nur  als  ästhetischen  Protest  des  national  fühlenden  Individuums  gegen 
seichte  Aufklärerci,    sondern  verflocht  mit   der  literarischen  die  politische 


11.  Die  Literatur  des   19.  Jahrhunderts  bis  zum  Aufstand  von   1S63.  j  cg 

und  soziale  Revolution,  und  der  Sturm  auf  die  drei  Einheiten  wie  auf 
den  Cours  des  Laharp'e  wurde  zu  einem  Sturm  auf  das  Belvedere  des 
Großfürsten-Statthalter,  die  romantische  zur  politischen  Umwälzung:  auch 
dies  hatten  die  Klassiker  vorausgesehen,  doch  nicht  zu  beschwören  ver- 
mocht. 

Rufer  im  Streit  war  der  große  „Litauer",  Urpole  seinem  Blute  nach,  Adam  iiickie- 
Adam  Mickiewicz.  Aufgewachsen  noch  unter  der  pseudoklassischen  naie'  Erhebung 
Poetik  hatte  er  sich  früh  dem  idealen  Überschwange  Schillers,  dann  dem  "''  ^ 
Pessimismus  Byrons  (Goethes  überlegene  Ruhe  hat  auf  die  temperament- 
volle polnische  Literatur,  ebenso  wie  die  Objektivität  Shakespeares,  nur 
wenig  Einfluß  geübt),  zugewendet.  Unglückliche  Liebe,  politische  Ver- 
folgungen, glühender  Patriotismus  wiesen  seinem  poetischen  Schaffen  neue 
Bahnen.  Von  Balladen  und  Romanzen,  einem  phantastischen  Werther- 
drama („Die  Ahnenfeier"),  wandte  er  sich  nationalen  Stoffen  zu.  In  seinem 
romantischen  Epos  „Konrad  Wallenrod"  opferte  der  Litauer-Hochmeister 
Ehre  und  Gewissen,  Liebe  und  Glück,  eigenes  und  fremdes,  nur  um  das 
Vaterland  zu  rächen;  das  Gedicht,  trotz  der  fernsten  Vergangenheit  des 
Vorwurfes,  mit  seinem  glühenden  Kolorit  und  loderndem  Gefühl,  zündete 
wie  ein  Blitzstrahl.  Der  „Litauer"  stand  nicht  vereinzelt  da;  ebensolche 
„Ukrainzen"  hoben  ungeahnte  Schätze  poetischer  Motive  aus  dem  Leben 
und  Weben  der  Steppe,  aus  den  Traditionen  der  Kosaken.  Jetzt  erst  fand 
die  einstige  Union  von  Lublin  poetische  Verkörperung;  die  litauischen 
und  russischen  Marken  dankten  dem  Mutterlande  erst  jetzt  die  jahrhundert- 
alte Pflege  geistiger  Güter  —  trotz  aller  Ungunst  und  allen  Umschwungs 
der  Zeiten.  So  zersprangen  die  engen  Fesseln  konventioneller  Kunst;  so 
wurde  nationaler  Gehalt,  oder  was  als  solcher  erschien,  der  Poesie  er- 
stritten; von  selbst  wurde  sie  volkstümlicher  und  slawischer,  in  der  ein- 
zigen Periode,  da  in  Polen  slawophile  Tendenzen  aus  dem  Umlaufe  nicht 
ausgeschlossen  waren. 

Da  brach  die  politische  Katastrophe  herein.  Ein  nie  gesehenes  Schau- 
spiel bot  sich  dem  erstaunten  Europa:  die  im  ganz  ungleichen  Kampfe 
nach  tapferer  Gegenwehr  Überwundenen  ergaben  sich  nicht,  verließen  das 
Vaterland,  und  unter  einmütigem  Beifall  der  gesitteten  Welt  zog  die  pol- 
nische Emigration,  Aristokraten  und  Demagogen,  Abgeordnete  und  Geist- 
liche, Generale  und  Professoren,  Beamte  und  Publizisten,  Fürsten  und 
Bürger,  nach  Frankreich,  in  der  sicheren  Erwartung,  möglichst  bald  wie- 
der in  den  Kampf  „für  unsere  und  euere  Freiheit"  zu  ziehen.  Und  als 
diese  Aussicht  in  immer  nebelhaftere  F"erne  rückte,  wurde  der  Pole  zu 
einem  „ewigen  Revolutionär",  jedem  Freiheitsruf  froh  entgegenjauchzend, 
sein  bloßer  Name  eine  Losung  für  den  Tyrannenhaß,  ein  Greuel  für  jede 
Polizistenseele.  Auf  fremder  Wahlstatt,  sogar  in  der  Türkei  und  Ägypten, 
verspritzte  er  jetzt  sein  Blut,  und  1848  errang  in  Ungarn  die  größten  Er-  Mch'^i'sj^/^nd 
folge  der  polnische  General  von   1831.  Mckiewi'cz^a^f 

Mit  dieser  Emigration  verlegte  auch  die  Literatur   ihre  Penaten  nach    "^"^schaffenT" 


l6o  Alexandkk   BrCcknkk:   Die  polnische  Literatur. 

Paris.  Durch  zwei  Dezennien  ward  die  fremde,  ungeliebte  Stadt,  die  der 
ländliche  Pole  schon  ihres  Lärmes  wegen  mied,  Sitz  der  polnischen  füh- 
renden Geister.  Und  unter  Entbehrungen  aller  Art,  materiellen  und  drücken- 
deren moralischen;  in  der  zehrenden  Sehnsucht  nach  dem  verlorenen  Pa- 
radies, nach  der  trauten  Heimat;  in  Schmerz  und  bangen,  immer  wieder 
getäuschten  Hoffnungen;  auf  dem  heißen  Boden  des  Welttrubels  sind  alle 
die  Perlen  nationaler  Literatur,  die  jetzt  erst  wahrhaft  groß  werden  sollte, 
entstanden:  ein  einziges  Schauspiel  der  Geschichte  der  Weltliteratur,  eines 
der  vielen  polnischen  Rätsel. 

Obenan  stand  Mickiewicz ,  in  rastloser  Tätigkeit,  den  nationalen 
Kampf  mit  der  Feder  jetzt  aufnehmend.  In  evangelischen  Parabeln  und 
messianischen  Verheißungen  (die  Lamennais  nachahmte)  sprach  er  den 
Verbannten  Trost  zu;  schilderte  in  lebhaft  bewegter,  dramatischer  Form, 
was  ihm  als  Anfang  der  Verfolgungen  und  Kämpfe  galt,  die  Verhöre  und 
Gefängnisse  in  Wilno  von  1824;  rechnete  mit  russischen  Gewalthabern 
in  der  blutigen  Satire  „Petersburg"  (auch  einer  „Winterreise")  ab.  Sein 
Konrad  —  zu  diesem  hatte  sich  der  liebegirrende  Gustav  der  früheren 
„Ahnenfeier"  gehäutet  —  forderte  in  titanischem  Trotz  Himmel  und  Gott  als 
den  Zaren,  nicht  den  Vater  der  Welt,  in  die  Schranken.  Aber  nicht  dem 
vermessenen  Lästerer,  sondern  dem  demütig  zerknirschten  Pater  wurde 
die  Gnade  der  Prophetie  und  tröstender  Zukunftsvisionen  zuteil.  Denn  mit 
dem  Dichter  selbst,  der  in  Rom  seinen  Glauben  wiedergefunden  hatte, 
war  eine  tiefe  religiöse  Veränderung  vorgegangen.  Zuletzt  flüchtete 
Mickiewicz  vor  dem  unfruchtbaren  Politisieren  und  Konspirieren,  aus  dem 
Fegefeuer  der  Parteien  und  Losungen,  vor  den  Beschuldigungen  und  Ver- 
dächtigungen, in  die  frohen  Visionen  seiner  Jugend:  aus  dem,  was  daheim 
das  sinnende  Kind,  der  träumende  Knabe  erschaut  und  erlauscht  hatten, 
erwuchs  das  größte  poetische  Werk  slawischer  Literaturen,  „Herr  Thaddäus", 
die  schönste  moderne  Epopöe:  ein  „Hermann  und  Dorothea",  transponiert 
in  adeliglitauisches,  ländliches  Leben;  seine  zwölf  Gesänge  eine  Reihe 
von  Bildern  und  Szenen:  aus  der  Natur  —  bis  zum  Gequak  der  Frösche  und 
Gesumme  der  Fliegen;  aus  der  Menschenwelt,  mit  ihren  Durchschnittstypen, 
die  nur  von  dem  freiwilligen  Büßer  im  Mönchshabit  überragt  und  geleitet 
werden.  Was  diesen  heiteren  Bildern,  voll  des  Glanzes  der  Abendsonne,  die 
zum  letzten  Male  eine  für  immer  versinkende  Welt  beleuchtet,  den  Wert 
leiht,  der  sie  weit  über  alle  modernen  Epen  stellt,  ist,  neben  der  außer- 
ordentlichen Kunst  des  Meisters,  seines  Naturgefühles  und  Farbensinnes, 
neben  der  unübertroffenen  Plastik  seiner  Landschaften  und  Gegenden,  das 
bewegte  Gefühl;  die  Tränen  unter  dem  Lächeln,  ja  unter  der  leichten 
Ironie;  die  innige  Sympathie,  die  sich  dem  Leser  mitteilt.  Stellenweise 
übermannt  den  Verbannten,  Heimatlosen  das  Gefühl.  Aber  kaum  hat  er 
dem  gepreßten  Herzen  Luft  gegeben,  weist  er  wieder  in  epischer  Ruhe 
und  Gemächlichkeit  seine  Bilder,  der  Hasen-  oder  Bärenjagd,  des  Politi- 
sierens   in    der   Schenke,    des   Kampfes    mit    den    Russen,    der    Anschläge 


II.   Die   Literatur  des    19.  Jahrhunderts  bis   zum   Aul'stand   von    18O3.  161 

einer  Kokette,  der  lieblichen  Unschuld  vom  Lande.  Ein  ländliches  Epos, 
wie  es  dem  ackerbauenden  Volke  zukommt,  von  dem  patriarchalischen 
Treiben  litauisch-polnischer  Vergangenheit  am  Vorabende  der  gewaltigen 
Völkerflut  von  1812,  deren  Wellen  an  das  stille,  weltentrückte  Eiland 
schlagen;  wie  jedes  Meisterwerk  von  täuschender  Leichtigkeit  in  der  Aus- 
führung, doch  vergebens  blieben  die  Versuche  anderer,  es  nachzuahmen 
oder  fortzusetzen. 

Von  der  klassischen,  ruhigheiteren,  sonnigklaren  Größe  des  Mickiewicz,  juUus Ste«.icki. 
von  den  scharf  umrissenen  Konturen  sogar  seiner  Traumbilder  und  Vi- 
sionen, von  der  Innigkeit  und  Tiefe  seines  Gefühls,  von  den  patriotischen 
Tendenzen  seines  Schaffens,  sticht  doppelt  ab  das  Werk  seines  großen 
Rivalen,  Julius  Siowacki,  des  Chopins  (mit  dem  er  außerordentlich  vieles 
teilte)  unter  den  Dichtem.  Beweglicher,  erregbarer  vertritt  er  förmlich 
das  musikalische  Element.  Von  unendlich  reicher  Phantasie,  mit  Vorliebe 
nach  dem  Phantastischen  greifend,  voller  Scheu  vor  allem  Banalen,  schuf 
er  sich  selbst  ein  unglückliches,  aber  poetisches  Leben.  Er  ersehnte  den 
Nachruhm,  weil  er  unverstanden  dahin  ging;  denn  dem  Philister  blieb  seine 
große  Kunst  ein  Buch  mit  sieben  Siegeln,  und  erst  die  Nachwelt  flocht  ihm 
ihre  Kränze.  Slowacki  ist  Dichter  der  Moderne;  er  hat  ihre  Entwicklung 
förmlich  vorweg  genommen;  den  vollendeten  Bau  von  Vers  und  Strophe, 
dagegen  die  von  Mickiewicz  hausbacken  erscheinen;  die  unübertroffene 
Meisterschaft  der  Sprache,  des  geftigigsten  Werkzeuges  in  seinen  Händen; 
das  Suchen  nach  entlegenen  Stoffen;  das  Symbolisieren  und  AUegorisieren; 
die  melancholische  Grundstimmung,  die  Müdigkeit,  den  Weltschmerz,  das 
Gegenstück  zum  Optimismus  des  Mickiewicz.  Dabei  wahrt  Slowacki  sich 
das  Recht,  die  Wege  nach  dem  Ideal  zu  weisen,  ewige  Wahrheiten  zu  ent- 
schleiern und  zu  künden.  So  rivalisiert  mit  dem  litauischen  Homer  der 
wolhynische  Ariosto,  doch  nicht  nur  den  romantischen  Epiker,  wir  bewundem 
in  ihm  auch  den  Lyriker  und  Dramatiker.  Hat  er  auch  kein  technisch  voll- 
endetes Bühnenstück  —  mit  der  Bühne  hatte  der  Emigrant  keinerlei 
Fühlung  —  geschaffen:  seine  polnischer  Urzeit  entnommenen  Tragödien  sind 
doch  im  größten  Stile  gehalten  und  die  vollendetsten  Visionen  einer  imagi- 
nären Welt,  die  hoch  über  der  werktäglichen  prangt,  ihren  eigenen  Ge- 
setzen folgt  und  auch  uns  durch  das  Walten  ihres  Verhängnisses  erschauern 
läßt.  Gegenüber  der  männlichen  Ruhe  und  Sicherheit  des  aus  den  litau- 
ischen Wäldern  hervortretenden  Riesen  ist  er  gleichsam  die  schillernde 
Sirene  (aus  Warschaus  Wappen)  mit  ihrem  Unbestand  und  Launen,  die 
Adel  und  Priester  des  Volkes  bitter  spüren  müssen;  mit  ihrer  berückenden, 
geheimnisvollen  Schönheit.  Doch  umzittert  seine  farbensprühendsten  Visionen 
ein  Hauch  tiefer  Schwermut;  unstillbare  Tränen  umfloren  ihm  Blick  und 
Stimme.  Neben  gewaltigen,  düsteren  und  grellen  Bildern,  neben  den  ge- 
wagtesten satirischen  Ausfällen  (zumal  in  seinem  „Beniowski",  einem  Pen- 
dant zum  Byronschen  „Don  Juan")  liebt  er  die  diskreteste  Pinselführung 
und  Liebesidyllen,  wie  „In  der  Schweiz",  sind  das  Zarteste  und  Keuscheste 

Die  K-jltur  dkr  Gegenwart.     I.  q.  i  i 


j()2  Alexander  Brückner:  Die  polnische  Literatur. 

■  der  erotischen  Poesie  aller  Zeiten  —  auch  ihr  Untergrund  kein  Granit, 
sondern  ein  Tränenmeer.  So  ist  Slowacki  Schmelz  und  Wohllaut  selbst; 
was  er  berührt,  fremde  oder  eigene  Motive,  löst  poetische  Wellen  aus; 
er  schafft  Stimmung  wie  kein  anderer,  in  romantischen  Landen  der  treff- 
lichste Führer.  Seine  Kunst  ist  nicht  für  die  Menge,  ist  Kaviar  fürs 
Volk.  Es  fehlt  ihr  die  einfache  Klarheit,  Ghreifbarkeit;  sie  quält  eher  und 
beunruhigt  den  naiven  Leser,  daher  zählt  er  unter  Ästheten  und  ihren 
Adepten  die  überzeugtesten  Bewunderer,  denen  die  derbere  Kost  des  Li- 
tauers nicht  mehr  munden  mag.  Auch  Siowacki,  trotz  seiner  poetischen 
Extravaganzen,  stellte  sich  in  den  Dienst  des  Ideals,  der  Menschenvervoll- 
kommnung; die  Brotesser  zu  verengein  ist  seiner  Kunst  höchstes  Ziel  ge- 
wesen; er  diente  Fortschritt  und  Wahrheit,  und  niemand  war  strengerer 
Richter  über  das  eigene  Volk,  als  dieser  Feind  der  Klerisei  und  der 
Aristokraten. 

Neben  den  Verherrlicher  altruistischer  Gefühle ,  neben  den  Epiker 
Mickiewicz;  neben  den  Egotisten  und  Phantasten  Siowacki,  trat  der  Dichter 
der  Reflexion,  Graf  Zygmunt  Krasinski,  der  —  übrigens  nicht  einzige  — 
„anonyme  Dichter"  der  Polen,  ein  Sohn  masowischen  Bodens.  Gegenüber 
der  robusten,  normalen  Entwicklung  des  Mickiewicz;  gegenüber  der  zarten 
Pflege  durch  Frauenhände,  die  Siowackis  Feminismus  groß  zog,  imponiert 
die  treibhausartige  Frühreife  des  Krasinski,  die  an  Shelley  mahnt.  Den 
Knaben,  der  bändereiche  historische  Romane  verbrach  —  Walter  Scott 
hatte  es  ja  vor  1830  allen  angetan  —  überraschte  die  Novemberrevolution, 
an  der  er  nicht  teilnehmen  durfte.  Nachdem  er  in  allen  möglichen  pro- 
saischen Formen  (er  scheute  lange  den  Vers)  die  Russen  verwünscht 
hatte,  erhob  sich  schließlich  vor  dem  sinnenden  Christen  die  eine  Frage: 
wie  weit  denn  Rache  gehen  dürfe  und  was  sie  schaffe;  vor  dem  Aristo- 
kraten die  andere:  was  bringt  uns  die  Zukunft,  die  unvermeidliche  soziale 
Revolution  mit  dem  Untergange  aller  alten  Ordnung,  was  ist  ihr  Endziel? 
Jenes  engere,  polnischem  Verständnis  besonders  nahe  Problem  behandelte 
sein  „Iridion",  das  dramatische  Gedicht  (in  fast  rhythmischer  Prosa)  von 
dem  Griechen,  der  sein  entwürdigtes  Vaterland  an  dem  völkerverderbenden 
Rom,  und  wäre  es  um  den  Preis  seiner  Seele  (Einschlag  des  Faustmotivs) 
rächen  wird;  der  zur  Rache  alle  Gegner  Roms,  auch  die  unterirdischen, 
die  Christen  aufruft.  Aber  das  Werk  der  Rache  muß  mißlingen,  mag  es 
sogar  Heilige  betören.  Den,  der  es  geplant,  rettet  vor  der  ewigen  Ver- 
damnis  nur  die  heiße  Liebe  zum  Vaterlande,  doch  muß  er  seine  Verirrung 
in  harter,  entsagender  Arbeit  büßen;  die  Lösung  ist  somit  eine  andere, 
als  die  im  „Konrad  Wallenrod"  gebotene,  eine  christliche,  keine  heidnische. 
Meisterhaft  ist  die  Vision  des  Heliogabalschen  Roms:  Roms  Poesie  hat 
unter  Polen  die  trefflichsten  Künder  gefunden.  Das  zweite,  heute  so  ak- 
tuelle Problem  behandelt  das  noch  freier  und  loser  gebaute  Drama  „Die 
ungöttliche  Komödie",  deren  größte  Schwäche  das  Fehlen  des  Verses 
ausmacht,  den  sie  gebieterisch  heischt;  es  ist  dies  das  Werk  eines  2  1  jäh- 


II.   Die   Literatur  des    Hl.  Jahrhunderts   bis   /.um   Aufstand   von    1863.  15-1 

rigen  Jünglings,  1834  vollendet,  doch  als  nach  vielen  Dezennien  von  Er- 
fahrungen und  Versuchen  Bjömson  das  gleiche  Thema  behandelte,  hat 
der  bejahrte  Norweger  den  Krasiiiski  nicht  zu  überbieten,  kaum  zu  er- 
reichen vermocht.  Die  Namen  der  kämpfenden  Parteien  („Aristokraten" 
und  „Demokraten")  sind  in  diesem  Pendant  zur  Göttlichen  Komödie  (einer 
Lieblingsdichtung  der  Polen)  zwar  unzeitgemäß,  desto  zeitgemäßer  da- 
gegen der  Kampf  selbst,  der  Besitzlosen  gegen  die  Besitzenden.  Es  han- 
delt sich  um  keine  Ideale,  nur  um  einen  Tausch,  auf  daß  die  Hungrigen 
die  Stelle  der  Satten  einnehmen,  worauf  bei  der  Ungleichheit  mensch- 
licher Veranlagung  das  alte  Spiel  von  neuem  beginnen  wird.  Morsch  und 
feige  ist  die  „Aristokratie"  —  niemand  hat  die  Philippika  des  Grafen  gegen 
seine  Standesgenossen  zu  übertreffen  vermocht:  nach  ihm  gebührt  ihr  nur 
Vertilgung  und  Vergessen;  aber  die  „Demokratie"  steuert  demselben  Ziele 
zu,  trotz  aller  Tiraden  von  Gleichheit  und  Brüderlichkeit,  und  ebenso 
schonungslos  reißt  Krasinski  diese  Larve  von  ihrem  Gesicht.  Über  dem 
Abgrund,  in  den  die  Repräsentanten  beider  versinken,  erhebt  sich  das 
Zeichen  des  Kreuzes,  des  Sieges  des  Galiläers,  der  christlichen  Liebe; 
eine  bessere  poetische  Lösung  ist  ausgeschlossen.  Krasinski  blieb  jedoch 
bei  diesen  großen  Konzeptionen  stehen;  der  Philosoph  und  Publizist  töte- 
ten schließlich  den  Dichter,  der  sich  in  pantheistischen  Visionen  und  in 
Bekämpfungen  der  ihm  unsympathischen  politischen  und  sozialen  Tages- 
losungen verlor,  nvir  selten  noch  zu  großem  lyrischem  Schwünge  sich 
erhebend. 

Philosophie  oder  richtiger  Mystik  hatte  auch  die  Pfade  der  Mickiewicz  Die  mystische 
und  Slowacki  und  so  vieler  anderer  gekreuzt.  Unter  dem  Einfluß  des  Emigrations/ 
„Messianismus"  des  Litauers  A.  Towianski  schwor  Mickiewicz  das  Dichten  MessiaAismus 

des    A.    To- 

ab,  um  Apostel  der  neuen  Lehre  vom  Katheder  der  Sorbonne  aus  zu  wiän'ski. 
werden;  derselbe  Einfluß  schuf  das  eitle  Weltkind  Slowacki  zum  grübelnden 
Anachoreten  um.  Mystische  Einschläge,  die  noch  höher  in  der  polnischen 
Literatur  hinaufreichen,  sind  ihr  bis  heute,  auch  bei  Gegnern  und  Be- 
kämpfem  dieser  Mystik,  immanent.  Ein  mystischer  Glaube  an  die  be- 
sondere Mission  des  neuen  auserwählten  Volkes  ließ,  wie  das  alte  den 
Monotheismus,  so  das  neue  das  Evangelium  der  Gerechtigkeit  und  Liebe 
vertreten,  um  dafür  zum  Opfer  verurteilt  zu  werden;  nur  so  ließen  sich  mit 
dem  Glauben  an  eine  weise  und  gütige  Vorsehung  die  schweren  Schicksals- 
schläge, die  die  Nation  trafen,  versöhnen;  man  verherrlichte  die  Einrich- 
tungen der  glorreichen  Republik,  die  allerdings  für  Engel,  kaum  für  Sterb- 
liche bestimmt  schienen;  man  begeisterte  sich  mit  Recht  für  die  eigene 
Geschichte  und  Polens  werbende  Kraft,  für  seine  schmählich  gelohnte 
Opferfähigkeit,  als  z.  B.  den  Entsatz  Wiens  die  Losung,  welche  Maria 
Theresia  zur  ersten  Teilung  Polens  gab,  vergalt.  So  entstand  der  Glaube 
des  polnischen  Messianismus,  daß  das  Volk  berufen  sei,  das  neue  Evan- 
gelium der  Liebe  zu  predigen,  der  höchsten  Evolution,  dem  Reiche 
des   Heiligen    Geistes    durch    das    Sicherheben    und    Festhalten    am    „Ton" 


l54  Alexander  Brückner:  Die  polnische   Literatur. 

vorzuarbeiten,  die  Beziehungen  der  Staaten  und  der  Menschheit,  nicht 
nur  der  Individuen,  zu  verchristlichen;  das  Opfer  schnödesten  Ver- 
rates am  Christentum  im  Namen  materiellster  Herrschsucht,  die  Unter- 
legenen, schienen  eine  neue  moralische  Weltordnung  dem  Sieger  künden 
zu  sollen.  Bei  allen  Überschwenglichkeiten  und  Einseitigkeiten,  die  diese 
Lehre  stark  diskreditieren,  darf  nicht  übersehen  werden,  welche  hohe  An- 
forderungen sie  an  den  einzelnen  stellt,  und  das  Ziel,  dem  sie  zustrebt, 
die  Veredlung  der  Menschheit,  könnte  nicht  höher  und  schöner  gesteckt 
werden.  Der  Messianismus  setzte  sich  über  offizielle  Kirche  und  Staat 
hinweg,  leugnete  engen  Patriotismus,  verschmähte  die  liberalbourgeoisen 
Institutionen,  den  Schacher  der  Parlamente,  jegliches  Politisieren  und  Kon- 
spirieren und  spaltete  nur  noch  mehr  die  an  sich  schon  zersplitterte  Emi- 
gration. Nach  dem  Jahre  1850  glitt  ihr  die  führende  Leitung  aus  den 
Händen;  die  großen  Dichter  waren  verstummt;  Tod  oder  Amnestie 
lichteten  rasch  ihre  Reihen;  der  bedeutendste  Epigone  dieser  Emigration,  der 
treffliche  Publizist  Julian  Klaczko,  gab  das  Schreiben  polnischer  Artikel 
auf,  um  in  geistreichen  Essays  über  Politik  und  zuletzt  über  Dante  und 
Renaissance  in  französischer  Sprache  sich  ein  größeres  Publikum  zu  er- 
obern. 

Während  die  Poesie  der  Emigration  nach  dem  Höchsten  rang,  sorgte 
man  daheim  (1831  — 1863)  für  den  täglichen  Bedarf  der  Literatur;  besonderes 
'  Verdienst  erwarb  sich  der  vielseitige,  überaus  fruchtbare  Romanschriftsteller 
Jözef  Kraszewski;  erst  seine  polnischen  Werke  verdrängten  die  fran- 
zösischen aus  der  Lesewelt;  dann  der  Romanschriftsteller  und  Dramatiker 
Jözef  Korzeniowski,  der  zuerst  nach  Fredro  ein  solides  polnisches  Re- 
pertoire zimmerte;  neben  ihnen  brachte  eine  stattliche  Reihe  von  Epikern 
und  Romanciers  die  altadeligen  Traditionen  zu  Ehren,  in  förmlichem  Wett- 
streit mit  dem  „Herr  Thaddäus",  oder  huldigte  demokratischen  Tendenzen, 
indem  sie  den  Kreis  adeliger  Ausschließlichkeit  durchbrach  und  die 
Sache  des  Volkes,  der  Freiheit,  ja  der  Revolution  vertrat.  Gepflegt  wurde 
der  historische  Roman,  der  nur  aus  dem  1 8.  Jahrhundert  bedeutende,  lebens- 
frische Bilder  brachte;  der  Künstlerroman,  der  soziale  und  Bauernroman, 
der  der  Emanzipation  von  1 86 1  vorausgriff;  der  satirische  blieb  unbedeutend. 
Mit  dem  historischen  Drama  rang  man  vergebens;  auch  das  historische 
Epos  leistete  desto  weniger,  mit  je  größerem  Applomb  es  auftrat.  Desto 
besser  gelangen  einem  Pol  oder  Syrokomla  die  kleineren  Genrebilder 
aus  der  Vergangenheit  und  ihrem  ländlichen  patriarchalischen  Treiben; 
unter  den  Lyrikern  reichte  nur  der  jugendliche  Ujejski  mit  seinen  tief 
erschütternden  und  doch  versöhnenden  Klagen  des  Jeremias  (infolge  der 
Vorgänge  von  1846)  an  die  Höhe  der  Emigrationspoesie.  Zahlreicher 
traten  jetzt  auch  Schriftstellerinnen  hervor;  es  ist  merkwürdig,  wie  spät 
das  schöne  Geschlecht,  das  in  Polen  so  oft  das  stärkere  ist,  in  die  Lite- 
ratur eingreift;  das  17.  und  18.  Jahrhundert  bieten  nur  ganz  vereinzelte 
Erscheinungen,  im   iq.  Jahrhundert  mehren  sie  sich,  aber  bis  1863  war  man 


III.   Die  Literatur   seit   dem   Aufstand  von    1S63.  165 

von  der  modernen  Invasion  des  polnischen  Parnasses  durch  die  Frauen 
weit  entfernt.  Das  Gedankenreichste  und  Formvollendetste  leistete  die 
„Enthusiastin"  Zmichowska,  doch  mied  sie  schließlich  jede  Exaltation, 
verurteilte  die  Träumereien  und  fand  den  Weg  zu  ersprießlicher  Förde- 
rung, nicht  den  der  Emanzipation  nach  Art  der  G.  Sand,  sondern  den 
der  Humanität. 

III.   Die  Literatur  seit  dem  Aufstand  von  1803.     In  dieses  Ute- Die  Katastrophe 

von   i86j  und 

rarische  Leben,  das  offenbar  einer  Erneuerung,  Verjüngung  entgegentrieb   der.n  Folgen. 

TT-  •         T^n  1  1  Bankrott    der 

—  die  alten  Losungen  verloren  ihre  Wirkung,  die  Pflege  der  exakten  aitin  Romantik. 
und  sogar  der  historischen  Wissenschaften  blieb  arg  zurück,  Philosophie 
fehlte  völlig,  der  Anschluß  an  die  europäische  Gedankenwelt  war  wieder- 
um recht  lose  geworden  —  schlug  nun,  die  notwendige  Entwicklung 
überstürzend,  eine  neue  politische  Katastrophe  herein,  der  Aufstand  von 
1863,  der  eigentliche  Abschluß  der  polnischen  Romantik.  Schmerzliche 
Enttäuschungen  ernüchterten  die  Nation;  sie  brach  mit  der  romantischen, 
abenteuerlichen,  unverantwortlichen  Politik;  jetzt  hieß  es,  unter  neuen, 
ungleich  schwierigeren  Lebensbedingungen,  nach  dem  Verluste  jeglicher 
Autonomie,  nach  zahllosen  Einbußen  an  Blut  und  Mitteln,  die  tiefen 
Wunden  heilen,  das  Versäumte  nachholen,  der  Entwicklung  des  sozialen 
Lebens  sich  anpassen,  in  den  Rahmen  der  neuen  Welt,  ihrer  Industrie, 
ihres  Verkehrs  sich  eingliedern.  Mit  einem  Male  verlor  die  Romantik 
ihren  Kredit;  die  noch  unlängst  so  gefeierten  Traditionen,  die  konfessionelle, 
ständische,  nationale  Engherzigkeit  und  Einseitigkeit,  verleugnete  man  im 
Namen  des  Fortschrittes  und  der  „organischen  Arbeit'',  die  die  nationalen 
Grundlagen  umgestalten  sollten.  Die  „positivistische"  Jugend  räumte  mit 
altväterlichem  Erbgut  auf,  begeisterte  sich  für  Darwin  und  Comte,  für 
Buckle  und  Mill,  für  Büchner  und  Vogt,  verpönte  Träumen,  Phantasie  und 
Poesie,  zumal  die  lyrische  und  epische.  Gelten  ließ  sie  nur  die  dramatische 
Literatur,  um  von  der  Bühne  herab  Propaganda  für  die  neuen  Ideen  zu 
treiben,  und  den  tendenziösen  Roman.  In  der  Tat  verstummte  die  Poesie, 
d.  h.  sie  fand  keine  Hörer  mehr;  nur  die  wenigsten,  wirklichen  Künstler,  be- 
sonders Asnyk,  ließen  sich  durch  dieses  lärmende  Treiben  nicht  beirren, 
und  von  Siowackis  Bahnen  ausgehend,  rang  sich  dieser  Lyriker  zu  einer 
neuen  evolutionistischen  Weltauffassung  durch,  doch  mied  er  die  Kämpfe  des 
Tages.  Desto  breiteren  Raum  nahm  das  Drama  ein,  Thesenstücke  nach  Art 
der  Franzosen  (Augier,  Dumas),  obwohl  der  Tendenz  gerade  dasjenige  nicht 
huldigte,  was  allein  bleibenden  Wert  behalten  sollte,  Bliziiiskis  Bilder 
aus  dem  Treiben  der  Gentry,  der  er  selbst  angehörte  und  die  er  mit 
Sympathie  und  doch  wahrheitsgemäß  darstellte,  in  köstlicher  Sprache  und 
mit  viel  Laune,  national  und  charakteristisch  in  jedem  Zug,  tieferen  Kon- 
flikten jedoch  aus  dem  Wege  gehend.  Noch  intensiver  pflegte  man  den 
Roman:  der  alternde  Kraszewski  imponierte  auch  ferner  durch  seine  un- 
glaubliche   Arbeitskraft    und    -lust,    doch    trat    er    jetzt    mit   Vorliebe    mit 


j56  Alexander  Brückner:  Die  polnische  Literatur. 

ungezählten  historischen  Romanen  auf;  neben  ihm  der  demokratische 
und  revolutionäre  Jez,  der  als  erster  unter  den  Polen  die  Freiheits- 
kämpfe der  Balkanvölker  zu  historischen  Romanen  verwertete  oder  in 
sozialen  Erzählungen  die  Schwächen  polnischer  Gesellschaft  bis  zur  Kari- 
katur entstellte  und  seine  eigenen  demokratischen  Ideale  verherrlichte. 
Diese  Vertreter  des  Alten,  die  den  Forderungen  der  neuen  Zeit  sich  an- 
paßten, wie  Kraszewski  und  Jez,  oder  sie  ignorierten,  wie  Blizinski  im 
Tendenziöse,  Drama  Und  manch  anderer  im  Roman,  übertraf  weit  durch  seinen  Einfluß 
''Titeratur.  "  auf  die  Warschaucr  Jugend,  die  ihn  blind  verehrte,  Alexander  Swieto- 
wi^toc  °™5'- (,j^Q^\-g].j^  einer  der  glänzendsten  Stilisten.  Kein  Dichter,  im  Grunde  Dia- 
lektiker und  Sophist,  Meister  des  epigrammatischen  Stiles,  an  Voltaire 
oder  Herzen  erinnernd,  wagte  er  sich,  abgesehen  von  seiner  Publizistik, 
an  große  dramatische  Konzeptionen,  und  die  Lesedramen,  die  er  schuf, 
gehören  zu  den  interessantesten  der  Weltliteratur.  Unübertroffen  bleibt 
seine  Wiederbelebung  des  alten  Athen,  die  Darstellung  der  rhetorischen 
Leistungen  des  Perikles  und  der  Wortgefechte  der  Sophisten,  trotz  des  Ein- 
mischens  allermodernster  Losungen;  weniger  befriedigt  sein  Dramenzyklus, 
der  die  Entwicklung  der  Menschheit  von  der  primitiven  Horde  bis  zur  Kultur 
und  Humanität  darstellt;  seiner 'Apotheose  der  Liebe  und  ihrer  veredelnden 
Wirkungen,  sowie  seinen  Anklagen  der  Religion,  d.  i.  des  Aberglaubens 
und  der  Pfaffen,  fehlt  nur,  wie  den  Dramen  des  ICrasinski,  rhythmischer 
Zauber  und  Wucht  der  Verse;  die  stahlharte  und  haarscharfe  Klinge  seines 
Geistes  führt  er  im  sozialen  Drama  gewandter.  Doch  auch  hier  interessierte 
ihn  nicht  Aktion  oder  Charakteristik,  nur  die  dialektische  Entwicklung, 
das  Hinüber-  und  Herüberwerfen  von  Paradoxen,  Sarkasmen,  Aphorismen, 
das  Rededuell  von  Meistern  des  geistigen  Rapiers:  eine  Kunst,  nicht  für 
die  Menge  geschaffen,  die  sich  von  den  verstandesmäßigen  Deduktionen 
des  Darwinisten  und  Individualisten  trotz  ihrer  blendenden  Form  nicht 
angezogen  fühlte. 
Rückschläge.  Diese  Gunst  der  Menge  eroberte  spielend  ein  anderer,    der  bis  heute 

SeinJ^Epen'Tn  ein  Liebling  der  Massen  geblieben  ist,  Henryk  Sienkiewicz,  obwohl  oder 
KuHurronTane.  vielleicht  Weil  im  Grunde  seine  Kunst  einen  Rückfall  in  avitische  Tradi- 
tionen und  Illusionen  bedeutete;  sein  eigentliches  Auftreten  in  der  Lite- 
ratur, nach  1883,  bedeutete  bereits  die  nahende  Überwindung  des  positi- 
vistischen Momentes.  Auch  er  hatte  noch  vor  einem  Dezennium,  wie  die 
übrigen  Zöglinge  der  Warschauer  „Hauptschule",  der  einstigen  Universität, 
als  Positivist  mit  realistischen  Novellen  und  als  Publizist  mit  geistreichen 
und  satirischen  Feuilletons  begonnen,  und  frühe  schon  fiel  die  Vielseitig- 
keit seines  Könnens  auf;  sein  eigentliches  Feld  fand  er  jedoch  erst, 
als  er,  dem  angeborenen  Naturell  nachgebend,  unbekümmert  um  die 
Mahnungen  einer  doktrinären  Kj-itik,  von  der  unbefriedigenden  klein- 
lichen Gegenwart,  der  Belebung  vergangener  Zeiten,  ihres  nationalen 
Glanzes,  ihrer  erschütternden  Katastrophen  und  erhebenden  Triumphe 
sich  zuwandte,  der  neue  Homer  der  altpolnischen  Epopöe.     Erst  hier  kam 


III.  Die  Literatur  seit  dem   Aufstand  von   1863.  167 

ZU  ihrem  Rechte  seine  unglaubliche  Erzählerkunst,  die  unübertroffene 
Plastik  und  Lebhaftigkeit  seiner  Vision  der  Vergangenheit.  Das  von  rea- 
listischer und  tendenziöser  Kleinmalerei  übersättigte  Publikum,  nicht  nur 
das  polnische,  verschlang  mit  Heißhunger  seine  schier  endlosen  historischen 
Romane.  In  einer  Trilogie,  „Mit  Feuer  und  Schwert",  „Die  Sintflut",  „Herr 
Wolodyjowski",  schilderte  er  Gipfel  und  Abgrund  polnischen  Ringens  mit 
den  Feinden  im  1 7.  Jahrhundert,  wobei  er  der  Zensur  wegen  die  Russen 
beiseite  lassen  mußte,  sich  dadurch  der  effektvollsten  Züge  beraubend  — 
der  erste  Teil  der  Trilogie  errang  beispiellosen  Erfolg-,  wie  ihn  nur 
Walter  Scott  1815  zu  verzeichnen  gehabt  hatte.  Des  Gegensatzes  halber 
stieg  er  zu  modemer  Haarspalterei  herab,  das  Seelenleben  eines  Deka- 
denten in  „Ohne  Dogma"  analysierend;  etwas  philiströse  Moral  verzapfte 
er  in  „Familie  Polaniecki",  aber  bald  riß  er  sich  wieder  von  dieser 
intimen  und  modernen  Kunst  ab  und  wandte  sich  großen  historischen 
Kompositionen  zu.  Nun  ließ  er  in  „Quo  Vadis"  über  Macht  und  Sinnes- 
rausch des  kaiserlichen  Roms  das  unterirdische  mit  seiner  Askese  und 
Liebe,  mit  seiner  Demut  und  Ergebenheit  siegen:  es  ist  dies  derjenige 
Roman,  der  in  der  gesamten  Weltliteratur  den  größten  Erfolg  errungen 
hat,  nicht  nur  etwa  in  Nordamerika  und  England,  sondern  auch  in  so 
exklusiven,  gegen  alles  Fremde  unzugänglichen  Literaturen,  wie  die 
französische.  Mit  den  „Kreuzrittern"  betrat  er  wieder  die  Bahn,  auf  der 
er  mit  Matejkos  Polens  Vergangenheit  glorifizierenden  Gemälden  wett- 
eiferte; doch  legte  er  bald  die  Feder  nieder.  Zu  bewundern  bleibt 
die  Unerschöpflichkeit  des  Erzählers;  das  sich  Überbieten  von  Bildern 
und  Szenen;  das  meisterhafte  Knüpfen  und  Lösen  von  Schwierigkeiten; 
die  Fülle  charakteristischer  Gestalten,  jede  mit  ihrer  besonderen  Sprache 
und  Geste,  ob  es  mm  eine  schwärmerische  Jungfrau,  ein  Falstaff  oder 
ein  Ritter  ohne  Furcht  und  Tadel  ist;  die  Anpassungsfähigkeit  des 
Künstlers  an  jegliche  Lage,  ob  er  nun  perverse  Raffiniertheit  einer 
absterbenden  Zivilisation  oder  frisch  pulsierendes  Leben  derbsten  Mittel- 
alters, heroische  Instinkte  eines  jugendfrischen  Volkes  oder  antike  sinn- 
liche Grazie  verkörpert.  Sein  Talent  ist,  wie  es  ja  Slawen  zukommt, 
ausschließlich  episch,  und  man  merkt,  wie  der  Meister  selbst  Gefallen 
findet  am  ausführlichsten  Schildern  und  Erzählen,  an  den  farbenprächtigen 
Bildern  mit  ihrem  bewegten  Fonds  zahlloser,  stets  eigenartiger  Figuren. 
Seine  Kunst  stellte  sich  immer  ausschließlicher  in  den  Dienst  der  Ver- 
gangenheit, ihrer  Sympathien  und  Antipathien;  kein  Wunder  daher,  daß 
er  bei  der  eigenen  Nation,  deren  Aufmerksamkeit  er  für  immer  fesseln 
zu  sollen  schien,  namentlich  bei  der  Jugend,  auf  wachsende  Opposition 
stieß,  auf  ein  Auflehnen  gegen  seinen  Einfluß,  ein  Ablehnen  seines  Stand- 
punktes, ja  seiner  Kunst  sogar. 

Die  eigentliche  Entwicklung  der  modernen  Literatur,  seit  1890,  geht  der^^Serae^ 
denn  auch  auf  anderen  Bahnen  vor  sich,  nicht  in  dem  adelig-traditionellen  ^"^Xo'  ""' 
Geiste,  sondern  dem  demokratischen  Zuge  der  Zeit  folgend.     Dieser  kün-    K'ofz^zko.' 


158  Alexander  Bkickner:  Die  polnische  Literatur. 

dete  sich  bereits  an  in  dem  jetzt  vierzigjährigen  Schaffen  der  Frau 
E.  von  Orzeszko,  einer  der  bedeutendsten,  beliebtesten  Schriftstellerinnen 
der  Weltliteratur,  die  z.  B.  in  Rußland  besonders  geschätzt  wird.  Trotz  der 
Unzahl  ihrer  Romane  und  Novellen  hat  sie  bezeichnenderweise  niemals 
(außer  in  Judenerzählungen  aus  römischer  Zeit)  an  dem  historischen  Altar 
geopfert.  Sie  begann  als  Tendenzschriftstellerin,  die,  unabhängig  von 
der  Warschauer  Bewegung,  für  die  Emanzipation  des  Weibes  eintrat; 
aber  auf  polnischem  Boden  nahm  auch  die  Emanzipationslust  eine  be- 
sondere, engere  Form  an.  Im  Grunde  genommen  ist  die  Orzeszko  bis 
heute  tendenziös  in  ihrem  Schaffen  geblieben,  aber  wie  hat  sich  ihre 
Kunst  vervollkommnet,  wie  ist  ihr  Stil  präziser  und  energischer  geworden, 
ihr  Horizont  erweitert,  ihr  Naturgefühl  verfeinert  —  nur  das  Herz,  die 
Sympathie  für  alle  Unterdrückten,  Unwissenden,  Verlassenen  hat  die 
ursprüngliche  Tiefe  bewahrt.  Für  Polen  wurde  sie  Ruferin  im  Streit, 
und  trotz  aller  ihrer  Mäßigung  verdarb  sie  es  für  immer  mit  kon- 
servativen und  klerikalen  Kreisen;  wagte  sie  es  doch  z.  B.  die  Unlöslich- 
keit der  Ehe  und  ihre  Folgen  zu  beleuchten;  von  Herzens-  und  Familien- 
geschichten stieg  sie  zur  Darstellung  von  Land  und  Leuten,  Juden  und 
Bauern,  doch  mit  Vorliebe  verblieb  sie  in  ihren  eigentlichen  Kreisen, 
auf  den  Adelshöfen  in  der  entlegenen  Provinz.  In  den  breit  angelegten 
Romanen  zeichnet  sie  die  polnische  Welt  in  ihren  litauischen  und  weiß- 
russischen Winkeln  am  Niemen,  mit  dem  lebhaftesten  Sinn  für  das  Land- 
schaftliche, ausgehend  von  den  seit  der  Bauernbefreiung  1861  und  dem 
Aufstande  1863  von  Grund  aus  veränderten  Bedingungen,  die  Muster  und 
Ideale  weisend,  nach  denen  jeder  sein  Verhalten  zum  Nächsten  und  zum 
Boden  einrichte.  Sie  betonte  stets  die  einigenden  und  humanen  Motive, 
fand  sich  ab  mit  den  Schwächen  und  Unvollkommenheiten  in  wehmütiger 
Resignation,  die  sich  mit  dem  Alter  bis  zum  Pessimismus  verdüsterte, 
und  trotzdem  mahnte  sie  unverzagt  zur  Mühe  und  Aufopferung  für  die 
„alten  Scherben"  (den  bildlichen  Stil  lehrte  sie  der  russische  Zensor),  in- 
dem sie  gegen  jegliches  frivole  Lockern  der  traditionellen  Bande  prote- 
stierte und  die  Jagd  nach  der  „Pastete",  nach  dem  Lebensgenüsse,  sowie  das 
Huldigen  vor  fremden  Götzen,  die  Preisgabe  des  Heimes  und  Volkes  ver- 
urteilte. Sie  sucht  moderne  Losungen  mit  den  traditionellen  zu  versöhnen, 
predigt  das  Evangelium  der  Arbeit  und  Liebe,  trachtet  den  unter  den  Füßen 
zusehends  weichenden  Grund  zu  retten  und  zu  sichern,  lenkt  die  Aufmerk- 
samkeit auf  den  Juden  mit  seinem  Fanatismus  und  seiner  Unwissenheit,  auf 
den  Bauer  mit  seinem  Aberglauben  und  seiner  Gefühlstiefe,  auf  den  Klein- 
adeligen mit  seinem  Stolz  und  seiner  Zähigkeit,  auf  die  Vornehmen,  die 
großen  Kinder,  die  verirrten  und  verführten,  doch  ohne  didaktische  Aufdring- 
lichkeit; trotz  ihrer  Ausführlichkeit;  der  Gehobenheit  einer  fa.st  dichterischen 
Sprache ;  der  Neigung  zum  Idealisieren,  erzielt  sie  mitunter  durch  die  knappste 
Diktion,  strengste  Objektivität  und  die  einfachsten  Züge  den  größten  Er- 
folg,  zumal    wo   jegliche  Tendenz    sich    in    der  epischen  Fülle  verflüclitigt. 


III.  Die  Literatur  seit  dem  Aufstand  von    1863.  i6q 

Während  in  der  Frauenliteratur  der  ^Velt  Parallelen  zur  Orzeszko  sich  Maria 
ohne  weiteres  finden  ließen,  bleibt  Maria  Konopnicka  unübertroffen,  ja 
unerreicht.  Sie  ist,  was  bei  Frauen  so  selten,  eine  Dichterin  von  männ- 
licher Kraft,  ihren  modernen  Sangesbrüdern  weit  überlegen,  ein  großes 
episches  und  lyrisches  Talent,  eine  Meisterin  des  Ausdrucks,  die  auf  dem 
Boden  der  Tatsächlichkeit  haftend,  allem  Exotischen,  Phantastischen  aus- 
weicht. Die  Warschauer  Positivisten  zählten  auch  sie  zu  den  ihrigen; 
ihren  fortschrittlichen  und  demagogischen  Melodien  legte  sie  förmlich  die 
Texte  unter,  aber  bald  streifte  sie  alles  Tendenziöse  ab,  verherrlichte 
heimisches  Land  und  Leute,  schilderte  Eindrücke  der  Fremde,  zumal  italie- 
nischer Kunst  und  Natur,  und  schuf  schließlich  das  einzige,  das  Bauern- 
epos großen  Stiles,  das  die  Lücke  in  der  Weltliteratur  ausfüllt,  das  den 
Vergleich  mit  allen  heroischen,  romantischen,  religiösen,  historischen  und 
bürgerlichen  Epen  siegreich  besteht.  So  schuf  die  „aristokratische"  pol- 
nische Literatur  —  diesen  Vorwurf  formulierten  mit  Nachdruck  und  einst 
nicht  mit  Unrecht  Russen  —  das  Bauern-  und  zwar  das  Auswandererepos. 
Denn  die  Rhapsodien  und  Oktaven  des  „Herr  Balzer  in  Brasilien"  schil- 
dern nicht  Kämpfe  und  Nöte  auf  der  heimischen  Scholle;  die  aus  allen 
Gegenden  Polens  bunt  zusammengewürfelte  Schar  müht  sich  im  verg'eb- 
lichen  Ringen  mit  den  Elementen,  mit  dem  Klima,  mit  Pest  und  Hunger, 
mit  Nagern  und  Schlangen,  bis  der  Haufe  von  Skeletten  im  panischen 
Entsetzen  und  doch  im  tiefsten,  unwandelbaren  Gottvertrauen  den  Weg 
zur  Küste,  nach  der  Überfahrt,  zu  dem  trauten  Glockengeläut  der  Dorf- 
kirche sich  bahnt,  um  den  sicheren  Tod  zu  finden:  alles  in  den  Mund  des 
ehrbaren  Dorfschmiedes  gelegt,  der  die  selbsterlebten  Wunder  und 
Schrecken  mit  erstaunlicher  Anschaulichkeit,  überwältigendem  Gefühl, 
herber  Einfachheit,  ohne  einen  weibischen  Zug,  mit  männlicher  Kraft 
wiedergibt.  Daß  ein  solches  Werk  Frauenhände  schufen,  ist  nicht  das 
geringste   der  W^under,   an   denen  polnische  Literaturgeschichte   reich  ist. 

Dieses  Bauernepos  wird  nun  bezeichnend  für  einen  Hauptzug  modern- Die  voikstum 
ster  polnischer  Literatur,  für  ihre  Volkstümlichkeit.  Zwar  haben  auch  im  Leben  und  in 
die  Alteren,  schon  wegen  ihres  ausgeprägten  ländlichen  Charakters,  Ba 
Bauernleben  und  -typen  dargestellt,  in  den  Idyllen  des  Simonides  (1612), 
die  neben  Nachahmungen  des  Theokrit  und  Vergil  rotrussisches  Dorf- 
leben ungeschminkt  wiedergaben,  wie  im  „Wiesiaw"  des  Brodzinski  (1820), 
einem  bäuerlichen  „Hermann  und  Dorothea",  der  von  sentimentalen  An- 
wandlungen nicht  frei  war;  der  litauische  Bums,  Syrokomla,  Kraszewski 
mit  seinen  Bauernromanen,  arbeiteten  der  Bauememanzipation  kräftig  vor; 
es  wurden  sogar  in  den  Mundarten  polnischer  Bauern,  im  Kaschubischen 
oder  Oberschlesischen,  meist  humoristische  Sachen  geschrieben.  Heute 
geht  jedoch  der  volkstümliche  Zug  ungleich  tiefer,  ist  keine  zufallige 
oder  vorübergehende  Anwandlung  mehr,  ist  die  notwendigste  Voraus- 
setzung oder  Ergänzung  jeglicher  nationalkultureller  Arbeit  geworden. 

Lange  nämlich  war  man  in  der  gröbsten  Täuschung  über  Stärke  und 


lyo  Alexander  Brückner :  Die  polnische  Literatur. 

Beschaffenheit  polnischen  nationalen  Wesens  befangen.  Man  nahm  als 
selbstverständlich  an,  daß  man  mit  dem  Adel  durch  Expropriationen  und 
Konfiskationen  fertig  werden,  die  Geistlichkeit  durch  Druck  von  Rom  aus 
mürbe  machen,  das  bürgerliche  Element  durch  Amt  und  Schule  ent- 
nationalisieren und  den  Bauer  gegen  seinen  Bedrücker-Herrn  ausspielen 
könne,  indem  man  ihm  das  Polentum  mit  den  „polnischen  Zeiten"  der 
Rechtlosigkeit  und  Robot  als  Greuel,  die  Fremden  als  die  Erlöser  von 
diesem  Drucke,  als  seine  Retter  darstellte.  Alles  stimmte  vorzüglich; 
übersehen  war  nur  eine  Kleinigkeit,  das  Nationalgefühl,  und  dieses  machte 
den  Strich  durch  die  ganze  Rechnung.  Denn  als  der  Bauer  merkte,  wo- 
hin das  System  schließlich  abzielte,  daß  er  seiner  Sprache  und  Natio- 
nalität wegen  verfolgt  wurde  —  zahlte  man  doch  schon  im  i8.  Jahr- 
hundert Prämien  für  Entnationalisierung  an  Geistliche  und  Lehrer,  etwa 
wie  Schußprämien  für  Wölfe,  und  erklärte  sogar  Ortsnamen  den  Krieg 
—  da  erkannte  der  bis  dahin  loyalste  und  frömmste  Untertan  auf  der 
ganzen  Welt,  in  Regierung  und  Geistlichkeit  seinen  gefährlichsten  Feind, 
und  heute  wächst  täglich  diese  Entfremdung,  die  nur  den  Monarchismus, 
die  Loyalität  und  sogar  den  Katholizismus  selbst  gefährdet,  ohne  der 
fremden  Sache  zu  nützen. 

Auf  diesem  Granit  des  Polentums  nun,  auf  der  polnischen  Bauem- 
welt,  baut  sich  zum  Teil  die  Literatur  selbst  auf.  Es  zeigt  sich  dies 
schon  in  der  Sprache:  die  modernen  Schriftsteller  verjüngen  und  kräftigen 
sie,  schöpfend  aus  dem  Jugendbrunnen  der  Bauernsprache,  zum  Ent- 
setzen der  zünftigen  Puristen,  die  nur  das  salonmäßige  Polnisch,  wie  es 
durch  die  Romantiker  nach  der  klassischen  Starrheit  aufgefrischt  ward, 
gelten  lassen  wollen.  Es  zeigt  sich  dies  in  der  Wahl  der  Stoffe:  Bauern- 
novellen, -romane  und  -dramen  nehmen  einen  immer  größeren  Raum  ein; 
ja,  Schriftsteller  gehen  aus  dem  Volke  unmittelbar  hervor,  sind  Bauern- 
söhne oder  steigen  zu  ihm  herab,  sie  heiraten  z.  B.  Bäuerinnen  und  leben 
auf  dem  Dorfe.  Diese  Bauernliteratur  erst  dringt  in  die  Tiefen  der 
Volksseele;  sie  begnügt  sich  nicht  mehr  mit  dem  äußerlichen  ethno- 
graphischen Aufputz  in  Brauch,  Lied,  Sprache;  sie  erschließt  die  Gefühls- 
welt und  Denkweise  des  Bauern,  jegliche  sentimentale  oder  idjdlische 
Anwandlung  verpönend.  Die  meisten  modernen  Schriftsteller  schöpfen 
aus  der  Volksliteratur  oder  steuern  ihr  bei;  Sienkiewicz  hat  nur  seine 
alte  Sprache  ihr  angemodelt;  die  Orzeszko  entnahm  dem  Volksleben  ihre 
schönsten  Schöpfungen;  mit  Konopnicka  wetteifert  Reymont,  der  große 
Epiker  in  Prosa,  namentlich  in  seiner  Epopöe  „Die  Bauern",  die  das  gesamte 
Dorfleben,  nicht  nur  seine  tragischen,  komischen  oder  idyllischen  Ausschnitte, 
mit  wunderbarer  Plastik  zur  unübertroffenen  Darstellung  bringt.  Von  be- 
sonderer Bedeutung  für  die  Literatur  ward  dann  die  Tatra,  das  Gebirge, 
sein  Volk  und  dessen  Sprache,  für  die  Verjüngung"  der  Lyrik  wie  für  die 
Bereicherung  der  Stoffe;  ein  Sohn  der  unwirtlichen  Berge  selbst,  Orkan, 
schildert    in    hnmer    größer   angelegten    Werken    ihr   Elend,    die   Starrheit 


III.  Die  Literatur  seit  dem  Aufstand  von   1863.  lyi 

der  grandiosen  Natur,  die  Träumer  und  Propheten,  die  in  dieser  Um- 
gebung- entstehen.  So  schmilzt  das  Eis,  das  wie  diese  Berge,  so  diese 
Bauernwelt  bedeckt  hielt;  das  polnische  Bauerntum  ist  nationalem  Be- 
wußtsein gewonnen. 

In  dieser  unabwendbaren,  natumotwendigen  Bauemmanie  und  Bauern-  Die  altruistische 
manier  geht  jedoch  die  polnische  Moderne  nicht  auf.  Ein  anderer  sie  be-  Vertreter',-  Prus 
herrschender  Zug  ist  der  Altruismus,  das  Einschärfen  der  Pflichten 
gegen  die  Gesamtheit.  Die  bedeutendsten  Vertreter  dieser  Richtung  sind 
der  alte  Prus  und  der  junge  Zeromski.  Prus  hatte  als  Positivist,  Feuille- 
tonist und  Humorist  begonnen,  ehe  er  seine  Beobachtungen  des  täglichen 
Lebens  und  seiner  Triebkräfte  in  größeren  Schöpfungen  verwertete:  auch 
er  errang  mit  einer  Bauerngeschichte,  die  das  zähe  Haften  des  Bauern 
an  der  Scholle  verherrlicht,  den  ersten  großen  Erfolg;  er  wandte  sich 
dann  sozialen  Romanen  zu,  von  grandioser  Gedankentiefe,  mit  wunderbaren 
Gestalten  („Die  Emanzipantinnen");  in  seinem  Roman  aus  der  Zeit  der 
Pharaonen,  mit  dem  der  Dichter  den  Professor  (Ebers)  um  viele  Längen 
schlug,  huldigte  er  dem  Evolutionismus,  denn  sein  Reformator  unterliegt,  aber 
seine  Überwinder  selbst  werden  diese  Reformen  ausführen  müssen.  Ungleich 
eigenartiger  ist  Zeromskis  großes  Talent;  er  ist  kein  Epiker,  kein  Fabu- 
list,  wie  Sienkiewicz;  seine  Romane  zerflattern  in  lose  Schilderungen,  die 
auf  einen  Grundton  gestimmt  sind:  gallige  Ausfälle  gegen  bourgeoise 
Heuchelei,  erschütternde,  mit  innerlichen  Tränen  und  Blut  geschriebene 
Schilderungen  menschlichen  Unglückes;  sein  Held  in  den  „Heimlosen" 
wird,  anders  als  Ibsens  „Volksfeind",  von  vornherein  den  Versuchungen 
eigenen  Glückes,  eigenen  Herdes  an  der  Seite  der  Geliebten,  widerstehen, 
um  zum  sozialen  Kampfe  die  Arme  sich  frei  zu  erhalten.  Die  losen 
Stimmungsbilder  Zeromskis  ergreifen  mächtiger,  als  die  abgerundetsten 
Schöpfungen  anderer;  seine  energische,  konzentrierte  Diktion  —  ganz  wie 
sein  Gefühl  — ,  in  ihrer  oft  schneidenden  Schärfe,  sticht  von  dem  tempe- 
ramentlosen Wortgeschwall  anderer  förmlich  befremdend  ab;  er  bleibt 
Meister  der  Schilderung,  wenn  er  auch  die  Gebote  der  Komposition 
verachtet. 

Zeit  und  Umstände  bedingen  allerlei  Spezialisierungen  —  so  die  Andere  Batmen 
sibirischen  Novellen  und  Skizzen  eines  Szymaiiski  oder  Sieroszewski,  „MoJeme«. 
die  auf  Grund  eigener  Anschauungen  verfaßt  sind,  endigen  doch  so  vieler 
Polen  Zukunftsträume  in  dem  Eis  der  Tundren;  Sieroszewski  ist  zugleich 
hervorragender  Ethnograph,  seine  Schilderungen  Ostasiens  unübertroffen. 
Lange  vor  Kipling  pflegte  Dygasinski  das  Tierepos,  die  heimische  Tierwelt 
behandelnd  und  der  Allegorie  weniger  huldigend.  Satirische  Romane  aus 
der  besten  Gesellschaft  bringt  Weyssenhoff,  ausgezeichnet  durch  diskrete 
Pinselführung,  so  daß  das  satirische  Element  kaum  durchleuchtet  und  die 
Schilderungen  dadurch  nur  naturwahrer  werden.  Von  historischen  Romanen 
wimmelt  es  geradezu;  der  eigentliche  realistische  Roman  —  trotzdem  alle 
Genannten    Realisten    sind    —    mit   seinen    Kraßheiten    erotischer    Art   ist 


iy2  Alexander  Brückner:  Die-  polnische  Literatur. 

ausgeschlossen:  die  slawischen  Musen  sind  immer  keusch.  Das  äußerste 
wagte  noch  eine  Frau  (Zapolska);  erst  Stanislaw  Przybyszewski,  von 
der  deutschen  Literatur  und  ans  dem  Kreise  Strindbergs  kommend, 
infizierte  die  polnische  Literatur  mit  dem  Kultus  der  nackten  Seele,  der 
Androgyne,  der  sexuellen  Verirrungen,  des  Übermenschen;  der  Romancier 
jedoch,  der  in  der  deutschen  Sprache  die  gewagtesten  Probleme  behandelte, 
schien  auf  dem  polnischen  Boden  sich  eines  anderen  zu  besinnen, 
wenigstens  behandeln  seine  polnischen  Dramen  sämtlich  die  Folgen,  die 
die  Verletzung  moralischer  Satzungen  nach  sich  zieht;  er  schreckte  jetzt 
eher  ab,  als  daß  er  verführte  und  verwirrte. 

Unverhältnismäßig  groß  ist  die  Zahl  der  Lyriker,  die  die  Gleichgültig- 
keit des  großen  Publikums  gegen  Verse  endlich  gebrochen  haben.  Diese 
Neubelebung  der  Poesie  ging  von  fremden  Anregungen  aus;  die  Par- 
nassier,  Symbolisten,  Satanisten  sogar  fanden  in  Polen  gelehrige  Schüler, 
die  sich  selbst  zu  Meistern  entwickelten.  So  Kazimierz  Tetmajer  (die 
deutschen  Namen  besagen  nichts;  schon  der  Urgroßvater  dieses  Moder- 
nisten huldigte  polnischen  Musen,  wie  Weyssenhoffs  Ahne  an  der  Mai- 
konstitution von  lyqi  mitwirkte),  der  in  der  Verherrlichung  der  Tatra  sich 
den  Geist  gesund  badete  von  Pessimismus  und  Sinnlichkeit,  dem  die 
größte  Mannigfaltigkeit  von  Tönen  und  Bildern  zu  Gebote  steht  —  im 
Gegensatze  zu  der  Herbheit  und  Schroffheit  des  Sohnes  der  Kujawischen 
Hügellandschaft,  J.  Kasprowicz,  der  vom  Volksdichter  und  Sozialisten 
ausgegangen,  für  seinen  Weltschmerz  den  erschütterndsten,  nicht  den  har- 
monischsten Ausdruck  fand;  beide  Lyriker  wandten  sich  mit  großem  Er- 
folg dem  Roman  und  Drama  zu. 

Eine  besondere  Stellung  nimmt  der  Maler  und  Dichter  Stanislaw 
Wyspianski  ein,  der  Maler,  der  dem  Dichter  die  fertigen  Tableaus  stellt; 
der  an  Slowacki  erinnert  nicht  nur  durch  die  Macht  des  Wortes,  die 
befremdenden,  ja  beängstigenden  Konzeptionen,  sondern  durch  die  Auf- 
fassung- von  der  Aufgabe  des  Dichters  als  ■;wi/cs,  als  geistiger  Führer 
seines  Volkes.  Er  findet  die  eigenartigsten  Effekte,  grandiose  oder  nur 
groteske;  ist  tief  und  geheimnisvoll,  dunkel  mit  Absicht  und  kapriziös 
und  bizarr  zugleich.  Überall  scheint  er  zu  Hause  zu  sein;  antike  Stoffe 
(Meleager,  Protesilaus)  verwertete  er  in  der  Art  eines  Maeterlinck  und 
doch  gab  er  eine  imposante  Vision  heroischer  Zeit;  er  behandelte  die 
nationale  Sage  um  des  Stimmungszaubers  willen,  den  er  ihr  willkürlich 
lieh;  er  setzte  die  Rhapsodien  des  Slowacki  fort,  den  Konflikt  zwischen 
König  und  Bischof  (Stanislaus),  in  epischer  und  dramatischer  Form,  und 
erzielte  die  prächtigsten  malerischen  Wirkungen,  schuf  im  einzelnen  wahre 
Perlen  der  Poesie.  Im  gewaltigen  Sprunge  versetzte  er  sich  in  das 
19.  Jahrhundert,  in  die  Schilderung  militärischer,  politischer,  geistiger 
Kämpfe  der  polnischen  Generale,  Diplomaten  und  Dichter;  unterwarf  in 
seinen  phantastischen  Dramen  der  schärfsten  Kritik,  die  Geißel  des  Slo- 
wacki   schwingend    über  Gerechte    und   Ungerechte,    die  Schlagworte  des 


]H.    Die    Literatur   seil  dcni    Aufstand   von    18(13.  I -_5 

Tages,  sogar  die  „Bauernmanie",  die  Schwächen  der  Nation,  das  selbst- 
gefällige Wiegten  in  Träumen,  die  Abwendung  des  Blickes  zur  Vergangen- 
heit, zu  den  Gräbern,  wovon  nichts  zu  erhoffen  ist;  so  wirft  er  sich  als 
Führer  und  „Befreier"  auf,  im  einzelnen  unklar  und  widerspruchsvoll,  in 
vielem  treffend  und  packend.  Seinen  Dramen  ist  nicht  gleicher  Erfolg 
beschieden  gewesen;  den  größten  erzielte  „Die  Hochzeit'',  trotz  ihrer  Alle- 
gorien und  Symbole,  durch  die  satirischen  Ausfälle,  den  wirbelnden  Rhyth- 
mus der  Form,  die  aufs  höchste  gesteigerte  Spannung-.  Trotz  aller  Phan- 
tastik  und  Kaprizen  ist  seine  Poesie  durchaus  bodenständig,  im  Grunde 
selbst  eine  Poesie  der  Gräber,  möglich  nur  in  den  Stimmungen,  die 
Krakaus  ehrwürdige  Denkmäler  auslösen. 

An  diese  Kor^'phäen  reiht  sich  eine  beängstigend  große  Reihe  von  Koma.,  umi 
Dichtern  und  Belletristen.  Da  nämlich  dem  Polen  die  Tätigkeit  in  Amt 
und  Heer  meist  unmöglich  gemacht  wird,  muß  sich  der  Überschuß  geistiger 
Kräfte  auf  literarischem  Gebiete  ausladen;  Dekadenten,  Komödianten, 
Reporter  wenden  sich  hierher;  mit  Männern  wetteifern  Frauen,  weniger 
in  L3'rik  und  Drama,  als  in  Roman  und  Novelle,  die  bekannten  Eigen- 
heiten weiblicher  Belletristik  meist  wahrend,  die  süßen  Herzensbedräng- 
nisse, das  Idealisieren,  zumal  der  Männer,  die  Weitschweifigkeit.  x\m 
leersten  geht  das  Drama  aus;  noch  immer  ringt  man  mit  dem  historischen 
in  zahllosen  Schöpfungen,  die  es  über  einen  Achtungserfolg  nie  gebracht 
haben;  Ibsen  und  Maeterlinck,  Hauptmann  und  Wolzogen  werden  nach- 
geahmt, oft  mit  großem  Glück;  so  erregfte  Kisielewski  mit  seinen  Dramen 
von  Bildungsphilistern,  von  ihren  Netzen,  in  die  sich  der  Aufstrebende 
verstrickt,  von  dem  intelligenten  „Lumpengesindel",  berechtigtes  Aufsehen; 
einzelne  Volksstücke  imponieren  durch  die  Konsequenz  der  Durchführung, 
einzelne  soziale  durch  das  unbeabsichtigte  Zusammentreffen  mit  Tages- 
ereignissen —  aber  alles  bietet  eher  vielversprechende  Ansätze,  Anläufe 
ist  immer  noch  nicht  die  entscheidende  dramatische  Tat,  der  das  slawische 
weichere,  träumerischere  Naturell,  seine  wesentlich  lyrische  und  epische 
Veranlagung,  noch  immer  nicht  gewachsen  scheint. 

Im   Leben    des    polnischen  Volkes   nimmt    die  Literatur  eine  ungleich  Bedeutung  una 

Rolle  der   Litc- 

hohere,    umfassendere   Bedeutung    an,    als    dies    bei    anderen  Volkern   der  ratür  im  natio- 

,        naien  Leben. 

Fall    ist.      Die    über    zwanzig    Millionen    Köpfe    zählende    Nation    ist    seit  Die  Literatur  als 

^  .  seine  Weckerin 

Über  einem  Jahrhundert  jeglicher  politischen  Selbständigkeit  beraubt,  und  Hüterin. 
Zwar  fügte  es  ein  gütiges  Schicksal,  daß  bis  jetzt  wenigstens  abwechselnd 
auf  je  einem  Teilgebiete  die  Möglichkeit  ungehinderterer  Entfaltung  geboten 
war.  So  war  zuletzt  an  Galizien  die  Reihe  gekommen,  einer  Autonomie 
sich  zu  erfreuen,  eine  führende  Rolle  einzunehmen.  Die  alte  Königstadt 
Krakau,  so  lange  eine  Stadt  der  Ruinen  und  Traditionen,  erhebt  in  Kunst, 
Wissenschaft  und  Literatur  berechtigten  Anspruch,  als  Dolmetscherin 
nationalen  Geistes  und  geistiger  Arbeit  zu  gelten.  Das  materiell,  an 
Menschenzahl  und  Mitteln,  ungleich  reichere  Kongreßpolen  ist  gelähmt 
durch  das  herrschende  Russifikationssystem,  das  die  materielle  und  geistige 


lyA  Alexander   BRf<rKNER:  Die  polnische  Literatur. 

Entwicklung  der  Nation  nur  auf  jede  erdenkliche  Weise  unterdrückt. 
Kein  Wunder  daher,  daß  wegen  der  schmerzlichen  Überraschungen,  die 
sie  täglich  an  den  slawischen  „Brüdern"  (Bruder  war  Kain  auch)  erleben, 
bei  den  Polen  slawophile  Tendenzen  vollständig  verraucht  sind;  daher  die 
Gleichgültigkeit  oder  Abneigung  anderer  Slawen  gegen  die  Polen,  die 
erst  jetzt,  nicht  ohne  den  mächtigen  Einfluß  der  polnischen  Literatur, 
langsam  zu  weichen  beginnt.  Naturgemäß  sind  es  die  katholischen  Slawen, 
Kroaten  und  Böhmen,  die  sich  noch  am  ehesten  angezogen  fühlen,  die 
orthodoxen  scheidet  ja  schon  die  Konfession.  Im  Posenschen  werden  die 
heute  gegen  früher  ungleich  geringeren  Mittel  durch  den  Kampf  gegen 
die  Entnationalisierung  ganz  in  Anspruch  genommen. 

Unter  solchen  Umständen  ist  die  Literatur  das  wichtigste  nationale 
Band.  Buch,  Zeitung,  Theater,  ja  Predigt  und  Kirchenlied  haben  für  den 
Polen  somit  eine  ganz  andere  Bedeutung  als  z.  B.  für  den  Deutschen; 
wäre  es  möglich,  könnte  der  Deutsche  dieser  Dinge  ganz  entraten,  da  er  sein 
Volkstum  durch  das  nationale  Amt,  Heer,  Schule  usw.  völlig  gesichert 
weiß,  sich  hier  ungestört  voll  ausleben  kann.  Von  alledem  hat  der  Pole 
nichts,  das  alles  muß  ihm  seine  Literatur  ersetzen.  Ein  notdürftiger,  gar 
fragwürdiger  Ersatz;  man  könnte  sogar  zweifeln,  ob  auf  die  Dauer  dieser 
Ersatz  das  nationale  Bewußtsein  aufrecht  zu  erhalten  vermag;  die  Erfah- 
rung eines  ganzen  Jahrhunderts  lehrt  jedoch,  daß  in  der  Tat  auch  ohne 
politische  die  nationale  Selbständigkeit  gewahrt  bleiben  kann,  freilich 
muß  sie  auf  breiter   kultureller  und  nationaler  Basis  gestützt  sein. 

Die  Literatur  ist  nun  der  glänzendste  und  einwandfreieste  Zeuge  der 
Jahrhunderte  alten  Kulturarbeit  der  polnischen  Nation;  unter  den  slawi- 
schen allen  ragt  sie  durch  die  Fülle  und  Größe  ihrer  Talente  hervor;  ihr 
makelloses  Schild  haben  stets  reine  Hände  hoch  gehalten;  zweideutige 
Existenzen  oder  Richtungen  sind  ihr  fremd.  Sie  steckt  sich  die  höchsten 
Ziele  und  ruht  auf  der  sichersten  Basis;  sie  verkörpert  den  großen  demo- 
kratischen und  realistischen  Zug  der  Zeit,  ohne  ihren  alten  Idealen  untreu 
geworden  zu  sein;  die  reiche  Elite  ihrer  Geister  trägt  vor  der  Nation 
die  Leuchte  wahrer  Humanität.  Mag  auch  Polens  politische  Sache  unter- 
legen sein,  aus  seiner  Literatur  ertönt  ihm  allezeit  das  siirsum  corda.  Trotz 
fremden  Druckes  hält  sie  unentwegt  an  den  abendländischen  Grundlagen 
der  nationalen  Kultur  fest,  läßt  sich  durch  keine  slawophilen  Velleitäten 
beirren  und  vergibt  doch  nichts  ihrem  slawischen  Charakter,  der  ja  in  der 
Starrheit  griechischer  Kirche,  in  der  Barbarei  kyrillischer  Schrift,  im 
julianischen  Kalender  und  mongolischen  Despotismus  durchaus  nicht  auf- 
geht, wie  man  es  der  Welt  weismachen  möchte.  Niemals  revolutionär 
und  zerstörend,  niemals  aufreizend  und  minierend;  immer  mäßigend  und 
warnend,  aufklärend  und  erhebend,  tröstend  und  stärkend  zieht  diese 
Literatur  ihre  eigenen  Wege.  Keiner  anderen  Literatur  der  Welt  ist  eine 
gleich  schwierige  und  verantwortungsvolle  Aufgabe  zugewiesen  worden; 
keine  andere  zeigt  sich  dieser  Aufgabe  gleich  gewachsen. 


Literatur. 

Die  vorstehende  Monographie  ist  im  Jahre  1903  verfaßt  und  vor  dem  Druck  nur  kurz 
revidiert. 

Nachdem  die  polnische  Literaturgeschichte,  seit  des  Simon  Starowolski  Hekatontas 
vom  Jahre  1625,  sich  hauptsächhch  mit  bio-  und  bibliographischen  Ausführungen  begnügt 
hatte,  ist  sie  durch  die  bändereichen  Werke  des  M.  WisZNIEWSKi  und  W.  A.  MaciejowSKI, 
die  beide  jedoch  nur  bis  zur  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  vordrangen,  seit  den  vierziger  Jahren 
des  vorigen  Jahrhunderts  auf  wissenschaftliche  Grundlage  gestellt  worden.  .Seit  1870  beson- 
ders setzte  dann  eine  monographische  Bearbeitung  des  reichen  Stoffes  ein ,  die  sich  gleich- 
mäßiger auf  die  Vergangenheit  erstreckte  und  die  Neuzeit  verständnisvoll  berücksichtigte. 
Die  Ergebnisse  dieser  Forschungen  sind  zusammengefaßt  in  den  beiden  ,,Historja  literatury 
polskiej"  des  P.  Chmielowski  (Warschau,  1900;  6  Bände)  und  des  Grafen  St.  Tarnowski 
(Krakau,  igooff. ;  6  Bände);  ihnen  war  vorausgegangen  eine  knappe,  sehr  anziehend  ge- 
schriebene Darstellung  von  Wi.  SPASOWICZ  in  dem  Gesamtwerke  über  slawische  Litera- 
turen von  Pypin -Spasowicz,  das  auch  in  deutscher  Übersetzung  vorliegt.  Vgl.  außerdem 
A.  Brückner,  Geschichte  der  polnischen  Literatur  (Leipzig,  IQ02)  in  der  Amelangschen 
Sammlung  ,, Literaturen  des  Ostens".  Die  Bibliographie  der  polnischen  Literatur  erschöpfte 
Karl  Estreicher  in  seiner  vielbändigen  Bibliografja  polska  f Krakau,   1880  ff.). 


DIE  BÖHMISCHE  LITERATUR. 

Von 
Jan  Mächal. 

Einleitung.  Die  böhmische  Sprache  gehört  zu  der  westlichen  Gruppe 
der  slawischen  Sprachen;  ihr  Gebiet  erstreckt  sich  über  Böhmen,  Mähren, 
Schlesien,  die  Slowakei  (im  nordwestlichen  Teile  Ungarns)  und  spora- 
disch auch  Niederösterreich.  Auf  diesem  weiten  Gebiete  unterscheidet 
man  noch  heutzutage  drei  besondere  Dialektgruppen:  die  tschechische, 
die  mährische  und  slowakische  mit  verschiedenen  Mundarten.  Die  mittel- 
tschechische Mundart  in  der  Umgebung  Prags  als  die  Sprache  des  mäch- 
tigsten böhmischen  Stammes  (der  Tschechen)  wurde  zur  allgemeinen  Litera- 
tursprache erhoben. 

Die  Slowaken,  die  seit  dem  1 1.  Jahrhundert  von  den  Böhmen  für 
immer  politisch  getrennt  und  mit  der  Geschichte  des  ungarischen  Staates 
verbunden  waren,  blieben  doch  in  enger  geistiger  und  literarischer  Ver- 
bindung mit  den  Böhmen  und  bedienten  sich  bis  zu  Ende  des  i8.  Jahr- 
hunderts der  böhmischen  Schriftsprache.  Erst  im  Laufe  des  ig.  Jahrhun- 
derts trennten  sie  sich  von  der  böhmischen  Literatursprache  ab  und  be- 
gannen in  eigener  Mundart  zu  schreiben. 
Die  älteste  Nach  der  alten  Überlieferung,  welche  der  älteste  böhmische  Chronist 

Böhmens.  Kosmas  (f  1125)  verzeichnet  hat,  waren  die  Böhmen,  von  ihrem  Stamm- 
vater Cech  geleitet,  in  einer  weit  zurückliegenden  Epoche  nach  Böhmen 
gekommen.  Aber  der  genaue  Zeitpunkt  der  Besitznahme  Böhmens  und 
Mährens  durch  die  böhmischen  Slawen  läßt  sich  bei  dem  völligen  Mangel 
historischer  Quellen  nicht  mit  Gewißheit  ermitteln.  Gewöhnlich  nimmt 
man  an,  daß  sie  erst  in  den  ersten  Jahrhunderten  n.  Chr.  nach  dem 
Abzüge  der  Markomannen  und  Quaden  eingewandert  waren.  Aber  die 
neueren  archäologischen  Forschungen  belehren  uns,  daß  ein  Teil  Böhmens 
bereits  in  der  vorchristlichen  Epoche  von  einem  Volke  slawischer  Abkunft 
bewohnt  war,  und  man  kann  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  annehmen,  daß 
dies  Slawen  böhmischen  Stammes  waren.  Die  Besiedelung  einzelner  Ge- 
biete erfolgte  natürlich  nicht  auf  einmal,  sondern  dauerte  längere  Zeit, 
indem   ein  Stamm   oder  Geschlecht  nach  dem  anderen  seine  ursprüngliche 


tinleituiig.  lyy 

Heimat  jenseits  der  Karpaten  verließ  und  neue  Länder  in  Besitz  nahm. 
Die  neuen  Ansiedler  bildeten  anfangs  keine  politisch  organisierten  Ein- 
heiten, sondern  waren  in  einzelne  Stämme  zersplittert,  welche  eigene 
Herrscher  hatten  und  sich  sprachlich  durch  dialektische  Eigentümlich- 
keiten voneinander  unterschieden. 

Die  Slawen  hatten  ursprünglich  nur  einen  Teil  des  heutigen  Böhmens 
inne;  neben  ihnen  wohnten  in  Böhmen  und  in  den  benachbarten  Ländern 
zwei  der  berühmtesten  Zweige  zweier  Hauptvölker  des  alten  Europa,  die 
gallischen  Bojer  (im  4. —  i.  Jahrhundert  v.Chr.)  und  nach  ihnen  die  deut- 
schen Markomannen  und  Quaden  (in  den  ersten  Jahrhunderten  n.  Chr.). 
Von  den  Bojern  erbte  das  Land  den  Namen  „Boiohemum,  Böheim".  In 
welchem  Verhältnisse  sich  die  böhmischen  Slawen  zu  ihren  Nachbarn,  den 
Bojern  und  Markomannen,  befanden,  läßt  sich  nicht  ermitteln,  wahrschein- 
lich ist  es  aber,  daß  sie  die  Oberherrschaft  derselben  anerkennen  mußten. 
Im  6.  Jahrhundert  wurden  die  Böhmen,  sowie  mehrere  andere  slawische 
Stämme  von  den  wilden  Awaren  abhängig  gemacht.  Von  dem  drücken- 
den Awarenjoche  hat  sie  erst  der  fränkische  Feldherr  Samo  im  Jahre  623 
befreit.  Dem  halb  mythischen  König  Samo  wird  auch  die  Gründung  eines 
großen  slawischen  Staates,  dessen  Kern  Böhmen  war,  zugeschrieben.  Sein 
Reich  löste  sich  aber  nach  seinem  Tode  auf.  Der  älteste  Herzog  in 
Böhmen,  dessen  Andenken  die  böhmische  Sage  bewahrt  hat,  war  Krok, 
dessen  Tochter  Libusa  sich  mit  Pfemysl  vermählte.  Pfemysl  wird  nicht 
bloß  als  Ahnherr  des  in  Böhmen  lange  regierenden  Geschlechtes  der 
Pfemysliden,  sondern  auch  als  Gesetzgeber  des  Landes  in  der  böhmischen 
Sage  gepriesen. 

In  Mähren  herrschte  im  g.  Jahrhundert  der  Herzog  Mojmir,  welcher  Großmähr. 
den  ersten  Grund  zu  dem  Großmährischen  Reiche  gelegt  hatte.  Er  be- 
wältigte die  kleineren  Fürsten  in  Mähren,  besetzte  das  ganze  nördliche 
Ufer  der  Donau  vom  Mannhardsberge  an  bis  zum  Einflüsse  der  Gran, 
machte  auch  Böhmen  von  sich  abhängig  und  vereinte  in  seinem  Reiche 
die  sämtlichen  Kräfte  der  Mährer,  Slowaken  und  Böhmen.  Sein  Neffe 
Rastislav  befestigte  noch  mehr  die  Macht  Großmährens  und  faßte  den 
Plan,  dasselbe  ganz  unabhängig  von  dem  fränkischen  Reiche  zu  machen. 
Er  kämpfte  glücklich  mit  Ludwig  dem  Deutschen  und  berief  die  Slawen- 
apostel Cyrill  und  Method  in  sein  Land  (863),  um  dies  auch  in  kirch- 
licher Hinsicht  von  dem  Einflüsse  der  Deutschen  zu  befreien.  Es  gelang 
ihm  wirklich,  seinem  Lande  politische  Unabhängigkeit  zu  verschaffen; 
als  er  auf  dem  Gipfel  seiner  Macht  stand,  wurde  er  von  seinem  ehr- 
geizigen Neffen  Svatopluk  verraten  und  den  Deutschen  ausgeliefert.  Nach 
ihm  herrschte  Svatopluk,  der  die  Macht  und  den  Glanz  des  Groß- 
mährischen Reiches  nicht  nur  erhalten,  sondern  auch  ansehnlich  vermehrt 
und  befestigt  hatte.  Nach  Svatopluks  Tode  entstanden  aber  infolge  der 
Zwietracht  seiner  Söhne  große  Wirren  im  ganzen  Lande,  die  böhmischen 
Herzoge  fielen  vom  mährischen  Reiche  ab  und  die  vordringenden  Magyaren 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9.  12 


178 


Jan  Machai.:  Die  böhmische  Literatur 


rc-hi-n- 
lie  L 
I  Mühn: 


machten  im  Jahre  go6  dem  Bestände  Großmährens  ein  traurige?  Ende. 
Das  Land  wurde  eine  Beute  der  Magyaren,  nur  der  westhche  Teil  Mährens 
gelangte  später  an  Böhmen. 

Nach  dem  Tode  des  mächtigen  Svatopluk  konnte  auch  Böhmen  als  un- 
mittelbarer Nachbar  des  großen  Deutschen  Reiches  seine  Unabhängigkeit 
von  Deutschland  nicht  lange  behaupten.  Die  böhmische  Nation  unterwarf 
sich  teils  freiwillig  dem  deutschen  Einflüsse,  teils  verteidigte  sie  beharr- 
lich ihre  nationale  Selbständigkeit.  Somit  bildet  die  gegenseitige,  bald 
freundschaftliche,  bald  feindliche  Berührung  des  slawischen  und  deutschen 
Elements  und  der  Widerstand  gegen  die  gänzliche  Germanisierung  den 
wesentlichen  Inhalt  der  ganzen  böhmischen  Geschichte  bis  auf  unsere  Zeit. 

Über  das  geistige  Leben  und  die  Bildung  des  böhmischen  Volkes 
vor  dessen  Bekehrung  zum  Christentum  ist  uns  aus  dem  Altertum  nichts 
Genaueres  überliefert  worden.  Die  älteren,  angeblich  noch  aus  heidnischer 
Zeit  stammenden  Denkmäler,  wie  z.  B.  das  Gericht  der  Libusa  und  die 
Königinhofer  Handschrift,  erwiesen  sich  als  neuere  Fälschungen.  Die 
ersten  Versuche,  die  Böhmen,  Mährer  und  Slowaken  zu  christianisieren, 
fallen  vor  die  Mitte  des  9.  Jahrhunderts.  Unter  den  Mährern  erwarb  sich  die 
christliche  Lehre  wenigstens  zu  Anfang  des  9.  Jahrhunderts  schon  einzelne 
Anhänger  und  Bekennen  Doch  erst  unter  Mojmir,  der  sich  zum  christ- 
lichen Glauben  bekannte,  faßte  das  Christentum  festere  Wurzeln.  Im 
Jahre  830  nahm  der  slowakische  Fürst  im  Neitraer  Gebiete,  Pribina,  das 
Christentum  aus  deutsch  -  römischer  Quelle  an.  Im  Jahre  845  wurden 
14  böhmische  Stammesfürsten  samt  ihrem  Gefolge  in  Regensburg  ge- 
tauft. Aber  die  allgemeine  Verbreitung  des  Christentums  unter  dem  Volke 
begann  erst  mit  der  segensreichen  Tätigkeit  der  Slawenapostel  Cyrill  und 
Method,  welche  den  Völkern  Großmährens  die  griechische  Liturgie  und 
slawische  Kirchensprache  brachten  und  den  Sieg  des  Christentums  über 
das  Heidentum  vollendeten.  Aus  den  Händen  Methods  nahm  auch  der 
böhmische  Fürst  Bofivoj  (um  das  Jahr  873)  die  Taufe  an.  In  Böhmen 
machte  sich  jedoch  schon  unter  Borivoj  neben  der  griechisch-slawischen 
Liturgie  der  deutsch  -  lateinische  Ritus  geltend,  welcher  allmählich  der 
herrschende  wurde.  Die  letzte  Zufluchtsstätte  der  slawischen  Liturgie  in 
Böhmen,  das  Kloster  von  Säzava,  wurde  im  Jahre  1097  den  lateinischen 
Mönchen  ausgeliefert. 

Obwohl  die  kirchenslawische  Literatur  unter  den  Böhmen  keine  große 
Verbreitung  erlangte,  so  gibt  es  doch  einige  alte  kirchenslawische  Denk- 
mäler, welche  Spuren  von  Bohemismen  aufweisen  und  ohne  Zweifel  auf 
dem  böhmisch-slowakischen  Boden  entstanden  sind;  zu  ihnen  gehören  die 
Kiewer  und  Prager  glagolitischen  Fragmente  und  die  altslawischen 
Legenden  vom  heiligen  Wenzel  und  Ludmila. 

Mit  dem  Siege  des  deutsch-lateinischen  Kirchentums  machte  sich  bei 
den  Böhmen  auch  der  Einfluß  der  germanisch-romanischen  Kultur  für 
immer  geltend.     Unter    diesem   Einflüsse    entstanden    die    ersten    Anfänge 


I.   Die  altböhmische   Lileralur.  lyg 

der  literarischen  Tätigkeit  in  Böhmen.  Zu  den  ältesten  literarischen  Denk- 
mälern gehören  Legenden  von  böhmischen  Heiligen  (Wenzel  und 
Ludmila)  und  Chroniken  —  die  älteste  von  Kosmas  (1045  — 1125)  — , 
welche  lateinisch  geschrieben  sind.  Böhmisch  geschriebene  Denkmäler 
stammen  erst  aus  dem   13.  Jahrhundert. 

In  der  folgenden  Darstellung  will  ich  bloß  die  großen  leitenden  Ideen, 
welche  die  böhmische  Literatur  bewegten,  und  die  bedeutsamsten  führen- 
den Geister  innerhalb  der  Literaturbewegung  herausheben. 

I.  Die  altböhmische  Literatur.  Nach  ihrer  Bekehrung  zum  christ- 
lichen Glauben  schlössen  sich  die  Böhmen  eng  an  die  christlich-europäische 
Kultur  an  und  nahmen  eifrig  an  den  heilsamen  Früchten  derselben  teil. 
Das  geistig  regsame  und  für  fremde  Einflüsse  leicht  empfängliche  Volk  ergriff 
begierig  und  verfolgte  mit  seltenem  Eifer  alles,  was  ihm  die  damalige  Zeit 
in  bezug  auf  Bildung  und  Gesittung  darbot.  Unter  den  mächtig^en  Ein- 
drücken der  christlichen  Kultur  entstanden  auch  die  ersten  Anfänge  der 
literarischen  Tätigkeit  in  Böhmen.  Die  große  hierarchische  und  theolo- 
gische Beweg-ung  des  11.  und  12.  Jahrhunderts,  welche  im  benachbarten 
Deutschland  eine  reiche  nationale  Literatur  hervorrief,  konnte  nicht  anders 
als  belebend  und  fördernd  auf  die  Anfänge  der  böhmischen  Literatur 
wirken. 

Die    Geistlichen    in    Böhmen    entwickelten    seit    dem    13.   Jahrhundert    Geistliche 

Dichtun^ 

eme  rege  literarische  Tätigkeit,  übersetzten  einzelne  Teile  der  Heiligen 
Schrift,  dichteten  Kirchenlieder,  biblische  Geschichten,  Legenden,  be- 
lehrende Gedichte  usw.  Ihrem  Bemühen  ist  es  zu  danken,  daß  eine 
blühende  geistliche  Dichtung  erstand  und  eine  volkstümliche  poetische 
Sprache  und  Verskunst  ausgebildet  wurde. 

Bei  der  nahen  politischen  und  kulturellen  Berührung  mit  dem  christ-  Ritterliche 
liehen  Westen,  besonders  mit  Deutschland,  hatten  die  Böhmen  auch  bald 
Gelegenheit,  neben  der  geistlichen  Dichtung  die  romantische  Poesie  des 
Mittelalters  kennen  zu  lernen.  Es  ist  bekannt,  daß  an  den  Höfen  der 
böhmischen  Könige  Wenzel  L,  Ottokar  IL  und  Wenzel  IL  deutsche  Dichter 
und  Sänger  sich  besonderer  Gunst  erfreuten  und  auf  Schutz  und  Förderung 
rechnen  konnten.  Reinmar  von  Zweter,  Meister  Sigeher,  Heinrich  von 
Freiberg  u.  a.  hielten  sich  in  Böhmen  auf  und  trugen  viel  dazu  bei,  hier 
das  Interesse  für  die  ritterlich-romantische  Dichtkunst  zu  wecken.  Ihrem 
Beispiele  folgten  einheimische  Dichter,  welche,  von  der  ritterlichen  Poesie 
begeistert,  mittelalterliche  Sagenstoffe  in  böhmischer  Sprache  bearbeiteten. 
Alexander  der  Große,  Tristan,  Tandarois,  Laurin,  Dietrich  von  Bern,  Her- 
zog Ernst,  Reinfried  von  Braunschweig  und  andere  Helden  wurden  in  die 
böhmische  Literatur  eingeführt  und  ihre  abenteuerlichen  Schicksale  in 
langen  Gedichten  besungen. 

Als   dann   mit  dem  Verfalle  des  Rittertums  die  ritterliche  Poesie  ge- Didaktische  und 

,  dramatische 

sunken    war    und    verschiedene    Gattungen    der    Spruchdichtung    und    des      Dichtung. 


jgo  Jan   Machai.:  Die  böhmische  Literatur. 

Lehrgedichtes  auftauchten,  fanden  auch  diese  Dichtuugsarten  in  Böhmen 
zahlreiche  Vertreter,  welche  didaktische,  satirische  und  allegorische  Ge- 
dichte verfaßten.  Namentlich  das  kirchliche  Drama  stand  im  14.  Jahr- 
hundert in  hohem  Ansehen;  zahlreiche  Marienspiele,  Oster-  und  Passions- 
spiele wurden  in  dieser  Zeit  gedichtet  und  aufgeführt.  Der  böhmische 
„Quacksalber"  (Mastickäf)  ist  überhaupt  das  älteste  bisher  bekannte  Denk- 
mal eines  entwickelten  Osterspieles  in  der  ganzen  europäischen  Literatur. 
Unter  der  Regierung  Karls  IV.  gelangte  die  altböhmische  Literatur 
zur  höchsten  Blüte.  Sie  ist  zwar  unter  dem  Einflüsse  lateinischer,  deutscher 
und  französischer  Vorbilder  und  Muster  entstanden,  aber  man  darf  darin 
nicht  immer  bloße  Nachahmungen  sehen.  Die  böhmischen  Dichter  wußten 
auch  die  von  außen  erhaltenen  Eindrücke  mit  selbständiger  Geisteskraft 
und  dem  Nationalgeiste  gemäß  zur  weiteren  Entwicklung  zu  bringen.  Wie 
stark  das  Nationalgefühl  schon  damals  entwickelt  war,  davon  zeugen  z.  B. 
die  warm  empfundenen  national -patriotischen  Kundgebungen,  welche  in 
dem  böhmischen  Alexanderliede  und  in  den  didaktischen  Gedichten  des 
Smil  Flaska  von  Pardubic  enthalten  sind.  Aber  besonders  nachdrucks- 
voll tritt  das  nationale  Moment  bei  dem  Verfasser  der  Dalimil sehen 
Reimchronik  hervor,  der  bei  jeder  Gelegenheit  seine  Antipathie  gegen 
die  Deutschen  ausspricht,  die  Vorliebe  für  die  Fremde  und  die  Nach- 
ahmungssucht seiner  Landsleute  tadelt  und  leidenschaftlich  für  die  Er- 
haltung der  nationalen  Ehre  und  der  heimischen  Sitten  eintritt.  Selb- 
ständig und  originell  sind  auch  die  ältesten  Denkmäler  der  Rechtsliteratur 
(Das  Buch  des  alten  Herrn  von  Rosenberg  und  Erklärungen  des  böh- 
mischen Landrechtes  von  Andreas  v.  Dube),  welche,  die  ältesten  Rechts- 
gebräuche in  Böhmen  enthaltend,  urwüchsigen  böhmischen  Geist  bekunden. 

IL  Die  böhmische  Reformation.  In  die  Regierungszeit  Karls  IV. 
fallen  auch  die  ersten  Anfänge  einer  großen  geistigen  und  religiösen  Be- 
wegung, welche  nicht  nur  zu  den  großartigsten  Erscheinungen  im  Geistes- 
leben der  böhmischen  Nation  gehört,  sondern  auch  in  der  Geschichte  der 
europäischen  Zivilisation  eine  hervorragende  Rolle  spielt.  Es  ist  dies  die 
böhmische  Reformation,  welche  der  deutschen  um  fast  ein  Jahrhundert 
voranging.  Natürlich  entsproß  auch  diese  mächtige  Reformbewegung,  der 
sogenannte  Hussitismus,  dem  damaligen  Zeitgeiste  und  den  geistigen 
Interessen  der  Christenheit  überhaupt,  welche  von  der  Notwendigkeit  einer 
Kirchenreform  überzeugt  war,  aber  in  Böhmen  fand  diese  Zeitströmung" 
zuerst  einen  imposanten  und  zugleich  volkstümlichen  Ausdruck. 
Die  Stiftung  der  Während   früher    die    europäische    Kultur    den   Böhmen    nur   einseitig 

PraRcr    Univcr-  .  ^  * 

sität.  vermittelt  war,  erschloß  ihnen  Karl  IV.  die  geistigen  Schätze  der  ganzen 
gebildeten  Welt.  Von  Italien  aus  strömte  schon  damals  nach  Böhmen 
der  frische  Hauch  der  wiedererwachenden  klassischen  Bildung,  welche 
den  Geschmack  läuterte  und  eine  neue  Weltanschauung  mit  sich  brachte. 
Nach     dem    Mustor     der    Pariser    Universität,     die     damals    in    gelehrten 


11.  Die   böhmische   Refoimation.  l8l 

Dingen  tonangebend  war,  wurde  die  Universität  zu  Prag  eingerichtet 
(1348)  und  übernahm  von  ihrem  Vorbilde  neue  Ideen,  namentlich  auch  die 
gelehrte  Opposition  gegen  die  Autorität  des  Papstes  und  der  Hierarchie. 
Für  die  allgemeine  Verbreitung  der  wissenschaftlichen  Bildung,  sowie 
für  kirchenreformatorische  Bestrebungen  war  die  Stiftung  der  Prager  Uni- 
versität von  unermeßlicher  Bedeutung.  Die  Universität,  welche  die  oberste 
Leitung  des  ganzen  Unterrichtswesens  im  Lande  innehatte,  förderte  und 
unterstützte  das  bereits  bestehende  Bestreben,  auch  Nichtgeistlichen  und 
Laien  die  Möglichkeit  zu  bieten,  sich  literarisch  ausbilden  und  religiöse 
vSchriften,  besonders  die  Heilige  Schrift,  lesen  und  auslegen  zu  können. 
Eine  kurze  Spanne  Zeit  erwies  sich  als  hinreichend,  die  allgemeine  Bildung 
dermaßen  zu  heben,  daß  die  Böhmen  zu  den  gebildetsten  Völkern  Mittel- 
europas gezählt  wurden. 

Die  philosophisch  -  morahschen  Schriften  des  Ritters  Thomas  von  &Mni: 
Stitny  (1331  — 1401)  liefern  den  besten  Beweis  davon,  daß  es  schon  zu 
Zeiten  Karls  IV.  unter  den  gebildeten  Laien  Männer  gab,  die  es  wagten, 
religiöse  Fragen  selbständig  zu  erörtern  und  mit  den  Geistlichen  und  ge- 
lehrten Doktoren  in  betreff  der  Aufklärung  und  Erziehung  des  Volkes  zu 
wetteifern.  Stitny  ist  einer  der  bedeutendsten  Männer  des  14.  Jahrhunderts. 
Er  hat  sich  das  gesamte  philosophisch- theologische  Wissen  seiner  Zeit 
zu  eigen  gemacht  und  war  ernstlich  bestrebt,  in  seinen  Schriften  eine  ab- 
geschlossene und  einheitliche  Weltanschauung,  soweit  dies  damals  über- 
haupt möglich  war,  zu  entwerfen.  Darum  wird  er  gewöhnlich  als  der  erste 
slawische  Philosoph  bezeichnet,  womit  aber  nicht  gesagft  werden  soll,  daß 
er  der  Stifter  irgendeines  neuen  philosophischen  Systems  gewesen  wäre. 
Seine  Schriften,  welche  für  die  weitesten  Kreise  der  Leser  bestimmt 
waren,  verfaßte  er  nur  böhmisch,  weshalb  ihm  die  Schulgelehrten  und 
Theologen  Vorwürfe  machten,  daß  er  es  wagte,  über  theologische  und 
philosophische  Dinge  in  der  gemeinen  Volkssprache  zu  schreiben.  Stitny 
beherrschte  die  Sprache  seines  Vaterlandes  mit  so  bewundernswerter 
Meisterschaft,  daß  er  mit  Recht  als  der  beste  altböhmische  Prosaiker  an- 
gesehen wird.  Als  begeisterter  Anwalt  der  Sittenreinheit  und  echten 
Religiosität  schließt  er  sich  eng  an  die  frommen  Sittenprediger  in  Böhmen 
an,  die  als  die  Vorkämpfer  des  Magisters  Hus  bekannt  sind.  Karl  IV. 
bemühte  sich  nämlich,  eine  Reform  des  Klerus  in  seinem  Lande  einzuführen, 
und  unterstützte  die  Tätigkeit  eifriger  Kanzelredner,  welche  gegen  die 
weltliche  und  kirchliche  Verderbnis  predigten  und  die  Rückkehr  zu  der 
wahren  apostolischen  Kirche  forderten.  Die  bedeutendsten  unter  ihnen 
waren  Konrad  Waldhauser,  Johann  Milic  und  der  Pariser  Magister 
Mathias  von  Janov.  Obgleich  diese  Eiferer  wesentlich  von  den  Lehren 
der  katholischen  Kirche  noch  nicht  abwichen,  gehören  sie  doch  zu  den 
unmittelbaren   Vorkämpfern  der  nahen  religiösen  Bewegung. 

Johann    Hus   (1369— 1415)   vereinigte   in   seiner  Person  als  Professor   hus. 
der   Prager   Universität    und    als    populärer   Prediger   an   der   Bethlehems- 


jg,  Jan  Machal:  Die  böhmische  Literatur. 

kapelle  die  beiden  Hauptströmungen,  welche  auf  die  Entstehung  des  Hussi- 
tismus  am  meisten  eingewirkt  haben.  In  seinen  Predigten  eiferte  er  für 
die  sittliche  Hebung  des  Volkes  sowie  für  die  Besserung  der  kirchlichen 
Zustände.  Zum  Konflikte  mit  der  Hierarchie  kam  es  erst  dann,  als  Hus 
die  Lehrsätze  Wiclifs  öffentlich  verteidigte.  Er  fand  in  ihnen,  klar  und 
systematisch  ausgedrückt,  fast  dieselben  reformatorischen  Ideen,  welche 
auch  der  böhmischen  religiösen  Bewegung  zugrunde  lagen.  In  seinen 
lateinischen  und  böhmischen  Schriften  verfocht  er  das  wahre  Christen- 
tum und  verbreitete  die  Wiclifische  Lehre,  daß  die  Kirche  nur  aus  einer 
Gemeinde  von  Auserwählten  und  Gerechten  bestehen  solle  und  daß  zu 
ihr  nur  diejenigen  gehören  können,  die  ein  wirklich  christliches  Leben 
führen  und  durch  Gottes  Gnade  und  ihre  Rechtlichkeit  zum  Heile  be- 
stimmt seien.  Das  Oberhaupt  dieser  wahren  Kirche  könne  nicht  der 
Papst  sein,  sondern  nur  Christus  selbst,  dessen  Lehre  unverdorben  in  der 
Heiligen  Schrift  enthalten  und  einzig  für  den  Christen  bindend  sei.  Für 
die  wirkliche  Erkenntnis  der  wahren  christlichen  Lehre  genüge  der  eigene 
Verstand  des  Menschen;  darum  solle  niemand  verfolgt  werden,  wenn  er 
sich  nach  seinem  Verstände  die  Heilige  Schrift  auslege.  Indem  also  Hus 
zum  ersten  Male  die  Idee  der  Gewissens-  und  Denkfreiheit  proklamierte 
und  die  Autorität  der  Hierarchie  entschieden  verwarf,  gehört  er  zu  den 
edlen  Vorkämpfern  einer  neuen  Epoche  in  der  Entwicklung  des  mensch- 
lichen Geistes. 

Die  religiöse  Bewegung  in  Böhmen  hatte  gleich  von  vornherein  infolge 
besonderer  politischer  und  sozialer  Umstände  auch  eine  scharfe  nationale 
Färbung  angenommen.  Hus  war  demnach  nicht  nur  ein  großer  Refor- 
mator, sondern  auch  ein  begeisterter  Patriot,  der  die  Rechte  der  böhmischen 
Nation  unerschrocken  verteidigte.  Um  die  Hebung  der  vaterländischen 
Sprache  und  Literatur  hat  er  sich  große  Verdienste  erworben.  Er  ersann 
ein  neues,  einfaches  und  präzises  System  der  böhmischen  Orthographie, 
kämpfte  gegen  den  inneren  Verfall  der  Sprache,  sorgte  für  die  Reinigung 
der  Schriftsprache,  und  noch  vor  seinem  Tode  ermahnte  er  die  Fürsten, 
Herren,  Ritter,  Geistlichen  und  Bürger,  dafür  Sorge  zu  tragen,  „daß  die 
böhmische  Sprache  nicht  untergehe".  Seine  zahlreichen  böhmischen  Schriften 
zeichnen  sich  durch  sprachliche  Reinheit,  stilistische  Vollkommenheit  und 
kernigen  Ausdruck  aus  und  gehören  zu  den  hervorragendsten  Produkten 
der  Literatur. 
ijie  Husjit.n-  Dem    Konstanzer    Konzil    erschienen    die    neuen    Bestrebungen    der 

böhmischen  Reformation  entschieden  verwerflich  und  verdammenswert. 
Hus  wurde  als  Ketzer  zum  Tode  verurteilt,  verbrannt  und  die  zurück- 
gebliebene Asche  in  den  nahen  Rhein  gestreut.  Durch  diese  Gewalttat 
wurden  die  aufgeregten  Gemüter  in  Böhmen  und  Mähren  noch  mehr  ge- 
reizt. Es  folgten  dann  die  stürmischen  Hussitenkriege,  der  Anfang  einer 
ergreifenden  historischen  Tragödie,  welche  erst  nach  200  Jahren  mit  der 
Katastrophe  am  Weißen  Berge  ihr  Ende  fand.    Die  Hussiten  ergriffen  das 


kriege. 


n.   Die  böhmische  Reformation.  183 

Schwert  für  die  höchsten  Ideale  der  Menschheit,  für  Religion,  Nationalität 
und  Freiheit.  Aber  die  Resultate  ihrer  Bestrebungen  und  Opfer  waren 
für  sie  selbst  nicht  so  erfreulich,  als  man  hätte  erwarten  können.  Groß 
und  von  längerer  Dauer  waren  bloß  die  nationalen  Erfolge  ihres  Kampfes. 
Denn  die  böhmische  Sprache,  die  böhmische  Nationalität  überhaupt,  ge- 
wannen im  ganzen  Lande  die  Oberhand,  das  nationale  Bewußtsein  wurde 
gesteigert,  das  politische  Ansehen  Böhmens  befestigt  und  erhöht.  Aber 
die  Bestrebungen  nach  einer  durchgreifenden  kirchlichen  Reform  erfüllten 
sich  kaum  halbwegs.  Nach  der  Niederwerfung  der  Taboritenpartei,  welche 
die  Ideale  der  ersten  Reformatoren  am  treuesten  bewahrt  hatte,  wurde 
die  hussitische  Bewegung  eigentlich  zum  Stillstande  gebracht.  Auch  die 
geplanten  sozialen  Reformen  wurden  mit  Ausnahme  der  Säkularisation 
der  geistlichen  Güter  nicht  durchgeführt.  Nach  der  Schlacht  bei  Lipan 
hörte  das  demokratische  Element  auf,  eine  selbständige  Rolle  im  Lande 
zu  spielen,  und  das  gemeine  Volk  blieb  geknechtet  wie  früher. 

Trotzdem  fielen  die  ursprünglichen  Ideale  der  böhmischen  Reformation  cheicicky. 
nicht  gänzlich  der  Vergessenheit  anheim.  Ein  hervorragender  Denker  und 
Schriftsteller,  Peter  Chelcicky  (f  1460),  der  in  die  Fußstapfen  der  ersten 
Reformatoren  trat,  ergriff  und  erhob  die  verlassene  Fahne  von  neuem. 
Chelcickys  Anschauungen  wurden  zwar  in  gewisser  Hinsicht  von  den  ein- 
heimischen Urhebern  der  hussitischen  Bewegung,  von  Wiclif  und  der 
Sekte  der  Waldenser  beeinflußt,  aber  er  unterwarf  sich  ihrer  Autorität 
nicht,  sondern  vertiefte  sich  in  die  Heilige  Schrift  und  schöpfte  aus  dieser 
reinen  Quelle  seine  Ideen.  Darum  ist  seine  Lehre  namentlich  in  ihren 
letzten  Konsequenzen  ziemlich  selbständig  und  neu.  Zur  Belehrung  frommer 
Christen  schrieb  er  zuerst  eine  „Postille",  in  welcher  bereits  die  Grund- 
ideen seines  ganzen  Systems  enthalten  sind;  später  führte  er  die  dort  aus- 
gesprochenen Ansichten  in  seinem  wichtigen  Werke  „Das  Netz  des  Glaubens" 
erschöpfend  aus.  Alles,  was  menschlichen  Ursprungs  ist  —  politische  und 
kirchliche  Einrichtungen,  hundertjährige  Traditionen,  philosophische  und 
theologische  Lehren  —  verwirft  er  unbarmherzig.  Er  kennt  nur  ein  Ziel 
—  Christi  Gesetz  zu  erfüllen.  Nach  seiner  Überzeugung  hatten  nur  die 
ersten  Christen  den  echten  Glauben,  und  ihre  Organisation  war  ein  Muster 
und  sollte  es  für  alle  Zukunft  bleiben.  Der  Abfall  von  diesem  Vorbilde 
wurde  durch  die  Vereinigung  der  Kirche  mit  der  staatlichen  Macht  ver- 
ursacht. Aber  der  Staat  ist  für  die  wahren  Christen  nur  ein  notwendiges 
Übel.  Der  echte  Christ  soll  sich  daher  auf  keinerlei  Weise  an  der  welt- 
lichen Macht  beteiligen,  sondern  alle  Ungerechtigkeiten  demütig  ertragen 
dem  Übel  nicht  widerstreben,  nicht  Rache  üben.  Besonders  scharf  spricht 
sich  Chelcicky  gegen  den  Krieg  aus:  „Widerrief  denn  Gott  seine  Gebote: 
Du  sollst  nicht  töten,  nicht  stehlen,  nicht  fremdes  Gut  begehren,  an  deinem 
Nächsten  keine  Gewalt  üben?"  Unter  den  Christen  sollen  auch  keine 
„Rotten",  d.  h.  verschiedene  Stände  vorkommen ;  ihre  soziale  Ordnung  soll 
auf  Freiheit,  Gleichheit  und  Liebe  gegründet  sein. 


]  34  Jan  Machal:   Die  böhmische   Literatur. 

Die  Ansichten  Chelcickys  erscheinen  in  mancher  Beziehung  ganz 
modern,  und  die  Fragen,  welche  er  aufwirft  und  löst,  stimmen  nicht  selten 
mit  den  heutigen  sozialen  Problemen  überein.  Obwohl  seine  Begeisterung 
und  sein  ganzer  Charakter  noch  im  Mittelalter  wurzeln,  verläßt  er  doch 
bei  vielen  Fragen  das  Milieu  des  Mittelalters  und  betritt  den  Boden  der 
Neuzeit.  Selbst  sein  Stil  hat  einen  Anhauch  moderner  Art;  zwar  ist  er 
hie  und  da  etwas  weitschweifig,  aber  zugleich  stark,  bilderreich  und  nicht 
ohne  poetischen  Schwung.  Bald  fand  seine  Lehre  eifrige  Anhänger,  welche 
eine  ideale  Kirchengemeinde,  wie  er  sie  im  Sinne  hatte,  zu  stiften  be- 
strebt waren. 

Die  religiöse  Bewegung  gab  der  gesamten  Literatur  dieser  Zeit  eine 
vorwiegend  theologische  Richtung.  Die  Katholiken  sowie  die  Anhänger 
der  kirchlichen  Reform,  welche  sich  im  Laufe  der  Zeit  in  verschiedene 
Sekten  geschieden  hatten,  verteidigten  in  lateinischen  und  böhmischen 
Schriften  ihren  Glauben,  suchten  mit  aufrichtiger  Liebe  und  gesundem 
Verstände  nach  religiöser  Wahrheit  und  schufen  eine  reiche  theologische 
Literatur.  Selbst  die  Poesie  trat  in  den  Dienst  der  Kirche  und  ward  ein 
Widerhall  der  religiösen  und  sozialen  Streitigkeiten. 

III.  Das  goldene  Zeitalter  (1527  — 1620).  Neue  Ideen  und  neue 
Formen  kamen  in  die  Literatur  durch  zwei  neue  Kulturströmungen,  den 
Humanismus  und  die  böhmische  Brüdergemeinde,  welche  zu  Ende  des 
1 5.  Jahrhunderts  die  leitende  Rolle  in  der  Fortentwickelung  der  Literatur 
übernahmen  und  in  der  Folgezeit  einen  außerordentlichen  Aufschwung 
der  Nationalliteratur  verursachten.  Dazu  kam  noch  die  befreiende  Wir- 
kung der  deutschen  Reformation.  Bisher  standen  die  Böhmen  als  „Ketzer" 
isoliert,  überall  gehaßt  und  geschmäht,  fast  von  der  Welt  abgeschnitten; 
selbst  die  Schulen  des  Auslandes  blieben  ihnen  verschlossen.  Luther, 
den  die  Gegner  spöttisch  „einen  Hussiten  und  Ketzer"  schmähten,  rehabi- 
litierte gleichsam  ihre  nationale  Ehre  —  wenigstens  in  Deutschland,  so 
daß  es  ihnen  wieder  ermöglicht  wurde,  ausländische  Universitäten  zu 
besuchen   und   an    dem  Fortschritte  der  Wissenschaften  teilzunehmen. 

Die  ersten  Keime  der  humanistischen  Bewegung  brachte  nach  Böhmen 
Francesco  Petrarca  selbst,  der  sich  am  Hofe  Karls  IV.  einer  besonderen 
Gunst  und  Verehrung  erfreute;  aber  erst  als  sich  der  Sturm  der  Hussiten- 
kriege gelegt  hatte  und  Böhmen  wieder  in  nähere  Verbindung  mit  Italien 
getreten  war,  machte  sich  der  Einfluß  des  neuen  Zeitgeistes  geltend.  Einen 
hervorragenden  Vertreter  fand  der  Humanismus  inBohuslav  Hassenstein 
von  Lobkovic  (1460 — 1512),  der  sich  längere  Zeit  an  den  Hochschulen 
Italiens  aufgehalten  hatte  und  für  die  klassische  Bildung  aufrichtig  be- 
geistert war.  Er  widmete  sein  ganzes  Interesse  dem  Studium  der  Alten, 
der  Anlegung  einer  der  wertvollsten  Bibliotheken  seiner  Zeit  und  der 
Pflege  der  Dichtkunst.  In  brieflicher  Verbindung  mit  allen  bedeutenden 
Männern   seiner  Zeit  stehend,    verfaßte  er  zahlreiche  lateinische  Gedichte, 


III.   Das  goldene   Zeitalter  (1527 — 1620).  ige 

die  ihm  damals  und  auch  in  der  Folgezeit  europäischen  Ruhm  eintrugen. 
Seinem  Beispiele  folgte  eine  Reihe  anderer  Humanisten,  welche  später  die 
lateinische  Poesie  in  Böhmen  zur  üppigen  Entfaltung  brachten,  aber  auf 
die  Fortschritte  der  Nationalliteratur  gar  keinen  Einfluß  ausübten. 

Viel  tiefer  erfaßten  jedoch  den  Geist  der  klassischen  Renaissance 
jene  böhmischen  \'ertreter  des  Humanismus,  welche  im  Einklänge  mit  den 
reformatorischen  Bestrebungen  in  Böhmen  die  scharfen  Waffen  der  neu- 
erwachten Kultur  gegen  den  Verfall  der  Kirche  und  der  Gesellschaft 
richteten  und  die  Erfolge  der  klassischen  Bildung  zur  Hebung  und  Be- 
reicherung der  Nationalliteratur  verwerteten.  An  der  Spitze  dieser  be- 
geisterten Verehrer  der  klassischen  Literatur  stand  der  wackere  Patriot 
und  geistreiche  Jurist  Viktorin  Kornel  von  Vsehrd  (1460 — 1520). 
Wie  tief  er  von  dem  Geiste  der  klassischen  Bildung  durchdrungen  war, 
davon  zeugt  sein  monumentales  Werk  „Neun  Bücher  vom  Recht  und  Ge- 
richte in  Böhmen",  welches  ein  anschauliches  Bild  des  böhmischen  Landes- 
rechtes und  der  damaligen  sozialen  Verhältnisse  entwirft  und  in  der 
Methode,  Auffassung  und  Form  echte  humanistische  Tendenzen  kundgibt. 
Auch  in  anderen  Schriften  hinterließ  Vsehrd  wahre  Muster  klassischen 
Stils.  Seine  patriotische  Gesinnung  und  sein  edles  Einstehen  für  die 
Hebung  der  nationalen  Literatur  ist  in  folgenden  Worten  enthalten:  „Ob- 
gleich ich  auch  lateinisch  schreiben  könnte  wie  andere  meinesgleichen,  so 
will  ich  doch,  da  ich  weiß,  daß  ich  ein  Böhme  bin,  zwar  lateinisch  lernen, 
aber  böhmisch  schreiben  und  sprechen."  Ähnlich  wie  Vsehrd  dachten 
auch  andere  böhmische  Humanisten,  denen  die  klassische  Gelehrsamkeit 
nur  als  Mittel  dazu  diente,  ihren  Landsleuten  einen  neuen  Vorrat  von 
Bildungselementen  zu  erschließen  und  die  nationale  Sprache  und  Literatur 
nach  dem  Muster  der  klassischen  zu  heben.  Zu  diesen  patriotisch  ge- 
sinnten Humanisten  gehören  besonders  Gregor  Hruby  von  Jeleni, 
Wenzel  Pisecky,  Sigismund  Hruby,  Nikolaus  Konäc  von  Ho- 
distkov  u.  a. 

Zur   selben  Zeit,   als   die   meist   aus  Mitgliedern    der   Aristokratie   und  D'«  böhmische 

*  Brüder- 

gelehrter    Kreise    zusammengesetzte     humanistische    Gesellschaft    wissen-     trememde. 

schaftliche    und    ästhetische    Ideale    verfolgte,    entwickelte    sich    aus    dem 

Schöße     der    niederen     Volksschichten     die     böhmische     Brüdergemeinde, 

welche  für  religiöse  und  sittliche  Ideale  begeistert  war.     Die  Begründer  der 

Brüdergemeinde   waren    ernstlich   bestrebt,    nach    der  Lehre  Chelcickys  zu 

leben,  eine  ideale  Kirchengesellschaft  zu  stiften  und  das  Himmelreich  auf 

Erden  zu  begründen,  welches  aus  der  inneren  Wiedergeburt  des  Menschen 

im  Geiste  der  tätigen  Liebe,  Demut,  Einfalt  und  Güte  bestehen  sollte,  wie 

es  in  den  ersten  Zeiten  des  Christentums  der  Fall  gewesen  war.    Um  das 

sittliche  Ideal  des  Christentums  verwirklichen  zu  können,  sollte  der  wahre 

„Bruder"    der  Welt    und    ihrer  Macht    entsagen    und   nur   das   Gesetz   der 

christlichen  Liebe  erfüllen.    Niemand  sollte  Anteil  an  der  weltlichen  Macht 

nehmen,    indem   er  Staatsämter   bekleidete,  Richter   wäre,  Kriegsdienste 


l86  Jan  Mächax  :  Die  böhmische  Literatur. 

leistete,  Handel  triebe  usw.  Aber  im  Laufe  der  Zeit  entstanden  im 
Schöße  der  Unität  Zweifel  über  die  asketische  Lehre,  welche  die  Brüder- 
gemeinschaft  für  immer  zu  einer  Art  von  Klostergemeinde  verwandelte 
und  dadurch  ihre  freie  Entwicklung  hemmte.  Einige  gelehrte  Brüder  und 
Theologen  versuchten  es  daher,  die  Unität  zu  reorganisieren  und  ihre 
Lehre  mehr  den  Bedürfnissen  des  wirklichen  Lebens  anzupassen.  In  dieser 
neuen  Gestaltung  nahm  die  Beliebtheit  der  Brüdergemeinde  bei  Adeligen 
und  gelehrten  Männern  so  zu,  daß  sich  die  Zahl  ihrer  Anhänger  in 
Böhmen  und  Mähren  mit  jedem  Jahre  mehrte.  Da  sich  die  Brüder  er- 
folgreich bemühten,  den  nationalen  Geist  in  der  größten  Reinheit  zu  er- 
halten, überall  Schulen  errichteten  und  aufrichtig  für  die  Ausbildung 
der  Muttersprache  sorgten,  erwarben  sie  sich  große  Verdienste  um  die 
Fortschritte  der  nationalen  Literatur, 
uie  Literatur.  Der    Humanismus     und    die    Brüdergemeinde,    obwohl    in    bezug    auf 

ihren  Ursprung,  Zweck  und  Mittel  ganz  verschieden,  ergänzten  sich  doch 
gegenseitig  und  griffen  entscheidend  in  die  Entwickelung  der  Literatur 
ein,  welche  unter  ihrem  Einflüsse  zu  üppiger  Blüte  gelangte,  so  daß  die 
Periode  1527 — 1620  mit  Hinsicht  auf  den  äußeren  Umfang  der  literari- 
schen Produktion  und  die  klassische  Ausbildung  der  Sprache  oft  „das 
goldene  Zeitalter"  genannt  wird.  Aber  die  eigene  nationale  Inspiration 
trat  in  dieser  Epoche  doch  allmählich  zurück,  und  dem  Inhalte  nach  stand 
die  Literatur  wieder  unter  fremden  Einflüssen. 

Die  Poesie  wurde  sehr  fleißig  gepflegt,  aber  nur  kirchliche  und  reli- 
giöse Lieder  haben  eine  selbständige  Bedeutung.  Sie  wurden  meist  von 
den  Mitgliedern  der  Brüderunität  zur  geistigen  Erbauung  und  zum  Gebrauche 
beim  Gottesdienste  gedichtet  und  in  umfangreichen  Kanzionalen  sorgfaltig 
gesammelt,  welche  prachtvoll  au.sgestattet  auch  für  die  Geschichte  der 
Musik  und  Malerei  einen  hohen  Wert  haben.  Den  Mittelpunkt  der  lite- 
rarischen Tätigkeit  bildeten  verschiedene  Zweige  der  Wissenschaften. 
Der  bedeutendste  Schriftsteller  der  Brüderunität  war  Johann  ßlahoslav 
(1523 — 1571),  einer  der  aufgeklärtesten  und  edelsten  Geister  jener  Zeit, 
welcher  um  seiner  Gelehrsamkeit  und  seines  theologischen  Scharfsinnes 
willen  die  Unität  in  der  Fremde  erfolgreich  vertrat  und  ein  neues  Auf- 
blühen derselben  herbeiführte.  Er  übersetzte  das  Neue  Testament  aufs  neue 
aus  dem  Griechischen  und  gab  dadurch  den  Anstoß  zu  einer  musterhaften 
Übersetzung  der  ganzen  Bibel  aus  dem  Originaltexte,  wodurch  die  be- 
rühmte Kralicer  Bibel,  das  unvergängliche  Denkmal  der  böhmischen 
Sprache,  entstanden  ist.  Seine  literarische  Tätigkeit  war  überaus  fruchtbar; 
er  verfaßte  eine  böhmische  Grammatik,  schrieb  die  Geschichte  der  Brüder- 
unität, dichtete  und  sammelte  Kirchenlieder,  entwarf  eine  Theorie  der 
Musik  und  Dichtkunst  usw.  Der  Geschichte  hatte  sich  eine  lange  Reihe 
von  Schriftstellern  zugewandt,  die  teils  zeitgenössische  Begebenheiten 
schilderten  (Bartes  Pisaf,  Sixt  von  Ottersdorf,  Blahoslav,  Cer- 
venka,   Budovec  von  Budov,   Dacicky  von  Heslov)    oder   Chroniken 


IV.   Der   Vci-raU  der    Literatur.  jg? 

von  Böhmen  verfaßten  (W.  Häjek  von  Libocan,  Kuthen  von  Springs- 
berg-,  Lupäc  von  Hlavacov),  teils  ihre  Landsleute  mit  der  Weltgeschichte 
bekannt  machten  (Kocin  von  Kocinet,  P.  Vorlicny,  Hozius).  Besonders 
große  Verdienste  um  die  Förderung  der  historischen  Literatur  erwarb  sich 
Daniel  Adam  von  Veleslavin  (1545 — -1599),  der  berühmte  „architypo- 
graphus  Pragensis",  welcher  historische  Werke  schrieb,  seine  Freunde  zur 
literarischen  Tätigkeit  aufmunterte,  ihre  Schriften  verbesserte  und  verlegte. 
Er  stand  längere  Zeit  an  der  Spitze  der  Literatur  als  ihr  charakteristischer 
Vertreter,  und  B.  Baibin  konnte  mit  vollem  Rechte  von  ihm  sagen:  „Quid- 
quid  doctum  et  eruditum  Rudolphe  IL  imperante  in  Bohemia  lucem  aspexit, 
Veleslavinum  vel  autorem  vel  interpretem  vel  adiutorem  vel  ad  extremum 
typographum  habuit."  Sein  Stil  und  seine  Sprache  galten  lange  Zeit  als 
Muster  der  Klassizität.  Sehr  reich  war  die  Literatur  dieser  Zeit  auch  an  geo- 
graphischen Büchern  und  Reisebeschreibungen,  welche,  von  einheimischen 
Wallfahrern  (Kabätnik,  Joh.  Hassenstein  von  Lobkovic,  Prefat 
von  Vlkanov,  Harant  von  Polzic,  Wratislaw  von  Mitrovic)  ver- 
faßt, interessante  Nachrichten  über  fremde  Länder  und  Völker  enthielten. 
Aber  zu  den  wichtigsten  literarischen  Denkmälern  gehören  juristische  und 
sozialpolitische  Werke  der  Rechtsgelehrten  Ctibor  Tovacovsky  von 
Cimburk,  Kornel  von  V.sehrd,  Christian  von  Koldin  und  Karl 
von  Zerotin.  Auch  in  anderen  Zweigen  der  Wissenschaften  erschienen 
mehr  oder  weniger  wichtige  und  selbständige  Arbeiten,  namentlich  in  der 
Philologie,  Mathematik,  Astronomie,  Botanik,  Medizin  u.  a. 

IV.  Der  Verfall  der  Literatur.  Auf  dieser  Höhe  erhielt  sich  die 
Literatur  nicht  lange.  Die  verhängnisvolle  Schlacht  am  Weißen  Berge 
(1620)  versetzte  der  nationalen  Selbständigkeit  und  der  Literatur  einen 
furchtbaren  Schlag.  Nach  den  schrecklichen  Hinrichtungen  und  Landes- 
verweisungen der  Anführer  des  Aufstandes  begann  eine  unbarmherzige 
Verfolgung  aller  Akatholiken.  Die  besten  Geister  der  Nation  sahen  sich 
gezwungen,  ihre  Heimat  zu  verlassen  und  begaben  sich  in  die  Verbannung. 
Das  Land  wurde  schändlich  verwüstet,  die  Bevölkerung  in  jeder  Hinsicht 
entkräftet  und  unterdrückt.  Die  böhmischen  Bücher,  die  für  Ausflüsse 
und  Stärkungsmittel  der  Ketzerei  galten,  wurden  überall  massenhaft  ver- 
nichtet. Die  Literatur  lebte  fast  nur  von  den  Überresten  der  früheren 
Entwickelung  und  verfiel  mit  dem  Nationalgefühl  einem  allmählichen 
Absterben. 

Aber  auch  in  diesen  traurigen  Zeiten  gab  die  Vorsehung  dem  böhmi- 
schen Volke  einen  großen  Schriftsteller  und  Denker,  der  sich  in  der  Ge- 
schichte der  menschlichen  Bildung  einen  unsterblichen  Namen  erworben 
hat.  Es  ist  dies  der  weltberühmte  Begründer  der  modernen  Pädagogik, 
Johann  Arnos  Komensky  (Comenius  1592 — 1670),  eine  der  geistig'  her- 
vorragendsten Persönlichkeiten  jener  Zeit.  Er  war  der  letzte  erhabene  Ver- 
treter der  religiös-sittlichen  Bewegung",   die  sich  seit   dem    13.  Jahrhundert 


l88  Jan  Mächal:  Die  böhmische  Literatur. 

in  Böhmen  vollzogen  hat.  Komensky  gehörte  der  Gemeinde  der  böhmi- 
schen Brüder  an,  war  lange  Zeit  ihr  Hauptvertreter  und  Verteidiger  und 
blieb  durch  sein  ganzes  Leben  den  Idealen  der  Brüdergemeinde  treu. 
Die  Verbesserung  der  menschlichen  Dinge  war  das  Ziel,  welches  er 
sich  als  Lebensaufgabe  gesteckt  hatte;  diese  erhabene  Idee  bildet  das 
Grundmotiv  seiner  theologischen,  pädagogischen  und  philosophischen  Werke. 
Da  er  in  der  Erziehung  der  Jugend  das  beste  und  sicherste  Mittel  sah, 
eine  Verbesserung  der  menschlichen  Dinge  im  weitesten  Umfange  herbei- 
zuführen, so  war  er  unermüdlich  bestrebt,  neue  unfehlbare  Grundlagen 
für  eine  bessere  Jugendbildung  zu  finden.  Und  wirklich  gelang  es  ihm, 
ein  Erziehungsideal  aufzustellen,  das  allgemein  anerkannt  und  überall 
angenommen  wurde.  Wodurch  er  sich  aber  namentlich  als  ein  gott- 
begnadeter Erzieher  der  Menschheit  auszeichnet,  das  ist  das  erhabene  Ziel, 
welches  er  seinem  pädagogischen  System  gesteckt  hatte:  nicht  das  Wissen 
selbst,  sondern  wahres  Menschentum,  die  auf  Gott  gerichtete  Sittlichkeit, 
ist  ihm  das  letzte  und  eigentliche  Ziel  jedes  Unterrichtes  und  jeder  Er- 
ziehung. Seine  pansophischen  und  irenischen  Bestrebungen,  welche  der 
Verbreitung  wahrer  Humanität,  der  Verträglichkeit  und  evangelischen 
Liebe  zusteuern,  haben  ihm  eine  hervorragende  Bedeutung  in  der  Ge- 
schichte der  Reformbestrebungen  der  Menschheit  gesichert.  Mit  Recht 
nannte  er  sich  selbst  „einen  Mann  der  Sehnsucht",  denn  viele  seiner  Ideale 
sind  erst  in  der  Folgezeit  zum  Gemeingute  aller  Wohlgesinnten  und  Wür- 
digen in  Europa  geworden.  Bei  allen  seinen  kosmopolitischen,  nach  dem 
Glück  der  ganzen  Menschheit  trachtenden  Bestrebungen  war  Komensky 
ein  feuriger  Patriot  und  betonte  nachdrücklich  in  seinem  Erziehungs- 
system das  Prinzip  der  Nationalität  und  der  Muttersprache.  Seine  „Didaktik" 
entstammte  eigentlich  einer  patriotischen  Gesinnung;  er  schrieb  sie  ur- 
sprünglich in  der  Muttersprache,  für  seine  Nation  und  in  der  Hoffnung, 
dadurch  der  vaterländischen  Sprache  zu  einer  hohen  Blüte  zu  verhelfen, 
Kenntnisse,  Sitten  und  Frömmigkeit  in  seinem  Vaterlande  zu  verbreiten. 
Die  böhmische  Sprache  bereicherte  er  durch  zahlreiche  Schriften,  welche 
zu  den  Perlen  der  vaterländischen  Literatur  gehören. 

Das  Wieder-  V.    Das    IQ.  Jahrhundert.      Zu  Ende    des    i8.  Jahrhunderts    erreichte 

Sprache  und  der  Verfall  der  Nationalität  und  mit  ihr  auch  der  Literatur  seinen  Kulmi- 
nationspunkt. Der  siegreichen  Gegenreformation  war  es  wirklich  gelungen, 
alle  Spuren  der  früheren  Bildung  fast  gänzlich  zu  vertilgen  und  das  Volk 
geistig  zu  unterjochen;  aber  das  Nationalgefühl  und  die  Geschichte  ver- 
mochte sie  dem  Volke  trotz  alledem  nicht  zu  nehmen.  Bei  der  ersten 
günstigen  Gelegenheit  konnte  das  unterdrückte  Nationalgefühl  wieder  auf- 
leben. Und  diese  Gelegenheit  sollte  sich  bald  darbieten.  Den  ersten 
Anstoß  dazu  gab  die  aufklärerische  und  philanthropische  Bewegung  im 
1 8.  Jahrhundert,  als  im  Namen  der  Humanität,  Toleranz  und  Aufklärung  der 
Kampf  gegen  den  Obskurantismus  sowie  für  die  Religions-  und  Gewissens- 


V.  Das    19.  Jahvhundeil.  i8q 

freiheit  von  neuem  aufgenommen  wurde.  Die  vom  Kaiser  josef  IL,  einem 
begeisterten  Anhänger  der  Aufklärung,  unternommenen  freisinnigen  Re- 
formen, namentlich  die  Befreiung  der  Bauern  und  das  Toleranzedikt,  boten 
zunächst  die  Möglichkeit  einer  Wiedergeburt  der  böhmischen  Nationalität. 
Es  traten  gelehrte  Historiker  und  Philologen  auf,  welche  die  literarische 
Bedeutung  und  die  Rechte  der  böhmischen  Sprache  verteidigten,  sich  mit 
der  vaterländischen  Geschichte  beschäftigten  und  ältere  Literaturdenkmäler 
herausgaben.  Dadurch  wurde  die  von  der  Gegenreformation  gewaltsam 
unterbrochene  Verbindung  mit  der  ruhmreichen  Vergangenheit  wieder 
hergestellt. 

Unter  den  gelehrten  Männern,  welche  die  Wiedergeburt  der  böhmischen 
Nation  vorbereiteten,  ragt  besonders  die  erhabene  Gestalt  eines  genialen 
Forschers  Josef  Dobrovsky  hervor,  dessen  wissenschaftlicher  Ruf  weit 
über  die  Grenzen  des  Vaterlandes  hinausdrang.  Seine  philologisch-histo- 
rischen Arbeiten  lieferten  nicht  nur  feste  Grundlagen  zur  weiteren  Er- 
forschung der  slawischen  Sprachen  und  Literaturen,  sondern  sie  gaben 
auch  der  ganzen  nationalen  und  literarischen  Bewegung  eine  gesamtslawische 
Richtung.  Die  Böhmen  begannen  sich  als  ein  Teil  der  großen  slawischen 
Welt  zu  fühlen  und  suchten  in  der  slawischen  Idee  Schutz  und  Stütze  für 
ihre  nationalen  Bestrebungen.  Auf  den  von  Dobrovsky  gelegten  Grundlagen 
baute  dann  der  um  die  Hebung  der  Nationalliteratur  hochverdiente  Schrift- 
steller und  unermüdliche  Forscher  Josef  Jungmann  weiter,  indem  er  in 
seinem  großen  Wörterbuche  den  ganzen  Wortschatz  der  Sprache  sammelte 
und  in  der  ausführlichen  Geschichte  der  böhmischen  Literatur  zuerst  doku- 
mentarisch nachwies,  wie  reich  und  mannigfaltig  die  ältere  literarische  Pro- 
duktion gewesen.  Eine  epochale  Bedeutung  hatten  auch  die  gelehrten 
Arbeiten  P.  J.  Safai^iks,  welche  sich  mit  der  Erforschung  slawischer 
Altertümer,  Literaturen  und  Sprachen  befaßten  und  gleichsam  eine  wissen- 
schaftliche Apologie  des  Slawentums  enthielten,  wodurch  sie  das  Inter- 
esse aller  Slawen  weckten  und  somit  die  Idee  der  Wechselseitigkeit  be- 
deutend förderten.  Hierauf  stellte  sich  der  vaterländische  Historiker  und 
anerkannte  politische  Führer  der  Böhmen  Franz  Palacky  (1798 — 1876) 
zur  Lebensaufgabe,  seinem  Volke  ein  ausführliches  und  pragmatisches 
Bild  der  böhmischen  Historie  zu  geben.  Seine  monumentale  „Geschichte 
von  Böhmen"  gehört  zu  den  bedeutendsten  und  einflußreichsten  Werken 
der  neueren  Literatur. 

Die  gelehrten  Arbeiten  der  genannten  Schriftsteller  und  Patrioten 
stützten  und  befestigten  den  Bau  der  böhmischen  Renaissance.  Die 
Schriftsprache  wurde  neu  ausgearbeitet  und  veredelt,  das  historische  Be- 
wußtsein erwachte  mehr  und  mehr,  Vaterlandsliebe  und  Nationalgefühl 
wuchsen  und  wurden  stark. 

Die  ersten  Schritte  der  neuböhmischen  Poesie    dagegen  waren  sehr  Poetische 
mühsam   und   schwankend.     Bei   dem   gänzlichen   Mangel   an   älteren  poe- 
tischen Überlieferungen  mußte  man  völlig  von  neuem  anfangen.     Anfangs 


igo  Jan   Machai.:  Die  böhmische  Literatur. 

griff  man  darnach,  was  am  nächsten  lag,  nämlich  nach  den  deutschen 
Mustern  und  Vorbildern,  welche  man  übersetzte  oder  nachahmte,  wo- 
durch teils  einzelne  Gattungen  der  anakreontischen  und  idyllischen  Dich- 
tung, teils  phantastische  Ritterromane  in  die  Literatur  eingeführt  wurden. 
Zu  weiterer  Entfaltung  kam  die  böhmische  Poesie  erst  durch  den  bereits 
als  .Sprachforscher  ■  genannten  Josef  Jungmann,  einen  ausgezeichneten 
Kenner  der  europäischen  Literatur,  welcher  durch  musterhafte  Übersetzungen 
aus  Bürger,  Goethe,  Schiller,  Milton,  Chateaubriand  u.  a.  die  einheimische 
Literatur  bereicherte,  neue  Dichtungsarten  in  die  Literatur  einführte  und 
eine  klangvolle  poetische  Sprache  ausbildete.  Gleichzeitig  mit  den  ersten 
Anfängen  einer  intensiveren  literarischen  Tätigkeit  äußerte  sich  auch  das 
Verlangen  nach  einer  selbständigen  Nationalliteratur,  welche  im  Volke 
selbst  wurzelnd  den  geistigen  Bedürfnissen  des  Volkes  entspräche,  und 
man  fand  zwei  Mittel,  die  Verwirklichung  dieses  Bestrebens  anzubahnen: 
erstens  einen  näheren  Anschluß  an  die  slawischen  Literaturen  und  zweitens 
die  Volkspoesie.  Der  patriotische  Dichter  J.  Kollär,  welcher  als  Student 
in  Jena  an  dem  berühmten  Wartburgfeste  teilgenommen,  rief,  angeregt 
durch  die  Stimmung  der  jungen  deutschen  Generation,  in  scliwungvollen 
und  begeisterten  Sonetten  auch  die  zerstreuten  Slawen  zur  Eintracht  und 
Einheit  auf  und  feuerte  sie  an  zu  dem  großen  Werke  der  Humanität, 
welches  ihnen  nach  Herders  Andeutungen  bevorstand.  Seine  von  heißer 
Vaterlandsliebe  überquellenden  Gesänge  machten  auf  alle  Gemüter  tiefen 
Eindruck,  sie  weckten  die  Schlummernden  und  spornten  die  Kalten  an 
und  stärkten  das  Nationalgefühl.  Dann  übernahm  F.  L.  Celakovsky  die 
Aufgabe,  die  vaterländische  Poesie  in  nationalem  und  slawischem  Geiste 
zu  erneuem  und  den  Böhmen  die  poetischen  Quellen  anderer  slawischer 
Stämme  zugänglich  zu  machen.  Aus  seinen  kunstvollen  Gedichten  klingen 
uns  zuerst  die  reinsten  Töne  der  slawischen  Volkslieder  entgegen.  An 
diese  zwei  bedeutendsten  Dichter  der  böhtnischen  Renaissance  reihten  sich 
andere  Schriftsteller,  und  ihrem  Bemühen  ist  es  zu  danken,  daß  nament- 
lich die  volkstümliche  Balladendiclitung  und  der  historische  Roman  eine 
hohe  und  kunstmäßige  Ausbildung  erreichten.  Erben  als  Balladendichter, 
Tyl,  Marek  und  Chocholousek  als  Novellisten,  Klicpera  und  Tyl 
als  Dramatiker  gehören  zu  den  einflußreichsten  Vertretern  der  poetischen 
Literatur  in  der  ersten  Hälfte  des  ig.  Jahrhunderts. 
Weitere  Ent-  Das  Rcvolutionszeitalter  1 830 — 1848,  welches  das  politische  uud  soziale 

Wicklung  der  . 

Poesie.  Leben  in  ganz  Europa  tief  erschütterte  und  die  Literatur  mit  neuen  Fragen 
und  Problemen  überhäufte,  hatte  auch  in  Böhmen  trotz  dem  schweren 
politischen  Drucke  einen  Umschwung  der  Gesinnung  zur  Folge.  Der  bis- 
herige zahme  und  idyllische  Patriotismus  belcam  eine  schärfere  politische 
Färbung.  Das  stürmische  Jahr  1848  brachte  zwar  den  Böhmen  die  er- 
sehnte Befreiung  nicht,  aber  der  neue  Zeitgeist  war  doch  von  gewaltiger 
Wirkung  auf  den  Inhalt  der  Literatur.  Unter  dem  Einflüsse  Byrons,  George 
Sands  und    besonders    des   jungen  Deutschlands    nahm    die   Literatur    eine 


V.  Das    19.  Jahrhundert.  igi 

neue  Richtung.  Man  hörte  auf,  volkstümliche  und  patriotische  Motive  ein- 
seitig zu  bearbeiten,  und  nahm  in  den  Kreis  der  Poesie  allgemein  mensch- 
liche Ideen  und  Probleme  auf.  Das  Programm  der  neuen  Dichterschule 
lautete  folgendermaßen:  „Lernen  wir  von  anderen  Völkern,  erkennen  wir 
den  Grad  ihrer  Entwicklung,  befreunden  wir  uns  mit  ihrer  Gedankenwelt 
und  verarbeiten  wir  dann  in  uns  alles  dies  mit  dem,  was  wir  schon  mit 
der  Muttermilch  eingesogen  und  in  unserem  Vaterlande  erkannt  haben,  zu 
einem  neuen  Ganzen;  gewiß  wird  es  dann  slawisch  sein,  weil  wir  als 
Slawen  nicht  anders  bilden  können."  Unter  den  Vorkämpfern  dieser 
neuen  Richtung  waren  Mächa,  der  erste  böhmische  Byronist,  und 
Havlicek,  ein  geistreicher  Satiriker,  Kritiker  und  Publizist,  besonders 
einflußreich. 

An  die  Spitze  der  neuen  literarischen  Schule  traten  zwei  begabte 
Dichter,  Hälek  und  Neruda.  Hdlek  bezauberte  die  Zeitgenossen  durch 
seine  Produktivität,  Vielseitigkeit,  schwung-volle  Phantasie  und  wohllautende 
Sprache;  von  höherer  Bedeutung  für  den  Fortschritt  der  Literatur  war 
jedoch  Neruda.  Tiefe  Reflexionen  über  die  Naturerscheinungen  und  die 
Schicksale  der  leidenden  Menschheit,  realistische  Detailmalerei,  kerniger 
Humor  sowie  eine  künstlerische  Sprache  sichern  seinen  Gedichten  und 
Erzählungen  einen  dauernden  Wert.  An  die  genannten  Dichter  schlössen 
sich  andere  Schriftsteller  und  Novellisten  an,  welche  einen  neuen  Auf- 
schwung der  ganzen  Literatur  veranlaßten.  Heyduk,  ein  Sänger  voll 
tiefen  Gemüts,  Pfleger-Moravsky,  Nemcovä,  Svetlä,  Tfebizsky, 
Vlcek,  Schulz,  §milovsky  als  hervorragende  Vertreter  des  Romans, 
Jeräbek  und  Bozdech  als  Dramatiker  verdienen  noch  ausdrücklich 
genannt  zu  werden. 

In  den  siebziger  Jahren  trat  eine  neue  Dichtergeneration  auf,  welche 
noch  konsequenter  als  ihre  Vorgänger  den  Gesichtskreis  der  böhmischen 
Poesie  erweiterte  und  die  poetische  Produktion  zu  einer  ungeahnten  Höhe 
erhob.  Die  Führerrolle  dieses  Dichterkreises  übernahm  Vrchlicky,  ein 
überaus  elastischer  und  universeller  Geist,  welcher  der  vaterländischen 
Poesie  die  geistigen  Schätze  anderer  Völker  erschloß  und  ein  ganzes  Meer 
von  neuen  Tönen  in  dieselbe  einführte.  Staunenswerte  Produktivität, 
leichtbewegter  Schwung  der  Phantasie,  Großartigkeit  der  Konzeption  und 
blendender  Reichtum  des  poetischen  Ausdruckes  sind  die  hervorstechend- 
sten Merkmale  seines  außerordentlichen  Talentes.  Während  Vrchlicky 
durch  die  blendende  Farbenpracht  seiner  Poesie  die  ganze  jüngere  Gene- 
ration an  sich  riß,  war  Zeyer,  eine  sensitive  und  träumerische  Dichter- 
seele, eher  ein  Vorgänger  der  Moderne  in  der  böhmischen  Poesie.  Aber 
am  treuesten  bewahrte  die  nationalen  Traditionen  Svat.  Cech,  der  popu- 
lärste böhmische  Dichter,  dessen  echt  nationale  Poesie  nicht  nur  patriotische 
Motive  in  meisterhafter  Vollendung  wiedergibt,  sondern  auch  von  hohen 
sozialen  und  politischen  Ideen  der  Gegenwart  durchdrungen  ist.  Andere 
namhafte  Repräsentanten  dieses  Dichterkreises,  der  sich  besonders  um  die 


IQ2  Jan   MAchal:   Die  böhmische   Literatur. 

Zeitschrift  „Lumir"  gruppierte,  sind:  Slädek,  Mokry,  Quis,  Pokorny, 
Stasek,  Kvapil,  Klastersky,  Kaminsky,  Herites  u.  a. 

In  den  achtziger  Jahren  begann  der  Realismus  erfrischend  auf  die 
Literatur  einzuwirken.  Unter  seinem  Einflüsse  erreichte  namentlich  der 
Roman  und  das  Drama  eine  hohe  künstlerische  Entfaltung.  Der  überaus 
fruchtbare  Schriftsteller  Jiräsek  schuf  in  seinen  großartigen  Gemälden 
aus  der  vaterländischen  Geschichte  eine  neue  kunstvolle  Art  historischen 
Romans.  Realistische  Skizzen  und  Erzählungen  aus  dem  Volksleben 
zeichnen  Rais,  Klostermann,  Slejhar,  Sumin,  Noväkovä,  AI.  Mrstik, 
Holecek  u.a.  Soziale  und  politische  Romane  schreiben  Arbes,  Simäcek, 
W.  Mrstik,  Svoboda,  Herrmann,  Laichter,  Vikovä-Kunetickä, 
Svobodovä,  Hladik,  Dyk  usw.  Die  Eröffnung  des  großen  National- 
theaters in  Prag  (1881)  bewirkte  auch  einen  neuen  Aufschwung  der  dra- 
matischen Poesie.  Stroupeznicky,  Preissovä,  Mrstik,  Simäcek, 
Svoboda,  Hubert,  Stolba,  Kvapil,  Jiräsek,  Hilbert,  Dyk  gehören 
nebst  Vrchlicky  und  Zeyer  zu  den  fruchtbarsten  dramatischen  Autoren. 
Als  hervorragende  Vertreter  der  realistischen  und  impressionistischen 
Richtung  in  der  Poesie  können  besonders  die  Dichter  Machar  und 
Sova  genannt  werden. 

Der  Modernismus  fand  unter  der  jüngeren  Generation  zahlreiche  be- 
geisterte Vertreter,  welche  ein  neues  Klang-  und  Schönheitsideal  in  der 
Poesie  verbreiteten  und  die  künstlerische  Kritik  zu  einer  hohen  Entfaltung 
brachten,  aber  der  bisherige  Gang  der  Literatur  w^urde  durch  ihr  Bemühen 
nicht  wesentlich  beeinflußt.  Die  Literatur  der  Gegenwart  zeigt  vielmehr 
Vorliebe  für  die  nationalen  Ideen,  welche  seit  Neruda  die  Literatur  be- 
herrschten, und  bringt  dieselben  im  modernen  Zeitgeist  zur  weiteren  Ent- 
wicklung. 

Obgleich  sich  die  ganze  neuere  Literatur  unter  den  schwersten  poli- 
tischen und  sozialen  Umständen  entwickelte,  machte  sie  doch  in  einer 
verhältnismäßig  kurzen  Zeit  einen  ungeheueren  und  bewunderungswürdigen 
Fortschritt.  Ihre  eigene  nationale  Eigenart  und  Individualität  sorgfältig 
wahrend,  wußte  sie  sich  die  bedeutendsten  Ideen  und  literarischen  Werte, 
welche  in  der  europäischen  Literatur  herrschten,  zu  eigen  zu  machen  und 
die  tiefe  Kluft,  welche  das  neuerwachte  böhmische  Schrifttum  von  der 
Weltliteratur  trennte,  allmählich  auszugleichen.  So  hat  sich  das  böhmische 
Volk  mit  eigner  Kraft  wieder  den  Platz  in  der  Reihe  der  gebildeten 
Völker  errungen,  um  die  geistigen  Schätze  der  Menschheit  vermehren  zu 
helfen. 


Literatur. 

Ältere  Werke: 

J.  DOBROVSKY,  Geschichte  der  böhmischen  Sprache  und  älteren  Literatur  (Prag,  1818). 

J.  Jungmann,  Historie  literatury  ceske,  2.  Aufl.  (Prag,  1849).   (Bibliographisch  geordnet.) 

A.  V.  Sembera,  Dejiny  feci  a  literatury  Ceskoslovenske.  1.  4.  Aufl.  (Wien,  1878); 
II.  3.  Aufl.  (Wien,  1872).     (Bibliographische  Übersicht.) 

K.  TlEFTRUNK,  Historie  literatury  ceske,  2.  Aufl.  (Prag,   i88o>     (Schulbuch.) 

J.  JlREtEK,  Rukovet  k  dfijinäm  literatury  feske  de  konce  XVlIl.  vfeku  (Prag,  1874 — 76). 
(Ein  wertvolles  biographisches  und  bibliographisches  Nachschlagebuch.) 

F.  PALACKf ,  Geschichte  von  Böhmen  (Prag,   1836  ff.). 

Neuere  Werke: 

A.  N.  Pypin,  Geschichte  der  slavischen  Literaturen.  II.  B.,  2.  Hälfte.  Cecho-SIowaken. 
Übertragen  von  T.  Pech  (Leipzig,  1884).  (Der  erste  gelungene  Versuch  einer  pragmatischen 
Geschichte  der  böhmischen  Literatur.) 

Jaroslav  Vlcek,  Dfejiny  ceske  literatury  (Prag,  1897  ff.).  fDie  beste  böhmische  Lite- 
raturgeschichte, welche  noch  nicht  beendet  ist.) 

V.  Flajshans,  Pfsemnictvi  ceske  slovem  i  obrazem  (Prag,  1901).  (Eine  populäre  Dar- 
stellung der  böhmischen  Literatur  mit  Illustrationen.) 

J.  JakubeC  und  A.  NovÄk,  Geschichte  der  cechischen  Literatur.  Die  Literaturen  des 
Ostens  V.  1  (Leipzig,   1907). 

Der  Darstellung  der  neueren  böhmischen  Literatur  ist  ein  großes  Sammelwerk  ge- 
widmet: ,,Literatura  ceskä  19.  stolet!",  welches  seit  dem  Jahre  1902  in  Prag  (J.  Laichters 
Verlag)  erscheint. 


Gegenwart.    I. 


DIE  SÜDSLAWISCHEN  LITERATUREN. 

Von 

Matthias  Murko. 


Einleitung.  „Südslawen"  ist  ein  geographischer  Begriff  für  die 
Slowenen,  Kroaten,  Serben  und  Bulgaren,  die  trotz  verschiedenartiger 
historischer  Schicksale  sprachlich  sehr  nahe  verwandt  sind,  so  daß  die 
Kroaten  und  Serben,  die  doch  unter  der  Spaltung  zwischen  Rom  und 
Byzanz  am  meisten  gelitten  haben,  sogar  dieselbe  Schriftsprache  besitzen. 
Der  Unterschied  äußert  sich  heute  nur  in  der  Schrift,  da  die  katholischen 
Kroaten  die  lateinische,  die  orthodoxen  Serben  die  cyrillische  gebrauchen. 
Doch  kommt  man  mit  diesem  Kriterium  des  Alphabetes  und  der  Religion 
selbst  für  die  Gegenwart  nicht  aus,  in  der  Vergangenheit  waren  aber 
die  Verhältnisse  noch  viel  komplizierter,  denn  weder  gehörten  die 
Kroaten  ausschließlich  dem  Okzident,  noch  die  Serben  nur  dem  Orient 
an,  sondern  bildeten  nach  ihrer  Lagerung  die  Zwischenstufe  zwischen  den 
Slowenen,  die  frühzeitig  ganz  dem  romanisch-germanischen  Kulturkreise 
zufielen,  und  den  Bulgaren,  bei  denen  sich  die  Einflüsse  von  Byzanz  und 
des  Orients  überhaupt  am  meisten  geltend  machten.  Trotz  dieser  großen 
kulturellen  Unterschiede  gab  es  immer  lebhafte  Wechselbeziehungen 
zwischen  den  Südslawen,  einzelne  Literaturperioden  sind  mehreren  Stämmen 
gemeinsam,  die  heutigen  Völkemamen  hatten  im  Laufe  der  Zeiten  einen 
verschiedenen  Umfang,  die  Bildung  der  vier  Nationalitäten  mit  drei  Schrift- 
sprachen ist  überhaupt  erst  ein  Produkt  des  1 9.  Jahrhunderts  (früher  waren 
neben  dem  allgemeinen  slawischen  und  dem  pseudogelehrten  illyrischen 
Namen  noch  die  landschaftlichen  Bezeichungen  krainerisch,  dalmatinisch, 
ragusanisch.  bosnisch,  slawonisch  u.  a.  üblich),  die  Grenzen  zwischen  Bul- 
garen und  Serben  sind  noch  strittig,  zwischen  Serben  und  Kroaten  über- 
haupt unbestimmbar.  Daß  bei  solchen  Streitfragen  die  sprachlichen 
Merkmale  nicht  allein  maßgebend  sind,  folgt  schon  aus  den  modernen 
linguistischen  Vorstellungen,  denn  auch  die  südslawischen  Sprachen  bilden 
in  der  Tat  eine  Kette  allmählich  ineinander  übergehender  Dialekte.  Das 
beste   Beispiel   bietet   Proyinzialkroatien,   das    sprachlich    zur   slowenischen 


Einleitung.  IQ5 

Dialektengruppe  zu  schlagen  ist,  historisch  und  kulturell  aber  immer  einen 
Bestandteil  des  kroatischen  Volkes  bildete. 

Aus  diesen  Gründen  empfiehlt  sich  eine  von  der  üblichen  Betrachtungs- 
weise abweichende  synchronistische  Darstellung  der  südslawischen  Litera- 
turen, bei  welcher  der  Anteil  der  einzelnen  Landschaften  an  der  Über- 
nahme und  Ausbildiuig  der  großen,  die  Menschheit  bewegenden  Ideen  in 
den  Vordergrund  zu  stellen  ist.  Dabei  ergibt  sich  eine  Teilung  in  zwei 
große,  durch  die  Befestigung  der  Türkenherrschaft  unter  den  Südslawen 
in  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  getrennte  Perioden:  in  der 
ersten  herrscht  die  kirchenslawische  Sprache  und  überwiegt  der  Einfluß 
von  Byzanz,  in  der  zweiten  kommen  unter  westeuropäischem  Einflüsse  die 
Nationalsprachen  zur  Geltung. 

Die  Vorfahren  der  heutigen  Südslawen,  welche  ihre  Gebiete  im  6.  und 
7.  Jahrhundert  bevölkerten,  treten  bei  den  griechischen  und  abendländischen 
Schriftstellern  unter  dem  Namen  der  Slowenen  (ZKXaßrivoi,  ZKXdur|VOi, 
ZKXaßivoi,  ZKXdßoi,  Sclaveni,  Sclavini,  Sclavi)  auf,  der  auch  in  allen  älteren 
einheimischen  Quellen  erscheint,  erst  allmählich  durch  die  staatlichen 
Namen  bulgarisch,  serbisch  und  kroatisch  verdrängt  wurde,  im  Westen 
noch  lange  üblich  blieb  und  bei  dem  am  meisten  vorgeschobenen  Stamm 
noch  fortlebt  (ebenso  in  der  Gesamtbezeichnung  der  Slawen).  Schon  in 
ihrer  Heimat  jenseits  der  Karpathen  traten  die  Südslawen  mit  der  römi- 
schen Kulturwelt  hauptsächlich  durch  Vermittlung  der  Germanen  in  Be- 
rührung und  besiedelten  nun  Länder,  in  denen  bedeutende  Reste  der 
griechischen  und  römischen  Kultur  erhalten  blieben  und  von  ihren  Aus- 
strahlungspunkten, Byzanz  und  Rom,  aus  neu  belebt  wurden.  So  finden 
wir  die  Südslawen  frühzeitig  auf  einer  verhältnismäßig  hohen  Kulturstufe, 
wovon  namentlich  die  zahlreichen  slawischen  Fremdwörter  im  Magya- 
rischen    ein   beredtes  Zeugnis  ablegen. 

Die  altslawische  zügellose  Demokratie  begann  bald  dem  römischen  staaten- 
Staatsbegriii  zu  weichen,  wenn  wir  vom  meteorartig  auftauchenden  west- 
slawischen Staat  des  rätselhaften  Samo  absehen,  müssen  wir  allerdings 
hervorheben,  daß  den  ersten  und  mächtigsten  südslawischen  Staat  der  .süd- 
türkische —  nicht  finnische  —  Volksstamm  der  Bulgaren  (überschritt  die 
Donau  67g)  zwischen  der  Donau  und  dem  Balkan  gründete  und  nach  dem 
Süden  und  Nordwesten  ausbreitete.  Das  Herrschervolk  ging  im  Laufe 
von  mehr  als  zwei  Jahrhunderten  in  den  slawischen  Volksmassen  vollständig 
auf.  Bulgariens  größter  Herrscher  Symeon  (893 — 927),  der  Byzanz  beerben 
wollte  und  bis  zum  Adriatischen  Meere  vordrang,  war  ganz  und  gar  ein 
Slawe  mit  byzantinischer  Bildung.  Die  Entstehung  eines  großen  süd- 
slawischen Staates  verhinderten  die  Folgen  der  Spaltung  zwischen  Ost- 
und  West-Rom.  In  den  westlichen  Gebieten  des  alten  Dalmatien  bildete 
sich  der  kroatische  Staat,  in  dem  sich  byzantinische,  fränkische  und  rö- 
mische Einflüsse  bekämpften,  bis  mit  dem  Regierungsantritt  Branimirs  (879) 

ein  vollständiger  Umschwung  zugunsten  Roms  und  des  Abendlandes  ein- 

,3, 


iq5  Matthias  Murko:  Die  südslawischen  Literaturen. 

trat.  Im  Flußgebiet  der  Tara,  des  Lim  und_Ibar  übernahm  der  Stamm 
der  Serben  in  der  ersten  Hälfte  des  lo.  Jahrhunderts  die  Führung  über 
die  Dynasten,  die  bis  an  die  Adria  herrschten,  so  daß  die  Anfänge  des 
serbischen  Staates  ebenfalls  in  der  Sphäre  der  römischen  Kultur  und 
Kirche  lagen.  Nur  die  Slowenen  brachten  es  zu  keiner  dauernden  Staaten- 
gründung,  kamen  schon  ge^en  Ende  des  8.  Jahrhunderts  unter  fränkische 
Herrschaft  und  teilten  weiter  die  Schicksale  der  deutschen  Alpenländer. 
Keine  geringe  Rolle  spielte  immerhin  in  der  Begründung  der  slawischen 
Liturgie  und  Literatur  ein  slowenisches  Fürstentum  am  Plattensee  in 
Unter-Pannonien,  das  teilweise  nach  Steiermark  bis  Pettau  herüberreichte. 
Auch  in  der  Annahme  des  Christentums  gingen  die  Südslawen  ihren 
zahlreicheren  Brüdern  im  Norden  voran.  Die  römische  Staatskirche  lebte 
an  der  adriatischen  Küste  kräftig  fort,  aber  auch  im  Innern  der  Balkan- 
halbinsel war  sie  nicht  ganz  erloschen,  weshalb  die  Christianisierung  hier 
mit  geringen  Ausnahmen  ganz  friedlich  vor  sich  ging.  Verhängnisvoll 
gestaltete  sie  sich  nur  für  die  Slowenen,  gegen  welche  die  Bayernfürsten 
Religions-  und  zugleich  Unterwerfungskriege  führten;  eine  heidnische 
Reaktion  wurde  772  endgültig  unterdrückt.  Die  Taufe  der  Kroaten  wird 
gewöhnlich  zu  früh  datiert,  denn  die  Begleitumstände  setzen  bereits  eine 
höhere  staatliche  Organisation  voraus,  die  erst  für  das  Ende  des  8.  Jahr- 
hunderts beglaubigt  ist.  Der  „Bischof  von  Kroatien"  hatte  keinen  festen 
Sitz.  Die  Mehrzahl  der  Bischöfe  befand  sich  aber  in  den  romanischen 
Küstenstädten,  und  die  erzbischöfliche  Gewalt  über  ganz  Dalmatien  und 
Kroatien  bis  zur  Donau  strebte  schon  um  8.'i2  die  Kirche  von  Spalato  an. 
x\us  diesem  Verhältnis  werden  die  heftigen  Kämpfe  um  die  slawische 
Liturgie  im  10.  und  11.  Jahrhundert  begreiflich.  Die  oströmischen  und 
bulgarischen  Serben  erhielten  ihr  Christentum  von  Byzanz,  aber  ein  großer 
Teil  derselben  wurde  in  den  Küstengebieten  von  Rom  bekehrt  und  bis 
zur  Konsolidierung  des  serbischen  Staates  am  linde  des  12.  Jahrhunderts 
beherrscht,  was  für  die  Frage  von  der  Bildung  der  serbischen  Nationalität 
sehr  wichtig  ist.  Zuletzt  nahmen  das  Christentum  die  bereits  sehr  mäch- 
tigen Bulgaren  an,  im  Jahre  864  oder  Anfang  865.  Fürst  Boris  legte 
sich  auch  den  Namen  seines  kaiserlichen  Paten  in  Byzanz,  Michael,  bei, 
trat  aber  aus  Furcht  für  seine  Unabhängigkeit  mit  Rom  in  Berührung, 
das  jedoch  durch  Starrsinn  in  Personalfragen  Bulgarien  und  damit  auch 
andere  Slawen  für  inimer  verlor  (870). 
i  Leben  Über  das  geistige  Leben  der  heidnischen  Südslawen  haben  wir  wenig 

Sudslawen.  Nachrichtcn.  Über  ihre  religiösen  Anschauungen,  Sitten  und  Bräuche 
können  wir  aus  heutigen  Volksliedern,  Sagen,  Märchen,  Sprichwörtern, 
abergläubischen  Gebräuchen,  Zaubersprüchen  und  Rätseln  keine  weit- 
gehenden Schlüsse  ziehen.  Mag  auch  der  Bulgare  oder  Serbe  bei  der 
Ausübung  seiner  religiösen  Bräuche  in  Wirklichkeit  mehr  an  einen  Heiden 
als  Christen  erinnern,  so  hängen  diese  doch  auf  das  innigste  mit  dem 
Christentum,    namentlich    mit    seinem    Festkalender,   zusammen.     Die    Pro- 


hcidn 


A.  Die   Literatur  in  der  kirchenslawischen   Sprache.      1.   Die  altkirchenslawische   Periode.       igj 

dukte  des  Volksgeistes  verraten  auch  zahlreiche  mündliche  und  literarische 
Einflüsse  von  Ost  und  West,  namentlich  die  der  apokryphen  Literatur,  so 
daß  sie  nicht  mehr  an  die  Spitze  der  Literaturgeschichte  gestellt  werden 
können. 


A.    Die  Literatur  in  der  kirchenslawischen  Sprache  und  unter  dem 
tiberwiegenden  Einfluß  von  Byzanz. 

I.    Die    altkirchenslawische    Periode.      Die    Südslawen    gehen  Die  altslawische 

.      Kirchensprache. 

ihren  nördlichen  Brüdern  namentlich  in  der  Literatur  weit  voran.  Die 
römischen  und  griechischen  Buchstaben,  mit  denen  sie  zu  schreiben  an- 
fingen, wurden  bald  durch  zwei  slawische  Schriften  abgelöst;  ein  süd- 
slawischer, wahrscheinlich  ein  makedonischer  oder  auch  ostbulgarischer 
Dialekt  wurde  zur  slawischen  Kirchen-  und  Literatursprache  erhoben. 
Diese  kirchenslawische,  in  den  einheimischen  Quellen  „slowenisch"  ge- 
nannte Sprache  spielte  die  Rolle  des  mittelalterlichen  Latein  bei  allen 
orthodoxen  slawischen  Völkern  bis  ins  i  q.  Jahrhundert  und  lebt  noch  heute 
im  Gottesdienst  bei  den  orthodoxen  Serben,  Bulgaren  und  Russen,  bei 
den  mit  Rom  unierten  Ruthenen,  auch  bei  kleinen  Bruchteilen  unierter 
Bulgaren,  Kroaten  und  sogar  Magyaren,  überdies  bei  einem  beträchtlichen 
Teil  römisch-katholischer  Kroaten  am  Adriatischen  Meere  fort,  so  daß  sie 
nach  der  lateinischen  die  am  meisten  verbreitete  liturgische  Sprache  der 
christlichen  Welt  bildet.  Eine  große  Rolle  spielte  die  kirchenslawische 
Sprache  auch  im  geistlichen  und  staatlichen  Leben  der  Rumänen,  eine 
weniger  bedeutende  bei  den  Albanesen  und  Litauern. 

Merkwürdigerweise   wurde    die   Konzession  einer   slawischen   Liturgie   uie  siawen- 

°  °  apostel    Cyrill 

zuerst  nicht  Byzanz,  sondern  Rom  abgerungen,  dazu  auf  einem  überwiegend   und  Method. 

■'  '  6  S        '_  °  Die  slawische 

nordslawischen  Gebiet,  im  großmährischen  Reiche,  das  am  rechten  Donau-     Liturgie  in 

*'  o  •  Mähren  und 

ufer  allerdings  au^h  die  pannonischen  Slowenen,  also  Südslawen,  be-  Pannonien. 
herrschte.  Fürst  Rastislav  wollte  sich  vom  fränkischen  Reiche  unabhängig 
machen  und  eine  Landeskirche  mit  Hilfe  von  Byzanz  organisieren,  erhielt 
aber  zuerst  nur  eine  der  üblichen  religiös-politischen  Missionen  (863),  für 
welche  die  Machthaber  in  Konstantinopel  (Michael  III..  Bardas.  Photius) 
allerdings  die  besten  Kräfte  auswählten,  den  frommen  Priester  Konstantin, 
der  wegen  seiner  großen  Gelehrsamkeit  der^J'hilosoph  genannt  wurde, 
und  seinen  Bruder,  den  diplornatischen  Laienmönch  Method.  Diese 
„Slawenapostel",  die  aber  weder  die  Mährer  noch  die  Südslawen  zu  be- 
kehren brauchten  (in  alten  slawischen  Quellen  werden  sie  richtiger  „Lehrer 
der  Slawen"  genannt),  stammten  aus  Thessalonike  (Saloniki)  und  beherrsch- 
ten sehr  gut  die  Sprache  der  nächsten  Umgebung  oder  sonst  einen  sla- 
wischen Dialekt  des  byzantinischen  Reiches.  Wenigstens  Bruchstücke  des 
Evangelistars  brachten  sie  schon  nach  Mähren,  dessen  Bevölkerung  ihre 
Sprache  leicht  verstehen  konnte,  und  übersetzten  hier  die  wichtigsten,  für 
den    Gottesdienst    notwendigen    Bücher,    speziell    auch    die  Messe.     Diese 


log  Matthias  Mürko:    Die  südslawischea  Literaturen. 

Neuerung  stieß  auf  den  größten  Widerstand  der  lateinisch-deutschen  Geist- 
lichkeit, hinter  der  die  fränkische  Großmacht  stand.  Die  Brüder  brauchten 
daher  zur  Krönung  ihres  Werkes  einen  höheren  Schutz  und  wanderten, 
mit  der  Macht  der  Verhältnisse  rechnend,  nach  Rom  (867),  wohin  sie 
ohnehin  eine  Berufung  erhalten  hatten. 

*-  Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  bereits  Hadrian  II.  die    sla- 

wische Liturgie  billigte.  Das  Werk  der  Brüder  erlitt  jedoch  einen  großen 
Schaden  durch  den  Tod  Konstantins  in  Rom  (14.  Februar  86g),  der  kurz 
zuvor  in  ein  Kloster  eingetreten  war  und  den  Namen  Cyrill  angenommen 
hatte,  wurde  aber  auch  von  Method  allein  mit  Erfolg  fortgesetzt.  Fürst 
Kocel  am  Plattensee  erbat  sich  ihn  als  Erzbischof.  Die  Idee,  für  Panno- 
nien  und  Mähren  das  alte  Bistum  Sirmium  und  das  Exarchat  für  Illvricum 
wiederherzustellen,  ist  natürlich  nicht  dem  Kopfe  des  bescheidenen  slo- 
wenischen Fürsten  und  fränkischen  Vasallen  entsprungen,  sondern  der 
„Stuhl  des  heiligen  Andronikus"  sollte  für  Rom  den  Rechtsgrund  für  eine 
neue  kirchliche  Organisation  auf  dem  Boden  der  Missionstätigkeit  bayrischer 
Bischöfe  bilden  und  durch  den  Exarchen  von  Illyricum  der  Anspruch  auf 
die  Donauslawen  gegen  Byzanz,  das  unter  Photius  die  erste  Kirchen- 
spaltung versuchte  (8671.  behauptet  werden. 

Wegen  der  Wirren  in  Mähren ,  wo  Rastislav  von  seinem  Neifen 
Svatopluk  an  die  Deutschen  ausgeliefert  worden  war,  blieb  Method  am 
Plattensee,  wurde  aber  bald  von  den  benachbarten  deutschen  Bischöfen 
gefangen  genommen,  bis  ihn  nach  dritthalb  Jahren  Johannes  VIII.  befreite. 
Er  hatte  aber  auch  unter  Svatopluk  keinen  leichten  Stand,  doch  der  ge- 
nannte große  Diplomat  auf  dem  päpstlichen  Stuhle  billigte  (880)  in  feier- 
licher Weise  die  slawische  Liturgie  mit  der  Bedingung,  daß  bei  der  Messe 
das  Evangelium  zuerst  lateinisch  gelesen  werde.  Die  fortwährenden  Kämpfe 
hinderten  Method  nicht  an  einer  weiteren  Übersetzungstätigkeit.  Nach 
seinem  Tode  (6.  April  885)  wurde  jedoch  infolge  der  Umtriebe  seines 
Suffragans  und  Gegners  Wiching   die   slawische  Liturgie   von  Stephan  V. 

<jl  verboten,  wofür  eine  Erklärung  auch  in  den  großen  Wirren  am  päpstlichen 

Hofe  zu  suchen  ist,  und  die  Methodianer  wurden  von  Svatopluk,  der  immer 
eine  Antipathie  gegen  den  Schützling  seines  Oheims  und  gegen  die  reli- 
giösen Streitigkeiten  hatte,  aus  dem  Lande  gejagt.  Den  größten  Schaden 
hatte  von  seiner  Inkonsequenz  Rom,  denn  die  slawische  Liturgie  wurde 
in  der  Folgezeit  zum  stärksten  und  ausgiebigsten  Kampfmittel  gegen 
seinen  Einfluß  im  slawischen  Osten. 
Zwei  slawische  Paläographische,    sprachliche    und  historische  Gründe   sprechen  dafür, 

Alphabete.  ^^^  Konstantin  das  glagolitische  Alphabet  zusammengestellt  hat.  Man 
erkennt  darin  eine  Stilisierung  der  griechischen  Minuskel  und  Kursive; 
für  die  zahlreichen  speziell  slawischen  Laute  wurden  Zeichen  durch  Ver- 
änderung oder  Kombinierung  der  griechischen  hergestellt  oder  neu  er- 
funden oder  aus  einem,  vielleicht  sogar  aus  mehreren  orientalischen  Alpha- 
beten entlehnt.     Das  fälschlich  cyrilli.sch  genannte  Alphabet,  welches  mit 


A.  Die  Literatur  in  der  kirclienslawisclien  Spraclie.     I.  Die  altkirchenslawische  Periode.      iqq 

der  griechischen  Unzialschrift  bis  auf  die  slawischen,  meist  aus  der  glago- 
litischen Schrift  entlehnten  Schriftzeichen  geradezu  identisch  ist,  kam  erst 
in  Bulgarien  auf.  Die  älteste,  in  Makedonien  gefundene  cyrillische  In- 
schrift stammt  aus  dem  Jahre  993.  Die  Glagoliza  stand  jedoch  bei  allen 
Südslavven  einige  Zeit  in  Gebrauch  und  war  sogar  in  Rußland  nicht  un- 
bekannt. Heute  lebt  sie  nur  noch  in  den  römisch-katholischen  liturgischen 
Büchern  der  Kroaten  an  der  Adria  fort,  bei  denen  sie  im  Laufe  der  Zeit 
eine  eckige  Gestalt  annahm,  doch  ist  diese  „kroatische"  Glagoliza  mit  der 
älteren  runden  „bulgarischen"  identisch. 

Der  Umfang  des  Übersetzungswerkes  der  Slawenapostel  steht  nicht  Die  ersten 
fest.  Auf  jeden  Fall  hat  auch  Method  nicht  alle  Bücher  des  Alten  Testa-  „slawischen 
ments  übersetzt.  Zur  Grundlage  diente  natürlich  der  griechische  Text, 
und  zwar  in  der  Lukianischen  Redaktion.  Abgesehen  von  nur  geringen 
Freiheiten  gaben  die  Brüder  das  Original  genau  wieder,  wurden  aber  dem 
Geist  der  „slowenischen"  Sprache,  namentlich  ihrer  Syntax,  gerecht,  wodurch 
sie  sich  ungemein  vorteilhaft  von  späteren  sklavischen  Übersetzern  unter- 
scheiden. Bemerkenswert  ist  die  Reinheit  für  christliche  BegriiTe,  mit 
denen  keine  heidnischen  Reminiszenzen  verknüpft  sind.  Zu  diesem  Zwecke 
behielten  sie  allerdings  griechische  Wörter  mehr  als  billig  bei  und  nahmen 
auch  mehrere  in  Pannonien  und  Mähren  bereits  nationalisierte  lateinisch- 
deutsche Ausdrücke  auf.  Überhaupt  blieben  die  ersten  Übersetzungen 
von  lateinischen  und  sogar  deutschen  Texten  nicht  unberührt.  Fraglich 
ist,  ob  auf  Method  bereits  die  Anpassung  an  den  römischen  Ritus  zurück- 
geht, aber  jedenfalls  sind  die  ersten  Versuche  in  dieser  Hinsicht  sehr  alt. 

Daß  sich  auch  die  lateinisch-deutsche  Geistlichkeit  in  den  slowenischen   Die  ältesten 

Denkmäler  der 

Gebieten  nicht  bloß  auf  die  Predigt  in  der  Volkssprache  beschränkte,  lehren  Slowenen. 
die  Freisinger  Denkmäler  (in  München),  eine  Beichtformel,  eine  Homilie 
über  die  Beichte  und  ein  Beichtgebet,  die  von  Paläographen  in  das  10. 
oder  II.  Jahrhundert  verlegt  werden.  Diese  Abschriften  stehen  den 
ältesten  erhaltenen  glagolitischen  und  cyrillischen  Denkmälern  an  Alter 
durchaus  nicht  nach  und  repräsentieren  die  erste  bekannte,  allerdings  sehr 
unbeholfene  Aufzeichnung"  irgend  einer  slawischen  Sprache  in  lateinischer 
Schrift;  ebenso  sind  sie  die  ältesten  Denkmäler  einer  lebenden  slawischen 
Sprache.  Eine  Beeinflussung"  derselben  durch  altkirchenslawische  Vor- 
lagen ist  fraglich,  wohl  ist  aber  das  zweite  in  die  älteste  kirchenslawische 
Literatur  geraten. 

Eine  dauernde  Zufluchtsstätte  fand  die  kirchenslawische  Sprache  und  Biute  der  ait- 
Literatur  südlich  der  Save  und  der  Donau,  wo  sie  sofort  im  „goldenen  sehen  Literatur 
Zeitalter"  des  bulgarischen  Reiches  unter  Symeon,  einem  „neuen  Ptolo- 
maeus",  wie  ihn  die  Zeitgenossen  nannten,  am  Hofe  von  Preslav  ihre 
höchste  Blüte  erreichte.  Bald  nach  dem  Tode  Methods  kamen  Kliment 
und  einige  andere  Jünger  nach  Bulgarien,  wo  sie  in  den  makedonischen 
Gebieten  um  Ochrida  herum  im  Geiste  der  pannonisch-mährischen  Tradition 
fortwirkten,   so   daß    wir   auf  allen  Gebieten    eine   konservativere   makedo- 


2  00  Matthias  Murko;    Die  südslawischen  Literaturen. 

nische  Schule  gegenüber  der  von  Byzanz  mehr  abhängigen  ostbulgarischen 
unterscheiden  können.  Das  Westreich  dauerte  auch  länger,  aber  selbst 
nach  seiner  Vernichtung  (1018)  ließ  Basilios  II.  die  autokephale  bulga- 
rische Kirche  in  Ochrida  bestehen,  die  allerdings  schon  im  12.  Jahr- 
hundert zu  einem  Bollwerk  des  Hellenismus  wurde.  Damit  erreichte  auch 
die  bedeutendste  Periode  der  kirchenslawischen  Literatur  und  ihrer  alter- 
tümlichen Sprache  ein  Ende. 

Groß  ist  die  Zahl  bekannter  und  noch  mehr  unbekannter  Übersetzer 
und  Kompilatoren  in  ganz  Bulgarien,  gering  die  der  originellen  und  volks- 
tümlichen Leistungen.  Am  besten  ist  die  einheimische  Homiletik  ver- 
treten, namentlich  durch  Kliment  und  Presbyter  Kozma,  der  die  Sekte  der 
Bogomilen  bekämpfte.  Die  beiden  Apostellegenden,  von  denen  die  Me- 
thods  gewiß  nach  Makedonien  zu  verlegen  ist,  bewahren  ein  schönes 
Gleichgewicht  zwischen  Rom  und  Byzanz,  weshalb  sie  sehr  alt  sein 
müssen,  und  haben  bezüglich  ihrer  historischen  Glaubwürdigkeit  durch 
neuere  Urkundenfunde  nur  gewonnen.  Später  kamen  noch  Legenden 
bulgarischer  Heiliger  dazu,  die  als  Eremiten  hinter  ihren  orientalischen 
Mustern  durchaus  nicht  zurückblieben.  Der  bedeutendste  ist  Joann  von 
Ryl  (-}-  946).  Eine  glänzende  Leistung  ist  die  Verteidigung  der  slawischen 
Schrift  und  Bibelübersetzung  gegen  die  Griechen  durch  den  Mönch  Hrabr 
aus  dem  Anfang  des   10.  Jahrhunderts. 

Bezüglich  der  neu  übersetzten  biblischen  Bücher  fällt  es  auf,  daß  die 
kommentierten  Propheten  dem  Text  der  alexandrinischen  Redaktion  folgen. 
Überhaupt  tritt  speziell  Makedonien  durch  die  Athosklöster  mit  Palästina 
und  dem  Sinai  früh  in  Verkehr,  so  daß  eine  Reihe  alter  glagolitischer 
Denkmäler  nicht  zufällig  im  Sinaikloster  und  in  Jerusalem  aufgefunden 
worden  ist. 

Große  Werke  der  theologischen  Literatur  wurden  wegen  ihrer 
Schwierigkeit  und  auch  mit  Rücksicht  auf  ihr  Publikum  nicht  immer  ganz 
übersetzt.  So  nahm  Joann  Exarch  von  Bulgarien  aus  der  Theologie  des 
Johannes  von  Damaskos  nur  den  dritten  Teil  „über  den  wahren  Glauben", 
aber  selbst  von  dessen  100  Kapiteln  nur  48,  die  ihm  zur  Aufklärung  des 
bulgarischen  Volkes  besonders  wichtig  erschienen.  Charakteristisch  ist 
aber  für  diesen  Hauptvertreter  des  symeonischen  ostbulgarischen  Kreises 
eine  große  Kompilation  Si's/odiirv  (Hexaemeron),  der  Versuch  einer 
theologisch-philosophischen  Erklärung  der  Schöpfungsgeschichte.  Symeon 
selbst  vereinigte  Auszüge  aus  den  Predigten  des  Johannes  Chrysostomos, 
der  auch  bei  den  Slawen  eine  dominierende  Stellung  gewann,  im  Zlafosfnij 
(Goldbach).  Besonders  charakteristisch  ist  aber  eine  auf  seinen  Befehl 
angefertigte  große  Katene,  die  in  dem  Izhornik  des  Kiewer  Fürsten 
Svjatoslav  aus  dem  Jahre  1073  erhalten  ist;  25  Kirchenväter  des  Abend- 
und  des  Morgenlandes,  Dogmatiker  wie  Exegeten,  sind  neben  anderen 
Artikeln  in  dieser  Kompilation  vertreten. 

Daß    die    Übersetzer    nicht    immer    ihrer   Aufgabe    gewachsen    waren. 


A.  Die  Literatur  in  der  kirclienslawischen  Sprache.     I.  Die  altliirchenslawisclie  Periode.      201 

zeigt  die  Behandlung  der  Kirchenpoesie,  die  ohnehin  schon  in  der  Zeit 
der  Nachblüte  und  des  Verfalles  zu  den  Slawen  geraten  ist.  So  wurden 
zu  Ende  des  10.  oder  Anfang  des  11.  Jahrhunderts  in  Bulgarien  oder  auf 
dem  Athos  die  liturgischen  Menäen  in  der  Redaktion  des  Klosters 
Studion  (in  Konstantinopel)  buchstäblich,  ohne  Beachtung  des  Sinnes, 
des  Rhythmus  und  des  poetischen  Schmuckes  der  Akrosticha  übersetzt. 
Solcher  Stumpfsinn  war  allerdings  nicht  allgemein,  denn  man  hatte  im 
9.  und  10.  Jahrhundert  in  Bulgarien  auch  ein  recht  gutes  Verständnis  für 
die  Feinheiten  der  griechischen  Kirchenpoesie,  wie  ihre  Nachahmungen 
in  rhythmischen,  zwölfsilbigen,  mit  einer  Zäsur  nach  der  fünften  Silbe 
versehenen  und  durch  Akrosticha  gebundenen  Versen  ohne  Reim  und 
Refrain  beweisen. 

In  dem  Überwiegen  mönchischer  Interessen  übertrifft  schon  die  alt- 
bulgarische  Literatur  ihr  byzantinisches  Muster.  Besonders  auffällig  tritt 
das  bei  der  Behandlung  geschichtlicher  Werke  hervor.  Nicht  ein  einziger 
der  zahlreichen  und  bedeutenden  byzantinischen  Geschichtschreiber  ist 
übersetzt  worden,  nicht  einmal  Bruchstücke  aus  solchen,  die  über  die 
Slawen  handeln.  Dafür  finden  wir  aber  die  Mönchschroniken  des  Johannes 
Malalas  und  des  Georgios  Hamartolos  und  dürftige  Chronographen.  Die 
Existenz  bulgarischer  Chroniken  ist  bloß  bezeugt.  Eine  Kompilation 
„Hellenischer  und  römischer  Chronograph",  in  dessen  älterer  Redaktion 
die  Namen  türkisch-bulgarischer  Fürsten  und  Reste  ihrer  Sprache  erhalten 
sind,  wird  noch  dem  Zeitalter  Symeons  zugeschrieben. 

Sonst  sucht  man  aber,  wenn  man  noch  von  einer  Übersetzung  des 
Physiologus  absieht,  vergebens  Spuren  wissenschaftlicher  Interessen.  Be- 
sonders zu  bedauern  ist  die  Tatsache,  daß  vom  klassischen  Altertum  so 
gut  wie  gar  nichts  in  den  schriftlichen  Besitz  der  Slawen  übergegangen 
ist.  Nur  Aristoteles  wurde  auch  bei  ihnen  der  Philosoph  der  Kirche. 
Man  darf  jedoch  das  Bildungsniveau  der  Balkanslawen  nicht  bloß  nach 
ihren  Übersetzungen  beurteilen,  denn  einzelne  Persönlichkeiten,  wie  der 
Zar  Symeon  und  der  Mönch  Hrabr,  standen  auf  der  Höhe  der  damaligen 
griechischen  Bildung,  die  Beziehungen  zu  den  Griechen  waren  immer  leb- 
haft und  viele  hervorragende  griechische  Schriftsteller  hüteten  slawische 
Herden. 

Die  umfangreiche  theologische  Literatur  konnte  aber  ebensowenig  Ltoatur^ 
wie  anderswo  die  fromme  Neugierde  und  das  Gemüt  der  Slawen  be- 
friedigen und  ihnen  die  früheren  religiösen  Vorstellungen  ersetzen.  Da- 
her finden  wir  allen  Indices  und  Verboten  der  „lügenhaften",  „geheimen", 
„verworfenen"  Bücher  zum  Trotz  eine  ungemein  reichhaltige  und  stark 
verbreitete  apokryphe  Literatur,  die  ihnen  hauptsächlich  vom  Orient,  aber 
auch  vom  Okzident,  vermittelt  wurde. 

Zur  Verbreitung  der  Apokryphen  trug  sehr  viel  die  .Sekte  der  Bogo-  °  3/^^'!;^^ 
milen    bei,    die    gegen    die  Mitte    des    10.  Jahrhunderts    unter    dem   Zaren 
Peter  in  Bulgarien  auftauchte,  durch  fünf  Jahrhunderte   die  Geschichte  der 


20  2  Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 

Balkanslawen  mächtig  beeinflußte  und  auch  im  Abendlande  bis  zu  den 
Pyrenäen  und  dem  Niederrhein  und  selbst  in  England  zahlreiche  An- 
hänger (Manichäer,  Patarener,  Katharer,  Albigenser  usw.)  fand.  Durch 
armenische  und  syrische  Grenzwächter  und  Kolonisten  in  Thrakien  ver- 
mittelte Byzanz  die  Lehren  orientalischer  Sekten,  namentlich  der  Pauli- 
kianer,  die  den  Manichäismus  ins  Land  brachten.  Der  Polemist  Kozma 
beschuldigt  einen  Popen  Bogumil  als  Urheber  der  „manichäischen  Häresie", 
doch  wir  wissen  nicht,  inwieweit  er  die  nach  ihm  genannte  Sekte  organi- 
siert hat,  da  sich  ihre  Lehre  im  fortwährenden  Fluß  befand  und  uns  zum 
Teil  nur  aus  byzantinischen  und  späteren  lateinischen  Quellen  (über  Bos- 
nien, Dalmatien,  Slawonien)  bekannt  ist.  Nach  Kozma  führten  die  Bogo- 
milen  ein  sehr  strenges  und  ernstes  Leben,  verwarfen  den  üblichen  Gottes- 
dienst, die  Hierarchie  und  das  ganze  Alte  Testament,  waren  stolz  auf  ihre 
Bücherweisheit  und  Kenntnis  zukünftiger  Dinge,  verbreiteten  neue  Lehren 
und  Fabeln,  verdammten  die  Reichen  und  predigten  Ungehorsam  gegen 
die  Boljaren  und  den  Zaren  samt  seinen  Beamten.  Wir  sehen  darin  An- 
klänge an  die  altslawische  Demokratie  und  einen  Protest  gegen  die  unter 
Peter  byzantinisierte  Kirche  und  den  byzantinisierten  Feudalstaat.  Diese 
Opposition  bekam  durch  die  byzantinische  Herrschaft  noch  neue  Nahrung. 
Übrigens  finden  wir  schon  am  Ende  des  lo.  Jahrhunderts  eine  Spal- 
tung: die  bulgarische  Kirche  näherte  sich  mehr  dem  christlichen  Stand- 
punkte, die  Drag'ovicer  Kirche  in  Makedonien  hielt  sich  strenger  an  die 
paulikianische  Lehre.  Die  ursprünglich  nationale  Sekte  wirkte  zersetzend 
auf  die  südslawischen  Staaten,  und  beim  Vordringen  der  Türken  wurden 
ihre  in  Bulgarien  und  Bosnien  verfolgten  Anhänger  zu  Volksverrätern. 
Der  mohammedanische  Adel  in  Bosnien  und  Herzegowina  hat  meist  bogo- 
milische  Vorfahren.  Die  Reste  der  Paulikianer  in  Bulgarien  wurden  im 
I  7.  Jahrhundert  katholisch. 

Es  ist  schwer  zu  bestimmen,  welche  Apokryphen  direkt  auf  die 
Bogomilen  zurückgehen.  Auch  die  Bestimmung  des  Alters  und  der 
Herkunft  der  kirchenslawischen  Apokryphen  gehört  zu  den  wichtigsten 
Fragen  der  Zukunft.  Auf  jeden  Fall  stammt  der  größte  Teil  von  den 
Südslawen  und  aus  dieser  Periode.  Darunter  gibt  es  mehrere,  deren 
griechisches  Original  nicht  bekannt  ist.  Zu  den  ältesten  Übersetzungen 
gehört  das  Nikodemus-Evangelium  nach  einer  lateinischen  Vorlage;  für 
spätere  Übersetzungen  kommen  auch  andere  abendländische  Quellen  in 
Betracht. 
Prosa-  Die  Leidenschaft  der  Byzantiner,  Verse  zu  machen,  eigneten  sich  die 

Slawen  nicht  an.  Dafür  fanden  aber  von  den  mittelalterlichen  Prosa- 
dichtungen ihren  Weg  auch  zu  ihnen  der  Alexanderroman  des  Pseudo- 
Kallisthenes  (Redaktion  B')  und  die  orientalischen  Erzählungen  von  Bar- 
laam  und  Joasaph,  Stephanites  und  Ichnilates,  die  in  griechischer  Fassung 
unbekannte  Geschichte  vom  „weisen  Akyrios"  (hebr.  Achikar,  arab.  Haikar), 
die    Sagen    von    Salomon    und    Kitovras    und    vom    babylonischen    Reich. 


A.  Die  Literatur  in  der  kirchenslawischen  Sprache.     I.  Die  altkirchensla^rische  Periode.      203 

Die    byzantinische    Kaisersage    ist    durch    die    Revelation    des   Methodios 
„von  Patara"  vertreten. 

Schon  zu  Methods  Zeiten    hatte    die  slawische  Liturgie   auch  bei   den  DieaitsiawUche 

.  .  Kircbensprache 

Kroaten  der  adnatischen  Küste  festen  Fuß  gefaßt,  wo  sie  vom  Bistum  bei  den  Kroatien 
Spalato  bis  an  die  Grenzen  der  Slowenen  in  Istrien  noch  heute  als  ein  in 
der  römischen  Kirche  einzig  dastehendes  Privilegium  ein  allerdings 
kümmerliches  Dasein  fristet.  Vorübergehend  war  sie  eine  Bundes- 
genossin Roms  gegen  die  zu  Photius  haltenden  dalmatinischen  Bischöfe, 
die  ihr  nach  ihrer  Aussöhnung  mit  dem  Papste  den  heftigsten  Krieg  er- 
klärten. Doch  konnten  sie  die  Beschlüsse  der  Synoden  von  Spalato  (925, 
928,  1059/60)  nicht  vernichten,  denn  selbst  Gregor  VII.  wagte  an  den 
Grenzen  des  byzantinischen  Einflusses  keine  gefährlichen  Experimente. 
Ausdrücklich  wurde  sie  auch  nie  verboten,  wohl  aber  durch  Innocenz  IV. 
1248  anerkannt.  Um  diese  Zeit  war  schon  der  römische  Ritus  durch- 
geführt; dementsprechend  wurden  auch  allmählich  Änderungen  der  glago- 
litischen Kirchenbücher  nach  dem  Texte  der  Vulgata  vorgenommen.  Die 
dialektischen  Eigentümlichkeiten  der  serbokroatischen  Sprache  fanden 
ebenfalls  schon  bis  zum  13.  Jahrhundert  Eingang.  Das  älteste  Denkmal 
dieser  Sprache  ist  eine  glagolitische  Inschrift  der  Kirche  der  heiligen 
Lucia  bei  Baäka  auf  Veglia  (1100).  Die  allgemeine  Literatursprache  des 
Abendlandes  herrschte  jedoch  auch  in  Kroatien,  denn  alle  erhaltenen  Ur- 
kunden seiner  nationalen  Fürsten  und  Könige  sind  lateinisch  geschrieben. 

Die  slawische  Kirchen-  und  Schriftsprache  fand  dauernde  Ausbreitung  SchiuSbetrach- 

tuiigen  über  das 

fast    bei   allen  Balkanslawen;   nur   die  romanischen   Städte    des   alten  Dal-     aitkircheo- 

slawische 

matien  und  teilweise  auch  ihre  slawischen  Gebiete,  namentlich  die  des  Schrifttum. 
Erzbistums  Ragusa, '  entzogen  sich  diesem  Einfluß.  Ein  Jahrhundert  nach 
ihrer  Begründung  kam  sie  auch  nach  Rußland,  das  noch  lange  die 
literarischen  Erzeugnisse  der  Südslawen  bezog,  seit  dem  13.  Jahr- 
hundert aber  ihnen  auch  die  seinigen  lieferte;  diesen  Wechselverkehr 
vermittelten  namentlich  Athos  und  Konstantinopel.  Bei  einer  so  großen 
Verbreitung  nahm  die  gemeinsame  Schriftsprache  seit  dem  11.  Jahr- 
hundert überall  lokale  Eigentümlichkeiten  an.  Die  literarische  Einheit 
erhielt  jedoch  einen  großen  Riß  durch  die  definitive  Kirchenspaltung  im 
II.  Jahrhundert,  doch  hörte  der  Wechselverkehr  zwischen  den  Anhängern 
der  griechischen  und  römischen  Kirche  auch  nach  dieser  Zeit  nicht  ganz  auf. 
Die  altkirchenslawische  Sprache  trug  wesentlich  zur  Ausbreitung  und 
Stärkung  der  christlichen  Zivilisation  bei;  durch  sie  erhielten  die  Süd- 
slawen einen  bedeutenden  Vorsprung  vor  anderen  Völkern  des  Südostens, 
ihre  nationale  Unabhängigkeit  fand  an  ihr  eine  bedeutende  Stütze.  Für 
die  Wissenschaft  bildet  sie  heute  den  Ausgangspunkt  jeglichen  Studiums 
der  slawischen  Sprachen,  denn  sie  ist  drei  bis  vier  Jahrhunderte  vor 
anderen  Slawinen  aufgezeichnet  worden.  Bis  zur  Reformation  bildete  sie 
neben  der  lateinischen  und  griechischen  die  einzige  liturgische  Sprache 
Europas;  an   Alter  und  Bedeutung  ihrer  literarischen  Denkmäler  steht  sie 


204 


Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 


zwar  hinter  den  liturgischen  Sprachen  des  Orients  zurück,  doch  kann  sich 
keine  derselben  mit  ihr  messen,  was  ihre  Verbreitung  und  den  Umfang 
ihrer  Literatur  anbelangt,  namentlich  der  übersetzten,  die  nicht  bloß  für 
textkritische  Studien  der  griechischen  Originale  von  Bedeutung  ist,  son- 
dern uns  manche  sogar  allein  erhalten  hat.  Man  kann  dieser  Übersetzungs- 
literatur trotz  aller  Schwächen  auch  die  Bewunderung  nicht  versagen, 
wenn  man  bedenkt,  wie  lange  die  lateinische  Kirche  brauchte,  um  reden 
zu  lernen.  Dagegen  ist  es  verkehrt,  von  einem  besonderen  slawischen 
Kulturtypus  neben  dem  griechischen  und  lateinischen  des  Mittelalters  zu 
sprechen,  denn  die  Slawen  haben  einfach  die  durch  fortwährende  Orientali- 
sierung  entstellte  und  absterbende  Kultur  von  Byzanz  übernommen.  Und 
selbst  von  der  byzantinischen  Mumie  haben  sie  nur  Bruchstücke  erhalten, 
dabei  aber  auch  die  Abneigung  gegen  die  „Lateiner",  so  daß  mit  dem 
Falle  von  Konstantinopel  für  sie  schon  alle  Kulturquellen  versiegten.  So 
wurde  die  Kirchensprache  für  die  orthodoxen  Slawen  allmählich  aus 
einem  vSegen  zum  Fluch,  ein  Organ  des  Rückstandes  und  Rückschrittes; 
jeder  Fortschritt  der  Nationalsprachen  und  einer  wirklich  slawischen  Kultur 
auf  Grundlage  der  allgemein-europäischen  wurde  durch  den  Kampf  gegen 
sie  und  durch  ihre  endgültige  Zurückdrängung  in  die  Kirche  (im  19.  Jahr- 
hundert!), durch  die  Emanzipation  vom  Orient  und  durch  die  Annäherung 
an  den  Okzident  erreicht. 

Mjtteibuipi-  IL    Das    kirchenslawische    Schrifttum    seit    dem    12.  Jahrhun- 

riscbe  Literatur.  r^     .         ,  -ht«      i  it  ■•i-äci  t-ij 

dert.  Seit  dem  Niedergange  der  byzantinischen  Macht  gegen  Lnde  des 
12.  Jahrhunderts  wurden  in  den  neuen  slawischen  Balkanstaaten  abermals 
günstige  Bedingungen  für  die  kirchenslawische  Literatur  geschaffen,  die 
sich  inhaltlich  ganz  in  den  alten  Geleisen  fortbewegte  und  nur  durch  dia- 
lektische Merkmale  ihre  Herkunft  verrät. 

So  hat  auch  der  Ausdruck  „mittelbulgarische"  Literatur  hauptsächlich 
sprachliche  Bedeutung.  Das  wieder  aufgerichtete  bulgarische  Reich  (1186 
bis  1393)  mit  dem  Sitze  in  Trnovo  erhielt  jedoch  erst  im  Zaren  Joann 
Alexander  (1331  — 1365)  abermals  einen  mächtigen  Förderer  der  Literatur, 
für  den  auch  künstlerisch  reich  ausgestattete  Werke  geschrieben  wurden, 
und  erreichte  vor  seiner  Vernichtung  durch  die  Türken  eine  beachtens- 
werte Stufe  geistiger  Kultur,  die  mit  den  religiösen  Strömungen  des 
byzantinischen  Reiches  in  innigstem  Zusammenhange  steht.  Namentlich 
das  Hesychastentum  fand  von  Athos  aus  sofort  Eingang  in  Bulgarien; 
sein  Begründer  Gregorios  Sinaites  begab  sich  auf  einige  Zeit  sogar  unter 
den  Schutz  des  Zaren  Joann  Alexander  und  fand  daselbst  bedeutende 
Schüler.  Die  Mystik  der  Hesychasten,  die  allerdings  durch  starken  Aske- 
tismus entstellt  wurde,  siegte  über  die  rührigen  Bogomilen  und  andere 
Sekten;  ihr  Vertreter  war  auch  der  letzte  Patriarch  von  Trnovo,  Euthymij 
(seit  ungefähr  1373),  zugleich  der  bedeutendste  Schriftsteller  der  ganzen 
mittelbulgarischen   Periode.     Euthymij    übersetzte   liturgische    Bücher  (u.  a. 


A.  Die  Literatur  in  der  kirchenslawischen  Sprache.     II.   Das  kirchenslawische  Schrifttum.      205 

die  Liturgie  des  Johannes  Chrysostomos  und  des  hl.  Jakob)  und  schrieb 
Lobreden,  Legenden,  Offizien  bulgarischer  und  griechischer  Heiliger, 
namentlich  solcher,  deren  Reliquien  die  neuen  Zaren  nach  Trnovo  ge- 
bracht hatten,  und  Sendschreiben  über  religiöse  Fragen.  Er  hielt  sich  in 
jeder  Hinsicht  streng  an  die  zeitgenössischen  byzantinischen  Mu.ster  und 
ahmte  ihre  gekünstelte  Rhetorik  so  sklavisch  nach,  daß  seine  kirchen- 
slawische Sprache  wie  eine  Kopie  der  griechischen  erscheint.  Von  dem- 
selben Geiste  war  auch  seine  Reform  der  Kirchenbücher  getragen,  deren 
Orthographie  und  Sprache  er  überdies  archaisierte.  Diese  unvolkstüm- 
lichen Bestrebungen  gelang'ten  durch  bulgarische  Flüchtlinge  in  Serbien, 
in  der  Moldau  und  Walachei,  besonders  aber  in  Rußland  zur  Geltung: 
einer  von  ihnen,  Camblak,  gehört  sogar  der  Literatur  aller  dieser  Länder  an. 

Bulgarien  hat  auch  in  dieser  Periode  zahlreiche  Übersetzungen  auf- 
zuweisen, die  hauptsächlich  dem  Gebiete  der  Asketik  und  Mystik  ange- 
hören. Viele  „Übersetzungen"  sind  aber  nur  Modernisierungen  der  alten 
im  Geiste  des  Euthymij,  der  aber  schon  Vorgänger  hatte.  Das  älteste 
Denkmal  ist  ein  121 1  übersetztes  Synodikon  des  Zaren  Boril,  das  gegen 
die  Irrlehren  gerichtet  ist  und  erst  im  14.  Jahrhundert  Zusätze  über  bul- 
garische Zaren,  Zarinnen,  Patriarchen,  Bischöfe  und  Boljaren  erhalten  hat. 
Sonst  ist  für  das  geschichtliche  Interesse  wichtig  der  Umstand,  daß  ein 
für  den  Zaren  Joann  Alexander  1345  geschriebener  Kodex  neben  der  neu 
übersetzten  Chronik  des  Manasse  (mit  wertvollen  Illustrationen  zur  bul- 
garischen Geschichte)  auch  eine  trojanische  Sage  enthält,  die  nach  einer 
lateinischen  oder  italienischen  Vorlage  mit  Zügen  mittelalterlicher  Romantik 
bei  den  Kroaten  am  Quarnero  übersetzt  worden  ist.  Immerhin  haben  wir 
auch  wichtige  Bruchstücke  einer  bulgarischen  Chronik  aus  dieser  Periode. 

Den  wichtigsten  Mittelpunkt  erhielt  die  kirchenslawische  Literatur  am  ^l"  kirchen 
Ausgang  des  Mittelalters  in  Serbien,  das  seit  dem  14.  Jahrhundert  auch  Literatur 
die  christliche  Vormacht  der  Balkanhalbinsel  bildete  und  Bulgarien  über- 
lebte, denn  nach  der  verhängnisvollen  Schlacht  am  Kosovo  polje  (138g) 
bot  es  als  türkischer  und  seit  1 403  auch  als  ungarischer  Vasallenstaat  der 
Literatur  und  Kunst  noch  eine  hervorragende  Zufluchtstätte,  bis  es  zu 
einer  türkischen  Provinz  wurde  (1459).  Aber  auch  nach  dieser  Zeit  be- 
wahrten die  Serben  besser  das  alte  Erbe  als  die  Bulgaren,  denn  die  ser- 
bischen Flüchtlinge  in  Ungarn  und  Slawonien  erfreuten  sich  einer  privi- 
legierten Stellung  und  die  Klöster  der  Fruska  gora,  die  meistens  aus  dem 
16.  Jahrhundert  herrühren,  wurden  zu  einem  serbischen   Athos. 

Der  eigentliche  Begründer  des  serbischen  Staates,  Stefan  Nemanja, 
der  dessen  Mittelpunkt  von  der  Adria  nach  Rascien  (heute  Novi  pazar) 
verlegte,  wurde  in  Ribnica  (bei  Podgorica  in  Montenegro)  katholisch  ge- 
tauft (1122  oder  1123),  erhob  aber  aus  politischen  Gründen  die  Orthodoxie 
zur  Staatsreligion  und  starb  (1200)  als  Mönch  Symeon  auf  dem  Athos, 
wohin  er  seinem  jüngsten  Sohne  Sava  gefolgt  war.  Sein  ältester  Sohn 
und  Nachfolger,  Stefan  der  Erstgekrönte,  holte  sich  aber  noch  immer  die 


Serbi< 


2o6  Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 

Königskrone  aus  Rom  (12 17),  während  Sava  in  Nikaea  zum  autokephalen 
Erzbischof  von  Serbien  geweiht  wurde  (12 19)  und  als  tüchtiger  Organi- 
sator der  Orthodoxie  endgültig  zum  Siege  verhalf.  Symeon  und  Sava 
gründeten  auf  dem  Athos  das  Kloster  Chilandar,  das  noch  unter  den 
Türken  längere  Zeit  den  geistigen  Mittelpunkt  des  serbischen  Volkes 
bildete.  Die  übrigen  Kulturzentren  (Klöster,  Bischofsstühle,  Residenzen 
der  Könige  und  Zaren)  lagen  in  Altserbien  und  in  den  umliegenden  Ge- 
bieten; auch  der  Sitz  des  serbischen  Patriarchats  (seit  1346)  Pec  (Ipek)  ist 
heute  auf  albanesischem  Boden  zu  suchen.  Von  ihrem  Stammlande  aus 
richteten  die  serbischen  Herrscher  ihre  Blicke  hauptsächlich  nach  dem 
Südosten  —  Zar  Dusan  wollte  sogar  Byzanz  erobern  —  so  daß  Makedonien 
auch  seine  serbische  Kulturperiode  hatte.  Erst  nach  der  Schlacht  an  der 
Marica  (137 1)  gelangte  der  Mittelpunkt  des  serbischen  Staatswesens  in 
das  heutige  südliche  Serbien  und  endlich  im  15.  Jahrhundert  an  die  Donau 
(Belgrad,  Smederevo). 

Dieser  Vergangenheit  entsprechend  ist  die  serbische  Kultur  nicht  ein- 
heitlich, denn  starke  abendländische  Einflüsse  blieben  im  Lande  immer 
mächtig.  Das  gilt  namentlich  von  der  kirchlichen  Architektur  und  Malerei, 
auf  welchen  Gebieten  eigentlich  erst  das  unselbständige  Serbien  ganz 
byzantinisch  wurde.  Von  der  größten  Wichtigkeit  ist  diese  Tatsache  für 
alle  Erzeugnisse  des  Volksgeistes.  Die  geschriebene  Literatur  ist  natur- 
gemäß byzantinisch,  wurde  aber  einfach  fertig  aus  Bulgarien  und  Make- 
donien herübergenommen.  Die  serbische  Redaktion  der  Bücher  entstand 
allmählich  und  ist  durchaus  nicht  das  Werk  des  ersten  bekannten  ser- 
bischen Schriftstellers,  des  hl.  Sava. 

Ihre  Abhängigkeit  vom  Athos  verrät  die  serbische  Literatur  durch 
ihren  ganz  mönchischen,  namentlich  asketischen  Charakter.  Auffällig  ist 
auch  eine  besondere  Bevorzugung  der  Mönche  von  Syrien,  speziell  des 
Sabbasklosters  bei  Jerusalem  und  des  Berges  Sinai.  Erzbischof  Nikodim 
führte  auch  das  gottesdienstliche  Typikon  von  Jerusalem  ein  (131g),  das 
wie  alles  Südslawische  seinen  Weg  nach  Rußland  fand.  Das  reiche  hand- 
schriftliche Übersetzungsmaterial  serbischer  Redaktion  wurde  noch  wenig" 
gewürdigt,  namentlich  für  die  theologische  Literatur  der  Byzantiner,  und 
die  Frage,  was  speziell  in  Serbien  übersetzt  worden  ist,  kann  nicht  ge- 
nügend beantwortet  werden.  Von  den  Übertragungen  byzantinischer 
Chroniken  gehört  die  des  Zonaras  hierher.  Poetische  Leistungen  der 
Byzantiner,  wie  das  Lehrgedicht  Spaneas  und  die  Menandersentenzen, 
wurden  auch  jetzt,  wahrscheinlich  in  Makedonien,  ihres  künstlerischen 
Gewandes  entkleidet. 

Selbständige  Leistungen  hat  vSerbien  auf  dem  Gebiete  der  Hagio- 
graphie,  in  den  Lebensbeschreibungen  seiner  Herrscher  und  Erzbischöfe, 
die  aber  ihrem  Charakter  nach  auch  zur  Hagiographie  gehören  und  nur 
in  Ermangelung  besserer  Quellen  historisch  wertvoll  sind,  in  der  Annalistik, 
Gesetzgebung  und  Grammatik  aufzuweisen.    Die  besten  Biographien  sind  die 


A.  Die  Literatur  in  der  kirchenslawischen  Sprache.     II.  Das  kirchenslawische  Schrifttum.      207 

erste  und  letzte.  Sava  schildert  schlicht,  natürlich  und  mit  Angabe  histori- 
scher Daten  das  Leben  seines  Vaters,  während  schon  sein  gekrönter  Bruder 
Stefan  denselben  Gegenstand  ganz  legendarisch  behandelt  und  durch  An- 
häufung von  Zitaten  und  Phrasen  anschwellen  läßt.  Den  engsten  Anschluß 
an  die  byzantinischen  Muster  verrät  Konstantins  von  Kostenec  (mit  dem 
Beinamen  der  Philosoph)  Biographie  des  Despoten  Stefan  Lazarevic  (ge- 
schrieben 1431/32),  die  sprachlich  zwar  ungenießbar  ist,  inhaltlich  aber  die 
bedeutendste  historische  Leistung  der  Südslawen  repräsentiert.  Derselbe 
Konstantin  brachte  aus  Bulgarien  auch  die  reformatorischen  .sprachlichen 
Bestrebungen  des  Euthymij,  die  er  in  einem  ausführlichen  Traktat  verewigte. 
Charakteristisch  für  die  serbischen  Verhältnisse  ist  das  einheimische  und 
mitteleuropäische  Elemente  enthaltende  Gesetzbuch  des  Zaren  Stefan  Duäan 
aus  dem  Jahre  1349,  bei  dessen  Abfassung  als  Muster  wahrscheinlich  nicht 
so  sehr  die  systematisch  angelegten  Nomokanones  samt  dem  darin  ent- 
haltenen weltlichen  Recht  der  Byzantiner  als  die  Statuten  der  Städte  des 
adriatischen  Küstenlandes  dienten. 

Einen  Pufferstaat  zwischen  Orient  und  Okzident  bildete  Bosnien  (mit  Bosnien. 
Herzegowina),  in  dem  meist  die  beiden  Kirchen  feindliche  Sekte  der 
Bogomilen  (Patarener)  herrschte.  Ihnen  haben  wir  altertümliche,  auf  gla- 
golitische Quellen  zurückgehende  cyrillische  Texte  des  Neuen  Testamentes 
und  der  Psalmen  zu  verdanken,  denn  wie  in  manchen  anderen  Punkten 
näherten  sie  sich  auch  in  der  Anerkennung  einzelner  Bestandteile  des 
Alten  Testaments  ihren  abendländischen  Genossen.  Der  Cyrillismus  in 
Bosnien  ging  seine  eigenen  Wege  und  bewahrte  auch  eine  altertümliche 
Orthographie,  doch  die  Sprache  der  bosnischen  Urkunden  —  die  älteste 
und  zugleich  erste  cyrillische,  stammt  aus  dem  Jahre  1189  —  und  In- 
schriften ist  sehr  volkstümlich,  was  auch  bezüglich  der  slawischen  Kor- 
respondenz der  Ragusaner  gilt.  Die  eigenartige  bosnische  cyrillische 
Schrift  war  auch  bei  den  Katholiken  des  Landes,  in  den  österreichischen 
Grenzgebieten   und   teilweise    in  Dalmatien  bis   ins    18.  Jahrhundert  üblich. 

Die  Periode  vom  1 3.  bis  1 5.  Jahrhundert  ist  auch  die  Blütezeit  der  Glagolitische 
glagolitischen  Literatur  der  nordwestlichen  Kroaten  an  der  Adria.  Ihre  Kroaten. 
Trägerin,  die  slawische  Liturgie  innerhalb  der  römischen  Kirche,  drang 
aus  den  Küstengebieten  sogar  in  das  Innere  von  Kroatien  und  in  die 
nordwestlichen  Gegenden  Bosniens  vor;  auch  in  den  küstenländischen 
slowenischen  Gebieten  und  selbst  in  Krain  war  sie  sporadisch  vertreten. 
Karl  IV.  bevölkerte  das  von  ihm  gegründete  (i347)"'Emauskloster  in  Prag 
mit  kroatischen  Benediktinern,  die  auch  nach  Krakau  geholt  wurden  (1390). 
Diese  Episoden  blieben  jedoch  ohne  Bedeutung.  Nur  ein  1395  in  Prag' 
geschriebener  glagolitischer  Evangelientext  brachte  es  zu  einer  großen 
Berühmtheit:  mit  einer  älteren  cyrillischen  Handschrift  zusammengebunden 
kam  er  über  Konstantinopel  nach  Rheims,  wo  die  französischen  Könige 
auf  diesen  geheimnisvollen    Texte  Ja  sacre  den  Krönungseid  leisteten. 

Die  Handschriften   und    ältesten  Drucke    liturgischer  Bücher   (Missale 


2o8  Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 

in  Venedig  1483)  sind  wichtig  für  das  Studium  der  altkirchenslawischen 
Texte  und  ihrer  Sprache.  Der  Wechselverkehr  mit  den  Balkanslawen 
wurde  auch  durch  die  Kirchenspaltung  nicht  ganz  unterbrochen,  denn  wir 
finden  bei  den  Kroaten  auf  Makedonien  zurückgehende  Handschriften, 
wichtige  Apokryphen,  darunter  eine  dem  bulgarischen  Popen  Jeremija 
zugeschriebene  Sammlung,  den  weisen  Akyrios  u.  ä.  Die  Literatur  befand 
sich  auch  hier  fast  ausschließlich  in  den  Händen  der  Geistlichkeit,  aber 
mehr  in  den  der  weltlichen,  und  beschränkte  sich  auf  Kompilationen  und 
Übersetzungen  (natürlich  aus  dem  Lateinischen)  von  Ordensregeln,  Legen- 
den ,  Moralisationen ,  Traktaten ,  Sendschreiben  (auch  apokryphen)  und 
Predigten,  sowie  auf  Handbücher  für  Geistliche.  Beachtenswert  sind 
Kirchengesänge  in  achtsilbigen  Versen  mit  Reimpaaren  und  in  Zwölf- 
silbern,  die  durch  paarweise  Binnen-  und  Endreime  gebunden  sind.  In 
diesen  Gedichten  herrscht  schon  ganz  die  Volkssprache,  die  auch  sonst 
die  kirchenslawischen  Elemente  immer  mehr  verdrängt. 

Besondere  Wichtigkeit  für  die  Sprachgeschichte  und  das  Volksleben 
haben  zahlreiche  Privaturkunden  und  Rechtsdenkmäler,  die  neben  den 
lateinischen  und  italienischen  Statuten  dalmatinischer  Städte  Beachtung 
verdienen.  Das  älteste  erhaltene  ist  das  Statut  von  Vinodol  im  kroatischen 
Küstenlande  (1288),  das  ein  schönes  Beispiel  bietet,  wie  Gewohnheitsrecht 
von  der  Bevölkerung  selbst  kodifiziert  wird.  Sogar  Orte  unter  öster- 
reichischer Herrschaft,  wie  Kastav,  Veprinac  und  Trsat,  weisen  solche 
Denkmäler  auf.  In  bosnischer  cyrillischer  Schrift  ist  das  Statut  von 
Poljica  (südlich  von  Spalato)  geschrieben,  das  sich  ausdrücklich  kroatisch 
nennt. 

Die  westliche  Literatur  ist  durch  Übersetzungen  einer  romantischen 
Trojasage  (s.  mittelbulg.  Literatur),  der  Visio  Tundali,  des  Liicidarius  (aus 
dem  Böhmischen)  und  des  Buches  des  weisen  Cato  vertreten. 

Aus  den  westlichen  Gebieten  der  Kroaten  und  Serben  stammen  noch 
ein  Alexanderroman,  in  dem  der  Welteroberer  als  christlicher  Held  er- 
scheint, die  „Sage  vom  indischen  Reich"  (Epistel  des  Presbyters  Johannes) 
und  die  Ritterromane  von  Tristan  und  Buovo  d'Antona  (Bueves  d'Hanstone). 
Die  drei  letzten  Werke  sind  aber  nur  in  der  russischen  Literatur  erhalten, 
der  also  auch  ihre  westeuropäischen  Stoffe  zuerst  durch  die  Südslawen 
vermittelt  wurden. 

Im  15.  Jahrhundert  wurden  die  slawischen  Balkanstaaten  vernichtet 
(zuletzt  Bosnien  1463,  Herzegowina  1483),  im  16.  Jahrhundert  gelangten 
selbst  Slawonien  und  der  größte  Teil  des  dalmatinischen  Festlandes  unter 
die  Herrschaft  der  Türken,  nur  von  Kroatien  blieben  größere  Reste  übrig. 
Die  Türkenzeit  hatte  schwerwiegende  Folgen  auch  für  das  geistige  Leben 
der  Südslawen.  Die  Literatur  verlor  die  Stütze  des  Adels  und  der  Fürsten, 
von  den  letzten  Literaten  wanderten  mehrere  nach  Rußland  aus;  die  ortho- 
doxen Klöster  erfüllten  noch  einige  Zeit  ihre  literarische  Mission  und 
machten  sich  sogar  in  der  südöstlichen  Herzegowina  die  Buchdruckerei  zu 


A.   Die  Literatur    in    der   kirchenslawischen  Sprache.     II.   Das  liirchenslawische  Schrifttum.       20Q 

eigen  (angeblich  der  erste  cyrillische,  aber  unbekannte  Druck,  ein  Horolo- 
gium,  wurde  in  Venedig  1493,  der  zweite,  ein  Oktoich,  1494  in  Cetinje  her- 
gestellt), aber  sie  verarmten  bald  oder  verschwanden  ganz.  Zum  Türkenjoch 
kam  aber  das  vielleicht  noch  schlimmere  der  ohnehin  zum  geistigen  Still- 
stande verurteilten  griechischen  Kirche,  denn  der  Phanar  machte  mit  der 
Pforte  gute  Geschäfte  auf  Kosten  seiner  meist  slawischen  Ausbeoitungsobjekte 
und  erwirkte  zuletzt  nicht  bloß  die  Vernichtung  des  serbischen  Patriarchates 
von  Ipek,  sondern  auch  der  gräzisierten  autokephalen  Kirche  von  Ochrida 
(1767).  Ein  Glück  war  es  für  die  Balkanslawen,  daß  die  Griechen  wegen 
des  großen  Unterschiedes  zwischen  ihrer  künstlich  konservierten  Literatur- 
und  der  Umgangssprache  keine  besondere  Assimilationsfähigkeit  besaßen. 
Die  Türken  selbst  verfolgten  mit  besonderem  Mißtrauen  die  Katholiken 
wegen  ihrer  Zugehörigkeit  zur  abendländischen  Christenheit  und  hinderten 
nach  Kräften  den  Zufluß  europäischer  Bildungsmittel,  so  daß  z.  B.  die  auch 
für  die  türkischen  Slawen  bestimmten  cyrillischen  und  glagolitischen 
Drucke  der  Protestanten  fast  gar  nicht  über  die  Grenzen  gekommen  sind. 
Einheimische  Leistungen  haben  nur  die  bosnischen  Franziskaner  aufzu- 
weisen, deren  Erbauungsschriften  in  Italien  gedruckt  wurden.  Die  ortho- 
doxen Serben  und  Bulgaren  richteten  aber  ihre  Blicke  nach  Rußland,  das 
ihnen  durch  Büchersendungen  und  andere  fromme  Gaben  die  Dienste,  die 
sie  sich  für  die  Grundlage  seiner  Kultur  erworben  hatten,  vergalt. 

Die  Türkenherrschaft  bedeutet  anderseits  für  die  große  Mehrzahl  der 
Südslawen  eine  ethnographische  Rekreation.  Die  Türken  brachten  aller- 
dings eine  ganz  verschiedenartige,  nicht  geringe  Kultur,  die  sich  nament- 
lich in  zahlreichen  türkischen  Fremdwörtern  und  in  den  arabischen  und 
persischen  Elementen  der  Volksliteratur,  besonders  in  der  sinnlichen  Glut 
und  Farbenpracht  der  mohammedanischen  Volkslyrik  äußert,  aber  sie  ent- 
nationalisierten nicht  gewaltsam,  vielmehr  wurden  die  eingewanderten 
Osmanen  namentlich  in  den  bosnisch-kroatischen  Grenzgebieten  slawisiert, 
und  mengten  sich  überhaupt  in  das  Leben  der  Raja  nicht  ein.  Daher 
konnte  sogar  eine  Rückkehr  zu  jenen  Sitten  und  Gebräuchen  erfolgen, 
welche  die  mittelalterliche  Gesetzgebung  und  Staatsgewalt  bekämpften. 
Durch  diese  Verhältnisse  und  durch  die  zahlreichen  Wanderungen,  nament- 
lich der  Serben,  nach  dem  Norden  und  Westen,  wurden  auch  die  kul- 
turellen Unterschiede  verwischt,  was  viel  zur  ethnischen  Einheit  der 
Kroaten  und  Serben  beitrug. 

Die    Kriege    und    die    fortwährenden    Grenzkämpfe    mit    den    Türken   Das  epische 

1-111  1  *  r-  Zeitalter  der 

bilden  aber  auch  das  epische  Zeitalter  aller  Südslawen,  dem  selbst  die  sudsiawea 
Slowenen  ihre  schönsten  Balladen  zu  verdanken  haben.  Mit  den  ersten 
Zusammenstößen  in  Makedonien  beginnt  die  mündlich  erhaltene  Helden- 
sage der  Serben  und  Bulgaren,  ihre  Stoffe  und  Lieder  wandern  mit  der 
Verlegung  der  Kampfplätze  nach  dem  Norden  und  Westen,  und  die  groß- 
artige Volksepik  der  Serben  und  Kroaten  erhält  ihre  hohe  künstlerische 
Ausbildung   durch   die  Verbindung   mit   romanischen  Kulturelementen  der 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9.  14 


2IO  Matthias  Murko;    Die  südslawischen  Literaturen. 

westlichen  Gebiete,  aus  denen  sie  wieder  nach  den  östlichen  zurückflutet. 
Das  Volkslied  einigt  sogar  die  Bekenner  der  drei  Religionen,  denn  es 
bietet  nicht  bloß  dieselbe  Sprache  und  Form,  sondern  auch  den  gleichen 
Inhalt,  allerdings  in  verschiedener  Beleuchtung.  Für  das  Studium  des 
Werdens  und  der  Lebensbedingungen  der  Volksepik  bietet  das  schönste 
Beispiel  das  konservative  Epos  der  bosnischen  Mohammedaner. 


B.    Die  Literatur  in  den  Nationalsprachen  und  unter  dem  Einfluß 
des  Abendlandes. 

I.  Altere  Periode  (bis  zum  Aufklärungszeitalter).  Mit  dem  Anbruch 
der  Neuzeit  trat  auch  bei  den  Südslawen  ein  großer  Umschwung  auf 
geistigem  Gebiete  ein,  denn  Humanismus  und  Renaissance,  Reformation 
und  Gegenreformation  übten  in  den  westlichen  und  nordwestlichen  Gebieten 
eine  große  Wirkung  auf  sie  aus:  die  Grundlagen  der  modernen  Kultur 
fanden  aus  dem  Okzident  bald  ihren  Weg  dahin,  die  Volkssprache  kam 
zur  Herrschaft  und  so  wurde  erst  die  Möglichkeit  für  nationale  Literaturen 
auf  südslawischem  Boden  geschaffen.  Diese  Errungenschaften  blieben  ur- 
sprünglich allerdings  auf  die  Anhänger  der  römischen  Kirche  beschränkt, 
doch  machte  sich  ihr  Einfluß  allmählich  auch  bei  denen  der  griechischen 
geltend,  die  dann  im  Zeitalter  der  Aufklärung  und  Romantik  vollständig 
dem  europäischen  Kulturleben  zugeführt  wurden. 

Da  ganz  Dalmatien  im  lebhaftesten  Verkehr  mit  Italien  stand,  so 
nahm  es  auch  an  seiner  Kulturentwicklung  starken  Anteil;  so  wurden 
z.  B.  die  ersten  Klöster  des  populären  Franziskanerordens,  der  sich  für 
die  Balkanslawen  in  den  Türkenzeiten  besondere  Verdienste  erwarb,  in 
Dalmatien  von  seinem  Stifter  selbst  gegründet.  Immerhin  fand  Italiens 
Einführung  der  „Vulgärsprache"  in  die  Literatur  nicht  sofort  Nachahmung, 
denn  die  ostadriatischen  Küstengebiete  hatten  ja  ihre  slawische  Kirchen- 
sprache in  glagolitischer  und  cyrillischer  Schrift;  die  eigentlichen  Sitze 
der  Kultur,  die  Städte,  sprachen  aber  noch  ihren  besonderen  romanischen 
Dialekt  und  wurden  erst  gegen  Ausgang  des  Mittelalters  durch  ihre  Um- 
gebung vollständig  slawisiert.  Für  die  geistigen  Bedürfnisse  dieser  städti- 
schen slawischen  Bevölkerung  begann  man  nun  die  Volkssprache  in 
lateinischer  Schrift  zu  schreiben.  Ein  derartiges  Lektionar,  das  nut- 
wendigste Handbuch  der  Geistlichkeit,  können  wir  bis  ins  1 4.  Jahrhundert 
verfolgen;  im  Jahre  1495  erschien  es  als  das  erste,  in  der  „Gotik"  ge- 
druckte Buch.  Die  Buchdruckerkunst  und  die  von  ihr  getragene  mäch- 
tige geistige  Bewegung  förderten  überhaupt  die  Ausbreitung  der  lateini- 
schen Schrift,  der  zuerst  die  glagolitische  Schrift  der  Kroaten,  die  natio- 
nalste von  den  „nationalen"  Alphabeten  Europas,  zum  Opfer  fiel  und  auf 
die  liturgischen  Bücher  beschränkt  wurde. 

Dalmatien    hatte    wie    Italien    blühende    Munizipien,    von    denen    sich 


B.  Die  Literatur  in  den  Natiomilsprachen.     I.  Altere  Periode.  2  I  I 

namentlich  Nona,  Zara,  Sebenico,  Trau,  Spalato,  Lesina  und  Cattaro  einen 
Ehrenplatz  in  der  südslawischen  Literaturgeschichte  sicherten.  In  der 
ersten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  befanden  sich  bereits  alle  diese  Städte 
unter  der  Herrschaft  Venedigs,  das  mit  seinen  Beamten  auch  die  italie- 
nische Sprache  importierte,  die  aber  erst  allmählich  zur  Umgangssprache 
wurde,  denn  im  16.  Jahrhundert  sprach  man  zu  Hause  noch  überall  slawisch. 
So  wird  trotz  der  Herrschaft  der  lateinischen  und  italienischen  Sprache 
im  öffentlichen  Leben  die  Pflege  einer  slawischen  Literatur  begreiflich, 
denn  auch  die  Patrizier  gaben  ihren  innigsten  Gefühlen  in  der  Mutter- 
sprache Ausdruck,  namentlich  wenn  sie  sich  an  die  Frauen  wendeten,  die 
also  auch  in  der  Entwicklung  der  südslawischen  Literatur  eine  bedeutende 
Rolle  spielen.  Immerhin  wurden  die  slawischen  Musen  in  den  oberdalma- 
tinischen Städten  meist  bereits  im  1 7.  Jahrhundert  zum  Schweigen  ge- 
bracht, wozu  die  fortschreitende  Italianisierung  derselben  besonders  viel 
beitrug. 

Die  stärkste  und  dauerndste  Pflege  fand  aber  die  serbokroatische  Kagusa. 
Literatur  in  Ragusa  (slawisch  Dubrovnik),  die  schönsten  Blüten  trieb  die 
Kunstdichtung  in  diesem  ,,südslawischen  Athen".  Unter  byzantinischer 
(bis  1205),  venezianischer  (bis  1358),  ungarischer  (bis  1526)  und  türkischer 
(bis  1806)  Oberhoheit  entwickelte  sich  im  südlichen  Dalmatien  eine  zwar 
kleine  (in  ihrer  Glanzperiode  zählte  sie  1587  ungefähr  30000  Einwohner), 
aber  reiche  Adelsrepublik,  die  den  ganzen  Handel  der  Balkanländer  mit 
dem  Abendlande  vermittelte,  die  Konkurrenz  mit  dem  übermächtigen 
Venedig  aushielt  und  selbst  in  der  Türkenzeit  durch  kluge  Politik  ihre 
Freiheit  bewahrte,  so  daß  sie  das  einzige  christliche  Staatswesen  auf  dem 
Balkan  blieb.  Diese  Stadt,  deren  Bewohner  noch  im  13.  Jahrhundert 
schlecht  slawisch  sprachen,  bildete  sich,  obgleich  auch  hier  Lateinisch  und 
Italienisch  das  öffentliche  Leben  beherrschten,  am  meisten  zu  einem  slawi- 
schen Gemeinwesen  aus  und  bewahrte  diesen  Charakter  bis  zur  Vernich- 
tung ihrer  Freiheit  durch  die  Franzosen  (1806). 

Man  spricht  mit  Recht  von  einer  dalmatinisch-ragusanischen  Literatur,  Daimatinisch- 

ragusanische 

die  durch  Sprache,  Form  und  Ideen  em  Ganzes  bildet,  aber  nicht  einheit-  Literatur. 
lieh  ist,  denn  sie  repräsentiert  einen  langen  Entwicklungsgang  des  mensch- 
lichen Geistes  vom  Ausgange  des  Mittelalters  bis  zu  den  Ideen  des 
18.  Jahrhunderts;  doch  ihren  eigentlichen  Ruhm  bildet  die  Zeit  der 
Renaissance,  die  unter  italienischer  Einwirkung  in  ganz  Dalmatien  früher 
(um  1500)  begann,  als  in  irgend  einem  Lande,  den  bedeutendsten  Ver- 
treter in  Ragusa  aber  erst  im  17.  Jahrhundert  hervorbrachte.  Dieser  Re- 
naissance auf  dem  verhältnismäßig  kleinen  dalmatinischen,  speziell  ragu- 
sanischen  Gebiete  hat  unter  den  slawischen  Literaturen  nur  die  polnische 
etwas  Ahnliches  an  die  Seite  zu  stellen. 

Auch  die  südslawische  Renaissance  geht  mit  dem  Humanismus  einher.  Hamamsmas  in 
Im  15.  und  16.  Jahrhundert  gab  es  von  Istrien  bis  Budua  (der  südlichsten  ^Kroatien"" 
Spitze  Dalmatiens)  und  auch   in  Kroatien  und  Slawonien  zahlreiche  Lieb- 

14* 


2  12  Matthias  Murko  :    Die  südslawischen  Literaturen. 

haber  des  klassischen  Altertums,  die  häufig  unmittelbare  Schüler  der  her- 
vorragendsten italienischen  Humanisten  waren  und  sich  auch  die  Würde 
eines  poeta  laureatus  aus  Italien  geholt  hatten;  viele  von  ihnen  wirkten 
wenigstens  vorübergehend  als  Professoren  und  Rektoren  in  Italien,  selbst 
die  Sorbonne,  I.öwen  und  deutsche  Universitäten  (Matthias  Garbitius  Illy- 
ricus  in  Tübingen)  hatten  südslawische  Lehrer;  die  Humanisten,  deren  sich 
der  ungarische  König  Matthias  Corvinus  für  seine  wissenschaftlichen  Be- 
strebungen bediente,  stammten  meist  aus  Dalmatien  und  Kroatien.  Über- 
haupt finden  wir  Südslawen  (auch  aus  Bosnien)  auf  verschiedenen  Gebieten 
des  staatlichen  Lebens,  der  Wissenschaft  und  Kunst  zu  Hause  und  in  der 
Fremde  in  hervorragender  Weise  tätig;  sogar  der  Verfasser  der  ersten 
italienischen  Grammatik  (15 16),  Fortunio,  war  ein  dalmatinischer  „Schia- 
vone".  Naturgemäß  waren  namentlich  die  ersten  Vertreter  der  Türken- 
literatur Südslawen,  von  denen  der  bedeutendste,  Bartholomäus  Georgijevic, 
aus  dem  südwestlichen  Kroatien  stammte.  Auf  ihre  „illyrische"  (die 
Wiederbelebung  dieses  und  anderer  klassischen  Namen  beginnt  im 
1 5.  Jahrhundert  und  geht  auf  die  Humanisten  zurück)  Herkunft  waren  die 
meisten  Humanisten  stolz;  manche  wollten  echte  Nachkommen  der  Römer 
sein  und  den  „scythicus  sermo"  ihrer  Vaterstadt  verdrängen,  wie  der 
Ragusaner  Aelius  Lampridius  Cerva  (1463 — 1520),  der  als  Schüler  des 
Julius  Pomponius  Laetus  im  22.  Lebensjahre  in  Rom  zum  Dichter  gekrönt 
wurde  und  unter  dem  Beifall  der  Kardinäle  die  Komödien  des  Plautus 
erklärte;  viele  brachten  aber  der  einheimischen  Sprache  und  Volksliteratur 
große  Liebe  entgegen,  wie  Georgius  Sisgoreus  aus  Sebenico,  der  die 
Silvae  des  Statins  vor  Poliziano  nachahmte  und  uns  eine  begeisterte 
Schilderung  der  slawischen  Volkslieder  und  Gebräuche  hinterließ  (De  situ 
Illyriae  et  civitate  Sibenici  a.  1487);  andere  schrieben  lateinisch  und  sla- 
wisch, ja  es  gibt  Dichter  und  Schriftsteller,  die  sich  überdies  noch  der 
italienischen  Sprache  bedienten. 

Der  Humanismus  bekam  zwar  durch  die  Jesuiten  und  andere  Ordens- 
schulen einen  anderen  Inhalt,  doch  behauptete  sich  die  lateinische  Sprache 
in  Dalmatien  und  Kroatien  sogar  als  Organ  der  Poesie  bis  ins  iq.  Jahr- 
hundert viel  zäher  als  anderswo.  Ragusa  lieferte  noch  im  1 8.  Jahrhundert 
einen  würdigen  Schüler  des  Lukrez,  Benedikt  Stay,  der  die  Philosophie 
des  Cartesius  (erste  Ausgabe  1744)  und  Newtons  (1755,  vollendet  17Q2) 
in  Verse  brachte,  und  während  Voß  den  Homer  verdeutschte,  übertrugen 
die  Ragusaner  R.  Kunic  die  Ilias  und  B.  Zamagna  die  Odyssee  noch  ein- 
mal in  die  lateinische  Sprache;  diese  Übersetzungen,  wie  die  anderer 
griechischer  Dichter,  erfreuen  sich  allerdings  der  Wertschätzung  der 
Philologen.  Eine  Gesamtdarstellung  des  südslawischen  Humanismus  wäre 
eine  verdienstvolle  Tat  und  die  Agramer  Akademie  wird  ihren  „alten 
kroatischen  Srhriftstollern"  wohl  bald  eine  Sammlung  „Scriptores  latini 
Slavorum  meridionalium"  hinzufügen  müssen,  denn  namentlich  die  poetischen 
Leistungen  der  älteren  Humanisten  sind  meist  nur  in  Handschriften  zerstreut. 


B.  Die  Literatur  in  den  Nationalsprachen.     I.  Ältere   Periode.  2 1 3 

Als    „Vater    der    kroatischen    Literatur"    wird    der    Spalatiner    Marko  Anfanger  der 

'Kunstdichtung 

Marulic  gepriesen,  dessen  lipos  Judita  1501  vollendet  und  1521  zum  in  SpaUto. 
erstenmal  gedruckt  wurde;  doch  beruft  sich  er  selbst  auf  Vorgänger,  und 
mittelalterliche  Kirchengesänge  wurden  schon  erwähnt.  Marulic  war  ein 
Polyhistor,  der  durch  seine  moralphilosophischen  Schriften,  besonders 
durch  das  Werk  „De  institutione  bene  beateque  vivendi"  (gedruckt  1511 
und  noch  neunmal,  übersetzt  ins  Deutsche,  Französische,  Italienische, 
Spanische  und  Böhmische)  einen  Weltruf  genoß.  Seiner  Gesinnung  nach 
steckt  er  noch  im  Mittelalter  als  tief  fühlender  Mystiker,  während  er  in 
seinen  kroatischen  Gedichten  als  trefflicher  Realist  erscheint,  also  eine 
echt  slaw'ische  Mischung  repräsentiert.  Die  biblische  Geschichte  der 
Judith  (ebenso  die  der  Susanna)  „schmückte"  er  (nach  eigenem  Geständnis) 
durch  zahlreiche  gelungene  Zusätze  aus  und  gab  ihr  eine  antitürkische 
Tendenz  (das  erste  deutsche  Drama  dieser  Art  erschien  1544).  Den  In- 
halt seiner  lateinischen  Werke  gab  er  durch  populäre  slawische  Gedichte 
wieder,  die  zum  Teil  direkt  für  seine  Schwester  und  andere  Nonnen  des 
Benediktinerinnenklosters  in  Trau  bestimmt  waren.  Daneben  dichtete  er 
aber  schon  recht  lustige  Faschingsscherze  (Contrasti). 

Zur  Zeit  Marulics  gab  es  in  Spalato  und  Trau  schon  geistliche  Geistliche 
Schauspiele,  meist  Übersetzungen  italienischer  Rappresentazioni  (slawisch 
prikazanja);  einfachere  Mysterien  dürften  älter  sein  und  aus  mehr  nörd- 
lichen Gebieten  stammen.  Besonders  gepflegt  wurde  das  geistliche  Schau- 
spiel noch  im  1 7.  Jahrhundert  auf  Lesina,  wo  es  nicht  wie  in  Italien  für 
Höfe,  sondern  für  das  Volk  bestimmt  war,  für  dessen  Felder  und  Wein- 
gärten der  Engel  im  Epilog  Gottes  Segen  erbittet.  In  Ragusa  zeigt  da- 
gegen die  Bearbeitung  ähnlicher  biblischer  Stoffe  schon  zu  Beginn  des 
1 6.  Jahrhunderts  den  Charakter  des  Kunstdramas. 

Einen  Abklatsch  der  Liebeslyrik  der  Ritter  der  Provence  finden  wir  Troubadoure  in 
am  Ausgang  des  Mittelalters  auch  in  Dalmatien.  Dem  Ende  des  15.  Jahr- 
hunderts gehören  noch  die  „ersten  Sänger"  von  Ragusa  an,  Sisko  Men- 
cetic(i457— 1527)  und  Gjore  Drzic,  echte  Troubadoure  (nicht  Petrarchisten), 
deren  formvollendete  und  geschmeidige  Sprache  jedoch  schon  eine  längere 
Vorbereitungsperiode  voraussetzt.  Ähnlich  müssen  die  Verhältnisse  auch 
in  anderen  Städten  gewesen  sein,  denn  Dichternamen  werden  mehrfach 
auch  aus  Oberdalmatien  überliefert,  und  auf  Lesina  finden  wir  einen  her- 
vorragenden Petrarchisten,  H.  Lucic,  dessen  Dichtungen  1505 — 1515  in 
Trau  entstanden  sind.  Natürlich  nimmt  sich  die  Ritterpoesie  im  Munde 
des  ragusanischen  Patriziers  und  Bürgers  —  die  beiden  Dioskuren  sind 
auch  ihrem  Stande  nach  vorbildlich  für  die  übrigen  Dichter  Ragusas  — 
noch  sonderbarer  aus  als  an  den  italienischen  Höfen.  Auf  dieser  Grundlage 
und  unter  dem  Einfluß  Petrarcas  entwickelte  sich  die  Liebeslyrik  in  Ragusa 
weiter,  bekommt  dann  einen  klassizistischen  Einschlag  und  findet  in  Dinko 
Ranjina,  dessen  „Verschiedene  Lieder"  1563  in  Florenz  erschienen,  und  in 
Dinko  Zlataric  Vertreter,  die  schon  ganz  den  klassischen  Mustern  folgen. 


214 


Matthias  Muuko:    Die  südslawischen  Literatui- 


Die  daiuiati-  Einen   ähnlichen  Entwicklungsgang   finden   wir   auf  allen  übrigen  Ge- 

lische  Literatur  bieten.  Beachteuswert  ist  es,  wie  früh  die  bedeutendsten  Muster  in  Dal- 
rnatien  Nachahmung  fanden.  So  kam  die  Karnevalsdichtung  aus  Florenz 
gleich  nach  Ragusa,  Sannazaros  Arcadia  (1502)  wurde  von  dem  Zaratiner 
Zoranic  in  den  Planinc  (1536)  früher  nachgeahmt  als  in  irgend  einer 
Literatur,  Torquato  Tassos  Schäferspiel  Aminta  wurde  in  einer  gelungenen 
Übersetzung  (unter  dem  Titel  Ljubmir)  des  Ragusaners  Dinko  Zlataric 
ein  Jahr  früher  gedruckt  (1580)  als  das  Original,  auch  Guarinis  Pastor  fido 
wurde  zum  erstenmal  bereits  1592  von  dem  Ragusaner  Lukarevic  über- 
setzt. Daneben  bemerken  wir  aber  in  der  dalmatinischen  Renaissance 
auch  einen  starken  Konservatismus,  der  sich  namentlich  in  der  Form 
äußert.  Die  Kunstdichtung  beginnt  mit  dem  bereits  aus  den  Kirchen- 
gesängen bekannten,  durch  paarweise  Binnen-  und  Endreime  den  Dichter 
beengenden  Zwölfsilber,  dessen  Herkunft  noch  nicht  klargestellt  ist,  und 
mit  dem  Achtsilber  (der  Rhythmus  ist  in  beiden  überwiegend  trochäisch), 
die  fast  alleinherrschend  blieben,  auch  in  den  Übersetzungen  aus  dem 
Italienischen.  Es  darf  allerdings  nicht  übersehen  werden,  daß  auch  andere 
Verse  (vom  Fünf-  bis  Sechzehnsilber),  Reimstellungen  und  künstliche 
Strophenformen  vorkommen,  sogar  in  den  volkstümlichen  geistlichen 
Schauspielen. 

Die  dalmatinischen  Schüler  der  Italiener  haben  ihre  Eigenart  in  der 
Poesie  stark  zur  Geltung  gebracht  und  übertreffen  ihre  Lehrer  häufig 
durch  erfreulichen  Realismus  und  Humor.  So  schrieb  gleich  zu  Beginn 
des  16.  Jahrhunderts  der  Ragusaner  Goldschmied  A.  Cubranovic  ein  oft 
nachgeahmtes  Faschingsgedicht  Jegjiipka  (Agj-pterin  =  Zigeunerin),  die 
mit  dem  italienischen  Muster  nur  den  äußeren  Rahmen  gemeinsam  hat, 
sonst  aber  ungleich  schöner  ausgefallen  ist  und  eine  ragusanischen  Frauen 
weissagende  echte  Zigeunerin  darstellt,  die  der  Dichter  zuletzt  dazu  be- 
nutzt, um  der  von  ihm  angebeteten  Frau  die  Liebe  zu  erklären.  Ebenso 
überragt  P.  Hektorovic  (aus  Lesina)  mit  seinem  Ribai/jc  (gedruckt  1568) 
die  italienischen  Fischeridyllen  durch  lebenswahre  Schilderung  dreier  mit 
Fischern  zugebrachter  Tage,  aus  deren  Munde  er  die  ersten  Volkslieder 
(sogar  mit  Noten)  aufgezeichnet  hat.  Die  Schäferspiele  wurden  in  Ragusa 
aus  Tragödien  zu  Komödien,  die  sich  durch  humoristischen  Realismus  aus- 
zeichnen und  im  Hirtenkostüm  die  Liebesdichtung  geradezu  persiflieren. 
Die  höchste  Stufe  erreichte  hierin  Marin  Drzic,  wohl  der  bedeutendste 
Dichter  Ragusas  im  16.  Jahrhundert,  der  auch  als  Nachahmer  der  plauti- 
nischen  Komödie,  in  welcher  er  den  Dienern  die  Hauptrolle  im  Gegen- 
satz zu  den  Italienern  wiedergab,  den  damaligen  italienischen  Komödien- 
dichtern durchaus  gewachsen  war.  In  keiner  italienischen  Stadt,  selbst 
nicht  in  Florenz  und  Venedig,  finden  wir  eine  solche  Fülle  von  lokalen 
Anspielungen.  Auf  diese  Weise  wurden  sogar  in  Übersetzungen  nicht 
bloß  die  Namen  nationalisiert. 

Dagegen  konnte  der  auf  das  Positive  gerichtete  Sinn  der  Dalmatiner 


B.  Die  Literatur  in  den  Nationalsprachen.     I.  Altere  Periode.  2  1 5 

Dantes  Adlerflug-  in  die  Höhen  dichterischer  Phantasie  nicht  mitmachen. 
Immerhin  verdient  Beachtung  das  allegorische  Epos  Pclegrin,  eine  Dar- 
stellung des  Menschen  in  den  drei  Zuständen  der  Sünde,  Besserung  und 
Vervollkommnung,  des  Ragusaner  Benediktiners  Mavro  Vetranic,  einer 
vielseitigen  dichterischen  Individualität,  eines  Zeitgenossen  der  ersten 
Troubadoure,  dem  aber  das  klassische  Altertum  bereits  eine  unerschöpf- 
liche Quelle  der  Poesie  bot.  Auffällig  ist  auch  der  mosaikartige  Charakter 
mancher  Nachahmungen  (z.  B.  Zoranics  Planine),  worin  aber  die  Italiener 
ebenfalls  als  Muster  dienten.  In  der  pseudoklassischen  Tragödie  blieben 
die  Ragusaner  allzusehr  von  ihnen  abhängig-. 

Das  17.  Jahrhundert,  das  schon  stark  von  der  jesuitischen  Schul- 
bildung und  dem  Marinismus  beeinflußt  war,  gab  dem  Slawentum  den 
größten  Dichter  vor  dem  19.  Jahrhundert  in  dem  Ragusaner  Ivan  Gun- 
dulic  {1588 — 1638).  Besonderen  Ruhm  sicherte  er  sich  durch  das  letzte 
und  beste  Hirtenspiel  Diibravka  (1628),  das  einen  Hymnus  auf  die  Frei- 
heit Ragusas  bildet.  Die  reiche  dalmatinische  Türkenliteratur  erreichte 
den  Höhepunkt  in  seinem  christlichen  romantischen  Epos  Osmrii,  das 
dem  Ideal  eines  solchen  näher  steht  als  sein  Vorbild,  Tassos  „Befreites 
Jerusalem".  Der  auch  mit  der  südslawischen  Volkspoesie  genau  vertraute 
Dichter  gibt  im  knappen  achtsilbigen  Metrum  eine  historisch  wahre  und 
psychologisch  tiefe ,  ungemein  poetische  Schilderung  der  Niederlage 
Osmans  bei  Chocim  (162 1)  durch  den  polnischen  Königssohn  Vladislav 
und  seines  darauffolgenden  Sturzes.  Der  strenge  Katholik,  bei  dem  die 
Liebe  eines  christlichen  Helden  zu  einer  Heidin  ausgeschlossen  war,  hat 
den  türkischen  Geist  so  tief  aufgefaßt,  wie  kein  Dichter  vor  und  wenige 
nach  ihm.  Auch  in  dem  Urteil  über  den  Untergang  Griechenlands  steht 
er  viel  höher  als  Tasso. 

Ein  Nachfolger  Gundulics  ist  Gjon  Palmotic  (1606 — 1657),  der  als 
der  fruchtbarste  ragusanische  Dramatiker  hervorragt  und  noch  mehr  durch 
seine  Krisfijiidi:,  eine  auf  die  Hebung  der  religiösen  Gefühle  berechnete 
Nachdichtung  der  humanistischen  Christias  des  M.H.Vida,  berühmt  geworden 
ist.  Der  letzte  große  Dichter  Ragusas  ist  Ignjat  Gjorgjic  (1675 — 1737)' 
ursprünglich  Jesuit,  dann  Benediktiner,  der  vorher  Liebeslieder  gesungen 
hatte  und  dann  die  fast  bei  allen  Dichtern  obligate  religiöse  Lyrik  durch 
seine  „Seufzer  der  Büßerin  Magdalena"  und  seine  Nachdichtung  des 
ganzen  Psalters  würdig  abgeschlossen  hat.  Sein  Spottlied  „Marunko"  ist 
ein  gelungenes  Beispiel  der  heroisch-komischen  Dichtung.  Er  führte  die 
Ballade  in  Ragusa  ein  und  gebrauchte  zuerst  die  Muttersprache  für 
wissenschaftliche  Prosa,  in  der  man  sich  immer  der  lateinischen  oder 
italienischen  Sprache  bediente. 

Viel  stärker    machte    sich    im   17.  und    18.  Jahrhundert    der  Geist    der  Wirkungende 

,  Gegenreforraa 

Gegenreformation   in  der  Poesie  des  übrigen  Dalmatien  geltend,   obgleich         tion. 
sie  unter  dem  Einfluß  Ragnsas  stand.    So  dichtete  der  Curzolaner  P.  Kana- 
velic  eine  religiös-romantische  Epopöe  von  monströsem  Umfang  über  das 


2i5  Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 

Leben  des  heiligen  Ivan  von  Trau;  der  Spalatiner  J.  Kavanjin  be- 
handelte in  ähnlicher  Weise  die  Geschichte  vom  armen  Lazarus  mit  vielen 
Exkursen  über  kroatische  Könige  und  Helden.  Umdichtungen  von  Legenden, 
theologische  Erbauungsschriften  und  Psalmen  finden  wir  außerhalb  Spalatos 
noch  auf  Brazza,  Lissa  und  in  Sebenico.  Auch  geistliche  Schauspiele  sind 
aus  verschiedenen  Orten  bezeugt.  Weltliche  Dichtungen  über  das  Erd- 
beben von  Ragusa  und  die  Befreiung  Wiens,  sowie  zu  Ehren  des  Polen- 
königs Johann  Sobieski  und  des  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  haben  nur 
historischen  Wert.  Den  Helden  von  Siget,  Nikola  Zrinjski,  besang  schon 
1584  (nach  18  Jahren!)  der  Zaratiner  B.  Karnarutic,  der  im  17.  und 
18.  Jahrhundert  einige  Nachfolger  im  Barockstil  fand. 

Aus  denselben  Ursachen  wie  in  Italien  folgte  auch  in  Dalmatien  der 
Renaissance  ein  geistiger  Rückgang;  er  wurde  nur  noch  verstärkt  durch 
die  Italianisierung  der  venezianischen  Städte,  namentlich  aber  durch  die 
Vernichtung  des  Wohlstandes  Ragusas,  das  sich  von  dem  großen  Erd- 
beben 1667  nie  mehr  erholen  und  die  Konkurrenz  mit  den  großen  abend- 
ländischen Handelsstaaten  nicht  aushalten  konnte.  Iminerhin  wirkten  in 
Ragusa  die  guten  literarischen  Traditionen  bis  ins  ly.  Jahrhundert  fort; 
schon  in  der  ersten  Hälfte  des  i8.  Jahrhunderts  wurden  daselbst  fast  alle 
Stücke  Molieres  in  Prosa  übersetzt,  beziehungsweise  bearbeitet  und  stark 
lokalisiert;  ebenso  wählte  man  auch  später  die  besten  Werke  der  fran- 
zösischen und  italienischen  Dramatik,  während  selbst  Agram  noch  kein 
Theater  hatte  oder  sich  mit  Bearbeitungen  untergeordneter  deutscher 
Stücke  begnügte. 

Die  unmittelbaren  Wirkungen  der  dalmatinisch-ragusanischen  Literatur 
waren  durch  die  politischen  Verhältnisse  auf  ein  enges  Gebiet  beschränkt. 
Überdies  wurden  ihre  Werke  zum  großen  Teil  bis  ins  i8.  Jahrhundert  nur 
handschriftlich  verbreitet,  und  gerade  einige  der  besten  blieben  ungedruckt 
(z.  B.  Gundulics  Osman  erschien  ganz  erst  182b).  Daran  war  vor  allem 
der  Umstand  schuld,  daß  es  in  ganz  Dalmatien  noch  keine  Druckerei  gab; 
Venedig  hinderte  in  seinen  Gebieten  diese  und  andere  Bildungsmittel  aus 
egoistischen  Gründen,  Ragusa  wälzte  aber  die  Verantwortlichkeit  für  die 
Zensur  vor  dem  türkischen  Suzerän  von  sich  ab  und  ließ  seine  Bücher, 
die  den  Türken  häufig  nicht  genehm  sein  konnten,  in  Italien  drucken. 
Berechnet  war  aber  diese  Literatur  für  alle  Südslawen,  speziell  für  die 
auf  dem  Balkan,  von  dem  namentlich  die  Ragusaner  Handelsleute  sehr  gute 
Vorstellungen  hatten ;  in  der  Tat  übte  sie  auf  Bosnien,  Kroatien,  Slawonien, 
ja  sogar  auf  weiter  im  Osten  gelegene  Gebiete  eine  viel  größere  Wirkung 
aus,  als  man  gewöhnlich  meint,  und  die  Periode  der  „kroatischen  Wieder- 
geburt" oder  des  „lUyrismus"  im  ly.  Jahrhundert  beruht  zum  größten  Teil 
auf  ihr.  In  dieser  südslawischen  Kunstdichtung  begegnen  wir  aber  auch 
allerdings  unklaren  panslawistischen  Anschauungen,  wie  sie  bei  den  übrigen 
Slawen  jener  Zeit  nur  in  Chroniken  und  lexikalisch-grammatischen  Arbeiten 
vorkommen.     Und  nicht  genug  kann  die  in  der  romantischen  Begeisterung- 


B.   Die    Literatur  in  den   Nationalsprachcn.      I.   Altere   Periode.  2  17 

tiir  das  Volkstum  ganz  übersehene  Tatsache  betont  werden,  daß  die  hohe 
geistige  Kultur  der  dalmatinischen  Städte  den  größten  Einfluß  auf  die 
gesamte  mündliche  Volksliteratur  der  Südslawen  ausgeübt,  wie  umgekehrt 
die  Kunstdichtung  von  ihr  sehr  viele  Elemente  angenommen  hat; 

Wie  überall  wirkte  auch  bei  den  Südslawen  die  Reformation  belebend  Kc.tormation. 
auf  die  Nationalsprachen,  ja  die  Slowenen,  die  seit  dem  lo.  Jahrhundert 
wieder  im  15.  kleine  sprachliche  Denkmäler  aufzuweisen  haben,  verdanken 
ihr  die  Begründung  ihrer  („neuslowenischen")  Schriftsprache  und  Literatur. 
Dank  den  starken  Beziehungen  der  innerösteri;eichischen  Länder  zu 
Deutschland  fand  die  neue  Lehre  auch  auf  slowenischem  Sprachboden 
große  Anhängerschaft  unter  dem  Adel,  in  den  Städten  und  bei  der  niederen 
Geistlichkeit.  Zu  ihrer  Befestigung  und  Weiterverbreitung  bediente  man 
sich  der  Volkssprache.  Der  Prediger  Primus  Trüber  (geb.  1508  in 
Rasica  in  Unterkrain,  starb  als  Pfarrer  von  Derendingen  in  Württern-  , 
berg  1586)  flüchtete  aus  Laibach  nach  Württemberg  (1548),  wo  er  unter 
Patronanz  seines  Landsmannes  Michael  Tiffernus,  des  Kanzlers  des  Herzogs 
Christoph,  und  des  kroatischen  Humanisten  Matthias  Garbitius  lUyricus  ein 
Abecedarium  und  einen  Katechismus  mit  Erklärungen  in  Versen  drucken 
konnte  (1550,  nur  diese  in  deutscher  Schrift,  alle  späteren  in  der  latei- 
nischen). Die  Mittel  für  die  Fortsetzung  dieses  Werkes  sammelte  Peter 
Paul  Vergerius,  der  gewesene  Bischof  von  Capodistria,  dann  nahmen  sich 
der  Sache  die  Stände  von  Steiermark,  Kärnten  und  Krain  und  mit  be- 
sonderem Eifer  der  gewesene  steirische  Landeshauptmann  Baron  Johann 
Ungnad  aus  Kärnten  an,  der  in  Urach  und  Tübingen  eine  Druckerei  für 
südslawische  Bücher,  speziell  auch  für  glagolitische  und  cyrillische,  er- 
richtete. Die  slowenischen  Protestanten  wollten  nämlich  mit  Unterstützung- 
deutscher  Fürsten  und  Städte  nicht  bloß  die  katholischen  und  orthodoxen 
Kroaten,  Serben  und  Bulgaren,  sondern  auch  die  konnationalen  „Türken" 
auf  dem  ganzen  Balkan  bekehren. 

Den  Slowenen  brachte  diese  Bewegung  einzelne  Bücher  der  Heiligen  pie  protestan- 
Schrift,  Kirchenordnungen,  Katechismen,  Postillen  (Spangenberg,  Luther),  der  Slowenen. 
geistliche  Gesangbücher,  den  ersten  Kalender,  das  ganze  Neue  Testament 
(1582)  von  Trüber,  die  ganze  Bibel  „aus  den  Brunnquellen  der  Original- 
sprachen" von  Georg  Dalmatin,  die  erste  Grammatik  (Arcticae  horulae, 
beide  Wittenberg  1584)  mit  einem  weiten  Ausblick  über  die  slawischen 
Sprachen  von  Adam  Bohoric,  einem  Schüler  Melanchthons,  und  das 
erste  Wörterbuch  des  deutschen  Historiographen  Hieronymus  Megiser 
(Dictionarium  quattuor  linguarum,  Graz  1592).  Unter  die  geistlichen 
Lieder  fanden  auch  katholische  und  volkstümliche  Aufnahme,  Spottlieder 
gegen  die  katholische  Geistlichkeit  werden  erwähnt,  Anfänge  weltlicher 
Poesie  findet  man  in  dem  letzten,  ebenfalls  in  Tübingen  gedruckten 
Buche  (1595),  in  J.  Snojlsiks  Übersetzung  des  Llitherschen  Katechismus 
des  Philipp  Barbatus.  Um  1600  war  die  Gegenreformation  unter  den 
Slowenen  schon  durchgeführt,  eine  große  Menge  Bücher  wurden  in  diesem 


2i8  Matthias  Mirko:    Die  südslawischen  Literaturen. 

und  im  folgenden  Jahre  verbrannt.  Sogar  Bohorics  Grammatik  wurde 
verboten,  nur  die  Bibel  Dalmatins  durften  Geistliche  mit  besonderer  Be- 
willigaing  gebrauchen.  Dadurch  eigneten  sich  auch  alle  katholischen 
Schriftsteller  die  protestantischen  Grundlagen  der  aus  Unterkrain  stam- 
menden Schriftsprache  an.  Ein  Katechismus  des  Cisterciensers  Leonhard 
Pachenecker  erschien  schon  1574  in  Graz. 
Die  protestanti.  Nur    propagandistischen    Zwecken    dienten    auch    die    in    Urach    und 

für  die  Kroaten  Tübingen  mit  latciulscher,  glagolitischer  und  cyrillischer  Schrift  gedruckten 
serbokroatischen  Bücher  (1561  — 1564),  darunter  das  Neue  Testament  (glago- 
litisch 1562,  cyrillisch  1563).  Die  Leitung  hatte  Trüber,  die  eigentlichen 
Arbeiter  waren  Anton  Dalmatin  und  Stefan  Konzul  aus  Istrien,  die 
aber  seinen  Intentionen,  die  Bücher  der  großen  Mehrzahl  der  Kroaten  und 
Serben  verständlich  zu  machen,  nicht  entsprachen,  denn  sie  legten  auch  den 
cyrillischen  Texten  die  glagolitischen  mit  ihren  nordwestlichen  Lokalismen 
zugrunde.  Ihre  Übersetzung  ist  überdies  keineswegs  einheitlich,  denn  sie 
bedienten  sich  des  lateinisch  gedruckten,  volkstümlichen  Lektionars  und 
des  kirchenslawischen  Missais,  die  fehlenden  Teile  übertrugen  sie  aus  der 
Vulgata  mit  Hilfe  der  slowenischen  Übersetzung  Trubers.  Einige  prote- 
stantische Drucke  wurden  auch  in  Nedeljisce  auf  der  Murinsel  (südwest- 
liches Ungarn)  hergestellt.  Diese  ganze  Tätigkeit  hatte  jedoch  selbst  bei 
den  Kroaten  keinen  unmittelbaren  Erfolg,  obwohl  die  Reformation  bei 
ihnen  viele  offene  und  geheime  Anhänger,  namentlich  in  den  humanisti- 
schen Kreisen,  hatte  und  die  deutsche  Kirche  einen  ihrer  bedeutendsten 
und  streitbarsten  Theologen,  Matthias  Flacius  Illyricus,  aus  Istrien  erhielt. 
GcBcii-  Die  literarische  Tätigkeit  der  Gegenreformation  beschränkte  sich  bei 

den  Slowenen  auf  umfangreiche  Predigtensammlungen  und  Erbauungs- 
schriften. Nur  geistliche  Schauspiele  werden  aus  Krain  und  auch  aus 
Steiermark  (bei  den  Jesuiten  in  Maria  Rast  bei  Marburg"  um  ijotj)  bezeugt. 
Auf  dem  Gebiete  der  Kunst  und  Wissenschaft  erhielt  jedoch  Krain  sehr 
viele  Anregungen  aus  Italien;  z.  B.  gab  es  italienische  Opern  Vorstellungen 
in  Laibach  zehn  Jahre  früher  als  in  Paris.  Ein  treues  Bild  des  damaligen 
slowenischen  Volkslebens  hinterließ  J.  W.  Valvasor  in  seiner  „Ehre  des 
Herzogtums  Krain"  (1689). 

Bedeutend  waren  dagegen  die  Wirkungen  der  Gegenreformation  bei 
den  übrigen  Südslawen,  denn  Rom  selbst  nahm  die  Durchführung  der 
entsprechenden  Beschlüsse  des  Tridentinischen  Konzils  in  Angriff,  um  die 
slawischen  Bücher  der  Häretiker  zu  paralysieren,  den  Katholizismus  in 
der  Türkei  zu  stärken  und  die  „Schismatiker"  in  den  venezianischen,  öster- 
reichischen und  türkischen  Provinzen  zu  gewinnen.  Zu  diesem  Zwecke 
wurden  besondere  illyrische  Kollegien  zur  Heranbildung  der  Geistlichkeit 
in  Rom,  Loretto,  Bologna  gegründet  (die  Ordensgeistlichkeit  bekam  ohnehin 
die  höhere  Bildung  meist  in  Italien),  die  Propaganda  förderte  oder  besorgte 
selbst  die  Herausgabe  der  entsprechenden  Bücher  in  lateinischer,  glagoli- 
tischer und  cyrillischer  Schrift  (seit    1582)    und    schickte    tüchtig    geschulte 


B.   Die   Literatur  in   den   Nationalsprachen.      I.   Ältere   Periode.  2  IQ 

Missionäre  und  Visitatoren  in  die  türkischen  Provinzen.  Im  Vordergrunde 
stehen  auch  hier  die  Jesuiten,  die  namentUch  aus  ihrer  Niederlassung  in 
Ragusa,  gegen  die  sich  der  Senat  lange  wehrte,  einen  Angelpunkt  zur 
Wiedergewinnung  des  Balkans  machen  wollten.  In  Ragusa  fanden  sich 
sogar  Politiker,  welche  meinten,  daß  wie  im  Okzident  die  römische  im 
.slawischen  Grient  die  ragusanische  Sprache  herrschen  sollte.  Diese  uni- 
versalen Bestrebungen  der  katholischen  Kirche  trugen  auch  wesentlich 
zur  Einheit  der  serbokroatischen  Schriftsprache  bei;  denn  wie  in  Süd- 
deutschland die  Jesuiten  Luthers  Sprache  in  ihren  Schulen  lehrten,  so 
wählten  sie  auch  im  slawischen  Süden  den  am  meisten  verbreiteten  Dialekt, 
den  schon  der  erste  Grammatiker  B.  Kasic  (Cassius:  Institutionum  linguae 
illyricae  libri  duo,  Romae  1604),  ein  Jesuit  von  der  Insel  Pago,  in  Bosnien 
suchte,  worin  ihm  andere  Grammatiker  und  die  Lexikographen  (darunter 
waren  Micalia  und  Dellabella  gebürtige  Italiener),  sowie  viele  Schrift- 
steller (namentlich  Gj.  Palmotic)  auch  in  der  Praxis  folgten,  die  alle  den 
bosnischen  Dialekt  für  den  schönsten  hielten;  gebildete  Männer  mußten 
allerdings  an  den  zahlreichen  Italianismen  und  Latinismen  der  dalma- 
tinischen Städte  Anstoß  nehmen  und  an  der  eigenartigen,  jedoch  von  tür- 
kischen Elementen  nicht  freien  Volkssprache  des  Binnenlandes  ihre  Freude 
haben.  Auf  diese  Weise  gewinnen  auch  die  cyrillisch  und  lateinisch  (in 
diesem  Alphabet  zuerst  16 13)  gedruckten  Erbauungsschriften  der  bosnischen 
Franziskaner  erhöhte  Bedeutung.  Da  überdies  die  meisten  Südslawen 
in  der  Türkei  vereinigt  waren,  so  gelangte  die  Literatur  der  adriatischen 
Küstengebiete  und  Bosniens  nach  Slawonien,  das  noch  nach  seiner  Be- 
freiung (169g)  der  bosnischen  Franziskanerprovinz  bis  1757  angehörte,  nach 
Südungarn  und  selbst  bis  nach  Bulgarien,  wo  in  den  Missionsschulen  die- 
selben „illyrischen"  Bücher  gebraucht  wurden.  Sogar  einheimische  Schrift- 
steller in  serbokroatischer  Sprache  hat  Bulgarien  aufzuweisen  (P.  Baksic, 
K.  Pejkic,  F.  Stanislavov).  Bezüglich  der  Volkssprache  machte  Rom 
sogar  auf  rituellem  Gebiete  den  Katholiken  weitgehende  Konzessionen, 
wie  Ritual  rimski  des  erwähnten  Jesuiten  Kasic  (Rom  1640)  beweist,  weil 
viele  Geistliche  der  lateinischen  Sprache  nicht  genügend  mächtig  waren. 
Nur  eine  verkehrte  Maßregel  hatten  die  Unionsbestrebungen  Roms  zur 
Folge,  denn  ihnen  zuliebe  wurden  die  glagolitischen  Kirchenbücher  russi- 
fiziert  (seit  1648,  am  stärksten  das  Missale  von  1741;  erst  1893  wurde 
unter  Leo  XIII.  die  kroatische  Redaktion  wiederhergestellt). 

Etwas  abseits  und  zum  Teil  im  Zusammenhang  mit  Ungarn  stand  die 
Literatur  dieser  Periode  in  den  Resten  Kroatiens.  Unter  den  Dichtern 
finden  wir  zwei  historische  Persönlichkeiten,  die  beiden  in  Wiener 
Neustadt  1671  hingerichteten  kroatischen  Magnaten,  den  Banus  Grafen 
Peter  Zrinjski,  der  in  seiner  Gedichtsammlung  „Adrianskoga  mora 
Sirena"  auch  eine  „Belagerung  Sigets",  eine  Paraphrase  des  magyarischen 
Epos  seines  Bruders  Nikolaus,  hinterließ,  und  seinen  Schwager  Franz 
K.  Frankopan,  der  noch  im  Kerker  verschiedene  Lieder  sang.    Zrinjskis 


2  20  Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaluren. 

ehrgeizige  Gemahlin  Katharina  ist  auch  die  erste  bekannte  Schriftstellerin 
(von  den  Gedichten  der  von  den  Zeitgenossen  viel  gefeierten  Flora  Zuzoric 
aus  Ragusa  ist  nichts  erhalten),  die  ihren  „Reisegefährten"  (Venedig  1661) 
aus  patriotischem  Gram,  daß  es  so  wenige  kroatische  Bücher  gäbe,  drucken 
ließ.  Kroatien  hat  beachtenswerte  lexikographische  (Habdelic,  Belostenec, 
J&mbresic)  und  historische  Arbeiten  aufzuweisen. 
A  Kacic.  Eine    merkwürdige    Blüte    trieb    das  Interesse   für    vaterländische    Ge- 

.  schichte  in  dem  Razgovo'r  iigodni  naroda  sloviiiskoga  (die  älteste  bekannte 
Ausgabe  1759,  die  angeblich  zweite  ist  für  1756  bezeugt)  des  Franzis- 
kaners Andrija  Kacic-Miosic  aus  der  Umgebung  von  Makarska  in 
Dalmatien,  der  seinem  Volke,  das  lateinische  und  italienische  historische 
Werke  nicht  lesen  konnte,  die  Taten  der  „slawischen  Helden"  ganz  im 
Stile  des  serbokroatischen  Volksepos  besang,  auch  einige  echte  Volks- 
lieder aufnahm  (vor  Percy!)  und  dadurch  eines  der  bis  auf  den  heutigen 
Tag  gelesensten  Volksbücher  schuf,  aus  dem  die  Welt  durch  die  Über- 
setzungen Herders  die  ersten  Vorstellungen  von  der  südslawischen  Volks- 
poesie erhielt. 
Anfänge  Jes  Als   in  Österreich   noch    die  Ideen    der   Gegenreformation    herrschten, 

Westeuropa!- 

sehen  Kultur-  wurdcn  die  Serbischen  Ansiedlungen  im  östlichen  Slawonien  und  südlichen 
Serben.  Ungam  durch  die  große  Einwanderung  der  Serben  unter  dem  Patriarchen 
von  Pec,  Arsenije  Camojevic,  der  mit  den  sich  zurückziehenden  kaiser- 
lichen Truppen  gemeinsame  Sache  gemacht  hatte,  verstärkt  und  erhielten 
eine  kirchlich  nationale  Autonomie  (1690);  der  Metropolit  (seit  1848  Patriarch) 
dieser  neuen  serbischen  autokephalen  Kirche  nahm  seinen  Sitz  in  Karlo- 
witz.  Vorübergehend  kam  noch  Serbien  bis  Nis  unter  österreichische 
Verwaltung  (17 18  — 1739).  Auf  diese  Weise  traten  die  Serben  mit  dem 
europäischen  Kulturleben  in  Berührung  und  mußten  nun  auf  die  Sicherung 
ihrer  Religion  und  Nationalität,  die  identische  Begriffe  waren,  bedacht 
sein.  Da  man  für  ihre  geistigen  Bedürfnisse  nicht  rechtzeitig  zu  sorgen 
verstand  (die  erste  Druckerei  wurde  erst  1771  in  Wien  bewilligt)  und  sie 
durch  Unionsbestrebungen  kopfscheu  machte,  so  blieben  ihre  Blicke  auch 
in  Österreich  auf  das  glaubensverwandte  Rußland  gerichtet.  An  die  Kar- 
lowitzer  Lateinschule  kam  1726  Maksim  Suvorov  aus  Moskau  mit  russisch- 
kirchenslawischen Lehrbüchern,  1733  wurden  fünf  Lehrer  aus  Kiew  be- 
rufen. So  wurde  die  lateinisch-polnische  Scholastik  der  Kleinrussen  auch 
zu  den  Serben  gebracht,  und  in  den  Jahren  1730 — 1740  wurde  die  „slaweno- 
serbische  Sprache",  ein  kirchenslawisch-russisch-serbisches  Gemisch,  be- 
gründet, das  einer  normalen  Entwicklung  der  serbischen  Literatur  so  viele 
Hindemisse  bereitete.  Auch  die  Anfänge  der  Kunstdichtung  weisen  pol- 
nisch-russische syUabische  (13)  Verse  auf. 

Das  zeiuuer  O.     Modcmc     Periode.       Fortan    nimmt    Österreich     einen     ent- 

scheidenden   Einfluß    auf   die    kulturelle   Entwicklung    der   Südslawen    und 
mit    dem    Steigen    seines    geistigen    Niveaus    im    Aufklärungszeitalter    be- 


R.  Die   Literatur  in  den  Nationalsprachen.     II.  Moderne   Periode.  22  1 

ginnt  auch  bei  ihnen  neues  Leben.  Die  auf  die  materielle  und  morali- 
sche Hebung  des  Volkes  berechneten  Maßregeln  der  Kaiserin  Maria 
Theresia  und  Josefs  II.  mußte  man  den  breiten  Schichten  mundgerecht 
machen,  und  so  wurden  zahlreiche  volkswirtschaftliche  und  medizinische 
Schriften,  Katechismen  und  allerlei  andere  Lehrbücher  von  der  Regie- 
rung selbst  in  der  Volkssprache  herausgegeben  oder  wenigstens  von 
ihr  angeregt.  Das  Germanisierungssystem  schuf  also  eine  bei  den  Süd- 
slawen bis  dahin  fast  unbekannte  Literatur.  Natürlich  stellten  sich  die 
daran  beteiligten  Männer,  von  denen  viele  große  Bewunderer  Josefs  IT. 
waren,  auch  höhere  Aufgaben,  um  so  mehr,  als  die  literarische  Pro- 
duktion Wiens  den  Provinzen  ein  gutes  Beispiel  bot.  Übrigens  bezog 
man  die  Aufklärungsphilosophie  und  ihre  Literatur  durch  österreichische 
Vermittlung  nicht  bloß  aus  Deutschland,  sondern  auch  direkt  aus  Frank- 
reich und  zum  Teil  über  Italien.  Die  französische  Herrschaft  in  Dalmatien 
und  dann  in  den  „illyrischen  Provinzen"  (1809 — 1813)  wirkte  nur  auf  die 
Slowenen  belebend,  die  patriarchalischen  Kroaten  und  Serben  hatten  für 
ihre  Ideen  wenig  Verständnis.  Die  Literatur  der  Slowenen,  in  Kroatien 
und  Slawonien  sowie  bei  den  österreichischen  Serben  hat  daher  in  der 
zweiten  Hälfte  des  18.  und  zu  Anfang  des  iq.  Jahrhunderts  sehr  viele  ge- 
meinsame Züge,  was  namentlich  durch  Übersetzungen  und  Bearbeitungen 
derselben  Werke  zum  Ausdruck  kommt. 

Die  Slowenen  erhielten  die  Anfänge  der  Kunstpoesie  im  Laibacher  nei 
Almanach  „Pisanice"  (1779 — 1781),  in  dem  man  noch  zwischen  quanti- 
tierender  und  akzentuierender  Metrik  schwankte,  vortrefflich  lokalisierte 
Übersetzungen  zweier  Lustspiele,  die  von  den  Dilettanten  der  besten 
Stände  in  Laibach  1789  aufgeführt  wurden,  darunter  Beaumarchais'  „Hoch- 
zeit des  Figaro"  (gedruckt  1790),  den  Vorboten  der  französischen  Revo- 
lution, von  dem  Historiker  A.  Linhart,  den  ersten  Dichter  V.  Vodnik 
(1758 — 181 9),  einen  Anakreontiker  im  Volkston,  von  ihm  die  erste  Zeitung 
(1797 — 1800),  eine  katholische  Übersetzung  der  Bibel  (1784 — 1802)  von 
J.  Japelj  und  B.  Kumerdej.  Diese  und  andere  Männer  versammelte 
der  hochgebildete  Baron  Sigismund  Zois  um  sich,  der  auch  Vodnik 
die  Weisung  gab,  „im  Volkstone  und  fürs  Volk"  zu  schreiben.  An  diesem 
kleinen  Beispiel  sieht  man  es  besonders  deutlich,  wie  sehr  „die  Wieder- 
geburt" der  slawischen  Völker  schon  ins   18.  Jahrhundert  fällt. 

Bei  den  Kroaten  steht  Slawonien  mit  einigen  aus  der  Lika  in  Bei  de 
Kroatien  stammenden  Schriftstellern  im  Vordergrunde.  Die  charakte- 
ristischeste Erscheinung  ist  der  Grenzeroffizier  Matija  Reljkovic,  der  die 
im  Siebenjährigen  Kriege  in  Preußen  (als  Gefangener  in  Frankfurt  a.  O.) 
und  Sachsen  gesammelten  Erfahrungen  dazu  benützte,  um  seinen  slawo- 
nischen  Landsleuten  im  Safir  (Dresden  1761)  ein  Bild  vorzuhalten,  wie  sie 
sind  und  sein  sollten.  Das  mit  großem  Erfolg  und  starker  Polemik  aufge- 
nommene Werk  schrieb  er  im  Metrum  (zehnsilbig)  und  Stil  der  serbo- 
kroatischen   Volkspoesie,    „weil    alle    meine    Landsleute    Sänger    und    von 


2  22  Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 

Natur  Dichter  sind".  Für  die  epischen  Zustände  seines  Volkes  war  er 
jedoch  durchaus  nicht  begeistert,  denn  in  den  Unterhaltungen  der  Spinn- 
stube, in  nachbarlichen  Zusammenkünften  und  im  Kolotanz  erblickt  er 
Reste  der  Türkenherrschaft,  und  von  den  Volksliedern  nennt  er  die  über 
den  Lieblingshelden  des  Volkes  Kraljevic  Marko  ausdrücklich  „nichtsnutz". 
Ebenso  eifert  er  gegen  andere  Sitten  und  Gebräuche,  die  von  den  Roman- 
tikern des  19.  Jahrhunderts  als  Nationalheiligtümer  betrachtet  wurden,  und 
gibt  z.  B.  ganz  nüchterne  Vorschriften  über  Hochzeiten.  In  der  zweiten 
Auflage  (1779)  konnte  er  seinen  Slawoniern  nachrühmen,  daß  sie  sich 
schon  manchen  Fortschritt  angeeignet  haben.  Außerdem  veröffentlichte 
er  eine  populäre  Darstellung  des  Naturrechtes,  eine  Sammlung  („Allerlei") 
moralphilosophischcr  Aufsätze,  Fabeln  des  Bilpai  (aus  dem  Französischen)  und 
Äsops,  eine  Schrift  über  die  Schafzucht  und  eine  slawonisch-deutsche 
Grammatik.  In  einem  pseudoklassischen  Epos  verherrlichte  Jos.  Krmpotic 
Josefs  II.  Reise  in  die  Krim,  verschiedene  Episoden  seines  Türkenkrieges 
und  heldenmütige  Offiziere  fanden  aber  Sänger  im  Stile  der  Volkspoesie. 
Auch  der  gelehrte  Archäologe  P.  Katancic  schlägt  in  seinen  pseudo- 
klassischen Oden  und  Idj'llen  starke  nationale  Töne  an. 

Bei  den  Serben.  Besonders  eifrig  waren  im  Herausgeben  von  Büchern  die  Serben,  die 

viel  nachzuholen  hatten  und  zur  Belehrung  ihres  Volkes  auch  deshalb 
mehr  Übersetzungen  und  Bearbeitungen  lieferten,  weil  bei  ihnen  die 
Kenntnis  der  lateinischen  und  deutschen  Sprache  weniger  verbreitet  war. 
Und  dieses  Volk,  das  noch  ganz  in  einer  orientalischen  religiösen  Exklu- 
sivität lebte,  brachte  den  radikalsten  Vertreter  der  Aufklärungsideen  unter 

D.  obradovir.  den  Südslawcu  hervor,  Dositije  Obradovic  (1739  oder  1744 — 1811). 
Nach  dreijährigem  Aufenthalt  in  dem  Kloster  Hopovo  (Syrmien),  in  dem 
er  sich  unter  sehr  weltlichen  Mönchen  der  strengsten  Askese  befleißigte, 
floh  er  (1760),  von  Wissensdurst  getrieben,  in  die  Welt,  um  sich  als  „ser- 
bischer Anacharsis"  seine  Bildung  aus  ganz  Europa,  hauptsächlich  aus 
W^ien  und  von  der  Universität  Halle  zu  holen  und  sie  als  popularisierender 
Schriftsteller  und  zuletzt  als  Erzieher  der  Söhne  Karagjorgjes  und  als 
erster  Verweser  des  serbischen  Unterrichtswesens  zu  verwerten.  1783  er- 
schien in  Leipzig  seine  Autobiographie  (2ivot  i  prikljucenija),  ein  durch 
Inhalt  und  Form  revolutionäres  Buch,  ergänzt  durch  die  Briefe  (1788),  die 
zusammen  zu  den  intimsten  Bekenntnissen  des  18.  Jahrhunderts  gehören. 
In  diesen  und  in  anderen  Werken  (die  wichtigsten:  Ratschläge  der  ge- 
sunden Vernunft,  Fabeln,  Sammlung  moralischer  Belehrungen,  Ethik  des 
Italieners  Soave)  steht  er  nicht  bloß  auf  dem  Standpunkt  der  Aufklärungs- 
philosophie, sondern  häufig  auf  dem  der  protestantischen  Theologie,  ist 
ein  Kosmopolit,  obwohl  ihm  der  „Nationalstolz''  nicht  fremd  blieb,  und 
predigt  religiöse  Toleranz,  namentlich  gegenüber  den  Katholiken  und 
mohammedanischen  Brüdern  derselben  Sprache,  was  für  jene  Zeit  fast 
kühner  erscheint  als  das  Eifern  gegen  Fasten,  Reliquien,  Klöster  und  un- 
nütze Kirchenbauten,    die    durch    Unterrichtsanstaltcn    und  Spitäler   zu    er- 


B,  Die   Literatur  in  den   Nationalsprachen.      II.    Moderne   Periode.  2  2  "i 

setzen  wären.  Bis  an  sein  Lebensende  blieb  er  ein  glühender  Verehrer 
Josefs  II.  Er  wollte  eine  dem  einfachen  Volke  verständliche  Sprache 
schreiben,  konnte  sich  aber  von  kirchenslawischen  und  russischen  Ele- 
menten nicht  freimachen  und  überließ  eine  Reform  der  Orthographie 
künftigen  Geschlechtern. 

Unter  einem  Volke,  dessen  Bischöfe  Maria  Theresia  nicht  einmal 
einen  Katechismus  liefern  konnten,  ist  Obradovic  eine  besonders  hervor- 
ragende Erscheinung.  Er  fand  natürlich  starke  Gegnerschaft  unter  der 
Geistlichkeit,  doch  die  allerdings  spärliche  weltliche  Intelligenz  und 
namentlich  die  folgende  Generation  brachten  ihm  große  Verehrung  ent- 
gegen und  sein  Beispiel  wirkte  ungemein  anregend:  seit  dem  hl.  Sava 
nahm  er  in  der  Tat  den  größten  Einfluß  auf  die  Richtung  der  serbischen 
Kultur.  So  gab  sein  unmittelbarer  Schüler  E.  Jankovic  den  Serben  die  Anfänge  der 
erste  Komödie  (1787),  eine  Übersetzung  von  Goldonis  „I  mercanti",  um  Dramatik, 
ihre  Vorurteile  gegen  das  Theater  zu  bekämpfen.  Doch  der  eigentliche  ratur  und  Lyrik. 
Schöpfer  des  serbischen  Theaters  ist  Joakim  Vujic,  der  in  den  Jahren 
1805 — 1847  zahlreiche  Stücke  von  Kotzebue,  Iffland  und  weniger  be- 
deutenden Dramatikern  übersetzte  und  bearbeitete ;  die  erste  Vorstellung" 
gab  er  mit  Dilettanten  18 13  in  Pest,  wanderte  dann  mit  Truppen  in  Süd- 
ungarn herum  und  kam  1835  nach  Kragujevac  in  Serbien,  um  den  Fürsten 
Milos  zu  ergötzen.  In  ähnlicher  Weise  erzog  man  sich  auf  dem  Gebiete 
der  Erzählungsliteratur  das  Publikum  durch  Übersetzungen  und  Nach- 
ahmungen moralphilosophischer  Schriften,  der  Robinsonaden  und  Ritter- 
romane, die  äußerlich  oft  ganz  serbisch  aussehen.  Die  Kunstdichtung  be- 
ginnt mit  der  Frühlingspoesie  (1765)  und  folgt  weiteren  deutschen  Mustern 
des  18.  Jahrhunderts;  besonders  zäh  hielten  sich  bis  in  die  ersten  Jahr- 
zehnte des  ig.  Jahrhunderts  S.  Gessners  Idyllismus  und  die  pseudoklas- 
sische Odenpoesie,  die  den  bedeutendsten  von  Klopstock  stark  beeinflußten 
Vertreter  in  dem  Mönch  und  späteren  Bischof  Lukijan  Musicki  (1777 
bis   1837)  fand. 

So  wurde  endlich  auch  der  serbische  Parnaß  mit  griechisch-römischen  Romantik. 
Göttern  bevölkert.  Unterdessen  wogte  schon  der  Kampf  um  eine  ganz 
neue  Richtung,  welche  die  reine  Volkssprache  in  die  Literatur  einführen 
und  diese  ganz  auf  Grundlage  der  Erzeugnisse  des  „Nationalgeistes"  auf- 
bauen wollte.  Diese  Bestrebungen  bedeuten  den  größten  Umschwung  im 
geistigen  Leben  der  Südslawen,  und  noch  mehr  als  bei  den  Nordslawen 
wurden  sie  durch  die  deutsche  Romantik,  namentlich  durch  die  jüngere, 
patriotische,  hervorgerufen,  die  während  der  Befreiungskriege  ihren  Sitz 
in  Wien  aufgeschlagen  hatte.  Aus  ihren  Zeitschriften  und  aus  den  Vor- 
lesungen der  Brüder  Schlegel  erschollen  auch  zu  den  Südslawen  die 
Rufe  nach  Pflege  der  Muttersprache,  der  nationalen  Eigenart  und  der 
Liebe  zum  engeren  Vaterlande;  doch  wurde  gerade  in  dieser  Richtung 
ein  ganz  neuer  Begriff  des  Patriotismus  geschaffen,  denn  die  wahre  Heimat 
erblickte  man  nun  in  der  Sprache.     Von  besonderer  Bedeutung  war  aber 


224 


Matthias  Murko:    Die  südslawischen   Literaturen. 


noch  die  volksfreundliche  Wirksamkeit  des  Erzherzogs  Johann  in  den 
Alpenländem.  Die  deutschen  Zeitschriften  der  südlichen  Provinzen  inter- 
essierten sich  liebevoll  für  das  slawische  Volkstum  und  öffneten  ihre 
Spalten  auch  slowenischen  und  kroatischen  LiteraturerzeugTiissen.  Die 
ersten  Äußerungen  des  neuen  Geistes  waren  die  Gründung  einer  „societas 
slovenica"  (1810)  durch  Grazer  Studenten  und  einer  „windischen  Lehr- 
kanzel" durch  die  steirischen  Stände,  ein  Zirkular  des  Agramer  Bischofs 
M.  Vrhovac  (eines  Josefiners!)  an  seine  Geistlichkeit  in  Kroatien  und 
Slawonien  (18 13),  sie  möge  Volkslieder  und  andere  Erzeugnisse  des  Volks- 
geistes sammeln,  und  eine  1815  in  Wien  gedruckte  Broschüre  des  Kroaten 
Ant.  Mihanovic  über  die  Nützlichkeit  und  Notwendigkeit  einer  Literatur 
in  der  vaterländischen  Sprache. 

Doch  hatten  alle  diese  Bemühungen  keinen  unmittelbaren  Erfolg, 
denn  der  Boden  war  noch  zu  wenig  vorbereitet.  Während  z.  B.  Napoleons 
Auftreten  überall  die  nationalen  Kräfte  weckte,  wurde  der  aus  Paris 
zurückkehrende  kroatische  Banus  im  Namen  des  „senatus  populusque 
Zagrabiensis"  noch  lateinisch  angesungen.  Von  der  größten  Wichtigkeit 
war  dagegen  die  Wirksamkeit  des  Slowenen  B.  Kopitar  in  Wien,  der 
aus  dem  Laibacher  Kreise  des  Barons  S.  Zois  kam,  als  Beamter  der  Hof- 
bibliothek und  slawischer  Zensor  aber  ganz  in  das  Fahrwasser  der 
Romantik  geriet,  in  deren  Organen  er  slawistische  und  slawische  Inter- 
essen mit  großem  Eifer  vertrat.  In  seiner  slowenischen  Grammatik  (1808) 
und  in  seinen  Aufsätzen  setzte  er  sich  für  die  reine  Volkssprache,  die 
nur  der  Bauer  habe,  und  für  eine  vernünftige  Graphik  ein,  in  der  jedem 
Laut  ein  eigenes  Zeichen  entspreche,  schwärmte  für  Dialekte  und  suchte 
Sammler  für  alle  Erzeugnisse  des  Volksgeistes.  Das  Schicksal  führte  ihm 
nur  einen  zu,  aber  ein  zum  Glück  von  der  Schule  unverdorbenes  Genie 
aus  Serbien,  durch  dessen  Ausbildung  zum  Reformator  der  serbischen 
Schriftsprache  und  Literatur  der  Gründer  der  Wiener  slawistischen  Schule 
mehr  fortlebt  als  durch  seine  bedeutenden  philologischen  Leistungen. 

Vuk  Stefanovic  Karadzic  (1787 — 1864)  wurde  in  Trsic  im  nord- 
westlichen Serbien  geboren,  seine  Eltern  stammten  aber  aus  Drobnjak  in 
der  Herzegowina  (heute  Montenegro),  so  daß  er  den  „südlichen"  Dialekt 
sprach.  Nach  dem  unglücklichen  Ausgang  des  ersten  serbischen  Aufstandes 
kam  er  nach  Wien  (18 13),  wo  er  Kopitars  Aufmerksamkeit  durch  einen 
volkstümlich  geschriebenen  Artikel  auf  sich  lenkte.  Auf  seine  Anregung 
schrieb  er  eine  Grammatik  der  Volkssprache  (18 14)  und  gab  zwei  Bänd- 
chen Volkslieder  heraus  (18 14,  181 5),  die  sofort  Aufsehen  erregten.  Doch 
von  der  Tradition  in  Schrift  und  Sprache  konnte  auch  er  sich  nicht  gleich 
frei  machen,  und  erst  unter  Kopitars  dauernder  Anleitung  stellte  er  sich 
auf  den  Standpunkt,  daß  man  die  reine  Volkssprache  vollkommen  pho- 
netisch schreiben  müsse,  weshalb  er  aus  der  cyrillischen  Schrift  eine 
Menge  Buchstaben  beseitigte,  dafür  aber  neue,  glücklich  gebildete  und 
das   lateinische  j  einführte.     Diese    Reform    wurde    in    seinem    serbischen 


B.   Die   Literatur  in  den   NatiunaUprachen.      II.   Moderne   Periode.  225 

Wörterbuch  (Rjecnik    1818),   das  eine  gründlich  umgearbeitete   Grammatik 
enthielt  und  auch  durch  seine  ethnographischen  Artikel  hervorragte,  sowie 
durch    die    neue    große    „Leipziger"    Ausgabe    der    serbischen    Volkslieder 
(drei  Bände   1823 — 1824,  der  vierte    1833  in  Wien)  festgelegt.     Maßgebend 
war  dabei  der  herzegowinische  Dialekt  seines  Vaterhauses.     Die  Geistlich- 
keit mit  dem  gelehrten  Metropoliten  Stratimirovic  an  der  Spitze  war  über  ein 
solches  Beginnen,  das  angeblich  die  serbische  Kirche  und  Nation  bedrohte, 
entrüstet;  besonderes  Ärgernis  erregte  das  häretische  /  und  die  Einführung 
des  „Ochsenhirtenjargons"  an  Stelle  der  alten  ehrwürdigen  Kirchensprache. 
Doch  Karadzic  ging  seine  Wege,  gestützt  auf  Kopitar  und  Jakob  Grimm, 
und    besonders    ermuntert    durch    die    enthusiastische    Aufnahme    der    ser- 
bischen Volkslieder    in   Deutschland    (Übersetzungen    des   Frl.   Talvj    1825, 
1826,  W.  Gerhards    1828  u.  a.)  und  in  der  übrigen  gebildeten  Welt,  wobei 
namentlich    die    lebhafte  Teilnahme    Goethes    ins  Gewicht    fiel.      Er    schuf 
auch  Muster  serbischer  Prosa,  sammelte  in  klassischer  Weise  alle  Erzeug- 
nisse des  Volksgeistes  und  beschrieb  die  nationalen  Sitten  und  Gebräuche. 
Nach   seinen  Reisen   in  Dalmatien   und  Montenegro    stützte    er   sich   mehr 
auf  den  südwestlichen  Dialekt,  der  mit  der  Schriftsprache  der  Ragusaner 
geradezu  identisch  war.     Da  unterdessen  auch  die  Kroaten  in  Agram  ihre 
Literatur  hauptsächlich  auf  die  Basis  der  alten  dalmatinisch-ragusanischen 
gestellt   hatten,    so    konnte    unter   Teilnahme   Karadzics    in   einem  Wiener 
Manifest    (,1850)    der    angesehensten    Philologen    (darunter    des    Slowenen 
Miklosich)  und  Schriftsteller  beider  durch  die  Geschichte  getrennter  Stämme 
erklärt  werden,    daß    die  Kroaten    und  Serben  eine  Schriftsprache  haben. 
Die   Ideen   Karadzics    fanden    jedoch    lange    keinen    allgemeinen   An- 
klang, namentlich  in  Serbien  nicht,   wo  seine  Orthographie  seit   1832,   seit 
1852    sogar    seine  Werke    verboten   waren;    die    Orthographie    wurde    erst 
1860   für   Privatdrucke   und   1808    ganz   freigegeben,    obgleich    der  Kampf 
wissenschaftlich    durch    den  Philologen  Gj.  Daniele    und    in    der  Literatur 
durch  den  Dichter  Branko  Radice vic,  den  Abgott  der  Jugend,  schon    1847 
entschieden   war.     Ganz    abgesehen   von   politischen   Gründen   handelte    es 
sich    dabei    nicht    bloß    um   Orthographie   und    Sprache,    sondern    um    den 
Kampf  zweier  Weltanschauungen,   einer   demokratischen  romantisch-natio- 
nalen   und    einer    oligarchischen   pseudoklassischen,    welche    in  Österreich 
ihre  Stütze  an  der  Hierarchie,  in  Serbien  aber  an  der  aus  Osterreich  be- 
zogenen Intelligenz  hatte.     Karadzic    wollte  eine  wirkliche  nationale  Lite- 
ratur und  bekämpfte  daher  die  pseudoserbischen  Romane  eines  Vidakovic, 
während   seine  Gegner,    die   sich    um  die  Jahrbücher  der   „Matica  Srpska" 
(seit   1826)  scharten,   veralteten  Mustern    folgten  und  gegen  ihn  auch  Dos. 
Obradovic   ausspielten,    von    dem   er   ausdrücklich   erklärte,    daß   sein   und 
Reljkovics  Eifern  gegen  die  nationalen  Sitten  und  Gebräuche  eine  „Dumm- 
heit"   gewesen  sei.     Was  aber  der  endgültige   Sieg   der  Volkssprache   zu 
bedeuten    hat,    zeigt    das  Beispiel   der  Griechen,    die   den   gleichzeitig  be- 
ginnenden  Kampf   bis    auf  den   heutigen  Tag    nicht    ausgefochten    haben. 


226  Matthias  Murko  :    Die  südslawischen  Literaturen. 

Der  Nationalis-  Wie   schwcr   sich   der   reine  Nationalismus   in    der  Literatur   die  Bahn 

bischen  Kunst- brach,  zeigt  Sima  Milutinovic  aus  Sarajevo,  ein  nicht  besonders  glück- 
licher Berater  Goethes  und  W.  Gerhards,  der  in  seinem  Epos  „Srbijanka" 
(1826)  die  serbischen  Freiheitskämpfe  unter  Karagjorgje  im  Geiste  der 
Volkspoesie  besang,  dabei  aber  des  griechisch-römischen  Olymps  und 
anderer  klassischer  Akzidenzien  nicht  entbehren  konnte.  Diesen  Einfluß 
seines  Lehrers  überwand  selbst  das  Genie  des  größten  serbischen  Dichters, 
des  letzten  geistlichen  Fürsten  von  Montenegro,  Petar  II.  Petrovic 
Njegos  (1813 — 1851),  erst  in  seinen  späteren  Dichtungen,  von  denen 
namentlich  der  „Bergkranz"  hervorragt,  worin  er  Bilder  aus  dem  montene- 
grinischen Leben  zu  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  schuf,  als  das  Land  an 
einem  Weihnachtsabend  gewaltsam  von  den  Türken  befreit  wurde.  Diese 
lyrisch-epische  „serbische  Iliade"  in  dramatischer  Form  bringt  die  montene- 
grinische Volksseele  am  besten  zum  Ausdruck.  Wie  ungünstig  jedoch 
die  Bedingungen  für  eine  Literatur  in  Montenegro  waren,  zeigt  die  Tat- 
sache, daß  die  Typen  der  von  ihm  errichteten  Druckerei  im  nächsten 
Türkenkriege  (1852 — 1853)  zu  Gewehrkugeln  umgegossen  wurden. 
Die  Romantik  Allmählich    und    vielseitiger  wurde   die   „nationale  Wiedergeburt"    der 

bei  denSlowenen 

nnd  Kroaten.  Sloweneu  Und  Kroaten  vorbereitet,  um  im  Jahre  1830  sofort  mit  großem 
Erfolge  in  Erscheinung  zu  treten.  Das  allgemeine  Interesse  für  die  ser- 
bische Volkspoesie,  die  romantische  Literatur  der  Tschechen,  Polen  und 
Russen,  die  politische  Gärung  in  Europa,  namentlich  der  Aufstand  der 
Polen,  von  denen  einige  in  Graz  und  Laibach  interniert  wurden  und 
direkt  die  polnischen  romantischen  Ideen  verbreiteten,  trugen  viel  dazu 
bei.  In  Kroatien  und  Slawonien  kam  das  Beispiel  der  Magyaren,  noch 
mehr  aber  die  Opposition  gegen  ihre  Expansionsgelüste  hinzu,  doch  wird 
ihr  Einfluß  auf  die  Entstehung  des  Agramer  Illyrismus  überschätzt,  denn 
die  Gründe  dafür  lagen  viel  tiefer.  Ganz  sinnlos  aber  ist  die  magyarische 
Darstellung,  die  im  Illyrismus,  der  naturgemäß  zu  einer  politischen  Be- 
wegung werden  mußte,  ein  Werk  des  russischen  Panslawismus  und  der 
österreichischen  Kamarilla  erblickte. 
Die  romantische  Mit  wirklichen  literarischen  Leistungen  traten  zuerst  die  Slowenen  in 

Slowenen,  dem  Laibaclicr  Almanach  „Kranjska  Cbelica"  (vier  Bändchen  1830 — 1833, 
das  fünfte  erschien  wegen  der  Zensurverhältnisse  erst  1848)  hervor;  sein 
geistiger  Vater  war  der  gelehrte  Bibliothekar  Cop,  sein  bedeutendster 
Mitarbeiter  der  Advokaturskandidat  Franz  Preseren  (1800 — 1849),  der 
größte  Dichter  der  Slowenen  und  der  beste  Lyriker  des  slawischen  Südens 
(ihm  gilt  Anast.  Grüns  Ode  „An  meinen  Lehrer").  Beide  waren  echte 
Kinder  der  deutschen  Romantik  mit  ihrem  Interesse  für  die  Weltliteratur. 
Als  ergreifender  Sänger  der  Disharmonie  zwischen  Ideal  und  Wirklich- 
keit erinnert  Preseren  namentlich  durch  seine  Betonung  des  majestätischen 
und  Märtyrerberufs  des  Dichters  an  Byron  und  Mickiewicz,  folgt  aber 
doch  mehr  Petrarca  und  den  deutschen  Romantikern.  Besonders  groß 
erscheint    er    in    der    meisterhaften    Handhabung    aller    möglichen    Kunst- 


B.  Die  Literatur  in  den  Nationalsprachcn.     II.  Moderne  Periode.  227 

formen,  so  daß  der  nicht  besonders  umfangreiche  Band  seiner  „Poezije" 
(1847)  geradezu  eine  vollständige  slowenische  Poetik  ausmacht  (ohne 
Drama),  in  der  ein  Sonettenkranz  und  Ghaselen  (die  ersten  wurden  1833 
gedruckt)  nicht  fehlen.  An  Formenreichtum  übertraf  die  kleine  slowenische 
Literatur  damals  sogar  alle  slawischen,  was  um  so  auffälliger  ist,  als 
Preseren  ohne  heimische  Muster  dastand.  Trotzdem  ist  er  aber  in  seinem 
innigsten  Wesen,  nicht  bloß  der  Sprache  nach,  die  ebenfalls  unsere  Be- 
wunderung hervorruft,  durchaus  national,  denn  im  Geiste  der  Romantik 
vertiefte  er  sich  ganz  in  sein  Volk,  für  das  er  auch  nur  aus  Liebe 
schrieb. 

Nach  vielen  Bemühungen  (seit  1824)  gelang  es  mit  Protektion  des 
Erzherzogs  Johann  endlich  auch  den  Slowenen,  die  Bewilligung  zur  Her- 
ausgabe einer  von  J.  Bleiweis  redigierten  Zeitschrift  „Novice"  (1843)  zu  er- 
langen, die  neben  landwirtschaftlichen  und  gewerblichen  (seit  1848  auch 
politischen)  Interessen  auch  die  literarischen  vertreten  konnte  und  es 
immer  mehr  tat,  bis  es  zur  Gründung  eines  ausschließlich  der  Literatur 
gewidmeten  Organs  „Slovenski  Glasnik"  (1858 — 1868)  kam.  Als  Dichter 
der  „Novice"  ragt  Jovan  Vesel- Koseski  hervor,  der  romantischen 
Nationalismus  mit  Schillerschem  Pathos  predigte. 

Die  interessanteste  Erscheinung  ist  der  Agramer  „Illyrismus".  Den  Der  lUy'- 
bisherigen  landschaftlichen  Literaturen,  der  dialektischen  und  orthographi- 
schen Zersplitterung  wollte  man  durch  eine  gemeinsame  Schriftsprache 
des  „dreieinigen  Königreichs"  (Kroatien,  Dalmatien,  .Slawonien)  abhelfen, 
bezog  dann  Bosnien  und  die  Herzegowina  ein,  suchte  die  Serben  und  Slo- 
wenen zu  gewinnen  und  dachte  auch  an  die  noch  ganz  unbekannten  Bul- 
garen. Der  ganze  slawische  Süden  sollte  also  literarisch  geeinigt  werden 
und  eine  nationale  Gruppe  neben  Tschechen,  Polen  und  Russen  im  Sinne 
der  „slawischen  Wechselseitigkeit"  Jan  Kolldrs  bilden.  Dabei  bewiesen 
die  Hauptstadt  und  ganz  Provinzialkroatien,  das  im  Mittelpunkt  dieser  Be- 
wegung stand,  eine  große  Selbstentäußerung,  denn  sie  entsagten  ihrem 
gutentwickelten  und  literarisch  durchaus  nicht  armen  Dialekt  und  wählten 
den  der  Mehrzahl  „der  drei  Königreiche"  und  der  übrigen  serbokroatischen 
Sprachgebiete.  Als  Muster  wählte  man  hauptsächlich  die  alten  dalmati- 
nischen und  namentlich  die  ragusanischen  Schriftsteller,  ließ  aber  auch  die 
Volkslieder  V.  Karadzics  nicht  unbeachtet;  ja  ein  so  konsequenter  Roman- 
tiker wie  Stanko  Vraz  wollte  die  neue  Literatur  theoretisch  ganz  auf 
dem  Volkslied  aufbauen;  praktisch  folgte  auch  er  den  Ragusanern,  obgleich 
er  in  ihnen  nur  Italiener  im  slawischen  Kleide  sah.  Diese  Bestrebungen 
mußten  naturgemäß  zur  einheitlichen  Schriftsprache  führen,  obwohl  die- 
meisten  Serben  vom  Illyrismus  nichts  wissen  wollten,  denn  die  tiefen  viel- 
hundertjährigen historischen,  religiösen  und  kulturellen  Unterschiede  konnte 
alle  brüderliche  Begeisterung  nicht  überbrücken.  Dazu  beruhte  der  Name 
„Illyrier",  der  als  nationaler  alle  historischen  ersetzen  sollte,  nur  auf  einer 
pseudogelehrten  Kombination,   die  allerdings   seit  dem  Humanismus   stark 

15* 


2  28  Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 

in  Umlauf  war  (man  machte  in  Osterreich  sogar  die  orthodoxen  Serben 
offiziell  zu  Illyriern,  Napoleon  schuf  die  „provinces  illyriennes"  und  Öster- 
reich behielt  das  Königreich  Ill3Tien  bei),  und  ganz  falsch  war  die  Meinung, 
daß  die  alten  Illyrier,  zu  denen  man  bei  der  romantischen  Flucht  in  das 
graue  Altertum  die  berühmten  Vorfahren  fand,  Slawen  waren.  Der  Name 
trug  also  den  Todeskeim  in  sich,  bevor  ihn  die  österreichische  Regierung 
verbot  (1843,  er  wurde  übrigens  auch  in  Schulbüchern  in  der  Ära  Bach 
weiter  gebraucht).  Eine  dauernde  Errungenschaft  war  dagegen  Lj.  Gajs 
Reform  der  lateinischen  Schrift  (1830,  1835),  wobei  man  die  auf  Hus  zurück- 
gehenden diakritischen  Zeichen  der  böhmischen  „organischen  Orthographie" 
wählte,  jedoch  an  der  etymologischen  Schreibweise  festhielt  (Hauptunter- 
schied gegenüber  V.  Karadzic).  Diese  Orthographie  ging  auch  zu  den 
Slowenen,  die  vorübergehend  stark  in  das  illyrische  Fahrwasser  gerissen 
wurden,  über. 

Das  Hauptverdienst  am  Illyrismus  wird  Ljudevit  Gaj  (i8og — 1872)  zu- 
geschrieben, doch  bezieht  sich  das  hauptsächlich  auf  die  allerdings  schwer 
durchgesetzte  Gründung  einer  Zeitung  mit  einer  literarischen  Beilage 
„Danica"  (seit  1835),  sonst  war  aber  der  rührige  Journalist  und  Agitator 
literarisch  und  noch  mehr  wissenschaftlich  unbedeutend;  sogar  das  Pro- 
gramm des  Illyrismus  wurde  von  anderen,  namentlich  vom  Grafen  Janko 
Draskovic,  dem  politischen  Kopf  der  Bewegung,  früher  und  besser  defi- 
niert, die  Durchführung  lag  aber  ohnehin  in  den  Händen  der  Mitarbeiter 
Gajs.  In  der  Nationalisierung  des  gesamten  Kulturlebens  gingen  die 
Kroaten  am  weitesten,  denn  sie  schufen  sich  sogar  ihre  Oper  und  Musik 
(auch  Kleidung!),  petitionierten  um  eine  gelehrte  (iesellschaft  und  hatten 
im  slawischen  Süden  die  erste  und  lange  unerreichte  Revue  „Kolo".  Im 
Landtage  gebrauchte  jedoch  der  Schriftsteller  und  Historiker  I.  Kukuljevic 
die  Nationalsprache  zum  erstenmal  1843,  und  erst  1847  wurde  die  Kroati- 
sierung  der  Ämter  beschlossen,  während  die  Kroaten  bis  dahin  die 
Magyarisierungsbestrebungen  durch  das  Festhalten  an  der  lateinischen 
Sprache  aufzuhalten  suchten. 

Auch  in  der  schönen  Literatur  versuchten  sich  die  Illyrier  auf  allen 
Gebieten  erfolgreich.  Unter  den  zahlreichen  Liebes-  und  Vaterlands- 
dichtern —  die  romantische  Überschätzung  der  Poesie  finden  wir  auch 
im  slawischen  Süden  —  gebührt  der  erste  Platz  Stank o  Vraz  (1810  bis 
1851),  einem  aus  Steiermark  gebürtigen  Slowenen,  der  hauptsächlich  seine 
Heimat  in  der  Sprache  der  Illyrier  verherrlichte.  Dieser  allseitige  Kenner 
der  den  Romantikern  zusagenden  Weltliteratur,  ein  Jugendfreund  des 
Meisters  der  Slawistik,  Fr.  Miklosich,  erinnert  mehrfach  an  die  den  Slawen 
überhaupt  sympathische  schwäbische  Schule,  sucht  alle  europäischen  Formen 
der  Lyrik  einzuführen,  huldigt  der  romanischen  Auffassung  der  Ballade 
und  Romanze,  läßt  orientalische  Einflüsse  auf  sich  einwirken  und  pflegt 
schon  die  politische  Satire;  besondere  Verdienste  erwarb  er  sich  auch  als 
Sammler  slowenischer  Volkslieder    (gab  nur   einen  Teil    heraus   1839)    und 


B.   Die   Literatur  in  den  Nationalsprachen.      II.   Moderne   Periode.  22g 

erster  Kritiker.  Als  Epiker  ragt  hervor  Ivan  Mazuranic  (Banus  1873 
bis  i88o),  der  den  mehrhundertjährigen  Gegensatz  zwischen  Christentum 
und  Islam  in  einer  Episode  der  türkisch-montenegrinischen  Kämpfe  („Smail 
Cengic  Agas  Tod")  mit  dramatischer  Knappheit  zusammenfaßte  {1846)  und 
dabei  die  Nachahmung  klassischer  Muster  (er  ergänzte  auch  zwei  fehlende 
Gesänge  des  Gundulicschen  Osman)  und  des  Volksliedes  in  glücklichster 
Weise  vereinigte.  Angesichts  des  Kreuzes  über  dem  Lovcen  ruft  er  den 
Völkern  des  Erdballs  auch  die  Verdienste  der  südslawischen  Vormauer 
des  Christentums  ins  Gedächtnis:  „Nie  mehr  nannten  sie  euch  dann  Bar- 
baren, Daß  ihr  starbet,  als  sie  müßig  waren."  Der  ideenreichste  und  zu- 
gleich bedeutendste  Dichter  der  Kroaten  ist  Peter  Preradovic  (1818  bis 
1872),  der  als  Offizier  (zuletzt  General)  deutsch  zu  singen  angefangen 
hatte,  wie  so  viele  Südslawen,  dann  aber  als  „Wanderer"  (eine  herrliche 
Allegorie!)  zu  seinem  Volke  zurückkehrte  und  einem  mystischen  Patriotis- 
mus in  der  Art  der  polnischen  Messianisten  und  russischen  Slawophilen 
huldigte;  er  war  zu  reflexiv  und  nicht  so  kühn  wie  die  Polen,  wirkte  da- 
her auch  nicht  so  hinreißend  und  verhängnisvoll. 

Was  die  Wirkungen  des  Illj^rismus  anbelangt,  verdient  noch  hervor- 
gehoben zu  werden,  daß  zwar  die  bosnischen  Franziskaner  sofort  zu  seinen 
Anhängern  zählten,  dagegen  Dalmatien  sich  nur  zögernd  und  mit  Vor- 
behalt anschloß.  Die  alten  Traditionen,  lokaler  Patriotismus  und  besonders 
die  starke  Italianisierung  der  höheren  Schichten,  die  unter  der  österreichi- 
schen Herrschaft  noch  Fortschritte  machte,  waren  dafür  maßgebend.  Be- 
zeichnend ist  die  Tatsache,  daß  Italien  einen  großen  demokratischen 
Patrioten  und  Schriftsteller  N.  Tommaseo  aus  Sebenico  erhielt,  der  aber 
seine  „Scintille"  teilweise  zuerst  in  seiner  Muttersprache  schrieb  und  sie 
auch  „illyrisch"  veröffentlichte  (1844),  überhaupt  mit  rührender  Treue  an 
seinem  dalmatinischen  Vaterlande  und  seiner  slawischen  Bevölkerung  hing 
und  sie  namentlich  wegen  ihrer  Volkslieder  idealisierte.  Wenige  ein- 
heimische Schriftsteller  impften  den  Slawen  so  messianistische  Vorstellungen 
ein,  daß  sie  Europa  enieuem  werden,  wenn  sie  sich  nur  nicht  vom  fremden 
Wesen  verderben  lassen. 

Die   großen   Enttäuschungen    des   Sturmiahres    1848    —    am    bittersten  Lange  Dauer  der 

=>  °  J  T  ^  südslawischen 

waren  die  der  Kroaten  —  hatten  eine  starke  Depression  auch  in  der  Komantik 
Literatur  zur  Folge.  Doch  die  Grundlagen  der  modernen  nationalen 
Kultur  waren  schon  so  fest,  daß  sie  auch  die  germanisatorische  Ära  des 
Bachschen  Absolutismus  nicht  mehr  erschüttern  konnte,  vielmehr  zu  einer 
unerwünschten  Stabilisierung  der  Schattenseiten  derselben  beitrug.  Während 
nämlich  der  Romantismus  in  Westeuropa  um  1850  abgestorben  war,  ließ 
man  bei  den  Südslawen  die  Phantasie  weiter  über  den  Verstand  herrschen 
und  huldigte  im  verstärkten  Maße  dem  Kultus  der  Vergangenheit  und 
der  Idealisierung  des  eigenen  Volkstums.  Als  dann  die  Verfassungsära 
in  Österreich  wieder  eine  freiere  Entfaltung  der  nationalen  Kräfte  ermög- 
lichte (seit  1860),  bediente  man  sich  derselben  Mittel  in  den  Kämpfen  um 


230 


Matthias  Mukko:    Die  südslawischen  Literaturen. 


Siowe 


die  „Nationalität",  welche  in  der  Tat  zu  einer  fortschreitenden  Sozialisierung" 
der  Gesellschaft  führten  (das  ist  der  tiefere  Sinn  der  österreichischen 
Nationalitätenkämpfe),  die  nur  nicht  so  schnell  vor  sich  gehen  konnte  wie 
z.  B.  einst  die  Nationalisierung  der  deutschen  Fürsten  und  höheren  Stände. 
Darin  liegt  der  Grund,  daß  die  Literatur,  die  also  ebenso  nationale  wie 
soziale  Aufgaben  zu  erfüllen  hatte,  noch  Jahrzehnte  unter  der  Herrschaft 
der  romantischen  Ideen  blieb,  obgleich  sie  sich  verschiedenen  neuen  Strö- 
mungen nicht  verschloß. 
Spätromantik  Am    Wenigsten    machte    sich    der    romantische    Historismus    bei    den 

mungen  bei  den  Sloweuen  bemerkbar,  da  sie  keine  selbständige  Vergangenheit  hatten  und 
höchstens  für  urslawische  Zeiten  oder  für  einen  nebelhaften  Panslawismus 
schwärmen  konnten.  Um  so  enger  ist  dagegen  ihr  Anschluß  an  das  Volk, 
an  seine  unverdorbene  Sprache,  die  man  fern  von  den  Städten  suchen 
mußte,  und  namentlich  an  das  Volkslied,  wobei  auch  Gesänge  anderer 
slawischer  Völker,  speziell  die  der  Kroaten  und  Serben,  eifrig  nachgeahmt 
wurden.  Darauf  beruhen  die  Vorzüge  der  naiven,  gemütvollen  und 
plastischen  Lyrik  und  der  Skizzen  aus  dem  Volksleben  des  Unterkrainers 
Franz  Levstik.  Die  idyllischen  Felder  und  die  majestätischen  Berge 
Oberkrains  fanden  in  dem  Pessimisten  Simon  Jenko  ihren  berufenen 
Sänger  (von  ihm  stammt  die  slowenische,  bei  den  übrigen  Slawen  stark 
verbreitete  Marseillaise  „Naprej  zastava  Slave").  Auf  dem  Gebiete  der 
Erzählung  und  des  Romans  ragt  Jos.  Jurcic  hervor,  der  sich  zwar  Walter 
Scott  zum  Muster  nahm,  in  der  Schilderung  des  Bauernstandes  und  der 
aus  ihm  hervorgegangenen  Intelligenz  aber  schon  echte  realistische  Züge 
aufweist. 

Eine  Kritik  der  durch  nationale  Engherzigkeit  und  Rücksichten  auf 
konservative  Kreise  gebundenen  Literatur  versuchte  schon  Levstik,  aber 
der  eigentliche  Reformator  wurde  sein  und  Jurcics  engster  Landsmann 
Jos.  Stritar  (geb.  1836,  Gymnasialprofessor  in  Wien).  Es  ist  bezeichnend, 
daß  er  in  einer  klassischen  Vorrede  zu  einer  neuen  Ausgabe  der  Poesien 
Preserens  (1866)  den  Slowenen  ihren  größten  Dichter  sozusagen  entdecken 
und  dann  die  Berechtigung  einer  Liebeslyrik  überhaupt  verteidigen  mußte. 
Seine  „Lieder"  (1869),  seine  Zeitschrift  „Zvon"  (1870,  1876 — 1880)  und  die 
„Wiener  Sonette"  (1873)  leiten  eine  neue  Epoche  ein.  Stritar  ist  der 
Schöpfer  einer  mustergültigen  Prosa  und  der  vielseitigste  slowenische 
Schriftsteller,  der  immer  einen  europäischen  Horizont  und  ein  slawisches 
Herz  verrät  und  seinen  Landsleuten  die  Hochhaltung  der  Kunst,  nament- 
lich der  Poesie,  die  aber  „Herrin"  und  nicht  „Dienerin"  sein  soll,  und  der 
Ideale  des  Lichts  und  der  Freiheit  verkündet.  Von  den  Slawen,  den 
ewigen  Duldern,  erwartet  er  eine  Lösung  der  sozialen  Frage  im  Geiste 
der  Liebe.  Nur  in  diesem  Punkte  erinnert  er  noch  an  die  verschiedenen 
slawischen  Romantiker. 

Die  Weiterentwicklung  der  slowenischen  Literatur  mit  Laibach  als  natür- 
lichem Zentrum,  wo   1864  die  literarische  Gesellschaft  „Slovenska  Matica" 


B.    Die   Literatur  in   den   Nationalsprachen.      II.   Moderne   Periode.  23 1 

gegründet  wurde,  steht  im  Zeichen  Preserens  und  Stritars.  Die  Lyrik 
förderte  besonders  Simon  Gregorcic,  die  „Görzer  Nachtigall",  die  sich 
aus  der  geistlichen  Zelle  nach  dem  entschwundenen  Paradies  der  Gebirgs- 
welt  zurücksehnt.  Als  prinzipieller  Realist  hat  Anton  Askerc  Dauerndes 
in  seinen  Romanzen  und  Balladen  geschaffen,  die  volkstümlich  bleiben, 
selbst  wenn  ihnen  der  Dichter  die  Form  „orientalischer  Legenden"  gibt, 
z.  B.  um  eine  Satire  auf  den  bewaffneten  Frieden  oder  auf  die  sozialen 
Reformen  eines  „Chans"  vorzubringen.  Auch  in  seinen  jüngsten  Dich- 
tungen, in  denen  er  die  slowenischen  Protestanten  mit  moderner  Tendenz 
feiert,  gelingen  ihm  nur  die  realistischen  Schilderungen  des  Treibens  der 
Zeit.  Ein  Realist  ist  auch  Janko  Kersnik  in  seinen  Erzählungen  und 
Romanen  aus  dem  Bauern-  und  Kleinstädterleben.  Den  Gesellschafts-  und 
historischen  Tendenzroman  vertritt  Ivan  Tavcar. 

Bei  den  Kroaten  wurde  der  Illyrismus  zum  Teil  von  denselben  Per-  ; 
sonen,  aber  unter  „südslawischem"  Namen  und  mit  größerem  Ernst  nament- 
lich auf  wissenschaftlichem  Gebiete  weitergeführt.  So  wurde  der  frühere 
patriotische  Dichter  und  Vaterlandssänger  Ivan  Kukuljevic  jetzt  ein 
verdienstvoller  Historiker,  speziell  auf  dem  Gebiete  der  Literatur-  und 
Kunstgeschichte,  der  in  seinem  „Archiv  für  südslawische  Geschichte"  (seit 
1851)  der  Gründung  der  „südslawischen  Akademie  der  Wissenschaften"  in 
Agram  (1867)  vorarbeitete,  die  dann  in  ihren  Publikationen  hauptsächlich 
auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  und  Philologie  der  Süd.slawen  Bedeuten- 
des leistete.  Diese  mit  großer  Begeisterung  und  mit  vielen  Opfern  ver- 
bundenen wissenschaftlichen  Bestrebungen  wurden  durch  die  Eröffnung  der 
„kroatischen"  Universität  (1874)  gekrönt.  Über  beiden  Instituten  waltete 
der  Geist  und  die  freigebige  Hand  des  Bischofs  Strossmayer  in  Djakovo, 
des  großen  Mäcens  der  künstlerischen  und  wissenschaftlichen  Bestrebungen 
bei  allen  Südslawen,  des  berühmten  oppositionellen  Redners  des  Vatikani- 
schen Konzils,  dessen  tolerante  Anschauungen,  die  er  auch  dem  Protestan- 
tismus entgegenbrachte,  nicht  bloß  ein  Ausdruck  seiner  hohen  Geistes- 
bildung, sondern  auch  des  kroatischen  Milieus  und  einer  gewissen  Tradition 
waren,  denn  zwischen  Katholiken  und  Orthodoxen  bestehen  in  den  gemischten 
südslawischen  Ländern  Beziehungen,  die  z.  B.  Russen  und  Polen  nie  ver- 
stehen können.  Immerhin  stießen  der  Name  „südslawisch"  und  überhaupt 
das  ganze  Wesen  des  alten  „Illyrismus"  auf  Widerstand  der  von  E.  Kvaternik 
und  Anton  Starcevic  begründeten  „Rechtspartei",  die  ursprünglich  auf 
politischem  Gebiete  die  ungarische  Unabhängigkeitspartei  kopierte  (seit 
i86i),  dann  aber  die  historische  kroatische  Individualität  auch  in  allen 
kulturellen  Fragen  immer  mehr  in  den  Vordergrund  rückte,  also  dieselben 
Konsequenzen  des  romantischen  Nationalismus  zog,  von  dem  die  Mehrzahl 
der  Serben  nie  abweichen  wollte.  Es  kann  jedoch  betont  werden,  daß 
gerade  auch  in  dieser  Periode  viele  Serben  aus  Kroatien  und  Dalmatien 
an  den  belletristischen  und  wissenschaftlichen  Publikationen  der  Kroaten 
Anteil  nahmen. 


232 


Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 


Von  den  Dichtern  der  absolutistischen  Ära  verdient  der  beste,  Luka 
Botic,  Beachtung,  weil  er  in  auffälliger  Weise  das  romantische  Interesse 
für  den  Orient  mit  dem  Nationalismus  vereinigte:  acht  Jahre  nach  dem 
antitürkischen  Epos  Mazuranics  feierte  dieser  Dalmatiner,  der  sich  in  Bos- 
nien und  Herzegowina  nach  Katalonien  und  Andalusien  in  den  Zeiten  der 
Araber  versetzt  fühlte,  in  seiner  epischen  Dichtung  „Pobratimstvo"  eine 
Verbrüderung  des  mohammedanischen  Elements  mit  dem  christlichen.  Da- 
neben beginnt  um  diese  Zeit  der  bosnische  Franziskaner  Grgo  Marti c  die 
zeitgenössischen  Kämpfe  zwischen  Türken  und  Christen  zu  besingen  und 
schließt  mit  der  Okkupation  von  Bosnien  und  Herzegowina.  In  diesem 
volkstümlichen  Epos  gibt  es  meisterhafte  Episoden,  das  ganze  Werk  wurde 
aber  überschätzt.  Romantische  Novellen,  halb  ethnographische  Skizzen, 
Dramen  aus  der  kroatischen  Geschichte  im  Stil  Shakespeares  (M.  Bogovic) 
und  Anfänge  eines  nationalen  Lustspiels  (besonders  I.  Jurkovic)  vervoll- 
ständigten  das  Bild. 

Im  Jahre  1860  bekam  die  Dramatik  einen  festen  Boden  durch  die 
Einführung  der  kroatischen  Sprache  (an  Stelle  der  deutschen)  im  Agramer 
Theater.  Ein  eigentliches  Lesepublikum  schuf  durch  seine  Novellen  und 
Romane  erst  August  Senoa  (1838 — 1881),  der  sich  seine  Stoffe  aus 
Kroatiens,  namentlich  Agrams  Vergangenheit  holte,  auch  die  Gegenwart 
nicht  vernachlässigte,  alle  Stände  mit  Sympathie  schilderte  und  seine  Per- 
sonen idealisierte,  so  daß  der  Literatur  auch  bei  ihm  noch  die  Rolle  einer 
nationalen  Erzieherin  zufällt.  Neben  ihm  ragt  besonders  als  Novellist  der 
fruchtbare  und  vielseitigere  Jos.  E.  Tomic  hervor.  Durch  seine  patrio- 
tischen Romanzen  und  Balladen  und  durch  seine  feinsinnigen  kritischen 
Würdigungen  der  bedeutendsten  Erzeugtiisse  der  kroatischen  Poesie  vom 
Standpunkte  der  Herbartschen  Ästhetik  blieb  Fr.  Markovic  lange  maß- 
gebend (vgl.  besonders  Gj.  Arnold,  Jovan  Hranilovic). 
i  Realistische  Schilderungen    waren  bei  Schriftstellern,    die    dem  Volke 

nahe  standen,  schon  öfters  anzutreffen  (Jurkovic,  Senoa  u.  a.),  doch  der 
Realismus,  der  die  Literatur  dem  wirklichen  Leben  nahe  brachte,  hielt 
seinen  Einzug  erst  zu  Anfang  der  achtziger  Jahre,  gelangte  aber  bald  zur 
Herrschaft,  die  er  bis  1895  behauptete.  Die  wichtigsten  und  größten 
sozialen  Romane  erschienen  seit  1886.  Von  dem  französischen  Naturalis- 
mus eignete  sich  E.  Kumicic  nur  eine  größere  Kühnheit  in  der  .Schilde- 
rung pikanter  und  brutaler  Episoden  an,  die  wir  auch  in  seinen  viel- 
gelesenen romantisch-historischen  Romanen  antreffen,  sonst  übten  aber  die 
großen  Russen,  namentlich  Turgenjew,  den  entscheidendsten  Einfluß  aus. 
Ein  scharfer  .Satiriker  war  A.  Kovaöic,  der  erste  Literat,  der  in  Oppo- 
sition gegen  die  ganze  Gesellschaft  trat.  .§andor  Gjalski  (Pseudonym  für 
Ljubomir  Babic)  schilderte  besonders  anziehend  den  Kleinadel  des  nord- 
westlichen Kroatien  (Zagorien)  aus  dem  Vormärz  und  den  sechziger 
Jahren  und  stürzte  sich  dann  auch  auf  psychologische,  philosophische  und 
soziale  Probleme.    Das  Thema  der  „Toten  Kapitalien"  (Mensch  und  Boden) 


B.  Die   Literatur  in  den    Nationals|)rachcn.      I].   Moderne    Periode.  233 

im  fruchtbaren  Slawonien  behandelte  mit  besonderem  Ernst  Jos.  Kozarac. 
Der  letzte  bedeutende  Realist  ist  der  Form  nach  Leskovar,  der  aber 
schon  die  feinsten  Nuancen  seelischer  Kämpfe    etwas    einförmig  schildert. 

Die  Literatur  dezentralisiert  sich.  Ihre  realistischen  Darsteller  fanden 
außer  den  bereits  genannten  Landschaften  auch  Istrien,  das  kroatische 
Küstenland  (V.  Novak),  Ragusa,  die  ehemalige  Militärgrenze  und  zuletzt 
auch  Bosnien.  Hier  tritt  in  den  Vordergrund  das  Problem,  wie  sich  das 
Land  mit  der  neuen  Zivilisation  abfinden  soll,  das  auch  die  ersten  moham- 
medanischen Erzähler  Osman-Azis    und  Edhem  Mulabdic  behandeln. 

In  der  Poesie  blieb  auch  in  der  Periode  des  Realismus  die  frühere  Niueste  Poesie 
idealistische  Richtung  herrschend,  verfiel  aber  dem  Radikalismus  und  zu- 
letzt der  Resignation  und  dem  Pessimismus,  der  den  talentvollsten  Ver- 
treter in  dem  gedankentiefen,  auf  den  Höhen  der  Menschheit  wandelnden 
S.  Kranjcevic  fand,  der  sich  zum  bedeutendsten  modernen  Dichter  ent- 
wickelt hat.  Der  Poesie  des  Absterbens  seiner  Vaterstadt  Ragusa  gab 
Ivo  Vojnovic  Ausdruck  (Dubrovacka  trilogija).  Überhaupt  tritt  neben 
Agram  und  Kroatien  eine  größere  Gruppe  dalmatinischer  Dichter  auf,  bei 
denen  sich  klassische,  italienische  und  andere  romanische  Einflüsse  stark 
geltend  machen,  besonders  in  dem  Kultus  der  Form  und  des  Wohlklanges. 
Den  Anfang  macht  der  in  allen  Farben  schillernde  A.  Tresic-Pavicic, 
der  auch  ein  Thema  wie  das  Ende  der  römischen  Republik  (Finis  rei- 
publicae)  dramatisch  bearbeitet  hat. 

Bei    den   Serben   entwickelt   sich   die  Literatur   dies-   und  jenseits   der  Die  romantische 

„Oinladina"  der 

Donau  unter  ähnlichen  Verhältnissen,  denn  auch  in  Serbien,  wo  1848  Serben. 
ebenfalls  das  Wort  „Reform"  bekannt  wurde,  folgte  eine  Reaktion  und 
dann  eine  freiere  Ära  nach  dem  Dynastiewechsel  im  Jahre  1858.  Übrigens 
blieb  die  literarische  Führung  noch  bis  1870  bei  den  österreichischen 
Serben,  deren  Intelligenz  sich  nach  1848  in  der  neugeschaffenen  serbischen 
Vojvodina  ansammelte  und  ihr  Kulturzentrum  von  Pest  nach  Neusatz  ver- 
legte, wohin  1864  auch  die  Matica  Srpska  übersiedelte.  Nach  1860  ist 
ein  großer  Umschwung  bemerkbar,  der  sich  vor  allem  in  der  Gründung 
mehrerer  rein  literarischer  Zeitschriften  (die  bisherigen  waren  Zeitungs- 
beilagen) äußerte;  in  den  Vordergrund  tritt  die  Jugend  der  ungarischen 
Anstalten,  des  Belgrader  Lyzeums  und  der  Universitäten  Wien  und  Prag, 
die  sich  in  der  „Omladina"  (Jug'end)  eine  feste  Organisation  schafft  (1866 
bis  1872)  und  dabei  ausdrücklich  an  den  Belgrader  „Verband  der  serbi- 
schen Jugend"  des  Jahres  1847  anknüpft.  Der  serbische  nationalpatriotische 
Romantismus  erreichte  seinen  Höhepunkt  in  diesem  Jugendbunde,  der  von 
der  serbischen  Regierung  wegen  seiner  liberalen,  von  der  ungarischen 
wegen  seiner  panserbischen  Tendenzen  verfolgt  und  1872  in  Ungarn  auf- 
gelöst wurde,  nachdem  er  schon  1870  einen  Stoß  durch  den  Einbruch  der 
aus  Rußland  importierten  positivistischen  Ideen  erlitten  hatte. 

Man  kann  in  der  Tat  diese  ganze  romantische  Periode  von  1848  bis 
1871    unter    dem    Namen    der   Omladina    zusammenfassen.     Ihr    Ideenkreis 


234 


Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 


war  natürlich  Wandlungen  unterworfen  und  nicht  einheitlich.  Ursprüng- 
lich begeisterte  man  sich  für  die  tschechisch-slowakischen-panslawistischen 
Theorien  Jan  Kolldrs  und  L.  Stürs,  nicht  für  die  der  Moskauer  Slawo- 
philen,  denn  auch  für  die  orthodoxen  Serben  war  Prag  das  slawische 
Mekka,  und  im  Jahre  1863  stand  die  Jugend  auf  selten  der  Polen,  aus  deren 
Literatur  anfangs  wie  bei  den  Kroaten  viel  mehr  übersetzt  wurde  als  aus 
der  russischen.  Neben  diesen  slawischen  Einflüssen  waren  aber  besonders 
mächtig  die  deutschen,  namentlich  die  des  Jungen  Deutschland,  an  das 
schon  der  Name  Omladina  erinnert,  und  gleich  darauf  die  magyarischen. 
Die  Ideen  der  europäischen  Demokratie  fanden  schon  1848  Anklang,  in 
den  sechziger  Jahren  hatte  die  Omladina  direkte  Beziehungen  zu  ihren 
hervorragenden  Vertretern  und  hoffte  namentlich  mit  Hilfe  der  revolutio- 
nären Emigranten  eine  Einigung  der  Serben  herbeizuführen.  Beachtens- 
wert sind  auch  die  besonderen  Sympathien  der  Omladina  für  das  legen- 
darische Montenegro.  Den  serbischen  Romantismus  charakterisieren  da- 
her ein  liberaler  Nationalismus,  Kultus  der  Vergangenheit,  Vorliebe  für 
die  Volkspoesie  und  orientalische  Dichtung,  Überschätzung  der  Poesie, 
die  aber  bezeichnenderweise  hauptsächlich  bei  den  österreichisch-ungari- 
schen Serben  in  Erscheinung  tritt,  Bevorzugung  der  Lyrik  und  überhaupt 
exaltierte  Begeisterung.  Aus  den  ursprünglichen  „Slawen"  wurden  ex- 
klusive Serben,  bei  denen  die  Idee  einer  rein  serbischen  Kultur  bis  zum 
Wahnwitz  gesteigert  wurde,  so  daß  man  unter  anderem  ein  Zeichen  echten 
Serbentums,  das  ebenfalls  das  morsche  Europa  erneuern  sollte,  sogar  in 
der  türkischen  Kleidung  und  speziell  in  dem  Fez  erblickte,  den  übrigens 
schon  Vuk  Karadzic  auch  in  der  Kirche  nie  ablegte.  Seit  1860  sind  alle 
bedeutenderen  Männer  einer  ganzen  Generation  und  die  ersten  politischen 
Parteien  aus  der  Omladina  hervorgegangen. 

Den  Reformen  V.  Karadzics  verhalf  die  Omladina  zum  Siege  und 
Branko  Radicevic  (1824 — 1853)  war  ihr  erster  und  lange  überschätzter 
Dichter,  der  an  Stelle  der  klassizistischen  Kunstformen  mit  jugendlicher 
Kühnheit  das  leichtere  moderne  Metrum  und  die  Strophe  der  damaligen 
deutschen  Dichtung  und  der  serbischen  Volkspoesie  einführte,  worin  er 
übrigens  schon  Vorgänger  hatte,  und  sich  als  Liebeslyriker  in  ähnlicher 
Weise  Heines  Lied  zum  Muster  nahm.  Durch  seine  nicht  besonders  ge- 
lungenen Nachahmungen  der  Epen  Byrons  machte  er  die  Hajduken,  deren 
Verherrlichung  die  Mehrzahl  der  jüngeren  Volkslieder  gewidmet  ist,  auch 
in  der  Literatur  populär.  Besonders  wirkungsvoll  war  seine  Satire  „Put" 
auf  die  pseudoklassische  Literatur  und  Vuks  Gegner.  Einen  durch- 
greifenden Erfolg  hatte  er  aber  erst  in  den  sechziger  Jahren,  als  die 
literarische  Physiognomie  einer  Reihe  noch  Jahrzehnte  wirkender  Dichter 
zur  Ausbildung  gelangte.  Darunter  finden  wir  den  berühmtesten  und  be- 
liebtesten, fruchtbarsten  und  universellsten  Vertreter  des  serbischen  Par- 
nasses, Zmaj  Jovan  Jovanovic  (1833 — 1904),  der  trotzdem  noch  kein 
Dichter  im   europäischen  Stil  ist.     Zmaj,   ein  Schüler  Radiöevics    und    des 


ß.   Die  Literatur  in  den  Nationalspraclicn.     U.   Moderne   Periode.  2  5  i 

Magyaren  Petöti,  ist  ein  ausgesprochener  Lyriker,  bei  dem  die  Tendenz- 
poesie des  Jungen  Deutschland,  die  orientalische  Dichtung,  namentlich 
Nachdichtungen  Bodenstedts,  und  besonders  Heine  tiefe  Spuren  hinter- 
lassen haben.  Verdienste  erwarb  er  sich  auch  als  Übersetzer  und  es 
charakterisiert  ihn  und  das  serbische  Volkslied  die  Tatsache,  daß  einige 
seiner  Übersetzungen  aus  Petöfi  Volkslieder  geworden  sind.  Das  stärkste 
dichterische  Temperament  ist  Gjuro  Jaksic,  bedeutender  als  Epiker  und 
einer  der  fruchtbarsten  Erzähler,  der  das  Mittelalter  und  die  Türken- 
kämpfe idealisierte  und  den  Bauer  liebte,  ohne  seine  Natur  erkannt  zu 
haben.  Durch  große  literarische  Kultur  zeichnet  sich  Laza  Kostic  aus, 
ein  tüchtiger  Shakespeareübersetzer  und  Shakespearomane,  der  das  erste 
serbische  Drama  „Maksim  Crnojevic"  nach  einem  bekannten  Volksliede  in 
Jamben  schrieb  (1863,  in  Buchform  1866),  also  vom  Metrum  der  Volkspoesie 
abwich,  obwohl  sie  gerade  er  zum  „nationalen  Evangelium"  stempelte.  Der 
absoluteste  Verehrer  der  Volkspoesie  war  J.  Novic  aus  Otocac,  der  Sohn 
eines  adeligen  Grenzeroffiziers,  Student  in  Halle  und  Jena,  der  fünfzehn  Jahre 
ein  Hajdukenleben  auf  dem  nordwestlichen  Balkan  führte,  daher  besondere 
Gelegenheit  fand,  in  den  Geist  des  Volksepos  einzudringen,  das  er  nach- 
ahmte, als  er  die  Kosovoschlacht  (Lazarica  1847)  '^"d  andere  Ereignisse 
der  serbischen  und  montenegrinischen  Geschichte  und  sogar  den  Krim- 
krieg besang,  ohne  in  dieser  Nachahmung  glücklich  zu  sein.  Auch  für 
die  orientalische  Dichtung-  hatten  die  Serben  ihre  Muster  zu  Hause,  da 
ihnen  die  Liebeslyrik  der  Mohammedaner  in  Fleisch  und  Blut  über- 
gegangen war;  das  beste  Beispiel  dafür  bietet  Jovan  Ilijc,  ursprünglich 
ein  Didaktiker  und  Halbklassiker. 

Zur  nationalistischen  Romantik  gehört  auch  Fürst  Nikola  von  Monte- 
negro, der  sich  seinen  großen  Vorgänger  zum  Muster  genommen  hat,  ihn 
aber  in  keiner  Weise  erreicht;  der  Inhalt  seiner  Dichtungen  verrät  einen 
guten  Politiker  auch  in  der  Poesie. 

In  der  Erzählimgsliteratur  gibt  es  sehr  viel  Romantik  und  Sentimen- 
talität; nicht  umsonst  wurde  Goethes  „Werther"  1844  übersetzt.  Immer- 
hin gab  es  Schriftsteller,  die  den  mittelalterlichen  Feudalismus  zurück- 
drängten und  zeitgenössische  Zustände  mit  einem  gewissen  Realismus 
behandelten;  so  schilderte  Bogoboj  Atanackovic  in  dem  Roman  „Zwei 
Idole"  (1852)  den  Kampf  zwischen  Serben  und  Mag^'aren  und  Milorad 
Sapcanin  hinterließ  das  Zeitbild  eines  dichtenden  romantischen  „Träumers" 
(Sanjalo). 

Einen  heftigen  Gegner  erhielt  die  ganze  bisherige  Literatur  in  Sve- Positiv ismus  be 
tozar  Markovic,  der  mit  dem  Bulgaren  Ljuben  Karavelov  den  Sozia- 
lismus als  letztes  Wort  der  Wissenschaft  aus  Rußland  nach  Serbien  ver- 
pflanzte. Der  russische  Student  kannte  zwar  die  deutschen  Sozialisten, 
doch  propagierte  er  hauptsächlich  die  Doktrinen  Cernysevskijs,  Dobroljubovs 
und  Pisarevs.  Daher  auch  seine  scharfen  Ausfälle  gegen  die  „Ästhetiker" 
und  gegen  die  serbische  Kunstpoesie.     Das  Heil  Serbiens  erblickte  er  in 


2  36  Matthias  Murko:    Die  südslawischen   Literaturen. 

der  Hauskommunion  (Zadruga)  und  in  anderen  primitiven  Zuständen,  so 
daß  er  wider  seinen  Willen  zu  einem  reaktionären  Nationalisten  wurde. 
Er  starb  schon  im  28.  Lebensjahre,  sonst  wäre  er  wohl  wie  viele  Ge- 
sinnungsgenossen ein  gewöhnlicher  radikaler  Politiker  geworden.  In  der 
bei  Literatur  überwog  der  Einfluß  Gogoljs  und  anderer  Russen,  um  so  mehr 
als  der  Realismus  auch  von  Westeuropa  vordrang.  Auch  das  konsequente 
Studium  des  Volkes  führte  zu  demselben  Ziele.  So  erfreuten  sich  einer 
großen  Anerkennung  die  Erzählungen  Milan  Milicevics  aus  Serbien, 
die  eigentlich  nur  folkloristische  Skizzen  sind,  und  die  viel  höher  stehen- 
den Erzählungen  vStefan  M.  Ljubisa's  aus  Süddalmatien  und  Montenegro. 
Der  eigentliche  Begründer  der  künstlerischen  realistischen  Erzählung 
wurde  der  Arzt  Laza  Lazarevic  (1851  — 1891),  der  die  patriarchalischen 
Zustände,  wie  sie  in  den  Jahren  1860 — 1885  in  den  Städten  und  auf  dem 
Lande  des  reichen  Savegebietes  herrschten,  mit  großer  Treue  und  offen- 
kundiger Sympathie  verewigte.  Den  realistischen  Roman  begründete 
Jaksa  Ignjatovic. 

Skizzen,  Idyllen,  Novellen  und  auch  Romane  aus  dem  Dorf-,  seltener 
aus  dem  Stadtleben  verschiedener  serbischer  Gebiete,  Bosnien,  Herzego- 
wina und  sogar  Altserbien  nicht  ausgeschlossen,  folgten  in  großer  Zahl 
und  bilden  ein  literarisches  Genre,  das  Beste,  was  Serbien  aufweisen  kann. 
Zu  den  hervorragendsten  Vertretern  dieser  Richtung  gehören  der  poesie- 
und  liebevolle  Janko  Veselinovic,  Ilija  V.  Vukicevic,  Svetislav  Rankovic, 
dessen  Roman  „Zar  der  Berge"  (ein  Hajduke,  d.  i.  Räuber)  sich  beson- 
derer Anerkennung  erfreut,  Borisav  Stankovic,  Kocic  u.  a.  Mit  Humor 
und  scharfer  Satire  geißelt  Stefan  Sremac  die  gesellschaftlichen  Zustände. 
Als  der  beste  Satiriker  gilt  Radoje  Domanovic,  der  das  letzte  Jahrzehnt 
der  Obrenovice  verewigt  hat.  Eine  besondere  Stellung  nimmt  der  Dal- 
matiner Simo  Matavulj  ein,  dem  Erzählungen  und  Romane  aus  Dal- 
matien,  Montenegro  und  der  Herzegowina  viel  besser  gelungen  sind 
als  die  aus  dem  Belgrader  Leben,  bei  dessen  Schilderung  er  schon 
modernen  Strömungen  folgt, 
■csie  Eine  realistische  Poesie  haben  die  Serben  nicht  erhalten.    Den  Über- 

eil, treibungen  einförmiger  Nachahmungen  des  Volksliedes  und  der  Verhöh- 
nung der  Poesie  (Sv.  Markovic)  folgte  ein  Rückschlag  zum  Klassizismus 
durch  den  Reflexionslyriker  Vojislav  Ilijc  (i86i  — 1894),  der  damit  Schule 
machte,  speziell  auch  bei  einem  Kreis  junger  Talente  in  der  Herzegowina, 
wo  doch  die  Volkspoesie  in  höchster  Blüte  steht.  Sogar  die  Kosovo- 
schlacht besingt  N.  Gjoric  in  einem  groß  angelegten  Epos  in  gereimten  (!) 
Hexametern.  Im  Drama,  das  1869  durch  Eröifnung  eines  ständigen 
Theaters  in  Belgrad  eine  feste  Stütze  erhielt,  wurde  die  starke  Über- 
wucherung  historisch-romantischer  Stücke  hauptsächlich  durch  Lust.spiele 
aus  dem  zeitgenössischen  Leben  (in  deutschen  Übersetzungen  sind  Bra- 
nislav  Nu.sic  und  Milovan  Gli.sic  zugänglich)  zurückgedrängt.  Sehr  stark 
ist  bei   den   .Serben   die  literarische   Kritik   vertreten. 


B.   Die  Lilenitur  in  den  Nationalsprachen.     II.   Moderne  Periode. 


Die  Wissenschaft  fand  in  Serbien  eine  Pflegestätte  in  der  „Gesell- 
schaft der  serbischen  Literatur"  (1847),  die  dann  in  die  „serbische  gelehrte 
Gesellschaft"  und  endlich  in  die  serbische  Akademie  der  Wissenschaften 
{1886)  umgestaltet  wurde.  Auch  die  „Matica  Srpska"  in  Neusatz  bringt 
namentlich  in  neuester  Zeit  streng  wissenschaftliche  Publikationen.  Einer 
besonderen  Vorliebe  erfreuen  sich  noch  immer  die  das  nationale  Leben 
berührenden  Disziplinen.  Die  aus  einem  unbedeutenden  Lyzeum  (1838) 
hervorgegangene  „Hochschule"  in  Belgrad  wurde  iqo5  zur  Universität 
erhoben. 

Schon  der  bisherige  Entwicklungsgang  zeigt,  daß  die  Literatur  der 
Südslawen  immer  mehr  zu  einem  organischen  Teil  des  nationalen  Lebens 
wird,  aus  dem  engen  nationalen  Vorstellungskreis  heraustritt  und  sich 
dem  Ideenkreis  des  europäischen  Kulturlebens  anschließt.  Einflüsse  ver- 
schiedener Literaturen  sind  bemerkbar,  besonders  aber  die  der  französi- 
schen seit  den  neunziger  Jahren.  Meist  im  Zeichen  des  französischen 
Symbolismus  wird  auch  der  Kampf  um  die  Freimachung  der  Kunst  von 
allen  Nebenzwecken  und  um  die  Individualität  des  Künstlers  geführt. 

Bei  den  Slowenen,  die  Zolas  Naturalismus  nur  vorübergehend  kennen 
lernten,  fanden  junge  lyrische  Talente  von  Verlaine  u.  a.  bald  den  Weg 
zu  ihrem  Volkstum  (so  Aleksandrov-Murn  über  Pu.skin,  Koljcov  und 
Mickiewicz).  An  der  Spitze  dieser  Richtung,  die  den  feinsten  Gefühlen 
in  geläuterten  heimatlichen  Tönen  Ausdruck  zu  geben  versteht,  steht 
jetzt  O.  Zupancic.  Auf  erzählendem  und  dramatischem  Gebiete  kämpft 
der  überaus  fruchtbare  I.  Cankar  unermüdlich  gegen  alle  hergebrachten 
Anschauungen  der  „Philister"  und  erreicht  als  symbolistischer  und  im- 
pressionistischer Erzähler  —  seine  Lieblingshelden  sind  Träumer  und 
ewige  Vagabunden  —  eine  solche  künstlerische  Höhe,  daß  er  der  be- 
deutendste Vertreter  der  Moderne  unter  den  Südslawen  genannt  werden 
kann.  Es  verdient  Beachtung,  daß  ein  so  kleiner  und  in  seiner  Existenz 
am  meisten  bedrohter  Volksstamm  wie  der  slowenische  eine  Literatur,  in 
der  das  Prinzip  l'art  pour  l'art  auf  die  Spitze  getrieben  wird,  verträgt 
und  erhält. 

Seit  den  achtziger  Jahren  macht  sich  bei  den  Slowenen  eine  spezi- 
fisch katholische  Richtung  stark  bemerkbar,  die  ursprünglich  sehr  negativ 
war,  sich  aber  dann  den  nationalen  Verhältnissen  anpaßte  und  mit  ihren 
Literaturerzeugnissen  hauptsächlich  den  breiteren  Massen  entgegenkommt. 
Eine  katholische  Moderne  unter  tschechischem  Einfluß  kam  über  die  An- 
fange  nicht  hinaus. 

Der  heftigste  Kampf  um  die  Moderne  wurde  bei  den  Kroaten  seit 
1895  durch  zehn  Jahre  geführt.  Dabei  kreuzten  und  paralysierten  sich 
die  verschiedenartigsten,  von  Nord  (hauptsächlich  aus  Prag  und  Wien) 
und  West  kommenden  Strömungen  mit  den  einheimischen.  Es  ist  charak- 
teristisch, daß  sich  zu  den  „Jungen"  auch  der  Schöpfer  des  modernen 
sozialen  und  psychologischen  kroatischen  Romans,  Sandor  Gjalski,  schlug. 


Katholische 
Richtung  bei 


238 


Matthias  Mdrko:    Die  südslawischen  Literaturen. 


welcher  meinte,  daß  die  jungen  Elemente  den  deduktiven  und  ideologi- 
schen Standpunkt  verlassen  und  dem  Evolutionsprinzip  huldigen,  dabei 
aber  auf  einem  konsequent  nationalen  Standpunkt  stehen  müßten.  In 
Wirklichkeit  wollte  jedoch  diese  neue  Generation  viel  mehr  modern  sein, 
kam  aber  in  ihren  erzählenden  Leistungen  über  Skizzen  und  dilettanten- 
haften  Impressionismus  nicht  hinaus  und  führte  ihren  Kampf  auch  nicht 
mit  der  nötigen  Ausdauer.  Am  besten  ist  sie  in  der  Poesie  durch  den 
Lyriker  Mihovil  Nikolic,  durch  den  Neohellenisten  Vladimir  Vidric  und 
durch  den  Verehrer  der  italienischen  und  dalmatinisch  -  slawischen  Re- 
naissance Milan  Begovic  (Pseudonym:  Xeres  de  la  Maraja!)  vertreten. 
Siegreich  blieb  eine  dalmatinisch -romanische,  idealistische  Reaktion  und 
der  Agramer  idealistische  Traditionalismus,  der  in  der  literarischen  Ge- 
sellschaft „Matica  Hrvatska"  seine  stärkste  Stütze  hat.  Die  dalmatinische 
Richtung  verrät  teilweise  einen  starken  katholischen  Einschlag,  in  Agram 
hat  aber  speziell  der  Neokatholizismus  etwas  Anklang  gefunden. 

lei  den  Serben.  Unter   den  Serben   wurde    der  Herzegowiner  Jovan  Ducic    aus    einem 

patriotischen  Sänger  ein  beachtenswerter  Anhänger  der  französischen 
Svmbolisten  und  Dekadenten.  Neben  ihm  steht  an  der  Spitze  der 
heutigen  Dichtung  der  Belgrader  Milan  Rakic,  der  sich  für  seinen  Pessi- 
mismus Alfred  de  Vigny,  Leconte  de  Lisle,  Baudelaire  zum  Muster  ge- 
nommen hat. 

•teuere  Litera-  Dje   ucuere  Literatur   der  Bulgaren    erfordert  eine  abgesonderte  Dar- 

orderBulgareii. 

Historischer  stcUung,  da  sic  sehr  jung  ist  und  sich  nicht  organisch  im  Gefolge 
der  europäischen  Geistesstromungen  entwickelt  hat.  Der  lange  geistige 
Stillstand  des  Volkes,  das  mit  seiner  kirchenslawischen  Literatur  an  der 
Spitze  der  Slawen  stand,  illustriert  am  besten  die  Folgen  des  weltlichen 
Joches  der  Türken  und  des  geistlichen  der  Griechen.  Nicht  einmal  die 
Buchdruckerkunst  ist  bis  zu  den  Bulgaren  gekommen,  das  erste  mittel- 
bulgarische Evangelium  wurde  in  der  Walachei  gedruckt  (15 12),  sonst 
bezogen  die  Bulgaren  ihre  Kirchenbücher  von  den  Russen  und  Serben. 
Das  erste  für  Bulgaren  bestimmte  Büchlein  („Abagar"  von  F.  Stanis- 
lavov)  mit  apokryphen  Gebeten  in  der  Volkssprache  erschien  in  Rom 
(1641)  in  der  Gestalt  der  cyrillischen  Drucke  der  bosnischen  Franzis- 
kaner und  ist  im  Grunde  g-enommen  serbo-kroatisch  (s.  o.  Gegenreforma- 
tion). In  Sammelhandschriften  kirchlichen  und  apokryphen  Inhaltes  sind 
auch  Neuübersetzungen  zu  finden.  Nur  handschriftlich  wurde  auch  die 
an  die  Spitze  der  neubulgarischen  Literatur  zu  stellende  „Slavobulga- 
rische  Geschichte"  des  Mönches  Pajsij  (1762)  verbreitet,  der  im  Atho.s- 
kloster  Chilandar  die  Anregung  zu  dieser  hochpatriotischen,  aber  un- 
kritischen Chronik  von  dem  serbischen  Historiker  J.  Raic,  einem  Kiewer 
Zögling,  erhielt.  Nach  dem  Muster  griechischer  und  serbischer  Aufklärer 
übersetzte  der  Bischof  Sofronij  von  Vraca  den  „Syntipas"  (1802)  und 
Asops  Fabeln;  nur  seine  ebenfalls  aus  dem  Griechischen  übersetzten 
Sonntagspredigten  wurden    1806    als   erstes  bulgarisches  Buch   in  der  Wa- 


B.  Die  Literatur  in  den  Nationalsprachen.     11.   Moderne  Periode.  2  XQ 

lachei  gedruckt.  Der  eigentliche  Wiedererwecker  und  geradezu  Entdecker 
der  Bulgaren  war  J.  Venelin,  ein  ungarischer  Ruthene,  der  sich  an  der 
Lemberger  Universität  romantische  Anschauungen  angeeignet,  die  Bul- 
garen in  Bessarabien  kennen  gelernt  und  dann  in  Moskau  weitere  An- 
regungen für  sein  russisches  Werk  „Die  alten  und  gegenwärtigen  Bul- 
garen" (1829)  erhalten  hatte.  Wichtiger  als  seine  weiteren  Arbeiten  war 
sein  Verkehr  mit  bulgarischen  Kaufleuten  in  Odessa.  V.  Aprilov,  der  bis 
dahin  wie  alle  Bulgaren  mit  einiger  Bildung  für  den  Hellenismus  ge- 
schwärmt hatte,  wurde  nun  von  der  Liebe  für  seine  Nationalität  ergriffen 
und  gründete  im  Verein  mit  Palauzov  1835  die  erste  bulgarische  Schule 
in  ihrer  Vaterstadt  Gabrovo  unter  Leitung  des  um  die  Aufklärung  in 
Bulgarien  hochverdienten  Mönches  Neofit.  Da  wollten  auch  andere  Orte 
nicht  zurückbleiben  (in  zehn  Jahren  gab  es  schon  fünfzig  neue  Volks- 
schulen), und  seit  1840  besuchten  immer  mehr  Bulgaren  höhere  Schulen 
im  Ausland.  1S50  wurde  ein  bulgarisches  Seminar  für  Lehrer  und  Geist- 
liche in  Philippopel  gegründet.  Die  nötigen  Lehrbücher  und  andere  Bil- 
dungswerke wurden  aus  dem  Griechischen,  Serbischen,  Russischen  und 
Französischen  übersetzt.  1844  gründete  K.  Fotinov  die  erste  Zeitschrift 
in  Smyrna,  1846  Bogorov  die  erste  Zeitung  „Blgarski  Orel"  in  Leipzig, 
die  1848  als  „Caregradski  Vestnik"  nach  Konstantinopel  übersiedelte  und 
dazu  beitrug,  daß  die  türkische  Residenz  das  geistige  Zentrum  der  Bul- 
garen wurde,  die  sich  zuerst  von  den  Griechen  freizumachen  suchten  und 
schon  1845  in  einer  Petition  an  den  Sultan  die  Wahl  der  Bischöfe  durch 
das  Volk  und  eine  Vertretung  in  der  Patriarchatssynode  und  im  Laienrat 
forderten.  Nach  dem  Pariser  Frieden,  der  einige  Erleichterungen  auch 
der  bulgarischen  Raja  brachte,  vertrieben  viele  Städte  ihre  griechischen 
Bischöfe,  und  1860  wurde  am  Ostersonntag  in  Konstantinopel  die  Tren- 
nung von  der  griechischen  Kirche  proklamiert.  Nicht  bloß  die  Unnach- 
giebigkeit  der  geistlichen  und  weltlichen  Elemente  des  Patriarchats 
drängte  die  Bulgaren  zu  diesem  Schritte,  sondern  auch  der  Umstand,  daß 
in  der  Türkei  mit  der  Kirche  die  Nationalität  rechtlich  identisch  war. 
Nach  langen  Kämpfen,  bei  denen  auch  eine  Union  mit  Rom  als  Mittel 
diente,  wurde  1870  mit  einem  Ferman  des  Sultans  das  bulgarische  Ex- 
archat  in  Konstantinopel  errichtet  und  1872  das  erste  Oberhaupt  der 
bulgarischen  Kirche  gewählt.  Durch  diese  Organisation  gewannen  die 
Bulgaren  einen  großen  Vorsprung  unter  den  Slawen  der  Türkei,  denn  im 
Ferman  waren  sogar  Bischofsitze  in  Nis  und  Pirot  im  heutigen  Serbien 
vorgesehen.  Dieser  geistigen  Befreiung  folgte  die  von  Emigranten  und 
Revolutionären  vorbereitete  politische  durch  Rußland.  Das  vom  Berliner 
Kongresse  geschaffene  Fürstentum  Bulgarien  (1878),  mit  dem  sich  1885 
das  autonome  Ost-Rumelien  vereinigte,  ermöglichte  dem  bulgarische  Volke 
erst  eine  vollständige  Entwicklung  seiner  geistigen  Kräfte.  Dabei  schuf 
Bulgarien  in  kluger  Weise  keine  Staatskirche  nach  dem  Beispiel  Griechen- 
lands, so  daß  das  Exarchat  auch  weiter  alle  Bulgaren  vereinigt. 


240 


Matthias   Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 


Der  Charakter  der  Literatur  wurde  durch  den  skizzierten  Entwicklungs- 
gang des  bulgarischen  Volkes  beeinflußt.  Ursprünglich  wollten  die  Schrift- 
steller nur  aufklären  und  im  nationalen  Patriotismus  erziehen,  ohne  an 
eine  Verletzung  der  Loyalität  gegenüber  der  Türkei  nur  zu  denken.  In 
Literatur-  der  Sprachc  hielten  sich  lange  die  russisch-kirchenslawischen  Elemente, 
später  übte  auch  das  Altbulgarische  einen  starken  Einfluß  auf  die  viel- 
umstrittene und  bis  heute  nicht  rationell  gelöste  Frage  der  Orthographie 
aus,  die  russische  Sprache  ließ  durch  die  an  ihrer  Literatur  genährten 
und  durch  direkt  in  Rußland  erzogene  Schriftsteller  und  später  durch  die 
russische  Verwaltung  starke  Spuren  zurück.  Der  ostbulgarische  Dialekt, 
der  die  Oberhand  gewann,  fand  schon  in  die  Fibel  des  P.  Berovic  (1824) 
Eingang. 
Die  Liter.-itur  Das    Geburtsjahr    der    bulgarischen    Kunstpoesie    ist     1845,    als    eine 

und  politischen  größere,  auf  dem  Volkslied  beruhende  Ballade  „Stojan  und  Rada"  in 
kämpfe.'  Odessa  erschien.  An  das  Volkslied  schloß  sich  auch  der  rührige  Jour- 
nalist Petko  Raco  Slavejkov  an,  der  die  Lyrik  der  Russen  nachahmte 
und  sich  Motive  auch  aus  griechischen  und  serbischen  Dichtern  holte. 
Die  Lieder  dieses  Dichters,  dessen  eigentliches  Gebiet  die  Liebeslyrik 
war,  bildeten  eine  nationale  Tat,  denn  sie  verdrängten  die  griechischen. 
Dasselbe  Verdienst  haben  auch  andere  Sänger,  darmiter  der  Anakreontiker 
Zafirov,  der  Venus  und  Amor  bulgarisierte.  Das  erste  ganz  kunstlose 
Epos  lieferte  G.  Rakovski  in  seinem  „Bergwanderer"  (1857),  worin  Balkan- 
hajduken  erzählen,  wie  sie  die  Tyrannei  der  Türken  und  Griechen  von 
ihrer  Heimstätte   vertrieben  habe. 

Rakovski  ist  auch  der  Typus  eines  romantischen  Archäologen  und 
Folkloristen  und  zugleich  der  Stammvater  der  bulgarischen  Revolutionäre, 
die  seit  dem  Krimkriege  im  Auslande,  namentlich  in  Rumänien,  eine  leb- 
hafte Tätigkeit  als  Journalisten  und  .Schriftsteller  entfalteten  und  ein  Über- 
gewicht über  die  einheimische  loyale  und  durch  Zensurfesseln  beengte 
Literatur  erlangten.  Die  Poesie  der  Emigranten  enthält  nicht  bloß  Zornes- 
ausbrüche gegen  die  Türken,  sondern  schlägt  auch  viel  stärkere  Akzente 
gegen  die  Griechen  und  die  reichen  Bulgaren,  die  mit  beiden  paktierten, 
an.  Auf  Seiten  aller  Verfolgten  steht  schon  Ljuben  Karavelov,  noch 
mehr  aber  ist  der  ihn  an  Talent  überragende  Hr.  Botjov  ein  Sänger  der 
sozialen  Sklaven.  Dieser  Freiheitskämpfer,  der  ein  abenteuerliches  Land- 
streicherleben führte,  endete  im  Einklang  mit  seiner  Poesie  (1876),  nach- 
dem er  sich  des  österreichischen  Dampfschiffes  „Radetzky"  bemächtigt 
hatte,  um  in  Bulgarien  einzufallen.  Mit  revolutionären  Gedichten  trat  auch 
der  .spätere  Ministerpräsident  St.  Stambulov  zuerst  in  die  Öffentlichkeit 
(1877).  Für  das  Epos  fehlte  die  Stimmung;  nur  Balladen  und  Romanzen 
im  Volkstone  konnten  gedeihen.  Begreiflich  ist  die  Vorliebe  für  die 
Satire.  Die  erste  Originalerzählung,  welche  die  schrecklichen  Schicksale 
einer  bulgarischen  „Armen  Familie"  schilderte,  veröffentlichte  1860  in 
Konstantinopel    V.  Drumev,    der    .später    als  Politiker   bekannt  gewordene 


B.  Die  Literatur  in  den  Nationalsprachen.     II.  Moderne  Periode.  24  I 

Metropolit  Kliment.  Der  fruchtbarste  Erzähler  war  aber  der  erwähnte 
Ljuben  Karavelov  (1837 — 1879),  der  als  rücksichtsloser  Kämpfer  gegen 
Türken,  Griechen  und  einheimische  Ausbeuter  des  Volkes,  als  Beschützer 
der  Liebe,  der  verfolgten  Unschuld  und  der  Gefallenen  und  als  Lobredner 
der  nationalen  Sitten  und  der  nationalen  Vergangenheit  häufig  so  über- 
treibt, daß  er  zum  Pamphletisten  wird.  In  seinen  russisch  geschriebenen 
Erzählungen  —  zwei  von  moralischer  Entrüstung  gegen  das  Belgrader 
Leben  strotzende  sind  serbisch  —  hält  er  noch  Maß,  aber  in  ihren  bul- 
garischen Bearbeitungen  paßte  er  sich  dem  Geschmack  seiner  Landsleute 
durch  einen  zügellosen  Stil  an,  der  Schule  machte. 

Eine  große  Rolle  spielten  dramatische  Vorstellungen.  Das  erste 
Originallustspiel,  das  die  Korruption  eines  griechischen  Bischofs  in  Bul- 
garien zum  Gegenstande  hat,  erschien  1863.  Der  eigentliche  Begründer 
des  bulgarischen  Theaters  ist  D.  Vojnikov  (1833 — 1878),  ein  Lehrer  mit 
französischer  Bildung,  der  zuerst  Schulbücher  über  Literatur,  bulgarische 
Sprache  und  Geschichte  schrieb  und  sich  auch  die  künstlerische  Ausbil- 
dung der  Jugend  zum  Ziele  setzte;  mit  seinen  eigenen  Deklamations-  und 
Gesangstücken  hatte  er  noch  Glück,  aber  das  erste  europäische  Konzert 
in  Bulgarien  im  Jahre  1863  nahmen  ihm  die  Bürger  von  Sumen  sehr  übel, 
weil  er  ihre  Jugend  zu  —  Zigeunern  erzog.  Daher  wanderte  er  zu  den 
fortschrittlicheren  Bulgaren  im  rumänischen  Braila,  wo  er  eine  Dilettanten- 
truppe gründete  und  mit  ihr  1866  die  erste  Vorstellung  in  Bukarest  in 
Anwesenheit  des  rumänischen  Fürsten  gab.  Sein  Beispiel  fand  in  Rumänien 
und  Bulgarien  starke  Nachahmung.  Vojnikov  lieferte  auch  die  nötigen 
Stücke,  historische  Dramen  und  Sittengemälde,  wobei  er  sogar  Moliere 
nachahmte.  Künstlerisch  sind  seine  Dramen  ohne  Bedeutung,  groß  war 
dagegen  ihre  Wirkung  auf  die  Hebung  des  bulgarischen  Nationalbewußt- 
seins. Unter  den  vielen  nicht  höher  stehenden  Nachfolgern  finden  wir 
auch  L.  Karavelov  mit  einem  revolutionären  Drama;  nur  V.  Drumevs 
„Ivanku,  der  Mörder  Äsen  I."  (erschien  1872  in  ßraila)  ragt  durch  Sprache 
und  Komposition  hervor  und  gehört  bis  auf  den  heutigen  Tag  zu  den 
besten  Originalschöpfungen.  Beachtenswert  ist  in  dieser  Periode  die  nicht 
geringe  Zahl  der  Übersetzungen  der  bedeutendsten  Erzeugnisse  europäischer 
Literatur;  so  sind  unter  den  Dramatikern  vertreten  Voltaire,  Moliere,  V.  Hugo, 
Schiller  (Räuber),  Lessing  (Emilia  Galotti). 

Die  Folgen  der  politischen  Befreiung  der  Mehrzahl  der  Bulgaren  DieLitcratur seit 
traten  in  der  schönen  Literatur  nicht  gleich  in  Erscheinung.  Nicht  bloß  Selbständigkeit. 
die  Zöglinge  aller  möglichen  europäischen  und  sogar  amerikanischen 
Schulen,  sondern  alles,  was  lesen  und  schreiben  konnte,  drängte  sich  in 
den  Staatsdienst  und  in  die  Reihe  der  Politiker.  Eine  echt  orientalische 
Atomisierung  des  öffentlichen  Lebens  und  eine  maßlose  Parteiwut  machte 
sich  in  den  politischen  und  satirischen  Zeitungen  bemerkbar,  deren  im 
Laufe  von  20  Jahren  mehr  als  300  zu  erscheinen  anfingen  und  meist  ein 
kurzes  Leben  fristeten.     Mit  geringen  Ausnahmen  waren  und  sind  sie  arm 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  q.  i6 


242 


Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 


an  verschiedenartigen  Nachrichten,  aber  reich  an  politischem  Tratsch  und 
Gezänk.  Auch  allerlei  Zeitschriften,  deren  man  schon  über  loo  zählt, 
erreichten  keine  besondere  Höhe,  doch  gibt  es  in  der  letzten  Zeit  schon 
tüchtige  literarische  und  Fachorgane.  Die  Wissenschaft  fand  ihre  Pflege 
in  der  „Bulgarischen  literarischen  Gesellschaft",  die  bereits  1869  in  Braila 
gegründet  und  1882  in  Sofia  erneuert  wurde.  Für  die  Vaterlandskunde 
erwarb  sich  auf  allen  Gebieten  besondere  Verdienste  das  Ministerium  für 
Volksaufklärung  durch  Herausgabe  eines  „Sbomik",  in  dem  neben  Ab- 
handlungen über  bulgarische  Geschichte,  Sprache  und  Literatur  nament- 
lich zahlreiche  folkloristische  Materialien  hervorragen.  In  dieser  Richtung 
ist  auch  in  Einzelpublikationen  Beachtenswertes  geleistet  worden.  Immer- 
hin verfügen  die  Bulgaren  noch  heute  über  kein  entsprechendes  Wörter- 
buch und  sind  auch  in  der  Grammatik  nicht  über  sehr  gute  Vorarbeiten 
hinausgekommen.  Die  in  Sofia  1888  eröffnete  „Hochschule"  wurde 
1894  als  Universität  organisiert. 

Das  Bedürfnis  und  Verständnis  einer  höheren  Literatur  machte  all- 
mählich Fortschritte,  besonders  mit  der  Heranbildung  einer  zahlreicheren 
Intelligenz  im  In-  und  Auslande.  Die  Sprache  der  Poesie  und  Prosa  und 
der  Vers  weisen  bereits  eine  schöne  Ausbildung  auf,  dagegen  fällt  es  den 
Dichtern  schwer,  sich  über  die  Tageseindrücke  zu  erheben,  und  noch 
schwerer,  größere  Stoffe  künstlerisch  zu  gestalten. 

Von  diesen  Mängeln  ist  auch  der  fruchtbarste,  vielseitigste  und  be- 
deutendste bulgarische  Schriftsteller  Ivan  Vazov  (geboren  1850)  nicht  frei. 
Dieser  Südbulgare  verließ  den  Kaufmannsstand  und  ergänzte  seine  ein- 
heimische Schulbildung  durch  russische  und  französische  Lektüre.  Als 
Lyriker  besang  er  noch  die  Leiden  des  bulgarischen  Volkes,  dann  die 
folgenschweren  weiteren  Ereignisse,  den  serbisch-bulgarischen  Krieg  nicht 
ausgenommen,  und  holte  sich  auch  schon  Eindrücke  aus  Italien  (1884). 
Wichtiger  als  zwei  Bauernidjdlen,  welche  die  Türkenzeit  schildern,  sind 
seine  größeren  und  kleineren  Prosaerzählungen,  die  das  alte  und  neue 
Bulgarien  als  dankbaren  Gegenstand  behandeln.  Die  beste  Leistung  ist 
sein  in  viele  Sprachen  übersetzter  Roman,  „Unter  dem  Joche",  in  dem 
das  bulgarische  Leben  am  Vorabend  des  russisch-türkischen  Krieges  ver- 
ewigt ist.  Vazov  versuchte  sich  auch  als  Lustspieldichter,  aber  ohne  be- 
sonderen Erfolg. 

Hinter  diesem  Meister  des  bulgarischen  Verses  bleibt  K.  Velickov  in 
seinen  „konstantinopolitanischen"  und  „italienischen"  Sonetten  zurück,  über- 
trifft ihn  aber  an  innerer  Tiefe.  Der  Satiriker  und  Refiexionslyriker, 
dessen  Tendenz  die  nationale  Selbsterkenntnis  ist,  St.  Mihajlovski,  behandelt 
in  dem  Gedichte  vom  „Übel"  den  Sündenfall.  Des  volkstümlichen  Epikers 
Penco  Slavejkov  „Blutiges  Lied"  ist  die  bedeutendste  Leistung  auf  diesem 
Gebiet.  Den  Liebeslyriker  K.  Hristov  hat  Vazov  selbst  als  „Stolz  unserer 
Literatur"  eingeführt.  Dem  ganzen  Elend  eines  jungen  Menschen  unserer 
Zeit  gibt  P.  Javorov  Ausdruck. 


Schlußbemerkung.  243 

Eine  Abschließung-  von  der  Kulturwelt  kann  man  der  jüngsten  sla- 
wischen Literatur  nicht  vorwerfen,  eher  ein  zu  schwaches  Eindringen  in 
die  bulgarische  Volksseele.  In  dieser  Hinsicht  ist  jedoch  ein  Fortschritt 
zu  verzeichnen,  namentlich  in  den  kleineren  Erzählungen  und  Skizzen 
aus  dem  Volksleben  (vgl.  die  Serben),  die  den  jüngeren  Belletristen,  wie 
Veselin  (d.  i.  T.  Vlajkov),  M.  Georgiev,  A.  Strasimirov,  O.  Todorov,  Elin- 
Pelin  (d.  i.  D.  Ivanov),  G.  Stamatov  u.  a.  besonders  gelingen.  Der  heitere 
Satiriker  A.  Konstantinov  hat  in  dem  Typus  des  „Baj  Ganju"  die  bul- 
garischen Schwächen  vereinigt.  A.  Strasimirovs  Roman  „Die  Schreckens- 
zeit" schildert  die  Periode  nach  dem  Sturze  des  Fürsten  Alexander. 
Die  schwächste  Seite  der  Literatur  bildet  wie  bei  allen  Slawen  auch 
bei  den  Bulgaren  das  Drama.  Ein  ständiges  Theater  wurde  in  Sofia 
1907   eröffnet. 

Schlußbemerkung.  So  stehen  am  Anfange  des  20.  Jahrhunderts  auch  .M^i^^'Jschen 
alle  Südslawen  im  Getriebe  der  allgemeinen  europäischen  Kultur  und  be-  Literaturen, 
rechtigen  zur  Hoffnung,  daß  sie  zur  Vermehrung  der  Güter  der  Menschheit 
auch  ihr  Scherflein  beitragen  werden.  Die  Slowenen,  deren  Volksmassen 
kulturell  am  meisten  entwickelt  sind,  die  künstlerisch  hochbegabten  Kroaten 
und  Serben  und  die  fleißigen  und  arbeitsamen  Bulgaren  zeigen  immer  mehr 
Interesse  und  Verständnis  für  Kunst  und  Wissenschaft,  und  mit  der  steigenden 
Sicherheit  ihrer  nationalen  Existenz  werden  auch  die  in  ihnen  schlummern- 
den Kräfte  für  höhere  Aufgaben  frei.  Die  Literatur  wird  sich  natürlich 
auf  den  nationalen  Grundlagen  entwickeln  müssen,  sich  aber  von  fremden 
Einflüssen  nicht  abschließen  dürfen,  wobei  eine  Einseitigkeit  schon  des- 
halb nicht  zu  befürchten  ist,  weil  die  Slowenen,  Kroaten  und  Serben 
unter  deutschem  und  italienischem,  überhaupt  romanischem  Kultureinfluß 
stehen  und  noch  immer  viele  Serben  und  Bulgaren  ihre  Bildung  an  ver- 
schiedenen Hochschulen  Europas  genießen.  Zur  Selbstkritik  innerhalb  der 
einzelnen  Stämme  wird  auch  eine  unbefangene  Wertschätzung  und  Kon- 
trolle der  sprachlich  so  nah  verwandten  Nachbarn  treten  müssen.  Nament- 
lich auf  dem  Gebiet  der  Wissenschaft  sind  die  Südslawen  viel  mehr  gegen- 
seitig auf  sich  angewiesen,  als  sie  es  wegen  ihrer  politischen  und  religiös- 
nationalen Eifersüchteleien  fühlen.  Das  beste  Beispiel  bietet  das  dringende 
Bedürfnis  eines  kritischen  Zentralorganes.  Vor  allem  wird  aber  die  Aus- 
breitung und  Vertiefung  der  modernen  Kultur  die  bestehenden  Gegensätze 
zwischen  Kroaten  und  Serben  immer  mehr  ausgleichen,  so  daß  einer 
Schriftsprache  auch  wirklich  eine  Literatur  entsprechen  wird.  Der  Unter- 
schied zwischen  der  cyrillischen  und  lateinischen  Schrift,  welch  letztere 
einen  starken  Gewinn  bei  den  Mohammedanern  zu  verzeichnen  hat,  wii"d 
auf  den  zwischen  der  „deutschen"  und  lateinischen  herabsinken.  Lehrreich 
ist  auch  der  Einfluß,  den  Bosnien  und  Herzegowina  in  jüngster  Zeit  auf 
die  Orthographie  ausgeübt  haben.  Als  die  Länder,  deren  Sprache  schon 
Jahrhunderte  mustergültig  war,  der  europäischen  Kultur  erschlossen  wurden 

i6» 


244 


Matthias  Murko:    Die  südslawischen  Literaturen. 


(1878),  brachten  einsichtsvolle  Männer  auch  die  phonetischen  Grundsätze 
Vuk  Karadzics  vollständig  zur  Geltung,  so  daß  alle  amtlichen  Publikationen 
auch  dem  Buchstaben  nach  in  beiden  Schriften  identisch  sind.  Diesem 
Beispiel  folgten  dann  die  kroatische  und  österreichische  Regierung,  so 
daß  heute  alle  Kroaten  und  Serben  eine  phonetische  Orthographie  besitzen, 
die  dem  Ideale  einer  solchen  bei  den  europäischen  Völkern  am  nächsten 
kommt.  Da  die  Kroaten  und  Serben  mehr  als  acht  Millionen  zählen,  so 
sind  die  Bedingungen  für  einen  Aufschwung  ihrer  Literatur  besonders 
günstig.  Für  ihr  Verhältnis  zu  den  Slowenen  ist  bezeichnend  die  Tat- 
sache, daß  die  slowenische  „Matica"  (literarische  Gesellschaft)  in  Laibach 
seit  1906  ein  Werk  in  serbisch -kroatischer  Sprache  und  die  kroatische  in 
Agram  ein  solches  in  slowenischer  Sprache  herausgibt  und  daß  volkstüm- 
liche Universitätsvorträge  in  Laibach  von  Professoren  der  Agramer  Uni- 
versität gehalten  werden  (seit   1906/7). 


Literatur. 

Die  südslawische  Literaturgeschichte  liegt  noch  im  argen.  Eine  einheimische,  modernen 
Anforderungen  entsprechende  Gesamtdarstellung  irgend  einer  südslawischen  Literatur,  wie 
sie  bei  Nordslawen  mehrfach  vorhanden  sind,  gibt  es  nicht.  Auch  gute  Monographien  über 
einzelne  Perioden  und  Schriftsteller  sind  nicht  genügend  vorhanden.  Für  die  ältere  Literatur 
kommen  die  Arbeiten  der  Russen,  die  ja  die  literarischen  Erzeugnisse  der  Südslawen  besser 
aufbewahrt  haben  als  sie  selbst,  sehr  stark  in  Betracht. 

Die  erste  ,, Geschichte  der  südslawischen  Literatur"  schrieb  der  böhmische  Slawist 
P.  J.  §.\FAftfK.  während  seines  Aufenthaltes  unter  den  Serben  in  NeusaU  (bis  1833).  Dieses 
gründliche  Werk  ist  leider  erst  nach  seinem  Tode  erschienen  (Prag,  1864),  hat  aber  noch 
heute  wegen  der  nach  dem  Inhalt  geordneten  bibliographischen  Angaben  seinen  Wert  nicht 
verloren.  Paralleldarstellungen  der  bulgarischen,  serbokroatischen  und  slowenischen  Lite- 
ratur gab  der  Russe  A.  N.  Pypin  in  seiner  im  Verein  mit  dem  Polen  W.  D.  SPASOWICZ 
herausgegebenen  ,, Geschichte  der  slawischen  Literaturen",  L  Band  (Petersburg,  1879),  die 
deutsche  Übersetzung  von  Traugott  PECH  (Leipzig,  1880).  Das  Werk  war  für  seine  Zeit  eine 
vortretfüche  Leistung,  besonders  mit  Rücksicht  darauf,  daß  es  mit  den  in  Petersburg  vor- 
handenen literarischen  Hilfsmitteln  geschrieben  wurde ;  am  schwächsten  ist  der  slowe- 
nische Teil. 

Die  beste  Übersicht  der  Einzelliteraturen  geben  zwei  Schulbücher:  Istorija  srpske 
knjizevnosti  von  StOJAN  NovakoviÖ  (2.  umgearbeitete  Auflage,  Belgrad,  187 1),  der  sein 
Werk  zum  Nachteil  der  serbokroatischen  Literaturgeschichte  im  Stiche  gelassen  hat; 
Blgarska  literatura  von  A.  Teodorov  (die  i.  Auflage,  die  wegen  der  Literaturangaben  für 
wissenschaftliche  Zwecke  mehr  zu  empfehlen  ist,  Philippopel,  1896,  die  2.,  abgekürzte  und 
verbesserte,   1901). 

Eine  fleißige,  aber  nicht  immer  verläßliche  Sammlung  biographischer  und  bibliogra- 
phischer  Materialien  bietet  die  vierbändige  slowenische  Literaturgeschichte  von  Dr. K.Glaser 
(Zgodovina  slovenskega  slovstva,  Laibach,  1894 — 1898).  Der  biographisch -bibliographischen 
Methode  folgt  sehr  auch  die  illustrierte  kroatische  und  serbische  Literaturgeschichte  von 
Dr.  DURO  SuRMlN  (Povjest  knjizevnosti  hrvatske   i  srpske.  Agram,   1898). 

Eine  Gesamtdarstellung  der  südslawischen  Literaturen  im  Stile  dieser  Übersicht  wird 
der  Verfasser  in  der  Sammlung  ,,Die  Literaturen  des  Ostens"  (Leipzig,  C.  F.  Amelangs  Ver- 
lag) veröffentlichen. 

Bibliographische  Werke : 
Franc  Simoniö,   Slovenska  bibliografija,  I.  del:    Knjige  (1550 — 1900)  (Laibach,   1903 — 1905). 
Ivan   KukuljeviÖ   Sakcinski,    Bibliografia   hrvatska.     I    (Agram,   1860).   —  Dodatak  (Nach- 
trag),  1863. 
StOJAN  NOVAKOV16,   Srpska  bibliografija  za   noviju   knjiiSevnost    1741  — 1867  (Belgrad,   1869). 
Ergänzungen  vom  J.  1868^1884  (mit  Unterbrechungen)   im  Glasnik    der  serbischen  ge- 
lehrten Gesellschaft. 
A.  Teodorov,    Blgarski   knigopis,    I  (1641  — 1877)   im   IX.  Bande   des   Sbornik  za  narodni 
umotvorenija    nauka  i   knizina   des  Ministeriums    für  Volksauf klärung    (Sofia,   1893).     Er- 
gänzungen im  PeriodiCesko  Spisanie. 


DIE  NEUGRIECHISCHE  LITERATUR. 

Von 
Albert  Thumb. 


Einleitung.  Die  Literatur  des  heutigen  griechischen  Volkes  steht 
unter  einem  Zwiespalt  der  sprachlichen  Form,  wie  er  sonst  in  Europa 
nirgends  in  gleicher  Weise  vorkommt.  Zwei  Sprachen,  die  innerlich,  d.  h. 
in  ihrem  lautlichen,  flexivischen,  syntaktischen  und  lexikalischen  Gefüge 
durch  eine  Kluft  von  fast  zwei  Jahrtausenden  voneinander  getrennt  sind, 
bilden  geradezu  zwei  Literaturen,  die  etwa  dem  Nebeneinander  der  Sans- 
krit- und  Prakritliteratur,  des  mittelalterlichen  Latein  und  der  romanischen 
Volkssprachen  zu  vergleichen  sind.  Die  beiden  Kreise  schneiden  sich 
wohl  da  und  dort,  wie  auch  die  beiden  Sprachformen  auf  der  mittleren 
Linie  Kompromisse  schließen  —  aber  der  Inhalt  der  beiden  literarischen 
Strömungen  zeigt  doch  grundsätzliche  Verschiedenheiten,  deren  Ursachen 
nicht  andere  sind  als  diejenigen,  welche  die  „Diglossie"  der  heutigen 
Griechen  bedingen.  Seit  jener  geistigen  Bewegung  der  ausgehenden  An- 
tike, die  man  mit  dem  Schlagwort  des  Attizismus  bezeichnet,  und  der 
eine  allgemeine  starke  Neigung  zu  jeglicher  Art  des  Archaisierens  zu- 
grunde liegt,  seit  den  Tagen  einer  sinkenden  Kultur,  wo  Redekünstler 
die  mangelnde  Originalität  durch  äußerliches  Nachahmen  der  klassischen 
Form  zu  ersetzen  suchten,  hat  das  griechische  Schrifttum  den  Anschluß 
an  die  Sprache  des  Lebens  verloren.  Die  neue  Entwicklung,  die*  mit 
Polybios  einsetzte,  wurde  unterbrochen;  noch  verhängTiisvoUer  war  aber 
für  die  Folgezeit,  daß  auch  das  Christentum,  das  in  der  Bibel  und  in 
seinen  frühesten  Schriftwerken  sich  über  die  Regeln  der  literarischen 
Sprache  hinweggesetzt  hatte,  mit  seiner  inneren  Hellenisierung  auch  die 
äußere  Form  änderte  und  ganz  in  die  Bahnen  des  herrschenden  profanen 
Schrifttums  einlenkte.  So  sind  die  Erzeugnisse  der  Vulgärsprache  bis  in 
die  jüngste  Zeit  immer  nur  sprunghaft  auftretende  Erscheinungen,  während 
die  Hauptmasse  der  Literaturprodukte  in  ununterbrochenem  Zusammenhang 
aus  der  Werkstätte  einer  abgestorbenen  Sprache  hervorgeht,  in  der  nur 
ab  und  zu,  widerwillig  und  oft  unbewußt,  Elemente  der  lebenden  Sprache 
verwendet  werden:   so   entstand   eine  Sprache,   die   weder  alt-  noch  neu- 


I.  Die  ältere  gelehrte  Literatur  und  die  Wissenschaft.  Zi^."] 

griechisch  ist,  die  vollends  unter  den  Händen  ungebildeter  und  geschmack- 
loser Skribenten  zu  einem  makkaronistischen  Gemengsei  alter  und  neuer 
Wörter  und  Fonnen  wird  —  eine  Sprache  von  Epigonen  ohne  Originalität 
und  Geschmack. 

I.    Die    ältere    sfelehrte    Literatur    und    die    Wissenschaft.      In  Die  Herrschsaft 

ö  der       archaisie- 

der  griechischen  Literatur  spielt  quantitativ  die  archaisierende  Schrift-  rcnden Sprache. 
spräche,  die  sogenannte  Kaöapeucuca  (die  „Reinsprache"),  eine  so  vor- 
herrschende Rolle,  daß  der  Literarhistoriker  die  in  ihr  geschriebenen 
Werke  nicht  ignorieren  darf,  selbst  wenn  er  nur  den  Regungen  der 
Volkssprache  den  echten  Titel  „neugriechisch"  zuerkennt.  In  der  Prosa 
stehen  die  Richtungen  am  schroffsten  einander  gegenüber.  Von  der  Un- 
geheuerlichkeit, dem  Volk  das  Altgriechische  wieder  aufzwingen  zu  wollen, 
ist  man  allerdings  abgekommen  ,  aber  die  Sprache,  welche  heute  in  ge- 
lehrten Werken,  in  Zeitungen,  Gesetzen,  Verordnungen  usw.  angewendet 
wird,  ist  gerade  noch  altertümlich  genug.  Je  weiter  wir  zum  Mittelalter 
hinaufsteigen,  um  so  mehr  tritt  die  Volkssprache  hinter  den  Erzeugnissen 
der  überkommenen  Sprache  zurück.  Von  welchem  Zeitpunkt  an  soll  man 
überhaupt  von  einer  neugriechischen  Literatur  sprechen?  Wie  ein  fein- 
sinniger griechischer  Schriftsteller  einmal  bemerkt  hat,  beginnt  für  die 
heutigen  Griechen  die  Neuzeit  erst  mit  ihrem  Freiheitskampf  —  und  daß  sie 
den  Übergang  zur  neuen  Zeit  noch  nicht  völlig  gefunden  haben,  das  ergibt 
sich  aus  der  Tatsache,  daß  man  noch  um  eine  moderne  Literatursprache 
kämpft;  die  Griechen  haben  jene  Umwälzung  noch  nicht  vollzogen,  die  am 
Ausgang  des  Mittelalters  den  lateinischen  Völkern  mit  der  lingua  volgaris 
das  Bewußtsein  des  eigenen  Volkstums  brachte.  Die  Ereignisse,  welche 
für  Westeuropa  das  Anbrechen  einer  neuen  Zeit  bedeuten,  sind  für  die 
geistige  Entwicklung  des  Ostens  ohne  positive  Wirkung  gewesen.  Das 
Jahr  1453  brachte  eine  schwere  Zeit  der  Knechtschaft,  die  jede  weitere 
und  neue  Entwicklung  hemmte,  den  Sinn  für  die  höheren  Güter  des  Lebens 
unterdrückte.  Wo  sich  geistiges  Leben  auch  fernerhin  zeigt,  wandelt  es 
weiter  in  den  Bahnen  der  Byzantiner.  Männer  wie  Laskaris  oder  Bessarion, 
welche  nach  dem  Fall  Konstantinopels  griechische  Wissenschaft  und  Lite- 
ratur nach  dem  Westen  brachten,  sind  natürlich  echte  Byzantiner,  aber 
auch  die  folgende  Zeit  bedeutet  keine  Änderung:  das  beweisen  die  ge- 
lehrten Griechen,  die  im  16.  Jahrhundert  mit  dem  Tübinger  Professor 
Martin  Crusius  im  Briefwechsel  standen,  das  zeigt  die  Schriftstellerei  des 
in  Chios  geborenen,  im  Westen  aufgewachsenen  Leo  AUatios,  der  neben 
einer  vielseitigen  gelehrten  Tätigkeit  auch  als  panegyrischer  Dichter  im 
alten  Stil  hervortrat  (Gedichte  auf  Papst  Urban  VIII.,  die  Königin  Christine 
von  Schweden).  Der  geistige  und  materielle  Aufschwimg  des  18.  Jahr- 
hunderts, der  die  Griechen  wieder  aus  der  dumpfen  Resignation  der 
Knechtschaft  herausriß,  erzeugte  keine  geistige  Revolution,  sondern  nur 
die  Wiederbelebung  alter  Tradition:    dem  Volke    die   geistigen   Güter   der 


i8.  und  iQ.Jahi 


2a8  Albert  Thumb:    Die  neugriechische  Literatur. 

entschwundenen  Zeit  wieder  zugänglich  zu  machen  und  es  dadurch  auf 
ein  höheres  Niveau  der  Bildung  zu  heben,  war  die  Aufgabe  der  Männer, 
welche  durch  Gründung  und  Leitung  nationaler  Schulen  sich  die  größten 
Verdienste  um  ihr  Volk  erworben  haben.  Die  Phanarioten,  welche  im 
Dienste  der  Pforte  Einfluß  und  Reichtum  gewannen,  die  Kauf  laute  von 
Chios,  Hydra  und  Spetsa  und  anderen  Inseln,  die  durch  ihren  regen 
geschäftlichen  Sinn  den  Handel  des  Mittelmeeres  an  sich  zogen,  verwen- 
deten ihre  Reichtümer,  um  Schule  und  Wissenschaft  zu  fördern;  an  die 
alte  Patriarchenschule  zu  Konstantinopel  schlössen  sich  seit  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  Neugründungen  an,  von  denen  einige  (Chios,  Patmos, 
Dimitsana  im  Peloponnes)  als  höhere  Bildungsstätten  in  der  griechischen 
Welt  großes  Ansehen  gewannen.  Neue  Bahnen  wurden  freilich  weder 
der  Literatur  noch  der  Wissenschaft  eröffnet;  die  byzantinische  Gelehr- 
samkeit wirkte  weiter  und  schuf  eine  Form  der  Bildung,  welche  der  Masse 
des  Volkes  fremd  bleiben  mußte.  Der  Augenblick  wurde  wieder  einmal 
versäumt,  wo  durch  eine  gründliche  Reform  dem  Schrifttum  neues  Leben 
eingehaucht  werden  konnte,  und  der  esoterische  Charakter  der  Bildung 
verhinderte  bis  zum  heutigen  Tage,  daß  die  Schule  Trägerin  einer  natio- 
nalen und  lebendigen  Sprache  wurde. 

Der  Dichter,  den  man  aus  dem  18.  Jahrhundert  nennen  muß,  Kon- 
stantin Dapontes  {1707 — 178g),  zeigt  zwar  keine  Abneigung  gegen  die 
Volkssprache  und  verwendet  sie  sogar,  seltsam  gemischt  mit  altgriechischen 
Formen,  in  seinen  moralisierenden  und  panegyrischen  Dichtungen  („Frauen- 
spiegel", Xpr)CTor|9eia  u.  a.);  aber  er  ist  doch  mit  dem  Besten  seiner  Kunst, 
den  Kirchenliedern  (besonders  Hymnen  auf  die  Mutter  Gottes)  nur  ein 
Nachfahr  der  byzantinischen  Kirchenpoesie. 

1  In  der  Wissenschaft  nehmen  theologische  Fragen  immer  noch  einen 

großen  Raum  ein;  im  übrigen  herrscht  die  Neigung  zu  polyhistorischer 
Umfassung  weiter  Wissensgebiete;  daraus  ergab  sich  eine  oft  erstaunliche 
Produktivität,  aber  keine  Originalität.  Es  ist  byzantinischer  Geist,  nur 
daß  jetzt  nicht  mehr  das  Wissen  des  Altertums,  sondern  das  des  fort- 
geschrittenen Westens  bearbeitet  wird.  Eugenios  Bulgaris  (17 16 — 1806) 
ist  ein  hochbegabter  und  universal  gebildeter  Vertreter  dieser  Schrift- 
stellerei;  Theologie  und  Philosophie  sind  die  Mittelpunkte  seiner  Tätig- 
keit. Ein  anderer,  Konstantin  Oikonomos  (1780 — 1857),  ein  gefeierter 
Theologe,  Lehrer  und  Kanzelredner,  der  schon  in  die  Zeit  des  neuerstan- 
denen Hellas  hinüberreicht,  ist  ein  griechischer  Humanist,  dem  das  Alt- 
griechische näher  stand  als  die  Frage,  wie  Wissenschaft  und  Bildung  den 
wirklichen  Bedürfnissen  des  Volkes  anzupassen  seien. 

Bis  zum  heutigen  Tag  beruht  die  Wissenschaft  der  Griechen  auf  un- 
selbständiger Nachahmung  der  „Franken";  große  Entdeckungen  hat  sie 
nicht  aufzuweisen  —  ja  sie  bedeutet  nicht  einmal  eine  Summe  hervor_ 
ragender  Kleinarbeit,  welche  Europa  unbedingt  nötigte,  von  ihr  besonders 
Kenntnis   zu   nehmen.     Nicht   einmal   in   der  archäologischen  Erforschung 


n.  Die  Vollissprache  und  die  Volkspoesie.  24g 

des  eigenen  Landes  und  im  Studium  der  byzantinischen  Philolog-ie  haben 
die  Griechen  die  Führung,  wenngleich  sie  hier  einige  tüchtige  Kräfte  be- 
sitzen; Altertum  und  Byzanz  sind  Schlagwörter,  an  denen  man  sich  wohl 
oft  begeistert,  die  aber  bis  jetzt  keinen  originellen  Inhalt  zu  erzeugen 
vermochten.  Doch  gibt  es  eine  glänzende  Ausnahme:  Georg  Hatzidakis 
hat  die  wissenschaftliche  Erforschung  des  Neugriechischen  und  seiner  Dia- 
lekte begründet  —  aber  er  ist  so  gut  wie  ohne  Schüler  und  findet  nur 
im  Ausland  Interesse  für  seine  Tätigkeit,  weil  die  Masse  seiner  Lands- 
leute die  Volkssprache  viel  zu  sehr  verachtet,  als  daß  man  sie  ernsthafter 
Studien  würdigte. 

Doch  es  ist  hier  nicht  der  Ort,  die  Entwicklung  der  griechischen 
Wissenschaft  weiter  zu  verfolgen.  Sofern  es  sich  aber  um  die  literarische 
Form  handelt,  müssen  wenigstens  zwei  Geschichtswerke  genannt  werden, 
Spyridon  Trikupis'  Geschichte  des  griechischen  Aufstandes  (1853)  und 
K.  Paparrigopulos'  Geschichte  des  griechischen  Volkes  (2.  Aufl.,  1886 
bis  1887),  deren  mittelalterlicher  und  neuzeitlicher  Teil  auch  als  das  Er- 
gebnis eigener  Forschung  wertvoll  ist. 

Die    Einheitlichkeit   der   griechischen    Kunstprosa   seit    den    Anfängen  Das  Künstliche 

*^  ^  .  (-,  ^^^  Schnft- 

von  Byzanz  bis  heute  hat  gewiß  etwas  Imponierendes;  daß  eine  Sprach-  spräche. 
form  über  einen  Zeitraum  von  nahezu  zwei  Jahrtausenden  die  Literatur 
beherrscht  und  in  ihre  Fesseln  zwingt,  ist  in  Europa  einzig.  Man  darf 
sich  freilich  «icht  darüber  täuschen,  daß  doch  nur  die  Äußerlichkeiten 
der  Sprache,  meist  nur  die  flexivische  Form  und  die  Wortwahl,  alt  ge- 
blieben sind.  Wer  aber  nicht  Altgriechisch  gelernt  hat,  versteht  diese 
Sprache  nicht;  kein  Wunder,  daß  ein  lebendiges  Sprachgefühl  ihr  gegen- 
über nicht  besteht.  Wie  das  Mönchslatein  mischt  sie  die  Formen,  Wörter 
und  Konstruktionen  verschiedener  Zeiten.  Im  Prinzip  ist  die  Kaöapeücuca 
natürlich  durchaus  puristisch  und  sucht  Lehnwörter  oder  vulgäre  Wörter 
des  täglichen  Lebens  durch  antikisierende  Neubildungen  zu  ersetzen,  wo 
immer  es  möglich  ist;  eine  immense  Arbeit  wurde  auf  diese  scheinbare 
„Verbesserung"  der  Sprache  verwendet.  Und  doch,  wie  illusorisch  ein 
solcher  Purismus  ist,  zeigt  gerade  diese  Schriftsprache  in  der  viel  tiefer 
ins  Sprachleben  eingreifenden  Gestaltung  des  Ausdrucks,  wo  fremde  Idio- 
tismen, besonders  Gallizismen,  nicht  selten  sind.  Dieser  Fehler  wird  be- 
sonders durch  die  Zeitungen  und  die  zahlreichen,  oft  nachlässig  gemachten 
Übersetzungen  französischer  Romane  begünstigt,  wie  denn  auch  die  ein- 
heimische Romanproduktion,  die  das  Lesebedürfnis  der  Halbgebildeten  zu 
befriedigen  hat,  meist  den  Stempel  nachgemachter  ausländischer  Ware 
trägt. 

II.  Die  Volkssprache  und  die  Volkspoesie.    Während  die  Schrift-  Die  voiks- 

*  spräche. 

spräche  in  toten  Formen  weiter  überliefert  wurde,  folgte  die  lebende 
Sprache  dem  Gesetz  einer  stetigen  Entwicklung;  die  Keime  der  neu- 
griechischen Volkssprache  finden  sich  bereits   in   der  sogenannten  Koine, 


250 


Albert  Thumb:    Die  neugriechische  Literatu 


der  gesprochenen  Sprache  des  hellenistischen  Zeitalters;  aus  dieser  Sprach- 
form, die  im  wesentlichen  auf  attischer  Grundlage  ruht,  erwuchsen  —  mit 
Ausnahme  des  tsakonischen  Dialekts  —  alle  neugriechischen  Dialekte, 
auch  die  eigenartigen  und  altertümlichen  Mundarten  vom  Pontes,  von 
Kappadokien  und  Cypern.  Die  Differenzierung  der  Dialekte  hat  jeden- 
falls schon  im  Laufe  des  ersten  christlichen  Jahrtausends  begonnen;  die 
Mannigfaltigkeit  und  Verschiedenheit  derselben  wird  von  den  Anhängern 
der  Schriftsprache  als  Beweis  dafür  angeführt,  daß  es  keine  einheitliche, 
für  die  Literatur  verwendbare  Volkssprache  gebe.  Aber  die  Gesamtheit 
der  Dialekte  stellt  eine  Sprachform  dar,  die  in  ihrem  Charakter  moderner 
ist  als  die  Schriftsprache;  außerdem  gibt  es  eine  „Durchschnittssprache", 
die  überall  verstanden  und  auch  literarisch  verwendet  wird:  im  Volks- 
lied und  in  der  Kunstpoesie. 

Die  volkstümliche  Prosa,  zu  der  schon  im  Mittelalter  auf  Cypern  ein 
beachtenswerter  Anlauf  genommen  worden  war,  hat  erst  in  der  aller- 
jüngsten  Zeit  eine  gewisse  Bedeutung  gewonnen:  denn  die  Chroniken  und 
Volksbücher  (z.  B.  über  Alexander  den  Großen  oder  die  Schwanke  des 
Bertoldos  u.  dgl.)  sind  von  geringem  literarischen  Wert  —  ganz  abgesehen 
davon,  daß  sie  in  ihrem  makkaronistischen  Griechisch  nur  sehr  unvoll- 
kommene Vertreter  der  Volkssprache  sind.  Diese  fand  ihren  echtesten 
Ausdruck  in  der  Volkspoesie,  deren  reicher  Schatz  das  kostbarste  Er- 
zeugnis neugriechischen  Geisteslebens  ist;  sie  steht  auf  einem  hohen  dich- 
terischen Niveau  und  enthält  nicht  wenige  Perlen.  Der  Liederschatz  des 
Volkes  ist  nicht  erst  das  Produkt  der  jüngsten  Zeit;  doch  nur  selten  ist 
es  uns  möglich,  das  Alter  einzelner  Stücke  zu  bestimmen  —  schon  des- 
halb nicht,  weil  die  schöpferische  Phantasie  des  Volkes  die  Texte  be- 
ständig um-  und  weiterdichtet.  Aber  daß  in  der  Tiefe  des  Volkslebens, 
abseits  von  der  offiziellen  Literatur,  sogar  Motive  des  klassischen  Alter- 
tums fortgepflanzt  wurden,  das  sehen  wir  bei  einem  neugriechischen  Tanz- 
lied, dem  sogenannten  „Schwalb enlied":  das  ihm  zugrunde  liegende  Motiv 
findet  sich  schon  in  einem  bei  Athenäus  überlieferten  Lied,  das  einst  die 
Kinder  bei  der  Ankunft  des  Frühling-s  auf  Rhodos  sangen.  Ein  ziemlich 
hohes  Alter  der  erotischen  Lyrik  ergibt  sich  ferner  aus  dem  inhaltlichen 
und  formalen  Zusammenhang,  der  zwischen  „rhodischen"  Liebesliedern  des 
14.  Jahrhunderts  und  verschiedenen  neugriechischen  Volksliedern  besteht. 
Andererseits  ist  aber  das  byzantinische  Nationalepos  von  Digenis  Akritas, 
dem  Grenzfürsten,  der  das  Christentum  im  Osten  des  Reiches  gegen  die 
Sarazenen  verteidigte,  in  Trümmer  zerschlagen,  von  denen  nur  noch  einige 
Stücke  im  Osten  des  griechischen  Sprachgebietes  zu  finden  sind.  Das 
historische  Bewußtsein  des  Volkes  ist  überhaupt  jung.  Einen  tiefen  und 
erschütternden  Eindruck  machte  der  Fall  von  Konstantinopel,  so  daß  er 
nicht  nur  unmittelbar  eine  Reihe  von  Klageliedern  (epnvoi)  hervorrief, 
sondern  auch  mit  einem  Kranz  von  Legenden  umsponnen  wurde,  die  das 
Volkslied   weiter  erzählte.     Die  Mehrzahl  der  historischen  Volkslieder  be- 


II.  Die  Volkssprache  und  die  Volkspoesie.  251 

schäftigt  sich  jedoch  mit  einer  viel  jüngeren  Zeit:  sie  besingen  die  Kleften, 
jene  tollkühnen  und  todesmutigen  Freischärler,  die  in  den  Zeiten  der  elen- 
desten Knechtschaft  in  den  Bergen  die  Freiheit  suchten  und  mit  den 
Türken  in  unaufhörlichem  Kampfe  lagen.  In  diesen  Liedern  lebt  noch 
die  epische  Begabung,  welche  einst  die  Heldengesänge  von  Achill  und 
Aias  geschaffen  hat. 

Nicht  nur  historische  Stoife,  sondern  auch  freie  Schöpfungen  der  Lied  vom  toten 
Phantasie  werden  im  Volkslied  dichterisch  gestaltet.  Von  allgemeiner 
literarischer  Bedeutung  ist  das  düstere  Lied  vom  toten  Bruder,  das  durch 
Bürgers  „Lenorenritt"  auch  unserer  Literatur  angehört;  im  griechischen 
Volkslied  dürfen  wir,  wie  neuere  Forschungen  gezeigt  haben,  die  Urform 
des  Motivs  sehen.  Seine  Wurzel  ist  der  unheimliche  Vampyrglaube, 
die  Vorstellung,  daß  ein  von  Sünden  oder  irgendeinem  Fluch  geplagter 
Mensch  im  Grabe  nicht  Ruhe  finde,  sondern  nächtlichenveile  auf  der  Erde 
umherwandeln  müsse,  um  die  Menschen  und  gerade  seine  Angehörigen 
zu  schrecken. 

Leidenschaft,  wilder  Schmerz  und  rührende  Klage  finden  ihren  eigen-  Miroiogien  und 

Charos  -  Lieder. 

artigen  Ausdruck  in  den  Mirologien  oder  Klageliedern,  die  von  den 
Frauen  an  der  Bahre  eines  teuren  Toten  gesungen  werden.  Diese  Miro- 
logien bewegen  sich  nicht  immer  in  festen  Formen;  sie  sind  oft  nur  ge- 
hobene Prosa,  wie  sie  persönliches  Erleben  eingibt,  bald  episch  das  Schicksal 
des  Verstorbenen  erzählend,  bald  traute  Zwiesprach  mit  dem  Toten  hal- 
tend oder  dem  Gefühl  des  Schmerzes  Ausdruck  verleihend.  Solche  Dich- 
tung des  Augenblicks  läßt  sich  nicht  leicht  wiedergeben;  einige  Lieder 
von  fester  Form  dienen  den  klagenden  Frauen  als  Ausgangspunkt  ihrer 
Improvisationen.  Die  schönsten  Vertreter  der  Gattung  zeichnen  sich  durch 
dramatische  Kraft  und  pointierte  Kürze  aus  und  verraten  eine  lebhafte 
Phantasie,  die  Gemälde  von  ergreifender  Anschaulichkeit  zu  schaffen  weiß. 
Diese  Züge  steigern  sich  vielleicht  zu  höchster  Wirkung  in  der  Gruppe 
von  Liedern,  die  sich  mit  Charos,  dem  Todesgotte,  beschäftigen;  Name 
und  Vorstellung  sind  mit  dem  alten  Charon,  dem  Fährmann  des  Hades, 
identisch.  Der  Tod  wird  nicht  etwa  als  Skelett  dargestellt,  sondern  als 
ein  kräftiger  Mann,  der  auf  schwarzem  Rosse  auszieht,  um  seine  Opfer 
zu  suchen,  für  die  er  nur  grausamen  Hohn  übrig  hat.  Wie  der  kraft- 
und  jugendstrotzende  Mensch  mit  dem  Tode  ringt,  wird  als  Allegorie  in 
mehreren  Variationen  dargestellt  („Charos  und  der  Hirte",  „Charos  und 
das  Mädchen").  Eines  der  Charoslieder  ist  durch  Goethes  Übersetzung 
berühmt  geworden:  es  beschreibt  den  Zug  des  Todes  und  vereinigt  er- 
habene Naturschilderung  mit  feinem  Sinn  für  allegorische  Darstellung. 

Das  Lied  begleitet  den  Griechen  von  der  Wiege  bis  zur  Bahre,  im  Liebespoesie. 
Liede  singen  Jüngling  und  Jungfrau  von  der  Liebe  Lust  und  Leid,  Hoch- 
zeitslieder  begleiten   das  junge  Paar  in   das   eheliche  Heim;   der  Schmerz 
der  Trennung,  das  Leben  in  der  Fremde  und  deren  Verlockungen  werden 
verschiedentlich   behandelt.     Das   Düstere    und   Unheimliche,   Schilderung 


2C2  Albert  Thumb:    Die  neugriechische  Literatur. 

von  Kampf  und  Tod  sind  nicht  etwa  der  einzige  Grundzug  der  Volks- 
poesie. Selbst  der  Klefte  ist  empfänglich  für  die  Freuden  des  Daseins: 
ein  epirotisches  Lied  schildert  uns  die  Kleften,  wie  sie  freudig  den  Früh- 
ling erwarten,  um  den  auf  die  Berge  ziehenden  Hirtenmädchen  Küsse  zu 
rauben.  Hierbei  ist  das  erotische  Element  nur  angedeutet;  aber  die  Zahl 
der  Lieder,  welche  die  Liebe  zum  Inhalt  haben,  ist  fast  unerschöpflich; 
dichterische  Begabung,  lebhaftes  Empfinden  und  Phantasie,  Scherz  und 
Ernst,  Witz  und  Pointe  äußern  sich  in  den  mannigfachsten  und  anmutigsten 
Formen.  Die  Gemütstiefe  des  deutschen  Liedes  findet  sich  nur  selten; 
das  rein  sinnliche  Moment  tritt  in  den  Vordergrund,  jedoch  ohne  die  las- 
zive Ausdrucksweise  der  südslawischen  Erotik;  und  es  ist  seltsam,  wie 
neben  dem  einfachen  Ausdruck  natürlichen  Empfindens  sich  oft  ein  Re- 
flektieren, eine  Selbstironie  zeigt,  die  an  die  Lyrik  Heines  erinnert.  Man 
beobachtet  die  Eigenart  der  Volksdichtung  auf  kleinstem  Raum  in  den 
zahlreichen  Zweizeilen  (Disticha),  die  mit  unseren  Schnadahüpfeln  ver- 
glichen worden  sind;  in  wenigen  Worten,  meist  in  anschaulichen  Gleich- 
nissen, die  gern  der  umgebenden  Natur  entnommen  werden,  geben  sie 
kleine  Momentbildchen,  die  durch  die  Kühnheit  des  Gedankens  (Beseelung 
der  Natur)  und  treffende  Charakteristik  überraschen:  allgemeine  Sentenzen 
wechseln  mit  Liedchen,  die  das  einzelne  Erlebnis  schildern;  die  ganze 
Skala  der  Empfindungen,  besonders  der  schmerzlichen,  alle  Variationen 
des  vielseitigen  Themas  werden  berührt.  Von  den  Sprüchwörtern  ab- 
gesehen (deren  Zahl  ungeheuer  ist)  sind  diese  Zweizeilen  vielleicht  am 
besten   geeignet,   einen   Einblick    in    die   griechische  Volksseele   zu   geben. 

IIL  Die  schöne  Literatur  bis  zur  Begründung  des  griechischen 
Staates.  Die  neugriechische  Volkspoesie  ist  des  Interesses  würdig,  das 
ihr  Goethe  einst  geschenkt  hat;  die  Weltliteratur  darf  an  diesen  Erzeug- 
nissen menschlichen  Geistes  nicht  vorübergehen.  An  diese  nationale 
Poesie  und  Sprache  muß  sich  daher  die  Kunstliteratur  anlehnen,  und  in 
ihren  schönsten  Blüten  tut  sie  es  auch.  Freilich  entwickelte  sich  die  neu- 
griechische Poesie  an  fremden  Mustern  —  aber  diese  wirkten  nur  dann 
fördernd,  wenn  sie  sich  mit  dem  Geist  vermählten,  den  das  Volkslied 
atmet.  Das  gilt  von  den  Dichtungen,  welche  im  Laufe  des  i6.  und 
17.  Jahrhunderts  in  Kreta  entstanden  und  für  die  Insel  das  Aufblühen 
einer  neuen  Literatur  ankündeten. 
Literatur  Kretas  An    der    Spltze     Steht     eine     dramatisierte     Geschichte     vom     Opfer 

17.  Jahrhundert.  Abrahams  (16.  Jahrhundert),  die  zwar  die  Bearbeitung  eines  italienischen 
Mysterienspiels  zu  sein  scheint,  aber  durch  die  der  Volkspoesie  ent- 
nommenen Motive  und  besonders  durch  die  psychologische  Behandlung 
der  Mutterliebe  durchaus  als  ein  Erzeugnis  griechischer  Literatur  zu  be- 
trachten ist.  Viel  stärker  tritt  das  italienische  Element  in  zwei  andern 
Werken  hervor.  Schon  der  Name  des  einen  der  beiden  Dichter, 
Vitzentios    Kornaros,    verrät    das    Milieu,    in    welchem    diese    Literatur 


in.  Die   schöne  Literatur  bis  zur  Begründung  des  griechischen  Staates.  253 

gedieh:  außer  den  Jonischen  Inseln  hat  itahenische  Kultur  nirgends  so 
tiefe  Wurzeln  geschlagen  wie  auf  Kreta.  Wie  sehr  aber  auf  dieser  Insel 
doch  das  griechische  Element  den  Grundton  der  dortigen  Kultur  angibt, 
erhellt  wiederum  aus  der  Tatsache,  daß  eine  venezianische  Familie  einen 
griechischen  Dichter  hervorgebracht  hat.  V.  Komaros  (Cornaro),  der 
wahrscheinlich  zu  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  lebte,  gehörte  der  be- 
rühmten Dogenfamilie  an,  der  auch  Tasso  entstammte.  Sein  Epos  „Eroto- 
kritos"  (fünf  Gesänge  in  etwa  10 000  gereimten  Versen),  ein  Ritterroman, 
der  die  romantische  Liebe  und  die  Abenteuer  des  Helden  erzählt,  ist  eine 
naive  Mischung  von  abendländischem  Rittertum,  neugriechischer  Volksart 
und  antikem  mythologischem  Beiwerk;  als  Ganzes  künstlerischen  An- 
forderungen nicht  genügend,  zeigt  es  doch  dramatische  und  lyrische 
Schönheiten  im  einzelnen.  Mag  auch  der  Dichter  durch  italienische  Vor- 
bilder geleitet  sein,  so  fehlt  es  ihm  doch  nicht  an  Originalität;  das  beweist 
er  schon  durch  seine  Beherrschung  der  Sprache;  der  Dichter  hat  durch 
die  Verwendung  des  kretischen  Dialekts  ein  Vorbild  geschaffen,  wie  die 
Volkssprache  literarisch  zu  gestalten  sei.  Das  Epos  ist  ein  beliebtes 
Volksbuch  geworden,  von  dem  einzelne  Episoden  in  entlegenen  Dörfern 
sogar  wie  Volkslieder  behandelt  werden. 

Ein  gleicher  Ruhm  ist  einem  andern  kretischen  Dichter,  dem  Georgios 
Chortakis  (um  1600),  nicht  zuteil  geworden;  seine  Tragödie  „Erophile"  ist 
ein  mord-  und  greuelreiches  Schauerdrama,  dessen  nächstes  Vorbild  in  einem 
seinerzeit  berühmten  Drama  des  i6.  Jahrhunderts,  der  Orbecche  des 
Giraldi,  zu  suchen  ist.  Auch  in  der  Technik,  so  z.  B.  in  den  lyrischen 
Intermezzi  (ivTep^ebia)  verrät  der  Dichter  italienischen  Einfluß,  zeigt  aber 
doch  gerade  in  dem  stark  hervortretenden  lyrischen  Element  die  Eigenart 
seines  Volkes. 

Von  Kreta  aus  hätte  ein  Aufschwung  der  neugriechischen  Literatur, 
vor  allem  die  Schöpfung  einer  modernen  Literatursprache  erfolgen  können, 
wenn  nicht  die  schöpferischen  und  poetischen  Kräfte,  die  sich  dort  zu 
entfalten  begannen,  durch  die  türkische  Eroberung  (1669)  in  ihrer  Ent- 
wicklung jäh  gehemmt  worden  wären.  Die  neue  Literatur,  welche  etwa  Literatur 
um  1800  einsetzt,  knüpfte  nicht  an  Kreta  an;  sie  stand  entweder  unter 
dem  Einfluß  des  Klassizismus  (besonders  des  sprachlichen)  und  des  Aus- 
landes, oder  sie  lehnte  sich  unmittelbar  an  die  Volkspoesie  an.  Eine 
scharfe  Scheidung  dieser  Elemente  ist  übrigens  gerade  bei  den  beiden 
ältesten  Dichtem,  die  wir  nennen  müssen,  kaum  vorzunehmen.  So  ist  der 
Thessalier  Rigas  (als  Vorkämpfer  der  griechischen  Freiheit  1798  von  den 
Türken  hingerichtet)  mit  seinen  patriotischen  Liedern  in  Sprache  und  In- 
halt stark  durch  die  Antike  beeinflußt,  aber  im  Gefühl  ein  Vertreter  seines 
Volkes;  Athanasios  Christopulos  aus  Kastoria  in  Mazedonien  (1770  — 
1847)  verdient  zwar  wegen  seiner  gewandten  und  anmutigen  Handhabung 
der  Volkssprache  erwähnt  zu  werden;  aber  seine  leicht  tändelnden  Lied- 
chen in  der  Art  unserer  Anakreontiker  sind  ohne  Tiefe  des  Gefühls  oder 


2=4  Albert  Thumb:    Die  neugriechische  Literatur. 

der  Gedanken.  Ernsteren  Inhalts  und  in  der  Form  an  das  heimische 
Volkshed  und  die  heimische  Mundart  sich  anschließend  sind  die  lyrischen 
Gedichte,  Fabeln  und  Satiren  des  Epiroten  Joannis  Vilaras  (177 1  — 1823); 
indem  Vilaras  die  Volkssprache  auch  in  der  Prosa  verwendete,  ging  er 
seinen  Landsleuten  mit  gutem  Beispiel  voran  —  freilich  ohne  damit 
sonderlichen  Eindruck  zu  machen.  Denn  die  Sprachfrage  hatte  schon  die 
Richtung  genoinmen,  welche  der  Literatur  des  19.  Jahrhunderts  den 
Stempel  aufdrücken  sollte.  Man  war  bereits  eifrig  dabei,  die  Sprache  zu 
„reinigen";  darunter  verstand  man  nicht  nur  die  Beseitigung  italienischer 
und  türkischer  Lehnwörter,  sondern  auch  die  Verbannung  echt  griechischer, 
aber  „vulgärer"  Wörter,  und  man  schreckte  selbst  vor  dem  äußersten 
nicht  zurück,  wenn  es  galt,  allgemein  gebrauchte  aber  „häßliche"  (xubaToc) 
Wörter  durch  solche  von  antiker  Form  zu  ersetzen.  Diese  schulmeister- 
liche Tätigkeit  wurde  von  Jakobos  Rizos  Nerulos  in  einem  Lustspiel 
KopaKicTiKd  (18 13)  köstlich  verspottet:  es  werden  uns  zwei  alte  Pedanten 
vorgeführt,  welche  mit  ihrer  Jagd  nach  altgriechischen  Ausdrücken  der 
Schrecken  ihrer  Umgebung  sind;  der  junge  Mann  aber,  der  die  Tochter 
des  einen  dieser  Sonderlinge  liebt,  weiß  die  Schwäche  der  beiden  Alten 
auszunützen,  um  zum  Ziele  zu  kommen  —  ganz  wie  es  sich  in  einem 
Lustspiel  geziemt. 

Der  Mann,  auf  den  mit  dem  Titel  KopaKicTiKÖ  (eigentlich  zu  KÖpaKac 
„Rabe")  angespielt  wird,  ist  der  ausgezeichnete  Philologe  Adamantios 
Korais  aus  Chios  (1748 — 1803),  einer  der  glühendsten  Patrioten,  ein  Er- 
zieher seines  Volkes,  das  er  durch  Bildung  für  die  Freiheit  reif  zu  machen 
bestrebt  war.  An  den  Übertreibungen  jener  Eiferer,  die,  wie  z.  B.  Dukas, 
für  eine  nahezu  altgriechische  vSprachform  eintraten,  ist  er  unschuldig: 
Korais  vertritt  den  cu|aßißac|aöc,  den  Kompromiß  zwischen  Volks-  und 
Schriftsprache,  und  hat  über  Wesen  und  Aufgabe  einer  Literatursprache 
gesündere  Anschauungen  als  die  Mehrzahl  der  Puristen,  welche  die  Prin- 
zipien jenes  Mannes  zu  vertreten  glauben.  Aber  wie  dem  auch  sei, 
Korais  ist  der  Vater  des  herrschenden  Systems.  Als  der  griechische 
Freiheitskampf  zu  einem  freien  griechischen  Staate  geführt  hatte,  sah 
sich  die  Nation  vor  die  Aufgabe  gestellt,  in  europäischer  Weise  alle  ihre 
öffentlichen  Angelegenheiten  zu  regeln  —  und  dazu  gehörte  auch  die 
Entscheidung  über  die  sprachliche  Form,  in  der  die  Äußerungen  des 
öffentlichen  Lebens  zum  Ausdruck  kommen  sollten.  Zwischen  Korais  und 
Vilaras  entschied  man  sich  für  jenen,  ja  man  ging  noch  über  ihn  hinaus. 
Für  die  Prosa  blieb  die  Volkssprache  ausgeschlossen,  und  es  ist  z.  B.  sehr 
zu  bedauern,  daß  der  frische  Zug,  welcher  durch  Perrävos'  Geschichte 
von  Suli  und  Parga  (1815)  geht,  nicht  auch  die  Wahl  der  Sprache  beein- 
flußte. Die  Memoiren,  welche  der  Freiheitskämpfer  Theodor  Kolokotronis 
Sieg  der  in  der  Volkssprache  verfaßte  (1851),  haben  nicht  den  Wert  eines  Litcratur- 
"äXprTJhe"  Werkes, 
j'iofer'^vaw.  Wenn  sich  die  Griechen  zu  Beginn  ihrer  „Neuzeit"  anders  entschieden 


Sprachreforn 


rV.  Die  Literatur  unter  der  Herrschaft  der  Schriftsprache.  2  "i  S 

haben  als  die  übrigen  Völker  Europas,  bei  denen  nationale  Sprache  und 
nationale  Literatur  zusammen  erwuchsen,  so  haben  hierbei  nicht  rein  lite- 
rarische Motive  den  Ausschlag-  gegeben.  So  mag  zunächst  darauf  hin- 
gewiesen werden,  daß  den  national  empfindenden  Griechen  die  Volks- 
sprache „verekelt"  wurde  durch  die  Art  und  Weise,  wie  die  Jesuiten  bei 
ihrer  Propaganda  davon  Gebrauch  machten.  Viel  wichtiger  ist  aber  ein 
anderes  Moment.  Der  europäische  Philhellenismus,  der  aus  der  Be- 
geisterung für  das  klassische  Altertum  erwachsen  ist,  hatte  eigentlich  den 
Freiheitskampf  der  Griechen  zu  einem  glücklichen  Ende  geführt,  und 
man  begreift  den  Wunsch  der  Griechen,  durch  eine  dem  Altgriechischen 
nahestehende  Schriftsprache  aller  Welt  und  besonders  den  philhellenischen 
Kreisen  zu  zeigen,  daß  sie  die  natürlichen  Erben  der  alten  Hellenen 
seien.  Denn  J.  Ph.  Fallmerayer  hatte  182g  den  Satz  ausgesprochen,  daß 
es  überhaupt  keine  Griechen  mehr  gebe,  daß  die  alte  Bevölkerung  von 
Hellas  durch  die  Slawenflut  hinweggeschwemmt  worden  sei.  Europa 
hatte  die  Griechen  unterstützt,  weil  es  sich  für  die  Nachkommen  der  alten 
Marathonkämpfer  zu  erwärmen  glaubte  —  und  nun  sollte  das  nur  eine 
Illusion  gewesen  sein.  Kein  Wunder,  daß  sich  die  Grriechen  um  die 
schlimmen  politischen  Folgen  bangten,  welche  die  Enttäuschung  Europas 
für  den  jungen  Staat  haben  konnte.  Wenn  jedoch  die  Griechen  nur  ihre 
Schriftsprache  als  Legitimation  ihrer  Herkunft  hätten,  dann  wäre  es  um 
diese  schlimm  bestellt.  Wenn  irgend  etwas,  dann  beweist  die  griechische 
Volkssprache,  das  neugriechische  Volkstum  den  innem  Zusammenhang 
alter  und  neuer  Nationalität,  und  heute  herrscht  unter  den  Kundigen  kein 
Zweifel,  daß  Fallmerayers  Hypothese  verfehlt  ist.  Die  heutigen  Griechen 
dürfen  mit  vollem  Recht  die  Nachkommen  der  alten  genannt  werden, 
wenngleich  sie  durch  Mischung  fremdes  Blut  in  sich  aufgenommen  haben 
—  wie  jedes  andere  Volk  Europas.  Die  Aufregung  der  Griechen  über 
Fallmerayer  ist  verständlich,  aber  zu  bedauern  ist,  daß  sie  den  Wahn  be- 
festigen half,  der  die  literarische  Entwicklung  des  Volkes  hemmte  und 
schädigte. 

IV.  Die  Literatur  unter  der  Herrschaft  der  Schriftsprache. 
Die  im  Jahre  1837  eröifnete  Universität  Athen  ist  von  Anfang  an  der 
Mittel-  und  Stützpunkt  der  gelehrten  Sprache  und  Literatur  gewesen  und 
bis  zum  heutigen  Tage  geblieben.  Als  Professor  gehörte  ihr  eine  Zeitlang 
Alexander  Rangavis  (Rangabe,  1810 — 1892)  an,  der  „bewußteste  und 
ausgeprägteste  Verfechter  des  Klassizismus".  Mit  Deutschland  verknüpft 
ihn  seine  Jugend  und  sein  Alter;  in  München  als  Kadett  erzogen,  be- 
kleidete er  in -der  letzten  Periode  seines  Lebens  lange  Jahre  den  Posten 
des  griechischen  Gesandten  am  Berliner  Hof.  Er  ist  ein  ebenso  viel- 
seitiger wie  feingebildeter  Geist.  Zum  Offizier  bestimmt,  als  Diplomat  im 
Staatsdienst  verwendet,  widmete  er  sich  außerdem  philologischen  und 
archäologischen  Studien  und  bereicherte  die  Literatur  seines  Volkes  nicht 


256  Albert  Thumb:    Die  neugriechische  Literatur. 

nur  mit  Übersetzungen  fremder  Meisterwerke,  sondern  auch  mit  eigenen 
Dichtungen,  Dramen  („Die  dreißig  Tyrannen",  „Phrosyni",  „Hochzeit  des 
Kutrulis"),  Romanen  („Fürst  von  Morea"  —  übrigens  ein  guter  Vertreter 
des  historischen  Romans),  epischen  und  lyrischen  Gedichten.  Aber  da 
Rangavis  ganz  im  Bann  einer  exklusiven  Sprachform  stand  und  in  erster 
Linie  ein  Gelehrter  war,  so  ist  er  trotz  seiner  poetischen  Fähigkeiten 
kein  nationaler  Dichter  geworden.  Nur  in  wenigen  Gedichten  hat  er 
Sprache  und  Inhalt  des  Volksliedes  mit  der  geläuterten  Form  der  Kunst- 
dichtung verschmolzen,  hat  aber  —  man  muß  sagen  leider  —  diese  Rich- 
tung nicht  weiter  verfolgt. 

Die  pedantische  und  unnatürliche  Sprachform  rächte  sich  am  bittersten 
im  Drama.  Auch  den  heutigen  Griechen  ist  dramatische  Begabung  nicht 
abzusprechen:  pointierte  Rede  und  Gegenrede  findet  sich  häufig  im 
Volksliede  (s.  oben).  Aber  eine  Büchersprache  kann  nur  ein  Buchdrama 
hervorbringen,  das  zwar  sehr  schöne  pathetische  Reden  enthalten  mag, 
aber  der  Seele,  des  Lebens  ermangelt.  Und  solche  Werke  bleiben  Buch- 
dramen auch  dann,  wenn  sie  alle  sonstigen  Vorzüge  dramatischer  Rich- 
tung besäßen.  Weder  Rangavis  (der  Vater  und  der  Sohn)  noch  Dimitrios 
Vernardakis  („Maria  Doxapatri",  „Merope"  und  besonders  „Fausta")  haben 
ein  nationales  Drama  geschaffen,  so  packend  bisweilen  ihre  Stoffe  sind. 
Die  Zahl  der  Dramen  ist  zwar  verblüffend  groß  —  eine  Preiskonkurrenz 
ruft  jährlich  mindestens  ein  Dutzend  hervor,  aber  ihre  Menge  steht  in  um- 
gekehrtem Verhältnis  zu  ihrem  Wert. 

Zu  dem  steifen  Prunk  der  Tragödien  eines  Rangavis  stehen  einige 
Lustspiele  in  erfrischendem  Gegensatz:  hier  darf  sich  die  Natur  eher 
hervorwagen.  Die  „Korakistika"  des  Rizos  Nerulos  wurden  schon  er- 
wähnt (N.  ist  auch  Verfasser  von  zwei  Tragödien  in  Versen,  „Polyxena"  und 
„Aspasia"),  und  es  ist  bezeichnend,  daß  gerade  die  Sprachfrage  den  Stoff 
zu  einem  Lustspiel  liefert:  wo  philologische  Fragen  so  unmittelbar  wie  in 
Griechenland  die  Fragen  des  Lebens  berühren,  ist  eben  dafür  bei  allen 
Gebildeten  Interesse  vorhanden.  So  wählte  auch  Dimitrios  Vyzantios 
dieses  Thema  für  sein  Lustspiel  „BaßuXiuvia"  (1840),  das  freilich  mehr  durch 
Komik  im  einzelnen  als  durch  seine  burleske  Handlung-  interessiert.  Der 
Dichter  führt  uns  in  die  sehr  gemischte  Gesellschaft  von  Griechen  der 
verschiedensten  Landschaften,  die  über  ihre  gegenseitigen  sprachlichen  Miß- 
verständnisse in  heftigen  Streit  geraten;  die  Hauptfigur  aber,  der  gelehrte 
Pedant  (XoTiiuTaTOc),  wird  mit  seinem  sonderbaren  Gerede  von  keinem  ver- 
standen, von  allen  verspottet. 

So  wichtig  für  die  Gestaltung  eines  Dramas  eine  lebensvolle  Sprache 
ist,  so  macht  sie  doch  von  selbst  noch  kein  Drama.  Denn  auch  die  jüngste 
Bewegung,  von  der  weiter  unten  zu  handeln  ist,  hat  noch  keinen  großen 
Wurf  aufzuweisen:  die  dramatischen  Versuche  von  Psichari  und  Eftaliotis 
sind  an  sich  interessant,  aber  kaum  von  dramatischer  Wirkung.  Eftaliotis 
hat  den  bemerkenswerten  Versuch  gemacht,  den  volkstümlichen  Stoff  der 


rV.  Die  Literatur  unter  der  Herrschaft  der  Schriftsprache.  257 

Lenorenballade  (s.  oben)  dramatisch  zu  bearbeiten;  aber  der  über  drei 
Akte  eines  Dramas  verfolgte  Stoff  hat  dabei  an  seiner  packenden  Wirkung 
stark  eingebüßt.  Das  Zeug  zum  Dramatiker  steckte  in  dem  früh  verstorbenen, 
talentvollen  Jannis  Kambisis  (1872 — 1902),  der  in  einigen  Dramen  („Farce 
des  Lebens",  „Miß  Anna  Couxley",  „Die  Kurden")  nach  der  Art  Ibsens 
die  athenische  Gesellschaft  schildert,  in  einem  Märchenspiel  („Der  Ring 
der  Mutter")  von  Gerhart  Hauptmann  beeinflußt  ist.  Kambisis  stand  über- 
haupt stark  unter  fremdem,  besonders  deutschem  Einfluß :  er  war  ein  glühen- 
der Verehrer  Goethes  und  Nietzsches  —  allerdings  auch  ein  Vertreter  des 
modernen  Symbolismus.  Als  er  starb,  war  er  noch  ganz  in  der  Entwick- 
lung. Als  Kritiker  ging  er  seine  eigenen  Wege ;  mit  Psichari  und  anderen 
Anhängern  der  Volkssprache  war  er  nur  durch  diese,  nicht  aber  durch 
seine  sonstigen  Anschauungen  verbvmden. 

Dasjenige  Literaturgebiet,  das  am  wenigsten  unter  dem  Sprachkampf  i-yrik. 
zu  leiden  hatte,  ist  auch  am  besten  und  reichsten  ausgebaut,  die  Lyrik; 
hier  wo  die  Sprache  des  Herzens  Grundbedingung  ist,  wurde  die  Herr- 
schaft der  Volkssprache  nie  ernstlich  bestritten.  Dabei  wirkte  mit,  daß 
die  Lyrik  im  neunzehnten  Jahrhundert  gleich  durch  zwei  hervorragende 
Dichter  eröffnet  wurde,  und  daß  die  Führung-  Männern  zufiel,  die  unter 
natürlichen  literarischen  Verhältnissen  aufgewachsen  waren:  Dionysios 
Solomos  (1798 — 1857)  stammte  aus  Zante,  Aristotelis  Valaoritis  (1824 
—  1879)  aus  Santa  Maura  (Leukas).  Den  Jonischen  Inseln  verdankt  das 
moderne  Griechenland  in  künstlerischer  Beziehung  sehr  viel;  denn  die 
wenigen  Maler  und  Musiker,  welche  das  Land  aufzuweisen  hat,  stammen 
ebenfalls  von  dort.  Als  Besitzungen  Venedigs  der  türkischen  Barbarei 
entrückt,  genossen  die  Jonischen  Inseln  die  Vorteile  einer  großen  Kultur; 
und  wenn  die  „Heptanesier"  sich  in  allen  künstlerischen  Dingen  durch 
geläuterten  Geschmack  auszeichnen,  so  ist  gewiß  die  italienische  Luft 
daran  schuld.  An  der  italienischen  Sprache,  mit  der  diese  Griechen  von 
Kind  auf  vertraut  waren,  lernten  sie  die  Vorzüge  einer  dem  Leben  ent- 
stammenden Schriftsprache  kennen  und  schätzen;  gab  es  doch  Männer, 
die  der  griechischen  und  italienischen  Literatur  angehören  (wie  z.  B.  Fos- 
kolos  und  Solomos). 

Solomos  ist  der  bedeutendste  Dichter  der  heutigen  Griechen;  aber  soiomc 
erst  die  jüngste  Generation  lernte  ihn  verstehen  und  würdigen.  Auch 
Solomos  gehörte  wie  Koniaros  einer  Familie  italienischen  Ursprungs  an; 
durch  seine  Erziehung  wurde  er  überdies  mit  italienischem  Wesen  völlig 
vertraut,  und  in  seinen  Dichtungen  verbindet  er  die  Bildung  eines  alten 
Kulturvolkes  mit  der  Eigenart  eines  neu  aufstrebenden  Volkes.  Die  neu- 
griechische Volkspoesie  war  ihm  der  Born,  aus  dessen  klarer  Flut  er 
schöpfte.  Am  berühmtesten  ist  sein  großer  Dithyrambus  auf  die  Freiheit, 
der  durch  patriotische  und  poetische  Begeisterung,  durch  die  Kühnheit 
der  Phantasie  und  die  Kraft  einer  edlen,  aber  natürlichen  Sprache  die 
Ehre  verdient  hat,  zum  Nationalhymnus  des  jungen  Griechenland  zu  wer- 

DiE  Kultur  der  Gegenwart.    I.  q.  17 


2  1:8  AXBERT  Thumb:    Die  neugriechische  Literatur. 

den.  Eine  andere  größere  Dichtung,  der  Hymnus  auf  Byron,  ist  ein 
würdiger  Ausdruck  der  Dankbarkeit,  den  das  griechische  Volk  dem  großen 
Philhellenen  schuldet.  Aber  auch  in  seinen  kleineren  Gedichten  (so  in 
dem  Stimmungsbild  „Die  Vergiftete")  schlägt  er  die  ergreifenden  Töne 
des  wahren  Dichters  an,  und  in  einer  lyrischen  Rhapsodie  „Lambros",  die 
unvollendet  geblieben  ist,  behandelt  er  in  neuer  und  origineller  Weise 
die  Schuld  eines  ahnungslosen  Incestes,  also  jenes  ethische  Thema  er- 
schütternder Tragik,  das  Sophokles'  Oedipus  und  Schillers  Braut  von 
Messina  zugrunde  liegt. 
valaoritis.  Solomos    ist    ein  Vertreter   des    echten   Klassizismus,  nicht  jenes    fal- 

schen, den  die  Anhänger  der  KaOapeüouca  wünschen.  Als  Romantiker 
darf  Valaoritis  bezeichnet  werden.  Das  seiner  Heimat  benachbarte 
Epirus  mit  seinen  Kleften  und  Kleftenliedern  lieferte  ihm  Form  und  Stoff 
seiner  Dichtungen;  sie  sind  zur  Kunstdichtung  erhobene  Volkspoesie:  den 
Charosliedern  hat  er  ein  „Totenlied"  (NeKpiKfi  ibbn)  zur  Seite  gestellt,  das 
in  Empfindung  und  Stimmung  ganz  den  Geist  des  Volksliedes  atmet. 
Seine  epischen  Werke  (in  denen  freilich  die  lyrischen  Partien  am  besten 
sind)  sollten  die  Begeisterung  für  die  jüngste  Heldenzeit  des  Volkes 
lebendig  erhalten:  die  „Phroso"  führt  uns  an  den  Hof  des  mächtigen  und 
blutgierigen  Ali  Pascha  von  Jannina,  der  „Diakos"  schildert  die  Helden- 
taten des  gleichnamigen  Kleften  und  Freiheitskämpfers. 
Sonstige  Lyriker.  Der  Boden,  dem  Solomos  entstammt,  hat  auch  noch  andere,  jenem 
verwandte,  wenn  auch  nicht  ebenbürtige  Dichter  hervorgebracht;  der 
Raum  verbietet  es,  mehr  als  die  Namen  zu  nennen;  es  sind  der  mystisch- 
empfindsame Julios  Typaldos  aus  Cefalonia  (1814 — 1883),  der  dem  Vala- 
oritis verwandte  Georgios  Tertsetis  aus  Zante,  sowie  zwei  Männer,  die  die 
Verbindung  mit  der  Gegenwart  herstellen,  G.  Markoras  aus  Korfu  (geb. 
1826)  und  Stephan  Martzokis  aus  Zante  (geb.  1855). 

Nur  einer  der  jonischen  Griechen,  Andreas  Kalvos  aus  Zante,  folgt 
in  seinen  patriotischen  Oden  den  Bahnen  desjenigen  Klassizismus,  der  im 
griechischen  Königreich  offiziell  war.  Neben  ihm  und  dem  schon  ge- 
nannten Rangavis  sind  zwei  Brüder  aus  einer  fürstlichen  Phanarioten- 
familie,  Alexander  (1803 — 1863)  und  Panagiotis  (1806 — 1868)  Sutsos, 
tonangebende  Vertreter  dieser  Richtung  —  beide  lyrisch  begabt,  aber  doch 
keine  wirklichen  Dichter;  der  eine,  Alexander,  ein  überspannt  temperament- 
voller Chauvinist,  der  in  Satiren  und  halb-epischen  Dichtungen  „Der  Ver- 
bannte", „Das  türkenkämpfende  Hellas"  seinen  verbissenen  Haß  gegen 
Kapodistrias,  gegen  die  bayrische  Regentschaft  und  gegen  die  Türken 
zum  Ausdruck  brachte,  der  andere  eine  sentimentale  und  pessimistische 
Natur,  die  sich  tatenloser  Empfindung  hingibt  (vgl.  die  zwei  größeren 
Werke  „Der  Wanderer"  und  „Leandros"). 

Daß  bei  dem  bis  in  die  siebziger  Jahre  herrschenden  Geist  die  Poesie 
des  Herzens,  die  Lyrik,  nicht  gedeihen  konnte,  kann  nicht  überraschen. 
Wirkliche    Talente    wie    Zalakostas  (1805— 1888)    oder  Achilleus  Para- 


V.   Die  Literatur  im  Zeichen  des  Sprachkampfes.  2  SQ 

schos  (1833— 1895)  wurden  durch  die  akademischen  Preisgerichte  hübsch 
im  Zaum  gehalten,  so  daß  sich  ihr  dichterisches  Empfinden  nur  gelegentUch 
ausleben  konnte  —  dann  natürlich  in  der  Sprache,  die  durch  das  Volkslied 
geadelt  ist;  den  akademischen  Preis  erhielt  aber  z.  B.  Zalakostas  nicht  für 
solche  Leistungen,  sondern  für  das  Gedicht  auf  die  ruhmvolle  Verteidigung 
von  Mesolongi  (Tö  MecoXÖYTiov),  das  mit  seinen  abgestorbenen  Formen  und 
Versen  ein  Anachronismus  gegen  jene  Männer  ist,  die,  vom  Kleftengeist 
beseelt,  die  zähe  Verteidigung  der  hartbedrängten  Stadt  durchführten. 

V.  Die  Literatur  im  Zeichen  des  Sprachkampfes.  SprachUche  Der  Kampf  i 
Unnatur  führt  zur  literarischen  Verödung.  Aber  der  Genius  eines  Volkes  ^Sprach^ 
läßt  sich  durch  akademische  Vorschriften  auf  die  Dauer  nicht  unter- 
drücken. Ende  der  siebziger  Jahre  brach  der  Sturm  los,  der  von  Jahr  zu 
Jahr  heftiger  wurde  und  immer  mehr  zum  reinigenden  Gewitter  zu  werden 
scheint.  E.  Roidis  forderte  in  scharfer  Kritik  der  bestehenden  Zustände, 
daß  die  Poesie  in  die  Bahnen  einlenken  müsse,  welche  durch  das  Volks- 
lied und  einen  Dichter  wie  Solomos  vorgezeichnet  sind.  Und  es  erstanden 
bald  in  Georg  Drosinis  und  Kostas  Palamas  zwei  Lyriker,  die  echter 
poetischer  Empfindung  in  einer  natürlichen  Sprache  Ausdruck  zu  geben 
wissen.  Die  Zahl  der  Lyriker,  welche  seit  1880  mit  wechselndem  Glück 
die  gleichen  Forderungen  erfüllten,  ist  recht  beträchtlich;  über  die  Einzelnen 
zu  sprechen  verbietet  der  Raum,  auch  ist  die  Lyrik  nicht  mehr  die 
charakteristischste  Erscheinung  in  der  Literatur  des  modernen  Griechen- 
lands. Als  naXXiapoi,  d.  h.  als  Dichter  mit  der  „langen  Mähne"  von  den 
Gegnern  der  neuen  Bewegung  verspottet,  haben  es  diese  „Jüngst-Griechen" 
erreicht,  daß  in  der  lyrischen  Poesie  heute  die  Herrschaft  der  Volkssprache 
kaum  bestritten  wird.  A.ber  nachdem  diese  Position  erobert  war,  galt  es 
für  die  Anhänger  der  Opposition,  weitere  Gebiete  zu  gewinnen.  Es  war 
von  großer  Bedeutung,  daß  die  von  Drosinis  und  Politis  geleitete  Zeit- 
schrift 'GcTia  der  neuen  Richtung  eine  Heimstätte  bot;  mit  Geschmack 
und  Zurückhaltung  vertrat  sie  die  neuen  Ideen.  Sie  ging  leider  1894  ein, 
die  Zeitschriften,  die  folgten,  sind  radikaler  und  weniger  vorsichtig;  daß 
beim  Eingehen  der  einen  Zeitschrift  immer  wieder  neue  in  den  Kampf 
einrücken,  zeigt,  daß  die  Sprachfrage  nicht  mehr  zur  Ruhe  kommt,  bis 
eine  Entscheidung  herbeigeführt  sein  wird.  Der  Kampf  trat  in  eine  ent- 
scheidende Krisis  durch  die  Tätigkeit  von  Jean  Psichari,  einem  in  j.  Psichari. 
Paris  als  Professor  der  neugriechischen  Philologie  wirkenden  Griechen. 
Mit  der  teils  empfindsamen,  teils  stark  räsonierenden  und  satirischen  Be- 
schreibung einer  Reise  nach  Griechenland  (Tö  xaSibi  |uou,  1888,  2.  Aufl.  1905) 
übernahm  er  die  Führung  im  Kampf  und  gab  das  Zeichen  zu  einem  neuen 
Stunn  gegen  die  Kaöapeüouca.  In  diesem  Buche,  dessen  „vulgäre"  Sprache 
bei  den  Anhängern  der  bestehenden  Ordnung  helle  Entrüstung  hervorrief, 
predigte  er  das  Evangelium  der  Volkssprache  in  glühenden  Worten;  im 
Gegensatz    zu   anderen,    wie    Roidis,    die   in  ihren  Erörterungen  sich  der 

17* 


2  5o  Albert  Thumb:    Die  neugriechische  Literatur. 

Schriftsprache  bedienten,  verband  Psichari  die  Propaganda  des  Wortes 
und  der  Tat:  in  wissenschaftlichen  Aufsätzen  wie  in  Novellen,  Romanen 
und  Dramen  schuf  er  eine  Sprachform  der  Prosa,  die  nicht  nur  jeglichen 
Gedankenausdrucks  fähig  ist,  sondern  auch  durch  ihren  eleganten  und 
leichten  Fluß  wohltuend  berührt  gegenüber  der  toten  Steifheit  der  Ka6a- 
peuouca.  Als  Schriftsteller  ist  er  schwer  zu  beurteilen,  da  er  zu  vielseitig 
schillernd  ist;  in  seinem  „Roman  der  griechischen  Seele"  (Toveipo  lou 
fiawipri,  1897)  nimmt  er  den  höchsten  Flug,  indem  er  uns  einen  Helden 
des  Geistes  schildert  —  eine  Art  Faustnatur,  der  doch  eigentlich  das 
fehlt,  was  zum  Helden  in  erster  Linie  gehört,  der  Tatendrang,  die  höchste 
Aktivität;  denn  sein  Janniris  ist  schließlich  doch  nur  ein  Gelehrter,  ein 
Schriftsteller,  ein  Dichter,  ein  homme  d'esprit,  mögen  diese  Gaben  auch 
in  höchster  Potenz  vorhanden  sein  —  und  so  hat  Psichari  vielleicht  wirk- 
lich die  geheimste  Natur  seines  Volkes  idealisiert.  Es  ist  übrigens  be- 
merkenswert, daß  Psichari  in  dem  Kampfe,  den  er  entfesselt  hat,  von 
seinen  Geg'nern  immer  nur  als  Sprachreformer,  nicht  als  Schriftsteller  an- 
gegriffen wird;  nur  der  schon  genannte  Kambisis  hat  in  mehr  schwärme- 
rischen als  klaren  Ausführungen  die  literarische  Richtung  von  Psichari 
bekämpft,  indem  er  ihr  den  lebendigen  Geist  des  neugriechischen  Volks- 
tums abstritt.  Aber  Kambisis  vertritt  selbst  einen  so  ungriechischen 
Symbolismus  und  steht  so  sehr  unter  der  Herrschaft  einer  fremden  Ideen- 
welt, daß  man  diesem  Urteil  keine  allzugroße  Bedeutung  beimessen  kann. 
Hat  doch  Psicharis  Auftreten  wie  mit  Zauberkraft  eine  bodenständige 
Literaturgattung  zum  Leben  erweckt,  die  bis  dahin  fast  ganz  fehlte:  die 
heimatliche  Dorf-  und  Seenovelle. 

Im  Bann  des  Klassizismus  hatte  die  Erzählungskunst  (die  durch  einige 
historische  Romane  und  Novellen  vertreten  war)  wenig  Eigenart:  griechi- 
scher Ursprung  wäre  ihnen  in  fremder  Übersetzung  kaum  anzusehen.  Das 
gilt  auch  noch  von  Drosinis'  anmutiger  Novelle  „Amaryllis"  (1886),  die 
durch  ihre  ungekünstelte  Sprache  den  Übergang  zu  einer  neuen  Technik 
der  erzählenden  Prosa  bildet.  Aber  in  anderen  Erzählungen  zeigt  dieser 
Schriftsteller  ein  feines  Verständnis  für  die  Regungen  der  Volksseele, 
ebenso  wie  der  schon  genannte  Palamas  mit  seinem  „Tod  eines  Palli- 
karen".  Aber  erst  das  Beispiel  von  Psichari  hat  eine  Reihe  jüngerer 
Talente  ermutigt,  sich  in  den  Dienst  dieser  heimischen  Novelle  und  der 
Volkssprache  zu  stellen;  gewandte  und  gemütvolle  Erzähler  wie  z.  B. 
Chatzopulos,  Christovasilis,  Eftaliotis,  Epachtitis,  Karkavitsas  schildern  uns 
in  anschaulichen  Farben  die  Bauern  des  Peloponnes  oder  die  Hirten  von 
Epirus  oder  die  aus  Rauheit  und  Weichheit  seltsam  gemischten  Seeleute 
der  Inseln;  das  Denken  und  Fühlen  des  Volkes,  seine  Freuden  und 
Schmerzen,  sein  Tun  und  Treiben  wird  uns  bald  in  ausgeführten  Novellen, 
bald  in  kleinen  Skizzen  vor  Augen  geführt.  Sie  sind  das  Gegenstück 
zum  Volkslied,  das  sie  in  der  trefflichsten  Weise  illustrieren.  Die  objek- 
tive Darstellung  ist  ein  bemerkenswertes  Kennzeichen  dieser  Schilderungen: 


V.   Die  Literatur  im  Zeichen  des  Sprachkampfes.  201 

das   persönliche  Empfinden   des  Erzählers   tritt  hinter   dem   Erzählten   fast 
ganz  in  den  Hintergrund. 

In  der  Pflege  solcher  Heimatskunst  reifte  die  Volkssprache  heran,  um  Sonstige  Prosa 
für  größere  Aufgaben  Verwendung  finden  zu  können.  Zwar  ist  der  natio- 
nale Roman  großen  Stils  (von  Psichari  abgesehen)  noch  nicht  gepflegt 
worden,  aber  schon  wagt  man  sich  an  die  Kunst  der  wissenschaftlichen 
Prosa.  Auch  hier  ist  Psichari  vorangegangen;  seinem  Beispiel  folgte  vor 
allem  die  Geschichte  des  neugriechischen  Volkes  von  Eftaliotis  (McTopia 
Tric  Ptuiaioctjvric  I.  igoi).  Man  bewundert  in  diesem  Werke  die  Eleganz 
und  Beweglichkeit  des  Ausdrucks,  die  glückliche  Wiedergabe  wissen- 
schaftlicher Termini  und  die  Kraft  der  Sprache,  die  sich  besonders  in  der 
psychologischen  Charakterschilderung  bewährt. 

Die  allerjüngste  Phase  in  der  Entwicklung   einer  neuen  Sprache   und        Bibei- 

■>        '='  o  i  Übersetzung  vo: 

Literatur  wird  im  Jahre  igoo  durch  den  Kampf  um  die  Bibelübersetzung  1900  und  ihr 
eingeleitet.  A.  Pallis,  ein  in  England  lebender  Grieche,  veröffentlichte 
eine  Probe  seiner  Übersetzung  des  Neuen  Testamentes  und  rief  dadurch 
eine  Studentenrevolte  hervor,  die  sich  gegen  die  Neuerer  und  Ketzer 
richtete ;  die  Hintermänner  des  Putsches  sind  in  den  Kreisen  der  Reaktio- 
näre zu  suchen.  Vulgärgriechische  Bibelübersetzungen  gab  es  zwar  schon 
vorher,  und  man  regte  sich  darüber  nicht  besonders  auf;  aber  dieser  neue 
Versuch  wurde  von  den  Puristen  mit  religiösen  und  politischen  Fragen 
verquickt,  und  mit  der  brutalen  Gewalt  verband  man  die  Androhung  des 
kirchlichen  Bannfluches,  um  die  Übersetzung  und  ihre  Anhänger  unmög- 
zu  machen.  So  wenig  verständlich  es  für  uns  erscheint,  daß  eine  litera- 
rische Bewegung  zum  Blutvergießen  führt,  so  können  wir  doch  verstehen, 
warum  die  Anhänger  des  Alten  gerade  eine  volkstümliche  Übersetzung 
der  Bibel  für  gefahrlich  halten  und  gegen  sie  mit  allen  Mitteln  vorgehen : 
ein  Buch  wie  die  Bibel  wirkt  vorbildlich  auch  in  seinem  äußeren  Ge- 
wand; da  die  neugriechische  Literatur  noch  keinen  Dante  oder  Goethe 
hervorgebracht  hat,  so  versuchen  es  die  Vertreter  des  Neuen,  durch 
Übersetzung  fremder  Meisterwerke  die  literarische  Lebensfähigkeit  der 
Volkssprache  zu  erweisen.  Als  IQ03  eine  volkstümliche  Bearbeitung  von 
Äschylos'  Orestie  in  Athen  aufgeführt  wurde,  griffen  die  Gegner  wieder 
zum  gleichen  Kampfmittel;  es  gab  im  Theater  eine  Revolte,  die  nur  nicht 
so  blutig  verlief  wie  diejenige  um  die  Bibel.  So  hat  sich  schließlich  die 
Sprachfrage  zu  einem  Kampf  um  die  Übersetzungen  zugespitzt;  in  der 
jüngsten  Zeit  (1Q04)  hat  Pallis  die  schon  i8g2  begonnene  Iliasübersetzung 
zu  Ende  geführt,  ja  er  hat  sich  zusammen  mit  Marketis  an  eine  noch 
schwierigere  Aufgabe  gewagt,  an  eine  Übertragung  der  einleitenden  Ab- 
schnitte von  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft;  sie  überrascht  durch  ihre 
Klarheit  und  die  meist  sehr  glückliche  Wiedergabe  philosophischer  Ter- 
mini. Diese  Aufgabe  ist  vielleicht  vorläufig  noch  eine  Kraftvergeudung, 
aber  sie  zeugt  von  dem  Mut  und  der  Zuversicht,  welche  die  Anhänger 
der  neuen  Richtung  in  sich  fühlen. 


202  Albert  Thumb:    Die  neugriechische  Literatur. 

Die  sprachlich-  S  c  h  1  u  ß.     Die   neugriechischc  Literatur  steht  zurzeit   mitten   in  einer 

literarische  .  t       t^ 

Krisis  und  ihre  Krisis.     Seit  dem  Altertum  ist  die  Entstehung  einer  durchaus  neuen  Lite- 

nationale 

Bedeutung,  raturform  und  Literaturblüte  immer  wieder  gehemmt  worden.  Auf  Poly- 
bios  und  die  frühchristliche  Literatur  folgten  die  Sophisten  der  Kaiser- 
zeit; neue  Keime  der  frühbyzantinischen  Epoche  werden  durch  die  rein 
äußerliche  Renaissance  der  Komnenen  erstickt,  die  auf  Kreta  einsetzende 
Vulgärliteratur  wird  durch  die  Türkenherrschaft  gestört;  aufSolomos  folgt 
endlich  zum  drittenmal  ein  pedantischer  Klassizismus.  Die  jüngste  Literatur 
lenkt  nun  wieder  unter  dem  starken  Widerspruch  der  „Akademiker"  in 
die  Bahn  ein,  welche  zuletzt  von  Solomos  beschritten  worden  war;  die 
Leidenschaft  des  Kampfes  und  das  Interesse  des  Volkes  scheint  stärker 
denn  je  zu  sein.  Die  Anhänger  des  Neuen  kämpften  für  die  höchsten 
Güter  ihres  Volkes,  für  eine  nationale  Sprache,  eine  nationale  Literatur 
und  überhaupt  für  nationale  Eigenart. 

Das  Recht  des  Lebens  ist  auf  der  Seite  der  Neuerer,  und  man  muß 
dem  Genius  des  Volkes  wünschen,  daß  nicht  wieder  Gewalt  und  Unver- 
stand die  Weiterentwicklung  guter  Keime  hemmen.  Mehr  als  die  Literatur 
allein  steht  auf  dem  Spiele;  die  Sprachfrage  berührt  nicht  nur  die  Literatur 
und  die  nationale  Erziehung,  sondern  auch  die  politische  Stellung  des 
griechischen  Staates:  die  Expansionskraft  des  Volkes  ist  (z.  B.  in  Make- 
donien) durch  die  unerquicklichen  Sprachverhältnisse  gehemmt,  die  sich 
natürlich  am  meisten  in  den  Schulen  der  Diaspora  störend  bemerkbar 
machen.  Ein  Volk,  das  seine  Muttersprache  preisgibt  und  sogar  be- 
schimpft, verzichtet  schon  halb  auf  seine  Existenz  —  wenigstens  in  Europa. 
Im  politischen  und  kulturellen  Wettbewerb  mit  den  übrigen  Völkern  des 
Balkans  wird  Griechenland  nur  dann  auf  die  Dauer  erfolgreich  konkurrieren 
können,  wenn  es  in  allen  Gebieten  des  Lebens  und  so  auch  im  Ausdruck 
seiner  Gedanken  nicht  erstarrt,  sondern  dem  Fortschritt  und  der  natür- 
lichen Entwicklung  huldigt. 


Literatur. 

Erst  die  jüngste  Zeit  hat  eine  Darstellung  der  neugriechischen  Literatur  gebracht, 
welche  auf  die  innere  Entwicklung  und  die  treibenden  Kräfte  hinweist  (s.  u.).  Die  Ge- 
schichte der  neugriechischen  Literatur  von  P.  NICOLAI  (Leipzig,  1876)  kommt  nur  als  stoffliches 
Repertorium  in  Betracht;  die  Literaturgeschichten  von  Rangavis  und  Sanders  sind  nur 
eine  dürftige  Aneinanderreihung  literarischer  Tatsachen;  sie  stehen  übrigens  ganz  im  Bann 
der  Schriftsprache,  mit  deren  Maßstab  die  Schriftsteller  gemessen  werden.  Eine  kurze,  aber 
geistvolle  Würdigung  der  neugriechischen  Poesie  gab  G.  Meyer,  der  ausgezeichnete  Kenner 
der  ganzen  Balkanphilologie,  in  den  Essays  und  Studien  zur  Sprachgeschichte  und  Volks- 
kunde I  (18S5)  S.  309  ff.  und  II  (1893)  S.  260  ff.  K.  Dieterich,  Geschichte  der  byzantinischen 
und  neugriech.  Literatur  (Leipzig,  1902),  hat  zuerst  in  einer  größeren  Darstellung  den  Ver- 
such 'gemacht,  das  Thema  innerlich  und  wissenschaftlich  zu  erfassen;  so  konstruktiv  der 
\''erfasser  in  vielen  Punkten  ist  (eine  Folge  des  Mangels  an  eindringenden  Detailarbeiten), 
so  hat  er  doch  die  Haupttriebkräfte  der  Entwicklung,  besonders  die  Wirkung  der  zwie- 
spältigen sprachlichen  Verhältnisse,  richtig  gezeichnet.  Die  Anmerkungen  geben  Auskunft 
bibliographischer  Art.  Wichtige  Repertorien  für  die  ältere  Zeit  sind:  E.  Legrand,  Biblio- 
graphique  hellenique  ou  description  raisonnde  des  ouvrages  publies  par  des  Grecs  au  15.  et 
16.  si^cle,  2  Bde.  (Paris,  1885),  bzw.  ...  au  17.  sifecle,  5  Bde.  (1894— 1903);  K.  N.  Zdeac, 
Neoe\Xr)viKti  OiXoXoyia.  BiOTpciq)iai  tiIiv  iv  toTc  YP^I-'^aci  6iaXa|an)(ivTyuv  'EWrivujv,  1453 — 
1821  (Athen,  1868).  —  Über  neuere  Erscheinungen  der  neugriech.  Philologie  (Sprache  und 
Literatur)  seit  1890  orientieren  meine  Berichte  im  Anzeiger  der  Indogerm.  Forschungen  I. 
VI.  IX.  XIV.  XV. 

Ausgaben:  Unternehmungen  wie  unsere  Reclambibliothek  sind  schon  in  den  An- 
fängen stecken  geblieben,  so  die  'CWriviKr')  BißXioSiiKri  von  Barth  und  Wilberg,  i  i  Hefte, 
und  ZaK£\Xapiou  BißXio6riKr|  toO  XaoO,  8  Hefte. 

Chrestomathien:  M1TSOTAKIS,  Chrestomathie  der  neugriech.  Schrift  und  Umgangs- 
sprache (Berlin,  1895),  Legr.\ND  und  Pernot,  Chrestomathie  grecque  moderne  (Paris,  i8g8). 
Eine  reichhaltige  Auswahl  lyrischer  Stücke  bei  A.  TaTKÖTTOuXoc,  N^a  XaiKr]  ävSoXo-fia 
(Athen,   1899). 

S.  249.  Über  die  neugriechische  Volkssprache  vgl.  die  orientierende  Skizze  von 
A.  Thumb,  Die  neugr.  Sprache  (Freiburg,  1891);  femer  desselben  Handbuch  der  neugr. 
Volkssprache  (1895);  weiteres  in  den  schon  genannten  Berichten.  Über  die  ,, Sprachfrage" 
handelt  am  ausführlichsten  K.  Krumbacher,  Das  Problem  der  neugriech.  Schriftsprache 
(München,   1902)  und  zuletzt  A.  Thumb  in  den  Neuen  Jahrb.  f.  d.  klass.  Altertum  XVII  (igo6). 

S.  250.  Der  tsakonische  Dialekt,  der  an  der  Ostküste  des  Peloponnes  in  der  alten 
Kynuria  gesprochen  wird,  ist  ein  Nachkomme  des  alüakonischen  Dialekts. 

S.  250.  Volkspoesie:  Die  reichhaltigste  Sammlung  ist  Passow,  Popularia  carmina 
Graeciae  recentioris  (Leipzig,  1860).  Treffliche  deutsche  Übertragungen  von  G.  Meyer 
(Stuttgart,   1890)  und  H.  LÜBKE  (Berlin,   1895). 

S.  250.  Zum  Epos  von  Digenis  Akritas:  Gegen  die  Bezeichnung  als  byzantinisches 
Nationalepos  erhebt  K.  Dieterich  a.  a.  O.  Widerspruch,  doch  sehe  ich  keinen  zwingenden 
Grund,  davon  abzugehen. 


264  Albert  Thumb:    Die  neugriechische  Literatur. 

S.  250.  Die  Lieder  auf  den  Fall  Konstantinopels  sind  zuletzt  behandelt  von 
Krumbacher  in  den  Sitzungsberichten  der  Bayer.  Akademie  1901. 

S.  251.     Zur  epischen   Begabung  des  neugriech.  Volkes  vgl.  G.  Mever,  Essays  I,  312. 

S.  251.     Über  die  Gestalt  des  Charos  vgl.  besonders  Hesseling,  Charos  (Leiden,  1897). 

S.  252.  Sprichwörter:  N.  f.  TToXiTric,  MeXdToi  Tiepi  toO  ßiou  ToO  '6\\r|viKoO  XaoO. 
TTapoiniai  (seit   1899;  erschienen  sind  4  Bde.). 

S.  252.  Über  das  Opfer  Abrahams  vgl.  Psichari,  Revue  de  Paris  1903  (April).  Das 
italienische  Vorbild  ist  noch  nicht  gefunden.  Auf  die  griechischen  Elemente  des  Stückes 
weist  besonders  K.  Dieterich  hin. 

S.  253.  Zu  Rigas;  bei  den  ihm  zugeschriebenen  Liedern  steht  nicht  immer  dessen 
Urheberschaft  fest. 

S.  254.     Über  die  Memoiren  des  Kolokotronis  vgl.  Rev.  des  Etudes  grecques  VI,  92  ff. 

S.  254.  Daß  erst  mit  dem  Freiheitskampf  für  die  Griechen  die  Neuzeit  begonnen 
hat,  ist  eine  treffende  Bemerkung  von  A.  BiK^Xac,  Aia\iit\c  Kai  dvanviiceic  (."Vthen,  1893) 
S.  100  ff. 

S.  256.  Dramen  von  Psichari  in  dessen  Buch  fiä  tö  PtunaiiKO  G^arpo  (Athen,  1901). 
Das  Buch  enthält  ein  Drama  und  eine  Komödie. 

S.  256f.  In  allerjüngster  Zeit  ist  ein  zweites  Volkslied,  die  Sage  von  der  , .Artabrücke", 
dramatisiert  worden:  Tö  dvexTiiun'^o  v"  TT.  Xöpv  (1906);  zwar  gilt  hier  ähnliches  wie  für 
den  Versuch  von  Eftaliotis;  aber  im  3.  Akt  erweckt  der  Verfasser  durch  eine  teils  psycho- 
logische, teils  allegorische  Vertiefung  des  Sagenstoffes  das  Interesse  des  Lesers. 

S.  257.  Über  die  Schätzung  von  Solomos  bei  der  heutigen  Generation  vgl.  z.  B. 
K.  TTaXafiäc,  rpafi^ara  I  (Athen,  1904),  ferner  Pal.'\MAS'  Vorrede  zur  Gesamtausgabe  des 
Dichters  (Athen,   1901). 

S.  258.     Daß  Valaoritis   als  Romantiker   zu   bezeichnen  sei,    erkannte  K.  DiETERICH. 

S.  259.  Werke  von  Drosinis:  'IcToi  dpdxvric  (1880),  ZxaXaKTiToi  (1881),  €i60XXia  (1885), 
'A|adpavTO  (1890),  Airifrii-iaTa  Kai  dvaiaviiceic  (1886)  u.  a. 

S.  259.  Werke  von  Palamas:  Td  Tpafou&ia  Tf|c  iraTpiöoc  (lou  (1886),  Td  ludria  xfic 
ijiuxnc  nou  (1890),  "iaiußoi  Kai  dvdTraicToi  (1897),  'H  dcdXcurr)  Zuuri  (1904),  '0  6uj&6KdXofo<;  toö 
rOq)TOU  (1907)  u.  a. 

S.  259.  Über  die  Zeitschriften,  welche  die  moderne  Bewegung  vertreten,  vgl.  Krum- 
BACHER,  Sprachfrage,  S.  121  f.  Gegenwärtig  wirkt  die  Wochenzeitung  ,,'0  Noundc"  in 
diesem  Sinn.    Die  neuste  Gründung  (1907)  ist  eine  Monatschrift  „'HTil<J'Jf'"  f"''  lyrische  Poesie. 

S.  259.  Werke  von  Psichari  (fidvvric  Vuxdpr|c)  außer  den  schon  genannten:  Zu)i?i 
Kl  dfdiTri  CTi^  novaSid  (1905);  kleine  Schriften:  Pö&a  Kai  (ifjXa,  4  Bde.  (1902 — 1907);  Töveipo 
ToO  fiawlpri  ist  von  Ps.  auch  französisch  bearbeitet  (Le  Reve  de  Yanniri,   1898). 

S.  260.  Kambisis  contra  Psichari:  '0  Vuxapiciuöc  k'  i*|  Zwf\.  Tö  TTcpio&iKÖv  |aac  I 
(1900).     Gegen  Kambisis  wendet  sich  G.  VOKOS  in  derselben  Zeitschrift  III,  182  ff. 

S.  260.  Romanliteratur  aus  älterer  Zeit:  außer  Rangavis  (s.S.255f.)  sind  zu  nennen 
Vikelas'  ,,Lukis  Laras"  (in  Übersetzung  bei  Reclam)  und  Kalligas'  ,,Thanos  Vlekas"; 
Xenos'  ,, Heldin  des  Freiheitskampfes"  verrät  zwar  einen  phantasievollen  und  fesselnden 
Erzähler,  gehört  aber  doch  mehr  in  die  Kategorie  der  Kolportageromane. 

S.  260.  Auswahl  aus  der  neueren  Erzählungsliteratur  in  den  'CXXiiviKO  ^lll■f'l^aTa 
(Athen,  1896). 

S.  261.  Pallis'  Übersetzung  der  Evangelien  erschien  Liverpool,  1901.  Über  die  ein- 
zelnen Motive  des  Kampfes  gegen  die  Übersetzung  vgl.  A.  Thumb  in  den  Grenzboten  1902 
(I)  S.  137  ff 

S.  261.  Zur  Aeschylosrevolte  vgl.  Krumbacher,  Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung 
1904,  Nr.  4. 


DIE  UNGARISCHE  LITERATUR. 

Von 
Friedrich  Riedl. 


Einleitung.  Vor  mehr  als  tausend  Jahren  vollzog  sich  in  dem  Teil 
Europas,  den  die  Karpathen  umgürten  und  die  Donau  und  Theiß  durch- 
strömen, ein  erstaunliches,  in  seinen  Folgen  überraschendes  Ereignis: 
plötzlich  erscheinen  hier  zum  allgemeinen  Entsetzen  in  dem  Herzen  des 
christlichen  Europa,  wilde,  heidnische  Reiterscharen,  besetzen  das  Land 
und  machen  es  zum  Mittelpunkt  ihrer  unglaublich  weit  reichenden  Beute- 
züge. Bald  erscheinen  sie  hoch  im  Norden  und  äschern  Bremen  ein, 
bald  dringen  sie  südwärts  bis  zur  athenischen  Akropolis,  schlagen  ihr 
Lager  im  Angesichte  des  ewigen  Rom  unter  den  Riesenbogen  des 
Aquäduktes  auf  (bis  wohin  es  selbst  Attila  der  Gottesgeißel  nicht  ver- 
gönnt war  vorzudringen),  hausen  zu  Subiaco  in  den  Gärten  Neros  und 
pochen  selbst  an  die  goldene  Pforte  der  Konstantinus-Stadt.  Im  Westen 
übersteigen  sie  sogar  die  Pyrenäen  und  verbreiten  überall  zu  Lande  auf 
ihren  Pferden  das  nämliche  Entsetzen  wie  ihre  Zeitgenossen,  die  Wikinger 
auf  ihren  Schiffen  zur  See.  Aber  noch  erstaunlicher  ist  es,  daß  diese 
berittenen  Horden,  welche  ihre  kleinen  flinken  Rosse  in  dem  Ilissus  und 
dem  Ebro,  in  der  Elbe  und  dem  Tiberis  tränkten,  im  Zentrum  ihrer 
Raubzüge,  in  Ungarn,  einen  bleibenden  starken  Staat  zu  bilden  im- 
stande waren. 

Das  ist  um  so  bemerkenswerter,  da  vor  den  Ungarn  kein  einziges 
Volk  hier  seßhaft  werden  konnte.  Es  wohnten  hier  die  Kelten,  gründeten 
Städte  und  verschwanden.  Unter  dem  ersten  römischen  Kaiser,  unter 
Augustus,  erscheinen  dann  die  Erzadler  der  römischen  Legionen  in  den 
panuonischen  Urwäldern:  hier  arbeitet  der  weiseste  aller  Regenten,  Marcus 
Aurelius,  an  seinen  philosophischen  Schriften;  hier  wird  der  letzte  Nach- 
kömmling des  großen  Augustus,  der  kleine  Augustus,  Romulus  Augustulus, 
geboren.  Und  mit  seiner  Jammergestalt  verschwindet  die  römische  Herr- 
schaft aus  Ungarn.  Es  kommen  und  verschwinden  die  Hunnen,  deren 
mächtigster  Fürst,  Attila,  seine  Holzpaläste  zwischen  der  Donau  und  der 
Theiß   erbaut;    es  kommen  und   verschwinden   die  Longobarden,   die  Ge- 


266 


Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 


charakterzug 

der  ungarischei 

Literatur. 


Alleste 

Erwähnung  de 

ungarischen 

Literatur 


piden,  die  Jazygen  und  die  ringbewohnenden  Avaren.  Endlich  erscheinen 
die  Ungarn,  und  es  geUngt  ihnen,  was  noch  keinem  gelang:  sie  bilden 
hier  unter  feindlichen  Völkern  einen  bleibenden  und  mächtigen  Staat,  der 
im  14.  und  15.  Jahrhundert,  als  die  großen  nationalen  Staatsgebilde 
Europas  noch  kaum  existieren,  unter  genialen  Königen,  wie  Ludwig  von 
Anjou  und  Mathias  Corvinus,  eine  Rolle  ersten  Ranges  spielt. 

Jedes  europäische  Volk  hat  eine  besondere  Gabe.  Die  Griechen  und 
die  Italiener  die  Kunst,  die  Römer  das  Recht,  die  Deutschen  die  Meta- 
physik und  die  wissenschaftliche  Methode,  die  Engländer  die  bürgerliche 
Freiheit  und  die  Gabe  der  Kolonisation,  die  Franzosen  den  Geschmack 
und  den  Stil.  Das  Meisterwerk  des  ungarischen  Volkes  war  die  Bildung 
und  die  Erhaltung  des  ungarischen  Staates,  welcher  das  Produkt  eines 
tausendjährigen  mühsamen,  oft  verzweifelten  Kampfes  ist. 

Damit  hängt  auch  der  Hauptcharakterzug  der  ungarischen  Literatur 
zusammen.  Die  treibende  Kraft  in  ihr  ist  das  Bestreben  der  Erhaltung  der 
Rasse:  die  ungarische  Poesie  ist  in  erster  Reihe  Ausdruck  des  National- 
gefühls. Diese  stark  nationale  Tendenz,  dieses  Vorwiegen  des  Gattungs- 
gedankens erklärt  sich  zur  Genüge  aus  dem  Schicksale  des  stets  um  seine 
nationale  Existenz  und  um  seine  Unabhängigkeit  kämpfenden  ungarischen 
Volkes.  Der  Grundsatz:  l'art  pour  l'art  fand  hier  keine  Anwendung: 
das  Allgemein-Menschliche  tritt  zurück.  Alle  bedeutenden  Dichter  der 
Magyaren,  von  der  ältesten  Zeit  angefangen,  stehen  im  Dienste  der 
nationalen  Idee;  die  Poesie  wird  zum  Mittel  der  Stammeserhaltung.  Es 
gibt  vielleicht  keine  andere  Literatur,  deren  Inspiration  so  einheitlich 
wäre  wie  die  der  ungarischen.  Das  Gefühl  der  nationalen  Existenz  ist 
das  Fundament  aller  dichterischen  Erzeugnisse. 

Die  älteste  Erwähnung  der  ungarischen  Poesie  linden  wir  in  Ekke- 
hards  Annalen.  Im  Jahre  926  besetzte  ein  Schwärm  ungarischer  Reiter 
das  Kloster  St.  Gallen  am  Bodensee.  Nach  der  Mahlzeit  „begannen  sie 
weinwarm  ein  ungefüges  Singen"  —  wie  Scheffel  in  seinem  Roman  Ekke- 
hard  die  Chronik  getreu  überträgt.  Sie  sangen  zu  ihren  Göttern.  (Scheffel 
setzt  eigentümlicherweise  voraus,  daß  die  Ungarn  die  Liebesgeschichte 
Attilas  und  der  byzantinischen  Prinzessin  Honoria  besangen.) 

Auch  die  Legende  des  heiligen  Gerhard  weiß  von  ungarischer  Poesie. 
Als  der  Heilige,  einer  der  Apostel  Ungarns,  ein  kleiner  Venezianer  voll 
Geist  und  Feuer  (-{-  1047),  einmal  mit  seinem  Gefährten  Walther  in  einer 
waldigen  Gegend  Ungarns  bei  einem  Bürger  übernachtet,  hört  er  das 
Geräusch  einer  Mühle  und  Gesang.  Es  war  eine  Bäuerin,  welche  die 
Arbeit  an  ihrer  Handmühle  mit  Gesang,  vielleicht  mit  einem  Arbeitslied 
begleitete,  worüber  der  Heilige  und  sein  Begleiter  lächelten.  x\udis 
symphoniam  Ungarorum?  fragte  Gerhard. 


I.  Das  Mittelalter.     Als    die   Ungarn    sich    in    der  jazygischen  Tief- 
ebene,   in  der   deserta  Avarorum,    wie  der  Annalist  Regino  sagt,    und 


I.  Das  Mittelalter.  267 

in  Pannonien  bleibend  niederließen  und  ihren  Staat  gründeten,  traten  sie 
zugleich  in  das  europäische  Mittelalter  ein  und  wurden  der  mittelalter- 
lichen Kultur  teilhaftig. 

Die  Literatur  des  Mittelalters  hat  in  ganz  Europa  gemeinsame  Eigen- 
tümlichkeiten, welche  darauf  beruhen,  daß  die  Religion,  die  Kultusformen 
und  die  Kultussprache  gemeinsam  waren.  Das  Mittelalter  ist  vor  allem 
ein  religiöses  Zeitalter:  die  religiöse  Literatur  war  im  Mittelalter  eben  in- 
folge der  Gemeinsamkeit  des  Kultus  einig'ermaßen  eine  internationale. 
Die  mittelalterliche  Literatur  in  ungarischer  Sprache  ist  beinahe  aus- 
schließlich religiös,  und  so  werden  wir  es  natürlich  finden,  daß  sie  viel 
aus  dem  gemeinsamen  lateinischen  Poesieschatz  des  Mittelalters  schöpfte: 
aus  der  Legendenliteratur,  besonders  aus  der  Leg-enda  Aurea  und  der 
Hymnenpoesie. 

Das  erste  ungarische  Buch  (d.  h.  eigentlich  der  erste  große  Kodex),  Legenden. 
der  nach  seinem  Besitzer  so  genannte  Ehrenfeldkodex,  enthält  die  Legende 
des  hinreißenden  Schwärmers,  des  liebenswürdigsten  Heiligen:  des  St.  Fran- 
ciscus  von  Assisi.  Es  ist  eine  kompilierte  Übersetzung  aus  dem  Anfang 
des  15.  Jahrhunderts.  Unter  den  Legenden  finden  wir  auch  die  in  den 
meisten  europäischen  Literaturen  eingebürgerte  von  Barlam  und  Josaphat, 
der  bekanntlich  eigentlich  Buddha  ist,  und  damit  ist  die  Gestalt  des 
großen  Religionstifters  vom  fernen  Ganges  bis  an  die  Ufer  der  Theiß  vor- 
gerückt. Diese  Legende  von  Buddha-Josaphat  (dessen  Kirche  übrigens  in 
Palermo  steht  und  dessen  Reliquien  in  Amsterdam  aufbewahrt  werden) 
findet  sich  in  einem  Kodex  vom  Anfang  des  16.  Jahrhunderts,  beruht  je- 
doch auf  einer  älteren  Vorlage:  überhaupt  wird  die  Literatur  des  Mittel- 
alters großenteils  aus  Handschriften  des  i6.  Jahrhunderts,  welche  aber  auf 
ältere  Originale  zurückgehen,  erschlossen. 

Unter  den  Legenden  nehmen  die  ungarischen  Heiligenlegenden  be- 
sonderes Interesse  in  Anspruch.  Es  hat  vielleicht  keine  Herrscherfamilie 
gelebt,  welche  der  Kirche  so  viel  Heilige  gegeben  wie  die  der  Arpäden 
(11. — 13.  Jahrhundert).  Stefan,  der  Begründer  des  Christentums,  sein  früh- 
verstorbener  Sohn  Emmerich,  der  König  Ladislaus  (f  10Q5),  Margarete, 
die  Tochter  Belas  IV.,  und  Elisabeth,  ihre  Nichte  —  alle  diese  Heiligen 
stammen  aus  der  Arpädenfamilie.  Der  Lieblingsheilige  des  ungarischen 
Volkes  war  Ladislaus,  von  dem  die  Legende  erzählt,  daß  er  kurz  vor  seinem 
Tode  zum  Führer  des  ersten  Kreuzzuges  gewählt  wurde.  Hymnen  in 
ungarischer  und  lateinischer  Sprache,  Legenden  in  der  Kirche  und  im 
Volksmunde,  Malereien  auf  Pergament  in  den  Codices  und  Fresken  auf 
den  Kirchenwänden  verherrlichen  seine  ritterliche  Gestalt,  in  der  das 
nationale  und  das  religiöse  Ideal  sich  vereinigen.  Wir  finden  ihn  auf  den 
mittelalterlichen  Goldmünzen  ebenso  wie  in  der  Bildhauerkunst:  in  Nagy 
Värad  (Großwardein)  stand  sein  Erzbild  zu  Pferde  —  die  einzige  und  erste 
erzene  Reiterstatue  des  Mittelalters,  die  auf  einem  öffentlichen  Platz  zu 
sehen    war  — ,    das  Werk    zweier  Künstler  aus  Kolozsvär  (Klausenburg). 


2  68  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

„Dein  Bild  —  so  singt  die  alte  ungarische  Hymne  —  steht  auf  hohem 
Steine,  wo  es  strahlt  wie  die  Sonne,  wo  es  gleißt  wie  das  Gold." 

Wie  mehrere  andere  Literaturen  besitzt  auch  die  ungarische  eine 
große  Darstellung  der  Katharinen-Legende  in  Versen.  In  derselben  Zeit, 
in  welcher  Pinturicchio  in  den  Prachtsälen  des  Papstes  das  Leben  dieser 
in  der  Renaissance  so  beliebten  Heiligen  mit  heiterer  Lebenslust  an  die 
Wände  malte,  schrieb  ein  ungarischer  Mönch,  dessen  Namen  wir  nicht 
kennen,  in  asketischem  Sinne  die  Legende  der  Katharina  von  Alexandrien 

—  die  erste  große  ungarische  Kunstdichtung,  die  uns  erhalten  ist. 

Sage  von  der  Die  einzigc  geistige  Lichtquelle  des  ungarischen  Mittelalters  war  die 

Religion.     Was  sich  aus  dem  Mittelalter  in  ungarischer  Sprache  erhalten 

—  Legenden,  Hymnen,  Gebete,  Bibelfragmente  —  alles  weist  auf  diese 
Vorherrschaft  des  religiösen  Geistes  hin.  Auch  das  älteste  erhaltene 
Sprachdenkmal  ist  ein  religiöses:  eine  Grabrede  (um  1200).  Es  gab  je- 
doch, wenn   auch  keine  weltliche   Kunstdichtung,  doch   eine   Volkspoesie. 

Unermüdlich  schaffte  der  Volksgeist  mit  ewiger  Seele.  Seine  Erzeug- 
nisse müssen  wir  in  lateinischen  Quellen  suchen.  Die  Chroniken  haben 
uns  ohne  Absicht,  vielleicht  sogar  wider  Willen,  Bruchstücke  der  alten 
nationalen  Sagen  erhalten.  Das  älteste  Produkt  der  ungarischen  Phan- 
tasie, welches  sich,  wenn  auch  nicht  eben  wörtlich,  doch  wie  es  scheint 
in  ziemlich  getreuer  Überarbeitung  erhalten  hat,  ist  wohl  die  Sage  von 
dem  weißen  Pferde,  eine  Sage,  welche  die  Besitzergreifung  des  Landes 
im  g.  Jahrhundert  behandelt.  Am  schönsten  und  treuesten  wird  sie  in 
der  Chronik  des  Marcus  erzählt.  Als  die  Ungarn  in  ihr  heutiges  Vater- 
land kommen,  fordern  sie  den  dort  herrschenden  Slawenkönig  Svatopluk 
auf,  ihnen  Wasser,  Erde  und  Gras  zu  übersenden.  Mit  Freuden  tut  er  es, 
da  die  Ungarn  ihm  dafür  ein  weißes  Pferd,  mit  goldenem  Zaum  und  Sattel 
schenken.  Als  er  es  annimmt,  erklären  sie,  daß  das  Land  nun  ihnen  gehört, 
da  er  es  mit  seinem  Geschenk,  das  sie  symbolisch  auffassen,  ihnen  für  das 
weiße  Pferd  zum  Tausch  gegeben. 
Hannensagen.  Die    mittelalterlichen    ungarischen    Chroniken    fassen    die    Ungarn    als 

Nachkommen  der  Hunnen  auf  und  erzählen  auch  in  sagenhafter  Weise 
die  Geschichte  Attilas  und  seiner  Nachkommen.  Was  hier  erzählt  wird, 
deckt  sich  teilweise  mit  der  deutschen  Heldensage,  es  sind  aber  auch 
merkwürdige  Abweichungen  zu  verzeichnen.  Es  ist  viel  darüber  gestritten 
worden,  woher  diese  ungarischen  Hunnensagen  stammen.  Zweifellos  gehen 
sie  großenteils  in  letzter  Instanz  auf  die  germanischen  Sagen  zurück:  die 
Art  der  Vermittelung  ist  noch  nicht  bestimmt  nachgewiesen. 

Am  wichtigsten  ist  unter  diesen  ungarischen  Hunnensagen  die  von 
Csaba,  weil  sie  zweifellos  eine  nationale  Tendenz  hat.  Die  Chroniken  er- 
zählen von  zwei  Gemahlinnen  Attilas:  die  eine  ist  Kriemhild,  die  andere 
Honoria,  die  Tochter  des  griechischen  Kaisers.  Der  Sohn  der  Kriemhilde 
heißt  Aladar;  Honoriens  Sohn  heißt  Csaba,  ein  Name  der  auch  in  unga- 
rischen   Ortsbenennungen    vorkommt.       Nach    Attilas    Tode    entsteht    ein 


II.  Das   Renaissance-Zeitalter.  2  00 

Kampf  zwischen  den  zwei  Brüdern:  die  Germanen  ergreifen  natürlich  die 
Partei  der  Kriemhilde,  während  die  Hunnen  für  Csaba  kämpfen.  Eine 
Schlacht  wird  geschlagen,  wie  sie  die  Welt  noch  nicht  gesehen.  Sie 
dauerte  15  Tage.  In  dieser  Schlacht,  welche  Klriemhildens  Schlacht 
(proelium  Crumhelt)  heißt,  werden  die  Hunnen  besiegt.  Nach  dieser  furcht- 
baren Völkerschlacht  flieht  Csaba  zu  seinem  Großvater,  dem  Kaiser  von 
Byzanz.  Doch  vergebens  versucht  der  Kaiser  seinen  Enkel  zum  Bleiben 
zu  bewegen:  Csaba  kehrt  nach  Scythien  zurück.  Dreitausend  Hunnen 
retteten  sich  aus  der  Riesenschlacht  und  zogen  nach  Siebenbürgen,  wo 
sie,  damit  man  sie  weiterhin  nicht  verfolge,  den  Namen  Sz ekler  an- 
nahmen. Als  die  Ungarn  dann  unter  Arpäd  in  das  einstmalige  Land  ihres 
Vorfahren  Attila  zurückkehren,  schließen  sich  ihnen  die  Szekler,  die  gleich- 
sam Vorposten  gebildet,  an. 

In  dieser  Csabasage,  wie  wir  sie  in  den  mittelalterlichen  ungarischen 
Chroniken  finden,  sind  sichtbarlich  weltgeschichtliche  und  sagenhafte  Ele- 
mente in  eine  stark  nationale  Beleuchtung  gerückt. 

Aus  der   ersten   Hälfte   des   15.  Jahrhunderts   stammt   auch   die  älteste   Erste  Bibel- 
ungarische Bibelübersetzung,    die    sich    in    drei    Fragmenten    erhalten   hat.    "  ^"°  "°^' 
Ein  Fragment  bewahrt  die  Münchener,  eins  die  Wiener  Hofbibliothek,  eins 
das  Szekler- Museum  in  Siebenbürgen. 

Diese  erste  Bibelübersetzung  hängt  mit  der  geistigen  Revolution  zu- 
sammen, die  Huß  bewirkte.  Huß  wollte  die  Bibel  unter  das  Volk  bringen: 
die  Bibel  fürs  Volk!  Unter  den  Hörern,  die  an  der  Prager  Universität 
seinen  Feuerworten  lauschten,  waren  auch  Ungarn:  zwei  dieser,  zwei  Fran- 
ziskaner, Valentin  von  Ujlak  und  wahrscheinlich  Thomas  von  Pecs  (Fünf- 
kirchen), unternahmen  es,  den  Anweisungen  ihres  Meisters  folgend,  die 
Bibel  in  das  Ungarische  zu  übersetzen.  Der  Hussitismus  verbreitete  sich 
nun  rasch  in  Ungarn.  Es  war  zu  befürchten,  daß  Ungarn,  wie  Böhmen, 
hussitisch  würde.  Man  mußte  energisch  auftreten.  Der  Papst  sandte,  um 
den  Hussitismus  auszurotten,  den  Inquisitor  Jacobus  de  Marchia  aus,  der 
dann  nicht  nur  die  Lebenden,  sondern  auch  solche  Toten  verfolgte,  die 
des  Hussitismus  verdächtigt  wurden:  man  brach  ihre  Gräber  auf  und  ver- 
brannte die  Leichname.  Kamenic  (bei  Peterwardein)  besonders  war  ein 
Nest  der  Hussiten:  hier  wirkten  auch  die  zwei  Franziskaner,  die  vor  der 
Verfolgung  des  päpstlichen  Inquisitors  nachts  nach  der  Moldau  flüchten 
mußten,  wo  damals  viele  ungarische  Hussiten  lebten,  für  welche  sie  die 
Bibel  —  zum  erstenmal  in  eine  ural-altaische  Sprache  —  übersetzten. 

IL    Das    Renaissance-Zeitalter.       Ungarn    war    eines    der    ersten      Mathias 
Länder,  welche  von  dem  Frühlingshauch  der  Renaissance  berührt  wurden.  Re 
Es  ist  dies  dem  König  Mathias  Corvinus  (f  1490)  zu  verdanken,  der  eifrig 
bestrebt  war,   einen   Kanal    zu    graben,    welcher    die    neue    Strömung    aus 
Italien  nach  Ungarn  leiten  sollte.     Auf  Mathias,    den  bedeutende  Huma- 
nisten   erzogen    und    der    ein    echter  Renaissance-Fürst  war,    ruht   all   der 


2yo  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

Glanz  und  all  der  Schatten  seines  großen  Zeitalters.  Den  Bestrebungen 
und  dem  Chrakter  nach  gibt  es  sogar  in  Italien  keinen  typischeren  Ver- 
treter der  Renaissance.  Mathias  Corvinus  ist  der  erste  moderne  Mensch 
in  Ungarn.  Sein  Charakter  und  seine  Bildung,  seine  Neigungen  und  seine 
Vorurteile,  seine  Phantasie  und  sein  Temperament  wurzeln  alle  gleicher- 
maßen im  Renaissance-Boden. 

Im  Menschen  der  Renaissance  sind  unbezähmbare  Leidenschaften  mit 
Pracht-  und  Kunstliebe  eng  verknüpft:  wir  finden  in  ihm  lebhafte  Phan- 
tasie, vielseitige  Geistesfähigkeiten,  dabei  aber  Hinterlist  und  leeren 
rhetorischen  Prunk;  neben  dem  begeisterten  Verständnis  der  Antike  rohen 
Aberglauben,  neben  feinen  Umgangsformen  grausam-wilde  Energie.  So 
war  dies  auch  bei  Mathias. 

Seine  Phantasie  hat  etwas  Gewalttätiges  und  Exzentrisches:  ein 
Schmelzofen,  in  dem  edle  Metalle  zwischen  rauchenden  Schlacken  zischend 
glühen.  Bald  will  er  König  von  Böhmen,  bald  deutscher  Kaiser  werden, 
dann  will  er  die  Donaureiche  erobern,  die  Türken  christianisieren  und  in 
den  Kaukasus  drängen.  Er,  der  Ungarn  mit  so  viel  positivem  Sinn  neu 
organisiert,  glaubt  unter  abenteuerlichen  Vorwänden  ein  Anrecht  auf  den 
Thron  des  Sultans  zu  haben,  weil  einst  eine  seiner  Verwandten  in  den 
Harem  kam. 

Das  in  der  Renaissance  erwachte  Gefühl  der  Individualität  steigert 
sich  bei  ihm  wie  bei  den  Fürsten  Italiens  zu  einem  Überwuchern  des 
Willens  und  der  Persönlichkeit.  Einmal  verleiht  er  einem  kleinen  sieben- 
jährigen italienischen  Knaben  die  höchste  geistliche  Würde  Ungarns. 
Einer  Urkunde  zufolge  sendete  man  dann  aus  Italien  Spielzeug  dem  neuen 
Primas  von  Ungarn.  Seine  Lieblinge  erhebt  er  rasch  in  die  höchsten 
Stellungen,  schmettert  sie  aber,  wie  sie  sein  Mißfallen  erregen,  gleich 
wieder  in  den  Staub. 

Er  ist  Renaissance-Tyrann  auch  in  der  bewußten  Auswahl  der  Mittel, 
um  große  Ziele  zu  erreichen.  Seine  Politik  wie  seine  Phantasie  haben 
einen  großartigen  Zug.  Seine  Politik  beruht  auf  internationalen  Berech- 
nungen, deren  feine  Fäden  von  Karl  dem  Kühnen  bis  Teheran 
reichen.  Alle  sind  für  ihn  Figuren  seines  Schachbrettes.  Seine  vielseitigen 
Kombinationen  werden  durch  seine  leicht  erregbare  Phantasie  und  kalt 
berechnenden  Verstand  gelenkt  Im  Dienste  seiner  außerordentlichen 
Pläne  steht  seine  Schlauheit.  Er  rechnet  immer  mit  den  zwei  Haupt- 
schwächen der  Menschen:  mit  ihrer  Eitelkeit  und  ihrer  Geldgier.  Er 
streut  überall  goldene  Worte  und  goldene  Münzen.  Er  ist  ein  Meister 
der  feinen  Form;  aber  wenn  diese  ihr  Ziel  nicht  erreicht,  tritt  gleich  seine 
gewalttätige  Raubtiematur  auf.  Er  gehört  auch  als  Staatsmann  der 
Renaissance  an  und  ist  ein  Schüler  Macchiavells  vor  Macchiavell.  In 
ihm  sehen  wir  die  zügellose  Energie  und  reiche  Phantasie  einer  Renais- 
sance-Natur in  ihrer  furchtbar- schönen  Urkraft  in  Tätigkeit. 

Der    Kunstinstinkt    seines    Zeitalters    offenbart    sich    bei    Mathias     in 


n.  Das  Renaissance-Zeitalter.  27  1 

Staatsbildungen  und  politischen  Kombinationen.  Er  ist  ein  Künstler  in 
der  Politik,  wie  Benedetto  da  Majano  oder  Giovanni  Dalmata  an  seinem 
Hofe  Künstler  im  Steine  sind. 

Mathias  Corvinus  war  ein  begeisterter  Freund  der  Renaissance,  und 
seine  Liebe  zu  ihr  zeigte  sich  in  vielfacher  Hinsicht.  Er  versammelte  an 
seinem  Hof  berühmte  Humanisten:  in  seinem  Auftrag  schrieb  dort  sein 
Hofastronom,  der  große  Regiomontanus,  seine  Ephemerides,  welche  die 
großen  geographischen  Entdeckungen  ermöglichten;  dort  verfaßte  Antonius 
Bonfini  seine  ausführliche  ungarische  Geschichte  (Decades);  dort  trieb 
sich  auch  der  wohlbeleibte,  redegewandte  Renaissance  -  Bummler  Marzio 
Galeotto   herum,    der    ein    ganzes  Buch  über    den   großen  König  schrieb. 

Mathias  berief  auch  bedeutende  Künstler  nach  Ofen:  Giovanni  Dal- 
mata war  sein  Leibarchitekt,  aber  auch  der  junge  Benedetto  Majano,  der 
später  den  Palazzo  Strozzi  in  Florenz  erbaute,  und  der  Ferrarese  Ercole 
de  Roberti  und  Fierevanti  aus  Bologna  waren  auf  den  Ruf  des  Königs 
nach  Ungarn  gekommen.  Diejenigen  Künstler,  die  persönlich  nicht  kommen 
konnten,  sendeten  wenigstens  ihre  Werke:  so  Verrocchio,  Filippino  Lippi, 
Lionardo  da  Vinci  —  um  nur  die  größten  Namen  zu  nennen.  Mathias, 
wollte  eine  neue  Dynastie  gründen;  darum  hatte  er  in  diesem  kunst- 
liebenden Zeitalter  die  Glorie,  welche  ihm  die  Kunst  verlieh,  nötiger  als 
ein  Sprößling  einer  alten  Herrscherfamilie. 

Mathias  Corvinus  wäre  kein  echter  Renaissance-Fürst  gewesen,  wenn 
er  nicht  antike  Überreste  gesammelt  hätte:  Statuen,  Inschriften,  Säulen- 
fragmente und  Gemmen.  Wichtiger  als  seine  Antikensammlung  war  seine 
Bibliothek,  die  berühmte  Corvina,  die  größte  und  prächtigste  Bücher- 
sammlung diesseits  der  Alpen.  In  dieser  wunderbaren  Kollektion  standen 
Kodices,  welche  der  größte  Miniaturenmaler,  Attavantes,  verfertigt  hatte 
und  welche  ihm  teurer  bezahlt  wurden  als  dem  Rafifael  ein  Gemälde. 
Der  König  —  so  berichtet  ein  damaliger  Humanist  —  liest  auch  nachts, 
und  man  findet  zwischen  seinen  Polstern  den  Curtius  Rufus  und  den 
Livius.  Die  Agenten  des  Mathias  bereisten  sogar  Kleinasien,  um  klassische 
Handschriften  für  ihn  zu  kaufen.  Seit  dem  furchtbaren  Schiffbruch  des 
ungarischen  Staates  im  i6.  Jahrhundert  sind  jedoch  die  Schätze  der 
Corvina  wie  die  Teile  eines  Wrackes  weithin  zerstreut. 

Übrigens  fand  auch  die  Buchdruckerkunst  unter  Mathias  in  Ofen  eine 
Stätte  —  früher  als  z.  B.  in  England. 

In  der  Residenzstadt  Ofen  lebten  damals  neben  den  gelehrten  Ita- 
lienern auch  ungarische  Gelehrte  und  Schriftsteller,  so  der  berühmte 
Historiker  Johann  von  Thürocz,  der  aus  Quellen  erster  Hand  arbeitete. 
Besonders  zwei  hervorragende  Männer  sind  es,  die  unsere  Aufmerksam- 
keit fesseln.  Beide  schrieben  lateinisch;  doch  ihr  Gegensatz  war  so  groß, 
als  ob  ein  weltgeschichtliche  Epochen  trennender  Abgrund  zwischen  ihnen 
klaffen  würde.  Der  erste,  der  Dichter  Janus  Pannonius,  eine  strahlende 
Erscheinung,  lebte  in  Macht  und  Ehren  am  Hofe,  ein  Liebling  des  mäch- 


2^2  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

tigen  Königs.    Der  andere,  Pelbartus,  wohnte  als  armer  Predigermönch 
im  Franziskanerkloster  in  der  Nähe  des   prachtvollen  königlichen  Palastes, 
ohne  ihn  zu  betreten.     Der    eine    ist    die  Verkörperung    des    Renaissance- 
Geistes,  der  andere  ist  das  typische  Mittelalter. 
janusPaanonius  Janus  Pannonius  (Johann  von  Csezmicze)   war   Humanist,  Schüler  des 

berühmten  Guarino  und  lateinischer  Dichter  im  Geiste  der  Renaissance. 
Er  wurde  in  Italien  erzogen.  Der  Florentiner  Vespasiano  Bisticci  sagt 
von  ihm:  er  war  so  hinreißend  liebenswürdig,  daß  jeder,  der  mit  ihm 
sprach,  ihn  liebgewann,  selbst  in  Italien  glich  ihm  niemand,  er  war  le 
delizie  del  mondo.  24  Jahre  alt  kam  er  in  seine  Heimat  zurück,  wo 
er  gehoben  durch  sein  Talent  und  seine  Liebenswürdigkeit  schon  zwei 
Jahre  später  Bischof  von  Fünfkirchen  mit  einem  ungeheuren  Einkommen 
wird.  Er  wurde  schnell  der  Liebling  des  Mathias  und  verfaßte  die  in 
klassischem  Latein  geschriebenen  Briefe  des  Königs.  Doch  schon  wenige 
Jahre  später  finden  wir  ihn,  nachdem  er  in  eine  Verschwönmg  verw-ickelt 
war,  geächtet  von  seinem  Protektor,  als  Flüchtling  in  Kroatien,  wo  er 
38  Jahre  alt  stirbt.  Sein  Hauptwerk  ist  ein  lateinisches  Epos,  dessen 
Held  der  jetzt  in  der  Frarikirche  in  Venedig  begrabene  Feldherr  Marcello 
ist.  In  einem  anderen  Werke,  einer  Epistel  an  dem  Humanisten  Constanti 
besingt  er  die  Eroberung  der  bosnischen  Feste  Jaitza  durch  Mathias  Cor- 
vinus.  Daß  er  auch  die  Lieblingsdichtgattung  der  Humanisten,  das  Epi- 
gramm, eifrig  pflegte,  ist  natürlich. 
Pelbartus  Ein   ganz    anders    gearteter  Geist    als  Janus  Pannonius   war  Pelbartus 

von  Temesvar  =>  *=  ^  ^^ 

(t  1504).  von  Temesvar.  Ihm  lächelte  die  neu  aufgegangene  Sonne  Homers  noch 
nicht,  er  war  ein  leidenschaftlicher  Gegner  des  Humanismus.  „Homer  ist 
berühmt  —  schreibt  er  —  und  noch  berühmter  ist  Virgil,  aber  beide  sind 
ungläubig  und  voll  böser  Sitten.  Die  Logiker  und  Aristoteles  sind  ver- 
flucht." Pelbartus  war  einer  der  allerberühmtesten  Prediger  des  Jahrhun- 
derts: seine  im  Ausland  oft  aufgelegten  lateinischen  Reden  wurden  in 
ganz  Europa  als  Muster  betrachtet.  Sein  Hauptwerk  ist  das  Pomerium, 
der  Obstgarten,  eine  Sammlung  von  Predigten,  nach  der  er  sich  pomerius 
nannte.  Er  wählte  diesen  Namen,  „weil  wie  in  dem  pomerium,  dem 
Obstgarten,  Obst  und  Blumen  zu  finden  sind,  so  sind  in  meinem  Werke 
viele  Predigten,  gottgefällige  Früchte  und  Blumen  der  Wissenschaft".  Die 
Werke  des  Franziskanermönches  waren  auch  eine  Hauptquelle  der  zeitge- 
nössischen Prosaliteratur  in  ungarischer  Sprache. 
Ungarische  Dlc  erstcn  Strahlen  der  ungarischen  weltlichen  Poesie    fallen  auf  die 

weltliche  Poesie  .  ^^  ,-,        . 

unter  Mathias  großc  Gestalt  dcs  Mathias  Corvinus.  Eine  kleine  Gruppe  von  Gedichten, 
die  ältesten  weltlichen,  haben  ihn  zum  Mittelpunkt.  Das  erste  dieser  Ge- 
dichte ist  ein  kurzer  Lobgesang  bei  Gelegenheit  der  Königswahl  (1458); 
das  ausführlichste  ist  ein  episches  Gedicht,  welches  erzählt,  wie  Mathias 
die  Grenzfestung  Schabatz  an  der  Save  von  den  Türken  eroberte.  Dieses 
Gedicht  ist  vielleicht  eins  von  denjenigen  Heldenliedern,  welche  dem  Zeug- 
nisse Galeottos  zufolge  bei  den  Gastmählern  des  Königs  gesungen  wurden. 


III.  Das  Zeitalter  der  Reformation. 


273 


III.  Das  Zeitalter  der  Reformation.  Das  16.  Jahrhundert  steht 
in  Ungarn  unter  dem  Doppeleinfluß  der  Schlacht  von  Mohäcs  (1526)  und 
der  Reformation. 

Die  Schlacht  von  Mohäcs,  in  welcher  der  König,  die  Blüte  des  Adels 
und  der  Bischöfe  fällt,  ist  eine  der  größten  Katastrophen  der  Weltge- 
schichte. Der  eigentliche  Zusammenbruch  erfolgt  aber  erst  im  Jahre  1547, 
in  welchem  das  unglückliche  Land  in  drei  Teile  geteilt  wird.  Das  Herz 
des  Landes  mit  der  Hauptstadt  gehört  nun  der  Türkei  an;  ein  Streifen 
im  Norden  und  Westen  kommt  unter  österreichische  Oberhoheit,  Sieben- 
bürgen bildet  einen  kleinen  selbständigen  Staat.  Die  Schlacht  von  Mohäcs 
und  ihre  Folgen  haben  der  ungarischen  Lyrik  Jahrhunderte  hindurch  ihren 
bleibenden  Charakter  verliehen:  sie  ist  von  nun  an  vorwiegend  patriotisch 
und  melancholisch.  Diesen  melancholischen  Grundzug  behält  sie  bis  zum 
Auftreten  des  Neuschöpfers  von  Ungarn,  Stephan  Szechenyis. 

So  wie  die  Türkenkriege  das  patriotische,  so  entfachte  die  Reforma- 
tion das  religiöse  Gefühl.  Je  mehr  ein  teurer  Besitz  bedroht  ist,  um  so 
mehr  lieben  wir  ihn.  Die  neue  Lehre  faßt  sehr  schnell  Wurzel  in  Ungarn. 
Schon  1523  findet  man  es  nötig  ein  Gesetz  zu  erlassen,  welches  die 
Anhänger  Luthers  mit  dem  Tode  bestraft.  Übrigens  versuchte  schon  zwei 
Jahre  früher  der  einflußreichste  Politiker  und  der  größte  Jiu-ist  Ungarns, 
Stephan  Werböczy,  Luther  selbst  in  Worms  bei  einem  Gastmahl,  zu  dem 
er  den  Reformator  eingeladen,  von  seinen  Grundsätzen  abzubringen.  Die 
Reformation  übte  einen  großen  Einfluß  auf  die  Entwicklung  der  ungari- 
schen Literatur  aus.  Sie  gab  vor  allem  Anlaß  zu  einer  polemischen  Lite- 
ratur: zuerst  griffen  die  Protestanten  an,  die  Katholiken  verteidigten  sich, 
und  diese  Streitliteratur  wurde  eine  wahrhafte  Gymnastik  der  ungarischen 
Prosa,  welche  im  Kampf  schnell  heranreifte. 

Auch  die  vielfältigen  Bibelübersetzungen  dieses  Jahrhunderts  sind  der       B'bei- 

Übersetzungen. 

Reformation  zu  verdanken,  welche  die  Bibel,  diese  ewige  Quelle  der 
Poesie,  auch  in  Ungarn  eifrigst  verbreitete.  Großen  Einfluß  auf  die  Ver- 
breitung der  Reformation  hatte  Melanchthon,  der  praeceptor  Germaniae, 
von  dem  man  sagen  kann,  daß  er  auch  praeceptor  Hungariae  war. 
Er  hatte  in  Wittenberg  etwa  500  ungarische  Hörer,  die  dann  seinen  Geist 
in  Wort  und  Schrift  verbreiteten.  Der  Gesandte  Ferdinands  schreibt  im 
Jahre  1540:  „Das  ungarische  Volk  und  der  Adel  sind  überall  verfinstert 
von  den  neuen  Lehren,  und  die  Geistlichen  und  die  Lehrer  kommen  bei- 
nahe alle  aus  der  Schule  Melanchthons."  Unter  den  Bibelübersetzem 
dieses  Jahrhunderts  sind  die  folgenden  die  interessantesten:  Johann  Sylvester 
war  Professor  der  hebräischen  Sprache  an  der  Universität  Wien  und  über- 
setzte das  Neue  Testament.  Er  ist  eigentlich  noch  nicht  Lutheraner,  son- 
dern Erasmianer,  wie  denn  Erasmus  von  Rotterdam  das  Vorbild  der  ersten 
Bibelübersetzer  war.  In  der  Einleitung  der  Bibelübersetzung  des  Sylvester 
kommen  die  ersten  ungarischen  auf  Silbenlänge  und  -kürze  beruhenden 
Distichen  vor,  wodurch  bewiesen  war,  was  später  zu  glänzender  Entfaltung 

DiB  Kultur  dxr  Gbgbnwart.    I.  9.  18 


274 


Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 


Stoffkreise  t 

poetischet 

Erzählunge 


kam,  daß  die  ungarische  Sprache  ebenso  für  den  quantitierenden  wie  für 
den  akzentuierenden  Rhythmus  geeignet  ist. 

Ein  Impressionist,  der  mit  jeder  Strömung  schwamm,  w^ar  der  Bibel- 
übersetzer Kaspar  Heltai.  Er  war  Geistlicher,  Missionar,  Buchdrucker, 
Pamphletist,  Historiker,  Fabeldichter,  Übersetzer;  er  war  katholisch,  dann, 
nachdem  er  in  Wittenberg  Melanchthon  gehört,  Protestant,  dann  Kalvinist, 
endlich  Unitarier.  Von  Geburt  ein  Sachse  aus  der  Umgegend  von  Her- 
mannstadt lernte  er  erst  spät,  i6  Jahre  alt,  ungarisch  und  zeichnete  sich 
dann  durch  vielseitige,  unermüdliche  ungarische  Schriftstellertätigkeit  aus. 
Fünfzehn  Jahre  arbeitete  er  und  seine  Gefährten  an  der  ungarischen  Bibel, 
ohne  sie  ganz  vollenden  zu  können.  Dem  reformierten  Geistlichen  zu 
Gönz  (in  der  Nähe  von  Kaschau),  Kaspar  Kärolyi,  gelang  es  endlich,  nach- 
dem so  viele  es  vor  ihm  vergebens  versucht  hatten,  in  den  Jahren  1587 
— 1590  zuerst  die  ganze  Bibel  ungarisch  zu  veröffentlichen.  Diese  Bibel- 
übersetzung ist  noch  heute  das  verbreitetste  ungarische  Buch. 

Aber  nicht  nur  die  Prosaliteratur  reifte  unter  der  Einwirkung-  der 
Reformation,  sondern  auch  die  Poesie.  Luthers  Bestreben,  den  Gläubigen 
in  der  Kirche  nicht  passiv  zu  belassen,  sondern  ihn  durch  Kirchengesang 
zu  einem  tätigen  Teilnehmer  des  Gottesdienstes  zu  machen  —  dieses  Be- 
streben bewirkte  auch  in  Ungarn  ein  Aufblühen  des  Kirchenliedes.  Doch 
nicht  nur  die  Lyrik  war  zum  Gesang  bestimmt. 

Die  herrschende  Dichtungsgattung  in  diesem  Jahrhundert  ist  die  sang- 
bare poetische  Erzählung.  Ich  weiß  nicht,  ob  es  bei  anderen  Völkern  in 
diesem  Zeitalter  vorkommt,  was  in  Ungarn  eben  nicht  selten  war,  daß 
Dichter  aus  dem  Kreise  der  hohen  Aristokratie  ihre  eigenen  Novellen  im 
Gesänge  vortragen. 

Der  Kreis,  aus  dem  die  Stoffe  dieser  kleinen  zum  Gesang  bestimmten 
Epen  bestehen,  ist  dem  Geist  des  Zeitalters  entsprechend  ein  vielfacher. 
Das  meiste  Interesse  erregten  diejenigen  Erzählungen,  welche  die  Vor- 
fälle der  Gegenwart,  die  Ereignisse  der  Türkenkriege  behandelten.  Wir 
werden  die  Beliebtheit  dieser  Gattung  natürlich  finden,  wenn  wir  die  ent- 
scheidende Wichtigkeit  der  damaligen  Vorgänge  auf  dem  Kriegsschau- 
platze bedenken.  Unter  diesen  wandernden  und  singenden  Journalisten  — 
wenn  ich  sie  so  nennen  darf  —  ragt  in  der  Mitte  des  Jahrhunderts  am 
meisten  Sebastian  Tinödi  hervor.  Tinödi  war  der  berühmteste  der  fahren- 
den Sänger,  der  Fiedler,  die  sich  nach  ihrem  Musikinstrument  lantos  nannten 
{lant  =  Laute,  eine  Art  Mandoline).  Tinödi  war  kein  echter  Dichter: 
er  war  ein  gewissenhafter,  oft  auf  Grund  von  Akten  arbeitender  Bericht- 
erstatter, der  die  Zeitereignisse  in  patriotischem  Geiste,  aber  ohne  Inspi- 
ration in  Versen  ausführlich  erzählte. 

Am  sympathischsten  sind  uns  diejenigen  Vers-Chroniken  Tinödis,  welche 
die  heroischen  Kämpfe  gegen  die  Türken  schildern:  das  Häuflein  Soldaten 
des  Szondi  in  der  Feste  Dr6gely,  das  sich  nicht  ergeben  will;  vergebens 
bietet  der  türkische  Pascha  den  Abzug  der  Besatzung  an:  sie  wählen  den 


III.  Das  Zeitalter  der  Reformation. 


275 


Tod.  Eine  andere  Verschronik  berichtet  von  der  Belagerung  Erlaus, 
welches  durch  den  Heldenmut  des  ungarischen  Befehlshabers  Stephan 
Dobö  alle  Angriffe  siegreich  zurückschlug.  Sogar  die  Frauen  Erlaus 
nahmen  an  dem  verzweifelten  Kampfe  teil.  Die  minutiöse  Genauigkeit, 
mit  der  Tinödi  diese  Belagerung  erzählt,  macht  ihn  zu  einer  wichtigen 
Quelle  für  die  Geschichtschreiber  dieser  Zeit,  von  denen  ihn  aber  manche, 
wie  z.  B.  Nikolaus  Istvänfi  (der  Sohn  des  unten  erwähnten  Dichters  Paul 
Istvänfi)  in  Schilderung  dieser  Ereignisse  an  Erzählertalent,  ja  sogar  an 
Poesie  übertreffen. 

Der  zweite  Stoffkreis  der  Epiker  ist  der  biblische.  Er  hängt  mit  der 
Reformation  zusammen,  die  starkes  Interesse  für  die  Bibel  erweckte. 
Aber  auch  diese  biblischen  Gegenstände  werden  von  nationalem  Stand- 
punkt aus  behandelt:  bei  David,  der  den  Riesen  niederschlägt,  bei  Judith, 
die  ihre  Vaterstadt  von  dem  fremden  Eroberer  errettet,  denkt  man  an 
Ungarn,  das  um  seine  Existenz  mit  den  Türken  kämpft. 

Ein  dritter  Stoff  kreis  ist  der  antike;  mit  Gier  trinken  die  Menschen 
aus  den  neu  eröffneten  Quellen,  die  man  der  Renaissance  zu  verdanken 
hat.  Als  Vorlage  benutzten  die  Dichter  nicht  immer  klassische  Werke, 
sondern  mittelalterliche,  wie  Guido  da  Columna. 

Die  eigentlichen  novellistischen  Stoffe  werden  Boccaccio,  Petrarca 
und  Aeneas  Sylvius  entnommen,  die  mit  der  Verbreitung'  der  Buchdrucker- 
kunst bekannt  wurden.  Paul  Istvänfi,  der  in  Padua  studierte  und  zu  den 
vornehmsten  Männern  gehörte,  behandelte  die  Geschichte  der  Dulderin 
Griseldis  in  Versen  nach  der  Prosabearbeitung  des  Petrarca.  Ein  anderer 
angesehener  Würdenträger,  der  auch  bei  Mohäcs  gekämpft,  der  Ober- 
gespan Kaspar  Raskai,  verfaßte  zur  Unterhaltung  seiner  Gastgeber  die 
„schöne  Chronik"  vom  Ritter  Francisco  und  seiner  Frau  —  welche  auf 
Boccaccio  beruht.  Das  größte  poetische  Talent  des  16.  Jahrhunderts, 
Valentin  Balassa,  übersetzt  Euryalus  und  Lucretia  des  Papstes  Pius  IL 
(Enea  Sylvio),  eine  mit  vielen  klassischen  Reminiszenzen  erzählte  schlüpf- 
rige Liebesgeschichte,  die  sich  wirklich  in  Siena  ereignete,  als  der  Kaiser 
Siegmund,  in  dessen  Gefolge  auch  der  größte  Türkenbesieger,  Johann 
Hunyadi,  war,  dort  weilte:  ihr  Held  war  der  Kanzler  des  Kaisers,  Kaspar 
Schlick,  der  auch  in  Ungarn  reich  begütert  war;  die  Heldin  war  wahr- 
scheinlich die  Frau  eines  berühmten  sienesischen  Rechtsgelehrten. 

Von  größerem  Interesse  sind  diejenigen  poetischen  Erzählungen,    die     Ungarische 
einen  ungarischen  Stoff  bearbeiten.     Die    poetischste   unter  diesen  ist  die    fuhrung  der 

Sultanstochter 

Erzählung  von  Szilägyi  und  Hajmäsi,  das  Werk  emes  Ungenannten,  und  XoWi. 
der  im  Gefängnis  dichtete.  Zwei  ungarische  Helden  schmachten  im  Ge- 
fängnis zu  Konstantinopel.  Die  Tochter  des  Sultans  hört  den  einen  im 
Kerker  singen,  sucht  die  zwei  Gefangenen  auf  und  verspricht  sie  zu  be- 
freien und  mit  ihnen  zu  fliehen.  Sie  tun  es  und  es  gelingt.  An  der 
Grenze  aber  kämpfen  die  zwei  Ungarn,  mit  denen  die  Kaiserstochter 
flieht,  einen  Zweikampf,  denn  jeder  liebt  das  schöne  Mädchen.     Der  eine, 


2t6  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

Hajmäsi,  wird  besiegt,  worauf  ihn  Reue  erfaßt,  um  so  mehr  da  er  Weib 
und  Kind  zu  Hause  hat,  und  er  läßt  die  Sultanstochter  seinem  glücklichen 
Gefährten. 

Diese  Erzählung,  die  auch  den  Stoff  einer  Szekler  Volksballade  bildet, 
lehnt  sich  an  historische  Persönlichkeiten  an.  Im  Jahre  1432  kam  ein 
blinder  Türke  nach  Ungarn,  der  auch  seine  Familie  mit  sich  brachte.  Es 
war  der  wegen  Thronstreitigkeiten  geblendete  Bruder  des  furchtbaren 
Bajazid.  Die  Tochter  dieses  nach  Ungarn  übergesiedelten  Thronpräten- 
denten wurde  vom  Volke  Katharina  Kaiser  genannt  und  trat  in  Beziehung 
zu  einem  Hajmäsi,  der  Obergespan,  war  und  zu  dem  Onkel  des  Königs 
Mathias  Corvinus,  Michael  Szilägyi,  der  zweimal  in  Konstantinopel  ge- 
fangen saß. 

Auch  Peter  Ilosvay  hat  uns  in  seiner  Reimchronik  von  Nikolaus  Toldi 
einen  altungarischen  Sagenstoff  erhalten.  Ilosvay  verlegt  die  Handlung 
in  die  glänzende  Zeit  Ludwigs  des  Großen,  unter  dessen  Herrschaft  tat- 
sächlich ein  Nikolaus  Toldi  gelebt  hat. 

Toldi  zeichnet  sich  durch  ungeheure  Kraft  aus;  wir  sehen  ihn  zuerst 
auf  dem  Lande  unter  Feldarbeitenr;  dann  finden  wir  ihn  in  der  königlichen 
Residenz,  wo  er  durch  seine  Stärke  dem  Könige  auffällt.  Er  besiegt 
einen  böhmischen  und  einen  italienischen  Ritter,  welche  für  unbesiegbar 
galten.  Als  Kaiser  Karl  IV.  von  Ludwig  dem  Großen  so  wie  von 
einem  Vasallen  Tribut  verlangt,  begleitet  Toldi  seinen  König  nach  Prag 
und  flößt  dem  Kaiser  und  den  um  ihn  versammelten  elf  Königen  Respekt 
ein,  während  die   Ungarn  Prag  einnehmen. 

Eines  der  Motive,  die  in  Toldis  Geschichte  vorkommen  (der  Held  fällt 
infolge  der  List  einer  Witwe  nachts  zum  Fenster  hinaus  und  geht  dann 
mit  Gefährten  ein  Grab  ausrauben)  findet  seine  Analogie  in  einer  Novelle 
des  Boccaccio;  ein  anderes  Motiv  (vor  dem  Zweikampf,  den  Toldi  mit 
dem  böhmischen  Ritter  auf  der  Margareten-Insel  ausficht,  stößt  er  den 
einen  Kahn  in  die  Donau:  „Nur  ein  Kahn  ist  notwendig,  da  nur  einer  von 
uns  lebend  die  Insel  verläßt")  kommt  auch  in  der  Tristansage  und  bei 
Gottfried  von  Straßburg  vor. 
Valentin Baiassa  Der    größte    Dichter    des     16.  Jahrhunderts    ist    der    Lyriker  Valentin 

Balassa,  der  gewalttätige  Sohn  dieser  gewalttätigen  Zeit.  Eine  stürmische 
Natur,  die  nirgends  ihr  Bleiben  hatte  und  sich  in  wilder  Leidenschaft  und 
in  Melancholiekrisen  verzehrte.  Wie  der  junge  Sophokles  bei  der  Sala- 
misfeier zieht  auch  Balassa  zuerst  die  Aufmerksamkeit  als  Tänzer  auf 
sich.  Bei  der  Krönung  Rudolfs  II.  wird  er  als  geschicktester  Tänzer 
ausgewählt,  den  nationalen  Schäfertanz  vorzuzeigen.  x\ls  Jüngling  finden 
wir  ihn  in  Erlau,  in  der  Stadt,  die  so  heroisch  den  Sturm  der  Türken  ab- 
geschlagen. Erlau  war  für  Balassa,  wie  er  selbst  sagt,  die  Schule  der 
Tapferkeit,  sie  war  aber  auch  die  Schule  der  Leiden.  Die  unglückliche 
Liebe  zur  Frau  des  Festungskommandanten  (der  Tochter  des  von  Tinödi 
besungenen    Stephan    Losonczy,    der    im    Türkenkampfe    fiel),    verbitterte 


III.  Das  Zeitalter  der  Reformation.  277 

Balassas  Leben.  Sie  ist  der  Hauptgegenstand  seiner  Liebeslyrik:  als  sie 
nach  Jahren  Witwe  wird,  weist  sie  den  wilden  und  gewalttätigen  Freier 
von  neuem  ab. 

Charakteristisch  für  Balassa  ist  die  Art,  wie  er  heiratete.  Eines 
schönen  Tages  erscheint  Balassa  mit  seiner  Base  aus  der  Heldenfamilie 
der  Dobö  in  Sdrospatak,  geht  zur  Kirche  und  tritt  nach  der  Messe  mit 
den  Mädchen  und  seinen  Reisigen  vor  den  Altar  und  läßt  sich  durch 
einen  eigens  mitgebrachten  Geistlichen  trauen.  Hierauf  fordert  er  die 
Schlüssel  der  Festung,  geht  auf  den  Burgplatz  und  erklärt  dem  erstaunten 
Volk,  daß  er  Herr  der  Frau  imd  der  Festung  sei.  Doch  konnte  er  weder 
die  eine  noch  die  andere  behalten.  Sein  Leben  ist  von  nun  an  eine  Kette 
von  Verfolgungen.  Die  Verwandten  seiner  Frau  setzen  es  durch,  daß  die 
Ehe  als  eine  blutschänderische  für  ungültig-,  sein  Sohn  für  rechtlos  erklärt 
werde.  Man  beschuldigt  ihn  (vielleicht  weil  er  g-ut  türkisch  spricht)  so- 
gar, daß  er  Mohammedaner  geworden.  Man  bestreitet  seine  Besitzungen. 
Seine  Leibeigenen,  die  er  übrigens  furchtbar  behandelte,  verklagen  ihn. 
Überall  Prozesse  und  Haß.  Da  verläßt  ihn,  den  alle  verlassen,  auch  seine 
Frau,  um  derentwillen  er  so  viel  gelitten.  Nachdem  er  viel  herumgeirrt,  be- 
steigt er  einmal  nachts  sein  Roß  und  flieht  nach  Polen,  bis  nach  Danzig  (das 
damals  noch  zu  Polen  gehörte).  Nach  drei  Jahren  kehrt  er  zurück.  Er 
fühlt,  daß  ihm  nur  eines  geblieben:  für  sein  Vaterland  zu  sterben.  Bei 
der  Belagerung  von  Gran  wird  er  tödlich  verwundet  und  stirbt  in  dieser 
protestantischen  Zeit  als  frommer  Katholik. 

V.  Balassa  ist  der  bedeutendste  Lyriker  bis  auf  Petöfi.  Der  Kreis, 
aus  dem  er  seine  Stoffe  wählt,  ist  nicht  sehr  reich,  aber  vom  Gefühl 
durchglüht.  Hauptsächlich  besingt  er  seine  ruhelose,  leidenschaft- 
durchwühlte Liebe.  Sein  zweiter  Kreis  ist  das  Soldatenleben,  welches 
damals  noch  poetischer  war  als  heute,  weil  es  nicht  so  sehr  unter  dem 
Drill  der  Kaserne  stand,  sondern  mehr  frischer,  abenteuerlicher  Wagemut 
unter  freiem  Himmel  war.  Eine  dritte  Gruppe  bilden  seine  Wanderlieder; 
wandern  heißt  bei  ihm  so  viel  als  von  dem  Dämon  seines  eigenen 
Temperamentes  und  von  unerbittlichen  Feinden  getrieben  ruhel<JS  herum- 
irren. In  der  Zeit  der  Verfolgung  hat  er  nur  einen  Trost:  die  Religion. 
Balassa  ist  dem  religiösen  Charakter  des  16.  Jahrhunderts  entsprechend  in 
erster  Linie  religiöser  Dichter,  dessen  weltliche  Lieder  bloß  handschrift- 
lich verbreitet  wurden,  während  seine  religiösen  Lieder  die  am  häufigsten 
aufgelegten  Gedichte  der  folgenden  zwei  Jahrhunderte  waren. 

Was  ihn  im  Leben  unglücklich  machte,  das  eben  gibt  seiner  Poesie 
den  hohen  Wert:  die  Stärke  seiner  Affekte.  Er  hat  auf  das  dürre  Stoppel- 
feld seines  theologisch-polemisierenden  Zeitalters  die  Lavaglut  seiner  Ge- 
fühle ergossen.  Überraschend  ist  auch  seine  graziöse  Verstechnik,  die 
teilweise  auf  Volksweisen,  teilweise  auf  romanischen  Mustern  beruht. 

Balassa  führte  auch  das  Naturgefühl  in  die  ungarische  Poesie  ein: 
vor  ihm  war  die  Natur  noch  stumm  in  unserer  Poesie  —  eine  unentdeckte 


2y8  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

Welt    wie    Amerika.      Balassa    ist    der    erste,    der   die   Erscheinungen   der 
äußeren  Natur  mit  den  Erscheinungen  der  Seele  in  Parallele  stellt. 
Fabeldichtung.  Da    die    Hauptrichtung    dieses   Jahrhunderts    eine    reflektierende    und 

moralisierende  ist,  werden  wir  es  für  natürlich  finden,  daß  die  Aesopische 
Fabeldichtung  mehrere  Vertreter  fand,  unter  denen  Kaspar  Heltai,  dem 
Boner,  Steinhöwel  und  Burckard  Waldis  als  Muster  dienten,  der  beste 
Erzähler  ist. 

IV.  Das  Zeitalter  der  Gegenreformation.  Die  erste  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  ist  in  Ungarn  wie  in  dem  größten  Teile  Europas  die 
Zeit  der  Antireformation.  Am  Anfange  des  Jahrhunderts  war  der  Pro- 
testantismus in  Ungarn  sehr  verbreitet.  Der  größte  Teil  des  Adels,  sogar 
der  Palatinus,  der  Stellvertreter  des  Königs,  war  protestantisch.  Der 
päpstliche  Gesandte  berichtet  mit  Verzweiflung  nach  Rom,  daß  im  ganzen 
Lande  nur  300  katholische  Geistliche  zu  finden  sind  —  also  ungefähr  so 
viele  wie  in  einer  einzigen  größeren  Stadt  Italiens.  Da  trat  als  Haupt  der 
Peter  Pazmany  Gegenreformation  der  Kardinal  Peter  Päzmänv  auf.    Man  kann  ohne  QToße 

(I57O-1637).         ..        *  .,  T^,  ,  ,  .  .      -  .  ,  ,      * 

Übertreibung'  sagen:  Pazmany  wurde  in  einem  protestantischen  Ungarn 
geboren  und  starb  in  einem  katholischen  Ungarn. 

Päzmäny  wurde  in  Großwardein  geboren.  Sein  Geburtsort  prädesti- 
nierte ihn  schon  einigermaßen  für  seinen  Beruf:  diese  Stadt  war  die  erste 
Feste  der  Jesuiten,  hier  wirkte  der  erste  ungarische  Jesuit  Szantö,  der 
auch  den  von  kalvinischen  Eltern  stammenden  Päzmäny  beeinflußte.  Der 
jung-e  Päzmäny  kam  dann  als  Jesuit  nach  Rom,  wo  Bellarmin,  der  große 
Jesuitenprediger  und  Theologe,  entscheidenden  Einfluß  auf  ihn  übte:  er  wollte 
eine  Art  Bellarmin  für  Ungarn  werden.  Diesem  großen  Zwecke  dienen 
dann  seine  glänzende  Feder,  seine  hinreißende  Rhetorik  und  rücksichts- 
lose Energie.  Nach  16 jähriger  Abwesenheit  kehrt  er  in  sein  Vaterland 
zurück.  Mit  46  Jahren  ist  er  der  höchste  geistliche  Würdenträger  Ungarns 
und  hochangesehener  Ratgeber  des  Kaisers.  Es  wäre  ein  Irrtum,  in 
Päzmäny  nur  einen  hochbegabten  Jesuiten  mit  internationaler  Tendenz  zu 
sehen:  dieser  Jesuit  war  ein  echt  ungarischer  Edelmann  mit  stark  aus- 
gesprochenem Nationalgefühl,  der  sogar  das  protestantenfreundliche  Sieben- 
bürgen im  Interesse  des  Ungarntums  für  eine  politische  Notwendigkeit 
hielt.  Päzmäny  ist  der  erste  bedeutende  ungarische  Prosaschriftsteller. 
Er  hat,  um  es  kurz  zu  sagen,  der  ungarischen  Prosa  Kraft  verliehen. 
Seine  Vorgänger  hatten  alle  etwas  Flaches,  Kompliziertes  und  Unbe- 
stimmtes. Sie  waren  primitiv  und  doch  zugleich  geziert  —  wie  dies  bei 
Anfängern  zu  sein  pflegt. 

Sein  vorzüglichstes  Werk  sind  seine  Predigten,  worin  Päzmäny  die 
Gabe  der  großen  katholischen  Prediger,  die  oft  mystischen  Dogmen 
mit  plastischen,  oft  aus  dem  Alltagsleben  entnommenen  Vergleichen  zu 
verdeutlichen  und  allgemein  verständlich  zu  machen,  glänzend  bewährt 
Die    abstrakten    Begriffe    werden    bei    ihm    sichtbar.      Sein    theologisches 


TV.  Das  Zeitalter  der  Gegenreformation.  2  7Q 

Hauptwerk  ist  der  „Führer  zur  göttlichen  Wahrheit".  Die  erste 
Hälfte  erklärt  die  christlichen  Lehrsätze,  die  zweite  polemisiert  mit  der 
protestantischen  Auffassung.  In  seinen  polemischen  Schriften  ist  er  der 
Zeitrichtung  entsprechend  oft  derb,  übertriift  aber  seine  Gesinnungsgenossen 
und  Gegner  an  Schlagfertigkeit  und  Geistesschärfe. 

Um  den  Geist  der  Antireformation  zu  verbreiten,  hat  Päzmäny  auch 
viele  Schulen  ins  Leben  gerufen.  Er  gründete  auch  eine  Hochschule  in 
Tymau,  aus  deren  Stamm  die  heutig"e  Budapester  Universität  herauswuchs. 

Diesen  großen  katholischen  Stiftungen  gegenüber  verdoppelten  die 
Protestanten,  welche  auch  schon  früher  große  Schulstifter  waren,  ihren 
Eifer.  Ihre  zwei  wichtigsten  Hochschulen  waren  die  in  Gyulafehervar 
(Karlsburg)  in  Siebenbürgen  und  die  in  Saröspatak.  Die  Karlsburger 
Hochschule  gründete  der  größte  Fürst,  den  Siebenbürgen  besessen,  der 
Schwager  Gustav  Adolfs,  Gabriel  Bethlen,  der  auch  an  dem  Dreißigjährigen 
Kriege  teilnahm.  In  die  von  ihm  gegründete  Hochschule  berief  er 
den  Dichter  Martin  Opitz,  der  hier  drei  Jahre  weilte;  hier  unterrichtete 
später  auch  der  erste  ungarische  Philosoph,  der  sympathische  und  unglück- 
liche Bauemsohn,  Johann  Cseri  von  Apäcza  (1625 — 1659),  der  in  Holland, 
wo  er  seine  Studien  betrieb,  mit  der  Philosophie  des  Cartesius  bekannt 
wurde  und  dann  in  ungarischer  Sprache  eine  Ungarische  Enzyklo- 
pädie schrieb,  in  welcher  er  die  Philosophie  ganz  im  Descartes'schen 
Sinne  behandelt  —  eine  der  ersten  Darstellungen  der  Prinzipien  des 
großen  Denkers  im  Ausland. 

Unter  der  Obhut  des  großen  Kardinals  Päzmäny  studierte  in  der  vonNii 
ihm  begründeten  Schule  zu  Tymau  zwei  Jahre  der  Urenkel  des  berühmten  ( 
Helden  von  Sziget,  Nikolaus  Zrinyi. 

Nikolaus  Zrinyi  gehört  zu  den  interessantesten  Dichtergestalten  der 
Weltliteratur.  Er  ist  der  größte  ungarische  Poet  dieses  Jahrhunderts;  er 
ist  aber  zugleich  auch  sein  größter  ungarischer  Feldherr.  Der  gelehrte 
Holländer  Tollius,  der  ihn  in  seinem  königlich  eingerichteten  Schloß  zu 
Csäktorn3'a  aufsucht,  preist  ihn  als  Humanisten,  während  die  ungarischen 
Zeitgenossen  den  Staatsmann  und  glühenden  Patrioten  in  ihm  verehren. 
Man  könnte  die  Worte  Geibels  auf  ihn  anwenden:  „Ein  Sänger  und  ein 
Held  wie  Walter,  und  rein  sein  Schild  wie  sein  Gedicht!" 

Seine  ganze  Laufbahn  hat  etwas  ganz  Außerordentliches.  In  dem 
Alter,  wo  andere  Kinder  mit  Holzsäbeln  Holzsoldaten  fällen,  nahm  er 
schon  an  wirklichen  Gefechten  teil  und  lernte  so  früh  die  Türkenkämpfe 
kennen,  die  er  später  besang.  In  seinem  achten  Jahre  ist  er  Bannerherr, 
dessen  Unterschrift  zur  Gültigkeit  der  neuen  Gesetze  notwendig  war. 
Noch  als  Kind  verliert  er  seinen  noch  jungen  ritterlichen  Vater,  der,  wie 
man  glaubte,  durch  Wallenstein  aus  Neid  vergiftet  starb.  Mit  16  Jahren 
bereist  er  Italien,  wo  er  wohl  desjenigen  Dichterwerk  kennen  lernte, 
welcher  sein  Vorbild  wurde:  Das  befreite  Jerusalem,  und  besucht  den 
Papst,    der   den   Sprößling    des    berühmten    Heldengeschlechtes    freundlich 


28o  Friedrich  Riedl:   Die  ungarische  Literatur. 

empfing.  Mit  z  i  Jahren  ist  er  Banus  von  Kroatien.  Als  Feldherr  zeichnete 
er  sich  besonders  in  den  Türkenkriegen  des  Jahres  1663/64  aus.  Empört 
über  den  unwürdigen  Frieden  von  Großwardein  zieht  er  sich  noch  in  dem- 
selben Jahre  (1664)  in  seine  Feste  Csäktornya  zurück  und  beginnt  in  der 
Überzeugung,  daß  Ungarn  von  dem  Kaiser  seine  Befreiung  nicht  erhoffen 
kann,  mit  den  Feinden  Österreichs  zu  verhandeln.  Man  verspricht  ihm  die 
Königskrone  von  Ungarn.  Da  stirbt  er  plötzlich  auf  einer  Jagd:  ein  Eber 
hatte  ihm  mit  seinen  Hauern  den  Hals  durchstoßen.  Das  Gerücht  be- 
hauptete, sein  Todfeind,  der  österreichische  Feldherr  Montecuccoli  habe 
ihn  meuchlings  ermorden  lassen.  Die  Devise  Zrinyis  war:  Sors  bona, 
nihil  aliud,  tatsächlich  fehlte  jedoch  ihm  und  seiner  ganzen  Familie 
nichts  als  das  Glück.  Der  jüngere  Bruder  des  Dichters,  Peter  Zrinyi,  der 
auch  das  Epos  des  Nikolaus  ins  Kroatische  übersetzte,  starb  auf  dem  Schafott; 
dessen  Tochter,  die  herrliche  Helene  Zrinyi,  die  heldenmütige  Verteidigerin 
von  Munkäcs,  starb  verbannt  in  Kleinasien;  ihr  Sohn,  der  Freiheitsheld 
Fürst  Franz  Räkoczi,  starb  auch  im  türkischen  Exil  am  Marmarameere. 
Der  Sohn  des  Nikolaus  Zrinyi  fiel  von  Türkenhand,  der  Sohn  Peters  wurde 
in  lebenslänglicher  österreichischer  Haft  wahnsinnig. 

Das  Hauptwerk  Zrinyis  ist  ein  großes  Epos:  Die  Belagerung  von 
Sziget.  Das  Gedicht  verherrlicht  den  Heldentod  des  Nikolaus  Zrinyi,  des 
Urgroßvaters  des  Dichters,  der  mit  kleiner  Besatzung  die  Feste  von 
Szigetvär  verteidigte  und  endlich,  da  sie  der  riesigen  Übermacht  des 
Sultans  Soliman  gegenüber  nicht  mehr  zu  halten  war,  in  einem  Ausfall 
mit  der  ganzen  Besatzung  den  Heldentod  fand.  Der  Auffassung  des 
Dichters  zufolge  ist  Ungarn  in  Sünden  versunken;  als  Strafe  sendet  Gott 
die  Türken,  doch  Zrinyi  opfert  sich  für  das  Ungarntum,  tötet  bei 
seinem  letzten  Ausfall  den  Sultan  (was  ein  sagenhafter  Zug  ist)  und  stirbt 
mit  allen  seinen  Gefährten  den  Heldentod.  Vor  den  Augen  Zrinyis 
schwebte  das  große  Muster  Virgils  und  Tassos.  Er  hat  aber  auch  von 
Ariosto  und  einem  kroatischen  Dichter  Karnarutic,  der  dasselbe  Thema 
behandelte,  manches  gelernt. 

Seine  Sprache  ist  etwas  rauli,  manchmal  noch  unbehilflich,  aber 
voller  Kraft,  in  der  sich  der  große  Charakter  des  Verfassers  ausdrückt. 
Die  Komposition  verrät  den  energischen  Feldherm,  der  jede  Abteilung 
an  den  gehörigen  Platz  zu  stellen  weiß.  Er  ist  Rassenkenner  und  schildert 
türkische  und  ungarische  Charaktere  in  ihren  unterschiedlichen  Merkmalen. 
Das  Lagerleben,  die  Schlachten,  den  Kriegsrat,  das  alles  beschreibt  er 
wie  jemand,  der  mit  diesen  Sachen  auf  das  genaueste  vertraut  ist.  Zrinyi 
hat  vielfach  Tasso  nachgeahmt,  im  Grunde  aber  ist  er  Ungar  geblieben. 
In  seinem  Werke  sehen  wir  den  wortkargen,  stolzen,  gefühlvollen,  tat- 
kräftigen und  großmütigen  Magnaten  und  Feldherm  vor  uns,  während 
uns  aus  dem  Gcrusalcmmc  liberata  das  religiös-exaltierte,  sinnlich-schmach- 
tende Auge  des  Italieners  glühend  anblickt. 

Das  Leben  und  die  Werke  Zrinyis  bilden  eine   geschlossene  Einheit; 


IV.  Das  Zeitalter  der  Gegenreformation.  28 1 

der  Dichter  und  der  Prosaiker  verfolgt  ein  und  dasselbe  Ziel  wie  der 
Feldherr  und  Staatsmann  Zrinyi:  die  Befreiung  Ungarns  von  der  Türken- 
herrschaft mit  nationaler  Kraft. 

In  demselben  Jahre,  in  welchem  Nikolaus  Zrinyi,  die  Hoffnung  und  der       Stefan 

Gyöngyösy 

Stolz  Ungarns,  in  dem  Walde  bei  Kursanecz  verblutend  gefunden  vmrde,  (1625—1704). 
erschien  ein  episches  Gedicht,  welches  berufen  war,  eine  viel  größere 
Wirkung  auszuüben  als  das  Zrinyi-Epos.  Es  war  die  Venus  von  Murdny 
des  Stefan  Gyöngyösy,  der  ein  zeitgenössisches  Ereignis  behandelte, 
das  in  ganz  Europa  Aufsehen  erregte.  Der  zur  kaiserlichen  Partei  ge- 
hörige Feldherr  Franz  Wesselenyi  belagerte  die  fast  uneinnehmbare  natio- 
nale Festung  Muräny,  deren  Befehlshaber  eine  wegen  ihrer  Schönheit  und 
ihres  Geistes  berühmte  Frau,  die  Gräfin  Marie  Szechy  war.  Als  sich  die 
zwei  feindlichen  Führer,  der  Belagerer  und  die  Kommandantin  der  Feste, 
einmal  begegneten,  verliebten  sie  sich  ineinander:  Marie  Szechy  ermög- 
lichte es  dann,  daß  Wesselenyi  nachts  insgeheim  mit  einem  Teile  seines 
Heeres  auf  einer  Strickleiter  in  die  Festung  drang  und  mit  einem  Schlag 
Herr  der  schönen  Frau  und  der  berühmten  Feste  wurde. 

Gyöngyösy  ist  Barockdichter,  ein  Zeitgenosse  der  architektonischen 
Schöpfungen,  welche  die  edlen  Linien  der  Renaissance  durchbrechen  und 
verbiegen,  der  Bildwerke,  welche  durch  eine  unmotivierte  Bewegung  auf- 
fallen, der  unnatürlichen  Gärten,  welche  die  geraden  Flächen  der  Gebäude 
fortsetzen  wollen,  der  Allongeperücken,  welche  falsche  Würde  verleihen. 
Dem  Geschmack  seines  Zeitalters  entsprechend,  arbeitet  Gyöngyösy  fort- 
während mit  einem  mythologisch-allegorischen  Apparate,  wie  dies  schon 
der  Titel  seines  Werkes  zeigt:  Die  dem  Mars  gesellte  Venus  von 
Muräny.  Auch  in  seinen  Metaphern  zeigt  sich  das  Gezierte,  Unnatürliche, 
Schwülstige  der  Barockzeit.  Gyöngj'ösy  ist  der  Epiker  der  Eheschließung. 
Neben  der  überraschenden  Heirat  der  Marie  Szechy  behandelte  er  in 
einem  anderen  Werke:  Der  aus  der  Asche  entstandene  Phönix  das 
Liebesverhältnis  und  die  Ehe  des  siebenbürgischen  Magnaten,  späteren 
Fürsten  von  Siebenbürgen  Johan  Kemeny  mit  Anna  Lönyay.  Den  Hinter- 
grund des  mittleren  Teiles  bildet  ein  furchtbares  Ereignis  der  Siebenbürger 
Geschichte:  die  ganze  Armee,  die  zur  Hilfe  des  schwedischen  Königs 
Karls  X.  nach  Polen  zog  und  in  der  sich  auch  Kemeny  befindet,  fällt  in 
Gefangenschaft  und  alle  werden  Sklaven  der  Tataren.  Ein  drittes  Ge- 
dicht handelt  von  der  Hochzeit  der  früher  erwähnten  Helene  Zrinyi  (der 
Tochter  Peter  Zrinyis)  mit  dem  berühmten  Kuruczenführer  Thököly. 

Gyöngyösy  ist  der  Gegensatz  Zrinyis:  statt  der  männlichen  Herbheit 
finden  wir  bei  ihm  schwülstigen  Prunk,  statt  der  einheitlichen  Kompo- 
sition ein  bloßes  Nacheinander  der  Ereignisse.  An  Wohllaut  der  Sprache, 
Schönheit  der  Beschreibungen,  fesselndem  Interesse  der  Handlung  über- 
trifft jedoch  Gyöngyösy,  der  Barockschüler  des  Ovid,  seinen  Vorgänger 
Zrinyi,  den  Spätrenaissanceschüler  Virgils. 


282  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

V.  Das  18.  Jahrhundert.  Zweiundzwanzig  Jahre  nach  dem  Tode 
des  Dichters  Nikolaus  Zrinyi  war  Ofen  wieder  in  Christenhand:  Ungarn 
war  von  dem  türkischen  Joch  befreit.  Man  sollte  glauben,  daß  nach 
diesem  glücklichen  Ereignis  gleich  ein  großer  Aufschwung  aller  nationalen 
Kräfte  eingetreten  sei:  statt  dessen  sehen  wir  eine  tiefe  Depression,  besonders 
nach  dem  Mißlingen  der  Freiheitskämpfe  des  Franz  Raköczi  (1703 — 1711);  da 
scheint  es,  als  ob  alle  Quellen  der  Kunst  ausgetrocknet  wären,  nur  der 
ewige  Brunnen  der  Volkspoesie  rauscht  in  der  Stille.  Was  sind  die  Ur- 
sachen dieser  auffallenden  Erscheinung? 

Ungarn  war  nach  der  Türkenherrschaft  und  den  Türkenkriegen  er- 
schöpft, da  es  besonders  an  Menschenmaterial  furchtbare  Einbuße  erlitten. 
Aber  auch  finanziell  war  es  erschöpft,  die  Soldaten  der  Christenheere 
haben  ebensoviel  Schaden  verursacht  wie  die  Türken;  außerdem  machte 
die  Zollpolitik  Österreichs  das  verarmte  und  entvölkerte  Land  zu  einer 
Ausbeutekolonie.  Die  Aristokratie  Ungarns  geriet  in  den  Bannkreis  des 
Wiener  Hofes  und  vergaß  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  ihre  Mutter- 
sprache. Der  gebildete  ßürgerstand  sprach  zumeist  deutsch,  die  Gelehrten 
schrieben  lateinisch.  Nach  dem  Räköczischen  Kriege  gab  es  Jahre,  in 
welchen  nur  3 — 4  ungarische  Bücher  erschienen.  Viel  geistigen  Schaden 
richtete  auch  die  sogenannte  Revision  an,  welche  die  besten  ausländischen 
Bücher  verbot,  und  die  Zensur,  welche  inländische  Geistesprodukte  hemmte. 
Das  Verzeichnis  der  verbotenen  Bücher  wurde  amtlich  veröffentlicht,  später 
aber  wurde  sogar  dieses  Verzeichnis  verboten,  weil  das  Publikum  daraus 
die  Titel  der  gefährlichen  Bücher  ersehen  konnte. 
Aufblühen  der  Doch   konnte   selbst  in  dieser  Periode   des  geistigen  Stillstandes   das 

Volkspoesie.  ,  . 

große  nationale  Pathos  der  Räköczischen  Freiheitskriege  nicht  verrauschen, 
ohne  in  der  Dichtkunst  Spuren  zurückzulassen.  Der  Impuls  der  großen 
politischen  Ereignisse  zeigt  sich  in  dem  Aufblühen  der  Volkspoesie  am 
Anfang  des  Jahrhunderts.  Unter  den  Soldaten  Räköczis  entwickelte  sich 
eine  eigentümliche,  oft  wilde,  aber  dennoch  tiefgefühlte  und  hochpoetische 
Lagerpoesie,  die  sogenannte  Kuruczendichtung.  Kuruczen  hieß  man  die 
ungarischen  Aufständigen,  die  gegen  Osterreich  kämpften;  besonders 
nannte  man  so  die  Soldaten  Thökölys  in  der  zweiten  Hälfte  des  1 7.  und 
die  Franz  Räköczis  am  Anfang  des  18.  Jahrhunderts.  Diese  Kuruczen- 
gedichte  —  Lieder  und  Balladen  —  gehören  zu  den  schönsten  Erzeug- 
nissen der  ungarischen  Volksdichtung.  Das  ungarische  Stammgefühl,  der 
Haß  gegen  die  Unterdrücker,  der  Schmerz  über  das  Elend  des  Vater- 
landes, die  nationale  Exaltation  lodern  darin  in  hellen  Flammen. 

Kiemeas  Mikes  ^.n  den  pfroßen  Namen  Räköczis  knüpft  sich   auch   das  bedeutendste 

(1690— 17611.  °  ^  ^  _ 

Prosawerk   dieser   Epoche,    die    Briefe    aus    der   Türkei    des  Klemens 

Mikes,  welche  allerdings  erst  viel  später,  am  Ende  des  Jahrhunderts,  im 
Druck  erschienen.  Als  Franz  Räköczi  1 7 1 1  ins  Exil  ging,  aus  dem  er  nie 
mehr  zurückkehrte,  als  er  seine  Familie,  seine  Zukunftsträume,  seine  uner- 
meßlichen Reichtümer  zurückließ,  begleitete  ihn  der  junge  Mikes  überall- 


V.  Das    i8.  Jahrhundert.  283 

hin.  Er  war  sein  treuer  Gefährte  in  Frankreich  am  Hofe  des  Sonnen- 
königs; er  folgte  seinem  Fürsten  in  die  Türkei,  lebte  —  ein  treuer  Diener 
seines  Herrn  —  an  seiner  Seite  im  traurigen  Exil  zu  Rodosto  am  Marmara- 
meer;  und  als  sein  Fürst  starb,  drückte  er  ihm  die  Augen  zu.  Wie  der 
Vater  starb  später  auch  der  Sohn,  Joseph  Räköczi,  in  den  Armen  des 
Klemens  Mikes.  Die  Eindrücke  des  Rodostoer  Lebens,  die  Ereignisse 
im  nahen  Konstantinopel,  die  Früchte  seiner  vielseitigen  Lektüre,  das  sind 
die  Gegenstände,  die  Mikes  in  seinen  türkischen  Briefen  mit  einer 
liebenswürdigen  Schalkheit,  und  in  einem  durchsichtigen  Prosastil  be- 
handelt, der  in  dieser  traurigen  Zeit  nicht  seinesgleichen  hat.  Die  Briefe 
des  Mikes  sind  keine  wirklichen  Briefe,  er  wählte  die  Briefform,  um  in 
ihr  seine  Memoiren  zu  schreiben,  eine  literarische  Form,  die  für  solchen 
Zweck  vielleicht  einzig  dasteht. 

Der  Schlaf  der  Literatur  dauerte  bis  1772.  Er  war  übrigens  —  wieuas  Erwachen 
der  Schlaf  des  Körpers  —  zugleich  ein  Kräftesammeln.  Das  Erwachen  (1747—1811). 
geschah  folgendermaßen:  In  der  ungarischen  Leibgarde,  welche  die  Kaiserin 
Maria  Theresia  in  Wien  errichtete,  befand  sich  als  Offizier  ein  junger, 
schöner  Landedelmann  mit  wenig  Schulbildung:  Georg  Bessenyei.  In 
Wien,  wo  er  seiner  geistigen  Zurückgebliebenheit  inne  wurde  und  wo  er 
dann  mit  gToßer  Ambition  und  Empfänglichkeit  sich  zu  bilden  anfing, 
lernte  er  die  französische  Literatur  und  die  damals  auch  in  Wien  herrschende 
Geistesrichtung  der  Aufklärung  kennen.  Sein  Ideal  ist  Voltaire.  Sein 
Bestreben  ist,  eine  ungarische  Literatur,  ungarische  Geistestätigkeit  ins 
Leben  zu  rufen.  Zu  diesem  Zwecke  bildete  er  mit  mehreren  seiner  Ge- 
fährten aus  der  ungarischen  Leibgarde  einen  literarischen  Kreis.  Im 
Jahre  1772  erschien  sein  erstes  Werk:  Die  Tragödie  des  Agis,  ein 
ganz  im  französischen  klassischen  Stil  geschriebenes  Drama,  dessen  aus 
der  spartanischen  Geschichte  entlehnten  Stoff  auch  Gottsched  behandelt 
hatte.  Es  finden  sich  darin  die  drei  Einheiten,  der  elegante  reflektierende 
Dialog  und  der  g-alante  Ton  des  französischen  Dramas  ohne  die  feine 
Psychologie  und  glänzende  Diktion.  Wie  Voltaire  wollte  auch  Bessenyei 
von  der  Bühne  weitschallend  die  Ideen  der  Aufklärung  verkünden  —  was 
sonderbar  ist,  da  damals  noch  keine  ungarische  Bühne  existierte. 

Trotz  aller  Mängel  war  die  Tragödie  epochemachend,  denn  mit  ihr 
fängt  das  literarische  Leben  in  Ungarn  wieder  an.  Wenn  in  einem  Zimmer 
mehrere  schlafen  und  einer  erwacht,  so  weckt  er  durch  seine  Bewegungen 
auch  die  übrigen.  So  geschah  es  auch  hier.  Bessenyei  erweckte  die 
Geister;  er  schrieb  noch  mehrere  Dramen,  die  für  sich  keine  große  Be- 
deutung haben:  die  Wichtigkeit  seiner  Mission  bestand  darin,  daß  er  den 
Impuls  gab.  Er  und  seine  Gefährten,  welche  die  damals  in  Wien  wie 
übrigens  auch  in  ganz  Europa  in  höchstem  Ansehen  stehende  französische 
Literatur  zum  Muster  nahmen,  bilden  die  sogenannte  firanzösische  Schule. 
Die  Geistlichkeit  dagegen,  die  natürlicherweise  eine  lateinische  Bildung 
hatte,  ahmte,  als  das  literarische  Leben  sich  zu  entfalten  begann,  in  erster 


284  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

Reihe  Horaz  und  Virgil  nach.  Die  Dichter  dieser  Richtung'  nennt  man 
die  klassische  Schule.  Der  bedeutendste  Erbe  dieser  Dichtergruppe  war 
Daniel  Berzsen}'!  (1776 — 1836),  der  größte  Odendichter  Ungarns,  der  in 
die  Horazsche  Form  glühenden  ungarischen  Patriotismus  goß  und  unter  allen 
Ungarn  am  meisten  das  Erhabene  zu  erreichen  wußte.  Aber  nicht  alle 
Dichter  wendeten  sich  nach  dem  Auslande:  die  ungarischen  Traditionen, 
vor  allem  das  Muster  Gyöngyösys  wirkten  noch  fort;  ungarische  Stoffe,  in 
ungarischem  Versmaß  mit  nationaler  Tendenz  —  das  war  das  Ziel  der 
nationalen  Schule.  Das  Zentrum  der  nationalen  Bildung  in  dieser  Zeit  war 
Debreczin,  das  kalvinistische  Rom,  die  größte  echt  ungarische  Stadt.  Hier 
wurde  Michael  Csokonai,  der  bedeutendste  Dichter  der  nationalen  Gruppe 
geboren;  hier  starb  er  im  Alter  von  31  Jahren.  Sein  Leben  war  ein  un- 
stetes Wanderleben,  und  doch  ist  er  die  einzige  wahre  Dichterindividualität 
des  1 8.  Jahrhunderts.  Er  erinnert  an  Bürger,  aber  er  bleibt,  auch  wenn  er 
nachahmt,  immer  Ungar.  Verschiedene  Richtungen  sind  in  seiner  Lyra 
vertreten:  derber  Humor  und  tiefes  Naturgefühl,  anakreontisches  Ge- 
tändel und  echt  volkstümlicher  Liederton.  In  seinem  komischen  Epos 
Dorothea  oder  Sieg  der  Damen  über  den  Prinzen  Karneval  finden 
sich  in  etwas  fadem,  allegorischem  Rahmen  viele  komische  Beobachtungen 
und  prächtige  ungarische  Typen.  Das  Epos  erzählt  eine  komische  Schlacht 
zwischen  den  alten  Jungfern,  deren  Führer  Dorothea  ist,  und  dem  personi- 
fizierten Karneval. 

Die  Resultate.  VI.     Das     IQ.   Jahrhundert.      Das    19.   Jahrhundert    hat    in    Ungarn 

eine  größere  Bedeutung  als  alle  früheren  seit  der  Eroberung  des  Landes. 
Herodot  sagte:  Ägypten  sei  ein  Geschenk  des  Nils,  ähnlicherweise  könnte 
man  sagen:  Ungarn  ist  ein  Geschenk  des   19.  Jahrhunderts. 

Als  sich  die  Sonne  des  19.  Jahrhunderts  erhob,  war  wenig  Hoffnung 
am  Horizonte  Ungarns.  Herder  hält  in  seinen  Ideen  die  Ungarn  für  ein 
Volk,  das  im  Aussterben  begriffen  ist.  Bekümmert  fragten  sich  die 
Patrioten,  ob  Herder  nicht  recht  behalten  werde.  Wie  die  edelsten 
Geister  Ungarns  über  das  Schicksal  ihres  Vaterlandes  dachten,  ersehen 
wir  aus  der  berühmten  Ode  Berzsenyis:  An  die  Ungarn.  Ungarn  ist 
dem  Gedichte  zufolge  einem  langsamen  Tode  geweiht.  Wir  müssen 
diesen  Verfall  und  Untergang  der  Nation  mit  Resignation  erdulden,  denn 
nach  dem  ehernen  Gesetz  der  Weltgeschichte  gehen  alle  großen  Staaten, 
wie  Troja,  Babylon,  Karthago  und  Rom  zugrunde.  Ein  angesehener 
Dichter  schrieb  an  Kazinczy:  „Auch  ich  bin  genötigt,  meinem  Volke  den 
Untergang  zu  prophezeien." 

Da  trat  plötzlich  eine  große  Wendung  ein.  Am  Anfange  des  Jahr- 
hunderts schien  es  —  als  ob  alles  verloren  sei,  und  doch  war  alles  gerettet. 
Das  große  Zeitalter  war  schon  vorbereitet.  Während  äußerlich  noch 
nichts  zu  sehen  war,  fing  es  unten  im  Schöße  der  Erde  schon  an,  unsicht- 
bar zu  keimen,  Wurzeln  zu  treiben,  die  Lebenssäfte  begannen   zu  kreisen. 


VI.  Das    iq.  Jahrhundert.  285 

und  die  Pflanze  entwickelte  sich:  unsichtbar,  weil  im  Herzen  der  Menschen. 
Als  ob  die  Natur  eine  letzte  große  Anstrengung  machen  würde,  dieses 
Volk  zu  retten,  und  die  großen  Männer  auf  die  erste  Hälfte  des  Jahr- 
hunderts konzentrieren  würde.  Vörösmart}',  Petöfi,  Arany,  die  größten 
ungarischen  Dichter,  sind  Zeitgenossen  der  größten  ungarischen  Staats- 
männer: Szechenyi,  Kossuth  und  Deäk.  Binnen  kurzer  Zeit,  während 
2 — 3  Jahrzehnten  erwecken  diese  Männer  ihr  Volk  aus  dem  tatenlosen, 
dumpfen  Schlummer,  gießen  Selbstvertrauen  und  Hoffnung-  in  sein  Herz, 
gestalten  es  zur  Nation,  sichern  mit  ihrer  Weisheit  seine  Zukunft  und 
verklären  es  mit  der  Glorie  ihrer  Poesie. 

Die  größte  Umgestaltung  Ungarns  zeigt  sich  besonders  in  drei  Rich- 
tungen: in  der  Politik,  in  der  Literatur  und  in  der  Volkswirtschaft.  Die 
große  Veränderung  in  der  Politik  besteht  darin,  daß  Ungarn  unter  der 
Führung  Kossuths  aus  einem  Ständestaat  zu  einem  nationalen  Staate  wird, 
in  welchem  die  Reste  der  Leibeigenschaft,  die  Klassen  und  Stände  mit 
ihren  verschiedenen  Rechten  aufhören.  Die  konstitutionelle  Selbständig- 
keit dieses  neugebildeten  Nationalstaates,  Österreich  gegenüber,  sicherte 
dann  Deäk  in  dem  Ausgleiche  von   1867. 

In  diesem  neuorganisierten  Staate  blüht  die  Literatur  auf  einmal  in 
ungeahnter  Fülle  und  Schöne  empor.  Zuerst  schafft  sich  die  Literatur  durch 
die  Spracherneuerung  Kazinczys  ein  neues  Organ  zur  Vervollkommnung 
der  Prosa;  gleich  darauf  begründet  der  25jährige  Vörösmarty  eine  glänzende 
poetische  Sprache  und  Diktion:  mit  seinem  Epos  die  Flucht  Zaläns 
hebt  sich  strahlend  die  Sonne  dieser  Glanzzeit,  in  den  vierziger  Jahren 
brennt  sie  ihren  heißesten  Mittag  und  geht  goldglühend  mit  dem  Epos 
Toldis  Liebe  von  Arany  (1879)  unter.  Das  dritte  Gebiet,  auf  welchem 
Ungarn  eine  wesentliche  Umgestaltung  erleidet,  ist  das  der  materiellen 
Kultur.  Es  ist  das  Werk  Stefan  Szechenyis,  der  im  Gegensatz  zu  den 
übrigen  genialen  Staatsmännern  Ungarns  einen  lebhaften  Sinn  für  die 
praktischen  Fragen,  für  Kredit  und  Assoziation  hatte.  Ihm  ist  es  in  erster 
Reihe  zu  verdanken,  daß  aus  dem  Ungarn,  welches  Herder  für  einen  im 
Sterben  begriffenen  Staat  hielt,  dasjenige  Ungarn  geworden,  welches 
Kaiser  Wilhelm  IL  am  21.  September  1898  zu  Ofen  „in  sympathischer 
Bewunderung"  mit  dem  Ausspruch  charakterisierte,  daß  es  seine  Millen- 
niumsfeier in  „überraschender  Herrlichkeit"  feierte. 

So  große  Resultate  wären  unmöglich  gewesen  ohne  große  Tugenden.  Die  Gefühle. 
Dem  ungarischen  Volksglauben  gemäß  muß  ein  Haus,  um  fest  bestehen 
zu  können,  in  seinen  Grundmauern  mit  einem  Opfer  von  Menschenblut 
benetzt  werden.  Solch  ein  Gebäude  ist  das  heutige  Ungarn.  Das  Opfer 
bei  seiner  Grundsteinlegung  war  das  selbstaufopfernde  Leben  seiner  edelsten 
Söhne  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts.  Außergewöhnliche  Talente 
und  Charaktere  mußten  kommen,  um  in  dieser  Welt  des  Egoismus  und  der 
Lässigkeit  solche  außergewöhnliche  Resultate  zu  erzielen.  Welche  Be- 
geisterung, welche  Opferwilligkeit  ist  in  diesem  Heroenzeitalter  der  ungari- 


2  86  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

sehen  Kultur  bei  den  Führern  zu  finden,  von  Kazinczy  angefangen,  der 
am  Ende  des  i8.  Jahrhunderts  seine  Notizen  in  dem  Gefängnisturm  von 
Kufstein  mit  seinem  eigenen  Blut  schreibt,  bis  zu  Petöfi,  der  1849  mit 
26  Jahren  glorreich  auf  dem  Schlachtfelde  stirbt!  Die  Dichter  Verseghy, 
Bacsänyi,  SzentjöbiSzabö,  Czüczor,  Madäch  mußten  im  Gefängnis  schmachten, 
Kossuth  mußte  im  Exil  sterben,  der  größte  Staatsmann  Ungarns,  Graf 
Stefan  Szechenyi,  mußte  verzweifelt  über  das  Schicksal  seines  Vater- 
landes zum  Selbstmörder  werden  —  billiger  war  es  Ungarn  nicht  gegeben, 
sich  die  Freiheit  und  das  Leben  zu  erringen. 

Es  bedurfte  großer  Herzen  und  glühender  Exaltation,  um  diese  Nation 
neu  zu  gründen.  Im  Jahre  1795  wurden  in  Ofen  auf  dem  Felde,  welches 
seitdem  im  Ungarischen  das  Feld  des  Blutes  heißt,  die  Mitglieder  der 
sogenannten  Martinovicsischen  „Verschwörung"  enthauptet;  nachdem  der 
aufgeregte  Henker  dreimal  auf  Sigray  geschlagen,  ehe  sein  stolzes  Haupt 
fiel,  wurde  Laczkovics,  dann  der  die  Marseillaise  singende  Szentmarjai, 
dann  der  schwärmerische  Hajnoczy  und  endlich  der  gelehrte  Martinovics 
hingerichtet;  am  nächsten  Tage  fand  man  an  blutiger  Stelle  festgewurzelt 
einen  duftenden  Rosenstrauch.  Auf  solche  Weise  erblühte  auch  die  unga- 
rische Literatur  aus  dem  Blute  der  Märtyrer.  —  Am  Ende  des  1 8.  Jahrhunderts 
reiste  ein  junger  Edelmann  nach  Siebenbürgen.  „Gegen  Abend  —  schreibt 
er  in  seinem  Tagebuch  —  kam  ich  auf  einen  hohen  Berg,  wo  Ungarn  an 
Siebenbürgen  grenzt.  Unter  mir  sah  ich  eine  überraschende,  prächtige, 
aber  mein  Herz  zerschmetternde  Szenerie:  im  Westen  sah  ich  die  ung-ari- 
sche  Ebene  in  reinem  Abendgolde;  im  Osten  brandete  das  Wäldermeer 
von  Siebenbürgen.  Auch  mein  Herz  geriet  in  Brandung,  ich  warf  mich 
auf  die  Grenzlinie  unter  Tränengüssen  nieder  und  schwur:  Ich,  ein  armer 
ungarischer  Edelmann,  doch  Abkomme  derjenigen,  die  hier  eine  glorreiche 
Nation  gegründet,  werde  aus  meinem  Herzblut  und  meinen  innigsten 
Gefühlen  wie  die  Seidenraupe  aus  ihrem  Innern  einen  P'aden  spinnen,  mit 
welchem  ich  unsere  aussterbende  Nationalität  durch  Sprache,  Gefühl  und 
Schrift  weiter  am  Leben  erhalten  werde." 

Dieser  Jüngling  begann  wirklich  „den  Faden  zu  spinnen".  Es  war 
Alexander  Kisfaludy. 

Ein  junger  ungarischer  Magnat  sah  auf  seiner  Orientreise  im  Jahre  18 18 
in  Athen  erschüttert  die  Ruinen  der  schönsten  Gebäude  der  Welt.  Sollte 
sein  Vaterland  auch  so  untergehen?  Er  leistete  sich  den  Schwur:  „Wenn 
nötig,  werde  ich  allein  mein  armes  Volk  aus  seinem  Verfall  erheben  und 
einer  schönen  Zukunft  entgegenführen." 

Er  hielt  den  Schwur.     Es  war  Stefan  Szechenyi. 
Die  Sprach-  Ehe    die  Literatur   ihre  Blüte    erreichen  konnte,    mußte   sie    ein  voll- 

erncucruog  am 

Anfang  des    kommenes  Organ    für  den  Ausdruck  haben.     Dies    zu  schaffen,  war    das 

19.  Jahrhunderts.  '^ 

Ziel  der  Spracherneuerung,  die  eng  mit  dem  Namen  Franz  Kazinczys  ver- 
knüpft ist. 

Es    ist    nicht  leicht,  einem  Ausländer   einen  Begriff    von    der  Sprach- 


VI.  Das   19.  Jahrhundert.  287 

erneuerung  zu  geben,  so  daß  er  ihre  Bedeutung,  ohne  sie  zu  überschätzen, 
doch  richtig  erkenne.  Spracherneuerung  nennen  wir  das  Bestreben  einer 
Gruppe  von  Schriftstellern,  die  ungarische  Sprache  mit  neuen  Wörtern 
und  Stilwendungen  zu  bereichern.  Franz  Kazinczy  war  der  Führer  dieser 
Bewegung,  welche  jedoch  schon  früher  anfing  und  ihn  überlebte.  Die 
Worte  erfanden  die  Schriftsteller  selbst,  teilweise  den  ungarischen  Wort- 
bildungsgesetzen gemäß,  teilweise  auf  eine  höchst  willkürliche  Weise.  Das 
Resultat  war  die  künstliche  Transfusion  von  etwa  zehntausend  neugebildeten 
Wörtern  in  den  Körper  der  ungarischen  Sprache.  Es  war  eine  ganze  Revo- 
lution, die  wie  jede  Revolution  zu  Übertreibungen  führte.  Die  Wort- 
fabrikation nahm  so  sehr  überhand,  daß  beinahe  schon  die  Reinheit  der 
Sprache  bedroht  war:  die  Zahl  der  neugebildeten  Wörter,  welche  man  in 
die  ungarische  Sprache  hineinzuschmuggeln  versuchte,  welche  jedoch  die 
gesunde  Xatur  der  ungarischen  Sprache  gleich  abgestoßen  hat,  betrug 
vielleicht  mehr  als  20000. 

Es  entstand  eine  große  Reaktion  gegen  die  Übertreibungen  der 
Spracherneuerer,  der  Neologen,  bis  endlich  (wie  gewöhnlich  nach  großen 
Umwälzungen)  ein  Kompromiß  zustande  kam,  welcher  einen  Teil  der  neu- 
geschaffenen Wörter  als  bleibenden  Bestandteil  des  ungarischen  Sprach- 
schatzes akzeptierte. 

Der  Führer  dieser  wichtigen  Bewegung,  Franz  Kazinczy,  war  kein  Franz  Kazinczy 
Dichter  von  hohem  Rang,  aber  doch  ein  Bahnbrecher,  ein  Inspirator  und 
Meister  des  Geschmackes.  Er  war  sehr  wohlbewandert  in  der  Weltliteratur 
und  wohl  einer  der  ersten  außerhalb  Deutschlands,  die  Schillers  und 
Goethes  Bedeutung  erkannten.  Sein  Ideal  war  das  Allgemein-Menschliche, 
wie  es  etwa  Goethe  in  der  Iphigenie  verklärt.  Mit  Schmerz  mußte 
Kazinczy  am  Ende  seines  Lebens  bemerken,  daß  die  junge  Generation,  vor 
allem  der  geniale  Michael  Vörösmarty,  sich  von  diesem  abstrakten  allgemein- 
gültigen Ideal  lossagt  und  eine  entschieden  nationale  Tendenz  verfolgt. 
Man  suchte  nicht  mehr  das  allgemein  rein  Menschliche,  sondern  das  speziell 
rein  Ungarische.  Kazinczy  war  wie  ein  Vater,  der  die  Sprache  seiner 
Söhne  nicht  mehr  versteht. 

Der  Sprachemeuerung'  sieht  man  es  an,  daß  ihr  Führer  ein  Zeit- 
genosse der  französischen  Revolution  war.  Wie  die  Revolutionäre  die 
Tradition  nicht  zu  schätzen  wußten  und  die  Resultate  tausendjähriger 
Entwicklung  mit  einem  Schlage  beseitigen  und  alles  der  raison  pure 
gemäß  umgestalten  wollten,  so  mißachtete  auch  Kazinczy  die  Sprach- 
tradition, das  durch  Jahrtausende  langsam  Gewordene,  und  trachtete  es 
einem  abstrakten  Ideal  zuliebe  plötzlich  umzuändern. 

Kazinczy  suchte  nicht  nur  die  Sprache  zu  verschönern  und  zu  be- 
reichem, er  wollte  auch  den  Geschmack  veredeln.  Zu  diesem  Zwecke 
übersetzte  er  vieles  aus  dem  ausländischen  Literaturschatz  und  suchte  auch 
durch  Rat  auf  die  Zeitgenossen  zu  wirken.  Ein  Hauptmittel  dazu  war  seine 
Korrespondenz.     Er  war  die  höchste  Autorität  in  literarischen  Angelegen- 


2  88  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

heiten.  Alles  wendete  sich  an  ihn.  Seine  Korrespondenz,  welche  viel- 
leicht die  größte  der  Weltliteratur  ist  und  nur  mit  der  Voltaires  ver- 
glichen werden  kann,  ersetzte  eine  literarische  Zeitschrift.  Es  ist  eine  für 
ihn  charakteristische  Tatsache,  daß  die  Portospesen  seiner  Riesenkorre- 
spondenz viel  zur  Vermehrung  seiner  finanziellen  Kalamitäten  beitrugen. 
Aieiander  An    der  Schwclle   der  Blütezeit    stehen  die   Gebrüder  Kisfaludy,  die 

Kisfalady  ■'  ' 

(1772— 1844).  ungefähr  zu  derselben  Zeit  wirkten  wie  die  Brüder  Schlegel.  Der  ältere 
Alexander  ist  der  größte  Lyriker  seines  Zeitalters.  Seine  Liebeslieder 
(Die  Liebe  Himfys)  haben  das  Publikum  im  Sturm  erobert  —  was  bis 
dahin  kein  einziger  ungarischer  Dichter  sagen  konnte.  „In  den  sonnigen 
Tälern  der  Provence  ist  der  Minnesang  entsprossen"  singt  Uhland.  Auch 
die  Liebespoesie  Kisfaludys  stammt  aus  der  Provence  und  hat  vielleicht 
daher  ihre  Glut,  ihre  süße  Melodie  und  ihre  Formschönheit.  Er  kam  in 
den  Napoleonischen  Kriegen  als  Kriegsgefangener  in  die  Provence  und 
sah  auch  Avignon,  was  für  ihn  von  um  so  größerer  Bedeutung  war,  als  er 
in  der  Poesie  als  Vorbild  den  Sänger  von  Vaucluse:  Petrarca  betrachtete. 
In  seinen  kleineren  epischen  Gedichten,  Sagen  der  ungarischen  Vor- 
zeit, wendet  er  sich,  wie  die  zeitgenössische  Romantik  überhaupt,  zum 
Mittelalter,  zum  Ritterwesen;  jedoch  sieht  Kisfaludy  im  Mittelalter  nicht 
das  hehre  religiöse,  sondern  das  nationale  Zeitalter.  Er  liebt  die  Ver- 
gangenheit, weil  in  ihr  Ungarn  frei  und  mächtig  war. 
Karl  Kisfaludy  Während  Alexander  Kisfaludy,    der  Dichter  der  unglücklichen  Liebe, 

''  "  als  Muster  eines  klugen  Landedelmannes  gemächlich  und  angesehen  auf 
seinem  Landgut  lebte,  kämpfte  sein  Bruder  Karl  schwer  um  seine  Existenz 
und  um  den  Lorbeerkranz.  Als  Maler  bereiste  er  Italien;  zurückgekehrt  lebte 
er  in  Pest  notdürftig'  von  seinen  Malereien,  die  der  Schuhmacher,  bei  dem 
er  wohnte,  verkaufte.  Im  31.  Jahre  betrat  er  die  Laufbahn,  für  die  er 
prädestiniert  war:  die  des  dramatischen  Dichters. 
Das  Drama.  Das    ungarischc  Drama  war  eben  damals    zu    Anfang    des    19.   Jahr- 

hunderts in  der  Jugendgärung.  Unter  allen  Dichtungsarten  hatte  sich  das 
Drama  am  spätesten  entwickelt,  da  das  städtische  Leben  —  welches  die 
Vorbedingung  des  Dramas  ist  —  eben  bei  dem  ungarischen  Element 
späteren  Ursprunges  ist.  Auch  war  die  Entwicklung  des  Dramas  keine 
kontinuierliche:  das  weltliche  Drama  entsprang  nicht  aus  dem  alten 
geistlichen.  In  einem  Legendenkodex  vom  Anfang  des  16.  Jahrhunderts 
findet  sich  die  wörtliche  Übersetzung  eines  Dramas  der  Roswitha:  des 
Dulcitius,  nur  daß  der  Dialog  durch  erzählenden  Text  verbunden 
ist.  Das  16.  Jahrhundert  war  übrigens  in  Ungarn  wie  auch  in  Deutsch- 
land die  Zeit  des  satirisch-theologischen  Tendenzdramas.  In  dieser 
Gattung  ist  das  interessanteste  Produkt  das  Drama:  Der  Verrat  des 
Meinhard  Balassa,  vielleicht  das  Werk  eines  unitarischen  Predigers, 
welches  nicht  ohne  Kraft  einen  mächtigen  und  gewalttätigen  Raub- 
ritter (einen  Verwandten  des  Dichters  Balassa),  dem  für  Geld  Ehre 
und    Rehgion    feil    ist,    an    den    Pranger    stellt.      Im     17.    und     18.   Jahr- 


VI.  Das    19.  Jahrhundert.  28Q 

hundert  ist  es  bloß  die  Schule,  welche  in  Ungarn  das  Drama  pflegt.  Die 
erste  öffentliche  Theatervorstellung  von  Bedeutung  fand  im  Jahre  1790 
zu  Ofen  in  einem  Klostergebäude  statt,  welches  Joseph  II.  zu  einem 
Theater  umgestalten  ließ.  Ein  Enthusiast,  Ladislaus  Kelemen,  stand  an 
der  Spitze  der  Truppe,  welche  nicht  nur  des  Erwerbes  halber,  sondern 
aus  Patriotismus,  um  die  ungarische  Sprache  und  Literatur  zu  verbreiten, 
spielte.  Das  Kelemensche  Theater,  welches  in  sein  Repertoire  auch  Lessing, 
Schiller  und  Goethe  aufgenommen  hatte,  hielt  sich  nicht  lange,  aber  das 
Eis  war  gebrochen:  das  Bühnenwesen  verbreitete  sich  immer  mehr  und 
mehr,  und  nun  war  es  an  den  Dichtern,  die  Bühne  mit  ungarischen  Pro- 
dukten zu  versehen.  In  dieser  Zeit,  im  günstigen  Augenblicke,  trat  Karl 
Kisfaludy  auf.  Sein  epochales  Hauptverdienst  besteht  darin,  daß  er  auf 
die  Bühne  nicht  nur  Stücke  in  ungarischer  Sprache  —  wie  seine  Vor- 
gänger —  sondern  wirklich  (und  nicht  bloß  hieher  lokalisierte)  ungarische 
Sujets  und  ungarische  Charaktere  brachte.  Er  ist  mit  seinen  Lustspielen 
der  Begründer  des  wahrhaft  ungarischen  Dramas.  Die  Lustspielform  und 
Technik  dagegen  ist  ganz  die  damals  modische,  die  von  Kotzebue  und 
Kömer.  Unter  seinen  Tragödien  ragt  am  meisten  Irene  hervor.  Den 
Stoff  entnahm  Kisfaludy  dem  großen  Mathematiker  Wolfgang  von  Bölyai, 
der  außer  seinen  großartigen  mathematischen  Werken  auch  Dramen  schrieb. 
Irene  ist  ein  schönes  Griechenmädchen,  welches  nach  der  Eroberung  von 
Konstantinopel  als  Gefangene  in  das  Serail  Mahomets  IL  kommt.  Der 
Sultan  vergißt  über  ihre  Liebe  den  Krieg,  als  er  jedoch  die  Unzufrieden- 
heit der  Krieger  sieht  und  an  der  Liebe  Irenes  zu  zweifeln  anfängt,  er- 
sticht er  sie. 

Ein  weiteres  Hauptverdienst  Karl  Kisfaludys,  neben  der  Begründung 
des  ungarischen  Dramas,  ist  die  Herausgabe  eines  jährlich  erscheinenden 
Almanachs,  der  Aurora,  wodurch  er  ein  Mittel  fand,  der  ungarischen  Lite- 
ratur ein  Publikum  heranzubilden  und  zugleich  die  talentiertesten  Schrift- 
steller in  einen  Kreis  in  die  Hauptstadt  zu  konzentrieren.  Ungarn  hatte  bis 
dahin  kein  literarisches  Zentrum:  vermittelst  des  Taschenbuches  Aurora 
gab  Kisfaludy  dem  literarischen  Leben  auf  einmal  einen  Führer  und  einen 
Mittelpunkt. 

Neben    diesen    bahnbrechenden    Geistern    steht    noch    eine    edle    tief-  ^'^"^  ^°'"°^ 

(1790— 1838). 

sympathische  Gestalt:  Franz  Kölcsey.  Ein  schwärmerischer  Idealist,  wie 
aus  einem  Drama  Schillers  herausgehoben,  der  in  seine  Studien  und  in 
seine  Gedanken  versunken,  einmal  ein  ganzes  Jahr  sein  Haus  nicht  verläßt. 
Er  hatte  in  seiner  Jugend  ein  Auge  verloren  und  das  gab  seinem  feinen 
"blassen  Gesicht  mit  der  hohen  Stirn  einen  überirdisch-melancholischen 
Ausdruck,  Auch  in  seiner  Lyrik  finden  wir  eine  feine,  unbestimmt 
nebelhafte  Melancholie  und  Sentimentalität.  Was  ihn  jedoch  weit  über 
seine  sentimentalen  deutschen  Zeitgenossen,  z.  B.  Matthisson,  erhebt,  ist  der 
große  Zug  des  Patriotismus,  der  tiefe  patriotische  Schmerz,  der  ihn  seinen 
eigenen  Schmerz  vergessen  läßt.     Kölcsey  war  unter  den  großen  Rednern 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9.  I9 


2QO  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

■  des  damaligen  politischen  Lebens  der  poetischste,  das  Vorbild  des  größten 
Redners:  Kossuths.  Das  berühmteste  Gedicht  Kölcseys  ist  seine  Hymne, 
der  Nationalhymnus  der  Ungarn,  dessen  Hauptgedanke  folgender  ist: 
Ungarn  hat  im  Laufe  der  Geschichte  so  viel  gelitten,  daß  es  durch  seine 
Leiden  die  Sünden  der  Vergangenheit  und  die  der  Zukunft  gesühnt  hat. 
Die  Blütezeit  Die  Blütezeit  der  ungarischen  Literatur  fällt  in  die  Jahre  1820 — 1880, 

"  LuTratur.  °°  in  welchen  die  zwei  größten  Dramatiker,  Josef  Katona  und  Emerich 
Madach,  ihre  Meisterwerke  veröffentlichen,  Michael  Vörösmarty  die 
poetische  Sprache  begründet,  Alexander  Petöfi,  der  größte  Lyriker, 
Johann  Arany,  der  größte  Epiker,  und  Maurus  Jökai,  der  berühmteste 
Romanschriftsteller  leben  und  wirken.  In  dieser  glorreichen  Zeit  treten 
auch  die  drei  größten  Staatsmänner  auf:  der  Begründer  des  modernen 
Ungarn:  Stefan  Szechenyi,  der  Führer  der  Unabhängigkeitsbewegung: 
Ludwig  Kossuth,  und  der  Weise  des  Landes,  der  Stifter  des  Ausgleiches 
zwischen  Ungarn  und  Österreich:  Franz  Deäk. 
Konstitutive  Ihre  Sonnenhöhe    erreicht  die  ungarische  Literatur  in   den  zwei  Jahr- 

BUHezeit/'^  Zehnten  vor  dem  Freiheitskampfe  (1848).  Diese  Glanzperiode  entstand 
durch  die  Vereinigung  zweier  Faktoren:  der  nationalen  patriotischen  Be- 
geisterung mit  der  allgemeinen  europäischen  demokratischen  Strömung. 
Jede  große  Idee,  jedes  große  Gefühl  ist  anfangs  der  Besitz  eines  kleinen 
Kreises,  aus  dem  sie  dann  leuchtend  und  wärmend  weiter  dringen.  So 
war  es  auch  mit  der  patriotischen  Exaltation:  zuerst  zündet  sie  bei  den 
an  der  Spitze  der  Nation  stehenden  Männern,  dann  dringt  sie  in  die 
weiteren  Kreise  und  ergreift  die  Nation.  Diese  Jahre  waren  die  Zeit  der 
Begeisterung  und  des  Pathos;  das  Gemeingefühl  erreicht  einen  Grad 
von  Wärme  wie  nie  zuvor.  Die  Poesie  Vörösmartys,  Petöfis  und  Aranys 
entfaltet  sich  dann  schnell  in  diesem  günstigen  Klima. 

Zu  diesem  nationalen  Hochgefühl  gesellt  sich  als  zweites  konstitutives 
Element  die  Wirkung  der  demokratischen  Ideen,  welche  sich  damals  in 
ganz  Europa  verbreiteten.  Das  Volk  kommt  in  die  Mode.  Die  Poesie 
Aranys  und  Petöfis  beruht  auf  der  Volkspoesie.  „Die  Volkspoesie  —  schreibt 
Petöfi  seinem  Freunde  Arany  —  ist  die  wahre  Poesie.  Vereinigen  wir 
uns,  daß  sie  die  herrschende  werde!  Wenn  das  Volk  in  der  Poesie  herrscht, 
wird  es  auch  bald  in  der  Politik  zum  Herrschen  kommen,  und  das  ist  die 
Aufgabe  dieses  Jahrhunderts." 

Um  es  zusammenzufassen:  Den  warmen  ungarischen  Frühling  durch- 
brauste unter  erhebenden  Donnerschlägen  und  befruchtendem  Regenschauer 
das  Gewitter  der  europäischen  Demokratie. 

So  entstand  die  reiche  Vegetation  der  Blütezeit. 

Joseph  Katona  Im  Jahre   182 1    erschien  Bank  Bän    von   Joseph    Katona,    die    beste 

>79o   >3o-   'pj.^gQ^jg^    (jie   je    ein    Ungar   geschrieben.      Sie    übte    damals   gar    keine 

Wirkung  und  kam  bei  Lebzeiten  des  Verfassers  auch  nicht  auf  die  Bühne, 

da   die  Zensur   das  Stück  verbot,  wahrscheinlich   weil   darin   eine  Königin 

ermordet   wird,  was  den  Untertanen   als  schlechtes  Beispiel  hätte   dienen 


VI.   Das   19.  Jahrhundert.  2QI 

können,  stand  doch  das  Schicksal  der  Marie  Antoinette,  die  eine  nahe 
Verwandte  des  damals  regierenden  Königs  war,  noch  allseits  in  lebhaftem 
Andenken. 

Katonas  Bank  Bän  behandelt  denselben  Stoff  wie  Grillparzers  Ein 
treuer  Diener  seines  Herrn.  Beide  Dichter  entnahmen  ihn  dem  Ge- 
schichtswerke des  Bonfini.  Der  Unterschied  ist  im  Grunde  genommen 
darauf  zurückzuführen,  daß  aus  Grillparzers  Drama  der  beleidigte  Beamte, 
aus  dem  des  Katona  der  verletzte  Patriot  spricht.  Bdnk  Bdn  ist  das 
Drama  des  nationalen  Pathos,  das  Drama  des  Ungamtums,  welches  sich 
gegen  jede  Fremdherrschaft  auflehnt.  Es  ist  dies  das  immer  wieder- 
kehrende Grundthema  der  ungarischen  Geschichte  mit  den  bleibenden, 
echt  ungarischen  Charaktertypen,  der  aufbrausenden,  im  Grunde  aber  doch 
loyal  gesinnten  Opposition.  Auch  die  demokratische  Tendenz  ist  in  Bank 
Bän  vertreten  in  der  Gestalt  eines  Bauers,  der  das  Elend  und  die  Leiden 
des  Volkes  verkörpert. 

Bei  Katona  tötet  der  Palatinus  Bank  Bän  die  Königin  Gertrudis  (die 
Mutter  der  heiligen  Elisabeth)  in  Abwesenheit  ihres  Gatten,  des  Königs 
Andreas  IL  Der  Reichspalatin  tötet  die  Königin,  er,  der  Stellvertreter 
des  Königs  tötet  dessen  Frau,  der  Ritter  ein  schwaches  Weib,  der  loyale 
Untertan  seine  Herrin  —  wie  war  das  möglich?  Katona  macht  es  uns 
durch  seine  dramatische  Kunst  verständlich.  Wir  sehen  in  Bank  Bän  die 
Leidenschaft  keimen,  wachsen  und  furchtbar  explodieren:  wir  sehen  in  ihm 
den  beleidigten  Gatten,  der  die  Ehre  seiner  Frau,  den  Patrioten,  der  sein 
Land  rächt,  wir  sehen  den  edlen,  doch  leidenschaftlichen  Mann,  den 
außer  dem  erlittenen  Unrecht  auch  momentane  Ursachen  tief  erregen  und 
den  die  Königin  noch  im  entscheidenden  Moment  furchtbar  reizt. 

Katonas  Werk  ist  voll  erschütternder  Tragik  und  in  der  einfachen, 
manchmal  holprigen  Sprache  erreicht  es  doch  oft  eine  Wucht  und  Erhaben- 
heit des  Ausdruckes,  wie  die  allergrößten  Tragiker.  In  Bank  Bän  zeichnet 
er  nicht  nur  die  Geschichte  einer  verzehrenden  Leidenschaft,  sondern  das 
Wechselwirken  verschiedener,  miteinander  furchtbar  kämpfender  Gefühle. 
Katonas  Drama  ist  nach  dem  Vorbilde  Shakespeares  geschrieben,  aber 
ganz  von  nationalem  Geiste  erfüllt. 

Im  Gegensatz  zu  dem  unbekannt  gestorbenen  Joseph  Katona  machte  Michael 
der  junge  Michael  Vörösmarty  mit  seinem  Epos:  Die  Flucht  Zaläns  (1800—1855). 
epochale  Wirkung.  Sprachlich  und  stilistisch  hat  dieses  Werk  eine  ähn- 
liche Bedeutung  wie  die  Messiade  Klopstocks.  Vörösmarty  begründete 
mit  diesen  majestätisch  flutenden,  der  antiken  Prosodie  folgenden  Hexa- 
metern, vielleicht  den  klangschönsten  seit  Virgil,  die  Sprache  der  ungari- 
schen Poesie.  Der  Stoff  dieses  heroischen  Epos  ist  aus  der  Geschichte 
der  Eroberung  Ungarns  genommen:  Zalän  ist  ein  in  Ungarn  residierender 
bulgarischer  Fürst,  den  Arpäd  mit  seinen  Ungarn  besiegt,  zur  Flucht 
über  die  Donau  zwingt  und  dadurch  den  Ungarn  ihr  heutiges  Vaterland 
erwirbt. 

19* 


2Q2  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

Zaläns  Flucht  ist  ein  Werk  des  patriotischen  Schmerzes.  Um  es  zu 
verstehen,  müssen  wir  nicht  nur  in  des  Dichters  Land,  sondern  auch  in 
des  Dichters  Zeit  zurückgehen.  In  den  Jahren,  als  Vörösmarty  sein  Epos 
schrieb,  versuchte  Metternich  die  ungarische  Konstitution  zu  suspendieren: 
der  ungarische  Reichstag  wurde  nicht  einberufen,  die  verbrieften  Rechte 
der  ungarischen  Nation  wurden  nicht  beachtet.  Vörösmarty  wollte  in 
seinem  Epos  der  Nation  ein  Bild  der  alten  Heldengröße  vorhalten.  Auf 
die  düstere  und  leidenschaftliche  Pracht  der  Diktion  war  neben  diesen 
politischen  Umstand  noch  ein  anderer  von  Einfluß:  des  Dichters  unglück- 
liche Liebe  zu  Etelka  Perczel,  die  ihn  tief  erregte  und  die  er  in  allen 
seinen  Jugendwerken  verherrlicht.  Auch  die  Stoffwahl  ist  leicht  erklär- 
lich: Arpäd  war  damals  sozusagen  in  der  Mode,  eine  ganze  Reihe  von 
Zeitgenossen  trug  sich  mit  dem  Gedanken,  Arpäd  zum  Helden  eines  Epos 
zu  machen,  wurde  doch  die  Chronik  des  Anonymus,  welche  die  Er- 
oberung" Ungarns  ausführlich  erzählt ,  eben  damals  lebhaft  kommen- 
tiert und  auch  übersetzt.  Als  Vorbild  für  die  Darstellung  diente  das 
ewige  Muster  des  heroischen  Epos:  Virgil;  auf  den  Ton  war  auch  Ossian 
von  Einfluß,  den  Kazinczy  zu  jener  Zeit  übersetzte.  Zu  der  erregten 
patriotischen  Stimmung  gesellten  sich  noch  die  erregenden  Eindrücke  des 
griechischen  Freiheitskampfes. 

Der  durch  das  Beispiel  Virgils  gebotene  mythologische  Apparat  be- 
reitete große  Schwierigkeit,  weil  der  Glaube  der  alten  Ungarn,  der  Zeit- 
genossen Arpäds,  so  gut  wie  ganz  unbekannt  war.  Da  man  die  Ungarn 
als  orientalisches  Volk  damals  gern  in  Verbindung  mit  den  Persem 
brachte,  nahm  Vörösmarty  ein  dualistisches  Prinzip  an:  einen  Gott  der 
Ungarn,  den  Hadur  (Herr  des  Kampfes)  und  seinen  Gegner,  das  Prinzip 
des  Bösen  vertretend:  den  Armäny  (Ahriman). 

In  den  ersten  Jahren  seiner  Dichtertätigkeit  schrieb  Vörösmarty  Epen. 
Nach  Zalän  behandelte  er  in  Cserhalom  den  populärsten  Helden  des 
Mittelalters,  Ladislaus  den  Heiligen  {■\  iog2).  Cserhalom  ist  der  Name  des 
Ortes,  wo  er  die  Kumanier  besiegte.  In  Eger  erzählt  er  die  helden- 
mütige Verteidigung  Erlaus  gegen  die  türkische  Übermacht.  Mit  düsterer 
Glut  beleuchtet  er  in  dem  Epos  Die  zwei  Nachbarschlösser  mittel- 
alterliche Schreckenszenen:  Aus  dem  Kriege  zurückgekehrt  findet  der  junge 
Ritter  Tiham^r  das  Familienschloß  leer,  denn  die  feindliche  Nachbarfamilie 
der  Käldor  hat  die  Bewohner  alle  getötet.  Wir  sehen  nun  die  Rache 
Tihamers:  er  tötet  im  Zweikampf  die  Mitglieder  und  Angehörigen  des 
Nachbarschlosses,  zwei  Brüder  töten  sich  nachts  aus  Irrtum  gegenseitig, 
das  letzte  Mitglied  der  Familie  Käldor,  die  holde  Enikö,  stirbt  vor  Ent- 
setzen, als  Tihamer  in  dem  Panzer  ihres  Vaters  zu  ihr  eintritt  und  sie  erst 
dann,  als  er  das  Visier  zurückschlägt,  sieht,  daß  ihr  Vater  durch  Tihamer 
getötet  worden.  Aber  auch  Tihamer  findet  keine  Ruhe  mehr  im  Leben; 
nach  diesem  furchtbaren  Ereignis  wird  er  von  wahnsinniger  Reue  erfaßt. 
Ein  Zeitgenosse,  der  Dichter  Berzscnyi,   nannte  dieses  Werk  Vörösmartys, 


VI.   Das    19.  Jahrhundert.  293 

wegen  seines  Stoffes,  ein  kannibalisches;  jedoch  kuhniniert  die  Plastik  der 
Sprache,  die  Kraft  der  Beschreibung  des  Dichters  eben  in  diesem  Werk. 

Vörösmarty  war  in  der  zweiten  Hälfte  seiner  Laufbahn  vorwiegend 
Dramatiker.  Er  besaß  jedoch  weder  genug  psychologische  Kraft,  lebens- 
warme Charaktere  zu  schaffen,  noch  die  Gabe,  eine  Kette  von  Ereignissen 
wahrscheinlich  darzustellen.  Seine  Neigung,  Dramen  zu  schreiben,  erklärt 
sich  aus  seiner  großen  Vorliebe  für  alles  Leidenschaftliche  und  aus  dem 
Aufblühen  des  Theaterwesens  und  der  dramatischen  Literatur  in  dieser 
Zeit.  Besonders  die  romantische  Schule  Frankreichs  mit  Viktor  Hugo  an 
der  Spitze  war  damals  in  Mode  und  übte  großen  Einfluß  auf  Vörösmartys 
Dramen  aus.  Die  edle  Sprache  Vörösmartys  wurde  maßgebend  für  das 
ungarische  Drama.  Seine  berühmtesten  Dramen  sind  Banus  Marot, 
welches  zur  Zeit  der  Türkenherrschaft  spielt  und  besonders  stark  den  Ein- 
fluß des  romantischen  Dramas  verrät,  sowie  das  Märchenspiel  Csongor 
und  Tünde,  im  Geiste  von  Shakespeares  Sommernachtstraum,  sprach- 
lich ein  melodiöses  Meisterwerk.  Am  größten  ist  er  als  Lyriker.  Seine 
Phantasie  hat  etwas  Visionäres,  das  hier  vollständig  zur  Geltung  kommt. 
Wie  vom  Fieber  ausgebrütet  ziehen  aufgeregte  Traumbilder  an  ihm  vorüber. 
Auch  in  seinem  berühmten  Gedicht,  dem  Aufruf  (Szözat),  welches  neben 
dem  Hymnus  Kölcseys  zum  Nationallied  der  Ungarn  wurde,  sehen  wir 
diesen  Zug  seiner  Phantasie.  Wie  im  Frühjahre  kalte  und  warme  Luft- 
strömungen, so  kämpfen  in  diesem  Lied  Hoffnung  und  Verzweiflung,  der 
Geist  der  neuen  Zeit,  der  Geist  Szechenyis  mit  dem  alten  Fatalismus.  Das 
Gedicht  ermahnt  die  Ungarn  zur  Treue  gegen  ihr  Vaterland,  in  welchem  sich 
die  großen  Taten  ihrer  Geschichte  abgespielt.  Der  Wendepunkt  ist  nahe. 
Die  bessere  Zeit  muß  heranbrechen,  denn  es  ist  unmöglich,  daß  so  viel 
Kraft,  Geist  und  Wille  vergebens  gestrebt  hätten.  Oder  wenn  es  so  sein 
muß,  wird  der  großartige  Tod  kommen  und  die  Nationen  Europas  werden 
tränend  das  ungeheuere  Grab  umstehen,  in  welches  man  das  ganze 
ungarische  Volk  begTäbt.  —  Das  Exzentrische  von  Vörösmartys  Wesen 
zeigt  sich  auch  darin,  daß  neben  den  hochpathetischen,  visionären  Gedichten 
seine  schönsten  die  ganz  einfachen,  beinahe  naiven  sind.  Die  große  Be- 
deutung Michael  Vörösmartys  läßt  sich  folgendermaßen  zusammenfassen: 
Vörösmarty,  mit  dem  das  goldene  Zeitalter  der  Poesie  anfängt,  gab  der 
ungarischen  Literatur  das  Sprachorgan,  welches  alle  Späteren  benutzten. 
In  seiner  Dichtung  fließen,  wie  in  einem  gewaltigen  Strome,  die  früher 
getrennten  Richtungen,  die  klassische,  die  formschön  aber  kalt  war,  und 
die  nationale,  die  warm,  aber  nicht  edel  genug  war,  zusammen.  Unter 
allen  Dichtern  Ungarns  hat  Vörösmarty  die  glühendste  Phantasie,  die  höchste 
Inspiration:  er  ist  wirklich  ein  vates,  ein  Dichter,  dessen  im  heiligen 
Wahnsinn  rollendes  Auge  vom  Himmel  seiner  Träume  immer  wieder  zur 
ungarischen  Erde  niederblickt. 

Vörösmarty  war  der  erste  Dichter,  der  von  dem  Ertrag  seiner  Feder 
leben  konnte.    Eine  Zeit  hindurch  war  er  auch  Abgeordneter,  aber  der  un- 


2QA  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

glückliche  Ausgang  des  Freiheitskampfes  von  1848  hat  ihn  dann  ganz  ge- 
brochen.    Er  starb  von  innenaus. 
Aieiander  jjti  Jahrc  1844  besuchte  Vörösmarty  ein  ganz  junger  Wanderkomödiant, 

(1823— 1849).  um  ihm  ein  Manuskript  Gedichte  zu  überreichen.  Dem  blassen  Jüngling 
sah  man  die  kaum  überstandene  schwere  Krankheit  und  das  viele  durch- 
littene  Elend  an:  aber  in  seinen  großen,  schwärmerisch-wilden  Augen 
glühte  die  Ahnung  zukünftigen  Ruhmes.  Das  Schicksal  gewährte  diesem 
Anfänger  nur  noch  fünf  Jahre  Lebenszeit:  doch  in  dieser  kurzen  Spanne 
Zeit  sollte  er  das  Reich  der  ungarischen  Dichtung  umgestalten  und  den 
höchsten  Gipfel  des  Ruhmes  und  der  Poesie  erreichen.  Es  war  Alexander 
Petöfi,  dessen  erste  Gedichte  dann  unter  der  Ägide  seines  großen  Vor- 
gängers Vörösmarty  erschienen. 

Das  Leben  Petöfis  war  ein  unstetes  Wanderleben:  wir  finden  ihn  in 
seiner  Kindheit  beinahe  jedes  Jahr,  in  seiner  Jünglingszeit  beinahe  jede 
Woche  an  einem  anderen  Ort.  Er  schwankt  jahrelang  zwischen  zwei 
Laufbahnen:  der  des  Dichters  und  der  des  Schauspielers.  Nachdem  sein 
Vater,  ein  Fleischhauermeister,  ihm  wegen  seiner  Bühnenneigung  jede 
Unterstützung  versagt,  wird  er  mit  siebzehn  Jahren  plötzlich  Soldat;  in 
den  Entbehrungen  und  der  Krankheit,  die  er  da  ausstehen  muß,  tröstet 
ihn  nur  die  Poesie.  Nachdem  er  dann  als  Schauspieler  mit  Wandertruppen 
viel  herumgeirrt,  entschließt  er  sich,  21  Jahre  alt,  ganz  dem  Schriftsteller- 
beruf zu  leben.  Das  bezwingende  Feuer  und  die  Unmittelbarkeit  seiner 
Poesie  verschaffen  ihm  schnell  Dichterruhm.  Mit  24  Jahren  heiratet  er,  und 
es  gibt  wohl  keinen  Dichter  der  Weltliteratur,  der  die  Poesie  der  Ehe  so 
durchgefühlt  und  so  vielfach  besungen  hätte  wie  Petöfi.  Am  Anfange 
der  ungarischen  Revolution,  die  er  voraussah  und  ersehnte,  spielt  er  eine 
hervorragende  Rolle,  so  besonders  am  15.  März  1848,  als  man  in  einem 
unblutigen  Volksaufstande  die  Preßfreiheit  erringt.  Am  Ende  des  Jahres 
nimmt  er  ..als  x\djutant  Berns  an  der  Verteidigung  Siebenbürgens  gegen 
die  der  österreichischen  Armee  zu  Hilfe  eilenden  Russen  teil:  am  31.  Juli 
1849  wird  der  26jährige  Dichter  in  der  Schlacht  bei  Schäßburg  von  Ko- 
saken, die  das  Heer  Bems  umzingelten,  getötet.  Er  starb,  wie  er  es 
wünschte  und  prophetisch  in  mehreren  Gedichten  vorausgesagt,  im  Frei- 
heitskampf und  ruht  mit  seinen  Honv^dgefährten  im  namenlosen  Massen- 
grabe. 

Außerordentlich  wie  sein  Leben  ist  auch  seine  Dichtung-.  Er  ist  der 
größte  Lyriker  Ungarns  und  eine  der  hinreißendsten  Gestalten  der  Welt- 
literatur überhaupt.  Auf  dem  Boden  der  Volkspoesie  stehend,  übernimmt 
er  aus  ihr  die  Komposition  und  den  Stil  des  Volksliedes:  er  pfropft  die 
wilde  Rose  des  Volksliedes  in  das  edle  Reis  der  Kunstpoesie.  Und  eben 
weil  er  vom  Volksliede  ausgeht,  ist  er  auch  der  Dichter  der  Natur  und 
Natürlichkeit  überhaupt,  eine  wahrhaft  lyrische  Natur.  Fortwährend  zittern 
in  ihm  Gefühle  und  suchen  Ausdruck  im  Liede.  Indifferenz  ist  ihm  un- 
bekannt.   Er  ist  Impressionist  im  höchsten  Sinne  des  Wortes,  übervoll  mit 


VI.  Das   19.  Jahrhundert.  205 

tiefen  Gefühlen  und  Begeisterung.  Alle  Gefühle,  alle  Neigungen:  der 
Patriotismus,  die  Freundschaft,  die  Liebe,  politische  Sympathien,  die  Poesie, 
dies  alles  wird  bei  ihm  gleich  zur  Leidenschaft.  „Wie  das  Echo  der  Wüste", 
sagt  er  selbst,  „antworte  ich  auf  einen  Ruf  mit  hunderten."  Er  übergibt 
sich  schrankenlos  den  Eindrücken  des  Momentes,  genießt  und  leidet  mit 
einer  Intensität  wie  vielleicht  niemand.  Opportunität  und  Zwang  sind  ihm 
unleidlich;  er  will  auch  die  Freiheit  bis  zum  Extrem  genießen.  Im  Privat- 
leben zeigt  er  eine  befremdende  Unruhe,  manchmal  sogar  eine  übermütige 
Oberflächlichkeit;  im  Dienste  seines  Freiheitsideales  jedoch  ist  er  gründ- 
lich und  ausdauernd.  Auch  hier  ging  er  bis  zum  Äußersten,  bis  zum 
Heldentode  für  die  Freiheit. 

Eben  weil  seine  Seele  fortwährend  bewegt,  fortwährend  von  Gefühlen 
durchflutet  und  hochgestimmt  ist,  vermag  er  auch  immer  aufrichtig  zu  sein 
wie  das  Volkslied.  Er  gibt  uns  seine  Individualität  ohne  Hinterhalt  und 
ohne  Rest;  er  darf  uns  alles  sagen,  er  wird  nie  trivial,  weil  er  eine 
poetische  Natur  von  Grund  aus  ist.  So  erzählt  er  uns,  was  vor  ihm 
keiner  gewagt  hätte,  daß  er  kein  Geld  hat,  daß  er  hungert,  daß  er  zer- 
fetzte Kleider  trägt,  daß  sein  Vater  ihn  geprügelt  —  und  bleibt  dennoch 
hochpoetisch.     Wenn  man  Apollo  ist,  kann  man  auch  nackt  erscheinen. 

Weil  er  so  natürlich  und  aufrichtig  ist  wie  das  Volkslied,  besitzt  er 
auch  dessen  Einfachheit  und  Durchsichtigkeit:  im  Gegensatz  zur  rheto- 
rischen Poesie  seiner  Zeit  spricht  aus  ihm  Naivität  und  instinktive  Wahr- 
heitsliebe. Hellodemde,  tiefinnige  Gefühle  äußerst  einfach  ausgesprochen 
—  das  ist  die  Petöfische  Poesie.  Bei  aller  Einfachheit  ist  er  jedoch  nie 
matt,  seine  Poesie  ist  immer  lebhaft,  beinahe  fieberhaft  durchfühlt  und 
erreicht  schnell  den  Siedepunkt  der  Exaltation.  Seine  Einfachheit  und 
Aufrichtigkeit  ergeben  vereint  jene  Unmittelbarkeit,  die  seine  Dichtung 
ebenso  wie  die  Volkspoesie  in  hohem  Grade  auszeichnet. 

Petöfi,  der  zuerst  wagte,  schrankenlos  aufrichtig  zu  fühlen,  war  auch 
der  erste,  der  wagte,  aufrichtig  zu  sehen.  Alle  seine  Vorgänger  haben 
das  ungarische  Alföld  gekannt,  sie  haben  die  Pußta,  die  melancholischen 
Tsarden,  seine  Pferdehirten  und  Herden,  die  Betyaren  und  die  Bauern 
gesehen,  ohne  darin  Poesie  zu  finden.  Petöfi  hat  das  Alföld  für  die  Poesie 
entdeckt:  seine  schrankenlose  Unermeßlichkeit  war  für  ihn  Sinnbild  der 
Freiheit.  Aber  auch  die  ganze  Natur  sah  er  mit  andern  Augen  als  seine 
Vorgänger:  sie  ist  ihm  Erweiterung  des  Ichs,  ein  teurer  Lebensgefährte. 
So  sagt  er  einmal  seiner  Geliebten:  „Küsse  mich,  doch  leg'  die  Lippen 
an  meine  Lippen  sachte  nur  —  wir  dürfen  aus  dem  Traum  nicht  wecken 
die  sanft  entschlummerte  Natur." 

Da  die  Freiheit  der  natürliche  Zustand  der  Menschen  ist,  so  folgt  für 
Petöfi  aus  seiner  Natürlichkeit  auch  sein  Freiheitssinn.  Freiheit  geht  ihm 
über  alles.  Das  Motto  seiner  Gedichte  wie  seines  Lebens  ist:  „Ich  be- 
darf beider,  der  Freiheit  und  der  Liebe.  Für  meine  Liebe  opfere  ich  mein 
Leben,  für  die  Freiheit  opfere  ich  meine  Liebe." 


296 


Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 


Auch  seine  lyrische  Form  entspringt  dem  Volksliede.  Das  ungarische 
VolksUed  bedient  sich  als  Eröffnung  mit  Vorliebe  eines  Bildes  aus  der 
Außenwelt,  z.  B.:  „Hoch  oben  ziehen  die  Kraniche  und  rufen  laut,  doch 
du,  mein  Mädchen,  bist  mir  böse  und  rufst  mich  nicht."  [Die  Kraniche 
werden  weiter  nicht  erwähnt.]  Petöfi  veredelt  diese  Form,  indem  er  das 
vorangestellte  Bild  der  Außenwelt  in  organischen  Zusammenhang  mit 
dem  Grundthema  des  Gedichtes  bringt.  Am  Septembersende  sieht  er 
z.  B.  vom  bergumkränzten  Koltoer  Schloßparke  aus,  wo  er  seine  Flitter- 
wochen verlebt,  Frühschnee  auf  den  Gipfeln:  „Noch  blühen  im  Tale  die 
Blumen  des  Parkes,  vor  dem  Fenster  grünen  noch  die  Pappeln,  doch 
siehst  du  dort  oben  die  Winterswelt?  Schon  deckt  der  Schnee  die  hohen 
Firne!  Ein  Sommer  mit  flammenden  Strahlen,  der  ganze  Lenz  blüht  noch 
in  meinem  Jugendherze,  doch  schon  sprenkelt  Grau  mein  dunkles  Haar, 
der  Reif  des  Frühwinters  fiel  schon  auf  mein  Haupt."  Auch  hier  dient 
ein  Bild  der  Außenwelt  als  Eröffnungsakkord,  nur  daß  es  hier  vergeistigt 
zur  Innenwelt,  zu  einem  Symbol  des  Seelenlebens  wird. 

Petöfi  schrieb  auch  epische  Gedichte,  er  war  aber  eine  zu  subjektive 
Natur,  um  wahrhaftig  Epiker  sein  zu  können.  Sein  berühmtestes  episches 
Gedicht  Held  Jänos  ist  ganz  in  volkstümlichem  Stil  gehalten.  Die 
Hauptperson  ist  ein  Schäfer,  der  Soldat  wird  und  nach  wunderbaren 
Abenteuern  sich  mit  seiner  Geliebten,  von  der  er  lange  getrennt  war,  ver- 
einigt. Die  Personen,  der  Ton,  der  Hintergrund  —  alles  ist  echt  volkstüm- 
lich: auch  die  Elemente  des  Wunderbaren,  die  in  dem  Gedicht  vorkommen, 
sind  nicht  mythologische  Kombinationen,  wie  z.  B.  in  dem  großen  National- 
epos von  Zrinyi  oder  Vörösmarty,  sondern  aus  der  Phantasie  des  ungarischen 
Volkes,  seinem  Märchenschatze  entnommen, 
johan  Araoy  Wie  im  Leben,  so  steht  auch  in  der  Poesie  neben  Petöfi  sein  Freund 

'  ''"'  ^ '  und  Mitarbeiter  Johan  Arany.  Auch  Arany  steht  auf  dem  Grunde  der 
Volkspoesie.  Während  Petöfi  das  Volkslied  veredelte,  schöpfte  Arany  aus 
dem  Reichtum  der  Volkssprache  und  wendete  den  Stil  der  epischen  Volks- 
dichtung an. 

Arany  war  der  Sohn  eines  armen  Landmannes,  der  zwar  ein  Adels- 
diplom besaß,  jedoch  es  nicht  zur  Geltung  bringen  konnte.  So  wie  Petöfi, 
verließ  auch  Arany  das  Kollegium,  um  Wanderkomödiant  zu  werden. 
Doch  sah  er  schnell  seinen  Irrtum  ein,  kehrte  voll  Reue  in  seine  Heimat- 
stadt zurück,  wo  er  zuerst  Schullehrer,  dann  städtischer  Notar  wurde.  Kr 
trat  spät  als  Dichter  auf,  mit  29  Jahren,  einem  Alter,  das  Petöfi  gar  nicht 
erreichte.  Nach  dem  unglücklichen  Ausgange  des  Freiheitskampfes  vom 
Jahre  1848/49  verlor  er  Amt  und  Vermögen.  Verzweiflung  und  Melan- 
cholie ergriff  ihn,  er  sah  sich  und  sein  Vaterland  dem  Abgrunde  nahe. 
Im  Jahre  1851  wurde  er  als  Gymnasialprofessor  nach  Nagj'-Körös  be- 
rufen, wo  er  neun  Jahre  verblieb.  „Ich  mache  wenig  Besuche",  schrieb 
er  in  einem  Briefe,  „all  meine  Unterhaltung  ist  der  Friedhof,  unter 
dessen  schattigen  Bäumen  ich  frische  Frühlingsluft,  den  süßen  Hauch  der 


VI.  Das   19.  Jahrhundert.  207 

Wiesen  einatme.  Vielleicht  bin  ich  darum  so  selten  heiter."  Die  letzten 
22  Jahre  seines  Lebens  verlebte  Arany  in  der  Hauptstadt.  Aus  dem 
prächtigen  Palaste  der  Akademie  der  Wissenschaften,  in  welchem  er 
später  als  Generalsekretär  wohnte,  sehnte  sich  der  Dichter  fortwährend 
nach  dem  einfachen  Städtchen  zurück,  wo  er  seine  Jugend  verlebte. 

Der  größte  Schmerz,  den  dieser  zur  Melancholie  neigende  Mann  er- 
litt, war  der  Tod  seiner  erwachsenen  Tochter.  Man  tröstete  ihn,  daß  mit 
den  Jahren  sich  der  Schmerz  lindern  werde.  „Ich  fühle",  antwortete  der 
Dichter,  „daß  dieser  Schmerz  gleich  einer  großen  La.st  um  so  schwerer 
wird,  je  weiter  man  ihn  trägt." 

Arany  war  der  geborene  Epiker,  wie  Petöfi  der  Lyriker  par  excel- 
lence:  schamhaft  verbarg  er  seine  Gefühlswelt  und  erschien  trotz  aller 
Sensibilität  äußerlich  ruhig,  wie  er  denn  auch  kein  einziges  Liebesgedicht 
hat.  Alle  Gefühle  richteten  sich  bei  ihm  nach  innen  und  gelangten  nicht 
leicht  zum  äußeren  lyrischen  Ausdruck.  Sein  Hauptcharakterzug  ist  eine 
realistische  Kontemplation,  welche  sich  mit  Vorliebe  dem  Geg^enstande 
der  Epik:  der  Vergangenheit  zuwendet.  Er  ist  ein  vorzüglicher  Beob- 
achter, eine  gewisse  nüchterne  Klarheit  des  Geistes  verbindet  er  mit  tiefer 
poetischer  Inspiration.  Die  Verbindung  dieser  grundverschiedenen  Eigen- 
tümlichkeiten verleiht  seiner  Poesie  einen  höchst  originellen  Charakter. 

Arany  dichtete  sein  ganzes  Leben  hindurch  an  zwei  großen  epischen 
Kompositionen.  Der  Held  der  einen  ist  der  sagenhafte  mittelalterliche 
Recke  Nikolaus  Toldi;  die  andere  behandelt  den  hunnischen  Sagenkreis, 
Attila  und  seine  Nachfolger.  Doch  bloß  die  Tolditrilogie  wurde  ganz 
fertig.  Den  Stoff  zum  ersten  Teil  des  Toldi  entnahm  Arany  der  alten 
Reimchronik  des  Ilosvai,  vertiefte  ihn  jedoch  psychologisch.  Die  Hand- 
lung, welche  sich  in  acht  Tagen  abspielt,  ist  einfach  und  volkstümlich 
wie  die  Gestalten  des  Epos.  Nikolaus  Toldi  entzweit  sich  mit  seinem 
älteren  Bruder,  der  ihn,  um  ihn  von  der  väterlichen  Erbschaft  auszu- 
schließen, gleich  einem  Bauer  erziehen  ließ  und  schlecht  behandelte.  Von 
seinem  arglistigen  Bruder  gereizt,  tötet  Nikolaus,  ohne  es  zu  wollen,  dessen 
Diener,  wird  flüchtig,  erreicht  die  Hauptstadt,  wo  er  einen  riesenstarken, 
bisher  immer  siegreichen  Tschechen  im  Zweikampf  besiegt  und  dafür  von 
dem  König  Ludwig  dem  Großen  zum  Ritter  geschlag-en  wird,  während 
sein  Bruder  die  verdiente  Strafe  empfängt.  Diese  Geschichte  des  Empor- 
ringens einer  edlen  Natur  ist  ihrem  Gegenstand,  ihrer  Sprache  und 
ihrer  Vortragsweise  nach  ganz  volkstümlich. 

Der  nachträglich  eingefügte  zweite  Teil  der  Tolditrilogie,  Toldis 
Liebe,  behandelt  das  Mannesalter  des  Helden,  seine  unglückliche  Liebe 
zu  Piroska  Rozgonyi  und  die  Abenteuer,  welche  er  in  dem  italienischen 
Feldzug  Ludwigs  des  Großen  besteht.  Toldis  Liebe  ist  ein  romantisches 
Epos,  welches  uns  in  die  an  Kämpfen  reiche  mittelalterliche  Ritterwelt 
hineinführt. 

Der  letzte  Teil,  Toldis  Abend,  führt  uns  das  Lebensende  Toldis  vor. 


2q8  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

Zerfallen  mit  dem  Hofe,  der  einer  neuen  Ordnung  der  Dinge  huldigt, 
wähnt  der  Greis  sein  Leben  abgeschlossen  und  gräbt  sich  selbst  ein  Grab. 
Da  kommt  ein  Bote  und  ruft  ihn  zu  einem  Zweikampf  mit  einem  italie- 
nischen Ritter,  der  die  Ungarn  straflos  verhöhnt.  Der  Alte  reitet  als 
Mönch  verkleidet  wirklich  nach  Ofen  und  züchtigt  den  Übermütigen. 
Aber  er  sieht  immer  deutlicher,  daß  er  in  die  neue  Zeit  nicht  paßt.  Er 
stürzt  zusammen,  der  letzte  stolze  Baum  eines  schon  abgeholzten  Waldes. 
Im  letzten  Gesang  bestattet  man  ihn  in  das  Grab,  das  er  sich  selbst  be- 
reitet. In  Toldis  Abend  sehen  wir  den  melancholischen  Humor  des 
Verfalles.  Der  alte  Toldi  ist  ebenso  im  Verfall  begriifen  wie  das  Haus, 
in  dem  er  wohnt,  wie  sein  Garten,  wie  sein  treuer  Diener,  sein  Roß,  ja 
wie  seine  Zeit,  das  Mittelalter.  Der  Verfall  hat  immer  etwas  Komisches, 
da  er  die  Idee  des  Gegensatzes  hervorruft,  hier  jedoch  wird  er  durch 
Liebe  und  Sympathie,  die  der  alte  Toldi  erweckt,  zum  Humor  gemildert. 

BudasTod  ist  das  Anfangsstück  der  zweiten  epischen  Trilogie.  Auf 
Grund  von  Andeutungen,  welche  in  alten  Chroniken  versprengt  sind,  stellt 
Arany  den  Bruderzwist  Attilas  und  Budas  (Bledas,  den  die  deutsche  Sage 
Blödelin  nennt)  dar.  Infolge  tragischer  Schicksalsfügung  ermordet  Attila 
seinen  Bruder.  Doch  auch  ihn  erreicht  das  Verhängnis:  Krimhilde  er- 
mordet ihn  und  sein  Weltreich  geht  unter  seinen  Söhnen  zugrunde.  Doch 
die  Nachfolger  der  Hunnen,  die  Ungarn,  werden  wiederkehren  und  das 
Land  Attilas,  Ungarn,  zurückerobern. 

Jedes  dieser  Epen  hat  eine  andere  Vortragsweise:  inBudasTod  einen 
altertümlichen  orientalischen  Schmelz,  als  ob  es  ein  die  Bildung  des 
19.  Jahrhunderts  besitzender  Zeitgenosse  Attilas  geschrieben  hätte.  Doch 
nicht  nur  im  Stil,  sondern  auch  in  der  Art  der  Charakteristik  unterscheiden 
sich  die  Epen.  In  Toldis  Liebe  wendet  Arany  schon  eingehende  psy- 
chologische Analyse  an,  welche  den  modernen  Roman  kennzeichnet.  Doch 
in  allen  seinen  Epen  haben  seine  Charaktere  wie  seine  Auffassung  etwas 
ursprünglich  Magyarisches. 

Die  berühmtesten  Gedichte  Aranys  sind  seine  Balladen.  Sie  sind  ganz 
in  volkstümlichem  Stil  gehalten,  als  Muster  dienten  die  schottischen  und 
ungarischen  Volksballaden.  Alle  sind  fieberhaft  pulsierend,  lückenhaft  auf- 
zählend und  schildern  nicht  so  sehr  das  tragische  Ereignis,  als  seine  er- 
regende Wirkung.  Die  Form  ist  vorwiegend  dialogisch,  die  Ereignisse 
sind  in  mysteriöses  Dunkel  getaucht.  Arany  ist  der  Dichter  des  Ge- 
wissens und  liebt  es  daher,  die  Vergeltung  in  das  Gewissen  des  Ver- 
brechers zu  verlegen:  daher  kommt  auch  das  Motiv  des  Wahnsinns  in 
seinen  Balladen  so  oft  vor. 

Arany  ist  der  größte  Meister  der  ungarischen  Sprache.  Kein  anderer 
Dichter  erreicht  seinen  Sprachreichtum:  alle  Quellen  der  ungarischen 
Sprache  rauschen  in  seinen  Werken.  Er  greift  bis  ins  Tiefste  des  Volks- 
idioms und  beutet  auch  die  halbvergessene  Sprache  vergangener  Jahr- 
hunderte aus. 


VI.  Das   19.  Jahrhundert.  2QQ 

Seine  Phantasie  hat  drei  auffallende  Eigentümlichkeiten:  sie  hat  etwas 
Realistisches.  Arany  hält  als  ausgezeichneter  Beobachter  immer,  sogar  im 
höchsten  poetischen  Flug,  die  Wirklichkeit  vor  Augen.  Mit  seinem  Be- 
obachtungstalente hängt  auch  ihre  zweite  Eigenschaft  zusammen:  der 
Detailsinn;  er  bemerkt  und  beschreibt  jede  charakteristische  Kleinigkeit. 
Drittens:  er  sieht  und  zeichnet  mit  Vorliebe  die  seelischen  Erscheinungen 
auch  in  ihrer  körperlichen  Wirkung;  bei  den  Affekten  schildert  er  auch 
die  äußerlichen  körperlichen  Veränderungen,  welche  sie  hervorrufen.  Er 
ist  der  Dichter  der  Ausdrucksbewegungen. 

Das  Zeitalter  der  großen  Dichter  war  auch  das  goldene  Zeitalter  der 
Redner  und  Staatsmänner,  deren  Wirken  in  engem  Zusammenhang  mit 
dem  Aufblühen  der  Literatur  steht.  Die  Dichter  Franz  Kölcsey  und  der 
Baron  Josef  Eötvös  gehören  zu  den  bedeutendsten  Rednern;  die  großen 
Staatsmänner  Stefan  Szechenyi,  Ludwig  Kossuth  und  Franz  Deäk  sind 
wieder  ihrerseits  literarisch  tätig.  Gemeinsam  ist  ihnen  allen,  den  Dichtern 
wie  den  Rednern,  die  patriotische  Begeisterung,  das  nationale  Pathos  und 
das  Streben,  die  Nation  aufzuwecken. 

In  demselben  Jahre,  in  dem  Vörösmartys  Epos,  Die  Flucht  Zaläns,   Gr.  Stefan 
mit  welchem  die  Blütezeit  der  ungarischen  Literatur  anhebt,  erschien,  tritt  (1791— 1860). 
auch  Graf  Stefan  Szechenyi  auf,    indem  er  durch  eine  große  Stiftung  die 
Errichtung  einer  Akademie  der  Wissenschaft  ermöglichte. 

Szechenyi  ist  der  große  Reformator  Ungarns.  Es  gibt  vielleicht  kein 
Beispiel  in  der  neueren  Zeit,  daß  ein  Mann  eine  so  große  Wirkung  auf 
ein  ganzes  Volk  ausgeübt  hätte  als  Szechenyi.  Szechenyi  ist  eine  äußerst 
interessante,  romantisch  angehauchte  tragische  Persönlichkeit.  Er  schwankt 
fortwährend  zwischen  Schmerz  und  Entzücken,  zwischen  peinigendem 
Zweifel  und  schwärmerischer  Beg-eisterung  für  seine  große  Mission:  ein 
Volk  zu  erheben.  Eine  grüblerische,  tieffühlende  Natur,  welche  ihre  Rosen 
mit  den  Domen  des  Spottes  und  der  Ironie  beschützt.  Seit  seinem  Jüng- 
lingsalter kämpfte  er  fortwährend  mit  dem  Selbstmordgedanken,  dessen 
Opfer  er  schließlich  im  Jahre  1860  wurde.  Er  war  sehr  ähnlich  den  ro- 
mantischen Helden  seines  Lieblingsdichters  Byron:  melancholisch,  schwär- 
merisch, unter  dem  Gewissensdruck  einer  eingebildeten  Sündentat  furchtbar 
leidend,  doch  dabei  leidenschaftlich,  tatkräftig  und  energisch. 

Im  Anfang  war  die  Tat.  Szechenyi  begann  seine  Reformtätigkeit 
mit  der  Gründung  gemeinnütziger  Institutionen,  bald  griff  er  jedoch  zur 
Feder  und  schrieb  seine  drei  wichtigen  Werke:  Kredit,  Licht  und 
Stadium,  mit  welchen  er  dem  Leben  seiner  Nation  eine  neue  Richtung 
g'ab.  Diese  Werke  sind  nach  dem  Ausdruck  Aranys  drei  zum  Himmel 
ragende  Pyramiden  an  der  Grenze  unseres  Seins  und  Nichtseins.  Schon 
sein  erstes  Werk  Kredit  legt  Zeugenschaft  ab,  daß  dieser  romantische 
Schwärmer  auch  einen  vorzüglichen  praktischen  Sinn  hat.  Die  Not- 
wendigkeit eines  leichtzugänglichen  Kredits,  die  Schwerfälligkeit  des 
Prozeßwesens,  die  Unzweckmäßigkeit  des  feudalen  Großbesitzes,  dje  Auf- 


■3QQ  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

hebung  der  Lehnsarbeit,  die  Schaffung  von  besseren  Verkehrsmitteln  — 
das  waren  die  behandelten  praktischen  Probleme.  Szechenyi  hat  in  der 
Irrenanstalt  von  Döbling  (wo  auch  Lenau  seine  letzten  Jahre  verbrachte) 
ein  deutsches  Buch,  Blick  auf  den  anonymen  Rückblick,  geschrieben, 
welches  im  geheimen  in  London  gedruckt  wurde.  In  einem  etwas  wiene- 
risch gefärbten  Deutsch  greift  er  in  nervöser,  aphoristischer  Weise,  bald 
mit  Ironie,  bald  mit  Pathos  das  Regime  Bachs  an,  als  dieses  in  einem 
Rückblick  betitelten  offiziösen  Werk  mit  Lob  überhäuft  wurde. 

Sz6chenyis  Verdienste  sind  epochemachend.  Vor  allem  lenkte  er  die 
Aufmerksamkeit  auf  die  stark  vernachlässigten  Fragen  der  materiellen 
Kultur.  Ungarn  muß  reicher  werden,  dann  wird  es  auch  freier  und  ge- 
bildeter sein.  Epochal  wirkte  Szechenyi  auch  dadurch,  daß  er  seiner 
Nation  wieder  Vertrauen  einflößte.  Vor  ihm  glaubte  man,  daß  alles  Große 
in  der  Vergangenheit  liegt,  auf  welche  der  Verfall  folgen  muß.  Szechenyi 
gab  dem  modernen  Ungarn  sein  Losungswort:  Ungarn  war  nicht,  sondern 
wird!  Wir  müssen  unseren  stärksten  Fehler,  die  Indolenz,  besiegen,  die 
Schuld  nicht  immer  in  der  österreichischen  Politik,  sondern  in  uns  suchen, 
wir  müssen  praktischer  und  tätiger  sein,  um  frei  zu  werden.  Szechenyi  be- 
zeichnete aber  nicht  nur  das  Ziel,  sondern  auch  die  dahin  führenden  Wege. 
Das  Hauptwerk  Szechenyis  war  die  Erhebung  und  Stärkung  der  unga- 
rischen Nation  durch  die  Mittel  der  westlichen  Kultur.  Seine  ungeheure 
Wirkung  erklärt  sich  daraus,  daß  aus  ihm  der  mächtigste  Instinkt  des 
ungarischen  Volkes,  die  Rassenerhaltung,  mit  der  Kraft  des  Genius 
spricht. 
Ludwig  Kossuth  In  den  vierziger  Jahren  begann  Szechenyi  unpopulär   zu  werden,  und 

(I  02-1  94).  ^^^^  verführerischem  Glänze  erhob  sich  das  Gestirn  des  großen  Agitators 
Ludwig  Kossuth.  Wie  Szechenyi  den  Glauben  an  die  Zukunft  Ungarns, 
so  verkörpert  Kossuth  das  nationale  Pathos,  den  Gedanken  der  Unab- 
hängigkeit Ungarns.  Er  wirkte  anfangs  als  Journalist,  wurde  aber  bald 
Führer  der  Nation  und  die  Hauptgestalt  des  ungarischen  Freiheitskampfes 
von  1848/49.  Seine  zwei  Hauptbestrebungen  in  dieser  fieberhaft  erregten 
Zeit,  deren  größter,  hinreißendster  Redner  er  war,  bildeten  die  Befreiung 
des  Leibeigenen  und  die  vollständige  Sicherung  der  ungarischen  Konsti- 
tution. Nach  der  Waffenstreckung  von  Vilägos  verließ  er  Ungarn,  das  er 
niemals  wiedersah,  und  lebte  45  Jahre  im  Exil,  wo  er  auch  seine  wich- 
tigen Memoiren  verfaßte.  Wie  das  ungarische  Volk  ihn  verehrt,  dafür 
genügt  ein  Beispiel:  Als  man  seine  Leiche  nach  Ungarn  brachte,  kamen 
ganze  Dorfgemeinden  an  die  Eisenbahnstrecke  und  erwarteten  kniend  mit 
entblößtem  Haupt  den  Trauerwaggon. 
Franz  DeAk  Neben  Kossuth  ist  der  größte  Redner  Ungarns  Franz  Deäk.     In  den 

'  °^~'  '  ■  konstitutionellen  Kämpfen  der  sechziger  Jahre  ist  er  der  Führer.  Sein 
wichtigstes  Werk  ist  der  Ausgleich  zwischen  Ungarn  und  Osterreich. 
Sein  Talent  ist  in  vieler  Hinsicht  dem  Kossuths  entgegengesetzt.  Der 
Ton  Deäks   ist   ruhig,   während  Kossuth   tief  vibrierend    auf  die  Phantasie 


VI.  Das   19.  Jahrhundert.  -JOI 

und  die  Leidenschaften  wirkt.  Die  klare  Argtimentation  Deäks  überzeugt 
die  Hörer,  während  die  rhetorische  Verve  Kossuths  sie  hinreißt.  Die 
Nation  zu  gToßen  Taten  zu  entflammen  war  die  Aufgabe  des  einen,  wäh- 
rend es  Deäk  g"egeben  war,  sein  Volk  aus  verhäng'nisvoller  Lage  mit 
weiser  Mäßigung  und  freimütiger  Festigkeit  hinauszuführen.  Er  ist  wahr- 
haftig der  „Weise  der  Nation",  der  alles  mit  altklassischer  Klarheit  und 
Standhaftigkeit  abwägend  seine  Politik  auf  das  Gewissen  und  den  Ge- 
rechtigkeitssinn gründet. 

In  dieser  Blütezeit  der  Literatur  reifte  auch  rasch  die  modernste  aller  Der  Roman. 
Dichtungsgattungen,  der  Roman,  heran. 

Die  Geschichte  des  ungarischen  Romanes  spiegelt  mehrere  Ent- 
wicklungsphasen der  europäischen  Romanliteratur  zurück.  Ln  18.  Jahr- 
hundert trat  der  heroische  Roman  in  der  für  die  ungarische  Prosa  wich- 
tigen Übersetzung  von  Calprenedes  endloser  Kassandra  auf.  Der  Über- 
setzer Alexander  Bdröczy  war  ein  Mitgenosse  des  Bahnbrechers  Bessenyei. 
Eine  Art  Robinsonade  in  Versen  mit  Reiseabenteuern  in  einer  exotischen 
Welt  schrieb  der  pensionierte  General  Josef  Gvadänyi:  sein  Paul  Rontö 
ist  Reisebegleiter  des  weltberühmten  Abenteurers  Moriz  Benyovszky,  der 
in  Sibirien  gefangen  war  und  als  König  von  Madag-askar  starb.  Den  senti- 
mentalen Roman  vertrat  auf  echt  poetische  Art  der  feurige  Josef  Kärmän 
mit  der  Novelle  Der  Nachlaß  Fannys.  Es  ist  dies  das  Tagebuch  eines 
armen  Mädchens,  das  in  Liebesschmerz  verwelkt.  Ihrem  Vorbilde  Werther 
gegenüber  hat  die  Novelle  einen  Vorteil:  die  sentimentalen  Ergüsse  sind 
in  den  Mund  eines  jungen  Mädchens  gelegt. 

Im  dritten  Jahrzehnt  des  19.  Jahrhunderts  erscheint  der  erste  Gesell- 
schaftsroman, der  den  Kampf  des  neuen  Szechenyischen  und  des  alten 
Ungarns  darstellt,  Haus  Belteky  von  Andreas  Fäy. 

Ungefähr  in  dieselbe  Zeit  fällt  auch  die  Begründung  des  historischen 
Romanes  durch  den  siebenbürgischen  Baron  Nikolaus  Jösika,  der  unter 
der  Einwirkung  Walter  Scotts  schrieb.  Viel  tiefer  drang  in  die  Geschichte 
Baron  Josef  Eötvös  ein,  der  nicht  nur  als  Romanschriftsteller,  sondern  Br.josefEötvös 
auch  als  lyrischer  Dichter,  Gelehrter  und  Staatsmann  von  hervorragender 
Bedeutung  war  und  zweimal  auch  an  der  Spitze  des  Unterrichtsministe- 
riums stand.  Seine  literarische  Tätigkeit  wie  sein  Leben  hat  eine  ideale 
Richtung;  seine  Reflexionen  sind  immer  von  Gefühlen  erwärmt,  so  daß 
von  ihm  wirklich  der  Satz  Vauvenargues  gilt:  Les  grandes  pensees  vien- 
nent  du  coeur.  Sein  erster  Roman,  Der  Karthäuser,  gehört  zu  derselben 
Familie  zu  der  Chateaubriands  Renee,  welche  das  mal  de  siecle  inspiriert. 
Doch  hat  der  Roman  des  Eötvös  eine  moralische  Basis,  welche  den  ver- 
wandten Romanen  fehlt;  sein  Hauptgedanke  ist:  nur  der  Egoist  findet 
keinen  Trost.  In  seinem  Helden  Gustav  sehen  wir  das  Bekämpfen  und 
allmähliche  Besiegen  des  Egoismus.  Der  Roman  hat  die  Form  einer 
Selbstbiographie,  welche  ein  Mönch  in  der  furchtbaren  Grand -Chartreuse 
schreibt.     Gustav  ist  ein  junger  und  reicher  französischer  Graf,    der  nach 


302  Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 

vielen  Verführungen    dem  Leben,    in  welchem   er  so  bittere   Früchte   ge- 
pflückt, entsagt  und  Karthäuser  wird. 

Nach  diesem  bilderreichen  und  schwärmerischen  Roman  schrieb  Eötvös 
den  Tendenzroman  Der  Dorfnotar,  einen  heftigen  Angriff  gegen  die 
damalige  Komitatsmißwirtschaft  und  gegen  die  Unterdrückung  der  Leib- 
eigenen. Sein  dritter  Roman  ist  ein  historischer,  Ungarn  im  Jahre  15 14, 
und  schildert  auf  Grund  eingehender  historischer  Studien  eines  der  furcht- 
barsten Ereignisse  der  ungarischen  Geschichte:  den  großen  Bauern- 
aufstand. 

Das  soziale  Problem,  welches  Eötvös  in  diesem  Roman  behandelt, 
analysiert  der  Philosoph  Eötvös  eingehend  in  dem  staatswissenschaftlichen 
Werke  Der  Einfluß  der  herrschenden  Ideen  des  19.  Jahrhunderts 
auf  den  Staat.  Sein  Ausgangspunkt  ist,  daß  die  drei  Hauptideen  un- 
serer Zeit,  die  Freiheit,  die  Gleichheit  und  die  Nationalität,  welche  als 
mächtige  Volksinstinkte  die  Führung  der  Geister  übernommen  haben,  sich 
einander  widersprechen.  Wie  Montesquieu,  neigt  auch  Eötvös  dem  eng- 
lischen Staatsideale  zu. 

Ein  schönes  Buch,  das  auch  den  deutschen  Aphorismensammlungen 
oft  als  Quelle  dient,  ist  das  Buch  der  Gedanken.  Mehrere  hundert 
Aphorismen  eines  tiefreligiösen  und  feingestimmten,  poetischen  Idealisten, 
der  das  Gefühl  für  einen  sichereren  Wegweiser  hält  als  die  Vernunft. 
Auch  in  seinen  klassischen  Denkreden  wie  in  seiner  Lyrik  zeigt  sich  ein 
gewisser  sentimentaler  Idealismus. 

Wie    sein    Zeitgenosse    Eötvös    schrieb    Sigismund  Kemeny    Romane, 
Br.  Sigismund  kämpfte    für    die   parlamentarische  Regierungsform    und    war    wie    Eötvös 
(1814— 1875).   Mitarbeiter    an    dem    großen  Werke    des  Ausgleiches   mit  Österreich.     In 
seinem  Wesen    liegt    etwas    Schwerfälliges,    er   zeichnet    sich  jedoch   da- 
durch aus,  daß  er  für  jedes  Problem  die  tiefste  Lösung  sucht. 

Die  vorzüglichsten  Werke  Sigismund  Kemenys  sind  seine  historischen 
Romane.  Er  wendete  die  analytische  Methode  Balzacs  auf  den  historischen 
Roman  an.  In  der  Geschichte  interessiert  ihn  der  innere  Mensch,  die  Ge- 
fühle und  Leidenschaften  des  Zeitalters.  Sein  Grundsatz  war,  daß  ein 
Zeitalter  nur  dann  verständlich  ist,  wenn  man  die  seelische  Konstitution 
seiner  Menschen  kennt.  Die  religiöse  Schwärmerei  und  Sektenbildung 
studiert  er  in  dem  Roman  Die  Schwärmer.  Diese  Schwärmer  sind  die 
Sabbatianer,  deren  geringe  Überreste  noch  heute  in  Siebenbürgen,  wo  sie 
auch  im   16.  Jahrhundert  entstanden,  zu  finden  sind. 

Der  berühmteste  Roman  Kemenys  ist  Düstere  Zeit,  welcher  nicht 
die  Tragödie  einer  Sekte,  sondern  die  eines  ganzen  Volkes  darstellt.  Die 
düstere  Zeit  ist  diejenige,  in  welcher  die  Türken  zur  Zeit  der  Königin 
Isabella  die  Hauptstadt  Ofen  in  Besitz  genommen  haben.  Wie  sich  dieses 
allertraiirigste  Ereignis  der  ungarischen  Geschichte  vorbereitete,  wie  sich 
Volk,  Königin  und  alle  Staatsmänner  täuschen,  wie  sich  das  tragische 
Verhängnis  gleich  einem  Riesenvogel  mit  dunkeln  Flügeln  immer  tiefer 
auf  das  unglückliche  Land  herabsenkt,  wie  aller  Edelmut,   aller  Verstand, 


VI.  Das   ig.  Jahrhundert.  ^03 

alles  Bestreben  vergebens  ist  —  dies  alles  wird  von  Kem^ny  mit  tra- 
gischer Gewalt  und  mit  einer  bis  zu  den  Wurzeln  des  Herzens  dringenden 
Psychologie  dargestellt. 

Der   gelesenste    und   liebenswürdigste    ungarische  Romanschriftsteller  Maurus  jokai 
_,  (1825 — 1904). 

ist    Maurus    Jökai.      Er    nahm     an    den    Freiheitsbewegungen    von     1848 

als  Freund  Petöfis  teil  und  spielte  später  auch  als  Redakteur  und  Ab- 
geordneter eine  angesehene  Rolle.  Bei  seinem  50jährigen  Schriftsteller- 
jubiläum überreichte    man  ihm  ein  Nationalgeschenk  von  200000  Kronen. 

Jökai  ist  einer  der  produktivsten  Romanschriftsteller  der  Neuzeit. 
Seine  hervorragendste  Eigenschaft  ist  seine  unerschöpfliche  Erfindungs- 
gabe. Er  hat  viele  hundert  fesselnde  Erzählungen  erdacht,  von  denen 
keine  der  anderen  gleicht.  Nicht  minder  bestrickend  ist  sein  Erzählungs- 
talent, das  an  die  großen  Novellisten  der  romanischen  Literaturen  gemahnt. 
Er  hat  die  Erzählungsart  der  ungarischen  Anekdote  veredelt  und  gehoben: 
daher  stammt  sein  Feuer,  seine  Lebhaftigkeit,  seine  Leichtigkeit  (vielleicht 
auch  seine  Oberflächlichkeit).  Seine  Liebenswürdigkeit  wird  noch  ge- 
steigert durch  seinen  Humor,  der,  ohne  Tiefe  und  Bitterkeit  zu  kennen, 
anmutig,  leicht  und  lebensfrisch  ist.  Wie  seine  Erfindungsgabe,  so  scheint 
auch  seine  buntschaukelnde  Phantasie  schier  unerschöpflich. 

Doch  nicht  nur  seine  Vorzüge,  auch  seine  Schwächen  sind  leicht  zu 
bemerken.  Jökai  ist  eigentlich  kein  großer  Menschenkenner,  er  sieht  nicht 
in  die  Tiefe  des  Herzens.  Seine  Psychologie  hat  nicht  selten  etwas  Aben- 
teuerliches. Jökai  sucht  das  Überraschende,  und  seine  Personen  ändern 
manchmal  demzulieb  plötzlich  ihren  Charakter.  Seine  historischen  Romane 
sind  bunt  und  unterhaltend,  dringen  aber  nicht  in  den  Zeitgeist  ein.  Die 
gelungensten  seiner  Romane  sind  diejenigen,  welche  das  Ungarn  seiner 
Zeit  schildern.  An  erster  Stelle  steht  unter  diesen  Der  neue  Guts- 
herr, welcher  das  Zeitalter  des  Absolutismus  und  die  Akklimatisierung 
eines  magyarenfeindlichen  Österreichers  in  Ungarn  in  höchst  unterhalten- 
der Weise  malt.  Die  indolente,  hochmütige  Aristokratie  vor  der  Zeit 
Szechenyis  porträtiert  er  in  dem  Roman  Der  ungarische  Nabob;  die 
darauf  folgende  Generation,  welche,  von  Szechenyi  elektrisiert,  lernen  und 
fortschreiten  will,  schildert  Zoltän  Kdrpäthy. 

Die  Gabe  des  außerordentlich  leichten  Fabulierens  bei  Jökai  erinnert 
an  seinen  berühmten  französischen  Zeitgenossen  Dumas,  doch  erhebt  er 
sich  über  ihn  durch  seinen  echt  poetischen  Zug:  seinen  liebenswürdigen 
Humor  und  seine  Naturliebe. 

Die  demokratische  Bewegung  der  vierziger  Jahre  hat  den  Bauern  r>as  Drama, 
niclit  nur  in  der  Politik,  in  der  lyrischen  und  epischen  Dichtung,  sondern 
auch  in  der  dramatischen  in  Mode  gebracht.  Der  Schöpfer  des  Volks- 
schauspieles, welches  uns  die  Welt  des  ungarischen  Bauers  vorführt 
und  einen  angenehmen  Kontrast  zu  den  wahnsinnigen  Leidenschaften 
des  damals  so  beliebten  und  viel  nachgeahmten  romantischen  Dramas 
bildete,  ist  Eduard  Szigligeti,  der  in  seiner  Jugend  selbst  Schauspieler  war  Szigifeti. 


304 


Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 


und    mit    viel    Glück    die    verschiedenen    ungarischen  Volkstypen    auf   die 
Bühne  brachte. 
Gregor  Csiky  Szig"ligeti  schricb  auch  bürgerliche  Schauspiele,  auf  deren  Gebiet  sein 

bedeutender  Nachfolger  Gregor  Csiky  war,  ein  Geistlicher,  der  jedoch  den 
geistlichen  Stand  verließ  und  sich  dann  ganz  dem  Drama  widmete.  Wenn 
man  ihn  fragte,  woher  er  als  Geistlicher  seine  Weltkenntnis  geschöpft, 
pflegte  er  zu  antworten:  „Ich  war  Referent  in  den  Heiratsangelegenheiten 
beim  Konsistorium  und  habe  da  so  viel  verborgenes  Elend  kennen  ge- 
lernt." Csiky  war  nicht  so  sehr  Gefühlsmensch  wie  Logiker;  er  hatte  starkes 
Gefühl  für  charakteristische  Züge  und  kräftigen  Aufbau  der  dramatischen 
Handlung.  Seine  Genregestalten  erinnern  manchmal  an  Dickens.  Beson- 
ders exzelliert  er  in  der  Charakteristik  der  fragwürdigen  und  verdächtigen 
Großstadttypen,  welche  er  in  scharf  naturalistischer  Beleuchtung  vorführt. 
So  besonders  in  den  Dramen  Die  Proletarier   und  Glänzendes  Elend, 

Emerich  Madach         Der  letzte  Ausläufer  der  Blütezeit  gehört  auch  der  dramatischen  Lite- 
(1823— 1864).  ° 

ratur    an.     Es    ist   Emerich    Madäch,    der,    38    Jahre    alt,    im    Jahre    1861 

als  reicher  Edelmann  und  Abgeordneter  das  dramatische  Gedicht  die 
Tragödie  des  Menschen  veröffentlichte.  Es  war  sein  erstes  Werk,  das 
im  Druck  erschien.  Während  die  übrigen  Meisterwerke  der  ungarischen 
Literatur  der  patriotische  Schmerz  inspirierte,  spricht  aus  der  Tragödie 
des  Menschen  die  Melancholie  der  Weltgeschichte.  Madäch  faßt  in  der 
Tragödie  des  Menschen  die  ganze  Weltgeschichte  als  ein  Trauerspiel 
auf.  Der  Held  dieser  Tragödie  ist  die  ganze  Menschheit,  wir  sehen  ihre 
ganze  Vergangenheit,  ihre  Gegenwart,  sogar  ihre  Zukunft,  bis  die  Mensch- 
heit auf  dem  ausgekühlten  Erdball  ausstirbt. 

Wir  sind  in  dem  Werk  auf  biblischem  Boden:  nachdem  der  erste 
Mensch  Adam  auf  den  Rat  Luzifers  von  dem  Baume  der  Erkenntnis  ge- 
gessen und  aus  dem  Paradies  vertrieben  wurde,  wünscht  er  in  dem  Elend 
des  Exils  einen  Blick  in  die  Zukunft  seines  Geschlechtes  zu  werfen,  damit 
er  sehe,  wofür  es  leidet  und  kämpft.  Luzifer,  der  die  Menschheit  ver- 
derben will,  senkt  nun  einen  Schlaf  auf  das  erste  Menschenpaar,  während- 
dessen sich  ihm  die  Zukunft  in  Traumbildern  entrollt.  Adam  träumt  dem- 
nach die  Weltgeschichte,  indem  Luzifer  ihn  die  Hauptepochen  der  Ge- 
schichte im  Traume  durchleben  läßt.  Der  Held  jedes  Traumbildes  ist 
Adam,  der  Repräsentant  der  Menschheit,  in  dem  sich  die  charakteristischen 
Ideen  der  betreffenden  Epoche  verkörpern.  Adam  sieht  sich  dermaßen  in 
jedem  Traumbild  in  einem  anderen  Zeitalter  und  durchkämpft  die  geistigen 
Kämpfe  aller  Generationen.  In  jedem  Traumbild,  in  jeder  Epoche  sehen 
wir  Adam,  unzufrieden  mit  dem  gegenwärtigen  Zustand  der  Menschheit, 
sich  ein  neues  Ideal  zum  Ziel  setzen:  das  nächste  Traumbild  erfüllt  den 
Wunsch  Adams,  aber  enttäuscht  ihn  immer  wieder.  Die  Weltgeschichte 
erscheint  als  eine  Kette  von  verlorenen  Illusionen  oder,  um  einen  Aus- 
druck Schopenhauers  zu  gebrauchen,  als  der  schwere  Traum,  das  Alp- 
drücken der  Menschheit. 


VI.  Das    ig.  Jahrhundert.  '^O', 

Adam  durchlebt  nun  im  Traume  als  ägyptischer  Pharao  die  orienta- 
lische Despotie,  als  Miltiades  die  athenische  Demokratie,  als  Römer  die 
Verfallszeit  des  kaiserlichen  Roms,  als  Kreuzfahrer  die  Zeit  des  toten  Buch- 
stabenglaubens und  des  F"anatismus  im  mittelalterlichen  Byzanz.  Dann 
ist  er  Keppler  und  dann  wieder  Danton,  in  der  Erfüllung  seines  neuen 
Ideals  immer  nur  Enttäuschung  findend.  Nun  kommt  er  in  das  Zeitalter, 
da  das  Geld  allmächtig  ist:  in  das  moderne  London.  Und  von  nun  an 
übertritt  er  die  Schwelle  der  Gegenwart:  er  sieht  den  sozialistischen  Zu- 
kunftsstaat; er  sieht  den  Phalanstere,  wo  die  Welt  nur  mehr  eine  große 
Kaserne  ist.  Am  Ende  des  Traumes  findet  Adam  die  Menschheit  ihrem 
Aussterben  nahe:  die  ausgekühlte  Sonne,  deren  rote  Scheibe  Adam  für 
den  Mond  hält,  beleuchtet  eine  ewige  Winterlandschaft,  in  der  die  letzten 
Menschen  als  Eskimos  kümmerlich  ihr  Leben  fristen. 

La  farce  est  jouee.  Adam,  der  an  der  Wiege  und  dem  Grabe  der 
Menschheit  gestanden,  erwacht.  Der  Traum  war  ein  Leben  —  das  Leben 
der  Menschheit.  Doch  erscheint  ihm,  was  er  gesehen,  so  entsetzlich,  daß 
er  diesen  zukünftigen  Qualen  durch  seinen  Tod  vorbeugen  will.  Da 
naht  sich  ihm  Eva  und  flüstert  ihm  verschämt  das  erste  Geheimnis  zu: 
daß  sie  sich  Mutter  fühle.  Adam  fällt  reuig  auf  die  Knie:  „Herr,  du  hast 
gesiegt!"  Am  Ende  erscheint  Gott  und  verweist  als  Trost  im  Drangsal 
der  zukünftigen  Geschicke  auf  die  Ideale,  die  in  der  Seele  des  Menschen 
vorhanden  sind.     Kämpfe  und  vertraue! 

Gott  verweist  also  gegenüber  dem  Pessimismus  der  Weltgeschichte 
auf  die  Tröstungen  des  individuellen  Lebens,  auf  Liebe,  Vertrauen  und 
Poesie. 

Der  Pessimismus  Madächs  hat  zweierlei  Quellen:  die  eine  ist  der 
x\bsolutismus  des  Bach'schen  Regimes,  der  das  Ungartum  mit  Vernich- 
tung bedrohte;  die  andere  entspringt  aus  dem  Familienleben  des  Dichters. 
Während  der  Freiheitskriege  hatten  walachische  Rotten  die  Schwester 
des  Dichters  und  ihre  Familie  mit  furchtbarer  Grausamkeit  niedergemetzelt. 
Nach  dem  Freiheitskampfe  saß  Madäch  selbst  im  Gefängnis,  und  kurze 
Zeit  darauf  verließ  ihn  seine  junge  Frau  schmählich  für  immer. 

Auf  Madäch  haben  besonders  Goethes  Faust  (Luzifer— Mephisto)  und 
Byrons  Kain  gewirkt.  Die  Tragödie  des  Menschen  ist  groß  in  der  Auf- 
fassung und  geistreich  im  einzelnen,  doch  sind  die  Reflexionen  nicht 
immer  durch  das  Medium  der  Phantasie  durchgegangen,  sie  bekommen 
nicht  immer  poetische  Flügel.  Die  Komposition  des  Werkes  nötigt  den 
Dichter  zu  starken  Verkürzungen  in  der  Charakteristik:  die  Umwandlungen 
Adams  könnten  eigentlich  bloß  das  Resultat  einer  längeren  Entwicklung 
sein  und  nicht  in  dem  Verlauf  eines  Aktes  vor  sich  gehen.  Wenn  in 
Adam — Pharao  die  Idee  des  demokratischen  Staates  erwacht,  so  sind  zur 
Entstehung  dieser  Idee  andere  psychologische  Vorbedingungen  notwendig, 
als  sie  bei  einem  Pharao  vorhanden  sind. 

Um   Arany    gruppiert    sich    ein    Kreis    von    Dichtern,    die    ihm    auch    °Aranj's." 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I,  g.  20 


3o6 


Friedrich  Riedl:  Die  ungarische  Literatur. 


Michael  Tompa  persönlich  nahestanden.  Der  bedeutendste  unter  ihnen  ist  Michael  Tompa, 
'  ''""'  ■  eine  äußerst  gefühlvolle,  elegische  Natur,  die  in  rauhem  Leben  viel  litt. 
Er  war  Sohn  eines  armen  Schuhmachers,  rang  sich  empor  und  lebte  als 
reformierter  Pfarrer  in  der  Provinz.  Neben  der  volkstümlichen  Richtung, 
in  welcher  er  Arany  und  Petöfi  verwandt  ist,  zeichnete  er  sich  auch  im 
allegorischen  Gedicht  aus,  dessen  Aufblühen  die  damaligen  politischen 
Verhältnisse  erklären:  durfte  man  doch  viele  patriotische  Wahrheiten  nur 
in  allegorischer  Hülle  ausdrücken.  Eine  Spezialität  seiner  Poesie  sind  die 
Blumenmärchen,  in  denen  Blumen  als  handelnde  Personen  auftreten: 
fleurs  animees.  Trotz  aller  Sinnigkeit  und  Zartheit  machen  jedoch  diese 
Gedichte  in  größerer  Zahl  einen  etwas  erzwungenen  und  süßlichen  Ein- 
druck. Frischer  und  kräftiger  ist  Tompa  in  seinen  poetischen  Erzäh- 
lungen und  am  poetischsten  in  seinen  elegisch-religiösen  Dichtungen. 

Zum  Freundeskreise  Aranys  gehörte  auch  der  vorzüglichste  Kritiker 
Paul  Gyuiai  der  ungarischcn  Literatur:  Paul  Gyulai,  der  gegenwärtig  als  pensionierter 
"^^  '  '  ^  '  Universitätsprofessor  und  als  Redakteur  in  Budapest  lebt.  Eine  scharf 
ausgesprochene,  intransigente,  durch  und  durch  wahrhafte,  stark  polemische 
Individualität.  Als  ob  er  die  Unpopularität  suchen  wollte,  nahm  er  immer 
Stellung  gegen  beliebte  Vorurteile.  Ihn,  der  aufrichtig  und  bescheiden  ist, 
verletzte  die  Selbstbewunderung  und  Charlatanerie,  welche  er  oft  sogar 
bei  sehr  talentierten  Zeitgenossen  fand.  Die  meisten  Einschätzungen  der 
ungarischen  literarischen  Werte  gehen  auf  ihn  zurück.  Gegenüber  den 
neueren  Snobs  war  er  auch  immer  Hüter  der  guten  ungarischen  Tradition. 

Paul  Gyulai  ist  nicht  nur  der  bedeutendste  Kritiker,  sondern  überhaupt 
der  größte  Meister  der  literatur-historischen  Prosa.  Seine  Novellen,  unter 
welchen  „Der  letzte  Gutsherr  des  Herrenhauses"  die  vorzüglichste  ist, 
zeichnen  sich  nicht  so  sehr  durch  Erfindungsgabe  und  Phantasie,  als  durch 
eingehende  liebevolle  Charakteristik  und  poetische  Stimmung  aus.  Seine 
lyrischen  Gedichte  sind  einfach,  gedrungen,  ohne  jede  Emphase.  Über 
den  Gefühlen  schwebt  bei  ihm  mildernd  und  besänftigend  die  Reflexion. 
Doch  spürt  man  an  einer  gewissen  Bitterkeit  nicht  selten  den  leidenschaft- 
lichen Kritiker.  Neben  Gyulai  wirkten  als  Kritiker  der  scharfsinnige 
Franz  Salamon  und  Eugen  Peterfy,  der  tragisch  angehauchte,  feinsinnigste 
Essayist  unserer  Literatur.  Wie  Gyulai  war  auch  der  harmonisch  ge- 
stimmte, liebenswürdige  Ästhetiker  August  Greguss  ein  Herold  von 
Aranys  Größe. 

Eine  ähnliche  Richtung  wie  Gyulai  verfolgten  seine  Freunde:  Karl 
Szdsz,  der  treffliche  Übersetzer,  Ladislaus  Arany,  der  Sohn  des  großen 
Dichters,  der  in  seinem  unter  dem  Einfluß  Puschkins  geschriebenen  Epos 
„Der  Held  der  Fata  Morgana"  eine  Art  ungarischen  Don  Quixote-Typus 
zeichnet,  und  Josef  Levay.  Kristallhelle  Gedanken  in  kristallener  Form, 
Kunstverständnis  und  große  Sorgfalt  in  der  Ausführung  charakterisieren 
die  Gedichte  des  letzteren. 

Gegenüber    diesem    Freundesbund,    über    dem    das    Gestirn    Aranys 


VI.  Das   19.  Jahrhundert.  ^oj 

leuchtet,  stehen  zwei  pessimistische  Lyriker:  der  leidenschaftliche,  bizarre, 

ins  Maßlose  und  Großartiofe   strebende  Johann  Vaida,    der  unser  Zeitalter  Johann  vajda 

(1827— 1897). 
„eine  organisierte  Verschwörung  der  Mittelmäßigkeit  gegen  das  Außer- 
ordentliche" nannte,  —  und  der  pessimistische,  frühverstorbene  Julius  Re- 
viczky,  der  Schüler  Schopenhauers  und  Heines,  der,  mit  verzehrender 
Krankheit  und  Armut  kämpfend,  bald  die  Nichtigkeit  des  Seins  und  die 
Resig-nation,  bald  fieberhaften  Willen  zum  Leben  aussprach. 

Die  gegenwärtige  Literatur  ist  durch  folgende  Eigentümlichkeiten  ge-  Die  zeitgenös 

^.  .-r^.  .,  Tir'T-'  ■       sische  Literat! 

kennzeichnet:  Sie  ist  vor  allem  eine  Lpigonenliteratur.  Wie  Lpigonenzeit- 
alter  überhaupt,  nimmt  sie  die  letzten  Klassiker,  in  diesem  Falle  besonders 
Arany,  zum  Muster  und  zeichnet  sich  vor  allem  durch  Ausbildung  der 
dichterischen  Technik  aus.  Das  volkstümliche  Element  tritt  etwas  in  den 
Hintergrund,  die  Behandlung  allgemeiner  Probleme  nimmt  zu;  auch  kann 
man  ein  Aufblühen  der  kurzatmigen  Feuilletonnovelle  verzeichnen,  was 
dem  wachsenden  Einfluß  der  Tagesblätter  zuzuschreiben  ist.  Auch  die 
sezessionistische  Symbolik  erhebt  mit  affektiertem  Augenaufschlag  ihr 
Haupt  in  der  Lyrik.  Unter  den  jetzt  wirkenden  Romanschriftstellern  sind 
die  bedeutendsten  die  auch  in  Deutschland  durch  Übersetzungen  vorteil- 
haft bekannten  Koloman  Mikszäth  und  Franz  Herczeg.  Ihre  Werke, 
sowie  die  auch  in  Deutschland  oft  gespielten  Dramen  Ludwig  Döczis 
treten  jedoch  aus  dem  Rahmen  meiner  Darstellung  heraus,  welche  sich 
auf  die  noch  in  reicher  Tätigkeit  befindlichen  zeitgenössischen  Schriftsteller- 
individualitäten nicht  erstreckt. 

Ebensowenig"  kann  eine  Charakteristik  der  historischen  Literatur  oder   Die  wissen- 

°  .  Schaft. 

Überhaupt  der  wissenschaftlichen  Leistungen  meine  Aufgabe  sein.  Im  all- 
gemeinen will  ich  bloß  erwähnen,  daß  besonders  diejenigen  wissenschaft- 
lichen Disziplinen  gepflegt  werden,  welche  sich  auf  Ungarn  beziehen,  so 
in  erster  Linie  ungarische  Geschichte  und  Sprachwissenschaft.  Das  größte 
wissenschaftliche  Genie  Ungarns  war  der  Sprachforscher  Nikolaus  Revai 
(-j-  1807),  der  Begründer  der  historischen  Grammatik  der  ungarischen 
Sprache,  mit  welcher  er  seiner  Zeit  und  der  europäischen  Wissenschaft 
vorausgeeilt  war. 

In  allen  Epochen,  in  allen  bedeutenden  Erscheinungen  dieser  Literatur  ScWuß. 
war  die  treibende  Kraft  der  nationale  Impuls,    der  Gedanke  der  Rassen- 
erhaltung.   Ohne  Verständnis  dieser  treibenden  Kraft  wäre  die  ungarische 
Literatur  ebenso  unverständlich,  wie  ein  großer  Maschinenfabrikraum  ohne 
Kenntnis  der  Dampfkraft,  welche  die  Räder  treibt  und  die  Kurbel  bewegt. 

Über  die  Bedeutung  der  ungarischen  Literatur  ist  natürlich  ein  ob- 
jektives Urteil  schwer  zu  fällen,  doch  kann  man,  wie  mir  scheint,  durch 
den  Vergleich  mit  anderen  Literaturen  etwa  zu  folgendem  Resultate 
kommen:  Die  Prosaliteratur  entspricht  den  Erwartungen,  die  man  einem 
Volke  gegenüber  stellen  kann,  welches  die  Geschichte  und  die  Seelenzahl 
des  ungarischen  Volkes  hat;  die  poetische  —  glaube  ich  —  übertrifft 
diese  Erwartungen. 


Literatur. 

Ich  berücksichtige  hier  bloß  die  Literatur  der  ungarischen  Literaturgeschichte  in 
deutscher  Sprache. 

Der  Begründer  der  ungarischen  Literaturgeschichte,  Franz  Toldy  (Schädel),  hat  sein 
erstes  grundlegendes  Werk  deutsch  geschrieben:  Handbuch  der  ungarischen  Poesie, 
2  Bde.  (Pest  und  Wien,  1828).  Es  ist  dies  eine  Anthologie  ungarischer  Gedichte  teilweise 
mit  deutscher  Übersetzung.  Die  Einleitung  gibt  eine  kurze  Geschichte  der  ungarischen 
Dichtung;  darin  legte  der  damals  23jährige  TOLDY  wenigstens  in  großen  Zügen  die  Grund- 
lagen der  ungarischen  Literaturgeschichte  dar. 

Von  den  späteren  eingehenderen  Werken  TOLDYs  sind  zwei  auch  ins  Deutsche  über- 
setzt: Geschichte  der  ungarischen  Dichtung  von  der  ältesten  Zeit  bis  auf 
Alexander  Kisfaludy.  Übersetzt  von  G.  Steinacker  (1863).  Es  sind  dies  \'orträ^e, 
welche  jedoch  bloß  bis  zum  Anfang  der  Blütezeit  der  ungarischen  Dichtung  reichen. 

Das  zweite,  ein  umfangreiches  Spezialwerk  TOLDYs,  ist  seine  Geschichte  der  unga- 
rischen Literatur  im  Mittelalter,  übersetzt  von  M.  Kolbenhayer  (1865).  —  Toldys 
grundlegendes  Werk  ist  heute  in  mancher  Beziehung  schon  veraltet. 

Ausführlich  behandelt  die  ungarische  Literatur  bis  auf  die  neueste  Zeit  J.  H.  SCHWICKER 
in  seiner  Geschichte  der  ungarischen  Literatur  (1889),  944  Seiten.  ScHWiCKER  war 
eigentlich  kein  Fachmann:  sein  Buch,  welches  auch  Proben  in  Übersetzung  enthält,  ist  nicht 
ohne  Verdienst,  aber  nicht  immer  verläßlich. 

Knapper,  auch  die  neueste  Literatur  berücksichtigend,  ist  I.  KONT,  Geschichte  der 
ungarischen  Literatur  (1906)  (Literaturen  des  Ostens  III). 

Essays  und  Monographien  über  ungarische  Dichter  finden  sich  in  den  Zeitschriften: 
Literarische  Berichte  aus  Ungarn  (1877 — 80),  Ungarische  Revue  (1881 — 95),  wo 
auch  viele  Übersetzungen,  Register  dazu  1894;  ferner  in;  Das  moderne  Ungarn,  Essays 
und  Skizzen  herausgegeben  von  A.  Nem^.nyi  (1E883).  (Über  Alex.  Kisfaludy,  Arany,  Petöfi.) 
Auch  Adolf  Dux  gibt  einige  Charakteristiken  von  ungarischen  Dichtem  in  seinem  Buch: 
Aus  Ungarn  (1879).  (Über  Vörösmarty  und  die  jüngste  Literatur.)  Weitere  Literaturangaben 
in   dem  erwähnten  Werke  von  J.  Kont  (S.  262 — 265). 


Aussprache,  ä,  i  =  ah,  eh;  cz,  <r  =  z;  f j  =  tsch;  ny  =  nj ;  gy  =•  A]\  sz  =  ss; 
s  =  seh;  z  =  i.  Ausnahmen:  Szechenyi  (sprich  Sehtschehni);  Eütvös  (sprich  Ötwösch); 
Madäch  (sprich  Madätsch).     Betont  ist  immer  die  erste  Silbe. 


DIE  FINNISCHE  LITERATUR. 

Von 
Emil  Setälä. 

Einleitung.  Das  Finnische  ist  ein  Zweig  der  finnisch-ugrischen ^Die^finnkch-^ 
Sprachfamilie,  von  deren  Gliedern,  außer  dem  Finnischen,  nur  das  Un-  famiUe. 
garische  und  Estnische  Literatursprachen  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes 
sind.  Die  Verwandtschaft  der  finnisch-ugrischen  Sprachen,  die  wissen- 
schaftlich bewiesen  ist,  obwohl  das  Verhältnis  des  Sprachstammes  zu  den 
sogenannten  uralaltaischen  Sprachen  einer-  und  zu  den  indogermanischen 
anderseits  noch  unaufgeklärt  ist,  weist  natürlicherweise  auf  das  Vor- 
handensein einer  finnisch-ugrischen  Ursprache  hin.  Wo  diese  Ursprache 
entstanden  ist,  bildet  eine  ebenso  umstrittene  Frage  wie  das  Problem  der 
indogermanischen  Urheimat. 

Mit    viel    srrößerer   Gewißheit    darf  man   dagegen   schließen,    daß    die  Die  Urheimat 
o  ^  ^  _  _  der  Ostsee- 

Ursprache,  von    der   die   heutigen   im   engeren    Sinne    zusammengehörigen       finnen. 

ostseefinnischen  Sprachen,  darunter  das  Finnische  und  Estnische,  zunächst 

ihren   Ursprung   herleiten,   in   dem   Gebiete   südlich   des   Finnischen  J\Ieer- 

busens    ihre    Heimat    gehabt    hat.     Nachbarn    der    Ostseefinnen    waren    in 

diesen  Zeiten  engerer  Gemeinschaft  einerseits  Balten,  anderseits  und  zwar 

etwas    später    Germanen;    die    Spuren    dieser    Berührungen    sind    in    der 

Sprache  und  Kultur  der  Ostseefinnen  deutlich  zu  erkennen. 

Der  Besfinn  der  Einwanderung  der  Finnen  in  Finnland  scheint  in  die  Die  Einwande- 

ö  o  ^         ^        ning  der  Finnen 

ersten  nachchristlichen  Jahrhunderte  verlegt  werden  zu  müssen;  sie  ist  -»ch  Finnland, 
offenbar  nach  und  nach  im  Verlauf  mehrerer  Jahrhunderte  vor  sich  ge- 
gangen, ganz  in  ähnlicher  Weise  wie  die  friedliche  Eroberung  Binnen- 
finnlands für  die  Kultur  in  historischer  Zeit.  Die  Finnen  fanden  in  Finn- 
land eine  Bewohnerschaft  vor  —  die  archäologischen  Denkmäler  bezeugen, 
daß  Finnland  wenigstens  schon  ein  paar  Jahrtausende  vor  Christi  Geburt 
besiedelt  gewesen  ist,  wahrscheinlich  teils  von  Germanen,  teils  von  Lappen; 
die  ältesten  germanischen  Einwohner  Finnlands  scheinen  wenigstens  der 
Hauptsache  nach  in  den  Finnen  aufgegangen  zu  sein,  wogegen  die  heute 
in  den  verschiedenen  Küstengegenden  von  Finnland  ansässigen  Schweden 
im    wesentlichen    Nachkommen    späterer    Zuwanderer    sind,    während    die 


310 


Emil  Setälä:  Die  firmische  Literatur. 


Lappen  vor  der  finnischen  Kolonisation  immer  weiter  nach  Norden  zurück- 
gewichen oder  fennisiert  worden  sind.  Von  den  nächsten  Stammverwandten 
der  Finnen  bUeben  die  einen  in  der  Nähe  der  früheren  gemeinschaftlichen 
Wohnsitze  im  Süden  des  Finnischen  Meerbusens  zurück,  andere  rückten 
in  die  heutigen  Gouvernements  Olonez  und  Archangel  im  Osten  ein. 
Die  sprachliche  Gemeinschaft  löste  sich  natürlicherweise  mit  der  Erwei- 
terung des  Wohngebietes  auf.  Es  entstanden  besondere,  deutlich  unter- 
schiedene sprachliche  Typen  (wie  z.  B.  das  Estnische,  Livische,  Wepsische), 
in  anderen  Fällen  ganze  Dialektketten,  zwischen  denen  keine  scharfe 
Grenze  bestand. 

Das  finnische  Die  politischen  und  kulturellen  Verhältnisse  schlössen,  nachdem  Finn- 

land mit  Schweden  vereinigt  worden  war,  die  verschiedenen  nach  Finn- 
land übergesiedelten  finnischen  Stämme  zu  einem  Volke  zusammen,  wel- 
ches eine  im  wesentlichen  einheitliche  Sprache  besitzt.  Heute  wird  finnisch 
von  ungefähr  drei  Millionen  gesprochen;  außer  kleineren  Sprachgebieten 
bzw.  Kolonien  in  Ingermanland,  Sibirien,  Schweden,  Norwegen  und  Nord- 
amerika lebt  die  große  Mehrzahl  der  Finnen  im  Großfürstentum  Finn- 
land. Bemerkenswert  ist  jedoch,  daß  nach  Osten  hin  keine  scharfe  Sprach- 
grenze vorhanden  ist,  sondern  daß  die  karelischen  Dialekte  östlich  der 
finnländischen  politischen  Grenze  eine  direkte  Fortsetzung  der  östlichen 
Dialekte  Finnlands  bilden,  ebenso,  daß  die  Sprachformen  auf  der  Grenze 
zwischen  dem  finnischen  und  estnischen  Gebiet  einander  so  nahe  stehen, 
daß  ohne  besondere  Schwierigkeit  ein  gegenseitiger  Gedankenaustausch 
stattfinden  konnte  —  ein  Umstand,  der  von  großer  Bedeutung  ist,  da  er 
den  dauernden  und  befruchtenden  Austausch  des  Folklorematerials  über 
die  Sprachgrenze  hinüber  ermöglichte. 

Die  finnische  Der  äußcrc  Klang  der  finnischen  Sprache,  ihr  Vokalreichtum  und  die 

gleichmäßige  Verteilung  der  Konsonanten  und  Vokale  machten  das  Fin- 
nische wie  von  selbst  zu  einer  geeig'neten  Sprache  der  Dichtung,  sobald 
nur  das  Metrum  mit  der  Sprache  im  Einklang  stand.  Dazu  kam  der 
große  Reichtum  der  Sprache  an  lautmalenden  Wörtern,  die  nach  vor- 
handenen Mustern  bis  ins  Unendliche  neug-ebildet  werden  konnten  und 
die  mit  ihrem  sprachlichen  Stimmungswert  die  Laut-  und  Farbennüanzen 
der  Natur  wiederzugeben  geeignet  waren.  Das  Volk  hatte  für  Poesie 
einen  offenen  Sinn  und  reiche  dichterische  Begabung;  Liedersänger  und 
Wortbildner  waren  schon  in  alten  Zeiten  ganz  besonders  geachtet. 

Die  Volkspoesie         L   Die   mittelalterliche    Volkspoesie.     Die   Volkspoesie    darf  mit 

und   Kunstdich-  .  ,-, , 

tunt'.  vollem  Recht  emen  Platz  m  der  Literaturgeschichte  beanspruchen.  Sie 
ist  in  Wirklichkeit  ebenso  gut  individuell,  ebenso  gut  eine  künstlerische 
Hervorbringung  wie  das  poetische  Produkt  irgendeines  bekannten  Autors. 
Natürlich  ist  ein  Unterschied  in  dem  Maß  von  Bewußtsein,  das  ein  „Volks- 
dichter", und  dem,  das  ein  „Kunstdichter"  von  seinen  Mitteln  und  seinen 
Zwecken   hat,   in   diesem  Punkt  kann   wohl   aber   niemand  eine  bestimmte 


I.   Die   mittelalterliche   VolUspoesie.  j  I  I 

Grenze  ziehen.  Spezifisch  Icennzeichnend  für  den  Volksdichter  ist,  daß 
der  unbekannte  Autor,  da  er  keinen  Aufzeichner  oder  „Verleger"  hat, 
unmittelbar  sein  Publikum  als  „Abschreiber"  und  „Verleger",  das  Ge- 
dächtnis seiner  Zuhörer  als  die  „Bücherei"  benutzt,  die  seine  Werke 
aufbewahren  soll.  Weiter  ist  zu  beachten,  daß  der  „Abschreiber"  oder 
„Verleger"  in  diesem  Fall  selbständiger  als  ein  gewöhnlicher  „Abschreiber" 
oder  „Verleger"  ist  oder  sein  kann:  er  kann  die  Werke  verschiedener 
Dichter  —  meist  nur  durch  unabsichtliche  Gedankenassoziation,  aber  auch 
bewußt  —  nicht  nur  zu  einem  „Bande"  vereinigen,  sondern  sie  sogar 
gewissermaßen  zu  einem  Werke  zusammenschweißen;  und  wenn  er  selbst 
etwas  von  einem  Dichter  in  sich  hat,  kann  auf  diese  Weise  ein  ganz 
neues  Werk  entstehen,  das  sich  jedoch  auf  die  Arbeit  seiner  Vorgänger 
stützt. 

In  welche  Zeit  die  ersten  Anfänse  der  finnischen  Volkspoesie  zurück-   Anfänge  der 

*  '^  Volkspoesie. 

gehen,  läßt  sich  nicht  auch  nur  annähernd  feststellen;  in  dieser  Beziehung 
entscheiden  weder  die  formalen  noch  die  stofflichen  Argumente  etwas. 
Da  von  der  Dichtung  der  älteren  Zeiten  in  den  Tagen,  wo  sie  gesungen 
worden,  nichts  aufgezeichnet  ist,  kann  die  Frage  nach  ihrem  Alter  im 
allgemeinen  nur  auf  dem  Wege  der  Schlußfolgerung  entschieden  werden. 

Die  finnische  Volkspoesie  hat  nur  eine  einzige  Liedform  geschaffen,  Die  Liedform. 
die  in  dichterischen  Produkten  aller  Gattungen  zur  Anwendung  gekommen 
ist,  aber  eine  Liedform,  die  sowohl  in  ihrem  Bau  als  in  ihrem  Schmuck 
eigenartig  ist  und  von  den  antiken  wie  den  modernen  abweicht.  Ihr 
Metrum  ist  achtsilbig,  aus  vier  Trochäen  aufgebaut  —  dem  Anschein  nach 
überaus  einfach,  in  Wirklichkeit  aber  recht  kunstvoll,  da  das  Ringen 
zwischen  Wort-  und  metrischem  Akzent  und  die  Zäsur  einen  sehr  ab- 
wechslungsreichen Eindruck  hervorrufen.  Als  äußerer  Schmuck  dient  die 
Alliteration,  der  Stabreim,  und  als  Verstärkung  und  Füllung  des  Gedankens 
der  Parallelismus  der  Glieder,  der  Gedankenreim.  Es  kann  kein  Zweifel 
darüber  bestehen,  daß  dieses  Metrum  ein  finnisch-estnisches  ist;  gewisse 
Kennzeichen  scheinen  darauf  hinzuweisen,  daß  es  in  einer  primitiveren 
Form  finnisch-mordwinisch  sein  könnte,  also  in  die  Jahrhunderte  vor  un- 
serer Zeitrechnung  zurückgehen  würde,  obwohl  es  natürlich  in  diesem 
Punkte  keine  Sicherheit  gibt. 

Was  die  stoffliche  Seite  dieser  Poesie  betrifft,  so  gibt  sie  ebensowenig  ^'^  s?°'ff  '•'"■ 

'  ö  o        ünnischen 

Aufschluß  über  den  ersten  Ursprung  der  Dichtungsart.  Die  ältesten  voikspoesie. 
Lieder,  die  auf  uns  gekommen  sind,  sind  allerdings  in  heidnischen  Zeiten 
gesungen  worden.  Die  heidnischen  Finnen  wußten  von  Väinämöinen  und 
Ilmarinen  zu  erzählen,  beides  nach  der  ursprünglichen  Auffassung  des 
Volkes  Götter,  jener  der  Gott  des  Wassers,  dieser  der  der  Luft.  Man 
darf  aber  nicht  vergessen,  daß  das  Heidentum  in  Karelien  und  Ingerman- 
land  bis  fast  in  die  Neuzeit  reichte,  weshalb  sich  also  auch  hierfür  kein 
sicherer  Terminus  ex  quo  fixieren  läßt.  Außerdem  liefert  das  Vorkommen 
von  heidnischen  Namen  in  einem  Liede  keinen  absoluten  Beweis  für  den 


312 


Emil  Setälä:  Die  finnische  Literatur. 


heidnischen  Ursprung  des  Liedes,  vielmehr  finden  sich  manche  Beispiele 
dafür,  daß  heidnische  Namen  in  Liedern  mit  katholischen  Motiven  an  die 
Stelle  von  katholischen  gesetzt  worden  sind.  Anderseits  läßt  es  sich  auch 
durchaus  nicht  beweisen,  daß  das  finnische  Lied  nicht  in  sehr  alten  Zeiten 
wurzeln  kann;  das  Erbe  jener  Zeiten  haben  hauptsächlich  nur  die  späteren 
Stoffe  im  Gedächtnis  des  Volkes  verdrängt. 

Die  Stoffe,  die  die  Phantasie  des  Volkes  besonders  angeregt  haben, 
waren  dieselben,  die  die  Legenden-  und  Ritterpoesie  des  Mittelalters  dar- 
bot. Wir  finden  hier  die  gleichen  Motive,  die  in  der  Legendendichtung 
anderer  Völker  auftreten,  wir  finden  aber  auch  häufig  Motive  erhalten,  die 
ohne  Zweifel  durch  andere  Völker  hierher  gelangt,  anderwärts  jedoch 
spurlos  verschwunden  sind.  Und  selbst  in  den  Fällen,  wo  sich  die  ent- 
sprechenden Lieder  anderswo  behauptet  haben,  hat  das  Gedächtnis  des 
finnischen  Volkes  mehrfach  mit  wunderbarer  Genauigkeit  ursprüngliche, 
anderswo  verwischte  Züge  bewahrt.  Und  was  noch  bemerkenswerter  ist: 
jene  anderswoher  eingewanderten  Motive  sind  nicht  bloß  sklavisch  nach- 
gebildet worden,  sie  treten  uns  in  finnischem  Geiste  umgedichtet,  mit 
spezifisch  finnischen  Zügen  ausgeschmückt  und  in  eine  finnische  Umgebung 
verlegt  entgegen.  Insbesondere  verraten  die  nordkarelischen  Liedersänger 
poetisches  Talent:  in  ihrer  Darstellung  gewinnt  der  Dialog-  eine  hin- 
reißende Lebendigkeit  und  beginnen  die  Gestalten  zu  leben. 
Legenden.  Um  aus  den  behandelten  Motiven  ein  paar  Beispiele  herauszugreifen, 

sei  erwähnt,  daß  das  Leben  der  Jungfrau  und  des  Heilands  eine  ganze 
Serie  von  Liedern  geschaffen  hat,  die  im  Munde  der  nordkarelischen 
Sänger  die  deutliche  Tendenz  zeigen,  sich  zu  einer  ganzen  umfangreichen 
Messiade  auszugestalten.  Wir  begeg-nen  auch  hier  unter  dem  bleichen 
nordischen  Himmel  der  Maria  Magdalena,  der  stolzen  sündigenden  Jung- 
frau, die  Jesus  in  der  Hülle  eines  karelischen  Hirten  am  Brunnen  findet 
und  der  er  ihre  Sünden  vorhält  Wir  begegnen  hier  dem  reichen  Manne 
und  Lazarus  als  dem  Hausherrn  und  dem  von  ihm  hartherzig  behandelten 
Knecht.  Christi  Tod  erscheint  als  Legende  vom  Tode  des  finnischen 
Helden  Lemminkäinen,  den  der  blinde  Hirt  tötet,  um  dann  seinen  Leichnam 
in  den  Strom  von  Tuonela  zu  werfen,  aus  dem  ihn  die  Mutter  rettet  und 
zu  neuem  Leben  erweckt.  Zu  den  allerschönsten  Legenden  gehört  ein 
ingermanländisches  Lied,  in  dem  erzählt  wird,  wie  Gottes  Sohn  zur  Zeit, 
als  noch  keine  Sonne  und  kein  Mond  am  Himmel  stand,  Sonne  und  Mond 
als  Lichtspender  den  Menschen  schenkte;  er  setzte  die  Sonne  in  eine 
Tanne  mit  goldenem  Wipfel,  zuerst  auf  einen  unteren  Ast,  wo  sie  nur  den 
Reichen  schien,  dann  aber  auf  die  Bitte  der  Armen  auf  einen  höheren 
Ast,  wo  sie  auf  Reiche  und  Arme,  Wohlhabende  und  Bettler  gleichmäßig 
strahlte.  Ein  einheimisches  Legendenmotiv  finden  wir  in  dem  Liede  vom 
Tode  Bischof  Heinrichs  behandelt,  in  der  Erzählung  von  dem  ersten 
Glaubensboten  in  Finnland,  den  ein  finnischer  Heide  ums  Leben  brachte. 
Ritterbaii.idc.  Auch    die    Ritterballade    hat    Ableger    in    Finnland    —    sie    ist    über 


I.  Die  mittelalterliche  Volkspoesie  ^I_j 

Schweden  hierher  gekommen,  wo  sie  um  das  14.  Jahrhundert  ihre  höchste 
Blüte  erreichte.  Wir  haben  hier  die  Erzählung  von  der  jungen  Maid 
Inkeri,  deren  Bräutigam  gerade  anlangt,  als  sie  einem  anderen  Manne 
vermählt  werden  soll;  ähnlich  das  Lied  von  Anterus,  der  sich  aus  Gram 
das  Leben  nimmt,  als  sein  junges  Weib  stirbt,  und  mit  ihr  in  einem  Grabe 
begraben  wird  —  beides  Motive,  die  zunächst  aus  Schweden  stammen. 
Auf  einheimischer  geschichtlicher  Grundlage  ist  die  Ritterballade  er- 
wachsen, die  von  allen  am  höchsten  gestellt  werden  muß,  Elinas  Tod,  die 
Erzählung  von  dem  Ritter,  der  aus  Eifersucht  sein  anmutiges  Weib  und 
seinen  kleinen  Sohn  verbrennt  und  sich  danach  in  seinen  Gewissensqualen 
selber  umbringt;  dieses  Lied  ist  wegen  seiner  Charakteristik  und  seiner 
dramatischen  Kraft  —  seine  knappe  Diktion  nähert  sich  der  dramatischen 
Darstellungsart  —  die  schönste  Perle  der  finnischen  mittelalterlichen 
Dichtung. 

Wie  angedeutet,  ist  das  Alter  der  Lieder  häufig  schwer  genau  zu 
bestimmen,  da  sie  nicht  in  der  Zeit  aufgezeichnet  sind,  wo  sie  zuerst  ge- 
sungen wurden.  Die  reichen  Stoffe  des  Mittelalters  vermischten  sich  mit  den 
alten  Vorstellungen,  und  da  sproß  eine  vielgestaltige  Dichtung  empor,  die 
sich  bis  in  die  neuere  Zeit  weiter  entfaltet  hat;  die  Frucht  dieser  Ent- 
faltung waren  die  epischen  Lieder,  die  den  Hauptbestandteil  des  finnischen 
Volksepos  Kalevala  bilden. 

Von  den  anderen  Gattungen  der  Dichtung  reicht  ohne  Zweifel  die  weitere 
reiche  lyrische  Poesie,  in  welcher  die  meisten  Ereignisse  des  finnischen  voikspoesie. 
Volkslebens,  meistens  aber  die  traurigen,  ihre  poetische  Behandlung  ge- 
funden haben,  in  frühe  Zeiten  zurück,  wiewohl  sie  natürlich  durch  immer 
neue  Gebilde  vermehrt  worden  ist.  Dasselbe  gilt  von  der  didaktischen 
Poesie,  welche  die  Sprichwörter  und  Rätsel  bergen,  und  den  Sagen  und 
Märchen  in  Prosa,  unter  denen  wir  fast  alle  allgemein  internationalen 
Motive,  verfinnischt  und  nach  Finnland  verlegt,  wiederfinden. 

Eine  ganz  eigentümlich  finnische  Gattung  der  Poesie  stellen  die  Zauberiieder. 
Zauberlieder  dar,  in  denen  manche  ein  uraltes  Erbe  eines  uralten  Scha- 
manismus erblickt  haben.  Soviel  die  Forschung  indessen  bisher  ermittelt 
hat,  sind  sie  in  ihren  Urmotiven  als  westeuropäische,  aus  katholischer 
Zeit  stammende  Zaubersprüche  zu  betrachten,  die  auf  finnischem  Grund 
und  Boden  beträchtlich  vermehrt  und  ausgebaut  worden  sind  und,  was 
das  merkwürdigste  ist,  vielfach  ein  von  echtem  Naturgefühl  zeugendes 
poetisches  Gewand  erhalten  haben. 

Aus  gewissen  Umständen  zu  schließen  war  unter  den  Adeligen,  Geist-  Die  Urheber 
liehen  und  Bürgern  Finnlands  das  Finnische  die  Hauptumgangssprache; 
dies  wird  u.  a.  dadurch  bewiesen,  daß  die  mittelalterliche  Dichtung  Mo- 
tive aus  dem  Leben  dieser  Stände  aufweist,  und  ohne  Zweifel  ist  zum 
mindesten  ein  beträchtlicher  Teil  der  fraglichen  Poesie  von  Vertretern 
dieser  Bevölkerungsklassen  hervorgebracht  worden.  Sie  standen  jedoch 
in  ihrer  Bildung  nicht  besonders  hoch  über  dem  finnischen  freien  Bauer; 


314  Emil  Setälä:  Die  finnische  Literatur. 

die  Kenntnis  des  Schreibens  war  selten,  es  gab  offenbar  niemand,  der 
finnische  Lieder  hätte  aufzeichnen  können  oder  sie  als  dessen  wert  an- 
gesehen hätte.  Die  besten  Hüter  des  Gesangs  waren  die  gedächtnisstarken 
Männer  aus  dem  Volke,  die  den  Zuhörern  Hand  in  Hand  mit  einem  Be- 
gleiter die  alten  Überlieferungen  vortrug-en.  Unter  ihnen  waren  jedenfalls 
auch  begabte  Individuen,  die  selber  als  schaffende  Dichter  den  Reichtum 
der  Volkspoesie  vermehrten. 

In  der  Wanderung  der  Volkspoesie  lassen  sich  zwei  Strömungen  er- 
kennen, eine  von  Süden  nach  Norden,  vom  estnischen  Sprachgebiet  über 
Ingermanland  nach  Karelien,  und  eine  zweite  von  Westen  nach  Osten. 
Oft  entwickelten  sich  ganz  einfache  estnische  Motive  in  Karelien,  wo  sich 
der  südliche  und  der  westliche  Liederstrom  vereinigten,  zu  epischen  Lied- 
schöpfungen mit  Gestalten,  die  der  heidnischen  Zeit  angehörten,  West- 
finnland hat  hauptsächlich  Legenden-  und  Balladenpoesie  aus  mittelalter- 
lichen Motiven  geschaffen. 

IL  Begründung  und  erste  Schicksale  der  finnischen  Schrift- 
sprache (1542 — 1642).  Außer  der  Volkspoesie  hat  das  ganze  Mittelalter 
in  Finnland  weiter  keine  Literatur  hervorgebracht  als  eine  Anzahl  latei- 
nischer religiöser  Lieder  und  Schulgesänge,  die  von  finnischen  Bischöfen 
und  Geistlichen  herrührten,  sowie  eine  lateinische  Bischofschronik.  Auch 
in  schwedischer  Sprache  ist  in  Finnland  während  des  Mittelalters,  von  amt- 
lichen Dokumenten  abgesehen,  nichts  geschrieben  worden  als  Übersetzungen 
von  Stücken  des  Alten  Testaments  und  Heiligenbiographien  von  einem 
wahrscheinlich  aus  Schweden  stammenden  Mönche.  Und  die  einzigen 
gleichzeitigen  Denkmäler  des  Finnischen  sind  die  finnischen  Namen,  die 
in  lateinischen  oder  altschwedischen  Urkunden  vorkommen;  mitunter  findet 
man  in  diesen  ganze  finnische  Sätze,  woraus  zu  entnehmen  ist,  daß  die 
mündliche  Verhandlung"  vor  Gericht  damals  wie  auch  stets  in  späterer 
Zeit  auf  Finnisch  vor  sich  ging,  obwohl  das  Protokoll  nicht  finnisch  ge- 
führt wurde.  Die  Namen  und  Sätze  der  betreffenden  Urkunden,  deren 
älteste  dem  13.  Jahrhundert  angehören,  sind  mithin  die  frühesten  direkten 
Denkmäler  der  finnischen  Sprache. 

Obwohl  das  Latein  die  Sprache  der  Kirche  war,  heißt  es  doch,  die 
geistlichen  Würdenträger  hätten  am  Ausgang  des  15.  Jahrhunderts  die 
Anordnung  getroffen,  daß  einige  Gebete  allsonntäglich  in  den  Kirchen 
auf  Finnisch  hergesagt  und  ihre  Übersetzung,  um  gedächtnisstörender 
Vertauschung"  von  Wörtern  vorzubeugen,  schriftlich  festgelegt  werden 
sollte.  Hiervon  hat  sich  jedoch  in  der  gleichzeitigen  Niederschrift  nichts 
erhalten,  obwohl  es  möglich  ist,  daß  einige  Niederschriften  des  16.  Jahr- 
hunderts auf  den  Übersetzungen  aus  katholischer  Zeit  fußen.  Daß  sich 
im  Gebrauch  der  finnischen  Sprache  irgendeine  bestimmte  Gewohnheit 
herausgebildet  hatte  und  daß  eine  Art  finnische  „Gemeinsprache"  ent- 
standen war,  können  wir  daraus  schließen,   daß,  als  die  finnische  Schrift- 


n.  Begründung  und  erste  Schicksale  der  finnischen  Schriftsprache.  ^  j  ; 

spräche  gegründet  wurde,  alle  Schriftsteller  ohne  bedeutendere  Ab- 
weichungen derselben  Sprachform  folgten. 

Der  Erstling  der  finnischen  gedruckten  Literatur  ist  die  von  dem  eigent-  Michael 
liehen  Glaubensreformator  Finnlands,  dem  Bischof  Michael  Agricola, 
wahrscheinlich  1542  herausgegebene  finnische  Fibel.  Er  ließ  auch  einige 
andere  Bücher  auf  Finnisch  erscheinen:  ein  ziemlich  umfangreiches  Gebet- 
buch, ein  Rituale,  eine  Liturgie  und  Teile  der  Bibel;  am  aller  wichtigsten 
war  das  1548  veröffentlichte  Neue  Testament.  Agricolas  Bücher  waren 
Übersetzungen  oder  fremden  Vorbildern  nachgeschaffene  Werke,  doch 
begegnet  man  in  ihnen  auch  Äußerungen  seiner  eigenen  kräftigen  Per- 
sönlichkeit, Partien,  in  denen  die  markige,  oft  mit  Sprichwörtern  gewürzte 
Diktion  an  den  Lehrmeister  der  Reformation,  Luther,  erinnert.  Er  war 
seiner  ganzen  Veranlagung  nach  ein  Mann  der  trockenen  Prosa,  so  daß 
man,  wenn  in  den  unter  seinem  Namen  veröffentlichten  Büchern  hin  und 
wieder  einmal  ein  poetischer  Hauch  zu  verspüren  ist,  Zweifel  hegen  kann, 
ob  man  es  mit  Agricola  selbst  oder  mit  einem  seiner  Mitarbeiter,  deren 
er  auch  hatte,  zu  tun  hat.  Trotzdem  hat  er  es  auch  mit  dem  Dichten  in 
finnischer  Sprache  versucht.  Obwohl  ohne  allen  ästhetischen  Wert  haben 
diese  dichterischen  Versuche  doch  kulturgeschichtliche  Bedeutung;  am 
bemerkenswertesten  ist  darunter  das  Verzeichnis  alter  finnischer  Gott- 
heiten in  der  Vorrede  zum  Psalter,  eine  der  wichtigsten  Quellen  der 
finnischen  Mythologie. 

Die  Sprachform,  die  Agricola  in  seinen  Büchern  anwandte,  war  der 
Dialekt  der  damaligen  Hauptstadt  Finnlands,  der  Dialekt  von  Abo,  der 
zu  der  Zeit  allein  als  „Suomen  kieli",  „Finnisch"  bezeichnet  wurde.  Zu- 
gleich begann  er  jedoch  schon  mit  dem  Verfahren,  das  in  der  Folgezeit 
mit  Erfolg  akzeptiert  worden  ist,  d.  h.  er  entlehnte  Wörter,  Formen  und 
Redewendungen  aus  anderen  Dialekten. 

Aus  derselben  Zeit  wie  AeTicolas  Bücher  stammt  eine  handschriftliche,   Sonstige 

Literatur. 

aber  ungedruckt  gebliebene  Übersetzung  des  Landrechts  des  Königs 
Christopher,  die  erste  Schrift,  die  ein  weltliches  Thema  in  finnischer 
Sprache  behandelt.  Sonst  aber  war  alle  Literatur,  die  in  der  nächsten 
Folgezeit  erschien,  fast  ausschließlich  geistlicher  Art.  Sie  bestand  haupt- 
sächlich in  Übersetzung-en;  Erwähnung  verdient  jedoch  eine  in  den  Jahren 
162 1 — 25  erschienene  umfängliche  Postille  von  dem  Bischof  Ericus  Erici, 
die  den  Stempel  der  Originalität  trägt  und  außerdem  von  einer  bedeu- 
tenden theologischen  Gelehrsamkeit  zeugt.  Geistliche  Dichtung  erschien 
eine  reiche  Menge,  besonders  für  den  Kirchengesang,  doch  sind  diese 
Erzeugnisse  hinsichtlich  des  Sprachgebrauchs  und  der  poetischen  Schön- 
heit recht  schwach.  Ein  wichtiges  Ereignis  in  der  Geschichte  der  fin- 
nischen Literatur  war  die  Herausgabe  der  ganzen  Bibel  in  finnischer  Sprache 
im  Jahre   1642. 


2 1 6  Emil  Setälä  :  Die  finnische  Literatur. 

III.  Erwachen  des  Heimatgefühls  (die  Zeit  der  sogenannten 
Fennophilen,  1642  — 1809).  Die  Reformation  drängte  das  Latein  in  den 
Hintergrund,  aber  die  politische  Verbindung  mit  Schweden,  die  erhöhte 
politische  Machtstellung  Schwedens  und  die  Überlegenheit  der  schwe- 
dischen Kultur  bewirkten,  daß  in  Finnland  nicht  vorzugsweise  das  Fin- 
nische, sondern  in  bemerkenswertem  Grade  das  Schwedische  die  Rolle 
des  Lateins  übernahm.  Das  Schwedische  wurde  mit  der  Hebung  des 
Kulturniveaus  nach  und  nach  immer  mehr  die  Sprache  der  höheren 
Stände,  die  durch  Beamte  von  Schweden  her  eine  stetige  Vermehrung 
erfuhren. 

Aber  trotz  der  wachsenden  Bedeutung  der  schwedischen  Sprache  und 
ganz  unabhängig  von  der  Umgangssprache  der  Bewohner  des  Landes 
hatte  sich  in  Finnland  seit  alten  Zeiten  ein  gewisses  finnisches  Sonder- 
gefühl ausgebildet,  welches  deutlich  eine  neue  Anregung"  empfing,  als  die 
ideellen  Bestrebungen  des  Landes  in  der  1640  in  Abo  gegründeten  Uni- 
versität einen  Sammelpunkt  erhielten.  Obwohl  Finnland  einen  Teil  des 
schwedischen  Reiches  bildete,  hatte  doch  unter  den  Finnen  die  Anschauung 
Platz  gegriffen,  daß  ihr  Land  infolge  seiner  geographischen  Lage,  der 
Eigenheiten,  Sitten,  der  Sprache  und  Stammeserinnerungen  seines  Volkes 
etwas  anderes  sei  als  nur  eine  schwedische  Provinz. 

Und  dieses  Sondergefühl  kam  auch  in  der  Literatur  zum  Ausdruck. 
In  den  akademischen  Übungen,  wo  in  panegyrischen  Aussprüchen  das 
Lob  der  Heimat  erhoben  wurde,  begann  ein  Ton  durchzuklingen,  welcher 
bezeugte,  daß  den  Vortragenden,  wenn  vielleicht  auch  nur  verschwommen, 
ein  Bild  von  einer  gemeinschaftlichen  finnischen  Heimat,  ja  einem  Vater- 
land vorschwebte.  Dieses  Gefühl  und  diese  Anschauung  bemächtigten 
sich  teilweise  sogar  der  im  Lande  ansässigen  Schweden;  so  beschäftigte 
sich  z.  B.  der  aus  Schweden  gebürtige  Professor  Eskil  Petraeus,  später 
Bischof,  lebhaft  mit  dem  Finnischen,  er  stand  an  der  Spitze  des  finnischen 
Bibelübersetzungskomitees  und  schrieb  die  erste  uns  erhaltene  finnische 
Grammatik,  164g,  anderer  Beispiele  zu  geschweigen.  Vor  allem  aber 
zündete  dieses  Gefühl  —  trotz  einer  teilweisen  Gegenströmung  —  natür- 
licherweise unter  den  Söhnen  Finnlands  selbst. 

Von  den  ältesten  „Fennophilen"  —  so  nannte  man  die  Anhänger  dieser 
finnisch-nationalen  Richtung  —  ist  der  bemerkenswerteste  der  Bischof 
Daniel  Juslenius,  ein  sehr  warmer  Freund  des  finnischen  Landes  und 
Volkes,  zugleich  aber  ein  durchaus  unkritischer  Geist,  den  wahrscheinlich 
die  phantastischen  Bestrebungen  begeisterten,  deren  Vorkämpfer  in 
Schweden  Olov  Rudbeck  war.  Bei  dem  Unternehmen,  die  Geschichte 
der  Heimat  darzustellen,  versuchte  er  zu  zeigen,  daß  die  Finnen  das  beste 
und  tapferste  Volk  der  Welt  seien,  versuchte  er  auch  auf  Grund  der 
Volkspoesie  das  hohe  Alter  und  den  hohen  Stand  der  finnischen  Kultur 
nachzuweisen  u.  a.  m.;  alte  und  mächtige  Verwandte  der  finnischen  Sprache 
glaubte  er  im  Hebräischen  und  Griechischen  aufspüren  zu  können  —  ein 


III.  Erwachen  des  Heimatgefühls  (die  Zeit  der  so^jenannten  Fennophilen,    1642 — iSog).       ^ij 

Bemühen,  in  dem  er  nicht  der  erste  noch  der  einzige  war,  und  welches 
auch  den  positiven  Vorteil  brachte,  daß  sich  die  Grammatik  der  finnischen 
Sprache  aus  den  Fesseln  des  Lateins  losrang  und  die  erste  auf  den  Cha- 
rakter der  Sprache  gegründete  Grammatik  das  Tageslicht  erblickte.  Jeden- 
falls aber  gebührt  Juslenius  das  Verdienst,  durch  seine  Wärme  das  Inter- 
esse angefacht  zu  haben;  er  hat  in  dieser  Beziehung  auch  das  direkte 
Verdienst,  daß  er  der  erste  eigentliche  Sammler  finnischer  Volkspoesie 
ist  —  obwohl  seine  Sammlungen  verloren  gegangen  sind  — ,  femer  der 
Verfasser  des  ersten  diesen  Namen  verdienenden  finnischen  Wörterbuches. 
Ohne  Zweifel  empfing  von  ihm  die  erhabenste  Gestalt  dieser  Zeit,  Henrik 
Gabriel  Porthan  (1739 — 1804),  die  Anregung  zu  Forschungen  im  Sinne 
des  heimatlichen  Gedankens. 

Porthan,  ein  von  den  Aufklärungsbestrebungen  der  Zeit  berührter  Ponhan. 
Geist,  war  seinem  ganzen  Wesen  nach  in  ebenso  hohem  Maße  kritisch, 
als  Juslenius  phantastisch  war.  Er  war  von  Fach  eigentlich  klassischer 
Philolog,  seine  philologische  Forschung  wurde  aber  auf  die  Heimat  ge- 
lenkt und  führte  ihn  dadurch  auf  ganz  neue  Bahnen.  Die  Veröffentlichung 
der  alten  Bischofschronik  leitete  ihn  auf  die  Erforschung  der  heimatlichen 
Geschichte,  auf  die  er  erstmals,  ohne  Zweifel  vom  Geist  der  Göttinger 
historischen  Schule  angeweht,  eine  wirklich  wissenschaftliche  Methode 
anwandte,  welche  eine  kritische  Wertschätzung  der  Quellen  mit  umfaßte. 
Er  versuchte  im  Anschluß  an  die  Bestrebungen ,  zu  deren  Urhebern 
G.  W.  Leibniz  gehörte,  die  aber  in  Finnland  schon  früher  unabhängig  von 
diesem  aufgetaucht  waren,  die  Sprache  als  historisches  Beweismittel  zu 
verwerten  und  mit  ihrer  Hilfe  ein  Gesamtbild  von  der  alten  finnischen  Kultur 
zu  entwerfen  —  ein  Versuch,  der  als  solcher  vorher  weder  auf  finnisch- 
ugrischem  noch  auf  indogermanischem  Boden  unternommen  worden  war. 
Er  dehnte  seine  Forschungen,  indem  er  sich  auch  mit  ungarischen  Ge- 
lehrten in  Verbindung  setzte,  auf  die  anderen  finnisch-ugrischen  Sprachen 
aus,  während  er  die  bis  dahin  so  beliebten  Vergleichungen  mit  dem  He- 
bräischen und  Griechischen  fallen  ließ.  Er  zog,  teils  durch  Juslenius'  Bei- 
spiel angeregt,  teils  von  der  Begeisterung  für  die  „Ossianischen  Gesänge" 
Macphersons  ergriffen,  auch  die  finnische  Volkspoesie,  ihren  Bau  und 
ihre  religiösen  Vorstellungen  in  den  Kreis  seiner  Untersuchungen.  Und 
da  hat  er  ebenfalls  Gedanken  ausgesprochen,  die  lange  nach  seiner  Zeit 
Früchte  gezeitigt  haben,  Gedanken  über  das  Wandern  der  Volkspoesie 
und  über  die  Rekonstruktion  von  Produkten  der  Volksdichtung  auf  Grund 
der  verschiedenen  Varianten.  Neben  diesen  ideellen  Bestrebungen  fesselten 
ihn  zugleich  die  in  jener  Zeit  erwachten  wirtschaftlichen  Probleme,  die 
auf  die  Hebung  der  Bebauung-  und  des  Wohlstands  des  Landes  abzielten. 
Kurz,  er,  dieser  letzte  Polyhistor  der  finnländischen  Universität,  umfaßte 
mit  einem  Blick  das  nationale  Arbeitsgebiet  in  seiner  ganzen  Weite. 
Er  war  der  Repräsentant  eines  ganzen  Zeitalters,  um  ihn  gruppierten  sich 
alle  anderen  Träger  einheimischer  Ideen  als  Schüler  oder  Mitarbeiter. 


7  1 8  Emil  Setälä  :  Die  finnische  Literatur. 

Geistliche  und  Die  Literatur,  in   der  diese  Bestrebungen  ihren  Niederschlag  fanden, 

'  war  ausschließlich  entweder  lateinisch  oder  zu  einem  kleineren  Teil  schwe- 
disch geschrieben.  Die  oberen  Stände  mußten  ihre  literarischen  Bedürf- 
nisse —  soweit  sie  solche  hatten  —  aus  dem  schwedischen  Schrifttum  be- 
friedigen, welches  bereits  Bedeutung  zu  gewinnen  begann,  ja  sich  am 
Ausgang  dieses  Zeitabschnittes  zu  seiner  ersten  Blüte  erhob;  die  finnische 
Literatur  hatte  nur  die  Aufgabe,  dem  niederen  Volk  und  dessen  Bedürf- 
nissen zu  dienen.  Diese  Literatur  hielt  sich  denn  auch  nach  wie  vor 
hauptsächlich  nur  innerhalb  der  Grenzen  der  Erbauungsliteratur,  ohne  so- 
gar auf  dem  Gebiete  der  geistlichen  Dichtung  sich  allzu  oft  zu  höheren, 
literarisch  wertvollen  Leistungen  aufzuschwingen.  Die  Kirchenliederdichter 
versuchten  die  in  der  Poesie  anderer  Völker  üblichen  Formen  nach- 
zuahmen, ohne  jedoch  über  solchen  Formensinn  und  die  allseitige  Beherr- 
schung ihrer  eigenen  Sprache  zu  verfügen,  daß  aus  ihrem  Dichten  eine 
Kunst  hervorgegangen  wäre.  Nur  in  Ausnahmefällen  ist  zu  beobachten, 
daß  die  Form  und  die  Schmuckmittel  der  Volkspoesie  auf  die  geistliche 
Dichtung  eingewirkt  haben.  Und  eine  ganz  spezielle  Ausnahme  bildet 
eine  sehr  beliebt  gewordene  und  von  dichterischer  Begabung  zeugende, 
ziemlich  umfangreiche  Dichtung  eines  sonst  unbekannten  Pfarrers  namens 
Matthias  Salamnius:  „Ilo-Laulu  Jesuxesta"  (Freudenlied  auf  Jesus),  i6go, 
die  ganz  in  dem  alten  Volksmetrum  verfaßt  war.  Die  weltliche  finnische 
Dichtung  war  großenteils  Gelegenheitsdichtung,  zunächst  nach  schwedischen 
Vorbildern,  teilweise  auch  war  sie  durch  historische  Ereignisse,  besonders 
die  Greuel  des  Nordischen  Krieges  veranlaßt.  Gering  an  Zahl  sind  auch 
hierunter  die  Produkte,  denen  wegen  dichterischen  Gefühls  oder  der 
Schönheit  von  Bildern  poetischer  Wert  zuzuerkennen  ist.  Bemerkenswert 
ist  das  Eindringen  der  Form  der  Volkspoesie  in  die  weltliche  Dichtung; 
die  besten  Hervorbringungen  dieser  Dichtung-  sind  denn  auch  die,  die 
sich  am  nächsten  an  die  in  der  Volkspoesie  bearbeitete  Form  und  deren 
Muster  anlehnen. 

Volkslieder.  Das  Volk  Sang  natürlich   nach  wie  vor  seine  alten  Lieder,   und  neue 

wurden  hinzugedichtet.  Daß  diese  Dichtung  Aufmerksamkeit  zu  erregen 
begann,  beweist  die  Übertragung  ihrer  Form  auf  die  eben  berührten 
Gattungen  der  Poesie  und  ihre  wissenschaftliche  Behandlung.  Abgesehen 
von  den  Proben,  die  in  wissenschaftlichen  Untersuchungen  zur  Veröffent- 
lichung gelangten  —  das  erste  finnische  Volkslied  wurde  1675  gedruckt  — , 
erschienen  um  diese  Zeit  auch  die  ersten  Sammlungen  von  Volkspoesie, 
Sprichwörter  und  Rätsel  enthaltend. 

AnfanK  der  Die  erste  finnische  Zeitung  versandte  im  Jahre  1775  ihre  Probenummer, 

erschien  aber,  einmal  monatlich  einen  halben  Bogen  stark,  nur  ein  Jahr 
lang,   1776. 


Zeitungslite 


Lage  Finnla 


IV.  Die  erste  nationale  Erweckung  (der  Kampf  der  Dialekte, 
1809  —  1835).      Der    Krieg   des   Jahres    1808 — 1809    zerriß    die   Bande,    die 


rV.  Die  erste   nationale  Erweckung  (der  Kampf  der  Dialekte,    1809 — 1835).  3  IQ 

Schweden  und  Finnland  jahrhundertelang  miteinander  verknüpft  hatten, 
und  Finnland  trat  in  eine  neue  politische  Stellung:  es  wurde  als  ein  Staat 
mit  eigener  Staatsverfassung  mit  dem  russischen  Reiche  vereinigt.  „Finn- 
land ist  unter  die  Zahl  der  Nationen  erhoben",  das  waren  die  Worte,  mit 
denen  Alexander  I.  auf  dem  Landtag  zu  Borgo  die  neue  Stellung  charak- 
terisierte. „Schweden  sind  wir  nicht,  Russen  wollen  wir  nicht  werden,  also 
müssen  wir  Finnen  sein",  so  lautete  die  Reflexion,  die  der  Finne  an- 
gesichts der  neuen  Lage  der  Dinge  notgedrungen  anstellte.  Und  zugleich 
erwachte  der  Gedanke,  daß  das  Finnische,  welches  in  diesem  neuen  Staate 
die  Sprache  der  überwiegenden  Mehrheit  war,  nicht  in  der  bisherigen 
Stellung  verbleiben  dürfe,  sondern  nach  und  nach  zum  eigentlichen  Organ 
der  einheimischen  Kultur  erhoben  werden  müsse.  Außer  der  veränderten 
Situation  trug  die  über  Schweden  nach  Finnland  gelangte  Romantik, 
welche  volle  Entwicklung  der  Individualität,  auch  der  nationalen  Indi- 
vidualität, forderte,  zur  Schaffung  finnisch-nationaler  Bestrebungen  bei. 
So  bahnte  sich  eine  —  anfangs  allerdings  unbestimmte  —  Bewegung  an, 
die  schon  damals  von  ihren  Gegnern  den  Namen  „Fennomanie"  erhielt, 
der  ihr  bis  zu  dieser  Stunde  geblieben  ist.  Diese  Ideen  der  finnischen 
nationalen  Bestrebungen  kamen  sowohl  in  der  schwedischen  als  in  der 
finnischen  Literatur  Finnlands  zum  Ausdruck. 

Es  war  natürlich,  daß  sich  diese  Bestrebungen,  soweit  sie  sich  in  Di< 
positiver  Arbeit  äußerten,  auf  die  Schaffung  einer  finnischen  Literatur  auch 
auf  anderen  Gebieten  als  dem  geistlichen,  auf  das  sie  sich  bisher  im 
wesentlichen  beschränkt  hatte,  richteten.  Einer  der  ersten  Bahnbrecher 
der  finnischen  Literatur  zu  dieser  Zeit  war  Jaakko  Juteini  (1781  — 1855), 
ein  Schüler  Porthans  und  ein  außerordentlich  produktiver  Schriftsteller, 
der  sich  in  seinem  Schaffen  sowohl  der  Versform  als  der  Prosa  bedient, 
ja  sich  sogar  im  Drama  versucht  hat.  Seine  Begeisterung  und  sein  Inter- 
esse waren  jedoch  größer  als  seine  künstlerische  Begabung;  selbst  von 
der  Philosophie  der  Aufklärung  durchdrungen,  war  sein  eigentliches  Haupt- 
ziel die  Erweckung  und  Aufklärung  des  niederen  Volkes.  Für  ein  höher 
gebildetes  Publikum  versuchte  auf  den  verschiedenen  Gebieten  der  Lite- 
ratur und  Wissenschaft  in  finnischer  Sprache  Carl  Axel  Gottlund  (1796 
— 1875)  zu  schreiben,  eine  unerschütterlich  energische,  aber  zugleich 
äußerst  eigenwillige  Persönlichkeit,  die  auch  in  formell  sprachlicher  Hin- 
sicht durchaus  eigene  Wege  g"ing  und  dadurch  ihre  Schriften  selber  für 
das  Publikum  fast  ungenießbar  machte.  Von  der  Anwendung  des  Finni- 
schen in  lyrischer  Dichtung  besitzen  wir  aus  dieser  Zeit  manche  sehr 
hübsche  Proben.  1834  erschien  sogar  ein  Trauerspiel  in  finnischer  Sprache, 
das  erste  seiner  Art:  eine  kunstlose  Bearbeitung  von  Shakespeares  Mac- 
beth, in  Finnland  lokalisiert  und  in  dem  alten  finnischen  Metrum  verfaßt, 
von  Jakob  Fredrik  Lagervall.  Finnische  Zeitungen  wurden  gegründet 
und  fanden  im  Volke  ziemlich  weite  Verbreitung. 

Zu  derselben  Zeit,  wo  man  das  Finnische  auf  den  verschiedenen  Ge- 


320 


Emil  Setalä:  Die  t'mnische  Literatur. 


bieten  anzuwenden  versuchte,  erwachte  auch  die  Frage  nach  der  Sprachform : 
sollte  man  sich  mit  der  oft  von  Svethizismen  durchtränkten  und  stilarmen 
Sprache  der  geistlichen  Literatur  begnügen,  oder  sollte  man  vielmehr  den 
reicheren  Dialekt  des  Ostfinnischen,  der  durch  die  Volkslieder  bekannt 
zu  werden  begann,  der  Schriftsprache  zugrunde  legen?  Aber  nicht  genug 
damit  tauchte  auch  eine  Richtung  in  Dingen  der  Sprachrichtigkeit  auf, 
die,  von  dem  Leitsatz  „schreib  wie  du  sprichst"  ausgehend,  dahin  führte, 
daß  jeder  anfing  seinen  eigenen  Dialekt  zu  schreiben.  Diese  Richtung, 
die  manche  Anhänger  gewann,  darunter  als  einen  der  eifrigsten  Gottlund, 
bedrohte  die  junge  finnische  Schriftsprache  mit  völliger  Zerrüttung  und 
beschwor  den  Kampf  herauf,  an  dem  sich  sowohl  die  Grammatiker  als 
die  Schriftsteller  beteiligt  haben,  und  nach  welchem  man  diesem  Zeit- 
abschnitte den  Namen  „Periode  des  Kampfs  der  Dialekte"  gegeben  hat. 
Bauern-  Zwel    dlcser  Periode    eigentümliche  Erscheinungen  müssen  noch   be- 

dicbtuiig.  . 

rührt  werden.  Die  eine  ist  die  Bauerndichtung,  die  sich  unter  dem  Em- 
fluß  der  alten  Dichtung  und  der  Gelegenheitsdichtung  der  Gebildeten 
schon  in  der  vorausgehenden  Zeit  geregt  hatte,  aber  erst  jetzt,  wo  offen- 
bar zunächst  die  von  Juteini  ausgehende  nationale  Erweckung  den  weiteren 
Anstoß  gab,  ihre  eigentliche  Blüte  erreichte.  Diese  bäuerlichen  Dichter, 
unter  denen  Paavo  Korhonen  (1775 — 1840)  der  hervorragendste  ist,  haben 
manches  recht  treffende  Gedicht,  vorzugsweise  auf  Verhältnisse  und  Er- 
eignisse in  ihrer  Heimat,  gemacht,  aber  mitunter  sogar  auch  allgemeinere 
Dinge  in  ihren  Liedern  behandelt;  unter  anderen  haben  sie  oft  von  der 
zurückgesetzten  Stellung-  der  finnischen  Sprache  gesungen.  Die  Gedichte 
der  bäuerlichen  Dichter  verbreiteten  sich,  meist  handschriftlich,  aber  auch 
gedruckt  ziemlich  weit,  jedenfalls  aber  können  sie  es  bei  der  allgemein 
beeinträchtigenden  Trockenheit  ihrer  Phantasie  nicht  annähernd  mit  der 
eigentlichen  Volkspoesie  aufnehmen. 
Einsammlung  Eine  zweite  eigentümliche  Erscheinung  bezeichnet  die  Einsammlung 

;er  Volkspoesie. 

der  Volkspoesie.  Die  Begeisterung  hierfür  schrieb  sich  zum  Teil  von 
den  Bestrebungen  zu  Porthans  Zeiten  her,  zum  Teil  war  sie  durch 
J.  G.  Herders  Werke  und  Schriften  hervorgerufen  worden.  Zu  den  eifrig- 
sten Sammlern  zählten  der  Sprachforscher  A.  J.  Sjögren,  der  früher  er- 
wähnte Gottlund,  der  Arzt  Z.  Topelius  senior  und  vor  allem  Elias  Lönnrot. 
So  wurde  hauptsächlich  das  Material  unter  Dach  gebracht,  das  nachmals 
Lönnrot  für  das  finnische  Nationalepos  verwendet  hat;  ein  Teil  der  Ergeb- 
nisse dieser  Sammelarbeit  wurde  in  bescheidenen  Heften  mehrere  Jahre 
hindurch  in  fortgesetzten  Publikationen  veröffentlicht. 

Kaievai.1.  V.  Die    Zeit    der    großen    geschlossenen    Werke    der    Volks- 

poesie und  der  neuen  nationalen  Erweckung  (1835 — 1860).  Die 
erste  Anregung  zur  Verschmelzung  der  finnischen  Volkslieder  zu  einem 
Ganzen  hatte  Elias  Lönnrot  (1802 — 1884)  des  hervorragenden  Gelehrten 
Reinhold  v.  Beckers  biographisches  Gemälde  von  Väinämöinen  gegeben, 


V.  Die  Zeit  der  großen  geschlossenen  Werke  der  Volkspoesie.  7  2  i 

in  dem  die  Einzelzüge  der  verschiedenen  Lieder  gesammelt  erschienen. 
Nach  mehreren  Versuchen,  alte  Lieder  des  finnischen  Volkes  zu  kleineren 
Einheiten  zusammenzufassen,  beschloß  Lönnrot  schließlich,  alle  epischen 
Lieder,  besonders  diejenigen,  in  denen  heidnische  Gestalten  auftreten,  zu 
einem  einheitlichen  Ganzen  zu  verarbeiten;  neben  den  epischen  Bestand- 
teilen verweitete  er  hierfür  zugleich  eine  große  Menge  von  lyrischen 
Gesängen  und  Zauberliedern.  Dieses  merkwürdige  Werk,  welches  all- 
gemein große  Aufmerksamkeit  erregte,  erschien  1835  im  Verlag  der  1831 
gegründeten  und  in  der  Folgezeit  um  die  finnische  Literatur  hoch  ver- 
dienten Finnischen  Literaturgesellschaft  unter  dem  Namen  „Kalevala"  und 
184g  in  einer  neuen,  bedeutend  erweiterten  Auflage. 

Mehr  als  einmal  ist  die  Frage  aufgeworfen  worden:  ist  das  Kalevala 
ein  Volksepos?  Natürlich  ist  es  kein  Volksepos  in  dem  Sinne,  daß  es  ein 
kollektives  Dichtwerk  des  Volkes  darstellte  und  daß  das  Volk  es  einmal 
in  dem  ganzen  Umfang  gesungen  hätte,  in  dem  es  uns  in  dem  gedruckten 
Kalevala  entgegentritt;  wie  schon  oben  ausgesprochen,  gibt  es  solche 
kollektiven  Dichtwerke  überhaupt  nicht,  auch  ist  es  undenkbar,  daß  ein 
Volk  ein  so  weitschichtiges  Werk,  wie  es  das  Kalevala  ist,  als  Ganzes  in 
seinem  Gedächtnis  hätte  aufbewahren  können.  Aber  es  ist  ein  Volksepos 
erstens  in  dem  Sinne,  daß  alle  seine  einzelnen  Teile  von  Männern  aus 
dem  Volke  —  nicht  von  Angehörigen  der  oberen  Stände  —  geschaffen, 
von  Geschlecht  auf  Geschlecht  vererbt  und  jeweils  ausgestaltet  worden 
sind  — ,  Lönnrots  eigene  Zutaten  waren  durchaus  belanglos.  Es  ist  ein 
Volksepos  ferner  in  dem  Sinne,  daß  die  karelischen  Sänger  bereits  vieles 
in  dem  Liedermaterial  verknüpft  hatten  und  daß  Lönnrot  in  der  Gruppie- 
rung und  Disposition  des  Stoffes  die  von  den  Sängern  angedeutete  An- 
ordnung befolgen  konnte.  Es  ist  auch  in  dem  Sinne  ein  Volksepos,  daß 
es  eine  außerordentlich  treffende  Schilderung  des  finnischen  Volkslebens 
und  zugleich  eine  großartige  Offenbarung  des  finnischen  Volksgeistes  dar- 
stellt. Was  dabei  von  Lönnrot  stammt,  ist,  daß  er  in  den  hauptsächlich  von  den 
Volkssängern  herrührenden  Rahmen  alle  ihm  zugänglichen  und  mit  dem 
Gegenstand  verträglichen  Volkslieder  einpaßte  und  so  ein  weit  umfang- 
reicheres Ganzes  entstehen  ließ,  als  je  ein  Volkssänger  geboten  hatte.  Und 
dabei  verfuhr  er  nicht  wie  ein  schaffender  Dichter  und  nicht  wie  ein  Wissen- 
schaftsmann, sondern  wie  ein  reproduzierender  und  verschmelzender  Volks- 
sänger. „Lönnrot  unterscheidet  sich",  sagt  von  ihm  Julius  Krohn,  „von 
seinen  Vorgängern  hauptsächlich  nur  dadurch,  daß  er  alle  Schätze  des 
Volksgesanges  in  unvergleichlich  höherem  Maße  kannte  als  irgend  einer 
von  diesen  und  somit  eine  viel  reichere  Quelle  besaß,  aus  der  er  schöpfen 
konnte.  Dazu  kommt  gewiß  noch  ein  durch  literarische  Bildung  ver- 
feinertes poetisches  Gefühl  bei  der  Wahl  der  Zutaten.  Andererseits  jedoch 
steht  Lönnrot  dennoch  auch  hierin,  was  die  Unbewußtheit  des  Schaffens 
betrifft,  seinen  Vorgängern  ganz  nahe.  Selten  ist  einer  von  diesen  im- 
stande, selbst  auch  nur  ein  mittelmäßiges  reines  Gedicht  zu  verfassen,  ob- 

DiE  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9.  21 


322 


Emil  Setäla:  Die  finnische   Literatur. 


gleich  sie  bei  der  Ausbildung  des  Gesanges  oft  einen  bewunderungswerten 
poetischen  Instinkt  zeigen."  Die  Komposition  des  Kalevala  ist  in  bezug 
auf  Haupthandlung  und  Einheitlichkeit  zwar  nicht  einwandfrei:  die  Epi- 
soden sind  im  Verhältnis  zur  Haupthandlung'  zu  breit  ausgesponnen,  in 
einigen  Punkten  finden  sich  störende  Wiederholungen  und  Widersprüche, 
aber  trotz  dieser  Mängel  ist  es  ein  packendes  Werk  dank  seinem  un- 
gekünstelten zarten  Naturgefühl,  seiner  frischen  Naturmalerei,  seiner  leben- 
digen Diktion  und  besonders  dank  der  treffenden  Charakterzeichnung  der 
handelnden  Personen. 
Kanteietar  und  Auf    die    Veröffentlichung    des    Kalevala    folgte    unter    dem    Namen 

andere    Volks- 

poesie.  „Kanteletar"  (1840)  eine  Sammlung  von  lyrischen  Liedern  und  nicht  für 
das  Epos  verwerteten  Balladen,  die  Lönnrot  in  derselben  Weise  durch  Ver- 
schmelzung der  einzelnen  Varianten,  allerdings  nur  zu  kleinen  Einheiten, 
redigiert  hatte.  Ferner  ließ  er  Sammlungen  von  Sprichwörtern,  Rätseln 
und  schließlich  an  seinem  Lebensabend  {1880)  eine  Sammlung  von  Zauber- 
liedern erscheinen.  Das  Kalevala  und  diese  anderen  Veröffentlichungen 
Lönnrots  wurden  die  Ecksteine  der  finnischen  Literatur,  die  von  früher 
her  nichts  hiermit  Vergleichbares  aufzuweisen  hatte. 
Die  neue  natio-  Die    Erschließung    der    finnischen    Geisteswelt   im   Kalevala    und    der 

übrigen  finnischen  Volkspoesie  gab  den  Anstoß  zu  einer  neuen  kräftigen 
nationalen  und  vaterländischen  Erweckung,  zu  einer  Erweckung,  die  dies- 
mal einen  großen  Teil  der  gebildeten  Stände  des  Landes  mit  sich  fortriß. 
Das  finnische  Vaterlandsgefühl  und  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit 
des  finnischen  Volkes  fand  damals  an  erster  Stelle  einen  Ausdruck  in  der 
schwedischen  Literatur  des  Landes;  sprachen  doch  die  gebildeten  Stände 
der  Zeit  alle  schwedisch.  Joh.  Ludv.  Runebergs  klassisch-harmonische 
Züge  tragende,  aber  der  finnischen  Muse  verwandte  schwedischsprachige 
Dichtung  entzündete  in  den  Gebildeten  des  Landes  Vaterlandsliebe  und 
Nationalgefühl.  Der  Hegeische  Philosoph  Johan  Vilh.  Snellman  rief 
durch  seine  vielseitige,  auch  schwedisch  geübte  schriftstellerische  Tätigkeit 
mit  überzeugender  Kraft  das  Interesse  an  sozialen  und  politischen  Fragen  in 
Finnland  wach;  besonders  gewann  er  einen  großen  Teil  des  gebildeten 
Publikums  für  den  Gedanken,  daß  es  eine  Lebensbedingung  für  das  finnische 
Volk  sei,  das  Finnische  zur  Sprache  der  Bildung  zu  machen  und  das  Volk 
zu  nationalem  Bewußtsein  zu  erwecken. 

Natürlich  mußte  diese  Erweckung  auch  auf  die  finnische  Literatur 
zurückwirken,  in  der  Versuche  in  verschiedenen  Richtungen  unternommen 
wurden.  Diese  Versuche  vermochte  sogar  das  Zensurverbot  einer  licht- 
scheuen und  reaktionären  Regierung  von  1850  nicht  zu  unterdrücken, 
welches  nur  religiöse  und  landwirtschaftliche  Schriften  auf  Finnisch  zu 
drucken  erlaubte,  obgleich  es,  so  unnatürlich  wie  es  war,  nicht  aufrecht 
erhalten  werden  konnte.  Weitere  Schöpfungen  von  höherem  Wert  ent- 
standen jedoch  neben  den  erwähnten  Werken  der  Volkspoesie  noch  nicht. 
Als  das  Hauptergebnis  der  Tätigkeit  dieser  Zeit   können  wir  nur  die  Be- 


VI.  Die  Neuzeit  (I^6o  bis  zur  Gegenwart).  523 

festigung  der  finnischen  Schriftsprache  betrachten  in  der  Weise,  daß  ihr 
traditionelles  westfinnisches  Äußere  beibehalten  wurde,  daß  sie  aber  eine 
starke  Bereicherung'  durch  ostfinnisches  Material  erfuhr  —  an  erster  Stelle 
verdanken  wir  Lünnrot  die  Erzielung-  dieses  günstigen  Resultates. 

VI.  Die  Neuzeit  (1860  bis  zur  Gegenwart).  Die  Neuzeit,  die  Zeit  der 
eigentlichen  Kunstpoesie  in  der  finnischen  Literatur,  beginnt  erst  mit  dem 
Auftreten  von  A.  Oksanen  und  Aleksis  Kivi,  deren  größere  Werke  in  den 
sechziger  Jahren  erschienen.  Zu  gleicher  Zeit  kam  die  nationale  Be- 
wegung immer  mehr  in  Aufschwung,  welcher  Umstand  auch  der  Literatur 
sein  Gepräge  aufdrückte;  als  der  energischste  Vorkämpfer  der  nationalen 
Sache  war  der  Historiker  und  Staatsmann  Yrjö  Koskinen  tätig,  der  Be- 
gründer der  historischen  Literatur  in  finnischer  Sprache  und  einer  natio- 
nalen Auffassung  der  einheimischen  Geschichte. 

Oksanen  —  ein  Pseudonym,  dessen  Träger  ein  Wissenschaftsmann,  oksan 
der  Professor  der  finnischen  Sprache  und  Literatur  August  Ahlqvist  (1826 
bis  i88g),  war  —  ist  der  erste  finnische  Kunstdichter  in  der  eigentlichen 
Bedeutung  des  Wortes.  Er  ist  nicht  sehr  produktiv  gewesen  —  die  lyri- 
schen Gedichte,  die  seine  strenge  Selbstkritik  der  Überlieferung  wert  er- 
achtet hat,  umfassen  eine  einzige  Sammlung,  den  Band  „Säkeniä"  (Funken). 
Aber  seine  Dichtung,  die  in  der  Klarzügigkeit  der  Form  und  der  Innigkeit 
des  Gefühls  einerseits  mit  der  Poesie  Runebergs,  anderseits  mit  der  des 
Kalevala  verwandt  ist,  ist  echte  Lyrik,  die  die  Empfindungen  und  Kämpfe 
eines  starken  Herzens  widerspiegelt:  seinen  bebenden  Schmerz  über  die 
niedrige  Stellung  des  finnischen  Volkstums,  seine  jubelnde  Zuversicht  auf 
den  Sieg  der  guten  Mächte  des  Rechts  und  der  Kultur,  den  quälenden 
Zweifel  in  der  beengten  Brust,  ja  bisweilen  die  Liebesglut  und  den  wilden 
Taumel  des  Genusses.  Und  besonders  in  formeller  Hinsicht  ist  seine  un- 
gezierte und  zugleich  kraftvolle  Poesie  geradezu  epochemachend  in  der 
finnischen  Literatur  geworden.  Während  Oksanens  eigener  Schaffenszeit 
erhob  sich  neben  ihm  als  lyrischer  Dichter  nur  Suonio  —  eigentlich  Suonio 
Julius  Krohn  (1835 — 1888)  —  seiner  Dichternatur  nach  ebenso  zart  und 
feinfühlig  als  Oksanen  männlich  und  kernig,  seiner  allgemeinen  Richtung 
nach  mehr  europäisch  und  allgemeinmenschlich,  obwohl  zugleich  vom 
finnischen  Nationalgeist  angeregt.  Beide  haben  sie  auch  sowohl  in  künstle- 
rischer als  in  wissenschaftlicher  Produktion   der  finnischen  Prosa   gedient. 

Die  bisher  originellste  Gestalt  der  finnischen  Literatur  ist  jedoch  Kivi. 
Aleksis  Kivi  (1834 — 1872),  wie  Lönnrot  der  Sohn  eines  Dorfschneiders, 
der  den  Typus  des  tawastländischen  Stammes  in  die  Literatur  eingeführt 
hat  wie  Lönnrot  den  karelischen.  Mit  der  Bibel  und  dem  Kalevala  als 
Ausgangspunkten  in  der  eigenen  Literatur,  mit  Homer,  Cervantes  und 
Shakespeare  als  Lehrmeistern  in  der  Weltliteratur,  mit  dem  tawastländi- 
schen, in  seiner  Jugend  noch  recht  primitiven  Volksleben  als  unversieg- 
licher  Quelle   machte   sich  Aleksis  Kivi   daran,    ein  Drama   in   finnischer 


324 


Emil  Setälä:  Die  finnische  Literatur. 


Sprache  zu  schaffen,  bevor  es  noch  eine  finnische  Bühne  gab.  Das  Kale- 
vala  schenkte  ihm  den  Vorwurf  zu  seinem  ersten  Schauspiel,  zu  der 
finsteren  Hamletgestalt  des  Kalevala,  „KuUervo";  aus  der  Bibel  und  dem 
daran  geknüpften  Glauben  seiner  Kindheit  erwuchs  das  von  religiöser  Be- 
geisterung verklärte  Bild  der  „Lea",  das  er  in  einem  mit  orientalischer 
Stimmung  gesättigten,  herrlichen  dramatischen  Gedicht  zeichnete.  Aber 
in  seiner  wirklichen  Größe  tritt  uns  Kivi  erst  als  Schilderer  des  tawast- 
ländischen  Volkslebens  in  der  unvergleichlichen  Volkskomödie  „Nummi- 
suutarit"  (Die  Schneider  der  Heide)  und  in  dem  umfangreichen  Roman 
aus  dem  Volksleben  „Seitsemän  veljestä"  (Die  sieben  Brüder)  entgegen. 
Wie  uns  Lönnrot  als  der  letzte  Volkssänger  ein  karelisches  Volksepos 
gegeben,  so  hat  Kivi  in  seinen  „Sieben  Brüdern"  sozusagen  ein  tawast- 
ländisches  Volksepos  geschaffen,  ohne  wie  Lönnrot  über  fertige  Arbeit 
des  Volkes  zu  verfügen  und  dessen  Komposition  benutzen  zu  können;  aber 
er  nahm  alles  aus  dem  Volke  selbst,  er  fühlte  alles  mit  dem  Herzen  des 
Mannes  aus  dem  Volke  und  sah  es  mit  dem  Auge  des  Mannes  aus  dem 
Volke,  sich  von  dem  zu  schildernden  nur  darin  unterscheidend,  daß  er  das 
Leben,  das  ihn  umgab,  anschaulich  zu  machen  verstand;  gerade  hierin  ist 
Aleksis  Kivi  unter  den  Schilderern  des  Volkslebens  vielleicht  einzig 
in  seiner  Art  in  der  Weltliteratur.  Allerdings  ist  die  Komposition 
nicht  tadellos,  zahlreiche  Episoden  werden  mit  epischer  Breite  aus- 
geführt, aber  trotzdem  verliert  die  Handlung  nie  ihr  Hauptziel  aus  dem 
Auge,  und  hin  und  wieder  entfaltet  sie  einen  wahrhaft  dramatischen 
Schwung  —  der  größte  Teil  des  Romans  ist  denn  auch  in  der  Form  des 
Dialogs  abgefaßt.  In  der  Kunst  der  Charakterisierung  einer  der  ersten 
Psychologen,  in  seinem  manchmal  zügellos  burlesken  Humor  unübertroffen 
dastehend,  hat  er  das  Leben  mit  unbestechlichem  Realismus  gezeichnet, 
unbedenklich  mit  allen  Kraftmitteln  der  tawastländischen  Volkssprache 
schaltend  und  waltend;  zugleich  aber  schimmert  durch  alles  der  idealistische 
Glaube  an  den  Sieg  der  Kultur  über  die  rohe  Kraft  der  Natur  wie  des 
Menschen,  und  die  Sprache  erhebt  sich  mit  ihren  stilistischen  Mitteln,  den 
homerischen  Vergleichen  und  Epitheten,  wie  mit  ihren  Klangmitteln,  der 
Alliteration  und  der  aus  der  Bibel  bekannten  von  dem  Gewöhnlichen  ab- 
weichenden Wortstellung  zu  hochpathetischer  Wirkung. 

Die  Kritik  der  Zeit  zollte  Kivi  nicht  die  verdiente  Anerkennung, 
und  die  Nacht  des  Wahnsinns  umschattete  seinen  Geist,  bevor  er  zur 
vollen  Entwicklung  gelangt  war;  in  der  Folgezeit  aber  ist  Aleksis  Kivi  — 
zusammen  mit  dem  Kalevala  —  der  Ausgangspunkt  für  alle  finnischen 
Prosaisten  geworden. 
Volks-  Die  literarische  Wirkung,  die  von  Aleksis  Kivi  ausging',  regte  Männer 

zu  schriftstellerischer  Tätigkeit  an,  die  selbst  den  breiteren  Schichten  des 
Volkes  angehören.  Ähnlich  wie  die  erste  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
mehrere  Bauerndichter  hervorbrachte,  so  traten  in  der  zweiten  Hälfte 
verschiedene  Männer  aus  dem  Volke  hervor,  die  sich  der  Form  der  Prosa- 


VI.  Die  Neuzeit  (1860  bis  zur  Gegenwart).  325 

erzählung-  bedienen.  Die  Produktion  dieser  Volksschriftsteller  —  speziell 
der  finnischen  Literatur  eigentümlich  —  nähert  sich  in  der  Lebenstreue 
der  eigentlichen  Volkspoesie,  wenn  sie  auch  nicht  deren  Naturfrische 
besitzt,  läßt  aber  zugleich,  besonders  in  Stil  und  Komposition,  Einflüsse 
von  Seiten  der  bewußten  Kunstdichtung  erkennen.  In  dieser  literarischen 
Form  begegnen  uns  mehrfach  mit  wirksamem  Realismus  und  psycho- 
logischer Wahrheit  gezeichnete  Bilder  aus  der  Welt  des  Volkes,  wiewohl 
der  Sinn  für  Komposition  gewöhnlich  zu  wenig  entwickelt  ist,  als  daß 
der  Erzähler  Längen  und  Schwächen  des  Aufbaus  zu  beseitigen  vermocht 
hätte.  Am  bekanntesten  ist  von  diesen  Schriftstellern  der  Landküster 
Pietari  Päivärinta  (geb.  1827),  der  bereits  in  vorgerücktem  Alter  wäh- 
rend einer  Krankheit  darauf  verfiel,  seine  eigene  anspruchslose  Lebens- 
geschichte zu  erzählen,  was  er  mit  einer  epischen  Objektivität  und  einer 
herzerquickenden  Offenheit  tat,  die  an  Groldsmiths  Landpfarrer  von  Wake- 
field  erinnert.  Er  hat  in  zahlreichen  Erzählungen  auf  eine  in  ihrer  Schlicht- 
heit tief  ergreifende  Weise  das  Volksleben  mit  seinen  Kämpfen  gegen 
Mangel  und  sittlich  schädigende  Kräfte  geschildert.  Unter  seinen  vielen 
Nachfolgern  finden  wir  auch  solche,  die  es  mit  außerordentlichem  psycho- 
logischen Scharfblick  und  tüchtiger  Gestaltungskraft  verstanden  haben,  uns 
in  das  Seelenleben  des  Volkes  einzuführen  (so  vor  allem  Kauppis-Heikki). 

Die    Anfänge    der    wirklich    mit    den    europäischen    literarischen    Be-  Dje  GeneraHon 

*->  ^  _^  der  achtziger 

strebungen  der  ausgeprägt  modernen  Gegenwart  in  lebendiger  Berührung  Jahre, 
stehenden  finnischen  Literatur  fallen  erst  in  die  achtziger  Jahre.  Das 
Dichtergeschlecht,  welches  sich  damals  regte  und  großenteils  unter  sich 
in  enger  Wechselwirkung  stand,  war  gleichfalls  bei  dem  Volke  selbst  in 
die  Schule  gegangen,  mit  dem  seine  Vertreter  meistens  enge  Fühlung 
hatten,  und  aus  dessen  Leben  die  meisten  die  Stoffe  zu  ihren  ersten  Her- 
vorbringungen entnommen  haben.  Das  Beispiel  Kivis  und  der  Volks- 
schriftsteller hatte  den  Blick  für  die  tief  menschliche  Seite  des  umgeben- 
den Lebens  geschärft  und  führte  dadurch  von  selbst  zum  Realismus.  Aber 
hierzu  kamen  die  starken  Einflüsse  des  Auslands,  zunächst  seitens  der 
skandinavischen,  aber  auch  der  französischen,  russischen  usw.  Literatur, 
Die  damalige  realistische  Richtung  der  ausländischen  Literatur  fand  an- 
fangs einen  außerordentlich  kräftigen  Widerhall  —  Hand  in  Hand  mit  dem 
einheimischen  Realismus  — ,  um  aber  bald  anderen  Strömungen  Platz  zu 
machen.  Der  gegenseitige  Zusammenhang,  den  wir  einigermaßen  bei  der 
erstmals  bewußt  nach  der  befruchtenden  Berührung  mit  Europa  strebenden 
Generation  der  achtziger  Jahre  beobachten  können,  ist  bei  der  nachfolgen- 
den Generation,  die  gleichsam  noch  vorwärts  tastet,  ohne  sich  selbst  zu 
finden,  nicht  zu  erkennen. 

Auf  dem  Gebiet  der  erzählenden  Dichtung  ist  der  hervorragendste    Erzählende 

°  °  Dichtung. 

Repräsentant  des  Geschlechts  der  achtziger  Jahre  und  der  ganzen  neueren  juhani  Aho. 
Zeit  Juhani  Aho  (geb.  1861).    Von  seinen  Vorgängern  hatte  er  den  treff- 
sicheren  Realismus   geerbt,   sein  Humor   und   seine   epische   Breite   waren 


'2  2  0  Emil  Setälä:  Die  finnische  Literatur. 

dem  Volkscharakter  eigene  Züge,  zugleich  aber  hatte  er  starke  Eindrücke 
von  der  damaligen  europäischen  Literatur  empfangen.  Von  der  Schilde- 
rung des  Volkslebens  ausgehend  hat  er  nach  und  nach  alle  Volksschichten 
des  Landes  in  den  Kreis  seiner  Darstellung  gezogen.  Seine  Stoffe  hat 
er  mit  besonderer  Vorliebe  solchen  Übergangszeiten  entnommen,  wo  die 
neue  Kultur  und  Bildung  und  die  ältere  Zeit  mit  ihren  Gewohnheiten 
aufeinander  stoßen.  Außer  in  den  ausgezeichneten  kleinen  Gemälden  ge- 
schieht dies  in  den  umfangreichen  Romanen,  in  denen  der  Kampf  zwi- 
schen dem  Christentum  und  dem  Heidentum  in  Finnland  oder  das  Ein- 
dringen der  religiösen  und  nationalen  Erweckung  ins  Volk  dargestellt  ist. 
Im  Roman  großen  Stils  beherrscht  er  jedoch  den  Stoff,  den  er  zu  sehr 
häuft,  nicht  genug,  seine  Hauptstärke  liegt  in  der  Stimmungsmalerei,  und 
am  abgeklärtesten  erscheint  seine  Kunst  im  Rahmen  des  „Spanes" 
(„Lastuja"),  des  kurzen  Stimmungsgedichts  in  Prosa  oder  des  Kulturbilds. 
Besonders  Hervorragendes  hat  Juhani  Aho  in  der  Naturschilderung  ge- 
leistet; keiner  hat  wie  er  mit  den  Mitteln  der  Sprache  die  träumerische 
Schönheit  der  finnischen  Seenlandschaft  und  den  wundermilden  Reiz  der 
hellen  Sommernacht  wiederzugeben  verstanden.  Mit  sein  größtes  Verdienst 
ist  die  Erhebung  des  finnischen  Stils  auf  die  Stufe  der  höchsten  künstle- 
rischen Vollendung:  breit,  geschmeidig  und  klar  schmiegt  er  sich  mit 
sprachlichem  Wohlklang  den  feinsten  Nüanzen  der  herrschenden  Stim- 
mung an;  sein  Stil  hat  denn  auch  erzieherisch  auf  den  modernen  finnischen 
Sprachgebrauch  überhaupt  eingewirkt. 

Mit  Juhani  Aho  in  seinem  dichterischen  Temperament  verwandt  ist 
Santeri  Ingman,  dem  in  mehreren  kleinen  Erzählungen,  besonders  den 
humoristischen,  manches  gelungen  ist,  was  als  Sittenschilderung  und  tref- 
fende feine  psychologische  Beobachtung  bleibenden  Wert  besitzt,  dessen 
Hauptverdienst  es  aber  ist,  den  finnischen  historischen  Roman  angebahnt 
zu  haben.  Er  hat  nämlich  in  ein  paar  umfangreichen  Romanbänden  die 
finnischen  Verhältnisse  des  i6.  Jahrhunderts  zu  schildern  unternommen  und 
dies  auf  eine  fesselnde  und  spannende  wie  auch  —  trotz  der  Blässe  und 
der  mangelnden  Sorgfalt  des  Stils  —  künstlerische  Weise,  besonders  in 
der  Situationsschilderung,  getan. 

Den  Gegensatz  zu  Juhani  Ahos  tendenz-  und  philosophieloser  Erzäh- 
lung bildet  Arvid  Järnefelts  literarische  Produktion.  Jämefelt  begann  mit 
einer  fesselnden  Kulturschilderung  der  Bestrebungen  und  Ideale  der  Jugend 
während  der  achtziger  Jahre,  wandte  sich  aber  danach  einer  schriftstelle- 
rischen Tätigkeit  zu,  die  sich  gegen  die  traditionellen  Anschauungen  rich- 
tete, sie  angriff  und  auch  verletzte,  und  bietet  statt  dessen  die  Ideale 
und  die  Askese  der  Tolstoischen  Weltanschauung  und  die  nachdrückliche 
Aufforderung  zur  Werktätigkeit  zugunsten  der  weniger  glücklich  Ge- 
stellten. Mit  jedem  Werk  ist  Arvid  Järnefelt  immer  mehr  von  der  Manier 
des  predigenden  Tendenzschriftstellers  zurückgekommen,  die  seine  ersten 
Werke    dieser    Richtung    beeinträchtigte,    und    hat    sich    immer    mehr    zu 


VI.  Die  Neuzeit  (1860  bis  zur  Gegenwart).  ^27 

einem  Schriftsteller  emporgearbeitet,  der  seine  Ideen  mit  künstlerischen 
Mitteln  ausdrückt,  so  daß  er  heute  unbedingt  in  die  Front  der  Vertreter 
der  finnischen  Literatur  zu  stellen  ist. 

Juhani  Ahos  breiter  und  klarer  Stil  hat  viele  Nachahmer  gefunden,  Pakkaia. 
doch  haben  sich  auch  gegenteilige  Bestrebungen  geltend  gemacht.  Juhani 
Ahos  weit  weniger  produktiver  Altersgenosse  Teuvo  Pakkala  hat  be- 
sonders in  seinem  letzten  Werk,  der  psychologischen  Schilderung  eines 
jungen  Weibes,  äußerste  Gedrungenheit  des  Ausdrucks  angestrebt,  die 
sich  unter  Beiseitelassung  der  Schilderung  des  Milieus  allein  auf  die  dar- 
zustellenden Personen  beschränkt  und  dabei  deren  Seelenleben  aus  den 
Situationen  oder  den  Stimmungen  und  Äußerungen  der  einzelnen  Figuren 
hervorleuchten  zu  lassen  versucht.  Sein  Bestes  hat  Teuvo  Pakkala  in 
Schilderungen  des  Lebens  des  Kleinstadtproletariats  und  besonders  der 
Psychologie  der  Kinder  gegeben. 

Über  die  Erzähler  der  jüngeren  Generation,  unter  denen  sich  auch  Erzähler  der 
mehrere  weibliche  hervorgetan  haben,  läßt  sich  zurzeit  noch  nichts  Ab-  Generation. 
schließendes  sagen.  Wir  finden  in  ihren  Produkten  viel  frisches  Streben; 
wir  sehen  sie  bemüht,  bald  eine  minutiöse  Analyse  der  Menschenseele  zu 
geben,  bald  die  wechselnden  Folgen  der  Stimmungen  festzuhalten,  bald 
das  Geschaute  zu  einem  sozialen  Roman  zu  gestalten,  bald  wiederum  mit 
jugendlichem  Trotz  die  Erhebung  des  Individuums  gegen  die  allgemeinen 
sozialen  Ideen  zu  schildern.  Wir  nennen  von  den  Vertretern  der  jungen 
Generation  zuerst  Volter  Kilpi,  den  Dichter  der  subjektiven  Empfindung, 
der  in  seinen  Gedichten  in  Prosa  Bathseba,  Parsifal  und  Antinous,  mehr 
Reflexionslyriker  als  Erzähler,  Gemälde  voll  farbiger  Glut  geschaffen  hat; 
seine  lyrisch  schwungvolle  Sprache  und  sein  Stil  zeigen  neben  teilweiser 
Unbeholfenheit  ein  bemerkenswertes  Gepräge  der  Originalität,  versteigen 
sich  aber  leicht  zur  Manieriertheit.  Von  den  Schriftstellerinnen  erwähnen 
wir  Maila  Talvio,  deren  kräftiges  Temperament  sich  immer  mehr  dem 
Gebiet  der  sozialen  Bestrebungen  zugewendet  hat,  ohne  daß  sie  jedoch 
in  ihren  Romanen  zu  künstlerischer  Reife  gelangt  wäre.  Und  wir  er- 
wähnen schließlich  den  Decknamen  Johannes  Linnankoski,  der  mit  einem 
recht  aufsehenerregenden  Reflexionsdrama  debütierte,  sich  aber  mit  seinem 
letzten  Buch,  dem  „Lied  von  der  feuerroten  Blume",  d.  h.  einem  hohen 
Lied  der  Liebe,  um  Haupteslänge  über  die  anderen  erhoben  hat.  Das 
Buch  schildert  in  romantischem  Licht  mit  feiner  Poesie  die  Liebe  eines 
Mannes  aus  dem  Volke,  eines  finnischen  Don  Juan  zum  Weibe,  eine  Liebe, 
die  sich  intensiv  von  einem  Gegenstand  auf  den  anderen  überträgt,  bis 
schließlich  ein  echtes  tiefes  und  beständiges  Gefühl  den  Helden  ganz  . 
überwältigt.  Obwohl  eingewandt  werden  kann,  daß  die  einzelnen  Bilder 
sich  fast  mit  zu  gleichartigen  Typen  aneinander  reihen  und  daß  der  Ge- 
schmack des  Verfassers  nicht  immer  sicher  in  seiner  Wahl  ist,  besitzt 
dieses  Buch  doch  Verdienste,  die  es  hoch  stellen:  es  verrät  mehr  Tem- 
perament, als  wir  bei  irgendeinem  anderen  finnischen  Schriftsteller  finden, 


328 


Emil  Setalä:  Die  finnische  Literatur. 


und  es  zeigt  eine  Frische   und  einen  Schwung   in    den  Schilderungen  und 
in  der  Darstellung,  der  den  Leser  mit  Zauberkraft  packt. 

Das  Drama  Das   Drama   ist   in   der  finnischen   Literatur  viel   spärlicher   vertreten 

als    die    erzählende    Dichtung.      Sein    hervorragendster    Bannerträger    war 

Minna  Canth.  Frau  Minna  Canth  (1844  — 1897),  die  gleichfalls  der  Dichtergeneration  der 
achtziger  Jahre  angehört,  und  zwar  als  einer  der  einflußreichsten  Geister, 
ja  teilweise  als  der  Mittelpunkt  derselben.  Auch  sie  begann  als  Künderin 
des  Volkslebens  mit  zwei  Volksdramen,  in  denen  Kivis  Vorgang  zu  ver- 
spüren war,  und  die  mit  ihrem  lebendigen  Witz  und  ihren  vortrefflichen 
Typen  von  großer  dramatischer  Begabung  zeugen.  Später  trat  sie  in 
ihren  Werken  als  Anwalt  des  Arbeitervolks,  der  Armen  und  besonders 
der  Frau  auf,  indem  sie  mit  greller  Farbengebung  soziale  Mißstände  ent- 
hüllte; dieselben  Ideen  verfocht  sie  auch  in  Novellenform.  In  ihren  letzten 
Schöpfungen  wiederum  spiegeln  sich  die  neuen  Richtungen,  die  in  der 
europäischen  Literatur  zur  Herrschaft  gelangt  waren,  die  romantische 
Gegenströmung  des  Realismus  sowie  die  Tolstoische  Weltanschauung-. 
Im  größten  und  wichtigsten  Teil  ihrer  Werke  war  Minna  Canth  Tendenz- 
schriftstellerin, und  mit  dieser  Tatsache  hängen  die  künstlerischen  Mängel 
zusammen,  die  ihrem  Schaffen  anhaften,  aber  auch  die  Kraft,  mit  der  sie 
auf  ihre  Zeitgenossen  wirkte.  Ihre  Tendenz  war  aber  nicht  von  der  Art, 
daß  ihre  Gestalten  abstrakte  Schemen  gewesen  wären,  sie  hat  wirkliche 
Menschen  gestaltet,  die,  wiewohl  die  Schilderung  mitunter  an  Einseitig- 
keiten litt,  stets  lebten  und  fühlten. 

Die  finnische  Bühne,  die,  von  früheren  gelegentlichen  Aufführungen 
abgesehen,  seit  1872  besteht  —  heute  unter  deai  Namen  Finnisches  National- 
theater bekannt  — ,  hat  unter  ihrem  talentvollen  und  energischen  Begründer 
und  Leiter  Kaarlo  Bergbom  (gest.  1906)  neben  dem  klassischen  Repertoire, 
den  Dramen  von  Shakespeare,  Moliere,  Ibsen  und  der  Moderne  die  Belebung 
des  originalfinnischen  Dramas  als  ihr  Spezialgebiet  betrachtet.  Für  diese 
Bühne  sind  eine  Menge  einheimische  Originalwerke  entstanden;  die  einen 
haben  nur  ein  kurzes  Leben  gehabt,  andere  haben  sich  einen  dauernden 
Platz  im  Spielplan  errungen.  Mehrere  der  früher  erwähnten  Schriftsteller, 
Arvid  Järnefelt,  Teuvo  Pakkala,  Santeri  Ingman,  sogar  auch  Juhani  Aho 
—  als  Dramatisator  eines  seiner  Romane  — ,  so  auch  die  später  als  Ly- 
riker zu  nennenden  Gebrüder  Leino,  haben  sich  auch  im  Bühnenstück 
versucht.  Doch  hat  es  keiner  der  Bühnenschriftsteller  zu  der  drama- 
tischen Kraft  Aleksis  Kivis  und  Minna  Canths  gebracht,  will  man  hier  nicht 
Gustaf  von  Numers  mitrechnen,  der  als  Dramatiker  eine  etwas  eigen- 
tümliche Stellung  einnimmt:  er  hat  seine  phantasievollen  und  leben- 
sprühenden Dramen  —  unter  denen  ein  Trauerspiel  mit  der  obengenannten 
Volksballade  „Elinas  Tod"  als  Thema  hervorragt  —  schwedisch  geschrieben, 
aber  unter  den  Auspizien  der  finnischen  Bühne  aufführen  lassen. 

Einige  neuere  finnische  Bühnendichtungen  sind  eher  lyrische  als  drama- 
tische   Schöpfungen  oder    eher  Buch-   als   Bühnendramen.     So    sind   Juho 


VI.  Die  Neuzeit  (1860  bis   zur  Gegenwart).  ^2g 

Heikki  Erkkos  dramatische  Dichtungen  nach  Motiven  aus  der  Bibel  und 
dem  Kalevala  reich  an  hoch  stimmungsvollen  lyrischen  Partien  und  an 
Reflexionslyrik,  zugleich  aber  ist  ihre  dramatische  Handlung  von  geringer 
Bedeutung.  Von  seinen  lyrischen  Dramen  überragt  „Aino",  deren  Motiv 
das  tragische  Schicksal  der  gleichnamigen  jungfräulichen  Gestalt  des  Kale- 
vala bildet,  mit  seiner  feinen  Poesie  und  seiner  vollendeten  Diktion  vieles, 
was  die  finnische  Literatur  hervorgebracht  hat.  Erkkos  dramatische 
Dichtungen  haben  trotz  ihres  lyrischen  Tones  auch  von  der  Bühne  aus 
zu  fesseln  vermocht;  dagegen  ist  es  nicht  gelungen,  Johannes  Linnankoskis 
Erstlingswerk  „Der  ewige  Kampf"  auf  die  Bühne  zu  bringen,  ein  Ge- 
dankendrama, das  an  Byrons  „Kain"  und  an  die  „Tragödie  des  Menschen" 
des  Ungarn  Madäch  erinnert  und  in  dem  der  Verfasser  im  Schicksale 
Kains  das  Ringen  des  Menschen  nach  Fortschritt  und  Harmonie,  die  er 
durch  den  Sieg"  über  sich  selbst  gewinnt,  schildert. 

Einen  breiten  Raum  nimmt  in  der  dichterischen  Produktion  der  neu-  Die  Lyrik. 
sten  Zeit  die  Lyrik  ein,  in  der  bei  uns  wie  anderswo  jene  allgemeinen 
Motive:  die  wechselnden  Empfindungen  des  Menschenherzens,  Heimat  und 
Vaterland,  der  Sieg  der  nationalen  Sache  und  der  große  Schmerz  des 
Vaterlands  beim  Hereinbrechen  der  äußeren  Not  ihren  Ausdruck  finden. 
Neben  leerer  Gefühlsaufwallung  und  Produkten  von  geringerem  Wert  hat 
diese  poetische  Gattung  auch  literarisch  wirklich  Vollwertiges  gezeitigt. 
Nur  einige  hervorstechende  Persönlichkeiten  seien  genannt. 

Paavo  Cajander  (geb.  1846),  der  Shakespeare-Übersetzer,  dessen  cajander. 
Übertragungen  sich  mit  den  besten  Übersetzungen  der  Werke  des  großen 
Briten  messen  können,  hat  auch  eigene  formell  vollendete,  ihrem  Inhalt 
nach  plastisch  großzügige  Gedichte  gedichtet.  Wir  finden  darunter  Bal- 
laden im  Geiste  Schillers  und  Uhlands,  Dichtungen,  die  von  hohem  vater- 
ländischem Pathos  oder  auch  von  tiefer  und  inniger  Stimmung  getragen 
sind;  seine  Leier  ist  nicht  tönereich,  aber  von  tiefem  Klang.  Er  wie  auch 
Kaarlo  Kramsu  (1855 — 1895),  ein  früh  dahingegangener  Dichter,  der  be-  Kramsu. 
sonders  wegen  seiner  auch  formell  hervorragenden  Balladen  nach  Themen 
aus  der  finnischen  Geschichte  Erwähnung  verdient,  gehören  zunächst  der 
Zeit  und  Richtung  an,  die  von  Oksanen  und  Suonio  ihren  Ausgang  nehmen. 
Ein  Sohn  dieser  Zeit  war  auch  J.  H.  Erkko  (1849 — 1906),  ein  außerordentlich  Erkko. 
begabter  Lyriker,  dessen  beste  Gedichte  einen  ähnlich  naturfrischen  und 
feinen  poetischen  Duft  ausströmen  wie  die  Blüten  der  Volksdichtung,  zu- 
gleich aber  von  einer  anmutigen  persönlichen  Kunst  zeugen.  Am  ech- 
testen zeigt  sich  seine  Poesie  in  seinen  frühesten  Werken,  Hirtenliedern, 
die  mit  ihrem  echten  Gefühl  und  ihrer  feinen  Ausdrucksform  einen  hohen 
Rang  in  der  dichterischen  Skala  einnehmen.  In  seinen  späteren  Liedern 
waltet  je  länger  je  mehr  die  Reflexionspoesie  ob,  der  auch  seine  oben- 
erwähnten Dramen  am  besten  zuzuzählen  sind. 

In  Erkkos  Gedichten  konnte    man   noch   manchmal   herausfühlen,   wie  Die  jüngeren 

„  .  ..  Lyriker. 

die  Form  mit  dem  Inhalt  rang.     Was  die  jüngste  Generation  von  der  äl- 


330 


Emil  Setälä:  Die  finnische  Literatur. 


teren  unterscheidet,  ist  die  große  formelle  Meisterschaft,  die  die  Form- 
gebung gleichsam  spielend  beherrscht.  Zu  dieser  sprachlichen  Meister- 
schaft hat  mit  seiner  wohlklingenden  und  farbenreichen,  obwohl  etwas 
flachen  Lyrik  Kasimir  Leino,  ein  Glied  der  Schriftstellergeneration  der 
achtziger  Jahre,  den  Weg  gebahnt.  Als  ihr  eigentlicher  Vollender  aber 
ist  der  jüngere  Bruder  des  Genannten,  Eino  Leino,  zu  betrachten.  Mit 
sehr  jungen  Jahren  hat  dieser  begonnen,  außerordentlich  fruchtbar  ist  er 
gewesen,  mag  auch  unter  seinen  Schöpfungen  manches  sein,  dem  kein 
langes  Leben  beschieden  ist.  Aber  schon  in  seinen  ersten  Liedern  hatte 
er  mit  einer  Sprache,  der  alle  Töne  zu  Gebote  stehen,  eine  echte  lyrische 
Inspiration  offenbart,  die  den  Leser  berauscht  und  mit  sich  fortreißt,  und 
die  Zahl  der  wirklichen  Kunstwerke  seiner  Lyrik  hat  sich  in  dem  Grade 
gemehrt,  wie  der  Dichter  fortgeschritten  ist.  Am  allerhöchsten  hat  sich 
Eino  Leinos  Kunst  erhoben  in  den  „Helkaliedern",  einer  Sammlung  von 
Balladen,  die  aus  derselben  Stimmung  geboren  sind  wie  die  Volks- 
balladen des  Mittelalters.  Sie  bieten  metrisch  dieselbe  Stilform,  die  das 
alte  Volkslied  verwendet,  und  sie  haben  sich  die  Errungenschaften  nutzbar 
gemacht,  die  die  im  Laufe  der  langen  Zeit  weiter  ausgebildete  Sprache 
des  Volksliedes  gezeitigt  hat,  aber  zugleich  erscheinen  Komposition  und 
Stil  durch  die  Mittel  einer  bewußten  Kunst  verklärt. 

Von  den  übrigen  jungen  I^yrikeni  —  unter  ihnen  sind  auch  mehrere, 
die  poetisch  Wertvolles  geschaffen  haben  —  nenne  ich  schließlich  nur 
noch  O.  Manninen,  der  eine  kleine,  aber  für  die  finnische  Literatur  hoch 
bedeutende  Sammlung  überaus  kunstvoller  Gedichte  veröffentlicht  hat  und 
der  außerdem  als  Moliere-,  Heine-  und  Runeberg-Ubersetzer  aufgetreten 
ist  —  oder  sagen  wir  lieber,  deren  Werke  mit  einer  Fertigkeit  und  Vir- 
tuosität finnisch  umgedichtet  hat,  die  in  unserer  I^iteratur  nicht  ihres- 
gleichen hat. 
'•  In  Übersetzungen   hat  sich  die   finnische  Literatur  auch  das  Beste  zu 

eigen  zu  machen  versucht,  was  die  Weltliteratur  zu  bieten  hat;  vieles 
fehlt  natürlich  noch,  aber  viel  ist  auch  schon  getan. 

Auch  auf  den  verschiedenen  Gebieten  der  Wissenschaft  ist  die  fin- 
nische Sprache  angewandt  worden;  obwohl  mehrere  dieser  Gebiete,  die  der 
Geschichte,  Literaturgeschichte,  Kunstgeschichte,  Philosophie  usw.,  aller- 
dings der  Nationalliteratur  zuzurechnen  sind,  lassen  wir  sie  hier  beiseite. 
Zeitschriften  für  allgemeine  Bildung:  Literatur,  Wissenschaft,  Kunst,  soziale 
und  politische  Angelegenheiten  existieren,  im  Anschluß  an  vereinzelte 
frühere  Unternehmen,  dauernd  seit  1866;  in  den  letzten  Zeiten  sind  immer 
mehr  SpezialZeitschriften  für  wissenschaftliche  und  soziale  Sonderinteressen 
ins  Leben  getreten. 

Durch  die  Kulturarbeit,  die  auf  den  verschiedenen  Gebieten  geleistet 
worden  ist,  hat  sich  die  finnische  Sprache  zu  einer  allseitigen  Kultur- 
sprache ausgebildet  —  dies  ist  eine  der  wichtigsten  Errungenschaften  der 


VI.  Die  Neuzeit  (1860  bis  zur  Gegenwart).  571 

bisherigen  Tätigkeit.  Die  Arbeit,  der  in  der  Entwicklung  anderer  Völker 
eine  lange  Zeit  hat  gewidmet  werden  können,  mußte  schnell,  eigentlich 
im  Verlauf  einiger  weniger  Jahrzehnte  getan  werden.  Brachte  doch  die 
finnische  Literatur  in  literarisch  fixierter  Form  erst  im  Kalevala  die  erste 
bemerkenswerte  originale  Schöpfung  hervor,  und  danach  hat  innerhalb 
siebzig  Jahren  die  Entwicklung  vom  Stadium  der  Folklore,  vom  Volksepos 
zu  einer  zum  Niveau  der  modernen  Richtungen  des  heutigen  Europa  em- 
porstrebenden Literatur  vollzogen  werden  müssen.  Diese  Entwicklungs- 
arbeit ist  ermöglicht  worden  durch  die  Kultur  der  Sprache  und  Dichtung, 
an  der  das  Volk  selbst  seit  unvordenklichen  Zeiten  in  seiner  Poesie  ge- 
schaffen hat.  Es  offenbart  sich  darin  denn  auch  der  der  finnischen  Literatur 
ureigene  Zug,  daß  sich  zu  allen  Zeiten  Leute  aus  den  tiefsten  Schichten 
des  Volkes  mit  in  literarischem  Schaffen  betätigt  haben,  imd  das  Beste, 
was  Finnland  bisher  in  der  Literatur  hervorgebracht  hat,  ist  aus  dem 
Schöße  des  Volkes  selbst  hervorgegangen.  Die  finnische  I^iteratur  ist  in 
der  wirklichen  Bedeutung  des  Wortes  eine  demokratische  Literatur.  Der 
Mangel  einer  Aristokratie  finnischer  Sprache  verhinderte  in  früherer  Zeit 
die  Entstehung  einer  schriftlich  überkommenen  Literatur;  die  einzigen 
Aristokraten  waren  im  Volke  diejenigen,  die,  obwohl  an  Bildung  ihrer 
Umgebung  gleichstehend,  den  Kuß  der  Muse  empfangen  hatten,  die  die 
Gabe  besaßen,  auszudrücken  und  anschaulich  zu  machen,  was  in  den  an- 
deren lebte.  Auch  ohne  Schrifttum  behauptete  sich  diese  Dichtung,  die 
Sprache  ausbauend  und  den  poetischen  Sinn  des  Volkes  ausbildend,  und 
sie  hat  auch  das  Auftreten  der  Bauerndichter  der  neueren  Zeit  und  der 
anderen  Volksschriftsteller  ermöglicht.  Die  Zeit  der  Volksdichter  und 
Volksschriftsteller  scheint  dahingeschwunden  zu  sein.  Es  ist  die  Zeit  ge- 
kommen, wo  die  „chinesische  Mauer"  gegen  Europa  bis  auf  den  Grund 
fallen  muß,  wo  man  erwarten  darf,  daß  die  tief  im  Linern  des  Volkes 
schlummernde  dichterische  Kraft  mit  den  bewußten  Mitteln  der  Kunst 
ihren  Ausdruck  finden  wird. 


Literatur. 

Die  wichtigste  Arbeit  über  die  finnische  Literaturgeschichte  liefert  J.  Krohn  in  seinem 
Werk  „Suomalaisen  kirjallisuuden  vaiheet"  (=  Die  Schicksale  der  finnischen  Literatur,  1877). 
Eine  kurzgefaßte  Übersicht  über  dieselbe  gibt  B.  F.  GoDENHJELM,  Oppikirja  suomalaisen 
kirjallisuuden  historiassa''  (1904),  englisch  von  E.  D.  BUTLER  unter  dem  Titel  „Handbook  of 
the  history  of  Finnish  Literature"  (London,  1896).  Eine  deutsche  Übersicht  finden  wir  in 
Ernst  Brausewetters  „Finnland  im  Bilde  seiner  Bildung  und  seiner  Dichter"  (1899). 
Grundlegend  für  die  Volkspoesie,  aber  etwas  veraltet,  ist  J.  Krohn,  Suomalaisen  kirjalli- 
suuden historia.  I.  Kalevala  (=  Finnische  Literaturgeschichte,  l.  Kalevala,  1885;  auch  eine 
schwedische  Übersetzung  existiert).  Auf  der  Höhe  der  Forschung  stehen  J.  Krohn,  Kan- 
telettaren tutkimuksia  (=  Kanteletar-Forschungen),  hrsg.  von  K.  Krohn(I90o)  und  K.  KROHN, 
Kalevala-runojen  historia  (Geschichte  der  Kalevala-Runen)  I — IV  (1903—6). 

Einige  speziellere  Hinweise  mögen  hier  hinzugefügt  werden. 

S.  309.  Über  die  finnisch- baltischen  Berührungen  siehe  Thomsen,  Beröringer  mellem 
de  finske  og  de  baltiske  Sprog  (1890),  über  die  finnisch-germanischen  Beziehungen  Thomsen, 
Einfluß  der  germanischen  Sprachen  auf  die  finnisch-lappischen  (1870)  und  SetäLÄ,  Zur  Her- 
kunft und  Chronologie  der  älteren  germanischen  Lehnwörter  in  den  ostseefinnischen 
Sprachen  (1906). 

S.  313.  Über  die  Zauberlieder  siehe  K.  Krohn,  Wo  und  wann  entstanden  die  finni- 
schen Zauberlieder  (Finnisch-ugrische  F'orschungen,  Zeitschr.  hrsg.  von  Set,\lä  und  K.  Krohn, 
I-II). 

S.  321.  Siehe  J.  Krohn,  Die  Kalevala  vom  ästhetischen  Standpunkt  betrachtet;  D.  COM- 
p.\retti,  II  Kalevala  (1891),  deutsch:  Der  Kalevala  (1892);  K.  Krohn,  Zur  Kalevalafrage 
(Finnisch-ugrische  Forschungen,  L  Anz.  S.  185)  und  die  daselbst  zitierte  Literatur. 

S.  330.  Von  literarischen  Zeitschriften  sind  zu  erwähnen:  Kirj allinen  kuukauslehti 
(=  Literarisches  Monatsblatt)  (1866— 1880)  und  Valvoja  (=  Der  Wächter)  (1881  bis  zur 
Gegenwart),  in  welchen  das  Wertvollste  der  finnischen  Literatur  angezeigt  worden  ist. 

Von  den  Kalevala- Übersetzungen  seien  die  deutschen  von  SCHIEFNER  (1852)  und 
H.  Paul  (1885 — 6)  erwähnt;  der  letztgenannte  hat  auch  die  Kanteletar  (1882)  ins  Deutsche 
übertragen.  Sonst  existieren  deutsche  Übersetzungen  einiger  Werke  von  PäivaRINTA,  Ju- 
HANi  Aho  (Novellen,  EUis  Ehe,  Panu  u.  a.)  und  Arvid  Järnefelt  ;  auch  liegt  eine  bisher  un 
gedruckte  deutsche  Übersetzung  von  Aleksis  Kivis  ,, Sieben  Brüdern"  von  Dr.  G.  Schmidt  vor. 


DIE  ESTNISCHE  LITERATUR. 

Von 
Gustav  Suits. 


Einleitung.  Dem  deutschen  Publikum  gegenüber  dürfte  die  est- 
nische Literatur  schon  wegen  ihres  durch  direkte  und  nachhaltige  deutsche 
Einwirkungen  bedingten  historischen  Werdeganges  ein  gewisses  Inter- 
esse beanspruchen,  um  so  mehr  zu  einer  Zeit,  wo  die  „Nationalitäten- 
frage" in  den  Ostseeprovinzen  Rußlands  politische  und  kulturelle  Bedeu- 
tung gewonnen  hat:  wo  es  sich  um  eine  mit  Unerbittlichkeit  sich  voll- 
ziehende Umgestaltung  der  Machtverhältnisse  zwischen  dem  dortigen  bal- 
tisch-deutschen Element  und  der  indigenen  Bevölkerung,  d.  h.  den  Esten 
und  Letten  handelt.  Lidessen  ist  man  über  die  Verhältnisse  dieser  empor- 
kommenden Völker  im  allgemeinen  noch  sehr  wenig  orientiert,  und  auch 
das  wenige,  was  von  ihnen  verlautet,  zeigt  sich  nicht  selten  von  manch  irre- 
führender Phantasterei  umnebelt.  So  wird  es  denn  wohl  nicht  überflüssig 
sein,  der  Skizze  der  estnischen  Literatur  einige  notwendigste  Daten 
über  dieses  Volk  selbst  und  seine  Geschichte  vorauszuschicken. 

Die    Esten    sind    ein    „westfinnisches"    oder    „ostseefinnisches"    Volk,  Abstammung 

"  '  und  Sprache 

dessen   Sprache   bei   all    ihren  Variationen  nur  eine   Mundart   des  jenseits     Jer  Esten, 
des    Meerbusens    in    Finnland    gesprochenen    Idioms    darstellt :    wenn    der 
Gang  der  Geschichte  ein  anderer  gewesen   wäre,    so  hätten  Finnisch  und 
Estnisch    vielleicht    ebenso    zu    einer    gemeinsamen    Literatursprache    ver- 
schmolzen werden  können  wie  die  vielen  deutschen  Dialekte.     Als  Grund-  Wohnsitz  der 

Esten. 

und  Urbevölkerung  haben  die  Esten  die  ganze  Provinz  Estland  inne, 
ebenso  bewohnen  sie  in  zusammenhängenden  Massen  die  ganze  nördliche 
Hälfte  Livlands  und  die  benachbarten  Inseln.  Eine  west-östlich  gerichtete 
Linie  von  der  südlichen  Spitze  des  Peipussees  bis  an  den  Rigaschen 
Meerbusen  bezeichnet  ungefähr  die  Sprachgrenze,  auf  welcher  sie  mit 
den  Letten  zusammenstoßen.  Außerhalb  dieses  Gebiets,  des  eigentlichen 
Wohnsitzes  der  Esten,  finden  sich  noch  sporadische  estnische  Kolonien  in 
verschiedenen  Gouvernements  Rußlands.    Die  Gesamtzahl  der  Esten  beläuft  Gegenwärtige 

Zahl  der  Esten. 

sich  gemäß  der  letzten  Volkszählung  vom  Jahre  1897  auf  1002738  Indi- 
viduen, welches  einen  beträchtlichen  Zuwachs  gegen  frühere  etwa  600  000 


334 


Gustav  Sluts:  Die  estnische  Literatur. 


Baltisch- 
deutsches 
Element. 


Politisch-soziale 
Entwicklung. 


Estnische 
Volkspoesle 


um  die  Mitte  des  ig.  Jahrhunderts  bedeutet.  Nebst  ursprünglichen  Ein- 
wohnern des  Landes  kommen  in  geringerer  Anzahl  Deutsche,  Russen  und 
Schweden  vor.  Was  die  ersteren  betrifft,  so  gibt  es  hier  durchaus  kein 
deutsches  Volk;  nur  der  Adel,  die  Stammbürger  der  Städte  und  ein  Teil 
der  Geistlichkeit  sind  deutsch,  resp.  deutschsprechend.  Das  Vorhanden- 
sein deutschen  Elementes  in  den  Ostseeprovinzen  sowie  die  überragende 
Machtstellung  desselben  viele  Jahrhunderte  hindurch  erklärt  sich  aus  den 
historischen  Geschicken  des  Landes.  An  der  Wende  des  u.  Jahrhunderts 
erschienen  Kreuzfahrer  aus  Deutschland  in  Livland.  Die  Eingeborenen, 
in  jener  Phase  der  politischen  Entwicklung  angegriffen,  welche  der 
Bildung  eines  monarchischen  Staatsorganismus  vorausging,  mußten  der 
überwiegenden  Waffengewalt  der  Schwertritter  erliegen  und  wurden  von 
diesen  auf  lange  Zeiten  in  die  härteste  Sklaverei  geschlagen.  Erst  nach 
der  Auflösung-  des  deutsch-livländischen  Ritterstaates  erhoben  die  fremden 
Regierungen,  denen  das  Land  anheimfiel,  ihre  Stimmen  zugunsten  des 
unterjochten  Bauemvolkes.  Die  schwedische  griff  energischer  durch  als 
die  polnische,  indem  sie  bestrebt  war,  auch  in  den  Ostseeprovinzen  eine 
ähnliche  Entwicklung  anzubahnen  wie  in  Finnland,  wo  die  Eroberer  das 
unterworfene  Volk  ihrer  eigenen  Gesetze  und  Zivilisation  teilhaft  machten. 
Allein  die  Kriege,  in  welche  Karl  XII.  den  ganzen  Norden  stürzte,  ließen 
jene  Bestrebungen  wieder  ins  Stocken  geraten.  Und  Peter  der  Große, 
der  die  Anhänglichkeit  der  neuerworbenen  Provinzen  für  sich  gewinnen 
wollte,  gestand  dem  Adel  als  damaligem  politischen  Machtfaktor  derselben 
alle  seine  früheren  Privilegien  zu.  So  kam  im  Beginn  des  1 8.  Jahrhunderts 
alles  wieder  auf  den  alten  Fuß.  Erst  gegen  Ende  des  philosophischen 
und  revoltierenden  Jahrhunderts  wurde  die  Bauernfrage  von  neuem  an- 
geregt, allein  die  Schlichtung  derselben  zog  sich  noch  in  die  Länge  hin. 
Es  bedurfte  kapitalistischer  Umgestaltung  der  Produktionsverhältnisse  wie 
auch  wiederholter  Bauernaufstände,  bis  die  Emanzipation  im  Verlauf  des 
19.  Jahrhunderts  endlich  durchgeführt  wurde,  wonach  eine  natürlichere 
Entwicklung  ihren  Anlauf  nehmen  konnte. 

Es  darf  uns  also  nicht  wundernehmen,  wenn  wir  von  einem  Schritt- 
tum  bewußt  estnischer  Prägung,  von  einer  estnischen  Nationalliteratur,  eigent- 
lich nicht  früher  reden  können  als  seit  dem  Mündigwerden  des  Estentums 
im  19.  Jahrhundert.  Nichtsdestoweniger  reichen  die  ältesten  Denkmäler 
der  estnischen  Sprache  in  ein  ziemlich  hohes  Alter,  bis  in  das  13.  Jahr- 
hundert hinauf.  Freilich  sind  jene  Sprachdokumente  eher  in  philologischer 
Hinsicht  als  für  die  Entwicklung  der  Literatur  von  Bedeutung.  Wir  haben 
jedoch  eine  zu  großem  Reichtum  angewachsene  mittelalterliche  dichterische 
Produktion  der  Esten  hervorzuheben:  ihre  traditionelle  Volkspoesie,  ihre 
„ungeschriebenen  Bücher". 


Die  Frage  nach 
der   Entstehung 

"^  voiks^es'ic!'"  Esten    an    folkloristischen  Schätzen    aus    grauer  Vorzeit    an    ihren    gegen- 


I.    Das  katholische  Zeitalter  (13.   bis   16.  Jahrhundert).     Was    die 


I.  Das  katholische  Zeitalter  (13. — 16.  Jahrhundert).  tt: 

wärtigen  Wohnort  am  Baltischen  Meere  mitgebracht  haben,  läßt  sich  mit 
genügender  Zuverlässigkeit  nicht  ermitteln.  In  den  letztverflossenen  Jahr- 
zehnten hat  sich  immer  schroffer  die  Ansicht  erhoben,  welche  die  Ent- 
stehung der  finnisch-estnischen  —  wie  auch  der  germanisch-skandinavischen 
—  Sagen  und  Lieder  in  verhältnismäßig  späte  Zeit  und  oft  unter  christ- 
lichen Einfluß  zu  rücken  sich  bestrebt  hat.  In  der  vorliegenden  kleinen 
Skizze  kann  hierauf  nicht  näher  eingegangen  werden;  auf  Grund  der 
neueren  Forschung  dürfen  wir  aber  jedenfalls  mit  einer  gewissen  Sicher- 
heit annehmen,  daß  die  estnische  Volksphantasie  sich  hauptsächlich  wohl 
erst  im  Zwielicht  des  Katholizismus  und  Heidentums  produktiv  entfaltet  hat. 

Mit  ihrem  prunkvollen  Gottesdienst,  lateinisch  gemurmelten  Gebet- 
formeln, Legenden  und  Apokryphen  war  die  katholische  Kirche  gewiß 
g-eeignet,  auf  naive,  unwissende  Landeskinder  Eindruck  zu  machen  und 
unter  ihnen  eine  ganz  eigenartige  heidnische  Reaktion  hervorzurufen. 

Was  nun  die   religiösen  Vorstellungen   der  Esten  betrifft,   so  weichen  Religiöse  vor- 
hierüber    die   Ansichten   noch    wesentlich   voneinander   ab.     Während    vor       Esten, 
einer  noch  nicht  langen  Zeit  phantasievolle  Schriftsteller  uns  über  allerlei 
„heidnische  Herrlichkeiten"  zu  berichten  wußten  und  in  Bausch  und  Bogen 
sogar  behauptet  wurde,  die  Esten  seien  bereits  Monotheisten  gewesen,  ist 
die    heutige    wissenschaftliche    Forschung    durch    eine    schärfere    Prüfung 
immer  mehr  und  mehr  zu  der  Einsicht  gelangt,  daß  die  altestnische  Religion, 
welcher  ursprünglich  der  Totenkultus  zugrunde  gelegen  haben  wird,  sich 
nie  zu  jener  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  von   mythenbildender  Konzeption 
entwickelt  hat,  wie  etwa  die  skandinavische  oder  auch  die  finnische  Mytho- 
logie.    Als    charakteristisch    dürfte    wohl    auch    die    Tatsache    bezeichnet     Finnisch- 
werden,   daß  fast   sämtliche  Zauberlieder  der  Esten   ursprünglich  in  Finn-  Beziehungen. 
land  entstanden  und  den  Esten  erst  durch  Entlehnungen  zugekommen  sind. 
Dagegen  entstammt  aber  der  größere  Teil  der  finnisch-estnischen  epischen 
Lieder    dem    estnischen  Sprachgebiet   und    ist  von   dort  aus  durch  münd- 
liche   Kommunikationen    nach    Finnland    verbreitet    worden,    so    daß    den 
Esten  solchergestalt    z.  B.  am  StofFbestande    des    finnischen  Kalevala    ein 
sehr  beträchtlicher  Anteil   zufällt.     Dieser   auffallende   Austausch    herüber 
und  hinüber  hat  nicht  nur  dank  der  nahen  geographischen  Lage  und  Ver- 
wandtschaft   der  Sprachen  beider   sich  leicht  vermittelt,    sondern  ist  auch 
durch    die    Gleichheit    des    althergebrachten,    beiden    gemeinsamen    Vers- 
maßes, dessen  Grundlage  die  vierfüßige  trochäische  Zeile   mit  schwachem 
Ausgange  bildet,  und  andere  Homogenitäten  im  voraus  begünstigt  worden. 
Nebst    den    sowohl    folkloristisch    wie    dichterisch   bedeutenden    epischen    Gattungen 
Liedern  schließt  der  Kreis  der  estnischen  Volkspoesie  zahlreich  vertretene  voikspoesie. 
und  in  mancher  Hinsicht  bemerkenswerte  Gattungen  von  Märchen,  Sprich- 
wörtern,   Rätseln    usw.  in    sich,     Ihre    innerste  Seele,   ihre   zarteste  Blüte 
und  ihr  größter  Reichtum  tritt  uns  jedoch  erst  in  der  Lyrik,    dem  eigent- 
lichen Volksliede,  entgegen. 

Nicht    auf  ewig   heiteren   musischen  Gefilden  ist  das  estnische  Volks-  ^^Voiffued?''* 


2-y()  Gustav  Suits:  Die  estnische  Literatur. 

lied  entsprossen:  Not  und  Kampf  haben  dieses  Volk  singen  gelehrt,  eine 
traurige  Feierlichkeit  liegt  über  seiner  Dichtung.  Und  es  ist  keine  rosige 
l'art  pour  l'art-Dichtung  die  eines  expropriierten,  übervorteilten  „vierten 
Standes":  es  steckt  oft  eine  scharfe  soziale  Kritik  in  seinen  Tristien.  Es 
werden  oft  phantasievolle  Bilder  vorgemalt,  wie  Herr  und  Knecht  die  Rollen 
tauschen,  wie  der  Dienende  sich  auf  eigene  Hand  die  Gerechtigkeit  ver- 
scliafft.  Ebenso  klagt  das  von  den  Seinigen  selbst  mißhandelte  und  ver- 
lassene Waisenkind  sein  Leid  an  der  Mutter  Grab  und  hört  Trostesworte 
heraufklingen.  Aber  das  Lied  dient  gelegentlich  auch  zum  Ausdruck  der 
Freude:  wenn  es  hell  aufjauchzt  auf  dem  Spielplatze  der  Jugend,  dem 
Dorfanger,  oder  das  Glück  der  Hochzeit  verherrlicht.  Im  allgemeinen 
hat  die  Ader  dieser  Dichtung  sich  so  voll  und  ergiebig  ergossen,  daß  es 
wirklich  wenige  Momente  im  Leben  des  Estenvolkes  gibt,  welche  im 
Liede  nicht  ihre  poetische  Behandlung  gefunden  hätten.  So  ertönt  das 
Volkslied,  von  den  Fremden  verachtet,  von  den  Esten  selbst  hochgeschätzt, 
durch  alle  Wandel  der  Zeiten  bis  in  das  i8.  Jahrhundert  hinein.  Wie 
sich  dann  neue,  absorbierende  Einflüsse  geltend  machten  und  wie  die  ver- 
schwindenden Überlieferungen  des  Volkes  für  die  Nachwelt  und  wissen- 
schaftliche Forschung  gerettet  wurden  —  darauf  werden  wir  noch  Gelegen- 
heit haben  zurückzukommen. 
Anfange  Daß   die    Esteu    in    heidnischer    Zeit    eine    Schrift    gehabt    hätten,    ist 

estnischen 

Schrifttums,  nicht  wahrscheinlich,  wenn  sie  auch  immerhin  durch  eigenartige  Zeichen 
dem  Gedächtnis  in  gewissen  Fällen  zu  Hilfe  gekommen  sein  mögen,  wie 
solches  z.  B.  die  sogenannten  sirddlaiiad,  d.  i.  Kalenderstäbe,  andeuten. 
Die  Anfänge  des  estnischen  Schrifttums  stehen  allerdings  erst  mit  der 
fremden  Eroberung  und  Einführung"  des  Christentums  in  Zusammenhang. 
Was  hat  denn  das  estnische  Schrifttum  an  Sprach-  und  Schriftdenkmälern 
in  dem  Zeiträume  vom  13.  bis  in  das  16.  Jahrhundert  aufzuweisen?  Es 
sind  keine  in  estnischer  Sprache  verfaßten  schriftlichen  Dokumente  aus 
jener  Zeit  vorhanden:  nur  einige  in  kulturhistorischer  und  philologischer 
Hinsicht  interessante  Brocken  haben  sich  aus  gewissen  alten  Urkunden 
sammeln  lassen.  Vor  allem  verdient  Erwähnung  eine  Chronik  aus  den 
Origtnes  Anfangsjahrzehuteu  des  13.  Jahrhunderts:  Origmes  Livoiriae,  geschrieben 
von  einem  zum  Priester  herangebildeten  Landeseing-eborenen,  Heinrich 
dem  Letten.  Nebst  äußerst  wichtigen  und  charakteristischen  Aufklärungen 
über  die  Eroberungsgeschichte  und  damaligen  Kulturzustände  der  Esten 
haben  sich  in  seinem  Werke  manche  altestnischen  Namen  und  Sprach- 
beispiele aufbewahrt.  Als  das  Zweitälteste  Denkmal  der  estnischen  Sprache 
ist  ein  dänisches  Zinsbuch,  der  sogenannte  Libcr  ccnsus  Daniac  (oder 
Koiig  Valdemars  Jordebog)  zu  bezeichnen;  ein  etwa  um  1240  abgefaßter 
Teil  desselben  bezieht  sich  auf  Estland  und  enthält  über  500  estnische 
Ortsnamen.  Die  Einführung  des  Christentums  war  hierzulande  an  und 
für  sich  jedoch  kein  Sporn  zur  Literatur.  Während  übrigens  noch  Hein- 
rich  der  Lette    an   seinem  Beispiele   die  Tatsache   illustriert,    daß   anfangs 


II.  Das  protestantische  Zeitalter  (i6. — 18.  Jahrhundert).  337 

auch  eingeborene  Knaben  zu  Geistlichen  herangebildet  wurden,  scheint 
man  später  den  Undeutschen,  nachdem  es  gelungen  war,  sie  unter  das 
Joch  der  Hörigkeit  und  Schollenpflichtigkeit  zu  bring'en,  immer  seltener 
den  Weg  zu  der  Schulbildung  gewährt  zu  haben:  ein  Umstand,  welcher 
das  Aufkeimen  einer  volkstümlichen  Literatur  von  vornherein  unmöglich 
machte.  Dazu  wurde  von  einem  rigaschen  Erzbischof  (Henning)  bei  der 
Strafe  der  Exkommunikation  verboten,  auch  kirchliche  Bücher  in  die 
Landessprache  zu  übersetzen!  Dennoch  sollten  die  Priester,  wie  dieses 
aus  Kirchenstatuten  und  Synodalverordnungen  jener  Zeit  hervorgeht,  die 
Predigt,  soweit  solche  neben  dem  liturgischen  Gottesdienst  stattfand,  in 
der  Volkssprache  halten,  ferner  ihren  Pfarrkindem  Pater  noster,  Ave  Maria  P"^^)-  ""^''^ 

•^  .       .  usw.  in  der 

und   Credo    in    eben    dieser   Sprache   beibringen.     Allerdings  wurden   aber  Volkssprache. 
jene  Anordnungen    nicht    allzu    streng    genommen,    und  sowohl  die  geist- 
lichen Väter  wie  auch  das  Volk  selbst  hielten  lateinische  Gebete  für  wirk- 
samer und  kräftiger. 

Erst  gegen  Ablauf  der  katholischen  Zeit  erfahren  wir  von  Tätigkeit 
einiger  für  Kirche  und  Schule  besorgten  Prälaten.  So  mußten  z.  B.  die 
zur  Kirmes  bei  der  Einsammlung  der  Ernte  und  Abgabe  des  Kirchen- 
zehnten versammelten  ßauemkinder  vom  Stiftsvogte  und  den  Land- 
knechten im  Pafer  noster,  Ave  Maria  usw.  überhört  werden,  worauf  der 
Erzbischof  diejenigen,  welche  das  Examen  gut  bestanden  hatten,  mit 
Essen  traktierte,  die  übrigen  aber  mit  Ruten  strafen  ließ. 

Aus  diesen  letzten  Tagen  des  Katholizismus  rührt  auch  die  erste 
eventuell  im  Druck  erschienene  estnische  Schrift  her:  ein  vom  Bischof 
Johannes  Kievel  im  Jahre  1517  herausg'egebener  katholischer  Katechis- Joi'annesKievei. 
mus.  Man  hat  jedoch  dieses  möglicherweise  irgendwo  in  Deutschland 
gedruckte  Buch  bis  heute  nicht  ans  Tageslicht  fördern  können.  Ebenso 
existieren  nur  der  Angabe  nach  etwaige  zur  Zeit  der  katholischen  Re- 
aktion   in    Livland    von    zwei    Jesuiten,    Ambrosius   Weltherus    (isqi)    und     Ambrosius 

•'  '  V    JV     /  Weltherus  und 

Wilhelm  Buccius  (1622)  herausgegebene  estnische  Schriften.  Es  ist  übri-  wiiheim 
gens  nicht  unmöglich,  daß  in  Deutschland  —  möglicherweise  in  Brauns- 
berg, wo  die  Iiistitiitioi/es  Esthoiiicae  von  Wilhelm  Buccius  erschienen 
sind,  etwa  in  der  Bibliothek  des  dortigen  katholischen  Gymnasiums  — 
ein  Exemplar  jener  estnischen  Schriften  noch  aufzufinden  sein  würde,  was 
für  die  estnische  Sprachforschung  allerdings  nicht  uninteressant  sein  dürfte. 

IL  Das  protestantische  Zeitalter  (16. — 18.  Jahrhundert).    Die  weit-    AUgememe 

^  ...       Charakteristik. 

bewegenden  Epochen  des  Humanismus  und  der  Renaissance  streiften  die 
Esten  nicht;  daß  jene  gewaltigen  Dramen  menschlichen  Geistes  sich  über- 
haupt abgespielt  hatten,  davon  erfuhren  die  Esten  viel  später.  Aber  auch 
die  Errungenschaften  der  Reformation,  welche  in  den  Ostseeprovinzen 
verhältnismäßig  früh,  nämlich  schon  im  Jahre  1522  siegreichen  Eingang 
gefunden  und  sich  rasch  verbreitet  hatte,  dürfen  im  Sinne  der  Hebung 
und  Aufklärung  des  Landvolks  nicht  überschätzt  werden. 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9.  22 


jjg  Gustav  Suits:  Die  estnische  Literatur. 

Vor  allem  hat  Luthers  Lehre,  indem  sie  ja  überall  am  meisten  dem 
Bürgerstande  zugute  kam,  die  Lage  des  baltischen  Bauernstandes  keines- 
falls direkt  oder  wesentlich  gebessert:  wie  wir  wissen,  erkannte  doch 
Luther  selbst  die  Berechtigung  der  Leibeigenschaft  an  und  predigte  ein- 
dringlich die  göttliche  Einsetzung  der  weltlichen  Obrigkeit.  Und  es  ist 
bezeichnend,  daß  die  estnischen  Bauern  in  den  meisten  Fällen  für  die 
Verkündigung  des  Evangeliums  kein  großes  Interesse  an  den  Tag  legten, 
sondern  noch  lange  Zeit,  im  geheimen  wenigstens,  ihre  „katholische  Mytho- 
logie" der  lutherischen  Theologie  vorzogen.  Fragen  wir  nun  ganz  im 
allgemeinen,  was  für  ein  Fortschritt  in  der  Volksbildung-  durch  die  Re- 
formation erfolgt  ist,  so  läßt  sich  dieser  nach  dem  Maß  der  in  das  Volk 
KirchUcher  gedrungenen  Lehren,  Dogmen  und  ABC-Kenntnis  bestimmen.  Die  Auf- 
Literatur,  gäbe  der  kirchlichen  Propaganda  in  der  Volkssprache  war  auch  der 
Beweggrund  zu  einer  „estnischen"  Literatur,  welche  tatsächlich  bis  in  das 
IQ.  Jahrhundert  sowohl  dem  Inhalte  wie  der  Form  nach  die  Schöpfung  des 
schriftstellernden  lutherischen  Klerus,  meist  deutscher  Herkunft,  vorstellt 
und  als  solche  jeder  genuin -estnischen  Originalität  entbehrt.  Die  est- 
nischen Schriften  aus  jener  Zeit  sind  vornehmlich  Volkslehrbücher  reli- 
giösen Inhalts,  außerdem  sind  sie  größtenteils  Übertrag-ungen  oder  Nach- 
bildungen. 
Franz  Witte.  Luthcrs  Katechisuius,  übersetzt  von  Franz  Witte  und  gedruckt  in  Lübeck 

auf  Kosten  des  Ordensmeisters  Galen,  soll  schon  im  Jahre  1553  erschienen 
sein.  Allein  man  kennt  auch  diese  Edition  nur  dem  Titel  nach,  indem  sie 
nirgends  mehr  zu  finden  ist,  und  aus  dem  1 6.  Jahrhundert  liegt  bisher  also 
Haudschriftiiciie  noch  kein  estnisches  Buch  vor.  In  den  letzten  Jahrzehnten  hat  man  jedoch 
einige  bisher  unbekannt  gebliebene  Schriftstücke  ans  Licht  gefördert,  wie 
etwa  das  „Juramentum  der  Undudeschen"  und  Bruchstücke  einer  estnischen 
Übersetzung  des  stiftischen  livländischen  Bauernrechts,  welche  äußeren 
Merkmalen  und  textlich  gegebenen  Anhaltspunkten  nach  in  das  16.  Jahr- 
hundert verlegt  werden  dürfen.  Außerdem  besitzen  wir  ein  Sprachdoku- 
nient,  dessen  Datum  es  unzweifelhaft  dem  genannten  Jahrhundert  zuweist  — 
sii)idinud  dürpt  se  2g  kitc  aprilis  Anno  Christi  i.  j.  8.  p.  —  und  welches  die 
Übersetzung  einer  vom  Rate  der  Stadt  Dorpat  ausgegebenen  Kundschaft 
darstellt.  F^ür  das  wichtigste  handschriftliche  Denkmal  der  estnischen 
Sprache  aus  dem  Reformationszeitalter  gelten  indessen  neununddreißig 
Georg  Müller,  estnische  Predigten  von  Georg  Müller,  gehalten  1600 — 1606  in  Reval. 
Nebst  charakteristischen  Kulturbildern  aus  jener  Zeit  sind  die  Predigten 
für  den  Philologen  in  sprachhistorischer  Hinsicht  von  bedeutendem  Wert. 
Aus  stetig  sich  wiederholenden  und  sich  gleich  bleibenden  Wendungen 
Müllers  geht  es  hervor,  daß  sich  schon  eine  gewisse  literarische  Tradition 
im  Estnischen  gebildet  hatte.  Daraus  dürfen  wir  wohl  schließen,  daß  die 
Evangelien  und  Episteln  schon  seit  längerer  Zeit  von  sprachgeübteren 
Pastoren  übersetzt  waren  und  in  handschriftlicher  Fassung  kursierend  schon 
gewissermaßen  eine  stereotype  Form  gewonnen  hatten. 


II.  Das  protestantische  Zeitalter  (i6. — 18.  Jahrhundert).  339 

Desgleichen  ergibt  es  sich  aus  seinen  Predigten,  daß  man  schon  im 
vorhergegangenen  Jahrhundert  unternommen  hatte,  lutherische  Kirchen- 
lieder ins  Estnische  zu  übertragen.  Diese  handschriftlich  vorhandenen 
Materialien  hat  zuerst  Mag".  Henricus  Stahl  gesammelt  und  unter  seinem  Henncus  stahi. 
Namen  veröffentlicht.  Sein  „Hand-  und  Haußbuch  für  die  Pfarherren  vnd 
Haußväter  Ehstnischen  Fürstenthumbs",  welches  von  1 63  2— 1 638  in  vier  Teilen 
erschien,  gilt  bisher  für  das  älteste  estnische  Druckdenkmal,  von  dem 
Exemplare  noch  vorliegen.  Ferner  hat  Stahl  sich  durch  eine  auf  Kosten 
der  Königin  Christina  gedruckte  Postille  und  die  erste  estnische  Sprach- 
lehre „Anführung  zu  der  Ehstnischen  Sprach"  hervorgetan.  Seine  Werke 
wurden  mit  großem  Beifall  aufgenommen  und  hatten  schmeichelhafte  Ge- 
dichte zur  Folge,  in  welchen  der  Verfasser  als  „Blume  des  Vaterlandes" 
und  ein  „zweiter  Luther"  begrüßt  wurde.  Stahls  Einfluß  hat  sich  indessen  stahis  verhäng- 
für die  Entwicklung  der  estnischen  Sprache  und  Literatur  sehr  verhäng- 
nisvoll erwiesen.  Mitten  in  Gärungen  und  Schwankungen  in  bezug  auf 
Grammatik  und  Orthographie  stehend,  mußte  er  sich  entweder  für  die 
korrekten  Formen  und  die  naturgemäße  Schreibart  erklären  oder  die  nach 
lateinisch-deutschem  Schema  erkünstelte  Theorie  konsequent  durchführen. 
Er  entschied  sich  für  das  letztere,  und  das  Unglück  war  geschehen,  unter 
dessen  Folgen  die  estnische  Sprache  noch  heute  zu  leiden  hat.  Ebenso 
hat  sich  Stahl  um  die  Entwicklung  der  estnischen  Literatur  in  einer  ge- 
wissen Richtung  nicht  wenig-  verdient  gemacht,  indem  er  so  glorreich 
die  später  geradezu  zu  erschreckender  Produktivität  angewachsene  Kate- 
chismen-, Gebet-  und  Predigtbüchermache   in   der  Volkssprache    eröffnete. 

Gleichzeitig   mit  Stahl   gab   Joachim  Rossihnius   in  Dorpat   die   Evan-     Joachim 

Rossihnius. 

gehen,  die  Episteln  und  die  Leidensgeschichte  Christi  heraus.  Doch  er- 
gänzt sich  die  Tätigkeit  Rossihnius'  und  Stahls  in  einer  Hinsicht  nicht:  sie 
schreiben  in    zwei    verschiedenen  Dialekten.     Die    estnische    Sprache    hat    Zwci  Haupt- 

dialekte  der  est- 

nämlich  zwei  Hauptdialekte:  den  nordlichen  oder  sogenannten  revalschen  nischenSprache. 
und  den  südlichen  oder  werro-dörptschen,  welch  letzterer  jetzt  nur  in 
17  Kirchspielen  gesprochen  wird.  Die  Werke  Stahls  sind  in  dem  reval- 
schen, die  von  Rossihnius  in  dem  werro-dörptschen  Dialekt  geschrieben. 
Obgleich  der  Unterschied  zwischen  den  beiden  Dialekten  bedeutend  ge- 
ringer war  als  etwa  zwischen  Hochdeutsch  und  Plattdeutsch,  entstanden 
in  der  wenig  verbreiteten  estnischen  Sprache  also  doch  die  Anfänge 
zweier  Schrifttume.  Dieser  Umstand  hat  auf  die  Entwicklung  der  est- 
nischen Literatur  vielfach  hemmend  gewirkt,  bis  der  revalsche  Dialekt 
sich  im   ig.  Jahrhundert  als  Literatursprache  endgültig  behauptete. 

Nach  Stahl  war  man  im  allgemeinen  nur  bestrebt,  in  seinen  Pußstapfen 
fortzuwandeln,  sein  Werk  in  seinem  Geiste  fortzusetzen.    So  wird  z.  B.  für  Kirchenlied  im 

,  .  Estnischen. 

Katechismen  viel  Sorge  getragen.  Und  da  die  aus  dem  Deutschen  ohne 
Rhythmus  und  Reim  wörtlich  übersetzten,  von  Stahl  seinem  Hand-  und 
Hausbuch  angehängten  Kirchenlieder  zum  Gesang-  völlig  unbrauchbar  sind, 
so  vereinigen  sich  einige  Prediger,  solche  in  Reim  und  Versmaß  zu  bringen, 


34° 


Gustav  Suits:  Die  estnische  Literatur. 


Bibel- 
übersetzung. 


lloclizcitslicdc 


und  es  erscheint  das  erste  Gesangbuch  im  Revalestnischen  (1656).  Allein 
das  Kirchenlied,  eine  wertvolle  Spezialität  des  Protestantismus  in  Deutsch- 
land, klingt  rauh  und  unfügig  im  Estnischen:  den  Herren  Pastoren,  welche 
die  Übersetzung  verfertigten,  ging  so  ziemlich  die  Fähigkeit  ab,  den 
Pegasus  in  der  Volkssprache  zu  meistern.  Das  Kirchenlied  im  Estni- 
nischen  ist  durchaus  keine  einheimische  Schöpfung,  abgesehen  vielleicht 
von  einigen  späteren,  spezifisch  baltischen  Originalen,  die  oft  gewissen 
ganz  „irdischen"  Zwecken  der  Kirche  zu  dienen  hatten,  etwa  derartigen  wie: 
„Wen  man  hat  zum  Knecht  gemacht,  diene  auch,  diene  auch."  Eine  weitere 
und  zwar  die  wichtigste  und  schwierigste  Aufgabe  der  lutherischen  Geist- 
lichkeit bestand  darin,  die  Bibel  dem  Volke  in  seiner  eigenen  Sprache  zu- 
gänglich zu  machen.  Oftmals  und  wiederholt  ergingen  seitens  der  Bischöfe 
und  Konsistorien  Aufforderungen  an  die  Prediger,  die  Heilige  Schrift  ins 
Estnische  zu  übersetzen,  allein  die  Unvollkommenheit  der  Sprachkenntnis, 
die  Zwistigkeiten  unter  den  Verkündigern  des  Evangeliums,  endlich  die 
ausgebrochenen  schweren  Kriege  gestatteten  solches  lange  nicht.  Ab- 
gesehen von  zwei  vorangegangenen  Übertragungen  des  Neuen  Testaments 
konnte  die  ganze  Bibel  im  Estnischen  erst  1739  erscheinen,  welches  als 
die  einzige  literarische  Großtat  des  Protestantismus  im  Estenlande  zu  be- 
zeichnen ist.  Was  die  Erforschung  und  Ausbildung  der  estnischen  Sprache 
betrifft,  so  wird  diese  von  Stahls  Epigonen  in  den  irreführenden  Spuren 
des  Meisters  fortgesetzt.  Gewisse  Verbesserungen  werden  von  B.  G.  For- 
selius  gewagt,  das  größte  Verdienst  um  die  estnische  Kirchensprache  hat 
sich  jedoch  Johann  Hornung  erworben,  indem  er  in  seiner  Graiiimafica 
Eslhonica  die  Eigenheit  des  Estnischen  besser  aufgefaßt  hat  als  alle  seine 
Vorgänger. 

Da  die  ganze  literarische  Produktion  also  auf  das  Monopol  des  schrift- 
stellernden  Klerus  beschränkt  war  und  das  leibeigene  Volk  in  seinem 
Elend  um  so  mehr  mit  den  Freuden  eines  besseren  Jenseits  getröstet 
werden  mußte,  so  sucht  man  in  diesem  zelotischen  Zeitalter  vergeblich 
nach  einer  hervorragenden,  ja  überhaupt  nach  einer  künstlerischen  Leistung. 
Dennoch  hat  es  an  Versuchen  in  dieser  Richtung  nicht  ganz  gefehlt, 
wenn  solche  auch  kein  großes  literarisches  Interesse  bean.spruchen  dürfen 
und  nur  vereinzelt  anzutreffen  sind.  Zu  Stahls  Tagen,  wo  der  Panegyris- 
mus,  die  Krankheit  der  Zeit,  das  ganze  Leben  der  höheren  Gesellschaft 
durchdrang,  wo  man  bei  jeder  erdenklichen  Gelegenheit  mit  hochfliegenden 
Reden  und  in  das  Geschmackloseste  ausschweifenden  Gedichten  auftrat, 
wurde  durch  das  Erscheinen  der  ersten  Bücher  im  Estnischen  plötzlich 
eine  bizarre  Begeisterung  für  diese  Sprache  aufgewirbelt,  und  so  hat  man 
dem  Zeitgeiste  auch  in  einigen  platten  estnischen  Lob-  und  Hochzeitsliedem 
Tribut  gezollt.  Als  ein  zweites,  mehr  bemerkenswertes  Beispiel  dürfte  ein 
aus  der  Zeit  des  großen  nordischen  Krieges  herrührendes  estnisches 
Klagelied  über  die  Zerstörung  der  Stadt  Dorpat  namhaft  gemacht  werden, 
welches  dadurch  eine  Beachtung  verdient,   daß  es  das  erste  uns  bekannte 


III.  Das  Emporkommen  der  genuin-estnischen  Literatur  (19.  Jahrhundert).  341 

genuin- estnische  literarische  Erzeugnis  vorstellt,  indem  es  von  einem  ge- 
borenen Esten  Käsu  Hans  (Hans  Kes)  verfaßt  ist.  Es  ließen  sich  noch  k^su  Hans, 
einige  derartige  „Ausnahmen"  anführen,  welche  aber  nur  die  Regel  des 
kirchlichen  Imprimaturs  bestätigen  und  ihrem  poetischen  Wert  nach  von 
noch  geringerer  Bedeutung  sind  als  die  vorher  genannten.  Eine  relative 
Befreiung  von  der  Engherzigkeit  des  nur  auf  das  Kirchliche  bedachten 
Sinnes  macht  sich  erst  an  der  Wende  des  18.  Jahrhunderts  geltend,  wo 
mehrere  rationalistisch  angehauchte  Schriftsteller,  wie  Fr.  G.  Arvelius, 
Fr.  Willmann,  J.  W.  Luce  und  andere  mit  ihren  belehrenden  Volksbüchern,  Arvdius,  wiu- 
moralisierenden  Erzählungen  und  Fabeln  auftraten.  Aber  schon  um  ihrer 
praktisch-didaktischen  Natur  willen  gingen  auch  dieser  Richtung  die 
Eigenschaften  eines  künstlerischen  Schaffens  ab;  zudem  war  sie  ihren 
Stoffen  nach  meist  unselbständig  und  noch  ganz  ungeschickt  im  Ausdruck, 
wenngleich  eine  größere  Richtigkeit  der  Sprache  sich  gegen  Früheres 
nicht  verkennen  läßt.  Charakteristisch  ist  die  Tatsache,  daß  estnische 
Volksdichtung,  welche  sich  viele  Jahrhunderte  hindurch  als  lebendige  Volksdichtung 
Macht  erhalten  hatte,  gegen  Ende  des  1 8.  Jahrhunderts  verkümmerte  oder  des  Zeitalters. 
in  flache  Trivialität  auszulaufen  begann.  Eine  naive  Weltanschauung 
wich  immer  mehr  und  mehr  zurück  vor  den  schwarzen  Talaren  der 
Pastoren.  Von  Grund  aus  zerstört  wurde  sie  indessen  durch  Herrnhut: 
wo  Herrnhut-Lieder  ertönten,  da  verstummten  alle  anderen  Gesänge. 
Indem  nun  den  Überlieferungen  des  Volkes  Vergessenheit  drohte,  wurde 
zum  Sammeln  estnischer  Runen  der  erste  Anstoß  gegeben  —  und  zwar 
von  Herder,  der  den  livländischen  Pastor  Hupel  veranlaßte,  ihm  für  seine 
„Stimmen  der  Völker"  einige  Beiträge  zu  senden. 

III.      Das     Emporkommen     der     genuin-estnischen     Literatur 
(ig.  Jahrhundert).    Die  Grundsätze   der  rationalistischen  Philosophie  hallten  Umschwung  in 

Anschauungen. 

zu  Beginn  des  ig.  Jahrhunderts  auch  in  diesem  gesegneten  Lande  des 
bigotten  Obskurantismus  und  der  feudalen  Willkür  wider  und  bereiteten 
wenigstens  theoretisch  die  Wiedergeburt  des  geknebelten  Estenvolkes 
vor,  dessen  natürliche  Entwicklung  das  „baltische  Mongolenjoch"  um 
600  Jahre  aufgehalten  hatte.  Nach  zunehmendem  Maße  der  Humanisie- 
rung des  herrschenden  Standes  fing  man  an,  die  „Undeutschen",  unter 
welchen  und  durch  welche  man  lebte,  als  Menschen  anzuerkennen  und 
sich  für  ihre  Sprache  und  ihre  traditionellen  Überlieferungen  zu  inter- 
essieren. Dem  Prinzip,  wenngleich  nicht  dem  Wesen  nach  wurde  i8ig 
auch  die  Leibeigenschaft  aufgehoben,  wodurch  immerhin  ein  Heraufstreben 
unter  den  Eingeborenen  selbst  entstehen  konnte.  Einen  geistigen  Mittel-  Estophiien. 
punkt  für  alle  literarischen  und  folkloristischen  Bestrebungen  damaliger, 
vorwiegend  aus  intelligenten  Pastoren  sich  rekrutierenden  Estophiien 
bildete    die    von    J.  H.  Rosenplänter    (1782  — 1846)     in    deutscher    Sprache   j.  h.  Rosen- 

plänter. 

herausgegebene   Zeitschrift   „Beiträge    zur    genaueren  Kenntnis    der    ehst- 
nischen  Sprache".     Unter  manchen  verdienten   deutschen  Mitarbeitern  der 


342 


Gustav  Suits  :  Die  estnische  Literatur 


Nationale  „Beiträge"  erblicken  wir  auch  die  ersten  nationalen  Schriftsteller.  Es  ist 
bemerkenswert,  daß  gerade  diejenigen  Männer,  welche  die  eigentliche 
estnische  Nationalliteratur  begründeten  und  als  glänzende  Sterne  kom- 
menden Generationen  voranleuchteten,  Anhänger  des  Rationalismus  waren 
oder  doch  zum  Rationalismus  hinneigten.  So  tritt  uns  gleich  ein  Frei- 
Kr.  jaak  Peter- denker,  eine  „moderne  Seele"  in  Kr.  Jaak  Petersen  (1801  — 1822),  dem 
ersten  „Jungesten"  par  excellence  entg'egen.  Wie  er  der  erste  war,  der 
das  nationale  Element  in  seiner  Person  bewußt  betonte,  so  war  er  auch 
der  erste,  der  im  Estnischen  bisher  nie  gehörte  Töne  anzuschlagen  wagte. 
Zu  einer  höheren  Bildung  gelangt,  selten  reich  veranlagt,  mit  lebhaftem 
Gefühl  begabt,  wurde  er  zum  ersten  wahren  Dichter  der  Esten.  Allein 
im  schweren  Kampfe  ums  Dasein  welkte  er,  einsam  und  unverstanden, 
rasch  dahin  und  starb  schon  in  seinem  21.  Lebensjahre  den  frühen  Tod 
der  Götterlieblinge.  Petersens  gewissermaßen  einzig  dastehende  Erschei- 
nung haben  indessen  seine  klerikalen  Landsleute  lange  nicht  genügend 
würdigen  können,  ja  man  hat  diesen  Namen  von  so  verheißungsvollem 
Inhalt  bis  in  die  jüngste  Zeit  nur  einigen  nicht  zu  überschätzenden  folklo- 
ristischen und  philologischen  Leistungen  nach  gekannt,  bis  erst  vor  kurzem 
auf  Petersens  DichteqDersönlichkeit  und  auf  sein  intimes  Schaffensgebiet 
mit  gebührendem  Nachdruck  hingewiesen  worden  ist.  Einen  desto  größeren 
Erfolg  und  eingreifenden  Einfluß  auf  die  Literatur  erzielte  dagegen,  trotz 
o.  w.  Masing.  mannigfacher  Anfehdungen,  der  Prediger  O.  W.  Masing  (1763 —  1832).  Der- 
jenige Teil  von  Masings  Tätigkeit,  welcher  ihm  die  meisten  Freunde  und 
Feinde  erwarb,  zugleich  sein  hervorragendstes  Verdienst,  besteht  darin, 
daß  er  der  Volkssprache  endgültig  dazu  verhalf,  zur  Schriftsprache  er- 
hoben zu  werden.  Als  Volksschriftsteller  suchte  Masing  durch  belehrende 
Bücher  auf  das  Volk  einzuwirken;  auch  machte  er  den  Versuch,  ein  est- 
nisches Wochenblatt  —  „Marahwa  näddalaleht"'  ■ —  herauszugeben,  welches 
jedoch  bald  eingehen  mußte.  Nach  Masing  verdient  ehrenvolle  Erwähnung 
ein  Mann,  der  zwar  mit  Schriftstellern  seiner  Zeit,  wie  es  scheint,  nicht 
in  Verbindung  stand,  aber  doch  zu  den  warmherzigsten  Estophilen  zählte: 

Graf  Peter  Graf  Petcr  Mantcuffel  (1786 — 1842).    Indem  seine  Gedichte  und  Erzählungen 

Manteuffel.  \    /  t    /  & 

aus  dem  Volksleben  von  einem  erotisch  akzentuierten  und  sprach- 
gewandten poetischen  Talent  Zeugnis  ablegen,  repräsentieren  sie  zugleich 
den  einzigartigen  Fall  in  der  Geschichte  der  estnischen  Literatur,  daß 
auch  eine  adlige  Person  sich  dieser  Sprache  zum  belletristischen  Aus- 
drucksmittel bedient  hat  —  und  in  einem  so  untergeordneten  Geschäfte 
wie  die  Aufklärung  des  Volkes  anzutreffen  ist. 

Wenn    auch    notwendig    im   Zeichen    der  Didaktik    stehend,    wird    die 

Literatur     in     der    Volkssprache    immer    vielseitiger     und    umfangreicher, 

so    daß    schon    in     den    drei    Anfangsjahrzehnten    des    Jahrhunderts    fast 

doppelt    so    viele    estnische  Schriften    erschienen    sind    wie    in    drei  Jahr- 

Rcaktions-  hunderten   seit  1500 — 1800.     Es   schien  also   eine   erfreuliche  Entwicklung 

Periode.        ^  ^ 

im  Emporgang  zu  sein,  als  reaktionäre  Strömungen  sich  in  verschiedenen 


III.  Das  Emporkommen  der  genuin-estnischen  Literatur  (19.  Jahrhundert).  ^/^t^ 

Richtungen  wieder  kraß  breit  machten.  Da  das  vogelfreie  Volk  durch 
die  Gesetze  von  1819  jedes  Eigentumsrechts  an  Grund  und  Boden  ver- 
lustig erklärt  worden  war,  hatte  die  Emanzipation  sich  t/e  facto  als 
eine  Fiktion  herausgestellt.  Vermöge  der  entschiedenen  Rückwärts- 
pressung in  den  vierziger  Jahren  gestalteten  sich  die  Verhältnisse  für  die 
nationale  Bevölkerung  zu  einem  noch  härteren  ökonomischen  Druck  als 
früher  um.  Auch  in  mittelmäßig  gTiten  Jahren  konnte  der  Bauer  es 
nicht  erschwingen,  reines  Roggenbrot  zu  essen,  welchem  nicht  Spreu 
und  bitterschmeckendes  Unkraut  in  großer  Menge  beigemischt  gewesen 
wäre!  Um  seine  geistige  Nahrung  war  es  jedenfalls  nicht  besser  bestellt,  da 
die  literarischen  Bestrebungen  der  Aufklärung.smänner  erschlaffen  mußten 
und  in  andere  Hände,  die  der  autoritativen  Mächte,  herübergingen.  In 
dieser  Reaktionsperiode  nahmen  die  Bemühungen  der  Estophilen  vor- 
nehmlich ein  gelehrtes  Gepräge  an,  während  die  Tendenz,  auf  das  Selbst- 
bewußtsein der  Masse  unmittelbar  einzuwirken,  immer  mehr  zurücktrat. 
18^0    war    in  Dorpat,    dem  Sitz    der  Universität,    die    „Gelehrte  Estnische      Gelehrte 

'^^  ^       '  .  .  .  Estnische 

Gesellschaft"  ins  Leben  gerufen  worden,  mit  der  Aufgabe,  „die  Kenntnis  Gesellschaft. 
der  Vorzeit  und  Gegenwart  des  estnischen  Volkes,  seiner  Sprache  und 
Literatur,  sowie  des  von  ihm  bewohnten  Landes  zu  fördern".  Mit  für 
eine  ihrer  wichtigsten  Pflichten  hielt  sie  das  Sammeln,  die  Herausgabe  und 
Bearbeitung  der  im  Erlöschen  begriffenen  estnischen  Volkspoesie.  Die  ruhm- 
beflügelte Kunde  von  dem  neuerschienenen  finnischen  Kalcvala  hatte  sich 
rasch  über  den  Meerbusen  nach  Estland  verpflanzt,  und  einem  von  den 
hervorragendsten  Mitgliedern  der  Gesellschaft,  Fr.  R.  Fählmann  (1798 — Fr. r. Fähimam 
1850),  der  selbst  aus  dem  Volke  hervorgegangen  war,  legte  sich  der  Ge- 
danke nahe,  auch  im  Estnischen  ähnliches  zu  schaffen.  Schon  als  junger 
Student  war  Fählmann  unermüdlich  bestrebt  gewesen,  die  Märchen  und 
Lieder  des  Volkes  zu  sammeln,  unter  welchen  es  ihm  besonders  diejenigen 
angetan  hatten,  die  von  einem  sagenhaften  Helden  des  Volkes,  dem 
Kalewipoeg,  zu  berichten  wußten.  Die  Ausführung  des  Vorhabens,  „die 
zerstreuten  Teile  des  Kaleivipoeg  in  ein  Ganzes  zu  vereinigen",  wurde  Kaiewipoeg. 
jedoch  durch  seine  anstrengende  Praxis  als  vielbeschäftigter  Arzt  und 
einen  unerwartet  früh  erfolgten  Tod  vereitelt.  Fählmann  hat  sich  ge- 
wissermaßen auch  als  Dichter  hervorgetan,  sich  mit  Vorliebe  antiker  Vers- 
maße bedienend;  einige  seiner  Epigramme  dürfen  sowohl  der  Form  wie 
dem  Inhalt  nach  als  „klassisch"  angesehen  werden.  Aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  hat  er  auch  gewissen,  von  ihm  selbst  für  volkstümlich  ausgegebenen 
wunderschönen,  aber  höchst  apokryphischen  estnischen  Mythendichtungen 
(wie  z.  B.  Koif  ja  Hämarik)  die  Gaben  seiner  eigenen  Phantasie  unter- 
schoben und  die  Esten  ganz  unverdient  zu  manchen  ihrer  alten  Götter 
verholfen  —  eine  pin  frmis,  wie  sie  auch  anderswo  von  guten  Patrioten 
in   der  besten  Absicht   begangen  worden  ist. 

Die  Erbschaft  Fählmanns   trat  nach  dessen  Tode  sein  intimer  Freund  Fr.  r.  Kreutz 

wald. 

und  Kollege  Fr.  R.  Kreutzwald  (1803 — 1882)  an.    Wenn  irgend  jemand,  so 


344 


Gustav  Suits  :  Die  estnische  Literatur. 


Setzung  des 


schien  Kreutzwald,  der  selbst  fortwährend  die  estnischen  Sagen  gesammelt 
hatte,  seinen  Kenntnissen  und  seiner  dichterischen  Begabung  nach  der 
seiner  harrenden  großen  Aufgabe  gewachsen.  Es  war  dies  die  Herausgabe 
des  Kalezui-E^os.  Auf  sich  selbst  allein  angewiesen,  von  sehr  wenigen 
nur  verstanden,  ging  Kreutzwald  an  die  Lösung  der  Aufgabe,  deren 
Bewältigung  schon  rein  äußerlich  eine  Riesenarbeit  darstellt.  Die  Anzahl 
"k'äiewipoeg.  dcr  Lieder  und  Varianten,  welche  Kreutzwald  bei  der  Zusammensetzung 
des  Kalewipoeg  vorlagen,  wird  etwa  auf  2000  geschätzt.  Das  Gros  des 
ihm  zu  Gebote  stehenden  Materials  bestand  aber  aus  Prosaerzählungen, 
Nach  langen  Erwägungen  entschloß  sich  Kreutzwald,  alle  in  Betracht 
kommenden  Lieder-  und  Sagenbruchstücke  in  einheitlicher  Form  so  ein- 
ander anzureihen,  daß  sie  ein  Ganzes  bilden  sollten.  Und  als  die  geeig- 
netste Darstellungsform  empfahl  sich  ihm  das  genuine  Volkslied,  um  so  mehr, 
weil  er  im  Lauf  der  Arbeit  die  Überzeugung  gewonnen  hatte,  daß  vor 
Jahrhunderten  die  ganze  /■Ct7l£zvi-Sa.ge  in  gebundener  Rede  existiert  haben 
müsse,  eine  Ansicht,  welche  sich  jedoch  nicht  rechtfertigen  läßt.  In  der 
Tat  kennen  die  in  das  Epos  eingeschalteten  Lieder  nur  in  seltenen  Fällen 
einen  benamseten  Helden,  in  noch  selteneren  einen  Helden  namens  Kaleivi- 
poeg;  auch  beziehen  sich  nicht  alle  von  Kreutzwald  verwerteten  Sagen 
auf  den  Titelhelden.  Außer  vielen  aus  der  Natur  der  Arbeit  selbst  her- 
vorgehenden Schwierigkeiten  hatte  Kreutzwalds  Werk  noch  mit  ver- 
schiedenen Komplikationen  von  außen  her  zu  kämpfen,  so  z.  B.  mit  dem 
Entdeckungsgeist  der  allzurührigen  Zensur,  bevor  in  den  Verhandlungen  der 
Gelehrten  Estnischen  Gesellschaft  der  Knlnvipoeg,  üks  ernicmuistene  Eesti 
jut  {„Kalewtpoeg,  eine  estnische  Sage")  in  20  Gesängen,  im  ganzen  19047 
dimetrische  Verse  enthaltend,  von  185-7 — 1861  veröffentlicht  werden  konnte. 
Deutsche  Über-  In  der  ersten  Ausgabe  befindet  sich  neben   dem   estnischen  Originaltext 

Setzungen  des 

Kaiewipoeg.    auch  ciuc,  nur  bescheidenen  Ansprüchen  genügende  deutsche  Übersetzung 

des  Heldengedichts.     Dagegen    dürfte    aber   unter   mannigfachen   späteren 

die  von  Fr.  Löwe  besorgte  deutsche  Übertragung  des  Kalcwipocg  geeignet 

sein,    das    estnische  Epos   auch   einem   weiteren   Publikum   zu    erschließen. 

Die  Bedeutung  Und  wohl   mit   gutem  Recht  hat  das  estnische  Nationalepos  das  Interesse 

des    estnischen 

Epos.  ausländischer  Gelehrten  für  sich  beansprucht  und  zuerst  auf  diesen  kleinen 
Volksstamm  aufmerksam  gemacht:  denn  trotz  der  ährenlesenden,  form- 
gebenden und  vielfach  ziemlich  „freien"  Kompositionsarbeit  Kreutzwalds 
ist  und  bleibt  der  Kalcwipucg  seinem  Kern  nach  „ein  volkstümliches 
Werk,  voll  des  köstlichen  Reichtums  der  estnischen  Lebensweisheit".  Für 
das  estnische  Volk  selbst  bildet  das  Werk  indessen  nicht  nur  ein  wert- 
volles Denkmal  seiner  poetischen  Vergangenheit:  das  Erscheinen  des 
Kaleioipocg  wurde  zugleich  zum  Ausgang.spunkt  für  eine  neue  Periode  im 
estnischen  Leben,  die  der  nationalen  Regeneration,  wo  die  weit  ausein- 
ander klaffenden  Dialektgruppen  des  namenlosen  „Landvolkes"  {inaara/iwas) 
sich  zu  einer  bewußten,  untrennbaren  Gemeinschaft,  zum  estnischen  Volke 
{Eesd  rahwas),  zusammenfügten.    So  war  Kreutzwald  vergönnt,  das  Werden 


in.  Das  Emporkommen  der  genuin-estnischen  Literatur  (19.  Jahrhundert).  345 

einer  ganz  neuen  Welt  zu  bewirken;    sein  Lebenswerk  war  voll  Menschen 

und  Werke,  die  noch  kommen  sollten.    Bahnbrechend  und  epochemachend  Krcutzwaia  als 

.  Dichter. 

hat  Kreutzwald,  ein  berufener  Dichter,  sich  auch  um  die  estnische  Kunst- 
poesie verdient  gemacht  und  sich  vor  allem  durch  sein  großzügiges  lyro- 
episches  Poem  Lembitu  den  Ruhm  des  poeta  laurcalus  der  Esten  erworben. 
Seine  innere  Entwicklung  bewegte  sich  in  der  ansteigenden  Linie  eines 
harmonisch  veranlagten,  auf  ständigen  Ausbau  der  Kräfte  hinstrebenden 
Geistes:  er  begann  als  Romantiker  und  endete,  zu  einer  ruhig  klaren,  an 
die  Dichter  der  besten  Zeiten  gemahnenden  Harmonie  künstlerischer 
Fähigkeiten  gelangl,  als  Klassiker.  In  seinem  äußeren  Lebenslauf  spiegelte 
sich  indessen  wahrheitsgetreu  das  rauhe  Geschick  und  das  zähe  Aufvvärts- 
streben  des  Volksstammes  wider,   dem   er  entsprossen  war. 

Solange  das  ackerbauende  Estenvolk  nur  sein  Stückchen  Land  von  den 
Großherren  in  Pacht  hatte,  bildete  es  gewissermaßen  ein  „Nomadenvolk",  bei 
dem  von  einer  wirtschaftlichen  und  geistigen  Entwicklung  kaum  die  Rede 
sein  konnte.    Erst  als  in  den  sechziger  Jahren  im  Interesse  des  Staates  eine  prätendier  und 

geistiger  Auf- 
Reihe  von  legislatorischen  Verfügungen   zugunsten  der  baltischen  Bauern  schwung  in  den 

getroffen  wurde  und  infolgedessen  u.  a.  die  Auskaufung  des  bäuerlichen  Jahren. 
Grundes  und  Bodens  in  Fluß  kam,  trat  ein  gedeihlicheres,  nimmer  ruhendes 
Fortschreiten  auf  allen  Gebieten  des  estnischen  Lebens  ein.  Bis  dahin 
war  keine  eigentliche  Kontinuität  in  der  Pflege  der  estnischen  Literatur 
vorhanden  gewesen,  auch  die  Bestrebungen  der  für  die  Sprache  und 
Folklore  der  Eingeborenen  interessierten  deutschsprechenden  Estophilen 
waren  nur  stoß-  und  ruckweise  vor  sich  gegangen.  Je  mehr  nun  aber 
der  Boden  des  Tales  sich  dem  Berg  gegenüber  erhob,  desto  mehr  Kräfte 
meldeten  sich  ununterbrochen  aus  dem  Volke  heraufsteigend  auch  lite- 
rarisch zum  Worte.  Und  desto  mehr  zogen  sich  deutsche  oder  halb- 
deutsche Kreise  zurück,  bis  die  literarische  Produktion  zuletzt  in  ihrem 
ganzen  Umfange  von  der  nationalen  Gesellschaft  selbst  übernommen 
wurde.  Von  den  letzten  Repräsentanten  deutscher  Zunge  auf  dem  Ge- 
biete der  estnischen  Sprache  und  Folklore  verdienen  hervorgehoben  zu 
werden:  H.  Neus  (1795  — 1876),  ein  Mann,  welchem  die  Folklore  viel  h.  Neus. 
schuldet,  dann  Ed.  Ahrens  (1803 — 1863),  welcher  der  jetzigen  estnischen  m.  Ahrcns. 
Grammatik  und  Orthographie  den  Grund  legte,  und  endlich  der  viel- 
verdiente Akademiker  J.  F.  Wiedemann  (1805 — 1887),  der  die  estnische J-F-Wiedemann. 
Forschung-  mit  mehreren  kapitalen  Werken  sprachwissenschaftlicher  und 
ethnographischer  Art  bereicherte.  Allerdings  nur  allmähhch  und  mit 
größten  Schwierigkeiten  kämpfend,  konnten  die  erlahmten,  unterbundenen 
Kräfte  des  Volkes  sich  emporraffen  und  Kulturwerte  hervorbringen.  Es 
ist  bezeichnend,  daß  nicht  ein  ästhetisch  gebildeter,  intelligenter  Dichter 
wie  Kreutzwald,  der  in  stiller  Hoheit  seiner  Poesie  gewissermaßen  aus 
dem  Zusammenhang  der  estnischen  Literatur  auswächst,  sondern  ein  „zur 
Belehrung  und  Unterhaltung  des  estnischen  Volkes"  schreibender  Kantor 
J.  W.  Jannsen  (1819— 1890)  lange  Zeit  für  dessen  populärsten    und  belieb- J.  w.  j. 


346  Gustav  Suits  :  Die  estnische  Literatur. 

testen  Schriftsteller  galt.  So  bedeutungslos  und  überlebt  auch  Jannsen 
heute  in  seinen  Darbietungen  erscheint,  ergänzte  er  (ein  Volkserzähler 
im  Stile  W.  O.  v.  Horns,  aus  dessen  „Spinnstube"  er  vieles  ins  Estnische 
übertrug)  übrigens  doch  Kreutzwalds  Tätigkeit  als  Praktikus,  der  sich 
dem  Bildungsniveau  der  Masse  anzupassen  und  auf  sie  unmittelbar  an- 
regend einzuwirken  wußte.  1857  —  in  demselben  Jahre,  wo  mit  dem 
Drucke  des  Kalccvipocg  begonnen  wurde   —   begründete   er   durch   seinen 

PernoPcstimces. Periio  Postiviccs  („Pemauer  Postbote")  die  estnische  Presse,  welche  sich 
seitdem  eines  kontinuierlichen  Fortschreitens  erfreut  hat.  Also  brach  sich 
eine  estnisch-nationale  Bewegung  auf  religiös -sittlicher  Grundlage  Bahn. 
Ein  Strom  symptomatischer  Begeisterung  durchrauschte  die  Herzen  des 
Volkes,  als  man  1869  in  Dorpat  das  50jährige  Jubiläum  der  Freilassung 
durch   ein   allgemeines  Gesangsfest   feierte,   wo   Liedertexte,   Jannsenscher 

„Estiand.Estiand Fabrikation ,    etwa  von  der  Originalität  wie:  „Estland,  Estland  über  alles", 

über  alles!-  '  &  ))  )  ) 

„Die  Wacht  am  Embach",  den  vaterländischen  Gefühlen  zum  Ausdruck 
verhalfen.  Nach  welcher  Himmelsrichtung  die  tapfere  Wacht  am  Em- 
bach ihre  Stirn  richten  sollte,  das  war  eine  Frage,  welche  noch  nicht 
gestellt  wurde.  Man  fühlte  sich  nur  ergriffen  von  Frühlingsrausch,  er- 
füllt von  naivem  Vertrauen  auf  eine  verheißungsvolle  Zukunft  des  est- 
nischen Volkes,  die  man  im  romantischen  Zeichen  des  Nationalismus 
aufgehen  sah.  Und  schon  war  den  Esten  auch  ein  Geschlecht  von  Dich- 
tern und  Prosaschriftstellern  erwachsen,  denen  die  nationale  Begeisterung 
die  Segel  schwellte.  Allen  diesen  romantisch  angehauchten  Geistern 
stand  Jannsens  Tochter  Lydia,  in  der  estnischen  Literatur  gewöhnlich 
Lydia Koiduia.  unter  ihrem  Pseudonym  Koidula  (1843  — 1886)  bekannt,  würdig  voran. 
Ihre  Gedichte  zeichnete  sie  Emajöe  Ööpik  („Die  Nachtigall  des  Embachs") 
—  und  in  der  Tat  ist  sie  die  erste  wirkliche  Nachtigall  des  in  Wonne  und 
Wehe  erwachenden  estnischen  Frühlings.  Sie  ist  es  auch,  an  deren  Namen 
die  estnische  Novellistik  sich  anknüpft,  und  von  der  das  estnische  Drama 
unmittelbar  ausgeht.    Ihre  Dominante  blieb  jedoch  eine  melancholisch  aus- 

Die  Lyrik,  klingende  Lyrik,  welche  überhaupt  das  vorwiegende  Element  der  est- 
nischen Romantik  bildet.  Neben  ihr  und  nach  ihr,  ohne  an  sie  heranzu- 
reichen, machte  sich  eine  Überfülle  von  Verseschmieden  breit,  die  als 
Gesinnungspoeten  in  erster  Linie  an  allem  Estnischen  Freude  hatten,  dann 
aber  auch  die  erste  Liebe,  die  Gottesfurcht  und  Kaisertreue  besangen. 
Im  allgemeinen  gehören  sie  der  Geschichte  der  estnischen  Literatur  nur 
als  Masse  an,  aus  der  höchst  vereinzelt  Individualitäten  hervortreten.  Distin- 
guierte Talente  gibt  es  überhaupt  nicht.    In  den  Vordergrund  dürften  viel- 

Kuhibars,    leicht  drei  Namen  gerückt  werden:  Fr.  Kuhlbars,  M.  Weske  (1843 — 1890) 

Reinwald,    und  A,  Reinwald. 

Die    zwei    überragenden    und    beherrschenden    Geister,    welche    die 

Zeit   hatte,    waren    eben    keine    poetischen    Genies,    sondern    Männer    der 

jakcb  Hurt  und  nationalen  Tat:  Jakob  Hurt  (1839 — 1906)  und  C.  R.  Jakobson  (1841  — 1882). 

Das    Jubeljahr    1869    hatte    außer    Gesangseligkeit    auch    zwei    ernstere 


III.  Das  Emporkommen  der  genuin-estnischen  Literatur  (19.  Jahrhundert).  347 

Dinge   mit   sich  gebracht:   nämhch   die  Gründung   eines   literarischen  Ver-  Der  estnische 

literarische 

eins  [Ecsti  Kirjaniccslc  Sclfs  1872)  und  den  Vorsatz,  eine  höhere  est-  verein. 
nische  Schule  zu  etablieren,  welche  zum  Andenken  an  die  Freilassung" 
unter  Alexander  I.  den  Namen  Alexanderschule  {Alcksandrikool)  führen 
sollte.  Die  Seele  dieser  beiden  im  Vordergrunde  aller  nationalen  Inter- 
essen stehenden  Unternehmungen  war  der  Pastor  Jakob  Hurt.  Er  ver- 
stand unter  den  Esten  eine  so  lebhafte  Teilnahme  für  die  Schule  zu  er- 
wecken, daß  selbst  Bettler  ihr  Scherflein  für  diese  beitrugen  und  im 
g-anzen  eine  Kollekte  von  etwa  looooo  Rubel  zusammenkam.  Auch  die 
Tätigkeit  des  literarischen  Vereins  darf  in  den  ersten  zehn  Jahren  seines 
Bestehens  unter  Hurts  Auspizien  als  eine  fruchtbare  bezeichnet  werden. 
Inzwischen  war  eine  von  C.  R.  Jakobson  angeführte,  mit  radikaleren 
Grundsätzen  und  Mitteln  vorwärtsrückende  Richtung  aufgekommen,  welche 
darauf  ausging,  das  klerikal-konservative  Prinzip  aus  der  leitenden  Stel- 
lung des  literarischen  Vereins  und  der  Alexanderschule  zurückzudrängen, 
was  ihr  auch  gelang.  Jakobson,  der  in  seinem  Kampf  gegen  eine  alte 
Welt  das  sozial-reformatorische  Moment  und  die  national-politische  Rea- 
lität des  Zeitalters  zu  verkörpern  schien,  hatte  mit  einem  Schlage  das 
Herz  des  Volkes  gewonnen:  er  galt  nun  für  den  Mann,  von  dem  man 
glaubte,  daß  er  Wälder  fällen,  Sümpfe  austrocknen  und  gefährliche  Tiere 
töten  könne.  Aber  kaum  hatte  er  den  Sieg  über  die  „Pastorenpartei" 
davongetragen,  als  er  schon  1882  plötzlich  starb,  ohne  die  von  ihm  er- 
wartete Herkulesarbeit  geleistet  zu  haben.  Seine  gewaltige  Persönlichkeit 
war  allerdings  größer  als  sein  politisches  und  literarisches  Werk.  Seine 
Nachfolger  erwiesen  sich  meist  als  Leute,   die  das,  was  ihnen  an  Einsicht  Die  Reaktion 

°  .         .  n.ich  Jakobson. 

abging,  durch  die  Phrase  reichlich  ersetzten,  und  mit  ihrem  Estentum 
Geschäfte  machten.  Und  schon  hielt  auch  die  Russifikation  demorali- 
sierend und  verheerend  ihren  Einzug.  Die  Alexanderschule  wurde  mit 
russischer  Unterrichtssprache  eröffnet,  der  literarische  Verein  sistiert. 
Etwa  eine  halbe  Million  hatte  das  Volk  für  verschiedene  Zwecke  geopfert; 
aber  das  meiste  ging  verloren.  Viele  Patrioten  zogen  sich  vom  öffent- 
lichen Leben  zurück,  darunter  auch  Jakob  Hurt.  Unverdrossen  setzte  er 
aber  als  Dr.  Hurt  seine  wissenschaftlichen  Arbeiten  auf  dem  Gebiet  der 
estnischen  Forschung  fort;  insbesondere  kam  es  ihm  dabei  auf  eine,  von 
ihm  schon  im  literarischen  Verein  mit  besonderem  Nachdruck  betonte 
Arbeit  an:   das  Sammeln  der  letzten  noch  erhaltenen  Überlieferungen  der  Die  Betätigung 

_-    ,,      auf  dem  Gebiet 

estnischen  Volkspoesie.  1888  publizierte  er  eine  Aufforderung  an  das  Volk,  der  Folklore. 
seine  alten  Schätze  in  dem  noch  letztmöglichen  Augenblicke  der  Ver- 
gänglichkeit zu  entziehen.  Keine  andere  Vergütigung  konnte  den  Auf- 
geforderten für  ihre  Mühe  versprochen  werden  als  eine  mention  honorable 
in  regelmäßig  erscheinenden  Berichten.  Das  Resultat  fiel  jedoch  über 
alle  Erwartungen  günstig  aus.  Es  bildet  dies  geradezu  ein  einzig- 
artiges Kapitel  in  der  Geschichte  der  folkloristischen  Sammlung,  wie 
ein   Volk    wirklich    selbst,   aus   der  Initiative   eines   einzigen    aufopfernden 


^^^g  Gustav  Suits:  Die  estnische   Literatur. 

Mannes    in    den    schwierigsten    Verhältnissen    ein    enormes    Material    von 
zirka    45000  alten  Liedern,    10000   Sagen    und    Märchen,    52000    Sprich- 
wörtern, 40000  Rätseln,    60000  Punkten  abergläubischer  Gebräuche  usw. 
gehoben  hat. 
M.  j.  Eisen,  Neben   und   nach   Hurt   arbeitet  noch  ein  anderer  Pastor,    M.  T.  Eisen 

J.  Bert;mann,  .  '  '' 

M.  Lipp.  mit  großem  Fleiß  am  Sammeln  von  Folklore.  Während  Hurt  vor  allem 
die  schnell  verschwindenden  Lieder  retten  wollte,  hat  Eisen  sein  Haupt- 
augenmerk auf  die  Prosaüberlieferungen  gerichtet.  Außerdem  hat  sich 
Eisen  als  ein  fruchtbarer  Vielschreiber  in  der  Literatur  bekannt  ge- 
macht. Seinen  poetischen  Leistungen  nach  steht  er  in  einer  Linie 
mit  J.  Bergmann  und  M.  Lipp,  die  von  ihren  theologisch  geschulten  und 
Epische    patriotisch    gesinnten    Musen    mit    einigem    Glück    zu    epischen   Gedichten 

Dichtung.  . 

angeregt  wurden,  im  Grunde  aber  doch  wenig  poetische  Naturen  sind 
und  insbesondere  in  ihrer  Lyrik  unbehilflich  das  ewig  Alltägliche  ihres 
Innenlebens  offenbaren.  Die  Kraft  versaget  diesen  Nachempfindern,  wenn 
sie  Leidenschaften  schildern  wollen,  eine  große  Freude,  einen  großen 
Schmerz.  In  der  Weltanschauung  dieser  Gruppe  ähnlich,  an  dichte- 
jakob  Tan.ra   rischeu  Qualitäten   ihr   vielleicht   überlegen,    erscheinen  Jakob  Tamm   und 

und  Jakob  Liiw.  . 

Jakob  Liiw,  die  ihren  Ruf  als  die  lesbarsten  epischen  Talente  der  est- 
nischen Romantik  leider  durch  zahlreiche  geschmacklose  Gelegenheits- 
reiraereien  sehr  geschädigt  haben;  ihren  dann  und  wann  durchklingen- 
den   Schulmeisterton    wird    der    wohlmeinende    Leser    schon    mit    in    den 

G.  E.  Luij;.-!.  Kauf  nehmen  müssen.  Dasselbe  gilt  mutatis  mutandis  von  G.  E.  Luiga, 
der  in  seinen  Darbietungen    einen   vorwiegend   lyrischen  Eindruck   macht. 

AUgemeine    Nach    Selbständigen,    in    eigener    Welterkenntnis    wurzelnden,    ästhetisch 

Charakteristik.  r-     •  c^         ••      r 

gebildeten,  erlesenen  Geistern,  nach  bahnbrechenden  Schöpfungen  und 
wirksamen  Literaturströmungen  würden  wir  in  dem  ganzen  Zeitraum  von 
den  achtziger  Jahren  bis  zum  Jahrhundertausgang  allerdings  vergeb- 
lich suchen.  Ungeachtet  dessen,  daß  ganze  Hekatomben  von  Versen 
auf  dem  Altar  des  Vaterlandes  geopfert  worden  sind,  spürt  man  in  den 
meisten  Hervorbringungen  doch  kein  elementares,  organisches,  wurzel- 
echtes Verwachsensein  mit  dem  heimatlichen  Boden,  keine  solche  Selb- 
ständigkeit der  Auffassung,  welche  man  eine  spezifisch  estnische  nennen 
könnte,  sondern  die  gesamte  estnische  Dichtung  zeigt  sich  mit  Elementen 
durchsetzt,  die  bedenklich  deutsch  anmuten:  das  Wort  „Nachahmung", 
„Nachempfindung"  umfaßt  die  ganze  Geschichte  der  estnischen  Literatur. 
Daß  das  Nationale  noch  nicht  im  Stoffe  liegt,  sondern  daß  es  auf  den 
Geist,  auf  die  Weltanschauung  ankommt,  die  sich  daraus  spricht,  davon 
Patriotische  legen  auch  die  patriotischen  Erzähler  —  wie  Jakob  Pärn,  Lilli  Suburg, 
Erzählung.  J.  Körw,  J.  Järw  und  viele  andere  —  ein  im  negativen  Sinne  beredtes 
Zeugnis  ab.  Insbesondere  waren  es  die  Schilderungen  der  Vorzeit  in 
einfältig-idyllischem  Geiste  und  der  historische  Roman  ohne  allzugroße 
historische  Treue,  mit  Vorliebe  aus  der  Zeit  der  deutschen  Eroberung  im 
13. — 14.  Jahrhundert,    die    auf  lang    hinein    den    beliebtesten  Tummelplatz 


III.   Das  Emporkommen  ilcr  genuin-estnischen   Literatur  (19.  Jahrhundert).  7  ig 

für  allerlei  Dilettantismus  und  Spekulation  abgaben.  Es  war  eine  auch 
anderswo  nicht  unbekannte  Art  des  Schaffens  der  Leute,  die  sich  ein- 
bildeten, wenn  sie  altnationale  Namen  irgendeiner  Chronik  entnehmen 
und  sie  mit  Zügen  von  Walter  Scott,  Chateaubriand,  Eugene  Sue  oder 
Alexander  Dumas  bekleiden,  so  sei  der  nationale  Roman  schon  fertig! 
Von  den  populärsten  Vertretern  der  geschichtlichen  Erzählung  sind  zu 
nennen:  Ed.  Bornhöhe  (Brunberg)  und  A.  Saal,  der  erste  bodenwüchsiger  Ed.  Bomhöhe, 
und  realistischer,  der  zweite  pathetischer  und  abenteuerlicher.  Eine  we- 
niger prätenziöse  Novellistik  ohne  vaterländisches  Pathos,  eine  schlichte.  Volkstümliche 
wahrheitsgetreue  Schilderung  des  primitiven,  auf  althergebrachter  Tra- 
dition beruhenden  Volkslebens  auf  dem  Lande,  oder  ein  liebevolles  Ver- 
senken in  das  Detail  einer  estnischen  Landschaft  —  diese  Art  von  Dar- 
stellung hat  nur  höchst  vereinzelte  Pfleger  gefunden.  Es  sind  vor  allem 
nur  zwei  Erzähler,  die  durch  ihre  feinere  Beobachtungsgabe,  gemütsvollere 
Sittenschilderung  und  manche  gelungene  volkstümliche  Gestalt  eine  hervor- 
ragendere Stellung  einnehmen:  A.  Kitzberg  und  Juhan  Liiw.  Was  eine  a. Kitzberg und 
Seltenheit  in  der  sie  umgebenden  Massenproduktion  ausmacht:  sie  haben 
Temperament.  Ein  goldener,  liebenswürdiger  Humor  waltet  in  den  meisten 
intim  erfaßten  Szenen  und  anschaulich  gegebenen  Charakterbildern  Kitz- 
bergs; eine  tief-melancholische,  in  Wahnsinn  ausmündende  Unterströmung 
zieht  sich  durch  die  schmerzhaft  sehnsuchtsvollen  Bücher  Juhan  Liiws 
hindurch.  In  einzelnen  Erzählungen  hat  auch  J.  Mändmets  etwas  Glück  j.  Mändmets. 
gehabt,  ohne  zu  ausgeprägter  Eigenart  und  einheitlicher  Gesamtwirkung 
zu  kommen.  Das  Gros  der  Romanliteratur  lieferten  jedoch  zahlreiche 
Übersetzungen,  und  zwar  zumeist  Übersetzungen  deutscher  „Familienlite- 
ratur" und  englisch  -  amerikanischer  Kriminalromane  von  höchst  bedenk- 
lichem Wert. 

Schlimm  genug  sah  es  auf  dem  Gebiet  der  dramatischen  Dichtung  Dramatische 
aus.  Auf  den  Brettern  der  Dilettantenbühnen  lösten  sich  Kotzebues 
und  Ifflands  Produkte  von  Jahr  zu  Jahr  ab,  die  nicht  bloß  übersetzt, 
sondern  auch  in  den  estnischen  Originalstücken  nachgeahmt  wurden; 
Klassiker  wie  Shakespeare,  Moliere,  Voltaire,  Schiller  hatten  nur  wenig 
Anklang.  Im  allg-emeinen  hinterläßt  das  Drama  den  Eindruck  der  größten 
Schwäche  der  estnischen  Literatur.  Es  überrascht  dies  auf  eine  Seite  überblick  aber 
hin,  denn  das  Volk  hat  jahrzehntelang  gerade  für  das  Theaterwesen  ein  wesen. 
ganz  besonderes  Interesse  an  den  Tag  gelegt;  in  allen  Städten  und  viel- 
fach auch  auf  dem  flachen  Lande  bestehen  Vereine,  die  in  regelmäßiger 
Wiederkehr  Theateraufführungen  veranstalten.  Da  man  aber  einer  sach- 
kundigen, systematischen  Leitung  wie  einer  gut  eingerichteten  Bühne  mit 
berufsmäßigen  Schauspielern  entbehrte,  blieb  man  unbehilflich  auf  dem 
alten  Fleck  des  berufenen  und  unberufenen  Dilettantismus  stehen;  es  gab 
ja  lange  auch  kein  theaterfähiges  estnisches  Publikum.  Erst  in  der  alier- 
jüngsten  Gegenwart,  der  Zeit  eines  frischen  Vorwärtsdringens  der  Esten 
auf  der  ganzen  Linie,    sind   zwei  ständige  und  künstlerischen  Ansprüchen 


35° 


Gustav  Suits  :  Die  estnische  Literatur. 


Rechnung    zu    tragen    bestrebte    estnische  Theater    in   Dorpat   und    Reval 
ins  Dasein   getreten. 
Dilettantismus  Überblicken  wir  die   eben  durchlaufene  Literaturperiode,  so  erscheint 

zeichnendes    sic    uns    in    ihrer    Gesamtheit    im    Zeichen    des    Dilettantismus.      Da    In- 

Merkmal  der  , 

estnischen     telligeuz    im    Lande    nicht    allzuviel    vorhanden    gewesen    ist,    so    hat    der 

Literatur.        _,.  . 

Einzelne  seine  Tätigkeit  zumeist  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  ver- 
wenden und  —  keineswegs  zum  Vorteile  —  auf  allen  möglichen  Gebieten 
zersplittern   müssen.     Als   zwei   eklatanteste  Beispiele    dieser   allgemeinen 
K.  A.  Hermann  unheilsamcn  Zersplitterung  der  Kräfte  dürften  hier  Dr.  K.  A.  Hermann  und 
A.  Grenzstein.  A.  Grenzsteiu,    die    zwei    tonangebenden   Antagonisten    in    der    estnischen 
Literatur  und  Journalistik  des  nii  de  sicclc   angeführt  werden,   die   sich   in 
den  verschiedensten  Literaturgattungen  versucht,    aber   kaum  in  einer  da- 
von etwas  Vollendetes  geschaffen  haben.     Hermann  —  „kein  Talent,  doch 
ein  Charakter"   —   und    Grenzstein  —  „kein   Charakter,    doch    ein   Talent" 
—  zeigen   sich   zugleich    als  zwei  typische  Repräsentanten  der  unfähigen, 
phrasenhaften   und   an   einem   fühlbaren  Mangel   an  Rückgrat   krankenden 
Generation  der   nachachtziger  Jahre,    die    den  Gewaltmaßregeln   und  Ver- 
suchungen   der    konsequent    um    sich    greifenden    Russifikation    auf  jeden 
Fall  nicht  gewachsen  war.     Die  Kraft  des  Volkes  schien  gebrochen,    das 
vernichtete  Selbstvertrauen  hatte  Mutlosigkeit  und  Resignation  zur  Folge, 
der  sich  auch  die  Dichtung  anschmiegte.     Melancholie,  Schwärmerei,  ele- 
gisches Seufzen  und  Klagen  ergreift  in  bedeutendem  Maße  auch  die  besten 
Anna  Haawa   Lyriker  der  trauererfüllten  Tage:  Anna  Haawa  und  K.  E.  Sööt.    Die  älteren 
"  Dichter,    die    bisweilen    noch    den    leeren    Ruf:    „Es   lebe   Estland!"   anzu- 
stimmen versuchten,    platteten  sich  von  Tag  zu  Tag  ab,    indem  ihre  Pro- 
duktion   immer    mehr   und   mehr   zum   seichten,    langweiligen   Lehrgedicht 
Die  estnische  herabsank  oder  sich  in  bombastischem  Phrasenwulst  verlor.  Also  bekundet 
genheit  am  Aus-  die  cstnische  Literatur  am  Ausgange  des  Jahrhunderts,  der  Luft  und  des 
hunderts.      Lichtes    berautjt    und    der    Gewalt    eines   unerhörten   Systems   von    Zensur- 
willkür  preisgegeben,    weder    Enthusiasmus   noch    Leidenschaft,    den    ihr 
auferlegten    nationalen    Kampf     ums     Dasein     auszufechten,     geschweige 
denn    die    chinesischen    Mauern    einzureißen,    durch    welche    man    sie    so 
lange    den    Anforderungen    der    Neuzeit    verschlossen    hatte.      Es    wollte 
nahezu    erscheinen,    als    müsse    sie    in    ihrem    Gefängnisse    verschmachten 
und  an  ihrer  einseitigen,  kraftlosen  nationalen  Abgeschlossenheit  zugrunde 
gehen. 

Die  Jahre  des  IV.  Die   neucste  Zeit.     Die   letzten  Jahre   haben  jedoch   einen   ge- 

Dranges.  Wältigen  geistigen  Umschwung  und  eine  stürmisch  vorwärtsdringende  Be- 
wegung unter  den  Esten  hervorgerufen.  Kaum  war  das  alte  Regime 
ins  Schwanken  geraten,  so  regte  sich  wieder  auch  die  unterbundene 
Lebensenergie  des  Volkes  —  und  tatkräftiger  als  je  zuvor.  Eine  Rege- 
neration der  nationalen  Idee  hatte  durch  sein  Flammenwort  der  Redak- 
j.  Tünisson.  teur    der  ältesten   estnischen   Zeitung  Poslimccs    J.  Tönisson,    ein  Schüler 


IV.  Die  neueste  Zeil. 


351 


Kants  und  Schillers,  schon  vor  Ablauf  des  alten  Jahrhunderts  eingeleitet; 
im  neuen  zieht  er  aus  seiner  Theorie  die  praktischen  Konsequenzen  und 
erfüllt  so  das  Ideal  des  nationalen  Zeitalters,  in  dessen  Gedanken  und  Be- 
strebungen er  noch  durchaus  wurzelt,  obgleich  er  als  deren  höchste  Spitze 
dieselben  bereits  überragt.  Sonst  eine  wellenwerfende  Persönlichkeit  auf 
fast  allen  Gebieten  des  estnischen  Lebens,  hat  er,  von  Anfang  an  mit 
moralischen  Begriffen  operierend,  die  neubelebte  nationale  Richtung  zu 
keinen  bedeutenden  ästhetischen  Hervorbringungen  befähigt.  Zweifels- 
ohne verdankt  man  den  Männern  alten  Schlages  manche  wertvolle  Be- 
förderung der  Literatur  praktischer  Art  sowie  auch  die  Neugründung  des 
literarischen  Vereins  (1907).  Doch  nicht  von  den  Überzeugungen  und  DasAufkommen 
Anschauungen  nationaler  Formation  geht  die  neueste  estnische  Literatur-  und  Naturalis- 
entwicklung aus,  sondern  von  einem  kritisch -analytischen  Geiste  der  in 
den  trostlosen  neunziger  Jahren  geborenen  Skepsis,  von  einer  Richtung 
mit  bewußten  realistischen  und  naturalistischen  Tendenzen,  die  in  ihren 
besten  Vertretern  darauf  abzielt,  die  estnische  Literatur  aus  den  Schranken 
des  exklusiven  Nationalismus  in  die  gesamteuropäische  Kulturatmosphäre 
emporzuheben.  Ed.  Wilde,  der  in  der  ersten  Hälfte  seines  Schaffens  leichte  Ed.  wiide. 
humoristische  Novellen  und  feuilletonistische  Familienromane  produziert 
hatte,  entpuppt  sich  um  igoo  herum  als  literarischer  Vorkämpfer  der 
neuen  Ideen,  indem  er  sich  ernster  sozialer  und  kulturhistorischer  Stoffe 
bemächtigt  und  große  Zolamäßige  Romane,  wie  z.  B.  „Den  Aufstand  in 
Machtem"  [Mahtra  sö'da),  schreibt.  Zu  ihm  gesellt  sich  mit  seinen  sati- 
rischen Novellen  Ernst  Petersen,  ein  weniger  produktiver,  aber  an  Tiefe  e.  Peterson. 
und  Eigenart  der  Begabung  Wilde  überlegener  Schriftsteller,  der  in  zür- 
nender Liebe  zu  seinem  Volke  spricht  und  in  seinen  mit  etwas  groben 
Strichen  aber  sicher  und  markant  gezeichneten  Wirklichkeitsschilderungen 
eine  scharfe  Gesellschaftskritik  ausübt.  An  Wilde  und  Peterson  schließt 
sich  in  einigem  Abstände  eine  hauptsächlich  an  der  russischen  Literatur 
erzogene  literarische  Jugend  an,  von  deren  leistungsfähigsten  Vertretern 
O.  H.  Münther,  A.  Hansen    und  Mait  Metsanurk  (Pseud.)   zu   nennen    sind.  o.  h.  MUnther, 

A.  Hansen, 

Wie   ein  roter  Faden   zieht   sich   durch   die  Erzählungen   der    angeführten  MaitMetsanurk. 
Prosadarsteller  die  immer  schroffer  hervortretende  Verschärfung  der  Gegen- 
sätze   zwischen    der    baltisch  -  deutschen    und    der    estnischen    Gesellschaft 
und  die  immer  mehr  sich  ausprägende  Scheidung    der  Geister    unter   den 
Esten    selbst    hindurch;    und    noch   in   weiter  Ferne    erscheint  das  goldene 
Zeitalter  der  estnischen  Literatur,  wo  eine  sonnenerhellte  Dichtung  heiter 
lächelnd  Kränze  winden  könnte.    Eine  weniger  politischen  als  kulturellen 
und  ästhetischen  Idealen  nachstrebende  Gruppe  von  jungen  radikalen  Ver- 
fassern stellt  allerdings  „Das  junge  Estland"  {Noor-Eesfi)  dar,  das  sich  seit  „Das  junge 
1905    zu   einer   gemeinsamen  literarischen  Tätigkeit  zusammengeschlossen 
hat.     Von  dessen  Autoren  scheint  Fr.  Mihkelson,  ein  zupackendes,  erfolg-  Fr.  Mihkeison. 
reich  nach  einer  eigenen  Diktion  suchendes  Talent,  das  wohl  noch  einiger 
Reife   und  Versenkung"    bedarf,    im   Augenblicke    als    der  hoffnungsvollste 


35' 


Gustav  Suits  :  Die  estnische  Literatur. 


Schluß-  dazustehen.  Es  dürfte  überhaupt  für  die  jüngste  Richtung  in  der  estni- 
schen Literatur  bezeichnend  sein,  daß  sie  nicht  nur  das  poetische  Stoff- 
gebiet zu  erweitern  versucht,  sondern  auch  die  Sprache  mit  besonderer 
Sorgfalt  behandelt  und  allmählich  eine  neue  ausgebildetere  Technik  er- 
zwingt. Neben  der  gegenwärtig  tonangebenden  Gruppe  der  estnischen 
„Moderne",  dem  ebengenannten  „jungen  Estlande",  haben  unter  jüngeren 
Belletristen  noch  versucht,  ihre  eigenen  Wege  einzuschlagen:  E.  Enno, 
J.  Lattik  und  J.  Lintrop.  Im  allgemeinen  ist  die  Zahl  der  produzierenden 
Kräfte  eine  entschieden  zunehmende.  So  verschiedenartig  auch  ihre  In- 
teressen und  Fähigkeiten  sind,  müssen  sie  alle  bewußt  und  unbewußt, 
wie  im  Banne  einer  über  ihnen  waltenden  Macht,  zu  einem  und  demselben 
Zwecke  zusammenwirken:  zur  Umgestaltung  der  estnischen  Literatur. 


Literatur. 

Ein  erster  Versuch,  die  estnische  Literatur  darzustellen,  ist  in  den  vierziger  Jahren  des 
vergangenen  Jahrhunderts  von  H.  Jürgenson  durch  seine  Kurze  Geschichte  der  estnischen 
Literatur  gemacht  worden  (Verhandl.  der  Gelehrt.  Estn.  Gesellschaft  zu  Dorpat,  B.  I).  Eine 
zweite,  gründlichere,  aber  nunmehr  veraltete  Abhandlung  Viron  nykylsemmästä  kirjal- 
lisuudesta  (Über  die  neuere  estnische  Literatur.  Helsingfors,  1856)  rührt  von  dem  finnischen 
Professor  A.  Ahlqvist  her.  Femer  verdient  Erwähnung  Paul  Hunfalvvs  Reise  in  den 
Ostseeprovinzen  Rußlands  (Übersetzung  aus  dem  Ungarischen.  Leipzig,  i874\  welche  neben 
interessanten  Betrachtungen  über  baltische  Kulturzustände  auch  ein  Kapitel  über  die  est- 
nische Literatur  enthält.  \'on  neuesten  Orientierungsversuchen  über  diesen  Gegenstand 
könnten,  mit  Rücksicht  auf  ein  weiteres  Publikum,  noch  genannt  werden:  in  deutscher 
Sprache  eine  Übersicht  über  die  Entwicklung  der  estnischen  Poesie  von  A.  Jürgenstein 
(Aus  fremden  Zungen  X\'ll,  10)  und  in  russischer  Sprache  ein  Artikel  von  Ed.  Wirgo, 
Einiges  über  die  estnische  Literatur  (^Vjestnik  Inostrannyi  Literatury  1907,  11).  In  der  est- 
nischen Sprache  selbst  verdankt  man  die  erste  und  bisher  die  einzige  ausführliche  Gesamt- 
darstellung der  Literatur  Dr.  K.  A.  Hermann,  dem  Lektor  der  estnischen  Sprache  an  der 
Universität  Dorpat.  Wohl  kann  seine  Eesti  kirjanduse  ajalugu  (Geschichte  der  estnischen 
Literatur.  Dorpat,  1898  ,  ein  mehr  in  die  Breite  als  in  die  Tiefe  gehendes  Werk,  modernen 
literaturhistorischen  Ansprüchen  nicht  gerecht  werden,  ist  aber  doch  als  Nachschlagebuch 
gewiß  von  Wert.  Die  Geschichte  der  estnischen  Literatur  von  T.  Sander  TEesti  kirjanduse 
ajalugu  1  und  11  [Dorpat,  1899 — 1901])  ist  durch  den  früh  erfolgten  Tod  des  Verfassers  leider 
ein  Torso  geblieben.  Einzelne  wertvolle  Spezialstudien  und  mannigfache  kleinere  Beiträge 
zur  Kenntnis  der  älteren  estnischen  Literatur-  und  Kulturgeschichte  hat  W.  Reim.\n  gehefert, 
ein  ebenso  tüchtiger  wie  eifriger  Durchstöberer  von  alten  Rumpelkammern. 

Eine  einsichtsvolle  Übersicht  über  das  Sammeln  estnischer  Runen  hat  O.  K.ALLAS 
gegeben  (Finnisch-ugrische  Forschungen  [1902]  Bd.  II). 

Zur  zahlreichen  Kalewipoegliteratur  vergleiche  man:  Kalewipoeg,  aus  dem  Estnischen 
übertragen  von  F.  Löwe,  mit  einer  Einleitung  und  mit  Anmerkungen  herausgegeben  von 
W.  Relman  (Reval,  1900),  Leopold  von  Schroeder,  Zur  Entstehungsgeschichte  des  Kaie, 
wipoeg  (Verhandlungen  der  Gelehrt.  Estn.  Ges.  B.  XVll)  und  U.  Karttunen,  Kalevipoegin 
kokoonpano  (Die  Zusammensetzung  des  Kalewipoeg.    Helsingfors,   1905). 


X>re  Kultur  der  Gegenwart.    L  9. 


DIE  LITAUISCHE  LITERATUR. 

Von 
Adalbert  Bezzenberger. 


Das  litauische  Einleitungf.     Die  Litauer  Q;ehören  zu  einer  den  Slawen  nahestehen- 

Volk.  °  ° 

den,  aber  besonderen  indogermanischen  Völkergruppe,  die  heute  nur  aus 
ihnen  und  den  Letten  besteht,  ehemals  aber  auch  die  verschollenen  Jat- 
wägen  und  die  im  1 7.  Jahrhundert  ausgestorbenen  Preußen  umfaßte.  Dem 
Preußischen  gegenüber  bilden  Litauisch  und  Lettisch  eine  engere  sprach- 
liche Einheit.  Die  häufig  neben  den  Litauern  genannten  Zemaiten  (Sa- 
maiten,  Samogizier)  sind  kein  besonderer  Volksstamm,  sondern  nur  eins 
der  vielen,  mundartlich  geschiedenen  Glieder  der  litauischen  Nationalität 
(im  wesentlichen  die  Bewohner  des  russischen  Kreises  Telsch).  Die  Ge- 
samtzahl der  Litauer  läßt  sich  annähernd  auf  höchstens  zwei  Millionen 
schätzen  und  verringert  sich  in  Preußen  von  Jahr  zu  Jahr. 

Sprachgrenzen.  Das    heutige  litauischc  Sprachgebiet   erstreckt   sich  vom  Ostufer  des 

Kurischen  Haffs  bis  fast  zur  Düna,  von  der  Südgrenze  Kurlands  bis 
Goldap  und  beinahe  bis  Grodno  und  Wilna,  und  es  scheint,  daß  seine 
gegenwärtigen  Grenzen  sich  ungefähr  mit  denjenigen  decken,  in  welchen 
das  litauische  Volk  gegen  Ende  seiner  Vorgeschichte  wohnte. 

Die  Anfange  der  Dieser   Zeitabschnitt   reichte    bis   in    das   11.  Jahrhundert,    in    dem    die 

Geschichte,  lltauische  Geschichte  mit  russischen  Einfallen  begann,  um  nach  kurzer 
Glanzzeit  ruhmlos  durch  die  Union  von  Dublin  (1569)  zu  enden.  Ihr  Ver- 
lauf war  bestimmt  in  erster  Linie  durch  die  Mittelstellung  Litauens  zwi- 
schen der  byzantinischen  und  der  abendländischen  Christenheit,  in  zweiter 
durch  dynastische  Rücksichten,  und  ihre  Grundzüge  sind  vorwiegend  bio- 
graphisch. Ihren  ersten  weltgeschichtlichen  Anlauf  nahm  sie  unter  Ringold, 
Herrn  von  Kernow  (nördlich  von  Wilna)  —  einem  der  zahlreichen  Gebiete, 
in  die  das  damalige  Litauen  zerfiel  —  und  seinem  Sohne  Mindowe,  der 
sich  1250  taufen  ließ  und  von  Innocenz  IV.  als  König  von  Litauen  an- 
erkannt wurde.  Sein  Ziel,  die  Herstellung  eines  litauisch-russischen  Staates, 
hat  er  zwar  nicht  erreicht,  aber  doch  einen  gewissen  Zusammenhang  Li- 
tauens geschaffen. 


Einleitung.  355 

Nach  Mindowes  gewaltsamem  Tode  (er  fiel  1263  durch  Verschwörer- 
hand) war  Litauen  der  Kampfplatz  zweier  einheimischer  Parteien:  einer 
heidnisch -nationalen  und  einer  christlich-russischen,  bis  Lutuwer,  wahr- 
scheinlich Fürst  von  Eirogaly  in  Zemaiten,  seine  Dynastie  zur  groß- 
fürstlichen Herrschaft  brachte.  Durch  glückliche  Kriege  mit  Polen  und 
dem  Deutschen  Orden,  der  damals  bereits  Preußen  bis  zum  Memelstrom 
unterworfen  hatte,  wurde  von  Lutuwers  Söhnen  Witen  (seit  1293)  und 
Gedimin   (seit  1316)   der  von  Mindowe   erstrebte  Einheitsstaat  geschaffen,    HersteUang 

•         f  •       1  TwT      •  -,....  nT*      1       1      •     eines  Einheits- 

und   obgleich    in    diesem    die    litauische    Nationalität    in    der    Minderheit      Staates. 

war  und  seine  Bevölkerung  zu  zwei  Dritteln  aus  Russen  bestand,  so 
hatte  er  doch  die  Kraft,  sich  gegen  Moskau  und  gegen  die  Ordens- 
macht im  Westen  und  im  Norden  zu  behaupten.  Hat  doch  ein  Heeres- 
zug um  1325  verbündete  Litauer  und  Polen  bis  in  die  Mark  Branden- 
burg geführt! 

Dieser  Staat  fiel  nach  Gedimins  Tode  (1341  oder  1342)  an  dessen 
sieben  Söhne  und  seinen  Bruder  Woin,  und  da  dieselben  ihn  unter  sich 
teilten  und  demnächst  ihre  besondere  Politik  trieben,  würde  er  bald  am 
Ende  gewesen  sein,  wenn  nicht  zwei  der  Söhne:  Olgerd  und  Keistut  —  oigerd  und 
jener  vorwiegend  Diplomat,  dieser  Krieger;  jener  für  den  Osten  inter- 
essiert, dieser  ein  leidenschaftlicher  Feind  des  Ordens  und  durchaus  heid- 
nischer Litauer  —  eingegriffen  und  gewaltsam  durchgesetzt  hätten,  daß 
Olgerd  als  oberherrlicher  Großfürst  von  seinen  Brüdern  anerkannt  wurde. 
In  Wirklichkeit  teilte  er  aber  die  Herrschaft  mit  Keistut  und  überließ 
diesem  den  Westen,  um  selbst  seinen  russischen  Plänen  nachzugehen. 
Nur  in  der  furchtbaren  Schlacht  bei  Rudau  unweit  Königsberg  (6.  Febr. 
1370),  in  der  120000  Krieger  fochten,  sehen  wir  beide  einmal  vereinigt. 
Diese  Schlacht  wurde  freilich  gegen  Winrich  von  Kniprode  verloren, 
allein  weder  durch  sie,  noch  durch  seine  zahllosen  Litauerzüge,  noch 
durch  zweimalige  Gefangennahme  Keistuts  vermochte  der  Orden  den 
Widerstand  zu  brechen,  welchen  dieser  heldenhafte  Gegner  dem  Ansturm 
der  abendländischen  Ritterschaft  entgegensetzte.  Gleichzeitig  aber  war 
Olgerd  mit  großem  Erfolge  gegen  die  Moskowiter,  die  Polen  und  die 
Tataren  Südrußlands  tätig,  und  so  kam  es,  daß  bei  seinem  Tode  (1377) 
der  litauische  Staat  sich  ausdehnte  von  der  Ugra  und  Oka  bis  zum  Bug 
und  von  dem  Baltischen  bis  zum  Schwarzen  Meer. 

Zu  seinem  Nachfolger  in  der  Oberherrschaft  hatte  Olgerd  seinen  wiadystaw- 
Lieblingssohn,  den  hochbegabten  Jagiello  bestimmt,  und  Keistut  hatte 
dies  gebilligt.  Allein  trotz  dieser  Zustimmung  fühlte  sich  Jagiello  durch 
seinen  Oheim  oder  doch  durch  dessen  Söhne  in  dem  Grade  bedroht,  daß 
er  mit  dem  Hochmeister  und  dem  livländischen  Meister  geheime  Verträge 
abschloß,  welche  Keistut  der  gesamten  Ordensmacht  preisgaben.  Die 
Folge  dieser  Verräterei  waren  innere  Wirren,  in  deren  Verlauf  Keistut 
sich  verleiten  ließ,  in  Begleitung  seines  Sohnes  Witowt  in  Jagiellos  Lager  witowt. 

zu  verhandeln.     Er  wurde  hier  aber  festgenommen,  und  am  fünften  Tage 

23. 


•,1-^  Adalbert  Bezzenberger:  Die  litauische  Literatur. 

darauf  fand  man  ihn,  den  mehr  als  80jährigen,  in  seinem  Gefängnis  tot  — 
wahrscheinlich  auf  Jagiellos  Befehl  erdrosselt  (1382).  Er  ist  der  letzte  der 
litauischen  Fürsten,  die  nach  heidnischem  Brauche  bestattet  sind.  Seine 
Gemahlin  Birute  ließ  Jagiello  ertränken,  ihre  Verwandten  hinrichten,  Witowt 
aber  gefangen  halten.  Durch  eine  List  seiner  Gattin  wurde  dieser  in- 
dessen befreit  und  begann  sofort  einen  Kampf  um  seine  Stellung,  der 
nach  manchen  Zwischenfällen  Jagiello  veranlaßte,  ihm  den  Länderbesitz 
Keistuts  und  die  großfürstliche  Würde  zuzugestehen  (1392)  —  Bewilli- 
gungen, die  Jagiello  unbedenklich  erscheinen  konnten,  seit  ihm  seine 
Vermählung  mit  der  polnischen  Königin  Hedwig  (1386)  einen  starken 
Rückhalt  gegeben  hatte.  Er  wurde  bei  dieser  Gelegenheit  Christ,  er- 
hielt den  Taufhamen  Wiadyslaw  und  trat  alsdann  selbst  als  Bekehrer 
Litauens  auf,  das  nunmehr  zu  seinem  Unglück  mit  den  Geschicken  Polens 
verknüpft  war. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  Witowt  die  Gefahren  erkannt  hat, 
mit  welchen  diese  Verbindung  sein  Volk  bedrohte,  und  daß  das  Streben, 
sie  abzuwenden,  zugleich  aber  den  Orden  in  Schach  zu  halten,  die  Trieb- 
feder seiner  ferneren  Politik  gewesen  ist.  Von  Anfang  bis  Ende  seiner 
großfürstlichen  Regierung  sehen  wir  ihn  bemüht,  Litauen  zu  kräftigen 
und  ihm  als  unabhängigem  Staatskörper  eine  nach  beiden  Seiten  aus- 
schlaggebende Stellung  zu  sichern,  und  wenn  er  dabei  selbst  vor  Verrat 
und  Wortbruch  nicht  zurückscheute,  kann  das  Gesamturteil  über  ihn  doch 
nur  ein  bewunderndes  sein.  Es  war  gewiß  eine  Verräterei,  daß  er  nach 
der  Schlacht  von  Tannenberg  zuerst  die  Belagerung  der  Marienburg  auf- 
gab, allein  diesem  Abzug  lag  eine  geniale  Berechnung  zugrunde,  denn 
er  lähmte  dadurch  in  dem  für  die  Geschichte  unserer  Ostmarken  ent- 
scheidendsten Augenblick  die  polnische  Macht  und  ermöglichte  den  Frie- 
den von  Thom  (141 1).  Und  vielleicht  noch  genialer  waren  seine  Be- 
mühungen um  eine  kirchliche  Union  seiner  Untertanen,  unter  denen  vor 
Jagiellos  Bekehrung  bereits  das  russische  Bekenntnis  Eingang  gefunden 
hatte.  Gelangen  diese  Bemühungen,  so  war  Litauen  der  Macht  des  pol- 
nischen Klerus  verschlossen.  Allein  eine  Gesandtschaft  von  zwanzig  seiner 
Bischöfe  griechischen  Bekenntnisses  —  an  ihrer  Spitze  der  auf  sein  Be- 
treiben dem  Moskauer  Metropoliten  entgegengestellte  Metropolit  von  Kiew 
—  die  er  (der  selbst  .dreimal  den  Glauben  gewechselt  hat)  nach  Konstanz 
sandte,  um  eine  Vereinigung  der  griechischen  und  der  römischen  Kirche 
anzubahnen,  kehrte  erfolglos  heim,  und  Witowts  Unionsbestrebungen 
waren  damit  gescheitert.  Keineswegs  sind  sie  aber  wirkungslos  gewesen, 
sondern  haben  Konstellationen  von  großer  Tragweite  ergeben.  Sie  er- 
warben dem  Großfürsten  nämlich  das  Vertrauen  der  Utraquisten,  und  in- 
folgedessen boten  ihm  die  Hussiten  nach  König  Wenzels  Tode  die  böh- 
mische Krone  an.  —  Witowt  ging  auf  diesen  Ruf  ein,  konnte  ihm  aber 
wegen  der  Ungun.st  der  Verhältnisse  nicht  folgen  und  erklärte  sich  in 
dieser  Lage   bereit,    die    ihm   bereits   dreimal   von   Kiuser  Sigismund    an- 


I.   Die  litauische  Literatur  bis  zum  Anfang  des   l8.  Jahrhunderts.  357 

getragene  Königskrone  Litauens  anzunehmen.  Was  Sigismund  hierbei  er- 
strebte, war  die  Spaltung  der  polnisch-litauischen  Macht,  während  die 
Krönung  für  Witowt  die  Unabhängigkeit  seines  Landes  und  Volkes  von 
dem  polnischen  Reichstage  und  der  Gnesener  Synode,  ja  eine  Zukunft 
Litauens  bedeutete,  welche  Rußland  zuteil  geworden  ist. 

Um  diese  Gefahren  abzuwenden,  verwehrten  die  Polen  der  Krönungs- 
gesandtschaft Sigismunds  den  Durchzug;  Witowt  aber,  der,  obwohl  schwer 
krank,  sie  in  festlicher  Versammlung  in  Wilna  erwartet  hatte,  fiel  auf  der 
Heimkehr   von   dort    nach    seiner   Residenz   Troki    vom   Pferde    und   starb 
am  27.  Oktober   1430.     Der    letzte    bedeutende    Erfolg    seiner    Politik    war  Festlegung    der 
der  Frieden  am  See  Melno  (1422),  welcher  die  Ostgrenze  des  preußischen  preJmsch"^''und 
Ordenslandes  bis  auf  den  heutigen  Tag  festlegte.     Durch   ihn  wurde  die  ""^^""^ 
livländische    Ordensmacht   isoliert   und    Litauen    in  Polangen    ein  Zugang 
zum  Meere  gegeben,    zugleich   aber  auch  die  spätere  kulturelle  und  kon- 
fessionelle Verschiedenheit  zwischen  Preußisch-  und  Russisch-Litauen  an- 
gebahnt. 

Mit  Witowt  schied  die  letzte  machtvolle  Persönlichkeit  der  litauischen 
Geschichte,    die    letzte    zugleich,    deren   Regiment    dem   litauischen  Volke 
eine  freie  nationale  Kulturentwicklung  in  greifbare  Nähe  rückte.     Soll  er 
sich  doch   mit  dem  Gedanken   getragen   haben,   an  Stelle    des  Russischen, 
das  von  den  Fürstenhöfen   aus  tief  in   sein  Volk   gedrungen   war,   das  Li- 
tauische zur  Hof-  und   Kanzleisprache  zu  machen.     Nunmehr   aber   stand 
Litauen  unter  einer  Vormundschaft,  die  seine  Nationalität  im  besten  Falle  Litauen  unter 
schonte   und   es  verstanden   hat,   die  Menge  des  litauischen  Volkes  seiner    mmdschaft. 
Geschichte  zu  entfremden  und  in  eine  Abhängigkeit  zu  bringen,  der  sich 
auch  die  wenigen  nicht  haben  entziehen  können,  in  welchen  der  nationale 
Gedanke  fortlebte.    Abgesehen  von  der  allerneusten  Zeit  kann  demzufolge 
von    einer  echt   litauischen  Literatur   kaum    die   Rede   sein.     Was  man  ihr 
zurechnet,   sind  vielmehr  fast  ausschließlich  fremde   oder  fremd  gedachte 
Werke    in    litauischer    Sprache,     und    ungeschminkte    alte    Konzeptionen 
des  litauischen  Volksgeistes  sind  nur  in  der  mündlichen  Überlieferung  er- 
halten.   Es  würde  daher  etwas  Versöhnliches  haben,  daß  das  am  frühesten    Der  aitest 
datierte    litauische    Sprachdenkmal   (1512)    eine    Volkslied-,    eine    „Daina"- litauische  Text. 
Strophe   ist,    wenn   sein  Alter  nicht  einigen   Zweifeln   unterläge,    und    die 
Art   seiner   Überlieferung    (auf   einem    gewebten    Schürzen-   oder   Strumpf- 
band) nicht  einen  gar  zu  kleinlichen  Eindruck  machte. 

L  Die  litauische  Literatur  bis  zum  Anfang  des  18.  Jahrhunderts. 
Von  diesem  Kuriosum  abgesehen,  verdanken  wir  die  ersten  litauischen 
Texte  dem  reformatorischen  Eifer,  mit  dem  Albrecht  von  Brandenburg 
sich  der  geistigen  Hebung  des  von  ihm  in  ein  weltliches  Herzogtum  um- 
gewandelten preußischen  Ordenslandes  annahm.  An  der  Spitze  dieser 
Texte  steht  die  leider  aus  zweiter  Hand  überkommene  Übersetzung  eines 
Kirchenliedes  von  Stanislaus  Rapagelanus  aus  einer  Adelsfamilie  des  Rapageian. 


358 


Adalbert  Bezzenbkrger  :  Die  litauische  Literatur. 


jenseitigen  Litauens,  einem  der  ersten  Professoren  der  von  Herzog  Albrecht 
gegründeten  Universität  Königsberg  (f  1545),  und  es  war  einer  der  ersten 
Stipendiaten,    welche    der    Herzog    auf   seine   Kosten    hier    studieren    ließ, 

Moswid.  Martinus  Moswidius  (seit  154g  Pfarrer  in  Ragnit,  •{-  1562  ebenda),  dem 
man  die  ältesten  Veröffentlichungen  in  litauischer  Sprache  verdankt:  eine 
Übersetzung  des  Lutherschen  Katechismus  und  mehrerer  Kirchenlieder 
(1547)  und  einiger  anderer  geistlicher  Gesänge  (1549;  beides  gedruckt  in 
Königsberg).  Der  ersten  Schrift  ist  eine  doppelte  Einleitung  (lateinisch 
und  litauisch)  mit  bemerkenswerten  Äußerungen  über  das  noch  unverhüllt 
bestehende  litauische  Heidentum  vorgesetzt,  und  bemerkenswert  ist  es 
auch,  daß  sie  sich  nicht  an  die  Litauer  des  Herzogtums  Preußen,  sondern 
„ad  magnum  ducatum  Lituaniae",  an  „Litauer  und  Zemaiten"  wendet.  We- 
niger als  die  Hebung  des  biblischen  Unterrichts  in  den  preußisch-litauischen 
Gemeinden  bezweckte  Moswids  Katechismusübersetzung  also  die  Verbrei- 
tung der  lutherischen  Lehre  in  ganz  Litauen  —  ein  propagandistischer 
Versuch,  der  aber  nicht  den  geringsten  Erfolg  gehabt  hat. 

Nach  dem  Erscheinen  des  zweiten  Moswidschen  Schriftchens  ver- 
gingen zehn  Jahre,  ehe  wieder  eine  Veröffentlichung  in  litauischer  Sprache 

Forma  erfolgtc:  eine  Übersetzung  des  Taufformulars  der  preußischen  Kirchen- 
ordnung von  1558  und  des  Kirchenliedes  „Christ  unser  Herr  zum  Jordan 
kam"  (Forma  chrikstima,  Königsberg  1559).  Auch  sie  erscheint  aber  als 
Vorläufer,  denn  den  nächst  ältesten  litauischen  Text  kennt  man  nur  in 
einer  Abschrift  von  1573,  und  in  Fluß  kommt  die  litauische  Literatur  erst 
oiffenbüttier  einige  Jahre  später.  Jener  Text  besteht  in  einer  umfänglichen  Postille, 
die  ein  Ungenannter  mit  Benutzung  ähnlicher  Werke  für  den  Gebrauch 
von  Geistlichen  angefertigt  und  wahrscheinlich  nicht  für  den  Druck  be- 
stimmt hat.  Der  Inhalt  lehrt,  daß  der  Verfasser  theologisch  gebildet  und 
mit  den  Verhältnissen  Ostpreußens  vertraut  war;  nicht  minder,  daß  er 
unter  Litauern  gelebt  und  nach  1552  geschrieben  hat.  Wo  er  zu  suchen 
ist,  muß  dahingestellt  sein,  da  seine  Sprache  mundartlich  nicht  zu  be- 
stimmen ist. 

Während  diese  ältesten  Texte  keine  faßbare  Wirkung  hinterlassen 
haben,  stoßen  wir  im  Jahre  1579  auf  zwei  Werke,  die  nicht  ohne  nach- 
weislichen  Erfolg    geblieben    sind.      Damals    veröffentlichte    nämlich    der 

wiUent.  Königsberger  Pfarrer  Bartholomäus  Willent  (f  1587)  seine  Übertragung 
des  Lutherschen  Enchiridions  und  der  sonntäglichen  Evangelien  und  Epi- 
Bretkunas.  Stein,  Und  in  demselben  Jahre  begann  Janas  Bretkunas  (al.  Bretkius, 
Bretke),  Pfarrer  in  Labiau,  später  in  König-sberg-  (f  1602  oder  1603),  seine 
höchst  wertvolle,  leider  nicht  erschienene  Bibelübersetzung  (vollendet  1,590; 
die  Handschrift  in  der  Königsberger  Kg"l.  und  Universitätsbibliothek).  Dem- 
selben verdanken  wir  auch  eine  litauische  Postille  (2  Bände,  Königsberg 
1591)  und  ein  Gesangbuch  (Königsberg  158g),  das  aber  nicht  sein  aus- 
schließliches Eigentum  ist. 

Welche    Aufnahme    Bretkes    Postille    gefunden    hat,    läßt    sich    nicht 


I.   Die  litauische  Literatur  bis  zum  Anfang  des   l8.  Jahrhunderts.  359 

erkennen,  während  der  Erfolg  seines  Gesangbuches,  der  Willentschen 
Schriften  und  auch  der  Bretkeschen  Bibel  literargeschichtlich  am  Tage 
liegt.  Im  Jahre  1612  veröffentlichte  nämlich  Lazarus  Sengstock  (geb.  sengswck. 
1562  in  Lübeck,  f  162 1  als  Pfarrer  in  Königsberg)  eine  neue  Ausgabe 
von  Willents  Texten  und  eine  geistliche  Liedersammlung,  die  Bestandteile 
jenes  Gesangbuches  aufgenommen  und  den  späteren  litauischen  Gesang- 
büchern übermittelt  hat.  Das  nächstfolgende  {1666)  war  das  des  Tilsiter 
Pfarrers   Daniel   Klein,    dem   außerdem   die   ersten    uns    bekannten   Dar- J^!«'"- Sappuhn. 

Die  ersten  preu- 

stellungen   der   litauischen  Sprache  zu   danken  sind  (Grammatica  lituanica,  ß|!':''-i''=i"'.s':'>'='' 

^  Grammatiken. 

Königsberg  1653;  Compendium  lituanico-germanicum,  ebenda  1654).  An 
sie  reihte  sich  zunächst  des  Pfarrers  Christoph  Sappuhn  [j-  1659)  Com- 
pendium grammaticae  lithuanicae,  König.sberg  1673,  veröffentlicht  von 
Theophil  Schultz  (1662  Pfarrer  in  Kattenau). 

Was  femer  den  Erfolg  der  Bretkeschen  Bibel  betrifft,  so  bildet  seine  J-f^'^^'^Psaiter. 
Psalmenübersetzung  die  Grundlage  des  im  Jahre  1625  von  Johannes 
Rhesa  (f  1629  als  Pfarrer  in  Königsberg)  herausgegebenen  „Psalter 
Davids,  deutsch  und  littawisch"  —  freilich  auch  nur  die  Grundlage,  denn 
Bretkes  Text  ist  hier  von  J.  Rhesa  und  einigen  dazu  verordneten  Geist- 
lichen revidiert  und  der  deutschen  Version  Luthers  genähert,  während 
„zu  den  rühmlichen  Eigenschaften  und  Vorzügen,  welche  man  an  der  Bret- 
kischen  Übersetzung  wahrnimmt,  gehöret  eine  musterhafte  Treue  und  Über- 
einstimmung mit  der  Ursprache  der  heiligen  Schrift"  (L.  J.  Rhesa,  Ge- 
schichte der  lit.  Bibel,  König^sberg  181 6,  S.  10). 

Man  darf  wohl  annehmen,  daß  J.  Rhesa  in  gleicher  Weise  auch 
andere  Abschnitte  der  Bretkeschen  Bibelhandschrift  zu  verwerten  beab- 
sichtigt hat.  Da  er  aber  durch  seinen  frühzeitigen  Tod  hieran  verhindert 
wurde  und  keiner  seiner  preußischen  Amtsbrüder  sein  Werk  fortsetzte, 
so  hat  es  geraume  Zeit  gedauert,  ehe  die  übrigen  Teile  der  Bibel  den 
preußischen  Litauern  in  ihrer  Sprache  zugänglich  gemacht  wurden.  Erst 
das    Jahr    1701    brachte    ihnen    eine    Übersetzung    des  Neuen   Testaments  ^^^  °«"e  Testa- 

•'  '  ^  ment  von   1701. 

(gedruckt  in  Königsberg),  und  zwar  als  Geschenk  des  Landesherrn  aus 
Anlaß  seiner  Königskrönung.  Dieselbe  ist  aber  hauptsächlich  von  einem 
Geistlichen  des  jenseitigen  Litauens,  Samuel  Bythner,  angefertigt, 
von  Bretke  unabhängig  und  versucht,  beiden  Hälften  Litauens  sprach- 
lich gerecht  zu  werden.  In  Preußen  hat  sie  keinen  Anklang  gefunden, 
und  deshalb  erschien  hier  im  Jahre  1727  eine  neue  Übersetzung  des 
Neuen    Testaments    und    der    Psalmen,    der    1734/35    die    ganze    Bibel    in  Erscheinen  der 

ersten    vollstän- 

litauischer   Sprache    folgte.     Auf  ihre   späteren   Revisionen   gehe   ich   hier  digenBibeiuber- 

.     ,  .  Setzung. 

nicht  ein. 

Zur  Vervollständigung  des  vorstehenden  Abrisses  der  preußisch- 
litauischen Literatur  bis  zu  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  bedarf  es  hier- 
nach nur  noch  der  Erwähnung  der  im  Jahre  1600  in  Königsberg  erschie- 
nenen Übersetzung  der  Margaritha  theologica  und  zweier  kleiner  Traktate 
von  Simon   Waischnoras   (Pfarrer   in   Ragnit;    gest.   1600);    ferner   eines  Waischnoras. 


^50  Adalbert  Bezzenberger:  Die  litauische  Literatur. 

litauischen  Katechismus  „in  noch  dreien  Sprachen  von  einem  ungenannten" 
Obrigkeitliche  von   1670,  der  verschollen  ist,  und  endlich  einiger  obrigkeitlicher  Mandate, 
Verordnungen,  wie    solche    bcsondcrs    an    den  Kirchtüren   publiziert   wurden.     Zwei  von 
ihnen  (1578)  wenden  sich   gegen  kirchliche  Mißstände   der  damals  immer 
noch    zum   Heidentum    neigenden    Litauer,    ein    drittes    (1589)    gegen    die 
hausierenden  Schotten.    Selbstverständlich  begegnen  solche  Plakatverord- 
nungen in  litauischer  Sprache   auch  in   der  Folgezeit  und   kommen  noch 
heute  vor. 
Die  ältere  Wenden   wir   uns  nun  zu   der  älteren  Literatur   des  heute   russischen 

russisch -litau- 
ische Literatur.  Litauens,  so  ist  zwar  auch  sie  fast  ausschließlich  religiös,  im  übrigen  aber 

von  derjenigen  des  preußischen  Litauens  wesentlich  verschieden.  Während 
diese  in  ihrem  Hintergrunde  auf  Schritt  und  Tritt  das  deutsche  lutherische 
Kirchenregiment  und  dessen  Fürsorge  für  eine  bäuerliche  Bevölkerung 
zeigt,  die  keine  nationalen  Aspirationen  hegt,  während  sie  daher  auch 
dogmatisch  einheitlich  ist,  führt  jene  in  Kreise,  in  denen  noch  Traditionen 
Konfessionelle  Witowts  lebten,  uud  ist  von  vornherein  in  eine  katholische  und  eine  kal- 
vinistische  Richtung  gespalten.  Zum  Verständnis  der  ersteren  genügt  eine 
Erinnerung  an  Jagiellos  Bekehrungsbemühungen  und  an  die  Stellung, 
welche  die  katholische  Lehre  und  Kirche  in  Polen  stets  eingenommen  hat. 
Um  aber  die  kalvinistische  Richtung  zu  verstehen,  muß  man  wissen,  daß 
in  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  durch  den  Einfluß  des  Fürsten  Nikolaus 
Czarny  Radziwil  das  reformierte  Bekenntnis  weite  Verbreitung  in  dem 
litauischen  Adel  gefunden  hat  und  auf  diesem  Wege  auch  in  einen  Teil 
der  Landbevölkerung  gedrungen  ist  —  freilich  nur,  um  schon  bald  unter 
dem  Druck  des  königlichen  Hauses  und  der  Staatskirche  dort  wieder  auf- 
gegeben und  hier  stark  zurückgedrängt  zu  werden.  Nur  in  verhältnis- 
mäßig wenigen  Gemeinden  hat  es  sich  seit  damals  bis  heute  erhalten. 
Ihren  Mittelpunkt  bildet  die  reformierte  Wilnaer  Synode. 
Katholische  Der  älteste  katholisch-litauische  Text  (1595)  ist  die  durch  einige  Bei- 

gaben vermehrte  Übersetzung  einer  polnischen  Version  des  spanischen 
Katechismus,  den  der  Jesuit  Ledesma  verfaßt  hat.  Diese  Übersetzung  ist 
Dauksza.  gemacht  von  Michael  Dauksza,  Kanonikus  von  Zemaiten,  aus  adligem 
Geschlecht.  Wegen  der  mundartlichen  Färbung  ihrer  Sprache  fand  sie 
aber  außerhalb  seines  Sprengeis  Widerstreben,  und  ein  Ungenannter  ver- 
fertigte deshalb  eine  neue  Übersetzung  (1605)  desselben  Katechismus  in 
ostlitauischem  Dialekt.  Noch  ehe  sie  erschien,  war  aber  von  Dauksza 
ein  anderer,  weit  umfängHcherer  Text  (eine  polnische  Postille  des  Jesuiten 
Jakob  Wujek,  f  1597)  in  seine  Muttersprache  übertragen,  und  diese  Über- 
setzung (erschienen  1599)  erregt,  abgesehen  von  ihrem  sprachlichen  Wert, 
besonderes  Interesse  dadurch,  daß  in  ihr  nicht  nur  der  Kleriker,  sondern 
auch  der  litauische  Patriot  zu  uns  spricht.  Ihr  Vorwort  ist  zwar  polnisch 
geschrieben,  aber  Dauksza  fordert  in  ihm  für  das  Litauische  nichts  Ge- 
ringeres, als  „gleiche  literarische  Rechte,  wie  für  die  polnische,  römische, 
griechische  und  andere  Sprachen". 


I.  Die  litauische  Literatur  bis  zum  Anfang  des   l8.  Jahrhunderts.  ^6l 

Die  nächste  Fortsetzung  dieser  Anfange  ist  ziffermäßig  nicht  un- 
bedeutend, inhaltlich  aber  so  reizlos,  daß  ich  von  ihrer  eingehenden  Dar- 
legung absehe.  Was  aus  ihr  hervorgehoben  zu  werden  verdient,  ist  nur 
die  literarische  Tätigkeit  der  Jesuiten  Konstantin  Szyrwid  (geb.    1564,     Szyrwid. 

T  •  •ITT-  TT  1  Jachnowicz. 

f  1631  in  Wilna)  und  Jan  Jachnowicz  (•]-  1668  m  Wilna).  Von  den 
Werken  des  letzteren,  der  polnisch  und  litauisch  geschrieben  hat,  kennen 
wir  freilich  leider  nur  die  Titel  (sechs  werden  überliefert),  diejenigen 
Szyrwids  dagegen  sind  mit  Ausnahme  seiner  „Clavis  linguae  lithuanicae" 
(Wilna  1630)  wohl  bekannt.  Es  sind  dies  die  „Punkty  kazai'i"  (litauisch 
und  polnisch;  Wilna  I  162g,  II  1644)  und  das  „Dictionarium  trium  lingua- 
rum"  (Wilna  1629;  später  wiederholt  aufgelegt).  Dies  Wörterbuch  (pol- 
nisch-lateinisch-litauisch) war  für  die  „studiosa  iuventus"  bestimmt,  während 
die  Punkty  Predigten  oder  vielmehr  Predigtdispositionen  enthalten,  welche 
die  Nachricht  illustriert,  daß  Szyrwid  an  den  Festtagen  früh  dem  Land- 
volke litauisch,  mittags  der  Aristokratie  polnisch  und  abends  Leuten  aller 
Berufsklassen  wieder  litauisch  predigte  —  eine  Überlieferung,  die  zu- 
gleich die  damaligen  gesellschaftlichen  und  sprachlichen  Zustände  der 
Hauptstadt  Litauens  veranschaulicht.  Als  rustikale,  dem  Polnischen  unter- 
geordnete Sprache  erscheint  das  Litauische  auch  in  einigen  polnischen  Poinisch-iitau- 
Zwischenspielen  aus  dem  Jesuitenkolleg  zu  Kroze  in  Zemaiten  (Mitte  des  spiele. 
17.  Jahrhunderts). 

Fast  zu  derselben  Zeit  und   in   derselben  Weise  wie    die   katholische    Reformierte 
setzt  die  reformierte  litauische  Literatur  ein.     Ihren  Anfang  bildet  nämlich 
ein    von    dem   Edelmann  Malcher  Pitkiewicz  im    Jahre   1598   in  Wilna  Pitkiewicz. 
herausgegebenes    Übersetzungswerk,     das    in    polnischer    und     litauischer 
Sprache   einen  Katechismus,  Gesänge,  Psalmen   und    eine   kurze  Agende 
enthält,   und  zwei  Jahre   später   erschien   die    große   „Postilla   lietuwiszka"  PostiUe von  1600. 
(Wilna   1600).     Diesen  beiden  Werken  folgte  zunächst,  soweit  wir  wissen, 
ein   Sammelband,    dessen    erste    Ausgabe    indessen   verschollen   ist.      Die 
zweite,     1653    in    Keidan    gedruckt,    umfaßt    eine    gereimte    Übersetzung 
der   Psalmen    und    geistlicher  Lieder   aus    dem   Polnischen,   eine  Postille, 
Gebete  und   einen  Katechismus  und  pflegt  unter   dem  Titel  ihres  ersten 
Bestandteiles  „Kniga  Nobaznistes"   zitiert  zu  werden.      Die  Fassung  des       Knyga 

.  .  .  -  Nobaznystös. 

Inhalts  ist  die  Arbeit  mehrerer  Geistlichen  und  eines  Laien,  des  Keidaner 
Bürgermeisters  Stephan  Telega. 

Kurz  nach  dem  Erscheinen  dieser  Ausgabe  kamen  die  litauischen 
Reformierten  in  sehr  schlimme  Lage.  In  dem  damals  beginnenden  zweiten 
schwedisch-polnischen  Kriege  hatten  sie  sich  gleich  den  übrigen  Dissi- 
denten des  polnisch -litauischen  Staates  auf  Seite  der  eindringenden 
Schweden  gestellt  und  mußten  dafür  nach  deren  Abzüge  schwer  büßen. 
Um  so  höher  ist  es  zu  achten,  daß  sie  in  dieser  Zeit  der  Verarmung  und 
Bedrückung  an  die  große  Aufgabe  einer  Bibelübersetzung  gingen.  Leider  Die  chyiü- 
ist  dieselbe  nicht  zur  vollen  Ausführung  gekommen.  Wohl  wurde  der 
Text  in  Edinburg  in  Druck  gegeben,   und  dieser  war   1662   bis  zum  Ende 


x()2  Adalbert  Bezzenberger :  Die  litauische  Literatur.  • 

der  Psalmen  vorgeschritten.  Allein  der  Mangel  an  Mitteln  verbot  seine 
Fortsetzung,  und  die  Druckbogen  werden  der  Makulierung  anheimgefallen 
sein.  So  erklärt  es  sich,  daß  trotz  eifrigster  Nachforschungen  nur  drei 
unvollständige  Exemplare  dieser  Übersetzung  gefunden  sind,  die  mit  gutem 
Grunde  die  Chylinskische  heißt.  —  Ganz  verschollen  ist  ein  reformierter 
Katechismus,  der  1681  auf  Kosten  der  Fürstin  Karolina  Ludwika  Radziwil 
gedruckt  sein  soll. 

In    weltlichem    Gebrauch    erscheint    das    Russisch-Litauische    bis    zur 
Eidesformea.  Mitte  des   1 8.  Jahrhunderts  nur  in  einigen  Eidesformen. 

IL  Die  Literatur  des  i8.  Jahrhunderts.  Während  alle  oben- 
genannten Texte  für  ein  allgemeines  Interesse  immerhin  den  Reiz  des 
Anfänglichen  haben,  kann  das  Litauen  des  i8.  Jahrhunderts  auf  den  ihm 
ferner  Stehenden  literarisch  nur  dadurch  wirken,  daß  in  diesem  Zeitraum 
Donalitius  gedichtet  und  das  litauische  Volkslied  seinen  Eingang  in  die 
Weltliteratur  gefunden  hat.  Beides  genügt  aber,  um  ihm  für  immer  Be- 
achtung zu  sichern. 
Doniutius.  Christian    Donalitius    ist    am    i.   Januar    17 14    in    Lasdinehlen    bei 

Gumbinnen  als  Sohn  eines  Freibauern  geboren,  hat  in  Königsberg  studiert 
und  war  seit  1743  Pfarrer  in  Tollmingkehmen,  wo  er  am  18.  Februar  1780 
gestorben  ist.  Genauere  Nachrichten  über  sein  Leben  bieten  einige  in 
der  Anmerkung  zu  dieser  Seite  genannte  Schriften  zur  Genüge.  Wenn 
man  ihn  einen  Nationaldichter  nennt,  so  ist  dies  insofern  unzutreffend,  als 
das  litauische  Volk  ihn  nicht  kennt;  richtig  aber,  insofern  er  als  National- 
Litauer  —  freilich  als  klassisch-gebildeter  —  empfunden  und  gedichtet 
hat.  Sein  Versmaß  — •  der  Hexameter,  „den  er  noch  vor  dem  Erscheinen 
der  ersten  Gesänge  des  Klopstockschen  Messias  anzuwenden  den  Mut 
hatte"  —  ist  zwar  unlitauisch,  aber  durchaus  volkstümlich,  wahr  und  einfach, 
„eminent  realistisch"  sind  seine  Schilderungen:  der  Natur,  der  Jahreszeiten, 
des  Volkslebens  und  des  Volkes,  unter  dem  er  wohnte  —  litauischer 
Scharwerker,  die  unter  der  Zucht  deutscher  Amtmänner  standen  und  von 
Kolonisten  umgeben  waren,  die  Friedrich  Wilhelms  I.  Sorge  für  das  durch 
die  Pest  entvölkerte  Land  eingeführt  hatte.  Seine  Beherrschung  der 
Sprache  ist  meisterhaft,  und  der  hohe  poetische  Wert  seiner  Dichtungen 
unbestritten.  Er  selbst  scheint  sie  freilich  recht  bescheiden  eingeschätzt 
und  nur  zur  Unterhaltung  seiner  Freunde  bestimmt  zu  haben.  Was  von 
ihnen  erhalten  ist,  hat  jedenfalls  erst  lange  nach  seinem  Tode  den  Weg  in 
die  Öffentlichkeit  gefunden.  Es  besteht  in  sechs  Fabeln  und  fünf  Idyllen, 
von  denen  vier  die  Jahreszeiten  behandeln  und  von  Rhesa  unter  dem 
Namen  „das  Jahr"  zusammengefaßt  sind. 

Zeigt    das    16.  und    17.  Jahrhundert    die  Litauer  als    ein  „annes   ver- 

terbtes    Volk",    um    dessen    Seelenheil    es    übel   bestellt  ist,    schildert    sie 

hiiipp Ruhig.— Donalitius  in  ihrer  bäuerlichen  Urwüchsigkeit,  so  war  es  Philipp  Ruhig 

)as  Volkslied  &  '  ffa 

(Daina).       (geb.  1675,  -)-  1749   als  Pfarrer  in  Walterkehmen,   einer  Nachbargemeinde 


n.  Die  Literatur  des   l8.  Jahrhunderts.  363 

von  Donalitius'  Kirchspiel),  der  zuerst  einen  Blick  in  die  Feinheit  ihres 
inneren  Lebens,  in  die  Schönheit  ihres  überwältigend  reichen  Volksgesanges 
gewährte  und  damit  zugleich  Lessing  für  diesen  gewann.  „Es  ist  nicht  Lessing  über 
lange",  schreibt  Lessing  im  ^3.  Literaturbrief  {1759),  „als  ich  in  Ruhigs  Volkslied. 
Littauischem  Wörterbuche  blätterte,  und  am  Ende  der  vorläufigen  Betrach- 
tungen über  diese  Sprache,  eine  hierher  gehörige  Seltenheit  antraf,  die 
mich  unendlich  vergnügte.  Einige  Littauische  Dainos  oder  Liederchen, 
nämlich,  wie  sie  die  gemeinen  Mädchen  daselbst  singen.  Welch  ein  naiver 
Witz!  Welche  reizende  Einfalt!  Sie  haben  in  dem  Littauischen  Wörter- 
buche nichts  zu  suchen:  ich  will  Ihnen  die  zwei  artigsten  also  nach 
Ruhies  ÜbersetzunsT,  daraus  abschreiben" ....    Diese  Stelle  ist  von  Herder,      Herders 

°  *  r   1       j  MitteUung 

Volkslieder  I  S.  10  abgedruckt,  und  die  Anregung,  auf  Damos  zu  fahnden,    litauischer 

-r^  tiT      ,  1  --1        VolksUeder. 

ist  ihm  also  vermutlich  durch  sie  geworden.  Das  genannte  Werk  enthalt 
deren  acht:  sieben  im  L  Band  (S.  31  ff.,  iiiff.,  213),  die  er  von  P[ro- 
fessor]  K[reutzfeld]  in  K[önigsberg]  empfangen  hat  (S.  316),  und  eine  im  IL 
(S.  104).  Nur  diese  letzte  gehört  zu  den  von  Ruhig  mitgeteilten,  erscheint 
hier  aber  nicht  in  dessen  wörtlicher  Verdeutschung,  sondern  in  einer 
Übersetzung,  „nach  dem  Silbenmaß  des  Originals",  und  eben  diese  Wieder- 
Cfabe  („Ich   habs    sfesagt-  schon   meiner  Mutter")   gefiel  Goethe   so,   daß    er  Goethe  und  das 

=>  ^  '  ö  ö  /     o  _       '  _     litauischeVolks- 

sie  wörtlich  in  die  „Fischerin"  (1782)  aufnahm  —  jenes  Singspiel,  das  mit         Ued. 
dem  unvergleichlichen  „Erlkönig"  beginnt. 

Eine  andere  Beziehung  Goethes  zu  dem  litauischen  Volksgesang 
wurde  durch  die  Rhesasche  Dainasammlung  hergestellt,  die  ihn  zu  einer 
Anzeige  veranlaßte,  und  auch  hier  nimmt  er  eine  sehr  freundliche  Stellung 
zu  diesen  Dichtungen  ein.  Ihr  Wesen  besprechend  schlägt  er  hier  für 
ihre  Art  den  Namen  „Zustandsgedicht"  vor.  Es  erscheint  mir  aber  frag- 
lich, ob  ihn  Goethe  heute  noch  allgemein  auf  die  Daina  anwenden  würde, 
wo     wir    durch     die    Bemühungen    Stanewiczs,    Dowkonts,    Nesselmanns,       Daina- 

^  Sammlungen. 

Schleichers,  Fortunatovs  und  Millers,  Anton  Juskevics,  Leskiens  und  Brug- 
manns,  Bassanovics  und  vieler  anderer  weit  mehr  Daina-Texte  kennen, 
als   Goethe   vorlagfen.     In  Wahrheit  gibt  es  wie    keine  Situation,   in    der  wesennudAiter 

*  °  .des    litauischen 

solche  Lieder  nicht  entstanden  sind,  so  keinen  Ton,  der  in  ihnen  nicht  an-  Volksliedes. 
geschlagen  wäre,  keine  poetische  Kategorie,  der  sich  nicht  größere  oder 
kleinere  Daina-Gruppen  von  selbst  unterordneten,  und  wenn  man  gesagt 
hat,  der  litauische  Volksgesang  sei  durchaus  lyrisch,  so  ist  dies  dahin  zu 
berichtigen,  daß  er  heute  vorwiegend  der  Lyrik  angehört  oder  nahe  steht, 
während  geschichtliche,  sagenhafte  und  mythologische  Züge  in  ihm  sehr 
spärlich  sind.  —  Diese  Armut  darf  aber  nicht  zu  der  Auffassung  ver- 
leiten, daß  die  Daina  etwas  Junges  sei.  Ihre  durchschnittlich  altfränkische 
Szenerie,  die  textliche  Einheitlichkeit  vieler  preußisch-  und  russisch- 
litauischer Lieder,  zahlreiche  höchst  intime  Berührungen  zwischen  dem 
litauischen  und  dem  lettischen  Volksgesange  und  endlich  eine  nicht  weg- 
zuleugnende Beziehung  des  ersteren  zu  dem  slawischen  (insbesondere 
wohl  dem  kleinrussischen)  Volksliede,   die  nicht  von  heute    oder  gestern 


ßÖA  Adalbert  Bezzenberger :  Die  litauisclie  Literatur. 

ist  —  alles  das  verbürgt  vielmehr  ihr  Alter.  Überdies  liegen  aus  dem 
1 6.  und  1 7.  Jahrhundert  Zeugnisse  für  den  litauischen  Volksgesang  vor, 
und  wenn  darin  von  Heldenliedern  berichtet  wird,  so  erhärtet  dies  die 
sehr  nahe  liegende  Vermutung,  daß  die  Epik,  unzweifelhaft  durch  den 
Gang  der  Geschichte,  in  Litauen  allmählich  zurückgedrängt  ist.  Im  Laufe 
der  Zeit  hat  das  litauische  Volkslied  aber  überhaupt  sehr  gelitten,  und 
leider  ist  ihm  gerade  in  unserer  Ära  der  größte  Schaden  zugefügt.  Wer 
sich  eingehend  mit  ihm  beschäftigt,  wird  oft  erschreckt  sein  durch  das 
Stück-  und  Flickwerk,  die  Stümpereien  und  Plattheiten,  die  er  an  Stelle 
alter  schöner  Lieder  und  Strophen  findet.  Rühmend  muß  es  aber  gesagt 
sein,  daß  die  Zote  dem  litauischen  Volksgesange  bisher  fast  ganz  fremd 
geblieben  ist. 
Melodien.  Was  das  Wort  „Volksgesang"    in  sich  schließt,   daß   nämlich    das  ein- 

zelne Lied  im  Gesänge  lebt,  gilt  im  besonderen  Maße  von  dem  litauischen, 
und  so  ist  es  denn  selbstverständlich,  daß  die  zahllosen  Dainos  zahllose, 
und  nebenbei  bemerkt,  oft  sehr  schöne  Melodien  zur  Seite  haben.  Auch 
ihnen  hat  sich  ein  rühmlicher  Sammeleifer  zugewandt.  Während  aber 
einige  der  Texte  durch  Chamisso  vollendete  Umprägungen  erfahren  haben, 
hat  der  künstlerische  Gehalt  noch  keiner  Dainamalodie  an  einem  großen 
Komponisten  einen  Interpreten  gefunden,  denn  Chopins  litauisches  Lied 
ist  ganz  unlitauische  Musik. 

III.  Die  Literatur  des  ig.  Jahrhunderts.  Zeigt  sich  die  litau- 
ische Literatur  des  16.,  17.  und  18.  Jahrhunderts  fast  durchweg  im  Talar, 
so  hat  diejenige  unserer  Zeit  dafür  eine  um  so  mannigfaltigere  Her- 
kunft und  Richtung;  und  verfolgt  jene  im  einzelnen  einen  mehr  oder 
weniger  partikularistischen  Zweck,  so  bringt  diese  dafür  um  so  leb- 
hafter den  national  -  litauischen  Einheitsgedanken  zum  Ausdruck.  Um 
Erstarkendes   dicsc   Verschiebung   vollkommen    zu    erklären,    genügt    nicht    die   Erinne- 

VolksbeWUßt-  .  1-r»  1-1XT'l-"  ...  TT 

Seins.  Poiitisciie  rung  an  die  Starke  Betonung,  die  das  Nationalitatspnnzip  im  ig.  Jahr- 
hundert überall  gefunden  —  an  die  Hebung  der  Volksbildung,  die  sich 
in  ihm  vollzogen  —  an  den  Eingang,  welchen  die  politische  Agitation 
seit  Dezennien  beim  Volke  gesucht  hat.  Vielmehr  sind  hier  auch  zwei 
besondere  Umstände  zu  berücksichtigen,  und  zwar  zunächst  die  Aufmerk- 
samkeit, die  seit  fünfzig  Jahren,  von  Schleicher  an,  der  wundervollen 
Sprache  und  den  volkstümlichen  Überlieferungen  der  Litauer  seitens  der 
Wissenschaft  zugewandt  und  nicht  ohne  starke  Wirkung  auf  das  Selbst- 
gefühl des  begabten  Volkes  geblieben  ist.  Noch  folgenreicher  für  seine 
Die  Be-      literarische  Entwicklung  war  aber  das,    daß  neuerdings  unter  wirklichem 

amerikanischen  oder  Vermeintem  Druck  der  heimatlichen  Verhältnisse  viele  Litauer  nach 
Amerika  ausgewandert  .sind  und  sich  dort,  besonders  wie  es  scheint  in 
Pennsylvanien,  zu  eifriger  Pflege  ihres  Volkstums  zusammengefunden  haben. 
Auf  diesem  Wege  ist  eine  ansehnliche  amerikanisch-litauische  Literatur 
entstanden,  die  noch  täglich  zunimmt,   in  der  alten  Welt  eifrig  vertrieben 


ühunge 
lerikan 
Emigranten. 


111.  Die  Literatur  des    19.  Jahrhunderts.  365 

wird  und  auf  die  europäischen  Litauer  einen  in  jeder  Hinsicht  bedeutenden 
Einfluß  ausübt  —  einen  Einfluß,  den  man  richtig  beurteilen  wird,  wenn 
ich  sage,  daß  diese  Emigrantenliteratur  nirgends  die  politischen  Maximen 
und  nationalen  Aspirationen  ihrer  Urheber  verhüllt.  Man  mag  hierüber 
denken,  wie  man  will  —  anerkennen  muß  man  aber,  daß  durch  das 
Zusammenwirken  der  litauischen  Intelligenz  diesseits  und  jenseits  des 
Ozeans   in    iünsrster   Zeit   eine   Literatur   erwachsen   ist,    die    nach  Umfang  Umfang  und 

■>        o  .  Gehalt  der 

und  Vielseitigkeit  Staunen  erregt,  und  deren  Sprache  sich  mehr  und  neueren 
mehr  einer  allgemeinen  litauischen  Schriftsprache  nähert.  Während  ein 
fleißiger  Versuch  einer  litauischen  Bibliographie  aus  dem  Jahre  1875  alles 
in  allem,  die  Werke  über  Litauen  eingerechnet,  223  Nummern  aufführt, 
sind  nur  in  Amerika  von  i8go — 1900  weit  über  hundert  litauische  Texte 
erschienen,  und  von  den  drei  neuesten  buchhändlerischen  Verzeichnissen 
litauischer  Publikationen  enthält  das  von  M.  Saunus  in  Tilsit  kürzlich 
ausgegebene  435  Nummern,  von  zwei  in  Wilna  erschienenen  aber  das 
eine  (aus  dem  Jahre  1906  von  Petras  Vileisis)  773  und  das  andere  (der 
Buchhandlung  „Lietuva"  von  1907)  sogar  1208  Nummern,  und  zwar  mit 
Beschränkung  auf  die  von  der  russischen  Zensur  erlaubten  Veröff"ent- 
lichungen. 

Blickt  man  heute  auf  die  Entwicklung  der  litauischen  Literatur  im 
letzten  Jahrhundert  zurück,  so  bemerkt  man  von  vornherein  neben  ihrer 
immer  weiter  gepflegten  erbaulichen  Richtung-  ein  der  weltlichen  Volks- 
schrift zugewandtes  Streben.  Es  offenbart  sich  zuerst  in  der  Übersetzung 
eines  Schriftchens  über  Bienenzucht  und  Rhesas  Übersetzung  der  Äso- 
pischen Fabeln,  weiter  in  vStanewiczs  Dainos,  tritt  besonders  kräftig  in 
den  Schriften  Dowkonts  (s.  unten)  hervor,  führt  zur  Herausgabe  von 
Kalendern,  Zeitungen  und  volkstümlichen  Erzählungen,  leitet  von  ihnen  Zeitungen. 
zur  Novelle  und  bemächtigt  sich  schließlich  ziemlich  aller  Gebiete  des 
menschlichen  Denkens  und  Wissens:  Erzählungen,  Novellen,  Romane, 
Dramen,  Gedichte,  geographische,  geschichtliche,  politische,  volks-  und  land- 
wirtschaftliche, medizinische,  pädagogische  Schriften,  Volksüberlieferungen 
(namentlich  Märchen)  —  alles  das  kann  man  heute  in  litauischer  Zunge 
lesen.  Aber  freilich:  macht  man  sich  von  dem  Zauber  dieser  unvergleich- 
lichen Sprache  frei  und  hält  sich  nur  an  den  Inhalt  dieser  Literatur,  so 
findet  ein  moderner  Kulturmensch  in  ihr  nicht  eben  viel,  was  ihn  empor- 
hebt —  abgesehen  natürlich  von  ihren  zahlreichen  Übersetzungen,  unter  Übersetzungen 
denen  z.  B.  Kraszewskis  Witolorauda  (Posen  1881)  nicht  befremdet,  während 
z.  B.  Äschylus'  Gefesselter  Prometheus  (Wilna  1905),  Byrons  Kain  (Plymouth 
Pa.  1903)  und  Maeterlincks  Monna  Vanna  (Riga  1905)  sehr  überraschen, 
zugleich  aber  eine  eindrucksvolle  Vorstellung  von  den  litauischen  Lesern 
und  Schreibern  unserer  Zeit  geben.  Und  ohne  zu  leugnen,  daß  manche 
moderne  litauische  Dichtung  geschickt  gemacht,  manche  warm  empfunden 
ist,  so  ist  die  neue  litauische  Literatur  in  Summa  zu  dilettantisch  und  re- 
produktiv, als  daß  dieser  Eindruck  nicht  das  bedeutendste  wäre,   was  sie 


366 


Adalbert  Bezzenberger  :  Die  litauische  Literatur. 


ZU  geben  vermag.  Sie  zeigt  einen  Volksstamm,  der  nach  jahrhunderte- 
langer Abhängigkeit  sich  seiner  großen  Geschichte  besinnt,  im  erfolg- 
reichen Bemühen,  sich  zu  bilden  und  geistig  zur  Geltung  zu  bringen. 
Ob  dies  Bestreben  politisch  bequem  ist  oder  nicht,  ist  eine  Frage  für  sich. 
Auch  wer  sie  verneint,  wird  aber  dem  patriotischen  Idealismus  der  Führer 
Die  Litoomanen.  der  sogenannten  Lituomanen,  der  Rührigkeit  eines  Bassanowicz,  Jankus, 
Szliupas  Anerkennung  nicht  versagen  können. 
Neuere  Ein  Eingehen  auf  alle  bemerkenswerteren  lebenden  litauischen  Schrift- 

Schriftsteller.  ...  .        .  ,  .  t^..-,-,  -,  i  ,  ,   .  ,   •       ,  -,  r 

steller  ist  mir  m  den  meisten  t  allen  aus  Mangel  an  biogTaphischem  Ma- 
terial nicht  möglich,  und  eine  Auswahl  würde  ein  schiefes  Bild  geben. 
Ich  sehe  von  ihnen  daher  des  weiteren  ab  und  beschränke  mich,  zum 
Schluß  die  wichtigeren  der  verstorbenen  des  ig.  Jahrhunderts  vorzuführen, 
soweit  dies  nicht  schon  genügend  geschehen  ist. 
Dowkont.  Simon  Dowkont,  geb.   28.  Oktober  1793  in  Kiwillen  (Kreis  Telsch), 

gest.  24.  November  1864  in  Popeljany  (Kreis  Schaulen),  hat  in  Wilna  stu- 
diert, in  Dorpat  den  Magistergrad  erworben,  das  Ausland  besucht,  dann 
Beamtenstellungen  in  Riga  und  Petersburg  eingenommen,  später  mehrere 
Jahre  als  Privatmann  bei  Wolonczewski  und  den  Rest  seines  Lebens  in 
seinem  Sterbeort  zugebracht.  Seine  literarische  Tätigkeit  war  ausschließ- 
lich seinem  Volke  und  im  besonderen  den  Zemaiten  gewidmet,  deren 
Mundart  er  sich  auch  in  seinen  zahlreichen  Schriften  bediente.  Viele  der- 
selben sind  ungedruckt  geblieben,  und  die  erschienenen  sind  anonym  oder 
unter  Pseudon3^men  veröffentlicht.  Sie  sind,  abgesehen  von  seiner  Daina- 
sammlung,  alle  in  Prosa,  von  sehr  verschiedenem  Inhalt  und  zum  Teil 
Übersetzungen.  Soweit  die  Persönlichkeit  Dowkonts  in  ihnen  hervortritt, 
ist  sie  sympathisch,  und  sein  Hauptwerk  „Buda  senowes-Letuwiü"  (Peters- 
burg 1845),  gewissermaßen  eine  Religions-  und  Kulturgeschichte  des  alten 
Litauens,  zeigt  ihn  als  einen  sehr  belesenen  und  gut  gebildeten  Mann. 
Sein  Stil  ist  vortrefflich,  seine  Sprache  schwer,  aber  eine  Schatzkammer 
für  den  Linguisten. 
wrfonczewski.  Glcich  Dowkont  ist  .Matäus  Kazimir  Wolonczewski  ein  Zemaite 

des  Telscher  Kreises.  Er  ist  in  Nastrenen  am  17.  Februar  1801  geboren 
und  als  Bischof  seiner  Heimat-Diözese  am  17.  Mai  1875  in  Kowno  ge- 
storben. Auch  er  suchte  als  litauischer  Patriot  sein  Volk  durch  zahlreiche 
Prosaschriften  zu  bilden,  ließ  sich  dabei  aber  fast  ausschließlich  von  kirch- 
lichen Gesichtspunkten  leiten.  Sein  bekanntestes  Werk  ist  eine  zwei- 
bändige Geschichte  des  Bistums  Zemaiten  (Zemajtiu  Wiskupiste,  Wilna 
1848).  Ob  eine  nicht  umfängliche,  aber  doch  reichhaltige  und  sehr  an- 
ziehende Schilderung  des  zemaitischen  Bauernlebens  in  Form  einer  Er- 
zählung „Palangos  Juze"  („Joseph  aus  Polangen")  (erste  mir  bekannte  Aus- 
gabe [anonym]  Wilna  1863,  letzte  [unter  W.'s  Namen]  Tilsit  1902)  von 
ihm  ist,  erscheint  mir  nicht  ausgemacht. 
Kurschat.  Ein  ganz   anderes  Bild  als  die  schriftstellerische  Tätigkeit  Dowkonts 

und  Wolonczewskis,    gewährt    diejenige  Friedrich  Kurschats    (geboren 


III.  Die  Literatur  des   19.  Jahrhunderts.  367 

24.  April  1806  in  Noragehlen  [Reg.-Bez.  Gumbinnen],  1841  Lektor  des 
Litauischen  an  der  Universität  Königsberg,  1 844  lit.  Militärprediger  ebenda, 
gestorben  23.  August  1884  als  außerordentlicher  Professor  im  Seebad  Cranz). 
Auch  er  war  Nationallitauer  und  hat  es  ausgesprochen,  daß  er  sein  Leben 
lang  für  das  Volk  seiner  Geburt  gearbeitet  hat,  aber  was  ihn  dabei  er- 
füllte, war  nicht  nationaler  Lebensmut,  sondern  das  Streben  eines  frommen 
und  königstreuen  Mannes,  seine  „durch  die  Ungunst  der  Umstände  eiligen 
Schrittes  ihrem  Untergange  entgegengedrängte  Nationalität"  geistlich  zu 
versehen  und  ihr  sprachliches  Erbe  zu  sichern.  In  der  Wissenschaft  hat 
er  sich  durch  seine  grammatikalische  und  lexikalische  Behandlung  seiner 
Muttersprache  einen  unvergänglichen  Namen  erworben.  Den  Litauern 
aber  ist  er  am  bekanntesten  durch  seine  revidierte  Ausgabe  des  Neuen 
Testaments,  seine  Neubearbeitung  des  litauischen  Gesangbuchs,  einen 
Katechismus  und  besonders  durch  die  von  1849 — 1880  von  ihm  heraus- 
gegebene und  fast  ganz  allein  geschriebene  kleine  religiös- politische 
Wochenschrift  „Keleiwis"  (der  „Wanderer"). 

An  Talent  und  Originalität  über  den  anderen  neueren  litauischen  Jacoby. 
Schriftstellern  steht  der  Deutsche  Rudolf  Jacoby  (geboren  14.  Februar 
181 7  in  Tilsit,  gestorben  24.  Februar  1881  als  Pfarrer  in  Memel).  Es  ist 
zwar  nur  eine  Kleinigkeit,  ein  Brief  in  Memeler  Mundart  (Mitteil.  d.  lit. 
liter.  Gesellschaft  I  S.  61 — 80),  was  ihm  die  litauische  Literatur  verdankt, 
aber  dieser  kurze  Text  ist  eine  Perle  der  Literatur  überhaupt.  Er  zeigt 
eine  bewundernswerte  Vertrautheit  mit  Sprache  und  Geist  des  litauischen 
Bauern  und  schildert  mit  einer  Unbefangenheit,  einem  liebenswürdigen 
Humor,  der  höchst  wohltuend  sowohl  von  dem  Kinderlehrenton  wie  von 
der  patriotischen  Phrase  absticht,  womit  nur  zu  viele  original-litauische 
Publikationen  uns  langweilen.  Nicht  mit  Unrecht  ist  Jacoby  mit  Dickens 
verglichen,  und  es  ist  nur  schade,  daß  dieser  Brief  so  litauisch  ist,  daß 
seine  Übersetzung  seinen  Reiz  abstreifen  würde. 

Weit  weniger  günstig  urteile  ich  über  einen  anderen  deutsch-litauischen  Sauerwein. 
Schriftsteller,  obgleich  gerade  dieser  im  preußischen  Litauen  sehr  populär 
ist:  G.  J.  J.  Sauerwein  (geboren  etwa  1838  zu  Bantelen  [?]  in  Hannover 
und  unlängst  gestorben).  Er  war  wohl  das  größte  sprachliche  Genie,  das 
die  Erde  hervorgebracht  hat,  aber  wissenschaftlich  ganz  unfruchtbar  und 
nach  meinen  persönlichen  Eindrücken  von  der  fixen  Idee  benommen,  daß 
er  zum  Anwalt  nationaler  Minoritäten  bestimmt  sei.  Diese  Einbildung 
brachte  ihm  wie  die  Lappen  und  die  Sorben  des  Spreewaldes,  so  die 
Litauer  nahe  und  ließ  ihn,  den  geborenen  Weifen,  unter  ihnen  dema- 
gogisch auftreten.  Mancherlei  ist  von  ihm  in  litauischen  Zeitungen  ver- 
öffentlicht, darunter  Gedichte,  die  höchst  gewandt  gemacht,  aber  eben 
gemacht  sind. 

Wirkliche  Poesie  bietet  dagegen  Anton  Baranowskis  großes   Ge- Baranowski. 
dicht    auf   den    Wald    seines    Heimatortes    Oniksty    („Anykszczu    Szilelis", 
Ausgabe    von   H.  Weber,    Weimar    1882    unter    dem    Titel    Ostlitauische 


•5^8  Adalbert  Bezzenberger:  Die  litauische  Literatur. 

Texte  I).  Über  Baranowskis  Leben  kann  ich  nicht  mehr  sagen,  als  daß 
er  1865  Professor  an  der  römisch -kathoUschen  geistlichen  Akademie  in 
Petersburg,  1876  Professor  und  Inspektor  im  bischöflichen  Priesterseminar 
in  Kowno  war  und  am  26.  November  1902  als  Bischof  von  Seiny  ge- 
storben ist.  Von  seinen  Landsleuten  wird  ihm,  wohl  mit  Unrecht,  eine 
weitgehende  Hinneigung  zum  Polentum  vorgeworfen.  In  der  sprach- 
wissenschaftlichen Welt  genießt  er  als  Kenner  und  Erforscher  der  russisch- 
litauischen Sprache  großes  Ansehen.  Außer  Anykszczu  Szilelis  gibt  es 
von  ihm  mehrere  Gedichte.  Ich  kenne  davon  aber  nur  das  unbedeutende 
„Lietuwos  senowes  paminejimas"  („Gedenken  an  Litauens  Vorzeit",  Auszra 
1883  S.  8). 


Literatur. 

Eine  Gesamtdarstellung  der  litauischen  Literatur  in  der  litauischen  Schrift  „Lietu, 
viszkiejie  Rasztai  ir  Rasztininkai.  Raszlaviszka  Perzvalga  parengta  Lietuvos  Myletojo.  Kaszta 
Baltimores  Md.  L.  M.  Draugystes"  (Tilzeje  [Tilsit],  1890);  angeblich  von  J.  Szlixipas.  — 
Ein  vortreffliches  Hilfsmittel  ist  M.  Stankiewicz'  Bibliografia  litewska  od  1547  do  1701  r. 
(Krakow,   1889). 

S.  354.  Über  die  Jatwägen  A.  Sjögren,  Memoires  de  l'Academie  de  St.  Petersbourg 
VI.  Serie  (Sciences  politiques)  T.  IX  S.  161.  —  Eine  Karte  des  litauischen  Sprachgebiets  in 
KURSCH-ATS  litauischer  Grammatik  (Halle,  1876).  —  Wegen  der  Geschichte  Litauens  vgl. 
besonders  V.  B.  AntonOVIC,  Oferkb  istoriji  velikago  knjazestwa  litovskago  I  (Kiew,  1878) 
und  Caro,  Geschichte  Polens. 

S.  355.  Über  Witowt:  A.  Barbasev,  Vitovtb  i  jego  politika  do  Grjunvahdenskoj  bitvy 
(1410)  (Petersburg,  1885);  K.  LOHMEYER,  Witowd,  Großfürst  von  Litauen  (-]-  1430)  in  den 
Mitteilungen  der  litauischen  literar.  Gesellschaft  II  S.  203. 

S.  357.  Die  aus  dem  Jahre  I5I2(?)  überlieferte  Dainastrophe  ist  mitgeteilt  von  Neh. 
RING  in  den  Beiträgen  zur  Kunde  der  indogermanischen  Sprachen  XV  S.  139.  —  Über 
Rapagelan  s.  TSCHACKERT,  Urkundenbuch  zur  Reformationsgeschichte  des  Herzogtums 
Preußen  I  S.  259,  289,  III  S.  99  (Nr.  1765). 

S.  358.  Ausgabe  der  ersten  Schrift  des  Moswidius  von  A.  Bezzenberger  (Litauische 
und  lettische  Drucke  I  [Göttingen,  1874]),  der  zweiten  von  Z.  Celichowski  (M.  Mosswida 
Waitkuna  przekiad  litewski  pieäni  Te  deum  laudamus  z  r.  1549  [Poznaö,  1897]).  —  Ausgabe 
der  Forma  chrikstima  von  A.  BEZZENBERGER  a.  a.  O.  II  (Göttingen,  1875).  —  W-  Gaigalat, 
Die  Wolfenbütteler  litauische  Postillenhandschrift  aus  dem  Jahre  1573  in:  Mitteilungen  der 
litauischen  literarischen  Gesellschaft  V  S.  i  ff.,  177  ff.,  231  ff.  —  Ausgabe  der  Willentschen 
Texte  von  F.  Bechtel  (Göttingen,  1882).  —  Proben  der  Bretkunschen  Bibel  in  den  Litau- 
ischen Studien  von  L.  Geitler  (Prag,  1875)  S.  12  und  in  der  Litauischen  Chrestomathie 
von  E.Wolter  (Petersburg,  1901.  1904)  S.  471  (beide  ungenau).  —  Proben  der  Postille  des 
Bretkunas  gaben  Geitler  in  Rad  jugosl.  ak.  XL  und  Wolter  a.  a.  O.  S.  17. 

S.  359.  Über  Sengstock  s.  Bechtel  a.  a.  O.  —  Über  die  weitere  Geschichte  des  preuß. 
htauischen  Gesangbuches  s.  R.  Schwede  in  Mitteilungen  der  litauischen  literar.  Gesellschaft 
III  S.  396. 

S.  360.  Der  Katechismus  von  1670  ist  erwähnt  von  Lepner,  Der  preusche  Littauer, 
S.  108  des  Neudrucks.  —  Die  ältesten  Mandate  sind  herausgegeben  von  F.  Nesselmann, 
N.  Preuß.  Provinz.  Blätter  A.  F.  I  S.  241,  A.  Bezzenberger,  Götting.  Nachrichten  1877  S.  241 
und  Beiträge  zur  Kunde  der  indogerm.  Sprachen  II  S.  119.  —  Über  Dauksa:  Rasztai  ir 
Rasztininkai  S.  10;  Wolter  in  Mitteilungen  der  lit.  liter.  Gesellschaft  IV  S.  363.  Ausgabe 
seiner  Katechismusübersetzung  von  E.  Wolter:  „Litovskij  Katichizist  N.  Daukäi"  (Peters- 
burg, 1886).  —  Ausgabe  des  Katechismus  von  1605  von  J.  Bystron:  Katechism  Ledesmy 
(Krakau,  1890).  —  Probe  von  Dauksas  Postillenübersetzung  in  der  Chrestomathie  Wolters 
(S.  27),  der  auch  eine  Ausgabe  begonnen  hat  (I.  Heft,  Petersburg,  1904). 

S.  361.  Ausgabe  des  ersten  Teiles  der  Punkty  kazaö  von  R.  Garbe,  Szyrwids  Punkty 
Kazaii  vom  J.  1629  (Göttingen,  1884).  Probe  des  zweiten  bei  Wolter  a.  a.  O.  S.  61.  — 
Wegen   der  erwähnten  Zwischenspiele  s.  A.  Brückner  im  Archiv  für  slaw.  Philologie  XIII 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9.  24 


37° 


Adalbert  Bezzenberger:  Die  litauische  Literatur. 


S.  212.  —  Über  Pitkiewicz  und  seine  Übersetzung  Brückner  a.  a.  O.  S.  557.  —  Eine  Probe 
der  Postilla  von  1600  bei  Wolter  a.  a.  O.  S.  464.  —  Probestücke  aus  Kniga  Nobaznystes 
bei  Wolter  a.  a.  O.  S.  62.  —  J.  Sembrzycki,  Die  polnischen  Reformierten  und  Unitarier 
in  Preußen  in:  Altpreuß.  Monatsschrift  XXX  S.  20fr.  —  Über  die  sehr  verwickelte  Ge- 
schichte der  Chyliiiskischen  Bibel  s.  H.  Reinhold  in  Mitteilungen  der  lit.  liter.  Gesellschaft 
IV  S.  105,  207  (mit  Textproben). 

S.  362.  Hinsichtlich  der  Eidesformen  s.  J.  Sprogis  in  den  Izvcstija  imperat.  Akad. 
Naukb  IV  Nr.  4  (1896)  S.  415;  E.  Wolter  in  Mitteil.  d.  lit.  liter.  Gesellsch.  II  S.  299;  der- 
selbe, Chrestomathie  S.  268.  —  Ausgaben  des  Donalitius  von  L.  J.  Rhesa  (der  Jahreszeiten 
in  „Das  Jahr"  [Königsberg,  1818],  der  Fabeln  in  ,,Aisöpas  arba  Päsakos"  usw.  [Königsberg, 
1824]),  A.  Schleicher  (Chr.  Donaleitis  lit.  Dichtungen  [Petersburg,  1865]),  G.  H.  F.  Nesselmann 
(Chr.  Donalitius'  lit.  Dichtungen  [Königsberg,  1869]).  Übersetzungen  von  Rhes.-v  und  Nessel- 
mann a.  a.  O.  und  L.  Passarge  (Chr.  Donalitius'  lit.  Dichtungen  [Halle,  1894]).  Vgl.  außer- 
dem F.  Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland  (Braunschweig,  1902)  S.  49,  Altpreuß.  Monats- 
schrift XXXIII  S.  18,  190,  XXXIV  S.  277,  409,  XXXVI  S.  305,  XXXIX  S.  138,  Zeitschr.  f. 
Kulturgeschichte  N.  F.  111  S.  291,  Unsere  Dichter  in  Wort  und  Bild  VI  (Leipzig,  1896).  — 
Donalitius'  Sittenschilderungen  werden  durch  ältere  und  zugleich  wertvollere  nichtlitauische 
Prosabehandlungen  des  lit.  Volkes  (namenüich  die  von  Pr.\torius  und  Lepner)  ergänzt. 

S.  363.  DainaProben  sind  zwar  schon  früher  gedruckt,  bestehen  aber  in  unbedeuten- 
den Bruchstücken  und  sind  ohne  Wirkung  geblieben.  —  RuHlGs  Übersetzungen  stehen  in 
seiner  Betrachtung  der  littauischen  Sprache  (Königsberg,  1745)  S.  74  ff.  —  Dainä  (Mehr- 
zahl Dainos)  ist  der  litauische  Name  des  weltlichen  Liedes  (neuerdings  auch  des  nicht- 
gesungenen).  Die  an  Verstorbene  gerichteten  Lieder  bezeichnet  man  mit  dem  Sonder- 
namen Raüdos  (so  heißen  alle  Totenklagen).  —  Die  Ergänzung  von  Herders  Abkürzungen 
ergibt  sich  aus  S.  Bock,  Versuch  einer  wirtschaftlichen  Naturgeschichte  von  dem  König- 
reich Ost-  und  Westpreußen  I  (Dessau,  1782)  S.  155.  —  Dainos  oder  lit.  Volkslieder  ge- 
sammelt, übersetzt  usw.  von  L.  J.  Rhesa  (Königsberg.  1825;  neue  Auflage  von  Friedr.  Kur- 
schat [Berlin,  1843]).  —  Rhesa  (Ludwig  Jedemin)  ist  1777  in  Karwaiten  (Kur.  Nehrung) 
geboren  und  1841  als  Professor  der  Theologie  in  Königsberg  gestorben.  —  Goethes  Anzeige 
steht  in  der  V'ollständ.  Ausgabe  letzter  Hand  XLVI  (1833)  S.  364.  —  Daynas  Zemaycziu 
surynktas  yr  yszdutas  par  Symona  Stanewicze  (Wilna,  1829).  Über  Stanewicz,  der  auch 
selbst  litauisch  gedichtet  hat,  s.  Mitteil,  der  lit.  liter.  Ges.  111  S.  458  und  Rasztai  ir  Raszti- 
ninkai  S.  31.  —  [Dowkont]  Dajnes  Ziamajtiü  (Petersburg,  1846).  —  Litauische  Volkslieder 
gesammelt,  kritisch  bearbeitet  und  metrisch  übersetzt  von  G.  H.  F.  Nesselmann  (Berlin,  1853). 
—  Litauisches  Lesebuch  und  Glossar  von  August  Schleicher  (Prag,  1857)  S.  33  ff.—  [Fortu- 
natov  u.  Miller]  Litovskija  narodnyja  pesni.  Aus  den  Moskauer  Universitätsschriften  ohne 
Titelblatt.  —  JuäKEVics  Daina-Sammlungen :  Lietüviäkos  Däjnos,  3  Bände  (1569  Lieder)  (Kasan, 
1880— 1882);  Lietüviskos  svotbines  Däjnos  (Hochzeitslieder),  Petersburg,  1883  (lioo  Lieder). 
Eine  Anzahl  von  Liedern  enthält  auch  seine  höchst  wertvolle  ,,Svotbine  Reda  Velünyciu  Lietüviu" 
(Kasan,  1880),  die  unter  dem  Titel  „Hochzeitsgebräuche  der  Wieionischen  Litauer"  in  das 
Deutsche  übersetzt  ist  (Mitteil.  d.  lit.  liter.  Ges.  III  S.  134,  201,  321).  Ein  großes  htauisches 
Wörterbuch,  das  A.  JuSkeviC  (geb.  18 19,  f  1880)  hinterlassen  hat,  wird  von  der  Peters- 
burger, eine  Daina-Melodien-Sammlung  (s.  unten)  von  der  Krakauer  Akademie  herausgegeben. 
Bei  allen  seinen  Arbeiten  unterstützte  ihn  treulich  sein  Bruder  JONAS  JuSkevic  (geb.  1815, 
■]■  1886),  der  auch  selbst  Dainos  (Litovskija  narodnyja  pesni,  Petersburg,  1867;  aus  den 
Zapiski  der  Petersburger  Akademie)  herausgegeben  und  eine  hübsche  litauische  Arbeit  über 
die  litauischen  Dialekte  (Ka+bos  letuviszko  lezuvo  [Petersburg,  i86i])  veröffentlicht  hat. 
Über  das  Leben  der  Brüder,  die  das  Ansehen  des  Litauischen  in  Rußland  sehr  gefördert 
haben  s.  Rasztai  ir  Rasztininkai  S.  85  ff.;  Mitteil.  d.  lit.  liter.  Gesellsch.  II  S.  409  und  die 
litauische  Zeitschrift  ,,Auszra"  (Tilsit)  1883,  S.  248.  —  Litauische  Volkslieder  und  Märchen, 
gesammeh  von  A.  Lkskien  und  K.  Brugman  (Straßburg,  1882).  —  [Basanovic]  Ozkabaliij 
Dainos  (aus  der  litauischen  Vierteljahrsschrift  ,,Dirva"  [Shenandoah  Pa.]  1902).  —  ,,Die 
Materie  ihres   Gesanges  oder  vielmehr   Geheuls    sind   Buhlenlieder,    sie   handeln    auch   von 


Literatur.  ■lyi 

solchen  Sachen,  was  ihnen  nur  einfällt  oder  vor  Augen  stehet":  Lepner,  Der  preusche 
Littauer,  Neudruck  S.  73  (abgedruckt  bei  Tetzner,  Dainos,  Reclams  Universal]- Bibliothek 
Nr.  3694,  S.  20).  —  Über  das  Wesen  der  Daina  neuerdings  Chr.  Bartsch  in:  Mitteil.  d. 
lit.  liter.  Ges.  I  S.  1S6  (vgl.  desselben  Dainu  Balsai  I  S.  XXI;  und  Verf.  in:  Zeitschrift  f. 
vergleich.  Literaturgeschichte  und  Renaissance-Literatur  N.  F.  I  S.  268).  Vgl.  auch  R.  VAN  DER 
Meulen,  Die  Naturvergleiche  in  den  Liedern  und  Totenklagen  der  Litauer  (Leiden,  1907). 
S.  364.  Zeugnisse  über  Heldenlieder:  Tetzner,  Dainos  S.  5.  Vgl.  Wolter  in  Mitteil, 
d.  lit.  liter.  Ges.  V  S.  311.  —  Chr.  Bartsch,  Dainu  Balsai.  Melodien  litauischer  Volks- 
lieder mit  Textübersetzung  usw.,  2  Bände  (Heidelberg,  1886.  1889).  —  Melodje  ludowe 
litewskie  zebrane  przez  A.  Juszkiewicza  .  .  .  wydane  przez  Z.  Noskowskiego  i  J.  Baudouin'a 
de  Courtenay,  L  (Krakow),  Akademja  umiej^tnoäci  igoo  (mit  den  Bildern  der  Brüder  Ju§- 
kevic).  —  In  theoretischer  Beziehung  wichtig  ist  die  Programm-Abhandlung  von  L.  Nast, 
Die  Volkslieder  der  Litauer  inhaltlich  und   musikalisch  (Gymnasium  zu  Tilsit,  Ostern  1893). 

—  Es  gibt  auch  litauische  kirchliche  Originalmelodien.  Eine  Sammlung  derselben  enthält 
W.  Hoffheinz,  Giesmiu  Balsai  (Tilsit,   1894  [Kommissionsverlag  von  C.Winter,  Heidelberg]). 

S.  365.  Litauische  Bibliographie  von  1875:  J.  KARiOwacz,  O  jgzyku  litewskim  S.  331 
(in  den  Rozprawy  der  Krakauer  .Akademie,  T.  II  S.  135  ff.  Für  1903 — 1906:  H.  Reinhold, 
Mitteil.  d.  lit.  liter.  Ges.  V  S.  483.  —  Ein  Verzeichnis  der  litauischen  Erbauungsschriften  aus 
dem  Jahre  1852  in:  Neues  evangehsches  Gemeindeblatt  VII  Nr.  33  (Königsberg,  1852).  — 
Der  Titel  des  Schriftchens  über  die  Bienenzucht  ist:  Naudingos  Biczü  Knygeles  .  .  .  nü 
D.  G.  S[ettegast;  Präzentor  in  Prökuls]  (Königsberg,  1806).  —  Der  älteste  Kalender  ist  der 
von  i..  IwiÄSKKI  (über  ihn:  Rasztai  ir  Rasztininkai  S.  39)  seit  1846  in  Wilna  heraus- 
gegebene. —  Andere  Kalender:  Mitteil.  d.  lit.  liter.  Gesellsch.  IV  S.  355  und  Katalog  der 
Bibliothek  der  lit.  liter.  Gesellsch.  (Tilsit,  1892)  S.  8.  —  Den  ersten  Ansatz  des  litauischen 
Zeitungswesens  bildet  das  Missionsblatt  ,,Nusidäwimai  apie  Ewangelijös  Praplätinima"  (seit 
1832  in  Königsberg  erschienen,  Herausgeber  Präzentor  Kelch).  Die  angeblich  erste  Zeitung 
,,Lietuwininku  Prietelius"  (Memel,  1848,  Herausgeber  Pfarrer  Zippel)  kenne  ich  nur  dem 
Namen  nach.  Es  folgt  Kltrschats  ,,Keleiwis"  (s.  oben  S.  367).  Nicht  mehr  vollständige 
Verzeichnisse  in  Mitteilungen  der  lit.  liter.  Gesellschaft  IV  S.  343,  Rasztai  ir  Rasztininkai  S.  223. 

—  Die  ältesten  volkstümlichen  Erzählungen,  die  ich  kenne,  sind  ,,Sziauleniszkis  Senelis" 
(,,Der  Greis  aus  Szaulen"  [Wilna,  1861];  vgl.  Kariowicz  O  j^zyku  litewskim  S.  356  Nr.  r86) 
und  Pafegos  Juze"  (s.  S.  366).  —  Eine  der  ersten  Novellen  dürfte  die  sehr  harmlose  sein: 
„Jons  ir  Aniutia"  (,,Hans  und  Annchen"  [Petersburg,  1877];  angeblich  von  P.  NERVS,  Rasztai 
ir  Rasztininkai  S.  90). 

S.  366.  Dr.  med.  Jonas  B.\SSano\vicz  (geb.  22.  Nov.  1851  in  Ozkaballen,  Gouv.  Su- 
walki,  später  Arzt  in  Vama),  Herausgeber  umfangreicher  volkskundlicher  Sammlungen  und 
Verfasser  zahlreicher  Schriften  etymologisch  -  geschichtlicher  Art,  hat  besonders  erfolgreich 
durch  die  Zeitschrift  „Auszra",  d.i.  ,, Morgenrot"  (Tilsit,  1883— 1886)  gewirkt  (mehr  in  Rasztai 
ir  Rasztininkai  S.  168).—  Martin  JankUS,  geb.  1858  in  Bittehnen,  Kreis  Ragnit,  bäuerlicher 
Besitzer  ebenda  (Rasztai  ir  Rasztininkai  S.  195).  —  Von  J.  SZLIUPAS'  Leben  weiß  ich  nur, 
daß  er  1885  nach  Amerika  ausgewandert  ist  (Auszra  1884  S.  359),  wo  er  eine  besonders 
rege  Tätigkeit  entfaltet  hat.  —  Über  Dowkont:  Auszra  1883  S.  13,  41,  249;  1885  S.  88; 
Rasztai  ir  Rasztininkai  S.  32  und  besonders  Wolter  in  Mitteil.  d.  lit.  liter.  Ges.  III  S.  260 
(vgl.  II  S.  414).  —  Über  Woionczewski :  Mitteil.  d.  lit.  liter.  Ges.  III  S.  102,  Rasztai  ir  Raszti- 
ninkai S.  52.  —  Über  Fr.  Kurschat:  Göttinger  gel.  Anzeigen  1885  S.  905^;  Auszra  1883 
S.  102;  Rasztai  ir  Rasztininkai  S.  45. 

S.  367.  Über  R.  Jacoby:  Mitteil.  d.  lit.  literar.  Ges.  I  S.  252;  Rasztai  ir  Rasztininkai 
S.  135.  —  Über  Sauerwein:  Rasztai  ir  Rasztininkai  S.  loi.  —  Über  Baranowski:  Rasztai  ir 
Rasztininkai  S.  81;  Mitteil.  d.  lit.  liter.  Ges.  V  S.  319. 


DIE  LETTISCHE  LITERATUR. 

Von 
Eduard  Wolter. 

Land  und  Leute.  Einleitung.  Der  lettische  Volksstamm  bildet  mitsamt  den  heute 
noch  finnisch  redenden  Esten  den  Grundbestandteil  der  genuinen  Land- 
bevölkerung der  russischen  Ostseeprovinzen.  Baltisch  -  lettische  Sprach- 
bevölkerung finden  wir  gegenwärtig  in  Kurland,  Livland,  im  Gouverne- 
ment Witepsk  und  als  preußische  Kuren  auf  der  Nehrung  und  am  Strande 
■  nördlich  von  Memel. 

Die  Gesamtzahl  lettisch  sprechender  und  verstehender  Leute  bemißt 
sich  auf  ungefähr  zwei  Millionen.  Davon  kommen  auf  Kur-  und  Liv- 
land je  500000,  auf  die  Witepsker  „Lethigaller"  300000  und  der  Rest  auf 
die  ausgewanderten  Letten  in  den  Gouvernements  Pleskau,  Kovno,  Now- 
gorod, Wjatka,  in  St.  Petersburg  und  sonst  in  Rußland.  Ebenso  sind 
noch  Letten  in  den  Vereinigten  Staaten  Nordamerikas,  sowie  in  Brasilien 
ansässig. 

Schon  frühzeitig  hat  Sage  (Dietrich  von  Bern)  und  Geschichte  von 
den  Letten  zu  berichten  gewußt,  ebenso  wie  die  historisch  vergleichende 
Sprachforschung  eine  Reihe  interessanter  Entlehnungen  estisch  -  lettischer 
Wörter  durch  die  Finnen  entdeckt  hat.  Mit  den  Dünaansiedlungen  lübischer 
Kaufleute  am  Ausgang  des  12.  Jahrhunderts  und  der  Begründung  der 
Handelsstadt  Riga  am  Einfluß  des  Rigabaches  in  die  Düna  beginnt  die 
Eroberung  und  Christianisierung  der  Letten.  Aber  bis  auf  das  Refor- 
mationszeitalter ist  die  Pflege  nationaler  Gesittung  und  Sprache  daselbst 
nur  bescheiden  gewesen.  Das  seiner  Stammesältesten  und  seiner  natio- 
nalen Aristokratie  (bei  den  verwandten  Litauern  führten  diese  das  Volk 
zur  Begründung  eigenen  Staatswesens  und  eigener  Literatur)  beraubte 
Lettenvolk  sank  zu  hörigen  Bauern  herab;  ohne  gebildetere  leitende 
Führer  stand  es  den  historischen  Ereignissen  des  Landes  passiv  gegen- 
über. Dennoch  hat  es  seine  traditionelle  Volksliteratur  in  reicher  Fülle 
bewahrt  und  wenn  auch  nur  langsam  und  bisher  wenig  aufgehellt  seine 
poetische  Sprachsymbolik  unter  dem  Andrang  deutscher  städtischer  Kultur 
und    höfischer    Sitte    entwickelt.     Die   Akademie    der  Wissenschaften    zu 


I.  Die  lettische  Literatur  bis  zum  Jahre   1850.  072 

St.  Petersburg  ist  so  imstande  gewesen,  28406  lettische  Volkslieder  nebst 
Varianten  (Latwju  dainas),  von  Kr.  Barons  gesammelt  und  geordnet,  zu 
veröffentlichen.  Ebenso  sind  6002  Sagen  und  Legenden  in  524  Kirch- 
spielen unter  Teilnahme  von  850  Sammlern  aufgeschrieben  und  größten- 
teils publiziert  worden. 

I.  Die  lettische  Literatur  bis  zum  Jahre  1850.  Die 
Versuche  in  lettischer  Literatur  sind  in  das  Jahr  1530  zu  setzen,  in 
welchem  der  Prediger  Nikolaj  Ramm  in  Riga  das  Vaterunser  ins  Lettische 
übersetzte.  Der  erste  Druck  von  Luthers  „Kleinem  Katechismus"  er- 
schien 1586  in  Königsberg  bei  Heinrich  Osterberger,  1587  dann  Undeutsche 
Psalmen  und  geistliche  Lieder,  welche  in  den  Kirchen  des  Fürstentums 
Kurland,  Semgallien  und  in  Livland  gesungen  werden,  auf  Kosten  und 
Initiative  des  Herzogs  Gotthard  Kettler.  Dieser  Grundstock  lettischer 
evangelischer  Volksliteratur  erweiterte  sich  allmählich  zu  einer  allseitig 
entwickelten  Volksbildungsliteratur  mit  ausgebildeter  Schriftsprache,  dem 
Lettischen  angepaßter  Rechtschreibung  und  den  religiösen  Bedürfnissen 
entsprechendem  Inhalte.  Zahllose  Gesangbücher  mit  gegen  800  Nummern 
wurden  veröffentlicht:  aus  den  agendarischen  Kollekten  und  Perikopen 
entstand  die  vollständige  Übersetzung  der  Heiligen  Schrift  und  zahl- 
reiche Predigtensammlungen.  Die  Bibel  wurde  1685 — i68g  in  Riga  ge- 
druckt, der  lettische  Text  zusammengestellt  von  Ernst  Glück,  Pastor  zu 
Marienburg,  mit  Christoph  Witten  als  Gehilfen.  Die  zweite  Auflage 
erschien  173g,  besorgt  von  Jakob  Benjamin  Fischer,  livländischem 
Generalsuperintendenten,  gewidmet  der  Kaiserin  Anna  und  dem  Herzog 
Biron;  sie  ist  von  Aug.  Bielenstein  im  Jahre  1865  und  1877  sprachlich  wie 
exegetisch  emendiert  worden.  Die  sogenannte  Bibelperiode  1685 — 1750 
hat  [neben  ihren  eigenen  Leistungen  das  Verdienst,  die  ersten  Versuche 
weltlicher  Literatur  hervorgerufen  zu  haben. 

Neben  der  literarischen  Hauptströmung,  welche   zur  Ausbildung  letti-  Literatur  der 
sehen    Schrifttums    auf    evangelisch  -  lutherischer    Basis    führte,    hat    sich  Letten  in  Kur- 
hundert Jahre    nach   der  Begründung  dieser  Literatur    zu   Gegenreforma-  couvemement 
tionszwecken  eine  katholische  Unterströmung  bemerkbar  gemacht,  welche 
von    1604    beziehentlich    1672    beginnend    bis    zum   Jahre    1870   andauerte 
dann  von  1904  ab  neu  begonnen  hat  und  seitdem  in  der  Herausgabe  von 
drei  Zeitungen,  Kalendern,    Gebets-   und   Schulbüchern    zu   Zwecken    der 
Volks-  und  Kindererziehung  sich  betätigt. 

Nachdem  das  lettische  Volk,  nach  Bielensteins  Ausdruck,  aufgehört  Ausbildung 
hatte,  ein  taubstummes  zu  sein  und  die  Buchdruckerkunst  zur  Volks- Schriftsprache, 
erziehung  benutzte,  trat  die  Entwicklung  der  Sprache  in  eine  neue 
Phase.  Zunächst  wurde  das  deutsche  Alphabet  durch  Georg  Manzelius 
(1593  — 1654)  an  lettische  Lautverhältnisse  angepaßt  und  Wörterbücher 
und  Phraseologien  zusammengestellt.  1644  erschien  Rehehusens  Manu- 
ductio    ad    linguam    lettonicam,    icjor    neu    herausgegeben    von   A.  Bielen- 


374 


Eduard  Wolter:  Die  lettische  Literatur. 


stein,    Magazin   XX,  2.      1685    kam    G.  Dresseis    Kurze    Anleitung    und 
H.  Adolphis  „Erster  Versuch"  ans  Licht. 
Weltliche  Erheblich  später  als  die  religiöse  ist  die  Literatur  weltlichen  Inhaltes 

Literatur.  ,  ^^  . 

erschienen.  Ihre  ersten  Anfänge  sind  Gespräche  (Latwiskas  sarunas) 
Manzels  vom  Jahre  1638,  Melchior  Vossius'  Gedicht  vom  Jahre  1631 
(Andreae  Rivini  Coclum  ferrestre  poeticum)  und  verschiedene  Schwur- 
formeln aus  dem  Jahre  1638,  1688  und  1696  (letztere  aus  den  Gerichts- 
akten über  Witepsker  Gütergrenzstreitigkeiten).  Der  erste  lettische 
Dichter  und  Schriftsteller  nationaler  Herkunft  war  St  ein  eck,  Pastor  in 
stender.  Tuckum,  geb.  1681,  gest.  1735.  Von  besonderer  Bedeutung-  ist  Stender  (1714 
— 1796).  Außer  grammatischen  Werken  verfaßte  Stender  lettische  Erzäh- 
lungen (Pasakas  un  stahsti  1766),  Gedichte  und  Gesänge  (Jaunas  singes 
1774),  gab  belehrende  Bücher  über  Natur  und  Welt  (Augstas  gudribas 
grahmata)  und  geistliche  Lieder  heraus.  Ein  Freund  der  Aufklärung,  be- 
gründete er  im  Jahre  1763  das  Kalenderwesen  der  Letten  in  Kurland  (Jauna 
A.  j.  stender.  uH  Wezza  Laikagrahmata).  Stenders  Zeitgenossen  und  Nachahmer  waren 
Loskiel,  Baumbach,  Matschewski,  M.  Stobbe  und  vor  allem  sein  Sohn 
Alexander  Joh.  Stender  (1744— 1819),  Verfasser  des  ersten  Lustspiels 
„Schuhpu  Bertuls".  Dieser  erste  dramatische  Versuch  behandelt  nach 
Holberg  die  Erzählung  vom  Bauern  Bertul,  der,  zum  Herren  gemacht,  sein 
Glück  nicht  zu  benutzen  weiß.  Im  Jahre  1797  gab  Stobbe  das  erste 
lettische  Jahrbuch  als  periodische  Druckschrift  heraus.  Doch  mißlang 
der  Versuch,  eine  beständige  Zeitschrift  zu  gründen,  bis  aufs  Jahr  1822, 
Die  erste     jn  welchem,  von  Pastor  Watson  in  Lesten  begründet,  die  erste   Zeitung, 

lettischeZeitung. 

Latweeschu  Awise,  der  lettische  Aviso,  herauskam. 
Begründung  der  Mit  der  Aufhcbung  der  Leibeigenschaft  und  Gewährung  bürgerlicher 

lettischen  Volks- 

schule.  Freiheit  trat  die  Forderung  der  Elementarbildung  für  die  Letten  in  den 
Vordergrund.  Der  kurländische  Pastor  Joh.  Chr.  Wolter  (1799 — 1857)  in 
Zirau-Dserwen  veranlaßte  die  Gründung  der  kurländischen  Volksschule. 
Mit  Hilfe  des  in  Königsberg  gebildeten  Lehrers  A.  Bergmann  bildete  er 
die  ersten  Volk.slehrer  aus,  bis  dann  die  Ritterschaft  ein  Seminar  in 
Irmlau  begründete.  Gleichzeitig  trat  das  Problem  hervor,  in  welcher 
Sprache  die  „Bauern"  zu  unterrichten  und  zu  bilden  wären.  In  den  Ver- 
handlungen der  kurländischen  Gesellschaft  für  Literatur  und  Kunst  vom 
Jahre  1819  wurde  von  Conradi  die  Frage  „Wäre  die  Metamorphose  der 
Letten  ins  Deutsche  zu  beklagen?"  aufgeworfen,  eifrig  diskutiert  und 
besonders  von  dem  oben  genannten  Pastor  Watson  und  von  Brinken  zu- 
gunsten des  Lettischen  entschieden.  Ein  Volk,  führten  sie  aus,  könne 
stets  nur  durch  seine  Sprache  gebildet  werden.  Die  lettische  sei  reich 
und  geschmeidig,  in  kirchlicher  Hinsicht  bereits  gebildet,  in  juristischer 
und  politischer  durchaus  bildungsfähig.  Der  lettische  \'olksstamm,  mit 
den  Litauern  etwa  4 — 5  Millionen,  habe  seine  Mission  zwischen  Ger- 
manen und  Slawen.  Der  Hang,  deutsch  zu  lernen,  gehe  nicht  aus  Liebe 
zur  deutschen  Kultur  und  Sprache  hervor,   sondern  aus  Hochmut,    in  der 


II.  Von   i8;o  bis  zur  Gegenwart.  375 

Meinung,  durch  die  deutsche  Sprache  in  den  Herrenstand  überzugehen. 
Die  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  dürfe  nicht  das  Ende  der  lettischen  Ge- 
schichte bilden,  sondern  den  Beginn  einer  besseren,  erfreulicheren  Periode. 
Die  Sprachmetamorphose  würde  neue,  für  den  Volkscharakter  nachteilige 
Sitten  erzeugen.  Denn  die  Einheit  des  sozialen  Lebens  hänge  nicht  von 
der  Verschiedenheit  der  Sprache  ab,  sie  werde  nur  gehindert  durch  die 
Verschiedenheit  der  Bildung-,  des  Berufs  und  der  Sitten.  Wahre  Religion 
und  Religiosität  fordere  den  Gebrauch  der  Muttersprache.  Für  den  ge- 
meinsamen Patriotismus  sei  die  Einheit  der  Regierungsverfassung  maß- 
gebender als  die  Einheit  der  Sprache.  Diese  Ideen  bestimmten  in  der 
Zukunft  den  Bildungsgang  und  die  Entwicklungsgeschichte  des  Letten- 
volkes wie  auch  der  Literatur. 

Aus  dem  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  von  lettischen  Dichtem  zu 
nennen  ist  vor  allem  der  blinde  Indrik(i783 — 1828),  welcher  eine  drama- 
tische Allegorie  über  die  „Befreiung"  sowie  verschiedene  patriotische  Verse 
und  Gelegenheitsgedichte  verfaßte.  Sein  Beschützer  und  Verehrer  war 
Pastor  Elberfeld  in  Apricken  (1756 — i8ig),  der  Verfasser  eines  längeren 
Originaldramas  „Behrtulis  un  Maia".  Die  anderen  Schriftsteller,  welche 
das  Zeitalter  Alexanders  des  Glückseligen  besangen,  Kr.  Frd.  Launitz, 
Köhler,  Girgenson,  Vogt,  waren  zugleich  eifrige  Mitarbeiter  des  Watson- 
schen  Latweeschu  Awise.  Im  Jahre  1824  wurde  von  R.  v.  Klot  die  lettische 
literarische  Gesellschaft  begründet  und  damit  die  provinziell  geteilten  liv- 
ländischen  und  kurländischen  Volksbildner  zu  gemeinsamer  Tätigkeit  ver- 
einigt. 

IL  Von  1850  bis  zur  Gegenwart.  Im  Verlaufe  des  ig.  Jahrhunderts 
war  in  den  Städten  beständig  der  Wohlstand  lettischer  Handwerker  und 
Kaufleute  gewachsen,  die  Universitäten,  das  Polytechnikum  in  Riga,  die 
technischen  Hochschulen,  das  Konservatorium  in  St.  Petersburg  lieferten 
mehr  und  mehr  Staatsbeamte  verschiedenster  Art,  Juristen,  Pastoren,  Medi- 
ziner, ebenso  wie  Techniker,  Fabrikanten,  Künstler  und  Musiker  von  let- 
tischer Herkunft.  Die  Folge  war,  daß  in  kleinen  baltischen  Städten  unter 
den  Stadtverordneten  lettische  Majoritäten  entstehen  konnten.  Alle  diese 
Verhältnisse  wirkten  auf  die  Neuentwicklung  lettischer  Nationalliteratur 
fordernd  ein,  besonders  auf  die  periodische  Presse,  trotz  des  Waltens 
strenger  Zensur  und  anderer  Aufsichtsbehörden.  Vom  Jahre  1825 — 1850 
nimmt  die  Zahl  der  lettischen  Schriftsteller  baltischer  Herkunft  stetig  zu. 
Besonders  verdient  machte  sich  Anß  Lieventhal  (1803 — 1877),  Leitan 
(1815 — 1874),  der  Begründer  der  weitverbreiteten  Zeitung  Majas  weesis 
(Hausfreund),  und  Ernst  Dünsbergis  (1816 — 1Q02),  einer  der  fruchtbarsten 
Schriftsteller,  der  mehr  als  100  Bücher,  Übersetzungen  wie  Originalschriften, 
verfaßte.  Im  Jahre  1860  hatte  die  Latweeschu  Awise  3600,  1870  5000  Abon- 
nenten. In  Livland  gab  Pastor  Treu  1832 — 1846  den  Lettischen  Volks- 
freund heraus.     Die  junglettische  Partei  begründete  1864  die  Petersburger 


T^-jt  Eduard  Wolter:  Die  lettische  Literatur. 

Petersburger  Zeitung  (Petersburgas  Awises)  mit  Ch.  Woldemar  an  der  Spitze,  unter  Mit- 
Zeitung.  Wirkung  von  G.  Barons  und  Juris  Allunan.  Dieser  Feuermeteor  rief  viel 
Ärgernisse  in  den  baltischen  Kreisen  hervor,  was  ein  baldiges  Ende  her- 
B.  Dihrik.  beiführte.  1868  begann  unter  B.  Dihriks  Redaktion  der  Baltische  Bote, 
1878  unter  A,  Webers  Leitung  die  Stimme  (Balss)  zu  erscheinen,  heute 
die  verbreitetste  lettische  Zeitung  mit  25 — 30000  Lesern.  1875 — 1880 
traten  unter  G.  Mater s  Redaktion  die  Zeitungen  der  Baltische  Landbauer 
(Balt.  Semkopis)  und  der  Rechtsbote  (Teesu  wehstnesis)  hervor.     1886  be- 

Deenas  Lapo.  gann  die  für  einen  gebildeteren  Leserkreis  bestimmte  „Deenas  Lapo"  zu 
erscheinen,  die  unter  veränderungs vollen  Zeitverhältnissen  als  „Unsere 
Zeit"  (Müsu  laiki),  dann  „Unser  Leben"  (Müsu  dzlwe)  bis  heute  fortbesteht 
und  augenblicklich  gegen  1 2  000  Abonnenten  besitzt.  Redakteure  des 
Blattes  waren  Bergmann,  Stutschka  und  der  bekannte  Symbolist  und 
Goetheübersetzer  Rainis-Pleekschan.  Die  erste  Zeitung  ohne  Präventiv- 
zensur erschien  1901  als  Petersburgas  Awises  und  in  neuester  Zeit  eine 
zweite  unter  verschiedener  Benennung,  Petersburgas  Atbalß,  Pateesiba, 
Progreß,  Newas  Wilni,  sowie  auch  eine  lettische  illustrierte  Künstler- 
Neueste  Zeit  and  Zeitschrift    Swari    zu    nennen    ist.      Die    letzten   Ereignisse    im    russischen 

Zeitungsverhält-  . 

nisse.  Reiche  haben  aber  die  Zeitungsverhältnisse  so  verändert,  daß  an  eine 
Kontinuität  gewisser  Richtungen  nicht  mehr  gedacht  werden  kann.  Be- 
sonders mannigfaltig  ist  die  Umbenennung  konfiszierter  Zeitungen  in  Neu- 
ausgaben. Die  Zahl  der  beständigen  Subskribenten  hat  bedeutend  ab- 
genommen, während  der  Einzelverkauf  sich  enorm  erweitert  hat.  Monats- 
zeitschriften werden  bis  auf  2000  Exemplaren  gebracht. 

Zu  den  Hauptteilnehmern  der  nationalistischen  junglettischen  Periode 
von  1850 — 1880  gehören  außer  Ch.  Woldemar  noch  A.  Spahgis  (1820 
— 1870),  der  Verfasser  der  Schrift  Zustände  des  freien  Bauernstandes  in 
Kurland,  Juris  Allunan  (1832 — 1864),  Heineübersetzer  und  Sprachkünstler, 
Kaspar  Beesbardis  (1806 — 1886),  Juris  Neikens  (1826 — 1868),  ein 
klassischer  Erzähler,  Otto  Kronwald  (1837 — 1875),  ein  idealer  National- 
politiker, der  Verfasser  der  „Nationalen  Bestrebungen",  Sprachbildner, 
die  Gebrüder  Kaudsit  Matiß  (geb.  1818)  und  Reinis  (geb.  1839),  die 
Mehrneeku  gemeinsamen  Verfasser  des  berühmten  Romans  „Mehrneeku  laiki"  (Die 
neue  Landvermessung),  der  eine  treffende  Schilderung  der  Epoche  der 
Übergangszeit  veränderter  Landbearbeitung,  von  der  Leibeigenschaft 
zur  kapitalistischen  Produktionsform  enthält.  Neben  diesen  verdienen  er- 
wähnt zu  werden  Andrejs  Pumpurs  (1841  — 1902),  Verfasser  eines  Kunst- 
epos Latschplehßis,  Fr.Brihwsemneeks-Treuland  (geb.  i848),bekannt  als 
Sammler  ethnographischer  Märchen,  Texte,  Beschwörungsformeln,  Sprich- 
wörter und  Rätsel,  Auseklis  (Krogsemju  Mikus)  1850 — 1879,  Verfasser 
patriotischer  Gedichte  und  Stimmungsbilder  aus  grauer  Vorzeit,  A.  Weber, 
der  langjährige  Vorsitzende  der  Zinibas  Komisija  des  lettischen  Vereins 
zu  Riga  und,  heute  fast  vergessen,  John  Pawasser  und  J.  Lauten- 
bach, Lektor  der  lettischen  Sprache  in  Dorpat  und  Verfasser  der  Schrift 


bchluu.  377 

Skizzen  zur  Geschichte  der  htauisch-lettischen  Volkspoesie,  Textparallelen 
und  Anmerkungen,  Dorpat  1896.  Der  beste  lettische  Kritiker  ist  Theodor  Lettische 
Zeifert,  der  Verfasser  obengenannter  Chrestomathie  sowie  des  Schriftchens 
über  die  Entwicklung  lettischer  Nationalpoesie  Musu  tautas  dzejas  pamosanas 
(1893)  und  vieler  lettischer  Literaturübersichten.  Die  Faustübersetzung  von 
Rainis-Pleekschan,  der  auch  durch  eigene  gedankenreiche  Lyrik  sich 
einen  Namen  gemacht  hat,  ist  eine  Musterleistung  in  sprachlicher,  wie  in 
dichterischer  Hinsicht.  Die  kleinen  Geister  nationaler  Poesie  mit  falschen 
Göttern  und  allen  möglichen  mythischen  Gestalten  wurden  verdrängt 
vom  gesunden  Realismus  eines  Apsihcha  Jehkaps  und  Fritz  Malberg. 
Unter  den  zeitgenössischen  Dichtem  könnten  der  lettische  Dramatiker 
und  Novellist  Rudolf  Blaumann  und  die  Dichterin  Elsa  Rosenberg  Dichterin 
(Aspasia)  jeder  Nationalliteratur  zur  Zierde  gereichen.  Von  Elsa  Rosen- 
berg-Pleekschan  (geb.  1868  in  Kurland),  erschienen  1888  die  Dramen 
„Rächer",  1892  Das  Sonnenmädchen  (im  Geiste  von  Shelleys  Königin  Mab), 
1894  Die  Waidelotin,  Die  Hexe  und  Verlorene  Rechte,  und  1895  Das  un- 
erreichte Ziel,  sowie  die  Novelle  Der  Kampf  um  die  Zukunft.  Sie  ist  die 
Hauptrepräsentantin  der  jungen  Strömung  der  lettischen  Literatur,  welche 
neues  Leben  in  die  lettische  Literatur  brachte.  Besonders  effektvoll  und 
politisch  gefürchtet  war  in  den  letzten  Jahren  ihr  Märchendrama  Der 
Silberschleier  (Sidraba  Schkidrauts),  das,  an  zeitgenössische  politische  Ver- 
hältnisse anklingend,  ein  eigentümliches  poetisches  Vorahnen  der  Ereig- 
nisse verriet.  Dieses  Stück  brachte  ausverkaufte  Häuser,  worauf  dann 
strengstes  Verbot  der  Aufführung  folgte. 

Schluß.  Aus  der  obigen  Übersicht  wurde  klar,  daß  die  anfänglich 
zum  Zwecke  religiöser  Unterweisung  gegründete  lettische  Literatur  all- 
mählich sich  zu  einem  wichtigen  Mittel  der  Volksbildung  erweitert  hat  und 
dann  infolge  der  historisch  und  wirtschaftlich  veränderten  Verhältnisse 
zu  einem  Haupthebel  der  Nationalselbsterkenntnis  und  endlich  auch  sozial- 
politischer Selbstbestimmung  geworden  ist.  Das  lettische  Volk  hat  heute 
aufgehört,  sich  vorschreiben  zu  lassen,  was  literarischer  Bearbeitung  wert 
und  wichtig  ist,  und  beginnt  auch  im  geistigen  Leben  seine  eigenen  Wege 
zu  gehen.  Literatur  und  Sprache  des  Lettenlandes  sind  so  weit  aus- 
gebildet, daß  sie  weiterer  nationaler  Selbsterziehung  zu  dienen  imstande 
sind.  Freilich,  das  Milieu,  das  die  Literaturbedingungen  hervorbrachte,  ist 
noch  wenig  aufgehellt,  weil  eine  Kulturgeschichte  des  Balticums,  sowie 
die  Geschichte  der  Zensur  und  Regierungspolitik  des  letzten  Jahrhunderts 
noch   nicht   geschrieben   ist. 


Literatur. 

Lettische  Literatur  und  Sprache  sind  bearbeitet  worden  vom  historischen  wie  bibhographi- 
schen  Standpunkte  aus.  Von  Chrestomathien  ist  zu  nennen:  Theodor  Seiferts  Latwee- 
schu  rakstneezibas  chrestomatija  I — IIL  Versuche  summarischer  Gesamtübersichten  gaben 
I.  Bernhard  Dihrik  in  Latweeschu  rakstneeziba,  Das  lettische  Schrifttum  bis  zum  Jahre 
1860  (Riga),  8,  50  Seiten;  2.  PawaSARU  Jahnis  in  der  Sammelschrift  Das  lettische  \'olk 
(Latwiju  Tauta)  (Mitau,  1893),  i.  Lieferung:  Die  lettische  Literatur  bis  zur  Freiheits- 
epoche oder  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  der  Letten  im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
3.  Lihgotnu  Jehkabs  Latweeschu  literatura  (Riga,  1906),  352  Seiten,  eine  Kompilation 
mit  spezialisierter  Periodeneinteilung  und  Aufzählung  von  146  lettischen  Autoren  und  kurzer 
Besprechung  ihrer  Hauptwerke  und  Tendenzen;  4.  (russisch):  P.  R.  BERGS,  Etwas  über  die 
Literatur  der  Letten,  in  den  Nachrichten  (Izvestija)  der  Büchermagazine  der  Firma  M  .O.  Wolf 
in  St.  Petersburg  111  (1900),  Nr.  12,  S.  142 — 146;  5.  A.  BlELENSTElN,  Ein  glückliches  Leben 
(Riga,  1904),  468  Seiten,  vor  allem  in  den  Abschnitten  Die  lettische  nationale  Bewegung 
S.  390  ff.  und  Die  lettische  literarische  Gesellschaft  S.  389  ff.  —  Lettische  \'olksliteratur  be- 
handelt Baron  Gustav  Manteuffel  in  i.  Bibliographische  Notiz  über  lettische  Schriften 
von  1604 — 1871  in  hochlettischer  oder  sogenannter  oberländischer  resp.  polnisch -liv'ändi- 
scher  Mundart,  Magazin  der  lettischen  literarischen  Gesellschaft,  17.  Band  (1885),  S.  181  — 
204;  2.  Lotwa  i  jej  pieäni  gminne,  d.  i.  Lettland- Latuwa  und  sein  Volkshed,  S.  166 — 260, 
in  dem  Jubiläumsband  zum  Andenken  an  Adam  Mickiewicz  1798 — 1898.  —  Von  JOH.  Berg 
und  J.  ScHABLOWSKY  wurde  herausgegeben  in  Mitau  ein  lettischer  Bücherindex  ,, Latweeschu 
rakstneezibas  rahditajs",  1893  und  1899  in  zwei  Bänden,  in  dem  4228  Titel  gangbarer  und 
teilweise  seltener  Werke  verzeichnet  sind. 

S.  372,  Z.  II.     Vgl.  A.  BlELENSTElN,  Grenzen  des  lettischen  Volksstammes  (1892). 

S.  372,  Z.  14.  Vgl.  A.  N.  Wesselofsky,  Russkije  i  Wiltini  w  sagS  o  Tidreke  Bemskom 
(Veronskom)  (St.  Petersburg,  1906). 

S.  375,  Z.  17  V.  u.  Außer  Dorpat  besuchten  die  in  russischen  Schulen  erzogenen  Letten 
die  Universitäten  zu  St.  Petersburg  und  Moskau,  einige  wenige  die  griechisch-katholische 
geistliche  Akademie. 

S.  376,  Z.  I.  WOLDEMAR  (1825  —  1891)  war  nicht  allein  lettischer  Schriftsteller  und 
deutscher  Publizist,  sondern  auch  reger  Volksbildner  und  Agitator,  von  1872  ab  in  Moskau 
als  Sekretär  der  Gesellschaft  zur  Förderung  des  Seewesens  und  Kauffahrtei  in  Rußland  tätig, 
sowie   Mitbegründer  der  Freiwilligen  Flotte. 


REGISTER. 

Von  Dr.  Richard  Böhme. 


Bei  mehrfach  ; 


und  Stichworten  sind  die  Hauptstellen  durch  einen  Stern  bezeichnet. 


Abo.     315.  316. 

„Absturz,  Der",  Goncarovs.     99. 

Achikar  s.  Akyrios. 

Adel,  Polnischer.     154. 

Adolphi,  H.     374. 

Aeneas  Sylvius.     275. 

Äschylus.     261.  365. 

Aesop.     238.  365. 

Afanasjeff,  Alexander  Nikolajewitsch  148. 

Agram.     25.  27.  216.  225.  238.  244. 

Agricola,  Michael.     315. 

Ahlqvist,  August.     »323.  353. 

,, Ahnenfeier,  Die",  von  Mickiewicz.     159.  160. 

Aho,  Juhani.     •325.  327.  328. 

Ahrens,  Ed.     345. 

Aisman.     142. 

Akademie  der  Wissenschaften ,  Moskauer.   46. 

—  — ,  Serbische.     237. 

—  — ,  Südslawische.     231. 

—  — ,  Ungarische.     299. 
Aksakov,  A.     16.  74. 
Akyrios,  Der  weise.     202.  208. 
Aladar.     268. 

Albanesen.     197. 

Albanesisch.     19. 

Albrecht  von  Brandenburg.     357. 

Aleksandrikool.     347. 

Aleksandrov-Murn.     237. 

Alexander  I.  von  Rußland.     51.  *S3-  57-  158. 

319-  347- 
Alexander   II.    von   Rußland.      82.    '89.    loi. 

104.   125. 
Alexanderhed ,  Böhmisches.     180. 
Alexanderroman.     27.  202.  208. 
Alexander  d.  Gr.,  Neugriechisches  Volksbuch 

über.     250. 
Ali  Pascha  von  Janina.     258. 
Allatios,  Leo.     247. 
Alhanz,  Heilige.     53. 
Allunan,  Juris.     376. 
Alphabet,  Glagohtisches.     198. 
Altnowgorod.     14. 

Altruismus  in  der  polnischen  Literatur.     171. 
Andrejeff,  Leonid.     142. 
„Anführung  zu  der  Ehstnischen  Sprach"  von 

H.  Stahl.     339. 
„Annalen,  Vaterländische".     74.   121.   126. 


Anten.     2. 

Anterus,  Lied  von.     313. 

Apokryphen  in  den  südslawischen  Literaturen. 

201. 
Apostellegenden,  Altkirchenslawische.     200. 
Aprilov,  V.     239. 
Arany,   Johann.      285.   290.    *296.   29g.   305. 

306.  307. 
Arany,  Ladislaus.     306. 
Aquileja.     8. 
Arbes,  Jakob.     192. 
Ariost,  Lodovico.     280. 
Aristoteles.     20 1.     272. 
Arnold,  Gj.     232. 
Arpäd.     269.  291.  292. 
Arpäden.     267. 
Arvelius,  Fr.  G.     341. 
Arzybascheff.      145. 
Askerc,  Anton.     231. 
Asnyk,  Adam.     165. 
Atanackovic,  Bogoboj.     235. 
Athen.     255. 
Athenäus.     250. 

Athosklöster.     200.  201.  203.  206. 
Attavantes.     271. 

Attila.     265.  266.  268.  269.  297.  298. 
Attizismus.     246. 
Auerbach,  Berthold.     77. 
, .Auferstehung"  von  L.Tolstoi.     119.   136. 
Aufstand,    Polnischer.      102.    106.    129.    165. 

168.  226. 
„Aufstand,  Der,  in  Machtern",  Wildes.    351. 
Augustus,  Kaiser.     265. 
,, Aurora",  Almanach  K.  Kisfaludys.     289. 
Auseklis.     376. 
Avaren.     4.   177.  266. 
Awise,  Latweeschu.     374.  375. 
Awises,  Petersburgas.     376. 


Babic,  Ljubomir  s.  Gjalski,  Sandor. 
,,Baßu\tuvia"  von  Vyzantios.     256. 
Babylonischen  Reich,  Sage  vom.     202. 
Bach,  Alexander  Frhr.  von.     300.  305. 
Bacsänyi,  Jos.     286. 
Baksic,  P.     219. 
Bakunin,  Michael.     80.  94.  120. 
Balassa,  Valentin.     275.  '276. 


38o 


Regislei. 


„Balassa,  Der  Verrat  des  Meinhard".     288. 

Balbi'n,  B.     187. 

Balmont,  K.     139. 

Balzac,  Honore  de.     62.  77.  79.  80.  302. 

„Balzer   in   Brasilien,   Herr",   von   Maria  Ko- 

nopnicka.     i6g. 
,,Bänk  Bän"  von  J.  Katona.     290. 
,,Banus  Maröt"  Vörosmartys.     293. 
Baranowski,  Anton.     367. 
Barbatus,  Philipp.     217. 
Bardas  von  Byzanz.     197. 
, .Barfüßler".     137. 
Barlaam  und  Joasaph.     202.  267. 
Bäröczy,  Alexander.     301. 
Barons,  G.     376. 
Barons,  Kr.     373. 
Bartos,  Pfsar.     28.  186. 
Basilios  II.  von  Byzanz.     200. 
Bassanovic.     363.  366. 
Batiuschkoff,  Konst.     51. 
Baudelaire,  Charles.     238. 
,, Bauern,  Die",  Tschechoffs.     133. 
Bauernbefreiung  in  Rußland.     81.  89.  91.  96. 

98.   loi.   135. 
Bauerndichtung,  Finnische.     320. 
Bauernliteratur,  Polnische.     170. 
Bauemrecht,    Stiftisches    livländisches.     338. 
Becker,  Reinhold  v.     320. 
Beesbardis,  Kaspar.     376. 
Begovid,  Milan.     238. 
,, Beichte"  Tolstois.     117. 
Bela  IV,     267. 
Belgrad.     26.  206.  236.  237. 
Belinsky,  Wissarion.  68.  69.  72.  '73.  74.  75.  76. 

80.  81.  83.  84.  87.  90.  99.  121.  147.  148.  149. 
Bellarmin,  Robert.     278. 
Belovar.     25. 
Bern,  Joseph.     294. 
Benediktiner.     207. 
,,Beniowski"  Siowackis.     i6i. 
Benyovszky,  Moriz.     301. 
Bergbom,  Kaarlo.     328. 
,, Bergkranz"  Petar  II.  Petrovics.     226. 
Bergmann,  A.     374.  376. 
Bergmann,  J.     348. 
Berovic,  P.     240. 
Bertoldos,  Schwanke  des.    250. 
Berzscnyi,  Daniel.     284.  292. 
Bessarion,  Johannes.     247. 
Bessenyci,  Georg.     283.  301. 
Bethlen,  Gabriel.     27g. 
Bibel,  Chylihskische.     361. 
— ,  Kralicer.     30.   186. 
Bibelübersetzung,  Estnische.     339.  *34o. 
— ,  Finnische.     314.  315. 
— ,  Lettische.     373. 
— ,  Litauische.     358.  361. 
— ,  Neugriechische.     261. 
— ,  Ungarische.     269.  '273. 


Bielenstein,  August.     373. 
Biographien,  Serbische.     206 f. 
Biron  von  Kurland.     49. 
Birute,  Gemahlin  Keistuts.     356. 
Bischofschronik,   Lateinische  finnische.     314. 

317- 
Bisticci,  Vespasiano.     272. 
,, Bittschrift"  Daniels.     43. 
Björnson,  Björnstjeme.     163. 
Blahoslav,  Jan.     29.  186. 
Blaumann,  Rudolf.     377. 
Bleda  =  Blödelin.     298. 
Bleiweis,  J.     27.  227. 
,,Blgarski  Orel".     239. 
„Blick    auf   den    anonymen   Rückblick"   Sze- 

chenyis.     300. 
Blizinski,  Josef.     165. 
Boborykin,  P.     125.   145. 
Boccaccio,  Lodovico.     46.  275.  276. 
Bocche  di  Cattaro.     24.  26. 
Bodenstedt,  Friedrich.     235. 
Böhmen.     28.  30.  31.   176.  *i78.   184.   189. 
Böhmische  Sprache.     '27.   176. 
Bogomilen.     200.  *20i.  204.  207. 
Bogorov,  J.  A.     239. 
Bogovic,  M.     232. 
Bogumil,  Pope.     202. 
Bohoric,  Adam.     217.  218. 
Bojer.     177. 

Bolyai,  Wolfgang  von.     28g. 
Boner,  Ulrich.     278. 
Bontini,  Antonius.     271.  291. 
Boril  von  Bulgarien.     205. 
Boris  von  Bulgarien.     196. 
Bofivoj  von  Böhmen.     178. 
Bornhöhe,  Ed.     34g. 

Bosnien.     23.  25.  26.  '207.  208.  216.  227.  243. 
Boti<i,  Luka.     232. 
Botjov,  H.     240. 
Bozdfich,  Emanuel.     igi. 
Braila.     241.  242. 
Brandenburg,   Albrecht  von.     357. 
Branimir  von  Kroatien.     ig5. 
Brazza.     216. 
Bretkunas,  Janas.     358. 
Brihwsemneeks-Treuland,  Fr.     376. 
Brinken.     374. 
Briussoff,  Valery.     13g. 
Brodziriski,  Kazimierz.     l6g. 
Bruder,  Lied  vom  toten.     251. 
Brüdergemeinde, Böhmische.  2g.  184. '185. 188. 
Brugmann,  Karl.     363. 
Buccius,  Wilhelm.     337. 
Buchdruck,  Cyrillischer.     208.  217.  218. 

—  in  Rußland.     45. 

— ,    Sein    Einfluß    auf   die   Ausbreitung    der 
lateinischen  Schrift  unter  den  Slawen.    210. 

—  in  Ungarn.     271. 
Budapest.     27g.     s.  auch  Ofen. 


Register. 


381 


„Budas  Tod"  Aranys.     298. 

Budovec  von  Budov.     186. 

Bürger,  Gottfried  August.     51.  190.  251.  284. 

Bukarest.     242. 

Bukowina.     15.   18. 

Bulgaren.     2.   3.   4.    10.    11.    12.   13.  20.   194. 

195.    196.    197.    204.    206.    209.    217.    219. 

227.  «238.  243. 
Bulgarien    als    Sitz   der   altkirchenslawischen 

Literatur.     199  ff. 
Bulgarische  Sprache.     19  ff. 
Bulgaris,  Eugenios.     248. 
Buovo  d'  Antona.     208. 
Buslajew,  Fedor  Iwanowitsch.     148. 
Bylinen.     41. 
Byron,  Lord,  George  Gordon  Noel.     54.  56. 

59.  70.  71.  76.  81.  87.    148.   159.   190.  226. 

234.  258.  299.  305.  329.  365. 
Bythner,  Samuel.     359. 
Byzanz.     41.  44.   194.   195.  196.  197.  198.  200. 

202.  203.  204.  24g. 


Cajander,  Paavo.     329. 

Calprenfede,   Gautier   de  Costes,  Seigneur  de 

La.     301. 
Camblak.     205. 
Cankar,  I.     237. 
Canth,  Minna.     328. 
Caregradski  Vfistnik.     239. 
Carnojevic,  Arsenije.     220. 
Cartesius,  Renatus.     212.  279. 
Cassius  s.  Kasic. 
Cato,  Buch  des  weisen.     208. 
Cattaro.     211. 

Cerva,  Aelius  Lampridius.     212. 
Cervantes  de  Saavedra,  Migfuel.     61.  323. 
Chamisso,  Adalbert.     364. 
Charoslieder.     '251.  258. 
Chateaubriand,    Franqois   Rene   Vicomte   de. 

190.  301.  349. 
Chatzopulos.     260. 
Chelcicky,  Peter.     »183.  185. 
Cherson.     13. 

Chilandar,  Kloster.     206.  238. 
Chios.     248. 
Chmielowski,  P.     175. 
Chocholousek,  Prokop.     190. 
Chomjakoff,  Ale.xej  Stephanowitsch.     74. 
Chopin,  Frederic.     364. 
Chortakis,  Georgios.     253. 
Chorvatisch.     24. 
Christentum ,  Bekehrung  der  Böhmen,  Mähren 

und  Slowaken  zum.     178. 
— ,  Bekehrung  der  Kroaten  und  Serben  zum. 

8.   196. 
,, Christin,  Die",  Andrejeffs.     143. 
Christopulos ,  Athanasios.     253. 
Christovasilis.     260. 


292. 
279. 
Pannonius,  Janus. 


Chronik  des  Anonymus ,  Ungarische 

Chroniken,  Bulgarische.     205. 

— ,  Lateinische,  in  Böhmen.     179. 

Chrysostomos ,  Johannes.     200.  205. 

Columna,  Guido  da.     275. 

Conradi.     374. 

Corvina,  Bibliotheca.     271. 

,,Cmojevic,  Maksim".     235. 

Crusius,  Martin.     247. 

Csaba,  Sage  von.     268  f. 

Csäktomya.     279.  280. 

,,Cserhalom"  Vörösmartys. 

Cseri  von  Apacza,  Johann 

Csezmicze,  Johann  von  = 

Csiky,  Gregor.     304. 

Csokonai,  Michael.     284. 

,,Csongor  und  Tünde"  Vörösmart>'s.     293 

Cypeni.     250. 

Cyrillismus  in  Bosnien.     207. 

Czüczor ,  Gregor.     286. 


Cech,  Svat.     191. 

Cechen.     i.  2.  3.  176. 

Cechov,  Anton.      16.  92.  127.  '130.  143. 

Celakovsky,  Franz  Ladislav.     190. 

Cervenka.     186. 

Cop.     226. 

Öubranovic,  A.     214. 

D. 

Dacicky  von  Keslov.     186. 

„Dämon.  Der",  Lermontoffs.     70. 

„Dämonen,  Die",  Dostojewskis.     1 10. 

Dahl,  s.  Dal. 

„Daina".     357.  »363. 

Daken.     4. 

Dal,  \\ladimir  Iwanowitsch.     17.    148. 

Dalmata,  Giovanni.     271. 

Dalmatien.     25.  207.  208.  *2io.  221.  227.  229. 

Dalmatin,  Anton.     218. 

Dalmatin,  Georg.     217.  218. 

,,Danica".     228. 

Daniele,  Gjuro.     26.  225. 

Dante  Alighieri.     67.  215. 

Dapontes,  Konstantin.     248. 

Dauksza,  Michael.     360. 

Deäk,  Franz.     285.  290.  29g.  *3oo. 

Debreczin.     284. 

Decades  des  Bonfini.     271. 

Deenas  Lapo.     376. 

Dekabristen.     55.  '57.  70.  73.  89.  90. 

Dekadenten  in  der  russischen  Literatur.    13g. 

Dellabella.     219. 

Dershawin,  Gawriel.     52. 

Deutschland,  Das  Junge.     234.  235. 

„Diakos"  Valaoritis'.     258. 

Dialekte  der  böhmischen  Sprache.     28.  176. 

—  der  bulgarischen  Sprache.     21. 


Register. 


Dialekte  der  estnischen  Sprache.     339. 

—  der  finnischen  Sprache.     310.  315.  320. 

—  der  neugriechischen  Sprache.     250. 

—  der  polnischen  Sprache.     34. 

—  der  russischen  Sprache.     14.  38. 

—  der  serbokroatischen  Sprache.     23  ff. 

—  der  slowenischen  Sprache.     27. 
Dickens,  Charles.     62.  84.  93.  304. 
Didaktische  Dichtung,  Böhmische.     180. 
Diderot,  Denis.     49. 

Digenis  Akritas.     250. 

,,Diglossie"  der  heutigen  Griechen.     246. 

Dihrik,  Bernhard.     376. 

,, Diktatur  des  Herzens"  Loris  Mehkoffs.    122. 

Dimitsana.     248. 

Dnjepr.     41. 

Diociea.     8. 

Dobö,  Stephan.     275. 

DobroHuboff,  Nikolaj.    '95.  98.  108.  128.  235. 

Dobrovsky,  Josef.     29.  30.  *i89. 

Döczy,   Ludwig.     307. 

,, Dogma,  Ohne,"  Sienkiewicz'.     167. 

Domanovii,  Radoje.     236. 

„Domostroi".     45. 

Donalitius,  Christian.     362. 

,, Dorfnotar,  Der,"  Eötvös'.  302. 

,, Dorothea   oder  Sieg  der  Damen   über  den 

Prinzen  Karneval"  Csokonais.     284. 
Dorpat.     343.  346.  350. 

— ,  Klagelied  über  die  Zerstörung  von.    340. 
Dostojewsky,    Fedor.     62.    68.    *8o.   82.    86. 

89.  *92.  98.   99.  105.  'iio.    115.    129.  131. 

137.   139-  142. 
Dowkont,  Simon.     363.  365.  *366. 
Drama,  Böhmisches.     180.   igo.   191.   192. 
— ,  Bulgarisches.     241. 
— ,  Dalmatinisch-ragusanisches.     213.  215. 
— ,  Estnisches.     349. 
— ,  Finnisches.     319.  323.  '328. 
— ,  Kroatisches.     232. 
— ,  Lettisches.     374.  375.  377. 
— ,  Neugriechisches.     253.  *256. 
— ,  Polnisches.   161.  162.  164. 165. 166. 172. 173. 
— ,  Russisches.     134.   140.   144. 
— ,  Serbisches.     223.  235."  236. 
— ,  Ungarisches.     283.  288.  290.  293.  303. 

(s.  auch  die  einzelnen  Dramentitel.) 
Draskoviö,  Graf  Janko.     228. 
,,Drei,  Die",  Gorkis.     139. 
Dressel,  G.     374. 
Drosinis,  (Jcorg.     "259.  260. 
Drumev,  V.  =  Kliment,  Metropolit. 
Dri\6,  Gjore.     213. 
Drzic,  Marin.     214. 
Dschem,  Bruder  Bajazids.     276. 
Dubif,  Andreas  v.     180. 
,,Dubravka"  Gunduliös.     215. 
DuCii,  Jovan.     238. 
Düna.     354. 


Dünsbergis,  Ernst.    .375. 

,, Düstere  Zeit"  Kemenys.     302. 

Dukas,  Johannes.     254. 

„Dulcitius".     288. 

Dumas,  Ale.xander.     349. 

,,Dumy"  Rylejews.     54. 

Dusan,  Stefan,  von  Serbien.     206.  207. 

Duvernois.     22. 

Dygasinski,  Adolf.     171. 

Dyk.     192. 

E. 
Eftaliotis,       256.  260.  261. 
,,Eger"  Vorösmartys.     292. 
Ehrenfeldkodex.     267. 
Eisen,  M.  J.     348. 
Ekkehard.     266. 
Elberfeld,  Pastor.     375. 
,, Elend,  Glänzendes",  Csikys.     304. 
Elin-Pelin  =  Ivanov,  D. 
„Elinas  Tod".     313. 
Elisabeth  von  England.     45. 
Elisabeth,  Die  heilige.     267. 
„Emanzipantinnen,  Die,"  von  Prus.     171. 
Emauskloster  in  Prag.     207. 
Emigrationsliteratur,  Litauisch-amerikanische. 

364  f- 
— ,  Polnische.     164. 
Emmerich,  Der  heilige.     267. 
Enno,  E.     352. 
Enzyklopädie,  LTngarische,  des  Johann  Cseri. 

279. 
Enzyklopädismus.     49. 
Eötvös,  Josef.     299.  *30i. 
Epachtitis,  Jannis.     260. 
Ephemerides  des  Regiomontan.     271. 
Epos,  Böhmisches.     179.   190. 

Bulgarisches.     240. 

Dalmatinisch-ragusanisches.     213.  215. 

Estnisches.     344.  348. 

Finnisches.     321. 

Kroatisches.     222.  229. 

Neugriechisches.     250.  253. 

Polnisches.     155.  160.  164.  169. 

Serbisches.     226.  236. 

Südslawisches.     209. 

Ungarisches.     272.   274.   280  f.   284.    285. 
291.  296.  297. 

(s.  auch  die  einzelnen  Epentitel.) 
Erasmus  von  Rotterdam.     273. 
Erici,  Ericus.     315. 
Erkko,  Juho  Heikki.     329. 
,, Erophile"  Chortakis'.     253. 
„Erotokritos"  von  Kornaros.     253. 
Esten,  Estnisch.     ♦333.  339. 
„'€cTia".     259. 
, .Estland,  Das  junge".     351. 
Estnische  Gesellschaft,  Gelehrte.     343. 
Estnischer  literarischer  Verein.     347.  351. 
Estophilen.     341  f.  343-  345- 


Register. 


383 


Estreicher,  Karl.     175. 

Euthymij,    Patriarch    von   Trnovo.     204.  207. 

Exarchat,  Bulgarisches.     239. 

F. 

Fabel,  Ungarische.     278. 

Fählmann,  Fr.  R.     343. 

Fallmerayer,  J.  Ph.     255. 

Fay,  Andreas.     301. 

Februarrevolution.     81. 

Fedoroff,  Iwan.     45. 

Fennomanie.     319. 

Fennophilen.     316. 

Fet,  Afanassij  =  Schenschin.     16. 

,, Feuer  undSchwert.Mit",  vonSienkiewicz.  167. 

Fibel,  Finnische,  Agricolas.     315. 

Fiedler,  Die  ungarischen,     274. 

Fierevanti.     27 1 . 

Finnisch,  Finnland.     309.  310.  3l4f.  319.  320. 

333-  334- 
Fischer,  Jakob  Benjamin.     373. 
Flacius  Illyricus,  Matthias.     218. 
Flaska,  Smil,  von  Pardubic.     180. 
,, Flucht  Zaläns"  Vörösmartys.    285.  •291.  299. 
Folklore,  Estnische.     347. 
Forma  chrikstima.     3  5  8. 
Forselius,  B.  G.     340. 
Fortunatov.     363. 
Fortunio.     212. 
Foskolos.     257. 
Fotinov,  K.     239. 
Fragmente,  Gnesener.     33. 
Francisco,   Chronik  vom  Ritter,    und  seiner 

Frau.     275. 
Franciscus  von  Assisi.     267. 
Frankopan,  Franz  K.     219. 
Franziskaner,  Bosnische.     20g.  210.  219.  229. 

238. 
Französisch,  Vorherrschaft  des,  in  Polen.    157. 
Frau,  Die,  in  der  polnischen  Literatur.     168. 
— ,  — ,  —  russischen  Literatur.     94.   132. 
Frauenbewegung  in  Rußland.     loi. 
Fredro,  Graf  Alexander.     157. 
Freidenkertuni.     loi.   104. 
Freiheitskampf  der  Griechen.     253.  255.  292. 
— ,  Ungarischer.     290.  294.  296.  300. 
Freisinger  Denkmäler.     199. 
Friedrich  Wilhelm  L     362. 
,, Früchte   der  Bildung"  von  L.  Tolstoi.     108. 
Fruska  gora,  Klöster  der.     205. 
,, Führer  zur  götüichen  Wahrheit"  Päzmänys. 

279. 

G. 
Gabrovo.     23g. 
Gaj,  Ljudevit.     22.  25.  228. 
Galachoff,  A.     148.  149. 
Galeotto,  Marzio.     271.  272. 
Galizien.     15.  18.  173. 
Gallen,  Sankt.    266. 


,,Gang  zum  Volke".     120. 

Garbitius  Illyricus,  Matthias.     '212.  217. 

Garschin,  Wssewolod.     *I33.   131.   143. 

Gebauer,  Jan.     30. 

,, Gedichte  in  Prosa"  Turgenieffs.     121. 

Gedimin  von  Litauen.     355. 

Gegenreformation.     188.    189.   215.   217.  218. 

220.  278. 
Geisüiche  Dichtung,  Böhmische.     179. 
Geistliches  Gedicht,  Russisches.     42. 
Geographische  Literatur,  Böhmische.     187. 
Georgiev,  M.     243. 
I   Georgijeviö,  Bartholomäus.     212. 
i   Gepiden.     265. 
Gerhard,  Legende  des  heiligen.     266. 
Gerhard,  W.     225.  226. 
Gesangbücher,  Litauische.     359.  367. 
,, Geschichte,  Die,  einer  Stadt"  Saltykoffs.  107. 
Geschichtsliteratur,  .»Mtbulgarische.    201.  205. 
— ,  Böhmische.     1S6.   189. 
— ,  Finnische.     316.  317.  323. 
— ,  Kroatische.     231. 
— ,  Neugriechische.     249.  261. 
— ,  Ungarische.     271. 
Gesetzbuch  des  Stefan  Dusan.     207. 
Geßner,  Salomon.     223. 
Geten.     4. 

Giraldi,  Cintio.     253. 
Girgenson.     375. 
Gjalski,  Sandor.     232.  237. 
Gjoric,  N.     236. 
Gjorgjiö,  Ignjat.     215. 
Glagolitisch.     9.   198. 
Glagolitische  Fragmente,  Wiener  und  Prager. 

178. 
—  Literatur  der  Kroaten.     207. 
Glisic,  Milovan.     236. 
,, Glocke,  Die".     90.  98.  99. 
Glück,  Ernst.     373. 
Gnesen.     34.  357. 
Gnesener  Fragmente.     33. 
Godunoff,  Boris,     iio. 
Görz.     26. 
Goethe,  Johann  Wolfgang,     56.  59.  159.  190. 

225.  226.  235.  252.  257.  287.  289.  305.  363. 
Gogol,  Nikolaus.     17.  58.  '60.  72.  75.  76.  80. 

81.   83.  84.   86.   90.  93.   96.    104.  107.  HO. 

113.  130.  131.  148.  236. 
Goldap.     354. 
Goldoni,  Carlo.     223. 
Goldsmith,  Oliver.     325. 
,,Golowleffs,  Die",  Saltykoffs.     107. 
Goncarov,   Iwan.     16.   67.   68.   '78.   86.   '94. 

96.  99.  120. 
„Gordejeff,  Foma",  Gorkis.     139. 
Gorki,  Maxim.     108.  116.  '137. 
Gottfried  von  Straßburg.     276. 
Gottlund,  Carl  Axel.     *3i9.  320. 
Gottsched,  Johann  Christoph.     283. 


384 


Register. 


„Gouverneur,  Der,"  Andrejeffs.     143. 

Grammatik,  Estnische.     340.  345. 

— ,  Finnische.     3r6.  317. 

— ,  Lettische.     373. 

— ,  Litauische.     359.  361.  367. 

— ,  Polnische.     34. 

— ,  Ungarische.     307. 

Granowsky.     74. 

Gray,  Thomas.     51. 

Grec,  Nikolaj  Iwanowitsch.     17. 

Gregor  VIL,  Papst.     203. 

Gregorcic,  S.     231. 

Gregorios  Sinaites.     204. 

Gregory,  Johann  Gottfried.     47. 

Greguß,  August.     306. 

Grek,  Maxim.     44  f. 

Grenzstein,  A.     350. 

Gribojedov,   Alexander.     16.    52.  '54.  55.  64. 

107.  148. 
Grigorowitsch,  Dimitry  Wassiljewitsch.     "]"]. 
Grillparzer,  Franz.     291. 
Grimm,  Wilhelm.     43.   148. 
Grimm,  Jacob.     225. 
Grodno.     354. 
Großrussisch.     14.   15. 
Großwardein,  Friede  von.     280. 
Guarini,  Giovanni  Battista.     214.  272. 
Gundulic,  Ivan.     215.  216. 
,, Gutsherr,  Der  letzte,  des  Herrenhauses"  von 

P.  Gyulai.     306. 
,, — ,  Der  neue",  Jökais.     303. 
Gvadanyi,  Josef.     301. 
Gyöngyösy,  Stefan.     *28i.  284. 
Gyulai,  Paul.     306. 
Gyulafehervav,  Hochschule  zu.     279. 

H. 

Haawa,  Anna.     350. 

Hadrian  IL,  Papst.     198. 

Hagiographie,  Serbische.     206. 

Hajek  von  Libocan,  Wenzel.     187. 

Hajmdsi.     275. 

Hajnoczy.     286. 

Hälek,  V.     191. 

Hamartolos,  Georgios.     201. 

,,Hand    und   Haußbuch    für    die   Pfarrherren 

vnd  Haußväter  Ehstnischen  Fürstenthumbs" 

von  H.  Stahl.     339. 
Handschrift,  Königinhofer.     178. 
Handschriften,  Estnische.     338. 
Hanse.     44. 
Hansen,  A.     351. 
Hatzidakis,  Georg.     249. 
Hau])tmann,  Gerhart.     257. 
,,Haus  B^lteky"  Fdys.     301. 
Havlicek,  Karl.     191. 
Hedwig  von  Polen.     356. 
PIcgcI,  Georg  Wilhelm  Friedrich.     72.  73. 
Hciligcnlegenden,  Ungarische.     267. 


,, Heimlosen,  Die,"  Zeromskis.     171. 

Heine,  Heinrich.     234.  235.  252.  307.  330, 

Heinrich,  Bischof  von  Finnland.     312. 

Heinrich  von  Freiberg.     179. 

Heinrich  der  Lette.     336. 

Hektorovic,  P.     214. 

,,Held,  Ein,  unserer  Zeit"  Lermontoffs.     71 

,, —  der  Fata  Morgana"  von  L.  Arany.     306. 

,, —  JÄnos"  Petöfis.     296. 

Heldensagen,  Russische,  s.  Bylinen. 

Heltai,  Kaspar.     '274.  278. 

Henning,  Erzbischof  von  Riga.     337. 

Herczeg,  Franz.     307. 

Herder,   Johann    Gottfried.      190.    284.    285. 

320.  341.  363. 
Herites.     192. 
Hermann,  K.  A.     350. 
Herrmann.     192. 
Hermhut- Lieder.     341. 

Herzegowina.     23.  25.  26.  207.  208.  227.  243. 
Herzen,  Alexander.     72.  '73.  '75.  79.  81.  90. 

91.  98.   102.   106.   120.  124.   166. 
Hesychastentum.     204. 
Hilbert.     192. 

Hirtenspiele  s.  Schäferspiele. 
Hladfk.     192. 

,, Hochzeit,  Die",  Wyspiahskis.     173. 
Höhlenkloster,  Kijewer.     14. 
Holecek.     192. 
Homer.     212.  261.  272.  323. 
Honoria,  byzant.  Prinzessin.     266.  268. 
Horatius,  Q.,  Flaccus.     155.  284. 
Hörn,  W.  O.  v.     346. 
Hornung,  Johann.     340. 
Hozius.     187. 
Hrabr,  Mönch.     200.  201. 
Hranilovic,  Jovan.     232. 
Hristov,  K.     242. 
Hruby,  Gregor,  von  Jeleni.     185. 
Hruby,  Sigismund.     185. 
Hugo,  Victor.     293. 

Humanismus.     29.  33.  154.  184.  211.  227. 
Hunnen.     4.  265.  269. 
Hunnensagen.     268. 
Hunyadi,  Johann.     275. 
Hupel,  Pastor.     341. 
Hurt,  Jakob.     346.  '347. 
Hus,  Johann.     28.  29.  »iSi.  228.  269. 
Hussiten,  Hussitenkriege.     182.  184.  356. 
Hussitismus.     180.  182.  269. 
Hydra,  Insel.     248. 
Hymnen,  Ungarische.     267. 

I. 

Ibsen,  Henrik.     94.    132.    134.  I73.  257.  328. 

,, Idiot,  Der",  Dostojewskis.     112. 

Iffland,  August  Wilhelm.     223,  349. 

Ignjatovii,  Jaksa.     236. 

,,Igor,  Mär  vom  Feldzuge  des".     43.  147. 


Register. 


385 


lliasubersetzung,  Neugriechische.     261. 

llijc,  lovan.     235. 

Ihjc,  Vojislav.     236. 

lUyrismus.  22. 24. 25. 27. 21 2. 216. 226.  *227.23i. 

llosvay,  Peter.     276.  297. 

llmarinen,  finn.  Gott  der  Luft.     311. 

„lloLaulu-Jesuxesta".     318. 

Indischen  Reich,  Sage  vom.     208. 

Indrik.     375. 

Ingman,  Santeri.     *326.  328. 

Inkeri,  Erzählung  von.     313. 

Innozenz  IV.,  Papst.     203.  354. 

,,lnstitutiones  Esthonicae"  von  Buccius.    337. 

„Intelligenz",  Gorkis  Kampf  gegen  die.    138. 

141. 
Ionische  Inseln.     257. 
Ipek.     206.  209. 
,, Irene"  von  K.  Kisfaludy.     289. 
,,Iridion"  Krasihskis.     162. 
Iskander  =  Herzen,  Ale.\ander.     75. 
Istrien.     26.  211. 
Istvanfi,  Nikolaus.     295. 
Istvänfi,  Paul.     275. 
Ivanov,  D.     243. 

Iwan  III.,  der  Schreckliche.     44.  •45. 
„Iwan  Iljitschs  Tod"  L.Tolstois.      119. 
Iwanow-Rasumnik.     150. 
Izbornik  des  Svjatoslav.     200. 


Jachnowicz,  Jan.     361. 

Jacobus  de  Marchia.     269. 

Jacoby,  Rudolf.     367. 

Jämefelt,  Arvid.     '326.  328. 

Järw,  J.     348. 

Jagelionen.     153.   154. 

Jagiello,Wiadislaw,  von  Litauen.  '355.356.360. 

Jakob,  Der  heilige.     205. 

Jakobson,  C.  R.     346.  '347. 

Jaksic,  Gjuro.     235. 

Jakubowitsch,  P.     92.  125.   137. 

Jankovic,  E.     223. 

Jankus.     366. 

Jannsen,  J.  W.     345. 

Janov,  Mathias  von.     181. 

Japelj,  J.     221. 

Jassnaja  Poljana.     99.  100.  127. 

Jassy.     158. 

Jatwägen.     354. 

Javorov,  P.     242. 

Jazygen.     266. 

Jehkaps,  Apsihcha.     377. 

Jenko,  Simon.     230. 

Jeräbek,  Franz.     191. 

Jeremija,  Pope.     208. 

Jesuiten.     219.  255.  278. 

Jez,  Thomas  Theodor   =   Milkowski,    Sigis- 

mund.     166. 
Jiräsek,  Alois.     192. 

Die  Kultur  der  Gegenwart.    I.  9. 


Joann  Alexander  von  Bulgarien.     204.  205. 

Joann  Exarch  von  Bulgarien.     200. 

Joann  von  Ryl.     200. 

Johann,  Erzherzog.     224.  227. 

Johannes  VIII.,  Papst.     198. 

Johannes  von  Damäskos.     200. 

Johannes,  Presbyter.     208. 

Jökai,  Maurus.     290.  '303. 

Jordanes.     2. 

Jordebog,  Kong  Valdemars.     336. 

Joseph  II.     2g.  18^.  221.  223.  289. 

Jösika,  Nikolaus.     301. 

Jovanovi(^,  Zmaj  Jovan.     234. 

,, Juden,  Die",  Tschirikoffs.     142. 

„Judita"  Marulics.     213. 

Jungmann,  Josef.     189.  190. 

,,Juramentum  der  Undudeschen".     338. 

Jurcii,  Jos.     230. 

Jurkovic,  I.     232. 

Juschkewitsch.     142. 

Juskevic,  Anton.     363. 

Juslenius,  Daniel.     316  f. 

Juteini,  Jaakko.     '319.  320. 

K. 

Kabätnfk.     187. 

Kacic-Miosic,  Andrija.     220. 

Kärnten.     26.  27. 

Käsu,  Hans.     341. 

Kaiser,  Katharina.     275. 

Kaisersage,  Byzantinische.     203. 

Kalevala.  3i3-*32i.323-324-329- 331- 335- 343- 

Kalewipoeg.     343.  «344.  346. 

Kalvos,  Andreas.     258. 

Kambisis,  Jannis.     257.  260. 

Kamenic  bei  Peterwardein.     269. 

Kaminsky.     192. 

Kanavelic,  P.     215. 

Kant,  Immanuel.     261.  351. 

,,Kanteletar".     322. 

Kantemir,  Fürst  Antioch.     48. 

Kappadokien.     250. 

Karadzic,  Vuk  Stefanovic.     13.  21.  22.  25.  26. 

*224.  227.  228.  234.  244. 
,,Karamasoff',  Die  Brüder,"  Dostojewskys.  113  f. 
Karamzin,  Nikolaus.     16.  17.  '52.   115. 
Karavelov,  Ljuben.     235.  240.  '241. 
,, Karenina,  Anna,"  L.Tolstois.     117. 
Karkavitsas.     260. 

Karl  IV.,  Kaiser.     180.  181.  184.  207.  276. 
Karl  XII.  von  Schweden.     334. 
Kariowicz.     35.  220. 
Karlsburg,  Hochschule  zu.     279. 
Kärmän,  Josef.     301. 
Karnarutic,  B.     *2l6.  280. 
Karnevalsdichtung  in  Dalmatien.     214. 
Kdrolyi,  Kaspar.     274. 
,, Karthäuser,  Der",  Eötvös'.     301. 
Kaschuben.     1.  6. 

25 


386 


Register. 


Kaschubisch.     34.  35. 
Kasic,  B.     2 ig. 
Kasprowicz,  J.     172. 
„Kassandra"  Calprenfedes.     301. 
Kastav.     208. 
Katancic,  P.     222. 

Katechismus,    Litauischer,    von    einem    Un- 
genannten.    360. 

—  ■  —  (1595)-    360. 
— ,  —  (1681).    362. 
KaOapeuouca.     247.  249.  259.  260. 
Katharina  II.     *49.  50.  51.  53.  59. 
Katharinenlegende,  Ungarische.     268. 
Katkoff,  Michail  Nikiforowitsch.     98. 
Katona,  Josef.     290  f. 

Kaudsit,  Matiß  und  Reinis.     376. 

Kauppis-Heikki.     325. 

Kavanjin,  J.     216. 

Kazinczy,  Franz.     284.  285.  286.  '287.  292. 

Keistut  von  Litauen.     355. 

Kelemen,  Ladislaus.     289. 

Kelten.     265. 

Kemeny,  Johan.     281. 

Kemeny,  Sigismund.     302. 

Kersnik,  Janko.     231. 

Kievel,  Johannes.     337. 

Kijew.     II.   12.   13.  41.  •46.   154.  356. 

Kilpi,  Volter.     327. 

Kind,  Das,  in  der  russischen  Literatur.   86.  134. 

,, Kinder  der  Sonne"  Gorkis.     141. 

,, Kindheit,  Die,"  Tolstois.     86. 

Kirche,  Serbische.     220. 

Kirchenlied  in  böhmischer  Sprache.     29.  186. 

—  in  estnischer  Sprache.     339. 
— •,  Finnisches.     318. 

—  in  litauischer  Sprache.     357.  358.  359. 
— ,  Ungarisches.     274. 

Kirchenpoesie,  Südslawische.     201.  208.  214. 

— ,  Byzantinische.     248. 

Kirchenslawisch.     '9.    13.  19.  22.  27.  28.  35. 

37.  178.  '197.  203.  208.  210. 
Kirejewsky,  Peter.     148. 
Kisfaludy,  Alexander.     286.  •288. 
Kisfaludy,  Karl.     288.  *289. 
Kisielewski.     173. 
Kitzberg,  A.     34g. 
Kivi,  Aleksis.     '323.  325.  328. 
Klaczko,  Julian.     104. 

Klassizismus,  Neugriechischer.    255.  258.  262. 
Klästersky.     192. 
Klcften.     251.  252.  258. 
Klein,  Daniel.     359. 
„Kleinbürger,  Die",  Gorkis.     140. 
Kleinrussisch.     14.  15. 
Klicpera,  V.  K.     190. 
Kliment,  Metropolit.     199.  200.  240.  241. 
Klopstock,  Friedrich  Gottheb.     223. 
Klostennann.     192. 
Klot,  R.  V.     375. 


Kniga  Nobaznystes.     361. 

Kniprode,  Winrich  von.     355. 

Knjaschnin,  Jakob.     50. 

Kocel,  Fürst,  am  Plattensee.     198. 

Kochanowski,  Jan.     33.   155. 

Kocic.     236. 

Koci'n  von  Kocinet.     187. 

Köhler.     375. 

Kölcsey,  Franz.     '289.  293.  299. 

Königinhofer  Handschrift.     178. 

Kömer,  Theodor.     289. 

Körw,  J.     348. 

Koidula,  Lydia.     346. 

Koine.     249. 

Koldin,  Christian  von.     187. 

Koljcov.     237. 

Kolldr,  Jan.     190.  227.  234. 

Kollegium,  Kijewer.     46. 

,,Kolo",  Revue.     228. 

Kolokotronis,  Theodor.     254. 

Kolzoff,  Alexander.     78.  go. 

Komenius,  Johann  Amos.     187. 

Komödie,  Dalmatinischragusanische.     214. 

— ,  Neugriechische.     254.  256. 

— ,  Polnische.     157. 

— ,  Russische.     52.  54.  63  f.  83.  99.  107.  134. 

— ,  Ungarische.     28g. 

,, Komödie,  Die  ungöttliche,"  Krasinskis.    162. 

Konäc  von  Hodistkov,  Nikolaus.     185. 

Kongießpolen.     158.   173. 

Konopnicka,  Maria.     i6g.   170. 

Konstantin  von  Kostenec.     207. 

Konstantinopel.     41.  23g.  247.  250.  283.  289. 

s.  auch  Byzanz. 
Konstantinos  Porphyrogennetos.     5. 
Konstantinov,  A.     243. 
Konstanz,  Konzil  von.     182.  356. 
Konstitution  des  3.  Mai  (1791).    156.  157.  172. 
Konzul,  Stefan.     218. 
Kopczyhski,  34. 

Kopitar,  Bartholomäus.     10.  24.  '224.  225. 
Korais,  Adaniantios.     254. 
,,KopaKiCTiKa"  Nerulos'.     254.  256. 
Korhonen,  Paavo.     320. 
Kornaros  Vitzentios.     '252.  257. 
Korolenko,  Wladimir.     '127.   137.   145. 
Korzeniowski,  Jözef.     164. 
,, Kosaken,  Die,"  L.  Tolstois.     85.   100. 
Kosciuszko,  Thaddäus.     156. 
Koskinen,  Yrjö.     323. 
Kosmas.     176.   179. 
Kosmopolitismus,  Russischer.     52.  54. 
Kosovopolje,  Schlacht  am.     205.  235.  236. 
Kossuth,  Ludwig.     285.  286.   290.  299.  '300. 
Kostic,  Laza.     235. 
Kotljarevski,  Iwan  Petrowitsch.     18. 
Kotoschichin.     47.  148. 
Kotzebue,   August   Friedrich   Ferdinand   von. 

223.  289.  349. 


Register. 


387 


Kovacic,  A.     232. 

Kozarac,  Josef.     233. 

Kozma,  Presbyter.     200.  202. 

Krain.     26.  207.  218. 

Krakau.     34.   153.  173.  207. 

Kramsu,  Kaarlo.     329. 

Kranjcevic,  S.     233. 

„Kranjska  Cbelica".     226. 

Krasicki,  Ignaz.     157. 

Krasinski,  Graf  Zygmunt.     *i62.  166. 

Kraszewski,  Jözef.     *i64.   165.   169.  365. 

„Kredit"  Szdchenyis.     299. 

Kreta.     252  f. 

„Kreutzersonate"  L.  Tolstois.     87. 

Kreutzwald,  Fr.  R.     343  ff. 

„Kreuzritter,  Die,"  Sienkiewiczs.     167. 

,, Krieg  und  Frieden"  L.Tolstois.     100.  *II5. 

Kriemhild.     268.  269.  298. 

Krimkrieg.     88. 

Krishanitsch,  Jurij.     47. 

,,Kristijada"  Palmotics.     215. 

Kritik,  Publizistische,  in  Rußland.     75.  87.  95. 

— ,  Literarische,  in  Serbien.     236. 

— ,  — ,  in  Ungarn.     306. 

Krmpotic,  Jos.     222. 

Kroaten.     2.  3.  5.  8.  9.   11.  22.  25.   194.  ig6. 

197.   199.  203.  205.  207.  217.  218.  221.  225. 

228.  229.  231.  237.  243.  244. 
Kroatien.     24.   25.    207.   208.    211.    216.    219. 

227.  280. 
Krohn,  Juhus.     321.  «323.  332. 
Krok,  Herzog.     177. 
Kronwald,  Otto.     376. 
Krylov,  Iwan.     16. 
Kuhlbars,  Fr.     346. 
Kukuljevic,  Ivan.     228.  231.  245. 
Kumanen.     43.  292. 
Kumerdej,  B.     221. 
Kumicic,  E.     232. 
Kunic,  R.     212. 
Kunstprosa,  Griechische.     249. 
Kuprin.     142. 

Kurösky,    Fürst  Andrej    Michajlowitsch.     45. 
Kurland.     354. 
Kurschat,  Friedrich.     366. 
Kuruczendichtung.     282. 
Kuthen  von  Springsberg.     187. 
Kvapil,  F.  und  J.     192. 
Kvatemik,  E.     231. 
Kvitka-Ovsjanenko.     18. 
Kyrillos.     *9.   13.  42.   177.   178.  '197. 

L. 

,, Lachen,  Das  rote,"  Andrejeffs.     143. 

Laczkovics.     286. 

Ladislaus  von  Ungarn.     267.  292. 

Ladogasee.     41. 

Lagervall,  Jakob  Fredrik.     319. 

Laharpe,  Jean-Fran^ois  de.     51.  159. 


Laibach.     26.  218.  230.  244. 

Laichter.     192. 

Lamennais,  Felicitd.     160. 

Landrecht  des  Königs  Christopher.     315. 

Langobarden.     4. 

Lantos.     274. 

Lappen.     309.  310. 

Laskaris,  Konstantinos.     247. 

Lassalle,  Ferdinand.     91. 

Latein,  Verwendung  des,   in  der  böhmischen 

Literatur.     178.  184  f. 
— ,  — ,  in  der  finnischen  Literatur.     3i4f.  318. 
— ,  Druck  des,  auf  die  polnische  Kultur  und 

Literatur.     153.   155. 
Lattik,  J.     352. 
Launitz,  Kr.  Fr.     375. 
Lausitz,  Ober-  und  Nieder-.     31. 
Lautenbach,  J.     376. 
Lawroff,  Peter.     120. 
Lazarevic,  Laza.     236. 

,, Leben  des  Menschen,  Das",  Andrejeffs.    144. 
Leconte  de  Lisle,  Charles  Marie.     238. 
Ledesma.     360. 
Legenden,  Finnische.     312. 
— ,  Ungarische.     267. 

—  vom  heiligen  Wenzel  und  Ludmila.     178. 
Leibeigenschaft,  Estnische.     334.  341. 
— ,  Lettische.     374. 
— ,  Russische.     50.  77.  92.  95.   107. 
Leibniz,  Gottfried  Wilhelm.     47.  317. 
Leino,  Kasimir  und  Eino.     328.  "330. 
Leitan.     375. 

Lemminkäinen,  finn.  Held.     312. 
Leo  XIII.,  Papst.     219. 

Lermontov,  Mich.     i6.  '69.  76.    78.   84.   115. 
Lesina.     23.  211.  213. 
Leskien,  .\ugust.     363. 
Leskovar.     233. 

Lessing,  Gotthold  Ephraim.    70.  241.  289.  363. 
Leszczynski,  Stanislaus.     156. 
Letten.     354.  372. 
L^vay,  Josef.     306. 
Levstik,  Franz.     230. 
Lewitoff,  A.     108. 

Lexikographie,  Böhmische.     29.  30.   189. 
— ,  Bulgarische.     22. 
— ,  Finnische.     317. 
— ,  Litauische.     361.  367. 
— ,  Polnische.     35. 
— ,  Russische.     17. 
— ,  Serbokroatische.     26.  220. 
Liber  census  Daniae.     336. 
Libusa.     177. 
— ,  Gericht  der.     178. 
„Liebe  Himfys"  von  A.  Kisfaludy.     288. 
Liebespoesie,  Neugriechische.     251  f. 
Liedersänger,  Finnische.     310.  312. 
Liedform  der  finnischen  Volkspoesie.     311. 
Lieventhal,  Anß.     375. 

25* 


Liiw,  Jakob.     348. 
Lüw,  Juhan.     349. 
Linde,  Samuel  Gottlieb.     35. 
Linhart,  A.     221. 

Linnankoski,  Johannes.     '327.  329. 
Lintrop,  J.     352. 
Lipp,  M.     348. 
Lippi,  Filippino.     271. 
Lissa.     216. 
Litauen.     11.  354. 
Litauer,  Litauisch.     197.  '354.  357. 
Literatur,  Böhmische.     1 76  ff. 
— ,  Dalmatinisch-ragusanische.     211  ff. 
— ,  Estnische.     333  ff. 
— ,  Finnische.     309  ff. 
— ,  Glagolitische,  der  Kroaten.     207. 
—  in  Kirchenslawischer  Sprache,     197  ff- 
— ,  Lettische.     372  ff. 
— ,  Litauische.     354  ff. 
— ,  Mittelbulgarische.     204  ff. 
— ,  Neugriechische.     246  ff. 
— ,  Polnische.     153  ff. 
— ,  Russische.     40  ff. 
— ,  Ungarische.     265  ff. 
Literaturen,  Südslawische.     194  ff. 
Literatursprache,  Bulgarische.     21.  240. 
— ,  Estnische.     339. 
— ,  Polnische,  34. 
— ,  Neugriechische.     247.  254. 
— ,  Russische.     12.   15.   16. 
— ,  Serbokroatische.     25. 
— ,  Slowakische.     31. 
Lituomanen.     366. 

Liturgie,  Slawische.     196.  197.  198.  203.  207. 
Livland.     333.  334. 
Ljubisa,  Stefan  M.     236. 
,,Ljubmir"  Zlatarics.     214. 
Lobkovic,  Bohuslav  Hassenstein  von.  184.  187. 
Lönnrot,  Elias.     320  f.  323.  324. 
Löwe,  Fr.     344. 
Lomonosow,  Mich.     16.  '48. 
Longobarden.     265. 
Lönyay,  Anna.     281. 

Loris-Melikoff,  Michail  Tarielowitsch.     122. 
Losonczy,  Stephan.     276. 
Lublin,  Union  von.     158.   159.  354. 
Lucic,  H.     213. 
Lucidarius.     208. 
Lucretius  Carus,  T.     212. 
Ludmila,  Legende  von.     178.   179. 
Ludwig  von  Anjou.     266. 
Luce,  J.  W.     341. 

Ludwig  der  Große  von  L'ngarn.     276.  297. 
Luiga,  G.  E.     348. 
Lukarevic.     214. 

,,Lumfr",  böhm.  Zeitschrift.     192. 
Lupdö  von  Hlavaiov.     187. 
Luther,  Martin.     184.  217.  273.  274.  315.  338. 
358-  359- 


Lutuwer  von  Eirogaly.     355. 
Lyrik,  Böhmische.     190.   191. 
— ,  Bulgarische.     240. 
—  in  Dalmatien.     213. 
— ,  Estnische.     346.  350. 
— ,  Finnische.     319.  323.  '329. 
— ,  Neugriechische.     250.  *257.  259. 
— ,  Polnische.     155.  164.  165.  169.  172. 
— ,  Russische.     57.  59.  '69.  78.  99.  124.  139. 
— ,  Serbische.     235. 
— ,  Slowenische.     226.  231. 
— ,  Ungarische.    273.  276.  2S4.  288.  289.  293. 
294. 

M. 
Mably,  Gabriel  Bonnot  de.     156. 
Mächa,  K.  J.     191. 
Machar,  J.  S.     192. 

„Macht  der  Finsternis"  L.  Tolstois.     119.  133. 
Maciejowski,  W.  A.     175. 
Macpherson,  James.     317. 
Maddch,  Emerich.     286.  290.  304.  329. 
Mähren.     9.   10.  28.   176.   177.   178.   197.   198. 
Mändmets,  J.     349. 
Maeterlinck,  Maurice.     172.   173.  365. 
Magyaren.     6.  31.  177.   197.  '266. 
Mahoraet  IL     289. 
Mait  Metsanurk.     351. 
Majano,  Benedetto  da.     271. 
Majkov,  ApoUon.     16.  78.  •iio. 
Majkov,  Valerian.     81. 
,,Makars  Traum"  Korolenkos.     127. 
Malalas,  Johannes.     201. 
Malberg,  Fritz.     377. 
Mahnowski,  Luc.    34. 
HaXXiapoi.     259. 
Manasse,  Chronik  des.     205. 
Manichäismus.     202. 
Manninen,  O.     330. 
Manteuffel,  Graf  Peter.     342. 
Manucci,  Aldo.     45. 
Manzelius,  Georg.     373.  374. 
Marcus  Aurelius.     265. 
Marek,  Jan  J.     190. 
Margarete,  Die  heilige.     267. 
Margaritha  theologica.     359. 
Maria  Theresia.     221.  283. 
Marica,  Schlacht  an  der.     206. 
Marienburg.     356. 
Marketis.     261. 
Markomanen.     176.  177. 
Markoras,  G.     258. 
Markovic,  Fr.     232. 
Markovic,  Svetvzas.     235.  236. 
Martid,  Grgo.     232. 
Martinovics.     286. 
Martzokis,  Stephan.     258. 
Marulic,  Marko.     213. 
„Marunko"  Gorgjids.     215. 
Masing,  O.  W.     342. 


Register. 


389 


Mastickäf.     180. 

Masurisch.     34. 

Matavulj.  Simo.     236. 

„Matica  Hrvatska".     238. 

„Matica  Srpska".     225.  233.  237. 

Matthias  Corvinus,  König.    212.  266.  '269.  276. 

Matthisson,  Friedrich.     289. 

Mazedonien.     200.  206.  208.  262. 

Mazedonisch.     21. 

Mazuranic,  Ivan.     229.  232, 

Medwedeff,  Sylvester.     147. 

„Mehrneeku  laiki"  von  M.  u.  R.  Kaudsit.    376. 

Megiser,  Hieronymus.     217. 

Melanchthon,  Philipp.     217.  273.  274. 

Melno-See,  Friede  am.     357. 

Melschin  =  Jakubowitsch.     92.   125.   137. 

, .Memoiren  eines  Jägers"  Turgenieffs.  '77.79. 

82.  93- 
Menaeen,  Liturgische.     201. 
Menandersentenzen.     206. 
Mencetic,  Sisko.     213. 
Mereschkofisky,  D.     139. 
Messianismus,  Polnischer.     163. 
Methodios.    9.  13.  177.  178.  *I97.  199.  200.  203. 
Methodios  von  Patara.     203. 
Mettemich,   Fürst  Clemens   Lothar  W.     292. 
Micalia.     219. 
Michael  IH.     197. 
Michailoff  (A.  Scheller;.     loi. 
Michailowsky,  Nikolai.     113.  121. 
Mickiewicz,  Adam.     60.  '159.   161.  162.  163. 

226.  237. 
Mihajlovski,  St.     242. 
Mihkelson,  Fr.     351. 
Mikes,  Klemens.     282  f. 
Miklosich,  Franz  von.     10.   19.  225.  228. 
Mikszäth,  Koloman.     307. 
Milfc,  Johann.     181. 
Milicevic,  Milan.     236. 
Miliukofi'.     1 50. 
Mill,  John  Stuart.     91. 
Miller.     363. 
Milton,  John.     190. 
Milutinovic,  Sima.     226. 
Mindowe  von  Litauen.     '354.  355. 
Minsky,  N.     139. 
Mirologien.     251. 
Mitrovic,  Wratislaw  von.     187. 
Mittelschulsystem,  Russisches.     105. 
Mohäcs,  Schlacht  von.     273.  275. 
Mojmir,  Herzog.     177.   178. 
Mokry.     192. 
Moldau,     n. 
Molifere,  Jean-Baptiste  Poquelin.     54.   5S.  61. 

216.  241.  328.  330.  349. 
Monomach,  Großfürst  Wladimir.     43. 
Montecuccoli,  Raimund  Graf.     2S0. 
Montenegro.     25.  26.  226.  234. 
Montesquieu,  Charles  Secondat  de.  49.  84.  302. 


Moskau.     '44.  46.  154.   158.  355. 

Moswidius,  Martinus.     358. 

Mrstik,  AI.  und  \V.     192. 

Müller,  Georg.     338. 

Münther,  O.  H.     351. 

Mulabdic,  Edhem.     233. 

Munkäcs.     280. 

Muräny.     281. 

MurawiefT,  Alexander  Graf.     102.   107. 

Murinsel.     25.  218. 

Musicki,  Lukijan.     223. 

,, Mutter,  Die,"  Gorkis.     141. 

Mystik  in  der  polnischen  Literatur.     163. 

N. 

,,Nabob,  Der  ungarische,"  Jökais.     303. 

,, Nachbarschlösser,    Die    zwei,"  V'örösmartys. 

292. 
„Nachlaß  Fannys,  Der,"    Karmans.     301. 
„Nachtasyl,  Das,"  Gorkis.     140. 
Nadeshdin.     147.  148. 
Nadson,  S.     124. 
Napoleon.     228. 

Nasalismus,  Polnischer.     32.  33. 
Nationalismus,  Russischer.     125.   127. 
Naturgefuhl  in  der  ungarischen  Poesie.     277. 
Nedelji'sce.     218. 
NefedofT.     109. 
Neikens,  Juris.     376. 

Nekrasov,  Nik.    16.  58.  *78.  7g.  83.  99. 1 28.  149. 
Nemcovd,  Bozena.     191. 
Neofit,  Mönch.     23g. 
Neruda,  Johann.     191.   192. 
Nerulos,  Jakobos  Rizos.     254.  256. 
Nesselmann,  G.  H.  F.     363. 
,,Netz  des  Glaubens"  Chelcickys.     183. 
,, Neuland"  Turgenieffs.     120. 
Neus,  H.     345. 
Neusatz.     233. 
Newton,  Isaak.     212. 
Nietzsche,  Friedrich.     257. 
Nihilist.     103. 
Nikitenko,  A.     10 1. 
Nikodemus-Evangelium.     202. 
Nikodim,  Erzbischof.     206. 
Nikola  von  Montenegro,  Fürst.     235. 
Nikolaus  I.  von  Rußland.     58.  64.  81.  88. 
Nikolic,  Mihovil.     238. 
Nona.     211. 
Novak,  V.     233. 
Noväkovä.     192. 
Novelle,  Estnische.     349.  351. 
— ,  Neugriechische.     260. 
— ,  Ungarische.     275. 
Novic,  J.     235. 
„Novice".     227. 
Nowgorod.     41.  44.   50. 
— ,  Nischni-.     129. 
Xowikoff',  Nik.     50.  77.   147. 


390 


Register. 


Numers,  Gustaf  von.     328. 
Nusii,  Branislav.     236. 


„Oblomoff"  Goncarovs.     7g.  95. 
Obradovic,  Dositije.     13.   *222.  225. 
Ochrida.     199.  200.  209. 
Österreich,  Einfluß  von,  auf  die  südslawische 

Kultur.     220. 
Ofen.     271.  282.  286.  289. 
Ogarefi".     73.   120. 
Oikonomos,  Konstantin.     248. 
Oksanen  =  Ahlqvist,  August.     '323.  329. 
Olgerd  von  Litauen.     355. 
,,Omladina",  Serbische.     233  f. 
,,Onegin,  Eugen",  Puschkins.     56. 
,, Opfer  Abrahams".     252. 
Opitz,  Martin.     279. 
Orbecche.     253. 
Orden,  Deutscher.     355.  356. 
Origines  Livoniae.     336. 
Orkan.     170. 

Orzeszko,  Ehse  von.     168.   170. 
Osman,  Epos.     23.  215.  216.  229. 
Osman-Azis.     233. 

Ostrowsky,  Alexander.    83.  90.  91.96.99.  107. 
Ossian.     292. 

Ostseefinnen,  Urheimat  der.     309. 
Ottersdorf,  Sixt  von.     186. 
Ottokar  II.  von  Böhmen.     179. 
Ovidius  Naso,  P.     281. 
Owen,  Robert.     91. 

P. 

Pachenecker,  Leonhard.     218. 

Päivärinta,  Pietari.     325. 

Pärn,  Jakob.     348. 

Pajsij.     238. 

Pakkala,  Teuvo.     '327.     328. 

Palacky,  Franz.     189. 

Palamas,  Kostas.     259.  260. 

Palanzov.     239. 

Pallis,  A.     261. 

Palmotiö,  Gjon.     215.  219. 

Pannonien.     9.  10.  198.  267. 

Pannonius,  Janas.     271.  '272. 

Panserbismus.     22.  25. 

Paparrigopulos,  K.     249. 

Paraschos,  Achilleus.     258. 

Parteien,  Literarische,  in  Rußland.     49. 

Patarcncr  s.  Bogomilen. 

Patmos.     248. 

Paul  I.  von  Rußland.     51. 

Paulikianer.     202. 

Pawasser,  John.     376. 

Pawlowski.     17. 

Pdzmdny,  Peter.     278. 

Pejkiö,  K.     219. 

Pelbartus  von  Temesvar.     272. 


Maxim. 
122.  127. 
226. 


160. 


277.    285.    2S6.   290. 


213.  226.  275.  288. 


,,Pelegrin"  Vetranics.     215. 

Pellico,  Silvio.     92. 

Perczel,  Etelka.     292. 

Perno  Postimees.     346. 

Perrävos.     254. 

Peschkoff,  Alexis  =:  Gorki, 

Pessimismus  in  Rußland. 

Petar  II.  Petroviö  Njegos. 

Peter  von  Bulgarien.     201. 

Peter  der  Große,  'ii.  16.  41.  46.  *47.  59.  334. 

P^terfy,  Eugen.     306. 

,, Petersburg"  von  Mickiewicz. 

Petersen,  Ernst.     351. 

Peterson,  Kr.  Jaak.     342. 

Petöfi,  -Alexander.      235. 
*294.  306. 

Petraeus,  Eskil.     316. 

Petrarca,  Francesco.     18;^ 

Petraschewsky.     80.  82. 

Pferd,  Sage  von  dem  weißen.     268. 

Pfleger-Moravsky,  G.     191. 

Phanarioten.     248. 

Philhellenismus.     255. 

Philippopel.     239. 

Philosophische  Literatur,  Böhmische.     181. 

,, Phönix,    Der  aus   der  Asche   entstandene" 
Gyöngyösis.     281. 

Photius.     197.  198.  203. 

,,Phroso"  von  Valaoritis.     258. 

Physiologus.     201. 

Piasten.     153. 

Pinturicchio,  Bernardino.     268. 

,,Pisanice".     221. 

Pisecky,  Wenzel.     185. 

Pissarew.     91.  98.  *ioo.   loi.   102.  235. 

Pissemsky,  .Alexej  Feofilaktowitsch.     107. 

Pitkiewicz,  Malcher.     361. 

Plakatverordnungen,  Obrigkeitliche,  in  litaui- 
scher Sprache.     360. 

„Planine"  von  Zoranic.     214.  215. 

Plautus,  T.  Maccius.     212. 

Pleschtscheew,  A.     82.  89. 

Pletersnik.     27. 

,,Pobratimstvo"  Botics.     232. 

Pokorny.     192. 

Pol,  Wincenty.     164. 

Polabisch.     34. 

,,Potaniecki,  Familie",  von  Sienkiewicz. 

„Polarstem,  Der".     52.  90. 

Polen.     I.  2.  3.  6.  355.  357. 

Polnische  .Sprache.     32  ff. 

Polenz,  Wilhelm  v.     121. 

Pohtis.     259. 

Poljica.     208. 

Polowzen.     43. 

Polybios.     246.  262. 

Polzic,  Harant.     187. 

„Pomerium"  des  Pelbartus.     272. 

Pomponius  Laetus,  Julius.     212. 


167. 


Register. 


391 


Pontos.     250. 

Porthan,  Henrik  Gabriel.     *3I7.  319.  320. 

Possoschkoff.     48. 

Postille,  Bretkes.     358. 

—  lietuwiszka.     351. 

— ,  Wolfenbüttler.     358. 

—  Wujeks.     360. 
Prag.     28.  207.  234. 

— ,  Universität  zu.     181. 

Preissovä.     192. 

Pfemysl.     177. 

Preradovic,  Peter.     229. 

Preseren,  Franz.     27.  *226.  230.  231. 

Presse,  Freiheit  der,  in  Rußland.     105. 

— ,  — ,  in  Ungarn.     294. 

Preußen.     354.  355. 

Pribina,  slowak.  Fiirst.     178. 

Prokopios.     2. 

Proletariats-Belletristik,  Russische.    108  f.  137. 

,, Proletarier,  Die,"  Csikys.     304. 

Protestantismus  s.  Reformation. 

Prus,  Boleslaw  =  Glowacki,  Alex.     171. 

Przybyszewski,  Stanislaw.     172. 

Psalter  von  St.  Florian.     32. 

—  J.  Rhesas.     359. 
Pseudoklassik,  Warschauer.     159. 
Psichari,  Jean.     256.  257.  '259. 
Pskow.     41. 

Pumpurs,  Andrejs.     376. 

Puschkin,  Alex.  Sergejewitsch.    16.  17.  52. '55. 

'58.  61.  69.  70.  72.  76.   100.   III.  115.  148. 

237.  306. 
Pypin,  Alexander.     148.   149.  245. 

Q. 

Quaden.     176.   177. 

Quis.     192. 

,,Quo  vadis?"  von  Sienkiewicz.     167. 

R. 

Radicevic,  Branko.     225.  '234. 
Radimicen.     5. 

Radischtschew,  Alexander.     50.  53.  70.  77. 
Radziwil,  Fürst  Nikolaus  Czamy.     360. 
Radziwil,  Fürstin  Karolina  Ludwika.     362. 
Ragusa.     '23.  26.   203.   207.  *2ii.   212.   213. 

214.  215.  216.  219.  233. 
Raic,  J.     238. 

Rainis-Pleekschan.     376.  377. 
Rais.     192. 
Rakic,  Milan.     238. 
Räkoczi,  Franz.     280.  282. 
Räkoczi,  Joseph.     283. 
Rakovski,  G.     240. 
Ramm,  Nikolaj.     373. 
Rangavis,  Alexander.     *255.  258. 
Ranjina,  Dinko.     213. 
Rankovic,  Svetislav.     236. 
Rapagelanus,  Stanislaus.     357. 


Raskai,  Kaspar.     275. 

Rastislav,  Fürst.     177.   197.   198. 

Rationalismus,  Bedeutung  des,  für  die  est- 
nische Literatur.     342. 

„Rauch"  von  Turgenieff.     103. 

Ravnikar.     27. 

,,Razgovor  ugodni  naroda  slovinskoga".    220. 

Reaktion,  Russische.     53  ff. 

Realismus,  Kroatischer.     232, 

— ,  Serbischer.     236. 

„Recht  und  Gerichte  in  Böhmen,  Neun  Bücher 
vom",  von  Vsehrd.     185. 

Rechtsliteratur,  Böhmische.     180.   185.   187. 

Rechtspartei,  Kroatische.     231. 

Reformation,  Bedeutung  der,  für  die  estnische 
Literatur.     337  ff. 

— ,  — ,  für  die  finnische  Literatur.     316. 

— ,  — ,  für  die  slowenische  Literatur.     217. 

— ,  — ,  für  die  ungarische  Literatur.  273. 
275.  258. 

— ,  Böhmische.     180. 

Reformen  in  Rußland.     96  f 

Regino.     266. 

Regiomontan  (Johann  Müller).     271. 

Rehehusen.     373. 

„Reichtum,  Russischer".     129. 

Reimchronik,  Dalimilsche.     180. 

Reinmar  von  Zweier.     179. 

Reinwald,  A.     346. 

Rej,  Mikolaj.     33. 

Reljkovic,  Matija.     221.  225. 

Renaissance.     269f. 

Reschetnikofi",  F.     108. 

Revai,  Nikolaus.     307. 

Reval.     350. 

Reviczky,  Julius.     307. 

,, Revisor,  Der",  von  Gogol.     63  f. 

Reymont,  Wiadisiaw.     170. 

Rhesa,  J.     »359.  362.  363.  365. 

Rhodos.     250. 

Rhus.     40. 

Rigas,  Konstantin.     253. 

Ringold  von  Kemow.     354. 

Ritterballade,  Finnische.     312  f. 

Ritterpoesie  in  Dalmatien.     213. 

Roberti,  Ercole  de.     271. 

Roidis,  E.     259. 

Rom.  195.  196.  197.  198.  200.  203.  206.  218. 
219.  239. 

Roman,  Der  böhmische.     190.   191.  192. 

— ,  Der  estnische.     348.  351. 

— ,  Der  finnische.     324.  325  ff. 

— ,  Der  kroatische.     232. 

— ,  Der  neugriechische.     261. 

— ,  Der  polnische.     162.  164.  165.  166  fl^.  171. 


173- 
-,  Der  russische. 

78  ff.  82.  91.  93. 
-,  Der  serbische. 


56.  59.  62.  65. 
99.  139.  142  ff. 
223.  235.  236. 


71.  75  ff. 


392 


Register. 


Roman,  Der  slowenische.     231.  237. 

— ,  Der  ungarische.     301. 

(S.  auch  die  einzelnen  Romantitel.; 

Romantik,  Einfluß  der,  auf  die  finnische  Lite- 
ratur.    319. 

—  in  Polen.     15S. 

—  in  Serbien.  223.  233  f. 
— ,  Slowenische.  226.  230. 
Romulus  Augustulus.  265. 
Ronto,  Paul.     301. 

Rosenberg,  Das  Buch  des  alten  Herrn  von.   1 80. 

Rosenberg-Pleekschan,  Elsa.     377. 

Rosenplänter,  J.  H.     341. 

Rossihnius,  Joachim.     339. 

Roswitha.     288. 

Rousseau,  Jean-Jacques.     84.   115.   119.   156. 

Rudau,  Schlacht  bei.     355. 

Rudbeck,  Olov.     316. 

Ruhig,  Philipp.     362. 

Rumänen.     6.  20.  197. 

Rumänisch.     19.  20. 

Rumjanzew,  Graf  N.     147. 

Runeberg,  John  Ludvig.     322.  323.  330. 

Runen,  Esmische.     347. 

Russen,     i.  3.  5.   11.   197. 

Russische  Literatur.     40  ff. 

—  Sprache.    *I3.  35.  38. 
Ruthenen.     2.   197. 
Ruthenische  Sprache.     18. 
Rylejew,  Konr.     54.  55. 


Saal,  A.     349. 

Sabbaskloster.     206. 

Sabbatianer.     302. 

Sagen,  Ungarische.     268. 

— ,  Finnische.     313. 

Sainte-Beuve,  Charles  Augustin.     62. 

Saint-Simon,  Claude  de.     73. 

Salamnius,  Matthias.     318. 

Salamon,  Franz.     306. 

Salomon  und  Kitovras,  Sage  von.     202. 

Salona.     8. 

Saltykoff,   Mich.     68.  *8l.   82.   89.   91.   »106. 

121.   122.   126.  131.  149. 
Samaiten,  Samogyzier.     354. 
Samo,  König.     177.   195. 
Sand,  George.     76.  77.  165.  190. 
Sannozaro,  Jacopo.     214. 
Sappuhn,  Christoph.     359. 
Sarbicwski.     155. 
Särospatak.     277.  279. 
Satire,  Polnische.     157.  160. 
— ,  Russische.     54.  81.  *io6.   145. 
— ,  Serbische.     236. 
Sauerwein,  G.  J.  J.     367. 
Saunus,  M.     365. 
Sava.     205.  206.  207.  223. 
Savonarola,  Girolamo.    45. 


Savoyen,  Prinz  Eugen  von.     216. 

„Sawa"  von  Andrejeff.     144. 

Säyawa,  Kloster  von.     178. 

,,Sbornik"  in  Sofia.     242. 

Schäferspiele.     214.  215. 

Schauspiele,  Geistliche  kroatische.     213.  216. 

Scheflel,  Viktor  Joseph.     266. 

Schelling,  Friedrich  Wilhelm  Joseph.     59. 

Schemtschuschnikov,  Alexis.     145. 

Schewtschenko,  Taras  Grigorjewitsch.     89. 

Schewyrefif.     148. 

Schiller,  Friedrich.  51.  70.  73.  80.  159.  190. 
241.  258.  287.  289.  349.  351. 

SchischkofF,  .Admiral.     74. 

Schlegel,  August  Wilhelm  und  Friedrich.    223. 

Schleicher,  August.     363.  364. 

Schhck,  Kaspar.     275. 

Schopen.     21. 

Schrift,  Bosnisch-cyrillische.     207. 

— ,  Grazdanskische.     I2. 

Schriftsprache,  Estnische.     342. 

— ,  Finnische.     »314.  323. 

— ,  Lettische.     373. 

— ,  Neugriechische.     247.  249.  254.  255. 

Schriftstellerinnen  in  Polen.     164. 

,, Schuld  und  Sühne"  von  Dostojewski.      112. 

Schuldrama,  Russisches.     46. 

Schule,  Die  natürliche,  in  Rußland.     68. 

— ,  Die  radikal-demokratische  und  die  sym- 
bolische, in  Rußland.     139. 

Schulkomödie  der  Jesuiten  in  Polen.     155. 

Schultz,  Theophil.     359. 

, .Schwärmer,  Die"  Kemenys.     302. 

Schwalbenlied.     250. 

Schweden.     309.  310.  316.  319. 

„Scintille"  Tommaseos.     229. 

Sclaveni,  Sclavi.     2.   195. 

Scott,  Walter.    62.  1 15.  162.  167.  230.  301.  349. 

Sebastopol.     88. 

Sebenico.     211.  216. 

,, Seelen,  Die  toten",  von  Gogol.     65. 

Semstwo.     105. 

Sengstock,  Lazarus.     359. 

Serben.  12.  13.  21.  22.  24.  25.  26.  194.  196. 
197.  205.  209.  217.  218.  220.  222.  227.  233. 
238.  243.  244. 

Serbokroatische  Sprache.     22. 

Seroschewsky.     127. 

Shakespeare,  William.  56.  57.  80.  115.  159. 
232.  235.  291.  293.  319.  323.  328.  329.  349- 

Shelley,  Percy  Bysshe.     162. 

Shukowsky,  Wassilij  Andrejewitsch.     51.  89. 

Siebenbürgen.     273.  278.  294. 

Sienkiewicz,  Henryk.     *i66.  170. 

Sieroszewski.     171. 

Sigeher,  Meister.     179. 

Sigismund,  Kaiser.     275.  356.  357. 

Sigray.     286. 

Simonides.     169. 


393 


„Sintflut,  Die,"  von  Sienkiewicz.     167. 

Sirmium.     198. 

Sirwilauad.     336. 

Sisgoreus,  Georgius.     212. 

Sjögren,  A.  J.     320. 

Skandinavien.     44. 

Slddek,  J.     192. 

Slatowratski,  Nik.     109.  121. 

Slavejkov,  Penco.     242. 

Slavejkov,  Petko  Raco.     240. 

Slavi-en.     'i.  20.  176  f. 

Slaweno-serbische  Sprache.     220. 

Slawobulgarische  Geschichte  Pajsijs.     238. 

Slawonien.  24.  25.  26.  208.  211.  216.  219. 
221.  227. 

Slawophilen.     74.  83.  92.  98.   125.  234. 

Slawoserbisch.     12. 

,,Slovenska  Matica".     230. 

„Slovenski  Glasnik".     227. 

Siowacki,  Julius.     *i6i.  162.  163.  165.   172. 

Slowaken.     l.  6.  31.  176.  178. 

Slowakisch.     4.  28.  29.  '30. 

Slowenen.  I.  2.  3.  IG.  II.  26.  27.  194.  195. 
196.  197.  203.  217.  221.  226.  227.  229.  237. 
243.  244- 

Slowenische  Sprache.     26  ff. 

Slowinisch.     23. 

Slowinzen.     i. 

„Smail  Cengid  Agas  Tod".     22g. 

Smederevo.     206. 

Snellman,  Johan  Vilhelm.     322. 

Snojlsik,  J.     217. 

Sobieski,  Johann.     216. 

Sööt,  K.  E.    350. 

Sofia.     21.  242.  243. 

Sofronij  von  Vraca,  Bischof.     238. 

Soliman,  Sultan.     2S0. 

Solomos,  Dionysios.     '257.  259.  262. 

Sophokles.     258.  276. 

Sorben,     i.  6.  31. 

Sorbische  Sprache  in  der  Ober-  und  Nieder- 
lausitz.    31. 

Sova,  A.     192. 

Sozialismus.     91.  235. 

Spahgis,  A.     376. 

Spalato.     203.  211.  213.  216. 

Spangenberg,  Cyriacus.     217. 

Spaneas,  Lehrgedicht.     206. 

Spasowicz,  Wl.     175.  245. 

Spetsa.     248. 

Sprachemeuerung,  Ungarische.     286. 

Sprachfrage,  Neugriechische.     259  ff. 

Sprichwörter,  Estnische.     348. 

— ,  Finnische.     313.  318.  322. 

— ,  Neugriechische.     252. 

„Srbijanka"  Milutinovics.     226. 

Sremac,  Stefan.     236. 

Ssolowjeff,  Wladimir.     127. 

Ssumarokoff,  Alexander  Petrowitsch.     48. 


Staatengründungen,  Südslawische.     195. 

Stahl,  Henricus.     *339.  340. 

Stamatov,  G.     243. 

Stambulov,  St.     240. 

Stanewicz.    363.  365. 

Stanislavov,  F.     219.  238. 

Stanislaw  August  von  Polen.     156. 

Stankovic,  Borisav.     236. 

Starcevic,  Anton.     231. 

Starowolski,  Simon.     175. 

Stasek.     192. 

Statins,  P.  Papinius.     212. 

Stay,  Benedikt.     212. 

Stefan  von  Ungarn.     267. 

Stefan  Lazarevic.     207. 

Stefan  Nemanja.     205. 

Stefan  der  Erstgekrönte.     205.  207. 

Steiermark.     26.  27.  218. 

Steineck,  Pastor.     374. 

Steinhöwel,  Heinrich.     278. 

Stender,  Alexander  Joh.     374. 

Stephan  V.,  Papst.     198. 

Stephanites  und  Ichnilates.     202. 

, .Steppe,  Die",  Tschechoffs.     134. 

Sterne,  Lawrence.     84. 

„Sternen,  Zu  den",  Andrejeffs.     144- 

Stobbe,  M.     374. 

,,Stojan  und  Rada".     240. 

Strasimirov,  A.     243. 

Stratimirovic,  Metropolit.     225. 

Strindberg,  August.     172. 

Stritar,  Josef.     230.  231. 

Stroßmayer,  Bischof.     231. 

Stroupeznicky.     192. 

Studion,  Kloster.     201. 

Stutschka.     376. 

Suburg,  Lilli.     348. 

Sue,  Eugene.     80.  93.  349. 

Südslawen.     I94ff. 

Südungam.     25.  26. 

Sultanstochter,  Entführung  der.     275. 

Sumin.     192. 

Suonio  =  Krohn,  Julius.     '323.  329. 

Suppan.     27. 

Sutsos,  Alexander  und  Panagiotis.     258. 

MSuvorov,  aksim.     220. 

Svatopluk,  Herzog.     *I77.   178.   198.  268. 

Svetlä,  Karolina  =  Muzäkovä,  Johanna.    191. 

Svjatoslav,  Fürst  von  Kijew.     200. 

Svoboda.  192. 

Svobodovä.  192. 

Swi(;tocho\vski,  Alexander.     166. 

Swift,  Jonathan.     106. 

Sylvester,  Johann.     273. 

Symeon  von  Bulgarien.     195.    199.   200.  201. 

Synode,  Gnesener.     357. 

— ,  Wilnaer.     360. 

Synodikon  des  Zaren  Boril.  _  205. 

,,Syntipas".     238. 


394 


Register. 


Syrmien.     26. 

Syrokomla,   Wiadisiaw  =    L.  Kondratowicz. 

164.  169. 
Szabö,  Dav.     286. 
Szantö.     278. 
Szäsz,  Karl.     306. 

Szechenyi,  Stephan.    273.  285.  286.  290.  '299. 
Szdchy,  Gräfin  Marie.     281. 
Szekler.     269. 
Szentmarjai.     286. 

„Sziget,  Die  Belagerung  von",  von  Zrinyi.    280. 
Szigligeti,  Eduard.     303. 
Szilägyi  und  Hajmdsi.     295. 
Szilägyi,  Michael.     276. 
Szliupas.     366. 
Szymahski.     171. 
Szyrwid,  Konstantin.     361. 

S. 

SafaHk,   P.  J.     24.  »189.  245. 

Sap6anin,  Milorad.     235. 

Senoa,  August.     232. 

Sestodnev.     200. 

äevcenko.     18. 

Simacek.     192. 

älejhar.     192. 

ämilovsky.     191. 

Stitny,  Thomas  von.     181. 

Stolba.     192. 

ätür,  Ludevit.     234. 

äubert.     192. 

T. 

(Mit  Tsch  beginnende  Namen  s.  auch  unter  C.) 

Taboriten.     183. 

„Tagebuch,    Das,   des  Schriftstellers"  Dosto- 

jewskys.     1 10. 
Talvio,  Maila.     327. 
Talvj  =  T.  A.  L.  v.  Jacobi.     225. 
Tamm,  Jakob.     348. 
Tan.     127. 

Tannenberg,  Schlacht  von.     356. 
Tarnowski,  Graf  St.     175. 
Tasso,  Torquato.    155.  214.  215.  253.  279.  280. 
Tataren.     41.  43.  44.  355. 
Tatischtscheff,  Wassilij  Nikititsch.     48. 
Tavcar,  Ivan.     231. 
Telega,  Stefan.     361. 
,, Telegraph,  Moskauer".     52. 
,, Teleskop".     74. 
Tertsetis,  Georgios.     258. 
Testament,  Altes.     199.  207.  314. 
— ,  Neues.    207.   218.    261.    273.    315.    340. 

359-  367. 
Tetmajer,  Kazimierz.     172. 
Texte  du  sacre.     207. 
— ,  Älteste  litauische.     358. 
,,Thaddäus,  Herr,"  von  Mickiewicz.     160. 


Theater,  Estnisches.     349. 

— ,  Finnisches.     328. 

— ,  Russisches.     47. 

— ,  Serbisches.     223. 

— ,  Ungarisches.     289. 

— ,  s.  auch  Drama,  Komödie. 

Theokrit.     169. 

Theologische  Literatur,  Böhmische.    181.  183. 

i86. 
— ,  Kroatische.     207  f. 
— ,  Südslawische.     199  ff. 
Thököly.     281.  282. 
Thomas  von  Pecs.     269. 
Thorn,  Friede  von.     356. 
Thürocz,  Johann  von.     271. 
Tichonravvoff,  N.     148.   149. 
Tierepos,  Polnisches.     171. 
Tierpsychologie   in   der   russischen    Literatur. 

134- 
Tiffernus,  Michael.     217. 
Tinödi,  Sebastian.     '274.  276. 
Tiverci.     6. 
Todorov,  O.     243. 
Tönisson,  J.     350. 

Toldi,  Reimchronik  von  Nikolaus.    276.  297. 
Toldi  =  Trilogie  von  Arany.     285.  '297. 
ToUius.     279. 

Tolstoi,  Alexis  Graf.     78.  •109. 
Tolstoj,   Leo  Graf.     16.   58.  67.   76.  '84.  99. 

100.  108.  *ii4.  123.  129.  133.  136.  143.  326. 
Tolstoismus.     119. 
Tomic,  Jos.  E.     232. 
Tommaseo,  N.     229. 
Tompa,  Michael.     306. 
Topehus,  Zacharias.     320. 
,, Totenhaus,  Memoiren  aus  einem",   von  Do- 

stojewsky.    92.  in. 
Tovacovsky  von  Cimburk,  Ctibor.     187. 
Towianski,  A.     163. 

,, Tragödie  des  Agis"  von  Bessenyei.     283. 
,, —  des  Menschen"  Madächs.     304. 
Trau.     211.  213.  216. 
Trebfzsky.     191. 
Tresic-Pavicic,  A.     233. 
Treu,  Pastor.     375. 
Triest.     26. 

Trikupis,  Spyridion.     249. 
Tristanroman.     208. 
Tristansage.     276. 
Trnovo.     204.  205. 
Trojasage.     205.  208. 
Troubadoure,  Dalmatinische.     213. 
Trsat.     208. 

Trüber,- Primus.  217.  218. 
Tschaadaew.  52.  74.  146. 
Tschernischewsky,  Nikolaj  Ciawrilowitsch.  87. 

91.  95.  99.  lol.  148.  235. 
Tschirikoff.     142. 
, .Türkei,  Briefe  aus  der",  des  Mikes.     282. 


Register. 


395 


Türken.     44.  251. 

Türkenherrschaft  in  den  slawischen  Balkan- 
staaten.    208. 

Türkenkriege.     273.  274.  279.  280.  282. 

Turgenjev,  Iwan.  16.  17.  65.  66.  67.  68.  72. 
•76.  79.  82.  90.  '93.  96.  98.  99.  '102  108. 
•120.  126.  128.   132.   148.  232. 

Tyl,  Joseph  Kajetan.     igo. 

Typaldos,  Julies.     258. 

Typen  s.  Schrift. 

Tymau.     279. 

u. 

Übergangsdialekte,  Slawische.     5. 
Übersetzungen,  Altkirchenslawische.  199.  204. 

205. 
— ,  Bulgarische.     239.  241. 
— ,  Estnische.     338.  340.  349. 
— ,  Finnische.     314.  315.  329.  330. 
— ,  Kroatische.     208. 
— ,  Litauische.     357  ff.  360.  365. 
— ,  Neugriechische.     249.  256. 
— ,  Serbische.     206. 
— ,  Ungarische.     287. 
Ujejski,  Komel.     164. 
Ukraine.     18. 
Uli«.    6. 

Ungarn.     265.  '266.  282.  284. 
,, —  im  Jahre  1514"  Eötvös'.     302. 
Ungnad,  Baron  Johann.     217. 
Union  von  Lublin.     158.  159. 
Unität  s.  Brüdergemeinde,  Böhmische. 
Universität  zu  Abo.     316. 

—  zu  Athen.     255. 

—  zu  Belgrad.     237. 

—  zu  Budapest.     279. 

—  zu  Dorpat.     343. 

— ,  Freie,  zu  St.  Petersburg.     loi. 

—  zu  Prag.     181. 

—  zu  Sofia.     242. 

Universitätsjugend,  Die  Moskauer.     72. 
Usspenski,  Gleb.     109.  121.  133. 
Uwaroflf,  .Alexej  Sergejewitsch.     58. 


Väinämöinen ,    finnischer   Gott    des  Wassers. 

311.  320. 
„Väter  und  Söhne"  von  Turgenieff.    98.  102. 
Vajda,  Johann.     307. 
Valaoritis,  .Aristotelis.     257.  *258. 
Valentin  von  Ujlak.     269. 
Valvasor,  J.  W.     218. 
Vazov,  Ivan.     242. 
Veglia,  Kirche  der  heiligen  Lucia  bei  Baska 

auf.     203. 
Veleslavin,  Daniel  Adam  von.     187. 
Velickov,  K.     242. 
Venedig.     211.  216. 
Venelin,  J.     239. 


Venetae.     2. 

„Venus  von  Murdny"   von  Gyöngyösy.     281 

Veprinac.     208. 

Vergerius,  Peter  Paul.     217. 

Vergilius  Maro,  P.     272.  280.  281.  284.  292. 

Verlaine,  Paul.     237. 

Vemardakis,  Dimitrios.     256. 

Verrocchio,  .Andrea  del.     271. 

Verschroniken,  Ungarische.     274. 

,, Verschwörung",  Martinovicsische.     286. 

Verseghy,  Franz.     286. 

VeselKoseski,  Jovan.     227. 

Veselin  =  Vlajkov,  T. 

Veselinovic,  Janko.     236. 

Vetranic,  Mavro.     215. 

Vida,  M.  H.     215. 

Vidakovic.     225. 

Vidric,  Vladimir.     238. 

Vigny,  Alfred  de.     238. 

Vikovä-Kunetickä.     192. 

Vilägos,  Waüfenstreckung  von.     300. 

Vilaras,  Joannis.     254. 

Vileisis,  Petrus.     365. 

Vinci,  Lionardo  da.     271. 

Vinodol,  Statut  von.     208. 

Visio  Tundali.     208. 

Vjaticen.     5. 

Vlajkov,  T.     243. 

Vlcek.     191. 

Vlkanov,  Prefat  von.     187. 

Vodnik,  V.     27.  221. 

Vörösmarty,   Michael.     285.   287.    290.   '291 . 

296.  299. 
Vogt.     375. 
Vojnikov,  D.     241. 
Vojnovic,  Ivo.     233. 
Volksepik,  Finnische.     321.  324. 
— ,  Serbisch-kroatische.     209. 
Volkslieder,  Estnische.     335. 
— ,  Finnische.     311.  318. 
— ,  Lettische.     373. 
— ,  Litauische.     363. 
— ,  Neugriechische  historische.     250, 
— ,  Serbische.     225. 
— .  Slowenische.     228. 
Volkspoesie,  Estnische.     334.  341.  347. 
— ,  Finnische.     310  fr.  317.  320  ff. 
— ,  Neugriechische.     250.  257. 
— ,  Russische.     41  f. 
— ,  Slawische.     190. 
— ,  Südslawische.     220.  221.  224. 
— ,  Ungarische.     268.  282.  290.  295.  296. 
Volksschriftsteller,  Estnische.     342. 
— ,  Finnische.     325. 
Volksschule,  Lettische.     374. 
Volkssprache,  Estnische.     337.  342. 
— ,  Neugriechische.    246.  *249.  253.  254.  255. 

259.  261. 
— ,  Bemühungen  für  die  slawische.     224. 


396 


Register. 


Voltaire,  Fran^ois- Marie  Arouet  de.     49.  73. 

166.  241.  283.  349. 
Vonwisin,  Denis.     50.  77. 
Vorlicny,  P.     187. 
Vossius,  Melchior.     374. 
Vraz,  Stanko.     227.  '228. 
Vrchlicky,  Jaroslav.     igi.   192. 
Vrhovac,  M.     224. 

Vsehrd,  Viktorin  Komel  von.     '185.  187. 
Vujic,  Joakim.     223, 
Vukicevic,  llija  V.     236. 
Vyzantios,  Dimitrios.     256. 

w. 

Waischnoras,  Simon.     359. 

Walachei.     11. 

Waldenser.     183. 

Waldhauser,  Konrad.     181. 

Waldis,  Burkard.     278. 

„VVallenrod,  Konrad".     159.  162. 

Wallenstein,  Albrecht  von.     279. 

Waräger.     40. 

Warasdin.     25. 

Watson,  Pastor.     374. 

Weber,  A.     376. 

Weißrussisch.     14.  15. 

Weltherus,  Ambrosius.     337. 

Wenden,  Winden.     2.  3.  26.  31. 

Wenzel,  Legenden  vom  heiligen.     178.   179. 

Wenzel,  Kaiser.     356. 

Wenzel  I.  und  IL  von  Böhmen.     179. 

Werböczy,  Stephan.     273. 

Weske,  M.     346. 

Wessel^nyi,  Franz.     281. 

,, Westeuropäer".     74.  96. 

Weyssenhoff,  Josef.     171.   172. 

Wiching.     198. 

Wiclif,  John.     182.   183. 

Wiedemann,  J.  F.     345. 

Wieland,  Christoph  Martin.     54. 

Wilde,  Ed.     351. 

Willent,  Bartholomäus.     358. 

Willmann,  Fr.     341. 

Wilna.     354. 

„Winterreise"  von  Mickiewicz.     160. 

Wiszniewski,  M.     175. 

Witen  von  Litauen.     355. 

Witowt  von  Litauen.     355.  '356.  360. 

Witte,  Franz.     338. 

Witten,  Christoph.     373. 

Wörterbücher  s.  Lexikographie. 

Woin  von  Litauen.     355. 

Wolchow.     41. 

Woldemar,  Ch.     376. 

Wolff,  Christian.     47. 

„Wolodyjowski,  Herr",  von  Sienkicvvicz.    167. 

Wolonczewski,  Matäus  Kazimir.     366. 

Wolter,  Joh.  Chr.     374. 


„Wort,  Das  russische".     100.  105. 
Wostokoff.     417. 
Wujek,  Jakob.     360. 
Wyspianski,  Stanislaw.     172. 

X. 

Xeres  de  la  Maraja  =  Begovic,  Milan. 


Young,  Eduard.     51 


Zadruga.     236. 

Zafirov.     240. 

Zalakostas.     258. 

Zalän.     285.  291. 

Zamagna,  B.     212. 

Zapolska.     172. 

Zara.     211. 

Zauberlieder,  Estnische.     335. 

— ,  Finnische.     313.  322. 

Zeifert,  Theodor.     377. 

,, Zeitgenosse,  Der".     60.   75.   86.   87.  95.  99. 

105. 
Zeitungsliteratur,  Böhmische.     192. 
— ,  Estnische.     346.  350. 
— ,  Finnische.     318.  319. 
— ,  Kroatische.     228. 
— ,  Lettische.     374.  375.  *376. 
— ,  Litauische.     365.  367. 
— ,  Neugriechische.     259. 
— ,  Russische.     52.  60.  74.  75.  86.  87.  go.  95. 

98.  99.  IOC.   105.  110.  121.  126.  129. 
— ,  Slowenische.     221.  227.  230. 
— ,  Ungarische.     289. 
Zemaiten.     354.  366. 
Zensur  in  Rußland.     50.  67.  87. 
Zeromski,  Stefan.     171. 
2erotin,  Karl  von.     187. 
Zeyer,  J.     191.  192. 
Zlataric,  Dinko.     213.  214. 
,,Zlatostruj".     200. 
Zmichowska.     165. 

Zois,  Baron  Sigismund.     27.  221.   224. 
Zola,  Emile.     68.   121.  237. 
,,Zoltän  Kärpäthy"  Jokais.     303. 
Zonaras.     206. 
Zoranic.     214.  215. 
Zrinyi,  Helene.     280.  281. 
Zrinyi,  Katharina.     2S0. 

Zrinyi,  Nikolaus,  Verteidiger  von  Sziget.    216. 
Zrinyi,  Nikolaus  der  Dichter.    '279.  282.  296. 
Zrinyi,  Peter.     219.  280. 
Zupanciö,  O.     237. 
Zuzoriö,  Flora.     220. 
Zweizeilen,  Neugriechische.     252. 
Zwischenspiele,  Polnisch-litauische.     361. 


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PG  Bezzenberger,  A 

501  Die  osteuropäischen 

Bii  Literaturen  und  die  slawischen 

Sprachen 


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