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1911
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DIE PARTEIÜN6 DER PHILOSOPHIE
STUDIEN WIDER HEGEL UND DIE KANTIANER
VON
Dr. HANS EHRENBERG
PRIVATDOZENT AN DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG
LEIPZIG 1911
VERLAG VON FELIX MEINER
Ä20i86
DIE PABTEIÜN& DER PHILOSOPHIE
STUDIEN WIDER HEGEL UND DIE KANTIANER
VON
Dr. HANS EHRENBERG
PKIVATDOZENT AN DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG
LEIPZIG 1911
VERLAG VON FELIX MEINER
f
Druck von C. Grambach in Leipzig-
«1
Vorwort
Wohl glaube ich. daß wir zur Zeit rüstig ausschreiten; auch
aus Yielfältigen Kombinationen sondert sich endlich ein Neues ab;
der weitgreifen dste Gegensatz der Richtungen baut die Synthese auf.
Der Gegensatz ist da: Kantianismus — Hegelianismus! noch ist es
so, daß die einen sagen, was die anderen nicht hören, und hören,
was die anderen nicht sagen. Um beide hören zu können, muß
man ein dritter sein, zugleich ein solcher, der den Gegensatz der
beiden Denkweisen im eigenen Denken durchgekämpft hat. Die
bloße Absicht zur Synthese ist allerdings nirgends so zwecklos als
in der Philosophie, ihre Ausführung dagegen nirgends so fruchtbar.
Die Synthese begann für uns mit dem AugenbHck, in welchem sich
uns der Gegensatz der Parteien verschob und wir selber aus ihm
ausschieden; damals sahen wir die Aufgabe vor ims, deren Lösung
jetzt versucht wird, die Aufgabe, den eigenen Standpunkt über dem
gegenseitigen Morde der feindhchen Parteien aufzurichten. Aber
die Aufgabe war noch unlösbar; noch fehlte dem neueren Kantianis-
mus die greifbare Außenseite, wie sie für die Auseinandersetzung
Bedingung ist; unfruchtbare Zeiten liegen hinter uns, in denen von
den Widersachern des Kantianismus viel Kritisches gedacht wurde,
das sich doch nicht zu äußern vermochte. Jetzt hat Lasks „Logik
der Philosophie" das Fehlende ersetzt, und die Lücken, welche
zwischen den verschiedenen Teilen der neno'en Kantianischen Philo-
sophie lagen, ausgefüllt. Und auch die geistige Person Hegels ist
wieder in unserem Umkreise und reißt uns mächtig hin; aber die
Tendenzen, in denen sie wirkt, sind entweder nicht schöpferisch oder
liegen in der Richtung jenes synthetischen AVeges, der im Folgenden
betreten wird.
In dem Gegensatz von Hegelianismus und Kantianismus ist
jener die historisch ältere Philosophie; denn der Kantianismus ist
von Kant verschieden, ein selbständiges Gedankensystem; gedächten
wir aber die gegenwärtig neue Strömung, auch die hier vorliegende
Schrift, als Neu-Hegehanismus zu bezeichnen, so würde diese Be-
nennung nur insoweit zutrefien, als die neue Richtung nur solche
A*
IV Vorwort
Denkende einbegreifen kann, die einmal durch Hegel wahrhaft hin-
durchgegangen sind; im übrigen aber ist die Verwandtschaft zu
gering, der Gegensatz zu groß, so daß die i. e. S. Hegehaner zu
Nennenden es sich schon angelegen sein lassen werden, einem
solchen Neu-Hegelianismus die Gemeinschaft mit dem großen Manne
heftig abzustreiten. Auf jeden Fall ist in der vorhegenden Schrift
unter Hegehanismus immer der Alt-Hegelianismus zu verstehen, der
eben insofern auch ein Neu-Hegelianismus ist, als es ihn eben heute
gibt — nicht lange geben wird.
Die These, die ich mit dieser Schrift, wenn ich von ihrem
eigentlichen Inhalte absehe, aufstellen wiU, bestreitet die Möghchkeit
einer isolierten Logik. „Logik ohne System" führt immer wieder zu
„Logik ohne System" ; denn eine isolierte Logik muß in Ermangelung
von Grenzen gegen die nichtlogischen Disziphnen aus diesen Be-
standteile in sich hineinziehen, die es ihr nachher unmöglich machen,
zu solchen nichtlogischen Erkenntnissen zu gelangen, die von der
Logik reinlich geschieden sind. Die Logik bleibt Philosophie-Frag-
ment und läßt es bestenfalls zu einer Art vergleichender Logik
kommen; ob nun in Gestalt der Hegeischen Entwicklungsphilosophie,
bei der ein in der Anlage allerdings vorhandenes System durch die
Logik erdrückt wird und für das „Resultat" sich ebenfalls Logik
ohne System ergibt, oder in Gestalt des Kantianismus, bei dem das
Schicksal Fragment zu bleiben am offenbarsten ist, und der sogar
zeitweise die nichtlogischen Diszij^linen als unwissenschaftliche Welt-
anschauungsphilosophie zu annulheren versucht hat. Die These, die
ich aufstelle, ist daher am besten so vorzutragen, daß von der inner-
logischen Frage ausgegangen wird, um bei ihrer Behandlung dar-
zutun, wie man sich immer schneller dem Metalogischen zubewegt.
Die Schrift führt daher dazu, daß die Stellung der Logik im philo-
sophischen System untersucht wird; zwar auch diese Frage ist für
das System nur Vorfrage, führt aber doch bis an dasselbe heran
und ist überhaupt die einzige Vorfrage, die vor dem System gedacht
sein muß, wenn sie auch durch dasselbe liinfäUig werden wird:
woraus sich ergibt, daß die IsoKerte Logik sich an ihrem Be-
kämpfer, indem sie ihn in ihr eigenes Schicksal hineinreißt, rächt.
Heidelberg im Juni 1911
Inhalt
Seite
Einleitung: Die Absicht der Wissenschaftlichkeit . . . 1 — 4
1, Kapitel: Der Konflikt im innerlogischen Problem . . 5 — 52
Punkt I : Die Kategorie als Objekt der logischen Wissen-
schaft 7—36
1 — 7 [Hegel]
II — 16 [Geschichte des Neukantianismus]
III — 30 [Die eigene Ansicht]
Punkt II: Die Anwendung der Kategorie 36—52
1 — 36 [Hegel]
II — 39 [G-eschichte des Neukantianismus]
III — 45 [Die eigene Ansicht]
2. Kapitel: Der Konflikt im Verhältnis von Logik und
Philosophie 53—129
Punkt III: Vernunft und Wirklichkeit 55—79
1 — 55 [Hegel]
II — 64 [Geschichte des Neukantianismus]
III — 75 [Die eigene Ansicht]
Punkt IV: Die Absolutheit 80—98
1 — 80 [Hegel]
II — 83 [Geschichte des Neukantianismus]
III — 95 [Die eigene Ansicht]
Punkt V: Die Stellung der Logik im System 98—129
1 — 98 [Hegel]
II — 103 [Geschichte des Neukantianismus]
III — 123 [Die eigene Ansicht]
Schluß: Ncuschüpf ung des dialektischen Prinzipes , . . 129 — 133
Einleitung
Die Idee, welche Comte über die Entwicklung der Wissen-
schaften ausgesprochen hat, — in den drei Stufen des mytho-
logischen, metaphysischen und positiven Charakters — hatte ein
Ausdruck dafür sein sollen, daß die Philosophie der Forderung
der Wissenschaf tlichkeit nie Genüge tun könne. Da jedoch Comtes
Begriffe von der Philosophie selber angenommen wurden, so kam
auch in sie das Verlangen nach einem für sie angeblich Unerreich-
baren hinein; und darum litt sie für Jahrzehnte an einer unglück-
lichen Liebe zur Wissenschaftlichkeit. Aber die „Satzungen"
eines einzelnen Geistes büßen an Kraft ein, nachdem sie als
Satzungen erkannt sind; die Philosophie beginnt zu ahnen, daß
die „metaphysische Entwicklungsstufe", welche in den Einzel-
Wissenschaften als überwunden gelten kann, durchaus nicht das
Schicksal der Metaphysik selber sein müsse; endlich durchdringt
sie das Gefühl eigener Stärke, da sie erkennt, wie der Gewinn
der Wissenschaftlichkeit, auf den die empirischen Wissenschaften
pochen, erst von der Philosophie seine dauernde Prägung erfährt.
Die Wissenschaftlichkeit wird ihr als ihre eigene Sache bewußt,
und jetzt kann sie eine „neue Satzung" geben. Deshalb, weil es
die erkenntnistheoretische Richtung ist, die dieses Bewußtsein
der Wissenschaftlichkeit hervorbringt, deshalb, weil die Schei-
dung von wissenschaftlicher und Weltanschauungs-Philosophie
eben von jener durchgeführt wird, ist ihr die Schöpfung der
Philosophie als Wissenschaft zu danken. Nicht als ob der Inhalt
der erkenntnistheoretischen Philosophie einen besonderen Gehalt
an wissenschaftlicher Erkenntnis besäße, auch nicht als ob die
ihr eigentümliche Nüchternheit, der ihr eigentümliche Sprachstil
für ihren wissenschaftlichen Charakter spräche; aber in dem
Sinne, daß der wahrhaft wissenschaftliche Inhalt dieser Richtung
Ehrenberg, Die Parteiunfe' der Philosophie 1
Einleitung
die These der Wissenschaftlichkeit selbst sei, welche, da es in
der Philosophie einzig und allein auf das, was Selbstbewußtseins-
inhalt ist, ankommt, bereits als bloße These, wir können sogar
sagen: gerade als bloße These von durchgreifender Bedeutung ist.
Denn sie verwandelt den Geist, in dem geschaffen wird. Die Kraft
der Bewußtheit ist unendlich und bewirkt mit der Wissenschaft-
lichkeitsthese, daß die Philosophie sich das Recht, sich als fertige
Erkenntnis zu behaupten, abspricht und somit forschende, „po-
sitive" Wissenschaft wird. Demnach ist das Prinzip der Wissen-
schaftlichkeit, welches ein Wissen um das, was man tut, ist,
bereits selber der Anfang der Verwissenschaftlichung, welche
durch es gefordert wird.
Aber die Idee der Wissenschaftlichkeit ist eine zu formale
Idee, um nicht schnellstens materialisiert zu werden, und anstatt
wissenschaftlicher Philosophie heißt es jetzt Logik und Erkennt-
nistheorie, anstatt Weltanschauungsphilosophie Kultur- und Re-
ligionsphilosophie. Wieder einmal ist eine jener Umsetzungen
einer reinen Idee in ein bestimmtes Stoffgebiet vorgenommen,
wieder einmal das Wie mit dem Was, die Wert-Qualität mit der
Objekts-Qualität verwechselt und vertauscht. Aber das Prinzip
der Wissenschaftlichkeit macht vielmehr die Qualität der Phi-
losophie gerade unabhängig von der Art ihrer Gegenstände, und
jene Verwechslung restituiert frühere Einteilungen aus der Zeit
der metaphysischen Epoche der Philosophie. Wie aber zu dieser
Zeit die Logik zwar Logik, doch nicht-wissenschaftliche Logik
war, so ist die Kultur- und Religionsphilosophie auf der Stufe der
bewußten Wissenschaftlichkeit, obwohl Kultur- und Religions-
philosophie, so doch wissenschaftliche Kultur- und Religions-
philosophie. Die Form der Wissenschaft, ihre Wahrheitsmög-
lichkeit, ist unabhängig von ihrem Gegenstande; dieser aber ist
die ewige Wirklichkeit selber; der reinen Wissenschaftlichkeit
der Methode entspricht gerade die reine Absolutheit des Inhalts;
die Philosophie ist so in toto nichts als Metaphysik, was ihren
Gegenstand angeht; und ihre Gestalt in der neuesten Zeit tritt als
uissenschaftliche Metaphysik hervor.
Diese aber bedarf, bevor sie sich bewußt in die Erscheinung
setzen kann, der Selbstgarantie ihrer Wissenschaftlichkeit; und
Die Absicht der "WisBenschaftlichkeit
nachdem wir mit dem Gesagten den wunden Punkt in der Phi-
losophie der Zeit berührt haben, wollen wir die Wunde nicht
vertiefen, sondern wesentlich für uns selber handeln, — zwar
noch nicht das Haus, nicht einmal die Fundamente errichten,
aber den Boden ebnen und festigen, auf dem sich einst das Haus
erheben wird. Niemand kann dies mit größerer Zuversicht tun
als ich; wie danke ich dem Schöpfer, daß er mir die innere Ruhe
gegeben hat, um zugleich in mir im Entwürfe das Haus zu bauen,
während ich in der Wirklichkeit noch nicht einmal bei den Fun-
damenten angelangt bin. Selbstgarantie der Wissenschaftlich-
keit! So gilt es vor allem, jede uns umbiegende Gegnerschaft
zu anderen Philosophien auszuschließen und gerade deshalb diese
Gegnerschaften selbst zu objektivieren. Das allein ist Zweck
und Inhalt der folgenden Studien, welche somit die Parteien der
gegenwärtigen Philosophie in ihrem tatsächlichen Sein, d. h. in
ihrem geschichtlichen Zueinandergehören, entwickeln. Daher
fehlt im folgenden gänzlich die eigentliche Methode polemischer
Auseinandersetzungen; mancher wird das missen und es be-
schwerlich finden, sie sich hinzuzuergänzen. Aber eine höhere
Notwendigkeit verbietet diese „unmittelbare" Aussprache, ge-
bietet gerade zu Zwecken einer Kritik denjenigen Weg zu gehen,
auf welchem die einzig sich bewährende, die einzige „wirkliche"
Kritik, d. i. die Geschichte der Philosophie, ihr vorausgegangen
ist. Erst damit wird eine Kritik ermöglicht, welche sich nicht
gerade durch die gegnerische „Beziehung" zu den kritisierten
Gedanken in Abhängigkeit von ihnen setzt. So wählen wir einen
Weg allgemeingültiger Kritik, wo dann die Kritik selbst sich als
Forschung, als historische Untersuchung äußert. Es ist das
sich auseinander Entwickeln der Gedanken, worin diese selbst
in Sieg oder Niederlage gerichtet werden; dann muß je nach der
Art von Sieg und Niederlage auch die Art der Kritik verschieden
aussehen: Hegels absoluter Sturz drückt sich je in einem zu-
sammengefaßt einzigen kritischen Punkte aus, während es zum
Wesen des neueren Kuntiamsmus gehört, daß er sich in ver-
schiedenen Gestalten entfaltet, die erst von der letzten aus sich
als einheitliche Entwicklung erfassen lassen und daher eine Kritik
nur finden, indem die letzte als letzte sich zersetzt, die früheren
1*
Einleitunof
aber nur durch Vermittlung dieser letzten getroffen werden.
Obwohl wir uns dergestalt bis zu der Zeit Hegels zurückwenden
und erst von ihr aus in die Geschichte der neueren kantianischen
Philosophie eintreten, um mit ihr zur Gegenwart gelangen zu
können, so haben wir damit doch nur scheinbar den Augenblick
des gegenwärtigen Denkens verlassen. Denn nichts anderes als
dieser Augenblick ist das Resultat der Geschichte, die von Hegel
bis zu ihm selber führt. Solche historische Untersuchung unter-
steht allerdings bis zu gewissem Grade besonderen Bedingungen,
da sie ihr Auge immer auf den gegenwärtigen Zeitpunkt gerichtet
hat. Und auch in systematischer Beziehung wollen wir uns für
die Zukunft nur sichern, haben daher die Arbeit nur bis dahin
gefördert, wo sie aus dem Zustand der Aneinanderreihung von
Punkten in eine systematisierte Darstellung umschlagen würde,
oder um es präziser auszudrücken, uns an ein von außen
gegebenes Dispositionsschema gehalten, so daß nur innerhalb der
einzelnen Punkte eine mehr absolute Form herrscht, die aber
eben, weil sie sich einer Gliederung, die nicht aus ihr folgt,
unterwirft, doch nur scheinbar eine absolute Form ist. Die fol-
genden Untersuchungen sprechen so eine einzige, unendliche Ne-
gation aus, durch welche ebenso die Philosophie der Zeit wie
deren Negierung selbst betroffen und so alle Züge auf der Schreib-
tafel des denkenden Geistes ausgelöscht, die gesamte Vergangen-
heit des Philosophierens in den Bestand der Forschungswii^^eZ
zurückgezogen und in ihm, nur in ihm versammelt wird. So
wird das Oehot der Zdt: die Forderung der Wissenschaftlichkeit
in der Tat befolgt, bis in seine letzten Konsequenzen hinein, so
daß die Wissenschaftlichkeit des philosophischen Bewußtseins für
die Zukunft eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Und damit
haben sich die folgenden Betrachtungen, an die wir jetzt gehen
können, ihren Platz angewiesen.
1. Kapitel
Der Konflikt im iimerlogisclien Problem
Punkt I: Die Kategorie als Objeict der logischen Wissenschaft
Die Dialektik ist so alt wie die Philosophie. Man glaubt
heutzutage allgemein, das Eigentümliche der Logik Hegels in
ihrer spekulativen Methodik erblicken zu müssen. Geschicht-
liche Interpretation wird aber vor allem darauf weisen, daß
Hegels Neuschöpfung der logischen Wissenschaft deren Objekt
betrifft. Denn die ganze Vergangenheit der Philosophie ist
unbeteiligt an der Entlarvung, mit welcher Hegel diejenigen
straft, „welche nicht die einfache Reflexion machen mochten,
daß ihre Einfälle und Einvvürfe Kategorien enthalten, welche
Voraussetzungen sind und selbst erst der Kritik bedürfen,
ehe sie gebraucht werden«. Die Bewußtlosigkeit hierüber geht
unglaublich weit; sie macht das Grundmißverständnis, das üble,
d, h. ungebildete Benehmen, bei einer Kategorie, die betrachtet
wird, eticas anderes zu denken und nicht diese Kategorie selbst.''
(Vorrede zur 2. Aufl, des 1. Bandes der Logik, 1832.) Diese
Vorwürfe richten sich gegen die Kantische Philosophie, gegen
deren Verfahren, die einzelnen Kategorien an Hand bestimmter
Anwendungsfälle zu deduzieren, etwa die Kausalitätskategorie
auf Grund der mechanischen Stoßwirkung oder des psychischen
Zusammenhanges, — also anstatt im Gebiet der reinen Bedeu-
tungen selber zu bleiben, sich in die engeren Grenzen speziellerer
Sphären zu flüchten und in den wohlbekannten Zügen der aus
diesen abstrahierten Denkformen fälschlich Beispiele der all-
gemeinen Kategorien selber zu wähnen; allerdings ein „Grund-
mißverständnis" zu glauben, daß das Einkleiden der Kategorien
ihre Formen am deutlichsten sichtbar machen müsse, anstatt
einzusehen, daß ihr rein gedanklicher Inhalt zunächst durch die
Spezialbcdeutung, mit der man ihn einkleidet, verdeckt wird,
Objekt der Logik
— schließlich ganz entschwindet. Hegel dagegen verlangte die
Kraft des reinen Denkens, welche erforderlich ist, um ein Ge-
dachtes wieder denken zu können. Man hat allerdings auch vor
Hegel die reinen Denkformen zu bemerken vermocht, aber aus
Furcht vor einem Rückfall in die Aristotelische Formen-Deskrip-
tion verworfen. Kant wertete die Formen als nur-Formen, und
Hegel „entdeckt" daher nicht so sehr die einzelnen Inhalte von
Formen als das Prinzip ihrer Inhaltlichkeit. Er befreit die Ka-
tegorien aus der Verbannung ins ausgeschlossene Reich der nur-
Formen, erkennt die Inhaltlichkeitsstruktur, welche sie an sich
selber haben, und hält dem Kantianer vor, wie dieselbe Denk-
bestimmung, welche aus dem Munde der Kantischen Philosophie
die Entgegenständlichung der reinen Kategorie aussprechen lasse,
bereits die reine Kategorialität in gegenständlichem Walten vor-
führe. Ein logisches Troj^t öeai^rov ist also die Hegeische Forderung
an die Adresse des Philosophierenden; das Prinzip also für die
Deduktion der Kategorie besitzt Hegel im Begriff des Selbst-
hewußtseins des Denkenden. Daher heißt es: „Das Bewußtsein,
als der erscheinende Geist, welcher sich auf seinem Wege von
seiner Unmittelbarkeit und äußerlichen Concretion befreit, wird
zum reinen Wissen, das sich jene reinen Wesenheiten (die den
Inhalt der Logik ausmachen) selbst, wie sie an und für sich sind,
zum Gegenstande gibt" (aus der Vorrede zum 1. Bd. der Logik,
1812). Es ist die Selbstkontrolle, welche der „sich als Geist
wissende Geist" (Phänomenologie, 765) ausübt, das Kriterium
eines absoluten Wissens. So erhält die Logik darin ihr Objekt
zugewiesen, daß sie die reinen Kategorien, „wie sie an und für
sich sind", zu entwickeln berufen ist. Die Erkenntnis/orw?ew
selbst als Erkenntmainhalte ! In ihrer Ausführung hat die Logik
daher dem vorbildlichen Beispiel des Selbstbewußtseins, welches
die allgemeine Wissens/or?« zu seinem Inhalt hat, zu folgen;
und „es ist nicht Schuld des Gegenstands der Logik, wenn sie
gehaltlos sein soll, sondern allein der Art, wie derselbe durch-
geführt wird" (Logik, I, 9). Vielmehr ist „dieses objektive
Denken ... der hihalt der reinen Wissenschaft. Sie ist daher
so wenig formell, sie entbehrt so wenig der Materie zu einer
wirklichen und wahren Erkenntnis, daß ihr Inhalt vielmehr allein
Hegel 9
das absolute Wahre, oder wenn man sich noch des Worts
Materie bedienen wollte, die wahrhafte Materie ist, — - eine Ma-
terie aber, der die Form nicht ein Äußerliches ist. Die Logik
ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des
reinen Gedankens zu fassen" (Logik, I, 11 f.). Das System der
Kategorien ist die Logik des absoluten seil, philosophischen
Wissens, für die dann „die Trennung des Gegenstandes von der
Gewißheit seiner selbst vollkommen sich aufgelöst hat" (a. a. 0..
11). Wir sehen: Das Prinzip der sich im Gegenstande wissenden
Gewißheit sichert der Logik ihre Ausführbarkeit, dem Inhalt der
Logik seine Wahrheit.
So wäre die i^ufgabe, die Hegel einer logischen Wissenschaf t
stellt, vollständig bestimmt; das ewige Urbild des Selbstbewußt-
seins hat diese ebenso ewige Folge. Logik und Selbstbewußtsein
verhalten sich wie Abbild und Urbild, wie Aufgabe und Grund-
satz. Woher aber hat die Logik den Grundsatz, oder besser:
woher hat sie ihn als den Grundsatz, der ihre Aufgabe begründet?
Nicht aus sich selbst, denn allerorten setzt sie ausdrücklich das
absolute Selbstbewußtsein, die Absolutheit des Selbstbewußtseins
voraus. Hier droht der Entdeckung Hegels eine Gefahr; die
„reine" Logik scheint die „Anwendung" eines außerhalb von ihr
liegenden Grundsatzes zu sein. Und Hegel selbst erkennt an,
daß „der Begriff der reinen Wissenschaft und seine Deduktion
in gegenwärtiger Abhandlung also insofern vorausgesetzt wird,
als die Phänomenologie des Geistes nichts anderes als die De-
duktion desselben ist" (Logik I, 11). Aus der Phänomenologie
konnte Hegel allerdings übernehmen, daß für das Bciciißtseiu
sich das Wesen des philosophischen Wissens als Selbstbewußt-
sein kundgibt; und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man für
Hegel den Problemkomplex des Erkenntnis6't(6;V/j/s von der Phä-
nomenologie zum Abschluß gebracht sein läßt; aber für den
Gegenstand dieses Erkenntnissubjektes kann aus der Phänomeno-
logie nichts anderes entnommen werden, als daß er so ist, Gegen-
stand eines absoluten Bewußtseins sein können zu müssen. Der
Selbstbewußtseinsbegriff, aus welchem das Objekt der Logik ent-
steht, ist daher nicht derselbe Begriff wie der, welcher die
Reihe der phänomenalen Bewußtseinsgestalten — als deren trans-
10 Objekt der Logik
zendentes Ziel — schließt. Das Selbstbewußtsein bedeutet also
einmal die Wissensabsolutheit, die wir im Akt der Selbstbewußt-
werdung erwerben, — das andere Mal das sich zum Inhalt Werden
des Denkens, einmal den Gültiglceits-, dann den 0&;eÄ;^sbegriff der
Wissenschaft. Und ohne Zweifel ist jede dieser beiden Bedeu-
tungen für sich vollkommen abgeleitet, und die Anknüpfung der
Logik an die Phänomenologie ist so lange unangreifbar, als diese
als bloße Einführung in jene gilt*). Nun aber hatte der Über-
gang von der Phänomenologie zur Logik für Hegel eine viel all-
gemeinere Bedeutung als bloß die, diesen Übergang zu machen;
er nahm ihn als Übergang von dem Standpunkt des absoluten
Wissens in die Ausführung, als grundsätzliche Umsetzung des
Berechtigungsgrundes der Wissenschaft in ihr Dasein. Daher
wurden die beiden Bedeutungen des Selbstbewußtseinsbegriffes
von Hegel in ganz gleicher Weise auf Philosophie - überhaupt,
auf ihr gesamtes System bezogen; das Selbstbewußtsein ward
ebenso Urbild für den Gegenstand der Philosophie, wie es sich
als Urbild für ihre Gewißheit und Wahrheit gezeigt hatte. Wäh-
rend eigentlich nur das Objekt der logischen Disziplin durch die
Identität von Subjekt und Objekt — die Form als Inhalt, Selbst-
bewußtsein! — charakterisiert erscheinen durfte, übte die Logik
im Denken Hegels eine Art von Stellvertretungsamt für alle
Philosophie schlechtweg aus; und das, was Inhalt nur der Logik
sein sollte, wurde zum Inhalt aller Wissenschaft erweitert. Eine
so prävalierende Stellung nahm der Standpunkt des absoluten
Wissens, die Unbedingtheitsqualität des Erkennens, bei Hegel
ein, daß er den Paralogismus begehen konnte, die Allgemeinheit
der Wissensgeltung auf den Wissensgegenstand unmittelbar zu
übertragen. Anders ausgedrückt: Hegel hat Wissensgeltung und
Wissensgegenstand immer dann zu trennen unterlassen, wenn es
*) Man hat in der althegelianischen Zeit das Verhältnis von Phänomeno-
logie und Logik lebhaft erwogen ; aber auch wo man von einem „Doppelprinzipe
von Phänomenologie und Logik" (Schmid, zur Entwicklungsgeschichte der
Hegeischen Logik, 1858) sprach, bemerkte man nicht die Möglichkeit, beide
Prinzipien bruchlos nebeneinander bestehen zu haben, solange nur die ver-
schiedenen Beziehungskreise — dort der der Philosophie, hier der der Logik, —
nicht zusammengeworfen wurden.
Hegel 11
ihm um die Absolutheit und schlechthinnige Unbedingtheit der
Philosophie ging. Daher finden wir bei ihm die beiden Bedeu-
tungen des Selbstbewußtseinsbegriffes, mit denen wir bisher ope-
riert haben, gar nicht vor; wir haben vielmehr diese Dualität
gewaltsam in Hegel hineingetragen, um mit ihrer Schärfe in das
Innere seiner Philosophie einzudringen. Aber zu diesem Gewalt-
akt waren wir berechtigt, weil die Scheidung, wenn sie auch
von Hegel nicht an die Oberfläche gebracht ist, so doch in den
Gründen seiner Philosophie ruht — so sehr, daß sich auf sie
zwei verschiedene Bücher, zwei verschiedene Disziplinen Hegels
aufbauen: Die Phänomenologie und die Logik. Indem wir uns
jetzt dessen bewußt werden, wodurch unsere Interpretation ihre
Rechtfertigung erhält, wird sie uns erst zu Ende gefülirt: Es geht
Hegel der Plan, mit dem er an die Logik herangegangen war,
verloren, der Plan, die Kategorien als die Selbstschöpfungen des
reinen Denkens abzuleiten; jetzt sind sie nur noch „Beispiel"
oder „Vorkommen" des Endgliedes in der phänomenalistischen
Reihe, „Exemplare" des absoluten Wissens. Die Kategorie unter-
scheidet sich dann in nichts von jedem anderen „Vorkommen"
eines absoluten Wissens, d. h. in nichts von sämtlichen anderen
philosophischen Erkenntnissen. Wir sehen: Das philosophische
Erlebnis, das Hegel bei dem Übergang vom Standpunkt des ab-
soluten Wissenssubjekts zum Gegenstand der reinen Kategorie
erfuhr, nämlich das Erlebnis, vom StandpunM zum Ergebnis zu
lammen, wurde ihm zum Eckstein seines Systems: Wenn zuerst
nur gilt, daß das Selbstbewußtsein das reine Denken zur Materie
seiner selber habe, so heißt es nunmehr, daß die Materie des
reinen Denkens immer das reine Denken selber sei! Der Panlo-
gismus ist fertig. In der Umdrehung des Satzes vom Selbst-
bewußtsein liegt der Schlüssel zur Hegeischen Philosophie: Hat
im reinen Selbstbewußtsein das reine Denken sich selbst zur
Materie (deduziertes Objekt der Logik), so ist kraft der Um-
drehung die Materie des reinen Denkens dieses selbst (erschli-
chenes Objekt der Philosophie). Die „Entdeckung" des Objekts
der logischen Wissenschaft wird damit belastet, daß ihr Prinzip
zum Prinzip des Objekts der gesamten Philosophie gemacht wird.
Aber das Objekt der Philosophie überhaupt hat es gar nicht
12 Objekt der Logik
ZU entdecken gegolten! Wie stabil hat es in der ganzen Geschichte
der Philosophie fest dagestanden! Und nun wird es erdrückt,
umgestoßen von dem neu erkannten Objekt einer wissenschaft-
lichen Logik. Aber auch dieses wird dabei verdrängt oder mit
fremdesten Elementen durchsetzt: Denn nicht nur dehnen sich
die reinen Denkformen sofort über alle Gegenstände eines Er-
kennens aus, sondern ebenso wird ihre geschlossene Phalanx
von diesen, den außerlogischen Gegenständen, durchbrochen. Da-
her sind in der Logik Hegels Naturphilosophie, Philosophie des
Lebens, der Kunst und der Sittlichkeit, religionsphilosophische
und philosophiehistorische Gegenstände, endlich auch — rein
logische Begriffe; neben inhaltsbelasteten Begriffen stehen
ganz formale Kategorien; etwa neben Repulsion und Attraktion
das „Etwas" oder das „Andere". Jedoch gerade erst damit, daß
die Gegenstände der gesamten Philosophie in der Tat regellos
in die Logik einströmen, erhält diese ihren im Sinne Hegels ab-
soluten Wert.
Und so widerspricht überhaupt die Grenzaufhebung zwischen
Logik und Philosophie keineswegs den Intentionen Hegels; es
ist deshalb gar nicht erlaubt, sie zu seiner immanenten Kritik zu
benutzen. Denn er will ja das Verhältnis von Logik und Gesamt-
philosophie so gestaltet haben, daß jene bereits das Reich der
Wahrheit an sich ist, und sagt von dem Inhalt der Logik: „Man
kann sich deswegen so ausdrücken, daß dieser Inhalt die Dar-
stellung Gottes ist, ivie er in seinem eivigen Wesen vor der Er-
schaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist"' (12), So
stimmt der Gegenstand der Logik zwar nicht mit der Natur und
dem endlichen Geiste überein, wohl aber mit dem göttlichen Wesen
selber. Diese beiden, Gott und Gegenstand der Logik, haben einen
gemeinsamen Gegner: die Natur und den endlichen Geist; daher
sind sie untereinander ununterscheidbar, und der Inhalt der
Logik kann dann geradeheraus eine „Darstellung Gottes" (s. o.)
genannt werden. So ist das Objekt der Logik (das wir zu ver-
stehen suchen) im System Hegels alles eher als mit dem Ab-
schluß der Logik beendet, sondern kehrt wieder in der Totalität
des Gegenstandes der Philosophie, im absoluten Geist; ist dann
daher auch auf den verschiedenen Stationen des absoluten Geistes
Hegel 13
(Kunst, Religion, Philosophie) immer derselbe Gegenstand — wie
eindringlich spricht Hegel dies aus! — und nur auf Grund
der Art und Weise, wie es im Subjekt erscheint, zu jenen drei
verschiedenen Sphären aufgespalten (Hegels Identifikation von
Religion und Philosophie findet allein hierin ihre Erklärung und
immanente Rechtfertigung). Wenn so der logische Gegenstand
resp. sein Urbild, das Selbstbewußtsein, sowohl den Inhalt der
Logik als auch den der Philosophie des absoluten Geistes erfüllt,
so verhalten sich die übrigen Gegenstände (Natur und endlicher
Geist) nur als Verbindungsstücke des innerlogischen und des
absoluten Logos; auch sie bestimmen sich inhaltlich nach dem
Inhalt des logischen Gegenstandes — sei es in rein negativer
Beziehung wie beim Naturobjekt, sei es in einer Mischung des
Negativen mit dem Positiven wie beim endlichen Geiste, Auch
ihre Washeiten sind: Selbstbewußtsein; und die Gleichsetzung
des Was der Logik mit allem Was kann durch das ganze System
hindurch festgehalten werden. Aber soll nicht andererseits die
Logik ihr Recht, eine Disziplin der Philosophie zu sein, allein
darauf gründen, daß sie die Formen des Selbstbewußtseins ent-
wickelt, um dadurch das Was, das im Selbstbewußtsein liegen soll,
vollständig zu bestimmen? So scheint das Objekt der Ivogik
doppelt bestimmt werden zu sollen, einmal aus der Idee der
Logik selber, dann aus der Idee des Systems; verschmolzen sind
beide Bestimmungen nur in der Bezeichnung der Logik als des
Geistes an sich. Sehen wir daher zu, wieweit dieser Begriff
die Schwierigkeiten zu entfernen vermag: Hegels Meinung ist
die, daß in Wahrheit das, was der Geist „letzthin", d. h. an und
für sich ist, er auch schon an sich sei; „indem das Ansich in die
Existenz tritt, geht es zwar in die Veränderung über, bleibt aber
zugleich Eins und Dasselbe; denn es regiert den ganzen Verlauf"*)
(S. W.-, XIII, 34); das Neue, das durch den Weg von der Logik
zum Absoluten Geist hinzukommen soll, ist nur die Einsicht, daß
in Wahrheit gar nichts Neues hinzukommen kann, daß das Objekt
der Logik „eigentlich" schon Alles ist und die übrigen Disziplinen
*) Diese Auffassung des philo60j)liischcii Entwicklungsbegriffes klingt ener-
gisch nach in der Auffassung des historischen Entwicklungsbegriflfes in der
Hegeischen Schule (cf. besonders C. F. Baur).
14 Objekt der Logik
nur nötig sind, um die Isolierung des logischen Gegenstandes,
dies daß er als ein Einzelnes erscheine, ausdrücklich aufzuheben.
Alles ist Geist; und was nicht schon an sich Geist ist, dem fehlt
nur das Wissen darüber, daß es im Grunde genommen auch Geist
ist; der Unterschied ist nur ein Unterschied im Sich Wissen;
andere Unterschiede gibt es nicht; das was für das Objekt der
Logik aus deren innerstem Wesen abgeleitet ist, das Selbst-
bewußtsein als Inhalt, das hat die Philosophie denjenigen Gegen-
standsarten, die es nicht von sich aus besitzen, gleichsam auf-
zuzwingen. Für alles und jedes ist das Selbstbewußtsein Prinzip;
und wird dem Selbstbewußtsein zuerst seine Bedeutung in der
Logik gegeben, so wird sein Geltungsumfang dann außerhalb
der Logik ins Unbegrenzte, nur durch sein Unbegrenztsein Be-
grenzte erweitert. Die Disziplinen, welche auf die Logik
folgen, können so gar nicht anders, als den Inhalt der logischen
Disziplin unter anderen Namen zu wiederholen (wie es denn auch
in der Tat uns scheinen möchte, als ob wir die Hegeische Phi-
losophie aus einer einzelnen ihrer Disziplinen vollkommen kennen
lernen könnten*). Aber wenn alles nur das Selbstbewußtsein zu
seinem Inhalt hat, — das Ganze als Ganzes das vollkommene
Sich Wissen, das Einzelne als Einzelnes einen Modus des Sich
Wissens, das Ganze als Ganzes der Einzelnen das Werden des
vollkommenen Sich Wissens in den unvollkommenen Arten der
einzelnen Sich Wissen-schaften, — so stellen dann nicht nur
Natui' und endlicher Geist nicht das vollkommene Selbstbewußt-
sein dar, sondern auch die Logik selber kann — als Einzelnes —
es nicht besitzen; sie hat es zwar, hat es aber noch nicht wissend.
Da kann sich das, was das Grundprinzip der Logik sein soll, gar
nicht aufrechterhalten; indem die Logik noch nicht absoluter
*) Dieser Einwurf ist nicht neu; siehe Feuerbach: „Alles zweimal in der
Hegeischen Philosophie: als Objekt der Logik, und dann wieder als Objekt der
Katur- und Geistesphilosophie" (S.W., hrgg. v. Jodl, II, 225); andere haben
ähnliches ausgesprochen; siehe von den neueren Croce, Lebendiges und Totes
in der Hegeischen Philosophie, übers. 1909, 155. Neu ist in der obigen Dar-
stellung nur die immanente Deduktion des Selbstwiderspruches; die althegelia-
nische Kritik ist dagegen, wenn sie Gutes liefert, intuitiv-aperguhaft; Croce end-
lieh befolgt eine deskriptive Methode des Kritisierens, durch die er gewaltsam
zwischen Eewoßtlosig-keit und Bewußtsein hin- und her^-eworfen ^^•ird.
Hegel 15
Geist ist, indem diese beiden nur deshalb nicht Eins sind, weil
erst der absolute Geist die absolute Selbsterkenntnis besitzt, so
entgleitet die Logik von dem Boden, auf dem sie errichtet ist.
Und das ist nun allerdings ein Widerspruch, der immanent-hegelsch
entsteht, immanent-hegelsch aber nicht beseitigt werden kann
und so die Aufhebung der Hegeischen Philosophie zu einer seiner
Zeit historischen Notwendigkeit gemacht hat. Wir fassen den
Gedankengang unserer Kritik in diesem Punkte zusammen: Das
Selbstheivustsein ist icmn das Ohjeld der Logik noch nicht das Game
sein soll, gar nicht Prinzip der Logik; soll es dagegen Prinzip der
Logik sein, so ist das Objekt der Logik bereits das Ganze. Ent-
weder ist die Logik prinziplos, oder die Philosophie hat keinen
Inhalt außer der Logik. (So aber verlieren wir überhaupt die
Klarheit darüber, was bei Hegel das Objekt der logischen Wissen-
schaft war; ob Gott, ob das Erkennen; und wenn beides, so fragen
wir, wie das, was wir gerne als Wesen des Erkennens anerkennen,
auch einfach als Wesen Gottes behauptend hingestellt werden
konnte; und wir sehen uns bez. Hegel vor die unglückliche Wahl
gestellt, entweder die logische Selbstbesinnung oder jeden außer-
logischen Inhalt seiner Philosophie fallen zu lassen; insofern aber
letzteres hieße: das System selber zu opfern, so haben die zeit-
genössischen Anhänger Hegels es nicht opfern können, sondern
die logische Selbstbesinnung fahren lassen; und die Philosophie
mußte wieder dogmatisch werden; auch ist ja in der Tat die lo-
gische Selbstbesinnung, d. i. Hegels überdogmatisches Prinzip,
nicht in seinem System erwachsen, sondern von ihm aus der
Phänornenologie des Geistes übernommen worden; die (dialek-
tische) Methode des Selbstbewußtseins ist deshalb vom Stand-
punkt des Systems aus, dessen von dieser Methode selbst er-
zwungene Strenge die Phänomenologie nicht als einen Teil der
Philosophie Hegels anerkennt, eine bloße Tatsache, ein unbe-
griffenes Dogma, das darauf pocht, daß es sich als real wirksam
erwiesen habe)*).
*) Auch dies ist schon von der althegelianischen Kritik vereinzelt aus-
gesprochen worden (vgl. K. Ph. Fischer, Spezielle Charakteristik und Kritik des
Hegeischen Systems, 1845, 590); aber es bleiben diese Einsichten wesentlich in
dem Stadium von Zwischenbemerkungen.
16 Objekt der Logik
II
In der Philosophie Hegels war die innerlogische Bedeutung,
die das Objekt der Logik an sich hatte, durch die absolute, die
es für den Bestand des Ganzen besaß, mehr und mehr erdrückt
worden; so ging die innerlogische Selbstbesinnung auf die erste
Generation der Antihegelinge gar nicht mehr über; die „Ent-
deckung" des Objekts der Logik ward verloren, d. h. ward
weder verteidigt noch bekämpft; die Philosophie kehrte zum be-
sinnungslosen Dogmatismus zurück. An logischer Wissenschaft
konnte es dann nur entweder formale Logik in vorkantischer
Art (Herbart) oder logikfreie Metaphysik geben (der alte Schel-
ling, Feuerbach, Comte und Schopenhauer); wir haben an diesem
Orte genug getan, wenn wir dies konstatieren und sodann um-
gehend zu der zweiten antihegelschen Generation — dem Neu-
kantianismus im weiteren Sinne des Wortes — übergehen. Dieser
macht, gemeinsam mit dem schnellsten Feind der Spekulation,
dem Positivismus, Front gegen die rein metaphysische Epoche,
die nach Hegel eingetreten war, und kommt wieder auf die me-
thodische Bedeutung der logischen Frage zurück, mit der Ab-
sicht, sich mit ihr in der Mitte zwischen Metaphysik und Em-
pirismus erhalten zu können; der Wille ging überhaupt auf eine
Renaissance der Logik; aber kraft der Bekämpfung der nach-
hegelschen Metaphysik machte man sich die Rückkehr zu Hegel
selber unmöglich; fand man doch zumal auch bei ihm Meta-
physik gerade in der Logik: die Bedeutung des Logos selbst; und
dem Kantianer schmolzen, wenn nicht sofort, so doch bald, Hegel
und nachhegelsche Spekulation zu einem einzigen Gegner zu-
sammen, dem Gegner Metaphysik. Als deren einzig würdiger
Gegensatz galt die Philosophie Kants: die Vernunftkritik wieder
als Erlösung von Metaphysik und Empirismus! Wie verschie-
denen Grundmotiven aber konnte der kritische Gedanke Nahrung
geben! Im Altkantianismus hatte dem Skeptizismus im Logischen,
der Metaphysik im Absoluten begegnet werden sollen; jetzt ging
es gegen die Metaphysik im Logischen, den Skeptizismus im Ab-
soluten; damals waren Hume und Leibniz die Gegner gewesen,
jetzt Hegel und der Positivismus. Und mögen die Anregungen,
Neukantianismus
welche die neue Richtung aus Kant zog, noch so zahlreich ge-
wesen sein, so wird doch nichts daran geändert, daß wir es hier
mit einer eigenen und neuen Philosophie zu tun haben, welche
daher auch ihr angebliches Vorbild mit nur höchst teilweisera
Interesse und nur in sog. Grundwahrheiten rezipiert hat; es ist
daher auch nicht zutreffend, ihr aus diesem Abziehen Kants auf
Grundwahrheiten einen Vorwurf zu machen, wie ich es früher
getan habe (Kritik der Psychologie, 1910, 6); sondern eine Kritik
verdient nur das un- und antigeschichtliche Verfahren der meisten
neueren Kantianer, ihre eigenen Gedanken für wirkliche Kant-
interpretationen auszugeben. Die Eigenart des modernen Kan-
tianismus besteht dann darin, daß er verlangt: nur derart
dürfe dem Positivismus ein ÜberempiriscJies kraß logischer Selhst-
hrsinnung entgegengehalten rverden, daß dadurch nicht ein Absolutes
beschworen werde. Das ist das unausgesprochene oder ausge-
sprochene Prinzip der modernen Kantschule; zugleich die letzte
Frucht der Hegeischen Philosophie, ihrer Verquickung von Ob-
jekt der Logik und absolutem Gegenstand. Denn die Hegelfeind-
schaft machte den Kantianer blind gegen die anderen Möglich-
keiten einer Verbindung der Logik mit Gott und dem absoluten
Geiste. Eben daher konnte sich die Selbstbesinnung des Kanti-
aners nicht auf sich selbst, auf die philosophierende Vernunft, das
absolute Wissen beziehen; was Späteren unverständlich erscheinen
muß: transzendentale Selbstbesinnung ohne Besinnung auf eben
die transzendentale Besinnung, erfährt so seine vollkommene hi-
storische Rechtfertigung; der Kantianer konnte den kritizistischen
Gedanken nicht auf das philosophische Wissen selber ausdehnen;
denn er wäre damit wieder einem Absoluten in die Hände gefallen.
Die „Entdeckung" Hegels ging daher eigentlich erst eben in
diesem Augenblick, in dem sie zugleich erneuert und nicht er-
neuert wurde, wahrhaft verloren. Die logische Selbstbesinnung
wurde daher — und hier war der Anschluß an Kant in der
Tat wirksam — auf die Erfahrung und ihr Objekt, die Sinnen-
welt, gerichtet; später zwar befreite man sich von Kant
und schuf neben dem ersten Objekt der Erkenntnistheorie, der
Logik der Naturwissenschaft, eine Logik der Geschichte, der
inneren Erfahrung, der Kunst, Religion usw.; aber wie sehr man
Ebrenbcrg', Die I'iirtüiung- der rhilosophio 2
18 Objekt der Logik
sich auch von der Enge des Vorbildes zu befreien verstand, darin
blieb man in seinem Bann, daß die transzendentale Selbstbesin-
nung nie auf sich selber gewandt wurde; und dies soll uns als
das Kriterium gelten, um die Grenzen der Kantschule ziehen zu
können.
Die Geschichte des neueren Kantianismus wird sich uns
hieraus entwickeln: Denn die transzendentallogische Selbstbesin-
nung, die nicht auf die Philosophie selber geht, muß doch kraft
dessen, daß sie logische Selbstbesinnung ist, auf ein Wissen ge-
richtet sein; d. h. sie muß immer in einer Erkenntnistheorie als
leitendes Prinzip auftreten. So fordert sie alle die, welche wissen,
zur Selbstbesinnung auf, ausgenommen den Philosophen; d. h. die
Träger der empirischen Wissenschaften. Die Erkenntnistheorie des
Kantianismus ist daher Theorie der Erfahrungs- Wissenschaften,
deren System zum Ferment des erkenntnistheoretischen Systems
selber werden muß. Das Objekt der Kantianischen Logik deckt
sich daher in irgendeiner Weise mit dem System des Erfahrungs-
wissens, und nur der Erfahrung verleihen die apriorischen Kate-
gorien Notwendigkeit. So kommt die Logik des an ti positivi-
stischen Kantianismus doch in die Nähe des Positivismus, der ja
der erste Verteidiger des Inbegriffs der empirischen Wissen-
schaften gewesen ist. Von den beiden Motiven, aus denen der
Kantianismus geschaffen wurde, — dem antihegelschen (Bekämp-
fung der Metaphysik im Logischen) und dem antipositivistischen
(Bekämpfung des Skeptizismus im Absoluten) war das anti-
hegelsche * in den ersten Zeiten der Kantschule das führende
(obwohl das andere nicht minder vorhanden war). Hermann
Cohen, dem der Kantianismus verdankt, eine eigene Philosophie
geworden und über den bloßen Notschrei: Zurück zu Kant! hin-
weggekommen zu sein, setzte die Erkenntnistheorie in diese inter-
essante Nähe zum Positivismus, indem er die Tatsächlichkeit
der empirischen Wissenschaft zum obersten Prinzip seiner Er-
kenntnistheorie machte. Wenn er die ynoMoeig der Erfahrungs-
wissenschaft zu ergründen sucht, so ist für die gewonnenen vjio-
iJeoeig der Erfahrung wieder die Tatsächlichkeit dieser Erfahrung
selbst v:i6deoig. Daher haben bei Cohen die Kategorien (das
sind die vTio^eoeig der Wissenschaften) an sich selber keine
Neukantianismus: Cohen 19
gegenständliche Stellung noch von sich aus nach außen eine
gegenstandsbildende Kraft, sondern bringen nur die formalen
Grundkategorien des Erfahrungswissens, wie Ding, Kausalität und
Gesetzlichkeit, zum Bewußtsein. Wenn so die Erkenntnistheorie
Cohens nicht die Wirklichkeit, sondern die Wissenschaft begründet,
so ist sie speziell berufen gewesen, den Gegenständlichkeits-
begriff einsichtig herauszuarbeiten; denn die Verwechslung von
Gegenständlichkeit und Gegenständen war ihr von ihr selbst ge-
radezu unmöglich gemacht, als sie die erkenntnistheoretische
Fragestellung auf das Wissensproblem beschränkte. Der Neu-
kantianismus sichert sich so dagegen, daß ihm das Ding an sich
irgendwo wieder in seine Philosophie hineinschlüpfen könne; und
desgleichen hat er sich gegen eine absolutierende Deutung der
Kategorien gewappnet: die Bedingungen der exakten Naturwissen-
schaft sind schlechthin nicht metaphysizierbar. Darin besteht
nun der eigentümliche Wert der Cohenschen Philosophie, daß sie die
beiden Motive des Kantianismus ungetrübt darstellt. Aus solcher
Selbstversicherung der Erkenntnistheorie gegen Metaphysik und
Empirismus folgen dann die verschiedenen Besonderheiten, schein-
bar Sonderlichkeiten der Richtung Cohens: zunächst ihre ent-
schiedene Abneigung, die transzendentale Methode auf solche
Gegenstände anzuwenden, die nicht so ausschließlich wie die
mathematische Naturwissenschaft reine Wissensgegenstände sind
und bei denen ihr daher jene ynö^eoig für ihre vjzo^eoetg fehlen
muß; daher überhaupt das Übergewicht, das Mathematik in ihren
Deduktionen besitzt; denn der Gegenstand der Mathematik hat
nicht einmal als Ferment unbedingte Seinsbedeutung und dient
deshalb Cohen als Urbild einer transzendentalen Begründbarkeit;
schließlich ist zu diesen Zusammenhängen des erkenntnistheo-
retischen Kantianismus mit der mathematischen Naturwissen-
schaft auch das Motiv zu Cohens folgenreicher Unterscheidung
der transzendentalen von der metaphysischen Apriorität zu
rechnen: vor Cohen hatte man das Apriori als eine psychologische
Realität angesehen (Angeborenheit), ihm daher eine die Erschei-
nungswelt organisierende, also metaphysische Kraft zugesprochen;
indem Cohen die Naturwissenschaft, mit welcher nicht Sein hin-
gestellt ist und die auch ihrem eigenen Sein nach als gegeben
20 Objekt der Logik
gedacht wird, zum Wirkungsfeld des Aprioris bestimmte, konnte
dieses nur zu denkende Bedingung der naturwissenschaftlichen
Erkenntnisse sein: Bedingung für die Möglichkeit der Er-
fahrung oder transzendentales Apriori; dadurch also beseitigte
Cohen das psychologische Apriori, welches für die auf die Natur-
wissenschaft eingestellte Erkenntnistheorie nicht einmal dann ver-
wendbar gewesen wäre, wenn Cohen — sit venia verbi — die
Absicht gehabt hätte, es zu erhalten: Die z. T. scheinbar so will-
kürlichen Ansichten Cohens erweisen so durchaus ihren inneren
Zusammenhalt, und ihre schroffe Einseitigkeit liegt nicht in einer
individuellen Bizarrerie, sondern in der allgemeinen Auffassung,
die der Kantianismus vom Objekt der Logik hat, seiner Selbst-
besinnung des Erkennens ohne Selbstbesinnung des Philoso-
phierens.
Aber „eine Behauptung über das Verhältnis des Bewußtseins
zum Sein [ist] immer auch zugleich eine Behauptung über das
Sein selbst" {Windelhand, Logik in Die Philosophie im Beginne
des 20. Jhts., I, 183 f.). Die reine Immanenzphilosophie, die neben
Cohen noch andere Vertreter, welche sich noch enger als er an
den Positivismus anschlössen, besessen hat, erweist sich als eine
Illusion; das Wissensproblem ist nicht isolierbar, schlägt immer
wieder in das Seinsproblem um. So gibt die Philosophie des
Kantianismus die Chimäre einer reinen Erkenntnistheorie auf und
gewinnt wieder den Anschluß an die Geschichte der philoso-
phischen Wissenschaft, ohne sie, wie Cohen es getan hatte, zu
vergewaltigen. Dieser Bund zwischen modernem Kantianismus
und Geschichte der Philosophie wurde in und von Windelband ge-
schlossen. Ihm ist es gleichgültig, ob man die Erkenntnistheorie
auch Metaphysik nenne (ib.), und die begründende vTio^eoig der
V/issenstatsächlichkeit wird als Positivismus abgestoßen. So gibt
der Kantianismus bei Windelband nicht nur die einseitige Be-
schränkung der Erkenntnistheorie auf die Logik der mathema-
tischen Naturwissenschaft auf, sondern auch die Beschränkung
der Transzendental-Philosophie auf Erkenntnistheorie. Die trans-
zendentale Selbstbesinnung expandiert nach den verschiedensten
Sphären einer irgendwie gearteten mannigfaltigen Inhaltlichkeit
und strebt, die ewigen Voraussetzungen der einzelnen Mannig-
Neukantianismus: Windelband 21
faltigkeitssphären festzustellen. Das ist der allgemeine Äprio-
rismus, dessen Inhalt aus dem Inbegriff der verschiedenen Apri-
oris, der Werte, besteht, die durch Analyse der Gegenstandsgebiete
ins Bewußtsein gehoben werden. Die einzelnen Werte stellen
so letzte Wesenheiten dar, und in der Aufgabe, sich auf das
System der Werte zu besinnen, erhält die Philosophie, zum ersten-
mal nach der zerstörten Spekulation, eine umfassende und das
§avfidCeiv erregende Bestimmung. Der theoretische Wert um-
schreibt dann das Objekt der logischen Disziplin, welche somit
nicht mehr das Zentrum der Transzendental-Philosophie bilden
soll, sondern sich mit einem Kapitel derselben zu begnügen hat.
Obwohl so das Objekt der Logik eingeschränkt scheint, wachsen
ihm in sich selbst bedeutende Inhalte zu: Da es nicht mehr nur
die Begründung der Erkenntnis, sondern die jeder seienden Gegen-
ständlichkeit, insofern sie sich in einem Bewußtsein spiegelt, zu
leisten hat, gehören zu ihm ebenso die nichtv/issenschaftliche
Erkenntnis wie die wissenschaftliche, ebenso die innere Erfahrung
wie die äußere, ebenso die Geistes- wie die Naturwissenschaften.
Da gibt es nun Aprioris, die in ihrer Anwendung auf ihrem em-
pirischen Stoff sich nicht so klar abgesondert von demselben
niederlassen wie das mathematische Naturgesetz neben dem Natur-
geschehen, sondern unmittelbar in die Tatsachen selber hinein-
schlüpfen: das psychische Erleben, das historisch führende Fak-
tum. Gewinnt so die Apriorität einerseits die in den eigenen
Reihen der Kantianer mit Recht viel gerühmte Ausdehnung auf
das Individuelle, so kann sie andererseits die streng abgeschiedene
Nur-Begrifflichkeit (Transzendentalität) nicht wahren, sondern
nähert sich mehr und mehr wieder einer transzendenten Sphäre.
Die Absolutheit der Werte ist deshalb Windelband immer bedeut-
samer gewesen als der Streit um die metaphysische oder nicht-
metaphysische Struktur des Aprioris. Gleichwohl hält er sich
die frühere Metaphysik fern, da die absolute Sphäre, welche er
anerkennt, nicht eine Seins-, sondern eine Geltungssphäre ist.
Und in diesem von Lotzc übernommenen Kriterium für die ab-
solute Gegenständlichkeit zeigt sich nun von neuem das kaji-
tianische Wesen: Obwohl mit dem Begriff des Systems der
Werte das antipositivistische Motiv das antihegelsche überflügelt
22 Objekt der Logik
hat, SO sind doch die statuierten Absolutheiten in strenger Ab-
sonderung vom Seienden angesehen, und in keiner Weise werden
ihnen die Mannigfaltigkeiten ihrer Sphären an ihnen selber zu-
gesprochen. Nicht die Mannigfaltigkeiten selber, sondern nur
ihre absoluten Möglichkeitsvoraussetzungen sind Gegenstand des
Systems der Werte; der antihegelsche Zug bleibt bestehen, die
Methode der Wert-Deduktionen ist die Methode der transzenden-
talen Selbstbesinnung. So jedoch ist kein Unterschied mehr
zwischen der speziell erkenntnistheoretischen Fragestellung und
etwa der Grundfrage der Ästhetik. Und es gibt in dem System
der Werte als dem System der Voraussetzungen der Gegenstands-
mannigfaltigkeiten (die ihrerseits nur empirisch erfaßt werden
sollen) ein Gemeinsames zwischen den Objekten der transzenden-
talen Deduktionen, ein Band der Einheit, das erst die gleich-
mäßige Anwendung der Selbstbesinnungsmethode ermöglicht.
Das ist die Einheit der Werte als Kultur. Die Besinnung auf
die Werte ist dann die Besinnung auf die den verschiedenen
Kultursphären zugrunde liegenden ewigen Wesenheiten, „die Be-
sinnung auf die Kulturwerte . . ., deren Allgemeingültigkeit der
Gegenstand der Philosophie selbst ist" (Schlußworte aus Win-
delbands Geschichte der Philosophie). Und so erkennen wir,
was denn das Selbst ist, das sich hier auf sich selbst besinnt:
die Knlturmenschheit. Die absoluten Werte sind mithin nicht
das Letzte in der Philosophie Windelbands, sondern setzen ihrer-
seits die Tatsächlichkeit der Kultureinheit (das Kulturbewußt-
sein), innerhalb welcher sie erst zu einem „System" von Werten
werden, voraus. Gerade als wissenschaftliche Philosophie, als
welche die Kulturphilosophie mit dem transzendentalen Idea-
lismus zusammenfällt, wird Philosophie „auf das Verständ-
nis der geschichtlich vorgefundeneyi oder gegebenen Kultur" be-
schränkt (Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus,
Logos I, 2, 186 f.). An die Stelle des naturphilosophischen Dog-
mas Cohens tritt das allerdings unvergleichlich universellere
kulturphilosophische Dogma Windelbands, dem aber mit dem
Dogma Cohens gemein ist, daß es für die letzten Formen eine
Tatsache als Voraussetzung nimmt, wodurch dann die Formen
nicht über Bedingungen einer Tatsache hinauswachsen kön-
Neukantianismus: Windelband 23
nen*); obwohl also Windelbands Standpunkt nicht metaphysikfeind-
lich ist und das System der Werte als Resultat der philosophie-
historischen Gesamtentwicklung auffaßt, ist dasselbe doch konse-
quenter Kantianismus, da ebensowenig wie die Tatsache der Na-
turwissenschaft die der Kultur die Aprioritäten sich als selbstän-
dige Wesen statuieren läßt; dieselben unterstehen der Bedin-
gung einer rein tatsächlichen Wirklichkeit; und die ganz gleich-
mäßige Auflösung der „philosophischen Fragen in Geltungs-
probleme" führt zwar zu Aprioritäten, aber nur zu solchen, welche
bei aller begründenden Bedeutung als Faktoren nur des Kultur-
bewußtseins, seiner allgemeingültigen Inhalte (nicht der Welt
oder Gottes), daher als ganz spezifisch wissenshegründende Be-
griffe wirken; daher erscheint Windelband Kulturphilosophie
als Leistung des Kritizismus (a. a. 0. 193), indem Transzendental-
und Kulturphilosophie beide Ausflüsse des synthetischen Bewußt-
seinsvermögens und so eigentlich Tautologien desselben Wesens
sind (a. a. 0. 191). Windelbands Begriff der konstitutiven Ka-
tegorie ist daher in allen Deduktionen von Werten der grund-
legende Begriff; und es zeigt sich, daß die Idee des Wertesystems
auf die innere Vorherrschaft der bew^ußtseinslegitimierenden Not-
wendigkeit, des erkenntnistheoretischen Kategoriebegriffes auf-
gebaut ist; denn die „Vernunfttätigkeit . ., die als Wissenschaft
eine Neuschöpfung der Welt aus dem Gesetz des Intellekts be-
deutet, ist von genau derselben Struktur, wie alles praktische
und ästhetische Verhalten des Kulturmenschen" (a. a. 0. 192).
Das System der Philosophie untersteht infolge seiner kulturphilo-
sophischen Auffassung, welche scheinbar den Zusammenschluß
der Werte in einem Absoluten bewirkt, jedoch ihre Vereinigung
in einem wirklichen Absoluten gerade durch diesen Zusammen-
schluß als überflüssig erscheinen läßt, dem Primat des Bewußt-
seinsaprioris, d. h. der logischen Disziplin, durch den die ge-
schlossene Reihe der nebeneinanderstehenden Einzelwerte durch-
*) Dllher kommt Cohen, sobald er zu einer mehrgliedrig-en Philosophie
übergeht, zu ähnlichen Begriffen, wie sie AVindelband zu Grunde legt; in der
Einleitung zur „Logik der reinen Erkenntnis-' scheint er sich fast an diesen
anzuschließen.
24 Objekt der Logik
brochen und ihre gleichmäßige Aufhebung in der Kultureinheit
unmöglich wird.
Und dann muß an die Stelle des Systems der Werte, obwohl
dasselbe von sich aus die Vorherrschaft der theoretischen Sphäre
bekämpft, doch wieder eine einseitig erkenntnistheoretisch orien-
tierte Richtung treten; sie muß aus jenem selber hervorwachsen,
indem die Behandlung des logischen Wertes die der anderen Werte
an Wichtigkeit grundsätzlich übertrifft. Das Objekt der Logik,
die Kategorie, besitzt dann aber einen zweifachen Ort des Vor-
kommens: einerseits wie seither den des theoretischen Wertes,
andererseits den des Wertes- überhaupt. Die eigentlich nur lo-
gische Relation von Bewußtseinsinhalt und Bewußtseinsgegen-
stand ist zugleich die „Idee" aller Aprioritäten ; und die Er-
kenntnistheorie gibt daher in den vermeintlich nur erkennt-
nistheoretischen Deduktionen die Grundlagen für die gesamte
Philosophie. Die Kategorie ist daher ganz allgemein gegen-
standsbestimmende Begriffheit; die erkenntnistheoretische Frage-
stellung darf an keinem Werte vorbeigehen, bildet daher die im
Kreise Bickerts entstandenen „Logiken" der Kunst-, Religions-
und Kultursphären. Für alle Werte verleiht die Kategorie den
Allgemeingültigkeitscharakter und wird so — Hegel redivivus!
— als der Begriff der Fhiloso'phiegegenstände verstanden. Daher
erledigt die allgemeine Wertlehre, da sie in der Kategorie ihren
Grundbegriff hat, zugleich diejenige Disziplin, welcher der Ka-
tegoriebegriff zugehört, die Erkenntnislehre. Und indem da-
durch der Abstieg vom Wert -überhaupt zum theoretischen Wert
zugebaut ist, fehlt dem einseitig logisch erfaßten Wertbegriff
die Fähigkeit, sich in ein System von Werten zu zergliedern; und
so wenig der Abstieg zum theoretischen Wert freiliegt, so wenig
öffnet er sich zu den anderen Einzelwerten; die allgemeine Er-
kenntnislehre als allgemeine Wertlehre bleibt allein (Bickerts
„Gegenstand der Erkenntnis"). Die allgemeine Wertlehre hat
so das zum Inhalt, was schon im Kategoriebegriff enthalten ist,
d. i. die Scheidung von Urteilsgeltung und Urteilstatbestand seil.
Wertgeltungen und Werttatbeständen, und findet dann wesentlich
das Gegenstandsall in die Welt des Geltens und die der (psycho-
physischen) Tatsachen getrennt.
Neukautiani8mus:»Rickert 25
Das ist jetzt das Objekt der Logik. Der Formalismus, der
aus dem Wesen der transzendentalen Selbstbesinnung stammte
und im Kategoriebegriff niedergelegt war, wird so in den Be-
griffen des Wertes - und des Seins - überhaupt konzentriert;
die eigentlich konstitutive Schicht des rein Apriorischen, welches
von der allgemeinsten Wertlehre bereits umfaßt sein soll, wird
daraufhin mehr und mehr zusammengepreßt, und immer mehr
Teile derselben werden in die methodologischen Adnexe abge-
stoßen; z.B. das Natui'gesetz, dem Windelband unbedenklich kon-
stitutive Kategorialität beigemessen hat; wenn jetzt aber Rickert
die Gesetzeskategorie in das methodologische Gebiet abschiebt, so
drückt sich darin aus, daß eigentlich nicht mehr die einzelnen
Werte, sondern nur die Werthaftigkeit - überhaupt Gegenstand
der transzendentalen Selbstbesinnung ist. Bezeichnenderweise
sucht Rickert diese Auffassung auch in Kant hineinzudeuten,
s. Zschokke, Kantstudien, XII, 1907, 157 ff.*). Eine solche Kraft
besitzt hier das Erkenntnisproblem, daß es die Spezialsphäre des
theoretischen Wertes, welcher es zunächst angehört, zur be-
herrschenden Sphäre aller Werte erhöht. Am ausgesprochensten
ist diese Wiederholung der Hegelianischen Identifikation von lo-
gischem und allgemein philosophischem Gegenstand in Rickert,
Zwei Wege der Erkenntnistheorie (Kantstudien, 1909, 169 ff.)
ausgesprochen: „Die Formen der wirklichen Erkenntnis haben
den Formen des transzendenten Sinnes zu entsprechen. Jene
theoretischen Werte also, die unbedingt gelten, sind der trans-
zendentale Gegenstand" (209), so daß für das Objekt der Logik
an die Stelle der theoretischen Werte ihre Realisationen, die
wii'klichen Erkenntnisse, treten und „nur auf den (janzen Sinn
in seiner Einheit ... die Untersuchung der Erkenntnistheorie
zunächst gerichtet sein" (200) soll. Dann sind zwar alle erkennt-
nis„kritischen" Grenzsetzungen abgelehnt, aber auf Kosten da-
von, daß die Kategorie, das Objekt der Erkenntnistheorie, dem
♦_) Vgl. besonders „Gegenstand der Erkeuntuis" 2, 1904, 216 Anni.; beieila
ganz entinhaltlicht ist die konstitutive Kategorie später l)ei J. Cohn, Voraus-
setzungen und Ziele des Erkennens, 1908; s. 420 f.: Es gibt nicht zwei Arten
von Kategorien, sondern eine konstitutive Bedeutung für die Wirklichkeit und
eine methodologische für die Wissenschaften.
26 Objekt der Logik
theoretischen Wert als realisiertem — d. h. wie er als das Ganze
des Sinnes da ist — gleichgesetzt und das logische Apriori wirk-
lich das Apriori jedes Gegenstandes ist.
Aber in der Absicht bleiben die einzelnen Sphären neben der
allgemeinen Wertsphäre stehen, und so muß die Logik in der Tat
sich an zwei Orten zeigen: ihr Objekt umfaßt einmal die all-
gemeine „Grundlegung" über Wert und Sein, Sinn und Sinnfremd-
heit u. dergl., hat dann aber auch die Theorie des Seinserkennens
darzustellen. Die beiden Grundmotive, die den Kantianismus ins
Leben gerufen haben, lassen sich auf diese beiden Objekte der
Logik verteilen: dort — in der allgemeinen Wertwissenschaft —
herrscht der antihegelsche Zug des Formalismus, hier — in der
Erfahrungstheorie — der antipositivistische Zug des Apriorismus;
nach beendeter Entfaltung des Kantianismus haben sich seine
beiden Grundmotive so wenig verschmolzen, daß sie die Logik,
deren Objekt zerreißen und zwei Logiken, zwei Kategoriensysteme
nebeneinanderstellen: Die Logik der Geltungsbegriffe und die der
Seinserkennensbegriffe. Lask ist der Urheber dieser Spaltung
(Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, 1911). Das
Neue in diesem Gedanken liegt darin, daß die Allgemeine Wert-
v/issenschaft ausdrücklich als Logik erkannt wird. Sie ist Logik
in dem Sinne, in welchem der Kantianismus Logiken kennt: d. h.
der Erkenntnistheoretiker besinnt sich auf die Voraussetzungen
gewisser Gegenständlichkeiten, die anerkannt werden. Die Me-
thode ist die alte; der Gegenstand ist neu: die philosophischen
Geltungsbeziehungen, welche somit den Inhalt der allgemeinen
Wertwissenschaft als Logik ausmachen sollen. So gibt es nach
Lask eine Logik für „die eine" und eine Logik für „die andere"
der beiden Welten — nämlich für die Seins- und die Geltungs-
welt. Der zukunftsreiche Gedanke einer Logik der Fhilosophie
entsteht mithin dadurch, daß der Begriff der Philosophie — so
paradox das zuerst klingen muß — nicht logisch, sondern ma-
terialiter gedacht wird. Es gibt jetzt eine Logik der Philosophie,
so wie es vorher eine Logik der Natur, der Geschichte, der Kunst
usw. gegeben hat; die Philosophie ist insofern zum Gegenstand
transzendentaler Selbstbesinnung gemacht, als es im System der
Mannigfaltigkeiten neben Natur-, Geschichtsmannigfaltigkeiten
Neukantianismus : Lask
USW. auch die Mannigfaltigkeit des philosophischen Erkennens
gibt. Vielleicht könnte man zweifeln, ob diese Interpretation
berechtigt ist; aber sie verliert jede Bedenklichkeit, sobald wir
Lasks Stellung zum Problem der reflexiven und konstitutiven
Kategorien beachten. Nach Lask harmoniert mit der Aufgabe
einer Logik der Philosophie nur die konstitutive Kategorie; die
reflexiven Kategorien, die bloß für „Etwas" gelten, sind Ge-
bilde künstlicher Abstraktion; die echten Kategorien dagegen
müssen die Gegenständlichkeiten „anzeigen", als deren Möglich-
keitsbedingungen sie durch die transzendentale Besinnung be-
griffen werden; das ist der Grund, der die reflexiven Kategorien
entwertet. (Die Bemerkung Lasks, 164, in welcher er es als
„ein unberechtigtes Vorurteil" bezeichnet, „daß die Kategorien
stets nur auf die Inhaltlichkeit innerhalb einer Sphäre berechnet"
seien, ist nur eine interne Bereicherung, keine Einschränkung
seiner ausschließlichen Bevorzugung der gegenstandsbestimmten
Kategorie.) Weil die Subjektskategorien (der reflexiven Sphäre)
keine Gegenständlichkeiten anzeigen, sind sie nicht selbst Gegen-
stand einer transzendentalen Wertbesinnung (Lask, 67); mag
ihnen im übrigen auch der Charakter der Geltungsartigkeit nicht
verweigert werden (142), so besitzt doch eine „künstliche" Wert-
haftigkeit für uns nicht das Gelten des Geltens; nur die konstitu-
tiven Kategorien zeigen die zu verlangende spezifische Richtung
auf das Nichtsinnliche, „das" Material der Philosophie (Lask,
137). Jedoch das „Homunculusgebilde" der Reflexiv-Kategorie
(Lask, 150) wird uns bald belehren, wie wir von Kreaturen, die
wir machten, am Ende doch abhängen. Denn wir fragen nun,
wie die einzelnen Kategoriearten sich nach den Gegenständen
differenzieren können, ohne daß die Kategorien aus dem Inhalt
einer Logik der Philosophie austreten würden und damit aufhörten
Kategorien zu sein, oder ohne daß sie mit jenen Gegenständen,
d. h. den obersten Begriffen der einzelnen Sphären zusammen-
fielen und damit die einzelnen Werte (schön, gut usw.) zu Ka-
tegorien würden. Wodurch unterscheidet sich also Lasks Logik
der Philosophie von dem System der Werte selbst, wenn ihre
Inhalte wesentlich die konstitutiven Aprioritäten der Wertsphären
darstellen sollen? An diesen Fragen scheitert die Logik Lasks
28 Objekt der Logik
und schweigt, weil sie die Logik der Philosophie als Selbst-
besinnung auf eine bestimmte Gegenstandsart konzipierte, in dem
Begriff Philosophie aber nicht solche Bestimmtheit einer Gegen-
standsart zum Unterschiede von anderen findet (sondern viel-
mehr die Beziehung auf alle Werte seil. Gegenstände). Jedoch in
diesem Widerspruch besteht gerade die absolute Stellung der
Logik Lasks in der Geschichte der Philosophie; denn die Voraus-
setzungen des ganzen neueren Kantianismus werden hier offenbar:
Wir sind nun in den Stand gesetzt, dem transzendentallogischen
Gesichtspunkt, der Kant, Hegel und den neueren Kantianern ge-
meinsam ist, eine grundsätzliche Kritik widmen zu können: Bei
Kant selber war die Kategorie (das Objekt der Logik), weil üire
Bedeutung in ihrer transzendentalen Anwendbarkeit lag, der
außerlogische Gegenstand der Sinnenwelt (der transzendentale
Grundsatz als die Sache der Kategorie); bei Hegel war die Ka-
tegorie, weil ihr Wesen Selbstbewußtsein hieß, kongruent dem
absoluten Subjekt, dem außer- oder überlogischen Gegenstand
des absoluten Geistes; im Neukantianismus ist die Kategorie
zwar weder mit einem einzelnen bestimmten Objektskreis (Kant)
noch mit der absoluten Totalität aller Kreise (Hegel) vereinigt,
aber wenn auch abgesondert von den Gegenstandssphären, so
doch nur in der transzendenten Beziehung auf sie genommen;
die transzendentale Methode gilt dann nicht mehr als gegen-
standsschaffendes, nur noch als gegenstandsfindendes Prinzip;
sie ist die Methode, die überall anwendbar, überall zur Bloß-
legung der konstituierenden Elemente führen soll. Dann trifft
sie, nachdem sie durch die einzelnen Sphären hindurchgewandert
ist, auch die Sphäre der allgemeinen Wertwissenschaft, faßt sie
wesentlich als neue Einzel-Sphäre, in die ebenso wie in die anderen
Sphären die transzendentale Besinnung einzugreifen hat, und be-
denkt nicht, daß man mit ihr, weil sie die Allgemeine Philosophie
ist, alle anderen Einzelsphären von neuem mit dem transzenden-
talen Akte trifft und so, wenn man nicht in dieser letzten Sphäre
nur das zergliedert, was sie mit den anderen Sphären nicht ge-
mein hat, man in ihr nicht nur die Logik des philosophischen
Wertes, sondern auch die aller einzelnen anderen Werte, das
gesamte System der Werte in seinen konstitutiven Elementen er-
Antikantianismus 29
hält. Da hat also die transzendentale Methode nacheinander
alle Gegenstandskreise durchlaufen; jeder hat etwas in ihr und
ihrem Hauptbegriff, dem der Kategorie, zurückgelassen; dieser
ist mit den Säften aller Wesen geschwängert; da ergibt sich ent-
weder innerhalb des Gegenstandes der Logik ein Spiegelbild der
ganzen Welt (Lask), oder die ganze Welt erscheint als Spiege-
lung eines Kategoriensystems (Ehrenberg, Kants Kategorientafel
und der systematische Begriff der Philosophie, Kantstudien, 1909,
392—439). Die Logik, das Kategoriensystem, ist von neuem
so gebildet, daß sie zur Wissenschaft von allem wird; und der
lange, mühsame Weg, den der Kantianismus gemacht hat, um den
Hegeischen Irrtum zu berichtigen, scheint vergebens gewesen zu
sein. Aber dem ist doch nicht so; denn es müssen nur die Keime,
die in der letzten Gestalt der kantianischen Richtung ruhen,
zum Wachsen gebracht werden, um jeden Logismus, ebenso den
Hegels als auch den Lasks oder den des zitierten Kantstudienauf-
satzes endgültig zu entfernen.
So ist also das, was in der ursprünglichen Anlage des Kan-
tianismus ein Widerspruch der Motive gewesen ist, ein Wider-
spruch innerhalb der Logik geworden, ein Widerspruch, der uns
die Unzulänglichkeit des Kantianischen Begriffs von der Philo-
sophie selber enthüllt. Nachdem wir aber verstanden haben, daß
Logik der Philosophie heißt: Logik der allgemeinen Wertwissen-
schaft, sehen wir die Logik der Philosophie auf einem anderen
Niveau stehen als die Logik des Seinserkennens; es ist deshalb
unvermeidlich, daß gerade die Anhänger Lasks aus ihm die von
ihm selbst nicht gewollte Konsequenz ziehen, daß seine I/Ogik
der Philosophie allgemeine Grundlegung aller Philosophie sei;
die Logik des Seinserkennens kommt dann in eine Linie mit den
anderen Theorien der Wertbesinnung, die so insgesamt unterhalb
der Logik der Philosophie stehen. Damit aber wird der Nerv
des Kantianismus getötet: die Erkenntnistheorie aus der Mitte
zwischen Positivismus und Metaphysik gestoßen. Das anti-
hegelsche Motiv zwar bleibt, aber das antipositivistische fällt
fort; denn in dem Augenblick ist es gegenstandslos geworden, in
dem die transzendentale Selbstbesinnung einen Gegenstand in
Angriff nimmt, den der Positivismus nicht empiristisch deuten
30 Objekt der Logik
kann, weil er ihn überhaupt nicht kennt, den Gegenstand:
Philosophie. So bleibt allein die Logik der Philosophie als
Logik zurück, d. h. diese darf jetzt nur das zum Ohjekt
haben, was sie befähigt, allgemeiner Teil der Philosophie zu
sein: die Theorie des Erkennens. Logik der Philosophie heißt
jetzt Logik der Form Philosophie — nicht mehr Logik des
Gegenstands Philosophie; die transzendentale Selbstbesinnung ist
nicht mehr materialiter orientiert, sondern ergreift jetzt als
Gegenstand des Besinnens die transzendentale Selbstbesinnung,
die Methode des Philosophierens selber; und es wird bewußt, daß
eine Logik der Philosophie sich nicht auf eine Aufteilung der
Objekte: hier Sein, dort Nichtsein! gründen kann, da diese Auf-
teilung selbst bereits eine Anwendung dessen darstellt, worauf
sich der Logiker der Philosophie besinnt: die MöglichJceit der
philosophischen Erlienntnis.
III
Wir haben daher jetzt den Begriff der Logik der Philosophie,
in dem sich Kantianismus und Hegelianismus gefunden haben*),
von Grund aus neu zu formen, und beginnen dabei mit den Ver-
änderungen, die der bloße Gedanke einer Logik der Philosophie
bewirkt:
Er durchbricht das Dogma vom Kopernikanischen Standpunkt,
d. i. die Ansicht, daß Erkenntnis und Gegenstand Eins sind; denn
er schafft eine Sphäre für die Erkenntnis des Erkennens selber**).
Er durchbricht die stereotyp von Zeit zu Zeit wiederholte Forde-
rung einer überreflexiven Philosophie; denn er reflektiert sogar
über die Reflexion und wird sich dadurch seiner reflexiven Art
überreflexiv bewußt. Er macht den zähe festgehaltenen Begriff
der konstitutiven Kategorie unmöglich; denn er deduziert solche
*) Von Hegelianischer Seite her bei Croce und bei Ehrenberg (Kantstudien,
1909, 435) ausgesprochen.
**) S. Busserl, Logische Untersuchungen, 1900, I, 229, wo betont wird,
daß „die Wahrheiten, die von Wahrheiten gelten, nicht zusammenfallen mit den
Wahrheiten, die von den Sachen gelten, welche in jenen Wahrheiten gesetzt
sind". Das Kopemikanische Dogma dagegen duldet kein Gebiet des Erkennens,
das nicht zugleich Gegenstandsgebiet ist.
Die eigene Ansicht 31
Begriffe, welche als Formen alles Philosophierens nicht mehr be-
stimmte Gegenstandswerte darstellen können.
So gilt die Selbstbesinnung jetzt dem Element des Selbst-
besinnens selber, d, h. dem gegenstandsunbestimmten, reinen
Denken. Das Kategoriensystem kann nur solche Denkformen
enthalten, in denen die Kraft der Wirklichkeitsfremdheit so groß
ist, daß sie noch nicht irgendwie die wirklichen Gegenstände der
Erkenntnis antizipieren. Gerade in der Vorurteilslosigkeit der
Kategorie, in ihrer Unbeschriebenheit liegt die Gewähr für ihre
Benutzbarkeit; die höchste Spannung zwischen Kategorie und
Erkenntnisinhalt erzeugt erst den „Gegenstand der Erkenntnis".
Das bedeutet allerdings eine vollständige Umwertung der bisher
blind vergötterten transzendentallogischen Fragestellung; und mit
dem Antihegelianismus wird erst dadurch wahrhaft Ernst ge-
macht, daß die Kategorie sich den Gegenständen wahrhaft, näm-
lich in deren Totalität entgegensetzt. Die bisherigen sog. kon-
stitutiven Kategorien werden zu abgeleiteten Formen herab-
gedrückt; aus den reinen Formen des sich selbst denkenden
Denkens sind sie abgeleitet; die im Kantianismus nie ganz ver-
meidbaren „Übertragungen" von Kategorien einer Sphäre auf
Kategorien einer anderen Sphäre verschwinden jetzt gänzlich;
und des Begriffs Kategorie können nur diejenigen Denkinhalte
gewürdigt werden, die für jedes und alles Geltungskraft besitzen,
die bisher sog. reflexiven Kategorien. Etwas bisher Verachtetes:
die Allanwendbarkeit wird für die wahren Kategorien ihre grund-
legende Qualität; die abgeleiteten Kategorien dagegen gehören
in „ihre" Disziplinen und verdienen daher in keiner Weise die
Einschätzung als Kategorien. Viele Begriffe allerdings, welche
bis jetzt dem Bestände der konstitutiven Kategorien zugerechnet
wurden, erweisen sich als bloße Verstofflichungen und Ablei-
tungen einer zugrunde liegenden reinen Kategorie, z. B. die Kau-
salitätskategorie, die nicht minder für jedes und alles gelten
kann als die Kategorie des Etwas. Wie aber soll bei einer solchen
Entfernung der Kategorie von den Gegenständen dem Ein-
schleichen von leeren, abstrakten Begriffsschemen gewehrt
werden? wenn im Verhältnis der außerlogischen Gegenstände
und der Kategorien die reine Willkür eines gegenstands-unbe-
Objekt der Logik
stimmten, reflexiven Denkens herrschen soll! Dieses Bedenken
kann allein dadurch aufgelöst werden, daß seine Nichtigkeit ein-
gesehen wird. Bekommt doch die Kategorie erst dadurch ihre
Geltungskraft, daß sie, trotzdem sie ein bloßer Denkbegriff und
insofern unfähig zur Gegenstandsbestimmung ist, gerade nur als
bloßer Denkbegriff so rein ist, um zur unverfälschenden Er-
kenntnis der Wirklichkeit verwendbar zu sein. Die Objektivität
der Kategorie gilt nur der Reinheit des Denkens, d. h. über-
haupt dem reflexiven Kategorienbestande selber; Begriffe sind
nur insofern Kategorien, als sie durch Besinnung auf das Be-
sinnen deduziert werden und so von aller Gegenstandsdurch-
setzung frei sind; so ist es allerdings ohne die Konsequenz aus
unserer Anschauung, daß die reflexiven Kategorien konstitutive
Kraft in bezug auf sich selber besitzen, nicht verständlich, wie
reflexive Kategorien vor Gegenständlichkeitsusurpationen be-
schützt werden könnten. Die neue Logik umgreift also zwar
nichts als die theoretische Sphäre; aber in bezug auf diese sind
ihre Begriffe konstitutiv; d. h. verleihen der theoretischen Gel-
tungssphäre den Charakter der Grundlegung für Philosophie.
Solche innerlogische Gegenständlichkeit, wie wir sie also der
sog. reflexiven Kategorie zusprechen, hat zu bedeuten, daß die
Kategorie die quaestio juris ihrer Gültigkeit nicht aus ihrer An-
wendbarkeit im außerlogischen Material des Erkennens zieht,
sondern aus der rein reflexiven Anwendung des Denkens im Falle
des Denkens über das Denken. Mit welchem Rechte, fragt aber
der Kantianismus, komme ich zu einer solchen Umwertung der
Reflexivformen? Eme Erörterung des Begriffes: Reflexivität
dürfte daher am Platze sein. Außer Zweifel steht dabei sofort,
daß die Reflexivität der Korrelatbegriff der Konstitutivität ist:
reflexiv ist die nicht auf ein außerlogisches Material mit geltender
Beziehung bezogene Denkform; reflexiv kann dann aber eine Denk-
form nur im Verhältnis zum Außerlogischen sein; das Bewerten
eines Begriffs als reflexiv setzt also voraus, daß als Gegenstand
nur der außerlogische Gegenstand gilt; der kantianische Dualis-
mus: Denken — Gegenstand, jener Dualismus, durch den gerade
das Denken reflexiv geworden ist, will doch immer noch nicht
den Gedanken eines überreflexiven Denkens aufgeben und ent-
Die eigene Ansicht
wertet daher sein eigenes Werk, das reflexive Denken. Für
uns aber verliert die Reflexivität jede Ai't von Minderv^rertigkeit;
es kann uns nicht mehr überraschen, daß das Denken (soll es
doch zui- Allheitswissenschaft der Philosophie führen), gesehen
vom Außerlogischen aus, als im Jenseits des Gegenstands Lie-
gendes, bloß Reflexives erscheinen muß. Denn wir geben eben
den außerlogischen Standpunkt auf, wenn wir das Wesen des
Denkens selber untersuchen. Wir wählen für innerlogische Pro-
bleme auch den innerlogischen Standpunkt, halten ihn für allein
berechtigt. Aber die neue Formallogik kehrt nicht zur früheren
Urteils- und Schlußlehre zurück, und die innerlogischen Kate-
gorien setzen sich uns nicht mehr wie in alten Tagen zu einer
ontologischen Logik zusammen; denn nur auf dem ganz unformal-
logischen Wege der logischen Selbstbesinnung kommen sie in
die logische Wissenschaft hinein. Es gibt nur Kategorien, inso-
fern sie abgeleitet werden; sie selber sind so wiederum Deiih
objelte. Zugleich Denkformen und Denkobjekte und trotzdem
reflexiv im Verhältnis zum Außerlogischen; das ist die Wesens-
bestimmung der Kategorie. Denkform und zugleich Denkobjekt?
beides sind sie in der Ableitung und Entwicklung der einzelnen
Kategorien; in der die Beziehungsformen, als wären sie irgendein
beliebiger Gegenstand des Erkennens, durch das, mit dem alles
erkannt wird, durch die Beziehungsformen selber, erkannt, ver-
standen, systematisiert werden. So gibt es keine Denkformen,
sie seien denn abgeleitet; die scheinbar bloß reflexiven Formen
gelten für sich selber, lassen sich selber als Gegenstände des
Erkc7inens gelten. Für die reinen Denkformen gilt so die Iden-
tität von Subjekt und Objekt, gilt, daß „die Trennung des Gegen-
standes von der Gewißheit seiner selbst sich aufgelöst hat" (Hegel
s. 0.)*).
Hier im Innerlogisclicn herrscht also das Prinzip des Seihst-
hewußtseins ; und dieses erweist sich als das absolute Erkennen
des absoluten Erkennens selber; das wahre Objekt des Selbst-
bewußtseins ist ein in bezug auf Außerlogisches ganz Unbe-
*) Es ist bedeutsam zu sehen, wie der Kautianismus, wenn er sich über-
haupt des Sichselbstaufsichselbstanwendens der reflexiven Kategorie bewulit wird
(Lask, 165), diese Beobachtung nicht fruchtbringend nutzen kann.
Ehrenberg, Die Partoiung der Philosophie 3
34 Objekt der Logik
stimmtes, nämlich das Denken des Denkens — als Denkens*).
Die sog. reflexive oder, wie wir jetzt sagen wollen, ursprüngliche
Kategorie ist so durch sich selber konstituiert; „sie gilt für sich
selbst". Das Logische ist dasjenige, für das der Zirkel von Gegen-
ständlichkeit und Gegenstand Natur und Gesetz ist; es kann nicht
aus sich heraus; es soll nicht aus sich heraus; es widerspricht
seinem Wesen, wenn es aus sich herausgeht; deshalb verwerfen
wir die transzendentallogische Auffassung. Und es ist merk-
würdig, wie der gerade in der Transzendentallogik gegen den
Skeptiker gebräuchliche Einwand: wie er doch selbst mit seiner
Skepsis, mit deren Behauptung und Begründung, die Geltungen,
die er bezweifle, anerkenne, nie zu Ende gedacht worden ist;
wir aber denken ihn zu Ende: Jenes ungewollte Sichselbstwider-
legen des Skeptikers bedeutet, daß alles Denken sich selbst
voraussetzt und dementsprechend als Gegenstand einer möglichen
Selbstbesinnung schon Geltungswert besitzt, ehe es, um Außer-
logisches zu erkennen, aus sich heraustritt. Also nicht weiter
als zum Denken selber geht der umschließende Umkreis des
Denkens; nur die Denkobjektivität selber, nicht der außer logische
Gegenstand ist für das Denken unangreifbar. Hierfür ist übrigens
der Kantianismus selber ein lebendiges Zeugnis, wenn er mit
seinem überstarken Skeptizismus aus dem Bereich der logischen
Wissenschaft nicht herauskommen kann. Unser Gedankengang
über die Kategorie hat uns somit zu einem endgültigen Ergebnis
geführt: das Verständnis der reinen Kategorie als des für sich
selber gültigen Denkens — Denkens des Denkens; die Einsicht
darin, daß die Kategorie vor ihrer Anwendung überhaupt nicht
ist, aber nur deshalb nicht, weil sie, sobald sie ist, auf sich selber
Anwendung gefunden hat; ferner die Abgrenzung dieser Ein-
sicht gegen die scheinbar verwandte Ansicht des Kantianismus
und Hegelianismus, welche beide die Kategorie erst kraft ihres
aus sich Herausgetretenseins als Kategorie anerkennen wollen.
*) Auch Lask faßt seine Logik der Philosophie als in unserem Sinne
innerlogische Logik auf; er begründet sie auf Selbstbesinnung und Selbst-
bewußtsein der Philosophie selbst (Lask, 211); wenn er trotzdem die Erfolge
dieser Selbstbesinnung in „bedeutungsbelasteten'- Kategorien erblickt, so kommt
der Gegensatz seiner und unserer Auffassung erst recht zutage.
Die eigene Ansicht 35
Die Philosophie gewinnt hier einen Ruhepunkt, welcher der Logik
bei aller Entinhaltlichung dasjenige Übergewicht beläßt, das ihr
zukommt; es ist eine „letzte" Erkenntnis, die Struktur alles
Denkens in der Möglichkeit des Sicheelher-Denkens bewiesen zu
haben; die Reflexivität der Reflexivität als Grundsatz für den
Begriff der Kategorie!*)
So aber besitzen wir im reinen Denken den einzig unmittel-
baren Inhalt eines absoluten Wissens, einen solchen Inhalt, der
sich selbst begründet; das reine Denken ist causa sui. Der lo-
gische Gegenstand, de?- Wahrheitswert des Wahrheitsivertcs, be-
ruht auf sich selbst; und die von allem Außer logischen abge-
trennte logische Wissenschaft erzeugt den Begriff der Wahrheit,
des Gegenstands des Erkennens. Dieser Gegenstands- oder Wahr-
heitsbegriff ist dann trotz seiner innerlogischen Deduktion nicht
innerlogisch begrenzt; denn hier kommt die Dialektik der Teilung
von Denken und Gegenstand an den Tag: Indem der Wahi'heits-
begriff „nur" für das innerlogische Objekt gilt, ist die für alles
und nichts geltende Denkform vergegenständlicht ; sie ist es, die
sich selber als wahr erweist, und die somit gerade infolge der
rein innerlogischen Deduktion zu dem Resultat kommt, allem
reflexiven Denken die Möglichkeit der Erkenntnis zu verleihen,
den innerlogischen Umkreis selbst als außerlogischen begründet.
Weil die Kategorie für sich selber gilt, sie selber aber nur
Form ist, so gilt sie für alles. Hieß es früher von der reinen
Kategorie, sie gelte „bloß" für „Etwas", so heißt es jetzt, sie gelte
„nicht bloß" für „dieses" oder „jenes". Zu den reinen Formen
*) Es ist deshalb vergebens, überhaupt eine im Sinne des Kantianismus
reflexive Kategorie zu suchen; sie hat es nie gegeben und wird es nie geben;
wenn Windelband eine sonst im Kantianismus als bloß reflexive Denkform
beurteilte Kategorie — die Identität — aufspaltet und sie in ihrer möglichen
Konstitutivität, in dem Gelten des Gleichheitsverhältnisses, sieht, so geht das
ohne Zweifel über den engeren Begriff der konstitutiven (bedeutungsbestinmiten)
Kategorie hinaus; um aber diese Ausführung als in unserem Sinne des Kategorie-
begriffes liegend aufzufassen, dürfte das Neue nicht wieder durch die Annahme
einer neben der konstitutiven Bedeutung stehenden, mm doch nur reflexiven
ßedeutungsmöglichkeit derselben Kategorie zerstört werden. {Windelband, Über
Gleichheit und Identität, Ber. der Heid. Akad. der "Wiss., 1910, siehe besonders
S. 15, 24.)
36 Anwendung der Kategorie
des Denkens sind dann nicht nur die reinen Begriffe als solche,
sondern auch alle die Denkformen zu zählen, die den transzen-
dentallogischen Bezug des Denkens auf sich selbst sogar in ihren
Inhalt aufgenommen haben; das sind die Formen der philoso-
phischen Wissenschaft selber. Sie sind sogar die eigentlichen
Objekte und Inhalte der Logik; denn in der Methodologie der
Philosophie ist die Identität von Form und Inhalt ganz perfekt
geworden (Philosophie der Philosophie); seinen Abschluß erfährt
das Objekt der Logik daher nicht in der Kategorienlehre im
engeren Sinne, sondern in der Methodologie der Philosophie, für
die wii- den einstens allerdings nur für eine Logik des endlichen
Wissens gebildeten Begriff der Wissenschaftslehre zurückerobern
wollen.
Doch weiter als zur Standpunktsklärung können und sollen
wir hier nicht geführt werden; so müssen wir abbrechen.
Punkt M: Die Anwendung der Kategorie
(Kategorie und Begriff)
Wir haben die Geschichte des Kategoriebegriffes verfolgt und
seine Veränderungen bis zur vollkommenen Umwandlung erlebt;
daher werden wir jetzt unsere Disputation mit der hegelia-
nischen und neukantianischen Logik auf die Eealisierungsfrage des
Kategoriebegriffes, auf das Problem der Anwendung der Kate-
gorie ausdehnen.
Hegels Stellung zu diesem Problem läßt sich am unmittel-
barsten von seiner Ablehnung aller Art von kritizistischen In-
tentionen aus aufrollen. Jenes Wort aus der Einleitung zur Phä-
nomenologie des Geistes von dem Mißtrauen, das man in das Miß-
trauen (des Erkenntniskritikers) zu setzen habe, ist ihm bestehen
geblieben. Nicht eigentlich der kritizistische Gedanke als solcher,
sondern seine geglaubte Unausführbarkeit veranlaßt seine ab-
Hegel 37
lehnende Haltung gegen ihn. „Erkennen wollen aber, ehe man
erkenne, ist ebenso ungereimt, als der weise Vorsatz jenes Scho-
lasticus, sclnvimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage' (En-
zyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 10). Hegel
meint also: Da Erörterungen über das Wesen des Erkennens
schon selber das Wesen des Erkennens voraussetzen, so liegen
sie bereits hinter dem, vor dem sie zu stehen wähnen; deshalb
wertet Hegel die Kategorien nur im Status der Anwendung inner-
halb des tatsächlichen Erkennens als Kategorien. So aber führt
er den Standpunkt der Transzendentalen Logik konsequent zu
Ende: Zwar waren auch für Kant die noch nicht angewandten
Kategorien nur gleich leeren Gedankenformen gewesen; aber
wenn er sie zum Zweck der Anwendung nur mit Erfahrungs-
begriffen verband, so blieben sie auch in dem Zustand der An-
wendung von den Begriffen, für die sie angewendet wurden, ge-
nügend geschieden. Anders bei Hegel: Die Begriffe, in welche
seine Kategorien einzugehen haben, sind „philosophische" Be-
griffe; der Begriff gibt' der Kategorie im Punkte der Absolutheit
nichts nach: der Rangunterschied zwischen Kategorie und Be-
griff wird aufgehoben; beide sind gleich apriorisch; wie soll
da dem Zusammenfallen beider zu wehren sein! Daher geschieht
dem, der von den Fragen der kantischen Kategorientafel zu
Hegel kommt, die plötzliche Erleichterung, die ganze Aufgabe,
einen bestimmten Bestand von Kategorien zu fixieren, von sich
genommen zu sehen. Ist die Kategorie vor ihrer Anwendung
ein Nichts, wird sie erst durch das Anwendungsprodukt wahr-
haft Kategorie, so ist eben jedes Anwendungsprodukt Kategorie-
Wirklichkeit; die wirklichen Erkenntnisse gelten nicht je als
Anwendungen einer ihnen apriorischen Denkform, sondern als
selbst in ihrem Eigeninhalt kategoriale Erkenntnisse. Jeder ein-
zelne philosophische Begriff, wie Natui' oder Kunst, Chemismus
oder absolutes Subjekt ist nicht mehr noch weniger Gegen-
standsbegriff, als übliche Kategorien wie Kausalität und Sub-
stanz es sind. Soweit Hegel aber gleichwohl den Versuch macht,
gewisse Begriffe in bevorzugtem Maße Kategorien sein zu lassen,
wird doch der allgemeine Kategoriebegriff — die Ansicht vom
Wesen aller Kategorien — dem Wesen der wirklichen philoso-
38 Anwendung der Kategorie
phischen Erkenntnis entnommen, von der dann der Terminus des
JconTcreten Begriffes auf die Kategorie übertragen wird. Weil
es die Natur des Erkennens ist, ein wirkliches Erkennen zu
sein, so findet Hegel nur in ihm, in dem Begriff des bestimmten
Erkenntnisses, das Wesen kategorialer Gegenständlichkeit ver-
wirklicht. Der Begriff der Kategorie, den der Logiker sucht,
richtet sich daher bei Hegel nach dem Begriff der bestimmten
Erlcenntnis. Das ist der m. W. nie gewürdigte bedeutsame Zu-
sammenhang, in dem Hegels Lehre vom konkreten Begriff ihren
Grund hat. Und wir müssen ihn verstanden haben, um die viel-
verlästerte Begriffslehre würdigen, die in ihr enthaltene „Ent-
deckung" bemerken zu können: Hegels konkreter Begriff bedeutet,
daß eine wirkliche Erkenntnis, die sich in diesem oder jenem Be-
gi'iff ausspricht, diesen oder jenen Begriff mit einem bestimmten
Bedeutungsinhalt erfüllt, der ihn zu einem konkreten Wesen
macht; bedeutet ferner, daß der im Buche, im System enthaltene
Begriffsinhalt in seiner ganzen jeweiligen Mannigfaltigkeit einen
einzigen Begriff darstellt. Der konkrete Begriff hat seine Gegen-
ständlichkeit allein an dem Sein in einem bestimmten Inhalt; nur
weil ein Inhalt in ihm ist, gilt der Begriff; der Inhalt des Be-
griffs wächst dann in der Tat mit seinem Umfang; denn alle die
verschiedenen Nuancen, welche mit der Erweiterung des Um-
fanges dem Begriffe zuwachsen, treten als wechselseitige Be-
deutungszusammenhänge auch wirklich in seinen Inhalt ein; eine
unsäglich einfache Angelegenheit, daß mit der Zunahme der Er-
kenntnis ihr Begriff sich erweitert! so einfach, daß sie fast nie
verstanden wird, daß es den meisten bedenklich, ja widersinnig
erscheint zu sagen: ein ganzes Buch könne nicht minder ein
einziger Begriff sein, als ein einzelnes Wort es ist. Hegels Ent-
deckung des konkreten Begriffes befreit daher den, welcher sie
nicht übersieht, aus der Abhängigkeit von der Sprachorganisation
in Sachen des Erkennens. Nur deshalb also kann der Inhalt aus
dem Begriff herausgeklaubt werden, weil Begriff und Inhalt im
wirklichen Erkennen längst verschmolzen sind. Hegel lehnt da-
her gar nicht die Gegebenheit des Inhalts ab, behauptet nicht
die rationale Deduzierbarkeit aus der abstrakten Vernunfteinheit,
sondern will überhaupt das ganze Problem: gegeben oder nicht
Hegel 39
gegeben? nicht anerkennen. Es gibt für ihn nur Begriffe, die
einen Inhalt haben; Begriff und Inhalt zu trennen, heißt gegen-
standslose Abstraktionen machen. In der Begriffslehre Hegels
gibt es daher nur den bestimmten seil, konkreten Begriff. Da-
mit ist aber der Begriff des unbestimmten Begriffs aus der Phi-
losophie eliminiert; Hegel will die angebliche Abstrakt/^ei^ des Be-
griffes treffen, aber trifft den abstrakten Begriff, der seinerseits
auch ein einzelner konkreter Begriff ist und deshalb gilt. So wird
das Problem, das nach Begriffen hinter den bestimmten Begriffen
sucht, beseitigt; das Problem „letzter" Begriffe — wir nennen
es das Kategorienproblem — hat in Hegels Philosophie keinen
Platz. Der Unterschied der synthetischen Urteile a priori und
derjenigen a posteriori — der (im logischen Sinne) eingeborenen
und der zu erwerbenden Begriffe ist nicht mehr; jeder echte
Begriff hat den Wert einer Kategorie; deshalb gibt es nur Be-
griffe und keine Kategorien. So fehlt bei Hegel überhaupt das
Problem des Apriorismus. Vor der Bedeutung der neuen Ent-
deckung (des bestimmten Begriffes) verstummen alle früheren
Fragen einer Logik, mit ihnen die Grundidee des aprioristischen
Idealismus. So verfällt die Philosophie Hegels dem Progressus
der Mannigfaltigkeiten; sie schlägt in den reinen Positivismus
um. Das geschieht hier der Transzendental-Philosophie; indem
sie in durchaus folgerichtiger Konsequenz aus ihrer Grundkonzep-
tion die Kategorie nur in deren Anwendung im Begriff aner-
kennen will, ist die reine Kategorie — was auch sollte sie als
leere Gedankenform, als unwahrhafte Abstraktheit noch sein!
— gar nicht mehr vorhanden. Der absolute Idealismus wird
zuerst absoluter Positivismus (der späte Schelling, Schopenhauer
usw.), der sich dann seinerseits in den empiristischen Positivismus
entlädt, dadurch aber die Philosophie zwingt, von neuem zum
Problem des Apriorismus Stellung zu nehmen.
II
Damit haben wir das gemeinsame Merkmal für die verschie-
denen Richtungen des modernen Kantianismus gewonnen, näm-
lich die Scheidung von Apriori und Aposteriori, von Kategorie
und Begriff. An diesem Gegensatz hält der Kantianismus
40 Anwendung der Kategorie
ebenso einseitig fest, wie Hegel die Einheit im konkreten Be-
griff für den einzigen Inhalt einer Begriffslehre gehalten hat.
So darf der Begriff, in welchem die Kategorie ihre Anwendung
findet, kein absoluter Begriff sein; nur die Kategorie ist absolut,
der Begriff empirisch, so daß beide als Kategorie und Begriff
aufeinander bezogen, durch die Verknüpfung der Anwendung ver-
bunden sein können, ohne ihre Zweiheit aufzugeben. Nun bietet
zu solchem Verhältnis von Kategorie und Begriff, wobei jene
einer ihr selbst fremden Sphäre zugewiesen wird, gerade Kant
die Handhabe, nicht so sehr in der Kategoriendeduktion als in
dem, was er die Grundsätze der reinen Naturwissenschaft nennt,
jedoch nur, sobald man dieselben nicht mehr nur für Beispiele
synthetischer Urteile a priori, sondern für die Bedingungen syn-
thetischer Urteile a posteriori erklärt. Und in diesem Sinne sieht
nun Cohen, der ja das Apriori nur noch transzendental, d. h. in
seinem Werte für Erfahrung, anerkennt, Kants Grundsätze, so
daß sich bei ihm Kategorie und Begriff in der Tat wie Absolutes
"und Empirisches verhalten. Daher schließt sich, in noch so in-
niger Synthese Kategorie und Begriff zusammenwirken mögen
— die Bedingungen der Erfahrungsmöglichkeit sind in der Er-
fahrungswissenschaft enthalten — , doch nicht die absolute Kluft
zwischen ihnen. Da ist der Dualismus von Apriori und Apo-
steriori fixiert, ohne daß die Gefahr beschworen würde, mittels
dieser Fixierung erst recht der Einheit ausgeliefert zu werden.
Aber der Begriff des Aposterioris ist doppeldeutig, drückt ebenso
den des empirischen Stoffes wie den der fixierten Erfahrung aus;
d. h. nicht nur stehen sich Apriori und Aposteriori gegenüber,
sondern werden zugleich in den Erkenntnissen der Naturwissen-
schaft verbunden, in welchen ihr Gegensatz erst einen Erkenntnis-
wert erhält: Der Begriff (zum Unterschiede von der Kategorie),
d. h. die Anwendung der Kategorie ist damit als Naturwissen-
schaft selbst wieder ein Überempirisches, Ewiges. Das ist Cohens
in dieser Beziehung fast altkantianischer Standpunkt.
Zwar fällt der Begriff auch jetzt nicht mit dem Apriori zusam-
men, braucht aber in keiner Weise mehr nur etwas schlechthin Em-
pirisches und Nichtabsolutes darzustellen. D. h. der Gegensatz von
Apriori und Aposteriori bleibt bestehen, ohne jedoch daß man ihn
Neukantianismus: Cohen, Windelband 41
auf den ausgesprochensten Fall seiner Gegensätzlichkeit, die Sphäre
der Erfahrungskategorien, beschränken müsse. So zeigt sich die
Möglichkeit der Verallgemeinerung jenes Begriffspaares, die von
Windelband vollzogen wird. Diese Verbreiterung des Gegensatzes
von Erfahrungsiovm und £r/«/irnw^smannigfaltigkeit zu dem
Gegensatze irgendeiner Apriorität und irgendeiner Mannigfaltig-
keit ist ein zu wenig beachteter Vorgang aus der Geschichte des
Neukantianismus; jener früher ausschließliche Gegensatz des po-
sitiven Wissens zum Positiven des Inhaltes desselben ist jetzt nur
ein Spezialfall eines allgemeinen Gegensatzes. Daß allein der
positivistischen Einschränkung Cohens die Festigkeit, welche die
Qualität Apriori-Aposteriori besitzt, verdankt wird, gerät in Ver-
gessenheit; so kommt es, daß Cohens Einseitigkeiten den anderen
Kantianern als fixe Ideen erscheinen. Wenn sie das nicht sind,
so geht doch immerhin von Cohens Erkenntnistheorie selbst der
Zwang aus, ihre Einseitigkeit abzutun; nicht ungestraft kumuliert
er alles auf den Wissenschaftsbegriff und gibt in ihm selber den
positivistischen Bewertungspunkt preis. Das bewirkt gerade, daß
die positivistische Einschätzung des Inhalts von der Erfahrungs-
sphäre auf alle Sphären übergeht; in größter Allgemeinheit weist
Windelband darauf hin (llannigfaltigkeitsproblematik). Ferner
geht diejenige Einheitsbeziehung zwischen Apriori und Aposteriori
verloren, welche für das Erfahrungsproblem (bei Cohen) bestim-
mend gewesen ist, da sie nur von ihm, das jetzt nicht mehr Haupt-
problem ist, gelten kann; eine andere tritt nicht an ihre Stelle;
und das Problem: wie ist das Apriori anwendbar? büßt seine Be-
deutung ein, so daß der Gegensatz von Apriori und Aposteriori in
unverhüllter Nacktheit dasteht: ewiger Gegensatz zwischen dem
Ewigen selbst und dem Tatsächlichen! In dieser Formulierung
dehnt sich die kantianische Logik bald über die wirkliche Philo-
sophie aus; mit ihr wird der siegreiche Feldzug gegen die psycho-
logistische Erkenntnislehre geführt; besonders Husserls Entwick-
lung zum Kantianismus wird ihr verdankt. Daher auch kehi't
Husserl den Dualismus von Apriori und Aposteriori noch schärfer,
weil noch bewußter hervor; mit der ganzen Selbsterkenntnis-
kraft, welche solchen eigen ist, die überwinden, wird er sich des
Dualismus von Apriori und Aposteriori bewußt und gewinnt da-
42 Anwendung der Kategorie
durch auf die Richtung, der er sich anschließt, selbst einen Ein-
fluß; diese findet jetzt in ihm ihren reinsten Vertreter.
Dadurch rückt aber die logische Sphäre wieder in den Vorder-
grund des Interesses; denn als Windelbands Standpunkt eine so
ausgedehnte Wirkung erlebt, ist es vorzüglich derjenige Punkt
desselben, mit welchem er die Gegner schlägt, welcher die Wir-
kung verursacht; das ist die Sphäre der Erkenntnistheorie. Des-
halb sind diejenigen, die auf Windelband folgen, JRicJcert und
Husserl, vorzugsweise Logiker*). In der Erkenntnistheorie als
der Theorie der Erfahrung läßt sich aber das Anwendungsproblem
(das im allgemeinen Dualismus Windelbands keine unmittelbare
Notwendigkeit ist) nicht totschweigen. So kommt gerade der,
welcher die unbezogene Reinheit des logischen Aprioris am wir-
kungsvollsten durchgedacht hat (Husserl), dazu eine ganz neue
Sphäre zwischen Apriori und Aposteriori einzuschieben, die der
phänomenalen Bewußtseinsfunktionen des Erkennenden**); das
sind die immanenten Realisationsakte des Aprioris in seiner An-
wendung auf das Aposteriori. Die Philosophie stellt hier wieder
ein Anwendungsproblem der Kategorie auf und gewinnt dadurch
der Logik eine Sphäre zwischen Apriori und Aposteriori hinzu;
die Sphäre, in welcher Anwendungen zustande kommen, und die
zunächst auf die logische Disziplin eingeschränkt bleibt. Rickert
folgt dann dem Beispiel Husserls und teilt den Inhalt der Er-
kenntnistheorie in die Fixierung des transzendenten Apriori und
die seiner Immanisierung ins Bewußtsein: die „Zwei Wege der
Erkenntnistheorie"! Da sich aber die positivistische Einschätzung
nicht nur auf die Erkenntnis-, sondern auf alle Inhalte bezieht,
so wird die neue Fassung des Anwendungsproblems auch für die
nicht-logischen Sphären angenommen. Überall jetzt entstehen
Zwischengebilde mit komplexer Konstruktion, Gebilde, die
*) Die in dieser Schrift konstatierten historisclien Zusammenhänge können
subjektive „Beeinflussungs"-Zusammenhänge sein, brauchen es aber nicht zu
sein; wesenthch ist immer nur der Zusammenhang der objektiven Ideen, an
obiger Stelle z. B. der Zusammenhang von "Windelbands Duahsmus ohne An-
w^endungsproblem und Husserls „reiner" Logik mit der Tatsache, daß bei
Husserl das Anwendungsproblem nachträglich hinzutritt.
**) Husserls II. Band der Logischen Untersuchungen.
Neukantianismus: Husserl, Rickert, Lask 43
zwischen den transzendenten Aprioris und den Tatsachen stehen
und deren Verwirklichungszusammenhang präsentieren; man
nennt sie die Gebiete des Sinns, „das dritte Reich" (Rickert,
Logos I, 1: Der Begriff der Philosophie, 1910). Und wie bei
Windelband der Gegensatz des Aprioris und des Aposterioris ein
allgemeiner gewesen ist, so ist jetzt auch das zwischen sie ge-
setzte Sinn-Reich allgemeiner Natur, umfaßt daher alle einzelnen
Sphären; es gibt theoretischen, ästhetischen, ethischen usw. Sinn
(LasJc). Dann tritt die Individuation aus der Sphäre des Aprioris
in die des Sinnes über; die einzelnen Sphären sind für Lask keine
Wert-, sondern Sinn-Sphären, so daß die Begriffe Apriori und
Aposteriori aus dem Vielheitsinbegriff der Sphären aus-, in-
die Allgemeinheitssphäre überhaupt übertreten. Über den ein-
zelnen Sphären des Sinnes steht sodann der allgemeine, nackte
Gegensatz des Aprioris und Aposterioris. Und so gewiß sich auch
in den einzelnen Sphären je ein Apriorisches und ein Aposterio-
risches vorfinden, so dürfen diese doch nur als Wiederholungen
des allgemeinen Gegensatzes von Sinngemäßheit und Sinnfremd-
heit angesehen werden; derselbe bekommt die Stellung des
gattungsbegrifflichen Grundsatzes für alle Sphären. So aber wird
das Begriffs?;««/- Apriori, Aposteriori zur Einheit eines einzigen
Begriffes verschmolzen; nicht hier Sinn, dort Sinnfremdheit, son-
dern das Yerhältnis von Sinn und Sinnfremdheit steht an der
Stelle des obersten Grundsatzes; es kristallisiert sich „eine lo-
gische Form zwischen logischer Form und Material" (Lask, 166)
heraus; und der oberste Begriff heißt jetzt die Relation „zwischen"
Form und Material, das „Form-Materialgefüge" (Lask, passim).
Was vorher in vollkommener Scheidung jedes für sich als Ur-
element dagestanden hat: das Apriori und das Aposteriori, soll
jetzt „ohne dieses Urverhältnis, als deren Glieder sie auftreten,
gar nicht verständlich" (Lask, 174) sein. Die Kategorie, welche
damit oberhalb der einzelnen Sinnsphären auftritt, läßt sich also
nur dadurch charakterisieren, daß sie als die Kategorie des Ur-
verhältnisses von Form und Materie bezeichnet wird; und in der
Tat ist dann diese neue Kategorie, da sie als Kategorie auf der
Seite der Form steht, „logische Form zwischen logischer Form
und Material" (s. o.). So hat sich das Wesen der logischen Form
44 Anwendung der Kategorie
bestimmt als die Beziehung von Form und Materie; diese Be-
ziehung macht den Sinn dessen aus, was unter logischer Form
zu verstehen ist, so daß die logische ägxr] weder in der Form
noch in der Materie je für sich, sondern in der als die Beziehung
von Form und Materie erkannten Form aller Sinns'iMi/ren läge *). Aber
indem Lask zwar die Korrelatstruktur der Begriffe Form und
Materie erkennt, jedoch vergißt, wie dieses Korrelatum Allge-
meingültigkeit nur besitzt, weil es den Oberbegriff für alle ein-
zelnen Sinnsphären abgibt, so tritt die Formnatur des Form-
Materieverhältnisses, obwohl wir sie ausgesprochen finden, doch
nicht bewußt heraus; so wenig, daß jenes Verhältnis, da es nicht
„auf die Seite" der Form tritt, in der (unbestimmten) Mitte
zwischen Form und Materie stehen bleibt und dann wieder in diese
beiden Elemente für sich auseinanderfällt: An der Stelle der „lo-
gischen Form zwischen logischer Form und Materie" finden sich
eine „vorformale Geltung" und ein „unbetroffenes Etwas" ein
(Lask, 174 und passim); und der Dualismus des Apriori und
des Aposteriori ist nicht wirklich überwunden. Daher fehlt
bei Lask trotz seines Ausgangspunktes im Sinn-Begriffe doch
das Anwendungsproblem der Kategorie; dieses Fehlen äußert sich
darin, daß für die Urphänomene der vorformalen Geltung, des
unbetroffenen Etwas und des (nachträglich eintretenden) Ur-
verhältnisses zwischen ihnen einerseits und den Gattungsbegriff
der Sinnsphären andererseits kein Wirkungsverhältnis statuiert
wird. Zwar wendet sich Lask gegen den Versuch Kroiiers, zwei
Aprioritäten, ästhetische und logische, einfach übereinandergebaut
zu denken (Lask, 105 f. Anm.) und duldet in solchem Falle nicht
das Nebeneinanderstehen von logischem und nicht-logischem
Apriori, scheint also auf die Durchführung des Anwendungs-
problems des logischen Aprioris zu dringen, setzt dann aber im
Prinzip gar keinen Zusammenhang zwischen dem allgemeinen
Form-Materialbegriff und dem Begriff des Sinnes; und darin wirkt
nun zum letztenmal die positivistische Einschätzung des Inhaltes;
sie gebietet Lask, die Spezifikation zu den einzelnen Sphären als
einen von außen an den allgemeinen Form-Materiebegriff her-
•=) Siehe hierzu die unten folgende Anm. über einen neuen Aufsatz Rickerts.
Antikantianismus 45
antretenden „Bedeutungsbestimmiings"vorgang zu denken, und
verhindert, daß er den allgemeinen Gegenstandsbegriff (Form-
Materie) in den Sphären des Sinns, d. h. der Komplexität von Form
und Materie, sich auswirken lasse. So verneint sich der Kantianis-
mus am Ende seiner Entwicklung selbst: Um nichts als das po-
sitive Wissen zu begründen, hatte er das Anwendungsproblem der
Kategorie eingeführt (Cohen); jetzt ist die Kategorie wieder auf
alles Wissen gerichtet; aber das Anwendungsproblem ist ihr ab-
handen gekommen. So muß der Kantianismus entweder den
Geyendand de)- Pliüosoplne positwistisch ablehnen, um dem Äjnion
eine Anicendung zukommen zu lassen, oder demApriori die Anwendung
nehmen, um den Gegenstand der Philosophie zu setzen.
III
Wir haben im Kantianismus den Gegenpol zu Hegel: Wo sich
bei diesem das Anwendungsproblem der Kategorie und der all-
gemeine Gegensatz von Apriori und Aposteriori vermischen, da
sind sie im Kantianismus so stark einander entgegengesetzt, daß
das eine das andere überhaupt nicht neben sich duldet; und
wieder erweist sich der Kantianismus als durch unbegriffen ge-
bliebene Gegensätzlichkeit abhängig von Hegel. Der Gegensatz
der beiden aber hat uns die Problemstellung geklärt, und wir
können ihnen folgen, gerade wenn wir an die systematische Be-
handlung gehen.
Das Problem gebietet: Den Gegenstand der Philosophie selber
durch Anwendung des kategorialen Aprioris zu bestimmen. Das
dritte Pv,eich (des Sinnes) ist das Reich der angewandten Kategorie,
also das Reich der Philosophie. Der allgemeine Kategorie-
begriff wiederum ist der Begriff vom Gegensatz des Apriori und
Aposteriori. So geht die Komplexität der konkreten Sphären
auf den abstrakten Gegensatz von Form und Inhalt der Erkennt-
nis zurück. Nur insofern nämlich Erkenntnisform und Erkenntnis-
inhalt gegensatzbedeutend sind, nur insofern sie einander wechsel-
seitig bedürfen, um sich voneinander abzustoßen, ist der Punkt
ihres Zusammenkommens nicht vorgeschrieben, sind die be-
stimmten Begriffe nicht aus dem Kategoriebegriff zu ent-
wickeln, nicht in ihm gegeben. Alle bestimmten Begriffe
46 Anv/endung der Kategorie
sind allerdings Tcoiikrete Begriffe, d. h. Einheiten von Bedeu-
tung und Material; aber kein bestimmter Begriff kann den
unbestimmten Begriff ausschließen, und keiner ist aus ihm ge-
wonnen. Der unbestimmte, d. h. dem Inhalt entgegengesetzte
Begriff ist in den bestimmten Begriffen, weil in ihnen Begriff-
heit ist, angewendet; der konkrete Begriff (z. B. jeder „Wert")
ist angeivandte Kategorie. So steht vor dem konkreten Begriff
und von ihm geschieden die reine Kategorie: sie das lebendige
Zeugnis dafür, daß das Erkennen sich selber erkennbar ist. Da
auch das Erkennen des Erkennens nicht anders sich verhält als
nur irgendein v/irkliches Erkennen, so wird Hegels Einwand gegen
dasselbe hinfällig*). Es wird sogar erst durch das Erkennen
des Erkennens, d. h. durch den allgemeinen Kategoriebegriff, das
lirbildliche Beispiel eines konkreten Begriffes gegeben und erst
so Hegels Entdeckung der Begriff skonkretheit wahrhaft gesichert:
Denn auch dann, wenn die von den Kantianern stammende (trans-
zendentallogische) Erkenntnisbeziehung auf Außerlogisches aus
dem Begriff des Begriffes entfernt ist, dieser als nackter Begriff
dasteht, existiert er nur in dem Status der Angewendetheit, in
der Anwendung nämlich auf seine Abstrahiertheit selbst. Diese
ist sein ihm einen Inhalt gebendes Material; Abstrahiertheit heißt
der Gebrauch, den man von ihm macht, ist seine Gegenständlich-
keit. Obwohl weder Kategorie ohne Begriff noch Begriff ohne
Kategorie möglich ist, so werden doch Kategorie und Begriff
nicht im mindesten zum Selben; der Bestand reiner Kategorien
und die philosophischen Einzelbegriffe fallen selbst dann nicht,
zusammen, wenn die philosophischen Einzelbegriffe, um die es
sich handelt, die Kategorien selber sind; eine schwierige — eine
endgültige Einsicht! Wenn damit Hegels Standpunkt vernichtet
ist, so hat nicht minder der kantianische seine Selbstauflösung er-
♦) Vgl. dafür das für die Zeit des Althegelianismus treffende Apergui
„Sehen Sie, gerade da, wo die Enzyklopädie den idealen wissenschaftlichen
Standpunkt der kritischen Philosophie begreifen sollte und könnte, da ver-
wundert sie sich nur und hört nur auf sich zu verwundern, um uns zu ver-
sichern: dai3 diese ihre Logik eben jene Untersuchung ist' und somit die Kritik
überflüssig macht". (Briefe gegen die Hegeische Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften, 1830, 2. Heft, 42.)
Die eifjene Ansicht 47
fahren; denn als es ihm mißlang, zu einem apriorilosen Aposteriori,
zu einem aposteriorilosen Apriori zu kommen, da gerieten ihm
die entgegengesetzten Extreme seines dogmatischen Grundgegen-
satzes, das Apriori und das Aposteriori, unter den Dualismus
und zersprangen je zu einer Einheit von Apriori und Aposteriori,
dort zur Einheit des unbestimmten Begriffes, hier zur Einheit
des bestimmten Begriffes. Zwar versucht sich der Dualismus
solchen Konsequenzen eine Zeitlang durch immer erneute Ab-
straktionen, eine Art von Ideenflucht zu entziehen, aber irgendwo
kommt er selbst dazu, die Kategorialität der .-rocürr/ vh] und die
spezifisch logistische Inhaltlichkeit der Allgemeinen Form ein-
zusehen. Und dann eben steht er vor dem Punkte, bei dem wir
uns hier befinden, vor der schlechthinnig unauflösbaren Zu-
sammengehörigkeit von Apriori und Aposteriori*), einer Zu-
sammengehörigkeit, die sich aber ebenso als Synthese im Aprio-
rischen (Kategorialität) wie als solche im Aposteriorischen (kon-
krete Begriffheit) äußert. Denn die Einheit von Apriori und
Aposteriori ist selbst ebenso ein Aposteriori wie ein Apriori,
so daß der Kategoriebegriff gerade erst dadurch, daß er selbst
konkreter Begriff ist und damit eben den Zusammenhang
von Kategorialität und konkretem Begriff schafft, den Namen
Kategorie verdient. Die transzendentale Deduktion de)- Be-
*) Während der Drucklegung wird raii* von Rickert eine seitdem im
Logos erschienene Abhandlung {Das Eine, die Einheit und die Eins, Bemer-
kungen zur Logik des Zahlbegriffes) freundlichst zur Verfügung gestellt. Ein-
leitimgsweise enthält dieser Aufsatz eine vollständig neue Darstellung des
Gegenstandsbegriffes , in welcher Rickert sich höchst interessanterweise gerade
in die Mitte zwischen Lasks Position und der oben von mir eingenommenen
stellt: Er akzeptiert nämlich Lasks Begriff einer Form zwischen Form und
Material, dessen spezielle Entstehungsgeschichte übrigens auf Rickcrts frühere
Schriften selbst zurückweist, und bezeichnet sie mit ihm als Urphänomen, ver-
meidet dann aber den erneuten Zerfall des ürverhältnisses in angeblich nur-
Form und angcldich nur-Inhalt, setzt vielmehr grundsätzlich die Synthesis von
Form und Inhalt als das Letzte; und so trifft, zum erstenmal seit dem Be-
ginn der neukantianischen Richtung, das oben für sie angegebene Merkmal, die
Scheidung von Apriori und Aposteriori, nicht mehr zu; mit anderen Worten:
der Neukantianismus ist am Ende, und Rickert, bis jetzt heftigster Verächter
der Dialektik, tut der grundsätzlichen Forderung der Hegelianer nach An-
erkenntnis der Korrelatstruktur von Fonn und Inhalt genug und uulcrniinmt
48 Anwendung der Kategorie
griff slwnhretheit gründet sich also auf die Deduktion der
reinen Kategorie, insofern diese zugleich je ein einzelner philo-
sophischer, ein konkreter Begriff ist: die Nicht- Aposteriorität
als Aposteriorität! Die Unangewendetheit als Angewendetheit!
Die reinen Kategorien selber als philosophische Begriffe! Im
Innerlogischen ist die Kategorie zugleich Begriff, aber die Ka-
tegorialität nicht Begriffheit. Die Kategorie erweist ihre Ka-
tegorialität nur insofern sie auch Nicht-Kategorie, nämlich ein
Punkt in der Mannigfaltigkeit philosophischer Erkenntnisse ist.
Um es also zu wiederholen: Es gibt eine rein apriorische und eine
rein aposteriorische Anivenchmg der Kategorialität, (aber nicht
ein reines Apriori, nicht ein reines Aposteriori) ; die apriorische
Anwendung ist, als Anwendung, das Urbild aller möglichen Anwen-
dungen, also auch der aposteriorischen; die aposteriorische An-
vfendbarlceit der Kategorien deduziert durch die Tatsache ihrer
reinen Anwendung! So ist endlich das Hypothetische, das seit-
dem das Anwendungsproblem bei Kant aufgekommen ist, dem
Kategorienprinzip angehaftet hat (Maimon!), verschwunden; denn
die „Möglichkeit" der Anwendung der Kategorie auf Objekte ist
durch die „Tatsache" der Anwendung der Kategorie auf sich
selbst eben zur Tatsache geworden. Die Kategorien werden
sogar eine Neuableitung der Drei-Einheit. Insofern hat Eickert den Gegensatz
von Hegel und Kantianismus überwunden, fällt dann aber, obwohl er sich aus
dem Kantianismus selbst ausgeschlossen hat, in ihren Gegensatz zurück, indem
das Urphänomen der Form-Inhalt-Einheit nicht als Begründung des Begriffs
durch die Kategorie, Selbstanwendimg der Kategorie, sondern nur als Gattungs-
begriff aller Begriffe verstanden wii-d. Das Anwendungsproblem ist noch immer
nicht zu zentraler Geltung gekommen (weshalb den Aufstellungen Eickerts
ebenso wie denen Lasks die methodische Ableitung fehlen muß), und Eickert
hätte nun die Wahl, entw-eder die Kategorie durch den Begriff verschwinden
zu lassen (Hegel) oder den Begriff durch die Kategorie (Kantianismus), d. h. die
Form-Inhalt-Einheit entweder als Wesen aller geltenden Erkenntnisse oder
als solches der reinen Kategorien zu nehmen (so daß j etzt überhaupt der Punkt,
an dem die Gegensätze, Hegel imd Kantianismus, ineinander übergehen, in
der Wirkhchkeit erreicht ist), während in Wahrheit einzusehen ist, daß die
Eorm-Inhalt-Einheit zwaschen (an sich formaler) Kategorie und konkreter Er-
keimtnis das Band der Geltungsgeltung knüpft und der logische Gegenstand
nicht zu „beschreiben", sondern zu „begründen" ist (siehe die Ausführungen
im Text).
Die eigene Ansicht • 49
„fertig" im innerlogischen Gebrauch; denn nachdem sie sich an
sich selbst als gegenstandsbestimmend erwiesen haben, kann
ihnen in dieser Beziehung nichts zuwachsen. Der außerlogische
Gebrauch der Kategorien, ihr Gebrauch i. e. S., ist nicht zu deuten
als die Beziehung der noch unangewandten Kategorie auf ein
außerkategoriales Material, sondern als die Beziehung des lo-
gischen Gegenstandes auf den außerlogischen Gegenstand, eine
Beziehung, der die kategoriale Gültigkeit nicht fehlen kann, da
sie im logischen Gegenstand für jedes und alles zugesichert ist.
Das Selbstbewußtsein der Kategorie begleitet also alle unsere
Erkenntnisse; deshalb bringt die Logik eine Methode des Er-
kennens hervor, die schlechthin für alle Gegenstände gilt: die
systematische Methode; sie verwirklicht die Forderung der Ka-
tegorialität, das Erkennen auf seinem Gange zu begleiten, bringt
aber nicht die Gegenstände in individuo hervor, sondern, selbst
überall dieselbe, fixiert sie nur für die Wissenschaft (die eben
durch sie entsteht). Die Kategorien sind so als reine Denk-
begriffe unfähig, auf Außerkategoriales in irgendwie bestimmender
Weise hinzudeuten; es gibt keine Verhältnisse zwischen Einzelkate-
gorien und außerlogischen Einzelbegriffen; die. Kategorien laufen
nicht den Grundsätzen einer reinen Naturwissenschaft oder den
Momenten, die den ästhetischen Genuß zusammenstellen, parallel.
Solche Gedanken, wie die, welche mich seinerzeit bei dem Ver-
such einer Systematisierung geleitet haben (s. o.), sind energisch
abzuweisen. Denn in jeder einzelnen Erkenntnis liegt gleichsam
das ganze Reich des reinen Denkens zugrunde, und das System
der Kategorien verliert ganz das reizende Interesse, daß
sich aus ihm das System der Erkenntnisse der Natur-, Ge-
schichts-, Kunstphilosophie usw. quasi ableiten lasse. Der Be-
stand der apriorischen Denkformen ist nicht umgrenzt im Ver-
hältnis zu der Mannigfaltigkeit der außerlogischen Aposteriori-
täten, und die Anwendung der Kategorien auf Alogisches (d. h.
Aposteriorisches) ist an keine Gesetze der Vermittlung (Sche-
mata oder dergl.) gebunden; sondern das reine Denken ist überall
zum Reich der Gegenstände bestimmt; und so wenig der Bestand
der apriorischen Denkformen im Verhältnis zu den außerlogischen
Mannigfaltigkeiten begrenzt ist, so wenig überhaupt im Verhält-
EVirenherff, Die Piirteiunt,' der l>hilosoi)hic' 'i
50 Anwendung der Kategorie
nis ZU den Mannigfaltigkeiten der Philosophie im ganzen,. so wenig
also auch im Verhältnis zu den innerlogischen Mannigfaltigkeiten
selber. Das bedeutet dann, daß das Reich des reinen Denkens,
das System der Kategorien, sich noch so sehr in sich verviel-
fältigen mag, ohne dadurch dem Reich der außerlogischen Gegen-
stände näher zu kommen; es bedeutet außerdem, daß bei jeder
Einzelkategorie als einem Objekt des Erkennens der ganze Be-
stand reiner Denkformen mitgewirkt hat, der Bestand so durch
seine Objektivierung zu philosophischen Begriffen gar nicht zu
einem Abschluß kommt; denn als „Bestand" ist er in jeder Einzel-
kategorie in abgeschlossener Totalität tätig; insofern ist das
System der Kategorien an jedem Punkte seiner Darstellung in
der Logik als Ganzes da, ist zugleich, indem diese Darstellung dem
Ganzen nie näher kommt, nirgends als Ganzes. So gibt es einen
unendlichen Progressus des Kategoriensystems, durch den das-
selbe gleichwohl nicht an seiner vollendeten Totalität verliert.
Das zieht dann in der Tat eine vollkommene Revolution unserer
traditionellen Vorstellungen vom System der Kategorien nach
sich: Es ist das in sich grenzenlose Reich des Gedankens; grenzen-
los deshalb, weil es nirgendwo an Nachbarländer stoßen kann,
so daß die Grenzenlosigkeit der Kategorien die einzige Grenze
dieses Reiches ist; es ist dem reinen Denken verwehrt, in
sich selber aus sich selber herauszukommen. Aber dieses in
sich grenzenlose System ist gleichwohl an jedem Punkte seiner
selbst als Totalität da, ist so, obwohl es in seinen Inhalten nie
aus sich herauskommen kann, in seiner Ganzheit oder in seinem
Begriff immer aus sich heraus, immer im Verhältnis von Gegen-
ständlichkeit und Gegenstand befangen; und so ist eben dieses
Reich, das in sich nie aus sich herauskommen kann, zugleich als
Ganzes auf das Ganze Reich der Gegenstände bezogen — als
Gesamtbestand der reinen Gegenstandsbegriffe auf den Gesamt-
bestand der Erkenntnisobjekte (dem es selbst wiederum angehört).
In der Tat, nirgends kann ein bestimmtes Verhältnis zwischen
einem einzelnen Gegenstandsbegriff und einem einzelnen Erkennt-
nisobjekt obwalten; die Anv/endung der Kategorien unterliegt
keiner Gebrauchsregel als der Regel der Freiheit selber; und die
schlecMhinnige Freiheit des Denkens ist das einzige Gesetz, das
Die eigene Ansicht 51
uns für das Erkennen des Reichs der außerlogischen Gegenstände
befohlen wird.
Welch' neue Wendung muß nun aber das MannigfaltigJceits-
problcm nehmen, nachdem das Apriori-Aposteriori gar nicht mehr
Verhältnis von Einheit zur Mannigfaltigkeit, sondern die Rela-
tion von zwei Mannigfaltigkeiten, der logischen und der alogischen,
geworden ist! Ist doch jetzt alles Alogische unableitbar aus der
Mannigfaltigkeit des Logischen! diese deutet nicht stärker auf
den allgemeinen Wert: schön hin als auf ein einzelnes Kunst-
werk, nicht stärker auf den Kulturbegriff als auf ein einzelnes
Kulturereignis. Die Erforschung des Inhalts ist vollkommen frä-
gegehen. Während aber innerhalb der innerlogischen Mannigfaltig-
keiten die vollendete Freiheit des Denkens nicht nur herrscht,
sondern auch durch sich selbst gesetzt ist, während also das Er-
kennen von Kategorien ungehindert weitergehen darf, weil sein
Ausdehnen die ihm entsprechende Gegenstandssphäre (die der
Kategorien) ständig mit erweitert, ist solch' absolute Autonomie
dem Erkennen der außerlogischen Gegenstände nicht gegeben;
denn wenn für den Innerlogiker seine Freiheit im Erkennen von
Kategorien wieder auf Freiheit steht, ausgeübt oder nicht aus-
geübt werden kann (Autonomie zur Autonomie!), ist ganz anders
im Außerlogischen nur derart freie Mannigfaltigkeitsbegrenzung
zugestanden, daß von den Kategorien aus allerdings kein be-
stimmter Begrenzungsversuch unternommen, aber gleichwohl das
Gebot zu wenigstens irgendeiner Begrenzung errichtet wird; denn
hier ist der Umfang des Gegenstandskreises kein Mitreisender
des Erkennenden. Aber allerdings von dem „Verbieten" von Man-
nigfaltigkeiten ist die Philosophie befreit. Die Grenze zwischen
dem, was zur Philosophie gehört, und dem, was nicht als Geltendes
sein kann, ist auf jeden Fall selbst ein Bestandteil philosophischen
Wissens. Der systematische Abschluß ist von dort zu holen,
wo das Bedürfnis nach ihm besteht, aus dem Alogischen; das
Reich der Gegenstände rundet sich selbst zur Einheit. Wohl ist
somit eine reine Freiheit für das Ziehen der Mannigfaltigkeits-
grenzen verliehen, aber die Freiheit muß auch ausgeübt werden;
sie ist Gebot; die realen Disziplinen kommen erst damit, daß
sie diese Grenze finden, zu möglicher Totalität; das ist ilir Unter-
4*
52 Anwendung der Kategorie
schied gegen die logische Disziplin selber; ihnen ist Heteronomie
ihrer Autonomie eigen; die Freiheit zur inhaltlichen Totalisierung
ist nicht ihr eigener, in ihnen entsprungener Wille, sondern ist
ihnen aufgegeben. Für die reinen Aprioritäten ist das Mannig-
faltigkeitsproblem kein Problem; für die realen Disziplinen ist
es eine Lebensfrage (damit ist nicht nur der Kantianismus, son-
dern auch Hegel abgelehnt). Den realen Disziplinen sind die Man-
nigfaltigkeiten nicht bloß gegeben, ist doch in ihnen nichts als
Mannigfaltiges einschl. ihrer obersten Begriffe; aber das Problem
der Mannigfaltigkeiten ist ihnen allerdings gegeben — von der
Logik. Daher ist es seinem Ursprung nach innerlogisch, seiner
Bedeutung nach außerlogisch, so daß in ihm Logik und Alogik
zusammengehen • — in der realen Philosophie. Denn wo eine
Grenze gezogen wird, da findet eine Entscheidung über Zuge-
hörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur Philosophie statt und
wird also an der Einheit ihres Ganzen gebaut. Dafür, daß
die Philosophie als Ganzes zustande kommt, ist Bedingung, daß
jede einzelne Disziplin im Lauf ihrer systematischen Selbstent-
wicklung die ihr eigene Grenze zwischen Ewigkeit und Nicht-
Ewigkeit (insofern nicht eine Disziplin ganz ohne ausdrückliche
Grenze ist) deduziert; aber auch das Hinausgewiesene gehört kraft
der Kategorie der Nicht-Ewigkeit zum Totum des Wissens; und
so wird durch keine Grenze aufgehoben, daß die Philosophie
Universalwissenschaft ist; außer ihr gibt es keine Wissenschaften
in der Welt*).
*) Über die Anwendung des neuen Mannigfaltigkeitsbegriffes auf den Be-
griff der PhilosopMegeschichte maclit sich vielleicht der Leser aus sich selbst
die Gedanken, die ich hier unterdrücke.
IL Kapitel
Der Konflikt im Verhältnis von Logik und
Philosophie
Punkt ill: Vernunft und Wirklichkeit
Die Philosophie hat nicht die Freiheit, das Denken sein zu
lassen; darin scheint ihr eine letzte, zwar selbstverständliche,
aber doch zu vermerkende Grenzmöglichkeit ihres Wesens ge-
setzt zu sein. Irgendeine Art von Rationalismus muß man ihr
wohl als ein notwendiges Übel nachsehen; und vielleicht täte
sie am besten, aus solcher Not eine Tugend zu machen. Die
Philosophie Hegels, kann man sagen, hat diesen nie ausgespro-
chenen Rat befolgt. In Hegel lebt daher ein radikaler Rationa-
lismus, der bewußt und grundsätzlich die Möglichkeit von Er-
kenntnisgrenzen von sich weist; sei man doch über eine Grenze,
die man festzustellen glaube, längstens hinaus! Es ist dies ein
Gedanke von zwingender Kraft; Hegel hat sich, ihn einmal ge-
faßt, seiner Macht nie wieder zu entziehen vermocht. So stellt
er sich, weil jede Transzendentierung als philosophische Idee
sich wieder für bewußtseinsimmanent gibt, auf den grundsätz-
lichen Standpunkt einer absoluten Immanenzphilosophie. Daraus
rechtfertigt sich ihm sein Panlogismus. Alle Versuche, eine
Unbegreiflichkeit als ein Letztes zu fixieren, sind ihm Don
Quixoterien. Das ist zu bedenken, um Hegels Grundthese: die
Wirklichkeit sei vernünftig, die Vernunft auch wirklich! ohne die
üblichen Mißdeutungen zu verstehen. Hegel spricht mit ihr das
Doppelte axLs: die Wirklichheitsimmaiienz der Vernunft — die Vernunft-
immanenz der Wirldichlceit. Vernunft und Wirklichkeit decken
sich in ihrem Umfang, wobei die Vernunft die Einheitskraft ist,
welche den Umkreis zieht. Daher hat die Wirklichkeitsimmanenz
der Vernunft für Hegel einen nur sekundären Wert und ist mehr
eine polemische Spitze gegen die kantische Philosophie, von der
die Idee entgegenständlicht worden war. Mehr bedeutet dagegen
56 Vernunft und Wirklichkeit
die Vernunftimmanenz des Wirklichen, ist nicht nur These, son-
dern Prinzip, nicht nur Prinzip, sondern das Ein und Alles der
Hegeischen Philosophie: alles Wirkliche ist Geist!
Die absolute Idee ist der Träger dieser Wirklichkeitsvernunft,
Schon bei ihrer Einführung in der Logik wird sie als Synthese
der theoretischen und der praktischen Idee dargestellt und anti-
zipiert daher, daß Vernunft (das erkennende Bewußtsein) und Gott
(die tätige Wirklichkeit) zusammentreffen müssen. Dadurch ist
die absolute Idee gleichsam der spiritus rector im Hegeischen
Gedankenentwurf; von den einzelnen Begriffen kommend, wird
man immer irgendwie auf sie als ein Letztes stoßen; daher emp-
fiehlt es sich, dieses Letzte bei unserer Deutung zu einem Ersten
zu machen, wobei uns Hegel selbst zu Hilfe kommt. Denn es heißt
Wissenschaft der Logik, 1816, III, 371/373: „Alles übrige ist Irr-
tum, Trübheit, Meynung, Streben, Willkühr und Vergänglichkeit;
die absolute Idee allein ist Seyn, unvergängliches Leben, sich
tüissendr. Wahrheit, und ist alle Wahrheit.
Sie ist der einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie.
Indem sie alle Bestimmtheit in sich enthält und ihr Wesen diß
ist, durch ihre Selbstbestimmung oder Besonderung zu sich zu-
rückkehren, so hat sie verschiedene Gestaltungen, und das Ge-
schäft der Philosophie ist, sie in diesen zu erkennen. Die Natur
und der Geist, sind überhaupt unterschiedene Weisen, ihr Daseyn
darzustellen; Kunst und Religion ihre verschiedenen Weisen, sich
zu erfassen und ein sich angemessenes Dasein zu geben; die Phi-
losophie hat mit Kunst und Religion denselben Inhalt und den-
selben Zweck; aber sie ist die höchste Weise, die absolute Idee
zu erfassen, weil ihre Weise die höchste, der Begriff, ist. Sie
faßt daher jene Gestaltungen der reellen und ideellen Endlich-
keit, so wie der Unendlichkeit und Heiligkeit in sich, und be-
greift sie und sich selbst. Die Ableitung und Erkenntnis dieser
besonderen Weisen ist nun das fernere Geschäft der besonderen
philosophischen Wissenschaften, Das Logische der absoluten
Idee kann auch eine Weise derselben genannt werden; aber in-
dem die Weise eine besondere Art, eine Bestimmtheit der Form
bezeichnet, so ist das Logische dagegen die allgemeine Weise,
in der alle besonderen aufgehoben und eingehüllt sind. Die lo-
Heo-el 57
gische Idee ist sie selbst in ihrem reinen Wesen, wie sie in ein-
facher Identität in ihren Begriff eingeschlossen, und in das
Scheinen in einer Formbestimmtheit, noch nicht eingetreten ist.
Die Logik stellt daher die Selbstbewegung der absoluten Idee
nur als das ursprüngliche Wort dar, das eine Äußermig ist, aber
eine solche, die als Äußeres unmittelbar wieder verschwunden
ist, indem sie ist; die Idee ist also nur in dieser Selbstbestimmung,
sich zu vernehmen, sie ist in dem reinen Gedanlcen, worin der
Unterschied noch kein Andcrsseyn, sondern sich vollkommen
durchsichtig ist und bleibt. — Die logische Idee hat somit sich
als die unendliche Form zu ihrem Inhalte; — die Form, welche
insofern den Gegensatz zum Inhalt ausmacht, als dieser die in
sich gegangene und in der Identität aufgehobene Formbestim-
mung so ist, daß diese konkrete Identität gegenüber der als
Form entwickelten steht; er hat die Gestalt eines anderen und ge-
gebenen gegen die Form, die als solche schlechthin in Beziehung
steht, und deren Bestimmtheit zugleich als Schein gesetzt ist.
— Die absolute Idee selbst hat näher nur dies zu ihrem Inhalt,
daß die Formbestimmung ihre eigene vollendete Totalität, der
reine Begriff, ist. Die Bestimmtheit der Idee und der ganze Ver-
lauf dieser Bestimmtheit nun, hat den Gegenstand der logischen
Wissenschaft ausgemacht, aus welchem Verlaufe die absolute
Idee selbst für sich hervorgegangen ist; für sich aber hat sie
sich als diß gezeigt, daß die Bestimmtheit nicht die Gestalt eines
Inhalts hat, sondern schlechthin als Form, daß die Idee hier-
nach als die schlechthin allgemeine Idee ist. Was also hier noch
zu betrachten kommt, ist somit nicht ein Inhalt als solcher, son-
dern das Allgemeine seiner Form, — das ist, die Methode'.
Innerhalb dieses Zitates ist alles, was über die absolute Idee
Hegels zu sagen ist, auch wirklich gesagt: S. 372 heißt es:
„Sie [die absolute Idee] ist der einzige Gegenstand und Inhalt
der Philosophie"; S. 373 steht: „Die logische Idee hat somit sich
als die unendliche Form zu ihrem Inhalt." Beide Gedanken wieder-
holen sich in den anderen Schriften Hegels, jedoch nirgends in
so umrissener Gestalt wie hier. Was uns betroffen macht, ist
daß die Idee fast in einem Atem als Inhalt und als Form be-
zeichnet wird; als wäre beides dasselbe. Als Inhalt der Philo-
58 Yemunft und Wirklichkeit
sopMe „hat sie verschiedene Gestaltungen . . . Die Natur und
der Geist sind überhaupt unterschiedene Weisen, ihr Daseyn
darzustellen; Kunst und Religion ihre verschiedenen Weisen, sich
zu erfassen . . .; die Philosophie hat mit Kunst und Religion den-
selben Inhalt und denselben Zweck"; was die Natur „eigent-
lich" ist, das ist nichts anderes als die absolute Idee, und Kunst,
Religion und Philosophie sind alle, mögen sie sich auch in der
Schale unterscheiden, im Kern identisch, sind Dasein der abso-
luten Idee. Dazu wird nun aber die Idee als Begriff der Wissens-
form gestellt, unmittelbar daneben! und der Absicht nach in dem
Sinne, daß „das Logische der absoluten Idee . . auch eine Weise
derselben genannt werden" kann und zwar „die allgemeine Weise".
So scheint der drohende Selbstwiderspruch umgangen zu sein.
Jedoch „die allgemeine Weise" ist mehr als „irgend eine Weise";
und wenn die logische Idee als die allgemeine Weise der abso-
luten Idee charakterisiert ist, dann nimmt sie unter den ver-
schiedenen Erscheinungsweisen der absoluten Idee einen bevor-
zugten Platz ein. So ergibt sich folgendes Bild: Die absolute
Idee hat verschiedene Weisen, in denen sie je irgend einen Inhalt
der Philosophie ausmacht; nur in einem einzigen Fall bedeutet
sie die Form der Philosophie, und gerade dieser eine Fall ist die
allgemeinste Weise, in der die Idee auftritt. Die Fonji der
Fhilosophie ist der Gattimgshegriff ihrer Inhalte. Aber weit
entfernt, daß Hegel sich damit in einen Widerspruch verwickele,
ist es vielmehr gerade seine Grundüberzeugung, daß zwischen
Form und Inhalt kein Gegensatz gemacht werden und die Form
daher wohl die Gattung der Inhalte sein dürfe. „Nach der All-
gemeinheit der Idee aber ist sie [die Methode] sowohl die Art und
Weise des Erkennens, des subjektiv sich wissenden Begriffs, als
die objektive Art und Weise, oder vielmehr die Substantialität
der Dinge'' (375). Die Form-Bedeutung der absoluten Idee sucht
so die Brücke zu der Inhalts-Bedeutung zu schlagen; denn wenn
die Methode des Erkennens aus den Gegenständen selbst sich
ergeben soll oder besser, wenn die Methode so ist, daß sie je-
weils von den Gegenständen selbst hervorgebracht wird, dann
ist die Form des Erkennens, welche wir als seine Methode be-
zeichnen, mehr als Form; aber doch nur mehr als eine solche
Hegel 59
Form, die als ein äußerlich herbeigebrachtes Werkzeug gilt,
weniger jedoch als der Inhalt der Dinge selbst, wenn anders der-
selbe sich von der überall einundderselben Methode noch irgend-
wie unterscheiden soll. Damit daß die Methode als die notwendige
Form des Erkennens und somit als ein mit der Gegenständlichkeit
der Gegenstände verwachsenes Wesen begriffen wird, werden
doch nicht die Gegenstände selbst, sondern nur ihr Verhältnis
zum Erkennen beleuchtet. Es wiederholt sich hier ein bereits
oben von uns beobachteter Vorgang: Die polemische Stellung
zum Subjektivismus in Sachen des Logischen, in die sich Hegel
gedrängt sehen muß, veranlaßt ihn, die Beziehung von Denken
und Wirklichkeit, anstatt bloß seiner eigentlichen Absicht, sie
zu verinnerlichen und zu vernotwendigen, genug zu tun, gänzlich
aufzuheben (in der Terminologie Hegels: Die Synthesis hat den
Gegensatz der Thesis und Antithesis, deren antinomische Auf-
fassung überwunden wurde, nicht zu erhalten verstanden). Wir
sehen so zwar, daß Hegels Auffassung der Methode uns bei der
Interpretation seines Panlogismus nicht über das herausgebracht
hat, was wir uns an Hand seines Begriffs der absoluten Idee
bereits auseinandergesetzt hatten; aber die Wiederholung hat ge-
klärt: Wenn Hegels Philosophie die Spannung, die in der dop-
pelten Bedeutung der absoluten Idee liegt, ertragen kann, so
wird diese Selbsterhaltung ihr durch den Begriff der Erkenntnis-
fnethodc ermöglicht; wir müssen daher den Gegensatz der beiden
Bedeutungen auf den Begriff der Methode gleichsam übertragen;
dann gewinnen wir einen doppelten Methodenbegriff, einen, der sich
auf die Fortn des Erkennens, einen anderen, der sich auf dessen
Inhalt bezieht. Jenen nennen wir die Methode des Antwortens,
diesen diejenige des Fragens. Und nun sehen wir wohl, wie Hegels
Panlogismus zu verstehen ist als die Identifizierung der Methode
des Fragens mit der des Antwortens. Als tätiges Prinzip der Methode
des Antwortens (dessen, was wir hier gewöhnlich das Prinzip
einer Fhilosophie nennen) ist die absolute Idee der Begriff, der
„die unendliche Form zu seinem Inhalt" hat; als tätiges Prinzip
der Methode des Fragens (dessen, was wir für gewöhnlich das
Problem einer Philosophie nennen) ist die absolute Idee der Be-
griff, welcher „der einzige Gegenstand und Inhalt der Philo-
60 Vernunft und Wirklichkeit
Sophie" sein soll. Dann allerdings, wenn das Fragen nur auf das-
jenige geht, was von der Antwort schon bereit gehalten wird,
dann ist die Methode des Erkennens nicht mehr von „der Sub-
stantialität der Dinge" zu unterscheiden! dann ist es einzig und
allein „das Geschäft der Philosophie, sie [die absolute Idee] in
diesen [in den verschiedenen Gestaltungen] zu erkennen", und
den Disziplinen bleibt nichts übrig, als daß „die Ableitung und
Erkenntnis dieser besonderen Weisen [der absoluten Idee] . . .
das fernere Geschäft der besonderen philosophischen Wissen-
schaften" sei (372). Nicht also die Ausdehnung des Erkennens
über schlechthin alle Gegenstände noch das vorbehaltlose Ein-
gehen dieser in die Erkenntnis machen das panlogistische Wesen
Hegels, sondern die einseitig ausschließliche Einstellung der
Problemstellung auf den Logos rechtfertigt erst die Charakteri-
sierung als Panlogismus. In der gesamten Philosophie Hegels
wird nach gar nichts anderem gesucht als nach der absoluten
Idee; da aber diese außerdem als Form des Erkennens wirkt
(Methode des Antwortens), so beantwortet niemand denn sie selber
die Fragen, die nach ihr fragen; sie erkennt sich selber. Und in
der Tat ist die Selbsterkenntnis der absoluten Idee der von Hegel
selbst gewollte Gegenstand der Erkenntnis; aber anderseits ist
die Selbsterkenntnis der absoluten Idee bereits vollzogen, sobald
sie sich als die unendliche Form weiß (logische Weise der ab-
soluten Idee). So schließt sich zwar der Ring, „der Kreis der
Kreise", aber wozu sind die Disziplinen da, welche nach der Logik
kommen? die Kreise selbst sind verschwunden, weil nur die ab-
solute Idee selber, nur das Daß der Vernunftimmanenz der Ver-
nunftimmanenz geblieben ist. Die Vernunftimmanenz der Wirk-
lichkeit hat hat so die Wirklichkeitsimmanenz der Vernunft voll-
kommen zersetzt; alles Wirkliche ist vernünftig, das bleibt im
Sinne Hegels eine „Erkenntnis" (hat synthetischen Wert); aber
daß alles Vernünftige wirklich sei, ist für die objektive Philo-
sophie Hegels gleichgültig. Alles Wirkliche ist Geist — heißt
also: alles Wirkliche ist logisch.
Nun besteht aber Hegels System nicht nur aus einer Logik;
und neben der Frage nach der absoluten Idee hat es wenigstens
nach außen hin andere Fragen, die nach der Natur, nach dem
Hegel 61
endlichen Geist, nach Gott. Eine sachgemäß immanente Kritik,
eine Erklärung von Hegels philosophiehistorischer Stellung kann
sich daher nicht mit der konstatierten Identifikation von Prinzip
und Problem der Philosophie (Methode des Antwortens und Me-
thode des Fragens) begnügen. Wir haben vielmehr die Richtig-
keit unserer bisherigen Auslegung gegen die „Tatsache" des
ausgeführten Systems zu verteidigen: Es gibt einen bisher von
uns noch nicht genannten Grundbegriff Hegels, mittelst dessen
die panlogistische Rationalisierung ohne Vernichtung der nicht-
logischen Gegenstände durchgeführt ist und die beiden so ver-
schiedenen Bedeutungen der Idee für die Schöpfung eines Systems
fruchtbar gemacht sind; das ist der Begriff der Entwicklung,
bei dem wir zunächst die Wiederholung jenes früheren Zwie-
spaltes bemerken: Entwicklung ist einerseits die Form des Ant-
wortens, andererseits der Zweck und Sinn des Ganzen: logischer
und teleologischer Entwicklungsbegriff Hegels. Dort „entwickelt"
sich der konkrete Begriff in sich in die Seiten seines Begriffes
(seines Sinnes) und die seines Inhaltes (seiner Materialien);
das ist der dialektisch-spekulative Begriff davon, daß jeder Be-
griff seinen Inhalt an der Entgegensetzung seines Sinnes und
seiner Materialien (seiner abstrakten Bedeutung und der Ver-
wirklichungsmöglichkeiten dieser Bedeutung) erhält und so in
sich (innerhalb der durch die Begriffseinheit gezogenen Linie)
sich zu einem Gegensatz entwickelt, in dessen Sosein sich die
einzelnen Begriffe voneinander unterscheiden; der Entwicklungs-
begriff ist hier das Prinzip der begrifflichen Individuation. Aber
in dem anderen Falle, als teleologischer Entwicklungsbegriff ge-
nommen, stammt er daher, daß die absolute Methode als Inhalt
der Philosophie gilt und so das, was an sich nicht logisch ist,
zum bloßen Grenzbegriff (s. Hegels Naturphilosophie) verkürzt
wird; auch dann „entwickelt" sich die absolute Idee, nämlich
setzt sich gegenüber dem „Anderen", dem Nicht-Geist, durch,
und die Entwicklung hat jetzt den Sinn der sich verwirklichenden,
d. h. teleologischen Sinn tragenden Entwicklung der absoluten
Idee hindurch durch das, was ihr Gegensatz ist, — durch die
Natur und den endlichen Geist — hin zum absoluten Geist. Erst
in diesem, dem absoluten Geist, wird dann der reine Gegenstand
62 Vernunft und "Wirklichkeit
der Philosophie, der über die Materie triumphierende Geist, er-
reicht; so daß alles das, was zwischen Anfang und Ende der Ent-
wicklung liegt, zu der Bedeutung von „Beweisstücken" herab-
gesetzt ist. Durch den Entwicklungsgedanken kommt so ein
Moment des Bewertens und des Abstufens in Hinblick auf ein
Ideal in die Philosophie hinein; ein dem innersten Wesen Näher-
und Fernersein beherrscht das Ganze. Erst solche (bei jedem
Entwicklungssystem unvermeidliche) Beivertungsmethode ermög-
licht trotz der Panlogisierung des Wirklichen die Ausführung
des Systems, trotz der Ausführung des Systems die Panlogisierung
der Wirklichkeit. Die Vernunfthaftigkeit ist im Entwicklungs-
system zum Telos und Maßstab geworden, die Selbsterkenntnis
zur Selbstentwicklung, und die Selbstentwicklung äußert sich
in „Stufen" der Selbsterkenntnis. Die Rationalisierung des Wirk-
lichen bekommt einen tieferen, umgreifenderen Sinn, wenn sie
in dem, was ist, nicht ist, sondern ivird, und das System der
Vernunft gliedert sich in Stufen der Selbstbewußtheit. Es mag
paradox klingen, so gilt doch, daß Hegel keine andere Wirklich-
keit kennt außer der Vernunft und doch viele Wirklichkeiten,
die außerhalb von ihr stehen; aber alle diese Wirklichkeiten
werden am Maßstab der reinen Vernunft „bewertet" und gemäß
dem Resultat, zu dem diese Bewertung gelangt, in einer im ab-
soluten Selbstbewußtsein gipfelnden Entwicklungsreihe ange-
ordnet; da „bleibt" dann an den einzelnen Wirklichkeiten nichts
als „ihr Grad" von Selbstbewußtsein, und trotzdem sind sie alle
mit ihren Namen in das System der Wissenschaft eingetreten.
„Das Interesse der übrigen Wissenschaften ist dann nur, die lo-
gischen Formen in den Gestalten der Natur und des Geistes zu
erkennen". (S. W. VI, 49 f.) In diesen Zusammenhängen ist
keine Lücke, und der Panlogismus erscheint von diesem Gesichts-
punkt aus als von außen unangreifbar: Die einzelnen Wirklich-
keiten sind gar nicht etwa nichts als Vernünftigkeit; jedoch nur
das, was an ihnen Geist ist, gilt dem absoluten Begreifer. Es
ist wohl ein gewisser Instinkt gewesen, der alle die zahllosen
Nichtversteher Hegels seine Entwicklungsidee hat preisen lassen;
jedoch diese Idee erfordert von sich durchaus das ev xal näv der
Vernunft und bequemt sich daher nicht den Wünschen schwäch-
Hegel 63
lieber Anbeter an, welche sie gerne aus dem Panlogismus heraus-
lösen möchten.
Aber gerade weil der Entwicklungsbegriff von sich aus die
Alleinheit der Vernunft — sein eigenes Telos — erfordert, diese
aber zugleich Bedingung der Möglichkeit des Entwicklungssystems
ist, so lauert dem von außen unbesiegbaren System im eigenen
Inneren der selbstgewissere Feind auf. Im Entwicklungssystem
der Vernunft war nämlich eine neue Methode des Philosophierens
zur Anwendung gekommen: die teleologische oder Bewertungs-
methode; nur ein bewertendes Messen an dem Maßstab reiner Ver-
nunft erlaubte Hegel die Einordnung aller nicht-rationalen Wirk-
lichkeiten in sein panlogistisches System. Aber wenn nun die
teleologische Bedeutung des Entwicklungsbegriffes die tatsäch-
lich zur Anwendung gebrachte Methode des Hegeischen Syste-
matisierens ist, während sie angeblich der Frage nach dem Sinn
der Welt Ausdruck gibt, — wenn weiter die logische Bedeutung
des Entwicklungsbegriffes, d. i. das spekulative Begreifen, der
Maßstab ist, dessen Verwirklichung in den einzelnen Wirklichkeits-
sphären als Problem angesehen wird, während sie angeblich die
Methode des beantwortenden Erkennens sein soll, dann ergibt sich
hier das Bild einer vollkommenen Verkehrung der Grundbegriffe,
die ihnen geschieht, sobald sie aus dem Zustand ihrer ursprüng-
lichen Bedeutung in die Ausführung des Systems eintreten; näm-
lich folgendermaßen: Von der Logik aus bestimmt das Logische
(das Selbstbewußtsein) die Methode des systematischen Ant-
wortens (das Prinzip der Philosophie), das Teleologische (die
Verwirklichung des Logos im „Anderen") die Methode des Fragens,
das Problem der Philosophie; dagegen ist \om Enticicldungssystem
aus das Teleologische (Verwirklichung der absoluten Idee im
Anderen) die antwortende Methode der Systematik (das Prinzip),
das Logische dagegen (die Selbstbesinnung) dasjenige, wonach in
allem gesucht wird (die Problemstellung), Erstens daß die pan-
logistische (sog. dialektische) Methode t-atsächlich gar nicht rein
zur Anwendung kommt, sondern gebrochen und verdrängt wird
von der Methode des Bewertens, und zweitens, daß gar nicht
nach der Verwirklichung eines schon gesicherten reinen Selbst-
bewußtseins gesucht wird, sondern nach dem Einen Fall, wo es
64 Vernunft und Wirklichkeit
Überhaupt da sei, — sind die zwei Punkte einer allerdings ent-
scheidenden, nämlich immanenten Hegelkritik. Dagegen würde
gegen das übliche larmoyante Wehgeschrei, mit dem man die
bösen Geister des Panlogismus beschwören zu müssen glaubt,
einer der Hegeischen Irrtümer eine erbetene Waffe sein, und
ich verwünsche oft die Mißgunst, die verbietet, sie gegen jenes
noch gebrauchen zu dürfen.
H
Denn die Waffe der Dialektik wird zwar niemals stumpf
werden; aber es ist uns verwehrt, sie im Kriege zu tragen, damit
sie sich nicht gegen uns selber kehre. Und wir müssen zugeben,
obwohl es uns schwer ankommen mag, daß der Antihegelianismus
ein Recht, eine Pflicht gehabt hat. Jedoch weder die dialektische
Methode noch die Rationalisierung noch auch der angebliche
Widerspruch zwischen der Dialektik und dem Rationalismus legten
Angriffspunkte bloß; sondern erst die Einsicht in Hegels Gleich-
setzen dessen, was Prinzip der Philosophie ist, mit dem, was
als ihr Problem ist; und auch diese Identifizierung hätten wir
nicht in der Auffassung der absoluten Idee finden dürfen, wenn
nicht das auf Grund dieser Auffassung mittels des Entwick-
lungsgedankens aufgeführte philosophische System Problem und
Prinzip geradezu wechselseitig vertauschte und so ihre Gleich-
setzung allerdings zu einem harten Faktum machte*). Für die
gesamte Epoche des Antihegelianismus stand deshalb die Gegner-
schaft gegen diese Identität als der rocher de bronce aller Phi-
losophie da. Gemäß dem nackten Dualismus der nachhegelschen
*) Ähnlichea hat, das ist nicht zu bezweifeln, auch schon die althegehanische
Kritik gesehen; aber ihre Ergebnisse kamen nicht darüber hinaus, Hegels Ver-
hältnis von Geist und Natur bloß umzustoßen; denn Vernunft - Wirklichkeit
und Geist -Natur galten ihnen noch dasselbe; sie glaubten jenes zu treffen,
wenn sie dieses schlugen. So konnte Haym (Hegel und seine Zeit, 1857,
304ff.) fragen: ist für Hegel „die einheimische Realität des Begriffes oder die
Realität, in welcher der Begriff einheimisch ist, die vollendetere und echtere
Reahtät"? kennzeichnete darauf jedoch die gerügte Unklarheit über das Ver-
hältnis von Vernunft und Wirklichkeit als Hegels „unvermitteltes Übergehen
aus spiritualistischer in die realistische Realität". So verdarb der Naturalismus
die Hegel-Kritik.
Antihegelianismus 65
Philosophien hatte die Philosophie es mit einer schlechthin aphilo-
sophischen Sache zu tun; das ist ihr Dualismus von Antwort und
Frage, von Prinzip und Problem; derselbe ist allen nachhege Ischen
Philosophen gemein; sei es nun, daß die Frage der Philosophie
nach Gott (nachhegelianischer Schelling) oder nach der Natur
(Feuerbach), nach dem Nichts (Schopenhauer) oder dem Positiven
(Comte und die neueren Kantianer) geht; bei allen hat die Phi-
losophie etwas zu erforschen, das dem, was ihr eigenes Wesen
ausmacht, gänzlich fremd ist; niemand dachte mehr an ein „Selbst-
erkennen". In diesem Sinne sind alle Nachhegelianer ausnahms-
los Irrationalisten; ein Unterschied besteht nur darin, ob sie
den Irrationalismus aussprechen oder nicht. Vor solchem Ansturm
der Transzendenz schwindet die Vernunftimmanenz und die lo-
gische Bedeutung des Selbstbewußtseins gänzlich dahin. Da muß
die logische Wissenschaft selbst zwecklos werden, und die Be-
tonung, daß jedes Daß irrational sei, bewirkt, daß die Vernunft
eines jeden Daß, auch des Daß des Logischen bar gesprochen
wird; aus solchem mit starren, dogmatischen Sinnen festgehal-
tenen Irrationalismus der nachhegelschen Zeiten entstammt die
allgemeine Entwertung der Vernunft, die man heute fälschlicher-
weise ausschließlich der Erkenntnistheorie anrechnen möchte.
Wenn aber in der nachhegelschen Spekulation ein absolutes Sub-
jekt aufrechterhalten wird, so äußert sich der Irrationalismus
zunächst als ein solcher, welcher das Absolute betrifft. Erst
als mit dem Gegenstoß gegen alle Metaphysik das absolute Sub-
jekt selbst verworfen wird, verquickt sich mit der Ablehnung
der Vernunftimmanenz des Wirklichen die der Wirklichkeitsimma-
nenz des Vernünftigen. So wird die schon bereits degradierte
Vernunft auch noch entwirklicht; dies geschieht, damit nicht der
Gegenstoß gegen den kahlen Empirismus zu Hegel zurückführen
könne. Und nun, im Knntianismus, heißt es: Was wirklich ist,
ist nicht vernünftig; und was vernünftig ist, ist nicht auch wirk-
lich! Erst die Entwirklichung der Vernunft gibt die Möglichkeit
an die Hand, auch die Transzendenz der Wirklichkeit aufzuheben;
denn solange noch die Vernunft wirklich ist, muß die Wirklich-
keit, insofern sie wie hier der Fall nicht in die Vernunft fallen
soll, in deren Jenseits geraten, transzendent werden (wie dies
Ehrenberg, Die Parteiung der Philosophie 5
66 Vernunft und ■Wirklichkeit
ja auch in den Anfängen des neueren Kantianismus geschehen
ist, indem Kants Ding an sich von einigen aufgenommen wurde).
Jetzt aber, nachdem die Entwirklichung der Vernunft vollzogen
ist, kommt ein Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit zu-
stande, das nur negativ ausgesprochen werden kann: Die Ver-
nunft ist nicht ein Teil der Wirklichkeit, noch abhängig von ihr,
weil die Transzendenz der Wirklichkeit verneint ist; ebensowenig
aber ist die Vernunft im Jenseits der Wirklichkeit, da sie dann
ja ihrerseits notwendigerweise die Bedeutung eines Wirklichen,
höchst Wirklichen bekäme; so ist weder die Vernunft trans-
zendent der WirMiclikeit noch diese jener. Und nicht also der
Dualismus von Vernunft und Wirklichkeit als solcher, sondern
erst das Aufheben überhaupt jeder Art von Transzendenzverhält-
nis, d. h. das weder immanent noch transzendent 8ein von Ver-
nunft und WirMichlieit, bewirkt, daß der Irrationalismus und
das Verleugnen aller Absolutheiten sich verbinden können. Denn
jetzt kommt das paradoxe Ergebnis heraus, daß die Wirklich-
keit zwar diesseits der Vernunft (des Bewußtseins) steht, die
Vernunft trotzdem aber nicht jenseits der Wirklichkeit, weil sie
überhaupt nur die endliche Vernunft, die in gar kein Jenseits-
verhältnis geraten kann, bedeutet. Die Anschauung vom Wesen
der Vernunft untersteht also zwei an sich ganz getrennten
Motiven, die sich aber in dieser Anschauung gegenseitig stützen:
Das eine richtet sich gegen das Immanenzverhältnis von Vernunft
und Wirklichkeit, das andere gegen ihr Transzendenzverhältnis
zueinander; worin nun die beiden Grundantipathien der Kantianer
liegen, die gegen den Psychologismus und die gegen das sog. Hy-
postasieren. Die Bewußtseinsimmanenz wird getroffen, weil sie
psychologistische Konsequenzen haben würde: das transzendentale
(unwirkliche) Bewußtsein, dessen der Kantianismus bedarf, um
die Hypostasen zu verhindern, verträgt keine Bewußtseinsimma-
nenz, weil jede durchgeführte Immanenz das Bewußtsein, das un-
wirJclich sein soll, zu einem Wirklichen machen würde. So führt
die eine Ablehnung, die der Bewußtseinsimmanenz, auf die andere,
die der Bewußtseinstranszendenz, zurück, welche ihrerseits ver-
langt wird, um die Sünde des Hypostasierens zu tilgen. Dadurch
entgeht man den beiden Gefahren, von denen man sich bedroht
Neukantianismus 67
glaubt: die Wirklichkeit versetzt man in das Diesseits des Be-
wußtseins, erklärt sie gleichwohl für das relativ Absolutere von
beiden und nimmt so dem in diesem Verhältnis Jenseitigen, d. i.
dem Bewußtsein, die Möglichkeit, seine Jenseitigkeit als Ab-
solutheit auszunützen. Die Philosophie behauptet sich als Idea-
lismus, setzt trotzdem das Ideelle oder die Vernunft unter das
Reelle! Um nun solche Verdiesseitigung des Jenseitigen (des Be-
wußtseins) und Verjenseitigung des Diesseitigen (des Wirklichen)
konsequent durchführen zu können, muß der Vernunft die Jen-
seitigkeit gegenüber der Wirklichkeit, dieser die Diesseitigkeit
gegenüber dem Erkennen genommen und beides vereint in ein
irgendwie Drittes gestellt werden. Das ist dann bei Coheii die
tatsächlich vorhandene WirklicMeitswissenschaft, innerhalb von
der die Vernunft ebenso als Jenseits der Tatsachen gilt, wie sie
außerhalb von ihr nur Denk Voraussetzung, die Wu'klichkeit aber
das Wahre ist. Oder bei Rickert ist es der SollenschBxakter des
Gegenstandsbegriffes: das Sollen ist allerdings als Sollen trans-
zendent, bleibt aber gleichwohl gegenüber der Wirklichkeit das
Untergeordnete, weil sein an sich transzendentes Gebot als Ge-
bot nur außerhalb des Bewußtseins liegt, also gar nicht ist. Die
Kant- getreuere Ansicht, welche das Bewußtsein nicht zwischen
einer vernunftfremden Wirklichkeit und einer wirklichkeits-
fremden Vernunft in engsten Grenzen einschließt, finden wir
bei Windelband, bei dem die Synthesis des Bew^ußtseins selber
als die Kraft gilt, von welcher die Diesseitswu-klichkeit ihre Be-
wußtseinsobjektivität bezieht; aber es muß Windelband dabei wie
Kant selber ergehen; er kann dem im Neukantianismus sonst
verpönten Hypostasieren nicht entgehen und streift an eine mehr
metaphysische Bewertung der Vernunft heran. Erst Bickert
macht blinden Ernst mit der Entrationalisierung der Wirklich-
keit und der Entwirklichung der Vernunft, setzt die Wirklichkeit
als dermaßen vernunftfremd, daß ihm alles Wissen um Wirk-
liches gar nicht mehr das Wirkliche so, wie es wirklich ist, be-
trifft, und setzt die Vernunft als dermaßen wirklichkeitsfremd,
daß er sie als im letzten Grunde nicht zu befriedigende, bloß ein
ideales Wissensbild bestimmende Forderung nimmt. Die Wirk-
lichkeit gilt für durch und durch irrational, dem Bewußtsein
Vernunft und Wirklichkeit
restlos nur „gegeben", und die Vernunft gilt für durch und durch
nicht-seiend, für das an sich um seine tatsächliche Realisierung
unbekümmerte Gelten (mit dem Geltensbegriff wird die Entwirk-
lichung der Vernunft noch vollendeter erreicht als mit dem
Sollensbegriff, der immer noch das Moment des Anerkennens
oder Nicht-Anerkennens einschließt, welches Moment daher auch
besonders in Windelbands weniger wirklichkeitsfeindseligem Ver-
nunftbegriff Beachtung und Förderung findet). Das wirkliche
Bewußtsein ist so zwischen der objektiven Wirklichkeit und dem
Gegenstandsgelten eingeschlossen; aber damit vermittelt es eben
auch diese beiden und gibt der Wirklichkeit ihre Objektivität;
das Bewußtsein, dessen Formen für ebenso inkommensurabel dem
Wirklichen wie nicht konstitutiv von Seiten der Vernunft ange-
sehen werden, ist doch der einzige Ort, an welchem dem Gege-
benen die Objektivität (die Wirklich-keit) verbunden werden kann.
Dann aber scheint die gegenseitige Unbezogenheit von Wirklich-
keit (Irratio) und Gegenstandsgeltung (Ratio) nicht aufrecht-
erhaltbar zu sein; daher muß ihr Gegensatz in das, was denselben
zu zerstören sucht, in das vermittelnde Bewußtsein selber, gelegt
werden. Dieser immanenten Forderung an die Geschichte des
Kantianismus wird entsprochen: Es kommt nunmehr der Gegen-
satz des WirklichkeitserZe&ews und der 'Wirklichkeitswissenschaft
auf; und mit diesem Gegensatz treibt man jetzt dasselbe geist-
reiche Spiel wie früher mit dem von Wirklichkeit und Vernunft
an sich: man verdiesseitigt das an sich Jenseitige der beiden,
d. i. die Wirklichkeitswissenschaft, bis zu Münsterbergs Behaup-
tung von dem wirklichkeitsfremden Konstruieren als dem Cha-
rakter der Wissenschaft, und verjenseitigt das an sich Diesseitige
der beiden, das Wirklichkeitserleben, bis zu Cohns Begriff einer
„idealen" Erlebniswirklichkeit (Ziele und Voraussetzungen, 320ff.).
Nur so kann überhaupt die Einführung des Erlebensbegriffes in
den Kantianismus gewürdigt werden: sieht man sich doch, vor
dieser Neueinführung zur Aufrechterhaltung des Dualismus von
Vernunft und Wirklichkeit, vor die Alternative gestellt, entweder
das Gegebene als solches vor aller Beziehung auf Kategorien
(also auch vor der Beziehung auf die Gegebenheitskategorie
Rickerts) für die objektive Wirklichkeit zu erklären und würde.
Neukantianismus: Rickcrt 69
um die Wirklichkeit vernunftfrei zu erhalten, die alte Erbsünde
der Ding-an-sich-lehre begehen müssen; oder der Wirklichkeit
ihre Wirklich-keit erst auf Grund der tatsächlich vollzogenen
Geltungsakte zuzugestehen und würde, um sich die Vernunft von
wahrhafter Wirklichkeit rein zu erhalten, zum psychologisch ver-
standenen Apriori zurückkehren. Beiden, der metaphysischen
Szylla und der friesianischen Charybdis will man entgehen; und
beiden entgeht man in der Tat, indem man in den Bewußtseins-
begriff, dessen Tücken man zu fürchten hat, den Gegensatz ein-
führt, der bisher die Abwehr von Dogmatismus, Psychologismus
und Metaphysik — diesem Dreigestirn der philosophischen Laster
— ermöglichte: Man teilt im Bewußtsein zwischen dem vorwissen-
schaftlichen JErZe6ew und dem wissenschaftlichen Konstruieren ; und
mit diesem Zaubermittel kommt man sicher durch die drohenden
Gefahren hindurch. Die Wirklichkeit gilt derart für echt, wie
sie erlebt wird: Erlebniswirklichkeit; und die Wissenschaft gilt
für eine Konstruktion über das Wirkliche, das darin vergewaltigt
wird, und die Formen der Wissenschaft für nur methodologisch.
So wird auf Grund der „Interpretation" des Wirklichkeitsbegriff es
durch den Erlebensbegriff und des Vernunftbegriffes durch den
Wissenschaftsbegriff der vollendete Dualismus von Wii'klichkeit
(Irratio) und Vernunft (Irrealität) aufrecht erhalten. Der
Bewußtseinsbegriff ist in den Dualismus vollkommen einge-
gangen, und dieser erweist sich jetzt bei der differenzierten
Abstufungsfähigkeit des Bewußtseins als Grenzwächter: Irratio-
nalität und Rationalität werden zu Grenzbegriffen; zwischen ihnen
stehen verschiedene Arten des Wissens: das bloße Erleben, das
wissenschaftliche Wissen um einzelne Tatsachen, das wissenschaft-
liche Wissen um Allgemeinheiten. Das System der Wissenschaften
ergibt sich als eine Anordnung dieser Art, und wird zugleich
erst verständlicht durch seine Angliederung an das einzige gegen-
ständliche Bewußtsein, das vorwissenschaftliche Erlebensbewußt-
sein. (Rickcrt, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffs-
bildung.)
Dann aber wird die früher geduldete Urteilstheorie nicht
nur überflüssig, sondern geradezu ein Stein des Anstoßes. Denn
alles Urteilen steht vom Standpunkt des Bewußtseins näher dem
70 Vernunft und Wirklichkeit
rationalen Punkte als das Erleben; jedoch nur im Erleben soll das
Wirkliche so, wie es wirklich ist, objektiviert sein. Eine Er-
kenntnistheorie, welche vom Urteil ausgehen würde, müßte daher
mit der Fassung des Irrationalitätsproblems bei Rickert und
Cohn, mit ihrer Anschauung von der Vernunft in Konflikt geraten.
Ohne daß nun die Verdrängung der Urteilslogik klar als Not-
wendigkeit eingesehen würde, wird doch deren Konsequenz ge-
zogen, und die transzendentalpsychischen Akte (Urteilstheorie)
werden auch von dem zweiten Platze, den man ihnen bisher noch
zugestanden hat, vertrieben. Das Bewußtsein entweicht aus der
Mitte zwischen Ratio und Irratio, die bisher seine Position war,
und deren Gegensatz tritt jetzt in vollkommener Nacktheit
heraus; EicUrt (Zwei Wege der Erk.-Th., Kantst. 1909) und
Laslc (Logik der Ph. u. d. Kat.l, 1911) vollziehen diesen Schritt,
wobei allerdings Rickert gegenüber der Bewertung des „trans-
zendentalpsychologischen" Weges noch ein gewisses unsicheres
Schwanken zeigt. Dann aber muß sich die Entfernung des Be-
wußtseinsbegriffes an den beiden Begriffen äußern, auf welche
sich der Kantianismus stützt, und sowohl der Wirklichkeits- als
auch nicht minder der Vernunftbegriff werden von den Zusätzen
gereinigt, mit denen sie der Bewußtseinsbegriff durchsetzt hat:
An Stelle der geltenden Norm, welche anerkannt werden soll,
tritt der geltende Wert (Rickert), die „hingeltende Form", deren
Sinn ist, sich unmittelbar ohne Vermittlung eines Bewußtseins
auf den Gegenpol der Vernunft, die Wirklichkeit, zu beziehen
(Lask, 31); und entsprechend setzt sich an die Stelle der un-
bearbeiteten Erlebniswirklichkeit (des Individuellen Windelbands
und Rickerts) der reine Begriff der DenkfTemdheit (J. Cohn) und
noch schärfer gefaßt der der „logischen Nacktheit" (Lask 72f f .) *).
Aber die Verbannung des Bewußtseinsbegriffes hat die für den
Kantianismus überraschende Folge, daß die bis jetzt gelungene
*) J. Cohn (a. a. 0. 106 ff.) nimmt den Begriff der Denkfremdheit schon
im funktionellen Sinn, ist sich aber der Unterscheidung, die Lask zwischen
dem nicht-logischen Material (Alogisch oder irrational) und der nicht-logischen
Funktion (logisch nackt) macht, noch nicht bewußt, daher fehlen bei Cohn noch
die Folgen des neuen Begriffes, die nachher bei Lask eintreten, besonders die
Irrationalisierung des Logischen selber.
Neukantianismus: Eickert, Cohn, Lask 71
Wechselbekämpfung von Hypostasierungsmetaphysik und Psycho-
logismu? ihre Stütze verliert; zwar ist jetzt sogar der bloße Schein
einer psychologistischen Auffassung beseitigt worden*), abernach
Entfernung des Bewußtseinsbegriffes aus der Mitte zwischen Ver-
nunft und Wirklichkeit büßt man auch die Möglichkeit ein, das im
kantianischen Verhältnis von Wirklichkeit und Vernunft eigentlich
Jenseitige, die Vernunft, durch restlose Entwirklichung so wirk-
sam zu verdiesseitigen, wie man es bisher vermocht hat; denn
dies ist die Leistung des Bewußtseinsbegriffs gewesen, und jetzt,
nach seinem Abtreten, erscheint kein Nachfolger, der sein Amt
übernehmen würde. So kommt im Wert an sich, der gilt, ob er
ein anerkennendes Bewußtsein findet oder nicht, wieder ein in
seiner Art Absolutes auf; die Furcht vor dem Hypostasieren und
der Metaphysik ist mit einem Schlage wie weggeblasen; die früher
Logik und Erkenntnistheorie genannte Vorlesung heißt jetzt
wieder wie in alten, doch so längst überwundenen Tagen Logik
und Metaphysik, und die Schüler ergehen sich in den lang ver-
schlossenen Gärten des Absoluten. Das neue Absolute unter-
scheidet sich aber in einem grundsätzlichen Punkte von dem
früheren, nämlich in seiner Bewußtseinsfremdheit. Ein Absolutes,
das an sich in nichts an ein Subjekt geknüpft wird, in nichts
einem Bewußtsein immanent ist. Der Kantianismus hat erst
damit den von Hegel entferntesten Punkt erreicht; man fängt
jetzt an, Hegel in seinem eigenen Kreise zu bekämpfen. Jedoch,
wie unvollkomm-en! denn man kann des Bewußtseins nicht
gänzlich entraten; die Transzendentalpsychologie wird unver-
mittelt neben der Transzendentallogik stehen gelassen (Husserl,
Rickert); oder wenn man nicht so weit geht, so baut man doch
unter die bewußtseinsfremden, rein an sich geltenden Wesen-
heiten des Werts und der Wertfremdheit die subjektsgefärbten
Begriffe des Erkennens und des Lebens (Lask); und schwerlich
läßt sich eine klare Auffassung über diese Beziehungen konsta-
tieren: theoretischer Wert und Erkennen sind zwar präzis durch
das Merkmal der Subjektheit geschieden, aber wie das Er-
*) In diesem Augenblick seiner Geschichte verliert der Kantianismus daher
das Interesse an der Bekämpfung des Psychologismus, welches ihn bis dahin
beinahe belierrschte.
72 Vernunft und Wirklichkeit
kennen sich des Subjektsbegriffes entkleide, oder wie der theore-
tische Wert zur „Anwendung" im wirklichen Erkennen komme,
das sind umsomehr nicht aufgeklärte Partien, als der Kantia-
nismus sich im Laufe seiner Entwicklung mehr und mehr von
der strengen Methode der altkantischen Kategoriendeduktion (De-
duktion der Anwendbarkeiten) zu einer zwar auch strengen, aber
überwiegend nur aufzeigenden, gleichsam deskriptiven Darstel-
lung umgebildet hat*).
Bei aller Ungeklärtheit der Notwendigkeit des „Erkennens"
und „Lebens" sind diese subjektsgetränkten Begriffe doch mit
Erfolg aus der eigentlichen Zentralsphäre der Logik abgeschoben,
und hieran wird, man kann sagen, mit eiserner Konsequenz fest-
gehalten**). Der nackte Gegensatz der Rationalität und der Ir-
rationalität bedarf dann aber in irgendeiner Weise eines Ersatzes
für den Bewußtseinsbegriff; denn die Wechselbezogenheit der
beiden Begriffe muß irgendwie ausdrückbar sein, zumal sie darauf
hinweist, daß Rationalität und Irrationalität immer „zusammen
vorkommen". Die Sphäre des Zusammentreffens der beiden
Extreme wird daher als ein „drittes Reich" eingeführt und das
Reich des Sinnes geheißen (Rickert, Logos I, 1; Lask, Logik
d. Ph., 33 u. passim). Dieses neue Reich umfaßt dann die Zu-
sammensetzungen von Ratio und Irratio (Form und Material);
solche Zusammensetzung soll an der vollkommenen Wertfremd-
heit des Materials, Materialfremdheit des Wertes nichts ändern;
in dieser Beziehung bleibt tatsächlich alles beim Alten, worin
sich wieder die große Strenge und Konsequenz des kantianischen
Denkens zeigt: Die Zusammensetzungen müssen nämlich immer
irgendwelche bestimmten Verhältnisse von Form und Material
ergeben, während deren ganz allgemeine Begriffe gar nicht zu
einer Zusammensetzung kommen; so treten die „einzelnen" Wert-
*) Eickert bemerkt selbst, wie Wert und Wertverwirklichung unzu-
sammenhängend dastehen, s. Zwei Wege der Erk.-Th., 225.
**) Das hindert nicht, daß der Gegensatz von Leben und Erkennen in der
ihm gewidmeten Spezialbetrachtung durch den Gegensatz von „logisch nackt"
und „logisch betroffen" (Lask, 80 ff., 87) erläutert wird. Aber auch ein anderes
kann nicht verhindert werden, nämlich, daß solche Spezialprobleme ganz für
sich, ohne einen übersehbaren Zusammenhang mit den Grundbegriffen, dastehen.
Neukantianismus: Lask 73
Wirklichkeiten vom Niveau des Wertes auf das des dritten Reiches
über; und der Sinn ist dasjenige, was irgendwie nach einzelnen
Sphären (Disziplinen) spezifiziert ist: ästh., eth., relig. Sinn usw.;
diese Konsequenz zieht Rickert noch nicht, aber Lask; und so
ist er es auch, dem sich wieder die Konsequenz dieser Konse-
quenz offenbart: Der Gegensatz von rationalem Wert und ir-
rationalem Material ist jetzt verdoppelt: einmal steht er da in
seinen einzelnen Gestaltungen des Sinn-Reiches, andererseits in
seiner an sich seienden Allgemeinheit; und so wird er von jeder
Beziehung auf bestimmte Sphären losgelöst, und die Grund-
begriffe der Kantianischen Erkenntnistheorie, welcher der Wert
gleich dem Erfahrungswissen, das Material gleich dem Anschau-
ungsmaterial gegolten hat, verallgemeinern sich und werden so
zu universeller Anwendbarkeit erhöht. Alles Was irgendeines
Erkennens ist jetzt irrationales Material, alles Wie irgendeines
Erkennens rationale Form. An sich ist nichts unerkennbar; die
Irrationalität hindert in nichts die ungehemmte Anwendung der
Vernunft; der „Herrschaftsbereich der logischen Form*' ist un-
beschränkt (Lask); die Vernunft hat ,,Panarchie" (id.) über die
gesamten Gegenstände. Solcher neue Panlogismus unterscheidet
sich aber in prinzipiellem Punkte vom Panlogismus Hegels. Diesem
war es erschienen, als ob die grundsätzliche Erkennbarkeit der
Wirklichkeit nicht mit deren eigenen Vernunftfremdheit ver-
einbar wäre; und so hatte er die Irrationalität zugunsten der
Rationalität einfach gelöscht. Der Panlogismus Lasks ist da-
gegen so wenig Feind der Vernunftfremdheit, daß er dem kan-
tianischen Irrationalitätsbegriff sogar erst dessen letzte Aus-
bildung und Abrundung verleiht (gleichwohl aber auch meint,
daß „der Abstand von Sinn und Gegenstand auf eine Distanz
von Sinn und Sinn" [Lask 42] hinauslaufe, und damit sich dem
Hegelianischen Panlogismus überliefert resp. der eigenen Irratio-
nalitätsthese widerspricht). Nachdem die Irrationalität schon bei
Cohn die spezifische Note des sinnlich Gegebenen (die sie in
Nachwirkung des kantianischen Anschauungs- oder Sinnlichkeits-
begriffes besaß) eingebüßt hat, wird sie bei Lask als selbst lo-
gischer Begriff erkannt und so von noch vorhandenen Resten
spezifisch erfahrmigstheoTetiscliev Bedeutung gesäubert (Lask,
Venmiift und Wirklichkeit
54). Dann wird aber alles gerade erst dadnrcli irrational, dalj
es die Rolle spielt, zu der der Irrationalitätsbegriff von der
Logik bernfen ist, die Rolle des Erkenntnismaterioils. Die Pan-
archie der rationalen Form und die Vertiefong des Irratio-
nalitätsbegriffes znm allgemeinen ErTcenntnisobjektshegTÜle sind,
die beiden Nenernngen der Logik Lasks, die zueinander geMiremL
TliAEhhinghaus tänsclit sieb vollkommen, wenn er es für trivial Mltfe^
die Irrationalität des Gegenstands der PMlosophi© zu betoineaai*);
der alte Panlogismns, in dessen Spuren Ebbingbaus sell)er zu geben
meint, hätte so lebe Selbstverständlichkeit als höchst ketzerisch be-
urteilt.. Die harte Trennung von Vernunft und Wirklichkeit, die
Loslösung des Was des Erkennens von der Erkenntnis hat also die
Möglichkeit einer neuen Vernunftimmanenz der WirMkhIceif ge-
schaffen, ohne daß dieselbe die Rationalisierung des Was selber
im Gefolge haben würde; es gibt jetzt eine Vernunftimmanenz
der Wirklichkeit, welche deren Vernunftfremdheit nicht nur
duldet, sondern vielmehr benötigt; denn die Panarchie der lo-
gischen Form ist überhaupt nur eine Archie, insofern sie auf ein
Vernunftfremdes geht; das Erkennen hat erst Selbstwert, wenn
es das an sich selber Unerkannte erkennt. Die Wirklichkeit
steht jetzt doppelt da, einmal als vernunftfremde (Lask: logisch,
nackt), das andere Mal als vernunftimmanente (Lask: logisch
umkleidet); beide Positionen der Wirklichkeit sind verknüpft,
indem das Erkennen seinen Inhalt so erkennt, wie er an sieh ist,.
d.h. in seiner Vernunftfremdheit (La^k: Die logisclie Form durch-
dringt nicht ihr Material, sondern umkleidet es nur)!. Fnxi m>
hat die neue Vernunftimmanenz der Wirklichkeit die tiefere Fas-
sung bekommen, daß die vernunftimmanente Wirklichkeit in
ihrer Immanenz vernunftfremd geblieben ist: Also auch im Zu-
stand der Vereinigung von Form und Materie bleiben beide. Form
und Materie, getrennt. Dann aber ist es für die Vereinigung von
Form und Materie gleichgültig, was die Materie ist; wird sie
doch Materie dadurch, daß sie in die Position eines Was des
Erkennens gedrängt wird. Dies trifft dann nicht minder das
Erkennen selber; da es von seinem Was losgelöst worden ist
•) J. Ebbinghaus, Relativer und absoluter Idealismus, 191Q; 27 Anm.
7$
(Kantianischer Dualismus), steht es jetzt selbst in dieser Los-
gelöstheit unerkannt, vernunftlrernd (logisch nacki) da und ist
so seinerseits mögliches Was für das Erkennen. So enthüllt der
Kantianische Dualismus seine letzte Konsequenz, indem er den
Dualismus auflöst: Das Erkennen oder die rationale Form selber
als Was des Erkennens, als irrationales Material (Lask, TG). Die
Ratio ist so selber irnitionalisiert, und der neue Panlogismus ist
der absolute Gegen wurf gegen den alten Panlogismus. Wo bei
diesem Prinzip und Problem vermischt wurden, „die Frage sich
selbst beantwortete", da ist jetzt alles getrennt und ohne jede
Verbindung: dus Priniip rein mHomtUsti^-h , das I*irMem rvin
irratiafMlistisi-fL
Die Tragweite der neuen Fassung des Irrationalitätsproblems
liegt also darin, daß das Rationale selbst den Sinn eines Irratio-
nalen erhält, selbst zum Gegenstand der Vernunftwerie gemacht
wird (Disziplin der logischen Form). Aber in diesem Augen-
blick seiner Entwicklung droht dem Kantianismus auf Grund
der Irrationalisierung der Vernunft eine neue Wirktkhkeitsimma-
n*rns der Vernunft (die Vernunft als Material bt V ' it!)
und damit der Verlust seines A und 0, der Wirki: ud-
heit der Vernunft; oder besser ausgedrückt: Dieses brohen ist
die Ankündigung seiner Selbstauflösung.
m
Daher hat auch kein Neukantianer so intensiv den Identitäts-
standpunkt des Idealismus betonen können wie Lask: das Reich
der Gegenstände sei nicht jenseits des Reichs der Wahrheit; der
Gegensatz von Vernunft und Wirklichkeit werde innerhalb der
Vernunft aufgelöst. Damit widerspricht aber der Kantianismus
allen seinen sonstigen Voraussetzungen, nicht weniger der Tren-
nung von Formgeltung und Geltungsmaterial als der Irrationa-
litätsth- Elr widerspricht diesen Gm ' ' n. wenn
er den - von Form und Material, in ^^ einen
Reiches, das das Reich der Wahrheit und eben darum des Gegen-
standes ist" (Lask, 41) aufstellt; denn nun wäre ja doch alle«
ganz „drinnen", im Reich des Wissens, und dieses wäre das All
der Wirklichkeit, So sehr sind hier also einander schroff ent-
76 Vernunft und "Wirklichkeit
gegengesetzte Gedanken zu Tage gefördert: hier die Irratio-
erklärung der Ratio (die logische Form als Material), dort die
Immanisierung des Reichs der Gegenstände in das der Wahrheit
(Panarchie der logischen Form, Ratioerklärung der Irratio) ! Einer-
seits ist alles irrational, andererseits alles rational ! Dann aber
ist es entweder weder rational noch irrational oder sowohl ra-
tional als auch irrational; ein Entweder-oder, das unmittelbar
nicht auflösbar scheint. Das Thema: Vernunft- Wirklichkeit wird
noch im Kantianismus selber dialektisch durcheinandergewürfelt;
es bleibt kein Stein an seinem Platze; der Dualismus von Wirk-
lichkeit und Vernunft wird von Lask sowohl nach der Wirklich-
keit wie nach der Vernunft hin aufgehoben; nach der Wirklich-
keit hin durch die Irrationalwerdung der logischen Form selber;
nach der Vernunft hin durch das Verleugnen der Gegenstände an
sich; dort ein Monismus der so vernunftfremden Wirklichkeit,
daß sie selbst den Gegensatz zur Vernunft überwunden hat;
hier ein Monismus der so seinsfremden Vernunft, daß sie selbst
den Gegensatz zum Sein überwunden hat; und beides ist im.
Ganzen der Philosophie Lasks gleich notwendig, das erste (der
Monismus der Irrationalität), um nicht die philosophische Selbst-
besinnung auf das Denken fehlen zu lassen (Forderung der Ver-
nunft, der transzendentalen Logik), das zweite, um nicht zwei
Welten, die ideelle und die reelle, hypostasieren zu müssen und
damit überhaupt die Berechtigung zu einer Gegenstandsphilo-
sophie einzubüßen; das sind die Motive dafür, daß LasJc jenen
Selbstwiderspruch aufstellte, — daß er ihn nicht wieder entfernte.
Sein Zusammenhang aber mit den Motiven, die ihn bedingen,
zeigt uns das überraschende Bild, daß eine Forderung der Ver-
nunft den Panirrationalismus, — eine Forderung der Gegenstände
den Panrationalismus hervorruft; Vernunft und Wirklichkeit ver-
langen so je nach ihrer Selbstverneinung. Nichts Geringeres
also lehrt uns das „Verständnis" des Standpunkts Lasks, als daß
die Vernunftimmanenz der Wirklichkeit vom Wesen der Wirk-
lichkeit selber, die Wirklichkeitsimmanenz der Vernunft vom
Wesen der Vernunft selber aus deduziert wii'd. Die Vernunft ist
das Apriori ihrer eigenen Wirklichkeitsimmanenz und die Wirk-
lichkeit das Apriori ihrer eigenen Vernunftimmanisierung. Es
Die eigene Ansicht
ist nicht Vernunft, sie sei denn ein Bestandteil der Wirklichkeit;
es ist nicht Vv'irklichkeit, sie sei denn in der Vernunft. Denn
erst die Vernunft hat der Wirklichkeit ihre Wirklich-keit ge-
geben, und erst die Wirklichkeit hat die Vernunft anwendbar
gemacht (auf Nicht-Vernünftiges).
Hier aber ist ein Unterschied in dem sich gegenseitig Be-
dingen von Wirklichkeit und Vernunft nicht zu verkennen; und
darin liegt nun auch der Keim zur Lösung des ganzen Problems.
Wir bemerken nämlich, daß die Wirklichkeit die ganze Vernunft
erfüllt, das Wesen der Vernunft daher in der tatsächlichen Im-
manisierung des Wirklichen in das Reich der Vernunft sich voll-
kommen auswirkt; dagegen wird die Vernunft bei ihrer Imma-
nisierung in die Wirklichkeit nur ein Teil dieser; denn durch
diese Immanisierung lebt ja gerade der Gegensatz des Reichs der
Gegenstände und desjenigen des Wissens innerhalb des Reichs
der Gegenstände von neuem wieder auf. So geht zwar die
ganze Vv'irklichkeit in die Vernunft, die ganze Vernunft in die
Wirklichkeit ein; aber die Wii'klichkeit erweist sich als das Um-
fassendere, indem sie die wirklich gewordene Vernunft nur als
einen Teil von sich hat; als solcher ist sie die wirJcliche Philo-
sophie. Die Wechselimmanisierung von Vernunft und Wirklich-
keit und deren dadurch geschaffene Identität (Standpunkt der
Identitätsphilosophie des Hegelianismus und Neukantianismus)
macht selbst nur eine einzelne Sphäre aus, nämlich die der wirk-
lichen Philosophie; die Identität von Vernunft und WirMicJikeit er-
weist sich selber als nur Teil der WirUichkeit. Die wirkliche Philo-
sophie ist der Ort, wo die Wirklichkeitsimmanenz der Vernunft
und die Vernunftimmanenz der Wirklichkeit sich nicht wider-
sprechen; denn beides gilt von ihr: daß die Wirklichkeit vernunft-
iramanent ist, bedeutet, daß sie Gegenstand der Philosophie ist;
daß sie Gegenstand der Philosophie ist, bedeutet, daß die Ver-
nunft realisiert — Gedankenwirklichkeit, wirkliches Wissen —
ist. Der Begriff davon, daß Philosophie ist, löst die scheinbar
unlösbare Antinomie von Vernunft und Wirklichkeit auf. In-
dem sie aber nur für innerhalb der wirklichen Philosophie gelöst
ist, wird diese selbst zu einem Teil von sich selbst. Die An-
siclit des Ganzen wird zwar, auch wenn sie isoliert wird, stets das
78 Vernunft und "WirklicKkeit
Ganze betreffen; aber sie loird dadurch neben das übrige gestellt, also
zu einem Teile gemacht werden*). Das Reich des Wirklichen ist
größer als das des Möglichen. Wenn so die Wirklichkeits-
immanenz der Vernunft gleichsam über die Vernunftimmanenz
der Wirklichkeit den Sieg davonträgt, wenn die Wirklichkeit
•wirklich ist nur, weil die Philosophie wirklich ist, die Philosophie
aber philosophisch, bloß eben weil das Philosophische philoso-
phisch ist, wenn durch die Tatsache der wirklichen Philosophie
die Vernunftimmanenz der Wirklichkeit beendet ist, die Wirk-
lichkeitsimmanenz der Vernunft dagegen erst gerade entsteht und
Problem wird, so sehen wir überhaupt, wie die Philosophie dazu
berufen ist, mit dem, was sie selber als Wirklichkeit ist, sich
selber, dem Ganzen des Yfissens und der Wirklichkeit, den Ab-
schluß zu geben**). Wir haben also die paradoxe Behauptung
zu verstehen, daß die Philosophie kein logisches, sondern ein ab-
solutes Datum ist, daß die Logik es zwar mit dem Begriff der
möglichen Philosophie, nicht aber mit dem der wirklichen zu tun
hat. Die Stellung der Philosophie in der Wirklichkeit, ihr Sinn
und Wert, der ihr im göttlichen Weitplan gesetzt ist, macht so
den Gegenstand einer erst zu begründenden Disziplin aus, die zwar
von dem Wesen der Vernunft, aber nicht in der logischen Frage
*) Hegel, Theologische Jugendschriften, ed. Nohl, 1906, 144 hatte gesagt:
„Es kann freilich jede Ansicht des Ganzen selbst wieder isoliert, und neben
das übrige gestellt, also zu einem Teile gemacht werden; aber der Inhalt dieser
Ansicht wird immer das Ganze betreffen"; diese wahrhaft organisierende An-
sicht Hegels aus dem Jahre 1800 würde höchst geeignet sein, für den gesamten
Ideahsmus des 19. Jahrhts. Motto zu stehen, weshalb ich meine Ansicht im
Text kontrastierend zu den Worten Hegels ausgedrückt habe, um dadurch
meinen von allen abweichenden Standpunkt faßlicher abzugrenzen.
**) Kantstudien, 1909, 433 sagte ich: „Es gibt in der Philosophie kein
anderes Primat, weder eins des "Willens noch eins des "Wertes, als das Primat
der Philosophie selbst" ; damals stand mir bei aller sonstigen bereits vollzogenen
Abwenduncr von Hegel der hegelianische Immanenzbegriff noch fest; vielleicht
war es am schwierigsten, die hegelianische Befangenheit in Sachen des Selbst-
bewußtseinsprinzips abzulegen, gleichwohl war es eine schwächliche Inkonsequenz,
die bloß innerlogische (formalistische) Bedeutung des Selbstbewußtseins zu ver-
kennen und die Synthesis des philosophischen (immanenten) Bewußtseins und
des transzendenten "Wertes im „"Wert der Philosophie" nicht vollziehen za
können.
Die eig-ene Ansicht 79
nach dem Prinzip der Wahrheit, sondern in der metaphysischen
Problemstellung in Ansehung des Wertes, den Wahrheit hat,
handelt und wegen dieser Kombination eines Nicht-logischen als
Frageziels mit dem Logos als Fragegegenstand als Metalogik
bezeichnet werden kann. Das Prinzip der Philosophie, das Ant-
worten, wird so selber noch einmal zum Problem, zum Gegen-
stand einer Frage. Darin liegt das unerwartet Neue unseres
Lösungsversuches, zugleich die ganz einfach verständliche Ab-
sonderung von Hegel und dem Neukantianer: Wo jener die Grund-
scheidung aufhob, wo dieser sie begründungslos hinstellte, da
haben wir die Scheidung selber in der Einheit begründet, haben
das Prinzip der Philosophie zu ihrem letzten Problem gemacht,
so daß sie selber sich Antwort gibt, warum Prinzip und Problem
eine Zweiheit ist.
So hat uns gerade das Urproblem der Logik über diese her-
ausgeführt, und nichts greifen wir daher so sehr an, als die Iso-
lierung der logischen Wissenschaft und die Meinung von der
wissenschaftlichen Möglichkeit dieser Isolierung. Jetzt haben
wir den Erweis unserer These erbracht, uns aber eben damit selbst
die Möglichkeit abgeschnitten, den Problemen eine breitere Be-
handlung zu widmen. Denn wir wollen die Grenzen der logischen
Disziplin bestimmen, sehen von ihnen hinüber in das metalo-
gische Land, haben aber gerade, wenn wir den Primat der Logik,
den wir bekämpfen, nicht in einen ebenso bekämpfungswürdigen
Primat der Metalogik umschlagen lassen wollen, die Pflicht, in
dieser logischen Schrift die Grenzmarkierung zwischen Logik und
Metalogik zu respektieren. Reichlicher konnten wir uns noch
auslassen, als wir uns im rein Innerlogischen bewegten, in den
Punkten I und II, während wir jetzt im Interesse unserer eigenen
Überzeugungen Zurückhaltung üben müssen. Eine erste Ahnung
von dem Reichtum und der „lösenden Kraft" des metalogischen
Problemkreises, dieser Wissenschaft von dem Sinn, der „Bestim-
mung der Philosophie", dieser io^odicee oder der Behandlung
des Themas: Das Beich der Philosophie und das Reich Gottes mag
bereits hier vor das Bewußtsein getreten sein.
80 Die Absolutheit
Punkt IV: Die Absolutheit
Die Abschlußbetrachtung im letzten Punkt hat uns über-
zeugend zum Bewußtsein gebracht, wie scheinbar rein innerlo-
gische Probleme bei ihren Lösungsversuchen auf Voraussetzungen
stoßen, die jenseits aller Logik liegen. Erkenntnistheoretische
Fragen zu behandeln und die bei ihnen vorkommenden „letzten"
Probleme bei Seite zu schieben, ein Verfahren, das bei allen
7ieueren Kantianem im Schwange ist und selbst Windelhand,
welcher unter ihnen der einzige ist, der den letzten Problemen
nicht ganz aus dem Wege geht, aber allerdings so wenig wie die
anderen Kantianer je zu einer bestimmten Stellungnahme dem
Absoluten gegenüber gekommen ist, zu einem „subsidiären" Ab-
soluten, der Kultureinheit, geführt hat, ist ein Wahn, der wie
eine plötzlich herangezogene Wolke für kurze Zeit allen aus-
nahmslos die Sonne verdeckt; unbegreiflich schon den aller-
nächsten, die folgen. Wie wir nun oben in Punkt II dem Hege-
lianismus gleichsam das nach innen gehende Auge des Logikers
haben öffnen müssen, so haben wir jetzt die Aufgabe, dem Kan-
tianismus alle die metalogischen, metaphysischen Begriffe vor-
zuweisen, die ihm unbekannt sind, obwohl nur er selber sie ge-
prägt hat. Wir gehen daher an die Zuordnungen, welche der
Qualität Absolutheit in den modernen Philosophien zuteil ge-
worden ist.
I
Damit knüpfen wir wieder an das Vernunft-Wirklichkeits-
problem an (denn um den Vorrang im Absoluten streiten nur
diese beiden), jedoch jetzt hinsichtlich seiner Stellung im Mittel-
punkt der Philosophie, hinsichtlich seiner „Letztheit". In der
absoluten Philosophie Hegels besitzen sowohl das Sein wie das
Wissen die Absolutheitsqualität; es fragt sich aber, ob der ur-
sprüngliche Träger des Absoluten Sein oder Wissen' ist. Nun unter-
scheiden sich Sein und Wissen von allen anderen Begriffen des
Hegeischen Systems dadurch, daß das Sein den Anfang, die
Wissenschaft das Ende macht. Das Sein ist der Träger, die Ver-
nunft das Ziel des Absoluten; der Gott, der im Sein begonnen
Hegel 81
wird, wird im absoluten Wissen beendet. Da aber ist es un-
vermeidlich, daß der Träger der Absolutheit unter die Herrschaft
ihres Zweckes gerät; das Sein, das der Vernunft entgegenreift,
untersteht diesem seinem letzten Sinn und Ziel. Was zu letzthin
absolut ist, ist die Vernunft; gewiß auch sie ein Wirkliches;
aber die Absolut-heit des Absoluten stammt nicht aus ihrer Wirk-
lich-keit, welche nicht dem absoluten Geist mehr zukommt als
dem endlichen oder der Natur, sondern aus der Form oder Stufe
von Vernünftigkeit, von welcher der absolute Geist getragen
wird; diese Stufe ist die absolute Selbsterkenntnis, die Selbst-
entfaltung des Geistes vor seinem inneren Auge — vollzogen
in der absoluten Wissenschaft. Die Philosophie selber bringt
in die Welt Hegels die Tatsache eines Absoluten; ist sogar Gott
nur dadurch die letzte Vollendung des wirklichen Geistes, daß
er die absolute Wissenschaft in reinster Weise ausdrückt. Das
absolute Wissen ist so Hegels einziges und zugleich vollstän-
diges Kriterium für Absolutheit oder Nichtabsolutheit; die Sy-
stematisierung des absoluten Geistes vollzieht sich nach dem
Grade des Wissens und gipfelt in der Philosophie selber. Diese
ist so auch für das Sein der absolute Abschluß. So absolut
die philosophische Wissenschaft ist, so absolut ist auch ihr Gegenstand,
das Sein. Die beiden Absolutheiten bedingen sich gegenseitig
ihre Absolutheit; absolute Wissenschaft ohne absoluten Gegen-
stand verdient nicht absolute Wissenschaft zu heißen; und ab-
lutes Sein ohne absolute Wissenschaft gilt überhaupt nicht, ist
eine dogmatische Behauptung. Eine solche Wechselbindung der
Seins- und der Wissensabsolutheit ist das Letzte in Hegels wie
auch Schellings Philosophie, denen sie aus dem Kampf gegen den
endlichen Idealismus erwuchs, an welchem ebenso das Sein, von
dem er etwas aussagte, als auch die Art, wie er von ihm aus-
sagte, nicht-absolut waren*); von Schelling unterscheidet sich
*) Die Geschichte der Beseitigung des endlichen Idealismus ist die, daH
Kants transzendentales Selbstbewußtsein zuerst zur absoluten Anschauung (Fichte),
dann zur Anschauung des Absoluten (Schelling) wurde, darauf Hegel, indem
er von Schelling zu Fichte zurückging, die Anschauung des Absoluten — Schel-
ling — auf die absolute Anschauung — Fichte — aufbaute oder wie es damals
hieß die Substanz aus dem Subjekt ableitete.
Ehrenbcrpr, Die Parteiunsr der Philosophie 6
82 Die Absolutheit
Hegel dann dadurch, daß jenem die Wechselbindung als solche
genügte, während Hegel sie wieder auf ihre eine Partei, die des
absoluten Wissens, aufbaut. Also besitzt das absolute Wissen
seine Vorherrschaft nur im Rahmen der Wechselbindung mit dem
absoluten Sein; deshalb fehlt bei Hegel eine Beziehung des
absoluten Wissens zum endlichen Sein. Denn wie der abso-
luten Anschauung der absolute Gegenstand zugehört, so entspricht
einem endlichen Sein auch nur eine endliche Anschauungsart; die
Wechselbüidung im „Grad" der Vernunft und des Seins äußert sich
also in der Korrespondenz der verschiedenen möglichen Grade eines
Wissens und eines Seins. So finden wir in den „Grundlagen" der
Hegeischen Philosophie den leitenden Gedanken der Bewußtseins-
geschichte wieder. Daher liegen in Hegels Gedanken überall
solche Voraussetzungen zugrunde: Weil endliches Wissen kein
wahres Wissen, nur Schein und Irrtum ist, so hat auch ein end-
liches Sein keine Wirklichkeit; es gibt schlechtweg weder end-
liches Wissen noch endliche Wirklichkeit; oder besser: es gibt
ein endliches Sein nur für ein endliches Bewußtsein; die Existenz
eines endlichen Bewußtseins ist zwar nicht abzuleugnen, jedoch
fehlt ihm die Wahrheit; so fehlt sie auch dem endlichen Sein;
es besitzt keine verite eternelle und hat in der absoluten Phi-
losophie keinen Ort. Diese Verleugnung des Diesseits ist die
erste unvermeidliche Folge aus der Begründung des absoluten
Seins durch das absolute Wissen resp. aus der Bestimmung des
absoluten Wissens, wesentlich diese Begründung zu leisten. Die
zweite ist dann die, daß das absolute Sein seine Absolutheit nur
kraft der Eigenschaft, Gegenstand eines absoluten Wissens zu
sein, haben kann und derart selbst nur als Objekt der Erkenntnis
ist, Gott daher als Begriffsdasein gedeutet wird. Konnte nun
von diesen zwei Folgen die erste zunächst wohl ertragen werden,
so mußte die zweite beträchtliche Unklarheiten erwecken: Denn
obwohl die Ableitung des Absoluten vom absoluten Wissen aus-
geht, ist doch das gezeitigte Ergebnis Gott; ist nun der Grund
abhängig vom Ergebnis, für das er Grund ist, oder dieses ab-
hängig vom Grund, der es begründet? Dies ist die Alternative,
vor die sich der Althegelianer gestellt sah, und die zu jener
Aufspaltung der Hegeischen Schule führte, bei der sich die Par-
Antihegelianismus
teien auf Gott und die Wissenschaft verteilten. Die Rechte
und die Linke der Hegeischen Schule, d. h. diejenige Partei, die
ihn theologisch, und diejenige, die ihn wissenschaftlich auffaßte,
waren also historische Notwendigkeiten; denn auch wenn Hegel
selbst jeden Unterschied zwischen Gott und Wissenschaft ab-
gewehrt hat, so lag doch selbst in dieser Ableugnung ihres „na-
türlichen" Gegensatzes der Begriff ihrer Entgegensetzung einge-
schlossen, die so auch nur dadurch verneint werden konnte, daß
man die Verneinung ausdrücklich aussprach, den Begriff der Ent-
gegensetzung beider also anwandte. Überhaupt trat jener Unter-
schied, so sehr Hegel ihn auch verleugnen mochte, an anderer
Stelle wieder hervor, nämlich in der Differenz von Äusgangspunld
und Resultat: Die Hegeische Deduktion des Absoluten gründet
sich auf das absolute Wissen, erzielt den absoluten Gott! Es ist
dies daher als das Schiclsal der Hegeischen Philosophie zu ver-
stehen, daß sie ihre eigenen Überwundenheiten außerhalb von
sich stehen läßt.
II
So ist also der Sinn des Gegensatzes von absolutem Sein und
absolutem Wissen nicht minder in der Philosophie Hegels ent-
halten, obwohl sie ihm jeden Sinn abstreitet, als in irgend einem
System, das ihn anerkennt. Daher ist es der Philosophie nach
Hegel möglich, die von ihm bewußt verkannte Doppeltheit gegen
ihn zu wenden und zu bestreiten, daß für Philosophie und Re-
ligion der „Gehalt derselbe" und nur die „Namen verschieden"
seien (2. Vorrede zur Enzykl. 1827). Da streichen die einen
Gott, die anderen die Vernunft; und Hegels Erben sind die
Diesseitsphilosophie und der theosophische Irrationalismus. Unter
diesen beiden erweist sich dann wieder die Diesseitsphilosophie
als die stärkere, weil sie zugleich jene beiden „Folgen", die Ver-
nünftelung Gottes und die Verleugnung des Diesseits, schlägt,
während der metaphysische Irrationalismus in Sachen des End-
lichen noch mit Hegel geht. So entsteht ein reiner Empirismus.
Aber gerade die durch die Hegelfeindschaft bewirkte Reinheit
der Diesseitsphilosophie (mit der sich der Empirismus des
18. Jahrhunderts in keiner Weise messen kann) vermag den
84 Die Absolutlieit
Augenblick des unvermischt reinen Empirismus nicht fest-
zuhalten; denn die „reine Erfahrung" ist bereits eine über das
empiristische Dogma hinausgegangene Apriorisierung des Dies-
seits. Deshalb bemächtigt sich der Empirismus des „kritischen"
Apriori-begriffes, um das Empirische gegen die eben erst vom
Throne gestiegene Metaphysik zu sichern, und konstituiert sich
zum „Transzendentalen Empirismus"*), zur Theorie der Erfahrung
Cohens. Daher steht Cohen zwar auf dem Diesseitsstandpankt und
rettet die Wissenschaft der „sinnlichen" Wirklichkeit, stellt sich
aber durch diese Begründung der „Wissenschaft" in neuer Weise
auf die Seite des Intellektualismus Hegels; das Dogma von der
absoluten Wissenschaft sieht sich durch das Dogma von der em-
pirischen Wissenschaft abgelöst. Daher setzt sich im Kantianis-
mus eine Nachwirkung der Irrationalmetaphysik der Richtung
Cohens entgegen, der Voluntarismus. Dieser steht nicht we-
niger als die „Theorie der Erfahrung" auf dem reinen Dies-
seitsstandpunkt; aber anstatt die Erfahrung für „rein" zu er-
klären, fixiert er die Endlichkeit des Endlichen vielmehr da-
durch, daß er, indem er das Endliche in seinem So-Sein, f^einer
Zufälligkeit charakterisiert, auf seinen Abstand von einem, das
absolut ist, verweist. Das Absolute, das auf diesem Wege
in die Diesseitsphilosophie hineinkommt, hat die Gestalt des
Ideals, das für das wahrhaft Seiende, das immer ein Endliches
ist, besteht. Zufälligkeit des Endlichen und das Ideal als Sinn
der Welt gehören zu einander und bewirken den teleologischen
Idealismus Lotzes, dem Windelhand durch die kategoriale
Klärung des Zufälligkeitsivertes seinen inneren Abschluß gibt.
Im Neukantianismus sind so zwei einander durchaus entgegen-
gesetzte Stellungen zum Absolutheitsproblem, die in dem
Sinne beide notwendig sind, daß sie die zwei Möglichkeiten
realisieren, die sich für eine Diesseitsphilosophie als apriorische
Standpunkte ergeben: Entweder wird das reine Diesseits als
solches isoliert und die in dem Diesseitsbegriff mitgegebene Be-
zogenheit auf ein Jenseits unterdrückt (Cohen); oder die Be-
*) Der Terminus ist neuerdings gebildet: Hessen, Individuelle Kausalität,
Studien zum transzendentalen Empirismus, Ergänzungshefte der Kantstudien, 1S09.
Neukantianismus: Cohen, Windelband
Ziehung von Diesseits und Jenseits wird anerkannt, der Standpunkt
einer Diesseitsphilosophie trotzdem dadurch gewahrt, daß man der
Jenseitssphäre nur unrealisierbare Forderungen zugesteht (Win-
delband). Dann gerät aber bei Windelband die reine Erfahrung
selber unter den Gegensatz des Jenseitsideals und der Diesseits-
wirklichkeit, kommt so unter den Normbegriff. Deshalb wird
für Vv^indelband das Urteilen zu einem „Beurteilen", d. h. einem
Messen des Diesseitigen an idealen Forderungen. Windel-
bands Urteilstheorie (Zur Lehre vom negativen Urteil, Festschr.
f. Zeller, 188) gehört daher zu den integrierenden Bestandteilen
seiner Philosophie; sie verwirklicht die Unterstellung der Er-
kenntnistheorie unter den Idealbegriff, indem sie die Urteils-
theorie für die verschiedenen Verhaltungsweisen durchführt, die
der Urteilende der Erkenntnisforderung gegenüber einnehmen
kann: anerkennendes, verwerfendes, sich enthaltendes Verhalten;
letzteres, im „problematischen Urteil" fixiert, ist eine geradezu
symbolische Darstellung des teleologischen Diesseitsidealismus,
der die entgegengesetzten Momente im Wesen des Diesseitigen,
seine mögliche, aber nicht notwendige Angliederung an ein Jen-
seits, in spekulativer Einheit verbindet. Die teleologische Auf-
fassung des Erkenntnisproblems beherrscht dann die Kantianer
während der Hauptepoche ihres Wirkens und bildet die stets
siegreiche Waffe im Kampfe gegen den Relativismus und den
empiristischen Unverstand. Die Absolutheit des Ideals gilt als
der Hort der Philosophie, der nie versinken kann; an diesem
Punkte wird die Fessel geschmiedet, welche die Absolutheit des
Wissens, d. h. jetzt überhaupt die Möglichkeit einer Philosophie,
an den unvertilgbaren Rest absoluter Gegenständlichkeit, dar-
gestellt im Sein der Idealität, bindet, — ein für die Charakter-
bildung des Kantianismus entscheidender Vorgang. Deshalb
wirkt der Idealbegriff als Ferment der „Ausführung"; denn mit
der ihm eigentümlichen progressiven Annäherung an sich selbst
können den empirischen Wissenschaften die Augen über ihre
eigenen Zukunftshoffnungen geöffnet, die in ihnen liegenden über-
empirischen Notwendigkeiten sichtbar gemacht werden, ohne daß
ein Ding-an-sich-wert in die (nie endgültig realisierbare) ideale
Forderung hineingelegt werden könnte. Die Begriffe und Zu-
Die Absolutheit
sammenhänge, die Windelband hiermit geschaffen hat, werden
von BicJcert akzeptiert (der Gegenstand des Erkennens als trans-
zendentes Sollen) und in den Theorien der einzelnen Wissen-
schaften sehr wirksam ausgebaut („Die Grenzen der naturwissen-
schaftlichen Begriffsbildung", 1902). Die Philosophie hat einen
absoluten Gegenstand, — der sie als überempirische Wissenschaft
charakterisiert, — aber dieser absolute Gegenstand ist nur in
einer Anwendung auf das Endliche und Zufällige genommen, ist
so ein verunendlichtes Endliche selber (nur Ideale von Erfahrungs-
wissenschaften). Auf solcher schmalen Scheidewand zwischen dem
Endlichen und Unendlichen muß hier Philosophie balancieren:
Unendlich ist nichts als das bloße Ideal, also ist alles Wahrhafte
endlich. — Das Ideal allein gilt für alle Zeiten, also ist nur das
Unendliche wahrhaft!
Der Relativismus bemerkt nun wohl, wie sehr die Philosophie
auf sich selber achten muß, um nicht das Gleichgewicht zu ver-
lieren und nicht nach einer der beiden Seiten zu fallen, in deren
Mitte sie sich hält; hat es daher leicht, die Austreibung des Ab-
soluten zu vollenden: Das doch unrealisierbare Ideal wird zum
Phantom entwertet, seine im Bewußtsein anerkannten Verwirk-
lichungsstufen als vorabsolut relativisiert; Nietzsche, der Prag-
matismus lassen dem Kantianer schließlich nur die dünne Idealität
als solche für den Inhalt seines Jenseits. Der wechselvoile Kampf
zwischen Diesseits und Jenseits löst das Band, das der teleo-
logische Idealismus zwischen ihnen geknüpft hat; denn die ent-
leerte Idealität läßt keine „Beurteilungsakte" mehr auf sich an-
wenden. Die Verunendlichung des Endlichen zerfällt wieder in das
Endliche und das Unendliche je für sich; nur daß diese Begriffe
durch die Zeitlosigkeit der Norm wesensverschieden werden: Das
Endliche als Seiendes, das Unendliche als nicht-Seiendes, sondern
Geltendes; jenes füllt die zeitlich-zufällige, dieses die ewig-
notwendige Sphäre. Die „Beziehung" des Unendlichen auf das
Endliche wird zurückgedrängt dadurch, daß diese beiden sich
wechselseitig definieren: das Sein als Geltungsgleichgültiges, das
Geltende als Sei'nsgleichgültiges! und an dem Geltenden dadurch
den normativen Sinn unterdrücken. Der Primat der praktischen
Vernunft, Voluntarismus und die Ethik als Methode des Denkens
Neukantianismus: Rickert, Husserl 87
verschwinden, und die logische Scheidung zrvischen dem, was
ist und dem was gilt tritt an die Stelle. Es ergibt sich so
eine wechselseitige Gleichberechtigungserklärung zwischen Sein
und Gelten; wälirend sie sich vorher zueinander wie A und Grenz-
begriff von A verhalten haben, werden sie nun je zu gleich
wichtigen Elementen von A: Hier Bedeutung eines Urteils —
dort ürteilsaÄ:^, hier für ewig wahr oder nicht-wahr — dort in
„diesem" Augenblick gedacht oder nicht gedacht! das sind so
überzeugend scharfe Scheidungen, daß sie als pieces de resistance
des Denkens dem Philosophen seine Sphäre geben, in welcher die
Philosophie als „Geltungsphilosophie" — ebenso ungefährlich wie
ungehindert — zu Schaffungen berufen wird. Als Philosophie
eine absolute Wissenschaft, hat sie auch einen absoluten Gegen-
stand; ebenso wie einstens bei Hegel sind die Absolutheit des
Wissens und die seines Gegenstandes wechselverknüpft; aber
nicht wie einstens bei Hegel ist die Absolutheit der Wissenschaft
dem absoluten Gegenstand das schaffende Prinzip, sondern ge-
rade umgekehrt dieser, nachdem man ihn als Geltungssphäre ge-
funden hat, das schaffende Prinzip für die Möglichkeit einer
Philosophie. In dieser können noch irgendwie an ein em-
pirisches Bewußtsein erinnernde Elemente enthalten sein, die
erst jetzt auszumerzen sind: die Beziehung auf das Urteils-
verhalten der Subjekte wird für ungenügend befunden, absolute
Werte zu charakterisieren; der „Wille zur Wahrheit" weicht dem
Werte Wahrheit (Windclband), das Sollen als Gegenstandsbegrifi
dem einfachen Begriff der Geltungshaftigkeit (Rickert) und die
An-Sich-heit dessen was gilt wird bewußt Prinzip für die An-
sich-heit der Wissenschaft (Lask in der zwar ganz kurzen, aber
eindringlichen Besprechung Bolzanos, Logos I, 1). Husserl
wirkt bei der Fixierung dieses Standpunktes vorbildlich; ihn
unterstützt hierbei sein ausschließlich logisches Interesse, das
ihn die Beseitigung des Normbegriffes nicht so fühlen läßt wie
den, der ihn in der Ethik nicht wohl missen kann. Dem Verlust
des Primats der praktischen Vernunft folgt so aber der Verlust
der Ethik selbst auf dem Fuße; denn der reine Dualismus von
Jenseits und Diesseits zerstört den Übergang vom Diesseits zum
Jenseits, das Objekt aller Ethik; Rickert und Lask vermögen
Die Absolutlieit
daher keinen Zugang zu ihr zu finden, und die arge Verend-
lichung des Freiheitsbegriffes bei Rickert (Gegenstand der
Erkenntnis-, 241) hat in der grundsätzlichen Beseitigung des
Normbegriffes durch den reinen Dualismus von Jenseits und Dies-
seits ihren Grund. Wir sehen so die, welche früher ihren Spott
über den Zwei-Weltentheoretiker ausgegossen haben, jetzt sich
selbst zur Zw ei- Weltentheorie bekennen; allerdings ist ihnen
dieser Umfall nicht bewußt und wird auch im Objektiven wieder
dadurch verschleiert, daß das Erbteil der „reinen Erfahrung"
nü'gends so gehütet v/ird wie im Dualismus von Sein und Gelten.
Denn die unbedingte Entgegensetzung beider bewirkt nicht nur
die An-sich-heit der Werte, sondern treibt auch das Sein immer
weiter nach der Seite eines „reinsten" Seins hin; nach den
Extremen hin werden bisher unbenutzte Gebiete erobert,
gleichsam dem Leben und Treiben der Philosophie einverleibt:
dort (am schärfsten von Rickert) das Gelten an sich als phi-
losophischer Grundbegriff, hier zuerst die individuelle Tat-
sache (Windelband), die dann für Rickert alles andere Sein ver-
drängt (sein Begriff der objektiven Wirklichkeit im „Gegenstand
der Erkenntnis") und sich schließlich bis zu einer jigcorrj vXr], dem
Inhalt eines neuen Grenzbegriffes, fortentwickelt; durch solche
Herausschälungen letzter sinnlicher „Undeutbarkeiten" (Lask)
wird der „reine Empirismus" der Geltungsphilosophie wieder ein
mächtigerer Faktor; und es ist kein Zufall, daß der Terminus
„transzendentaler Empirismus", den wir bereits für die Charak-
terisierung des kantianischen Gedankens, das Endliche absolut zu
isolieren (Cohen), benutzt haben, gerade dort zutage gefördert
wird, wo die letzten Konsequenzen des Dualismus Geltung-Sein
gezogen werden, in der Richtung Rickerts.
So tritt in dem reinen Dualismus von Jenseits und Diesseits
von neuem die Betonung des isolierten Diesseits im Sinne Cohens
hervor, schlägt nunmehr aber, da die jenseitige Sphäre nicht be-
seitigt werden soll, eine Brücke zwischen Diesseits und Jen-
seits; und die letzte Nachwirkung Cohens in der Philosophie der
Gegenwart ist merkwürdigerweise die, daß der ihm gegnerische
Standpunkt Windelbands bei denen, die von diesem ausgegangen
sind, sich dann aber von ihm abgewandt haben, v/iederum auf-
Neukantianismus: Rickert, Hessen, Lask 89
lebt: Von neuem versucht die Philosophie zwischen Endlichem
und Absolutem in der Mitte zu schweben. Es ist dies eine innere
Notwendigkeit; denn der reine, zusatzlose Dualismus von Gel-
tungs- und Seinssphäre, in welchem Rickert seinen Eigenstand-
punkt genommen hat, bedroht das Interesse des Neukantianismus
an der einen der beiden Sphären, der Seins- oder Endlichkeits-
sphäre; hier droht die Theorie der reinen Erfahrung in eine
technische Teleologie (Ökonomie der Wissenschaften, vergl.
Münsterbergs Grundzüge der Psychologie) auszuarten, und so
erweist sich, daß der Dualismus von Diesseits und Jenseits gar
nicht rein gewesen ist, daß sich in ihm ein dem Dualismus
fremdes Element befindet, von dem die eine Sphäre, die Seins-
sphäre, zertrümmert zu werden droht. ^
An diesem Punkte muß dem Neukantianismus das, was ihm
oberster Grundsatz geworden ist, der Unterschied zwischen dem
was ist und dem was gilt, dies muß ihm zwar nicht im ge-
ringsten zweifelhaft werden, aber als von den bedenklichsten
Konsequenzen begleitet erscheinen. Wir finden daher aus der
Schule Ricker ts die entgegengesetzten Standpunkte hervorgehen:
den transzendentalen Empirismus Hessens, die neue Logik Laslcs.
Jener sucht die Beziehung des Werts auf das Sein, welche den
reinen Dualismus durchbricht, gerade zum einzigen Inhalt eben
dieses Dualismus zu machen; dieser sucht durch die Hinein-
ziehung des Seins in die Wertwelt die reine Erfalirungstheorie
mit den absoluten Werten zu versöhnen (worin ihm J. Colin
vorausgegangen ist). D. h. Lask unternimmt das Wagnis, die
duale Setzung von Sein und Gelten mit ihrer Aufeinander-
Bezogenheit zu harmonisieren. Dazu sieht er sich veranlaßt durch
die Vorstellung von der Gefahr, welche dem Dualismus der Grund-
begriffe von der nichtdualistischen Theorie der reinen Erfah-
rung droht; er bemerkt, daß das Sein selbst eine Kategorie, ein
Wert ist. „Seinsgebiet und Geltungsgebiet sollten die äußersten
Gegensätze sein, aber das Sein wurde als dem Geltungsgebiet
angehörend erklärt; Wirklichkeit und Wert sollten sich schroff
gegenüberstehen, aber die Wirklichkeit wurde für einen Wert-
begriff gehalten." (Lask, 119). Lask erkennt also genau, wie
die Umdeutung der beiden Welten, Diesseits und Jenseits, in zwei
90 Die Absolutheit
Elemente der Diesseitswelt noch nicht genügt, um zu einer wider-
spruchslosen Auffassung durchzudringen; allerdings sieht er nicht
scharf den einen Fall, in dem eine solche Auffassung einheitlich
sein würde, nämlich denjenigen, in welchem man sich mit der
einen Welt, die als aus dem jenseitigen Seinswert und seinem
diesseitigen Material zusammengesetzt gilt, begnügen würde;
d. h. es entgeht ihm, daß der „transzendentale Empirismus" eine
im Sinne des Kantianismus ebenso mögliche Lösung wie seine
eigene Logik sei. Aber er weiß zu genau, daß der Seinswert nicht
der einzige Wert ist, daß neben ihm der ganze Inbegriff der
übrigen Werte steht, in welchem gerade der reine Dualismus der
Geltungs- und Seinssphäre trotz der Theorie der reinen Er-
fahrung weiter lebendig bleibt und dann auch dieser nicht erlaubt,
zur Ruhe kommen. So läßt Lask zwar das Diesseits der Seins-
sphäre aus dem Jenseits der Geltungssphäre gespeist sein, erst
von ihr das „Sein" erhalten, findet aber gegen die Gefahr, die
dem Gegensatz Diesseits-Jenseits von der Jenseitigkeit der Dies-
seitigkeit droht, „den Rettungsweg, der hier eingeschlagen wurde,
die Einsicht, daß sich innerhalb der Geltungssphäre das Gelten
selbst als Kategorie abziehen läßt und daß man dann das logisch
nackte Geltende übrig behält. Fehlte diese Voraussetzung, wie
es bisher stets der Fall sein mußte, so ergab sich Folgendes: man
entrückte am Seinsgebiet das Sein selbst als logische Kategorie
der sinnlich-anschaulichen Art seines Materials. Dann fiel es
also in die Geltungssphäre. Das auszudrücken hatte man aber
keine anderen Mittel als auszumachen: das Sein ist ein , Gelten*.
Dies , Gelten* aber mußte man unzergliedert, unzerlegt lassen"
(ib.). Um der Ineinssetzung von Sein und Gelten zu entgehen,
statuiert Lask also das Gelten des Geltens, die „Form der Form",
entdeckt, „daß die Ausdrücke ,ein Gültiges* oder ,ein Geltungs-
gehalt* doppeldeutig [sind], da sie ein Geltendes ebensowohl
mit ihrem Gelten wie ohne ihr Gelten meinen können." (112.)
Jetzt wird die Geltungssphäre ebenso gegliedert aufgefaßt, wie
es die Seinssphäre bereits ist, und „das Ineinander von Geltendem
und kategorialem Gelten .... macht erst das aus, was bisher
einfach und ohne Zerlegung als geltende Form oder Geltungs-
gehalt bezeichnet wurde" (104). Dagegen hatte „man sich [früher]
Neukantianismus: Lask 91
nicht einfallen [lassen], daß man mit ,Gelten', ,Norm' usw. be-
reits den Geltungsgegenstand gemeint, also die zweite Kategorie,
die Kategorie der Kategorie, die Form der Form, mitgemeint
und mitgenannt hatte" (120). Da auch von der Geltungssphäre
selber zu sagen ist, daß ihre Inhalte zerlegbar sind darin, daß
sie gelten, und in das, icas sie gelten, so wird das Hinein-
rücken der Seinssphäre in die Geltungssphäre ungefährlich; denn
dieses Hineinrücken betrifft nur den Gegensatz von Sein und
Gelten im Sinne von „Elementen" oder „Funktionen*"', und gerade
solche Struktur der Seinssphäre, die Zusammensetzung aus den
Elementen wiederholt sich in der Geltungssphäre selber, so
daß der Sinn des Diesseits-Jenseitsgegensatzes, der festzuhalten
ist, den Gegensatz von „Elementen" bedeutet, und „nur wenn man
die letzte Scheidung der Gegenstände sucht, darf man das Seins-
gebiet auf die eine Seite stellen. Und tut man das, so muß man
auch auf der Gegenseite ein kategorial Betroffenes, ein Reich
theoretischen Sinnes, einen Gegenstand haben; so muß man auf
beiden Seiten gleichmäßig die beiden Gebiete als in Form und
Material zerlegbaren Sinn zu interpretieren imstande sein" (Lask,
114). Der Gegensatz des Diesseits und Jenseits besitzt bei Lask
mithin einen doppelten Sinn, den wir erst herausgearbeitet haben
müssen, ehe wir die für die Geschichte des Neukantianismus ab-
schließende Bedeutung der Logik Lasks würdigen können: Dop-
pelter Art, sage ich, ist der Sinn von Diesseits und Jenseits in
der Philosophie Lasks: Einmal bedeuten sie ihm die aufeinander-
bezogenen Wesenheiten der Diesseitstatsächlichkeit und Jenseits-
geltung und involvieren soweit keine Auf teilung der Gegenstände;
daher fehlt Lask der empiristische Grundzug der Kantianer, da
er die Jenseitigkeit des „reinen" Diesseits durchschaut hat; da-
mit ist, zum ersten Male in der Geschichte der neukantischen
Philosophie, die Beziehung von Jenseitigkeit und Diesseitigkeit
nicht mehr so gedacht, daß sie nur zum Zwecke der Diesseits-
theorie zu verwenden sei; das ist von durchschlagender Bedeu-
tung; die „Gerichtetheit auf das Diesseits" weicht einer gleich-
mäßigen Gerichtetheit auf alles. Und für einen Augenblick scheint
überhaupt die Aufteilung der Welt in Diesseits und Jenseits wie
verschwunden.
92 Die Absolutheit
Nun aber wirkt sogleich die andere Bedeutung des Diesseits-
Jenseitsgegensatzes, welche daraus entspringt, daß die Philoso-
phie, deren Wesen sich einerseits in der Zweielemententheorie
aussprechen soll, andererseits von den empirischen Wissenschaften
geschieden ist; ihr ist die Sphäre des Nicht-Seienden angewiesen.
Und so kommt von neuem der spezifische Standpunkt einer Dies-
seitsphilosophie in die Theorien Lasks hinein (die gerade deshalb
so hochinteressant sind, weil sie den Versuch des Kantianismus
sich selbst zu überwinden zeigen). Indem der Charakter der
Philosophie, absolute Wissenschaft zu sein, durch ihren Gegen-
stand begründet wird und dieser sich abhebt von dem Gegenstand
der Diesseits-Wissenschaften, so ist die Philosophie durch die
Jenseitigkeit ihres Gegenstandes ausgeschlossen von den Dies-
seitsgegenständen; und es gibt eine Sphäre reiner Diesseitigkeit,
dementsprechend auch eine solche reiner Jenseitigkeit, Lasks
TTQcorfjvkr] und reine Form (Lask, 93 und 135). Auf dieses Diesseits-
Jenseits muß dann aber unvermeidlicherweise der Gegensatz von
Sein und Gelten erneute Anwendung finden; d. h. die Jigchrr] vXr}
wird zum letzten reinsten Sein, gleichsam zum Urgründe des
Seins gemacht; in der jiQwtr] vir] rulit die Selbständigkeit der
Welt, während die reine Form für unselbständig erklärt wird.
Darauf baut sich Lasks eigene Zwei-Welten- oder, wie er sich
ausdrückt, Zwei-Stockwerkstheorie auf: Das obere Stockwerk ent-
steht durch die Anwendung der zwei Elemente (durch welche
die Struktur aller Gegenständlichkeit bestimmt sein soll), auf
die reine Form: Form der Form ist da; aber dieses Stockwerk
ist unselbständig, ist errichtet auf dem unteren Stockwerk, in
welchem Form der Materie ist (Lask, 126). Das ist nun die
neue Aufteilung der Gegenstände in ein Diesseits und ein Jen-
seits, nämlich in ein Gebiet, in welchem die reine Geltung, und
ein anderes, in dem die reine Tatsächlichkeit ist. Aber damit
hat sich jener frühere Vorgang, daß die Seinssphäre kraft der
Seinsgeltung in die Geltungssphäre hineinrückt, wiederholt; denn
das untere Stockwerk ist gar nicht eine ausschließliche Diesseits-
sphäre, sondern innerhalb von ihr können wieder Diesseits- und
Jenseitsbestandteile unterscheidbar sein. Obwohl also der Gegen-
satz von Diesseitigkeit und Jenseitigkeit allanwendbar geworden
Antikantianismus 93
ist (Geltung, Tatsächlichkeit), wird er trotzdem von Lask in
zweifach verschiedener Weise, je nach der Seite der Diesseitig-
keit und Jenseitigkeit, angewandt: Diesseits-Jenseitsmischung
der Diesseitswelt, Diesseits-Jenseitsmischung der Jenseitswelt!
Da zeigt sich aber, daß die Jenseitswelt nur noch dasjenige
Jenseits umfaßt, das Nicht-Diesseits ist, die Diesseitswelt daher
alles umfaßt außer dem, was ausdrücklich nicht-diesseits ist,
also alle aus Diesseitigkeit und Jenseitigkeit zusammengesetzten
Gegenstände. Dann aber ist die Diesseitswelt gar nicht mehr
eine spezifische Diesseitswelt, sondern die Gegenstandsv/elt
schlechtweg; und die durchgeführte Aufteilung der Welt ergibt
den Gegensatz der Gegenstands- und der Formiüelt. Zu jener ge-
hört dann ebenso ein sinnliches Sein wie Geltungsgebiete (etwa
die Kunst), so daß von der Logik dem Erscheinen auch des Ab-
soluten nichts mehr in den Weg gestellt werden kann; Lask gibt
daher der Geltungssphäre problematisch eine zweite Transzen-
denzsphäre, die eines transzendenten Seins („Übersinnlichen oder
Überseienden" sagt Lask) bei, wodurch der Gegensatz Jen-
seits-Diesseits so unterwühlt wird, daß in dem, was angeblich
Diesseits ist (im unteren Stockwerk), das Absolute selber vor-
kommen kann; und der entthronte Gott zieht unter jenen fremden
Namen wieder in die Philosophie ein.
Zur Rettung des Diesseits war der Kantianismus erschienen;
jetzt ist es so unbedingt gerettet, daß es mit dem absoluten Jen-
seits, mit Gott selbst, zusammen zu Einer Sphäre, der Sphäre
des (irrationalen) Materials, verbunden ist. Absolutheit oder
Nicht-Absolutheit des Gegenstandes ist damit für die Philosophie,
für die Absolutheit des Wissens, gleichgültig geworden und die
negative Abhängigkeit der Kant-Schule von Hegel abgestreift.
Damit wird die bisher im Kantianismus übliche Begründung der
Wissensabsolutheit durch die Gegenstandsabsolutheit zu einem
Selbstwiderspruch; und wir finden daher bei Lask einerseits das
Kriterium der Nicht-Sinnlichkeit als Charakteristiken für Phi-
losophie, und in ihm Gott (Lasks Überseiendes) und das Denken
(Lasks Geltungssphäre) für die Begriffsbestimmung dessen was
Philosophie ist vereint; aber andererseits ist der Gegensatz der
beiden Elemente Geltung (Form) und Tatsächlichkeit (Material) der
94 Die Absolutheit
Grundbegriff der Philosophie, und dann stehen sich die eben Ver-
einten, Gott und das Denken, in verschiedenen Sphären gegen-
über. Während aber die letztere Fassung in sich selber wider-
spruchslos ist, befindet sich die erstere nicht nur im Widerspruch
mit der zweiten, sondern auch mit sich selber; denn nur das reine
Sinnliche, die jiQüixt-j vir} gilt als Träger selbständigen Seins (nicht
nur bei Lask, sondern bei allen Kantianern), und doch hat zu-
gleich die Philosophie als Wissenschaft vom Nicht-Sinnlichen alles
Nicht-Sinnliche zu einem Absoluten erhoben; so stehen sich die
Absolutheit des Sinnlichen und die des Nichtsinnlichen einander
schroff gegenüber. Obwohl dieser Selbstwiderspruch von vorn-
herein im Kantianismus liegt, kommt er jedoch erst dann an den
Tag, wenn die Absolutheit des Nicht-Sinnlichen nicht mehr die
des Sinnlichen zum Ziel hat, also der „transzendentale Empirismus"
umgangen wird; dies ist bei Lask geschehen, und daher bleibt
zugleich, wie wir sahen, der transzendentale Empirismus als
ein für sich verselbständigter Standpunkt zurück. Damit ist
dann der Widerspruch des Kantianismus, dieser selbst historisch
geworden; die Gedanken, die er in sich verbunden fühlte, sind in
entgegengesetzten Philosophien getrennt (Hessen und Lask). In
diese Katastrophe wird aber jene andere Begriffsbestimmung
der Philosophie, d. i. Lasks Zwei-Elementengegensatz von Gel-
tung und Tatsächlichkeit, nicht hineingezogen; vielmehr sind wir
durch diese Begriffsbestimmung, indem im Tatsächlichen gemäß
ihr absolute wie endliche Tatsachen vorkommen, von der Wechsel-
bindung von Wissens- und Gegenstandsabsolutheit erlöst, und
damit nicht nur vom Kantianismus, sondern auch von Hegels Irr-
tümern frei*).
*) Daher scheint Rickert, soweit das schon jetzt, in dem oben ge-
nannten Aufsatz, zu sehen ist, nur diejenige der beiden Begriffsbestimmungen
der Philosophie, die wir als widerspruchslos bezeichnen konnten, beibehalten
zu wollen; deren positiver Inhalt ist allerdings so gering, daß er der Er-
gänzung bedarf; es ist daher abzuwarten, ob Rickert bei genauerer Aus-
führung seines Standpunkts den üückfall in den transzendentalen Empirismus
vermeiden wird und die Erinnerung an die „reine Erfahrung" wirklich aus-
gelöscht hat.
Die eigene Ansicht 95
III
Wissens- und Seinsabsolutheit stehen unbezogen neben-
einander; wenn wir Lasks Theorie nach ihrer einen, vorher ge-
kennzeichneten Richtung übernehmen, so übernehmen wir also
nur eine Negation; die positive Lösung des Problems liegt uns
noch ob.
Nachdem Lasks Sphärendreiheit wie Butter vor der Sonne
der logischen Geltung: Philosophie zergangen ist, bleiben uns
zunächst nur die zwei Sphären des Wissens und der Gegenstände.
Beide sind unabhängig voneinander: die Absolutheit des Wissens
und die des Seins stehen in keiner Wechselwirkung. Jene, die
Absolutheit des Wissens, basiert auf sich selbst (unsere Lösung
des innerlogischen Problems); ob der Gegenstand, den das Wissen
weiß, absoluter oder nicht-absoluter Art ist, wirkt auf das Wissen
nicht ein. Daher ist das Sein wieder aus Sphären verschiedenen
Wesens zusammengesetzt: Absolutes und Nicht- Absolutes stehen
in ihm nebeneinander. So kann denn das Seinsabsolute selbst nur
in einer einzelnen Seinssphäre vorkommen, und die Absolutheit
ist im Sein nicht eine durchgehende Eigenschaft, wie sie es im
Wissen ist. Darin zeigt sich, daß die Absolutheit des Seins,
obwohl sie nicht als Folge der Wissensabsolutheit angesehen
werden kann, doch nicht gleich dieser auf sich selber basiert. Die
Sphäre der Gegenstände weist den Widerspruch auf, daß der
absolute Gegenstand in ihr als Einzelsphäre vorkommt. Die
Sphäre des Seins verlangt so nach einem Moment, das ihre Zer-
reissung in einen absoluten Teil und in ein Diesseits erklärt.
Die Allheit der Gegenstände weist in ihrer Zerrissenheit in ein
Jenseits und ein Diesseits über sich hinaus auf die Sphäre,
kraft welcher Jenseits und Diesseits in der Seinssphäre ver-
einigt werden können; das ist die Sphäre des Wissens. Indem
das Wesen der Wissensabsolutheit das Zusammenkommen von
Jenseits und Diesseits innerhalb der Seinssphäre möglich macht,
alle Gegenstände, ob Gott oder die Natur, vor dem Wissen gleich
sind, wird der Wissensabsolutheit auch die Aufgabe zugeschoben,
diese Zerrissenheit der Seinssphäre zu beseitigen.
Insofern aber das absolute Wissen auf sich selbst ruht, weist
96 Die Absolutheit
es gar nicht über sich hinaus, scheint der genannten Aufgabe nicht
gewachsen zu sein. Gerade jedoch insofern das absolute Wissen
sich selbst begründet, ist es ein Doppeltes, weist innerhalb
von sich auf ein anderes als es selbst ist, ist Begründendes und
zugleich Begründetes. So verhält sich die Wissensabsolutheit zu
sich selber wie Grundlage und Ausführung der Wissenschaft —
wie Logik und Philosophie (causa sui, effectus sui). Die Grund-
lage gilt nur, insofern sie Grundlage für Etwas geworden ist;
so ist das Wissen sowohl jenseits alles Seins, in sich selbst,
als auch ausgeführtes Wissen, seiendes Wissen. Das Wissen
selbst ist; es ist, insofern es sich begründet, also zugleich nicht
ist. Es ist als Philosophie, es ist nicht als das Logische, die
reine Geltung; diese ist daher nur insofern nicht, als ihre Aseität
zu einem Er-Gründeten führt und das Ergründete ist. Insofern
das Wissen sich begründet, realisiert es sich und verneint damit
das Sein seines Begründens. Sein besitzen im Wissen nur die
„Lösungen", die „Ergebnisse", die „Erkenntnisse". Wir sehen
dann das an sich nicht-seiende Wahrheitsgelten, indem es seine
Unzeitlichkeitssphäre erfüllt und sich im absoluten Jenseits der
Gegenstände, unbekümmert um diese selbst, unbekümmert um
die anerkennende oder verwerfende Subjektheit, unüberbrückbar
geschieden von alle dem, was wirklich ist, aufbaut, — gerade
in diesem Eingehen in seine Nicht-Seiendheit wirkliche Philo-
sophie, also seiend werden, so daß der Zusammenhang dessen,
was bisher als das Seiende gilt, durchbrochen wird und eine
neue Seinssphäre ersteht. Obwohl also die Absolutheit des
Wissens auf sich selbst fußt, weist sie kraft dieses in sich
Euhens über sich hinaus. Und da das in sich selbst Ruhen
des Wissens nicht den Selbstzweck des Denkens und Erkennens
zu realisieren vermag, sondern das Wissen nur dann seinen Sinn
erfüllt hat, wenn es aus sich heraus in die Wirklichkeit ge-
treten ist, so ist es das Wesen der Wahrheit, über ihr auf
sich selber Begründetsein gerade um dieses auf sich Ruhens,
ihres sog. Selbstzweckes willen, hinauszuweisen. Während der
Kantianismus seine auf das Gegenständliche gerichtete (trans-
zendentale) Logik isolieren zu können wähnte, sehen wir uns
mit unserer auf sich selbst gerichteten („logologischen" [Lask])
Die eigene Ansicht 97
Logik Über die Grenzen dieser Wissenschaft ins Grenzenlos-
Wirkliche getrieben, sehen — wir selber Denkende, inner-
logische Wesen — uns mitten ins Reich des Wirklichen getragen,
das wir doch jenseits glaubten, sehen eben dieses entzwei-
geschnitten von uns Philosophierenden, die wir zwischen seine
Teile treten, und es von dem Daß der wirklichen Philosophie
zerrissen.
Indem aber die Philosophie das wirkliche Sein seines ein-
heitlichen Zusammenhangs zu einem Ganzen beraubt, indem die
hegelianische Ganz-Einheit, anstatt von dem Wissen geschaffen,
gesichtet, begriffen zu werden, von ihm vernichtet, verdunkelt,
problematisiert wii'd, ist es doch gerade das Wissen, welchem
die nur „hypothetische", wissenschaftlich nicht notwendige Zu-
lassung des Absoluten nicht genügt, sondern das Problem des
absoluten Seins erst zu einem (im Zusammenhang der logisch
begründeten Philosophie) notwendigen Problem wird. So aber
kommt die Philosophie dem (vorher konstatierten) Verlangen
des Seins nach seinstranszendenter Totalisierung entgegen, um-
somehr als dieses Verlangen gerade dem nicht-notwendigen, be-
schränkten Dasein des Absoluten in der Seinssphäre entspringt.
War vorher das Sein nicht wahrhaft absolut, weil die auf sich
selber in ihrer Absolutheit ruhende Wissenschaft das Endliche
ebenso duldet wie das absolute Sein, dieses daher nicht als das
Ganze der Gegenstände, sondern als eine nur mögliche Sphäre
in ihm gesetzt ist, — so erweist sich nunmehr die Unfähigkeit
des Seins, seine Absolutheit in sich selber zu gestalten, als
eine höhere Notwendigkeit — ein Fingerzeig der Sache selbst;
denn das „Sein der Philosophie" läßt uns nun verstehen, in welchem
Sinne es sei, daß das Sein seine Absolutheit nicht auf sich selbst
errichten könne, — insofern nämlich die Philosophie es selber
ist, die ihm durch ihre Seinswerdung seine Absolutheit zerstört.
Die Philosophie vernichtet darin aber nur die „mögliche" Ab-
solutheit des Seins und macht im übrigen die Absolutheit über-
haupt erst zu einer Notwendigkeit. Sie bestimmt so das Wesen
des absoluten Seins durch die Spannung zwischen dem absoluten
Sein an sich und dem Sein des absoluten Wissens, die durch Ein-
treten des Wissens in die Wirklichkeit entsteht. Nennen wir den
Ehrenberg, Die Parteiung- der Philosophie 7
Stellung der Logik im System
Gegensatz des Reiches Gottes und des Reichs der Philosophie,
so haben wir das Problem des absoluten Seins — das Problem
Gottes ausgesprochen. Dies läßt sich auch so ausdrücken, daß
wir nach dem Sinn fragen, den das Reich der Philosophie „trotz"
des Reichs Gottes haben kann. Von neuem erhebt sich hier
die (metalogische) Grundfrage einer Logodicee — jetzt aber in
den Zusammenhang des Wissenschaftssystems eingestellt. Und
wir verstehen jetzt die Logodicee als die „letzte Philoso-
phie", d. h. als diejenige philosophische Disziplin, welche da-
durch, daß sie das Absolutheitsproblem zum Gegenstande hat,
dazu berufen ist, das System des Wissens in sich selber ab-
zuschließen. Die Selbstbeendung der Philosophie wird dann
nicht daran leiden, daß die Philosophie, indem sie sich zur
Totalität abrundet, sich selbst zum einzig wahrhaften Gegen-
stand mache. Sie vermeidet das (hegelianische) Verschwinden
Gottes in der Wissenschaft und setzt im metalogischen Selbst-
beschluß nicht sich, sondern eins, das außer ihr ist, — Gott —
als das Letzte.
Punkt V: Die Stellung der Logik im System
Die exoterische Weise unserer Untersuchungen erlaubt eine
strengere Darstellung nur in Gestalt einer einzelnen Fragestel-
lung. Das Prinzip einer solchen, welche also trotz ihrer Einzel-
heit wenigstens der Richtung nach auf das Ganze gehen soll,
ergibt sich uns aus der Erfahrung, welche wir in den bisherigen
Punkten gemacht haben: innerlogische Probleme sich über die
Grenzen des Innerlogischen ausdehnen zu sehen. Daher setzen
wir jetzt das Problem hin, welches überhaupt nach Inner- und
Außerlogizität, nach ihrem gegenseitigen Verhältnis fragt, und
wenden uns dem Primat zu, der von der Logik über die Philo-
sophie ausgeübt wird.
I
Gehen wir wieder von Hegel und dem Deutschen Idealismus
aus, so haben wir den immer irgendwie transzendenten Zug zu
betonen, durch den in ihm die Einheit des Ganzen über die
Selbständigkeit der Teile gesetzt wird. Man dachte damals jene
Philosophie des 19. Jahrhunderts
gegen diese „retten" zu müssen, und der Monismus, sei es Gottes,
sei es der Gegebenheiten, vermochte sich nicht davon zu befreien,
den Pluralismus heftig zu bekämpfen. Kant selber war anders
gewesen; aber die Rückkehr zu Kant hat nicht der Selbständig-
keit gegolten, mit der er die einzelnen Disziplinen der Philo-
sophie ausgestattet hatte; zumal man sich schwerlich verhehlen
konnte, daß diese Selbständigkeit der Disziplinen bei Kant mehr
ein Ausdruck von Schwäche gewesen war, da ihm die syste-
matisierende Synthesis zum Ganzen nicht gelingen konnte,
nicht einmal im Rahmen seiner Intentionen lag. So ist der Neu-
kantianismus trotz Kant in seiner Systematik immer monistisch
gewesen, und erst nach der Jahrhundertwende ist die durch die
dualistische Methodik schon immer arg bedroht gewesene Ein-
weltenphilosophie von ihren Verteidigern selbst preisgegeben
worden. Hierhin gehört auch der durchgehende Zug einer teleo-
logischen Weltanschauung, welche besonders bei Lotze und
Windelband, hervortritt, nachdem sie im idealistischen Entwick-
lungssystem implicite vorgebildet war. In dem teleologischen
Gedanken haben wir so recht eigentlich die Seele der ganzen Phi-
losophie des vergangenen Jahrhunderts, nicht minder der neu-
kantianischen als der hegelschen; Sein und Sinn der Welt sind
getrennt, so daß jenes nicht an sich den Sinn bedeuten kann.
Kegel vertrat diese Trennung, indem er das Sein bis zum Sinn
hindurchführte und dabei durch die ganze Welt ging; die Späteren
hielten nur das Ende selber, den Sinn, fest und strichen den
Gang der Entwicklung zu ihm und damit das gesamte Sein. Da-
her ist die Selbständigkeit der Disziplinen bei Hegel nur ge-
brochen (vom Entwicklungsprinzip), während die Kantianische
Teleologie gar nicht mehr einen Aufbau von Disziplinen kennt.
Nichts mehr gilt an sich, außer dem Gelten selber; und jede
Bestimmtheit wird als Verunreinigung des reinen Geltens an-
gesehen. Nachdem so das zu verteidigende absolut-Eine zu diesem
bloßen Abstraktum zusammengeschrumpft ist, — historisch eine
Notwendigkeit für die Überwindung der „Weltanschauung" der
Entwicklungsphilosophen — kommt die Zeit, für welche die Ret-
tung der monistischen Einheit, jenes treibende Grundmotiv des
deutschen Idealismus, gegenstandslos wird, weil sie nicht mehr
100 Stellung der Logik im System
gefährdet ist; sie ist jetzt selbstverständlich. Dann muß viel-
mehr an den Wiedergewinn der Disziplinen gedacht werden; und
nach beiden Seiten gleichmäßig ergibt sich das Problem der
systematischen Stellung des Einheitsmomentes der Philosophie,
d. i. des Logos, in der Totalität des Seienden. Dieses beschäf-
tigt uns nunmehr.
Wir bekommen bei Hegel den durchaus nicht wieder zu ver-
wischenden Eindruck, daß die Logik bei ihm den anderen Dis-
ziplinen 'koordiniert ist. Denn da seine Logik nicht eine er-
kenntnisbegründende Logik ist, so haben die außerlogischen Dis-
ziplinen nicht den Sinn von angewandter Logik, d. h. es fehlt
jeder Grund für eine Über- und Unterordnung zwischen Einzel-
disziplin und Logik. Vielmehr erst an seinem Abschluß kehrt
das System Hegels zu seinem Anfang zurück, so daß seine Logik
nur deshalb keine erkenntnisbegründende Logik ist, weil sie viel
mehr ist, eine Logik, welche den Gegenstand selbst (in toto) er-
schafft. Daher ist sie den anderen Disziplinen, welche das Gegen-
ständliche nicht mehr und nicht weniger haben als sie, nur neben-
geordnet; so daß sie den Gegenstand mit dem Absoluten sogar
geradezu gemeinsam hat, darauf jedoch kraft ihrer Eigen-
schaft Logik zu sein sich zu ihm als Allgemeines verhält.
Und so gibt es doch auch eine Angewandte Logik, das ist die
Philosophie des Absoluten Geistes. Man kann das auch so aus-
drücken: Da die Logik (Hegels) das Werden des Teils im Ganzen
zu ihrem begrifflichen Resultate hat, so ist dasjenige eine An-
wendung von ihr, wo eben diese Beziehung realisiert wird, — dort
wo die Teildisziplinen zur Disziplin des Ganzen zusammenwachsen.
Die hegelsche Logik ist mithin weder allgemeiner Teil der Natur-
philosophie noch der Geschichts- oder Kunstphilosophie, wohl
aber allgemeiner Teil aller Disziplinen in ihrer Vereinigung, und
die Philosophie des Absoluten, erreicht in dem Abschluß der
Systembildung, ist als angewandte Logik zu beurteilen. Hegels
Logik gibt also nur insoiveit eine „Gnmdlegung" der Philosophie, als
diese nichts ist als Philosophie des Absoluten; aber insoweit leistet
sie die Grundlegungstätigkeit restlos. Daraus ergibt sich uns
die Einsicht in die Stellung der Logik im System Hegels: neben-
Hegel 101
geordnet den einzelnen Disziplinen, übergeordnet dem Ganzen!
Einen Frimat besitzt die Logik hier nur im Verhältnis zum Ab-
soluten. Primats- und Koordinierungsverhältnis der Logik finden
sich beide vor, stehen sich aber nicht gegenseitig im Wege, da
das Absolute infolge des Entwicklungsprinzips nur als Teil des
Ganzen das Ganze ist, also erst in einer besonderen Sphäre auf-
tritt. Daher ist nicht etwa das Absolute schlechtweg, sondern
der Primat der Logik über das Absolute das eigentliche Telos
der Entwicklung, das an ihrem Anfangspunkt noch unrealisiert
ist; und das System kann mit der Koordinierung von Logik und
Einzeldisziplin beginnen, mit der Überordnung der Logik schließen,
ohne daß dadurch ein Zwiespalt in das System hineinkäme; die
am Anfang bestehende Koordinierungsstellung der Logik wird
daher durch den den Zielpunkt der systematischen Entwicklung
bildenden Primat so wenig aufgehoben, daß sie vielmehr für ihn
erfordert wird, damit ein Zustand da sei, gegenüber dem über-
haupt ein Primat der Logik entstehen könne. Darin besteht
dann der lückenlos einheitliche Charakter des philosophischen
Systems Hegels: Wenn es zunächst scheinen kann, als ob die
systematische Stellung seiner Logik zwiespältig wäre — erst
Koordiniertheit, dann Übergeordnetheit — , so erkennen wir jetzt
die Übergeordnetheit übergeordnet über die Koordiniertheit und
diese als unter jene untergeordnete durchaus erhalten. Der
Primat der Logik über das Absolute hat iviedeffum den Primat über die
Koordinierung der Logik im Verhältnis zu den einzelnen Disziplinen.
Die Primatsstellung der Logik ist im System Hegels so radikal,
daß sie nur über das Ganze gilt. Das systematisch wesentliche
Verhältnis der Logik ist so dasjenige, in welchem sie ihren
Primat ausübt; — während das Verhältnis, in dem sie in Neben-
ordnung auftritt, bloß dienende Stellung besitzt. Das ist also
das eigentlich Charakterisierende für die Logik Hegels, daß das
Verhältnis Absolutes-Logos den Primat hat über das Verhältnis
Logos-Disziplin; es muß ihn haben, damit durch die beherr-
schende Einheit des Verhältnisses des Absoluten zum Logos die
systematische Einheit gebildet wird. Solange also ist die Ein-
heit des Systems vollkommen gesichert, als der Primat des
Primatsverhältnisses Logos- Absolutes über das Koordinierungsver-
102 Stellung der Logik im System
hältnis Logos-Disziplinen besteht; so sehr er notwendig ist, so
sehr genügt er auch, genügt für die Einheit des Systems, den
inneren Bestand der Hegeischen Philosophie. Ob dann aber im
Verhältnis vom Logos zum Absoluten jenes oder dieses den Pri-
mat über das andere hat, ist für die Einheit des Ganzen be-
deutungslos; wenn nur überhaupt ein Primatsverhältnis zwischen
beiden (Logos und Absolutem) besteht und dieser Primat wieder
den Primat über die koordinierende Relation von Disziplin und
Logos besitzt. Die Funktion, durch welche die systematische
Totalität der Philosophie Hegels gehalten wird, wird ebenso voll-
kommen ausgeübt, wenn das Absolute den Primat über den Logos
hat als wenn, wozu die Interpretation (durch die Stellung der
Logik am Anfang des Systems) zunächst geführt wird, der Logos
den Primat über das Absolute besitzt. Indem daher in den Zu-
sammenhängen des Ganzen kein Bestimmungsgrund liegt, durch
den das eine oder das andere bevorzugt würde, schlägt der Primat
der Logik über das Absolute in den Primat des Absoluten über die Logik
um, dieser dann wieder in jenen, — ein für den Kenner Hegels
nicht überraschender Vorgang, der nun auch in den Voraus-
setzungen und Zusammenhängen des Ganzen seiner Philosophie
begriffen wurde. Die Logik wird so zu einem bloßen Moment im
Geiste Gottes, dieser umgekehrt zu einer Darstellung des Begriffs
im Begriff; und in der Tat ist der Xöyog bei Hegel sowohl die
autochthone Macht der Wissenschaft als auch der eingeborene
Sohn Gottes. Und das Verhältnis der Logik zum Absoluten, in
welchem. Verhältnis allein sich die Stellung der Logik im System
Hegels ausdrücken soll, während von dem Verhältnis zu den Dis-
ziplinen, d. h. von einem etwaigen erkenntnistheoretischen Grund-
legungscharakter, keine endgültige Einordnung erfolgt, ist von
der Art, daß das Absolute nicht weniger den Primat hat über
die Logik als diese über jenes; der Primat ist gegenseitig, wo-
durch die Bestimmtheit der Logik und die des Absoluten wechsel-
seitig ausgetauscht wird, und das, ivas jetzt Gott heißt, nennt
sich nachher Wissenschaft — was erst Wissenschaft lautete, ist
nachher Gott. Und der Interpret hat die Wahl, das System Hegels
entweder gottlos oder unwissenschaftlich zu nennen, — aber als
historisch sachgemäßer Interpret hat er nur die Wahl, nicht aber
Hegel 103
das Eecht zu wählen; denn sobald er wählen würde, verfiele er
in den Fehler, die Wahrheit jenes Entweder-Oder zu verletzen.
Da dieses Entweder-Oder ihm aber ebenso verbietet, Hegels Phi-
losophie für sowohl gottlos als auch unwissenschaftlich anzu-
sprechen, so ist als wissenschaftliche Wahrheit über Hegel zu
sagen, daß wir nicht wissen, ob die Philosophie Hegels als gott-
los oder als unwissenschaftlich zu bezeichnen sei; und mit dem
bestimmten Wissen um dieses bestimmte Nicht-Wissen ist uns
die Kritik Hegels beendet. So sehr dieses Ergebnis als Ergebnis
einer Kritik ungewohnt aussehen mag, so sehr ist in der Tat das
Wissen um das Nicht-Wissen, „das absolute Nicht-Wissen", das
Schicksal und der Erbe Hegels gewesen. Unsere Beurteilung
Hegels stellt so, mit Windelbands Ausdruck zu sprechen, ein
problematisches Urteil dar, welch letzteres daher als das histo-
rische Fundament der Nachhegelianer deren Philosophie als die
„Philosophie der Probleme", die letzte Fixierungen überhaupt ab-
lehnt, begründet hat. Der neuere Kantianismus hat deshalb das
problematische Urteil als seine strenge Herrin Seele, welche
ihm das absolute Nicht- Wissen zum Gesetz macht, dadurch aber
seinen wissenschaftlichen Charakter involviert.
II
Indem der Kantianismus jedes absolute Wissen aus den
Grenzen der Philosophie austreibt, nimmt er seinem logischen
Standpunkt die Auswirkungsmöglichkeit in einer Philosophie,
bleibt wo er rein auftritt StandpunJctsphilosophie und verhält
sich gegen jede Systembildung vollkommen ablehnend. Daher
erwächst der Betrachtung, der wir uns hier widmen, eine Schwie-
rigkeit: Wenn es keine neukantianischen Systeme gibt, können
wir über den Ort der kantianischen Logik im philosophischen
System nichts aussagen, außer daß er fehle. Jedoch auch die
Systemlosigkeit wird zu einem Gegenstand höchst mannigfaltiger
Beurteilungsmöglichkeiten, sobald sie als Resultat einer syste-
matischen Einordnung der Logik gemeint ist; und da in der Tat
durch jeden logischen Standpunkt, sei es welchen, wenigstens
allgemein gesetzt ist, daß es eine Sphäre des Systems überhaupt
gibt, weist auch der systemlose Kantianismus obwohl kein System,
104 Stellung der Logik im System
SO doch eine systematische Stellung der Logik auf; der logische
Standpunkt der Kantianer ist stets so umrissen, als ob ein System
hinter ihm stände, und im Sinne eines letzten Ideals, für das
allerdings die Meinung besteht, daß es höchst unzeitgemäß sei,
hat auch die Kantschule die Idee und Forderung der System-
bildung beibehalten. Diese muß jedoch eine unklare Vor-
stellung bleiben, da ja alles absolute Wissen zurückgewiesen
wird, was seinerseits geschieht, um dem hegelianischen Pri-
mat der logischen Disziplin über das Absolute selber zu ent-
gehen. Da die Möglichkeit eines absoluten Wissens bei Hegel
mit diesem Primat verbunden gewesen ist, dieser sich aber in
sein Gegenteil entladen hat, so hat die Möglichkeit eines ab-
soluten Wissens dasselbe Schicksal erfahren; und es bedeutet eine
erhebliche Zügellosigkeit des Denkens, von den Damaligen zu
fordern, sie hätten das absolute Wissen retten sollen. Der Kan-
tianismus übernimmt also jenes hegelianische Fiasko als eine
feststehende Tatsache und macht sie zu der grundsätzlich wich-
tigsten seiner Denkvoraussetzungen, perenniert seine Wirkung
so über die Zeit der Hegeischen Philosophie hinaus. Daher wird
im Kantianismus eine ganz sonderbare System.einordnung der
Logik vollzogen: Jede Verknüpfung der Logik mit einem Ab-
soluten wird verworfen: sowohl nicht Primat der Logik über
das Absolute als auch nicht Primat dieses über jene; solches
schlechthinnige Trennen von Logik und Absolutem ist als das
Kantianische Dogma anzusehen (das ein Dogma ist, da es als
eines Erweises unbedürftig gilt), zerstört gleichwohl das absolute
Wissen überhaupt und stellt daher auch jenes Trennen von Logik
und Absolutem nicht als absoluten Wissens-Grundsatz auf, sondern
verhält sich auch zu ihm problematisch; obwohl also Dogma, so
tritt die Auflösung jeder Verbindung von Logik und Absolutem
doch nur als das zum Dogma gewordene problematische Urteil
auf, so daß „etwa hinsichtlich metaphysischer Fragen, die im pro-
blematischen Urteil ausgesprochene Suspension des Urteilsaktes
den definitiven Entscheid menschlicher Einsicht ausmacht"*);
*) Windelband, Beiträge zur Lelu-e vom negativen Urteil, Straßburger
Abliandl. für Zeller, 1884, 189.
Neukautiaaismus 105
und die Logik gilt für das Absolute nur als schlechthin inkom-
petent*). Obwohl daher vom Kantianismus zu sagen ist: es gibt
keine Systembilching, weil die Logik kein Vei'hältnis zum Ganzen hat, —
es gibt kein Verhältnis der Logik zum Ganzen, weil es kein System
gibt, so verleugnet der Kantianer gleichwohl den „Atheisten und
Antichristen Hegel" (Bruno Bauer) und begnügt sich mit dem
Indifferentismus in bezug auf Gott, mit der Wissenschaftlichkeit
in bezug auf den „Standpunkt" der Wissenschaft, den logischen
Standpunkt: nicht wider Gott, sondern ohne Gott, nicht wider das
systematische Ganze der Wissenschaft, sondern ohne es; und nur
dies ist der tiefere Grund für den Anschluß des Antihegelianismus
an Kant, daß er bei diesem ein Prinzip vorfindet, das weder eine
Theodicee erfordert, noch eine systematische Anwendungsbedürf-
tigkeit besitzt: das kritizistische Prinzip; obwohl Kantianismus
heißend, so verdiente derselbe doch in Wahrheit den Namen des
Antihegelianismus und verwendet auch das kritizistische Prinzip
zu einem solchen Zwecke, der demselben bei Kant selber voll-
ständig fremd gewesen ist, zu dem, was endlich einmal gesagt
werden muß, durchaus dem Neukantianismus eigentümlichen und
nicht von Kant übernommenen Grund-Begriff des Erkenntnis-
theoretischen; in diesem ist der wirklich kantianische Gedanke der
Gegenstandsbestimmung in dem ihn brechenden Sinne verwendet,
in welchem der Neukantianismus ihn gebraucht, nämlich allerdings
ebenso wie bei Kant mit der Folge der Trennung von Logik und
Absoluten, jedoch ohne daß diese Trennung eine eigene Ange-
legenheit und Wirkung der Logik selber wäre (Kants Dialektik
der reinen Vernunft**), sondern so daß die Sphäre des Absoluten
überhaupt nicht betroffen wird, nicht positiv, aber ebensowenig
negativ. Dann entsteht durch die erkenntnistheoretische Gegen-
standsbestimmung weder ein positives noch ein negatives abso-
lutes Wissen; in bezug auf dieses bleibt es beim problematischen
*) Um sich die historische Eigenart des neueren KantianisniuB gegenüber
Kant zu vergegenwärtigen, erinnere man sich des „Zertrümmcrers" Kant; von
solchem Drang verspürt man Ijeim Neukantianismus nichts.
**) Der neuere Kantianismus vernachlässigt daher bezeiclmeiulerweise bei
der Interpretation Kants die Dialektik der reinen V^ernunft.
106 Stellung der Logik im System
Urteil, wenn der erkenntnistheoretisch zu konstituierende Gegen-
stand ausdrücklich das nicht-absolute Wissen ist; dadurch nun
bedeutet die Kantische Kritik für den Neukantianismus den prin-
zipiellen Standpunkt der methodologischen (d. h. auf das em^pi-
rische Wissen gerichteten) Frage. Und mit diesem Standpunkt
nimmt dann die neukantianische Logik eine systematische Stel-
lung ein, die Stellung zum System der empirischen Wissenschaften,
worin dann das System, in welchem die Logik steht, diese weder
mit einem Absoluten in Berührung bringt noch ein absolutes
Wissen begründet, vielmehr durch die Logik nur eine von der Ab-
solutheitssphäre ganz und gar geschiedene Sphäre, zugleich eine
solche des empirischen Wissens aufgerichtet wird; und nicht
einmal selbst die Resultate der erkenntnistheoretischen seil, me-
thodologischen Philosophie (d. s. die logischen Voraussetzungen
eines auch seinem letzten Ziel nach nur empirischen Wissens) für
das Dasein eines absoluten Wissens eintreten; daher der neukan-
tianische Begriff der „logischen Voraussetzung" immer verdäch-
tig zwischen echtem und unechtem Apriori, zwischen Idealismus
und Empirismus schwebt. Deshalb hat das, was sich im Kantia-
nismus überhaupt als Forderung eines Systems gezeigt hat, das
System der Methodologie empirischer Wissenschaften gemeint;
und nur von ihm als Zweck aus kommt dem Kantianismus ein Ver-
hältnis von Standpunkt und Philosophie, ein Gedanke an Ergeb-
nisse, eine systematische Einordnung der Logik zu.
Es ist Cohen gewesen, der mit der methodologischen Um-
biegung der Vernunftkritik den neukantianischen Standpunkt und
damit die soeben beschriebene systematische Stellung der Logik
begründet hat. Indem die Logik als Theorie der empirischen
Wissenschaft behandelt wird, nimmt sie ein System zum Hinter-
grund, das ein Abbild der Gliederung der empirischen Wissen-
schaften ist. Darauf setzt sich der Inhalt der Logik aus den
einzelnen Methodologien zusammen, die alle in dem festgestellten
Charakter des Erkenntnistheoretischen übereinstimmen «und da-
her ihre Wurzeln alle in einer allgemeinen Erkenntniskritik
haben. In der Logik bildet sich ein Verhältnis von Grundlegung
und Anwendung heraus; die allgemeine Erkenntnistheorie ist
den einzelnen Wissenschaftstheorien übergeordnet. Dieser inner-
Xeiikantianismus : Cohen, 'Windelband 107
logische Primat der Logik über sich selbst ist durch den metho-
dologischen Charakter des neukantianischen Standpunkts er-
klärt und abgeleitet und kommt auch zui- Realität, sobald das
System der empirischen Wissenschaften sein gleichmäßiges Be-
handeltwerden, von Seiten der erkenntnistheoretischen Frage nach
den logischen Voraussetzungen, auch wirklich durchsetzt. Und
SO stellt sich für den Kantianer die neue Fi-age nach Umfang und
Inhalt des Systems der empirischen Wissenschaften ein; erst durch
ihre Entscheidung kann der Kantianismus zu einer systematischen
Stellung der Logik gelangen, einer Stellung, welche sich zwar
nur innerhalb der Logik ausspannen, gleichwohl aber ein Glie-
derungsverhältnis in einem gedachten Ganzen darstellen soll. Da-
her wird das Wissenschaftensystem zum Zankapfel der Kanti-
aner, und der Gegensatz zwischen Cohen und Windelband drückt
sich wesentlich als verschiedene Beurteilung desselben aus: Cohen
beschränkt dasselbe auf die mathematische Naturwissenschaft,
Windelband dehnt es über das gesamte Gebiet der Natur- und
Geisteswissenschaften aus; jener verliert zwar an Umfang der
logischen Wissenschaft, an systematischer Gliederungsfähigkeit
derselben, gewinnt dafür aber eine von allem Absoluten aufs
reinlichste geschiedene Sphäre, deren „logische Voraussetzungen"
in keiner Weise die Trennung der Logik vom Absoluten zu
trüben vermögen. Windelband dagegen erobert die ganze Breite
der empirischen Wissenschaften, weshalb auch erst er den ersten
Anstoß gegeben hat zu dem nachherigen Siegeszug der metho-
dologischen Denkweise durch die empirischen Wissenschaften
hindurch, gerät aber hierbei in solche Gebiete hinein, in
denen die logischen Voraussetzungen des dem betreffenden Gebiet
eigentümlichen empirischen Wissens auch auf metalogische Be-
griffe hindrängen. Es zeigt sich so, daß das empirische Wissen
gar kein eigenes System besitzen kann, weil seine Beziehung auf
die Objekte, von denen es weiß, verschiedenster Art ist; jede
empirische Wissenschaft weiß sich, sobald ihre logischen Voraus-
setzungen ihr bewußt werden, in einer bestimmten Gegenstands-
sphäre enthalten, wobei einzig die mathematische Naturwissen-
schaft sich als das Ganze ihrer Gegenstandssphäre ansehen kann
(Naturmechanismus!) und daher ihre logischen Voraussetzungen
108 Stellung der Logik im System
Über methodologische Begriffe nicht hinausführen sieht; für keine
der anderen Wissenschaften hingegen erscheint ein Wissen als
ausreichendes Prinzip ihrer Gegenstände, vielmehr als irgendwie in
einem Widerstreite mit dem Gegenstande befangen: die innere
Erfahrung setzt der Beobachtung die Brechung durch die beob-
achtenden Individuen, die Geschichte dem Forschen die Ab-
hängigkeit von Zeitpunkt und Zeitgeist des forschenden Histo-
rikers entgegen, und die methodologischen Probleme werden
hier unweigerlich ins metamethodologische Land hinüberge-
zwungen. Während daher Cohen und seine Anhänger selbst schon
für die innere Erfahrung die Kompetenz der Logik ablehnen,
kommt Bickert bei der Fortbildung der zunächst rein methodo-
logischen Idee, die Windelband über den Unterschied von Natur-
und Geschichtswissenschaft entwickelt, zu durchaus metalo-
gischen Gegenständen; und wenn wir sonst der Darstellung seiner
„Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" den Vor-
wurf machen zu müssen glaubten, daß der Kulturhegriff, obwohl
er ohne Zweifel für das Ganze den Grundbegriff abgebe, erst all-
mählich aus methodologischen Gedankengängen herausentwickelt
werde, so sehen wir nunmehr, daß nicht der Darstellung ein Vor-
wurf vorzuhalten ist, sondern der Denkweise, da dieselbe rein me-
thodologisch fragt, gleichwohl aber solche Sphären in die Anwen-
dung ihrer Frage einbezieht, in denen der Gegenstand einer me-
thodologischen Fragestellung nicht im Mittelpunkte steht. Je
mehr daher die Logik sich in die rein methodologischen Aufgaben
vertieft, desto mehr kommt sie über dieselben hinweg; indem
jedoch der Kantianismus an der methodologischen Einstellung
der Logik festhält, kehrt er die nicht ablehnende, bloß proble-
matische Stellungnahme zum Absoluten, welche er schon besitzt,
nur stärker hervor, betrachtet dann im übrigen sein sich Aus-
breiten über alle Vorkommnisse eines empirischen Wissens als
eine ausschließlich logische Angelegenheit und läßt so jene merk-
würdigen Zwittergebilde entstehen, die halb Methodologie halb
Metaphysik, teils der Logik teils außerlogischen Sphären an-
gehören, aber nur vom Standpunkt der reinen Methodologie aus
und zu ihren Zwecken hervorgebracht werden, als da sind: Logik
der Kulturwissenschaft, der inneren Erfahrung, der Religions-,
Neukantianismus: "Windelband, Rickert 109
Kunst- USW. Wissenschaften*). Dadurch wächst in der Philo-
sophie Windelbands und Rickerts ein innerer Widerspruch
zwischen Standpunkt und Ausführung auf: Jener ist der metho-
dologische Standpunkt, welcher die Trennung von Logik und
Absolutem durchführt, vermöge der Einstellung der logischen
Frage auf das nicht-absolute, empirische Wissen. Die Aus-
führung dagegen hält zwar zunächst diese Einstellung fest, ver-
wischt aber jemehr sie sich vollendet umsomehr die zwischen
Logik und Absolutem gezogene Grenzlinie, indem sie in einzelnen
der Wissenschafts-Methodologien zum Dasein eines Absoluten
Stellung zu nehmen genötigt wird, und setzt dadurch nun auch die
methodologische Einstellung der Logik zu einer unter vielen Ein-
stellungen derselben herab. Zwar tritt auch das jetzt er-
schienene Absolute nur als „logische Voraussetzung" auf den
Plan und bleibt daher formal und inhaltslos, zerstört aber die
All-Einheit der streng methodologisch systematisierten Logik,
setzt neben das Logische nicht-theoretische Sphären und macht
so den Übergang zu einer solchen Systematik, deren Methode
wesentlich koordinierend ist; und es wird jetzt in den Vorder-
grund gerückt, daß die Logik nur eine einzelne Sphäre anfüllt:
Gegensatz des Theoretischen und des A-theoretischen im „System
der Werte". So erkennen wir: Zwei ganz verschiedene Gedanken-
reihen wirken auf die systematische Stellung der kantianischen
Logik ein. Die eine ist die erJcenntnistheoretische, die andere die,
welche im Begriff des Systems der Werte gedacht ist. Jene ver-
weigert jedes absolute Wissen sowie überhaupt alle Beziehung
von Logik und Absolutem, konstituiert sich daher als innere
Gliederung der Logik in allgemeine Erkenntnistheorie und spe-
zielle Methodologien einer Logik der Kultur-, Kunst- und Reli-
gionswissenschaften und kennt daher keine außerlogische Syste-
*) Rickert, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1896, 1902;
Cohn, Allgemeine Ästhetik, 1901; Lash, Rechtsphilosophie in: Die Philosophie
zu Beginn des 20. Jahrhts., II. Bd., 1904; Troeltsch, Psychologie und Erkennt-
nistheorie in der Rehgionswissenschaft, 1905; Simmel, Soziologie, Exkiirs: Wie
ist Gesellschaft möglich?, 1908; Kroner, Über logische und ästhetische Allge-
meingültigkeit, 1908; Pariser, Zur Logik der religiösen Begriffsbildung, 1910;
Ehrenberg, Kritik der Psychologie als Wissenschaft, 1910.
110 Stellung der Logik im System
matik. Diese, das System der Werte, setzt zwar auch weder ein
absolutes Wissen noch eine Beziehung von Logik und Absolutem,
übt aber gegenüber allen Absolutheitsproblemen, so auch dem
Verhältnis von Logik und Absolutem, nur enoirj und gliedert
sich daher in die nicht das Absolute darstellenden, aber auch
nicht ihm entgegengesetzten Einzelwertsphären, so daß das Ab-
solute selber als abstrakter Wert - überhaupt (dessen Inhalt
= 0, Umfang = co sei) in der Tat weil inhaltslos gar nicht
ist, zugleich aber weil als Begriff anerkannt .doch nicht ver-
worfen wird. So kennt das System der Werte nur eine außer-
logische Systematik; dies sein Gegensatz zur Erkenntnistheorie.
Indem aber beide Gedankenreihen auf die Kantianische Logik
in gleicher Weise einwirken, kommen sie auch beide in ihr zum
Ausdruck, wie es sich in der Philosophie Windelbands und
Rickerts gleichmäßig beobachten läßt (nur daß bei jenem das
System der Werte, bei diesem die Erkenntnistheorie ein gewisses
Übergewicht besitzt). Indem nun also beide Ideenkomplexe in
dieselbe Gedankeneinheit aufgenommen werden, findet sich die
Vielheit der Werte exkl. des theoretischen Wertes innerhalb
der Erkenntnistheorie, in den einzelnen Methodologien, wieder,
während der theoretische Wert mit der allgemeinen Erkenntnis-
theorie zusammenfällt. Und so wird das Grundlegungsverhältnis
das in der Erkenntnistheorie zwischen allgemeiner Erkenntnis-
lehre und speziellen Methodologien bestanden hat, in das System
der Werte hineingetragen: der theoretische Wert verhält sich zu
den anderen, den atheoretischen Werten als grundlegender Wert,
so daß sich seine Eigenart in den nicht-logischen Disziplinen
wiederholt, allerdings gemäß dem Überfließen des methodo-
logischen Stromes über seine eigenen Grenzen, mit sich ab-
schwächender Intensität. Daher hat die logische Disziplin ohne
Zweifel den Primat über die anderen Disziplinen; denn sie ist
allgemeine, die anderen Disziplinen spezielle Erkenntnistheorie;
aber ebenso steht außer Zweifel, daß vom Standpunkt des Systems
der Werte aus, d.h. des Ganzen, theoretische und atheoretische
Disziplinen nicht in einem Verhältnis des Allgemeinen und Be-
sonderen stehen, sondern für durchaus gleichberechtigt, daher
einander koordiniert gelten. Indem aber die methodologische
Neukantianismus: Windelband, Rickert 111
Frageart die einzige Methode der Ausführung ist, welche der
Kantianismus kennt, so bleibt der gleichmäßige Ausbau der Wert-
sphären notwendigerweise unvollendet, und die ethischen, reli-
gionsphilosophischen usw. Probleme, welche dem Kantianer, inso-
fern sie gar nicht nach irgendwelchen logischen Voraussetzungen
fragen, auf erkenntnistheoretischera Wege nicht lösbar sind,
pflegt er von sich abzuwälzen und der mit dem Indiffe-
rentismus des weder Benötigens noch Verwerfens behandelten
Sphäre des Absoluten (die man jetzt i. e. S. die metaphysische
nennt) zuzuschieben; aber darin erweist sich gerade, daß der Pri-
mat der Logik in der Tat wirksam ist, daß die nicht-logischen Dis-
ziplinen, obwohl sie in ihrer Totalitätsgemeinschaft mit der lo-
gischen Disziplin dieser als nebengeordnet gelten, doch in der
Ausführung davon abhängig sind, inwieweit sie befähigt sind,
erkenntnistheoretische Ergebnisse entstehen zu lassen. Obwohl
allerdings die Philosophie Windelbands und Rickerts das Element
Erkenntnistheorie mit dem Element System der Werte zu har-
monisieren strebt, so hat doch das erstere der beiden den Tat-
primat über das letztere. D. h. der Primat der Logik über
die einzelnen Disziplinen ist übergeordnet über die Koordinie)-ung der
Logik im Verhältnis zum Ganzen (zum System). Und so siegt
das „Prinzip" der Systemlosigkeit über das „Ziel" des Systems,
das problematische Urteil über das Ganze der Werte. Der Pa-
roxysmus der einzelnen Disziplinen im Kantianismus weist auf
den Widerstreit zweier Grundkräfte die in ihm wirken zurück:
Für die eine ist die Logik ein einzelner Abschnitt der Philosophie,
für die andere der alles begründende Teil; dort Antilogismus,
hier Logismus; dort Hervorkehren des induktiv zu erzielenden
Aufbaus der Disziplinen, hier Hineinziehen auch der einzelnen
Werte in den allgemeinen Wert- oder Geltungsbegriff; um dann
die Folgen dieses Widerstreites, das Unmöglichwerden des Sy-
stems zu verhindern, schiebt man wohl zwischen die einzelnen
Wertdisziplinen und die allgemeine Erkenntnistheorie eine Art
„vergleichender" und teleologisch vereinheitlichender Philosophie
der Werte ein*), von der allerdings etwas Reales nie erscheinen
*) J. Cühn, a. a. 0., 434, 499 ff.
112 Stellung der Logik im System
konnte. Und überhaupt vermag sich der Kantianismus, so lange
als er noch an seinen Grundprinzipien selber zu feilen hat,
in der Mitte zwischen Erkenntnistheorie und System der Werte,
sich einmal mehr zu jener, dann wieder mehr zu diesem neigend,
zu halten, aber wenn schließlich dieses scheinbare Gleichgewicht,
dessen relativer Bestand der Passivität des Nicht-Ausführens zu
danken ist, beim ersten Schritt zu wirklicher Ausführung ver-
loren geht und dadurch die Beschaffenheit des Ausführens über
die des Standpunktes, die Erkenntnistheorie über das System
der Werte das Übergewicht erhält, kommt der Primat des Pri-
matsverhältnisses Logik-Disziplinen über das Koordinierungs-
verhältnis Logik-Ganzes zu wirklicher Geltung.
Und so schlägt die zivischen Erkenntnistheorie und System
der Werte aufgebaute Philosophie Windelbands, welche an jener
ihr Prinzip, an diesem ihre Aufgabe hat und in dieser Verteilung
von Prinzip und Aufgabe nach allen Seiten gesichert scheint,
in die von RicJcert vollzogene Aufhebung des Systems der Werte
durch die Erkenntnistheorie um; diese zieht jenes in sich hinein
und setzt sich wesentlich als das Ganze. Das Koordinierungs-
verhältnis von Logik und Ganzem tritt zurück, zumal der Grund-
begriff der Logik immer schon der grundlegende Begriff des
Ganzen gewesen ist. Jetzt konstituiert er sich ausdrücklich als
solchen; die Logik ist die Allgemeine W ertwissenschaft, als welche
sie das Ganze der Philosophie in seinen grundlegenden Elementen
umfaßt. Es bildet sich dann dementsprechend ein rein auf t'Jher-
imd Unterordnung gestütztes Systemverhältnis heraus: An der
Spitze des Aufbaus steht die Allgemeine Wertwissenschaft d. h.
die Logik, welcher die einzelnen Wertdisziplinen als Methodologien
untergeordnet sind. Die erkenntnistheoretische, d. h. methodo-
logische Tendenz der kantianischen Logik wird jetzt ganz über-
wunden (was sich auch äußerlich in der allmählichen Verdrängung
des Terminus Erkenntnistheorie durch den Terminus Logik kund-
gibt), und zwischen dem theoretischen Wert und dem Wert-
überhaupt fehlt ein grundsätzlicher Unterschied. Sie sind beide
wesentlich Wert-, Geltungshaftigkeit; und als Geltungsphilo-
sophie ist die reine Logik seihst zum Ganzen der Philosophie ge-
worden, in welchem die Vielheit der Werte nur im strengen Sub-
Neukantianismus: Eickert 113
ordinationsverhältnis unter die reine Logik auftritt. Der Wert-
überhaupt, welcher nur noch dem Namen nach vom theoretischen
Wert geschieden ist, — beide bedeuten die Möglichkeit der Er-
kenntnis — ist für den Kantianismus das Letzte, sein erklärter
Gott. Aber zugleich bedingt die systematische Gestaltung der
kantianischen Philosophie (die in ihr geschaffene Primatsstellung
der Logik), daß die Logik sowohl allgemeine Wertwissenschaft
als auch einzelne Wertdisziplin ist. Und damit gerät für die Logik,
so fest gegründet ihr Primat über alle nicht-logischen Disziplinen
sein mag, gerade dieser Primat über die Disziplinen ins Schwanken,
insofern er auch ein Primat der Logik über sich selbst sein soll,
ein Primat der Logik als Allgemeiner Wertwissenschaft über die
Logik als einzelne Wertdisziplin. Denn dieser erforderte Primat
der Logik über sich selbst ist für den Kantianismus nicht wirk-
lich durchführbar; indem nämlich die Logik als Allgemeine Wert-
wissenschaft aus der Erkenntnistheorie „geworden" ist, ist der
Allgemeinen Wertwissenschaft eigentümlich, daß sie ihr Wesen
dem Wesen der Erkenntnistheorie entlehnt hat; d. h. die All-
gemeine Wertwissenschaft besinnt sich wesentlich auf die „lo-
gischen Voraussetzungen" gegebener Tatsächlichkeiten, und da-
her ist es auch ihr Inhalt, den Wert als die logische Voraus-
setzung des Seins zu charakterisieren (Rickert, Logos I, 1).
Indem die allgemeine Wertwissenschaft das erkenntnistheoretische
Problem vollkommen beibehält, hat einerseits die spezielle Dis-
ziplin des theoretischen Wertes keinen anderen Inhalt, als die
Allgemeine Wertwissenschaft hat, und ist so in der Tat in der
Allgemeinen Wertwissenschaft verschwunden; andererseits sieht
sich diese wesentlich als den speziell logischen Grundgegensatz
der Vernunftgeltung und der irrationalen Wirklichkeit, und ihre
Begriffe beschränken sich auf die in diesem Gegensatz ausge-
sprochene Spannung und auf die Stufenbegriffe, durch welche die
Extreme vermittelt, der Gegensatz des Rationalen und Irrationalen
in eine einfache Reihe, die von diesem zu jenem gehen soll, auf-
gelöst wird. Daher ist in Wahrheit nicht zu bestimmen, ob die
kantianische Logik weil allgemeine Wertwissenschaft Theorie
des theoretischen Wertes ist, oder Allgemeine Wertwissenschaft
weil Theorie des theoretischen Wertes. Obwohl also die Logik
Ehrenberg', Die Partciunp der Philosophio 8
114 Stellung der Logik im System
bei Eickert wesentlich die Qualität besitzt, grundlegende Disziplin
zu sein (Primat des Primatsverhältnisses Logik-Disziplinen über das
Koordinierungsverhältnis Logik-Absolutes), so besitzt sie gleich-
wohl nicht die Qualität sich selber zu begründen, sondern für
die LogiJc selbst ist der Primat der Logik über die Disziplinen
nicht durchgeführt; ob die Logik allgemeine Wertwissenschaft
ist weil Logik, oder ob der umgekehrte Zusammenhang besteht,
ist unerkennbar; so daß die Logik über sich selbst gar keinen
Primat besitzt; ihr Grundlegungscharakter versagt in der An-
wendung auf sich selbst, und die Logik ist so überhaupt ohne
einen letzten Grund, ist wesentlich etwas „Vorgefundenes". Sie
begründet die anderen Disziplinen, ist selbst unbegründet, ist
gerade, weil sie selbst nicht als begründungsbedürftig gilt, fähig
zur Grundlegung der anderen Disziplinen, zu dem Primat über
diese. Das reine Über- und Unterordnungsverhältnis von All-
gemeiner Wertwissenschaft und Wertdisziplinen, wie es bei Rickert
besteht, fußt somit darauf, daß die Allgemeine Wertwissenschaft
weil sie Logik ist nur begründet, nicht selbst begründet zu werden
braucht und daher als ein Letztes, Transzendentes gilt. Der
Unterschied von Logik und Metaphysik, von dem der Kantianis-
mus ausgegangen war, wird vollkommen hinfällig; die Logik er-
scheint jetzt wesentlich selbst als Metaphysik. Dies kann dem
Kantianismus selbst allerdings nur dadurch zum Bewußtsein
kommen, daß die methodologischen Adnexe seiner reinen Logik,
d. h. die der Logik untergeordneten einzelnen Disziplinen, ihn
immer erneut in den Kampf mit dem Standpunkt derjenigen
Wissenschaften verflechten, die er methodologisch begründet, —
in einen Kampf mit Empirismus, Positivismus und Psychologis-
mus; keineswegs darf es uns dünken, als habe sich in diesen
Fehden ein unglücklicher Hang zur Polemik geäußert; sondern
wir haben nicht zu vergessen, daß der Kantianismus mit der
Feindschaft gegen die Metaphysik und mit dem Skeptizismus
gegen das Absolute begonnen hat; dann muß ihm wohl oder übel
dies, daß er selbst Metaphysik ist, erst im Kampf gegen Psy-
chologismus, Empirismus und Friesianismus zum Bewußtsein
kommen. Und überhaupt bedurfte der kantianische Geist eines
praktischen Skeptizismus des Stets-Verneinen-Könnens, und dazu.
Neukantianismus: Rickert 115
den Geist der Wissenschaft vom Element des unbedingten Glaubens
zu befreien, ist er in diese Welt gekommen, in der er daher seine
Rolle ausgespielt hat, sobald er selber gläubig wird und beginnt,
das Positive über das Negieren zu setzen. Dies aber ist sein
Schicksal; denn indem er seine skeptische Praxis, das absolute
Nicht-wissen, so weit durchführt, daß er sie auch gegen die skep-
tische Theorie selber zur Anwendung bringt, wendet er sich von
dem Prinzip des problematischen Urteilens ab und findet sich
so gleichsam über Nacht selber zur Metaphysik gevv'orden. In
dem Augenblick, in welchem Logik und Allgemeine Wertwissen-
schaft absolut zusammenfallen, ist der Wiedereintritt der Meta-
physik geschehen; deshalb glaubt noch J. Colin, welcher Logik
und Allgemeine Wertwissenschaft nicht identifiziert, die Logik
„von der Stellungnahme zu der Frage, ob überhaupt Metaphysik
möglich sei, unabhängig" (a. a. 0.)-
Das Metaphysik-Werden der Logik hat sich also nur da-
durch vollzogen, daß die Logik Allgemeine Wertwissenschaft,
d. h. Grundlegungsdisziplin ist; der Grundlegungscharakter ist
daher hier das letzte Apriori für die Möglichkeit einer Meta-
physik. Dann aber hat die also entstandene Metaphysik die für
eine Metaphysik paradoxe Eigentümlichkeit, daß sie „nur" die
Grundlegung der Philosophie, nicht diese selber ist; d. h. auch
der metaphysisch gewordene Kantianismus sieht sich nicht als
absolutes Wissen an, sondern nur als die „logische Voraus-
setzung" eines solchen. Die Tatsächlichkeit und Gegebenheit
dessen, für das der Kantianismus logische Voraussetzungen
sucht, ist auch noch, nachdem er Metaphysik geworden ist, sein
Grundprinzip: Selbst dann, wenn er ein absolutes Wissen aner-
kennt, duldet er nicht, daß dasselbe a se sei, nimmt vielmehr, wie
er einstens das empirische Wissen als Tatsache hinnahm, jetzt
das absolute Wissen als Tatsache hin und untersucht nur die (dem-
selben ja durchaus transzendenten) logischen Voraussetzungen.
Das absolute Wissen selbst ist mithin Gegenstand eines streng
problematischen Urteils, wird weder als notwendig deduziert noch
als unmöglich verworfen, sondern als Tatsache hingenommen,
geduldet; und die Logik, die früher bereits alle Sphären durch-
laufen hat: Logik der Natur, der Kultur, Kunst usw., ergreift
8*
116 Stellung der Logik im System
jetzt auch die Sphäre der Philosophie („Logik der Philosophie"
Laslis). Obwohl es dem oberflächlichen Betrachter scheinen
möchte, als sei eine Logik der Philosophie nur eine derselben
Erscheinungen wie es eine Logik der Kulturwissenschaft usw. ist,
so ist dieselbe doch vielmehr erst möglich geworden, nachdem
die Logik des Kantianismus gerade aus jenem Status der Zer-
splitterung in spezielle Logiken in den Status Allgemeine Wert-
wissenschaft zu sein übergetreten ist (Rickert). Denn erst darauf-
hin kann die logische Voraussetzung der allgemeinen Werthaftig-
keit, d. h. des philosophischen Grundbegriffs selber, zu einem
Gegenstand der Logik gemacht werden. Obschon also die Logik
der Philosophie das Metaphysik Gewordensein der Logik voraus-
setzt, so hebt sie es doch sogleich wieder auf, indem sie in der
Logik den Gegensatz von Grundlegung und Begründetheit, d. h.
von Allgemeiner Wertwissenschaft und spezieller Wertdisziplin,
jenen Gegensatz, dessen Aufhebung die Logik zur Metaphysik
gemacht hatte, von neuem begründet. Und erst jetzt, wo der
Kantianische Widerstreit zwischen Erkenntnistheorie und Wert-
system in die Logik selber eintritt, bricht er offen aus:
Das erkenntnistheoretische Prinzip des problematischen Ur-
teils ist jetzt bis an das Ende der Welt gekommen; kein Wert
aus dem möglichen System der Werte ist ihm entgangen. Alle
Werte sind weder unmöglich noch notwendig; auch der Wert:
Wert selber; auch Gott oder das Absolute. Logik und Meta-
physik trennen sich jetzt wieder, nachdem sie bei Rickert bereits
vereinigt gewesen waren; sie trennen sich, weil sie beide als
Tatsächlichkeiten Gegenstand der Logik, Inhalt eines proble-
matischen Urteils geworden sind. Dadurch daß jetzt alles zum
Objekt der Kantianischen Fragestellung geworden ist: alles ist
irrational, d. h. gegeben, d. h. weder notwendig noch unmöglich,
kann kein Objekt ein Hemmnis für den erkenntnistheoretischen
Charakter der Logik sein d. h. für das, was Lask in seiner Be-
deutungsbestimmungslehre ausgeführt hat: Die Logik als Wissen-
schaft von nur den logischen Voraussetzungen, in welche das
Material nicht von ihnen, sondern von sich aus „bedeutungs-
bestimmend" eintritt, ist gegenüber ihren Objekten so souverän,
daß sie ebenso dasjenige, was selbst mehr als ein bloß Ge-
Xeukantianismus: Lask 117
gebenes empfangendes Erkennen ist, d. h. die Philosophie, als
auch das, was gar kein gegebenes Material kennen kann, das
Absolute, — also seine beiden Todfeinde — in sich aufnimmt,
so aber beide prinzipiell voneinander trennt: Logik der Philo-
sophie*), Logik des Absoluten. Und die Unterscheidung der Kate-
gorien für das Übersinnliche (Absolute) und derjenigen für das
Geltungshafte (Philosophie) gilt Lask als bedeutsame Errungen-
schaft gegenüber den bisherigen Versuchen einer logischen Re-
duktion des Überempirischen. Das Absolute resp. die Metaphysik
gehört so bei Lask ebenfalls zu dem, was nicht notwendig aber
auch nicht unmöglich ist; oder der Logik wird nun wenigstens
das Recht, sich als Überwindung der Metaphysik zu denken, ge-
nommen. Der Grundlegungscharakter der Logik ist erst jetzt
bis in seine letzten Möglichkeiten hin ausgebaut; denn da ist
nichts im Aufbau der Philosophie, was nicht unter die all-
gemeinste Wertwissenschaft zu stehen kommt; auch das Er-
kennen selbst wieder, auch das Produkt des feindlichen Meta-
physikprinzipes steht unter der „Panai-chie der logischen Form'*,
unter dem Primat der logischen Wissenschaft. Die systematische
Stellung der Logik ist, den Primat über das Koordinierungsver-
hältnis der Logik (im System der Werte) restlos vollendet zu
sehen. D. h. obwohl die Logik nur einen einzelnen, den theore-
tischen Wert umfaßt, obwohl also „eigentlich" alle anderen Wert-
disziplinen ihr nebengeordnet sind, so sind sie doch alle der All-
gem.einen Wertwissenschaft unterstellt, auch die Logik der Phi-
*) In Lasks Terminologie müßte ich Logik der Geltungssphäre sagen,
während Logik der Philosophie die Logik des Absoluten mit umfassen soll;
gleichwohl sind de facto nur die Kategorien der Geltungssphäre „philosophische"
Kategorien, während die Kategorie Gott nicht mehr Kategorie der Philosophie
ist als der Begriff Natur. Dies ist allerdings nur von neuem unsere wiederholte
Kritik an Lask, dem wir vorwerfen, daß er im Begriff „Logik der Philosophie",
im Worte Philosophie etwas gedacht hat, in dem die Logik der Philosophie,
will sie diesem Etwas folgen, über die Grenzen einer Logik weit hinausgeht und
die Trennung von Logik und Nicht-Logik aufhebt; daher ist Lask, sobald er diese
Scheidung streng aufrechterhält, Logik der Philosophie doch nur Logik der
Geltungssphäre (und umfaßt dann gar nicht eine Logik des Absoluten); so in
Lasks Begriff Form der Form, von welchem aus die Logik der Philosophie mit
Logik der Geltungssphäre absolut zusainmcnfüllt.
llg Stellung der Logik im System
losophie selber; diese ist selber nur eine einzelne Wertdisziplin.
Indem so als Logik der Philosophie die allgemeine Wertwissen-
schaft selber eine einzelne Disziplin geworden ist, scheint das Ko-
ordinierungsverhältnis der Logik im Werte-System gewahrt, ohne
daß der Logik ihre Grundlegungsqualität genommen würde. So
aber gerät die Logik in den Konflikt hinein, als allgemeine Wert-
wissenschaft einmal wirklich an deren Platz zu stehen, dann aber
als Logik der Philosophie, obwohl als solche doch ausdrücklich
als allgemeine Wertwissenschaft (Form der Form!) anerkannt,
eine einzelne Wertdisziplin zu sein, und dergestalt gemäß der
allgemeinen Bedeutungsbestimmungslehre Lasks in der Eigen-
schaft einer einzelnen Wertdisziplin weder notwendig noch un-
möglich zu sein, so aber auch die Unbedingtheit ihres Grund-
legungscharakters einzubüßen. Und nachdem für die Logik früher
nur alles Nicht-Logische für weder unmöglich noch notwendig
gegolten hat, ist ihr jetzt auch das Logische selber ein weder
Unmögliches noch Notwendiges; indem die Logik der Philosophie
begründete Disziplin ist, nämlich durch Bedeutungsbestimmung
der reinen Form entsteht, ist die Philosophie, das absolute Wissen,
die Logik, selbst auf die Seite des Nicht-Notwendigen getreten,
und der Primat der Logik über die DisziiMnen entlädt sich in einen
Primat der Disziplinen üher die Locfik. Da diese jetzt einerseits kraft
ihres eigenen Primats Disziplin wird (Logik der Philosophie),
d. h. aus der Primatsstellung ausscheidet, andererseits als Logik
der Philosophie (als einzelne Disziplin) wieder den Primat des Lo-
gischen über sich selber ausbildet, so steht die Logik allerdings
ausschließlich in Primatsverhältnissen — ihr Koordinierungsver-
hältnis zum Ganzen hat jede Bedeutung eingebüßt — ; ob aber
die Logik in ihren Primatsverhältnissen Beherrschtes oder Be-
herrschendes ist, ist gleichgültig d. h. unerkennbar; denn ge-
rade in dem Status, in welchem die Logik bereits angewandte
Logik ist (als Logik der Philosophie), begründet sie sich selbst,
hat den Primat über sich selbst; und gerade in dem Status, in
welchem die Logik iiber allen Disziplinen steht (als reine Form),
hat sie gar keinen Primat über sie, weil sie diesen ja erst kraft
der Logik der Philosophie, als Form der Form, gewinnt. In der
Tat sclilägt so die Panarchie der logischen Form über die Disziplinen
Neukantianismus: Lask 119
in cliePanarchie der Disziplinen über die logische Form um: diese Pcin-
arcJiie ivieder in jene usw.*); ob im Systemaufbau, an dessen Spitze
die reine Logik, unterhalb von ihr die Disziplinen stehen, die
Spitze oder die Basis als das Letzte zu gelten hat, wird nicht
entschieden; nur soviel ist sicher: Entweder begründen alle Dis-
ziplinen die Logik oder diese jene; aber das Entweder-Oder selbst
ist unentscheidbar. Daher sind alle Sphären für Lask zugelassen,
keine notwendig; zugelassen auch die absolute Sphäre, nicht-
notwendig auch die Logik. Indem aber gerade die universelle
Geduldetheit aller Sphären dieselben irgendwie in das Gedanken-
system Lasks einbezieht, ist der Kantianismus bei Lask ein Ge-
samtbild der Welt geworden und hat insofern wieder ein System.
In demselben müßte sich jetzt der Platz, den die logische Wissen-
schaft einnimmt, bestimmen lassen; aber das System beruht nur
auf der Geduldetheit aller Sphären, denen somit eine letzte syste-
matische Ordnung, welche sie vernotwendigen würde, abgehen
muß; daher ist auch die systematische Ordnung, welche in der
Philosophie Lasks zu finden ist, selber nichts Notwendiges, son-
dern nur geduldet. Und zwar drückt sich dies folgendermaßen
aus: Gilt bezüglich einer Systematik der Primat der Logik über
die Disziplinen, so ist die Geltungsphilosophie das gesamte System;
diese hat aber die systematischen Verhältnisse, in denen sie als
Geltungssphäre steht, nämlich die zum Sein und zum Übersein,
außerhalb von sich, ist also im eigenen Innern ohne jede Ordnung,
*) Lask a. a. 0., 1, spricht von einem „Anschmiegen" des Systems der
Logik an das System der Philosophie; femer: „Insofern ist das Differenzierungs-
prinzip ein rein .empiristisches'" (62). Dann aber dringt wieder die praktische
Mißachtung der Disziplinen diu-ch, und anstatt von einem Anschmiegen der
Logik an die Disziplinen zu hören, lesen wir: „Eine Vereinheitlichungstendenz
muß rege werden, die der dialektischen Methode genau entgegengesetzt ist" (61);
die dialektische Methode bewirkte jedoch gerade bei Hegel den Siegeszug der
logischen Form, und Lask mag wohl, wenn er sich der Dialektik entgegengesetzt
glaubt, mehr die Verwendung der Dialektik im Auge gehabt haben, in der sie
in der Gegenwart einem spekulativen Positivismus dienstbar gemacht zu werden
versucht wird. Auf jeden Fall bringt Lask nirgendwo selbst so klar die Wider-
sprechendheiten seiner Philosophie an den Tag als in diesen „unvermittelt"
einander entgegengesetzten Äußerungen über das Verhältnis von Logik und
Philosophie.
120 Stellung der Logik im System
sodaß die den Primat führende Logik nicht über diesen Primat
hinaus zu einer wirklichen Ordnung kommt, ja den Primat selbst
nicht voll realisiert, indem ja Sein und Übersein außerhalb bleiben.
Ist dagegen die Logik dem Primat der Disziplinen untergeordnet,
so ist das System gemäß der Ordnung, welche aus der Bedeutungs-
bestimmungslehre folgt, zu denken; da aber die Bedeutungsbestim-
mung für alle Sphären in ganz gleicher Weise erfolgt, so ist der
Träger der systembildenden Kraft unfähig dazu, eine Sphäre
gegenüber einer anderen in ein Ordnungsverhältnis zu bringen; es
bleibt alles roh nebeneinanderstehen (inkl. der Logik selber). So
ist die Philosophie entweder ein absoluter Positivismus und dann
ohne jedes System (Primat der Disziplinen über die Logik), oder
besitzt eine Ordnung, in welcher die Logik den einzelnen Sphären
übergeordnet ist, bezieht dann aber nur diejenigen Sphären in
ihren Herrschaftsbereich, in ihr System ein, welche durch logische
Bearbeitung auf letzte Voraussetzungen reduziert werden können
und schließt so die Sphäre „des Überseienden" von sich, von dem
System der „Geltungsphilosophie" aus. Sind so zwar der Primat
des Positiven und der der reinen Form zunächst ganz gleich be-
rechtigt, als letztes Apriori derselben Philosophie, der Lasks,
zu wirken, so führt doch jener zur absoluten Systemlosigkeit und
gibt sich so wirklich als reinen Ausfluß des Kantianismus, der
in diesem tieferen Sinne immer Positivismus gewesen ist, während
im Falle des Primats der Logik über die Disziplinen der Primat sich
als unfähig erweist, das Verhältnis der Logik zum Absoluten, das
metalogische Problem, zu klären, und dadurch den Widerspruch
erzeugt, daß das Verhältnis zwischen Logik und etwa Ästhetik
ganz anders gestaltet ist als das Verhältnis zwischen Logik und
Philosophie des Absoluten*). Im einen Falle nicht reine Logik,
im anderen nicht das gesamte System der Werte, schwebt die
*) Die Ansätze zu wirklicher Durchführung des Laskschen Standpunktes
würden folgendes Bild ergeben : Einerseits sollen keine Einzelsphären durch die
allgemeine Sphäre antizipiert werden; andererseits antizipiert diese den Gegen-
satz zwischen sich und den Sphären des Seins und des Überseins. Das ist der
erste Widerspruch. Der zweite ist folgender: Die Geltungssphäre zerfällt in
die Einzelsphären der einzelnen Werte, aber diese kommen nur teilweise in sie
hinein (Lask nennt nur den theoretischen und den ästhetischen Wert, während
Hegel und Neukantianismus 121
Kantianische Geltungsphilosophie in der Mitte zwischen Logik
und System, teils die Werte in sich teils außer sich, teils von den
einzelnen Sphären fortstrebend teils auf sie zugerichtet, in einem
selbst gewobenen Netze, dessen Fäden eng genug sind, um sie
eingeschlossen zu halten und sie doch bequem nach außen blicken
zu lassen. Aber in dieser „absoluten Indifferenz der Sphären"
hat Lask das Absolute eingeführt, einführen müssen, um jene
Indifferenz hervorbringen zu können, hat so zwischen das absolut
positivistische Entweder und das absolut logistische Oder das
Absolute eingeschoben und dadurch die Vermittlung der Diszi-
plinen mit der Logik durch das Absolute als das zukünftige
Problem der Philosophie gekennzeichnet; und v/enn von dem
System der Systemlosigkeit ins Land des Wissens kein Ergebnis
hinübergenommen werden kann, so doch ein Problem, nämlich
das eben genannte; hierdurch hat dann der Kantianismus die ihm
allgemein, am bewußtesten von Windelband gewiesene Aufgabe
— Philosophie der Probleme und nicht der Lösungen zu sein —
bis zur Stellung des höchsten Problems erfüllt; und die „Philo-
sophie des absoluten Nicht-Wissens" hat ihr Wesen gezeitigt.
Dies ist nun für den, der weder Hegelianer noch Kantianer
ist, der einzige Unterschied in der Beurteilung der beiden Rich-
tungen: daß der Kantianismus uns die höchste „Fragestellung"
geklärt hat, während uns Hegel den „Standpunkt" für die Aus-
führung bestimmt. Beide aber haben im übrigen das gleiche
Schicksal; das entweder gottlos oder unwissenschaftlich ist ihre
letzte Bestim.mung. Denn wo Hegel das Absolute durch die
Wissenschaft, diese durch jenes zerstörte, da hat der Kantianismus
durch die Wissenschaft die einzelnen Sphären, jene durch diese
paralysiert. Während daher bei Hegel die Disziplinen nur da-
durch vom Panlogismus betroffen werden, daß das Absolute selbst
einzelne Disziplin ist, wird vom Logismus der Kantianer das
er Gott, das Ethische, das sinnliche Sein, die [nach der Bedeutungsbestini-
mungslohre] in ihr vorkommen sollten, gar nicht in die Geltungssphäre ge-
langen läßt). Beide Widersprüche sind im tieferen Grunde ein einziger: Der
Geltungsbegriff ist Grundbegriff, umfaßt also alles; alle Werte gehören zur Gel-
tungsphilosophie; dagegen: die Geltungssphäre ist Einzelsphäre, und alle Werte
stehen außerhalb von ihr!
122 Stellung der Logik im System
Absolute nur dadurch erreicht, daß irgendeine der einzelnen Dis-
ziplinen als Disziplin des Absoluten vorkommt. Es ist so die
Drdheit von Logik, Disziplinen, Absolutem, in deren bindender Be-
stimmung das Rätsel alles Wissens seine Lösung zu erfahren hat.
Hegel und Kantianismus haben beide fehlgeraten: Beide setzen
das Einheitsmoment der Drei in die Logik und verfallen dadurch
dem Logismus; sie unterscheiden sich, indem Hegel solchen Primat
der Logik auf deren Stellung zum Absoluten, der Kantianismus
auf die zu den Disziplinen gründete; daher verletzte Hegel die
Rechte des Absoluten, der Kantianismus die der Disziplinen,
so daß von Hegel das Absolute, die Disziplinen vom Kan-
tianismus zur Vernichtung der Logik aufgereizt wurden.
Das jeweils dritte Moment darin wurde daher bei beiden
in verschiedener Weise getroffen: die Disziplinen wurden
von Hegel positiv vergewaltigt, das Absolute vom Kantia-
nismus negativ beiseite gesetzt; hierin kann der, welcher
hinter die Kulissen des Denkens zu sehen versteht, bemerken,
daß die Beziehung der Logik zum Absoluten und die derselben
zu den Disziplinen eine verschiedene Bedeutung haben; d. h. daß
die Stellung der Logik zu Gott den Primat hat über die Stellung
der Logik zu den Disziplinen; das war bereits bei Hegel der Fall
gewesen, jedoch war bei ihm das Verhältnis der Logik zum Ab-
soluten ein Primats-, das der Logik zu den Disziplinen ein Koor-
dinierungsverhältnis, während wir jetzt ahnen, daß wir es darin
mit dem Kantianismus halten werden, daß wir die Stellung der
Logik zum Absoluten als Koordinierungsverhältnis, die der Logik
zu den Disziplinen als Primatsverhältnis nehmen, aber allerdings
die kantianische Überordnung dieses Primatsverhältnis über jenes
Koordinierungsverhältnis ablehnen werden. Beruht auf dieser
Überordnung der Logismus der Kantianer, so beruht der Hegels
auf dem Primatsverhältnis der Logik zum Absoluten; daher ist
der kantianische Logismus ein Tat-Logismus, der Hegeische ein
Grundsatz-Logismus; dort ist man im Prinzip nicht logistisch,
bei Hegel der Tat nach nicht (wenn man eben beim Kantianer
das Prinzip von der Tat, bei Hegel die Tat vom Prinzip abstrakt
ablöst). In jedem Falle ist das, was uns unter dem Namen einer
Logik entgegentritt, irgendwie die Antizipation des Systems; was
Die eio-ene Ansicht 123
man von Hegel gesagt hat: „Die Logik blieb das esoterische
System und das System die exoterische Logik"*), gilt mutatis
mutandis auch vom Kantianismus. Wenn wir uns die Befreiung
des Systems von der Vorherrschaft der Logik zum Ziel gesetzt haben,
so bekämpfen wir in ganz gleicher Weise Hegelianismus und
Kantianismus; den Primat der Logik zu vernichten, wenden wir
uns jetzt der Harmonisierung der Dreiheit: Logik, Disziplinen,
Absolutes zu.
HI
Es kann nicht an der Absicht liegen, überhaupt eine Syste-
matik auszubauen, wenn eine Philosophie logistisch ausartet; denn
der systemlose Kantianismus zeigt sich darin nicht besser als
der systematische Hegel. Es liegt vielmehr an der ganzen Rang-
und Einordnung, die bei der Betrachtung der logischen Fragen
die „letzte Ursache" ist. Und insofern kann man allerdings sagen,
daß keine Philosophie systemlos ist, daß vielmehr das letzte
Apriori, das Tat-Apriori in jeder Philosophie irgendein ordnender
Gedanke ist, der die Sphären systematisch bindet. Der Interpret,
der nicht weniger sich selber als die Vorgänger zu verstehen hat,
muß auf die letzten Ordnungsvoraussetzungen zurückgehen, wenn
er nicht Meinungen, Glaubungen und Passionen verfallen will.
Allerdings ist nicht hier der Ort, um die lösenden und bindenden
Kräfte, die Glauben und Skepsis in ständigem Wechsel mischen,
in den Methoden der ordnenden Systematik aufzuzeigen; nicht
hier der Ort, den Kinderwahn zu verscheuchen, der die syste-
matische Wissenschaft in „Fesseln" und „Ketten" sieht; um so
lieber mag ich davon schweigen als die Zeit mein stiller Bundes-
genosse ist. Nur erinnern muß ich an dieses Bekannte, Allzu-
bekannte, um zu sagen, was ich hier an diesem Orte tatsächlich
will; daß ich ohne es zu rechtfertigen die systematischen Be-
ziehungen als den Grund jeder einzelnen Philosophie nehme und
so jetzt, nachdem ich sie auch in der systemlosen Philosophie des
Kantianismus als die treibenden Kräfte nachgewiesen habe, mit
und auf ihnen den eigenen Standpunkt aufzubauen gedenke.
Schmid, Entwicklungsfrcschiclito der Hcgolschen Logik, 1868, 254.
124 Stellung der Logik im System
Das Gesamtresultat der Entwicklung ist dies: die Logik ist
vollkommen isoliert, vollständig für sich! Sie hat mit Gott und
der Religion gebrochen und ist dadurch dem Menschen, dem sie
in Gott nahe gestanden hatte, fremd geworden. Von der zugleich
entabsolutierten und entanthropologisierten sind die beiden Mängel
^/. genommen, die ihr im System Hegels anhafteten: die Ineinssetzung
* von Philosophie und Gott, die Ineinssetzung von transzenden-
y^^^.T- talem (philosophischem) und empirischem (menschlichem) Sub-
jekt. Der Kantianer hat die Arbeit dieser Reinigung der philoso-
phischen Atmosphäre vollbracht, hat sich aber damit selber über-
flüssig gemacht; die Zeit der bloßen Probleme ist vorbei, die
,^ ■• der Lösungsversuche hat wieder eingesetzt. Jedoch diejenigen
>.* ■ die lösen wollen haben das Erbteil jener zu wahren: Wir wissen
if,^^-' jetzt, belehrt vom Kantianismus, daß auch die Theo-logie ange-
wandte Logik ist und daher, wie auch die Bande, die von der
Wissenschaft zur absoluten Persönlichkeit laufen, sein mögen,
die Logik seil, der Geist nie einfach als Gott gesetzt werden
darf. Des weiteren hat man uns gezeigt, daß das Bewußtsein,
das „da ist", dem wissenden Subjekt der Philosophie nicht näher
stehe als die bewußtseinslose Natur, daß daher zwischen empi-
rischem und philosophischem Subjekt keine Gattungs-, geschweige
eine Bewußtseinsgemeinschaft bestehe*). Im Gegensatz dazu sieht
der Hegelianismus darauf, ob etwas „Bewußtsein ist", glaubt ein
solches dann näher dem absoluten Subjekt, als die Natur diesem
*) Daß der Kantianismus das Ins-Obj ekt-Rücken des Psychischen nicht
soweit verfolgt hat, daß er die Lehre der Erkenntnis der Sinnenwelt für ein
gewöhnliches Objekt der ewigen Forschung gehalten hätte, hat seinen Grund
in der mangelnden Klarheit über die Rückwirkungen phänomenalistischer Reali-
sationen auf den Erkenntnischarakter in objektiver Beziehimg, Rückwirkungen,
die alle Erkenntnis der Sinnenwelt mehr oder weniger mit sensualistischem
Maßstabe bewertet erscheinen und so die Theorie der Erfahrung aufhören lassen,
eine Theorie über Wahrheit und Erkennen zu sein (eine erste Ahnung s. Bickert,
Zwei Wege usw., S. 225; unbekannt bei Xasfe, 188). Klar ausgesprochen ist die
Aufhebung der Grattungsgemeinschaft zwischen empirischem und philosophischem
Bewußtsein von mir (Kantstudien, 1909, 436), wo mir zwar bewußt war, wie
anti-Hegel die Zerschneidung der Bewußtseine ist, wo ich aber nicht be-
merkte, daß ich damit nur aussprach, was der Kantianismus schon immer ge-
dacht hatte.
Die eigene Ansicht 125
steht. Letztere ist daher für Hegel die einzige absolute Anti-
thesis, gleichsam das Schmerzenskind seiner Panlogistik gewesen;
und nicht nur seine Schüler und Gegner, wenn sie wie in der
Tat häufig die Stellung der Logik in seinem S3^stem diskutierten,
sondern schließlich auch er selber sahen den Geist-Gegensatz zur
Natur noch unter dem alten Schema von äußerer Natur und
menschlichem Bewußtsein; das „Hineingehen der Idee in die Wirk-
lichkeit" wurde von Hegel, Hegelingen und Antihegelingen nicht
anders als nach eben demjenigen Dualismus verstanden, der nach-
her im Neukantianismus zum positiven Prinzip gestempelt worden
ist. Der Neukantianismus aber hat nun diesen Gegensatz von
dem Fluch, der ihm anhing, die Philosophie bei ihrer Arbeit
stören zu müssen, „erlöst", indem er die Idee der Reihe nach
durch alle Wirklichkeiten hindurchführte, schließlich auch durch
sich selber, und hierbei immer das Anderssein von Idee und Wirk-
lichkeit im Sinne hatte. Die Beziehung von Logik und Philo-
sophie ist jetzt gänzlich entmaterialisiert; weder Gott noch
Mensch, weder Natur noch objektiver Geist kommen in ihr vor.
Die vom Neukantianismus vollbrachte reine Herausarbeitung des
abstrakten Logosbegriffes — von Lotze, Windelband, Rickert,
Lask — ist das hohe Verdienst dieser Schule, das sie selbst mit
ihrer durchgängigen Ablehnung eines absoluten Wissens weniger
würdigen kann als der, welcher sie sonst bekämpft. Und nach-
dem uns der geschichtliche Gang gezwungen hat, den Lauf der
Selbstauflösung des Kantianismus zu verfolgen, haben wir jetzt
das Recht, uns ihm gleichsam anzuschließen, und die Pflicht,
gegenüber denen, welche ihn nur wie ein notwendiges Übel gelten
lassen wollen, auf den Gewinn zu pochen, den jene Verächter
wohl gerne nutzen, ungerne aber denjenigen, welche ihn ge-
schaffen haben, anrechnen mögen. Zur Selbsterkenntnis seines
Wesens ist der Neukantianismus zwar nicht selber gelangt, aber
durch Lask befähigt; dessen „Panarchie der logischen Form"
spricht sein Wesen implicite aus. Die vollkommene Entmateria-
lisierung der Logik, die jene Erkenntnis des Neukantianismus
gezeitigt hat, habe ich allerdings durch die verschiedensten Sta-
tionen hindurch gegeyi ihn durchkämpfen müssen. Denn um sich
selber nutzen zu können, müßte der Kantianismus das Dualistische
126 Stellung der Logik im System
seiner Denkweise, das ihn nicht aus dem dualen Unterscheiden,
nicht aus der Logik herauskommen läßt, überwinden; dann würde
er auch erkennen müssen, wie er selber uns von Hegel befreit
hat und wie nun eine souveräne Stellungnahme zu Hegel — im
Lernen und Verwerfen — möglich ist; wir gehen daher, wenn der
Gegensatz von Hegel und dem Neukantianismus für uns seine
Absolutheit verloren hat und die bedrückenden Gefühle, die man
im Kantianismus Hegel gegenüber empfindet, vergangen sind,
in gewissem Sinne in den Spuren der Kantianer selbst. Es kommt
daher die kantianische Entmaterialisierung der Logik erst dann
zur Wirksamkeit, wenn sie in die Dreiheit von Logik, Disziplinen
und Absolutem eingestellt wird:
Nur wenn jeder dieser drei Grundfaktoren einer allgemein-
gültigen Systematik zu seinem vollen Rechte kommt, ist das
System möglich geworden.
1. Der Grundfaktor Logik ist von sich selbst begründender
Art; sein Inhalt die reinen Formen, die als Inhalte Inhalte ihrer
selbst sind; das Prinzip der logischen Wissenschaft ist- das „reine
Selbstbewußtsein", durch welches deren Inhalte von allem Gegen-
ständlichen abgeschieden werden. So absolut aber die Logik von ,.
allem Außer logischen getrennt -ist, so absolut ist sie auf alle l^ ^ ^
Gegenstände anwendbar; denn indem sie für sich selber gilt, '
dieses Selber aber nur das Formale in eigener Person ist, gilt
sie darin für das, was „nur" Form, daher „noch nicht" Gegen-
stand ist, d. h. trifft zwar die Gegenstände, aber nur hinsichtlich
ihrer bloßen Form, gilt mithin für die bloße Möglichkeit der Er-
kenntnis der Gegenstände. Die rein innerlogisch durchgeführte
Logik — Formale Logik in einem neuen Sinne des Wortes —
hat in toto transzendentallogische Bedeutung ; sie ist allanwend-
bar, ihr Herrschaftsbereich ohne Grenzen. Und zwar hat die trans-
zendentallogische Bedeutung der Logik d. h. ihr Grundlegungs-
charakter sein Urbild daran, daß die formallogische Wissenschaft
sich selbst transzendental-gegenständlich wirklich aufbaut. Die
tatsächliche Anivendung der Kategorie auf sich selbst ist der Grund
für die mögliche Anwendung der Kategorie auf Objekte, ist mithin
das Prinzip der Kategoriendecluktion.
2. So aber beruht die transzendentallogische Bedeutung der
Die eiofene Ansicht 127
Logik, ihr Primat über alle Gegenstände, auf der Tatsache, daß
die Logik selbst einer ihrer Gegenstände ist. Die systematische
Stellung der Logik ist Grundlegungsstellung gewesen, schlägt
jetzt darin um, daß die Logik nur einen einzelnen Gegenstands-
kreis umspannt, eine einzelne Disziplin ist. Denn nur insofern die
Logik nicht mehr als eine einzelne Sphäre ausfüllt, ist ihr Inhalt un-
bedingt von allem Alogischen frei; die absolute Reinheit der Logik
erfordert gerade selbst ihre schlechthinnige Einsphärenhaf tigkeit.
So haben die einzelnen Disziplinen aus sich das Prinzip der gegen-
ständlichen Reinheit und wirken durch dieses als Grundfaktor der
Systematik. Die in nichts durch Primatsverhältnisse gebrochene,
gleichgeordnete Reihe der Disziplinen gewährleistet, daß die
Gegenstände so gewußt werden, wie sie an sich sind. In den
Disziplinen ist alles in gegenseitiger Freiheit. Jeder Primat würde
hier als wahrheitsfeindlich zu bekämpfen sein. Durch die Dis-
ziplinen wäre dann aber überhaupt jeder Aufbau der Wissen-
schaft, jede systematische Einheitsmöglichkeit verhindert. Die
Philosophie ist suh specie Disziplinen absoluter Positivismus.
Gerade aber als solcher ist sie ivirUiche ErJcenntnis, so daß die
logische Form de facto gerade zur Allanwendung gebracht ist.
3. So aber ist die tuirkliche Philosophie immer die Versöh-
nerin des absolut logistischen und des absolut positivistischen
Prinzips der Philosophie, setzt sich dadurch selber außerhalb des
Gegensatzes der Logik und der Disziplinen und begründet sich
selbst als eine einzelne Wirklichkeit. Indem so die Philosophie
auch sich selbst innerhalb des Umkreises ihrer Gegenstände als
einen Gegenstand hat, wird das absolut positivistische Prinzip,
das Prinzip der gegenseitigen Freiheit, zur Anwendung auf die
Philosophie selber gebracht: Das Ganze als Erkenntnis setzt sich
selbst als Teil des Ganzen als Seienden und gibt durch solche Syn-
these der Disziplinenreihe mit dem seienden Ganzen der Reihe der
Disziplinen den Abschluß, der die Reihe zum System formt. Die
Vermehrung der Mannigfaltigkeiten, welche qua Disziplinen die
Reihe der Erkenntnisse ins Abschlußlose kontinuiert, findet qua
Philosophie der wirklichen Philosophie die stets bereite Ein-
heit, durch welche die Reihe als Totalität ist. Die Möglichkeit
des Systems beruht so darauf, daß die Philosophie sich selbst als
128 Stellung der Logik im System
einen Teil des seienden Ganzen, d. h. des Absoluten begreift; das
Absolute ist dann der ivahre MnheitspunJd aller SystemUUiimj,
denn sogar die Tatsache der Geschichte der Philosophie ordnet es
sich ein. Indem die Philosophie, in deren eigener Wirklichkeit das
endlos Ma^inigfaltige zur Einheit gebracht ist, sich selbst als Teil des
von ihr zur Einheit gebrachten Mannigfaltigen begreift, hat diese
Einheit, von ivelcher die wirkliche Philosophie mit erfaßt ist, den
Mannigfaltigkeiten-Progressus des Erkennens in sich „aufgehoben",
ist so darüber hinaus und macht somit das seiende Ganze oder
Gott aus.
In Gott also hat jedes den Sinn, der ihm zukommt, insofern
es ist ; auch Gott selbst, auch die Philosophie haben erst in Gott
diesen in ihrem Sein gesetzten Sinn. In bezug auf seinen wahr-
haften Sinn ist zwar alles streng „für sich", aber nur in Gott
hat auch die Philosophie selbst ihren Sinn bekommen, so daß
daher auch alles andere erst dadurch, daß die Philosophie und
damit auch dieses alles andere in Gott seine Bestimmung er-
fährt, nicht mehr von einem, dessen Sinn noch nicht „für sich"
geworden ist, gebrochen werden kann*). 80 ist Gott oder das
absolute Sein der „Sinn der Welt"; d. h. Gott ist sein eigener Sinn, ist
Selbstziveck, und nur Er hat diese absolute Freiheit sich seihst Ziveck
zu sein. Nicht ist irgendein Etwas der Sinngeber, auch nicht
die Wahrheit hat absoluten Selbstzweck, sondern das ganze Sein
als Ganzes. Der Dualismus von Sein und Sinn, der in der
Philosophie des 19. Jahrhunderts bei Plegel wie bei den Neukanti-
anern zugrunde liegt, ist beseitigt. Und allein in der Erkennt-
nis Gottes hat die Philosophie denjenigen Gegenstand, dessen Er-
kenntnis ihr die Möglichkeit des Systems gewährt. Die Theologie
ist daher der gegenständlich grundlegende Teil der Philosophie;
d. h. in der Theologie als philoso'phischer Grundwissenschaft haben
wir diejenige Disziplin, von deren Isolierung die Systembildung und
-ausführung nicht paralysiert werden kann, die vielmehr Mittel-
punkt und Seele des ganzen Systems ist; und ^m Primat der Logik,
*) Bei Hegel ist die Philosophie noch nicht als in Gott eingegangen er-
kannt, weshalb bei ihm aller andere Sinn durch den speziellen Sinn Philo-
sophie gebrochen wird.
Schluß 129
den wir bei Hegel und den Kantianern finden und bekämpfen,
ersetzen wir durch den Frimat der Theologie, als dessen absolute
Handlung ist, den Primat der Logik, wie er für die Wissenschaft
besteht, auf Gott, auf den Primat der Theologie zurückzuführen.
Also tritt die innerlogische Bedeutung der Logik schlechthin
zurück hinter die außerlogische; die Selbstzweckheit der abso-
luten Wissenschaft, welche ihr nicht für sie selber abgesprochen
werden kann, ist wieder Mittel und steht im Dienste des Abso-
luten. Dann aber ist umgekehrt der reine Logos selbst Wirk-
lichkeit geworden; sein Nichtsein, seine Vorwirklichkeit gilt nur
im Verhältnis des Erkennens zu seinen Gegenständen; das Apriori
der Wissenschaft — die reine Geltung — „ist nicht" — für die
Wissenschaft; sie „ist" für die Wirklichkeit; denn nur das, was
als es selber gilt, ist als es selber auch wirklich. Indem so die
reine Geltung für die Wissenschaft nicht ist, ist die Wissenschaft
selbst nur, insofern sie die Geltung nicht sein läßt; oder die
Wissenschaft selbst ist nur „forschende" Wissenschaft. Die
„Ergehnisse" der Wissenschaft sind daher dieser selbst transzendent;
die Philosophie verneint sich selber, insofern sie sich realisiert;
sie geht dann über in das Reich, wo auch die reine Geltung „ist",
d. h. ins Reich der Wirklichkeit oder ins Reich Gottes. Das was
dies und jenes gilt, das ist so die Art und Weise, wie es ivirUich
ist; die Wissenschaft, aus welcher diese Geltungen im Verlaufe
der ewigen Zeit hervorgehen, erweist sich als das einzige wahre
Werkzeug der Selbstschöpfung Gottes und die Gottheit als der
einzige Zweck und Sinn alles dessen was ist.
Schluß*)
Es ist dem Denken Natur, sich selbst in den Gegenständen zu
verneinen und seine Existenz gerade dadurch zu annullieren, daß
*) Es wird nicht ausbleiben, daß der Unterschied in der Darstellungsform
des Schlusses von der bisherigen Form bemerkt wird. In der Tat ist zuzugeben,
daß die Darstellung erst in den (auf sich sich selber bezogenen) Schlußworten
die Form erhält, die ich für die sachgemäße halte; es liegt aber an dem pro-
pädeutischen Charakter der Schrift, daß die Form, die immer dem Inhalte
nachfolgt, die geschliffene Härte nicht besitzt, die sie besitzen sollte.
Ehrenberg, Die Parteiung der Philosophie 9
130 Schluß
es dieselbe im Erkennen des Gegenständlichen sich ihrer Bestim-
mung gemäß wirklich auswirken läßt. Das Denken an sich selbst
ist so nur Forschen, das erst in seinem Resultat über den Status
des Denkens hinausgeht, das Denken sich selber transzendent
werden läßt und so durch die absolute Immanenz zwar hindurch-
geht, dabei aber die Immanenz als sich selbst zur Transzendenz
umsetzend erfährt. Das ist die Doppel-Dialektik der logischen
Frage:
Im Erkennen verneint sich das Denken; es bleibt der Gegen-
stand.
Im Erkennen verneint sich das DenJcen; es bleibt das Er-
kenntnis.
Denken und Erkenntnis sind ebenso gegensätzlich als Denken
und Gegenstand; aber die beiden Gegensätze heben sich auf,
indem der Gegenstand und das Erkenntnis übereinstimmen. Es
ist also das Wesen der ewigen Wahrheit, den Gegensatz von Denken
und Gegenstand dadurch zu überwinden, daß sie das Denken im Er-
kenntnis sich verneinen läßt. In nichts also ist das Denken posi-
tives Prinzip der Gegenstände; im Gegenteil ist es das negative
Prinzip, das indem es den Gegenstand auflöst, sich selber auf-
löst; das Wesen der Dialektik ist so die Selbstauflösung des
Denkens; es schlägt sich nieder das „Aufgelöste", das Ergebnis.
Das sich selbst Auflösen des Denkens bedeutet Lösen der Wahr-
heitsfrage. Indem so nur die wirkliche Erkenntnis wahrhaft
„bleibt", diese aber selbst Gegenstand, weil dem Denken trans-
zendent geworden, ist, so ist mit der Selbstauflösung des Denkens
nicht nur das Denken, sondern auch die Selbstauflösung ver-
schwunden; die Dialektik ist Selbstverneinung : Dialektik der Dia-
lektik!
So erfährt das dialektische Prinzip wiederum eine vollkommen
neue Deutung; damit daß es sich im Laufe der Geschichte der
Philosophie in immer wechselndem und sich erneuerndem Lichte
zeigen konnte, hat es sein dargetanes Wesen des Sichselbstauf-
lösens tätig kundgegeben. Was bei Hegel das konkrete Prinzip
der Gegenstände gewesen ist, ist uns Prinzip der Erkenntnis, aller-
dings auch dann konkretes Prinzip, aber nicht Prinzip der Gegen-
stände. So wenig Prinzip der Gegenstände, daß das dialektische
v^.
Neuschöpfung des dialektischen Prinzips 131
Prinzip gerade darin besteht, sich selber für die Gegenstände
aufzuheben; es selbst — nicht der Philosoph — verneint, daß
es Prinzip der Gegenstände sei.
So ist das Denken für sich dialektisch, für die Gegenstände
absolute Bindung: nämlich systematische Einordnung. Die Dia-
lektik hat, insofern ihr Wesen Selbstauflösung heißt, selbst ein
„Ergebnis"; die Systematik ist die daraus, daß das Denken dia-
lektisch ist, fließende Bestimmung. Dialektik und Systematik
verhalten sich mithin zueinander wie Denken und Erkenntnis;
die Systematik ist das Einzige aus der Sphäre des Denkens, welches
in die SpMre des Erkenntnisses übergeht. So sehen wir: Denken wird
zum Wissen, Fragen zum Antworten; zwischen dem Denken, das
sich im Übergang zum Erkenntnis selber aufhebt, und eben dem
Erkenntnis besteht der Zusammenhang dieses Werdens. Der Be-
griff geht aus dem abstrakt-reflexiven Dasein in das konkrete
gegenständliche über. Dieser Gegensatz und Übergang, dieses
Werden offenbart sich als das Wesen der Vernunft, ist der Geist.
Im Wissen ivird das Denken überreflexiv. Der Geist ist das
tätige Wesen, von dem das Denken aus dem selbstgesetzten Um-
kreis herausgeführt wird, zur Arbeit, zur Wissensschöpfung. Und so
sehr das Wissen über das Denken hinaus ist, so sehr ist das (je-
weilige) System der Philosophie über die Forschung (die Ge-
schichte der Philosophie, aus der es resultiert) hinaus. Insofern
aber das Wissen aus dem Denken geworden ist, wird es wieder
zum Denken; d. h. die Ergebnisse werden der Kritik, erneutem
Fragen unterstellt; das Denken oder die Dialektik zerstört die
Einheit der selbstgefälligen Begriffe, zermürbt die Begriffsmasse
und löst sie zu „vorurteilslosen" Atomen auf. Die Begriffe sind
im Fragen auf sich selber bezogen, gehen daher wechselseitig
zueinander über; aber indem ihre Einheiten dialektisiert sind
(d. h. gegenseitig ineinander übergehen), sind sie den Gegen-
ständen konform geworden und gerinnen im Antworten zu
schlechthinnigen Einheiten.
Im Entwicklungsgang der Wissenschaft erweist sich somit
das dialektische Prinzip als die treibende Kraft, welche im Lösen
und Binden in ewiger Bewegung die Erkenntnis fördert. Die
Fortschritte, die kraft der dialektischen Tätigkeit des Denkens
9*
132 Schluß
gemacht werden, wirken das „unklar" Gewußte zu scheiden, die
„Gegenstände zu befreien", — die Schöpfung ewig fortzusetzen.
Es vollendet sich die Welt außerhalb von Gott, mit ihr Gott
selber; und die Wissenschaft synthetisiert in ihrer Geschichte
das An-Sich-Gelten mit dem Gegenständlichen; die Synthese heißt
Gott, Das In-Gott-Sein geht erst daraus hervor, daß alles außer-
halb Gott erzeugt wird; der endlose Gang der Weltschöpfung,
so ewig als die Zeit, ist in seinem einheitlichen Sinne die Er-
schaffung des In-Gott-Seins. Je tiefer das Licht der Wissenschaft
dringt, um so weiter greift die Einheit des Seienden, um so
stärker wachsen die Dinge in Gott hinein. Um so mehr gilt,
daß die Welt „nicht von dieser Welt" ist.
Das dialektische Prinzip — der ewige Jude der Geschichte
der Philosophie — ist uns das Tatprinzip der wirklichen Ge-
schichte der Philosophie geworden; da ist es, sobald es als solches
begriffen ist, allem Dogmatismus unbedingt tödlich. In dieser
Auffassung kann es aber auch nicht mehr den Gegenstand eines
Streites zwischen Hegel und Kantianismus abgeben. Denn die
schöpferische Idee der Kantianer, ihr ihnen Liebstes und Wert-
vollstes, nämlich das Bewußtsein des forscheyiden Charakters der
Philosophie, findet in der Dialektik nicht weniger als ihre Begrün-
dung. Die Dialektik andererseits ist, obwohl sie aus der Sphäre
der Gegenstandstotalität verdrängt, ihr die Berechtigung die Welt-
frage beantworten zu wollen entschieden bestritten ist, gerade
durch das kantianische Selbstbewußtsein absoluter Skepsis neu
begründet worden. So muß uns unsere Ansicht die wirklich durch-
geführte Synthese von Hegel und Kantianismus bedeuten; d. h.
wenn uns von dem gewonnenen Eigenstandpunkt der Streit des
Neukantianismus gegen Hegel überwunden erscheint, so ist er
eben auch erklärt und verständlicht; und dies gilt uns als die
Selbstkontrolle für die Art und Weise, wie wir den historischen
Gegensatz der beiden Philosophien zu synthetischer Deduktion
benutzt haben, — als das Siegel, das wir auf die Begründung
dessen drücken, was wir selber für richtig halten und vertreten.
Jene beiden, selbst so Verschiedenen, sind uns die freundlichen
Helfer unseres Werdens. Denn wir, die wir von künstlich-schola-
Schluß 133
stischen Händen gebildet, von dem Blick souveräner Leere er-
weckt, jenen beiden Begleitern folgen, dem ewig sich Gleichen und
dem ewig sich Wandelnden, wii* die wir gewillt und von nichts
gehemmt sind wahrhaft zu entstehen, das künstliche Gehäuse zu
brechen, die eingeschlossene Flamme zu ergießen, haben bei
diesem Gange den reinen Willen der beiden Führenden für uns,
Sind zu dritt getragen von Einem Willen, — :
„dreifach merkwürdger Geisterschritt".
/
/^
A i.V*r>
Von demselben Verfasser erschienen früher:
Kritik der Psychologie als Wissenschaft.
Groß 8^ 1910. M. 6.40.
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen.
Die Geschichte des Menschen unserer Zeit.
Lex. 8. 1911. M. 2.—.
Im Alpha-Omega Verlag in Heidelberg.
Die Eisenhüttentechnik und der deutsche Hüttenarbeiter.
8. 1906. M. 4.50.
Verlag der J. G. Cotta' sehen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart.
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Encyklopädie der Philosophie.
Mit besonderer Berücksichtigung der Erkenntnistheorie und Kategorienlehre.
Von D. Dr. A. Dorncr,
o. Professor der Theologie an der Universität in Königsberg.
1910. 343 S. In starkem Karton. Preis M. 6.—.
Über die Grenzen der Gewißheit.
Von Dr. Ernst Dürr,
o. Professor der Philosophie an der Universität in Bern.
1903. VlII, 152 S. Preis M. 3.50.
Inhalt: Das Verhältnis der Erkenntnistheorie zu den angrenzenden Wissenschaften. —
Die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit. — Die Berechtigung des Glaubens.
Das Bewußtsein der Außenwelt.
Grundlegung zu einer Erkenntnistheorie.
Von Dr. Rudolf Eisler.
1901. VI, 106 S. Preis M. 2.—.
Inhalt: Wahrnehmung und Empfindung. — Der Gegenstand der Wahrnehmung. — Die
Kategorie der Dingheit. — Naiver und kritischer Realismus. — Die Gültigkeit der Kategorien. —
Substanz, Kraft, Kausalität. — Bewußtsein und Sein.
Die reine Vernunftwissenschaft.
Systematische Darstellung von Schellingsrationalerodernegativer Philosophie.
Von Dr. Karl Groos,
o. Professor der Philosophie an der Universität in Gießen.
X, 187 S. Preis M. 3.—.
Der Pragmatismus.
Neue Bahnen in der Wissenschaftslehre des Auslands.
Von Dr. Günther Jacoby,
Privatdozent der Philosophie an der Universität in Kiel.
1909. 58 S. Preis M. 1.20.
Das Wahrheitsproblem
unter kulturphilosophischem Gesichtspunkt.
Von Dr. Hermann Leser,
a. o. Professor der Philosophie an der Universität in Erlangen.
1901. VI, 90 S. Preis M. 2.—.
Der Verfasser ist in die Schule Kants gegangen, insofern als er übÄall an dessen trans-
zendentale Methode anknüpft. Er sucht aber das Werk Kants zu vertiefen.lffld zu erweitern. Er
sucht dies weniger durch eine wesentliche Abänderung der transzendentalen Methode selbst zu
erreichen, sondern gleichsam nur durch eine Erweiterung des Arbeitsfeldes dieser Methode und
durch eine Abänderung ihres Angriffspunktes ... Die Schrift bildet eine wirklich lohnende
Lektüre und kann zur Klärung der philosophischen Grundbegriffe pur beitragen.
Deutsche Liter aturzeitung.
Die Philosophie Comtes.
Von L. Levy-Bruhl. Übers, von Prof. Dr. H. Molenaar.
1902. VI, 288 S. Preis M. 6.—.
A. Comte, der größte französische Denker des 19. Jahrhunderts, ist von wahrhaft univer-
saler, d. h. für die ganze Kulturmenschheit fruchtbarer Bedeutung geworden. Das beweist schon
der gewaltige Einfluß, den er auf die drei wichtigsten englischen Philosophen des vorigen Jahr-
hunderts, auf Carlyle, j. St. Mill und Herbert Spencer ausgeübt hat. Das beweist auch die Ver-
ehrung, die ihm in den denkenden Kreisen der romanischen Völkerfamilie allenthalben entgegen-
gebracht wird. Levy-Bruhl liefert ein klares, kritisches Referat von Comtes eigentlicher Philo-
sophie, die den originellsten, fruchtbarsten und lebensvollsten Teil seiner Philosophie ausmacht.
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
/
Über Christian Wolffs Ontotogie.
Von Dr. Hans Pichler.
1910. 95 S. Preis M. 2.—.
Die Wolffsche Ontologie verdient eine Würdigung von seiten der Systematiker in der
Kategorienlehre; vor allem anregend ist Wolffs durchdachte und klare Lehre von Substanz und
Kausalität. In gleicher Weise wie das Interesse des Systematikers verdient die Ontologie das
Interesse des Historikers. Es wird gezeigt, daß sie einerseits ein gutes Stück der Kantschen
Transzendentalphilosophie enthält, und daß andererseits die Kantsche transzendentale Logik ein
Stück Ontologie ist. Auch der Oegenstandstheorie Meinongs und der „Logik" Itelsons steht die
Wolffsche Ontologie nahe^
Die transzendentale und die psychologische
Methode.
Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik.
Von Dr. Max F. Scheler,
Privatdozent der Philosophie an der Universität in München.
184 S. Preis M. 4.—.
Kant und das Jahrhundert.
Gedächtnisrede zum 100jährigen Todestag.
Von Dr. Richard Faickenberg,
o. Professor der Philosophie an der Universität in Erlangen.
2. Aufl. 1907. 28 S. Preis M. —.60.
Auf der einen Seife beschreibt und beleuchtet Faickenberg die Hauptpunkte der Kantschen
Philosophie, zumal seiner Ethik und Erkenntnistheorie, auf der anderen schildert er die ver-
schlungenen Schicksale der Kantschen Erkenntnistheorie von Fichte bis zur Gegenwart. Das
alles so einfach und klar, daß die Schrift geradezu eine kurze Einleitung in das Studium Kants
genannt werden kann. Frankfurter Zeitung.
. Psychologische Studien.
/ Von Dr. Theodor Lipps,
o. Professor der Philosophie an der Universität in München.
2., umgearb. u. erweit. Aufl. 1905. IV, 287 S. Preis geb. M. 6.—.
Inhalt: Der Raum der Qesichtswahrnehmung. S. 1—114. Das Wesen der musikalischen
Konsonanz und Dissonanz. S. 115—230. Das psychische Relativitätsgesetz und das Webersche
Gesetz. S. 231-287.
Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk.
Von Dr. Raoul Richter,
a. o. Professor der Philosophie an der Universität in Leipzig.
2., umgearbeitete u. vermehrte Aufl. 1909. VIII, 356 S. Preis geb. M. 6.—.
Das Buch erhält seinen spezifischen Charakter durch das von vornherein klar formulierte
und konsequent durchgeführte Programm: Nietzsche im strengsten Sinne des Worts phi 1 osophie-
geschichtlich zu behandeln, also im Gegensatz zu allen kulturgeschichtlichen, psychologischen
und pathoCTaphischen Darstellungen zum Verständnis des logischen Gedankengehalts seiner Lehre
zu führen, die von ihm aufgeworfenen Probleme auf die Richtigkeit der Fragestellung, die von
ihm gegebenen Lösungen auf ihre innere Möglichkeit hin zu prüfen, kurz: Nietzsches Denken
als ein philosophisches Bemühen um philosophische Probleme ernst zu nehmen Daß ein solches
Buch in unserer Literatur über Nietzsche — man darf sagen eine Notwendigkeit ist, braucht nicht
hervorgehoben zu werden. Archiv für Psychologie.
Zur Wiedergeburt des Idealismus.
y^ Philosophische Studien.
Von Dr. Fcrd. Jak. Schmidt.
Direktor der Margaretenschule in Berlin.
VIII, 325 S. gr. 8°. 1908. Preis M. 6.—, geb. M. 7-—.
Aus dem Inhalt: Kapitalismus und Protestantismus. Der mittelalterliche Charakter des
kirchlichen Protestantismus. Der theologische Positivismus. Ado f Harnack und die Wieder-
belebung der spekulativen Forschung. Das Erlebnis und die Dichtung Goethe und das Alter-
tum. Kant-Orthodoxie. Kant und die spekulative Mathematik. Die Philosophie auf den höheren
Schulen. Die Frauenbildung und das klassische Altertum.
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Kirchners
Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe.
Dritte Neubearbeitung;.
Von Stadtschulrat Dr. C. Michaelis.
1911. VIII, 1124 S. Preis brosch. M. 12.50, geb. M. 14.-.
In immer kürzeren Zwischenräumen folgen sich die Auflagen des altbewährten Kirchnerschen
Wörterbuchs, von dem nunmehr schon die sechste Auflage vorliegt. Gleich ihren zwei Vorgängern
wurde auch diese Neubearbeitung von Herrn Stadtschulrat Dr. Michaelis in Berlin besorgt, der
das Werk nunmehr, der einstimmigen Aufforderung der Kritik folgend, einer durchgreifenden
Umarbeitung unterzogen hat. In welchem Umfang diese erfolgt ist, geht schon daraus hervor,
daß das Buch jetzt über 70 Bogen, statt der bisherigen 45 Bogen, enthält. Von dem alten
Kirchnerschen Te.xt ist wohl nicht mehr viel stehengeblieben — überall mußte er den Ergebnissen
der neuesten Forschung Platz machen und den erhöhten Ansprüchen unseres an der Philosophie
um so viel stärker interessierten Zeitalters nachgeben.
Philosophie-geschichtliches Lexikon.
Historisch-biographisches Handwörterbuch der Geschichte der Philosophie.
Von Ludwig Noack.
XXII, 936 S. Preis M. 12.—.
Einführung in die Erkenntnistheorie.
Von Dr. August Messer,
a. o, Professor der Philosophie an der Universität in Gießen.
1909. Preis geb. M. 3.—.
Das ist die beste einführende Schrift in die Erkenntnistheorie, die Ref. kennt. Sie zeichnet
sich besonders dadurch aus, daß sie trotz des kleinen Umfanges eine Anschauung erweckt von
der Fülle der Probleme, die der Erkenntnistheorie erwachsen; ferner daß sie stets auf die richtige
Problemstellung hinweist; endlich ragt sie noch durch große Klarheit und Übersichtlichkeit hervor.
Vierteljahr sschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie.
Grundlinien der Psychologie.
Von Dr. Stephan Witasek,
a. o. Professor der Philosophie an der Universität in Graz.
1908. Preis geb. M. 3.50.
Was Witasek bietet, ist so gefaßt, daß niemand sein Buch ohne Gewinn aus der Hand
legen wird. Der Stil ist einfach und durchsichtig, die erläuternden Beispiele sind anschaulich und
belebend, neue Begriffe werden so erklärt, daß auch der Laie bei einiger Aufmerksamkeit gut
folgen kann. Besonders wohltuend ist die Präzision, mit der überall zwischen gesicherten Erkennt-
nissen und vorläufigen Hypothesen unterschieden wird. Alles in allem : ein tüchtiges Buch, dem
auch wegen seines ungem.ein billigen Preises weiteste Verbreitung zu gönnen ist.
Christliche Welt.
Die Einteilung des Werkes ist ganz trefflich, die Schreibart klar. Es bietet die neuesten
Forschungsergebnisse und ist wahrscheinlich der beste und vollständigste Grundriß dieser Wissen-
schaft, den wir zurzeit besitzen. Nature {London).
Geschichte der Philosophie.
Von Professor Dr. Karl Vorländer.
I. Bd.: Altertum, Mittelalter und Übergang zur Neuzeit.
II. Bd.: Philosophie der Neuzeit.
3. Aufl. 1911. Preis geb. M. 10,—.
Vorländers Buch reizt geradezu zum Studium. Die gediegene Art, in der er das historische
mit dem systematischen Element zu vereinigen verstanden hat, macht das Buch zum philosophie-
geschichtlichen Handbuch par excellcnce. Es gehört auf den Arbeitstisch eines jeden der Philo-
sophie .Beflissenen". Kant- Studien.
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Platos Ideenlehre.
Eine Einführung in den Idealismus.
Von Dr. Paul Natorp.
o. Professor der Philosophie an der Universität in Marburg.
1903. VIII, 474 S. Preis geb. M. 8.70.
Ein Werk, das in den hellsten Vordergrund philosophischen Interesses gehört, eins der
bedeutsamsten der Philosophiegeschichte überhaupt, wie in den letzten Jahrzehnten nur sehr, sehr
wenige erschienen sind von ähnlich zentralem Interesse, ähnlicher wissenschaftlicher Intensität,
Energie und Kühnheit! Eine völlige Neuauffassung Platos! Ein kraftvolles Werk aus einem
Guß und eigener Kraft! ... In Summa: Dies Werk zieht an dem früheren Plato eine neue Seite
hervor und stellt den späteren Plato (vom Parnienides an) zum ersten Male ins volle, helle,
rechte Licht ; aber wie in der Renaissance führt hier der historische Kampf für Plato gegen
Aristoteles in heute nötigster tiefster Selbstbesinnung zur Lebensfrage der Philosophie, der Wissen-
schaft, der Erziehung. Soll die Wissenschaft mit dem Realismus noch mehr herabsinken zur
Beschreibung und nicht wieder iVIethode werden? So verstehe ich's. In diesem Sinne ist dies
Buch eine Erziehung zum Idealismus. In diesem Sinne hat es Plato im Innersten verstanden.
Karl Joel in der „Deutschen Literatur zeitutig^'',
^ Kant — Schiller — Goethe.
Gesammelte Aufsätze.
Von Professor Dr. Karl Vorländer.
1907. XIV, 294 S. Preis geb. M. 6.-
Der Skeptizismus in der Philosophie.
Von Dr. Raoul Richter,
a. o. Professor der Philosophie an der Universität in Leipzig.
2 Bände. Bd. 1: 1904. XXIV, 303 u. 61 S. Preis M 6.—. geb. M. 7.50.
Bd. 2: 1908. VI, 529 u. 55 S. Preis M. 8.50, geb. M. 10.—.
Ein gutes Buch über den Skeptizismus war wirklich ein Bedürfnis . . . Den skeptischen
Oeist zu bannen, einzufangen und dem eigenen Werke dienstbar zu machen, das ist den berufs-
mäßigen Geschichtschreibern der Philosophie niemals gelungen. Und für eine besonders groß-
zügige Darstellung schien der Geist des Skeptizismus nicht geeignet, schien zu weit oder zu ge-
fährlich. — So wäre das Buch von Raoul Richter willkommen zu heißen, auch wenn es weniger
gut geschrieben wäre. Der vorliegende erste Band ist, wenigstens in seinem historischen Teile,
in der Geschichte und Darstellung des griechischen Skeptizismus, vorzüglich gelungen. Der Ver-
fasser ist gründlich und verirrt sich doch niemals in überflüssigen Untersuchungen. Die Träger
des skeptischen Gedankens werden auseinandergehalten, treten womöglich als Persönlichkeiten
auf; was jedoch an Kühnheit und Scharfsinn der antiken Skepsis gemeinsam ist, wird darüber
nicht übersehen, wird energisch zusammengehalten und klar aus den oft lästigen logischen Schul-
spielereien herausgeschält. Fritz Mauthner im Berliner Tageblatt.
Der griechische Skeptizismus hat auf deutschem Boden noch niemals eine so energische
und — sagen wir es gleich — im ganzen treffliche Darstellung und Beurteilung erfahren. Richter
nimmt ihn ernst und weiß, obwohl keineswegs blind für seine Schwächen, Plattheiten und Naivi-
täten, die ihm innewohnende philosophische Kraft und seine bahnbrechende Bedeutung für die
Probleme der Erkenntnistheorie klar herauszustellen.
Wochenschrift für klassische Philologie.
Beiträge zur Einführung
in die Geschichte der Philosophie.
Von Dr. Rudolf Eucken,
o. Professor der Philosophie an der Universität in Jena.
2., erweiterte Aufl. 1906. VI, 196 S. Preis M. 3.60, geb. M. 4.50.
Für die Lebensarbeit Euckens bedeutet das vorliegende Buch den ersten Versuch, die
Gedanken zu entwickeln, welche sich aus den Grundvoraussetzungen seiner Lehre für die Geschichte
der Philosophie ergeben. Dabei wird dem Leser zugleich eine Fülle interessanten begriffs-
geschichtlichen Materials übermittelt, ohne ihn jedoch in Einzelheiten zu sehr zu verstricken ; denn
Eucken versteht meisterhaft alles Nebensächliche rechtzeitig absinken zu lassen und den Leser
auf eine Höhe des Ausblicks zu führen, von der aus nur noch die großen Linien der Probleme
sichtbar sind, bis auch sie im Unendlichen zu verzittern scheinen. Frankfurter Zeitung.
iversity of Toronto Robarts
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I Parteiung der Philosophie : Studien
9gel und die Kantianer
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Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Philosophische Bibliothek.
Sammlung der Hauptwerke der Philosophie aller Zeiten.
Aristoteles — Berkeley — Bruno — Cicero — CondiUac — Descartes — Fichte
— Ooethe — Grotius — Hegel — Herder — Humboldt — Hume — Julianus
Apostata — Kant — La Mettrie — Leibniz — Lessing — Locke — Plato —
Schelling — Schiller — Schleiermacher — Scotus Eriqena — Sextus Empiricua
— Shaftesbwy — Spinoza — Wolff.
Man verlange von der Verlagshandlung den ausführlichen
Katalog, der umsonst und postfrei versandt wird.
Die Philosophische Bibliothek ist ein wirklich wundervolles Werkzeug für Forschung und
für Kultur, um das alle Nationen, in denen der Geschmack an den tiefsten Problemen des Geistes
vorhanden oder im Erwachen ist, Deutschland beneiden müssen. La Cultura {Rom).
Immanuel Kant. Sämtliche Werke.
Herausgegeben von
K. Vorlander, 0. Buek, 0. Gedan, W. Kinkel, J. H. v. Kirchmann,
F. M. Schiele, Th. Valentiner u. a.
Preis in 9 Liebhaberbänden gebunden 60 M.
Die Ausgabe der Philosophischen Bibliothek ist die einzige Ausgabe von Kants Sämtlichen
Werken, die zurzeit vollständig im Buchhandel zu haben ist. Sie bietet nicht nur einen philolo-
gisch genauen Abdruck der Texte, sondern erleichtert auch die Lektüre durch Anmerkungen, aus-
gezeichnete Sachregister und durch die Einleitungen der berufensten Kantforscher.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke.
Herausgegeben von Georg Lassen.
Bisher erschienen: Encyclopädie (1905) — Phänomenologie (1907) —
Rechtsphilosophie (1911).
Preis geb.: M. 4.20 bezw. M. 6.— bezw. M. 6.—.
Diese neue Hegelausgabe strebt nicht danach, in kurzer Zeit Vollständigkeit zu erzielen,
sondern sucht ihre Bedeutung darin, durch die kritische, auf die Quellen zurückgehende Text-
gestaltung und durch die vortrefflichen über den Rahmen des an solcher Stelle zu Erwartenden
weit hinausgehenden Einleitungen Georg Lassons der immer kräftiger einsetzenden Hegelforschung
eine neue, sichere Grundlage zu schaffen.
Auguste Comte. Die positive Philosophie.
Im Auszuge von Jules Rig, deutsch von J. H. v. Kirchmann.
2 Bde. in Groß S». M. 16.—.
Rene Descartes. Philosophische Werke.
V Herausgegeben von Artur Buchenau und J. H. von Kirchmann.
/ Preis in 4 Liebhaberbänden M. 14.—.
f Diese reichhaltigste deutsche Ausgabe Descartes' erhält einen besondern Wert dadurch, daß
die Erklärungen zu seinem Hauptwerk, den Meditationen, aus Descartes' eigenem Briefwechsel
und aus Auseinandersetzungen mit seinen Zeitgenossen stammen, so daß Descartes sich hier
seinen eigenen Kommentar geschrieben hat.
G. W. Leibniz. Philosophische Werke.
Herausgegeben von
A. Buchenau, E. Cassirer. J. H. v. Kirchmann, C. Schaarschmidt.
Preis in 4 Liebhaberbänden gebunden M. 24. — .
Diese vierbändige Leibniz-Ausgabe ist die einzige, die in handlichem Umfang ein Gesarat-
bild der Weltanschauung dieses Philosophen gibt, der für die Grundlegung der Probleme wissen-
schaftlicher Forschung noch heute maßgebend ist. Wer um die philosophische Begründung der
Physik oder der Biologie »ich bemüht, wer Geschichte, Ethik oder Religionsphilosophie durch-
denkt, oder wer nach einer strengeren und tieferen Gestaltung der logischen und mathematischen
Prinzipienlehre strebt, muß auf Leibniz zurückgreifen.
Druck von 0. Qrumbach in Leipzig.
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