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Full text of "Die Parteiung der Philosophie : Studien wider Hegel und die Kantianer"

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29q8 

E3 

1911 

c.l 

ROBA 


DIE  PARTEIÜN6  DER  PHILOSOPHIE 

STUDIEN  WIDER  HEGEL  UND  DIE  KANTIANER 


VON 

Dr.  HANS  EHRENBERG 

PRIVATDOZENT  AN  DER  UNIVERSITÄT  HEIDELBERG 


LEIPZIG  1911 
VERLAG  VON  FELIX  MEINER 


Ä20i86 


DIE  PABTEIÜN&  DER  PHILOSOPHIE 

STUDIEN  WIDER  HEGEL  UND  DIE  KANTIANER 


VON 


Dr.  HANS  EHRENBERG 

PKIVATDOZENT  AN  DER  UNIVERSITÄT  HEIDELBERG 


LEIPZIG  1911 
VERLAG  VON  FELIX  MEINER 
f 


Druck  von  C.  Grambach  in  Leipzig- 


«1 


Vorwort 

Wohl  glaube  ich.  daß  wir  zur  Zeit  rüstig  ausschreiten;  auch 
aus  Yielfältigen  Kombinationen  sondert  sich  endlich  ein  Neues  ab; 
der  weitgreifen dste  Gegensatz  der  Richtungen  baut  die  Synthese  auf. 
Der  Gegensatz  ist  da:  Kantianismus  —  Hegelianismus!  noch  ist  es 
so,  daß  die  einen  sagen,  was  die  anderen  nicht  hören,  und  hören, 
was  die  anderen  nicht  sagen.  Um  beide  hören  zu  können,  muß 
man  ein  dritter  sein,  zugleich  ein  solcher,  der  den  Gegensatz  der 
beiden  Denkweisen  im  eigenen  Denken  durchgekämpft  hat.  Die 
bloße  Absicht  zur  Synthese  ist  allerdings  nirgends  so  zwecklos  als 
in  der  Philosophie,  ihre  Ausführung  dagegen  nirgends  so  fruchtbar. 
Die  Synthese  begann  für  uns  mit  dem  AugenbHck,  in  welchem  sich 
uns  der  Gegensatz  der  Parteien  verschob  und  wir  selber  aus  ihm 
ausschieden;  damals  sahen  wir  die  Aufgabe  vor  ims,  deren  Lösung 
jetzt  versucht  wird,  die  Aufgabe,  den  eigenen  Standpunkt  über  dem 
gegenseitigen  Morde  der  feindhchen  Parteien  aufzurichten.  Aber 
die  Aufgabe  war  noch  unlösbar;  noch  fehlte  dem  neueren  Kantianis- 
mus die  greifbare  Außenseite,  wie  sie  für  die  Auseinandersetzung 
Bedingung  ist;  unfruchtbare  Zeiten  liegen  hinter  uns,  in  denen  von 
den  Widersachern  des  Kantianismus  viel  Kritisches  gedacht  wurde, 
das  sich  doch  nicht  zu  äußern  vermochte.  Jetzt  hat  Lasks  „Logik 
der  Philosophie"  das  Fehlende  ersetzt,  und  die  Lücken,  welche 
zwischen  den  verschiedenen  Teilen  der  neno'en  Kantianischen  Philo- 
sophie lagen,  ausgefüllt.  Und  auch  die  geistige  Person  Hegels  ist 
wieder  in  unserem  Umkreise  und  reißt  uns  mächtig  hin;  aber  die 
Tendenzen,  in  denen  sie  wirkt,  sind  entweder  nicht  schöpferisch  oder 
liegen  in  der  Richtung  jenes  synthetischen  AVeges,  der  im  Folgenden 
betreten  wird. 

In  dem  Gegensatz  von  Hegelianismus  und  Kantianismus  ist 
jener  die  historisch  ältere  Philosophie;  denn  der  Kantianismus  ist 
von  Kant  verschieden,  ein  selbständiges  Gedankensystem;  gedächten 
wir  aber  die  gegenwärtig  neue  Strömung,  auch  die  hier  vorliegende 
Schrift,  als  Neu-Hegehanismus  zu  bezeichnen,  so  würde  diese  Be- 
nennung nur  insoweit  zutrefien,  als  die  neue  Richtung  nur  solche 

A* 


IV  Vorwort 


Denkende  einbegreifen  kann,  die  einmal  durch  Hegel  wahrhaft  hin- 
durchgegangen sind;  im  übrigen  aber  ist  die  Verwandtschaft  zu 
gering,  der  Gegensatz  zu  groß,  so  daß  die  i.  e.  S.  Hegehaner  zu 
Nennenden  es  sich  schon  angelegen  sein  lassen  werden,  einem 
solchen  Neu-Hegelianismus  die  Gemeinschaft  mit  dem  großen  Manne 
heftig  abzustreiten.  Auf  jeden  Fall  ist  in  der  vorhegenden  Schrift 
unter  Hegehanismus  immer  der  Alt-Hegelianismus  zu  verstehen,  der 
eben  insofern  auch  ein  Neu-Hegelianismus  ist,  als  es  ihn  eben  heute 
gibt  —  nicht  lange  geben  wird. 

Die  These,  die  ich  mit  dieser  Schrift,  wenn  ich  von  ihrem 
eigentlichen  Inhalte  absehe,  aufstellen  wiU,  bestreitet  die  Möghchkeit 
einer  isolierten  Logik.  „Logik  ohne  System"  führt  immer  wieder  zu 
„Logik  ohne  System" ;  denn  eine  isolierte  Logik  muß  in  Ermangelung 
von  Grenzen  gegen  die  nichtlogischen  Disziphnen  aus  diesen  Be- 
standteile in  sich  hineinziehen,  die  es  ihr  nachher  unmöglich  machen, 
zu  solchen  nichtlogischen  Erkenntnissen  zu  gelangen,  die  von  der 
Logik  reinlich  geschieden  sind.  Die  Logik  bleibt  Philosophie-Frag- 
ment und  läßt  es  bestenfalls  zu  einer  Art  vergleichender  Logik 
kommen;  ob  nun  in  Gestalt  der  Hegeischen  Entwicklungsphilosophie, 
bei  der  ein  in  der  Anlage  allerdings  vorhandenes  System  durch  die 
Logik  erdrückt  wird  und  für  das  „Resultat"  sich  ebenfalls  Logik 
ohne  System  ergibt,  oder  in  Gestalt  des  Kantianismus,  bei  dem  das 
Schicksal  Fragment  zu  bleiben  am  offenbarsten  ist,  und  der  sogar 
zeitweise  die  nichtlogischen  Diszij^linen  als  unwissenschaftliche  Welt- 
anschauungsphilosophie zu  annulheren  versucht  hat.  Die  These,  die 
ich  aufstelle,  ist  daher  am  besten  so  vorzutragen,  daß  von  der  inner- 
logischen Frage  ausgegangen  wird,  um  bei  ihrer  Behandlung  dar- 
zutun, wie  man  sich  immer  schneller  dem  Metalogischen  zubewegt. 
Die  Schrift  führt  daher  dazu,  daß  die  Stellung  der  Logik  im  philo- 
sophischen System  untersucht  wird;  zwar  auch  diese  Frage  ist  für 
das  System  nur  Vorfrage,  führt  aber  doch  bis  an  dasselbe  heran 
und  ist  überhaupt  die  einzige  Vorfrage,  die  vor  dem  System  gedacht 
sein  muß,  wenn  sie  auch  durch  dasselbe  liinfäUig  werden  wird: 
woraus  sich  ergibt,  daß  die  IsoKerte  Logik  sich  an  ihrem  Be- 
kämpfer,  indem  sie  ihn  in  ihr  eigenes  Schicksal  hineinreißt,  rächt. 

Heidelberg  im  Juni  1911 


Inhalt 


Seite 
Einleitung:     Die  Absicht  der  Wissenschaftlichkeit    .     .     .         1 — 4 

1,  Kapitel:    Der  Konflikt  im  innerlogischen  Problem    .     .         5 — 52 

Punkt    I :   Die  Kategorie  als  Objekt  der  logischen  Wissen- 
schaft              7—36 

1    —    7       [Hegel] 

II    —    16     [Geschichte  des  Neukantianismus] 
III    —    30     [Die  eigene  Ansicht] 

Punkt  II:   Die  Anwendung  der  Kategorie       36—52 

1    —    36     [Hegel] 
II    —    39     [G-eschichte  des  Neukantianismus] 
III    —    45     [Die  eigene  Ansicht] 

2.  Kapitel:    Der    Konflikt    im   Verhältnis   von    Logik    und 

Philosophie 53—129 

Punkt  III:  Vernunft  und  Wirklichkeit 55—79 

1    —    55     [Hegel] 
II    —    64     [Geschichte  des  Neukantianismus] 
III    —    75     [Die  eigene  Ansicht] 

Punkt  IV:  Die  Absolutheit 80—98 

1  —    80     [Hegel] 

II  —    83     [Geschichte  des  Neukantianismus] 

III  —    95     [Die  eigene  Ansicht] 

Punkt  V:   Die  Stellung  der  Logik  im  System 98—129 

1  —    98     [Hegel] 

II  —    103  [Geschichte  des  Neukantianismus] 

III  —    123  [Die  eigene  Ansicht] 

Schluß:     Ncuschüpf ung  des  dialektischen  Prinzipes  ,     .     .     129 — 133 


Einleitung 


Die  Idee,  welche  Comte  über  die  Entwicklung  der  Wissen- 
schaften ausgesprochen  hat,  —  in  den  drei  Stufen  des  mytho- 
logischen, metaphysischen  und  positiven  Charakters  —  hatte  ein 
Ausdruck  dafür  sein  sollen,  daß  die  Philosophie  der  Forderung 
der  Wissenschaf  tlichkeit  nie  Genüge  tun  könne.  Da  jedoch  Comtes 
Begriffe  von  der  Philosophie  selber  angenommen  wurden,  so  kam 
auch  in  sie  das  Verlangen  nach  einem  für  sie  angeblich  Unerreich- 
baren hinein;  und  darum  litt  sie  für  Jahrzehnte  an  einer  unglück- 
lichen Liebe  zur  Wissenschaftlichkeit.  Aber  die  „Satzungen" 
eines  einzelnen  Geistes  büßen  an  Kraft  ein,  nachdem  sie  als 
Satzungen  erkannt  sind;  die  Philosophie  beginnt  zu  ahnen,  daß 
die  „metaphysische  Entwicklungsstufe",  welche  in  den  Einzel- 
Wissenschaften  als  überwunden  gelten  kann,  durchaus  nicht  das 
Schicksal  der  Metaphysik  selber  sein  müsse;  endlich  durchdringt 
sie  das  Gefühl  eigener  Stärke,  da  sie  erkennt,  wie  der  Gewinn 
der  Wissenschaftlichkeit,  auf  den  die  empirischen  Wissenschaften 
pochen,  erst  von  der  Philosophie  seine  dauernde  Prägung  erfährt. 
Die  Wissenschaftlichkeit  wird  ihr  als  ihre  eigene  Sache  bewußt, 
und  jetzt  kann  sie  eine  „neue  Satzung"  geben.  Deshalb,  weil  es 
die  erkenntnistheoretische  Richtung  ist,  die  dieses  Bewußtsein 
der  Wissenschaftlichkeit  hervorbringt,  deshalb,  weil  die  Schei- 
dung von  wissenschaftlicher  und  Weltanschauungs-Philosophie 
eben  von  jener  durchgeführt  wird,  ist  ihr  die  Schöpfung  der 
Philosophie  als  Wissenschaft  zu  danken.  Nicht  als  ob  der  Inhalt 
der  erkenntnistheoretischen  Philosophie  einen  besonderen  Gehalt 
an  wissenschaftlicher  Erkenntnis  besäße,  auch  nicht  als  ob  die 
ihr  eigentümliche  Nüchternheit,  der  ihr  eigentümliche  Sprachstil 
für  ihren  wissenschaftlichen  Charakter  spräche;  aber  in  dem 
Sinne,  daß  der  wahrhaft  wissenschaftliche  Inhalt  dieser  Richtung 

Ehrenberg,   Die  Parteiunfe'  der  Philosophie  1 


Einleitung 


die  These  der  Wissenschaftlichkeit  selbst  sei,  welche,  da  es  in 
der  Philosophie  einzig  und  allein  auf  das,  was  Selbstbewußtseins- 
inhalt ist,  ankommt,  bereits  als  bloße  These,  wir  können  sogar 
sagen:  gerade  als  bloße  These  von  durchgreifender  Bedeutung  ist. 
Denn  sie  verwandelt  den  Geist,  in  dem  geschaffen  wird.  Die  Kraft 
der  Bewußtheit  ist  unendlich  und  bewirkt  mit  der  Wissenschaft- 
lichkeitsthese,  daß  die  Philosophie  sich  das  Recht,  sich  als  fertige 
Erkenntnis  zu  behaupten,  abspricht  und  somit  forschende,  „po- 
sitive" Wissenschaft  wird.  Demnach  ist  das  Prinzip  der  Wissen- 
schaftlichkeit, welches  ein  Wissen  um  das,  was  man  tut,  ist, 
bereits  selber  der  Anfang  der  Verwissenschaftlichung,  welche 
durch  es  gefordert  wird. 

Aber  die  Idee  der  Wissenschaftlichkeit  ist  eine  zu  formale 
Idee,  um  nicht  schnellstens  materialisiert  zu  werden,  und  anstatt 
wissenschaftlicher  Philosophie  heißt  es  jetzt  Logik  und  Erkennt- 
nistheorie, anstatt  Weltanschauungsphilosophie  Kultur-  und  Re- 
ligionsphilosophie. Wieder  einmal  ist  eine  jener  Umsetzungen 
einer  reinen  Idee  in  ein  bestimmtes  Stoffgebiet  vorgenommen, 
wieder  einmal  das  Wie  mit  dem  Was,  die  Wert-Qualität  mit  der 
Objekts-Qualität  verwechselt  und  vertauscht.  Aber  das  Prinzip 
der  Wissenschaftlichkeit  macht  vielmehr  die  Qualität  der  Phi- 
losophie gerade  unabhängig  von  der  Art  ihrer  Gegenstände,  und 
jene  Verwechslung  restituiert  frühere  Einteilungen  aus  der  Zeit 
der  metaphysischen  Epoche  der  Philosophie.  Wie  aber  zu  dieser 
Zeit  die  Logik  zwar  Logik,  doch  nicht-wissenschaftliche  Logik 
war,  so  ist  die  Kultur-  und  Religionsphilosophie  auf  der  Stufe  der 
bewußten  Wissenschaftlichkeit,  obwohl  Kultur-  und  Religions- 
philosophie, so  doch  wissenschaftliche  Kultur-  und  Religions- 
philosophie. Die  Form  der  Wissenschaft,  ihre  Wahrheitsmög- 
lichkeit, ist  unabhängig  von  ihrem  Gegenstande;  dieser  aber  ist 
die  ewige  Wirklichkeit  selber;  der  reinen  Wissenschaftlichkeit 
der  Methode  entspricht  gerade  die  reine  Absolutheit  des  Inhalts; 
die  Philosophie  ist  so  in  toto  nichts  als  Metaphysik,  was  ihren 
Gegenstand  angeht;  und  ihre  Gestalt  in  der  neuesten  Zeit  tritt  als 
uissenschaftliche  Metaphysik  hervor. 

Diese  aber  bedarf,  bevor  sie  sich  bewußt  in  die  Erscheinung 
setzen  kann,  der  Selbstgarantie  ihrer  Wissenschaftlichkeit;  und 


Die  Absicht  der  "WisBenschaftlichkeit 


nachdem  wir  mit  dem  Gesagten  den  wunden  Punkt  in  der  Phi- 
losophie der  Zeit  berührt  haben,  wollen  wir  die  Wunde  nicht 
vertiefen,  sondern  wesentlich  für  uns  selber  handeln,  —  zwar 
noch  nicht  das  Haus,  nicht  einmal  die  Fundamente  errichten, 
aber  den  Boden  ebnen  und  festigen,  auf  dem  sich  einst  das  Haus 
erheben  wird.  Niemand  kann  dies  mit  größerer  Zuversicht  tun 
als  ich;  wie  danke  ich  dem  Schöpfer,  daß  er  mir  die  innere  Ruhe 
gegeben  hat,  um  zugleich  in  mir  im  Entwürfe  das  Haus  zu  bauen, 
während  ich  in  der  Wirklichkeit  noch  nicht  einmal  bei  den  Fun- 
damenten angelangt  bin.  Selbstgarantie  der  Wissenschaftlich- 
keit! So  gilt  es  vor  allem,  jede  uns  umbiegende  Gegnerschaft 
zu  anderen  Philosophien  auszuschließen  und  gerade  deshalb  diese 
Gegnerschaften  selbst  zu  objektivieren.  Das  allein  ist  Zweck 
und  Inhalt  der  folgenden  Studien,  welche  somit  die  Parteien  der 
gegenwärtigen  Philosophie  in  ihrem  tatsächlichen  Sein,  d.  h.  in 
ihrem  geschichtlichen  Zueinandergehören,  entwickeln.  Daher 
fehlt  im  folgenden  gänzlich  die  eigentliche  Methode  polemischer 
Auseinandersetzungen;  mancher  wird  das  missen  und  es  be- 
schwerlich finden,  sie  sich  hinzuzuergänzen.  Aber  eine  höhere 
Notwendigkeit  verbietet  diese  „unmittelbare"  Aussprache,  ge- 
bietet gerade  zu  Zwecken  einer  Kritik  denjenigen  Weg  zu  gehen, 
auf  welchem  die  einzig  sich  bewährende,  die  einzige  „wirkliche" 
Kritik,  d.  i.  die  Geschichte  der  Philosophie,  ihr  vorausgegangen 
ist.  Erst  damit  wird  eine  Kritik  ermöglicht,  welche  sich  nicht 
gerade  durch  die  gegnerische  „Beziehung"  zu  den  kritisierten 
Gedanken  in  Abhängigkeit  von  ihnen  setzt.  So  wählen  wir  einen 
Weg  allgemeingültiger  Kritik,  wo  dann  die  Kritik  selbst  sich  als 
Forschung,  als  historische  Untersuchung  äußert.  Es  ist  das 
sich  auseinander  Entwickeln  der  Gedanken,  worin  diese  selbst 
in  Sieg  oder  Niederlage  gerichtet  werden;  dann  muß  je  nach  der 
Art  von  Sieg  und  Niederlage  auch  die  Art  der  Kritik  verschieden 
aussehen:  Hegels  absoluter  Sturz  drückt  sich  je  in  einem  zu- 
sammengefaßt einzigen  kritischen  Punkte  aus,  während  es  zum 
Wesen  des  neueren  Kuntiamsmus  gehört,  daß  er  sich  in  ver- 
schiedenen Gestalten  entfaltet,  die  erst  von  der  letzten  aus  sich 
als  einheitliche  Entwicklung  erfassen  lassen  und  daher  eine  Kritik 
nur  finden,  indem  die  letzte  als  letzte  sich  zersetzt,  die  früheren 

1* 


Einleitunof 


aber  nur  durch  Vermittlung  dieser  letzten  getroffen  werden. 
Obwohl  wir  uns  dergestalt  bis  zu  der  Zeit  Hegels  zurückwenden 
und  erst  von  ihr  aus  in  die  Geschichte  der  neueren  kantianischen 
Philosophie  eintreten,  um  mit  ihr  zur  Gegenwart  gelangen  zu 
können,  so  haben  wir  damit  doch  nur  scheinbar  den  Augenblick 
des  gegenwärtigen  Denkens  verlassen.  Denn  nichts  anderes  als 
dieser  Augenblick  ist  das  Resultat  der  Geschichte,  die  von  Hegel 
bis  zu  ihm  selber  führt.  Solche  historische  Untersuchung  unter- 
steht allerdings  bis  zu  gewissem  Grade  besonderen  Bedingungen, 
da  sie  ihr  Auge  immer  auf  den  gegenwärtigen  Zeitpunkt  gerichtet 
hat.  Und  auch  in  systematischer  Beziehung  wollen  wir  uns  für 
die  Zukunft  nur  sichern,  haben  daher  die  Arbeit  nur  bis  dahin 
gefördert,  wo  sie  aus  dem  Zustand  der  Aneinanderreihung  von 
Punkten  in  eine  systematisierte  Darstellung  umschlagen  würde, 
oder  um  es  präziser  auszudrücken,  uns  an  ein  von  außen 
gegebenes  Dispositionsschema  gehalten,  so  daß  nur  innerhalb  der 
einzelnen  Punkte  eine  mehr  absolute  Form  herrscht,  die  aber 
eben,  weil  sie  sich  einer  Gliederung,  die  nicht  aus  ihr  folgt, 
unterwirft,  doch  nur  scheinbar  eine  absolute  Form  ist.  Die  fol- 
genden Untersuchungen  sprechen  so  eine  einzige,  unendliche  Ne- 
gation aus,  durch  welche  ebenso  die  Philosophie  der  Zeit  wie 
deren  Negierung  selbst  betroffen  und  so  alle  Züge  auf  der  Schreib- 
tafel des  denkenden  Geistes  ausgelöscht,  die  gesamte  Vergangen- 
heit des  Philosophierens  in  den  Bestand  der  Forschungswii^^eZ 
zurückgezogen  und  in  ihm,  nur  in  ihm  versammelt  wird.  So 
wird  das  Oehot  der  Zdt:  die  Forderung  der  Wissenschaftlichkeit 
in  der  Tat  befolgt,  bis  in  seine  letzten  Konsequenzen  hinein,  so 
daß  die  Wissenschaftlichkeit  des  philosophischen  Bewußtseins  für 
die  Zukunft  eine  Selbstverständlichkeit  geworden  ist.  Und  damit 
haben  sich  die  folgenden  Betrachtungen,  an  die  wir  jetzt  gehen 
können,  ihren  Platz  angewiesen. 


1.  Kapitel 

Der  Konflikt  im  iimerlogisclien  Problem 


Punkt  I:  Die  Kategorie  als  Objeict  der  logischen  Wissenschaft 


Die  Dialektik  ist  so  alt  wie  die  Philosophie.  Man  glaubt 
heutzutage  allgemein,  das  Eigentümliche  der  Logik  Hegels  in 
ihrer  spekulativen  Methodik  erblicken  zu  müssen.  Geschicht- 
liche Interpretation  wird  aber  vor  allem  darauf  weisen,  daß 
Hegels  Neuschöpfung  der  logischen  Wissenschaft  deren  Objekt 
betrifft.  Denn  die  ganze  Vergangenheit  der  Philosophie  ist 
unbeteiligt  an  der  Entlarvung,  mit  welcher  Hegel  diejenigen 
straft,  „welche  nicht  die  einfache  Reflexion  machen  mochten, 
daß  ihre  Einfälle  und  Einvvürfe  Kategorien  enthalten,  welche 
Voraussetzungen  sind  und  selbst  erst  der  Kritik  bedürfen, 
ehe  sie  gebraucht  werden«.  Die  Bewußtlosigkeit  hierüber  geht 
unglaublich  weit;  sie  macht  das  Grundmißverständnis,  das  üble, 
d,  h.  ungebildete  Benehmen,  bei  einer  Kategorie,  die  betrachtet 
wird,  eticas  anderes  zu  denken  und  nicht  diese  Kategorie  selbst.'' 
(Vorrede  zur  2.  Aufl,  des  1.  Bandes  der  Logik,  1832.)  Diese 
Vorwürfe  richten  sich  gegen  die  Kantische  Philosophie,  gegen 
deren  Verfahren,  die  einzelnen  Kategorien  an  Hand  bestimmter 
Anwendungsfälle  zu  deduzieren,  etwa  die  Kausalitätskategorie 
auf  Grund  der  mechanischen  Stoßwirkung  oder  des  psychischen 
Zusammenhanges,  —  also  anstatt  im  Gebiet  der  reinen  Bedeu- 
tungen selber  zu  bleiben,  sich  in  die  engeren  Grenzen  speziellerer 
Sphären  zu  flüchten  und  in  den  wohlbekannten  Zügen  der  aus 
diesen  abstrahierten  Denkformen  fälschlich  Beispiele  der  all- 
gemeinen Kategorien  selber  zu  wähnen;  allerdings  ein  „Grund- 
mißverständnis" zu  glauben,  daß  das  Einkleiden  der  Kategorien 
ihre  Formen  am  deutlichsten  sichtbar  machen  müsse,  anstatt 
einzusehen,  daß  ihr  rein  gedanklicher  Inhalt  zunächst  durch  die 
Spezialbcdeutung,   mit   der  man   ihn   einkleidet,    verdeckt  wird, 


Objekt  der  Logik 


—  schließlich  ganz  entschwindet.  Hegel  dagegen  verlangte  die 
Kraft  des  reinen  Denkens,  welche  erforderlich  ist,  um  ein  Ge- 
dachtes wieder  denken  zu  können.  Man  hat  allerdings  auch  vor 
Hegel  die  reinen  Denkformen  zu  bemerken  vermocht,  aber  aus 
Furcht  vor  einem  Rückfall  in  die  Aristotelische  Formen-Deskrip- 
tion  verworfen.  Kant  wertete  die  Formen  als  nur-Formen,  und 
Hegel  „entdeckt"  daher  nicht  so  sehr  die  einzelnen  Inhalte  von 
Formen  als  das  Prinzip  ihrer  Inhaltlichkeit.  Er  befreit  die  Ka- 
tegorien aus  der  Verbannung  ins  ausgeschlossene  Reich  der  nur- 
Formen,  erkennt  die  Inhaltlichkeitsstruktur,  welche  sie  an  sich 
selber  haben,  und  hält  dem  Kantianer  vor,  wie  dieselbe  Denk- 
bestimmung, welche  aus  dem  Munde  der  Kantischen  Philosophie 
die  Entgegenständlichung  der  reinen  Kategorie  aussprechen  lasse, 
bereits  die  reine  Kategorialität  in  gegenständlichem  Walten  vor- 
führe. Ein  logisches  Troj^t  öeai^rov  ist  also  die  Hegeische  Forderung 
an  die  Adresse  des  Philosophierenden;  das  Prinzip  also  für  die 
Deduktion  der  Kategorie  besitzt  Hegel  im  Begriff  des  Selbst- 
hewußtseins  des  Denkenden.  Daher  heißt  es:  „Das  Bewußtsein, 
als  der  erscheinende  Geist,  welcher  sich  auf  seinem  Wege  von 
seiner  Unmittelbarkeit  und  äußerlichen  Concretion  befreit,  wird 
zum  reinen  Wissen,  das  sich  jene  reinen  Wesenheiten  (die  den 
Inhalt  der  Logik  ausmachen)  selbst,  wie  sie  an  und  für  sich  sind, 
zum  Gegenstande  gibt"  (aus  der  Vorrede  zum  1.  Bd.  der  Logik, 
1812).  Es  ist  die  Selbstkontrolle,  welche  der  „sich  als  Geist 
wissende  Geist"  (Phänomenologie,  765)  ausübt,  das  Kriterium 
eines  absoluten  Wissens.  So  erhält  die  Logik  darin  ihr  Objekt 
zugewiesen,  daß  sie  die  reinen  Kategorien,  „wie  sie  an  und  für 
sich  sind",  zu  entwickeln  berufen  ist.  Die  Erkenntnis/orw?ew 
selbst  als  Erkenntmainhalte !  In  ihrer  Ausführung  hat  die  Logik 
daher  dem  vorbildlichen  Beispiel  des  Selbstbewußtseins,  welches 
die  allgemeine  Wissens/or?«  zu  seinem  Inhalt  hat,  zu  folgen; 
und  „es  ist  nicht  Schuld  des  Gegenstands  der  Logik,  wenn  sie 
gehaltlos  sein  soll,  sondern  allein  der  Art,  wie  derselbe  durch- 
geführt wird"  (Logik,  I,  9).  Vielmehr  ist  „dieses  objektive 
Denken  ...  der  hihalt  der  reinen  Wissenschaft.  Sie  ist  daher 
so  wenig  formell,  sie  entbehrt  so  wenig  der  Materie  zu  einer 
wirklichen  und  wahren  Erkenntnis,  daß  ihr  Inhalt  vielmehr  allein 


Hegel  9 

das  absolute  Wahre,  oder  wenn  man  sich  noch  des  Worts 
Materie  bedienen  wollte,  die  wahrhafte  Materie  ist,  — -  eine  Ma- 
terie aber,  der  die  Form  nicht  ein  Äußerliches  ist.  Die  Logik 
ist  sonach  als  das  System  der  reinen  Vernunft,  als  das  Reich  des 
reinen  Gedankens  zu  fassen"  (Logik,  I,  11  f.).  Das  System  der 
Kategorien  ist  die  Logik  des  absoluten  seil,  philosophischen 
Wissens,  für  die  dann  „die  Trennung  des  Gegenstandes  von  der 
Gewißheit  seiner  selbst  vollkommen  sich  aufgelöst  hat"  (a.  a.  0.. 
11).  Wir  sehen:  Das  Prinzip  der  sich  im  Gegenstande  wissenden 
Gewißheit  sichert  der  Logik  ihre  Ausführbarkeit,  dem  Inhalt  der 
Logik  seine  Wahrheit. 

So  wäre  die  i^ufgabe,  die  Hegel  einer  logischen  Wissenschaf t 
stellt,  vollständig  bestimmt;  das  ewige  Urbild  des  Selbstbewußt- 
seins hat  diese  ebenso  ewige  Folge.  Logik  und  Selbstbewußtsein 
verhalten  sich  wie  Abbild  und  Urbild,  wie  Aufgabe  und  Grund- 
satz. Woher  aber  hat  die  Logik  den  Grundsatz,  oder  besser: 
woher  hat  sie  ihn  als  den  Grundsatz,  der  ihre  Aufgabe  begründet? 
Nicht  aus  sich  selbst,  denn  allerorten  setzt  sie  ausdrücklich  das 
absolute  Selbstbewußtsein,  die  Absolutheit  des  Selbstbewußtseins 
voraus.  Hier  droht  der  Entdeckung  Hegels  eine  Gefahr;  die 
„reine"  Logik  scheint  die  „Anwendung"  eines  außerhalb  von  ihr 
liegenden  Grundsatzes  zu  sein.  Und  Hegel  selbst  erkennt  an, 
daß  „der  Begriff  der  reinen  Wissenschaft  und  seine  Deduktion 
in  gegenwärtiger  Abhandlung  also  insofern  vorausgesetzt  wird, 
als  die  Phänomenologie  des  Geistes  nichts  anderes  als  die  De- 
duktion desselben  ist"  (Logik  I,  11).  Aus  der  Phänomenologie 
konnte  Hegel  allerdings  übernehmen,  daß  für  das  Bciciißtseiu 
sich  das  Wesen  des  philosophischen  Wissens  als  Selbstbewußt- 
sein kundgibt;  und  es  ist  nicht  zu  viel  gesagt,  wenn  man  für 
Hegel  den  Problemkomplex  des  Erkenntnis6't(6;V/j/s  von  der  Phä- 
nomenologie zum  Abschluß  gebracht  sein  läßt;  aber  für  den 
Gegenstand  dieses  Erkenntnissubjektes  kann  aus  der  Phänomeno- 
logie nichts  anderes  entnommen  werden,  als  daß  er  so  ist,  Gegen- 
stand eines  absoluten  Bewußtseins  sein  können  zu  müssen.  Der 
Selbstbewußtseinsbegriff,  aus  welchem  das  Objekt  der  Logik  ent- 
steht, ist  daher  nicht  derselbe  Begriff  wie  der,  welcher  die 
Reihe  der  phänomenalen  Bewußtseinsgestalten  —  als  deren  trans- 


10  Objekt  der  Logik 


zendentes  Ziel  —  schließt.  Das  Selbstbewußtsein  bedeutet  also 
einmal  die  Wissensabsolutheit,  die  wir  im  Akt  der  Selbstbewußt- 
werdung  erwerben,  —  das  andere  Mal  das  sich  zum  Inhalt  Werden 
des  Denkens,  einmal  den  Gültiglceits-,  dann  den  0&;eÄ;^sbegriff  der 
Wissenschaft.  Und  ohne  Zweifel  ist  jede  dieser  beiden  Bedeu- 
tungen für  sich  vollkommen  abgeleitet,  und  die  Anknüpfung  der 
Logik  an  die  Phänomenologie  ist  so  lange  unangreifbar,  als  diese 
als  bloße  Einführung  in  jene  gilt*).  Nun  aber  hatte  der  Über- 
gang von  der  Phänomenologie  zur  Logik  für  Hegel  eine  viel  all- 
gemeinere Bedeutung  als  bloß  die,  diesen  Übergang  zu  machen; 
er  nahm  ihn  als  Übergang  von  dem  Standpunkt  des  absoluten 
Wissens  in  die  Ausführung,  als  grundsätzliche  Umsetzung  des 
Berechtigungsgrundes  der  Wissenschaft  in  ihr  Dasein.  Daher 
wurden  die  beiden  Bedeutungen  des  Selbstbewußtseinsbegriffes 
von  Hegel  in  ganz  gleicher  Weise  auf  Philosophie  -  überhaupt, 
auf  ihr  gesamtes  System  bezogen;  das  Selbstbewußtsein  ward 
ebenso  Urbild  für  den  Gegenstand  der  Philosophie,  wie  es  sich 
als  Urbild  für  ihre  Gewißheit  und  Wahrheit  gezeigt  hatte.  Wäh- 
rend eigentlich  nur  das  Objekt  der  logischen  Disziplin  durch  die 
Identität  von  Subjekt  und  Objekt  —  die  Form  als  Inhalt,  Selbst- 
bewußtsein! —  charakterisiert  erscheinen  durfte,  übte  die  Logik 
im  Denken  Hegels  eine  Art  von  Stellvertretungsamt  für  alle 
Philosophie  schlechtweg  aus;  und  das,  was  Inhalt  nur  der  Logik 
sein  sollte,  wurde  zum  Inhalt  aller  Wissenschaft  erweitert.  Eine 
so  prävalierende  Stellung  nahm  der  Standpunkt  des  absoluten 
Wissens,  die  Unbedingtheitsqualität  des  Erkennens,  bei  Hegel 
ein,  daß  er  den  Paralogismus  begehen  konnte,  die  Allgemeinheit 
der  Wissensgeltung  auf  den  Wissensgegenstand  unmittelbar  zu 
übertragen.  Anders  ausgedrückt:  Hegel  hat  Wissensgeltung  und 
Wissensgegenstand  immer  dann  zu  trennen  unterlassen,  wenn  es 


*)  Man  hat  in  der  althegelianischen  Zeit  das  Verhältnis  von  Phänomeno- 
logie und  Logik  lebhaft  erwogen ;  aber  auch  wo  man  von  einem  „Doppelprinzipe 
von  Phänomenologie  und  Logik"  (Schmid,  zur  Entwicklungsgeschichte  der 
Hegeischen  Logik,  1858)  sprach,  bemerkte  man  nicht  die  Möglichkeit,  beide 
Prinzipien  bruchlos  nebeneinander  bestehen  zu  haben,  solange  nur  die  ver- 
schiedenen Beziehungskreise  —  dort  der  der  Philosophie,  hier  der  der  Logik,  — 
nicht  zusammengeworfen  wurden. 


Hegel  11 

ihm  um  die  Absolutheit  und  schlechthinnige  Unbedingtheit  der 
Philosophie  ging.  Daher  finden  wir  bei  ihm  die  beiden  Bedeu- 
tungen des  Selbstbewußtseinsbegriffes,  mit  denen  wir  bisher  ope- 
riert haben,  gar  nicht  vor;  wir  haben  vielmehr  diese  Dualität 
gewaltsam  in  Hegel  hineingetragen,  um  mit  ihrer  Schärfe  in  das 
Innere  seiner  Philosophie  einzudringen.  Aber  zu  diesem  Gewalt- 
akt waren  wir  berechtigt,  weil  die  Scheidung,  wenn  sie  auch 
von  Hegel  nicht  an  die  Oberfläche  gebracht  ist,  so  doch  in  den 
Gründen  seiner  Philosophie  ruht  —  so  sehr,  daß  sich  auf  sie 
zwei  verschiedene  Bücher,  zwei  verschiedene  Disziplinen  Hegels 
aufbauen:  Die  Phänomenologie  und  die  Logik.  Indem  wir  uns 
jetzt  dessen  bewußt  werden,  wodurch  unsere  Interpretation  ihre 
Rechtfertigung  erhält,  wird  sie  uns  erst  zu  Ende  gefülirt:  Es  geht 
Hegel  der  Plan,  mit  dem  er  an  die  Logik  herangegangen  war, 
verloren,  der  Plan,  die  Kategorien  als  die  Selbstschöpfungen  des 
reinen  Denkens  abzuleiten;  jetzt  sind  sie  nur  noch  „Beispiel" 
oder  „Vorkommen"  des  Endgliedes  in  der  phänomenalistischen 
Reihe,  „Exemplare"  des  absoluten  Wissens.  Die  Kategorie  unter- 
scheidet sich  dann  in  nichts  von  jedem  anderen  „Vorkommen" 
eines  absoluten  Wissens,  d.  h.  in  nichts  von  sämtlichen  anderen 
philosophischen  Erkenntnissen.  Wir  sehen:  Das  philosophische 
Erlebnis,  das  Hegel  bei  dem  Übergang  vom  Standpunkt  des  ab- 
soluten Wissenssubjekts  zum  Gegenstand  der  reinen  Kategorie 
erfuhr,  nämlich  das  Erlebnis,  vom  StandpunM  zum  Ergebnis  zu 
lammen,  wurde  ihm  zum  Eckstein  seines  Systems:  Wenn  zuerst 
nur  gilt,  daß  das  Selbstbewußtsein  das  reine  Denken  zur  Materie 
seiner  selber  habe,  so  heißt  es  nunmehr,  daß  die  Materie  des 
reinen  Denkens  immer  das  reine  Denken  selber  sei!  Der  Panlo- 
gismus  ist  fertig.  In  der  Umdrehung  des  Satzes  vom  Selbst- 
bewußtsein liegt  der  Schlüssel  zur  Hegeischen  Philosophie:  Hat 
im  reinen  Selbstbewußtsein  das  reine  Denken  sich  selbst  zur 
Materie  (deduziertes  Objekt  der  Logik),  so  ist  kraft  der  Um- 
drehung die  Materie  des  reinen  Denkens  dieses  selbst  (erschli- 
chenes Objekt  der  Philosophie).  Die  „Entdeckung"  des  Objekts 
der  logischen  Wissenschaft  wird  damit  belastet,  daß  ihr  Prinzip 
zum  Prinzip  des  Objekts  der  gesamten  Philosophie  gemacht  wird. 
Aber  das  Objekt  der  Philosophie  überhaupt  hat  es  gar  nicht 


12  Objekt  der  Logik 


ZU  entdecken  gegolten!  Wie  stabil  hat  es  in  der  ganzen  Geschichte 
der  Philosophie  fest  dagestanden!  Und  nun  wird  es  erdrückt, 
umgestoßen  von  dem  neu  erkannten  Objekt  einer  wissenschaft- 
lichen Logik.  Aber  auch  dieses  wird  dabei  verdrängt  oder  mit 
fremdesten  Elementen  durchsetzt:  Denn  nicht  nur  dehnen  sich 
die  reinen  Denkformen  sofort  über  alle  Gegenstände  eines  Er- 
kennens  aus,  sondern  ebenso  wird  ihre  geschlossene  Phalanx 
von  diesen,  den  außerlogischen  Gegenständen,  durchbrochen.  Da- 
her sind  in  der  Logik  Hegels  Naturphilosophie,  Philosophie  des 
Lebens,  der  Kunst  und  der  Sittlichkeit,  religionsphilosophische 
und  philosophiehistorische  Gegenstände,  endlich  auch  —  rein 
logische  Begriffe;  neben  inhaltsbelasteten  Begriffen  stehen 
ganz  formale  Kategorien;  etwa  neben  Repulsion  und  Attraktion 
das  „Etwas"  oder  das  „Andere".  Jedoch  gerade  erst  damit,  daß 
die  Gegenstände  der  gesamten  Philosophie  in  der  Tat  regellos 
in  die  Logik  einströmen,  erhält  diese  ihren  im  Sinne  Hegels  ab- 
soluten Wert. 

Und  so  widerspricht  überhaupt  die  Grenzaufhebung  zwischen 
Logik  und  Philosophie  keineswegs  den  Intentionen  Hegels;  es 
ist  deshalb  gar  nicht  erlaubt,  sie  zu  seiner  immanenten  Kritik  zu 
benutzen.  Denn  er  will  ja  das  Verhältnis  von  Logik  und  Gesamt- 
philosophie so  gestaltet  haben,  daß  jene  bereits  das  Reich  der 
Wahrheit  an  sich  ist,  und  sagt  von  dem  Inhalt  der  Logik:  „Man 
kann  sich  deswegen  so  ausdrücken,  daß  dieser  Inhalt  die  Dar- 
stellung Gottes  ist,  ivie  er  in  seinem  eivigen  Wesen  vor  der  Er- 
schaffung der  Natur  und  eines  endlichen  Geistes  ist"'  (12),  So 
stimmt  der  Gegenstand  der  Logik  zwar  nicht  mit  der  Natur  und 
dem  endlichen  Geiste  überein,  wohl  aber  mit  dem  göttlichen  Wesen 
selber.  Diese  beiden,  Gott  und  Gegenstand  der  Logik,  haben  einen 
gemeinsamen  Gegner:  die  Natur  und  den  endlichen  Geist;  daher 
sind  sie  untereinander  ununterscheidbar,  und  der  Inhalt  der 
Logik  kann  dann  geradeheraus  eine  „Darstellung  Gottes"  (s.  o.) 
genannt  werden.  So  ist  das  Objekt  der  Logik  (das  wir  zu  ver- 
stehen suchen)  im  System  Hegels  alles  eher  als  mit  dem  Ab- 
schluß der  Logik  beendet,  sondern  kehrt  wieder  in  der  Totalität 
des  Gegenstandes  der  Philosophie,  im  absoluten  Geist;  ist  dann 
daher  auch  auf  den  verschiedenen  Stationen  des  absoluten  Geistes 


Hegel  13 

(Kunst,  Religion,  Philosophie)  immer  derselbe  Gegenstand  —  wie 
eindringlich  spricht  Hegel  dies  aus!  —  und  nur  auf  Grund 
der  Art  und  Weise,  wie  es  im  Subjekt  erscheint,  zu  jenen  drei 
verschiedenen  Sphären  aufgespalten  (Hegels  Identifikation  von 
Religion  und  Philosophie  findet  allein  hierin  ihre  Erklärung  und 
immanente  Rechtfertigung).  Wenn  so  der  logische  Gegenstand 
resp.  sein  Urbild,  das  Selbstbewußtsein,  sowohl  den  Inhalt  der 
Logik  als  auch  den  der  Philosophie  des  absoluten  Geistes  erfüllt, 
so  verhalten  sich  die  übrigen  Gegenstände  (Natur  und  endlicher 
Geist)  nur  als  Verbindungsstücke  des  innerlogischen  und  des 
absoluten  Logos;  auch  sie  bestimmen  sich  inhaltlich  nach  dem 
Inhalt  des  logischen  Gegenstandes  —  sei  es  in  rein  negativer 
Beziehung  wie  beim  Naturobjekt,  sei  es  in  einer  Mischung  des 
Negativen  mit  dem  Positiven  wie  beim  endlichen  Geiste,  Auch 
ihre  Washeiten  sind:  Selbstbewußtsein;  und  die  Gleichsetzung 
des  Was  der  Logik  mit  allem  Was  kann  durch  das  ganze  System 
hindurch  festgehalten  werden.  Aber  soll  nicht  andererseits  die 
Logik  ihr  Recht,  eine  Disziplin  der  Philosophie  zu  sein,  allein 
darauf  gründen,  daß  sie  die  Formen  des  Selbstbewußtseins  ent- 
wickelt, um  dadurch  das  Was,  das  im  Selbstbewußtsein  liegen  soll, 
vollständig  zu  bestimmen?  So  scheint  das  Objekt  der  Ivogik 
doppelt  bestimmt  werden  zu  sollen,  einmal  aus  der  Idee  der 
Logik  selber,  dann  aus  der  Idee  des  Systems;  verschmolzen  sind 
beide  Bestimmungen  nur  in  der  Bezeichnung  der  Logik  als  des 
Geistes  an  sich.  Sehen  wir  daher  zu,  wieweit  dieser  Begriff 
die  Schwierigkeiten  zu  entfernen  vermag:  Hegels  Meinung  ist 
die,  daß  in  Wahrheit  das,  was  der  Geist  „letzthin",  d.  h.  an  und 
für  sich  ist,  er  auch  schon  an  sich  sei;  „indem  das  Ansich  in  die 
Existenz  tritt,  geht  es  zwar  in  die  Veränderung  über,  bleibt  aber 
zugleich  Eins  und  Dasselbe;  denn  es  regiert  den  ganzen  Verlauf"*) 
(S.  W.-,  XIII,  34);  das  Neue,  das  durch  den  Weg  von  der  Logik 
zum  Absoluten  Geist  hinzukommen  soll,  ist  nur  die  Einsicht,  daß 
in  Wahrheit  gar  nichts  Neues  hinzukommen  kann,  daß  das  Objekt 
der  Logik  „eigentlich"  schon  Alles  ist  und  die  übrigen  Disziplinen 

*)  Diese  Auffassung  des  philo60j)liischcii  Entwicklungsbegriffes  klingt  ener- 
gisch nach  in  der  Auffassung  des  historischen  Entwicklungsbegriflfes  in  der 
Hegeischen  Schule  (cf.  besonders  C.  F.  Baur). 


14  Objekt  der  Logik 


nur  nötig  sind,  um  die  Isolierung  des  logischen  Gegenstandes, 
dies  daß  er  als  ein  Einzelnes  erscheine,  ausdrücklich  aufzuheben. 
Alles  ist  Geist;  und  was  nicht  schon  an  sich  Geist  ist,  dem  fehlt 
nur  das  Wissen  darüber,  daß  es  im  Grunde  genommen  auch  Geist 
ist;  der  Unterschied  ist  nur  ein  Unterschied  im  Sich  Wissen; 
andere  Unterschiede  gibt  es  nicht;  das  was  für  das  Objekt  der 
Logik  aus  deren  innerstem  Wesen  abgeleitet  ist,  das  Selbst- 
bewußtsein als  Inhalt,  das  hat  die  Philosophie  denjenigen  Gegen- 
standsarten, die  es  nicht  von  sich  aus  besitzen,  gleichsam  auf- 
zuzwingen. Für  alles  und  jedes  ist  das  Selbstbewußtsein  Prinzip; 
und  wird  dem  Selbstbewußtsein  zuerst  seine  Bedeutung  in  der 
Logik  gegeben,  so  wird  sein  Geltungsumfang  dann  außerhalb 
der  Logik  ins  Unbegrenzte,  nur  durch  sein  Unbegrenztsein  Be- 
grenzte erweitert.  Die  Disziplinen,  welche  auf  die  Logik 
folgen,  können  so  gar  nicht  anders,  als  den  Inhalt  der  logischen 
Disziplin  unter  anderen  Namen  zu  wiederholen  (wie  es  denn  auch 
in  der  Tat  uns  scheinen  möchte,  als  ob  wir  die  Hegeische  Phi- 
losophie aus  einer  einzelnen  ihrer  Disziplinen  vollkommen  kennen 
lernen  könnten*).  Aber  wenn  alles  nur  das  Selbstbewußtsein  zu 
seinem  Inhalt  hat,  —  das  Ganze  als  Ganzes  das  vollkommene 
Sich  Wissen,  das  Einzelne  als  Einzelnes  einen  Modus  des  Sich 
Wissens,  das  Ganze  als  Ganzes  der  Einzelnen  das  Werden  des 
vollkommenen  Sich  Wissens  in  den  unvollkommenen  Arten  der 
einzelnen  Sich  Wissen-schaften,  —  so  stellen  dann  nicht  nur 
Natui'  und  endlicher  Geist  nicht  das  vollkommene  Selbstbewußt- 
sein dar,  sondern  auch  die  Logik  selber  kann  —  als  Einzelnes  — 
es  nicht  besitzen;  sie  hat  es  zwar,  hat  es  aber  noch  nicht  wissend. 
Da  kann  sich  das,  was  das  Grundprinzip  der  Logik  sein  soll,  gar 
nicht   aufrechterhalten;   indem   die  Logik   noch   nicht   absoluter 


*)  Dieser  Einwurf  ist  nicht  neu;  siehe  Feuerbach:  „Alles  zweimal  in  der 
Hegeischen  Philosophie:  als  Objekt  der  Logik,  und  dann  wieder  als  Objekt  der 
Katur-  und  Geistesphilosophie"  (S.W.,  hrgg.  v.  Jodl,  II,  225);  andere  haben 
ähnliches  ausgesprochen;  siehe  von  den  neueren  Croce,  Lebendiges  und  Totes 
in  der  Hegeischen  Philosophie,  übers.  1909,  155.  Neu  ist  in  der  obigen  Dar- 
stellung nur  die  immanente  Deduktion  des  Selbstwiderspruches;  die  althegelia- 
nische Kritik  ist  dagegen,  wenn  sie  Gutes  liefert,  intuitiv-aperguhaft;  Croce  end- 
lieh befolgt  eine  deskriptive  Methode  des  Kritisierens,  durch  die  er  gewaltsam 
zwischen  Eewoßtlosig-keit  und  Bewußtsein  hin-  und  her^-eworfen  ^^•ird. 


Hegel  15 

Geist  ist,  indem  diese  beiden  nur  deshalb  nicht  Eins  sind,  weil 
erst  der  absolute  Geist  die  absolute  Selbsterkenntnis  besitzt,  so 
entgleitet  die  Logik  von  dem  Boden,  auf  dem  sie  errichtet  ist. 
Und  das  ist  nun  allerdings  ein  Widerspruch,  der  immanent-hegelsch 
entsteht,  immanent-hegelsch  aber  nicht  beseitigt  werden  kann 
und  so  die  Aufhebung  der  Hegeischen  Philosophie  zu  einer  seiner 
Zeit  historischen  Notwendigkeit  gemacht  hat.  Wir  fassen  den 
Gedankengang  unserer  Kritik  in  diesem  Punkte  zusammen:  Das 
Selbstheivustsein  ist  icmn  das  Ohjeld  der  Logik  noch  nicht  das  Game 
sein  soll,  gar  nicht  Prinzip  der  Logik;  soll  es  dagegen  Prinzip  der 
Logik  sein,  so  ist  das  Objekt  der  Logik  bereits  das  Ganze.  Ent- 
weder ist  die  Logik  prinziplos,  oder  die  Philosophie  hat  keinen 
Inhalt  außer  der  Logik.  (So  aber  verlieren  wir  überhaupt  die 
Klarheit  darüber,  was  bei  Hegel  das  Objekt  der  logischen  Wissen- 
schaft war;  ob  Gott,  ob  das  Erkennen;  und  wenn  beides,  so  fragen 
wir,  wie  das,  was  wir  gerne  als  Wesen  des  Erkennens  anerkennen, 
auch  einfach  als  Wesen  Gottes  behauptend  hingestellt  werden 
konnte;  und  wir  sehen  uns  bez.  Hegel  vor  die  unglückliche  Wahl 
gestellt,  entweder  die  logische  Selbstbesinnung  oder  jeden  außer- 
logischen Inhalt  seiner  Philosophie  fallen  zu  lassen;  insofern  aber 
letzteres  hieße:  das  System  selber  zu  opfern,  so  haben  die  zeit- 
genössischen Anhänger  Hegels  es  nicht  opfern  können,  sondern 
die  logische  Selbstbesinnung  fahren  lassen;  und  die  Philosophie 
mußte  wieder  dogmatisch  werden;  auch  ist  ja  in  der  Tat  die  lo- 
gische Selbstbesinnung,  d.  i.  Hegels  überdogmatisches  Prinzip, 
nicht  in  seinem  System  erwachsen,  sondern  von  ihm  aus  der 
Phänornenologie  des  Geistes  übernommen  worden;  die  (dialek- 
tische) Methode  des  Selbstbewußtseins  ist  deshalb  vom  Stand- 
punkt des  Systems  aus,  dessen  von  dieser  Methode  selbst  er- 
zwungene Strenge  die  Phänomenologie  nicht  als  einen  Teil  der 
Philosophie  Hegels  anerkennt,  eine  bloße  Tatsache,  ein  unbe- 
griffenes Dogma,  das  darauf  pocht,  daß  es  sich  als  real  wirksam 
erwiesen  habe)*). 


*)  Auch  dies  ist  schon  von  der  althegelianischen  Kritik  vereinzelt  aus- 
gesprochen worden  (vgl.  K.  Ph.  Fischer,  Spezielle  Charakteristik  und  Kritik  des 
Hegeischen  Systems,  1845,  590);  aber  es  bleiben  diese  Einsichten  wesentlich  in 
dem  Stadium  von  Zwischenbemerkungen. 


16  Objekt  der  Logik 


II 

In  der  Philosophie  Hegels  war  die  innerlogische  Bedeutung, 
die  das  Objekt  der  Logik  an  sich  hatte,  durch  die  absolute,  die 
es  für  den  Bestand  des  Ganzen  besaß,  mehr  und  mehr  erdrückt 
worden;  so  ging  die  innerlogische  Selbstbesinnung  auf  die  erste 
Generation  der  Antihegelinge  gar  nicht  mehr  über;  die  „Ent- 
deckung" des  Objekts  der  Logik  ward  verloren,  d.  h.  ward 
weder  verteidigt  noch  bekämpft;  die  Philosophie  kehrte  zum  be- 
sinnungslosen Dogmatismus  zurück.  An  logischer  Wissenschaft 
konnte  es  dann  nur  entweder  formale  Logik  in  vorkantischer 
Art  (Herbart)  oder  logikfreie  Metaphysik  geben  (der  alte  Schel- 
ling,  Feuerbach,  Comte  und  Schopenhauer);  wir  haben  an  diesem 
Orte  genug  getan,  wenn  wir  dies  konstatieren  und  sodann  um- 
gehend zu  der  zweiten  antihegelschen  Generation  —  dem  Neu- 
kantianismus im  weiteren  Sinne  des  Wortes  —  übergehen.  Dieser 
macht,  gemeinsam  mit  dem  schnellsten  Feind  der  Spekulation, 
dem  Positivismus,  Front  gegen  die  rein  metaphysische  Epoche, 
die  nach  Hegel  eingetreten  war,  und  kommt  wieder  auf  die  me- 
thodische Bedeutung  der  logischen  Frage  zurück,  mit  der  Ab- 
sicht, sich  mit  ihr  in  der  Mitte  zwischen  Metaphysik  und  Em- 
pirismus erhalten  zu  können;  der  Wille  ging  überhaupt  auf  eine 
Renaissance  der  Logik;  aber  kraft  der  Bekämpfung  der  nach- 
hegelschen  Metaphysik  machte  man  sich  die  Rückkehr  zu  Hegel 
selber  unmöglich;  fand  man  doch  zumal  auch  bei  ihm  Meta- 
physik gerade  in  der  Logik:  die  Bedeutung  des  Logos  selbst;  und 
dem  Kantianer  schmolzen,  wenn  nicht  sofort,  so  doch  bald,  Hegel 
und  nachhegelsche  Spekulation  zu  einem  einzigen  Gegner  zu- 
sammen, dem  Gegner  Metaphysik.  Als  deren  einzig  würdiger 
Gegensatz  galt  die  Philosophie  Kants:  die  Vernunftkritik  wieder 
als  Erlösung  von  Metaphysik  und  Empirismus!  Wie  verschie- 
denen Grundmotiven  aber  konnte  der  kritische  Gedanke  Nahrung 
geben!  Im  Altkantianismus  hatte  dem  Skeptizismus  im  Logischen, 
der  Metaphysik  im  Absoluten  begegnet  werden  sollen;  jetzt  ging 
es  gegen  die  Metaphysik  im  Logischen,  den  Skeptizismus  im  Ab- 
soluten; damals  waren  Hume  und  Leibniz  die  Gegner  gewesen, 
jetzt  Hegel  und  der  Positivismus.    Und  mögen  die  Anregungen, 


Neukantianismus 


welche  die  neue  Richtung  aus  Kant  zog,  noch  so  zahlreich  ge- 
wesen sein,  so  wird  doch  nichts  daran  geändert,  daß  wir  es  hier 
mit  einer  eigenen  und  neuen  Philosophie  zu  tun  haben,  welche 
daher  auch  ihr  angebliches  Vorbild  mit  nur  höchst  teilweisera 
Interesse  und  nur  in  sog.  Grundwahrheiten  rezipiert  hat;  es  ist 
daher  auch  nicht  zutreffend,  ihr  aus  diesem  Abziehen  Kants  auf 
Grundwahrheiten  einen  Vorwurf  zu  machen,  wie  ich  es  früher 
getan  habe  (Kritik  der  Psychologie,  1910,  6);  sondern  eine  Kritik 
verdient  nur  das  un-  und  antigeschichtliche  Verfahren  der  meisten 
neueren  Kantianer,  ihre  eigenen  Gedanken  für  wirkliche  Kant- 
interpretationen auszugeben.     Die  Eigenart  des  modernen  Kan- 
tianismus    besteht    dann    darin,    daß    er    verlangt:    nur    derart 
dürfe   dem  Positivismus  ein  ÜberempiriscJies   kraß  logischer  Selhst- 
hrsinnung  entgegengehalten  rverden,  daß  dadurch  nicht  ein  Absolutes 
beschworen  werde.    Das  ist  das  unausgesprochene  oder  ausge- 
sprochene Prinzip  der  modernen  Kantschule;  zugleich  die  letzte 
Frucht  der  Hegeischen  Philosophie,  ihrer  Verquickung  von  Ob- 
jekt der  Logik  und  absolutem  Gegenstand.    Denn  die  Hegelfeind- 
schaft machte  den  Kantianer  blind  gegen  die  anderen  Möglich- 
keiten einer  Verbindung  der  Logik  mit  Gott  und  dem  absoluten 
Geiste.    Eben  daher  konnte  sich  die  Selbstbesinnung  des  Kanti- 
aners nicht  auf  sich  selbst,  auf  die  philosophierende  Vernunft,  das 
absolute  Wissen  beziehen;  was  Späteren  unverständlich  erscheinen 
muß:  transzendentale  Selbstbesinnung  ohne  Besinnung  auf  eben 
die  transzendentale  Besinnung,  erfährt  so  seine  vollkommene  hi- 
storische Rechtfertigung;  der  Kantianer  konnte  den  kritizistischen 
Gedanken  nicht  auf  das  philosophische  Wissen  selber  ausdehnen; 
denn  er  wäre  damit  wieder  einem  Absoluten  in  die  Hände  gefallen. 
Die   „Entdeckung"   Hegels  ging  daher   eigentlich   erst  eben  in 
diesem  Augenblick,  in  dem  sie  zugleich  erneuert  und  nicht  er- 
neuert wurde,  wahrhaft  verloren.    Die  logische  Selbstbesinnung 
wurde  daher  —  und   hier  war  der  Anschluß  an  Kant   in  der 
Tat  wirksam  —  auf  die  Erfahrung  und  ihr  Objekt,  die  Sinnen- 
welt,   gerichtet;    später    zwar    befreite    man    sich    von    Kant 
und  schuf  neben  dem  ersten  Objekt  der  Erkenntnistheorie,  der 
Logik  der  Naturwissenschaft,   eine   Logik  der   Geschichte,   der 
inneren  Erfahrung,  der  Kunst,  Religion  usw.;  aber  wie  sehr  man 

Ebrenbcrg',  Die  I'iirtüiung-  der  rhilosophio  2 


18  Objekt  der  Logik 


sich  auch  von  der  Enge  des  Vorbildes  zu  befreien  verstand,  darin 
blieb  man  in  seinem  Bann,  daß  die  transzendentale  Selbstbesin- 
nung nie  auf  sich  selber  gewandt  wurde;  und  dies  soll  uns  als 
das  Kriterium  gelten,  um  die  Grenzen  der  Kantschule  ziehen  zu 
können. 

Die  Geschichte  des  neueren  Kantianismus  wird  sich  uns 
hieraus  entwickeln:  Denn  die  transzendentallogische  Selbstbesin- 
nung, die  nicht  auf  die  Philosophie  selber  geht,  muß  doch  kraft 
dessen,  daß  sie  logische  Selbstbesinnung  ist,  auf  ein  Wissen  ge- 
richtet sein;  d.  h.  sie  muß  immer  in  einer  Erkenntnistheorie  als 
leitendes  Prinzip  auftreten.  So  fordert  sie  alle  die,  welche  wissen, 
zur  Selbstbesinnung  auf,  ausgenommen  den  Philosophen;  d.  h.  die 
Träger  der  empirischen  Wissenschaften.  Die  Erkenntnistheorie  des 
Kantianismus  ist  daher  Theorie  der  Erfahrungs- Wissenschaften, 
deren  System  zum  Ferment  des  erkenntnistheoretischen  Systems 
selber  werden  muß.  Das  Objekt  der  Kantianischen  Logik  deckt 
sich  daher  in  irgendeiner  Weise  mit  dem  System  des  Erfahrungs- 
wissens, und  nur  der  Erfahrung  verleihen  die  apriorischen  Kate- 
gorien Notwendigkeit.  So  kommt  die  Logik  des  an ti positivi- 
stischen Kantianismus  doch  in  die  Nähe  des  Positivismus,  der  ja 
der  erste  Verteidiger  des  Inbegriffs  der  empirischen  Wissen- 
schaften gewesen  ist.  Von  den  beiden  Motiven,  aus  denen  der 
Kantianismus  geschaffen  wurde,  —  dem  antihegelschen  (Bekämp- 
fung der  Metaphysik  im  Logischen)  und  dem  antipositivistischen 
(Bekämpfung  des  Skeptizismus  im  Absoluten)  war  das  anti- 
hegelsche  *  in  den  ersten  Zeiten  der  Kantschule  das  führende 
(obwohl  das  andere  nicht  minder  vorhanden  war).  Hermann 
Cohen,  dem  der  Kantianismus  verdankt,  eine  eigene  Philosophie 
geworden  und  über  den  bloßen  Notschrei:  Zurück  zu  Kant!  hin- 
weggekommen zu  sein,  setzte  die  Erkenntnistheorie  in  diese  inter- 
essante Nähe  zum  Positivismus,  indem  er  die  Tatsächlichkeit 
der  empirischen  Wissenschaft  zum  obersten  Prinzip  seiner  Er- 
kenntnistheorie machte.  Wenn  er  die  ynoMoeig  der  Erfahrungs- 
wissenschaft zu  ergründen  sucht,  so  ist  für  die  gewonnenen  vjio- 
iJeoeig  der  Erfahrung  wieder  die  Tatsächlichkeit  dieser  Erfahrung 
selbst  v:i6deoig.  Daher  haben  bei  Cohen  die  Kategorien  (das 
sind   die    vTio^eoeig    der  Wissenschaften)   an   sich  selber  keine 


Neukantianismus:  Cohen  19 


gegenständliche  Stellung  noch  von  sich  aus  nach  außen  eine 
gegenstandsbildende  Kraft,  sondern  bringen  nur  die  formalen 
Grundkategorien  des  Erfahrungswissens,  wie  Ding,  Kausalität  und 
Gesetzlichkeit,  zum  Bewußtsein.  Wenn  so  die  Erkenntnistheorie 
Cohens  nicht  die  Wirklichkeit,  sondern  die  Wissenschaft  begründet, 
so  ist  sie  speziell  berufen  gewesen,  den  Gegenständlichkeits- 
begriff einsichtig  herauszuarbeiten;  denn  die  Verwechslung  von 
Gegenständlichkeit  und  Gegenständen  war  ihr  von  ihr  selbst  ge- 
radezu unmöglich  gemacht,  als  sie  die  erkenntnistheoretische 
Fragestellung  auf  das  Wissensproblem  beschränkte.  Der  Neu- 
kantianismus sichert  sich  so  dagegen,  daß  ihm  das  Ding  an  sich 
irgendwo  wieder  in  seine  Philosophie  hineinschlüpfen  könne;  und 
desgleichen  hat  er  sich  gegen  eine  absolutierende  Deutung  der 
Kategorien  gewappnet:  die  Bedingungen  der  exakten  Naturwissen- 
schaft sind  schlechthin  nicht  metaphysizierbar.  Darin  besteht 
nun  der  eigentümliche  Wert  der  Cohenschen  Philosophie,  daß  sie  die 
beiden  Motive  des  Kantianismus  ungetrübt  darstellt.  Aus  solcher 
Selbstversicherung  der  Erkenntnistheorie  gegen  Metaphysik  und 
Empirismus  folgen  dann  die  verschiedenen  Besonderheiten,  schein- 
bar Sonderlichkeiten  der  Richtung  Cohens:  zunächst  ihre  ent- 
schiedene Abneigung,  die  transzendentale  Methode  auf  solche 
Gegenstände  anzuwenden,  die  nicht  so  ausschließlich  wie  die 
mathematische  Naturwissenschaft  reine  Wissensgegenstände  sind 
und  bei  denen  ihr  daher  jene  ynö^eoig  für  ihre  vjzo^eoetg  fehlen 
muß;  daher  überhaupt  das  Übergewicht,  das  Mathematik  in  ihren 
Deduktionen  besitzt;  denn  der  Gegenstand  der  Mathematik  hat 
nicht  einmal  als  Ferment  unbedingte  Seinsbedeutung  und  dient 
deshalb  Cohen  als  Urbild  einer  transzendentalen  Begründbarkeit; 
schließlich  ist  zu  diesen  Zusammenhängen  des  erkenntnistheo- 
retischen Kantianismus  mit  der  mathematischen  Naturwissen- 
schaft auch  das  Motiv  zu  Cohens  folgenreicher  Unterscheidung 
der  transzendentalen  von  der  metaphysischen  Apriorität  zu 
rechnen:  vor  Cohen  hatte  man  das  Apriori  als  eine  psychologische 
Realität  angesehen  (Angeborenheit),  ihm  daher  eine  die  Erschei- 
nungswelt organisierende,  also  metaphysische  Kraft  zugesprochen; 
indem  Cohen  die  Naturwissenschaft,  mit  welcher  nicht  Sein  hin- 
gestellt ist  und  die  auch  ihrem  eigenen  Sein  nach  als  gegeben 


20  Objekt  der  Logik 


gedacht  wird,  zum  Wirkungsfeld  des  Aprioris  bestimmte,  konnte 
dieses  nur  zu  denkende  Bedingung  der  naturwissenschaftlichen 
Erkenntnisse  sein:  Bedingung  für  die  Möglichkeit  der  Er- 
fahrung oder  transzendentales  Apriori;  dadurch  also  beseitigte 
Cohen  das  psychologische  Apriori,  welches  für  die  auf  die  Natur- 
wissenschaft eingestellte  Erkenntnistheorie  nicht  einmal  dann  ver- 
wendbar gewesen  wäre,  wenn  Cohen  —  sit  venia  verbi  —  die 
Absicht  gehabt  hätte,  es  zu  erhalten:  Die  z.  T.  scheinbar  so  will- 
kürlichen Ansichten  Cohens  erweisen  so  durchaus  ihren  inneren 
Zusammenhalt,  und  ihre  schroffe  Einseitigkeit  liegt  nicht  in  einer 
individuellen  Bizarrerie,  sondern  in  der  allgemeinen  Auffassung, 
die  der  Kantianismus  vom  Objekt  der  Logik  hat,  seiner  Selbst- 
besinnung des  Erkennens  ohne  Selbstbesinnung  des  Philoso- 
phierens. 

Aber  „eine  Behauptung  über  das  Verhältnis  des  Bewußtseins 
zum  Sein  [ist]  immer  auch  zugleich  eine  Behauptung  über  das 
Sein  selbst"  {Windelhand,  Logik  in  Die  Philosophie  im  Beginne 
des  20.  Jhts.,  I,  183  f.).  Die  reine  Immanenzphilosophie,  die  neben 
Cohen  noch  andere  Vertreter,  welche  sich  noch  enger  als  er  an 
den  Positivismus  anschlössen,  besessen  hat,  erweist  sich  als  eine 
Illusion;  das  Wissensproblem  ist  nicht  isolierbar,  schlägt  immer 
wieder  in  das  Seinsproblem  um.  So  gibt  die  Philosophie  des 
Kantianismus  die  Chimäre  einer  reinen  Erkenntnistheorie  auf  und 
gewinnt  wieder  den  Anschluß  an  die  Geschichte  der  philoso- 
phischen Wissenschaft,  ohne  sie,  wie  Cohen  es  getan  hatte,  zu 
vergewaltigen.  Dieser  Bund  zwischen  modernem  Kantianismus 
und  Geschichte  der  Philosophie  wurde  in  und  von  Windelband  ge- 
schlossen. Ihm  ist  es  gleichgültig,  ob  man  die  Erkenntnistheorie 
auch  Metaphysik  nenne  (ib.),  und  die  begründende  vTio^eoig  der 
V/issenstatsächlichkeit  wird  als  Positivismus  abgestoßen.  So  gibt 
der  Kantianismus  bei  Windelband  nicht  nur  die  einseitige  Be- 
schränkung der  Erkenntnistheorie  auf  die  Logik  der  mathema- 
tischen Naturwissenschaft  auf,  sondern  auch  die  Beschränkung 
der  Transzendental-Philosophie  auf  Erkenntnistheorie.  Die  trans- 
zendentale Selbstbesinnung  expandiert  nach  den  verschiedensten 
Sphären  einer  irgendwie  gearteten  mannigfaltigen  Inhaltlichkeit 
und  strebt,  die  ewigen  Voraussetzungen  der  einzelnen  Mannig- 


Neukantianismus:  Windelband  21 

faltigkeitssphären  festzustellen.  Das  ist  der  allgemeine  Äprio- 
rismus,  dessen  Inhalt  aus  dem  Inbegriff  der  verschiedenen  Apri- 
oris,  der  Werte,  besteht,  die  durch  Analyse  der  Gegenstandsgebiete 
ins  Bewußtsein  gehoben  werden.  Die  einzelnen  Werte  stellen 
so  letzte  Wesenheiten  dar,  und  in  der  Aufgabe,  sich  auf  das 
System  der  Werte  zu  besinnen,  erhält  die  Philosophie,  zum  ersten- 
mal nach  der  zerstörten  Spekulation,  eine  umfassende  und  das 
§avfidCeiv  erregende  Bestimmung.  Der  theoretische  Wert  um- 
schreibt dann  das  Objekt  der  logischen  Disziplin,  welche  somit 
nicht  mehr  das  Zentrum  der  Transzendental-Philosophie  bilden 
soll,  sondern  sich  mit  einem  Kapitel  derselben  zu  begnügen  hat. 
Obwohl  so  das  Objekt  der  Logik  eingeschränkt  scheint,  wachsen 
ihm  in  sich  selbst  bedeutende  Inhalte  zu:  Da  es  nicht  mehr  nur 
die  Begründung  der  Erkenntnis,  sondern  die  jeder  seienden  Gegen- 
ständlichkeit, insofern  sie  sich  in  einem  Bewußtsein  spiegelt,  zu 
leisten  hat,  gehören  zu  ihm  ebenso  die  nichtv/issenschaftliche 
Erkenntnis  wie  die  wissenschaftliche,  ebenso  die  innere  Erfahrung 
wie  die  äußere,  ebenso  die  Geistes-  wie  die  Naturwissenschaften. 
Da  gibt  es  nun  Aprioris,  die  in  ihrer  Anwendung  auf  ihrem  em- 
pirischen Stoff  sich  nicht  so  klar  abgesondert  von  demselben 
niederlassen  wie  das  mathematische  Naturgesetz  neben  dem  Natur- 
geschehen, sondern  unmittelbar  in  die  Tatsachen  selber  hinein- 
schlüpfen:  das  psychische  Erleben,  das  historisch  führende  Fak- 
tum. Gewinnt  so  die  Apriorität  einerseits  die  in  den  eigenen 
Reihen  der  Kantianer  mit  Recht  viel  gerühmte  Ausdehnung  auf 
das  Individuelle,  so  kann  sie  andererseits  die  streng  abgeschiedene 
Nur-Begrifflichkeit  (Transzendentalität)  nicht  wahren,  sondern 
nähert  sich  mehr  und  mehr  wieder  einer  transzendenten  Sphäre. 
Die  Absolutheit  der  Werte  ist  deshalb  Windelband  immer  bedeut- 
samer gewesen  als  der  Streit  um  die  metaphysische  oder  nicht- 
metaphysische Struktur  des  Aprioris.  Gleichwohl  hält  er  sich 
die  frühere  Metaphysik  fern,  da  die  absolute  Sphäre,  welche  er 
anerkennt,  nicht  eine  Seins-,  sondern  eine  Geltungssphäre  ist. 
Und  in  diesem  von  Lotzc  übernommenen  Kriterium  für  die  ab- 
solute Gegenständlichkeit  zeigt  sich  nun  von  neuem  das  kaji- 
tianische  Wesen:  Obwohl  mit  dem  Begriff  des  Systems  der 
Werte  das  antipositivistische  Motiv  das  antihegelsche  überflügelt 


22  Objekt  der  Logik 


hat,  SO  sind  doch  die  statuierten  Absolutheiten  in  strenger  Ab- 
sonderung vom  Seienden  angesehen,  und  in  keiner  Weise  werden 
ihnen  die  Mannigfaltigkeiten  ihrer  Sphären  an  ihnen  selber  zu- 
gesprochen. Nicht  die  Mannigfaltigkeiten  selber,  sondern  nur 
ihre  absoluten  Möglichkeitsvoraussetzungen  sind  Gegenstand  des 
Systems  der  Werte;  der  antihegelsche  Zug  bleibt  bestehen,  die 
Methode  der  Wert-Deduktionen  ist  die  Methode  der  transzenden- 
talen Selbstbesinnung.  So  jedoch  ist  kein  Unterschied  mehr 
zwischen  der  speziell  erkenntnistheoretischen  Fragestellung  und 
etwa  der  Grundfrage  der  Ästhetik.  Und  es  gibt  in  dem  System 
der  Werte  als  dem  System  der  Voraussetzungen  der  Gegenstands- 
mannigfaltigkeiten (die  ihrerseits  nur  empirisch  erfaßt  werden 
sollen)  ein  Gemeinsames  zwischen  den  Objekten  der  transzenden- 
talen Deduktionen,  ein  Band  der  Einheit,  das  erst  die  gleich- 
mäßige Anwendung  der  Selbstbesinnungsmethode  ermöglicht. 
Das  ist  die  Einheit  der  Werte  als  Kultur.  Die  Besinnung  auf 
die  Werte  ist  dann  die  Besinnung  auf  die  den  verschiedenen 
Kultursphären  zugrunde  liegenden  ewigen  Wesenheiten,  „die  Be- 
sinnung auf  die  Kulturwerte  .  .  .,  deren  Allgemeingültigkeit  der 
Gegenstand  der  Philosophie  selbst  ist"  (Schlußworte  aus  Win- 
delbands Geschichte  der  Philosophie).  Und  so  erkennen  wir, 
was  denn  das  Selbst  ist,  das  sich  hier  auf  sich  selbst  besinnt: 
die  Knlturmenschheit.  Die  absoluten  Werte  sind  mithin  nicht 
das  Letzte  in  der  Philosophie  Windelbands,  sondern  setzen  ihrer- 
seits die  Tatsächlichkeit  der  Kultureinheit  (das  Kulturbewußt- 
sein), innerhalb  welcher  sie  erst  zu  einem  „System"  von  Werten 
werden,  voraus.  Gerade  als  wissenschaftliche  Philosophie,  als 
welche  die  Kulturphilosophie  mit  dem  transzendentalen  Idea- 
lismus zusammenfällt,  wird  Philosophie  „auf  das  Verständ- 
nis der  geschichtlich  vorgefundeneyi  oder  gegebenen  Kultur"  be- 
schränkt (Kulturphilosophie  und  transzendentaler  Idealismus, 
Logos  I,  2,  186  f.).  An  die  Stelle  des  naturphilosophischen  Dog- 
mas Cohens  tritt  das  allerdings  unvergleichlich  universellere 
kulturphilosophische  Dogma  Windelbands,  dem  aber  mit  dem 
Dogma  Cohens  gemein  ist,  daß  es  für  die  letzten  Formen  eine 
Tatsache  als  Voraussetzung  nimmt,  wodurch  dann  die  Formen 
nicht    über    Bedingungen    einer    Tatsache    hinauswachsen    kön- 


Neukantianismus:  Windelband  23 

nen*);  obwohl  also  Windelbands  Standpunkt  nicht  metaphysikfeind- 
lich ist  und  das  System  der  Werte  als  Resultat  der  philosophie- 
historischen Gesamtentwicklung  auffaßt,  ist  dasselbe  doch  konse- 
quenter Kantianismus,  da  ebensowenig  wie  die  Tatsache  der  Na- 
turwissenschaft die  der  Kultur  die  Aprioritäten  sich  als  selbstän- 
dige Wesen  statuieren  läßt;  dieselben  unterstehen  der  Bedin- 
gung einer  rein  tatsächlichen  Wirklichkeit;  und  die  ganz  gleich- 
mäßige Auflösung  der  „philosophischen  Fragen  in  Geltungs- 
probleme" führt  zwar  zu  Aprioritäten,  aber  nur  zu  solchen,  welche 
bei  aller  begründenden  Bedeutung  als  Faktoren  nur  des  Kultur- 
bewußtseins, seiner  allgemeingültigen  Inhalte  (nicht  der  Welt 
oder  Gottes),  daher  als  ganz  spezifisch  wissenshegründende  Be- 
griffe wirken;  daher  erscheint  Windelband  Kulturphilosophie 
als  Leistung  des  Kritizismus  (a.  a.  0.  193),  indem  Transzendental- 
und  Kulturphilosophie  beide  Ausflüsse  des  synthetischen  Bewußt- 
seinsvermögens und  so  eigentlich  Tautologien  desselben  Wesens 
sind  (a.  a.  0.  191).  Windelbands  Begriff  der  konstitutiven  Ka- 
tegorie ist  daher  in  allen  Deduktionen  von  Werten  der  grund- 
legende Begriff;  und  es  zeigt  sich,  daß  die  Idee  des  Wertesystems 
auf  die  innere  Vorherrschaft  der  bew^ußtseinslegitimierenden  Not- 
wendigkeit, des  erkenntnistheoretischen  Kategoriebegriffes  auf- 
gebaut ist;  denn  die  „Vernunfttätigkeit  .  .,  die  als  Wissenschaft 
eine  Neuschöpfung  der  Welt  aus  dem  Gesetz  des  Intellekts  be- 
deutet, ist  von  genau  derselben  Struktur,  wie  alles  praktische 
und  ästhetische  Verhalten  des  Kulturmenschen"  (a.  a.  0.  192). 
Das  System  der  Philosophie  untersteht  infolge  seiner  kulturphilo- 
sophischen Auffassung,  welche  scheinbar  den  Zusammenschluß 
der  Werte  in  einem  Absoluten  bewirkt,  jedoch  ihre  Vereinigung 
in  einem  wirklichen  Absoluten  gerade  durch  diesen  Zusammen- 
schluß als  überflüssig  erscheinen  läßt,  dem  Primat  des  Bewußt- 
seinsaprioris,  d.  h.  der  logischen  Disziplin,  durch  den  die  ge- 
schlossene Reihe  der  nebeneinanderstehenden  Einzelwerte  durch- 


*)  Dllher  kommt  Cohen,  sobald  er  zu  einer  mehrgliedrig-en  Philosophie 
übergeht,  zu  ähnlichen  Begriffen,  wie  sie  AVindelband  zu  Grunde  legt;  in  der 
Einleitung  zur  „Logik  der  reinen  Erkenntnis-'  scheint  er  sich  fast  an  diesen 
anzuschließen. 


24  Objekt  der  Logik 


brochen  und  ihre  gleichmäßige  Aufhebung  in  der  Kultureinheit 
unmöglich  wird. 

Und  dann  muß  an  die  Stelle  des  Systems  der  Werte,  obwohl 
dasselbe  von  sich  aus  die  Vorherrschaft  der  theoretischen  Sphäre 
bekämpft,  doch  wieder  eine  einseitig  erkenntnistheoretisch  orien- 
tierte Richtung  treten;  sie  muß  aus  jenem  selber  hervorwachsen, 
indem  die  Behandlung  des  logischen  Wertes  die  der  anderen  Werte 
an  Wichtigkeit  grundsätzlich  übertrifft.    Das  Objekt  der  Logik, 
die  Kategorie,  besitzt  dann  aber  einen  zweifachen  Ort  des  Vor- 
kommens: einerseits  wie  seither  den  des  theoretischen  Wertes, 
andererseits  den  des  Wertes- überhaupt.    Die  eigentlich  nur  lo- 
gische Relation   von  Bewußtseinsinhalt  und  Bewußtseinsgegen- 
stand ist   zugleich  die  „Idee"  aller   Aprioritäten ;  und  die  Er- 
kenntnistheorie  gibt   daher   in    den    vermeintlich  nur   erkennt- 
nistheoretischen Deduktionen   die   Grundlagen  für  die   gesamte 
Philosophie.     Die   Kategorie   ist  daher   ganz  allgemein   gegen- 
standsbestimmende Begriffheit;  die  erkenntnistheoretische  Frage- 
stellung darf  an  keinem  Werte  vorbeigehen,  bildet  daher  die  im 
Kreise  Bickerts  entstandenen  „Logiken"  der  Kunst-,  Religions- 
und Kultursphären.    Für  alle  Werte  verleiht  die  Kategorie  den 
Allgemeingültigkeitscharakter  und  wird  so  —  Hegel  redivivus! 
—  als  der  Begriff  der  Fhiloso'phiegegenstände  verstanden.    Daher 
erledigt  die  allgemeine  Wertlehre,  da  sie  in  der  Kategorie  ihren 
Grundbegriff  hat,  zugleich  diejenige  Disziplin,   welcher  der  Ka- 
tegoriebegriff  zugehört,   die   Erkenntnislehre.     Und   indem   da- 
durch der  Abstieg  vom  Wert -überhaupt  zum  theoretischen  Wert 
zugebaut  ist,  fehlt  dem  einseitig  logisch  erfaßten  Wertbegriff 
die  Fähigkeit,  sich  in  ein  System  von  Werten  zu  zergliedern;  und 
so  wenig  der  Abstieg  zum  theoretischen  Wert  freiliegt,  so  wenig 
öffnet  er  sich  zu  den  anderen  Einzelwerten;  die  allgemeine  Er- 
kenntnislehre als   allgemeine  Wertlehre  bleibt  allein   (Bickerts 
„Gegenstand  der  Erkenntnis").     Die  allgemeine  Wertlehre  hat 
so  das  zum  Inhalt,  was  schon  im  Kategoriebegriff  enthalten  ist, 
d.  i.  die  Scheidung  von  Urteilsgeltung  und  Urteilstatbestand  seil. 
Wertgeltungen  und  Werttatbeständen,  und  findet  dann  wesentlich 
das  Gegenstandsall  in  die  Welt  des  Geltens  und  die  der  (psycho- 
physischen)  Tatsachen  getrennt. 


Neukautiani8mus:»Rickert  25 


Das  ist  jetzt  das  Objekt  der  Logik.  Der  Formalismus,  der 
aus  dem  Wesen  der  transzendentalen  Selbstbesinnung  stammte 
und  im  Kategoriebegriff  niedergelegt  war,  wird  so  in  den  Be- 
griffen des  Wertes  -  und  des  Seins  -  überhaupt  konzentriert; 
die  eigentlich  konstitutive  Schicht  des  rein  Apriorischen,  welches 
von  der  allgemeinsten  Wertlehre  bereits  umfaßt  sein  soll,  wird 
daraufhin  mehr  und  mehr  zusammengepreßt,  und  immer  mehr 
Teile  derselben  werden  in  die  methodologischen  Adnexe  abge- 
stoßen; z.B.  das  Natui'gesetz,  dem  Windelband  unbedenklich  kon- 
stitutive Kategorialität  beigemessen  hat;  wenn  jetzt  aber  Rickert 
die  Gesetzeskategorie  in  das  methodologische  Gebiet  abschiebt,  so 
drückt  sich  darin  aus,  daß  eigentlich  nicht  mehr  die  einzelnen 
Werte,  sondern  nur  die  Werthaftigkeit  -  überhaupt  Gegenstand 
der  transzendentalen  Selbstbesinnung  ist.  Bezeichnenderweise 
sucht  Rickert  diese  Auffassung  auch  in  Kant  hineinzudeuten, 
s.  Zschokke,  Kantstudien,  XII,  1907,  157 ff.*).  Eine  solche  Kraft 
besitzt  hier  das  Erkenntnisproblem,  daß  es  die  Spezialsphäre  des 
theoretischen  Wertes,  welcher  es  zunächst  angehört,  zur  be- 
herrschenden Sphäre  aller  Werte  erhöht.  Am  ausgesprochensten 
ist  diese  Wiederholung  der  Hegelianischen  Identifikation  von  lo- 
gischem und  allgemein  philosophischem  Gegenstand  in  Rickert, 
Zwei  Wege  der  Erkenntnistheorie  (Kantstudien,  1909,  169  ff.) 
ausgesprochen:  „Die  Formen  der  wirklichen  Erkenntnis  haben 
den  Formen  des  transzendenten  Sinnes  zu  entsprechen.  Jene 
theoretischen  Werte  also,  die  unbedingt  gelten,  sind  der  trans- 
zendentale Gegenstand"  (209),  so  daß  für  das  Objekt  der  Logik 
an  die  Stelle  der  theoretischen  Werte  ihre  Realisationen,  die 
wii'klichen  Erkenntnisse,  treten  und  „nur  auf  den  (janzen  Sinn 
in  seiner  Einheit  ...  die  Untersuchung  der  Erkenntnistheorie 
zunächst  gerichtet  sein"  (200)  soll.  Dann  sind  zwar  alle  erkennt- 
nis„kritischen"  Grenzsetzungen  abgelehnt,  aber  auf  Kosten  da- 
von, daß  die  Kategorie,  das  Objekt  der  Erkenntnistheorie,  dem 


♦_)  Vgl.  besonders  „Gegenstand  der  Erkeuntuis" 2,  1904,  216  Anni.;  beieila 
ganz  entinhaltlicht  ist  die  konstitutive  Kategorie  später  l)ei  J.  Cohn,  Voraus- 
setzungen und  Ziele  des  Erkennens,  1908;  s.  420 f.:  Es  gibt  nicht  zwei  Arten 
von  Kategorien,  sondern  eine  konstitutive  Bedeutung  für  die  Wirklichkeit  und 
eine  methodologische  für  die  Wissenschaften. 


26  Objekt  der  Logik 


theoretischen  Wert  als  realisiertem  —  d.  h.  wie  er  als  das  Ganze 
des  Sinnes  da  ist  —  gleichgesetzt  und  das  logische  Apriori  wirk- 
lich das  Apriori  jedes  Gegenstandes  ist. 

Aber  in  der  Absicht  bleiben  die  einzelnen  Sphären  neben  der 
allgemeinen  Wertsphäre  stehen,  und  so  muß  die  Logik  in  der  Tat 
sich  an  zwei  Orten  zeigen:  ihr  Objekt  umfaßt  einmal  die  all- 
gemeine „Grundlegung"  über  Wert  und  Sein,  Sinn  und  Sinnfremd- 
heit u.  dergl.,  hat  dann  aber  auch  die  Theorie  des  Seinserkennens 
darzustellen.  Die  beiden  Grundmotive,  die  den  Kantianismus  ins 
Leben  gerufen  haben,  lassen  sich  auf  diese  beiden  Objekte  der 
Logik  verteilen:  dort  —  in  der  allgemeinen  Wertwissenschaft  — 
herrscht  der  antihegelsche  Zug  des  Formalismus,  hier  —  in  der 
Erfahrungstheorie  —  der  antipositivistische  Zug  des  Apriorismus; 
nach  beendeter  Entfaltung  des  Kantianismus  haben  sich  seine 
beiden  Grundmotive  so  wenig  verschmolzen,  daß  sie  die  Logik, 
deren  Objekt  zerreißen  und  zwei  Logiken,  zwei  Kategoriensysteme 
nebeneinanderstellen:  Die  Logik  der  Geltungsbegriffe  und  die  der 
Seinserkennensbegriffe.  Lask  ist  der  Urheber  dieser  Spaltung 
(Die  Logik  der  Philosophie  und  die  Kategorienlehre,  1911).  Das 
Neue  in  diesem  Gedanken  liegt  darin,  daß  die  Allgemeine  Wert- 
v/issenschaft  ausdrücklich  als  Logik  erkannt  wird.  Sie  ist  Logik 
in  dem  Sinne,  in  welchem  der  Kantianismus  Logiken  kennt:  d.  h. 
der  Erkenntnistheoretiker  besinnt  sich  auf  die  Voraussetzungen 
gewisser  Gegenständlichkeiten,  die  anerkannt  werden.  Die  Me- 
thode ist  die  alte;  der  Gegenstand  ist  neu:  die  philosophischen 
Geltungsbeziehungen,  welche  somit  den  Inhalt  der  allgemeinen 
Wertwissenschaft  als  Logik  ausmachen  sollen.  So  gibt  es  nach 
Lask  eine  Logik  für  „die  eine"  und  eine  Logik  für  „die  andere" 
der  beiden  Welten  —  nämlich  für  die  Seins-  und  die  Geltungs- 
welt. Der  zukunftsreiche  Gedanke  einer  Logik  der  Fhilosophie 
entsteht  mithin  dadurch,  daß  der  Begriff  der  Philosophie  —  so 
paradox  das  zuerst  klingen  muß  —  nicht  logisch,  sondern  ma- 
terialiter  gedacht  wird.  Es  gibt  jetzt  eine  Logik  der  Philosophie, 
so  wie  es  vorher  eine  Logik  der  Natur,  der  Geschichte,  der  Kunst 
usw.  gegeben  hat;  die  Philosophie  ist  insofern  zum  Gegenstand 
transzendentaler  Selbstbesinnung  gemacht,  als  es  im  System  der 
Mannigfaltigkeiten   neben   Natur-,    Geschichtsmannigfaltigkeiten 


Neukantianismus :  Lask 


USW.  auch  die  Mannigfaltigkeit  des  philosophischen  Erkennens 
gibt.  Vielleicht  könnte  man  zweifeln,  ob  diese  Interpretation 
berechtigt  ist;  aber  sie  verliert  jede  Bedenklichkeit,  sobald  wir 
Lasks  Stellung  zum  Problem  der  reflexiven  und  konstitutiven 
Kategorien  beachten.  Nach  Lask  harmoniert  mit  der  Aufgabe 
einer  Logik  der  Philosophie  nur  die  konstitutive  Kategorie;  die 
reflexiven  Kategorien,  die  bloß  für  „Etwas"  gelten,  sind  Ge- 
bilde künstlicher  Abstraktion;  die  echten  Kategorien  dagegen 
müssen  die  Gegenständlichkeiten  „anzeigen",  als  deren  Möglich- 
keitsbedingungen sie  durch  die  transzendentale  Besinnung  be- 
griffen werden;  das  ist  der  Grund,  der  die  reflexiven  Kategorien 
entwertet.  (Die  Bemerkung  Lasks,  164,  in  welcher  er  es  als 
„ein  unberechtigtes  Vorurteil"  bezeichnet,  „daß  die  Kategorien 
stets  nur  auf  die  Inhaltlichkeit  innerhalb  einer  Sphäre  berechnet" 
seien,  ist  nur  eine  interne  Bereicherung,  keine  Einschränkung 
seiner  ausschließlichen  Bevorzugung  der  gegenstandsbestimmten 
Kategorie.)  Weil  die  Subjektskategorien  (der  reflexiven  Sphäre) 
keine  Gegenständlichkeiten  anzeigen,  sind  sie  nicht  selbst  Gegen- 
stand einer  transzendentalen  Wertbesinnung  (Lask,  67);  mag 
ihnen  im  übrigen  auch  der  Charakter  der  Geltungsartigkeit  nicht 
verweigert  werden  (142),  so  besitzt  doch  eine  „künstliche"  Wert- 
haftigkeit  für  uns  nicht  das  Gelten  des  Geltens;  nur  die  konstitu- 
tiven Kategorien  zeigen  die  zu  verlangende  spezifische  Richtung 
auf  das  Nichtsinnliche,  „das"  Material  der  Philosophie  (Lask, 
137).  Jedoch  das  „Homunculusgebilde"  der  Reflexiv-Kategorie 
(Lask,  150)  wird  uns  bald  belehren,  wie  wir  von  Kreaturen,  die 
wir  machten,  am  Ende  doch  abhängen.  Denn  wir  fragen  nun, 
wie  die  einzelnen  Kategoriearten  sich  nach  den  Gegenständen 
differenzieren  können,  ohne  daß  die  Kategorien  aus  dem  Inhalt 
einer  Logik  der  Philosophie  austreten  würden  und  damit  aufhörten 
Kategorien  zu  sein,  oder  ohne  daß  sie  mit  jenen  Gegenständen, 
d.  h.  den  obersten  Begriffen  der  einzelnen  Sphären  zusammen- 
fielen und  damit  die  einzelnen  Werte  (schön,  gut  usw.)  zu  Ka- 
tegorien würden.  Wodurch  unterscheidet  sich  also  Lasks  Logik 
der  Philosophie  von  dem  System  der  Werte  selbst,  wenn  ihre 
Inhalte  wesentlich  die  konstitutiven  Aprioritäten  der  Wertsphären 
darstellen  sollen?    An  diesen  Fragen  scheitert  die  Logik  Lasks 


28  Objekt  der  Logik 


und  schweigt,  weil  sie  die  Logik  der  Philosophie  als  Selbst- 
besinnung auf  eine  bestimmte  Gegenstandsart  konzipierte,  in  dem 
Begriff  Philosophie  aber  nicht  solche  Bestimmtheit  einer  Gegen- 
standsart zum  Unterschiede  von  anderen  findet  (sondern  viel- 
mehr die  Beziehung  auf  alle  Werte  seil.  Gegenstände).  Jedoch  in 
diesem  Widerspruch  besteht  gerade  die  absolute  Stellung  der 
Logik  Lasks  in  der  Geschichte  der  Philosophie;  denn  die  Voraus- 
setzungen des  ganzen  neueren  Kantianismus  werden  hier  offenbar: 
Wir  sind  nun  in  den  Stand  gesetzt,  dem  transzendentallogischen 
Gesichtspunkt,  der  Kant,  Hegel  und  den  neueren  Kantianern  ge- 
meinsam ist,  eine  grundsätzliche  Kritik  widmen  zu  können:  Bei 
Kant  selber  war  die  Kategorie  (das  Objekt  der  Logik),  weil  üire 
Bedeutung  in  ihrer  transzendentalen  Anwendbarkeit  lag,  der 
außerlogische  Gegenstand  der  Sinnenwelt  (der  transzendentale 
Grundsatz  als  die  Sache  der  Kategorie);  bei  Hegel  war  die  Ka- 
tegorie, weil  ihr  Wesen  Selbstbewußtsein  hieß,  kongruent  dem 
absoluten  Subjekt,  dem  außer-  oder  überlogischen  Gegenstand 
des  absoluten  Geistes;  im  Neukantianismus  ist  die  Kategorie 
zwar  weder  mit  einem  einzelnen  bestimmten  Objektskreis  (Kant) 
noch  mit  der  absoluten  Totalität  aller  Kreise  (Hegel)  vereinigt, 
aber  wenn  auch  abgesondert  von  den  Gegenstandssphären,  so 
doch  nur  in  der  transzendenten  Beziehung  auf  sie  genommen; 
die  transzendentale  Methode  gilt  dann  nicht  mehr  als  gegen- 
standsschaffendes, nur  noch  als  gegenstandsfindendes  Prinzip; 
sie  ist  die  Methode,  die  überall  anwendbar,  überall  zur  Bloß- 
legung der  konstituierenden  Elemente  führen  soll.  Dann  trifft 
sie,  nachdem  sie  durch  die  einzelnen  Sphären  hindurchgewandert 
ist,  auch  die  Sphäre  der  allgemeinen  Wertwissenschaft,  faßt  sie 
wesentlich  als  neue  Einzel-Sphäre,  in  die  ebenso  wie  in  die  anderen 
Sphären  die  transzendentale  Besinnung  einzugreifen  hat,  und  be- 
denkt nicht,  daß  man  mit  ihr,  weil  sie  die  Allgemeine  Philosophie 
ist,  alle  anderen  Einzelsphären  von  neuem  mit  dem  transzenden- 
talen Akte  trifft  und  so,  wenn  man  nicht  in  dieser  letzten  Sphäre 
nur  das  zergliedert,  was  sie  mit  den  anderen  Sphären  nicht  ge- 
mein hat,  man  in  ihr  nicht  nur  die  Logik  des  philosophischen 
Wertes,  sondern  auch  die  aller  einzelnen  anderen  Werte,  das 
gesamte  System  der  Werte  in  seinen  konstitutiven  Elementen  er- 


Antikantianismus  29 


hält.  Da  hat  also  die  transzendentale  Methode  nacheinander 
alle  Gegenstandskreise  durchlaufen;  jeder  hat  etwas  in  ihr  und 
ihrem  Hauptbegriff,  dem  der  Kategorie,  zurückgelassen;  dieser 
ist  mit  den  Säften  aller  Wesen  geschwängert;  da  ergibt  sich  ent- 
weder innerhalb  des  Gegenstandes  der  Logik  ein  Spiegelbild  der 
ganzen  Welt  (Lask),  oder  die  ganze  Welt  erscheint  als  Spiege- 
lung eines  Kategoriensystems  (Ehrenberg,  Kants  Kategorientafel 
und  der  systematische  Begriff  der  Philosophie,  Kantstudien,  1909, 
392—439).  Die  Logik,  das  Kategoriensystem,  ist  von  neuem 
so  gebildet,  daß  sie  zur  Wissenschaft  von  allem  wird;  und  der 
lange,  mühsame  Weg,  den  der  Kantianismus  gemacht  hat,  um  den 
Hegeischen  Irrtum  zu  berichtigen,  scheint  vergebens  gewesen  zu 
sein.  Aber  dem  ist  doch  nicht  so;  denn  es  müssen  nur  die  Keime, 
die  in  der  letzten  Gestalt  der  kantianischen  Richtung  ruhen, 
zum  Wachsen  gebracht  werden,  um  jeden  Logismus,  ebenso  den 
Hegels  als  auch  den  Lasks  oder  den  des  zitierten  Kantstudienauf- 
satzes endgültig  zu  entfernen. 

So  ist  also  das,  was  in  der  ursprünglichen  Anlage  des  Kan- 
tianismus ein  Widerspruch  der  Motive  gewesen  ist,  ein  Wider- 
spruch innerhalb  der  Logik  geworden,  ein  Widerspruch,  der  uns 
die  Unzulänglichkeit  des  Kantianischen  Begriffs  von  der  Philo- 
sophie selber  enthüllt.  Nachdem  wir  aber  verstanden  haben,  daß 
Logik  der  Philosophie  heißt:  Logik  der  allgemeinen  Wertwissen- 
schaft, sehen  wir  die  Logik  der  Philosophie  auf  einem  anderen 
Niveau  stehen  als  die  Logik  des  Seinserkennens;  es  ist  deshalb 
unvermeidlich,  daß  gerade  die  Anhänger  Lasks  aus  ihm  die  von 
ihm  selbst  nicht  gewollte  Konsequenz  ziehen,  daß  seine  I/Ogik 
der  Philosophie  allgemeine  Grundlegung  aller  Philosophie  sei; 
die  Logik  des  Seinserkennens  kommt  dann  in  eine  Linie  mit  den 
anderen  Theorien  der  Wertbesinnung,  die  so  insgesamt  unterhalb 
der  Logik  der  Philosophie  stehen.  Damit  aber  wird  der  Nerv 
des  Kantianismus  getötet:  die  Erkenntnistheorie  aus  der  Mitte 
zwischen  Positivismus  und  Metaphysik  gestoßen.  Das  anti- 
hegelsche  Motiv  zwar  bleibt,  aber  das  antipositivistische  fällt 
fort;  denn  in  dem  Augenblick  ist  es  gegenstandslos  geworden,  in 
dem  die  transzendentale  Selbstbesinnung  einen  Gegenstand  in 
Angriff  nimmt,  den  der  Positivismus  nicht  empiristisch  deuten 


30  Objekt  der  Logik 


kann,  weil  er  ihn  überhaupt  nicht  kennt,  den  Gegenstand: 
Philosophie.  So  bleibt  allein  die  Logik  der  Philosophie  als 
Logik  zurück,  d.  h.  diese  darf  jetzt  nur  das  zum  Ohjekt 
haben,  was  sie  befähigt,  allgemeiner  Teil  der  Philosophie  zu 
sein:  die  Theorie  des  Erkennens.  Logik  der  Philosophie  heißt 
jetzt  Logik  der  Form  Philosophie  —  nicht  mehr  Logik  des 
Gegenstands  Philosophie;  die  transzendentale  Selbstbesinnung  ist 
nicht  mehr  materialiter  orientiert,  sondern  ergreift  jetzt  als 
Gegenstand  des  Besinnens  die  transzendentale  Selbstbesinnung, 
die  Methode  des  Philosophierens  selber;  und  es  wird  bewußt,  daß 
eine  Logik  der  Philosophie  sich  nicht  auf  eine  Aufteilung  der 
Objekte:  hier  Sein,  dort  Nichtsein!  gründen  kann,  da  diese  Auf- 
teilung selbst  bereits  eine  Anwendung  dessen  darstellt,  worauf 
sich  der  Logiker  der  Philosophie  besinnt:  die  MöglichJceit  der 
philosophischen  Erlienntnis. 

III 

Wir  haben  daher  jetzt  den  Begriff  der  Logik  der  Philosophie, 
in  dem  sich  Kantianismus  und  Hegelianismus  gefunden  haben*), 
von  Grund  aus  neu  zu  formen,  und  beginnen  dabei  mit  den  Ver- 
änderungen, die  der  bloße  Gedanke  einer  Logik  der  Philosophie 
bewirkt: 

Er  durchbricht  das  Dogma  vom  Kopernikanischen  Standpunkt, 
d.  i.  die  Ansicht,  daß  Erkenntnis  und  Gegenstand  Eins  sind;  denn 
er  schafft  eine  Sphäre  für  die  Erkenntnis  des  Erkennens  selber**). 
Er  durchbricht  die  stereotyp  von  Zeit  zu  Zeit  wiederholte  Forde- 
rung einer  überreflexiven  Philosophie;  denn  er  reflektiert  sogar 
über  die  Reflexion  und  wird  sich  dadurch  seiner  reflexiven  Art 
überreflexiv  bewußt.  Er  macht  den  zähe  festgehaltenen  Begriff 
der  konstitutiven  Kategorie  unmöglich;  denn  er  deduziert  solche 


*)  Von  Hegelianischer  Seite  her  bei  Croce  und  bei  Ehrenberg  (Kantstudien, 
1909,  435)  ausgesprochen. 

**)  S.  Busserl,  Logische  Untersuchungen,  1900,  I,  229,  wo  betont  wird, 
daß  „die  Wahrheiten,  die  von  Wahrheiten  gelten,  nicht  zusammenfallen  mit  den 
Wahrheiten,  die  von  den  Sachen  gelten,  welche  in  jenen  Wahrheiten  gesetzt 
sind".  Das  Kopemikanische  Dogma  dagegen  duldet  kein  Gebiet  des  Erkennens, 
das  nicht  zugleich  Gegenstandsgebiet  ist. 


Die  eigene  Ansicht  31 


Begriffe,  welche  als  Formen  alles  Philosophierens  nicht  mehr  be- 
stimmte Gegenstandswerte  darstellen  können. 

So  gilt  die  Selbstbesinnung  jetzt  dem  Element  des  Selbst- 
besinnens selber,  d,  h.  dem  gegenstandsunbestimmten,  reinen 
Denken.  Das  Kategoriensystem  kann  nur  solche  Denkformen 
enthalten,  in  denen  die  Kraft  der  Wirklichkeitsfremdheit  so  groß 
ist,  daß  sie  noch  nicht  irgendwie  die  wirklichen  Gegenstände  der 
Erkenntnis  antizipieren.  Gerade  in  der  Vorurteilslosigkeit  der 
Kategorie,  in  ihrer  Unbeschriebenheit  liegt  die  Gewähr  für  ihre 
Benutzbarkeit;  die  höchste  Spannung  zwischen  Kategorie  und 
Erkenntnisinhalt  erzeugt  erst  den  „Gegenstand  der  Erkenntnis". 
Das  bedeutet  allerdings  eine  vollständige  Umwertung  der  bisher 
blind  vergötterten  transzendentallogischen  Fragestellung;  und  mit 
dem  Antihegelianismus  wird  erst  dadurch  wahrhaft  Ernst  ge- 
macht, daß  die  Kategorie  sich  den  Gegenständen  wahrhaft,  näm- 
lich in  deren  Totalität  entgegensetzt.  Die  bisherigen  sog.  kon- 
stitutiven Kategorien  werden  zu  abgeleiteten  Formen  herab- 
gedrückt; aus  den  reinen  Formen  des  sich  selbst  denkenden 
Denkens  sind  sie  abgeleitet;  die  im  Kantianismus  nie  ganz  ver- 
meidbaren „Übertragungen"  von  Kategorien  einer  Sphäre  auf 
Kategorien  einer  anderen  Sphäre  verschwinden  jetzt  gänzlich; 
und  des  Begriffs  Kategorie  können  nur  diejenigen  Denkinhalte 
gewürdigt  werden,  die  für  jedes  und  alles  Geltungskraft  besitzen, 
die  bisher  sog.  reflexiven  Kategorien.  Etwas  bisher  Verachtetes: 
die  Allanwendbarkeit  wird  für  die  wahren  Kategorien  ihre  grund- 
legende Qualität;  die  abgeleiteten  Kategorien  dagegen  gehören 
in  „ihre"  Disziplinen  und  verdienen  daher  in  keiner  Weise  die 
Einschätzung  als  Kategorien.  Viele  Begriffe  allerdings,  welche 
bis  jetzt  dem  Bestände  der  konstitutiven  Kategorien  zugerechnet 
wurden,  erweisen  sich  als  bloße  Verstofflichungen  und  Ablei- 
tungen einer  zugrunde  liegenden  reinen  Kategorie,  z.  B.  die  Kau- 
salitätskategorie, die  nicht  minder  für  jedes  und  alles  gelten 
kann  als  die  Kategorie  des  Etwas.  Wie  aber  soll  bei  einer  solchen 
Entfernung  der  Kategorie  von  den  Gegenständen  dem  Ein- 
schleichen von  leeren,  abstrakten  Begriffsschemen  gewehrt 
werden?  wenn  im  Verhältnis  der  außerlogischen  Gegenstände 
und  der  Kategorien   die  reine  Willkür  eines  gegenstands-unbe- 


Objekt  der  Logik 


stimmten,  reflexiven  Denkens  herrschen  soll!  Dieses  Bedenken 
kann  allein  dadurch  aufgelöst  werden,  daß  seine  Nichtigkeit  ein- 
gesehen wird.  Bekommt  doch  die  Kategorie  erst  dadurch  ihre 
Geltungskraft,  daß  sie,  trotzdem  sie  ein  bloßer  Denkbegriff  und 
insofern  unfähig  zur  Gegenstandsbestimmung  ist,  gerade  nur  als 
bloßer  Denkbegriff  so  rein  ist,  um  zur  unverfälschenden  Er- 
kenntnis der  Wirklichkeit  verwendbar  zu  sein.  Die  Objektivität 
der  Kategorie  gilt  nur  der  Reinheit  des  Denkens,  d.  h.  über- 
haupt dem  reflexiven  Kategorienbestande  selber;  Begriffe  sind 
nur  insofern  Kategorien,  als  sie  durch  Besinnung  auf  das  Be- 
sinnen deduziert  werden  und  so  von  aller  Gegenstandsdurch- 
setzung frei  sind;  so  ist  es  allerdings  ohne  die  Konsequenz  aus 
unserer  Anschauung,  daß  die  reflexiven  Kategorien  konstitutive 
Kraft  in  bezug  auf  sich  selber  besitzen,  nicht  verständlich,  wie 
reflexive  Kategorien  vor  Gegenständlichkeitsusurpationen  be- 
schützt werden  könnten.  Die  neue  Logik  umgreift  also  zwar 
nichts  als  die  theoretische  Sphäre;  aber  in  bezug  auf  diese  sind 
ihre  Begriffe  konstitutiv;  d.  h.  verleihen  der  theoretischen  Gel- 
tungssphäre den  Charakter  der  Grundlegung  für  Philosophie. 

Solche  innerlogische  Gegenständlichkeit,  wie  wir  sie  also  der 
sog.  reflexiven  Kategorie  zusprechen,  hat  zu  bedeuten,  daß  die 
Kategorie  die  quaestio  juris  ihrer  Gültigkeit  nicht  aus  ihrer  An- 
wendbarkeit im  außerlogischen  Material  des  Erkennens  zieht, 
sondern  aus  der  rein  reflexiven  Anwendung  des  Denkens  im  Falle 
des  Denkens  über  das  Denken.  Mit  welchem  Rechte,  fragt  aber 
der  Kantianismus,  komme  ich  zu  einer  solchen  Umwertung  der 
Reflexivformen?  Eme  Erörterung  des  Begriffes:  Reflexivität 
dürfte  daher  am  Platze  sein.  Außer  Zweifel  steht  dabei  sofort, 
daß  die  Reflexivität  der  Korrelatbegriff  der  Konstitutivität  ist: 
reflexiv  ist  die  nicht  auf  ein  außerlogisches  Material  mit  geltender 
Beziehung  bezogene  Denkform;  reflexiv  kann  dann  aber  eine  Denk- 
form nur  im  Verhältnis  zum  Außerlogischen  sein;  das  Bewerten 
eines  Begriffs  als  reflexiv  setzt  also  voraus,  daß  als  Gegenstand 
nur  der  außerlogische  Gegenstand  gilt;  der  kantianische  Dualis- 
mus: Denken  —  Gegenstand,  jener  Dualismus,  durch  den  gerade 
das  Denken  reflexiv  geworden  ist,  will  doch  immer  noch  nicht 
den  Gedanken  eines  überreflexiven  Denkens  aufgeben  und  ent- 


Die  eigene  Ansicht 


wertet  daher  sein  eigenes  Werk,  das  reflexive  Denken.  Für 
uns  aber  verliert  die  Reflexivität  jede  Ai't  von  Minderv^rertigkeit; 
es  kann  uns  nicht  mehr  überraschen,  daß  das  Denken  (soll  es 
doch  zui-  Allheitswissenschaft  der  Philosophie  führen),  gesehen 
vom  Außerlogischen  aus,  als  im  Jenseits  des  Gegenstands  Lie- 
gendes, bloß  Reflexives  erscheinen  muß.  Denn  wir  geben  eben 
den  außerlogischen  Standpunkt  auf,  wenn  wir  das  Wesen  des 
Denkens  selber  untersuchen.  Wir  wählen  für  innerlogische  Pro- 
bleme auch  den  innerlogischen  Standpunkt,  halten  ihn  für  allein 
berechtigt.  Aber  die  neue  Formallogik  kehrt  nicht  zur  früheren 
Urteils-  und  Schlußlehre  zurück,  und  die  innerlogischen  Kate- 
gorien setzen  sich  uns  nicht  mehr  wie  in  alten  Tagen  zu  einer 
ontologischen  Logik  zusammen;  denn  nur  auf  dem  ganz  unformal- 
logischen  Wege  der  logischen  Selbstbesinnung  kommen  sie  in 
die  logische  Wissenschaft  hinein.  Es  gibt  nur  Kategorien,  inso- 
fern sie  abgeleitet  werden;  sie  selber  sind  so  wiederum  Deiih 
objelte.  Zugleich  Denkformen  und  Denkobjekte  und  trotzdem 
reflexiv  im  Verhältnis  zum  Außerlogischen;  das  ist  die  Wesens- 
bestimmung der  Kategorie.  Denkform  und  zugleich  Denkobjekt? 
beides  sind  sie  in  der  Ableitung  und  Entwicklung  der  einzelnen 
Kategorien;  in  der  die  Beziehungsformen,  als  wären  sie  irgendein 
beliebiger  Gegenstand  des  Erkennens,  durch  das,  mit  dem  alles 
erkannt  wird,  durch  die  Beziehungsformen  selber,  erkannt,  ver- 
standen, systematisiert  werden.  So  gibt  es  keine  Denkformen, 
sie  seien  denn  abgeleitet;  die  scheinbar  bloß  reflexiven  Formen 
gelten  für  sich  selber,  lassen  sich  selber  als  Gegenstände  des 
Erkc7inens  gelten.  Für  die  reinen  Denkformen  gilt  so  die  Iden- 
tität von  Subjekt  und  Objekt,  gilt,  daß  „die  Trennung  des  Gegen- 
standes von  der  Gewißheit  seiner  selbst  sich  aufgelöst  hat"  (Hegel 

s.  0.)*). 

Hier  im  Innerlogisclicn  herrscht  also  das  Prinzip  des  Seihst- 
hewußtseins ;  und  dieses  erweist  sich  als  das  absolute  Erkennen 
des  absoluten  Erkennens  selber;  das  wahre  Objekt  des  Selbst- 
bewußtseins  ist   ein   in   bezug  auf   Außerlogisches  ganz  Unbe- 


*)  Es  ist  bedeutsam  zu  sehen,  wie  der  Kautianismus,  wenn  er  sich  über- 
haupt des  Sichselbstaufsichselbstanwendens  der  reflexiven  Kategorie  bewulit  wird 
(Lask,  165),  diese  Beobachtung  nicht  fruchtbringend  nutzen  kann. 
Ehrenberg,  Die  Partoiung  der  Philosophie  3 


34  Objekt  der  Logik 


stimmtes,  nämlich  das  Denken  des  Denkens  —  als  Denkens*). 
Die  sog.  reflexive  oder,  wie  wir  jetzt  sagen  wollen,  ursprüngliche 
Kategorie  ist  so  durch  sich  selber  konstituiert;  „sie  gilt  für  sich 
selbst".  Das  Logische  ist  dasjenige,  für  das  der  Zirkel  von  Gegen- 
ständlichkeit und  Gegenstand  Natur  und  Gesetz  ist;  es  kann  nicht 
aus  sich  heraus;  es  soll  nicht  aus  sich  heraus;  es  widerspricht 
seinem  Wesen,  wenn  es  aus  sich  herausgeht;  deshalb  verwerfen 
wir  die  transzendentallogische  Auffassung.  Und  es  ist  merk- 
würdig, wie  der  gerade  in  der  Transzendentallogik  gegen  den 
Skeptiker  gebräuchliche  Einwand:  wie  er  doch  selbst  mit  seiner 
Skepsis,  mit  deren  Behauptung  und  Begründung,  die  Geltungen, 
die  er  bezweifle,  anerkenne,  nie  zu  Ende  gedacht  worden  ist; 
wir  aber  denken  ihn  zu  Ende:  Jenes  ungewollte  Sichselbstwider- 
legen  des  Skeptikers  bedeutet,  daß  alles  Denken  sich  selbst 
voraussetzt  und  dementsprechend  als  Gegenstand  einer  möglichen 
Selbstbesinnung  schon  Geltungswert  besitzt,  ehe  es,  um  Außer- 
logisches zu  erkennen,  aus  sich  heraustritt.  Also  nicht  weiter 
als  zum  Denken  selber  geht  der  umschließende  Umkreis  des 
Denkens;  nur  die  Denkobjektivität  selber,  nicht  der  außer  logische 
Gegenstand  ist  für  das  Denken  unangreifbar.  Hierfür  ist  übrigens 
der  Kantianismus  selber  ein  lebendiges  Zeugnis,  wenn  er  mit 
seinem  überstarken  Skeptizismus  aus  dem  Bereich  der  logischen 
Wissenschaft  nicht  herauskommen  kann.  Unser  Gedankengang 
über  die  Kategorie  hat  uns  somit  zu  einem  endgültigen  Ergebnis 
geführt:  das  Verständnis  der  reinen  Kategorie  als  des  für  sich 
selber  gültigen  Denkens  —  Denkens  des  Denkens;  die  Einsicht 
darin,  daß  die  Kategorie  vor  ihrer  Anwendung  überhaupt  nicht 
ist,  aber  nur  deshalb  nicht,  weil  sie,  sobald  sie  ist,  auf  sich  selber 
Anwendung  gefunden  hat;  ferner  die  Abgrenzung  dieser  Ein- 
sicht gegen  die  scheinbar  verwandte  Ansicht  des  Kantianismus 
und  Hegelianismus,  welche  beide  die  Kategorie  erst  kraft  ihres 
aus  sich  Herausgetretenseins  als  Kategorie  anerkennen  wollen. 


*)  Auch  Lask  faßt  seine  Logik  der  Philosophie  als  in  unserem  Sinne 
innerlogische  Logik  auf;  er  begründet  sie  auf  Selbstbesinnung  und  Selbst- 
bewußtsein der  Philosophie  selbst  (Lask,  211);  wenn  er  trotzdem  die  Erfolge 
dieser  Selbstbesinnung  in  „bedeutungsbelasteten'-  Kategorien  erblickt,  so  kommt 
der  Gegensatz  seiner  und  unserer  Auffassung  erst  recht  zutage. 


Die  eigene  Ansicht  35 


Die  Philosophie  gewinnt  hier  einen  Ruhepunkt,  welcher  der  Logik 
bei  aller  Entinhaltlichung  dasjenige  Übergewicht  beläßt,  das  ihr 
zukommt;  es  ist  eine  „letzte"  Erkenntnis,  die  Struktur  alles 
Denkens  in  der  Möglichkeit  des  Sicheelher-Denkens  bewiesen  zu 
haben;  die  Reflexivität  der  Reflexivität  als  Grundsatz  für  den 
Begriff  der  Kategorie!*) 

So  aber  besitzen  wir  im  reinen  Denken  den  einzig  unmittel- 
baren Inhalt  eines  absoluten  Wissens,  einen  solchen  Inhalt,  der 
sich  selbst  begründet;  das  reine  Denken  ist  causa  sui.  Der  lo- 
gische Gegenstand,  de?-  Wahrheitswert  des  Wahrheitsivertcs,  be- 
ruht auf  sich  selbst;  und  die  von  allem  Außer  logischen  abge- 
trennte logische  Wissenschaft  erzeugt  den  Begriff  der  Wahrheit, 
des  Gegenstands  des  Erkennens.  Dieser  Gegenstands-  oder  Wahr- 
heitsbegriff ist  dann  trotz  seiner  innerlogischen  Deduktion  nicht 
innerlogisch  begrenzt;  denn  hier  kommt  die  Dialektik  der  Teilung 
von  Denken  und  Gegenstand  an  den  Tag:  Indem  der  Wahi'heits- 
begriff  „nur"  für  das  innerlogische  Objekt  gilt,  ist  die  für  alles 
und  nichts  geltende  Denkform  vergegenständlicht ;  sie  ist  es,  die 
sich  selber  als  wahr  erweist,  und  die  somit  gerade  infolge  der 
rein  innerlogischen  Deduktion  zu  dem  Resultat  kommt,  allem 
reflexiven  Denken  die  Möglichkeit  der  Erkenntnis  zu  verleihen, 
den  innerlogischen  Umkreis  selbst  als  außerlogischen  begründet. 
Weil  die  Kategorie  für  sich  selber  gilt,  sie  selber  aber  nur 
Form  ist,  so  gilt  sie  für  alles.  Hieß  es  früher  von  der  reinen 
Kategorie,  sie  gelte  „bloß"  für  „Etwas",  so  heißt  es  jetzt,  sie  gelte 
„nicht  bloß"  für  „dieses"  oder  „jenes".    Zu  den  reinen  Formen 


*)  Es  ist  deshalb  vergebens,  überhaupt  eine  im  Sinne  des  Kantianismus 
reflexive  Kategorie  zu  suchen;  sie  hat  es  nie  gegeben  und  wird  es  nie  geben; 
wenn  Windelband  eine  sonst  im  Kantianismus  als  bloß  reflexive  Denkform 
beurteilte  Kategorie  —  die  Identität  —  aufspaltet  und  sie  in  ihrer  möglichen 
Konstitutivität,  in  dem  Gelten  des  Gleichheitsverhältnisses,  sieht,  so  geht  das 
ohne  Zweifel  über  den  engeren  Begriff  der  konstitutiven  (bedeutungsbestinmiten) 
Kategorie  hinaus;  um  aber  diese  Ausführung  als  in  unserem  Sinne  des  Kategorie- 
begriffes  liegend  aufzufassen,  dürfte  das  Neue  nicht  wieder  durch  die  Annahme 
einer  neben  der  konstitutiven  Bedeutung  stehenden,  mm  doch  nur  reflexiven 
ßedeutungsmöglichkeit  derselben  Kategorie  zerstört  werden.  {Windelband,  Über 
Gleichheit  und  Identität,  Ber.  der  Heid.  Akad.  der  "Wiss.,  1910,  siehe  besonders 
S.  15,  24.) 


36  Anwendung  der  Kategorie 

des  Denkens  sind  dann  nicht  nur  die  reinen  Begriffe  als  solche, 
sondern  auch  alle  die  Denkformen  zu  zählen,  die  den  transzen- 
dentallogischen Bezug  des  Denkens  auf  sich  selbst  sogar  in  ihren 
Inhalt  aufgenommen  haben;  das  sind  die  Formen  der  philoso- 
phischen Wissenschaft  selber.  Sie  sind  sogar  die  eigentlichen 
Objekte  und  Inhalte  der  Logik;  denn  in  der  Methodologie  der 
Philosophie  ist  die  Identität  von  Form  und  Inhalt  ganz  perfekt 
geworden  (Philosophie  der  Philosophie);  seinen  Abschluß  erfährt 
das  Objekt  der  Logik  daher  nicht  in  der  Kategorienlehre  im 
engeren  Sinne,  sondern  in  der  Methodologie  der  Philosophie,  für 
die  wii-  den  einstens  allerdings  nur  für  eine  Logik  des  endlichen 
Wissens  gebildeten  Begriff  der  Wissenschaftslehre  zurückerobern 
wollen. 

Doch  weiter  als  zur  Standpunktsklärung  können  und  sollen 
wir  hier  nicht  geführt  werden;  so  müssen  wir  abbrechen. 


Punkt  M:    Die  Anwendung  der  Kategorie 
(Kategorie  und  Begriff) 

Wir  haben  die  Geschichte  des  Kategoriebegriffes  verfolgt  und 
seine  Veränderungen  bis  zur  vollkommenen  Umwandlung  erlebt; 
daher  werden  wir  jetzt  unsere  Disputation  mit  der  hegelia- 
nischen und  neukantianischen  Logik  auf  die  Eealisierungsfrage  des 
Kategoriebegriffes,  auf  das  Problem  der  Anwendung  der  Kate- 
gorie ausdehnen. 


Hegels  Stellung  zu  diesem  Problem  läßt  sich  am  unmittel- 
barsten von  seiner  Ablehnung  aller  Art  von  kritizistischen  In- 
tentionen aus  aufrollen.  Jenes  Wort  aus  der  Einleitung  zur  Phä- 
nomenologie des  Geistes  von  dem  Mißtrauen,  das  man  in  das  Miß- 
trauen (des  Erkenntniskritikers)  zu  setzen  habe,  ist  ihm  bestehen 
geblieben.  Nicht  eigentlich  der  kritizistische  Gedanke  als  solcher, 
sondern  seine   geglaubte   Unausführbarkeit  veranlaßt  seine   ab- 


Hegel  37 

lehnende  Haltung  gegen  ihn.  „Erkennen  wollen  aber,  ehe  man 
erkenne,  ist  ebenso  ungereimt,  als  der  weise  Vorsatz  jenes  Scho- 
lasticus,  sclnvimmen  zu  lernen,  ehe  er  sich  ins  Wasser  wage'  (En- 
zyklopädie der  philosophischen  Wissenschaften,  §  10).  Hegel 
meint  also:  Da  Erörterungen  über  das  Wesen  des  Erkennens 
schon  selber  das  Wesen  des  Erkennens  voraussetzen,  so  liegen 
sie  bereits  hinter  dem,  vor  dem  sie  zu  stehen  wähnen;  deshalb 
wertet  Hegel  die  Kategorien  nur  im  Status  der  Anwendung  inner- 
halb des  tatsächlichen  Erkennens  als  Kategorien.  So  aber  führt 
er  den  Standpunkt  der  Transzendentalen  Logik  konsequent  zu 
Ende:  Zwar  waren  auch  für  Kant  die  noch  nicht  angewandten 
Kategorien  nur  gleich  leeren  Gedankenformen  gewesen;  aber 
wenn  er  sie  zum  Zweck  der  Anwendung  nur  mit  Erfahrungs- 
begriffen verband,  so  blieben  sie  auch  in  dem  Zustand  der  An- 
wendung von  den  Begriffen,  für  die  sie  angewendet  wurden,  ge- 
nügend geschieden.  Anders  bei  Hegel:  Die  Begriffe,  in  welche 
seine  Kategorien  einzugehen  haben,  sind  „philosophische"  Be- 
griffe; der  Begriff  gibt' der  Kategorie  im  Punkte  der  Absolutheit 
nichts  nach:  der  Rangunterschied  zwischen  Kategorie  und  Be- 
griff wird  aufgehoben;  beide  sind  gleich  apriorisch;  wie  soll 
da  dem  Zusammenfallen  beider  zu  wehren  sein!  Daher  geschieht 
dem,  der  von  den  Fragen  der  kantischen  Kategorientafel  zu 
Hegel  kommt,  die  plötzliche  Erleichterung,  die  ganze  Aufgabe, 
einen  bestimmten  Bestand  von  Kategorien  zu  fixieren,  von  sich 
genommen  zu  sehen.  Ist  die  Kategorie  vor  ihrer  Anwendung 
ein  Nichts,  wird  sie  erst  durch  das  Anwendungsprodukt  wahr- 
haft Kategorie,  so  ist  eben  jedes  Anwendungsprodukt  Kategorie- 
Wirklichkeit;  die  wirklichen  Erkenntnisse  gelten  nicht  je  als 
Anwendungen  einer  ihnen  apriorischen  Denkform,  sondern  als 
selbst  in  ihrem  Eigeninhalt  kategoriale  Erkenntnisse.  Jeder  ein- 
zelne philosophische  Begriff,  wie  Natui'  oder  Kunst,  Chemismus 
oder  absolutes  Subjekt  ist  nicht  mehr  noch  weniger  Gegen- 
standsbegriff, als  übliche  Kategorien  wie  Kausalität  und  Sub- 
stanz es  sind.  Soweit  Hegel  aber  gleichwohl  den  Versuch  macht, 
gewisse  Begriffe  in  bevorzugtem  Maße  Kategorien  sein  zu  lassen, 
wird  doch  der  allgemeine  Kategoriebegriff  —  die  Ansicht  vom 
Wesen  aller  Kategorien  —  dem  Wesen  der  wirklichen  philoso- 


38  Anwendung  der  Kategorie 

phischen  Erkenntnis  entnommen,  von  der  dann  der  Terminus  des 
JconTcreten  Begriffes  auf  die  Kategorie  übertragen  wird.  Weil 
es  die  Natur  des  Erkennens  ist,  ein  wirkliches  Erkennen  zu 
sein,  so  findet  Hegel  nur  in  ihm,  in  dem  Begriff  des  bestimmten 
Erkenntnisses,  das  Wesen  kategorialer  Gegenständlichkeit  ver- 
wirklicht. Der  Begriff  der  Kategorie,  den  der  Logiker  sucht, 
richtet  sich  daher  bei  Hegel  nach  dem  Begriff  der  bestimmten 
Erlcenntnis.  Das  ist  der  m.  W.  nie  gewürdigte  bedeutsame  Zu- 
sammenhang, in  dem  Hegels  Lehre  vom  konkreten  Begriff  ihren 
Grund  hat.  Und  wir  müssen  ihn  verstanden  haben,  um  die  viel- 
verlästerte Begriffslehre  würdigen,  die  in  ihr  enthaltene  „Ent- 
deckung" bemerken  zu  können:  Hegels  konkreter  Begriff  bedeutet, 
daß  eine  wirkliche  Erkenntnis,  die  sich  in  diesem  oder  jenem  Be- 
gi'iff  ausspricht,  diesen  oder  jenen  Begriff  mit  einem  bestimmten 
Bedeutungsinhalt  erfüllt,  der  ihn  zu  einem  konkreten  Wesen 
macht;  bedeutet  ferner,  daß  der  im  Buche,  im  System  enthaltene 
Begriffsinhalt  in  seiner  ganzen  jeweiligen  Mannigfaltigkeit  einen 
einzigen  Begriff  darstellt.  Der  konkrete  Begriff  hat  seine  Gegen- 
ständlichkeit allein  an  dem  Sein  in  einem  bestimmten  Inhalt;  nur 
weil  ein  Inhalt  in  ihm  ist,  gilt  der  Begriff;  der  Inhalt  des  Be- 
griffs wächst  dann  in  der  Tat  mit  seinem  Umfang;  denn  alle  die 
verschiedenen  Nuancen,  welche  mit  der  Erweiterung  des  Um- 
fanges  dem  Begriffe  zuwachsen,  treten  als  wechselseitige  Be- 
deutungszusammenhänge auch  wirklich  in  seinen  Inhalt  ein;  eine 
unsäglich  einfache  Angelegenheit,  daß  mit  der  Zunahme  der  Er- 
kenntnis ihr  Begriff  sich  erweitert!  so  einfach,  daß  sie  fast  nie 
verstanden  wird,  daß  es  den  meisten  bedenklich,  ja  widersinnig 
erscheint  zu  sagen:  ein  ganzes  Buch  könne  nicht  minder  ein 
einziger  Begriff  sein,  als  ein  einzelnes  Wort  es  ist.  Hegels  Ent- 
deckung des  konkreten  Begriffes  befreit  daher  den,  welcher  sie 
nicht  übersieht,  aus  der  Abhängigkeit  von  der  Sprachorganisation 
in  Sachen  des  Erkennens.  Nur  deshalb  also  kann  der  Inhalt  aus 
dem  Begriff  herausgeklaubt  werden,  weil  Begriff  und  Inhalt  im 
wirklichen  Erkennen  längst  verschmolzen  sind.  Hegel  lehnt  da- 
her gar  nicht  die  Gegebenheit  des  Inhalts  ab,  behauptet  nicht 
die  rationale  Deduzierbarkeit  aus  der  abstrakten  Vernunfteinheit, 
sondern  will  überhaupt  das  ganze  Problem:  gegeben  oder  nicht 


Hegel 39 

gegeben?  nicht  anerkennen.  Es  gibt  für  ihn  nur  Begriffe,  die 
einen  Inhalt  haben;  Begriff  und  Inhalt  zu  trennen,  heißt  gegen- 
standslose Abstraktionen  machen.  In  der  Begriffslehre  Hegels 
gibt  es  daher  nur  den  bestimmten  seil,  konkreten  Begriff.  Da- 
mit ist  aber  der  Begriff  des  unbestimmten  Begriffs  aus  der  Phi- 
losophie eliminiert;  Hegel  will  die  angebliche  Abstrakt/^ei^  des  Be- 
griffes treffen,  aber  trifft  den  abstrakten  Begriff,  der  seinerseits 
auch  ein  einzelner  konkreter  Begriff  ist  und  deshalb  gilt.  So  wird 
das  Problem,  das  nach  Begriffen  hinter  den  bestimmten  Begriffen 
sucht,  beseitigt;  das  Problem  „letzter"  Begriffe  —  wir  nennen 
es  das  Kategorienproblem  —  hat  in  Hegels  Philosophie  keinen 
Platz.  Der  Unterschied  der  synthetischen  Urteile  a  priori  und 
derjenigen  a  posteriori  —  der  (im  logischen  Sinne)  eingeborenen 
und  der  zu  erwerbenden  Begriffe  ist  nicht  mehr;  jeder  echte 
Begriff  hat  den  Wert  einer  Kategorie;  deshalb  gibt  es  nur  Be- 
griffe und  keine  Kategorien.  So  fehlt  bei  Hegel  überhaupt  das 
Problem  des  Apriorismus.  Vor  der  Bedeutung  der  neuen  Ent- 
deckung (des  bestimmten  Begriffes)  verstummen  alle  früheren 
Fragen  einer  Logik,  mit  ihnen  die  Grundidee  des  aprioristischen 
Idealismus.  So  verfällt  die  Philosophie  Hegels  dem  Progressus 
der  Mannigfaltigkeiten;  sie  schlägt  in  den  reinen  Positivismus 
um.  Das  geschieht  hier  der  Transzendental-Philosophie;  indem 
sie  in  durchaus  folgerichtiger  Konsequenz  aus  ihrer  Grundkonzep- 
tion die  Kategorie  nur  in  deren  Anwendung  im  Begriff  aner- 
kennen will,  ist  die  reine  Kategorie  —  was  auch  sollte  sie  als 
leere  Gedankenform,  als  unwahrhafte  Abstraktheit  noch  sein! 
—  gar  nicht  mehr  vorhanden.  Der  absolute  Idealismus  wird 
zuerst  absoluter  Positivismus  (der  späte  Schelling,  Schopenhauer 
usw.),  der  sich  dann  seinerseits  in  den  empiristischen  Positivismus 
entlädt,  dadurch  aber  die  Philosophie  zwingt,  von  neuem  zum 
Problem  des  Apriorismus  Stellung  zu  nehmen. 

II 
Damit  haben  wir  das  gemeinsame  Merkmal  für  die  verschie- 
denen Richtungen  des  modernen  Kantianismus  gewonnen,  näm- 
lich die  Scheidung  von  Apriori  und  Aposteriori,  von  Kategorie 
und    Begriff.      An    diesem    Gegensatz    hält    der    Kantianismus 


40  Anwendung  der  Kategorie 

ebenso  einseitig  fest,  wie  Hegel  die  Einheit  im  konkreten  Be- 
griff für  den  einzigen  Inhalt  einer  Begriffslehre  gehalten  hat. 
So  darf  der  Begriff,  in  welchem  die  Kategorie  ihre  Anwendung 
findet,  kein  absoluter  Begriff  sein;  nur  die  Kategorie  ist  absolut, 
der  Begriff  empirisch,  so  daß  beide  als  Kategorie  und  Begriff 
aufeinander  bezogen,  durch  die  Verknüpfung  der  Anwendung  ver- 
bunden sein  können,  ohne  ihre  Zweiheit  aufzugeben.  Nun  bietet 
zu  solchem  Verhältnis  von  Kategorie  und  Begriff,  wobei  jene 
einer  ihr  selbst  fremden  Sphäre  zugewiesen  wird,  gerade  Kant 
die  Handhabe,  nicht  so  sehr  in  der  Kategoriendeduktion  als  in 
dem,  was  er  die  Grundsätze  der  reinen  Naturwissenschaft  nennt, 
jedoch  nur,  sobald  man  dieselben  nicht  mehr  nur  für  Beispiele 
synthetischer  Urteile  a  priori,  sondern  für  die  Bedingungen  syn- 
thetischer Urteile  a  posteriori  erklärt.  Und  in  diesem  Sinne  sieht 
nun  Cohen,  der  ja  das  Apriori  nur  noch  transzendental,  d.  h.  in 
seinem  Werte  für  Erfahrung,  anerkennt,  Kants  Grundsätze,  so 
daß  sich  bei  ihm  Kategorie  und  Begriff  in  der  Tat  wie  Absolutes 
"und  Empirisches  verhalten.  Daher  schließt  sich,  in  noch  so  in- 
niger Synthese  Kategorie  und  Begriff  zusammenwirken  mögen 
—  die  Bedingungen  der  Erfahrungsmöglichkeit  sind  in  der  Er- 
fahrungswissenschaft enthalten  — ,  doch  nicht  die  absolute  Kluft 
zwischen  ihnen.  Da  ist  der  Dualismus  von  Apriori  und  Apo- 
steriori  fixiert,  ohne  daß  die  Gefahr  beschworen  würde,  mittels 
dieser  Fixierung  erst  recht  der  Einheit  ausgeliefert  zu  werden. 
Aber  der  Begriff  des  Aposterioris  ist  doppeldeutig,  drückt  ebenso 
den  des  empirischen  Stoffes  wie  den  der  fixierten  Erfahrung  aus; 
d.  h.  nicht  nur  stehen  sich  Apriori  und  Aposteriori  gegenüber, 
sondern  werden  zugleich  in  den  Erkenntnissen  der  Naturwissen- 
schaft verbunden,  in  welchen  ihr  Gegensatz  erst  einen  Erkenntnis- 
wert erhält:  Der  Begriff  (zum  Unterschiede  von  der  Kategorie), 
d.  h.  die  Anwendung  der  Kategorie  ist  damit  als  Naturwissen- 
schaft selbst  wieder  ein  Überempirisches,  Ewiges.  Das  ist  Cohens 
in  dieser  Beziehung  fast  altkantianischer  Standpunkt. 

Zwar  fällt  der  Begriff  auch  jetzt  nicht  mit  dem  Apriori  zusam- 
men, braucht  aber  in  keiner  Weise  mehr  nur  etwas  schlechthin  Em- 
pirisches und  Nichtabsolutes  darzustellen.  D.  h.  der  Gegensatz  von 
Apriori  und  Aposteriori  bleibt  bestehen,  ohne  jedoch  daß  man  ihn 


Neukantianismus:   Cohen,  Windelband  41 


auf  den  ausgesprochensten  Fall  seiner  Gegensätzlichkeit,  die  Sphäre 
der  Erfahrungskategorien,  beschränken  müsse.    So  zeigt  sich  die 
Möglichkeit  der  Verallgemeinerung  jenes  Begriffspaares,  die  von 
Windelband  vollzogen  wird.    Diese  Verbreiterung  des  Gegensatzes 
von  Erfahrungsiovm   und  £r/«/irnw^smannigfaltigkeit    zu    dem 
Gegensatze  irgendeiner  Apriorität  und  irgendeiner  Mannigfaltig- 
keit ist  ein  zu  wenig  beachteter  Vorgang  aus  der  Geschichte  des 
Neukantianismus;  jener  früher  ausschließliche  Gegensatz  des  po- 
sitiven Wissens  zum  Positiven  des  Inhaltes  desselben  ist  jetzt  nur 
ein  Spezialfall  eines  allgemeinen  Gegensatzes.     Daß  allein  der 
positivistischen  Einschränkung  Cohens  die  Festigkeit,  welche  die 
Qualität  Apriori-Aposteriori  besitzt,  verdankt  wird,  gerät  in  Ver- 
gessenheit; so  kommt  es,  daß  Cohens  Einseitigkeiten  den  anderen 
Kantianern  als  fixe  Ideen  erscheinen.    Wenn  sie  das  nicht  sind, 
so  geht  doch  immerhin  von  Cohens  Erkenntnistheorie  selbst  der 
Zwang  aus,  ihre  Einseitigkeit  abzutun;  nicht  ungestraft  kumuliert 
er  alles  auf  den  Wissenschaftsbegriff  und  gibt  in  ihm  selber  den 
positivistischen  Bewertungspunkt  preis.    Das  bewirkt  gerade,  daß 
die  positivistische  Einschätzung  des  Inhalts  von  der  Erfahrungs- 
sphäre auf  alle  Sphären  übergeht;  in  größter  Allgemeinheit  weist 
Windelband  darauf  hin   (llannigfaltigkeitsproblematik).     Ferner 
geht  diejenige  Einheitsbeziehung  zwischen  Apriori  und  Aposteriori 
verloren,  welche  für  das  Erfahrungsproblem  (bei  Cohen)  bestim- 
mend gewesen  ist,  da  sie  nur  von  ihm,  das  jetzt  nicht  mehr  Haupt- 
problem ist,  gelten  kann;  eine  andere  tritt  nicht  an  ihre  Stelle; 
und  das  Problem:  wie  ist  das  Apriori  anwendbar?  büßt  seine  Be- 
deutung ein,  so  daß  der  Gegensatz  von  Apriori  und  Aposteriori  in 
unverhüllter  Nacktheit  dasteht:  ewiger  Gegensatz  zwischen  dem 
Ewigen  selbst  und  dem  Tatsächlichen!    In  dieser  Formulierung 
dehnt  sich  die  kantianische  Logik  bald  über  die  wirkliche  Philo- 
sophie aus;  mit  ihr  wird  der  siegreiche  Feldzug  gegen  die  psycho- 
logistische  Erkenntnislehre  geführt;  besonders  Husserls  Entwick- 
lung zum  Kantianismus  wird  ihr  verdankt.     Daher  auch  kehi't 
Husserl  den  Dualismus  von  Apriori  und  Aposteriori  noch  schärfer, 
weil  noch  bewußter  hervor;   mit  der  ganzen   Selbsterkenntnis- 
kraft, welche  solchen  eigen  ist,  die  überwinden,  wird  er  sich  des 
Dualismus  von  Apriori  und  Aposteriori  bewußt  und  gewinnt  da- 


42  Anwendung  der  Kategorie 


durch  auf  die  Richtung,  der  er  sich  anschließt,  selbst  einen  Ein- 
fluß; diese  findet  jetzt  in  ihm  ihren  reinsten  Vertreter. 

Dadurch  rückt  aber  die  logische  Sphäre  wieder  in  den  Vorder- 
grund des  Interesses;  denn  als  Windelbands  Standpunkt  eine  so 
ausgedehnte  Wirkung  erlebt,  ist  es  vorzüglich  derjenige  Punkt 
desselben,  mit  welchem  er  die  Gegner  schlägt,  welcher  die  Wir- 
kung verursacht;  das  ist  die  Sphäre  der  Erkenntnistheorie.  Des- 
halb sind  diejenigen,  die  auf  Windelband  folgen,  JRicJcert  und 
Husserl,  vorzugsweise  Logiker*).  In  der  Erkenntnistheorie  als 
der  Theorie  der  Erfahrung  läßt  sich  aber  das  Anwendungsproblem 
(das  im  allgemeinen  Dualismus  Windelbands  keine  unmittelbare 
Notwendigkeit  ist)  nicht  totschweigen.  So  kommt  gerade  der, 
welcher  die  unbezogene  Reinheit  des  logischen  Aprioris  am  wir- 
kungsvollsten durchgedacht  hat  (Husserl),  dazu  eine  ganz  neue 
Sphäre  zwischen  Apriori  und  Aposteriori  einzuschieben,  die  der 
phänomenalen  Bewußtseinsfunktionen  des  Erkennenden**);  das 
sind  die  immanenten  Realisationsakte  des  Aprioris  in  seiner  An- 
wendung auf  das  Aposteriori.  Die  Philosophie  stellt  hier  wieder 
ein  Anwendungsproblem  der  Kategorie  auf  und  gewinnt  dadurch 
der  Logik  eine  Sphäre  zwischen  Apriori  und  Aposteriori  hinzu; 
die  Sphäre,  in  welcher  Anwendungen  zustande  kommen,  und  die 
zunächst  auf  die  logische  Disziplin  eingeschränkt  bleibt.  Rickert 
folgt  dann  dem  Beispiel  Husserls  und  teilt  den  Inhalt  der  Er- 
kenntnistheorie in  die  Fixierung  des  transzendenten  Apriori  und 
die  seiner  Immanisierung  ins  Bewußtsein:  die  „Zwei  Wege  der 
Erkenntnistheorie"!  Da  sich  aber  die  positivistische  Einschätzung 
nicht  nur  auf  die  Erkenntnis-,  sondern  auf  alle  Inhalte  bezieht, 
so  wird  die  neue  Fassung  des  Anwendungsproblems  auch  für  die 
nicht-logischen  Sphären  angenommen.  Überall  jetzt  entstehen 
Zwischengebilde     mit     komplexer    Konstruktion,     Gebilde,     die 


*)  Die  in  dieser  Schrift  konstatierten  historisclien  Zusammenhänge  können 
subjektive  „Beeinflussungs"-Zusammenhänge  sein,  brauchen  es  aber  nicht  zu 
sein;  wesenthch  ist  immer  nur  der  Zusammenhang  der  objektiven  Ideen,  an 
obiger  Stelle  z.  B.  der  Zusammenhang  von  "Windelbands  Duahsmus  ohne  An- 
w^endungsproblem  und  Husserls  „reiner"  Logik  mit  der  Tatsache,  daß  bei 
Husserl  das  Anwendungsproblem  nachträglich  hinzutritt. 
**)  Husserls  II.  Band  der  Logischen  Untersuchungen. 


Neukantianismus:  Husserl,  Rickert,  Lask  43 

zwischen  den  transzendenten  Aprioris  und  den  Tatsachen  stehen 
und  deren  Verwirklichungszusammenhang  präsentieren;  man 
nennt  sie  die  Gebiete  des  Sinns,  „das  dritte  Reich"  (Rickert, 
Logos  I,  1:  Der  Begriff  der  Philosophie,  1910).  Und  wie  bei 
Windelband  der  Gegensatz  des  Aprioris  und  des  Aposterioris  ein 
allgemeiner  gewesen  ist,  so  ist  jetzt  auch  das  zwischen  sie  ge- 
setzte Sinn-Reich  allgemeiner  Natur,  umfaßt  daher  alle  einzelnen 
Sphären;  es  gibt  theoretischen,  ästhetischen,  ethischen  usw.  Sinn 
(LasJc).  Dann  tritt  die  Individuation  aus  der  Sphäre  des  Aprioris 
in  die  des  Sinnes  über;  die  einzelnen  Sphären  sind  für  Lask  keine 
Wert-,  sondern  Sinn-Sphären,  so  daß  die  Begriffe  Apriori  und 
Aposteriori  aus  dem  Vielheitsinbegriff  der  Sphären  aus-,  in- 
die  Allgemeinheitssphäre  überhaupt  übertreten.  Über  den  ein- 
zelnen Sphären  des  Sinnes  steht  sodann  der  allgemeine,  nackte 
Gegensatz  des  Aprioris  und  Aposterioris.  Und  so  gewiß  sich  auch 
in  den  einzelnen  Sphären  je  ein  Apriorisches  und  ein  Aposterio- 
risches vorfinden,  so  dürfen  diese  doch  nur  als  Wiederholungen 
des  allgemeinen  Gegensatzes  von  Sinngemäßheit  und  Sinnfremd- 
heit angesehen  werden;  derselbe  bekommt  die  Stellung  des 
gattungsbegrifflichen  Grundsatzes  für  alle  Sphären.  So  aber  wird 
das  Begriffs?;««/-  Apriori,  Aposteriori  zur  Einheit  eines  einzigen 
Begriffes  verschmolzen;  nicht  hier  Sinn,  dort  Sinnfremdheit,  son- 
dern das  Yerhältnis  von  Sinn  und  Sinnfremdheit  steht  an  der 
Stelle  des  obersten  Grundsatzes;  es  kristallisiert  sich  „eine  lo- 
gische Form  zwischen  logischer  Form  und  Material"  (Lask,  166) 
heraus;  und  der  oberste  Begriff  heißt  jetzt  die  Relation  „zwischen" 
Form  und  Material,  das  „Form-Materialgefüge"  (Lask,  passim). 
Was  vorher  in  vollkommener  Scheidung  jedes  für  sich  als  Ur- 
element  dagestanden  hat:  das  Apriori  und  das  Aposteriori,  soll 
jetzt  „ohne  dieses  Urverhältnis,  als  deren  Glieder  sie  auftreten, 
gar  nicht  verständlich"  (Lask,  174)  sein.  Die  Kategorie,  welche 
damit  oberhalb  der  einzelnen  Sinnsphären  auftritt,  läßt  sich  also 
nur  dadurch  charakterisieren,  daß  sie  als  die  Kategorie  des  Ur- 
verhältnisses  von  Form  und  Materie  bezeichnet  wird;  und  in  der 
Tat  ist  dann  diese  neue  Kategorie,  da  sie  als  Kategorie  auf  der 
Seite  der  Form  steht,  „logische  Form  zwischen  logischer  Form 
und  Material"  (s.  o.).  So  hat  sich  das  Wesen  der  logischen  Form 


44  Anwendung  der  Kategorie 


bestimmt  als  die  Beziehung  von  Form  und  Materie;  diese  Be- 
ziehung macht  den  Sinn  dessen  aus,  was  unter  logischer  Form 
zu  verstehen  ist,  so  daß  die  logische  ägxr]  weder  in  der  Form 
noch  in  der  Materie  je  für  sich,  sondern  in  der  als  die  Beziehung 
von  Form  und  Materie  erkannten  Form  aller  Sinns'iMi/ren  läge  *).  Aber 
indem  Lask  zwar  die  Korrelatstruktur  der  Begriffe  Form  und 
Materie  erkennt,  jedoch  vergißt,  wie  dieses  Korrelatum  Allge- 
meingültigkeit nur  besitzt,  weil  es  den  Oberbegriff  für  alle  ein- 
zelnen Sinnsphären  abgibt,  so  tritt  die  Formnatur  des  Form- 
Materieverhältnisses,  obwohl  wir  sie  ausgesprochen  finden,  doch 
nicht  bewußt  heraus;  so  wenig,  daß  jenes  Verhältnis,  da  es  nicht 
„auf  die  Seite"  der  Form  tritt,  in  der  (unbestimmten)  Mitte 
zwischen  Form  und  Materie  stehen  bleibt  und  dann  wieder  in  diese 
beiden  Elemente  für  sich  auseinanderfällt:  An  der  Stelle  der  „lo- 
gischen Form  zwischen  logischer  Form  und  Materie"  finden  sich 
eine  „vorformale  Geltung"  und  ein  „unbetroffenes  Etwas"  ein 
(Lask,  174  und  passim);  und  der  Dualismus  des  Apriori  und 
des  Aposteriori  ist  nicht  wirklich  überwunden.  Daher  fehlt 
bei  Lask  trotz  seines  Ausgangspunktes  im  Sinn-Begriffe  doch 
das  Anwendungsproblem  der  Kategorie;  dieses  Fehlen  äußert  sich 
darin,  daß  für  die  Urphänomene  der  vorformalen  Geltung,  des 
unbetroffenen  Etwas  und  des  (nachträglich  eintretenden)  Ur- 
verhältnisses  zwischen  ihnen  einerseits  und  den  Gattungsbegriff 
der  Sinnsphären  andererseits  kein  Wirkungsverhältnis  statuiert 
wird.  Zwar  wendet  sich  Lask  gegen  den  Versuch  Kroiiers,  zwei 
Aprioritäten,  ästhetische  und  logische,  einfach  übereinandergebaut 
zu  denken  (Lask,  105  f.  Anm.)  und  duldet  in  solchem  Falle  nicht 
das  Nebeneinanderstehen  von  logischem  und  nicht-logischem 
Apriori,  scheint  also  auf  die  Durchführung  des  Anwendungs- 
problems des  logischen  Aprioris  zu  dringen,  setzt  dann  aber  im 
Prinzip  gar  keinen  Zusammenhang  zwischen  dem  allgemeinen 
Form-Materialbegriff  und  dem  Begriff  des  Sinnes;  und  darin  wirkt 
nun  zum  letztenmal  die  positivistische  Einschätzung  des  Inhaltes; 
sie  gebietet  Lask,  die  Spezifikation  zu  den  einzelnen  Sphären  als 
einen  von  außen  an  den  allgemeinen  Form-Materiebegriff  her- 


•=)  Siehe  hierzu  die  unten  folgende  Anm.  über  einen  neuen  Aufsatz  Rickerts. 


Antikantianismus  45 


antretenden  „Bedeutungsbestimmiings"vorgang  zu  denken,  und 
verhindert,  daß  er  den  allgemeinen  Gegenstandsbegriff  (Form- 
Materie)  in  den  Sphären  des  Sinns,  d.  h.  der  Komplexität  von  Form 
und  Materie,  sich  auswirken  lasse.  So  verneint  sich  der  Kantianis- 
mus  am  Ende  seiner  Entwicklung  selbst:  Um  nichts  als  das  po- 
sitive Wissen  zu  begründen,  hatte  er  das  Anwendungsproblem  der 
Kategorie  eingeführt  (Cohen);  jetzt  ist  die  Kategorie  wieder  auf 
alles  Wissen  gerichtet;  aber  das  Anwendungsproblem  ist  ihr  ab- 
handen gekommen.  So  muß  der  Kantianismus  entweder  den 
Geyendand  de)-  Pliüosoplne  positwistisch  ablehnen,  um  dem  Äjnion 
eine  Anicendung  zukommen  zu  lassen,  oder  demApriori  die  Anwendung 
nehmen,  um  den  Gegenstand  der  Philosophie  zu  setzen. 

III 

Wir  haben  im  Kantianismus  den  Gegenpol  zu  Hegel:  Wo  sich 
bei  diesem  das  Anwendungsproblem  der  Kategorie  und  der  all- 
gemeine Gegensatz  von  Apriori  und  Aposteriori  vermischen,  da 
sind  sie  im  Kantianismus  so  stark  einander  entgegengesetzt,  daß 
das  eine  das  andere  überhaupt  nicht  neben  sich  duldet;  und 
wieder  erweist  sich  der  Kantianismus  als  durch  unbegriffen  ge- 
bliebene Gegensätzlichkeit  abhängig  von  Hegel.  Der  Gegensatz 
der  beiden  aber  hat  uns  die  Problemstellung  geklärt,  und  wir 
können  ihnen  folgen,  gerade  wenn  wir  an  die  systematische  Be- 
handlung gehen. 

Das  Problem  gebietet:  Den  Gegenstand  der  Philosophie  selber 
durch  Anwendung  des  kategorialen  Aprioris  zu  bestimmen.  Das 
dritte  Pv,eich  (des  Sinnes)  ist  das  Reich  der  angewandten  Kategorie, 
also  das  Reich  der  Philosophie.  Der  allgemeine  Kategorie- 
begriff wiederum  ist  der  Begriff  vom  Gegensatz  des  Apriori  und 
Aposteriori.  So  geht  die  Komplexität  der  konkreten  Sphären 
auf  den  abstrakten  Gegensatz  von  Form  und  Inhalt  der  Erkennt- 
nis zurück.  Nur  insofern  nämlich  Erkenntnisform  und  Erkenntnis- 
inhalt gegensatzbedeutend  sind,  nur  insofern  sie  einander  wechsel- 
seitig bedürfen,  um  sich  voneinander  abzustoßen,  ist  der  Punkt 
ihres  Zusammenkommens  nicht  vorgeschrieben,  sind  die  be- 
stimmten Begriffe  nicht  aus  dem  Kategoriebegriff  zu  ent- 
wickeln,   nicht    in    ihm    gegeben.      Alle    bestimmten    Begriffe 


46  Anv/endung  der  Kategorie 

sind  allerdings  Tcoiikrete  Begriffe,  d.  h.  Einheiten  von  Bedeu- 
tung und  Material;  aber  kein  bestimmter  Begriff  kann  den 
unbestimmten  Begriff  ausschließen,  und  keiner  ist  aus  ihm  ge- 
wonnen. Der  unbestimmte,  d.  h.  dem  Inhalt  entgegengesetzte 
Begriff  ist  in  den  bestimmten  Begriffen,  weil  in  ihnen  Begriff- 
heit  ist,  angewendet;  der  konkrete  Begriff  (z.  B.  jeder  „Wert") 
ist  angeivandte  Kategorie.  So  steht  vor  dem  konkreten  Begriff 
und  von  ihm  geschieden  die  reine  Kategorie:  sie  das  lebendige 
Zeugnis  dafür,  daß  das  Erkennen  sich  selber  erkennbar  ist.  Da 
auch  das  Erkennen  des  Erkennens  nicht  anders  sich  verhält  als 
nur  irgendein  v/irkliches  Erkennen,  so  wird  Hegels  Einwand  gegen 
dasselbe  hinfällig*).  Es  wird  sogar  erst  durch  das  Erkennen 
des  Erkennens,  d.  h.  durch  den  allgemeinen  Kategoriebegriff,  das 
lirbildliche  Beispiel  eines  konkreten  Begriffes  gegeben  und  erst 
so  Hegels  Entdeckung  der  Begriff skonkretheit  wahrhaft  gesichert: 
Denn  auch  dann,  wenn  die  von  den  Kantianern  stammende  (trans- 
zendentallogische) Erkenntnisbeziehung  auf  Außerlogisches  aus 
dem  Begriff  des  Begriffes  entfernt  ist,  dieser  als  nackter  Begriff 
dasteht,  existiert  er  nur  in  dem  Status  der  Angewendetheit,  in 
der  Anwendung  nämlich  auf  seine  Abstrahiertheit  selbst.  Diese 
ist  sein  ihm  einen  Inhalt  gebendes  Material;  Abstrahiertheit  heißt 
der  Gebrauch,  den  man  von  ihm  macht,  ist  seine  Gegenständlich- 
keit. Obwohl  weder  Kategorie  ohne  Begriff  noch  Begriff  ohne 
Kategorie  möglich  ist,  so  werden  doch  Kategorie  und  Begriff 
nicht  im  mindesten  zum  Selben;  der  Bestand  reiner  Kategorien 
und  die  philosophischen  Einzelbegriffe  fallen  selbst  dann  nicht, 
zusammen,  wenn  die  philosophischen  Einzelbegriffe,  um  die  es 
sich  handelt,  die  Kategorien  selber  sind;  eine  schwierige  —  eine 
endgültige  Einsicht!  Wenn  damit  Hegels  Standpunkt  vernichtet 
ist,  so  hat  nicht  minder  der  kantianische  seine  Selbstauflösung  er- 


♦)  Vgl.  dafür  das  für  die  Zeit  des  Althegelianismus  treffende  Apergui 
„Sehen  Sie,  gerade  da,  wo  die  Enzyklopädie  den  idealen  wissenschaftlichen 
Standpunkt  der  kritischen  Philosophie  begreifen  sollte  und  könnte,  da  ver- 
wundert sie  sich  nur  und  hört  nur  auf  sich  zu  verwundern,  um  uns  zu  ver- 
sichern: dai3  diese  ihre  Logik  eben  jene  Untersuchung  ist'  und  somit  die  Kritik 
überflüssig  macht".  (Briefe  gegen  die  Hegeische  Enzyklopädie  der  philosophischen 
Wissenschaften,  1830,  2.  Heft,  42.) 


Die  eifjene  Ansicht  47 


fahren;  denn  als  es  ihm  mißlang,  zu  einem  apriorilosen  Aposteriori, 
zu  einem  aposteriorilosen  Apriori  zu  kommen,  da  gerieten  ihm 
die  entgegengesetzten  Extreme  seines  dogmatischen  Grundgegen- 
satzes, das  Apriori  und  das  Aposteriori,  unter  den  Dualismus 
und  zersprangen  je  zu  einer  Einheit  von  Apriori  und  Aposteriori, 
dort  zur  Einheit  des  unbestimmten  Begriffes,  hier  zur  Einheit 
des  bestimmten  Begriffes.  Zwar  versucht  sich  der  Dualismus 
solchen  Konsequenzen  eine  Zeitlang  durch  immer  erneute  Ab- 
straktionen, eine  Art  von  Ideenflucht  zu  entziehen,  aber  irgendwo 
kommt  er  selbst  dazu,  die  Kategorialität  der  .-rocürr/  vh]  und  die 
spezifisch  logistische  Inhaltlichkeit  der  Allgemeinen  Form  ein- 
zusehen. Und  dann  eben  steht  er  vor  dem  Punkte,  bei  dem  wir 
uns  hier  befinden,  vor  der  schlechthinnig  unauflösbaren  Zu- 
sammengehörigkeit von  Apriori  und  Aposteriori*),  einer  Zu- 
sammengehörigkeit, die  sich  aber  ebenso  als  Synthese  im  Aprio- 
rischen (Kategorialität)  wie  als  solche  im  Aposteriorischen  (kon- 
krete Begriffheit)  äußert.  Denn  die  Einheit  von  Apriori  und 
Aposteriori  ist  selbst  ebenso  ein  Aposteriori  wie  ein  Apriori, 
so  daß  der  Kategoriebegriff  gerade  erst  dadurch,  daß  er  selbst 
konkreter  Begriff  ist  und  damit  eben  den  Zusammenhang 
von  Kategorialität  und  konkretem  Begriff  schafft,  den  Namen 
Kategorie    verdient.     Die    transzendentale    Deduktion    de)-    Be- 


*)  Während  der  Drucklegung  wird  raii*  von  Rickert  eine  seitdem  im 
Logos  erschienene  Abhandlung  {Das  Eine,  die  Einheit  und  die  Eins,  Bemer- 
kungen zur  Logik  des  Zahlbegriffes)  freundlichst  zur  Verfügung  gestellt.  Ein- 
leitimgsweise  enthält  dieser  Aufsatz  eine  vollständig  neue  Darstellung  des 
Gegenstandsbegriffes ,  in  welcher  Rickert  sich  höchst  interessanterweise  gerade 
in  die  Mitte  zwischen  Lasks  Position  und  der  oben  von  mir  eingenommenen 
stellt:  Er  akzeptiert  nämlich  Lasks  Begriff  einer  Form  zwischen  Form  und 
Material,  dessen  spezielle  Entstehungsgeschichte  übrigens  auf  Rickcrts  frühere 
Schriften  selbst  zurückweist,  und  bezeichnet  sie  mit  ihm  als  Urphänomen,  ver- 
meidet dann  aber  den  erneuten  Zerfall  des  ürverhältnisses  in  angeblich  nur- 
Form  und  angcldich  nur-Inhalt,  setzt  vielmehr  grundsätzlich  die  Synthesis  von 
Form  und  Inhalt  als  das  Letzte;  und  so  trifft,  zum  erstenmal  seit  dem  Be- 
ginn der  neukantianischen  Richtung,  das  oben  für  sie  angegebene  Merkmal,  die 
Scheidung  von  Apriori  und  Aposteriori,  nicht  mehr  zu;  mit  anderen  Worten: 
der  Neukantianismus  ist  am  Ende,  und  Rickert,  bis  jetzt  heftigster  Verächter 
der  Dialektik,  tut  der  grundsätzlichen  Forderung  der  Hegelianer  nach  An- 
erkenntnis  der  Korrelatstruktur  von  Fonn   und  Inhalt  genug  und   uulcrniinmt 


48  Anwendung  der  Kategorie 


griff slwnhretheit  gründet  sich  also  auf  die  Deduktion  der 
reinen  Kategorie,  insofern  diese  zugleich  je  ein  einzelner  philo- 
sophischer, ein  konkreter  Begriff  ist:  die  Nicht- Aposteriorität 
als  Aposteriorität!  Die  Unangewendetheit  als  Angewendetheit! 
Die  reinen  Kategorien  selber  als  philosophische  Begriffe!  Im 
Innerlogischen  ist  die  Kategorie  zugleich  Begriff,  aber  die  Ka- 
tegorialität  nicht  Begriffheit.  Die  Kategorie  erweist  ihre  Ka- 
tegorialität  nur  insofern  sie  auch  Nicht-Kategorie,  nämlich  ein 
Punkt  in  der  Mannigfaltigkeit  philosophischer  Erkenntnisse  ist. 
Um  es  also  zu  wiederholen:  Es  gibt  eine  rein  apriorische  und  eine 
rein  aposteriorische  Anivenchmg  der  Kategorialität,  (aber  nicht 
ein  reines  Apriori,  nicht  ein  reines  Aposteriori) ;  die  apriorische 
Anwendung  ist,  als  Anwendung,  das  Urbild  aller  möglichen  Anwen- 
dungen, also  auch  der  aposteriorischen;  die  aposteriorische  An- 
vfendbarlceit  der  Kategorien  deduziert  durch  die  Tatsache  ihrer 
reinen  Anwendung!  So  ist  endlich  das  Hypothetische,  das  seit- 
dem das  Anwendungsproblem  bei  Kant  aufgekommen  ist,  dem 
Kategorienprinzip  angehaftet  hat  (Maimon!),  verschwunden;  denn 
die  „Möglichkeit"  der  Anwendung  der  Kategorie  auf  Objekte  ist 
durch  die  „Tatsache"  der  Anwendung  der  Kategorie  auf  sich 
selbst   eben   zur   Tatsache   geworden.      Die   Kategorien  werden 


sogar  eine  Neuableitung  der  Drei-Einheit.  Insofern  hat  Eickert  den  Gegensatz 
von  Hegel  und  Kantianismus  überwunden,  fällt  dann  aber,  obwohl  er  sich  aus 
dem  Kantianismus  selbst  ausgeschlossen  hat,  in  ihren  Gegensatz  zurück,  indem 
das  Urphänomen  der  Form-Inhalt-Einheit  nicht  als  Begründung  des  Begriffs 
durch  die  Kategorie,  Selbstanwendimg  der  Kategorie,  sondern  nur  als  Gattungs- 
begriff aller  Begriffe  verstanden  wii-d.  Das  Anwendungsproblem  ist  noch  immer 
nicht  zu  zentraler  Geltung  gekommen  (weshalb  den  Aufstellungen  Eickerts 
ebenso  wie  denen  Lasks  die  methodische  Ableitung  fehlen  muß),  und  Eickert 
hätte  nun  die  Wahl,  entw-eder  die  Kategorie  durch  den  Begriff  verschwinden 
zu  lassen  (Hegel)  oder  den  Begriff  durch  die  Kategorie  (Kantianismus),  d.  h.  die 
Form-Inhalt-Einheit  entweder  als  Wesen  aller  geltenden  Erkenntnisse  oder 
als  solches  der  reinen  Kategorien  zu  nehmen  (so  daß  j  etzt  überhaupt  der  Punkt, 
an  dem  die  Gegensätze,  Hegel  imd  Kantianismus,  ineinander  übergehen,  in 
der  Wirkhchkeit  erreicht  ist),  während  in  Wahrheit  einzusehen  ist,  daß  die 
Eorm-Inhalt-Einheit  zwaschen  (an  sich  formaler)  Kategorie  und  konkreter  Er- 
keimtnis  das  Band  der  Geltungsgeltung  knüpft  und  der  logische  Gegenstand 
nicht  zu  „beschreiben",  sondern  zu  „begründen"  ist  (siehe  die  Ausführungen 
im  Text). 


Die  eigene  Ansicht  •  49 


„fertig"  im  innerlogischen  Gebrauch;  denn  nachdem  sie  sich  an 
sich  selbst  als  gegenstandsbestimmend  erwiesen  haben,  kann 
ihnen  in  dieser  Beziehung  nichts  zuwachsen.  Der  außerlogische 
Gebrauch  der  Kategorien,  ihr  Gebrauch  i.  e.  S.,  ist  nicht  zu  deuten 
als  die  Beziehung  der  noch  unangewandten  Kategorie  auf  ein 
außerkategoriales  Material,  sondern  als  die  Beziehung  des  lo- 
gischen Gegenstandes  auf  den  außerlogischen  Gegenstand,  eine 
Beziehung,  der  die  kategoriale  Gültigkeit  nicht  fehlen  kann,  da 
sie  im  logischen  Gegenstand  für  jedes  und  alles  zugesichert  ist. 
Das  Selbstbewußtsein  der  Kategorie  begleitet  also  alle  unsere 
Erkenntnisse;  deshalb  bringt  die  Logik  eine  Methode  des  Er- 
kennens  hervor,  die  schlechthin  für  alle  Gegenstände  gilt:  die 
systematische  Methode;  sie  verwirklicht  die  Forderung  der  Ka- 
tegorialität,  das  Erkennen  auf  seinem  Gange  zu  begleiten,  bringt 
aber  nicht  die  Gegenstände  in  individuo  hervor,  sondern,  selbst 
überall  dieselbe,  fixiert  sie  nur  für  die  Wissenschaft  (die  eben 
durch  sie  entsteht).  Die  Kategorien  sind  so  als  reine  Denk- 
begriffe unfähig,  auf  Außerkategoriales  in  irgendwie  bestimmender 
Weise  hinzudeuten;  es  gibt  keine  Verhältnisse  zwischen  Einzelkate- 
gorien und  außerlogischen  Einzelbegriffen;  die.  Kategorien  laufen 
nicht  den  Grundsätzen  einer  reinen  Naturwissenschaft  oder  den 
Momenten,  die  den  ästhetischen  Genuß  zusammenstellen,  parallel. 
Solche  Gedanken,  wie  die,  welche  mich  seinerzeit  bei  dem  Ver- 
such einer  Systematisierung  geleitet  haben  (s.  o.),  sind  energisch 
abzuweisen.  Denn  in  jeder  einzelnen  Erkenntnis  liegt  gleichsam 
das  ganze  Reich  des  reinen  Denkens  zugrunde,  und  das  System 
der  Kategorien  verliert  ganz  das  reizende  Interesse,  daß 
sich  aus  ihm  das  System  der  Erkenntnisse  der  Natur-,  Ge- 
schichts-,  Kunstphilosophie  usw.  quasi  ableiten  lasse.  Der  Be- 
stand der  apriorischen  Denkformen  ist  nicht  umgrenzt  im  Ver- 
hältnis zu  der  Mannigfaltigkeit  der  außerlogischen  Aposteriori- 
täten,  und  die  Anwendung  der  Kategorien  auf  Alogisches  (d.  h. 
Aposteriorisches)  ist  an  keine  Gesetze  der  Vermittlung  (Sche- 
mata oder  dergl.)  gebunden;  sondern  das  reine  Denken  ist  überall 
zum  Reich  der  Gegenstände  bestimmt;  und  so  wenig  der  Bestand 
der  apriorischen  Denkformen  im  Verhältnis  zu  den  außerlogischen 
Mannigfaltigkeiten  begrenzt  ist,  so  wenig  überhaupt  im  Verhält- 

EVirenherff,  Die  Piirteiunt,'  der  l>hilosoi)hic'  'i 


50  Anwendung  der  Kategorie 

nis  ZU  den  Mannigfaltigkeiten  der  Philosophie  im  ganzen,. so  wenig 
also  auch  im  Verhältnis  zu  den  innerlogischen  Mannigfaltigkeiten 
selber.  Das  bedeutet  dann,  daß  das  Reich  des  reinen  Denkens, 
das  System  der  Kategorien,  sich  noch  so  sehr  in  sich  verviel- 
fältigen mag,  ohne  dadurch  dem  Reich  der  außerlogischen  Gegen- 
stände näher  zu  kommen;  es  bedeutet  außerdem,  daß  bei  jeder 
Einzelkategorie  als  einem  Objekt  des  Erkennens  der  ganze  Be- 
stand reiner  Denkformen  mitgewirkt  hat,  der  Bestand  so  durch 
seine  Objektivierung  zu  philosophischen  Begriffen  gar  nicht  zu 
einem  Abschluß  kommt;  denn  als  „Bestand"  ist  er  in  jeder  Einzel- 
kategorie in  abgeschlossener  Totalität  tätig;  insofern  ist  das 
System  der  Kategorien  an  jedem  Punkte  seiner  Darstellung  in 
der  Logik  als  Ganzes  da,  ist  zugleich,  indem  diese  Darstellung  dem 
Ganzen  nie  näher  kommt,  nirgends  als  Ganzes.  So  gibt  es  einen 
unendlichen  Progressus  des  Kategoriensystems,  durch  den  das- 
selbe gleichwohl  nicht  an  seiner  vollendeten  Totalität  verliert. 
Das  zieht  dann  in  der  Tat  eine  vollkommene  Revolution  unserer 
traditionellen  Vorstellungen  vom  System  der  Kategorien  nach 
sich:  Es  ist  das  in  sich  grenzenlose  Reich  des  Gedankens;  grenzen- 
los deshalb,  weil  es  nirgendwo  an  Nachbarländer  stoßen  kann, 
so  daß  die  Grenzenlosigkeit  der  Kategorien  die  einzige  Grenze 
dieses  Reiches  ist;  es  ist  dem  reinen  Denken  verwehrt,  in 
sich  selber  aus  sich  selber  herauszukommen.  Aber  dieses  in 
sich  grenzenlose  System  ist  gleichwohl  an  jedem  Punkte  seiner 
selbst  als  Totalität  da,  ist  so,  obwohl  es  in  seinen  Inhalten  nie 
aus  sich  herauskommen  kann,  in  seiner  Ganzheit  oder  in  seinem 
Begriff  immer  aus  sich  heraus,  immer  im  Verhältnis  von  Gegen- 
ständlichkeit und  Gegenstand  befangen;  und  so  ist  eben  dieses 
Reich,  das  in  sich  nie  aus  sich  herauskommen  kann,  zugleich  als 
Ganzes  auf  das  Ganze  Reich  der  Gegenstände  bezogen  —  als 
Gesamtbestand  der  reinen  Gegenstandsbegriffe  auf  den  Gesamt- 
bestand der  Erkenntnisobjekte  (dem  es  selbst  wiederum  angehört). 
In  der  Tat,  nirgends  kann  ein  bestimmtes  Verhältnis  zwischen 
einem  einzelnen  Gegenstandsbegriff  und  einem  einzelnen  Erkennt- 
nisobjekt obwalten;  die  Anv/endung  der  Kategorien  unterliegt 
keiner  Gebrauchsregel  als  der  Regel  der  Freiheit  selber;  und  die 
schlecMhinnige  Freiheit  des  Denkens  ist  das  einzige  Gesetz,  das 


Die  eigene  Ansicht  51 


uns  für  das  Erkennen  des  Reichs  der  außerlogischen  Gegenstände 
befohlen  wird. 

Welch'  neue  Wendung  muß  nun  aber  das  MannigfaltigJceits- 
problcm  nehmen,  nachdem  das  Apriori-Aposteriori  gar  nicht  mehr 
Verhältnis  von  Einheit  zur  Mannigfaltigkeit,  sondern  die  Rela- 
tion von  zwei  Mannigfaltigkeiten,  der  logischen  und  der  alogischen, 
geworden  ist!  Ist  doch  jetzt  alles  Alogische  unableitbar  aus  der 
Mannigfaltigkeit  des  Logischen!  diese  deutet  nicht  stärker  auf 
den  allgemeinen  Wert:  schön  hin  als  auf  ein  einzelnes  Kunst- 
werk, nicht  stärker  auf  den  Kulturbegriff  als  auf  ein  einzelnes 
Kulturereignis.  Die  Erforschung  des  Inhalts  ist  vollkommen  frä- 
gegehen.  Während  aber  innerhalb  der  innerlogischen  Mannigfaltig- 
keiten die  vollendete  Freiheit  des  Denkens  nicht  nur  herrscht, 
sondern  auch  durch  sich  selbst  gesetzt  ist,  während  also  das  Er- 
kennen von  Kategorien  ungehindert  weitergehen  darf,  weil  sein 
Ausdehnen  die  ihm  entsprechende  Gegenstandssphäre  (die  der 
Kategorien)  ständig  mit  erweitert,  ist  solch'  absolute  Autonomie 
dem  Erkennen  der  außerlogischen  Gegenstände  nicht  gegeben; 
denn  wenn  für  den  Innerlogiker  seine  Freiheit  im  Erkennen  von 
Kategorien  wieder  auf  Freiheit  steht,  ausgeübt  oder  nicht  aus- 
geübt werden  kann  (Autonomie  zur  Autonomie!),  ist  ganz  anders 
im  Außerlogischen  nur  derart  freie  Mannigfaltigkeitsbegrenzung 
zugestanden,  daß  von  den  Kategorien  aus  allerdings  kein  be- 
stimmter Begrenzungsversuch  unternommen,  aber  gleichwohl  das 
Gebot  zu  wenigstens  irgendeiner  Begrenzung  errichtet  wird;  denn 
hier  ist  der  Umfang  des  Gegenstandskreises  kein  Mitreisender 
des  Erkennenden.  Aber  allerdings  von  dem  „Verbieten"  von  Man- 
nigfaltigkeiten ist  die  Philosophie  befreit.  Die  Grenze  zwischen 
dem,  was  zur  Philosophie  gehört,  und  dem,  was  nicht  als  Geltendes 
sein  kann,  ist  auf  jeden  Fall  selbst  ein  Bestandteil  philosophischen 
Wissens.  Der  systematische  Abschluß  ist  von  dort  zu  holen, 
wo  das  Bedürfnis  nach  ihm  besteht,  aus  dem  Alogischen;  das 
Reich  der  Gegenstände  rundet  sich  selbst  zur  Einheit.  Wohl  ist 
somit  eine  reine  Freiheit  für  das  Ziehen  der  Mannigfaltigkeits- 
grenzen verliehen,  aber  die  Freiheit  muß  auch  ausgeübt  werden; 
sie  ist  Gebot;  die  realen  Disziplinen  kommen  erst  damit,  daß 
sie  diese  Grenze  finden,  zu  möglicher  Totalität;  das  ist  ilir  Unter- 

4* 


52  Anwendung  der  Kategorie 


schied  gegen  die  logische  Disziplin  selber;  ihnen  ist  Heteronomie 
ihrer  Autonomie  eigen;  die  Freiheit  zur  inhaltlichen  Totalisierung 
ist  nicht  ihr  eigener,  in  ihnen  entsprungener  Wille,  sondern  ist 
ihnen  aufgegeben.  Für  die  reinen  Aprioritäten  ist  das  Mannig- 
faltigkeitsproblem kein  Problem;  für  die  realen  Disziplinen  ist 
es  eine  Lebensfrage  (damit  ist  nicht  nur  der  Kantianismus,  son- 
dern auch  Hegel  abgelehnt).  Den  realen  Disziplinen  sind  die  Man- 
nigfaltigkeiten nicht  bloß  gegeben,  ist  doch  in  ihnen  nichts  als 
Mannigfaltiges  einschl.  ihrer  obersten  Begriffe;  aber  das  Problem 
der  Mannigfaltigkeiten  ist  ihnen  allerdings  gegeben  —  von  der 
Logik.  Daher  ist  es  seinem  Ursprung  nach  innerlogisch,  seiner 
Bedeutung  nach  außerlogisch,  so  daß  in  ihm  Logik  und  Alogik 
zusammengehen  • —  in  der  realen  Philosophie.  Denn  wo  eine 
Grenze  gezogen  wird,  da  findet  eine  Entscheidung  über  Zuge- 
hörigkeit oder  Nichtzugehörigkeit  zur  Philosophie  statt  und 
wird  also  an  der  Einheit  ihres  Ganzen  gebaut.  Dafür,  daß 
die  Philosophie  als  Ganzes  zustande  kommt,  ist  Bedingung,  daß 
jede  einzelne  Disziplin  im  Lauf  ihrer  systematischen  Selbstent- 
wicklung die  ihr  eigene  Grenze  zwischen  Ewigkeit  und  Nicht- 
Ewigkeit (insofern  nicht  eine  Disziplin  ganz  ohne  ausdrückliche 
Grenze  ist)  deduziert;  aber  auch  das  Hinausgewiesene  gehört  kraft 
der  Kategorie  der  Nicht-Ewigkeit  zum  Totum  des  Wissens;  und 
so  wird  durch  keine  Grenze  aufgehoben,  daß  die  Philosophie 
Universalwissenschaft  ist;  außer  ihr  gibt  es  keine  Wissenschaften 
in  der  Welt*). 


*)  Über  die  Anwendung  des  neuen  Mannigfaltigkeitsbegriffes  auf  den  Be- 
griff der  PhilosopMegeschichte  maclit  sich  vielleicht  der  Leser  aus  sich  selbst 
die  Gedanken,  die  ich  hier  unterdrücke. 


IL  Kapitel 

Der  Konflikt  im  Verhältnis  von  Logik  und 
Philosophie 


Punkt  ill:  Vernunft  und  Wirklichkeit 


Die  Philosophie  hat  nicht  die  Freiheit,  das  Denken  sein  zu 
lassen;  darin  scheint  ihr  eine  letzte,  zwar  selbstverständliche, 
aber  doch  zu  vermerkende  Grenzmöglichkeit  ihres  Wesens  ge- 
setzt zu  sein.  Irgendeine  Art  von  Rationalismus  muß  man  ihr 
wohl  als  ein  notwendiges  Übel  nachsehen;  und  vielleicht  täte 
sie  am  besten,  aus  solcher  Not  eine  Tugend  zu  machen.  Die 
Philosophie  Hegels,  kann  man  sagen,  hat  diesen  nie  ausgespro- 
chenen Rat  befolgt.  In  Hegel  lebt  daher  ein  radikaler  Rationa- 
lismus, der  bewußt  und  grundsätzlich  die  Möglichkeit  von  Er- 
kenntnisgrenzen von  sich  weist;  sei  man  doch  über  eine  Grenze, 
die  man  festzustellen  glaube,  längstens  hinaus!  Es  ist  dies  ein 
Gedanke  von  zwingender  Kraft;  Hegel  hat  sich,  ihn  einmal  ge- 
faßt, seiner  Macht  nie  wieder  zu  entziehen  vermocht.  So  stellt 
er  sich,  weil  jede  Transzendentierung  als  philosophische  Idee 
sich  wieder  für  bewußtseinsimmanent  gibt,  auf  den  grundsätz- 
lichen Standpunkt  einer  absoluten  Immanenzphilosophie.  Daraus 
rechtfertigt  sich  ihm  sein  Panlogismus.  Alle  Versuche,  eine 
Unbegreiflichkeit  als  ein  Letztes  zu  fixieren,  sind  ihm  Don 
Quixoterien.  Das  ist  zu  bedenken,  um  Hegels  Grundthese:  die 
Wirklichkeit  sei  vernünftig,  die  Vernunft  auch  wirklich!  ohne  die 
üblichen  Mißdeutungen  zu  verstehen.  Hegel  spricht  mit  ihr  das 
Doppelte  axLs:  die  Wirklichheitsimmaiienz  der  Vernunft —  die  Vernunft- 
immanenz der  Wirldichlceit.  Vernunft  und  Wirklichkeit  decken 
sich  in  ihrem  Umfang,  wobei  die  Vernunft  die  Einheitskraft  ist, 
welche  den  Umkreis  zieht.  Daher  hat  die  Wirklichkeitsimmanenz 
der  Vernunft  für  Hegel  einen  nur  sekundären  Wert  und  ist  mehr 
eine  polemische  Spitze  gegen  die  kantische  Philosophie,  von  der 
die  Idee  entgegenständlicht  worden  war.    Mehr  bedeutet  dagegen 


56  Vernunft  und  Wirklichkeit 


die  Vernunftimmanenz  des  Wirklichen,  ist  nicht  nur  These,  son- 
dern Prinzip,  nicht  nur  Prinzip,  sondern  das  Ein  und  Alles  der 
Hegeischen  Philosophie:  alles  Wirkliche  ist  Geist! 

Die  absolute  Idee  ist  der  Träger  dieser  Wirklichkeitsvernunft, 
Schon  bei  ihrer  Einführung  in  der  Logik  wird  sie  als  Synthese 
der  theoretischen  und  der  praktischen  Idee  dargestellt  und  anti- 
zipiert daher,  daß  Vernunft  (das  erkennende  Bewußtsein)  und  Gott 
(die  tätige  Wirklichkeit)  zusammentreffen  müssen.  Dadurch  ist 
die  absolute  Idee  gleichsam  der  spiritus  rector  im  Hegeischen 
Gedankenentwurf;  von  den  einzelnen  Begriffen  kommend,  wird 
man  immer  irgendwie  auf  sie  als  ein  Letztes  stoßen;  daher  emp- 
fiehlt es  sich,  dieses  Letzte  bei  unserer  Deutung  zu  einem  Ersten 
zu  machen,  wobei  uns  Hegel  selbst  zu  Hilfe  kommt.  Denn  es  heißt 
Wissenschaft  der  Logik,  1816,  III,  371/373:  „Alles  übrige  ist  Irr- 
tum, Trübheit,  Meynung,  Streben,  Willkühr  und  Vergänglichkeit; 
die  absolute  Idee  allein  ist  Seyn,  unvergängliches  Leben,  sich 
tüissendr.  Wahrheit,  und  ist  alle  Wahrheit. 

Sie  ist  der  einzige  Gegenstand  und  Inhalt  der  Philosophie. 
Indem  sie  alle  Bestimmtheit  in  sich  enthält  und  ihr  Wesen  diß 
ist,  durch  ihre  Selbstbestimmung  oder  Besonderung  zu  sich  zu- 
rückkehren, so  hat  sie  verschiedene  Gestaltungen,  und  das  Ge- 
schäft der  Philosophie  ist,  sie  in  diesen  zu  erkennen.  Die  Natur 
und  der  Geist,  sind  überhaupt  unterschiedene  Weisen,  ihr  Daseyn 
darzustellen;  Kunst  und  Religion  ihre  verschiedenen  Weisen,  sich 
zu  erfassen  und  ein  sich  angemessenes  Dasein  zu  geben;  die  Phi- 
losophie hat  mit  Kunst  und  Religion  denselben  Inhalt  und  den- 
selben Zweck;  aber  sie  ist  die  höchste  Weise,  die  absolute  Idee 
zu  erfassen,  weil  ihre  Weise  die  höchste,  der  Begriff,  ist.  Sie 
faßt  daher  jene  Gestaltungen  der  reellen  und  ideellen  Endlich- 
keit, so  wie  der  Unendlichkeit  und  Heiligkeit  in  sich,  und  be- 
greift sie  und  sich  selbst.  Die  Ableitung  und  Erkenntnis  dieser 
besonderen  Weisen  ist  nun  das  fernere  Geschäft  der  besonderen 
philosophischen  Wissenschaften,  Das  Logische  der  absoluten 
Idee  kann  auch  eine  Weise  derselben  genannt  werden;  aber  in- 
dem die  Weise  eine  besondere  Art,  eine  Bestimmtheit  der  Form 
bezeichnet,  so  ist  das  Logische  dagegen  die  allgemeine  Weise, 
in  der  alle  besonderen  aufgehoben  und  eingehüllt  sind.    Die  lo- 


Heo-el  57 

gische  Idee  ist  sie  selbst  in  ihrem  reinen  Wesen,  wie  sie  in  ein- 
facher Identität  in  ihren  Begriff   eingeschlossen,    und    in    das 
Scheinen  in  einer  Formbestimmtheit,  noch  nicht  eingetreten  ist. 
Die  Logik  stellt  daher  die  Selbstbewegung  der  absoluten  Idee 
nur  als  das  ursprüngliche  Wort  dar,  das  eine  Äußermig  ist,  aber 
eine  solche,  die  als  Äußeres  unmittelbar  wieder  verschwunden 
ist,  indem  sie  ist;  die  Idee  ist  also  nur  in  dieser  Selbstbestimmung, 
sich  zu  vernehmen,  sie  ist  in  dem  reinen  Gedanlcen,  worin  der 
Unterschied  noch   kein   Andcrsseyn,    sondern    sich    vollkommen 
durchsichtig  ist  und  bleibt.  —  Die  logische  Idee  hat  somit  sich 
als  die  unendliche  Form  zu  ihrem  Inhalte;  —  die  Form,  welche 
insofern  den  Gegensatz  zum  Inhalt  ausmacht,  als  dieser  die  in 
sich  gegangene  und  in  der  Identität  aufgehobene  Formbestim- 
mung so  ist,   daß  diese  konkrete   Identität  gegenüber  der  als 
Form  entwickelten  steht;  er  hat  die  Gestalt  eines  anderen  und  ge- 
gebenen gegen  die  Form,  die  als  solche  schlechthin  in  Beziehung 
steht,  und  deren  Bestimmtheit  zugleich  als  Schein  gesetzt  ist. 
—  Die  absolute  Idee  selbst  hat  näher  nur  dies  zu  ihrem  Inhalt, 
daß  die  Formbestimmung  ihre  eigene  vollendete  Totalität,  der 
reine  Begriff,  ist.    Die  Bestimmtheit  der  Idee  und  der  ganze  Ver- 
lauf dieser  Bestimmtheit  nun,  hat  den  Gegenstand  der  logischen 
Wissenschaft  ausgemacht,   aus  welchem   Verlaufe   die   absolute 
Idee  selbst  für  sich  hervorgegangen  ist;  für  sich  aber  hat  sie 
sich  als  diß  gezeigt,  daß  die  Bestimmtheit  nicht  die  Gestalt  eines 
Inhalts  hat,  sondern  schlechthin  als  Form,  daß  die  Idee  hier- 
nach als  die  schlechthin  allgemeine  Idee  ist.    Was  also  hier  noch 
zu  betrachten  kommt,  ist  somit  nicht  ein  Inhalt  als  solcher,  son- 
dern  das   Allgemeine   seiner  Form,    —   das   ist,   die   Methode'. 
Innerhalb  dieses  Zitates  ist  alles,   was  über  die  absolute  Idee 
Hegels  zu   sagen   ist,   auch  wirklich   gesagt:   S.   372  heißt   es: 
„Sie  [die  absolute  Idee]  ist  der  einzige  Gegenstand  und  Inhalt 
der  Philosophie";  S.  373  steht:  „Die  logische  Idee  hat  somit  sich 
als  die  unendliche  Form  zu  ihrem  Inhalt."   Beide  Gedanken  wieder- 
holen sich  in  den  anderen  Schriften  Hegels,  jedoch  nirgends  in 
so  umrissener  Gestalt  wie  hier.     Was  uns  betroffen  macht,  ist 
daß  die  Idee  fast  in  einem  Atem  als  Inhalt  und  als  Form  be- 
zeichnet wird;  als  wäre  beides  dasselbe.     Als  Inhalt  der  Philo- 


58  Yemunft  und  Wirklichkeit 

sopMe  „hat  sie  verschiedene  Gestaltungen  .  .  .    Die  Natur  und 
der   Geist   sind  überhaupt  unterschiedene   Weisen,   ihr  Daseyn 
darzustellen;  Kunst  und  Religion  ihre  verschiedenen  Weisen,  sich 
zu  erfassen  .  .  .;  die  Philosophie  hat  mit  Kunst  und  Religion  den- 
selben Inhalt  und   denselben  Zweck";  was   die  Natur   „eigent- 
lich" ist,  das  ist  nichts  anderes  als  die  absolute  Idee,  und  Kunst, 
Religion  und  Philosophie  sind  alle,  mögen  sie  sich  auch  in  der 
Schale  unterscheiden,  im  Kern  identisch,  sind  Dasein  der  abso- 
luten Idee.    Dazu  wird  nun  aber  die  Idee  als  Begriff  der  Wissens- 
form  gestellt,  unmittelbar  daneben!  und  der  Absicht  nach  in  dem 
Sinne,  daß  „das  Logische  der  absoluten  Idee  .  .  auch  eine  Weise 
derselben  genannt  werden"  kann  und  zwar  „die  allgemeine  Weise". 
So  scheint  der  drohende  Selbstwiderspruch  umgangen  zu  sein. 
Jedoch  „die  allgemeine  Weise"  ist  mehr  als  „irgend  eine  Weise"; 
und  wenn  die  logische  Idee  als  die  allgemeine  Weise  der  abso- 
luten Idee  charakterisiert  ist,  dann  nimmt  sie  unter  den  ver- 
schiedenen Erscheinungsweisen  der  absoluten  Idee  einen  bevor- 
zugten Platz  ein.     So  ergibt  sich  folgendes  Bild:   Die  absolute 
Idee  hat  verschiedene  Weisen,  in  denen  sie  je  irgend  einen  Inhalt 
der  Philosophie  ausmacht;  nur  in  einem  einzigen  Fall  bedeutet 
sie  die  Form  der  Philosophie,  und  gerade  dieser  eine  Fall  ist  die 
allgemeinste   Weise,   in  der  die  Idee   auftritt.     Die  Fonji  der 
Fhilosophie  ist   der   Gattimgshegriff  ihrer  Inhalte.     Aber  weit 
entfernt,  daß  Hegel  sich  damit  in  einen  Widerspruch  verwickele, 
ist  es  vielmehr  gerade  seine  Grundüberzeugung,   daß  zwischen 
Form  und  Inhalt  kein  Gegensatz  gemacht  werden  und  die  Form 
daher  wohl  die  Gattung  der  Inhalte  sein  dürfe.    „Nach  der  All- 
gemeinheit der  Idee  aber  ist  sie  [die  Methode]  sowohl  die  Art  und 
Weise  des  Erkennens,  des  subjektiv  sich  wissenden  Begriffs,  als 
die  objektive  Art  und  Weise,  oder  vielmehr  die  Substantialität 
der  Dinge''  (375).    Die  Form-Bedeutung  der  absoluten  Idee  sucht 
so  die  Brücke  zu  der  Inhalts-Bedeutung  zu  schlagen;  denn  wenn 
die  Methode  des  Erkennens  aus  den  Gegenständen  selbst  sich 
ergeben  soll  oder  besser,  wenn  die  Methode  so  ist,  daß  sie  je- 
weils von  den  Gegenständen  selbst  hervorgebracht  wird,  dann 
ist  die  Form  des  Erkennens,  welche  wir  als  seine  Methode  be- 
zeichnen, mehr  als  Form;  aber  doch  nur  mehr  als  eine  solche 


Hegel  59 

Form,  die  als  ein  äußerlich  herbeigebrachtes  Werkzeug  gilt, 
weniger  jedoch  als  der  Inhalt  der  Dinge  selbst,  wenn  anders  der- 
selbe sich  von  der  überall  einundderselben  Methode  noch  irgend- 
wie unterscheiden  soll.  Damit  daß  die  Methode  als  die  notwendige 
Form  des  Erkennens  und  somit  als  ein  mit  der  Gegenständlichkeit 
der  Gegenstände  verwachsenes  Wesen  begriffen  wird,  werden 
doch  nicht  die  Gegenstände  selbst,  sondern  nur  ihr  Verhältnis 
zum  Erkennen  beleuchtet.  Es  wiederholt  sich  hier  ein  bereits 
oben  von  uns  beobachteter  Vorgang:  Die  polemische  Stellung 
zum  Subjektivismus  in  Sachen  des  Logischen,  in  die  sich  Hegel 
gedrängt  sehen  muß,  veranlaßt  ihn,  die  Beziehung  von  Denken 
und  Wirklichkeit,  anstatt  bloß  seiner  eigentlichen  Absicht,  sie 
zu  verinnerlichen  und  zu  vernotwendigen,  genug  zu  tun,  gänzlich 
aufzuheben  (in  der  Terminologie  Hegels:  Die  Synthesis  hat  den 
Gegensatz  der  Thesis  und  Antithesis,  deren  antinomische  Auf- 
fassung überwunden  wurde,  nicht  zu  erhalten  verstanden).  Wir 
sehen  so  zwar,  daß  Hegels  Auffassung  der  Methode  uns  bei  der 
Interpretation  seines  Panlogismus  nicht  über  das  herausgebracht 
hat,  was  wir  uns  an  Hand  seines  Begriffs  der  absoluten  Idee 
bereits  auseinandergesetzt  hatten;  aber  die  Wiederholung  hat  ge- 
klärt: Wenn  Hegels  Philosophie  die  Spannung,  die  in  der  dop- 
pelten Bedeutung  der  absoluten  Idee  liegt,  ertragen  kann,  so 
wird  diese  Selbsterhaltung  ihr  durch  den  Begriff  der  Erkenntnis- 
fnethodc  ermöglicht;  wir  müssen  daher  den  Gegensatz  der  beiden 
Bedeutungen  auf  den  Begriff  der  Methode  gleichsam  übertragen; 
dann  gewinnen  wir  einen  doppelten  Methodenbegriff,  einen,  der  sich 
auf  die  Fortn  des  Erkennens,  einen  anderen,  der  sich  auf  dessen 
Inhalt  bezieht.  Jenen  nennen  wir  die  Methode  des  Antwortens, 
diesen  diejenige  des  Fragens.  Und  nun  sehen  wir  wohl,  wie  Hegels 
Panlogismus  zu  verstehen  ist  als  die  Identifizierung  der  Methode 
des  Fragens  mit  der  des  Antwortens.  Als  tätiges  Prinzip  der  Methode 
des  Antwortens  (dessen,  was  wir  hier  gewöhnlich  das  Prinzip 
einer  Fhilosophie  nennen)  ist  die  absolute  Idee  der  Begriff,  der 
„die  unendliche  Form  zu  seinem  Inhalt"  hat;  als  tätiges  Prinzip 
der  Methode  des  Fragens  (dessen,  was  wir  für  gewöhnlich  das 
Problem  einer  Philosophie  nennen)  ist  die  absolute  Idee  der  Be- 
griff,  welcher  „der   einzige   Gegenstand  und   Inhalt  der  Philo- 


60  Vernunft  und  Wirklichkeit 

Sophie"  sein  soll.  Dann  allerdings,  wenn  das  Fragen  nur  auf  das- 
jenige geht,  was  von  der  Antwort  schon  bereit  gehalten  wird, 
dann  ist  die  Methode  des  Erkennens  nicht  mehr  von  „der  Sub- 
stantialität  der  Dinge"  zu  unterscheiden!  dann  ist  es  einzig  und 
allein  „das  Geschäft  der  Philosophie,  sie  [die  absolute  Idee]  in 
diesen  [in  den  verschiedenen  Gestaltungen]  zu  erkennen",  und 
den  Disziplinen  bleibt  nichts  übrig,  als  daß  „die  Ableitung  und 
Erkenntnis  dieser  besonderen  Weisen  [der  absoluten  Idee]  .  .  . 
das  fernere  Geschäft  der  besonderen  philosophischen  Wissen- 
schaften" sei  (372).  Nicht  also  die  Ausdehnung  des  Erkennens 
über  schlechthin  alle  Gegenstände  noch  das  vorbehaltlose  Ein- 
gehen dieser  in  die  Erkenntnis  machen  das  panlogistische  Wesen 
Hegels,  sondern  die  einseitig  ausschließliche  Einstellung  der 
Problemstellung  auf  den  Logos  rechtfertigt  erst  die  Charakteri- 
sierung als  Panlogismus.  In  der  gesamten  Philosophie  Hegels 
wird  nach  gar  nichts  anderem  gesucht  als  nach  der  absoluten 
Idee;  da  aber  diese  außerdem  als  Form  des  Erkennens  wirkt 
(Methode  des  Antwortens),  so  beantwortet  niemand  denn  sie  selber 
die  Fragen,  die  nach  ihr  fragen;  sie  erkennt  sich  selber.  Und  in 
der  Tat  ist  die  Selbsterkenntnis  der  absoluten  Idee  der  von  Hegel 
selbst  gewollte  Gegenstand  der  Erkenntnis;  aber  anderseits  ist 
die  Selbsterkenntnis  der  absoluten  Idee  bereits  vollzogen,  sobald 
sie  sich  als  die  unendliche  Form  weiß  (logische  Weise  der  ab- 
soluten Idee).  So  schließt  sich  zwar  der  Ring,  „der  Kreis  der 
Kreise",  aber  wozu  sind  die  Disziplinen  da,  welche  nach  der  Logik 
kommen?  die  Kreise  selbst  sind  verschwunden,  weil  nur  die  ab- 
solute Idee  selber,  nur  das  Daß  der  Vernunftimmanenz  der  Ver- 
nunftimmanenz geblieben  ist.  Die  Vernunftimmanenz  der  Wirk- 
lichkeit hat  hat  so  die  Wirklichkeitsimmanenz  der  Vernunft  voll- 
kommen zersetzt;  alles  Wirkliche  ist  vernünftig,  das  bleibt  im 
Sinne  Hegels  eine  „Erkenntnis"  (hat  synthetischen  Wert);  aber 
daß  alles  Vernünftige  wirklich  sei,  ist  für  die  objektive  Philo- 
sophie Hegels  gleichgültig.  Alles  Wirkliche  ist  Geist  —  heißt 
also:  alles  Wirkliche  ist  logisch. 

Nun  besteht  aber  Hegels  System  nicht  nur  aus  einer  Logik; 
und  neben  der  Frage  nach  der  absoluten  Idee  hat  es  wenigstens 
nach  außen  hin  andere  Fragen,  die  nach  der  Natur,  nach  dem 


Hegel  61 

endlichen  Geist,  nach  Gott.  Eine  sachgemäß  immanente  Kritik, 
eine  Erklärung  von  Hegels  philosophiehistorischer  Stellung  kann 
sich  daher  nicht  mit  der  konstatierten  Identifikation  von  Prinzip 
und  Problem  der  Philosophie  (Methode  des  Antwortens  und  Me- 
thode des  Fragens)  begnügen.  Wir  haben  vielmehr  die  Richtig- 
keit unserer  bisherigen  Auslegung  gegen  die  „Tatsache"  des 
ausgeführten  Systems  zu  verteidigen:  Es  gibt  einen  bisher  von 
uns  noch  nicht  genannten  Grundbegriff  Hegels,  mittelst  dessen 
die  panlogistische  Rationalisierung  ohne  Vernichtung  der  nicht- 
logischen Gegenstände  durchgeführt  ist  und  die  beiden  so  ver- 
schiedenen Bedeutungen  der  Idee  für  die  Schöpfung  eines  Systems 
fruchtbar  gemacht  sind;  das  ist  der  Begriff  der  Entwicklung, 
bei  dem  wir  zunächst  die  Wiederholung  jenes  früheren  Zwie- 
spaltes bemerken:  Entwicklung  ist  einerseits  die  Form  des  Ant- 
wortens, andererseits  der  Zweck  und  Sinn  des  Ganzen:  logischer 
und  teleologischer  Entwicklungsbegriff  Hegels.  Dort  „entwickelt" 
sich  der  konkrete  Begriff  in  sich  in  die  Seiten  seines  Begriffes 
(seines  Sinnes)  und  die  seines  Inhaltes  (seiner  Materialien); 
das  ist  der  dialektisch-spekulative  Begriff  davon,  daß  jeder  Be- 
griff seinen  Inhalt  an  der  Entgegensetzung  seines  Sinnes  und 
seiner  Materialien  (seiner  abstrakten  Bedeutung  und  der  Ver- 
wirklichungsmöglichkeiten dieser  Bedeutung)  erhält  und  so  in 
sich  (innerhalb  der  durch  die  Begriffseinheit  gezogenen  Linie) 
sich  zu  einem  Gegensatz  entwickelt,  in  dessen  Sosein  sich  die 
einzelnen  Begriffe  voneinander  unterscheiden;  der  Entwicklungs- 
begriff ist  hier  das  Prinzip  der  begrifflichen  Individuation.  Aber 
in  dem  anderen  Falle,  als  teleologischer  Entwicklungsbegriff  ge- 
nommen, stammt  er  daher,  daß  die  absolute  Methode  als  Inhalt 
der  Philosophie  gilt  und  so  das,  was  an  sich  nicht  logisch  ist, 
zum  bloßen  Grenzbegriff  (s.  Hegels  Naturphilosophie)  verkürzt 
wird;  auch  dann  „entwickelt"  sich  die  absolute  Idee,  nämlich 
setzt  sich  gegenüber  dem  „Anderen",  dem  Nicht-Geist,  durch, 
und  die  Entwicklung  hat  jetzt  den  Sinn  der  sich  verwirklichenden, 
d.  h.  teleologischen  Sinn  tragenden  Entwicklung  der  absoluten 
Idee  hindurch  durch  das,  was  ihr  Gegensatz  ist,  —  durch  die 
Natur  und  den  endlichen  Geist  —  hin  zum  absoluten  Geist.  Erst 
in  diesem,  dem  absoluten  Geist,  wird  dann  der  reine  Gegenstand 


62  Vernunft  und  "Wirklichkeit 

der  Philosophie,  der  über  die  Materie  triumphierende  Geist,  er- 
reicht; so  daß  alles  das,  was  zwischen  Anfang  und  Ende  der  Ent- 
wicklung liegt,  zu  der  Bedeutung  von  „Beweisstücken"  herab- 
gesetzt ist.  Durch  den  Entwicklungsgedanken  kommt  so  ein 
Moment  des  Bewertens  und  des  Abstufens  in  Hinblick  auf  ein 
Ideal  in  die  Philosophie  hinein;  ein  dem  innersten  Wesen  Näher- 
und Fernersein  beherrscht  das  Ganze.  Erst  solche  (bei  jedem 
Entwicklungssystem  unvermeidliche)  Beivertungsmethode  ermög- 
licht trotz  der  Panlogisierung  des  Wirklichen  die  Ausführung 
des  Systems,  trotz  der  Ausführung  des  Systems  die  Panlogisierung 
der  Wirklichkeit.  Die  Vernunfthaftigkeit  ist  im  Entwicklungs- 
system zum  Telos  und  Maßstab  geworden,  die  Selbsterkenntnis 
zur  Selbstentwicklung,  und  die  Selbstentwicklung  äußert  sich 
in  „Stufen"  der  Selbsterkenntnis.  Die  Rationalisierung  des  Wirk- 
lichen bekommt  einen  tieferen,  umgreifenderen  Sinn,  wenn  sie 
in  dem,  was  ist,  nicht  ist,  sondern  ivird,  und  das  System  der 
Vernunft  gliedert  sich  in  Stufen  der  Selbstbewußtheit.  Es  mag 
paradox  klingen,  so  gilt  doch,  daß  Hegel  keine  andere  Wirklich- 
keit kennt  außer  der  Vernunft  und  doch  viele  Wirklichkeiten, 
die  außerhalb  von  ihr  stehen;  aber  alle  diese  Wirklichkeiten 
werden  am  Maßstab  der  reinen  Vernunft  „bewertet"  und  gemäß 
dem  Resultat,  zu  dem  diese  Bewertung  gelangt,  in  einer  im  ab- 
soluten Selbstbewußtsein  gipfelnden  Entwicklungsreihe  ange- 
ordnet; da  „bleibt"  dann  an  den  einzelnen  Wirklichkeiten  nichts 
als  „ihr  Grad"  von  Selbstbewußtsein,  und  trotzdem  sind  sie  alle 
mit  ihren  Namen  in  das  System  der  Wissenschaft  eingetreten. 
„Das  Interesse  der  übrigen  Wissenschaften  ist  dann  nur,  die  lo- 
gischen Formen  in  den  Gestalten  der  Natur  und  des  Geistes  zu 
erkennen".  (S.  W.  VI,  49  f.)  In  diesen  Zusammenhängen  ist 
keine  Lücke,  und  der  Panlogismus  erscheint  von  diesem  Gesichts- 
punkt aus  als  von  außen  unangreifbar:  Die  einzelnen  Wirklich- 
keiten sind  gar  nicht  etwa  nichts  als  Vernünftigkeit;  jedoch  nur 
das,  was  an  ihnen  Geist  ist,  gilt  dem  absoluten  Begreifer.  Es 
ist  wohl  ein  gewisser  Instinkt  gewesen,  der  alle  die  zahllosen 
Nichtversteher  Hegels  seine  Entwicklungsidee  hat  preisen  lassen; 
jedoch  diese  Idee  erfordert  von  sich  durchaus  das  ev  xal  näv  der 
Vernunft  und  bequemt  sich  daher  nicht  den  Wünschen  schwäch- 


Hegel  63 

lieber  Anbeter  an,  welche  sie  gerne  aus  dem  Panlogismus  heraus- 
lösen möchten. 

Aber  gerade  weil  der  Entwicklungsbegriff  von  sich  aus  die 
Alleinheit  der  Vernunft  —  sein  eigenes  Telos  —  erfordert,  diese 
aber  zugleich  Bedingung  der  Möglichkeit  des  Entwicklungssystems 
ist,  so  lauert  dem  von  außen  unbesiegbaren  System  im  eigenen 
Inneren  der  selbstgewissere  Feind  auf.  Im  Entwicklungssystem 
der  Vernunft  war  nämlich  eine  neue  Methode  des  Philosophierens 
zur  Anwendung  gekommen:  die  teleologische  oder  Bewertungs- 
methode; nur  ein  bewertendes  Messen  an  dem  Maßstab  reiner  Ver- 
nunft erlaubte  Hegel  die  Einordnung  aller  nicht-rationalen  Wirk- 
lichkeiten in  sein  panlogistisches  System.  Aber  wenn  nun  die 
teleologische  Bedeutung  des  Entwicklungsbegriffes  die  tatsäch- 
lich zur  Anwendung  gebrachte  Methode  des  Hegeischen  Syste- 
matisierens ist,  während  sie  angeblich  der  Frage  nach  dem  Sinn 
der  Welt  Ausdruck  gibt,  —  wenn  weiter  die  logische  Bedeutung 
des  Entwicklungsbegriffes,  d.  i.  das  spekulative  Begreifen,  der 
Maßstab  ist,  dessen  Verwirklichung  in  den  einzelnen  Wirklichkeits- 
sphären als  Problem  angesehen  wird,  während  sie  angeblich  die 
Methode  des  beantwortenden  Erkennens  sein  soll,  dann  ergibt  sich 
hier  das  Bild  einer  vollkommenen  Verkehrung  der  Grundbegriffe, 
die  ihnen  geschieht,  sobald  sie  aus  dem  Zustand  ihrer  ursprüng- 
lichen Bedeutung  in  die  Ausführung  des  Systems  eintreten;  näm- 
lich folgendermaßen:  Von  der  Logik  aus  bestimmt  das  Logische 
(das  Selbstbewußtsein)  die  Methode  des  systematischen  Ant- 
wortens  (das  Prinzip  der  Philosophie),  das  Teleologische  (die 
Verwirklichung  des  Logos  im  „Anderen")  die  Methode  des  Fragens, 
das  Problem  der  Philosophie;  dagegen  ist  \om  Enticicldungssystem 
aus  das  Teleologische  (Verwirklichung  der  absoluten  Idee  im 
Anderen)  die  antwortende  Methode  der  Systematik  (das  Prinzip), 
das  Logische  dagegen  (die  Selbstbesinnung)  dasjenige,  wonach  in 
allem  gesucht  wird  (die  Problemstellung),  Erstens  daß  die  pan- 
logistische  (sog.  dialektische)  Methode  t-atsächlich  gar  nicht  rein 
zur  Anwendung  kommt,  sondern  gebrochen  und  verdrängt  wird 
von  der  Methode  des  Bewertens,  und  zweitens,  daß  gar  nicht 
nach  der  Verwirklichung  eines  schon  gesicherten  reinen  Selbst- 
bewußtseins gesucht  wird,  sondern  nach  dem  Einen  Fall,  wo  es 


64  Vernunft  und  Wirklichkeit 

Überhaupt  da  sei,  —  sind  die  zwei  Punkte  einer  allerdings  ent- 
scheidenden, nämlich  immanenten  Hegelkritik.  Dagegen  würde 
gegen  das  übliche  larmoyante  Wehgeschrei,  mit  dem  man  die 
bösen  Geister  des  Panlogismus  beschwören  zu  müssen  glaubt, 
einer  der  Hegeischen  Irrtümer  eine  erbetene  Waffe  sein,  und 
ich  verwünsche  oft  die  Mißgunst,  die  verbietet,  sie  gegen  jenes 
noch  gebrauchen  zu  dürfen. 

H 

Denn  die  Waffe  der  Dialektik  wird  zwar  niemals  stumpf 
werden;  aber  es  ist  uns  verwehrt,  sie  im  Kriege  zu  tragen,  damit 
sie  sich  nicht  gegen  uns  selber  kehre.  Und  wir  müssen  zugeben, 
obwohl  es  uns  schwer  ankommen  mag,  daß  der  Antihegelianismus 
ein  Recht,  eine  Pflicht  gehabt  hat.  Jedoch  weder  die  dialektische 
Methode  noch  die  Rationalisierung  noch  auch  der  angebliche 
Widerspruch  zwischen  der  Dialektik  und  dem  Rationalismus  legten 
Angriffspunkte  bloß;  sondern  erst  die  Einsicht  in  Hegels  Gleich- 
setzen dessen,  was  Prinzip  der  Philosophie  ist,  mit  dem,  was 
als  ihr  Problem  ist;  und  auch  diese  Identifizierung  hätten  wir 
nicht  in  der  Auffassung  der  absoluten  Idee  finden  dürfen,  wenn 
nicht  das  auf  Grund  dieser  Auffassung  mittels  des  Entwick- 
lungsgedankens aufgeführte  philosophische  System  Problem  und 
Prinzip  geradezu  wechselseitig  vertauschte  und  so  ihre  Gleich- 
setzung allerdings  zu  einem  harten  Faktum  machte*).  Für  die 
gesamte  Epoche  des  Antihegelianismus  stand  deshalb  die  Gegner- 
schaft gegen  diese  Identität  als  der  rocher  de  bronce  aller  Phi- 
losophie da.    Gemäß  dem  nackten  Dualismus  der  nachhegelschen 


*)  Ähnlichea  hat,  das  ist  nicht  zu  bezweifeln,  auch  schon  die  althegehanische 
Kritik  gesehen;  aber  ihre  Ergebnisse  kamen  nicht  darüber  hinaus,  Hegels  Ver- 
hältnis von  Geist  und  Natur  bloß  umzustoßen;  denn  Vernunft  -  Wirklichkeit 
und  Geist -Natur  galten  ihnen  noch  dasselbe;  sie  glaubten  jenes  zu  treffen, 
wenn  sie  dieses  schlugen.  So  konnte  Haym  (Hegel  und  seine  Zeit,  1857, 
304ff.)  fragen:  ist  für  Hegel  „die  einheimische  Realität  des  Begriffes  oder  die 
Realität,  in  welcher  der  Begriff  einheimisch  ist,  die  vollendetere  und  echtere 
Reahtät"?  kennzeichnete  darauf  jedoch  die  gerügte  Unklarheit  über  das  Ver- 
hältnis von  Vernunft  und  Wirklichkeit  als  Hegels  „unvermitteltes  Übergehen 
aus  spiritualistischer  in  die  realistische  Realität".  So  verdarb  der  Naturalismus 
die  Hegel-Kritik. 


Antihegelianismus  65 


Philosophien  hatte  die  Philosophie  es  mit  einer  schlechthin  aphilo- 
sophischen Sache  zu  tun;  das  ist  ihr  Dualismus  von  Antwort  und 
Frage,  von  Prinzip  und  Problem;  derselbe  ist  allen  nachhege  Ischen 
Philosophen  gemein;  sei  es  nun,  daß  die  Frage  der  Philosophie 
nach  Gott  (nachhegelianischer  Schelling)  oder  nach  der  Natur 
(Feuerbach),  nach  dem  Nichts  (Schopenhauer)  oder  dem  Positiven 
(Comte  und  die  neueren  Kantianer)  geht;  bei  allen  hat  die  Phi- 
losophie etwas  zu  erforschen,  das  dem,  was  ihr  eigenes  Wesen 
ausmacht,  gänzlich  fremd  ist;  niemand  dachte  mehr  an  ein  „Selbst- 
erkennen". In  diesem  Sinne  sind  alle  Nachhegelianer  ausnahms- 
los Irrationalisten;  ein  Unterschied  besteht  nur  darin,  ob  sie 
den  Irrationalismus  aussprechen  oder  nicht.  Vor  solchem  Ansturm 
der  Transzendenz  schwindet  die  Vernunftimmanenz  und  die  lo- 
gische Bedeutung  des  Selbstbewußtseins  gänzlich  dahin.  Da  muß 
die  logische  Wissenschaft  selbst  zwecklos  werden,  und  die  Be- 
tonung, daß  jedes  Daß  irrational  sei,  bewirkt,  daß  die  Vernunft 
eines  jeden  Daß,  auch  des  Daß  des  Logischen  bar  gesprochen 
wird;  aus  solchem  mit  starren,  dogmatischen  Sinnen  festgehal- 
tenen Irrationalismus  der  nachhegelschen  Zeiten  entstammt  die 
allgemeine  Entwertung  der  Vernunft,  die  man  heute  fälschlicher- 
weise ausschließlich  der  Erkenntnistheorie  anrechnen  möchte. 
Wenn  aber  in  der  nachhegelschen  Spekulation  ein  absolutes  Sub- 
jekt aufrechterhalten  wird,  so  äußert  sich  der  Irrationalismus 
zunächst  als  ein  solcher,  welcher  das  Absolute  betrifft.  Erst 
als  mit  dem  Gegenstoß  gegen  alle  Metaphysik  das  absolute  Sub- 
jekt selbst  verworfen  wird,  verquickt  sich  mit  der  Ablehnung 
der  Vernunftimmanenz  des  Wirklichen  die  der  Wirklichkeitsimma- 
nenz des  Vernünftigen.  So  wird  die  schon  bereits  degradierte 
Vernunft  auch  noch  entwirklicht;  dies  geschieht,  damit  nicht  der 
Gegenstoß  gegen  den  kahlen  Empirismus  zu  Hegel  zurückführen 
könne.  Und  nun,  im  Knntianismus,  heißt  es:  Was  wirklich  ist, 
ist  nicht  vernünftig;  und  was  vernünftig  ist,  ist  nicht  auch  wirk- 
lich! Erst  die  Entwirklichung  der  Vernunft  gibt  die  Möglichkeit 
an  die  Hand,  auch  die  Transzendenz  der  Wirklichkeit  aufzuheben; 
denn  solange  noch  die  Vernunft  wirklich  ist,  muß  die  Wirklich- 
keit, insofern  sie  wie  hier  der  Fall  nicht  in  die  Vernunft  fallen 
soll,  in  deren  Jenseits  geraten,  transzendent  werden  (wie  dies 

Ehrenberg,  Die  Parteiung  der  Philosophie  5 


66  Vernunft  und  ■Wirklichkeit 

ja  auch  in  den  Anfängen  des  neueren  Kantianismus  geschehen 
ist,  indem  Kants  Ding  an  sich  von  einigen  aufgenommen  wurde). 
Jetzt  aber,  nachdem  die  Entwirklichung  der  Vernunft  vollzogen 
ist,  kommt  ein  Verhältnis  von  Vernunft  und  Wirklichkeit  zu- 
stande, das  nur  negativ  ausgesprochen  werden  kann:  Die  Ver- 
nunft ist  nicht  ein  Teil  der  Wirklichkeit,  noch  abhängig  von  ihr, 
weil  die  Transzendenz  der  Wirklichkeit  verneint  ist;  ebensowenig 
aber  ist  die  Vernunft  im  Jenseits  der  Wirklichkeit,  da  sie  dann 
ja  ihrerseits  notwendigerweise  die  Bedeutung  eines  Wirklichen, 
höchst  Wirklichen  bekäme;  so  ist  weder  die  Vernunft  trans- 
zendent der  WirMiclikeit  noch  diese  jener.  Und  nicht  also  der 
Dualismus  von  Vernunft  und  Wirklichkeit  als  solcher,  sondern 
erst  das  Aufheben  überhaupt  jeder  Art  von  Transzendenzverhält- 
nis, d.  h.  das  weder  immanent  noch  transzendent  8ein  von  Ver- 
nunft und  WirMichlieit,  bewirkt,  daß  der  Irrationalismus  und 
das  Verleugnen  aller  Absolutheiten  sich  verbinden  können.  Denn 
jetzt  kommt  das  paradoxe  Ergebnis  heraus,  daß  die  Wirklich- 
keit zwar  diesseits  der  Vernunft  (des  Bewußtseins)  steht,  die 
Vernunft  trotzdem  aber  nicht  jenseits  der  Wirklichkeit,  weil  sie 
überhaupt  nur  die  endliche  Vernunft,  die  in  gar  kein  Jenseits- 
verhältnis geraten  kann,  bedeutet.  Die  Anschauung  vom  Wesen 
der  Vernunft  untersteht  also  zwei  an  sich  ganz  getrennten 
Motiven,  die  sich  aber  in  dieser  Anschauung  gegenseitig  stützen: 
Das  eine  richtet  sich  gegen  das  Immanenzverhältnis  von  Vernunft 
und  Wirklichkeit,  das  andere  gegen  ihr  Transzendenzverhältnis 
zueinander;  worin  nun  die  beiden  Grundantipathien  der  Kantianer 
liegen,  die  gegen  den  Psychologismus  und  die  gegen  das  sog.  Hy- 
postasieren. Die  Bewußtseinsimmanenz  wird  getroffen,  weil  sie 
psychologistische  Konsequenzen  haben  würde:  das  transzendentale 
(unwirkliche)  Bewußtsein,  dessen  der  Kantianismus  bedarf,  um 
die  Hypostasen  zu  verhindern,  verträgt  keine  Bewußtseinsimma- 
nenz, weil  jede  durchgeführte  Immanenz  das  Bewußtsein,  das  un- 
wirJclich  sein  soll,  zu  einem  Wirklichen  machen  würde.  So  führt 
die  eine  Ablehnung,  die  der  Bewußtseinsimmanenz,  auf  die  andere, 
die  der  Bewußtseinstranszendenz,  zurück,  welche  ihrerseits  ver- 
langt wird,  um  die  Sünde  des  Hypostasierens  zu  tilgen.  Dadurch 
entgeht  man  den  beiden  Gefahren,  von  denen  man  sich  bedroht 


Neukantianismus  67 


glaubt:  die  Wirklichkeit  versetzt  man  in  das  Diesseits  des  Be- 
wußtseins, erklärt  sie  gleichwohl  für  das  relativ  Absolutere  von 
beiden  und  nimmt  so  dem  in  diesem  Verhältnis  Jenseitigen,  d.  i. 
dem  Bewußtsein,  die  Möglichkeit,  seine  Jenseitigkeit  als  Ab- 
solutheit auszunützen.  Die  Philosophie  behauptet  sich  als  Idea- 
lismus, setzt  trotzdem  das  Ideelle  oder  die  Vernunft  unter  das 
Reelle!  Um  nun  solche  Verdiesseitigung  des  Jenseitigen  (des  Be- 
wußtseins) und  Verjenseitigung  des  Diesseitigen  (des  Wirklichen) 
konsequent  durchführen  zu  können,  muß  der  Vernunft  die  Jen- 
seitigkeit gegenüber  der  Wirklichkeit,  dieser  die  Diesseitigkeit 
gegenüber  dem  Erkennen  genommen  und  beides  vereint  in  ein 
irgendwie  Drittes  gestellt  werden.  Das  ist  dann  bei  Coheii  die 
tatsächlich  vorhandene  WirklicMeitswissenschaft,  innerhalb  von 
der  die  Vernunft  ebenso  als  Jenseits  der  Tatsachen  gilt,  wie  sie 
außerhalb  von  ihr  nur  Denk  Voraussetzung,  die  Wu'klichkeit  aber 
das  Wahre  ist.  Oder  bei  Rickert  ist  es  der  SollenschBxakter  des 
Gegenstandsbegriffes:  das  Sollen  ist  allerdings  als  Sollen  trans- 
zendent, bleibt  aber  gleichwohl  gegenüber  der  Wirklichkeit  das 
Untergeordnete,  weil  sein  an  sich  transzendentes  Gebot  als  Ge- 
bot nur  außerhalb  des  Bewußtseins  liegt,  also  gar  nicht  ist.  Die 
Kant- getreuere  Ansicht,  welche  das  Bewußtsein  nicht  zwischen 
einer  vernunftfremden  Wirklichkeit  und  einer  wirklichkeits- 
fremden Vernunft  in  engsten  Grenzen  einschließt,  finden  wir 
bei  Windelband,  bei  dem  die  Synthesis  des  Bew^ußtseins  selber 
als  die  Kraft  gilt,  von  welcher  die  Diesseitswu-klichkeit  ihre  Be- 
wußtseinsobjektivität bezieht;  aber  es  muß  Windelband  dabei  wie 
Kant  selber  ergehen;  er  kann  dem  im  Neukantianismus  sonst 
verpönten  Hypostasieren  nicht  entgehen  und  streift  an  eine  mehr 
metaphysische  Bewertung  der  Vernunft  heran.  Erst  Bickert 
macht  blinden  Ernst  mit  der  Entrationalisierung  der  Wirklich- 
keit und  der  Entwirklichung  der  Vernunft,  setzt  die  Wirklichkeit 
als  dermaßen  vernunftfremd,  daß  ihm  alles  Wissen  um  Wirk- 
liches gar  nicht  mehr  das  Wirkliche  so,  wie  es  wirklich  ist,  be- 
trifft, und  setzt  die  Vernunft  als  dermaßen  wirklichkeitsfremd, 
daß  er  sie  als  im  letzten  Grunde  nicht  zu  befriedigende,  bloß  ein 
ideales  Wissensbild  bestimmende  Forderung  nimmt.  Die  Wirk- 
lichkeit gilt  für  durch  und   durch   irrational,   dem  Bewußtsein 


Vernunft  und  Wirklichkeit 


restlos  nur  „gegeben",  und  die  Vernunft  gilt  für  durch  und  durch 
nicht-seiend,  für  das  an  sich  um  seine  tatsächliche  Realisierung 
unbekümmerte  Gelten  (mit  dem  Geltensbegriff  wird  die  Entwirk- 
lichung der  Vernunft  noch  vollendeter  erreicht  als  mit  dem 
Sollensbegriff,  der  immer  noch  das  Moment  des  Anerkennens 
oder  Nicht-Anerkennens  einschließt,  welches  Moment  daher  auch 
besonders  in  Windelbands  weniger  wirklichkeitsfeindseligem  Ver- 
nunftbegriff Beachtung  und  Förderung  findet).  Das  wirkliche 
Bewußtsein  ist  so  zwischen  der  objektiven  Wirklichkeit  und  dem 
Gegenstandsgelten  eingeschlossen;  aber  damit  vermittelt  es  eben 
auch  diese  beiden  und  gibt  der  Wirklichkeit  ihre  Objektivität; 
das  Bewußtsein,  dessen  Formen  für  ebenso  inkommensurabel  dem 
Wirklichen  wie  nicht  konstitutiv  von  Seiten  der  Vernunft  ange- 
sehen werden,  ist  doch  der  einzige  Ort,  an  welchem  dem  Gege- 
benen die  Objektivität  (die  Wirklich-keit)  verbunden  werden  kann. 
Dann  aber  scheint  die  gegenseitige  Unbezogenheit  von  Wirklich- 
keit (Irratio)  und  Gegenstandsgeltung  (Ratio)  nicht  aufrecht- 
erhaltbar zu  sein;  daher  muß  ihr  Gegensatz  in  das,  was  denselben 
zu  zerstören  sucht,  in  das  vermittelnde  Bewußtsein  selber,  gelegt 
werden.  Dieser  immanenten  Forderung  an  die  Geschichte  des 
Kantianismus  wird  entsprochen:  Es  kommt  nunmehr  der  Gegen- 
satz des  WirklichkeitserZe&ews  und  der  'Wirklichkeitswissenschaft 
auf;  und  mit  diesem  Gegensatz  treibt  man  jetzt  dasselbe  geist- 
reiche Spiel  wie  früher  mit  dem  von  Wirklichkeit  und  Vernunft 
an  sich:  man  verdiesseitigt  das  an  sich  Jenseitige  der  beiden, 
d.  i.  die  Wirklichkeitswissenschaft,  bis  zu  Münsterbergs  Behaup- 
tung von  dem  wirklichkeitsfremden  Konstruieren  als  dem  Cha- 
rakter der  Wissenschaft,  und  verjenseitigt  das  an  sich  Diesseitige 
der  beiden,  das  Wirklichkeitserleben,  bis  zu  Cohns  Begriff  einer 
„idealen"  Erlebniswirklichkeit  (Ziele  und  Voraussetzungen,  320ff.). 
Nur  so  kann  überhaupt  die  Einführung  des  Erlebensbegriffes  in 
den  Kantianismus  gewürdigt  werden:  sieht  man  sich  doch,  vor 
dieser  Neueinführung  zur  Aufrechterhaltung  des  Dualismus  von 
Vernunft  und  Wirklichkeit,  vor  die  Alternative  gestellt,  entweder 
das  Gegebene  als  solches  vor  aller  Beziehung  auf  Kategorien 
(also  auch  vor  der  Beziehung  auf  die  Gegebenheitskategorie 
Rickerts)  für  die  objektive  Wirklichkeit  zu  erklären  und  würde. 


Neukantianismus:  Rickcrt  69 


um  die  Wirklichkeit  vernunftfrei  zu  erhalten,  die  alte  Erbsünde 
der  Ding-an-sich-lehre  begehen  müssen;  oder  der  Wirklichkeit 
ihre  Wirklich-keit  erst  auf  Grund  der  tatsächlich  vollzogenen 
Geltungsakte  zuzugestehen  und  würde,  um  sich  die  Vernunft  von 
wahrhafter  Wirklichkeit  rein  zu  erhalten,  zum  psychologisch  ver- 
standenen Apriori  zurückkehren.  Beiden,  der  metaphysischen 
Szylla  und  der  friesianischen  Charybdis  will  man  entgehen;  und 
beiden  entgeht  man  in  der  Tat,  indem  man  in  den  Bewußtseins- 
begriff, dessen  Tücken  man  zu  fürchten  hat,  den  Gegensatz  ein- 
führt, der  bisher  die  Abwehr  von  Dogmatismus,  Psychologismus 
und  Metaphysik  —  diesem  Dreigestirn  der  philosophischen  Laster 
—  ermöglichte:  Man  teilt  im  Bewußtsein  zwischen  dem  vorwissen- 
schaftlichen JErZe6ew  und  dem  wissenschaftlichen  Konstruieren ;  und 
mit  diesem  Zaubermittel  kommt  man  sicher  durch  die  drohenden 
Gefahren  hindurch.  Die  Wirklichkeit  gilt  derart  für  echt,  wie 
sie  erlebt  wird:  Erlebniswirklichkeit;  und  die  Wissenschaft  gilt 
für  eine  Konstruktion  über  das  Wirkliche,  das  darin  vergewaltigt 
wird,  und  die  Formen  der  Wissenschaft  für  nur  methodologisch. 
So  wird  auf  Grund  der  „Interpretation"  des  Wirklichkeitsbegriff  es 
durch  den  Erlebensbegriff  und  des  Vernunftbegriffes  durch  den 
Wissenschaftsbegriff  der  vollendete  Dualismus  von  Wii'klichkeit 
(Irratio)  und  Vernunft  (Irrealität)  aufrecht  erhalten.  Der 
Bewußtseinsbegriff  ist  in  den  Dualismus  vollkommen  einge- 
gangen, und  dieser  erweist  sich  jetzt  bei  der  differenzierten 
Abstufungsfähigkeit  des  Bewußtseins  als  Grenzwächter:  Irratio- 
nalität und  Rationalität  werden  zu  Grenzbegriffen;  zwischen  ihnen 
stehen  verschiedene  Arten  des  Wissens:  das  bloße  Erleben,  das 
wissenschaftliche  Wissen  um  einzelne  Tatsachen,  das  wissenschaft- 
liche Wissen  um  Allgemeinheiten.  Das  System  der  Wissenschaften 
ergibt  sich  als  eine  Anordnung  dieser  Art,  und  wird  zugleich 
erst  verständlicht  durch  seine  Angliederung  an  das  einzige  gegen- 
ständliche Bewußtsein,  das  vorwissenschaftliche  Erlebensbewußt- 
sein. (Rickcrt,  Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffs- 
bildung.) 

Dann  aber  wird  die  früher  geduldete  Urteilstheorie  nicht 
nur  überflüssig,  sondern  geradezu  ein  Stein  des  Anstoßes.  Denn 
alles  Urteilen  steht  vom  Standpunkt  des  Bewußtseins  näher  dem 


70  Vernunft  und  Wirklichkeit 

rationalen  Punkte  als  das  Erleben;  jedoch  nur  im  Erleben  soll  das 
Wirkliche  so,  wie  es  wirklich  ist,  objektiviert  sein.  Eine  Er- 
kenntnistheorie, welche  vom  Urteil  ausgehen  würde,  müßte  daher 
mit  der  Fassung  des  Irrationalitätsproblems  bei  Rickert  und 
Cohn,  mit  ihrer  Anschauung  von  der  Vernunft  in  Konflikt  geraten. 
Ohne  daß  nun  die  Verdrängung  der  Urteilslogik  klar  als  Not- 
wendigkeit eingesehen  würde,  wird  doch  deren  Konsequenz  ge- 
zogen, und  die  transzendentalpsychischen  Akte  (Urteilstheorie) 
werden  auch  von  dem  zweiten  Platze,  den  man  ihnen  bisher  noch 
zugestanden  hat,  vertrieben.  Das  Bewußtsein  entweicht  aus  der 
Mitte  zwischen  Ratio  und  Irratio,  die  bisher  seine  Position  war, 
und  deren  Gegensatz  tritt  jetzt  in  vollkommener  Nacktheit 
heraus;  EicUrt  (Zwei  Wege  der  Erk.-Th.,  Kantst.  1909)  und 
Laslc  (Logik  der  Ph.  u.  d.  Kat.l,  1911)  vollziehen  diesen  Schritt, 
wobei  allerdings  Rickert  gegenüber  der  Bewertung  des  „trans- 
zendentalpsychologischen" Weges  noch  ein  gewisses  unsicheres 
Schwanken  zeigt.  Dann  aber  muß  sich  die  Entfernung  des  Be- 
wußtseinsbegriffes an  den  beiden  Begriffen  äußern,  auf  welche 
sich  der  Kantianismus  stützt,  und  sowohl  der  Wirklichkeits-  als 
auch  nicht  minder  der  Vernunftbegriff  werden  von  den  Zusätzen 
gereinigt,  mit  denen  sie  der  Bewußtseinsbegriff  durchsetzt  hat: 
An  Stelle  der  geltenden  Norm,  welche  anerkannt  werden  soll, 
tritt  der  geltende  Wert  (Rickert),  die  „hingeltende  Form",  deren 
Sinn  ist,  sich  unmittelbar  ohne  Vermittlung  eines  Bewußtseins 
auf  den  Gegenpol  der  Vernunft,  die  Wirklichkeit,  zu  beziehen 
(Lask,  31);  und  entsprechend  setzt  sich  an  die  Stelle  der  un- 
bearbeiteten Erlebniswirklichkeit  (des  Individuellen  Windelbands 
und  Rickerts)  der  reine  Begriff  der  DenkfTemdheit  (J.  Cohn)  und 
noch  schärfer  gefaßt  der  der  „logischen  Nacktheit"  (Lask  72f f .)  *). 
Aber  die  Verbannung  des  Bewußtseinsbegriffes  hat  die  für  den 
Kantianismus  überraschende  Folge,  daß  die  bis  jetzt  gelungene 


*)  J.  Cohn  (a.  a.  0.  106  ff.)  nimmt  den  Begriff  der  Denkfremdheit  schon 
im  funktionellen  Sinn,  ist  sich  aber  der  Unterscheidung,  die  Lask  zwischen 
dem  nicht-logischen  Material  (Alogisch  oder  irrational)  und  der  nicht-logischen 
Funktion  (logisch  nackt)  macht,  noch  nicht  bewußt,  daher  fehlen  bei  Cohn  noch 
die  Folgen  des  neuen  Begriffes,  die  nachher  bei  Lask  eintreten,  besonders  die 
Irrationalisierung  des  Logischen  selber. 


Neukantianismus:  Eickert,  Cohn,  Lask  71 


Wechselbekämpfung  von  Hypostasierungsmetaphysik  und  Psycho- 
logismu?  ihre  Stütze  verliert;  zwar  ist  jetzt  sogar  der  bloße  Schein 
einer  psychologistischen  Auffassung  beseitigt  worden*),  abernach 
Entfernung  des  Bewußtseinsbegriffes  aus  der  Mitte  zwischen  Ver- 
nunft und  Wirklichkeit  büßt  man  auch  die  Möglichkeit  ein,  das  im 
kantianischen  Verhältnis  von  Wirklichkeit  und  Vernunft  eigentlich 
Jenseitige,  die  Vernunft,  durch  restlose  Entwirklichung  so  wirk- 
sam zu  verdiesseitigen,  wie  man  es  bisher  vermocht  hat;  denn 
dies  ist  die  Leistung  des  Bewußtseinsbegriffs  gewesen,  und  jetzt, 
nach  seinem  Abtreten,  erscheint  kein  Nachfolger,  der  sein  Amt 
übernehmen  würde.  So  kommt  im  Wert  an  sich,  der  gilt,  ob  er 
ein  anerkennendes  Bewußtsein  findet  oder  nicht,  wieder  ein  in 
seiner  Art  Absolutes  auf;  die  Furcht  vor  dem  Hypostasieren  und 
der  Metaphysik  ist  mit  einem  Schlage  wie  weggeblasen;  die  früher 
Logik  und  Erkenntnistheorie  genannte  Vorlesung  heißt  jetzt 
wieder  wie  in  alten,  doch  so  längst  überwundenen  Tagen  Logik 
und  Metaphysik,  und  die  Schüler  ergehen  sich  in  den  lang  ver- 
schlossenen Gärten  des  Absoluten.  Das  neue  Absolute  unter- 
scheidet sich  aber  in  einem  grundsätzlichen  Punkte  von  dem 
früheren,  nämlich  in  seiner  Bewußtseinsfremdheit.  Ein  Absolutes, 
das  an  sich  in  nichts  an  ein  Subjekt  geknüpft  wird,  in  nichts 
einem  Bewußtsein  immanent  ist.  Der  Kantianismus  hat  erst 
damit  den  von  Hegel  entferntesten  Punkt  erreicht;  man  fängt 
jetzt  an,  Hegel  in  seinem  eigenen  Kreise  zu  bekämpfen.  Jedoch, 
wie  unvollkomm-en!  denn  man  kann  des  Bewußtseins  nicht 
gänzlich  entraten;  die  Transzendentalpsychologie  wird  unver- 
mittelt neben  der  Transzendentallogik  stehen  gelassen  (Husserl, 
Rickert);  oder  wenn  man  nicht  so  weit  geht,  so  baut  man  doch 
unter  die  bewußtseinsfremden,  rein  an  sich  geltenden  Wesen- 
heiten des  Werts  und  der  Wertfremdheit  die  subjektsgefärbten 
Begriffe  des  Erkennens  und  des  Lebens  (Lask);  und  schwerlich 
läßt  sich  eine  klare  Auffassung  über  diese  Beziehungen  konsta- 
tieren: theoretischer  Wert  und  Erkennen  sind  zwar  präzis  durch 
das   Merkmal    der    Subjektheit   geschieden,    aber   wie   das   Er- 


*)  In  diesem  Augenblick  seiner  Geschichte  verliert  der  Kantianismus  daher 
das  Interesse  an  der  Bekämpfung  des  Psychologismus,  welches  ihn  bis  dahin 
beinahe  belierrschte. 


72  Vernunft  und  Wirklichkeit 

kennen  sich  des  Subjektsbegriffes  entkleide,  oder  wie  der  theore- 
tische Wert  zur  „Anwendung"  im  wirklichen  Erkennen  komme, 
das  sind  umsomehr  nicht  aufgeklärte  Partien,  als  der  Kantia- 
nismus  sich  im  Laufe  seiner  Entwicklung  mehr  und  mehr  von 
der  strengen  Methode  der  altkantischen  Kategoriendeduktion  (De- 
duktion der  Anwendbarkeiten)  zu  einer  zwar  auch  strengen,  aber 
überwiegend  nur  aufzeigenden,  gleichsam  deskriptiven  Darstel- 
lung umgebildet  hat*). 

Bei  aller  Ungeklärtheit  der  Notwendigkeit  des  „Erkennens" 
und  „Lebens"  sind  diese  subjektsgetränkten  Begriffe  doch  mit 
Erfolg  aus  der  eigentlichen  Zentralsphäre  der  Logik  abgeschoben, 
und  hieran  wird,  man  kann  sagen,  mit  eiserner  Konsequenz  fest- 
gehalten**). Der  nackte  Gegensatz  der  Rationalität  und  der  Ir- 
rationalität bedarf  dann  aber  in  irgendeiner  Weise  eines  Ersatzes 
für  den  Bewußtseinsbegriff;  denn  die  Wechselbezogenheit  der 
beiden  Begriffe  muß  irgendwie  ausdrückbar  sein,  zumal  sie  darauf 
hinweist,  daß  Rationalität  und  Irrationalität  immer  „zusammen 
vorkommen".  Die  Sphäre  des  Zusammentreffens  der  beiden 
Extreme  wird  daher  als  ein  „drittes  Reich"  eingeführt  und  das 
Reich  des  Sinnes  geheißen  (Rickert,  Logos  I,  1;  Lask,  Logik 
d.  Ph.,  33  u.  passim).  Dieses  neue  Reich  umfaßt  dann  die  Zu- 
sammensetzungen von  Ratio  und  Irratio  (Form  und  Material); 
solche  Zusammensetzung  soll  an  der  vollkommenen  Wertfremd- 
heit des  Materials,  Materialfremdheit  des  Wertes  nichts  ändern; 
in  dieser  Beziehung  bleibt  tatsächlich  alles  beim  Alten,  worin 
sich  wieder  die  große  Strenge  und  Konsequenz  des  kantianischen 
Denkens  zeigt:  Die  Zusammensetzungen  müssen  nämlich  immer 
irgendwelche  bestimmten  Verhältnisse  von  Form  und  Material 
ergeben,  während  deren  ganz  allgemeine  Begriffe  gar  nicht  zu 
einer  Zusammensetzung  kommen;  so  treten  die  „einzelnen"  Wert- 


*)  Eickert    bemerkt    selbst,     wie    Wert    und    Wertverwirklichung    unzu- 
sammenhängend dastehen,  s.  Zwei  Wege  der  Erk.-Th.,  225. 

**)  Das  hindert  nicht,  daß  der  Gegensatz  von  Leben  und  Erkennen  in  der 
ihm  gewidmeten  Spezialbetrachtung  durch  den  Gegensatz  von  „logisch  nackt" 
und  „logisch  betroffen"  (Lask,  80  ff.,  87)  erläutert  wird.  Aber  auch  ein  anderes 
kann  nicht  verhindert  werden,  nämlich,  daß  solche  Spezialprobleme  ganz  für 
sich,  ohne  einen  übersehbaren  Zusammenhang  mit  den  Grundbegriffen,  dastehen. 


Neukantianismus:  Lask  73 


Wirklichkeiten  vom  Niveau  des  Wertes  auf  das  des  dritten  Reiches 
über;  und  der  Sinn  ist  dasjenige,  was  irgendwie  nach  einzelnen 
Sphären  (Disziplinen)  spezifiziert  ist:  ästh.,  eth.,  relig.  Sinn  usw.; 
diese  Konsequenz  zieht  Rickert  noch  nicht,  aber  Lask;  und  so 
ist  er  es  auch,  dem  sich  wieder  die  Konsequenz  dieser  Konse- 
quenz offenbart:  Der  Gegensatz  von  rationalem  Wert  und  ir- 
rationalem Material  ist  jetzt  verdoppelt:  einmal  steht  er  da  in 
seinen  einzelnen  Gestaltungen  des  Sinn-Reiches,  andererseits  in 
seiner  an  sich  seienden  Allgemeinheit;  und  so  wird  er  von  jeder 
Beziehung  auf  bestimmte  Sphären  losgelöst,  und  die  Grund- 
begriffe der  Kantianischen  Erkenntnistheorie,  welcher  der  Wert 
gleich  dem  Erfahrungswissen,  das  Material  gleich  dem  Anschau- 
ungsmaterial gegolten  hat,  verallgemeinern  sich  und  werden  so 
zu  universeller  Anwendbarkeit  erhöht.  Alles  Was  irgendeines 
Erkennens  ist  jetzt  irrationales  Material,  alles  Wie  irgendeines 
Erkennens  rationale  Form.  An  sich  ist  nichts  unerkennbar;  die 
Irrationalität  hindert  in  nichts  die  ungehemmte  Anwendung  der 
Vernunft;  der  „Herrschaftsbereich  der  logischen  Form*'  ist  un- 
beschränkt (Lask);  die  Vernunft  hat  ,,Panarchie"  (id.)  über  die 
gesamten  Gegenstände.  Solcher  neue  Panlogismus  unterscheidet 
sich  aber  in  prinzipiellem  Punkte  vom  Panlogismus  Hegels.  Diesem 
war  es  erschienen,  als  ob  die  grundsätzliche  Erkennbarkeit  der 
Wirklichkeit  nicht  mit  deren  eigenen  Vernunftfremdheit  ver- 
einbar wäre;  und  so  hatte  er  die  Irrationalität  zugunsten  der 
Rationalität  einfach  gelöscht.  Der  Panlogismus  Lasks  ist  da- 
gegen so  wenig  Feind  der  Vernunftfremdheit,  daß  er  dem  kan- 
tianischen Irrationalitätsbegriff  sogar  erst  dessen  letzte  Aus- 
bildung und  Abrundung  verleiht  (gleichwohl  aber  auch  meint, 
daß  „der  Abstand  von  Sinn  und  Gegenstand  auf  eine  Distanz 
von  Sinn  und  Sinn"  [Lask  42]  hinauslaufe,  und  damit  sich  dem 
Hegelianischen  Panlogismus  überliefert  resp.  der  eigenen  Irratio- 
nalitätsthese widerspricht).  Nachdem  die  Irrationalität  schon  bei 
Cohn  die  spezifische  Note  des  sinnlich  Gegebenen  (die  sie  in 
Nachwirkung  des  kantianischen  Anschauungs-  oder  Sinnlichkeits- 
begriffes besaß)  eingebüßt  hat,  wird  sie  bei  Lask  als  selbst  lo- 
gischer Begriff  erkannt  und  so  von  noch  vorhandenen  Resten 
spezifisch   erfahrmigstheoTetiscliev  Bedeutung  gesäubert   (Lask, 


Venmiift  und  Wirklichkeit 


54).  Dann  wird  aber  alles  gerade  erst  dadnrcli  irrational,  dalj 
es  die  Rolle  spielt,  zu  der  der  Irrationalitätsbegriff  von  der 
Logik  bernfen  ist,  die  Rolle  des  Erkenntnismaterioils.  Die  Pan- 
archie  der  rationalen  Form  und  die  Vertiefong  des  Irratio- 
nalitätsbegriffes znm  allgemeinen  ErTcenntnisobjektshegTÜle  sind, 
die  beiden  Nenernngen  der  Logik  Lasks,  die  zueinander  geMiremL 
TliAEhhinghaus  tänsclit  sieb  vollkommen,  wenn  er  es  für  trivial  Mltfe^ 
die  Irrationalität  des  Gegenstands  der  PMlosophi©  zu  betoineaai*); 
der  alte  Panlogismns,  in  dessen  Spuren  Ebbingbaus  sell)er  zu  geben 
meint,  hätte  so  lebe  Selbstverständlichkeit  als  höchst  ketzerisch  be- 
urteilt.. Die  harte  Trennung  von  Vernunft  und  Wirklichkeit,  die 
Loslösung  des  Was  des  Erkennens  von  der  Erkenntnis  hat  also  die 
Möglichkeit  einer  neuen  Vernunftimmanenz  der  WirMkhIceif  ge- 
schaffen, ohne  daß  dieselbe  die  Rationalisierung  des  Was  selber 
im  Gefolge  haben  würde;  es  gibt  jetzt  eine  Vernunftimmanenz 
der  Wirklichkeit,  welche  deren  Vernunftfremdheit  nicht  nur 
duldet,  sondern  vielmehr  benötigt;  denn  die  Panarchie  der  lo- 
gischen Form  ist  überhaupt  nur  eine  Archie,  insofern  sie  auf  ein 
Vernunftfremdes  geht;  das  Erkennen  hat  erst  Selbstwert,  wenn 
es  das  an  sich  selber  Unerkannte  erkennt.  Die  Wirklichkeit 
steht  jetzt  doppelt  da,  einmal  als  vernunftfremde  (Lask:  logisch, 
nackt),  das  andere  Mal  als  vernunftimmanente  (Lask:  logisch 
umkleidet);  beide  Positionen  der  Wirklichkeit  sind  verknüpft, 
indem  das  Erkennen  seinen  Inhalt  so  erkennt,  wie  er  an  sieh  ist,. 
d.h.  in  seiner  Vernunftfremdheit  (La^k:  Die  logisclie  Form  durch- 
dringt nicht  ihr  Material,  sondern  umkleidet  es  nur)!.  Fnxi  m> 
hat  die  neue  Vernunftimmanenz  der  Wirklichkeit  die  tiefere  Fas- 
sung bekommen,  daß  die  vernunftimmanente  Wirklichkeit  in 
ihrer  Immanenz  vernunftfremd  geblieben  ist:  Also  auch  im  Zu- 
stand der  Vereinigung  von  Form  und  Materie  bleiben  beide.  Form 
und  Materie,  getrennt.  Dann  aber  ist  es  für  die  Vereinigung  von 
Form  und  Materie  gleichgültig,  was  die  Materie  ist;  wird  sie 
doch  Materie  dadurch,  daß  sie  in  die  Position  eines  Was  des 
Erkennens  gedrängt  wird.  Dies  trifft  dann  nicht  minder  das 
Erkennen  selber;  da  es  von  seinem  Was  losgelöst  worden  ist 


•)  J.  Ebbinghaus,  Relativer  und  absoluter  Idealismus,  191Q;  27  Anm. 


7$ 


(Kantianischer  Dualismus),  steht  es  jetzt  selbst  in  dieser  Los- 
gelöstheit unerkannt,  vernunftlrernd  (logisch  nacki)  da  und  ist 
so  seinerseits  mögliches  Was  für  das  Erkennen.  So  enthüllt  der 
Kantianische  Dualismus  seine  letzte  Konsequenz,  indem  er  den 
Dualismus  auflöst:  Das  Erkennen  oder  die  rationale  Form  selber 
als  Was  des  Erkennens,  als  irrationales  Material  (Lask,  TG).  Die 
Ratio  ist  so  selber  irnitionalisiert,  und  der  neue  Panlogismus  ist 
der  absolute  Gegen wurf  gegen  den  alten  Panlogismus.  Wo  bei 
diesem  Prinzip  und  Problem  vermischt  wurden,  „die  Frage  sich 
selbst  beantwortete",  da  ist  jetzt  alles  getrennt  und  ohne  jede 
Verbindung:  dus  Priniip  rein  mHomtUsti^-h ,  das  I*irMem  rvin 
irratiafMlistisi-fL 

Die  Tragweite  der  neuen  Fassung  des  Irrationalitätsproblems 
liegt  also  darin,  daß  das  Rationale  selbst  den  Sinn  eines  Irratio- 
nalen erhält,  selbst  zum  Gegenstand  der  Vernunftwerie  gemacht 
wird  (Disziplin  der  logischen  Form).  Aber  in  diesem  Augen- 
blick seiner  Entwicklung  droht  dem  Kantianismus  auf  Grund 
der  Irrationalisierung  der  Vernunft  eine  neue  Wirktkhkeitsimma- 
n*rns  der  Vernunft  (die  Vernunft  als  Material  bt  V  '      it!) 

und  damit  der  Verlust  seines  A  und  0,  der  Wirki:  ud- 

heit  der  Vernunft;  oder  besser  ausgedrückt:  Dieses  brohen  ist 
die  Ankündigung  seiner  Selbstauflösung. 

m 

Daher  hat  auch  kein  Neukantianer  so  intensiv  den  Identitäts- 
standpunkt des  Idealismus  betonen  können  wie  Lask:  das  Reich 
der  Gegenstände  sei  nicht  jenseits  des  Reichs  der  Wahrheit;  der 
Gegensatz  von  Vernunft  und  Wirklichkeit  werde  innerhalb  der 
Vernunft  aufgelöst.  Damit  widerspricht  aber  der  Kantianismus 
allen  seinen  sonstigen  Voraussetzungen,  nicht  weniger  der  Tren- 
nung von  Formgeltung  und  Geltungsmaterial  als  der  Irrationa- 
litätsth-  Elr  widerspricht  diesen  Gm    '         '     n.  wenn 

er  den  -  von  Form  und  Material,  in  ^^  einen 

Reiches,  das  das  Reich  der  Wahrheit  und  eben  darum  des  Gegen- 
standes ist"  (Lask,  41)  aufstellt;  denn  nun  wäre  ja  doch  alle« 
ganz  „drinnen",  im  Reich  des  Wissens,  und  dieses  wäre  das  All 
der  Wirklichkeit,    So  sehr  sind  hier  also  einander  schroff  ent- 


76  Vernunft  und  "Wirklichkeit 

gegengesetzte  Gedanken  zu  Tage  gefördert:  hier  die  Irratio- 
erklärung  der  Ratio  (die  logische  Form  als  Material),  dort  die 
Immanisierung  des  Reichs  der  Gegenstände  in  das  der  Wahrheit 
(Panarchie  der  logischen  Form,  Ratioerklärung  der  Irratio) !  Einer- 
seits ist  alles  irrational,  andererseits  alles  rational !  Dann  aber 
ist  es  entweder  weder  rational  noch  irrational  oder  sowohl  ra- 
tional als  auch  irrational;  ein  Entweder-oder,  das  unmittelbar 
nicht  auflösbar  scheint.  Das  Thema:  Vernunft- Wirklichkeit  wird 
noch  im  Kantianismus  selber  dialektisch  durcheinandergewürfelt; 
es  bleibt  kein  Stein  an  seinem  Platze;  der  Dualismus  von  Wirk- 
lichkeit und  Vernunft  wird  von  Lask  sowohl  nach  der  Wirklich- 
keit wie  nach  der  Vernunft  hin  aufgehoben;  nach  der  Wirklich- 
keit hin  durch  die  Irrationalwerdung  der  logischen  Form  selber; 
nach  der  Vernunft  hin  durch  das  Verleugnen  der  Gegenstände  an 
sich;  dort  ein  Monismus  der  so  vernunftfremden  Wirklichkeit, 
daß  sie  selbst  den  Gegensatz  zur  Vernunft  überwunden  hat; 
hier  ein  Monismus  der  so  seinsfremden  Vernunft,  daß  sie  selbst 
den  Gegensatz  zum  Sein  überwunden  hat;  und  beides  ist  im. 
Ganzen  der  Philosophie  Lasks  gleich  notwendig,  das  erste  (der 
Monismus  der  Irrationalität),  um  nicht  die  philosophische  Selbst- 
besinnung auf  das  Denken  fehlen  zu  lassen  (Forderung  der  Ver- 
nunft, der  transzendentalen  Logik),  das  zweite,  um  nicht  zwei 
Welten,  die  ideelle  und  die  reelle,  hypostasieren  zu  müssen  und 
damit  überhaupt  die  Berechtigung  zu  einer  Gegenstandsphilo- 
sophie einzubüßen;  das  sind  die  Motive  dafür,  daß  LasJc  jenen 
Selbstwiderspruch  aufstellte,  —  daß  er  ihn  nicht  wieder  entfernte. 
Sein  Zusammenhang  aber  mit  den  Motiven,  die  ihn  bedingen, 
zeigt  uns  das  überraschende  Bild,  daß  eine  Forderung  der  Ver- 
nunft den  Panirrationalismus,  —  eine  Forderung  der  Gegenstände 
den  Panrationalismus  hervorruft;  Vernunft  und  Wirklichkeit  ver- 
langen so  je  nach  ihrer  Selbstverneinung.  Nichts  Geringeres 
also  lehrt  uns  das  „Verständnis"  des  Standpunkts  Lasks,  als  daß 
die  Vernunftimmanenz  der  Wirklichkeit  vom  Wesen  der  Wirk- 
lichkeit selber,  die  Wirklichkeitsimmanenz  der  Vernunft  vom 
Wesen  der  Vernunft  selber  aus  deduziert  wii'd.  Die  Vernunft  ist 
das  Apriori  ihrer  eigenen  Wirklichkeitsimmanenz  und  die  Wirk- 
lichkeit das  Apriori  ihrer   eigenen  Vernunftimmanisierung.     Es 


Die  eigene  Ansicht 


ist  nicht  Vernunft,  sie  sei  denn  ein  Bestandteil  der  Wirklichkeit; 
es  ist  nicht  Vv'irklichkeit,  sie  sei  denn  in  der  Vernunft.  Denn 
erst  die  Vernunft  hat  der  Wirklichkeit  ihre  Wirklich-keit  ge- 
geben, und  erst  die  Wirklichkeit  hat  die  Vernunft  anwendbar 
gemacht  (auf  Nicht-Vernünftiges). 

Hier  aber  ist  ein  Unterschied  in  dem  sich  gegenseitig  Be- 
dingen von  Wirklichkeit  und  Vernunft  nicht  zu  verkennen;  und 
darin  liegt  nun  auch  der  Keim  zur  Lösung  des  ganzen  Problems. 
Wir  bemerken  nämlich,  daß  die  Wirklichkeit  die  ganze  Vernunft 
erfüllt,  das  Wesen  der  Vernunft  daher  in  der  tatsächlichen  Im- 
manisierung  des  Wirklichen  in  das  Reich  der  Vernunft  sich  voll- 
kommen auswirkt;  dagegen  wird  die  Vernunft  bei  ihrer  Imma- 
nisierung  in  die  Wirklichkeit  nur  ein  Teil  dieser;  denn  durch 
diese  Immanisierung  lebt  ja  gerade  der  Gegensatz  des  Reichs  der 
Gegenstände  und  desjenigen  des  Wissens  innerhalb  des  Reichs 
der  Gegenstände  von  neuem  wieder  auf.  So  geht  zwar  die 
ganze  Vv'irklichkeit  in  die  Vernunft,  die  ganze  Vernunft  in  die 
Wirklichkeit  ein;  aber  die  Wii'klichkeit  erweist  sich  als  das  Um- 
fassendere, indem  sie  die  wirklich  gewordene  Vernunft  nur  als 
einen  Teil  von  sich  hat;  als  solcher  ist  sie  die  wirJcliche  Philo- 
sophie. Die  Wechselimmanisierung  von  Vernunft  und  Wirklich- 
keit und  deren  dadurch  geschaffene  Identität  (Standpunkt  der 
Identitätsphilosophie  des  Hegelianismus  und  Neukantianismus) 
macht  selbst  nur  eine  einzelne  Sphäre  aus,  nämlich  die  der  wirk- 
lichen Philosophie;  die  Identität  von  Vernunft  und  WirMicJikeit  er- 
weist sich  selber  als  nur  Teil  der  WirUichkeit.  Die  wirkliche  Philo- 
sophie ist  der  Ort,  wo  die  Wirklichkeitsimmanenz  der  Vernunft 
und  die  Vernunftimmanenz  der  Wirklichkeit  sich  nicht  wider- 
sprechen; denn  beides  gilt  von  ihr:  daß  die  Wirklichkeit  vernunft- 
iramanent  ist,  bedeutet,  daß  sie  Gegenstand  der  Philosophie  ist; 
daß  sie  Gegenstand  der  Philosophie  ist,  bedeutet,  daß  die  Ver- 
nunft realisiert  —  Gedankenwirklichkeit,  wirkliches  Wissen  — 
ist.  Der  Begriff  davon,  daß  Philosophie  ist,  löst  die  scheinbar 
unlösbare  Antinomie  von  Vernunft  und  Wirklichkeit  auf.  In- 
dem sie  aber  nur  für  innerhalb  der  wirklichen  Philosophie  gelöst 
ist,  wird  diese  selbst  zu  einem  Teil  von  sich  selbst.  Die  An- 
siclit  des  Ganzen  wird  zwar,  auch  wenn  sie  isoliert   wird,  stets  das 


78  Vernunft  und  "WirklicKkeit 

Ganze  betreffen;  aber  sie  loird  dadurch  neben  das  übrige  gestellt,  also 
zu  einem  Teile  gemacht  werden*).  Das  Reich  des  Wirklichen  ist 
größer  als  das  des  Möglichen.  Wenn  so  die  Wirklichkeits- 
immanenz der  Vernunft  gleichsam  über  die  Vernunftimmanenz 
der  Wirklichkeit  den  Sieg  davonträgt,  wenn  die  Wirklichkeit 
•wirklich  ist  nur,  weil  die  Philosophie  wirklich  ist,  die  Philosophie 
aber  philosophisch,  bloß  eben  weil  das  Philosophische  philoso- 
phisch ist,  wenn  durch  die  Tatsache  der  wirklichen  Philosophie 
die  Vernunftimmanenz  der  Wirklichkeit  beendet  ist,  die  Wirk- 
lichkeitsimmanenz der  Vernunft  dagegen  erst  gerade  entsteht  und 
Problem  wird,  so  sehen  wir  überhaupt,  wie  die  Philosophie  dazu 
berufen  ist,  mit  dem,  was  sie  selber  als  Wirklichkeit  ist,  sich 
selber,  dem  Ganzen  des  Yfissens  und  der  Wirklichkeit,  den  Ab- 
schluß zu  geben**).  Wir  haben  also  die  paradoxe  Behauptung 
zu  verstehen,  daß  die  Philosophie  kein  logisches,  sondern  ein  ab- 
solutes Datum  ist,  daß  die  Logik  es  zwar  mit  dem  Begriff  der 
möglichen  Philosophie,  nicht  aber  mit  dem  der  wirklichen  zu  tun 
hat.  Die  Stellung  der  Philosophie  in  der  Wirklichkeit,  ihr  Sinn 
und  Wert,  der  ihr  im  göttlichen  Weitplan  gesetzt  ist,  macht  so 
den  Gegenstand  einer  erst  zu  begründenden  Disziplin  aus,  die  zwar 
von  dem  Wesen  der  Vernunft,  aber  nicht  in  der  logischen  Frage 


*)  Hegel,  Theologische  Jugendschriften,  ed.  Nohl,  1906,  144  hatte  gesagt: 
„Es  kann  freilich  jede  Ansicht  des  Ganzen  selbst  wieder  isoliert,  und  neben 
das  übrige  gestellt,  also  zu  einem  Teile  gemacht  werden;  aber  der  Inhalt  dieser 
Ansicht  wird  immer  das  Ganze  betreffen";  diese  wahrhaft  organisierende  An- 
sicht Hegels  aus  dem  Jahre  1800  würde  höchst  geeignet  sein,  für  den  gesamten 
Ideahsmus  des  19.  Jahrhts.  Motto  zu  stehen,  weshalb  ich  meine  Ansicht  im 
Text  kontrastierend  zu  den  Worten  Hegels  ausgedrückt  habe,  um  dadurch 
meinen  von  allen  abweichenden  Standpunkt  faßlicher  abzugrenzen. 

**)  Kantstudien,  1909,  433  sagte  ich:  „Es  gibt  in  der  Philosophie  kein 
anderes  Primat,  weder  eins  des  "Willens  noch  eins  des  "Wertes,  als  das  Primat 
der  Philosophie  selbst" ;  damals  stand  mir  bei  aller  sonstigen  bereits  vollzogenen 
Abwenduncr  von  Hegel  der  hegelianische  Immanenzbegriff  noch  fest;  vielleicht 
war  es  am  schwierigsten,  die  hegelianische  Befangenheit  in  Sachen  des  Selbst- 
bewußtseinsprinzips abzulegen,  gleichwohl  war  es  eine  schwächliche  Inkonsequenz, 
die  bloß  innerlogische  (formalistische)  Bedeutung  des  Selbstbewußtseins  zu  ver- 
kennen und  die  Synthesis  des  philosophischen  (immanenten)  Bewußtseins  und 
des  transzendenten  "Wertes  im  „"Wert  der  Philosophie"  nicht  vollziehen  za 
können. 


Die  eig-ene  Ansicht  79 


nach  dem  Prinzip  der  Wahrheit,  sondern  in  der  metaphysischen 
Problemstellung  in  Ansehung  des  Wertes,  den  Wahrheit  hat, 
handelt  und  wegen  dieser  Kombination  eines  Nicht-logischen  als 
Frageziels  mit  dem  Logos  als  Fragegegenstand  als  Metalogik 
bezeichnet  werden  kann.  Das  Prinzip  der  Philosophie,  das  Ant- 
worten, wird  so  selber  noch  einmal  zum  Problem,  zum  Gegen- 
stand einer  Frage.  Darin  liegt  das  unerwartet  Neue  unseres 
Lösungsversuches,  zugleich  die  ganz  einfach  verständliche  Ab- 
sonderung von  Hegel  und  dem  Neukantianer:  Wo  jener  die  Grund- 
scheidung aufhob,  wo  dieser  sie  begründungslos  hinstellte,  da 
haben  wir  die  Scheidung  selber  in  der  Einheit  begründet,  haben 
das  Prinzip  der  Philosophie  zu  ihrem  letzten  Problem  gemacht, 
so  daß  sie  selber  sich  Antwort  gibt,  warum  Prinzip  und  Problem 
eine  Zweiheit  ist. 

So  hat  uns  gerade  das  Urproblem  der  Logik  über  diese  her- 
ausgeführt, und  nichts  greifen  wir  daher  so  sehr  an,  als  die  Iso- 
lierung der  logischen  Wissenschaft  und  die  Meinung  von  der 
wissenschaftlichen  Möglichkeit  dieser  Isolierung.  Jetzt  haben 
wir  den  Erweis  unserer  These  erbracht,  uns  aber  eben  damit  selbst 
die  Möglichkeit  abgeschnitten,  den  Problemen  eine  breitere  Be- 
handlung zu  widmen.  Denn  wir  wollen  die  Grenzen  der  logischen 
Disziplin  bestimmen,  sehen  von  ihnen  hinüber  in  das  metalo- 
gische Land,  haben  aber  gerade,  wenn  wir  den  Primat  der  Logik, 
den  wir  bekämpfen,  nicht  in  einen  ebenso  bekämpfungswürdigen 
Primat  der  Metalogik  umschlagen  lassen  wollen,  die  Pflicht,  in 
dieser  logischen  Schrift  die  Grenzmarkierung  zwischen  Logik  und 
Metalogik  zu  respektieren.  Reichlicher  konnten  wir  uns  noch 
auslassen,  als  wir  uns  im  rein  Innerlogischen  bewegten,  in  den 
Punkten  I  und  II,  während  wir  jetzt  im  Interesse  unserer  eigenen 
Überzeugungen  Zurückhaltung  üben  müssen.  Eine  erste  Ahnung 
von  dem  Reichtum  und  der  „lösenden  Kraft"  des  metalogischen 
Problemkreises,  dieser  Wissenschaft  von  dem  Sinn,  der  „Bestim- 
mung der  Philosophie",  dieser  io^odicee  oder  der  Behandlung 
des  Themas:  Das  Beich  der  Philosophie  und  das  Reich  Gottes  mag 
bereits  hier  vor  das  Bewußtsein  getreten  sein. 


80  Die  Absolutheit 


Punkt  IV:  Die  Absolutheit 

Die  Abschlußbetrachtung  im  letzten  Punkt  hat  uns  über- 
zeugend zum  Bewußtsein  gebracht,  wie  scheinbar  rein  innerlo- 
gische Probleme  bei  ihren  Lösungsversuchen  auf  Voraussetzungen 
stoßen,  die  jenseits  aller  Logik  liegen.  Erkenntnistheoretische 
Fragen  zu  behandeln  und  die  bei  ihnen  vorkommenden  „letzten" 
Probleme  bei  Seite  zu  schieben,  ein  Verfahren,  das  bei  allen 
7ieueren  Kantianem  im  Schwange  ist  und  selbst  Windelhand, 
welcher  unter  ihnen  der  einzige  ist,  der  den  letzten  Problemen 
nicht  ganz  aus  dem  Wege  geht,  aber  allerdings  so  wenig  wie  die 
anderen  Kantianer  je  zu  einer  bestimmten  Stellungnahme  dem 
Absoluten  gegenüber  gekommen  ist,  zu  einem  „subsidiären"  Ab- 
soluten, der  Kultureinheit,  geführt  hat,  ist  ein  Wahn,  der  wie 
eine  plötzlich  herangezogene  Wolke  für  kurze  Zeit  allen  aus- 
nahmslos die  Sonne  verdeckt;  unbegreiflich  schon  den  aller- 
nächsten, die  folgen.  Wie  wir  nun  oben  in  Punkt  II  dem  Hege- 
lianismus gleichsam  das  nach  innen  gehende  Auge  des  Logikers 
haben  öffnen  müssen,  so  haben  wir  jetzt  die  Aufgabe,  dem  Kan- 
tianismus  alle  die  metalogischen,  metaphysischen  Begriffe  vor- 
zuweisen, die  ihm  unbekannt  sind,  obwohl  nur  er  selber  sie  ge- 
prägt hat.  Wir  gehen  daher  an  die  Zuordnungen,  welche  der 
Qualität  Absolutheit  in  den  modernen  Philosophien  zuteil  ge- 
worden ist. 

I 

Damit  knüpfen  wir  wieder  an  das  Vernunft-Wirklichkeits- 
problem an  (denn  um  den  Vorrang  im  Absoluten  streiten  nur 
diese  beiden),  jedoch  jetzt  hinsichtlich  seiner  Stellung  im  Mittel- 
punkt der  Philosophie,  hinsichtlich  seiner  „Letztheit".  In  der 
absoluten  Philosophie  Hegels  besitzen  sowohl  das  Sein  wie  das 
Wissen  die  Absolutheitsqualität;  es  fragt  sich  aber,  ob  der  ur- 
sprüngliche Träger  des  Absoluten  Sein  oder  Wissen' ist.  Nun  unter- 
scheiden sich  Sein  und  Wissen  von  allen  anderen  Begriffen  des 
Hegeischen  Systems  dadurch,  daß  das  Sein  den  Anfang,  die 
Wissenschaft  das  Ende  macht.  Das  Sein  ist  der  Träger,  die  Ver- 
nunft das  Ziel  des  Absoluten;  der  Gott,  der  im  Sein  begonnen 


Hegel  81 

wird,  wird  im  absoluten  Wissen  beendet.  Da  aber  ist  es  un- 
vermeidlich, daß  der  Träger  der  Absolutheit  unter  die  Herrschaft 
ihres  Zweckes  gerät;  das  Sein,  das  der  Vernunft  entgegenreift, 
untersteht  diesem  seinem  letzten  Sinn  und  Ziel.  Was  zu  letzthin 
absolut  ist,  ist  die  Vernunft;  gewiß  auch  sie  ein  Wirkliches; 
aber  die  Absolut-heit  des  Absoluten  stammt  nicht  aus  ihrer  Wirk- 
lich-keit,  welche  nicht  dem  absoluten  Geist  mehr  zukommt  als 
dem  endlichen  oder  der  Natur,  sondern  aus  der  Form  oder  Stufe 
von  Vernünftigkeit,  von  welcher  der  absolute  Geist  getragen 
wird;  diese  Stufe  ist  die  absolute  Selbsterkenntnis,  die  Selbst- 
entfaltung des  Geistes  vor  seinem  inneren  Auge  —  vollzogen 
in  der  absoluten  Wissenschaft.  Die  Philosophie  selber  bringt 
in  die  Welt  Hegels  die  Tatsache  eines  Absoluten;  ist  sogar  Gott 
nur  dadurch  die  letzte  Vollendung  des  wirklichen  Geistes,  daß 
er  die  absolute  Wissenschaft  in  reinster  Weise  ausdrückt.  Das 
absolute  Wissen  ist  so  Hegels  einziges  und  zugleich  vollstän- 
diges Kriterium  für  Absolutheit  oder  Nichtabsolutheit;  die  Sy- 
stematisierung des  absoluten  Geistes  vollzieht  sich  nach  dem 
Grade  des  Wissens  und  gipfelt  in  der  Philosophie  selber.  Diese 
ist  so  auch  für  das  Sein  der  absolute  Abschluß.  So  absolut 
die  philosophische  Wissenschaft  ist,  so  absolut  ist  auch  ihr  Gegenstand, 
das  Sein.  Die  beiden  Absolutheiten  bedingen  sich  gegenseitig 
ihre  Absolutheit;  absolute  Wissenschaft  ohne  absoluten  Gegen- 
stand verdient  nicht  absolute  Wissenschaft  zu  heißen;  und  ab- 
lutes  Sein  ohne  absolute  Wissenschaft  gilt  überhaupt  nicht,  ist 
eine  dogmatische  Behauptung.  Eine  solche  Wechselbindung  der 
Seins-  und  der  Wissensabsolutheit  ist  das  Letzte  in  Hegels  wie 
auch  Schellings  Philosophie,  denen  sie  aus  dem  Kampf  gegen  den 
endlichen  Idealismus  erwuchs,  an  welchem  ebenso  das  Sein,  von 
dem  er  etwas  aussagte,  als  auch  die  Art,  wie  er  von  ihm  aus- 
sagte,  nicht-absolut  waren*);  von  Schelling  unterscheidet  sich 


*)  Die  Geschichte  der  Beseitigung  des  endlichen  Idealismus  ist  die,  daH 
Kants  transzendentales  Selbstbewußtsein  zuerst  zur  absoluten  Anschauung  (Fichte), 
dann  zur  Anschauung  des  Absoluten  (Schelling)  wurde,  darauf  Hegel,  indem 
er  von  Schelling  zu  Fichte  zurückging,  die  Anschauung  des  Absoluten  —  Schel- 
ling —  auf  die  absolute  Anschauung  —  Fichte  —  aufbaute  oder  wie  es  damals 
hieß  die  Substanz  aus  dem  Subjekt  ableitete. 

Ehrenbcrpr,  Die  Parteiunsr  der  Philosophie  6 


82  Die  Absolutheit 


Hegel  dann  dadurch,  daß  jenem  die  Wechselbindung  als  solche 
genügte,  während  Hegel  sie  wieder  auf  ihre  eine  Partei,  die  des 
absoluten  Wissens,  aufbaut.  Also  besitzt  das  absolute  Wissen 
seine  Vorherrschaft  nur  im  Rahmen  der  Wechselbindung  mit  dem 
absoluten  Sein;  deshalb  fehlt  bei  Hegel  eine  Beziehung  des 
absoluten  Wissens  zum  endlichen  Sein.  Denn  wie  der  abso- 
luten Anschauung  der  absolute  Gegenstand  zugehört,  so  entspricht 
einem  endlichen  Sein  auch  nur  eine  endliche  Anschauungsart;  die 
Wechselbüidung  im  „Grad"  der  Vernunft  und  des  Seins  äußert  sich 
also  in  der  Korrespondenz  der  verschiedenen  möglichen  Grade  eines 
Wissens  und  eines  Seins.  So  finden  wir  in  den  „Grundlagen"  der 
Hegeischen  Philosophie  den  leitenden  Gedanken  der  Bewußtseins- 
geschichte wieder.  Daher  liegen  in  Hegels  Gedanken  überall 
solche  Voraussetzungen  zugrunde:  Weil  endliches  Wissen  kein 
wahres  Wissen,  nur  Schein  und  Irrtum  ist,  so  hat  auch  ein  end- 
liches Sein  keine  Wirklichkeit;  es  gibt  schlechtweg  weder  end- 
liches Wissen  noch  endliche  Wirklichkeit;  oder  besser:  es  gibt 
ein  endliches  Sein  nur  für  ein  endliches  Bewußtsein;  die  Existenz 
eines  endlichen  Bewußtseins  ist  zwar  nicht  abzuleugnen,  jedoch 
fehlt  ihm  die  Wahrheit;  so  fehlt  sie  auch  dem  endlichen  Sein; 
es  besitzt  keine  verite  eternelle  und  hat  in  der  absoluten  Phi- 
losophie keinen  Ort.  Diese  Verleugnung  des  Diesseits  ist  die 
erste  unvermeidliche  Folge  aus  der  Begründung  des  absoluten 
Seins  durch  das  absolute  Wissen  resp.  aus  der  Bestimmung  des 
absoluten  Wissens,  wesentlich  diese  Begründung  zu  leisten.  Die 
zweite  ist  dann  die,  daß  das  absolute  Sein  seine  Absolutheit  nur 
kraft  der  Eigenschaft,  Gegenstand  eines  absoluten  Wissens  zu 
sein,  haben  kann  und  derart  selbst  nur  als  Objekt  der  Erkenntnis 
ist,  Gott  daher  als  Begriffsdasein  gedeutet  wird.  Konnte  nun 
von  diesen  zwei  Folgen  die  erste  zunächst  wohl  ertragen  werden, 
so  mußte  die  zweite  beträchtliche  Unklarheiten  erwecken:  Denn 
obwohl  die  Ableitung  des  Absoluten  vom  absoluten  Wissen  aus- 
geht, ist  doch  das  gezeitigte  Ergebnis  Gott;  ist  nun  der  Grund 
abhängig  vom  Ergebnis,  für  das  er  Grund  ist,  oder  dieses  ab- 
hängig vom  Grund,  der  es  begründet?  Dies  ist  die  Alternative, 
vor  die  sich  der  Althegelianer  gestellt  sah,  und  die  zu  jener 
Aufspaltung  der  Hegeischen  Schule  führte,  bei  der  sich  die  Par- 


Antihegelianismus 


teien  auf  Gott  und  die  Wissenschaft  verteilten.  Die  Rechte 
und  die  Linke  der  Hegeischen  Schule,  d.  h.  diejenige  Partei,  die 
ihn  theologisch,  und  diejenige,  die  ihn  wissenschaftlich  auffaßte, 
waren  also  historische  Notwendigkeiten;  denn  auch  wenn  Hegel 
selbst  jeden  Unterschied  zwischen  Gott  und  Wissenschaft  ab- 
gewehrt hat,  so  lag  doch  selbst  in  dieser  Ableugnung  ihres  „na- 
türlichen" Gegensatzes  der  Begriff  ihrer  Entgegensetzung  einge- 
schlossen, die  so  auch  nur  dadurch  verneint  werden  konnte,  daß 
man  die  Verneinung  ausdrücklich  aussprach,  den  Begriff  der  Ent- 
gegensetzung beider  also  anwandte.  Überhaupt  trat  jener  Unter- 
schied, so  sehr  Hegel  ihn  auch  verleugnen  mochte,  an  anderer 
Stelle  wieder  hervor,  nämlich  in  der  Differenz  von  Äusgangspunld 
und  Resultat:  Die  Hegeische  Deduktion  des  Absoluten  gründet 
sich  auf  das  absolute  Wissen,  erzielt  den  absoluten  Gott!  Es  ist 
dies  daher  als  das  Schiclsal  der  Hegeischen  Philosophie  zu  ver- 
stehen, daß  sie  ihre  eigenen  Überwundenheiten  außerhalb  von 
sich  stehen  läßt. 

II 

So  ist  also  der  Sinn  des  Gegensatzes  von  absolutem  Sein  und 
absolutem  Wissen  nicht  minder  in  der  Philosophie  Hegels  ent- 
halten, obwohl  sie  ihm  jeden  Sinn  abstreitet,  als  in  irgend  einem 
System,  das  ihn  anerkennt.  Daher  ist  es  der  Philosophie  nach 
Hegel  möglich,  die  von  ihm  bewußt  verkannte  Doppeltheit  gegen 
ihn  zu  wenden  und  zu  bestreiten,  daß  für  Philosophie  und  Re- 
ligion der  „Gehalt  derselbe"  und  nur  die  „Namen  verschieden" 
seien  (2.  Vorrede  zur  Enzykl.  1827).  Da  streichen  die  einen 
Gott,  die  anderen  die  Vernunft;  und  Hegels  Erben  sind  die 
Diesseitsphilosophie  und  der  theosophische  Irrationalismus.  Unter 
diesen  beiden  erweist  sich  dann  wieder  die  Diesseitsphilosophie 
als  die  stärkere,  weil  sie  zugleich  jene  beiden  „Folgen",  die  Ver- 
nünftelung  Gottes  und  die  Verleugnung  des  Diesseits,  schlägt, 
während  der  metaphysische  Irrationalismus  in  Sachen  des  End- 
lichen noch  mit  Hegel  geht.  So  entsteht  ein  reiner  Empirismus. 
Aber  gerade  die  durch  die  Hegelfeindschaft  bewirkte  Reinheit 
der  Diesseitsphilosophie  (mit  der  sich  der  Empirismus  des 
18.   Jahrhunderts   in   keiner   Weise   messen   kann)    vermag   den 


84  Die  Absolutlieit 


Augenblick  des  unvermischt  reinen  Empirismus  nicht  fest- 
zuhalten; denn  die  „reine  Erfahrung"  ist  bereits  eine  über  das 
empiristische  Dogma  hinausgegangene  Apriorisierung  des  Dies- 
seits. Deshalb  bemächtigt  sich  der  Empirismus  des  „kritischen" 
Apriori-begriffes,  um  das  Empirische  gegen  die  eben  erst  vom 
Throne  gestiegene  Metaphysik  zu  sichern,  und  konstituiert  sich 
zum  „Transzendentalen  Empirismus"*),  zur  Theorie  der  Erfahrung 
Cohens.  Daher  steht  Cohen  zwar  auf  dem  Diesseitsstandpankt  und 
rettet  die  Wissenschaft  der  „sinnlichen"  Wirklichkeit,  stellt  sich 
aber  durch  diese  Begründung  der  „Wissenschaft"  in  neuer  Weise 
auf  die  Seite  des  Intellektualismus  Hegels;  das  Dogma  von  der 
absoluten  Wissenschaft  sieht  sich  durch  das  Dogma  von  der  em- 
pirischen Wissenschaft  abgelöst.  Daher  setzt  sich  im  Kantianis- 
mus  eine  Nachwirkung  der  Irrationalmetaphysik  der  Richtung 
Cohens  entgegen,  der  Voluntarismus.  Dieser  steht  nicht  we- 
niger als  die  „Theorie  der  Erfahrung"  auf  dem  reinen  Dies- 
seitsstandpunkt; aber  anstatt  die  Erfahrung  für  „rein"  zu  er- 
klären, fixiert  er  die  Endlichkeit  des  Endlichen  vielmehr  da- 
durch, daß  er,  indem  er  das  Endliche  in  seinem  So-Sein,  f^einer 
Zufälligkeit  charakterisiert,  auf  seinen  Abstand  von  einem,  das 
absolut  ist,  verweist.  Das  Absolute,  das  auf  diesem  Wege 
in  die  Diesseitsphilosophie  hineinkommt,  hat  die  Gestalt  des 
Ideals,  das  für  das  wahrhaft  Seiende,  das  immer  ein  Endliches 
ist,  besteht.  Zufälligkeit  des  Endlichen  und  das  Ideal  als  Sinn 
der  Welt  gehören  zu  einander  und  bewirken  den  teleologischen 
Idealismus  Lotzes,  dem  Windelhand  durch  die  kategoriale 
Klärung  des  Zufälligkeitsivertes  seinen  inneren  Abschluß  gibt. 
Im  Neukantianismus  sind  so  zwei  einander  durchaus  entgegen- 
gesetzte Stellungen  zum  Absolutheitsproblem,  die  in  dem 
Sinne  beide  notwendig  sind,  daß  sie  die  zwei  Möglichkeiten 
realisieren,  die  sich  für  eine  Diesseitsphilosophie  als  apriorische 
Standpunkte  ergeben:  Entweder  wird  das  reine  Diesseits  als 
solches  isoliert  und  die  in  dem  Diesseitsbegriff  mitgegebene  Be- 
zogenheit  auf  ein   Jenseits   unterdrückt   (Cohen);   oder  die  Be- 


*)  Der  Terminus  ist  neuerdings  gebildet:    Hessen,  Individuelle  Kausalität, 
Studien  zum  transzendentalen  Empirismus,  Ergänzungshefte  der  Kantstudien,  1S09. 


Neukantianismus:  Cohen,  Windelband 


Ziehung  von  Diesseits  und  Jenseits  wird  anerkannt,  der  Standpunkt 
einer  Diesseitsphilosophie  trotzdem  dadurch  gewahrt,  daß  man  der 
Jenseitssphäre  nur  unrealisierbare  Forderungen  zugesteht  (Win- 
delband).   Dann  gerät  aber  bei  Windelband  die  reine  Erfahrung 
selber  unter  den  Gegensatz  des  Jenseitsideals  und  der  Diesseits- 
wirklichkeit,  kommt  so  unter  den  Normbegriff.    Deshalb  wird 
für  Vv^indelband  das  Urteilen  zu  einem  „Beurteilen",  d.  h.  einem 
Messen     des    Diesseitigen    an    idealen    Forderungen.      Windel- 
bands Urteilstheorie  (Zur  Lehre  vom  negativen  Urteil,  Festschr. 
f.  Zeller,  188)  gehört  daher  zu  den  integrierenden  Bestandteilen 
seiner  Philosophie;  sie   verwirklicht  die  Unterstellung  der  Er- 
kenntnistheorie unter  den  Idealbegriff,   indem   sie  die   Urteils- 
theorie für  die  verschiedenen  Verhaltungsweisen  durchführt,  die 
der   Urteilende   der   Erkenntnisforderung   gegenüber   einnehmen 
kann:  anerkennendes,  verwerfendes,  sich  enthaltendes  Verhalten; 
letzteres,  im  „problematischen  Urteil"  fixiert,  ist  eine  geradezu 
symbolische  Darstellung  des  teleologischen  Diesseitsidealismus, 
der  die  entgegengesetzten  Momente  im  Wesen  des  Diesseitigen, 
seine  mögliche,  aber  nicht  notwendige  Angliederung  an  ein  Jen- 
seits, in  spekulativer  Einheit  verbindet.    Die  teleologische  Auf- 
fassung des  Erkenntnisproblems  beherrscht  dann  die  Kantianer 
während  der  Hauptepoche   ihres  Wirkens  und  bildet  die   stets 
siegreiche  Waffe  im  Kampfe  gegen  den  Relativismus  und  den 
empiristischen  Unverstand.    Die  Absolutheit  des  Ideals  gilt  als 
der  Hort  der  Philosophie,   der  nie  versinken  kann;  an  diesem 
Punkte  wird  die  Fessel  geschmiedet,  welche  die  Absolutheit  des 
Wissens,  d.  h.  jetzt  überhaupt  die  Möglichkeit  einer  Philosophie, 
an  den  unvertilgbaren  Rest  absoluter  Gegenständlichkeit,  dar- 
gestellt im  Sein  der  Idealität,  bindet,  —  ein  für  die  Charakter- 
bildung   des    Kantianismus    entscheidender    Vorgang.     Deshalb 
wirkt  der  Idealbegriff  als  Ferment  der  „Ausführung";  denn  mit 
der  ihm  eigentümlichen  progressiven  Annäherung  an  sich  selbst 
können   den   empirischen   Wissenschaften   die   Augen   über   ihre 
eigenen  Zukunftshoffnungen  geöffnet,  die  in  ihnen  liegenden  über- 
empirischen Notwendigkeiten  sichtbar  gemacht  werden,  ohne  daß 
ein  Ding-an-sich-wert  in  die  (nie  endgültig  realisierbare)  ideale 
Forderung  hineingelegt  werden  könnte.     Die  Begriffe  und  Zu- 


Die  Absolutheit 


sammenhänge,  die  Windelband  hiermit  geschaffen  hat,  werden 
von  BicJcert  akzeptiert  (der  Gegenstand  des  Erkennens  als  trans- 
zendentes Sollen)  und  in  den  Theorien  der  einzelnen  Wissen- 
schaften sehr  wirksam  ausgebaut  („Die  Grenzen  der  naturwissen- 
schaftlichen Begriffsbildung",  1902).  Die  Philosophie  hat  einen 
absoluten  Gegenstand,  —  der  sie  als  überempirische  Wissenschaft 
charakterisiert,  —  aber  dieser  absolute  Gegenstand  ist  nur  in 
einer  Anwendung  auf  das  Endliche  und  Zufällige  genommen,  ist 
so  ein  verunendlichtes  Endliche  selber  (nur  Ideale  von  Erfahrungs- 
wissenschaften). Auf  solcher  schmalen  Scheidewand  zwischen  dem 
Endlichen  und  Unendlichen  muß  hier  Philosophie  balancieren: 
Unendlich  ist  nichts  als  das  bloße  Ideal,  also  ist  alles  Wahrhafte 
endlich.  —  Das  Ideal  allein  gilt  für  alle  Zeiten,  also  ist  nur  das 
Unendliche  wahrhaft! 

Der  Relativismus  bemerkt  nun  wohl,  wie  sehr  die  Philosophie 
auf  sich  selber  achten  muß,  um  nicht  das  Gleichgewicht  zu  ver- 
lieren und  nicht  nach  einer  der  beiden  Seiten  zu  fallen,  in  deren 
Mitte  sie  sich  hält;  hat  es  daher  leicht,  die  Austreibung  des  Ab- 
soluten zu  vollenden:  Das  doch  unrealisierbare  Ideal  wird  zum 
Phantom  entwertet,  seine  im  Bewußtsein  anerkannten  Verwirk- 
lichungsstufen als  vorabsolut  relativisiert;  Nietzsche,  der  Prag- 
matismus lassen  dem  Kantianer  schließlich  nur  die  dünne  Idealität 
als  solche  für  den  Inhalt  seines  Jenseits.  Der  wechselvoile  Kampf 
zwischen  Diesseits  und  Jenseits  löst  das  Band,  das  der  teleo- 
logische Idealismus  zwischen  ihnen  geknüpft  hat;  denn  die  ent- 
leerte Idealität  läßt  keine  „Beurteilungsakte"  mehr  auf  sich  an- 
wenden. Die  Verunendlichung  des  Endlichen  zerfällt  wieder  in  das 
Endliche  und  das  Unendliche  je  für  sich;  nur  daß  diese  Begriffe 
durch  die  Zeitlosigkeit  der  Norm  wesensverschieden  werden:  Das 
Endliche  als  Seiendes,  das  Unendliche  als  nicht-Seiendes,  sondern 
Geltendes;  jenes  füllt  die  zeitlich-zufällige,  dieses  die  ewig- 
notwendige Sphäre.  Die  „Beziehung"  des  Unendlichen  auf  das 
Endliche  wird  zurückgedrängt  dadurch,  daß  diese  beiden  sich 
wechselseitig  definieren:  das  Sein  als  Geltungsgleichgültiges,  das 
Geltende  als  Sei'nsgleichgültiges!  und  an  dem  Geltenden  dadurch 
den  normativen  Sinn  unterdrücken.  Der  Primat  der  praktischen 
Vernunft,  Voluntarismus  und  die  Ethik  als  Methode  des  Denkens 


Neukantianismus:  Rickert,  Husserl  87 

verschwinden,  und  die  logische  Scheidung  zrvischen  dem,  was 
ist  und  dem  was  gilt  tritt  an  die  Stelle.  Es  ergibt  sich  so 
eine  wechselseitige  Gleichberechtigungserklärung  zwischen  Sein 
und  Gelten;  wälirend  sie  sich  vorher  zueinander  wie  A  und  Grenz- 
begriff von  A  verhalten  haben,  werden  sie  nun  je  zu  gleich 
wichtigen  Elementen  von  A:  Hier  Bedeutung  eines  Urteils  — 
dort  ürteilsaÄ:^,  hier  für  ewig  wahr  oder  nicht-wahr  —  dort  in 
„diesem"  Augenblick  gedacht  oder  nicht  gedacht!  das  sind  so 
überzeugend  scharfe  Scheidungen,  daß  sie  als  pieces  de  resistance 
des  Denkens  dem  Philosophen  seine  Sphäre  geben,  in  welcher  die 
Philosophie  als  „Geltungsphilosophie"  —  ebenso  ungefährlich  wie 
ungehindert  —  zu  Schaffungen  berufen  wird.  Als  Philosophie 
eine  absolute  Wissenschaft,  hat  sie  auch  einen  absoluten  Gegen- 
stand; ebenso  wie  einstens  bei  Hegel  sind  die  Absolutheit  des 
Wissens  und  die  seines  Gegenstandes  wechselverknüpft;  aber 
nicht  wie  einstens  bei  Hegel  ist  die  Absolutheit  der  Wissenschaft 
dem  absoluten  Gegenstand  das  schaffende  Prinzip,  sondern  ge- 
rade umgekehrt  dieser,  nachdem  man  ihn  als  Geltungssphäre  ge- 
funden hat,  das  schaffende  Prinzip  für  die  Möglichkeit  einer 
Philosophie.  In  dieser  können  noch  irgendwie  an  ein  em- 
pirisches Bewußtsein  erinnernde  Elemente  enthalten  sein,  die 
erst  jetzt  auszumerzen  sind:  die  Beziehung  auf  das  Urteils- 
verhalten der  Subjekte  wird  für  ungenügend  befunden,  absolute 
Werte  zu  charakterisieren;  der  „Wille  zur  Wahrheit"  weicht  dem 
Werte  Wahrheit  (Windclband),  das  Sollen  als  Gegenstandsbegrifi 
dem  einfachen  Begriff  der  Geltungshaftigkeit  (Rickert)  und  die 
An-Sich-heit  dessen  was  gilt  wird  bewußt  Prinzip  für  die  An- 
sich-heit  der  Wissenschaft  (Lask  in  der  zwar  ganz  kurzen,  aber 
eindringlichen  Besprechung  Bolzanos,  Logos  I,  1).  Husserl 
wirkt  bei  der  Fixierung  dieses  Standpunktes  vorbildlich;  ihn 
unterstützt  hierbei  sein  ausschließlich  logisches  Interesse,  das 
ihn  die  Beseitigung  des  Normbegriffes  nicht  so  fühlen  läßt  wie 
den,  der  ihn  in  der  Ethik  nicht  wohl  missen  kann.  Dem  Verlust 
des  Primats  der  praktischen  Vernunft  folgt  so  aber  der  Verlust 
der  Ethik  selbst  auf  dem  Fuße;  denn  der  reine  Dualismus  von 
Jenseits  und  Diesseits  zerstört  den  Übergang  vom  Diesseits  zum 
Jenseits,   das  Objekt  aller   Ethik;  Rickert  und  Lask  vermögen 


Die  Absolutlieit 


daher  keinen  Zugang  zu  ihr  zu  finden,  und  die  arge  Verend- 
lichung  des  Freiheitsbegriffes  bei  Rickert  (Gegenstand  der 
Erkenntnis-,  241)  hat  in  der  grundsätzlichen  Beseitigung  des 
Normbegriffes  durch  den  reinen  Dualismus  von  Jenseits  und  Dies- 
seits ihren  Grund.  Wir  sehen  so  die,  welche  früher  ihren  Spott 
über  den  Zwei-Weltentheoretiker  ausgegossen  haben,  jetzt  sich 
selbst  zur  Zw  ei- Weltentheorie  bekennen;  allerdings  ist  ihnen 
dieser  Umfall  nicht  bewußt  und  wird  auch  im  Objektiven  wieder 
dadurch  verschleiert,  daß  das  Erbteil  der  „reinen  Erfahrung" 
nü'gends  so  gehütet  v/ird  wie  im  Dualismus  von  Sein  und  Gelten. 
Denn  die  unbedingte  Entgegensetzung  beider  bewirkt  nicht  nur 
die  An-sich-heit  der  Werte,  sondern  treibt  auch  das  Sein  immer 
weiter  nach  der  Seite  eines  „reinsten"  Seins  hin;  nach  den 
Extremen  hin  werden  bisher  unbenutzte  Gebiete  erobert, 
gleichsam  dem  Leben  und  Treiben  der  Philosophie  einverleibt: 
dort  (am  schärfsten  von  Rickert)  das  Gelten  an  sich  als  phi- 
losophischer Grundbegriff,  hier  zuerst  die  individuelle  Tat- 
sache (Windelband),  die  dann  für  Rickert  alles  andere  Sein  ver- 
drängt (sein  Begriff  der  objektiven  Wirklichkeit  im  „Gegenstand 
der  Erkenntnis")  und  sich  schließlich  bis  zu  einer  jigcorrj  vXr],  dem 
Inhalt  eines  neuen  Grenzbegriffes,  fortentwickelt;  durch  solche 
Herausschälungen  letzter  sinnlicher  „Undeutbarkeiten"  (Lask) 
wird  der  „reine  Empirismus"  der  Geltungsphilosophie  wieder  ein 
mächtigerer  Faktor;  und  es  ist  kein  Zufall,  daß  der  Terminus 
„transzendentaler  Empirismus",  den  wir  bereits  für  die  Charak- 
terisierung des  kantianischen  Gedankens,  das  Endliche  absolut  zu 
isolieren  (Cohen),  benutzt  haben,  gerade  dort  zutage  gefördert 
wird,  wo  die  letzten  Konsequenzen  des  Dualismus  Geltung-Sein 
gezogen  werden,  in  der  Richtung  Rickerts. 

So  tritt  in  dem  reinen  Dualismus  von  Jenseits  und  Diesseits 
von  neuem  die  Betonung  des  isolierten  Diesseits  im  Sinne  Cohens 
hervor,  schlägt  nunmehr  aber,  da  die  jenseitige  Sphäre  nicht  be- 
seitigt werden  soll,  eine  Brücke  zwischen  Diesseits  und  Jen- 
seits; und  die  letzte  Nachwirkung  Cohens  in  der  Philosophie  der 
Gegenwart  ist  merkwürdigerweise  die,  daß  der  ihm  gegnerische 
Standpunkt  Windelbands  bei  denen,  die  von  diesem  ausgegangen 
sind,  sich  dann  aber  von  ihm  abgewandt  haben,  v/iederum  auf- 


Neukantianismus:  Rickert,  Hessen,  Lask  89 


lebt:  Von  neuem  versucht  die  Philosophie  zwischen  Endlichem 
und  Absolutem  in  der  Mitte  zu  schweben.  Es  ist  dies  eine  innere 
Notwendigkeit;  denn  der  reine,  zusatzlose  Dualismus  von  Gel- 
tungs-  und  Seinssphäre,  in  welchem  Rickert  seinen  Eigenstand- 
punkt genommen  hat,  bedroht  das  Interesse  des  Neukantianismus 
an  der  einen  der  beiden  Sphären,  der  Seins-  oder  Endlichkeits- 
sphäre; hier  droht  die  Theorie  der  reinen  Erfahrung  in  eine 
technische  Teleologie  (Ökonomie  der  Wissenschaften,  vergl. 
Münsterbergs  Grundzüge  der  Psychologie)  auszuarten,  und  so 
erweist  sich,  daß  der  Dualismus  von  Diesseits  und  Jenseits  gar 
nicht  rein  gewesen  ist,  daß  sich  in  ihm  ein  dem  Dualismus 
fremdes  Element  befindet,  von  dem  die  eine  Sphäre,  die  Seins- 
sphäre, zertrümmert  zu  werden  droht.  ^ 

An  diesem  Punkte  muß  dem  Neukantianismus  das,  was  ihm 
oberster  Grundsatz  geworden  ist,  der  Unterschied  zwischen  dem 
was  ist  und  dem  was  gilt,  dies  muß  ihm  zwar  nicht  im  ge- 
ringsten zweifelhaft  werden,  aber  als  von  den  bedenklichsten 
Konsequenzen  begleitet  erscheinen.  Wir  finden  daher  aus  der 
Schule  Ricker ts  die  entgegengesetzten  Standpunkte  hervorgehen: 
den  transzendentalen  Empirismus  Hessens,  die  neue  Logik  Laslcs. 
Jener  sucht  die  Beziehung  des  Werts  auf  das  Sein,  welche  den 
reinen  Dualismus  durchbricht,  gerade  zum  einzigen  Inhalt  eben 
dieses  Dualismus  zu  machen;  dieser  sucht  durch  die  Hinein- 
ziehung des  Seins  in  die  Wertwelt  die  reine  Erfalirungstheorie 
mit  den  absoluten  Werten  zu  versöhnen  (worin  ihm  J.  Colin 
vorausgegangen  ist).  D.  h.  Lask  unternimmt  das  Wagnis,  die 
duale  Setzung  von  Sein  und  Gelten  mit  ihrer  Aufeinander- 
Bezogenheit  zu  harmonisieren.  Dazu  sieht  er  sich  veranlaßt  durch 
die  Vorstellung  von  der  Gefahr,  welche  dem  Dualismus  der  Grund- 
begriffe von  der  nichtdualistischen  Theorie  der  reinen  Erfah- 
rung droht;  er  bemerkt,  daß  das  Sein  selbst  eine  Kategorie,  ein 
Wert  ist.  „Seinsgebiet  und  Geltungsgebiet  sollten  die  äußersten 
Gegensätze  sein,  aber  das  Sein  wurde  als  dem  Geltungsgebiet 
angehörend  erklärt;  Wirklichkeit  und  Wert  sollten  sich  schroff 
gegenüberstehen,  aber  die  Wirklichkeit  wurde  für  einen  Wert- 
begriff gehalten."  (Lask,  119).  Lask  erkennt  also  genau,  wie 
die  Umdeutung  der  beiden  Welten,  Diesseits  und  Jenseits,  in  zwei 


90  Die  Absolutheit 


Elemente  der  Diesseitswelt  noch  nicht  genügt,  um  zu  einer  wider- 
spruchslosen Auffassung  durchzudringen;  allerdings  sieht  er  nicht 
scharf  den  einen  Fall,  in  dem  eine  solche  Auffassung  einheitlich 
sein  würde,  nämlich  denjenigen,  in  welchem  man  sich  mit  der 
einen  Welt,  die  als  aus  dem  jenseitigen  Seinswert  und  seinem 
diesseitigen  Material  zusammengesetzt  gilt,  begnügen  würde; 
d.  h.  es  entgeht  ihm,  daß  der  „transzendentale  Empirismus"  eine 
im  Sinne  des  Kantianismus  ebenso  mögliche  Lösung  wie  seine 
eigene  Logik  sei.  Aber  er  weiß  zu  genau,  daß  der  Seinswert  nicht 
der  einzige  Wert  ist,  daß  neben  ihm  der  ganze  Inbegriff  der 
übrigen  Werte  steht,  in  welchem  gerade  der  reine  Dualismus  der 
Geltungs-  und  Seinssphäre  trotz  der  Theorie  der  reinen  Er- 
fahrung weiter  lebendig  bleibt  und  dann  auch  dieser  nicht  erlaubt, 
zur  Ruhe  kommen.  So  läßt  Lask  zwar  das  Diesseits  der  Seins- 
sphäre aus  dem  Jenseits  der  Geltungssphäre  gespeist  sein,  erst 
von  ihr  das  „Sein"  erhalten,  findet  aber  gegen  die  Gefahr,  die 
dem  Gegensatz  Diesseits-Jenseits  von  der  Jenseitigkeit  der  Dies- 
seitigkeit droht,  „den  Rettungsweg,  der  hier  eingeschlagen  wurde, 
die  Einsicht,  daß  sich  innerhalb  der  Geltungssphäre  das  Gelten 
selbst  als  Kategorie  abziehen  läßt  und  daß  man  dann  das  logisch 
nackte  Geltende  übrig  behält.  Fehlte  diese  Voraussetzung,  wie 
es  bisher  stets  der  Fall  sein  mußte,  so  ergab  sich  Folgendes:  man 
entrückte  am  Seinsgebiet  das  Sein  selbst  als  logische  Kategorie 
der  sinnlich-anschaulichen  Art  seines  Materials.  Dann  fiel  es 
also  in  die  Geltungssphäre.  Das  auszudrücken  hatte  man  aber 
keine  anderen  Mittel  als  auszumachen:  das  Sein  ist  ein  , Gelten*. 
Dies  , Gelten*  aber  mußte  man  unzergliedert,  unzerlegt  lassen" 
(ib.).  Um  der  Ineinssetzung  von  Sein  und  Gelten  zu  entgehen, 
statuiert  Lask  also  das  Gelten  des  Geltens,  die  „Form  der  Form", 
entdeckt,  „daß  die  Ausdrücke  ,ein  Gültiges*  oder  ,ein  Geltungs- 
gehalt* doppeldeutig  [sind],  da  sie  ein  Geltendes  ebensowohl 
mit  ihrem  Gelten  wie  ohne  ihr  Gelten  meinen  können."  (112.) 
Jetzt  wird  die  Geltungssphäre  ebenso  gegliedert  aufgefaßt,  wie 
es  die  Seinssphäre  bereits  ist,  und  „das  Ineinander  von  Geltendem 
und  kategorialem  Gelten  ....  macht  erst  das  aus,  was  bisher 
einfach  und  ohne  Zerlegung  als  geltende  Form  oder  Geltungs- 
gehalt bezeichnet  wurde"  (104).  Dagegen  hatte  „man  sich  [früher] 


Neukantianismus:  Lask  91 


nicht  einfallen  [lassen],  daß  man  mit  ,Gelten',  ,Norm'  usw.  be- 
reits den  Geltungsgegenstand  gemeint,  also  die  zweite  Kategorie, 
die  Kategorie  der  Kategorie,  die  Form  der  Form,  mitgemeint 
und  mitgenannt  hatte"  (120).  Da  auch  von  der  Geltungssphäre 
selber  zu  sagen  ist,  daß  ihre  Inhalte  zerlegbar  sind  darin,  daß 
sie  gelten,  und  in  das,  icas  sie  gelten,  so  wird  das  Hinein- 
rücken der  Seinssphäre  in  die  Geltungssphäre  ungefährlich;  denn 
dieses  Hineinrücken  betrifft  nur  den  Gegensatz  von  Sein  und 
Gelten  im  Sinne  von  „Elementen"  oder  „Funktionen*"',  und  gerade 
solche  Struktur  der  Seinssphäre,  die  Zusammensetzung  aus  den 
Elementen  wiederholt  sich  in  der  Geltungssphäre  selber,  so 
daß  der  Sinn  des  Diesseits-Jenseitsgegensatzes,  der  festzuhalten 
ist,  den  Gegensatz  von  „Elementen"  bedeutet,  und  „nur  wenn  man 
die  letzte  Scheidung  der  Gegenstände  sucht,  darf  man  das  Seins- 
gebiet auf  die  eine  Seite  stellen.  Und  tut  man  das,  so  muß  man 
auch  auf  der  Gegenseite  ein  kategorial  Betroffenes,  ein  Reich 
theoretischen  Sinnes,  einen  Gegenstand  haben;  so  muß  man  auf 
beiden  Seiten  gleichmäßig  die  beiden  Gebiete  als  in  Form  und 
Material  zerlegbaren  Sinn  zu  interpretieren  imstande  sein"  (Lask, 
114).  Der  Gegensatz  des  Diesseits  und  Jenseits  besitzt  bei  Lask 
mithin  einen  doppelten  Sinn,  den  wir  erst  herausgearbeitet  haben 
müssen,  ehe  wir  die  für  die  Geschichte  des  Neukantianismus  ab- 
schließende Bedeutung  der  Logik  Lasks  würdigen  können:  Dop- 
pelter Art,  sage  ich,  ist  der  Sinn  von  Diesseits  und  Jenseits  in 
der  Philosophie  Lasks:  Einmal  bedeuten  sie  ihm  die  aufeinander- 
bezogenen  Wesenheiten  der  Diesseitstatsächlichkeit  und  Jenseits- 
geltung und  involvieren  soweit  keine  Auf teilung  der  Gegenstände; 
daher  fehlt  Lask  der  empiristische  Grundzug  der  Kantianer,  da 
er  die  Jenseitigkeit  des  „reinen"  Diesseits  durchschaut  hat;  da- 
mit ist,  zum  ersten  Male  in  der  Geschichte  der  neukantischen 
Philosophie,  die  Beziehung  von  Jenseitigkeit  und  Diesseitigkeit 
nicht  mehr  so  gedacht,  daß  sie  nur  zum  Zwecke  der  Diesseits- 
theorie zu  verwenden  sei;  das  ist  von  durchschlagender  Bedeu- 
tung; die  „Gerichtetheit  auf  das  Diesseits"  weicht  einer  gleich- 
mäßigen Gerichtetheit  auf  alles.  Und  für  einen  Augenblick  scheint 
überhaupt  die  Aufteilung  der  Welt  in  Diesseits  und  Jenseits  wie 
verschwunden. 


92  Die  Absolutheit 


Nun  aber  wirkt  sogleich  die  andere  Bedeutung  des  Diesseits- 
Jenseitsgegensatzes,  welche  daraus  entspringt,  daß  die  Philoso- 
phie, deren  Wesen  sich  einerseits  in  der  Zweielemententheorie 
aussprechen  soll,  andererseits  von  den  empirischen  Wissenschaften 
geschieden  ist;  ihr  ist  die  Sphäre  des  Nicht-Seienden  angewiesen. 
Und  so  kommt  von  neuem  der  spezifische  Standpunkt  einer  Dies- 
seitsphilosophie in  die  Theorien  Lasks  hinein  (die  gerade  deshalb 
so  hochinteressant  sind,  weil  sie  den  Versuch  des  Kantianismus 
sich  selbst  zu  überwinden  zeigen).  Indem  der  Charakter  der 
Philosophie,  absolute  Wissenschaft  zu  sein,  durch  ihren  Gegen- 
stand begründet  wird  und  dieser  sich  abhebt  von  dem  Gegenstand 
der  Diesseits-Wissenschaften,  so  ist  die  Philosophie  durch  die 
Jenseitigkeit  ihres  Gegenstandes  ausgeschlossen  von  den  Dies- 
seitsgegenständen; und  es  gibt  eine  Sphäre  reiner  Diesseitigkeit, 
dementsprechend  auch  eine  solche  reiner  Jenseitigkeit,  Lasks 
TTQcorfjvkr]  und  reine  Form  (Lask,  93  und  135).  Auf  dieses  Diesseits- 
Jenseits  muß  dann  aber  unvermeidlicherweise  der  Gegensatz  von 
Sein  und  Gelten  erneute  Anwendung  finden;  d.  h.  die  Jigchrr]  vXr} 
wird  zum  letzten  reinsten  Sein,  gleichsam  zum  Urgründe  des 
Seins  gemacht;  in  der  jiQwtr]  vir]  rulit  die  Selbständigkeit  der 
Welt,  während  die  reine  Form  für  unselbständig  erklärt  wird. 
Darauf  baut  sich  Lasks  eigene  Zwei-Welten-  oder,  wie  er  sich 
ausdrückt,  Zwei-Stockwerkstheorie  auf:  Das  obere  Stockwerk  ent- 
steht durch  die  Anwendung  der  zwei  Elemente  (durch  welche 
die  Struktur  aller  Gegenständlichkeit  bestimmt  sein  soll),  auf 
die  reine  Form:  Form  der  Form  ist  da;  aber  dieses  Stockwerk 
ist  unselbständig,  ist  errichtet  auf  dem  unteren  Stockwerk,  in 
welchem  Form  der  Materie  ist  (Lask,  126).  Das  ist  nun  die 
neue  Aufteilung  der  Gegenstände  in  ein  Diesseits  und  ein  Jen- 
seits, nämlich  in  ein  Gebiet,  in  welchem  die  reine  Geltung,  und 
ein  anderes,  in  dem  die  reine  Tatsächlichkeit  ist.  Aber  damit 
hat  sich  jener  frühere  Vorgang,  daß  die  Seinssphäre  kraft  der 
Seinsgeltung  in  die  Geltungssphäre  hineinrückt,  wiederholt;  denn 
das  untere  Stockwerk  ist  gar  nicht  eine  ausschließliche  Diesseits- 
sphäre, sondern  innerhalb  von  ihr  können  wieder  Diesseits-  und 
Jenseitsbestandteile  unterscheidbar  sein.  Obwohl  also  der  Gegen- 
satz von  Diesseitigkeit  und  Jenseitigkeit  allanwendbar  geworden 


Antikantianismus  93 


ist  (Geltung,  Tatsächlichkeit),  wird  er  trotzdem  von  Lask  in 
zweifach  verschiedener  Weise,  je  nach  der  Seite  der  Diesseitig- 
keit und  Jenseitigkeit,  angewandt:  Diesseits-Jenseitsmischung 
der  Diesseitswelt,  Diesseits-Jenseitsmischung  der  Jenseitswelt! 
Da  zeigt  sich  aber,  daß  die  Jenseitswelt  nur  noch  dasjenige 
Jenseits  umfaßt,  das  Nicht-Diesseits  ist,  die  Diesseitswelt  daher 
alles  umfaßt  außer  dem,  was  ausdrücklich  nicht-diesseits  ist, 
also  alle  aus  Diesseitigkeit  und  Jenseitigkeit  zusammengesetzten 
Gegenstände.  Dann  aber  ist  die  Diesseitswelt  gar  nicht  mehr 
eine  spezifische  Diesseitswelt,  sondern  die  Gegenstandsv/elt 
schlechtweg;  und  die  durchgeführte  Aufteilung  der  Welt  ergibt 
den  Gegensatz  der  Gegenstands-  und  der  Formiüelt.  Zu  jener  ge- 
hört dann  ebenso  ein  sinnliches  Sein  wie  Geltungsgebiete  (etwa 
die  Kunst),  so  daß  von  der  Logik  dem  Erscheinen  auch  des  Ab- 
soluten nichts  mehr  in  den  Weg  gestellt  werden  kann;  Lask  gibt 
daher  der  Geltungssphäre  problematisch  eine  zweite  Transzen- 
denzsphäre, die  eines  transzendenten  Seins  („Übersinnlichen  oder 
Überseienden"  sagt  Lask)  bei,  wodurch  der  Gegensatz  Jen- 
seits-Diesseits so  unterwühlt  wird,  daß  in  dem,  was  angeblich 
Diesseits  ist  (im  unteren  Stockwerk),  das  Absolute  selber  vor- 
kommen kann;  und  der  entthronte  Gott  zieht  unter  jenen  fremden 
Namen  wieder  in  die  Philosophie  ein. 

Zur  Rettung  des  Diesseits  war  der Kantianismus  erschienen; 
jetzt  ist  es  so  unbedingt  gerettet,  daß  es  mit  dem  absoluten  Jen- 
seits, mit  Gott  selbst,  zusammen  zu  Einer  Sphäre,  der  Sphäre 
des  (irrationalen)  Materials,  verbunden  ist.  Absolutheit  oder 
Nicht-Absolutheit  des  Gegenstandes  ist  damit  für  die  Philosophie, 
für  die  Absolutheit  des  Wissens,  gleichgültig  geworden  und  die 
negative  Abhängigkeit  der  Kant-Schule  von  Hegel  abgestreift. 
Damit  wird  die  bisher  im  Kantianismus  übliche  Begründung  der 
Wissensabsolutheit  durch  die  Gegenstandsabsolutheit  zu  einem 
Selbstwiderspruch;  und  wir  finden  daher  bei  Lask  einerseits  das 
Kriterium  der  Nicht-Sinnlichkeit  als  Charakteristiken  für  Phi- 
losophie, und  in  ihm  Gott  (Lasks  Überseiendes)  und  das  Denken 
(Lasks  Geltungssphäre)  für  die  Begriffsbestimmung  dessen  was 
Philosophie  ist  vereint;  aber  andererseits  ist  der  Gegensatz  der 
beiden  Elemente  Geltung  (Form)  und  Tatsächlichkeit  (Material)  der 


94  Die  Absolutheit 


Grundbegriff  der  Philosophie,  und  dann  stehen  sich  die  eben  Ver- 
einten, Gott  und  das  Denken,  in  verschiedenen  Sphären  gegen- 
über. Während  aber  die  letztere  Fassung  in  sich  selber  wider- 
spruchslos ist,  befindet  sich  die  erstere  nicht  nur  im  Widerspruch 
mit  der  zweiten,  sondern  auch  mit  sich  selber;  denn  nur  das  reine 
Sinnliche,  die  jiQüixt-j  vir}  gilt  als  Träger  selbständigen  Seins  (nicht 
nur  bei  Lask,  sondern  bei  allen  Kantianern),  und  doch  hat  zu- 
gleich die  Philosophie  als  Wissenschaft  vom  Nicht-Sinnlichen  alles 
Nicht-Sinnliche  zu  einem  Absoluten  erhoben;  so  stehen  sich  die 
Absolutheit  des  Sinnlichen  und  die  des  Nichtsinnlichen  einander 
schroff  gegenüber.  Obwohl  dieser  Selbstwiderspruch  von  vorn- 
herein im  Kantianismus  liegt,  kommt  er  jedoch  erst  dann  an  den 
Tag,  wenn  die  Absolutheit  des  Nicht-Sinnlichen  nicht  mehr  die 
des  Sinnlichen  zum  Ziel  hat,  also  der  „transzendentale  Empirismus" 
umgangen  wird;  dies  ist  bei  Lask  geschehen,  und  daher  bleibt 
zugleich,  wie  wir  sahen,  der  transzendentale  Empirismus  als 
ein  für  sich  verselbständigter  Standpunkt  zurück.  Damit  ist 
dann  der  Widerspruch  des  Kantianismus,  dieser  selbst  historisch 
geworden;  die  Gedanken,  die  er  in  sich  verbunden  fühlte,  sind  in 
entgegengesetzten  Philosophien  getrennt  (Hessen  und  Lask).  In 
diese  Katastrophe  wird  aber  jene  andere  Begriffsbestimmung 
der  Philosophie,  d.  i.  Lasks  Zwei-Elementengegensatz  von  Gel- 
tung und  Tatsächlichkeit,  nicht  hineingezogen;  vielmehr  sind  wir 
durch  diese  Begriffsbestimmung,  indem  im  Tatsächlichen  gemäß 
ihr  absolute  wie  endliche  Tatsachen  vorkommen,  von  der  Wechsel- 
bindung von  Wissens-  und  Gegenstandsabsolutheit  erlöst,  und 
damit  nicht  nur  vom  Kantianismus,  sondern  auch  von  Hegels  Irr- 
tümern frei*). 


*)  Daher  scheint  Rickert,  soweit  das  schon  jetzt,  in  dem  oben  ge- 
nannten Aufsatz,  zu  sehen  ist,  nur  diejenige  der  beiden  Begriffsbestimmungen 
der  Philosophie,  die  wir  als  widerspruchslos  bezeichnen  konnten,  beibehalten 
zu  wollen;  deren  positiver  Inhalt  ist  allerdings  so  gering,  daß  er  der  Er- 
gänzung bedarf;  es  ist  daher  abzuwarten,  ob  Rickert  bei  genauerer  Aus- 
führung seines  Standpunkts  den  üückfall  in  den  transzendentalen  Empirismus 
vermeiden  wird  und  die  Erinnerung  an  die  „reine  Erfahrung"  wirklich  aus- 
gelöscht hat. 


Die  eigene  Ansicht  95 


III 

Wissens-  und  Seinsabsolutheit  stehen  unbezogen  neben- 
einander; wenn  wir  Lasks  Theorie  nach  ihrer  einen,  vorher  ge- 
kennzeichneten Richtung  übernehmen,  so  übernehmen  wir  also 
nur  eine  Negation;  die  positive  Lösung  des  Problems  liegt  uns 
noch  ob. 

Nachdem  Lasks  Sphärendreiheit  wie  Butter  vor  der  Sonne 
der  logischen  Geltung:  Philosophie   zergangen  ist,  bleiben  uns 
zunächst  nur  die  zwei  Sphären  des  Wissens  und  der  Gegenstände. 
Beide  sind  unabhängig  voneinander:  die  Absolutheit  des  Wissens 
und  die  des  Seins  stehen  in  keiner  Wechselwirkung.    Jene,  die 
Absolutheit  des  Wissens,  basiert  auf  sich  selbst  (unsere  Lösung 
des  innerlogischen  Problems);  ob  der  Gegenstand,  den  das  Wissen 
weiß,  absoluter  oder  nicht-absoluter  Art  ist,  wirkt  auf  das  Wissen 
nicht  ein.   Daher  ist  das  Sein  wieder  aus  Sphären  verschiedenen 
Wesens  zusammengesetzt:  Absolutes  und  Nicht- Absolutes  stehen 
in  ihm  nebeneinander.    So  kann  denn  das  Seinsabsolute  selbst  nur 
in  einer  einzelnen  Seinssphäre  vorkommen,  und  die  Absolutheit 
ist  im  Sein  nicht  eine  durchgehende  Eigenschaft,  wie  sie  es  im 
Wissen  ist.     Darin  zeigt  sich,  daß  die  Absolutheit  des  Seins, 
obwohl   sie   nicht  als   Folge   der  Wissensabsolutheit  angesehen 
werden  kann,  doch  nicht  gleich  dieser  auf  sich  selber  basiert.  Die 
Sphäre  der  Gegenstände  weist  den  Widerspruch  auf,   daß  der 
absolute   Gegenstand  in  ihr  als  Einzelsphäre    vorkommt.      Die 
Sphäre  des  Seins  verlangt  so  nach  einem  Moment,  das  ihre  Zer- 
reissung  in  einen  absoluten  Teil  und  in  ein  Diesseits  erklärt. 
Die  Allheit  der  Gegenstände  weist  in  ihrer  Zerrissenheit  in  ein 
Jenseits  und   ein   Diesseits   über  sich  hinaus    auf   die   Sphäre, 
kraft  welcher  Jenseits  und   Diesseits  in  der  Seinssphäre   ver- 
einigt werden  können;  das  ist  die  Sphäre  des  Wissens.     Indem 
das   Wesen  der  Wissensabsolutheit   das   Zusammenkommen   von 
Jenseits  und  Diesseits  innerhalb  der  Seinssphäre  möglich  macht, 
alle  Gegenstände,  ob  Gott  oder  die  Natur,  vor  dem  Wissen  gleich 
sind,  wird  der  Wissensabsolutheit  auch  die  Aufgabe  zugeschoben, 
diese  Zerrissenheit  der  Seinssphäre  zu  beseitigen. 

Insofern  aber  das  absolute  Wissen  auf  sich  selbst  ruht,  weist 


96  Die  Absolutheit 


es  gar  nicht  über  sich  hinaus,  scheint  der  genannten  Aufgabe  nicht 
gewachsen  zu  sein.  Gerade  jedoch  insofern  das  absolute  Wissen 
sich  selbst  begründet,  ist  es  ein  Doppeltes,  weist  innerhalb 
von  sich  auf  ein  anderes  als  es  selbst  ist,  ist  Begründendes  und 
zugleich  Begründetes.  So  verhält  sich  die  Wissensabsolutheit  zu 
sich  selber  wie  Grundlage  und  Ausführung  der  Wissenschaft  — 
wie  Logik  und  Philosophie  (causa  sui,  effectus  sui).  Die  Grund- 
lage gilt  nur,  insofern  sie  Grundlage  für  Etwas  geworden  ist; 
so  ist  das  Wissen  sowohl  jenseits  alles  Seins,  in  sich  selbst, 
als  auch  ausgeführtes  Wissen,  seiendes  Wissen.  Das  Wissen 
selbst  ist;  es  ist,  insofern  es  sich  begründet,  also  zugleich  nicht 
ist.  Es  ist  als  Philosophie,  es  ist  nicht  als  das  Logische,  die 
reine  Geltung;  diese  ist  daher  nur  insofern  nicht,  als  ihre  Aseität 
zu  einem  Er-Gründeten  führt  und  das  Ergründete  ist.  Insofern 
das  Wissen  sich  begründet,  realisiert  es  sich  und  verneint  damit 
das  Sein  seines  Begründens.  Sein  besitzen  im  Wissen  nur  die 
„Lösungen",  die  „Ergebnisse",  die  „Erkenntnisse".  Wir  sehen 
dann  das  an  sich  nicht-seiende  Wahrheitsgelten,  indem  es  seine 
Unzeitlichkeitssphäre  erfüllt  und  sich  im  absoluten  Jenseits  der 
Gegenstände,  unbekümmert  um  diese  selbst,  unbekümmert  um 
die  anerkennende  oder  verwerfende  Subjektheit,  unüberbrückbar 
geschieden  von  alle  dem,  was  wirklich  ist,  aufbaut,  —  gerade 
in  diesem  Eingehen  in  seine  Nicht-Seiendheit  wirkliche  Philo- 
sophie, also  seiend  werden,  so  daß  der  Zusammenhang  dessen, 
was  bisher  als  das  Seiende  gilt,  durchbrochen  wird  und  eine 
neue  Seinssphäre  ersteht.  Obwohl  also  die  Absolutheit  des 
Wissens  auf  sich  selbst  fußt,  weist  sie  kraft  dieses  in  sich 
Euhens  über  sich  hinaus.  Und  da  das  in  sich  selbst  Ruhen 
des  Wissens  nicht  den  Selbstzweck  des  Denkens  und  Erkennens 
zu  realisieren  vermag,  sondern  das  Wissen  nur  dann  seinen  Sinn 
erfüllt  hat,  wenn  es  aus  sich  heraus  in  die  Wirklichkeit  ge- 
treten ist,  so  ist  es  das  Wesen  der  Wahrheit,  über  ihr  auf 
sich  selber  Begründetsein  gerade  um  dieses  auf  sich  Ruhens, 
ihres  sog.  Selbstzweckes  willen,  hinauszuweisen.  Während  der 
Kantianismus  seine  auf  das  Gegenständliche  gerichtete  (trans- 
zendentale) Logik  isolieren  zu  können  wähnte,  sehen  wir  uns 
mit  unserer  auf  sich  selbst  gerichteten  („logologischen"  [Lask]) 


Die  eigene  Ansicht  97 


Logik  Über  die  Grenzen  dieser  Wissenschaft  ins  Grenzenlos- 
Wirkliche  getrieben,  sehen  —  wir  selber  Denkende,  inner- 
logische Wesen  —  uns  mitten  ins  Reich  des  Wirklichen  getragen, 
das  wir  doch  jenseits  glaubten,  sehen  eben  dieses  entzwei- 
geschnitten von  uns  Philosophierenden,  die  wir  zwischen  seine 
Teile  treten,  und  es  von  dem  Daß  der  wirklichen  Philosophie 
zerrissen. 

Indem  aber  die  Philosophie  das  wirkliche  Sein  seines  ein- 
heitlichen Zusammenhangs  zu  einem  Ganzen  beraubt,  indem  die 
hegelianische  Ganz-Einheit,  anstatt  von  dem  Wissen  geschaffen, 
gesichtet,  begriffen  zu  werden,  von  ihm  vernichtet,  verdunkelt, 
problematisiert  wii'd,  ist  es  doch  gerade  das  Wissen,  welchem 
die  nur  „hypothetische",  wissenschaftlich  nicht  notwendige  Zu- 
lassung des  Absoluten  nicht  genügt,  sondern  das  Problem  des 
absoluten  Seins  erst  zu  einem  (im  Zusammenhang  der  logisch 
begründeten  Philosophie)  notwendigen  Problem  wird.  So  aber 
kommt  die  Philosophie  dem  (vorher  konstatierten)  Verlangen 
des  Seins  nach  seinstranszendenter  Totalisierung  entgegen,  um- 
somehr  als  dieses  Verlangen  gerade  dem  nicht-notwendigen,  be- 
schränkten Dasein  des  Absoluten  in  der  Seinssphäre  entspringt. 
War  vorher  das  Sein  nicht  wahrhaft  absolut,  weil  die  auf  sich 
selber  in  ihrer  Absolutheit  ruhende  Wissenschaft  das  Endliche 
ebenso  duldet  wie  das  absolute  Sein,  dieses  daher  nicht  als  das 
Ganze  der  Gegenstände,  sondern  als  eine  nur  mögliche  Sphäre 
in  ihm  gesetzt  ist,  —  so  erweist  sich  nunmehr  die  Unfähigkeit 
des  Seins,  seine  Absolutheit  in  sich  selber  zu  gestalten,  als 
eine  höhere  Notwendigkeit  —  ein  Fingerzeig  der  Sache  selbst; 
denn  das  „Sein  der  Philosophie"  läßt  uns  nun  verstehen,  in  welchem 
Sinne  es  sei,  daß  das  Sein  seine  Absolutheit  nicht  auf  sich  selbst 
errichten  könne,  —  insofern  nämlich  die  Philosophie  es  selber 
ist,  die  ihm  durch  ihre  Seinswerdung  seine  Absolutheit  zerstört. 
Die  Philosophie  vernichtet  darin  aber  nur  die  „mögliche"  Ab- 
solutheit des  Seins  und  macht  im  übrigen  die  Absolutheit  über- 
haupt erst  zu  einer  Notwendigkeit.  Sie  bestimmt  so  das  Wesen 
des  absoluten  Seins  durch  die  Spannung  zwischen  dem  absoluten 
Sein  an  sich  und  dem  Sein  des  absoluten  Wissens,  die  durch  Ein- 
treten des  Wissens  in  die  Wirklichkeit  entsteht.   Nennen  wir  den 

Ehrenberg,  Die  Parteiung-  der  Philosophie  7 


Stellung  der  Logik  im  System 


Gegensatz  des  Reiches  Gottes  und  des  Reichs  der  Philosophie, 
so  haben  wir  das  Problem  des  absoluten  Seins  —  das  Problem 
Gottes  ausgesprochen.  Dies  läßt  sich  auch  so  ausdrücken,  daß 
wir  nach  dem  Sinn  fragen,  den  das  Reich  der  Philosophie  „trotz" 
des  Reichs  Gottes  haben  kann.  Von  neuem  erhebt  sich  hier 
die  (metalogische)  Grundfrage  einer  Logodicee  —  jetzt  aber  in 
den  Zusammenhang  des  Wissenschaftssystems  eingestellt.  Und 
wir  verstehen  jetzt  die  Logodicee  als  die  „letzte  Philoso- 
phie", d.  h.  als  diejenige  philosophische  Disziplin,  welche  da- 
durch, daß  sie  das  Absolutheitsproblem  zum  Gegenstande  hat, 
dazu  berufen  ist,  das  System  des  Wissens  in  sich  selber  ab- 
zuschließen. Die  Selbstbeendung  der  Philosophie  wird  dann 
nicht  daran  leiden,  daß  die  Philosophie,  indem  sie  sich  zur 
Totalität  abrundet,  sich  selbst  zum  einzig  wahrhaften  Gegen- 
stand mache.  Sie  vermeidet  das  (hegelianische)  Verschwinden 
Gottes  in  der  Wissenschaft  und  setzt  im  metalogischen  Selbst- 
beschluß nicht  sich,  sondern  eins,  das  außer  ihr  ist,  —  Gott  — 
als  das  Letzte. 

Punkt  V:    Die  Stellung  der  Logik  im  System 

Die  exoterische  Weise  unserer  Untersuchungen  erlaubt  eine 
strengere  Darstellung  nur  in  Gestalt  einer  einzelnen  Fragestel- 
lung. Das  Prinzip  einer  solchen,  welche  also  trotz  ihrer  Einzel- 
heit wenigstens  der  Richtung  nach  auf  das  Ganze  gehen  soll, 
ergibt  sich  uns  aus  der  Erfahrung,  welche  wir  in  den  bisherigen 
Punkten  gemacht  haben:  innerlogische  Probleme  sich  über  die 
Grenzen  des  Innerlogischen  ausdehnen  zu  sehen.  Daher  setzen 
wir  jetzt  das  Problem  hin,  welches  überhaupt  nach  Inner-  und 
Außerlogizität,  nach  ihrem  gegenseitigen  Verhältnis  fragt,  und 
wenden  uns  dem  Primat  zu,  der  von  der  Logik  über  die  Philo- 
sophie ausgeübt  wird. 

I 

Gehen  wir  wieder  von  Hegel  und  dem  Deutschen  Idealismus 
aus,  so  haben  wir  den  immer  irgendwie  transzendenten  Zug  zu 
betonen,  durch  den  in  ihm  die  Einheit  des  Ganzen  über  die 
Selbständigkeit  der  Teile  gesetzt  wird.    Man  dachte  damals  jene 


Philosophie  des  19.  Jahrhunderts 


gegen  diese  „retten"  zu  müssen,  und  der  Monismus,  sei  es  Gottes, 
sei  es  der  Gegebenheiten,  vermochte  sich  nicht  davon  zu  befreien, 
den  Pluralismus  heftig  zu  bekämpfen.  Kant  selber  war  anders 
gewesen;  aber  die  Rückkehr  zu  Kant  hat  nicht  der  Selbständig- 
keit gegolten,  mit  der  er  die  einzelnen  Disziplinen  der  Philo- 
sophie ausgestattet  hatte;  zumal  man  sich  schwerlich  verhehlen 
konnte,  daß  diese  Selbständigkeit  der  Disziplinen  bei  Kant  mehr 
ein  Ausdruck  von  Schwäche  gewesen  war,  da  ihm  die  syste- 
matisierende Synthesis  zum  Ganzen  nicht  gelingen  konnte, 
nicht  einmal  im  Rahmen  seiner  Intentionen  lag.  So  ist  der  Neu- 
kantianismus trotz  Kant  in  seiner  Systematik  immer  monistisch 
gewesen,  und  erst  nach  der  Jahrhundertwende  ist  die  durch  die 
dualistische  Methodik  schon  immer  arg  bedroht  gewesene  Ein- 
weltenphilosophie von  ihren  Verteidigern  selbst  preisgegeben 
worden.  Hierhin  gehört  auch  der  durchgehende  Zug  einer  teleo- 
logischen Weltanschauung,  welche  besonders  bei  Lotze  und 
Windelband,  hervortritt,  nachdem  sie  im  idealistischen  Entwick- 
lungssystem implicite  vorgebildet  war.  In  dem  teleologischen 
Gedanken  haben  wir  so  recht  eigentlich  die  Seele  der  ganzen  Phi- 
losophie des  vergangenen  Jahrhunderts,  nicht  minder  der  neu- 
kantianischen als  der  hegelschen;  Sein  und  Sinn  der  Welt  sind 
getrennt,  so  daß  jenes  nicht  an  sich  den  Sinn  bedeuten  kann. 
Kegel  vertrat  diese  Trennung,  indem  er  das  Sein  bis  zum  Sinn 
hindurchführte  und  dabei  durch  die  ganze  Welt  ging;  die  Späteren 
hielten  nur  das  Ende  selber,  den  Sinn,  fest  und  strichen  den 
Gang  der  Entwicklung  zu  ihm  und  damit  das  gesamte  Sein.  Da- 
her ist  die  Selbständigkeit  der  Disziplinen  bei  Hegel  nur  ge- 
brochen (vom  Entwicklungsprinzip),  während  die  Kantianische 
Teleologie  gar  nicht  mehr  einen  Aufbau  von  Disziplinen  kennt. 
Nichts  mehr  gilt  an  sich,  außer  dem  Gelten  selber;  und  jede 
Bestimmtheit  wird  als  Verunreinigung  des  reinen  Geltens  an- 
gesehen. Nachdem  so  das  zu  verteidigende  absolut-Eine  zu  diesem 
bloßen  Abstraktum  zusammengeschrumpft  ist,  —  historisch  eine 
Notwendigkeit  für  die  Überwindung  der  „Weltanschauung"  der 
Entwicklungsphilosophen  —  kommt  die  Zeit,  für  welche  die  Ret- 
tung der  monistischen  Einheit,  jenes  treibende  Grundmotiv  des 
deutschen  Idealismus,  gegenstandslos  wird,  weil  sie  nicht  mehr 


100  Stellung  der  Logik  im  System 

gefährdet  ist;  sie  ist  jetzt  selbstverständlich.  Dann  muß  viel- 
mehr an  den  Wiedergewinn  der  Disziplinen  gedacht  werden;  und 
nach  beiden  Seiten  gleichmäßig  ergibt  sich  das  Problem  der 
systematischen  Stellung  des  Einheitsmomentes  der  Philosophie, 
d.  i.  des  Logos,  in  der  Totalität  des  Seienden.  Dieses  beschäf- 
tigt uns  nunmehr. 

Wir  bekommen  bei  Hegel  den  durchaus  nicht  wieder  zu  ver- 
wischenden Eindruck,  daß  die  Logik  bei  ihm  den  anderen  Dis- 
ziplinen 'koordiniert  ist.  Denn  da  seine  Logik  nicht  eine  er- 
kenntnisbegründende Logik  ist,  so  haben  die  außerlogischen  Dis- 
ziplinen nicht  den  Sinn  von  angewandter  Logik,  d.  h.  es  fehlt 
jeder  Grund  für  eine  Über-  und  Unterordnung  zwischen  Einzel- 
disziplin und  Logik.  Vielmehr  erst  an  seinem  Abschluß  kehrt 
das  System  Hegels  zu  seinem  Anfang  zurück,  so  daß  seine  Logik 
nur  deshalb  keine  erkenntnisbegründende  Logik  ist,  weil  sie  viel 
mehr  ist,  eine  Logik,  welche  den  Gegenstand  selbst  (in  toto)  er- 
schafft. Daher  ist  sie  den  anderen  Disziplinen,  welche  das  Gegen- 
ständliche nicht  mehr  und  nicht  weniger  haben  als  sie,  nur  neben- 
geordnet; so  daß  sie  den  Gegenstand  mit  dem  Absoluten  sogar 
geradezu  gemeinsam  hat,  darauf  jedoch  kraft  ihrer  Eigen- 
schaft Logik  zu  sein  sich  zu  ihm  als  Allgemeines  verhält. 
Und  so  gibt  es  doch  auch  eine  Angewandte  Logik,  das  ist  die 
Philosophie  des  Absoluten  Geistes.  Man  kann  das  auch  so  aus- 
drücken: Da  die  Logik  (Hegels)  das  Werden  des  Teils  im  Ganzen 
zu  ihrem  begrifflichen  Resultate  hat,  so  ist  dasjenige  eine  An- 
wendung von  ihr,  wo  eben  diese  Beziehung  realisiert  wird,  —  dort 
wo  die  Teildisziplinen  zur  Disziplin  des  Ganzen  zusammenwachsen. 
Die  hegelsche  Logik  ist  mithin  weder  allgemeiner  Teil  der  Natur- 
philosophie noch  der  Geschichts-  oder  Kunstphilosophie,  wohl 
aber  allgemeiner  Teil  aller  Disziplinen  in  ihrer  Vereinigung,  und 
die  Philosophie  des  Absoluten,  erreicht  in  dem  Abschluß  der 
Systembildung,  ist  als  angewandte  Logik  zu  beurteilen.  Hegels 
Logik  gibt  also  nur  insoiveit  eine  „Gnmdlegung"  der  Philosophie,  als 
diese  nichts  ist  als  Philosophie  des  Absoluten;  aber  insoweit  leistet 
sie  die  Grundlegungstätigkeit  restlos.  Daraus  ergibt  sich  uns 
die  Einsicht  in  die  Stellung  der  Logik  im  System  Hegels:  neben- 


Hegel  101 

geordnet  den  einzelnen  Disziplinen,  übergeordnet  dem  Ganzen! 
Einen  Frimat  besitzt  die  Logik  hier  nur  im  Verhältnis  zum  Ab- 
soluten. Primats-  und  Koordinierungsverhältnis  der  Logik  finden 
sich  beide  vor,  stehen  sich  aber  nicht  gegenseitig  im  Wege,  da 
das  Absolute  infolge  des  Entwicklungsprinzips  nur  als  Teil  des 
Ganzen  das  Ganze  ist,  also  erst  in  einer  besonderen  Sphäre  auf- 
tritt. Daher  ist  nicht  etwa  das  Absolute  schlechtweg,  sondern 
der  Primat  der  Logik  über  das  Absolute  das  eigentliche  Telos 
der  Entwicklung,  das  an  ihrem  Anfangspunkt  noch  unrealisiert 
ist;  und  das  System  kann  mit  der  Koordinierung  von  Logik  und 
Einzeldisziplin  beginnen,  mit  der  Überordnung  der  Logik  schließen, 
ohne  daß  dadurch  ein  Zwiespalt  in  das  System  hineinkäme;  die 
am  Anfang  bestehende  Koordinierungsstellung  der  Logik  wird 
daher  durch  den  den  Zielpunkt  der  systematischen  Entwicklung 
bildenden  Primat  so  wenig  aufgehoben,  daß  sie  vielmehr  für  ihn 
erfordert  wird,  damit  ein  Zustand  da  sei,  gegenüber  dem  über- 
haupt ein  Primat  der  Logik  entstehen  könne.  Darin  besteht 
dann  der  lückenlos  einheitliche  Charakter  des  philosophischen 
Systems  Hegels:  Wenn  es  zunächst  scheinen  kann,  als  ob  die 
systematische  Stellung  seiner  Logik  zwiespältig  wäre  —  erst 
Koordiniertheit,  dann  Übergeordnetheit  — ,  so  erkennen  wir  jetzt 
die  Übergeordnetheit  übergeordnet  über  die  Koordiniertheit  und 
diese  als  unter  jene  untergeordnete  durchaus  erhalten.  Der 
Primat  der  Logik  über  das  Absolute  hat  iviedeffum  den  Primat  über  die 
Koordinierung  der  Logik  im  Verhältnis  zu  den  einzelnen  Disziplinen. 
Die  Primatsstellung  der  Logik  ist  im  System  Hegels  so  radikal, 
daß  sie  nur  über  das  Ganze  gilt.  Das  systematisch  wesentliche 
Verhältnis  der  Logik  ist  so  dasjenige,  in  welchem  sie  ihren 
Primat  ausübt;  —  während  das  Verhältnis,  in  dem  sie  in  Neben- 
ordnung auftritt,  bloß  dienende  Stellung  besitzt.  Das  ist  also 
das  eigentlich  Charakterisierende  für  die  Logik  Hegels,  daß  das 
Verhältnis  Absolutes-Logos  den  Primat  hat  über  das  Verhältnis 
Logos-Disziplin;  es  muß  ihn  haben,  damit  durch  die  beherr- 
schende Einheit  des  Verhältnisses  des  Absoluten  zum  Logos  die 
systematische  Einheit  gebildet  wird.  Solange  also  ist  die  Ein- 
heit des  Systems  vollkommen  gesichert,  als  der  Primat  des 
Primatsverhältnisses  Logos- Absolutes  über  das  Koordinierungsver- 


102  Stellung  der  Logik  im  System 

hältnis  Logos-Disziplinen  besteht;  so  sehr  er  notwendig  ist,  so 
sehr  genügt  er  auch,  genügt  für  die  Einheit  des  Systems,  den 
inneren  Bestand  der  Hegeischen  Philosophie.    Ob  dann  aber  im 
Verhältnis  vom  Logos  zum  Absoluten  jenes  oder  dieses  den  Pri- 
mat über  das  andere  hat,   ist  für  die  Einheit  des  Ganzen  be- 
deutungslos; wenn  nur  überhaupt  ein  Primatsverhältnis  zwischen 
beiden  (Logos  und  Absolutem)  besteht  und  dieser  Primat  wieder 
den  Primat  über  die  koordinierende  Relation  von  Disziplin  und 
Logos  besitzt.     Die  Funktion,   durch  welche  die   systematische 
Totalität  der  Philosophie  Hegels  gehalten  wird,  wird  ebenso  voll- 
kommen ausgeübt,  wenn  das  Absolute  den  Primat  über  den  Logos 
hat  als  wenn,  wozu  die  Interpretation  (durch  die  Stellung  der 
Logik  am  Anfang  des  Systems)  zunächst  geführt  wird,  der  Logos 
den  Primat  über  das  Absolute  besitzt.    Indem  daher  in  den  Zu- 
sammenhängen des  Ganzen  kein  Bestimmungsgrund  liegt,  durch 
den  das  eine  oder  das  andere  bevorzugt  würde,  schlägt  der  Primat 
der  Logik  über  das  Absolute  in  den  Primat  des  Absoluten  über  die  Logik 
um,  dieser  dann  wieder  in  jenen,  —  ein  für  den  Kenner  Hegels 
nicht  überraschender  Vorgang,   der   nun  auch  in   den  Voraus- 
setzungen und  Zusammenhängen  des  Ganzen  seiner  Philosophie 
begriffen  wurde.    Die  Logik  wird  so  zu  einem  bloßen  Moment  im 
Geiste  Gottes,  dieser  umgekehrt  zu  einer  Darstellung  des  Begriffs 
im  Begriff;  und  in  der  Tat  ist  der  Xöyog  bei  Hegel  sowohl  die 
autochthone  Macht  der  Wissenschaft  als  auch  der  eingeborene 
Sohn  Gottes.    Und  das  Verhältnis  der  Logik  zum  Absoluten,  in 
welchem.  Verhältnis  allein  sich  die  Stellung  der  Logik  im  System 
Hegels  ausdrücken  soll,  während  von  dem  Verhältnis  zu  den  Dis- 
ziplinen, d.  h.  von  einem  etwaigen  erkenntnistheoretischen  Grund- 
legungscharakter, keine  endgültige  Einordnung  erfolgt,  ist  von 
der  Art,  daß  das  Absolute  nicht  weniger  den  Primat  hat  über 
die  Logik  als  diese  über  jenes;  der  Primat  ist  gegenseitig,  wo- 
durch die  Bestimmtheit  der  Logik  und  die  des  Absoluten  wechsel- 
seitig ausgetauscht  wird,  und  das,  ivas  jetzt  Gott  heißt,  nennt 
sich  nachher  Wissenschaft  —  was  erst  Wissenschaft  lautete,  ist 
nachher  Gott.   Und  der  Interpret  hat  die  Wahl,  das  System  Hegels 
entweder  gottlos  oder  unwissenschaftlich  zu  nennen,  —  aber  als 
historisch  sachgemäßer  Interpret  hat  er  nur  die  Wahl,  nicht  aber 


Hegel  103 

das  Eecht  zu  wählen;  denn  sobald  er  wählen  würde,  verfiele  er 
in  den  Fehler,  die  Wahrheit  jenes  Entweder-Oder  zu  verletzen. 
Da  dieses  Entweder-Oder  ihm  aber  ebenso  verbietet,  Hegels  Phi- 
losophie für  sowohl  gottlos  als  auch  unwissenschaftlich  anzu- 
sprechen, so  ist  als  wissenschaftliche  Wahrheit  über  Hegel  zu 
sagen,  daß  wir  nicht  wissen,  ob  die  Philosophie  Hegels  als  gott- 
los oder  als  unwissenschaftlich  zu  bezeichnen  sei;  und  mit  dem 
bestimmten  Wissen  um  dieses  bestimmte  Nicht-Wissen  ist  uns 
die  Kritik  Hegels  beendet.  So  sehr  dieses  Ergebnis  als  Ergebnis 
einer  Kritik  ungewohnt  aussehen  mag,  so  sehr  ist  in  der  Tat  das 
Wissen  um  das  Nicht-Wissen,  „das  absolute  Nicht-Wissen",  das 
Schicksal  und  der  Erbe  Hegels  gewesen.  Unsere  Beurteilung 
Hegels  stellt  so,  mit  Windelbands  Ausdruck  zu  sprechen,  ein 
problematisches  Urteil  dar,  welch  letzteres  daher  als  das  histo- 
rische Fundament  der  Nachhegelianer  deren  Philosophie  als  die 
„Philosophie  der  Probleme",  die  letzte  Fixierungen  überhaupt  ab- 
lehnt, begründet  hat.  Der  neuere  Kantianismus  hat  deshalb  das 
problematische  Urteil  als  seine  strenge  Herrin  Seele,  welche 
ihm  das  absolute  Nicht- Wissen  zum  Gesetz  macht,  dadurch  aber 
seinen  wissenschaftlichen  Charakter  involviert. 

II 

Indem  der  Kantianismus  jedes  absolute  Wissen  aus  den 
Grenzen  der  Philosophie  austreibt,  nimmt  er  seinem  logischen 
Standpunkt  die  Auswirkungsmöglichkeit  in  einer  Philosophie, 
bleibt  wo  er  rein  auftritt  StandpunJctsphilosophie  und  verhält 
sich  gegen  jede  Systembildung  vollkommen  ablehnend.  Daher 
erwächst  der  Betrachtung,  der  wir  uns  hier  widmen,  eine  Schwie- 
rigkeit: Wenn  es  keine  neukantianischen  Systeme  gibt,  können 
wir  über  den  Ort  der  kantianischen  Logik  im  philosophischen 
System  nichts  aussagen,  außer  daß  er  fehle.  Jedoch  auch  die 
Systemlosigkeit  wird  zu  einem  Gegenstand  höchst  mannigfaltiger 
Beurteilungsmöglichkeiten,  sobald  sie  als  Resultat  einer  syste- 
matischen Einordnung  der  Logik  gemeint  ist;  und  da  in  der  Tat 
durch  jeden  logischen  Standpunkt,  sei  es  welchen,  wenigstens 
allgemein  gesetzt  ist,  daß  es  eine  Sphäre  des  Systems  überhaupt 
gibt,  weist  auch  der  systemlose  Kantianismus  obwohl  kein  System, 


104  Stellung  der  Logik  im  System 

SO  doch  eine  systematische  Stellung  der  Logik  auf;  der  logische 
Standpunkt  der  Kantianer  ist  stets  so  umrissen,  als  ob  ein  System 
hinter  ihm  stände,  und  im  Sinne  eines  letzten  Ideals,  für  das 
allerdings  die  Meinung  besteht,  daß  es  höchst  unzeitgemäß  sei, 
hat  auch  die  Kantschule  die  Idee  und  Forderung  der  System- 
bildung   beibehalten.      Diese    muß    jedoch    eine    unklare    Vor- 
stellung bleiben,   da  ja   alles   absolute   Wissen   zurückgewiesen 
wird,    was    seinerseits    geschieht,   um    dem   hegelianischen   Pri- 
mat der  logischen  Disziplin  über  das  Absolute  selber  zu  ent- 
gehen.   Da  die  Möglichkeit  eines  absoluten  Wissens  bei  Hegel 
mit  diesem  Primat  verbunden  gewesen  ist,  dieser  sich  aber  in 
sein  Gegenteil  entladen  hat,   so  hat  die  Möglichkeit  eines  ab- 
soluten Wissens  dasselbe  Schicksal  erfahren;  und  es  bedeutet  eine 
erhebliche  Zügellosigkeit  des  Denkens,   von  den  Damaligen  zu 
fordern,  sie  hätten  das  absolute  Wissen  retten  sollen.   Der  Kan- 
tianismus  übernimmt  also  jenes  hegelianische   Fiasko   als  eine 
feststehende  Tatsache  und  macht  sie  zu  der  grundsätzlich  wich- 
tigsten seiner  Denkvoraussetzungen,   perenniert  seine  Wirkung 
so  über  die  Zeit  der  Hegeischen  Philosophie  hinaus.   Daher  wird 
im  Kantianismus    eine    ganz   sonderbare  System.einordnung    der 
Logik  vollzogen:    Jede  Verknüpfung  der  Logik  mit  einem  Ab- 
soluten wird  verworfen:   sowohl  nicht  Primat  der  Logik  über 
das  Absolute  als  auch  nicht  Primat  dieses  über  jene;  solches 
schlechthinnige  Trennen  von  Logik  und  Absolutem  ist  als  das 
Kantianische  Dogma  anzusehen  (das  ein  Dogma  ist,  da  es  als 
eines  Erweises  unbedürftig  gilt),  zerstört  gleichwohl  das  absolute 
Wissen  überhaupt  und  stellt  daher  auch  jenes  Trennen  von  Logik 
und  Absolutem  nicht  als  absoluten  Wissens-Grundsatz  auf,  sondern 
verhält  sich  auch  zu  ihm  problematisch;  obwohl  also  Dogma,  so 
tritt  die  Auflösung  jeder  Verbindung  von  Logik  und  Absolutem 
doch  nur  als  das  zum  Dogma  gewordene  problematische  Urteil 
auf,  so  daß  „etwa  hinsichtlich  metaphysischer  Fragen,  die  im  pro- 
blematischen Urteil  ausgesprochene  Suspension  des  Urteilsaktes 
den    definitiven    Entscheid   menschlicher   Einsicht  ausmacht"*); 


*)   Windelband,    Beiträge    zur  Lelu-e    vom    negativen  Urteil,    Straßburger 
Abliandl.  für  Zeller,  1884,  189. 


Neukautiaaismus  105 


und  die  Logik  gilt  für  das  Absolute  nur  als  schlechthin  inkom- 
petent*). Obwohl  daher  vom  Kantianismus  zu  sagen  ist:  es  gibt 
keine  Systembilching,  weil  die  Logik  kein  Vei'hältnis  zum  Ganzen  hat,  — 
es  gibt  kein  Verhältnis  der  Logik  zum  Ganzen,  weil  es  kein  System 
gibt,  so  verleugnet  der  Kantianer  gleichwohl  den  „Atheisten  und 
Antichristen  Hegel"  (Bruno  Bauer)  und  begnügt  sich  mit  dem 
Indifferentismus  in  bezug  auf  Gott,  mit  der  Wissenschaftlichkeit 
in  bezug  auf  den  „Standpunkt"  der  Wissenschaft,  den  logischen 
Standpunkt:  nicht  wider  Gott,  sondern  ohne  Gott,  nicht  wider  das 
systematische  Ganze  der  Wissenschaft,  sondern  ohne  es;  und  nur 
dies  ist  der  tiefere  Grund  für  den  Anschluß  des  Antihegelianismus 
an  Kant,  daß  er  bei  diesem  ein  Prinzip  vorfindet,  das  weder  eine 
Theodicee  erfordert,  noch  eine  systematische  Anwendungsbedürf- 
tigkeit besitzt:  das  kritizistische  Prinzip;  obwohl  Kantianismus 
heißend,  so  verdiente  derselbe  doch  in  Wahrheit  den  Namen  des 
Antihegelianismus  und  verwendet  auch  das  kritizistische  Prinzip 
zu  einem  solchen  Zwecke,  der  demselben  bei  Kant  selber  voll- 
ständig fremd  gewesen  ist,  zu  dem,  was  endlich  einmal  gesagt 
werden  muß,  durchaus  dem  Neukantianismus  eigentümlichen  und 
nicht  von  Kant  übernommenen  Grund-Begriff  des  Erkenntnis- 
theoretischen;  in  diesem  ist  der  wirklich  kantianische  Gedanke  der 
Gegenstandsbestimmung  in  dem  ihn  brechenden  Sinne  verwendet, 
in  welchem  der  Neukantianismus  ihn  gebraucht,  nämlich  allerdings 
ebenso  wie  bei  Kant  mit  der  Folge  der  Trennung  von  Logik  und 
Absoluten,  jedoch  ohne  daß  diese  Trennung  eine  eigene  Ange- 
legenheit und  Wirkung  der  Logik  selber  wäre  (Kants  Dialektik 
der  reinen  Vernunft**),  sondern  so  daß  die  Sphäre  des  Absoluten 
überhaupt  nicht  betroffen  wird,  nicht  positiv,  aber  ebensowenig 
negativ.  Dann  entsteht  durch  die  erkenntnistheoretische  Gegen- 
standsbestimmung weder  ein  positives  noch  ein  negatives  abso- 
lutes Wissen;  in  bezug  auf  dieses  bleibt  es  beim  problematischen 


*)  Um  sich  die  historische  Eigenart  des  neueren  KantianisniuB  gegenüber 
Kant  zu  vergegenwärtigen,  erinnere  man  sich  des  „Zertrümmcrers"  Kant;  von 
solchem  Drang  verspürt  man  Ijeim  Neukantianismus  nichts. 

**)  Der  neuere  Kantianismus  vernachlässigt  daher  bezeiclmeiulerweise  bei 
der  Interpretation  Kants  die  Dialektik  der  reinen   V^ernunft. 


106  Stellung  der  Logik  im  System 

Urteil,  wenn  der  erkenntnistheoretisch  zu  konstituierende  Gegen- 
stand ausdrücklich  das  nicht-absolute  Wissen  ist;  dadurch  nun 
bedeutet  die  Kantische  Kritik  für  den  Neukantianismus  den  prin- 
zipiellen Standpunkt  der  methodologischen  (d.  h.  auf  das  em^pi- 
rische  Wissen  gerichteten)  Frage.  Und  mit  diesem  Standpunkt 
nimmt  dann  die  neukantianische  Logik  eine  systematische  Stel- 
lung ein,  die  Stellung  zum  System  der  empirischen  Wissenschaften, 
worin  dann  das  System,  in  welchem  die  Logik  steht,  diese  weder 
mit  einem  Absoluten  in  Berührung  bringt  noch  ein  absolutes 
Wissen  begründet,  vielmehr  durch  die  Logik  nur  eine  von  der  Ab- 
solutheitssphäre  ganz  und  gar  geschiedene  Sphäre,  zugleich  eine 
solche  des  empirischen  Wissens  aufgerichtet  wird;  und  nicht 
einmal  selbst  die  Resultate  der  erkenntnistheoretischen  seil,  me- 
thodologischen Philosophie  (d.  s.  die  logischen  Voraussetzungen 
eines  auch  seinem  letzten  Ziel  nach  nur  empirischen  Wissens)  für 
das  Dasein  eines  absoluten  Wissens  eintreten;  daher  der  neukan- 
tianische Begriff  der  „logischen  Voraussetzung"  immer  verdäch- 
tig zwischen  echtem  und  unechtem  Apriori,  zwischen  Idealismus 
und  Empirismus  schwebt.  Deshalb  hat  das,  was  sich  im  Kantia- 
nismus  überhaupt  als  Forderung  eines  Systems  gezeigt  hat,  das 
System  der  Methodologie  empirischer  Wissenschaften  gemeint; 
und  nur  von  ihm  als  Zweck  aus  kommt  dem  Kantianismus  ein  Ver- 
hältnis von  Standpunkt  und  Philosophie,  ein  Gedanke  an  Ergeb- 
nisse, eine  systematische  Einordnung  der  Logik  zu. 

Es  ist  Cohen  gewesen,  der  mit  der  methodologischen  Um- 
biegung  der  Vernunftkritik  den  neukantianischen  Standpunkt  und 
damit  die  soeben  beschriebene  systematische  Stellung  der  Logik 
begründet  hat.  Indem  die  Logik  als  Theorie  der  empirischen 
Wissenschaft  behandelt  wird,  nimmt  sie  ein  System  zum  Hinter- 
grund, das  ein  Abbild  der  Gliederung  der  empirischen  Wissen- 
schaften ist.  Darauf  setzt  sich  der  Inhalt  der  Logik  aus  den 
einzelnen  Methodologien  zusammen,  die  alle  in  dem  festgestellten 
Charakter  des  Erkenntnistheoretischen  übereinstimmen  «und  da- 
her ihre  Wurzeln  alle  in  einer  allgemeinen  Erkenntniskritik 
haben.  In  der  Logik  bildet  sich  ein  Verhältnis  von  Grundlegung 
und  Anwendung  heraus;  die  allgemeine  Erkenntnistheorie  ist 
den  einzelnen  Wissenschaftstheorien  übergeordnet.    Dieser  inner- 


Xeiikantianismus :  Cohen,  'Windelband  107 

logische  Primat  der  Logik  über  sich  selbst  ist  durch  den  metho- 
dologischen Charakter  des  neukantianischen  Standpunkts  er- 
klärt und  abgeleitet  und  kommt  auch  zui-  Realität,  sobald  das 
System  der  empirischen  Wissenschaften  sein  gleichmäßiges  Be- 
handeltwerden, von  Seiten  der  erkenntnistheoretischen  Frage  nach 
den  logischen  Voraussetzungen,  auch  wirklich  durchsetzt.  Und 
SO  stellt  sich  für  den  Kantianer  die  neue  Fi-age  nach  Umfang  und 
Inhalt  des  Systems  der  empirischen  Wissenschaften  ein;  erst  durch 
ihre  Entscheidung  kann  der  Kantianismus  zu  einer  systematischen 
Stellung  der  Logik  gelangen,  einer  Stellung,  welche  sich  zwar 
nur  innerhalb  der  Logik  ausspannen,  gleichwohl  aber  ein  Glie- 
derungsverhältnis in  einem  gedachten  Ganzen  darstellen  soll.  Da- 
her wird  das  Wissenschaftensystem  zum  Zankapfel  der  Kanti- 
aner, und  der  Gegensatz  zwischen  Cohen  und  Windelband  drückt 
sich  wesentlich  als  verschiedene  Beurteilung  desselben  aus:  Cohen 
beschränkt  dasselbe  auf  die  mathematische  Naturwissenschaft, 
Windelband  dehnt  es  über  das  gesamte  Gebiet  der  Natur-  und 
Geisteswissenschaften  aus;  jener  verliert  zwar  an  Umfang  der 
logischen  Wissenschaft,  an  systematischer  Gliederungsfähigkeit 
derselben,  gewinnt  dafür  aber  eine  von  allem  Absoluten  aufs 
reinlichste  geschiedene  Sphäre,  deren  „logische  Voraussetzungen" 
in  keiner  Weise  die  Trennung  der  Logik  vom  Absoluten  zu 
trüben  vermögen.  Windelband  dagegen  erobert  die  ganze  Breite 
der  empirischen  Wissenschaften,  weshalb  auch  erst  er  den  ersten 
Anstoß  gegeben  hat  zu  dem  nachherigen  Siegeszug  der  metho- 
dologischen Denkweise  durch  die  empirischen  Wissenschaften 
hindurch,  gerät  aber  hierbei  in  solche  Gebiete  hinein,  in 
denen  die  logischen  Voraussetzungen  des  dem  betreffenden  Gebiet 
eigentümlichen  empirischen  Wissens  auch  auf  metalogische  Be- 
griffe hindrängen.  Es  zeigt  sich  so,  daß  das  empirische  Wissen 
gar  kein  eigenes  System  besitzen  kann,  weil  seine  Beziehung  auf 
die  Objekte,  von  denen  es  weiß,  verschiedenster  Art  ist;  jede 
empirische  Wissenschaft  weiß  sich,  sobald  ihre  logischen  Voraus- 
setzungen ihr  bewußt  werden,  in  einer  bestimmten  Gegenstands- 
sphäre enthalten,  wobei  einzig  die  mathematische  Naturwissen- 
schaft sich  als  das  Ganze  ihrer  Gegenstandssphäre  ansehen  kann 
(Naturmechanismus!)  und  daher  ihre  logischen  Voraussetzungen 


108  Stellung  der  Logik  im  System 

Über  methodologische  Begriffe  nicht  hinausführen  sieht;  für  keine 
der  anderen  Wissenschaften  hingegen  erscheint  ein  Wissen  als 
ausreichendes  Prinzip  ihrer  Gegenstände,  vielmehr  als  irgendwie  in 
einem  Widerstreite  mit  dem  Gegenstande  befangen:  die  innere 
Erfahrung  setzt  der  Beobachtung  die  Brechung  durch  die  beob- 
achtenden Individuen,  die  Geschichte  dem  Forschen  die  Ab- 
hängigkeit von  Zeitpunkt  und  Zeitgeist  des  forschenden  Histo- 
rikers entgegen,  und  die  methodologischen  Probleme  werden 
hier  unweigerlich  ins  metamethodologische  Land  hinüberge- 
zwungen. Während  daher  Cohen  und  seine  Anhänger  selbst  schon 
für  die  innere  Erfahrung  die  Kompetenz  der  Logik  ablehnen, 
kommt  Bickert  bei  der  Fortbildung  der  zunächst  rein  methodo- 
logischen Idee,  die  Windelband  über  den  Unterschied  von  Natur- 
und  Geschichtswissenschaft  entwickelt,  zu  durchaus  metalo- 
gischen Gegenständen;  und  wenn  wir  sonst  der  Darstellung  seiner 
„Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung"  den  Vor- 
wurf machen  zu  müssen  glaubten,  daß  der  Kulturhegriff,  obwohl 
er  ohne  Zweifel  für  das  Ganze  den  Grundbegriff  abgebe,  erst  all- 
mählich aus  methodologischen  Gedankengängen  herausentwickelt 
werde,  so  sehen  wir  nunmehr,  daß  nicht  der  Darstellung  ein  Vor- 
wurf vorzuhalten  ist,  sondern  der  Denkweise,  da  dieselbe  rein  me- 
thodologisch fragt,  gleichwohl  aber  solche  Sphären  in  die  Anwen- 
dung ihrer  Frage  einbezieht,  in  denen  der  Gegenstand  einer  me- 
thodologischen Fragestellung  nicht  im  Mittelpunkte  steht.  Je 
mehr  daher  die  Logik  sich  in  die  rein  methodologischen  Aufgaben 
vertieft,  desto  mehr  kommt  sie  über  dieselben  hinweg;  indem 
jedoch  der  Kantianismus  an  der  methodologischen  Einstellung 
der  Logik  festhält,  kehrt  er  die  nicht  ablehnende,  bloß  proble- 
matische Stellungnahme  zum  Absoluten,  welche  er  schon  besitzt, 
nur  stärker  hervor,  betrachtet  dann  im  übrigen  sein  sich  Aus- 
breiten über  alle  Vorkommnisse  eines  empirischen  Wissens  als 
eine  ausschließlich  logische  Angelegenheit  und  läßt  so  jene  merk- 
würdigen Zwittergebilde  entstehen,  die  halb  Methodologie  halb 
Metaphysik,  teils  der  Logik  teils  außerlogischen  Sphären  an- 
gehören, aber  nur  vom  Standpunkt  der  reinen  Methodologie  aus 
und  zu  ihren  Zwecken  hervorgebracht  werden,  als  da  sind:  Logik 
der  Kulturwissenschaft,  der  inneren  Erfahrung,   der  Religions-, 


Neukantianismus:  "Windelband,  Rickert  109 


Kunst-  USW.  Wissenschaften*).  Dadurch  wächst  in  der  Philo- 
sophie Windelbands  und  Rickerts  ein  innerer  Widerspruch 
zwischen  Standpunkt  und  Ausführung  auf:  Jener  ist  der  metho- 
dologische Standpunkt,  welcher  die  Trennung  von  Logik  und 
Absolutem  durchführt,  vermöge  der  Einstellung  der  logischen 
Frage  auf  das  nicht-absolute,  empirische  Wissen.  Die  Aus- 
führung dagegen  hält  zwar  zunächst  diese  Einstellung  fest,  ver- 
wischt aber  jemehr  sie  sich  vollendet  umsomehr  die  zwischen 
Logik  und  Absolutem  gezogene  Grenzlinie,  indem  sie  in  einzelnen 
der  Wissenschafts-Methodologien  zum  Dasein  eines  Absoluten 
Stellung  zu  nehmen  genötigt  wird,  und  setzt  dadurch  nun  auch  die 
methodologische  Einstellung  der  Logik  zu  einer  unter  vielen  Ein- 
stellungen derselben  herab.  Zwar  tritt  auch  das  jetzt  er- 
schienene Absolute  nur  als  „logische  Voraussetzung"  auf  den 
Plan  und  bleibt  daher  formal  und  inhaltslos,  zerstört  aber  die 
All-Einheit  der  streng  methodologisch  systematisierten  Logik, 
setzt  neben  das  Logische  nicht-theoretische  Sphären  und  macht 
so  den  Übergang  zu  einer  solchen  Systematik,  deren  Methode 
wesentlich  koordinierend  ist;  und  es  wird  jetzt  in  den  Vorder- 
grund gerückt,  daß  die  Logik  nur  eine  einzelne  Sphäre  anfüllt: 
Gegensatz  des  Theoretischen  und  des  A-theoretischen  im  „System 
der  Werte".  So  erkennen  wir:  Zwei  ganz  verschiedene  Gedanken- 
reihen wirken  auf  die  systematische  Stellung  der  kantianischen 
Logik  ein.  Die  eine  ist  die  erJcenntnistheoretische,  die  andere  die, 
welche  im  Begriff  des  Systems  der  Werte  gedacht  ist.  Jene  ver- 
weigert jedes  absolute  Wissen  sowie  überhaupt  alle  Beziehung 
von  Logik  und  Absolutem,  konstituiert  sich  daher  als  innere 
Gliederung  der  Logik  in  allgemeine  Erkenntnistheorie  und  spe- 
zielle Methodologien  einer  Logik  der  Kultur-,  Kunst-  und  Reli- 
gionswissenschaften und  kennt  daher  keine  außerlogische  Syste- 


*)  Rickert,  Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung,  1896,  1902; 
Cohn,  Allgemeine  Ästhetik,  1901;  Lash,  Rechtsphilosophie  in:  Die  Philosophie 
zu  Beginn  des  20.  Jahrhts.,  II.  Bd.,  1904;  Troeltsch,  Psychologie  und  Erkennt- 
nistheorie in  der  Rehgionswissenschaft,  1905;  Simmel,  Soziologie,  Exkiirs:  Wie 
ist  Gesellschaft  möglich?,  1908;  Kroner,  Über  logische  und  ästhetische  Allge- 
meingültigkeit, 1908;  Pariser,  Zur  Logik  der  religiösen  Begriffsbildung,  1910; 
Ehrenberg,  Kritik  der  Psychologie  als  Wissenschaft,  1910. 


110  Stellung  der  Logik  im  System 

matik.  Diese,  das  System  der  Werte,  setzt  zwar  auch  weder  ein 
absolutes  Wissen  noch  eine  Beziehung  von  Logik  und  Absolutem, 
übt  aber  gegenüber  allen  Absolutheitsproblemen,  so  auch  dem 
Verhältnis  von  Logik  und  Absolutem,  nur  enoirj  und  gliedert 
sich  daher  in  die  nicht  das  Absolute  darstellenden,  aber  auch 
nicht  ihm  entgegengesetzten  Einzelwertsphären,  so  daß  das  Ab- 
solute selber  als  abstrakter  Wert  -  überhaupt  (dessen  Inhalt 
=  0,  Umfang  =  co  sei)  in  der  Tat  weil  inhaltslos  gar  nicht 
ist,  zugleich  aber  weil  als  Begriff  anerkannt  .doch  nicht  ver- 
worfen wird.  So  kennt  das  System  der  Werte  nur  eine  außer- 
logische Systematik;  dies  sein  Gegensatz  zur  Erkenntnistheorie. 
Indem  aber  beide  Gedankenreihen  auf  die  Kantianische  Logik 
in  gleicher  Weise  einwirken,  kommen  sie  auch  beide  in  ihr  zum 
Ausdruck,  wie  es  sich  in  der  Philosophie  Windelbands  und 
Rickerts  gleichmäßig  beobachten  läßt  (nur  daß  bei  jenem  das 
System  der  Werte,  bei  diesem  die  Erkenntnistheorie  ein  gewisses 
Übergewicht  besitzt).  Indem  nun  also  beide  Ideenkomplexe  in 
dieselbe  Gedankeneinheit  aufgenommen  werden,  findet  sich  die 
Vielheit  der  Werte  exkl.  des  theoretischen  Wertes  innerhalb 
der  Erkenntnistheorie,  in  den  einzelnen  Methodologien,  wieder, 
während  der  theoretische  Wert  mit  der  allgemeinen  Erkenntnis- 
theorie zusammenfällt.  Und  so  wird  das  Grundlegungsverhältnis 
das  in  der  Erkenntnistheorie  zwischen  allgemeiner  Erkenntnis- 
lehre und  speziellen  Methodologien  bestanden  hat,  in  das  System 
der  Werte  hineingetragen:  der  theoretische  Wert  verhält  sich  zu 
den  anderen,  den  atheoretischen  Werten  als  grundlegender  Wert, 
so  daß  sich  seine  Eigenart  in  den  nicht-logischen  Disziplinen 
wiederholt,  allerdings  gemäß  dem  Überfließen  des  methodo- 
logischen Stromes  über  seine  eigenen  Grenzen,  mit  sich  ab- 
schwächender Intensität.  Daher  hat  die  logische  Disziplin  ohne 
Zweifel  den  Primat  über  die  anderen  Disziplinen;  denn  sie  ist 
allgemeine,  die  anderen  Disziplinen  spezielle  Erkenntnistheorie; 
aber  ebenso  steht  außer  Zweifel,  daß  vom  Standpunkt  des  Systems 
der  Werte  aus,  d.h.  des  Ganzen,  theoretische  und  atheoretische 
Disziplinen  nicht  in  einem  Verhältnis  des  Allgemeinen  und  Be- 
sonderen stehen,  sondern  für  durchaus  gleichberechtigt,  daher 
einander  koordiniert  gelten.     Indem   aber   die  methodologische 


Neukantianismus:  Windelband,  Rickert  111 

Frageart  die  einzige  Methode  der  Ausführung  ist,  welche  der 
Kantianismus  kennt,  so  bleibt  der  gleichmäßige  Ausbau  der  Wert- 
sphären notwendigerweise  unvollendet,  und  die  ethischen,  reli- 
gionsphilosophischen usw.  Probleme,  welche  dem  Kantianer,  inso- 
fern sie  gar  nicht  nach  irgendwelchen  logischen  Voraussetzungen 
fragen,  auf  erkenntnistheoretischera  Wege  nicht  lösbar  sind, 
pflegt  er  von  sich  abzuwälzen  und  der  mit  dem  Indiffe- 
rentismus des  weder  Benötigens  noch  Verwerfens  behandelten 
Sphäre  des  Absoluten  (die  man  jetzt  i.  e.  S.  die  metaphysische 
nennt)  zuzuschieben;  aber  darin  erweist  sich  gerade,  daß  der  Pri- 
mat der  Logik  in  der  Tat  wirksam  ist,  daß  die  nicht-logischen  Dis- 
ziplinen, obwohl  sie  in  ihrer  Totalitätsgemeinschaft  mit  der  lo- 
gischen Disziplin  dieser  als  nebengeordnet  gelten,  doch  in  der 
Ausführung  davon  abhängig  sind,  inwieweit  sie  befähigt  sind, 
erkenntnistheoretische  Ergebnisse  entstehen  zu  lassen.  Obwohl 
allerdings  die  Philosophie  Windelbands  und  Rickerts  das  Element 
Erkenntnistheorie  mit  dem  Element  System  der  Werte  zu  har- 
monisieren strebt,  so  hat  doch  das  erstere  der  beiden  den  Tat- 
primat über  das  letztere.  D.  h.  der  Primat  der  Logik  über 
die  einzelnen  Disziplinen  ist  übergeordnet  über  die  Koordinie)-ung  der 
Logik  im  Verhältnis  zum  Ganzen  (zum  System).  Und  so  siegt 
das  „Prinzip"  der  Systemlosigkeit  über  das  „Ziel"  des  Systems, 
das  problematische  Urteil  über  das  Ganze  der  Werte.  Der  Pa- 
roxysmus  der  einzelnen  Disziplinen  im  Kantianismus  weist  auf 
den  Widerstreit  zweier  Grundkräfte  die  in  ihm  wirken  zurück: 
Für  die  eine  ist  die  Logik  ein  einzelner  Abschnitt  der  Philosophie, 
für  die  andere  der  alles  begründende  Teil;  dort  Antilogismus, 
hier  Logismus;  dort  Hervorkehren  des  induktiv  zu  erzielenden 
Aufbaus  der  Disziplinen,  hier  Hineinziehen  auch  der  einzelnen 
Werte  in  den  allgemeinen  Wert-  oder  Geltungsbegriff;  um  dann 
die  Folgen  dieses  Widerstreites,  das  Unmöglichwerden  des  Sy- 
stems zu  verhindern,  schiebt  man  wohl  zwischen  die  einzelnen 
Wertdisziplinen  und  die  allgemeine  Erkenntnistheorie  eine  Art 
„vergleichender"  und  teleologisch  vereinheitlichender  Philosophie 
der  Werte  ein*),  von  der  allerdings  etwas  Reales  nie  erscheinen 


*)  J.  Cühn,  a.  a.  0.,  434,  499  ff. 


112  Stellung  der  Logik  im  System 

konnte.  Und  überhaupt  vermag  sich  der  Kantianismus,  so  lange 
als  er  noch  an  seinen  Grundprinzipien  selber  zu  feilen  hat, 
in  der  Mitte  zwischen  Erkenntnistheorie  und  System  der  Werte, 
sich  einmal  mehr  zu  jener,  dann  wieder  mehr  zu  diesem  neigend, 
zu  halten,  aber  wenn  schließlich  dieses  scheinbare  Gleichgewicht, 
dessen  relativer  Bestand  der  Passivität  des  Nicht-Ausführens  zu 
danken  ist,  beim  ersten  Schritt  zu  wirklicher  Ausführung  ver- 
loren geht  und  dadurch  die  Beschaffenheit  des  Ausführens  über 
die  des  Standpunktes,  die  Erkenntnistheorie  über  das  System 
der  Werte  das  Übergewicht  erhält,  kommt  der  Primat  des  Pri- 
matsverhältnisses Logik-Disziplinen  über  das  Koordinierungs- 
verhältnis Logik-Ganzes  zu  wirklicher  Geltung. 

Und  so  schlägt  die  zivischen  Erkenntnistheorie  und  System 
der  Werte  aufgebaute  Philosophie  Windelbands,  welche  an  jener 
ihr  Prinzip,  an  diesem  ihre  Aufgabe  hat  und  in  dieser  Verteilung 
von  Prinzip  und  Aufgabe  nach  allen  Seiten  gesichert  scheint, 
in  die  von  RicJcert  vollzogene  Aufhebung  des  Systems  der  Werte 
durch  die  Erkenntnistheorie  um;  diese  zieht  jenes  in  sich  hinein 
und  setzt  sich  wesentlich  als  das  Ganze.  Das  Koordinierungs- 
verhältnis von  Logik  und  Ganzem  tritt  zurück,  zumal  der  Grund- 
begriff der  Logik  immer  schon  der  grundlegende  Begriff  des 
Ganzen  gewesen  ist.  Jetzt  konstituiert  er  sich  ausdrücklich  als 
solchen;  die  Logik  ist  die  Allgemeine  W ertwissenschaft,  als  welche 
sie  das  Ganze  der  Philosophie  in  seinen  grundlegenden  Elementen 
umfaßt.  Es  bildet  sich  dann  dementsprechend  ein  rein  auf  t'Jher- 
imd  Unterordnung  gestütztes  Systemverhältnis  heraus:  An  der 
Spitze  des  Aufbaus  steht  die  Allgemeine  Wertwissenschaft  d.  h. 
die  Logik,  welcher  die  einzelnen  Wertdisziplinen  als  Methodologien 
untergeordnet  sind.  Die  erkenntnistheoretische,  d.  h.  methodo- 
logische Tendenz  der  kantianischen  Logik  wird  jetzt  ganz  über- 
wunden (was  sich  auch  äußerlich  in  der  allmählichen  Verdrängung 
des  Terminus  Erkenntnistheorie  durch  den  Terminus  Logik  kund- 
gibt), und  zwischen  dem  theoretischen  Wert  und  dem  Wert- 
überhaupt fehlt  ein  grundsätzlicher  Unterschied.  Sie  sind  beide 
wesentlich  Wert-,  Geltungshaftigkeit;  und  als  Geltungsphilo- 
sophie ist  die  reine  Logik  seihst  zum  Ganzen  der  Philosophie  ge- 
worden, in  welchem  die  Vielheit  der  Werte  nur  im  strengen  Sub- 


Neukantianismus:  Eickert  113 


ordinationsverhältnis  unter  die  reine  Logik  auftritt.  Der  Wert- 
überhaupt, welcher  nur  noch  dem  Namen  nach  vom  theoretischen 
Wert  geschieden  ist,  —  beide  bedeuten  die  Möglichkeit  der  Er- 
kenntnis —  ist  für  den  Kantianismus  das  Letzte,  sein  erklärter 
Gott.  Aber  zugleich  bedingt  die  systematische  Gestaltung  der 
kantianischen  Philosophie  (die  in  ihr  geschaffene  Primatsstellung 
der  Logik),  daß  die  Logik  sowohl  allgemeine  Wertwissenschaft 
als  auch  einzelne  Wertdisziplin  ist.  Und  damit  gerät  für  die  Logik, 
so  fest  gegründet  ihr  Primat  über  alle  nicht-logischen  Disziplinen 
sein  mag,  gerade  dieser  Primat  über  die  Disziplinen  ins  Schwanken, 
insofern  er  auch  ein  Primat  der  Logik  über  sich  selbst  sein  soll, 
ein  Primat  der  Logik  als  Allgemeiner  Wertwissenschaft  über  die 
Logik  als  einzelne  Wertdisziplin.  Denn  dieser  erforderte  Primat 
der  Logik  über  sich  selbst  ist  für  den  Kantianismus  nicht  wirk- 
lich durchführbar;  indem  nämlich  die  Logik  als  Allgemeine  Wert- 
wissenschaft aus  der  Erkenntnistheorie  „geworden"  ist,  ist  der 
Allgemeinen  Wertwissenschaft  eigentümlich,  daß  sie  ihr  Wesen 
dem  Wesen  der  Erkenntnistheorie  entlehnt  hat;  d.  h.  die  All- 
gemeine Wertwissenschaft  besinnt  sich  wesentlich  auf  die  „lo- 
gischen Voraussetzungen"  gegebener  Tatsächlichkeiten,  und  da- 
her ist  es  auch  ihr  Inhalt,  den  Wert  als  die  logische  Voraus- 
setzung des  Seins  zu  charakterisieren  (Rickert,  Logos  I,  1). 
Indem  die  allgemeine  Wertwissenschaft  das  erkenntnistheoretische 
Problem  vollkommen  beibehält,  hat  einerseits  die  spezielle  Dis- 
ziplin des  theoretischen  Wertes  keinen  anderen  Inhalt,  als  die 
Allgemeine  Wertwissenschaft  hat,  und  ist  so  in  der  Tat  in  der 
Allgemeinen  Wertwissenschaft  verschwunden;  andererseits  sieht 
sich  diese  wesentlich  als  den  speziell  logischen  Grundgegensatz 
der  Vernunftgeltung  und  der  irrationalen  Wirklichkeit,  und  ihre 
Begriffe  beschränken  sich  auf  die  in  diesem  Gegensatz  ausge- 
sprochene Spannung  und  auf  die  Stufenbegriffe,  durch  welche  die 
Extreme  vermittelt,  der  Gegensatz  des  Rationalen  und  Irrationalen 
in  eine  einfache  Reihe,  die  von  diesem  zu  jenem  gehen  soll,  auf- 
gelöst wird.  Daher  ist  in  Wahrheit  nicht  zu  bestimmen,  ob  die 
kantianische  Logik  weil  allgemeine  Wertwissenschaft  Theorie 
des  theoretischen  Wertes  ist,  oder  Allgemeine  Wertwissenschaft 
weil  Theorie  des  theoretischen  Wertes.     Obwohl  also  die  Logik 

Ehrenberg',  Die  Partciunp  der  Philosophio  8 


114  Stellung  der  Logik  im  System 

bei  Eickert  wesentlich  die  Qualität  besitzt,  grundlegende  Disziplin 
zu  sein  (Primat  des  Primatsverhältnisses  Logik-Disziplinen  über  das 
Koordinierungsverhältnis  Logik-Absolutes),  so  besitzt  sie  gleich- 
wohl nicht  die  Qualität  sich  selber  zu  begründen,  sondern  für 
die  LogiJc  selbst  ist  der  Primat  der  Logik  über  die  Disziplinen 
nicht  durchgeführt;  ob  die  Logik  allgemeine  Wertwissenschaft 
ist  weil  Logik,  oder  ob  der  umgekehrte  Zusammenhang  besteht, 
ist  unerkennbar;  so  daß  die  Logik  über  sich  selbst  gar  keinen 
Primat  besitzt;  ihr  Grundlegungscharakter  versagt  in  der  An- 
wendung auf  sich  selbst,  und  die  Logik  ist  so  überhaupt  ohne 
einen  letzten  Grund,  ist  wesentlich  etwas  „Vorgefundenes".  Sie 
begründet  die  anderen  Disziplinen,  ist  selbst  unbegründet,  ist 
gerade,  weil  sie  selbst  nicht  als  begründungsbedürftig  gilt,  fähig 
zur  Grundlegung  der  anderen  Disziplinen,  zu  dem  Primat  über 
diese.  Das  reine  Über-  und  Unterordnungsverhältnis  von  All- 
gemeiner Wertwissenschaft  und  Wertdisziplinen,  wie  es  bei  Rickert 
besteht,  fußt  somit  darauf,  daß  die  Allgemeine  Wertwissenschaft 
weil  sie  Logik  ist  nur  begründet,  nicht  selbst  begründet  zu  werden 
braucht  und  daher  als  ein  Letztes,  Transzendentes  gilt.  Der 
Unterschied  von  Logik  und  Metaphysik,  von  dem  der  Kantianis- 
mus  ausgegangen  war,  wird  vollkommen  hinfällig;  die  Logik  er- 
scheint jetzt  wesentlich  selbst  als  Metaphysik.  Dies  kann  dem 
Kantianismus  selbst  allerdings  nur  dadurch  zum  Bewußtsein 
kommen,  daß  die  methodologischen  Adnexe  seiner  reinen  Logik, 
d.  h.  die  der  Logik  untergeordneten  einzelnen  Disziplinen,  ihn 
immer  erneut  in  den  Kampf  mit  dem  Standpunkt  derjenigen 
Wissenschaften  verflechten,  die  er  methodologisch  begründet,  — 
in  einen  Kampf  mit  Empirismus,  Positivismus  und  Psychologis- 
mus; keineswegs  darf  es  uns  dünken,  als  habe  sich  in  diesen 
Fehden  ein  unglücklicher  Hang  zur  Polemik  geäußert;  sondern 
wir  haben  nicht  zu  vergessen,  daß  der  Kantianismus  mit  der 
Feindschaft  gegen  die  Metaphysik  und  mit  dem  Skeptizismus 
gegen  das  Absolute  begonnen  hat;  dann  muß  ihm  wohl  oder  übel 
dies,  daß  er  selbst  Metaphysik  ist,  erst  im  Kampf  gegen  Psy- 
chologismus, Empirismus  und  Friesianismus  zum  Bewußtsein 
kommen.  Und  überhaupt  bedurfte  der  kantianische  Geist  eines 
praktischen  Skeptizismus  des  Stets-Verneinen-Könnens,  und  dazu. 


Neukantianismus:  Rickert  115 


den  Geist  der  Wissenschaft  vom  Element  des  unbedingten  Glaubens 
zu  befreien,  ist  er  in  diese  Welt  gekommen,  in  der  er  daher  seine 
Rolle  ausgespielt  hat,  sobald  er  selber  gläubig  wird  und  beginnt, 
das  Positive  über  das  Negieren  zu  setzen.  Dies  aber  ist  sein 
Schicksal;  denn  indem  er  seine  skeptische  Praxis,  das  absolute 
Nicht-wissen,  so  weit  durchführt,  daß  er  sie  auch  gegen  die  skep- 
tische Theorie  selber  zur  Anwendung  bringt,  wendet  er  sich  von 
dem  Prinzip  des  problematischen  Urteilens  ab  und  findet  sich 
so  gleichsam  über  Nacht  selber  zur  Metaphysik  gevv'orden.  In 
dem  Augenblick,  in  welchem  Logik  und  Allgemeine  Wertwissen- 
schaft absolut  zusammenfallen,  ist  der  Wiedereintritt  der  Meta- 
physik geschehen;  deshalb  glaubt  noch  J.  Colin,  welcher  Logik 
und  Allgemeine  Wertwissenschaft  nicht  identifiziert,  die  Logik 
„von  der  Stellungnahme  zu  der  Frage,  ob  überhaupt  Metaphysik 
möglich  sei,  unabhängig"  (a.  a.  0.)- 

Das  Metaphysik-Werden  der  Logik  hat  sich  also  nur  da- 
durch vollzogen,  daß  die  Logik  Allgemeine  Wertwissenschaft, 
d.  h.  Grundlegungsdisziplin  ist;  der  Grundlegungscharakter  ist 
daher  hier  das  letzte  Apriori  für  die  Möglichkeit  einer  Meta- 
physik. Dann  aber  hat  die  also  entstandene  Metaphysik  die  für 
eine  Metaphysik  paradoxe  Eigentümlichkeit,  daß  sie  „nur"  die 
Grundlegung  der  Philosophie,  nicht  diese  selber  ist;  d.  h.  auch 
der  metaphysisch  gewordene  Kantianismus  sieht  sich  nicht  als 
absolutes  Wissen  an,  sondern  nur  als  die  „logische  Voraus- 
setzung" eines  solchen.  Die  Tatsächlichkeit  und  Gegebenheit 
dessen,  für  das  der  Kantianismus  logische  Voraussetzungen 
sucht,  ist  auch  noch,  nachdem  er  Metaphysik  geworden  ist,  sein 
Grundprinzip:  Selbst  dann,  wenn  er  ein  absolutes  Wissen  aner- 
kennt, duldet  er  nicht,  daß  dasselbe  a  se  sei,  nimmt  vielmehr,  wie 
er  einstens  das  empirische  Wissen  als  Tatsache  hinnahm,  jetzt 
das  absolute  Wissen  als  Tatsache  hin  und  untersucht  nur  die  (dem- 
selben ja  durchaus  transzendenten)  logischen  Voraussetzungen. 
Das  absolute  Wissen  selbst  ist  mithin  Gegenstand  eines  streng 
problematischen  Urteils,  wird  weder  als  notwendig  deduziert  noch 
als  unmöglich  verworfen,  sondern  als  Tatsache  hingenommen, 
geduldet;  und  die  Logik,  die  früher  bereits  alle  Sphären  durch- 
laufen hat:  Logik  der  Natur,  der  Kultur,  Kunst  usw.,  ergreift 

8* 


116  Stellung  der  Logik  im  System 


jetzt  auch  die  Sphäre  der  Philosophie  („Logik  der  Philosophie" 
Laslis).  Obwohl  es  dem  oberflächlichen  Betrachter  scheinen 
möchte,  als  sei  eine  Logik  der  Philosophie  nur  eine  derselben 
Erscheinungen  wie  es  eine  Logik  der  Kulturwissenschaft  usw.  ist, 
so  ist  dieselbe  doch  vielmehr  erst  möglich  geworden,  nachdem 
die  Logik  des  Kantianismus  gerade  aus  jenem  Status  der  Zer- 
splitterung in  spezielle  Logiken  in  den  Status  Allgemeine  Wert- 
wissenschaft zu  sein  übergetreten  ist  (Rickert).  Denn  erst  darauf- 
hin kann  die  logische  Voraussetzung  der  allgemeinen  Werthaftig- 
keit,  d.  h.  des  philosophischen  Grundbegriffs  selber,  zu  einem 
Gegenstand  der  Logik  gemacht  werden.  Obschon  also  die  Logik 
der  Philosophie  das  Metaphysik  Gewordensein  der  Logik  voraus- 
setzt, so  hebt  sie  es  doch  sogleich  wieder  auf,  indem  sie  in  der 
Logik  den  Gegensatz  von  Grundlegung  und  Begründetheit,  d.  h. 
von  Allgemeiner  Wertwissenschaft  und  spezieller  Wertdisziplin, 
jenen  Gegensatz,  dessen  Aufhebung  die  Logik  zur  Metaphysik 
gemacht  hatte,  von  neuem  begründet.  Und  erst  jetzt,  wo  der 
Kantianische  Widerstreit  zwischen  Erkenntnistheorie  und  Wert- 
system in  die  Logik  selber  eintritt,  bricht  er  offen  aus: 

Das  erkenntnistheoretische  Prinzip  des  problematischen  Ur- 
teils ist  jetzt  bis  an  das  Ende  der  Welt  gekommen;  kein  Wert 
aus  dem  möglichen  System  der  Werte  ist  ihm  entgangen.  Alle 
Werte  sind  weder  unmöglich  noch  notwendig;  auch  der  Wert: 
Wert  selber;  auch  Gott  oder  das  Absolute.  Logik  und  Meta- 
physik trennen  sich  jetzt  wieder,  nachdem  sie  bei  Rickert  bereits 
vereinigt  gewesen  waren;  sie  trennen  sich,  weil  sie  beide  als 
Tatsächlichkeiten  Gegenstand  der  Logik,  Inhalt  eines  proble- 
matischen Urteils  geworden  sind.  Dadurch  daß  jetzt  alles  zum 
Objekt  der  Kantianischen  Fragestellung  geworden  ist:  alles  ist 
irrational,  d.  h.  gegeben,  d.  h.  weder  notwendig  noch  unmöglich, 
kann  kein  Objekt  ein  Hemmnis  für  den  erkenntnistheoretischen 
Charakter  der  Logik  sein  d.  h.  für  das,  was  Lask  in  seiner  Be- 
deutungsbestimmungslehre  ausgeführt  hat:  Die  Logik  als  Wissen- 
schaft von  nur  den  logischen  Voraussetzungen,  in  welche  das 
Material  nicht  von  ihnen,  sondern  von  sich  aus  „bedeutungs- 
bestimmend" eintritt,  ist  gegenüber  ihren  Objekten  so  souverän, 
daß   sie   ebenso   dasjenige,   was   selbst  mehr   als   ein  bloß   Ge- 


Xeukantianismus:  Lask  117 


gebenes  empfangendes  Erkennen  ist,  d.  h.  die  Philosophie,  als 
auch  das,  was  gar  kein  gegebenes  Material  kennen  kann,  das 
Absolute,  —  also  seine  beiden  Todfeinde  —  in  sich  aufnimmt, 
so  aber  beide  prinzipiell  voneinander  trennt:  Logik  der  Philo- 
sophie*), Logik  des  Absoluten.  Und  die  Unterscheidung  der  Kate- 
gorien für  das  Übersinnliche  (Absolute)  und  derjenigen  für  das 
Geltungshafte  (Philosophie)  gilt  Lask  als  bedeutsame  Errungen- 
schaft gegenüber  den  bisherigen  Versuchen  einer  logischen  Re- 
duktion des  Überempirischen.  Das  Absolute  resp.  die  Metaphysik 
gehört  so  bei  Lask  ebenfalls  zu  dem,  was  nicht  notwendig  aber 
auch  nicht  unmöglich  ist;  oder  der  Logik  wird  nun  wenigstens 
das  Recht,  sich  als  Überwindung  der  Metaphysik  zu  denken,  ge- 
nommen. Der  Grundlegungscharakter  der  Logik  ist  erst  jetzt 
bis  in  seine  letzten  Möglichkeiten  hin  ausgebaut;  denn  da  ist 
nichts  im  Aufbau  der  Philosophie,  was  nicht  unter  die  all- 
gemeinste Wertwissenschaft  zu  stehen  kommt;  auch  das  Er- 
kennen selbst  wieder,  auch  das  Produkt  des  feindlichen  Meta- 
physikprinzipes  steht  unter  der  „Panai-chie  der  logischen  Form'*, 
unter  dem  Primat  der  logischen  Wissenschaft.  Die  systematische 
Stellung  der  Logik  ist,  den  Primat  über  das  Koordinierungsver- 
hältnis der  Logik  (im  System  der  Werte)  restlos  vollendet  zu 
sehen.  D.  h.  obwohl  die  Logik  nur  einen  einzelnen,  den  theore- 
tischen Wert  umfaßt,  obwohl  also  „eigentlich"  alle  anderen  Wert- 
disziplinen ihr  nebengeordnet  sind,  so  sind  sie  doch  alle  der  All- 
gem.einen  Wertwissenschaft  unterstellt,  auch  die  Logik  der  Phi- 


*)  In  Lasks  Terminologie  müßte  ich  Logik  der  Geltungssphäre  sagen, 
während  Logik  der  Philosophie  die  Logik  des  Absoluten  mit  umfassen  soll; 
gleichwohl  sind  de  facto  nur  die  Kategorien  der  Geltungssphäre  „philosophische" 
Kategorien,  während  die  Kategorie  Gott  nicht  mehr  Kategorie  der  Philosophie 
ist  als  der  Begriff  Natur.  Dies  ist  allerdings  nur  von  neuem  unsere  wiederholte 
Kritik  an  Lask,  dem  wir  vorwerfen,  daß  er  im  Begriff  „Logik  der  Philosophie", 
im  Worte  Philosophie  etwas  gedacht  hat,  in  dem  die  Logik  der  Philosophie, 
will  sie  diesem  Etwas  folgen,  über  die  Grenzen  einer  Logik  weit  hinausgeht  und 
die  Trennung  von  Logik  und  Nicht-Logik  aufhebt;  daher  ist  Lask,  sobald  er  diese 
Scheidung  streng  aufrechterhält,  Logik  der  Philosophie  doch  nur  Logik  der 
Geltungssphäre  (und  umfaßt  dann  gar  nicht  eine  Logik  des  Absoluten);  so  in 
Lasks  Begriff  Form  der  Form,  von  welchem  aus  die  Logik  der  Philosophie  mit 
Logik  der  Geltungssphäre  absolut  zusainmcnfüllt. 


llg  Stellung  der  Logik  im  System 

losophie  selber;  diese  ist  selber  nur  eine  einzelne  Wertdisziplin. 
Indem  so  als  Logik  der  Philosophie  die  allgemeine  Wertwissen- 
schaft  selber  eine  einzelne  Disziplin  geworden  ist,  scheint  das  Ko- 
ordinierungsverhältnis der  Logik  im  Werte-System  gewahrt,  ohne 
daß  der  Logik  ihre  Grundlegungsqualität  genommen  würde.   So 
aber  gerät  die  Logik  in  den  Konflikt  hinein,  als  allgemeine  Wert- 
wissenschaft einmal  wirklich  an  deren  Platz  zu  stehen,  dann  aber 
als  Logik  der  Philosophie,  obwohl  als  solche  doch  ausdrücklich 
als  allgemeine  Wertwissenschaft  (Form  der  Form!)  anerkannt, 
eine  einzelne  Wertdisziplin  zu  sein,  und  dergestalt  gemäß  der 
allgemeinen  Bedeutungsbestimmungslehre  Lasks  in   der   Eigen- 
schaft einer  einzelnen  Wertdisziplin  weder  notwendig  noch  un- 
möglich zu  sein,  so  aber  auch  die  Unbedingtheit  ihres  Grund- 
legungscharakters einzubüßen.    Und  nachdem  für  die  Logik  früher 
nur  alles  Nicht-Logische  für  weder  unmöglich  noch  notwendig 
gegolten  hat,  ist  ihr  jetzt  auch  das  Logische  selber  ein  weder 
Unmögliches  noch  Notwendiges;  indem  die  Logik  der  Philosophie 
begründete  Disziplin  ist,  nämlich  durch  Bedeutungsbestimmung 
der  reinen  Form  entsteht,  ist  die  Philosophie,  das  absolute  Wissen, 
die  Logik,  selbst  auf  die  Seite  des  Nicht-Notwendigen  getreten, 
und  der  Primat  der  Logik  über  die  DisziiMnen  entlädt  sich  in  einen 
Primat  der  Disziplinen  üher  die  Locfik.  Da  diese  jetzt  einerseits  kraft 
ihres   eigenen  Primats   Disziplin   wird   (Logik  der   Philosophie), 
d.  h.  aus  der  Primatsstellung  ausscheidet,  andererseits  als  Logik 
der  Philosophie  (als  einzelne  Disziplin)  wieder  den  Primat  des  Lo- 
gischen über  sich  selber  ausbildet,  so  steht  die  Logik  allerdings 
ausschließlich  in  Primatsverhältnissen  —  ihr  Koordinierungsver- 
hältnis zum  Ganzen  hat  jede  Bedeutung  eingebüßt  — ;  ob  aber 
die  Logik  in  ihren  Primatsverhältnissen  Beherrschtes  oder  Be- 
herrschendes ist,   ist  gleichgültig  d.  h.  unerkennbar;  denn  ge- 
rade in  dem  Status,  in  welchem  die  Logik  bereits  angewandte 
Logik  ist  (als  Logik  der  Philosophie),  begründet  sie  sich  selbst, 
hat  den  Primat  über  sich  selbst;  und  gerade  in  dem  Status,  in 
welchem  die  Logik  iiber  allen  Disziplinen  steht  (als  reine  Form), 
hat  sie  gar  keinen  Primat  über  sie,  weil  sie  diesen  ja  erst  kraft 
der  Logik  der  Philosophie,  als  Form  der  Form,  gewinnt.    In  der 
Tat   sclilägt  so  die  Panarchie  der  logischen  Form  über  die  Disziplinen 


Neukantianismus:  Lask  119 


in  cliePanarchie  der  Disziplinen  über  die  logische  Form  um:  diese  Pcin- 
arcJiie  ivieder  in  jene  usw.*);  ob  im  Systemaufbau,  an  dessen  Spitze 
die  reine  Logik,  unterhalb  von  ihr  die  Disziplinen  stehen,  die 
Spitze  oder  die  Basis  als  das  Letzte  zu  gelten  hat,  wird  nicht 
entschieden;  nur  soviel  ist  sicher:  Entweder  begründen  alle  Dis- 
ziplinen die  Logik  oder  diese  jene;  aber  das  Entweder-Oder  selbst 
ist  unentscheidbar.  Daher  sind  alle  Sphären  für  Lask  zugelassen, 
keine  notwendig;  zugelassen  auch  die  absolute  Sphäre,  nicht- 
notwendig auch  die  Logik.  Indem  aber  gerade  die  universelle 
Geduldetheit  aller  Sphären  dieselben  irgendwie  in  das  Gedanken- 
system Lasks  einbezieht,  ist  der  Kantianismus  bei  Lask  ein  Ge- 
samtbild der  Welt  geworden  und  hat  insofern  wieder  ein  System. 
In  demselben  müßte  sich  jetzt  der  Platz,  den  die  logische  Wissen- 
schaft einnimmt,  bestimmen  lassen;  aber  das  System  beruht  nur 
auf  der  Geduldetheit  aller  Sphären,  denen  somit  eine  letzte  syste- 
matische Ordnung,  welche  sie  vernotwendigen  würde,  abgehen 
muß;  daher  ist  auch  die  systematische  Ordnung,  welche  in  der 
Philosophie  Lasks  zu  finden  ist,  selber  nichts  Notwendiges,  son- 
dern nur  geduldet.  Und  zwar  drückt  sich  dies  folgendermaßen 
aus:  Gilt  bezüglich  einer  Systematik  der  Primat  der  Logik  über 
die  Disziplinen,  so  ist  die  Geltungsphilosophie  das  gesamte  System; 
diese  hat  aber  die  systematischen  Verhältnisse,  in  denen  sie  als 
Geltungssphäre  steht,  nämlich  die  zum  Sein  und  zum  Übersein, 
außerhalb  von  sich,  ist  also  im  eigenen  Innern  ohne  jede  Ordnung, 


*)  Lask  a.  a.  0.,  1,  spricht  von  einem  „Anschmiegen"  des  Systems  der 
Logik  an  das  System  der  Philosophie;  femer:  „Insofern  ist  das  Differenzierungs- 
prinzip ein  rein  .empiristisches'"  (62).  Dann  aber  dringt  wieder  die  praktische 
Mißachtung  der  Disziplinen  diu-ch,  und  anstatt  von  einem  Anschmiegen  der 
Logik  an  die  Disziplinen  zu  hören,  lesen  wir:  „Eine  Vereinheitlichungstendenz 
muß  rege  werden,  die  der  dialektischen  Methode  genau  entgegengesetzt  ist"  (61); 
die  dialektische  Methode  bewirkte  jedoch  gerade  bei  Hegel  den  Siegeszug  der 
logischen  Form,  und  Lask  mag  wohl,  wenn  er  sich  der  Dialektik  entgegengesetzt 
glaubt,  mehr  die  Verwendung  der  Dialektik  im  Auge  gehabt  haben,  in  der  sie 
in  der  Gegenwart  einem  spekulativen  Positivismus  dienstbar  gemacht  zu  werden 
versucht  wird.  Auf  jeden  Fall  bringt  Lask  nirgendwo  selbst  so  klar  die  Wider- 
sprechendheiten seiner  Philosophie  an  den  Tag  als  in  diesen  „unvermittelt" 
einander  entgegengesetzten  Äußerungen  über  das  Verhältnis  von  Logik  und 
Philosophie. 


120  Stellung  der  Logik  im  System 

sodaß  die  den  Primat  führende  Logik  nicht  über  diesen  Primat 
hinaus  zu  einer  wirklichen  Ordnung  kommt,  ja  den  Primat  selbst 
nicht  voll  realisiert,  indem  ja  Sein  und  Übersein  außerhalb  bleiben. 
Ist  dagegen  die  Logik  dem  Primat  der  Disziplinen  untergeordnet, 
so  ist  das  System  gemäß  der  Ordnung,  welche  aus  der  Bedeutungs- 
bestimmungslehre  folgt,  zu  denken;  da  aber  die  Bedeutungsbestim- 
mung für  alle  Sphären  in  ganz  gleicher  Weise  erfolgt,  so  ist  der 
Träger  der  systembildenden  Kraft  unfähig  dazu,  eine  Sphäre 
gegenüber  einer  anderen  in  ein  Ordnungsverhältnis  zu  bringen;  es 
bleibt  alles  roh  nebeneinanderstehen  (inkl.  der  Logik  selber).  So 
ist  die  Philosophie  entweder  ein  absoluter  Positivismus  und  dann 
ohne  jedes  System  (Primat  der  Disziplinen  über  die  Logik),  oder 
besitzt  eine  Ordnung,  in  welcher  die  Logik  den  einzelnen  Sphären 
übergeordnet  ist,  bezieht  dann  aber  nur  diejenigen  Sphären  in 
ihren  Herrschaftsbereich,  in  ihr  System  ein,  welche  durch  logische 
Bearbeitung  auf  letzte  Voraussetzungen  reduziert  werden  können 
und  schließt  so  die  Sphäre  „des  Überseienden"  von  sich,  von  dem 
System  der  „Geltungsphilosophie"  aus.  Sind  so  zwar  der  Primat 
des  Positiven  und  der  der  reinen  Form  zunächst  ganz  gleich  be- 
rechtigt, als  letztes  Apriori  derselben  Philosophie,  der  Lasks, 
zu  wirken,  so  führt  doch  jener  zur  absoluten  Systemlosigkeit  und 
gibt  sich  so  wirklich  als  reinen  Ausfluß  des  Kantianismus,  der 
in  diesem  tieferen  Sinne  immer  Positivismus  gewesen  ist,  während 
im  Falle  des  Primats  der  Logik  über  die  Disziplinen  der  Primat  sich 
als  unfähig  erweist,  das  Verhältnis  der  Logik  zum  Absoluten,  das 
metalogische  Problem,  zu  klären,  und  dadurch  den  Widerspruch 
erzeugt,  daß  das  Verhältnis  zwischen  Logik  und  etwa  Ästhetik 
ganz  anders  gestaltet  ist  als  das  Verhältnis  zwischen  Logik  und 
Philosophie  des  Absoluten*).  Im  einen  Falle  nicht  reine  Logik, 
im  anderen  nicht  das  gesamte  System  der  Werte,  schwebt  die 


*)  Die  Ansätze  zu  wirklicher  Durchführung  des  Laskschen  Standpunktes 
würden  folgendes  Bild  ergeben :  Einerseits  sollen  keine  Einzelsphären  durch  die 
allgemeine  Sphäre  antizipiert  werden;  andererseits  antizipiert  diese  den  Gegen- 
satz zwischen  sich  und  den  Sphären  des  Seins  und  des  Überseins.  Das  ist  der 
erste  Widerspruch.  Der  zweite  ist  folgender:  Die  Geltungssphäre  zerfällt  in 
die  Einzelsphären  der  einzelnen  Werte,  aber  diese  kommen  nur  teilweise  in  sie 
hinein  (Lask  nennt  nur  den  theoretischen  und  den  ästhetischen  Wert,  während 


Hegel  und  Neukantianismus  121 


Kantianische  Geltungsphilosophie  in  der  Mitte  zwischen  Logik 
und  System,  teils  die  Werte  in  sich  teils  außer  sich,  teils  von  den 
einzelnen  Sphären  fortstrebend  teils  auf  sie  zugerichtet,  in  einem 
selbst  gewobenen  Netze,  dessen  Fäden  eng  genug  sind,  um  sie 
eingeschlossen  zu  halten  und  sie  doch  bequem  nach  außen  blicken 
zu  lassen.  Aber  in  dieser  „absoluten  Indifferenz  der  Sphären" 
hat  Lask  das  Absolute  eingeführt,  einführen  müssen,  um  jene 
Indifferenz  hervorbringen  zu  können,  hat  so  zwischen  das  absolut 
positivistische  Entweder  und  das  absolut  logistische  Oder  das 
Absolute  eingeschoben  und  dadurch  die  Vermittlung  der  Diszi- 
plinen mit  der  Logik  durch  das  Absolute  als  das  zukünftige 
Problem  der  Philosophie  gekennzeichnet;  und  v/enn  von  dem 
System  der  Systemlosigkeit  ins  Land  des  Wissens  kein  Ergebnis 
hinübergenommen  werden  kann,  so  doch  ein  Problem,  nämlich 
das  eben  genannte;  hierdurch  hat  dann  der  Kantianismus  die  ihm 
allgemein,  am  bewußtesten  von  Windelband  gewiesene  Aufgabe 
—  Philosophie  der  Probleme  und  nicht  der  Lösungen  zu  sein  — 
bis  zur  Stellung  des  höchsten  Problems  erfüllt;  und  die  „Philo- 
sophie des  absoluten  Nicht-Wissens"  hat  ihr  Wesen  gezeitigt. 

Dies  ist  nun  für  den,  der  weder  Hegelianer  noch  Kantianer 
ist,  der  einzige  Unterschied  in  der  Beurteilung  der  beiden  Rich- 
tungen: daß  der  Kantianismus  uns  die  höchste  „Fragestellung" 
geklärt  hat,  während  uns  Hegel  den  „Standpunkt"  für  die  Aus- 
führung bestimmt.  Beide  aber  haben  im  übrigen  das  gleiche 
Schicksal;  das  entweder  gottlos  oder  unwissenschaftlich  ist  ihre 
letzte  Bestim.mung.  Denn  wo  Hegel  das  Absolute  durch  die 
Wissenschaft,  diese  durch  jenes  zerstörte,  da  hat  der  Kantianismus 
durch  die  Wissenschaft  die  einzelnen  Sphären,  jene  durch  diese 
paralysiert.  Während  daher  bei  Hegel  die  Disziplinen  nur  da- 
durch vom  Panlogismus  betroffen  werden,  daß  das  Absolute  selbst 
einzelne   Disziplin   ist,   wird   vom   Logismus   der  Kantianer   das 


er  Gott,  das  Ethische,  das  sinnliche  Sein,  die  [nach  der  Bedeutungsbestini- 
mungslohre]  in  ihr  vorkommen  sollten,  gar  nicht  in  die  Geltungssphäre  ge- 
langen läßt).  Beide  Widersprüche  sind  im  tieferen  Grunde  ein  einziger:  Der 
Geltungsbegriff  ist  Grundbegriff,  umfaßt  also  alles;  alle  Werte  gehören  zur  Gel- 
tungsphilosophie; dagegen:  die  Geltungssphäre  ist  Einzelsphäre,  und  alle  Werte 
stehen  außerhalb  von  ihr! 


122  Stellung  der  Logik  im  System 

Absolute  nur  dadurch  erreicht,  daß  irgendeine  der  einzelnen  Dis- 
ziplinen als  Disziplin  des  Absoluten  vorkommt.  Es  ist  so  die 
Drdheit  von  Logik,  Disziplinen,  Absolutem,  in  deren  bindender  Be- 
stimmung das  Rätsel  alles  Wissens  seine  Lösung  zu  erfahren  hat. 
Hegel  und  Kantianismus  haben  beide  fehlgeraten:  Beide  setzen 
das  Einheitsmoment  der  Drei  in  die  Logik  und  verfallen  dadurch 
dem  Logismus;  sie  unterscheiden  sich,  indem  Hegel  solchen  Primat 
der  Logik  auf  deren  Stellung  zum  Absoluten,  der  Kantianismus 
auf  die  zu  den  Disziplinen  gründete;  daher  verletzte  Hegel  die 
Rechte  des  Absoluten,  der  Kantianismus  die  der  Disziplinen, 
so  daß  von  Hegel  das  Absolute,  die  Disziplinen  vom  Kan- 
tianismus zur  Vernichtung  der  Logik  aufgereizt  wurden. 
Das  jeweils  dritte  Moment  darin  wurde  daher  bei  beiden 
in  verschiedener  Weise  getroffen:  die  Disziplinen  wurden 
von  Hegel  positiv  vergewaltigt,  das  Absolute  vom  Kantia- 
nismus negativ  beiseite  gesetzt;  hierin  kann  der,  welcher 
hinter  die  Kulissen  des  Denkens  zu  sehen  versteht,  bemerken, 
daß  die  Beziehung  der  Logik  zum  Absoluten  und  die  derselben 
zu  den  Disziplinen  eine  verschiedene  Bedeutung  haben;  d.  h.  daß 
die  Stellung  der  Logik  zu  Gott  den  Primat  hat  über  die  Stellung 
der  Logik  zu  den  Disziplinen;  das  war  bereits  bei  Hegel  der  Fall 
gewesen,  jedoch  war  bei  ihm  das  Verhältnis  der  Logik  zum  Ab- 
soluten ein  Primats-,  das  der  Logik  zu  den  Disziplinen  ein  Koor- 
dinierungsverhältnis, während  wir  jetzt  ahnen,  daß  wir  es  darin 
mit  dem  Kantianismus  halten  werden,  daß  wir  die  Stellung  der 
Logik  zum  Absoluten  als  Koordinierungsverhältnis,  die  der  Logik 
zu  den  Disziplinen  als  Primatsverhältnis  nehmen,  aber  allerdings 
die  kantianische  Überordnung  dieses  Primatsverhältnis  über  jenes 
Koordinierungsverhältnis  ablehnen  werden.  Beruht  auf  dieser 
Überordnung  der  Logismus  der  Kantianer,  so  beruht  der  Hegels 
auf  dem  Primatsverhältnis  der  Logik  zum  Absoluten;  daher  ist 
der  kantianische  Logismus  ein  Tat-Logismus,  der  Hegeische  ein 
Grundsatz-Logismus;  dort  ist  man  im  Prinzip  nicht  logistisch, 
bei  Hegel  der  Tat  nach  nicht  (wenn  man  eben  beim  Kantianer 
das  Prinzip  von  der  Tat,  bei  Hegel  die  Tat  vom  Prinzip  abstrakt 
ablöst).  In  jedem  Falle  ist  das,  was  uns  unter  dem  Namen  einer 
Logik  entgegentritt,  irgendwie  die  Antizipation  des  Systems;  was 


Die  eio-ene  Ansicht  123 


man  von  Hegel  gesagt  hat:  „Die  Logik  blieb  das  esoterische 
System  und  das  System  die  exoterische  Logik"*),  gilt  mutatis 
mutandis  auch  vom  Kantianismus.  Wenn  wir  uns  die  Befreiung 
des  Systems  von  der  Vorherrschaft  der  Logik  zum  Ziel  gesetzt  haben, 
so  bekämpfen  wir  in  ganz  gleicher  Weise  Hegelianismus  und 
Kantianismus;  den  Primat  der  Logik  zu  vernichten,  wenden  wir 
uns  jetzt  der  Harmonisierung  der  Dreiheit:  Logik,  Disziplinen, 
Absolutes  zu. 

HI 

Es  kann  nicht  an  der  Absicht  liegen,  überhaupt  eine  Syste- 
matik auszubauen,  wenn  eine  Philosophie  logistisch  ausartet;  denn 
der  systemlose  Kantianismus  zeigt  sich  darin  nicht  besser  als 
der  systematische  Hegel.  Es  liegt  vielmehr  an  der  ganzen  Rang- 
und  Einordnung,  die  bei  der  Betrachtung  der  logischen  Fragen 
die  „letzte  Ursache"  ist.  Und  insofern  kann  man  allerdings  sagen, 
daß  keine  Philosophie  systemlos  ist,  daß  vielmehr  das  letzte 
Apriori,  das  Tat-Apriori  in  jeder  Philosophie  irgendein  ordnender 
Gedanke  ist,  der  die  Sphären  systematisch  bindet.  Der  Interpret, 
der  nicht  weniger  sich  selber  als  die  Vorgänger  zu  verstehen  hat, 
muß  auf  die  letzten  Ordnungsvoraussetzungen  zurückgehen,  wenn 
er  nicht  Meinungen,  Glaubungen  und  Passionen  verfallen  will. 
Allerdings  ist  nicht  hier  der  Ort,  um  die  lösenden  und  bindenden 
Kräfte,  die  Glauben  und  Skepsis  in  ständigem  Wechsel  mischen, 
in  den  Methoden  der  ordnenden  Systematik  aufzuzeigen;  nicht 
hier  der  Ort,  den  Kinderwahn  zu  verscheuchen,  der  die  syste- 
matische Wissenschaft  in  „Fesseln"  und  „Ketten"  sieht;  um  so 
lieber  mag  ich  davon  schweigen  als  die  Zeit  mein  stiller  Bundes- 
genosse ist.  Nur  erinnern  muß  ich  an  dieses  Bekannte,  Allzu- 
bekannte, um  zu  sagen,  was  ich  hier  an  diesem  Orte  tatsächlich 
will;  daß  ich  ohne  es  zu  rechtfertigen  die  systematischen  Be- 
ziehungen als  den  Grund  jeder  einzelnen  Philosophie  nehme  und 
so  jetzt,  nachdem  ich  sie  auch  in  der  systemlosen  Philosophie  des 
Kantianismus  als  die  treibenden  Kräfte  nachgewiesen  habe,  mit 
und  auf  ihnen  den  eigenen  Standpunkt  aufzubauen  gedenke. 


Schmid,  Entwicklungsfrcschiclito  der  Hcgolschen  Logik,  1868,  254. 


124  Stellung  der  Logik  im  System 

Das  Gesamtresultat  der  Entwicklung  ist  dies:  die  Logik  ist 
vollkommen  isoliert,  vollständig  für  sich!  Sie  hat  mit  Gott  und 
der  Religion  gebrochen  und  ist  dadurch  dem  Menschen,  dem  sie 
in  Gott  nahe  gestanden  hatte,  fremd  geworden.  Von  der  zugleich 
entabsolutierten  und  entanthropologisierten  sind  die  beiden  Mängel 
^/.  genommen,  die  ihr  im  System  Hegels  anhafteten:  die  Ineinssetzung 
*  von  Philosophie   und  Gott,   die   Ineinssetzung  von  transzenden- 

y^^^.T-  talem  (philosophischem)  und  empirischem  (menschlichem)  Sub- 
jekt. Der  Kantianer  hat  die  Arbeit  dieser  Reinigung  der  philoso- 
phischen Atmosphäre  vollbracht,  hat  sich  aber  damit  selber  über- 
flüssig gemacht;  die  Zeit  der  bloßen  Probleme  ist  vorbei,  die 
,^  ■•  der  Lösungsversuche  hat  wieder  eingesetzt.  Jedoch  diejenigen 
>.*  ■  die  lösen  wollen  haben  das  Erbteil  jener  zu  wahren:  Wir  wissen 
if,^^-'  jetzt,  belehrt  vom  Kantianismus,  daß  auch  die  Theo-logie  ange- 
wandte Logik  ist  und  daher,  wie  auch  die  Bande,  die  von  der 
Wissenschaft  zur  absoluten  Persönlichkeit  laufen,  sein  mögen, 
die  Logik  seil,  der  Geist  nie  einfach  als  Gott  gesetzt  werden 
darf.  Des  weiteren  hat  man  uns  gezeigt,  daß  das  Bewußtsein, 
das  „da  ist",  dem  wissenden  Subjekt  der  Philosophie  nicht  näher 
stehe  als  die  bewußtseinslose  Natur,  daß  daher  zwischen  empi- 
rischem und  philosophischem  Subjekt  keine  Gattungs-,  geschweige 
eine  Bewußtseinsgemeinschaft  bestehe*).  Im  Gegensatz  dazu  sieht 
der  Hegelianismus  darauf,  ob  etwas  „Bewußtsein  ist",  glaubt  ein 
solches  dann  näher  dem  absoluten  Subjekt,  als  die  Natur  diesem 


*)  Daß  der  Kantianismus  das  Ins-Obj  ekt-Rücken  des  Psychischen  nicht 
soweit  verfolgt  hat,  daß  er  die  Lehre  der  Erkenntnis  der  Sinnenwelt  für  ein 
gewöhnliches  Objekt  der  ewigen  Forschung  gehalten  hätte,  hat  seinen  Grund 
in  der  mangelnden  Klarheit  über  die  Rückwirkungen  phänomenalistischer  Reali- 
sationen auf  den  Erkenntnischarakter  in  objektiver  Beziehimg,  Rückwirkungen, 
die  alle  Erkenntnis  der  Sinnenwelt  mehr  oder  weniger  mit  sensualistischem 
Maßstabe  bewertet  erscheinen  und  so  die  Theorie  der  Erfahrung  aufhören  lassen, 
eine  Theorie  über  Wahrheit  und  Erkennen  zu  sein  (eine  erste  Ahnung  s.  Bickert, 
Zwei  Wege  usw.,  S.  225;  unbekannt  bei  Xasfe,  188).  Klar  ausgesprochen  ist  die 
Aufhebung  der  Grattungsgemeinschaft  zwischen  empirischem  und  philosophischem 
Bewußtsein  von  mir  (Kantstudien,  1909,  436),  wo  mir  zwar  bewußt  war,  wie 
anti-Hegel  die  Zerschneidung  der  Bewußtseine  ist,  wo  ich  aber  nicht  be- 
merkte, daß  ich  damit  nur  aussprach,  was  der  Kantianismus  schon  immer  ge- 
dacht hatte. 


Die  eigene  Ansicht  125 


steht.  Letztere  ist  daher  für  Hegel  die  einzige  absolute  Anti- 
thesis,  gleichsam  das  Schmerzenskind  seiner  Panlogistik  gewesen; 
und  nicht  nur  seine  Schüler  und  Gegner,  wenn  sie  wie  in  der 
Tat  häufig  die  Stellung  der  Logik  in  seinem  S3^stem  diskutierten, 
sondern  schließlich  auch  er  selber  sahen  den  Geist-Gegensatz  zur 
Natur  noch  unter  dem  alten  Schema  von  äußerer  Natur  und 
menschlichem  Bewußtsein;  das  „Hineingehen  der  Idee  in  die  Wirk- 
lichkeit" wurde  von  Hegel,  Hegelingen  und  Antihegelingen  nicht 
anders  als  nach  eben  demjenigen  Dualismus  verstanden,  der  nach- 
her im  Neukantianismus  zum  positiven  Prinzip  gestempelt  worden 
ist.  Der  Neukantianismus  aber  hat  nun  diesen  Gegensatz  von 
dem  Fluch,  der  ihm  anhing,  die  Philosophie  bei  ihrer  Arbeit 
stören  zu  müssen,  „erlöst",  indem  er  die  Idee  der  Reihe  nach 
durch  alle  Wirklichkeiten  hindurchführte,  schließlich  auch  durch 
sich  selber,  und  hierbei  immer  das  Anderssein  von  Idee  und  Wirk- 
lichkeit im  Sinne  hatte.  Die  Beziehung  von  Logik  und  Philo- 
sophie ist  jetzt  gänzlich  entmaterialisiert;  weder  Gott  noch 
Mensch,  weder  Natur  noch  objektiver  Geist  kommen  in  ihr  vor. 
Die  vom  Neukantianismus  vollbrachte  reine  Herausarbeitung  des 
abstrakten  Logosbegriffes  —  von  Lotze,  Windelband,  Rickert, 
Lask  —  ist  das  hohe  Verdienst  dieser  Schule,  das  sie  selbst  mit 
ihrer  durchgängigen  Ablehnung  eines  absoluten  Wissens  weniger 
würdigen  kann  als  der,  welcher  sie  sonst  bekämpft.  Und  nach- 
dem uns  der  geschichtliche  Gang  gezwungen  hat,  den  Lauf  der 
Selbstauflösung  des  Kantianismus  zu  verfolgen,  haben  wir  jetzt 
das  Recht,  uns  ihm  gleichsam  anzuschließen,  und  die  Pflicht, 
gegenüber  denen,  welche  ihn  nur  wie  ein  notwendiges  Übel  gelten 
lassen  wollen,  auf  den  Gewinn  zu  pochen,  den  jene  Verächter 
wohl  gerne  nutzen,  ungerne  aber  denjenigen,  welche  ihn  ge- 
schaffen haben,  anrechnen  mögen.  Zur  Selbsterkenntnis  seines 
Wesens  ist  der  Neukantianismus  zwar  nicht  selber  gelangt,  aber 
durch  Lask  befähigt;  dessen  „Panarchie  der  logischen  Form" 
spricht  sein  Wesen  implicite  aus.  Die  vollkommene  Entmateria- 
lisierung der  Logik,  die  jene  Erkenntnis  des  Neukantianismus 
gezeitigt  hat,  habe  ich  allerdings  durch  die  verschiedensten  Sta- 
tionen hindurch  gegeyi  ihn  durchkämpfen  müssen.  Denn  um  sich 
selber  nutzen  zu  können,  müßte  der  Kantianismus  das  Dualistische 


126  Stellung  der  Logik  im  System 

seiner  Denkweise,  das  ihn  nicht  aus  dem  dualen  Unterscheiden, 
nicht  aus  der  Logik  herauskommen  läßt,  überwinden;  dann  würde 
er  auch  erkennen  müssen,  wie  er  selber  uns  von  Hegel  befreit 
hat  und  wie  nun  eine  souveräne  Stellungnahme  zu  Hegel  —  im 
Lernen  und  Verwerfen  —  möglich  ist;  wir  gehen  daher,  wenn  der 
Gegensatz  von  Hegel  und  dem  Neukantianismus  für  uns  seine 
Absolutheit  verloren  hat  und  die  bedrückenden  Gefühle,  die  man 
im  Kantianismus  Hegel  gegenüber  empfindet,  vergangen  sind, 
in  gewissem  Sinne  in  den  Spuren  der  Kantianer  selbst.  Es  kommt 
daher  die  kantianische  Entmaterialisierung  der  Logik  erst  dann 
zur  Wirksamkeit,  wenn  sie  in  die  Dreiheit  von  Logik,  Disziplinen 
und  Absolutem  eingestellt  wird: 

Nur  wenn  jeder  dieser  drei  Grundfaktoren  einer  allgemein- 
gültigen Systematik  zu  seinem  vollen  Rechte  kommt,  ist  das 
System  möglich  geworden. 

1.  Der  Grundfaktor  Logik  ist  von  sich  selbst  begründender 
Art;  sein  Inhalt  die  reinen  Formen,  die  als  Inhalte  Inhalte  ihrer 
selbst  sind;  das  Prinzip  der  logischen  Wissenschaft  ist-  das  „reine 
Selbstbewußtsein",  durch  welches  deren  Inhalte  von  allem  Gegen- 
ständlichen abgeschieden  werden.  So  absolut  aber  die  Logik  von  ,. 
allem  Außer  logischen  getrennt  -ist,   so  absolut  ist  sie  auf  alle  l^  ^    ^ 

Gegenstände   anwendbar;  denn  indem   sie  für  sich   selber  gilt,  ' 

dieses  Selber  aber  nur  das  Formale  in  eigener  Person  ist,  gilt 
sie  darin  für  das,  was  „nur"  Form,  daher  „noch  nicht"  Gegen- 
stand ist,  d.  h.  trifft  zwar  die  Gegenstände,  aber  nur  hinsichtlich 
ihrer  bloßen  Form,  gilt  mithin  für  die  bloße  Möglichkeit  der  Er- 
kenntnis der  Gegenstände.  Die  rein  innerlogisch  durchgeführte 
Logik  —  Formale  Logik  in  einem  neuen  Sinne  des  Wortes  — 
hat  in  toto  transzendentallogische  Bedeutung ;  sie  ist  allanwend- 
bar, ihr  Herrschaftsbereich  ohne  Grenzen.  Und  zwar  hat  die  trans- 
zendentallogische Bedeutung  der  Logik  d.  h.  ihr  Grundlegungs- 
charakter  sein  Urbild  daran,  daß  die  formallogische  Wissenschaft 
sich  selbst  transzendental-gegenständlich  wirklich  aufbaut.  Die 
tatsächliche  Anivendung  der  Kategorie  auf  sich  selbst  ist  der  Grund 
für  die  mögliche  Anwendung  der  Kategorie  auf  Objekte,  ist  mithin 
das  Prinzip  der  Kategoriendecluktion. 

2.  So  aber  beruht  die  transzendentallogische  Bedeutung  der 


Die  eiofene  Ansicht  127 


Logik,  ihr  Primat  über  alle  Gegenstände,  auf  der  Tatsache,  daß 
die  Logik  selbst  einer  ihrer  Gegenstände  ist.     Die  systematische 
Stellung  der  Logik  ist  Grundlegungsstellung  gewesen,  schlägt 
jetzt  darin  um,  daß  die  Logik  nur  einen  einzelnen  Gegenstands- 
kreis umspannt,  eine  einzelne  Disziplin  ist.  Denn  nur  insofern  die 
Logik  nicht  mehr  als  eine  einzelne  Sphäre  ausfüllt,  ist  ihr  Inhalt  un- 
bedingt von  allem  Alogischen  frei;  die  absolute  Reinheit  der  Logik 
erfordert  gerade  selbst  ihre  schlechthinnige  Einsphärenhaf tigkeit. 
So  haben  die  einzelnen  Disziplinen  aus  sich  das  Prinzip  der  gegen- 
ständlichen Reinheit  und  wirken  durch  dieses  als  Grundfaktor  der 
Systematik.   Die  in  nichts  durch  Primatsverhältnisse  gebrochene, 
gleichgeordnete   Reihe   der   Disziplinen   gewährleistet,    daß    die 
Gegenstände  so  gewußt  werden,  wie  sie  an  sich  sind.    In  den 
Disziplinen  ist  alles  in  gegenseitiger  Freiheit.  Jeder  Primat  würde 
hier  als  wahrheitsfeindlich  zu  bekämpfen  sein.    Durch  die  Dis- 
ziplinen wäre   dann  aber  überhaupt  jeder  Aufbau  der  Wissen- 
schaft, jede  systematische  Einheitsmöglichkeit  verhindert.    Die 
Philosophie   ist   suh   specie    Disziplinen   absoluter   Positivismus. 
Gerade  aber  als  solcher  ist  sie  ivirUiche  ErJcenntnis,  so  daß  die 
logische  Form  de  facto  gerade  zur  Allanwendung  gebracht  ist. 
3.  So  aber  ist  die  tuirkliche  Philosophie  immer  die  Versöh- 
nerin des  absolut  logistischen  und  des  absolut  positivistischen 
Prinzips  der  Philosophie,  setzt  sich  dadurch  selber  außerhalb  des 
Gegensatzes  der  Logik  und  der  Disziplinen  und  begründet  sich 
selbst  als  eine  einzelne  Wirklichkeit.    Indem  so  die  Philosophie 
auch  sich  selbst  innerhalb  des  Umkreises  ihrer  Gegenstände  als 
einen  Gegenstand  hat,  wird  das  absolut  positivistische  Prinzip, 
das  Prinzip  der  gegenseitigen  Freiheit,  zur  Anwendung  auf  die 
Philosophie  selber  gebracht:  Das  Ganze  als  Erkenntnis  setzt  sich 
selbst  als  Teil  des  Ganzen  als  Seienden  und  gibt  durch  solche  Syn- 
these der  Disziplinenreihe  mit  dem  seienden  Ganzen  der  Reihe  der 
Disziplinen  den  Abschluß,  der  die  Reihe  zum  System  formt.    Die 
Vermehrung  der  Mannigfaltigkeiten,  welche  qua  Disziplinen  die 
Reihe  der  Erkenntnisse  ins  Abschlußlose  kontinuiert,  findet  qua 
Philosophie    der   wirklichen   Philosophie   die   stets  bereite   Ein- 
heit, durch  welche  die  Reihe  als  Totalität  ist.    Die  Möglichkeit 
des  Systems  beruht  so  darauf,  daß  die  Philosophie  sich  selbst  als 


128  Stellung  der  Logik  im  System 


einen  Teil  des  seienden  Ganzen,  d.  h.  des  Absoluten  begreift;  das 
Absolute  ist  dann  der  ivahre  MnheitspunJd  aller  SystemUUiimj, 
denn  sogar  die  Tatsache  der  Geschichte  der  Philosophie  ordnet  es 
sich  ein.  Indem  die  Philosophie,  in  deren  eigener  Wirklichkeit  das 
endlos  Ma^inigfaltige  zur  Einheit  gebracht  ist,  sich  selbst  als  Teil  des 
von  ihr  zur  Einheit  gebrachten  Mannigfaltigen  begreift,  hat  diese 
Einheit,  von  ivelcher  die  wirkliche  Philosophie  mit  erfaßt  ist,  den 
Mannigfaltigkeiten-Progressus  des  Erkennens  in  sich  „aufgehoben", 
ist  so  darüber  hinaus  und  macht  somit  das  seiende  Ganze  oder 
Gott  aus. 

In  Gott  also  hat  jedes  den  Sinn,  der  ihm  zukommt,  insofern 
es  ist ;  auch  Gott  selbst,  auch  die  Philosophie  haben  erst  in  Gott 
diesen  in  ihrem  Sein  gesetzten  Sinn.  In  bezug  auf  seinen  wahr- 
haften Sinn  ist  zwar  alles  streng  „für  sich",  aber  nur  in  Gott 
hat  auch  die  Philosophie  selbst  ihren  Sinn  bekommen,  so  daß 
daher  auch  alles  andere  erst  dadurch,  daß  die  Philosophie  und 
damit  auch  dieses  alles  andere  in  Gott  seine  Bestimmung  er- 
fährt, nicht  mehr  von  einem,  dessen  Sinn  noch  nicht  „für  sich" 
geworden  ist,  gebrochen  werden  kann*).  80  ist  Gott  oder  das 
absolute  Sein  der  „Sinn  der  Welt";  d.  h.  Gott  ist  sein  eigener  Sinn,  ist 
Selbstziveck,  und  nur  Er  hat  diese  absolute  Freiheit  sich  seihst  Ziveck 
zu  sein.  Nicht  ist  irgendein  Etwas  der  Sinngeber,  auch  nicht 
die  Wahrheit  hat  absoluten  Selbstzweck,  sondern  das  ganze  Sein 
als  Ganzes.  Der  Dualismus  von  Sein  und  Sinn,  der  in  der 
Philosophie  des  19.  Jahrhunderts  bei  Plegel  wie  bei  den  Neukanti- 
anern zugrunde  liegt,  ist  beseitigt.  Und  allein  in  der  Erkennt- 
nis Gottes  hat  die  Philosophie  denjenigen  Gegenstand,  dessen  Er- 
kenntnis ihr  die  Möglichkeit  des  Systems  gewährt.  Die  Theologie 
ist  daher  der  gegenständlich  grundlegende  Teil  der  Philosophie; 
d.  h.  in  der  Theologie  als  philoso'phischer  Grundwissenschaft  haben 
wir  diejenige  Disziplin,  von  deren  Isolierung  die  Systembildung  und 
-ausführung  nicht  paralysiert  werden  kann,  die  vielmehr  Mittel- 
punkt und  Seele  des  ganzen  Systems  ist;  und  ^m  Primat  der  Logik, 


*)  Bei  Hegel  ist  die  Philosophie  noch  nicht  als  in  Gott  eingegangen  er- 
kannt, weshalb  bei  ihm  aller  andere  Sinn  durch  den  speziellen  Sinn  Philo- 
sophie gebrochen  wird. 


Schluß  129 


den  wir  bei  Hegel  und  den  Kantianern  finden  und  bekämpfen, 
ersetzen  wir  durch  den  Frimat  der  Theologie,  als  dessen  absolute 
Handlung  ist,  den  Primat  der  Logik,  wie  er  für  die  Wissenschaft 
besteht,  auf  Gott,  auf  den  Primat  der  Theologie  zurückzuführen. 
Also  tritt  die  innerlogische  Bedeutung  der  Logik  schlechthin 
zurück  hinter  die  außerlogische;  die  Selbstzweckheit  der  abso- 
luten Wissenschaft,  welche  ihr  nicht  für  sie  selber  abgesprochen 
werden  kann,  ist  wieder  Mittel  und  steht  im  Dienste  des  Abso- 
luten. Dann  aber  ist  umgekehrt  der  reine  Logos  selbst  Wirk- 
lichkeit geworden;  sein  Nichtsein,  seine  Vorwirklichkeit  gilt  nur 
im  Verhältnis  des  Erkennens  zu  seinen  Gegenständen;  das  Apriori 
der  Wissenschaft  —  die  reine  Geltung  —  „ist  nicht"  —  für  die 
Wissenschaft;  sie  „ist"  für  die  Wirklichkeit;  denn  nur  das,  was 
als  es  selber  gilt,  ist  als  es  selber  auch  wirklich.  Indem  so  die 
reine  Geltung  für  die  Wissenschaft  nicht  ist,  ist  die  Wissenschaft 
selbst  nur,  insofern  sie  die  Geltung  nicht  sein  läßt;  oder  die 
Wissenschaft  selbst  ist  nur  „forschende"  Wissenschaft.  Die 
„Ergehnisse"  der  Wissenschaft  sind  daher  dieser  selbst  transzendent; 
die  Philosophie  verneint  sich  selber,  insofern  sie  sich  realisiert; 
sie  geht  dann  über  in  das  Reich,  wo  auch  die  reine  Geltung  „ist", 
d.  h.  ins  Reich  der  Wirklichkeit  oder  ins  Reich  Gottes.  Das  was 
dies  und  jenes  gilt,  das  ist  so  die  Art  und  Weise,  wie  es  ivirUich 
ist;  die  Wissenschaft,  aus  welcher  diese  Geltungen  im  Verlaufe 
der  ewigen  Zeit  hervorgehen,  erweist  sich  als  das  einzige  wahre 
Werkzeug  der  Selbstschöpfung  Gottes  und  die  Gottheit  als  der 
einzige  Zweck  und  Sinn  alles  dessen  was  ist. 

Schluß*) 

Es  ist  dem  Denken  Natur,  sich  selbst  in  den  Gegenständen  zu 
verneinen  und  seine  Existenz  gerade  dadurch  zu  annullieren,  daß 


*)  Es  wird  nicht  ausbleiben,  daß  der  Unterschied  in  der  Darstellungsform 
des  Schlusses  von  der  bisherigen  Form  bemerkt  wird.  In  der  Tat  ist  zuzugeben, 
daß  die  Darstellung  erst  in  den  (auf  sich  sich  selber  bezogenen)  Schlußworten 
die  Form  erhält,  die  ich  für  die  sachgemäße  halte;  es  liegt  aber  an  dem  pro- 
pädeutischen Charakter  der  Schrift,  daß  die  Form,  die  immer  dem  Inhalte 
nachfolgt,  die  geschliffene  Härte  nicht  besitzt,  die  sie  besitzen  sollte. 
Ehrenberg,  Die  Parteiung  der  Philosophie  9 


130  Schluß 


es  dieselbe  im  Erkennen  des  Gegenständlichen  sich  ihrer  Bestim- 
mung gemäß  wirklich  auswirken  läßt.  Das  Denken  an  sich  selbst 
ist  so  nur  Forschen,  das  erst  in  seinem  Resultat  über  den  Status 
des  Denkens  hinausgeht,  das  Denken  sich  selber  transzendent 
werden  läßt  und  so  durch  die  absolute  Immanenz  zwar  hindurch- 
geht, dabei  aber  die  Immanenz  als  sich  selbst  zur  Transzendenz 
umsetzend  erfährt.  Das  ist  die  Doppel-Dialektik  der  logischen 
Frage: 

Im  Erkennen  verneint  sich  das  Denken;  es  bleibt  der  Gegen- 
stand. 

Im  Erkennen  verneint  sich  das  DenJcen;  es  bleibt  das  Er- 
kenntnis. 

Denken  und  Erkenntnis  sind  ebenso  gegensätzlich  als  Denken 
und  Gegenstand;  aber  die  beiden  Gegensätze  heben  sich  auf, 
indem  der  Gegenstand  und  das  Erkenntnis  übereinstimmen.  Es 
ist  also  das  Wesen  der  ewigen  Wahrheit,  den  Gegensatz  von  Denken 
und  Gegenstand  dadurch  zu  überwinden,  daß  sie  das  Denken  im  Er- 
kenntnis sich  verneinen  läßt.  In  nichts  also  ist  das  Denken  posi- 
tives Prinzip  der  Gegenstände;  im  Gegenteil  ist  es  das  negative 
Prinzip,  das  indem  es  den  Gegenstand  auflöst,  sich  selber  auf- 
löst; das  Wesen  der  Dialektik  ist  so  die  Selbstauflösung  des 
Denkens;  es  schlägt  sich  nieder  das  „Aufgelöste",  das  Ergebnis. 
Das  sich  selbst  Auflösen  des  Denkens  bedeutet  Lösen  der  Wahr- 
heitsfrage. Indem  so  nur  die  wirkliche  Erkenntnis  wahrhaft 
„bleibt",  diese  aber  selbst  Gegenstand,  weil  dem  Denken  trans- 
zendent geworden,  ist,  so  ist  mit  der  Selbstauflösung  des  Denkens 
nicht  nur  das  Denken,  sondern  auch  die  Selbstauflösung  ver- 
schwunden; die  Dialektik  ist  Selbstverneinung :  Dialektik  der  Dia- 
lektik! 

So  erfährt  das  dialektische  Prinzip  wiederum  eine  vollkommen 
neue  Deutung;  damit  daß  es  sich  im  Laufe  der  Geschichte  der 
Philosophie  in  immer  wechselndem  und  sich  erneuerndem  Lichte 
zeigen  konnte,  hat  es  sein  dargetanes  Wesen  des  Sichselbstauf- 
lösens  tätig  kundgegeben.  Was  bei  Hegel  das  konkrete  Prinzip 
der  Gegenstände  gewesen  ist,  ist  uns  Prinzip  der  Erkenntnis,  aller- 
dings auch  dann  konkretes  Prinzip,  aber  nicht  Prinzip  der  Gegen- 
stände.   So  wenig  Prinzip  der  Gegenstände,  daß  das  dialektische 


v^. 


Neuschöpfung  des  dialektischen  Prinzips  131 

Prinzip  gerade  darin  besteht,  sich  selber  für  die  Gegenstände 
aufzuheben;  es  selbst  —  nicht  der  Philosoph  —  verneint,  daß 
es  Prinzip  der  Gegenstände  sei. 

So  ist  das  Denken  für  sich  dialektisch,  für  die  Gegenstände 
absolute  Bindung:  nämlich  systematische  Einordnung.  Die  Dia- 
lektik hat,  insofern  ihr  Wesen  Selbstauflösung  heißt,  selbst  ein 
„Ergebnis";  die  Systematik  ist  die  daraus,  daß  das  Denken  dia- 
lektisch ist,  fließende  Bestimmung.  Dialektik  und  Systematik 
verhalten  sich  mithin  zueinander  wie  Denken  und  Erkenntnis; 
die  Systematik  ist  das  Einzige  aus  der  Sphäre  des  Denkens,  welches 
in  die  SpMre  des  Erkenntnisses  übergeht.  So  sehen  wir:  Denken  wird 
zum  Wissen,  Fragen  zum  Antworten;  zwischen  dem  Denken,  das 
sich  im  Übergang  zum  Erkenntnis  selber  aufhebt,  und  eben  dem 
Erkenntnis  besteht  der  Zusammenhang  dieses  Werdens.  Der  Be- 
griff geht  aus  dem  abstrakt-reflexiven  Dasein  in  das  konkrete 
gegenständliche  über.  Dieser  Gegensatz  und  Übergang,  dieses 
Werden  offenbart  sich  als  das  Wesen  der  Vernunft,  ist  der  Geist. 
Im  Wissen  ivird  das  Denken  überreflexiv.  Der  Geist  ist  das 
tätige  Wesen,  von  dem  das  Denken  aus  dem  selbstgesetzten  Um- 
kreis herausgeführt  wird,  zur  Arbeit,  zur  Wissensschöpfung.  Und  so 
sehr  das  Wissen  über  das  Denken  hinaus  ist,  so  sehr  ist  das  (je- 
weilige) System  der  Philosophie  über  die  Forschung  (die  Ge- 
schichte der  Philosophie,  aus  der  es  resultiert)  hinaus.  Insofern 
aber  das  Wissen  aus  dem  Denken  geworden  ist,  wird  es  wieder 
zum  Denken;  d.  h.  die  Ergebnisse  werden  der  Kritik,  erneutem 
Fragen  unterstellt;  das  Denken  oder  die  Dialektik  zerstört  die 
Einheit  der  selbstgefälligen  Begriffe,  zermürbt  die  Begriffsmasse 
und  löst  sie  zu  „vorurteilslosen"  Atomen  auf.  Die  Begriffe  sind 
im  Fragen  auf  sich  selber  bezogen,  gehen  daher  wechselseitig 
zueinander  über;  aber  indem  ihre  Einheiten  dialektisiert  sind 
(d.  h.  gegenseitig  ineinander  übergehen),  sind  sie  den  Gegen- 
ständen konform  geworden  und  gerinnen  im  Antworten  zu 
schlechthinnigen  Einheiten. 

Im  Entwicklungsgang  der  Wissenschaft  erweist  sich  somit 
das  dialektische  Prinzip  als  die  treibende  Kraft,  welche  im  Lösen 
und  Binden  in  ewiger  Bewegung  die  Erkenntnis  fördert.  Die 
Fortschritte,  die  kraft  der  dialektischen  Tätigkeit  des  Denkens 

9* 


132  Schluß 


gemacht  werden,  wirken  das  „unklar"  Gewußte  zu  scheiden,  die 
„Gegenstände  zu  befreien",  —  die  Schöpfung  ewig  fortzusetzen. 
Es  vollendet  sich  die  Welt  außerhalb  von  Gott,  mit  ihr  Gott 
selber;  und  die  Wissenschaft  synthetisiert  in  ihrer  Geschichte 
das  An-Sich-Gelten  mit  dem  Gegenständlichen;  die  Synthese  heißt 
Gott,  Das  In-Gott-Sein  geht  erst  daraus  hervor,  daß  alles  außer- 
halb Gott  erzeugt  wird;  der  endlose  Gang  der  Weltschöpfung, 
so  ewig  als  die  Zeit,  ist  in  seinem  einheitlichen  Sinne  die  Er- 
schaffung des  In-Gott-Seins.  Je  tiefer  das  Licht  der  Wissenschaft 
dringt,  um  so  weiter  greift  die  Einheit  des  Seienden,  um  so 
stärker  wachsen  die  Dinge  in  Gott  hinein.  Um  so  mehr  gilt, 
daß  die  Welt  „nicht  von  dieser  Welt"  ist. 

Das  dialektische  Prinzip  —  der  ewige  Jude  der  Geschichte 
der  Philosophie  —  ist  uns  das  Tatprinzip  der  wirklichen  Ge- 
schichte der  Philosophie  geworden;  da  ist  es,  sobald  es  als  solches 
begriffen  ist,  allem  Dogmatismus  unbedingt  tödlich.  In  dieser 
Auffassung  kann  es  aber  auch  nicht  mehr  den  Gegenstand  eines 
Streites  zwischen  Hegel  und  Kantianismus  abgeben.  Denn  die 
schöpferische  Idee  der  Kantianer,  ihr  ihnen  Liebstes  und  Wert- 
vollstes, nämlich  das  Bewußtsein  des  forscheyiden  Charakters  der 
Philosophie,  findet  in  der  Dialektik  nicht  weniger  als  ihre  Begrün- 
dung. Die  Dialektik  andererseits  ist,  obwohl  sie  aus  der  Sphäre 
der  Gegenstandstotalität  verdrängt,  ihr  die  Berechtigung  die  Welt- 
frage beantworten  zu  wollen  entschieden  bestritten  ist,  gerade 
durch  das  kantianische  Selbstbewußtsein  absoluter  Skepsis  neu 
begründet  worden.  So  muß  uns  unsere  Ansicht  die  wirklich  durch- 
geführte Synthese  von  Hegel  und  Kantianismus  bedeuten;  d.  h. 
wenn  uns  von  dem  gewonnenen  Eigenstandpunkt  der  Streit  des 
Neukantianismus  gegen  Hegel  überwunden  erscheint,  so  ist  er 
eben  auch  erklärt  und  verständlicht;  und  dies  gilt  uns  als  die 
Selbstkontrolle  für  die  Art  und  Weise,  wie  wir  den  historischen 
Gegensatz  der  beiden  Philosophien  zu  synthetischer  Deduktion 
benutzt  haben,  —  als  das  Siegel,  das  wir  auf  die  Begründung 
dessen  drücken,  was  wir  selber  für  richtig  halten  und  vertreten. 
Jene  beiden,  selbst  so  Verschiedenen,  sind  uns  die  freundlichen 
Helfer  unseres  Werdens.    Denn  wir,  die  wir  von  künstlich-schola- 


Schluß  133 


stischen  Händen  gebildet,  von  dem  Blick  souveräner  Leere  er- 
weckt, jenen  beiden  Begleitern  folgen,  dem  ewig  sich  Gleichen  und 
dem  ewig  sich  Wandelnden,  wii*  die  wir  gewillt  und  von  nichts 
gehemmt  sind  wahrhaft  zu  entstehen,  das  künstliche  Gehäuse  zu 
brechen,  die  eingeschlossene  Flamme  zu  ergießen,  haben  bei 
diesem  Gange  den  reinen  Willen  der  beiden  Führenden  für  uns, 

Sind  zu  dritt  getragen  von  Einem  Willen,  — : 
„dreifach  merkwürdger  Geisterschritt". 


/ 


/^ 


A     i.V*r> 


Von  demselben  Verfasser  erschienen  früher: 


Kritik  der  Psychologie  als  Wissenschaft. 

Groß  8^      1910.  M.  6.40. 
Verlag  von  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck)  in   Tübingen. 


Die  Geschichte  des  Menschen  unserer  Zeit. 

Lex.  8.      1911.     M.   2.—. 
Im  Alpha-Omega  Verlag  in  Heidelberg. 


Die  Eisenhüttentechnik  und  der  deutsche  Hüttenarbeiter. 

8.     1906.     M.  4.50. 
Verlag  der  J.  G.  Cotta' sehen  Buchhandlung  Nachfolger  in  Stuttgart. 


Verlag  von   Felix   Meiner  in   Leipzig. 


Encyklopädie  der  Philosophie. 

Mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Erkenntnistheorie  und  Kategorienlehre. 
Von  D.  Dr.  A.   Dorncr, 

o.  Professor  der  Theologie  an  der  Universität  in  Königsberg. 

1910.     343  S.     In  starkem  Karton.     Preis  M.  6.—. 

Über  die  Grenzen  der  Gewißheit. 

Von  Dr.   Ernst  Dürr, 

o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  in  Bern. 

1903.     VlII,  152  S.     Preis  M.  3.50. 
Inhalt:    Das  Verhältnis   der    Erkenntnistheorie   zu   den  angrenzenden  Wissenschaften.   — 
Die  Frage  nach  dem  Kriterium  der  Wahrheit.  —  Die  Berechtigung  des  Glaubens. 

Das  Bewußtsein  der  Außenwelt. 

Grundlegung  zu  einer  Erkenntnistheorie. 

Von  Dr.  Rudolf  Eisler. 

1901.     VI,  106  S.     Preis  M.  2.—. 

Inhalt:  Wahrnehmung  und  Empfindung.  —   Der  Gegenstand  der  Wahrnehmung.   —   Die 

Kategorie  der  Dingheit.  —  Naiver  und  kritischer  Realismus.  —  Die  Gültigkeit  der  Kategorien.  — 

Substanz,  Kraft,  Kausalität.  —  Bewußtsein  und  Sein. 

Die  reine  Vernunftwissenschaft. 

Systematische  Darstellung  von  Schellingsrationalerodernegativer  Philosophie. 
Von  Dr.   Karl  Groos, 

o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  in  Gießen. 

X,  187  S.     Preis  M.  3.—. 

Der  Pragmatismus. 

Neue  Bahnen  in  der  Wissenschaftslehre  des  Auslands. 
Von  Dr.  Günther  Jacoby, 

Privatdozent  der  Philosophie  an  der  Universität  in  Kiel. 

1909.     58  S.     Preis  M.  1.20. 

Das  Wahrheitsproblem 
unter  kulturphilosophischem  Gesichtspunkt. 

Von   Dr.   Hermann    Leser, 

a.  o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  in  Erlangen. 

1901.  VI,  90  S.     Preis  M.  2.—. 

Der  Verfasser  ist  in  die  Schule  Kants  gegangen,  insofern  als  er  übÄall  an  dessen  trans- 
zendentale Methode  anknüpft.  Er  sucht  aber  das  Werk  Kants  zu  vertiefen.lffld  zu  erweitern.  Er 
sucht  dies  weniger  durch  eine  wesentliche  Abänderung  der  transzendentalen  Methode  selbst  zu 
erreichen,  sondern  gleichsam  nur  durch  eine  Erweiterung  des  Arbeitsfeldes  dieser  Methode  und 
durch  eine  Abänderung  ihres  Angriffspunktes  ...  Die  Schrift  bildet  eine  wirklich  lohnende 
Lektüre  und  kann  zur  Klärung  der  philosophischen  Grundbegriffe  pur  beitragen. 

Deutsche  Liter aturzeitung. 

Die  Philosophie  Comtes. 

Von  L.   Levy-Bruhl.     Übers,  von  Prof.  Dr.   H.  Molenaar. 

1902.  VI,  288  S.     Preis  M.  6.—. 

A.  Comte,  der  größte  französische  Denker  des  19.  Jahrhunderts,  ist  von  wahrhaft  univer- 
saler, d.  h.  für  die  ganze  Kulturmenschheit  fruchtbarer  Bedeutung  geworden.  Das  beweist  schon 
der  gewaltige  Einfluß,  den  er  auf  die  drei  wichtigsten  englischen  Philosophen  des  vorigen  Jahr- 
hunderts, auf  Carlyle,  j.  St.  Mill  und  Herbert  Spencer  ausgeübt  hat.  Das  beweist  auch  die  Ver- 
ehrung, die  ihm  in  den  denkenden  Kreisen  der  romanischen  Völkerfamilie  allenthalben  entgegen- 
gebracht wird.  Levy-Bruhl  liefert  ein  klares,  kritisches  Referat  von  Comtes  eigentlicher  Philo- 
sophie, die  den  originellsten,    fruchtbarsten  und  lebensvollsten  Teil  seiner  Philosophie  ausmacht. 


Verlag  von   Felix   Meiner  in  Leipzig. 


/ 


Über  Christian  Wolffs  Ontotogie. 

Von  Dr.   Hans   Pichler. 

1910.  95  S.  Preis  M.  2.—. 
Die  Wolffsche  Ontologie  verdient  eine  Würdigung  von  seiten  der  Systematiker  in  der 
Kategorienlehre;  vor  allem  anregend  ist  Wolffs  durchdachte  und  klare  Lehre  von  Substanz  und 
Kausalität.  In  gleicher  Weise  wie  das  Interesse  des  Systematikers  verdient  die  Ontologie  das 
Interesse  des  Historikers.  Es  wird  gezeigt,  daß  sie  einerseits  ein  gutes  Stück  der  Kantschen 
Transzendentalphilosophie  enthält,  und  daß  andererseits  die  Kantsche  transzendentale  Logik  ein 
Stück  Ontologie  ist.  Auch  der  Oegenstandstheorie  Meinongs  und  der  „Logik"  Itelsons  steht  die 
Wolffsche  Ontologie  nahe^ 

Die  transzendentale  und  die  psychologische 
Methode. 

Eine  grundsätzliche  Erörterung  zur  philosophischen  Methodik. 
Von  Dr.  Max  F.  Scheler, 

Privatdozent  der  Philosophie  an  der  Universität  in  München. 

184  S.     Preis  M.  4.—. 

Kant  und  das  Jahrhundert. 

Gedächtnisrede  zum  100jährigen  Todestag. 
Von  Dr.   Richard   Faickenberg, 

o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  in  Erlangen. 

2.  Aufl.     1907.     28  S.     Preis  M.  —.60. 

Auf  der  einen  Seife  beschreibt  und  beleuchtet  Faickenberg  die  Hauptpunkte  der  Kantschen 
Philosophie,  zumal  seiner  Ethik  und  Erkenntnistheorie,  auf  der  anderen  schildert  er  die  ver- 
schlungenen Schicksale  der  Kantschen  Erkenntnistheorie  von  Fichte  bis  zur  Gegenwart.  Das 
alles  so  einfach  und  klar,  daß  die  Schrift  geradezu  eine  kurze  Einleitung  in  das  Studium  Kants 
genannt  werden  kann.  Frankfurter  Zeitung. 

.  Psychologische  Studien. 

/  Von  Dr.  Theodor   Lipps, 

o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  in  München. 

2.,  umgearb.  u.  erweit.  Aufl.     1905.     IV,  287  S.     Preis  geb.  M.  6.—. 
Inhalt:  Der  Raum  der  Qesichtswahrnehmung.    S.  1—114.    Das  Wesen  der  musikalischen 
Konsonanz  und  Dissonanz.    S.  115—230.    Das   psychische  Relativitätsgesetz  und  das  Webersche 
Gesetz.     S.  231-287. 

Friedrich  Nietzsche.     Sein  Leben  und  sein  Werk. 

Von  Dr.   Raoul   Richter, 

a.  o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  in  Leipzig. 

2.,  umgearbeitete  u.  vermehrte  Aufl.  1909.  VIII,  356  S.  Preis  geb.  M.  6.—. 
Das  Buch  erhält  seinen  spezifischen  Charakter  durch  das  von  vornherein  klar  formulierte 
und  konsequent  durchgeführte  Programm:  Nietzsche  im  strengsten  Sinne  des  Worts  phi  1  osophie- 
geschichtlich  zu  behandeln,  also  im  Gegensatz  zu  allen  kulturgeschichtlichen,  psychologischen 
und  pathoCTaphischen  Darstellungen  zum  Verständnis  des  logischen  Gedankengehalts  seiner  Lehre 
zu  führen,  die  von  ihm  aufgeworfenen  Probleme  auf  die  Richtigkeit  der  Fragestellung,  die  von 
ihm  gegebenen  Lösungen  auf  ihre  innere  Möglichkeit  hin  zu  prüfen,  kurz:  Nietzsches  Denken 
als  ein  philosophisches  Bemühen  um  philosophische  Probleme  ernst  zu  nehmen  Daß  ein  solches 
Buch  in  unserer  Literatur  über  Nietzsche  —  man  darf  sagen  eine  Notwendigkeit  ist,  braucht  nicht 
hervorgehoben  zu  werden.  Archiv  für  Psychologie. 

Zur  Wiedergeburt  des  Idealismus. 

y^  Philosophische  Studien. 

Von   Dr.   Fcrd.  Jak.  Schmidt. 

Direktor  der  Margaretenschule  in  Berlin. 

VIII,  325  S.  gr.  8°.  1908.  Preis  M.  6.—,  geb.  M.  7-—. 
Aus  dem  Inhalt:  Kapitalismus  und  Protestantismus.  Der  mittelalterliche  Charakter  des 
kirchlichen  Protestantismus.  Der  theologische  Positivismus.  Ado  f  Harnack  und  die  Wieder- 
belebung der  spekulativen  Forschung.  Das  Erlebnis  und  die  Dichtung  Goethe  und  das  Alter- 
tum. Kant-Orthodoxie.  Kant  und  die  spekulative  Mathematik.  Die  Philosophie  auf  den  höheren 
Schulen.    Die  Frauenbildung  und  das  klassische  Altertum. 


Verlag   von   Felix   Meiner   in   Leipzig. 


Kirchners 
Wörterbuch    der   philosophischen  Grundbegriffe. 

Dritte  Neubearbeitung;. 

Von  Stadtschulrat  Dr.  C.   Michaelis. 

1911.     VIII,  1124  S.     Preis  brosch.  M.  12.50,  geb.  M.  14.-. 

In  immer  kürzeren  Zwischenräumen  folgen  sich  die  Auflagen  des  altbewährten  Kirchnerschen 

Wörterbuchs,  von  dem  nunmehr  schon  die  sechste  Auflage  vorliegt.    Gleich  ihren  zwei  Vorgängern 

wurde  auch  diese  Neubearbeitung  von  Herrn  Stadtschulrat  Dr.  Michaelis  in  Berlin  besorgt,  der 

das  Werk   nunmehr,   der  einstimmigen  Aufforderung  der  Kritik  folgend,   einer   durchgreifenden 

Umarbeitung  unterzogen   hat.     In  welchem  Umfang  diese  erfolgt  ist,   geht  schon  daraus  hervor, 

daß  das   Buch  jetzt  über  70   Bogen,    statt  der   bisherigen  45   Bogen,    enthält.     Von   dem   alten 

Kirchnerschen  Te.xt  ist  wohl  nicht  mehr  viel  stehengeblieben  —  überall  mußte  er  den  Ergebnissen 

der  neuesten  Forschung  Platz  machen  und  den  erhöhten  Ansprüchen  unseres  an  der  Philosophie 

um  so  viel  stärker  interessierten  Zeitalters  nachgeben. 

Philosophie-geschichtliches  Lexikon. 

Historisch-biographisches  Handwörterbuch  der  Geschichte  der  Philosophie. 

Von   Ludwig   Noack. 

XXII,  936  S.     Preis  M.  12.—. 

Einführung  in  die  Erkenntnistheorie. 

Von  Dr.  August  Messer, 

a.  o,  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  in  Gießen. 

1909.     Preis  geb.  M.  3.—. 

Das  ist  die  beste  einführende  Schrift  in  die  Erkenntnistheorie,  die  Ref.  kennt.    Sie  zeichnet 

sich   besonders  dadurch   aus,   daß  sie  trotz  des  kleinen  Umfanges  eine  Anschauung  erweckt  von 

der  Fülle  der  Probleme,  die  der  Erkenntnistheorie  erwachsen;  ferner  daß  sie  stets  auf  die  richtige 

Problemstellung  hinweist;  endlich  ragt  sie  noch  durch  große  Klarheit  und  Übersichtlichkeit  hervor. 

Vierteljahr sschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie  und  Soziologie. 

Grundlinien  der  Psychologie. 


Von  Dr.  Stephan   Witasek, 

a.  o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  in  Graz. 

1908.     Preis  geb.  M.  3.50. 

Was  Witasek  bietet,  ist  so  gefaßt,  daß  niemand  sein  Buch  ohne  Gewinn  aus  der  Hand 
legen  wird.  Der  Stil  ist  einfach  und  durchsichtig,  die  erläuternden  Beispiele  sind  anschaulich  und 
belebend,  neue  Begriffe  werden  so  erklärt,  daß  auch  der  Laie  bei  einiger  Aufmerksamkeit  gut 
folgen  kann.  Besonders  wohltuend  ist  die  Präzision,  mit  der  überall  zwischen  gesicherten  Erkennt- 
nissen und  vorläufigen  Hypothesen  unterschieden  wird.  Alles  in  allem  :  ein  tüchtiges  Buch,  dem 
auch  wegen  seines  ungem.ein  billigen  Preises  weiteste  Verbreitung  zu  gönnen  ist. 

Christliche    Welt. 

Die  Einteilung  des  Werkes  ist  ganz  trefflich,  die  Schreibart  klar.  Es  bietet  die  neuesten 
Forschungsergebnisse  und  ist  wahrscheinlich  der  beste  und  vollständigste  Grundriß  dieser  Wissen- 
schaft, den  wir  zurzeit  besitzen.  Nature  {London). 

Geschichte  der  Philosophie. 

Von  Professor  Dr.  Karl   Vorländer. 
I.  Bd.:  Altertum,  Mittelalter  und  Übergang  zur  Neuzeit. 
II.  Bd.:  Philosophie  der  Neuzeit. 
3.  Aufl.     1911.     Preis  geb.  M.  10,—. 
Vorländers  Buch  reizt  geradezu  zum  Studium.     Die  gediegene  Art,  in  der  er  das  historische 
mit  dem  systematischen  Element  zu  vereinigen  verstanden  hat,  macht  das  Buch  zum  philosophie- 
geschichtlichen Handbuch  par  excellcnce.      Es  gehört  auf  den  Arbeitstisch  eines  jeden  der  Philo- 
sophie .Beflissenen".  Kant- Studien. 


Verlag  von  Felix  Meiner  in  Leipzig. 


Platos  Ideenlehre. 

Eine  Einführung  in  den  Idealismus. 
Von  Dr.   Paul   Natorp. 

o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  in  Marburg. 

1903.  VIII,  474  S.  Preis  geb.  M.  8.70. 
Ein  Werk,  das  in  den  hellsten  Vordergrund  philosophischen  Interesses  gehört,  eins  der 
bedeutsamsten  der  Philosophiegeschichte  überhaupt,  wie  in  den  letzten  Jahrzehnten  nur  sehr,  sehr 
wenige  erschienen  sind  von  ähnlich  zentralem  Interesse,  ähnlicher  wissenschaftlicher  Intensität, 
Energie  und  Kühnheit!  Eine  völlige  Neuauffassung  Platos!  Ein  kraftvolles  Werk  aus  einem 
Guß  und  eigener  Kraft!  ...  In  Summa:  Dies  Werk  zieht  an  dem  früheren  Plato  eine  neue  Seite 
hervor  und  stellt  den  späteren  Plato  (vom  Parnienides  an)  zum  ersten  Male  ins  volle,  helle, 
rechte  Licht ;  aber  wie  in  der  Renaissance  führt  hier  der  historische  Kampf  für  Plato  gegen 
Aristoteles  in  heute  nötigster  tiefster  Selbstbesinnung  zur  Lebensfrage  der  Philosophie,  der  Wissen- 
schaft, der  Erziehung.  Soll  die  Wissenschaft  mit  dem  Realismus  noch  mehr  herabsinken  zur 
Beschreibung  und  nicht  wieder  iVIethode  werden?  So  verstehe  ich's.  In  diesem  Sinne  ist  dies 
Buch  eine  Erziehung  zum  Idealismus.  In  diesem  Sinne  hat  es  Plato  im  Innersten  verstanden. 
Karl  Joel  in  der  „Deutschen  Literatur zeitutig^'', 

^   Kant  —  Schiller  —  Goethe. 

Gesammelte  Aufsätze. 


Von  Professor  Dr.   Karl  Vorländer. 
1907.    XIV,  294  S.     Preis  geb.  M.  6.- 


Der  Skeptizismus  in  der  Philosophie. 

Von  Dr.   Raoul   Richter, 

a.  o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  in  Leipzig. 

2  Bände.     Bd.  1:  1904.     XXIV,  303  u.  61  S.     Preis  M   6.—.  geb.  M.  7.50. 
Bd.  2:  1908.    VI,  529  u.  55  S.     Preis  M.  8.50,  geb.  M.  10.—. 

Ein  gutes  Buch  über  den  Skeptizismus  war  wirklich  ein  Bedürfnis  .  .  .  Den  skeptischen 
Oeist  zu  bannen,  einzufangen  und  dem  eigenen  Werke  dienstbar  zu  machen,  das  ist  den  berufs- 
mäßigen Geschichtschreibern  der  Philosophie  niemals  gelungen.  Und  für  eine  besonders  groß- 
zügige Darstellung  schien  der  Geist  des  Skeptizismus  nicht  geeignet,  schien  zu  weit  oder  zu  ge- 
fährlich. —  So  wäre  das  Buch  von  Raoul  Richter  willkommen  zu  heißen,  auch  wenn  es  weniger 
gut  geschrieben  wäre.  Der  vorliegende  erste  Band  ist,  wenigstens  in  seinem  historischen  Teile, 
in  der  Geschichte  und  Darstellung  des  griechischen  Skeptizismus,  vorzüglich  gelungen.  Der  Ver- 
fasser ist  gründlich  und  verirrt  sich  doch  niemals  in  überflüssigen  Untersuchungen.  Die  Träger 
des  skeptischen  Gedankens  werden  auseinandergehalten,  treten  womöglich  als  Persönlichkeiten 
auf;  was  jedoch  an  Kühnheit  und  Scharfsinn  der  antiken  Skepsis  gemeinsam  ist,  wird  darüber 
nicht  übersehen,  wird  energisch  zusammengehalten  und  klar  aus  den  oft  lästigen  logischen  Schul- 
spielereien herausgeschält.  Fritz  Mauthner  im  Berliner   Tageblatt. 

Der  griechische  Skeptizismus  hat  auf  deutschem  Boden  noch  niemals  eine  so  energische 
und  —  sagen  wir  es  gleich  —  im  ganzen  treffliche  Darstellung  und  Beurteilung  erfahren.  Richter 
nimmt  ihn  ernst  und  weiß,  obwohl  keineswegs  blind  für  seine  Schwächen,  Plattheiten  und  Naivi- 
täten, die  ihm  innewohnende  philosophische  Kraft  und  seine  bahnbrechende  Bedeutung  für  die 
Probleme  der  Erkenntnistheorie  klar  herauszustellen. 

Wochenschrift  für  klassische  Philologie. 

Beiträge  zur  Einführung 
in  die  Geschichte  der  Philosophie. 

Von  Dr.  Rudolf  Eucken, 

o.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  in  Jena. 

2.,  erweiterte  Aufl.  1906.  VI,  196  S.  Preis  M.  3.60,  geb.  M.  4.50. 
Für  die  Lebensarbeit  Euckens  bedeutet  das  vorliegende  Buch  den  ersten  Versuch,  die 
Gedanken  zu  entwickeln,  welche  sich  aus  den  Grundvoraussetzungen  seiner  Lehre  für  die  Geschichte 
der  Philosophie  ergeben.  Dabei  wird  dem  Leser  zugleich  eine  Fülle  interessanten  begriffs- 
geschichtlichen Materials  übermittelt,  ohne  ihn  jedoch  in  Einzelheiten  zu  sehr  zu  verstricken ;  denn 
Eucken  versteht  meisterhaft  alles  Nebensächliche  rechtzeitig  absinken  zu  lassen  und  den  Leser 
auf  eine  Höhe  des  Ausblicks  zu  führen,  von  der  aus  nur  noch  die  großen  Linien  der  Probleme 
sichtbar  sind,  bis  auch  sie  im  Unendlichen  zu  verzittern  scheinen.  Frankfurter  Zeitung. 


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9gel  und  die  Kantianer 
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Verlag  von  Felix   Meiner  in  Leipzig. 


Philosophische  Bibliothek. 

Sammlung  der  Hauptwerke  der  Philosophie  aller  Zeiten. 

Aristoteles  —  Berkeley  —  Bruno  —  Cicero  —  CondiUac  —  Descartes  —  Fichte 

—  Ooethe  —  Grotius  —  Hegel  —  Herder  —  Humboldt  —  Hume  —  Julianus 

Apostata  —  Kant  —  La  Mettrie  —  Leibniz  —  Lessing  —  Locke  —  Plato  — 

Schelling  —  Schiller  —  Schleiermacher  —  Scotus  Eriqena  —  Sextus  Empiricua 

—  Shaftesbwy  —  Spinoza  —  Wolff. 

Man  verlange  von  der  Verlagshandlung  den  ausführlichen 

Katalog,  der  umsonst  und  postfrei  versandt  wird. 

Die  Philosophische  Bibliothek  ist  ein  wirklich  wundervolles  Werkzeug  für  Forschung  und 
für  Kultur,  um  das  alle  Nationen,  in  denen  der  Geschmack  an  den  tiefsten  Problemen  des  Geistes 
vorhanden  oder  im  Erwachen  ist,  Deutschland  beneiden  müssen.  La   Cultura  {Rom). 

Immanuel  Kant.    Sämtliche  Werke. 

Herausgegeben  von 

K.  Vorlander,  0.  Buek,  0.  Gedan,  W.  Kinkel,  J.  H.  v.  Kirchmann, 

F.  M.  Schiele,  Th.  Valentiner  u.  a. 

Preis  in  9  Liebhaberbänden  gebunden  60  M. 
Die  Ausgabe  der  Philosophischen  Bibliothek  ist  die  einzige  Ausgabe  von  Kants  Sämtlichen 
Werken,  die  zurzeit  vollständig  im  Buchhandel  zu  haben  ist.    Sie  bietet  nicht  nur  einen  philolo- 
gisch genauen  Abdruck  der  Texte,  sondern  erleichtert  auch  die  Lektüre  durch  Anmerkungen,  aus- 
gezeichnete Sachregister  und  durch  die  Einleitungen  der  berufensten  Kantforscher. 

Georg  Wilhelm  Friedrich  Hegel.     Werke. 

Herausgegeben  von  Georg  Lassen. 
Bisher  erschienen:  Encyclopädie  (1905)  —  Phänomenologie  (1907)  — 
Rechtsphilosophie  (1911). 
Preis  geb.:  M.  4.20  bezw.  M.  6.—  bezw.  M.  6.—. 
Diese  neue  Hegelausgabe  strebt  nicht   danach,  in  kurzer  Zeit  Vollständigkeit  zu  erzielen, 
sondern  sucht  ihre  Bedeutung  darin,  durch  die  kritische,  auf  die  Quellen  zurückgehende  Text- 
gestaltung und  durch  die  vortrefflichen  über  den  Rahmen  des  an  solcher  Stelle  zu  Erwartenden 
weit  hinausgehenden  Einleitungen  Georg  Lassons  der  immer  kräftiger  einsetzenden  Hegelforschung 
eine  neue,  sichere  Grundlage  zu  schaffen. 

Auguste  Comte.     Die  positive  Philosophie. 

Im  Auszuge  von  Jules  Rig,  deutsch  von  J.  H.  v.  Kirchmann. 
2  Bde.  in  Groß  S».    M.  16.—. 

Rene  Descartes.     Philosophische  Werke. 

V  Herausgegeben  von  Artur  Buchenau  und  J.  H.  von  Kirchmann. 

/  Preis  in  4  Liebhaberbänden  M.  14.—. 

f  Diese  reichhaltigste  deutsche  Ausgabe  Descartes'  erhält  einen  besondern  Wert  dadurch,  daß 

die  Erklärungen  zu  seinem  Hauptwerk,  den  Meditationen,  aus  Descartes'  eigenem  Briefwechsel 
und  aus  Auseinandersetzungen  mit  seinen  Zeitgenossen  stammen,  so  daß  Descartes  sich  hier 
seinen   eigenen  Kommentar   geschrieben  hat. 


G.  W.  Leibniz.     Philosophische  Werke. 

Herausgegeben  von 
A.  Buchenau,  E.  Cassirer.  J.  H.  v.  Kirchmann,  C.  Schaarschmidt. 

Preis  in  4  Liebhaberbänden  gebunden  M.  24. — . 
Diese  vierbändige  Leibniz-Ausgabe  ist  die  einzige,  die  in  handlichem  Umfang  ein  Gesarat- 
bild der  Weltanschauung  dieses  Philosophen  gibt,  der  für  die  Grundlegung  der  Probleme  wissen- 
schaftlicher Forschung  noch  heute  maßgebend  ist.  Wer  um  die  philosophische  Begründung  der 
Physik  oder  der  Biologie  »ich  bemüht,  wer  Geschichte,  Ethik  oder  Religionsphilosophie  durch- 
denkt, oder  wer  nach  einer  strengeren  und  tieferen  Gestaltung  der  logischen  und  mathematischen 
Prinzipienlehre  strebt,  muß  auf  Leibniz  zurückgreifen. 


Druck  von  0.  Qrumbach  in  Leipzig. 


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UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRAR1 


B 

2948 

E3 

1911 

C.l 

ROBA