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Full text of "Die Philosophie des Lebens : Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit"

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Presented  to  the 
LIBRARY  ofthe 

UNIVERSITY  OF  TORONTO 

by 

Eckehard  Catholy 


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DIEPHILOSOPHIE 
ES  LEBENS 

iARSTELLUNG  UND  KRITIK 
DER 

PHILOS(i^HISCHEN  MODESTRÖMUNGEN 
UNSERER  ZEIT 

VON 


A 

HilNRIGH  RICKERT 


TUBINGEN 
VERLAG  VON  J.  k.  B.  MOHR  (PAUL  SIEBECK) 

1920 


Alle    Rechte    vor  bell  allen 


Druck   von  H.  T.  a  u  p  p  jr  in   TUbinf^en. 


Vorwort. 

Der  Inhalt  dieser  Schrift  war  ursprünglich  nicht  zur  Ver- 
öffentlichung in  einem  besonderen  Buch  bestimmt.  Er  sollte 
ein  Kapitel  des  größeren  Werkes  bilden,  dessen  ersten  Band 
ich  unter  dem  Titel;  „Allgemeine  Grundlegung  der  Philosophie" 
als  ersten  Teil  eines  „Systems  der  Philosophie"  bald  zu  ver- 
öffentlichen hoffe.  Bei  der  Ausarbeitung  der  Gedanken,  die  das 
vorliegende  kleine  Buch  füllen,  merkte  ich,  daß  sie  an  der  zu- 
erst für  sie  in  Aussicht  genommenen  Stelle  in  mancher  Hinsicht 
aus  dem  Rahmen  des  systematischen  Aufbaus  herausfallen  und 
dort  auch  zu  viel  Platz  einnehmen  würden.  Ich  habe  sie  daher 
so  gestaltet,  daß  sie  ein  in  sich  geschlossenes  Ganzes  ausmachen 
und  für  sich  verständlich  sind. 

Was  sie  wollen,  ist  durch  den  Titel  zum  Ausdruck  gebracht. 
Ich  glaube,  daß  die  am  meisten  verbreiteten,  ernsthaft  zu  nehmen- 
den philosophischen  Bestrebungen  unserer  Tage  sich  am  besten 
unter  den  Begriff  einer  Philosophie  des  Lebens  bringen  lassen. 
Zu  ihnen  versuche  ich  kritisch  Stellung  zu  nehmen.  Ich  möchte 
damit  zugleich  auf  eine  Philosophie  des  Lebens  als  notwendige 
Aufgabe  hinweisen,  deren  Lösung  aber  mehr  als  eine  Philosophie 
des  bloßen  Lebens  geben  müßte.  Der  Hauptzweck  der  Schrift 
besteht  also  darin,  zu  zeigen,  daß  man  beim  Philosophieren 
über  das  Leben  mit  dem  Leben  allein  nicht  auskommt. 

Wenn  ich  die  hier  dargestellte  und  kritisierte  Philosophie 
unter  den  Begriff  der  Modeströmung  bringe,  will  ich  damit 
allein  noch  kein  Werturteil  über  sie  fällen.  Es  kommt  ledig- 
lich darauf  an,  welche  Gedanken  faktisch  die   am  meisten  ver- 


—     IV     — 

breiteten  sind.  Ihre  Anhänger  werden  es  freilich  ablehnen,  daß 
man  ihre  Ansichten  Modegedanken  nennt,  und  da  die  meisten 
von  ihnen  die  allmähliche  Entstehung  der  heutigen  Mode  noch 
nicht  miterlebt  haben,  werden  sie  auch  schwer  davon  zu  über- 
zeugen sein,  daß  es  sich  dabei  um  eine  Mode  handelt.  Man 
muß,  um  das  einzusehen,  wohl  schon  in  einer  Zeit  die  Philo- 
sophie genau  verfolgt  haben,  in  der  die  Lebenslehre  hoch  nicht 
Mode  war. 

Selbstverständlich  kann  man  von  ihrer  Bezeichnung  als 
Modeströmung  auch  absehen.  An  dem  wesentlichen  Gehalt 
dieser  Schrift  wird  dadurch  nichts  geändert.  Darin,  daß  die 
heute  beliebten  und  geglaubten  Gedanken  als  ,, Philosophie  des 
Lebens"  zu  charakterisieren  sind,  stimme  ich  gerade  auch  mit 
solchen  Denkern  überein,  die  sich  selber  zu  den  Lebensphilo- 
sophen rechnen. 

Absichtlich  habe  ich  mich  überall  auf  Theorien  beschränkt, 
die  weit  verbreitet  sind  oder  mit  weit  verbreiteten  Ansichten 
in  engem  Zusammenhang  stehen,  und  mich  insbesondere  auf  das, 
was  vielleicht  morgen  Mode  sein  wird,  nirgends  eingelassen.  Ich 
glaube  nicht  daran,  daß  auch  nur  die  nächste  Zukunft  sich  mit 
einiger  Sicherheit  berechnen  läßt.  Was  kommen  wird,  hängt 
zum  Teil  von  den  Entschlüssen  einzelner  Individuen  ab  oder 
kann  wenigstens  entscheidend  durch  sie  beeinflußt  werden.  Indi- 
viduelle Taten  aber  entziehen  sich  jeder  Voraussage.  Darf  ich 
trotzdem  an  dieser  Stelle  eine  Vermutung  über  die  Zukunft 
äußern,  so  geht  sie  dahin,  daß  wir  am  Ende  der  Philosophie  des 
bloßen  Lebens  stehen.  Ich  würde  mich  freuen,  falls  dies  kleine 
Buch  als  eines  der  Anzeichen  solcher  ,, Götzendämmerung"  an- 
gesehen werden  könnte. 

Was  die  reine  Lebensphilosophie  dann  ablösen  wird,  läßt 
sich  ebenfalls  nur  vermuten.  Doch  sieht  es  manchmal  so  aus, 
als  ob  Gedanken  Hegels  immer  größeren  Einfluß  erhielten.  Zum 
Teil  hängt  das  damit  zusammen,  daß  zwischen  ihnen  und  der 
modernen  Lebensphilosophie  bei  allen  Gegensätzen  zugleich 
eine  sachliche  Verwandtschaft  besteht:  Ich  habe  das  in  dem 
Buch  angedeutet.  Den  jungen  Hegel  kann  man  zu  den  Lebens- 
philosophen rechnen,  und  seine  Phänomenologie  zeigt  ebenfalls 
mitModetendenzen  Gemeinsames.  Vielleicht  müssen  wir  auch  durch 


-(V)- 

den  Hegelianismus  erst  hindurch,  che  wir  uns  wieder  zum  selb- 
ständigen Philosophieren  entschließen,  und  auf  jeden  Fall  ist 
für  die  zeitlosen  Probleme  aus  Hegel  mehr  zu  lernen  als  aus 
Zarathustra.  Aber  ein  Aufnehmen  der  Hegeischen  Ideen  könnte 
für  sich  allein  ebensowenig  befriedigen  wie  die  Wiedererweckung 
irgend  eines  andern  Denkers  der  Vergangenheit. 

Heidelberg,  im  Mai  1920. 

Heinrich  Ricker  t. 


VII 


Inhalt. 

Seite 

Einleitung 1 

Erstes  Kapitel:  DasLebenalsModebegritf.     .     .  3 

Zweites  Kapitel:  Die  modernen  Lebens  philosophen  17 
Drittes  Kapitel :  Die   Prinzipienlosigkeit   der   in- 

tuitivenLebensphilosophie 34 

Viertes  Kapitel:  Lebensform  und  Lebensinhalt   .  62 
Fünftes  Kapitel:  Das  biologistische  Prinzip      .     .  72 
Sechstes  Kapitel :  Aeltererund  neuerer  Biologis- 
mus        80 

Siebentes  Kapitel:  Kritik  des  biologistischen  Re- 
alitätsprinzips      104 

Achtes  Kapitel:  Kritik  des  biologistischen  Wert- 
prinzips       117 

Neuntes  Kapitel:  Der  Kampf  gegen  das   System    .  142 

Zehntes   Kapitel:  LebenundKultur 156 

Elftes  Kapitel :  Das  RechtderLebensphilosophie  171 

Namenregister , 196 


Einleitung. 

Man  liebt  es,  ganze  Zeitalter  mit  allgemeinen  Schlagwörtern 
zu  kennzeichnen,  ja  man  hat  darin  die  neue  „Methode"  der  Ge- 
schichtsschreibung gesehen:  die  Durchschnittslage  soll  so  auf 
den  wissenschaftlichen  Ausdruck  gebracht  werden,  denn  auf 
das  „Allgemeine",  glaubt  man,  kommt  es  vor  allem,  wenn  nicht 
allein  der  Wissenschaft  an.  In  jedem  Zeitalter  ist  nur  das  wesent- 
lich, was  unter  seinen  allgemeinen  Begriff  fällt.  Das  Individuelle, 
Besondere,  Einmalige,  sich  nicht  Wiederholende  hat  keine  wahr- 
haft historische  Bedeutung.  Was  vom  Allgemeinen  abweicht, 
darf  höchstens  das  Interesse  einer  Laune  oder  einer  Kuriosität 
für  sich  in  Anspruch  nehmen.  Daher  muß  man  „kollektivistisch" 
verfahren,  im  Unterschiede  von  der  veralteten  ,, individualisti- 
schen" iNIethode,  oder  „morphologisch",  wie  man  neuerdings  auch 
gesagt  hat,  oder  in  irgendeiner  anderen  Art  generalisierend. 

Daß  die  gesamte  Kultur  einer  Epoche  in  der  angegebenen 
Weise  niemals  erschöpfend  zu  behandeln  sein  wird,  sollte  keines 
Beweises  bedürfen.  Es  kann  dabei  ohne  eine  mehr  oder  minder 
große  Vergewaltigung  des  geschichtlichen  Lebens  nicht  abgehen. 
Jede  Stufe  der  Kulturentwicklung  ist  in  ihrer  Totalität  viel  zu 
reich,  als  daß  auch  nur  das  Durchschnittliche  in  ihr  unter  einen 
allgemeinen  Begriff  zu  Ijringen  wäre.  Eher  könnte  man  glauben, 
eine  Charakterisierung  dieser  Art  sei  bei  einzelnen  Kulturströ- 
mungen möglich.  Warum  soll  z.B.  die  Wirtschaf  t  oder  die  Politik 
oder  die  Literatur  oder  die  Kunst  oder  die  Wissenschaft  eines 
Zeitalters  nicht  einen  Namen  führen,  der  nur  das  hervorhebt,  was 
den  verschiedenen  Richtungen  innerhalb  eines  dieser  Gebiete 
gemeinsam   ist  ? 

Doch  gestattet  auch  diese  Frage  nur  eine  bedingte  Bejahung. 
Weil  das    Schlagwort  das  „Allgemeine"  lediglich  im  Sinne  des 

Rickert,  Philosophie  d.  Lebens.  1 


—     2     — 

allgemein  Verbreiteten  trifft,  darf  man  selbst  bei  einge- 
schränkter Anwendung  in  seinem  Inhalt  nie  das  allein  Wesentliche 
einer  geschichtlichen  Kulturstufe  sehen.  Das  gilt  vor  allem  für  die 
Gebiete,  bei  denen  man  an  so  etwas  wie  Fortschritt  glaubt,  also 
besonders  für  die  Wissenschaft.  Sie  steht  nie  still^  und  die  Ge- 
danken, die  sie  vor^^ärts  bringen,  also  doch  wohl  die  wesentlichen 
einer  Epoche  sind,  finden  sich  zuerst  immer  nur  bei  Wenigen. 
Allmählich  greifen  sie  auf  weitere  Kreise  über,  ja  in  der  Philo- 
sophie pflegt  sich  dieser  Prozeß  recht  langsam  zu  vollziehen,  und 
wenn  eine  Ansicht  später  allgemeine  Verbreitung  gefunden  hat, 
gibt  es  meist  von  neuem  einige  Wenige,  die  wieder  Neues  erkannt 
haben  und  so  über  die  zum  Gemeingut  gewordene  Ansicht  hinweg- 
geschritten sind.  Ihre  Gedanken  haben  dann  als  die  wesentlichen 
zu  gelten,  und  für  die  Zeit,  in  der  sie  leben,  ist  damit  das  Sclilag- 
wort,  das  sie  nicht  trifft,  unbrauchbar  geworden. 

Kurz,  was  die  allgemeine  Meinung  beherrscht,  ist  in  der 
Wissenschaft  zimi  Teil  immer  bereits  veraltet,  und  auf  manchen 
anderen  Kulturgebieten  steht  es  ebenso.  Mt  Rücksicht  hierauf 
haben  wir.  die  Bedeutung  jeder  allgemeinen  Charakterisierung 
einer  Zeit  einzuschränken.  Sie  wird  immer  zu  Ungerechtigkeiten 
gerade  gegenüber  den  wichtigsten,  weil  zukunftsreichsten  Ereig- 
nissen führen. 

Zugleich  aber  weist  dieser  Umstand  auf  etwas  anderes  hin. 
Die  Schlagwörter  der  kollektivistischen  oder  morphologischen 
Darstellung  sind  in  vielen  Fällen  für  Modeströmungen 
auch  ohne  Einschränkung  brauchbar,  gerade  weil  sie  nur  den 
Durchschnitt  treffen  wollen,  und  wenn  man  sie  mit  Bewußt- 
sein allein  dafür  verwendet,  werden  sie  auch  zur  Kennzeichnung 
^vissenschaftlicher  Richtungen  bedeutungsvoll.  Das  gilt  um  so 
mehr,  als  ganz  unbeeinflußt  von  der  Mode  nur  Wenige  sich  er- 
halten, sei  es  auch  darum  allein,  weil  der  Kampf  gegen  sie  sich 
nicht  vermeiden  läßt.  Deshalb  bleibt  zwar  die  Mode,  mag  sie 
noch  so  „modern"  und  noch  so  sehr  die  neueste  Mode  sein,  in 
der  Wissenschaft  das  ewig  Gestrige,  und  jedem  walu-haft  bedeuten- 
den Denker  geschieht  Unrecht,  falls  man  meint,  ihn  durch  ein 
allgemeines  Schlagwort  erschöpfend  zu  charakterisieren.  Aber 
es  hat  trotzdem  auch  im  philosophischen  Interesse  einen  guten 
Sinn,    sich    die    Kennzeichen    der    Modeströmungen    ausdrück- 


•-  'y^  - 

lieh  zum  Bewußtsein  zu  bringen.  Man  wird  dadurch  unter  Um- 
ständen nämlich  lernen,  was  in  der  Wissenschaft  überwunden 
werden  muß,  und  so  w-enigstens  in  negativer  Hinsicht  imstande 
sein,  der  Arbeit  an  der  Zukunft  ihre  Aufgabe  zu  bestimmen. 

Unter  diesem  Gesichtspunkt  sollen  die  folgenden  Ausfüh- 
rungen der  Philosophie  dienen,  indem  sie  sich  mit  der  am  weitesten 
verbreiteten  philosophischen  Strömung  unserer  Tage  beschäftigen. 
Wir  fragen  nach  dem  Begriff,  der  heut  die  Modemeinun-gen  be- 
herrschend im  Vordergrund  des  philosophischen  Interesses  steht, 
um  so  vielleicht  über  die  Mode  hinauszukommen.  Niemand  kann 
seine  „Zeit"  ignorieren.  Irgendwie  wird  sie  jeden  beeinflussen. 
Auch  W'Cr  ihre  Mode  nicht  mitmacht,  muß  sie  berücksichtigen, 
schon  um  sie  nicht  zu  unterschätzen.  Daher  wird  es  gut  sein, 
ausdrücklich  von  ihr  zu  reden. 

Worin  besteht  also  die  philosophische  Mode  unserer  Tage? 
An  welche  Bewegung  der  Zeit  knüpfen  wir  an,  um  sie  einerseits 
als  bloße  Mode  zu  erkennen,  andererseits  den  Kern  von  ihr  zu 
bewahren,  der  uns  Fühlung  mit  dem  Denken  der  Zeit  gewähr- 
leistet ? 


Erstes  Kapitel. 

Das  Leben  als  Modebegriff. 

„.  .  .  welcher  gesunde  Menschenverstand  aber 
ebenso  wohl  seine  Moden  hat  als  unsere  Fracks 
oder  unsere  Frisuren." 

Fichte, 
Beiträge  zur  Berichtigung  der  Urteile  des 
Publikums. 

Ganz  sicher  ist  die  Frage  nach  der  philosophischen  Mode 
vielleicht  nicht  zu  beantworten.  Es  bietet  sich  die  Möglichkeit, 
mehrere  Schlagwörter  zu  nennen.  So  hat  Lamprecht  ^)  von  einer 
Philosophie  der  „Reizsamkeit",  Richard  Hamann  ^)  von  philo- 

1)  Deutsche  Geschichte.  Erster  Ergänzungsband.  Zur  jüng- 
sten deutschen  Vergangenheit.  Erster  Band.  Tonkunst  —  Bil- 
dende Kunst   —  Dichtung   —  Weltanschauung.    1902. 

2)  Der  Impressionismus  in  Leben  und  Kunst.  1907.  Gegen 
den  Versuch  Hamanns,  meine  Philosophie  als  besonders  charak- 
teristisch  für   die   Bestrebungen   zu   kennzeichnen,   die   den    Im- 

1* 


-     4.    -• 

sophischem  „Impressionismus"  gesprochen.  Spenglers  ^)  Morpho- 
logie der  Weltgeschichte  —  sie  ist  die  erste  nicht,  wie  ilir  Ver- 
fasser zu  glauben  scheint,  und  sie  wird  die  letzte  nicht  sein  — 
nennt  unsere  Zeit  imperialistisch,  verwandt  dem  Rom  der  Cäsaren, 
und  meint,  ihre  Philosophie  müsse  daher  dem  hellenistischen 
Skeptizismus  entsprechen.  So  ließen  sich  wohl  noch  manche 
Schlagwörter  finden.  Doch  sehen  wir  von  ihrer  Kritik  hier  ab. 
Wir  versuchen,  eine  andere  Kennzeichnung  der  philosophi- 
schen Modeströmungen.  Für  den  Begriff,  der  heut  in  besonders 
hohem  Maße  die  Durchschnittsmeinungen  beherrscht,  scheint 
uns  die  beste  Bezeichnung  der  Ausdruck  Leben  zu  sein  ^). 
Er  wird  seit  einiger  Zeit  immer  häufiger  gebraucht ,  und  spielt 
nicht  nur  bei  Tagesschriftstellern,  sondern  auch  bei  wissenschaft- 
lichen Philosophen  eine  große  Rolle.  „Erlebnis"  und  „lebendig" 
sind  beliebte  Worte,  und  keine  INIeinung  gilt  für  so  modern  wie 
die,  daß  es  Aufgabe  der  Philosophie  sei,  eine  Lehre  vom  Leben 
zu  geben,  die  aus  den  Erlebnissen  heraus  sich  wahrhaft  lebens- 
voll gestaltend  für  den  lebendigen  Menschen  brauchbar  ist.  Von 
der  Philosophie  des  Lebens  in  unserer  Zeit  wollen  wir 
also  handeln,  um  sie  zuerst  in  ihren  Hauptzügen  darzustellen  und 
dann  kritisch  zu  ihr  Stellung  zu  nehmen.  Sie  scheint  die  Ansatz- 
punkte zu  bieten,   von  denen  aus  man  vielleicht  weiter  kommt. 


pressionismus  als  Fundament  des  Denkens  rechtfertigen,  habe  ich 
mich  schon  an  anderer  Stelle  gewehrt.  Der  Gegenstand  der  Er- 
kenntnis. 3.  Aufl.  S.  202.  Das  vorliegende  kleine  Buch  wird  wohl 
über  den  antiimpressionistischen  Charakter  meines  Philosophie- 
^ens  vollends  keinen  Zweifel  lassen. 

1)  Der  Untergang  des  Abendlandes.  Umrisse  einer  Morpho- 
logie der  Weltgeschichte.  Erster  Band:  Gestalt  und  Wirklich- 
Iveit.     1918. 

2)  Vgl.  meine  Abhandlung:  Lebenswerte  und  Kulturwerte, 
1910  (Logos,  Bd.  II  S.  131  ff.).  Ich  habe  ihren  Inhalt  zum  großen 
Teil  wörtlich  in  dies  Buch  aufgenommen.  In  ähnlicher  Weise  wie 
hier  finde  ich  die  Philosophie  unserer  Zeit  gekennzeichnet  bei 
Max  Scheler,  Versuche  einer  Philosophie  des  Lebens  (Ab- 
handlungen und  Aufsätze,  1915,  Bd.  II,  S.  171  ff.)  und  bei  Georg 
Simmel,  Der  Konfükt  der  modernen  Kultur,  1918.  Beide 
Schriften  konnte  ich  zur  Ergänzung  benutzen.  Die  kritische  Stel- 
lung zur  Lebensphilosophie  weicht  freilich  bei  beiden  Autoren 
wesentlich  von  der  meinigen  ab,  und  das  muß  schon  in  ihrer  Dar- 
stellung zum  Ausdruck  kommen.  Farblose  „Objektivität"  ver- 
suche ich  nicht. 


—    o 


Unter  ihr  ist  nicht  etwa  eine  Philosophie  über  das  Leben 
als  einen  Teil  der  Welt  zu  verstehen,  neben  dem  es  noch  andere 
Weltteile  gibt,  denn  das  wäre  für  sich  noch  keine  ganze  Philo- 
sophie des  Lebens,  und  ferner  konmit  auch  nicht  die  Art  von 
„Lebensanschauung"  in  Betracht,  die  nur  den  Sinn  des  mensch- 
lichen Lebens  kennen  lernen  will,  denn  darin  läge  noch  nichts 
gerade  unserer  Zeit  Eigentümliches.  Solche  Lebensanschauungen 
hat  man  immer  in  der  Philosophie  gesucht.  Das  Charakteristische 
der  modernen  Lebensphilosophie  besteht  vielmehr  darin,  daß 
man  mit  dem  Begriff  des  Lebens  selbst  und  mit  ihm  allein 
die  gesamte  Welt-  und  Lebensanschauung  aufbauen  will.  Das 
Leben  ist  in  den  Mittelpunkt  des  Universums  zu  stellen,  und 
alles,  wovon  die  Philosophie  zu  handeln  hat,  ist  auf  das  Leben 
zu  beziehen.  In  ihm  glaubt  man  den  Schlüssel  zu  jeder  Türe  des 
philosophischen  Gebäudes  zu  besitzen.  Man  erklärt  das  Leben 
für  das  eigentliche  „Wesen"  des  Weltalls  und  macht  es  zugleich 
zmn  Organon  seiner  Erfassung.  Das  Leben  selber  soll  aus  dem 
Leben  heraus  ohne  Hilfe  anderer  Begriffe  philosophieren,  und 
eine  solche  Philosophie  muß  sich  dann  unmittelbar  erleben  lassen. 

Von  diesem  auf  die  Spitze  getriebenen  Standpunkt  der 
Lebensimmanenz,  der  grundsätzlich  kein  Anderes  oder 
kein  Jenseits  des  Lebens  kennt,  sondern  das  Leben  nur  am  Leben 
messen  und  so  alles  lebendig  machen  möU,  gehen  wir  daher  aus, 
um  die  Philosophie  der  Zeit  so  weit  zu  verstehen,  als  sie  sich  all- 
gemein überhaupt  verstehen  läßt. 

Allerdings  kann  man  nicht  behaupten,  daß  das  Wort  Leben 
in  den  philosophischen  Zeitströmungen  eine  genau  bestimmte 
und  nur  eine  Bedeutung  hat.  Aber  das  macht  es  für  unseren  Zweck 
nicht  unbrauchbar.  Diese  Eigenschaft  teilt  es  mit  den  meisten 
Modeschlagwörtern.  Ja,  man  kann  sagen,  weil  es  vieldeutig  ist 
und  daher  mannigfaltige  und  ahnungsreiche  Perspektiven  er- 
öffnet, ist  es  so  beliebt  geworden.  Unsere  Aufgabe  muß  sein, 
hinter  diese  Vieldeutigkeit  zu  kommen.  Nur  selten  ^^^rd  eine 
Lehre  die  Mode  beherrschen,  bei  der  sich  nicht  Mehreres  denken, 
und  die  sich  nicht  auch  auf  mehrfache  W^eise  mißverstehen  läßt. 
So  wäre  z.  B.  der  „Monismus"  nie  Mode  geworden,  wenn  das 
Wort  nicht  viele  Bedeutungen  hätte. 

Nur  mit  Einschränkung  ist  also  von  einer  Einheitlichkeit 


-     6     - 

der  Zeitphilosophie  zu  reden.  Die  Allgemeinheit  im  Sinne  der 
Uebereinstimmung  betrifft  mehr  das  sprachliche  Gewand  als  die 
Sache,  und  wir  werden  bei  der  kritischen  Stellungnahme  zur 
Lebensphilosophie  mehrere  Lebensbegriffe  voneinander  scheiden 
müssen,  um  zur  Klarheit  zu  kommen.  Andererseits  aber  ist  doch 
das  Wort  Leben  nicht  so  vieldeutig,  daß  es  nichtssagend  wäre 
wie  der  Ausdruck  Monismus,  bei  dem  man,  falls  er  der  Name 
für  eine  Weltanschauung  sein  soll,  sich  fast  alles  und  daher  nichts 
Bestimmtes  mehr  denken  kann.  Es  behält  vielmehr  einen  guten 
und  klaren  Sinn,  zu  behaupten,  die  verbreitetste  von  den  ernst- 
haften philosophischen  Strömungen  unserer  Zeit  gehe  dahin,  daß 
das  Wesentliche  in  Welt  und  Leben  „das  Leben"  selber  sei,  und 
daß  man  daher  auch  in  der  Philosophie  nichts  anderes  als  „das 
Leben"  brauche. 

Zur  Beliebtheit  des  Lebensbegriffs  hat  gerade  der  Umstand 
mit  beigetragen,  daß  der  Ausdruck  sich  in  mehreren  sprachlichen 
Wendungen  findet  und  in  verschiedenen  Richtungen  zu  benutzen  ist. 

Bei  dem  Leben  denkt  man  an  das  Objekt  des  „Erlebens", 
und  auf  das  „Erlebnis"  kommt  es  dann  für  den  modernen  Menschen 
an.  Man  wird  versuchen,  sich  in  das  „einzuleben",  was  man 
gründlich  erfassen  will,  und  wer  darauf  ausgeht,  die  Welt  zu  be- 
greifen, wird  sich  das  „Mitleben"  mit  ihr  zur  Aufgabe  machen, 
vmi  so  sein  Ich  kosmisch  zu  erweitern.  Ferner  versteht  es  sich 
von  selbst,  daß  das  Leben  „gelebt"  werden  muß,  und  so  wird  das 
„Ausleben"  zum  beliebten  Lebensideal. 

Zugleich  steht  dem  lebendigen  Leben  das  „abgelebte"  Leben 
gegenüber,  das  starr  und  unlebendig  geworden  ist,  und  das  wir 
daher  zu  meiden  haben.  Damit  kommen  wir  zum  Gegensatz 
des  Lebens,  zum  Tod,  und  auch  dies  Wort  läßt  sich  in  den  ver- 
schiedensten Richtungen  beim  Aufbau  einer  Lebensphilosophie 
ver\yenden.  Was  kann  man  nicht  alles  als  „tot"  oder  „getötet" 
oder  „tötend"  bezeichnen. 

Besonders  wichtig  aber  ist,  daß  das  Leben  selbst  das  Tote 
produziert  und  so  zuin  übergreifenden  Band  für  Tod  und  Leben 
wird.  Nur  das  Lebendige  stirbt,  und  das  Gestorbene  allein 
ist  abgestorben  und  im  eigentlichen  Sinne  tot.  Die  Rinde  des 
Lebens  erstarrt  oder  bildet  eine  Kruste,  die  lediglich  als  seine 
tote  Oberfläche  gelten  darf,  und  durch  die  hindurch  der  Lebens- 


—    /     — 

Philosoph  daher  zum  lebendigen  Kern  vorzudringen  hat.  Die 
Lebewesen  schaffen  sich  ihre  Gehäuse.  Diese  sind  ebenfalls 
als  starre  Hüllen  in  ihrer  Unlebendigkeit  zu  begreifen  und  dem- 
entsprechend zu  behandeln.  Die  Schlange  muß  ihre  Haut  ab- 
werfen. Das  Tier,  das  sich  nicht  häuten  kann,  geht  zugrunde. 
In  den  abgestorbenen  Lebensresten  darf  man  nur  lebenshemmende 
Fremdkörper  sehen.  Man  muß  sie  beiseite  lassen  und  über  sie 
hinwegschreitend  dafür  sorgen,  daß  das  Leben  stets  lebendig  in 
wachsender  Bewegung  bleibt.  Dann  lebt  man  auch  als  Kultur- 
mensch in  Harmonie  mit  der  lebendigen  All-Natur. 

Schon  diese  Schlagwörter  deuten  an,  welch  reiches  Material 
sich  für  den  Aufbau  einer  Lebensphilosophie  darbietet. 

Manches  von  ihnen,  zumal  der  Ausdruck  „Erlebnis"  ist  aller- 
dings bereits  so  abgegriffen,  daß  er  nicht  mehr  genügt  und  man 
daher  zum  „Urerlebnis"  glaubt  vordringen  zu  müssen,  das  wohl 
ein  noch  lebendigeres  Erlebnis  als  das  gewöhnliche  sein  soll.  Ja, 
gerade  das  Wort  Erlebnis  värd  so  häufig  und  bei  so  verschiedenen 
Gelegenheiten  gebraucht,  daß  ein  nachdenklicher  oder  auch  nur 
geschmackvoller  Mensch  sich  scheuen  kann,  es  überhaupt  noch 
in  den  Mund  zu  nehmen  oder  es  beim  Schreiben  ohne  Gänse- 
füßchen zu  verwenden.  Nicht  selten  bedeutet  es  eine  leere  Phrase 
und  dient  zum  Deckmantel  für  Gedankenlosigkeit. 

Doch  der  Mißbrauch  dieses  und  anderer  Lebensschlagwörter 
hebt  ihren  Gebrauch  nicht  auf,  und  wir  dürfen  auch  die  Be- 
geisterung für  das  Erlebnis  als  Quelle  manches  Bedeutsamen 
unserer  Zeit  nicht  vernachlässigen.  Mit  Wissenschaft  hat  sie 
freüich  direkt  noch  nichts  zu  tun.  Meist  kommt  sogar  eine  völlig 
unwissenschaftliche,  ja  wissenschaftsfeindliche  Lebensstimmung 
in  ihr  zum  Ausdruck.  Aber  diese  Stimmung  entspringt  einerseits 
doch  zugleich  tieferen  Schichten  und  färbt  andererseits  ab  auf 
die  verschiedensten  Gebiete  des  Kulturlebens.  Schließlich  be- 
einflußt sie  auch  die  Wissenschaft,  und  das  hat  dann  Konse- 
quenzen  für   die   Pliilosophie. 

Diese  Strömungen  durch  alle  verschiedenen  Kultursphären 
hindurch  zu  verfolgen,  würde  zu  weit  führen.  Aus  den  angegebenen 
Gründen  dürften  wir  auch  nicht  hoffen,  einheitlich  die  gesamte 
Kultur  der  Zeit  von  hier  aus  zu  verstehen.  Ein  kurzer  Hinweis  auf 
wenige  außerwissenschaftliche  Gebiete  kann  daher  genügen. 


-    8     - 

So  hat  Simmel,  der  uns  später  als  Lebensphilosoph  noch 
beschäftigen  wird,  im  künstlerischen  Leben  den  Ex- 
pressionismus als  eine  der  auf  das  Leben  gerichteten  Bestrebungen 
zu  deuten  gesucht.  Die  innere  Bewegtheit  des  Künstlers  soll  sich 
ganz  unmittelbar  so,  wie  sie  gelebt  wird,  in  das  Werk  oder  ge- 
nauer als  das  Werk  fortsetzen.  Auch  die  Originalitätssucht  bei 
so  vielen  jungen  Leuten  der  Gegenwart  ist  mit  der  Richtung  auf 
das  Leben  in  Zusammenhang  zu  bringen.  Was  in  diesem  Falle 
gerettet  werden  soll,  ist  nicht  sowohl  die  Individualität  des  Lebens, 
sondern  das  Leben  der  Individualität.  Die  Originalität  sei  sozu- 
sagen nur  die  ratio  cognoscendi,  die  uns  vergewissert,  daß  das 
Leben  rein  bei  sich  selbst  ist  und  nicht  Formen,  die  ihm  äußer- 
lich, objektiviert  und  starr  sind,  in  seinen  Strom  oder  seinen  Strom 
in  sie  aufgenommen  hat.  Ebenso  fordert  eine  Stimmung  innerhalb 
der  gegenwärtigen  Religiosität  die  entsprechende  Deutung. 
Geistig  vorgeschrittene  Persönlichkeiten  befriedigen  ihre  religiösen 
Bedürfnisse  mit  der  Mystik.  Hier  steht  die  Religiosität  als  ein 
unmittelbar  jeden  Pulsschlag  einschließender  Lebensprozeß  in 
Frage,  ein  Sein,  nicht  ein  Haben,  ein  Frommsein,  das,  wenn  es 
Gegenstände  hat,  Glauben  heißt,  nun  aber  eine  Art  ist,  wie  das 
Leben  selbst  sich  vollzieht,  nicht  eine  Stillung  der  Bedürfnisse 
von  einem  Außen  her  —  wie  der  expressionistische  Maler  sein 
künstlerisches  Bedürfnis  nicht  durch  Anschmiegen  an  einen  Außen- 
gegenstand befriedigt '  —  sondern  es  wird  ein  kontinuierliches 
Leben  aus  einer  Tiefe  heraus  gesucht,  in  der  es  sich  noch  nicht 
in  Bedürfnis  und  Erfüllung  zerlegt  hat  und  also  keinen  „Gegen- 
stand" braucht,  der  ihm  eine  bestimmte  Form  vorschriebe.  Das 
Leben  will  sich  unmittelbar  als  rehgiöses  aussprechen,  nicht 
in  einer  Sprache  mit  gegebenem  Wortschatz  und  vorgeschriebener 
Syntax  i). 

Diese  feinen  Bemerkungen  mögen  zur  Kennzeichnung  von 
außerwissenschafthchen  Lebenstendenzen  dienen.  Für  unseren 
Zusammenhang  noch  wichtiger  sind  die  Lebensrichtungen  auf  dem 
Gebiet  der   Einzelwissenschaften. 

Da  soll  vor  allem  die  Natur  als  lebendig  verstanden 
werden,  und  dann  wird  sie  der  toten,  d.  h.  physikalischen  oder 

1)  Vgl.  Georg  Simmel,  Der  Konflikt  der  modernen 
Kultur. 


—    9     - 

mechanischen  Natur  entgegengesetzt,  die  der  Liebling  des  voran- 
gegangenen, glücklich  überwundenen  Zeitalters  war.  Von  der 
Materie  als  einem  Atomkomplex  unter  mathematisch  formulier- 
baren Gesetzen  will  man  heute,  wenn  es  sich  um  das  „Wesen" 
der  Natur  handelt,  nichts  mehr  wissen.  Durch  den  Mechanismus 
wird  alles  starr  und  tot  gemacht.  Auch  wo  man  an  eine  „natm'- 
wissenschaftliche  Weltanschauung"  glaubt,  gilt  er  für  abgetan. 
Dem  lebendigen  Leben,  das  uns  umflutet,  kann  er  nie  gerecht 
werden.  Dabei  meint  man  nicht  nur  das  unräumliche  oder  un- 
ausgedehnte psychische  Sein,  das  materialistisch«  aufzufassen, 
die  Wissenschaft  ja  längst  aufgegeben  hat,  sondern  auch  für  die 
unbeseelte  Körperwelt,  die  man  früher  die  tote  nannte,  wird  der 
Mechanismus  jetzt  als  starr  und  tot  abgelehnt.  Sogar  die  ver- 
kappten jNIaterialisten  spielen  das  Organische  gegen  das  Mecha- 
nische aus  und  reihen  sich  so  der  Zeitströmung  ein.  Die  Begriffe 
der  mechanischen  Naturv\dssenschaft  selbst  sind  in  der  „Energetik" 
in  eigentümlicher  Weise  verlebendigt  worden.  Von  einer  lebendigen 
Mathematik  war  allerdings  bisher  wohl  noch  nicht  die  Rede,  und 
diese  Disziplin  ist  bei  den  meisten  Vertretern  der  „lebendigen" 
Wissenschaft  auch  wenig  beliebt.  Doch  lassen  sich  sogar  hier 
Richtungen  konstatieren,  die  darauf  ausgehen,  die  Welt  des 
Mathematischen  beweglicher  und  insofern  lebendiger  zu  ge- 
stalten. 

Daß  unter  diesen  Umständen  in  der  Wissenschaft,  die  vom 
Leben  im  engeren  Sinne  handelt,  d.  h.  in  der  Biologie,  der 
Vitalismus  als  Neovitalismus  die  größten  Erfolge  hat,  bedarf 
keiner  besonderen  Erörterung.  Antimechanische  ,, Kräfte"  werden 
als  wirkende  Zweckprinzipien  eingeführt,  und  die  Natur  ist  ent- 
weder teilweise  oder  ganz  teleologisch  zu  denken.  So  allein  glaubt 
man,  dem  lebendigen  Leben  gerecht  zu  werden,  das  aus  der 
toten,  mechanischen  Materie  niemals  entstehen  kann.  Ob  man 
dabei  sachlich  über  Aristoteles  hinaus  gekommen  ist,  ja  wde  weit 
man  dessen  Gedanken  auch  nur  erreicht  hat,  sei  dahingestellt. 
Es  gilt  hier  nur,  die  Lebenszeichen  der  Zeit  zu  verstehen. 

Zu  diesem  Zweck  ist  ferner  darauf  hinzuweisen,  daß  das 
Streben  nach  Lebendigkeit  auf  die  Natur\\'issenschaften  nicht 
beschränkt  bleibt.  Sowohl  in  der  Psychologie  als  auch  in  den 
Kulturwissenschaften^     die   man   die    Geisteswissen- 


-     10     - 

Schäften  nennt,  tritt  es  zutage.  Von  dem  Historiker  wird  ver- 
langt, er  solle  nicht  totes  Wissen  geben  oder  von  abgelebten,  un- 
lebendig gewordenen  Tatsachen  der  Vergangenheit  berichten, 
die  uns  in  ihrer  Starrheit  nichts  mehr  angehen.  Er  müsse  viel- 
mehr sich  einleben  in  das  Geschehen  früherer  Zeiten,  es  nacher- 
leben und  so  wieder  lebendig  machen,  wie  die  unmittelbare  Gegen- 
wart lebendig  ist.  Das  Mitleben  mit  unseren  Vorfahren  soll  er 
uns  ermöglichen  und  ihren  Geist  in  uns  am  Leben  erhalten.  Für 
die  verschiedensten  Gebiete  der  Kultur,  für  Kunst  und  Recht, 
für  Wirtschaft  und  Religion  der  Vorzeit  ist  das  zu  leisten.  Zum 
Leben  sind  ihre  schlummernden  Kräfte  wieder  zu  erwecken.  Dem 
entspricht,  daß  auch  im  geschichtlichen  Stoff  nur  das  wichtig  er- 
scheint, was  einst  ursprünglich  und  wahrhaft  lebendig  war, 
während  alles  abgeleitete  und  lebensschwache  Geschehen  der  Vor- 
zeit nur  ein  sekundäres  Interesse  bietet. 

Steht  doch,  um  ein  konkretes  Beispiel  zu  geben,  unter  dieser 
Auffassung  sogar  ein  so  selbständiges  Werk  wie  Gundolfs  Goethe, 
wenigstens  mit  Rücksicht  auf  sein  Programm  ^).  Der  Dichter 
wird  darin  mit  Dante  und  Shakespeare  verglichen  und  mit  seiner 
Welt  nicht  so  gleichartig  wie  diese  erfunden.  Sie  waren  ursprüng- 
liche Menschen  in  einer  ursprünglichen  Welt,  Goethe  ein  ursprüng- 
licher Mensch  in  einer  abgeleiteten,  in  einer  Bildungswelt.  So 
verwebt  sich  in  seiner  Existenz  Urerlebnis  und  Bildungserlebnis. 
Das  religiöse,  titanische  und  erotische  ist  Urerlebnis,  und  das 
Bildungserlebnis  ist  das  der  deutschen  Vorwelt,  Shakespeares, 
des  klassischen  Altertums,  Italiens,  des  Orients,  der  deutschen 
Gesellschaft.  Von  hier  aus  gilt  es,  das  gesamte  Werk  Goethes 
zu  verstehen,  seine  Lyrik,  seine  Symbolik,  seine  Allegorik.  Diese 
an  der  Nähe  des  Urerlebnisses  gemessene  Einteilung  hat  an  die 
Stelle  der  üblichen  zu  treten.  Die  Lyrik  enthält  die  Urerlebnisse 
dargestellt  im  Stoff  seines  Ich.  Da  kommt  das  Bildungserlebnis 
nicht  in  Betracht.  Auch  Werther  und  Tasso  nähern  sich  dieser 
Sphäre.    Die    Symbolik    enthält   das   Urerlebnis    dargestellt   un 


1)  Friedrich  Gundolf,  Goethe.  1916.  Bezeichnend 
ist,  daß  diese  Gedanken  nur  in  der  „Einleitung"  eine  Rolle -spie- 
len. Sie  erscheinen  dort  wie  ein  Tribut,  den  der  Autor  seiner  Zeit 
entrichtet  Doch  kommt  der  Lebensbegriff  bei  den  Theoretikern 
des  Kreises  um  Stefan  George  auch  sonst  vor.  Georges  große 
Lyrik  steht  hoch  über  aller   Lebenspoesie. 


-   11    - 

Stoff  einer  Bildungswelt,  die  iMlegorik  endlich  nui'  abgeleitete 
Erlebnisse.  Sie  steht  daher  künstlerisch  am  tiefsten,  und  die 
Sympathie  des  Darstellers  ist  überall  bei  den  Urerlebnissen.  Das 
scheint  in  unserem  Zeitalter  völlig  selbstverständlich. 

Ob  es  Urerlebnisse  von  künstlerischer  Bedeutung  im  Gegen- 
satz zu  allen  Bildungserlebnissen  bei  einem  geschichtlichen 
Menschen,  der  Kultui-werke  schafft,  überhaupt  gibt,  wird  nicht 
gefragt,  obwohl  es  als  sehr  fragwürdig  gelten  sollte.  Ob  jemals 
ein  großer  Kulturmensch  religiöse,  titanische,  erotische  Erleb- 
nisse von  mehr  als  persönlich  privater  Bedeutung  gehabt  hat, 
falls  nicht  irgendein  Bildungseinschlag  dabei  wesentlich  mit- 
wirkte, scheint  in  unserer  Zeit  der  Lebensbegeisterung  kein 
Problem,  obwohl  es  gewiß  eminent  problematisch  ist. 

Kein  Wunder,  daß  unter  diesen  Umständen  der  Lebensbe- 
griff immer  mehr  in  die  P  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e  eindringt.  |hr  wenden 
wir  uns  jetzt  zu,  um  sie  zunächst  allgemein  zu  charakterisieren. 
Dabei  kommt  selbstverständlich  auch  die  außenvissenschaftliche 
Weltanschauungsphilosophie  mit  in  Betracht. 

Am  nächsten  liegt  der  Gedanke  an  eiiie  Lebensethik. 
Die  Lehre  vom  Sittlichen  war  stets  der  Teil  der  Philosophie, 
der  die  weitesten  Kreise  beschäftigte.  Auf  das  Leben  selbst  will 
man  die  sittlichen  Ideale  gründen.  Möglichst  viel  soll  der  Mensch 
erleben  und  möglichst  lebendig  nach  allen  Richtungen  sein  Leben 
gestalten.  Nichts  Lebendes,  das  sich  regen  will,  darf  er  unter- 
drücken und  verkümmern  lassen.  Wie  der  Baum  und  die  Blume 
im  Felde  blüht  auch  der  Mensch,  und  er  soll  es  wissen.  Seine 
Blütezeit  nicht  auszuleben,  nicht  jedes  Erlebnis  mit  offenen  Armen 
zu  empfangen  und  auszukosten,  heißt  sich  selbst  töten.  Lebe! 
so  lautet  der  neue  kategorische  Imperativ,  Ethische  Bedeutung 
gewinnt  das  Leben  nur,  wenn  es  zum  Gipfel  der  Lebendigkeit 
geführt  und  in  seiner  ganzen  Breite  vom  Leben  durchströmt 
wird. 

Freilich  ist  das  Wort  „ausleben"  wohl  schon  etwas  anrüchig 
geworden.  Mancher  sieht  ein,  daß  sogar  eine  Berufung  auf  das 
Blühen  der  Pflanzen  nicht  überall  passen  will,  da  am  Meere  und 
in  kahlen  Ebenen  die  einsamen  Bäume  und  Sträucher  mehr  von 
Kampf  und  Entsagmig  zu  zeugen  scheinen.  Vollends  werden 
Erfahrungen  im  menschlichen  Leben  den  Gedanken  nahelegen. 


-     12     - 

daß  mit  dem  sittlichen  Imperativ  des  Auslebens  der  moderne 
Lebe-Weise  sich  eventuell  gut  amüsieren  kann,  im  Lebenskampf 
jedoch  mit  der  Lebe-Moral,  deren  Lebe-Pf lichten  nicht  allzu 
schwer  zu  erfüllen  sind,  allein  nicht  auskommt.  So  wird  man  nach 
einer  ernsteren  Lebensethik  suchen,  die  nicht  nur  die  Lebens- 
blüten, sondern  auch  die  Lebensfrüchte  im  Auge  hat.  Aber  die 
Grundtendenzen,  denen  die  Auswüchse  der  Lebensethik  ent- 
springen, sind  darum  nicht  erstorben,  sondern  die  Lebendigkeit 
des  Lebens  gilt  immer  noch  als  höchste  sittliche  Forderung. 

Ebenso  verlangt  die  Aesthetik  eine  lebendige  Kunst, 
die  Religio  ns  Philosophie  einen  lebendigen  Gott,  ja 
sogar  die  Logik  ein  lebendiges  Denken,  und  endlich  ist,  imi 
nur  dies  noch  hervorzuheben,  das  Lebensprinzip  auch  in  das 
„Allerheiligste"  der  Philosophie,  in  die  Metaphysik  ein- 
gedrungen. Man  versteht  unter  Leben  nicht  nur  das,  was  inner- 
halb der  empirischen  Realität  liegt,  sondern  man  glaubt,  auch  die 
Probleme  des  Uebersinnlichen  mit  Hilfe  dieses  Begriffes  in  neuer 
Weise  lösen  zu  können.  Wenn  durch  den  Gedanken  des  Aus- 
lebens der  Modebegriff  eine  ethische  Färbung  bekommt,  so  wird 
er  hier  in  den  Dienst  irrationalistischer  oder  gar  mystischer 
Bedürfnisse  gestellt.  Nur  das  Absolute,  Unmittelbare  und  Ur- 
sprüngliche, das  durch  Intuition  ohne  jede  begriffliche  Hilfe 
Erfaßte,  ist  das  wahrhaft  Reale,  lehrt  man,  und  dann  soll  das 
tiefste  Weltwesen,  unmittelbar  erlebt  oder  geschaut,  ebenfalls 
Leben  sein.  Die  Wirklichkeit,  mit  der  die  gewöhnlichen  „Wissen- 
schaften" sich  beschäftigen,  sinkt  dem  erlebten  Leben  gegenüber 
zur  bloßen  Erscheinung  oder  zu  einem  begrifflichen  und  daher 
unwirklichen  Produkt  von  sekundärer  Bedeutung  herab. 

Kurz,  Leben  ist  es,  das  ,,die  Welt  im  Innersten  zusammen- 
hält", im  Gegensatz  zur  toten,  mechanischen  Außenseite  der 
Natur.  Auch  die  alte  Faustfrage  wird  von  der  Modephilosophie 
auf  Grund  des  Lebensprinzips  beantwortet. 

Schon  diese  Hinweise  zeigen,  wieweit  mit  Hilfe  des  modernen 
Lebensbegriffs  eine  Philosophie  zu  schaffen  ist,  die  wenigstens 
formal  allen  Bedürfnissen  genügt,  welche  man  an  das  Ganze  des 
philosophischen  Denkens  zu  stellen  pflegt.  Um  das  noch  ausdrück- 
lich klar  zu  machen,  weisen  wir  kurz  auch  auf  die  Ziele  einer  jeden 
wahrhaft  umfassenden  Philosophie  hin  und  fragen,  wieweit  sie 


—    13     — 

heute  durch  den  Begriff  des  Lebens  erreicht  Zu  sein  scheinen. 
Das  f  ülirt  zu  allgemeinen  Erörterungen  über  das  Wesen  der  Philo- 
sophie überhaupt.  Doch  kehren  wir  von  ihnen  bald  wieder  zur 
Zeitphilosophie  zurück. 

Zunächst  wird  man  in  der  Philosophie  die  Wissenschaft 
sehen,  die  das  Ganze  der  Welt  zu  ihrem  Gegenstand  macht. 
Irgendeine  Disziplin  muß  sich  diese  universale  Aufgabe  stellen, 
und  nur  die  Philosophie  kann  es  tun.  Der  Umstand,  daß  heute 
das  Weltall  an  die  Einzelwissenschaften  aufgeteilt  zu  sein  scheint, 
ändert  daran  nichts.  Jede  von  ihnen  behandelt  ihrem  Begriff 
nach  nur  einen  Teil  der  Welt,  und  das  Ganze  ist  etwas  anderes 
als  die  bloße  Aneinanderreihung  seiner  Teile.  Die  Philosophie 
behält  also  unter  allen  Umständen  eine  selbständige  Aufgabe: 
sie  hat  Begriffe  für  das  W^eltall  zu  entwickeln,  so  daß  dieses  sich 
in  ihnen  als  eine  Einheit  darstellt.  Das  ist  immer  ihre  Aufgabe 
gewesen  und  wird  ihre  Aufgabe  bleiben.  Irgendwelche  partiellen 
Bestrebungen  verdienen  den  Namen  der  Philosophie  nicht. 

Doch  hiermit  kommt  die  universale  Tendenz  noch  nicht 
vollständig  zum  Ausdruck.  Man  verlangt  von  der  Philosophie, 
daß  sie  uns  „Weltanschauung"  geben  soll,  und  dabei  denkt  man 
nicht  allein  an  die  Welt  als  Objekt,  sondern  auch  an  unsere,  des 
Subjekts  Stellung  zur  Welt.  Man  erwartet  mit  anderen  Worten, 
wie  schon  angedeutet,  zugleich  „Lebensanschauung".  Dabei 
werden  nicht  nur  die  Gedanken  wichtig,  die  •festzustellen  suchen, 
wie  die  Welt  wirklich  ist,  sondern  wir  wollen  auch  den  ,,Sinn" 
des  Menschenlebens  deuten,  imd  das  gelingt  nur,  wenn  wir  die 
Werte  kennen,  die  ihm  Sinn  verleihen.  So  treten  neben  die 
Seinsprobleme  die  Wertprobleme.  Auch  sie  hat  die  Philosophie 
in  Angriff  zu  nehmen,  falls  sie  universal  sein  will.  So  wird  sie 
zur  Wissenschaft  nicht  allein  vom  Weltall,  sondern  auch  vom 
ganzen  Menschen  und  seinem  Verhältnis  zur  Welt.  Erst  damit 
umfaßt  sie  in  Wahrheit  das  Ganze  und  beschränkt  sich  nicht  wie 
andere  Wissenschaften  auf  einen  Teil. 

Ferner  führt  das  Verhältnis  des  Teils  zum  Ganzen  noch 
auf  einen  anderen  für  die  Philosophie  wichtigen  Unterschied 
von  der  Spezialforschung.  Die  reale  Welt,  in  der  wir  alle  leben, 
verläuft  in  der  Zeit,  und  diese  erstreckt  sich  sowohl  in  die 
Vergangenheit  als  auch  in.  die  Zukunft,   ohne   daß  jemals  ihr 


A 


-     14     - 

Ende  abzusehen  wäre.  Was  wii'  zeitlich  zu  überschauen  vermögen, 
ist  deshalb  immer  lediglich  ein  Weltteil.  Das  Weltganze  können 
wir  nur  so  denken,  daJß  es  alle  zeitlichen  Weltteile  und  damit 
zugleich  die  Zeit  selber  umfaßt.  So  kommen  wir  zum  Gegensatz 
des  Zeitlichen  und  des  Zeitlosen.  Die  Weltteile  sind  in  der  Zeit. 
Das  Weltganze  kann  nicht  in  der  Zeit  sein,  sondern  umgekehrt: 
die  Zeit  ist  im  Weltganzen.  Infolgedessen  wird  für  eine  uni- 
versale Wissenschaft  auch  das  Verhältnis  des  Zeitlichen  zum 
Zeitlosen  oder,  positiv  gesprochen,  Ewigen  ein  Problem.  Die 
Frage,  wie  der  Teil  zum  Ganzen  kommt,  läßt  sich  formulieren  als 
Frage,  wie  das  Zeitliche  ins  Ewige  hineinragt.  Bei  der  Zeitan- 
schauung kann  die  Philosophie  als  universale  Wissenschaft  nicht 
bleiben.  Sie  muß  zur  Weltanschauung  vordringen.  Doch  hat 
sie  diese  zugleich  so  auszubilden,  daß  sie  die  Zeitanschauung  mit 
umfaßt.  Zeit  und  Ewigkeit  sind  im  philosophischen  Begriff  vom 
All  der  Welt  einheitlich  zu  verbinden. 

Endlich  kann  man  noch  ein  Kennzeichen  der  Philosophie 
hervorheben.  Soll  sie  die  Wissenschaft  vom  All  sein,  so  muß 
sie  einen  streng  systematischen  Charakter  tragen,  d.  h.  alle  ihre 
verschiedenen  Begriffe  und  Urteile  zu  Gliedern  eines  einheitlich 
geordneten  Gedanken- Ganzen  zusammenschließen.  Ohne  die 
Form  des  Systems  wäre  sie  nicht  imstande,  das  Weltall 
zu  erfassen.  Begriffe,  die  nicht  Glieder  eines  Systems  sind,  be- 
ziehen sich  nur  aui  Teile,  und  so  lange  es  kein  System  gibt, 
fällt  daher  für  uns  die  Welt  in  ihre  Teile  auseinander.  So  wie  die 
Wirklichkeit  uns  zuerst  gegenübertritt,  bevor  wir  sie  systematisch 
begreifen,  ist  sie  überhaupt  noch  keine  „Welt",  sondern  eine 
Anhäufung  von  Bruchstücken  oder  ein  Chaos.  Erst  indem  wir 
ihre  Teile  ordnen,  entsteht  das,  was  wir  den  Kosmos  nennen. 
Das  System  allein  ermöglicht  es  also,  daß  aus  dem  Weltchaos  für 
uns  der  Weltkosmos  wird,  und  insofern  kann  man  sagen,  muß 
jede  Philosophie  die  Form  des  Systems  haben. 

Ihre  Aufgaben  sind  schließlich  in  dem  einen  Satz  zum  Aus- 
druck zu  bringen :  sie  sucht  in  Form  des  Systems  nach  einer  Welt-v 
anschauung,  die  sowohl  die  Zeitanschauung,  als  auch  die  Lebens- 
anschauung umfaßt  und  so  das  zeitliche  Leben  im  Zusammen- 
hang mit  dem  überzeitlichen  Wesen  des  Weltalls  verstehen  lehrt. 
Mehr  kann  sie  nicht  wollen,  und  auf  weniger  darf  sie  als  universale 


-    15     - 

Betrachtung  sich  wenigstens  der  Absicht  nach  nicht  beschränken. 
Wieviel  sie  vermag,  ist  eine  andere  Frage. 

Sehen  wir  nun,  wieweit  die  Lebensphilosophie  im  Besonderen 
sich  als  Philosophie  in  dem  angedeuteten  allgemeinen  Sinn  dar- 
stellt, so  ist  zunächst  zu  konstatieren,  daß  sie  sich  in  einigen  ihrer 
Gestalten  in  der  Tat  auf  das  Ganze  der  Welt  richtet,  und  als 
echte  Lebensphilosophie  Alles  unter  den  einen  Begriff 
des  Lebens  zu  bringen  sucht.  Was  es  überhaupt  gibt,  muß  Aeuße- 
rung  des  Lebens  sein.  Wie  das  zu  denken  ist,  haben  wir  bereits 
gesehen,  als  wir  darauf  hinwaesen,  daß  auch  das  Tote  sich  als 
Produkt  des  Lebens  fassen  läßt  und  so  das  Leben  zum  übergreifen- 
den Band  für  Tod  und  Leben  wird.  Führt  man  dies  für  alle  Ge- 
biete der  Welt  konsequent  durch,  so  erscheint  das  Leben  als  Welt- 
allprinzip, und  insofern  ist  sein  Begriff  zur  Grundlage  der  Philo- 
sophie als  der  universalen  Wissenschaft  geeignet.  Was  nicht 
lebendig  ist,  hat  keinen  Bestand.  Das  wird  besonders  in  der 
Metaphysik  des  Lebens  zum  Ausdruck  gebracht. 

Zugleich  müssen  sich  auf  dem  Lebenswege  nicht  allein  die 
Seinsprobleme,  sondern  auch  die  Wert  probleme  in  Angriff 
nehmen  lassen.  Ist  die  Welt  in  ihrem  tiefsten  Grunde  All-Leben, 
dann  kann  es  auch  im  Leben  der  Menschen  allein  auf  das  Leben 
ankommen.  Vom  Leben  her  ist  demnach  nicht  nur  das  Weltobjekt 
in  seiner  Totalität,  sondern  ebenso  der  ganze  Mensch  zu  ver- 
stehen oder  der  gesamte  Sinn  des  menschlichen  Daseins  zu  deuten. 
Damit  muß  sich  Klarheit  auch  über  unsere  Ziele  und  Aufgaben 
verbreiten.  So  kann  nur  die  Philosophie  des  Lebens  uns  im  Leben 
den  Halt  geben,  den  wir  suchen.  Sind  aber  Weltanschauung 
und  Lebensanschauung  gleichmäßig  im  Leben  verankert,  dann 
erscheint  auch  unter  diesem  Gesichtspunkt  die  Philosophie  des 
Lebens  als  echte  Philosophie. 

Ferner  muß  sich  der  Gegensatz  des  Zeitlichen  und 
des  Zeitlosen  oder  Ewigen  durch  den  Lebensbegriff  über- 
winden und  damit  das  vielleicht  schwierigste  philosophische 
Problem  lösen  lassen.  Falls  alles  in  der  Welt  Leben  ist  oder 
das  Leben  den  umfassendsten  Rahmen  darstellt,  innerhalb  dessen 
jede  zeitliche  Lebens  Veränderung  vor  sich  geht,  dürfen  wir  von 
einem  „ewigen  Leben"  reden,  das  keinen  Anfang  und  kein  Ende 
besitzt  und  zwar  alle  Zeit  erfüllt,  zugleich  aber  seinem  allgemein- 


-     16     - 

steil  Begriff  nach  über  der  Zeit  steht,  denn  auch  Zeit  gibt  es  nur 
als  eine  Form  des  Lebens,  und  insofern  ist  das  Leben  selbst  frei 
von  der  Gewalt  der  Zeit.  Es  bildet  sowolil  die  zeitlose  Form  als 
auch  den  zeitlichen  Inhalt.  Genauer:  eine  solche  Trennung  ist 
ihm  im  Grunde  fremd,  und  auch  wir  brauchen  es  daher  nicht  erst 
in  Form  und  Inhalt  auseinanderzulegen,  um  die  Totalität  der 
Welt  als  All-Leben  zu  begreifen.  Der  Lebensprozeß  selber  ist 
die  Form,  und  die  Inhalte  gibt  es  nur  in  diesem  Prozeß.  Damit 
erreicht  die  Lebensphilosophie  die  denkbar  vollkommenste  Welt- 
einheit. 

Nur  eines  muß  ihr  fehlen,  was  bisher  zu  jeder  echten  Philo- 
sophie zu  gehören  schien:  die  Form  des  Systems.  Das  System 
ist  nämlich  miter  allen  Umständen  etwas  Starres,  Festgewordenes, 
Geronnenes  und  steht  daher  dem  stets  fließenden  und  strömenden 
Leben  fremd,  ja  feindlich  gegenüber.  Im  alten  Sinn  systematisch 
darf  also  der  Lebensphilosoph  nicht  denken.  Indem  er  die  Welt 
als  All-Leben  versteht,  muß  er  zugleich  einsehen,  daß  sie  in  kein 
festes  System  hineinpaßt.  Sein  Denken  hat  sich  der  Rhythmik 
imd  Dynamik  des  nie  rulienden  Lebens  anzuschmiegen.  Ein 
lebendiges  Denken  soll  die  Statik  des  Systems  ablösen  und  uns 
damit   endlich  von  jeder   Systematik  erlösen. 

In  dieser  antisystematischen  Tendenz  wird  also  die  Lebens- 
philosophie ihren  größten  Vorzug  sehen  und  glauben,  die  herkömm- 
lichen Bestimmungen  der  Philosophie  als  eines  Systems  durch 
ein  neues  Ideal  übei-wunden  zu  haben.  Wie  der  Unterschied  von 
Form  und  Inhalt,  so  fällt  auch  der  von  Kosmos  und  Chaos  für 
sie  fort.  Das  Leben  ist  beides  zugleich.  Der  flutende  Lebensstrom 
selbst  ist  die  gestaltende  und  die  gestaltete  Welt,  denn  ihre 
Gestalt  besteht  im  Fließen  und  Strömen,  und  sie  „besteht" 
insofern  zugleich  auch  nicht. 

So  sind  in  der  Lebensphilosophie  alle  Denkmotive,  die  bisher 
von  den  Philosophen  behandelt  wurden,  „aufgehoben",  um  mit 
Hegel  zu  reden,  und  wollen  wir  daher,  wie  derselbe  Denker  sagt, 
unsere  „Zeit  in  Gedanken  erfassen",  dann  müssen  wir  uns  in 
die  Lebensphilosophie  vertiefen.  Sie  erscheint  nicht  allein  als 
Verkörperung  des  philosophischen  Zeitgeistes,  sondern  sie  mar- 
schiert zugleich  an  der  Spitze  der  philosophischen  Entwicklung. 


17 


Zweites  Kapitel. 

Die  modernen  Lebensphilosophen. 

„Welch  reicher  Himmel!    Stern  an  Stern!" 

Der  Sänger. 

Docli  es  wird  gut  sein,  daß  wir  uns  nicht  auf  eine  allgemeine 
Kennzeichnung  dieser  Bewegungen  beschränken,  sondern  auch 
einzelne  Denker  betrachten,  die  besonders  charakteristische  Ver- 
treter der  Lebensphilosophie  sind.  Untereinander  zeigen  sie  große 
Verschiedenheiten.  Doch  kommen  diese  für  uns  nicht  in  Betracht. 
Es  gilt  vielmehr,  das  Gemeinsame  auch  bei  solchen  Philosophen 
hervorzuheben,  die  in  mancher  Hinsicht  weit  auseinander  gehen. 
Aus  den  angegebenen  Gründen  wird  ihre  Darstellung  ungerecht 
erscheinen,  und  sie  ist  es  in  der  Tat.  Aber  es  kommt  hier  nicht 
darauf  an,  daß  wir  die  einzelnen  Persönlichkeiten  erschöpfend 
würdigen.  Nur  als  typische  Vertreter  weit  verbreiteter  Geistes- 
strömungen oder  als  „Fälle"  sind  sie  ^vichtig,  und  wir  nehmen 
daher  mit  vollem  Bewußtsein  eine  Vergewaltigung  vor,  um  das 
deutlich  zu  machen,  was  für  das  allgemeine  Durchschnittswesen 
in  der  Philosophie  unserer  Zeit  maßgebend  ist. 

Selbstverständlich  haben  die  Bestrebungen,  denen  wir  uns 
dabei  zuwenden,  wenn  sie  auch  erst  seit  kurzem  an  der  Ober- 
fläche sichtbar  und  „allgemein"  im  Sinne  des  Kollektivismus 
geworden  sind,  doch  schon  eine  längere  Geschichte.  Sie  lassen 
sich  ziemlich  weit  ins  19.  Jahrhundert,  ja  darüber  hinaus  zurück 
verfolgen  und  tauchen  wie  alles  Bedeutsame  in  der  geistigen 
Kulturentwicklung  zuerst  bei  wenigen  Individuen  auf,  um  dann 
später  ]\Iode  zu  werden.  Doch  brauchen  wir  den  geschichtlichen 
Quellen  der  Gegenwartsphilosophie  nicht  nachzugehen.  Das 
würde  recht  weit  führen  und  doch  für  unsere  Zwecke  nicht  wesent- 
lich anderes  sagen  als  das,  was  auch  an  den  neusten  Erschei- 
nungen klar  zu  machen  ist. 

Es  genügt,  wenn  wir  Namen  wie  Hamann,  Herder,  F.  H.  Jakobi, 
Goethe,  Fichte,  Schelling  und  andere  deutsche  Romantiker, 
etwa  Friedrich  Sclilegel  oder  Novalis  nennen. 

Zumal  Schelling  hat  in  der  für  uns  wichtigen  Hinsicht  Ein- 
fluß weit  über  Deutschland  hinaus  gehabt,  so  z.  B.  auf  den  Dänen 

Kickert,  Philosophie  d.  Lebens.  2 


-    18     - 

Kierkegaard,  für  den  man  sich  neuerdings  bei  uns  vielfach  interes- 
siert, und  ebenso  in  Frankreich  durch  die  Vermittlung  von  Ravais- 
son  auf  Bergson  gewirkt. 

Ferner  mag  mancher  Lebensphilosoph  unserer  Tage  an  Goethe 
orientiert  sein.  So  weist  z.  B.  Oswald  Spengler,  der  zu  den  Lebens- 
philosophen zu  zählen  ist,  obwohl  er  sich  nicht  so  nennt,  aus- 
drücklich auf  ihn  hin.  Doch  geschieht  das  bisher  nur  vereinzelt. 
Im  allgemeinen  ist  Goethes  Philosophie,  wenn  man  überhaupt 
von  einer  solchen  reden  will,  ziemlich  unbekannt  oder  wenigstens 
unverstanden. 

Die  Erinnerung  an  Goethe  zeigt  zugleich,  daß  selbstverständ- 
lich in  diesem  Zusammenhang  nicht  nur  die  wissenschaftlichen 
Philosophen  wichtig  werden.  Im  übrigen  sehen  wir  jedoch  von 
den  genannten  älteren  Denkern  ab. 

Von  direkter  Bedeutung  dagegen  auch  für  die  neueste  Lebens- 
philosophie ist  immer  noch  Schopenhauer,  der  populärste  und 
gelesenste  aus  der  älteren  deutschen  Philosophen- Generation, 
der  sich  an  Schelling  und  zum  Teil  an  Goethe  anschloß.  Zwar 
hat  er  das  „Leben"  als  Schlagwort  ebensowenig  wie  seine  Vor- 
gänger. Er  nennt  das,  was  heute  Leben  heißt,  mit  Schelling 
„Wille".  Doch  spricht  schon  er  vom  „Willen  zum  Leben"  als 
dem  Kern  der  Welt,  und  es  ist  kein  Zweifel, daß  die  Modephiloso- 
phie eng  mit  Schopenhauers  Willensmetaphysik  verknüpft  ist. 
Diese  fragt  nicht  nach  den  besonderen  Formen  und  Gestaltungen 
des  Lebens,  sondern  nach  dem  ungestalteten,  durch  nichts  außer- 
halb des  Lebens  geformten  Lebenswillen  selbst.  Sie  lehrt,  daß 
der  Wille  vergeblich  nach  etwas  anderem,  jenseits  des  Lebens 
Liegendem  strebt,  weil  es  eben  kein  Jenseits  gibt,  und  daß  wir 
daher  als  lebendige  oder  wollende  Menschen  zu  dauerndem  Unbe- 
friedigtsein verurteilt  sind. 

Auch  sonst  fördert  die  Lektüre  Schopenhauers  die  Tendenz 
auf  das  Elementare,  triebhaft  Unmittelbare  im  Gegensatz  zum 
Abgeleiteten,  Verstandesmäßigen  und  Reflektierten.  Erst  später 
sind  zu  diesen  Gedanken  noch  andere,  der  Naturwissenschaft,  be- 
sonders der  Biologie  entstannnende  Ideen  hinzugetreten  und 
haben  die  Lebenslelire  gefärbt  und  bestimmt.  Doch  gehen  wir 
zunächst  auf  diese  geschichtlichen  Zusammenhänge  nicht  weiter 
ein,  sondern  beschränken  uns  auf  eine  kurze  Charakterisierung 


-    19     - 

der  Denker,  die  für  die  Lebensphilosophie  der  neuesten  Zeit  be- 
zeichnend sind. 

Da  ist  vor  allem  Friedrich  Nietzsche  zu  nennen. 
Er  steht  in  direkter  AJDhängigkeit  von  Schopenhauer,  wie  er  in 
seiner  Jugend  ^\-ußte,  und  ist,  was  er  nicht  immer  wußte,  als 
Philosoph  in  hohem  Maße  an  Schopenhauer  orientiert  geblieben. 
Nur  versah  er  später  die  meisten  Begriffe  seines  Lehrers  mit 
umgekehrtem  Vorzeichen,  besonders  indem  er  das  Unbefriedigt- 
sein des  Lebenswillens  durch  einen  bewußten  Verzicht  auf  jedes 
Jenseits  des  Lebens  aufhob  und  sich  freudig  dem  Leben  selbst 
in  die  Arme  warf. 

Dabei  wirkte  wesentlich  der  Einfluß  Richard  Wagners  und 
seiner  Regenerationslehre  mit,  die  ebenfalls  eine  Umbildung 
von  Schopenhauers  Metaphysik  im  Sinne  eines  freilich  noch  recht 
gemäßigten  „Optimismus"   bedeutet. 

Diese  Zusammenhänge  sind  wenig  beachtet,  was  um  so  auf- 
fallender ist,  als  der  junge  Nietzsche  bekanntlich  in  den  Dienst 
des  Wagnerschen  Musikdramas  trat  und  dabei  Dion^-sos  gegen 
Apollo,  d.  h.  den  elementaren  Lebensdrang  gegen  die  Klarheit, 
oder  den  „Willen"  gegen  die  „Vorstellung"  ausspielte.  Auch 
als  Gelehrter  und  Philologe  ergriff  er  damals  schon  die  Partei  des 
„Lebens"  gegenüber  der  Erkenntnis  und  der  Wissenschaft,  die 
unlebendig  machen.  Später  beeinflußte  ihn  die  moderne  Biologie 
und  bestärkte  mit  ihrem  zukunftsfreudigen  Entwicklungsbegriff 
seine  Lebensbejahung.  So  ist  er  zugleich  das  Bindeglied  zwischen 
der  älteren  und  der  neuesten  Lebensströmung. 

Vor  allem  aber  wird  Nietzsche  deshalb  in  diesem  Zusam- 
menhang wichtig,  weil  er  mit  ungewöhnlicher  Sprachgewalt  mehr 
als  irgend  ein  anderer  dem  Wort  Leben  erst  den  Glanz  verliehen 
hat,  der  heute  für  viele  an  ihm  haftet.  Weiter  als  bis  zu  Nietzsche 
braucht  man  daher  zeitlich  nicht  zurückzugehen,  wenn  man  zeigen 
will,  wie  „das  Leben"  ein  allgemein  verbreitetes  philosophisches 
SchlagA^'ort  geworden  ist,  und  \sie  die  bekanntesten  und  einfluß- 
reichsten Philosophen  unserer  Zeit  am  besten  als  „Philosophen 
des  Lebens"  zu  verstehen  sind.  Man  muß  sich  nur  gegenwärtig 
halten,  daß  hinter  ihnen  sachhch  Goethe,  deutsche  Romantiker, 
Schopenhauer  und  in  mancher  Hinsicht  auch  Richard  Wagner 
stehen.    Das  gibt  genug  historische  Perspektive. 


-     20     - 

Die  Lebensstimmung  der  Zeit  ist  am  meisten  durch  Nietzsches 
Dichtung  ,,Also  sprach  Zarathustra"  angeregt.  In  ihr  wird  „das 
Leben"  behandelt  wie  ein  menschhches  Lebewesen,  genauer  wie 
eine  geliebte  Frau.  JNIan  kann  nicht  inniger,  vertrauter,  zärt- 
licher mit  dem  Leben  sprechen,  als  es  in  den  Tanzliedern  geschieht, 
obW'Olil  auch  die  Peitsche  dazwischen  klatscht.  Hier  bekommt 
das  Wort  Leben  wirklich  einen  neuen  und  eigentümlichen  Zauber. 
Das  Leben  tritt  uns  erst  persönlich  nahe,  um  dann  als  Grund 
von  allem  ins  Zentrum  der  Welt  und  der  Weltanschauung  gerückt 
zu  werden.  In  Versen,  deren  Worte  sich  zum  Teil  freilich  mehr 
assoziativ  durch  Klänge  als  logisch  miteinander  verketten,  und 
in  denen  man,  je  nach  Geschmack,  Gedankenflucht  oder  Musik 
im  Stil  Richard  Wagners  finden  kann,  die  zum  Teil  aber  auch  von 
hinreißendem  Schwamg  sind,  gewinnt  das  Leben  den  lockenden 
verführerischen  Goldklang  und  die  neue  blinkende  Farbe. 

Wer  das  Herz  der  Zeit  (nicht  das  Herz  der  Welt)  klopfen 
hören  \d\\,  wird  gut  tun,  hier  aufzupassen.  Ein  Liebesverhältnis 
geht  der  Dichter  mit  dem  Leben  ein,  obwohl  er  weiß,  daß  er  es 
mit  einer  reichlich  problematischen  Schönen  zu  tun  hat.  Als 
das  Leben  an  ihm  zweifelt,  sagt  er  ihm  oder  ihr  etwas  ins  Ohr, 
so  leise,  daß  niemand  anders  es  hören  kann,  aber  doch  so,  daß  es 
sich  erraten  läßt.  Es  ist  das  Bekenntnis  der  absoluten  Lebenstreue 
und  zugleich  das  große  Weltgeheimnis,  von  dem  Nietzsche  lange 
kaum  zu  reden  wagte:  die  Lehre  von  der  ewigen  Wiederkehr 
alles  Lebens  als  Ausdruck  höchster  Lebensbejahung. 

So  erwächst  aus  der  Lebensauffassung  die  Weltanschauung, 
aus  der  Wertung  die  Setzung  des  Seins,  aus  der  „Axiologie"  die 
„Metaplwsik".  Sie  dringt  in  die  Herzen,  auch  wenn  sie  die  Köpfe 
nicht  zu  bezwingen  vermag.  „Damals  aber  war  mir  das  Leben 
lieber  als  je  alle  meine  Weisheit." 

Zarathustra  gibt  also  nicht  so  sehr  neue  Lebensgedanken 
als  neue  Klänge  und  neue  Gefühle  für  das  Leben,  aber  gerade 
sie  haben  auf  die  philosophische  Stimmung  der  Zeit  großen  Ein- 
fluß geübt.  Ehe  Nietzsches  Wirkung  begann,  hatte  in  Deutsch- 
land das  Wort  Leben  wohl  für  niemand  den  Zauber,  der  heute 
für  viele  an  ihm  haftet,  und  der  auch  dort  herrscht,  wo  man 
nicht  weiß,  daß  Nietzsche  die  Quelle  für  diese  „Lebensweis- 
heit" bildet.     Schon  aus   diesem   Grunde  ist  Nietzsche  bei   der 


-     21      - 

allgemeinen  Darstellung    der  zeitgemäßen  Weltanschauung  vor- 
anzustellen. 

Will  man  auch  von  einer  Philosophie  Nietzsches  sprechen, 
die  sich  mit  wissenschaftlichen  Theorien  in  eine  Reihe  bringen 
läßt,  was  er  selbst  wohl  abgelehnt  hätte,  so  ist  in  ihr  der  Lebens- 
begriff als  Grundprinzip  gerade  der  Gedanken  zu  verstehen, 
die  weite  Verbreitung  gefunden  haben.  Dabei  muß  man  besonders 
das  Verhältnis  zur  modernen  Biologie  ins  Auge  fassen,  das  bei 
der  Kritik  der  Lebensphilosophie  von  entscheidender  Bedeutung 
sein  wird.  Anfangs  blieb  Nietzsche  von  dem  Fortschrittsjubel 
der  Darwinisten  nicht  unberührt.  Später  lehnte  er  mit  dem  Bio- 
logen Rolph  den  Darwinschen  „Kampf  ums  Dasein"  ab,  denn  der 
bringe  nur  Hungervarietäten  hervor.  Der  echte  Wille  zum  Leben 
ist  ihm  Wille  zur  :\Iacht,  und  in  seiner  Steigerung  zu  immer  größerer 
Kraft  und  Stärke  findet  er  endlich  den  Sinn  unserer  ganzen 
Kultur,  ja  unseres  Lebens  überhaupt.  Werte,  die  es  nicht  ver- 
tragen, an  dem  Wert  des  aufsteigenden  Lebens  gemessen  zu 
werden,  verwirft  er  auf  allen  Gebieten. 

Man  denke  an  den  Kampf  gegen  die  Sklavenmoral,  bei  dem 
Nietzsche  im  wesentlichen  an  Schopenhauers  ]\Iitleidsethik  nega- 
tiv orientiert  ist.  Sie  stützt,  was  aus  eigener  Kraft  nicht  leben 
kann,  und  ist  deshalb  unmoralisch.  Ebenso  wird  das  Christentum 
verdammt,  weil  es  sich  des  schwachen  Lebens  anninmit,  das  zu- 
grunde gehen  sollte.  Sogar  die  Wahrheit  hat  keinen  Wert,  wenn 
sie  nicht  dem  aufsteigenden  Leben  dient.  Die  Wissenschaft  darf 
überhaupt  nicht  nach  wahr  und  falsch,  sondern  danach  allein 
beurteilt  werden,  ob  sie  die  Vitalität  fördert  oder  hemmt.  Auch 
der  Uebermensch  ist  am  besten  zu  verstehen  als  der  lebendigste 
Mensch,  der  dem  lebendigsten  Leben  dient  und  alle  anderen 
Ideale  verhöhnt  und  verachtet.  In  ihm  hat  „der  Sinn  der  Erde" 
endlich  Gestalt  gewonnen.  Bei  keiner  Lebensform  darf  man  stehen 
bleiben.  Immer  muß  man  über  sie  hinaus  nach  einer  noch  lebendi- 
geren streben.  „Und  dies  Geheimnis  redete  das  Leben  selber  zu 
mir:  Siehe,  sprach  es,  ich  bin  das,  was  sich  immer  selber 
überwinden  muß."  Das  ist  der  Lebenssinn  auch  des 
Uebermensch  en,  dieses  sonst  schwer  faßbaren  Begriffs.  Schließ- 
lich steht  der  am  höchsten,  der  es  vermag,  das  Leben  in  seiner 
Totalität  mit  all  seinen  Schrecknissen  und  Fürchterlichkeiten  zu 


99 


ewiger  Wiederkehr  zu  bejahen,  denn  eine  solche  Haltung  zum 
Leben  ist   das   Zeichen  der  größten   Lebendigkeit,    Stärke   und 

Kraft. 

Kurz,  überall  läßt  sich  Nietzsches  Umwertung  aller  Werte 
gerade  mit  Rücksicht  auf  die  Bestandteile,  die  allgemeine  Ver- 
breitung gefunden  haben,  auf  das  Lebensprinzip  zurückführen. 
Daß  es  daneben  andere  Gedanken  gibt,  die  unter  andern  Ge- 
sichtspunkten vielleicht  wichtiger  sind,  ist  in  diesem  Zusammen- 
hang unwesentlich.  Nur  der  Lebensphilosoph  ist  Mode  geworden 
und  kommt  in  Betracht,  wo  es  gilt,  die  Philosophie  der  Zeit  ihrer 
allgemeinsten  Tendenz  nach  zu  charakterisieren. 

Doch  Nietzsche  ist  nur  ein  Lebensphilosoph  unter  anderen, 
und  falls  wir  uns  nicht  auf  Deutschland  beschränken,  nicht  ein- 
mal mehr  der  einflußreichste.  Am  meisten  unter  allen  lebenden 
Denkern  wird  in  der  europäischen  Krdturwelt  heute  wohl  Henri 
B  e  r  g  s  o  n  genannt.  Er  ist,  wie  schon  angedeutet,  von  Schelling, 
wenn  auch  mehr  indirekt,  und  ebenso  von  Schopenhauer  beein- 
flußt, hat  also  dieselbe  deutsche  und  romantische  Provenienz 
wie  Nietzsche,  was  angesichts  seiner  üeberschätzung  zu  betonen 
ist,  aber  auch  nicht  zu  seiner  Unterschätzung  führen  sollte.  Ihn 
als  „Plagiator"  zu  bezeichnen,  ist  absurd  i).  Trotz  der  r  e  1  a- 
tiven  Unselbständigkeit  seiner  Grundgedanken  muß  er  als 
der  eigentliche  P  h  i  1  o  s  o  p  h  des  Lebens  in  unserer  Zeit  angesehen 
werden,  falls  wir  unter  Philosophie  eine  Lehre  und  nicht  nur 
eine  Stimmung  oder  Ueberzeugung  verstehen.  Er  hat,  obwohl 
seine  Bücher  nicht  bequem  zu  lesen  sind,  großen  Erfolg  auch  in  der 
wissenschaftlichen  Philosophie  gehabt  und  bewirkt,  daß  viele  es 
schon  für  selbstverständlich  halten,  wenn  der  Lebensbegriff  in 
den  Mittelpunkt  des  Denkens  über  die  Welt  gestellt  wird. 

Es  kommt  nur  darauf  an,  daß  wir  kurz  an  Bergsons  bekannt 
gewordene   Schlagwörter    erinnern    und  sie    im  Zusammenhang 

1)  IclT  erwähne  das,  weil  ein  Denker  vom  Range  Wilhelm 
W^u  n  d  t  s  eine  an  Aeußerlichkeiten  haftende  Broschüre  „Plagiator 
Bergsoii"  im  Literarischen  Zentralblatt  (13.  Nov.  1915)  nicht 
völlig  abgelehnt  hat.  Wir  sollten  es  den  Franzosen  nicht  nach- 
machen, von  Männern  verächtlich  zu  reden,  die  weiten  Kreisen 
Anregung  und  Belehrung  gegeben  haben.  Bergson  gehört  zu 
ihnen.  Gewiß  ist  nicht  alles  bei  ihm  originell.  Manches  kommt 
von  Schopenhauer.  Aber  auch  Schopenhauer  hat  viel  von  Schel- 
lins:  und  andern  und  ist  darum  gewiß  kein  Plagiator. 


-    23     -   . 

mit  dem  allgememen  Lebensprinzip  verstehen.  Eine  „objektive" 
Darstellung  seiner  Gedanken  ist  nicht  beabsichtigt  i).  Philoso- 
phieren bedeutet  für  Bergson  so  viel  wie  unmittelbares,  intuitives 
Erfassen  der  Welt.  Sein  Kosmos  ist  dem  Sein  nach  das  vom 
lebendigen  Menschen  erlebte  Leben,  und  seine  Weltanschauung 
als  Deutung  vom  Sinn  des  menschlichen  Daseins  hat  ihren  Schwer- 
punkt im  elan  vital.  So  finden  wir  auch  hier  die  Einheit  von 
Seinslehre  und  Wertlehre.  Beide  werden  nirgends  voneinander 
getrennt,  und  schon  insofern  ist  unsere  Darstellung  zugleich 
eine  Interpretation. 

Die  Sympathie  für  das  Organische  und  die  Abneigung  gegen 
das  Mechanische  nimmt  zunächst  eine  radikale  Wendung  ins 
Metaphysische.  Die  Welt  der  Naturwissenschaft,  besonders  der 
Physik,  Chemie  und  Astronomie  mit  ihrem  Kreislauf  und  ihren 
Gesetzen,  die  man  früher  für  die  eigentliche  Welt  hielt,  ist  über- 
haupt keine  „Welt",  sondern  das  einseitige  Produkt  des  rechnen- 
den Verstandes,  der  alles  festlegt  und  starr  macht.  Mit  ihm,  der 
nur  Wiederholungen  kennt,  reichen  wir  an  das  Weltwesen,  das 
rastlos  strömend  Neues  emportreibt,  nicht  heran.  Die  Begriffe 
unserer  Erklärungen  töten  alles  Leben,  sobald  es  gezwungen 
wird,  in  sie  einzugehen.  Sie  machea  die  Dinge,  die  stets  verschie- 
den sind,  uniform.  Sie  verfertigen  nur  Konfektionskleider,  arbei- 
ten nicht  nach  Maß  für  die  wirkliche  Wirklichkeit,  in  der  alles 
ursprünglich  und  neu  sich  darstellt.  Die  gewöhnliche  Wissen- 
schaft lehrt  Messen  und  Berechnen  und  bleibt  damit  beim  Aeußer- 
lichsten  und  Oberflächlichsten,  bei  der  Entspannung  oder  Ermat- 
tung,und  Auflösung  der  Lebensschwungkraft  stehen.  Berechnen 
und  messen  läßt  sich  nur  das  Feste,  Starre,  Tote.  Das  wahre 
Sein,  das  kontinuierlicher  Fluß,  beständiges  Wallen  und  Wogen 
ist,  erschließt  sich  allein  der  Intuition,  und  zwar  nicht  der  passiven, 
sondern  der  tätigen  Anschauung.  Das  Leben,  nicht  der  Verstand 
ergreift  das  Leben  in  seiner  Lebendigkeit  als  Zeitwirkliclilceit 
oder  duree  reelle. 


1)  Eine  kurze  Zusammenfassung  der  Grundgedanken  gibt 
Richard  Kroner,  Henri  Bergson,  1910  (Logos  I,  S.  1^25  ff.). 
Auch  für  die  Kritik  ist  auf  diese  Abhandlung  zu  verweisen.  Sie 
gehört  noch  immer  zu  dem  besten ,  was  in  deutscher  Sprache 
über  Bergson  geschrieben  ist.  Die  Richtigkeit  der  Wiedergabe 
seiner  Gedanken  hat  Bergson  selbst  anerkannt. 


.    -     24     - 

Schon  damit  ist  implizite  der  üebergang  zur  Wertlehre  voll- 
zogen. Die  duree  bedeutet  nicht  zeitlose  Ewigkeit,  denn  auch 
die  wäre  tot.  Lebendigkeit  des  ewigen  Lebens  haben  wir  vielmehr 
an  ihr,  ein  Begriff,  der  nur  deswegen  paradox  erscheint,  weil  wir 
gewohnt  sind,  allein  mit  dem  toten  und  tötenden  Verstand  zu 
denken.  Das  müssen  wir  uns  abgewöhnen.  Dann  erkennen  wir: 
das  Universum  ist,  wie  wir  selbst,  schöpferische  Tat,  aufquellendes, 
emporflutendes  Werden  und  Geschehen  und  insofern  zugleich  gött- 
lich. Der  ^Mechanismus,  der  weil  er  nur  unwesentliche  Ortsver- 
änderung unveränderlicher  Elemente  kennt,  alle  Zeitwdrklichkeit 
in  räumliches  Auseinander,  alles  Intensive  in  Extensives  ver- 
fälscht, \sdrd  damit  zum  bösen  Prinzip.  Die  echte  Realität  schafft 
immer  neue  Formen  und  Gestalten  in  unerschöpflichem  Wachsen 
und  Blühen.  Die  evolution  creatrice  ist  das  Letzte  und  Höchste. 
Die  Substanz  der  Welt  „ist"  nicht  im  Sinne  des  starren  Seins, 
sondern  wird.  Sie  besteht  nicht  als  Substanz,  steht  nicht  still, 
ruht  nicht,  sondern  lebt  und  wirkt.  Nicht  im  Sein,  sondern  nur 
im  Werden  kann  ein  Lebendiges  sich  entfalten.  Was  sinkt,  matt 
wird,  beharrt,  dahin  fällt,  fest  wird,  ruht,  stirbt,  ist  ungöttlich. 

]\Iit  dieser  Wert-^NIetaphysik  des  Lebens  ist  dann  endlich 
eine  Ethik,  wenn  man  davon  bei  Bergson  reden  will,  aufs  engste 
verknüpft.  Sie  stellt  sich  selbstverständlich  als  Lebensethik  dar. 
Wenn  wir  fragen,  was  wir  tun  sollen,  um  unser  Leben  sinnvoll  zu 
gestalten,  kann  die  Antwort  nur  lauten :  wir  haben  in  der  Intuition 
zu  leben.  Vom  Verstand,  durch  den  wir  zu  Sklaven  unserer  Be- 
dürfnisse werden,  und  der,  \\\e  er  alles  erstarren  läßt,  auch  uns 
selber  fesselt,  müssen  wir  uns  befreien.  Nur  durch  intuitive  Hin- 
gabe an  das  Leben  erobern  wir  uns  sittliche  Freiheit.  Das  Leben 
selbst  bildet  also  nicht  nur  das  wahre  Sein,  sondern  auch  das 
wahre  Lebensziel.  Zugleich  ist  es  nicht  ein  und  dieselbe  Aufgabe 
für  alle,  sondern  im  freien  Leben  hat  jeder  sich  sein  besonderes 
Lebensziel  frei  zu  wählen. 

Das  ist  die  „Lebensanschauung",  die  sich  aus  Bergsons  Welt- 
anschauung ergibt,  die  „praktische"  Philosophie,  die  aufs  engste 
mit  der  „theoretischen"  zusammenhängt.  So  verstehen  wir  seine 
Grundgedanken  durchweg  als  die  einer  Lebensmetaphj^sik  aus  der 
Fülle  des  Lebens  heraus  für  den  lebendigen  Menschen. 

Auch    quantitativ    hat    Bergson    in    der   wissenschaftlichen 


—    j:3     — 

Philosophie  mehr  gewirkt  als  Nietzsche.  Zarathustra  wird  haupt- 
sächlich von  Deutschen  gelesen  und  ist  wohl  unübersetzbar. 
Bergsons  Einfluß  verbreitet  nicht  nur  über  Europa  deutsche 
Gedanken  in  glänzendem  französischem  Gewand,  sondern  seine 
Wirkungen  sind  auch  in  Amerika  zu  spüren.  Dort  hat  sich  be- 
sonders William  James,  den  viele  als  den  größten  Denker 
der  Vereinigten  Staaten  preisen,  begeistert  an  ihn  angeschlossen. 
Am  bekanntesten  ist  James  durch  den  von  ihm  sogenannten 
Pragmatismus  geworden,  der  zur  Philosophie  des  Lebens  als  dessen 
Erkenntnistheorie  gehört,  insofern  er  die  Wahrheit  eines  Ge- 
dankens nicht  an  seiner  theoretischen  Bedeutung,  sondern  an 
seinem  Nutzen  für  das  Leben,  an  seiner  Brauchbarkeit  für  die 
Lebenssteigerung  messen  will,  ein  alter  Einfall,  der  in  neuerer 
Zeit  schon  von  Nietzsche,  ja  noch  früher  von  Mach  und  Avenarius 
vertreten  worden  ist. 

Im  übrigen  kann  ein  kurzer  Hinweis  auf  James  genügen, 
denn  wesentlich  originelle  Züge  zeigt  seine  pluralistische  Meta- 
physik nicht.  Der  interessanteste  Punkt  darin  ist  der,  daß  ein 
Uni  versum  der  Lebendigkeit  nicht  genügt,  sondern  die  Welt 
als  M  u  1 1  i  versum  gedacht  werden  muß.  Doch  liegt  der  größte 
Wert  dieser  Ansicht  vielleicht  im  Terminus.  Die  Ausführung 
läßt  zu  wünschen  übrig. 

Selbstverständlich  haben  wir  es  hier  nur  mit  dem  Lebens- 
philosophen und  nicht  mit  dem  Psychologen  zu  tun,  der  den 
Lebensphilosophen  an  wissenschaftlicher  Bedeutung  überragen 
dürfte.  Wichtig  wird  James  für  unseren  Zusammenhang  dadurch, 
daß  er,  der  nach  AJDstammung  und  Kultur  von  Nietzsche  und 
Bergson  sehr  verschieden  ist,  trotzdem  in  manchen  Grundgedan- 
ken überraschende  Uebereinstimmung  mit  ihnen  zeigt. 

Einflußreichere  Philosophen  als  diese  drei  nach  Nationalität 
und  Bildungsart  so  von  einander  abweichenden  Denker  gibt 
es  heute  nicht,  und  sie  alle  sind  als  Philosophen  des  Lebens  zu 
bezeichnen.  Damit  haben  wir  die  Modephilosophie  unserer  Zeit 
auch  in  ihren  berülimtesten  einzelnen  Vertretern  charakterisiert. 

Neben  ihnen  denken  noch  viele  andere  in  verwandter  Rich- 
tung, darunter  auch  solche,  die  man  weder  zu  den  reinen  Lebens- 
philosophen noch  zur  eigentlichen  ]\Iode  rechnen  kann.  Doch 
seien  auch  von  ihnen  hier  einige  ausdrücklich  envähnt,  die  geeig- 


-     26     - 

net  sind,  die  weite  Verbreitung  und  die  Stärke  der  zeitgemäßen 
Lebenstendenzen  noch  mehr  hervortreten  zu  lassen ,  gerade 
weil  sie  in  mancher  Beziehung  von  der  Modephilosophie  ab- 
weichen. 

So  gehört  Georg  Simmel  in  diesen  Zusammenhang. 
Für  die  Geistesbewegungen,  die  ihn  umgaben,  besaß  er  ein  unge- 
wöhnlich feines  Verständnis.  Wir  konnten  uns  auf  ihn  schon  bei 
der  allgemeinen  Darstellung  der  Lebensphilosophie  berufen, 
insofern  auch  er  versucht  hat,  die  Grundrichtung  unserer  Zeit 
mit  dem  Lebensbegriff  in  Zusammenhang  zu  bringen.  Zugleich 
ist  er,  wenigstens  mit  einem  Teil  seiner  Arbeit,  selbst  zu  den 
Lebensphilosophen  zu  zählen.  Er  redet  viel  vom  Leben  und 
fast  stets  mit  Emphase  als  dem  Gegenstand  seiner  Liebe.  Er 
hat  nicht  nur  deutlich  erkannt,  daß  um  die  Wende  des  zwanzigsten 
Jahrhunderts  weitere  Schichten  des  geistigen  Europa  ihre  Hand 
nach  einem  neuen  Grundmotiv  für  den  Aufbau  einer  Weltan- 
schauung ausstrecken,  und  daß  dabei  der  Begriff  des  Lebens 
zur  zentralen  Stelle  aufstrebt,  während  andere  Zeitalter  Begriffe 
wie  den  des  Seins,  der  Gottheit,  der  Natur  oder  der  Persönlichkeit 
in  den  Mittelpunkt  rückten,  sondern  er  hat  auch,  zumal  in  seinem 
letzten  Werk,  das  Leben  ausdrücklich  zum  Zentrum  seines  eigenen 
Denkens  gemacht,  in  einer  Weise  freilich,  die  genau  genommen 
schon  eine  Ueberwindung  der  reinen  Lebensphilosophie  bedeutet. 
Denn  einmal  versteht  Simmel  unter  dem  Wort  Leben  zwei  grund- 
verschiedene Begriffe,  wodurch  die  für  die  andere  Lebensphilo- 
sophie so  wichtige  Lebenseinheit  aufgehoben  wird  und  die  Lebens- 
immanenz nicht  einmal  dem  Namen  nach  gewahrt  bleibt,  und 
vollends  bedeutet  das,  was  Simmel  die  „Wendung  zur  Idee"  nennt, 
ein  Hinausgehen  über  alles  Leben. 

Auch  abgesehen  davon  darf  man  diesen  reichen  Geist,  der 
mit  Bewußtsein  Antisystematiker  war,  nicht  auf  ein  Schlagwort 
festlegen  wollen.  Trotzdem  bleibt  er  ein  Lebensphilosoph  im 
weiteren  Sinne  und  zeigt  sich  dabei  sowohl  von  Nietzsche  als 
auch  von  Bergson,  also  den  eigentlichen  Lebensphilosophen 
beeinflußt,  ohne  irgendwie  seine  Selbständigkeit  zu  verlieren. 
Insofern  ist  er  für  die  Philosophie  unserer  Zeit  charakteristisch. 

Zugleich  bildet  er  sachlich  eine  Ueberleitung  zu  Gedanken, 
die   noch   weniger   zur   Lebensphilosophie   im   engeren    Sinn   zu 


-    27     - 

rechnen  sind,  aber  doch  auch  Verwandtschaft  mit  ihr  zeigen 
und  daher  hier  ebenfalls  erwähnt  werden  müssen. 

Aus  der  älteren  Generation  ist  vor  allem  Wilhelm  D  i  1- 
t  h  e  y  zu  nennen,  der  völlig  unabhängig  von  Nietzsche  und  Berg- 
son  war,  dagegen  in  engster  Fühlung  mit  der  deutschen  Romantik 
stand,  der  eigentlichen  Quelle  der  modernen  Lebensphilosophie. 
Der  Zeit  nach  gehört  er  zu  den  ersten  Philosophen  des  Lebens. 
Wir  erwähnen  ihn  trotzdem  erst  jetzt,  weil  er  nicht  eigentlich 
als  Systematiker  und  noch  weniger  als  Modephilosoph  gelten 
kann.    Er  ist  hauptsächlich  Geisteshistoriker. 

Wo  er  aber  philosophiert,  erklärt  auch  er:  „Die  letzte  Wurzel 
der  Weltanschauung  ist  das  Leben."  Dementsprechend  hat  er 
sein  Denken  auf  „Erlebnisse"  zu  stützen  gesucht  schon  in  Zeiten, 
als  das  Wort  noch  nicht  so  abgegriffen  war  wie  jetzt.  Besonders 
kommt  es  ihm  auf  das  nacherlebende  Verstehen  an.  Damit 
erstrebt  er  eine  lebendigere  Erkenntnis  des  geistigen  Seins,  als 
die  naturwissenschaftliche  Denkart  mit  Einschluß  der  gesamten 
modernen  Psychologie  sie  zustande  bringt.  Nicht  der  vorgestellte, 
objektivierte,  vom  Leben  abgerückte  Kausalzusammenhang, 
sondern  der  innerlich  erlebte  Motivationszusammenhang  ist 
wichtig.  Von  der  geistigen  Welt  braucht  man  nichts  zu  wissen, 
selbst  wenn  m.an  alles  Seelenleben  naturwissenschaftlich  exakt 
erklärt  hat.  Auch  Probleme  wie  das  der  Realität  der  Außenwelt 
sucht  Dilthey  so  zu  lösen,  daß  er  sich  dabei  nicht  auf  Verstandes- 
schlüsse stützt,  sondern  das  Wesentliche  in  dem  Veriiältnis  des 
Willens  zu  dem  Widerstand  sieht,  auf  den  dieser  trifft. 

Vollends  spielen  die  Lebens-Ueberzeugungen  in  seine  histori- 
schen Arbeiten  hinein  und  bestimmen  nicht  allein  ihre  Methode, 
sondern  auch  ihren  Stoff.  Seine  Jugendgeschichte  Hegels  ist  dafür 
bezeichnend.  Den  jungen  Hegel  kann  man  zu  den  Lebensphilo- 
sophen rechnen,  und  er  wird  es  vollends  in  Diltheys  Darstellung. 
Andererseits  interessierte  sich  Dilthey  dafür,  wie  die  von  ihm 
bekämpfte  Meinung  entstanden  ist,  d.  h.  w^e  es  in  einer  jahr- 
hundertelangen Arbeit  seit  Galilei  zur  Verfälschung  der  Welt 
des  lebendigen  Geistes  durch  Anwendung  von  Verstandeskatego- 
rien der  Naturwissenschaft  kam,  wie  die  mechanische  Denkart 
mit  ihren  Qualitäten  und  Formen  allen  lebendigen  Zusammen- 
hang tötete,  und  wie  überall  die  Lebenseinheit    unter  dem  Ein- 


-     28     - 

fluß  der  ^Molekularphysik  zugunsten  einer  Zerteilung  und  Atomi- 
sierung  weichen  mußte,  auch  in  Staat  und  Gesellschaft,  ja  sogar 
in  der  Religion. 

So  wendet  sich  dieser  Lebensphilosoph  als  einer  der  ersten 
in  mehrfacher  Hinsicht  gegen  jeden  Rationalismus,  d.  h.  gegen 
die  Meinung,  es  stecke  im  Verstandesmäßigen  und  Erklärbaren 
das  Wesen  der  Dinge.  Das  gibt  eine  tote  Weltanschauung,  die 
alles  zerstückelt  und  kein  Ganzes  kennt,  das  leben  kann.  Es 
gilt,  im  Gegensatz  zu  ihr  die  verstehende  Intuition,  die  Anschau- 
ung der  Lebenstotalität  und  des  Lebenszusammenhangs  als 
echtes  Organ  einer  umfassenden  Geschichts-  und  Weltauffassung 
zur   Geltung  zu  bringen. 

Kurz,  auch  hier  haben  wir  Lebendigkeit,  Unmittelbarkeit, 
Ursprünglichkeit  und  anschauliche  Irrationalität  im  Unterschied 
vom  toten  und  abgeleiteten  begrifflichen  Wissen,  und  das  stellt 
bei  Dilthey  die  sachliche  Verbindung  her  mit  Nietzsche  und 
Bergson,  mit  James  und  Simmel,  von  denen  er  in  anderer  Hin- 
sicht sich  weit  entfernt. 

Vielleicht  stößt  es  zunächst  auf  Widerspruch,  wenn  ferner 
in  diesem  Zusammenhang  auch  die  streng  wissenschaftlich  ge- 
richtete Schule  der  Phänomenologen  genannt  wird,  an 
deren  Spitze  H  u  s  s  e  r  1  steht.  Eine  Philosophie  des  Lebens 
hat  Husserl  selber  in  der  Tat  nicht.  Trotzdem  zeigt  sein  Denken 
mit  ihr  Verwandtschaft,  ja  verdankt  vielleicht  gerade  diesem 
Umstand  einen  großen  Teil  seiner  Erfolge.  Für  weitere  Kreise 
zugänglich  sind  Husserls  Ideen  sonst  gerade  nicht.  Jedenfalls 
hat  sich  iiri  Anschluß  an  sie  auch  eine  Lebensphilosophie  ent- 
wickelt, und  schon  deswegen  sind  sie  hier  zu  nennen. 

Dabei  kommt  es  selbstverständlich  nicht  auf  die  Heraus- 
arbeitung des  Logischen  gegenüber  dem  Psychologischen  an. 
denn  diese  kann  nur  zu  einer  Ablehnung  jeder  Philosophie  des 
bloßen  Lebens  führen,  sondern  auf  die  Lehre  von  der  „Wesens- 
schau", die  Husserl  zur  Grundwissenschaft  aller  Philosophie 
machen  will,  und  die  ihm  Anliänger  verschafft  hat.  Auch  sie 
suchen  wir  mit  bewußter  Einseitigkeit  und  insofern  ungerecht 
als  zeitgemäß  im  Zusammenhang  mit  den  modernen  Erlebnis- 
tendenzen zu  verstehen,  wenn  wir  daran  denken,  daß  Phäno- 
menologie  die   Lehre   einer   neu   entdeckten   Art   anschaulicher 


-    29     - 

und  unmittelbarer  ,, Erscheinungen"  bedeutet.  Es  ist  bei  ihr 
mehr  an  Goethes  Urphänomen  als  an  Hegels  Phänomenologie 
zu  denken. 

Das  ungetrübte  Erfassen  der  originär  gegebenen  Phänomene 
ist  der  Sinn  der  phänomenologischen  Einstellung.  In  Einheit 
und  Eigenart  sollen  wir  „das  vor  Augen  Stehende  sehen"  lernen, 
nicht  umwallt  und  umliüUt  von  dem  Nebel,  den  die  wissenschaft- 
lichen Theorien,  besonders  der  üblichen  Psychologie,  davor  aus- 
gebreitet haben.  „Das  unmittelbare  „Sehen",  nicht  bloß  das 
sinnliche,  erfahrende,  sondern  das  Sehen  überhaupt  als  originär 
gebendes  Bewußtsein  welcher  Art  immer,  ist  die  letzte  Rechts- 
quelle aller  vernünftigen  Behauptungen"  i).  Dies  Nächste  dürfen 
wir  nicht  vergessen  über  den  Begriffen,  die  nur  das  abgelöste, 
umgriffene  und  dadurch  entfernte  Sein  enthalten. 

Das  ist  der  Kernpunkt  der  Wesensschau  nach  phänomeno- 
logischer Methode,  wenn  wir  sie  den  allgemeinen  Strömungen 
der  Zeit  einordnen,  und  dies  Dringen  auf  ünmittell^arkeit  ver- 
bindet Husserl,  obwohl  nicht  nur  die  Schlagworte  der  Zeit  bei 
ihm  fehlen,  sondern  er  im  tiefsten  Grunde  auch  etwas  völlig 
anderes  will,  doch  mit  der  Lebensphilosophie  nicht  nur  Bergsons, 
sondern  auch  Diltheys,  der  sich  nicht  ohne  Grund  für  diese  Be- 
strebungen lebhaft  interessierte. 

Bedürfte  es  für  die  sachliche  Verwandtschaft  noch  eines 
Beweises,  so  wäre  zu  ]:)eachten,  daß  ]M  a  x  S  c  h  e  1  e  r  als  An- 
hänger Husserls  sich  ausdrücklich  dazu  Ijekannt  hat,  er  erhoffe 
von  dieser  Philosophie  auf  dem  Boden  des  Lebens  erst  die  volle 
Nutzung  der  großen  Antriebe,  die  Nietzsche,  Dilthej'  und  Bergson 
unserem  Denken  erteilt  halben.  In  geradezu  feierlicher  Weise 
weist  er  auf  die  Phänomenologie  als  auf  die  Erfüllung  hin  und 
verlangt  mit  charakteristischen  Worten  eine  ,,vom  Erleben  der 
Wesensgehalte  der  Welt"  ausgehende  Philosophie,  die  eine  neue 
Epoche  bedeutet  '^). 

Beiträge  zu  einer  solchen  Philosophie  des  Lebens  hat  Scheler 
selbst  besonders  in  seinem  Buch  über  den  Genius  des  Krieges 
gegeben,    in    dessen    grundlegenden,    eigentlich    philosophischen 

1)  Vgl.  Husserl,  Ideen  zu  einer  reinen  Phänomenologie 
und  phänomenologischen  Philosophie,   1913,   S.  36. 

2)  Vgl.  Scheler,  Abhandlungen  und  Aufsätze,  1915,  II. 
S.  227. 


-    30     - 

Kapiteln  der  Begriff  des  Lebens  eine  entscheidende  Rolle  spielt 
und  dazu  dient,  den  Krieg  als  Höhepunkt  der  staatlichen  Wirk- 
samkeit zu  rechtfertigen.  Bei  der  Kritik  der  Lebensphilosophie 
kommen  wir  hierauf  zurück. 

Schließlich  sei  noch  darauf  hingewiesen,  daß  das  Leben 
nicht  nur  zur  Grundlage  aller  Kultur  gemacht  werden,  sondern 
auch  dort  die  Basis  des  Denkens  bilden  soll,  wo  es  darauf  ankommt, 
die  Kultur  als  etwas  Unwesentliches  herabzusetzen. 

Das  hat  man  im  ausdrücklichen  Anschluß  an  romantische 
Gedanken  versucht.  Charakteristisch  in  dieser  Hinsicht  ist  ein 
„Beitrag  zur  Philosophie  des  Lebens"  von  dem  Russen  Fried- 
rich Steppuhn,  der  sich  zu  Friedrich  Schlegel  bekennt  ^). 
Die  „Lebenswerte"  werden  als  „Zustandswerte"  allen  „Lei- 
stungswerten" und  damit  allen  Kulturwerten  entgegengestellt. 
Das  Leben  selbst  steht  am  höchsten,  und  zumal  die  Religion 
ist  allein  im  reinen  Erlebnis  zu  finden.  Jede  religiöse  Kultur 
wird  unsinnig.  Nur  Leben  in  Gott  ist  möglich.  Alle  Kultur 
beruht  auf  Schaffen  und  bedeutet  Geschaffenes.  Alles  Schaffen 
aber  ist  Verneinen  und  Vernichten  der  positiven  All-Einheit  der 
Seele,  in  der  alle  Religiosität  unmittelbar  wurzelt. 

Diese  Philosophie  des  Lebens  mit  ihrer  Sympathie  für  Fried- 
rich Schlegel  gibt  eine  interessante  Nuance  der  Zeitphilosophie. 
Schlegel  meinte,  daß  nur  in  der  heiligen  Passivität  der  Mensch 
sich  an  sein  Ich  erinnern  kann,  um  die  Welt  und  das  Leben  anzu- 
schauen, und  er  sah  in  der  Faulheit  das  einzige  gottähnliche 
Fragment,  das  dem  Menschen  beschieden  ist.  Dafür  kann  man 
sich  auf  die  Vertreibung  aus  dem  Paradiese  berufen.  Zu  be- 
dauern ist  nur,  daß  wer  solche  Philosophie  des  Lebens  konse- 
quent „lebt",  philosophische  „Leistungen"  nicht  zustande  brin- 
gen wird.  Diese  Weltanschauung  der  Zustandswerte  drängt  nicht 
zu  objektiver  Ausgestaltung  in  einem  geschlossenen  Gedanken- 
zusammenhang, und  so  dürfen  wir  das  „System"  der  vielleicht 
folgerichtigsten  aller  Lebensphilosophien  leider  nicht  erwarten. 
Wer  von  diesem  Lebensstandpunkt  aus  philosophiert,  macht 
sich  schon  durch  die  „Leistung"  des  Philosophierens  einer  Inkonse- 
quenz schuldig.  *   • 


1)  Vgl.  Logos,  Bd.  I,   1910,  S.  -261  ff. 


-    31      - 

-  Eine  Aufzählung  von  Lebensphilosophen,  die  Vollständigkeit 
anstrebt,  ist  hier  nicht  möglich  und  hätte  auch  keinen  Zweck. 
Die  Beziehungen  zum  Lebensbegriff  reichen  in  die  verschiedensten 
philosophischen  Richtungen  hinein.  So  könnte  man  z.  B.  auch 
die'  Gedanken  von  Friedrich  Paulsen  hierher  rechnen, 
obwohl  das  Schlagwort  Leben  bei  diesem  nicht  starken,  aber 
feinen  und  liebenswürdigen  Denker  fehlt.  Für  James  hatte  er 
viel  Sympathie,  und  seine  Kantauffassung  liegt  in  der  modernen 
Richtung.  Mit  noch  mehr  Grund  ist  Hans  Vaihingers 
„Philosophie  des  als  ob"  in  diesen  Zusammenhang  zu  bringen.  Zum 
Teil  knüpft  sie  freilich  an  die  sonderbare  Mißdeutung  Kants  an, 
mit  der  Forberg  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  schon  Fichtes 
energischen  Widerspruch  herausforderte,  und  liegt  insofern  von 
den  Moderichtungen  weit  ab.  Doch  werden  in  ihr  ausdrücklich 
auch  die  Fäden  hervorgehoben,  die  sie  mit  Nietzsche  und  dem 
Pragmatismus  verknüpfen,  und  auf  ihnen  beruht  wohl  die  Teil- 
nahme, die  sie  gefunden  hat.  Im  Prinzip  gehen  ihre  Gedanken 
für  das,  was  hier  wesentlich  ist,  nicht  über  das  hinaus,  was  wir 
bereits  kennen.  Ein  kurzer  Hinweis  auf  sie  kann  daher  genügen. 
Weitere  Namen  zu  nennen  hat  keinen  Sinn.  Ihre  Zahl  ist  groß, 
und  ihre  prinzipielle  Bedeutung  gering.  Jede  Mode  hat  viele 
Mitläufer. 

Doch  dürfen  wir  den  Kreis  der  Lebensphilosophie  auch  nicht 
z  u  weit  ziehen.  Dies  ist  zu  erwähnen,  weil  man  sogar  einen  Den- 
ker wie  Rudolf  E  u  c  k  e  n  mit  Bergson  und  James  zusam- 
men genannt  und  gemeint  hat,  er  suche  ebenso  wie  diese  sich 
von  den  Begriffen  zum  Leben  zurückzuwenden  ^).  Gewiß  kommt 
das  Wort  Leben  bei  Eucken  oft  vor,  und  ebenso  ist  es  richtig, 
daß  man  in  diesem  eigenartigen  und  tiefen  Denker  nicht  nur 
einen  Erneuerer  von  Fichtes  Idealismus  sehen  darf.  Aber  es 
bleibt  doch  bei  ihm  die  engste  Fühlung  mit  der  klassischen  deut- 
schen Philosophie  grundwesentlich,  und  wollte  man  daher  den 
Lebensbegriff  so  umfassend  nehmen,  daß  auch  Euckens  „Geistes- 
leben" darunter  fällt,  dann  würde  das  Schlagwort  jede  greif- 
bare und  prägnante  Bedeutung  verlieren.  Mag  also  Eucken 
das  Wort  Leben  lieben,  zu  den  Lebensphilosophen,  die  wir  hiC'- 

1)  Vgl.  Julius  Goldstein,  Wandlungen  in  der  Philo- 
sophie der  Gegenwart,  S.  149  ff. 


-     32     - 

meinen,  können  wir  ihn  nicht  zählen.  Er  hat  von  der  modernen 
Lebensströmung  keinen  wesentlichen  Einfluß  erfahren,  sich 
vielmehr  stets  seine  volle  philosophische  Selbständigkeit  bewalirt. 
Andrerseits  gibt  es  Denker,  die  das  Leben  als  Schlagwort 
nicht  gebrauchen  und  trotzdem  mit  den  Modeströmungen  der 
Zeit  eng  zusammenhängen.  Das  gilt  auch  dann,  wenn  sie  es 
nicht  wissen.  So"  läßt  sich,  mn  dafür  ebenfalls  wenigstens  ein 
Beispiel  zu  nennen,  das  vielgelesene  Buch  mit  dem  sensationellen 
Titel  ,,Der  Untergang  des  Abendlandes"  von  Oswald  Spengler 
zum  großen  Teil  als  Produkt  der  modernen  Lebenstendenzen 
verstehen,  obwohl  der  „Wille  zum  Leben"  bei  seinem  Verfasser 
wie  bei  \Yotan  im  Ring  der  Nibelungen  nur  Eines  noch  will: 
das  Ende!  Nicht  allein  Goethe,  sondern  auch  Nietzsche  und 
Bergson  haben  bei  dieser  ,,^Iorphologie"  Pate  gestanden.  Der 
Begriff  des  „Faustischen",  der  mit  dem  des  Dionysischen  und  inso- 
fern mit  dem  Lebensprinzip  verwandt  ist,  geht  durch  das  Ganze 
hindurch,  und  ebenso  läßt  der  Gedanke  der  „[Morphologie"  eine 
Beziehung  zu  den  Lebenstendenzen  erkennen.  Morphologie  l^e- 
deutet  hier  Biologie.  Daß  die  Geschichte  nicht  nach  Art  der 
„exakten"  Natunvissenschaften  zu  JDehandeln  ist,  hat  Spengler 
gesehen.  Doch  merkt  er  nicht,  daß  jede  generalisierende,  also 
auch  die  „morphologische"  Darstellung  dazu  führen  muß,  das 
seinem  Wesen  nach  stets  individuelle  Historische  aus  der  Ge- 
schichte auszuschalten.  Die  Biologie  vergewaltigt  im  Prinzip 
die  geschichtliche  Besonderheit,  die  sich  nie  wiederholt,  ebenso 
wie  die  Aufstellung  von  „liistorischen  Gesetzen".  In  der  Ver- 
kennung dieses  Umstandes  kommt  das  moderne  Lebensprinzip 
als  Ueberschätzung  des  biologischen  Denkens  zum  Durchbruch  ^). 


1)  tm  übrigen  gehe  ich  auf  das  gewiß  sehr  geistreiche  Buch 
nicht  ein.  Bei  allen  interessanten  Einzelheiten  ist  sein  metho- 
discher Regriffsapparat  so  brüchig,  daß  eine  Darstellung  der 
Hauptgedanken  ohne  Kritik  schwer  möglich  wäre,  und  überdies 
zeugt  das  „Prophetentum",  das  den  Untergang  des  Abendlandes 
voraussagt,  für  jeden,  der  Klarheit  über  die  logische  Struktur  des 
geschichtlichen,  d.  h.  individualisierenden  Denkens  hat,  von  so 
unwissenschaftlicher  Willkür,  daß  sich  in  einem  wissenschaftlichen 
Zusammenhang  davon  überhaupt  nicht  gut  reden  läßt.  Spengler 
hat  offenbar  für  die  ,, Logiker",  denen  er  in  seinen  Tabellen  ihren 
weltgeschichtlichen  Platz  anweist,  wenig  übrig.  Trotzdem  hätte 
er  von  ihnen  manches  lernen  können.    Die  Meinung,  es  lasse  sich 


-     33     - 

Auf  andere  Werke,  die  insofern  für  uns  bedeutsam  sind,  als  sie 
wenigstens  zum  Teil,  ebenfalls  ohne  es  zu  wissen  und  zu  wollen, 
von  den  Lebensstimmungen  der  Zeit  getragen  werden,  kommen 
wir  später  zu  sprechen.  Prinzipiell  neues  würde  die  Darstellung 
ihres  Inhaltes  für  eine  Charakterisierung  des  zeitgemäßen  Den- 
kens nicht  ergeben.  Was  über  Einzelheiten  zu  sagen  ist,  wird  zur 
Vermeidung  von  Wiederholungen  besser  erst  bei  der  Kritik  der 
Lebensphilosophie  vorgebracht. 

Schon  jetzt  muß  trotz  der  Beziehung  auf  einen  Grundge- 
danken das  Bild  der  modernen  Lebensphilosophie  bunt  genug 
sein,  um  nicht  einseitig  zu  erscheinen.  In  seinem  Lebensrahmen 
ist  Platz  für  sehr  heterogene  Bestrebungen.  Schöpferische  Le- 
bensschwungkraft und  heilige  Passivität  des  stillen  Erlebens, 
das  alles  Schaffen  verneint,  französischer  elan  und  russische 
Mystik  mit  bewußt  unproduktiver  Beschaulichkeit,  hoffnungs- 
freudiger Lebensoptimismus  des  evolutionistisch  gerichteten 
Uebermenschentums  und  graue  Verzweiflung  an  der  Fortent- 
wäcklung  des  abendländischen  Kulturlebens,  antiwissenschaft- 
liches Lebensprophetentum  und  strenge  Wissenschaftlichkeit 
der  Lebensschau,  metaphysische  Vertiefung  in  das  Jenseits 
des  Weltwesens  und  höchst  diesseitiger  pragmatistischer  ütili- 
tarismus  —  sie  alle  gehen  zusammen  in  diesem  west-östlichen 
Lebensgebilde,  das  Europa  durchquert. 

Wie  sollte  das  Lebens-Denken  bei'  solchem  Reichtum,  der 
jedem  etwas  zu  bieten  scheint,  nicht  auch  Mode  geworden  sein? 
Jedenfalls:  weitaus  die  meisten  Gedanken,  die  heut  in  der  Philo- 
sophie „lebendig"  sind,  d.  h.  mehr  als  Gelehrsamkeit  bedeuten 
und  weitere  Kreise  ergriffen  haben,  stehen  unter  dem  Zeichen 
einer  Philosophie  des  Lebens,  entweder  ausdrücMich,  oder  wenn 
nicht  den  Worten,  so  doch  der  Sache  nach.  Die  Lebensbegriffe 
umgeben  uns  als  unsere  philosophische  Luft,  ja  sie  sind  der  jüngeren 
Generation  schon  zur  so  selbstverständlichen  Atmosphäre  ge- 
worden, daß  man  vielfach  meint,  es  müsse  immer  so  gewesen 
sein,  und  man  dürfe  überall  nur  zu  „erleben"  suchen,  wenn  man 
philosophieren  will. 


die  Geschichte  in  ihrer  Entwicklung  vorausbestimmen,  gehört  zu 
den  rationaUstischen  Vorurteilen  der  Aufklärungsphilosophie,  über 
die  wir  doch  endlich  hinausgekommen  sein  sollten. 

R  i  0  k  e  r  t ,    Philosophie  d.  Lebens-  3 


—    34     — 

Dabei  sei  noch  einmal  hervorgehoben,  daß  diese  Darstellung 
nicht  daran  denkt,  das  philosophische  Schaffen  unserer  Zeit  in 
seinen  wesentlicher  Richtungen  zu  erfassen.  Das  Wichtigste 
in  der  Gegenwart  besteht  vielleicht  in  dem,  was  bisher  nur  kleine 
Kreise  interessiert.  Von  der  Arbeit,  die  sich  an  große  Denker 
der  Vergangenheit  anschließt  und  ihre  Systeme  weiter  auszu- 
bilden sucht,  war  ebenfalls  nicht  die  Rede,  obwohl  dieser  Teil 
der  Zeitphilosophie  gewiß  nicht  als  unwesentlich  bezeichnet 
werden  soll.  Eine  solche  Absicht  liegt  um  so  ferner,  als  man  auch 
den  Verfasser  dieses  Buches  zu  denen  rechnen  kann,  die  sich  um 
eine  Weiterbildung  des  in  der  Philosophie  des  Deutschen  IdeaUs- 
mus  Begonnenen  bemühen. 

Wir  haben  uns  also  mit  Bewußtsein  auf  weit  verbreitete 
Tendenzen  beschränkt.  Damit  wird  kein  Werturteil  über  sie  ge- 
fällt, weder  in  positiver  noch  in  negativer  Hinsicht.  Die  Be- 
schränkung erfolgte  aus  den  angegebenen  Gründen  zu  bestimm- 
ten wissenschaftlichen  Zwecken. 


Drittes  Kapitel. 

Die  Prinzipienlosigkeit  der  intuitiven  Lebens= 

Philosophie. 

,,Doch  ein  Begriff  muß  bei  dem  Worte  sein." 

Der  Schüler. 

Von  der  Darstellung  der  Lebensphilosophie  wenden  wir  uns 
zu  ihrer  Kritik.  Darunter  ist  nicht  nur  ihre  Verneinung  zu 
verstehen,  sondern  es  gilt,  auch  ihre  berechtigten  Motive  an- 
zuerkennen. Von  ihnen  soll  jedoch  erst  am  Schluß  die  Rede 
sein.  Dort  weisen  wir  positiv  auf  etwas  hin,  das  man  eine 
„Philosophie  des  Lebens"  nennen  kann.  Aber  es  wird  sich 
dabei  nicht  um  ein  Philosophieren  aus  dem  bloßen  Erleben  her- 
aus handeln  dürfen.  Vielmehr  ist  das  Leben  zu  etwas  in  Be- 
ziehung zu  setzen,  was  selbst  nicht  Leben  ist.  Lebens  philo- 
Sophie  fällt  niemals  mit  dem  Leben  zusammen.  Als  Vorbe- 
reitung auf  eine  solche  Philosophie  über  das  Leben  soll  die 
Kritik  d  e  r  Lebensphilosophie  dienen,  die  mit  dem  Leben  allein 


-    35     — 

auszukommen  glaubt.     Insofern  liegt  der  Schwe^unkt  auf  der 
Verneinung. 

Dabei  können  wir  die  Zeitphilosophie  jedoch  nicht  als  die  Ein- 
heit nehmen,  als  welche  wir  sie  absichtlich  zuerst  dargestellt  haben. 
Wir  müssen  verschiedene  Elemente  in  ihr  sondern  und  bloße 
Lebensstimmungen  oder  Lebensgefühle  oder  Lebensinstinkte 
ganz  auszuschalten  suchen.  Ihnen  gegenüber  hätte  wissenschaft- 
liche Kritik  überhaupt  keinen  Sinn.  Wir  halten  uns  an  das, 
Was  einen  theoretischen  Ausdruck  gefunden  hat,  haben  es  also 
nur  mit  einem  Lebens  begriff  zu  tun. 

Auch  dieser  aber  erweist  sich  in  der  modernen  Philosophie 
nicht  als  einheitlich,  d.  h.  es  sind  in  ihr  verschiedene  Lebens- 
begriffe vermischt.  Sie  müssen  wir  trennen.  Nur  die  in  sich 
klaren  und  eindeutigen  Tendenzen  lassen  sich  wissenschaftlich 
bekämpfen.  So  werden  wir  das  Bündel  von  Stäben,  vor  dem 
wir  bisher  als  vor  einer  Einheit  gestanden  haben,  zerlegen  und 
jeden  Stab  einzeln  zu  zerbrechen  suchen.  Was  trotzdem  in 
den  Bestrebungen  der  Zeit  Wertvolles  steckt,  und  was  wir  da- 
her zu  bewahren  haben ,  wird  danach  um  so  besser  zutage 
treten. 

Zunächst  ist  klar  zu  machen,  daß  der  moderne  Lebensbe- 
griff zu  unbestimmt  ist,  um  ohne  genauere  Determination 
das  Fundament  einer  wissenschaftlichen  Philosophie  zu  bilden. 
Lebensstimmungen  lassen  sich  auch  mit  vieldeutigen  Schlag- 
wörtern zum  Ausdruck  bringen,  ja  gerade  auf  der  trüben  Ein- 
heit der  Lebensgefühle,  die  sie  auslösen,  beruht  ein  großer  Teil 
ihres  Reizes  und  ihres  außerwissenschaftlichen  Wertes.  Für  die 
Wissenschaft  ist  vor  allem  die  Auseinanderhaltung  von  zwei 
prinzipiell  verschiedenen  Begriffen  des  Lebens  wichtig,  von  denen 
der  eine  eine  sehr  umfassende  Bedeutung  hat,  der  andere  dagegen 
sich  auf  einen  engeren  Kreis  von  Lebenserscheinungen  be- 
schränkt. 

Die  allgemeinste  Lebenstendenz  geht  auf  das  Unmittelbare, 
Anschauliche,  Intuitive  überhaupt  im  Gegensatz  zu  jedem 
•  „tötenden"  Begriff.  Ihr  Lebensbegriff  kann  daher  geradezu 
als  der  Begriff  des  Begrifflosen  bestimmt  werden.  Der  andere 
Begriff  dagegen  paßt  nur  auf  besondere  Lebensvorgänge.  Er 
meint  das,  was  man  gewöhnlich  Leben  im  Gegensatz  zum  Toten 


-    36     — 

nennt,  das  Vitale,  wovon  unter  den  Spezialwissenschaften 
die  Biologie  handelt.  Die  umfassendste  Richtung  ist  als 
intuitive  Lebensphilosophie  zu  bezeichnen,  während  die 
speziellen  Bestrebungen  an  der  Wissenschaft  von  den  organi- 
schen Lebewesen  orientiert  sind  und  insofern  einen  b  i  o  1  o  g  i- 
s  t  i  s  c  h  e  n  Charakter  tragen. 

Wir  werden  zuerst  die  intuitive  Lebensphilosophie  ins  Auge 
fassen,  um  zu  zeigen,  daß  es  ihr  an  jedem  klaren  Prinzip  fehlt, 
und  daß  sie  deswegen  zur  Grundlage  einer  wissenschaftlichen 
Darstellung  der  Welt  oder  zur  Herausarbeitung  eines  theore- 
tisch aufgefaßten  Kosmos  sich  nicht  eignet.  Dann  müssen  wir 
den  Biologismus  betrachten,  der  zwar  Prinzipien  hat,  von  dem 
sich  jedoch  nachweisen  läßt,  daß  mit  seiner  Hilfe  eine  Philo- 
sophie als  Lehre  vom  Welt  ganzen  oder  eine  ,, Weltanschau- 
ung" nicht  aufzubauen  ist,  ja  daß  seine  Prinzipien  nicht  ein- 
mal für  eine  ,, Lebensanschauung"  im  engeren  Sinne  als  Deutung 
des  menschlichen  Lebens  genügen. 

Diese  Trennung  zweier  Richtungen  ist  bei  einer  kriti- 
schen Stellungnahme  nicht  zu  entbehren.  Ausdrücklich  sei 
jedoch  bemerkt:  die  Modephilosophie  unserer  Zeit  ist  gerade 
dadurch  gekennzeichnet,  daß  in  ihr  intuitionistische  und  bio- 
logistische  Momente  sich  mischen.  Die  Aufzeigung  dieses 
Umstandes  enthält  schon  ein  Stück  Kritik. 

Zunächst  fragen  wir  allgemein,  was  heißt  Leben  und  leben- 
dig? Welche  Merkmale  besitzt  dieser  Begriff,  und  wodurch 
unterscheidet  sich  das  Lebendige  vom  Toten  ?  Wovon  hat  es 
einen  Sinn  zu  verlangen,  daß  es  lebendig  sei  ? 

Nennt  man,  wie  das  nicht  selten  geschieht,  alles  lebendig, 
was  man  hochschätzt,  und  tot  alles,  was  man  nicht  leiden 
kann,  so  ist  damit  nichts  geleistet.  Ja,  die  Begeisterung  für 
das  Leben  muß  von  vornherein  bedenklich  erscheinen,  wenn 
man  nicht  nur  eine  ,, lebendige  Weltanschauung"  fordert,  sondern 
alle  Wissenschaften,  also  auch  die  Spezialdisziplinen,  deshalb 
gering  schätzt,   weil  sie  nicht  lebendig  genug  sind. 

Was  sagt  es  gegen  eine  Naturwissenschaft,  daß  es  ihren 
Begriffen  an  Leben  fehlt?  Den  Naturalismus  oder  die  Gleich- 
setzung des  Weltalls  mit  der  Natur  und  die  ihr  entsprechende 
Gleichsetzung   der  Philosophie  mit  der  Naturwissenschaft   mag 


-    37     - 

man  bekämpfen.  Die  naturwissenschaftlichen  Spezialdisziplinen  je- 
doch sollte  die  Philosophie  sich  selbst  überlassen.  Lebendig  zu  sein, 
ist  nicht  ihre  Aufgabe.  Eine  lebendige  Mathematik  scheint, 
falls  wir  das  Wort  lebendig  in  irgendeiner  der  üblichen  Be- 
deutungen nehmen,  geradezu  absurd,  obwohl  es  so  aussieht, 
als  würde  neuerdings  auch  sie  verlangt.  Mathematische  Gebilde 
bleiben  „tot",  mag  man  sie  noch  so  ,, beweglich"  gestalten,  und 
doch  sagt  das  gewiß  nichts  gegen  den  Wert  des  mathemati- 
schen Denkens.  Vielleicht  feiert  es  vielmehr  gerade  dort  seine 
höchsten  Triumphe,  wo  es  sich  am  weitesten  von  allem  erlebten 
.Leben  entfernt. 

Dasselbe  sollte  man  auch  bei  der  Physik  und  Chemie 
wenigstens  für  möglich  halten.  Es  ist  nicht  ihre  Aufgabe,  die 
lebendige  Natur  darzustellen.  Ja,  es  braucht  ihnen  an  wissen- 
schaftlicher Wahrheit  selbst  dann  nicht  zu  fehlen,  wenn  sie 
versuchen,  Begriffe  für  das  L  e  b  e  n  zu  bilden.  Das  Bestreben, 
die  Betrachtungsweise  der  Physik  auf  möglichst  weite  Gebiete 
des  körperlichen  Seins,  über  die  tote  Natur  hinaus  auf  das 
Organische  auszudehnen,  ist  methodisch  unanfechtbar. 
Das  Lebendige  muß  auch  so  dargestellt  werden,  daß  es  in  einen 
verständlichen  Zusammenhang  mit  der  ,, Materie"  kommt,  die 
nicht  organisch  ist  und  insofern  tot  genannt  werden  kann. 
Wenn  man  Versuche  in  dieser  Bichtung  heute  geradezu  ver- 
ächtlich behandelt,  und  das  Wort  ,, mechanistisch"  im  Munde 
mancher  Philosophen  zum  Schimpfwort  geworden  ist,  so  zeugt 
das  von  wenig  ,, Philosophie".  Die  physikalische  Auffassung 
ist  für  die  Körperwelt  nun  einmal  die  umfassendste,  und  der 
allgemeinste,  also  ,, philosophische"  Begriff  für  die  räum- 
liche Natur  wird  daher  wissenschaftlich  stets  an  der  Physik 
orientiert  sein. 

Gewiß  ist  [die  Uebertragung  des  körperwissenschaftlichen 
Denkens  auf  die  seelische  oder  ,, geistige"  Welt  verfehlt.  Aber 
die  Organismen  sind  ebenso  körperlich  oder  raumerfüllend  wie 
die  Erde,  auf  der  sie  sich  allmählich  entwickelt  haben,  und  die 
Triumphe  der^Physik  brachten  schon  so  vieles  ins  Wanken,  was 
man  für  fest  hielt,  daß  kein  „unmöglich"  für  die  Ausbreitung 
der  physikalischen  Begriffsbildung  auf  die  gesamte  Kör- 
perwelt ohne  Ausnahme  ertönen  sollte. 


—    38     — 

Selbstverständlich  i  s  t  der  Organismus  kein  Mechanismus, 
Aus  dieser  Binsenwahrheit  aber ,  in  der  sich  die  Weisheit 
mancher  vitalistischen  Naturteleologen  erschöpft,  folgt  nichts 
gegen  den  Versuch,  auch  das  Organische  unter  physikalische 
oder  chemische  Begriffe  zu  bringen.  Der  farbige  Körper 
ist  ebenfalls  kein  nur  quantitativ  bestimmter  Atomkomplex, 
d.  h.  Farbe  ist  als  Farbe  niemals  Bewegung.  Trotzdem  hat  es 
einen  guten  Sinn,  zu  sagen,  daß  auch  für  die  farbigen  Kör- 
per Begriffe  mit  quantitativem  Inhalt  gelten.  Ebenso  ist  die 
Bildung  physikalischer  Begriffe  für  das  Organische  berechtigt. 
Jeder  Schritt  in  der  Richtung,  daß  die  Organismen  eingeordnet 
werden  in  den  allgemeinen  Naturzusammenhang,  bedeutet  einen 
prinzipiellen  Fortschritt,  und  das  Ganze  des  körperlichen  Seins 
darf  zum  mindesten  nicht  a  n  t  i  mechanisch  oder  a  n  t  i  physi- 
kalisch gedacht  werden,  weil  sonst  jede  einheitliche  Auffassung 
der  Körper  weit  als  einer  Totalität  unmöglich  wird.  Eine  Philo- 
sophie, die  für  Bestrebungen  einer  allgemeinen  Körper- 
theorie kein  Verständnis  hat,  ist  nicht  im  guten  Sinn  universal. 

Doch  das  betrifft  ein  spezielles  Problem.  Das  allgemeine 
Prinzip,  das  wir  im  Auge  haben,  kommt  dabei  nur  insofern 
zum  Ausdruck,  als  es  gilt,  zwischen  einem  Wirklichen  und  dem 
Begriff  von  diesem  Wirklichen  zu  scheiden. 

Unsere  Hauptfrage  besteht  darin,  ob  sich  das  Leben  zu 
einem  umfassenden  philosophischen  Welt  begriff  ausgestalten 
läßt,  und  da  scheint  es  in  der  Tat,  als  besitze  zumal  das  Wort 
, »Erleben"  eine  Bedeutung,  die  geeignet  ist,  den  allgemeinsten 
Rahmen  für  das  Denken  aller  Gegenstände  abzugeben. 

Was  wir  nicht  ,, erlebt"  haben,  ist  für  uns  nicht  vorhanden, 
vermag  also  auch  nicht  in  die  Philosophie  einzugehen.  Insofern 
scheint  gerade  die  universale  Wissenschaft  zu  einer  Philo- 
sophie der  Erlebnisse  werden  zu  müssen.  Wovon  sollte  sie  sonst 
handeln  ?  Sie  hat  kein  anderes  Material.  Ihre  Welt  ist  die  er- 
lebte Welt.  Den  Inbegriff  aller  Erlebnisse  also,  wird  man  sagen, 
hat  die  Philosophie  so  zu  erfassen,  daß  sie  ihn  einheitlich  und 
systematisch  gliedert,  und  daraus  kann  nur  eine  Lebens- 
philosophie  entstehen.  Müssen  wir  doch  sogar  dann,  wenn  wir 
von  etwas  sagen  wollen,  daß  wir  es  nicht  anerkennen,  es  in 
irgendeiner  Weise  erlebt  haben.    Sonst  könnten  wir  nicht  sinn- 


—    39     — 

voll  davon  reden.  Worte,  die  nicht  ein  Erlebnis  meinen,  sind 
bedeutungsloser  Schall,  den  weder  wir  noch  andere  verstehen. 
Insofern  scheint  die  Lebensphilosophie  im  unbezweifelbaren  Recht. 

Sehen  wir  jedoch  genauer  zu,  so  ist  dies  Recht  teuer  er- 
kauft. Nehmen  wir  einmal  an,  alles  Denkbare  sei  notwendig 
„Erlebnis".    Man  kann  das  wohl  sagen.    Aber  was  folgt  daraus? 

Der  Lebensbegriff  wird  völlig  leer,  sobald  er  auf  alles  geht, 
was  es  gibt  oder  nicht  gibt.  Ein  Wort,  das  jedes  denkbare 
Etwas  bezeichnen  soll,  verliert  notwendig  die  prägnante  Bedeu- 
tung. Seine  Verwendung  für  eine  Philosophie  des  Lebens,  die 
sich  von  anderen  Arten  des  Philosophierens  unterscheiden  will, 
ist  nicht  mehr  fruchtbar.  Das  Erlebte  Mird  zum  indifferenten 
Namen  für  Seiendes  und  Nichtseiendes,  Beharrendes  und  Wech- 
selndes, Festes  und  Fließendes,  Sichtbares  und  Unsichtbares, 
Sinnliches  und  Uebersinnliches,  Unmittelbares  und  Reflektiertes, 
Inhalt  und  Form,  Konkretes  und  Abstraktes,  Gegebenes  und 
Vermitteltes,  Anschauung  und  Begriff,  Subjekt  und  Objekt,  Ich 
und  Du,   Körperwelt  und  Seelenleben  usw.  usw. 

Das  alles  muß  irgendwie  ,, erlebt",  sein,  gewiß,  denn  sonst 
wüßten  wir  nichts  davon.  Sonst  gäben  die  Worte  keinen  Sinn, 
den  wir  verstehen.  Aber  eine  auf  diese  Wahrheit  gestützte 
„Philosphie  des  Lebens"  hat  nichts  mehr  mit  der  Denkrichtung 
zu  tun,  die  auf  das  Werdende  und  Fliejßende,  Unmittelbare  und 
Konkrete,  auf  die  Anschauung  und  ihre  Fülle  den  Schwer- 
punkt legt,  um  das  Beharrende  und  Feste,  das  Reflektierte 
und  Abstrakte,  das  Vermittelte  und  den  unanschaulichen  Begriff 
zurückzustellen. 

Allerdings  kann  man  das  Wort  erleben  so  verwenden,  daß 
der  Satz:  alles,  wovon  wir  bedeutungsvoll  reden  wollen,  muß 
irgendwie  ,, erlebt"  sein,  richtig  ist.  Ja,  wir  tun  gut,  uns  die 
darin  steckende  Wahrheit  ausdrücklich  zum  Bewußtsein  zu 
bringen.  Will  man  jedoch  darauf  allein  schon  eine  Philosophie 
des  Lebens  gründen,  so  ist  das  Ergebnis  nichts  weniger  als  neu. 
Nur  der  Name  hat  sich  geändert.  Erlebtsein  heißt  dann  das- 
selbe wie  , .gegeben"  oder  auch  ,, bewußt"  sein,  und  die  Lehre, 
die  so  entsteht,  deckt  sich  mit  der,  die  man  sonst  als  erkennt- 
nistheoretischen Idealismus  oder  als  Standpunkt  der  Immanenz 
bezeichnet.    ,,Die  Welt   ist  Vorstellung."   Das  steht  in  der  Tat 


—    40     - 

am  A  n  f  a  n  g  der  Philosophie,  und  falls  man  dabei  bleiben  will, 
kommt  man  zur  Philosophie  der  reinen  Erfahrung. 

So  wichtig  jedoch  diese  Besinnung  auf  den  Gegebenheits- 
oder Bewußtseinscharakter  alles  Denkbaren  in  mancher  Hinsicht 
sein  mag,  so  wenig  enthält  sie  schon  das  Fundament  für  eine 
Philosophie  des  Lebens  in  irgendeiner  prägnanten  Bedeutung 
dieses  Wortes.  Das  wird  sofort  klar,  wenn  man  darandenkt,  daß 
nach  der  Immanenzlehre  das  Tote  ebenso  „erlebt"  ist,  wie  das 
Leben.  Alles  Starre  und  Unlebendige,  das  die  moderne  Philosophie 
des  Lebens  bekämpft,  kennen  wir  doch  auch  nur  insofern,  als  es  uns 
„gegeben"  ist,  als  wir  es , .vorstellen"  oder  „im  Bewußtsein"  haben. 
Der  tote  Mechanismus  gehört  zum  „Erlebnis"  nicht  weniger  als 
der  lebendige  Organismus.  Man  kann  daher. auf  Grund  dieses 
Lebensbegriffes  nicht  von  einer  Philosophie  des  Lebens  im 
Gegensatz  zur  Philosophie  des  Todes  reden. 

Zur  Kennzeichnung  des  umfassendsten  Erlebnisstandpunktes 
wird  man  daher  gerade  im  Interesse  einer  Philosophie  des 
Lebens  die  alten,  üblich  gewordenen  Ausdrücke  wie  Standpunkt 
der  „Immanenz"  oder  des  „Bewußtseins"  oder  der  ,, Erfahrung" 
vorziehen  und  darauf  hinweisen,  daß  die  Besinnung  auf  den 
Erlebnis-Charakter  alles  Denkbaren,  wie  sie  z.  B.  W.  James 
als  ,, radikalen  Empirismus"  vertritt,  wohl  den  ersten  Schritt 
der  Philosophie,  aber  zugleich  auch  nur  ihren  ersten  Schritt 
bedeutet,  auf  den  noch  viele  andere  folgen  müssen,  falls  eine 
Philosophie  des  Lebens,  wie  unsere  Zeit  sie  anstrebt,  entste- 
hen soll. 

Selbstverständlich  sagt  dieser  Umstand  für  sich  allein  noch 
nichts  gegen  die  Lebensphilosophie  überhaupt.  Es  trifft  nur 
ihre  nächstliegende  und  scheinbar  plausibelste  Begründung.  Ge- 
wiß kann  man  mit  dem  Worte  Leben  noch  eine  engere  Bedeu- 
tung verbinden,  die  trotzdem  vielleicht  universal  genug  bleibt, 
um  zur  Bestimmung  eines  allgemeinen  philosophischen  Stand- 
punktes brauchbar  zu  sein.  Auch  von  solchen  engeren  Lebens- 
begriffen ist  also  zu  reden. 

Am  nächsten  liegt  dabei  der  Gedanke,  alles  Unmittelbare 
und  Ursprüngliche  oder  alles  Anschauliche,  d.  h.  noch 
nicht  begrifflich  Bearbeitete,  Leben  zu  nennen  und  darin  dann 
das  Wesen  der  Welt  zu  sehen,  wie  sie  ist. 


—    41     — 

Hierauf  kommen  in  der  Tat  manche  I.ebenstendenzen  der 
Philosophie  unserer  Zeit  hinaus:  die  „Formen",  in  welche  der 
Verstand  die  Welt  bringt,  machen  das  Leben  ,, unlebendig".  Es 
gilt  daher,  vorzudringen  zum  ungeformten,  unverfälschten,  reinen 
Inhalt,  wie  er  sich  der  unmittelbaren  Intuition  als  ,, echtes" 
Leben  darbietet.  In  diesem  Sinn,  wird  man  sagen,  sei  auch  der 
Ausdruck  Erlebnis  allein  zu  verstehen.  Man  will  damit  alle  um- 
formenden Zutaten,  die  Abtötung  bedeuten,  ausschließen.  Meint 
man  so  nicht  die  Erlebnisse  überhaupt,  sondern  die  Erlebnis- 
inhalte  im  Gegensatz  zu  jeder  Form,  dann  hat  es  in  der  Tat 
einen  guten  Sinn,  zu  fragen,  was  das  reine,  ungetrübte,  unent- 
stellte, noch  nicht  abgerückte  und  dadurch  unlcbendig  gewor- 
dene Leben  selbst  ist.  Damit  erhält  man  dann  einen  bestimmten 
Lebensbegriff,  auf  den  sich  die  schon  genannte  intuitive  Lebens- 
philosophie stützt,  nämlich  den  Begriff  des  formlosen  und,  weil 
jeder  Begriff  irgendeine  Form  voraussetzt,  zugleich  begrifflosen, 
bloß  anschaulichen,  nur  durch  Intuition  zu  erfassenden  Lebensin- 
haltes. Insofern  ist  bei  diesem  zweiten  Lebensbegriff  alles  klar. 

Genügt  er  aber  auch  zur  Grundlegung  einer  Philosophie 
des  Lebens?  Man  scheint  es  dort  zu  glauben,  wo  man  auf 
Intuition  im  Gegensatz  zum  Verstand  dringt.  Wir  können  selbst- 
verständlich bei  einer  prinzipiellen  Kritik  nur  die  Arten  der 
intuitiven  Lebensphilosophie  ins  Auge  fassen,  die  mit  der  An- 
schauung und  der  Ablehnung  aller  umformenden  Verstandes- 
begriffe ernst  machen.  So  lange  man  noch  von  einem  Mehr  oder 
Weniger  an  Anschauung  und  dementsprechend  von  einem  Mehr 
oder  Weniger  an  Verstandesform  redet,  ist  eine  grundsätzliche 
Entscheidung  nicht  möglich.  Dann  kommt  es  nur  auf  das  Maß 
von  Erlebnisinhalt  und  auf  das  Maß  von  nicht  erlebter  Form 
an,  das  von  einer  Philosophie  des  Lebens  verlangt  wird,  und 
darüber  läßt  sich  selbstverständlich  streiten.  Wir  dürfen  also 
nur  fragen,  wie  eine  Philosophie  des  Lebens  aussehen  muß,  die 
sich  ausschließlich  auf  das  intuitive  Erlebnis  der  Lebens- 
inhalte stützen  will,  und  sobald  auch  nur  die  Frage  so  gestellt 
ist,  sollte  einleuchten:  je  konsequenter  man  das  Leben  als  rei- 
nen Inhalt  der  Anschauung  im  Gegensatz  zu  jeder  Verstandes- 
form zu  erfassen  sucht,  um  so  mehr  entfernt  man  sich  da- 
mit vom  wissenschaftlichen  Denken  überhaupt. 


—    42     — 

Wie  soll  es  Theorie  ohne  jede  Form  aus  bloßem  Inhalt, 
ohne  jedes  Denken  durch  bloße  Intuition,  ohne  jeden  Begriff 
aus  bloßer  Anschauung  geben?  Gewiß  bleibt  es  richtig,  daß 
die  Philosophie  Inhalt  braucht,  und  daß  alle  Inhalte,  die  wir 
begrifflich  formen  wollen,  auch  anschaulich  erlebt  sein  müssen. 
Aber  dazu  ist  wieder,  wie  beim  ersten  Erlebnisbegriff,  zu  be- 
merken, daß  gerade  weil  das  für  alle  Inhalte  zutrifft,  die  wir 
überhaupt  formen  können,  damit  noch  nichts  über  einen  b  e- 
sonderen  Inhalt  gesagt  ist,  der  geeignet  wäre,  die  Philo- 
sophie des  Lebens  von  anderen  Arten  des  Philosophierens  zu 
unterscheiden.  Das  anschauliche  intuitive  Erleben  der  In- 
halte mag  also  Vorbedingung  des  Philosophierens  sein,  doch 
gibt  es  für  sich  allein  noch  keine  Philosophie.  Das  sollte  keines 
Beweises  bedürfen  und  ist  hier  nur  gesagt,  weil  sogar  darüber 
in  mancher  Philosophie  des  Lebens  erstaunliche  Unklarheit 
besteht. 

Auch  der  Umstand,  daß  viele  philosophische  Gedanken- 
gebilde zu  wenig  anschaulich  erlebten  Inhalt  aufweisen  und 
deshalb  vielleicht  mit  Recht  „tot"  gescholten  werden,  darf  für 
die  intuitive  Lebensphilosophie  nicht  als  Begründung  gelten. 
Damit  käme  man  nur  zu  dem  Satz,  daß  Begriffe  ohne  Anschau- 
ungen leer  sind,  und  in  ihm  steckt  doch  noch  keine  Philosophie 
des  Lebens. 

Man  spricht  von  einem  Hunger  nach  Anschauung  in  unserer 
Zeit,  und  das  Bedürfnis  nach  Intuition  läßt  sich  überall  dort 
gut  verstehen,  wo  gewisse  Formen,  die  das  Leben  annimmt,  sich 
„überlebt"  haben,  oder  wo  Begriffe,  die  nur  an  einem  besonderen 
Teil  der  Weltinhalte  gebildet  und  insofern  einseitig  ausgefallen 
sind,  zu  Weltallbegriffen  erweitert  werden,  wie  z.  B.  bei  der 
„monistischen"  oder  der  mechanistischen  Weltanschauung.  Ihnen 
gegenüber  kann  eine  Abneigung  gegen  die  tötenden  Formen 
entstehen.  Begründet  aber  ist  sie  nur,  falls  sie  sich  allein 
gegen  besondere  Arten  von  Formen  richtet.  Irgendwelche 
Verstandesformen  bleiben  unentbehrlich.  Auch  eine  Philo- 
sophie- der  Erlebnisinhalte  kommt  ohne  Begriffe  nicht  aus.  Sie 
bliebe  sonst  theoretisch  unverständlich,  könnte  überhaupt  nicht 
in  sinnvollen  Sätzen  zum  Ausdruck  gebracht  werden. 

Jede  Philosophie  sieht  sich  also  vor  die  Frage  gestellt,  in 


—    43     — 

welche  Formen  die  Lebensinhalte  eingehen  müssen,  um  für  die 
philosophische  Auffassung  des  Lebens  bedeutsam  zu  werden,  und 
damit  hat  sich  der  Schwerpunkt  vom  Lebensinhalt  wieder 
auf  die  Lebensform  verschoben.  Daß  gewisse  Formen  das  Le- 
ben töten,  bedeutet  lediglich  etwas  Negatives.  Wo  man  glaubt, 
nur  Erlebnisinhalte  ohne  jede  Form  in  die  Wissenschaft  aufzu- 
nehmen, täuscht  man  sich,  denn  erst  in  der  Form  des  Begriffs 
hört  die  Anschauung  auf,  theoretisch  „blind"  zu  sein,  wird  sagbar, 
übertragbar,  theoretisch  different  oder  wahr.  Absolute  Form- 
losigkeit kann  daher  die  Wissenschaft  nie  „lebendig"  machen, 
sondern  muß  sie  „töten". 

Zur  Anwendung  dieses  sehr  einfachen  Prinzips  auf  unsern 
besonderen  Fall  genügt  wieder  der  Gedanke,  daß  der  Inhalt 
des  Toten,  Starren  und  Unlebendigen  ebenso  als  Erlebnisinhalt 
zu  bezeichnen  ist,  wie  der  Inhalt  dessen,  was  man  im  Unter- 
schied von  ihm  lebendig  nennen  will.  Damit  fällt  von  neuem 
der  unentbehrliche  Gegensatz  des  Lebendigen  zum  Toten  fort^ 
auf  den  für  eine  Philosophie  des  Lebens  geradezu  alles  ankommt. 
So  hilft  der  zweite  Begriff  des  Erlebnisses  als  der  des  reinen 
Lebensinhaltes  im  Unterschied  von  jeder  Form  dem  Lebens- 
philosophen ebensowenig  weiter  wie  der  Begriff  des  Erlebnisses 
überhaupt,   der  Form  und  Inhalt  gleichmäßig  umfaßt. 

Daraus  folgt,  daß  man  dem  Wort  Leben  eine  noch  engere, 
dritte  Bedeutung  verleihen  muß,  falls  es  in  einer  Philosophie 
des  Lebens  brauchbar  werden  soll.  Das  Wort  Erlebnis  wäre 
denn  auch  gewiß  nicht  so  beliebt  geworden,  wenn  es  nur  die 
beiden  bisher  betrachteten,  sehr  umfassenden  Bedeutungen  hätte, 
die  es  zur  Verwendung  in  einer  universal  gerichteten  Wissen- 
schaft geeignet  zu  machen  scheinen. 

Man  versteht  unter  Erlebnis  vielmehr  noch  etwas  ganz 
anderes.  Das  geht  schon  daraus  hervor,  daß  man  das  Wort  viel- 
fach in  ähnlicher  Weise  wie  auch  das  „Ereignis"  mit  Emphase 
gebraucht.  Dann  will  man  damit  sagen,  daß  das,  was  wir  im 
eigentlichen  Sinne  „erlebt"  haben,  uns  nicht  fremd  geblieben, 
sondern  zu  unserem  Eigentum  oder  zu  einem  Stück  unseres 
Selbst  geworden  ist,  sich  in  die  Tiefe  unseres  Wesens  gesenkt 
und  dort  verankert  hat.  Damit  erst  bekommt  das  Erlebnis 
Bedeutung  für  das  Leben,  d.  h.  zunächst  für  unser  eigenes 


—    44     — 

persönliches  Leben  und  dann  eventuell  für  das  Leben  überhaupt. 

So  gewinnen  wir  im  Erlebnis  in  der  Tat  einen  noch  eitgeren 
und  bestimmteren  Begriff.  Das  zum  „Erlebnis"  gewordene  Er- 
lebte ist  nun  das  Wesentliche,  Wichtige,  oder  um  es  klarer  zu 
sagen,  das  mit  einem  Wert  Verknüpfte.  Im  Gegensatz  zu 
ihm  steht  das  Gleichgültige,  Bedeutungslose,  Wertfreie,  Fremde 
und  insofern  Tote,  das  zu  keinem  Erlebnis  für  uns  werden  kann, 
weil  es  uns  nichts  angeht.  Das  Erlebnis  bedeutet  dann  also 
nicht  nur  das,  was  ist,  sondern  zugleich  das,  was  sein  soll,  weil 
es  Wert  hat.  Wir  wünschen  uns  „Erlebnisse",  um  damit 
unser  Leben  zu  bereichern  und  lebenswert  zu  machen.  Erleb- 
nisse im  weitesten  Sinn  zu  wünschen,  wäre  unmöglich,  denn  die 
haben  wir  immer. 

Können  wir  diesen  dritten  Begriff  des  Erlebnisses  aber  auch 
für  eine  Philosophie  des  Lebens  verwenden? 

Man  wird  vielleicht  meinen,  daß  gerade  das  allerdings  die 
Aufgabe  der  Lebensphilosophie  sei:  sie  habe  die.  für  uns  wesent- 
lichen oder  bedeutungsvollen  Erlebnisse  darzustellen 
und  sie  aus  der  unübersehbaren  Fülle  unserer  gleichgültigen 
Erlebnisinhalte  herauszuheben.  Vielleicht  ist  das  auch  richtig. 
Aber  ebenso  steht  andererseits  fest :  ein  wissenschaftliches  Prin- 
zip der  Auswahl  ist  damit  allein  noch  nicht  gefunden,  daß 
wir  ein  Erlebnis  mit  Emphase  ,, Erlebnis"  nennen  und  es  damit 
zu  den  ,, wesentlichen"  Erlebnissen  rechnen.  Was  wir  mit  diesen 
Worten  sagen  wollen,  scheint  zwar  klar,  ja  selbstverständlich, 
so  lange  wir  das  für  unser  individuelles,  persönliches  Eigenleben 
Wesentliche  meinen.  Dann  unterscheiden  wir  in  vielen  Fällen 
mit  Sicherheit  alles,  was  unser  Leben  ist,  von  dem,  was  ihm 

fremd  bleibt: 

,,Was  euch  nicht  angehört, 
Müsset    ihr  meiden. 
Was    euch  das  Innre    stört, 
Dürft  ihr  nicht  leiden." 

Mit  instinktivem  Gefühl  vollziehen  wir  die  Trennung. 

Wollten":  wir  uns  aber  darauf  auch  beim  Philosophieren  be- 
schränken, so  würde  gerade  das  fehlen,  was  zum  Aufbau  einer 
Philosophie  des  Lebens  unentbehrlich  ist.  Sie  will  doch  in 
allgemeiner,'^überindividueller,  notwendiger  und  mitteilbarer  Weise 
eine  Scheidung  unter  den  Erlebnissen  vollziehen.     Was  verdient 


—    45     — 

es,  daß  wir  es  als  wesentlich  in  die  Wissenschaft  aufnehmen? 
"Was  ist  im  theoretischen  Sinn  „Erlebnis"  ?  Solange  wir  nur 
leben,  stellen  wir  diese  Frage  nicht.  In  einer  Lebens  Philo- 
sophie wird  dagegen  dies  Problem  von  entscheidender  Bedeu- 
tung. Persönliche  Wünsche  und  Stimmungen, '  die  etwas  zum 
bedeutungsvollen  Erlebnis  machen,  erscheinen  als  individuelle 
Launen  und  dürfen  nicht  maßgebend  sein. 

So  kommen  wir  zu  folgendem  Resultat.  Jeder  hat  seine 
eigenen  ,, Erlebnisse"  und  unterscheidet  sie  von  den  übrigen 
erlebten  Inhalten,  die  ihn  nichts  angehen.  Bleiben  sie  aber  nur 
seine  eigenen,  dann  ist  die  Trennung  wissenschaftlich  irrelevant. 
Gerade  die  Bedeutung,  die  das  Wort  Erlebnis  beliebt  gemacht 
hat,  und  die  gestattet,  es  mit  Emphase  zu  gebrauchen,  hilft 
uns  für  sich  allein  in  der  Wissenschaft  noch  nicht  einen  Schritt 
weiter.  Damit  hat  sich  auch  der  dritte  Erlebnisbegriff  als  philo- 
sophisch unbrauchbar  erwiesen,  und  es  ist  nicht  einzusehen, 
wie  wir  mit  dem  bloßen  Erleben  zum  Aufbau  einer  Philosophie 
des  Lebens  kommen  sollen.  Ohne  allgemeines,  für  alle  gültiges 
Prinzip  der  Auswahl   gibt  es  keine  Wissenschaft. 

Das  führt  auf  einen  Gedanken  zurück,  der  am  Anfang  er- 
wähnt wurde.  Wir  brauchen  das  System,  um  aus  dem  Weltchaos 
den  theoretisch  aufgefaßten  Weltkosmos  herauszuarbeiten. 
Darin  erkennen  wir  jetzt  einen  besonderen  Ausdruck  für  die  Un- 
entbehrlichkeit  der  Form  gegenüber  der  verwirrenden  Fülle  derln- 
halte.  Der  Gedanke  muß  auch  das  ungenügende  der  reinen  Er- 
lebnisphilosophie, wie  jedes  ,, radikalen  Empirismus",  zum  Bewußt- 
sein bringen.  Der  bloße  Inhalt  fällt  mit  dem  Erlebnisinhalt  zusam- 
men. Der  Lebensbegriff  in  dieser  umfassenden  Bedeutung  führt 
uns  nicht  über  den  bloßen  Inhalt  hinaus.  Was  macht  aus  dem 
Lebenschaos  den  Lebenskosmos?  So  müssen  wir  fragen,  falls 
wir  Klarheit  über  die  Möglichkeit  einer  Philosophie  des  Lebens 
suchen. 

Von  hier  aus  nehmen  wir  sogleich  zu  bestimmten  Arten  der 
modernen  Lebensphilosophie  Stellung.  Sie  erweisen  sich  unter 
diesem  Gesichtspunkt  gerade  durch  ihre  Berufung  auf  die  Fülle 
des  unmittelbar  Erlebten,  die  sie  für  viele  anziehend  macht, 
weil  sie  dadurch  den  Hunger  nach  lebendiger  Anschauung  zu 
stillen  versprechen,  als  wissenschaftlich  undurchführbar.    In  dem. 


—    46     — 

worin  sie  ihre  Stärke  suchen,  liegt  unter  philosophischen  Gesichts- 
punkten ihre  Schwäche :  zur  Gestaltung  eines  Lebensko§mos  sind 
sie  grundsätzlich  unfähig.  Sie  kommen  entweder  zu  einer  auf 
spezialwissenschaftliche  Begriffe  gestützten,  also  spezifisch  un- 
philosophischen, engen  Weltanschauung,  oder  falls  sie  diese 
Klippe  vermeiden,  zu  einer  rein  willkürlichen  Ueberwindung 
der  chaotischen  Lebensmannigfaltigkeit,  die  überhaupt  nicht  als 
theoretisch  angesehen  werden  darf. 

Bei  der  Anwendung  dieses  Prinzips  zur  Kritik  der  einzelnen 
Lebensphilosophen  ändern  wir  die  Reihenfolge,  die  wir  bei  der 
Darstellung  eingehalten  haben.  Zu  der  vor  allem  als  intuitiv  zu 
bezeichnenden  Lebensphilosophie  gehören  die  eigentlichen  Mode- 
philosophen nicht.  Diese  haben,  wie  schon  angedeutet,  neben 
der  intuitiven  Tendenz  das  Prinzip  des  Biologismus,  von  dem 
später  die  Rede  sein  wird.  Die  Arten  der  Lebensphilosophie, 
die  wir  zuerst  betrachten,  sind  zwar  umfassender,  aber  gerade 
deswegen  völlig  prinzipienlos.  Was  wir  damit  meinen,  sei  an 
zwei  Beispielen,  an  Diltheys  Historismus  und  an  der  Auffassung 
der  Phänomenologie  erläutert,  welche  deren  Einstellung  aus- 
drücklich mit  der  intuitiven  Lebensphilosophie  in  Verbindung 
bringt. 

Von  D  i  1 1  h  e  y  sagten  wir,  daß  er  mehr  Historiker  als 
Philosoph  war.  Er  ist  auch  als  Philosoph  Historiker  geblieben. 
Der  Geschichte  wollte  er  seine  philosophischen  Prinzipien  ent- 
nehmen. Sie  aber  ist,  wie  nicht  bestritten  werden  wird,  bisher 
wenigstens,  keine  systematische  Wissenschaft,  und  so  konnte  bei 
Diltheys  Bemühungen  auch  keine  systematische  Philosophie  ent- 
stehen. Von  hier  aus  läßt  sich  die  Prinzipienlosigkeit  seines 
Philosophierens,  gerade  so  weit  es  mit  der  Richtung  auf  Unmittel- 
barkeit und  Anschaulichkeit,  also  mit  dem  Intuitionismus  zu- 
sammenhängt, als  notwendig  verstehen,  und    das   ist  lehrreich. 

Dilthey  besaß  einen  ungemein  feinen  Sinn  für  die  Fülle  der 
geschichtlichen  Gestalten.  Das  Leben  verschiedener  Zeiten  auf 
verschiedenen  Gebieten  des  Geistes,  das  einst  lebendig  war,  aus 
den  Quellen  wieder  zu  vergegenwärtigen  und  von  neuem  lebendig 
zu  machen,  hat  er  verstanden  wie  wenige.  Sein  Geist  umfaßte 
sehr  viel ,, Geist".  Im  Nacherleben  und  Einfühlen  war  er  Meister. 
Selbstverständlich   vollzog    er   dabei    eine    Auswahl.     Kein 


-    47     — 

Historiker  kann  alles,  was  in  der  Vergangenheit  geschehen  ist, 
in  seine  Darstellung  aufnehmen.     Aber   als  Historiker  braucht 
er  sich  um   die  Gründe,  warum   ihm  gerade    dies    „wesentlich" 
wird  und  anderes  nicht,  wenig  zu  kümmern.    Dafür,  daß  er  die 
richtige  Auswahl  trifft,  darf  er  sich  auf  seinen  „Instinkt"  oder 
sein  „Gefühl"  verlassen.   Ja,  nur  w^enn  er  einen  solchen  Instinkt 
für  das  geschichtlich  Wesentliche  besitzt,  ist    er    ein    ,, echter" 
Historiker.    Das  hängt  mit  dem  unsystematischen  Charakter  der 
Geschichte  zusammen  und  bedarf  hier  weiter  keiner  Erörterung  i). 
Ebenso  gewiß  reicht  jedoch  der  historische  Instinkt  in  der 
"  Philosophie  nicht  aus.   Das,  w^orauf  die  Stärke  des  Geschichts- 
schreibers beruht,  führt  hier  wie  in  jeder  systematischen  \Yissen- 
schaft  zur  ünproduktivität.     Gerade  weil  Dilthey  bei  der  Fülle 
des  vergangenen  Lebens  liebevoll  verweilte,  ohne  sich  in  seiner 
Teilnahme  irgendwie  beschränken  zu  lassen,  konnte  er  nie  zum 
systematisch    denkenden   Philosophen    werden.     Als  Historiker 
wußte  er  freilich  genau,  was  für  ihn  verwendbar  war   und  was 
nicht,  und  er  erkannte  daher  deutlich,  daß  die  nach  naturwissen- 
schaftlicher Methode  generalisierend  verfahrende  Seelenlehre  sich 
nicht,  wie  geschichtsfremde  Psychologen  wähnen,  zur  Basis  der 
geschichtlichen  Disziplinen  eignet.     Seine  Kritik  an  der  psycho- 
logischen ,, Grundlegung"  der  Geisteswissenschaften  war  treffend. 
Aber  die  neue  „Psychologie",    die   er  an    die   Stelle  der  alten 
setzen  wollte,  blieb  im  Dunkel,  ja  war  überhaupt  keine  Psycho- 
logie,  so   daß    grade    seine    psychologischen  Gegner  in 
dieser  Hinsicht  leichtes  Spiel  hatten. 

Hätte  Dilthey  sich  auf  die  Geschichte  des  „geistigen"  Le- 
bens und  auf  die  Abwehr  geschichtsfremder  naturalistischer 
Spekulationen  beschränkt,  dann  stünde  er  einwandsfrei  da.  Auch 
der  fragmentarische  Charakter  seiner  Werke  würde  nicht  stören. 
Geschichte  ist  stets  fragmentarisch,  ja  muß  es  sein.  Es  ist  zu 
bedauern,  daß  man  sich  an  dem   Historiker  Dilthev  nicht   ein- 


1)  Die  Gründe  dafür  haue  ich  aus  dem  Wesen  der  geschicht- 
lichen Wissenschaften  zu  verstehen  gesucht  und  in  meinem  Buch 
über  Die  Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung, 
1896—1902,  2.  Aufl.  1913,  ausführlich  behandelt.  Kürzere  Zu- 
sammenfassungen in:  Kulturwissenschaft  und  Naturwissenschaft, 
3.  Aufl.  1915,  und:  Geschichtsphilosophie  (Festschrift  für  Kuno 
Fischer,  2.  Aufl.   1907). 


—    48     — 

fach  freuen  und  seine  Philosophie  beiseite  lassen  darf.  Wegen 
des  Einflusses,  den  sie  gewonnen  hat,  müssen  wir  bei  einer 
Stellungnahme  zur  Lebensphilosophie  unserer  Zeit  leider  auch 
darauf  hinweisen:  aus  seiner  philosophischen  Not  wollte  dieser 
so  reiche  Forscher  und  Versteher  eine  Tugend  machen,  und  die 
Folge  ist,  daß  es  bei  ihm  so  aussieht,  als  habe  die  Philosophie 
nur  noch  die  Aufgabe,  zu  sammeln,  was  früher  ^einmal  Philo- 
sophie w  a  r.  Die  verschiedenen  Typen  der  Weltanschauung  wer- 
den friedlich  neben  einandergestellt,  als  wäre  es  mit  dem  selb- 
ständigen Philosophieren  für  alle  Zeiten  vorbei,  als  hätte  die 
Philosophie  sich  ausgelebt  oder  zu  Ende  gelebt  in  einer  Reihe 
von  Gestalten,  die  nun  als  abgeschlossen  betrachtet  wird,  wäh- 
rend doch  die  Geschichte  dann  erst  zu  Ende  sein  kann,  wenn 
die  Mens:hheit  aufgehört  hat,  zu  atmen. 

Für  Dilthjj'  wird  aus  der  geschichtlichen  Welt  die  Welt 
überhaupt.  So  entsteht  die  Weltanschauung  des  Historismus, 
die  gewiß  keine  , »lebendige"  Weltanschauung  ist,  ja  den  Namen 
einer  Weltanschauung  ebenso  wenig  verdient  wie  der  Naturalismus. 
Beide  sind  inhaltlich  zwar  sehr  verschieden.  Aber  ihr 
Grundgebrechen  beruht  auf  demselben  Prinzip :  aus  den  Begriffen 
einer  Spezialwissenschaft  wollen  sie  Philosophie  machen.  Das 
verengert  den  Weltanschauungshorizont  in  einer  unerträglichen 
Weise. 

Ja,  der  Historismus  ist  noch  unphilosophischer  als  der  Natu- 
ralismus, weil  Geschichte  keine  systematische  Wissenschaft  ist. 
Der  Naturalist  hat  wenigstens  ein  Prinzip  und  einen  systematischen 
Gedankenzusammenhang,  mag  dieser  auch  zu  eng  und  einseitig 
sein.  Der  philosophierende  Historiker  klammert  sich  an  alle 
möglichen  Gestalten  der  Vergangenheit,  die  ihn  nur  unter  ge- 
schichtlichen Gesichtspunkten  interessieren  und  daher  syste- 
matisch ganz  zufällig  bleiben  müssen.  So  wird  er  aus  der  Fülle 
der  geschichtlichen  ,, Erlebnisse"  heraus  der  Feind  gerade  einer 
wahrhaft  „lebendigen"  Philosophie,  denn  auch  die  lebendigste 
Vergangenheit  ist  tot  im  Vergleich  zum  philosophischen  Gegen- 
wartsleben. 

So  verstehen  wir:  diese  angebliche  Philosophie  des  Lebens 
hat  sowohl  antiphilosophisch  als  auch  lebensvernichtend  ge- 
wirkt,  wo  ihre    Tendenzen  Gehör    fanden.     Nicht    zufällig   ist 


—    49      — 

Diltheys  Lebenswerk  bei  all  seinem  Reichtum  an  Einzelheiten 
Fragment  geblieben,  und  auch  keiner  seiner  zahlreichen  Schüler 
hat  es  aus  diesem  Zustand  erlöst.  Auf  seinem  Wege  konnte 
kein   Ganzes  entstehen. 

Das  Prinzip  der  Prinzipienlosigkeit  reicht  weit  über  diese 
Persönlichkeit  hinaus.  Deswegen  war  davon  zu  sprechen.  Wir 
haben  es  mit  einer  unter  den  Gelehrten  weit  verbreiteten  Richtung 
zu  tun.  Historische  Feinfühligkeit  und  Pietät  müssen,  sobald  man 
aus  ihnen  eine  ,, Weltanschauung"  macht,  dem  Leben,  das  auf- 
steigen will,  schädlich  sein.  Deshalb  sollte  gerade  die  echte 
"Philosophie  des  Lebens  gegen  diese  Lebensphilosophie  sich 
wenden,  die  Vergangenes  nicht  allein  lebendig  erhalten,  sondern 
an  die  Stelle  des  gegenW'ärtigen  Lebens  setzen  möchte.  Der 
,, historische  Sinn"  kann  gewiß  etwas  Herrliches  sein,  aber  er 
muß  eine  Spezialität  bleiben.  Der  Historismus  ist  zu 
bekämpfen.     Historische  Philosophie  gibt  es  nicht. 

Wir  haben  hier  um  so  mehr  Grund,  sie  abzulehnen,  als 
die  Geschichte  der  Kultur  ein  unentbehrliches  Material  auch 
für  den  Aufbau  des  Systems  der  Philosophie  bildet.  Von  einer 
Geringschätzung  der  historischen  Wissenschaften  darf  in  der 
Philosophie  keine  Rede  sein.  Das  Geschichtliche  ist  jedoch 
für  den  Philosophen  zugleich  nur  Material.  *  Ja,  dann  allein, 
wenn  es  ihm  gelingt,  seine  Fülle  nicht  geschichtlich,  sondern 
systematisch  zu  gliedern  und  so  alles  bloß  Geschichtliche 
auszuschalten,  darf  er  hoffen,  zur  Philosophie  zu  kommen. 
Sonst  sieht  er  in  die  Welt,  die  er  einheitlich  als  Kosmos  zu 
erfassen  hat,  wie  in  einen  Guckkasten,  in  dem  ein  Bild  nach 
dem  andern  vorüberzieht,  je  nachdem  der  Zufall  es  bringt. 
Multa  non  multum.    Vielerlei  und  philosophisch  sehr  wenig. 

Freilich  ,, Weltanschauung"  kann  man  auch  die  Ansicht 
nennen,  nach  der  die  Welt  nichts  anderes  als  ein  großes  Bilder- 
buch darstellt,  in  dem  zu  blättern,  die  einzige  menschenwürdige 
Beschäftigung  ist.  Aber  eine  philosophische  Welt- 
anschauung gibt  das  nicht.  Der  Philosoph  muß  dem  geschicht- 
lichen Leben  gegenüber  die  Frage  stellen,  die  der  Historiker 
ignorieren  darf,  warum  aus  der  Vergangenheit  gerade  diese 
und  nicht  andere  Gestaltungen,  die  es  doch  auch  gegeben  hat, 
„wesentlich"  sind,  und  warum  die  geschichtliche  ,,Welt"  gerade 

R  i  c  k  e  r  t ,    Philosophie  d.  Lebens.  4 


—    50    — 

aus  diesen  und  nicht  aus  jenen  Bestandteilen  aufgebaut  ist. 
Wo  der  Historiker  sich  auf  seinen  Instinkt  verlassen  kann,  hat 
der  Philosoph  auf  prinzipielle  Klarheit  zu  dringen.  Sobald  er 
dann  die  Frage  dahin  beantwortet  hat,  daß  jede  historische 
Darstellung  auf  einer  theoretischen  Beziehung  auf  bestimmte 
Kulturwerte  beruht,  muß  deutlich  werden,  daß  es  für  die  Ge- 
schichte als  Geschichte  ein  System  nicht  geben  kann,  und  daß  es 
daher  unmöglich  ist,  die  geschichtliche  WeH  zum  Kosmos  im 
philosophischen  Sinn  auszugestalten,  — 

Prinzipienlos,  wenn  auch  in  anderer  Weise,  muß  die  Philo- 
sophie bei  der  phänomenologischen  Einstellung  sich 
gestalten,  falls  man  diese  so  versteht,  wie  Scheler  sie  inter- 
pretiert und  preist. 

Niemand  wird  behaupten,  daß  hier  die  intime  Kenntnis 
der  Vergangenheit  die  lebendige  Gegenwart  beeinträchtigt.  Bis- 
weilen könnte  man  bei  Phänomenologen  vielleicht  sogar  etwas 
mehr  bevMißten  Zusammenhang  mit  den  großen  Denkern  früherer 
Zeiten  w^ünschen.  Immerhin,  Historismus  finden  wir  hier  nicht. 
Husserl  hat  in  schlagender  Weise  Diltheys  Historismus  mit  dem 
schlichten  Hinw^eis  darauf  bekämpft,  daß  das  geschichtliche 
Denken  über  die  Wahrheit  oder  die  Unwahrheit  eines  Gedankens 
nie  entscheiden  könne  und  daher  in  der  Philosophie  ebensowenig 
maßgebend  sei  wie  in  der  Mathematik. 

Von  Husserl  jedoch  soll  hier  weiter  nicht  die  Rede  sein. 
Er  selbst  gehört  nicht  zu  den  Lebensphilosophen.  Neue  , .Phäno- 
mene" hat  er  zum  Bewußtsein  gebracht,  die  bisher  nicht  be- 
achtet waren,  und  zumal  durch  feine  Unterscheidungen  ver- 
wandter und  gleich  benannter  Begriffe  unsere  Kenntnisse  außer- 
ordentlich bereichert.  Wie  freilich  auf  diesem  Wege  der  Aufbau 
eines  philosophischen  Systems  zustande  kommen  soll,  ist  noch 
nicht  zu  sehen.  Es  fehlen  die  Umrisse  eines  Kosmos,  und  durch 
bloße  Wesensschau  vereinzelter  Phänomene,  die  keinen  anderen 
Leitfaden  kennt  als  die  Wortbedeutungen  der  Sprache,  zumal 
der  vereinzelten  Worte,  die  doch  erst  in  Sinnzusammenhängen 
von  Sätzen  sich  bestimmen  lassen,  wird  auch  niemals  ein 
Kosmos  zutage  treten.  Das  bezweifelt  aber  Husserl  wohl  auch 
nicht.  Er  will  das  vor  Augen  stehende  nicht  nur  „sehen".  Wenn 
aus  seinen  Schriften  die  systematischen  Gesichtspunkte  für  den 


—    51     — 

Aufbau  des  Ganzen  noch  nicht  erkennbar  sind,  so  hegt  das  ge- 
wiß daran,  daß  er  seine  Ideen  bisher  unvollständig  veröffent- 
hcht  hat. 

Unsere  Bedenken  richten  sich  allein  dagegen,  daß  Anhänger 
der  Phänomenologie,  ebenso  wie  die  Historisten,  versuchen,  aus 
ihrer  systematischen  Not  eine  Tugend  zu  machen,  indem  sie 
im  Interesse  der  Anschaulichkeit  und  Lebendigkeit  die  Prin- 
zipienlosigkeit zum  philosophischen  Prinzip  erheben.  Das  muß 
zu  noch  unerfreulicheren  Konsequenzen  führen  als  bei  der 
Lebensphilosophie  des  Historismus,  weil  dadurch  nicht  einmal 
unsere  philosophie-g  eschichtlichen  Kenntnisse  bereichert 
werden. 

Scheler  hat  das,  wogegen  wir  uns  wenden,  zwar  nicht  direkt 
als  Sinn  der  Phänomenologie  bezeichnet,  sondern  apologetisch 
für  Bergson  ausgeführt,  aber  seine  Gedanken  sind  auch  auf  die 
Phänomenologie  zu  beziehen,  da  er  von  ihr  erst  die  volle 
Nutzung  der  Antriebe  erhofft,  die  Nietzsche,  Dilthey  und  Bergson 
unserem  Denken  erteilt  haben.  Seine  Wendungen  sind  ebenso 
geschickt  wie  bezeichnend  für  den  ,, Geist"  weitverbreiteter  Strö- 
mungen unserer  Zeit.  Ja,  die  Lebenswurzeln  der  intuitiv  ge- 
richteten Lebensphilosophie  treten  hier  besonders  klar  zutage, 
und  zugleich  ist  ihre  philosophische  Unmöglichkeit  drastisch 
formuliert  für  jeden,  der  sehen  will.  Deswegen  lohnt  es,  darauf 
einzugehen. 

Scheler  1)  bezeichnet  die  ,,neue  Haltung''  als  em  Sichhin- 
geben  an  den  Anschauungsgehalt  der  Dinge,  als  die  Bewegung 
eines  tiefen  Vertrauens  in  die  Unumstößlichkeit  alles  schlicht 
und  evident  ,, Gegebenen".  Da  treffen  wir  auf  das  intuitive 
Prinzip  der  Lebensnähe,  das  wir  kennen.  ,, Diese  Philosophie, 
heißt  es,  hat  zur  Welt  die  Geste  der  offenen,  aufweisenden 
Hand,  des  frei  und  groß  sich  aufschlagenden  Auges."  Sodann 
wird  gesagt:  ,,Der  Mensch,  der  hier  philosophiert,  hat  weder  die 
Angst,  welche  moderne  Bechenhaftigkeit  und  den  Berechnungs- 
willen der  Dinge  gebiert,  noch  die  stolze  Souveränität  des  ,, denken- 
den Bohres",  die  in  Descartes  und  Kant  Urquell —  das  emotio- 
nale a  priori  —  aller  Theorien   ist".    Sollen  wir   auch   das  als 


I)  Vgl.  Abhandlungen  und  Aufsätze,   II,   S.   197 


—    52    — 

Vorzug  der  neuen  philosophischen  Haltung  betrachten  ?  Es 
scheint  in   der  Tat  so  gemeint. 

Wir  werden  ferner  versichert,  den  Lebensphilosophen  um- 
spüle „bis  in  seine  geistige  Wurzel  hinein  der  Strom  des  Seins 
wie  ein  selbstverständliches  und  schon  als  Seins- Strom  selbst  — 
von  allem  Inhalt  abgesehen  —  wohltätiges  Element.  Nicht  der 
Wille  zur  „Beherrschung",  ,, Organisation",  „eindeutiger  Be- 
stimmung" und  Fixierung,  sondern  die  Bewegung  der  Sympathie, 
des  Daseingönnens,  des  Grußes  an  das  Steigen  der  Fülle,  in  dem 
dem  hingegebenen  Blick  die  Inhalte  der  Welt  allem  mensch- 
lichen Verstandeszugriff  immer  neu  sich  ent\\anden  und  die 
Grenzen  der  Begriffe  überfließen,  durchseelen  hier  jeden  Ge- 
danken." 

So  wird  zunächst  Bergsons  Intuitionismus  gepriesen  und 
dann  aus  diesem  Geiste  heraus  „von  der  genaueren  strengeren  — 
und  deutschen  Art  des  Verfahrens"  eine  „vom  Er-leben  der 
Wesensgehalte  der  Welt  ausgehende  Philosophie"  erhofft, 
welche  uns  die   Phänomenologie  zu  geben  berufen  ist. 

Solche  und  ähnliche  Sätze  klingen  gewiß  sehr  schön, 
sind  eminent  „modern"  und  manchem  aus  tiefster  Seele  ge- 
sprochen. Ja,  hier  dürfte  das  formuliert  sein,  was  heute  Viele 
vor  allem  zur  Lebensphilosophie  hinzieht.  Die  Lebenshaltung 
des  nur  „lebenden",  d.  h.  das  Leben  genießenden  Men- 
schen ist  äußerst  verlockend  geschildert,  und  besonders  unphilo- 
sophischen Naturen  muß  das  einleuchten,  da  es  ihnen  vorspiegelt, 
daß  sie  die  echten  Philosophen  seien,  falls  nur  die  „Grenzen 
ihrer  Begriffe  überfließen". 

Auch  mag  der  Künstler  vielleicht  mit  Recht  so  denken. 
Goethe  hatte,  wenn  auch  gewiß  noch  einiges  Andere,  das  frei 
und  groß  sich  aufschlagende  Auge,  und  wir  wollen  nicht  fragen, 
ob  er  damit  allein  zum  Dichter  geworden  wäre.  Möglicherweise 
ist  es  in  der  Tat  am  besten,  wenn  der  Künstler  nur  erlebend 
zu  schauen  glaubt  und  vertraut.  Die  f Bedeutung  sainer 
Kunstwerke  hängt  nicht  von  seinen  t leoretisshen  Ansichten  über 
künstlerisches  Produzieren  ab.  Ja,  er  soll  vielleicht  nicht  „klug" 
werden  aus  dem,  was  er  schafft.  „Der  Baum  erkrankt  bei  steter 
Lampsnhelle." 

Aber  was  will   dies  alles,    und  was  sonst   nosh    heute  die 


—    53     — 

Köpfe  der  Intuitiven  bewegt,  für  den  Philosophen  sagen, 
der  das  Weltall  theoretisch  zu  denken  hat?  Als  Vorbedingung 
des  Philosophierens  ist  die  von  Scheler  gepriesene  „neue  Hal- 
tung" zwar  nicht  gerade  neu,  aber  vielleicht  brauchbar.  Ja  wir 
müssen  einmal  den  traditionellen  Begriffsapparat  bei- 
seite lassen,  um  uns  hinzugeben  an  die  Anschauung,  so  daß 
jeder  wissenschaftliche  oder  außerwissenschafthche  und  beson- 
ders auch  der  spezialwissenschaftliche  „Kosmos"  sich  auflöst, 
d.  h.  aus  den  Erlebnissen  ein  Chaos  wird.  Darf  man  aber  darin 
mehr  als  Vorbereitung  sehen?  Beginnt  nicht  vielmehr  "dann 
erst  die  eigentlich  philosophische  Arbeit,  und  kann  sie  jemals 
etwas  anderes  als  Organisation,  eindeutige  Bestimmung  und  Fixie- 
rung sein? 

Wer  den  Gedanken  der  intuitiven  Lebensphilosophie  zu 
Ende  denkt  und  sich  ihre  Konsequenzen  klar  macht,  muß 
einsehen:  Scheler  hängt  der  Prinzipienlosigkeit,  dem  schlimm- 
sten philosophischen  Gebrechen,  einen  prächtigen  Mantel  um, 
der  sie  decken  soll  in  ihrer  theoretischen  Armseligkeit.  Die 
Folge  davon,  daß  „die  Inhalte  der  Welt  allem  menschlichen  Ver- 
standeszugriff sich  entwinden  und  die  Grenzen  der  Begriffe 
überfließen",  kami  nur  sein:  eines  solchen  Philosophenmantels 
schimmernde  Falten  weht  der  Wind  hin  und  her  und  treibt  mit 
ihnen  sein  Spiel.  Philosophisch  reich  und  lebendig  wird 
man  bei  der  „neuen  Haltung"  nicht  werden.  Philosophie  muß 
bleiben,  was  sie  war:  Nachdenken  über  die  Welt  mit  dem  Ziel, 
sie  begrifflich  zu  beherrschen,  sie  zu  organisieren  und  eindeutig 
zu  bestimmen.  Die  Hingabe  an  den  Anschauungsgehalt  kann 
nie  genügen. 

Sie  ist  auch  faktisch,  wo  man  in  irgend  einer  Weise  philo- 
sophiert, nicht  durchgeführt.  Scheler  macht  —  glücklicherweise 
—  in  dieser  Hinsicht  selbst  keine  Ausnahme.  Es  ist  einfach 
unmöglich,  sich  an  alles  hinzugeben.  Wo  nicht  einmal  die 
Geschichte  als  Stütze  dient,  herrscht  bei  der  Auswahl  die  Will- 
kür des  Individuums,  und  solche  „Herrschaft"  ist  allerdings 
von  Uebel.  Gewiß,  die  „Angst"  soll  den  Willen  zum  Berechnen 
nicht  gebären.  Aber  ohne  theoretisches  Souveränitätsbewußtsein, 
das  ruht  auf  der  Ueberzeugung,  im  Dienst^der  Wahrheit  zu  ar- 
beiten, entsteht  keine  Philosophie,  welche  diesen  Namen  verdient. 


—     54    — 

Wo  nicht  der  Wille  zur  begrifflichen  Beherrschung  lebt,  kommt 
es  "im  günstigsten  Falle  zur  heiligen  Passivität,  und  wir  sind 
dann  in  der  Nähe  von  Schlegels  Faulheit  als  dem  einzigen  gott- 
ähnlichen Fragment. 

Ja,  es  ist  mit  Schelers  intuitiver  Philosophie  sogar  noch 
schlimmer  bestellt.  Bei  Steppuhn  finden  wir  wenigstens  Konse- 
quenz. Er  will  als  religiöser  Mensch  keine  Kultur,  also  auch 
keine  Wissenschaft.  Dagegen  bedeutet  das  Preisen  der  Hingabe, 
der  Sympathie,  des  Daseinsgönnens,  des  Grußes  an  das  Steigen 
der  Fülle  als  Philosophie  nur  Halbheit,  so  schön  die  Worte 
klingen  mögen.  Gerade  aus  der  angeblich  ,, neuen  Haltung" 
müssen  die  Philosophen  gründlich  heraus,  um  die  Welt  wie- 
der denkend  zu  beherrschen,  nicht  intuitiv  in  ihr  zu  versinken. 

Freilich  hat  das  Wort,, Intuition"  verschiedene  Bedeutungen, 
und  darauf  sei  ebenfalls  ausdrücklich  hingewiesen,  damit  kein 
Mißverständnis  darüber  entsteht,  gegen  welche  Art  des  Intuitio- 
nismus wir  uns  hier  wenden. 

Man  spricht  von  „genialer*'  Intuition  und  stellt  sie  dem 
,, nüchternen"  Verstandeserkennen  gegenüber,  das  die  Krücke 
des  logischen  Denkens  braucht.  Will  man  damit  sagen,  daß 
mancher  Mensch  Wahrheiten  zu  ahnen  vermag,  ehe  er  imstande 
ist,  sie  in  die  Form  eines  begründbaren  Wissens  überzuführen, 
so  ist  dagegen  nichts  einzuwenden.  Ja,  diese  Fähigkeit  besitzt 
nicht  nur  das  Genie,  sondern  wohl  jeder,  dem  wissenschaftlich  ge- 
legentlich etwas  ,, einfällt".  Der  Gedanke  ist  nicht  immer  sofort 
völlig  klar.  Man  muß  erst  über  den  Einfall  nachdenken.  Aber 
das  gehört  zur  Psychologie  des  Erkennens,  und  daraus  kann 
man  keine  intuitive  Philosophie  machen.  Uns  interessiert  nicht 
die  allmählige  Entstehung  der  Gedanken,  sondern  ihre  fertige 
Struktur.  Die  im  angedeuteten  Sinne  intuitiv  erfaßte  oder  geahnte 
Wahrheit  ist,  solange  man  sie  in  Gegensatz  zur  logisch  ge- 
dachten bringt,  meist  die  theoretisch  noch  unvollständig  erfaßte 
und  bedeutet  lediglich  eine  Vorstufe  des  Erkennens,  nicht  etwa 
ein  Erkenntnisideal.     Das  klingt  sehr  nüchtern,  ist  aber  wahr. 

Ferner  kann  mau  noch  eine  Bedeutung  mit  der  „cognitio 
intuitiva"  verknüpfen.  Sie  hat  mit  der  Lebensphilosophie 
unserer  Zeit  jedoch  so  gut  wie  nichts  zu  tun.  Auf  sie  sei  nur 
hingewiesen,  um  sie  in  Gegensatz  zu  der  Intuition  zu  bringen. 


—     55    — 

die  in  der  Mouepmlosophie  eine  Rolle  spielt.  Es  ist  die  Intuition, 
die  sich  z.  B.  bei  Plotin  oder  bei  den  Mystikern  des  Mittelalters 
wie  Meister  Eckhardt,  aber  auch  bei  dem  „Rationalisten"  Spi- 
noza und  später  wieder  bei  nachkantischen  deutschen  Idealisten 
findet.  Sie  wird  hier  „intellektuelle  Anschauung"  genannt. 
Wer  sie  preist,  dem  schwebt  eine  Erkenntnis  vor,  die  durch 
das  logische  Erkennen  hindurch  gegangen  ist  und  damit  jene 
„Einheit"  wiederherstellt,  welche  die  „ratio"  zerstören  muß. 
Sie  liegt  der  Absicht  nach  von  dem  unmittelbaren  diesseiti- 
gen Erleben  des  modernen  Intuitionismus  so  weit  entfernt  wie 
"möglich.  Auf  keinen  Fall  ist  sie  für  weit  verbreitete  Strömungen 
unserer  Zeit  maßgebend. 

Ob  es  eine  solche,  jedes  lebendige  Leben  tötende  intuitive 
Erkenntnis,  wie  der  ,, abgeschiedene",  Gott  schauende  Mystiker 
sie  anstrebt,  gibt,  oder  ob  das,  was  es  hier  gibt,  noch  „Erkenntnis" 
genannt  werden  sollte,  falls  man  dem  Begriff  des  Erkennens 
eine  klare  theoretische  Bedeutung  lassen  will,  haben  war  nicht 
zu  fragen.  Das  wäre  nur  im  Zusammenhang  mit  einer  umfassen- 
den Theorie  des  kontemplativen  Lebens  auszumachen,  das  sich 
in  der  theoretischen  Kontemplation  nicht  erschöpft.  Wir  reden 
hier  vom  Erkennen,  das  nach  wissenschaftlicher  Wahrheit  sucht, 
und  uns  kam  es  allein  auf  den  Intuitionismus  an,  der  als  Lebens- 
philosophie den  Begriff  des  Verstandes  verwirft,  weil  er  das  un- 
mittelbare irdische  Leben  tötet.  Wo  der  Intuitionismus 
in  Mystik  oder  in  intellektuelle  Anschauung  umschlägt,  was  auch 
heut  bisweilen  vorkommen  mag,  entzieht  er  sich  unserer  Kritik, 
denn  da  verläßt  er  selber  die  Sphäre,  auf  die  das  Modeschlagwort 
Leben  paßt. 

Ebenso  haben  wir  hier  von  jeder  künstlerischen  Intuition 
abzusehen.  Handelt  es  sich  um  Musik,  Malerei,  Plastik  oder 
Architektur,  so  wird  niemand  ihre  Werke  für  Philosophie  halten. 
Bei  der  Poesie  dagegen  ist  eine  Verwechslung  eher  möglich. 
Der  Dichter  bedient  sich  wie  der  Philosoph  der  Sprache  und 
hat  die  atheoretische  Fähigkeit,  die  Bedeutung  von  Worten  so 
zu  verwenden,  daß  aus  ihren  Zusammenstellungen  sich  a  n- 
schauliche  Gebilde  ergeben.  Worauf  das  beruht,  und  in 
welchem  Verhältnis  diese  nicht  vital  lebendigen  atheoretischen 
Anschauungen    zur    unmittelbaren    Anschauung  der  Erlebnisse 


—     56    — 

stehen,  brauchen  wir  hier  nicht  zu  fragen.  Daß  auch  in  ihnen 
eine  Umformung  des  bloßen  Lebens  vorliegt,  dürfte  leicht  zu 
zeigen  sein. 

Immerhin  tragen  sie  einen  anschaulichen  Charakter  und 
bleiben  insofern  der  Anschauung  des  lebendigen  Lebens  näher, 
ja  sie  können  vom  anschaulichen  Leben  mehr  in  sich  aufnehmen 
als  der  theoretische  Begriff.  Diese  Fähigkeit  ist  nicht  auf  Dich- 
ter im  eigentlichen  Sinn  beschränkt,  sondern  vielen  Menschen 
eigen.  Auch  mag  es  oft  vorkommen,  daß  in  philosophischen 
Werken  sich  hie  und  da  Bestandteile  finden,  die  über  das  be- 
grifflich Faßbare  hinausführen  und  trotzdem  zugleich  einen 
positiven  theoretischen  Wert  insofern  besitzen,  als  sie  den  Ab- 
stand des  Anschaulichen  vom  theoretisch  Erkennbaren  zum  Be- 
wußtsein bringen.  Doch  wird  man  deshalb  die  ästhetische  An- 
schauung nicht  zum  Organ  der  Philosophie  machen.  Auch  hier 
kommt  es  vielmehr  darauf  an,  die  verschiedenen  Arten  der  Kon- 
templation auseinanderzuhalten  und  die  Kontemplation  klar- 
zustellen, die  Erkenntnis  gibt.  Zur  Gewinnung  einer  philo- 
sophischen , .Weltanschauung"  ist  die  poetische  Intuition  schon 
deswegen  ungeeignet,  weil  sie  wie  jede  künstlerische  Auffassung 
des  anschauhchen  Lebens  ihrem  Wesen  nach  auf  einen  Teil  der 
Welt  beschränkt  bleibt.  Das  poetisch  Anschaubare  muß  Grenzen 
haben.  Das  Grenzenlose  erfaßt  nur  der  Begriff.  Die  ästhetische 
Intuition  muß  daher  ebenso,  wenn  auch  aus  andern  Gründen  wie 
die  mystische,  beiseite  bleiben,  wo  man  über  die  Möglichkeit  einer 
intuitiven  Philosophie  des  Lebens  zur  Klarheit  kommen  will. 
Keine  außerwissenschaftliche  Intuition  kann  zur  Grundlage  der 
Philosophie  dienen,  auch  nicht  einer  Philosophie  des   Lebens. 

Die  Ablehnung  des  Intuitionismus  setzt  endlich  voraus,  daß 
die  Vertreter  der  intuitiven  Philosophie  an  einer  Bedeutung  des 
Wortes  Intuition  festhalten,  die  es  in  Kontrast  zu  allen  Begriffen 
des  Verstandes  bringt.  Meint  der  Intuitionist,  daß  der  Philo- 
soph nicht  allein  das  Denken,  sondern  auch  die  Anschau- 
ung braucht,  um  zu  erkennen,  so  ist  dagegen  nicht  das  Ge- 
ringste zu  erinnern.  Aber  das  kommt  auf  eine  Ansicht  hinaus, 
die  heute  niemand  mehr  ernsthaft  bestreitet,  und  eine  Philo- 
sophie des  intuitiv  erfaßten  Lebens  läßt  sich  daraus  gewiß  nicht 
machen.    Soll  der  Ausdruck  Intuition  als  Terminus  verwendbar 


—     57    — 

bleiben,  so  muß  das  Schauen  oder  die  Anschauung  in  Gegensatz 
zum  logischen  Denken  stehen,  und  falls  man  diese  Bedeutung 
meint,  gibt  es  keine  intuitive  „Erkenntnis".  Zu  allem  Erkennen 
gehört  vielmehr  außer  dem  anschaulichen  auch  das  begriffliche 
Moment.  Damit  aber  ist  der  Intuitionismus  grundsätzlich  durch- 
brochen. Ohne  ein  begriffliches  Prinzip  der  Auswahl  kommt 
keine  Philosophie  zustande. 

Zum  mindesten  wird  der  Intuitionist  nicht  bezweifeln,  daß 
die  Anschauung  ihn  etwas  Neues  lehren  müsse,  und  schon  das 
zeigt,  daß  Anschauung  allein  keine  Erkenntnis  gibt.  Oder  sollte 
man  es  bestreiten,  daß  man  zur  Entdeckung  des  Neuen  des 
Denkens  bedarf?  In  gewisser  Hinsicht  ist  ja  freilich  jedes  Er- 
lebnis ,,neu",^und  insofern  scheint  ein  Prinzip  der  Auswahl  ent- 
behrlich. Doch  das  Neue  in  diesem  Sinn  besitzt  noch  keine 
theoretische  Bedeutung.  An  einem  Kinderspaß  kann  man  sich 
das  klar  machen.^ Man  verspricht  einem  neugierigen  Jungen 
etvN^as  zu  zeigen,  das  noch  niemals  ein  Mensch  gesehen  hat,  und 
das  niemals  wieder  ein  Mensch  sehen  wird.  Man  nimmt  eine 
Nuß,  knackt  sie  auf,  zeigt  den  Kern  vor  und  verspeist  ihn. 
Dann  hat  man  sein  Versprechen  erfüllt.  Der  neugierige  Junge 
wird  enttäuscht  sein  und  mit  Recht,  um  so  sicherer,  wenn  er 
die  Nuß  nur  ,, intuitiv"  erfassen  soll.  Vom  bloßen  Anschauen 
des  Neuen  kann  man  nicht  einmal  „leben". 

Das  sollte  auch  der  nach  Erlebnissen  neu-gierige  Intuitionist 
einsehen:  das  Neue  bietet  für  sich  allein  dem  Philosophen  noch 
nichts.  Die  Nuß  muß  fragwürdig  sein,  d.  h.  ein  Problem  ent- 
halten, wenn  es  lohnen  soll,  sie  zu  knacken,  und  will  man  das 
Problem  lösen,  so  darf  man  nicht  beim  Anschauen  bleiben,  son- 
dern hat  das  Geschaute  zu  bearbeiten  und  seinem  Denken 
einzuverleiben.  Allerdings,  zeigt  die  Intuition  ,,in  nuce"  das 
Weltall,  dann  lohnt  es,  daß  man  die  Nuß  knackt,  aber  dann  ist 
sie  in  keinem  Fall  bloße  Intuition.  Dann  gibt  sie  uns  W  e  1 1- 
anschauung  und  muß  gerade  deswegen  mehr  als  nur  Weltan- 
schauung sein.  Die  Welt  als  Ganzes  kann  man  nicht  , .an- 
schauen". Die  reine  Intuition  vermag  nicht  einmal  taube  von 
vollen  Nüssen  zu  unterscheiden,  falls  sie  bloß  anschaut.  — 

Es  bleibt  heute  eine  undankbare  Aufgabe,  den  Intuitionis- 
mus zu  bekämpfen,  zumal  wo  er  sich  mit  der  Lebensphilosophie 


—     58    — 

verbündet  hat.  Anschaulichkeit  und  Lebendigkeft  —  die  Worte 
haben  einen  verlockenden  Klang  schon  dann,  wenn  man  jedes 
für  sich  nimmt.  Vereinigen  sie  sich  gar  zur  „anschaulichen 
Lebendigkeit"  oder  zur  „lebendigen  Anschaulichkeit",  wer  kann 
ihnen  da  noch  widerstehen?  Besonders  aber  erfreut  sich  der 
Gegner  der  Erlebnisphilosophie,  der  nüchterne,  unanschauhche, 
unlebendige  Verstand  und  sein  Produkt,  das  Rationale»  heut 
gar  keiner  Sympathie,  und  dagegen  ist  mit  Gründen  auch  nicht 
viel  zu  machen.  Man  kann  das  Rationale  nur  begründen,  wenn 
man  schon  Rationales  voraussetzt.  Solange  der  Mensch  nichts 
anderes  als  leben  will,  mag  er  jede  ratio  ablehnen. 

In  der  Philosophie  läßt  sich  der  Verstand  jedoch  wohl  nie 
ganz  ausschalten,  und  jedenfalls  sollte  die  Ueberwindung  des 
Rationalismus  oder  Intellektualismus,  die  man  heut  preist,  nicht 
zur  Ueberwindung  des  Verstandes  oder  Intellekts  führen^). 
Aus  der  logisch  unbegründeten  Vorliebe  für  das  bloß  anschau- 
liche Leben  müssen  wir  in  der  wissenschaftlichen  Philosophie 
endlich  wieder  heraus.  Endlich !  Denn  es  ist  nun  schon  ein  halbes 
Jahrhundert  verflossen,  seit  Nietzsche  in  seiner  „Geburt  der 
Tragödie  aus  dem  Geiste  der  Musik"  gegen  den  sokratischen 
Menschen  ins  Feld  zog.  Hat  die  Philosophie  dem  „dionysischen" 
Prinzip  Neues  für  einen  positiven  Aufbau  zu  verdanken  ? 
Man  wird  es  bezweifeln  dürfen.  Wohl  mag  ein  Kampf,  wie 
Nietzsche  ihn  führte,  stets  notwendig  werden,  wo  der  Sokra- 
tiker  die  Gestalt  des  Bildungsphilisters  annimmt,  wie  Haym  im 
Sinne  der  Romantik  den  Aufklärer  genannt  hat  2).  Aber  Sokra- 

1)  Das  habe  ich  schon  1899  in  einer  Abhandlung  über  Fichtes 
Atheismusstreit  (Kantstudien  Bd.  IV),  als  das  Leben  noch  kein 
so  beliebtes  philosophisches  Schlagwort  war,  gegen  James  und 
Paulsen  geltend  gemacht.  Der  Kampf,  den  Fichte  gegen  Forbergs 
„als  ob"  führte,  ist  heute  vollends  nicht  veraltet. 

2)  Vgl.  Rudolf  Haym,  Die  romantische  Schule.  Ein 
Beitrag  zur  Geschichte  des  Deutschen  Geistes.  1870^  S.  88. 
Es  heißt  dort  von  Tiecks  Schildbürgern:  ,,Die  eigentliche  Ziel- 
scheibe des  Spottes  war  ....  ganz  speziell  die  prosaische  Super- 
klugheit der  Bildungsphilister,  die  Trivialität  und  Abgeschmackt- 
heit der  Aufklärer".  Da  Nietzsche  auf  die  Erfindung  des  Wortes 
Bildungsphilister  stolz  war,  ist  es  ausgeschlossen,  daß  er  diese 
Stelle  gekannt  hat.  Hayms  Schopenhauerkritik  ärgerte  sein 
romantisches  Herz.  Er  witzelte  über  „gewisse  überverwegene 
Ueberweffe    und    in  der    Philosonhie    nicht    heimische    Hayme". 


—     59    — 
* 
tes  war   kein  Bildungsphilister,  und  der  sokratische  Mensch  be- 
hält gegenüber  dem  dionysischen  doch  auch  sein   Recht.     Ja, 
in  der  Philosophie  bleibt  er  der  einzige,  der  Recht,  d.  h.  theore- 
tisch Recht  haben  kann. 

Solche  Selbstverständlichkeiten  sind  vielleicht  langweilig, 
aber  man  darf  sie  nicht  vergessen.  Es  wäre  daher  wohl  an  der 
Zeit,  daß  man  wieder  auch  die  sokratische  Seite  des  philosophi- 
schen Lebens  berücksichtigte.  Hätten  wir  denn  wirklich  Grund, 
uns  zu  freuen,  daß  wir  Lebewesen  sind,  falls  wir  als  Lebewesen 
nur  leben  und  erleben  könnten?  Nach  der  modernen  Lebens- 
philosophie sieht  es  manchmal  so  aus.  Das  bloße  Leben  scheint 
ihr  Lebenswonne.  Sollten  wir  da  nicht  versuchen,  zunächst 
wenigstens  unser  Gefühl  wieder  auch  für  den  Verstand  spre- 
chen zu  lassen,  d.  h.  unseren  Stolz  und  unsere  Würde  darin 
suchen,  daß,  trotzdem  wir  Lebewesen  sind,  wir  auch  über  das 
Leben  denken  und  uns  damit  über  das  Leben  erheben  können 
in  eine  unlebendige  Welt?  Es  sind  jedenfalls  keine  theoretischen 
Gründe,  sondern  lediglich  Lebensstimmungen,  die  uns  beherr- 
schen, falls  wir  diese  Frage  verneinen. 

Durch  Gründe  allein  lassen  sich  die  „emotionalen"  Elemente 
die  hier  nein  sagen,  selbstverständlich  auch  nicht  beseitigen. 
Aber  da  jeder  Mensch,  der  sich  mit  Philosophie  beschäftigt, 
doch  nicht  nur  ein  lebendes,  sondern  auch  ein  denkendes  Wesen 
ist,  also  Gründe  zu  verstehen  vermag,  wird  sogar  der  bloß  theo- 
retische Kampf  gegen  die  Philosophie  der  reinen  Anschauung 
und  Lebendigkeit  das  Vorwiegen  der  Lebensstimmungen  und 
Lebensgefühle  vielleicht  ein  wenig  erschüttern.  Philosophisch 
fruchtbar  im  positiven  Sinn  ist  die  Alleinherrschaft  solcher 
Stimmungen  und  Gefühle  nicht.  Ein  Umschwung  wäre  dringend 
zu  wünschen. 

Sollte  man  sich  also  darauf  besinnen,  daß  es  in  der  Philo- 
sophie nicht  auf  das  Leben,  sondern  auf  das  Denken  über  das 
Leben   ankommt,    und  sollte  man   einsehen,  daß  das  Denken 


Wer  der  Erfinder  des  Ausdrucks  Bildungsphilister  ist,  hätte  nicht 
viel  zu  bedeuten.  Interessant  aber  bleibt,  daß  Haym  und  nach 
ihm  Nietzsche  ihn  in  demselben  Sinn  brauchen,  als  Spottnamen 
für  Aufklärer.  Der  Kampf  gegen  die  Verstandesaufklärung  steckt 
auch  in  der  modernen  Lebensphilosophie.  Davon  wird  später 
noch  zu  reden   sein. 


—     60    — 

« 
seinem  Wesen  nach  stets  mehr  oder,  um  bescheiden  zu  sprechen, 
etwas  anderes   als    bloß  anschauendes   Leben  ist,    so  wäre  das 
schon  ein  großer  Fortschritt. 

Positiv  hätten  wir  zwar  damit  allein  noch  nicht  sehr  viel 
erreicht.  Die  Hauptsache  bleibt  selbstverständlich,  wie  wir 
die  Welt  und  das  Leben  denken.  Aber  es  wäre  doch  wenig- 
stens ein  Hindernis  gerade  für  eine  Philosophie  des  Lebens  hin- 
weggeräumt. Man  versuche  zunächst  einmal,  wenigstens  zu 
fühlen,  welche  herrliche  Gabe  dem  Menschen  damit  verliehen 
ist,  daß  er  sich  denkend  über  das  Leben  zu  erheben,  die  leben- 
dige Anschauung  durch  sein  Denken  zu  formen,  sie  in  seinen 
Besitz  zu  bringen  und  so  zu  mehr  als  bloß  lebendiger  Anschau- 
ung zu  gestalten  vermag.  Lenkt  man  nur  einmal  die  A  u  f- 
'merksamkeit  auf  diese  Wunder  und  Triumphe  des  ver- 
achteten Denkens,  dann  muß  es  für  jeden  Menschen,  in  dem 
eine  Spur  des  philosophischen  Eros  lebt,  mit  allem  Intuitionis- 
mus des  reinen  Erlebens  und  aller  bloß  anschaulichen  Philosophie 
des  Lebens  vorbei  sein. 

Für  die  Macht  des  Denkens  über  die  anschauliche  Erschein- 
ungswelt und  sein  Recht  können  wir  uns  sogar  auf  den  Augen- 
menschen Goethe  berufen,  der  gewiß  nicht  geneigt  war,  das 
Denken  zu  überschätzen,  ja  der  als  Dichter  die  Anschauung 
bisweilen  einseitig  pries. 

„Und  was  in  schwankender  Erscheinung  schwebt, 

Befestiget  mit  dauernden  Gedanken." 
So  ruft  der  Herr,  nachdem  er  dem  Geist,  der  stets  verneint, 
Audienz  erteilt  und  ihn  entlassen  hat,  seinen  Engeln  zu.  Auch 
im  Sinn  des  Faustdichters  sind  wir  somit  echte  Göttersöhne, 
die  sich  an  der  lebendig  reichen  Schöne  erfreuen,  wenn  wir  ver- 
suchen, mit  unseren  Gedanken  Herren  zu  werden  über  die 
schwankende  phänomenale  Welt. 

Sollte  man  aber  fragen,  wie  denn  der  Mensch  dazu  kommt, 
sich  über  das  Leben  zu  stellen,  da  er  doch  nichts  als  einer 
seiner  Teile  ist,  so  mag  darauf  ebenfalls  ein  Wort  Goethes  als 
Antwort  dienen.  Es  findet  sich  im  unmittelbaren  Zusammen- 
hang mit  Versen,  die  man  gewöhnlich,  etwas  gedankenlos,  zitiert, 
um  den  Dichter  als  Zeugen  dafür  anzurufen,  wie  unselbständig 
wir  in   der  Natur   stehen.     Allerdings  heißt  es  zuerst: 


—     61     — 

„Nach  ewigen,  ehrnen, 
Großen  Gesetzen 
Müssen  wir  Alle 
Unseres  Daseins 
Kreise  vollenden." 

Dann  aber  geht  es  im  Gegensatz  dazu  weiter: 

„Nur  allein  der  Mensch 
Vermag  das  Unmögliche. 
Er  unterscheidet, 
Wählet  und  richtet, 
Er  kann  dem  Augenblick 
Dauer  verleihen." 

Goethe  sieht,  wie  meist,  das  Eine  und  das  Andere.  Als 
Philosophen  müssen  wir  das  , .Unmögliche"  versuchen,  und  wir 
dürfen  es,  denn  der  Glaube  daran,  daß  wir  es  vermögen,  gehört 
zu  den  unentbehrlichen  Voraussetzungen  jeder  Wissenschaft. 
Halten  wir  uns  für  unfähig,  dem  Augenblick  Dauer  zu  verleihen 
oder  die  schwankende  Erscheinung  mit  Gedanken  zu  befestigen, 
dann  sollten  wir  das  Philosophieren  überhaupt  lassen.  Die 
bloße  Intuition  ohne  festen  Begriff  führt  zum  theoretischen 
Nichts.  Wo  gar  die  unmittelbare  Anschauung  gegen  Des- 
cartes  und  Kant  als  „Philosophie"  ausgespielt  wird,  gilt  es,  zu- 
nächst zu  diesen  Denkern  zurückzukehren,  um  dann  mit  ihnen 
wieder  vorwärts  zu  kommen,  über  die  Mode  hinaus  zur  Philo- 
sophie als  einem  Denken  der  Welt  in  Begriffen. 

Zusammenfassend  ist  von  allen  Richtungen  der  Lebens- 
philosophie, deren  Stärke  in  einer  Besinnung  auf  das  Erlebte 
in  seiner  Anschaulichkeit  und  Unmittelbarkeit  liegt,  zu  sagen: 
man  kann  gewiß  verarmen,  falls  man  nicht  genug  Gewicht  auf 
die  lebendige  Fülle  des  ursprünglich  Gegebenen  legt.  Aber  man 
wird  noch  gewisser  in  der  unübersehbaren  Mannigfaltigkeit 
des  Lebens  geistig  ersticken,  wenn  man  sie  nicht  begrifflich  zu 
beherrschen  vermag.  Nur  mit  einem  Kompaß  oder  angesichts 
eines  Leuchtturms,  der  die  Wege  weist,  hat  es  einen  Sinn,  sich 
auf  das  hohe  Meer  des  Lebens  in  seinem  überwältigenden  Reich- 
tum hinauszuwagen,  um  darüber  zu  philosophieren.  Ohne  Bild: 
der  ganzen  Fülle  aller  Erlebnisse  oder  Erlebnisinhalte,  die  sich 
intuitiv  erfassen  lassen,  wird  niemand  Herr,  und  danach  be- 
steht in  der  Wissenschaft  auch  kein  Bedürfnis.  Die  Philosophie 
braucht  Prinzipien,   die    gliedern   und   gestalten.     Nach   ihnen 


-     62    — 

suchen  wir   in   der  nur  intuitiv    gerichteten    Lebensphilosophie 
vergeblich. 

Im  Grunde  bedeutet  auch  das  etwas,  das  längst  selbstverständ- 
lich geworden  sein  sollte.  Doch  wenn  Otto  Erich  Hartleben 
in  seinem  „Halkyonier"  spottet: 

„Es  bleibt  der  Philosoph  von  Wert  für  alle  Zeiten: 
Er  findet  stets  aufs  neu  die  Selbstverständlichkeiten," 
so  brauchen  wir  diesen  Spott  nicht  zu  fürchten.  Das  Selbstver- 
ständliche muß  immer  wieder  gesagt  werden,  wo  das  „Erleben" 
gegen  das  Denken  ausgespielt  wird.  Nicht  Inhalt  oder  Form, 
Anschauung  oder  Begriff,  hat  man  beim  Philosophieren  zu 
fragen.  Wie  öfter,  so  kommt  es  auch  hier  nicht  auf  das  Ent- 
weder-oder,  sondern  auf  das  Eine  und  das  Andere  in  ihrer  Ver- 
bindung an.  Wir  brauchen  geformten  Inhalt,  gedachtes  Leben, 
begriffene  Anschauung,  und  in  der  Form  des  Denkens  oder  des 
Begriffs  steckt  das  spezifisch  wissenschaftliche  Moment.  Gewiß 
ist  die  Denkform  ohne  anschaulichen  Inhalt  „leer",  aber  sie 
bildet  trotzdem  allein  das  theoretisch  Differente.  Der  bloß  an- 
geschaute Inhalt  bleibt  immer  ,, blind"  und  daher  theoretisch 
nichtssagend.  Gegenüber  dieser  schlichten  Wahrheit  bricht  jeder 
Lebens-Intuitionismus  als  Wissenschaft  in  sich  zusammen,  und 
zwar  um  so  sicherer,  je  konsequenter  er  sich  gestaltet. 


Viertes   Kapitel. 

Lebensform  und  Lebensinhalt. 

,,Den  Gehalt  in  deinem  Busen 
Und    die    Form   in    deinem    Geist." 

Dauer  im  Wechsel. 

Doch  mit  den  Gedanken,  die  auf  Anschauliches  und  Un- 
mittelbares gehen,  ist  die  moderne  Lebensphilosophie  nicht  er- 
schöpft. Wir  haben  ihre  intuitiv  und  antirationalistisch  ge- 
richteten Tendenzen  für  sich  betrachtet  und  ihre  Kritik  voran- 
gestellt, weil  sie  den  umfassendsten  und  allgemeinsten  philo- 
sophischen Zug  der  Zeit  darstellen.  Zur  Lebensphilosophie  im 
engeren  Sinn  kommen  wir  erst,  wenn  wir  außerdem  noch  einen 
engeren  Lebensbegriff  ins  Auge  fassen.  Dann  wird  auch  die 
Kritik  der  Denker  einsetzen  können,  die  sich  selbst  mit  Em- 
phase Philosophen  des  Lebens  nennen. 


—     63    — 

Bei  den  intuitiv  zu  ergreifenden  Erlebnissen  oder  Erlebnis- 
inhalten bleibt  niemand  stehen,  der  ernsthaft  besondere  Lebens- 
probleme in  Angriff  nimmt.  Bei  jedem  Versuch,  dies  zu  tun, 
entsteht  aus  dem  Erlebnis  eine  Lebens  lehre,  und  das  bedeutet, 
daß  zum  Lebensinhalt  die  Lebensform  hinzutritt.  Sieht  man 
das  ein,  so  wird  man  meinen,  die  Lebensphilosophie  habe  nur 
dafür  zu  sorgen,  daß  die  Formen,  die  sie  braucht,  echte  Lebens- 
formen seien,  oder  daß  man  das  Leben  mit  seinen  eigenen 
Formen  begreife. 

Zugleich  aber  ergibt  sich  für  eine  konsequente  Lebens- 
philosophie daraus  auch  ein  schweres  Problem.  Die  Form  ist 
nur  dann  ., Leben",  wenn  wir  dies  Wort  im  denkbar  weitesten 
Sinn  als  Erlebnis  nehmen,  also  einen  Begriff  damit  verbinden, 
der,  wie  wir  sahen,  in  keiner  Lebensphilosophie  fruchtbar  zu 
machen  ist.  Sobald  der  formale  Faktor  in  Gegensatz  zum  In- 
halt tritt,  kommt  er  damit  auch  in  Gegensatz  zum  Leben. 
Das  gilt  für  jede  Form  ohne  Ausnahme,  also  auch  für  die 
Lebensform.  Alles  Leb^n  fließt  kontinuierlich.  Die  Form  da- 
gegen bedeutet  Begrenzung,  ja  ist  selber  Grenze.  Das  Leben 
befindet  sich  in  dauernder  Bewegung,  und  die  Form  stellt  ihm 
gegenüber  etwas  Festes  oder  Starres  dar.  So  lassen  sich  die 
Lebensformen  nur  im  Kontrast  zum  kontinuierlichen  Lebens- 
fluß der  Inhalte  denken,  und  doch  können  wir  sie  nicht  ent- 
behren,  falls  wir   irgendeine  Erkenntnis   des  Lebens  anstreben. 

Man  mag  freilich  den  Schwerpunkt  dabei  mehr  auf  die 
Seite  der  festen  Form  oder  mehr  auf  die  Seite  des  beweglichen 
Inhalts  legen  und  dann  die  Form  auf  ein  Minimum  herabzu- 
drücken suchen.  Seitdem  in  der  griechischen  Philosophie  Hera- 
klit  und  Parmenides  einander  gegenüber  standen,  hat  sich  der 
Kampf  zwischen  Evolutionismus  und  Stabilität  immer  von  neuem 
wiederholt.  Aber  auch  der  Weise  von  Ephesus,  für  den  „alles 
fließt",  war,  soviel  wir  wissen,  weit  davon  entfernt,  in  Wahr- 
heit alles  in  Bewegung  aufzulösen.  Ueber  dem  Fließen  schwebte 
für  ihn  der  feste  Bhythmus,  den  zu  erfassen,  die  Aufgabe  des 
Philosophen  bildete.  Wo  man  das  Feste  überhaupt  leugnete, 
kam  man  zum  Skeptizismus  oder  zu  einem  Relativismus,  der 
nur  durch  Inkonsequenzen  vom  theoretischen  Nihilismus  ge- 
trennt blie]). 


-     64    - 

So  gerät  die  Lebensphilosophie  in  eine  üble  Lage.  Sie 
braucht  die  Lebensform,  um  Philosophie  des  Lebens  zu  sein, 
und  sie  muß  jede  feste  Form  ablehnen,  um  Philosophie  des 
Lebens  zu  bleiben.  Es  geht  weder  mit  der  Form  noch  ohne 
sie.  Gibt  es  im  strengen  Sinne  so  etwas  wie  „Lebensformen", 
d.  h.  Formen,  die  nur  Leben  sind  ?  Ist  lebendig  nicht  allein 
der  Lebensinhalt  ? 

Unter  den  Lebensphilosophen  hat  keiner  dies  Problem  klarer 
gesehen  und  tiefer  erfaßt  als  Georg  Simmel  i).  Daß  es  im 
Leben  ohne  Form  nicht  geht,  weiß  er  genau.  Aber  ebenso  steht 
fest:  das  Lebendige  duldet  auf  die  Dauer  nichts  Festes.  Von 
bleibenden  Gestalten  darf  daher  der  Lebensphilosoph  nichts 
wissen  wollen.  Er  muß  also  versuchen,  die  Form  mit  dem 
Inhalt,  das  Starre  mit  dem  Beweglichen,  das  Feste  mit  dem 
Fließenden,  die  Grenze  mit  dem  Grenzenlosen  zu  versöhnen, 
und  zwar  so,  daß  schließlich  das  lebendige  Leben  den  Primat 
behält.  Er  kann  zwar  nicht  anders,  als  eine  Herrschaft  der  Form 
über  das  Leben  anerkennen,  aber  es  ist  zugleich  notwendig, 
daß  die  Herrschaft  wieder  gebrochen  wird.  Sonst  läßt  sich  dem 
Leben  die  Stelle  des  ersten  und  letzten  philosophischen  Prinzips 
nicht  retten. 

Von  hier  aus  ist  Simmeis  „Metaphysik  des  Lebens"  zu 
verstehen.  Sie  nimmt  auch  in  dieser  Hinsicht  eine  eigenartige 
Stelle  in  der  Lebensphilosophie  unserer  Zeit  ein,  und  die  Klar- 
legung ihres  Grundgedankens  ist  für  die  Kritik  des  modernen 
Denkens  sehr  lehrreich,  obwohl  keine  Rede  davon  sein  kann, 
daß  ihr  Prinzip  in  der  Modephilosophie  eine  erhebliche  Rolle 
spielt.  Dazu  ist  es  zu  schwer  zu  erfassen.  Wollen  wir  jedoch 
einen  Blick  in  die  Tiefe  der  Probleme  tun,  so  dürfen  wir  daran 
nicht  vorübergehen.     Ein  noch  radikalerer  Versuch,   das  Leben 


1)  Lebensanschauung.  Vier  metaphysische  Kapitel.  1918. 
Als  Gegenstand  der  Kritik  kommt  nur  das  erste  Kapitel:  Die 
Transzendenz  des  Lebens,  in  Betracht.  Die  Ausführungen  des 
zweiten:  Die  Wendung  zur  Idee,  stehen  der  hier  vertretenen  An- 
sicht nahe.  Auch  auf  den  Grundgedanken  des  \ierten  Kapitels: 
Das  individuelle  Gesetz,  habe  ich  1902  in  meinem  Buch  über  die 
Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung  (2.  Aufl. 
S.  619  tl.)  hingewiesen.  Freilich  scheint  mir  der  Ausdruck  „Ge- 
setz" in  diesem  Zusammenhang  bedenklich,  doch  ist  die  Differenz 
mehr  terminologisch  als  sachlich. 


—     65    — 

zum  Herrscher  über  alles  zu  machen,  liegt  bisher  nicht  vor, 
und  wenn  auch  er  scheitern  sollte,  ist  mit  der  Einsicht  in  die 
Gründe  dieses  Scheiterns  viel  gewonnen. 

Simmel  geht  davon  aus,  daß  wir  immer  und  überall  Grenzen 
haben  und  auch  Grenze  sind.  Zugleich  wissen  wir  jedoch 
von  unseren  Grenzen,  und  der  allein  kann  von  ihnen  Kenntnis 
besitzen,  der  schon  außerhalb  ihrer  steht.  Ob  das  richtig  ist, 
bleibe  dahingestellt.  Jedenfalls  vollzieht  sich  nach  Simmel  ein 
Sich-selbst-Ueberschreiten  des  Geistes  auf  den  verschiedensten 
Gebieten. 

Wir  wissen  z.  B.,  daß  unser  Erkennen  Grenzen  hat,  aber 
daß  wir  als  erkennende  Wesen  und  innerhalb  der  Möglichkeiten 
des  Erkennens  selbst  die  Idee  überhaupt  fassen  können:  die 
Welt  ginge  in  die  Formen  unseres  Erkennens  nicht  hinein,  daß 
wir,  selbst  rein  problematischer  Weise,  eine  Weltgegebenheit 
denken  können,  die  wir  eben  nicht  denken  können  —  das  ist 
ein  Hinausschreiten  des  geistigen  Lebens  über  sich  selbst,  Durch- 
bruch und  Jenseitigkeit  nicht  nur  einer  einzelnen,  sondern  seiner 
Grenze  überhaupt. 

Das  nennt  Simmel  dann  den  „Akt  der  Selbsttranszendenz, 
der  die  immanente  Grenze  selbst  erst  setzt",  und  er  sagt:  ,,Mit 
dieser  Bewegung  in  der  Transzendenz  seiner  selbst  erst  zeigt  sich 
der  Geist  als  das  schlechthin  Lebendige".  Der  Gedanke  wird 
nach  mehreren  Bichtungen  hin  ausgeführt,  auf  die  es  im  ein- 
zelnen hier  nicht  ankommt.  Nur  das  ist  wichtig:  diese  Existenz- 
art allein  nennt  Simmel  Leben,  und  eine  letzte,  metaphysische 
Problematik  liegt  für  ihn  darin,  daß  das  Leben  grenzenlose 
Kontinuität  und  zugleich  grenzbestimmtes  Ich  ist.  Ein  nur 
kontinuierliches  heraklitisches  Fließen  ohne  ein  bestimmtes  be- 
harrendes Etwas  enthielte  ja  die  Grenze  gar  nicht,  über  die  ein 
Hinauslangen  geschehen  soll,  nicht  das  Subjekt,  welches  hinaus- 
^reift. 

So  ist  das  Leben,  wie  es  bei  Zarathustra  heißt,  das,  was  sich 
immer  selber  überwinden  muß,  oder  es  ist  ihm,  wie  Simmel 
mit  absichtlich  paradoxem  Ausdruck  sagt,  die  Transzendenz 
immanent. 

Von  diesem  allgemeinen  Prinzip  kommen  wir  zur  Form  und 
ihrer  Stellung   zum  Leben.    Zwischen  der  Kontinuität   und   der 

B  i  c  k  e  1 1 ,  Philosophie  d.  Lebens.  5 


—    66    — 

Form  als  letzten  weltgestaltenden  Prinzipien  besteht  ein  tiefer 
"WidersprHch,  da  Form  Grenze  ist  und  sich  nicht  ändern  kann. 
Den  Zwiespalt  von  Leben  und  Lebensform  gilt  es  zu  überv\'inden. 
Genauer:  nur  der  Intellekt  nennt  das  eine  Ueberwindung  der 
Zweiheit  durch  die  Einheit.  Es  ist  an  sich  selbst  ein  Drittes, 
jenseits  von  Zweiheit  und  Einheit:  das  Wesen  des  Lebens  als 
Ueberschreiten  seiner  selbst.  In  einem  Akt  bildet  es  etwas, 
was  mehr  ist  als  die  vitale  Strömung  selbst:  die  individuelle 
Geformtheit  —  und  durchbricht  eben  diese,  von  seiner  Stauung 
in  jene  Strömung  hirieingezei ebnete,  läßt  sie  über  ihre  Grenzen 
hinausgreifen  und  wieder  in  seinen  Weiterfluß  zurücktauchen. 
Wir  sind  nicht  in  grenzenfreies  Leben  und  grenzgesicherte  Form 
geschieden,  wir  leben  nicht  teils  in  der  Kontinuität,  teils  in  der 
Individualität ,  die  sich  gegenseitig  aufheben.  Vielmehr  das 
Grundwesen  des  Lebens  ist  eben  jene  in  sich  einheitliche  Funktion, 
das  Transzendieren  seiner  selbst. 

So  gilt  es,  einen  absoluten  Begriff  des  Lebens  zu  ge- 
winnen, der  jenem,  noch  von  einem  Gegensatz  sich  abhebenden, 
als  einen  deshalb  nur  relativen  unter  sich  begreift.  Damit  hat 
das  Leben  zwei,  einander  ergänzende  Definitionen:  es  ist  Mehr- 
Leben  und  es  ist  Mehr-als-Leben.  Indem  es  Leben  ist,  braucht 
es  die  Form,  und  indem  es  mehr  als  Leben  ist,  braucht  es  mehr 
als  die  Form.  Mit  diesem  Widerspruch  ist  das  Leben  behaftet, 
daß  es  nur  in  Formen  unterkommen  kann  und  doch  in  Formen 
nicht  unterkommen  kann,  eine  jede  also,  die  es  gebildet  hat„ 
überlangt  und  zerbricht. 

Simmel  weiß,  daß  er  mit  seinen  Gedanken  an  die  Grenze 
dessen  gelangt  ist,  was  sich  noch  sagen  läßt,  aber  grade  weil  er 
das  weiß,  muß  er  nach  seinem  Grundsatz  annehmen,  daß  er 
diese  Grenze  zugleich  überschritten  hat,  und  er  meint,  als 
Widerspruch  erscheine  dies  n  u  r  in  der  logischen  Reflektion,  für 
die  die  einzelne  Form  als  ein  für  sich  gültiges,  real  oder  ideell 
festes  Gebilde  dasteht,  die  eine  diskontinuierliche  neben  der 
andern  und  in  begrifflichem  Gegensatz  zur  Bewegtheit,  Strömung, 
Weitergreifen.  Das  unmittelbar  gelebte  Leben  ist  eben  die  Ein- 
heit von  Geformtsein  und  Hinüberlangen,  Hinüberfließen  über 
Geformtheit  überhaupt,  was  sich  im  einzelnen  Augenblick  als 
Zerbrechen  der  jeweiUgen  aktuellen  Form  darstellt.  —  Das  Leben 


—    67     — 

ist  eben  immer  mehr  Leben  als  dasjenige,  das  in  der  ihm  jeweils 
beschiedenen ,  aus  ihm  selbst  gewachsenen  Form  Raum  hat. 
Damit  ist  in  die  Dimension  gewiesen,  in  die  das  Leben  trans- 
zendiert,  wenn  es  nicht  nur  Mehr-Leben,  sondern  Mehr-als-Leben 
ist.  Das  Leben  findet  sein  Wesen,  seinen  Prozeß  darin,  Mehr- 
Leben  und  Mehr-als-Leben  zu  sein,  sein  Positiv  ist  als  solcher 
schon  sein  Komparativ. 

Simmel  schließt  seine  Darlegung  mit  den  bezeichnenden 
Worten:  ,,Ich  weiß  sehr  wohl,  welche  logischen  Schwierigkeiten 
dem  begrifflichen  Ausdruck  dieser  Art,  das  Leben  zu  schauen,, 
entgegenstehen.  Ich  habe  sie,  in  voller  Gegenwart  der  logischen^ 
Gefahr,  zu  formulieren  versucht,  da  doch  immerhin  möglicher- 
weise die  Schicht  hier  erreicht  ist,  in  der  logische  Schwierig- 
keiten nicht  ohne  weiteres  Schweigen  gebieten  — ■  weil  sie  die- 
enige  ist,  aus  der  sich  die  metaphysische  Wurzel  der  Logik 
selbst  ernährt." 

Es  wäre  zu  wünschen,  daß  alle  Lebensphilosophen  sich  irt 
so  hohem  Maße  die  Schwierigkeiten  klar  gemacht  hatten,  die 
entstehen  müssen,  sobald  man  in  der  Wissenscliaft  das  lebendige 
Leben  über  das  Denken  des  Lebens  zu  stellen  versucht.  Dann 
könnte  man  aus  der  Lebensphilosophie  erheblich  mehr  lernen. 

In  populärerer  Form  hat  Simmel  diesen  Gedanken  an  anderer 
Stelle  so  formuliert  ^) :  Das  Leben  kämpft  vermöge  seines  Wesens 
als  Unruhe,  Entwicklung,  Weiterströmen  dauernd  an  gegen  seine 
eigenen  festgewordenen  Erzeugnisse,  die  mit  ihm  nicht  mit- 
kommen. Da  es  aber  seine  Außenexistenz  nicht  anders  finden 
kann,  als  eben  in  irgend  welchen  Formen,  so  stellt  sich  dieser 
Prozeß  sichtbar  und  benennbar  als  Verdrängung  der  alten  Form 
durch  eine  neue  dar.  Der  fortwährende  Wandel  ist  das  Zeichen 
oder  vielmehr  der  Erfolg  der  unendlichen  Fruchtbarkeit  des 
Lebens,  aber  auch  des  tiefen  Widerspruchs,  in  dem  sein  ewiges 
Werden  und  Sichwandeln  gegen  die  objektive  Gültigkeit  und 
Selbstbehauptung  seiner  Darbietungen  und  Formen  steht,  an 
denen  oder  in  denen  es  lebt.  Es  bewegt  sich  zwischen  Stirb  und 
Werde  —  Werde  und  Stirb. 

Es  war  nötig,  mehrere  dieser  Wendungen  in  ihrem  Wortlaut 
zu  geben,   um   der  Gefahr  einer  Umdeutung  aus  dem  Wege  zu 

1)  Der  Konflikt  der  modernen  Kultur.  tl918. 

5* 


—    68     — 

gehen.  Ist  der  in  ihnen  enthaltene  Versuch^  'dem  lebendigen 
Leben  die  Stellung  über  der  „toten"  Lebensform  zu  retten,  ge- 
lungen ? 

Gewiß  enthalten  diese  Gedanken,  wenn  man  sie  richtig  ver- 
steht, eine  partielle  Wahrheit.  Aber  ebenso  gewiß  sind  sie  rein 
wissenschaftlich  nicht  durchzuführen,  und  das  weiß  Simmel 
im  Grunde  selbst.  "Wir  werden  an  die  Grenze  des  Logischen, 
d.  h.  widerspruchslos  Denkbaren  geführt,  und  damit  an  die  Grenze 
der  Wissenschaft.  Ja,  wir  überschreiten  ihre  Grenze  mit  dem 
Versuch,  das  als  Einheit  zu  denken,  was  für  das  logische  Denken 
immer  in  eine  Zwäiheit  auseinanderfällt.  Genauer:  wir  über- 
schreiten, innerhalb  der  Wissenschaft,  die  Grenze  nicht,  denn 
wir  können  sie  logisch  denkend  nicht  überschreiten.  Wir  ver- 
suchen nur,  etwas  zu  denken,  was  undenkbar  ist,  und  das 
muß  mißlingen. 

Das  Prinzip  alles  logischen  Denkens,  das  heterologisch  ist, 
kann  uns  an  dieser  Stelle  nicht  beschäftigen  i).  Doch  genügt  eine 
einfache  Ueberlegung,  um  zu  zeigen,  daß  auch  dieser  scharf- 
sinnigste Versuch,  der  vielleicht  je  gemacht  worden  ist,  den 
Lebensbegriff  als  letztes  Prinzip  der  Philosophie  gegenüber  allen 
theoretischen  Einwänden  aufrecht  zu  erhalten,  als  theoretischer 
Versuch  scheitern  muß.  Wir  haben  es  bei  Simmel  nicht  nur 
mit  einem,  sondern  mit  zwei  Lebensbegriffen  zu  tun,  einem 
immanenten  und  einem  transzendenten,  und  es  ist  unmöglich, 
daraus  einen  Begriff  zu  machen.  Schon  deswegen  wird  die 
angestrebte  Lebenseinheit  nicht  erreicht. 

Man  kann  die  Undurchführbarkeit  so  zum  Bewußtsein  bringen. 
Begreifen  wir  das  Leben,  wie  Nietzsche  sagt,  als  „Selbst-Ueber- 
windung"  oder  mit  Simmel  als  das,  was  Formen  nur  schafft, 
um  sie  wieder  zu  zerstören,  so  bedeutet  das  offenbar,  daß  wir 
das  Leben  in  eine  Form  bringen.  Was  sollte  es  sonst  heißen? 
In  die  Wissenschaft  geht  ja  nie  das  Leben  selbst  ein,  sondern 
allein  sein  Begriff,  d.  h.  das  Leben  in  einer  Form,  und  gerade 
falls  die  Lebensphilosophie  Recht  hat,  kann  auch  ihr  Lebens- 
begriff oder  ihre  Lebensform  ledighch  einer  der  Begriffe  und 


1)  Vgl.    meine    Abhandlung:    Das    Eine,    die    Einheit    und 
die  Eins.    Logos,  II,   I'J12,  S.  35  f. 


—    69     — 

Formen  sein,  die  das  Leben  selbst  wieder  zerstören  muß.  Damit 
wird  dann  aber  zugleich  auch  das  Recht  der  Lebensphilosophie 
mit  zerstört,  d.  h.  es  war  nie  ein  „Recht",  denn  was  sich  zer- 
stören läßt,  gehört  zum  theoretischen  Unrecht. 

Der  Widersinn  jedes  theoretischen  Relativismus,  d.  h.  jedes 
Versuchs,  die  Wahrheit  in  den  Fluß  des  Geschehens  hineinzu- 
ziehen, den  schon  Piaton  durchschaut  hat,  tritt  zutage.  Wir  sind 
hier  an  der  Grenze  unseres  Denkens  angelangt,  aber  diese  Grenze 
ist  keine  begrenzende  Schranke,  sondern  unser  theoretischer  Halt, 
und  mit  dem  Versuch,  sie  zu  überschreiten,  wird  unser  Denken 
haltlos.    In  der  Einhaltung  dieser  Grenze  liegt  unsere  Kraft. 

So  zeigt  sich:  jede  Lebensanschauung,  die  sich  nur  auf  das 
lebendige  Leben  stützen  ^vill,  ist  lediglich  eine  Auffassung  des 
Lebens,  neben  der  es  noch  andre,  anders  und  theoretisch  besser 
gestützte  Lebensauffassungen  gibt.  Jedenfalls  wird  das,  was 
allen  logisch  denkbaren  Lebensbegriffen  oder  Lebensformen  g  e- 
m  eins  am  ist,  als  wissenschaftlich  begründet  gelten  dürfen,  und 
jeder  Standpunkt,  der  Wahrheit  für  sich  in  Anspruch  nimmt, 
muß  irgend  eine  Lebensform  oder  irgend  einen  Lebens- 
begriff, sei  es  auch  nur  den  des  formzerstörenden  Lebens,  als 
fest  voraussetzen.  Das  tut  auch  Simmel,  indem  er  das 
Leben  als  Selbst-Ueberwindung  begreift,  und  damit  durch- 
bricht er  sein  eigenes  Prinzip.  Er  kennt  die  Schwierigkeit  und 
spricht  sie  klar  aus.  Aber  damit  wird  sie  doch  nicht  beseitigt. 
Simmel  kann  seine  eigenen  Begriffe  vom  Leben  nicht ,, lebendig" 
machen  wollen,  so  daß  sie  im  Lebensstrom  untergehen,  und  trotz- 
dem zugleich  fortfahren,  sie  für  die  Begriffe  zu  halten,  mit  denen 
er  die  Wahrheit  über  das  Leben  erfaßt.  Er  hat  also  ein 
Problem  gestellt,  aber  er  hat  es  nicht  gelöst,  und  man  wird  es 
auf  diesem  Wege  nie  lösen. 

Wenn  Simmel  sagt,  als  Widerspruch  erscheine  seine  These 
vom  Leben  n  u  r  in  der  logischen  Reflektion,  so  ist  dies  „nur" 
logisch  unverständlich,  denn  Widersprüche  gibt  es  überhaupt 
„nur"  in  der  logischen  Reflektion.  Sind  es  also  in  ihr  Wider- 
sprüche, dann  sind  es  unter  allen  Umständen  Widersprüche,  und 
das  einschränkende  „nur"  verliert  die  Bedeutung,  die  wir  mit 
diesem  Wort  zu  verbinden  gewohnt  sind.  Gewiß  kann'  der 
Mensch  Schichten   erreichen,  in  denen  die  logischen  Schwierig- 


-    70     ^ 

keiten  ihm  nicht  mehr  Schweigen  gebieten  dürfen,  ja  er  „lebt" 
vielleicht  immer  in  solchen  Schichten.  Aber  als  theoreti- 
scher Mensch,  der  über  die  Welt  nachdenkt,  darf  umgekehrt 
auch  er  den  logischen  Schwierigkeiten  nicht  Schweigen  gebieten 
sondern  hat  sich  ihnen  unterzuordnen,  wo  sie  unzweideutig  ihre 
Stimme  erheben,  und  das  geschieht  überall,  wo  wir  merken, 
daß  unsere  Gedanken  sich  widersprechen.  Den  Widerspruch 
muß  der  theoretische  Mensch  trotz  Hegel  oder  vielmehr  wegen 
Hegel  meiden.  Will  er  das  nicht,  so  vermag  er  wohl  zu  leben, 
doch  nicht  über  das  Leben  zu  denken,  und  das  will  er  doch  als 
Philosoph. 

Kurz,  Simmel  hat  es,  wenn  wir  ihn  recht  verstehen,  mit 
vorbildlicher  intellektueller  Ehrlichkeit  selbst  ausgesprochen,  daß 
es  unmöglich  ist,  seine  Gedanken  logisch  zu  Ende  zu  denken 
und  so  mit  dem  Leben  allein  das  Problem  des  Lebens  zu 
lösen. 

Freilich  erklärt  er  es  einmal  für  ein  ,,ganz  philiströses  Vorur- 
teil", daß  alle  Probleme  dazu  da  seien,  gelöst  zu  werden  i),  und  da- 
gegen ist  dann  selbstverständlich  nichts  mehr  zu  sagen.  In  der 
Wissenschaft  werden  wir  aber  wohl  an  diesem  Vorurteil  fest- 
halten müssen,  mag  es  auch  noch  so  philiströs  sein.  Sonst  ist 
nicht  recht  einzusehen,  wozu  wir  überhaupt  noch  Wissenschaft 
treiben.  Dies  Vorurteil  ist  ein  ,, Vorurteil"  im  Sinne  eines  a  priori, 
wie  Kant  es  lehrt. 

Auch  gibt  es  ja  außerhalb  der  Wissenschaft  kein  Lebens- 
Problem,  das  mit  dem  von  Simmel  gestellten  identisch  wäre, 
und  wenn  also  sein  Lebensproblem  auf  seinem  Wege  unlösbar 
bleibt,  so  zeigt  das  doch  nur,  daß  wir  bei  seinen  Gedanken  in 
der  Wissenschaft  nicht  Halt  machen  können.  Grade  dieser 
Versuch,  der  uns  in  die  Tiefe  der  Probleme  geführt  hat,  weist 
uns  zugleich  darauf  hin:  in  der  hier  eingeschlagenen  Richtung 
kommt  die  Wissenschaft  nicht  weiter.  Das  aber  heißt:  für  den 
theoretischen  Menschen  bedeutet  Simmeis  Philosophie  des  Lebens, 
grade  weil  sie  so  tief  greift  und  so  radikal  verfährt,  die  gründ- 
lichste Widerlegung  jeder  Philosophie  des  bloßen  Lebens, 
die  es  geben  kann. 


1)  Der  Konflikt  der  modernen  Kultur.    S.  47. 


^    71     - 

Das  Leben  bleibt  das  Eine  und  das  Denken  über  das  Leben 
das  Andere.  Man  kann  nicht  aus  dem  Einen  und  dem  Andern 
eine  unterschiedslose  Einheit  machen  wollen.  Auch  das  wird 
gerade  bei  Simmel  deutlich:  die  Philosophie  des  reinen  Lebens 
ist  nicht  nur  Produkt  wissenschaftlicher  oder  überhaupt  logi- 
scher Ueberlegungen,  sondern  ruht  auch,  ja  hauptsächlich  auf 
der  Liebe  zum  lebendigen  Leben.  Liebe  bedeutet  für  sich 
zwar  gewiß  etwas  Herrliches,  gibt  aber  noch  kein  Fundament 
für  die  Theorie.  Erstreben  wir  eine  Wissenschaft  vom  Leben, 
so  brauchen  vdr  feste,  unlebendige  Lebensformen. 

Es  ist  nicht  notwendig,  daß  wir  sie  darum  im  Realen  suchen. 
Dort  können  wir  sie  vielleicht  nie  finden.  Für  das  Wirkliche 
mag  der  Satz  Heraklits,  daß  alles  fließt,  seine  Geltung  behalten, 
und  insofern  ist  das  Reale  auch  lebendig  zu  nennen.  Darin 
hat  die  Lebensphilosophie  Recht.  Alles  Wirkliche  fließt  im 
heterogenen  Continuum  des  Inhalts.  Um  so  notwendiger  ist 
dann  aber  die  Annahme  einer  „irrealen"  Welt  der  Formen,  die 
sich  nicht  wieder  als  lebendig  denken  läßt,  auch  dann  nicht, 
wenn  sie  die  Welt  der  Lebensformen  ist.  Gerade  bei  ihnen  muß 
man  betonen:  Formen  des  Lebens  sind  keine  lebenden  Formen. 
Was  lebt,  ist  nicht  die  Form  selbst,  sondern  das  Leben  i  n  dieser 
Form. 

Nur  darüber  kann  also  gestritten  werden,  in  welchem  Maße 
feste  Formen  des  Lebens  bestehen,  nicht  darüber,  ob  wir  über- 
haupt Formen  des  Lebens  als  ,, unlebendig"  annehmen  müssen. 
Wäre  doch  gerade  der  Begriff  der  dauernden  Lebensveränderung 
aufgehoben,  falls  nicht  das,  was  Voraussetzung  jeder  Verände- 
rung ist,  selber  sich  der  Veränderung  entzöge  und  dauerte. 
Sonst  hörte  ja  eventuell  eines  Tages  jede  Veränderung  auf. 
Das  wird  nie  geschehen,  so  wenig  wie  die  Veränderung  je  an- 
gefangen hat.  Es  gab  immer  Veränderung,  und  es  wird  immer 
Veränderung  geben.  Also  sind  die  Formen  jeder  Veränderung 
unveränderlich. 

Das  bedeutet  in  unserem  Fall:  erst  beide,  der  sich  wan- 
delnde Lebensinhalt  und  die  wandellose  Lebensform,  bilden  zu- 
sammen die  lebendige  Welt.  Die  Welt  als  Ganzes  ist  nicht 
lebendig,  sondern  das  Leben  i  n  der  Welt  ist  lebendig.  Es 
gibt  Leben  im  All,    aber  das  All  selbst  ist   nicht  Leben.     Es 


-    72     - 

kann  nicht  alles  fließen,  nicht  alles  in  Bewegung  sein.  Bewe- 
gung ist  ein  Relationsbegriff  und  setzt  Unbewegtes  voraus,  im 
Verhältnis  zu  dem  etwas  sich  bewegt.  Das  sollte  man  gerade 
im   Zeitalter  der  „Relativitätstheorie"  nicht  vergessen. 

Soviel  über  den  Versuch,  die  Formen  des  Lebens,  die  nicht 
entbehrt  werden  können,  in  das  Leben  selbst  hinzuziehen.  Er 
wird  nie  gelingen. 


Fünftes  Kapitel. 

Das  bioiogristische  Prinzip. 

„Geprägte  Form,  die  lebend  sich  entwickelt". 

Urworte. 

Doch  braucht  man  deshalb,  weil  auf  den  bisher  betrach- 
teten Wegen  eine  Lebensphilosophie  nicht  zu  gewinnen  ist,  noch 
nicht  an  der  Möglichkeit  jeder  Lebensphilosophie  überhaupt  zu 
verzweifeln.  Nur  zum  Teil  werden  die  Lebenstendenzen  unserer 
Zeit  von  der  außerwissenschaftlichen  Vorliebe  für  das  unmittel- 
bare und  anschauliche  Leben  gegenüber  allem  Abgeleiteten  und 
Begrifflichen  getragen.  Mit  der  bloßen  Anschauung  ist  beim 
Denken  nichts  anzufangen.  Daher  reicht  das  intuitive  Prinzip 
für  sich  allein  zum  Aufbau  einer  Lebensphilosophie  nicht  aus. 
Das  hat  auch  Simmel  gesehen.  Es  geht  nicht  ohne  Lebensform. 
Aber  weil  er  den  Lebensbegriff  allumfassend  nahm  und  seine 
Lebensphilosophie  zu  einer  Metaphysik  des  Lebens  steigerte,  die 
jede  Form  wieder  im  Lebensstrom  untergehen  ließ,  mußte  er 
scheitern. 

Ist  man  dagegen  weniger  anspruchsvoll,  so  wird  man  viel- 
leicht weiter  kommen,  und  die  eigentliche  Modephilosophie 
unserer  Zeit  macht  in  der  Tat  weniger  Ansprüche.  Sie  greift 
zu  festen  Formen,  um  aus  dem  erlebten  Leben  eine  Lehre 
vom  Leben  zu  machen,  und  sie  meint,  jeder  Gefahr,  sich  vom 
Leben  zu  entfernen,  entronnen  zu  sein,  falls  sie  sich  dabei  nur 
an  die  Wissenschaft  vom  vitalen  Leben  oder  von  den  Organis- 
men, also  an  die  Biologie  hält.  Diese  Disziplin  lehrt  uns  die 
festen  Lebensformen  kennen,    und  wie  sollten  diese  Formen 


-    73     - 

als  Formen  des  I,ebens  nicht  Leben  sein?  So  kommt  man  zur 
Philosophie  des  Lebens. 

Die  Grundlagen  der  Biologie  spielen  nicht  allein  in  der  empiri- 
schen, sondern  aucli  in  der  metaphysischen  Lebensauffassung, 
nicht  nur  in  dem  theoretischen,  sondern  auch  in  dem  prakti- 
schen Teil  der  modernen  "Weltanschauung,  eine  große,  ja  ent- 
scheidende Rolle.  Solchen  Gedanken  haben  wir  uns  jetzt  zu- 
zuwenden, um  zunächst  ihre  Bedeutung  als  Philosophie  zu  ver- 
stehen. Dann  können  wir  auch  zu  d  e  r  Lebensphilosophie  kri- 
tisch Stellung  nehmen,  in  der  wir  die  eigentliche  Mode  der  Zeit 
sehen  müssen.  Das  Vorangegangene  bildet  dazu  nur  die  Vor- 
bereitung. 

Wir  kommen  mit  der  Philosophie  der  biologischen  Lebens- 
formen schon  deshalb  auf  einen  neuen  Boden,  weil  wir  die  ver- 
wirrende Fülle  der  „Erlebnisse"  jetzt  mit  einem  Sehlage  los 
sind.  "Wir  erhalten  ein  Prinzip  der  Auswahl,  das  der 
intuitiv  gerichteten  Lebensphilosophie  fehlt  und  fehlen  muß. 
Im  organischen  Leben  der  Pflanzen  und  Tiere,  zu  denen  auch  der 
Mensch  gehört,  haben  wir  das,  worauf  es  in  der  Lebensphilo- 
sophie eigentlich  ankommt,  das  lebendige  Leben  im  Unterschied 
von  der  toten  Natur.  So  wird  der  weite  und  unbestimmte 
Lebensbegriff  verengert  und  damit  erst  in  Wahrheit  zum  Begriff 
gemacht.  Mit  den  Erlebnissen  überhaupt  in  ihrer  Gesamtheit 
hat  es  die  Naturwissenschaft  von  den  Organismen  ja  nicht  zu 
tun.  Sie  handelt  nur  von  dem  Teil  der  Welt,  den  wir  in  all- 
gemein verständlicher  und  üblicher  Weise  „lebendig"  nennen, 
im  Gegensatz  zu  dem  Teil,  mit  dem  es  die  Physik,  die 
Chemie,  die  Astronomie  zu  tun  haben.  Wegen  der  großen  Viel- 
deutigkeit der  Ausdrücke  Leben  und  lebendig,  wollen  wir  zur 
Bezeichnung  dieses  Lebens,  wo  Mißverständnisse  möglich  sind, 
vom  vitalen  Leben  reden.  Man  wird  verstehen,  daß  das 
keinen  Pleonasmus  bedeutet. 

Zugleich  verstehen  wir  auch,  warum  sich  mit  den  biologi- 
schen Begriffen  die  allgemeinsten  Tendenzen  der  intuitiven 
Lebensphilosophie,  d.  h.  das  Verlangen  nach  Anschaulichkeit 
und  Unmittelbarkeit  verknüpfen.  Die  Physik,  besonders  als 
mechanische  Naturauffassung,  gibt  viel  weniger  von  dem,  was 
wir  unmittelbar  und  anschaulich  erleben,  als  die  Biologie. 


-    74     - 

Man  kann  die  Naturwissenschaften  geradezu  danach  an- 
ordnen, wie  weit  sie  sich  von  dem  Inhalt  der  Erlebniswirklichkeit 
entfernen.  Je  umfassender  ihre  Theorien  sind,  um  so  weniger 
nehmen  sie  von  der  Fülle  des  Besonderen  in  sich  auf.  Was  in 
einen  rein  mechanischen  Begriff  eingeht,  läßt  sich  überhaupt 
nicht  mehr  unmittelbar  „anschauen",  falls  man  den  Begriff  des 
Unmittelbaren  nicht  so  erweitern  will,  daß  er  auch  das  isoliert 
gedachte  Quantitative  mit  umfaßt.  Die  Chemie  steht  der  Un- 
mittelbarkeit der  anschaulichen  Erlebniswirklichkeit  schon  näher, 
und  vollends  ist  der  Inhalt  der  biologischen  Begriffe  dem  In- 
halt dessen,  was  wir  intuitiv  erleben,  mehr  verwandt. 

Das  braucht  nicht  genauer  ausgeführt  zu  werden.  Es  ge- 
nügt der  Hinweis  darauf,  daß  der  wissenschaftliche  Mensch 
selber  ein  Lebewesen  ist,  wie  die  Biologie  es  erforscht,  und 
nichts  unmittelbarer  zu  erfassen  vermag  als  sich  in  seiner  un- 
mittelbaren vitalen  Lebendigkeit.  Schon  daraus  verstehen  wir, 
warum  die  intuitive  Richtung  des  Denkens  sich  leicht  mit  der 
Orientierung  an  der  Biologie  verknüpft.  Ob  das  in  Wahrheit 
berechtigt  ist,  fragen  wir  zunächst  nicht.  Es  gilt  hier  nur  zu 
verstehen,  wie  die  Verbindung  von  Biologie  und  Intuitionismus 
zustande  kommt. 

Doch  bedeutet  das  zugleich  nur  die  eiae  Seite  der  Sache. 
Soll  aus  der  Lebenslehre,  die  an"  der  Biologie  orientiert  ist, 
Philosophie,  d.  h.  universale  Wissensehaft  vom  Weltall 
werden,  so  muß  man  nach  der  vollzogenen  Beschränkung  auf 
Begriffe,  die  sich  auf  einen  Teil  der  Welt  beziehen,  das  Gebiet 
auch  wieder  erweitern.  Die  auf  dem  Boden  der  Biologie  gefun- 
denen Einsichten  sind  auf  andere  Sphären,  wenn  möglich  auf 
das  Ganze,  zu  übertragen.  Sonst  kommt  man  nicht  zu  einem 
wahrhaft  kosmischen  Denken.  Es  ist  also  nötig,  daß  man  das 
Weltall  biologisiert,  falls  eine  „Weltanschauung"  auf  bio- 
logischer Grundlage  entstehen  s^ll.  Di?  biologische  Form  wird 
zur  Lebensform  überhaupt  und  dann  zur  Weltform  gemacht. 
Deswegen  trägt  die  Lebensphilosophie  unserer  Zeit,  soweit  sie 
sich  nicht  auf  den  Intuitionismus  zurückführen  läßt,  meist  den 
Charakter  des  naturalistischen  Biologismus. 

Auch  das  Wort  Vitalismus  wäre  für  sie  geeignet,  doch  hat 
dieser  Ausdruck  eine  engere  und   allgemein  festgelegte  Bedeu- 


—     /o     — 

tung.     Wir  sprechen  daher,  wo  [Mißverständnisse  möglich  sind, 
von  der  biologistischen  Modephilosophie. 

Ihr  Wesen  kommt  freilich,  ebenso  wie  das  des  Intuitionis- 
mus und  die  außerwissenschaftliche  Lebensliebe,  nicht  allen 
ihren  Vertretern  zum  Bewußtsein.  Ja,  einige  von  ihnen  würden 
es  wohl  entschieden  bestreiten,  daß  sie  biologische  Kategorien 
zu  Weltallkategorien  machen  wollen.  Bei  der  Darstellung  der 
Zeitphilosophie  wurde  deswegen  absichtlich  nicht  von  Biologis- 
mus gesprochen.  Das  Aufzeigen  des  biologistischen  Prinzips  oder 
der  Gleichsetzung  von  biolog'scher  Form  mit  Lebens-  und  Welt- 
formen überhaupt,  liegt  schon  auf  dem  Weg  zur  Kritik  der 
Lebensphilosophie.  Der  Biologismus  als  Weltanschauung  ist  nur 
dort  möglich,  wo  man  den  engeren,  spezialwissenschaftlichen 
Lebensbegriff  nicht  von  dem  scheidet,  nach  dem  alles,  was  wir 
„erleben",  zum  Leben  gerechnet  wird.  Auf  der  Vermengung 
der  beiden  Formen  des  Lebens  beruht,  abgesehen  von  der  Hin- 
einziehung des  intuitiven  Momentes,  geradezu  das  Prinzip 
des  Biologismus.  Die  Sprache  trägt  mit  dem  vieldeutigen  Wort 
Leben  dazu  bei,  es  zu  verdecken,  und  bildet  so  eine  wesent- 
lich 2  Stütze  der  modernen  Lebenstendenzen. 

Es  ist  also  für  den  Biologismus  charakteristisch,  daß  die 
verschiedenen  Bedeutungen,  die  das  Wort  Leben  hat,  darunter 
auch  die,  welche  ihm  heute  den  Zauber  verleihen,  bei  seiner 
Verwendung  m  i  t  kli.igen,  daß  aber  zugleich  alle  Lebensbegriffe 
ihre  besondere  Färbung  durch  das  naturwissenschaftlich 
biologische  Denken  erhalten.  Man  glaubt,  das  erlebte  Leben 
in  seiner  Ursprünglichkeit,  Unmittelbarkeit  und  irrationalen  An- 
schaulichkeit sei  die  eigentliche  Wirklichkeit,  und  man  meint  zu- 
gleich, die  Biologie  allein  als  Wissenschaft  von  der  lebendigen,  d.  h. 
organischen  Natur  sei  mit  ihren  Lebensformen  dazu  berufen, 
die  Begriffe  für  die  gesamte  Philosophie  zu  liefern  und  damit 
eine  Philosophie  des  Lebens  als  universale  Wissenschaft  nach 
allen  Seiten  hin  auszubauen. 

Wenn  man  hierauf  achtet,  rücken  manche  scheinbar  durch 
eine  weite  Kluft  getrennte  Richtungen  in  der  Philosophie  unserer 
Zeit  einander  überraschend  nahe.  Es  wird  nun  möglich,  von 
einer  einheitlichen  Modephilosophie  zu  sprechen. 
In  ihr  biologistisches  Formprinzip  haben  wir  uns  zunächst  noch 


-    76     - 

mehr  hineinzudenken,  um  es  in  seinen  verschiedenen  Ausgestal- 
tungen kennen  zu  lernen,  und  dann  kritisch  zu  ihm  Stellung  zu 
nehmen. 

Damit  wir  ganz  verstehen,  was  der  Biologismus  als  Welt- 
anschauung bedeutet,  und  warum  das  biologische  Prinzip  philo- 
sophisch brauchbar  erscheint,  obwohl  es  einer  SpezialWissenschaft 
entnommen  ist,  erinnern  wir  uns  auch  an  die  besondere  Be- 
deutung von  Weltanschauung,  welche  die  ,, Lebensanschauung" 
mit  einschließt,  und  auf  Grund  deren  wir  sagen,  daß  die  Philo- 
sophie den  ganzen  Menschen  angeht,  d.  h.  nicht  nur  den  denken- 
den, sondern  auch  den  wollenden  und  handelnden. 

Ueberall,  wo  man  nach  einer  Weltanschauung  in  diesem 
Sinn  sucht,  ist  der  zentrale  Begriff,  an  dem  man  sich  orientiert, 
der  eines  Wertes  oder  der  eines  Gutes  als  einer  Wirklichkeit, 
die  nicht  darin  aufgeht,  da  zu  sein,  sondern  an  der  ein  Wert 
haftet,  um  dessentwillen  sie  sein  soll.  Man  will  mit  anderen 
Worten  in  der  Philosophie  den  „Sinn"  des  menschlichen  Lebens 
kennen  lernen,  und  dieser  Sinn  läßt  sich  nur  dadurch  deuten, 
daß  man  die  Werte  zum  Bewußtsein  bringt,  die  ihm  zugrunde 
liegen.  Werte  allein  verleihen  dem  Leben  Sinn,  und  eine  Philo- 
sophie, die  Lebensanschauung  geben  will,  muß  daher  Wert- 
lehre sein. 

Hiervon  macht  die  biölogistische  -Modephilosophie  keine 
Ausnahme,  wenn  sie  auch  das  Wort  Wert  in  manchen  ihrer 
Formen  nicht  liebt  und  vollends  über  den  B  e  g  r  i  f  f  des  Wertes 
und  seinen  Unterschied  vom  Begriff  des  Wirklichen,  das  als  nur 
Wirkliches  wertfrei  ist,  keine  Klarheit  besitzt.  Sie  möchte  sogar 
Imperative  für  das  Leben  aufstellen,  also  die  Lebensformen 
zugleich  als  Lebensnormen  verwenden,  und  das  läßt  sich  ohne 
Werte,  die  gelten,  und  an  denen  die  Normen  gemessen  werden 
können,  nicht  ausführen.  Es  ist  für  den  modernen  Biologismus 
sogar  besonders  charakteristisch,  daß  er  im  Leben  nicht  nur 
das  wahrhaft  erlebte  und  deshalb  wahrhaft  wirkliche  Sein,  son- 
dern zugleich  das  Gut  aller  Güter  sieht,  das  allein  die  wahr- 
haft gültigen  Werte  trägt.  Alle  Werte  also,  die  gelten  sollen,  sind 
als  Lebensw'erte  zu  erweisen,  d.  h.  als  Werte,  die  am  Leben 
haften,  bloß  darum,  weil   es  Leben  ist. 

Erst,  wenn  wir  auch  hierauf  ausdrücklich  die  Aufmerksam- 


-    77     - 

keit  lenken,  verstehen  wir  die  Beliebtheit  und  die  weite  Ver- 
breitung der  Meinung  ganz,  daß  nur  mit  Hilfe  einer  an  der 
Biologie  orientierten  Lebensphilosophie  wir  endlich  zu  einer  wahr- 
haft wissenschaftlichen  Weltanschauung  kommen  werden,  die 
sowohl  die  Seinsprobleme  als  auch  die  "Wertprobleme  zu  lösen 
vermag.  Der  Biologismus  gibt  nicht  nur  eine  theoretische,  son- 
dern auch  eine  praktische  Philosophie. 

"Wo  man  nun  für  die  „praktische''  Seite  des  Biologismus 
nach  einer  wissenschaftlichen  Begründung  sucht,  bieten  sich  vor 
allem  die  Begriffe  des  aufsteigenden  und  des  nieder- 
gehenden Lebens  dar.  Blühen  und  Verwelken  sind  die  bei- 
den einander  entgegengesetzten  Formen,  die  jedes  lebendige 
Leben  zeigt,  und  aus  ihnen  sind  die  Lebensnormen  zu  gewinnen. 
Leben  ist  mit  anderen  Worten  stets  mehr  oder  weniger 
lebendig.  Es  kennt  graduelle  Abstufungen  und  unterscheidet 
sich  dadurch  vom  Toten,  das  nicht  mehr  oder  weniger  tot  sein 
kann,  falls  es  nicht  zugleich  noch  irgendwie  lebendig  ist.  Im 
Lebendigen  und  nur  in  ihm  gibt  es  Komparative  in  zwei 
Richtungen :  höher  oder  niedriger,  steigend  oder  sinkend. 
Das  Tote  kennt  solche  Gegensätze  seiner  Formen  nicht,  und  ge- 
rade dieser  Umstand  wird  für  die  Philosophie  des  Lebens  als 
Lebensanschauung  oder  als  ,, praktische"  Philosophie  grundlegend. 
Das  aufsteigende,  sich  entfaltende,  emporblühende  Leben  allein 
ist  wahrhaft  lebendig.  Es  soll  daher  sein,  während  das  nieder- 
gehende, sinkende  und  verwelkende  nicht  sein  soll,  negativ  wert- 
haft oder  wertfeinhch   ist,  da  es  zum  Tode  führt. 

In  diesem  Gegensatz  der  Lebensformen  glaubt  man  einen 
rein  biologischen  Wertgegensatz  zu  haben,  und  man  wird 
darin  durch  den  Umstand  bestärkt,  daß  man  dafür  auch  die 
naturwissenschaftlich  klingenden  Namen  der  Gesundheit 
und  Krankheit  verwenden  kann.  In  der  Steigerung  des 
gesunden  Lebens  ruht  das  biologisch  begründete  Ideal,  der 
„natürhche  Wert'',  ohne  den  eine  umfassende  Philosophie,  die 
nicht  allein  das  Weltobjekt,  sondern  auch  die  Stellung  des  Sub- 
jektes zur  Welt  verstehen  ^\^ll,  nicht  auskommt.  So  wird  die 
feste  Lebensform  zur  Lebensnorm,  an  der  alle  Normen  zu  messen 
sind,  und  nun  kann  man  glauben,  sich  dem  Leben  gegenüber 
Richtung  gebend  und  Wege  weisend  nur  in  der  biologisch  natur- 


-    78     - 

wissenschaftlichen   Sphäre  zu   bewegen. 

Zunächst  wendet  man  die  Lebensform  als  Norm  auf  das 
einzelne  Individuum  an.  Seine  Lebendigkeit  oder  Gesundheit 
ist  sein  natürliches  und  zugleich  philosophisch  begründetes  Lebens^ 
ziel.  "Wer  auf  das  aufsteigende  Leben  nicht  den  Schwerpunkt 
legt,  muß  ein  Entarteter  genannt  werden.  Er  sollte  nicht  leben. 
Sein  Untergang  bedeutet  ein  Glück  wie  die  Ausmerzung  alles 
Krankhaften.  Der  Philosoph  ist  zum  Arzt  geworden.  Dieser 
allein  hat  zu  bestimmen,  was  gut  und  böse  ist.  Die  Grund- 
begriffe einer  umfassenden  Lebensethik  müssen  sich  von 
hier  aus  ableiten  lassen. 

Bei  dem  einzelnen  Individuum  aber  kann  es  nicht  sein  Be- 
wenden haben.  Wenn  alles  auf  die  Förderung  der  Gesundheit, 
auf  das  Maximum  der  Lebendigkeit  ankommt,  dann  gibt  es 
auch  für  die  menschliche  Gattung  kein  anderes  als  dies  bio- 
logisch begründete  Lebensziel.  Die  Gesellschaft,  das  Vofk, 
eventuell  die  ganze  Menschheit,  sie  sollen  möglichst  lebendig 
leben.  Ja,  erst  die  Gattungsgesundheit  ist  in  Wahrheit  das 
höchste  Gut,  weil  ohne  sie  auch  die  Individuen  nicht  richtig  leben 
können.  Was  wir  zu  tun  haben,  um  den  Gattungs-  oder  Mensch- 
heit sf  ortschritt  in  der  Richtung  der  größten  Lebendigkeit  oder 
Vitalität  zu  fördern,  das  ist  die  Frage  aller  Fragen,  das  Grund- 
problem der  Lebensanschauung,  von  dessen  Lösung  schließlich 
die  gesamte  Weltanschauung  abhängt,  und  die  Antwort  kann 
selbstverständlich  wieder  nur  eine  biologisch  orientierte  Philo- 
sophie geben.  Als  Gattungshygiene  erreicht  sie  ihre  höchste 
Bestimmung. 

So  verstehen  wir,  wie  aus  den  Lebensformen  der  Biologie 
sich  eine  Philosophie  des  Lebens  entwickelt,  die  diesen  Namen 
verdient.  In  dem  vermeintlich  naturwissenschaftlichen  Lebens- 
begriff der  Gesundheit  besitzt  sie  das  Prinzip,  welches  wir 
bei  den  anderen  Arten  der  Lebensphilosophie  vermissen. 

Doch  Hygiene  im  eigentlichen  Sinn  des  Wortes  kann  sie 
nicht  bleiben.  Hat  man  einmal  in  der  Lebensform  der  gesunden, 
aufsteigenden,  lebendigsten  Vitalität  den  entscheidenden  Lebens- 
wert gefunden,  so  muß  man  von  hier  aus  die  Normierung  auch 
auf  solche  Gebiete  erstrecken,  deren  Werte  üblicherweise  keine 
biologisch  kUngenden  Namen  führen. 


—    79     - 

Nehmen  wir,  um  an  eines  der  bekanntesten  Beispiele  zu  er- 
innern, das  Gebiet  der  Politik,  und  denken  wir  an  die  biologische 
Lehre,  daß  das  Vehikel  alles  Fortschrittes  die  ,,natürhche  Aus- 
lese" ist.  Daraus  ergibt  sich  für  den  Biologismus  die  Folgerung: 
wo  diese  Lebensform  in  ihren  Wirkungen  gehemmt  wird,  muß 
eine  Gesellschaft  oder  ein  Volk  notwendig  entarten,  d.  h.  in  seiner 
Lebenskraft  und  Vitalität  zurückgehen.  Es  kommt  also  darauf 
an,  das  Naturgesetz  der  Auslese,  das  zugleich  das  Gesetz  des 
Fortschritts  ist,  auch  im  Staate  walten  zu  lassen.  Nicht  o  b 
die  Politiker  von  der  Biologie  etwas  lernen  können,  sondern  nur 
was  sie  ihr  zu  entnehmen  haben,  steht  in  Frage.  Man  weiß, 
wie  viele  Versuche  schon  gemacht  worden  sind,  mit  Hilfe  bio- 
logischer Lebensformen   Staatsideale  aufzustellen. 

Auch  für  andere  Gebiete  hat  es  an  Bestrebungen  dieser  Art 
nicht  gefehlt.  Die  Form  des  aufsteigenden  Lebens  gilt  schließ- 
lich als  Formel  für  den  Sinn  der  gesamten  Kultur,  und 
von  biologischen  Einsichten  hängt  daher  aller  Kulturfort- 
schritt ab.  Mit  den  Lebensformen  und  Lebensnormen  der 
Biologie  hat  nicht  nur  unser  Denken,  sondern  auch  unser  Wollen, 
Fühlen  und  Handeln  zu  harmonieren. 

Die  Zeiten  sind  also  endgültig  vorbei,  in  denen  wir  Ideale 
außerhalb  des  Lebens  suchen  durften.  Als  das  geschah,  waren 
die  Menschen  Träumer,  die  lebensfremden  Trugbildern  nachjagten. 
Wissenschaft  vom  Leben  gab  es  damals  noch  nicht.  Nun  ist  sie 
da,  und  nun  ist  der  Traum  ausgeträumt.  Nur  dem  Begriffe  des 
aufsteigenden  Lebens  darf  man  noch  die  sittUchen  Forderungen 
entnehmen,  für  Liebe  und  Ehe,  Familie  und  Erziehung.  Die 
wahrhaft  wissenschaftliche  Aesthetik  hat  eine  lebendige  Kunst 
zu  verlangen.  Auch  die  Wissenschaften  müssen  in  den  Dienst 
des  Lebens  treten.  So  mag  man  noch  viele  andere  Kulturgebiete 
biologisch  erst  wahrhaft  zu  würdigen  imstande  sein.  Sogar  der 
Glaube  an  das  Uebersinnhche  läßt  sich  durch  die  Biologie  stützen. 
Religion  gewinnt  Existenzberechtigung,  sobald  sie  die  Völker  im 
Kampf  ums  Leben  tüchtig  macht. 

Kein  Wunder,  daß  es  unter  diesen  Umständen  schließlich 
nicht  an  Versuchen  fehlt,  die  so  oft  lebensfremd  gewordene 
Philosophie  durch  die  Biologie  wieder  in  die  richtigen  Bah- 
nen zu  lenken.     Man  muß  ihr  Wesen  nur  darin   erbUcken,  daß 


-    80     - 

sie  uns  die  Welt  so  denken  lehrt,  wie  es  dem  aufsteigenden  Leben 
am  förderlichsten  ist.  Damit  begreift  dann  der  Biologismus  sich 
selber  biologisch  und  schließt  seine  Lebensanschauung  zu  um- 
fassender "Weltanschauung  ab. 

So  haben  wir  das  allgemeine  biologistische  Prinzip  erfaßt 
und  aus  ihm  heraus  die  früher  dargestellten  Tendenzen  der 
Lebensphilosophie,  die  in  ihrer  Unbestimmtheit  zum  Teil  viel- 
leicht schwer  greifbar  erschienen,  erst  gründlich  verstanden. 
Das  entscheidende  Moment  ist,  daß  diese  Philosophie  ein  klares 
Formprinzip  besitzt.  Ihre  Formen  dürfen  nur  Lebensformen 
sein,  und  diese  sind  der  Wissenschaft  vom  Leben,  d.  h.  von  den 
Organismen  zu  entnehmen.  Es  gilt,  sie  so  auszugestalten,  daß 
aus  ihnen  Formen  und  Normen  für  alles  Leben  und  schheßlich 
für  die  Welt  entstehen. 


Sechstes  Ka])itel. 

Aelterer  und  neuerer  Biologismus. 

„Während  es  für  den  Darwinisten  überall  da 
keinen  Daseinskampf  gibt,  wo  die  Existenz  des 
Geschöpfes  nicht  bedroht  ist,  ist  für  mich  der 
Lebenskampf  ein  allgegenwärtiger:  Er  ist  eben 
primär  ein  Lebenskampf,  ein  Kampf  um  Le- 
bensmehrung,  aber  kein  Kampf  ums  Leben! 

W.  H.  Rolph  (1881). 

Doch  diese  Aufzeigung  des  biologistischen  Formprinzips  in 
seiner  Allgemeinheit  genügt  noch  nicht,  wenn  man  die  Lebens- 
philosophie der  Zeit  ganz  durchschauen  und  so  die  kritische 
Stellungnahme  zu  ihr  vorbereiten  will.  Sehen  wir  genauer  zu, 
so  zeigt  sich,  daß  es  verschiedene  Richtungen  im 
Biologismus  gibt,  die  sich  trotz  der  gemeinsamen  Grundlage 
heftig  bekämpfen,  und  erst  wenn  wir  auch  auf  den  Gegensatz 
achten,  der  diesem  Streit  zugrunde  liegt,  wird  die  philosophische 
Mode  unserer  Zeit,  die  nur  eine  besondere  Form  des  Biologismus 
überhaupt  darstellt,  sich  in  ihrem  Wesen  ganz  enthüllen. 

Zunächst  bringen  wir  die  in  sich  widerspruchsvolle  Mannig- 
faltigkeit biologistischer  Lebensideale  an  einem  besonderen  Bei- 
spiel zum  Bewußtsein.     Charakteristisch  dafür  ist  vor  allem  die 


-    81     - 

Ethik  oder  die  praktische  Lebensphilosophie,  und  zwar  liegt  es 
am  nächsten,  in  ihr  wieder  das  schon  genannte  Gebiet  heraus- 
zuheben, auf  dem  die  praktische  Philosophie  besonders  „praktisch" 
wird,  nämlich  die  Probleme  des  Staates  und  der  Gesellschaft  i). 
Welches  sind  die  politischen  und  die  sozialen  Ideale  des  Bio- 
logismus, wenn  wir  ihren  besonderen  Inhalt  betrachten,  auf  Grund 
dessen  sie  Lebensprogramme  bilden? 

Es  muß  auffallen,  daß  fast  jede  sozialpolitische  Richtung 
in  der  biologistischen  Lebensphilosophie  ihre  theoretische  Stütze 
gesucht  und  gefunden  hat.  Bei  einem  schematischen  üeberblick 
darüber,  der  genügt,  um  dies  zu  zeigen,  verbinden  wir  das  Be- 
griffspaar des  Sozialismus  und  Individualismus  mit  dem  von 
Demokratie  und  Aristokratie.  Dann  entstehen  vier  Gruppen  von 
Tendenzen:  die  individualistisch-demokratischen,  also  der  ,, Libe- 
ralismus'' und  das  sogenannte  Manchestertum,  die  sozialistisch- 
demokratischen, die  im  Marxismus  (selbstverständlich  nicht  bei 
Marx  selbst)  ihren  interessantesten  Ausdruck  gefunden  haben,  die 
individualistisch-aristokratischen,  deren  bekanntester  Wortführer 
Friedrich  Nietzsche  ist,  und  endlich  die  Bestrebungen,  deren  Ver- 
treter sich  selber  als  Sozial-Aristokraten  bezeichnen  ^). 

Jede  dieser  vier  Richtungen  muß  die  andere  bekämpfen 
und  tut  es.  Aber  in  einem  Punkte  herrscht  trotzdem  Ueber^^ 
einstimmung:  drei  von  ihnen  haben  die  Geltung  ihrer  Ideale  aus- 
drücklich auf  die  moderne  Biologie  zu  gründen  versucht,  und 
bei  der  vierten,  d.  h.  bei  Nietzsche,  kann  man  leicht  zeigen,  daß 


1)  Einen  Teil  der  folgenden  Darlegungen  habe  ich  vor  un- 
gefähr zwanzig  Jahren  in  der  Zeitschrift  „Der  Lotse"  veröffent- 
licht. Bei  der  Entwicklung,  die  die  Lebensphilosophie  genommen 
hat,  scheinen  sie  mir  noch  nicht  veraltet.  Nur  war  damals  „das 
Leben"  noch  nicht  so  sehr  Modewort  wie  jetzt.  Ich  habe  daher 
früher  zum  Teil  „Natur"  geschrieben,  wo  jetzt  Leben  steht. 
Sachlich  ist  dadurch  jedoch  nichts  geändert.  Ich  erwähne  dies 
nur,  weil  es  zeigt,  wie  jung  die  Lebensmode  ist,  und  wie  sie  eine 
besondere  Art  des  Naturalismus  darstellt. 

2)  Diese  Richtung  ist  am  wenigsten  bekannt,  aber  im  theoreti- 
schen Interesse  nicht  zu  übersehen.  Sie  hat  in  dem  Buch  von 
Alexander  Tille,  Von  Darwin  bis  Nietzsche,  1895,  und  viel- 
leicht noch  deutlicher  in  der  anonymen,  wohl  ebenfalls  von  Tille 
verfaßten  Schrift:  Volksdienst.  Von  einem  Sozialaristokraten, 
1893,  ihren  Ausdruck  gefunden. 

R  i  c  k  e  r  t ,   Philosophie  d-  Lebens.  6 


-    82     - 

wenigstens  für  die  Entstehung  der  Gedanken  biologische  Begriffe 
von  ausschlaggebender  Bedeutung  waren. 

Niemand  hat  so  ausführlich  demokratisch-individualistische 
Ueberzeugungen  auf  dem  Boden  des  evolutionistischen  Biologismus 
gerechtfertigt  wie  Herbert  Spenzer.  Natürliche  Auslese  und  An- 
passung sind  die  Grundbegriffe  seiner  Ethik,  und  das  allgemeine 
Prinzip  kann  man  etwa  so  andeuten:  will  man  die  Entwicklung 
des  sozialpolitischen  Lebens  und  seine  Ziele  verstehen,  so  muß 
man  selbsterhaltende  und  arterhaltende  Handlungen  voneinander 
unterscheiden.  Zwischen  ihnen  herrscht  vorläufig  noch  Streit, 
da  dieser  jedoch  unlustvoll  und  schädlich  ist,  so  wird  der  natür- 
liche Ausleseprozeß  dahin  führen,  daß  die  selbsterhaltenden 
Handlungen  immer  zugleich  auch  arterhaltende  werden,  und  die 
höchste  Stufe  der  Kultur  ist  dann  erreicht,  wenn  Jeder  jeden 
Andern  nicht  nur  nicht  stört,  sondern  positiv  fördert. 

Dieser  Zustand  aber  setzt  voraus,  daß  auch  die  natürliche 
Ungleichheit  der  Menschen  und  das  durch  sie  bedingte  Ueber- 
ragen  des  Stärkeren  immer  mehr  verschwindet.  So  muß  das 
biologisch-politische  Ideal  demokratisch  sein.  Doch  wäre 
jedes  Eingreifen  in  den  natürlichen  Entwicklungsprozeß  verfehlt. 
Der  Staat  hat  sich  nur  um  das  Recht  zu  kümmern  und  die 
Bürger  gegen  juristische  Uebergriffe  zu  schützen.  Versucht  er. 
Organisationen  auch  des  wirtschaftlichen  Lebens  zu  schaff  en,welche 
die  Schwachen  künstlich  unterstützen  sollen,  so  hält  er  damit 
den  natürhchen,  biologisch  zu  begreifenden  Entwicklungsprozeß 
auf.  Fabrikgesetzgebung,  staatliche  Armenpflege  usw.  setzen  nur 
die  natürliche  Auslese  außer  Kraft.  Was  nicht  durch  eigene  Stärke 
gedeihen  kann,  soll  nach  den  Gesetzen  der  Natur  zugrunde  gehen. 

Das  demokratische  Ideal  eines  harmonischen  Zusammen- 
wirkens von  freien,  gleichberechtigten  Menschen  kann  nur  auf 
natürlichem  Wege,  also  nur  erreicht  werden,  wenn  es  aus  der 
natürlichen  Anpassung  hervorgegangen  ist.  Nur  dann  wird  es 
auch  dauernd  bestehen.  Der  Sozialismus  ist  deshalb  ein 
Unglück.  Er  glaubt,  das  soziale  Leben  bessern  zu  können,  in- 
dem er  das  Grundgesetz  alles  Lebens:  das  Fortschrittsgesetz  der 
natürlichen  Auslese  durch  freie  Konkurrenz,  in  seinen  segensreichen 
Wirkungen  stört  oder  aufhebt.  So  muß  es  zu  individualistisch- 
demokratischen Idealen  kommen. 


-    83     - 

In  den  demokratischen  Zielen  sind  die  Marxisten  mit  Spenzer 
zwar  einig,  aber  über  den  Weg,  der  nach  biologischen  Prinzipien 
zu  ihnen  hinführt,  denken  sie  genau  entgegengesetzt.  Freilich, 
die  natürliche  Auslese  und  die  freie  Konkurrenz  sind  die  Hebel 
alles  Fortschritts  in  der  freien  Natur.  Doch  diese  darf  man 
nicht  mit  der  bestehenden  Gesellschaftsordnung  verwechseln.  In 
ihr  unterdrückt  vielmehr  eine  kleine  Minderheit,  die  sich  im  Be- 
sitz des  Kapitals  befindet,  alles,  was  an  lebenskräftigen  Keimen 
in  den  großen  Massen  zum  Lichte  ringt.  Es  wird  tot  gemacht: 
nicht  durch  das  natürliche  Recht  des  Stärkeren,  sondern  durch 
die  widernatürliche  Brutalität  des  Erbkapitalismus.  Dieser  setzt 
für  die  Menge  des  Volkes  das  Gesetz  der  Auslese  außer  Kraft, 
ja  nicht  einmal  in  den  Kapitalistenkreisen  kann  man  noch  von 
natürlicher  Auslese  reden,  denn  hier  ward  künstlich  aufgepäppelt, 
was  krank  und  schwach  ist  und  zugrunde  gehen  sollte.  Eine 
Anpassung  erfolgt  auch  hier,  aber  an  ein  unnatürliches  Milieu, 
und  so  verkehrt  sich  der  natürliche  Fortschritt  notwendig  in  sein 
Gegenteil. 

Nach  biologischen  Prinzipien  gibt  es  nur  ein  Mittel,  die 
natürüchen  Verhältnisse  wieder  herzustellen:  befreit  die  Mensch- 
heit von  ihrem  Erbfeinde,  dem  Erbkapital.  Gebt  allen  den 
gleichen  Anteil  am  Kollektiveigentum  und  die  gleiche  ]^löglich- 
keit  zur  Betätigung  ihrer  Kräfte,  wie  jedes  Tier  in  der  freien 
Natur  sie  hat,  wo  Luft  und  Sonne,  Futter  und  Wohnung  allen 
gehören.  Dann  allein  herrschen  die  Bedingungen,  unter  denen 
die  Lebewesen  von  den  Protisten  bis  zu  den  Menschen  fort- 
geschritten sind,  und  ungeahnte  Zukunftsherrlichkeiten  werden 
sich  entwickeln.  Der  Gedanke  daran,  daß  dies  revolutionäre 
Ideal  dem  biologischen  Prinzip  der  allmählichen  Entwicklung 
widerspreche,  schreckt  die  Marxisten  nicht.  Sie  weisen  auf  bio- 
logische Vorgänge,  wie  z.  B.  auf  den  der  Geburt  hin.  Die  sozia- 
listische Gesellschaftsordnung  ist  längst  „reif"  geworden,  und 
plötzlich,  wie  der  Vogel  die  Eierschale  durchbricht,  wird  sie  ans 
Licht  treten.  Den  Leitern  des  Staates  fällt  dabei  die  Rolle  des 
Geburtshelfers  zu. 

Es  ist  nicht  nötig,  noch  andere  Punkte  des  sozialdemokra- 
tischen Biologismus  hervorzuheben,  wie  den  Kampf  gegen  die 
stehenden  Heere,  welche  die  Auslese  mit  Rücksicht  auf  das  ge- 


-    84     - 

schlechtliche  Lebsn  stören,  die  kräftigsten  Individuen  in  den  besten 
Jahren  von  der  Zeugung  fernhalten,  sie  der  Prostitution  zu- 
treiben, sie  unfruchtbar  machen  usw.  '  Stets  handelt  es  sich 
darum,  daß  die  moderne  Kulturentwicklung  den  Ausleseprozeß 
hemmt  und  deswegen  vom  biologischen  Standpunkt  zu  verurteilen 
ist.  Das  mag  genügen,  um  die  sozialistisch-demokratischen  Ideale 
des  Biologismus  zu  charakterisieren. 

Die  Demokratie  hat  keinen  leidenschaftlicheren  Feind  gehabt 
als  Nietzsche,  aber  wie  eng  hängt  auch  sein  radikal-aristokra- 
tisches und  individualistisches  Ideal  des  Uebermenschen  nicht 
nur  mit  dem  allgemeinen  Lebensprinzip  überhaupt,  sondern  auch 
mit  der  modernen  Biologie  im  Besondern  zusammen.  Man  lese 
die  wenigen  Verse  des  Zarathustra,  mit  denen  die  Lehre  vom 
Uebermenschen  eingeführt  wird.  Dann  sieht  man,  wie  der  Ge- 
danke eines  über  den  Menschen  hinaus  sich  entwickelnden  Wesens, 
den  man  übrigens  als  Hoffnung  auf  ,,Supravertebraten''  auch  bei 
dem  bekannten  Biologen  Ramon  y  Cajal  finden  kann,  mit  bio- 
logischen Gedanken  in  Verbindung  steht.  Auch  führte  schon  der 
junge  Nietzsche  gegen  die  von  Strauß  mit  der  Biologie  noch  für 
verträglich  gehaltene  Humanitätsideale  ausdrücklich  und  bewußt 
biologische  Begriffe  ins  Feld,  um  seine  aristokratische  Lebens- 
auffassung zu  rechtfertigen,  und  an  diesen  Ideen  hat  er  fest- 
gehalten. 

Der  Stärkere  soll  über  den  Schwächeren  herrschen,  so  will 
es  die  Natur,  unsere  Lehrmeisterin.  Die  natürliche  Ungleich- 
heit ist  das  Vehikel  alles  Fortschritts,  und  jede  Sklavenmoral, 
die  das  Recht  des  ,, Herrn"  in  Frage  stellt,  bedeutet  daher  Nie- 
dergang und  Verderbnis.  Auf  das  einzelne,  überragende  Indi- 
viduum kommt  es  an,  ja  manchmal  klingt  es  so,  als  wolle 
Nietzsche  es  nach  biologischen  Prinzipien  züchten.  Jedenfalls: 
unter  dem  Zeichen  der  ,, Rückkehr  zur  Natur"  stehen  diese  Ge- 
danken ,  nur  daß  es  nicht  die  idyllische ,  harmonische  Natur 
Rousseaus,  sondern  die  Kampfnatur  der  modernen  Biologie  ist. 
Von  ihr  aus  verwirft  Nietzsche  Demokratie  und  Sozialismus. 
Freilich  gibt  es  auch  sozial  lebende  Tiere ,  aber  in  ihrer  Her- 
dennatur steckt  nichts  Großes.  Zarathustras  Lieblinge  sind  die 
Adler  und  die  Löwen,  und  will  man  sich  wundern,  daß,  wenn 
überhaupt   die  lebendige  Natur  der  Wertmaßstab  sein   soll,    er 


-    85     - 

sich  gerade  diese  Lebewesen  als  Vorbilder  aussucht?  Ist  der 
Individualismus  nicht  ebenso  konsequent  aus  der  Biologie  ent- 
wickelt-wie  die  demokratischen  Ideale  Spenzers  und  der  Marxisten  ? 

Die  Sozialaristokraten  endlich  können  sich,  soweit  das  Aristo- 
kratische in  Betracht  kommt ,  auf  Nietzsche  stützen ,  aber  sie 
kehren  wieder  mehr  zum  Herdenideal  zurück.  Nietzsche  hat,  so 
meinen  sie,  darin  Recht,  daß  die  Demokratie  der  Tod  alles  bio- 
logischen Fortschrittes  wäre.  Insbesondere  die  christlich-demo- 
kratische Nächstenmoral,  die  Caritas,  die  mitleidig  jedem  helfen 
will,  steigert  durch  ihre  Schwäche  nur  Elend  und  Verkommen- 
heit, weil  sie  die  natürliche  Auslese  hemmt.  Trotz  des  aristo- 
kratisch-biologistischen  Prinzips  dürfen  wir  aber  nicht  die  ver- 
einzelten Individuen,  sondern  nur  die  Gattungen  ins  Auge  fassen 
und  müssen  daher  eine  Gesellschaftsordnung  zerstören,  in  der  nur 
dem  degenerierten  Erbkapitalisten  alles  offen  steht,  dem  lebens- 
kräftigsten Proletarier  dagegen  jeder  Weg  zur  Höhe  verschlossen 
ist.  Wir  sollen  also  doch  einander  helfen,  nur  nicht  dem  „Näch- 
sten", wie  das  demokratische  Christentum  es  will,  sondern  dem 
Besten,  damit  so  die  Gattung  in  die  Höhe  kommt.  Das  Leben 
ist,  wie  die  Biologie  zeigt,  notwendig  Kampf.  Doch  nicht  allein 
die  Individuen  kämpfen  miteinander,  sondern  vor  allem  die  Ras- 
sen, die  Gruppen,  die  Völker,  und  deswegen  müssen  nicht  so 
sehr  aristokratische  Individuen,  als  vielmehr  aristokratische  Staa- 
ten und  Gesellschaften  unser  Ziel  sein. 

So  entsteht  die  Vereinigung  des  Sozialismus  mit  der  Aristo- 
kratie auf  biologistischem  Boden.  Je  höher  ein  Volk  als  Ganzes 
durch  die  soziale  Auslese  sich  hebt,  je  mehr  durch  das  Walten 
des  natürlichen  Fortschrittsgesetzes  sein  Durchschnittsniveau 
steigt,  um  so  höher  werden  auch  die  Spitzen  des  Volkes,  die 
großen  Individuen,  ragen.  Diese  Ansichten  liegen  gewissermaßen 
zwischen  denen  der  Mai-xisten  und  Nietzsches,  zugleich  beide  be- 
kämpfend, und  bilden  den  diametralen  Gegensatz  zu  Spenzers 
individualistischer  Demokratie.  Auch  darauf  sei  noch  hingewdesen, 
daß ,  während  bei  den  drei  anderen  biologistischen  Richtungen 
ein  ausgesprochen  internationaler  Zug  vorherrscht,  die  Sozial- 
aristokraten die  Nation  in  den  Vordergrund  stellen.  Es  wird 
z.  B.  der  Versuch  gemacht ,  die  Deutschen  als  das  eigentliche 
Aristokratenvolk  von  Lebewesen  besonders   in   einen  Gegensatz 


—     86    — 

zu  den  Franzosen  zu  bringen,  die  infolge  des  jedem  Auslese- 
prinzip hohnsprechenden  praktischen  Malthusianismus  dem  bio- 
logischen Untergang  geweiht  sind. 

Die  flüchtige  Skizze,  die  überall  nur  den  entscheidenden 
Punkt  andeuten  sollte,  kann  genügen,  um  zu  zeigen,  wie  bunt 
die  Bestrebungen  aussehen,  die  dem  Versuche  entsprungen  sind, 
aus  den  Begriffen  der  modernen  Biologie  Ideale  •  für  das  Leben 
abzuleiten.  Wir  stehen  vor  einem  merkwürdigen  Schauspiel:  ein 
biologisch  orientierter  Denker  beweist  immer  das  Gegenteil  von 
dem,  was  der  andere  aus  den  Lehren  der  Biologie  für  die  Sozial- 
politik folgert.  Nicht  nur  die  Mittel  zur  Erreichung  der  Ziele, 
die  sich  auf  das  wirtschaftliche  Leben  beziehen  und  dann  ent- 
weder zu  individualistischen  oder  sozialistischen  Tendenzen 
führen,  sondern  auch  die  Ziele  selbst  stehen  in  schroffem  Gegen- 
satz zueinander.  Das  Ideal  wird  hier  aristokratisch,  dort  demokra- 
tisch, und  beides  soll  die  Konsequenz  biologistischer  Theorien  sein. 

Besonders  für  die  Uneinigkeit  in  der  Zielsetzung,  also  für 
den  Kampf  der  ,, aristokratischen"  mit  den  „demokratischen"  Ten- 
denzen, die  hier  im  weitesten  Sinn  zu  nehmen  sind,  müssen  wir 
nun  die  Gründe  kennen  lernen ,  insofern  sie  mit  Verschieden- 
heiten innerhalb  der  biologischen  Begriffe  zusammenhängen.  Im 
Anschluß  daran  wird  dann  zu  konstatieren  sein:  es  gibt  eine 
ältere  Richtung  des  Biologismus,  die  besonders  bei  Spenzer 
und  den  an  Darwin  orientierten  Marxisten  zutage  tritt,  und  die 
heute  nicht  mehr  als  ganz  zeitgemäß  gelten  kann.  Ihr  ist  end- 
lich der  eigentlich  moderne  Biologismus  entgegenzustellen,  dem 
wenigstens  mit  einem  Teil  ihrer  Gedanken  die  Modephilosophen 
unserer  Zeit,  wie  Nietzsche  und  Bergson,  angehören.  Um  sie  ganz 
zu  verstehen  und  zu  beurteilen,  werden  wir  jedoch  auch  die  äl- 
tere Richtung  noch  genauer  kennzeichnen,  denn  es  ist  nicht  nur 
durch  den  Gegensatz  zu  ihr  die  neue  Strömung  besonders  klar 
zu  machen,  sondern  es  spielt  die  ältere  Tendenz  zugleich  in  die 
neue  noch  immer  hinein.  Die  begriffliche  Scheidung  erfolgt  hier, 
ebenso  wie  die  Trennung  von  Intuitionismus  und  Biologismus 
überhaupt,  im  Interesse  einer  kritischen  Stellungnahme. 

Es  hat  Lebensphilosophie  gegeben,  lange  ehe  das  Wort  Le- 
ben Modeschlagwort  war.  Sie  ging  von  den  Theorien  Darwins 
aus,  und  wir  dürfen  den  älteren  Biologismus  kurz  dai^winistisch 


—     87     - 

nennen,  obwohl  er  nicht  von  diesem  großen  Naturforscher  selbst, 
sondern  von  anderen  Denkern  auf  Grund  der  Biologie  Darwins 
ausgebildet  worden  ist.  Soll  auch  Darwins  Bedeutung  für  diesen 
Zusammenhang  deutlich  werden,  so  müssen  wir  fragen,  wie  es 
kam,  daß  seine  spezialwissenschaftliche  Theorie  überhaupt  zu 
philosophischen  Konsequenzen  führte.  Dabei  ist  wichtig,  daß  er 
seine  Lehren  nicht  allein  im  Anschluß  an  die  Natur,  sondern  zu- 
gleich im  Zusammenhang  mit  der  Bevölkerungstheorie  von  Mal- 
thus  entwickelte.  Er  knüpfte  nämlich  damit  an  Begriffe  an, 
die  sich  von  vornherein  auf  menschliches  Kulturleben  bezogen. 
Deshalb  fiel  es  nicht  schwer,  seine  bio'ogischen  Lehren  wieder 
auf  das  Kulturleben  zurück  zu  übertragen,  also  mit  ihnen  Fra- 
gen des  wissenschaftlichen,  sittlichen,  künstlerischen  Lebens  in 
Angriff  zu  nehmen,  die  als  philosophische  Fragen  gelten. 

Zum  Verständnis  ist  nur  noch  an  eine  bekannte  Tatsache 
zu  erinnern.  Nach  Malthus  steht  die  Zunahme  der  Bevölke- 
rung in  ungünstigem  Verhältnis  zur  Zunahme  der  Nahrungsmittel. 
Darauf  wurde  Darwin  aufmerksam,  als  er  die  „Entstehung  der 
Arten"  zum  Problem  machte,  und  er  suchte  nun  die  Verände- 
rungen im  Reiche  der  Organismen,  die  es  zu  erklären  galt,  auf 
den  Kampf  um  die  Nahrung  zurückzuführen,  der  überall  ein- 
treten muß ,  wo  Lebewesen  sich  regen ,  wenn  auch  das  Wort 
„Kampf"  bei  Pflanzen  selbstverständlich  nur  in  übertragener  Be- 
deutung zu  brauchen  ist.  So  wird  das  Prinzip  von  Malthus  er- 
weitert und  auf  die  gesamte  organische  Natur  angewendet.  Da 
nicht  allein  in  der  Menschen-Welt,  sondern  bei  zunehmender  Menge 
der  Lebewesen  überall  auf  die  Dauer  nicht  genug  Nahrungsmit- 
tel vorhanden  sind,  entsteht  der  vielgenannte  ,, Kampf  ums  Le- 
ben", oder  wie  man  in  Deutschland  gewöhnlich  übersetzte,  ums 
„Dasein",  was  zeigt,  daß  damals  „Leben"  noch  nicht  Schlag- 
wort der  Mode  war.  Sonst  hätte  man  sich  den  Ausdruck  life  nicht 
entgehen  lassen.  Sachlich  kommt  es  darauf  an,  daß  die  Indi- 
viduen sich  am  besten  im  Leben  oder  Dasein  erhalten,  die  den 
Bedingungen,  unter  denen  sie  existieren ,  am  besten  angepaßt 
sind  und  dadurch  am  erfolgreichsten  den  Kampf  um  die  Nah- 
rung zu  führen  vermögen.  Dasselbe  gilt  von  den  Gattungen. 
So  entstehen  die  Arten  durch  natürliche  Auslese,  indem  die  am 
besten  angepaßten  allein  übrig  bleiben.     Kurz,  die  Entstehung 


—     88     — 

der  Arten  wird,  wie  es  schon  im  Titel  von  Darwins  Hauptwerk 
präzis  angegeben  ist,  begriffen  durch  den  Gedanken  an  die  Er- 
haltung der  begünstigten  Rassen  im  Kampfe  ums  Leben. 

Betrachten  wir  nun  die  philosophische  Bedeutung  dieser 
Theorie,  so  steckt  sie  besonders  im  Ausleseprinäp,  und  es  ist 
zu  bemerken,  daß  es  trot^  seiner  biologischen  Verwendung  einen 
mechanistischen  Charakter  trägt.  Grade  dieser  Um- 
stand verschaffte  ihm  im  alt 3ren  Biologismus  sein  philosophisches 
Ansehen.  In  abstrakter  Formulierung  ist  das  Prinzip  uralt  und 
schon  früh  mit  der  antiteleologischen  Tendenz  benutzt  worden, 
die  Annahme  wirkender  Naturzwecke  überflüssig  zu  machen. 
Es  scheint  hiermit  das  größte  Hindernis  hinweggeräumt,  das 
einer  einheitlichen  Erklärung  des  Weltganzen  im  Wege  steht. 
An  dem  Reich  der  offenbar  zweckmäßigen  Organismen,  glaubte 
man,  müsse  der  Mechanismus  scheitern.  Der  Begriff  der  na- 
türlichen Auslese  und  der  durch  sie  bedingten  Anpassung  haben 
diesen  Stein  des  Anstoßes  beseitigt. 

Allerdings,  so  sagt  man,  sind  die  Organismen  zweckmäßig, 
aber  das  wird  verständlich  ohne  wirkenden  Zweck,  und  nur 
dieser  bringt  in  den  Naturmechanismus  störende  teleologische 
Elemente.  Ohne  Absicht  entsteht  eine  Fülle  der  verschieden- 
sten Gebilde,  von  denen  „zufällig"  einige  angepaßt  sind.  Nur 
diese  leben  und  pflanzen  sich  fort,  während  die  andern  notwen- 
dig zugrunde  gehen.  Organismen  erhalten  sich  also  nicht  des- 
halb, weil  unbekannte  und  naturwissenschaftlich  unbegreifliche 
Kräfte  sie  zweckmäßig  bilden,  sondern  wir  nennen  das  zweck- 
mäßig, was  unter  der  Menge  der  verschiedensten,  mechanisch 
entstehenden  Formen  grade  so  geworden  ist,  daß  es  bestehen 
bleiben  konnte.  Wo  dann  der  Kampf  ums  Dasein  die  natür- 
liche Auslese  vornimmt,  müssen  die  Organismen  „von  selbst" 
auch  immer  angepaßter  und  zweckmäßiger  werden. 

Hieraus  verstehen  wir,  wie  [blind  [mechanische  Kräfte  die 
Welt  des  scheinbar  Absichtlichen  und  Planvollen  hervortreiben. 
Nichts  steht  hiernach  mehr  der  ^Durchführung  [einer  mecha- 
nistischen Weltanschauung  entgegen.  |Wir  haben  nur  in  jeder 
Wirklichkeit,  die  eine  wirkende  Vernunft  zu  bezeugen  scheint, 
ein  Selektionsprodukt  zu  erblicken.  Auch  der  „Geist"  ist  dann 
begriffen    als  natürliche  Natur:    der  Kampf   ums   Dasein   muß 


—    89     — 

durch  natürliche  Auslese  Schritt  für  Schritt  das  Vernünftige 
aus  dem  Unvernünftigen  hervorbringen. 

Aber  das  ist  nur  die  eine  philosophische  Seite  dieses  na- 
turalistischen Biologismus,  seine  seinswissenschaftliche.  Die  an- 
dere hängt  damit  eng  zusammen.  Auch  die  Werte,  an  die 
der  Mensch  glaubt,  und  die  Ziele,  die  er  seinem  Lpben  und  Han- 
deln steckt,  hatten  bisher  keinen  Zusammenhang  mit  der  na- 
türlichen Wirklichkeit.  Sie  schwebten  also  haltlos  in  der  Luft. 
Ja,  man  mußte  das  natürliche  Leben  geradezu  herabsetzen,  um 
überhaupt  einen  Sinn  des  Lebens  zu  gewinnen:  das  natürliche 
galt  als  das  böse  Prinzip.  Der  Mensch  steht  unter  dieser  Vor- 
aussetzung als  trauriger  Fremdling  in  der  ihn  umgebenden  Welt. 

Jetzt  hat  das  Prinzip  der  natürlichen  Auslese  auch  in  dieser 
Hinsicht  Wandel  geschaffen.  Wir  erkennen ,  daß  die  ewigen 
Gesetze,  die  im  Kampf  ums  ir>asein  das  Unvollkommene  aus- 
merzen, die  Welt  mit  Notwendigkeit  ihrem  Wahren  Ziel  zu- 
führen und  immer  vollkommener  gestalten.  Das  Naturgesetz  ist 
zugleich  das  Gesetz  des  Fortschritts.  Die  natürliche  Entwick- 
lung bedeutet  Entwicklung  zum  Guten.  Lassen  wir  nur  die  Aus- 
lese ungestört  Walten,  dann  muß  immer  das  entstehen,  was  sein 
soll.  Wir  brauchen  daher  die  alten  Werte  nicht  mehr,  an  die 
der  naturfremde  Mensch  sich  klammerte,  um  seinem  Leben  Be- 
deutung zu  verschaffen.  Der  mechanistische  Biologismus  hat 
uns  die  köstliche  Gewißheit  gegeben,  daß  die  Natur  oder  das 
Leben  selbst  uns  mit  sicheren  Händen  zu  immer  höheren  Stufen 
der  Vollendung  trägt.  Nur  das  Angepaßte  erhält  sich,  ja  alles 
Angepaßte  muß  sich  erhalten.  Das  Unzweckmäßige,  das  stört, 
wird  immer  mehr  ausgeschaltet,  und  die  natürliche  Entwick- 
lung treibt  daher  von  selbst  einem  Zustand  der  Harmonie  und 
des  Ausgleichs  zu.  Leben  ist  ein  sich  selbst  regulierender  Mecha- 
nismus. Es  ist  zweckmäßig,  weil  es  mechanisch  ist  wie  eine 
Maschine. 

Jetzt  ist,  damit  wir  das  Prinzip  des  älteren  Biologismus 
ganz  verstehen,  nur  noch  nötig,  das  Naturgesetz,  das  zugleich  das 
Fortschrittsgesetz  darstellt,  so  zu  formulieren,  daß  es  auch  eine 
praktische  Anwendung  ermöglicht  oder  zur  Norm  für  den 
Willen  wird. 

Wenn  das  Angepaßte  allein  sich  erhält  und  so  das  Zweck- 


—    90     — 

mäßige  mechanisch  von  selbst  entsteht,  dann  bedeutet  das,  daß 
die  Natur  überall  nach  dem  Prinzip  des  kleinsten  Kraftmaßes 
arbeitet,  und  dies  Prinzip  scheint  sofort  eine  praktische  Konse- 
quenz zu  ergeben.  Es  kommt  im  Menschenleben  überall  auf 
möglichst  große  Sparsamkeit,  auf  ein  Haushalten  mit  Lebens- 
kräften an,  damit  wir  in  der  Notlage  des  Daseinskampfes  mög- 
lichst lebendig  bleiben.  Das  Prinzip  der  Lebensökonomie 
muß  also  für  die  Gestaltung  von  allem  Leben  nach  mechanisch 
darwinisti sehen  Auslesegrundsätzen  entscheidend  sein. 

Das  führt  man  in  die  gesamte  Weltanschauung  ein,  um  das 
menschliche  Leben  nach  den  verschiedensten  Richtungen  nicht 
nur  zu  v  e  r  s  t  e  h  e  n  als  beherrscht  vom  Gesetz  der  natürlichen 
Auslese,  das  die  Begünstigten  im  Kampf  ums  Dasein  erhält, 
sondern  nach  demselben  Gesetz  zugleich  auch  zu  regeln.  Bei- 
spiele werden  besser  als  allgemeine  Ausführungen  zeigen,  welche 
Konsequenzen  man  für  das  Kulturleben  daraus  gezogen  hat. 
Wir  wählen  dabei  Theorien,  die  radikal  sind,  auch  heute  noch 
Anhänger  haben,  ja  teilweise  in  die  neuesten  Strömungen  hin- 
einspielen, obwohl  sie  einem  Prinzip  entstarmnen,  das  Denker 
wie  Nietzsche  und  Bergson  bekämpfen,  und  zwar  kommt  es  be- 
sonders darauf  an,  zu  begreifen,  Wie  mit  dem  mechanistischen 
Sparsamkeitsgedanken  sich  das  Ideal  der  Massenvitalität  und 
infolgedessen  ein  im  ■weitesten  Sinn  „demokratischer"  Zug  ver- 
knüpft. 

Vom  darWinistischen  Standpunkt  hat  man,  um  ein  ethi- 
sches Problem  voranzustellen,  die  in  Europa  herrschende  Mono- 
gamie als  unsittlich  verurteilt  ^).  Dadurch,  daß  man  die  lebens- 
kräftigsten Männer  zwingt,  mit  nur  einer  Frau  Kinder  zu  zeugen, 
versündigt  man  sich  gegen  das  Prinzip  der  Lebensökonomie. 
Man  verhindert,  daß  genug  lebenskräftiger  Nachwuchs  in  die 
"Welt  gesetzt  wird.  Nur  die  Vertreter  des  lebendigsten  Lebens 
sollten  zur  Fortpflanzung  gelangen,  um  so  viel  Kinder  wie  mög- 
lich zu  bekommen.  Man  kann  im  Lebenskampf  nicht  genug  Leben 
haben.  Es  gilt  also,  die  Masse  des  Lebens  zu  fördern,  und  zu 
diesem  Zwecke  sind  den  lebenskräftigsten  Männern  möglichst 
viele  lebenskräftige  Frauen  zur  Verfügung  zu  stellen.    Wer  nicht 


1)  Vgl.  Christian  von  Ehren  f  eis,  Sexualethik.    1907, 


—    91     — 

zur  Kräftigung  der  Rasse  beizutragen  vermag,  ist  von  der  Volks- 
vermehrung überhaupt  auszuschließen,  d.  h.  er  darf  nicht  hei- 
raten und  hat  sich,  damit  er  keinen  Schaden  anrichtet,  mit 
seinen  sexuellen  Bedürfnissen  an  unfruchtbare  Hetären  zu  halten. 
Deren  biologische  Unentbehrlichkeit  -^rd  ebenfalls  aus  dieser 
Weltanschauung  begründet. 

Die  Polygamie  gilt  jedoch  selbstverständUch  allein  für  Männer. 
Die  fruchtbaren  Frauen  dürfen  nur  einen  Gatten  haben,  denn 
jede  Polyandrie  wäre  unter  dem  Gesichtspunkt  einer  Steigerung 
der  Lebenskräfte  sinnlos.  Auf  die  Mass5  kommt  es  der  Lebens- 
ökonomie an,  und  mehr  Kinder  könnten  auch  die  lebenskräftig- 
sten Frauen  von  mehreren  Männern  nicht  bekommen  als  von 
einem.  Falls  das  Quantum  der  Kindererzeugung  für  die  Philo- 
sophie des  Lebens  den  gültigen  Wertmaßstab  bildet,  erscheint 
diese  „sittliche  Forderung'*  also  durchaus  plausibel. 

Daß  die  Monogamie  kulturelle  Vorzüge  besitzt,  die  nicht 
rein  vitaler  Art  sind,  wird  darum  nicht  geleugnet.  Aber  diese 
dürfen  unter  biologischen  Gesichtspunkten  nicht  in  Frage  kom- 
men. Jedes  Volk  hat  —  der  Grund  reicht  aus  —  mit  anderen 
Völkern  einen  Kampf  ums  Dasein  zu  bestehen,  und  es  wird  trotz 
aller  andern  Kulturerrungenschaften  zugrunde  gehen,  wenn  e% 
seinen  Konkurrenten  nicht  an  Vitalität  überragt.  Vor  allem 
scheint  das  monogamische  Europa  zum  Untergange  verurteilt 
im  Kampfe  mit  Asien,  wo  biologisch  begründete  Eheordnungen 
herrschen. 

So  ist  das  Prinzip  des  „demokratischen"  Massenbiqlogismus 
klar.  Obwohl  er  auch  heute  noch  Vertreter  hat,  gehört  er  der 
älteren,  darwinistischen  Richtung  der  Lebensphilosophie  an. 

Dasselbe  gilt  von  der  biologistischen  Erkenntnistheorie  des 
Pragmatismus,  wie  er  sich  besonders  in  England  und  Amerika 
gestaltet  hat,  aber  auch  in  Deutschland  Freunde  besitzt.  Die 
Wissenschaft  ist  unter  dem  Gesichtspunkt  zu  verstehen,  daß 
sie  Ersparnis  von  Lebenskräften  bedeutet  und  so  die  Vitalität 
fördert.  Wie  die  Geburtenökonomie  zum  Prinzip  der  Ehe,  wird 
die  Denkökonomie  zum  Prinzip  des  Forschens  gemacht.  Die 
Erkenntnis  hat  ihr  höchstes  Ziel  erreicht,  wenn  es  ihr  geUngt, 
mit  dem  geringsten  Aufwand  von  Begriffen  auszukommen.  So 
ist  sie  als  Fortsetzung   des  Naturprozesses  der  Anpassung  ver- 


s 


-    92     - 

standen.  Solche  Gedanken  allein  sind  wahr,  mit  denen  wir  am 
bequemsten  die  Welt  denken  oder  uns  am  leichtesten  in  ihr 
orientieren.  Der  logische  Imperativ  ergibt  sich  daraus  leicht. 
Es  gilt,  die  Wirklichkeit  mit  einem  möglichst  einfachen  System 
von  Begriffen  zu  überspinnen,  in  dem  alles,  was  von  ihr  zu 
wissen  wichtig  ist,  seinen  Platz  findet.  Damit  wnrd,  wie  Richard 
Avenarius  i)  schon  1876  lehrte,  die  Philosophie  zum  , .Denken 
der  Welt  gemäß  dem  Prinzip  des  kleinsten  Kraftmaßes/* 

Vom  Darwinismus  abhängig  brauchen  allerdings  solche  Ideen 
nicht  zu  sein.  Schon  Kant  meinte,  man  möchte  vielleicht 
glauben,  die  Bildung  von  Gattungsbegriffen  „sei  ein  bloßer 
ökonomischer  Kunstgriff  der  Vernunft,  um  sich  so  viel  als 
möglich  :Mühe  zu  sparen".  Zugleich  wies  er  jedoch  eine  solche 
selbstsüchtige  Ansicht  noch  zurück,  da  die  Vernunft  hier  nicht 
bettle,  sondern  gebiete.  Erst  im  Zeitalter  des  Biologismus  haben 
die  pragmatistischen  Theorien  viele  Anhänger  gefunden,  und  ihre 
am  meisten  zugespitzte  Form  zeigt  sich  Wohl  in  der  Auffassung 
der  Naturgesetze.  Diese  sind  Wahr,  Weil  sie  viele  einzelne  Fälle 
gleichmäßig  umfassen  und  so  mit  einem  Schlage  eine  große  Fülle 
der  Ereignisse  begrifflich  zu  beherrschen  gestatten.  Wir  machen 
alles  gleich,  um  es  sparsam  zu  denken.  Wer  das  gelernt  hat, 
wird  im  Lebenskampf  sich  am  leichtesten  erhalten.  Alle  andere 
Wahrheit  ist  nicht  mehr  als  Aberglaube. 

Ins  Breite  über  alles  Leben  hin  ist  das  demokratische 
Massensparsamkeitsprinzip  in  der  „energetischen"  Kulturphilo- 
sophie ausgedehnt '').  Sie  sucht  durch  ein  quantitatives  Verhält- 
nis von  Energiemengen  zu  bestimmen,  worin  das  Prinzip  des 
Kulturfortschritts  besteht.  Je  sparsamer  die  LeJjewesen  mit 
der  Energie   umgehen,    um    so   höher  wird    die    Kultur  ragen. 


1)  Philosophie  als  Denken  der  Welt  gemäß  dem  Prinzip  des 
kleinsten  Kraftmaßes.  Prolegomena  zu  einer  Ivritik  der  reinen 
Erfahrung,  1876.  Die  Schrift  sollte  jeder  kennen,  der  sich  für  die 
Entwicklung  der  biologistischen  Philosophie  interessiert.  Sie  ge- 
hört zu  den  frühesten  Kundgebungen  dieser  noch  immer  sehr 
lebendigen  Bewegung. 

2)  Ihr  Vertreter  ist  der  bekannte  Chemiker  Wilhelm  Ost- 
wald. Vgl.  Max  Webers  Kritik:  „Energetische"  Kultur- 
theorien, 1909.  Archiv  für  Sozialwissenschaft  und  Sozialpolitik, 
Bd.  XXIX,   S.  575  ff. 


—    93     — 

Ob  Kulturwerte,  die  in  solche,  am  Verhältnis  von  Petroleum- 
lampe und  Gasglühlicht  orientierte  Formeln  sich  nicht  bringen 
lassen,  Berechtigung  haben,  wird  nicht  gefragt.  Es  steht 
„a  priori"  fest,  daß  die  echten  Güter  nur  die  Mengen  der  Ener- 
gie sein  können,  die  Lebewesen  zur  Verfügung  stehen. 

Daß  es  hier  nicht  der  Begriff  des  Lebens  selbst,  sondern 
der  der  Energie  ist,  an  dem  die  Kulturwerte  gemessen  werden, 
darf  über  den  biologistischen  Charakter  der  Gedanken  nicht 
täuschen.  Mit  physikalischen  Begriffen  allein  wäre  in  dieser 
Kulturphilosophie  nichts  anzufangen.  Es  müssen  stets  Lebe- 
wesen sein,  für  deren  Leben  die  sparsame  Verwendung  von 
Energie  Bedeutung  hat.  Erst  durch  die  Lebensförderung  also 
kommt  der  Wertgedanke  und  damit  das  Kulturprinzip  in  das 
Energieverhältnis.  So  ruht  auch  diese  Kulturtheorie  auf  einem 
biologischen  Fundament,  ja  man  kann  sagen,  daß  wegen  der 
Armseligkeit  des  Prinzips,  das  in  dem  energetischen  Imperativ 
steckt,  der  ökonomische  Biologismus  hier  seine  „klassische" 
Ausprägung  als  Kulturphilosophie  gefunden  ha'.  ,, Vergeude 
keine  Energie,  verwerte  sie."  Das  soll  an  die  Stelle  von  Kants- 
kategorischem Imperativ  treten!  Darstellung  und  Kritik  sind 
hier  beim  besten  "Willen  nicht  zu  trennen. 

Es  ist  klar,  daß  solche  Gedanken  im  Einzelnen  zu  aben- 
teuerlichen Konsequenzen  führen  können,  und  doch  scheint  das 
Prmzip,  das  der  älteren  Richtung  zugrunde  liegt,  philiströs  und 
trivial.  Das  ist  nicht  hervorzuheben,  um  damit  ein  Wert- 
urteil auszusprechen,  sondern  um  die  Tatsache  zu  konstatieren 
und  zu  verstehen,  daß  Viele  die  Sache  so  ansehen.  Die 
Trivialität  und  der  philiströse  Nützlichkeitscharakter  dieses  Bio- 
logismus hat  nämlich  wesentlich  dazu  beigetragen,  eine  Opposi- 
tion gegen  ihn  zu  entfesseln.  Wie  weit  der  biologistische  Uti- 
litarismus  geht,  zeigt  der  Umsland,  daß  man  auf  seinem  Boden 
sogar  eine  Religionsphilosophie,  und  zwar  eine  Rechtfertigung 
des  Glaubens  durch  das  Oekonomieprinzip  versucht  hat.  Ein 
Amerikaner^)  meinte,    die  religiössn  Völker  müßten  im  Kampf 


1)  B.  K  i  d  d  ,  Soziale  Evolution.  1895.  Es  ist  bemerkens- 
wert, daß  dies  wunderliche  Werk  das  Interesse  eines  Biologen 
vom  Range  August  Weismanns  erregte^  so  daß  er  zur  deut- 
schen Uebersetzung  ein  Vorwort  schrieb. 


—    94     — 

ums  Dasein  besser  fortkommen  als  die  religionslosen,  und  damit 
schien  der  Wert  der  Religion  als  Waffe  im  Lebenskampf  er- 
wiesen. 

Doch  braucht  das  nicht  näher  ausgeführt  zu  werden.  Die 
ältere  biologistische  Lebensphilosophie  ist  schon  jetzt  so  weit 
charakterisiert,  daß  über  die  Hauptsache  kein  Zweifel  mehr  be- 
stehen kann.  Grundlegend  wird  der  demokratische  Massen- 
begriff  der  Lebensökonomie,  und  er  entspringt  aus  dem  mecha- 
nistischen, antiteleologischen  Prinzip,  nach  welchem  die 
Lebewesen  um  ihre  Nahrung  kämpfen  und  sich  durch  Anpassung 
im  Dasein  erhalten.  Dagegen  hat  die  neue  Richtung  des 
Biologismus  sich  gewendet,  und  sie  ist  jetzt  als  die  eigentlich 
zeitgemäJ3e  zu  verstehen.     Sie    vor  allem  beherrscht  die  Mode. 

Ihr  Prinzip  läßt  sich  leicht  klar  legen.  Sie  richtet  sich,  ob- 
wohl sie  im  allgemeinen  den  Gedanken  des  naturalistischen  Evo- 
lutionismus, der  durch  Darwin  einflußreich  geworden  ist,  bei- 
behält, doch  gerade  gegen  die  Punkte,  die  wir  als  charakteristisch 
für  Darwins  Biologie  hervorheben  mußten:  erstens  gegen  das 
Moment,  das  mit  den  Theorien  von  Malthus  zusammenhängt, 
ferner  gegen  die  mechanistische  Tendenz  und  drittens  endlich 
gegen  das   Ideal  der  Lebensökonomie. 

Echtes  Leben  ist  nach  ihr  nicht  bloßes  Dasein,  d.  h.  Leben, 
das  sich  lediglich  erhält.  Zumal  die  Art  Anpassung,  die  zur 
Daseinserhaltung  führt,  bildet  kein  Lebens  prinzip,  das  diesen 
Namen  verdient.  Sie  kommt  nur  ausnahmsweise  in  einer  Not- 
lage vor,  und  diese  ist  nicht  für  das  Leben  überhaupt  charakte- 
ristisch. In  der  Meinung,  daß  Lebewesen  aus  Not  sich  anpassen, 
steckt  eine  ungerechtfertigte  Uebertragung  physikalischer  Be- 
griffe, wie  Trägheit  und  Beharrung,  auf  das  biologische  Gebiet. 
Sie  bedeutet  daher  Mechanisierung  und  Tötung.  Eine  Philo- 
sophie des  lebendigen  Lebens  kann  auf  dem  Boden  dieses 
Pseudo-Lebensprinzips  nicht  erwachsen.  Sie  bedarf  einer  anderen 
biologischen  Grundlegung.  Das  lebendige  Leben  geht,  wenn  es 
echtes  Leben  ist,  mit  sich  selbst  verschwenderisch 
um.  Es  will  sich  nicht  im  Sein  erhalt  e  n ,  sondern  immer 
mehr  wachsen,  sich  reicher,  kräftiger,  lebendiger  entfalten. 
Dadurch  steht  es  im  schroffen  Gegensatz  zur  mechanischen  Be- 
wegung,   die    nur  passive,    tote    Ortsverschiebung    kennt.     Des 


-    95     - 

lebendigen  Lebens  Grundprinzip  ist  Expansionsdrang  und  A  k- 
t  i  V  i  t  ä  t.  Gerade  die  nimmt  ihm  die  darwinistisch-mecha- 
nistische  Theorie.  Darwins  Lehre  vom  Kampf  ums  Dasein  ist 
der  grundfalschen  Lebensauffassung  entsprungen,  welche  die 
Physik  durchgesetzt  hat.  Sie  kennt  allerdings  nichts  als  Ver- 
änderung des  sich  Gleichbleibenden  im  Raum.  Mit  irgendeiner 
Art  von  Atomistik  ist  das  Wesen  des  Lebendigen  im  Unterschiede 
vom  Toten  nie  zu  begreifen.  Deswegen  kann  die  Pseudobiologie 
nicht   Grundlage  für  die  Lebensphilosophie  sein. 

Das  im  Sinne  dieser  Biologisten  mechanistische  und  daher 
unlebendige  Lebensprinzip  tritt  am  deutlichsten  bei  Spenzer  zu- 
tage, der  lehrt,  daß,  weil  der  Anpassungsprozeß  immer  weiter 
fortschreite,  der  Lebenskampf  immer  schwächer  werden  müsse. 
Die  Interessengegensätze  würden  verschwinden,  meint  er.  Das 
Leben  nähere  sich  einer  Ruhelage,  und  das  höchste  Lebensideal 
sei  daher  der  Zustand,  in  dem  die  Menschheit  vollkommen  an- 
gepaßt jeden  Lebenskampf  aufgibt.  Danach  wäre  das  letzte 
Ziel  des  sich  entwickelnden  Lebens  der  Stillstand,  also  der  Tod. 

Mit  dem  Analogon  der  mechanistischen  Auffassung,  nach 
der  jedes  System  von  Kräften,  wenn  es  sich  selbst  überlassen 
wird,  seine  Spannungen  ausgleicht  und  alle  kinetische  Energie 
sich  in  potentielle  verwandelt,  wie  der  zweite  Hauptsatz  der 
Thermodynamik,  der  Satz  von  der  Entropie  oder  vom  Wärmetod 
lehrt,  ist  für  das  Leben  nichts  anzufangen.  Die  darwinistische 
Philosophie  trägt  ein  statisches  Gepräge.  Es  gilt,  das 
dynamische  Prinzip  der  nie  ruhenden  Kraftentfaltung, 
Machtsteigerung,  Lebensschwungkraft  in  sein 
Recht  einzusetzen. 

Das  kann  man  auch  so  zum  Ausdruck  bringen:  nicht  der 
,, Wille  zum  Dasein"  und  der  Kampf  um  die  Lebenserhaltung 
beherrscht  die  lebende  Welt,  sondern  der  „Wille  zur  Macht"  und 
deren  Steigerung  ist  der  treibende  Faktor.  Dem  entspricht: 
Machtkämpfe  sind  der  Sinn  des  wahrhaft  lebendigen  Lebens,  den 
die  echte  Lebensphilosophie  entdeckt  hat.  Das  Sparsamkeits- 
prinzip ist  verächtlich  und  pöbelhaft,  erfunden  von  denen,  die 
nicht  leben  und  nicht  sterben  können.  Es  bedeutet  eine  Nieder- 
gangserscheinung, allgemeine  Dekadenz.  Darin  zeigt  sich  das 
„aristokratische"  Prinzip  des  Biologismus,  der  für  die  „Besten" 


—     96    — 

als  die  kräftigsten  und  mächtigsten  Lebewesen  enitritt. 

Mit  den  Schlagworten  sind  wir  zugleich  bei  Nietzsche  an- 
gelangt, und  er  ist  in  der  Tat  der  am  meisten  charakteristische 
deutsche  Vertreter  der  neuesten  Lebensphilosophie,  die  wir  jetzt 
aus  ihren  biologistischen  Motiven  erst  ganz  verstehen. 

So  betrachtet,  bedeutet  sie  mehr  als  bloße  Lebensstimmung 
oder  prophetische  Lebensbejahung.  In  dieser  Hinsicht  hat  sie 
ein  klares  Prinzip.  Sie  stützt  sich  auf  eine  Theorie  des  unstill- 
baren Lebensdranges,  der  stets  zu  Kämpfen  des  einen  Lebens- 
willens mit  dem  andern  führen  muß.  Der  Gedanke  hat  sich  bei 
Nietzsche  dann  leicht  mit  romantischen  Motiven  verschmolzen, 
was  für  eine  kritische  Stellungnahme  wichtig  ist.  Anfangs  vom 
Darwinismus  beeinflußt,  dem  seinerzeit  nur  wenige  sich  entzogen, 
nahm  Nietzsche  später  mit  ihm  die  Umbildung  vor,  die  seinen 
romantisch-aristokratischen  Neigungen  entsprach.  Der  Kampf 
ums  Dasein  in  der  Notlage,  wie  Darwin  ihn  mit  Malthus  lehrte, 
war  ihm  verächtlich.  In  der  Masse  sah  er  mit  Schopenhauer 
eine  ,, Fabrikware  der  Natur".  So  mußte  er  die  demokratische 
Tendenz  ablehnen.  Da  Leben  üppige  Machtsteigerung  ist,  kommt 
es  immer  auf  die  lebenskräftigsten  überragenden  Individuen  an. 

Der  Zusammenhang  mit  der  antidarwinistischen  Biologie 
tritt  bei  Nietzsche  besonders  deutlich  zutage,  wenn  wir  seine 
Lehren  mit  Gedanken  einer  wenig  bekannten  Schrift  vergleichen, 
die  W.  H.  Rolph  unter  dem  Titel:  Biologische  Probleme,  zu- 
gleich als  Versuch  zur  Entwicklung  einer  rationellen  Ethik,  1881 
veröffentlichte  ^).  Sie  wendet  sich  hauptsächhch  gegen  Spenzer 
und  in  ihr  steht  der  Satz:  „Der  Daseinskampf  ist  in  Wirklich- 
keit ein  Streben  nach  vermehrter  Einnahme,  nach  Lebensmehrung 
und  unabhängig  von  dem  jedesmaligen  Nahrungsangebot.  Er 
findet  jederzeit,  also  auch  in  der  Ueberflußlage  statt".  Hier 
wird  Darwin  auf  biologischem  Boden  gerade  in  dem  Punkt  be- 
kämpft, in  dem  er  durch  Malthus  angeregt  war.  Rolph  sucht 
einen  andern,  lebendigeren  Lebensbegriff,  und  die  ethischen 
Konsequenzen  lauten:  ,, Immer  noch  opfert  die  Natur  dem  Fort- 
schritt überall  die  Masse  auf,  und  darum  müssen  wir  uns  ernst- 
lich fragen,  ob  nicht  jene  Verhältnisse  der  Ungleichheit,  welche 

1)  Zweite,  nach  dem  Tode  des  Verfassers  herausgegebene 
Auflage.    1884. 


-    97     - 

unsere  idealistischen  Philosophen  und  Volksbeglücker  ladikal 
ausrotten  möchten,  eben  nötig  sind  und  Bedingung  des  Fort- 
schritts zum  Besseren." 

Nietzsche  hat  die  Schrift  gekannt  und  gelobt.  Wieviel  er 
ihr  entnommen,  läßt  sich  nicht  feststellen.  Doch  ist  es  unwahr- 
scheinlich, daß  er  ganz  unbeeinflußt  von  ihr  blieb. 

Im  übrigen  kommt  es  darauf  nicht  an.  Die  Hauptsache  ist, 
daß  er  1888  in  Rolphs  Sinne  schrieb:  ,,Was  den  berühmten  Kampf 
ums  Leben  betrifft,  so  scheint  er  mir  einstweilen  mehr  behauptet 
als  bewiesen.  Er  kommt  vor,  aber  als  Ausnahme."  Dann  fördert 
er  nur  die  Menge  der  Schwachen.  ,,Der  Gesamt-Aspekt  des 
Lebens  ist  nicht  die  Notlage,  die  Hungerlage,  vielmehr  der 
Reichtum,  die  Ueppigkeit,  selbst  die  absurde  Verschwendung  — 
wo  gekämpft  wird,  kämpft  man  um  Macht.  .  .  .  Man  soll 
nicht  Malthus  mit  der  Natur  verwechseln." 

Dieser  „Anti-Darwin"  überschriebene  Aphorismus  gewährt 
klaren  Einblick  in  die  biologistischen  Motive  von  Nietzsches 
Denken.  In  der  Steigerung  des  Lebenswillens  fand  er  als  typischer 
Vertreter  der  neuesten  Lebensphilosophie  schließlich  den  Sinn  des 
Lebens  überhaupt.  Das  ließ  sich  dann  gut  auch  mit  seiner  frühe- 
ren, an  Schopenhauer  und  Richard  Wagner  orientierten  „dio- 
nysischen" Weltanschauung  vereinigen.  Ja,  das  Prinzip  der 
lebendigen  Machtentfaltung  wurde  zuletzt  von  ihm  sogar  wieder 
auf  den  Namen  des  Dionysos  getauft.  Jedenfalls:  die  Lebens- 
güter, die  es  nicht  vertragen,  am  Wert  des  lebendigen  und  macht- 
voll sich  steigernden  Lebens  gemessen  zu  werden,  verwirft  Nietzsche 
durchweg. 

Beispiele  machen  das  biologistische  Prinzip  neuester  Observanz 
vollends  deutlich.  Biologisch  fundiert  ist  der  Kampf  gegen  die 
Sklavenmoral,  d.  h.  gegen  die  herrschende  Ethik,  die  für  alle 
gleiches  Recht  verlangt.  Sie  will  Anpassung  der  Masse  und 
müßte  zur  Ruhelage  aller  führen.  Daher  ist  sie  unmoralisch. 
Von  hier  bekommt  Nietzsches  moralfanatischer  ,,Immoralismus", 
die  Herrenmoral,  die  sich  gegen  jede  Nivellierungstendenz,  gegen 
jedes  Streben  nach  Harmonie  der  Interessen,  gegen  jeden  „Pazi- 
fismus" wendet,  die  biologistische  Färbung.  Auch  die  Wahrheit 
der  Wissenschaft  hat  keinen  Wert,  wenn  sie  nicht  dem  aufsteigen- 
den   Leben    dient.     Allerdings  berührt   Nietzsche  sich  hier   mit 

R  i  c  k  e  r  t ,  Philosophie  d.  Lebens.  7 


-    98    - 

dem  Pragmatismus,  der  meist  darwinistische  Tendenzen  zeigt. 
Genauer:  er  hat  diese  Gedanken  früher,  als  es  das  Schlagwort 
Pragmatismus  dafür  gab.  Aber  er  weicht  zugleich  in  charakte- 
ristischer Weise  vom  Pragmatismus  ab,  und  einer  der  Gründe 
dafür  liegt  wieder  in  dem  antidarwinistischen  Lebensbegriff. 
Sein  Aristokratismus  wird  hier  sehr  radikal.  Die  Naturgesetze, 
die  nach  dem  Oekonomieprinzip  wahr  sind,  weil  sie  vieles  unter 
denselben  Begriff  bringen,  erkennt  Nietzsche  nicht  an.  Der 
Glaube  an  sie,  die  alles  gleich  machen,  kommt  nach  ihm  nur 
„den  demokratischen  Instinkten  der  modernen  Seele"  entgegen. 
Die  Wahrheit  eines  Gedankens  ist  danach  allein  zu  beurteilen, 
ob  er  die  kämpfende,  aufsteigende  Vitalität  fördert  oder 
hemmt. 

Vor  allem  aber  darf  der  Mensch  sich  nie  anpassen  und  so 
zum  Stillstand  kommen.  Das  würde  zum  „letzten  Menschen" 
führen,  der  das  ,,  Glück  erfunden"  hat  und  , »blinzelt",  d.  h.  zum 
Ideal  Spenzers,  wie  Rolph  es  kritisiert.  Die  bequeme  Ruhelage 
wäre  die  Ebbe  der  großen  Lebensflut.  Immer  muß  das  Lebe- 
wesen über  sich  hinaus  wollen,  etwas  über  sicii  sehen  und 
haben,  was  ihm  ,,über"  ist.  So  braucht  der  Mensch  den  Ueber- 
menschen  als  den  „Sinn  der  Erde".  Es  ist  nicht  nötig,  die 
bekannten,  in  ihrer  Art  bewundernswürdigen  und  hinreißenden 
Verse  zu  wiederholen.  Sieht  man  von  ihrem  poetischen  Gewand 
ab,  so  kommt  in  allen  diesen  Gedanken  dasselbe  biologistische 
Prinzip  zum  Ausdruck.  Gerade  die  erste  Einführung  des  Ueber- 
menschen  zeigt  das  am  deutlichsten.  Sie  klingt  zum  Teil  sogar 
noch  darwinistisch  mit  ihrem  Hinweis  auf  den  Affen.  Darwin 
ist  eben  erst  überwunden.  Der  Umstand,  daß  sich  bei  Nietzsche 
daneben  auch  andere  Motive  finden,  ändert  daran  nichts. 

Manche  der  Ideen,  die  Bergson  berühmt  gemacht  haben, 
lassen  sich  ebenfalls  von  der  antidarwinistischen  Entwicklungs- 
lehre aus  am  besten  verstehen.  Sie  zeigen  unter  dem  bio- 
logistischen  Gesichtspunkt  zugleich  nahe  Verwandtschaft  mit 
Gedanken  Nietzsches.  Das  wird  wichtig,  wo  es  gilt,  das  Gemeinsame 
in  den  mannigfaltigen  Bestrebungen  der  Zeit  zu  erkennen.  Nicht 
allein  der  Antimetaphysiker  Nietzsche,  der  die  Hinterweltler  ver- 
spottet, zu  denen  er  selber  einst  gehörte,  sondern  auch  der  Meta- 
physiker  Bergson,   der   im  Leben   das  tiefste   Wesen    der  Welt 


—    99    - 

erschaut,  gerät  bei  näherer  Ausgestaltung  seines  Lebensbegriffs 
in  das  biologistische  Fahrwasser  der  neuesten  Richtung.  Es  ge- 
nügt, das  für  wenige  Punkte  anzudeuten. 

Daß  Bergson  überhaupt  Biologist,  nicht  nur  Intuitionist  ist, 
liegt  besonders  mit  Rücksicht  auf  seine  späteren  Schriften  auf 
der  Hand.  Wenn  er  von  „schöpferischer  Entwicklung"  redet, 
so  ist  dabei  nicht  das  Leben  in  seiner  umfassendsten  Bedeutung 
als  Inbegriff  aller  anschaulichen  Erlebnisse  gemeint,  zu  denen 
das  Tote  ebenso  gehört  wie  das  Lebendige.  In  diesem  Sinn 
könnte  das  erschaute  Erlebnis  nicht  zum  metaphysischen  Welt- 
prinzip gemacht  werden.  Bergson  hat  vielmehr  überall  das 
organische  Leben  zunächst  als  Teil  der  Welt,  im  Gegensatz  zur 
toten  Natur,  im  Auge,  und  er  denkt  es  dabei  so,  wie  die  moderne 
Biologie  als  Spezialwissenschaft  es  versteht.  Erst  nachdem  dies 
geschehen  ist,  wird  der  Lebensbegriff  erweitert,  damit  er  alles 
umfaßt.  Ohne  biologistisches  Prinzip  bliebe  nicht  allein  der  Be- 
griff der  schöpferischen  Entwicklung,  sondern  auch  der  der 
Lebensschwungkraft  unverständlich. 

Ebenso  ist  klar,  daß  Bergson  zu  den  Biologisten  antimecha- 
nistischer, antidarwinistischer  oder  antispenzerscher  Observanz 
gehört,  die  von  einer  immer  größeren  Anpassung  kein  Glück  der 
Zukunft  erwarten  können.  Von  einer  fortschreitenden  Entspan- 
nung in  der  Richtung  auf  die  Ruhelage  will  Bergson  nichts 
wissen,  und  er  deutet  dies  biologische  Prinzip  erst  nachträglich 
metaphysisch.  Die  Entspannung  des  Lebens  ist  die  tote  Materie, 
und  der  Tod  die  sittliche  Unfreiheit.  Das  metaphysische  Wesen 
der  Welt  geht  nicht  auf  Daseinserhaltung,  sondern  auf  Lebens- 
steigerung. Bergsons  Lehre  von  der  Materie  als  Entspannung 
oder  Ermattung  des  Lebens  erweist  sich  somit  in  ihrer  Herkunft 
ebenfalls  als  Produkt  des  neuesten  biologistischen  Denkens. 

Charakteristisch  ist  ferner  sein  Verhältnis  zum  darwinistischen 
Pragmatismus.  Er  baut  die  bei  Mach  und  Avenarius  aus  der 
älteren  biologistischen  Richtung  stammende  Erkenntnislehre  zwar 
in  seine  Philosophie  ein,  muß  ihr  aber  zugleich  eine  andere 
Pointe  geben.  Nur  die  das  Leben  verfälschende,  mathematische 
Naturwissenschaft  ist  als  Denken  der  Welt  gemäß  dem  Prinzip 
des  kleinsten  Kraftmaßes  zu  verstehen,  als  entsprungen  aus  dem 
W^illen  zur  Denkökonomie.  Als  Sparsamkeitsprodukt  ist  sie  zugleich 

7* 


-    100    - 

zu  bekämpfen,  wo  es  gilt,  durch  lebendige  Intuition  zum  ewig 
quellenden  und  fließenden  Lebensstrom  vorzudringen.  Auch  das 
erinnert  an  Nietzsche,  und  die  Verwandtschaft  beruht  wieder 
auf  dem  biologistischen  Prinzip. 

Selbstverständlich  sollen  diese  Bemerkungen  keine  auch  nur 
annähernd  erschöpfende  Würdigung  von  Bergsons  Philosophie  in 
ihrer  Totalität  geben.  Allein  das,  was  davon  in  weitere  Kreise 
gedrungen  ist,  interessiert  uns  hier,  ebenso  wie  es  bei  Nietzsche 
nur  auf  das  populär  Gewordene  ankam,  und  falls  jemand  sagt, 
die  eigentliche  Bedeutung  dieser  Denker  liege  in  anderer  Rich- 
tung, so  brauchen  wir  nicht  zu  widersprechen.  Nur  in  einigen 
ihrer  Gedanken  wollten  wir  das  biologistische  Prinzip  aufzeigen. 
Nur  was  sie  als  Modephilosophen  sind,  ist  uns  wichtig.  Ihr  Bio- 
logismus bildet  den  allgemeinsten  Faktor,  der  sich  in  den  philo- 
sophischen Strömungen  der  Zeit  immer  wieder  findet  und  diese 
zu  einem  einheitlichen  Ganzen  zusammenschließt.  Nietzsche  und 
Bergson  erscheinen  so  aufgefaßt  als  besondere  „Fälle"  einer  weit 
verbreiteten  Tendenz. 

Daß  jede  solche  generalisierende,  „morphologische"  oder 
,, kollektivistische"  Darstellung  ungarecht  werden,  ja  eventuell 
das  Wichtigste  an  einer  Denkerpersönlichkeit  beiseite  lassen  muß, 
hoben  wir  am  Anfang  ausdrücklich  hervor.  Mit  dieser  Ein- 
schränkung begegnen  wir  auch  hier  jedem  Einwand.^ 

Die  allgameinen  Tendenzen  in  ihrer  ganzen  Breite  auch  bei 
kleineren  Geistern,  die  nur  Biologisten  sind,  zu  verfolgen,  hätte 
keinen  Zweck.  Daran  würden  wir  nichts  Neues  lernen.  Wir  grei- 
fen daher  nur  noch  einen  besonders  bezeichnenden  „Fall"  heraus, 
der  schon  zur  Kritik  des  neueren  biologistisclien  Prinzips  hinüber- 
leitet. 

Auch  hier  werden  Formulierungen  von  Scheler  interessant. 
Er  besitzt  eine  bemerkenswerte  Fähigkeit,  Modegedanken  zum 
Ausdruck  zu  bringen  und  sie  dabei  so  zuzuspitzen,  daß  sie  die 
Kritik  herausfordern.  Das  haben  wir  schon  bei  der 
„neuen  Haltung"  der  intuitiven  Lebensphilosophie  gesehen,  deren 
konsequente  Durchführung  zur  Aufhebung  jeder  Wissenschaft 
führen  muß,  und  diese  radikale  Ausgestaltung  ist  ein  Verdienst. 
Für    den  Biologismus   der   neuesten   Richtung  kommt  das  viel 


-    101     - 

genannte  Buch  über  den  Genius  des  Krieges  in  Betracht  *).  Freilich 
erklärt  Scheler  ausdrücklich,  daß  der  Begriff  des  organischen 
Lebens  zur  Lösung  der  meisten  philosophischen  Probleme  nicht 
ausreiche.  Er  will  kein  Naturalist  sein,  ebensowenig  wie  er 
faktisch  die  Philosophie  nur  auf  Intuition  stützen  wollen  kann. 
Trotzdem  besitzt  nach  ihm  die  Einsicht  in  das  Wesen  der 
lebendigen,  vitalen  Natur  für  die  Würdigung  des  Krieges  die 
größte  Bedeutung.  Der  Krieg  muß  wenigstens  eine  Wurzel  im 
Wesen  des  Lebens  überhaupt  haben,  also  auch  vom  Leben  aus 
verstanden,  und  das  bedeutet  für  Scheler:  gerechtfertigt  werden. 

Die  Lebenswurzel  des  Krieges  nämlich  ist  nicht,  wie  die  Darwi- 
nisten und  Spenzer  meinen,  der  tierische  Daseins-  und  Nahrungs- 
kampf, nicht  eine  Folge  gewisser  Disharmonien  der  „Anpassung", 
die  mit  steigender  „Anpassung"  überwunden  würde,  so  daß  man 
ein  Aufhören  alles  Kampfes  erwarten  und  im  Krieg  nur  Ueber- 
reste  einer  unvollkommenen  Anpassung,  also  Barbarei  erblicken 
dürfte.  Die  wahre  Wurzel  des  Krieges  besteht  vielmehr  darin, 
daß  allem  Leben  selbst  und  unabhängig  von  seiner  besonderen, 
wechselnden  Umwelt  und  deren  Reizen  eine  Tendenz  zur  Steige- 
rung, zum  Wachstum  und  zur  Entfaltung  seiner  Mannigfaltigkeits- 
arten innewohnt.  Der  Lebensbegriff  Darwins  und  Spenzers  ist 
für  Scheler  als  einen  typischen  Biologisten  modernster  Observanz 
viel  zu  passivistisch  und  mechanistisch. 

Nur  aus  der  antidarwinistischen  Biologie  ist  auch  das  Wesen 
des  Staates  zu  verstehen.  Die  Machtsteigerung  liegt  im  Wesen 
des  Staates  selbst.  Der  nicht  wachsende  Staat,  der  Staat,  der 
nur  auf  Erhaltung  seines  Seins  und  Soseins  bedacht  wäre,  es 
wäre  der  tote,  der  erstarrte,  der  sein  Wesen  aufgebende,  der 
sinkende  Staat.  Der  Krieg  aber  ist  der  Staat  in  seinem  aktuell- 
sten Wachsen  und  Werden  selbst,  und  er  kann  daher  nie  ver- 
schwinden. Schon  Schiller  hat  ihn  den  Beweger  des  Menschen- 
geschicks genannt.  Er  ist  auch  sittlich  notwendig.  Die  Menschen 
hätten    sich   gegenseitig  friedlich  aufgefressen,    wenn    nicht   die 


l)Max  Scheler,  Der  Genius  des  Krieges  und  der 
Deutsche  Krieg.  1915.  Selbstverständlich  ist  hier  keine  Wür- 
digung des  ganzen  Buches  beabsichtigt.  Nur  wenige  Sätze 
greife  ich  als  Symptome  heraus.  In  dem  Werk  steht  manches, 
was  auch  positive  Bedeutung  hat. 


—    102    - 

Würde  des  Krieges  selbst  noch  die  Gewalt  geheiligt  und  auf 
gemeinsame  Ziele  großer  Gemeinschaften  gespannt  hätte.  Darum 
muß  der  Krieg  als  dauernde  Institution  alles  wahrhaft  lebendigen 
Lebens  gelten.  Der  Pazifismus  ist  lebensfeindlich  und  staats- 
feindlich. 

Scheler  spitzt  seine  Gedanken  dahin  zu,  daß  „der  Krieg  in  sei- 
nem Erfolg  nicht  nur  die  Wirtschaftspolitik  katexochen,  sondern 
auch  die  qualitative  (nicht  quantitative)  Bevölkerungspolitik 
katexochen"  seil  Weitere  Proben  dieses  Biologismus  sind  nicht 
nötig.  In  bezug  auf  den  letzten  Satz  darf  man  wohl  mit 
Nietzsche  sagen:  „Dieser  Denker  braucht  Niemanden,  der  ihn 
widerlegt:  er  genügt  sich  dazu  selber."  Man  müßte  denn  den 
Krieg,  den  wir  „erlebt" '  haben,  keinen  Krieg  mehr  nennen 
wollen. 

Konsequent  jedoch  sind  die  Gedanken  Schelers  durchaus, 
und  zw^ar  in  derselben  Art  wie  sein  Preisen  der  neuen  Haltung 
Bergsons.  Dort  wurde  wegen  der  Lebendigkeit  der  Anschauung 
ihre  Befestigung  durch  den  Begriff  abgelehnt.  Hier  soll  dem 
lebendigen  Lebenskampf  keine  Fessel  angelegt  werden,  damit  — ■  das 
Leben  lebendig  bleibt.  Wer  nicht  allein  sieht,  daß  natürliches, 
vitales  Leben  Wachstum  ist  und  mit  anderem  Leben  kämpfend 
zusammenstößt,  sondern  wer  zugleich  in  diesem  biologistischen 
„Gesetz"  eine  Norm  für  alles  Kultur  leben  erblickt,  der  muß 
in  der  Tat  wie  Scheler  denken.  Sollte  ihm  aber  nicht  zugleich 
der  Verdacht  entstehen,  daß  in  den  Grundlagen  von  Gedanken, 
die  zu  solchen  Konsequenzen  führen,  etwas  nicht  stimmen  kann  ? 

Doch  wir  legen  zunächst  nur  das  Prinzip  klar,  auf  dem  der 
Gegensatz  der  älteren  und  der  neueren  Ijiologistischen  Philo- 
sophie beruht.  Ihn  können  wir  jetzt  so  formulieren,  daß  er 
schärfer  zum  Ausdruck  kommt  als  bei  den  meisten  Vertretefti 
dieser  Geistesbewegung  unserer  Zeit.  Das  schadet  jedoch  nichts, 
denn^wir  fragen  nur  nach  der  prinzipiellen  Seite  der  Sache,  und 
ein  Prinzip  kann  man  als  theoretisches  Prinzip  nicht  übertreiben. 

Der  Philosoph  streikt  nach  einer  einheitlichen  Auffassung 
alles  Wirklichen.  Orientiert  er  sich  dabei,  wie  es  Vielen  nahe- 
liegt, an  der  allgemeinsten  Körpertheorie  und  nimmt  an,  daß  von 
den  Körpern  auch  das  Seelenleben  irgendwie  ,, abhängig"  ist  oder 
im  Zusammenhang  mit  ihnen  begriffen  werden  muß,  dann  wird 


—    103    - 

er  jede  mechanistische  Erklärung  als  prinzipiellen  philosophischen 
Fortschritt  begrüßen.  Nach  Darwin  schien  der  Durchführung 
des  Mechanismus  nichts  mehr  im  Wege  zu  stehen.  Vertrat  die 
Philosophie  vorher  einen  „Dualismus"  von  blinder  Ursache  und 
vernünftigem  Zweck,  der  nichts  erklärte,  sondern  nur  ein  asylum 
ignorantiae  war,  so  stehen  wir  jetzt  vor  der  Welt  als  einem 
,, monistischen"  Komplex  rein  mechanischer  Ursachen  und  Wir- 
kungen, in  den  alles  sich  einordnen  läßt  mit  Einschluß  der 
zweckmäßig  oder  vernünftig  gestalteten  Organismen.  Wir  brau- 
chen also  in  kein  Asyl  mehr  zu  flüchten.  Wir  haben  eine  rein 
wissenschaftliche  Weltanschauung. 

Zugleich  wird  auch  das  Problem  der  Lebensanschauung  oder 
das  W^ertproblem  monistisch  lösbar.  Früher  hatte  man  die  Werte 
der  Natur  entgegengesetzt.  Das  begann  in  der  Philosophie  schon 
mit  Piaton,  wurde  durch  das  Christentum  befestigt,  beherrschte 
das  Mittelalter,  und  in  einem  solchen  ,, Mittelalter"  leben  viele 
beklagenswerte  Philosophen  noch  heute.  In  dieser  Hinsicht 
brachte  das  Prinzip  der  natürlichen  Auslese  ebenfalls  einen 
Wandel.  Wir  sind  nicht  Fremdlinge  in  der  Welt,  sondern  sie  ist 
unsere  Heimat,  und  der  Sinn  unseres  Lebens  kann  kein  anderer 
sein,  als  daß  wir  ihren  Gesetzen  zu  gehorchen  suchen.  Von  der 
Amöbe  bis  zum  Kulturmenschen  hat  sie  überall  das  Unvoll- 
kommene vernichtet  und  das  Vollkommene  erhalten.  ^ 

So  befriedigen  die  darwinschen  Theorien  nicht  allein  den 
Intellekt,  dereine  einheitliche  Erklärung  des  Seins  der 
Welt  verlangt,  sondern  ebenso  den  Willen,  der  nach  gesicher- 
ten Idealen  sucht,  um  das  Handeln  danach  zu  lenken. 

Der  neuere  Biologismus  erstrebt  formal  dasselbe  philo- 
sophische Ziel.  Auch  er  will  zu  einer  einheitlichen  Erklärung 
des  Seins  der  Welt  kommen  und  im  unmittelbaren  Zusammen- 
hang mit  ihr  eine  Lehre  von  den  Werten  schaffen.  Aber  nicht  der 
Mechanismus  ist  der  allgemeinste  Rahmen,  in  welchen  er  die 
Welt  hineinstellt.  Er  geht  von  dem  aus,  was  jeder  mechanischen 
Auffassung  spottet.  Das  Leben  ist  nur  antimechanistisch  als 
Kraftentfaltung,  als  Wachstum,  als  beständige  Steigerung,  als 
elan  vital  zu  begreifen.  Dann  gilt  es,  um  zur  Einheit  der  Welt- 
anschauung zu  kommen,  nicht  das  Leben  in  die  Materie,  sondern 
umgekehrt  die  Materie  in  das  Leben  einzuordnen,  also  das  schein- 


—    104    - 

bar  Tote  als  Form  des  sinkenden  und  ermattenden  Lebens  zu 
verstehen.  Die  Auffassung  des  Seins  der  Welt  ist  so  ebenfalls 
„monistisch".  Sie  legt  jedoch  den  Schwerpunkt  auf  die  entgegen- 
gesetzte Seite  des  zu  überwindenden  Dualismus. 

Die  Wertlehre  endlich,  die  sich  auf  diesem  Boden  ergibt, 
entspricht  dem  antimechanistischen  oder  vitahstischen  Prinzip. 
Von  einer  Vervollkommnung  der  Welt  durch  Annäherung  an  die 
Ruhelage,  in  der  das  Leben  aufhören  würde,  lebendig  zu  sein, 
dürfen  wir  nicht  reden.  Wie  die  Welt  im  tiefsten  Grunde 
Lebensschwungkraft  ist,  so  haben  auch  die  einzelnen  Individuen 
wie  die  Gemeinschaften  sich  in  den  Dienst  der  schöpferischen 
Entwicklung  zu  stellen.  Lebendiges  Leben  aber  bedeutet  Macht- 
steigerung, und  diese  gibt  es  nie  ohne  Kampf.  So  tritt  eine 
heroische  Lebensauffassung  der  Friedenssehnsucht  der  Mecha- 
nisten gegenüber.  Es  gilt,  alles  zu  bekämpfen,  was  sich  .nur 
erhalten  will.  Die  Menschen  sind  verpflichtet,  stets  über  das 
schon  Erreichte  hinauszustreben.  Glück  und  persönliche  Wünsche 
sind  nicht  entscheidend.  Der  Mensch  darf  seine  „Bestimmung" 
nur  darin  finden,  daß  in  ihm  das  Wachsen  und  Sichentfalten 
des  vitalen  Lebens  zum  Ausdruck  kommt,  welches  das  allge- 
meine Weltprinzip  darstellt.  So  ist  auch  hier  die  Lebensanschau- 
ung in  der  Weltanschauung  verankert. 


Siebentes  Kapitel. 

Kritik  des  biologistisclien  Realitätsprinzips. 

„Grau,  teurer  Freund,  ist  a  1 1  e  Theorie." 

Mepbistopbeles. 

Jetzt  Überschauen  wir  den  Biologismus,  soweit  er  den  An- 
spruch erhebt,  das  allgemeine  Prinzip  für  die  Philosophie  zu 
geben,  und  können  ihm  kritisch  gegenübertreten.  Die  ältere 
Richtung  ziehen  wir  dabei  nur  so  weit  heran,  als  sie  noch  in 
die  neuere  hineinspielt.  In  'der  Hauptsache  kommt  es  auf  die 
eigentliche  Modeströmung,  d.  h.  auf  den  antimechanistischen 
Biologismus  an.  Doch  halten  wir  uns  nicht  an  so  extreme  Aus- 
gestaltungen wie  Schelers  Philosophie  des  Krieges.  Damit  würden 


—    105    - 

wir  uns  die  Kritik  zu  leicht  machen.  Einzelheiten  werden 
überhaupt  nur  gelegentlich  als  Beispiele  wichtig.  Es  gilt,  die 
begrifflichen  Fundamente  dieser  Lebensphilosophie  prinzipiell 
und  systematisch  zu  prüfen,  und  zu  diesem  Zwecke  trennen  wir 
weiter  .die  Seinsfragen  von  den  Wertfragen,  obwohl  in  der  Philo- 
sophie unserer  Tage  die  Scheidung  nur  selten  konsequent  durch- 
geführt wird.  Warum  sie  von  fundamentaler  Wichtigkeit  ist, 
wird  immer  deutlicher  werden. 

Wir  beginnen  mit  den  Seinsproblemen  und  fragen  zunächst, 
ob  eine  allein  mit  biologischen  Begriffen  arbeitende  Philosophie 
in  dem  Sinne  ,, Philosophie"  genannt  werden  darf,  daß  sie 
universale  Erkenntnis  der  realen  Welt  bedeutet. 

Wird  auch  nur  die  Frage  so  gestellt,  dann  sollte  man  meinen, 
könne  die  Antwort  nicht  schwer  fallen.  Die  Biologie  beschränkt 
sich  ihrem  Wesen  nach  auf  einen  Teil  des  Weltganzen,  wo 
sie  vom  ,, Leben"  redet.  Sie  muß  das  als  Spezialwissenschaft. 
Sie  handelt  nicht  vom  Leben  überhaupt  oder  von  den  Erleb- 
nissen in  der  Bedeutung  des  Wortes,  daß  alles  in  sie  eingeht,  was 
für  uns  da  ist.  Sie  nimmt  eine  Verengerung  des  umfassendsten 
Lebensbegriffes  vor.  So  allein  erreicht  sie  die  Bestimmtheit 
ihrer  Begriffe,  die  sie  als  Wissenschaft  nicht  entbehren  kann. 

Unter  philosophischen  Gesichtspunkten  ist  diese  Art  der 
Bestimmtheit  jedoch  teuer  erkauft.  Der  Teil  der  Welt,  auf  den 
sie  sich  beschränkt,  wird  nie  etwas  anderes  als  ein  Teil  werden. 
Innerhalb  der  Biologie  als  Spezialwissenschaft  besteht  darüber 
wohl  auch  kein  Zweifel.  Der  Biologismus  als  Philosophie  da- 
gegen möchte  den  Teil  zum  Ganzen  machen.  Setzt  er  damit 
nicht  das  Ganze  zum  Teil  herab,  verfährt  also  unphilo- 
sophisch, falls  man  unter  Philosophie  die  universale  Wissen- 
schaft vom  Weltganzen  versteht? 

Mit  Rücksicht  auf  diese  Frage  bedeutete  die  Aufzeigung  des 
biologistischen  Prinzips  schon  eine  Kritik.  Gewiß  hat  diese 
Lebensphilosophie  im  Unterschied  von  den  rein  intuitiven  For- 
men ein  wissenschaftliches  Prinzip.  Aber  gerade  in  ihm  scheint 
eine  unphilosophische  Tendenz  zu  stecken.  Um  zu  einer  umfas- 
senden Philosophie  zu  kommen,  werden  wir  uns  keiner  Spe- 
zialwissenschaft anvertrauen.  Die  Beschränkung  auf  biologische 
Begriffe   führt  ,zum   spezialistischen  Universalismus.     In   dieser 


-    106    - 

Hinsicht  scheint  der  Biologismus  neuerer  Richtung  nicht  allein 
mit  dem  Historismus,  sondern  auch  mit  dem  mechanistischen 
„Monismus"  auf  einer  Linie  zu  stehen,  also  grade  der  von  ihm 
bekämpften  Weltanschauung  nicht  prinzipiell  überlegen.  Ist 
eine  biologisch  orientierte  und  zugleich  universal  gerichtete 
Philosophie  nicht  ein  Widersinn  in  sich? 

Schon  das  würde  vielleicht  genügen,  um  diese  Form  der 
Lebensphilosophie  im  Kern  zu  erschüttern.  Sie  ist  keine  Lebens- 
Philosophie.  Der  echte  Philosoph  des  Lebens  sollte  für 
das  umfassende  Leben  gegen  die  Einseitigkeit  und  Enge  des 
antimechanistischen  Biologismus  eintreten. 

Aber  man  kann  glauben,  daß  damit  allein  die  Frage  noch 
nicht  entschieden  sei.  Dürfen  wir  nicht  von  dem  Teil  der  Welt, 
den  die  Biologie  behandelt,  auf  das  Weltganze  schließen? 
.Ja,  müssen  wir  nicht  grade  die  biologischen  Kategorien  zu 
Weltkategorien  erweitern,  um  so  zum  Wesen  alles  Seins  vorzu- 
dringen? Das  behauptet  doch  die  Lebensphilosophie  neuester 
Richtung:  nur  das  unmittelbar  erlebte  Sein  ist  wahrhaft  real. 
Alles  unmittelbar  Erlebte  aber  ist  lebendig.  So  verbin- 
det sich  das  Lebensprinzip  mit  dem  Wirklich- 
keitsprinzip. Das  erst  entscheidet.  Daher  kann  die  reale 
Welt  nur  als  lebendige  Welt  verstanden  werden. 

So  scheint  die  Verwendung  von  Lebensbegriffen,  die  der 
Wissenschaft  vom  lebendigen  Leben,  also  der  Biologie  entnom- 
men sind,  zum  Aufbau  einer  Weltwissenschaft  voll  gerecht- 
fertigt. 

Wir  kommen  damit  auf  die  Gedanken  zurück,  die  bei  Fest- 
stellung des  allgemeinen  biologistischen  Prinzips  erörtert  wurden. 
Die  Lebensformen,  welche  die  Biologie  kennen  lehrt,  nimmt  die 
intuitiv  gerichtete  Lebensphilosophie  in  ihren  Dienst,  um  mit 
ihnen  ihr  Verlangen  nach  Anschaulichkeit  und  Unmittelbarkeit 
der  Erkenntnis  zu  befriedigen,  und  das  kann  man  verstehen. 
Die  Mechanik  gibt  von  dem,  was  wir  unmittelbar  als  real  er- 
leben, in  der  Tat  weniger  als  die  Biologie.  Insofern  darf  man 
auch  sagen,  daß  die  mechanistische  Philosophie  das  unmittelbare 
Erlebnis  „tötet".  Die  biologischen  Begriffe  stehen  der  Unmittel- 
barkeit des  Realen,  das  wir  selber  sind  und  daher  am  sichersten 
als  Realität    erfassen,   näher   und   scheinen    daher   besser    ge- 


-    107    - 

eignet,  das  Wesen  der  Erlebniswirklichkeit,  welche  die  eigent- 
lich wirkliche  Wirklichkeit  ist,  wissenschaftlich   zu  begreifen. 

Deshalb  ist  mit  dem  einfachen  Hinweis  darauf,  daß  die 
Biologie  eine  Spezialwissenschaft  sei,  in  der  Tat  noch  nichts 
gegen  die  biologistische  Lebensphilosophie  entschieden.  Sie  will 
ja  nicht  bei  der  Biologie  als  Spezialwissenschaft  stehen  bleiben, 
sondern  die  von  ihr  herausgearbeiteten  Lebensformen  so  be- 
nutzen, daß  sie  damit  die  reale  Welt  in  ihrer  Totaütät  als  un- 
mittelbar lebendig  und  so  erst  als  wahrhaft  real  erfaßt. 

Es  kommt  darauf  an,  zu  verstehen,  daß  auch  dies  Unter- 
nehmen auf  einer  Unklarheit  über  das  Wesen  des  biologischen 
Denkens  beruht. 

Freilich  zeigen  die  verschiedenen  Disziplinen,  welche  die 
Welt  erforschen,  eine  mehr  oder  weniger  große  Lebens-  und 
Wirklichkeitsnähe.  Daß  in  den  Begriffen  der  Mathematik  keine 
Spur  von  ,, lebendigem"  und  „wirklichem"  Leben  ist,  falls  die 
Worte  in  einer  der  üblichen  Bedeutungen  genommen  werden, 
leuchtet  ein.  So  wenig  Berührung  mit  dem  realen  und  leben- 
digen Leben  wie  diese  Wissenschaft  haben  nicht  alle  Disziplinen. 
Im  Vergleich  zu  ihr  besitzen  schon  Naturwissenschaften  wie 
Physik  und  Chemie  mehr  Wirklichkeits-  und  damit  mehr  Lebens- 
gehalt, und  auch  das  ist  richtig,  daß  die  Biologie  dem  realen 
Leben  noch  näher  kommt. 

Der  Unterschied  aber  zwischen  den  einzelnen  Teilen  der 
Naturwissenschaften  kann  nicht  als  prinzipiell,  sondern  nur  als 
graduell  gelten.  Die  Naturwissenschaften  bleiben,  um  zu- 
nächst nur  das  hervorzuheben,  mit  ihren  allgemeinen  Be- 
griffen dem  in  seiner  unmittelbaren  und  anschaulichen  realen 
Lebendigkeit  stets  individuellen  Leben  alle  fern.  Wie  weit 
das  ursprüngliche,  erlebte  wirkliche  Leben  von  der  Wissenschaft 
überhaupt  erfaßt  wird,  lassen  wir  zunächst  noch  dahingestellt. 
Die  Natursvissenschaften  führen  jedenfalls  alle  zu  einer  mehr 
oder  weniger  großen  Wirklichkeits-  und  Lebensferne  ^).  Je 
mehr  daher   die  Lebensphilosophie  sich  an  den  Begriffen  einer 


1)  Ausführlich  habe  ich  diesen  Gedanken,  der  hier  nur  an- 
gedeutet werden  kann,  begründet  in  meinem  Buch  über  die  Gren- 
zen der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung.  1896 — 1902. 
2.  Aufl.   1913 


—    108    - 

Naturwissenschaft  orientiert,  desto  mehr  widerspricht  sie  damit 
ihrer  eigenen  Tendenz,  die  auf  Lebendigkeit  und  ReaUtät  als 
Ursprünglichkeit  und  Unmittelbarkeit  gerichtet  ist. 

Die  moderne  Lebensphilosophie  mißversteht  sich  selbst,  und 
zswar  das  Beste  in  sich,  wenn  sie  zu  Begriffen  der  Biologie  greift. 
Darin  steckt  nämlich  ihr  tiefster  Gedanke,  daß  den  , .Verstan- 
desbegriffen" die  Fülle  der  realen  Erlebnisse  in  ihrer  Mannig- 
faltigkeit, und  damit  die  eigentliche  Wirklichkeit,  für  immer  un- 
zugänglich bleiben  muß.  Vermag  aber  der  Biologismus  daran 
etwas  Wesentliches  zu  ändern?  Sind  seine  Begriffe  nicht  Ver- 
standesbegriffe? Erfaßt  er  mit  ihnen,  weil  sie  Lebensbegriffe 
sind,  auch  prinzipiell  mehr  unmittelbar  Reales  als  mit  anderen 
Begriffen  der  Naturwissenschaft? 

Er  braucht,  auch  wenn  er  die  mechanistische  Auffassung 
der  Auslese  und  Anpassung  bekämpft,  doch  immer  Begriffe 
der  Biologie,  d.  h.  naturwissenschaftliche  Begriffe,  und  diese 
sind  alle  Begriffe  des  Verstandes,  gleichviel  ob  sie  den  Begriffen 
der  Mechanik  näher  oder  ferner  stehen.  Alles  Ijio-logisieren  heißt 
zugleich  alles  logisieren.  Wie  will  man  das  bezweifeln?  Das 
sagt  nicht  nur  das  Wort.  Die  Biologie  nimmt  nicht  das  reale 
Leben,  wie  es  unmittelbar  lebt  und  erlebt  wird,  als  Wirklich- 
keit in  den  Inhalt  ihrer  Begriffe  auf.  Das  kann  sie  als  Wissen-- 
Schaft  nicht.  Sie  „tötet"  es,  um  in  der  Sprache  der  intuitiven 
Lebensphilosophie  zu  reden,  und  zwar  tötet  sie  es  genau  so 
weit,  wie  sie  es  begreift,  und  sie  ist  nur  so  weit  Wissenschaft, 
als  sie  es  begreift.  Der  Biologe  hat  zwar  ein  anderes  Mate- 
rial als  der  Physiker  oder  der  Chemiker,  und  er  bearbeitet  ge- 
wiß dessen  spezifische  Verschiedenheiten  gegenüber  der  sogenann- 
ten toten  Natur.  Arbeitet  er  aber  darum  auch  mit  einer  anderen, 
mehr  intuitiven  Methode?  Vermag  er  dem  unmittelbaren 
Leben  und  damit  dem  wahrhaft  Realen  nicht  allein  graduell, 
sondern  prinzipiell  näher  zu  kommen  ?  Wie  will  er  das  erreichen, 
so  lange  er  Begriffe  des  Verstandes  verwendet? 

Es  bedeutet  eine  Selbsttäuschung,  wenn  man  glaubt,  da- 
durch, daß  man  die  Begriffe  der  einen  Naturwissenschaft  durch 
die  einer  anderen  ersetzt,  erfasse  man  im  Begriff  das  unmittel- 
bar erlebte  Leben  und  damit  die  eigentliche  Realität,  also  das 
Wesen   der  realen   Welt.     Dem  Leben  der  Organismen  kommt 


-    109    — 

die  Biologie  gewiß  näher,  als  der  Mechanismus  es  vermag,  aber 
die  Unmittelbarkeit  und  Ursprünglichkeit  des  realen  Lebens  erlebt 
man  in  keiner  Naturwissenschaft.  Man  ,, erlebt"  überall  nur 
den  Gehalt  der  Begriffe,  und  der  ist  nicht  lebendig  und  nicht 
real  wie  die  unmittelbare  Wirklichkeit  des  Lebens.  Auch  der 
Biologe  verfertigt,  um  mit  Bergson  zu  reden,  Konfektionskleider, 
die  keinem  Lebewesen  passen,  weil  sie  jedem  Lebewesen  passen 
sollen.  Auch  er  arbeitet  nicht  ,,nach  Maß",  und  er  kann  es  als 
Naturforscher  nicht.  Er  bleibt  dem  Leben  als  dem  Realen  im 
Prinzip  so  fern  wie  andere  Naturforscher.  Das  Leben  begreifen, 
heißt  nicht  die  unmittelbare  Realität  des  Lebens  erfassen. 

Wir  müssen  noch  weiter  gehen.  Keine  Naturwissenschaft 
von  den  Organismen  wird  auf  die  Dauer  mit  Begriffen  auskom- 
men, die  denen  der  übrigen,  mechanisch  orientierten  Natur- 
wissenschaften widersprechen.  Damit  zerstörte  sie  jede 
einheitliche  Auffassung  des  Naturganzen  und  käme  zu  einem  sehr 
unphilosophischen  Naturbegriff.  Davon  war  schon  die  Rede. 
Vollends  ist  die  Erweiterung  der  biologischen  Kategorien  zu 
Weltallkategorien,  die  das  Wesen  der  Wirklichkeit  erfassen 
sollen,  abzulehnen,  und  damit  wird  das  Prinzip  der  biologisti- 
schen  Lebensphilosophie  in  Frage  gestellt. 

Zum  Teil  verdankt  vielleicht  der  moderne  Biologismus  den 
Anschein  von  „Lebendigkeit''  dem  Umstand,  daß  er  wissen- 
schaftlich noch  ungeklärte  biologische  Begriffe  benutzt,  deren 
Hauptbedeutung  in  einer  Reaktion  gegen  die  voreilige  darwini- 
stische  Mechanisierung  besteht.  Je  klarer  die  Theorien  der  Bio- 
logie naturwissenschaftlich  herausgearbeitet  werden,  je  mehr  sie 
„erklären",  d.  h.  je  besser  logisch  und  begrifflich  sie  durchdacht 
sind,  um  so  deutlicher  wird  werden,  daß  auch  sie  zu  den  Leist- 
nngen  des  „tötenden"  Verstandes  gehören  und  daher  niemals 
den  Anspruch  erheben  dürfen,  die  lebendige  Welt  in  ihrer  un- 
mittelbaren, anschaulichen  und  ursprünglichen  Wirklichkeit  zu  er- 
fassen. Das  ist  eben  keinem  Zweige  der  Naturwissenschaft 
gegeben. 

Was  von  selten  der  Lebensphilosophie  gegen  die  Physik 
geltend  gemacht  wird,  daß  sie  sich  von  den  unmittelbar  realen 
Erlebnissen  entferne,  trifft  also  im  Prinzip  auch  die  Biologie, 
und  so  untergräbt  der  Biologismus  mit  seiner  Kritik  der  „Wis- 


—    110    — 

senschaft"  sein  eigenes  "Wirklichkeits-Fundament.  Früher  war 
die  Physik  in  der  Philosophie  Mode,  heute  ist  es  die  Biologie. 
Die  Moden  wechsehi,  aber  das  Prinzip  bleibt  dasselbe:  der  Teil 
soll  das  Ganze  bedeuten.  Jede  Tendenz,  die  darauf  hinauskommt, 
ist  gleich  unphilosophisch.  Den  Kern  der  realen  Welt,  das  ,,ens 
realissimum",  wird  man  weder  auf  dem  einen  noch  auf  dem 
andern  Wege  ergreifen.  Auch  die  Ansprüche  des  Biologismus, 
Wirklichkeitsphilosophie  zu  sein,  sind  hinfällig.  Das  begriffene 
Lebewesen  ist  nicht  realer  als  die  begriffene  ,,tote"  Natur.  Der 
Stein  ist  ebenso  wirklich  wie  der  Mensch. 

Doch  damit  ist  das,  was  wir  aus  der  biologistischen  Lebens- 
philosophie lernen  können,  nicht  in  jeder  Hinsicht  erledigt.  Ge- 
rade die  Verknüpfung  des  Biologismus  mit  dem  intuitiven  Prinzip 
zeigt,  daß  eine  noch  weiter  reichende  Unklarheit  ihren  Tendenzen 
zugrunde  liegt.  Wir  haben  den  Punkt  schon  bei  der  Kritik  der 
intuitiven  Lebensphilosophie  gestreift.  In  diesem  Zusammenhang 
müssen  wir  noch  einmal  darauf  zurückkommen. 

Es  ist  nicht  nur  kein  biologisches,  sondern  überhaupt  kein 
wissenschaftlich  haltbares  Ideal,  die  Wirklichkeit  als  Wirklichkeit 
in  ihrer  „Lebendigkeit"  erkennen  zu  wollen,  falls  man  unter 
Lebendigkeit  und  Wirklichkeit  die  Unmittelbarkeit,  Anschauhch- 
keit  und  Ursprünglichkeit  versteht.  Unlebendigkeit  und  Un- 
wirklichkeit  ist  mit  den  Produkten  nicht  allein  der  generalisie- 
renden Naturwissenschaft,  sondern  mit  denen  jeder  Wissen- 
schaft verknüpft. 

Alles,  was  wir  erkennen,  entfernen  wir  damit  von  uns  als 
der  lebendigen  Realität,  so  daß  wir  es  nicht  mehr  als  real  Le- 
bendiges unmittelbar  erleben.  Es  gibt  keine  Wissenschaft  ohne 
begriffliches  Denken,  und  das  gerade  ist  der  ,,Sinn" 
jedes  Begriffes,  daß  er  die  Dinge  in  einen  Abstand  vom  un- 
mittelbar wirklichen  Leben  bringt.  Das  lebendigste  Objekt, 
worauf  irgend  ein  Erkennen  sich  richtet,  hört  auf,  real  zu  leben, 
so  weit  es  begriffen  ist.  Der  Dualismus  von  Wirklichkeit  und 
Begriff  ist  niemals  aufzuheben.  Seine  Ueberwindung  würde  zu- 
gleich die  Wissenschaft  selbst  überwinden.  Ihr  Wesen  beruht 
auf  der  Spannung  zwischen  unmittelbar  erlebtem  oder  wirklichem 
Leben  und  der  Theorie  des  Lebens  oder  der  Wirklichkeit. 

Diesen  Gegensatz  haben  Lebensphilosophen  wie  Bergson  über- 


—  111   - 

zeugend  zum  Bewußtsein  gebracht,  soweit  es  die  Wissenschaften 
betrifft,  die  sie  bekämpfen  zu  müssen  glauben.  Sie  sind  aber 
auf  halbem  Wege  stehen  geblieben.  Als  wissenschaftliche  Men- 
schen sollten  sie  den  Kampf  gegen  die  Physik  als  mangelhafte 
Wirklichkeitswissenschaft  aufgeben,  denn  es  wird  ihnen  nie  ge- 
lingen, eine  Wissenschaft,  die  sich  von  ihr  an  Wirklichkeitsgehalt 
prinzipiell  unterscheidet,  an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Sie 
sehen  den  kleinsten  Begriffssplitter  im  fremden  Auge,  und  an 
den  eigenen  Begriffsbalken  denken  sie  nicht. 

Statt  darüber  zu  klagen,  was  die  Wissenschaft  nicht  ver- 
mag, sollte  man  zu  verstehen  suchen,  was  sie  denn  eigentlich 
kann,  obwohl  sie  niemals  die  Wirklichkeit  in  ihrer  unmittelbaren 
und  ursprünglichen  Lebendigkeit  begreift,  genauer:  was  sie  leistet, 
und  worauf  ihre  Bedeutung  beruht,  gerade  weil  sie  das,  was 
die  Lebensphilosophen  von  ihr  verlangen,  nicht  erst  versucht,  wo 
sie  ihr  eigenes  Wesen  verstanden  hat. 

Die  positive  Seite  der  Frage  nach  dem  Wesen  der  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis  geht  uns  in  diesem  Zusammenhang  nichts 
an.  Hier  ist  nur  zu  zeigen,  daß  die  Lebensphilosophie,  falls  sie 
Wissenschaft  vom  unmittelbar  erlebten  Leben  sein  und  damit 
universalistisch  das  Wesen  alles  Realen  erfassen  will,  einem 
Phantom  nachjagt,  einem  Ziel,  das  nicht  nur  unerreichbar  ist, 
sondern  dessen  Erreichung  keine  theoretische  Bedeutung  hätte, 
selbst  w^enn  man  es  erreichen  könnte. 

Warum  die  Biologie  sich  von  der  Physik  und  der  Chemie 
nur  graduell  unterscheidet,  haben  wir  gezeigt.  Wir  müssen  jetzt, 
um  zur  vollen  Klarheit  zu  kommen,  zunächst  noch  einen  Schritt 
in  derselben  Richtung  weitergehen. 

Es  gibt  Wissenschaften,  welche  die  Biologie  an  Lebensnähe 
oder  Lebensgehalt  und  damit  an  Wirklichkeitsgehalt  übertreffen. 
Zu  ihnen  gehört  die  Geschichte.  Sie  will  in  der  Tat  die  leben- 
dige individuelle  reale  Gestaltung,  sei  es  des  Einzelnen  oder 
der  Masse,  so  weit  erfassen,  wie  das  dem  Erkennen  überhaupt 
möglich  ist.  Aber  auch  sie  muß,  weil  sie  als  Wissenschaft  das 
reale  Leben  begrifflich  bearbeitet,  das  lebendige  Leben  „töten". 
Nur  relative  Lebens-  und  Wirklichkeitsnähe  ist  ihr  beschie- 
den. Das  Leben  selbst  erfaßt  nicht  einmal  die  Biographie,  von 
der  man    es  ihrem  Namen  nach  am    meisten  glauben  könnte. 


-    112    - 

Kurz,  es  wird  nie  gelingen,  Erkenntnis  zu  finden,  deren  Inhalt 
sich  mit  dem  unmittelbar  erlebten  und  insofern^-  realen  Leben 
deckt,  und  das  heißt:  es  wird  nie  möglich  sein,  in  logisch  oder 
wissenschaftlich  verständlichen  Sätzen  vom  Leben  zu  reden,  in 
deren  Sinn  das  Leben  selbst  eingegangen  ist,  denn  Worte  müssen, 
um  logisch  verständlich  zu  sein,  allgemeine  „Bedeutungen"  haben, 
und  diese  sind  immer  Begriffe. 

Auch  wenn  man  das  Wort  Begriff  meiden  wollte,  hülfe  das 
nichts.  Der  Inhalt  einer  wissenschaftlich  verständlichen  Wort- 
bedeutung ist  stets  etwas  anderes  als  der  Inhalt  der  unmittelbar 
erlebten  Wirklichkeit.  Darüber  täuscht  nur  die  Vieldeutigkeit 
des  Wortes  , .Leben"  hinweg.  Nicht  alles,  was  wir  ,, erleben", 
ist  lebendig  und  real.  Wenn  wir  Begriffe  oder  wissenschaftliche 
Wortbedeutungen  erleben,  wird  Unlebendiges  und  Irreales  er- 
lebt.    Begriffe  vom  Lebendigen  sind  keine  lebendigen  Begriffe. 

Wir  kommen  damit  wieder  auf  das  zurück,  was  wir  bei  der 
Kritik  der  intuitiven  Lebensphilosophie  von  den  Lebensformen 
sagten.  Gewiß  gibt  es  Begriffe  nicht  nur  vom  Starren,  sondern 
auch  vom  Fheßenden.  Aber  die  Begriffe  werden  nicht  fließend, 
sondern  bleiben  starr,  selbst  wenn  sie  Begriffe  vom  Fließenden 
sind.  Sonst  wären  sie  keine  Begriffe.  Für  diese  Wahrheit,  von 
deren  Verkennung  ein  großer  Teil  der  modernen  Lebensphilo- 
sophen „lebt",  können  wir  uns  auch  auf  einen  Lebensphilosophen 
wie  Simmel  berufen.  Er  steht  hier  wieder  über  den  Modeströ- 
mungen, denn  er  weiß,  daß  der  Begriff  als  Form  sich  nie  ändert, 
also  nie  real  lebt.  Form  ist  ihm  „das  zeitlos  Invariable".  Sie 
entreißt  das  von  ihr  geprägte  Materialstück  der  Kontinuität  des 
Nebeneinander  und  des  Nacheinander,  gibt  ihm  einen  eigenen 
Sinn,  dessen  Grenzbestimmtheit  mit  der  Strömung  des  Gesamt- 
seins, wenn  sie  wirklich  stauungslos  ist,  nicht  zusammen  zu 
bringen  ist  ^). 

Hat  man  den  Satz  verstanden  und  eingesehen,  daß  er  für 
jeden  Begriff  gilt,  der  in  Wahrheit  ein  Begriff  ist,  so  ergibt  sich 
daraus  zugleich  noch  etwas  Weiteres.  Da  alles  Denken  der 
Form  oder  des  Begriffes  bedarf,  so  kommt  auch  der  Versuch, 
das  Leben  in  seiner  Unmittelbarkeit  als  metaphysisches 
Weltprinzip  zu  denken,  auf  einen  unlösbaren  Widerspruch  hinaus. 

1)  Vgl.  Georg  Simmel,  Lebensanschauung.    ^.17. 


—    113    - 

Der  Metaphysiker  will  doch  ebenfalls  über  das  Leben  denken, 
wenn  er  Metaphysik  treibt,  und  dabei  muß  er  das  Leben,  ge- 
rade falls  es  das  Weltprinzip  sein  soll,  in  eine  Form  bringen. 
Ja  er  muß,  will  er  überhaupt  vom  Leben  theoretisch  verständlich 
reden,  einen  Begriff  davon  bilden,  also  das  Leben  in  seiner  un- 
mittelbar erlebten  Wirklichkeit  töten.  Gewiß  ist  der  Mechanis- 
mus nicht  das  ,, Wesen"  der  realen  Welt,  aber  „das  Leben"  ist 
es  auch  nicht.  Die  biologistische  Lebensmetaphysik  erklärt  das 
allein  für  wahrhaft  real,  was  unmittelbar  erlebt  wird.  Deshalb 
soll  das  All  der  Welt  „Leben"  heißen.  Daß  nur  unmittelbar  Er- 
lebtes real  sei,  kann  man  wohl  sagen,  aber  dann  muß  man,  um 
konsequent  zu  bleiben,  weitergehen  und  hinzufügen:  was  als 
Realität  unmittelbar  erlebt  wird,  kann  nie  erkannt  werden.  Also 
gibt  es  keine  Metaphysik  des  Lebens. 

Das  bloße  Erleben  des  Lebens  ist  kein  Erkennen  des  wirk- 
lichen Lebens.  Alles  Erkennen  bedeutet  ein  Abrücken  des  zu 
Erkennenden  vom  Leben,  ein  Verlegen  in  eine  Sphäre,  in  der 
es  kein  unmittelbar  reales  Leben  mehr  gibt.  Es  ist  nicht  einzu- 
sehen, wie  die  biologistisch  orientierte  Metaphysik  des  Intuitionis- 
mus  hiervon  eine  Ausnahme  bilden  sollte.  Alle  ihre  irrationa- 
listischen Gedanken,  die  den  Abstand  von  Begriff  und  Wirkhch- 
keit  zum  Bewußtsein  bringen  und  zum  Teil  sehr  interessant  sind, 
richten  sich  gegen  sie  selbst.  Warum  bleibt  sie  nicht  konsequent? 
Dann  müßte  sie  sich  selbst  vernichten.  Das  Leben  als  das  un- 
mittelbar Reale  läßt  sich  nur  erleben.  Es  spottet  als  unmittel- 
bares Leben  jedem  Erkenntnisversuch. 

Diese  Einsicht  mag  man  nun  freilich  auch  eine  , .Erkenntnis" 
des  Lebens  und  der  Realität  nennen,  aber  falls  die  Metaphysik 
des  Lebens  nichts  anderes  sagen  will  als  dies,  dann  ist  sie  zu- 
gleich in  dem  einen  einzigen  Satz  beschlossen:  die  unmittelbar 
erlebte,  also  wahrhaft  reale  Welt  ist  das  Leben.  Jede  weitere 
Ausbildung  einer  solchen  ,. metaphysischen"  Wahrheit  würde  zu 
einer  begriffhchen  Bearbeitung  des  realen  Lebens  und  damit  zu 
seiner  „Tötung"  führen. 

Ja  sogar  damit,  daß  man  sie  auf  den  einen  Satz  einschränkt, 
ist  der  Lebensmetaphysik  noch  zu  viel  zugestanden.  Nicht 
einmal  die  Behauptung,  alles  unmittelbar  erlebte,  also  wahrhaft 
reale  Sein  sei  Leben,  erfaßt  das  Reale  in  seiner  Ursprünghchkeit, 

R  i  c  k  e  r  t  ,  Philosophie  d.  Lebens-  8 


—     114    — 

denn  schon  dadurch,  daß  wir  das,  was  wir  unmittelbar  erleben, 
„Leben"  oder  ,, Lebenswirklichkeit"  nennen,  und  nun,  statt  das 
Leben  zu  erleben,  theoretisch  diese  Bedeutung  des  Wortes,  ,, Le- 
ben'' erleben,  hö'-t  das,  was  wir  dabei  erleben,  auf,  unmittel- 
bar erlebtes  Leben  zu  sein.  Jede  theoretisch  verständliche  Be- 
zeichnungnimmt dem  Leben  seine  unmittelbar  reale  Lebendigkeit. 
Es  kommt  durch  den  Namen  ,, Leben",  den  wir  theoretisch  ver- 
stehen, in  die  Sphäre  des  Begriffs  und  ist  getötet.  Das  bloße 
Erleben  des  realen  Lebens  ist  stumm  geboren  und  kann  nie  eine 
Sprache  finden.  Das  „Wesen"  der  realen  Welt  muß,  um  seine 
Unmittelbarkeit  und  Realität  nicht  zu  verheren,  anonym  bleiben. 

Diese  Einsicht  hat  gewiß  ihren  Wert.  Doch  bringt  sie  uns 
nur  zum  Bewußtsein,  wie  fern  alle  Erkenntnis  vom  realen  Leben 
abliegt.  In  dem  Augenblick,  in  dem  wir  mit  dem  Erkennen 
beginnen,  hören  wir  auf,  nur  zu  leben  oder  nur  Lebendiges  und 
unmittelbar  Reales  zu  erleben.  Keine  Lebenslehre,  keine  Philo- 
sophie des  Lebens  enthält  das  reale  Leben  selbst.  Philosophie 
fängt,  ebenso  wie  andere  Wissenschaften,  immer  erst  an,  wenn 
man  sich  das  unmittelbar  reale  Leben  als  etwas  fremdes  gegenüber- 
gestellt hat  und  so  selber  dem  realen  Leben  fremd,  also  un- 
lebendig geworden  ist.  Gerade  durch  den  Hinweis  auf  die  Un- 
mittelbarkeit des  Lebens  wird  der  Antagonismus  zwischen  Wissen- 
schaft und  wirklichem  Leben  deutlich,  wobei  wir  noch  ganz  davon 
absehen,  daß  „Realität"  oder  „Wirklichkeit"  selbst  nur  Er- 
kenntnisformen sind  und  als  solche  nicht  zum  realen  oder  wirk- 
lichen Leben  gehören.  In  dieser  transzendentalphilosophisch^n 
Hinsicht  wollen  wir  den  Gedanken,  wie  unmöglich  es  ist,  beim 
Philosophieren  über  das  Leben  sich  auf  das  Leben  zu  beschränken^ 
nicht  ausführen.  Das  würde  uns  weit  von  aller  Lebensphilosophie 
der  Zeit  weg  zu  den  zeitlosen  philosophischen  Problemen  bringen. 

Es  genügt,  wenn  wir  feststellen:  die  Anklagen  der  Lebens- 
philosophie gegen  den  Begriff  kommen  auf  eine  Halbheit  hinaus. 
Gewisse  Arten  von  Begriffen  werden  in  ihrer  Unlebendigkeit 
durchschaut.  Andere  übernimmt  man  völlig  unkritiscli.  Man 
mache  doch  Ernst  mit  der  Einsicht,  daß  alle  Begriffe  das  reale 
Leben  nicht  so  enthalten,  wie  man  es  erlebt,  und  daher  auch  nicht 
die  unmittelbare  Lebenswirklichkeit  erfassen.  Dann  wird  man 
den  hoffnunsslosen  Versuch  aufgeben,  das  Leben,  wie  es  erlebt 


—     115    — 

wird,  in  irgendeine  Erkenntnis  aufzunehmen.  Die  Lebensphilp- 
sophie  sollte  vor  allem  vor  ihrer  eigenen  Tür  fegen,  d.  h.  ihre 
eigenen  Begriffe  auf  ihren  Lebens-  und  WirkUchkeitsgehalt  prüfen. 
Sie  macht  denselben  Fehler,  den  sie  bei  anderen  rügt,  und  sie 
kann  nicht  anders  als  diesen  Fehler  machen. 

Aber  es  i  s  t  kein  Fehler.  Der  Fehler  besteht  darin,  daß 
man  darin  einen  Fehler  sieht  und  ihn  innerhalb  irgend  einer 
Philosophie  für  vermeidlich  hält.  Wer  das  lebendige  Leben  er- 
leben will  und  so  das  „Wesen"  der  realen  Well  finden  (oder  wie 
man  es  sonst  nennen  mag,  denn  auf  Namen  kommt  es  beim 
Leben  nicht  an,  die  bedeuten  nur  beim  Erkennen  etwas),  der 
mui3  die  Wissenschaft  aufgeben  und  die  Welt  in  ihrer  Reahtät 
für  unerkennbar  erklären.  Das  aber  wäre  ebenso  wie  die  bio- 
logistische  Erkenntnistheorie,  die  das  Erkennen  in  den  Dienst 
des  Nutzens  stellt,  ein  Rückfall  in  jenes  Stadium,  in  dem  der 
theoretische  Mensch  noch  nicht  exi.>tierte,  und  in  dem  man  die 
Welt  nur  erlebte.  Das  kann  man  also  nicht  als  philosophischen 
„Fortschritt"  preisen. 

Allerdings  ist  gewiß  nicht  ausgemach.t,  daß  das  theoretische 
Verhalten  das  wertvollste  von  allen  und  dementsprechend  die 
Wissenschaft  das  höchste  Kulturgut  oder  gar  das  höchste  Gut 
überhaupt  sei.  Vielleicht  ist  es  ein  „Einwand"  gegen  die  Wissen- 
schaft, daß  sie  den  Menschen  so  weit  vom  lebendigen  und  un- 
mittelbar realen  Leben  entfernt.  Die  Anhänger  mancher  Lebens- 
philosophie sind  nicht  nur  der  Wissenschaft,  sondern  aller 
Kultur  wegen  ilirer  Lebensferne  feindlich  gesinnt.  Aber  ob  sie 
recht  haben,  geht  uns  in  diesem  Zusammenhange  nichts  an, 
denn  wissenschaftlich  können  sie  nie  „recht"  haben.  Wissen- 
schaftlich kann  ihr  Einwand  gegen  die  Wissenschaft  nicht  sein. 
Alle  Wissenschaft  ist  notwendig  etwas  wider  das  bloße  Leben 
in  seiner  unmittelbaren  Realität.  Wer  nach  Wahrheit  sucht, 
bleibt  nicht  beim  lebendigen  Leben  allein,  gleichviel  ob  er  in- 
tuitive Lebensmetaphysik  oder  eine  andere  Wissenschaft  treibt. 

Ueber  das  Wirklichkeitsprinzip  des  Biologismus  und  seine 
Verbindung  mit  dem  Lebensprinzip  ist  nicht  mehr  viel  zu  sagen. 
Es  fehlt  an  einem  W^Jrklichkeits  p  r  i  n  z  i  p,  auf  Grund  dessen 
verständlich  wird,  wie  das  Leben  in  seinem  realen  Sein  erkannt 
werden  soll.  Von  vornherein  wiesen  wir  auf  den  engen  Zusammen- 

8* 


—     116     — 

hang  zwischen  Biologismus  und  Intuitionismus  hin.  Schon  die 
Erinnerung  an  einen  Denker  wie  Bergson  würde  genügen,  um 
diese  Beziehung  außer  Frage  zu  stellen.  Der  Biologismus  hat 
sich,  falls  man  mit  dem  Versuch,  ihn  zu  einer  umfassenden 
Wirklichkeitslehre  und  damit  zu  einer  Weltanschauung  auszu- 
bauen, Ernst  macht,  so  gestaltet,  daß  das  reale  Leben  nur  noch 
das  unmittelbar  Erlebte  bedeutet,  und  damit  ist  der  Biologismus 
in  Intuitionismus  aufgelöst.  Das  nimmt  ihm  vielleicht  den  Lebens- 
zauber, der  für  Viele  an  ihm  haftet,  und  gerade  das  war  not- 
wendig. Man  muß  den  modernen  Intuitionismus  gründlich  ent- 
zaubern, damit  klar  wird,  wie  wenig  die  Philosophie  des 
Lebens  mit  ihm  anfangen  kann,  und  das  geschieht  am  besten 
im  Anschluß  an  die  biologistische  Lebensphilosophie,  in  der 
alle  Fäden  zusammenlaufen. 

Zum  Zweck  dieser  Entzauberung  sei  endlich  noch  eine  Be- 
merkung hinzugefügt.  Wir  haben  von  einem  , .Phantom"  ge- 
sprochen, dem  der  mit  dem  Intuitionismus  verbündete  Biologis- 
mus nachjagt,  und  das  er  niemals  erreichen  wird.  Phantome 
behalten  jedoch  für  manche  etwas  Verlockendes,  und  so  wird 
man  vielleicht  immer  von  Neuem  versuchen,  das  Ziel,  sich  der 
unmittelbar  erlebten  Lebenswirklichkeit  zu  bemächtigen,  dennoch 
auf  irgend  einem  Wege  zu  erreichen.  Daher  sei  ausdrücklich 
hinzugefügt,  daß  die  Unmöglichkeit  des  Erreichens  nur  für  den 
erkennenden  Menschen  behauptet  w erden  soll.  Sobald  wir 
nicht  mehr  zu  erkennen  wünschen,  ist  das  Ziel,  welches  der 
intuitive  Biologismus  sich  steckt,  so  wenig  unerreichbar,  daß 
vielmehr  jeder  von  uns  es  in  jeder  w-achen  Minute  seines 
Lebens  erreicht  hat,  ohne  sich  dabei  besonders  anzustrengen. 
Er  erlebt  die  Lebenswirklichkeit  fortwährend  intuitiv.  Er 
braucht  sich  nur  diesem  Erleben  ausschließlich  hinzugeben 
und  sich  dabei  durch  keines  Gedankens  Blässe  ankränkeln  zu 
lassen,  dann  befindet  er  sich  dauernd  in  dem  Zustande  der  reinen 
Intuition,    die  unmittelbar  mit  dem  realen  Leben   eins  wird  *), 


1)  Insofern  hat  Fritz  Münch  recht,  wenn  er  in  seinem 
lesenswerten  Buch  über  Erlebnis  und  Geltung  (1913)  von  der 
„Welt  als  Dösnis"  spricht.  Was  Scheler  dagegen  vorbringt,  trifft 
nicht  den  Kernpunkt. 


—     117     — 

und  falls  jemand  daran  seinen  Spaß  findet,  soll  ihm  das  unbe- 
nommen sein. 

Aber  auf  diesem  Wege  kommt  man  gewiß  nicht  zur  Philo- 
sophie. Theoretisch  hat  dies  reine  Erleben  entweder  gar  keine 
Bedeutung,  oder  es  ist  als  erste  Vorstufe  für  das  Erkennen  an- 
zusehen. Doch  schon  als  Vorstufe  ist  es  nicht  mehr  rein  intuitiv. 
Es  regt  dann  zum  Fragen  an,  und  jede  Frage  führt  vom  in- 
tuitiven Erleben  fort.  Auch  wird  der  Erkennende  zum  minde- 
sten etwas  „Neues"  anschauend  erleben  wollen,  das  er  noch 
nicht  kennt.  Um  aber  das  Neue  vom  Alten,  Bekannten  zu 
unterscheiden,  bedarf  er  eines  Prinzips  der  Auswahl  und  ist  da- 
mit ebenfalls  aus  der  gepriesenen  Intuition  heraus,  denn  Auswählen 
gehört  wie  Fragen  zu  dem  bösen  Denken,  welches  das  intuitive 
Erleben  tötet. 


Achtes  Kapitel. 

Kritik  des  biologistischen  Wertprinzips. 

,,Dies  eine  fühl  ich  und  erkenn  es  klar, 
Das  Leben  ist  der  Güter  höchstes  nicht." 

Chor. 

Doch  das  alles  betrifft  nur  die  eine  Seite  der  Lebensphilo- 
sophie, ihren  Anspruch,  das  reale  Sein  der  Welt  als  Leben 
zu  begreifen  oder  vielmehr  nicht  zu  begreifen,  sondern  intuitiv 
zu  erfassen,  und  wenn  man  auch  eingesehen  hat,  daß  hier  ein 
Erkenntnisziel  aufgestellt  wird,  das  kein  Erkenntnis  ziel 
ist,  so  bleibt  doch  in  der  Biologie  als  Wissenschaft  der  Unter- 
schied des  Lebendigen  und  des  Toten  erhalten.  Daher  kann  man 
glauben,  auf  ihn  lasse  sich  nach  wie  vor  eine  Lebensphilosophie 
stützen,  sobald  sie  nur  darauf  verzichtet,  das  , »Wiesen"  des 
Weltalls  einheitlich  zu  ergründen,  und  sich  auf  ein  Verständnis 
des  menschlichen  Lebens  beschränkt. 

Das  vitale  Leben  allein  zeigt  im  Gegensatz  zum  Toten  den 
Unterschied  des  Aufblühens  und  Verwelkens.  Darin  scheint  der 
Maßstab  für  eine  Würdigung  nicht  nur  des  natürlichen,  sondern 
auch  des  Kulturlebens  zu  stecken,  wie  es  zum  Ausdruck  kommt 
im  Staat  und   in  der  Kunst,   in  der  Wissenschaft   und  in    der 


—    118     — 

Wirtschaft,  in  der  Familie  und  in  der  Religion.  So  bleibt  die 
Frage  bestehen:  ist  es  möglich,  die  echten  Werte  den  Lebens- 
werten gleichzusetzen  und  damit  die  Grundlage  für  das  Ver- 
ständnis des  Sinnes,  den  unsere  Kultur  besitzt,  der  Wissenschaft 
vom  Leben  zu  entnehmen? 

Wollen  wir  zu  einer  prinzipiellen  Entscheidung  auch  darüber 
kommen,  so  müssen  wir  die  naturwissenschaftlich  begründete 
Kultur  Philosophie  des  Biologismus  ebenfalls  mit  Rücksicht 
auf  ihre  wissenschaftliche  Struktur  durchschauen.  Ihre  allge- 
meinste Voraussetzung  ist  offenbar  die,  daß  eine  Naturwissen- 
schaft überhaupt  imstande  sei,  uns  in  Wertfragen  theoretisch 
zu  orientieren.  Ist  diese  Ansicht  gerechtfertigt?  Nur  durch 
eine  Antwort  hierauf  können  wir  zur  prinzipiellen  Klarheit  über 
den  Biologismus  kommen.  An  ihr  hängt  die  Entscheidung  über 
das  biologistische  Wertprinzip. 

Vielleicht  wird  man  geneigt  sein,  die  Frage  zu  bejahen,  und 
zwar  auch  dann,  wenn  man  von  der  Biologie  im  Besonderen  ab- 
sieht. Es  liegt  z.  B.  auf  der  Hand,  daß  die  Physik  dem  Tech- 
niker Normen  gibt,  die  er  für  seine  Arbeit  braucht.  Ist  eine 
Brücke  über  einen  Fluß  zu  bauen,  die  eine  bestimmte  Last  zu 
tragen  hat,  so  muß  man  sich  an  die  Physik  wenden.  Sie  sagt, 
wie  man  beim  Bauen  verfahren  soll.  Warum  ist  das  möglich? 
Die  Physik  konstatiert  doch  nur,  was  ist,  oder  lehrt  Kausal- 
zusammenhänge kennen.  Sie  zeigt:  dieser  Vorgang  hat  notwen- 
dig diesen  Effekt.  Darin  liegt  von  Normgebung  nicht  das  Ge- 
ringste. Nur  vom  Müssen  ist  die  Rede,  und  das  scheint  sogar 
jedes  Sollen  sinnlos  zu  machen. 

Trotzdem  kann  die  Physik  dem  Techniker,  der  Maschinen 
zu  bestimmten  Zwecken  bauen  will,  sagen,  was  er  dabei  tun  soll. 
Die  Verhältnisse  von  Ursache  und  Effekt  lassen  sich  in  Gedan- 
ken umkehren.  Man  geht  vom  Effekt  aus  und  fragt  nun  nach 
den  Bedingungen,  die  vorhanden  sein  müssen,  um  ihn  zustande 
zu  bringen.  Die  Gesamtheit  der  Bedingungen  schließt  sich  dann 
mit  Rücksicht  auf  den  Effekt  zu  einer  Einheit  zusammen.  So 
entsteht  aus  dem  kausalen  Verhältnis  ein  konditionales,  wie  wir 
es  nennen  wollen,  und  eine  bestimmte  Art  von  Einheit,  in  der 
die  Bedingungen  stehen.  Auch  diese  Begriffe  sind  allerdings 
von  Elementen,  die  zur  Normgebung  dienen  können,  noch  frei. 


—     119     — 

Jetzt  aber  tritt  etwas  Neues,  nämlich  der  "Wille  des  Technikers 
hinzu.  Er  setzt  einen  bestimmten  Effekt  als  „Zweck",  d.  h. 
verknüpft  mit  ihm  einen  "Wert,  und  sofort  verwandeln  sich  für 
ihn  die  Bedingung?n,  welche  die  Physik  als  notwendig  zur  Er- 
reichung des  Effektes  kennen  lehrt,  in  Mittel,  die  er  anwenden 
soll,  um  seinen  Zweck  zu  verwirklichen.  Aus  dem  Zusammen- 
hang, der  zuerst  ein  kausaler  war,  dann  ein  konditionaler  wurde, 
ist  ein  teleologischer  geworden,  und  die  konditionale 
Einheit  der  Bedingungen  muß  nun  ebenfalls  eine  teleologische 
Einheit  sein.  Für  jeden,  der  den  Zweck  will,  haben  die  zu  seiner 
Erreichung  notwendigen  Mittel  normative  Bedeutung. 

Damit  ist  die  Struktur  einer  auf  die  Naturwissenschaft  gegrün- 
deten und  Normen  aufstellenden  Technik  klar.  Man  muß  nur, 
was  meist  nicht  geschieht,  die  drei  verschiedenen  Arten  des  Zu- 
sammenhangs, der  in  den  kausalen,  in  den  konditionalen  und 
in  den  teleologischen  "Verhältnissen  steckt,  auseinanderhalten  und 
darf  besonders  nicht  glauben,  daß  durch  bloße  Umkehrung  des 
kausalen  Verhältnisses  in  ein  konditionales,  ohne  Hinzufügung 
von  etwas  Neuem,  schon  ein  teleologisches  "Verhältnis  entsteht. 
Der  Zweck  kommt  in  die  konditionalen  Verhältnisse  der  Tech- 
nik immer  erst  durch  den  "Willen  des  Menschen  hinein.  Nur 
er  setzL  Zwecke  und  verwandelt  dadurch  die  Bedingungen  in 
Mittel,  aus  denen  sich  Normen  ableiten  lassen.  Die  Physik  selbst 
kennt  Zwecke  nicht  und  ist  daher  außerstande,  für  sich  Nor- 
men zu  geben.  Das  geht,  falls  es  noch  nicht  klar  sein  sollte,  auch 
daraus  hervor,  daß  zur  Erreichung  des  Wertlosen  oder  des 
"Wertfeindlichen  die  Lehren  der  Naturwissenschaft  ebenso  die 
Mittel  an  die  Hand  geben,  wie  zur  Realisierung  von  Gütern,  an 
denen  "Werte  haften. 

Von  einer  Begründung  irgendwelcher  Lebensziele  durch 
die  Physik  selbst  darf  also  nicht  gesprochen  werden,  und  man 
tut  dies  wohl  auch  nicht.  Nur  falls  man  in  der  naivsten  Weise 
Zweck  und  Mittel  miteinander  verwechselte,  oder  die  Werte,  die 
an  bestimmten,  von  Menschen  gesetzten  Zwecken  haften,  für 
Werte  hielte,  die  den  zu  ihrer  Verwirklichung  notwendigen 
Mitteln  selbst  zukommen,  könnte  man  hier  zweifeln.  Es  ge- 
nügt eine  elementare  Ueberlegang,  um  einzusehen,  daß  der  Wert 
einer  technisch  noch  so  vollkommenen  Maschine  ausschließlich 


—     120    — 

von  dem  Wert  abhängt,  den  der  Mensch  ihren  Leistungen  bei- 
legt, und  daß  es  daher  ohne  Rücksicht  auf  menschliche  Wert- 
setzungen keinen  Sinn  hat,  von  technischer  ,, Vollkommenheit" 
zu  reden. 

Liegt  es  nun  aber  bei  der  Gewinnung  von  Normen  aus  einer 
Naturwissenschaft  überall  so,  wie  bei  der  auf  die  Physik  ge- 
stützten Technik  ?  Die  Biologisten  werden  zwischen  Physik  und 
Biologie  gerade  mit  Rücksicht  auf  den  Zweckgesichtspunkt  einen 
prinzipiellen  Unterschied  machen,  der  sogleich  zutage  tritt,  wenn 
wir  das  Verhältnis  der  Technik  zur  Physik  mit  dem  Verhältnis 
der  Therapie  zu  den  organischen  Naturwissenschaften  vergleichen. 
Der  Arzt  entnimmt  die  Normen,  die  er  braucht,  der  Biologie, 
und  tut  er  dies  nicht,  ohne  erst  Zwecke  in  ihre  Begriffe  hinein- 
zutragen? Er  lernt  von  ihr  die  Bedingungen  des  lebendigen 
oder  gesunden  Lebens  kennen,  und  diese  werden  für  ihn  doch 
unter  allen  Umständen  zu  Mitteln,  die  er  anwenden  soll.  Liegt 
also  die  Fähigkeit  der  biologischen  Disziplinen  zur  Normgebung 
nicht  auf  der  Hand? 

Der  Biologe  behandelt  Organismen  in  ihrer  Entwicklung. 
Nur  dadurch  gewinnt  er  überhaupt  ein  eigenes  Gebiet.  Sowohl 
„Organismus"  als  auch  „Entwicklung"  sind  Begriffe,  die  die 
Physik  nicht  kennt.  Jeder  Organismus  nämlich  ist  ein  Ganzes, 
dessen  Teile  Bedingungen  dieses  Ganzen  sind,  und  er  besitzt  in- 
sofern eine  konditionale  Einheit :  nur  durch  das  Zusammenwirken 
seiner  verschiedenen  Teile  in  einer  bestimmten  Richtung  „lebt" 
er  und  ist  er  überhaupt  ein  „Organismus".  Stehen  aber  seine 
Teile  im  Dienst  des  Ganzen,  so  sind  sie  Mittel  zu  dessen  Er- 
haltung, und  es  ist  also  der  Begriff  des  Organismus  notwendig 
auch  der  einer  teleologischen  Einheit.  Ebenso  heißt  Entwick- 
lung stets  mehr  als  eine  Reihe  von  rein  kausalen  Veränderungen. 
Die  Veränderungen  weisen  auf  das  Endstadium,  das  durch  sie 
hin  sich  „entwickelt".  Die  früheren  Stadien  sind  einmal  die 
Bedingungen  zu  seiner  Erreichung  und  außerdem  dadurch,  daß 
das  Endstadium  als  Ziel  gedacht  wird,  ebenfalls  Mittel,  die  zu 
ihm  hinführen.  Die  biologische  Entwicklung  ist  also,  ebenso 
wie  der  Organismus,  ein  teleologischer  Begriff.  So  sieht  man, 
daß  die  Biologie,  auch  als  reine  Naturwissenschaft,  in  der  Tat 
des  teleologischen  Momentes   nicht  entbehren  kann.    Ein  „me- 


\ 


—     121     — 

chanischer  Organismus"  ist  ein  Widersinn,  falls  unter  Mechanis- 
mus das  verstanden  wird,  was  jede  Teleologie  begriffHch  aus- 
schließt. Organismus  kommt  von  Organen,  d.  h.  "Werkzeug  her, 
und  das  Wort  hat  eine  eminent  teleologische  Bedeutung. 

Daraus  scheint  dann  aber  auch  weiter  zu  folgen :  wo  in  der 
Wissenschaft  Zwecke  als  Zwecke  behandelt  werden,  da  gelten  die 
Werte,  um  deretwillen  die  Dinge  Zwecke  sind,  und  dann  gelten 
auch  die  Mittel,  die  zu  ihrer  Verwirklichung  dienen,  als  Normen. 
Man  braucht  somit  nur  die  Zwecke  der  Lebewesen  und  die  Be- 
dingungen ihrer  Erreichungen  festzustellen,  so  kann  man  auch 
die  Mittel  angeben,  die  als  natürliche  Normen  gelten  müssen. 
Noch  besser  als  vorher  verstehen  wir  jetzt,  warum  man  daraus, 
daß  z.  B.  die  Entwicklung  der  Organismen  durch  die  natürliche 
Auslese  bestimmt  ist,  versucht  hat.  Normen  für  die  Gestaltung 
des  Lebens  abzuleiten.  Was  sich  als  Mittel  für  die  teleologische 
Entwicklung  der  Lebewesen  nachweisen  läßt,  muß  dadurch  zu- 
gleich normative  Bedeutung  erhalten.  Es  scheint  also  das  Prin- 
zip einer  biologistischen  Kulturphilosophie  glänzend  gerecht- 
fertigt. 

Trotzdem  liegt  auch  diesen  Gedanken  eine  prinzipielle  Un- 
klarheit zugrunde,  und  zwar  beruht  sie,  wie  so  häufig  bei  weit- 
verbreiteten Ansichten,  auf  der  Zweideutigkeit  eines  Wortes,  die 
wir  bisher  absichtlich  nicht  haben  hervortreten  lassen.  Man  redet 
bekanntlich  von  Teleologie,  weil  Zweck  auf  griechisch  Telos  heißt. 
Eine  gewisse  Art  von  Teleologie  in  der  Biologie  ist  nun,  wie  wir 
sahen,  zweifellos  unentbehrlich.  Aber  Telos  heißt  nicht  nur  Zweck, 
sondern  bedeutet  auch  Ende  oder  Resultat,  und  nur  wenn  es 
Zweck  heißt,  ist  es  ein  Wertbegriff,  den  man  zur  Ableitung  von 
Normen  brauchen  kann.  Der  Begriff  des  Endes  dagegen  ist  wert- 
frei und  zu  jeder  Normgebung  ungeeignet.  Deshalb  hängt  alles 
daran,  ob  die  Biologie  das  ,, Telos"  nur  als  „Ende"  oder  auch 
als  „Zweck"  nicht  entbehren  kann. 

Die  Entscheidung  ist  wohl  nicht  allzu  schwer,  ^yir  sahen 
bei  Feststellung  des  Verhältnisses  von  Physik  und  Technik:  die 
kausale  Betrachtung-  läßt  sich  umkehren,  und  das  heißt  nichts 
anderes,  als:  man  geht  vom  Ende  oder  Resultat  zurück  auf  dessen 
Bedingungen.  Diese  schließen  sich  dann  zu  einer  konditionalen 
Einheit   zusammen.     Eine    solche  vermag   nun   in    der  Tat  die 


—     122     — 

Biologie  nicht  zu  entbehren,  wenn  sie  von  Organismen  oder  von 
Entwicklung  spricht,  während  die  Physik  ohne  sie  auskommen 
kann,  ja  auskommen  muß,  falls  sie  rein  kausal  verfahren  will. 
Das  unterscheidet  also  die  Biologie  prinzipiell  von  der  Physik. 
In  dieser  ist  zwar  eine  solche  Umkehrung   auch  möglich.    Man 
kann  z.  B.  die  Geschwindigkeit  eines  fallenden  Steines  vom  Ende 
her  ansehen  als  „Entwicklung"  der  Geschwindigkeit,  die  er  bei 
seinem  Aufschlagen   erreicht.     Aber  das  ist   physikalisch  eine 
willkürliche   Betrachtung.     In    der   Biologie    dagegen   sind   die 
Glieder  eines  Organismus  notwendig  als  Bedingungen  des  Ganzen 
gedacht,  und  ebenso  besteht  jede  Entwicklung  aus  einer  Reihe 
von  Vorstufen,  die   notwendig  sind,  wenn  das  Endstadium  er- 
reicht   werden   soll.     Insofern  steckt    die   konditionale  Einheit 
in   den   biologischen  Begriffen   selbst,  und  nennt  man  nun  das 
Ende  „Telos",  dann  verfährt  also  die  Biologie,  die  von  Organis- 
men  und  Entwicklung  redet,  auch  als  reine  Naturwissenschaft 
in  der  Tat  teleologisch. 

Aber  aus  welchem  Grunde  betrachtet  man  dies  biologische 
Telos  als  „Zweck",  d.  h.  als   etwas,  an  dem  ein  Wert  haftet, 
und  das  deshalb  sein  soll?  Zu  einer  Wertung  der  konditionalen 
Einheiten,   als  welche   sie   die  Organismen  und  Entwicklungen 
auffassen  muß,  hat  die  Biologie,  solange  sie  Naturwissenschaft 
bleiben  will,  kein  Recht.  An  dem,  was  sie  Telos  nennt,  haftet 
kein  Wert,  und  die  zur  Erreichung  dieses  Telos  notwendigen  Be- 
dingungen sind  daher  auch  nicht  Mittel  von  normativer  Bedeu- 
tung.    Vielmehr  entsteht,   genau  wie  bei   der  physikalisch  be- 
gründeten Technik,  ein  Zweck  immer  erst  durch  den  wertenden 
Willen  des  Menschen.    Von  einem  solchen  Willen  aber  muß  die 
Biologie   schon   deswegen    absehen,  weil  sie  Körperwissenschaft 
ist.    Man  kann  gewiß  sagen,  das  Ende  soll  gewollt  werden,  weil 
Werte,  die  gelten,  daran  haften.    Aber  diese  Werte  gehen   die 
Biologie  nicht  das  Geringste  an.    Wie  sollte  sie  als  Naturwissen- 
schaft eine  Wertgeltung  und  Zwecksetzung  begründen  ?  Wir  sehen 
also:    das  Wort  Telos   hat   uns  irregeleitet,  wenn  wir  glauben, 
es  bestünde  auch  mit  Rücksicht   auf  Werte  und    Zwecke   ein 
prinzipieller  Unterschied  zwischen  Physik  und  Biologie.    Beide 
Wissenschaften  verfahren,    richtig   verstanden,    völlig  wertfrei. 
Beide    liefern   daher  für   sich  allein   auch  keine  Normen.    Die 


—     123    — 

Unterschiede  zwischen  Physik  und  Biologie  sind  in  diesem  Zu- 
sammenhang unwesentlich. 

Angedeutet  sei  nur  noch,  dai3  das  wert  teleologische  Mo- 
ment, wie  man,  um  Venvechslungen  mit  der  wertfreien  Teleologie 
vorzubeugen,  sagen  kann,  auch  aus  einem  andern  Grunde  nicht 
zum  Kennzeichen  des  Biologischen  im  Gegensatz  zum  Physika- 
lischen gemacht  werden  darf.  Jede  Maschine,  die  zu  einem  be- 
stimmten Zweck  erfunden  ist  und  diesen  Zweck  erreicht,  ist  eben- 
falls ein  durch  und  durch  wertteleologischer  Zusammenhang. 
Trotzdem  ist  in  ihr  von  irgend  etwas  Lebendigem  keine  Rede, 
sondern  sie  läßt  sich  restlos  als  totes  Gebilde  erklären.  Sie  ist 
ein  in  den  Dienst  von  Zwecken  gestellter  Mechanismus,  dessen 
mechanische  Zusammenhänge  nun  nicht  nur  konditional,  sondern 
auch  wertteleologisch  aufgefaßt  werden.  Das,  was  die  Organis- 
men physikalisch  unerklärlich  macht,  kann  also  nicht  ein  wert- 
teleologisches  Moment  sein.  Es  sind  vielmehr,  wie  hier  nicht 
weiter  zu  zeigen  ist,  gewisse,  den  physikalischen  Begriffen  gegen- 
über irrationale  Elemente  in  den  Organismen,  die  uns  hindern, 
sie  als  Maschine  zu  verstehen,  und  das  hat  für  das  Wertproblem 
keine  Bedeutung. 

Für  uns  ist  der  Unterschied  zwischen  Biologie  und  Physik 
jedenfalls  nur  in  der  Hinsicht  wichtig,  daß  die  Technik  bei  ihrer 
Normgebung  für  den  Bau  von  Maschinen  die  physikalischen 
Kausalreihen  erst  in  konditionale  Zusammenhänge  verwandeln 
muß,  um  dann  wertteleologische  Zusammenhänge  aus  ihnen 
zu  machen,  während  die  Therapie  in  der  Biologie  selbst  schon 
konditionale  Reihen  fertig  vorfindet.  So  entsteht  der  Schein, 
als  stünden  biologische  Begriffe  auch  der  Wertteleologie  näher. 
Aber  dieser  Schein  trügt.  Die  Verbindung  des  Endeffektes  mit 
einem  Werte,  also  die  Zwecksetzung  und  die  daraus  hervorgehende 
Verwandlung  der  Bedingungen  in  wertvolle  Mittel,  ist  nicht  nur 
in  der  Technik,  sondern  auch  in  der  Therapie  ausschließlich  Sache 
des  Willens.  Dort  wertet  der  Wille  Maschinen,  hier  wertet  er 
das  Leben  oder  die  Gesundheit.  Ohne  ihn  gäbe  es  weder  Technik 
noch  Therapie.  Die  Normgebung  auch  des  Arztes  liegt  daher 
gänzlich  außerhalb  der  biologischen  Naturwissenschaft.  Nicht 
von  dieser,  sondern  allein  vom  Willen  des  Menschen,  der  Leben 
und  Gesundheit  wertet,  wird  sie  getragen.     Damit  ist  aber  dem 


—     124     — 

Biologismiis  jede  Stütze  genommen,  auf  Grund  deren  er  den 
Anspruch  erheben  kann,  Normen  für  die  Lebensgestaltung  auf- 
zustellen, oder  den  Sinn  des  Lebens  aus  dem  Leben  selbst  auf 
Grund  der  Biologie  zu  deuten. 

Ja,  wir  müssen  noch  einen  Schritt  weiter  gehen.  Die  Bio- 
logie enthält  nicht  nur  keine  Faktoren,  welche  sich  zur  Norm- 
gebung  eignen,  sondern  jede  Verbindung  ihrer  konditionalen  Zu- 
sammenhänge mit  Werten  ist  dem  Geiste  gerade  der  modernen 
Biologie  als  Wissenschaft  durchaus  entgegengesetzt  und  gehört 
nur  noch  dem  vorwissenschaftlichen  Zustande  an.  Daß  ein  Lebe- 
wesen das  Leben  als  Gut  schätzt,  und  daß  der  Mensch  das  mensch- 
liche Leben  wertet,  das  ist  freilich  „selbstverständlich".  Durch 
diese  Zwecksetzungen,  die  Jeder  ohne  ausdrückliche  Besinnung 
darauf,  gewissermaßen  triebartig  vollzieht,  sind  daher  überall 
die  konditionalen  Zusammenhänge  der  Lebewesen  in  wertteleo- 
logische  verwandelt  worden,  und  als  solche  treten  sie  nun  dem 
Forscher  entgegen,  wenn  er  ihre  wissenschaftliche  Untersuchung 
beginnt.  Es  erscheint  zunächst  fraglos,  daß  die  biologische  Ent- 
wicklungsreihe eine  Fortschrittsreihe  ist,  weil  sie  zum  Menschen 
hinführt,  daß  es  „höhere"  und  „niedere"  Tiere  gibt,  je  nachdem 
sie  dem  Menschen  näher  oder  ferner  stehen  usw.  Von  diesem 
vorwissenschaftlichen  Standpunkt  aus  werden  dann  ganz  naiv 
auch  die  gewaltigen  „Errungenschaften"  angestaunt,  die  das 
Leben  vom  Bazillus  bis  zum  ^Menschen  durch  den  natürlichen 
Entwicklungsgang  ,,aus  sich  selbst  heraus"  zustande  gebracht 
hat.  Das  biologische  Gebiet  ist  also  für  den  Menschen  von  vorn- 
herein mit  lauter  Wertakzentfen  gewissermaßen  übersät,  und  das 
ist  vom  Standpunkte  des  wollenden  Menschen  aus,  der  sich 
selbst  als  Zweck  setzen  muß,  nur  konsequent.  Wer  den  Zweck 
will,  muß  die  Mittel  wollen.  Er  w'ird  daher  das  ganze  Gebiet 
des  Biologischen  in  einen  wertteleologischen  Zusammenhang  mit 
seinem  eigenen,  von  ihm  gewerteten  Leben  bringen. 

Aber  die  naturwissenschaftliche  Biologie  hat  mit  diesen 
Wertgesichtspunkten  so  wenig  zu  tun,  daß  es  vielmehr  ihre 
Aufgabeist,  mit  all  den  naiv  anthropomorphistischen  Schätzungen 
und  wertteleologischen  Begriffsbildungen  gründlich  aufzuräumen. 
Sie  verdankt  einen  großen  Teil  ihrer  Erfolge  in  der  Neuzeit  gerade 
der  immer  weiter  fortschreitenden  Ausscheidung  von  Werten  und 


—     125     — 

Zwecken.  Besonders  interessant  ist  für  die  Beurteilung  des 
Biologismus  hier  wieder  der  Begriff  der  „Auslese"  oder  „Zucht- 
wahl", wie  man  auch  sagt.  Er  hat  ursprünglich  einen  prakti- 
schen, wertteleologischen  Sinnv  wie  schon  die  Wortbedeutungen 
verraten.  Darwin  hatte  beobachtet ,  wie  Tierzüchter  durch 
zielbewußte  Auslese  die  Organismen  in  einer  gewollten  Richtung 
stark  verändern  können.  So  war  die  Variationsmöglichkeit  fest- 
gestellt. Bei  einer  wissenschaftlichen  Erklärung  der  allmählichen 
Veränderung  in  der  Natur  jedoch,  wo  kein  zwecksetzender  Wille 
die  Auslese  besorgt,  mußte  er  jedes  Zielbewußtsein  und  damit 
jeden  Zweckgesichtspunkt  ausschalten,  also  die  „Auslese"  durch 
einen  von  jedem  Zweckgedanken  freien  Begriff  ersetzen,  dem  er 
dann  den  Namen  der  „natürlichen"  Auslese  gab. 

Gleichviel,  ob  er  recht  hatte:  es  sollte  dieser  Begriff  im 
Gegensatz  zur  zielbewußten  künstlichen  Auslese  verständlich 
machen,  wie  ohne  jeden  Zweck  Gebilde  zustande  kommen,  die 
trotzdem  vom  Standpunkt  ihres  bew'ußten  Willens  notwendig  als 
zweckmäßig  aufgefaßt  werden.  Die  natürliche  Auslese  darf  mit 
anderen  Worten  gerade  nicht  ,, Auslese",  d.  h.  nicht  zielbe- 
wußte Auslese  sein.  Nur  wenn  man  an  die  Entstehung  der  Dar- 
winschen Theorie  denkt,  wird  verständlich,  w^arum  trotzdem  das 
teleologisch  klingende  Wort  und  andere  Ausdrücke  wie  ,, Nutzen", 
,, Anpassung"  usw.  beibehalten  worden  sind.  Die  Befreiung  von 
jeder  Teleologie  bleibt  der  Sinn  dieser  Lehre.  Sie  will  eigentlich 
sagen,  die  Organismen  sind  so  geworden,  wie  sie  mit  kausaler 
Notwendigkeit  werden  mußten.  Erst  nachdem  sie  da  sind,  wird 
ihr  Sein  von  ihnen  selbst  als  Zweck  gesetzt,  und  nun  nach- 
träglich, durch  die  erörterte  Umkehrung,  von  ihnen  der 
rein  kausale  Zusammenhang  zuerst  in  einen  konditionalen  und 
endlich  in  einen  wertteleologischen  verwandelt.  Oder:  nicht 
wegen  ihrer  Zweckmäßigkeit  sind  die  Organismen  gerade  so,  wie 
sie  nun  einmal  sind,  und  können  sich  in  diesem  ihrem  Dasein  so 
erhalten,  sondern:  weil  sie  so  geworden  sind,  wie  sie  sind,  und 
sich  deshalb  auch  so  erhalten  können,  werden  sie  von  sich  selbst 
in  diesem  ihnen  wertvollen  Dasein  als  zweckmäßig  aufgefaßt. 
Das  ist  der  Gedanke,  in  dem  alle  teleologischen  Zusammen- 
hänge in  der  Sache  selbst  schwinden  und  die  kausalen  allein 
übrig  bleiben  sollen.      Der   Zweck  wird   aus    den    biologischen 


—    126    — 

Objekten  in  die  wertende  Auffassung  des  Menschen  verlegt,  wo 
er  die  kausale  Forschung  nun  nicht  mehr  stört. 

Trotzdem  hat  man  gerade  die  Auslese  in  wertteleologischem 
Sinne  zur  naturwissenschaftlichen  Begründung  von  Kulturzielen 
verwenden  wollen.  Das  läßt  die  Klarheit  mancher  Darwinisten 
über  das  Wesen  ihrer  eigenen  Prinzipien  in  einem  merkwürdigen 
Licht  erscheinen,  und  mit  den  antidarwinistischen  Biologisten 
steht  es  in  dieser  Hinsicht  nicht  anders.  Richtig  allein  ist 
dies.  Falls  die  biologische  Entwicklung  durch  die  „natürliche" 
Auslese  bedingt  ist,  also  ohne  jeden  Zweck  oder  Nutzen  oder 
Wert  zustande  kommt,  so  ergibt  sich  daraus,  daß  sie  eben  nicht 
als  natürliche  Fortschrittsreihe  angesehen  werden  darf,  denn 
Fortschritt  ist  ein  Wertbegriff  und  setzt  ein  wertvolles  Ziel  vor- 
aus, dem  die  Reihe  sich  allmählich  annähert.  So  hat  überall 
die  konsequent  naturwissenschaftliche  Betrachtung  die  Wert-  und 
Zweckbegriffe  verdrängt.  Die  moderne  Biologie  stellt  den  Men- 
schen in  eine  Reihe  mit  den  übrigen  Lebewesen.  Sie  nimmt 
ihm  also  seine  Ausnahmestellung  als  „Höhepunkt",  soweit  er  nur 
ein  Lebewesen  ist,  und  das  Andere,  wodurch  der  Mensch  diese 
Ausnahmestellung  vielleicht  verdient,  geht  sie  nichts  an. 

Aus  demselbem  Grunde  bilden  endlich  auch  die  Begriffe 
des  aufsteigenden  und  des  niedergehenden  Lebens  vom  biolo- 
gischen Standpunkt  aus  keinen  Wertgegensatz,  und  gesund  und 
krank  sind  nicht  mehr  rein  biologische  Begriffe,  falls  man  dar- 
unter Wert  und  Unwert  versteht.  Wenn  der  Mensch  krank  ist, 
leben  die  Bazillen,  und  wenn  die  Bazillen  sterben,  wird  der 
Mensch  gesund.  Es  ist  gewiß  Sache  des  menschlichen  Willens, 
hier  Partei  zu  ergreifen  und  die  menschliche  Gesundheit  als 
Zweck  zu  setzen.  Dann  aber  kann  nicht  das  Leben,  sondern 
nur  der  Tod  der  Bazillen  der  Zweck  sein,  und  es  wird  also  durch- 
aus nicht  alles  Leben  als  Gut  gesetzt. 

Der  naturwissenschaftlichen  Biologie  liegt  solche  Parteinahme 
fern.  Was  lebt  und  was  stirbt,  das  gilt  ihr  ganz  gleich.  Für 
sie  sind  Leben  und  Tod,  Gesundheit  und  Krankheit  verschiedene 
Tatsachen,  nicht  Träger  von  Wert  und  Unwert.  Alle  Wert- 
setzungen sind  von  ihrem  Standpunkte  vielmehr  ein  ebenso 
,, kindlicher"  Anthropomorphismus  wie  der  Glaube,  die  Erde  sei 
für  die  Menschen  da,  und    die  Tiere  und  Pflanzen  hätten  „von 


—     127     — 

Natur"  den  Zweck,  dem  Menschen  zur  Nahrung  zu  dienen. 
Wenn  vollends,  wie  das  oft  geschieht,  die  heftigsten  Gegner  aller 
Naturteleologie  zugleich  für  Naturfortschritt  schwärmen  und 
damit  einen  so  eminent  wertteleologischen  Begriff  zur  Grund- 
lage ihrer  „naturwissenschaftlichen"  Weltanschauung  machen, 
dann  ist  das  eine  nicht  mehr  zu  überbietende  Konfusion. 

So  sehen  wir  von  neuem:  gerade  die  grundlegenden  Ge- 
danken des  Biologismus  als  Kulturphilosophie  schweben  nicht 
nur  haltlos  in  der  Luft,  sondern  stehen  im  schroffen  Widerspruch 
zum  echt  naturwissenschaftUch  biologischen  Denken. 

Der  Biologie  als  Naturwissenschaft  die  Fähigkeit  zur  Wert- 
setzung und  Normgsbung  absprechen,  heißt  nicht  etwa,  wie 
manche  Biologen  zu  glauben  scheinen,  diese  Wissenschaft  herab- 
setzen. Im  Gegenteil,  es  heißt  sie  auf  dieselbe  wissenschaftliche 
Höhe  heben,  auf  der  die  Physik  und  die  Chemie  schon  seit 
langer  Zeit  stehen.  So  lange  die  Biologie  ihre  naturwissen- 
schaftlichen Theorien  mit  Wertsetzungen  vermengt,  kann  sie 
über  ihre  Prinzipien  nicht  zur  Klarheit  kommen.  Der  Streit 
um  Mechanismus  und  Teleologie  bleibt  dann  unfruchtbar.  Nur 
der  Umstand,  daß  Prinzipien  der  Biologie  zu  „philosophischen" 
Prinzipien  gemacht  wurden  und  eine  ganze  , .Weltanschauung" 
aufbauen  sollten,  erklärt  es,  daß  nicht  jedem  Biologen  die 
Notwendigkeit  einer  Auseinanderhaltung  von  Naturbegriffen  und 
Wertbegriffen  und  die  Sinnlosigkeit  einer  biologischen  Norm- 
gebung  schon  längst  klar  geworden  ist.  Der  Mißbrauch  bio- 
logischer Begriffe  zu  „philosophiochen"  Zv/ecken  hat  auf  die  Bio- 
logie selbst  ungünstig  zurückgewirkt.  Früher  gab  es  solche  Ver- 
wirrungen sogCfr  in  der  Physik.  Auf  Newtons  Gravitationsgesetz 
wollte  man  auch  ethische  Normen  gründen.  Das  nimmt  heute 
wohl  niemand  mehr  ernst.  Der  Denkfehler,  der  dabei  gemacht 
wurde,  war  im  Prinzip  aber  genau  derselbe,  der  heute  dazu 
führt,  die  biologischen  Begriffe  der  „natürlichen  Auslese"  oder 
des  „Kampfes  ums  Dasein"  oder  der  Lebenssteigerung  und  der 
Machtentfaltung  zur  Beurteilung  des  sittlichen  Lebens  zu  be- 
nutzen. Es  wird  hoffenthch  bald  die  Zeit  kommen,  in  der  beide 
Arten  von  Versuchen  uns  gleich  absurd  erscheinen. 

Damit  ist  jedoch  unser  Problem  nicht  in  jeder  Hinsicht  er- 
ledigt.   Wir  müssen  noch  eine  andere  Frage  stellen.    Hat    die 


—     128     — 

Wertung  des  Leijens  oder  gar  seine  Gleichsetzung  mit  dem  höch- 
sten Gute,  wenn  sie  auch  auf  jede  naturwissenschaftlich-bio- 
logische Begründung  verzichten  muß,  nicht  vielleicht  noch  ein 
anderes  Fundament?  Behält  es  insbesondere  nicht  einen  guten 
Sinn,  von  Lebenswerten  zu  reden,  die  zur  Grundlage  der  Kultur- 
werte zu  machen  sind?  Erst  mit  der  Beantwortung  dieser 
Frage  können  wir  über  das  Verhältnis  der  Kultur  zum  Leben 
und  über  die  gesamte  Philosophie  des  Biologismus  zu  voller 
Klarheit  kommen. 

Gewiß  läßt  sich  das  Leben  als  ein  Gut  setzen,  an  dem  ein 
Wert  haftet.  Aber  oft  steckt  hinter  solchen  Wertungen  des 
Lebens  etwas  anderes,  das  allein  die  Wertung  trägt.  Das  Leben 
als  solches  wird  dann  nicht  gewertet.  Daher  kommen  Ansichteri 
dieser  Art  für  uns  nicht  in  Betracht.  Wir  fragen  nur,  ob  das 
Leben  als  bloßes  Leben  Wert  hat,  ohne  daß  irgend  etwas 
anderes  ihm  Wert  verleiht,  oder  ob  es  gar  als  höchstes  Gut  an- 
zusehen ist,  an  dem  der  Wert  aller  andern  Güter  gemessen  wer- 
den kann.  Nur  die  Antwort  hierauf  kann  über  das  Recht  einer 
biologischen   Weltanschauung  entscheiden. 

Wenn  man  hier  im  Urteil  noch  schwankt,  so  liegt  das  wohl 
daran,  daß  bisher  noch  kein  ernsthafter  Versuch  gemacht  wor- 
den ist,  die  Bejahung  der  Frage  wirklich  zu  begründen.  Es  mag 
freilich  vielen  ,, selbstverständlich"  scheinen,  daß  dbs  Leben  als 
bloßes  Leben  ein  Gut  ist.  Aber  das  genügt  nicht.  Wir  müssen 
hier  ausdrücklich  Klarheit  schaffen  und  zu  diesem  Zwecke  daran 
denken,  welch  eine  unübersehbare  Fülle  von  Lebendigem  es 
gibt.  Dann  leuchtet  sofort  ein:  es  ist  einfach  unsinnig,  zusagen, 
Alles  habe  Wert,  bloß  weil  es  lebendig  ist.  Nur  eine  bestimmte 
Art  des  Lebendigen  kann  als  die  wertvolle  einer  andern  Art  als 
der  minder  wertvollen  oder  als  der  wertfeindlichen  gegenüber- 
gestellt werden.  Welche  Art  aber  wertvoll  ist,  kann  uns  das 
Lebendige  selbst  niemals  verraten.  Auch  die  Ausdrücke  auf- 
steigendes und  niedergehendes  Leben  sind  als  Namen  für  Wert 
und  Unwert  nichtssagend.  Es  kommt  stets  darauf  an,  welches 
Leben  im  Aufsteigen  begriffen  ist  und  welches  im  Nieder- 
gange sich  befindet.  Sonst  wissen  wir  nicht,  ob  eine  Wertsteige- 
rung oder  eine  Wertverminderung  vorliegt.  Das  Aufsteigen  des 
einen  Lebens  kann   eminent  wertfeindlich    oder   umgekehrt  das 


—     129     — 

Niedergehen  des  andern  eminent  wertvoll  sein.  Das  Leben  als 
das  im  Sinne  der  Biologie  Lebendige  ist  genau  ebensowenig 
ein  Wertbegriff  wie  das  erlebte  Erlebnis.  Auch  wenn  man  sich 
auf  menschliches  Leben  beschränkt,  was  übrigens  biologisch 
schon  ein  Akt  der  Willkür  w'äre,  kommt  es  doch  allein  auf  die 
Art  des  Lebens  an.  Daß  jeder  Mensch  in  allem,  worin  er  lebendig 
ist,  Wert  habe,  kann  niemand  im  Ernst  behaupten. 

Das  läßt  sich  noch  deutlicher  zum  Ausdruck  bringen,  wenn 
wir  statt  ,, Leben",  an  dem  mancherlei  unkontrollierbare  Ge- 
fühlstöne haften,  „Vegetieren"  sagen.  Dazu  haben  wir  in'  diesem 
Zusammenhange  ein  gutes  Recht,  denn  bloßes  Leben  oder  lebendig 
sein  ist  nichts  anderes  als  Vegetieren.  Freilich  kann  auch  das 
Vegetieren  Wert  erhalten  durch  die  Lust,  die  damit  verbunden 
ist,  und  es  wäre  unrecht,  irgend  einem  Menschen  die  Freude, 
die  er  an  seinem  bloßen  Leben  hat,  ohne  Not  zu  verkümmern. 
Aber  einmal  handelt  es  sich  dabei  um  subjektive  und  individuelle 
Wertungen,  die  nicht  zur  Grundlage  für  Kulturwerte  gemacht 
werden  können:  die  Freude  am  bloßen  Leben  ist  eine  Privat- 
angelegenheit dieser  oder  jener  Stunde.  Und  außerdem  wird  in 
der  Lebensfreude  doch  nicht  das  Leben  selbst,  sondern  die  Lust 
gewertet,  die  an  ihm  haftet.  Daß  beide  immer  zusammenfallen, 
kann  niemand  glauben,  noch  läßt  sich  sagen,  welch  ein  Quantum 
von  Unlust  der  Lust  des  vegetativen  Daseins  gegenübersteht, 
um  so  eventuell  Lust  und  Unlust  gegen  einander  abzuschätzen, 
und  dadurch  einen  Lebenswert  herauszurechnen.  Jedenfalls 
wird  man  zugeben:  das  Vegetieren  ist  der  Güter  höchstes  nicht. 
Dann  aber  sollte  man  auch  einsehen,  daß  das  Leben  als  solches 
noch  nicht  als  Gut  gelten  kann.  Es  bedeutet  gar  nichts,  wenn 
ich  bloß  lebendig  bin.  Der  Wert  meines  Lebens  hängt  allein 
von  der  Art  meines  Lebens  oder  von  der  Besonderheit  meiner 
Erlebnisse  ab. 

Damit  aber  müssen  dann  auch  alle  jene  Behauptungen  ver- 
schwinden, die  darauf  hinauslaufen,  daß  der  Wert  der  Wahrheit, 
der  Sittlichkeit  und  der  Schönheit  und  dementsprechend  die 
Bedeutung  der  Kulturgüter,  an  denen  diese  Werte  haften,  also 
der  Wissenschaft,  der  Kunst  und  des  sozialen  Lebens  auf  Lebens- 
werte zurückzuführen  oder  alle  Kulturwerte  nur  Steigerungen  und 
Verfeinerungen  der  Lebenswerte  seien.  Wenn  die  bloße  Lebendig- 

R  i  c  k  e  r  t ,  Philosophie  d.  Lebens.  9 


—    130    — 

keit  für  sich  betrachtet  wertindifferent  ist,  so  kann  auch  ihre 
Steigerung  und  Verfeinerung,  ohne  Hinzunahme  eines  neuen 
Faktors,  nicht  zu  Werten  und  Gütern  führen.  Aus  nichts  wird 
nichts.  Ja,  die  Worte  „Steigerung"  und  ,, Verfeinerung"  ver- 
lieren ihren  Sinn,  wenn  nicht  das  Leben  als  solches  schon  Wert 
hat.  Den  Gedanken,  Kulturwerte  auf  Lebenswerte  zu  stützen, 
müssen  wir  in  jeder  Hinsicht  aufgeben.  Wohl  mag  es  vorkommen, 
daß  jemand  Kunst  und  Wissenschaft  nur  treibt,  um  zu  „leben". 
Aber  dann  wertet  er  die  Lust  des  Lebens,  nicht  das  Leben 
selbst,  und  außerdem  kann  man  doch  nicht  behaupten,  daß,  wer 
so  handelt,  seine  Lebensbestimmung  erfüllt.  Es  bleibt  eine 
sinnlose  Phrase,  daß  der  Sinn  des  Lebens  das  Leben  selber  sei. 

Blicken  wir  mit  dieser  Einsicht  noch  einmal  auf  die  Mannig- 
faltigkeit der  sozialpolitischen  Ideale  zurück,  welche  die  Lebens- 
philosophie aufgestellt  hat,  so  wird  die  Buntheit  dieses  Bildes 
jetzt  leicht  verständlich.  Wollte  man  fragen,  welche  von  den 
einander  bekämpfenden  vier  Richtungen  die  wahre  ist,  so  kann 
die  Antwort  nur  lauten:  sie  sind,  soweit  sie  sich  auf  biologische 
Begriffe  stützen,  alle  falsch.  Die  verschiedenen,  angeblich  aus 
der  Biologie  abgeleiteten  Kulturideale  standen  längst  fest,  ehe 
sie  mit  den  biologischen  Begriffen  auch  nur  in  Berührung  ge- 
bracht waren.  Die  Buntheit  des  aufgezeigten  Bildes  findet  darin 
ihre  Erklärung,  daß  die  biologischen  Prinzipien  unter  sozial- 
ethischen  Gesichtspunkten  völlig  indifferent  sind.  Deswegen 
kann  man  sie  zur  Rechtfertigung  und  Begründung  jedes  be- 
liebigen sozialpolitischen  Zieles  benutzen.  Aus  den  Begriffen  der 
Biologie  läßt  sich  nichts  ableiten,  was  Maßstab  des  Wertes  oder 
Unwertes  der  Dinge  ist.  Diese  Begriffe  sind  deswegen  mit  allen 
Werten  verträglich  und  daher  zur  Begründung  keines  ethischen 
Gedankens  brauchbar,  gerade  weil  sie  biologische  Begriffe  sind. 

Es  bedarf  keiner  längeren  Ausführungen,  um  das  im  einzel- 
nen zu  zeigen.  Wer  im  Gesetz  der  Auslese  ein  Naturgesetz  und 
in  diesem  zugleich  ein  Fortschrittsgesetz  sieht,  muß  jeden  ge- 
sellschaftlichen Zustand  als  das  anerkennen,  was  sein  soll.  Tut 
er  das  nicht,  so  begeht  er  gerade  den  Fehler,  den  der  Biologis- 
mus bekämpft:  er  stellt  seine  individueUen  menschlichen  Wünsche 
dem  Leben  entgegen,  anstatt  sich  vom  Leben  tragen  zu  lassen. 
Das  Leben  allein  soll  ja   die  Lehrmeisterin    im  Ideal   sein,   und 


-    131    — 

das  Leben  bringt  überall  das  Gute  hervor.  Man  kann  vom  bio- 
logistischen  Standpunkt  niemals,  wie  Nietzsche  und  die  Sozialisten^ 
eine  Jahrhunderte  lange  menschliche  Kulturentwicklung  in  ihren 
Ergebnissen  verurteilen.  Wer  das  tut,  hebt  damit  die  mensch- 
liche Kultur  aus  dem  Leben  heraus  und  gesteht  zu,  daß  in  ihr 
die  Lebensformen  und  Lebensgesetze  nicht  maßgebend  gewesen 
sind.  Er  versündigt  sich  damit  also  gegen  seine  eigenen  bio- 
logischen Prinzipien.  Ist  die  Sklavenmoral  oder  die  Nächsten- 
liebe nicht  Lebensprodukt  ?  Ist  der  Kapitalist  nicht  angepaßt? 
Warum  soll  der  Mensch  seine  erworbenen  Eigenschaften  nicht 
vererben  oder  als  Erbkapitalist  das,  ihm  Vererbte  auf  seine  Nach- 
kommen übertragen?  Die  Vererbung  ersvorbener  Eigenschaften 
wird  freilich  in  der  Biologie  bestritten,  aber  die  Vererbung  er- 
erbter Eigenschaften  gehört  zu  den  unentbehrlichen  Begriffen 
jeder  modernen  Biologie.  Wie  kann  ein  Biologist  den  Erb- 
kapitahsmus  als  widernatürlich  bezeichnen? 

Es  ist  nicht  nötig,  die  Beispiele  zu  häufen.  Wenn  alles 
Leben  ist  und  das  Leben  nie  irrt,  so  hat  der  Versuch,  die  Welt 
zu  bessern  oder  Werte  umzuwerten,  keinen  Sinn.  Er  kann  nur 
als  eine  lächerhche  Ueberhebung  des  kleinen  Menschengeistes  an- 
gesehen werden,  der  noch  immer  nicht  gelernt  hat,  sich  dem 
Leben  zu  fügen.  Die  einzige  mögliche  Konsequenz  aus  dem 
Satz,  daß  Lebensgesetze  Fortschrittsgesetze  und  Lebensformen 
Wertformen  sind,  ist  die  wirtschaftliche  Doktrin  des  „laissez 
faire",  und  was  die  sozialen  Ideale  des  Biologismus  anbetrifft, 
so  ist  daher  unter  allen  Biologisten  der  radikale  Individuahst 
Spenzer  der  einzige,  der  als  konsequent  gelten  kann.  Leider  wird 
man  das  Ideal,  die  wirtschaftliche  Entwicklung  sich  selbst  zu 
überlassen,  nur  in  sehr  beschränktem  Sinn  ein  Ideal  nennen 
können,  und  außerdem  ist  es  nicht  gerade  eine  neue  Weisheit, 
die  der  Biologismus  damit  verkündet. 

Aber  auch  Spenzer  ist  nicht  völlig  konsequent,  und  rsvar 
liegt  seine  Inkonsequenz  wieder  genau  an  der  Stelle,  wo  er  zur 
Aufstellung  eines  Ideals  zu  kommen  sucht,  nämlich  wo  er  die 
Demokratie  preist.  Er  denkt  sich  den  biologischen  Entwicklungs- 
prozeß abgeschlossen  und  sieht  das  Ziel  der  Menschheit  in  einem 
Zustand  der  Ruhe.  Der  Kampf  ums  Dasein  soll  also  die  Ten- 
denz haben,  sich  selbst  aufzuheben,  oder  das  Ausleseprinzip  soll 

9* 


—    132     — 

dazu  führen,  daß  keine  Auslese  mehr  nötig  ist.  Ein  Kom- 
plex von  Individuen,  unter  denen  keines  das  andere  überragt, 
lebt  dann  in  vollendeter  Harmonie.  Es  wird  sehr  schwer  sein, 
diese  demokratischen  Ideale  auch  nur  mit  den  darwinistischen 
Prinzipien  in  Einklang  zu  bringen.  Man  braucht  Spenzers  Bio- 
logie nicht  zu  bekämpfen,  um  seine  Ethik  als  inkonsequent  zu 
verstehen.  Sie  ist  auf  keine  Biologie  zu  stützen,  auch  auf  die 
Darwins  nicht.  Die  Selektionstheorie  setzt  ein  Variieren  der 
Individuen  voraus.  Warum  sollte  dies  jemals  verschwinden? 
So  lange  aber  wie  die  Variationen  nicht  aufhören,  muß  der 
Kampf  ums  Dasein  und  die  natürliche  Auslese  gerade  in  darwi- 
nistisch  ethischem  Interesse  ebenfalls  fortdauern,  denn  wenn  in 
der  Gesellschaft  auch  alle  biologisch  ungünstigen  Formen  erhalten 
bleiben,  wird  die  Menschheit  notwendig  immer  mehr  degene- 
rieren. 

In  ihrem  Kampf  gegen  Spenzers  Ethik  haben  also  die  anti- 
darM'inistischen  Biologisten  mit  aristokratischen  Tendenzen  gewiß 
recht.  Nur  in  dauerndem  Kampf  und  in  dauernder  Herrschaft 
des  Stärkeren  über  die  Schwächeren  werden  die  schlechter  an- 
gepaßten Individuen  durch  die  natürliche  Auslese  beseitigt.  Doch 
läßt  sich  auch  hieraus  kein  sittliches  Ideal  gewinnen,  denn  jedes 
beliebige  Individuum,  das  am  besten  sich  durchzusetzen  versteht, 
muß  unter  biologischen  Gesichtspunkten  auch  als  ethisch  voll- 
kommen gelten.  Auf  Grund  welcher  Mittel  die  einzelnen  Men- 
schen oder  die  Gruppen  herrschen,  ist  vom  biologistischen  Stand- 
punkt aus  ganz  gleichgültig.  Ueber  den  Wert  entscheidet  in 
einer  konsequent  biologistischen  Ethik  allein  der  Erfolg,  und 
eine  biologistische  Sozialpolitik  muß  daher  jeden  gesellschaft- 
lichen Zustand  billigen. 

Ein  Ideal  aufzustellen,  welches  die  Richtschnur  unseres 
Handelns  sein  soll,  hat  im  Rahmen  des  Biologismus  überhaupt 
keinen  Sinn.  Was  gut  ist,  kommt  notwendig  von  selbst,  ja  es 
ist  in  jedem  Augenblick  genau  so  weit  erreicht,  wie  es  dem 
Leben  möglich  und  notwendig  war.  Der  Biologismus  führt  dem- 
nach zu  einem  radikalen  Optimismus.  Er  macht  die  Aufstellung 
von  Zielen  und  das  Streben  nach  ihrer  Verwirklichung  über- 
flüssig. Da  alles  Lebensentwicklung  ist,  ist  auch  alles  Fort- 
schritt.    Sein  und  Sollen  können   sich  niemals  trennen.     „Was 


—    133    — 

vernünftig  ist,  das  ist  wirklich,  und  was  wirklich  ist,  das  ist  ver- 
nünftig", sagte  Hegel.  Was  lebendig  ist,  das  ist  vernünftig, 
muß  der  Biologismus  sagen.  Dort  wird  das  Wirkliche  zum  Ver- 
nünftigen, hier  das  Vernünftige  zum  Lebendigen  gemacht.  So 
kommen  wir  zum  Hegelianismus,  freilich  mit  umgekehrtem  Vor- 
zeichen. Jedenfalls:  wer  fragt,  was  er  tun  soll,  hat  die  biologi- 
schen Grundbegriffe  noch  nicht  verstanden.  Er  soll  nichts  tun. 
Die  einzige  ethische  Konsequenz  des  Biologismus  ist  ein  abso- 
luter  Quietismus. 

Auch  der  Umstand,  daß  in  dieser  besten  aller  möglichen 
Welten  sehr  viele  Individuen  höchst  unzufrieden  sind,  beweist 
dagegen  gar  nichts,  sondern  läßt  sich  vielmehr  gerade  nach 
biologisti sehen  Prinzipien  leicht  erklären.  In  den  Klagen  der 
jVIißvergnügten  kommen  die  biologisch  ungünstig  Variierten  zu 
Wort.  Ihre  Unzufriedenheit  ist  das  Symptom  der  mangelhaften 
Angepaßtheit,  und  solange  die  individuellen  Variationen  nicht 
aufhören,  muß  es  immer  Unzufriedene  geben.  Sie  werden  auch 
immer  ihre  schlecht  angepaßte  Konstitution  zum  sitüichen 
Ideal  erheben  und  es  als  Unrecht  empfinden,  daß  das  Leben 
über  sie  hinwegschreitet.  Haben  sie  jedoch  erkannt,  daß  das 
Lebensgesetz  das  Fortschrittsgesetz  ist,  so  müssen  sie  aufhören, 
zu  jammern,  ja  vielmehr  die  Weisheit  des  Lebens  bewundern, 
die  in  ihnen  schlecht  angepaßte  Variationen  ausmerzt. 

Daß  Jemand  hieran  auch  im  Handeln  festhält,  ist  freilich 
nicht  wahrscheinlich.  So  wird  der  mangelhaft  Angepaßte,  auch 
wenn  er  die  richtige  Einsicht  hat,  praktisch  stets  ein  Fremdling 
im  Leben  bleiben.  Dieser  Zwiespalt  zwischen  Wissen  und  Wollen 
kann  ihm  unerträglich  werden,  und  dann  muß  er  entweder  alles 
Wissen  zu  vergessen  suchen  oder  wieder  in  eine  jener  veralteten, 
unlebendigen  Weltanschauungen  zurückfallen,  die  sich  unlebendige 
Werte  erträumen.  So  erklärt  die  neue  Weltweisheit  zugleich, 
warum  die  alte  nicht  ausstirbt,  und  warum  sich  immer  wieder 
Menschen  finden,  die  ihre  individuellen  Wünsche  den  Entwick- 
lungsgesetzen des  Lebens  entgegenstellen. 

Selbstverständlich  liegt  diesen  Bemerkungen  nichts  ferner, 
als  die  Absicht,  zu  den  bisherigen  biologistischen  Weltanschau- 
ungen eine  neue  hinzuzufügen.  Nur  daß  es  unmöglich  ist,  auf  dem 
Boden  des  Biologismus   Ideale  zu  gewinnen,   mögen  sie  „demo- 


—    134    — 

kratisch"  oder  „aristokratisch",  individualistisch  oder  sozialistisch 
sein,  sollte  auf  Grund  der  allgemeinen  Kritik  des  biologistischen 
Wertprinzips  gezeigt  werden. 

Doch  die  Anhänger  der  Lebenswerte  werden  sich  vielleicht 
hiermit  noch  immer  nicht  zufrieden  geben.  Jeder  körperlich 
„normale",  d.  h.  durchschnittlich  beschaffene  Mensch  liebt  das 
Leben.  Die  Begriffe  des  aufsteigenden  und  niedergehenden 
Lebens,  wird  man  sagen,  enthalten  einen  nicht  wegzudisputieren- 
den Wertgegensatz,  der  auch  für  die  Philosophie  von  Wichtig- 
keit sein  muß.  Zunächst  will  freilich  jeder  nur  seine  eigene  Ge- 
sundheit, und  das  kann  man  für  eine  Privatangelegenheit  er- 
klären, welche  die  Philosophie  nichts  angeht.  Doch  man  darf 
dies  Wollen  nicht  nur  für  Privatsache  halten,  denn  es  lassen 
sich  daraus  allgemeine  Grundsätze  ableiten.  Oder  ist  es  etwa 
kein  allgemein  gültiges  Lebensziel,  das  Leben  gesund,  natürhch, 
frisch,  ursprünglich  zu  machen? 

Es  gibt,  so  kann  man  das  weiter  ausführen,  eine  weitverbreitete 
„Jugendbewegung",     die    klare    Lebensideale    auf   ihre   Fahne 
schreibt.     Sie  vertraut   ihrer  Jugend,  weil   diese  Lebendigkeit, 
d.  h.  Gesundheit,  Frische,  Kraft   und  Ursprünglichkeit  verkör- 
pert.    In  solchen  Begriffen  steckt  nicht  allein  ein  Sein,  sondern 
zugleich  ein  Sollen,  und  was  die  Hauptsache  ist,  das  natürliche 
Ideal,  das  so   gewonnen  wird,  erweist  sich  als  fruchtbar  für  die 
.  gesamte  Lebensführung.    Aus  dem  Lebensprinzip  heraus  wendet 
man  sich  gegen  die   allzu  intellektualistische  oder   die   ästheti- 
sierende  Bildung,  weil  diese  das  Leben  tötet.  Man  verurteilt  die 
große  Stadt  und  ihre  Schule,  weil  hier  kein  ursprüngliches,  frisches, 
gesundes  Leben  gedeiht.     Man   zieht  hinaus  in  die  freie  Natur 
und    will   den  Sinn   für    das  Wandern  erwecken,  weil  das  den 
Menschen  wahrhaft  lebendig  macht.    Man  kämpft  gegen  Alko- 
hol und  Nikotin,  weil  diese  das  aufsteigende  Leben  untergraben. 
Sind  das  etwa  nicht  begründete  Lebensziele,  und  darf  man  sich 
daher  wundern,    wenn    die  Lebensphilosophie  besonders  auf  die 
Jugend  ihren  Zauber  und  ihre  Wirkung  ausübt  ?    Dagegen  kom- 
men Ueberlegungen  wie  die  hier  vorgetragenen  nicht  auf.     Muß 
in  der  Lebensphilosophie  nicht   auch   ein  berechtigter  theoreti- 
scher Kern  stecken,   da  sie  sich  für  die  Lebenshaltung  und  Ge- 
staltung so  brauchbar  erweist?    Das  theoretisch  völlig  Grundlose 


—    135    — 

könnte  sich  nicht  bewähren. 

Auch  darauf  sei  schheßlich  noch  eingegangen.  Gewiß  wäre 
es  töricht,  solche  Bestrebungen  wie  die  Jugendbewegung  gering 
zu  schätzen,  ja  geradezu  absurd,  der  Gesundheit,  der  Frische, 
der  Kraft  oder  der  Ursprünghchkeit  des  Lebens  jeden  Wert  ab- 
zusprechen. Man  wird  es  viehnehr  gut  verstehen,  wenn  jemand 
gegenüber  manchen  Kulturschäden  sagt:  wir  müssen  vor  allem 
lebendig,  d.  h.  gesund,  natürlich,  frisch  und  ursprünglich  wer- 
den. Das  ist  die  Hauptsache.  Das  Andere  wird  von  selber 
kommen,  falls  nur  erst  dies  Fundament  gelegt  ist.  Vollends 
nach  der  entsetzlichen  Lebensvernichtung,  die  für  Scheler  die 
Bevölkerungspolitik  katexochen  darstellt,  muß  mancher  glauben : 
können  wir  nur  erst  wieder  leben,  dann  dürfen  wir  auch  ver- 
trauen, daß  es  aufwärts  gehen  muß  bei  einem  lebenskräftigen 
Volk.  Daß  das  im  praktischen  Leben  ein  brauchbarer  Stand- 
punkt ist,  läßt  sich  nicht  bezweifeln. 

Aber  ebenso  gewiß  ergibt  sich  daraus  noch  kein  Standpunkt 
für  die  Philosophie.  Das  „Andere",  das  angebhch  von  selber 
kommt,  wenn  wir  nur  erst  lebendig  sind,  ist  gerade  das,  was 
für  das  philosophische  Nachdenken  über  das  Leben  zur  Haupt- 
sache wird.  Ja  gerade  in  den  Sätzen,  daß  Lebendigkeit  im  Sinn 
der  Gesundheit  und  Ursprünglichkeit  und  Frische  das  Funda- 
ment sei,  wird  es  geradezu  ausgesprochen:  im  Leben  haben  wir 
ein  Mittel  zu  sehen  für  jenes  Andere.  Nur  weil  man  das  Andere 
des  Lebens  davon  erhofft,  preist  man  die  Lebendigkeit.  So 
bestätigen  diese  Gedankengänge,  falls  sie  richtig  verstanden 
werden,  lediglich  das,  was  wir  sagen  wollen.  Zur  vollen  Klar- 
heit gebracht,  wenden  sie  sich  gegen  jede  Lebensphilosophie, 
die  dem  Leben  selbst  Werte  zu  entnehmen  versucht.  Der  Wert, 
der  hiernach  dem  Leben  bleibt,  haftet  ja  nicht  am  Leben  selbst, 
sondern  wird  abhängig  gemacht  von  andern  Werten,  und  er 
gilt  daher  nur,  wenn  die  andern  Werte  gelten. 

Es  ist  also  zweifellos  richtig:  Leben  ist  Bedingung  aller 
Kultur,  und  alle  lebensfeindlichen  Tendenzen,  wie  z.  B.  das 
Ideal  absoluter  Keuschheit  bei  Tolstoi,  sind  insofern  zugleich 
kulturfeindlich.  Aber  ebenso  gewiß  ist  das  Leben  als  bloße 
Lebendigkeit  nur  Bedingung.  Nicht  in  einem  Eigenwert,  son- 
dern in   einem  Bedingungswert  haben  wir  den  eigentlich  so  zu 


—     136     — 

nennenden  ,, Lebenswert".  Auf  ihn  läßt  sich  kein  Biologismus 
als  Weltanschauung  stützen.  Nicht  einmal  das  ist  richtig,  daß 
ein  besonders  lebendiges  Leben  Bedingung  einer  besonders  hohen 
Kultur  ist.  Wer  daher  das  Leben  als  Bedingung  preist,  entfernt 
sich  damit  von  jeder  biologistischen  Lebensphilosophie,  d.  h.  er 
verzichtet  darauf,  Kulturwerte  als  bloße  Lebenswerte  zu  ver- 
stehen. 

So  wird  vollends  klar:  wer  nur  lebt,  lebt  sinnlos.  Allein 
die  Möglichkeit,  auf  Grund  von  Eigenwerten,  die  nicht  Lebens- 
werte sind,  dem  Leben  Wert  zu  verleihen,  bleibt  übrig.  Gerade 
weil  das  Leben  Bedingung  aller  Verwirklichung  von  Gütern 
mit  daran  haftenden  Werten  ist,  kann  es  keinen  Eigenwert  haben. 
Es  erhält  Wert  immer  erst  dadurch,  daß  wir  mit  Rücksicht  auf 
in  sich  ruhende  Eigenwerte  aus  ihm  ein  Gut  machen. 

Im  praktischen  Leben  mag  man  das  vergessen.  Da  gilt  der 
Satz,  daß  erst  das  Fundament  und  dann  das  Haus  zu  bauen 
ist.  Es  wird  daher  Zeiten  geben,  in  denen  für  den  Praktiker  die 
Frage  nach  der  Lebendigkeit  des  Lebens  alle  andern  Fragen 
in  den  Hintergrund  drängt.  Die  Philosophie  aber  will  theoretisch 
über  das  Leben  nachdenken,  und  sobald  sie  das  tut,  muß  sie 
nach  jenem  „Anderen"  fragen,  um  zu  wissen,  in  den  Dienst 
welcher  Zwecke  das  Mittel  des  gesunden,  frischen  und  ursprüng- 
lichen Lebens  tritt.  Sie  sucht  Klarheit  über  den  Plan  des  Hauses. 
Von  hier  aus  ist  erst  zu  beurteilen,  wie  das  Fundament  be- 
schaffen sein  muß,  damit  es  das  Haus  zu  tragen  vermag.  Das 
sollte  auch  denen  deutlich  werden,  die  die  Jugendl^ewegung  und 
andere  Bestrebungen  wegen  ihres  Betonens  der  Ursprünglichkeit 
und  der  Lebendigkeit  des  Lebens  lieben.  Mit  der  Frage  nach 
dem  theoretischen  Wert    der  Lebensphilosophie   hat    das  nichts 

zu  tun. 

Man  muß  sogar  noch  einen  Schritt  weiter  gehen.  Lebendig- 
keit ist  ein  Minimum,  das  wir  verlangen,  wenn  wir  uns  recht 
verstehen,  nicht  das  Maximum,  und  nur  wo  das  Minimum  be- 
droht ist,  tritt  es  in  den  Vordergrund  des  Interesses.  Von  hier 
aus  begreifen  wir  die  Ueberschätzung  des  bloßen  Lebens  viel- 
leicht am  besten  als  geboren  aus  einer  Lebensnot.  Aus  ihr  darf 
man  keine  philosophische  Tugend  machen.  Das  aber  hat  Nietzsche 
getan.    Seine  persönliche  Lebensliebe  hatte    ihre    tiefste  Wurzel 


—    137    — 

wohl  darin,  daß  er  selbst  schwer  krank  war  und  unsäglich  am 
Leben  litt.  Nur  scheinbar  ist  das  paradox  Dem  Kranken  mußte 
es  als  heroisch  gelten,  das  Leben  zu  bejahen.  So  wurde  für 
ihn  die  Lebendigkeit  zum  Gut  aller  Güter.  Er  pries  den  Willen 
zur  Macht,  weil  er  selbst  so  wenig  Macht  hatte.  ,, Unsere  Mängel 
sind  die  Augen,  mit  denen  wir  das  Ideal  sehen."  Dies  Wort 
trifft  auf  keinen  mehr  zu  als  auf  Nietzsche  selbst.  Sollte  alle 
moderne  Lebensbegeisterung  und  Vitalitätsverherrlichung  sich 
vielleicht  als  Symptom  der  Lebensschwäche  enthüllen?  Schätzen 
wir  vielleicht  nur  deshalb  das  bloße  Leben  so  hoch,  weil  wir 
es  bedroht  sehen  und  instinktiv  fühlen,  daß  mit  dem  Fundament 
auch  „das  Andere"  in  Gefahr  ist,  das  wir  darauf  bauen  wollen  ? 

Es  ist  nicht  notwendig,  diese  Gedanken  weiter  zu  verfolgen. 
Schon  jetzt  muß  klar  sein:  auch  der  engere  Lebensbegriff  des 
Biologismus  ist  noch  immer  viel  zu  weit  und  unbestimmt,  um 
zur  Grundlage  einer  Lebensanschauung  zu  taugen.  Das  Gras, 
welches  auf  der  Düne  emporwächst,  unterscheidet  sich  von  dem 
Sand,  aus  dem  es  entsteht  dadurch,  daß  es  kräftig  und  lebendig 
gedeiht,  während  Weizen  dort  verkümmern  würde.  Die  Qualle, 
die  im  Meer  schwimmt,  hebt  sich  ebenso  vom  Wasser  ab,  in 
dem  sie  sich  bewegt,  und  gedeiht  prächtig,  während  der  Mensch 
dort  elend  zugrunde  gehen  müßte.  Ist  darum  das  Wachsen  des 
Grases  und  die  Bewegung  der  Qualle,  bloß  weil  sie  lebendiges, 
sich  entwickelndes,  sich  ausdehnendes  Leben  sind,  unter  den 
Begriff  der  Lebensgüter  zu  bringen?  Kein  Mensch  wird  das 
behaupten.  So  aber  ist  jede  bloße  Lebendigkeit  nicht  deswegen 
erstrebenswert,  weil  sie  Lebendigkeit  im  Sinne  von  Lebens- 
steigerung und  Machtentfaltung  ist.  Diese  einfache  Wahrheit 
versetzt  dem  Wertprinzip  des  modernen  Biologismus  wissenschaft- 
lich den  Todesstoß.  Wo  wir  zum  Leben  Stellung  nehmen, 
kennen  wir  immer  noch  etwas  anderes,  das  nicht  aus  dem  bloß 
aufsteigenden  Leben  selber  kommt. 

So  bleibt  es  dabei:  das  Leben  ist  der  Güter  höchstes  nicht. 
Freilich  sind  solche  Zitate  mit  Vorsicht  zu  gebrauchen.  Man 
kann  ihnen  andere  entgegenstellen.  Goethe  sagt:  „Es  kommt 
offenbar  im  Leben  aufs  Leben  und  nicht  auf  ein  Resultat  des- 
selben an."  Daraus  scheint  ein  Glaube  an  das  Leben  zu  sprechen, 
der  kein   „Anderes"  zur    Lebensrechtfertigung  braucht.  Da  wir 


—    138    — 

Schiller  zitiert  haben,  dürfen  wir  auch  nicht  sagen,  das  Wort 
Leben  hatte  zu  Goethes  Zeiten  eine  andere  Bedeutung  als  in 
der  modernen  Lebensphilosophie,  und  man  könne  sich  deswegen 
in  diesem  Zusammenhang  nicht  auf  Goethe  berufen.  Dasselbe 
würde  dann  auch  von  Schiller  gelten.  Abgesehen  davon  läßt 
sich  Goethe  in  der  Tat  als  Vorläufer  der  modernen  Lebensphilo- 
sophie bezeichnen.  Genau  zu  sagen,  in  welchem  Sinne  das 
möglich  ist,  würde  hier  zu  weit  führen.  Deswegen  unterlassen 
wir  jede  Berufung  auf  ,, Autoritäten''  und  weisen  nur  darauf 
noch  hin,  daß  man  sogar  dem  Wort  Goethes  zustimmen  kann, 
ohne  sich  dadurch  zum  Biologismus  zu '  bekennen.  Damit,  daß 
wir  das  Leben  zu  etwas  Anderem  in  Beziehung  setzen,  ist  ja 
nicht  gesagt,  daß  nur  die  vom  Leben  ablösbaren  Resultate 
Bedeutung  haben. 

Wie  wenig  mit  dem  Biologismus  anzufangen  ist,  zeigt  sich 
endlich  an  dem  Verhältnis,  in  dem  die  neuere  Richtung  zu 
der  älteren  in  bezug  auf  den  Begriff  des  Lebenskampfes  steht. 
Auch  die  neuere  Richtung  denkt  nicht  daran,  alles  aufsteigende 
Leben  zu  bejahen,  wie  sie  es  nach  ihrem  biologistischen  Prinzip 
müßte.  Jeder  Lebenskampf  ist  ein  Kampf  des  Lebens  mit  dem 
Leben.  Die  Parteien,  die  mit  einander  kämpfen,  steigen  beide 
auf  und  zeigen  Lebensdrang,  denn  dadurch  allein,  daß  sie  auf- 
steigen und  empor  wollen,  kommt  es  zum  Kampf.  Die  eine 
unterliegt  und  geht  eventuell  zugrunde.  Ist  der  Ausgang  ein 
Gottesurteil?  So  müßte  der  konsequente  Biologist  sagen.  Im 
Zeitalter  der  Technik  wäre  diese  Auffassung  eines  Kampfes  oder 
eines  Krieges  jedoch  sinnloser  als  je.  So  kommt  der  Biologismus 
ohne  Parteinahme  für  eine  besondere  Art  des  Lebens  nicht  aus 
und  zeigt  damit,  daß  er  seinem  eigenen  Prinzip  nicht  vertraut. 
Das  kann  man  an  Nietzsches  Gedanken  leicht  zum  Bewußt- 
sein bringen.  Er  wußte,  daß  im  Kampf  ums  Dasein  nicht  immer 
die  Herrenmenschen  siegreich  sind,  sondern  stets  in  Gefahr 
schweben,  von  der  großen  Masse  der  Sklaven  überwältigt  zu 
werden.  Darum  mochte  er  Darwins  Kampf  ums  Dasein  nicht 
leiden.  Mit  seinem  Wertbewußtsein  wendete  er  sich  gegen  ihn 
als  ein  angebliches  Vehikel  des  Fortschritts.  Doch  kommt  auch 
dieser  Kampf  als  Tatsache  vor.  Das  bestreitet  Nietzsche  nicht. 
Ausdrücklich   erklärt  er,    der  Kampf   ums  Dasein  laufe  „leider 


—    139    — 

umgekehrt  aus  als  die  Schule  Darwins  wünscht,  als  man  viel- 
leicht mit  ihr  wünschen  (1)  dürfte:  nämlich  zu  Ungunsten  der 
Starken,  der  Bevorrechtigten,  der  glücklichen  Ausnahmen.  Die 
Gattungen  wachsen  n  i  ch  t  in  der  Vollkommenheit:  die  Schwachen 
werden  immer  wieder  über  die  Starken  Herr,  —  das  macht,  sie 
sind  die  gi'oße  Zahl,  sie  sind  auch  klüger  .  .  .  Darwin  hat  den 
Geist  vergessen  (das  ist  englisch),  die  Schwachen  haben  mehr 
Geist  .  .  ." 

Steckt  darin  nicht  eine  schlagende  Widerlegung  jeder 
biologistischen  Lebensphilosophie?  Wenn  die  Schwachen  über 
die  Starken  siegen,  mit  welchem  Recht  nennt  man  sie  noch 
die  Schwachen?  Haben  sie  nicht,  wo  sie  die  angeblich  Starken 
zu  besiegen  vermögen,  gezeigt,  daß  sie  die  eigentlich  Starken 
sind?  Das  Leben,  das  sich  durchzusetzen  vermag,  wird  der 
konsequente  Biologismus  immer  als  das  starke,  aufsteigende  Leben 
bezeichnen   müssen. 

Wenn  Nietzsche  trotzdem  gegen  die  Menge  der  angeblich 
Schwachen  für  die  einzelnen,  angeblich  Starken  Partei  ergreift, 
so  wendet  er  einen  andern  Maßstab  an  als  den  des  aufsteigenden, 
starken  Lebens.  Er  trägt  Werte,  die  ihm  vorher  feststehen, 
von  außen  an  das  Leben  heran.  Wir  wissen  auch,  welche  es 
sind.  Wir  brauchen  nur  an  seine  geistige  Herkunft  zu  erinnern. 
Sein  aristokratischer  Individualismus  war  ursprünglich  nicht  bio- 
logisch begründet,  sondern  hinter  ihm  steht  das  romantische 
Prinzip,  das  Schopenhauer  verächtlich  von  der  Fabrikware  der 
Natur  reden  läßt.  Auch  in  dieser  Hinsicht  ist  Nietzsche  Roman- 
tiker gebheben.  Er  liebt  den  großen  Einzelnen,  besonders  das 
Genie.  Das  Volk  ist  ihm  ein  Umweg,  auf  dem  die  Kultur  zu 
den  Wenigen  kommt.  Das  bestimmt  in  Wahrheit  seine  Welt- 
anschauung. Erst  nachträglich  wird  sie  antidarwinistisch-bio- 
logistisch  zu  rechtfertigen  versucht.  Der  konsequente  Biologist 
müßte  immer  für  das  siegreiche  Leben,  eventuell  also  für  die 
Vielen  eintreten.  So  beweist  gerade  Nietzsche,  daß  die  Lebendig- 
keit des  Lebens  sich  zum  Verständnis  seiner  Werte  in  keiner  Weise 
eignet.  Der  Romantiker  in  ihm  durchbricht  die  biologistische 
Fessel,  die  er  sich  selbst  angelegt  hat,  und  klagt  —  ein  sonder- 
barer Lebensphilosoph  -^  schheßlich  „das  Leben"  an,  daß  es 
seine  Güter  vernichtet  1   Es  ist  ihm  also  doch  wohl  nicht  immer 


—    140    — 

lieber  als  seine  Weisheit. 

Auch  das  Preisen  des  Willens  zur  Macht  ist  ohne  jedes 
theoretische  Fundament.  Was  will  Nietzsche  einwenden,  wenn 
ein  Mann  wie  der  von  ihm  hoch  verehrte  Jakob  Burckhardt  unter 
Berufung  auf  Schlosser  erklärt,  ,,daß  die  Macht  an  sich  böse" 
sei,  oder  sagt:  ,,Der  Stärkere  ist  als  solcher  noch  lange  nicht  der 
Bessere.  Auch  in  der  Pflanzenwelt  ist  ein  Vordringen  des  Ge- 
meineren und  Frecheren  hie  und  da  erweisbar"  ?^).  Kann 
Nietzsche  den  Historiker  der  Renaissance,  von  dem  er  so  viel 
gelernt  hat,  deswegen  zu  den  Sklaven  zählen?  ]Mit  dem  bio- 
logischen Begriff  des  aufsteigenden  Lebens  ist  hier  nichts  zu 
machen.  Da  steht  Werturteil  gegen  Werturteil.  Das  aber  be- 
deutet: die  Basis  dieser  Lebensphilosophie  ist  ein  Akt  der  Will- 
kür. Nietzsche  würde  das  vielleicht  nicht  bestritten  haben. 
„Ob ich  ein  Philosoph  bin?  Aber  was  liegt  daran?"  Mit  Nietzsche 
allein  haben  wir  es  jedoch  nicht  zu  tun.  Seinen  Anhängern, 
die  aus  seiner  Lebensprophetie  eine  Lebensphilosophie  machen 
wollen,  ist  ins  Bewußtsein  zu  bringen,  daß  diesem  Versuch  jedes 
theoretische  Fundament  fehlt. 

So  kommen  wir  auch  beim  Biologismus  zu  demselben  Re- 
sultat wie  beim  Intuitionismus  des  Erlebnisses:  es  fehlt  an  einem 
wissenschaftlich-philosophischen  Prinzip  sogar  dann,  wenn  man 
sich  auf  eine  Deutung  des  menschlichen  Lebens  beschränkt. 
Wohl  hebt  der  Biologismus  das  lebendige  Leben  aus  der  Fülle 
der  Erlebnisse  überhaupt  heraus  und  bestimmt  damit  den  Begriff 
des  Lebens.  Das  ist  sein  Vorzug  gegenüber  dem  vagen  Erlebnis- 
gerede. Aber  auch  ihm  fehlt  das  Prinzip  der  Auswahl,  um 
sinnvolles  und  sinnloses  Leben  von  einander  zu  scheiden.  Auch 
er  ist  daher,  wie  die  Erlebnisphilosophie  und  der  Historismus 
der  Lebensphilosophie,  in  Gefahr,  in  der  Fülle  des  Lebens  zu 
ersticken.  Aus  dem  Lebenschaos  wird  ein  Lebenskosmos  nur 
durch  einseitige  partikulare  Betrachtung,  also  kein  Kosmos,  der 
diesen  Namen  verdient,  keine  Weltanschauung,  und  mit  Rück- 
sicht auf  die  Lebensanschauung,  d.  h.  die  Wertprobleme,  kommt 
der  Bioloßismus  über  ein  Wertchaos  nicht  hinaus.  Gerade  die 
Herausarbeitung  des  Wertkosmos  aber  wäre  seine  Aufgabe,  falls 


1)  Weltgeschichtliche  Betrachtungen.    1905.    S.  33  und  265. 


—    141     — 

er  den  Anspruch,  wissenschaftliche  Klarheit  über  die  Lebens- 
anschauung zu  geben,  erfüllen  wollte.  Es  bleibt  schließlich  da- 
bei, daß  jeder  das  lebendig  nennt,  was  er  liebt,  und  unlebendig 
oder  tot,  was  er  nicht  leiden  mag.  Verzichtet  man  überhaupt 
darauf,  sinnvolles  und  sinnloses  Leben  zu  scheiden,  so  verzichtet 
man  damit  zugleich  auf  jede  Lebensanschauung,  und  das  wird 
gerade  der  lebendige  Mensch  nicht  wollen. 

Zarathustra  spricht:  ,,Ihr  habt  den  "Weg  vom  Wurm  zum 
Menschen  gemacht,  und  vieles  ist  in  Euch  noch  "Wurm."  Ist 
das  ein  Resultat  reiner  Lebensphilosophie?  Gewiß  nicht.  "Ver- 
steht man  unter  der  Beschwörung:  bleibt  der  Erde  treu,  das 
Verlangen,  daß  wir  uns  an  das  bloße  Leben  halten,  so  wird  man 
nicht  sagen  dürfen,  daß  im  Menschen  vieles  noch  Wurm  ist, 
sondern  daß  niemals  aus  ihm  etwas  anderes  als  Wurm  werden 
kann  und  soll.  Bei  dem  Versuch,  sich  auf  das  Leben  zu  be- 
schränken, muß  der  konsequente  Lebensphilosoph  zu  einem  Er- 
gebnis kommen,  welches  sich  in  die  Worte  Fausts  kleiden  läßt: 

,,Den  Göttern  gleich  ich  nicht!    Zu  tief  ist  es  gefühlt; 
Dem  Wurme  gleich  ich,  der  den  Staub  durchwühlt, 
Den,  wie  er  sich  im  Staube  nährend  lebt, 
Des  Wandrers  Tritt  vernichtet  und  begräbt." 

Für  den  Bioiogisten  Desteht  die  trostlose  Alternative:  Gott  oder 
Wurm.    Und  Götter  sind  wir  nicht. 

Aber  Würmer  sind  wir  auch  nicht,  so  gewiß  wir  zu  erkennen 
vermögen,  daß  Vieles  in  uns  noch  Wurm  ist.  Kein  Wurm  ver- 
steht sich  als  Wurm.  Sich  als  Wurm  erkennen,  heißt:  mehr  als 
Wurm  sein,  und  jede  Philosophie  ist  daher  gerichtet,  die  das, 
worin  wir  nicht  Wurm  sind,  nicht  zu  verstehen  vermag.  Der 
Biologismus  ist  dazu  außerstande.  Sein  aufsteigendes  Leben 
hilft  bei  dem  Versuch  einer  Deutung  des  Lebens  nichts.  Soll 
das  Aufsteigen  nicht  leere  Phrase  sein,  so  muß  man  die  Werte 
kennen,  an  denen  Aufstieg  und  Niedergang  des  Lebens  zu  messen 
sind.  Lehnt  man  das  ab,  so  bleibt  an  der  Philosophie  des  auf- 
steigenden Lebens  nicht  viel  Philosophie.  Sie  ist  dann,  so  heftig 
ihre  Vertreter  sich  dagegen  sträuben  mögen,  lediglich  eine  der 
vielen  Formen  des  Skeptizismus  und  Nihihsmus.  Das  zeitgemäße 
Lebensgewand  sollte  darüber  Niemanden  täuschen,  der  Klarheit 
der  Begriffe  anstrebt. 


—     142    — 

Das  Wertproblem,  auf  das  wir  stoßen,  verfolgen  wir  in 
positiver  Richtung  nicht  weiter.  Nur  daß  wir  überhaupt  zu 
einem  Wertproblem  kommen,  ist  hervorzuheben.  Im  übrigen 
beschränken  wir  uns  auf  das  Negative.  Schon  dies  deutet  darauf 
hin,  daß  wir  über  die  Philosophie  des  bloßen  Lebens  hinaus- 
getrieben werden  zu  einer  Lebensanschauung,  die  das  Leben 
zu  etwas  Anderem  als  dem  Leben  selbst  in  Beziehung  setzt  und 
daher  mehr  als  reine  Lebenslehre  ist. 

Auch  hier  zeigt  sich,  wie  bei  der  Kritik  der  intuitiven  Lebens- 
philosophie: Leben  ist  das  Eine,  über  das  Leben  philosophieren 
ist  das  Andere.  Philosophie  des  Lebens  kann  niemals  nur 
Leben  sein.  Diese  Einsicht  ist  Voraussetzung  für  ein  Interesse 
an  den  philosophischen  Lebensproblemen.  Damit  gewinnt  auch 
die  Negation  positive  Bedeutung.  Das  Leben  ist  zuerst  einmal 
fragwürdig  zu  machen,  d.  h.  man  muß  sehen,  daß  aus  ihm 
selbst  eine  Antwort  auf  die  Lebensfragen  nicht  zu  gewinnen  ist. 
Darüber  hilft  die  Liebe  zum  Leben  nicht  hinweg.  Das,  worin 
die  Lebensphilosophie  unserer  Zeit  ihre  Stärke  sucht,  die  Be- 
schränkung auf  das  Leben  selbst,  ist  auch  mit  Rücksicht  auf 
die  Wertprobleme  gerade  das,  worin  sie  als  Philosophie  des 
Lebens  scheitern  muß. 


Neuntes  Kapitel. 

Der  Kampf  gegen  das  System. 

,, Natürlichem  genügt  das  Weltall  kaum, 

Was  künstlich  ist,  verlangt  geschlossnen  Raum". 

Homunkulus. 

Um  noch  einmal  alles  zusammen  zu  fassen,  denken  wir  wie- 
der an  die  verschiedenen  Momente,  die  das  Wesen  der  Philo- 
sophie im  Unterschied  von  den  SpezialWissenschaften  kenn- 
zeichnen, und  fragen,  ob  in  einem  der  genannten  vier  Punkte 
die  moderne  Lebensauffassung  ihren  Anspruch,  Philosophie  zu 
sein,  rechtfertigt. 

Der  universalen  Tendenz  des  philosophischen  Denkens 
wird  sie  nie  genügen.  Sie  bleibt  entweder  bei  dem  zwar  um- 
fassenden, aber  nichtssagenden  Begriff  des  Erlebnisses,  oder  sie 


—    143    — 

beschränkt  sich  auf  einen  Teil  der  Welt,  den  sie  nicht  so  zu 
denken  vermag,  daß  er  sich  an  die  Stelle  des  Weltalls  setzen 
läßt.  Von  einer  sowohl  begrifflich  bestimmten  als  auch  wahr- 
haft umfassenden  Weltanschauung  kann  also  selbst  dann  keine 
Rede  sein,  wenn  Welt  nur  das  Weltobjekt  heißt.  Ferner  erweist 
sie  sich  unfähig,  die  Wert  probleme  in  Angriff  zu  nehmen  und 
auf  Grund  einer  Wertlehre  den  Sinn  des  menschlichen  Lebens 
zu  deuten.  Lebensanschauung  im  engeren  Sinn  gibt  sie  dem- 
nach ebenfalls  nicht.  Ja,  sie  verkennt  die  Eigenart  und  den 
Eigenwert  zumal  der  Kulturwerte,  indem  sie  alle  in  Lebenswerte 
auflöst.  Vollends  kann  sie  nicht  daran  denken,  das  Problem 
des  Verhältnisses  von  Zeit  und  Ewigkeit  auch  nur  zu 
stellen,  geschweige  denn  zu  lösen.  Es  gibt  hier  für  sie  kein 
Problem.  Sie  haftet  ihrem  Wesen  nach  am  endlichen,  zeitlichen 
Sein,  und  das  ist  mit  universalem  Denken  unverträglich.  So 
zeigt  diese  angeblich  philosophische  Bewegung  in  jeder  Hinsicht 
einen  unphilosophischen  Charakter. 

Es  bleibt  nur  der  vierte  Punkt  noch  zu  erörtern,  den  wir 
hervorhoben:  die  Tendenz,  jedes  System  als  starr  und  un- 
lebendig abzulehnen.  Von  ihr  wird  die  Lebensphilosophie  unserer 
Zeit  durch  die  Darlegung,  daß  sie  die  philosophischen  Haupt- 
probleme zu  lösen  unfähig  ist,  nicht  abzubringen  sein.  Im 
Gegenteil  1  Gerade  dem  Hinweis  auf  ihre  Prinzipienlosigkeit  und 
der  Forderung  nach  einem  festen  Fundament  von  zusammen- 
hängenden Begriffen  wird  sie  vielmehr  den  Satz  entgegenstellen, 
es  dürfe  von  ihr,  weil  sie  lebendige  Philosophie  sein  wolle,  ein 
starres  System  nicht  erwartet  werden,  und  dann  kann  sie  weiter 
gehen  und  behaupten:  deswegen  sei  sie  auch  nicht  verpfHchtet, 
philosophische  Probleme  im  alten,  übhchen  Sinne  zu  stellen  oder 
zu  lösen.  Sie  sei  eben  die  neue  Philosophie,  lebendig  wie 
das  Leben  selbst,  und  daher  abhold  jedem  starren  Prinzip  und 
jeder  versteinernden  Festlegung. 

So  wehren  sich  in  der  Tat  die  Lebensphilosophen  oft:  die 
gegen  sie  gerichtete  Kritik  bedeute  eine  petitio  principii.  Sie 
gehe  mit  Unrecht  von  den  Voraussetzungen  aus,  welche  ein 
intuitives  und  lebendiges  Denken  nicht  anerkenne. 

Damit  scheint  sich  noch  einmal  die  Frage  zu  erheben,  ob 
die  Lebensphilosophie    nicht  doch  vielleicht    im  Recht  ist,  und 


-     144     - 

zwar  spitzt  sich  jetzt  alles  darauf  zu,  ob  die  Philosophie,  um 
wahrhaft  philosophisch  zu  sein,  die  Form  des  Systems  braucht, 
in  welches  das  Weltall  eingeht,  oder  ob  sie  ohne  System  aus- 
kommt. Will  man  kein  System  des  philosophischen  Denkens, 
dann  kann  man  sich  vielleicht  auch  mit  der  intuitiven  oder  der 
biologistischen  Behandlung  der  Probleme  als  einer  philosophischen 
zufrieden  geben. 

Gewiß  kann  man  das.  Wer  vermag  zu  bestimmen,  was 
Philosophie  sein  soll?  Man  kann  jede  beliebige  Kundgebung 
der  Liebe  zum  Leben  ,, Philosophie"  nennen  und  dann  ein  System 
der  Lebensphilosophie  als  unlebendig  von  sich  weisen. 

Aber  ist  dann  nicht  zugleich  jedes  universale  Denken 
abzulehnen,  und  zwar  sowohl  mit  Rücksicht  auf  das  Weltobjekt 
als  auch  mit  Rücksicht  auf  den  Menschen  und  seine  Stellung 
zur  Welt?  Für  uns  ergab  sich  die  Notwendigkeit  des  Systems 
aus  dem  philosophischen  Universalismus.  Wenn  mit  dem  System 
auch  der  Universalismus  fällt,  was  bleibt  dann  von  der  Philo- 
sophie noch  übrig? 

Die  Frage  ist  um  so  wichtiger,  als  zweifellos  der  Kampf 
gegen  das  System  der  modernen  Lebensphilosophie  viele  An- 
hänger verschafft  hat.  Manchem  ist  das  systematische  Denken 
in  hohem  Grade  unsympathisch,  und  es  lassen  sich  dagegen  die 
verschiedensten  Motive  geltend  machen.  Wir  sind  daher  genötigt, 
auch  die  Stellung  der  modernen  Lebensbewegung  zum  philo- 
sophischen System  grundsätzlich  zu  erörtern.  Damit  erst  ist  ihre 
Kritik  zum  Abschluß  zu  bringen. 

Um  jedem  Mißverständnis  vorzubeugen,  sei  zunächst  be- 
merkt, daß  der  Kampf  gegen  das  System  unwiderleglich  wird, 
sobald  man  ihn  von  einem  außerwissenschaftlichen  Standpunkt 
führt.  Wir  vertreten  keinen  einseitigen  Intellektualismus,  d.  h. 
wir  sind  weit  davon  entfernt,  den  Menschen  herabzusetzen,  der 
die  Welt  überhaupt  nicht  in  ihrer  Totalität  wissenschaftlich 
denken  will.  Bekämpft  jemand  also  das  System,  wie  z.  B. 
Kierkegaard  die  Philosophie  Hegels  um  der  „Existenz''  des  Den- 
kers oder  um  seiner  unsterblichen  Seele  willen,  so  läßt  sich  da- 
gegen mit  logischen  Gründen  nichts  machen.  Dann  wertet  er 
reUgiös,  und  dem  Theoretiker  bleibt  nichts  übrig,  als  diese  Wer- 
tung  aus    den  ihr   zugrunde    hegenden    religiösen    Werten     zu 


—    145     — 

verstehen.  Eine  Widerlegung  wird  sinnlos.  Auch  wenn  die 
Liebe  zur  Schönheit  den  Kampf  gegen  das  unanschauUche 
System  leitet,  ist  er  unanfechtbar.  Bedenkhcher  wird  es  schon, 
wenn  Nietzsche  den  Willen  zum  System  als  Mangel  an  Recht- 
schaffenheit bezeichnet.  Gegen  solche  enge  moralfanatische  Intole- 
ranz wird  der  wissenschaftliche  Mensch  sich  wehren  dürfen.  Aber 
auch  das  mag  hingehen. 

Ja,  sogar  wo  um  des  lebendigen  Lebens  willen  das  System 
bekämpft  wird,  kann  man  dafür  Verständnis  haben.  Man  wird 
dann  zwar  vom  theoretischen  Standpunkt  darauf  hinweisen  dürfen, 
daß  die  Liebe  zum  Leben  um  des  bloßen  Lebens  willen,  d.  h. 
die  Liebe  zum  Vegetieren,  etwas  sinnloses  ist,  weil  nur  Werte, 
die  mehr  als  Lebenswerte  sind,  dem  Leben  Wert  verleihen,  und 
daß  der  Prophet  des  bloßen  Lebens  sich  selbst  nicht  versteht, 
falls  er  glaubt,  das  Leben  um  des  bloßen  Lebens  willen  über 
alles  zu  stellen.  Doch  man  kann  schon  das  Einnehmen  eines 
theoretischen  Standpunktes  als  petitio  principii  bezeichnen,  und  so 
lange  der  Kampf  gegen  das  System  keine  wissenschaftlichen 
Gründe  ins  Feld  führt,  bleibt  er  stets  unwiderleglich.  Nur  soll 
der  Mensch,  der  ihn  führt  und  das  für  ,, Philosophie"  hält,  auch 
wissen,  daß  er  damit  auf  dem  Boden  einer  theoretisch  nie  zu 
l)egründenden  Weltanschauung  steht. 

Im  übrigen  hat  diese  Art  der  Antisystematik  für  die  Wissen- 
schaft kein  Interesse.  Die  Philosophie  wendet  sich  an  theo- 
retische Menschen  und  kann  sie  allein  überzeugen  wollen. 

Zugleich  ergibt  sich  daraus,  daß  die  Situation  sich  prinzipiell 
ändert,  sobald  der  Kampf  gegen  das  System  sich  auf  theoretische 
Gründe  stützt.  Diesen  Fall  haben  wir  allein  im  Auge.  Nur  er 
ist  für  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Lebensphilosophie 
von  Bedeutung.  Einen  solchen  Kampf  aber  führt  der  Biologis- 
mus  in  der  Tat.  Er  muß  ihn  führen,  denn  wenn  ihm  schon 
der  Begriff  als  einzelner  Begriff  um  seiner  Starrheit  willen  ver- 
werfhch  erscheint,  so  wird  er  sich  vollends  gegen  ein  System  von 
Begriffen,  die  in  festen  Verhältnissen  zu  einander  stehen,  als 
gegen  etwas  im  höchsten  Maße  Starres  und  Unlebendiges  wehren. 

Wir  wollen  das  Recht  hierzu  nun  nicht  im  Anschluß  an 
«inen  der  Lebensphilosophen  besprechen,  bei  dem  es  zweifelhaft 
ist,    ob  er  mit   seinen  Gedanken    nur  Wissenschaft    geben  will. 

E  i  c  k  e  T  t  ,  Pliilosophie  d    Lebens.  10 


—    146    — 

Wir  wollen  es  aber  auch  nicht  nur  im  allgemeinen,  sondern  an 
einem  besonderen  Fall  erörtern,  und  wir  wählen  zu  diesem  Zweck 
als  Beispiel  ein  Werk,  das  gar  nicht  beabsichtigt,  Lebensphilo- 
sophie zu  lehren,  sich  vielmehr  auf  einen  rein  theoretischen  oder 
betrachtenden  Standpunkt  stellt,  um  alle  Philosophie  im  alten 
Sinne,  die  sich  mit  Weltanschauungsproblemen  beschäftigt,  als 
,, prophetisch"  abzulehnen  ^).  Dabei  wird  sich  der  Einfluß  der 
philosophischen  Modeströmungen  besonders  deutlich  zeigen,  und 
weil  der  Kampf  gegen  das  System  hier  von  einem,  der  Absicht 
nach,  rein  theoretisch  Denkenden  geführt  wird,  kann  man  sich 
theoretisch  am  besten  mit  ihm  auseinandersetzen.  Wir  halten 
uns  an  Gedanken,  denen,  der  Absicht  nach,  unsere  petitio  principii 
zugrunde  liegt. 

In  seiner  ..Psychologie  der  Weltanschauungen"  verwirft 
Jaspers  jedes  starre  System  und  glaubt,  gerade  dadurch  der  rein 
betrachtenden_Wissenschaft  zu  dienen.  Daß  der  Forscher  nicht 
ohne  Begriffe  auskommt,  weiß  er  genau.  Ja,  es  geht  sogar  nicht 
ohne  Begriffssystematik.  Die  bloße  Aufzählung  führt  ins  End- 
lose. Wir  brauchen  Schemata  der  Auffassung.  Aber  wir  werden, 
um  der  ^Mannigfaltigkeit  des  Stoffes  gerecht  zu  werden,  mög- 
lichst viele  Gesichtspunkte  suchen  und  uns  hüten,  alles  unter 
dasselbe  Schema  zu  bringen.  Damit  ist  nicht  etwa  nur  der  An- 
fang der  Untersuchung  gemeint,  wogegen  nichts  zu  sagen  wäre, 
sondern  bei  dem  Wechsel  der  Schemata  soll  es  in  der  Wissen- 
schaft bleiben.  Jede  Systematik  wird  etwas  anderes  deutlicher 
zeigen:  jede  hat  irgendwie  recht  und  unrecht,  sobald  sie  sich  für 
die  allein  berechtigte  ausgibt. 

•  So  wird  die  Systematik  dem  System  entgegengestellt.  Syste- 
matik ist  unentbehrlich,  das  System  aber  ist  zu  bekämpfen. 
Es  besteht  die  Aufgabe,  immerfort  systematisch  zu  sein  und 
doch  zu  versuchen,  kein  System  zur  Herrschaft  kommen  zu 
lassen.  Es  besteht  die  Tendenz,  mit  der  Systematik  wieder 
das  System  zu  vernichten.   Man  sucht  die  Gesichtspunkte  lebendig 


1)  Karl  Jaspers,  Psychologie  der  Weltanschauungen, 
1919.  Vgl.  dazu  meine  Abhandlung:  Psychologie  der  Weltan- 
schauungen und  Philosophie  der  Werte.  Logos,  Bd.  IX.  S.  1  ff. 
Einen  Teil  der  dort  veröffentlichten  Ausführungen  habe  ich  in 
dies  Bucli  aufgenommen. 


—    147    — 

und  beweglich  zu  machen  und  das  Bewußtsein  zu  wecken,  daß 
es  auch  anders  geht.  Jede  Vollendung  muß  Verdacht  erw'ecken. 
Starrheit  darf  nicht  an  die  Stelle  von  Beweglichkeit  treten. 

Das  ist  der  ^Standpunkt  der  modernen  Lebensphilosophie. 
Nietzsche  würde  unbedingt  zustimmen,  wohl  auch  James  und 
manche  andere  Lebensphilosophen.  Hier  aber  tritt  der  Kampf 
gegen  das   System  als  Ergebnis  reiner  Betrachtung  auf. 

Ist  das  ein  theoretischer  Standpunkt?  Ist  das  reine  Be- 
trachtung? Warum  in  aller  Welt  soll  denn  alles  lebendig  sein? 
Warum  ist  Beweglichkeit  mehr  wert  als  Starrheit?  Der  Lebens- 
prophet mag  das  für  selbstverständlich  halten.  Dem  Forscher, 
der  nur  betrachten  will,  steht  solche  Parteinahme  nicht  an. 
Ja,  widerspricht  sie  nicht  seinem  Wesen?  Aus  der  Scheu  vor  Fest- 
legung kann  gewiß  unter  Umständen  auch  der  „Gewissenhafte 
des  Geistes",  also  der  theoretische  Mensch  reden.  Aber  darf 
diese  Gewissenhaftigkeit  bis  zur  Ablehnung  jedes  Systems  gehen, 
ohne  daß  damit  zugleich  die  Möglichkeit  einer  reinen  Theorie 
aufgehoben  und  die  Gewissenhaftigkeit  im  theoretischen  Interesse 
sinnlos  wird? 

Es  genügt  für  die  reine  Betrachtung,  zumal  wenn  sie  wie  in 
der  Philosophie  universal  sein  soll,  nicht,  daß  man  ein  unüber- 
sehbares Material  überhaupt  irgendwie  ordnet,  sondern  man 
muß  als  theoretischer  ^Mensch  die  eine  Ordnung  für  richtiger  als  die 
andere  halten,  und  diese  Ueberzeugung  setzt  voraus,  daß  es 
schließlich  eine  und  nur  eine  Ordnung  gibt,  die  uns  zwar 
unbekannt  sein  mag,  aber  doch  die  wahre  Ordnung  ist,  der  sich 
allmählich  anzunähern,  das  Ziel  aller  wissenschaftlichen  Ord- 
nungen bildet.  Der  Gegensatz  zwischen  Systematik  und  System 
ist  Auidurchführbar.  Die  Systematik  muß  im  Dienst  der  System- 
bildung stehen.  Ohne  diese  Voraussetzung  verliert  sie  wie  die 
reine  Betrachtung  überhaupt  jeden  theoretischen  Sinn. 

Insbesondere  wer  von  einer  ,, Vergewaltigung"  der  Lebens- 
inhalte tlurch  das  System  redet,  kann  das  nur  vom  Standpunkt 
einer  außerwissenschaftlichen  Weltanschauung,  d.  h.  zugunsten 
irgendwelcher  atheoretischen  Werte  und  Güter  tun.  In  den 
Mund  des  rein  betrachtenden  Menschen  gehört  das  Wort  nicht. 
Wer  theoretische  Vergewaltigung  des  Lebens  für  möglich  hält, 
für  den  gibt  es  eine  vom  erkennenden  Subjekt  unabhängige,  nach 

10* 


—    148    — 

anderen  als  theoretischen  Gesichtspunkten  geordnete  \Velt,  die 
er  sich  nicht  durch  die  Wissenschaft  zerstören  lassen  will.  Für 
den  theoretischen  Menschen,  der  sich  von  allen  außerwissenschaft- 
lichen Wertungen  freihält,  ist  die  Welt  beim  Beginn  seiner  Unter- 
suchung, also  unabhängig  von  jeder  Auffassung,  noch  gar  keine 
„Welt"  im  Sinne  eines  Kosmos,  eines  geordneten  Ganzen,  son- 
dern ein  Chaos,  dessen  Wiedergabe  faktisch  unmöglich  und,  wie 
wir  gesehen  haben,  im  theoretischen  Interesse  auch  nie  anzu- 
streben ist,  weil  sie  keine  Erkenntnisbedeutung  besäße,  selbst 
wenn  wir  sie  vollziehen  könnten.  Erst  durch  Formen  des  logi- 
schen oder  rationalen  Denkens  bringen  wir  unsere  Anschauungen 
in  die  theoretische  Sphäre.  Nicht  das  Chaos  oder  das  „Gewühl", 
das  uns  auffassungslos  gegeben  ist,  sondern  nur  ein  Kosmos, 
d.  h.  ein  Geformtes  oder  Geordnetes,  also  etwas  vom  Stand- 
punkte des  Chaos  schon  Vergewaltigtes,  kann  durch  die  theore- 
tische Auffassung  vergewaltigt  werden,  und  diese  angebliche 
Vergewaltigung  durch  das  System  bedeutet  lediglich  die  theore- 
tisch notwendige  Ersetzung  der  außerwissenschaftlichen  Formung 
der  Welt  durch  die  Wissenschaft,  die  Umwandlung  einer  ästhe- 
tischen oder  ethisch'en  oder  religiösen  oder  „lebendigen'-  Welt  in 
den  theoretisch  begriffenen  und  geformten  Kosmos. 

Solcher  Umwandlung  hat  der  betrachtende  Mensch,  der  nur 
forschen  will,  sich  freiwillig  zu  beugen.  Das  heterogene  Conti- 
nuum  des  bloßen  Erlebnisstroms,  dem  die  moderne  Lebensphilo- 
sophie sich  anvertrauen  möchte,  verdient  keine  Schonung.  Es 
ist  für  den  wissenschaftlichen  Philosophen  nur  etwas,  das  über- 
wunden werden  soll,  damit  ein  theoretisch  geordnetes  Reich  von 
Begriffen,  d.  h.  ein  System  der  Philosophie  entsteht.  So  müssen 
wir  bei  der  Forderung,  die  wir  im  ersten  Kapitel  an  die  univer- 
sal denkende  Philosophie  gestellt  haben,  aus  theoretischen  Grün- 
den stehen  bleiben.  Sie  hat  die  Welt  in  ihrer  Totalität  als  Kos- 
mos zu  erfassen,  und  nur  durch  das  System  kommt  sie  vom 
theoretischen  Chaos  zum  theoretisch  begriffenen  Kosmos.  Der 
aber  bildet  das  unvermeidliche  Ziel  jeder  universalen  Wissen- 
schaft. So  ist  gerade  mit  der  reinen  Betrachtung  der  „Wille 
zum  System"  notwendig  verknüpft. 

Wohl  kann  auch  aus  theoretischen  Motiven  Abneigung  gegen 
eine  gewisse  Art  von  Systemen  entstehen.    Der  Philosoph  wird 


—    149    — 

sich  vor  jeder  voreiligen  Festlegung  hüten,  weil  er  darin  Ge- 
fahren für  die  Vollständigkeit  seines  Denkens  fürchtet.  Doch 
bedeutet  das  nur  die  Bekämpfung  eines  unzureichenden  Systems 
zugunsten  eines  möglichst  umfassenden  und  vollständigen,  und 
daher  hat  die  Vorsicht  gegenüber  einem  Gedankengebilde,  das 
sich  zu  früh  abschließt,  mit  dem  Kampf  gegen  das  System 
überhaupt  nicht  das  Geringste  gemein.  Es  bleibt  vielmehr  unent- 
behrliche Voraussetzung  jedes  rein  wissenschaftlich  philosophi- 
schen Denkens,  daß  irgend  ein  geordnetes  Ganzes  von  Begriffen 
und  Urteilen  unbedingt  gilt  für  den  Inbegriff  der  Lebensinhalte, 
den  wir  alsWelt  wissenschafthch  bearbeiten,  und  dazu  kommt  ferner 
die  Voraussetzung,  daß  wir  als  theoretische  Menschen  auch  im- 
stande sind,  den  Gehalt  dieses  Ganzen  von  Begriffen  und  Ur- 
teilen oder  das  System  immer  mehr  zu  erfassen  und  in  sinn- 
vollen Sätzen  niederzulegen.  Gibt  es  für  uns  einen  solchen  Weg 
vom  Chaos  der  bloßen  Lebensinhalte  zum  Kosmos  der  im  System 
geformten  Lebensinhalte  nicht,  so  verliert  die  wissenschaftliche 
Tätigkeit  des  Philosophen  jeden  theoretischen  Eigenwert.  Sie 
ist  dann  nur  noch  als  Mittel  zur  Realisierung  außerwissen- 
schaftlicher  Ziele  zu  verstehen,  also  entweder  in  den  Dienst  der 
Lebenserhaltung  oder  irgend  eines  anderen  atheoretischen  Zweckes 
zu  stellen.  Der  Glaube  daran  aber  bedeutet  eine  antitheoretische 
Weltanschauung,  die  mit  dem  Ideal  einer  rein  betrachtenden 
Philosophie  sich  nicht  verträgt. 

So  ist  mit  dem  Willen  zum  theoretischen  Verhalten  gegen- 
über der  Welt  eine  Ueberzeugung  notwendig  verknüpft,  die  sich 
gegen  das  Ideal  der  All-Lebendigkeit  richtet.  Der  nur  betrachtende 
Forscher  muß  die  Form  des  Systems,  das  unabhängig  von  ihm 
gilt,  als  etwas  Festes  oder  Starres  denken  im  Gegensatz  zum  kon- 
tinuierhchen  Fluß  und  zur  Beweglichkeit  der  Lebensinhalte. 
Auch  deshalb  kann  er  nicht  so  für  das  Bewegliche  Partei  nehmen, 
daß  er  alles  Starre  um  seiner  Starrheit  willen  bekämpft.  Damit 
kommen  wir  zu  demselben  Ergebnis,  zu  dem  uns  schon  die  Kritik 
Simmeis  geführt  hatte.  Nur  ist  es  jetzt  über  den  einzelnen  Be- 
griff oder  die  einzelne  Form  hinaus  auf  das  System  von  Be- 
griffen oder  Formen  erweitert. 

Doch  der  Biologismus  wird  seine  Waffen  noch  immer  nicht 
strecken,  sondern  den  Willen  zum  System,  der  das  notwendige 


—    150    — 

a  priori  jedes  theoretischen  Nachdenkens  über  die  Welt  bildet, 
aus  seinen  Lebensprinzipien  heraus  zu  erklären  suchen  und  ihn 
damit  zugleich  ablehnen  oder  ihm  wenigstens  nur  eine  relative 
Berechtigung  zusprechen,  die  gegenüber  der  absoluten  Berechti- 
gung des  Lebensstandpunktes  zurückzutreten  habe.  Auch  diese 
biologistische  Theorip  wird  von  Jaspers  vertreten,  dervon  Nietzsche 
und  ebenso  von  Kierkegaard  nur  betrachtende  Psj^chologie  zu 
entnehmen  glaubt,  mit  seinem  Kampf  gegen  das  System  aber 
völlig  unter  dem  Einfluß  von  Nietzsclies  biologistisch  orientierter 
Weltanschauung  steht.  Da  sie  bei  ihm  als  reine  Theorie  auf- 
tritt, können  wir  an  der  Hand  seiner  Gedanken  schließlich  auch 
zu  ihr  kritisch  Stellung  nehmen. 

Jaspers  sucht  die  Weltanschauungen  als  ,,  Geistestypen" 
unter  verschiedene  Klassen  zu  bringen.  Er  fragt,  wo  der  Mensch 
seinen  ,,Halt"  habe,  und  dabei  ergeben  sich  drei  Älöglichkeiten. 
Entweder  fehlt  es  an  jedem  Halt,  dann  entsteht  der  Typus  des 
Skeptizismus  und  Nihilismus.  Oder  der  Mensch  hat  einen  Halt, 
dann  findet  er  ihn  entweder  im  Begrenzten  oder  im  Unend- 
lichen. Das  Unendliche,  das  ist  das  „Lebendige".  Der  Halt  im 
Begrenzten,  das  ist  das  starre  System,  und  das  nennt  Jaspers 
echt  biologistisch  das  ,, Gehäuse".  Er  sieht  in  ihm  die  Form,  die 
das  Leben  zwar  hervorbringen  muß,  von  der  es  sich  aber  wieder 
zu  befreien  hat. 

Die  psychologische  Betrachtung  weiß,  daß  wir  nur  in  Ge- 
häusen leben  können.  Es  bleibt  dem  Menschen  nichts  anderes 
übrig,  als  Systeme  zu  bilden.  „Wie  der  Stengel  der  Pflanze, 
um  leben  zu  können,  einer  gewissen  gerüstbildenden  Verholzung 
bedarf,  so  bedarf  das  Leben  des  Rationalen."  Dann  jedoch  er- 
fahren wir:  „wie  aber  die  Verholzung  schließUch  dem  Stengel 
das  Leben  nimmt,  und  (ihn)  zum  bloßen  Apparat  macht,  so  hat 
das  Rationale  die  Tendenz,  die  Seele  zu  verholzen." 

Da  haben  wir  die  biologistische  Ableitung  für  die  Notwen- 
digkeit des  philosophischen  Systems  in  reinster  Gestalt  und  zu- 
gleich die  Herabsetzung  der  Systeme  zu  toten  Schalen  oder  Häu- 
ten, die  wieder  abgeworfen  werden  müssen.  Die  Schlange,  die 
sich  nicht  häuten  kann,  geht  zugrunde,  sagt  Nietzsche.  Bis- 
weilen erfolgt  die  Sprengung  des  Gehäuses  nach  Jaspers  plötz- 
lich.    In  einem  Moment  fliegt  der  Schmetterling  aus  der  Puppe. 


—    151    — 

In  anderen  Fällen  wird  die  Puppe  durchlöchert,  der  Weg  gesehen, 
aber  ruhig  gewartet,  bis  das  positive  Leben  von  selbst  und  ohne 
Gewaltsamkeit  die  allerletzten  Reste  des  früheren  Gehäuses  ver- 
schwinden läßt. 

Das  Prinzip  dieser  Deutung  des  Systems  der  Philosophie, 
auf  Grund  deren  jedes  System  aus  theoretischen  Motiven  abge- 
lehnt wird,  erinnert  an  den  Gedanken  von  Simmel,  der  uns  be- 
schäftigt hat.  Das  Leben  schafft  immer  von  neuem  Formen, 
um  sie  wieder  zu  zerstören.  Aber  Simmel  weiß,  daß  er  damit 
Metaphysik  treibt.  Bei  Jaspers  tragen  diese  Lehren  ein  biolo- 
gistisches  Gepräge,  und  insofern  kommen  sie  hier  von  neuem  in 
Betracht.  Die  Systeme  werden  zu  verstehen  gesucht  auf  Grund 
ihrer  biologischen  Funktionen.  Das  ist  das  Prinzip  des  biologi- 
stischen  Pragmatismus  und  erinnert  an  James.  Systeme  stellen  sich 
dementsprechend  als  eine  Not  des  Lebens  dar,  aus  der  unter 
keinen  Umständen  eine  Tugend  des  ,, lebendigen"  Menschen  ge- 
macht werden  darf.  Man  kann  sie  leider  nicht  entbehren,  aber 
jedes  ist  wieder  abzuwerfen,  damit  es  einem  neuen  Platz  macht. 
So  will  es  die  Lebendigkeit  des  Lebens,  und  der  Standpunkt 
des  Lebens  erweist  sich  jedem  Standpunkt  eines  Systems  als 
übergeordnet.  Das  scheint  die  theoretische  Rechtfertigung  der 
antisystematischen  Lebensphilosophie  durch  das  biologistische 
Prinzip. 

Wieder  müssen  wir  fragen:  ist  das  ein  wissenschaftlicher 
Standpunkt?  Der  Forscher,  der  den  Eigenwert  wahrer  Ge- 
danken voraussetzt  und  nur  dadurch  zum  theoretischen  Forscher 
wird,  daß  er  es  tut,  wird  die  biologistische  Erklärung,  für  die  das 
System  Schale  oder  Muschel  oder  Schlangenhaut  ist,  nie  mitmachen 
können.  Zunächst  muß  er  sich  vor  der  darin  liegenden  Ver- 
wechslung hüten,  die  geschaffene  Kultur  erzeugnisse,  deren 
Bedeutung  gerade  in  ihrer  Festigkeit  und  Dauer  besteht,  mit 
abgestorbenen  Natur  produkten  gleichsstzt,  die  wieder  abzu- 
Averfen  sind.  Der  Mensch,  der  Weltanschauung  hat  und  über 
sie  zur  wissenschaftlichen  Klarheit  zu  kommen  sucht,  ist  ein 
soziales  und  geschichtliches  Wesen.  Die  Menschheit  hat  für  ihre 
Weltanschauungen  ,, Gedächtnis",  und  ein  Teil  dieses  Gedächt- 
nisses ist  die  wissenschafthche  Philosophie.  Der  Kulturmensch 
lebt  nicht  wie  das  einzelne,  bloß  „natürliche"  Lebewesen,  dem 


—    152    — 

das  Gehäuse  von  selbst  wächst,  und  das  es  wieder  abwirft.  Er 
findet  eine  Weltanschauung  als  Erbe  ssiner  Väter  vor,  nimmt 
sie  auf,  bleibt  entweder  bei  ihr  stehen  oder  bildet  sie  um,  und 
wenn  die  Weltanschauungen  sich  auch  von  Generation  zu  Gene- 
ration ändern,  so  werden  sie  doch  dabei  zugleich  weiter  ausge- 
staltet und  jedenfalls  in  ihrer  Totalität  niemals  so  abgeworfen 
wie  eine  Schlangenhaut. 

Das  gilt  nicht  einmal  von  den  außerwissenschaftlichen  Welt- 
anschauungen, und  vollends  wird  die  biologistische  Erklärung 
sinnlos  gegenüber  den  Bestrebungen  der  wissenschaftlichen  Philo- 
sophie, die  darauf  ausgeht,  über  das  Ganze  der  Welt  zur  theo- 
retischen Klarheit  zu  kommen.  Die  Ansichten  und  Ueberzeu- 
gungen  der  wissenschaftlichen  Philosophen  von  Welt  und  Leben 
sind  Glieder  eines  geschichtlichen  Zusammenhanges,  der  sich 
nahezu  kontinuierlich  durch  zwei  und  ein  halbes  Jahrtausend  hin 
erstreckt.  Die  Weltanschauungen  von  ,>Müller  und  Schulze", 
die  mit  oder  ohne  Fühlung  mit  der  wissenschaftlichen  Philoso- 
phie sich  aus  persönhchen  Erfahrungen  bilden,  kann  man  allen- 
falls wie  Naturprodukte  behandeln,  welche  mit  ihren  Trägern 
wachsen  und  wieder  zugrunde  gehen,  ohne  bleibende  Spuren  zu 
hinterlassen  und  andere  Weltanschauungen  zu  beeinflussen.  Von 
ihnen  gibt  es  auch  eine  generahsierende  Auffassung,  die  ihre 
Typen  ordnet  wie  die  Naturwissenschaft  die  Typen  der  Organis- 
men, und  bei  der  Darstellung  solcher  Weltanschauungen  kann 
man  vielleicht,  wenn  auch  mit  Vorsicht,  biologische  Analogien 
verwenden.  Es  mag  vorkommen,  daß  jemand  aus  Lebensangst 
sich  in.  ein  fremdes  System  wie  in  ein  Gehäuse  verkriecht. 

Die  Weltanschauungen  der  großen,  selbständigen,  geschicht- 
lich bedeutsamen  Denker  aber,  die  sie  im  bewußten  Zusammen- 
hang mit  der  Vergangenheit  auf  Grund  der  Lehren  ihrer  Vor- 
gänger ausgestaltet  haben,  kann  man  nur  insofern  mit  Natur- 
produkten wie  Gehäusen  vergleichen,  als  man  dabei  die  unverein- 
baren Gegensätze  zwischen  beiden  hervorhebt.  Der  biolo- 
gistische Naturalismus  ist  hier  wie  überall  außerstande,  Er- 
scheinungen des  geschichtlichen  Kulturlebens  in  ihrem  Werden 
und  Vergehen  zu  begreifen.  Ist  Spinozas  System  ein  „Gehäuse"? 
Hier  redet  sogar  Nietzsche  von  ,, heiligem  Land".  Und  Kants 
Kritiken?     Ihnen   gegenüber  merkt    Jaspers   selbst,    daß   seine 


—    153    — 

Theorie  nicht  stimmen  will.  Er  nennt  sie  „riesenhafte  Frag- 
mente". Wenn  dies  Wort  hier  passen  soll,  wer  hat  dann  über- 
haupt noch  ein  System?  Wir  kommen  ins  Gebiet  reiner  Will- 
kür.    Die  Gehäusetheorie  widerlegt  sich  selbst. 

Aber  auch  abgesehen  davon  darf  man  das  von  einem  Denker 
erdachte  System  nicht  mit  einem  verknöcherten  Gehäuse  ver- 
gleichen. Auch  der  Biologist  kann  das  nicht,  ohne  seine  eigenen 
Theorien  damit  sinnlos  zu.  machen.  Das  widerspricht  dem 
„Geist"  oder  dem  Sinn,  aus  dem  heraus  ein  solches  Gebilde  ent- 
springt, und  muß  daher  sein  inneres  Wesen  völhg  verfehlen. 
Falls  jemand  nach  Bildern  sucht  für  die  Weltanschauung,  die  er 
sich  zurecht  legt,  wird  er  auf  das  Kulturleben  blicken  und  von 
einem  Haus  reden,  das  er  sich  baut,  um  als  theoretischer  Mensch 
in  ihm  zu  wohnen,  das  er  braucht,  um  aus  ihm  hinauszuschauen 
auf  die  Welt,  die  er  betrachten  will,  und  das  fest  auf  Prinzipien 
ruhen  muß,  wenn  die  Stürme  des  Lebens  und  der  Leiden- 
schaften es  umbrausen.  Er  wird  ein  Haus  bauen  wollen,  das 
so  lange  dauert  wie  möglich,  und  an  dem  die  Nachwelt  weiter- 
bauen kann.  Dazu  braucht  er  Steine,  die  hart  und  rechtwinklig 
behauen  sind,  d.  h.  fest  bestimmte  Begriffe,  mit  denen  er  der 
schwankenden  Erscheinung,  die  die  bloße  Anschauung  ihm  bietet, 
Herr  wird.  Er  kann  theoretisch  nicht  ,, leben"  ohne  festes 
Fundament  und  sichere  Prinzipien. 

Wollte  er  dagegen  seine  Gedankenarbeit  und  die  Welt- 
anschauung, die  er  sich  schafft,  biologistisch  als  „Verholzung" 
ansehen,  so  müßte  sie  für  ihn  jeden  Sinn  verlieren.  Nie  wird 
er  sich  als  theoretischer  Denker  in  ein  finsteres  Gehäuse  ver- 
kriechen und  gegen  das  lebendige  Leben  absperren,  sondern  da- 
für sorgen,  daß  sein  Haus  der  Sonne  und  dem  ]\Iond  ebenso  wie 
den  frischen  Winden  des  Lebens  offen  steht,  und  daß  es  Fenster 
hat,  die  ihm  den  Blick  eröffnen  über  das  weite  Land.  WiJl  der 
Biologismus  ihm  einreden,  seine  rationalen  Gedanken  denke  er 
nur,  um  sich  eine  schützende  Schale  wachsen  zu  lassen,  dann 
lacht  er  ihn  fröhlich  aus.  Die  aus  spezialwissenschaftlichen  Ge- 
sichtspunkten erwachsenden  biologistischen  Theorien  erreichen 
diese  Probleme  in  keiner  Hinsicht.  Sie  werden  zu  wirklichkeits- 
fremden, „toten"  Konstruktionen  und  können  nur  als  Ver- 
fälschung des  Sinnes  der  Systembildung  gelten,  der  jedem  syste- 


—    154    — 

matisch  Denkenden  aus  eigenem  unmittelbarem  „Erleben"  heraus 
vertraut  und  über  jeden  Zweifel  erhaben  ist.  Der  Biologist, 
soweit  er  theoretisch  denkt,  mißversteht  sich  selbst,  wenn  er 
sein  eigenes  Denken  glaubt,  biologisch  fassen  zu  können.  Er 
will  in  Wahrheit  etwas,  das  in  keine  biologistische  Kategorie 
eingeht,  denn  so  will  es  das  Pathos  der  reinen  Betrachtung  oder 
der  Wissenschaft,  und  so„will"  er  selbst  es  als  theoretischer  Mensch, 
auch  wenn  er  darüber  keine  Klarheit  hat.  Die  biologistische 
Betrachtung,  die  es  anders  will,  kann  theoretisch  nicht  bestehen, 
und  darauf  allein  kommt  es  in  der  Wissenschaft  an. 

In  Zeiten,  in  denen  Systeme  sklavisch  nachgebetet  werden, 
hat  es  freilich  einen  guten  Sinn,  auch  das  Recht  der  Bewegung 
und  des  Lebens  zu  preisen,  und  davon  wird  noch  zu  reden  sein, 
wenn  wir  von  dem  Recht  der  Lebensphilosophie  sprechen.  Das 
ist  dann  sozusagen  eine  Angelegenheit  der  wissenschaftlichen 
,,Pohtik".  Unsere  Zeiten  aber,  in  denen  die  Lebensphilosophie 
Mode  ist,  fördern  zu  einem  so  gericliteten  politischen  Verhalten 
nicht  auf.  Angesichts  der  Erweichung  aller  Begriffe,  die  man 
„lebendig"  zu  machen  sucht,  und  der  Lebensangst  vor  dem 
System  wird  der  theoretische  Mensch  nicht  mit  dem  großen 
Lebensstrom  schwimmen  wollen.  Die  wissenschaftliche  ,,  Substanz" 
ist  da  bei  denen,  die  bauen  können  oder  es  wenigstens  versuchen. 

Man  mag  auch  diesen  Standpunkt  eine  „Weltanschauung" 
nennen  und  ihn  damit  nicht  als  „wissenschaftlich"  anerkennen. 
Doch  stecken  in  ihm  nur  die  Voraussetzungen,  die  kein  Theo- 
retiker entbehren  kann.  Hier  steht  eben  die  t  h  e  o  r  e  t  i  s  c  h  e 
Weltanschauung,  die  das  System  braucht,  gegen  die  a  n  t  i  t  h  e  o- 
r  e  t  i  s  c  h  e  ,  der  es  unsympathisch  oder  gar  verhaßt  ist,  und  der 
theoretische  INIensch  darf,  falls  er  sich  selbst  versteht,  nur  .für 
die  Weltanschauung  Partei  ergreifen,  innerhalb  welcher  die  reine 
Theorie  einen  Sinn  hat.  Als  wissenschaftlicher  Standpunkt  sind 
daher  die  Bestrebungen  der  Lebensphilosophie,  die  das  syste- 
matische Denken  biologistisch  zu  erklären,  das  System  als  Ge- 
häuse zu  kennzeichnen  und  dainit  dem  Leben  gegenüber  zu- 
gleich herabzusetzen  suchen ,  in  sich  widerspruchsvoll.  Der 
Widerspruch  aber  ist  für  jeden  wissenschaftlichen  Standpunkt 
„tötlich". 

War   es  nötig,,    auch    solche    Selbstverständlichkeiten    aus- 


—    155    — 

drücklich  zu  sagen?  Heute  ist  alles  Denken  theoretisch  so 
„lebendig"  und  „beweglich"  und  damit  so  erweicht,  daß  man 
logisch  kaum  mehr  treten  kann.  Die  Modephilosophie  des  Lebens 
wird  bisweilen  zum  Lebenssumpf,  und  darin  gibt  es  dann  nur 
noch  Froschperspektiven.  Da  gilt  es  zunächst  einmal,  nüchtern 
erkenntnistheoretisch  und  methodologisch  Wege  und  Brücken  zu 
bauen,  auf  denen  das  Material  zur  Errichtung  von  festen  theo- 
retischen Häusern  herbeizuschaffen  ist,  zu  Gebäuden  mit  möglichst 
hohen  Türmen,  die  standhalten  und  einen  weiten  Ausblick  ge- 
statten. Weil  man  nur  von  ihnen  aus  die  Welt  schauen  und 
überschauen  kann,  und  weil  das  doch  wohl  immer  die  Aufgabe 
des  theoretischen  Menschen  bleibt,  kommt  alles  auf  das  feste 
Bauen  und  auf  klare  Prinzipien  an.  Als  Forscher  haben  wir 
das  Leben  begrifflich  zu  beherrschen  und  zu  befestigen  und 
müssen  daher  aus  der  bloß  lebendigen  Lebenszappelei  heraus 
zur  systematischen  Weltordnung.  Deswegen  ist  die  moderne 
Lebensphilosophie,  die  das  nicht  einmal  wollen,  geschweige  denn 
leisten  kann,  wissenschaftlich  zu  bekämpfen.  Jeder  Versuch, 
ein  System  der  Philosophie  zu  errichten,  muß  sich  zunächst 
gegen  sie  wenden,  damit  das  Feld  frei  wird  für  das  positive 
Schaffen.  Die  Lebensangst  vor  dem  System  darf  nicht  in  die 
wissenschaftlichen  ,, Prinzipien"  hineingeraten.  Wenn  dem  Bio- 
logismus das  passiert,  ist  er  nicht  nur  unphilosophisch,  sondern 
wird  philosophiefeindlich,  also  gewiß  keine  Lebens  p  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e. 
Damit  ist  der  letzte  Anspruch,  den  die  Modebewegung 
unserer  Zeit  erheben  kann,  um  ihre  „Prinzipien"  zu  retten,  für 
den  theoretischen  Menschen  als  hinfällig  durchschaut.  Diese 
Philosophie  behält  nichts  mehr  übrig,  was  als  durchgeführte 
Philosophie  im  positiven  Sinne  gelten  kann.  Unsere  Kritik, 
soweit  sie  auf  eine  Verneinung  der  zeitgemäßen  Strömungen 
hinauskommt,  ist  also  abgeschlossen.  Es  bleibt  nur  noch  die 
Frage,  ob  trotzdem  die  Lebenstendenz  nicht  Bedeutung 
auch  für  die  Philosophie  besitzt. 


—    156    — 

Z  e  h  n  t  e  s  K  ap  i  t  e  1. 

Leben  und  Kultur. 

,,Und  setzet  ihr  nicht  das  Leben  ein, 
Nie  wird  eu;  h  das  Leben  gewonnen  sein." 

Chor. 

Ehe  wir  uns  jedoch  zu  dieser  letzten  Frage  wenden,  gehen 
wir  einen  Schritt  in  verneinender  Richtung  w'eiter,  um  das  Ver- 
hältnis von  Leben  und  Kultur  noch  in  anderer  Hinsicht  klar 
zu  stellen.  Es  ist  nicht  allein  unmöglich,  die  Kulturwerte  positiv 
als  Lebenswerte  zu  verstehen,  sondern  die  Kultur  muß  sogar 
in  ein  negatives  Verhältnis  zum  Leben  gebracht  werden.  Erst 
dadurch  tritt  ganz  zutage,  wie  unzureichend  die  Philosophie 
des  bloßen  Lebens  ist.  Das,  Bedürfnis  nach  einer  echten  Philo- 
sophie des  Lebens  wird  sich  vielleicht  dann  noch  stärker  regen. 

Gewiß  haben  wir  das  Leben  als  Bedingungsgut  hoch  zu 
stellen  und  jede  Lehre  kulturfeindlich  zu  nennen,  die  auf  Lebens- 
vernichtung ausgeht.  Dennoch  kann  der  allein,  welcher  die 
Lebendigkeit  auch  in  sich  zurückzudrängen  vermag,  ein  Kultur- 
mensch genannt  werden,  und  erst  dort  gibt  es  daher  objektive 
Kulturgüter,  wo  sie  zur  Lebendigkeit  des  Lebens  in  einer  Art 
von  Gegensatz  stehen.  L'm  es  schroff  auszudrücken,  indem  war 
dabei  das  Wort  so  gebrauchen,  wie  die  Lebensphilosophie  es 
benutzt:  man  muß  das  Leben  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
„töten",  um  zum  Kulturleben  mit  Eigenwerten  zu  kommen. 
Was  dies  anscheinend  paradoxe  Wort  sagen  will,  sei  wenigstens 
an   einigen  Beispielen  erläutert. 

Selbstverständlich  dürfen  wir  dabei  das  Wort  Leben  nicht 
in  dem  umfassendsten  Sinne  nehmen,  nach  dem  alles,  was  wir 
„erleben",  schon  Leben  heißt,  denn  wir  „leben"  auch  als  Kultur- 
menschen, und  es  werden  alle  Kulturgüter  mit  ihren  Werten 
von  uns  „erlebt".  Wie  im  Biologismus  neuester  Richtung  darf 
„Leben"  jetzt  nar  im  Gegensatz  zum  Toten  gebracht  werden 
für  das  lebendige,  wachsende,  vitale  Leben,  wie  wir  am  besten 
sagen  werden,  wo  die  Vieldeutigkeit  des  Wortes  „lebendig"  zu 
Unklarheiten  führt,  und  zwar  ist  diese  Scheidung  in  ein  Leben 
im  weiteren  und  ein  lebendiges,  vitales  Leben  im  engeren  Sinne 
sowohl  notwendig  mit  Rücksicht  auf  das  Verhalten  des  Menschen 


-    157    - 

zu  einem  Kulturgut,  das  er  „erlebt",  als  auch  mit  Rücksicht 
auf  den  Inhalt  des  Kulturgutes  selbst.  Menschliches  Subjekts- 
verhalten ist  immer  „Leben",  muß  aber  gerade  deshalb  vom 
lebendigen  Leben  als  dem  vitalen  geschieden  werden,  wo  Un- 
lebendiges oder  gar  Unwirkliches  ,, erlebt"  wird,  und  ebenso  ist 
in  dem  Inhalt  des  Kulturobjektes  das,  was  lebt  im  Sinne  des 
Vitalen,  von  dem  zu  trennen,  was  darin  als  Unlebendiges  und 
Unwirkliches  ein  ,, Eigenleben"  führt,  ohne  vitales  Leben  zu  sein. 

Der  Abstand  von  der  lebendigen  Wirklichkeit  wird  am 
deutlichsten  wieder  bei  dem  theoretischen  Menschen,  und  zwar 
jetzt  nicht  nur  bei  dem  objektiven  Kulturgut,  an  dem  die  Wahr- 
heit haftet,  von  dem  wir  schon  vorher  sahen,  daß  es  keine  vitale 
Lebendigkeit  besitzt,  sondern  auch  bei  dem  Verhalten  des  theo- 
retischen Subjekts. 

Es  hat  lange  gedauert,  bis  der  Wahrheitswert  in  seiner  Reinheit 
zum  Bewußtsein  kam,  und  bis  Menschen  es  lernten,  in  ihm  zu 
„leben",  um  so  ihrem  bloß  vitalen  Leben  Sinn  zu  verleihen.  In 
Griechenland  wurde  zum  ersten  Male  die  W' ahrheit  um  ihrer  selbst 
wiUen  gewertet,  und  das  Gut,  an  dem  sie  haftet,  die  Wissen- 
schaft, um  der  Wahrheit  willen  gesucht.  Die  Zurückdrängung 
des  bloß  vitalen  Lebens  durch  die  Kultur  tritt  dabei  klar  zu- 
tage. Kenntnisse  besaß  man  schon  lange  vorher.  Man  kann 
sie  suchen  und  werten,  um  sie  in  den  Dienst  des  vitalen  Lebens 
zu  stellen.  Dann  ist  aber  von  ,, Wissenschaft"  noch  keine  Rede. 
Man  forscht  nur,  weil  man  das  Wissen  zum  Leben  oder  zu 
irgend  einem  andern  Zwecke  braucht.  So  war  es  anfangs  überall, 
und  so  ist  es  heute  noch  bei  vielen. 

In  Griechenland  kehrte  sich  zum  ersten  Male  das  Verhältnis 
um.  Der  Mensch,  zunächst  auch  dort  in  wenigen  Exemplaren, 
forschte  nicht  mehr,  um  zu  leben,  sondern  lebte,  um  zu  forschen. 
Durch  die  Wahrheit  erst  erhielt  das  Leben  für  ihn  Wert.  Vom 
biologistischen  Standpunkt  müßte  diese  Umwertung  als  ,, Ent- 
artung" bezeichnet  werden.  Für  die  Entwicklung  der  Kultur 
bedeutet  sie  einen  Höhepunkt.  Lebenswerte  danken  ab  zugunsten 
von  theoretischen  Eigenwerten.  Gerade  das  sichert  diesem  ge- 
schichtlichen Moment  das  „Leben"  im  Sinne  der  Unsterblichkeit, 
d.  h.  mehr  als  vitales  Leben.  Bis  auf  den  heutigen  Tag  findet 
hier  der  theoretische  Mensch  sein  unübertroffenes  Vorbild. 


—    158    — 

Wer  also  den  Versuch  macht,  die  wissenschafthche  Wahr- 
heit biologistisch  der  NützHchkeit  für  das  vitale  Leben  gleichzu- 
setzen, wie  der  Pragmatismus  es  unternimmt,  begeht  nicht  nur 
eine  grobe  Begriffsverwechslung,  indem  er  zwei  prinzipiell  von- 
einander verschiedene  Werte  durcheinander  mengt,  sondern  er 
würde,  wenn  er  Erfolg  hätte,  uns  zu  jenem  Zustande  wieder  zu- 
rückführen, der  in  Europa  herrschte,  bevor  die  Griechen  das  vom 
bloßen  Leben  abgekehrte  theoretische  Verhalten  zum  Wahrheits- 
wert und  damit  die  Wissenschaft  hervorbrachten.  Die  biologisti- 
sche  Erkenntnistheorie  bedeutet  im  Prinzip  einen  Rückfall  in 
Barbarei.  Sie  ist  auf  theoretischem  Gebiet  die  spezifisch-kultur- 
feindliche Richtung. 

Lebensferne  ist  demnach  nicht  nur  mit  den  Produkten  der 
Erkenntnis  oder  den  Begriffen  verknüpft,  sondern  gehört  auch 
zum  Wesen  des  theoretischen  Menschen  selbst.  Erst  wenn  wir 
darauf  achten,  wird  der  Gegensatz  des  Kulturgutes  Wissenschaft 
zum  Leben  ganz  klar.  Alles,  was  wir  erkennen,  entfernen  wir 
damit  von  uns,  so  daß  wir  es  nicht  mehr  als  Lebendiges  erleben. 
Früher  haben  wir  gesehen:  es  ist  der  Sinn  des  „Begriffes",  daß  er 
das  Begriffene  unlebendig  macht.  Das  hat  dann  seine  Folgen 
auch  für  das  Leben  des  erkennenden  Subjekts.  Die  Wahrheit, 
die  es  denkt,  verkörpert  sich  allein  im  unlebendigen  logischen 
„Sinn".  So  wird  ein  Dualismus  von  Leben  und  Denken  auch 
in  jeden  Menschen,  der  Wissenschaft  treibt,  hineingebracht.  Das 
„Leben"  im  logischen  „Sinn"  oder  in  der  Wahrheit  liegt  vom 
vitalen  Leben  weit  ab  und  kann  nicht  als  biologisches  Leben  be- 
zeichnet werden. 

Freilich  zeigen,  wie  wir  sahen,  die  Begriffe  der  verschiedenen 
Wissenschaften  in  ihrem  objektiven  Gehalt  eine  mehr  oder  weniger 
große  Lebensferne,  und  das  muß  ebenfalls  im  Verhalten  des  er- 
kennenden  Sul)jekts  zum  Ausdruck  kommen.  Im  einzelnen  braucht 
das  nicht  erst  gezeigt  zu  werden.  Der  Mathematiker  steht  ebenso 
wie  seine  Begriffe  als  ]^Iathematiker  dem  lebendigen  Leben  am 
fernsten.  Der  Historiker  andererseits  lebt  mit  seinen  Objekten 
deren  lebendiges  Leben  mit,  und  dazwischen  gibt  es  eine  Fülle 
von  Abstufungen.  Doch  auch  der  Historiker  lebt,  ebenso  wie 
seine  Wissenschaft  das  Leben  tötet,  in  unlebendigem  Sinn,  so 
lange  er  nur  Historiker  ist.    Das  gilt  wieder  sogar  vom  Biographen. 


—     159     — 

Der  wissenschaftlich  denkende  Mensch  lebt  also  nicht  einmal  dann 
im  Lebendigen,  wenn  er  das  Lebendigste  von  allem  erforscht. 

Der  Gedanke  an  eine  mehr  oder  weniger  große  Lebensnähe 
hat  noch  eine  andere  Bedeutung.  Er  kann  nicht  nur  zur  Anord- 
nung der  verschiedenen  Teile  der  Wissenschaft  und  des  wissen- 
schaftlichen Lebens  der  Forscher,  sondern  auch  zur  Anordnung 
der  verschiedenen  außerwissenschaftlichen  Kulturgebiete  dienen. 
Man  wird  versuchen,  dem  Leben  näher  zu  kommen,  als  es  durch 
irgendeine  Wissenschaft  möglich  ist,  und  dabei  doch  in  der  Kultur- 
.  Sphäre  zu  bleiben  wünschen,  also  nicht  nur  vital  zu  leben. 

Das  hat  gewiß  seine  Berechtigung,  und  zu  diesem  Zweck 
bietet  sich  zunächst  die  Kunst  dar.  Daß  ihr  Inhalt  lebendiger 
ist  als  der  der  Wissenschaft,  hat  man  schon  öfter  bemerkt. 
Mancher  künstlerische  Mensch  empfindet  einen  Schauer  vor  der 
toten  Abstraktion  der  wissenschaftlichen  Theorien,  und  wenn  er 
sich,  wie  das  wohl  vorkommt,  zu  einer  Metaphysik  des  Lebens 
hingezogen  fühlt,  so  ist  das  nur  dadurch  zu  erklären,  daß  das 
Wort  Leben  ihn  täuscht.  Er  gibt  diesem  metaphysisch  gefaßt 
völlig  leeren  Begriff  einen  Inhalt,  den  er  als  metaphysischer  Be- 
griff nicht  besitzen  kann.  Höchstens  die  Geschichtswissenschaft 
scheint  an  Lebensfülle  mit  der  Kunst  wetteifern  zu  dürfen, 
aber  nur  deshalb,  weil  sie  künstlerische  ^Momente  in  sich  auf- 
nehmen und  dadurch  mit  Rücksicht  auf  die  Anschauung  eine 
Lebensnähe  erreichen  kann,  die  ihr  als  Wissenschaft  versagt  ist. 
Das  eigentlich  Wissenschaftliche  in  ihr  „tötet"  das  Leben  schon 
deshalb,  weil  durch  den  Begriff  die  unmittelbare  Anschauung  in 
ihrer  Lebensfülle  zerstört  werden  muß.  In  der  Welt  der  An- 
schauung aber  sucht  und  findet  die  Kunst  ihre  Heimat,  und  des- 
halb berührt  sie  das  Leben,  wenigstens  in  einer  Hinsicht,  un- 
mittelbar. 

Trotzdem  daif  man  auch  von  ihr  nicht  sagen,  daß  sie  das 
lebendige  Leben  selbst  in  sich  aufnimmt.  Alles,  was  wir  als 
bloß  lebendig  erleben,  ist  für  sich  nicht  nur  ohne  logischen,  son- 
dern auch  ohne  ästhetischen  Wert.  Von  dem  lebendigen  Leben 
selbst  muß  der  ästhetische  Mensch  sich  abwenden,  um  den  Sinn 
des  Kunstwerkes  zu  verstehen,  dei  nicht  vital  lebendig  ist. 

Der  unüberbrückbare  Gegensatz  zwischen  dem  Leben  und 
dem  Kunstwerk  zeigt  sich  nirgends  deutlicher  als  daran,  daß,  so- 


—    160     — 

bald  die  Grenze  zwischen  dem  künstlerisch  Dargestellten  und 
der  lebendigen  Wirklichkeit  sich  nicht  mehr  ziehen  läßt,  der 
ästhetisch  feinfühlige  Mensch  das  als  unerträglich  empfindet. 
Man  braucht  dabei  nicht  gleich  an  Panoramen  oder  an  Wachs- 
figuren zu  denken.  Auch  in  Werken,  die  der  Kunst  allein  dienen 
sollen,  wirkt  volle,  das  Leben  vortäuschende  Lebendigkeit  ab- 
stoßend. Naturalistische  Theorien,  die  behaupten,  Kunst  habe 
dem  Leben  so  nahe  wie  möglich  zu  kommen,  sind  nicht  nur  falsche 
ästhetische  Theorien,  sondern  enthalten  überhaupt  keine  Aesthetik. 
Sie  reden  gar  nicht  vom  ästheti  sehen  Wert,  und  sie  können 
es  auch  nicht.  Es  muß  die  Frage  gestellt  werden,  wodurch  sich 
das  Kunstwerk  von  der  lebendigen  Wirklichkeit,  die  es  darstellt, 
unterscheidet.  Nur  wo  es  einen  Abstand  gibt,  ist  ein  ästheti- 
scher Wert  möglich. 

Worauf  die  Unlebendigkeit  des  ästhetischen  Gegenstandes 
beruht,  kann  hier  nicht  im  einzelnen  gezeigt  werden.  Dies  Eine 
genügt:  was  ästhetisch  wirken  soll,  ist  notwendig  aus  dem  le- 
bendigen Zusammenhang,  in  dem  es  mit  der  Wirklichkeit  steht, 
herauszulösen,  zum  mindesten  so  zu  isolieren,  daß  es  dadurch 
sein  ursprüngliches  und  lebendiges  Leben  verliert.  Damit  soll 
nicht  für  einen  ästhetischen  „Formalismus"  Partei  ergriffen 
werden.  Auch  wenn  der  Künstler  seine  lebendige  wSeele  in  seine 
Kunstwerke  hinein  ergießt,  und  diese  infolgedessen  die  ganze 
Wärme  seines  Gefühls  ausstrahlen,  so  hat  doch  diese  „Lebendig- 
keit" nichts  mit  der  des  Lebens  zu  tun,  in  dem  wir  als  Lebe- 
wesen vital  leben. 

Wohl  kann  man  von  einer  Statue  sagen,  sie  „lebe"  im 
Gegensatz  zu  dem  toten  Marmor,  aus  dem  sie  wirklich  besteht. 
Aber  dieses  Leben  führt  sie  nicht  in  der  Wirklichkeit  des  vitalen 
Lebens,  denn  ihre  Wirklichkeit  bleibt  ja  tot,  sondern  es  ist 
eine  „ideale"  Sphäre,  in  der  das  ästhetische  „Leben"  sich  be- 
wegt. Alles  an  einem  Kunstwerk,  was  daran  zur  Kunst  gehört, 
bleibt  von  der  Wirklichkeit  des  vitalen  Lebens  so  Weit  getrennt,  daß 
es  überhaupt  nicht  mehr  als  „Wirklichkeit"  bezeichnet  werden 
kann,  falls  wir  unter  diesem  Wort  die  in  der  Zeit  ab- 
laufende und  im  Raum  ausgedehnte  psychophysische  Realität 
verstehen,  zu  der  die  Lebewesen  gehören.  Genau  wie  der  logische 
Sinn  eines  wahren    Satzes  ist   auch   der  ästhetische  Sinn  eines 


—     161     — 

Kunstwerkes,  den  wir  verstehen,  und  auf  den  es  allein  dem 
ästhetischen  Menschen  ankommt,  ebenso  unwirkUch,  wie  er  un- 
lebendig ist. 

Es  gibt  freiUch  in  der  modernen  Kunst  Werke,  die  dem  zu 
widersprechen  scheinen.  Da  wird  nicht  der  ganze  Stoff  so  geformt, 
daß  er  sich  dadurch  vom  wirkhchen  Leben  entfernt.  Man  kann 
sich  das  an  einer  Plastik  von  Rodin  deutlich  machen.  Ein  mensch- 
Ucher  Körper  wächst  aus  einem  Marmorblock  heraus.  Der  Körper 
selbst  ist  künstlerisch  gestaltet  und  der  Wirklichkeit  des  Steines 
entrückt.  Der  Marmor  darunter  aber  bleibt  Stein  und  gehört 
doch  mit  zum  Kunstwerk.  Während  der  Körper  also  etwas 
anderes  b  e  d  e  u  t  e  t ,  als  er  i  s  t ,  ist  dieser  Marmor  zugleich 
wirklich  das,  was  er  im  Kunstwerk  auch  bedeutet.  Da  scheint 
also  jenes  Auseinanderfallen  von  Wirklichkeit  und  ästhetischem 
Sinn  nicht  zu  bestehen,  und  in  anderen  Künsten  läßt  sich  ähn- 
liches aufweisen.  Es  gibt  in  Musikstücken  Töne,  die  nur  als 
WirkUchkeiten,  z.  B.  als  lebendiger  Schrei,  wirken.  Hier  droht 
vollends  das  Aesthetische  mit  der  lebendigen  Wirklichkeit  zu- 
sammenzufallen. 

Trotzdem  können  diese  und  andere  Beispiele  unserer  Be- 
hauptung nicht  entgegenstehen,  denn  es  ist  darauf  zu  achten, 
daß  es  sich  immer  nur  um  Teile  innerhalb  eines  ästhetischen 
Zusammenhanges  handelt,  und  daß,  ganz  abgesehen  davon,  ob 
man  solche  Effekte  ästhetisch  billigen  will  oder  nicht,  die  leben- 
digen Wirklichkeiten,  soweit  sie  überhaupt  zur  Kunst  gehören, 
nur  als  Kontraste  zu  dem  ästhetisch  Gestalteten  in  Be- 
tracht kommen.  Sie  haben  somit  doch  eine  ästhetische  Be- 
deutung, die  nicht  mit  ihrer  lebendigen  Wirklichkeit  zusammen- 
fällt, und  widersprechen  also  unserer  Ansicht  so  wenig,  daß  sie 
vielmehr  bestätigen:  nur  mit  ihrer  unlebendigen  Bedeutung,  nicht 
als  lebendige  Wirklichkeiten  liegen  sie  in  der  ästhetischen  Sphäre. 
So  zeugen  auch  sie  für  die  Lebensferne  der  Kunst  und  für  das 
notwendige  Auseinanderfallen  der  Lebenswerte  und  der  Kultur- 
werte.  Ein  Kunstwerk,  das  nur  lebendiges  Leben  enthält,  wird 
man  vergeblich  suchen. 

In  unserem  biologistischen  Zeitalter  fehlt  es,  wie  wir  sahen, 
nicht  an  Versuchen,  der  Kunst  die  Ursprünglichkeit  des  Lebens 
zu  geben,  die   sie  nicht  besitzt,    und   die  man  an  ihr  vermißt. 

B,  i  c  k  e  r  t ,  Philosophie  d-  Lebens-  1 1 


—     162    — 

Der  geistvollste,  freilich  stark  mit  Schopenhauerscher  Willens- 
metaphysik  durchsetzte  Versuch  in  dieser  Richtung  stammt 
wieder  von  Nietzsche.  Wenn  in  der  Schrift  über  „die  Geburt 
der  Tragödie  aus  dem  Geiste  der  Musik"  das  Dionysische  dem 
Apollinischen  gegenüber  gestellt  wird,  so  bedeutet  das,  abgesehen 
von  anderen  Denkmotiven,  die  sich  eng  damit  verbinden,  daß 
dem  Menschen,  der  das  elementare  Leben  leben  will,  die  apol- 
linische, und  das  ist  eben  die  dem  lebendigen  Leben  fernstehende 
Kunst,  nicht  genügt. 

Doch  schon  Nietzsches  Gedanke,  daß  die  Musik  dem  Leben 
näher  wäre  als  andere  Künste,  ist  falsch.  Man  könnte  viel  eher 
sagen,  daß  sie  unter  den  Künsten  das  sei,  was  die  Mathematik 
unter  den  Wissenschaften  darstellt.  In  ihr  wird  die  größte  Ent- 
fernung vom  lebendigen  Leben  erreicht,  die  bei  dem  Festhalten 
an  der  Anschauung  möglich  ist.  Gerade  sie  also  gehört,  wenn 
irgend  etwas,  in  das  Reich  des  Apollinischen  und  Unlebendigen, 
und  dasselbe  gilt,  wenn  auch  vielleicht  nicht  in  so  hohem  Maße, 
von  allen  andern  Künsten,  von  der  Tragödie  wie  von  der 
Plastik. 

Dionysos,  aufgefaßt  als  der  Gott  des  bloß  vitalen  wilden 
Lebensdranges,  hat  in  der  ästhetischen  Sphäre  nichts  zu  suchen. 
Ihn  aus  ihr  hinauszutreiben,  oder  ihm  wenigstens  Fesseln  an- 
zulegen, muß  vielmehr  die  Aufgabe  jeder  wahrhaft  künstleri- 
schen Gestaltung  sein. 

Freilich  wird  die  Ansicht,  daß  auch  die  Kunst  das  unmittel- 
bare Leben  „tötet"  wie  die  Wissenschaft,  vielen  vollends  para- 
dox erscheinen.  Wie  oft  fühlen  wir  alle  unsere  Lebenskräfte  bei 
der  Betrachtung  eines  Kunstwerks  angeregt!  Und  doch  dürfen 
wir  uns  nicht  darüber  täuschen,  daß  hier  das  Wort  „Leben" 
eine  andere  Bedeutung  hat  als  die  des  unmittelbaren  vitalen 
Lebens  oder  des  Lebens,  von  dem  es  biologische  Theorien  gibt. 
Es  bleibt  dabei,  daß  eine  wahrhaft  ästhetische  Kultur  erst  dort 
möglich  wird,  wo  wir  darauf  ausgehen,  eine  Welt  über  dem  Leben 
zu  bauen,  die  nicht  mehr  in  demselben  Sinne  lebendig  ist  wie 
die  lebendige  Natur  im  Gegensatz  zur  toten  Wirklichkeit. 

Wie  weit  die  Kluft  zwischen  Kunst  und  Leben  ist,  kann 
vielleicht  noch  deutlicher  werden,  wenn  wir  von  der  künstlerischen 
zur  sittlichen  Kultur  übergehen.     Es  ist  der  wollende  und 


-      163    — 

handelnde  Mensch,  auf  den  es  dabei  ankommt.  Er  entfernt  sich 
niemals  so  weit  vom  Leben  wie  der  wissenschafthch  denkende 
und  der  künstlerisch  anschauende.  Von  neuem  müssen  wir  hier, 
auch  mit  Rücksicht  auf  die  Lebendigkeit  der  Kulturgüter  selbst, 
einen  prinzipiellen  Unterschied  konstatieren,  der  sittliche  Gebilde 
wie  Ehe  und  Familie,  Recht  und  Staat,  Nation  und  Menschheit 
von  den  künstlerischen  und  wissenschaftlichen  Werken  noch  mehr 
trennt,  als  diese  von  einander  getrennt  sind. 

Der  ethische  Wert    haftet   zunächst  stets  an  einem  Willen 
und  kann  nur  von  hier  aus  auf  andere  Wirklichkeiten  übertragen 
werden.    Dies  ethische  Gut  würde  aber  sofort  seinen  ethischen 
Wertcharakter  oder  seinen  ethischen  Sinn   verlieren,  wenn  der 
Wille  sich  nicht  in  der  Welt  des  lebendigen  vitalen  Lebens  wirk- 
lich betätigte.     Das  tritt  zutage,  sobald  wir  daran  denken,  daß 
auch  der  Forscher  oder  der  Künstler,  insofern  er  schafft,  einen 
im  weitesten    Sinn   autonomen  Willen  hat,  d.  h.  um  der  Werte 
der  Wahrheit  oder  der  Schönheit  willen  Kulturgüter  zu  verwirk- 
lichen sucht.     Und  es  wird  vielleicht  noch  klarer,  wenn  wir  das 
ethische  Prinzip  nicht  nur  in  der  rein  formalen  Autonomie  des 
Willens  suchen,   die  sich  auf  jede  Verwirklichung  von   wertbe- 
hafteten   Gütern   beziehen   kann,    sondern   daran    denken,   daß 
sittliches  Wollen  im  engeren  Sinne  Reziehungen  sittlicher  Lebe- 
wesen, autonomer  Persönlichkeiten  zu  einander  voraussetzt,  also 
einen  sozialen  Charakter  tragen  muß,  wobei  dann  entweder  der 
Schwerpunkt   auf  dem  einzelnen   Individuum  als  einem   Gliede 
der  Gesellschaft  ruht,  zu  der  es  im  Gegensatz    steht,   oder  auf 
den  Zusammenhängen,  welche  die  sozialen  Individuen  zu  einem 
einheitlichen  Ganzen  miteinander  verknüpfen,  d.  h.  auf  der  Ge- 
sellschaft selbst.     Der  Mensch  als  soziales  Wesen  hat  es  gewiß 
in   ganz   anderer  Weise  mit  dem   lebendigen,  vitalen  Leben  zu 
tun  als  der  seinem  Wesen  nach  asoziale,  theoretische  oder  künst- 
lerische Mensch. 

Trotzdem  fallen  für  ihn  nicht  nur  die  Lebenswerte  und 
die  ethischen  Werte  prinzipiell  auseinander,  sondern  auch  im 
sozialen  Leben  richtet  sich  die  Kultur  direkt  gegen  die  bloß 
vitale  Lebendigkeit,  insofern  nämlich,  als  sie  zwar  nicht  darauf 
ausgeht,   sie  zu  töten,  wohl  aber  sie  ihren  ethischen    Zwecken 

11* 


■      —    164    — 

unterzuordnen.  Damit  ist  eine  Einschränkung  der  Vitalität  not- 
wendig verknüpft. 

Man  kann  sogar  behaupten,  daß,  weil  in  einer  Hinsicht 
Leben  und  Kultur  hier  enger  verbunden  sind  als  im  wissen- 
schaftlichen oder  künstlerischen  Gebiet,  in  anderer  Hinsicht 
der  Antagonismus  zwischen  beiden  besonders  deutlich  zutage 
treten  muß.  Der  sozialethische  Mensch  darf  das  Leben,  für  das 
er  bei  sich  und  andern  verantwortlich  ist,  nur  selten  seinen 
bloßen  , »Lebenslauf"  gehen  lassen.  Er  muß  sich  vielmehr  be- 
rufen fühlen,  einzugreifen  und  das  Lebendige,  das  für  sich  be- 
trachtet ethisch  wertindifferent  ist,  so  zu  gestalten,  daß  ihm 
eine  Bedeutung  und  ein  Sinn  innewohnt.  Gerade  wegen  der 
Lebensnähe  dieses  Wollens  erreicht  die  Spannung  von  Leben 
und  Kultur  hier  einen  besonders  hohen  Grad.  Sie  muß  deshalb 
auch  stärker  empfunden  werden  als  z.  B.  in  der  künstlerischen 
Welt,  und  daher  kommt  es,  daß  ästhetisch  angelegte  Naturen, 
die  Ruhelage  und  Harmonie  suchen,  sich  von  dem  ethischen 
Wollen  wegen  seiner  ,,rigoristischen"  Lebensfeindlichkeit  abwen- 
den, um  ins  Aesthetische  hinüberzugleiten,  freilicli  ohne  sich  da- 
bei immer  klar  zu  sein,  daß  sie  damit  dem  lebendigen,  vitalen 
Leben  durchaus  nicht  näher  kommen.  Es  hat  nur  die  Spannung 
aufgehört,  in  ihrem  Bewußtsein  sich  bemerkbar  zu  machen,  weil 
sie  dem  lebendigen  Leben  nun  ganz  ferngerückt  sind,  und  diese 
,, Lösung"  des  Widerstreites  genügt  ihnen. 

Selbstverständhch  wollen  wir  nicht  sagen,  daß  der  ethische 
Wille  berufen  sei,  alles  vitale  Leben  von  Grund  aus  umzu- 
gestalten. Im  Gegenteil,  als  Bedingung  der  sittlichen  Kultur 
kann  wegen  der  relativen  Lebensnähe  auch  das  bloß  vital  Leben- 
dige sich  mit  ethischen  Werten  verknüpfen  und  eventuell  eine 
große  Bedeutung  erhalten. 

Das  macht  sich  z.  B.  bei  der  Beurteilung  von  sexualethi- 
schen Vorgängen  geltend.  FreiUch  ist  es  grundverkehrt,  in  dem 
rein  vitalen  Geschlechtstrieb  schon  ein  ethisches  Gut  zu  er- 
blicken. Solche  Uebertreibungen  sind  nur  als  Reaktion  gegen 
seine  nicht  minder  verkehrte  Herabsetzung  oder  „Verteufelung" 
zu  begreifen.  Der  Trieb  als  solcher  ist,  wie  alle  bloßen  Lebens- 
triebe, ethisch  völlig  indifferent:  ganz  allein  davon,  wie  wir 
unser  vitales  Triebleben  gestalten,  hängt  es  ab,  ob  ihm  ein  ethi- 


—     165    — 

scher  Charakter  gebührt  oder  nicht.  Von  ethischen  Werten  oder 
Unwerten,  die  im  Sexualleben  selbst  stecken,  zu  reden,  hat 
keinen  Sinn.  Wohl  aber  kann  die  Sexualethik  vielleicht  zeigen, 
daß  innerhalb  der  wertteleologischen  ethischen  Zusammenhänge, 
die  sie  behandelt,  manche  Strecken  gerade  aus  ethischen  Grün- 
den, mit  Rücksicht  auf  die  Gemeinschaft  autonomer  Persönlich- 
keiten in  ihrer  rein  „natürlichen"  oder  vitalen  Lebendigkeit  zu 
belassen  sind.  Das  biologisch  ,, Gesunde"  bekommt  so  unter 
Umständen  eine  ethische  Bedeutung,  die  es  als  solches  nicht 
hat.  Es  gibt  zweifellos  Gebiete  der  Kultur,  in  denen  elementare 
Lebenstriebe  als  rein  natürliche  Grundlagen  eine  so  gewaltige 
Rolle  spielen,  daß  eine  weitgehende  Reflektion  auf  ihre  Funk- 
tionen störend  wirken  und  das  in  seinem  Ablauf  bedrohen  kann, 
was  gerade  in  seiner  biologischen  Lebendigkeit  und  Unangetastet- 
heit die  Bedingung  zur  Verwirklichung  sozialethischer  Güter  wie 
der  Ehe,  der  Familie  usw.  ist. 

Das  ist  ein  Umstand,  der  Wohl  besonders  dazu  verleitet 
hat,  das  Biologische  oder  bloß  vital  Lebendige  dem  Sittlichen 
selbst  gleichzusetzen  und  die  Rede  von  einem  ,, Recht"  auf  das 
Ausleben  der  Vitalität  beliebt  zu  machen. 

Aber  auch  hier  ist  wieder  Zweck  und  Mittel  verwechselt. 
Die  Vitalität  ist  nur  Mittel.  Immer  muß  der  ethische  Wert  schon 
auf  das,  was  bloß  lebendig  ist,  übertragen  worden  sein,  damit  das 
Leben  aus  seiner  Wertindifferenz  heraustritt.  Der  ,, Naturzu- 
stand", in  dem  nur  die  Lebenstriebe  frei  walten  und  das  Leben 
sich  ungehemmt  auslebt,  ist  überall  dem  Kulturzustand  ent- 
gegengesetzt. Der  Kulturfortschritt  ist,  von  wenigen  Ausnahmen 
abgesehen,  die  sich  auf  Teile  größerer  Zusammenhänge  beschrän- 
ken, mit  einer  Regelung  und  Einschränkung  des  bloßen  Lebens- 
dranges verbunden.  Das  mag  dem  Einzelnen  oft  sehr  unbequem 
sein,  und  sagt  er  das  aufrichtig,  so  ist  dagegen  nichts  einzu- 
wenden. Nur  das  ,, Recht"  auf  bloße  Lebendigkeit  oder  auf 
Ausleben  des  vitalen  Lebens  als  ,, sittliche  Forderung"  ist  doch 
allzu  naiv  und  hat  mit  Kultur  jedenfalls  nichts  zu  tun. 

Der  ethischen  Persönlichkeit  tritt  das  Lebendige  überall  als 
das  ,,versinnlichte  Material  ihrer  Pflicht"  entgegen,  in  das  sie 
einzugreifen  hat,  um  es  nach  ethischen  Normen  umzugestalten. 
Ja,  wir  müssen  uns    im  Ethischen  ganz  besonders    daran  ge- 


'    —     166     — 

wohnen,  daß  das  Leben  selbst  Normen  für  unser  Wollen  und 
Handeln  niemals  geben  kann.  Das  bloß  vitale  Leben  bleibt 
stets  eine  Tatsache,  die  da  ist,  und  von  der  sich  weiter  nichts 
sagen  läßt,  als  wie  sie  beschaffen  ist. 

Daß,  um  endlich  auch  sie  zu  erwähnen,  die  religiösen 
Werte  nicht  Lebenswerte  sind,  bedarf  wohl  am  wenigsten  einer 
ausdrücklichen  Erörterung.  Die  Versuche,  den  religiösen  Glau- 
ben dadurch  zu  rechtfertigen,  daß  die  religiösen  Völker  bessere 
Chancen  im  Kampf  mit  anderen  Völkern  haben,  muß  jeden 
wirklich  religiösen  Menschen  geradezu  abstoßend  anmuten.  Sie 
kommen  auf  ein  Lob  des  Aberglaubens  hinaus  und  haben  mit 
der  Begründung  religiöser  Werte  so  wenig  zu  tun  wie  jene  be- 
kannten Anpreisungen  der  Religion  als  einer  Stütze  für  den  Thron 
oder  für  den  Staat.  Der  religiöse  Mensch  kann  in  den  religiösen 
Werten  nur  die  ,, absoluten",  über  allen  andern  Werten  stehen- 
den Werte  erblicken.  Er  muß  jeden  Gedanken  an  eine  Unter- 
bauung und  Stützung  ihrer  Geltung  durch  andere  Werte  auf 
das  Entschiedenste  ablehnen.  Ja,  alle  Werte  müssen  es  ver- 
tragen, daß  sie  an  ihrer  Vereinbarkeit  mit  den  religiösen  Werten 
gemessen  werden,  wenn  sie  wahrhaft  gelten  sollen. 

Andererseits  kann  man  freilich  sagen,  daß  der  religiöse 
Mensch  dem  lebendigen  Leben  in  gewisser  Hinsicht  noch  näher 
steht  als  der  sittlich  wollende.  Wir  kommen  hier  zu  dem  Maxi- 
mum an  Lebensnähe,  das  der  Kulturmensch  überhaupt  erreichen 
kann.  Die  Religion  ist  nämlich  jeder  Spezialisierung  und  jeder 
Teilung  ihrem  Wesen  nach  abhold.  Sie  muß,  wenn  sie  über- 
haupt Religion  ist,  das  ganze  lebendige  Leben  zu  durchdrin- 
gen suchen.  So  kann  es  zu  der  denkbar  größten  Wertung  des 
Lebens  gerade  von  religiösen  Gesichtspunkten  aus  kommen. 
Aber  dann  handelt  es  sich  trotzdem  wieder  niemals  um  das 
bloße  Leben  in  seiner  vitalen  Lebendigkeit,  sondern  dieses  ist 
vielmehr  die  „Außenseite"  für  eine  dahinter  steckende  jenseitige 
Wertrealität,  und  es  kommt  dem  diesseitigen  Leben  nur  inso- 
fern die  große  Bedeutung  zu,  als  es  „der  Gottheit  lebendiges 
Kleid"  ist.  Das  lebendige  Leben  ist  in  diesem  Falle  nichts 
anderes  als  das  Symbol  für  ein  Sein  von  vollständig  verschie- 
dener, nicht  mehr  lebendiger,  sondern  überlebendiger  Art.  Soll 
gar  die  Gottheit  selbst  das  „Lebendige"  sein,  dann  dürfen  wir 


—    167    — 

vollends  das,  was  der  Biologie  Leben  heißt,  nicht  mehr  das 
,, Lebendige"  nennen.  Dies  Leben  wird  der  Gottheit  gegenüber 
dann  zum  Todesreich.  „Alle  Pfade,  die  zum  Leben  führen,  alle 
führen  zum  gewissen  Grab." 

Trotz  größter  Lebensnähe  kann  also  der  religiöse  Mensch 
am  wenigsten  daran  denken,  dem  diesseitigen  vitalen  Leben 
die  Werte  zu  entnehmen,  die  er  braucht.  Nur  von  einer  Durch- 
strahlung alles  Lebens  aus  dem  Ueberlebendigen,  Göttlichen 
her  kann  die  Rede  sein.  Und  auch  dabei  geht  es  ohne  einen 
Duahsmus  von  Leben  und  Gott  nicht  ab.  An  ihre  Vereinigung 
im  Sinne  eines  religiösen  „Monismus"  der  Lebendigkeit  wü-d 
man  nur  glauben,  wo  man  sich  auf  Schwärmen  und  Fühlen  be- 
schränkt oder  es  mit  vollem  Bewußtsein  ablehnt,  in  seinen 
Glauben  begriffliche  Klarheit  zu  bringen. 

Auch  das  kann  freilich  berechtigt  sein.  Wir  finden  bedeu- 
dende  Geister  unter  den  Bekennern  einer  solchen  rehgiösen 
„Weltanschauung".  «Sie  mögen  fühlen,  daß  die  Religion  eine 
restlose  Umsetzung  in  Begriffe  nicht  verträgt,  und  haben  darin 
gewiß  recht.  Mit  Wissenschaft  oder  mit  Philosophie  hat  dies  alles 
aber  dann  nichts  mehr  zu  tun  und  darf  also  auch  nicht  als  ein 
Argument  gegen  das  prinzipielle  Auseinanderfallen  von  Lebens- 
werten und  religiösen  Werten  angeführt  werden. 

Die  Religion  geht  schUeßlich  nicht  nur  über  alles  natür- 
liche Leben,  sondern  auch  über  alles  Kulturleben  weit  hinaus. 
Das  „Leben",  worin  der  rehgiöse  Mensch  „lebt",  hat  daher 
noch  eine  andere  Bedeutung  als  das  unlebendige  ,, Leben"  des 
theoretischen  oder  des  ästhetischen  Menschen  im  „Sinn"  der 
Wissenschaft  oder  der  Kunst.  Allem  diesseitigen  Leben  wird 
ein  „ewiges"  Leben  gegenübergestellt,  und  nur  ein  von  ihm 
durchdrungenes  Leben  ist  gemeint,  wo  das  Leben  selbst  sich 
der  religiösen  Verehrung  erfreut.  Das  aber  liegt  allem  Biologis- 
mus sehr  fern. 

Es  ist  hier  nicht  zu  untersuchen,  ob  die  Reiche  der  theo- 
retischen oder  logischen,  der  ästhetischen,  der  sozial-ethischen 
und  der  religiösen  Werte  die  Welt  der  Kulturwerte  erschöpfen  ^). 


1)  Daß  das  nicht  geschieht,  und  daß  deshalb  der  Rahmen 
zu  erweitern  ist,  in  dem  die  Wertphilosophie  seit  Kant  sich  be- 


—    168     — 

Lediglich  an  einigen  Beispielen  sollte  der  Antagonismus  von 
Leben  und  Kultur  klar  werden. 

Eines  sei  nur  noch  hervorgehoben.  Man  spricht  auch  von 
technischer  Kultur,  und  da  könnte  man  nun  glauben,  daß 
bloße  Lebenswerte  es  sind,  die  diese  Kulturwerte  tragen,  denn 
vielfach  wird  die  Technik  in  der  Tat  allein  in  den  Dienst  eines 
möghchst  lebendigen  oder  gesunden  Lebens  gestellt.  Dagegen 
ist  auch  nichts  zu  sagen.  Wenn  aber  der  Wert  der  technischen 
Kultur  auf  Lebenswerten  beruht,  so  geht  daraus  hervor, 
daß  die  Technik  keinen  Eigenwert  besitzt.  Dürfen  wir  schon 
im  vitalen  Leben  selbst  nur  ein  Mittel  der  Vei-wirklichung  von 
Eigenwerten  oder  ein  Bedingungsgut  erblicken,  so  kann  die 
Technik,  die  bloß  dem  Leben  dient,  lediglich  die  Bedeutung  haben, 
Mittel  für  ein  Mittel,  Bedingungsgut  für  ein  Bedingungsgut 
zu  sein. 

Freilich  wird  gerade  dies  heute  leider  oft  vergessen,  und 
infolgedessen  ist  in  unsere  Kulturbegriffe .  viel  Verwirrung  ge- 
bracht. Man  freut  sich  der  technischen  Erfindungen  als  solcher, 
ohne  sich  stets  darüber  klar  zu  sein,  welche  Ziele  man  mit 
ihnen  erreichen  will.  Man  ist  stolz  auf  den  ungeheuren  moder- 
nen Apparat,  der,  wenn  man  ihn  genau  betrachtet,  zum  Teil 
doch  nichts  anderes  als  die  Not  unserer  modernen  Kultur  offen- 
bart, also  ein  notwendiges  Uebel  ist.  Man  erblickt  in  gewissen 
technischen  Möglichkeiten  schon  einen  Kulturfortschritt,  ohne 
daß  man  überhaupt  irgend  welche  mit  Eigenwerten  ausgestatteten 
Zwecke  anzugeben  vermag,  denen  sie  als  Mittel  dienen  sollen. 
So  kann  doch,  um  an  ein  immer  noch  aktuelles  Beispiel  zu 
erinnern,  die  Fähigkeit,  in  der  Luft  zu  fliegen,  nur  unter  dem 
Gesichtspunkt  als  eine  Angelegenheit  der  Kultur  angesehen 
werden,  daß  eine  weitere  Entwicklung  die  Flugmaschinen  viel- 
leicht in  den  Dienst  von  an  sich  wertvollen  Kulturzielen  stellt. 


wegt,  habe  ich  in  meiner  Abhandlung  über  das  System  der  Werte 
(Logos,  Bd.  IV)  zu  zeigen  versucht.  Es  gibt  Werte,  die  eher  noch 
als  die  genannten  als  Lebenswerte  bezeichnet  werden  könnten. 
Worin  sie  bestehen,  und  weshalb  auch  sie  etwas  prinzipiell  anderes 
sind  als  Werte  des  bloß  vitalen  Lebens,  ließe  sich  jedoch  nur  in 
einem  umfassenderen  systematischen  Zusammenhang  darlegen. 
Für  eine  Auseinandersetzung  mit  der  Lebensphilosophie  unserer 
Zeit  kann  das  im  Text  Ausgeführte  genügen. 


—     169    — 

Die  Begeisterung  für  den  Apparat  als  solchen  zeugt  von  allzu 
großer  Bescheidenheit.  Nur  technisch  „vollkommene"  Maschinen 
stellen  niemals  schon  einen  Fortschritt  in  der  Kultur  dar,  und 
deswegen  darf  die  „technische  Kultur"  mit  dem,  was  wir  wissen- 
schaftliche, künstlerische,  sozial-ethische  und  religiöse  Kultur 
nennen,  nicht  auf  eine  Linie  gestellt  werden. 

Mit  welchem  Rechte  wir  in  den  als  Beispielen  gebrauchten 
Kulturwerten  Eigenwerte  erblicken,  steht  hier  nicht  in  Frage. 
Gibt  es  überhaupt  in  sich  ruhende  Eigenwerte?  Davon  sehen 
wir  in  diesem  Zusammenhang  ab.  Es  galt  nur.  Pseudowerte 
zu  entlarven.  Und  das  hat  vielleicht  auch  eine  positive  Be-i 
deutung.  Wer  erkannt  hat,  daß  die  Werte,  die  ihm  bisher 
galten,  keine  Eigenwerte  sind,  wird  um  so  eifriger  nach  Werten 
suchen,  deren  Geltung  der  Kritik  standhält.  Wir  können  niemals 
aufhören,  nach  dem  ,,Sinn"  unseres  Lebens  zu  fragen,  und  nur 
auf  Grund  von  Werten,  die  gelten,  läßt  er  sich  deuten.  So 
muß  durch  die  Entwertung  der  ,, Lebenswerte",  bei  denen  viele 
unter  dem  Einfluß  der  Mode  sich  kritiklos  beruhigen,  die  Sehn- 
sucht nach  .  echten  Werten  des  Lebens  entstehen,  jener  Eros, 
der  die  Triebfeder  aller  Philosophie  war  und  ist,  und  der  alle 
Moden  überdauert. 

Dieser  Eros  braucht  uns  andererseits  nicht  dahin  zu  führen, 
daß  wir  das  Vitale  herabsetzen.  Wir  bleiben  faktisch  stets  ins 
Leben  gebannt  und  haben  als  Philosophen  auch  keinen  Grund, 
uns  aus  ihm  hinauszuwünschen.  Ohne  lebendig  zusein,  könnten 
wir  nicht  forschen.  Vollends  ist  es  nicht  notwendig,  daß  wir 
die  Lebenswirklichkeit  zugunsten  dessen,  was  mehr  als  Leben 
ist,  metaphysisch  zur  bloßen  Erscheinung  entwirklichen.  Wir 
halten  an  dem  vitalen  Leben  als  voller  Realität  fest  und  suchen 
trotzdem  nach  einer  Welt,  die  das  Andere  des  Lebens  ist.  Muß 
es  in  der  Philosophie  denn  immer  auf  ein  Entweder-Oder  hinaus- 
kommen? Der  sittliche  Mensch  allerdings  wird  gewiß  oft  die 
Entscheidung  gegenüber  einer  Alternative  nicht  vermeiden  dürfen 
und  dann  mit  seinem  Willen  auf  die  eine  Seite  treten 
müssen,  um  die  andere  abzulehnen.  Aber  aus  der  moralisch 
notwendigen  ,, Einseitigkeit'*  braucht  man  keine  universale  B  e- 
trachtung  zu  machen.  Sie  führt  zu  engem  Moralismus  der 
Weltanschauung.     Der    theoretische  Mensch  hat  überall  sowohl 


—    170    — 

das  Eine  als  auch  das  Andere  zu  sehen,  d.  h.  in  diesem  Fall 
nicht  nur  das  wirkliche  Leben,  sondern  zugleich  das,  was  nicht 
in  dieser  Weise  lebendig  und  gerade  deshalb  mehr  als  Leben  ist. 

Daraus  entsteht  kein  Widerspruch,  der  die  Welt  selbst  anti- 
nomisch  macht.  Wir  erkennen  zwar  nicht  an,  daß  es  ein , »phili- 
ströses Vorurteil"  bedeutet,  wenn  man  glaubt,  alle  Probleme 
seien  dazu  da,  um  gelöst  zu  werden,  denn  ohne  dies  Vorurteil 
oder  dies  ,,a  priori"  gibt  es  keine  Wissenschaft,  also  auch  keine 
Philosophie,  und  der  Philosoph  ist  nicht  notwendig  ein  Philister. 
Wohl  aber  müssen  wir  es  für  möglich  halten,  daß  die  Meinung, 
nur  das  monistische  Denken,  das  alles  auf  ein  letztes 
Prinzi[)  zurückführt,  vermöge  Probleme  zu  lösen,  sich  als  ein 
unbegründetes  theoretisches  Vorurteil,  eventuell  sogar  als  vor- 
gefaßte Meinung  des  Bildungsphilisters  erweist. 

Der  Biologisnius  neuester  Richtung  weigert  sich,  das  Leben- 
dige aus  dem  Toten  abzuleiten.  Damit  hat  er  gewiß  recht. 
Muß  er  darum  den  Versuch  machen,  das  Tote  aus  dem  Leben- 
digen zu  verstehen?  Das  erscheint  nicht  zwingend.  Gibt  es 
nicht  beides,  Totes  und  Lebendiges,  und  können  wir  die  Welt 
anders  denken,  als  daß  sie  aus  beidem  besteht?  Hört  nicht 
wenigstens  der  Begriff  des  Lebendigen  auf,  Begriff  zu  sein, 
ohne  den  des  Toten,  und  läßt  umgekehrt  das  Wort  tot  sich 
noch  verstehen,  falls  wir  nicht  auch  an  das  Andere  des  Todes, 
an   das  Leben  denken? 

Was  aber  für  den  engeren  Lebensbegriff  gilt,  könnte  auch 
für  den  weiteren  zutreffen.  Es  gibt  zwar  Leben  gewiß  nicht 
dann  allein,  wenn  das  Leben  selber  mehr  als  Leben  ist,  denn 
das  wäre  ein  Widerspruch.  Aber  vielleicht  gibt  es  Leben  nur, 
wenn  außer  ihm  etwas  Anderes  besteht,  das  mehr  als  Leben 
ist,  und  es  gibt  umgekehrt  vielleicht  mehr-als-Leben  nur,  wenn 
wir  daneben  das  bloße  Leben  in  seiner  Selbständigkeit  unange- 
tastet lassen.  Dann  müßten  wir  sagen :  das  Leben  ist  der  eine 
Teil  der  Welt,  das  überlebendige  Mehr-als-Leben  der  andere 
Teil.  Erst  beide  zusammen  machen  die  ganze  Welt  aus,  und 
es  bedeutet  gerade  für  den  wissenschaftlichen  Menschen  ein 
vergebliches  und  sinnloses  Beginnen,  aus  den  beiden  Begriffen, 
die  sich  dann  allein  denken  lassen,  wenn  es  zwei  Begriffe  sind, 
einen  Begriff  zu  machen,  der  alles  umfassen  soll,  und  der,  ge- 


—    171    — 

rade  weil  er  das  soll,  nichts  mehr  umfaßt. 

Den  Lebensmonismus  haben  wir  zu  vermeiden.  Wir  sollten 
uns  ebenso  hüten,  in  einen  Antilebensmonismus  zu  verfallen. 
Nur  ein  Denken,  das  heterologisch  das  Eine  wie  das  Andere 
umspannt  und  in  dieser  , »Dualität"  das  Wesen  der  Welt  erfaßt, 
kann  wahrhaft  universal  werden,  also  zu  einer  umfassenden  Philo- 
sophie führen.  Auch  das  Wort  U  n  i  versum  darf  uns  nicht 
verleiten,  zu  glauben,  bei  einer  Zweiheit  könne  man  nicht 
stehen  bleiben.  Insofern  ist  der  Ausdruck  „Multiversum"  glück- 
lich gewählt.  Doch  mit  dem  Wort  allein  ist  es  selbstverständ- 
lich weder  in  dem  einen  noch  in  dem.  andern  Fall  getan.  Es 
kommt  darauf  an,  was  für  Begriffe  wir  damit  verbinden.  Mo- 
nismus ist  oft  nichts  als  leerer  Schall.  Sorgen  wir  dafür,  daß 
man  vom  Pluralismus  nicht  dasselbe  sagen  kann. 

Mehr  als  ein  ganz  allgemeiner  Hinweis  auf  das  Andere  des 
Lebens,  welches  das  Leben  selbst  unangetastet  läßt,  ist  in  dieser 
Auseinandersetzung  mit  den  Modeströmungen  unserer  Zeit  nicht 
möglich.  Von  dem  positiven  Aufbau  einer  Philosophie  des 
Lebens  haben  wir  abzusehen.  Die  Schrift  will  nur  Kritik  geben. 
Doch  führt  diese  Absicht  endlich  noch  zu  einem  neuen  Punkt. 
Echte  Kritik  wird  nicht  bloß  verneinen,  sondern  zu  schei- 
den suchen,  und  das  bedeutet:  sowohl  das  Unhaltbare  als  auch 
das  Richtige  sehen.  Diese  Forderung  führt  uns  zur  letzten 
Frage. 


Elftes  Kapitel. 

Das  Recht  der  Lebensphilosophie. 

„Wie  herrlich  leuchtet  mir  die  Natur!" 

Mailied. 

,,Ach,  und  nun  machtest  du  wieder  dein  Auge  auf, 
oh  geliebtes  Leben!  Und  ins  Unergründliche  schien 
ich  mir  wieder  zu  sinken." 

Also  sang  Zarathustra. 

Ist  die  Lebensphilosophie  unserer  Zeit  ohne  jede  positive 
Bedeutung  für  die  Wissenschaft?  Das  braucht  man  nicht  zu 
glauben,  selbst  wenn  man  alle  hier  gegen  sie  erhobenen  Einwände 
für  zutreffend  hält.     Um  auch   ihre  andere    Seite  zu  würdigen, 


—    172    — 

bringen  wir  sie  zunächst  in  einen  umfassenderen  Zusammenhang, 
d.  h.  begreifen  sie  als  besonderen  Fall  eines  allgemeinen  philo- 
sophischen Typus.  Ein  Schema  für  den  Ablauf  geistiger  Be- 
wegungen sei  zu  diesem  Zweck  angedeutet. 

Die  wissenschaftliche  Arbeit  der  Philosophie  verliert  ihren 
Sinn,  falls  es  nicht  möglich  ist,  aus  dem  Chaos  der  Erlebnisse 
theoretisch  einen  Kosmos  herauszuarbeiten,  und  das  setzt  vor- 
aus: unabhängig  von  unserer  Setzung  gilt  für  die  Welt  ein 
System  von  Urteilen  und  Begriffen,  das  wir  auffinden  können.  Der 
Weg  jedoch,  der  vom  Chaos  zum  Kosmos  führt,  ist  für  uns  Menschen 
nicht  der  kürzeste.  Wir  sind  geschichtlich  bedingte  Wesen,  und 
nur  auf  mannigfach  verschlungenen  Umwegen  nähern  wir  uns 
allmählich  dem  Ziel  der  Wissenschaft,  ohne  es  jemals  ganz  zu 
erreichen.  Für  die  Stadien  dieses  Weges  läßt  sich  hie  und  da 
eine  Art  Rhythmus  verfolgen,  der  ein  Auf  und  Nieder  bedeutet. 
Immer  von  Neuem  wird  der  Versuch  gemacht,  das  Ganze  der 
Welt  begrifflich  zu  erfassen,  und  immer  von  Neuem  zeigt  die 
Kritik,  daß  der  Versuch  unvollständig  war,  also  noch  einmal 
unternommen  werden  muß.  So  bauen  wir  in  der  Tat  Systeme 
und  zerstören  sie  wieder.  Wer  die  Geschichte  der  Philosophie 
philosophisch  zu  verstehen  vermag,  kann  darin  kein  sinnloses 
Spiel  erblicken.  Die  Systematiker  lernen  von  ihren  Vorgängern 
und  kommen  trotz  mancher  Umwege  weiter.  Die  Menschheit 
hat  eben  Gedächtnis,  soweit  sie  Kulturmenschheit  ist.  Davon 
war  schon  die  Rede. 

Doch  dies  verfolgen  wir  hier  nicht  weiter.  Etwas  anderes 
ist  uns  wichtig  an  dem  Weg,  der  zur  Wahrheit  führt.  Außer 
den  schöpferischen  Philosophen  gibt  es  Scharen  kleiner  Geister, 
die  auf  der  Meister  Worte  schwören,  auch  dann,  wenn  deren 
Systeme  in  ihrer  Totalität  sich  nicht  mehr  halten  lassen,  weil 
sie  von  der  Entwicklung  bereits  überwundene  Vorstufen  be- 
deuten. So  entsteht  ein  mit  Recht  starr  zu  nennender  Dcg- 
menglaube,  der  etwas  völlig  anderes  ist  als  „lebendige"  Ueber- 
zeugung  von  selbst  errungener  Weltanschauung.  Ihn  mag  man 
tot  schelten,  weil  er  wissenschaftlich  unfruchtbar  bleibt.  Ja, 
er  schädigt  die  voranschreitende  Philosophie.  Indem  seine  An- 
hänger gedankenlos  wiederholen,  was  bereits  vorliegt,  stehen  sie 
der  Gewinnung  einer  umfassenderen  Ansicht  vom  Weltall  im  Wege. 


—    173    — 

Dann  kommt  es  leicht  zur  Auflehnung"  gegen  jedes  System 
überhaupt.  Derselbe  Verstand,  der  Systeme  schafft,  wendet 
sich  nun  der  Aufgabe  zu,  sie  wieder  zu  zerstören,  um 
die  Menschen  von  veralteten  Denkeewohnheiten  zu  befreien. 
Man  kann  diese  Richtung  als  ,, Aufklärung"  bezeichnen  und 
dabei  nicht  nur  eine  Bewegung  des  18.  Jahrhunderts,  sondern 
einen  sich  öfter  wiederholenden  Vorgang  meinen. 

Die  Verstandesaufklärung  aber  ist  bisweilen  in  derselben 
Gefahr  wie  der  starre  Dogmatismus.  Sie  hat  nicht  allein  skep- 
tische Tendenzen,  sondern  sucht  nun  ihrerseits  alles  mit  dem 
Verstand,  den  sie  gegen  Autorität  und  Glauben  als  Waffe 
braucht,  positiv  zu  beherrschen.  So  droht  sie,  in  einen  neuen 
„Dogmatismus"  umzuschlagen,  der  nur  noch  für  Verstandes- 
mäßiges Sinn  hat. 

Das  ruft  dann  leicht  eine  neue  Reaktion  hervor,  die  nicht 
schon  die  Form  eines  neuen  Systems  anzunehmen  braucht.  Es 
sind  vielmehr  zwei  andere  Möglichkeiten  zu  beachten.  Gegen 
die  Aufklärung  setzt  man  entweder  Mächte  des  geschichtlichen 
Lebens,  was  hier  nicht  weiter  in  Betracht  kommt.  Oder  man 
weist  auf  das  Ursprüngliche,  Elementare,  Natürliche  hin,  das 
jedem  Verstand  unzugänglich  bleibt,  und  damit  sind  wir  zu 
dem  allgemeinen  Typus  einer  geistigen  Bewegung  gekommen, 
der  für  eine  Würdigung  der  Lebensphilosophie  unserer  Zeit 
wichtig  ist. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  das  Schema  einer  Abfolge  von 
Scholastik,  Verstandesaufklärung  und  naturalistischer  Reaktion 
gegen  sie,  das  selbstverständlich  nur  Schema  ist,  und  in  das 
lediglich  Durchschnittserscheinungen  hineinpassen,  zunächst  noch 
etwas  genauer  an  den  Strömungen  des  18,  Jahrhunderts. 

Zumal  in  Deutschland  suchte  damals  die  Aufklärung  nicht 
allein  veraltete  Schulmeinungen  zu  bekämpfen,  sondern  zugleich 
alles  verstandesmäßig  zu  regeln,  und  zwar  sowohl  im  Gebiet 
der  Wissenschaft,  wo  das  einen  guten  Sinn  hat,  als  auch  im 
sittlichen,  künstlerischen  und  religiösen  Leben,  das  andere  als 
verstandesmäßige  Seiten  zeigt.  Man  wollte  sich  über  alles  „ver- 
nünftige Gedanken"  machen,  und  was  vor  der  abstrakten  Ver- 
nunft nicht  bestand,  besaß  nach  der  Meinung  der  Aufklärer 
überhaupt    kein   Recht.     So  geriet  das  irrationale   ,, Leben"  in 


—    174    — 

Geiahr.     Der  Verstand  drohte,   es  zu  „töten". 

Die  Aufklärung  hat  eine  Reihe  von  geistigen  Reaktionen 
hervorgerufen,  bei  den  Vertretern  des  Humanitätsideals,  der 
Romantik,  der  historischen  Schule.  Von  ihnen  sehen  wir  ab. 
Die  erste  der  geistigen  Bewegungen,  die  sich  radikal  und  erfolg- 
reich gegen  die  Alleinherrschaft  des  Verstandes  wendete,  war 
der  sogenannte  Sturm  und  Drang.  Er  bedeutete  die  Auflehnung 
besonders  der  unmittelbaren  Anschauung  und  des  elementaren 
Gefühls-  und  Willenslebens  gegen  das  rationale  Denken,  und 
das  Schlagwort,  mit  dem  man  den  Kampf  führte,  lautete: 
Natur, 

Man  braucht  nur  an  den  jungen  Goethe  zu  denken,  wie  er 
in  Straßburg  am  Münster,  an  Shakespeare,  am  deutschen  Volks- 
lied, lauter  höchst  , .unverständigen"  Erscheinungen,  und  im 
Verkehr  mit  Herder  wie  mit  dem  „natürlichen"  Landkind  Frie- 
derike zum  Stürmer  und  Dränger  wurde.  Man  versteht  dann 
sofort  die  positive  Bedeutung,  welche  das  Ausspielen  der  an- 
schaulichen und  lebendigen  ,, Natur"  gegen  die  abstrakte  und  tote 
Verstandeskultur  besitzt. 

Freilich  würde  der  Sturm  und  Drang  uns  wohl  in  weniger 
leuchtendem  Glanz  erscheinen,  wenn  unter  seinen  Vertretern 
nicht  der  eine  Goethe  gewesen  wäre,  welcher  der  Aufklärung 
noch  Anderes  entgegensetzte,  als  bloße  ,,xN'atur"  im  Sinne  des  Ur- 
sprünglichen. Goethe  hat  dem  Schlagwort  eine  Bedeutung  ver- 
liehen, die  nicht  allein  im  schroffen  Gegensatz  zum  ,, Systeme 
de  la  nature"  steht,  das  ihn  abstieß,  sondern  sich  auch  nicht  mit 
der  des  nur  Elementaren  und  Unmittelbaren  deckt.  Aber  es 
ist  kein  Zweifel,  daß  die  „Rückkehr  zur  Natur"  bei  ihm  wie 
bei  Rousseau  unter  anderem  auch  die  Berufung  auf  das  Ur- 
sprüngliche bedeutet,  und  daß  diese  Tendenz  nicht  fortzudenken 
ist  aus  den  für  die  Kulturentwicklung  entscheidenden  Bewe- 
gungen. 

Das,  was  er  „wohl  schmecken  und  genießen,  keineswegs  aber 
erkennen  und  erklären"  konnte,  stellte  Goethe  als  ,,  Natur"  in  den 
Vordergrund.  Auf  das  „Charakteristische"  kam  es  ihm  an.  Was 
„geschnürt  und  geziert"  oder  „kerkermäßig  ängstlich"  ist,  lehnte 
er  ab.  Das  waren  ihm  , »lästige  Fesseln  unserer  Einbildungs- 
kraft".    „Ich  rufe  Natur,  Natur.    Nichts    so  Natur   als   Shake- 


—    175    — 

speares  Menschen",  und  Shakespeares  Stücke  „drehen  sich  alle 
um  den  geheimen  Punkt,  in  dem  das  Eigentümliche  unseres 
Ich  .  .  .  mit  dem  notwendigen  Gang  des  Ganzen  zusammen- 
stößt". ,, Individuum  est  ineffabile"  wird  ein  Wort,  das  Goethe 
gern  zitiert.  Die  französischen  Trauerspiele  waren  ihm  ,, Paro- 
dien von  sich  selbst".  „Wie  das  so  regelmäßig  zugeht,  und  daß 
sie  einander  ähnlich  sind  wie  die  Schuhe."  Auch  er  wollte, 
also  wie  Bergson  von  Konfektionskleidern  nichts  wissen. 

In  solchen  und  verwandten  Begriffen,  wie  sie  des  jungen 
Goethes  Denken  seit  Straßburg  beherrschen,  haben  wir  das  all- 
gemeine Prinzip  von  Sturm  und  Drang,  das  sich  von  Goethes 
Persönlichkeit  und  seinem  dichterischen  Genie  ablösen  läßt  ^). 

Die  kurzen  Andeutungen  müssen  genügen,  um  klar  zu 
machen,  was  hier  wichtig  ist.  Nicht  nur  in  den  Zeiten  von 
Sturm  und  Drang,  sondern  auch  früher  schon  und  später  wieder 
hat  man  das  Elementare  und  Unmittelbare  gegen  einseitig  ver- 
standesmäßige Weltanschauungen  ausgespielt,  und,  um  auf  unsere 
Zeit  zurückzukommen:  was  man  in  Sturm  und  Drang  ,, Natur" 
nannte,  und  was  auch  jetzt  noch  oft  so  heißt,  nennt  man  heute 
mit  Vorliebe  ,,das  Leben".  Der  Ausdruck  wurde  gelegenthch 
übrigens  schon  früher  in  demselben  Sinn  gebraucht,  z.  B.  vom 
jungen  Hegel,  den  man  nicht  ohne  Grund  mit  der  Lebensphilo- 
sophie in  Verbindung  bringt. 

Jedenfalls  wird  sich  von  hier  aus  die  positive  Bedeutung  der 
modernen  Geistesströmungen  am  besten  verstehen  lassen,  und 
unter  diesem  Gesichtspunkt  kann  man  den  Einfluß,  den  sie  ge- 


1)  Wer  weitere  Einzelheiten  wünscht,  ist  auf  das  Werk:  Der 
junge  Goethe.  Neue  Ausgabe  in  sechs  Bänden,  besorgt  von  Max 
Morris,  1909—12,  zu  verweisen.  Es  gibt  vielleicht  kein  ,, moderne- 
res" Buch.  Von  Goethes  Dichtungen  habe  ich  im  Text  abgesehen. 
Auch  sie,  besonders  der  Urfaust,  sind  selbstverständlich  voll  von 
Sturm  und  Drangzeichen.  Man  wird  in  ihnen  Prägungen  für  fast 
alles  finden,  was  damals  und  heute  Weltanschauung  weiter  Kreise 
war  und  ist.  Doch  enthalten  sie  zugleich  so  unendlich  viel  mehr 
als  theoretisch  formulierbare  Weltanschauung,  daß  das  allge- 
meine Prinzip  hier  schwerer  in  seiner  Abstraktheit  erkennbar 
ist,  und  deshalb  empfiehlt  es  sich,  zuerst  an  Kundgebungen  Goethes 
zu  denken,  in  denen  er  selber  sich  theoretisch  äußert.  Es  kommt 
hier  nicht  auf  Anschauung,  sondern  auf  Gedanken  über  An- 
schauung an. 


—    176    — 

Wonnen  haben,  begrüßen.  Wo  die  Philosophie  nicht  allein 
-glaubt,  mit  dem  Verstand  die  Welt  denken  zu  müssen,  was  be- 
rechtigt ist,  sondern  wo  sie  alles  so  zu  denken  sucht,  daß  sie 
dabei  nicnt  mehr  die  Welt,  sondern  nur  noch  das  Denken  denkt 
oder  den  Verstand  versteht,  da  sind  die  Philosophen  des  Lebens 
in  vollem  Recht,  wenn  sie  sagen:  die  Welt  ist  unendlich  viel 
mehr  als  das,  was  restlos  in  die  Begriffe  des  Verstandes  ein- 
geht. 

Zwar  wird  die  Philosophie  niemals  auf  die  Herrschaft  des 
Logischen  oder  Rationalen  über  die  Welt  verzichten,  d.  h.  stets 
versuchen,  alles  unter  Begriffe  zu  bringen,  denn  ein  anderes 
Mittel,  die  Welt  zu  erkennen,  steht  ihr  nicht  zur  Verfügung. 
Aber  sie  wird  sich  ebenso  vor  Panlogismus  oder  Rationalismus 
hüten,  d.  h.  vor  dem  Glauben,  das  Logische  oder  Rationale  sei 
selber  die  ,, Substanz"  der  Welt,  also  nicht  nur  das,  womit  man 
die  Welt  denkt.  Wo  daher  das  Streben  nach  rationaler,  wissen- 
schaftlicher Auffassung  des  Ganzen  dazu  führt,  das  All  der  Welt 
in  eine  bloß  rationale,  bloß  wissenschaftliche  Welt  zu  verwan- 
deln, da  hat  der  Hinweis  auf  das  lebendige  Leben,  das  stets 
irrational  und,  wenn  man  will,  überverständig  ist,  in  der  Tat  un- 
antastbare Bedeutung. 

Auch  darf  gewiß  nicht  bezweifelt  werden,  daß  in  unserer 
Zeit  die  Aufklärung  des  18.  Jahrhunderts  noch  immer  nicht 
„tot"  ist,  und  insofern  vermag  die  Lebensphilosophie  uns  viel- 
leicht im  Prinzip  dieselben  Dienste  zu  leisten  wie  der  Sturm  und 
Drang  im  18.  Jahrhundert,  wobei  wir  selbstverständlich  nicht 
allein  von  dem  jungen  Goethe,  sondern  auch  von  den  andern 
Männern  absehen,  die  innerhalb  der  Sturm-  und  Drangbewegung 
zugleich  mehr  als  Stürmer  und  Dränger  waren. 

Mit  Nachdruck  also  heben  wir  hervor,  was  schon  gelegent- 
lich angedeutet  wurde:  die  Besinnung  auf  die  anschauliche  und 
lebendige  Unmittelbarkeit  des  Lebens  oder  auf  die  elementaren 
Erlebnisse  und  ein  daraus  erwachsender  Irrationalismus,  d.  h. 
die  Einsicht  in  die  Grenzen  des  Verstandeswissens  gegenüber  der 
ursprünglich  gegebenen,  jeder  begrifflichen  Beherrschung  spot- 
tenden Fülle  und  Mannigfaltigkeit  ist  gewiß  nicht  überflüssig, 
sondern  kann  im  Interesse  universaler  Betrachtung  dringend  not- 
wendig sein,   wo  man  die  Welt  mit  der  Verstandeswelt  gleich- 


—    177    — 

setzt.  Insofern  haben  sowohl  Denker  wie  Dilthey  oder  Simmel 
als  auch  Biologisten  wie  Nietzsche  oder  Bergson  oder  James, 
selbst  wenn  wir  von  ihrer  allgemeinen  Kulturbedeutung  absehen, 
große  Verdienste  für  die  wissenschaftliche  Philosophie.  Ihre 
Kritik  mancher  angeblich  naturwissenschaftlicher,  in  Wahrheit 
rationalistisch-metaphysischer  Dogmen,  an  denen  viele  noch  mit 
Zähigkeit  festhalten,  war  eine  befreiende  Tat.  Sie  hat  unseren 
Horizont  erweitert.  Die  Welt,  die  uns  Probleme  stellt,  ist  da- 
durch größer  geworden.  Neues  Material  tritt  zutage,  das  der 
Rationalismus  nicht  sah,  ja  verdeckte. 

Mit  dem  biologistischen  Prinzip  hat  das  freilich  wenig  zu 
tun.  Hier  kommt  mehr  die  intuitive  Richtung  in  Betracht. 
Aber  besonders  Nietzsche  und  Bergson  sollten  ja  dadurch,  daß 
wir  sie  Biologisten  nannten,  nicht  in  ihrer  Totalität  charakteri- 
siert werden.  Der  Intuitionismus  ist  in  ihnen  mindestens  ebenso 
stark.  Die  Kritik  ihres  Biologismus  berührt  daher  ihre  mit  der 
Sturm-  und  Drangbewegung  vergleichbare  positive  Bedeutung 
nicht.  Ihre  Gedanken  stellen  gegenüber  dem  einseitigen  Ratio- 
nahsmus,  der  noch  von  der  Aufklärung  des  18.  Jahrhunderts 
zehrt,  einen  großen  Fortschritt  in  universaler,  also  philosophi- 
scher Richtung  dar. 

Bergson  ist  allen  denen  zu  empfehlen,  die  „monistisch"  zu 
philosophieren  glauben,  wenn  sie  sich,  wie  einst  das  Systeme  de  la 
nature,  an  einem  Komplex  physikalischer  Begriffe  orientieren  und 
damit  das  Weltall  zu  erfassen  suchen,  gleichviel  ob  sie  dabei 
Newton  oder  Einstein  zugrunde  legen.  So  klein  und  arm,  wie 
sie  meinen,  ist  die  Welt  nicht.  Bergson  hat  ihre  andere,  der  Be- 
rechnung unzugängliche  Seite  gesehen. 

Auch  dazu  kann  dieser  Denker  beitragen,  alle  Versuche  end- 
gültig zu  überwinden,  die  darauf  ausgehen,  den  Menschen  und 
das  Menschliche  so  niedrig  einzuschätzen  wie  möglich.  Verglei- 
chen wir  seine  Metaphysik  mit  der  älteren  Richtung  des  Biolo- 
gismus, bei  der  alles  auf  berechenbare  Nützlichkeit,  Denkökono- 
mie, Energieersparnis,  Massenproduktion  von  Kindern  und  ähn- 
liche ,, Weltziele"  herauskommt,  so  steht  er  sehr  hoch.  Er  sucht 
nach  einer  umfassenden,  das  ,, Unverständige"  einschließenden 
Weltanschauung.  Hier  ist  Hoffnung,  während  man  dort  alle 
Hoffnung  fahren  lassen  muß. 

R  i  c  k  e  r  t ,  Philosophie  d-  Lebens.  1 2 


-    178    — 

Bei  ihm  sind  ferner  noch  Spuren  von  dem  Großen,  das  das 
19.  Jahrhundert  gebracht  hat,  besonders  von  seiner  Willenslehre 
und  seinem  Entwicklungsgedanken,  die  es  dem  Rationalismus 
und  dem  Stabilitätsprinzip  des  18.  Jahrhunderts  entgegenstellte. 
Freilich  war  der  Voluntarismus  der  deutschen  Philosophie  mehr 
an  der  autonomen  Persönlichkeit  als  am  ,, Instinkt"  und  ihr 
Evolutionismus  mehr  an  den  Mächten  der  Geschichte  als  am 
,,elan  vital"  orientiert.  Besonders  für  das  historische  Leben 
zeigt  die  Lebensphilosophie  Bergsons  auffallend  wenig  Verständ- 
nis, und  insofern  darf  man  in  dieser  Modeströmung  mit  ihrem 
sich  entwickelnden  Lebenswillen  nur  von  Spuren  und  Resten  der 
klassischen  deutschen  Philosophie  reden.  Aber  vielleicht  geben 
sie  Ansatzpunkte  für  eine  vollere  i  Entfaltung  dieser  Gedanken, 
und  dann  wäre  es  erfreulich,  daß  zunächst  einmal  wenigstens 
der  Voluntarismus  und  Evolutionismus  Bergsons  Mode  gewor- 
den ist. 

Am  höchsten  jedoch  ist  Bergsons  erstes  Werk  über  die  un- 
mittelbaren Gegebenheiten  zu  stellen,  das  schon  1889  herauskam 
und  leider  durch  längere  Zeit  so  gut  wie  keine  Beachtung  fand. 
Die  Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung  sind  hier 
unter  eigenartigen  Gesichtspunkten  überzeugend  aufgezeigt.  Es 
wird  besonders  dargetan,  wie  wenig  die  mathematische  Physik 
imstande  ist,  das  zu  erfassen,  was  wir  als  „Wirklichkeit"  be- 
zeichnen müssen.  Das  wird  Bergsons  Hauptverdienst  bleiben. 
Was  im  unendUchen  Raum  vorgeht  und  auf  ihn  bezogen  werden 
kann,  ist  nur  ein  Teil  des  Weltganzen.  Mit  der  Lebensphiloso- 
phie im  engeren  Sinn,  die  auf  dem  biologistischen  Prinzip  ruht, 
hat  freilich  gerade  dies  Buch  Bergsons  noch  so  gut  wie  nichts  zu  tun, 
aber  der  Intuitionismus  wird  darin  in  der  glücklichsten  Weise 
zur  Kritik  rationalistischer  Dogmen  verwendet.  Ihre  ]\lission, 
das  Feld  frei  zu  machen  für  einen  umfassenderen  Weltbegriff, 
erfüllt  die  Lebensphilosophie  im  Prinzip  hier  ebenso,  wie  die 
Neuentdeckung  der  anschaulichen  und  lebendigen  ,, Natur"  es  in 
den  Zeiten  von  Sturm  und  Drang  getan  hat.  Sie  lehrt  das  Un- 
berechenbare sehen,  das  es  doch  auch  gibt.  Das  ist  der  positive 
Sinn  des  Intuitionismus. 

Auch  bei  Nietzsche  finden  wir  tiefe  Blicke  in  die  Ursprüng- 
lichkeit des  Lebendigen  gegenüber  dem  bloß  gedachten  Leben. 


—    179    — 

Vor  allem  hat  er  wieder  mit  unvergleichlicher  Sprachgewalt  die 
Stimmung  zum  Ausdruck  gebracht,  die  jeden  Denkenden  über- 
kommen muß  bei  der  Ohnmacht,  die  Fülle  der  lebendigen  Welt 
zu  erfassen,  und  gerade  die  a  u  ß  e  r  w  i  s  s  e  n  s  c  h  a  f  1 1  i  c  h  e 
Sprachgewalt  ist  hier  entscheidend.  Das  Unbegreifliche,  das 
man  heut  „Leben"  nennt,  geht  ja  in  keine  theoretische  oder 
wissenschaftliche  Wortbedeutung  ein,  und  seine  Bezeichnung  als 
Leben  wäre  daher  ebenso  unzureichend  wie  jede  andere  Namen- 
gebung,  hätte  Nietzsche  es  nicht  vermocht,  dem  Wort  Leben  einen 
Sinn  zu  verleihen,  der  überwissenschaftlich  zum  Bewußtsein  bringt, 
worauf  es  ankommt:  die  ungeheure  atheoretische  Wichtigkeit 
dessen,  was  sich  in  keinen .  Begriff  bringen  läßt.  Man  fühlt 
sie  bei  Nietzsche  unmittelbar,  auch  ohne  daß  man  sie  logisch  ver- 
steht. Das  ist  zwar  nicht  selbst  schon  Wissenschaft,  aber  wissen- 
schaftlich bedeutsam,  weil  es  auf  die  Grenzen  des  wissenschaftlichen 
Denkens  hinweist.  Deshalb  kann  jeder,  der  die  Begriffe  mit  der 
Wirklichkeit  des  Lebens  verwechselt,  auch  philosophisch  von 
Nietzsche  viel  lernen. 

Daß  andere  Denker  schon  vor  ihm  Aehnliches  gedacht  haben 
wie  er,  ändert  an  seiner  Bedeutung  nichts.  Der  Hinweis  auf  die 
„Natur"  oder  auf  das  „Leben"  ist  immer  wieder,  wie  man  das 
Gemeinte  auch  nennen  mag,  von  Neuem  nötig.  Was  für  unsere 
Generation  und  für  unsere  Ohren  verständlich  zu  sagen  war, 
hat  Nietzsche  schön  und  eindringlich  zum  Ausdruck  gebracht, 
und  jede  Zeit  muß  in  ihrer  Weise  das  finden  und  in  ihrer  Sprache 
das  sagen,  was  ihr  not  tut  *). 


1)  Auf  das  unreife  Gerede  derer,  die,  ohne  gründliche  Kennt- 
nisse zu  besitzen,  Nietzsche  in  eine  Reihe  mit  Denkern  wie  Piaton, 
Aristoteles,  Plotin,  Augustin,  Descartes,  Spinoza,  Leibniz,  Kant, 
Hegel  stellen,  gehe  ich  nicht  ein.  Man  tut  Nietzsche  Unrecht,  wenn 
man  ihn  mit  diesen  Männern  vergleicht.  Mit  Kulturferscheinungen 
wie  Rousseau  mag  man  ihn  zusammenstellen,  obwohl  auch  da 
Vorsicht  am  Platz  ist.  Nietzsches  Bedeutung  für  die  allgemeine 
Kultur  kann  man  noch  nicht  übersehen.  Ist  er  ein  „europäisches 
Ereignis-'?  Darüber  haben  wir  kein  Urteil.  Zweifellos  gehört  er 
zu  den  geistreichsten  Schriftstellern,  die  Deutschland  besitzt. 
Dessen  wollen  wir  uns  freuen.  Aber  zu  den  ,, großen  Philosophen"  ? 
Wer  würde  es  w  a  g  e  n  ,  Piaton  oder  Kant  geistreich  zu  nennen  ? 
Eine  persönliche  Bemerkung  sei  mir  gestattet.  Ich  habe  als  junger 
Student  im  Sommer  1886  die  drei  ersten  Teile  des  Zarathustra 

12* 


—    180    — 

So  werden  wir  es  also  zwar  nach  wie  vor  ablelmen,  die 
Welt  und  das  Leben  intuitiv  oder  gar  biologistisch  in  ihrer 
Lebendigkeit  zu  erkennen,  denn  alle  Erkenntnis  braucht  Begriffe, 
die  unlebendig  sind,  und  die  Begriffe  der  Biologie  sind  nicht 
einmal  universal.  Aber  das  können  wir  in  der  Tat  gerade  von 
der  Lebensphilosophie  lernen,  wenn  wir  sie  besser  verstehen, 
als  sie  sich  selbst  versteht:  wir  dürfen  nie  glauben,  in  die 
Begriffe  der  Philosophie  lebendiges  Leben  selbst  eingefangen  zu 
haben,  sondern  können  als  Philosophen  uns  nur  die  Aufgabe 
stellen,  dem  Leben  so  nahe  zu  kommen,  wie  sich  das  mit  dem 
Wesen  des  begrifflichen  Philosophierens  verträgt. 

Vor  allem  wird  die  Philosophie  des  Lebens  uns  jedoch 
mahnen,  auch  in  der  Philosophie  das  Leben,  das  sie  „töten" 
muß,  nicht  zu  vergessen.  Ueber  das  Leben,  das  wir  alle 
leben,  gilt  es,  zu  philosophieren,  ja  wir  werden  recht  tun,  wenn 
wir  es  in  den  Mittelpunkt  stellen,  um  von  ihm  aus  zum  Welt- 
ganzen vorzudringen.  Den  lebendigen  Menschen  in  seiner  Tota- 
lität haben  wir  zuerst  zu  verstehen  und  im  Zusammenhang 
mit  ihm  dann  die  Welt,  in  der  er  lebt.  Besonders  darf  die 
Philosophie  nicht  nur  über  das  Denken  denken  und  als  Logizis- 
mus  dem  vollen  Leben  feindlich  werden,  wie  alle  die  andern 
einseitigen  Richtungen,  welche  Begriffe  von  SpezialWissenschaften 
zu  Weltallbegriffen  erweitern,  mögen  sie  das  in  Form  des  Mate- 
rialismus oder  des  Psychologismus,  des  Biologismus  oder  des 
Historismus  tun. 

In  diesem  Sinn  haben  also  auch  wir  aus  dem  vollen  Leben 
heraus  zu  philosophieren,  ja  insofern  können  wir  uns  sogar  auf 
Nietzsches  Liebe  zum  Leben  berufen.  Seien  wir  jedem  dank- 
bar, der,  wie  einst  Sturm  und  Drang  den  [Menschen  die  „Natur", 


mit  glühender  Begeisterung  gelesen,  zu  einer  Zeit,  da  Nietzsche 
völlig  unbekannt  war,  und  von  da  ab  jede  Zeile  von  ihm,  die  mir 
zugänglich  wurde.  Oft  habe  ich  frühir  hören  müssen,  daß  ich  ihn 
überschätze,  und  noch  jetzt  greife  ich  immer  wieder  nach  seinen 
Werken.  Aber  für  ,, einen  großen  Philosophen"  werde  ich  ihn  erst 
halten,  wenn  man  mir  zeigt,  daß  er  einem  der  zeitlosen 
Probleme  der  Philosophie,  die  seit  Piaton  das  europäische  Denken 
beherrschen,  eine  wesentlich  neue  Seite  abgewonnen  hat,  und  ein 
solcher  Versuch  ist  bisher  nicht  gemacht.  Ja,  Nietzsche  bleibt  in 
einigen  fundamentalen  Fragen  weit  hinter  dem  zurück,  was  wissen- 
schaftlich längst  klar  gestellt  war,  als  er  zu  philosophieren  begann. 


—    181    — 

uns  jetzt  das  „Leben"  lieben  lehrt  in  seinem  Reichtum  und 
in  seiner  unerschöpflichen  Lebendigkeit.  Wohl  uns,  denen  nicht 
nur  wie  dem  jungen  Goethe  die  Natur  herrlich  leuchtet,  sondern 
die  auch  mit  dem  alten  Goethe,  trotz  aller  schweren  Erlebnisse, 
sagen  können:  „Wie  es  auch  sei,  das  Leben,  es  ist  gut."  Zu 
solcher  Haltung  dem  Leben  gegenüber  mag  heute  Nietzsche  uns 
verhelfen,  falls  wir  der  Hilfe  dazu  bedürfen. 

Freilich  ist  seine  Liebe  zum  Leben  noch  keine  Philosophie, 
ja  als  leidenschaftliche  Parteinahme  steht  sie  im  Gegensatz  zur 
Wissenschaft,  Als  Lebensstimmung  jedoch  kann  sie  trotzdem 
auch  auf  die  Entwicklung  einer  echten  Lebensphilosophie  günstig 
wirken ,  wo  sie  nicht  dazu  führt ,  das  Denken  zu  verachten. 
Liebevoll  wollen  wir  auch  beim  Denken  und  Philosophieren  dem 
Leben  ins  Auge  schauen,  nach  dem  „Gold"  suchen,  das  darin 
blinkt,  um  darüber  zur  Klarheit  zu  kommen,  und  es  soweit 
bewahren,  wie  sich  das  mit  dem  Denken  irgend  vereinigen  läßt. 

In  dieser  Hinsicht  können  wir  ganz  mit  der  Zeitströmung, 
ja  mit  der  Mode  gehen,  die  unter  Nietzsches  Einfluß  steht. 
Daß  der  lebendige  Mensch  das  Leben  liebt,  aus  dem  seine  Freuden 
und  Schmerzen  stammen,  ist  nur  in  der  Ordnung,  und  daß  er 
nach  einer  Philosophie  strebt,  die  ihm  Wesen  und  Sinn  dieses 
Lebens  erschließt,  soweit  das  Denken  das  vermag,  dagegen  läßt 
sich  vollends  nicht  das  Geringste  einwenden.  Jede  wahrhaft 
umfassende  Philosophie  muß  Philosophie  des  uns  alle  umfassenden 
Lebens  sein.  Was  wir  nicht  irgendwie  ,, leben",  darüber  können 
wir  auch  nicht  denken,  und  über  alles  Leben  haben  wir  in  der 
Philosophie  zu  denken. 

Nur  das  ist  andererseits  ebenso  immer  wieder  zu  betonen  und 
festzuhalten,  damit  die  Lebensstimmung  uns  nicht  auf  die  Irr- 
wege des  Intuitionismus  und  des  Biologismus  führt:  die  Kluft 
zwischen  Denken  und  Leben  läßt  sich  nie  überbrücken.  Falls 
daher  im  Kampf  des  Lebens  mit  dem  Denken  das  Leben  siegt, 
unterliegt  zugleich  die  Philosophie.  Leben  als  bloßes  Leben  bleibt 
unter  philosophischen  Gesichtspunkten  ein  Chaos.  Ja,  je  leben- 
diger, d.  h.  je  vitaler  es  lebt,  um  so  chaotischer  muß  es  den 
Denker  anmuten,  falls  er  es  wircklich  in  seiner  Lebendigkeit 
erlebt.  Wer  das  nicht  „erlebt"  hat,  steht  dem  Leben  noch  sehr 
fern..  Freilich,  auch  das  mag  richtig  sein,  was  Zarathustra  sagt: 


—    182    — 

man  muß  noch  Chaos  in  sich  haben,  um  einen  tanzenden  Stern 
gebären  zu  können.  Aber  das  Chaos  ist  noch  nicht  der  tanzende 
Stern.  Der  muß  aus  ihm  erst  geboren  werden,  und  ohne  begriffliche 
Beherrschung  des  Lebenschaos  durch  das  Denken  kommen  wir 
zu  keinem  Stern,  geschweige  denn  zu  einem  Kosmos,  zu  einer 
Welt  von  Sternen,   die  diesen  Namen  verdient. 

Das  zeigt  einerseits  gewiß,  wie  recht  die  haben,  Welche  auf 
den  Reichtum  des  Lebens  hinweisen,  auf  seine  unerschöpfliche 
Mannigfaltigkeit,  die  in  jeder  wachen  Minute  uns  umgibt  oder 
in  uns  emporwächst,  und  die  man  so  oft  über  den  Begriffen 
der  Wissenschaft  vergißt.  Es  zeigt  aber  andererseits  nicht  minder 
deutlich,  daß  der  theoretische  Mensch  die  konkrete  lebendige 
Fülle  des  Wirklichen  niemals  erfassen  wird,  wenn  er  irgendwie 
Wissenschaft  treibt.  Nur  die  eine  Seite  zu  sehen,  ist  der  Fehler 
des  Rationalismus  und  Intellektualismus.  Der  Antirationalismus 
und  Antiintellektualismus  der  modernen  Lebensphilosophie  ist 
nicht  minder  einseitig  in  der  entgegengesetzten  Richtung.  Man 
darf  aus  dem  Umstand,  daß  die  Produkte  des  Denkens  arm 
erscheinen,  sobald  man  sie  mit  dem  Leben  selbst  vergleicht, 
keine  Anklage  gegen  die  Wissenschaft  machen.  Man  sollte 
vielmehr  zu  verstehen  suchen,  worin  trotz  der  Unlebendigkeit 
seines  Inhalts  die  unvergleichliche  positive  Bedeutung  des  wissen- 
schaftlichen Begriffes  besteht.  Vielleicht  versteht  man,  daß 
grade  in  seiner  Grenze  seine  Größe  liegt,  sobald  man  sicli  von 
dem  Modevorurteil  befreit  hat,  daß  alles  lebendig  sein  soll. 

So  bleibt  der  positive  theoretische  Wert  der  Lebensphiloso- 
phie für  den  wissenschaftlichen  Menschen  in  der  Hauptsache 
doch  darauf  beschränkt,  daß  sie  ihm  neues  Material  zur  be- 
grifflichen Bearbeitung  zum  Bewußtsein  bringt  und  den  Philo- 
sophen mahnt,  nicht  zu  schnell  mit  dem  Leben  „fertig"  zu  wer- 
den. Doch  auch  das  darf  man  wahrlich  nicht  unterschätzen. 
Besonders  kann  die  Lebensphilosophie  uns  zeigen,  wie  das  Leben 
in  seiner  Unmittelbarkeit  überall  ein  Gepräge  trägt,  das  unwieder- 
holbar  und  einzigartig,  also  unersetzlich  ist.  Grade  darüber 
täuschen  die  Begriffs-  und  Wortnetze,  mit  denen  wir  in  der 
Wissenschaft  die  Individualität  und  Besonderheit  des  Realen 
überspinnen  müssen,  leicht  hinweg.  Bergsons  Wort  von  den 
Konfektionskleidern  besteht  in  dieser  Hinsicht  ebenso  zu  Recht 


—    183    — 

wie  Goethes  Sturm  und  Drang-Klage  über  die  einander  ähnlichen 
Schuhe.  Zumal  die  Naturwissenschaft  arbeitet  nicht  nach  Maß, 
und  sie  kann  es  nicht.  Da  es  zu  ihrem  Wesen  gshört,  daß  sie 
allgemeine  Begriffe  bildet,  in  deren  Inhalt  das  Einmalige, 
Besondere,  Individuelle  fortfällt,  führt  sie  uns  an  die  immer  neue 
und  überall  originelle,  unvergleichbare  Realität  nirgends  heran. 

Auffallend  ist,  wie  schon  gesagt,  daß  Bergson,  der  Wissen- 
schaft und  Naturwissenschaft  nach  französischem  Sprachgebrauch 
(science)  identifiziert,  kein  Verständnis  für  die  geschichtlichen 
Disziplinen  zu  haben  scheint,  die  doch  auch  zur  Wissenschaft 
gehören,  trotzdem  jedoch  das  Leben  nicht  generahsierend  auf- 
fassen, sondern  es  in  seiner  unwiederholbaren  Einmahgkeit  ver- 
folgen und  damit  dem  Lebendigen  als  dem  Individuellen  zum 
mindesten  näher  kommen  als  die  verallgemeinernde  Begriffsbil- 
dung der  Naturwissenschaften.  Dafür  haben  in  dieser  Hinsicht 
andere  Lebensphilosophen  wie  Nietzsche,  Dilthey  und  Simmel 
um  so  tiefer  gesehen  und  das  alte  Problem  vom  Verhältnis  des 
Allgemeinen  zum  Besonderen  in  ein  interessantes  Licht  gsbracht. 
Ihnen  werden  wir  zumal  überall  dort  zustimmen,  wo  sie  für  die 
UnersetzHchkeit  der  Persönlichkeit  oder  der  Einzelseele  und  ihr 
,  jindividuelles  Gesetz"  eintreten,  ebenso  wie  dort,  wo  sie  die  An- 
schaulichkeit, Ursprünglichkeit  und  Unmittelbarkeit  der  Erleb- 
nisinhalte betonen.  Beides  finden  wir  schon  bei  Goethe  in  Sturm 
und  Drang  vereint,  und  beides  fließt  hier  aus  derselben  Quelle 
des  lebendigen  Lebens,  die  keine  Philosophie  vergessen  darf,  selbst 
wenn  sie  eingesehen  hat,  daß  es  nicht  ihre  Aufgabe  sein  kann, 
die  lebendigen  Ströme  selber  in  ihre  Begriffe  aufzufangsn.  Sie 
muß  genau  auch  über  das  Bescheid  wissen,  was  sie  nicht  ver- 
mag. So  allein  kommt  sie  zu  einer  wahrhaft  umfassenden  Welt- 
anschauung. 

Im  Anschluj3  hieran  ließen  sich  noch  manche  Punkte  nennen, 
in  denen  wir  ebenfalls  mit  der  Lebensphilosophie  der  Zeit  zu 
gehen  haben.  Mit  Recht  tritt  sie  ein  für  die  fortschreitende 
Entwicklung  des  lebendigen  Lebens  gegenüber  dem  konservativen 
Prinzip  der  Stabilität,  welches  das  mathematisch-physikalische 
Denken  kennzeichnet,  für  das  rastlose  Werden  und  das  schöpfe- 
rische Aufblühen  gegenüber  dem  starren  Sein  und  dem  unfrucht- 
baren Beharren,  für  die  Einsicht,  daß  das  Wesen  der  wirklichen 


—    184    — 

Welt  Bewegung  und  Anderswerden,  nicht  Ruhe  und  Gleichbleiben 
ist.  Ebenso  legt  sie  im  Unterschied  von  der  Vorstellungspsycho- 
logie mit  guten  Gründen  Gewicht  auf  den  Willen  und  die  Tat, 
die  zu  jedem  lebendigen  Leben  gehören,  da  dieses  nicht  nur  passiv 
aufnehmen  und  dulden  will,  sondern  sich  überall,  wo  es  wahrhaft 
lebendig  ist,  formend  und  gestaltend  der^Welt  entgegenstellt. 
Kurz,  um  Schlagworte  zu  nennen,  Evolutionismus,  Voluntarismus 
und  Aktivismus  haben  ihr  Recht  gegenüber  Statik,  Intellek- 
tualismus und  Rezeptivität,  und  überall  handelt  es  sich  darum, 
daß  dabei  Zeugen  des  lebendigen  Lebens  zu  Wort  kommen. 
Das  bleibt  bestehen,  wenn  es  auch  nicht  weniger  gewiß  daneben 
Unwandelbares,  Unvergängliches,  Ewiges  gibt,  das  die  Philoso- 
phie ebenfalls  nicht  vernachlässigen  darf. 

Weitere  Einzelheiten  zu  nennen,  ist  nicht  mehr  nötig,  denn 
das  allgemeine  Prinzip,  worauf  die  positive  Bedeutung  besonders 
der  intuitiven  Lebensphilosophie  beruht,  muß  schon  jetzt 
zutage  treten.  Sie  löst  zwar  keine  Probleme,  aber  sie  stellt  das 
Denken  vor  neue  Aufgaben,  und  schon  das  will  viel  sagen. 

Freilich,  Vorsicht  bleibt  den  Modeströmungen  gegenüber 
immer  am  Platz.  Es  fehlt  ihnen  an  prinzipieller  Klarheit  grade 
über  das  Wichtigste,  das  sie  in  sich  tragen,  und  deshalb  werden 
sie  leicht  dazu  neigen,  ihr  Bestes  allzu  einseitig  in  den  Vorder- 
grund zu  stellen.  So  hat  man  von  einem  „neuen  Idealismus" 
gesprochen,  der  an  die  Stellen  von  „Vernunft,  Humanität,  Ge- 
setz", die  den  Idealismus  von  1800  kennzeichneten,  „Leben, 
Liebe,  Kraft"  setzen  wolle,  und  als  seine  Vertreter  neben  Stefan 
George,  Dilthey  und  Bergson  auch  den  Verfasser  dieses  Buches 
und  seine  Schüler  genannt  ^).  Dagegen  sind  denn  doch  Beden- 
ken zu  erheben,  besonders  falls  es  so  gemeint  wäre,  als  schlössen 
die  beiden  Arten  des  Idealismus  einander  aus.  Sagt  doch  ein 
klassischer  Vertreter  des  alten  Idealismus,  Fichte  im  Jahre  1800 
in  seiner  Bestimmung  des  Menschen:  „Die  tote,  lastende  Masse, 
die  nur  den  Raum  ausstopfte,  ist  verschwunden,  und  an  ihrer 
Stelle  fließet  und  woget  und  rauschet  der  ewige  Strom  vom  Leben 
und  Kraft  und  Tat,  vom  ursprünglichen  Leben." 


1)   GertrudBäumer,  Weit  hinter  den  Schützengräben. 
Aufsätze  aus  dem  Weltkrieg,   1916. 


—    185    —       ■ 

Da  haben  wir  Leben  und  Kraft  (ja  zugleich  Bergson  in  nuce) 
auch  bei  einem  „alten"  Idealisten,  und  die  Liebe  fehlt  bei 
Fichte  ebenfalls  nicht.  Schon  das  sollte  uns  hindern,  an  einen 
Gegensatz  des  Neuen  zum  Alten  in  dieser  Hinsicht  zu  glauben, 
und  außerdem  dürften  wir  Vernunft,  Humanität  und  Gesetz  selbst 
dann  nicht  preisgeben,  wenn  wir  sie  für  unvereinbar  mit  dem 
Leben,  der  Liebe  und  der  Kraft  hielten.  In  Wahrheit  lassen 
sich  beide  Richtungen  in  der  Philosophie  wohl  miteinander  ver- 
binden. Genauer,  es  ist  überhaupt  nicht  Aufgabe  der  Wissen- 
schaft, für  dies  oder  jenes  atheoretische  Ideal  einzutreten.  Sie 
wird  zur  Klarheit  über  alle  Lebensziele  zu  kommen  suchen, 
und  dann  jede  Einseitigkeit  des  entweder-oder,  das  verarmt, 
vermeiden  zugunsten  einer  Allseitigkeit  der  Synthese,  die  reich 
macht. 

Das  führt  jedoch  zugleich  noch  zu  einem  letzten  Punkt, 
mit  Rücksicht  auf  den  die  Lebensphilosophie  unserer  Zeit  auch 
positive  Bedeutung  besitzt.  Ideale  gibt  es  allein  auf  Grund 
der  Setzung  von  Werten,  und  man  braucht  nur  an  Nietzsche 
zu  denken,  so  sieht  man  sofort:  die  philosophischen  Strömungen 
unserer  Zeit  haben  nicht  bloß  den  Begriff  des  Lebens,  sondern 
auch  den  des  Wertes  in  den  Vordergrund  des  Interesses  gebracht. 
Beides  hängt  eng  miteinander  zusammen.  Lebendiges  Leben 
wird  immer  zugleich  wertendes  Leben  sein.  Daher  führt  das 
Lebensproblem  notwendig  zum  Wertproblem  und  damit  zu  der 
Frage  der  Philosophie,  die  als  die  wichtigste  von  allen  in  unserer 
Zeit  gestellten  gelten  kann.  Auch  deswegen,  daß  sie  die  Auf- 
merksamkeit auf  die  Wertprobleme  gelenkt  hat,  müssen  wir  die 
Tendenzen  der  philosophischen  Mode  begrüßen. 

Freilich  ist  hier  wieder  vor  einer  Ueberspannung  zu  warnen. 
Eine  „Umwertung  aller  Werte",  wie  Nietzsche  sie  anstrebte, 
kann  nicht  die  Aufgabe  der  Wissenschaft  sein.  Noch  mehr: 
lassen  sich  Werte  als  Werte  überhaupt  umwerten  ?  Menschliche 
Wertungen  und  Stellungnahmen  z  u  Werten,  die  nicht  mit  den 
Werten  selbst  verwechselt  werden  sollten,  sind  zu  beeinflussen. 
Man  mag  also  bewirken,  daß  der  eine  Wert  an  die  Stelle  des 
andern  tritt  und  gewertet  wird.  Die  Werte  selber  werden  dabei 
nicht  „umgewertet".  Die  bleiben,  was  sie  sind.  Werte  als 
Werte  können  sich  nicht  ändern.     Nur  unsere  Stellungnahme  zu 


—    186    — 

ihnen  ist  dem  Wandel  unterworfen.  Es  fehlt  bei  Nietzsche  ein 
klarer  Wertbegriff.  Doch  auch,  wenn  wir  hiervon  absehen, 
hat  die  Philosophie  als  Wissenschaft  wie  überall  so  auch  den 
Werten  gegenüber  sich  nicht  praktisch  wertend  zu  verhalten, 
sondern  ihren  Gegenstand  rein  theoretisch  zu  erfassen,  und  des- 
wegen fällt  das  „Umwerten",  falls  man  davon  überhaupt  reden 
will,  nicht  in  ihr  Gebiet. 

Andererseits  ist    nicht   zu   leugnen:  die  Werte  gehören  als 
Werte  genau   so  gut    zur  „Welt"  wie  das  wertfreie  Wirkliche, 
und   sie   sind   daher  von    der  Philosophie    als   der    universalen 
Wissenschaft  auch  zum  Gegenstand  der  Untersuchung  zu  machen. 
Es  bedeutet  ein  durch  nichts  gerechtfertigtes  Vorurteil,  daß  der 
theoretische  Mensch  sich  auf  die  Erforschung  dessen  zu  beschrän- 
ken habe,  was  wirkhch  ist.    Werte  sind  als  Werte  nicht  wirklich 
und  lassen  sich  trotzdem  nicht  weniger  theoretisch  auffassen  wie 
die  wertfreie  Realität.     Ja,    gerade  wenn  man  betont,  daß  die 
Philosophie  als  Wissenschaft  nicht  zu  werten,  sondern  zu  erken- 
nen habe,  muß  es  als  eine  notwendige  Aufgabe  erscheinen,  daß 
sie  auch  erkennt,  wie  weit  das  Gebiet  der  Werte  sich  in  der  Welt 
erstreckt.     Nur   dann  wird  sie  das  Werten  der  Werte  in   ihrer 
Sphäre   mit  Sicherheit  vermeiden,   falls   sie  genau  weiß,  wo  sie 
es  mit  Werten  zu   tun  hat,  und  welcher  Art  diese  Werte  sind. 
Mit  Rücksicht  auf  diese  Probleme  ist  die  Philosophie,   die 
außerhalb  der  Zeitströmungen  liegt,  besonders  die  akademische, 
heute  von  einer  auffallenden  Zaghaftigkeit.     Dem  Wertproblem 
geht  sie  fast  ängstlich  aus  dem  Wege,  oder  genauer;  sie  behan- 
delt es  nur  implicite  und  nennt  es  nicht  beim  Namen,  was  zu 
mancherlei  Unklarheiten    führt.      Da   könnten   Viele  von    der 
Modephilosophie  lernen. 

Beispiele  machen  das  deutlich.  Lotze  wollte  die  Welt  nicht 
nur  „berechnen",  sondern  „verstehen".  Vom  Verstehen  spricht 
man  auch  heute  viel  und  stellt  es  dem  Beschreiben  wie  dem 
Erklären  entgegen.  Was  aber  heißt  verstehen,  wenn  das  Wort 
seine  prägnante  Bedeutung  behalten  soll  und  sich  vom  Berech- 
nen oder  Erklären  oder  Beschreiben  prinzipiell  unterscheiden  ?  Bloß 
Wirkliches  bleibt  stets  unverständlich.  Verstehen  kann  man  nur  den 
„Sinn"  oder  die  „Bedeutung"  einer  Sache,  und  Sinn  und  Be- 
deutung hat  etwas  allein  mit  Rücksicht  auf  einen  Wert.    Das  in 


—    187    — 

jeder  Hinsicht  wertfreie  Sein  ist  zugleich  sinn-  oder  bedeutungs- 
frei. Wo  man  daher  , »verstehen"  will,  darf  man  die  Werte  nicht 
ignorieren.     Sonst  weiß  man  nicht,  was  man  versteht. 

Auch  vom  „Gelten"  ist  seit  Lotze  in  der  Philosophie  die 
Rede,  ja  der  Ausdruck  ist  fast  schon  Mode  geworden.  Die  Be- 
schäftigung mit  Werten  hält  man  trotzdem  für  ,, unwissenschaft- 
lich". Als  ob  etwas  anderes  als  ein  Wert  gelten  könnte!  Was 
heißt  denn  gelten,  wenn  das  Wort  nicht  eine  Wertbedeutung 
hat?  Das  bloß  Seiende  gilt  nie,  ebenso  wie  es  unverständlich 
ist.  Man  sagt  zwar:  eine  Tatsache  gilt.  Aber  das  ist  ungenau. 
Nicht  die  Tatsache,  sondern  der  Satz,  daß  etwas  Tatsache  ist, 
gilt,  und  er  gilt  nur  insofern,  als  er  einen  wahren  Sinn  hat. 
Wahrheit  aber  ist  ihrem  Wesen  nach  ein  Wert.  So  gibt  es  auch 
kein  wertfreies  theoretisches  Gelten. 

Das  führt  zugleich  auf  einen  besonderen  Punkt,  der  prin- 
zipielle Bedeutung  hat.  Wahrheit  ist  ein  Wert.  Sie  wendet 
sich  an  unser  Interesse.  Wir  nehmen  wertend  zu  ihr  Stellung. 
Es  ist  unbegreiflich,  daß  man  das  leugnet  *).  In  dieser  Hinsicht 
besitzt  sogar  die  biologistische  Erkenntnistheorie  des  Pragmatis- 
mus ein  Verdienst.  Zwar  geht  sie  in  die  Irre,  wenn  sie  glaubt, 
den  theoretischen  Wert  auf  den  „Nutzen"  oder  irgend  ein  anderes 
atheoretisches  Gut  zurückführen  zu  können.  Darin  liegt  eine 
grobe  Verwechslung  von  zwei  grundverschiedenen  Wertbegriffen. 
Doch  das  behauptet  sie  mit  vollem  Recht,  daß  die  Wahrheit 
ihrem  Wesen  nach  werthaft  ist,  und  daß  auch  der  erkennende 
Mensch  als  wertendes  Subjekt  verstanden  werden  muß. 

Das  Wahrheitsproblem  wird  als  Wirklichkeitsproblem  sich  nie 
lösen  lassen.  Die  Einsicht  ist  freilich  nicht  gerade  neu.  Sie 
sollte,  zumal  seit  Kant,  niemandem  mehr  verborgen  geblieben  sein. 
Auch  die  moderne  Lebensphilosophie  aber  hat  sie  in  wirksamer 

1)  Eine  ausführliche  Begründung  dieser  Ansicht  habe  ich  in 
meinem  Buch  über  den  ,, Gegenstand  der  Erkenntnis"  zu  geben 
versucht.  Dritte  Auflage.  1915.  Das  ist  die  philosophische  Pointe 
dieser  „Einführung  in  die  Transzendentalphilosophie".  Den  ersten 
Band  eines  Systems  der  Philosophie,  das  auf  dieser  erkenntnis- 
theoretischen Basis  errichtet  ist,  hoffe  ich  in  absehbarer  Zeit 
veröffenthchen  zu  können.  Hier  muß  ich  mich  auf  Andeutungen 
beschränken,  die  nur  auf  den  Zusammenhang  hinweisen  sollen, 
den  die  Kritik  der  Zeitphilosophie  mit  der  positiven  Ausgestaltung 
einer  Philosophie  des  Lebens  hat. 


—    188    — 

Weise  von  neuem  zum  Ausdruck  gebracht  und  damit  viele  darauf 
hingewiesen,  daß  der  theoretische  Forscher  als  wertendes  Wesen 
in  eine  Reihe  zu  stellen  ist  mit  dem  sittlichen,  dem  künstleri- 
schen und  dem  religiösen  Menschen.  Nicht  so  liegt  es,  daß  der 
atheoretische  Mensch  allein  wertet  und  der  erkennende  wertfrei 
bleibt,  sondern  beide  werten,  und  lediglich  die  Arten  der  Werte, 
die  sie  leiten,  und  dementsprechend  die  Arten  des  Wertens 
sind  prinzipiell  voneinander  verschieden. 

Daß  diese  wichtige  Einsicht  in  der  Modephilosophie  vermischt 
mit  unhaltbaren  Bestandteilen  auftritt,  ändert  an  ihrer  Bedeu- 
tung nicht  allzu  viel.  Sie  wird  sich  leicht  davon  befreien  lassen 
und  dann  in  ihrer  Tragweite  für  den  Aufbau  einer  wissenschaft- 
lich begründeten  Welt-  und  Lebensanschauung  zutage  kommen. 
Erst  dadurch,  daß  wir  auch  das  wissenschaftlich  lebende  Subjekt 
als  die  Wahrheit  wertend  und  dementsprechend  seine  Erkennt- 
nis als  theoretisches  Gut  verstehen,  an  dem  der  Wert  der  Wahr- 
heit haftet,  ist  es  möglich,  das  menschliche  Leben  sowohl  in 
seiner  Mannigfaltigkeit  als  auch  in  seiner  Einheit 
zu  erfassen.  Die  Erkenntnis,  die  bei  Kant  sich  als  Lehre  vom 
„Primat  der  praktischen  Vernunft"  anbahnt,  findet  sich,  obwohl 
zum  Teil  in  recht  verzerrter  Gestalt,  bei  Denkern  wie  Nietzsche 
und  Bergson,  Dilthe}^  und  James  wieder,  und  ihre  Gedanken 
können  daher  ebenfalls  wenigstens  zu  wichtigen  Ansatzpunkten 
für  eine  fruchtbare  Weiterentwicklung  der  Philosophie  werden. 
Es  kommt  nur  darauf  an,  daß  wir  den  theoretischen  Wert  der 
Wahrheit,  nachdem  er  als  Wert  erkannt  ist,  in  seiner  Eigenart 
kennzeichnen  und  dann  die  wissenschaftliche  ,,Welt"  in  der  ganzen 
Mannigfaltigkeit  ihrer  Ausgestaltungen  als  die  Welt  der  theoreti- 
schen Sinn-  und  Wertgebilde  ausdrücklich  ins  Bewußtsein  heben. 
So  allein  wird  [man  ihre  Bedeutung  im  Ganzen  des  Lebens  zu 
würdigen  in  der  Lage  sein. 

Die  Einsicht  in  das  Wesen  der  Wahrheit  als  eines  Wertes 
ist  in  mehrfacher  Hinsicht  gerade  für  die  Philosophie  des  Lebens 
von  Wichtigkeit.  Hier  sei  besonders  darauf  hingewiesen,  daß  sie 
uns  einen  Fingerzeig  gibt,  wo  wir  das  Andere  des  Lebens  zu 
suchen  haben,  von  dem  schon  wiederholt  die  Rede  war.  Wer 
über  das  Leben  philosophiert,  kann  grade  als  rein  Erkennender 
nicht  daran  zweifeln,  daß  die  Wahrheit  über  das  Leben  als  Wert 


—    189    — 

unabhängig  vom  Leben  gut,  denn  sonst  wäre  sie  keine  Wahrheit,  die 
sich  erkennen  ließe,  und  wenn  er  das  eingesehen  hat,  muß  er  sie 
zugleich  grundsätzlich  dem  wertenden  Leben,  das  in  der  Zeit 
verläuft,  entgegenstellen.  Es  gibt  keine  Philosophie  des 
Lebens,  die  nicht  Wahrheit  ü  b  e  r  das  Leben  als  gültig  voraus- 
setzt und  nach  ihr  sucht,  und  diese  Wahrheit  über  das  Leben 
läßt  sich  nur  als  etwas  verstehen,  das  mehr  als  Leben  ist.  So 
wird  in  den  geltenden  Lebenswahrheiten  ein  Anderes  des  Lebens 
in  seiner  Selbständigkeit  über  jeden  Zweifel  gestellt. 

Gerade  der  Philosoph  des  Lebens  kann  an  diesem  Anderen 
nicht  rütteln,  ohne  sein  eigenes  Philosophieren  damit  für  sinn- 
los zu  erklären.  Gestaltet  sich  also  die  Lebensphilosophie  zur 
Wertlehre  aus,  und  versteht  sie  das  Wesen  der  zeitlosen  theo- 
retischen Wertgeltung,  so  muß  sie  damit  zugleich  das  Prinzip 
der  reinen  Lebensimmanenz  durchbrechen.  Das  ist  der  philo- 
sophisch bedeutsame  Punkt  in  der  Verbindung  des  Lebenspro- 
blems mit  dem  Wertproblem.  So  gewiß  die  Lebensphilosophie 
Wertphilosophie  ist,  so  gewiß  kann  sie  als  Philosophie  des  theo- 
retischen Wahrheitswertes  nicht  Philosophie  des  bloßen  Lebens 
sein. 

Doch  wird  sie  bei  dem  theoretischen  Wert  allein  nicht  stehen 
bleiben,  sondern  zu  einer  Theorie  aller  Werte  sich  erweitern, 
und  auf  dieser  Basis  ist  dann  eine  umfassende  Philosophie  alles 
Lebens  zu  gewinnen.  Haben  wir  uns  nämlich  am  theoretischen 
Wertgebiet  theoretisch  orientiert,  dann  können  wir  an  ihm  die 
andern  Werte  in  ihrer  atheoretischen  Eigenart  theoretisch  messen 
und  dadurch  zugleich  in  ihrer  atheoretischen  Bedeutung  theo- 
retisch würdigen. 

Der  Philosoph  ist  als  theoretischer  Mensch  auch  wertend, 
aber  lediglich  theoretisch.  Er  hat  daher  die  atheoretischen  Werte 
nicht  zu  werten,  sondern  theoretisch  zu  verstehen.  Jedes 
Wertprophetentum  muß  er  meiden  und  überall  den  Schritt  zum 
Wertverständnis  machen.  Diese  Trennung  wird  leider  in  der 
Lebens-  und  Wertphilosophie  unserer  Tage  fast  niemals  durch- 
geführt. Insofern  können  wir  bei  der  Mode  nicht  stehen  bleiben. 
Beschränken  wir  uns  jedoch  auf  theoretisches  Verständnis  der 
Werte  und  bilden  es  so  aus,  daß  es  allseitig  wird,  dann  kom- 
men wir  grade  dadurch  zu  einer  allseitigen  Lebensanschauung. 


—    190    — 

Vom  Begriff  des  Wertes  aus  wird  sich  auch  der  vieldeutige  Be- 
griff des  Lebens  so  bestimmen  lassen,  daß  sein  philosophi- 
sches Problem  zutage  tritt.  Lebendig  in  dem  von  der  Lebens- 
philosophie wohl  fast  immer  gemeinten,  wenn  auch  nicht  klar  er- 
kannten Sinne  können  wir  die  Lebewesen  nennen,  deren  Leben  zu- 
gleich wertendes  Leben  ist,  und  der  „lebendige"  Mensch,  dessen 
Lebenssinn  die  Philosophie  deuten  will,  wird  für  sie  stets  der  wer- 
tende Mensch  sein.  Versteht  man  aber  unter  dem  Leben  alles  wer- 
tende Leben,  dann  eröffnet  sich  die  Möglichkeit,  auf  Grund  eines 
allseitigen  Wertverständnisses  auch  zu  einer  umfassenden  Philo- 
sophie des  Lebens  zu  kommen. 

Jedenfalls:  wollen  wir  den  Sinn  des  Lebens  deuten,  so 
müssen  wir  die  Werte  kennen,  die  ihm  zugrunde  liegen.  So 
hängen  die  Begriffe  des  Lebens  und  des  Wertes  nicht  nur  im 
Problem  der  theoretischen  Wahrheit  über  das  Leben,  sondern 
ganz  allgemein  bei  a  1 1  e  n  Lebensproblemen  notwendig  zusammen, 
und  auch  in  dieser  Hinsicht  können  wir  an  die  Lebensphilosophie 
der  Zeit  anknüpfen,  die  beide  vereint  in  den  Vordergrund  stellt. 

Ueber  die  Ausgestaltung  einer  richtig  verstandenen  Lebens- 
und Wertphilosophie  sind  hier  nur  flüchtige  Andeutungen  mög- 
lich. Zunächst  wird  sie  die  einseitigen  Lebensanschauungen,  wüe 
sie  sich  innerhalb  und  außerhalb  der  Wissenschaft  entwickeln, 
zu  verstehen  suchen,  d.  h.  nach  den  Wertungen  fragen,  die 
ihnen  zugrunde  liegen,  und  zu  diesem  Zweck  muß  sie  die  Werte 
kennen,  die  die  Wertungen  leiten.  Ist  das  gelungen,  dann  läßt  sich 
als  letztes  Ziel  eine  allseitige  Lebensanschauung  aufstellen,  in 
welcher  die  Gesamtheit  der  Werte  gleichmäßig  zum  Bewußtsein 
kommt. 

Auch  hier  müssen  wir  uns  nur  wieder  vor  der  Ueberspannung 
hüten,  daß  Philosophieren  zugleich  Leben  sein  soll.  Die  Philo- 
sophie bleibt  Theorie  des  Lebens,  und  wenn  der  Philosoph 
über  das  wertende  Leben  nachdenkt,  kann  er  nicht  selber  das 
Ganze  dieses  Lebens  in  sich  realisieren  wollen.  Er  muß  sich 
vielmehr  darauf  beschränken,  als  Philosoph  lediglich  theoretisch 
wertend  zu  leben.  Aber  als  Theoretiker  alles  wertenden 
Lebens  vermag  er  sich  zugleich  die  höchsten  Ziele  zu  stecken, 
die  er  als  Vertreter  der  universalen  Wissenschaft  anzustreben  hat, 
und   damit  wenigstens  ungefähr    deutlich  wird,  was  wir  damit 


—    191    - 

meinen,  sei  noch  einmal  ausdrücklich  auf  die  vier  verschiedenen 
Kennzeichen  hingewiesen,  welche  die  Philosophie  von  den  Spe- 
zialwissenschaften  unterscheidet. 

Wir  sahen,  daß  eine  Philosophie  des  bloßen  Lebens  den  An- 
forderungen, die  an  eine  universale  Wissenschaft  zu  stellen  sind, 
in  keiner  Hinsicht  zu  genügen  vermag.  Verbindet  sich  dagegen 
die  Lebensphilosophie  mit  einer  Wertlehre  und  hört  damit  auf, 
Philosophie  des  bloßen  Lebens  zu'  sein,  dann  entstehen  andere 
Möglichkeiten,  und  auch  das  wollen  wir  zum  Schluß  noch  aus- 
drücklich für  jeden  der  vier  angedeuteten  Punkte  gesondert  her- 
vorheben. 

Am  schwersten  zu  verstehen  wird  es  sein,  wie  eine  auf  die 
Wertlehre  gestützte  Philosophie  des  Lebens  zugleich  das  Ganze 
der  Welt  zu  ihrem  Gegenstand  macht,  also  zur  umfassenden 
Weltanschauung  wird.  Es  ist  dabei  jedoch  zu  berück- 
sichtigen, daß  die  Wirklichkeit  heute  in  allen  ihren  Teilen  von 
Einzelwissenschaften  als  Material  der  Forschung  beansprucht  wird, 
und  daß  die  Philosophie  daher  keine  Teilprobleme  der  realen 
Welt  mehr  in  Angriff  zu  nehmen  hat.  Die  Erkenntnis  der  Wirk- 
lichkeitstotalität ist  für  sie  eine  Aufgabe,  an  der  die^inzel- 
wissenschaften  in  ihrer  Gesamtheit  dauernd  zu  arbeiten  haben. 
Die  kann  sie  nicht  mit  einem  Schlage  zu  Ende  führen  wollen. 
Das  wäre  ein  sinnloses  Unternehmen.  Universale  Wirklichkeits- 
erkenntnis kann  sie  nur  in  dem  Sinne  noch  anstreben,  daß  sie 
über  die  letzten  Ziele  alles  Wirklichkeitserkennens  Klarheit 
zu  schaffen   sucht. 

Zu  diesem  Zweck  muß  sie  das  Erkennen  der  Wirklichkeits- 
totalität als  ein  Werten  des  theoretischen  Wertes  verstehen,  der 
an  dem  Inbegriff  der  Wirklichkeitserkenntnisse  haftet,  wenn  man 
aus  ihnen  ein  Ganzes  macht.  So  verw^andeln  sich  die  univer- 
salen Seins  probleme  in  theoretische  W  e  r  t  f  ragen.  Damit  er- 
faßt die  theoretische  Philosophie  in  ihrer  Weise  den  Begriff  des 
Wirklichkeitsganzen  als  Erkenntnisaufgabe,  und  sie 
tut  es  als  Wissenschaft  von  den  theoretischen  Werten  auf  dem 
einzigen  Wege,  der  nach  der  Aufteilung  des  Realen  an  die  Spe- 
zialwissenschaften  ihr  noch  bleibt,  falls  sie  dabei  nicht  mit  diesen 
in  Konflikt  kommen  will.  Die  Erkenntnis  des  Wirklichen  in 
allen  seinen  Teilen  muß  sie  den  Einzelforschern  überlassen,  und 


—    192    — 

universal  wird  sie  allein  dadurch,  daß  sie  diese  Erkenntnis  in 
ihrem  theoretischen  Sinn  und  in  ihren  letzten  umfassendsten 
Zielen  als  ein  einheitliches  Ganzes  zu  deuten  unternimmt.  Sie 
versteht  dadurch,  wie  im  theoretischen  Leben  des  Menschen  die 
Erkenntnis  der  Wirklichkeit  als  eine  stets  zu  erstrebende  und 
nie  ganz  zu  erreichende  Totalität  sich  darstellt,  und  sie  begreift 
damit  das  Wirklichkeitsganze  selbst,  soweit  die  Wissenschaft  es 
als  Ganzes  überhaupt  zu  erfassen  vermag. 

Wie  sie  andere  Wertprobleme  in  Angriff  nimmt,  haben  wir 
gesehen,  und  daher  ist  in  bezug  auf  den  zweiten  Punkt,  der  die 
Lebensanschauung  betrifft,  nur  noch  ausdrücklich  ihr 
universaler  Charakter  zu  betonen.  Sie  wird  sich  nicht  auf  das 
theoretische  Leben  beschränken,  sondern  das  wertende  Leben 
des  ganzen  Menschen  nach  allen  seinen  verschiedenen  Rich- 
tungen sich  zum  Bewußtsein  zu  bringen  suchen,  das  weit  über 
das  Erkennen  hinausgeht.  Ueberall  sind  es  Werte,  die  dem 
Leben  sinnvolle  „Lebendigkeit"  verleihen  und  es  damit  zu  et- 
was anderem  als  zum  bloßen  Leben  oder  zum  Vegetieren  machen. 
Um  der  W^erte  willen,  die  in  ihm  zum  Ausdruck  kommen,  lie- 
ben wir  das  Leben  als  Ganzes,  ja  es  ist  nicht  einzusehen,  wie 
wir  es  lieben  sollten,  wenn  es  keine  Werte  verkörperte.  So  gibt 
die  Philosophie  als  Wertlehre  uns  ein  Wissen  von  unserer  Le- 
bensanschauung, indem  sie  uns  über  die  Gesamtheit  der  Werte 
aufklärt,  um  deretwillen  uns  das  Leben  lieb  ist.  Mehr  als  eine 
solche  theoretische  Klarheit  kann  sie  uns  als  Wissenschaft  nicht 
geben,  und  mehr  darf  man  daher  von  ihr  auch  nicht  verlangen. 

Den  dritten  Punkt,  der  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  des 
Zeitlichen  zum  Zeitlosen  betrifft ,  haben  wir  eben- 
falls schon  gestreift.  Die  W'erte,  die  gelten,  sind  nicht  nur  das 
Andere  des  Lebens,  insofern  sie  das  Leben  zu  mehr  als  bloßem 
Leben  machen,  sondern  sie  liegen  als  Werte  in  ihrer  Geltung 
zugleich  über  aller  Zeit,  Für  die  theoretischen  Werte  läßt  sich 
die  zeitlose  Geltung  nicht  bezweifeln,  und  schon  damit  ist  das 
allgemeine  Prinzip  klar. 

Wie  es  mit  der  Zeitlosigkeit  der  atheoretischen  Werte  steht, 
ist  hier  im  einzelnen  nicht  zu  fragen.  Da  liegen  die  schwie- 
rigsten Probleme  einer  Theorie  der  Werte,  die  Theorie  bleiben 
will.     Bei  der  Bestimmung  des  allgemeinsten  Begriffes  einer  Le- 


—    193    — 

bensphilosophie  kommt  es  aber  darauf  auch  nicht  an.  Es  ge- 
nügt, wenn  wir  verstehen,  daß  allein  auf  Grund  einer  Wert- 
lehre die  Lebensphilosophie  überhaupt  in  der  Lage  ist,  das  Pro- 
blem vom  Verhältnis  des  zeitlichen  zum  ewigen  Leben  in  An- 
griff zu  nehmen.  Zeitlich  ist  alles  Leben,  so  weit  es  nur  lebt. 
Ewig  wird  es,  insofern  es  in  dem  lebt,  was  als  Wert  zeitlos  gilt. 
So  ist  das  Ewigkeitsproblem  als  Wertproblem  zu  stellen.  Dann 
zeigt  sich  zugleich,  wie  die  „Starrheit"  der  zeitlosen  Geltung  sich 
mit  der  ,. Beweglichkeit"  des  lebendigen  zeitlichen  Lebens  ver- 
trägt. Das  Eine,  das  zeitlose  Gelten,  schließt  das  Andere,  das 
zeitliche  Leben,  nicht  nur  nxht  aus,  sondern  im  sinnvollen 
Leben  ist  beides  miteinander  verbunden,  und  nur  die  philo- 
sophische Reflektion  muß  darin  trennen,  u  n  zu  begreifen. 

Was  endlich  die  Frage  des  Systems  der  Philosophie  be- 
trifft, so  bedarf  sie  keiner  längeren  Erörterung  mehr.  Ueberall 
bilden  die  Werte  die  Basis  der  richtig  verstandenen  Lebensphilo- 
sophie, und  deren  systematische  Gliederung  hängt  daher  von 
der  systematischen  Ordnung  der  Werte  ab.  Ein  System  der 
Philosophie  des  Lebens  läßt  sich  daher  nur  auf  Grund  eines  S  y- 
stems  der  "Werte  errichten. 

Wie  die  Systematik  zustande  kommt,  und  in  welchem  Sinne 
sie  vollständig  sein  kann,  haben  wir  hier  nicht  zu  fragen.  Es 
gilt  überall  nur,  zu  zeigen,  wo  in  den  Modeströmungen  der  Zeit 
die  Ansatzpunkte  liegen ,  an  welche  die  Philosophie  an- 
knüpfen kann,  um  sich  zu  einer  Philosophie  des  Lebens  auszu- 
gestalten, die  in  Wahrheit  Philosophie  des  Lebens  ist^ 
Mehr  als  solche  Ansatzpunkte  Treilich  kann  die  Zeit  uns  nicht 
geben.  So  lange  wir  uns  auf  sie  beschränken,  bleiben  wir  bei 
der  Zeitanschauung  stehen.  Es  gilt,  über  sie  hinaus,  durch  die 
,, Lebensanschauung"  hindurch,  zur  umfassenden  ,, Weltanschau- 
ung" zu  kommen.  Wie  das  im  einzelnen  möglich  ist,  über- 
schreitet vollends  den  Rahmen  dieser  Erörterung. 

Sollte  es  jedoch  gelingen,  aus  der  Lebens-  und  Wertphilo- 
sophie unserer  Tage  eine  umfassende  Philosophie  des 
werten  "den  Lebens  herauszuarbeiten ,  zu  dem  das  Er- 
kennen ebenso  gehört  wie  die  andern  Arten  der  Kontemplation, 
und  das  private  Leben  ebenso  wie  das  in  Gesellschaft  und  Staat, 
dann    muß  klar  wer.ien,    inwiefern  die  Modeströmungen  trotz 

Sickert,  Philosophie  d.  Lebens.  13 


—    194    —  . 

ihrer  Prinzipienlosigkeit  mit  Freuden  zu  begrüßen  sind.  Zu- 
nächst haben  sie  uns  jedenfalls  die  Fragwürdigkeit  des  Lebens 
und  der  Werte  gezeigt,  und  das  bedeutet  für  die  Philosophie 
schon  sehr  viel. 

Theorie  freilich  und  nur  Theorie,  also  ,,grau*',  wird  auch  die 
umfassendste  Philosophie  des  Lebens  bleiben  und  sich  insofern 
immer  vom  goldenen  Baum  des  grünen,  vitalen  Lebens  unter- 
scheiden. Doch  sogar  falls  man  das  beklagt,  kann  man  es  nicht 
ändern  wollen,  sobald  man  die  Notwendigkeit  erkannt  hat.  Und 
man  sollte  es  nicht  beklagen.  Gerade  wer  das  Leben  liebt,  muß 
als  Philosoph  lernen,  daß  Erkennen  und  Leben  zu  trennen  sind. 
Je  b3sser  er  nämlich  sich  so  in  seinem  Wesen  selbst  versteht, 
um  so  weniger  ist  er  der  Gefahr  ausgesetzt,  als  Theoretiker  des 
Lebens  dem  Leben  feindlich  zu  \terden.  Nur  dort,  wo  man  dem 
Denken  über  das  Leben  die  nie  zu  lösende  Aufgabe  stellt,  das 
lebendige  Leben  in  sich  aufzunehmen  und  dadurch  selbst  le- 
bendiges Leben  zu  werden,  wird  man  aus  der  Enttäuschung  dar- 
über, daß  dies  nicht  gelingt,  die  Philosophie  als  lebensfeindlich 
anklagen. 

Man  sollte  es  endlich  aufgeben,  im  Philosophieren  über  das 
Leben  ein  bloßes  Wiederholen  des  Lebens  zu  sehen  und  dann 
den  Wert  des  Philosophierens  an  seiner  Lebendigkeit  zu  messen. 
Philosophieren  heißt  Schaffen,  und  die  Einsicht  in  den  Abstand 
des  Geschaffenen  vom  bloß  gelebten  Leben,  zu  welcher  auch  die 
Lebensphilosophie  unserer  Tage,  trotz  ihrer  unwissenschaftlichen 
Lebensprophetie  und  der  sich  aus  ihr  ergebenden  antitheoretischen 
Verschiebung  des  Wertakzentes,  in  ihrer  Weise  viel  beigetragen 
hat,  muß  dann  sowohl  dem  Leben  als  auch  der  Philosophie  zum 
Segen  gereichen.  Nur  wer  verstanden  hat,  daß  das  Leben  des 
Lebens  und  das  Erkennen  des  Lebens  auseinanderfallen,  kann 
ein  Philosoph  des  Lebens  werden,  der  sowohl  das  Leben  liebt 
als  auch  über  das  Leben  nachdenkt. 

Warum  muß,  wie  in  Zarathustras  Tanzlied,  das  Leben  auf 
die  Weisheit  ,, eifersüchtig"  sein?  Nie  wird  das  Leben  weise,  und 
nie  wird  die  Weisheit  lebendig  werden.  Gerade  deshalb  aber, 
weil  sie  stets  in  verschiedenen  Sphären  bleiben,  sollten  sie  sich 
gut  miteinander  vertragen  können.  Auch  zur  „Lebensweisheit" 
wollen  wir  sie  nicht  zu  vereinigen  suchen,    denn  an  „Weisheit" 


—    195    — 

glauben  wir  moderne  Menschen  doch  nicht  mehr.  Jedenfalls 
ist  Weisheit  etwas,  das  sich  nicht  lernen  und  daher  auch  wohl 
nicht  lehren  läßt.  Wir  beschränken  uns  auf  ein  lern-  und  lehr- 
bares Wissen  vom  Leben,  und  grade  wenn  wir  dies  Wissen 
in  seiner  notwendigen  ,,Unlebendigkeit"  verstanden  haben,  wer- 
den wir  in  dem  heute  so  verdächtigen  sokratischen  Menschen 
keine  Gefahr  für  das  lebendige  Leben  sehen.  Von  den  echten 
Nachfolgern  des  Sokrates  gilt  das  Wort,  das  schon  Hölderlin  von 
Sokrates  sprach: 

Wer  das  Tiefste  gedacht,  liebt  das  Lebendigste. 

Sollte  man  meinen,  dies  sei  im  Grunde  auch  die  Ansicht 
Nietzsches  und  der  anderen  Lebensphilosophen  —  um  so  besser. 
Nur  sind  sie  von  den  Vielen  nicht  immer  so  verstanden  worden, 
und  deshalb  mußte  dies  kleine  Buch  über  die  philosophischen 
Modeströmungen  unserer  Zeit  geschrieben  werden.  Daß  es  nur 
von  weitverbreiteten  Gedanken ,  nicht  von  einzelnen  Denker- 
persönlichkeiten handeln  wollte,    sei  noch  einmal  hervorgehoben. 


—     196    — 


Namenregister. 


Aristoteles  9,  179. 
Augustin   179. 
Avenarius  25,  92,  99. 

Bäumer  184. 

Bergson  18,  22  ff.,  28  f.,  32, 
51  f.,  86,  110,  98  ff.,  109  f., 
116,  175,  177  f.,  182  ff. 

Burckardt  140. 


101, 


Dante  10. 

Darwin  21.  86  ff.,    94  ff. 

125  f.,    132,   138  f. 
Descartes  51,  61,   179. 
Dilthey  27,  29,  46  ff.,  177,  183  f. 

Eckardt  55 
Ehrenfels  90. 
Einstein   177. 
Eucken  31. 


Fichte  17,  31,  58, 
Forberg  31,  58. 


184  f. 


Galilei  27. 

George  10,  184. 

Goethe  10,  17  ff.,  32,  52,  60  f., 

137  f.,    174  ff.,  181  ff. 
Goldstein  31. 
Gundolf  10. 

Hamann  J.  G.   17. 

Hamann  R.  3. 

Hartleben   62. 

Haym  58  f. 

Hegel    16,    27,    70,    133,     144, 

175    179. 
Heraklit  63,  71. 
Herder  17,   174. 
Hölderlin   195. 
Husserl  28  f.,  50  f. 

Jacobi  17. 

James  25,  28,  31,  40,  58,  147. 

151,    177. 
Jaspers  146,  150  ff. 

Kant  31,  51,  61,  70,  92  f.,  152, 

167,    179,    187  f. 
Kidd   93. 

Kierkegaard   18,   144,    150. 
Kroner  23. 

Lamprecht  3. 
Leibniz  179. 
Lotze  186  f. 


Mach  25,  99. 
Malthus  86  f. 
Marx  81. 
Morris  175. 
Münch  116. 


94,  96. 


Newton  127,    177. 

Nietzsche  19  ff.,  25,  28  f.,  31  f., 
51,  58  f.,  68,  81,  84  f.,  90, 
96  ff.,  136  ff.,  14»,  147,  150, 
152,    162,  177  ff.,   195. 

Novalis   17. 

Ostwald  92. 

Parmenides  63. 
Paulsen  31,  58. 
Piaton   69,  103,   179  f. 
Plotin  55,    179. 

Ramon  y  Cajal  84. 
Ravaisson  18. 
Rodin  161. 
Rolph  21,   80,    96  ff. 
Rousseau  84,   174,  179. 

Scheler    4,    29,    51  ff.,    100  ff., 

116,   135. 
Schelling   17  f.,  22. 
Schiller   101,    138. 
Schlegel  17,  30,  54. 
Schlosser   140. 
Schopenhauer    18  f.,   21,    96  f., 

139,   162. 
Shakespeare  10,  174  f. 
Simmel    4,    8,    26,   28,    64  ff., 

112,    149,    151,    177,   183. 
Sokrates  58,   195. 
Spengler  3,   18,  32. 
Spenzer  82  f.,  85  f.,  95,  98,  101, 

131  f. 
Spinoza  55,   152,    179. 
Steppuhn    30,  54. 
Strauß  84. 

Tivck  58. 
Tille  81. 
Tolstoi  1.35. 


Vaihinger  31. 

Wagner  R.   19  f. 
Weber  Max  92. 
Weismann  93. 
Wundt  22. 


97. 


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