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Presented to the
LIBRARY ofthe
UNIVERSITY OF TORONTO
by
Eckehard Catholy
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DIEPHILOSOPHIE
ES LEBENS
iARSTELLUNG UND KRITIK
DER
PHILOS(i^HISCHEN MODESTRÖMUNGEN
UNSERER ZEIT
VON
A
HilNRIGH RICKERT
TUBINGEN
VERLAG VON J. k. B. MOHR (PAUL SIEBECK)
1920
Alle Rechte vor bell allen
Druck von H. T. a u p p jr in TUbinf^en.
Vorwort.
Der Inhalt dieser Schrift war ursprünglich nicht zur Ver-
öffentlichung in einem besonderen Buch bestimmt. Er sollte
ein Kapitel des größeren Werkes bilden, dessen ersten Band
ich unter dem Titel; „Allgemeine Grundlegung der Philosophie"
als ersten Teil eines „Systems der Philosophie" bald zu ver-
öffentlichen hoffe. Bei der Ausarbeitung der Gedanken, die das
vorliegende kleine Buch füllen, merkte ich, daß sie an der zu-
erst für sie in Aussicht genommenen Stelle in mancher Hinsicht
aus dem Rahmen des systematischen Aufbaus herausfallen und
dort auch zu viel Platz einnehmen würden. Ich habe sie daher
so gestaltet, daß sie ein in sich geschlossenes Ganzes ausmachen
und für sich verständlich sind.
Was sie wollen, ist durch den Titel zum Ausdruck gebracht.
Ich glaube, daß die am meisten verbreiteten, ernsthaft zu nehmen-
den philosophischen Bestrebungen unserer Tage sich am besten
unter den Begriff einer Philosophie des Lebens bringen lassen.
Zu ihnen versuche ich kritisch Stellung zu nehmen. Ich möchte
damit zugleich auf eine Philosophie des Lebens als notwendige
Aufgabe hinweisen, deren Lösung aber mehr als eine Philosophie
des bloßen Lebens geben müßte. Der Hauptzweck der Schrift
besteht also darin, zu zeigen, daß man beim Philosophieren
über das Leben mit dem Leben allein nicht auskommt.
Wenn ich die hier dargestellte und kritisierte Philosophie
unter den Begriff der Modeströmung bringe, will ich damit
allein noch kein Werturteil über sie fällen. Es kommt ledig-
lich darauf an, welche Gedanken faktisch die am meisten ver-
— IV —
breiteten sind. Ihre Anhänger werden es freilich ablehnen, daß
man ihre Ansichten Modegedanken nennt, und da die meisten
von ihnen die allmähliche Entstehung der heutigen Mode noch
nicht miterlebt haben, werden sie auch schwer davon zu über-
zeugen sein, daß es sich dabei um eine Mode handelt. Man
muß, um das einzusehen, wohl schon in einer Zeit die Philo-
sophie genau verfolgt haben, in der die Lebenslehre hoch nicht
Mode war.
Selbstverständlich kann man von ihrer Bezeichnung als
Modeströmung auch absehen. An dem wesentlichen Gehalt
dieser Schrift wird dadurch nichts geändert. Darin, daß die
heute beliebten und geglaubten Gedanken als ,, Philosophie des
Lebens" zu charakterisieren sind, stimme ich gerade auch mit
solchen Denkern überein, die sich selber zu den Lebensphilo-
sophen rechnen.
Absichtlich habe ich mich überall auf Theorien beschränkt,
die weit verbreitet sind oder mit weit verbreiteten Ansichten
in engem Zusammenhang stehen, und mich insbesondere auf das,
was vielleicht morgen Mode sein wird, nirgends eingelassen. Ich
glaube nicht daran, daß auch nur die nächste Zukunft sich mit
einiger Sicherheit berechnen läßt. Was kommen wird, hängt
zum Teil von den Entschlüssen einzelner Individuen ab oder
kann wenigstens entscheidend durch sie beeinflußt werden. Indi-
viduelle Taten aber entziehen sich jeder Voraussage. Darf ich
trotzdem an dieser Stelle eine Vermutung über die Zukunft
äußern, so geht sie dahin, daß wir am Ende der Philosophie des
bloßen Lebens stehen. Ich würde mich freuen, falls dies kleine
Buch als eines der Anzeichen solcher ,, Götzendämmerung" an-
gesehen werden könnte.
Was die reine Lebensphilosophie dann ablösen wird, läßt
sich ebenfalls nur vermuten. Doch sieht es manchmal so aus,
als ob Gedanken Hegels immer größeren Einfluß erhielten. Zum
Teil hängt das damit zusammen, daß zwischen ihnen und der
modernen Lebensphilosophie bei allen Gegensätzen zugleich
eine sachliche Verwandtschaft besteht: Ich habe das in dem
Buch angedeutet. Den jungen Hegel kann man zu den Lebens-
philosophen rechnen, und seine Phänomenologie zeigt ebenfalls
mitModetendenzen Gemeinsames. Vielleicht müssen wir auch durch
-(V)-
den Hegelianismus erst hindurch, che wir uns wieder zum selb-
ständigen Philosophieren entschließen, und auf jeden Fall ist
für die zeitlosen Probleme aus Hegel mehr zu lernen als aus
Zarathustra. Aber ein Aufnehmen der Hegeischen Ideen könnte
für sich allein ebensowenig befriedigen wie die Wiedererweckung
irgend eines andern Denkers der Vergangenheit.
Heidelberg, im Mai 1920.
Heinrich Ricker t.
VII
Inhalt.
Seite
Einleitung 1
Erstes Kapitel: DasLebenalsModebegritf. . . 3
Zweites Kapitel: Die modernen Lebens philosophen 17
Drittes Kapitel : Die Prinzipienlosigkeit der in-
tuitivenLebensphilosophie 34
Viertes Kapitel: Lebensform und Lebensinhalt . 62
Fünftes Kapitel: Das biologistische Prinzip . . 72
Sechstes Kapitel : Aeltererund neuerer Biologis-
mus 80
Siebentes Kapitel: Kritik des biologistischen Re-
alitätsprinzips 104
Achtes Kapitel: Kritik des biologistischen Wert-
prinzips 117
Neuntes Kapitel: Der Kampf gegen das System . 142
Zehntes Kapitel: LebenundKultur 156
Elftes Kapitel : Das RechtderLebensphilosophie 171
Namenregister , 196
Einleitung.
Man liebt es, ganze Zeitalter mit allgemeinen Schlagwörtern
zu kennzeichnen, ja man hat darin die neue „Methode" der Ge-
schichtsschreibung gesehen: die Durchschnittslage soll so auf
den wissenschaftlichen Ausdruck gebracht werden, denn auf
das „Allgemeine", glaubt man, kommt es vor allem, wenn nicht
allein der Wissenschaft an. In jedem Zeitalter ist nur das wesent-
lich, was unter seinen allgemeinen Begriff fällt. Das Individuelle,
Besondere, Einmalige, sich nicht Wiederholende hat keine wahr-
haft historische Bedeutung. Was vom Allgemeinen abweicht,
darf höchstens das Interesse einer Laune oder einer Kuriosität
für sich in Anspruch nehmen. Daher muß man „kollektivistisch"
verfahren, im Unterschiede von der veralteten ,, individualisti-
schen" iNIethode, oder „morphologisch", wie man neuerdings auch
gesagt hat, oder in irgendeiner anderen Art generalisierend.
Daß die gesamte Kultur einer Epoche in der angegebenen
Weise niemals erschöpfend zu behandeln sein wird, sollte keines
Beweises bedürfen. Es kann dabei ohne eine mehr oder minder
große Vergewaltigung des geschichtlichen Lebens nicht abgehen.
Jede Stufe der Kulturentwicklung ist in ihrer Totalität viel zu
reich, als daß auch nur das Durchschnittliche in ihr unter einen
allgemeinen Begriff zu Ijringen wäre. Eher könnte man glauben,
eine Charakterisierung dieser Art sei bei einzelnen Kulturströ-
mungen möglich. Warum soll z.B. die Wirtschaf t oder die Politik
oder die Literatur oder die Kunst oder die Wissenschaft eines
Zeitalters nicht einen Namen führen, der nur das hervorhebt, was
den verschiedenen Richtungen innerhalb eines dieser Gebiete
gemeinsam ist ?
Doch gestattet auch diese Frage nur eine bedingte Bejahung.
Weil das Schlagwort das „Allgemeine" lediglich im Sinne des
Rickert, Philosophie d. Lebens. 1
— 2 —
allgemein Verbreiteten trifft, darf man selbst bei einge-
schränkter Anwendung in seinem Inhalt nie das allein Wesentliche
einer geschichtlichen Kulturstufe sehen. Das gilt vor allem für die
Gebiete, bei denen man an so etwas wie Fortschritt glaubt, also
besonders für die Wissenschaft. Sie steht nie still^ und die Ge-
danken, die sie vor^^ärts bringen, also doch wohl die wesentlichen
einer Epoche sind, finden sich zuerst immer nur bei Wenigen.
Allmählich greifen sie auf weitere Kreise über, ja in der Philo-
sophie pflegt sich dieser Prozeß recht langsam zu vollziehen, und
wenn eine Ansicht später allgemeine Verbreitung gefunden hat,
gibt es meist von neuem einige Wenige, die wieder Neues erkannt
haben und so über die zum Gemeingut gewordene Ansicht hinweg-
geschritten sind. Ihre Gedanken haben dann als die wesentlichen
zu gelten, und für die Zeit, in der sie leben, ist damit das Sclilag-
wort, das sie nicht trifft, unbrauchbar geworden.
Kurz, was die allgemeine Meinung beherrscht, ist in der
Wissenschaft zimi Teil immer bereits veraltet, und auf manchen
anderen Kulturgebieten steht es ebenso. Mt Rücksicht hierauf
haben wir. die Bedeutung jeder allgemeinen Charakterisierung
einer Zeit einzuschränken. Sie wird immer zu Ungerechtigkeiten
gerade gegenüber den wichtigsten, weil zukunftsreichsten Ereig-
nissen führen.
Zugleich aber weist dieser Umstand auf etwas anderes hin.
Die Schlagwörter der kollektivistischen oder morphologischen
Darstellung sind in vielen Fällen für Modeströmungen
auch ohne Einschränkung brauchbar, gerade weil sie nur den
Durchschnitt treffen wollen, und wenn man sie mit Bewußt-
sein allein dafür verwendet, werden sie auch zur Kennzeichnung
^vissenschaftlicher Richtungen bedeutungsvoll. Das gilt um so
mehr, als ganz unbeeinflußt von der Mode nur Wenige sich er-
halten, sei es auch darum allein, weil der Kampf gegen sie sich
nicht vermeiden läßt. Deshalb bleibt zwar die Mode, mag sie
noch so „modern" und noch so sehr die neueste Mode sein, in
der Wissenschaft das ewig Gestrige, und jedem walu-haft bedeuten-
den Denker geschieht Unrecht, falls man meint, ihn durch ein
allgemeines Schlagwort erschöpfend zu charakterisieren. Aber
es hat trotzdem auch im philosophischen Interesse einen guten
Sinn, sich die Kennzeichen der Modeströmungen ausdrück-
•- 'y^ -
lieh zum Bewußtsein zu bringen. Man wird dadurch unter Um-
ständen nämlich lernen, was in der Wissenschaft überwunden
werden muß, und so w-enigstens in negativer Hinsicht imstande
sein, der Arbeit an der Zukunft ihre Aufgabe zu bestimmen.
Unter diesem Gesichtspunkt sollen die folgenden Ausfüh-
rungen der Philosophie dienen, indem sie sich mit der am weitesten
verbreiteten philosophischen Strömung unserer Tage beschäftigen.
Wir fragen nach dem Begriff, der heut die Modemeinun-gen be-
herrschend im Vordergrund des philosophischen Interesses steht,
um so vielleicht über die Mode hinauszukommen. Niemand kann
seine „Zeit" ignorieren. Irgendwie wird sie jeden beeinflussen.
Auch W'Cr ihre Mode nicht mitmacht, muß sie berücksichtigen,
schon um sie nicht zu unterschätzen. Daher wird es gut sein,
ausdrücklich von ihr zu reden.
Worin besteht also die philosophische Mode unserer Tage?
An welche Bewegung der Zeit knüpfen wir an, um sie einerseits
als bloße Mode zu erkennen, andererseits den Kern von ihr zu
bewahren, der uns Fühlung mit dem Denken der Zeit gewähr-
leistet ?
Erstes Kapitel.
Das Leben als Modebegriff.
„. . . welcher gesunde Menschenverstand aber
ebenso wohl seine Moden hat als unsere Fracks
oder unsere Frisuren."
Fichte,
Beiträge zur Berichtigung der Urteile des
Publikums.
Ganz sicher ist die Frage nach der philosophischen Mode
vielleicht nicht zu beantworten. Es bietet sich die Möglichkeit,
mehrere Schlagwörter zu nennen. So hat Lamprecht ^) von einer
Philosophie der „Reizsamkeit", Richard Hamann ^) von philo-
1) Deutsche Geschichte. Erster Ergänzungsband. Zur jüng-
sten deutschen Vergangenheit. Erster Band. Tonkunst — Bil-
dende Kunst — Dichtung — Weltanschauung. 1902.
2) Der Impressionismus in Leben und Kunst. 1907. Gegen
den Versuch Hamanns, meine Philosophie als besonders charak-
teristisch für die Bestrebungen zu kennzeichnen, die den Im-
1*
- 4. -•
sophischem „Impressionismus" gesprochen. Spenglers ^) Morpho-
logie der Weltgeschichte — sie ist die erste nicht, wie ilir Ver-
fasser zu glauben scheint, und sie wird die letzte nicht sein —
nennt unsere Zeit imperialistisch, verwandt dem Rom der Cäsaren,
und meint, ihre Philosophie müsse daher dem hellenistischen
Skeptizismus entsprechen. So ließen sich wohl noch manche
Schlagwörter finden. Doch sehen wir von ihrer Kritik hier ab.
Wir versuchen, eine andere Kennzeichnung der philosophi-
schen Modeströmungen. Für den Begriff, der heut in besonders
hohem Maße die Durchschnittsmeinungen beherrscht, scheint
uns die beste Bezeichnung der Ausdruck Leben zu sein ^).
Er wird seit einiger Zeit immer häufiger gebraucht , und spielt
nicht nur bei Tagesschriftstellern, sondern auch bei wissenschaft-
lichen Philosophen eine große Rolle. „Erlebnis" und „lebendig"
sind beliebte Worte, und keine INIeinung gilt für so modern wie
die, daß es Aufgabe der Philosophie sei, eine Lehre vom Leben
zu geben, die aus den Erlebnissen heraus sich wahrhaft lebens-
voll gestaltend für den lebendigen Menschen brauchbar ist. Von
der Philosophie des Lebens in unserer Zeit wollen wir
also handeln, um sie zuerst in ihren Hauptzügen darzustellen und
dann kritisch zu ihr Stellung zu nehmen. Sie scheint die Ansatz-
punkte zu bieten, von denen aus man vielleicht weiter kommt.
pressionismus als Fundament des Denkens rechtfertigen, habe ich
mich schon an anderer Stelle gewehrt. Der Gegenstand der Er-
kenntnis. 3. Aufl. S. 202. Das vorliegende kleine Buch wird wohl
über den antiimpressionistischen Charakter meines Philosophie-
^ens vollends keinen Zweifel lassen.
1) Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morpho-
logie der Weltgeschichte. Erster Band: Gestalt und Wirklich-
Iveit. 1918.
2) Vgl. meine Abhandlung: Lebenswerte und Kulturwerte,
1910 (Logos, Bd. II S. 131 ff.). Ich habe ihren Inhalt zum großen
Teil wörtlich in dies Buch aufgenommen. In ähnlicher Weise wie
hier finde ich die Philosophie unserer Zeit gekennzeichnet bei
Max Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens (Ab-
handlungen und Aufsätze, 1915, Bd. II, S. 171 ff.) und bei Georg
Simmel, Der Konfükt der modernen Kultur, 1918. Beide
Schriften konnte ich zur Ergänzung benutzen. Die kritische Stel-
lung zur Lebensphilosophie weicht freilich bei beiden Autoren
wesentlich von der meinigen ab, und das muß schon in ihrer Dar-
stellung zum Ausdruck kommen. Farblose „Objektivität" ver-
suche ich nicht.
— o
Unter ihr ist nicht etwa eine Philosophie über das Leben
als einen Teil der Welt zu verstehen, neben dem es noch andere
Weltteile gibt, denn das wäre für sich noch keine ganze Philo-
sophie des Lebens, und ferner konmit auch nicht die Art von
„Lebensanschauung" in Betracht, die nur den Sinn des mensch-
lichen Lebens kennen lernen will, denn darin läge noch nichts
gerade unserer Zeit Eigentümliches. Solche Lebensanschauungen
hat man immer in der Philosophie gesucht. Das Charakteristische
der modernen Lebensphilosophie besteht vielmehr darin, daß
man mit dem Begriff des Lebens selbst und mit ihm allein
die gesamte Welt- und Lebensanschauung aufbauen will. Das
Leben ist in den Mittelpunkt des Universums zu stellen, und
alles, wovon die Philosophie zu handeln hat, ist auf das Leben
zu beziehen. In ihm glaubt man den Schlüssel zu jeder Türe des
philosophischen Gebäudes zu besitzen. Man erklärt das Leben
für das eigentliche „Wesen" des Weltalls und macht es zugleich
zmn Organon seiner Erfassung. Das Leben selber soll aus dem
Leben heraus ohne Hilfe anderer Begriffe philosophieren, und
eine solche Philosophie muß sich dann unmittelbar erleben lassen.
Von diesem auf die Spitze getriebenen Standpunkt der
Lebensimmanenz, der grundsätzlich kein Anderes oder
kein Jenseits des Lebens kennt, sondern das Leben nur am Leben
messen und so alles lebendig machen möU, gehen wir daher aus,
um die Philosophie der Zeit so weit zu verstehen, als sie sich all-
gemein überhaupt verstehen läßt.
Allerdings kann man nicht behaupten, daß das Wort Leben
in den philosophischen Zeitströmungen eine genau bestimmte
und nur eine Bedeutung hat. Aber das macht es für unseren Zweck
nicht unbrauchbar. Diese Eigenschaft teilt es mit den meisten
Modeschlagwörtern. Ja, man kann sagen, weil es vieldeutig ist
und daher mannigfaltige und ahnungsreiche Perspektiven er-
öffnet, ist es so beliebt geworden. Unsere Aufgabe muß sein,
hinter diese Vieldeutigkeit zu kommen. Nur selten ^^^rd eine
Lehre die Mode beherrschen, bei der sich nicht Mehreres denken,
und die sich nicht auch auf mehrfache W^eise mißverstehen läßt.
So wäre z. B. der „Monismus" nie Mode geworden, wenn das
Wort nicht viele Bedeutungen hätte.
Nur mit Einschränkung ist also von einer Einheitlichkeit
- 6 -
der Zeitphilosophie zu reden. Die Allgemeinheit im Sinne der
Uebereinstimmung betrifft mehr das sprachliche Gewand als die
Sache, und wir werden bei der kritischen Stellungnahme zur
Lebensphilosophie mehrere Lebensbegriffe voneinander scheiden
müssen, um zur Klarheit zu kommen. Andererseits aber ist doch
das Wort Leben nicht so vieldeutig, daß es nichtssagend wäre
wie der Ausdruck Monismus, bei dem man, falls er der Name
für eine Weltanschauung sein soll, sich fast alles und daher nichts
Bestimmtes mehr denken kann. Es behält vielmehr einen guten
und klaren Sinn, zu behaupten, die verbreitetste von den ernst-
haften philosophischen Strömungen unserer Zeit gehe dahin, daß
das Wesentliche in Welt und Leben „das Leben" selber sei, und
daß man daher auch in der Philosophie nichts anderes als „das
Leben" brauche.
Zur Beliebtheit des Lebensbegriffs hat gerade der Umstand
mit beigetragen, daß der Ausdruck sich in mehreren sprachlichen
Wendungen findet und in verschiedenen Richtungen zu benutzen ist.
Bei dem Leben denkt man an das Objekt des „Erlebens",
und auf das „Erlebnis" kommt es dann für den modernen Menschen
an. Man wird versuchen, sich in das „einzuleben", was man
gründlich erfassen will, und wer darauf ausgeht, die Welt zu be-
greifen, wird sich das „Mitleben" mit ihr zur Aufgabe machen,
vmi so sein Ich kosmisch zu erweitern. Ferner versteht es sich
von selbst, daß das Leben „gelebt" werden muß, und so wird das
„Ausleben" zum beliebten Lebensideal.
Zugleich steht dem lebendigen Leben das „abgelebte" Leben
gegenüber, das starr und unlebendig geworden ist, und das wir
daher zu meiden haben. Damit kommen wir zum Gegensatz
des Lebens, zum Tod, und auch dies Wort läßt sich in den ver-
schiedensten Richtungen beim Aufbau einer Lebensphilosophie
ver\yenden. Was kann man nicht alles als „tot" oder „getötet"
oder „tötend" bezeichnen.
Besonders wichtig aber ist, daß das Leben selbst das Tote
produziert und so zuin übergreifenden Band für Tod und Leben
wird. Nur das Lebendige stirbt, und das Gestorbene allein
ist abgestorben und im eigentlichen Sinne tot. Die Rinde des
Lebens erstarrt oder bildet eine Kruste, die lediglich als seine
tote Oberfläche gelten darf, und durch die hindurch der Lebens-
— / —
Philosoph daher zum lebendigen Kern vorzudringen hat. Die
Lebewesen schaffen sich ihre Gehäuse. Diese sind ebenfalls
als starre Hüllen in ihrer Unlebendigkeit zu begreifen und dem-
entsprechend zu behandeln. Die Schlange muß ihre Haut ab-
werfen. Das Tier, das sich nicht häuten kann, geht zugrunde.
In den abgestorbenen Lebensresten darf man nur lebenshemmende
Fremdkörper sehen. Man muß sie beiseite lassen und über sie
hinwegschreitend dafür sorgen, daß das Leben stets lebendig in
wachsender Bewegung bleibt. Dann lebt man auch als Kultur-
mensch in Harmonie mit der lebendigen All-Natur.
Schon diese Schlagwörter deuten an, welch reiches Material
sich für den Aufbau einer Lebensphilosophie darbietet.
Manches von ihnen, zumal der Ausdruck „Erlebnis" ist aller-
dings bereits so abgegriffen, daß er nicht mehr genügt und man
daher zum „Urerlebnis" glaubt vordringen zu müssen, das wohl
ein noch lebendigeres Erlebnis als das gewöhnliche sein soll. Ja,
gerade das Wort Erlebnis värd so häufig und bei so verschiedenen
Gelegenheiten gebraucht, daß ein nachdenklicher oder auch nur
geschmackvoller Mensch sich scheuen kann, es überhaupt noch
in den Mund zu nehmen oder es beim Schreiben ohne Gänse-
füßchen zu verwenden. Nicht selten bedeutet es eine leere Phrase
und dient zum Deckmantel für Gedankenlosigkeit.
Doch der Mißbrauch dieses und anderer Lebensschlagwörter
hebt ihren Gebrauch nicht auf, und wir dürfen auch die Be-
geisterung für das Erlebnis als Quelle manches Bedeutsamen
unserer Zeit nicht vernachlässigen. Mit Wissenschaft hat sie
freüich direkt noch nichts zu tun. Meist kommt sogar eine völlig
unwissenschaftliche, ja wissenschaftsfeindliche Lebensstimmung
in ihr zum Ausdruck. Aber diese Stimmung entspringt einerseits
doch zugleich tieferen Schichten und färbt andererseits ab auf
die verschiedensten Gebiete des Kulturlebens. Schließlich be-
einflußt sie auch die Wissenschaft, und das hat dann Konse-
quenzen für die Pliilosophie.
Diese Strömungen durch alle verschiedenen Kultursphären
hindurch zu verfolgen, würde zu weit führen. Aus den angegebenen
Gründen dürften wir auch nicht hoffen, einheitlich die gesamte
Kultur der Zeit von hier aus zu verstehen. Ein kurzer Hinweis auf
wenige außerwissenschaftliche Gebiete kann daher genügen.
- 8 -
So hat Simmel, der uns später als Lebensphilosoph noch
beschäftigen wird, im künstlerischen Leben den Ex-
pressionismus als eine der auf das Leben gerichteten Bestrebungen
zu deuten gesucht. Die innere Bewegtheit des Künstlers soll sich
ganz unmittelbar so, wie sie gelebt wird, in das Werk oder ge-
nauer als das Werk fortsetzen. Auch die Originalitätssucht bei
so vielen jungen Leuten der Gegenwart ist mit der Richtung auf
das Leben in Zusammenhang zu bringen. Was in diesem Falle
gerettet werden soll, ist nicht sowohl die Individualität des Lebens,
sondern das Leben der Individualität. Die Originalität sei sozu-
sagen nur die ratio cognoscendi, die uns vergewissert, daß das
Leben rein bei sich selbst ist und nicht Formen, die ihm äußer-
lich, objektiviert und starr sind, in seinen Strom oder seinen Strom
in sie aufgenommen hat. Ebenso fordert eine Stimmung innerhalb
der gegenwärtigen Religiosität die entsprechende Deutung.
Geistig vorgeschrittene Persönlichkeiten befriedigen ihre religiösen
Bedürfnisse mit der Mystik. Hier steht die Religiosität als ein
unmittelbar jeden Pulsschlag einschließender Lebensprozeß in
Frage, ein Sein, nicht ein Haben, ein Frommsein, das, wenn es
Gegenstände hat, Glauben heißt, nun aber eine Art ist, wie das
Leben selbst sich vollzieht, nicht eine Stillung der Bedürfnisse
von einem Außen her — wie der expressionistische Maler sein
künstlerisches Bedürfnis nicht durch Anschmiegen an einen Außen-
gegenstand befriedigt ' — sondern es wird ein kontinuierliches
Leben aus einer Tiefe heraus gesucht, in der es sich noch nicht
in Bedürfnis und Erfüllung zerlegt hat und also keinen „Gegen-
stand" braucht, der ihm eine bestimmte Form vorschriebe. Das
Leben will sich unmittelbar als rehgiöses aussprechen, nicht
in einer Sprache mit gegebenem Wortschatz und vorgeschriebener
Syntax i).
Diese feinen Bemerkungen mögen zur Kennzeichnung von
außerwissenschafthchen Lebenstendenzen dienen. Für unseren
Zusammenhang noch wichtiger sind die Lebensrichtungen auf dem
Gebiet der Einzelwissenschaften.
Da soll vor allem die Natur als lebendig verstanden
werden, und dann wird sie der toten, d. h. physikalischen oder
1) Vgl. Georg Simmel, Der Konflikt der modernen
Kultur.
— 9 -
mechanischen Natur entgegengesetzt, die der Liebling des voran-
gegangenen, glücklich überwundenen Zeitalters war. Von der
Materie als einem Atomkomplex unter mathematisch formulier-
baren Gesetzen will man heute, wenn es sich um das „Wesen"
der Natur handelt, nichts mehr wissen. Durch den Mechanismus
wird alles starr und tot gemacht. Auch wo man an eine „natm'-
wissenschaftliche Weltanschauung" glaubt, gilt er für abgetan.
Dem lebendigen Leben, das uns umflutet, kann er nie gerecht
werden. Dabei meint man nicht nur das unräumliche oder un-
ausgedehnte psychische Sein, das materialistisch« aufzufassen,
die Wissenschaft ja längst aufgegeben hat, sondern auch für die
unbeseelte Körperwelt, die man früher die tote nannte, wird der
Mechanismus jetzt als starr und tot abgelehnt. Sogar die ver-
kappten jNIaterialisten spielen das Organische gegen das Mecha-
nische aus und reihen sich so der Zeitströmung ein. Die Begriffe
der mechanischen Naturv\dssenschaft selbst sind in der „Energetik"
in eigentümlicher Weise verlebendigt worden. Von einer lebendigen
Mathematik war allerdings bisher wohl noch nicht die Rede, und
diese Disziplin ist bei den meisten Vertretern der „lebendigen"
Wissenschaft auch wenig beliebt. Doch lassen sich sogar hier
Richtungen konstatieren, die darauf ausgehen, die Welt des
Mathematischen beweglicher und insofern lebendiger zu ge-
stalten.
Daß unter diesen Umständen in der Wissenschaft, die vom
Leben im engeren Sinne handelt, d. h. in der Biologie, der
Vitalismus als Neovitalismus die größten Erfolge hat, bedarf
keiner besonderen Erörterung. Antimechanische ,, Kräfte" werden
als wirkende Zweckprinzipien eingeführt, und die Natur ist ent-
weder teilweise oder ganz teleologisch zu denken. So allein glaubt
man, dem lebendigen Leben gerecht zu werden, das aus der
toten, mechanischen Materie niemals entstehen kann. Ob man
dabei sachlich über Aristoteles hinaus gekommen ist, ja wde weit
man dessen Gedanken auch nur erreicht hat, sei dahingestellt.
Es gilt hier nur, die Lebenszeichen der Zeit zu verstehen.
Zu diesem Zweck ist ferner darauf hinzuweisen, daß das
Streben nach Lebendigkeit auf die Natur\\'issenschaften nicht
beschränkt bleibt. Sowohl in der Psychologie als auch in den
Kulturwissenschaften^ die man die Geisteswissen-
- 10 -
Schäften nennt, tritt es zutage. Von dem Historiker wird ver-
langt, er solle nicht totes Wissen geben oder von abgelebten, un-
lebendig gewordenen Tatsachen der Vergangenheit berichten,
die uns in ihrer Starrheit nichts mehr angehen. Er müsse viel-
mehr sich einleben in das Geschehen früherer Zeiten, es nacher-
leben und so wieder lebendig machen, wie die unmittelbare Gegen-
wart lebendig ist. Das Mitleben mit unseren Vorfahren soll er
uns ermöglichen und ihren Geist in uns am Leben erhalten. Für
die verschiedensten Gebiete der Kultur, für Kunst und Recht,
für Wirtschaft und Religion der Vorzeit ist das zu leisten. Zum
Leben sind ihre schlummernden Kräfte wieder zu erwecken. Dem
entspricht, daß auch im geschichtlichen Stoff nur das wichtig er-
scheint, was einst ursprünglich und wahrhaft lebendig war,
während alles abgeleitete und lebensschwache Geschehen der Vor-
zeit nur ein sekundäres Interesse bietet.
Steht doch, um ein konkretes Beispiel zu geben, unter dieser
Auffassung sogar ein so selbständiges Werk wie Gundolfs Goethe,
wenigstens mit Rücksicht auf sein Programm ^). Der Dichter
wird darin mit Dante und Shakespeare verglichen und mit seiner
Welt nicht so gleichartig wie diese erfunden. Sie waren ursprüng-
liche Menschen in einer ursprünglichen Welt, Goethe ein ursprüng-
licher Mensch in einer abgeleiteten, in einer Bildungswelt. So
verwebt sich in seiner Existenz Urerlebnis und Bildungserlebnis.
Das religiöse, titanische und erotische ist Urerlebnis, und das
Bildungserlebnis ist das der deutschen Vorwelt, Shakespeares,
des klassischen Altertums, Italiens, des Orients, der deutschen
Gesellschaft. Von hier aus gilt es, das gesamte Werk Goethes
zu verstehen, seine Lyrik, seine Symbolik, seine Allegorik. Diese
an der Nähe des Urerlebnisses gemessene Einteilung hat an die
Stelle der üblichen zu treten. Die Lyrik enthält die Urerlebnisse
dargestellt im Stoff seines Ich. Da kommt das Bildungserlebnis
nicht in Betracht. Auch Werther und Tasso nähern sich dieser
Sphäre. Die Symbolik enthält das Urerlebnis dargestellt un
1) Friedrich Gundolf, Goethe. 1916. Bezeichnend
ist, daß diese Gedanken nur in der „Einleitung" eine Rolle -spie-
len. Sie erscheinen dort wie ein Tribut, den der Autor seiner Zeit
entrichtet Doch kommt der Lebensbegriff bei den Theoretikern
des Kreises um Stefan George auch sonst vor. Georges große
Lyrik steht hoch über aller Lebenspoesie.
- 11 -
Stoff einer Bildungswelt, die iMlegorik endlich nui' abgeleitete
Erlebnisse. Sie steht daher künstlerisch am tiefsten, und die
Sympathie des Darstellers ist überall bei den Urerlebnissen. Das
scheint in unserem Zeitalter völlig selbstverständlich.
Ob es Urerlebnisse von künstlerischer Bedeutung im Gegen-
satz zu allen Bildungserlebnissen bei einem geschichtlichen
Menschen, der Kultui-werke schafft, überhaupt gibt, wird nicht
gefragt, obwohl es als sehr fragwürdig gelten sollte. Ob jemals
ein großer Kulturmensch religiöse, titanische, erotische Erleb-
nisse von mehr als persönlich privater Bedeutung gehabt hat,
falls nicht irgendein Bildungseinschlag dabei wesentlich mit-
wirkte, scheint in unserer Zeit der Lebensbegeisterung kein
Problem, obwohl es gewiß eminent problematisch ist.
Kein Wunder, daß unter diesen Umständen der Lebensbe-
griff immer mehr in die P h i 1 o s o p h i e eindringt. |hr wenden
wir uns jetzt zu, um sie zunächst allgemein zu charakterisieren.
Dabei kommt selbstverständlich auch die außenvissenschaftliche
Weltanschauungsphilosophie mit in Betracht.
Am nächsten liegt der Gedanke an eiiie Lebensethik.
Die Lehre vom Sittlichen war stets der Teil der Philosophie,
der die weitesten Kreise beschäftigte. Auf das Leben selbst will
man die sittlichen Ideale gründen. Möglichst viel soll der Mensch
erleben und möglichst lebendig nach allen Richtungen sein Leben
gestalten. Nichts Lebendes, das sich regen will, darf er unter-
drücken und verkümmern lassen. Wie der Baum und die Blume
im Felde blüht auch der Mensch, und er soll es wissen. Seine
Blütezeit nicht auszuleben, nicht jedes Erlebnis mit offenen Armen
zu empfangen und auszukosten, heißt sich selbst töten. Lebe!
so lautet der neue kategorische Imperativ, Ethische Bedeutung
gewinnt das Leben nur, wenn es zum Gipfel der Lebendigkeit
geführt und in seiner ganzen Breite vom Leben durchströmt
wird.
Freilich ist das Wort „ausleben" wohl schon etwas anrüchig
geworden. Mancher sieht ein, daß sogar eine Berufung auf das
Blühen der Pflanzen nicht überall passen will, da am Meere und
in kahlen Ebenen die einsamen Bäume und Sträucher mehr von
Kampf und Entsagmig zu zeugen scheinen. Vollends werden
Erfahrungen im menschlichen Leben den Gedanken nahelegen.
- 12 -
daß mit dem sittlichen Imperativ des Auslebens der moderne
Lebe-Weise sich eventuell gut amüsieren kann, im Lebenskampf
jedoch mit der Lebe-Moral, deren Lebe-Pf lichten nicht allzu
schwer zu erfüllen sind, allein nicht auskommt. So wird man nach
einer ernsteren Lebensethik suchen, die nicht nur die Lebens-
blüten, sondern auch die Lebensfrüchte im Auge hat. Aber die
Grundtendenzen, denen die Auswüchse der Lebensethik ent-
springen, sind darum nicht erstorben, sondern die Lebendigkeit
des Lebens gilt immer noch als höchste sittliche Forderung.
Ebenso verlangt die Aesthetik eine lebendige Kunst,
die Religio ns Philosophie einen lebendigen Gott, ja
sogar die Logik ein lebendiges Denken, und endlich ist, imi
nur dies noch hervorzuheben, das Lebensprinzip auch in das
„Allerheiligste" der Philosophie, in die Metaphysik ein-
gedrungen. Man versteht unter Leben nicht nur das, was inner-
halb der empirischen Realität liegt, sondern man glaubt, auch die
Probleme des Uebersinnlichen mit Hilfe dieses Begriffes in neuer
Weise lösen zu können. Wenn durch den Gedanken des Aus-
lebens der Modebegriff eine ethische Färbung bekommt, so wird
er hier in den Dienst irrationalistischer oder gar mystischer
Bedürfnisse gestellt. Nur das Absolute, Unmittelbare und Ur-
sprüngliche, das durch Intuition ohne jede begriffliche Hilfe
Erfaßte, ist das wahrhaft Reale, lehrt man, und dann soll das
tiefste Weltwesen, unmittelbar erlebt oder geschaut, ebenfalls
Leben sein. Die Wirklichkeit, mit der die gewöhnlichen „Wissen-
schaften" sich beschäftigen, sinkt dem erlebten Leben gegenüber
zur bloßen Erscheinung oder zu einem begrifflichen und daher
unwirklichen Produkt von sekundärer Bedeutung herab.
Kurz, Leben ist es, das ,,die Welt im Innersten zusammen-
hält", im Gegensatz zur toten, mechanischen Außenseite der
Natur. Auch die alte Faustfrage wird von der Modephilosophie
auf Grund des Lebensprinzips beantwortet.
Schon diese Hinweise zeigen, wieweit mit Hilfe des modernen
Lebensbegriffs eine Philosophie zu schaffen ist, die wenigstens
formal allen Bedürfnissen genügt, welche man an das Ganze des
philosophischen Denkens zu stellen pflegt. Um das noch ausdrück-
lich klar zu machen, weisen wir kurz auch auf die Ziele einer jeden
wahrhaft umfassenden Philosophie hin und fragen, wieweit sie
— 13 —
heute durch den Begriff des Lebens erreicht Zu sein scheinen.
Das f ülirt zu allgemeinen Erörterungen über das Wesen der Philo-
sophie überhaupt. Doch kehren wir von ihnen bald wieder zur
Zeitphilosophie zurück.
Zunächst wird man in der Philosophie die Wissenschaft
sehen, die das Ganze der Welt zu ihrem Gegenstand macht.
Irgendeine Disziplin muß sich diese universale Aufgabe stellen,
und nur die Philosophie kann es tun. Der Umstand, daß heute
das Weltall an die Einzelwissenschaften aufgeteilt zu sein scheint,
ändert daran nichts. Jede von ihnen behandelt ihrem Begriff
nach nur einen Teil der Welt, und das Ganze ist etwas anderes
als die bloße Aneinanderreihung seiner Teile. Die Philosophie
behält also unter allen Umständen eine selbständige Aufgabe:
sie hat Begriffe für das W^eltall zu entwickeln, so daß dieses sich
in ihnen als eine Einheit darstellt. Das ist immer ihre Aufgabe
gewesen und wird ihre Aufgabe bleiben. Irgendwelche partiellen
Bestrebungen verdienen den Namen der Philosophie nicht.
Doch hiermit kommt die universale Tendenz noch nicht
vollständig zum Ausdruck. Man verlangt von der Philosophie,
daß sie uns „Weltanschauung" geben soll, und dabei denkt man
nicht allein an die Welt als Objekt, sondern auch an unsere, des
Subjekts Stellung zur Welt. Man erwartet mit anderen Worten,
wie schon angedeutet, zugleich „Lebensanschauung". Dabei
werden nicht nur die Gedanken wichtig, die •festzustellen suchen,
wie die Welt wirklich ist, sondern wir wollen auch den ,,Sinn"
des Menschenlebens deuten, imd das gelingt nur, wenn wir die
Werte kennen, die ihm Sinn verleihen. So treten neben die
Seinsprobleme die Wertprobleme. Auch sie hat die Philosophie
in Angriff zu nehmen, falls sie universal sein will. So wird sie
zur Wissenschaft nicht allein vom Weltall, sondern auch vom
ganzen Menschen und seinem Verhältnis zur Welt. Erst damit
umfaßt sie in Wahrheit das Ganze und beschränkt sich nicht wie
andere Wissenschaften auf einen Teil.
Ferner führt das Verhältnis des Teils zum Ganzen noch
auf einen anderen für die Philosophie wichtigen Unterschied
von der Spezialforschung. Die reale Welt, in der wir alle leben,
verläuft in der Zeit, und diese erstreckt sich sowohl in die
Vergangenheit als auch in. die Zukunft, ohne daß jemals ihr
A
- 14 -
Ende abzusehen wäre. Was wii' zeitlich zu überschauen vermögen,
ist deshalb immer lediglich ein Weltteil. Das Weltganze können
wir nur so denken, daJß es alle zeitlichen Weltteile und damit
zugleich die Zeit selber umfaßt. So kommen wir zum Gegensatz
des Zeitlichen und des Zeitlosen. Die Weltteile sind in der Zeit.
Das Weltganze kann nicht in der Zeit sein, sondern umgekehrt:
die Zeit ist im Weltganzen. Infolgedessen wird für eine uni-
versale Wissenschaft auch das Verhältnis des Zeitlichen zum
Zeitlosen oder, positiv gesprochen, Ewigen ein Problem. Die
Frage, wie der Teil zum Ganzen kommt, läßt sich formulieren als
Frage, wie das Zeitliche ins Ewige hineinragt. Bei der Zeitan-
schauung kann die Philosophie als universale Wissenschaft nicht
bleiben. Sie muß zur Weltanschauung vordringen. Doch hat
sie diese zugleich so auszubilden, daß sie die Zeitanschauung mit
umfaßt. Zeit und Ewigkeit sind im philosophischen Begriff vom
All der Welt einheitlich zu verbinden.
Endlich kann man noch ein Kennzeichen der Philosophie
hervorheben. Soll sie die Wissenschaft vom All sein, so muß
sie einen streng systematischen Charakter tragen, d. h. alle ihre
verschiedenen Begriffe und Urteile zu Gliedern eines einheitlich
geordneten Gedanken- Ganzen zusammenschließen. Ohne die
Form des Systems wäre sie nicht imstande, das Weltall
zu erfassen. Begriffe, die nicht Glieder eines Systems sind, be-
ziehen sich nur aui Teile, und so lange es kein System gibt,
fällt daher für uns die Welt in ihre Teile auseinander. So wie die
Wirklichkeit uns zuerst gegenübertritt, bevor wir sie systematisch
begreifen, ist sie überhaupt noch keine „Welt", sondern eine
Anhäufung von Bruchstücken oder ein Chaos. Erst indem wir
ihre Teile ordnen, entsteht das, was wir den Kosmos nennen.
Das System allein ermöglicht es also, daß aus dem Weltchaos für
uns der Weltkosmos wird, und insofern kann man sagen, muß
jede Philosophie die Form des Systems haben.
Ihre Aufgaben sind schließlich in dem einen Satz zum Aus-
druck zu bringen : sie sucht in Form des Systems nach einer Welt-v
anschauung, die sowohl die Zeitanschauung, als auch die Lebens-
anschauung umfaßt und so das zeitliche Leben im Zusammen-
hang mit dem überzeitlichen Wesen des Weltalls verstehen lehrt.
Mehr kann sie nicht wollen, und auf weniger darf sie als universale
- 15 -
Betrachtung sich wenigstens der Absicht nach nicht beschränken.
Wieviel sie vermag, ist eine andere Frage.
Sehen wir nun, wieweit die Lebensphilosophie im Besonderen
sich als Philosophie in dem angedeuteten allgemeinen Sinn dar-
stellt, so ist zunächst zu konstatieren, daß sie sich in einigen ihrer
Gestalten in der Tat auf das Ganze der Welt richtet, und als
echte Lebensphilosophie Alles unter den einen Begriff
des Lebens zu bringen sucht. Was es überhaupt gibt, muß Aeuße-
rung des Lebens sein. Wie das zu denken ist, haben wir bereits
gesehen, als wir darauf hinwaesen, daß auch das Tote sich als
Produkt des Lebens fassen läßt und so das Leben zum übergreifen-
den Band für Tod und Leben wird. Führt man dies für alle Ge-
biete der Welt konsequent durch, so erscheint das Leben als Welt-
allprinzip, und insofern ist sein Begriff zur Grundlage der Philo-
sophie als der universalen Wissenschaft geeignet. Was nicht
lebendig ist, hat keinen Bestand. Das wird besonders in der
Metaphysik des Lebens zum Ausdruck gebracht.
Zugleich müssen sich auf dem Lebenswege nicht allein die
Seinsprobleme, sondern auch die Wert probleme in Angriff
nehmen lassen. Ist die Welt in ihrem tiefsten Grunde All-Leben,
dann kann es auch im Leben der Menschen allein auf das Leben
ankommen. Vom Leben her ist demnach nicht nur das Weltobjekt
in seiner Totalität, sondern ebenso der ganze Mensch zu ver-
stehen oder der gesamte Sinn des menschlichen Daseins zu deuten.
Damit muß sich Klarheit auch über unsere Ziele und Aufgaben
verbreiten. So kann nur die Philosophie des Lebens uns im Leben
den Halt geben, den wir suchen. Sind aber Weltanschauung
und Lebensanschauung gleichmäßig im Leben verankert, dann
erscheint auch unter diesem Gesichtspunkt die Philosophie des
Lebens als echte Philosophie.
Ferner muß sich der Gegensatz des Zeitlichen und
des Zeitlosen oder Ewigen durch den Lebensbegriff über-
winden und damit das vielleicht schwierigste philosophische
Problem lösen lassen. Falls alles in der Welt Leben ist oder
das Leben den umfassendsten Rahmen darstellt, innerhalb dessen
jede zeitliche Lebens Veränderung vor sich geht, dürfen wir von
einem „ewigen Leben" reden, das keinen Anfang und kein Ende
besitzt und zwar alle Zeit erfüllt, zugleich aber seinem allgemein-
- 16 -
steil Begriff nach über der Zeit steht, denn auch Zeit gibt es nur
als eine Form des Lebens, und insofern ist das Leben selbst frei
von der Gewalt der Zeit. Es bildet sowolil die zeitlose Form als
auch den zeitlichen Inhalt. Genauer: eine solche Trennung ist
ihm im Grunde fremd, und auch wir brauchen es daher nicht erst
in Form und Inhalt auseinanderzulegen, um die Totalität der
Welt als All-Leben zu begreifen. Der Lebensprozeß selber ist
die Form, und die Inhalte gibt es nur in diesem Prozeß. Damit
erreicht die Lebensphilosophie die denkbar vollkommenste Welt-
einheit.
Nur eines muß ihr fehlen, was bisher zu jeder echten Philo-
sophie zu gehören schien: die Form des Systems. Das System
ist nämlich miter allen Umständen etwas Starres, Festgewordenes,
Geronnenes und steht daher dem stets fließenden und strömenden
Leben fremd, ja feindlich gegenüber. Im alten Sinn systematisch
darf also der Lebensphilosoph nicht denken. Indem er die Welt
als All-Leben versteht, muß er zugleich einsehen, daß sie in kein
festes System hineinpaßt. Sein Denken hat sich der Rhythmik
imd Dynamik des nie rulienden Lebens anzuschmiegen. Ein
lebendiges Denken soll die Statik des Systems ablösen und uns
damit endlich von jeder Systematik erlösen.
In dieser antisystematischen Tendenz wird also die Lebens-
philosophie ihren größten Vorzug sehen und glauben, die herkömm-
lichen Bestimmungen der Philosophie als eines Systems durch
ein neues Ideal übei-wunden zu haben. Wie der Unterschied von
Form und Inhalt, so fällt auch der von Kosmos und Chaos für
sie fort. Das Leben ist beides zugleich. Der flutende Lebensstrom
selbst ist die gestaltende und die gestaltete Welt, denn ihre
Gestalt besteht im Fließen und Strömen, und sie „besteht"
insofern zugleich auch nicht.
So sind in der Lebensphilosophie alle Denkmotive, die bisher
von den Philosophen behandelt wurden, „aufgehoben", um mit
Hegel zu reden, und wollen wir daher, wie derselbe Denker sagt,
unsere „Zeit in Gedanken erfassen", dann müssen wir uns in
die Lebensphilosophie vertiefen. Sie erscheint nicht allein als
Verkörperung des philosophischen Zeitgeistes, sondern sie mar-
schiert zugleich an der Spitze der philosophischen Entwicklung.
17
Zweites Kapitel.
Die modernen Lebensphilosophen.
„Welch reicher Himmel! Stern an Stern!"
Der Sänger.
Docli es wird gut sein, daß wir uns nicht auf eine allgemeine
Kennzeichnung dieser Bewegungen beschränken, sondern auch
einzelne Denker betrachten, die besonders charakteristische Ver-
treter der Lebensphilosophie sind. Untereinander zeigen sie große
Verschiedenheiten. Doch kommen diese für uns nicht in Betracht.
Es gilt vielmehr, das Gemeinsame auch bei solchen Philosophen
hervorzuheben, die in mancher Hinsicht weit auseinander gehen.
Aus den angegebenen Gründen wird ihre Darstellung ungerecht
erscheinen, und sie ist es in der Tat. Aber es kommt hier nicht
darauf an, daß wir die einzelnen Persönlichkeiten erschöpfend
würdigen. Nur als typische Vertreter weit verbreiteter Geistes-
strömungen oder als „Fälle" sind sie ^vichtig, und wir nehmen
daher mit vollem Bewußtsein eine Vergewaltigung vor, um das
deutlich zu machen, was für das allgemeine Durchschnittswesen
in der Philosophie unserer Zeit maßgebend ist.
Selbstverständlich haben die Bestrebungen, denen wir uns
dabei zuwenden, wenn sie auch erst seit kurzem an der Ober-
fläche sichtbar und „allgemein" im Sinne des Kollektivismus
geworden sind, doch schon eine längere Geschichte. Sie lassen
sich ziemlich weit ins 19. Jahrhundert, ja darüber hinaus zurück
verfolgen und tauchen wie alles Bedeutsame in der geistigen
Kulturentwicklung zuerst bei wenigen Individuen auf, um dann
später ]\Iode zu werden. Doch brauchen wir den geschichtlichen
Quellen der Gegenwartsphilosophie nicht nachzugehen. Das
würde recht weit führen und doch für unsere Zwecke nicht wesent-
lich anderes sagen als das, was auch an den neusten Erschei-
nungen klar zu machen ist.
Es genügt, wenn wir Namen wie Hamann, Herder, F. H. Jakobi,
Goethe, Fichte, Schelling und andere deutsche Romantiker,
etwa Friedrich Sclilegel oder Novalis nennen.
Zumal Schelling hat in der für uns wichtigen Hinsicht Ein-
fluß weit über Deutschland hinaus gehabt, so z. B. auf den Dänen
Kickert, Philosophie d. Lebens. 2
- 18 -
Kierkegaard, für den man sich neuerdings bei uns vielfach interes-
siert, und ebenso in Frankreich durch die Vermittlung von Ravais-
son auf Bergson gewirkt.
Ferner mag mancher Lebensphilosoph unserer Tage an Goethe
orientiert sein. So weist z. B. Oswald Spengler, der zu den Lebens-
philosophen zu zählen ist, obwohl er sich nicht so nennt, aus-
drücklich auf ihn hin. Doch geschieht das bisher nur vereinzelt.
Im allgemeinen ist Goethes Philosophie, wenn man überhaupt
von einer solchen reden will, ziemlich unbekannt oder wenigstens
unverstanden.
Die Erinnerung an Goethe zeigt zugleich, daß selbstverständ-
lich in diesem Zusammenhang nicht nur die wissenschaftlichen
Philosophen wichtig werden. Im übrigen sehen wir jedoch von
den genannten älteren Denkern ab.
Von direkter Bedeutung dagegen auch für die neueste Lebens-
philosophie ist immer noch Schopenhauer, der populärste und
gelesenste aus der älteren deutschen Philosophen- Generation,
der sich an Schelling und zum Teil an Goethe anschloß. Zwar
hat er das „Leben" als Schlagwort ebensowenig wie seine Vor-
gänger. Er nennt das, was heute Leben heißt, mit Schelling
„Wille". Doch spricht schon er vom „Willen zum Leben" als
dem Kern der Welt, und es ist kein Zweifel, daß die Modephiloso-
phie eng mit Schopenhauers Willensmetaphysik verknüpft ist.
Diese fragt nicht nach den besonderen Formen und Gestaltungen
des Lebens, sondern nach dem ungestalteten, durch nichts außer-
halb des Lebens geformten Lebenswillen selbst. Sie lehrt, daß
der Wille vergeblich nach etwas anderem, jenseits des Lebens
Liegendem strebt, weil es eben kein Jenseits gibt, und daß wir
daher als lebendige oder wollende Menschen zu dauerndem Unbe-
friedigtsein verurteilt sind.
Auch sonst fördert die Lektüre Schopenhauers die Tendenz
auf das Elementare, triebhaft Unmittelbare im Gegensatz zum
Abgeleiteten, Verstandesmäßigen und Reflektierten. Erst später
sind zu diesen Gedanken noch andere, der Naturwissenschaft, be-
sonders der Biologie entstannnende Ideen hinzugetreten und
haben die Lebenslelire gefärbt und bestimmt. Doch gehen wir
zunächst auf diese geschichtlichen Zusammenhänge nicht weiter
ein, sondern beschränken uns auf eine kurze Charakterisierung
- 19 -
der Denker, die für die Lebensphilosophie der neuesten Zeit be-
zeichnend sind.
Da ist vor allem Friedrich Nietzsche zu nennen.
Er steht in direkter AJDhängigkeit von Schopenhauer, wie er in
seiner Jugend ^\-ußte, und ist, was er nicht immer wußte, als
Philosoph in hohem Maße an Schopenhauer orientiert geblieben.
Nur versah er später die meisten Begriffe seines Lehrers mit
umgekehrtem Vorzeichen, besonders indem er das Unbefriedigt-
sein des Lebenswillens durch einen bewußten Verzicht auf jedes
Jenseits des Lebens aufhob und sich freudig dem Leben selbst
in die Arme warf.
Dabei wirkte wesentlich der Einfluß Richard Wagners und
seiner Regenerationslehre mit, die ebenfalls eine Umbildung
von Schopenhauers Metaphysik im Sinne eines freilich noch recht
gemäßigten „Optimismus" bedeutet.
Diese Zusammenhänge sind wenig beachtet, was um so auf-
fallender ist, als der junge Nietzsche bekanntlich in den Dienst
des Wagnerschen Musikdramas trat und dabei Dion^-sos gegen
Apollo, d. h. den elementaren Lebensdrang gegen die Klarheit,
oder den „Willen" gegen die „Vorstellung" ausspielte. Auch
als Gelehrter und Philologe ergriff er damals schon die Partei des
„Lebens" gegenüber der Erkenntnis und der Wissenschaft, die
unlebendig machen. Später beeinflußte ihn die moderne Biologie
und bestärkte mit ihrem zukunftsfreudigen Entwicklungsbegriff
seine Lebensbejahung. So ist er zugleich das Bindeglied zwischen
der älteren und der neuesten Lebensströmung.
Vor allem aber wird Nietzsche deshalb in diesem Zusam-
menhang wichtig, weil er mit ungewöhnlicher Sprachgewalt mehr
als irgend ein anderer dem Wort Leben erst den Glanz verliehen
hat, der heute für viele an ihm haftet. Weiter als bis zu Nietzsche
braucht man daher zeitlich nicht zurückzugehen, wenn man zeigen
will, wie „das Leben" ein allgemein verbreitetes philosophisches
SchlagA^'ort geworden ist, und \sie die bekanntesten und einfluß-
reichsten Philosophen unserer Zeit am besten als „Philosophen
des Lebens" zu verstehen sind. Man muß sich nur gegenwärtig
halten, daß hinter ihnen sachhch Goethe, deutsche Romantiker,
Schopenhauer und in mancher Hinsicht auch Richard Wagner
stehen. Das gibt genug historische Perspektive.
- 20 -
Die Lebensstimmung der Zeit ist am meisten durch Nietzsches
Dichtung ,,Also sprach Zarathustra" angeregt. In ihr wird „das
Leben" behandelt wie ein menschhches Lebewesen, genauer wie
eine geliebte Frau. JNIan kann nicht inniger, vertrauter, zärt-
licher mit dem Leben sprechen, als es in den Tanzliedern geschieht,
obW'Olil auch die Peitsche dazwischen klatscht. Hier bekommt
das Wort Leben wirklich einen neuen und eigentümlichen Zauber.
Das Leben tritt uns erst persönlich nahe, um dann als Grund
von allem ins Zentrum der Welt und der Weltanschauung gerückt
zu werden. In Versen, deren Worte sich zum Teil freilich mehr
assoziativ durch Klänge als logisch miteinander verketten, und
in denen man, je nach Geschmack, Gedankenflucht oder Musik
im Stil Richard Wagners finden kann, die zum Teil aber auch von
hinreißendem Schwamg sind, gewinnt das Leben den lockenden
verführerischen Goldklang und die neue blinkende Farbe.
Wer das Herz der Zeit (nicht das Herz der Welt) klopfen
hören \d\\, wird gut tun, hier aufzupassen. Ein Liebesverhältnis
geht der Dichter mit dem Leben ein, obwohl er weiß, daß er es
mit einer reichlich problematischen Schönen zu tun hat. Als
das Leben an ihm zweifelt, sagt er ihm oder ihr etwas ins Ohr,
so leise, daß niemand anders es hören kann, aber doch so, daß es
sich erraten läßt. Es ist das Bekenntnis der absoluten Lebenstreue
und zugleich das große Weltgeheimnis, von dem Nietzsche lange
kaum zu reden wagte: die Lehre von der ewigen Wiederkehr
alles Lebens als Ausdruck höchster Lebensbejahung.
So erwächst aus der Lebensauffassung die Weltanschauung,
aus der Wertung die Setzung des Seins, aus der „Axiologie" die
„Metaplwsik". Sie dringt in die Herzen, auch wenn sie die Köpfe
nicht zu bezwingen vermag. „Damals aber war mir das Leben
lieber als je alle meine Weisheit."
Zarathustra gibt also nicht so sehr neue Lebensgedanken
als neue Klänge und neue Gefühle für das Leben, aber gerade
sie haben auf die philosophische Stimmung der Zeit großen Ein-
fluß geübt. Ehe Nietzsches Wirkung begann, hatte in Deutsch-
land das Wort Leben wohl für niemand den Zauber, der heute
für viele an ihm haftet, und der auch dort herrscht, wo man
nicht weiß, daß Nietzsche die Quelle für diese „Lebensweis-
heit" bildet. Schon aus diesem Grunde ist Nietzsche bei der
- 21 -
allgemeinen Darstellung der zeitgemäßen Weltanschauung vor-
anzustellen.
Will man auch von einer Philosophie Nietzsches sprechen,
die sich mit wissenschaftlichen Theorien in eine Reihe bringen
läßt, was er selbst wohl abgelehnt hätte, so ist in ihr der Lebens-
begriff als Grundprinzip gerade der Gedanken zu verstehen,
die weite Verbreitung gefunden haben. Dabei muß man besonders
das Verhältnis zur modernen Biologie ins Auge fassen, das bei
der Kritik der Lebensphilosophie von entscheidender Bedeutung
sein wird. Anfangs blieb Nietzsche von dem Fortschrittsjubel
der Darwinisten nicht unberührt. Später lehnte er mit dem Bio-
logen Rolph den Darwinschen „Kampf ums Dasein" ab, denn der
bringe nur Hungervarietäten hervor. Der echte Wille zum Leben
ist ihm Wille zur :\Iacht, und in seiner Steigerung zu immer größerer
Kraft und Stärke findet er endlich den Sinn unserer ganzen
Kultur, ja unseres Lebens überhaupt. Werte, die es nicht ver-
tragen, an dem Wert des aufsteigenden Lebens gemessen zu
werden, verwirft er auf allen Gebieten.
Man denke an den Kampf gegen die Sklavenmoral, bei dem
Nietzsche im wesentlichen an Schopenhauers ]\Iitleidsethik nega-
tiv orientiert ist. Sie stützt, was aus eigener Kraft nicht leben
kann, und ist deshalb unmoralisch. Ebenso wird das Christentum
verdammt, weil es sich des schwachen Lebens anninmit, das zu-
grunde gehen sollte. Sogar die Wahrheit hat keinen Wert, wenn
sie nicht dem aufsteigenden Leben dient. Die Wissenschaft darf
überhaupt nicht nach wahr und falsch, sondern danach allein
beurteilt werden, ob sie die Vitalität fördert oder hemmt. Auch
der Uebermensch ist am besten zu verstehen als der lebendigste
Mensch, der dem lebendigsten Leben dient und alle anderen
Ideale verhöhnt und verachtet. In ihm hat „der Sinn der Erde"
endlich Gestalt gewonnen. Bei keiner Lebensform darf man stehen
bleiben. Immer muß man über sie hinaus nach einer noch lebendi-
geren streben. „Und dies Geheimnis redete das Leben selber zu
mir: Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber
überwinden muß." Das ist der Lebenssinn auch des
Uebermensch en, dieses sonst schwer faßbaren Begriffs. Schließ-
lich steht der am höchsten, der es vermag, das Leben in seiner
Totalität mit all seinen Schrecknissen und Fürchterlichkeiten zu
99
ewiger Wiederkehr zu bejahen, denn eine solche Haltung zum
Leben ist das Zeichen der größten Lebendigkeit, Stärke und
Kraft.
Kurz, überall läßt sich Nietzsches Umwertung aller Werte
gerade mit Rücksicht auf die Bestandteile, die allgemeine Ver-
breitung gefunden haben, auf das Lebensprinzip zurückführen.
Daß es daneben andere Gedanken gibt, die unter andern Ge-
sichtspunkten vielleicht wichtiger sind, ist in diesem Zusammen-
hang unwesentlich. Nur der Lebensphilosoph ist Mode geworden
und kommt in Betracht, wo es gilt, die Philosophie der Zeit ihrer
allgemeinsten Tendenz nach zu charakterisieren.
Doch Nietzsche ist nur ein Lebensphilosoph unter anderen,
und falls wir uns nicht auf Deutschland beschränken, nicht ein-
mal mehr der einflußreichste. Am meisten unter allen lebenden
Denkern wird in der europäischen Krdturwelt heute wohl Henri
B e r g s o n genannt. Er ist, wie schon angedeutet, von Schelling,
wenn auch mehr indirekt, und ebenso von Schopenhauer beein-
flußt, hat also dieselbe deutsche und romantische Provenienz
wie Nietzsche, was angesichts seiner üeberschätzung zu betonen
ist, aber auch nicht zu seiner Unterschätzung führen sollte. Ihn
als „Plagiator" zu bezeichnen, ist absurd i). Trotz der r e 1 a-
tiven Unselbständigkeit seiner Grundgedanken muß er als
der eigentliche P h i 1 o s o p h des Lebens in unserer Zeit angesehen
werden, falls wir unter Philosophie eine Lehre und nicht nur
eine Stimmung oder Ueberzeugung verstehen. Er hat, obwohl
seine Bücher nicht bequem zu lesen sind, großen Erfolg auch in der
wissenschaftlichen Philosophie gehabt und bewirkt, daß viele es
schon für selbstverständlich halten, wenn der Lebensbegriff in
den Mittelpunkt des Denkens über die Welt gestellt wird.
Es kommt nur darauf an, daß wir kurz an Bergsons bekannt
gewordene Schlagwörter erinnern und sie im Zusammenhang
1) IclT erwähne das, weil ein Denker vom Range Wilhelm
W^u n d t s eine an Aeußerlichkeiten haftende Broschüre „Plagiator
Bergsoii" im Literarischen Zentralblatt (13. Nov. 1915) nicht
völlig abgelehnt hat. Wir sollten es den Franzosen nicht nach-
machen, von Männern verächtlich zu reden, die weiten Kreisen
Anregung und Belehrung gegeben haben. Bergson gehört zu
ihnen. Gewiß ist nicht alles bei ihm originell. Manches kommt
von Schopenhauer. Aber auch Schopenhauer hat viel von Schel-
lins: und andern und ist darum gewiß kein Plagiator.
- 23 - .
mit dem allgememen Lebensprinzip verstehen. Eine „objektive"
Darstellung seiner Gedanken ist nicht beabsichtigt i). Philoso-
phieren bedeutet für Bergson so viel wie unmittelbares, intuitives
Erfassen der Welt. Sein Kosmos ist dem Sein nach das vom
lebendigen Menschen erlebte Leben, und seine Weltanschauung
als Deutung vom Sinn des menschlichen Daseins hat ihren Schwer-
punkt im elan vital. So finden wir auch hier die Einheit von
Seinslehre und Wertlehre. Beide werden nirgends voneinander
getrennt, und schon insofern ist unsere Darstellung zugleich
eine Interpretation.
Die Sympathie für das Organische und die Abneigung gegen
das Mechanische nimmt zunächst eine radikale Wendung ins
Metaphysische. Die Welt der Naturwissenschaft, besonders der
Physik, Chemie und Astronomie mit ihrem Kreislauf und ihren
Gesetzen, die man früher für die eigentliche Welt hielt, ist über-
haupt keine „Welt", sondern das einseitige Produkt des rechnen-
den Verstandes, der alles festlegt und starr macht. Mit ihm, der
nur Wiederholungen kennt, reichen wir an das Weltwesen, das
rastlos strömend Neues emportreibt, nicht heran. Die Begriffe
unserer Erklärungen töten alles Leben, sobald es gezwungen
wird, in sie einzugehen. Sie machea die Dinge, die stets verschie-
den sind, uniform. Sie verfertigen nur Konfektionskleider, arbei-
ten nicht nach Maß für die wirkliche Wirklichkeit, in der alles
ursprünglich und neu sich darstellt. Die gewöhnliche Wissen-
schaft lehrt Messen und Berechnen und bleibt damit beim Aeußer-
lichsten und Oberflächlichsten, bei der Entspannung oder Ermat-
tung,und Auflösung der Lebensschwungkraft stehen. Berechnen
und messen läßt sich nur das Feste, Starre, Tote. Das wahre
Sein, das kontinuierlicher Fluß, beständiges Wallen und Wogen
ist, erschließt sich allein der Intuition, und zwar nicht der passiven,
sondern der tätigen Anschauung. Das Leben, nicht der Verstand
ergreift das Leben in seiner Lebendigkeit als Zeitwirkliclilceit
oder duree reelle.
1) Eine kurze Zusammenfassung der Grundgedanken gibt
Richard Kroner, Henri Bergson, 1910 (Logos I, S. 1^25 ff.).
Auch für die Kritik ist auf diese Abhandlung zu verweisen. Sie
gehört noch immer zu dem besten , was in deutscher Sprache
über Bergson geschrieben ist. Die Richtigkeit der Wiedergabe
seiner Gedanken hat Bergson selbst anerkannt.
. - 24 -
Schon damit ist implizite der üebergang zur Wertlehre voll-
zogen. Die duree bedeutet nicht zeitlose Ewigkeit, denn auch
die wäre tot. Lebendigkeit des ewigen Lebens haben wir vielmehr
an ihr, ein Begriff, der nur deswegen paradox erscheint, weil wir
gewohnt sind, allein mit dem toten und tötenden Verstand zu
denken. Das müssen wir uns abgewöhnen. Dann erkennen wir:
das Universum ist, wie wir selbst, schöpferische Tat, aufquellendes,
emporflutendes Werden und Geschehen und insofern zugleich gött-
lich. Der ^Mechanismus, der weil er nur unwesentliche Ortsver-
änderung unveränderlicher Elemente kennt, alle Zeitwdrklichkeit
in räumliches Auseinander, alles Intensive in Extensives ver-
fälscht, \sdrd damit zum bösen Prinzip. Die echte Realität schafft
immer neue Formen und Gestalten in unerschöpflichem Wachsen
und Blühen. Die evolution creatrice ist das Letzte und Höchste.
Die Substanz der Welt „ist" nicht im Sinne des starren Seins,
sondern wird. Sie besteht nicht als Substanz, steht nicht still,
ruht nicht, sondern lebt und wirkt. Nicht im Sein, sondern nur
im Werden kann ein Lebendiges sich entfalten. Was sinkt, matt
wird, beharrt, dahin fällt, fest wird, ruht, stirbt, ist ungöttlich.
]\Iit dieser Wert-^NIetaphysik des Lebens ist dann endlich
eine Ethik, wenn man davon bei Bergson reden will, aufs engste
verknüpft. Sie stellt sich selbstverständlich als Lebensethik dar.
Wenn wir fragen, was wir tun sollen, um unser Leben sinnvoll zu
gestalten, kann die Antwort nur lauten : wir haben in der Intuition
zu leben. Vom Verstand, durch den wir zu Sklaven unserer Be-
dürfnisse werden, und der, \\\e er alles erstarren läßt, auch uns
selber fesselt, müssen wir uns befreien. Nur durch intuitive Hin-
gabe an das Leben erobern wir uns sittliche Freiheit. Das Leben
selbst bildet also nicht nur das wahre Sein, sondern auch das
wahre Lebensziel. Zugleich ist es nicht ein und dieselbe Aufgabe
für alle, sondern im freien Leben hat jeder sich sein besonderes
Lebensziel frei zu wählen.
Das ist die „Lebensanschauung", die sich aus Bergsons Welt-
anschauung ergibt, die „praktische" Philosophie, die aufs engste
mit der „theoretischen" zusammenhängt. So verstehen wir seine
Grundgedanken durchweg als die einer Lebensmetaphj^sik aus der
Fülle des Lebens heraus für den lebendigen Menschen.
Auch quantitativ hat Bergson in der wissenschaftlichen
— j:3 —
Philosophie mehr gewirkt als Nietzsche. Zarathustra wird haupt-
sächlich von Deutschen gelesen und ist wohl unübersetzbar.
Bergsons Einfluß verbreitet nicht nur über Europa deutsche
Gedanken in glänzendem französischem Gewand, sondern seine
Wirkungen sind auch in Amerika zu spüren. Dort hat sich be-
sonders William James, den viele als den größten Denker
der Vereinigten Staaten preisen, begeistert an ihn angeschlossen.
Am bekanntesten ist James durch den von ihm sogenannten
Pragmatismus geworden, der zur Philosophie des Lebens als dessen
Erkenntnistheorie gehört, insofern er die Wahrheit eines Ge-
dankens nicht an seiner theoretischen Bedeutung, sondern an
seinem Nutzen für das Leben, an seiner Brauchbarkeit für die
Lebenssteigerung messen will, ein alter Einfall, der in neuerer
Zeit schon von Nietzsche, ja noch früher von Mach und Avenarius
vertreten worden ist.
Im übrigen kann ein kurzer Hinweis auf James genügen,
denn wesentlich originelle Züge zeigt seine pluralistische Meta-
physik nicht. Der interessanteste Punkt darin ist der, daß ein
Uni versum der Lebendigkeit nicht genügt, sondern die Welt
als M u 1 1 i versum gedacht werden muß. Doch liegt der größte
Wert dieser Ansicht vielleicht im Terminus. Die Ausführung
läßt zu wünschen übrig.
Selbstverständlich haben wir es hier nur mit dem Lebens-
philosophen und nicht mit dem Psychologen zu tun, der den
Lebensphilosophen an wissenschaftlicher Bedeutung überragen
dürfte. Wichtig wird James für unseren Zusammenhang dadurch,
daß er, der nach AJDstammung und Kultur von Nietzsche und
Bergson sehr verschieden ist, trotzdem in manchen Grundgedan-
ken überraschende Uebereinstimmung mit ihnen zeigt.
Einflußreichere Philosophen als diese drei nach Nationalität
und Bildungsart so von einander abweichenden Denker gibt
es heute nicht, und sie alle sind als Philosophen des Lebens zu
bezeichnen. Damit haben wir die Modephilosophie unserer Zeit
auch in ihren berülimtesten einzelnen Vertretern charakterisiert.
Neben ihnen denken noch viele andere in verwandter Rich-
tung, darunter auch solche, die man weder zu den reinen Lebens-
philosophen noch zur eigentlichen ]\Iode rechnen kann. Doch
seien auch von ihnen hier einige ausdrücklich envähnt, die geeig-
- 26 -
net sind, die weite Verbreitung und die Stärke der zeitgemäßen
Lebenstendenzen noch mehr hervortreten zu lassen , gerade
weil sie in mancher Beziehung von der Modephilosophie ab-
weichen.
So gehört Georg Simmel in diesen Zusammenhang.
Für die Geistesbewegungen, die ihn umgaben, besaß er ein unge-
wöhnlich feines Verständnis. Wir konnten uns auf ihn schon bei
der allgemeinen Darstellung der Lebensphilosophie berufen,
insofern auch er versucht hat, die Grundrichtung unserer Zeit
mit dem Lebensbegriff in Zusammenhang zu bringen. Zugleich
ist er, wenigstens mit einem Teil seiner Arbeit, selbst zu den
Lebensphilosophen zu zählen. Er redet viel vom Leben und
fast stets mit Emphase als dem Gegenstand seiner Liebe. Er
hat nicht nur deutlich erkannt, daß um die Wende des zwanzigsten
Jahrhunderts weitere Schichten des geistigen Europa ihre Hand
nach einem neuen Grundmotiv für den Aufbau einer Weltan-
schauung ausstrecken, und daß dabei der Begriff des Lebens
zur zentralen Stelle aufstrebt, während andere Zeitalter Begriffe
wie den des Seins, der Gottheit, der Natur oder der Persönlichkeit
in den Mittelpunkt rückten, sondern er hat auch, zumal in seinem
letzten Werk, das Leben ausdrücklich zum Zentrum seines eigenen
Denkens gemacht, in einer Weise freilich, die genau genommen
schon eine Ueberwindung der reinen Lebensphilosophie bedeutet.
Denn einmal versteht Simmel unter dem Wort Leben zwei grund-
verschiedene Begriffe, wodurch die für die andere Lebensphilo-
sophie so wichtige Lebenseinheit aufgehoben wird und die Lebens-
immanenz nicht einmal dem Namen nach gewahrt bleibt, und
vollends bedeutet das, was Simmel die „Wendung zur Idee" nennt,
ein Hinausgehen über alles Leben.
Auch abgesehen davon darf man diesen reichen Geist, der
mit Bewußtsein Antisystematiker war, nicht auf ein Schlagwort
festlegen wollen. Trotzdem bleibt er ein Lebensphilosoph im
weiteren Sinne und zeigt sich dabei sowohl von Nietzsche als
auch von Bergson, also den eigentlichen Lebensphilosophen
beeinflußt, ohne irgendwie seine Selbständigkeit zu verlieren.
Insofern ist er für die Philosophie unserer Zeit charakteristisch.
Zugleich bildet er sachlich eine Ueberleitung zu Gedanken,
die noch weniger zur Lebensphilosophie im engeren Sinn zu
- 27 -
rechnen sind, aber doch auch Verwandtschaft mit ihr zeigen
und daher hier ebenfalls erwähnt werden müssen.
Aus der älteren Generation ist vor allem Wilhelm D i 1-
t h e y zu nennen, der völlig unabhängig von Nietzsche und Berg-
son war, dagegen in engster Fühlung mit der deutschen Romantik
stand, der eigentlichen Quelle der modernen Lebensphilosophie.
Der Zeit nach gehört er zu den ersten Philosophen des Lebens.
Wir erwähnen ihn trotzdem erst jetzt, weil er nicht eigentlich
als Systematiker und noch weniger als Modephilosoph gelten
kann. Er ist hauptsächlich Geisteshistoriker.
Wo er aber philosophiert, erklärt auch er: „Die letzte Wurzel
der Weltanschauung ist das Leben." Dementsprechend hat er
sein Denken auf „Erlebnisse" zu stützen gesucht schon in Zeiten,
als das Wort noch nicht so abgegriffen war wie jetzt. Besonders
kommt es ihm auf das nacherlebende Verstehen an. Damit
erstrebt er eine lebendigere Erkenntnis des geistigen Seins, als
die naturwissenschaftliche Denkart mit Einschluß der gesamten
modernen Psychologie sie zustande bringt. Nicht der vorgestellte,
objektivierte, vom Leben abgerückte Kausalzusammenhang,
sondern der innerlich erlebte Motivationszusammenhang ist
wichtig. Von der geistigen Welt braucht man nichts zu wissen,
selbst wenn m.an alles Seelenleben naturwissenschaftlich exakt
erklärt hat. Auch Probleme wie das der Realität der Außenwelt
sucht Dilthey so zu lösen, daß er sich dabei nicht auf Verstandes-
schlüsse stützt, sondern das Wesentliche in dem Veriiältnis des
Willens zu dem Widerstand sieht, auf den dieser trifft.
Vollends spielen die Lebens-Ueberzeugungen in seine histori-
schen Arbeiten hinein und bestimmen nicht allein ihre Methode,
sondern auch ihren Stoff. Seine Jugendgeschichte Hegels ist dafür
bezeichnend. Den jungen Hegel kann man zu den Lebensphilo-
sophen rechnen, und er wird es vollends in Diltheys Darstellung.
Andererseits interessierte sich Dilthey dafür, wie die von ihm
bekämpfte Meinung entstanden ist, d. h. w^e es in einer jahr-
hundertelangen Arbeit seit Galilei zur Verfälschung der Welt
des lebendigen Geistes durch Anwendung von Verstandeskatego-
rien der Naturwissenschaft kam, wie die mechanische Denkart
mit ihren Qualitäten und Formen allen lebendigen Zusammen-
hang tötete, und wie überall die Lebenseinheit unter dem Ein-
- 28 -
fluß der ^Molekularphysik zugunsten einer Zerteilung und Atomi-
sierung weichen mußte, auch in Staat und Gesellschaft, ja sogar
in der Religion.
So wendet sich dieser Lebensphilosoph als einer der ersten
in mehrfacher Hinsicht gegen jeden Rationalismus, d. h. gegen
die Meinung, es stecke im Verstandesmäßigen und Erklärbaren
das Wesen der Dinge. Das gibt eine tote Weltanschauung, die
alles zerstückelt und kein Ganzes kennt, das leben kann. Es
gilt, im Gegensatz zu ihr die verstehende Intuition, die Anschau-
ung der Lebenstotalität und des Lebenszusammenhangs als
echtes Organ einer umfassenden Geschichts- und Weltauffassung
zur Geltung zu bringen.
Kurz, auch hier haben wir Lebendigkeit, Unmittelbarkeit,
Ursprünglichkeit und anschauliche Irrationalität im Unterschied
vom toten und abgeleiteten begrifflichen Wissen, und das stellt
bei Dilthey die sachliche Verbindung her mit Nietzsche und
Bergson, mit James und Simmel, von denen er in anderer Hin-
sicht sich weit entfernt.
Vielleicht stößt es zunächst auf Widerspruch, wenn ferner
in diesem Zusammenhang auch die streng wissenschaftlich ge-
richtete Schule der Phänomenologen genannt wird, an
deren Spitze H u s s e r 1 steht. Eine Philosophie des Lebens
hat Husserl selber in der Tat nicht. Trotzdem zeigt sein Denken
mit ihr Verwandtschaft, ja verdankt vielleicht gerade diesem
Umstand einen großen Teil seiner Erfolge. Für weitere Kreise
zugänglich sind Husserls Ideen sonst gerade nicht. Jedenfalls
hat sich iiri Anschluß an sie auch eine Lebensphilosophie ent-
wickelt, und schon deswegen sind sie hier zu nennen.
Dabei kommt es selbstverständlich nicht auf die Heraus-
arbeitung des Logischen gegenüber dem Psychologischen an.
denn diese kann nur zu einer Ablehnung jeder Philosophie des
bloßen Lebens führen, sondern auf die Lehre von der „Wesens-
schau", die Husserl zur Grundwissenschaft aller Philosophie
machen will, und die ihm Anliänger verschafft hat. Auch sie
suchen wir mit bewußter Einseitigkeit und insofern ungerecht
als zeitgemäß im Zusammenhang mit den modernen Erlebnis-
tendenzen zu verstehen, wenn wir daran denken, daß Phäno-
menologie die Lehre einer neu entdeckten Art anschaulicher
- 29 -
und unmittelbarer ,, Erscheinungen" bedeutet. Es ist bei ihr
mehr an Goethes Urphänomen als an Hegels Phänomenologie
zu denken.
Das ungetrübte Erfassen der originär gegebenen Phänomene
ist der Sinn der phänomenologischen Einstellung. In Einheit
und Eigenart sollen wir „das vor Augen Stehende sehen" lernen,
nicht umwallt und umliüUt von dem Nebel, den die wissenschaft-
lichen Theorien, besonders der üblichen Psychologie, davor aus-
gebreitet haben. „Das unmittelbare „Sehen", nicht bloß das
sinnliche, erfahrende, sondern das Sehen überhaupt als originär
gebendes Bewußtsein welcher Art immer, ist die letzte Rechts-
quelle aller vernünftigen Behauptungen" i). Dies Nächste dürfen
wir nicht vergessen über den Begriffen, die nur das abgelöste,
umgriffene und dadurch entfernte Sein enthalten.
Das ist der Kernpunkt der Wesensschau nach phänomeno-
logischer Methode, wenn wir sie den allgemeinen Strömungen
der Zeit einordnen, und dies Dringen auf ünmittell^arkeit ver-
bindet Husserl, obwohl nicht nur die Schlagworte der Zeit bei
ihm fehlen, sondern er im tiefsten Grunde auch etwas völlig
anderes will, doch mit der Lebensphilosophie nicht nur Bergsons,
sondern auch Diltheys, der sich nicht ohne Grund für diese Be-
strebungen lebhaft interessierte.
Bedürfte es für die sachliche Verwandtschaft noch eines
Beweises, so wäre zu ]:)eachten, daß ]M a x S c h e 1 e r als An-
hänger Husserls sich ausdrücklich dazu Ijekannt hat, er erhoffe
von dieser Philosophie auf dem Boden des Lebens erst die volle
Nutzung der großen Antriebe, die Nietzsche, Dilthej' und Bergson
unserem Denken erteilt halben. In geradezu feierlicher Weise
weist er auf die Phänomenologie als auf die Erfüllung hin und
verlangt mit charakteristischen Worten eine ,,vom Erleben der
Wesensgehalte der Welt" ausgehende Philosophie, die eine neue
Epoche bedeutet '^).
Beiträge zu einer solchen Philosophie des Lebens hat Scheler
selbst besonders in seinem Buch über den Genius des Krieges
gegeben, in dessen grundlegenden, eigentlich philosophischen
1) Vgl. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie
und phänomenologischen Philosophie, 1913, S. 36.
2) Vgl. Scheler, Abhandlungen und Aufsätze, 1915, II.
S. 227.
- 30 -
Kapiteln der Begriff des Lebens eine entscheidende Rolle spielt
und dazu dient, den Krieg als Höhepunkt der staatlichen Wirk-
samkeit zu rechtfertigen. Bei der Kritik der Lebensphilosophie
kommen wir hierauf zurück.
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß das Leben
nicht nur zur Grundlage aller Kultur gemacht werden, sondern
auch dort die Basis des Denkens bilden soll, wo es darauf ankommt,
die Kultur als etwas Unwesentliches herabzusetzen.
Das hat man im ausdrücklichen Anschluß an romantische
Gedanken versucht. Charakteristisch in dieser Hinsicht ist ein
„Beitrag zur Philosophie des Lebens" von dem Russen Fried-
rich Steppuhn, der sich zu Friedrich Schlegel bekennt ^).
Die „Lebenswerte" werden als „Zustandswerte" allen „Lei-
stungswerten" und damit allen Kulturwerten entgegengestellt.
Das Leben selbst steht am höchsten, und zumal die Religion
ist allein im reinen Erlebnis zu finden. Jede religiöse Kultur
wird unsinnig. Nur Leben in Gott ist möglich. Alle Kultur
beruht auf Schaffen und bedeutet Geschaffenes. Alles Schaffen
aber ist Verneinen und Vernichten der positiven All-Einheit der
Seele, in der alle Religiosität unmittelbar wurzelt.
Diese Philosophie des Lebens mit ihrer Sympathie für Fried-
rich Schlegel gibt eine interessante Nuance der Zeitphilosophie.
Schlegel meinte, daß nur in der heiligen Passivität der Mensch
sich an sein Ich erinnern kann, um die Welt und das Leben anzu-
schauen, und er sah in der Faulheit das einzige gottähnliche
Fragment, das dem Menschen beschieden ist. Dafür kann man
sich auf die Vertreibung aus dem Paradiese berufen. Zu be-
dauern ist nur, daß wer solche Philosophie des Lebens konse-
quent „lebt", philosophische „Leistungen" nicht zustande brin-
gen wird. Diese Weltanschauung der Zustandswerte drängt nicht
zu objektiver Ausgestaltung in einem geschlossenen Gedanken-
zusammenhang, und so dürfen wir das „System" der vielleicht
folgerichtigsten aller Lebensphilosophien leider nicht erwarten.
Wer von diesem Lebensstandpunkt aus philosophiert, macht
sich schon durch die „Leistung" des Philosophierens einer Inkonse-
quenz schuldig. * •
1) Vgl. Logos, Bd. I, 1910, S. -261 ff.
- 31 -
- Eine Aufzählung von Lebensphilosophen, die Vollständigkeit
anstrebt, ist hier nicht möglich und hätte auch keinen Zweck.
Die Beziehungen zum Lebensbegriff reichen in die verschiedensten
philosophischen Richtungen hinein. So könnte man z. B. auch
die' Gedanken von Friedrich Paulsen hierher rechnen,
obwohl das Schlagwort Leben bei diesem nicht starken, aber
feinen und liebenswürdigen Denker fehlt. Für James hatte er
viel Sympathie, und seine Kantauffassung liegt in der modernen
Richtung. Mit noch mehr Grund ist Hans Vaihingers
„Philosophie des als ob" in diesen Zusammenhang zu bringen. Zum
Teil knüpft sie freilich an die sonderbare Mißdeutung Kants an,
mit der Forberg am Ende des 18. Jahrhunderts schon Fichtes
energischen Widerspruch herausforderte, und liegt insofern von
den Moderichtungen weit ab. Doch werden in ihr ausdrücklich
auch die Fäden hervorgehoben, die sie mit Nietzsche und dem
Pragmatismus verknüpfen, und auf ihnen beruht wohl die Teil-
nahme, die sie gefunden hat. Im Prinzip gehen ihre Gedanken
für das, was hier wesentlich ist, nicht über das hinaus, was wir
bereits kennen. Ein kurzer Hinweis auf sie kann daher genügen.
Weitere Namen zu nennen hat keinen Sinn. Ihre Zahl ist groß,
und ihre prinzipielle Bedeutung gering. Jede Mode hat viele
Mitläufer.
Doch dürfen wir den Kreis der Lebensphilosophie auch nicht
z u weit ziehen. Dies ist zu erwähnen, weil man sogar einen Den-
ker wie Rudolf E u c k e n mit Bergson und James zusam-
men genannt und gemeint hat, er suche ebenso wie diese sich
von den Begriffen zum Leben zurückzuwenden ^). Gewiß kommt
das Wort Leben bei Eucken oft vor, und ebenso ist es richtig,
daß man in diesem eigenartigen und tiefen Denker nicht nur
einen Erneuerer von Fichtes Idealismus sehen darf. Aber es
bleibt doch bei ihm die engste Fühlung mit der klassischen deut-
schen Philosophie grundwesentlich, und wollte man daher den
Lebensbegriff so umfassend nehmen, daß auch Euckens „Geistes-
leben" darunter fällt, dann würde das Schlagwort jede greif-
bare und prägnante Bedeutung verlieren. Mag also Eucken
das Wort Leben lieben, zu den Lebensphilosophen, die wir hiC'-
1) Vgl. Julius Goldstein, Wandlungen in der Philo-
sophie der Gegenwart, S. 149 ff.
- 32 -
meinen, können wir ihn nicht zählen. Er hat von der modernen
Lebensströmung keinen wesentlichen Einfluß erfahren, sich
vielmehr stets seine volle philosophische Selbständigkeit bewalirt.
Andrerseits gibt es Denker, die das Leben als Schlagwort
nicht gebrauchen und trotzdem mit den Modeströmungen der
Zeit eng zusammenhängen. Das gilt auch dann, wenn sie es
nicht wissen. So" läßt sich, mn dafür ebenfalls wenigstens ein
Beispiel zu nennen, das vielgelesene Buch mit dem sensationellen
Titel ,,Der Untergang des Abendlandes" von Oswald Spengler
zum großen Teil als Produkt der modernen Lebenstendenzen
verstehen, obwohl der „Wille zum Leben" bei seinem Verfasser
wie bei \Yotan im Ring der Nibelungen nur Eines noch will:
das Ende! Nicht allein Goethe, sondern auch Nietzsche und
Bergson haben bei dieser ,,^Iorphologie" Pate gestanden. Der
Begriff des „Faustischen", der mit dem des Dionysischen und inso-
fern mit dem Lebensprinzip verwandt ist, geht durch das Ganze
hindurch, und ebenso läßt der Gedanke der „[Morphologie" eine
Beziehung zu den Lebenstendenzen erkennen. Morphologie l^e-
deutet hier Biologie. Daß die Geschichte nicht nach Art der
„exakten" Natunvissenschaften zu JDehandeln ist, hat Spengler
gesehen. Doch merkt er nicht, daß jede generalisierende, also
auch die „morphologische" Darstellung dazu führen muß, das
seinem Wesen nach stets individuelle Historische aus der Ge-
schichte auszuschalten. Die Biologie vergewaltigt im Prinzip
die geschichtliche Besonderheit, die sich nie wiederholt, ebenso
wie die Aufstellung von „liistorischen Gesetzen". In der Ver-
kennung dieses Umstandes kommt das moderne Lebensprinzip
als Ueberschätzung des biologischen Denkens zum Durchbruch ^).
1) tm übrigen gehe ich auf das gewiß sehr geistreiche Buch
nicht ein. Bei allen interessanten Einzelheiten ist sein metho-
discher Regriffsapparat so brüchig, daß eine Darstellung der
Hauptgedanken ohne Kritik schwer möglich wäre, und überdies
zeugt das „Prophetentum", das den Untergang des Abendlandes
voraussagt, für jeden, der Klarheit über die logische Struktur des
geschichtlichen, d. h. individualisierenden Denkens hat, von so
unwissenschaftlicher Willkür, daß sich in einem wissenschaftlichen
Zusammenhang davon überhaupt nicht gut reden läßt. Spengler
hat offenbar für die ,, Logiker", denen er in seinen Tabellen ihren
weltgeschichtlichen Platz anweist, wenig übrig. Trotzdem hätte
er von ihnen manches lernen können. Die Meinung, es lasse sich
- 33 -
Auf andere Werke, die insofern für uns bedeutsam sind, als sie
wenigstens zum Teil, ebenfalls ohne es zu wissen und zu wollen,
von den Lebensstimmungen der Zeit getragen werden, kommen
wir später zu sprechen. Prinzipiell neues würde die Darstellung
ihres Inhaltes für eine Charakterisierung des zeitgemäßen Den-
kens nicht ergeben. Was über Einzelheiten zu sagen ist, wird zur
Vermeidung von Wiederholungen besser erst bei der Kritik der
Lebensphilosophie vorgebracht.
Schon jetzt muß trotz der Beziehung auf einen Grundge-
danken das Bild der modernen Lebensphilosophie bunt genug
sein, um nicht einseitig zu erscheinen. In seinem Lebensrahmen
ist Platz für sehr heterogene Bestrebungen. Schöpferische Le-
bensschwungkraft und heilige Passivität des stillen Erlebens,
das alles Schaffen verneint, französischer elan und russische
Mystik mit bewußt unproduktiver Beschaulichkeit, hoffnungs-
freudiger Lebensoptimismus des evolutionistisch gerichteten
Uebermenschentums und graue Verzweiflung an der Fortent-
wäcklung des abendländischen Kulturlebens, antiwissenschaft-
liches Lebensprophetentum und strenge Wissenschaftlichkeit
der Lebensschau, metaphysische Vertiefung in das Jenseits
des Weltwesens und höchst diesseitiger pragmatistischer ütili-
tarismus — sie alle gehen zusammen in diesem west-östlichen
Lebensgebilde, das Europa durchquert.
Wie sollte das Lebens-Denken bei' solchem Reichtum, der
jedem etwas zu bieten scheint, nicht auch Mode geworden sein?
Jedenfalls: weitaus die meisten Gedanken, die heut in der Philo-
sophie „lebendig" sind, d. h. mehr als Gelehrsamkeit bedeuten
und weitere Kreise ergriffen haben, stehen unter dem Zeichen
einer Philosophie des Lebens, entweder ausdrücMich, oder wenn
nicht den Worten, so doch der Sache nach. Die Lebensbegriffe
umgeben uns als unsere philosophische Luft, ja sie sind der jüngeren
Generation schon zur so selbstverständlichen Atmosphäre ge-
worden, daß man vielfach meint, es müsse immer so gewesen
sein, und man dürfe überall nur zu „erleben" suchen, wenn man
philosophieren will.
die Geschichte in ihrer Entwicklung vorausbestimmen, gehört zu
den rationaUstischen Vorurteilen der Aufklärungsphilosophie, über
die wir doch endlich hinausgekommen sein sollten.
R i 0 k e r t , Philosophie d. Lebens- 3
— 34 —
Dabei sei noch einmal hervorgehoben, daß diese Darstellung
nicht daran denkt, das philosophische Schaffen unserer Zeit in
seinen wesentlicher Richtungen zu erfassen. Das Wichtigste
in der Gegenwart besteht vielleicht in dem, was bisher nur kleine
Kreise interessiert. Von der Arbeit, die sich an große Denker
der Vergangenheit anschließt und ihre Systeme weiter auszu-
bilden sucht, war ebenfalls nicht die Rede, obwohl dieser Teil
der Zeitphilosophie gewiß nicht als unwesentlich bezeichnet
werden soll. Eine solche Absicht liegt um so ferner, als man auch
den Verfasser dieses Buches zu denen rechnen kann, die sich um
eine Weiterbildung des in der Philosophie des Deutschen IdeaUs-
mus Begonnenen bemühen.
Wir haben uns also mit Bewußtsein auf weit verbreitete
Tendenzen beschränkt. Damit wird kein Werturteil über sie ge-
fällt, weder in positiver noch in negativer Hinsicht. Die Be-
schränkung erfolgte aus den angegebenen Gründen zu bestimm-
ten wissenschaftlichen Zwecken.
Drittes Kapitel.
Die Prinzipienlosigkeit der intuitiven Lebens=
Philosophie.
,,Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein."
Der Schüler.
Von der Darstellung der Lebensphilosophie wenden wir uns
zu ihrer Kritik. Darunter ist nicht nur ihre Verneinung zu
verstehen, sondern es gilt, auch ihre berechtigten Motive an-
zuerkennen. Von ihnen soll jedoch erst am Schluß die Rede
sein. Dort weisen wir positiv auf etwas hin, das man eine
„Philosophie des Lebens" nennen kann. Aber es wird sich
dabei nicht um ein Philosophieren aus dem bloßen Erleben her-
aus handeln dürfen. Vielmehr ist das Leben zu etwas in Be-
ziehung zu setzen, was selbst nicht Leben ist. Lebens philo-
Sophie fällt niemals mit dem Leben zusammen. Als Vorbe-
reitung auf eine solche Philosophie über das Leben soll die
Kritik d e r Lebensphilosophie dienen, die mit dem Leben allein
- 35 —
auszukommen glaubt. Insofern liegt der Schwe^unkt auf der
Verneinung.
Dabei können wir die Zeitphilosophie jedoch nicht als die Ein-
heit nehmen, als welche wir sie absichtlich zuerst dargestellt haben.
Wir müssen verschiedene Elemente in ihr sondern und bloße
Lebensstimmungen oder Lebensgefühle oder Lebensinstinkte
ganz auszuschalten suchen. Ihnen gegenüber hätte wissenschaft-
liche Kritik überhaupt keinen Sinn. Wir halten uns an das,
Was einen theoretischen Ausdruck gefunden hat, haben es also
nur mit einem Lebens begriff zu tun.
Auch dieser aber erweist sich in der modernen Philosophie
nicht als einheitlich, d. h. es sind in ihr verschiedene Lebens-
begriffe vermischt. Sie müssen wir trennen. Nur die in sich
klaren und eindeutigen Tendenzen lassen sich wissenschaftlich
bekämpfen. So werden wir das Bündel von Stäben, vor dem
wir bisher als vor einer Einheit gestanden haben, zerlegen und
jeden Stab einzeln zu zerbrechen suchen. Was trotzdem in
den Bestrebungen der Zeit Wertvolles steckt, und was wir da-
her zu bewahren haben , wird danach um so besser zutage
treten.
Zunächst ist klar zu machen, daß der moderne Lebensbe-
griff zu unbestimmt ist, um ohne genauere Determination
das Fundament einer wissenschaftlichen Philosophie zu bilden.
Lebensstimmungen lassen sich auch mit vieldeutigen Schlag-
wörtern zum Ausdruck bringen, ja gerade auf der trüben Ein-
heit der Lebensgefühle, die sie auslösen, beruht ein großer Teil
ihres Reizes und ihres außerwissenschaftlichen Wertes. Für die
Wissenschaft ist vor allem die Auseinanderhaltung von zwei
prinzipiell verschiedenen Begriffen des Lebens wichtig, von denen
der eine eine sehr umfassende Bedeutung hat, der andere dagegen
sich auf einen engeren Kreis von Lebenserscheinungen be-
schränkt.
Die allgemeinste Lebenstendenz geht auf das Unmittelbare,
Anschauliche, Intuitive überhaupt im Gegensatz zu jedem
• „tötenden" Begriff. Ihr Lebensbegriff kann daher geradezu
als der Begriff des Begrifflosen bestimmt werden. Der andere
Begriff dagegen paßt nur auf besondere Lebensvorgänge. Er
meint das, was man gewöhnlich Leben im Gegensatz zum Toten
- 36 —
nennt, das Vitale, wovon unter den Spezialwissenschaften
die Biologie handelt. Die umfassendste Richtung ist als
intuitive Lebensphilosophie zu bezeichnen, während die
speziellen Bestrebungen an der Wissenschaft von den organi-
schen Lebewesen orientiert sind und insofern einen b i o 1 o g i-
s t i s c h e n Charakter tragen.
Wir werden zuerst die intuitive Lebensphilosophie ins Auge
fassen, um zu zeigen, daß es ihr an jedem klaren Prinzip fehlt,
und daß sie deswegen zur Grundlage einer wissenschaftlichen
Darstellung der Welt oder zur Herausarbeitung eines theore-
tisch aufgefaßten Kosmos sich nicht eignet. Dann müssen wir
den Biologismus betrachten, der zwar Prinzipien hat, von dem
sich jedoch nachweisen läßt, daß mit seiner Hilfe eine Philo-
sophie als Lehre vom Welt ganzen oder eine ,, Weltanschau-
ung" nicht aufzubauen ist, ja daß seine Prinzipien nicht ein-
mal für eine ,, Lebensanschauung" im engeren Sinne als Deutung
des menschlichen Lebens genügen.
Diese Trennung zweier Richtungen ist bei einer kriti-
schen Stellungnahme nicht zu entbehren. Ausdrücklich sei
jedoch bemerkt: die Modephilosophie unserer Zeit ist gerade
dadurch gekennzeichnet, daß in ihr intuitionistische und bio-
logistische Momente sich mischen. Die Aufzeigung dieses
Umstandes enthält schon ein Stück Kritik.
Zunächst fragen wir allgemein, was heißt Leben und leben-
dig? Welche Merkmale besitzt dieser Begriff, und wodurch
unterscheidet sich das Lebendige vom Toten ? Wovon hat es
einen Sinn zu verlangen, daß es lebendig sei ?
Nennt man, wie das nicht selten geschieht, alles lebendig,
was man hochschätzt, und tot alles, was man nicht leiden
kann, so ist damit nichts geleistet. Ja, die Begeisterung für
das Leben muß von vornherein bedenklich erscheinen, wenn
man nicht nur eine ,, lebendige Weltanschauung" fordert, sondern
alle Wissenschaften, also auch die Spezialdisziplinen, deshalb
gering schätzt, weil sie nicht lebendig genug sind.
Was sagt es gegen eine Naturwissenschaft, daß es ihren
Begriffen an Leben fehlt? Den Naturalismus oder die Gleich-
setzung des Weltalls mit der Natur und die ihr entsprechende
Gleichsetzung der Philosophie mit der Naturwissenschaft mag
- 37 -
man bekämpfen. Die naturwissenschaftlichen Spezialdisziplinen je-
doch sollte die Philosophie sich selbst überlassen. Lebendig zu sein,
ist nicht ihre Aufgabe. Eine lebendige Mathematik scheint,
falls wir das Wort lebendig in irgendeiner der üblichen Be-
deutungen nehmen, geradezu absurd, obwohl es so aussieht,
als würde neuerdings auch sie verlangt. Mathematische Gebilde
bleiben „tot", mag man sie noch so ,, beweglich" gestalten, und
doch sagt das gewiß nichts gegen den Wert des mathemati-
schen Denkens. Vielleicht feiert es vielmehr gerade dort seine
höchsten Triumphe, wo es sich am weitesten von allem erlebten
.Leben entfernt.
Dasselbe sollte man auch bei der Physik und Chemie
wenigstens für möglich halten. Es ist nicht ihre Aufgabe, die
lebendige Natur darzustellen. Ja, es braucht ihnen an wissen-
schaftlicher Wahrheit selbst dann nicht zu fehlen, wenn sie
versuchen, Begriffe für das L e b e n zu bilden. Das Bestreben,
die Betrachtungsweise der Physik auf möglichst weite Gebiete
des körperlichen Seins, über die tote Natur hinaus auf das
Organische auszudehnen, ist methodisch unanfechtbar.
Das Lebendige muß auch so dargestellt werden, daß es in einen
verständlichen Zusammenhang mit der ,, Materie" kommt, die
nicht organisch ist und insofern tot genannt werden kann.
Wenn man Versuche in dieser Bichtung heute geradezu ver-
ächtlich behandelt, und das Wort ,, mechanistisch" im Munde
mancher Philosophen zum Schimpfwort geworden ist, so zeugt
das von wenig ,, Philosophie". Die physikalische Auffassung
ist für die Körperwelt nun einmal die umfassendste, und der
allgemeinste, also ,, philosophische" Begriff für die räum-
liche Natur wird daher wissenschaftlich stets an der Physik
orientiert sein.
Gewiß ist [die Uebertragung des körperwissenschaftlichen
Denkens auf die seelische oder ,, geistige" Welt verfehlt. Aber
die Organismen sind ebenso körperlich oder raumerfüllend wie
die Erde, auf der sie sich allmählich entwickelt haben, und die
Triumphe der^Physik brachten schon so vieles ins Wanken, was
man für fest hielt, daß kein „unmöglich" für die Ausbreitung
der physikalischen Begriffsbildung auf die gesamte Kör-
perwelt ohne Ausnahme ertönen sollte.
— 38 —
Selbstverständlich i s t der Organismus kein Mechanismus,
Aus dieser Binsenwahrheit aber , in der sich die Weisheit
mancher vitalistischen Naturteleologen erschöpft, folgt nichts
gegen den Versuch, auch das Organische unter physikalische
oder chemische Begriffe zu bringen. Der farbige Körper
ist ebenfalls kein nur quantitativ bestimmter Atomkomplex,
d. h. Farbe ist als Farbe niemals Bewegung. Trotzdem hat es
einen guten Sinn, zu sagen, daß auch für die farbigen Kör-
per Begriffe mit quantitativem Inhalt gelten. Ebenso ist die
Bildung physikalischer Begriffe für das Organische berechtigt.
Jeder Schritt in der Richtung, daß die Organismen eingeordnet
werden in den allgemeinen Naturzusammenhang, bedeutet einen
prinzipiellen Fortschritt, und das Ganze des körperlichen Seins
darf zum mindesten nicht a n t i mechanisch oder a n t i physi-
kalisch gedacht werden, weil sonst jede einheitliche Auffassung
der Körper weit als einer Totalität unmöglich wird. Eine Philo-
sophie, die für Bestrebungen einer allgemeinen Körper-
theorie kein Verständnis hat, ist nicht im guten Sinn universal.
Doch das betrifft ein spezielles Problem. Das allgemeine
Prinzip, das wir im Auge haben, kommt dabei nur insofern
zum Ausdruck, als es gilt, zwischen einem Wirklichen und dem
Begriff von diesem Wirklichen zu scheiden.
Unsere Hauptfrage besteht darin, ob sich das Leben zu
einem umfassenden philosophischen Welt begriff ausgestalten
läßt, und da scheint es in der Tat, als besitze zumal das Wort
, »Erleben" eine Bedeutung, die geeignet ist, den allgemeinsten
Rahmen für das Denken aller Gegenstände abzugeben.
Was wir nicht ,, erlebt" haben, ist für uns nicht vorhanden,
vermag also auch nicht in die Philosophie einzugehen. Insofern
scheint gerade die universale Wissenschaft zu einer Philo-
sophie der Erlebnisse werden zu müssen. Wovon sollte sie sonst
handeln ? Sie hat kein anderes Material. Ihre Welt ist die er-
lebte Welt. Den Inbegriff aller Erlebnisse also, wird man sagen,
hat die Philosophie so zu erfassen, daß sie ihn einheitlich und
systematisch gliedert, und daraus kann nur eine Lebens-
philosophie entstehen. Müssen wir doch sogar dann, wenn wir
von etwas sagen wollen, daß wir es nicht anerkennen, es in
irgendeiner Weise erlebt haben. Sonst könnten wir nicht sinn-
— 39 —
voll davon reden. Worte, die nicht ein Erlebnis meinen, sind
bedeutungsloser Schall, den weder wir noch andere verstehen.
Insofern scheint die Lebensphilosophie im unbezweifelbaren Recht.
Sehen wir jedoch genauer zu, so ist dies Recht teuer er-
kauft. Nehmen wir einmal an, alles Denkbare sei notwendig
„Erlebnis". Man kann das wohl sagen. Aber was folgt daraus?
Der Lebensbegriff wird völlig leer, sobald er auf alles geht,
was es gibt oder nicht gibt. Ein Wort, das jedes denkbare
Etwas bezeichnen soll, verliert notwendig die prägnante Bedeu-
tung. Seine Verwendung für eine Philosophie des Lebens, die
sich von anderen Arten des Philosophierens unterscheiden will,
ist nicht mehr fruchtbar. Das Erlebte Mird zum indifferenten
Namen für Seiendes und Nichtseiendes, Beharrendes und Wech-
selndes, Festes und Fließendes, Sichtbares und Unsichtbares,
Sinnliches und Uebersinnliches, Unmittelbares und Reflektiertes,
Inhalt und Form, Konkretes und Abstraktes, Gegebenes und
Vermitteltes, Anschauung und Begriff, Subjekt und Objekt, Ich
und Du, Körperwelt und Seelenleben usw. usw.
Das alles muß irgendwie ,, erlebt", sein, gewiß, denn sonst
wüßten wir nichts davon. Sonst gäben die Worte keinen Sinn,
den wir verstehen. Aber eine auf diese Wahrheit gestützte
„Philosphie des Lebens" hat nichts mehr mit der Denkrichtung
zu tun, die auf das Werdende und Fliejßende, Unmittelbare und
Konkrete, auf die Anschauung und ihre Fülle den Schwer-
punkt legt, um das Beharrende und Feste, das Reflektierte
und Abstrakte, das Vermittelte und den unanschaulichen Begriff
zurückzustellen.
Allerdings kann man das Wort erleben so verwenden, daß
der Satz: alles, wovon wir bedeutungsvoll reden wollen, muß
irgendwie ,, erlebt" sein, richtig ist. Ja, wir tun gut, uns die
darin steckende Wahrheit ausdrücklich zum Bewußtsein zu
bringen. Will man jedoch darauf allein schon eine Philosophie
des Lebens gründen, so ist das Ergebnis nichts weniger als neu.
Nur der Name hat sich geändert. Erlebtsein heißt dann das-
selbe wie , .gegeben" oder auch ,, bewußt" sein, und die Lehre,
die so entsteht, deckt sich mit der, die man sonst als erkennt-
nistheoretischen Idealismus oder als Standpunkt der Immanenz
bezeichnet. ,,Die Welt ist Vorstellung." Das steht in der Tat
— 40 -
am A n f a n g der Philosophie, und falls man dabei bleiben will,
kommt man zur Philosophie der reinen Erfahrung.
So wichtig jedoch diese Besinnung auf den Gegebenheits-
oder Bewußtseinscharakter alles Denkbaren in mancher Hinsicht
sein mag, so wenig enthält sie schon das Fundament für eine
Philosophie des Lebens in irgendeiner prägnanten Bedeutung
dieses Wortes. Das wird sofort klar, wenn man darandenkt, daß
nach der Immanenzlehre das Tote ebenso „erlebt" ist, wie das
Leben. Alles Starre und Unlebendige, das die moderne Philosophie
des Lebens bekämpft, kennen wir doch auch nur insofern, als es uns
„gegeben" ist, als wir es , .vorstellen" oder „im Bewußtsein" haben.
Der tote Mechanismus gehört zum „Erlebnis" nicht weniger als
der lebendige Organismus. Man kann daher. auf Grund dieses
Lebensbegriffes nicht von einer Philosophie des Lebens im
Gegensatz zur Philosophie des Todes reden.
Zur Kennzeichnung des umfassendsten Erlebnisstandpunktes
wird man daher gerade im Interesse einer Philosophie des
Lebens die alten, üblich gewordenen Ausdrücke wie Standpunkt
der „Immanenz" oder des „Bewußtseins" oder der ,, Erfahrung"
vorziehen und darauf hinweisen, daß die Besinnung auf den
Erlebnis-Charakter alles Denkbaren, wie sie z. B. W. James
als ,, radikalen Empirismus" vertritt, wohl den ersten Schritt
der Philosophie, aber zugleich auch nur ihren ersten Schritt
bedeutet, auf den noch viele andere folgen müssen, falls eine
Philosophie des Lebens, wie unsere Zeit sie anstrebt, entste-
hen soll.
Selbstverständlich sagt dieser Umstand für sich allein noch
nichts gegen die Lebensphilosophie überhaupt. Es trifft nur
ihre nächstliegende und scheinbar plausibelste Begründung. Ge-
wiß kann man mit dem Worte Leben noch eine engere Bedeu-
tung verbinden, die trotzdem vielleicht universal genug bleibt,
um zur Bestimmung eines allgemeinen philosophischen Stand-
punktes brauchbar zu sein. Auch von solchen engeren Lebens-
begriffen ist also zu reden.
Am nächsten liegt dabei der Gedanke, alles Unmittelbare
und Ursprüngliche oder alles Anschauliche, d. h. noch
nicht begrifflich Bearbeitete, Leben zu nennen und darin dann
das Wesen der Welt zu sehen, wie sie ist.
— 41 —
Hierauf kommen in der Tat manche I.ebenstendenzen der
Philosophie unserer Zeit hinaus: die „Formen", in welche der
Verstand die Welt bringt, machen das Leben ,, unlebendig". Es
gilt daher, vorzudringen zum ungeformten, unverfälschten, reinen
Inhalt, wie er sich der unmittelbaren Intuition als ,, echtes"
Leben darbietet. In diesem Sinn, wird man sagen, sei auch der
Ausdruck Erlebnis allein zu verstehen. Man will damit alle um-
formenden Zutaten, die Abtötung bedeuten, ausschließen. Meint
man so nicht die Erlebnisse überhaupt, sondern die Erlebnis-
inhalte im Gegensatz zu jeder Form, dann hat es in der Tat
einen guten Sinn, zu fragen, was das reine, ungetrübte, unent-
stellte, noch nicht abgerückte und dadurch unlcbendig gewor-
dene Leben selbst ist. Damit erhält man dann einen bestimmten
Lebensbegriff, auf den sich die schon genannte intuitive Lebens-
philosophie stützt, nämlich den Begriff des formlosen und, weil
jeder Begriff irgendeine Form voraussetzt, zugleich begrifflosen,
bloß anschaulichen, nur durch Intuition zu erfassenden Lebensin-
haltes. Insofern ist bei diesem zweiten Lebensbegriff alles klar.
Genügt er aber auch zur Grundlegung einer Philosophie
des Lebens? Man scheint es dort zu glauben, wo man auf
Intuition im Gegensatz zum Verstand dringt. Wir können selbst-
verständlich bei einer prinzipiellen Kritik nur die Arten der
intuitiven Lebensphilosophie ins Auge fassen, die mit der An-
schauung und der Ablehnung aller umformenden Verstandes-
begriffe ernst machen. So lange man noch von einem Mehr oder
Weniger an Anschauung und dementsprechend von einem Mehr
oder Weniger an Verstandesform redet, ist eine grundsätzliche
Entscheidung nicht möglich. Dann kommt es nur auf das Maß
von Erlebnisinhalt und auf das Maß von nicht erlebter Form
an, das von einer Philosophie des Lebens verlangt wird, und
darüber läßt sich selbstverständlich streiten. Wir dürfen also
nur fragen, wie eine Philosophie des Lebens aussehen muß, die
sich ausschließlich auf das intuitive Erlebnis der Lebens-
inhalte stützen will, und sobald auch nur die Frage so gestellt
ist, sollte einleuchten: je konsequenter man das Leben als rei-
nen Inhalt der Anschauung im Gegensatz zu jeder Verstandes-
form zu erfassen sucht, um so mehr entfernt man sich da-
mit vom wissenschaftlichen Denken überhaupt.
— 42 —
Wie soll es Theorie ohne jede Form aus bloßem Inhalt,
ohne jedes Denken durch bloße Intuition, ohne jeden Begriff
aus bloßer Anschauung geben? Gewiß bleibt es richtig, daß
die Philosophie Inhalt braucht, und daß alle Inhalte, die wir
begrifflich formen wollen, auch anschaulich erlebt sein müssen.
Aber dazu ist wieder, wie beim ersten Erlebnisbegriff, zu be-
merken, daß gerade weil das für alle Inhalte zutrifft, die wir
überhaupt formen können, damit noch nichts über einen b e-
sonderen Inhalt gesagt ist, der geeignet wäre, die Philo-
sophie des Lebens von anderen Arten des Philosophierens zu
unterscheiden. Das anschauliche intuitive Erleben der In-
halte mag also Vorbedingung des Philosophierens sein, doch
gibt es für sich allein noch keine Philosophie. Das sollte keines
Beweises bedürfen und ist hier nur gesagt, weil sogar darüber
in mancher Philosophie des Lebens erstaunliche Unklarheit
besteht.
Auch der Umstand, daß viele philosophische Gedanken-
gebilde zu wenig anschaulich erlebten Inhalt aufweisen und
deshalb vielleicht mit Recht „tot" gescholten werden, darf für
die intuitive Lebensphilosophie nicht als Begründung gelten.
Damit käme man nur zu dem Satz, daß Begriffe ohne Anschau-
ungen leer sind, und in ihm steckt doch noch keine Philosophie
des Lebens.
Man spricht von einem Hunger nach Anschauung in unserer
Zeit, und das Bedürfnis nach Intuition läßt sich überall dort
gut verstehen, wo gewisse Formen, die das Leben annimmt, sich
„überlebt" haben, oder wo Begriffe, die nur an einem besonderen
Teil der Weltinhalte gebildet und insofern einseitig ausgefallen
sind, zu Weltallbegriffen erweitert werden, wie z. B. bei der
„monistischen" oder der mechanistischen Weltanschauung. Ihnen
gegenüber kann eine Abneigung gegen die tötenden Formen
entstehen. Begründet aber ist sie nur, falls sie sich allein
gegen besondere Arten von Formen richtet. Irgendwelche
Verstandesformen bleiben unentbehrlich. Auch eine Philo-
sophie- der Erlebnisinhalte kommt ohne Begriffe nicht aus. Sie
bliebe sonst theoretisch unverständlich, könnte überhaupt nicht
in sinnvollen Sätzen zum Ausdruck gebracht werden.
Jede Philosophie sieht sich also vor die Frage gestellt, in
— 43 —
welche Formen die Lebensinhalte eingehen müssen, um für die
philosophische Auffassung des Lebens bedeutsam zu werden, und
damit hat sich der Schwerpunkt vom Lebensinhalt wieder
auf die Lebensform verschoben. Daß gewisse Formen das Le-
ben töten, bedeutet lediglich etwas Negatives. Wo man glaubt,
nur Erlebnisinhalte ohne jede Form in die Wissenschaft aufzu-
nehmen, täuscht man sich, denn erst in der Form des Begriffs
hört die Anschauung auf, theoretisch „blind" zu sein, wird sagbar,
übertragbar, theoretisch different oder wahr. Absolute Form-
losigkeit kann daher die Wissenschaft nie „lebendig" machen,
sondern muß sie „töten".
Zur Anwendung dieses sehr einfachen Prinzips auf unsern
besonderen Fall genügt wieder der Gedanke, daß der Inhalt
des Toten, Starren und Unlebendigen ebenso als Erlebnisinhalt
zu bezeichnen ist, wie der Inhalt dessen, was man im Unter-
schied von ihm lebendig nennen will. Damit fällt von neuem
der unentbehrliche Gegensatz des Lebendigen zum Toten fort^
auf den für eine Philosophie des Lebens geradezu alles ankommt.
So hilft der zweite Begriff des Erlebnisses als der des reinen
Lebensinhaltes im Unterschied von jeder Form dem Lebens-
philosophen ebensowenig weiter wie der Begriff des Erlebnisses
überhaupt, der Form und Inhalt gleichmäßig umfaßt.
Daraus folgt, daß man dem Wort Leben eine noch engere,
dritte Bedeutung verleihen muß, falls es in einer Philosophie
des Lebens brauchbar werden soll. Das Wort Erlebnis wäre
denn auch gewiß nicht so beliebt geworden, wenn es nur die
beiden bisher betrachteten, sehr umfassenden Bedeutungen hätte,
die es zur Verwendung in einer universal gerichteten Wissen-
schaft geeignet zu machen scheinen.
Man versteht unter Erlebnis vielmehr noch etwas ganz
anderes. Das geht schon daraus hervor, daß man das Wort viel-
fach in ähnlicher Weise wie auch das „Ereignis" mit Emphase
gebraucht. Dann will man damit sagen, daß das, was wir im
eigentlichen Sinne „erlebt" haben, uns nicht fremd geblieben,
sondern zu unserem Eigentum oder zu einem Stück unseres
Selbst geworden ist, sich in die Tiefe unseres Wesens gesenkt
und dort verankert hat. Damit erst bekommt das Erlebnis
Bedeutung für das Leben, d. h. zunächst für unser eigenes
— 44 —
persönliches Leben und dann eventuell für das Leben überhaupt.
So gewinnen wir im Erlebnis in der Tat einen noch eitgeren
und bestimmteren Begriff. Das zum „Erlebnis" gewordene Er-
lebte ist nun das Wesentliche, Wichtige, oder um es klarer zu
sagen, das mit einem Wert Verknüpfte. Im Gegensatz zu
ihm steht das Gleichgültige, Bedeutungslose, Wertfreie, Fremde
und insofern Tote, das zu keinem Erlebnis für uns werden kann,
weil es uns nichts angeht. Das Erlebnis bedeutet dann also
nicht nur das, was ist, sondern zugleich das, was sein soll, weil
es Wert hat. Wir wünschen uns „Erlebnisse", um damit
unser Leben zu bereichern und lebenswert zu machen. Erleb-
nisse im weitesten Sinn zu wünschen, wäre unmöglich, denn die
haben wir immer.
Können wir diesen dritten Begriff des Erlebnisses aber auch
für eine Philosophie des Lebens verwenden?
Man wird vielleicht meinen, daß gerade das allerdings die
Aufgabe der Lebensphilosophie sei: sie habe die. für uns wesent-
lichen oder bedeutungsvollen Erlebnisse darzustellen
und sie aus der unübersehbaren Fülle unserer gleichgültigen
Erlebnisinhalte herauszuheben. Vielleicht ist das auch richtig.
Aber ebenso steht andererseits fest : ein wissenschaftliches Prin-
zip der Auswahl ist damit allein noch nicht gefunden, daß
wir ein Erlebnis mit Emphase ,, Erlebnis" nennen und es damit
zu den ,, wesentlichen" Erlebnissen rechnen. Was wir mit diesen
Worten sagen wollen, scheint zwar klar, ja selbstverständlich,
so lange wir das für unser individuelles, persönliches Eigenleben
Wesentliche meinen. Dann unterscheiden wir in vielen Fällen
mit Sicherheit alles, was unser Leben ist, von dem, was ihm
fremd bleibt:
,,Was euch nicht angehört,
Müsset ihr meiden.
Was euch das Innre stört,
Dürft ihr nicht leiden."
Mit instinktivem Gefühl vollziehen wir die Trennung.
Wollten": wir uns aber darauf auch beim Philosophieren be-
schränken, so würde gerade das fehlen, was zum Aufbau einer
Philosophie des Lebens unentbehrlich ist. Sie will doch in
allgemeiner,'^überindividueller, notwendiger und mitteilbarer Weise
eine Scheidung unter den Erlebnissen vollziehen. Was verdient
— 45 —
es, daß wir es als wesentlich in die Wissenschaft aufnehmen?
"Was ist im theoretischen Sinn „Erlebnis" ? Solange wir nur
leben, stellen wir diese Frage nicht. In einer Lebens Philo-
sophie wird dagegen dies Problem von entscheidender Bedeu-
tung. Persönliche Wünsche und Stimmungen, ' die etwas zum
bedeutungsvollen Erlebnis machen, erscheinen als individuelle
Launen und dürfen nicht maßgebend sein.
So kommen wir zu folgendem Resultat. Jeder hat seine
eigenen ,, Erlebnisse" und unterscheidet sie von den übrigen
erlebten Inhalten, die ihn nichts angehen. Bleiben sie aber nur
seine eigenen, dann ist die Trennung wissenschaftlich irrelevant.
Gerade die Bedeutung, die das Wort Erlebnis beliebt gemacht
hat, und die gestattet, es mit Emphase zu gebrauchen, hilft
uns für sich allein in der Wissenschaft noch nicht einen Schritt
weiter. Damit hat sich auch der dritte Erlebnisbegriff als philo-
sophisch unbrauchbar erwiesen, und es ist nicht einzusehen,
wie wir mit dem bloßen Erleben zum Aufbau einer Philosophie
des Lebens kommen sollen. Ohne allgemeines, für alle gültiges
Prinzip der Auswahl gibt es keine Wissenschaft.
Das führt auf einen Gedanken zurück, der am Anfang er-
wähnt wurde. Wir brauchen das System, um aus dem Weltchaos
den theoretisch aufgefaßten Weltkosmos herauszuarbeiten.
Darin erkennen wir jetzt einen besonderen Ausdruck für die Un-
entbehrlichkeit der Form gegenüber der verwirrenden Fülle derln-
halte. Der Gedanke muß auch das ungenügende der reinen Er-
lebnisphilosophie, wie jedes ,, radikalen Empirismus", zum Bewußt-
sein bringen. Der bloße Inhalt fällt mit dem Erlebnisinhalt zusam-
men. Der Lebensbegriff in dieser umfassenden Bedeutung führt
uns nicht über den bloßen Inhalt hinaus. Was macht aus dem
Lebenschaos den Lebenskosmos? So müssen wir fragen, falls
wir Klarheit über die Möglichkeit einer Philosophie des Lebens
suchen.
Von hier aus nehmen wir sogleich zu bestimmten Arten der
modernen Lebensphilosophie Stellung. Sie erweisen sich unter
diesem Gesichtspunkt gerade durch ihre Berufung auf die Fülle
des unmittelbar Erlebten, die sie für viele anziehend macht,
weil sie dadurch den Hunger nach lebendiger Anschauung zu
stillen versprechen, als wissenschaftlich undurchführbar. In dem.
— 46 —
worin sie ihre Stärke suchen, liegt unter philosophischen Gesichts-
punkten ihre Schwäche : zur Gestaltung eines Lebensko§mos sind
sie grundsätzlich unfähig. Sie kommen entweder zu einer auf
spezialwissenschaftliche Begriffe gestützten, also spezifisch un-
philosophischen, engen Weltanschauung, oder falls sie diese
Klippe vermeiden, zu einer rein willkürlichen Ueberwindung
der chaotischen Lebensmannigfaltigkeit, die überhaupt nicht als
theoretisch angesehen werden darf.
Bei der Anwendung dieses Prinzips zur Kritik der einzelnen
Lebensphilosophen ändern wir die Reihenfolge, die wir bei der
Darstellung eingehalten haben. Zu der vor allem als intuitiv zu
bezeichnenden Lebensphilosophie gehören die eigentlichen Mode-
philosophen nicht. Diese haben, wie schon angedeutet, neben
der intuitiven Tendenz das Prinzip des Biologismus, von dem
später die Rede sein wird. Die Arten der Lebensphilosophie,
die wir zuerst betrachten, sind zwar umfassender, aber gerade
deswegen völlig prinzipienlos. Was wir damit meinen, sei an
zwei Beispielen, an Diltheys Historismus und an der Auffassung
der Phänomenologie erläutert, welche deren Einstellung aus-
drücklich mit der intuitiven Lebensphilosophie in Verbindung
bringt.
Von D i 1 1 h e y sagten wir, daß er mehr Historiker als
Philosoph war. Er ist auch als Philosoph Historiker geblieben.
Der Geschichte wollte er seine philosophischen Prinzipien ent-
nehmen. Sie aber ist, wie nicht bestritten werden wird, bisher
wenigstens, keine systematische Wissenschaft, und so konnte bei
Diltheys Bemühungen auch keine systematische Philosophie ent-
stehen. Von hier aus läßt sich die Prinzipienlosigkeit seines
Philosophierens, gerade so weit es mit der Richtung auf Unmittel-
barkeit und Anschaulichkeit, also mit dem Intuitionismus zu-
sammenhängt, als notwendig verstehen, und das ist lehrreich.
Dilthey besaß einen ungemein feinen Sinn für die Fülle der
geschichtlichen Gestalten. Das Leben verschiedener Zeiten auf
verschiedenen Gebieten des Geistes, das einst lebendig war, aus
den Quellen wieder zu vergegenwärtigen und von neuem lebendig
zu machen, hat er verstanden wie wenige. Sein Geist umfaßte
sehr viel ,, Geist". Im Nacherleben und Einfühlen war er Meister.
Selbstverständlich vollzog er dabei eine Auswahl. Kein
- 47 —
Historiker kann alles, was in der Vergangenheit geschehen ist,
in seine Darstellung aufnehmen. Aber als Historiker braucht
er sich um die Gründe, warum ihm gerade dies „wesentlich"
wird und anderes nicht, wenig zu kümmern. Dafür, daß er die
richtige Auswahl trifft, darf er sich auf seinen „Instinkt" oder
sein „Gefühl" verlassen. Ja, nur w^enn er einen solchen Instinkt
für das geschichtlich Wesentliche besitzt, ist er ein ,, echter"
Historiker. Das hängt mit dem unsystematischen Charakter der
Geschichte zusammen und bedarf hier weiter keiner Erörterung i).
Ebenso gewiß reicht jedoch der historische Instinkt in der
" Philosophie nicht aus. Das, w^orauf die Stärke des Geschichts-
schreibers beruht, führt hier wie in jeder systematischen \Yissen-
schaft zur ünproduktivität. Gerade weil Dilthey bei der Fülle
des vergangenen Lebens liebevoll verweilte, ohne sich in seiner
Teilnahme irgendwie beschränken zu lassen, konnte er nie zum
systematisch denkenden Philosophen werden. Als Historiker
wußte er freilich genau, was für ihn verwendbar war und was
nicht, und er erkannte daher deutlich, daß die nach naturwissen-
schaftlicher Methode generalisierend verfahrende Seelenlehre sich
nicht, wie geschichtsfremde Psychologen wähnen, zur Basis der
geschichtlichen Disziplinen eignet. Seine Kritik an der psycho-
logischen ,, Grundlegung" der Geisteswissenschaften war treffend.
Aber die neue „Psychologie", die er an die Stelle der alten
setzen wollte, blieb im Dunkel, ja war überhaupt keine Psycho-
logie, so daß grade seine psychologischen Gegner in
dieser Hinsicht leichtes Spiel hatten.
Hätte Dilthey sich auf die Geschichte des „geistigen" Le-
bens und auf die Abwehr geschichtsfremder naturalistischer
Spekulationen beschränkt, dann stünde er einwandsfrei da. Auch
der fragmentarische Charakter seiner Werke würde nicht stören.
Geschichte ist stets fragmentarisch, ja muß es sein. Es ist zu
bedauern, daß man sich an dem Historiker Dilthev nicht ein-
1) Die Gründe dafür haue ich aus dem Wesen der geschicht-
lichen Wissenschaften zu verstehen gesucht und in meinem Buch
über Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung,
1896—1902, 2. Aufl. 1913, ausführlich behandelt. Kürzere Zu-
sammenfassungen in: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft,
3. Aufl. 1915, und: Geschichtsphilosophie (Festschrift für Kuno
Fischer, 2. Aufl. 1907).
— 48 —
fach freuen und seine Philosophie beiseite lassen darf. Wegen
des Einflusses, den sie gewonnen hat, müssen wir bei einer
Stellungnahme zur Lebensphilosophie unserer Zeit leider auch
darauf hinweisen: aus seiner philosophischen Not wollte dieser
so reiche Forscher und Versteher eine Tugend machen, und die
Folge ist, daß es bei ihm so aussieht, als habe die Philosophie
nur noch die Aufgabe, zu sammeln, was früher ^einmal Philo-
sophie w a r. Die verschiedenen Typen der Weltanschauung wer-
den friedlich neben einandergestellt, als wäre es mit dem selb-
ständigen Philosophieren für alle Zeiten vorbei, als hätte die
Philosophie sich ausgelebt oder zu Ende gelebt in einer Reihe
von Gestalten, die nun als abgeschlossen betrachtet wird, wäh-
rend doch die Geschichte dann erst zu Ende sein kann, wenn
die Mens:hheit aufgehört hat, zu atmen.
Für Dilthjj' wird aus der geschichtlichen Welt die Welt
überhaupt. So entsteht die Weltanschauung des Historismus,
die gewiß keine , »lebendige" Weltanschauung ist, ja den Namen
einer Weltanschauung ebenso wenig verdient wie der Naturalismus.
Beide sind inhaltlich zwar sehr verschieden. Aber ihr
Grundgebrechen beruht auf demselben Prinzip : aus den Begriffen
einer Spezialwissenschaft wollen sie Philosophie machen. Das
verengert den Weltanschauungshorizont in einer unerträglichen
Weise.
Ja, der Historismus ist noch unphilosophischer als der Natu-
ralismus, weil Geschichte keine systematische Wissenschaft ist.
Der Naturalist hat wenigstens ein Prinzip und einen systematischen
Gedankenzusammenhang, mag dieser auch zu eng und einseitig
sein. Der philosophierende Historiker klammert sich an alle
möglichen Gestalten der Vergangenheit, die ihn nur unter ge-
schichtlichen Gesichtspunkten interessieren und daher syste-
matisch ganz zufällig bleiben müssen. So wird er aus der Fülle
der geschichtlichen ,, Erlebnisse" heraus der Feind gerade einer
wahrhaft „lebendigen" Philosophie, denn auch die lebendigste
Vergangenheit ist tot im Vergleich zum philosophischen Gegen-
wartsleben.
So verstehen wir: diese angebliche Philosophie des Lebens
hat sowohl antiphilosophisch als auch lebensvernichtend ge-
wirkt, wo ihre Tendenzen Gehör fanden. Nicht zufällig ist
— 49 —
Diltheys Lebenswerk bei all seinem Reichtum an Einzelheiten
Fragment geblieben, und auch keiner seiner zahlreichen Schüler
hat es aus diesem Zustand erlöst. Auf seinem Wege konnte
kein Ganzes entstehen.
Das Prinzip der Prinzipienlosigkeit reicht weit über diese
Persönlichkeit hinaus. Deswegen war davon zu sprechen. Wir
haben es mit einer unter den Gelehrten weit verbreiteten Richtung
zu tun. Historische Feinfühligkeit und Pietät müssen, sobald man
aus ihnen eine ,, Weltanschauung" macht, dem Leben, das auf-
steigen will, schädlich sein. Deshalb sollte gerade die echte
"Philosophie des Lebens gegen diese Lebensphilosophie sich
wenden, die Vergangenes nicht allein lebendig erhalten, sondern
an die Stelle des gegenW'ärtigen Lebens setzen möchte. Der
,, historische Sinn" kann gewiß etwas Herrliches sein, aber er
muß eine Spezialität bleiben. Der Historismus ist zu
bekämpfen. Historische Philosophie gibt es nicht.
Wir haben hier um so mehr Grund, sie abzulehnen, als
die Geschichte der Kultur ein unentbehrliches Material auch
für den Aufbau des Systems der Philosophie bildet. Von einer
Geringschätzung der historischen Wissenschaften darf in der
Philosophie keine Rede sein. Das Geschichtliche ist jedoch
für den Philosophen zugleich nur Material. * Ja, dann allein,
wenn es ihm gelingt, seine Fülle nicht geschichtlich, sondern
systematisch zu gliedern und so alles bloß Geschichtliche
auszuschalten, darf er hoffen, zur Philosophie zu kommen.
Sonst sieht er in die Welt, die er einheitlich als Kosmos zu
erfassen hat, wie in einen Guckkasten, in dem ein Bild nach
dem andern vorüberzieht, je nachdem der Zufall es bringt.
Multa non multum. Vielerlei und philosophisch sehr wenig.
Freilich ,, Weltanschauung" kann man auch die Ansicht
nennen, nach der die Welt nichts anderes als ein großes Bilder-
buch darstellt, in dem zu blättern, die einzige menschenwürdige
Beschäftigung ist. Aber eine philosophische Welt-
anschauung gibt das nicht. Der Philosoph muß dem geschicht-
lichen Leben gegenüber die Frage stellen, die der Historiker
ignorieren darf, warum aus der Vergangenheit gerade diese
und nicht andere Gestaltungen, die es doch auch gegeben hat,
„wesentlich" sind, und warum die geschichtliche ,,Welt" gerade
R i c k e r t , Philosophie d. Lebens. 4
— 50 —
aus diesen und nicht aus jenen Bestandteilen aufgebaut ist.
Wo der Historiker sich auf seinen Instinkt verlassen kann, hat
der Philosoph auf prinzipielle Klarheit zu dringen. Sobald er
dann die Frage dahin beantwortet hat, daß jede historische
Darstellung auf einer theoretischen Beziehung auf bestimmte
Kulturwerte beruht, muß deutlich werden, daß es für die Ge-
schichte als Geschichte ein System nicht geben kann, und daß es
daher unmöglich ist, die geschichtliche WeH zum Kosmos im
philosophischen Sinn auszugestalten, —
Prinzipienlos, wenn auch in anderer Weise, muß die Philo-
sophie bei der phänomenologischen Einstellung sich
gestalten, falls man diese so versteht, wie Scheler sie inter-
pretiert und preist.
Niemand wird behaupten, daß hier die intime Kenntnis
der Vergangenheit die lebendige Gegenwart beeinträchtigt. Bis-
weilen könnte man bei Phänomenologen vielleicht sogar etwas
mehr bevMißten Zusammenhang mit den großen Denkern früherer
Zeiten w^ünschen. Immerhin, Historismus finden wir hier nicht.
Husserl hat in schlagender Weise Diltheys Historismus mit dem
schlichten Hinw^eis darauf bekämpft, daß das geschichtliche
Denken über die Wahrheit oder die Unwahrheit eines Gedankens
nie entscheiden könne und daher in der Philosophie ebensowenig
maßgebend sei wie in der Mathematik.
Von Husserl jedoch soll hier weiter nicht die Rede sein.
Er selbst gehört nicht zu den Lebensphilosophen. Neue , .Phäno-
mene" hat er zum Bewußtsein gebracht, die bisher nicht be-
achtet waren, und zumal durch feine Unterscheidungen ver-
wandter und gleich benannter Begriffe unsere Kenntnisse außer-
ordentlich bereichert. Wie freilich auf diesem Wege der Aufbau
eines philosophischen Systems zustande kommen soll, ist noch
nicht zu sehen. Es fehlen die Umrisse eines Kosmos, und durch
bloße Wesensschau vereinzelter Phänomene, die keinen anderen
Leitfaden kennt als die Wortbedeutungen der Sprache, zumal
der vereinzelten Worte, die doch erst in Sinnzusammenhängen
von Sätzen sich bestimmen lassen, wird auch niemals ein
Kosmos zutage treten. Das bezweifelt aber Husserl wohl auch
nicht. Er will das vor Augen stehende nicht nur „sehen". Wenn
aus seinen Schriften die systematischen Gesichtspunkte für den
— 51 —
Aufbau des Ganzen noch nicht erkennbar sind, so hegt das ge-
wiß daran, daß er seine Ideen bisher unvollständig veröffent-
hcht hat.
Unsere Bedenken richten sich allein dagegen, daß Anhänger
der Phänomenologie, ebenso wie die Historisten, versuchen, aus
ihrer systematischen Not eine Tugend zu machen, indem sie
im Interesse der Anschaulichkeit und Lebendigkeit die Prin-
zipienlosigkeit zum philosophischen Prinzip erheben. Das muß
zu noch unerfreulicheren Konsequenzen führen als bei der
Lebensphilosophie des Historismus, weil dadurch nicht einmal
unsere philosophie-g eschichtlichen Kenntnisse bereichert
werden.
Scheler hat das, wogegen wir uns wenden, zwar nicht direkt
als Sinn der Phänomenologie bezeichnet, sondern apologetisch
für Bergson ausgeführt, aber seine Gedanken sind auch auf die
Phänomenologie zu beziehen, da er von ihr erst die volle
Nutzung der Antriebe erhofft, die Nietzsche, Dilthey und Bergson
unserem Denken erteilt haben. Seine Wendungen sind ebenso
geschickt wie bezeichnend für den ,, Geist" weitverbreiteter Strö-
mungen unserer Zeit. Ja, die Lebenswurzeln der intuitiv ge-
richteten Lebensphilosophie treten hier besonders klar zutage,
und zugleich ist ihre philosophische Unmöglichkeit drastisch
formuliert für jeden, der sehen will. Deswegen lohnt es, darauf
einzugehen.
Scheler 1) bezeichnet die ,,neue Haltung'' als em Sichhin-
geben an den Anschauungsgehalt der Dinge, als die Bewegung
eines tiefen Vertrauens in die Unumstößlichkeit alles schlicht
und evident ,, Gegebenen". Da treffen wir auf das intuitive
Prinzip der Lebensnähe, das wir kennen. ,, Diese Philosophie,
heißt es, hat zur Welt die Geste der offenen, aufweisenden
Hand, des frei und groß sich aufschlagenden Auges." Sodann
wird gesagt: ,,Der Mensch, der hier philosophiert, hat weder die
Angst, welche moderne Bechenhaftigkeit und den Berechnungs-
willen der Dinge gebiert, noch die stolze Souveränität des ,, denken-
den Bohres", die in Descartes und Kant Urquell — das emotio-
nale a priori — aller Theorien ist". Sollen wir auch das als
I) Vgl. Abhandlungen und Aufsätze, II, S. 197
— 52 —
Vorzug der neuen philosophischen Haltung betrachten ? Es
scheint in der Tat so gemeint.
Wir werden ferner versichert, den Lebensphilosophen um-
spüle „bis in seine geistige Wurzel hinein der Strom des Seins
wie ein selbstverständliches und schon als Seins- Strom selbst —
von allem Inhalt abgesehen — wohltätiges Element. Nicht der
Wille zur „Beherrschung", ,, Organisation", „eindeutiger Be-
stimmung" und Fixierung, sondern die Bewegung der Sympathie,
des Daseingönnens, des Grußes an das Steigen der Fülle, in dem
dem hingegebenen Blick die Inhalte der Welt allem mensch-
lichen Verstandeszugriff immer neu sich ent\\anden und die
Grenzen der Begriffe überfließen, durchseelen hier jeden Ge-
danken."
So wird zunächst Bergsons Intuitionismus gepriesen und
dann aus diesem Geiste heraus „von der genaueren strengeren —
und deutschen Art des Verfahrens" eine „vom Er-leben der
Wesensgehalte der Welt ausgehende Philosophie" erhofft,
welche uns die Phänomenologie zu geben berufen ist.
Solche und ähnliche Sätze klingen gewiß sehr schön,
sind eminent „modern" und manchem aus tiefster Seele ge-
sprochen. Ja, hier dürfte das formuliert sein, was heute Viele
vor allem zur Lebensphilosophie hinzieht. Die Lebenshaltung
des nur „lebenden", d. h. das Leben genießenden Men-
schen ist äußerst verlockend geschildert, und besonders unphilo-
sophischen Naturen muß das einleuchten, da es ihnen vorspiegelt,
daß sie die echten Philosophen seien, falls nur die „Grenzen
ihrer Begriffe überfließen".
Auch mag der Künstler vielleicht mit Recht so denken.
Goethe hatte, wenn auch gewiß noch einiges Andere, das frei
und groß sich aufschlagende Auge, und wir wollen nicht fragen,
ob er damit allein zum Dichter geworden wäre. Möglicherweise
ist es in der Tat am besten, wenn der Künstler nur erlebend
zu schauen glaubt und vertraut. Die f Bedeutung sainer
Kunstwerke hängt nicht von seinen t leoretisshen Ansichten über
künstlerisches Produzieren ab. Ja, er soll vielleicht nicht „klug"
werden aus dem, was er schafft. „Der Baum erkrankt bei steter
Lampsnhelle."
Aber was will dies alles, und was sonst nosh heute die
— 53 —
Köpfe der Intuitiven bewegt, für den Philosophen sagen,
der das Weltall theoretisch zu denken hat? Als Vorbedingung
des Philosophierens ist die von Scheler gepriesene „neue Hal-
tung" zwar nicht gerade neu, aber vielleicht brauchbar. Ja wir
müssen einmal den traditionellen Begriffsapparat bei-
seite lassen, um uns hinzugeben an die Anschauung, so daß
jeder wissenschaftliche oder außerwissenschafthche und beson-
ders auch der spezialwissenschaftliche „Kosmos" sich auflöst,
d. h. aus den Erlebnissen ein Chaos wird. Darf man aber darin
mehr als Vorbereitung sehen? Beginnt nicht vielmehr "dann
erst die eigentlich philosophische Arbeit, und kann sie jemals
etwas anderes als Organisation, eindeutige Bestimmung und Fixie-
rung sein?
Wer den Gedanken der intuitiven Lebensphilosophie zu
Ende denkt und sich ihre Konsequenzen klar macht, muß
einsehen: Scheler hängt der Prinzipienlosigkeit, dem schlimm-
sten philosophischen Gebrechen, einen prächtigen Mantel um,
der sie decken soll in ihrer theoretischen Armseligkeit. Die
Folge davon, daß „die Inhalte der Welt allem menschlichen Ver-
standeszugriff sich entwinden und die Grenzen der Begriffe
überfließen", kami nur sein: eines solchen Philosophenmantels
schimmernde Falten weht der Wind hin und her und treibt mit
ihnen sein Spiel. Philosophisch reich und lebendig wird
man bei der „neuen Haltung" nicht werden. Philosophie muß
bleiben, was sie war: Nachdenken über die Welt mit dem Ziel,
sie begrifflich zu beherrschen, sie zu organisieren und eindeutig
zu bestimmen. Die Hingabe an den Anschauungsgehalt kann
nie genügen.
Sie ist auch faktisch, wo man in irgend einer Weise philo-
sophiert, nicht durchgeführt. Scheler macht — glücklicherweise
— in dieser Hinsicht selbst keine Ausnahme. Es ist einfach
unmöglich, sich an alles hinzugeben. Wo nicht einmal die
Geschichte als Stütze dient, herrscht bei der Auswahl die Will-
kür des Individuums, und solche „Herrschaft" ist allerdings
von Uebel. Gewiß, die „Angst" soll den Willen zum Berechnen
nicht gebären. Aber ohne theoretisches Souveränitätsbewußtsein,
das ruht auf der Ueberzeugung, im Dienst^der Wahrheit zu ar-
beiten, entsteht keine Philosophie, welche diesen Namen verdient.
— 54 —
Wo nicht der Wille zur begrifflichen Beherrschung lebt, kommt
es "im günstigsten Falle zur heiligen Passivität, und wir sind
dann in der Nähe von Schlegels Faulheit als dem einzigen gott-
ähnlichen Fragment.
Ja, es ist mit Schelers intuitiver Philosophie sogar noch
schlimmer bestellt. Bei Steppuhn finden wir wenigstens Konse-
quenz. Er will als religiöser Mensch keine Kultur, also auch
keine Wissenschaft. Dagegen bedeutet das Preisen der Hingabe,
der Sympathie, des Daseinsgönnens, des Grußes an das Steigen
der Fülle als Philosophie nur Halbheit, so schön die Worte
klingen mögen. Gerade aus der angeblich ,, neuen Haltung"
müssen die Philosophen gründlich heraus, um die Welt wie-
der denkend zu beherrschen, nicht intuitiv in ihr zu versinken.
Freilich hat das Wort,, Intuition" verschiedene Bedeutungen,
und darauf sei ebenfalls ausdrücklich hingewiesen, damit kein
Mißverständnis darüber entsteht, gegen welche Art des Intuitio-
nismus wir uns hier wenden.
Man spricht von „genialer*' Intuition und stellt sie dem
,, nüchternen" Verstandeserkennen gegenüber, das die Krücke
des logischen Denkens braucht. Will man damit sagen, daß
mancher Mensch Wahrheiten zu ahnen vermag, ehe er imstande
ist, sie in die Form eines begründbaren Wissens überzuführen,
so ist dagegen nichts einzuwenden. Ja, diese Fähigkeit besitzt
nicht nur das Genie, sondern wohl jeder, dem wissenschaftlich ge-
legentlich etwas ,, einfällt". Der Gedanke ist nicht immer sofort
völlig klar. Man muß erst über den Einfall nachdenken. Aber
das gehört zur Psychologie des Erkennens, und daraus kann
man keine intuitive Philosophie machen. Uns interessiert nicht
die allmählige Entstehung der Gedanken, sondern ihre fertige
Struktur. Die im angedeuteten Sinne intuitiv erfaßte oder geahnte
Wahrheit ist, solange man sie in Gegensatz zur logisch ge-
dachten bringt, meist die theoretisch noch unvollständig erfaßte
und bedeutet lediglich eine Vorstufe des Erkennens, nicht etwa
ein Erkenntnisideal. Das klingt sehr nüchtern, ist aber wahr.
Ferner kann mau noch eine Bedeutung mit der „cognitio
intuitiva" verknüpfen. Sie hat mit der Lebensphilosophie
unserer Zeit jedoch so gut wie nichts zu tun. Auf sie sei nur
hingewiesen, um sie in Gegensatz zu der Intuition zu bringen.
— 55 —
die in der Mouepmlosophie eine Rolle spielt. Es ist die Intuition,
die sich z. B. bei Plotin oder bei den Mystikern des Mittelalters
wie Meister Eckhardt, aber auch bei dem „Rationalisten" Spi-
noza und später wieder bei nachkantischen deutschen Idealisten
findet. Sie wird hier „intellektuelle Anschauung" genannt.
Wer sie preist, dem schwebt eine Erkenntnis vor, die durch
das logische Erkennen hindurch gegangen ist und damit jene
„Einheit" wiederherstellt, welche die „ratio" zerstören muß.
Sie liegt der Absicht nach von dem unmittelbaren diesseiti-
gen Erleben des modernen Intuitionismus so weit entfernt wie
"möglich. Auf keinen Fall ist sie für weit verbreitete Strömungen
unserer Zeit maßgebend.
Ob es eine solche, jedes lebendige Leben tötende intuitive
Erkenntnis, wie der ,, abgeschiedene", Gott schauende Mystiker
sie anstrebt, gibt, oder ob das, was es hier gibt, noch „Erkenntnis"
genannt werden sollte, falls man dem Begriff des Erkennens
eine klare theoretische Bedeutung lassen will, haben war nicht
zu fragen. Das wäre nur im Zusammenhang mit einer umfassen-
den Theorie des kontemplativen Lebens auszumachen, das sich
in der theoretischen Kontemplation nicht erschöpft. Wir reden
hier vom Erkennen, das nach wissenschaftlicher Wahrheit sucht,
und uns kam es allein auf den Intuitionismus an, der als Lebens-
philosophie den Begriff des Verstandes verwirft, weil er das un-
mittelbare irdische Leben tötet. Wo der Intuitionismus
in Mystik oder in intellektuelle Anschauung umschlägt, was auch
heut bisweilen vorkommen mag, entzieht er sich unserer Kritik,
denn da verläßt er selber die Sphäre, auf die das Modeschlagwort
Leben paßt.
Ebenso haben wir hier von jeder künstlerischen Intuition
abzusehen. Handelt es sich um Musik, Malerei, Plastik oder
Architektur, so wird niemand ihre Werke für Philosophie halten.
Bei der Poesie dagegen ist eine Verwechslung eher möglich.
Der Dichter bedient sich wie der Philosoph der Sprache und
hat die atheoretische Fähigkeit, die Bedeutung von Worten so
zu verwenden, daß aus ihren Zusammenstellungen sich a n-
schauliche Gebilde ergeben. Worauf das beruht, und in
welchem Verhältnis diese nicht vital lebendigen atheoretischen
Anschauungen zur unmittelbaren Anschauung der Erlebnisse
— 56 —
stehen, brauchen wir hier nicht zu fragen. Daß auch in ihnen
eine Umformung des bloßen Lebens vorliegt, dürfte leicht zu
zeigen sein.
Immerhin tragen sie einen anschaulichen Charakter und
bleiben insofern der Anschauung des lebendigen Lebens näher,
ja sie können vom anschaulichen Leben mehr in sich aufnehmen
als der theoretische Begriff. Diese Fähigkeit ist nicht auf Dich-
ter im eigentlichen Sinn beschränkt, sondern vielen Menschen
eigen. Auch mag es oft vorkommen, daß in philosophischen
Werken sich hie und da Bestandteile finden, die über das be-
grifflich Faßbare hinausführen und trotzdem zugleich einen
positiven theoretischen Wert insofern besitzen, als sie den Ab-
stand des Anschaulichen vom theoretisch Erkennbaren zum Be-
wußtsein bringen. Doch wird man deshalb die ästhetische An-
schauung nicht zum Organ der Philosophie machen. Auch hier
kommt es vielmehr darauf an, die verschiedenen Arten der Kon-
templation auseinanderzuhalten und die Kontemplation klar-
zustellen, die Erkenntnis gibt. Zur Gewinnung einer philo-
sophischen , .Weltanschauung" ist die poetische Intuition schon
deswegen ungeeignet, weil sie wie jede künstlerische Auffassung
des anschauhchen Lebens ihrem Wesen nach auf einen Teil der
Welt beschränkt bleibt. Das poetisch Anschaubare muß Grenzen
haben. Das Grenzenlose erfaßt nur der Begriff. Die ästhetische
Intuition muß daher ebenso, wenn auch aus andern Gründen wie
die mystische, beiseite bleiben, wo man über die Möglichkeit einer
intuitiven Philosophie des Lebens zur Klarheit kommen will.
Keine außerwissenschaftliche Intuition kann zur Grundlage der
Philosophie dienen, auch nicht einer Philosophie des Lebens.
Die Ablehnung des Intuitionismus setzt endlich voraus, daß
die Vertreter der intuitiven Philosophie an einer Bedeutung des
Wortes Intuition festhalten, die es in Kontrast zu allen Begriffen
des Verstandes bringt. Meint der Intuitionist, daß der Philo-
soph nicht allein das Denken, sondern auch die Anschau-
ung braucht, um zu erkennen, so ist dagegen nicht das Ge-
ringste zu erinnern. Aber das kommt auf eine Ansicht hinaus,
die heute niemand mehr ernsthaft bestreitet, und eine Philo-
sophie des intuitiv erfaßten Lebens läßt sich daraus gewiß nicht
machen. Soll der Ausdruck Intuition als Terminus verwendbar
— 57 —
bleiben, so muß das Schauen oder die Anschauung in Gegensatz
zum logischen Denken stehen, und falls man diese Bedeutung
meint, gibt es keine intuitive „Erkenntnis". Zu allem Erkennen
gehört vielmehr außer dem anschaulichen auch das begriffliche
Moment. Damit aber ist der Intuitionismus grundsätzlich durch-
brochen. Ohne ein begriffliches Prinzip der Auswahl kommt
keine Philosophie zustande.
Zum mindesten wird der Intuitionist nicht bezweifeln, daß
die Anschauung ihn etwas Neues lehren müsse, und schon das
zeigt, daß Anschauung allein keine Erkenntnis gibt. Oder sollte
man es bestreiten, daß man zur Entdeckung des Neuen des
Denkens bedarf? In gewisser Hinsicht ist ja freilich jedes Er-
lebnis ,,neu",^und insofern scheint ein Prinzip der Auswahl ent-
behrlich. Doch das Neue in diesem Sinn besitzt noch keine
theoretische Bedeutung. An einem Kinderspaß kann man sich
das klar machen.^ Man verspricht einem neugierigen Jungen
etvN^as zu zeigen, das noch niemals ein Mensch gesehen hat, und
das niemals wieder ein Mensch sehen wird. Man nimmt eine
Nuß, knackt sie auf, zeigt den Kern vor und verspeist ihn.
Dann hat man sein Versprechen erfüllt. Der neugierige Junge
wird enttäuscht sein und mit Recht, um so sicherer, wenn er
die Nuß nur ,, intuitiv" erfassen soll. Vom bloßen Anschauen
des Neuen kann man nicht einmal „leben".
Das sollte auch der nach Erlebnissen neu-gierige Intuitionist
einsehen: das Neue bietet für sich allein dem Philosophen noch
nichts. Die Nuß muß fragwürdig sein, d. h. ein Problem ent-
halten, wenn es lohnen soll, sie zu knacken, und will man das
Problem lösen, so darf man nicht beim Anschauen bleiben, son-
dern hat das Geschaute zu bearbeiten und seinem Denken
einzuverleiben. Allerdings, zeigt die Intuition ,,in nuce" das
Weltall, dann lohnt es, daß man die Nuß knackt, aber dann ist
sie in keinem Fall bloße Intuition. Dann gibt sie uns W e 1 1-
anschauung und muß gerade deswegen mehr als nur Weltan-
schauung sein. Die Welt als Ganzes kann man nicht , .an-
schauen". Die reine Intuition vermag nicht einmal taube von
vollen Nüssen zu unterscheiden, falls sie bloß anschaut. —
Es bleibt heute eine undankbare Aufgabe, den Intuitionis-
mus zu bekämpfen, zumal wo er sich mit der Lebensphilosophie
— 58 —
verbündet hat. Anschaulichkeit und Lebendigkeft — die Worte
haben einen verlockenden Klang schon dann, wenn man jedes
für sich nimmt. Vereinigen sie sich gar zur „anschaulichen
Lebendigkeit" oder zur „lebendigen Anschaulichkeit", wer kann
ihnen da noch widerstehen? Besonders aber erfreut sich der
Gegner der Erlebnisphilosophie, der nüchterne, unanschauhche,
unlebendige Verstand und sein Produkt, das Rationale» heut
gar keiner Sympathie, und dagegen ist mit Gründen auch nicht
viel zu machen. Man kann das Rationale nur begründen, wenn
man schon Rationales voraussetzt. Solange der Mensch nichts
anderes als leben will, mag er jede ratio ablehnen.
In der Philosophie läßt sich der Verstand jedoch wohl nie
ganz ausschalten, und jedenfalls sollte die Ueberwindung des
Rationalismus oder Intellektualismus, die man heut preist, nicht
zur Ueberwindung des Verstandes oder Intellekts führen^).
Aus der logisch unbegründeten Vorliebe für das bloß anschau-
liche Leben müssen wir in der wissenschaftlichen Philosophie
endlich wieder heraus. Endlich ! Denn es ist nun schon ein halbes
Jahrhundert verflossen, seit Nietzsche in seiner „Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik" gegen den sokratischen
Menschen ins Feld zog. Hat die Philosophie dem „dionysischen"
Prinzip Neues für einen positiven Aufbau zu verdanken ?
Man wird es bezweifeln dürfen. Wohl mag ein Kampf, wie
Nietzsche ihn führte, stets notwendig werden, wo der Sokra-
tiker die Gestalt des Bildungsphilisters annimmt, wie Haym im
Sinne der Romantik den Aufklärer genannt hat 2). Aber Sokra-
1) Das habe ich schon 1899 in einer Abhandlung über Fichtes
Atheismusstreit (Kantstudien Bd. IV), als das Leben noch kein
so beliebtes philosophisches Schlagwort war, gegen James und
Paulsen geltend gemacht. Der Kampf, den Fichte gegen Forbergs
„als ob" führte, ist heute vollends nicht veraltet.
2) Vgl. Rudolf Haym, Die romantische Schule. Ein
Beitrag zur Geschichte des Deutschen Geistes. 1870^ S. 88.
Es heißt dort von Tiecks Schildbürgern: ,,Die eigentliche Ziel-
scheibe des Spottes war .... ganz speziell die prosaische Super-
klugheit der Bildungsphilister, die Trivialität und Abgeschmackt-
heit der Aufklärer". Da Nietzsche auf die Erfindung des Wortes
Bildungsphilister stolz war, ist es ausgeschlossen, daß er diese
Stelle gekannt hat. Hayms Schopenhauerkritik ärgerte sein
romantisches Herz. Er witzelte über „gewisse überverwegene
Ueberweffe und in der Philosonhie nicht heimische Hayme".
— 59 —
*
tes war kein Bildungsphilister, und der sokratische Mensch be-
hält gegenüber dem dionysischen doch auch sein Recht. Ja,
in der Philosophie bleibt er der einzige, der Recht, d. h. theore-
tisch Recht haben kann.
Solche Selbstverständlichkeiten sind vielleicht langweilig,
aber man darf sie nicht vergessen. Es wäre daher wohl an der
Zeit, daß man wieder auch die sokratische Seite des philosophi-
schen Lebens berücksichtigte. Hätten wir denn wirklich Grund,
uns zu freuen, daß wir Lebewesen sind, falls wir als Lebewesen
nur leben und erleben könnten? Nach der modernen Lebens-
philosophie sieht es manchmal so aus. Das bloße Leben scheint
ihr Lebenswonne. Sollten wir da nicht versuchen, zunächst
wenigstens unser Gefühl wieder auch für den Verstand spre-
chen zu lassen, d. h. unseren Stolz und unsere Würde darin
suchen, daß, trotzdem wir Lebewesen sind, wir auch über das
Leben denken und uns damit über das Leben erheben können
in eine unlebendige Welt? Es sind jedenfalls keine theoretischen
Gründe, sondern lediglich Lebensstimmungen, die uns beherr-
schen, falls wir diese Frage verneinen.
Durch Gründe allein lassen sich die „emotionalen" Elemente
die hier nein sagen, selbstverständlich auch nicht beseitigen.
Aber da jeder Mensch, der sich mit Philosophie beschäftigt,
doch nicht nur ein lebendes, sondern auch ein denkendes Wesen
ist, also Gründe zu verstehen vermag, wird sogar der bloß theo-
retische Kampf gegen die Philosophie der reinen Anschauung
und Lebendigkeit das Vorwiegen der Lebensstimmungen und
Lebensgefühle vielleicht ein wenig erschüttern. Philosophisch
fruchtbar im positiven Sinn ist die Alleinherrschaft solcher
Stimmungen und Gefühle nicht. Ein Umschwung wäre dringend
zu wünschen.
Sollte man sich also darauf besinnen, daß es in der Philo-
sophie nicht auf das Leben, sondern auf das Denken über das
Leben ankommt, und sollte man einsehen, daß das Denken
Wer der Erfinder des Ausdrucks Bildungsphilister ist, hätte nicht
viel zu bedeuten. Interessant aber bleibt, daß Haym und nach
ihm Nietzsche ihn in demselben Sinn brauchen, als Spottnamen
für Aufklärer. Der Kampf gegen die Verstandesaufklärung steckt
auch in der modernen Lebensphilosophie. Davon wird später
noch zu reden sein.
— 60 —
«
seinem Wesen nach stets mehr oder, um bescheiden zu sprechen,
etwas anderes als bloß anschauendes Leben ist, so wäre das
schon ein großer Fortschritt.
Positiv hätten wir zwar damit allein noch nicht sehr viel
erreicht. Die Hauptsache bleibt selbstverständlich, wie wir
die Welt und das Leben denken. Aber es wäre doch wenig-
stens ein Hindernis gerade für eine Philosophie des Lebens hin-
weggeräumt. Man versuche zunächst einmal, wenigstens zu
fühlen, welche herrliche Gabe dem Menschen damit verliehen
ist, daß er sich denkend über das Leben zu erheben, die leben-
dige Anschauung durch sein Denken zu formen, sie in seinen
Besitz zu bringen und so zu mehr als bloß lebendiger Anschau-
ung zu gestalten vermag. Lenkt man nur einmal die A u f-
'merksamkeit auf diese Wunder und Triumphe des ver-
achteten Denkens, dann muß es für jeden Menschen, in dem
eine Spur des philosophischen Eros lebt, mit allem Intuitionis-
mus des reinen Erlebens und aller bloß anschaulichen Philosophie
des Lebens vorbei sein.
Für die Macht des Denkens über die anschauliche Erschein-
ungswelt und sein Recht können wir uns sogar auf den Augen-
menschen Goethe berufen, der gewiß nicht geneigt war, das
Denken zu überschätzen, ja der als Dichter die Anschauung
bisweilen einseitig pries.
„Und was in schwankender Erscheinung schwebt,
Befestiget mit dauernden Gedanken."
So ruft der Herr, nachdem er dem Geist, der stets verneint,
Audienz erteilt und ihn entlassen hat, seinen Engeln zu. Auch
im Sinn des Faustdichters sind wir somit echte Göttersöhne,
die sich an der lebendig reichen Schöne erfreuen, wenn wir ver-
suchen, mit unseren Gedanken Herren zu werden über die
schwankende phänomenale Welt.
Sollte man aber fragen, wie denn der Mensch dazu kommt,
sich über das Leben zu stellen, da er doch nichts als einer
seiner Teile ist, so mag darauf ebenfalls ein Wort Goethes als
Antwort dienen. Es findet sich im unmittelbaren Zusammen-
hang mit Versen, die man gewöhnlich, etwas gedankenlos, zitiert,
um den Dichter als Zeugen dafür anzurufen, wie unselbständig
wir in der Natur stehen. Allerdings heißt es zuerst:
— 61 —
„Nach ewigen, ehrnen,
Großen Gesetzen
Müssen wir Alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden."
Dann aber geht es im Gegensatz dazu weiter:
„Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche.
Er unterscheidet,
Wählet und richtet,
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen."
Goethe sieht, wie meist, das Eine und das Andere. Als
Philosophen müssen wir das , .Unmögliche" versuchen, und wir
dürfen es, denn der Glaube daran, daß wir es vermögen, gehört
zu den unentbehrlichen Voraussetzungen jeder Wissenschaft.
Halten wir uns für unfähig, dem Augenblick Dauer zu verleihen
oder die schwankende Erscheinung mit Gedanken zu befestigen,
dann sollten wir das Philosophieren überhaupt lassen. Die
bloße Intuition ohne festen Begriff führt zum theoretischen
Nichts. Wo gar die unmittelbare Anschauung gegen Des-
cartes und Kant als „Philosophie" ausgespielt wird, gilt es, zu-
nächst zu diesen Denkern zurückzukehren, um dann mit ihnen
wieder vorwärts zu kommen, über die Mode hinaus zur Philo-
sophie als einem Denken der Welt in Begriffen.
Zusammenfassend ist von allen Richtungen der Lebens-
philosophie, deren Stärke in einer Besinnung auf das Erlebte
in seiner Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit liegt, zu sagen:
man kann gewiß verarmen, falls man nicht genug Gewicht auf
die lebendige Fülle des ursprünglich Gegebenen legt. Aber man
wird noch gewisser in der unübersehbaren Mannigfaltigkeit
des Lebens geistig ersticken, wenn man sie nicht begrifflich zu
beherrschen vermag. Nur mit einem Kompaß oder angesichts
eines Leuchtturms, der die Wege weist, hat es einen Sinn, sich
auf das hohe Meer des Lebens in seinem überwältigenden Reich-
tum hinauszuwagen, um darüber zu philosophieren. Ohne Bild:
der ganzen Fülle aller Erlebnisse oder Erlebnisinhalte, die sich
intuitiv erfassen lassen, wird niemand Herr, und danach be-
steht in der Wissenschaft auch kein Bedürfnis. Die Philosophie
braucht Prinzipien, die gliedern und gestalten. Nach ihnen
- 62 —
suchen wir in der nur intuitiv gerichteten Lebensphilosophie
vergeblich.
Im Grunde bedeutet auch das etwas, das längst selbstverständ-
lich geworden sein sollte. Doch wenn Otto Erich Hartleben
in seinem „Halkyonier" spottet:
„Es bleibt der Philosoph von Wert für alle Zeiten:
Er findet stets aufs neu die Selbstverständlichkeiten,"
so brauchen wir diesen Spott nicht zu fürchten. Das Selbstver-
ständliche muß immer wieder gesagt werden, wo das „Erleben"
gegen das Denken ausgespielt wird. Nicht Inhalt oder Form,
Anschauung oder Begriff, hat man beim Philosophieren zu
fragen. Wie öfter, so kommt es auch hier nicht auf das Ent-
weder-oder, sondern auf das Eine und das Andere in ihrer Ver-
bindung an. Wir brauchen geformten Inhalt, gedachtes Leben,
begriffene Anschauung, und in der Form des Denkens oder des
Begriffs steckt das spezifisch wissenschaftliche Moment. Gewiß
ist die Denkform ohne anschaulichen Inhalt „leer", aber sie
bildet trotzdem allein das theoretisch Differente. Der bloß an-
geschaute Inhalt bleibt immer ,, blind" und daher theoretisch
nichtssagend. Gegenüber dieser schlichten Wahrheit bricht jeder
Lebens-Intuitionismus als Wissenschaft in sich zusammen, und
zwar um so sicherer, je konsequenter er sich gestaltet.
Viertes Kapitel.
Lebensform und Lebensinhalt.
,,Den Gehalt in deinem Busen
Und die Form in deinem Geist."
Dauer im Wechsel.
Doch mit den Gedanken, die auf Anschauliches und Un-
mittelbares gehen, ist die moderne Lebensphilosophie nicht er-
schöpft. Wir haben ihre intuitiv und antirationalistisch ge-
richteten Tendenzen für sich betrachtet und ihre Kritik voran-
gestellt, weil sie den umfassendsten und allgemeinsten philo-
sophischen Zug der Zeit darstellen. Zur Lebensphilosophie im
engeren Sinn kommen wir erst, wenn wir außerdem noch einen
engeren Lebensbegriff ins Auge fassen. Dann wird auch die
Kritik der Denker einsetzen können, die sich selbst mit Em-
phase Philosophen des Lebens nennen.
— 63 —
Bei den intuitiv zu ergreifenden Erlebnissen oder Erlebnis-
inhalten bleibt niemand stehen, der ernsthaft besondere Lebens-
probleme in Angriff nimmt. Bei jedem Versuch, dies zu tun,
entsteht aus dem Erlebnis eine Lebens lehre, und das bedeutet,
daß zum Lebensinhalt die Lebensform hinzutritt. Sieht man
das ein, so wird man meinen, die Lebensphilosophie habe nur
dafür zu sorgen, daß die Formen, die sie braucht, echte Lebens-
formen seien, oder daß man das Leben mit seinen eigenen
Formen begreife.
Zugleich aber ergibt sich für eine konsequente Lebens-
philosophie daraus auch ein schweres Problem. Die Form ist
nur dann ., Leben", wenn wir dies Wort im denkbar weitesten
Sinn als Erlebnis nehmen, also einen Begriff damit verbinden,
der, wie wir sahen, in keiner Lebensphilosophie fruchtbar zu
machen ist. Sobald der formale Faktor in Gegensatz zum In-
halt tritt, kommt er damit auch in Gegensatz zum Leben.
Das gilt für jede Form ohne Ausnahme, also auch für die
Lebensform. Alles Leb^n fließt kontinuierlich. Die Form da-
gegen bedeutet Begrenzung, ja ist selber Grenze. Das Leben
befindet sich in dauernder Bewegung, und die Form stellt ihm
gegenüber etwas Festes oder Starres dar. So lassen sich die
Lebensformen nur im Kontrast zum kontinuierlichen Lebens-
fluß der Inhalte denken, und doch können wir sie nicht ent-
behren, falls wir irgendeine Erkenntnis des Lebens anstreben.
Man mag freilich den Schwerpunkt dabei mehr auf die
Seite der festen Form oder mehr auf die Seite des beweglichen
Inhalts legen und dann die Form auf ein Minimum herabzu-
drücken suchen. Seitdem in der griechischen Philosophie Hera-
klit und Parmenides einander gegenüber standen, hat sich der
Kampf zwischen Evolutionismus und Stabilität immer von neuem
wiederholt. Aber auch der Weise von Ephesus, für den „alles
fließt", war, soviel wir wissen, weit davon entfernt, in Wahr-
heit alles in Bewegung aufzulösen. Ueber dem Fließen schwebte
für ihn der feste Bhythmus, den zu erfassen, die Aufgabe des
Philosophen bildete. Wo man das Feste überhaupt leugnete,
kam man zum Skeptizismus oder zu einem Relativismus, der
nur durch Inkonsequenzen vom theoretischen Nihilismus ge-
trennt blie]).
- 64 -
So gerät die Lebensphilosophie in eine üble Lage. Sie
braucht die Lebensform, um Philosophie des Lebens zu sein,
und sie muß jede feste Form ablehnen, um Philosophie des
Lebens zu bleiben. Es geht weder mit der Form noch ohne
sie. Gibt es im strengen Sinne so etwas wie „Lebensformen",
d. h. Formen, die nur Leben sind ? Ist lebendig nicht allein
der Lebensinhalt ?
Unter den Lebensphilosophen hat keiner dies Problem klarer
gesehen und tiefer erfaßt als Georg Simmel i). Daß es im
Leben ohne Form nicht geht, weiß er genau. Aber ebenso steht
fest: das Lebendige duldet auf die Dauer nichts Festes. Von
bleibenden Gestalten darf daher der Lebensphilosoph nichts
wissen wollen. Er muß also versuchen, die Form mit dem
Inhalt, das Starre mit dem Beweglichen, das Feste mit dem
Fließenden, die Grenze mit dem Grenzenlosen zu versöhnen,
und zwar so, daß schließlich das lebendige Leben den Primat
behält. Er kann zwar nicht anders, als eine Herrschaft der Form
über das Leben anerkennen, aber es ist zugleich notwendig,
daß die Herrschaft wieder gebrochen wird. Sonst läßt sich dem
Leben die Stelle des ersten und letzten philosophischen Prinzips
nicht retten.
Von hier aus ist Simmeis „Metaphysik des Lebens" zu
verstehen. Sie nimmt auch in dieser Hinsicht eine eigenartige
Stelle in der Lebensphilosophie unserer Zeit ein, und die Klar-
legung ihres Grundgedankens ist für die Kritik des modernen
Denkens sehr lehrreich, obwohl keine Rede davon sein kann,
daß ihr Prinzip in der Modephilosophie eine erhebliche Rolle
spielt. Dazu ist es zu schwer zu erfassen. Wollen wir jedoch
einen Blick in die Tiefe der Probleme tun, so dürfen wir daran
nicht vorübergehen. Ein noch radikalerer Versuch, das Leben
1) Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. 1918.
Als Gegenstand der Kritik kommt nur das erste Kapitel: Die
Transzendenz des Lebens, in Betracht. Die Ausführungen des
zweiten: Die Wendung zur Idee, stehen der hier vertretenen An-
sicht nahe. Auch auf den Grundgedanken des \ierten Kapitels:
Das individuelle Gesetz, habe ich 1902 in meinem Buch über die
Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (2. Aufl.
S. 619 tl.) hingewiesen. Freilich scheint mir der Ausdruck „Ge-
setz" in diesem Zusammenhang bedenklich, doch ist die Differenz
mehr terminologisch als sachlich.
— 65 —
zum Herrscher über alles zu machen, liegt bisher nicht vor,
und wenn auch er scheitern sollte, ist mit der Einsicht in die
Gründe dieses Scheiterns viel gewonnen.
Simmel geht davon aus, daß wir immer und überall Grenzen
haben und auch Grenze sind. Zugleich wissen wir jedoch
von unseren Grenzen, und der allein kann von ihnen Kenntnis
besitzen, der schon außerhalb ihrer steht. Ob das richtig ist,
bleibe dahingestellt. Jedenfalls vollzieht sich nach Simmel ein
Sich-selbst-Ueberschreiten des Geistes auf den verschiedensten
Gebieten.
Wir wissen z. B., daß unser Erkennen Grenzen hat, aber
daß wir als erkennende Wesen und innerhalb der Möglichkeiten
des Erkennens selbst die Idee überhaupt fassen können: die
Welt ginge in die Formen unseres Erkennens nicht hinein, daß
wir, selbst rein problematischer Weise, eine Weltgegebenheit
denken können, die wir eben nicht denken können — das ist
ein Hinausschreiten des geistigen Lebens über sich selbst, Durch-
bruch und Jenseitigkeit nicht nur einer einzelnen, sondern seiner
Grenze überhaupt.
Das nennt Simmel dann den „Akt der Selbsttranszendenz,
der die immanente Grenze selbst erst setzt", und er sagt: ,,Mit
dieser Bewegung in der Transzendenz seiner selbst erst zeigt sich
der Geist als das schlechthin Lebendige". Der Gedanke wird
nach mehreren Bichtungen hin ausgeführt, auf die es im ein-
zelnen hier nicht ankommt. Nur das ist wichtig: diese Existenz-
art allein nennt Simmel Leben, und eine letzte, metaphysische
Problematik liegt für ihn darin, daß das Leben grenzenlose
Kontinuität und zugleich grenzbestimmtes Ich ist. Ein nur
kontinuierliches heraklitisches Fließen ohne ein bestimmtes be-
harrendes Etwas enthielte ja die Grenze gar nicht, über die ein
Hinauslangen geschehen soll, nicht das Subjekt, welches hinaus-
^reift.
So ist das Leben, wie es bei Zarathustra heißt, das, was sich
immer selber überwinden muß, oder es ist ihm, wie Simmel
mit absichtlich paradoxem Ausdruck sagt, die Transzendenz
immanent.
Von diesem allgemeinen Prinzip kommen wir zur Form und
ihrer Stellung zum Leben. Zwischen der Kontinuität und der
B i c k e 1 1 , Philosophie d. Lebens. 5
— 66 —
Form als letzten weltgestaltenden Prinzipien besteht ein tiefer
"WidersprHch, da Form Grenze ist und sich nicht ändern kann.
Den Zwiespalt von Leben und Lebensform gilt es zu überv\'inden.
Genauer: nur der Intellekt nennt das eine Ueberwindung der
Zweiheit durch die Einheit. Es ist an sich selbst ein Drittes,
jenseits von Zweiheit und Einheit: das Wesen des Lebens als
Ueberschreiten seiner selbst. In einem Akt bildet es etwas,
was mehr ist als die vitale Strömung selbst: die individuelle
Geformtheit — und durchbricht eben diese, von seiner Stauung
in jene Strömung hirieingezei ebnete, läßt sie über ihre Grenzen
hinausgreifen und wieder in seinen Weiterfluß zurücktauchen.
Wir sind nicht in grenzenfreies Leben und grenzgesicherte Form
geschieden, wir leben nicht teils in der Kontinuität, teils in der
Individualität , die sich gegenseitig aufheben. Vielmehr das
Grundwesen des Lebens ist eben jene in sich einheitliche Funktion,
das Transzendieren seiner selbst.
So gilt es, einen absoluten Begriff des Lebens zu ge-
winnen, der jenem, noch von einem Gegensatz sich abhebenden,
als einen deshalb nur relativen unter sich begreift. Damit hat
das Leben zwei, einander ergänzende Definitionen: es ist Mehr-
Leben und es ist Mehr-als-Leben. Indem es Leben ist, braucht
es die Form, und indem es mehr als Leben ist, braucht es mehr
als die Form. Mit diesem Widerspruch ist das Leben behaftet,
daß es nur in Formen unterkommen kann und doch in Formen
nicht unterkommen kann, eine jede also, die es gebildet hat„
überlangt und zerbricht.
Simmel weiß, daß er mit seinen Gedanken an die Grenze
dessen gelangt ist, was sich noch sagen läßt, aber grade weil er
das weiß, muß er nach seinem Grundsatz annehmen, daß er
diese Grenze zugleich überschritten hat, und er meint, als
Widerspruch erscheine dies n u r in der logischen Reflektion, für
die die einzelne Form als ein für sich gültiges, real oder ideell
festes Gebilde dasteht, die eine diskontinuierliche neben der
andern und in begrifflichem Gegensatz zur Bewegtheit, Strömung,
Weitergreifen. Das unmittelbar gelebte Leben ist eben die Ein-
heit von Geformtsein und Hinüberlangen, Hinüberfließen über
Geformtheit überhaupt, was sich im einzelnen Augenblick als
Zerbrechen der jeweiUgen aktuellen Form darstellt. — Das Leben
— 67 —
ist eben immer mehr Leben als dasjenige, das in der ihm jeweils
beschiedenen , aus ihm selbst gewachsenen Form Raum hat.
Damit ist in die Dimension gewiesen, in die das Leben trans-
zendiert, wenn es nicht nur Mehr-Leben, sondern Mehr-als-Leben
ist. Das Leben findet sein Wesen, seinen Prozeß darin, Mehr-
Leben und Mehr-als-Leben zu sein, sein Positiv ist als solcher
schon sein Komparativ.
Simmel schließt seine Darlegung mit den bezeichnenden
Worten: ,,Ich weiß sehr wohl, welche logischen Schwierigkeiten
dem begrifflichen Ausdruck dieser Art, das Leben zu schauen,,
entgegenstehen. Ich habe sie, in voller Gegenwart der logischen^
Gefahr, zu formulieren versucht, da doch immerhin möglicher-
weise die Schicht hier erreicht ist, in der logische Schwierig-
keiten nicht ohne weiteres Schweigen gebieten — ■ weil sie die-
enige ist, aus der sich die metaphysische Wurzel der Logik
selbst ernährt."
Es wäre zu wünschen, daß alle Lebensphilosophen sich irt
so hohem Maße die Schwierigkeiten klar gemacht hatten, die
entstehen müssen, sobald man in der Wissenscliaft das lebendige
Leben über das Denken des Lebens zu stellen versucht. Dann
könnte man aus der Lebensphilosophie erheblich mehr lernen.
In populärerer Form hat Simmel diesen Gedanken an anderer
Stelle so formuliert ^) : Das Leben kämpft vermöge seines Wesens
als Unruhe, Entwicklung, Weiterströmen dauernd an gegen seine
eigenen festgewordenen Erzeugnisse, die mit ihm nicht mit-
kommen. Da es aber seine Außenexistenz nicht anders finden
kann, als eben in irgend welchen Formen, so stellt sich dieser
Prozeß sichtbar und benennbar als Verdrängung der alten Form
durch eine neue dar. Der fortwährende Wandel ist das Zeichen
oder vielmehr der Erfolg der unendlichen Fruchtbarkeit des
Lebens, aber auch des tiefen Widerspruchs, in dem sein ewiges
Werden und Sichwandeln gegen die objektive Gültigkeit und
Selbstbehauptung seiner Darbietungen und Formen steht, an
denen oder in denen es lebt. Es bewegt sich zwischen Stirb und
Werde — Werde und Stirb.
Es war nötig, mehrere dieser Wendungen in ihrem Wortlaut
zu geben, um der Gefahr einer Umdeutung aus dem Wege zu
1) Der Konflikt der modernen Kultur. tl918.
5*
— 68 —
gehen. Ist der in ihnen enthaltene Versuch^ 'dem lebendigen
Leben die Stellung über der „toten" Lebensform zu retten, ge-
lungen ?
Gewiß enthalten diese Gedanken, wenn man sie richtig ver-
steht, eine partielle Wahrheit. Aber ebenso gewiß sind sie rein
wissenschaftlich nicht durchzuführen, und das weiß Simmel
im Grunde selbst. "Wir werden an die Grenze des Logischen,
d. h. widerspruchslos Denkbaren geführt, und damit an die Grenze
der Wissenschaft. Ja, wir überschreiten ihre Grenze mit dem
Versuch, das als Einheit zu denken, was für das logische Denken
immer in eine Zwäiheit auseinanderfällt. Genauer: wir über-
schreiten, innerhalb der Wissenschaft, die Grenze nicht, denn
wir können sie logisch denkend nicht überschreiten. Wir ver-
suchen nur, etwas zu denken, was undenkbar ist, und das
muß mißlingen.
Das Prinzip alles logischen Denkens, das heterologisch ist,
kann uns an dieser Stelle nicht beschäftigen i). Doch genügt eine
einfache Ueberlegung, um zu zeigen, daß auch dieser scharf-
sinnigste Versuch, der vielleicht je gemacht worden ist, den
Lebensbegriff als letztes Prinzip der Philosophie gegenüber allen
theoretischen Einwänden aufrecht zu erhalten, als theoretischer
Versuch scheitern muß. Wir haben es bei Simmel nicht nur
mit einem, sondern mit zwei Lebensbegriffen zu tun, einem
immanenten und einem transzendenten, und es ist unmöglich,
daraus einen Begriff zu machen. Schon deswegen wird die
angestrebte Lebenseinheit nicht erreicht.
Man kann die Undurchführbarkeit so zum Bewußtsein bringen.
Begreifen wir das Leben, wie Nietzsche sagt, als „Selbst-Ueber-
windung" oder mit Simmel als das, was Formen nur schafft,
um sie wieder zu zerstören, so bedeutet das offenbar, daß wir
das Leben in eine Form bringen. Was sollte es sonst heißen?
In die Wissenschaft geht ja nie das Leben selbst ein, sondern
allein sein Begriff, d. h. das Leben in einer Form, und gerade
falls die Lebensphilosophie Recht hat, kann auch ihr Lebens-
begriff oder ihre Lebensform ledighch einer der Begriffe und
1) Vgl. meine Abhandlung: Das Eine, die Einheit und
die Eins. Logos, II, I'J12, S. 35 f.
— 69 —
Formen sein, die das Leben selbst wieder zerstören muß. Damit
wird dann aber zugleich auch das Recht der Lebensphilosophie
mit zerstört, d. h. es war nie ein „Recht", denn was sich zer-
stören läßt, gehört zum theoretischen Unrecht.
Der Widersinn jedes theoretischen Relativismus, d. h. jedes
Versuchs, die Wahrheit in den Fluß des Geschehens hineinzu-
ziehen, den schon Piaton durchschaut hat, tritt zutage. Wir sind
hier an der Grenze unseres Denkens angelangt, aber diese Grenze
ist keine begrenzende Schranke, sondern unser theoretischer Halt,
und mit dem Versuch, sie zu überschreiten, wird unser Denken
haltlos. In der Einhaltung dieser Grenze liegt unsere Kraft.
So zeigt sich: jede Lebensanschauung, die sich nur auf das
lebendige Leben stützen ^vill, ist lediglich eine Auffassung des
Lebens, neben der es noch andre, anders und theoretisch besser
gestützte Lebensauffassungen gibt. Jedenfalls wird das, was
allen logisch denkbaren Lebensbegriffen oder Lebensformen g e-
m eins am ist, als wissenschaftlich begründet gelten dürfen, und
jeder Standpunkt, der Wahrheit für sich in Anspruch nimmt,
muß irgend eine Lebensform oder irgend einen Lebens-
begriff, sei es auch nur den des formzerstörenden Lebens, als
fest voraussetzen. Das tut auch Simmel, indem er das
Leben als Selbst-Ueberwindung begreift, und damit durch-
bricht er sein eigenes Prinzip. Er kennt die Schwierigkeit und
spricht sie klar aus. Aber damit wird sie doch nicht beseitigt.
Simmel kann seine eigenen Begriffe vom Leben nicht ,, lebendig"
machen wollen, so daß sie im Lebensstrom untergehen, und trotz-
dem zugleich fortfahren, sie für die Begriffe zu halten, mit denen
er die Wahrheit über das Leben erfaßt. Er hat also ein
Problem gestellt, aber er hat es nicht gelöst, und man wird es
auf diesem Wege nie lösen.
Wenn Simmel sagt, als Widerspruch erscheine seine These
vom Leben n u r in der logischen Reflektion, so ist dies „nur"
logisch unverständlich, denn Widersprüche gibt es überhaupt
„nur" in der logischen Reflektion. Sind es also in ihr Wider-
sprüche, dann sind es unter allen Umständen Widersprüche, und
das einschränkende „nur" verliert die Bedeutung, die wir mit
diesem Wort zu verbinden gewohnt sind. Gewiß kann' der
Mensch Schichten erreichen, in denen die logischen Schwierig-
- 70 ^
keiten ihm nicht mehr Schweigen gebieten dürfen, ja er „lebt"
vielleicht immer in solchen Schichten. Aber als theoreti-
scher Mensch, der über die Welt nachdenkt, darf umgekehrt
auch er den logischen Schwierigkeiten nicht Schweigen gebieten
sondern hat sich ihnen unterzuordnen, wo sie unzweideutig ihre
Stimme erheben, und das geschieht überall, wo wir merken,
daß unsere Gedanken sich widersprechen. Den Widerspruch
muß der theoretische Mensch trotz Hegel oder vielmehr wegen
Hegel meiden. Will er das nicht, so vermag er wohl zu leben,
doch nicht über das Leben zu denken, und das will er doch als
Philosoph.
Kurz, Simmel hat es, wenn wir ihn recht verstehen, mit
vorbildlicher intellektueller Ehrlichkeit selbst ausgesprochen, daß
es unmöglich ist, seine Gedanken logisch zu Ende zu denken
und so mit dem Leben allein das Problem des Lebens zu
lösen.
Freilich erklärt er es einmal für ein ,,ganz philiströses Vorur-
teil", daß alle Probleme dazu da seien, gelöst zu werden i), und da-
gegen ist dann selbstverständlich nichts mehr zu sagen. In der
Wissenschaft werden wir aber wohl an diesem Vorurteil fest-
halten müssen, mag es auch noch so philiströs sein. Sonst ist
nicht recht einzusehen, wozu wir überhaupt noch Wissenschaft
treiben. Dies Vorurteil ist ein ,, Vorurteil" im Sinne eines a priori,
wie Kant es lehrt.
Auch gibt es ja außerhalb der Wissenschaft kein Lebens-
Problem, das mit dem von Simmel gestellten identisch wäre,
und wenn also sein Lebensproblem auf seinem Wege unlösbar
bleibt, so zeigt das doch nur, daß wir bei seinen Gedanken in
der Wissenschaft nicht Halt machen können. Grade dieser
Versuch, der uns in die Tiefe der Probleme geführt hat, weist
uns zugleich darauf hin: in der hier eingeschlagenen Richtung
kommt die Wissenschaft nicht weiter. Das aber heißt: für den
theoretischen Menschen bedeutet Simmeis Philosophie des Lebens,
grade weil sie so tief greift und so radikal verfährt, die gründ-
lichste Widerlegung jeder Philosophie des bloßen Lebens,
die es geben kann.
1) Der Konflikt der modernen Kultur. S. 47.
^ 71 -
Das Leben bleibt das Eine und das Denken über das Leben
das Andere. Man kann nicht aus dem Einen und dem Andern
eine unterschiedslose Einheit machen wollen. Auch das wird
gerade bei Simmel deutlich: die Philosophie des reinen Lebens
ist nicht nur Produkt wissenschaftlicher oder überhaupt logi-
scher Ueberlegungen, sondern ruht auch, ja hauptsächlich auf
der Liebe zum lebendigen Leben. Liebe bedeutet für sich
zwar gewiß etwas Herrliches, gibt aber noch kein Fundament
für die Theorie. Erstreben wir eine Wissenschaft vom Leben,
so brauchen vdr feste, unlebendige Lebensformen.
Es ist nicht notwendig, daß wir sie darum im Realen suchen.
Dort können wir sie vielleicht nie finden. Für das Wirkliche
mag der Satz Heraklits, daß alles fließt, seine Geltung behalten,
und insofern ist das Reale auch lebendig zu nennen. Darin
hat die Lebensphilosophie Recht. Alles Wirkliche fließt im
heterogenen Continuum des Inhalts. Um so notwendiger ist
dann aber die Annahme einer „irrealen" Welt der Formen, die
sich nicht wieder als lebendig denken läßt, auch dann nicht,
wenn sie die Welt der Lebensformen ist. Gerade bei ihnen muß
man betonen: Formen des Lebens sind keine lebenden Formen.
Was lebt, ist nicht die Form selbst, sondern das Leben i n dieser
Form.
Nur darüber kann also gestritten werden, in welchem Maße
feste Formen des Lebens bestehen, nicht darüber, ob wir über-
haupt Formen des Lebens als ,, unlebendig" annehmen müssen.
Wäre doch gerade der Begriff der dauernden Lebensveränderung
aufgehoben, falls nicht das, was Voraussetzung jeder Verände-
rung ist, selber sich der Veränderung entzöge und dauerte.
Sonst hörte ja eventuell eines Tages jede Veränderung auf.
Das wird nie geschehen, so wenig wie die Veränderung je an-
gefangen hat. Es gab immer Veränderung, und es wird immer
Veränderung geben. Also sind die Formen jeder Veränderung
unveränderlich.
Das bedeutet in unserem Fall: erst beide, der sich wan-
delnde Lebensinhalt und die wandellose Lebensform, bilden zu-
sammen die lebendige Welt. Die Welt als Ganzes ist nicht
lebendig, sondern das Leben i n der Welt ist lebendig. Es
gibt Leben im All, aber das All selbst ist nicht Leben. Es
- 72 -
kann nicht alles fließen, nicht alles in Bewegung sein. Bewe-
gung ist ein Relationsbegriff und setzt Unbewegtes voraus, im
Verhältnis zu dem etwas sich bewegt. Das sollte man gerade
im Zeitalter der „Relativitätstheorie" nicht vergessen.
Soviel über den Versuch, die Formen des Lebens, die nicht
entbehrt werden können, in das Leben selbst hinzuziehen. Er
wird nie gelingen.
Fünftes Kapitel.
Das bioiogristische Prinzip.
„Geprägte Form, die lebend sich entwickelt".
Urworte.
Doch braucht man deshalb, weil auf den bisher betrach-
teten Wegen eine Lebensphilosophie nicht zu gewinnen ist, noch
nicht an der Möglichkeit jeder Lebensphilosophie überhaupt zu
verzweifeln. Nur zum Teil werden die Lebenstendenzen unserer
Zeit von der außerwissenschaftlichen Vorliebe für das unmittel-
bare und anschauliche Leben gegenüber allem Abgeleiteten und
Begrifflichen getragen. Mit der bloßen Anschauung ist beim
Denken nichts anzufangen. Daher reicht das intuitive Prinzip
für sich allein zum Aufbau einer Lebensphilosophie nicht aus.
Das hat auch Simmel gesehen. Es geht nicht ohne Lebensform.
Aber weil er den Lebensbegriff allumfassend nahm und seine
Lebensphilosophie zu einer Metaphysik des Lebens steigerte, die
jede Form wieder im Lebensstrom untergehen ließ, mußte er
scheitern.
Ist man dagegen weniger anspruchsvoll, so wird man viel-
leicht weiter kommen, und die eigentliche Modephilosophie
unserer Zeit macht in der Tat weniger Ansprüche. Sie greift
zu festen Formen, um aus dem erlebten Leben eine Lehre
vom Leben zu machen, und sie meint, jeder Gefahr, sich vom
Leben zu entfernen, entronnen zu sein, falls sie sich dabei nur
an die Wissenschaft vom vitalen Leben oder von den Organis-
men, also an die Biologie hält. Diese Disziplin lehrt uns die
festen Lebensformen kennen, und wie sollten diese Formen
- 73 -
als Formen des I,ebens nicht Leben sein? So kommt man zur
Philosophie des Lebens.
Die Grundlagen der Biologie spielen nicht allein in der empiri-
schen, sondern aucli in der metaphysischen Lebensauffassung,
nicht nur in dem theoretischen, sondern auch in dem prakti-
schen Teil der modernen "Weltanschauung, eine große, ja ent-
scheidende Rolle. Solchen Gedanken haben wir uns jetzt zu-
zuwenden, um zunächst ihre Bedeutung als Philosophie zu ver-
stehen. Dann können wir auch zu d e r Lebensphilosophie kri-
tisch Stellung nehmen, in der wir die eigentliche Mode der Zeit
sehen müssen. Das Vorangegangene bildet dazu nur die Vor-
bereitung.
Wir kommen mit der Philosophie der biologischen Lebens-
formen schon deshalb auf einen neuen Boden, weil wir die ver-
wirrende Fülle der „Erlebnisse" jetzt mit einem Sehlage los
sind. "Wir erhalten ein Prinzip der Auswahl, das der
intuitiv gerichteten Lebensphilosophie fehlt und fehlen muß.
Im organischen Leben der Pflanzen und Tiere, zu denen auch der
Mensch gehört, haben wir das, worauf es in der Lebensphilo-
sophie eigentlich ankommt, das lebendige Leben im Unterschied
von der toten Natur. So wird der weite und unbestimmte
Lebensbegriff verengert und damit erst in Wahrheit zum Begriff
gemacht. Mit den Erlebnissen überhaupt in ihrer Gesamtheit
hat es die Naturwissenschaft von den Organismen ja nicht zu
tun. Sie handelt nur von dem Teil der Welt, den wir in all-
gemein verständlicher und üblicher Weise „lebendig" nennen,
im Gegensatz zu dem Teil, mit dem es die Physik, die
Chemie, die Astronomie zu tun haben. Wegen der großen Viel-
deutigkeit der Ausdrücke Leben und lebendig, wollen wir zur
Bezeichnung dieses Lebens, wo Mißverständnisse möglich sind,
vom vitalen Leben reden. Man wird verstehen, daß das
keinen Pleonasmus bedeutet.
Zugleich verstehen wir auch, warum sich mit den biologi-
schen Begriffen die allgemeinsten Tendenzen der intuitiven
Lebensphilosophie, d. h. das Verlangen nach Anschaulichkeit
und Unmittelbarkeit verknüpfen. Die Physik, besonders als
mechanische Naturauffassung, gibt viel weniger von dem, was
wir unmittelbar und anschaulich erleben, als die Biologie.
- 74 -
Man kann die Naturwissenschaften geradezu danach an-
ordnen, wie weit sie sich von dem Inhalt der Erlebniswirklichkeit
entfernen. Je umfassender ihre Theorien sind, um so weniger
nehmen sie von der Fülle des Besonderen in sich auf. Was in
einen rein mechanischen Begriff eingeht, läßt sich überhaupt
nicht mehr unmittelbar „anschauen", falls man den Begriff des
Unmittelbaren nicht so erweitern will, daß er auch das isoliert
gedachte Quantitative mit umfaßt. Die Chemie steht der Un-
mittelbarkeit der anschaulichen Erlebniswirklichkeit schon näher,
und vollends ist der Inhalt der biologischen Begriffe dem In-
halt dessen, was wir intuitiv erleben, mehr verwandt.
Das braucht nicht genauer ausgeführt zu werden. Es ge-
nügt der Hinweis darauf, daß der wissenschaftliche Mensch
selber ein Lebewesen ist, wie die Biologie es erforscht, und
nichts unmittelbarer zu erfassen vermag als sich in seiner un-
mittelbaren vitalen Lebendigkeit. Schon daraus verstehen wir,
warum die intuitive Richtung des Denkens sich leicht mit der
Orientierung an der Biologie verknüpft. Ob das in Wahrheit
berechtigt ist, fragen wir zunächst nicht. Es gilt hier nur zu
verstehen, wie die Verbindung von Biologie und Intuitionismus
zustande kommt.
Doch bedeutet das zugleich nur die eiae Seite der Sache.
Soll aus der Lebenslehre, die an" der Biologie orientiert ist,
Philosophie, d. h. universale Wissensehaft vom Weltall
werden, so muß man nach der vollzogenen Beschränkung auf
Begriffe, die sich auf einen Teil der Welt beziehen, das Gebiet
auch wieder erweitern. Die auf dem Boden der Biologie gefun-
denen Einsichten sind auf andere Sphären, wenn möglich auf
das Ganze, zu übertragen. Sonst kommt man nicht zu einem
wahrhaft kosmischen Denken. Es ist also nötig, daß man das
Weltall biologisiert, falls eine „Weltanschauung" auf bio-
logischer Grundlage entstehen s^ll. Di? biologische Form wird
zur Lebensform überhaupt und dann zur Weltform gemacht.
Deswegen trägt die Lebensphilosophie unserer Zeit, soweit sie
sich nicht auf den Intuitionismus zurückführen läßt, meist den
Charakter des naturalistischen Biologismus.
Auch das Wort Vitalismus wäre für sie geeignet, doch hat
dieser Ausdruck eine engere und allgemein festgelegte Bedeu-
— /o —
tung. Wir sprechen daher, wo [Mißverständnisse möglich sind,
von der biologistischen Modephilosophie.
Ihr Wesen kommt freilich, ebenso wie das des Intuitionis-
mus und die außerwissenschaftliche Lebensliebe, nicht allen
ihren Vertretern zum Bewußtsein. Ja, einige von ihnen würden
es wohl entschieden bestreiten, daß sie biologische Kategorien
zu Weltallkategorien machen wollen. Bei der Darstellung der
Zeitphilosophie wurde deswegen absichtlich nicht von Biologis-
mus gesprochen. Das Aufzeigen des biologistischen Prinzips oder
der Gleichsetzung von biolog'scher Form mit Lebens- und Welt-
formen überhaupt, liegt schon auf dem Weg zur Kritik der
Lebensphilosophie. Der Biologismus als Weltanschauung ist nur
dort möglich, wo man den engeren, spezialwissenschaftlichen
Lebensbegriff nicht von dem scheidet, nach dem alles, was wir
„erleben", zum Leben gerechnet wird. Auf der Vermengung
der beiden Formen des Lebens beruht, abgesehen von der Hin-
einziehung des intuitiven Momentes, geradezu das Prinzip
des Biologismus. Die Sprache trägt mit dem vieldeutigen Wort
Leben dazu bei, es zu verdecken, und bildet so eine wesent-
lich 2 Stütze der modernen Lebenstendenzen.
Es ist also für den Biologismus charakteristisch, daß die
verschiedenen Bedeutungen, die das Wort Leben hat, darunter
auch die, welche ihm heute den Zauber verleihen, bei seiner
Verwendung m i t kli.igen, daß aber zugleich alle Lebensbegriffe
ihre besondere Färbung durch das naturwissenschaftlich
biologische Denken erhalten. Man glaubt, das erlebte Leben
in seiner Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit und irrationalen An-
schaulichkeit sei die eigentliche Wirklichkeit, und man meint zu-
gleich, die Biologie allein als Wissenschaft von der lebendigen, d. h.
organischen Natur sei mit ihren Lebensformen dazu berufen,
die Begriffe für die gesamte Philosophie zu liefern und damit
eine Philosophie des Lebens als universale Wissenschaft nach
allen Seiten hin auszubauen.
Wenn man hierauf achtet, rücken manche scheinbar durch
eine weite Kluft getrennte Richtungen in der Philosophie unserer
Zeit einander überraschend nahe. Es wird nun möglich, von
einer einheitlichen Modephilosophie zu sprechen.
In ihr biologistisches Formprinzip haben wir uns zunächst noch
- 76 -
mehr hineinzudenken, um es in seinen verschiedenen Ausgestal-
tungen kennen zu lernen, und dann kritisch zu ihm Stellung zu
nehmen.
Damit wir ganz verstehen, was der Biologismus als Welt-
anschauung bedeutet, und warum das biologische Prinzip philo-
sophisch brauchbar erscheint, obwohl es einer SpezialWissenschaft
entnommen ist, erinnern wir uns auch an die besondere Be-
deutung von Weltanschauung, welche die ,, Lebensanschauung"
mit einschließt, und auf Grund deren wir sagen, daß die Philo-
sophie den ganzen Menschen angeht, d. h. nicht nur den denken-
den, sondern auch den wollenden und handelnden.
Ueberall, wo man nach einer Weltanschauung in diesem
Sinn sucht, ist der zentrale Begriff, an dem man sich orientiert,
der eines Wertes oder der eines Gutes als einer Wirklichkeit,
die nicht darin aufgeht, da zu sein, sondern an der ein Wert
haftet, um dessentwillen sie sein soll. Man will mit anderen
Worten in der Philosophie den „Sinn" des menschlichen Lebens
kennen lernen, und dieser Sinn läßt sich nur dadurch deuten,
daß man die Werte zum Bewußtsein bringt, die ihm zugrunde
liegen. Werte allein verleihen dem Leben Sinn, und eine Philo-
sophie, die Lebensanschauung geben will, muß daher Wert-
lehre sein.
Hiervon macht die biölogistische -Modephilosophie keine
Ausnahme, wenn sie auch das Wort Wert in manchen ihrer
Formen nicht liebt und vollends über den B e g r i f f des Wertes
und seinen Unterschied vom Begriff des Wirklichen, das als nur
Wirkliches wertfrei ist, keine Klarheit besitzt. Sie möchte sogar
Imperative für das Leben aufstellen, also die Lebensformen
zugleich als Lebensnormen verwenden, und das läßt sich ohne
Werte, die gelten, und an denen die Normen gemessen werden
können, nicht ausführen. Es ist für den modernen Biologismus
sogar besonders charakteristisch, daß er im Leben nicht nur
das wahrhaft erlebte und deshalb wahrhaft wirkliche Sein, son-
dern zugleich das Gut aller Güter sieht, das allein die wahr-
haft gültigen Werte trägt. Alle Werte also, die gelten sollen, sind
als Lebensw'erte zu erweisen, d. h. als Werte, die am Leben
haften, bloß darum, weil es Leben ist.
Erst, wenn wir auch hierauf ausdrücklich die Aufmerksam-
- 77 -
keit lenken, verstehen wir die Beliebtheit und die weite Ver-
breitung der Meinung ganz, daß nur mit Hilfe einer an der
Biologie orientierten Lebensphilosophie wir endlich zu einer wahr-
haft wissenschaftlichen Weltanschauung kommen werden, die
sowohl die Seinsprobleme als auch die "Wertprobleme zu lösen
vermag. Der Biologismus gibt nicht nur eine theoretische, son-
dern auch eine praktische Philosophie.
"Wo man nun für die „praktische'' Seite des Biologismus
nach einer wissenschaftlichen Begründung sucht, bieten sich vor
allem die Begriffe des aufsteigenden und des nieder-
gehenden Lebens dar. Blühen und Verwelken sind die bei-
den einander entgegengesetzten Formen, die jedes lebendige
Leben zeigt, und aus ihnen sind die Lebensnormen zu gewinnen.
Leben ist mit anderen Worten stets mehr oder weniger
lebendig. Es kennt graduelle Abstufungen und unterscheidet
sich dadurch vom Toten, das nicht mehr oder weniger tot sein
kann, falls es nicht zugleich noch irgendwie lebendig ist. Im
Lebendigen und nur in ihm gibt es Komparative in zwei
Richtungen : höher oder niedriger, steigend oder sinkend.
Das Tote kennt solche Gegensätze seiner Formen nicht, und ge-
rade dieser Umstand wird für die Philosophie des Lebens als
Lebensanschauung oder als ,, praktische" Philosophie grundlegend.
Das aufsteigende, sich entfaltende, emporblühende Leben allein
ist wahrhaft lebendig. Es soll daher sein, während das nieder-
gehende, sinkende und verwelkende nicht sein soll, negativ wert-
haft oder wertfeinhch ist, da es zum Tode führt.
In diesem Gegensatz der Lebensformen glaubt man einen
rein biologischen Wertgegensatz zu haben, und man wird
darin durch den Umstand bestärkt, daß man dafür auch die
naturwissenschaftlich klingenden Namen der Gesundheit
und Krankheit verwenden kann. In der Steigerung des
gesunden Lebens ruht das biologisch begründete Ideal, der
„natürhche Wert'', ohne den eine umfassende Philosophie, die
nicht allein das Weltobjekt, sondern auch die Stellung des Sub-
jektes zur Welt verstehen ^\^ll, nicht auskommt. So wird die
feste Lebensform zur Lebensnorm, an der alle Normen zu messen
sind, und nun kann man glauben, sich dem Leben gegenüber
Richtung gebend und Wege weisend nur in der biologisch natur-
- 78 -
wissenschaftlichen Sphäre zu bewegen.
Zunächst wendet man die Lebensform als Norm auf das
einzelne Individuum an. Seine Lebendigkeit oder Gesundheit
ist sein natürliches und zugleich philosophisch begründetes Lebens^
ziel. "Wer auf das aufsteigende Leben nicht den Schwerpunkt
legt, muß ein Entarteter genannt werden. Er sollte nicht leben.
Sein Untergang bedeutet ein Glück wie die Ausmerzung alles
Krankhaften. Der Philosoph ist zum Arzt geworden. Dieser
allein hat zu bestimmen, was gut und böse ist. Die Grund-
begriffe einer umfassenden Lebensethik müssen sich von
hier aus ableiten lassen.
Bei dem einzelnen Individuum aber kann es nicht sein Be-
wenden haben. Wenn alles auf die Förderung der Gesundheit,
auf das Maximum der Lebendigkeit ankommt, dann gibt es
auch für die menschliche Gattung kein anderes als dies bio-
logisch begründete Lebensziel. Die Gesellschaft, das Vofk,
eventuell die ganze Menschheit, sie sollen möglichst lebendig
leben. Ja, erst die Gattungsgesundheit ist in Wahrheit das
höchste Gut, weil ohne sie auch die Individuen nicht richtig leben
können. Was wir zu tun haben, um den Gattungs- oder Mensch-
heit sf ortschritt in der Richtung der größten Lebendigkeit oder
Vitalität zu fördern, das ist die Frage aller Fragen, das Grund-
problem der Lebensanschauung, von dessen Lösung schließlich
die gesamte Weltanschauung abhängt, und die Antwort kann
selbstverständlich wieder nur eine biologisch orientierte Philo-
sophie geben. Als Gattungshygiene erreicht sie ihre höchste
Bestimmung.
So verstehen wir, wie aus den Lebensformen der Biologie
sich eine Philosophie des Lebens entwickelt, die diesen Namen
verdient. In dem vermeintlich naturwissenschaftlichen Lebens-
begriff der Gesundheit besitzt sie das Prinzip, welches wir
bei den anderen Arten der Lebensphilosophie vermissen.
Doch Hygiene im eigentlichen Sinn des Wortes kann sie
nicht bleiben. Hat man einmal in der Lebensform der gesunden,
aufsteigenden, lebendigsten Vitalität den entscheidenden Lebens-
wert gefunden, so muß man von hier aus die Normierung auch
auf solche Gebiete erstrecken, deren Werte üblicherweise keine
biologisch kUngenden Namen führen.
— 79 -
Nehmen wir, um an eines der bekanntesten Beispiele zu er-
innern, das Gebiet der Politik, und denken wir an die biologische
Lehre, daß das Vehikel alles Fortschrittes die ,,natürhche Aus-
lese" ist. Daraus ergibt sich für den Biologismus die Folgerung:
wo diese Lebensform in ihren Wirkungen gehemmt wird, muß
eine Gesellschaft oder ein Volk notwendig entarten, d. h. in seiner
Lebenskraft und Vitalität zurückgehen. Es kommt also darauf
an, das Naturgesetz der Auslese, das zugleich das Gesetz des
Fortschritts ist, auch im Staate walten zu lassen. Nicht o b
die Politiker von der Biologie etwas lernen können, sondern nur
was sie ihr zu entnehmen haben, steht in Frage. Man weiß,
wie viele Versuche schon gemacht worden sind, mit Hilfe bio-
logischer Lebensformen Staatsideale aufzustellen.
Auch für andere Gebiete hat es an Bestrebungen dieser Art
nicht gefehlt. Die Form des aufsteigenden Lebens gilt schließ-
lich als Formel für den Sinn der gesamten Kultur, und
von biologischen Einsichten hängt daher aller Kulturfort-
schritt ab. Mit den Lebensformen und Lebensnormen der
Biologie hat nicht nur unser Denken, sondern auch unser Wollen,
Fühlen und Handeln zu harmonieren.
Die Zeiten sind also endgültig vorbei, in denen wir Ideale
außerhalb des Lebens suchen durften. Als das geschah, waren
die Menschen Träumer, die lebensfremden Trugbildern nachjagten.
Wissenschaft vom Leben gab es damals noch nicht. Nun ist sie
da, und nun ist der Traum ausgeträumt. Nur dem Begriffe des
aufsteigenden Lebens darf man noch die sittUchen Forderungen
entnehmen, für Liebe und Ehe, Familie und Erziehung. Die
wahrhaft wissenschaftliche Aesthetik hat eine lebendige Kunst
zu verlangen. Auch die Wissenschaften müssen in den Dienst
des Lebens treten. So mag man noch viele andere Kulturgebiete
biologisch erst wahrhaft zu würdigen imstande sein. Sogar der
Glaube an das Uebersinnhche läßt sich durch die Biologie stützen.
Religion gewinnt Existenzberechtigung, sobald sie die Völker im
Kampf ums Leben tüchtig macht.
Kein Wunder, daß es unter diesen Umständen schließlich
nicht an Versuchen fehlt, die so oft lebensfremd gewordene
Philosophie durch die Biologie wieder in die richtigen Bah-
nen zu lenken. Man muß ihr Wesen nur darin erbUcken, daß
- 80 -
sie uns die Welt so denken lehrt, wie es dem aufsteigenden Leben
am förderlichsten ist. Damit begreift dann der Biologismus sich
selber biologisch und schließt seine Lebensanschauung zu um-
fassender "Weltanschauung ab.
So haben wir das allgemeine biologistische Prinzip erfaßt
und aus ihm heraus die früher dargestellten Tendenzen der
Lebensphilosophie, die in ihrer Unbestimmtheit zum Teil viel-
leicht schwer greifbar erschienen, erst gründlich verstanden.
Das entscheidende Moment ist, daß diese Philosophie ein klares
Formprinzip besitzt. Ihre Formen dürfen nur Lebensformen
sein, und diese sind der Wissenschaft vom Leben, d. h. von den
Organismen zu entnehmen. Es gilt, sie so auszugestalten, daß
aus ihnen Formen und Normen für alles Leben und schheßlich
für die Welt entstehen.
Sechstes Ka])itel.
Aelterer und neuerer Biologismus.
„Während es für den Darwinisten überall da
keinen Daseinskampf gibt, wo die Existenz des
Geschöpfes nicht bedroht ist, ist für mich der
Lebenskampf ein allgegenwärtiger: Er ist eben
primär ein Lebenskampf, ein Kampf um Le-
bensmehrung, aber kein Kampf ums Leben!
W. H. Rolph (1881).
Doch diese Aufzeigung des biologistischen Formprinzips in
seiner Allgemeinheit genügt noch nicht, wenn man die Lebens-
philosophie der Zeit ganz durchschauen und so die kritische
Stellungnahme zu ihr vorbereiten will. Sehen wir genauer zu,
so zeigt sich, daß es verschiedene Richtungen im
Biologismus gibt, die sich trotz der gemeinsamen Grundlage
heftig bekämpfen, und erst wenn wir auch auf den Gegensatz
achten, der diesem Streit zugrunde liegt, wird die philosophische
Mode unserer Zeit, die nur eine besondere Form des Biologismus
überhaupt darstellt, sich in ihrem Wesen ganz enthüllen.
Zunächst bringen wir die in sich widerspruchsvolle Mannig-
faltigkeit biologistischer Lebensideale an einem besonderen Bei-
spiel zum Bewußtsein. Charakteristisch dafür ist vor allem die
- 81 -
Ethik oder die praktische Lebensphilosophie, und zwar liegt es
am nächsten, in ihr wieder das schon genannte Gebiet heraus-
zuheben, auf dem die praktische Philosophie besonders „praktisch"
wird, nämlich die Probleme des Staates und der Gesellschaft i).
Welches sind die politischen und die sozialen Ideale des Bio-
logismus, wenn wir ihren besonderen Inhalt betrachten, auf Grund
dessen sie Lebensprogramme bilden?
Es muß auffallen, daß fast jede sozialpolitische Richtung
in der biologistischen Lebensphilosophie ihre theoretische Stütze
gesucht und gefunden hat. Bei einem schematischen üeberblick
darüber, der genügt, um dies zu zeigen, verbinden wir das Be-
griffspaar des Sozialismus und Individualismus mit dem von
Demokratie und Aristokratie. Dann entstehen vier Gruppen von
Tendenzen: die individualistisch-demokratischen, also der ,, Libe-
ralismus'' und das sogenannte Manchestertum, die sozialistisch-
demokratischen, die im Marxismus (selbstverständlich nicht bei
Marx selbst) ihren interessantesten Ausdruck gefunden haben, die
individualistisch-aristokratischen, deren bekanntester Wortführer
Friedrich Nietzsche ist, und endlich die Bestrebungen, deren Ver-
treter sich selber als Sozial-Aristokraten bezeichnen ^).
Jede dieser vier Richtungen muß die andere bekämpfen
und tut es. Aber in einem Punkte herrscht trotzdem Ueber^^
einstimmung: drei von ihnen haben die Geltung ihrer Ideale aus-
drücklich auf die moderne Biologie zu gründen versucht, und
bei der vierten, d. h. bei Nietzsche, kann man leicht zeigen, daß
1) Einen Teil der folgenden Darlegungen habe ich vor un-
gefähr zwanzig Jahren in der Zeitschrift „Der Lotse" veröffent-
licht. Bei der Entwicklung, die die Lebensphilosophie genommen
hat, scheinen sie mir noch nicht veraltet. Nur war damals „das
Leben" noch nicht so sehr Modewort wie jetzt. Ich habe daher
früher zum Teil „Natur" geschrieben, wo jetzt Leben steht.
Sachlich ist dadurch jedoch nichts geändert. Ich erwähne dies
nur, weil es zeigt, wie jung die Lebensmode ist, und wie sie eine
besondere Art des Naturalismus darstellt.
2) Diese Richtung ist am wenigsten bekannt, aber im theoreti-
schen Interesse nicht zu übersehen. Sie hat in dem Buch von
Alexander Tille, Von Darwin bis Nietzsche, 1895, und viel-
leicht noch deutlicher in der anonymen, wohl ebenfalls von Tille
verfaßten Schrift: Volksdienst. Von einem Sozialaristokraten,
1893, ihren Ausdruck gefunden.
R i c k e r t , Philosophie d- Lebens. 6
- 82 -
wenigstens für die Entstehung der Gedanken biologische Begriffe
von ausschlaggebender Bedeutung waren.
Niemand hat so ausführlich demokratisch-individualistische
Ueberzeugungen auf dem Boden des evolutionistischen Biologismus
gerechtfertigt wie Herbert Spenzer. Natürliche Auslese und An-
passung sind die Grundbegriffe seiner Ethik, und das allgemeine
Prinzip kann man etwa so andeuten: will man die Entwicklung
des sozialpolitischen Lebens und seine Ziele verstehen, so muß
man selbsterhaltende und arterhaltende Handlungen voneinander
unterscheiden. Zwischen ihnen herrscht vorläufig noch Streit,
da dieser jedoch unlustvoll und schädlich ist, so wird der natür-
liche Ausleseprozeß dahin führen, daß die selbsterhaltenden
Handlungen immer zugleich auch arterhaltende werden, und die
höchste Stufe der Kultur ist dann erreicht, wenn Jeder jeden
Andern nicht nur nicht stört, sondern positiv fördert.
Dieser Zustand aber setzt voraus, daß auch die natürliche
Ungleichheit der Menschen und das durch sie bedingte Ueber-
ragen des Stärkeren immer mehr verschwindet. So muß das
biologisch-politische Ideal demokratisch sein. Doch wäre
jedes Eingreifen in den natürlichen Entwicklungsprozeß verfehlt.
Der Staat hat sich nur um das Recht zu kümmern und die
Bürger gegen juristische Uebergriffe zu schützen. Versucht er.
Organisationen auch des wirtschaftlichen Lebens zu schaff en,welche
die Schwachen künstlich unterstützen sollen, so hält er damit
den natürhchen, biologisch zu begreifenden Entwicklungsprozeß
auf. Fabrikgesetzgebung, staatliche Armenpflege usw. setzen nur
die natürliche Auslese außer Kraft. Was nicht durch eigene Stärke
gedeihen kann, soll nach den Gesetzen der Natur zugrunde gehen.
Das demokratische Ideal eines harmonischen Zusammen-
wirkens von freien, gleichberechtigten Menschen kann nur auf
natürlichem Wege, also nur erreicht werden, wenn es aus der
natürlichen Anpassung hervorgegangen ist. Nur dann wird es
auch dauernd bestehen. Der Sozialismus ist deshalb ein
Unglück. Er glaubt, das soziale Leben bessern zu können, in-
dem er das Grundgesetz alles Lebens: das Fortschrittsgesetz der
natürlichen Auslese durch freie Konkurrenz, in seinen segensreichen
Wirkungen stört oder aufhebt. So muß es zu individualistisch-
demokratischen Idealen kommen.
- 83 -
In den demokratischen Zielen sind die Marxisten mit Spenzer
zwar einig, aber über den Weg, der nach biologischen Prinzipien
zu ihnen hinführt, denken sie genau entgegengesetzt. Freilich,
die natürliche Auslese und die freie Konkurrenz sind die Hebel
alles Fortschritts in der freien Natur. Doch diese darf man
nicht mit der bestehenden Gesellschaftsordnung verwechseln. In
ihr unterdrückt vielmehr eine kleine Minderheit, die sich im Be-
sitz des Kapitals befindet, alles, was an lebenskräftigen Keimen
in den großen Massen zum Lichte ringt. Es wird tot gemacht:
nicht durch das natürliche Recht des Stärkeren, sondern durch
die widernatürliche Brutalität des Erbkapitalismus. Dieser setzt
für die Menge des Volkes das Gesetz der Auslese außer Kraft,
ja nicht einmal in den Kapitalistenkreisen kann man noch von
natürlicher Auslese reden, denn hier ward künstlich aufgepäppelt,
was krank und schwach ist und zugrunde gehen sollte. Eine
Anpassung erfolgt auch hier, aber an ein unnatürliches Milieu,
und so verkehrt sich der natürliche Fortschritt notwendig in sein
Gegenteil.
Nach biologischen Prinzipien gibt es nur ein Mittel, die
natürüchen Verhältnisse wieder herzustellen: befreit die Mensch-
heit von ihrem Erbfeinde, dem Erbkapital. Gebt allen den
gleichen Anteil am Kollektiveigentum und die gleiche ]^löglich-
keit zur Betätigung ihrer Kräfte, wie jedes Tier in der freien
Natur sie hat, wo Luft und Sonne, Futter und Wohnung allen
gehören. Dann allein herrschen die Bedingungen, unter denen
die Lebewesen von den Protisten bis zu den Menschen fort-
geschritten sind, und ungeahnte Zukunftsherrlichkeiten werden
sich entwickeln. Der Gedanke daran, daß dies revolutionäre
Ideal dem biologischen Prinzip der allmählichen Entwicklung
widerspreche, schreckt die Marxisten nicht. Sie weisen auf bio-
logische Vorgänge, wie z. B. auf den der Geburt hin. Die sozia-
listische Gesellschaftsordnung ist längst „reif" geworden, und
plötzlich, wie der Vogel die Eierschale durchbricht, wird sie ans
Licht treten. Den Leitern des Staates fällt dabei die Rolle des
Geburtshelfers zu.
Es ist nicht nötig, noch andere Punkte des sozialdemokra-
tischen Biologismus hervorzuheben, wie den Kampf gegen die
stehenden Heere, welche die Auslese mit Rücksicht auf das ge-
- 84 -
schlechtliche Lebsn stören, die kräftigsten Individuen in den besten
Jahren von der Zeugung fernhalten, sie der Prostitution zu-
treiben, sie unfruchtbar machen usw. ' Stets handelt es sich
darum, daß die moderne Kulturentwicklung den Ausleseprozeß
hemmt und deswegen vom biologischen Standpunkt zu verurteilen
ist. Das mag genügen, um die sozialistisch-demokratischen Ideale
des Biologismus zu charakterisieren.
Die Demokratie hat keinen leidenschaftlicheren Feind gehabt
als Nietzsche, aber wie eng hängt auch sein radikal-aristokra-
tisches und individualistisches Ideal des Uebermenschen nicht
nur mit dem allgemeinen Lebensprinzip überhaupt, sondern auch
mit der modernen Biologie im Besondern zusammen. Man lese
die wenigen Verse des Zarathustra, mit denen die Lehre vom
Uebermenschen eingeführt wird. Dann sieht man, wie der Ge-
danke eines über den Menschen hinaus sich entwickelnden Wesens,
den man übrigens als Hoffnung auf ,,Supravertebraten'' auch bei
dem bekannten Biologen Ramon y Cajal finden kann, mit bio-
logischen Gedanken in Verbindung steht. Auch führte schon der
junge Nietzsche gegen die von Strauß mit der Biologie noch für
verträglich gehaltene Humanitätsideale ausdrücklich und bewußt
biologische Begriffe ins Feld, um seine aristokratische Lebens-
auffassung zu rechtfertigen, und an diesen Ideen hat er fest-
gehalten.
Der Stärkere soll über den Schwächeren herrschen, so will
es die Natur, unsere Lehrmeisterin. Die natürliche Ungleich-
heit ist das Vehikel alles Fortschritts, und jede Sklavenmoral,
die das Recht des ,, Herrn" in Frage stellt, bedeutet daher Nie-
dergang und Verderbnis. Auf das einzelne, überragende Indi-
viduum kommt es an, ja manchmal klingt es so, als wolle
Nietzsche es nach biologischen Prinzipien züchten. Jedenfalls:
unter dem Zeichen der ,, Rückkehr zur Natur" stehen diese Ge-
danken , nur daß es nicht die idyllische , harmonische Natur
Rousseaus, sondern die Kampfnatur der modernen Biologie ist.
Von ihr aus verwirft Nietzsche Demokratie und Sozialismus.
Freilich gibt es auch sozial lebende Tiere , aber in ihrer Her-
dennatur steckt nichts Großes. Zarathustras Lieblinge sind die
Adler und die Löwen, und will man sich wundern, daß, wenn
überhaupt die lebendige Natur der Wertmaßstab sein soll, er
- 85 -
sich gerade diese Lebewesen als Vorbilder aussucht? Ist der
Individualismus nicht ebenso konsequent aus der Biologie ent-
wickelt-wie die demokratischen Ideale Spenzers und der Marxisten ?
Die Sozialaristokraten endlich können sich, soweit das Aristo-
kratische in Betracht kommt , auf Nietzsche stützen , aber sie
kehren wieder mehr zum Herdenideal zurück. Nietzsche hat, so
meinen sie, darin Recht, daß die Demokratie der Tod alles bio-
logischen Fortschrittes wäre. Insbesondere die christlich-demo-
kratische Nächstenmoral, die Caritas, die mitleidig jedem helfen
will, steigert durch ihre Schwäche nur Elend und Verkommen-
heit, weil sie die natürliche Auslese hemmt. Trotz des aristo-
kratisch-biologistischen Prinzips dürfen wir aber nicht die ver-
einzelten Individuen, sondern nur die Gattungen ins Auge fassen
und müssen daher eine Gesellschaftsordnung zerstören, in der nur
dem degenerierten Erbkapitalisten alles offen steht, dem lebens-
kräftigsten Proletarier dagegen jeder Weg zur Höhe verschlossen
ist. Wir sollen also doch einander helfen, nur nicht dem „Näch-
sten", wie das demokratische Christentum es will, sondern dem
Besten, damit so die Gattung in die Höhe kommt. Das Leben
ist, wie die Biologie zeigt, notwendig Kampf. Doch nicht allein
die Individuen kämpfen miteinander, sondern vor allem die Ras-
sen, die Gruppen, die Völker, und deswegen müssen nicht so
sehr aristokratische Individuen, als vielmehr aristokratische Staa-
ten und Gesellschaften unser Ziel sein.
So entsteht die Vereinigung des Sozialismus mit der Aristo-
kratie auf biologistischem Boden. Je höher ein Volk als Ganzes
durch die soziale Auslese sich hebt, je mehr durch das Walten
des natürlichen Fortschrittsgesetzes sein Durchschnittsniveau
steigt, um so höher werden auch die Spitzen des Volkes, die
großen Individuen, ragen. Diese Ansichten liegen gewissermaßen
zwischen denen der Mai-xisten und Nietzsches, zugleich beide be-
kämpfend, und bilden den diametralen Gegensatz zu Spenzers
individualistischer Demokratie. Auch darauf sei noch hingewdesen,
daß , während bei den drei anderen biologistischen Richtungen
ein ausgesprochen internationaler Zug vorherrscht, die Sozial-
aristokraten die Nation in den Vordergrund stellen. Es wird
z. B. der Versuch gemacht , die Deutschen als das eigentliche
Aristokratenvolk von Lebewesen besonders in einen Gegensatz
— 86 —
zu den Franzosen zu bringen, die infolge des jedem Auslese-
prinzip hohnsprechenden praktischen Malthusianismus dem bio-
logischen Untergang geweiht sind.
Die flüchtige Skizze, die überall nur den entscheidenden
Punkt andeuten sollte, kann genügen, um zu zeigen, wie bunt
die Bestrebungen aussehen, die dem Versuche entsprungen sind,
aus den Begriffen der modernen Biologie Ideale • für das Leben
abzuleiten. Wir stehen vor einem merkwürdigen Schauspiel: ein
biologisch orientierter Denker beweist immer das Gegenteil von
dem, was der andere aus den Lehren der Biologie für die Sozial-
politik folgert. Nicht nur die Mittel zur Erreichung der Ziele,
die sich auf das wirtschaftliche Leben beziehen und dann ent-
weder zu individualistischen oder sozialistischen Tendenzen
führen, sondern auch die Ziele selbst stehen in schroffem Gegen-
satz zueinander. Das Ideal wird hier aristokratisch, dort demokra-
tisch, und beides soll die Konsequenz biologistischer Theorien sein.
Besonders für die Uneinigkeit in der Zielsetzung, also für
den Kampf der ,, aristokratischen" mit den „demokratischen" Ten-
denzen, die hier im weitesten Sinn zu nehmen sind, müssen wir
nun die Gründe kennen lernen , insofern sie mit Verschieden-
heiten innerhalb der biologischen Begriffe zusammenhängen. Im
Anschluß daran wird dann zu konstatieren sein: es gibt eine
ältere Richtung des Biologismus, die besonders bei Spenzer
und den an Darwin orientierten Marxisten zutage tritt, und die
heute nicht mehr als ganz zeitgemäß gelten kann. Ihr ist end-
lich der eigentlich moderne Biologismus entgegenzustellen, dem
wenigstens mit einem Teil ihrer Gedanken die Modephilosophen
unserer Zeit, wie Nietzsche und Bergson, angehören. Um sie ganz
zu verstehen und zu beurteilen, werden wir jedoch auch die äl-
tere Richtung noch genauer kennzeichnen, denn es ist nicht nur
durch den Gegensatz zu ihr die neue Strömung besonders klar
zu machen, sondern es spielt die ältere Tendenz zugleich in die
neue noch immer hinein. Die begriffliche Scheidung erfolgt hier,
ebenso wie die Trennung von Intuitionismus und Biologismus
überhaupt, im Interesse einer kritischen Stellungnahme.
Es hat Lebensphilosophie gegeben, lange ehe das Wort Le-
ben Modeschlagwort war. Sie ging von den Theorien Darwins
aus, und wir dürfen den älteren Biologismus kurz dai^winistisch
— 87 -
nennen, obwohl er nicht von diesem großen Naturforscher selbst,
sondern von anderen Denkern auf Grund der Biologie Darwins
ausgebildet worden ist. Soll auch Darwins Bedeutung für diesen
Zusammenhang deutlich werden, so müssen wir fragen, wie es
kam, daß seine spezialwissenschaftliche Theorie überhaupt zu
philosophischen Konsequenzen führte. Dabei ist wichtig, daß er
seine Lehren nicht allein im Anschluß an die Natur, sondern zu-
gleich im Zusammenhang mit der Bevölkerungstheorie von Mal-
thus entwickelte. Er knüpfte nämlich damit an Begriffe an,
die sich von vornherein auf menschliches Kulturleben bezogen.
Deshalb fiel es nicht schwer, seine bio'ogischen Lehren wieder
auf das Kulturleben zurück zu übertragen, also mit ihnen Fra-
gen des wissenschaftlichen, sittlichen, künstlerischen Lebens in
Angriff zu nehmen, die als philosophische Fragen gelten.
Zum Verständnis ist nur noch an eine bekannte Tatsache
zu erinnern. Nach Malthus steht die Zunahme der Bevölke-
rung in ungünstigem Verhältnis zur Zunahme der Nahrungsmittel.
Darauf wurde Darwin aufmerksam, als er die „Entstehung der
Arten" zum Problem machte, und er suchte nun die Verände-
rungen im Reiche der Organismen, die es zu erklären galt, auf
den Kampf um die Nahrung zurückzuführen, der überall ein-
treten muß , wo Lebewesen sich regen , wenn auch das Wort
„Kampf" bei Pflanzen selbstverständlich nur in übertragener Be-
deutung zu brauchen ist. So wird das Prinzip von Malthus er-
weitert und auf die gesamte organische Natur angewendet. Da
nicht allein in der Menschen-Welt, sondern bei zunehmender Menge
der Lebewesen überall auf die Dauer nicht genug Nahrungsmit-
tel vorhanden sind, entsteht der vielgenannte ,, Kampf ums Le-
ben", oder wie man in Deutschland gewöhnlich übersetzte, ums
„Dasein", was zeigt, daß damals „Leben" noch nicht Schlag-
wort der Mode war. Sonst hätte man sich den Ausdruck life nicht
entgehen lassen. Sachlich kommt es darauf an, daß die Indi-
viduen sich am besten im Leben oder Dasein erhalten, die den
Bedingungen, unter denen sie existieren , am besten angepaßt
sind und dadurch am erfolgreichsten den Kampf um die Nah-
rung zu führen vermögen. Dasselbe gilt von den Gattungen.
So entstehen die Arten durch natürliche Auslese, indem die am
besten angepaßten allein übrig bleiben. Kurz, die Entstehung
— 88 —
der Arten wird, wie es schon im Titel von Darwins Hauptwerk
präzis angegeben ist, begriffen durch den Gedanken an die Er-
haltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Leben.
Betrachten wir nun die philosophische Bedeutung dieser
Theorie, so steckt sie besonders im Ausleseprinäp, und es ist
zu bemerken, daß es trot^ seiner biologischen Verwendung einen
mechanistischen Charakter trägt. Grade dieser Um-
stand verschaffte ihm im alt 3ren Biologismus sein philosophisches
Ansehen. In abstrakter Formulierung ist das Prinzip uralt und
schon früh mit der antiteleologischen Tendenz benutzt worden,
die Annahme wirkender Naturzwecke überflüssig zu machen.
Es scheint hiermit das größte Hindernis hinweggeräumt, das
einer einheitlichen Erklärung des Weltganzen im Wege steht.
An dem Reich der offenbar zweckmäßigen Organismen, glaubte
man, müsse der Mechanismus scheitern. Der Begriff der na-
türlichen Auslese und der durch sie bedingten Anpassung haben
diesen Stein des Anstoßes beseitigt.
Allerdings, so sagt man, sind die Organismen zweckmäßig,
aber das wird verständlich ohne wirkenden Zweck, und nur
dieser bringt in den Naturmechanismus störende teleologische
Elemente. Ohne Absicht entsteht eine Fülle der verschieden-
sten Gebilde, von denen „zufällig" einige angepaßt sind. Nur
diese leben und pflanzen sich fort, während die andern notwen-
dig zugrunde gehen. Organismen erhalten sich also nicht des-
halb, weil unbekannte und naturwissenschaftlich unbegreifliche
Kräfte sie zweckmäßig bilden, sondern wir nennen das zweck-
mäßig, was unter der Menge der verschiedensten, mechanisch
entstehenden Formen grade so geworden ist, daß es bestehen
bleiben konnte. Wo dann der Kampf ums Dasein die natür-
liche Auslese vornimmt, müssen die Organismen „von selbst"
auch immer angepaßter und zweckmäßiger werden.
Hieraus verstehen wir, wie [blind [mechanische Kräfte die
Welt des scheinbar Absichtlichen und Planvollen hervortreiben.
Nichts steht hiernach mehr der ^Durchführung [einer mecha-
nistischen Weltanschauung entgegen. |Wir haben nur in jeder
Wirklichkeit, die eine wirkende Vernunft zu bezeugen scheint,
ein Selektionsprodukt zu erblicken. Auch der „Geist" ist dann
begriffen als natürliche Natur: der Kampf ums Dasein muß
— 89 —
durch natürliche Auslese Schritt für Schritt das Vernünftige
aus dem Unvernünftigen hervorbringen.
Aber das ist nur die eine philosophische Seite dieses na-
turalistischen Biologismus, seine seinswissenschaftliche. Die an-
dere hängt damit eng zusammen. Auch die Werte, an die
der Mensch glaubt, und die Ziele, die er seinem Lpben und Han-
deln steckt, hatten bisher keinen Zusammenhang mit der na-
türlichen Wirklichkeit. Sie schwebten also haltlos in der Luft.
Ja, man mußte das natürliche Leben geradezu herabsetzen, um
überhaupt einen Sinn des Lebens zu gewinnen: das natürliche
galt als das böse Prinzip. Der Mensch steht unter dieser Vor-
aussetzung als trauriger Fremdling in der ihn umgebenden Welt.
Jetzt hat das Prinzip der natürlichen Auslese auch in dieser
Hinsicht Wandel geschaffen. Wir erkennen , daß die ewigen
Gesetze, die im Kampf ums ir>asein das Unvollkommene aus-
merzen, die Welt mit Notwendigkeit ihrem Wahren Ziel zu-
führen und immer vollkommener gestalten. Das Naturgesetz ist
zugleich das Gesetz des Fortschritts. Die natürliche Entwick-
lung bedeutet Entwicklung zum Guten. Lassen wir nur die Aus-
lese ungestört Walten, dann muß immer das entstehen, was sein
soll. Wir brauchen daher die alten Werte nicht mehr, an die
der naturfremde Mensch sich klammerte, um seinem Leben Be-
deutung zu verschaffen. Der mechanistische Biologismus hat
uns die köstliche Gewißheit gegeben, daß die Natur oder das
Leben selbst uns mit sicheren Händen zu immer höheren Stufen
der Vollendung trägt. Nur das Angepaßte erhält sich, ja alles
Angepaßte muß sich erhalten. Das Unzweckmäßige, das stört,
wird immer mehr ausgeschaltet, und die natürliche Entwick-
lung treibt daher von selbst einem Zustand der Harmonie und
des Ausgleichs zu. Leben ist ein sich selbst regulierender Mecha-
nismus. Es ist zweckmäßig, weil es mechanisch ist wie eine
Maschine.
Jetzt ist, damit wir das Prinzip des älteren Biologismus
ganz verstehen, nur noch nötig, das Naturgesetz, das zugleich das
Fortschrittsgesetz darstellt, so zu formulieren, daß es auch eine
praktische Anwendung ermöglicht oder zur Norm für den
Willen wird.
Wenn das Angepaßte allein sich erhält und so das Zweck-
— 90 —
mäßige mechanisch von selbst entsteht, dann bedeutet das, daß
die Natur überall nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes
arbeitet, und dies Prinzip scheint sofort eine praktische Konse-
quenz zu ergeben. Es kommt im Menschenleben überall auf
möglichst große Sparsamkeit, auf ein Haushalten mit Lebens-
kräften an, damit wir in der Notlage des Daseinskampfes mög-
lichst lebendig bleiben. Das Prinzip der Lebensökonomie
muß also für die Gestaltung von allem Leben nach mechanisch
darwinisti sehen Auslesegrundsätzen entscheidend sein.
Das führt man in die gesamte Weltanschauung ein, um das
menschliche Leben nach den verschiedensten Richtungen nicht
nur zu v e r s t e h e n als beherrscht vom Gesetz der natürlichen
Auslese, das die Begünstigten im Kampf ums Dasein erhält,
sondern nach demselben Gesetz zugleich auch zu regeln. Bei-
spiele werden besser als allgemeine Ausführungen zeigen, welche
Konsequenzen man für das Kulturleben daraus gezogen hat.
Wir wählen dabei Theorien, die radikal sind, auch heute noch
Anhänger haben, ja teilweise in die neuesten Strömungen hin-
einspielen, obwohl sie einem Prinzip entstarmnen, das Denker
wie Nietzsche und Bergson bekämpfen, und zwar kommt es be-
sonders darauf an, zu begreifen, Wie mit dem mechanistischen
Sparsamkeitsgedanken sich das Ideal der Massenvitalität und
infolgedessen ein im ■weitesten Sinn „demokratischer" Zug ver-
knüpft.
Vom darWinistischen Standpunkt hat man, um ein ethi-
sches Problem voranzustellen, die in Europa herrschende Mono-
gamie als unsittlich verurteilt ^). Dadurch, daß man die lebens-
kräftigsten Männer zwingt, mit nur einer Frau Kinder zu zeugen,
versündigt man sich gegen das Prinzip der Lebensökonomie.
Man verhindert, daß genug lebenskräftiger Nachwuchs in die
"Welt gesetzt wird. Nur die Vertreter des lebendigsten Lebens
sollten zur Fortpflanzung gelangen, um so viel Kinder wie mög-
lich zu bekommen. Man kann im Lebenskampf nicht genug Leben
haben. Es gilt also, die Masse des Lebens zu fördern, und zu
diesem Zwecke sind den lebenskräftigsten Männern möglichst
viele lebenskräftige Frauen zur Verfügung zu stellen. Wer nicht
1) Vgl. Christian von Ehren f eis, Sexualethik. 1907,
— 91 —
zur Kräftigung der Rasse beizutragen vermag, ist von der Volks-
vermehrung überhaupt auszuschließen, d. h. er darf nicht hei-
raten und hat sich, damit er keinen Schaden anrichtet, mit
seinen sexuellen Bedürfnissen an unfruchtbare Hetären zu halten.
Deren biologische Unentbehrlichkeit -^rd ebenfalls aus dieser
Weltanschauung begründet.
Die Polygamie gilt jedoch selbstverständUch allein für Männer.
Die fruchtbaren Frauen dürfen nur einen Gatten haben, denn
jede Polyandrie wäre unter dem Gesichtspunkt einer Steigerung
der Lebenskräfte sinnlos. Auf die Mass5 kommt es der Lebens-
ökonomie an, und mehr Kinder könnten auch die lebenskräftig-
sten Frauen von mehreren Männern nicht bekommen als von
einem. Falls das Quantum der Kindererzeugung für die Philo-
sophie des Lebens den gültigen Wertmaßstab bildet, erscheint
diese „sittliche Forderung'* also durchaus plausibel.
Daß die Monogamie kulturelle Vorzüge besitzt, die nicht
rein vitaler Art sind, wird darum nicht geleugnet. Aber diese
dürfen unter biologischen Gesichtspunkten nicht in Frage kom-
men. Jedes Volk hat — der Grund reicht aus — mit anderen
Völkern einen Kampf ums Dasein zu bestehen, und es wird trotz
aller andern Kulturerrungenschaften zugrunde gehen, wenn e%
seinen Konkurrenten nicht an Vitalität überragt. Vor allem
scheint das monogamische Europa zum Untergange verurteilt
im Kampfe mit Asien, wo biologisch begründete Eheordnungen
herrschen.
So ist das Prinzip des „demokratischen" Massenbiqlogismus
klar. Obwohl er auch heute noch Vertreter hat, gehört er der
älteren, darwinistischen Richtung der Lebensphilosophie an.
Dasselbe gilt von der biologistischen Erkenntnistheorie des
Pragmatismus, wie er sich besonders in England und Amerika
gestaltet hat, aber auch in Deutschland Freunde besitzt. Die
Wissenschaft ist unter dem Gesichtspunkt zu verstehen, daß
sie Ersparnis von Lebenskräften bedeutet und so die Vitalität
fördert. Wie die Geburtenökonomie zum Prinzip der Ehe, wird
die Denkökonomie zum Prinzip des Forschens gemacht. Die
Erkenntnis hat ihr höchstes Ziel erreicht, wenn es ihr geUngt,
mit dem geringsten Aufwand von Begriffen auszukommen. So
ist sie als Fortsetzung des Naturprozesses der Anpassung ver-
s
- 92 -
standen. Solche Gedanken allein sind wahr, mit denen wir am
bequemsten die Welt denken oder uns am leichtesten in ihr
orientieren. Der logische Imperativ ergibt sich daraus leicht.
Es gilt, die Wirklichkeit mit einem möglichst einfachen System
von Begriffen zu überspinnen, in dem alles, was von ihr zu
wissen wichtig ist, seinen Platz findet. Damit wnrd, wie Richard
Avenarius i) schon 1876 lehrte, die Philosophie zum , .Denken
der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes/*
Vom Darwinismus abhängig brauchen allerdings solche Ideen
nicht zu sein. Schon Kant meinte, man möchte vielleicht
glauben, die Bildung von Gattungsbegriffen „sei ein bloßer
ökonomischer Kunstgriff der Vernunft, um sich so viel als
möglich :Mühe zu sparen". Zugleich wies er jedoch eine solche
selbstsüchtige Ansicht noch zurück, da die Vernunft hier nicht
bettle, sondern gebiete. Erst im Zeitalter des Biologismus haben
die pragmatistischen Theorien viele Anhänger gefunden, und ihre
am meisten zugespitzte Form zeigt sich Wohl in der Auffassung
der Naturgesetze. Diese sind Wahr, Weil sie viele einzelne Fälle
gleichmäßig umfassen und so mit einem Schlage eine große Fülle
der Ereignisse begrifflich zu beherrschen gestatten. Wir machen
alles gleich, um es sparsam zu denken. Wer das gelernt hat,
wird im Lebenskampf sich am leichtesten erhalten. Alle andere
Wahrheit ist nicht mehr als Aberglaube.
Ins Breite über alles Leben hin ist das demokratische
Massensparsamkeitsprinzip in der „energetischen" Kulturphilo-
sophie ausgedehnt ''). Sie sucht durch ein quantitatives Verhält-
nis von Energiemengen zu bestimmen, worin das Prinzip des
Kulturfortschritts besteht. Je sparsamer die LeJjewesen mit
der Energie umgehen, um so höher wird die Kultur ragen.
1) Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des
kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Ivritik der reinen
Erfahrung, 1876. Die Schrift sollte jeder kennen, der sich für die
Entwicklung der biologistischen Philosophie interessiert. Sie ge-
hört zu den frühesten Kundgebungen dieser noch immer sehr
lebendigen Bewegung.
2) Ihr Vertreter ist der bekannte Chemiker Wilhelm Ost-
wald. Vgl. Max Webers Kritik: „Energetische" Kultur-
theorien, 1909. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik,
Bd. XXIX, S. 575 ff.
— 93 —
Ob Kulturwerte, die in solche, am Verhältnis von Petroleum-
lampe und Gasglühlicht orientierte Formeln sich nicht bringen
lassen, Berechtigung haben, wird nicht gefragt. Es steht
„a priori" fest, daß die echten Güter nur die Mengen der Ener-
gie sein können, die Lebewesen zur Verfügung stehen.
Daß es hier nicht der Begriff des Lebens selbst, sondern
der der Energie ist, an dem die Kulturwerte gemessen werden,
darf über den biologistischen Charakter der Gedanken nicht
täuschen. Mit physikalischen Begriffen allein wäre in dieser
Kulturphilosophie nichts anzufangen. Es müssen stets Lebe-
wesen sein, für deren Leben die sparsame Verwendung von
Energie Bedeutung hat. Erst durch die Lebensförderung also
kommt der Wertgedanke und damit das Kulturprinzip in das
Energieverhältnis. So ruht auch diese Kulturtheorie auf einem
biologischen Fundament, ja man kann sagen, daß wegen der
Armseligkeit des Prinzips, das in dem energetischen Imperativ
steckt, der ökonomische Biologismus hier seine „klassische"
Ausprägung als Kulturphilosophie gefunden ha'. ,, Vergeude
keine Energie, verwerte sie." Das soll an die Stelle von Kants-
kategorischem Imperativ treten! Darstellung und Kritik sind
hier beim besten "Willen nicht zu trennen.
Es ist klar, daß solche Gedanken im Einzelnen zu aben-
teuerlichen Konsequenzen führen können, und doch scheint das
Prmzip, das der älteren Richtung zugrunde liegt, philiströs und
trivial. Das ist nicht hervorzuheben, um damit ein Wert-
urteil auszusprechen, sondern um die Tatsache zu konstatieren
und zu verstehen, daß Viele die Sache so ansehen. Die
Trivialität und der philiströse Nützlichkeitscharakter dieses Bio-
logismus hat nämlich wesentlich dazu beigetragen, eine Opposi-
tion gegen ihn zu entfesseln. Wie weit der biologistische Uti-
litarismus geht, zeigt der Umsland, daß man auf seinem Boden
sogar eine Religionsphilosophie, und zwar eine Rechtfertigung
des Glaubens durch das Oekonomieprinzip versucht hat. Ein
Amerikaner^) meinte, die religiössn Völker müßten im Kampf
1) B. K i d d , Soziale Evolution. 1895. Es ist bemerkens-
wert, daß dies wunderliche Werk das Interesse eines Biologen
vom Range August Weismanns erregte^ so daß er zur deut-
schen Uebersetzung ein Vorwort schrieb.
— 94 —
ums Dasein besser fortkommen als die religionslosen, und damit
schien der Wert der Religion als Waffe im Lebenskampf er-
wiesen.
Doch braucht das nicht näher ausgeführt zu werden. Die
ältere biologistische Lebensphilosophie ist schon jetzt so weit
charakterisiert, daß über die Hauptsache kein Zweifel mehr be-
stehen kann. Grundlegend wird der demokratische Massen-
begriff der Lebensökonomie, und er entspringt aus dem mecha-
nistischen, antiteleologischen Prinzip, nach welchem die
Lebewesen um ihre Nahrung kämpfen und sich durch Anpassung
im Dasein erhalten. Dagegen hat die neue Richtung des
Biologismus sich gewendet, und sie ist jetzt als die eigentlich
zeitgemäJ3e zu verstehen. Sie vor allem beherrscht die Mode.
Ihr Prinzip läßt sich leicht klar legen. Sie richtet sich, ob-
wohl sie im allgemeinen den Gedanken des naturalistischen Evo-
lutionismus, der durch Darwin einflußreich geworden ist, bei-
behält, doch gerade gegen die Punkte, die wir als charakteristisch
für Darwins Biologie hervorheben mußten: erstens gegen das
Moment, das mit den Theorien von Malthus zusammenhängt,
ferner gegen die mechanistische Tendenz und drittens endlich
gegen das Ideal der Lebensökonomie.
Echtes Leben ist nach ihr nicht bloßes Dasein, d. h. Leben,
das sich lediglich erhält. Zumal die Art Anpassung, die zur
Daseinserhaltung führt, bildet kein Lebens prinzip, das diesen
Namen verdient. Sie kommt nur ausnahmsweise in einer Not-
lage vor, und diese ist nicht für das Leben überhaupt charakte-
ristisch. In der Meinung, daß Lebewesen aus Not sich anpassen,
steckt eine ungerechtfertigte Uebertragung physikalischer Be-
griffe, wie Trägheit und Beharrung, auf das biologische Gebiet.
Sie bedeutet daher Mechanisierung und Tötung. Eine Philo-
sophie des lebendigen Lebens kann auf dem Boden dieses
Pseudo-Lebensprinzips nicht erwachsen. Sie bedarf einer anderen
biologischen Grundlegung. Das lebendige Leben geht, wenn es
echtes Leben ist, mit sich selbst verschwenderisch
um. Es will sich nicht im Sein erhalt e n , sondern immer
mehr wachsen, sich reicher, kräftiger, lebendiger entfalten.
Dadurch steht es im schroffen Gegensatz zur mechanischen Be-
wegung, die nur passive, tote Ortsverschiebung kennt. Des
- 95 -
lebendigen Lebens Grundprinzip ist Expansionsdrang und A k-
t i V i t ä t. Gerade die nimmt ihm die darwinistisch-mecha-
nistische Theorie. Darwins Lehre vom Kampf ums Dasein ist
der grundfalschen Lebensauffassung entsprungen, welche die
Physik durchgesetzt hat. Sie kennt allerdings nichts als Ver-
änderung des sich Gleichbleibenden im Raum. Mit irgendeiner
Art von Atomistik ist das Wesen des Lebendigen im Unterschiede
vom Toten nie zu begreifen. Deswegen kann die Pseudobiologie
nicht Grundlage für die Lebensphilosophie sein.
Das im Sinne dieser Biologisten mechanistische und daher
unlebendige Lebensprinzip tritt am deutlichsten bei Spenzer zu-
tage, der lehrt, daß, weil der Anpassungsprozeß immer weiter
fortschreite, der Lebenskampf immer schwächer werden müsse.
Die Interessengegensätze würden verschwinden, meint er. Das
Leben nähere sich einer Ruhelage, und das höchste Lebensideal
sei daher der Zustand, in dem die Menschheit vollkommen an-
gepaßt jeden Lebenskampf aufgibt. Danach wäre das letzte
Ziel des sich entwickelnden Lebens der Stillstand, also der Tod.
Mit dem Analogon der mechanistischen Auffassung, nach
der jedes System von Kräften, wenn es sich selbst überlassen
wird, seine Spannungen ausgleicht und alle kinetische Energie
sich in potentielle verwandelt, wie der zweite Hauptsatz der
Thermodynamik, der Satz von der Entropie oder vom Wärmetod
lehrt, ist für das Leben nichts anzufangen. Die darwinistische
Philosophie trägt ein statisches Gepräge. Es gilt, das
dynamische Prinzip der nie ruhenden Kraftentfaltung,
Machtsteigerung, Lebensschwungkraft in sein
Recht einzusetzen.
Das kann man auch so zum Ausdruck bringen: nicht der
,, Wille zum Dasein" und der Kampf um die Lebenserhaltung
beherrscht die lebende Welt, sondern der „Wille zur Macht" und
deren Steigerung ist der treibende Faktor. Dem entspricht:
Machtkämpfe sind der Sinn des wahrhaft lebendigen Lebens, den
die echte Lebensphilosophie entdeckt hat. Das Sparsamkeits-
prinzip ist verächtlich und pöbelhaft, erfunden von denen, die
nicht leben und nicht sterben können. Es bedeutet eine Nieder-
gangserscheinung, allgemeine Dekadenz. Darin zeigt sich das
„aristokratische" Prinzip des Biologismus, der für die „Besten"
— 96 —
als die kräftigsten und mächtigsten Lebewesen enitritt.
Mit den Schlagworten sind wir zugleich bei Nietzsche an-
gelangt, und er ist in der Tat der am meisten charakteristische
deutsche Vertreter der neuesten Lebensphilosophie, die wir jetzt
aus ihren biologistischen Motiven erst ganz verstehen.
So betrachtet, bedeutet sie mehr als bloße Lebensstimmung
oder prophetische Lebensbejahung. In dieser Hinsicht hat sie
ein klares Prinzip. Sie stützt sich auf eine Theorie des unstill-
baren Lebensdranges, der stets zu Kämpfen des einen Lebens-
willens mit dem andern führen muß. Der Gedanke hat sich bei
Nietzsche dann leicht mit romantischen Motiven verschmolzen,
was für eine kritische Stellungnahme wichtig ist. Anfangs vom
Darwinismus beeinflußt, dem seinerzeit nur wenige sich entzogen,
nahm Nietzsche später mit ihm die Umbildung vor, die seinen
romantisch-aristokratischen Neigungen entsprach. Der Kampf
ums Dasein in der Notlage, wie Darwin ihn mit Malthus lehrte,
war ihm verächtlich. In der Masse sah er mit Schopenhauer
eine ,, Fabrikware der Natur". So mußte er die demokratische
Tendenz ablehnen. Da Leben üppige Machtsteigerung ist, kommt
es immer auf die lebenskräftigsten überragenden Individuen an.
Der Zusammenhang mit der antidarwinistischen Biologie
tritt bei Nietzsche besonders deutlich zutage, wenn wir seine
Lehren mit Gedanken einer wenig bekannten Schrift vergleichen,
die W. H. Rolph unter dem Titel: Biologische Probleme, zu-
gleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik, 1881
veröffentlichte ^). Sie wendet sich hauptsächhch gegen Spenzer
und in ihr steht der Satz: „Der Daseinskampf ist in Wirklich-
keit ein Streben nach vermehrter Einnahme, nach Lebensmehrung
und unabhängig von dem jedesmaligen Nahrungsangebot. Er
findet jederzeit, also auch in der Ueberflußlage statt". Hier
wird Darwin auf biologischem Boden gerade in dem Punkt be-
kämpft, in dem er durch Malthus angeregt war. Rolph sucht
einen andern, lebendigeren Lebensbegriff, und die ethischen
Konsequenzen lauten: ,, Immer noch opfert die Natur dem Fort-
schritt überall die Masse auf, und darum müssen wir uns ernst-
lich fragen, ob nicht jene Verhältnisse der Ungleichheit, welche
1) Zweite, nach dem Tode des Verfassers herausgegebene
Auflage. 1884.
- 97 -
unsere idealistischen Philosophen und Volksbeglücker ladikal
ausrotten möchten, eben nötig sind und Bedingung des Fort-
schritts zum Besseren."
Nietzsche hat die Schrift gekannt und gelobt. Wieviel er
ihr entnommen, läßt sich nicht feststellen. Doch ist es unwahr-
scheinlich, daß er ganz unbeeinflußt von ihr blieb.
Im übrigen kommt es darauf nicht an. Die Hauptsache ist,
daß er 1888 in Rolphs Sinne schrieb: ,,Was den berühmten Kampf
ums Leben betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet
als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme." Dann fördert
er nur die Menge der Schwachen. ,,Der Gesamt-Aspekt des
Lebens ist nicht die Notlage, die Hungerlage, vielmehr der
Reichtum, die Ueppigkeit, selbst die absurde Verschwendung —
wo gekämpft wird, kämpft man um Macht. . . . Man soll
nicht Malthus mit der Natur verwechseln."
Dieser „Anti-Darwin" überschriebene Aphorismus gewährt
klaren Einblick in die biologistischen Motive von Nietzsches
Denken. In der Steigerung des Lebenswillens fand er als typischer
Vertreter der neuesten Lebensphilosophie schließlich den Sinn des
Lebens überhaupt. Das ließ sich dann gut auch mit seiner frühe-
ren, an Schopenhauer und Richard Wagner orientierten „dio-
nysischen" Weltanschauung vereinigen. Ja, das Prinzip der
lebendigen Machtentfaltung wurde zuletzt von ihm sogar wieder
auf den Namen des Dionysos getauft. Jedenfalls: die Lebens-
güter, die es nicht vertragen, am Wert des lebendigen und macht-
voll sich steigernden Lebens gemessen zu werden, verwirft Nietzsche
durchweg.
Beispiele machen das biologistische Prinzip neuester Observanz
vollends deutlich. Biologisch fundiert ist der Kampf gegen die
Sklavenmoral, d. h. gegen die herrschende Ethik, die für alle
gleiches Recht verlangt. Sie will Anpassung der Masse und
müßte zur Ruhelage aller führen. Daher ist sie unmoralisch.
Von hier bekommt Nietzsches moralfanatischer ,,Immoralismus",
die Herrenmoral, die sich gegen jede Nivellierungstendenz, gegen
jedes Streben nach Harmonie der Interessen, gegen jeden „Pazi-
fismus" wendet, die biologistische Färbung. Auch die Wahrheit
der Wissenschaft hat keinen Wert, wenn sie nicht dem aufsteigen-
den Leben dient. Allerdings berührt Nietzsche sich hier mit
R i c k e r t , Philosophie d. Lebens. 7
- 98 -
dem Pragmatismus, der meist darwinistische Tendenzen zeigt.
Genauer: er hat diese Gedanken früher, als es das Schlagwort
Pragmatismus dafür gab. Aber er weicht zugleich in charakte-
ristischer Weise vom Pragmatismus ab, und einer der Gründe
dafür liegt wieder in dem antidarwinistischen Lebensbegriff.
Sein Aristokratismus wird hier sehr radikal. Die Naturgesetze,
die nach dem Oekonomieprinzip wahr sind, weil sie vieles unter
denselben Begriff bringen, erkennt Nietzsche nicht an. Der
Glaube an sie, die alles gleich machen, kommt nach ihm nur
„den demokratischen Instinkten der modernen Seele" entgegen.
Die Wahrheit eines Gedankens ist danach allein zu beurteilen,
ob er die kämpfende, aufsteigende Vitalität fördert oder
hemmt.
Vor allem aber darf der Mensch sich nie anpassen und so
zum Stillstand kommen. Das würde zum „letzten Menschen"
führen, der das ,, Glück erfunden" hat und , »blinzelt", d. h. zum
Ideal Spenzers, wie Rolph es kritisiert. Die bequeme Ruhelage
wäre die Ebbe der großen Lebensflut. Immer muß das Lebe-
wesen über sich hinaus wollen, etwas über sicii sehen und
haben, was ihm ,,über" ist. So braucht der Mensch den Ueber-
menschen als den „Sinn der Erde". Es ist nicht nötig, die
bekannten, in ihrer Art bewundernswürdigen und hinreißenden
Verse zu wiederholen. Sieht man von ihrem poetischen Gewand
ab, so kommt in allen diesen Gedanken dasselbe biologistische
Prinzip zum Ausdruck. Gerade die erste Einführung des Ueber-
menschen zeigt das am deutlichsten. Sie klingt zum Teil sogar
noch darwinistisch mit ihrem Hinweis auf den Affen. Darwin
ist eben erst überwunden. Der Umstand, daß sich bei Nietzsche
daneben auch andere Motive finden, ändert daran nichts.
Manche der Ideen, die Bergson berühmt gemacht haben,
lassen sich ebenfalls von der antidarwinistischen Entwicklungs-
lehre aus am besten verstehen. Sie zeigen unter dem bio-
logistischen Gesichtspunkt zugleich nahe Verwandtschaft mit
Gedanken Nietzsches. Das wird wichtig, wo es gilt, das Gemeinsame
in den mannigfaltigen Bestrebungen der Zeit zu erkennen. Nicht
allein der Antimetaphysiker Nietzsche, der die Hinterweltler ver-
spottet, zu denen er selber einst gehörte, sondern auch der Meta-
physiker Bergson, der im Leben das tiefste Wesen der Welt
— 99 -
erschaut, gerät bei näherer Ausgestaltung seines Lebensbegriffs
in das biologistische Fahrwasser der neuesten Richtung. Es ge-
nügt, das für wenige Punkte anzudeuten.
Daß Bergson überhaupt Biologist, nicht nur Intuitionist ist,
liegt besonders mit Rücksicht auf seine späteren Schriften auf
der Hand. Wenn er von „schöpferischer Entwicklung" redet,
so ist dabei nicht das Leben in seiner umfassendsten Bedeutung
als Inbegriff aller anschaulichen Erlebnisse gemeint, zu denen
das Tote ebenso gehört wie das Lebendige. In diesem Sinn
könnte das erschaute Erlebnis nicht zum metaphysischen Welt-
prinzip gemacht werden. Bergson hat vielmehr überall das
organische Leben zunächst als Teil der Welt, im Gegensatz zur
toten Natur, im Auge, und er denkt es dabei so, wie die moderne
Biologie als Spezialwissenschaft es versteht. Erst nachdem dies
geschehen ist, wird der Lebensbegriff erweitert, damit er alles
umfaßt. Ohne biologistisches Prinzip bliebe nicht allein der Be-
griff der schöpferischen Entwicklung, sondern auch der der
Lebensschwungkraft unverständlich.
Ebenso ist klar, daß Bergson zu den Biologisten antimecha-
nistischer, antidarwinistischer oder antispenzerscher Observanz
gehört, die von einer immer größeren Anpassung kein Glück der
Zukunft erwarten können. Von einer fortschreitenden Entspan-
nung in der Richtung auf die Ruhelage will Bergson nichts
wissen, und er deutet dies biologische Prinzip erst nachträglich
metaphysisch. Die Entspannung des Lebens ist die tote Materie,
und der Tod die sittliche Unfreiheit. Das metaphysische Wesen
der Welt geht nicht auf Daseinserhaltung, sondern auf Lebens-
steigerung. Bergsons Lehre von der Materie als Entspannung
oder Ermattung des Lebens erweist sich somit in ihrer Herkunft
ebenfalls als Produkt des neuesten biologistischen Denkens.
Charakteristisch ist ferner sein Verhältnis zum darwinistischen
Pragmatismus. Er baut die bei Mach und Avenarius aus der
älteren biologistischen Richtung stammende Erkenntnislehre zwar
in seine Philosophie ein, muß ihr aber zugleich eine andere
Pointe geben. Nur die das Leben verfälschende, mathematische
Naturwissenschaft ist als Denken der Welt gemäß dem Prinzip
des kleinsten Kraftmaßes zu verstehen, als entsprungen aus dem
W^illen zur Denkökonomie. Als Sparsamkeitsprodukt ist sie zugleich
7*
- 100 -
zu bekämpfen, wo es gilt, durch lebendige Intuition zum ewig
quellenden und fließenden Lebensstrom vorzudringen. Auch das
erinnert an Nietzsche, und die Verwandtschaft beruht wieder
auf dem biologistischen Prinzip.
Selbstverständlich sollen diese Bemerkungen keine auch nur
annähernd erschöpfende Würdigung von Bergsons Philosophie in
ihrer Totalität geben. Allein das, was davon in weitere Kreise
gedrungen ist, interessiert uns hier, ebenso wie es bei Nietzsche
nur auf das populär Gewordene ankam, und falls jemand sagt,
die eigentliche Bedeutung dieser Denker liege in anderer Rich-
tung, so brauchen wir nicht zu widersprechen. Nur in einigen
ihrer Gedanken wollten wir das biologistische Prinzip aufzeigen.
Nur was sie als Modephilosophen sind, ist uns wichtig. Ihr Bio-
logismus bildet den allgemeinsten Faktor, der sich in den philo-
sophischen Strömungen der Zeit immer wieder findet und diese
zu einem einheitlichen Ganzen zusammenschließt. Nietzsche und
Bergson erscheinen so aufgefaßt als besondere „Fälle" einer weit
verbreiteten Tendenz.
Daß jede solche generalisierende, „morphologische" oder
,, kollektivistische" Darstellung ungarecht werden, ja eventuell
das Wichtigste an einer Denkerpersönlichkeit beiseite lassen muß,
hoben wir am Anfang ausdrücklich hervor. Mit dieser Ein-
schränkung begegnen wir auch hier jedem Einwand.^
Die allgameinen Tendenzen in ihrer ganzen Breite auch bei
kleineren Geistern, die nur Biologisten sind, zu verfolgen, hätte
keinen Zweck. Daran würden wir nichts Neues lernen. Wir grei-
fen daher nur noch einen besonders bezeichnenden „Fall" heraus,
der schon zur Kritik des neueren biologistisclien Prinzips hinüber-
leitet.
Auch hier werden Formulierungen von Scheler interessant.
Er besitzt eine bemerkenswerte Fähigkeit, Modegedanken zum
Ausdruck zu bringen und sie dabei so zuzuspitzen, daß sie die
Kritik herausfordern. Das haben wir schon bei der
„neuen Haltung" der intuitiven Lebensphilosophie gesehen, deren
konsequente Durchführung zur Aufhebung jeder Wissenschaft
führen muß, und diese radikale Ausgestaltung ist ein Verdienst.
Für den Biologismus der neuesten Richtung kommt das viel
- 101 -
genannte Buch über den Genius des Krieges in Betracht *). Freilich
erklärt Scheler ausdrücklich, daß der Begriff des organischen
Lebens zur Lösung der meisten philosophischen Probleme nicht
ausreiche. Er will kein Naturalist sein, ebensowenig wie er
faktisch die Philosophie nur auf Intuition stützen wollen kann.
Trotzdem besitzt nach ihm die Einsicht in das Wesen der
lebendigen, vitalen Natur für die Würdigung des Krieges die
größte Bedeutung. Der Krieg muß wenigstens eine Wurzel im
Wesen des Lebens überhaupt haben, also auch vom Leben aus
verstanden, und das bedeutet für Scheler: gerechtfertigt werden.
Die Lebenswurzel des Krieges nämlich ist nicht, wie die Darwi-
nisten und Spenzer meinen, der tierische Daseins- und Nahrungs-
kampf, nicht eine Folge gewisser Disharmonien der „Anpassung",
die mit steigender „Anpassung" überwunden würde, so daß man
ein Aufhören alles Kampfes erwarten und im Krieg nur Ueber-
reste einer unvollkommenen Anpassung, also Barbarei erblicken
dürfte. Die wahre Wurzel des Krieges besteht vielmehr darin,
daß allem Leben selbst und unabhängig von seiner besonderen,
wechselnden Umwelt und deren Reizen eine Tendenz zur Steige-
rung, zum Wachstum und zur Entfaltung seiner Mannigfaltigkeits-
arten innewohnt. Der Lebensbegriff Darwins und Spenzers ist
für Scheler als einen typischen Biologisten modernster Observanz
viel zu passivistisch und mechanistisch.
Nur aus der antidarwinistischen Biologie ist auch das Wesen
des Staates zu verstehen. Die Machtsteigerung liegt im Wesen
des Staates selbst. Der nicht wachsende Staat, der Staat, der
nur auf Erhaltung seines Seins und Soseins bedacht wäre, es
wäre der tote, der erstarrte, der sein Wesen aufgebende, der
sinkende Staat. Der Krieg aber ist der Staat in seinem aktuell-
sten Wachsen und Werden selbst, und er kann daher nie ver-
schwinden. Schon Schiller hat ihn den Beweger des Menschen-
geschicks genannt. Er ist auch sittlich notwendig. Die Menschen
hätten sich gegenseitig friedlich aufgefressen, wenn nicht die
l)Max Scheler, Der Genius des Krieges und der
Deutsche Krieg. 1915. Selbstverständlich ist hier keine Wür-
digung des ganzen Buches beabsichtigt. Nur wenige Sätze
greife ich als Symptome heraus. In dem Werk steht manches,
was auch positive Bedeutung hat.
— 102 -
Würde des Krieges selbst noch die Gewalt geheiligt und auf
gemeinsame Ziele großer Gemeinschaften gespannt hätte. Darum
muß der Krieg als dauernde Institution alles wahrhaft lebendigen
Lebens gelten. Der Pazifismus ist lebensfeindlich und staats-
feindlich.
Scheler spitzt seine Gedanken dahin zu, daß „der Krieg in sei-
nem Erfolg nicht nur die Wirtschaftspolitik katexochen, sondern
auch die qualitative (nicht quantitative) Bevölkerungspolitik
katexochen" seil Weitere Proben dieses Biologismus sind nicht
nötig. In bezug auf den letzten Satz darf man wohl mit
Nietzsche sagen: „Dieser Denker braucht Niemanden, der ihn
widerlegt: er genügt sich dazu selber." Man müßte denn den
Krieg, den wir „erlebt" ' haben, keinen Krieg mehr nennen
wollen.
Konsequent jedoch sind die Gedanken Schelers durchaus,
und zw^ar in derselben Art wie sein Preisen der neuen Haltung
Bergsons. Dort wurde wegen der Lebendigkeit der Anschauung
ihre Befestigung durch den Begriff abgelehnt. Hier soll dem
lebendigen Lebenskampf keine Fessel angelegt werden, damit — ■ das
Leben lebendig bleibt. Wer nicht allein sieht, daß natürliches,
vitales Leben Wachstum ist und mit anderem Leben kämpfend
zusammenstößt, sondern wer zugleich in diesem biologistischen
„Gesetz" eine Norm für alles Kultur leben erblickt, der muß
in der Tat wie Scheler denken. Sollte ihm aber nicht zugleich
der Verdacht entstehen, daß in den Grundlagen von Gedanken,
die zu solchen Konsequenzen führen, etwas nicht stimmen kann ?
Doch wir legen zunächst nur das Prinzip klar, auf dem der
Gegensatz der älteren und der neueren Ijiologistischen Philo-
sophie beruht. Ihn können wir jetzt so formulieren, daß er
schärfer zum Ausdruck kommt als bei den meisten Vertretefti
dieser Geistesbewegung unserer Zeit. Das schadet jedoch nichts,
denn^wir fragen nur nach der prinzipiellen Seite der Sache, und
ein Prinzip kann man als theoretisches Prinzip nicht übertreiben.
Der Philosoph streikt nach einer einheitlichen Auffassung
alles Wirklichen. Orientiert er sich dabei, wie es Vielen nahe-
liegt, an der allgemeinsten Körpertheorie und nimmt an, daß von
den Körpern auch das Seelenleben irgendwie ,, abhängig" ist oder
im Zusammenhang mit ihnen begriffen werden muß, dann wird
— 103 -
er jede mechanistische Erklärung als prinzipiellen philosophischen
Fortschritt begrüßen. Nach Darwin schien der Durchführung
des Mechanismus nichts mehr im Wege zu stehen. Vertrat die
Philosophie vorher einen „Dualismus" von blinder Ursache und
vernünftigem Zweck, der nichts erklärte, sondern nur ein asylum
ignorantiae war, so stehen wir jetzt vor der Welt als einem
,, monistischen" Komplex rein mechanischer Ursachen und Wir-
kungen, in den alles sich einordnen läßt mit Einschluß der
zweckmäßig oder vernünftig gestalteten Organismen. Wir brau-
chen also in kein Asyl mehr zu flüchten. Wir haben eine rein
wissenschaftliche Weltanschauung.
Zugleich wird auch das Problem der Lebensanschauung oder
das W^ertproblem monistisch lösbar. Früher hatte man die Werte
der Natur entgegengesetzt. Das begann in der Philosophie schon
mit Piaton, wurde durch das Christentum befestigt, beherrschte
das Mittelalter, und in einem solchen ,, Mittelalter" leben viele
beklagenswerte Philosophen noch heute. In dieser Hinsicht
brachte das Prinzip der natürlichen Auslese ebenfalls einen
Wandel. Wir sind nicht Fremdlinge in der Welt, sondern sie ist
unsere Heimat, und der Sinn unseres Lebens kann kein anderer
sein, als daß wir ihren Gesetzen zu gehorchen suchen. Von der
Amöbe bis zum Kulturmenschen hat sie überall das Unvoll-
kommene vernichtet und das Vollkommene erhalten. ^
So befriedigen die darwinschen Theorien nicht allein den
Intellekt, dereine einheitliche Erklärung des Seins der
Welt verlangt, sondern ebenso den Willen, der nach gesicher-
ten Idealen sucht, um das Handeln danach zu lenken.
Der neuere Biologismus erstrebt formal dasselbe philo-
sophische Ziel. Auch er will zu einer einheitlichen Erklärung
des Seins der Welt kommen und im unmittelbaren Zusammen-
hang mit ihr eine Lehre von den Werten schaffen. Aber nicht der
Mechanismus ist der allgemeinste Rahmen, in welchen er die
Welt hineinstellt. Er geht von dem aus, was jeder mechanischen
Auffassung spottet. Das Leben ist nur antimechanistisch als
Kraftentfaltung, als Wachstum, als beständige Steigerung, als
elan vital zu begreifen. Dann gilt es, um zur Einheit der Welt-
anschauung zu kommen, nicht das Leben in die Materie, sondern
umgekehrt die Materie in das Leben einzuordnen, also das schein-
— 104 -
bar Tote als Form des sinkenden und ermattenden Lebens zu
verstehen. Die Auffassung des Seins der Welt ist so ebenfalls
„monistisch". Sie legt jedoch den Schwerpunkt auf die entgegen-
gesetzte Seite des zu überwindenden Dualismus.
Die Wertlehre endlich, die sich auf diesem Boden ergibt,
entspricht dem antimechanistischen oder vitahstischen Prinzip.
Von einer Vervollkommnung der Welt durch Annäherung an die
Ruhelage, in der das Leben aufhören würde, lebendig zu sein,
dürfen wir nicht reden. Wie die Welt im tiefsten Grunde
Lebensschwungkraft ist, so haben auch die einzelnen Individuen
wie die Gemeinschaften sich in den Dienst der schöpferischen
Entwicklung zu stellen. Lebendiges Leben aber bedeutet Macht-
steigerung, und diese gibt es nie ohne Kampf. So tritt eine
heroische Lebensauffassung der Friedenssehnsucht der Mecha-
nisten gegenüber. Es gilt, alles zu bekämpfen, was sich .nur
erhalten will. Die Menschen sind verpflichtet, stets über das
schon Erreichte hinauszustreben. Glück und persönliche Wünsche
sind nicht entscheidend. Der Mensch darf seine „Bestimmung"
nur darin finden, daß in ihm das Wachsen und Sichentfalten
des vitalen Lebens zum Ausdruck kommt, welches das allge-
meine Weltprinzip darstellt. So ist auch hier die Lebensanschau-
ung in der Weltanschauung verankert.
Siebentes Kapitel.
Kritik des biologistisclien Realitätsprinzips.
„Grau, teurer Freund, ist a 1 1 e Theorie."
Mepbistopbeles.
Jetzt Überschauen wir den Biologismus, soweit er den An-
spruch erhebt, das allgemeine Prinzip für die Philosophie zu
geben, und können ihm kritisch gegenübertreten. Die ältere
Richtung ziehen wir dabei nur so weit heran, als sie noch in
die neuere hineinspielt. In 'der Hauptsache kommt es auf die
eigentliche Modeströmung, d. h. auf den antimechanistischen
Biologismus an. Doch halten wir uns nicht an so extreme Aus-
gestaltungen wie Schelers Philosophie des Krieges. Damit würden
— 105 -
wir uns die Kritik zu leicht machen. Einzelheiten werden
überhaupt nur gelegentlich als Beispiele wichtig. Es gilt, die
begrifflichen Fundamente dieser Lebensphilosophie prinzipiell
und systematisch zu prüfen, und zu diesem Zwecke trennen wir
weiter .die Seinsfragen von den Wertfragen, obwohl in der Philo-
sophie unserer Tage die Scheidung nur selten konsequent durch-
geführt wird. Warum sie von fundamentaler Wichtigkeit ist,
wird immer deutlicher werden.
Wir beginnen mit den Seinsproblemen und fragen zunächst,
ob eine allein mit biologischen Begriffen arbeitende Philosophie
in dem Sinne ,, Philosophie" genannt werden darf, daß sie
universale Erkenntnis der realen Welt bedeutet.
Wird auch nur die Frage so gestellt, dann sollte man meinen,
könne die Antwort nicht schwer fallen. Die Biologie beschränkt
sich ihrem Wesen nach auf einen Teil des Weltganzen, wo
sie vom ,, Leben" redet. Sie muß das als Spezialwissenschaft.
Sie handelt nicht vom Leben überhaupt oder von den Erleb-
nissen in der Bedeutung des Wortes, daß alles in sie eingeht, was
für uns da ist. Sie nimmt eine Verengerung des umfassendsten
Lebensbegriffes vor. So allein erreicht sie die Bestimmtheit
ihrer Begriffe, die sie als Wissenschaft nicht entbehren kann.
Unter philosophischen Gesichtspunkten ist diese Art der
Bestimmtheit jedoch teuer erkauft. Der Teil der Welt, auf den
sie sich beschränkt, wird nie etwas anderes als ein Teil werden.
Innerhalb der Biologie als Spezialwissenschaft besteht darüber
wohl auch kein Zweifel. Der Biologismus als Philosophie da-
gegen möchte den Teil zum Ganzen machen. Setzt er damit
nicht das Ganze zum Teil herab, verfährt also unphilo-
sophisch, falls man unter Philosophie die universale Wissen-
schaft vom Weltganzen versteht?
Mit Rücksicht auf diese Frage bedeutete die Aufzeigung des
biologistischen Prinzips schon eine Kritik. Gewiß hat diese
Lebensphilosophie im Unterschied von den rein intuitiven For-
men ein wissenschaftliches Prinzip. Aber gerade in ihm scheint
eine unphilosophische Tendenz zu stecken. Um zu einer umfas-
senden Philosophie zu kommen, werden wir uns keiner Spe-
zialwissenschaft anvertrauen. Die Beschränkung auf biologische
Begriffe führt ,zum spezialistischen Universalismus. In dieser
- 106 -
Hinsicht scheint der Biologismus neuerer Richtung nicht allein
mit dem Historismus, sondern auch mit dem mechanistischen
„Monismus" auf einer Linie zu stehen, also grade der von ihm
bekämpften Weltanschauung nicht prinzipiell überlegen. Ist
eine biologisch orientierte und zugleich universal gerichtete
Philosophie nicht ein Widersinn in sich?
Schon das würde vielleicht genügen, um diese Form der
Lebensphilosophie im Kern zu erschüttern. Sie ist keine Lebens-
Philosophie. Der echte Philosoph des Lebens sollte für
das umfassende Leben gegen die Einseitigkeit und Enge des
antimechanistischen Biologismus eintreten.
Aber man kann glauben, daß damit allein die Frage noch
nicht entschieden sei. Dürfen wir nicht von dem Teil der Welt,
den die Biologie behandelt, auf das Weltganze schließen?
.Ja, müssen wir nicht grade die biologischen Kategorien zu
Weltkategorien erweitern, um so zum Wesen alles Seins vorzu-
dringen? Das behauptet doch die Lebensphilosophie neuester
Richtung: nur das unmittelbar erlebte Sein ist wahrhaft real.
Alles unmittelbar Erlebte aber ist lebendig. So verbin-
det sich das Lebensprinzip mit dem Wirklich-
keitsprinzip. Das erst entscheidet. Daher kann die reale
Welt nur als lebendige Welt verstanden werden.
So scheint die Verwendung von Lebensbegriffen, die der
Wissenschaft vom lebendigen Leben, also der Biologie entnom-
men sind, zum Aufbau einer Weltwissenschaft voll gerecht-
fertigt.
Wir kommen damit auf die Gedanken zurück, die bei Fest-
stellung des allgemeinen biologistischen Prinzips erörtert wurden.
Die Lebensformen, welche die Biologie kennen lehrt, nimmt die
intuitiv gerichtete Lebensphilosophie in ihren Dienst, um mit
ihnen ihr Verlangen nach Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit
der Erkenntnis zu befriedigen, und das kann man verstehen.
Die Mechanik gibt von dem, was wir unmittelbar als real er-
leben, in der Tat weniger als die Biologie. Insofern darf man
auch sagen, daß die mechanistische Philosophie das unmittelbare
Erlebnis „tötet". Die biologischen Begriffe stehen der Unmittel-
barkeit des Realen, das wir selber sind und daher am sichersten
als Realität erfassen, näher und scheinen daher besser ge-
- 107 -
eignet, das Wesen der Erlebniswirklichkeit, welche die eigent-
lich wirkliche Wirklichkeit ist, wissenschaftlich zu begreifen.
Deshalb ist mit dem einfachen Hinweis darauf, daß die
Biologie eine Spezialwissenschaft sei, in der Tat noch nichts
gegen die biologistische Lebensphilosophie entschieden. Sie will
ja nicht bei der Biologie als Spezialwissenschaft stehen bleiben,
sondern die von ihr herausgearbeiteten Lebensformen so be-
nutzen, daß sie damit die reale Welt in ihrer Totaütät als un-
mittelbar lebendig und so erst als wahrhaft real erfaßt.
Es kommt darauf an, zu verstehen, daß auch dies Unter-
nehmen auf einer Unklarheit über das Wesen des biologischen
Denkens beruht.
Freilich zeigen die verschiedenen Disziplinen, welche die
Welt erforschen, eine mehr oder weniger große Lebens- und
Wirklichkeitsnähe. Daß in den Begriffen der Mathematik keine
Spur von ,, lebendigem" und „wirklichem" Leben ist, falls die
Worte in einer der üblichen Bedeutungen genommen werden,
leuchtet ein. So wenig Berührung mit dem realen und leben-
digen Leben wie diese Wissenschaft haben nicht alle Disziplinen.
Im Vergleich zu ihr besitzen schon Naturwissenschaften wie
Physik und Chemie mehr Wirklichkeits- und damit mehr Lebens-
gehalt, und auch das ist richtig, daß die Biologie dem realen
Leben noch näher kommt.
Der Unterschied aber zwischen den einzelnen Teilen der
Naturwissenschaften kann nicht als prinzipiell, sondern nur als
graduell gelten. Die Naturwissenschaften bleiben, um zu-
nächst nur das hervorzuheben, mit ihren allgemeinen Be-
griffen dem in seiner unmittelbaren und anschaulichen realen
Lebendigkeit stets individuellen Leben alle fern. Wie weit
das ursprüngliche, erlebte wirkliche Leben von der Wissenschaft
überhaupt erfaßt wird, lassen wir zunächst noch dahingestellt.
Die Natursvissenschaften führen jedenfalls alle zu einer mehr
oder weniger großen Wirklichkeits- und Lebensferne ^). Je
mehr daher die Lebensphilosophie sich an den Begriffen einer
1) Ausführlich habe ich diesen Gedanken, der hier nur an-
gedeutet werden kann, begründet in meinem Buch über die Gren-
zen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. 1896 — 1902.
2. Aufl. 1913
— 108 -
Naturwissenschaft orientiert, desto mehr widerspricht sie damit
ihrer eigenen Tendenz, die auf Lebendigkeit und ReaUtät als
Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit gerichtet ist.
Die moderne Lebensphilosophie mißversteht sich selbst, und
zswar das Beste in sich, wenn sie zu Begriffen der Biologie greift.
Darin steckt nämlich ihr tiefster Gedanke, daß den , .Verstan-
desbegriffen" die Fülle der realen Erlebnisse in ihrer Mannig-
faltigkeit, und damit die eigentliche Wirklichkeit, für immer un-
zugänglich bleiben muß. Vermag aber der Biologismus daran
etwas Wesentliches zu ändern? Sind seine Begriffe nicht Ver-
standesbegriffe? Erfaßt er mit ihnen, weil sie Lebensbegriffe
sind, auch prinzipiell mehr unmittelbar Reales als mit anderen
Begriffen der Naturwissenschaft?
Er braucht, auch wenn er die mechanistische Auffassung
der Auslese und Anpassung bekämpft, doch immer Begriffe
der Biologie, d. h. naturwissenschaftliche Begriffe, und diese
sind alle Begriffe des Verstandes, gleichviel ob sie den Begriffen
der Mechanik näher oder ferner stehen. Alles Ijio-logisieren heißt
zugleich alles logisieren. Wie will man das bezweifeln? Das
sagt nicht nur das Wort. Die Biologie nimmt nicht das reale
Leben, wie es unmittelbar lebt und erlebt wird, als Wirklich-
keit in den Inhalt ihrer Begriffe auf. Das kann sie als Wissen--
Schaft nicht. Sie „tötet" es, um in der Sprache der intuitiven
Lebensphilosophie zu reden, und zwar tötet sie es genau so
weit, wie sie es begreift, und sie ist nur so weit Wissenschaft,
als sie es begreift. Der Biologe hat zwar ein anderes Mate-
rial als der Physiker oder der Chemiker, und er bearbeitet ge-
wiß dessen spezifische Verschiedenheiten gegenüber der sogenann-
ten toten Natur. Arbeitet er aber darum auch mit einer anderen,
mehr intuitiven Methode? Vermag er dem unmittelbaren
Leben und damit dem wahrhaft Realen nicht allein graduell,
sondern prinzipiell näher zu kommen ? Wie will er das erreichen,
so lange er Begriffe des Verstandes verwendet?
Es bedeutet eine Selbsttäuschung, wenn man glaubt, da-
durch, daß man die Begriffe der einen Naturwissenschaft durch
die einer anderen ersetzt, erfasse man im Begriff das unmittel-
bar erlebte Leben und damit die eigentliche Realität, also das
Wesen der realen Welt. Dem Leben der Organismen kommt
- 109 —
die Biologie gewiß näher, als der Mechanismus es vermag, aber
die Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit des realen Lebens erlebt
man in keiner Naturwissenschaft. Man ,, erlebt" überall nur
den Gehalt der Begriffe, und der ist nicht lebendig und nicht
real wie die unmittelbare Wirklichkeit des Lebens. Auch der
Biologe verfertigt, um mit Bergson zu reden, Konfektionskleider,
die keinem Lebewesen passen, weil sie jedem Lebewesen passen
sollen. Auch er arbeitet nicht ,,nach Maß", und er kann es als
Naturforscher nicht. Er bleibt dem Leben als dem Realen im
Prinzip so fern wie andere Naturforscher. Das Leben begreifen,
heißt nicht die unmittelbare Realität des Lebens erfassen.
Wir müssen noch weiter gehen. Keine Naturwissenschaft
von den Organismen wird auf die Dauer mit Begriffen auskom-
men, die denen der übrigen, mechanisch orientierten Natur-
wissenschaften widersprechen. Damit zerstörte sie jede
einheitliche Auffassung des Naturganzen und käme zu einem sehr
unphilosophischen Naturbegriff. Davon war schon die Rede.
Vollends ist die Erweiterung der biologischen Kategorien zu
Weltallkategorien, die das Wesen der Wirklichkeit erfassen
sollen, abzulehnen, und damit wird das Prinzip der biologisti-
schen Lebensphilosophie in Frage gestellt.
Zum Teil verdankt vielleicht der moderne Biologismus den
Anschein von „Lebendigkeit'' dem Umstand, daß er wissen-
schaftlich noch ungeklärte biologische Begriffe benutzt, deren
Hauptbedeutung in einer Reaktion gegen die voreilige darwini-
stische Mechanisierung besteht. Je klarer die Theorien der Bio-
logie naturwissenschaftlich herausgearbeitet werden, je mehr sie
„erklären", d. h. je besser logisch und begrifflich sie durchdacht
sind, um so deutlicher wird werden, daß auch sie zu den Leist-
nngen des „tötenden" Verstandes gehören und daher niemals
den Anspruch erheben dürfen, die lebendige Welt in ihrer un-
mittelbaren, anschaulichen und ursprünglichen Wirklichkeit zu er-
fassen. Das ist eben keinem Zweige der Naturwissenschaft
gegeben.
Was von selten der Lebensphilosophie gegen die Physik
geltend gemacht wird, daß sie sich von den unmittelbar realen
Erlebnissen entferne, trifft also im Prinzip auch die Biologie,
und so untergräbt der Biologismus mit seiner Kritik der „Wis-
— 110 —
senschaft" sein eigenes "Wirklichkeits-Fundament. Früher war
die Physik in der Philosophie Mode, heute ist es die Biologie.
Die Moden wechsehi, aber das Prinzip bleibt dasselbe: der Teil
soll das Ganze bedeuten. Jede Tendenz, die darauf hinauskommt,
ist gleich unphilosophisch. Den Kern der realen Welt, das ,,ens
realissimum", wird man weder auf dem einen noch auf dem
andern Wege ergreifen. Auch die Ansprüche des Biologismus,
Wirklichkeitsphilosophie zu sein, sind hinfällig. Das begriffene
Lebewesen ist nicht realer als die begriffene ,,tote" Natur. Der
Stein ist ebenso wirklich wie der Mensch.
Doch damit ist das, was wir aus der biologistischen Lebens-
philosophie lernen können, nicht in jeder Hinsicht erledigt. Ge-
rade die Verknüpfung des Biologismus mit dem intuitiven Prinzip
zeigt, daß eine noch weiter reichende Unklarheit ihren Tendenzen
zugrunde liegt. Wir haben den Punkt schon bei der Kritik der
intuitiven Lebensphilosophie gestreift. In diesem Zusammenhang
müssen wir noch einmal darauf zurückkommen.
Es ist nicht nur kein biologisches, sondern überhaupt kein
wissenschaftlich haltbares Ideal, die Wirklichkeit als Wirklichkeit
in ihrer „Lebendigkeit" erkennen zu wollen, falls man unter
Lebendigkeit und Wirklichkeit die Unmittelbarkeit, Anschauhch-
keit und Ursprünglichkeit versteht. Unlebendigkeit und Un-
wirklichkeit ist mit den Produkten nicht allein der generalisie-
renden Naturwissenschaft, sondern mit denen jeder Wissen-
schaft verknüpft.
Alles, was wir erkennen, entfernen wir damit von uns als
der lebendigen Realität, so daß wir es nicht mehr als real Le-
bendiges unmittelbar erleben. Es gibt keine Wissenschaft ohne
begriffliches Denken, und das gerade ist der ,,Sinn"
jedes Begriffes, daß er die Dinge in einen Abstand vom un-
mittelbar wirklichen Leben bringt. Das lebendigste Objekt,
worauf irgend ein Erkennen sich richtet, hört auf, real zu leben,
so weit es begriffen ist. Der Dualismus von Wirklichkeit und
Begriff ist niemals aufzuheben. Seine Ueberwindung würde zu-
gleich die Wissenschaft selbst überwinden. Ihr Wesen beruht
auf der Spannung zwischen unmittelbar erlebtem oder wirklichem
Leben und der Theorie des Lebens oder der Wirklichkeit.
Diesen Gegensatz haben Lebensphilosophen wie Bergson über-
— 111 -
zeugend zum Bewußtsein gebracht, soweit es die Wissenschaften
betrifft, die sie bekämpfen zu müssen glauben. Sie sind aber
auf halbem Wege stehen geblieben. Als wissenschaftliche Men-
schen sollten sie den Kampf gegen die Physik als mangelhafte
Wirklichkeitswissenschaft aufgeben, denn es wird ihnen nie ge-
lingen, eine Wissenschaft, die sich von ihr an Wirklichkeitsgehalt
prinzipiell unterscheidet, an ihre Stelle zu setzen. Sie
sehen den kleinsten Begriffssplitter im fremden Auge, und an
den eigenen Begriffsbalken denken sie nicht.
Statt darüber zu klagen, was die Wissenschaft nicht ver-
mag, sollte man zu verstehen suchen, was sie denn eigentlich
kann, obwohl sie niemals die Wirklichkeit in ihrer unmittelbaren
und ursprünglichen Lebendigkeit begreift, genauer: was sie leistet,
und worauf ihre Bedeutung beruht, gerade weil sie das, was
die Lebensphilosophen von ihr verlangen, nicht erst versucht, wo
sie ihr eigenes Wesen verstanden hat.
Die positive Seite der Frage nach dem Wesen der wissen-
schaftlichen Erkenntnis geht uns in diesem Zusammenhang nichts
an. Hier ist nur zu zeigen, daß die Lebensphilosophie, falls sie
Wissenschaft vom unmittelbar erlebten Leben sein und damit
universalistisch das Wesen alles Realen erfassen will, einem
Phantom nachjagt, einem Ziel, das nicht nur unerreichbar ist,
sondern dessen Erreichung keine theoretische Bedeutung hätte,
selbst w^enn man es erreichen könnte.
Warum die Biologie sich von der Physik und der Chemie
nur graduell unterscheidet, haben wir gezeigt. Wir müssen jetzt,
um zur vollen Klarheit zu kommen, zunächst noch einen Schritt
in derselben Richtung weitergehen.
Es gibt Wissenschaften, welche die Biologie an Lebensnähe
oder Lebensgehalt und damit an Wirklichkeitsgehalt übertreffen.
Zu ihnen gehört die Geschichte. Sie will in der Tat die leben-
dige individuelle reale Gestaltung, sei es des Einzelnen oder
der Masse, so weit erfassen, wie das dem Erkennen überhaupt
möglich ist. Aber auch sie muß, weil sie als Wissenschaft das
reale Leben begrifflich bearbeitet, das lebendige Leben „töten".
Nur relative Lebens- und Wirklichkeitsnähe ist ihr beschie-
den. Das Leben selbst erfaßt nicht einmal die Biographie, von
der man es ihrem Namen nach am meisten glauben könnte.
- 112 -
Kurz, es wird nie gelingen, Erkenntnis zu finden, deren Inhalt
sich mit dem unmittelbar erlebten und insofern^- realen Leben
deckt, und das heißt: es wird nie möglich sein, in logisch oder
wissenschaftlich verständlichen Sätzen vom Leben zu reden, in
deren Sinn das Leben selbst eingegangen ist, denn Worte müssen,
um logisch verständlich zu sein, allgemeine „Bedeutungen" haben,
und diese sind immer Begriffe.
Auch wenn man das Wort Begriff meiden wollte, hülfe das
nichts. Der Inhalt einer wissenschaftlich verständlichen Wort-
bedeutung ist stets etwas anderes als der Inhalt der unmittelbar
erlebten Wirklichkeit. Darüber täuscht nur die Vieldeutigkeit
des Wortes , .Leben" hinweg. Nicht alles, was wir ,, erleben",
ist lebendig und real. Wenn wir Begriffe oder wissenschaftliche
Wortbedeutungen erleben, wird Unlebendiges und Irreales er-
lebt. Begriffe vom Lebendigen sind keine lebendigen Begriffe.
Wir kommen damit wieder auf das zurück, was wir bei der
Kritik der intuitiven Lebensphilosophie von den Lebensformen
sagten. Gewiß gibt es Begriffe nicht nur vom Starren, sondern
auch vom Fheßenden. Aber die Begriffe werden nicht fließend,
sondern bleiben starr, selbst wenn sie Begriffe vom Fließenden
sind. Sonst wären sie keine Begriffe. Für diese Wahrheit, von
deren Verkennung ein großer Teil der modernen Lebensphilo-
sophen „lebt", können wir uns auch auf einen Lebensphilosophen
wie Simmel berufen. Er steht hier wieder über den Modeströ-
mungen, denn er weiß, daß der Begriff als Form sich nie ändert,
also nie real lebt. Form ist ihm „das zeitlos Invariable". Sie
entreißt das von ihr geprägte Materialstück der Kontinuität des
Nebeneinander und des Nacheinander, gibt ihm einen eigenen
Sinn, dessen Grenzbestimmtheit mit der Strömung des Gesamt-
seins, wenn sie wirklich stauungslos ist, nicht zusammen zu
bringen ist ^).
Hat man den Satz verstanden und eingesehen, daß er für
jeden Begriff gilt, der in Wahrheit ein Begriff ist, so ergibt sich
daraus zugleich noch etwas Weiteres. Da alles Denken der
Form oder des Begriffes bedarf, so kommt auch der Versuch,
das Leben in seiner Unmittelbarkeit als metaphysisches
Weltprinzip zu denken, auf einen unlösbaren Widerspruch hinaus.
1) Vgl. Georg Simmel, Lebensanschauung. ^.17.
— 113 -
Der Metaphysiker will doch ebenfalls über das Leben denken,
wenn er Metaphysik treibt, und dabei muß er das Leben, ge-
rade falls es das Weltprinzip sein soll, in eine Form bringen.
Ja er muß, will er überhaupt vom Leben theoretisch verständlich
reden, einen Begriff davon bilden, also das Leben in seiner un-
mittelbar erlebten Wirklichkeit töten. Gewiß ist der Mechanis-
mus nicht das ,, Wesen" der realen Welt, aber „das Leben" ist
es auch nicht. Die biologistische Lebensmetaphysik erklärt das
allein für wahrhaft real, was unmittelbar erlebt wird. Deshalb
soll das All der Welt „Leben" heißen. Daß nur unmittelbar Er-
lebtes real sei, kann man wohl sagen, aber dann muß man, um
konsequent zu bleiben, weitergehen und hinzufügen: was als
Realität unmittelbar erlebt wird, kann nie erkannt werden. Also
gibt es keine Metaphysik des Lebens.
Das bloße Erleben des Lebens ist kein Erkennen des wirk-
lichen Lebens. Alles Erkennen bedeutet ein Abrücken des zu
Erkennenden vom Leben, ein Verlegen in eine Sphäre, in der
es kein unmittelbar reales Leben mehr gibt. Es ist nicht einzu-
sehen, wie die biologistisch orientierte Metaphysik des Intuitionis-
mus hiervon eine Ausnahme bilden sollte. Alle ihre irrationa-
listischen Gedanken, die den Abstand von Begriff und Wirkhch-
keit zum Bewußtsein bringen und zum Teil sehr interessant sind,
richten sich gegen sie selbst. Warum bleibt sie nicht konsequent?
Dann müßte sie sich selbst vernichten. Das Leben als das un-
mittelbar Reale läßt sich nur erleben. Es spottet als unmittel-
bares Leben jedem Erkenntnisversuch.
Diese Einsicht mag man nun freilich auch eine , .Erkenntnis"
des Lebens und der Realität nennen, aber falls die Metaphysik
des Lebens nichts anderes sagen will als dies, dann ist sie zu-
gleich in dem einen einzigen Satz beschlossen: die unmittelbar
erlebte, also wahrhaft reale Welt ist das Leben. Jede weitere
Ausbildung einer solchen ,. metaphysischen" Wahrheit würde zu
einer begriffhchen Bearbeitung des realen Lebens und damit zu
seiner „Tötung" führen.
Ja sogar damit, daß man sie auf den einen Satz einschränkt,
ist der Lebensmetaphysik noch zu viel zugestanden. Nicht
einmal die Behauptung, alles unmittelbar erlebte, also wahrhaft
reale Sein sei Leben, erfaßt das Reale in seiner Ursprünghchkeit,
R i c k e r t , Philosophie d. Lebens- 8
— 114 —
denn schon dadurch, daß wir das, was wir unmittelbar erleben,
„Leben" oder ,, Lebenswirklichkeit" nennen, und nun, statt das
Leben zu erleben, theoretisch diese Bedeutung des Wortes, ,, Le-
ben'' erleben, hö'-t das, was wir dabei erleben, auf, unmittel-
bar erlebtes Leben zu sein. Jede theoretisch verständliche Be-
zeichnungnimmt dem Leben seine unmittelbar reale Lebendigkeit.
Es kommt durch den Namen ,, Leben", den wir theoretisch ver-
stehen, in die Sphäre des Begriffs und ist getötet. Das bloße
Erleben des realen Lebens ist stumm geboren und kann nie eine
Sprache finden. Das „Wesen" der realen Welt muß, um seine
Unmittelbarkeit und Realität nicht zu verheren, anonym bleiben.
Diese Einsicht hat gewiß ihren Wert. Doch bringt sie uns
nur zum Bewußtsein, wie fern alle Erkenntnis vom realen Leben
abliegt. In dem Augenblick, in dem wir mit dem Erkennen
beginnen, hören wir auf, nur zu leben oder nur Lebendiges und
unmittelbar Reales zu erleben. Keine Lebenslehre, keine Philo-
sophie des Lebens enthält das reale Leben selbst. Philosophie
fängt, ebenso wie andere Wissenschaften, immer erst an, wenn
man sich das unmittelbar reale Leben als etwas fremdes gegenüber-
gestellt hat und so selber dem realen Leben fremd, also un-
lebendig geworden ist. Gerade durch den Hinweis auf die Un-
mittelbarkeit des Lebens wird der Antagonismus zwischen Wissen-
schaft und wirklichem Leben deutlich, wobei wir noch ganz davon
absehen, daß „Realität" oder „Wirklichkeit" selbst nur Er-
kenntnisformen sind und als solche nicht zum realen oder wirk-
lichen Leben gehören. In dieser transzendentalphilosophisch^n
Hinsicht wollen wir den Gedanken, wie unmöglich es ist, beim
Philosophieren über das Leben sich auf das Leben zu beschränken^
nicht ausführen. Das würde uns weit von aller Lebensphilosophie
der Zeit weg zu den zeitlosen philosophischen Problemen bringen.
Es genügt, wenn wir feststellen: die Anklagen der Lebens-
philosophie gegen den Begriff kommen auf eine Halbheit hinaus.
Gewisse Arten von Begriffen werden in ihrer Unlebendigkeit
durchschaut. Andere übernimmt man völlig unkritiscli. Man
mache doch Ernst mit der Einsicht, daß alle Begriffe das reale
Leben nicht so enthalten, wie man es erlebt, und daher auch nicht
die unmittelbare Lebenswirklichkeit erfassen. Dann wird man
den hoffnunsslosen Versuch aufgeben, das Leben, wie es erlebt
— 115 —
wird, in irgendeine Erkenntnis aufzunehmen. Die Lebensphilp-
sophie sollte vor allem vor ihrer eigenen Tür fegen, d. h. ihre
eigenen Begriffe auf ihren Lebens- und WirkUchkeitsgehalt prüfen.
Sie macht denselben Fehler, den sie bei anderen rügt, und sie
kann nicht anders als diesen Fehler machen.
Aber es i s t kein Fehler. Der Fehler besteht darin, daß
man darin einen Fehler sieht und ihn innerhalb irgend einer
Philosophie für vermeidlich hält. Wer das lebendige Leben er-
leben will und so das „Wesen" der realen Well finden (oder wie
man es sonst nennen mag, denn auf Namen kommt es beim
Leben nicht an, die bedeuten nur beim Erkennen etwas), der
mui3 die Wissenschaft aufgeben und die Welt in ihrer Reahtät
für unerkennbar erklären. Das aber wäre ebenso wie die bio-
logistische Erkenntnistheorie, die das Erkennen in den Dienst
des Nutzens stellt, ein Rückfall in jenes Stadium, in dem der
theoretische Mensch noch nicht exi.>tierte, und in dem man die
Welt nur erlebte. Das kann man also nicht als philosophischen
„Fortschritt" preisen.
Allerdings ist gewiß nicht ausgemach.t, daß das theoretische
Verhalten das wertvollste von allen und dementsprechend die
Wissenschaft das höchste Kulturgut oder gar das höchste Gut
überhaupt sei. Vielleicht ist es ein „Einwand" gegen die Wissen-
schaft, daß sie den Menschen so weit vom lebendigen und un-
mittelbar realen Leben entfernt. Die Anhänger mancher Lebens-
philosophie sind nicht nur der Wissenschaft, sondern aller
Kultur wegen ilirer Lebensferne feindlich gesinnt. Aber ob sie
recht haben, geht uns in diesem Zusammenhange nichts an,
denn wissenschaftlich können sie nie „recht" haben. Wissen-
schaftlich kann ihr Einwand gegen die Wissenschaft nicht sein.
Alle Wissenschaft ist notwendig etwas wider das bloße Leben
in seiner unmittelbaren Realität. Wer nach Wahrheit sucht,
bleibt nicht beim lebendigen Leben allein, gleichviel ob er in-
tuitive Lebensmetaphysik oder eine andere Wissenschaft treibt.
Ueber das Wirklichkeitsprinzip des Biologismus und seine
Verbindung mit dem Lebensprinzip ist nicht mehr viel zu sagen.
Es fehlt an einem W^Jrklichkeits p r i n z i p, auf Grund dessen
verständlich wird, wie das Leben in seinem realen Sein erkannt
werden soll. Von vornherein wiesen wir auf den engen Zusammen-
8*
— 116 —
hang zwischen Biologismus und Intuitionismus hin. Schon die
Erinnerung an einen Denker wie Bergson würde genügen, um
diese Beziehung außer Frage zu stellen. Der Biologismus hat
sich, falls man mit dem Versuch, ihn zu einer umfassenden
Wirklichkeitslehre und damit zu einer Weltanschauung auszu-
bauen, Ernst macht, so gestaltet, daß das reale Leben nur noch
das unmittelbar Erlebte bedeutet, und damit ist der Biologismus
in Intuitionismus aufgelöst. Das nimmt ihm vielleicht den Lebens-
zauber, der für Viele an ihm haftet, und gerade das war not-
wendig. Man muß den modernen Intuitionismus gründlich ent-
zaubern, damit klar wird, wie wenig die Philosophie des
Lebens mit ihm anfangen kann, und das geschieht am besten
im Anschluß an die biologistische Lebensphilosophie, in der
alle Fäden zusammenlaufen.
Zum Zweck dieser Entzauberung sei endlich noch eine Be-
merkung hinzugefügt. Wir haben von einem , .Phantom" ge-
sprochen, dem der mit dem Intuitionismus verbündete Biologis-
mus nachjagt, und das er niemals erreichen wird. Phantome
behalten jedoch für manche etwas Verlockendes, und so wird
man vielleicht immer von Neuem versuchen, das Ziel, sich der
unmittelbar erlebten Lebenswirklichkeit zu bemächtigen, dennoch
auf irgend einem Wege zu erreichen. Daher sei ausdrücklich
hinzugefügt, daß die Unmöglichkeit des Erreichens nur für den
erkennenden Menschen behauptet w erden soll. Sobald wir
nicht mehr zu erkennen wünschen, ist das Ziel, welches der
intuitive Biologismus sich steckt, so wenig unerreichbar, daß
vielmehr jeder von uns es in jeder w-achen Minute seines
Lebens erreicht hat, ohne sich dabei besonders anzustrengen.
Er erlebt die Lebenswirklichkeit fortwährend intuitiv. Er
braucht sich nur diesem Erleben ausschließlich hinzugeben
und sich dabei durch keines Gedankens Blässe ankränkeln zu
lassen, dann befindet er sich dauernd in dem Zustande der reinen
Intuition, die unmittelbar mit dem realen Leben eins wird *),
1) Insofern hat Fritz Münch recht, wenn er in seinem
lesenswerten Buch über Erlebnis und Geltung (1913) von der
„Welt als Dösnis" spricht. Was Scheler dagegen vorbringt, trifft
nicht den Kernpunkt.
— 117 —
und falls jemand daran seinen Spaß findet, soll ihm das unbe-
nommen sein.
Aber auf diesem Wege kommt man gewiß nicht zur Philo-
sophie. Theoretisch hat dies reine Erleben entweder gar keine
Bedeutung, oder es ist als erste Vorstufe für das Erkennen an-
zusehen. Doch schon als Vorstufe ist es nicht mehr rein intuitiv.
Es regt dann zum Fragen an, und jede Frage führt vom in-
tuitiven Erleben fort. Auch wird der Erkennende zum minde-
sten etwas „Neues" anschauend erleben wollen, das er noch
nicht kennt. Um aber das Neue vom Alten, Bekannten zu
unterscheiden, bedarf er eines Prinzips der Auswahl und ist da-
mit ebenfalls aus der gepriesenen Intuition heraus, denn Auswählen
gehört wie Fragen zu dem bösen Denken, welches das intuitive
Erleben tötet.
Achtes Kapitel.
Kritik des biologistischen Wertprinzips.
,,Dies eine fühl ich und erkenn es klar,
Das Leben ist der Güter höchstes nicht."
Chor.
Doch das alles betrifft nur die eine Seite der Lebensphilo-
sophie, ihren Anspruch, das reale Sein der Welt als Leben
zu begreifen oder vielmehr nicht zu begreifen, sondern intuitiv
zu erfassen, und wenn man auch eingesehen hat, daß hier ein
Erkenntnisziel aufgestellt wird, das kein Erkenntnis ziel
ist, so bleibt doch in der Biologie als Wissenschaft der Unter-
schied des Lebendigen und des Toten erhalten. Daher kann man
glauben, auf ihn lasse sich nach wie vor eine Lebensphilosophie
stützen, sobald sie nur darauf verzichtet, das , »Wiesen" des
Weltalls einheitlich zu ergründen, und sich auf ein Verständnis
des menschlichen Lebens beschränkt.
Das vitale Leben allein zeigt im Gegensatz zum Toten den
Unterschied des Aufblühens und Verwelkens. Darin scheint der
Maßstab für eine Würdigung nicht nur des natürlichen, sondern
auch des Kulturlebens zu stecken, wie es zum Ausdruck kommt
im Staat und in der Kunst, in der Wissenschaft und in der
— 118 —
Wirtschaft, in der Familie und in der Religion. So bleibt die
Frage bestehen: ist es möglich, die echten Werte den Lebens-
werten gleichzusetzen und damit die Grundlage für das Ver-
ständnis des Sinnes, den unsere Kultur besitzt, der Wissenschaft
vom Leben zu entnehmen?
Wollen wir zu einer prinzipiellen Entscheidung auch darüber
kommen, so müssen wir die naturwissenschaftlich begründete
Kultur Philosophie des Biologismus ebenfalls mit Rücksicht
auf ihre wissenschaftliche Struktur durchschauen. Ihre allge-
meinste Voraussetzung ist offenbar die, daß eine Naturwissen-
schaft überhaupt imstande sei, uns in Wertfragen theoretisch
zu orientieren. Ist diese Ansicht gerechtfertigt? Nur durch
eine Antwort hierauf können wir zur prinzipiellen Klarheit über
den Biologismus kommen. An ihr hängt die Entscheidung über
das biologistische Wertprinzip.
Vielleicht wird man geneigt sein, die Frage zu bejahen, und
zwar auch dann, wenn man von der Biologie im Besonderen ab-
sieht. Es liegt z. B. auf der Hand, daß die Physik dem Tech-
niker Normen gibt, die er für seine Arbeit braucht. Ist eine
Brücke über einen Fluß zu bauen, die eine bestimmte Last zu
tragen hat, so muß man sich an die Physik wenden. Sie sagt,
wie man beim Bauen verfahren soll. Warum ist das möglich?
Die Physik konstatiert doch nur, was ist, oder lehrt Kausal-
zusammenhänge kennen. Sie zeigt: dieser Vorgang hat notwen-
dig diesen Effekt. Darin liegt von Normgebung nicht das Ge-
ringste. Nur vom Müssen ist die Rede, und das scheint sogar
jedes Sollen sinnlos zu machen.
Trotzdem kann die Physik dem Techniker, der Maschinen
zu bestimmten Zwecken bauen will, sagen, was er dabei tun soll.
Die Verhältnisse von Ursache und Effekt lassen sich in Gedan-
ken umkehren. Man geht vom Effekt aus und fragt nun nach
den Bedingungen, die vorhanden sein müssen, um ihn zustande
zu bringen. Die Gesamtheit der Bedingungen schließt sich dann
mit Rücksicht auf den Effekt zu einer Einheit zusammen. So
entsteht aus dem kausalen Verhältnis ein konditionales, wie wir
es nennen wollen, und eine bestimmte Art von Einheit, in der
die Bedingungen stehen. Auch diese Begriffe sind allerdings
von Elementen, die zur Normgebung dienen können, noch frei.
— 119 —
Jetzt aber tritt etwas Neues, nämlich der "Wille des Technikers
hinzu. Er setzt einen bestimmten Effekt als „Zweck", d. h.
verknüpft mit ihm einen "Wert, und sofort verwandeln sich für
ihn die Bedingung?n, welche die Physik als notwendig zur Er-
reichung des Effektes kennen lehrt, in Mittel, die er anwenden
soll, um seinen Zweck zu verwirklichen. Aus dem Zusammen-
hang, der zuerst ein kausaler war, dann ein konditionaler wurde,
ist ein teleologischer geworden, und die konditionale
Einheit der Bedingungen muß nun ebenfalls eine teleologische
Einheit sein. Für jeden, der den Zweck will, haben die zu seiner
Erreichung notwendigen Mittel normative Bedeutung.
Damit ist die Struktur einer auf die Naturwissenschaft gegrün-
deten und Normen aufstellenden Technik klar. Man muß nur,
was meist nicht geschieht, die drei verschiedenen Arten des Zu-
sammenhangs, der in den kausalen, in den konditionalen und
in den teleologischen "Verhältnissen steckt, auseinanderhalten und
darf besonders nicht glauben, daß durch bloße Umkehrung des
kausalen Verhältnisses in ein konditionales, ohne Hinzufügung
von etwas Neuem, schon ein teleologisches "Verhältnis entsteht.
Der Zweck kommt in die konditionalen Verhältnisse der Tech-
nik immer erst durch den "Willen des Menschen hinein. Nur
er setzL Zwecke und verwandelt dadurch die Bedingungen in
Mittel, aus denen sich Normen ableiten lassen. Die Physik selbst
kennt Zwecke nicht und ist daher außerstande, für sich Nor-
men zu geben. Das geht, falls es noch nicht klar sein sollte, auch
daraus hervor, daß zur Erreichung des Wertlosen oder des
"Wertfeindlichen die Lehren der Naturwissenschaft ebenso die
Mittel an die Hand geben, wie zur Realisierung von Gütern, an
denen "Werte haften.
Von einer Begründung irgendwelcher Lebensziele durch
die Physik selbst darf also nicht gesprochen werden, und man
tut dies wohl auch nicht. Nur falls man in der naivsten Weise
Zweck und Mittel miteinander verwechselte, oder die Werte, die
an bestimmten, von Menschen gesetzten Zwecken haften, für
Werte hielte, die den zu ihrer Verwirklichung notwendigen
Mitteln selbst zukommen, könnte man hier zweifeln. Es ge-
nügt eine elementare Ueberlegang, um einzusehen, daß der Wert
einer technisch noch so vollkommenen Maschine ausschließlich
— 120 —
von dem Wert abhängt, den der Mensch ihren Leistungen bei-
legt, und daß es daher ohne Rücksicht auf menschliche Wert-
setzungen keinen Sinn hat, von technischer ,, Vollkommenheit"
zu reden.
Liegt es nun aber bei der Gewinnung von Normen aus einer
Naturwissenschaft überall so, wie bei der auf die Physik ge-
stützten Technik ? Die Biologisten werden zwischen Physik und
Biologie gerade mit Rücksicht auf den Zweckgesichtspunkt einen
prinzipiellen Unterschied machen, der sogleich zutage tritt, wenn
wir das Verhältnis der Technik zur Physik mit dem Verhältnis
der Therapie zu den organischen Naturwissenschaften vergleichen.
Der Arzt entnimmt die Normen, die er braucht, der Biologie,
und tut er dies nicht, ohne erst Zwecke in ihre Begriffe hinein-
zutragen? Er lernt von ihr die Bedingungen des lebendigen
oder gesunden Lebens kennen, und diese werden für ihn doch
unter allen Umständen zu Mitteln, die er anwenden soll. Liegt
also die Fähigkeit der biologischen Disziplinen zur Normgebung
nicht auf der Hand?
Der Biologe behandelt Organismen in ihrer Entwicklung.
Nur dadurch gewinnt er überhaupt ein eigenes Gebiet. Sowohl
„Organismus" als auch „Entwicklung" sind Begriffe, die die
Physik nicht kennt. Jeder Organismus nämlich ist ein Ganzes,
dessen Teile Bedingungen dieses Ganzen sind, und er besitzt in-
sofern eine konditionale Einheit : nur durch das Zusammenwirken
seiner verschiedenen Teile in einer bestimmten Richtung „lebt"
er und ist er überhaupt ein „Organismus". Stehen aber seine
Teile im Dienst des Ganzen, so sind sie Mittel zu dessen Er-
haltung, und es ist also der Begriff des Organismus notwendig
auch der einer teleologischen Einheit. Ebenso heißt Entwick-
lung stets mehr als eine Reihe von rein kausalen Veränderungen.
Die Veränderungen weisen auf das Endstadium, das durch sie
hin sich „entwickelt". Die früheren Stadien sind einmal die
Bedingungen zu seiner Erreichung und außerdem dadurch, daß
das Endstadium als Ziel gedacht wird, ebenfalls Mittel, die zu
ihm hinführen. Die biologische Entwicklung ist also, ebenso
wie der Organismus, ein teleologischer Begriff. So sieht man,
daß die Biologie, auch als reine Naturwissenschaft, in der Tat
des teleologischen Momentes nicht entbehren kann. Ein „me-
\
— 121 —
chanischer Organismus" ist ein Widersinn, falls unter Mechanis-
mus das verstanden wird, was jede Teleologie begriffHch aus-
schließt. Organismus kommt von Organen, d. h. "Werkzeug her,
und das Wort hat eine eminent teleologische Bedeutung.
Daraus scheint dann aber auch weiter zu folgen : wo in der
Wissenschaft Zwecke als Zwecke behandelt werden, da gelten die
Werte, um deretwillen die Dinge Zwecke sind, und dann gelten
auch die Mittel, die zu ihrer Verwirklichung dienen, als Normen.
Man braucht somit nur die Zwecke der Lebewesen und die Be-
dingungen ihrer Erreichungen festzustellen, so kann man auch
die Mittel angeben, die als natürliche Normen gelten müssen.
Noch besser als vorher verstehen wir jetzt, warum man daraus,
daß z. B. die Entwicklung der Organismen durch die natürliche
Auslese bestimmt ist, versucht hat. Normen für die Gestaltung
des Lebens abzuleiten. Was sich als Mittel für die teleologische
Entwicklung der Lebewesen nachweisen läßt, muß dadurch zu-
gleich normative Bedeutung erhalten. Es scheint also das Prin-
zip einer biologistischen Kulturphilosophie glänzend gerecht-
fertigt.
Trotzdem liegt auch diesen Gedanken eine prinzipielle Un-
klarheit zugrunde, und zwar beruht sie, wie so häufig bei weit-
verbreiteten Ansichten, auf der Zweideutigkeit eines Wortes, die
wir bisher absichtlich nicht haben hervortreten lassen. Man redet
bekanntlich von Teleologie, weil Zweck auf griechisch Telos heißt.
Eine gewisse Art von Teleologie in der Biologie ist nun, wie wir
sahen, zweifellos unentbehrlich. Aber Telos heißt nicht nur Zweck,
sondern bedeutet auch Ende oder Resultat, und nur wenn es
Zweck heißt, ist es ein Wertbegriff, den man zur Ableitung von
Normen brauchen kann. Der Begriff des Endes dagegen ist wert-
frei und zu jeder Normgebung ungeeignet. Deshalb hängt alles
daran, ob die Biologie das ,, Telos" nur als „Ende" oder auch
als „Zweck" nicht entbehren kann.
Die Entscheidung ist wohl nicht allzu schwer, ^yir sahen
bei Feststellung des Verhältnisses von Physik und Technik: die
kausale Betrachtung- läßt sich umkehren, und das heißt nichts
anderes, als: man geht vom Ende oder Resultat zurück auf dessen
Bedingungen. Diese schließen sich dann zu einer konditionalen
Einheit zusammen. Eine solche vermag nun in der Tat die
— 122 —
Biologie nicht zu entbehren, wenn sie von Organismen oder von
Entwicklung spricht, während die Physik ohne sie auskommen
kann, ja auskommen muß, falls sie rein kausal verfahren will.
Das unterscheidet also die Biologie prinzipiell von der Physik.
In dieser ist zwar eine solche Umkehrung auch möglich. Man
kann z. B. die Geschwindigkeit eines fallenden Steines vom Ende
her ansehen als „Entwicklung" der Geschwindigkeit, die er bei
seinem Aufschlagen erreicht. Aber das ist physikalisch eine
willkürliche Betrachtung. In der Biologie dagegen sind die
Glieder eines Organismus notwendig als Bedingungen des Ganzen
gedacht, und ebenso besteht jede Entwicklung aus einer Reihe
von Vorstufen, die notwendig sind, wenn das Endstadium er-
reicht werden soll. Insofern steckt die konditionale Einheit
in den biologischen Begriffen selbst, und nennt man nun das
Ende „Telos", dann verfährt also die Biologie, die von Organis-
men und Entwicklung redet, auch als reine Naturwissenschaft
in der Tat teleologisch.
Aber aus welchem Grunde betrachtet man dies biologische
Telos als „Zweck", d. h. als etwas, an dem ein Wert haftet,
und das deshalb sein soll? Zu einer Wertung der konditionalen
Einheiten, als welche sie die Organismen und Entwicklungen
auffassen muß, hat die Biologie, solange sie Naturwissenschaft
bleiben will, kein Recht. An dem, was sie Telos nennt, haftet
kein Wert, und die zur Erreichung dieses Telos notwendigen Be-
dingungen sind daher auch nicht Mittel von normativer Bedeu-
tung. Vielmehr entsteht, genau wie bei der physikalisch be-
gründeten Technik, ein Zweck immer erst durch den wertenden
Willen des Menschen. Von einem solchen Willen aber muß die
Biologie schon deswegen absehen, weil sie Körperwissenschaft
ist. Man kann gewiß sagen, das Ende soll gewollt werden, weil
Werte, die gelten, daran haften. Aber diese Werte gehen die
Biologie nicht das Geringste an. Wie sollte sie als Naturwissen-
schaft eine Wertgeltung und Zwecksetzung begründen ? Wir sehen
also: das Wort Telos hat uns irregeleitet, wenn wir glauben,
es bestünde auch mit Rücksicht auf Werte und Zwecke ein
prinzipieller Unterschied zwischen Physik und Biologie. Beide
Wissenschaften verfahren, richtig verstanden, völlig wertfrei.
Beide liefern daher für sich allein auch keine Normen. Die
— 123 —
Unterschiede zwischen Physik und Biologie sind in diesem Zu-
sammenhang unwesentlich.
Angedeutet sei nur noch, dai3 das wert teleologische Mo-
ment, wie man, um Venvechslungen mit der wertfreien Teleologie
vorzubeugen, sagen kann, auch aus einem andern Grunde nicht
zum Kennzeichen des Biologischen im Gegensatz zum Physika-
lischen gemacht werden darf. Jede Maschine, die zu einem be-
stimmten Zweck erfunden ist und diesen Zweck erreicht, ist eben-
falls ein durch und durch wertteleologischer Zusammenhang.
Trotzdem ist in ihr von irgend etwas Lebendigem keine Rede,
sondern sie läßt sich restlos als totes Gebilde erklären. Sie ist
ein in den Dienst von Zwecken gestellter Mechanismus, dessen
mechanische Zusammenhänge nun nicht nur konditional, sondern
auch wertteleologisch aufgefaßt werden. Das, was die Organis-
men physikalisch unerklärlich macht, kann also nicht ein wert-
teleologisches Moment sein. Es sind vielmehr, wie hier nicht
weiter zu zeigen ist, gewisse, den physikalischen Begriffen gegen-
über irrationale Elemente in den Organismen, die uns hindern,
sie als Maschine zu verstehen, und das hat für das Wertproblem
keine Bedeutung.
Für uns ist der Unterschied zwischen Biologie und Physik
jedenfalls nur in der Hinsicht wichtig, daß die Technik bei ihrer
Normgebung für den Bau von Maschinen die physikalischen
Kausalreihen erst in konditionale Zusammenhänge verwandeln
muß, um dann wertteleologische Zusammenhänge aus ihnen
zu machen, während die Therapie in der Biologie selbst schon
konditionale Reihen fertig vorfindet. So entsteht der Schein,
als stünden biologische Begriffe auch der Wertteleologie näher.
Aber dieser Schein trügt. Die Verbindung des Endeffektes mit
einem Werte, also die Zwecksetzung und die daraus hervorgehende
Verwandlung der Bedingungen in wertvolle Mittel, ist nicht nur
in der Technik, sondern auch in der Therapie ausschließlich Sache
des Willens. Dort wertet der Wille Maschinen, hier wertet er
das Leben oder die Gesundheit. Ohne ihn gäbe es weder Technik
noch Therapie. Die Normgebung auch des Arztes liegt daher
gänzlich außerhalb der biologischen Naturwissenschaft. Nicht
von dieser, sondern allein vom Willen des Menschen, der Leben
und Gesundheit wertet, wird sie getragen. Damit ist aber dem
— 124 —
Biologismiis jede Stütze genommen, auf Grund deren er den
Anspruch erheben kann, Normen für die Lebensgestaltung auf-
zustellen, oder den Sinn des Lebens aus dem Leben selbst auf
Grund der Biologie zu deuten.
Ja, wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Die Bio-
logie enthält nicht nur keine Faktoren, welche sich zur Norm-
gebung eignen, sondern jede Verbindung ihrer konditionalen Zu-
sammenhänge mit Werten ist dem Geiste gerade der modernen
Biologie als Wissenschaft durchaus entgegengesetzt und gehört
nur noch dem vorwissenschaftlichen Zustande an. Daß ein Lebe-
wesen das Leben als Gut schätzt, und daß der Mensch das mensch-
liche Leben wertet, das ist freilich „selbstverständlich". Durch
diese Zwecksetzungen, die Jeder ohne ausdrückliche Besinnung
darauf, gewissermaßen triebartig vollzieht, sind daher überall
die konditionalen Zusammenhänge der Lebewesen in wertteleo-
logische verwandelt worden, und als solche treten sie nun dem
Forscher entgegen, wenn er ihre wissenschaftliche Untersuchung
beginnt. Es erscheint zunächst fraglos, daß die biologische Ent-
wicklungsreihe eine Fortschrittsreihe ist, weil sie zum Menschen
hinführt, daß es „höhere" und „niedere" Tiere gibt, je nachdem
sie dem Menschen näher oder ferner stehen usw. Von diesem
vorwissenschaftlichen Standpunkt aus werden dann ganz naiv
auch die gewaltigen „Errungenschaften" angestaunt, die das
Leben vom Bazillus bis zum ^Menschen durch den natürlichen
Entwicklungsgang ,,aus sich selbst heraus" zustande gebracht
hat. Das biologische Gebiet ist also für den Menschen von vorn-
herein mit lauter Wertakzentfen gewissermaßen übersät, und das
ist vom Standpunkte des wollenden Menschen aus, der sich
selbst als Zweck setzen muß, nur konsequent. Wer den Zweck
will, muß die Mittel wollen. Er w'ird daher das ganze Gebiet
des Biologischen in einen wertteleologischen Zusammenhang mit
seinem eigenen, von ihm gewerteten Leben bringen.
Aber die naturwissenschaftliche Biologie hat mit diesen
Wertgesichtspunkten so wenig zu tun, daß es vielmehr ihre
Aufgabeist, mit all den naiv anthropomorphistischen Schätzungen
und wertteleologischen Begriffsbildungen gründlich aufzuräumen.
Sie verdankt einen großen Teil ihrer Erfolge in der Neuzeit gerade
der immer weiter fortschreitenden Ausscheidung von Werten und
— 125 —
Zwecken. Besonders interessant ist für die Beurteilung des
Biologismus hier wieder der Begriff der „Auslese" oder „Zucht-
wahl", wie man auch sagt. Er hat ursprünglich einen prakti-
schen, wertteleologischen Sinnv wie schon die Wortbedeutungen
verraten. Darwin hatte beobachtet , wie Tierzüchter durch
zielbewußte Auslese die Organismen in einer gewollten Richtung
stark verändern können. So war die Variationsmöglichkeit fest-
gestellt. Bei einer wissenschaftlichen Erklärung der allmählichen
Veränderung in der Natur jedoch, wo kein zwecksetzender Wille
die Auslese besorgt, mußte er jedes Zielbewußtsein und damit
jeden Zweckgesichtspunkt ausschalten, also die „Auslese" durch
einen von jedem Zweckgedanken freien Begriff ersetzen, dem er
dann den Namen der „natürlichen" Auslese gab.
Gleichviel, ob er recht hatte: es sollte dieser Begriff im
Gegensatz zur zielbewußten künstlichen Auslese verständlich
machen, wie ohne jeden Zweck Gebilde zustande kommen, die
trotzdem vom Standpunkt ihres bew'ußten Willens notwendig als
zweckmäßig aufgefaßt werden. Die natürliche Auslese darf mit
anderen Worten gerade nicht ,, Auslese", d. h. nicht zielbe-
wußte Auslese sein. Nur wenn man an die Entstehung der Dar-
winschen Theorie denkt, wird verständlich, w^arum trotzdem das
teleologisch klingende Wort und andere Ausdrücke wie ,, Nutzen",
,, Anpassung" usw. beibehalten worden sind. Die Befreiung von
jeder Teleologie bleibt der Sinn dieser Lehre. Sie will eigentlich
sagen, die Organismen sind so geworden, wie sie mit kausaler
Notwendigkeit werden mußten. Erst nachdem sie da sind, wird
ihr Sein von ihnen selbst als Zweck gesetzt, und nun nach-
träglich, durch die erörterte Umkehrung, von ihnen der
rein kausale Zusammenhang zuerst in einen konditionalen und
endlich in einen wertteleologischen verwandelt. Oder: nicht
wegen ihrer Zweckmäßigkeit sind die Organismen gerade so, wie
sie nun einmal sind, und können sich in diesem ihrem Dasein so
erhalten, sondern: weil sie so geworden sind, wie sie sind, und
sich deshalb auch so erhalten können, werden sie von sich selbst
in diesem ihnen wertvollen Dasein als zweckmäßig aufgefaßt.
Das ist der Gedanke, in dem alle teleologischen Zusammen-
hänge in der Sache selbst schwinden und die kausalen allein
übrig bleiben sollen. Der Zweck wird aus den biologischen
— 126 —
Objekten in die wertende Auffassung des Menschen verlegt, wo
er die kausale Forschung nun nicht mehr stört.
Trotzdem hat man gerade die Auslese in wertteleologischem
Sinne zur naturwissenschaftlichen Begründung von Kulturzielen
verwenden wollen. Das läßt die Klarheit mancher Darwinisten
über das Wesen ihrer eigenen Prinzipien in einem merkwürdigen
Licht erscheinen, und mit den antidarwinistischen Biologisten
steht es in dieser Hinsicht nicht anders. Richtig allein ist
dies. Falls die biologische Entwicklung durch die „natürliche"
Auslese bedingt ist, also ohne jeden Zweck oder Nutzen oder
Wert zustande kommt, so ergibt sich daraus, daß sie eben nicht
als natürliche Fortschrittsreihe angesehen werden darf, denn
Fortschritt ist ein Wertbegriff und setzt ein wertvolles Ziel vor-
aus, dem die Reihe sich allmählich annähert. So hat überall
die konsequent naturwissenschaftliche Betrachtung die Wert- und
Zweckbegriffe verdrängt. Die moderne Biologie stellt den Men-
schen in eine Reihe mit den übrigen Lebewesen. Sie nimmt
ihm also seine Ausnahmestellung als „Höhepunkt", soweit er nur
ein Lebewesen ist, und das Andere, wodurch der Mensch diese
Ausnahmestellung vielleicht verdient, geht sie nichts an.
Aus demselbem Grunde bilden endlich auch die Begriffe
des aufsteigenden und des niedergehenden Lebens vom biolo-
gischen Standpunkt aus keinen Wertgegensatz, und gesund und
krank sind nicht mehr rein biologische Begriffe, falls man dar-
unter Wert und Unwert versteht. Wenn der Mensch krank ist,
leben die Bazillen, und wenn die Bazillen sterben, wird der
Mensch gesund. Es ist gewiß Sache des menschlichen Willens,
hier Partei zu ergreifen und die menschliche Gesundheit als
Zweck zu setzen. Dann aber kann nicht das Leben, sondern
nur der Tod der Bazillen der Zweck sein, und es wird also durch-
aus nicht alles Leben als Gut gesetzt.
Der naturwissenschaftlichen Biologie liegt solche Parteinahme
fern. Was lebt und was stirbt, das gilt ihr ganz gleich. Für
sie sind Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit verschiedene
Tatsachen, nicht Träger von Wert und Unwert. Alle Wert-
setzungen sind von ihrem Standpunkte vielmehr ein ebenso
,, kindlicher" Anthropomorphismus wie der Glaube, die Erde sei
für die Menschen da, und die Tiere und Pflanzen hätten „von
— 127 —
Natur" den Zweck, dem Menschen zur Nahrung zu dienen.
Wenn vollends, wie das oft geschieht, die heftigsten Gegner aller
Naturteleologie zugleich für Naturfortschritt schwärmen und
damit einen so eminent wertteleologischen Begriff zur Grund-
lage ihrer „naturwissenschaftlichen" Weltanschauung machen,
dann ist das eine nicht mehr zu überbietende Konfusion.
So sehen wir von neuem: gerade die grundlegenden Ge-
danken des Biologismus als Kulturphilosophie schweben nicht
nur haltlos in der Luft, sondern stehen im schroffen Widerspruch
zum echt naturwissenschaftUch biologischen Denken.
Der Biologie als Naturwissenschaft die Fähigkeit zur Wert-
setzung und Normgsbung absprechen, heißt nicht etwa, wie
manche Biologen zu glauben scheinen, diese Wissenschaft herab-
setzen. Im Gegenteil, es heißt sie auf dieselbe wissenschaftliche
Höhe heben, auf der die Physik und die Chemie schon seit
langer Zeit stehen. So lange die Biologie ihre naturwissen-
schaftlichen Theorien mit Wertsetzungen vermengt, kann sie
über ihre Prinzipien nicht zur Klarheit kommen. Der Streit
um Mechanismus und Teleologie bleibt dann unfruchtbar. Nur
der Umstand, daß Prinzipien der Biologie zu „philosophischen"
Prinzipien gemacht wurden und eine ganze , .Weltanschauung"
aufbauen sollten, erklärt es, daß nicht jedem Biologen die
Notwendigkeit einer Auseinanderhaltung von Naturbegriffen und
Wertbegriffen und die Sinnlosigkeit einer biologischen Norm-
gebung schon längst klar geworden ist. Der Mißbrauch bio-
logischer Begriffe zu „philosophiochen" Zv/ecken hat auf die Bio-
logie selbst ungünstig zurückgewirkt. Früher gab es solche Ver-
wirrungen sogCfr in der Physik. Auf Newtons Gravitationsgesetz
wollte man auch ethische Normen gründen. Das nimmt heute
wohl niemand mehr ernst. Der Denkfehler, der dabei gemacht
wurde, war im Prinzip aber genau derselbe, der heute dazu
führt, die biologischen Begriffe der „natürlichen Auslese" oder
des „Kampfes ums Dasein" oder der Lebenssteigerung und der
Machtentfaltung zur Beurteilung des sittlichen Lebens zu be-
nutzen. Es wird hoffenthch bald die Zeit kommen, in der beide
Arten von Versuchen uns gleich absurd erscheinen.
Damit ist jedoch unser Problem nicht in jeder Hinsicht er-
ledigt. Wir müssen noch eine andere Frage stellen. Hat die
— 128 —
Wertung des Leijens oder gar seine Gleichsetzung mit dem höch-
sten Gute, wenn sie auch auf jede naturwissenschaftlich-bio-
logische Begründung verzichten muß, nicht vielleicht noch ein
anderes Fundament? Behält es insbesondere nicht einen guten
Sinn, von Lebenswerten zu reden, die zur Grundlage der Kultur-
werte zu machen sind? Erst mit der Beantwortung dieser
Frage können wir über das Verhältnis der Kultur zum Leben
und über die gesamte Philosophie des Biologismus zu voller
Klarheit kommen.
Gewiß läßt sich das Leben als ein Gut setzen, an dem ein
Wert haftet. Aber oft steckt hinter solchen Wertungen des
Lebens etwas anderes, das allein die Wertung trägt. Das Leben
als solches wird dann nicht gewertet. Daher kommen Ansichteri
dieser Art für uns nicht in Betracht. Wir fragen nur, ob das
Leben als bloßes Leben Wert hat, ohne daß irgend etwas
anderes ihm Wert verleiht, oder ob es gar als höchstes Gut an-
zusehen ist, an dem der Wert aller andern Güter gemessen wer-
den kann. Nur die Antwort hierauf kann über das Recht einer
biologischen Weltanschauung entscheiden.
Wenn man hier im Urteil noch schwankt, so liegt das wohl
daran, daß bisher noch kein ernsthafter Versuch gemacht wor-
den ist, die Bejahung der Frage wirklich zu begründen. Es mag
freilich vielen ,, selbstverständlich" scheinen, daß dbs Leben als
bloßes Leben ein Gut ist. Aber das genügt nicht. Wir müssen
hier ausdrücklich Klarheit schaffen und zu diesem Zwecke daran
denken, welch eine unübersehbare Fülle von Lebendigem es
gibt. Dann leuchtet sofort ein: es ist einfach unsinnig, zusagen,
Alles habe Wert, bloß weil es lebendig ist. Nur eine bestimmte
Art des Lebendigen kann als die wertvolle einer andern Art als
der minder wertvollen oder als der wertfeindlichen gegenüber-
gestellt werden. Welche Art aber wertvoll ist, kann uns das
Lebendige selbst niemals verraten. Auch die Ausdrücke auf-
steigendes und niedergehendes Leben sind als Namen für Wert
und Unwert nichtssagend. Es kommt stets darauf an, welches
Leben im Aufsteigen begriffen ist und welches im Nieder-
gange sich befindet. Sonst wissen wir nicht, ob eine Wertsteige-
rung oder eine Wertverminderung vorliegt. Das Aufsteigen des
einen Lebens kann eminent wertfeindlich oder umgekehrt das
— 129 —
Niedergehen des andern eminent wertvoll sein. Das Leben als
das im Sinne der Biologie Lebendige ist genau ebensowenig
ein Wertbegriff wie das erlebte Erlebnis. Auch wenn man sich
auf menschliches Leben beschränkt, was übrigens biologisch
schon ein Akt der Willkür w'äre, kommt es doch allein auf die
Art des Lebens an. Daß jeder Mensch in allem, worin er lebendig
ist, Wert habe, kann niemand im Ernst behaupten.
Das läßt sich noch deutlicher zum Ausdruck bringen, wenn
wir statt ,, Leben", an dem mancherlei unkontrollierbare Ge-
fühlstöne haften, „Vegetieren" sagen. Dazu haben wir in' diesem
Zusammenhange ein gutes Recht, denn bloßes Leben oder lebendig
sein ist nichts anderes als Vegetieren. Freilich kann auch das
Vegetieren Wert erhalten durch die Lust, die damit verbunden
ist, und es wäre unrecht, irgend einem Menschen die Freude,
die er an seinem bloßen Leben hat, ohne Not zu verkümmern.
Aber einmal handelt es sich dabei um subjektive und individuelle
Wertungen, die nicht zur Grundlage für Kulturwerte gemacht
werden können: die Freude am bloßen Leben ist eine Privat-
angelegenheit dieser oder jener Stunde. Und außerdem wird in
der Lebensfreude doch nicht das Leben selbst, sondern die Lust
gewertet, die an ihm haftet. Daß beide immer zusammenfallen,
kann niemand glauben, noch läßt sich sagen, welch ein Quantum
von Unlust der Lust des vegetativen Daseins gegenübersteht,
um so eventuell Lust und Unlust gegen einander abzuschätzen,
und dadurch einen Lebenswert herauszurechnen. Jedenfalls
wird man zugeben: das Vegetieren ist der Güter höchstes nicht.
Dann aber sollte man auch einsehen, daß das Leben als solches
noch nicht als Gut gelten kann. Es bedeutet gar nichts, wenn
ich bloß lebendig bin. Der Wert meines Lebens hängt allein
von der Art meines Lebens oder von der Besonderheit meiner
Erlebnisse ab.
Damit aber müssen dann auch alle jene Behauptungen ver-
schwinden, die darauf hinauslaufen, daß der Wert der Wahrheit,
der Sittlichkeit und der Schönheit und dementsprechend die
Bedeutung der Kulturgüter, an denen diese Werte haften, also
der Wissenschaft, der Kunst und des sozialen Lebens auf Lebens-
werte zurückzuführen oder alle Kulturwerte nur Steigerungen und
Verfeinerungen der Lebenswerte seien. Wenn die bloße Lebendig-
R i c k e r t , Philosophie d. Lebens. 9
— 130 —
keit für sich betrachtet wertindifferent ist, so kann auch ihre
Steigerung und Verfeinerung, ohne Hinzunahme eines neuen
Faktors, nicht zu Werten und Gütern führen. Aus nichts wird
nichts. Ja, die Worte „Steigerung" und ,, Verfeinerung" ver-
lieren ihren Sinn, wenn nicht das Leben als solches schon Wert
hat. Den Gedanken, Kulturwerte auf Lebenswerte zu stützen,
müssen wir in jeder Hinsicht aufgeben. Wohl mag es vorkommen,
daß jemand Kunst und Wissenschaft nur treibt, um zu „leben".
Aber dann wertet er die Lust des Lebens, nicht das Leben
selbst, und außerdem kann man doch nicht behaupten, daß, wer
so handelt, seine Lebensbestimmung erfüllt. Es bleibt eine
sinnlose Phrase, daß der Sinn des Lebens das Leben selber sei.
Blicken wir mit dieser Einsicht noch einmal auf die Mannig-
faltigkeit der sozialpolitischen Ideale zurück, welche die Lebens-
philosophie aufgestellt hat, so wird die Buntheit dieses Bildes
jetzt leicht verständlich. Wollte man fragen, welche von den
einander bekämpfenden vier Richtungen die wahre ist, so kann
die Antwort nur lauten: sie sind, soweit sie sich auf biologische
Begriffe stützen, alle falsch. Die verschiedenen, angeblich aus
der Biologie abgeleiteten Kulturideale standen längst fest, ehe
sie mit den biologischen Begriffen auch nur in Berührung ge-
bracht waren. Die Buntheit des aufgezeigten Bildes findet darin
ihre Erklärung, daß die biologischen Prinzipien unter sozial-
ethischen Gesichtspunkten völlig indifferent sind. Deswegen
kann man sie zur Rechtfertigung und Begründung jedes be-
liebigen sozialpolitischen Zieles benutzen. Aus den Begriffen der
Biologie läßt sich nichts ableiten, was Maßstab des Wertes oder
Unwertes der Dinge ist. Diese Begriffe sind deswegen mit allen
Werten verträglich und daher zur Begründung keines ethischen
Gedankens brauchbar, gerade weil sie biologische Begriffe sind.
Es bedarf keiner längeren Ausführungen, um das im einzel-
nen zu zeigen. Wer im Gesetz der Auslese ein Naturgesetz und
in diesem zugleich ein Fortschrittsgesetz sieht, muß jeden ge-
sellschaftlichen Zustand als das anerkennen, was sein soll. Tut
er das nicht, so begeht er gerade den Fehler, den der Biologis-
mus bekämpft: er stellt seine individueUen menschlichen Wünsche
dem Leben entgegen, anstatt sich vom Leben tragen zu lassen.
Das Leben allein soll ja die Lehrmeisterin im Ideal sein, und
- 131 —
das Leben bringt überall das Gute hervor. Man kann vom bio-
logistischen Standpunkt niemals, wie Nietzsche und die Sozialisten^
eine Jahrhunderte lange menschliche Kulturentwicklung in ihren
Ergebnissen verurteilen. Wer das tut, hebt damit die mensch-
liche Kultur aus dem Leben heraus und gesteht zu, daß in ihr
die Lebensformen und Lebensgesetze nicht maßgebend gewesen
sind. Er versündigt sich damit also gegen seine eigenen bio-
logischen Prinzipien. Ist die Sklavenmoral oder die Nächsten-
liebe nicht Lebensprodukt ? Ist der Kapitalist nicht angepaßt?
Warum soll der Mensch seine erworbenen Eigenschaften nicht
vererben oder als Erbkapitalist das, ihm Vererbte auf seine Nach-
kommen übertragen? Die Vererbung ersvorbener Eigenschaften
wird freilich in der Biologie bestritten, aber die Vererbung er-
erbter Eigenschaften gehört zu den unentbehrlichen Begriffen
jeder modernen Biologie. Wie kann ein Biologist den Erb-
kapitahsmus als widernatürlich bezeichnen?
Es ist nicht nötig, die Beispiele zu häufen. Wenn alles
Leben ist und das Leben nie irrt, so hat der Versuch, die Welt
zu bessern oder Werte umzuwerten, keinen Sinn. Er kann nur
als eine lächerhche Ueberhebung des kleinen Menschengeistes an-
gesehen werden, der noch immer nicht gelernt hat, sich dem
Leben zu fügen. Die einzige mögliche Konsequenz aus dem
Satz, daß Lebensgesetze Fortschrittsgesetze und Lebensformen
Wertformen sind, ist die wirtschaftliche Doktrin des „laissez
faire", und was die sozialen Ideale des Biologismus anbetrifft,
so ist daher unter allen Biologisten der radikale Individuahst
Spenzer der einzige, der als konsequent gelten kann. Leider wird
man das Ideal, die wirtschaftliche Entwicklung sich selbst zu
überlassen, nur in sehr beschränktem Sinn ein Ideal nennen
können, und außerdem ist es nicht gerade eine neue Weisheit,
die der Biologismus damit verkündet.
Aber auch Spenzer ist nicht völlig konsequent, und rsvar
liegt seine Inkonsequenz wieder genau an der Stelle, wo er zur
Aufstellung eines Ideals zu kommen sucht, nämlich wo er die
Demokratie preist. Er denkt sich den biologischen Entwicklungs-
prozeß abgeschlossen und sieht das Ziel der Menschheit in einem
Zustand der Ruhe. Der Kampf ums Dasein soll also die Ten-
denz haben, sich selbst aufzuheben, oder das Ausleseprinzip soll
9*
— 132 —
dazu führen, daß keine Auslese mehr nötig ist. Ein Kom-
plex von Individuen, unter denen keines das andere überragt,
lebt dann in vollendeter Harmonie. Es wird sehr schwer sein,
diese demokratischen Ideale auch nur mit den darwinistischen
Prinzipien in Einklang zu bringen. Man braucht Spenzers Bio-
logie nicht zu bekämpfen, um seine Ethik als inkonsequent zu
verstehen. Sie ist auf keine Biologie zu stützen, auch auf die
Darwins nicht. Die Selektionstheorie setzt ein Variieren der
Individuen voraus. Warum sollte dies jemals verschwinden?
So lange aber wie die Variationen nicht aufhören, muß der
Kampf ums Dasein und die natürliche Auslese gerade in darwi-
nistisch ethischem Interesse ebenfalls fortdauern, denn wenn in
der Gesellschaft auch alle biologisch ungünstigen Formen erhalten
bleiben, wird die Menschheit notwendig immer mehr degene-
rieren.
In ihrem Kampf gegen Spenzers Ethik haben also die anti-
darM'inistischen Biologisten mit aristokratischen Tendenzen gewiß
recht. Nur in dauerndem Kampf und in dauernder Herrschaft
des Stärkeren über die Schwächeren werden die schlechter an-
gepaßten Individuen durch die natürliche Auslese beseitigt. Doch
läßt sich auch hieraus kein sittliches Ideal gewinnen, denn jedes
beliebige Individuum, das am besten sich durchzusetzen versteht,
muß unter biologischen Gesichtspunkten auch als ethisch voll-
kommen gelten. Auf Grund welcher Mittel die einzelnen Men-
schen oder die Gruppen herrschen, ist vom biologistischen Stand-
punkt aus ganz gleichgültig. Ueber den Wert entscheidet in
einer konsequent biologistischen Ethik allein der Erfolg, und
eine biologistische Sozialpolitik muß daher jeden gesellschaft-
lichen Zustand billigen.
Ein Ideal aufzustellen, welches die Richtschnur unseres
Handelns sein soll, hat im Rahmen des Biologismus überhaupt
keinen Sinn. Was gut ist, kommt notwendig von selbst, ja es
ist in jedem Augenblick genau so weit erreicht, wie es dem
Leben möglich und notwendig war. Der Biologismus führt dem-
nach zu einem radikalen Optimismus. Er macht die Aufstellung
von Zielen und das Streben nach ihrer Verwirklichung über-
flüssig. Da alles Lebensentwicklung ist, ist auch alles Fort-
schritt. Sein und Sollen können sich niemals trennen. „Was
— 133 —
vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist ver-
nünftig", sagte Hegel. Was lebendig ist, das ist vernünftig,
muß der Biologismus sagen. Dort wird das Wirkliche zum Ver-
nünftigen, hier das Vernünftige zum Lebendigen gemacht. So
kommen wir zum Hegelianismus, freilich mit umgekehrtem Vor-
zeichen. Jedenfalls: wer fragt, was er tun soll, hat die biologi-
schen Grundbegriffe noch nicht verstanden. Er soll nichts tun.
Die einzige ethische Konsequenz des Biologismus ist ein abso-
luter Quietismus.
Auch der Umstand, daß in dieser besten aller möglichen
Welten sehr viele Individuen höchst unzufrieden sind, beweist
dagegen gar nichts, sondern läßt sich vielmehr gerade nach
biologisti sehen Prinzipien leicht erklären. In den Klagen der
jVIißvergnügten kommen die biologisch ungünstig Variierten zu
Wort. Ihre Unzufriedenheit ist das Symptom der mangelhaften
Angepaßtheit, und solange die individuellen Variationen nicht
aufhören, muß es immer Unzufriedene geben. Sie werden auch
immer ihre schlecht angepaßte Konstitution zum sitüichen
Ideal erheben und es als Unrecht empfinden, daß das Leben
über sie hinwegschreitet. Haben sie jedoch erkannt, daß das
Lebensgesetz das Fortschrittsgesetz ist, so müssen sie aufhören,
zu jammern, ja vielmehr die Weisheit des Lebens bewundern,
die in ihnen schlecht angepaßte Variationen ausmerzt.
Daß Jemand hieran auch im Handeln festhält, ist freilich
nicht wahrscheinlich. So wird der mangelhaft Angepaßte, auch
wenn er die richtige Einsicht hat, praktisch stets ein Fremdling
im Leben bleiben. Dieser Zwiespalt zwischen Wissen und Wollen
kann ihm unerträglich werden, und dann muß er entweder alles
Wissen zu vergessen suchen oder wieder in eine jener veralteten,
unlebendigen Weltanschauungen zurückfallen, die sich unlebendige
Werte erträumen. So erklärt die neue Weltweisheit zugleich,
warum die alte nicht ausstirbt, und warum sich immer wieder
Menschen finden, die ihre individuellen Wünsche den Entwick-
lungsgesetzen des Lebens entgegenstellen.
Selbstverständlich liegt diesen Bemerkungen nichts ferner,
als die Absicht, zu den bisherigen biologistischen Weltanschau-
ungen eine neue hinzuzufügen. Nur daß es unmöglich ist, auf dem
Boden des Biologismus Ideale zu gewinnen, mögen sie „demo-
— 134 —
kratisch" oder „aristokratisch", individualistisch oder sozialistisch
sein, sollte auf Grund der allgemeinen Kritik des biologistischen
Wertprinzips gezeigt werden.
Doch die Anhänger der Lebenswerte werden sich vielleicht
hiermit noch immer nicht zufrieden geben. Jeder körperlich
„normale", d. h. durchschnittlich beschaffene Mensch liebt das
Leben. Die Begriffe des aufsteigenden und niedergehenden
Lebens, wird man sagen, enthalten einen nicht wegzudisputieren-
den Wertgegensatz, der auch für die Philosophie von Wichtig-
keit sein muß. Zunächst will freilich jeder nur seine eigene Ge-
sundheit, und das kann man für eine Privatangelegenheit er-
klären, welche die Philosophie nichts angeht. Doch man darf
dies Wollen nicht nur für Privatsache halten, denn es lassen
sich daraus allgemeine Grundsätze ableiten. Oder ist es etwa
kein allgemein gültiges Lebensziel, das Leben gesund, natürhch,
frisch, ursprünglich zu machen?
Es gibt, so kann man das weiter ausführen, eine weitverbreitete
„Jugendbewegung", die klare Lebensideale auf ihre Fahne
schreibt. Sie vertraut ihrer Jugend, weil diese Lebendigkeit,
d. h. Gesundheit, Frische, Kraft und Ursprünglichkeit verkör-
pert. In solchen Begriffen steckt nicht allein ein Sein, sondern
zugleich ein Sollen, und was die Hauptsache ist, das natürliche
Ideal, das so gewonnen wird, erweist sich als fruchtbar für die
. gesamte Lebensführung. Aus dem Lebensprinzip heraus wendet
man sich gegen die allzu intellektualistische oder die ästheti-
sierende Bildung, weil diese das Leben tötet. Man verurteilt die
große Stadt und ihre Schule, weil hier kein ursprüngliches, frisches,
gesundes Leben gedeiht. Man zieht hinaus in die freie Natur
und will den Sinn für das Wandern erwecken, weil das den
Menschen wahrhaft lebendig macht. Man kämpft gegen Alko-
hol und Nikotin, weil diese das aufsteigende Leben untergraben.
Sind das etwa nicht begründete Lebensziele, und darf man sich
daher wundern, wenn die Lebensphilosophie besonders auf die
Jugend ihren Zauber und ihre Wirkung ausübt ? Dagegen kom-
men Ueberlegungen wie die hier vorgetragenen nicht auf. Muß
in der Lebensphilosophie nicht auch ein berechtigter theoreti-
scher Kern stecken, da sie sich für die Lebenshaltung und Ge-
staltung so brauchbar erweist? Das theoretisch völlig Grundlose
— 135 —
könnte sich nicht bewähren.
Auch darauf sei schheßlich noch eingegangen. Gewiß wäre
es töricht, solche Bestrebungen wie die Jugendbewegung gering
zu schätzen, ja geradezu absurd, der Gesundheit, der Frische,
der Kraft oder der Ursprünghchkeit des Lebens jeden Wert ab-
zusprechen. Man wird es viehnehr gut verstehen, wenn jemand
gegenüber manchen Kulturschäden sagt: wir müssen vor allem
lebendig, d. h. gesund, natürlich, frisch und ursprünglich wer-
den. Das ist die Hauptsache. Das Andere wird von selber
kommen, falls nur erst dies Fundament gelegt ist. Vollends
nach der entsetzlichen Lebensvernichtung, die für Scheler die
Bevölkerungspolitik katexochen darstellt, muß mancher glauben :
können wir nur erst wieder leben, dann dürfen wir auch ver-
trauen, daß es aufwärts gehen muß bei einem lebenskräftigen
Volk. Daß das im praktischen Leben ein brauchbarer Stand-
punkt ist, läßt sich nicht bezweifeln.
Aber ebenso gewiß ergibt sich daraus noch kein Standpunkt
für die Philosophie. Das „Andere", das angebhch von selber
kommt, wenn wir nur erst lebendig sind, ist gerade das, was
für das philosophische Nachdenken über das Leben zur Haupt-
sache wird. Ja gerade in den Sätzen, daß Lebendigkeit im Sinn
der Gesundheit und Ursprünglichkeit und Frische das Funda-
ment sei, wird es geradezu ausgesprochen: im Leben haben wir
ein Mittel zu sehen für jenes Andere. Nur weil man das Andere
des Lebens davon erhofft, preist man die Lebendigkeit. So
bestätigen diese Gedankengänge, falls sie richtig verstanden
werden, lediglich das, was wir sagen wollen. Zur vollen Klar-
heit gebracht, wenden sie sich gegen jede Lebensphilosophie,
die dem Leben selbst Werte zu entnehmen versucht. Der Wert,
der hiernach dem Leben bleibt, haftet ja nicht am Leben selbst,
sondern wird abhängig gemacht von andern Werten, und er
gilt daher nur, wenn die andern Werte gelten.
Es ist also zweifellos richtig: Leben ist Bedingung aller
Kultur, und alle lebensfeindlichen Tendenzen, wie z. B. das
Ideal absoluter Keuschheit bei Tolstoi, sind insofern zugleich
kulturfeindlich. Aber ebenso gewiß ist das Leben als bloße
Lebendigkeit nur Bedingung. Nicht in einem Eigenwert, son-
dern in einem Bedingungswert haben wir den eigentlich so zu
— 136 —
nennenden ,, Lebenswert". Auf ihn läßt sich kein Biologismus
als Weltanschauung stützen. Nicht einmal das ist richtig, daß
ein besonders lebendiges Leben Bedingung einer besonders hohen
Kultur ist. Wer daher das Leben als Bedingung preist, entfernt
sich damit von jeder biologistischen Lebensphilosophie, d. h. er
verzichtet darauf, Kulturwerte als bloße Lebenswerte zu ver-
stehen.
So wird vollends klar: wer nur lebt, lebt sinnlos. Allein
die Möglichkeit, auf Grund von Eigenwerten, die nicht Lebens-
werte sind, dem Leben Wert zu verleihen, bleibt übrig. Gerade
weil das Leben Bedingung aller Verwirklichung von Gütern
mit daran haftenden Werten ist, kann es keinen Eigenwert haben.
Es erhält Wert immer erst dadurch, daß wir mit Rücksicht auf
in sich ruhende Eigenwerte aus ihm ein Gut machen.
Im praktischen Leben mag man das vergessen. Da gilt der
Satz, daß erst das Fundament und dann das Haus zu bauen
ist. Es wird daher Zeiten geben, in denen für den Praktiker die
Frage nach der Lebendigkeit des Lebens alle andern Fragen
in den Hintergrund drängt. Die Philosophie aber will theoretisch
über das Leben nachdenken, und sobald sie das tut, muß sie
nach jenem „Anderen" fragen, um zu wissen, in den Dienst
welcher Zwecke das Mittel des gesunden, frischen und ursprüng-
lichen Lebens tritt. Sie sucht Klarheit über den Plan des Hauses.
Von hier aus ist erst zu beurteilen, wie das Fundament be-
schaffen sein muß, damit es das Haus zu tragen vermag. Das
sollte auch denen deutlich werden, die die Jugendl^ewegung und
andere Bestrebungen wegen ihres Betonens der Ursprünglichkeit
und der Lebendigkeit des Lebens lieben. Mit der Frage nach
dem theoretischen Wert der Lebensphilosophie hat das nichts
zu tun.
Man muß sogar noch einen Schritt weiter gehen. Lebendig-
keit ist ein Minimum, das wir verlangen, wenn wir uns recht
verstehen, nicht das Maximum, und nur wo das Minimum be-
droht ist, tritt es in den Vordergrund des Interesses. Von hier
aus begreifen wir die Ueberschätzung des bloßen Lebens viel-
leicht am besten als geboren aus einer Lebensnot. Aus ihr darf
man keine philosophische Tugend machen. Das aber hat Nietzsche
getan. Seine persönliche Lebensliebe hatte ihre tiefste Wurzel
— 137 —
wohl darin, daß er selbst schwer krank war und unsäglich am
Leben litt. Nur scheinbar ist das paradox Dem Kranken mußte
es als heroisch gelten, das Leben zu bejahen. So wurde für
ihn die Lebendigkeit zum Gut aller Güter. Er pries den Willen
zur Macht, weil er selbst so wenig Macht hatte. ,, Unsere Mängel
sind die Augen, mit denen wir das Ideal sehen." Dies Wort
trifft auf keinen mehr zu als auf Nietzsche selbst. Sollte alle
moderne Lebensbegeisterung und Vitalitätsverherrlichung sich
vielleicht als Symptom der Lebensschwäche enthüllen? Schätzen
wir vielleicht nur deshalb das bloße Leben so hoch, weil wir
es bedroht sehen und instinktiv fühlen, daß mit dem Fundament
auch „das Andere" in Gefahr ist, das wir darauf bauen wollen ?
Es ist nicht notwendig, diese Gedanken weiter zu verfolgen.
Schon jetzt muß klar sein: auch der engere Lebensbegriff des
Biologismus ist noch immer viel zu weit und unbestimmt, um
zur Grundlage einer Lebensanschauung zu taugen. Das Gras,
welches auf der Düne emporwächst, unterscheidet sich von dem
Sand, aus dem es entsteht dadurch, daß es kräftig und lebendig
gedeiht, während Weizen dort verkümmern würde. Die Qualle,
die im Meer schwimmt, hebt sich ebenso vom Wasser ab, in
dem sie sich bewegt, und gedeiht prächtig, während der Mensch
dort elend zugrunde gehen müßte. Ist darum das Wachsen des
Grases und die Bewegung der Qualle, bloß weil sie lebendiges,
sich entwickelndes, sich ausdehnendes Leben sind, unter den
Begriff der Lebensgüter zu bringen? Kein Mensch wird das
behaupten. So aber ist jede bloße Lebendigkeit nicht deswegen
erstrebenswert, weil sie Lebendigkeit im Sinne von Lebens-
steigerung und Machtentfaltung ist. Diese einfache Wahrheit
versetzt dem Wertprinzip des modernen Biologismus wissenschaft-
lich den Todesstoß. Wo wir zum Leben Stellung nehmen,
kennen wir immer noch etwas anderes, das nicht aus dem bloß
aufsteigenden Leben selber kommt.
So bleibt es dabei: das Leben ist der Güter höchstes nicht.
Freilich sind solche Zitate mit Vorsicht zu gebrauchen. Man
kann ihnen andere entgegenstellen. Goethe sagt: „Es kommt
offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf ein Resultat des-
selben an." Daraus scheint ein Glaube an das Leben zu sprechen,
der kein „Anderes" zur Lebensrechtfertigung braucht. Da wir
— 138 —
Schiller zitiert haben, dürfen wir auch nicht sagen, das Wort
Leben hatte zu Goethes Zeiten eine andere Bedeutung als in
der modernen Lebensphilosophie, und man könne sich deswegen
in diesem Zusammenhang nicht auf Goethe berufen. Dasselbe
würde dann auch von Schiller gelten. Abgesehen davon läßt
sich Goethe in der Tat als Vorläufer der modernen Lebensphilo-
sophie bezeichnen. Genau zu sagen, in welchem Sinne das
möglich ist, würde hier zu weit führen. Deswegen unterlassen
wir jede Berufung auf ,, Autoritäten'' und weisen nur darauf
noch hin, daß man sogar dem Wort Goethes zustimmen kann,
ohne sich dadurch zum Biologismus zu ' bekennen. Damit, daß
wir das Leben zu etwas Anderem in Beziehung setzen, ist ja
nicht gesagt, daß nur die vom Leben ablösbaren Resultate
Bedeutung haben.
Wie wenig mit dem Biologismus anzufangen ist, zeigt sich
endlich an dem Verhältnis, in dem die neuere Richtung zu
der älteren in bezug auf den Begriff des Lebenskampfes steht.
Auch die neuere Richtung denkt nicht daran, alles aufsteigende
Leben zu bejahen, wie sie es nach ihrem biologistischen Prinzip
müßte. Jeder Lebenskampf ist ein Kampf des Lebens mit dem
Leben. Die Parteien, die mit einander kämpfen, steigen beide
auf und zeigen Lebensdrang, denn dadurch allein, daß sie auf-
steigen und empor wollen, kommt es zum Kampf. Die eine
unterliegt und geht eventuell zugrunde. Ist der Ausgang ein
Gottesurteil? So müßte der konsequente Biologist sagen. Im
Zeitalter der Technik wäre diese Auffassung eines Kampfes oder
eines Krieges jedoch sinnloser als je. So kommt der Biologismus
ohne Parteinahme für eine besondere Art des Lebens nicht aus
und zeigt damit, daß er seinem eigenen Prinzip nicht vertraut.
Das kann man an Nietzsches Gedanken leicht zum Bewußt-
sein bringen. Er wußte, daß im Kampf ums Dasein nicht immer
die Herrenmenschen siegreich sind, sondern stets in Gefahr
schweben, von der großen Masse der Sklaven überwältigt zu
werden. Darum mochte er Darwins Kampf ums Dasein nicht
leiden. Mit seinem Wertbewußtsein wendete er sich gegen ihn
als ein angebliches Vehikel des Fortschritts. Doch kommt auch
dieser Kampf als Tatsache vor. Das bestreitet Nietzsche nicht.
Ausdrücklich erklärt er, der Kampf ums Dasein laufe „leider
— 139 —
umgekehrt aus als die Schule Darwins wünscht, als man viel-
leicht mit ihr wünschen (1) dürfte: nämlich zu Ungunsten der
Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die
Gattungen wachsen n i ch t in der Vollkommenheit: die Schwachen
werden immer wieder über die Starken Herr, — das macht, sie
sind die gi'oße Zahl, sie sind auch klüger . . . Darwin hat den
Geist vergessen (das ist englisch), die Schwachen haben mehr
Geist . . ."
Steckt darin nicht eine schlagende Widerlegung jeder
biologistischen Lebensphilosophie? Wenn die Schwachen über
die Starken siegen, mit welchem Recht nennt man sie noch
die Schwachen? Haben sie nicht, wo sie die angeblich Starken
zu besiegen vermögen, gezeigt, daß sie die eigentlich Starken
sind? Das Leben, das sich durchzusetzen vermag, wird der
konsequente Biologismus immer als das starke, aufsteigende Leben
bezeichnen müssen.
Wenn Nietzsche trotzdem gegen die Menge der angeblich
Schwachen für die einzelnen, angeblich Starken Partei ergreift,
so wendet er einen andern Maßstab an als den des aufsteigenden,
starken Lebens. Er trägt Werte, die ihm vorher feststehen,
von außen an das Leben heran. Wir wissen auch, welche es
sind. Wir brauchen nur an seine geistige Herkunft zu erinnern.
Sein aristokratischer Individualismus war ursprünglich nicht bio-
logisch begründet, sondern hinter ihm steht das romantische
Prinzip, das Schopenhauer verächtlich von der Fabrikware der
Natur reden läßt. Auch in dieser Hinsicht ist Nietzsche Roman-
tiker gebheben. Er liebt den großen Einzelnen, besonders das
Genie. Das Volk ist ihm ein Umweg, auf dem die Kultur zu
den Wenigen kommt. Das bestimmt in Wahrheit seine Welt-
anschauung. Erst nachträglich wird sie antidarwinistisch-bio-
logistisch zu rechtfertigen versucht. Der konsequente Biologist
müßte immer für das siegreiche Leben, eventuell also für die
Vielen eintreten. So beweist gerade Nietzsche, daß die Lebendig-
keit des Lebens sich zum Verständnis seiner Werte in keiner Weise
eignet. Der Romantiker in ihm durchbricht die biologistische
Fessel, die er sich selbst angelegt hat, und klagt — ein sonder-
barer Lebensphilosoph -^ schheßlich „das Leben" an, daß es
seine Güter vernichtet 1 Es ist ihm also doch wohl nicht immer
— 140 —
lieber als seine Weisheit.
Auch das Preisen des Willens zur Macht ist ohne jedes
theoretische Fundament. Was will Nietzsche einwenden, wenn
ein Mann wie der von ihm hoch verehrte Jakob Burckhardt unter
Berufung auf Schlosser erklärt, ,,daß die Macht an sich böse"
sei, oder sagt: ,,Der Stärkere ist als solcher noch lange nicht der
Bessere. Auch in der Pflanzenwelt ist ein Vordringen des Ge-
meineren und Frecheren hie und da erweisbar" ?^). Kann
Nietzsche den Historiker der Renaissance, von dem er so viel
gelernt hat, deswegen zu den Sklaven zählen? ]Mit dem bio-
logischen Begriff des aufsteigenden Lebens ist hier nichts zu
machen. Da steht Werturteil gegen Werturteil. Das aber be-
deutet: die Basis dieser Lebensphilosophie ist ein Akt der Will-
kür. Nietzsche würde das vielleicht nicht bestritten haben.
„Ob ich ein Philosoph bin? Aber was liegt daran?" Mit Nietzsche
allein haben wir es jedoch nicht zu tun. Seinen Anhängern,
die aus seiner Lebensprophetie eine Lebensphilosophie machen
wollen, ist ins Bewußtsein zu bringen, daß diesem Versuch jedes
theoretische Fundament fehlt.
So kommen wir auch beim Biologismus zu demselben Re-
sultat wie beim Intuitionismus des Erlebnisses: es fehlt an einem
wissenschaftlich-philosophischen Prinzip sogar dann, wenn man
sich auf eine Deutung des menschlichen Lebens beschränkt.
Wohl hebt der Biologismus das lebendige Leben aus der Fülle
der Erlebnisse überhaupt heraus und bestimmt damit den Begriff
des Lebens. Das ist sein Vorzug gegenüber dem vagen Erlebnis-
gerede. Aber auch ihm fehlt das Prinzip der Auswahl, um
sinnvolles und sinnloses Leben von einander zu scheiden. Auch
er ist daher, wie die Erlebnisphilosophie und der Historismus
der Lebensphilosophie, in Gefahr, in der Fülle des Lebens zu
ersticken. Aus dem Lebenschaos wird ein Lebenskosmos nur
durch einseitige partikulare Betrachtung, also kein Kosmos, der
diesen Namen verdient, keine Weltanschauung, und mit Rück-
sicht auf die Lebensanschauung, d. h. die Wertprobleme, kommt
der Bioloßismus über ein Wertchaos nicht hinaus. Gerade die
Herausarbeitung des Wertkosmos aber wäre seine Aufgabe, falls
1) Weltgeschichtliche Betrachtungen. 1905. S. 33 und 265.
— 141 —
er den Anspruch, wissenschaftliche Klarheit über die Lebens-
anschauung zu geben, erfüllen wollte. Es bleibt schließlich da-
bei, daß jeder das lebendig nennt, was er liebt, und unlebendig
oder tot, was er nicht leiden mag. Verzichtet man überhaupt
darauf, sinnvolles und sinnloses Leben zu scheiden, so verzichtet
man damit zugleich auf jede Lebensanschauung, und das wird
gerade der lebendige Mensch nicht wollen.
Zarathustra spricht: ,,Ihr habt den "Weg vom Wurm zum
Menschen gemacht, und vieles ist in Euch noch "Wurm." Ist
das ein Resultat reiner Lebensphilosophie? Gewiß nicht. "Ver-
steht man unter der Beschwörung: bleibt der Erde treu, das
Verlangen, daß wir uns an das bloße Leben halten, so wird man
nicht sagen dürfen, daß im Menschen vieles noch Wurm ist,
sondern daß niemals aus ihm etwas anderes als Wurm werden
kann und soll. Bei dem Versuch, sich auf das Leben zu be-
schränken, muß der konsequente Lebensphilosoph zu einem Er-
gebnis kommen, welches sich in die Worte Fausts kleiden läßt:
,,Den Göttern gleich ich nicht! Zu tief ist es gefühlt;
Dem Wurme gleich ich, der den Staub durchwühlt,
Den, wie er sich im Staube nährend lebt,
Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt."
Für den Bioiogisten Desteht die trostlose Alternative: Gott oder
Wurm. Und Götter sind wir nicht.
Aber Würmer sind wir auch nicht, so gewiß wir zu erkennen
vermögen, daß Vieles in uns noch Wurm ist. Kein Wurm ver-
steht sich als Wurm. Sich als Wurm erkennen, heißt: mehr als
Wurm sein, und jede Philosophie ist daher gerichtet, die das,
worin wir nicht Wurm sind, nicht zu verstehen vermag. Der
Biologismus ist dazu außerstande. Sein aufsteigendes Leben
hilft bei dem Versuch einer Deutung des Lebens nichts. Soll
das Aufsteigen nicht leere Phrase sein, so muß man die Werte
kennen, an denen Aufstieg und Niedergang des Lebens zu messen
sind. Lehnt man das ab, so bleibt an der Philosophie des auf-
steigenden Lebens nicht viel Philosophie. Sie ist dann, so heftig
ihre Vertreter sich dagegen sträuben mögen, lediglich eine der
vielen Formen des Skeptizismus und Nihihsmus. Das zeitgemäße
Lebensgewand sollte darüber Niemanden täuschen, der Klarheit
der Begriffe anstrebt.
— 142 —
Das Wertproblem, auf das wir stoßen, verfolgen wir in
positiver Richtung nicht weiter. Nur daß wir überhaupt zu
einem Wertproblem kommen, ist hervorzuheben. Im übrigen
beschränken wir uns auf das Negative. Schon dies deutet darauf
hin, daß wir über die Philosophie des bloßen Lebens hinaus-
getrieben werden zu einer Lebensanschauung, die das Leben
zu etwas Anderem als dem Leben selbst in Beziehung setzt und
daher mehr als reine Lebenslehre ist.
Auch hier zeigt sich, wie bei der Kritik der intuitiven Lebens-
philosophie: Leben ist das Eine, über das Leben philosophieren
ist das Andere. Philosophie des Lebens kann niemals nur
Leben sein. Diese Einsicht ist Voraussetzung für ein Interesse
an den philosophischen Lebensproblemen. Damit gewinnt auch
die Negation positive Bedeutung. Das Leben ist zuerst einmal
fragwürdig zu machen, d. h. man muß sehen, daß aus ihm
selbst eine Antwort auf die Lebensfragen nicht zu gewinnen ist.
Darüber hilft die Liebe zum Leben nicht hinweg. Das, worin
die Lebensphilosophie unserer Zeit ihre Stärke sucht, die Be-
schränkung auf das Leben selbst, ist auch mit Rücksicht auf
die Wertprobleme gerade das, worin sie als Philosophie des
Lebens scheitern muß.
Neuntes Kapitel.
Der Kampf gegen das System.
,, Natürlichem genügt das Weltall kaum,
Was künstlich ist, verlangt geschlossnen Raum".
Homunkulus.
Um noch einmal alles zusammen zu fassen, denken wir wie-
der an die verschiedenen Momente, die das Wesen der Philo-
sophie im Unterschied von den SpezialWissenschaften kenn-
zeichnen, und fragen, ob in einem der genannten vier Punkte
die moderne Lebensauffassung ihren Anspruch, Philosophie zu
sein, rechtfertigt.
Der universalen Tendenz des philosophischen Denkens
wird sie nie genügen. Sie bleibt entweder bei dem zwar um-
fassenden, aber nichtssagenden Begriff des Erlebnisses, oder sie
— 143 —
beschränkt sich auf einen Teil der Welt, den sie nicht so zu
denken vermag, daß er sich an die Stelle des Weltalls setzen
läßt. Von einer sowohl begrifflich bestimmten als auch wahr-
haft umfassenden Weltanschauung kann also selbst dann keine
Rede sein, wenn Welt nur das Weltobjekt heißt. Ferner erweist
sie sich unfähig, die Wert probleme in Angriff zu nehmen und
auf Grund einer Wertlehre den Sinn des menschlichen Lebens
zu deuten. Lebensanschauung im engeren Sinn gibt sie dem-
nach ebenfalls nicht. Ja, sie verkennt die Eigenart und den
Eigenwert zumal der Kulturwerte, indem sie alle in Lebenswerte
auflöst. Vollends kann sie nicht daran denken, das Problem
des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit auch nur zu
stellen, geschweige denn zu lösen. Es gibt hier für sie kein
Problem. Sie haftet ihrem Wesen nach am endlichen, zeitlichen
Sein, und das ist mit universalem Denken unverträglich. So
zeigt diese angeblich philosophische Bewegung in jeder Hinsicht
einen unphilosophischen Charakter.
Es bleibt nur der vierte Punkt noch zu erörtern, den wir
hervorhoben: die Tendenz, jedes System als starr und un-
lebendig abzulehnen. Von ihr wird die Lebensphilosophie unserer
Zeit durch die Darlegung, daß sie die philosophischen Haupt-
probleme zu lösen unfähig ist, nicht abzubringen sein. Im
Gegenteil 1 Gerade dem Hinweis auf ihre Prinzipienlosigkeit und
der Forderung nach einem festen Fundament von zusammen-
hängenden Begriffen wird sie vielmehr den Satz entgegenstellen,
es dürfe von ihr, weil sie lebendige Philosophie sein wolle, ein
starres System nicht erwartet werden, und dann kann sie weiter
gehen und behaupten: deswegen sei sie auch nicht verpfHchtet,
philosophische Probleme im alten, übhchen Sinne zu stellen oder
zu lösen. Sie sei eben die neue Philosophie, lebendig wie
das Leben selbst, und daher abhold jedem starren Prinzip und
jeder versteinernden Festlegung.
So wehren sich in der Tat die Lebensphilosophen oft: die
gegen sie gerichtete Kritik bedeute eine petitio principii. Sie
gehe mit Unrecht von den Voraussetzungen aus, welche ein
intuitives und lebendiges Denken nicht anerkenne.
Damit scheint sich noch einmal die Frage zu erheben, ob
die Lebensphilosophie nicht doch vielleicht im Recht ist, und
- 144 -
zwar spitzt sich jetzt alles darauf zu, ob die Philosophie, um
wahrhaft philosophisch zu sein, die Form des Systems braucht,
in welches das Weltall eingeht, oder ob sie ohne System aus-
kommt. Will man kein System des philosophischen Denkens,
dann kann man sich vielleicht auch mit der intuitiven oder der
biologistischen Behandlung der Probleme als einer philosophischen
zufrieden geben.
Gewiß kann man das. Wer vermag zu bestimmen, was
Philosophie sein soll? Man kann jede beliebige Kundgebung
der Liebe zum Leben ,, Philosophie" nennen und dann ein System
der Lebensphilosophie als unlebendig von sich weisen.
Aber ist dann nicht zugleich jedes universale Denken
abzulehnen, und zwar sowohl mit Rücksicht auf das Weltobjekt
als auch mit Rücksicht auf den Menschen und seine Stellung
zur Welt? Für uns ergab sich die Notwendigkeit des Systems
aus dem philosophischen Universalismus. Wenn mit dem System
auch der Universalismus fällt, was bleibt dann von der Philo-
sophie noch übrig?
Die Frage ist um so wichtiger, als zweifellos der Kampf
gegen das System der modernen Lebensphilosophie viele An-
hänger verschafft hat. Manchem ist das systematische Denken
in hohem Grade unsympathisch, und es lassen sich dagegen die
verschiedensten Motive geltend machen. Wir sind daher genötigt,
auch die Stellung der modernen Lebensbewegung zum philo-
sophischen System grundsätzlich zu erörtern. Damit erst ist ihre
Kritik zum Abschluß zu bringen.
Um jedem Mißverständnis vorzubeugen, sei zunächst be-
merkt, daß der Kampf gegen das System unwiderleglich wird,
sobald man ihn von einem außerwissenschaftlichen Standpunkt
führt. Wir vertreten keinen einseitigen Intellektualismus, d. h.
wir sind weit davon entfernt, den Menschen herabzusetzen, der
die Welt überhaupt nicht in ihrer Totalität wissenschaftlich
denken will. Bekämpft jemand also das System, wie z. B.
Kierkegaard die Philosophie Hegels um der „Existenz'' des Den-
kers oder um seiner unsterblichen Seele willen, so läßt sich da-
gegen mit logischen Gründen nichts machen. Dann wertet er
reUgiös, und dem Theoretiker bleibt nichts übrig, als diese Wer-
tung aus den ihr zugrunde hegenden religiösen Werten zu
— 145 —
verstehen. Eine Widerlegung wird sinnlos. Auch wenn die
Liebe zur Schönheit den Kampf gegen das unanschauUche
System leitet, ist er unanfechtbar. Bedenkhcher wird es schon,
wenn Nietzsche den Willen zum System als Mangel an Recht-
schaffenheit bezeichnet. Gegen solche enge moralfanatische Intole-
ranz wird der wissenschaftliche Mensch sich wehren dürfen. Aber
auch das mag hingehen.
Ja, sogar wo um des lebendigen Lebens willen das System
bekämpft wird, kann man dafür Verständnis haben. Man wird
dann zwar vom theoretischen Standpunkt darauf hinweisen dürfen,
daß die Liebe zum Leben um des bloßen Lebens willen, d. h.
die Liebe zum Vegetieren, etwas sinnloses ist, weil nur Werte,
die mehr als Lebenswerte sind, dem Leben Wert verleihen, und
daß der Prophet des bloßen Lebens sich selbst nicht versteht,
falls er glaubt, das Leben um des bloßen Lebens willen über
alles zu stellen. Doch man kann schon das Einnehmen eines
theoretischen Standpunktes als petitio principii bezeichnen, und so
lange der Kampf gegen das System keine wissenschaftlichen
Gründe ins Feld führt, bleibt er stets unwiderleglich. Nur soll
der Mensch, der ihn führt und das für ,, Philosophie" hält, auch
wissen, daß er damit auf dem Boden einer theoretisch nie zu
l)egründenden Weltanschauung steht.
Im übrigen hat diese Art der Antisystematik für die Wissen-
schaft kein Interesse. Die Philosophie wendet sich an theo-
retische Menschen und kann sie allein überzeugen wollen.
Zugleich ergibt sich daraus, daß die Situation sich prinzipiell
ändert, sobald der Kampf gegen das System sich auf theoretische
Gründe stützt. Diesen Fall haben wir allein im Auge. Nur er
ist für die Frage nach der Möglichkeit der Lebensphilosophie
von Bedeutung. Einen solchen Kampf aber führt der Biologis-
mus in der Tat. Er muß ihn führen, denn wenn ihm schon
der Begriff als einzelner Begriff um seiner Starrheit willen ver-
werfhch erscheint, so wird er sich vollends gegen ein System von
Begriffen, die in festen Verhältnissen zu einander stehen, als
gegen etwas im höchsten Maße Starres und Unlebendiges wehren.
Wir wollen das Recht hierzu nun nicht im Anschluß an
«inen der Lebensphilosophen besprechen, bei dem es zweifelhaft
ist, ob er mit seinen Gedanken nur Wissenschaft geben will.
E i c k e T t , Pliilosophie d Lebens. 10
— 146 —
Wir wollen es aber auch nicht nur im allgemeinen, sondern an
einem besonderen Fall erörtern, und wir wählen zu diesem Zweck
als Beispiel ein Werk, das gar nicht beabsichtigt, Lebensphilo-
sophie zu lehren, sich vielmehr auf einen rein theoretischen oder
betrachtenden Standpunkt stellt, um alle Philosophie im alten
Sinne, die sich mit Weltanschauungsproblemen beschäftigt, als
,, prophetisch" abzulehnen ^). Dabei wird sich der Einfluß der
philosophischen Modeströmungen besonders deutlich zeigen, und
weil der Kampf gegen das System hier von einem, der Absicht
nach, rein theoretisch Denkenden geführt wird, kann man sich
theoretisch am besten mit ihm auseinandersetzen. Wir halten
uns an Gedanken, denen, der Absicht nach, unsere petitio principii
zugrunde liegt.
In seiner ..Psychologie der Weltanschauungen" verwirft
Jaspers jedes starre System und glaubt, gerade dadurch der rein
betrachtenden_Wissenschaft zu dienen. Daß der Forscher nicht
ohne Begriffe auskommt, weiß er genau. Ja, es geht sogar nicht
ohne Begriffssystematik. Die bloße Aufzählung führt ins End-
lose. Wir brauchen Schemata der Auffassung. Aber wir werden,
um der ^Mannigfaltigkeit des Stoffes gerecht zu werden, mög-
lichst viele Gesichtspunkte suchen und uns hüten, alles unter
dasselbe Schema zu bringen. Damit ist nicht etwa nur der An-
fang der Untersuchung gemeint, wogegen nichts zu sagen wäre,
sondern bei dem Wechsel der Schemata soll es in der Wissen-
schaft bleiben. Jede Systematik wird etwas anderes deutlicher
zeigen: jede hat irgendwie recht und unrecht, sobald sie sich für
die allein berechtigte ausgibt.
• So wird die Systematik dem System entgegengestellt. Syste-
matik ist unentbehrlich, das System aber ist zu bekämpfen.
Es besteht die Aufgabe, immerfort systematisch zu sein und
doch zu versuchen, kein System zur Herrschaft kommen zu
lassen. Es besteht die Tendenz, mit der Systematik wieder
das System zu vernichten. Man sucht die Gesichtspunkte lebendig
1) Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen,
1919. Vgl. dazu meine Abhandlung: Psychologie der Weltan-
schauungen und Philosophie der Werte. Logos, Bd. IX. S. 1 ff.
Einen Teil der dort veröffentlichten Ausführungen habe ich in
dies Bucli aufgenommen.
— 147 —
und beweglich zu machen und das Bewußtsein zu wecken, daß
es auch anders geht. Jede Vollendung muß Verdacht erw'ecken.
Starrheit darf nicht an die Stelle von Beweglichkeit treten.
Das ist der ^Standpunkt der modernen Lebensphilosophie.
Nietzsche würde unbedingt zustimmen, wohl auch James und
manche andere Lebensphilosophen. Hier aber tritt der Kampf
gegen das System als Ergebnis reiner Betrachtung auf.
Ist das ein theoretischer Standpunkt? Ist das reine Be-
trachtung? Warum in aller Welt soll denn alles lebendig sein?
Warum ist Beweglichkeit mehr wert als Starrheit? Der Lebens-
prophet mag das für selbstverständlich halten. Dem Forscher,
der nur betrachten will, steht solche Parteinahme nicht an.
Ja, widerspricht sie nicht seinem Wesen? Aus der Scheu vor Fest-
legung kann gewiß unter Umständen auch der „Gewissenhafte
des Geistes", also der theoretische Mensch reden. Aber darf
diese Gewissenhaftigkeit bis zur Ablehnung jedes Systems gehen,
ohne daß damit zugleich die Möglichkeit einer reinen Theorie
aufgehoben und die Gewissenhaftigkeit im theoretischen Interesse
sinnlos wird?
Es genügt für die reine Betrachtung, zumal wenn sie wie in
der Philosophie universal sein soll, nicht, daß man ein unüber-
sehbares Material überhaupt irgendwie ordnet, sondern man
muß als theoretischer ^Mensch die eine Ordnung für richtiger als die
andere halten, und diese Ueberzeugung setzt voraus, daß es
schließlich eine und nur eine Ordnung gibt, die uns zwar
unbekannt sein mag, aber doch die wahre Ordnung ist, der sich
allmählich anzunähern, das Ziel aller wissenschaftlichen Ord-
nungen bildet. Der Gegensatz zwischen Systematik und System
ist Auidurchführbar. Die Systematik muß im Dienst der System-
bildung stehen. Ohne diese Voraussetzung verliert sie wie die
reine Betrachtung überhaupt jeden theoretischen Sinn.
Insbesondere wer von einer ,, Vergewaltigung" der Lebens-
inhalte tlurch das System redet, kann das nur vom Standpunkt
einer außerwissenschaftlichen Weltanschauung, d. h. zugunsten
irgendwelcher atheoretischen Werte und Güter tun. In den
Mund des rein betrachtenden Menschen gehört das Wort nicht.
Wer theoretische Vergewaltigung des Lebens für möglich hält,
für den gibt es eine vom erkennenden Subjekt unabhängige, nach
10*
— 148 —
anderen als theoretischen Gesichtspunkten geordnete \Velt, die
er sich nicht durch die Wissenschaft zerstören lassen will. Für
den theoretischen Menschen, der sich von allen außerwissenschaft-
lichen Wertungen freihält, ist die Welt beim Beginn seiner Unter-
suchung, also unabhängig von jeder Auffassung, noch gar keine
„Welt" im Sinne eines Kosmos, eines geordneten Ganzen, son-
dern ein Chaos, dessen Wiedergabe faktisch unmöglich und, wie
wir gesehen haben, im theoretischen Interesse auch nie anzu-
streben ist, weil sie keine Erkenntnisbedeutung besäße, selbst
wenn wir sie vollziehen könnten. Erst durch Formen des logi-
schen oder rationalen Denkens bringen wir unsere Anschauungen
in die theoretische Sphäre. Nicht das Chaos oder das „Gewühl",
das uns auffassungslos gegeben ist, sondern nur ein Kosmos,
d. h. ein Geformtes oder Geordnetes, also etwas vom Stand-
punkte des Chaos schon Vergewaltigtes, kann durch die theore-
tische Auffassung vergewaltigt werden, und diese angebliche
Vergewaltigung durch das System bedeutet lediglich die theore-
tisch notwendige Ersetzung der außerwissenschaftlichen Formung
der Welt durch die Wissenschaft, die Umwandlung einer ästhe-
tischen oder ethisch'en oder religiösen oder „lebendigen'- Welt in
den theoretisch begriffenen und geformten Kosmos.
Solcher Umwandlung hat der betrachtende Mensch, der nur
forschen will, sich freiwillig zu beugen. Das heterogene Conti-
nuum des bloßen Erlebnisstroms, dem die moderne Lebensphilo-
sophie sich anvertrauen möchte, verdient keine Schonung. Es
ist für den wissenschaftlichen Philosophen nur etwas, das über-
wunden werden soll, damit ein theoretisch geordnetes Reich von
Begriffen, d. h. ein System der Philosophie entsteht. So müssen
wir bei der Forderung, die wir im ersten Kapitel an die univer-
sal denkende Philosophie gestellt haben, aus theoretischen Grün-
den stehen bleiben. Sie hat die Welt in ihrer Totalität als Kos-
mos zu erfassen, und nur durch das System kommt sie vom
theoretischen Chaos zum theoretisch begriffenen Kosmos. Der
aber bildet das unvermeidliche Ziel jeder universalen Wissen-
schaft. So ist gerade mit der reinen Betrachtung der „Wille
zum System" notwendig verknüpft.
Wohl kann auch aus theoretischen Motiven Abneigung gegen
eine gewisse Art von Systemen entstehen. Der Philosoph wird
— 149 —
sich vor jeder voreiligen Festlegung hüten, weil er darin Ge-
fahren für die Vollständigkeit seines Denkens fürchtet. Doch
bedeutet das nur die Bekämpfung eines unzureichenden Systems
zugunsten eines möglichst umfassenden und vollständigen, und
daher hat die Vorsicht gegenüber einem Gedankengebilde, das
sich zu früh abschließt, mit dem Kampf gegen das System
überhaupt nicht das Geringste gemein. Es bleibt vielmehr unent-
behrliche Voraussetzung jedes rein wissenschaftlich philosophi-
schen Denkens, daß irgend ein geordnetes Ganzes von Begriffen
und Urteilen unbedingt gilt für den Inbegriff der Lebensinhalte,
den wir alsWelt wissenschafthch bearbeiten, und dazu kommt ferner
die Voraussetzung, daß wir als theoretische Menschen auch im-
stande sind, den Gehalt dieses Ganzen von Begriffen und Ur-
teilen oder das System immer mehr zu erfassen und in sinn-
vollen Sätzen niederzulegen. Gibt es für uns einen solchen Weg
vom Chaos der bloßen Lebensinhalte zum Kosmos der im System
geformten Lebensinhalte nicht, so verliert die wissenschaftliche
Tätigkeit des Philosophen jeden theoretischen Eigenwert. Sie
ist dann nur noch als Mittel zur Realisierung außerwissen-
schaftlicher Ziele zu verstehen, also entweder in den Dienst der
Lebenserhaltung oder irgend eines anderen atheoretischen Zweckes
zu stellen. Der Glaube daran aber bedeutet eine antitheoretische
Weltanschauung, die mit dem Ideal einer rein betrachtenden
Philosophie sich nicht verträgt.
So ist mit dem Willen zum theoretischen Verhalten gegen-
über der Welt eine Ueberzeugung notwendig verknüpft, die sich
gegen das Ideal der All-Lebendigkeit richtet. Der nur betrachtende
Forscher muß die Form des Systems, das unabhängig von ihm
gilt, als etwas Festes oder Starres denken im Gegensatz zum kon-
tinuierhchen Fluß und zur Beweglichkeit der Lebensinhalte.
Auch deshalb kann er nicht so für das Bewegliche Partei nehmen,
daß er alles Starre um seiner Starrheit willen bekämpft. Damit
kommen wir zu demselben Ergebnis, zu dem uns schon die Kritik
Simmeis geführt hatte. Nur ist es jetzt über den einzelnen Be-
griff oder die einzelne Form hinaus auf das System von Be-
griffen oder Formen erweitert.
Doch der Biologismus wird seine Waffen noch immer nicht
strecken, sondern den Willen zum System, der das notwendige
— 150 —
a priori jedes theoretischen Nachdenkens über die Welt bildet,
aus seinen Lebensprinzipien heraus zu erklären suchen und ihn
damit zugleich ablehnen oder ihm wenigstens nur eine relative
Berechtigung zusprechen, die gegenüber der absoluten Berechti-
gung des Lebensstandpunktes zurückzutreten habe. Auch diese
biologistische Theorip wird von Jaspers vertreten, dervon Nietzsche
und ebenso von Kierkegaard nur betrachtende Psj^chologie zu
entnehmen glaubt, mit seinem Kampf gegen das System aber
völlig unter dem Einfluß von Nietzsclies biologistisch orientierter
Weltanschauung steht. Da sie bei ihm als reine Theorie auf-
tritt, können wir an der Hand seiner Gedanken schließlich auch
zu ihr kritisch Stellung nehmen.
Jaspers sucht die Weltanschauungen als ,, Geistestypen"
unter verschiedene Klassen zu bringen. Er fragt, wo der Mensch
seinen ,,Halt" habe, und dabei ergeben sich drei Älöglichkeiten.
Entweder fehlt es an jedem Halt, dann entsteht der Typus des
Skeptizismus und Nihilismus. Oder der Mensch hat einen Halt,
dann findet er ihn entweder im Begrenzten oder im Unend-
lichen. Das Unendliche, das ist das „Lebendige". Der Halt im
Begrenzten, das ist das starre System, und das nennt Jaspers
echt biologistisch das ,, Gehäuse". Er sieht in ihm die Form, die
das Leben zwar hervorbringen muß, von der es sich aber wieder
zu befreien hat.
Die psychologische Betrachtung weiß, daß wir nur in Ge-
häusen leben können. Es bleibt dem Menschen nichts anderes
übrig, als Systeme zu bilden. „Wie der Stengel der Pflanze,
um leben zu können, einer gewissen gerüstbildenden Verholzung
bedarf, so bedarf das Leben des Rationalen." Dann jedoch er-
fahren wir: „wie aber die Verholzung schließUch dem Stengel
das Leben nimmt, und (ihn) zum bloßen Apparat macht, so hat
das Rationale die Tendenz, die Seele zu verholzen."
Da haben wir die biologistische Ableitung für die Notwen-
digkeit des philosophischen Systems in reinster Gestalt und zu-
gleich die Herabsetzung der Systeme zu toten Schalen oder Häu-
ten, die wieder abgeworfen werden müssen. Die Schlange, die
sich nicht häuten kann, geht zugrunde, sagt Nietzsche. Bis-
weilen erfolgt die Sprengung des Gehäuses nach Jaspers plötz-
lich. In einem Moment fliegt der Schmetterling aus der Puppe.
— 151 —
In anderen Fällen wird die Puppe durchlöchert, der Weg gesehen,
aber ruhig gewartet, bis das positive Leben von selbst und ohne
Gewaltsamkeit die allerletzten Reste des früheren Gehäuses ver-
schwinden läßt.
Das Prinzip dieser Deutung des Systems der Philosophie,
auf Grund deren jedes System aus theoretischen Motiven abge-
lehnt wird, erinnert an den Gedanken von Simmel, der uns be-
schäftigt hat. Das Leben schafft immer von neuem Formen,
um sie wieder zu zerstören. Aber Simmel weiß, daß er damit
Metaphysik treibt. Bei Jaspers tragen diese Lehren ein biolo-
gistisches Gepräge, und insofern kommen sie hier von neuem in
Betracht. Die Systeme werden zu verstehen gesucht auf Grund
ihrer biologischen Funktionen. Das ist das Prinzip des biologi-
stischen Pragmatismus und erinnert an James. Systeme stellen sich
dementsprechend als eine Not des Lebens dar, aus der unter
keinen Umständen eine Tugend des ,, lebendigen" Menschen ge-
macht werden darf. Man kann sie leider nicht entbehren, aber
jedes ist wieder abzuwerfen, damit es einem neuen Platz macht.
So will es die Lebendigkeit des Lebens, und der Standpunkt
des Lebens erweist sich jedem Standpunkt eines Systems als
übergeordnet. Das scheint die theoretische Rechtfertigung der
antisystematischen Lebensphilosophie durch das biologistische
Prinzip.
Wieder müssen wir fragen: ist das ein wissenschaftlicher
Standpunkt? Der Forscher, der den Eigenwert wahrer Ge-
danken voraussetzt und nur dadurch zum theoretischen Forscher
wird, daß er es tut, wird die biologistische Erklärung, für die das
System Schale oder Muschel oder Schlangenhaut ist, nie mitmachen
können. Zunächst muß er sich vor der darin liegenden Ver-
wechslung hüten, die geschaffene Kultur erzeugnisse, deren
Bedeutung gerade in ihrer Festigkeit und Dauer besteht, mit
abgestorbenen Natur produkten gleichsstzt, die wieder abzu-
Averfen sind. Der Mensch, der Weltanschauung hat und über
sie zur wissenschaftlichen Klarheit zu kommen sucht, ist ein
soziales und geschichtliches Wesen. Die Menschheit hat für ihre
Weltanschauungen ,, Gedächtnis", und ein Teil dieses Gedächt-
nisses ist die wissenschafthche Philosophie. Der Kulturmensch
lebt nicht wie das einzelne, bloß „natürliche" Lebewesen, dem
— 152 —
das Gehäuse von selbst wächst, und das es wieder abwirft. Er
findet eine Weltanschauung als Erbe ssiner Väter vor, nimmt
sie auf, bleibt entweder bei ihr stehen oder bildet sie um, und
wenn die Weltanschauungen sich auch von Generation zu Gene-
ration ändern, so werden sie doch dabei zugleich weiter ausge-
staltet und jedenfalls in ihrer Totalität niemals so abgeworfen
wie eine Schlangenhaut.
Das gilt nicht einmal von den außerwissenschaftlichen Welt-
anschauungen, und vollends wird die biologistische Erklärung
sinnlos gegenüber den Bestrebungen der wissenschaftlichen Philo-
sophie, die darauf ausgeht, über das Ganze der Welt zur theo-
retischen Klarheit zu kommen. Die Ansichten und Ueberzeu-
gungen der wissenschaftlichen Philosophen von Welt und Leben
sind Glieder eines geschichtlichen Zusammenhanges, der sich
nahezu kontinuierlich durch zwei und ein halbes Jahrtausend hin
erstreckt. Die Weltanschauungen von ,>Müller und Schulze",
die mit oder ohne Fühlung mit der wissenschaftlichen Philoso-
phie sich aus persönhchen Erfahrungen bilden, kann man allen-
falls wie Naturprodukte behandeln, welche mit ihren Trägern
wachsen und wieder zugrunde gehen, ohne bleibende Spuren zu
hinterlassen und andere Weltanschauungen zu beeinflussen. Von
ihnen gibt es auch eine generahsierende Auffassung, die ihre
Typen ordnet wie die Naturwissenschaft die Typen der Organis-
men, und bei der Darstellung solcher Weltanschauungen kann
man vielleicht, wenn auch mit Vorsicht, biologische Analogien
verwenden. Es mag vorkommen, daß jemand aus Lebensangst
sich in. ein fremdes System wie in ein Gehäuse verkriecht.
Die Weltanschauungen der großen, selbständigen, geschicht-
lich bedeutsamen Denker aber, die sie im bewußten Zusammen-
hang mit der Vergangenheit auf Grund der Lehren ihrer Vor-
gänger ausgestaltet haben, kann man nur insofern mit Natur-
produkten wie Gehäusen vergleichen, als man dabei die unverein-
baren Gegensätze zwischen beiden hervorhebt. Der biolo-
gistische Naturalismus ist hier wie überall außerstande, Er-
scheinungen des geschichtlichen Kulturlebens in ihrem Werden
und Vergehen zu begreifen. Ist Spinozas System ein „Gehäuse"?
Hier redet sogar Nietzsche von ,, heiligem Land". Und Kants
Kritiken? Ihnen gegenüber merkt Jaspers selbst, daß seine
— 153 —
Theorie nicht stimmen will. Er nennt sie „riesenhafte Frag-
mente". Wenn dies Wort hier passen soll, wer hat dann über-
haupt noch ein System? Wir kommen ins Gebiet reiner Will-
kür. Die Gehäusetheorie widerlegt sich selbst.
Aber auch abgesehen davon darf man das von einem Denker
erdachte System nicht mit einem verknöcherten Gehäuse ver-
gleichen. Auch der Biologist kann das nicht, ohne seine eigenen
Theorien damit sinnlos zu. machen. Das widerspricht dem
„Geist" oder dem Sinn, aus dem heraus ein solches Gebilde ent-
springt, und muß daher sein inneres Wesen völhg verfehlen.
Falls jemand nach Bildern sucht für die Weltanschauung, die er
sich zurecht legt, wird er auf das Kulturleben blicken und von
einem Haus reden, das er sich baut, um als theoretischer Mensch
in ihm zu wohnen, das er braucht, um aus ihm hinauszuschauen
auf die Welt, die er betrachten will, und das fest auf Prinzipien
ruhen muß, wenn die Stürme des Lebens und der Leiden-
schaften es umbrausen. Er wird ein Haus bauen wollen, das
so lange dauert wie möglich, und an dem die Nachwelt weiter-
bauen kann. Dazu braucht er Steine, die hart und rechtwinklig
behauen sind, d. h. fest bestimmte Begriffe, mit denen er der
schwankenden Erscheinung, die die bloße Anschauung ihm bietet,
Herr wird. Er kann theoretisch nicht ,, leben" ohne festes
Fundament und sichere Prinzipien.
Wollte er dagegen seine Gedankenarbeit und die Welt-
anschauung, die er sich schafft, biologistisch als „Verholzung"
ansehen, so müßte sie für ihn jeden Sinn verlieren. Nie wird
er sich als theoretischer Denker in ein finsteres Gehäuse ver-
kriechen und gegen das lebendige Leben absperren, sondern da-
für sorgen, daß sein Haus der Sonne und dem ]\Iond ebenso wie
den frischen Winden des Lebens offen steht, und daß es Fenster
hat, die ihm den Blick eröffnen über das weite Land. WiJl der
Biologismus ihm einreden, seine rationalen Gedanken denke er
nur, um sich eine schützende Schale wachsen zu lassen, dann
lacht er ihn fröhlich aus. Die aus spezialwissenschaftlichen Ge-
sichtspunkten erwachsenden biologistischen Theorien erreichen
diese Probleme in keiner Hinsicht. Sie werden zu wirklichkeits-
fremden, „toten" Konstruktionen und können nur als Ver-
fälschung des Sinnes der Systembildung gelten, der jedem syste-
— 154 —
matisch Denkenden aus eigenem unmittelbarem „Erleben" heraus
vertraut und über jeden Zweifel erhaben ist. Der Biologist,
soweit er theoretisch denkt, mißversteht sich selbst, wenn er
sein eigenes Denken glaubt, biologisch fassen zu können. Er
will in Wahrheit etwas, das in keine biologistische Kategorie
eingeht, denn so will es das Pathos der reinen Betrachtung oder
der Wissenschaft, und so„will" er selbst es als theoretischer Mensch,
auch wenn er darüber keine Klarheit hat. Die biologistische
Betrachtung, die es anders will, kann theoretisch nicht bestehen,
und darauf allein kommt es in der Wissenschaft an.
In Zeiten, in denen Systeme sklavisch nachgebetet werden,
hat es freilich einen guten Sinn, auch das Recht der Bewegung
und des Lebens zu preisen, und davon wird noch zu reden sein,
wenn wir von dem Recht der Lebensphilosophie sprechen. Das
ist dann sozusagen eine Angelegenheit der wissenschaftlichen
,,Pohtik". Unsere Zeiten aber, in denen die Lebensphilosophie
Mode ist, fördern zu einem so gericliteten politischen Verhalten
nicht auf. Angesichts der Erweichung aller Begriffe, die man
„lebendig" zu machen sucht, und der Lebensangst vor dem
System wird der theoretische Mensch nicht mit dem großen
Lebensstrom schwimmen wollen. Die wissenschaftliche ,, Substanz"
ist da bei denen, die bauen können oder es wenigstens versuchen.
Man mag auch diesen Standpunkt eine „Weltanschauung"
nennen und ihn damit nicht als „wissenschaftlich" anerkennen.
Doch stecken in ihm nur die Voraussetzungen, die kein Theo-
retiker entbehren kann. Hier steht eben die t h e o r e t i s c h e
Weltanschauung, die das System braucht, gegen die a n t i t h e o-
r e t i s c h e , der es unsympathisch oder gar verhaßt ist, und der
theoretische INIensch darf, falls er sich selbst versteht, nur .für
die Weltanschauung Partei ergreifen, innerhalb welcher die reine
Theorie einen Sinn hat. Als wissenschaftlicher Standpunkt sind
daher die Bestrebungen der Lebensphilosophie, die das syste-
matische Denken biologistisch zu erklären, das System als Ge-
häuse zu kennzeichnen und dainit dem Leben gegenüber zu-
gleich herabzusetzen suchen , in sich widerspruchsvoll. Der
Widerspruch aber ist für jeden wissenschaftlichen Standpunkt
„tötlich".
War es nötig,, auch solche Selbstverständlichkeiten aus-
— 155 —
drücklich zu sagen? Heute ist alles Denken theoretisch so
„lebendig" und „beweglich" und damit so erweicht, daß man
logisch kaum mehr treten kann. Die Modephilosophie des Lebens
wird bisweilen zum Lebenssumpf, und darin gibt es dann nur
noch Froschperspektiven. Da gilt es zunächst einmal, nüchtern
erkenntnistheoretisch und methodologisch Wege und Brücken zu
bauen, auf denen das Material zur Errichtung von festen theo-
retischen Häusern herbeizuschaffen ist, zu Gebäuden mit möglichst
hohen Türmen, die standhalten und einen weiten Ausblick ge-
statten. Weil man nur von ihnen aus die Welt schauen und
überschauen kann, und weil das doch wohl immer die Aufgabe
des theoretischen Menschen bleibt, kommt alles auf das feste
Bauen und auf klare Prinzipien an. Als Forscher haben wir
das Leben begrifflich zu beherrschen und zu befestigen und
müssen daher aus der bloß lebendigen Lebenszappelei heraus
zur systematischen Weltordnung. Deswegen ist die moderne
Lebensphilosophie, die das nicht einmal wollen, geschweige denn
leisten kann, wissenschaftlich zu bekämpfen. Jeder Versuch,
ein System der Philosophie zu errichten, muß sich zunächst
gegen sie wenden, damit das Feld frei wird für das positive
Schaffen. Die Lebensangst vor dem System darf nicht in die
wissenschaftlichen ,, Prinzipien" hineingeraten. Wenn dem Bio-
logismus das passiert, ist er nicht nur unphilosophisch, sondern
wird philosophiefeindlich, also gewiß keine Lebens p h i 1 o s o p h i e.
Damit ist der letzte Anspruch, den die Modebewegung
unserer Zeit erheben kann, um ihre „Prinzipien" zu retten, für
den theoretischen Menschen als hinfällig durchschaut. Diese
Philosophie behält nichts mehr übrig, was als durchgeführte
Philosophie im positiven Sinne gelten kann. Unsere Kritik,
soweit sie auf eine Verneinung der zeitgemäßen Strömungen
hinauskommt, ist also abgeschlossen. Es bleibt nur noch die
Frage, ob trotzdem die Lebenstendenz nicht Bedeutung
auch für die Philosophie besitzt.
— 156 —
Z e h n t e s K ap i t e 1.
Leben und Kultur.
,,Und setzet ihr nicht das Leben ein,
Nie wird eu; h das Leben gewonnen sein."
Chor.
Ehe wir uns jedoch zu dieser letzten Frage wenden, gehen
wir einen Schritt in verneinender Richtung w'eiter, um das Ver-
hältnis von Leben und Kultur noch in anderer Hinsicht klar
zu stellen. Es ist nicht allein unmöglich, die Kulturwerte positiv
als Lebenswerte zu verstehen, sondern die Kultur muß sogar
in ein negatives Verhältnis zum Leben gebracht werden. Erst
dadurch tritt ganz zutage, wie unzureichend die Philosophie
des bloßen Lebens ist. Das, Bedürfnis nach einer echten Philo-
sophie des Lebens wird sich vielleicht dann noch stärker regen.
Gewiß haben wir das Leben als Bedingungsgut hoch zu
stellen und jede Lehre kulturfeindlich zu nennen, die auf Lebens-
vernichtung ausgeht. Dennoch kann der allein, welcher die
Lebendigkeit auch in sich zurückzudrängen vermag, ein Kultur-
mensch genannt werden, und erst dort gibt es daher objektive
Kulturgüter, wo sie zur Lebendigkeit des Lebens in einer Art
von Gegensatz stehen. L'm es schroff auszudrücken, indem war
dabei das Wort so gebrauchen, wie die Lebensphilosophie es
benutzt: man muß das Leben bis zu einem gewissen Grade
„töten", um zum Kulturleben mit Eigenwerten zu kommen.
Was dies anscheinend paradoxe Wort sagen will, sei wenigstens
an einigen Beispielen erläutert.
Selbstverständlich dürfen wir dabei das Wort Leben nicht
in dem umfassendsten Sinne nehmen, nach dem alles, was wir
„erleben", schon Leben heißt, denn wir „leben" auch als Kultur-
menschen, und es werden alle Kulturgüter mit ihren Werten
von uns „erlebt". Wie im Biologismus neuester Richtung darf
„Leben" jetzt nar im Gegensatz zum Toten gebracht werden
für das lebendige, wachsende, vitale Leben, wie wir am besten
sagen werden, wo die Vieldeutigkeit des Wortes „lebendig" zu
Unklarheiten führt, und zwar ist diese Scheidung in ein Leben
im weiteren und ein lebendiges, vitales Leben im engeren Sinne
sowohl notwendig mit Rücksicht auf das Verhalten des Menschen
- 157 -
zu einem Kulturgut, das er „erlebt", als auch mit Rücksicht
auf den Inhalt des Kulturgutes selbst. Menschliches Subjekts-
verhalten ist immer „Leben", muß aber gerade deshalb vom
lebendigen Leben als dem vitalen geschieden werden, wo Un-
lebendiges oder gar Unwirkliches ,, erlebt" wird, und ebenso ist
in dem Inhalt des Kulturobjektes das, was lebt im Sinne des
Vitalen, von dem zu trennen, was darin als Unlebendiges und
Unwirkliches ein ,, Eigenleben" führt, ohne vitales Leben zu sein.
Der Abstand von der lebendigen Wirklichkeit wird am
deutlichsten wieder bei dem theoretischen Menschen, und zwar
jetzt nicht nur bei dem objektiven Kulturgut, an dem die Wahr-
heit haftet, von dem wir schon vorher sahen, daß es keine vitale
Lebendigkeit besitzt, sondern auch bei dem Verhalten des theo-
retischen Subjekts.
Es hat lange gedauert, bis der Wahrheitswert in seiner Reinheit
zum Bewußtsein kam, und bis Menschen es lernten, in ihm zu
„leben", um so ihrem bloß vitalen Leben Sinn zu verleihen. In
Griechenland wurde zum ersten Male die W' ahrheit um ihrer selbst
wiUen gewertet, und das Gut, an dem sie haftet, die Wissen-
schaft, um der Wahrheit willen gesucht. Die Zurückdrängung
des bloß vitalen Lebens durch die Kultur tritt dabei klar zu-
tage. Kenntnisse besaß man schon lange vorher. Man kann
sie suchen und werten, um sie in den Dienst des vitalen Lebens
zu stellen. Dann ist aber von ,, Wissenschaft" noch keine Rede.
Man forscht nur, weil man das Wissen zum Leben oder zu
irgend einem andern Zwecke braucht. So war es anfangs überall,
und so ist es heute noch bei vielen.
In Griechenland kehrte sich zum ersten Male das Verhältnis
um. Der Mensch, zunächst auch dort in wenigen Exemplaren,
forschte nicht mehr, um zu leben, sondern lebte, um zu forschen.
Durch die Wahrheit erst erhielt das Leben für ihn Wert. Vom
biologistischen Standpunkt müßte diese Umwertung als ,, Ent-
artung" bezeichnet werden. Für die Entwicklung der Kultur
bedeutet sie einen Höhepunkt. Lebenswerte danken ab zugunsten
von theoretischen Eigenwerten. Gerade das sichert diesem ge-
schichtlichen Moment das „Leben" im Sinne der Unsterblichkeit,
d. h. mehr als vitales Leben. Bis auf den heutigen Tag findet
hier der theoretische Mensch sein unübertroffenes Vorbild.
— 158 —
Wer also den Versuch macht, die wissenschafthche Wahr-
heit biologistisch der NützHchkeit für das vitale Leben gleichzu-
setzen, wie der Pragmatismus es unternimmt, begeht nicht nur
eine grobe Begriffsverwechslung, indem er zwei prinzipiell von-
einander verschiedene Werte durcheinander mengt, sondern er
würde, wenn er Erfolg hätte, uns zu jenem Zustande wieder zu-
rückführen, der in Europa herrschte, bevor die Griechen das vom
bloßen Leben abgekehrte theoretische Verhalten zum Wahrheits-
wert und damit die Wissenschaft hervorbrachten. Die biologisti-
sche Erkenntnistheorie bedeutet im Prinzip einen Rückfall in
Barbarei. Sie ist auf theoretischem Gebiet die spezifisch-kultur-
feindliche Richtung.
Lebensferne ist demnach nicht nur mit den Produkten der
Erkenntnis oder den Begriffen verknüpft, sondern gehört auch
zum Wesen des theoretischen Menschen selbst. Erst wenn wir
darauf achten, wird der Gegensatz des Kulturgutes Wissenschaft
zum Leben ganz klar. Alles, was wir erkennen, entfernen wir
damit von uns, so daß wir es nicht mehr als Lebendiges erleben.
Früher haben wir gesehen: es ist der Sinn des „Begriffes", daß er
das Begriffene unlebendig macht. Das hat dann seine Folgen
auch für das Leben des erkennenden Subjekts. Die Wahrheit,
die es denkt, verkörpert sich allein im unlebendigen logischen
„Sinn". So wird ein Dualismus von Leben und Denken auch
in jeden Menschen, der Wissenschaft treibt, hineingebracht. Das
„Leben" im logischen „Sinn" oder in der Wahrheit liegt vom
vitalen Leben weit ab und kann nicht als biologisches Leben be-
zeichnet werden.
Freilich zeigen, wie wir sahen, die Begriffe der verschiedenen
Wissenschaften in ihrem objektiven Gehalt eine mehr oder weniger
große Lebensferne, und das muß ebenfalls im Verhalten des er-
kennenden Sul)jekts zum Ausdruck kommen. Im einzelnen braucht
das nicht erst gezeigt zu werden. Der Mathematiker steht ebenso
wie seine Begriffe als ]^Iathematiker dem lebendigen Leben am
fernsten. Der Historiker andererseits lebt mit seinen Objekten
deren lebendiges Leben mit, und dazwischen gibt es eine Fülle
von Abstufungen. Doch auch der Historiker lebt, ebenso wie
seine Wissenschaft das Leben tötet, in unlebendigem Sinn, so
lange er nur Historiker ist. Das gilt wieder sogar vom Biographen.
— 159 —
Der wissenschaftlich denkende Mensch lebt also nicht einmal dann
im Lebendigen, wenn er das Lebendigste von allem erforscht.
Der Gedanke an eine mehr oder weniger große Lebensnähe
hat noch eine andere Bedeutung. Er kann nicht nur zur Anord-
nung der verschiedenen Teile der Wissenschaft und des wissen-
schaftlichen Lebens der Forscher, sondern auch zur Anordnung
der verschiedenen außerwissenschaftlichen Kulturgebiete dienen.
Man wird versuchen, dem Leben näher zu kommen, als es durch
irgendeine Wissenschaft möglich ist, und dabei doch in der Kultur-
. Sphäre zu bleiben wünschen, also nicht nur vital zu leben.
Das hat gewiß seine Berechtigung, und zu diesem Zweck
bietet sich zunächst die Kunst dar. Daß ihr Inhalt lebendiger
ist als der der Wissenschaft, hat man schon öfter bemerkt.
Mancher künstlerische Mensch empfindet einen Schauer vor der
toten Abstraktion der wissenschaftlichen Theorien, und wenn er
sich, wie das wohl vorkommt, zu einer Metaphysik des Lebens
hingezogen fühlt, so ist das nur dadurch zu erklären, daß das
Wort Leben ihn täuscht. Er gibt diesem metaphysisch gefaßt
völlig leeren Begriff einen Inhalt, den er als metaphysischer Be-
griff nicht besitzen kann. Höchstens die Geschichtswissenschaft
scheint an Lebensfülle mit der Kunst wetteifern zu dürfen,
aber nur deshalb, weil sie künstlerische ^Momente in sich auf-
nehmen und dadurch mit Rücksicht auf die Anschauung eine
Lebensnähe erreichen kann, die ihr als Wissenschaft versagt ist.
Das eigentlich Wissenschaftliche in ihr „tötet" das Leben schon
deshalb, weil durch den Begriff die unmittelbare Anschauung in
ihrer Lebensfülle zerstört werden muß. In der Welt der An-
schauung aber sucht und findet die Kunst ihre Heimat, und des-
halb berührt sie das Leben, wenigstens in einer Hinsicht, un-
mittelbar.
Trotzdem daif man auch von ihr nicht sagen, daß sie das
lebendige Leben selbst in sich aufnimmt. Alles, was wir als
bloß lebendig erleben, ist für sich nicht nur ohne logischen, son-
dern auch ohne ästhetischen Wert. Von dem lebendigen Leben
selbst muß der ästhetische Mensch sich abwenden, um den Sinn
des Kunstwerkes zu verstehen, dei nicht vital lebendig ist.
Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen dem Leben und
dem Kunstwerk zeigt sich nirgends deutlicher als daran, daß, so-
— 160 —
bald die Grenze zwischen dem künstlerisch Dargestellten und
der lebendigen Wirklichkeit sich nicht mehr ziehen läßt, der
ästhetisch feinfühlige Mensch das als unerträglich empfindet.
Man braucht dabei nicht gleich an Panoramen oder an Wachs-
figuren zu denken. Auch in Werken, die der Kunst allein dienen
sollen, wirkt volle, das Leben vortäuschende Lebendigkeit ab-
stoßend. Naturalistische Theorien, die behaupten, Kunst habe
dem Leben so nahe wie möglich zu kommen, sind nicht nur falsche
ästhetische Theorien, sondern enthalten überhaupt keine Aesthetik.
Sie reden gar nicht vom ästheti sehen Wert, und sie können
es auch nicht. Es muß die Frage gestellt werden, wodurch sich
das Kunstwerk von der lebendigen Wirklichkeit, die es darstellt,
unterscheidet. Nur wo es einen Abstand gibt, ist ein ästheti-
scher Wert möglich.
Worauf die Unlebendigkeit des ästhetischen Gegenstandes
beruht, kann hier nicht im einzelnen gezeigt werden. Dies Eine
genügt: was ästhetisch wirken soll, ist notwendig aus dem le-
bendigen Zusammenhang, in dem es mit der Wirklichkeit steht,
herauszulösen, zum mindesten so zu isolieren, daß es dadurch
sein ursprüngliches und lebendiges Leben verliert. Damit soll
nicht für einen ästhetischen „Formalismus" Partei ergriffen
werden. Auch wenn der Künstler seine lebendige wSeele in seine
Kunstwerke hinein ergießt, und diese infolgedessen die ganze
Wärme seines Gefühls ausstrahlen, so hat doch diese „Lebendig-
keit" nichts mit der des Lebens zu tun, in dem wir als Lebe-
wesen vital leben.
Wohl kann man von einer Statue sagen, sie „lebe" im
Gegensatz zu dem toten Marmor, aus dem sie wirklich besteht.
Aber dieses Leben führt sie nicht in der Wirklichkeit des vitalen
Lebens, denn ihre Wirklichkeit bleibt ja tot, sondern es ist
eine „ideale" Sphäre, in der das ästhetische „Leben" sich be-
wegt. Alles an einem Kunstwerk, was daran zur Kunst gehört,
bleibt von der Wirklichkeit des vitalen Lebens so Weit getrennt, daß
es überhaupt nicht mehr als „Wirklichkeit" bezeichnet werden
kann, falls wir unter diesem Wort die in der Zeit ab-
laufende und im Raum ausgedehnte psychophysische Realität
verstehen, zu der die Lebewesen gehören. Genau wie der logische
Sinn eines wahren Satzes ist auch der ästhetische Sinn eines
— 161 —
Kunstwerkes, den wir verstehen, und auf den es allein dem
ästhetischen Menschen ankommt, ebenso unwirkUch, wie er un-
lebendig ist.
Es gibt freiUch in der modernen Kunst Werke, die dem zu
widersprechen scheinen. Da wird nicht der ganze Stoff so geformt,
daß er sich dadurch vom wirkhchen Leben entfernt. Man kann
sich das an einer Plastik von Rodin deutlich machen. Ein mensch-
Ucher Körper wächst aus einem Marmorblock heraus. Der Körper
selbst ist künstlerisch gestaltet und der Wirklichkeit des Steines
entrückt. Der Marmor darunter aber bleibt Stein und gehört
doch mit zum Kunstwerk. Während der Körper also etwas
anderes b e d e u t e t , als er i s t , ist dieser Marmor zugleich
wirklich das, was er im Kunstwerk auch bedeutet. Da scheint
also jenes Auseinanderfallen von Wirklichkeit und ästhetischem
Sinn nicht zu bestehen, und in anderen Künsten läßt sich ähn-
liches aufweisen. Es gibt in Musikstücken Töne, die nur als
WirkUchkeiten, z. B. als lebendiger Schrei, wirken. Hier droht
vollends das Aesthetische mit der lebendigen Wirklichkeit zu-
sammenzufallen.
Trotzdem können diese und andere Beispiele unserer Be-
hauptung nicht entgegenstehen, denn es ist darauf zu achten,
daß es sich immer nur um Teile innerhalb eines ästhetischen
Zusammenhanges handelt, und daß, ganz abgesehen davon, ob
man solche Effekte ästhetisch billigen will oder nicht, die leben-
digen Wirklichkeiten, soweit sie überhaupt zur Kunst gehören,
nur als Kontraste zu dem ästhetisch Gestalteten in Be-
tracht kommen. Sie haben somit doch eine ästhetische Be-
deutung, die nicht mit ihrer lebendigen Wirklichkeit zusammen-
fällt, und widersprechen also unserer Ansicht so wenig, daß sie
vielmehr bestätigen: nur mit ihrer unlebendigen Bedeutung, nicht
als lebendige Wirklichkeiten liegen sie in der ästhetischen Sphäre.
So zeugen auch sie für die Lebensferne der Kunst und für das
notwendige Auseinanderfallen der Lebenswerte und der Kultur-
werte. Ein Kunstwerk, das nur lebendiges Leben enthält, wird
man vergeblich suchen.
In unserem biologistischen Zeitalter fehlt es, wie wir sahen,
nicht an Versuchen, der Kunst die Ursprünglichkeit des Lebens
zu geben, die sie nicht besitzt, und die man an ihr vermißt.
B, i c k e r t , Philosophie d- Lebens- 1 1
— 162 —
Der geistvollste, freilich stark mit Schopenhauerscher Willens-
metaphysik durchsetzte Versuch in dieser Richtung stammt
wieder von Nietzsche. Wenn in der Schrift über „die Geburt
der Tragödie aus dem Geiste der Musik" das Dionysische dem
Apollinischen gegenüber gestellt wird, so bedeutet das, abgesehen
von anderen Denkmotiven, die sich eng damit verbinden, daß
dem Menschen, der das elementare Leben leben will, die apol-
linische, und das ist eben die dem lebendigen Leben fernstehende
Kunst, nicht genügt.
Doch schon Nietzsches Gedanke, daß die Musik dem Leben
näher wäre als andere Künste, ist falsch. Man könnte viel eher
sagen, daß sie unter den Künsten das sei, was die Mathematik
unter den Wissenschaften darstellt. In ihr wird die größte Ent-
fernung vom lebendigen Leben erreicht, die bei dem Festhalten
an der Anschauung möglich ist. Gerade sie also gehört, wenn
irgend etwas, in das Reich des Apollinischen und Unlebendigen,
und dasselbe gilt, wenn auch vielleicht nicht in so hohem Maße,
von allen andern Künsten, von der Tragödie wie von der
Plastik.
Dionysos, aufgefaßt als der Gott des bloß vitalen wilden
Lebensdranges, hat in der ästhetischen Sphäre nichts zu suchen.
Ihn aus ihr hinauszutreiben, oder ihm wenigstens Fesseln an-
zulegen, muß vielmehr die Aufgabe jeder wahrhaft künstleri-
schen Gestaltung sein.
Freilich wird die Ansicht, daß auch die Kunst das unmittel-
bare Leben „tötet" wie die Wissenschaft, vielen vollends para-
dox erscheinen. Wie oft fühlen wir alle unsere Lebenskräfte bei
der Betrachtung eines Kunstwerks angeregt! Und doch dürfen
wir uns nicht darüber täuschen, daß hier das Wort „Leben"
eine andere Bedeutung hat als die des unmittelbaren vitalen
Lebens oder des Lebens, von dem es biologische Theorien gibt.
Es bleibt dabei, daß eine wahrhaft ästhetische Kultur erst dort
möglich wird, wo wir darauf ausgehen, eine Welt über dem Leben
zu bauen, die nicht mehr in demselben Sinne lebendig ist wie
die lebendige Natur im Gegensatz zur toten Wirklichkeit.
Wie weit die Kluft zwischen Kunst und Leben ist, kann
vielleicht noch deutlicher werden, wenn wir von der künstlerischen
zur sittlichen Kultur übergehen. Es ist der wollende und
- 163 —
handelnde Mensch, auf den es dabei ankommt. Er entfernt sich
niemals so weit vom Leben wie der wissenschafthch denkende
und der künstlerisch anschauende. Von neuem müssen wir hier,
auch mit Rücksicht auf die Lebendigkeit der Kulturgüter selbst,
einen prinzipiellen Unterschied konstatieren, der sittliche Gebilde
wie Ehe und Familie, Recht und Staat, Nation und Menschheit
von den künstlerischen und wissenschaftlichen Werken noch mehr
trennt, als diese von einander getrennt sind.
Der ethische Wert haftet zunächst stets an einem Willen
und kann nur von hier aus auf andere Wirklichkeiten übertragen
werden. Dies ethische Gut würde aber sofort seinen ethischen
Wertcharakter oder seinen ethischen Sinn verlieren, wenn der
Wille sich nicht in der Welt des lebendigen vitalen Lebens wirk-
lich betätigte. Das tritt zutage, sobald wir daran denken, daß
auch der Forscher oder der Künstler, insofern er schafft, einen
im weitesten Sinn autonomen Willen hat, d. h. um der Werte
der Wahrheit oder der Schönheit willen Kulturgüter zu verwirk-
lichen sucht. Und es wird vielleicht noch klarer, wenn wir das
ethische Prinzip nicht nur in der rein formalen Autonomie des
Willens suchen, die sich auf jede Verwirklichung von wertbe-
hafteten Gütern beziehen kann, sondern daran denken, daß
sittliches Wollen im engeren Sinne Reziehungen sittlicher Lebe-
wesen, autonomer Persönlichkeiten zu einander voraussetzt, also
einen sozialen Charakter tragen muß, wobei dann entweder der
Schwerpunkt auf dem einzelnen Individuum als einem Gliede
der Gesellschaft ruht, zu der es im Gegensatz steht, oder auf
den Zusammenhängen, welche die sozialen Individuen zu einem
einheitlichen Ganzen miteinander verknüpfen, d. h. auf der Ge-
sellschaft selbst. Der Mensch als soziales Wesen hat es gewiß
in ganz anderer Weise mit dem lebendigen, vitalen Leben zu
tun als der seinem Wesen nach asoziale, theoretische oder künst-
lerische Mensch.
Trotzdem fallen für ihn nicht nur die Lebenswerte und
die ethischen Werte prinzipiell auseinander, sondern auch im
sozialen Leben richtet sich die Kultur direkt gegen die bloß
vitale Lebendigkeit, insofern nämlich, als sie zwar nicht darauf
ausgeht, sie zu töten, wohl aber sie ihren ethischen Zwecken
11*
■ — 164 —
unterzuordnen. Damit ist eine Einschränkung der Vitalität not-
wendig verknüpft.
Man kann sogar behaupten, daß, weil in einer Hinsicht
Leben und Kultur hier enger verbunden sind als im wissen-
schaftlichen oder künstlerischen Gebiet, in anderer Hinsicht
der Antagonismus zwischen beiden besonders deutlich zutage
treten muß. Der sozialethische Mensch darf das Leben, für das
er bei sich und andern verantwortlich ist, nur selten seinen
bloßen , »Lebenslauf" gehen lassen. Er muß sich vielmehr be-
rufen fühlen, einzugreifen und das Lebendige, das für sich be-
trachtet ethisch wertindifferent ist, so zu gestalten, daß ihm
eine Bedeutung und ein Sinn innewohnt. Gerade wegen der
Lebensnähe dieses Wollens erreicht die Spannung von Leben
und Kultur hier einen besonders hohen Grad. Sie muß deshalb
auch stärker empfunden werden als z. B. in der künstlerischen
Welt, und daher kommt es, daß ästhetisch angelegte Naturen,
die Ruhelage und Harmonie suchen, sich von dem ethischen
Wollen wegen seiner ,,rigoristischen" Lebensfeindlichkeit abwen-
den, um ins Aesthetische hinüberzugleiten, freilicli ohne sich da-
bei immer klar zu sein, daß sie damit dem lebendigen, vitalen
Leben durchaus nicht näher kommen. Es hat nur die Spannung
aufgehört, in ihrem Bewußtsein sich bemerkbar zu machen, weil
sie dem lebendigen Leben nun ganz ferngerückt sind, und diese
,, Lösung" des Widerstreites genügt ihnen.
Selbstverständhch wollen wir nicht sagen, daß der ethische
Wille berufen sei, alles vitale Leben von Grund aus umzu-
gestalten. Im Gegenteil, als Bedingung der sittlichen Kultur
kann wegen der relativen Lebensnähe auch das bloß vital Leben-
dige sich mit ethischen Werten verknüpfen und eventuell eine
große Bedeutung erhalten.
Das macht sich z. B. bei der Beurteilung von sexualethi-
schen Vorgängen geltend. FreiUch ist es grundverkehrt, in dem
rein vitalen Geschlechtstrieb schon ein ethisches Gut zu er-
blicken. Solche Uebertreibungen sind nur als Reaktion gegen
seine nicht minder verkehrte Herabsetzung oder „Verteufelung"
zu begreifen. Der Trieb als solcher ist, wie alle bloßen Lebens-
triebe, ethisch völlig indifferent: ganz allein davon, wie wir
unser vitales Triebleben gestalten, hängt es ab, ob ihm ein ethi-
— 165 —
scher Charakter gebührt oder nicht. Von ethischen Werten oder
Unwerten, die im Sexualleben selbst stecken, zu reden, hat
keinen Sinn. Wohl aber kann die Sexualethik vielleicht zeigen,
daß innerhalb der wertteleologischen ethischen Zusammenhänge,
die sie behandelt, manche Strecken gerade aus ethischen Grün-
den, mit Rücksicht auf die Gemeinschaft autonomer Persönlich-
keiten in ihrer rein „natürlichen" oder vitalen Lebendigkeit zu
belassen sind. Das biologisch ,, Gesunde" bekommt so unter
Umständen eine ethische Bedeutung, die es als solches nicht
hat. Es gibt zweifellos Gebiete der Kultur, in denen elementare
Lebenstriebe als rein natürliche Grundlagen eine so gewaltige
Rolle spielen, daß eine weitgehende Reflektion auf ihre Funk-
tionen störend wirken und das in seinem Ablauf bedrohen kann,
was gerade in seiner biologischen Lebendigkeit und Unangetastet-
heit die Bedingung zur Verwirklichung sozialethischer Güter wie
der Ehe, der Familie usw. ist.
Das ist ein Umstand, der Wohl besonders dazu verleitet
hat, das Biologische oder bloß vital Lebendige dem Sittlichen
selbst gleichzusetzen und die Rede von einem ,, Recht" auf das
Ausleben der Vitalität beliebt zu machen.
Aber auch hier ist wieder Zweck und Mittel verwechselt.
Die Vitalität ist nur Mittel. Immer muß der ethische Wert schon
auf das, was bloß lebendig ist, übertragen worden sein, damit das
Leben aus seiner Wertindifferenz heraustritt. Der ,, Naturzu-
stand", in dem nur die Lebenstriebe frei walten und das Leben
sich ungehemmt auslebt, ist überall dem Kulturzustand ent-
gegengesetzt. Der Kulturfortschritt ist, von wenigen Ausnahmen
abgesehen, die sich auf Teile größerer Zusammenhänge beschrän-
ken, mit einer Regelung und Einschränkung des bloßen Lebens-
dranges verbunden. Das mag dem Einzelnen oft sehr unbequem
sein, und sagt er das aufrichtig, so ist dagegen nichts einzu-
wenden. Nur das ,, Recht" auf bloße Lebendigkeit oder auf
Ausleben des vitalen Lebens als ,, sittliche Forderung" ist doch
allzu naiv und hat mit Kultur jedenfalls nichts zu tun.
Der ethischen Persönlichkeit tritt das Lebendige überall als
das ,,versinnlichte Material ihrer Pflicht" entgegen, in das sie
einzugreifen hat, um es nach ethischen Normen umzugestalten.
Ja, wir müssen uns im Ethischen ganz besonders daran ge-
' — 166 —
wohnen, daß das Leben selbst Normen für unser Wollen und
Handeln niemals geben kann. Das bloß vitale Leben bleibt
stets eine Tatsache, die da ist, und von der sich weiter nichts
sagen läßt, als wie sie beschaffen ist.
Daß, um endlich auch sie zu erwähnen, die religiösen
Werte nicht Lebenswerte sind, bedarf wohl am wenigsten einer
ausdrücklichen Erörterung. Die Versuche, den religiösen Glau-
ben dadurch zu rechtfertigen, daß die religiösen Völker bessere
Chancen im Kampf mit anderen Völkern haben, muß jeden
wirklich religiösen Menschen geradezu abstoßend anmuten. Sie
kommen auf ein Lob des Aberglaubens hinaus und haben mit
der Begründung religiöser Werte so wenig zu tun wie jene be-
kannten Anpreisungen der Religion als einer Stütze für den Thron
oder für den Staat. Der religiöse Mensch kann in den religiösen
Werten nur die ,, absoluten", über allen andern Werten stehen-
den Werte erblicken. Er muß jeden Gedanken an eine Unter-
bauung und Stützung ihrer Geltung durch andere Werte auf
das Entschiedenste ablehnen. Ja, alle Werte müssen es ver-
tragen, daß sie an ihrer Vereinbarkeit mit den religiösen Werten
gemessen werden, wenn sie wahrhaft gelten sollen.
Andererseits kann man freilich sagen, daß der religiöse
Mensch dem lebendigen Leben in gewisser Hinsicht noch näher
steht als der sittlich wollende. Wir kommen hier zu dem Maxi-
mum an Lebensnähe, das der Kulturmensch überhaupt erreichen
kann. Die Religion ist nämlich jeder Spezialisierung und jeder
Teilung ihrem Wesen nach abhold. Sie muß, wenn sie über-
haupt Religion ist, das ganze lebendige Leben zu durchdrin-
gen suchen. So kann es zu der denkbar größten Wertung des
Lebens gerade von religiösen Gesichtspunkten aus kommen.
Aber dann handelt es sich trotzdem wieder niemals um das
bloße Leben in seiner vitalen Lebendigkeit, sondern dieses ist
vielmehr die „Außenseite" für eine dahinter steckende jenseitige
Wertrealität, und es kommt dem diesseitigen Leben nur inso-
fern die große Bedeutung zu, als es „der Gottheit lebendiges
Kleid" ist. Das lebendige Leben ist in diesem Falle nichts
anderes als das Symbol für ein Sein von vollständig verschie-
dener, nicht mehr lebendiger, sondern überlebendiger Art. Soll
gar die Gottheit selbst das „Lebendige" sein, dann dürfen wir
— 167 —
vollends das, was der Biologie Leben heißt, nicht mehr das
,, Lebendige" nennen. Dies Leben wird der Gottheit gegenüber
dann zum Todesreich. „Alle Pfade, die zum Leben führen, alle
führen zum gewissen Grab."
Trotz größter Lebensnähe kann also der religiöse Mensch
am wenigsten daran denken, dem diesseitigen vitalen Leben
die Werte zu entnehmen, die er braucht. Nur von einer Durch-
strahlung alles Lebens aus dem Ueberlebendigen, Göttlichen
her kann die Rede sein. Und auch dabei geht es ohne einen
Duahsmus von Leben und Gott nicht ab. An ihre Vereinigung
im Sinne eines religiösen „Monismus" der Lebendigkeit wü-d
man nur glauben, wo man sich auf Schwärmen und Fühlen be-
schränkt oder es mit vollem Bewußtsein ablehnt, in seinen
Glauben begriffliche Klarheit zu bringen.
Auch das kann freilich berechtigt sein. Wir finden bedeu-
dende Geister unter den Bekennern einer solchen rehgiösen
„Weltanschauung". «Sie mögen fühlen, daß die Religion eine
restlose Umsetzung in Begriffe nicht verträgt, und haben darin
gewiß recht. Mit Wissenschaft oder mit Philosophie hat dies alles
aber dann nichts mehr zu tun und darf also auch nicht als ein
Argument gegen das prinzipielle Auseinanderfallen von Lebens-
werten und religiösen Werten angeführt werden.
Die Religion geht schUeßlich nicht nur über alles natür-
liche Leben, sondern auch über alles Kulturleben weit hinaus.
Das „Leben", worin der rehgiöse Mensch „lebt", hat daher
noch eine andere Bedeutung als das unlebendige ,, Leben" des
theoretischen oder des ästhetischen Menschen im „Sinn" der
Wissenschaft oder der Kunst. Allem diesseitigen Leben wird
ein „ewiges" Leben gegenübergestellt, und nur ein von ihm
durchdrungenes Leben ist gemeint, wo das Leben selbst sich
der religiösen Verehrung erfreut. Das aber liegt allem Biologis-
mus sehr fern.
Es ist hier nicht zu untersuchen, ob die Reiche der theo-
retischen oder logischen, der ästhetischen, der sozial-ethischen
und der religiösen Werte die Welt der Kulturwerte erschöpfen ^).
1) Daß das nicht geschieht, und daß deshalb der Rahmen
zu erweitern ist, in dem die Wertphilosophie seit Kant sich be-
— 168 —
Lediglich an einigen Beispielen sollte der Antagonismus von
Leben und Kultur klar werden.
Eines sei nur noch hervorgehoben. Man spricht auch von
technischer Kultur, und da könnte man nun glauben, daß
bloße Lebenswerte es sind, die diese Kulturwerte tragen, denn
vielfach wird die Technik in der Tat allein in den Dienst eines
möghchst lebendigen oder gesunden Lebens gestellt. Dagegen
ist auch nichts zu sagen. Wenn aber der Wert der technischen
Kultur auf Lebenswerten beruht, so geht daraus hervor,
daß die Technik keinen Eigenwert besitzt. Dürfen wir schon
im vitalen Leben selbst nur ein Mittel der Vei-wirklichung von
Eigenwerten oder ein Bedingungsgut erblicken, so kann die
Technik, die bloß dem Leben dient, lediglich die Bedeutung haben,
Mittel für ein Mittel, Bedingungsgut für ein Bedingungsgut
zu sein.
Freilich wird gerade dies heute leider oft vergessen, und
infolgedessen ist in unsere Kulturbegriffe . viel Verwirrung ge-
bracht. Man freut sich der technischen Erfindungen als solcher,
ohne sich stets darüber klar zu sein, welche Ziele man mit
ihnen erreichen will. Man ist stolz auf den ungeheuren moder-
nen Apparat, der, wenn man ihn genau betrachtet, zum Teil
doch nichts anderes als die Not unserer modernen Kultur offen-
bart, also ein notwendiges Uebel ist. Man erblickt in gewissen
technischen Möglichkeiten schon einen Kulturfortschritt, ohne
daß man überhaupt irgend welche mit Eigenwerten ausgestatteten
Zwecke anzugeben vermag, denen sie als Mittel dienen sollen.
So kann doch, um an ein immer noch aktuelles Beispiel zu
erinnern, die Fähigkeit, in der Luft zu fliegen, nur unter dem
Gesichtspunkt als eine Angelegenheit der Kultur angesehen
werden, daß eine weitere Entwicklung die Flugmaschinen viel-
leicht in den Dienst von an sich wertvollen Kulturzielen stellt.
wegt, habe ich in meiner Abhandlung über das System der Werte
(Logos, Bd. IV) zu zeigen versucht. Es gibt Werte, die eher noch
als die genannten als Lebenswerte bezeichnet werden könnten.
Worin sie bestehen, und weshalb auch sie etwas prinzipiell anderes
sind als Werte des bloß vitalen Lebens, ließe sich jedoch nur in
einem umfassenderen systematischen Zusammenhang darlegen.
Für eine Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie unserer
Zeit kann das im Text Ausgeführte genügen.
— 169 —
Die Begeisterung für den Apparat als solchen zeugt von allzu
großer Bescheidenheit. Nur technisch „vollkommene" Maschinen
stellen niemals schon einen Fortschritt in der Kultur dar, und
deswegen darf die „technische Kultur" mit dem, was wir wissen-
schaftliche, künstlerische, sozial-ethische und religiöse Kultur
nennen, nicht auf eine Linie gestellt werden.
Mit welchem Rechte wir in den als Beispielen gebrauchten
Kulturwerten Eigenwerte erblicken, steht hier nicht in Frage.
Gibt es überhaupt in sich ruhende Eigenwerte? Davon sehen
wir in diesem Zusammenhang ab. Es galt nur. Pseudowerte
zu entlarven. Und das hat vielleicht auch eine positive Be-i
deutung. Wer erkannt hat, daß die Werte, die ihm bisher
galten, keine Eigenwerte sind, wird um so eifriger nach Werten
suchen, deren Geltung der Kritik standhält. Wir können niemals
aufhören, nach dem ,,Sinn" unseres Lebens zu fragen, und nur
auf Grund von Werten, die gelten, läßt er sich deuten. So
muß durch die Entwertung der ,, Lebenswerte", bei denen viele
unter dem Einfluß der Mode sich kritiklos beruhigen, die Sehn-
sucht nach . echten Werten des Lebens entstehen, jener Eros,
der die Triebfeder aller Philosophie war und ist, und der alle
Moden überdauert.
Dieser Eros braucht uns andererseits nicht dahin zu führen,
daß wir das Vitale herabsetzen. Wir bleiben faktisch stets ins
Leben gebannt und haben als Philosophen auch keinen Grund,
uns aus ihm hinauszuwünschen. Ohne lebendig zusein, könnten
wir nicht forschen. Vollends ist es nicht notwendig, daß wir
die Lebenswirklichkeit zugunsten dessen, was mehr als Leben
ist, metaphysisch zur bloßen Erscheinung entwirklichen. Wir
halten an dem vitalen Leben als voller Realität fest und suchen
trotzdem nach einer Welt, die das Andere des Lebens ist. Muß
es in der Philosophie denn immer auf ein Entweder-Oder hinaus-
kommen? Der sittliche Mensch allerdings wird gewiß oft die
Entscheidung gegenüber einer Alternative nicht vermeiden dürfen
und dann mit seinem Willen auf die eine Seite treten
müssen, um die andere abzulehnen. Aber aus der moralisch
notwendigen ,, Einseitigkeit'* braucht man keine universale B e-
trachtung zu machen. Sie führt zu engem Moralismus der
Weltanschauung. Der theoretische Mensch hat überall sowohl
— 170 —
das Eine als auch das Andere zu sehen, d. h. in diesem Fall
nicht nur das wirkliche Leben, sondern zugleich das, was nicht
in dieser Weise lebendig und gerade deshalb mehr als Leben ist.
Daraus entsteht kein Widerspruch, der die Welt selbst anti-
nomisch macht. Wir erkennen zwar nicht an, daß es ein , »phili-
ströses Vorurteil" bedeutet, wenn man glaubt, alle Probleme
seien dazu da, um gelöst zu werden, denn ohne dies Vorurteil
oder dies ,,a priori" gibt es keine Wissenschaft, also auch keine
Philosophie, und der Philosoph ist nicht notwendig ein Philister.
Wohl aber müssen wir es für möglich halten, daß die Meinung,
nur das monistische Denken, das alles auf ein letztes
Prinzi[) zurückführt, vermöge Probleme zu lösen, sich als ein
unbegründetes theoretisches Vorurteil, eventuell sogar als vor-
gefaßte Meinung des Bildungsphilisters erweist.
Der Biologisnius neuester Richtung weigert sich, das Leben-
dige aus dem Toten abzuleiten. Damit hat er gewiß recht.
Muß er darum den Versuch machen, das Tote aus dem Leben-
digen zu verstehen? Das erscheint nicht zwingend. Gibt es
nicht beides, Totes und Lebendiges, und können wir die Welt
anders denken, als daß sie aus beidem besteht? Hört nicht
wenigstens der Begriff des Lebendigen auf, Begriff zu sein,
ohne den des Toten, und läßt umgekehrt das Wort tot sich
noch verstehen, falls wir nicht auch an das Andere des Todes,
an das Leben denken?
Was aber für den engeren Lebensbegriff gilt, könnte auch
für den weiteren zutreffen. Es gibt zwar Leben gewiß nicht
dann allein, wenn das Leben selber mehr als Leben ist, denn
das wäre ein Widerspruch. Aber vielleicht gibt es Leben nur,
wenn außer ihm etwas Anderes besteht, das mehr als Leben
ist, und es gibt umgekehrt vielleicht mehr-als-Leben nur, wenn
wir daneben das bloße Leben in seiner Selbständigkeit unange-
tastet lassen. Dann müßten wir sagen : das Leben ist der eine
Teil der Welt, das überlebendige Mehr-als-Leben der andere
Teil. Erst beide zusammen machen die ganze Welt aus, und
es bedeutet gerade für den wissenschaftlichen Menschen ein
vergebliches und sinnloses Beginnen, aus den beiden Begriffen,
die sich dann allein denken lassen, wenn es zwei Begriffe sind,
einen Begriff zu machen, der alles umfassen soll, und der, ge-
— 171 —
rade weil er das soll, nichts mehr umfaßt.
Den Lebensmonismus haben wir zu vermeiden. Wir sollten
uns ebenso hüten, in einen Antilebensmonismus zu verfallen.
Nur ein Denken, das heterologisch das Eine wie das Andere
umspannt und in dieser , »Dualität" das Wesen der Welt erfaßt,
kann wahrhaft universal werden, also zu einer umfassenden Philo-
sophie führen. Auch das Wort U n i versum darf uns nicht
verleiten, zu glauben, bei einer Zweiheit könne man nicht
stehen bleiben. Insofern ist der Ausdruck „Multiversum" glück-
lich gewählt. Doch mit dem Wort allein ist es selbstverständ-
lich weder in dem einen noch in dem. andern Fall getan. Es
kommt darauf an, was für Begriffe wir damit verbinden. Mo-
nismus ist oft nichts als leerer Schall. Sorgen wir dafür, daß
man vom Pluralismus nicht dasselbe sagen kann.
Mehr als ein ganz allgemeiner Hinweis auf das Andere des
Lebens, welches das Leben selbst unangetastet läßt, ist in dieser
Auseinandersetzung mit den Modeströmungen unserer Zeit nicht
möglich. Von dem positiven Aufbau einer Philosophie des
Lebens haben wir abzusehen. Die Schrift will nur Kritik geben.
Doch führt diese Absicht endlich noch zu einem neuen Punkt.
Echte Kritik wird nicht bloß verneinen, sondern zu schei-
den suchen, und das bedeutet: sowohl das Unhaltbare als auch
das Richtige sehen. Diese Forderung führt uns zur letzten
Frage.
Elftes Kapitel.
Das Recht der Lebensphilosophie.
„Wie herrlich leuchtet mir die Natur!"
Mailied.
,,Ach, und nun machtest du wieder dein Auge auf,
oh geliebtes Leben! Und ins Unergründliche schien
ich mir wieder zu sinken."
Also sang Zarathustra.
Ist die Lebensphilosophie unserer Zeit ohne jede positive
Bedeutung für die Wissenschaft? Das braucht man nicht zu
glauben, selbst wenn man alle hier gegen sie erhobenen Einwände
für zutreffend hält. Um auch ihre andere Seite zu würdigen,
— 172 —
bringen wir sie zunächst in einen umfassenderen Zusammenhang,
d. h. begreifen sie als besonderen Fall eines allgemeinen philo-
sophischen Typus. Ein Schema für den Ablauf geistiger Be-
wegungen sei zu diesem Zweck angedeutet.
Die wissenschaftliche Arbeit der Philosophie verliert ihren
Sinn, falls es nicht möglich ist, aus dem Chaos der Erlebnisse
theoretisch einen Kosmos herauszuarbeiten, und das setzt vor-
aus: unabhängig von unserer Setzung gilt für die Welt ein
System von Urteilen und Begriffen, das wir auffinden können. Der
Weg jedoch, der vom Chaos zum Kosmos führt, ist für uns Menschen
nicht der kürzeste. Wir sind geschichtlich bedingte Wesen, und
nur auf mannigfach verschlungenen Umwegen nähern wir uns
allmählich dem Ziel der Wissenschaft, ohne es jemals ganz zu
erreichen. Für die Stadien dieses Weges läßt sich hie und da
eine Art Rhythmus verfolgen, der ein Auf und Nieder bedeutet.
Immer von Neuem wird der Versuch gemacht, das Ganze der
Welt begrifflich zu erfassen, und immer von Neuem zeigt die
Kritik, daß der Versuch unvollständig war, also noch einmal
unternommen werden muß. So bauen wir in der Tat Systeme
und zerstören sie wieder. Wer die Geschichte der Philosophie
philosophisch zu verstehen vermag, kann darin kein sinnloses
Spiel erblicken. Die Systematiker lernen von ihren Vorgängern
und kommen trotz mancher Umwege weiter. Die Menschheit
hat eben Gedächtnis, soweit sie Kulturmenschheit ist. Davon
war schon die Rede.
Doch dies verfolgen wir hier nicht weiter. Etwas anderes
ist uns wichtig an dem Weg, der zur Wahrheit führt. Außer
den schöpferischen Philosophen gibt es Scharen kleiner Geister,
die auf der Meister Worte schwören, auch dann, wenn deren
Systeme in ihrer Totalität sich nicht mehr halten lassen, weil
sie von der Entwicklung bereits überwundene Vorstufen be-
deuten. So entsteht ein mit Recht starr zu nennender Dcg-
menglaube, der etwas völlig anderes ist als „lebendige" Ueber-
zeugung von selbst errungener Weltanschauung. Ihn mag man
tot schelten, weil er wissenschaftlich unfruchtbar bleibt. Ja,
er schädigt die voranschreitende Philosophie. Indem seine An-
hänger gedankenlos wiederholen, was bereits vorliegt, stehen sie
der Gewinnung einer umfassenderen Ansicht vom Weltall im Wege.
— 173 —
Dann kommt es leicht zur Auflehnung" gegen jedes System
überhaupt. Derselbe Verstand, der Systeme schafft, wendet
sich nun der Aufgabe zu, sie wieder zu zerstören, um
die Menschen von veralteten Denkeewohnheiten zu befreien.
Man kann diese Richtung als ,, Aufklärung" bezeichnen und
dabei nicht nur eine Bewegung des 18. Jahrhunderts, sondern
einen sich öfter wiederholenden Vorgang meinen.
Die Verstandesaufklärung aber ist bisweilen in derselben
Gefahr wie der starre Dogmatismus. Sie hat nicht allein skep-
tische Tendenzen, sondern sucht nun ihrerseits alles mit dem
Verstand, den sie gegen Autorität und Glauben als Waffe
braucht, positiv zu beherrschen. So droht sie, in einen neuen
„Dogmatismus" umzuschlagen, der nur noch für Verstandes-
mäßiges Sinn hat.
Das ruft dann leicht eine neue Reaktion hervor, die nicht
schon die Form eines neuen Systems anzunehmen braucht. Es
sind vielmehr zwei andere Möglichkeiten zu beachten. Gegen
die Aufklärung setzt man entweder Mächte des geschichtlichen
Lebens, was hier nicht weiter in Betracht kommt. Oder man
weist auf das Ursprüngliche, Elementare, Natürliche hin, das
jedem Verstand unzugänglich bleibt, und damit sind wir zu
dem allgemeinen Typus einer geistigen Bewegung gekommen,
der für eine Würdigung der Lebensphilosophie unserer Zeit
wichtig ist.
Vergegenwärtigen wir uns das Schema einer Abfolge von
Scholastik, Verstandesaufklärung und naturalistischer Reaktion
gegen sie, das selbstverständlich nur Schema ist, und in das
lediglich Durchschnittserscheinungen hineinpassen, zunächst noch
etwas genauer an den Strömungen des 18, Jahrhunderts.
Zumal in Deutschland suchte damals die Aufklärung nicht
allein veraltete Schulmeinungen zu bekämpfen, sondern zugleich
alles verstandesmäßig zu regeln, und zwar sowohl im Gebiet
der Wissenschaft, wo das einen guten Sinn hat, als auch im
sittlichen, künstlerischen und religiösen Leben, das andere als
verstandesmäßige Seiten zeigt. Man wollte sich über alles „ver-
nünftige Gedanken" machen, und was vor der abstrakten Ver-
nunft nicht bestand, besaß nach der Meinung der Aufklärer
überhaupt kein Recht. So geriet das irrationale ,, Leben" in
— 174 —
Geiahr. Der Verstand drohte, es zu „töten".
Die Aufklärung hat eine Reihe von geistigen Reaktionen
hervorgerufen, bei den Vertretern des Humanitätsideals, der
Romantik, der historischen Schule. Von ihnen sehen wir ab.
Die erste der geistigen Bewegungen, die sich radikal und erfolg-
reich gegen die Alleinherrschaft des Verstandes wendete, war
der sogenannte Sturm und Drang. Er bedeutete die Auflehnung
besonders der unmittelbaren Anschauung und des elementaren
Gefühls- und Willenslebens gegen das rationale Denken, und
das Schlagwort, mit dem man den Kampf führte, lautete:
Natur,
Man braucht nur an den jungen Goethe zu denken, wie er
in Straßburg am Münster, an Shakespeare, am deutschen Volks-
lied, lauter höchst , .unverständigen" Erscheinungen, und im
Verkehr mit Herder wie mit dem „natürlichen" Landkind Frie-
derike zum Stürmer und Dränger wurde. Man versteht dann
sofort die positive Bedeutung, welche das Ausspielen der an-
schaulichen und lebendigen ,, Natur" gegen die abstrakte und tote
Verstandeskultur besitzt.
Freilich würde der Sturm und Drang uns wohl in weniger
leuchtendem Glanz erscheinen, wenn unter seinen Vertretern
nicht der eine Goethe gewesen wäre, welcher der Aufklärung
noch Anderes entgegensetzte, als bloße ,,xN'atur" im Sinne des Ur-
sprünglichen. Goethe hat dem Schlagwort eine Bedeutung ver-
liehen, die nicht allein im schroffen Gegensatz zum ,, Systeme
de la nature" steht, das ihn abstieß, sondern sich auch nicht mit
der des nur Elementaren und Unmittelbaren deckt. Aber es
ist kein Zweifel, daß die „Rückkehr zur Natur" bei ihm wie
bei Rousseau unter anderem auch die Berufung auf das Ur-
sprüngliche bedeutet, und daß diese Tendenz nicht fortzudenken
ist aus den für die Kulturentwicklung entscheidenden Bewe-
gungen.
Das, was er „wohl schmecken und genießen, keineswegs aber
erkennen und erklären" konnte, stellte Goethe als ,, Natur" in den
Vordergrund. Auf das „Charakteristische" kam es ihm an. Was
„geschnürt und geziert" oder „kerkermäßig ängstlich" ist, lehnte
er ab. Das waren ihm , »lästige Fesseln unserer Einbildungs-
kraft". „Ich rufe Natur, Natur. Nichts so Natur als Shake-
— 175 —
speares Menschen", und Shakespeares Stücke „drehen sich alle
um den geheimen Punkt, in dem das Eigentümliche unseres
Ich . . . mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammen-
stößt". ,, Individuum est ineffabile" wird ein Wort, das Goethe
gern zitiert. Die französischen Trauerspiele waren ihm ,, Paro-
dien von sich selbst". „Wie das so regelmäßig zugeht, und daß
sie einander ähnlich sind wie die Schuhe." Auch er wollte,
also wie Bergson von Konfektionskleidern nichts wissen.
In solchen und verwandten Begriffen, wie sie des jungen
Goethes Denken seit Straßburg beherrschen, haben wir das all-
gemeine Prinzip von Sturm und Drang, das sich von Goethes
Persönlichkeit und seinem dichterischen Genie ablösen läßt ^).
Die kurzen Andeutungen müssen genügen, um klar zu
machen, was hier wichtig ist. Nicht nur in den Zeiten von
Sturm und Drang, sondern auch früher schon und später wieder
hat man das Elementare und Unmittelbare gegen einseitig ver-
standesmäßige Weltanschauungen ausgespielt, und, um auf unsere
Zeit zurückzukommen: was man in Sturm und Drang ,, Natur"
nannte, und was auch jetzt noch oft so heißt, nennt man heute
mit Vorliebe ,,das Leben". Der Ausdruck wurde gelegenthch
übrigens schon früher in demselben Sinn gebraucht, z. B. vom
jungen Hegel, den man nicht ohne Grund mit der Lebensphilo-
sophie in Verbindung bringt.
Jedenfalls wird sich von hier aus die positive Bedeutung der
modernen Geistesströmungen am besten verstehen lassen, und
unter diesem Gesichtspunkt kann man den Einfluß, den sie ge-
1) Wer weitere Einzelheiten wünscht, ist auf das Werk: Der
junge Goethe. Neue Ausgabe in sechs Bänden, besorgt von Max
Morris, 1909—12, zu verweisen. Es gibt vielleicht kein ,, moderne-
res" Buch. Von Goethes Dichtungen habe ich im Text abgesehen.
Auch sie, besonders der Urfaust, sind selbstverständlich voll von
Sturm und Drangzeichen. Man wird in ihnen Prägungen für fast
alles finden, was damals und heute Weltanschauung weiter Kreise
war und ist. Doch enthalten sie zugleich so unendlich viel mehr
als theoretisch formulierbare Weltanschauung, daß das allge-
meine Prinzip hier schwerer in seiner Abstraktheit erkennbar
ist, und deshalb empfiehlt es sich, zuerst an Kundgebungen Goethes
zu denken, in denen er selber sich theoretisch äußert. Es kommt
hier nicht auf Anschauung, sondern auf Gedanken über An-
schauung an.
— 176 —
Wonnen haben, begrüßen. Wo die Philosophie nicht allein
-glaubt, mit dem Verstand die Welt denken zu müssen, was be-
rechtigt ist, sondern wo sie alles so zu denken sucht, daß sie
dabei nicnt mehr die Welt, sondern nur noch das Denken denkt
oder den Verstand versteht, da sind die Philosophen des Lebens
in vollem Recht, wenn sie sagen: die Welt ist unendlich viel
mehr als das, was restlos in die Begriffe des Verstandes ein-
geht.
Zwar wird die Philosophie niemals auf die Herrschaft des
Logischen oder Rationalen über die Welt verzichten, d. h. stets
versuchen, alles unter Begriffe zu bringen, denn ein anderes
Mittel, die Welt zu erkennen, steht ihr nicht zur Verfügung.
Aber sie wird sich ebenso vor Panlogismus oder Rationalismus
hüten, d. h. vor dem Glauben, das Logische oder Rationale sei
selber die ,, Substanz" der Welt, also nicht nur das, womit man
die Welt denkt. Wo daher das Streben nach rationaler, wissen-
schaftlicher Auffassung des Ganzen dazu führt, das All der Welt
in eine bloß rationale, bloß wissenschaftliche Welt zu verwan-
deln, da hat der Hinweis auf das lebendige Leben, das stets
irrational und, wenn man will, überverständig ist, in der Tat un-
antastbare Bedeutung.
Auch darf gewiß nicht bezweifelt werden, daß in unserer
Zeit die Aufklärung des 18. Jahrhunderts noch immer nicht
„tot" ist, und insofern vermag die Lebensphilosophie uns viel-
leicht im Prinzip dieselben Dienste zu leisten wie der Sturm und
Drang im 18. Jahrhundert, wobei wir selbstverständlich nicht
allein von dem jungen Goethe, sondern auch von den andern
Männern absehen, die innerhalb der Sturm- und Drangbewegung
zugleich mehr als Stürmer und Dränger waren.
Mit Nachdruck also heben wir hervor, was schon gelegent-
lich angedeutet wurde: die Besinnung auf die anschauliche und
lebendige Unmittelbarkeit des Lebens oder auf die elementaren
Erlebnisse und ein daraus erwachsender Irrationalismus, d. h.
die Einsicht in die Grenzen des Verstandeswissens gegenüber der
ursprünglich gegebenen, jeder begrifflichen Beherrschung spot-
tenden Fülle und Mannigfaltigkeit ist gewiß nicht überflüssig,
sondern kann im Interesse universaler Betrachtung dringend not-
wendig sein, wo man die Welt mit der Verstandeswelt gleich-
— 177 —
setzt. Insofern haben sowohl Denker wie Dilthey oder Simmel
als auch Biologisten wie Nietzsche oder Bergson oder James,
selbst wenn wir von ihrer allgemeinen Kulturbedeutung absehen,
große Verdienste für die wissenschaftliche Philosophie. Ihre
Kritik mancher angeblich naturwissenschaftlicher, in Wahrheit
rationalistisch-metaphysischer Dogmen, an denen viele noch mit
Zähigkeit festhalten, war eine befreiende Tat. Sie hat unseren
Horizont erweitert. Die Welt, die uns Probleme stellt, ist da-
durch größer geworden. Neues Material tritt zutage, das der
Rationalismus nicht sah, ja verdeckte.
Mit dem biologistischen Prinzip hat das freilich wenig zu
tun. Hier kommt mehr die intuitive Richtung in Betracht.
Aber besonders Nietzsche und Bergson sollten ja dadurch, daß
wir sie Biologisten nannten, nicht in ihrer Totalität charakteri-
siert werden. Der Intuitionismus ist in ihnen mindestens ebenso
stark. Die Kritik ihres Biologismus berührt daher ihre mit der
Sturm- und Drangbewegung vergleichbare positive Bedeutung
nicht. Ihre Gedanken stellen gegenüber dem einseitigen Ratio-
nahsmus, der noch von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts
zehrt, einen großen Fortschritt in universaler, also philosophi-
scher Richtung dar.
Bergson ist allen denen zu empfehlen, die „monistisch" zu
philosophieren glauben, wenn sie sich, wie einst das Systeme de la
nature, an einem Komplex physikalischer Begriffe orientieren und
damit das Weltall zu erfassen suchen, gleichviel ob sie dabei
Newton oder Einstein zugrunde legen. So klein und arm, wie
sie meinen, ist die Welt nicht. Bergson hat ihre andere, der Be-
rechnung unzugängliche Seite gesehen.
Auch dazu kann dieser Denker beitragen, alle Versuche end-
gültig zu überwinden, die darauf ausgehen, den Menschen und
das Menschliche so niedrig einzuschätzen wie möglich. Verglei-
chen wir seine Metaphysik mit der älteren Richtung des Biolo-
gismus, bei der alles auf berechenbare Nützlichkeit, Denkökono-
mie, Energieersparnis, Massenproduktion von Kindern und ähn-
liche ,, Weltziele" herauskommt, so steht er sehr hoch. Er sucht
nach einer umfassenden, das ,, Unverständige" einschließenden
Weltanschauung. Hier ist Hoffnung, während man dort alle
Hoffnung fahren lassen muß.
R i c k e r t , Philosophie d- Lebens. 1 2
- 178 —
Bei ihm sind ferner noch Spuren von dem Großen, das das
19. Jahrhundert gebracht hat, besonders von seiner Willenslehre
und seinem Entwicklungsgedanken, die es dem Rationalismus
und dem Stabilitätsprinzip des 18. Jahrhunderts entgegenstellte.
Freilich war der Voluntarismus der deutschen Philosophie mehr
an der autonomen Persönlichkeit als am ,, Instinkt" und ihr
Evolutionismus mehr an den Mächten der Geschichte als am
,,elan vital" orientiert. Besonders für das historische Leben
zeigt die Lebensphilosophie Bergsons auffallend wenig Verständ-
nis, und insofern darf man in dieser Modeströmung mit ihrem
sich entwickelnden Lebenswillen nur von Spuren und Resten der
klassischen deutschen Philosophie reden. Aber vielleicht geben
sie Ansatzpunkte für eine vollere i Entfaltung dieser Gedanken,
und dann wäre es erfreulich, daß zunächst einmal wenigstens
der Voluntarismus und Evolutionismus Bergsons Mode gewor-
den ist.
Am höchsten jedoch ist Bergsons erstes Werk über die un-
mittelbaren Gegebenheiten zu stellen, das schon 1889 herauskam
und leider durch längere Zeit so gut wie keine Beachtung fand.
Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung sind hier
unter eigenartigen Gesichtspunkten überzeugend aufgezeigt. Es
wird besonders dargetan, wie wenig die mathematische Physik
imstande ist, das zu erfassen, was wir als „Wirklichkeit" be-
zeichnen müssen. Das wird Bergsons Hauptverdienst bleiben.
Was im unendUchen Raum vorgeht und auf ihn bezogen werden
kann, ist nur ein Teil des Weltganzen. Mit der Lebensphiloso-
phie im engeren Sinn, die auf dem biologistischen Prinzip ruht,
hat freilich gerade dies Buch Bergsons noch so gut wie nichts zu tun,
aber der Intuitionismus wird darin in der glücklichsten Weise
zur Kritik rationalistischer Dogmen verwendet. Ihre ]\lission,
das Feld frei zu machen für einen umfassenderen Weltbegriff,
erfüllt die Lebensphilosophie im Prinzip hier ebenso, wie die
Neuentdeckung der anschaulichen und lebendigen ,, Natur" es in
den Zeiten von Sturm und Drang getan hat. Sie lehrt das Un-
berechenbare sehen, das es doch auch gibt. Das ist der positive
Sinn des Intuitionismus.
Auch bei Nietzsche finden wir tiefe Blicke in die Ursprüng-
lichkeit des Lebendigen gegenüber dem bloß gedachten Leben.
— 179 —
Vor allem hat er wieder mit unvergleichlicher Sprachgewalt die
Stimmung zum Ausdruck gebracht, die jeden Denkenden über-
kommen muß bei der Ohnmacht, die Fülle der lebendigen Welt
zu erfassen, und gerade die a u ß e r w i s s e n s c h a f 1 1 i c h e
Sprachgewalt ist hier entscheidend. Das Unbegreifliche, das
man heut „Leben" nennt, geht ja in keine theoretische oder
wissenschaftliche Wortbedeutung ein, und seine Bezeichnung als
Leben wäre daher ebenso unzureichend wie jede andere Namen-
gebung, hätte Nietzsche es nicht vermocht, dem Wort Leben einen
Sinn zu verleihen, der überwissenschaftlich zum Bewußtsein bringt,
worauf es ankommt: die ungeheure atheoretische Wichtigkeit
dessen, was sich in keinen . Begriff bringen läßt. Man fühlt
sie bei Nietzsche unmittelbar, auch ohne daß man sie logisch ver-
steht. Das ist zwar nicht selbst schon Wissenschaft, aber wissen-
schaftlich bedeutsam, weil es auf die Grenzen des wissenschaftlichen
Denkens hinweist. Deshalb kann jeder, der die Begriffe mit der
Wirklichkeit des Lebens verwechselt, auch philosophisch von
Nietzsche viel lernen.
Daß andere Denker schon vor ihm Aehnliches gedacht haben
wie er, ändert an seiner Bedeutung nichts. Der Hinweis auf die
„Natur" oder auf das „Leben" ist immer wieder, wie man das
Gemeinte auch nennen mag, von Neuem nötig. Was für unsere
Generation und für unsere Ohren verständlich zu sagen war,
hat Nietzsche schön und eindringlich zum Ausdruck gebracht,
und jede Zeit muß in ihrer Weise das finden und in ihrer Sprache
das sagen, was ihr not tut *).
1) Auf das unreife Gerede derer, die, ohne gründliche Kennt-
nisse zu besitzen, Nietzsche in eine Reihe mit Denkern wie Piaton,
Aristoteles, Plotin, Augustin, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant,
Hegel stellen, gehe ich nicht ein. Man tut Nietzsche Unrecht, wenn
man ihn mit diesen Männern vergleicht. Mit Kulturferscheinungen
wie Rousseau mag man ihn zusammenstellen, obwohl auch da
Vorsicht am Platz ist. Nietzsches Bedeutung für die allgemeine
Kultur kann man noch nicht übersehen. Ist er ein „europäisches
Ereignis-'? Darüber haben wir kein Urteil. Zweifellos gehört er
zu den geistreichsten Schriftstellern, die Deutschland besitzt.
Dessen wollen wir uns freuen. Aber zu den ,, großen Philosophen" ?
Wer würde es w a g e n , Piaton oder Kant geistreich zu nennen ?
Eine persönliche Bemerkung sei mir gestattet. Ich habe als junger
Student im Sommer 1886 die drei ersten Teile des Zarathustra
12*
— 180 —
So werden wir es also zwar nach wie vor ablelmen, die
Welt und das Leben intuitiv oder gar biologistisch in ihrer
Lebendigkeit zu erkennen, denn alle Erkenntnis braucht Begriffe,
die unlebendig sind, und die Begriffe der Biologie sind nicht
einmal universal. Aber das können wir in der Tat gerade von
der Lebensphilosophie lernen, wenn wir sie besser verstehen,
als sie sich selbst versteht: wir dürfen nie glauben, in die
Begriffe der Philosophie lebendiges Leben selbst eingefangen zu
haben, sondern können als Philosophen uns nur die Aufgabe
stellen, dem Leben so nahe zu kommen, wie sich das mit dem
Wesen des begrifflichen Philosophierens verträgt.
Vor allem wird die Philosophie des Lebens uns jedoch
mahnen, auch in der Philosophie das Leben, das sie „töten"
muß, nicht zu vergessen. Ueber das Leben, das wir alle
leben, gilt es, zu philosophieren, ja wir werden recht tun, wenn
wir es in den Mittelpunkt stellen, um von ihm aus zum Welt-
ganzen vorzudringen. Den lebendigen Menschen in seiner Tota-
lität haben wir zuerst zu verstehen und im Zusammenhang
mit ihm dann die Welt, in der er lebt. Besonders darf die
Philosophie nicht nur über das Denken denken und als Logizis-
mus dem vollen Leben feindlich werden, wie alle die andern
einseitigen Richtungen, welche Begriffe von SpezialWissenschaften
zu Weltallbegriffen erweitern, mögen sie das in Form des Mate-
rialismus oder des Psychologismus, des Biologismus oder des
Historismus tun.
In diesem Sinn haben also auch wir aus dem vollen Leben
heraus zu philosophieren, ja insofern können wir uns sogar auf
Nietzsches Liebe zum Leben berufen. Seien wir jedem dank-
bar, der, wie einst Sturm und Drang den [Menschen die „Natur",
mit glühender Begeisterung gelesen, zu einer Zeit, da Nietzsche
völlig unbekannt war, und von da ab jede Zeile von ihm, die mir
zugänglich wurde. Oft habe ich frühir hören müssen, daß ich ihn
überschätze, und noch jetzt greife ich immer wieder nach seinen
Werken. Aber für ,, einen großen Philosophen" werde ich ihn erst
halten, wenn man mir zeigt, daß er einem der zeitlosen
Probleme der Philosophie, die seit Piaton das europäische Denken
beherrschen, eine wesentlich neue Seite abgewonnen hat, und ein
solcher Versuch ist bisher nicht gemacht. Ja, Nietzsche bleibt in
einigen fundamentalen Fragen weit hinter dem zurück, was wissen-
schaftlich längst klar gestellt war, als er zu philosophieren begann.
— 181 —
uns jetzt das „Leben" lieben lehrt in seinem Reichtum und
in seiner unerschöpflichen Lebendigkeit. Wohl uns, denen nicht
nur wie dem jungen Goethe die Natur herrlich leuchtet, sondern
die auch mit dem alten Goethe, trotz aller schweren Erlebnisse,
sagen können: „Wie es auch sei, das Leben, es ist gut." Zu
solcher Haltung dem Leben gegenüber mag heute Nietzsche uns
verhelfen, falls wir der Hilfe dazu bedürfen.
Freilich ist seine Liebe zum Leben noch keine Philosophie,
ja als leidenschaftliche Parteinahme steht sie im Gegensatz zur
Wissenschaft, Als Lebensstimmung jedoch kann sie trotzdem
auch auf die Entwicklung einer echten Lebensphilosophie günstig
wirken , wo sie nicht dazu führt , das Denken zu verachten.
Liebevoll wollen wir auch beim Denken und Philosophieren dem
Leben ins Auge schauen, nach dem „Gold" suchen, das darin
blinkt, um darüber zur Klarheit zu kommen, und es soweit
bewahren, wie sich das mit dem Denken irgend vereinigen läßt.
In dieser Hinsicht können wir ganz mit der Zeitströmung,
ja mit der Mode gehen, die unter Nietzsches Einfluß steht.
Daß der lebendige Mensch das Leben liebt, aus dem seine Freuden
und Schmerzen stammen, ist nur in der Ordnung, und daß er
nach einer Philosophie strebt, die ihm Wesen und Sinn dieses
Lebens erschließt, soweit das Denken das vermag, dagegen läßt
sich vollends nicht das Geringste einwenden. Jede wahrhaft
umfassende Philosophie muß Philosophie des uns alle umfassenden
Lebens sein. Was wir nicht irgendwie ,, leben", darüber können
wir auch nicht denken, und über alles Leben haben wir in der
Philosophie zu denken.
Nur das ist andererseits ebenso immer wieder zu betonen und
festzuhalten, damit die Lebensstimmung uns nicht auf die Irr-
wege des Intuitionismus und des Biologismus führt: die Kluft
zwischen Denken und Leben läßt sich nie überbrücken. Falls
daher im Kampf des Lebens mit dem Denken das Leben siegt,
unterliegt zugleich die Philosophie. Leben als bloßes Leben bleibt
unter philosophischen Gesichtspunkten ein Chaos. Ja, je leben-
diger, d. h. je vitaler es lebt, um so chaotischer muß es den
Denker anmuten, falls er es wircklich in seiner Lebendigkeit
erlebt. Wer das nicht „erlebt" hat, steht dem Leben noch sehr
fern.. Freilich, auch das mag richtig sein, was Zarathustra sagt:
— 182 —
man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern
gebären zu können. Aber das Chaos ist noch nicht der tanzende
Stern. Der muß aus ihm erst geboren werden, und ohne begriffliche
Beherrschung des Lebenschaos durch das Denken kommen wir
zu keinem Stern, geschweige denn zu einem Kosmos, zu einer
Welt von Sternen, die diesen Namen verdient.
Das zeigt einerseits gewiß, wie recht die haben, Welche auf
den Reichtum des Lebens hinweisen, auf seine unerschöpfliche
Mannigfaltigkeit, die in jeder wachen Minute uns umgibt oder
in uns emporwächst, und die man so oft über den Begriffen
der Wissenschaft vergißt. Es zeigt aber andererseits nicht minder
deutlich, daß der theoretische Mensch die konkrete lebendige
Fülle des Wirklichen niemals erfassen wird, wenn er irgendwie
Wissenschaft treibt. Nur die eine Seite zu sehen, ist der Fehler
des Rationalismus und Intellektualismus. Der Antirationalismus
und Antiintellektualismus der modernen Lebensphilosophie ist
nicht minder einseitig in der entgegengesetzten Richtung. Man
darf aus dem Umstand, daß die Produkte des Denkens arm
erscheinen, sobald man sie mit dem Leben selbst vergleicht,
keine Anklage gegen die Wissenschaft machen. Man sollte
vielmehr zu verstehen suchen, worin trotz der Unlebendigkeit
seines Inhalts die unvergleichliche positive Bedeutung des wissen-
schaftlichen Begriffes besteht. Vielleicht versteht man, daß
grade in seiner Grenze seine Größe liegt, sobald man sicli von
dem Modevorurteil befreit hat, daß alles lebendig sein soll.
So bleibt der positive theoretische Wert der Lebensphiloso-
phie für den wissenschaftlichen Menschen in der Hauptsache
doch darauf beschränkt, daß sie ihm neues Material zur be-
grifflichen Bearbeitung zum Bewußtsein bringt und den Philo-
sophen mahnt, nicht zu schnell mit dem Leben „fertig" zu wer-
den. Doch auch das darf man wahrlich nicht unterschätzen.
Besonders kann die Lebensphilosophie uns zeigen, wie das Leben
in seiner Unmittelbarkeit überall ein Gepräge trägt, das unwieder-
holbar und einzigartig, also unersetzlich ist. Grade darüber
täuschen die Begriffs- und Wortnetze, mit denen wir in der
Wissenschaft die Individualität und Besonderheit des Realen
überspinnen müssen, leicht hinweg. Bergsons Wort von den
Konfektionskleidern besteht in dieser Hinsicht ebenso zu Recht
— 183 —
wie Goethes Sturm und Drang-Klage über die einander ähnlichen
Schuhe. Zumal die Naturwissenschaft arbeitet nicht nach Maß,
und sie kann es nicht. Da es zu ihrem Wesen gshört, daß sie
allgemeine Begriffe bildet, in deren Inhalt das Einmalige,
Besondere, Individuelle fortfällt, führt sie uns an die immer neue
und überall originelle, unvergleichbare Realität nirgends heran.
Auffallend ist, wie schon gesagt, daß Bergson, der Wissen-
schaft und Naturwissenschaft nach französischem Sprachgebrauch
(science) identifiziert, kein Verständnis für die geschichtlichen
Disziplinen zu haben scheint, die doch auch zur Wissenschaft
gehören, trotzdem jedoch das Leben nicht generahsierend auf-
fassen, sondern es in seiner unwiederholbaren Einmahgkeit ver-
folgen und damit dem Lebendigen als dem Individuellen zum
mindesten näher kommen als die verallgemeinernde Begriffsbil-
dung der Naturwissenschaften. Dafür haben in dieser Hinsicht
andere Lebensphilosophen wie Nietzsche, Dilthey und Simmel
um so tiefer gesehen und das alte Problem vom Verhältnis des
Allgemeinen zum Besonderen in ein interessantes Licht gsbracht.
Ihnen werden wir zumal überall dort zustimmen, wo sie für die
UnersetzHchkeit der Persönlichkeit oder der Einzelseele und ihr
, jindividuelles Gesetz" eintreten, ebenso wie dort, wo sie die An-
schaulichkeit, Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit der Erleb-
nisinhalte betonen. Beides finden wir schon bei Goethe in Sturm
und Drang vereint, und beides fließt hier aus derselben Quelle
des lebendigen Lebens, die keine Philosophie vergessen darf, selbst
wenn sie eingesehen hat, daß es nicht ihre Aufgabe sein kann,
die lebendigen Ströme selber in ihre Begriffe aufzufangsn. Sie
muß genau auch über das Bescheid wissen, was sie nicht ver-
mag. So allein kommt sie zu einer wahrhaft umfassenden Welt-
anschauung.
Im Anschluj3 hieran ließen sich noch manche Punkte nennen,
in denen wir ebenfalls mit der Lebensphilosophie der Zeit zu
gehen haben. Mit Recht tritt sie ein für die fortschreitende
Entwicklung des lebendigen Lebens gegenüber dem konservativen
Prinzip der Stabilität, welches das mathematisch-physikalische
Denken kennzeichnet, für das rastlose Werden und das schöpfe-
rische Aufblühen gegenüber dem starren Sein und dem unfrucht-
baren Beharren, für die Einsicht, daß das Wesen der wirklichen
— 184 —
Welt Bewegung und Anderswerden, nicht Ruhe und Gleichbleiben
ist. Ebenso legt sie im Unterschied von der Vorstellungspsycho-
logie mit guten Gründen Gewicht auf den Willen und die Tat,
die zu jedem lebendigen Leben gehören, da dieses nicht nur passiv
aufnehmen und dulden will, sondern sich überall, wo es wahrhaft
lebendig ist, formend und gestaltend der^Welt entgegenstellt.
Kurz, um Schlagworte zu nennen, Evolutionismus, Voluntarismus
und Aktivismus haben ihr Recht gegenüber Statik, Intellek-
tualismus und Rezeptivität, und überall handelt es sich darum,
daß dabei Zeugen des lebendigen Lebens zu Wort kommen.
Das bleibt bestehen, wenn es auch nicht weniger gewiß daneben
Unwandelbares, Unvergängliches, Ewiges gibt, das die Philoso-
phie ebenfalls nicht vernachlässigen darf.
Weitere Einzelheiten zu nennen, ist nicht mehr nötig, denn
das allgemeine Prinzip, worauf die positive Bedeutung besonders
der intuitiven Lebensphilosophie beruht, muß schon jetzt
zutage treten. Sie löst zwar keine Probleme, aber sie stellt das
Denken vor neue Aufgaben, und schon das will viel sagen.
Freilich, Vorsicht bleibt den Modeströmungen gegenüber
immer am Platz. Es fehlt ihnen an prinzipieller Klarheit grade
über das Wichtigste, das sie in sich tragen, und deshalb werden
sie leicht dazu neigen, ihr Bestes allzu einseitig in den Vorder-
grund zu stellen. So hat man von einem „neuen Idealismus"
gesprochen, der an die Stellen von „Vernunft, Humanität, Ge-
setz", die den Idealismus von 1800 kennzeichneten, „Leben,
Liebe, Kraft" setzen wolle, und als seine Vertreter neben Stefan
George, Dilthey und Bergson auch den Verfasser dieses Buches
und seine Schüler genannt ^). Dagegen sind denn doch Beden-
ken zu erheben, besonders falls es so gemeint wäre, als schlössen
die beiden Arten des Idealismus einander aus. Sagt doch ein
klassischer Vertreter des alten Idealismus, Fichte im Jahre 1800
in seiner Bestimmung des Menschen: „Die tote, lastende Masse,
die nur den Raum ausstopfte, ist verschwunden, und an ihrer
Stelle fließet und woget und rauschet der ewige Strom vom Leben
und Kraft und Tat, vom ursprünglichen Leben."
1) GertrudBäumer, Weit hinter den Schützengräben.
Aufsätze aus dem Weltkrieg, 1916.
— 185 — ■
Da haben wir Leben und Kraft (ja zugleich Bergson in nuce)
auch bei einem „alten" Idealisten, und die Liebe fehlt bei
Fichte ebenfalls nicht. Schon das sollte uns hindern, an einen
Gegensatz des Neuen zum Alten in dieser Hinsicht zu glauben,
und außerdem dürften wir Vernunft, Humanität und Gesetz selbst
dann nicht preisgeben, wenn wir sie für unvereinbar mit dem
Leben, der Liebe und der Kraft hielten. In Wahrheit lassen
sich beide Richtungen in der Philosophie wohl miteinander ver-
binden. Genauer, es ist überhaupt nicht Aufgabe der Wissen-
schaft, für dies oder jenes atheoretische Ideal einzutreten. Sie
wird zur Klarheit über alle Lebensziele zu kommen suchen,
und dann jede Einseitigkeit des entweder-oder, das verarmt,
vermeiden zugunsten einer Allseitigkeit der Synthese, die reich
macht.
Das führt jedoch zugleich noch zu einem letzten Punkt,
mit Rücksicht auf den die Lebensphilosophie unserer Zeit auch
positive Bedeutung besitzt. Ideale gibt es allein auf Grund
der Setzung von Werten, und man braucht nur an Nietzsche
zu denken, so sieht man sofort: die philosophischen Strömungen
unserer Zeit haben nicht bloß den Begriff des Lebens, sondern
auch den des Wertes in den Vordergrund des Interesses gebracht.
Beides hängt eng miteinander zusammen. Lebendiges Leben
wird immer zugleich wertendes Leben sein. Daher führt das
Lebensproblem notwendig zum Wertproblem und damit zu der
Frage der Philosophie, die als die wichtigste von allen in unserer
Zeit gestellten gelten kann. Auch deswegen, daß sie die Auf-
merksamkeit auf die Wertprobleme gelenkt hat, müssen wir die
Tendenzen der philosophischen Mode begrüßen.
Freilich ist hier wieder vor einer Ueberspannung zu warnen.
Eine „Umwertung aller Werte", wie Nietzsche sie anstrebte,
kann nicht die Aufgabe der Wissenschaft sein. Noch mehr:
lassen sich Werte als Werte überhaupt umwerten ? Menschliche
Wertungen und Stellungnahmen z u Werten, die nicht mit den
Werten selbst verwechselt werden sollten, sind zu beeinflussen.
Man mag also bewirken, daß der eine Wert an die Stelle des
andern tritt und gewertet wird. Die Werte selber werden dabei
nicht „umgewertet". Die bleiben, was sie sind. Werte als
Werte können sich nicht ändern. Nur unsere Stellungnahme zu
— 186 —
ihnen ist dem Wandel unterworfen. Es fehlt bei Nietzsche ein
klarer Wertbegriff. Doch auch, wenn wir hiervon absehen,
hat die Philosophie als Wissenschaft wie überall so auch den
Werten gegenüber sich nicht praktisch wertend zu verhalten,
sondern ihren Gegenstand rein theoretisch zu erfassen, und des-
wegen fällt das „Umwerten", falls man davon überhaupt reden
will, nicht in ihr Gebiet.
Andererseits ist nicht zu leugnen: die Werte gehören als
Werte genau so gut zur „Welt" wie das wertfreie Wirkliche,
und sie sind daher von der Philosophie als der universalen
Wissenschaft auch zum Gegenstand der Untersuchung zu machen.
Es bedeutet ein durch nichts gerechtfertigtes Vorurteil, daß der
theoretische Mensch sich auf die Erforschung dessen zu beschrän-
ken habe, was wirkhch ist. Werte sind als Werte nicht wirklich
und lassen sich trotzdem nicht weniger theoretisch auffassen wie
die wertfreie Realität. Ja, gerade wenn man betont, daß die
Philosophie als Wissenschaft nicht zu werten, sondern zu erken-
nen habe, muß es als eine notwendige Aufgabe erscheinen, daß
sie auch erkennt, wie weit das Gebiet der Werte sich in der Welt
erstreckt. Nur dann wird sie das Werten der Werte in ihrer
Sphäre mit Sicherheit vermeiden, falls sie genau weiß, wo sie
es mit Werten zu tun hat, und welcher Art diese Werte sind.
Mit Rücksicht auf diese Probleme ist die Philosophie, die
außerhalb der Zeitströmungen liegt, besonders die akademische,
heute von einer auffallenden Zaghaftigkeit. Dem Wertproblem
geht sie fast ängstlich aus dem Wege, oder genauer; sie behan-
delt es nur implicite und nennt es nicht beim Namen, was zu
mancherlei Unklarheiten führt. Da könnten Viele von der
Modephilosophie lernen.
Beispiele machen das deutlich. Lotze wollte die Welt nicht
nur „berechnen", sondern „verstehen". Vom Verstehen spricht
man auch heute viel und stellt es dem Beschreiben wie dem
Erklären entgegen. Was aber heißt verstehen, wenn das Wort
seine prägnante Bedeutung behalten soll und sich vom Berech-
nen oder Erklären oder Beschreiben prinzipiell unterscheiden ? Bloß
Wirkliches bleibt stets unverständlich. Verstehen kann man nur den
„Sinn" oder die „Bedeutung" einer Sache, und Sinn und Be-
deutung hat etwas allein mit Rücksicht auf einen Wert. Das in
— 187 —
jeder Hinsicht wertfreie Sein ist zugleich sinn- oder bedeutungs-
frei. Wo man daher , »verstehen" will, darf man die Werte nicht
ignorieren. Sonst weiß man nicht, was man versteht.
Auch vom „Gelten" ist seit Lotze in der Philosophie die
Rede, ja der Ausdruck ist fast schon Mode geworden. Die Be-
schäftigung mit Werten hält man trotzdem für ,, unwissenschaft-
lich". Als ob etwas anderes als ein Wert gelten könnte! Was
heißt denn gelten, wenn das Wort nicht eine Wertbedeutung
hat? Das bloß Seiende gilt nie, ebenso wie es unverständlich
ist. Man sagt zwar: eine Tatsache gilt. Aber das ist ungenau.
Nicht die Tatsache, sondern der Satz, daß etwas Tatsache ist,
gilt, und er gilt nur insofern, als er einen wahren Sinn hat.
Wahrheit aber ist ihrem Wesen nach ein Wert. So gibt es auch
kein wertfreies theoretisches Gelten.
Das führt zugleich auf einen besonderen Punkt, der prin-
zipielle Bedeutung hat. Wahrheit ist ein Wert. Sie wendet
sich an unser Interesse. Wir nehmen wertend zu ihr Stellung.
Es ist unbegreiflich, daß man das leugnet *). In dieser Hinsicht
besitzt sogar die biologistische Erkenntnistheorie des Pragmatis-
mus ein Verdienst. Zwar geht sie in die Irre, wenn sie glaubt,
den theoretischen Wert auf den „Nutzen" oder irgend ein anderes
atheoretisches Gut zurückführen zu können. Darin liegt eine
grobe Verwechslung von zwei grundverschiedenen Wertbegriffen.
Doch das behauptet sie mit vollem Recht, daß die Wahrheit
ihrem Wesen nach werthaft ist, und daß auch der erkennende
Mensch als wertendes Subjekt verstanden werden muß.
Das Wahrheitsproblem wird als Wirklichkeitsproblem sich nie
lösen lassen. Die Einsicht ist freilich nicht gerade neu. Sie
sollte, zumal seit Kant, niemandem mehr verborgen geblieben sein.
Auch die moderne Lebensphilosophie aber hat sie in wirksamer
1) Eine ausführliche Begründung dieser Ansicht habe ich in
meinem Buch über den ,, Gegenstand der Erkenntnis" zu geben
versucht. Dritte Auflage. 1915. Das ist die philosophische Pointe
dieser „Einführung in die Transzendentalphilosophie". Den ersten
Band eines Systems der Philosophie, das auf dieser erkenntnis-
theoretischen Basis errichtet ist, hoffe ich in absehbarer Zeit
veröffenthchen zu können. Hier muß ich mich auf Andeutungen
beschränken, die nur auf den Zusammenhang hinweisen sollen,
den die Kritik der Zeitphilosophie mit der positiven Ausgestaltung
einer Philosophie des Lebens hat.
— 188 —
Weise von neuem zum Ausdruck gebracht und damit viele darauf
hingewiesen, daß der theoretische Forscher als wertendes Wesen
in eine Reihe zu stellen ist mit dem sittlichen, dem künstleri-
schen und dem religiösen Menschen. Nicht so liegt es, daß der
atheoretische Mensch allein wertet und der erkennende wertfrei
bleibt, sondern beide werten, und lediglich die Arten der Werte,
die sie leiten, und dementsprechend die Arten des Wertens
sind prinzipiell voneinander verschieden.
Daß diese wichtige Einsicht in der Modephilosophie vermischt
mit unhaltbaren Bestandteilen auftritt, ändert an ihrer Bedeu-
tung nicht allzu viel. Sie wird sich leicht davon befreien lassen
und dann in ihrer Tragweite für den Aufbau einer wissenschaft-
lich begründeten Welt- und Lebensanschauung zutage kommen.
Erst dadurch, daß wir auch das wissenschaftlich lebende Subjekt
als die Wahrheit wertend und dementsprechend seine Erkennt-
nis als theoretisches Gut verstehen, an dem der Wert der Wahr-
heit haftet, ist es möglich, das menschliche Leben sowohl in
seiner Mannigfaltigkeit als auch in seiner Einheit
zu erfassen. Die Erkenntnis, die bei Kant sich als Lehre vom
„Primat der praktischen Vernunft" anbahnt, findet sich, obwohl
zum Teil in recht verzerrter Gestalt, bei Denkern wie Nietzsche
und Bergson, Dilthe}^ und James wieder, und ihre Gedanken
können daher ebenfalls wenigstens zu wichtigen Ansatzpunkten
für eine fruchtbare Weiterentwicklung der Philosophie werden.
Es kommt nur darauf an, daß wir den theoretischen Wert der
Wahrheit, nachdem er als Wert erkannt ist, in seiner Eigenart
kennzeichnen und dann die wissenschaftliche ,,Welt" in der ganzen
Mannigfaltigkeit ihrer Ausgestaltungen als die Welt der theoreti-
schen Sinn- und Wertgebilde ausdrücklich ins Bewußtsein heben.
So allein wird [man ihre Bedeutung im Ganzen des Lebens zu
würdigen in der Lage sein.
Die Einsicht in das Wesen der Wahrheit als eines Wertes
ist in mehrfacher Hinsicht gerade für die Philosophie des Lebens
von Wichtigkeit. Hier sei besonders darauf hingewiesen, daß sie
uns einen Fingerzeig gibt, wo wir das Andere des Lebens zu
suchen haben, von dem schon wiederholt die Rede war. Wer
über das Leben philosophiert, kann grade als rein Erkennender
nicht daran zweifeln, daß die Wahrheit über das Leben als Wert
— 189 —
unabhängig vom Leben gut, denn sonst wäre sie keine Wahrheit, die
sich erkennen ließe, und wenn er das eingesehen hat, muß er sie
zugleich grundsätzlich dem wertenden Leben, das in der Zeit
verläuft, entgegenstellen. Es gibt keine Philosophie des
Lebens, die nicht Wahrheit ü b e r das Leben als gültig voraus-
setzt und nach ihr sucht, und diese Wahrheit über das Leben
läßt sich nur als etwas verstehen, das mehr als Leben ist. So
wird in den geltenden Lebenswahrheiten ein Anderes des Lebens
in seiner Selbständigkeit über jeden Zweifel gestellt.
Gerade der Philosoph des Lebens kann an diesem Anderen
nicht rütteln, ohne sein eigenes Philosophieren damit für sinn-
los zu erklären. Gestaltet sich also die Lebensphilosophie zur
Wertlehre aus, und versteht sie das Wesen der zeitlosen theo-
retischen Wertgeltung, so muß sie damit zugleich das Prinzip
der reinen Lebensimmanenz durchbrechen. Das ist der philo-
sophisch bedeutsame Punkt in der Verbindung des Lebenspro-
blems mit dem Wertproblem. So gewiß die Lebensphilosophie
Wertphilosophie ist, so gewiß kann sie als Philosophie des theo-
retischen Wahrheitswertes nicht Philosophie des bloßen Lebens
sein.
Doch wird sie bei dem theoretischen Wert allein nicht stehen
bleiben, sondern zu einer Theorie aller Werte sich erweitern,
und auf dieser Basis ist dann eine umfassende Philosophie alles
Lebens zu gewinnen. Haben wir uns nämlich am theoretischen
Wertgebiet theoretisch orientiert, dann können wir an ihm die
andern Werte in ihrer atheoretischen Eigenart theoretisch messen
und dadurch zugleich in ihrer atheoretischen Bedeutung theo-
retisch würdigen.
Der Philosoph ist als theoretischer Mensch auch wertend,
aber lediglich theoretisch. Er hat daher die atheoretischen Werte
nicht zu werten, sondern theoretisch zu verstehen. Jedes
Wertprophetentum muß er meiden und überall den Schritt zum
Wertverständnis machen. Diese Trennung wird leider in der
Lebens- und Wertphilosophie unserer Tage fast niemals durch-
geführt. Insofern können wir bei der Mode nicht stehen bleiben.
Beschränken wir uns jedoch auf theoretisches Verständnis der
Werte und bilden es so aus, daß es allseitig wird, dann kom-
men wir grade dadurch zu einer allseitigen Lebensanschauung.
— 190 —
Vom Begriff des Wertes aus wird sich auch der vieldeutige Be-
griff des Lebens so bestimmen lassen, daß sein philosophi-
sches Problem zutage tritt. Lebendig in dem von der Lebens-
philosophie wohl fast immer gemeinten, wenn auch nicht klar er-
kannten Sinne können wir die Lebewesen nennen, deren Leben zu-
gleich wertendes Leben ist, und der „lebendige" Mensch, dessen
Lebenssinn die Philosophie deuten will, wird für sie stets der wer-
tende Mensch sein. Versteht man aber unter dem Leben alles wer-
tende Leben, dann eröffnet sich die Möglichkeit, auf Grund eines
allseitigen Wertverständnisses auch zu einer umfassenden Philo-
sophie des Lebens zu kommen.
Jedenfalls: wollen wir den Sinn des Lebens deuten, so
müssen wir die Werte kennen, die ihm zugrunde liegen. So
hängen die Begriffe des Lebens und des Wertes nicht nur im
Problem der theoretischen Wahrheit über das Leben, sondern
ganz allgemein bei a 1 1 e n Lebensproblemen notwendig zusammen,
und auch in dieser Hinsicht können wir an die Lebensphilosophie
der Zeit anknüpfen, die beide vereint in den Vordergrund stellt.
Ueber die Ausgestaltung einer richtig verstandenen Lebens-
und Wertphilosophie sind hier nur flüchtige Andeutungen mög-
lich. Zunächst wird sie die einseitigen Lebensanschauungen, wüe
sie sich innerhalb und außerhalb der Wissenschaft entwickeln,
zu verstehen suchen, d. h. nach den Wertungen fragen, die
ihnen zugrunde liegen, und zu diesem Zweck muß sie die Werte
kennen, die die Wertungen leiten. Ist das gelungen, dann läßt sich
als letztes Ziel eine allseitige Lebensanschauung aufstellen, in
welcher die Gesamtheit der Werte gleichmäßig zum Bewußtsein
kommt.
Auch hier müssen wir uns nur wieder vor der Ueberspannung
hüten, daß Philosophieren zugleich Leben sein soll. Die Philo-
sophie bleibt Theorie des Lebens, und wenn der Philosoph
über das wertende Leben nachdenkt, kann er nicht selber das
Ganze dieses Lebens in sich realisieren wollen. Er muß sich
vielmehr darauf beschränken, als Philosoph lediglich theoretisch
wertend zu leben. Aber als Theoretiker alles wertenden
Lebens vermag er sich zugleich die höchsten Ziele zu stecken,
die er als Vertreter der universalen Wissenschaft anzustreben hat,
und damit wenigstens ungefähr deutlich wird, was wir damit
— 191 -
meinen, sei noch einmal ausdrücklich auf die vier verschiedenen
Kennzeichen hingewiesen, welche die Philosophie von den Spe-
zialwissenschaften unterscheidet.
Wir sahen, daß eine Philosophie des bloßen Lebens den An-
forderungen, die an eine universale Wissenschaft zu stellen sind,
in keiner Hinsicht zu genügen vermag. Verbindet sich dagegen
die Lebensphilosophie mit einer Wertlehre und hört damit auf,
Philosophie des bloßen Lebens zu' sein, dann entstehen andere
Möglichkeiten, und auch das wollen wir zum Schluß noch aus-
drücklich für jeden der vier angedeuteten Punkte gesondert her-
vorheben.
Am schwersten zu verstehen wird es sein, wie eine auf die
Wertlehre gestützte Philosophie des Lebens zugleich das Ganze
der Welt zu ihrem Gegenstand macht, also zur umfassenden
Weltanschauung wird. Es ist dabei jedoch zu berück-
sichtigen, daß die Wirklichkeit heute in allen ihren Teilen von
Einzelwissenschaften als Material der Forschung beansprucht wird,
und daß die Philosophie daher keine Teilprobleme der realen
Welt mehr in Angriff zu nehmen hat. Die Erkenntnis der Wirk-
lichkeitstotalität ist für sie eine Aufgabe, an der die^inzel-
wissenschaften in ihrer Gesamtheit dauernd zu arbeiten haben.
Die kann sie nicht mit einem Schlage zu Ende führen wollen.
Das wäre ein sinnloses Unternehmen. Universale Wirklichkeits-
erkenntnis kann sie nur in dem Sinne noch anstreben, daß sie
über die letzten Ziele alles Wirklichkeitserkennens Klarheit
zu schaffen sucht.
Zu diesem Zweck muß sie das Erkennen der Wirklichkeits-
totalität als ein Werten des theoretischen Wertes verstehen, der
an dem Inbegriff der Wirklichkeitserkenntnisse haftet, wenn man
aus ihnen ein Ganzes macht. So verw^andeln sich die univer-
salen Seins probleme in theoretische W e r t f ragen. Damit er-
faßt die theoretische Philosophie in ihrer Weise den Begriff des
Wirklichkeitsganzen als Erkenntnisaufgabe, und sie
tut es als Wissenschaft von den theoretischen Werten auf dem
einzigen Wege, der nach der Aufteilung des Realen an die Spe-
zialwissenschaften ihr noch bleibt, falls sie dabei nicht mit diesen
in Konflikt kommen will. Die Erkenntnis des Wirklichen in
allen seinen Teilen muß sie den Einzelforschern überlassen, und
— 192 —
universal wird sie allein dadurch, daß sie diese Erkenntnis in
ihrem theoretischen Sinn und in ihren letzten umfassendsten
Zielen als ein einheitliches Ganzes zu deuten unternimmt. Sie
versteht dadurch, wie im theoretischen Leben des Menschen die
Erkenntnis der Wirklichkeit als eine stets zu erstrebende und
nie ganz zu erreichende Totalität sich darstellt, und sie begreift
damit das Wirklichkeitsganze selbst, soweit die Wissenschaft es
als Ganzes überhaupt zu erfassen vermag.
Wie sie andere Wertprobleme in Angriff nimmt, haben wir
gesehen, und daher ist in bezug auf den zweiten Punkt, der die
Lebensanschauung betrifft, nur noch ausdrücklich ihr
universaler Charakter zu betonen. Sie wird sich nicht auf das
theoretische Leben beschränken, sondern das wertende Leben
des ganzen Menschen nach allen seinen verschiedenen Rich-
tungen sich zum Bewußtsein zu bringen suchen, das weit über
das Erkennen hinausgeht. Ueberall sind es Werte, die dem
Leben sinnvolle „Lebendigkeit" verleihen und es damit zu et-
was anderem als zum bloßen Leben oder zum Vegetieren machen.
Um der W^erte willen, die in ihm zum Ausdruck kommen, lie-
ben wir das Leben als Ganzes, ja es ist nicht einzusehen, wie
wir es lieben sollten, wenn es keine Werte verkörperte. So gibt
die Philosophie als Wertlehre uns ein Wissen von unserer Le-
bensanschauung, indem sie uns über die Gesamtheit der Werte
aufklärt, um deretwillen uns das Leben lieb ist. Mehr als eine
solche theoretische Klarheit kann sie uns als Wissenschaft nicht
geben, und mehr darf man daher von ihr auch nicht verlangen.
Den dritten Punkt, der die Frage nach dem Verhältnis des
Zeitlichen zum Zeitlosen betrifft , haben wir eben-
falls schon gestreift. Die W'erte, die gelten, sind nicht nur das
Andere des Lebens, insofern sie das Leben zu mehr als bloßem
Leben machen, sondern sie liegen als Werte in ihrer Geltung
zugleich über aller Zeit, Für die theoretischen Werte läßt sich
die zeitlose Geltung nicht bezweifeln, und schon damit ist das
allgemeine Prinzip klar.
Wie es mit der Zeitlosigkeit der atheoretischen Werte steht,
ist hier im einzelnen nicht zu fragen. Da liegen die schwie-
rigsten Probleme einer Theorie der Werte, die Theorie bleiben
will. Bei der Bestimmung des allgemeinsten Begriffes einer Le-
— 193 —
bensphilosophie kommt es aber darauf auch nicht an. Es ge-
nügt, wenn wir verstehen, daß allein auf Grund einer Wert-
lehre die Lebensphilosophie überhaupt in der Lage ist, das Pro-
blem vom Verhältnis des zeitlichen zum ewigen Leben in An-
griff zu nehmen. Zeitlich ist alles Leben, so weit es nur lebt.
Ewig wird es, insofern es in dem lebt, was als Wert zeitlos gilt.
So ist das Ewigkeitsproblem als Wertproblem zu stellen. Dann
zeigt sich zugleich, wie die „Starrheit" der zeitlosen Geltung sich
mit der ,. Beweglichkeit" des lebendigen zeitlichen Lebens ver-
trägt. Das Eine, das zeitlose Gelten, schließt das Andere, das
zeitliche Leben, nicht nur nxht aus, sondern im sinnvollen
Leben ist beides miteinander verbunden, und nur die philo-
sophische Reflektion muß darin trennen, u n zu begreifen.
Was endlich die Frage des Systems der Philosophie be-
trifft, so bedarf sie keiner längeren Erörterung mehr. Ueberall
bilden die Werte die Basis der richtig verstandenen Lebensphilo-
sophie, und deren systematische Gliederung hängt daher von
der systematischen Ordnung der Werte ab. Ein System der
Philosophie des Lebens läßt sich daher nur auf Grund eines S y-
stems der "Werte errichten.
Wie die Systematik zustande kommt, und in welchem Sinne
sie vollständig sein kann, haben wir hier nicht zu fragen. Es
gilt überall nur, zu zeigen, wo in den Modeströmungen der Zeit
die Ansatzpunkte liegen , an welche die Philosophie an-
knüpfen kann, um sich zu einer Philosophie des Lebens auszu-
gestalten, die in Wahrheit Philosophie des Lebens ist^
Mehr als solche Ansatzpunkte Treilich kann die Zeit uns nicht
geben. So lange wir uns auf sie beschränken, bleiben wir bei
der Zeitanschauung stehen. Es gilt, über sie hinaus, durch die
,, Lebensanschauung" hindurch, zur umfassenden ,, Weltanschau-
ung" zu kommen. Wie das im einzelnen möglich ist, über-
schreitet vollends den Rahmen dieser Erörterung.
Sollte es jedoch gelingen, aus der Lebens- und Wertphilo-
sophie unserer Tage eine umfassende Philosophie des
werten "den Lebens herauszuarbeiten , zu dem das Er-
kennen ebenso gehört wie die andern Arten der Kontemplation,
und das private Leben ebenso wie das in Gesellschaft und Staat,
dann muß klar wer.ien, inwiefern die Modeströmungen trotz
Sickert, Philosophie d. Lebens. 13
— 194 — .
ihrer Prinzipienlosigkeit mit Freuden zu begrüßen sind. Zu-
nächst haben sie uns jedenfalls die Fragwürdigkeit des Lebens
und der Werte gezeigt, und das bedeutet für die Philosophie
schon sehr viel.
Theorie freilich und nur Theorie, also ,,grau*', wird auch die
umfassendste Philosophie des Lebens bleiben und sich insofern
immer vom goldenen Baum des grünen, vitalen Lebens unter-
scheiden. Doch sogar falls man das beklagt, kann man es nicht
ändern wollen, sobald man die Notwendigkeit erkannt hat. Und
man sollte es nicht beklagen. Gerade wer das Leben liebt, muß
als Philosoph lernen, daß Erkennen und Leben zu trennen sind.
Je b3sser er nämlich sich so in seinem Wesen selbst versteht,
um so weniger ist er der Gefahr ausgesetzt, als Theoretiker des
Lebens dem Leben feindlich zu \terden. Nur dort, wo man dem
Denken über das Leben die nie zu lösende Aufgabe stellt, das
lebendige Leben in sich aufzunehmen und dadurch selbst le-
bendiges Leben zu werden, wird man aus der Enttäuschung dar-
über, daß dies nicht gelingt, die Philosophie als lebensfeindlich
anklagen.
Man sollte es endlich aufgeben, im Philosophieren über das
Leben ein bloßes Wiederholen des Lebens zu sehen und dann
den Wert des Philosophierens an seiner Lebendigkeit zu messen.
Philosophieren heißt Schaffen, und die Einsicht in den Abstand
des Geschaffenen vom bloß gelebten Leben, zu welcher auch die
Lebensphilosophie unserer Tage, trotz ihrer unwissenschaftlichen
Lebensprophetie und der sich aus ihr ergebenden antitheoretischen
Verschiebung des Wertakzentes, in ihrer Weise viel beigetragen
hat, muß dann sowohl dem Leben als auch der Philosophie zum
Segen gereichen. Nur wer verstanden hat, daß das Leben des
Lebens und das Erkennen des Lebens auseinanderfallen, kann
ein Philosoph des Lebens werden, der sowohl das Leben liebt
als auch über das Leben nachdenkt.
Warum muß, wie in Zarathustras Tanzlied, das Leben auf
die Weisheit ,, eifersüchtig" sein? Nie wird das Leben weise, und
nie wird die Weisheit lebendig werden. Gerade deshalb aber,
weil sie stets in verschiedenen Sphären bleiben, sollten sie sich
gut miteinander vertragen können. Auch zur „Lebensweisheit"
wollen wir sie nicht zu vereinigen suchen, denn an „Weisheit"
— 195 —
glauben wir moderne Menschen doch nicht mehr. Jedenfalls
ist Weisheit etwas, das sich nicht lernen und daher auch wohl
nicht lehren läßt. Wir beschränken uns auf ein lern- und lehr-
bares Wissen vom Leben, und grade wenn wir dies Wissen
in seiner notwendigen ,,Unlebendigkeit" verstanden haben, wer-
den wir in dem heute so verdächtigen sokratischen Menschen
keine Gefahr für das lebendige Leben sehen. Von den echten
Nachfolgern des Sokrates gilt das Wort, das schon Hölderlin von
Sokrates sprach:
Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste.
Sollte man meinen, dies sei im Grunde auch die Ansicht
Nietzsches und der anderen Lebensphilosophen — um so besser.
Nur sind sie von den Vielen nicht immer so verstanden worden,
und deshalb mußte dies kleine Buch über die philosophischen
Modeströmungen unserer Zeit geschrieben werden. Daß es nur
von weitverbreiteten Gedanken , nicht von einzelnen Denker-
persönlichkeiten handeln wollte, sei noch einmal hervorgehoben.
— 196 —
Namenregister.
Aristoteles 9, 179.
Augustin 179.
Avenarius 25, 92, 99.
Bäumer 184.
Bergson 18, 22 ff., 28 f., 32,
51 f., 86, 110, 98 ff., 109 f.,
116, 175, 177 f., 182 ff.
Burckardt 140.
101,
Dante 10.
Darwin 21. 86 ff., 94 ff.
125 f., 132, 138 f.
Descartes 51, 61, 179.
Dilthey 27, 29, 46 ff., 177, 183 f.
Eckardt 55
Ehrenfels 90.
Einstein 177.
Eucken 31.
Fichte 17, 31, 58,
Forberg 31, 58.
184 f.
Galilei 27.
George 10, 184.
Goethe 10, 17 ff., 32, 52, 60 f.,
137 f., 174 ff., 181 ff.
Goldstein 31.
Gundolf 10.
Hamann J. G. 17.
Hamann R. 3.
Hartleben 62.
Haym 58 f.
Hegel 16, 27, 70, 133, 144,
175 179.
Heraklit 63, 71.
Herder 17, 174.
Hölderlin 195.
Husserl 28 f., 50 f.
Jacobi 17.
James 25, 28, 31, 40, 58, 147.
151, 177.
Jaspers 146, 150 ff.
Kant 31, 51, 61, 70, 92 f., 152,
167, 179, 187 f.
Kidd 93.
Kierkegaard 18, 144, 150.
Kroner 23.
Lamprecht 3.
Leibniz 179.
Lotze 186 f.
Mach 25, 99.
Malthus 86 f.
Marx 81.
Morris 175.
Münch 116.
94, 96.
Newton 127, 177.
Nietzsche 19 ff., 25, 28 f., 31 f.,
51, 58 f., 68, 81, 84 f., 90,
96 ff., 136 ff., 14», 147, 150,
152, 162, 177 ff., 195.
Novalis 17.
Ostwald 92.
Parmenides 63.
Paulsen 31, 58.
Piaton 69, 103, 179 f.
Plotin 55, 179.
Ramon y Cajal 84.
Ravaisson 18.
Rodin 161.
Rolph 21, 80, 96 ff.
Rousseau 84, 174, 179.
Scheler 4, 29, 51 ff., 100 ff.,
116, 135.
Schelling 17 f., 22.
Schiller 101, 138.
Schlegel 17, 30, 54.
Schlosser 140.
Schopenhauer 18 f., 21, 96 f.,
139, 162.
Shakespeare 10, 174 f.
Simmel 4, 8, 26, 28, 64 ff.,
112, 149, 151, 177, 183.
Sokrates 58, 195.
Spengler 3, 18, 32.
Spenzer 82 f., 85 f., 95, 98, 101,
131 f.
Spinoza 55, 152, 179.
Steppuhn 30, 54.
Strauß 84.
Tivck 58.
Tille 81.
Tolstoi 1.35.
Vaihinger 31.
Wagner R. 19 f.
Weber Max 92.
Weismann 93.
Wundt 22.
97.
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3323
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1920
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