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Full text of "Die Quellen zur Geschichte des hl. Franz von Assisi, eine kritische Untersuchung"

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38^ 

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Die  Oiiellen  zur  Geschichte 
des  hl.  Franz  von  Assisi. 


Eine  kritische  Untersuchung 


von 


Walter  Goetz, 


Piivatdozenten  der  Geschichte  an  der  Universität  München. 


Gotha. 

Friedrich  Andreas  Perthes 
Aktiengesellschaft. 

1904. 


Paul  Sabatier 

in  dankbarer  Verehrung  gewidmet. 


An  Paul  Sabatier. 

Der  gröfste  Teil  dieses  Buches  ist  ein  von  Seite  zu  Seite 
fortgeführter  Widerspruch  gegen  Ihre  Anschauungen.  Ich 
habe  versucht,  die  Meinung  zu  erschüttern,  die  Sie  mit  stür- 
mischer Beredsamkeit  und  immer  neuen  Beweisen  über  die 
älteste  franziskanische  Überlieferung  und  über  Franz  von  Assisi 
vorgetragen  haben.  Erst  bei  dem  Fortgang  der  Arbeit  bin 
ich  selber  dem  Zauber  entgangen,  den  Ihre  Anschauungen 
auszuüben  vermögen. 

Indem  ich  Ihnen  dieses  Buch  nun  widme,  will  ich  nicht 
nur  für  die  freundschaftliche  Gemeinsamkeit  unserer  Arbeit 
Zeugnis  ablegen,  sondern  auch  dem  Danke  Ausdruck  geben, 
den  wir  alle.  Freunde  und  wissenschaftliche  Gegner,  Ihnen 
so  reichlich  schulden.  Ob  man  Ihnen  zustimmt  oder  nicht  — 
nur  durch  Ihre  Forschungen  und  kühnen  Hypothesen  sind  wir 
vorwärtsgekommen.  Sollte  einer  Ihrer  unfreundlichen  Gegner, 
mit  denen  ich  so  wenig  etwas  zu  tun  habe  wie  Sie,  dies  Büch- 
lein gegen  Sie  ausspielen  wollen,  so  möge  ihm  diese  Wid- 
mung zeigen,  mit  welclier  Gesinnung  ich  gegen  Sie  ge- 
sciirieben  habe. 


Vor*  w^  ort. 

Ein  Teil  dieser  Untersucliungen  ist  bereits  iu  der  „Zeit- 
schrift für  KircheDgescbiclite",  Bd.  XXII,  XXIV  und  XXV 
veröffentlicht  worden.  Zum  ersten  Male  gedruckt  ist  alles 
vun  Seite  140  an;  das  Vorangehende  ist  an  einigen  Stellen 
von  neuem  überarbeitet.  Die  Buchausgabe  dieser  Forschungen 
lindet  ihre  Rechtfertigung  in  dem  Gegenstand,  der  gleich- 
zeitig in  Deutschland,  Franki-eich,  Italien  und  England  vun 
Laien  und  Geistlichen  bearbeitet  wird,  denen  eine  deutsche 
protestantisch-theologische  Zeitschrift  nicht  sj  leicht  zugäng- 
lich ist  wie  eine  besondere  Schiift.  Man  darf  wohl  auch 
verlangen,  dafs  eine  in  mancher  Hinsicht  neue,  jedenfalls 
einheitliche  Anschauung  dieser  Quellenfrage  der  Öffentlich- 
keit in  einer  zusammenhängenden  Foim  und  nicht  zerstreut 
in  verschiedenen  Bänden   einer  Zeitschrift  vorgetragen  wird. 

München,  Pfingsten  1904. 

Walter  Goetz. 


Inhalt. 


Seite 

Einleitung 1 

Die  Pai'teicu  und  ihre  Gegeusätze.     Die  Aufgabe     ....  3 

I.  Eigene  Äufzeiclmungen  des  hl.  Franz 7 

1.  Autographeu  des  Heiligen 0 

2.  Das  Testament     ...          11 

3.  Die  Briefe 16 

a)  An  Bruder  Leo 18 

b)  An  Antonius  von  Padua 19 

c)  All  die  hl.  Klara  und  ihre  Schwestern 20 

d)  Au  alle  Chiisten 21 

e)  An  alle  Kleriker 25 

f)  An  die  Obrigkeiten  der  Völker  (Ad  populorura  Rectores)  2G 

g)  An  alle  Kustoden  der  Minderbrüder 2G 

h)  An  das  Generalkapitel 28 

i)  An  die  Provinzialminister  des  Ordens 31 

k)  An  Jakoba  de  Septerasoliis 32 

1)  An  Elias  und  an  den  Generaliniuister 33 

4.  Die  Regeln 41 

5.  Die  Admonitiones 41 

6.  Die  Gebete 47 

7.  Die  CoUationes  Monasticae 48 

8.  Apophthegmata,  Colloqiüa,  Prophetiae,  Parabolae,  Exempla, 
Oracula 50 

9.  Die  Dichtniigen  dos  Ileiligoii 50 

10.  Von  Wadding  als  zweifelhaft  bezeichnete  Schiifton.     .     .  54 

11.  Ergebnisse 55 

II.  Die  Legenden 5G 

1.  Die  Vita  prima  des  Thomas  von  Celano 57 

2.  Die  Vita  secunda  des  Thomas  von  Celano 80 

a)  Verhältnis  der  Vita  socunda  zur  Legenda  triiini  Sociorum  ül 

Exkurs:  Das  Verhältnis  der  Legeuda  trium  Sociorum 

zum  Anonymus  Perusinus MO 


X  INHALT. 

Seite 

b)  Die  Vita  secimda  und  das  SpccuUun  Pcifectionis    .     .  147 

Kritik  des  Specukim  Pcrfectionis 158 

Ergebnisse 216 

c)  Der  Qaellenwert  der  Vita  seciunhi 221 

Entstehungszeit 233 

d)  Der  Tractatus  de  Miraculis 235 

Exkurs:  Thomas  von  Celano  und  die  Vila  S.  Clarae  240 

3.  Die  Legende  Bonaventuras 243 

Schlufs 258 


Berichtigungen. 


S.  48  Auni    1  letzte  Zeile,  statt  .,verfafste"  lies:  verfafst  haben  soll. 
S.  51.     Die  Anmerkung  4  ist  nicht  nach  Landes  de  Creaturis,  sondern 

3  Zeilen  später  zu  „2.  Vita  III,  138  und  139"  zu  lesen. 
S.  91    Zeile   11,   statt  „August"   lies:  Juli.     Die   Begründung  für   die 

Datierung  s.  unten  S.  233. 
S.  116  Zeile  15  statt  ,,III,  32"  lies:  III,  52. 


Einleitimg. 


Drei  wichtige  Abschnitte  lassen  sich  in  der  fortschreiten- 
den Forschung  über  Franz  von  Assisi  feststellen.  Je  nach 
der  Sichtung  und  Erweiterung  des  Quellenkreises  entstanden 
dreimal  neue  Auffassungen  von  wissenschaftlicher  Bedeutung. 
Seitwärts  davon  ging  freilich  immer  ein  breiter  Strom  der 
Erbauungslitteratur,  die  auf  strenge  Quellenforschung  ver- 
zichtete und  allein  dem  Ruhme  des  Heiligen  zu  dienen  be- 
müht war;  für  die  Wissenschaft  haben  diese  zahlreichen 
Schriften  keinen  Wert. 

Die  erste  kritische  Sichtung  der  Quellen  unternahm  1768 
Konstantin  Suysken,  als  er  die  Lebensbeschreibungen  des 
Heiligen  für  die  Acta  Sanctorum  zusammenstellte;  er  schuf 
die  erste  wissenschaftliche  Grundlage,  indem  er  —  wenn 
auch  etwas  ängstlich  —  die  wertvollen  Bestandteile  aus  der 
Masse  der  Überlieferung  auszuscheiden  begann  und  auf  ihre 
Glaubwürdigkeit  hin  prüfte. 

Karl  von  Hase  that  den  nächsten  Schritt,  als  er  1856 
das  kleine  Büchlein  über  Franz  von  Assisi  schrieb:  mit  un- 
erbittlicher Kritik  untersuchte  er  die  Quellen  und  führte 
Franz  aus  dem  Bereiche  der  Heiligenverehrung  zurück  auf 
den  Boden  der  Geschichte.  Die  Grundlugen  seiner  Schilde- 
rung waren  die  erste  Lebensbeschreibung  des  Thomas  von 
Celano  (die  er  auf  etwa  1229  richtig  ansetzte),  die  sogen. 
Legende  der  drei  Genossen  (von  1247)  und  die  Erzäh- 
lung   Bonaventuras    (1265),    dazu    noch    die     Ordensregeln 


2  GOETZ, 

und  „einige  Briefe  und  fromme  Ergiefsungen ^'  des  Heiligen 
selber. 

Auf  diesem  von  Hase  bereiteten  Boden  blieb  die  For- 
schung im  wesentlichen  ein  halbes  Jahrhundert,  nur  daf& 
von  Georg  Voigt  (I870)  ',  Franz  Ehrle  (1^83)%  Ruggiero- 
Bonghi  (i884)3^  Henry  Thode  (1885)^  und  Karl  Müller 
(1885)  ■''  die  zweite  Lebensbeschreibuiig  des  Thoraas  von  Ce- 
lano entdeckt,  untersucht  und  als  wertvoll  den  grundlegen- 
den Quellen  hinzugefügt  wurde,  w^ährend  Bonaventura  an  Wert- 
schätzung verlor.  So  viel  Neues  die  Forschung  der  näch- 
sten vierzig  Jahre  nach  Hase  auch  ergab  >  so  viel  Hervor- 
ragendes Bonghi  und  Thode,  Karl  Müller  und  Paul  Sabatier 
in  ihren  Werken  über  Franz  geleistet  haben  —  sie  gingen  ia 
der  Quellenbetrachtung  alle  auf  dem  Wege,  den  Hase  gewiesen 
hatte  und  nur  Sabatier  blickte  scliliefslich  mit  Vermutungen 
darüber  hinaus,  als  er  1894  seine  „Vie  de  Ö.  Fran9ois"^ 
erscheinen  liefs.  Und  ihm,  dem  protestantischen  französischen 
Theologen ,  der  sich  in  eine  schwärmerische  Verehrung  für 
den  Heiligen  des  13.  Jahrhunderts  hineingelebt  hat,  dankt 
die  Wissenschaft  die  Anregung  zu  neuen  Fortschritten.  Er 
glaubte  ursprünglichere  Quellen,  als  man  sie  bisher  besessen 
hatte,  erschhefsen  und  tür  die  Forschung  über  Franz  von  Assisi 
eine  neue  Grundlage  schaffen  zu  können.  Er  selber  brachte 
als  Ergebnis  dieser  Studien  1898  das  Speculum  Perfectionis 
als  älteste,  aus  der  nächsten  Nähe  des  Heiligen  stammende 
Quelle  '^,  und  mehr  oder  minder  von  Sabatier  angeregt,  liefsen 
zwei  italienische  Franziskaner,  MarceUino  da  Civezza  und 
Teofilo    Domenichelli,    1899    eine    neue    Legenda    trium    So- 


1)  Die  Denkwüidicjkeiten  des  Minoiiten  Jordamis  von  Giano.    Abh. 
d.  k.  Sachs.  Ges.  der  Wiss.  1870. 

2)  Zeitschiift  für  kath.  Theologie  1883. 

3)  Francesco  d' Assisi.     Cittä  di  Castello  1884. 

4)  Franz  von  Assisi  und   die  Anfänge    der  Kunst   der   Renaissance 
in  Italien.     Berlin  1885. 

5)  Die  Anfänge   des    Minoritenordens   und    der  Bufsbruderschaften.. 
Freiburg  i.  B.   1885. 

G)    SpeciiUim    Perfectionis     seu     S.    Francisci    Assisiensis    Legenda. 
antiquissima  auctore  fratre  Leone.     Paris   1898. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FHANZ  VON  ASSISL         3 

ciorum  ',  eine  Rekonstruktion,  die  mehr  als  den  doppelten 
Umfang  der  bisher  bekannten  Legende  der  drei  Genossen 
besafs,  erscheinen.  Beide  Verötfenthehungen  haben,  sich  er- 
gänzend und  gegenseitig  ihre  Ergebnisse  unterstützend,  den 
Anspruch  erhoben,  die  älteste  aus  dem  vertrauten  Jünger- 
kreise stammende  Überlieferung  zu  sein. 

Die  Frage  war  zu  wichtig  für  dies  ganze  Forschungs- 
gebiet, als  dafs  nicht  sogleich  die  lebhafteste  Bewegung  ent- 
standen wäre.  Neben  bedingungsloser  oder  begrenzter  Zustim- 
mung kamen  auch  Angriffe ,  die  das  kunstvolle  Gebäude 
aufs  ärgste  zu  erschüttern  drohten:  nach  dem  Willen  der 
Angreifenden  sollte  bei  den  neuen  Quellen  kaum  ein  Stein 
auf  dem  andern  bleiben  '^. 

Die  Parteien  und  ihre  Gegensätze.    Die  Aufgabe. 
Der  litterarische  Streit,  der  seit  dem  Erscheinen  des  Spe- 
culum  Perfectionis  (189H)  ausgebrochen  ist,    erhält  sein  Ge- 
präge nicht  nur  durch  wissenschafthche  Meiuungsverschiedeu- 


1)  La  Legjrenda  di  San  Francesco  scritta  da  tre  siioi  Cnmpagni 
(Lecenda  triiiin  sociorum),  piibhlicata  per  la  prima  volta  uella  vera  sua 
intcgritä.     Rom  1899. 

2)  Von  der  für  die  beiden  Rekonstruktionen  mehr  oder  minder 
günstigen  Litteratur  ist  zu  nennen:  Cosmo,  Riv.  stör.  ital.  III  (1898); 
Tocco,  Archivio  storico  italiano,  5.  Seiie  XXIII  (1899);  Minocchi, 
ebd.  XXIV  (1899);  Karl  Müller  Thool.  Litt.-Zeitung  1899;  Goetz, 
N.  Jalirb.  f.  d.  klass.  Altert.,  Gescb.  u.  Litt.  1900.  —  Sammelpunkt 
der  Ge^nier  sind  die  Miscellanea  Kranciscana.  Im  Bd.  VII  (Foligno 
1898/1899)  hat  vor  allein  der  Herausgeber,  P'alo  ci-Pulignani,  den 
Kiunpf  geführt;  neben  ihm  1'.  Edo  u  ard  d' Alen  gon,  der  General- 
archivar der  Kapuziner,  und  P.  Mandonnet  —  alle  freilich  doch 
mit  mancherlei  Zugeständnissen  an  Sabatiers  Anschauungen.  Lebhaften 
Widersi)ruch  erhob  Della  Giovanna,  Giornale  stör.  d.  lett.  ital. 
XXIII  (1898).  Den  schärfsten  Angiiff  gegen  die  Leg.  tr.  Soc.  (und 
indirekt  auch  schon  gegen  das  Speculum  Perf.)  führte  van  Ortroy 
aus:  Analecta  Bollandiana  XIX  (1900).  Sabatier  hat  darauf  ge- 
antwortet in  der  Rev.  historicpie,  LXXV  (1901);  Casali  hat  diesen  Auf- 
satz ins  Italienische  übersetzt  (Dell'  autentiritä  dclla  Leggenda  di 
S.  Francesco  detta  dei  tre  Compagni;  Assisi  1901)  In  dem  Geleitwort 
zu  dieser  Übersetzung  giebt  Sabatior  noch  einen  Nachtrag  zu  seinen 
Ausführungen. 

1* 


4  GOETZ, 

heiten.  Es  spielen  Tendenzen  hinein,  die  den  alten  Gegen- 
sätzen innerhalb  des  Franziskanerordens  entsprechen  und 
aufserdem  durch  den  religiösen  Gegensatz  zu  dem  freien 
Protestanten  Sabatier  hervorgerufen  worden  sind.  Je  gröfser 
der  Einflufs  Sabatiers  auf  katholische  Priester,  Gelehrte  und 
Laien  Italiens  und  Frankreichs  in  diesen  Fragen  wurde,  um 
so  lauter  haben  seine  Gegner  vor  seinen  der  katholischen 
Kirche  gefährlichen  Anschauungen  gewarnt 

Die  Gruppierung  der  Parteien  ist  folgende :  an  Sabatier, 
den  Führer  bei  der  Wiederauffindung  alter  Quellen,  den 
unermüdlichen  Vorkämpfer  für  eine  von  katholischer  Tra- 
dition unabhängige  Wertung  des  Heiligen,  haben  sich  die 
heutigen  Nachfolger  der  ehemaligen  „  Spiritualen "  des  Fran- 
ziskanerordens angeschlossen;  die  Gelehrten  dieser  Richtung 
und  ihre  Organe  —  L'Oriente  serafico  di  S.  Maria  degli 
Angeli,  Mater  Amabilis  (di  Roma)  —  stehen  zwar  den  mo- 
dern religiösen  Idealen  Sabatiers  fern,  aber  sie  billigen  aus 
Herzensinteresse  das  Bemühen,  den  Heiligen  strenger  auf- 
zufassen, als  die  Kirche  und  der  gröfsere  Teil  des  Ordens  es 
von  Anfang  an  gethan  hat.  Mit  Eifer  gehen  sie  deshalb  allen 
Zeugnissen  nach,  die  noch  vor  der  kirchlich  beeinflufsten 
Überlieferung  zu  hegen  scheinen  und  den  Heiligen  im  Gegen- 
satz zu  der  schon  zu  seinen  Lebzeiten  einreifsenden  laxeren 
Praxis  schildern.  Machte  Sabatier  mit  der  Herausgabe  des 
Speculum  Perfectionis  den  Anfang,  so  folgten  Minoriten 
dieser  strengeren  Richtung  mit  der  Rekonstruktion  der  Le- 
genda  trium  Sociorum,  die  sich  enge  mit  dem  Inhalt  des 
Speculum  Perfectionis  berührt. 

Der  rastlose  Gegner  der  ganzen  Richtung  Sabatiers 
und  seiner  Anhänger  ist  Faloci  -  Pulignani  in  Foligno  mit 
seiner  Zeitschrift  Miscellanea  Franciscana  —  unzweifelhaft 
ein  gewandter  Kämpfer  und  bei  seiner  Anlage  zur  höflichsten 
Grobheit  und  zur  Ironie  kein  angenehmer  Gegner.  Neben 
seiner  wissenschaftlichen  Kritik  steht  sein  verletztes  kirch- 
liches Gefühl:  Sabatiers  „ antikatholische ^^  Anschauungen  und 
der  antikirchliche  Radikalismus  einzelner  itahenischer  Nach- 
folger Sabatiers  haben  mehr  als  einmal  das  abwehrende  Ur- 
teil Faloci-Pulignanis    auf  eine   falsche  Bahn   gedrängt.     Im 


QUELLEN  ZUIi  GESCHICHTE  DES  HL.  FHANZ  VON  ASSISL  5 

wesentlichen  schreibt  und  kämpft  er  in  seiner  kleinen  Zeit- 
schritt ganz  allein,  aber  er  steht  in  enger  Fühlung  mit  den 
italienischen,  deutschen,  französischen,  belgischen  geistlichen 
Gegnern  Sabatiers.  An  wissenschaftlicher  Schulung  und  kri- 
tischer Begabung  sind  Männer  wie  Faloci-Pulignani  und  der 
Jesuit  van  Ortroy  den  Herausgebern  der  rekonstruierten  Le- 
genda  trium  Sociorum  und  des  Oriente  Serafico  gewifs  über- 
legen und  es  ist  ganz  unbestreitbar,  dafs  sie  mit  ihren  Kri- 
tiken und  Untersuchungen  der  Franzforsch ung  wertvolle 
Dienste  geleistet  haben.  Bei  dem  Kampf  für  seine  An- 
schauungen mufs  sich  Sabatier  vor  allem  auf  die  eigenen 
Kräfte  veilassen ,  denn  ganz  ohne  Einschränkung  hat  sich 
bisher  von  den  kompetentesten  Beurteilern,  nämlich  den 
kirchlich  vollkommen  Unabhängigen,  doch  niemand  auf  seine 
iSeite  gestellt:  dafs  er  den  Heiligen  allzusehr  vom  Stand- 
punkt moderner  Religiosität  auffasse  und  seinen  Gegensatz 
gegen  die  Kirche  übertreibe,  ist  schon  früher  gegen  Sabatier 
eingewendet  worden,  und  ganz  so  glatt,  wie  er  möchte,  liegen 
die  Zweifelsfragen  beim  Speculum  Perfectionis  jedenfalls  nicht. 
Die  sachlichen  Gegensätze,  wie  sie  bisher  aus  der  ver- 
schiedenen Wertung  der  Quellen  entstanden  sind,  beziehen 
sich  —  um  das  für  die  Quellenforschung  AVichtigste 
herauszugreifen  —  auf  folgende  Punkte.  Sabatier  und  seine 
Anhänger  nehmen  an,  dafs  bereits  zu  Lebzeiten  des  Heiligen 
eine  Spaltung  des  Ordens  in  eine  strengere  und  eine  laxere 
Richtung  eingetreten  sei  und  dafs  der  Ordensprotektor  Kar- 
dinal Hugolin  von  Ostia  damals  und  später  als  Papst 
Gregor  IX.  (1227  — 1241)  die  laxere  Richtung  begünstigt 
habe.  Die  auf  Veranlassung  Gregors  IX.  um  1228,29  von 
Thomas  von  Celano  geschriebene  Vita  prima  des  Heiligen 
gilt  ihnen  deshalb  als  einseitig  und  ebenso  auch,  wenngleich 
in  geringerem  Grade,  die  zweite  Vita,  die  Thomas  1247 
verlafst  haben  soll.  Sabatiers  Gegner  weisen  jeden  Vorwurf 
gegen  Gregor  IX.  zurück  und  sehen  in  ihm  den  aufrichtigsten 
Freund  des  Heiligen,  den  Förderer  seiner  Idecen ;  sie  halten 
infolgedessen  die  Berichte  des  Thomas  von  Celano  für  die 
getreueste  Schilderung  des  Heiligen  und  wollen  von  Spal- 
tungen  innerhalb  des  Ordens  zu  Lebzeiten  des  Heiligen  nic-hts 


6  GOETZ, 

wissen  Und  während  Sabatier  und  seine  Freunde  Bona- 
venturas Legende  für  eine  schönfärbende,  den  geschichtlichen 
Hergang  verwischende  Erzählung  ansehen,  beurteilen  die 
andern  Bonaventura  als  einen  Spiegel  der  Wahrheit:  Fa- 
loci-Pulignani  will  Franz  auch  fernerhin  auffassen,  „corae 
ce  lo  presento  Gregorio  IX.  e  come  lo  dipinse  Ö.  Bonaven- 
tura" —  wie  ihn  uns  Gregor  IX.  dargestellt  und  wie  ihn  der 
hl.  Bonaventura  gezeichnet  hat  '. 

Für  Sabatier  hat  jetzt  das  nach  seiner  Meinung  von  Bru- 
der Leo  1227  geschriebene  Speculum  Perfectionis  aufs  klarste 
gezeigt,  wie  wenig  zuverlässig  Thomas  von  Celano  und  Bona- 
ventura gearbeitet  haben,  und  die  rekonstruierte  Legenda 
trium  Sociorum  verstärkte  Sabatiers  Beweise;  die  Gegner 
lehnten  aber  die  Echtheit  oder  doch  die  Autorität  der  beiden 
neuen  Quellen  ab  und  setzten  ihi-e  Entstehung  in  eine  viel 
spätere  Zeit,  so  dals  sie  keinesfalls  an  Wert  mit  Thomas 
von  Celano  oder  Bonaventura  verglichen  werden  könnten. 

Diese  Meinungsverschiedenheiten  fordern  zu  einer  be- 
stimmten Entscheidung  heraus;  die  Geschichte  des  Heiligen 
mufs  der  vollkommenen  Unsicherheit,  in  der  sie  sich  infolge 
dieser  Gegensätze  befindet,  wieder  entrissen  werden. 

Der  Versuch,  einige  annehmbare  Ergebnisse  festzustellen, 
soll  hiermit  gemacht  werden ;  vielleicht  ist  das  Wagnis  einer 
Klärung  der  strittigen  Fragen  geeignet,  voller  Zersplitterung 
der  Meinungen  vorzubeugen.  Denn  aussichtslos  erscheint  ein 
solcher  Versuch  nicht. 

Das  Schlimmste  bei  solchem  Unternehmen  ist,  dafs  kri- 
tische Ausgaben  der  wichtigsten  Quellen  noch  fehlen :  einzig 
das  Speculum  Perfectionis  Sabatiers  ist  ein  vortreffliches, 
unschätzbares  Hilfsmittel  für  vergleichende  Quellenarbeit. 
Weit  weniger  bietet  in  dieser  Hinsicht  die  rekonstruierte 
Legenda  trium  Sociorum,  und  die  Legenden  des  Thomas 
von  Celano  liegen  bisher  nur  in  Ausgaben,  die  zu  Er- 
bauungszwecken bestimmt  sind,  vor  —  ausgenommen  den 
über  die  Wunder  handelnden  Teil  der  Vita  secunda,  der 
in    den    Analecta    Bollandiana    XVIII    (1899)     durch    van 


1)  Miscellanea  Franciscana  VII,  S.  172. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FllANZ  VON  ASSISL         7 

Ortroy  zum  ersten  Male  gedruckt  und  aufs  sorgfältigste 
kommentiert  worden  ist.  Aber  diesen  einen  Abschnitt  aus- 
genommen fehlt  es  für  die  beiden  Lebensbeschreibungen  des 
Thomas  noch  an  einem  gesicherten  Texte  —  P.  d'Alen9on 
bereitet,  wie  man  hört,  eine  kritische  Ausgabe  vor.  Für 
Bonaventura  giebt  die  sonst  vortreffliche  neue  Ausgabe  in 
den  Opera  Bd.  VIII  (Quaracchi  1898)  nicht  ganz,  was  man  für 
unsere  Untersuchungen  haben  möchte:  es  wird  im  einzelnen 
(und  das  ist  das  Notwendige)  nicht  angegeben,  welche  Vor- 
lagen Bonaventura  jeweilig  benutzt  hat 

Das  sind  Schwierigkeiten,  die  eine  volle  Lösung  der  Auf- 
gabe verzögern;  aber  zu  warten,  bis  sie  alle  beseitigt  sind, 
hiefse  das  mögliche  Gute  um  des  Besten  willen  versäumen  und 
das  Urteil  über  Franz  von  Assisi  noch  für  eine  gute  Weile 
im  Unsichern  lassen.  Die  Aufgabe,  die  durch  die  nachfolgen- 
den Untersuchungen  zu  lösen  versucht  wird,  ist  die  Wertung 
der  vorhandenen  Quellen:  die  Feststellung  vor  allem  der 
ältesten  und  der  Abhängigkeitsverhältnisse  der  späteren. 

Giebt  es  Aufzeichnungen  von  Franz  selber?  Ist  das  Specu- 
lum  Perfectionis  der  früheste  und  intimste  Bericht  über  den 
Heiligen  ?  Ist  die  Legenda  trium  ISociorum  in  der  alten  Form 
und  in  der  Rekonstruktion  eine  wertlose  Kompilation  ?  Ist  die 
erste  Vita  des  Thomas  von  Celano  ganz  unparteiisch  und  zu- 
verlässig, ist  die  zweite  die  selbständige  Ergänzung  der  ersten 
und  von  der  gleichen  Zuverlässigkeit  ?  Schreibt  Bonaventura 
als  wahrheitsuchender  Geschichtsforscher  oder  als  Vertreter 
einer  Partei,  die  die  Lebensideale  des  Heiligen  abschwächen 
wollte?  —  Diese  Fragen  geben  die  GUederung  der  nach- 
folgenden Untersuchungen. 

L  Eigne  Aufzeichnungen  des  hL  Franz. 

Von  dem,  was  Franz  selber  geschrieben  hat,  raufs  bei 
der  Beurteilung  der  späteren  Überlieferung  ausgegangen  wer- 
den. Was  er  selber  geschrieben,  ist  der  einzige  zuverlässige 
Mafsstab  für  die  Treue  dieser  Überlieferung.  Es  ist  ein 
schwerer  Fehler  der  Gegner  Sabatiers,  dafs  sie  —  wie 
z.  B.    Faloci  -  Pulignani  '     —    den  Wert    der    Legenden  Ce- 

1)  Miscell.  Franc.  Vll,  S.  145  flf. 


8  GOETZ, 

lanoß  und  Bonaventuras  bestimmen  wollen,  ohne  auf  die 
eignen  Aufzeichnungen  des  Heiligen  irgend  welche  Rücksicht 
zu  nehmen.  Es  genügt  nicht  nachzuweisen,  dafs  Bonaventura 
in  guter  Absicht  schrieb;  wichtiger  ist  zu  zeigen,  dafs  seine 
Auffassung  die  geschichtlich  richtige  ist.  Diese  Richtigkeit 
läfst  sich  zum  guten  Teile  nur  an  demjenigen,  was  wir  von 
Franz  selber  besitzen,  prüfen. 

Lange  Zeit  sind  diese  Selbstzeugnisse  Franzens  von  der 
gelehrten  Forschung  nicht  hoch  eingeschätzt  und  kaum  ver- 
wertet worden;  Sabatier  hat  zuerst  ihre  Bedeutung  betont 
und  einiges  davon  genauer  untersucht.  Aber  was  als  „Werke" 
des  hl.  Franz  überliefert  ist,  entbehrt  —  von  der  Ordens- 
regel abgesehen  ■ —  noch  einer  zusammenhängenden  kriti- 
schen Untersuchung. 

Wadding  hat  zuerst  zusammengestellt,  was  unter  Franzens 
Namen  ging,  ohne  eine  Sichtung  dieser  Überlieferung  vor- 
zunehmen. Alle  späteren  Ausgaben  der  „Werke"  beruhen 
auf  Wadding  und  sind  noch  genau  so  unzuverlässig,  wie 
es  diese  erste  Ausgabe  leider  ist  ^  Nur  für  das  Testament, 
für  einige  Briefe  und  den  Sonnengesang  liegen  Einzelunter- 
suchungen und  Einzelausgaben  vor;  das  meiste  dankt  man 
auch  hierbei  Sabatier,  manches  Faloci-Pulignani  und  P.  Ed. 
d'Alengon. 

Die  Ausgaben  der  Werke  des  Heiligen  enthalten  alle 
gleichraäfsig  folgendes:  17  Briefe,  27  Admonitiones,  einige 
kleinere  Stücke  verwandten  Inhalts  und  Gebete,  das  Testament, 
die  sogen,  erste  (1221)  und  zweite  (122.3)  Regel,  die  Regel 
für  die  Klarissen,  die  28  Collationes  monasticae,  die  Dich- 
tungen, die  Apophthegmata,  CoUoquia,  Prophetiae,  Parabolae 
und  Exempla,  die  Benedictiones  und  die  Oracula  et  sententiae 
communes. 

Durch  die  älteste  Überlieferung  beglaubigt  ist  davon  nur 
das  allerwenigste.  Dafs  Franz  Regeln  aufgeschrieben  hat,  dafs 
es  Briefe  von  ihm   gab,    dafs   er   geistliche  Lieder  (Laudes) 


1)  Opuscula  b.  Francisci  Assisiatis,  ed.  Wadding,  Antwerpen  1623. 
Die  übrigen  Ausgaben  sind  zusammengestellt  bei  Thode  S.  539  und 
Sabatier,  Vie  de  S.  Frangois  (1894),  S.  XXXVI. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FliANZ  VON  ASSISL         9 

vertafst  hat,  dafs  er  ein  Testament  hinterliefs,  berichten  die 
Quellen ;  aber  die  echte  Form  dieser  Aufzeichnungen  oder  —  wie 
bei  den  Regeln  —  Franzens  Anteil  an  der  endgültigen 
Fassung  ist  nicht  so  leicht  zu  bestimmen.  Für  die  andern 
angeblichen  Werke  des  Heiligen  fehlt  es  fast  durchgängig 
an  einer  Beglaubigung  aus  früher  Zeit.  So  heifst  es  Schritt 
für  Schritt  vorzugehen,  um  im  kleinsten  zunächst  einmal  festen 
Boden  zu  gewinnen  und  damit  einen  Ausgangspunkt  für 
alles  Weitere. 

1.  Autographen  des  Heiligen. 

Was  sicher  festgestellt  werden  könnte  als  von  Franz  mit 
eigener  Hand  geschrieben,  wäre,  falls  ein  wertvoller  Inhalt 
hinzukäme,  gewifs  das  kostbarste  Zeugnis  für  die  An- 
schauungen des  Heiligen.  Thatsächlich  werden  drei  Schrift- 
stücke als  Autographen  bezeichnet :  die  sog.  Benedictio  Leonis, 
die  auf  der  Rückseite  derselben  geschriebenen  Landes  Dei 
(Assisi,  im  Sacro  Convento),  und  ein  kurzer  Brief  an  Bruder 
Leo  (seit  1895  im  Vatikan). 

Die  Echtheit  dieser  Autographen  ist  nicht  unbestritten 
geblieben  ' ;  aber  seit  sich  hinsichtlich  der  Benedictio  hervor- 
ragende deutsche  und  französische  Palacographen  (Watten- 
bach, W.  Meyer,  Dziatzko,  Berger)  bei  einer  neuerlichen 
Anfechtung  1895  und  1896  für  die  Echtheit  ausgesprochen 
haben  —  ein  Urteil,  das  auch  Gerh.  Seeliger-Leipzig  mir  be- 
stätigt hat  —  erscheint  an  diesem  Punkte  ein  Zweifel  doch 
wohl  ausgeschlossen :  die  Schriftzüge  passen  durchaus  in  die 
fragliche  Zeit.  Damit  werden  auch  die  Landes  Domini  der 
Rückseite,  die  Bruder  Leo  als  zugehörig  beglaubigt  hat  und 
die  schon  Thomas  von  Celano  in  der  2.  Vita  (H  c.  18) 
1247  in  diesem  Zusammenhange  mit  der  Benedictio  erwähnt,  als 
eigenhändig  bestätigt  —  sie  sind   freilich   in   arg  verderbtem 


1)  Vgl.  Kaloci-Piilignani,  Gli  autografi  di  S.  Fraiu'osco  (Mise. 
Franc.  VI,  S.  33—39,  mit  Faksimile- Abbildungen,  1895);  Ders.,  La 
Callijrrafia  di  S.  Francesco  (ebd.  VII,  S.  G7— 71,  1898.  Dabei  weitere 
Litteiatiirangaben!).  Sabatier,  Specultun  Perfectionis ,  S.  LXVIIIf. 
LXXIlIff, 


10  GüETZ, 

Zustande.  Das  Urteil  über  den  dritten  Autographen,  den 
Briet"  an  Leo,  ist  viel  weniger  gesichert.  Zwar  haben  sich 
sowohl  Faloci-Pulignani  wie  Sabatier  mit  vielerlei  Gründen  für 
die  Echtheit  ausgesprochen;  aber  paläographische  Bedenken 
—  nicht  gegen  den  zeitlichen  Charakter,  wohl  aber  gegen  den 
Duktus  der  Handschrift,  der  mit  der  Benedictio  nicht  über- 
einzustimmen scheint  —  müssen  erwogen  werden.  Auf  den 
ersten  Blick  erscheinen  die  beiden  Handschriften  der  Benedictio 
und  des  Briefes  ganz  verschieden:  die  Benedictio  ist  mit 
monumentalen,  ganz  vertikal  und  einzeln  stehenden  Buch- 
staben geschrieben,  der  Brief  an  Leo  hat  etwas  schräg  ge- 
stellte ,  vielfach  miteinander  verbundene  und  viel  weniger 
bestimmte  Buchstaben.  Die  Landes  stehen  in  der  Mitte 
zwischen  beiden :  sie  haben  keine  so  monumentalen  Züge 
und  in  den  unteren  Zeilen  etwas  schräg  gestellte  Buchstaben. 
Nun  zeigen  aber  die  Buchstaben  im  einzelnen  auf  allen  drei 
Schriftstücken  in  ihrer  Bildung  eine  starke  Ähnlichkeit:  vor 
allem  das  e ,  das  t ,  das  d ,  das  r ,  das  a ,  das  s ,  ferner  die 
Abkürzung  für  et,  so  dafs  ich  mich  doch  dem  Glauben  an 
die  Echtheit  auch  des  dritten  Autographs  zuneigen  möchte  — 
lassen  doch  auch  innere  Gründe  den  Brief  als  echt  erscheinen 
(vgl.  darüber  unten  Ö.  18).  Der  verschiedene  Duktus  der 
Handschrift  ist  vielleicht  erklärbar:  die  Benedictio  war  eine 
feierliche  Kundgebung  des  Heiligen  für  seinen  vertrautesten 
Jünger  --  daher  die  monumentale  Form.  Auch  die  Landes 
Domini  tragen  aus  natürhchen  Gründen  ein  ähnliches,  wenn 
auch  längst  nicht  so  monumentales  Aussehen:  die  Aufzeichnung 
dieses  Gedichtes  geschah,  bei  Franzens  Natur,  jedenfalls  auch 
in  einer  gehobenen  Stimmung,  wie  die  Beischrift  Leos  zu- 
dem beweist.  Der  Brief  an  Bruder  Leo  ist  dagegen,  wie 
sein  Inhalt  zeigt,  rasch  hingeworfen ;  ob  sich  dadurch  nicht 
die  Verschiedenheit  der  Züge  erklären  Hefse?  * 

Eine   vollkommene    Gewifsheit    wird    niemand    zu   geben 


1)  Sabatieis  Vermutung  (Speculum  Perfeotionis ,  S.  LXXIV  Anin.), 
dafs  die  Handschrift  des  Briefes  später  vielleicht  nochmals  übergangen 
worden  sei,  will  mir  nicht  recht  einleuchten;  ich  vermag  —  an  dem 
Faksimile  allerdings  —  keine  Spuren  davon  zu  erkennen. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL       1 1 

vermögen,  aber  die  Echtheit  ist  aus  den  angeführten  Gründen 
doch  recht  wahrscheinlich  '. 

Sind  nun  auch  diese  drei  Autographen  echt,  und  bieten 
sie  auch  für  drei  Einzelfälle  wertvollen  Aufschlufs  —  die 
Benedictio  für  die  Stigmatisation,  die  Laudes  für  den  Dichter 
Franz,  der  Brief  an  Leo  für  eine  Episode  aus  der  letzten 
Zeit  des  Heiligen  —  so  reichen  sie  doch  keineswegs  aus, 
einen  Mafsstab  abzugeben  zur  Beurteilung  der  Überheferung. 
Was  sie  enthalten,  ist  viel  zu  dürftig,  als  dafs  wir  Allge- 
meineres daraus  lernen  könnten.  Sie  bleiben  lediglich  in 
einem  begrenzteren  Sinne  die  ursprünglichsten  Stücke  der 
Überlieferung. 

2.  Das  Testament. 

Von  allen  andern  Aufzeichnungen,  die  auf  Franz  zurück- 
geführt werden  und  für  die  eine  autographische  Beglaubi- 
gung nicht  vorliegt,  stelle  ich  das  Testament  an  die  Spitze 
der  weiteren  Untersuchungen:  es  ist  wichtiger  als  alle  andern 
Stücke  und  seine  Echtheit  erscheint  am  besten    beglaubigt  -. 

Dafs  Franz  in  einem  Testamente  seine  Anschauungen 
aufzeichnete,  ist  sicher  merkwürdig;  auf  solche  Weise  für 
Lebensideale  einzutreten  war  für  die  damalige  Zeit  etwas 
Ungewöhnliches  —  man  müfste  denn  das  Testament  Kaiser 
Heinrichs  VL  als  aus  dem  Rahmen  letzt  williger  Besitz- 
verfügung heraustretend  ansehen. 

Es  kann  dennoch  kein  Zweifel  bestehen,  dafs  Franz  ein 
Testament  hinterliefs  ^.  Auch  wenn  man  das  Zeugnis  des 
Speculum  Perfectionis  ganz  bei  Seite  läfst,  so  giebt  doch  den 

1)  Ich  verdanke  auch  in  dieser  Krage  Herrn  Prof.  SeeUger-Leipzig 
palängraphisch- fachmännischen  Rat  und  die  Zustimmung  zu  dem  Eud- 
ergehnis  der  ohigen  Ausführungen 

2)  Untersuchungen  über  das  Testament  hei  Sabatier,  Speculum 
Perfectionis  (vgl.  das  Register!).  Wertvcdl  sind  die  Aufsätze  von  Loofs, 
Das  Testament  des  Franz  von  Assisi.  Ciiristl.  Welt  1894 ,  Nr.  27, 
28,  29. 

3)  Bezweifelt  wurde  es  von  Hase,  PVanz  von  Assisi,  S.  136  und 
Renan,  Nouvelles  Etudes  d'iiist.  reli'z.,  S.  247;  verteidigt  von  K.  Mül- 
ler, Anfänge,  S.  Iü9  und  von  Sabatier,  Vgl.  auch  Ehrle,  Arch. 
f.  Litt.  u.  K.-G.  III,  S.  571. 


12  GOETZ, 

ersten  Beweis  schon  1229  Thomas  von  Celano  in  der  Vita 
prima  1  c.  7:  „sicut  ipse  [Franz]  in  testamento  suo  loqui- 
tur  .  .  .  /'  (folgt  ein  Citat  aus  dem  Testamente);  den  zweiten 
die  ßuUe  Gregors  IX.  „Quo  elongati"  vom  28. September  1230^ 
wo  das  Testament  zweimal  ausdrücklich  erwähnt  wird  '. 

Aber  zugegeben,  dafs  Franz  ein  Testament  hinter- 
liels  —  ist  das  uns  überlieferte  auch  wirklich  das  echte?  ^ 

Folgendes  spricht  dafür.  Die  soeben  erwähnte  Stelle  au» 
der  ersten  Lebensbeschreibung  des  Thomas  von  Celano  I  c.  7 
giebt  ein  Citat  aus  dem  Testamente ,  das  genau  so  am  An- 
fang des  uns  überlieferten  steht.  Ein  anderes  wörtliches 
Citat  aus  dem  Testamente  —  jedoch  ohne  dafs  Thomas  es 
nennt  —  steht  in  I,  c.  5  („sola  tunica  erant  contenti,  repe- 
tiata  quandoque  intus  et  foris."  Vgl  dazu  die  gleichlautenden 
Worte  beiSabatier,  Speculum  Perfectionis,  S.  310).  Und 
in  I,  c.  6  wird  der  Anfang  des  Gebetes  citiert,  das  Franz 
den  Brüdern  gelehrt  hatte;  es  stimmt  mit  dem  Gebete 
am  Anfang  des  Testamentes  überein. 

In  der  zweiten  Vita  des  Thomas  von  Celano  III  c.  99  heifst 
es  von  Franz:  „fecit  enim  quandoque  generaliter  scribi" 
und  dann  folgt  fast  wörtlich  ein  Satz,  der  auch  im  Testamente 
steht  (Sabatier  a.  a.  O.  S.  310,  Z.   17  —  19). 

Julian  von  Speier,    der   im  Anschlufs  an   die    erste  Vita 


1)  Sabatier,  Speculum  Pei fectionis,  S.  315. 

2)  Handschriften:  Codex  Mazarinus  989  von  1459/60;  Bologna, 
Univ.-Bibl.  Cod.  2697  von  1503;  Cod.  Vaticaniis  4354  und  7650;  As- 
sisi,  Ms.  338  (danach  der  Abdruck  bei  Sabatier,  Speculum  Perfectio- 
nis,  p.  309—313);  Florenz,  Cod.  Magliab.  XXXVIII,  52;  Cod.  Riccard. 
1407  von  1503;  Florenz,  Hs.  des  Klosters  Ognissanti.  Die  Handschrift 
von  Assisi  möchte  Sabatier  in  die  Zeit  um  1240  setzen  (Vie  de  S.  Fran- 
5ois,  1894,  S.  XLI  u.  370),  Faloci-Pulignani  in  die  Zeit  vor  1255.  Sie 
gehört  jedoch  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ins  14.  Jahrhundert.  Vgl. 
unten  S.  53  Anm.  1.  —  In  jeder  der  genannten  Handschriften  steht  das 
Testament  neben  zahlreichen  frühereu  und  späteren  Quellen  zur  Ge- 
schichte des  Heiligen.  Über  die  vorhandenen  Drucke  und  die  Lesarten 
vgl.  Sabatier,  Speculum  Perfectionis,  S.  309  Anm.  1  und  S.  313 
Anm.  2.  Die  Abweichungen  der  einzelnen  Handschriften  und  Drucke  sind 
für  den  Inhalt  ohne  Bedeutung.  Auf  Grund  der  handschriftlichen  Über- 
lieferuntr  ist  über  die  Echtheit  kaum  etwas  zu  sagen. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL       1 3 

des  Thomas  zwischen  1233  und  1235  eine  Legende  des 
Heihgen  schrieb,  erwähnt  Franzens  Grufs  „Dominus  det  tibi 
pacem",  den  ihm  der  Herr  gelehrt  habe  („Domino  relevante"), 
und  lügt  hinzu:  „sicut  postmodum  ipse  testatus  est"  (Acta 
Sanctorum,  Oct.  II,  Ö.  579,  n.  182);  dabei  hat  Julian  wohl 
sicher  das  Testament  im  Auge  gehabt,  denn  es  enthält  die 
Worte:  „Salutationem  mihi  Dominus  revelavit,  ut  diceremus: 
Dominus  det  tibi  pacem"  (öabatier  ö    311)  K 

Es  spricht  weiterhin  für  die  Echtheit  des  vorhandenen 
Testamentes,  dafs  die  päpstliche  Bulle  von  1230  zwei  Stellen 
desselben  in  indirekter  Rede  wiedergiebt,  die  mit  zwei  wich- 
tigen Punkten  des  vorliegenden  genau  übereinstimmen  (vgl. 
Sabatier  S.  315  mit  Ö.  311   und    312)-. 

Es  sind  mit  Absicht  zunächst  die  Erwähnungen  des 
Testamentes  im  Speculum  Perfectionis  und  in  der  Legenda 
trium  iSociorum  nicht  zum  Belege  herangezogen  —  der 
Wert  dieser  beiden  Quellen  soll  erst  in  den  nachfolgenden 
Untersuchungen  festgestellt  werden  und  so  mögen  sie  hier 
bei  Seite  bleiben.  Die  angeführten  sechs  Citate,  von  denen 
sich  die  zwei  letzten  auf  die  beiden  um  ihrer  strengen  Ten- 
denz willen  wichtigsten  Stellen  des  Testamentes  beziehen  (Ab- 
lehnung päpstlicher  Privilegien  für  den  Orden  und  Verbot 
jeder  Glossierung  der  Regel)  erscheinen  ausreichend  für  den 
Schlafs,  dafs  in  dem  vorhandnen  Testament  das  echte  zu  sehen 
ist  —  das  echte  wenigstens  dem  wesentlichen  Inhalte  nach  ^. 


1)  Fast  wörtlich  nach  Julian  von  Speier  jriebt  Bonaventura,  Vita 
major  c.  III,  n.  2  diese  Stelle  (Opera  VIII,  S.  510,  ed.  Quaracchi,  1897); 
er  kann  deshalb  als  selbständiger  Zeuge  für  das  Testament,  das  er 
ganz  ignoriert,  nicht  in  Betracht  kommen.  Die  Woite  „sicut  pere- 
grinae  et  advenae",  die  Bonaventura  c.  VII,  n.  2  hat,  klingen  ebenfalls 
an  das  Testament  an  (Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  oll).  —  Ein  weiteres 
€itat  bei  Julian  (Acta  SS.  a.  a.  0.  S.  566,  n.  112)  ist  genau  nach  Tho- 
mas von  Celano  Vita  i)r.  I,  c.  7  (s.  o.  S.  12). 

2)  Zugleich  weist  die  Bulle  noch  allgemein  auf  andere  Bestim- 
mungen des  Testamentes  hin,  „  quae  non  possent  sine  multa  difticultate 
servari ". 

3)  Dafs  von  den  fünf  Citaten  des  Speculum  Perfectionis  nur  drei 
mit  dem  Testamente  übereinstimmen,  während  die  zwei  anderen  (c.  9 
und  c.  55)  nicht  darin  stehen,  ist  eine  Schwierigkeit,  gleichviel  oh  man 


14  GOETZ, 

Diese  Auffassung  wird  verstärkt  durch  innere  Gründe. 
Die  Ausdrucksweise  des  Testamentes  ist  ungekünstelt,  ja 
unbeholfen  —  sowohl  der  Ausdruck  im  einzelnen  als  die 
Verbindung  der  einzelnen  Sätze,  die  fast  durchgängig  mit 
„Et"  geschieht,  so  dafs  die  ungefeilte  Niederschrift  des  ge- 
sprochenen Wortes  vorzuliegen  scheint.  Das  elegantere  Lateinisch 
der  Gelehrten  ist  es  nicht,  sondern  die  ungeschickte  Sprache 
des  Ungelehrten.  Ob  eine  spätere  Fälschung  den  Heiligen 
nicht  in  besserem  Lateinisch  hätte  schreiben  lassen? 

Ungekünstelt  ist  auch  die  Disposition  des  Testamentes: 
lose  sind  eine  Reihe  von  Gedanken  nebeneinander  gestellt, 
die  mit  einem  Rückblick  auf  den  Anfang  seiner  Thätigkeit 
beginnen,  dann  ein  Gebet  bringen,  die  Verehrung  für  die 
Priester  der  römischen  Kirche  und  für  den  Leib  des  Herrn, 
auch  für  die  Theologen,  dann  erst  die  Ordensideale  mit 
mahnenden  Erläuterungen  dazu  und  dem  Grufs  „  Der  Herr 
gebe  dir  Frieden"  dazwischen;  vor  den  letzten  stärksten 
Mahnungen  zur  Einhaltung  der  unveränderten  und  unge- 
deuteten  Regel  und  des  Testamentes  noch  eine  längei'e 
Abschweifung  über  die  Pflicht  des  Gehorsams  und  die  Be- 
strafung des  Ungehorsams.  Diese  Anordnung  des  Testamentes 
ist  vergleichbar  mit  seiner  Sprache:  wie  Franz  die  Gedanken 
im    Augenblick    aussprach,    sind  sie    aufgezeichnet    worden. 


die  Abfassimg  des  Spekulum  Peifectionis  in  frühere  oder  spätere  Zeit 
setzt.  Das  erste  Citat  (c.  9)  enthält  allerdings  nur  eine  Erläuterung  zu 
einer  Stelle  des  Testamentes  über  die  Ansiedlungen  der  Brüder,  und 
die  zweite  (c.  55),  die  Ermahnung  zur  Verehrung  der  Portiuncula,  kann 
infolge  der  verschiedenen  Lesarten  auch  als  unausgeführte  Absicht,  etwas 
darüber  in  das  Testament  zu  setzen,  gedeutet  werden.  Sabatier  nimmt 
an,  dafs  Franz  mehrfach  in  entscheidenden  Krisen  seines  Lebens  ein 
Testament  gemacht  habe  (Speculum  Peifectionis,  S.  XXXIII  Anm.  2); 
dafs  er  aufser  dem  vorhandenen  noch  einmal  ein  anderes  diktiert  hat, 
zeigt  Speculum  Perfectionis  c.  87  —  ein  Testament,  das  mit  dem  vor- 
handenen und  dem  in  der  Bulle  von  1230  genannten  nicht  übereingestimmt 
haben  kann.  —  Lediglich  an  verschiedene  Lesarten  desselben  Testa- 
mentes zu  denken,  wird  durch  die  vorhandenen,  nur  in  einzelnen  Aus- 
drücken voneinander  abweichenden  Handschriften  (s.  oben  S.  12  Anm.  2) 
nicht  unterstützt.  Auch  für  die  hl.  Klara  und  ihre  Schwestern  soll 
Franz  testamentarische  Aufzeichnungen  hinterlassen  haben  (Sabatier 
S.   182  Anm.). 


QUELLEN  zun  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL       15 

Auch  hier  darf  man  behaupten,  dafs  eine  spätere  Fälschung 
bestimmter  angeordnet  haben  würde. 

Vor  allem  aber  enthält  das  Testament  Gedanken,  die  bei 
einer  späteren  tendenziösen  Zusammenstellung  wohl  kaum 
nebeneinander  gestellt  worden  wären:  die  so  stark  betonte 
Verehrung  für  jeden,  auch  den  geringsten  Priester  der  Kirche 
und  die  Warnung  vor  jeglichem  Privileg  der  Kurie.  Auch 
das  Betonen  der  Handarbeit  pafst  nicht  mehr  in  eine  spätere 
Zeit. 

Es  vereinen  sich  äufsere  und  innere  Gründe,  das  Testa- 
ment als  ein  echtes  Dokument  des  Heiligen  zu  kennzeichnen. 

Es  ist  damit  eine  feste  Grundlage  gewonnen.  Denn  so 
wenig  ausführlich  dieses  Testament  auch  ist,  so  fafst  es  doch 
gedrängt  zusammen,  auf  was  es  Franz  für  die  Zukunft  seines 
Ordens  ankam  und  an  welchen  Idealen  seine  Seele  felsen- 
fest hing.  Auf  das,  was  er  gewollt,  aber  auch  auf  einzelnes^ 
was  er  gethan  hat,  und  auf  anderes,  wofür  er  offenbar  kämpfen 
mufste,  fallen  helle  Lichter,  und  ich  nehme  an,  dafs  jede 
andere  Überlieferung  über  Fran/>  an  diesem  gesicherten  und 
sein  Innerstes  aufschliefsenden  Dokumente  geprüft  werden 
mufs.  E.s  fällt  ins  Gewicht,  dafs  die  zweite  Vita  des  Thomas 
von  Celano  das  Testament  nur  einmal  streut  (s  ob.  Ö.  12)  und 
dafs  Bonaventura  es  gar  nicht  mehr  zu  kennen  scheint,  obwohl 
er  doch  aus  der  ersten  Vita  des  Thomas  von  seinem  Vorhanden- 
sein wissen  mufste  —  ganz  abgesehen  von  der  Rolle,  die  da& 
Testament  bei  den  inneren  Streitigkeiten  des  Ordens  gespielt 
hatte  '  —  die  strengen  Forderungen  des  Testamentes  sind 
eben  später  und  vor  allem  zur  Zeit  der  Spiritualenkämpfe 
bei  der  Mehrheit  des  Ordens  nicht  mehr  populär  gewesen. 

Die  Datierung  des  Testamentes  ist  nicht  bestimmt  zu 
geben.  Dafs  es  erst  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  auf- 
gesetzt ist,  liegt  in  der  Natur  der  Sache;  aber  ich  wage 
doch  nicht,    wie  Sabatier  thut^,    es    in    die    allerletzte    Zeit 

1)  Archiv  f.  Litt.  u.  K.-G.  III,  S.  168. 

2)  Vie  de  S.  FraiiQois  (1894),  S.  384.  Die  Stellen  im  Speciiliim 
Perfectionis  spiechen  zum  Teil  von  der  Zeit  „circa  mortem".  Diese 
Zeit  dehnte  sich  über  Jahre  hin  —  die  Auflösung;  des  panz  zerstörten 
Körpers  vollzog  sich  nur  langsam. 


1 6  GOETZ, 

vor  seinem  Tode  zu  setzen.  Es  liegt  noch  nicht  die  Ab- 
schiedsstimmung über  diesen  Gedanken  —  verspricht  doch 
Franz  darin,  dem  Generalminister  und  dem  Guardian^  den 
man  über  ihn  (Franz)  setze,  streng  zu  gehorchen  und  stets 
einen  Kleriker  für  das  officium  bei  sich  zu  haben;  er  schärft 
den  Brüdern  die  Handarbeit  ein,  wie  er  selber  noch  arbeiten 
wolle.  Man  kann  nicht  mehr  sagen,  als  dafs  im  Testament 
«in  Zeugnis  seiner  letzten  Jahre  vorliegt  K 

o.  Die  Briefe. 

Siebzehn  Briefe  sind  seit  Waddings  Ausgabe  von  1628 
für  Franz  in  Anspruch  genommen  worden :  je  zwei  an  alle 
Christen,  an  die  hl.  Klara  und  ihre  Schwestern,  an  Bruder 
Elias,  an  das  Generalkapitel,  je  einer  an  Antonius  von 
Padua,  an  den  Generalminister,  an  die  Provinzialminister, 
an  die  Priester  des  Ordens,  an  alle  Kustoden  des  Ordens, 
an  alle  Kleriker,  an  die  Obrigkeiten,  an  Bruder  Leo  und 
an  Jakoba  de  Septemsoliis  —  alle  siebzehn  ohne  Datum. 

Die  handschriftliche  Überlieferung  bietet  nur  bei  einem 
dieser  Briefe,  bei  dem  an  Bruder  Leo,  Anhaltspunkte  für 
die  Echtheit;  es  ist  oben  (S.  9f)  ausgeführt  worden,  dafs 
dieser  Brief  im  Original  vorhanden  zu  sein  scheint.  Drei 
andere  Briefe  (an  alle  Christen,  an  das  Generalkapitel,  an 
alle  Kleriker)  liegen  in  einer  Handschrift  (Cod.  Assis.  308) 
vor,  die  Sabatier  und  Faloci-Pulignani  gern  noch  vor  oder 
um  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  ansetzen  möchten,  die 
aber  ins  14.  Jahrhundert  gehören  dürfte  ^.  Immerhin  giebt 
diese  handschriftliche  Überlieferung  die  Möglichkeit,  die  Briefe 
in  ihrer  ursprünglichen  Form  wieder  herzustellen  —  in  spä- 
terer Zeit  sind  sie  in  einzelne,  anscheinend  selbständige  Teile 
zerlegt  worden. 

Dafs  Fi'anz  sich  öfters  in  Briefen  geäufsert  hat,  bezeugen 


1)  So  auch  Loofs,  Christi.  Welt  (1894),  S.  639  mit  dem  Hinweis 
auf  die  Bulle  Quo  elongati :  ,,  Fianciscus  .  .  .  mandavit  circa  ultimum 
vitae  suae,  cuius  mandatum  dicitur  Testamentum  ..."  (Sabatier, 
Speculum  Perfectionis,  S.  315). 

2)  Vgl.  unten  S.  53  Anm.  2 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL       17 

die  Quellen.  Thomas  von  Celano  erwähnt  in  der  ersten  Vita 
II,  5,  dals  Franz  mehrfach  an  den  Kardinal  von  Ostia,  den 
Ordensprotektor,  geschrieben  habe ;  vorhanden  ist  von  solchen 
Briefen  nichts.  In  derselben  Vita  I,  29  spricht  Thomas  von 
Briefen,  die  Franz  „salutationis  vel  admonitionis  gratia  faceret 
scribi"  '. 

Es  ist  das  Urteil  ausgesprochen  worden,  dafs  diese  von 
Wadding  zum  ersten  Mal  zusammengestellten  siebzehn  Briefe, 
auch  wenn  sie  vielleicht  echt  seien,  dennoch  kaum  etwas 
zur  näheren  Kenntnis  des  Heiligen  beitrügen  ^.  Ein  wenig 
günstiger  kann  man  das  Urteil  doch  vielleicht  fassen,  so 
dafs  die  Untersuchung  der  Echtheit  nicht  nur  einen  philo- 
logischen Wert  besitzt;  die  Briefe  geben  doch  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  einen  Einblick  in  das  naive  Sorgen  und 
Hoffen  des  Heiligen,  in  seine  teilnehmende  Fürsorge  für 
andere  —  aber  freilich  sind  sie  nichts  mehr  als  beschei- 
dene Beiträge,  kleine  Zusätze  zu  dem,  was  anderweitig  be- 
richtet ist. 

Eine  kritische  Ausgabe  dieser  Briefe  fehlt  ebenso  wie 
eine  Prüfung  ihrer  Echtheit  Was  für  einzelne  Briefe  in 
beiderlei  Hinsicht  geleistet  worden  ist,  wird  bei  Besprechung 
derselben  angeführt  werden  —  das  meiste  hat  natürlich  auch 
auf  diesem  Gebiete  iSabatier  geboten.  Über  die  vorhandenen 
Ausgaben  s.  oben  S.  8.  Wadding  fügt  seiner  Ausgabe 
viele  wertvolle  Notizen  über  Handschriften  und  Drucke  bei; 
aber  seine  Arbeit  ermangelt  der  strengen  Kritik  -  die  ihn 
abgedruckt  haben,  sind  (wie  z.  B.  die  kleine,  am  leichtesten 
zu  erlangende  Ausgabe  der  Opuscoli  von  Fivizzano,  Florenz 
1880)  in  nichts  über  ihn  hinausgekommen.  Eine  kritische 
Ausjrabe  der  Briefe  müi'ste  an  die  Handschritten  und  an  die 
ältesten  Drucke  gehen  —  das  lag  aufserhalb  des  Bei-eichs 
der  nachfolgenden  Untersuchungen.  Es  ist  zu  hoffen,  dafs 
bei    dem    lebhaften    Fortgang    der  Forschungen    über    Franz 


2)  Es  sei  erwähnt,  dafs  im  Speciiliim  Peifcctionis  c.  90  und  c.  1Ü8 
verlorene  Briefe  an  die  hl.  Klara  erwähnt  werden  —  die  voiliandencu 
sind  damit  nicht  gemeint.  —  Vf;l.  Sabatier,  Vio  de  S  Fran^ois  (1894), 
S.  273,  Anni.  20. 

4)  K.  Müller,  Anfänge,  S.  3  Anni.  1. 

2 


1 8  GOETZ, 

nach  und  nach  alle  Briefe  so  eingehend  untersucht  werden^ 
wie  es  bisher  nur  für  drei  derselben  (vgl.  unten  a,  h  und  1) 
geschehen  ist. 

a)  Der  Brief  an  Bruder  Leo  ^ 
Er  ist  beglaubigt  durch  den  Autographen.  Selbst  ohne 
dieses  Zeugnis  würde  aber  der  Brief  zu  keinen  Bedenken 
Anlal's  geben  ^.  Sein  kurzer  Inhalt,  der  Seelenkämpfe  Leos 
und  Franzens  väterlich  besorgten  Anteil  verrät  —  ein  Zeug- 
nis für  das  enge  Verhältnis  der  beiden  —  bietet  zu  wenig 
Konkretes,  als  dafs  er  erfunden  sein  könnte.  Die  Beziehung 
auf  ein  soeben  unterwegs  geführtes  Gespräch,  die  blofse  An- 
deutung der  Armutsfrage  als  Grund  der  inneren  Kämpfe 
Leos  ohne  irgendwelche  bestimmte  Beziehung  auf  etwaige 
Meinungsverschiedenheiten  im  Orden,  macht  den  vollen  Ein- 
druck der  Echtheit.  Der  Stil  des  Briefes  in  seiner  rasch  ge- 
schriebenen Unbeholfenheit  klingt  an  den  Stil  des  Testamentes 
an  —  er  ist  noch  stärker  gesprochene  Rede  wie  dieses  und 
zeigt  ebenso  die  Vorliebe,  die  Sätze  mit  „Und"  anzufangen. 
Sabatier  hat  den  Brief  genauer  zu  datieren  versucht  ^  • 
ich  kann  mich  doch  nicht  entschliefsen,  so  bestimmte  Ver- 
mutungen aufzustellen  und  den  Brief  mit  den  Streitigkeiten 
im  Orden  in  Zusammenhang  zu  bringen.  Es  kann  sich 
sehr  wohl  nur  um  die  allerpersönlichsten  Konflikte  Leos 
handeln.  Sabatiers  Deutung  ist  möglich;  aber  mit  Bestimmt- 
heit läfst  sich  nur  sagen ,  dafs  der  Brief  ein  Dokument   für 


1)  Mit  AusnaLme  des  von  Faloci-Pulignani  gegebenen  (Mise.  Fran- 
cisc.  VI,  S.  39)  ist  keiner  der  gedruckten  Texte  genau  nach  dem  Auto- 
grapben :  bei  Wadding  und  seinen  Nacbfolgern,  bei  Sabatier  finden  sich 
kleine  Abweichungen ,  wie  sie  der  Text  in  andern  Handschriften  auf- 
weist. 

2)  Dafs  der  Brief  beginnt:  „F.  Leo  f.  Francisco  tuo  salutem  et 
pacem"  hat  mit  Recht  zunächst  Zweifel  hervorgerufen;  aber  diese 
seltsame  Ausdrucksweise  spricht  wohl  gerade  für  die  Echtheit  —  tuo 
wäre  sonst  ganz  sinnlos.  Man  wird  bei  diesem  auffallenden  Dativ  an 
die  italienische  Form  Francesco  denken  müssen.  —  Franz  schrieb  kein 
klassisches  Latein  und  man  mufs  übersetzen:  „0  Bruder  Leo,  dein 
Bruder  Franz  wünscht  dir  Heil  und  Frieden." 

3)  Vie    de  S.  Frangois  (1894),  S.  300  f. 


QUELLEN  ZÜK  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISI.       19 

die  herzlichen  Beziehungen  Leos  zu  Franz  ist  und  dafs  er 
in  die  letzten  Jahre  des  Heiligen  gehören  wird ,  denn  nur 
in  dieser  Zeit  sehen  wir  Leo  in  seiner  Nähe  '. 

b)  Der  Brief  an  Antonius  von  Padua. 

Wadding  (S.  1 5 )  hat  aus  älteren  Schriftstellern  zusammen- 
gestellt, dafs  Antonius  nur  mit  Franzens  Erlaubnis  das  ihm 
von  den  Brüdern  aufgetragene  Lehramt  in  Bologna  habe 
übernehmen  wollen ;  mit  diesem  kurzen  Briefe  habe  Franz 
seine  Zustimmung  gegeben. 

Gegen  die  Echtheit  des  Briefes  in  der  vorliegenden  Form 
läfst  sich  einwenden,  dafs  nach  Waddings  Angaben  die  über- 
liei'erten  Lesarten  stark  auseinandergehen,  und  ferner  dafs 
Thomas  von  Celano  in  der  zweiten  Vita  III,  99  ein  Schreiben 
Franzens  an  Antonius  erwähnt,  das  mit  den  Worten  be- 
gonnen habe:  „Fratri  Antonio  episcopo  meo".  Diese  An- 
rede hat  der  erhaltene  Brief  nicht  —  aber  man  kann  frei- 
Uch  auch  nicht  beweisen,  dafs  Franz  nur  diesen  einen  Brief 
an  Antonius  geschrieben  habe. 

Der  Inhalt  des  Briefes  erweckt  nicht  den  Verdacht  einer 
Fälschung,  sondern  pafst  zu  den  Anschauungen  Franzens: 
er  giebt  die  Erlaubnis  unter  der  Bedingung  „ut  neque  in 
te,  neque  in  ceteris  (quod  vehementer  cupio)  extinguatur 
sanctae  orationis  spiritus  juxta  regulam,  quam  prolitemur".  — 
Der  Stil  des  Briefes  ist  —  soweit  sich  aus  dem  einen  Satze, 
der  den  Inhalt  ausmacht,  urteilen  läfst  —  glatter  als  der 
des  Testaments  und  des  Briefes  an  Bruder  Leo;  aber  den- 
noch nicht  so,  dafs  die  Echtheit  daraufhin  zu  bestreiten 
wäre. 


1)  Sabatier,  Speculura  Perfectionis ,  S.  LXV.  Sichere  Nacb- 
richteu,  seit  wann  Leo  dem  Orden  angehörte,  liegen  nicht  vor;  die 
späte  Angabe  der  Chronica  XXIV  generalium  (Anal.  Francisc.  III, 
S.  8)  ist  weder  bestimmt  noch  zuverlässig.  In  der  Vita  Leonis,  die  sich 
in  derselben  Chronica  rindet  (a.  a.  0.  S.  65  ff.),  stehen  nur  Nachrichten, 
die  sieb  auf  die  letzten  Jahre  Franzens  beziehen;  über  Leos  frühere 
Zugehörigkeit  zum  Orden  war  nichts  bekannt.  Dadurch  verliert  jene 
erste  Angabe  an  Wert,  wie  denu  die  Chronica  überhaui)t  keine  zuver- 
lässige Quelle  ist. 

o* 


20  GOETZ, 

Die  Abt'assuugszeit  des  Briefes  fällt  zwischen  1222  imd 
Ende  1225    —   ein  engerer  Termin  ist  nicht  zu  bestimmen  '. 

Der  Gewinn,  den  die  Forschung  aus  diesem  Briefe  zieht, 
ist  nicht  eben  grofs ;  dafs  Franz  die  gelehrte  Thätigkeit 
innerhalb  des  Ordens  nicht  gerne  sah,  wissen  wir  genugsam, 
und  ebenso  dafs  er  das  Gebet  höher  stellte;  immerhin  ist 
diese  Aufserung  in  einem  konkreten  Falle  nicht  ohne  Wert: 
das  „quod  vehementer  cupio"  und  der  Hinweis  auf  die 
Regel  klingen  wie  eine  Sorge,  die  Franz  im  Herzen  trug. 
Und  da  diese  Sorge  durch  andere  Zeugnisse  bestätigt  wird, 
so  stützt  und  verstärkt  ein  jedes  das  Gewicht  des  andern. 

c)  Die  beiden  Briefe  an  die  hl.  Klara  und  ihre 
Schwestern. 
Da  beide  Briefe,  für  die  eine  handschriftliche  Überliefe- 
rung nicht  vorzuliegen  scheint,  der  Regel  der  Klarissen  von 
1253  einverleibt  sind  ^,  so  ist  an  ihrer  Echtheit  kaum  zu 
zweifeln.  Der  zweite  der  beiden  kurzen  Briefe,  beginnend 
mit  „Ego  frater  Franciscus  parvulus"^,  der  das  Bekennt- 
nis zur  Armut  enthält  und  die  Schwestern  zum  gleichen 
ermahnt,  ist  inhaltlich  und  stilistisch  den  bisher  als  echt 
erkannten  Dokumenten  enge  verwandt  —  er  enthält  ge- 
sprochene, nicht  sehr  flüssige  Rede,  von  den  drei  Sätzen 
beginnen  zwei  mit  „Et"  —  während  der  andere  stilistisch 
einen  etwas  anderen  Charakter  hat.  Er  wird  in  der  Regel 
der  Klarissen  auch  nicht  als  Brief  bezeichnet,  sondern  es 
heifst  von  Franz:  „scripsit  nobis  formam  vivendi  in  hunc  mo- 


1)  Vgl.  Lempp,  Zeitschr-  f.  Kirchengesch.  XII,  S.  425  Anm.  2 
und  S.  438  ff.  Lempp  hält  den  Brief  ebenfalls  für  echt  und  meint,  dafs 
Elias  mit  seiner  Sympathie  für  das  Theologiestudium  den  Heiligen  zum 
Schreiben  dieses  Briefes  veranlafst  habe.  Darüber  kann  man  jedoch 
nichts  Bestimmtes  sagen. 

2)  Seraphicae  legislationis  Textus  originales  (Qiiaracchi  1897).  S.  62 
u.  63.  —  Thomas  von  Celano  kannte  in  der  zweiten  Vita  III,  132  den 
einen  dieser  Briefe  bereits,  denn  er  benutzt  ihn  bei  seiner  Erzählung 
mit  stark  wörtlicher  Anlehnung. 

3)  Ein  genauer  Text  bei  Sabatier,  Speculura  Perfectionis,  S.  182 
Anm. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL       21 

dum  .  . .''  (folgt  der  mit  „Quia  divina  inspiratione"  beginnende 
Brief).  In  der  Überlieferung  ist  dann  beiden  Dokumenten 
eine  Überschrift  und  ein  Schlafs  („Valete  in  Domino^')  hin- 
zugefügt worden,  deren  Echtheit  höchst  zweifelhaft  ist;  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  ist  die  Kegel  der  Klarissen  doch 
die  älteste  Quelle.  Ob  freilich  die  beiden  Stücke  vollständig 
sind  oder  nur  Bruchstücke,  ist  nicht  bestimmt  zu  entschei- 
den; die  „forma  vivendi"  macht  allerdings  den  Eindruck 
des  Bruchstücks  ^ 

In  dieser  Regel  tinden  sich  zugleich  die  Daten  der  beiden 
Schriftstücke:  die  „forma  vivendi"  sei  „  paulo  post  conver- 
sionem"  des  Heiligen,  als  Klara  und  ihre  Schwestern  ihm 
freiwillig  Gehorsam  gelobt  hätten,  geschrieben  (also  etwa 
1211/1212)^,  der  andere  Brief  ,, paulo  ante  obitum"  als 
„ultima  voluntas"  (also  1226)  geschrieben.  Diesen  zweiten 
Brief  mit  den  Konflikten  innerhalb  des  Ordens  in  einen  be- 
stimmteren Zusammenhang  zu  bringen ,  wie  Sabatier  es 
thut^,  liegt  kein  zwingender  Grund  vor.  Doch  mufs  fest- 
gestellt werden,  dafs  die  Älahnung  zum  Festhalten  an  der 
Armut  dringlich  ausgesprochen  wird  —  die  Sorge  um  die 
Bewahrung  seines  Ideals  erkennt  man  aus  diesen  Zeilen  und 
so  geben  sie  einen  Einblick  in  sein  Inneres  in  der  letzten 
Zeit  vor  dem  Tode. 

d)  Der  Brief  an  alle  Christen^. 
Zwei  derartige  Briefe  sind   überliefert,  doch  ist  der  kurze 
erste  der  beiden,  wie   Wadding  bereits  bemerkt,  in  anderen 

1)  Von  dem  Briefe  „Ego  frater  Franciscus''  sa<it  Klara  in  der 
Regel ,  dafs  Franz  ihn  kurz  vor  seinem  Tode  als  „  nltimam  voluntateni 
suam"  geschrieben  habe.  Im  Speciiliim  Perfectionis  c.  108  ist  von 
dem  letzten  Briefe  Franzens  an  Klara  und  ihre  Schwestern  die  Rede, 
aber  nach  dieser  Angabe  habe  der  Brief  Segen  und  Absolution  enthalten. 
Ob  Klara  diesen  Schlufs  etwa  weggelassen  hat?  Er  pafste  allerdings 
in  die  Regel  nicht  hinein. 

2)  Vgl.  Lempp,  Zeitschr.  f.  Kirchengesch.  XIII,  S.  182/183. 

3)  Vie  de  S.  Fran^nis  (1894),  S.  272,  wo  der  Brief  auf  Ende  1220 
angesetzt  wird.  Üeni  widerspiicht  aber  Klaras  Angabe  in  der  Kegel; 
der  Biief  gehört  ins  Jahr  122G.  Gegen  Sabatier  bereits  Loofs,  Christi. 
Welt  (1894),  S.  Ü64. 

4)  Über  die  handschiiftiiche  Überlieferung,  aus  der  sicli  doch  nichts 


22  GOETZ, 

Quellen  lediglich  als  Teil  des  zweiten  viel  längeren  behan- 
delt. Das  erscheint  nach  der  Form  desselben  das  richtigste, 
denn  er  hat  weder  den  Anfang  eines  Sendschreibens,  noch 
ist  sein  Inhalt  derart,  dafs  man  ihn  für  ein  „Schreiben  an 
alle  Christen'^  ansehen  könnte:  er  fordert  in  drei  Sätzen  auf, 
Gott  zu  lieben  und  anzubeten.  Und  das  wesentlichste  seines 
Inhalts  steht  mit  zum  Teil  gleichen  Worten  im  dritten  Ka- 
pitel des  anderen  Briefes. 

Dieser  andere,  längere  Brief  ist  in  den  Drucken  einge- 
geteilt  in  13  zumeist  kleine  Kapitel  und  eine  peroratio.  Wie 
die  kirchlichen  Schriftsteller,  so  hat  ihn  auch  Sabatier  für 
echt  genommen  \ 

Bei  Franzens  Gedankengängen,  die  ja  das  Heil  der  ganzen 
Welt  umfafsten  und  mit  höchster  Naivität  ohne  Rücksicht 
auf  die  Schranken  der  Wirklichkeit  sich  zu  äufsern  strebten 
(man  bedenke  seinen  Bekehrungsversuch  vor  dem  Sultan  in 
Ägypten!),  wäre  ein  Appell  an  die  ganze  Christenheit  nichts 
Unmögliches;  aber  es  ist  dennoch  nicht  ganz  leicht,  ihn  auf 
Franz  zurückzuführen.  Der  Stil  dieses  Schreibens  ist  ein 
anderer  als  der  des  Testamentes  und  der  für  echt  erkannten 
Schreiben;  er  ist  nichts  weniger  als  unbeholfen,  sondern 
kann  nur  von  jemand  stammen,  der  in  solcher  Ausdrucks- 
weise geübt  ist.  Es  kommt  hinzu,  dafs  dieses  ganze  Schreiben 
eine  gewandte  Aneinanderreihung  von  Bibelcitaten  ist,  wie 
sie  dem  Theologen  und  Prediger  auf  der  Zunge  liegen,  wie 
man  sie  aber  bei  dem  einfachen,  ungelehrten.  Erlebtes  wieder- 
gebenden Sinne  des  Heiligen  nicht  ohne  weiteres  vermuten 
möchte.  Anderseits  erinnert  einzelnes,  besonders  in  der  An- 
rede und  in  der  Nachrede  und  dann  in  manchen  Ausdrücken 
und  Gedanken  (c.  7  :  Stellung  des  Priesters  als  Verwalters 
des  Sakraments)  wohl  an   Franz  (Testament!). 

Dieses  Schreiben  für  echt  zu  erklären,  ist  ein  folgen- 
schwerer Schritt,  denn  vieles  andere,  was  Franz  zugeschrieben 
wird,  trägt  einen  ähnlichen,  von  der  Einfachheit  des  Testa- 


für  die  Echtheit  folgern  läfst,   vgl.  Sabatier,    Specuhim    Perfectionis, 
S.  CLXVff. 

1)  Sabatier,  Vie  de  S.  Frangois  (1894),  S.  373ff. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL       23 

mentes  und  der  kleinen  unzweifelhaft  echten  Briefe  verschie- 
denen Charakter  '.  —  Der  Kreis  der  möglicherweise  echten 
Schriften  erweitert  sich  erheblich,  während  andernfalls  nur 
das  Testament,  die  kleineren  Briefe  und  die  nicht  anzufech- 
tende Regel  von  1221  als  echte  Dokumente  übrig  blieben. 
Aber  gerade  diese  Regel  von  1221  mit  ihrem  gewandteren 
Stil,  mit  ihren  Bibelcitaten  giebt  die  Warnung,  sich  nicht 
allzu  starr  an  blofse  Stilkritik  zu  halten  —  denn  diese  ist, 
wie  sich  auch  bei  allen  später  zu  besprechenden  Quellen 
immer  wieder  zeigen  wird,  ein  unsicherer  Führer.  Die  An- 
nahme ist  nicht  ausgeschlossen,  dafs  Franz  in  den  rasch 
hingeworfenen  kleinen  Briefen  und  im  Testamente,  das  viel- 
leicht auf  dem  Krankenbette  entstand,  mit  weniger  Kunst 
stilisierte  als  da,  wo  er  Zeit  hatte,  sorgfältiger  zu  kompo- 
nieren. Auch  das  ist  ja  denkbar,  dafs  ihm  bei  diesen  Kund- 
gebungen an  weitere  Kreise  schriftgelehrte  Jünger  zur  Seite 
standen  und  die  einfacheren  Sätze  des  Heiligen  redigierten, 
so  wie  nach  der  Angabe  des  Jordanus  a  Jano  ^  der  Bruder 
Caesarius  die  von  Franz  in  einfachen  Worten  verfafste 
Regel  „mit  den  Worten  des  Evangeliums  ausschmückte". 

Obwohl  die  Anschauungen  des  Schreibens  derart  sind, 
dafs  sie  später  sehr  leicht  zusammengestellt  und  mit  dem 
Scheine  der  Echtheit  Franz  zugeschoben  werden  konnten, 
so  glaube  ich  mich  doch  für  die  Echtheit  entscheiden  zu 
dürfen,  sowohl  um  des  vorliegenden  Schreibens  selbst  als 
um  der  verwandten  Gruppe  von  Schriftstücken  willen,  gegen 
deren  einfache  Verwerfung  denn  doch  zu  viele  Gründe 
sprechen  —  ist  doch  das  Vorhandensein  von  Briefen,  die 
admonitionis  gratia  von  Franz  geschrieben  wurden,  schon 
durch  die  erste  Vita  des  Thomas  von  Celano  (1 ,  29)  be- 
zeugt. Es  kommt  hinzu,  dafs  zwischen  diesem  Schreiben 
und  der  Regel  von  1221  in  den  Gedanken  und  in  den  Bibel- 
citaten   eine    gewisse  Berührung    besteht    —    nicht    so    enge, 


1)  Und  klingt  im  Ausdruck  (wie  z.  B.  das  Schreiben  an  das  Ge- 
neralkapitel) an  das  vorliegende  Schreiben  an.  Man  niiifste  denn  gleich 
an  eine  gemeinsanie  Fälschung  einer  ganzen  Gruppe  von  Schriftstückcu 
denken.     Vgl.  unten  S.  '60  .\nin.  1. 

2)  Analecta  Franciscana  I,  S.  5/6  (u.  15). 


24  GOETZ, 

dafs  man  den  Brief  mit  Benutzung  der  Regel  angefertigt 
glauben  könnte,  sondern  nur  soweit,  dafs  man  den  Gedanken- 
kreis, in  dem  Franz  lebte,  in  beiden  gleichmäfsig  wieder- 
erkennt ^ 

Ein  anderes  Schreiben,  das  erst  neuerdings  durch  Sa- 
batier  bekannt  gegeben  ist  ^,  steht  mit  dem  Schreiben  „An 
alle  Christen*'  in  engster  Beziehung.  Es  besteht  aus  zwei 
Teilen:  „De  illis  qui  faciunt  paenitentiam ''  und  „De  Ulis 
qui  non  agunt  paenitentiam ".  Die  Überschrift  des  Ganzen 
ist  der  Schlufssatz  der  Admonitiones  (s.  unten  S.  44)  ^  — 
ein  auftälhger  Umstand!  Ein  Empfänger  ist  nicht  genannt, 
aber  der  Schlufs  kennzeichnet  das  Schriftstück  als  Brief*. 

Der  Anfang  berührt  sich  enge  und  zum  Teil  schon 
wörtlich  mit  c.  5  des  Briefes  „An  alle  Christen '';  vom 
zweiten  Satze  an  bis  zum  Schlufs  des  ersten  Teiles  ist  eine 
von  Satz  zu  Satz  zunehmende  und  schliefshch  ganz  wört- 
liche Übereinstimmung  mit  c.  10.  Der  zweite  Teil  giebt 
zunächst  so  gut  wie  wörtlich  das  c.  12  wieder,  dann  aus- 
zugsartig c.  ly  mit  kleinen  Veränderungen.  Nur  der  Schlufs 
ist  selbständig  ^. 

Sabatier  vertritt  die  Meinung,  dafs  trotz  der  starken 
wörthchen  i  bereinstimmung  mit  dem  Briefe  „An  alle  Chri- 
sten "  das  vorliegende  Schreiben  als  eine  selbständige  Kund- 
gebung zu  beti-achten  sei;  er  weist  darauf  hin,  dals  diese 
beiden  Teile  durch  ihre  Zusammenstellung,  durch  den  Gegen- 
satz zwischen  Gerechtem  und  Sünder  ihre  gewollte  Selb- 
ständigkeit neben  dem  Briefe  „An  alle  Christen"  behaup- 
teten. Es  fällt  vielleicht  ebenso  stark  ins  Gewicht,  dafs  der 
selbständige  Schlufs  des  Schreibens  die  Eigenart  Franzens 
deutlich  an  sich    trägt,    in  Stil    und  Inhalt.     Undenkbar    ist 


1)  Vgl.  nuten  S.  42  bei  den  Admonitiones. 

2)  Sabatier,    Francisci   Baitholi   Tractatus,    S.    132—134;    vgl. 
S.  CLIV. 

3)  „Haec  sunt  verba  vitae  et  salutis,  quae  siquis  legerit  et  fecerit 
inveniet  vitam  et  bauriet  salutem  a  Domino." 

4)  „  Omnes  illos  quibus  litterae  istae  perveuerint  . .  .'' 

5)  Wie  am  Anfang  des  Briefes  „An  alle  Christen"  wird  auch   hier 
Ton  den  ,,odorifera  verba  Domini"  gesprochen. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL       25 

es  gewifs  nicht,  dafs  Franz  zweimal  dieselben  Gedanken  mit 
fast  gleichen  Worten  ausgesprochen  habe.  Dafs  der  Brief 
„An  alle  Christen"  die  zeitlich  vorangehende  Kundgebung 
war,  erscheint  deshalb  näher  liegend,  weil  die  Zusammen- 
fassung und  Abkürzung  der  dort  getrennten  Kapitel  natürlicher 
ist  als  die  Zerlegung  eines  Ganzen  und  die  Erweiterung  der 
Teile  zu  einzelnen  Kapiteln.  —  Über  die  Entstehungszeit 
wage  ich  nichts  zu  sagen ;  Sabatier  meint ,  dafs  dieses 
Schreiben  ein  gutes  Stück  vor  den  letzten  Jahren  des  Hei- 
ligen liegen  müsse,  da  die  volle  Klarheit  des  Tages  darüber 
liege.  Die  Beziehungen  zwischen  dem  Schreiben  „An  alle 
Christen"  und  der  Regel  von  1221  geben  aber  vielleicht 
das  Jahr  1221   als  frühesten  Termin. 

e)  Der  Brief  an  alle  Kleriker. 

Der  Brief  liegt  handschrittlich  vor  in  dem  Manuskript  3.'58  zu 
Assisi,  im  Cod.  Maz.  1713,  Cod.  i\Iaz.  989.  Von  diesen  Hand- 
schritten weichen  die  älteren  Drucke  insofern  ab,  als  sie  am  An- 
fang und  am  Schlüsse  noch  je  einen  Satz  bringen  '.  Sein  Inhalt 
beschäftigt  sich  mit  der  würdigen  Aufbewahrung  der  Ho- 
stien und  der  nomina  et  scripta  Domini  und  zwar  in  enger 
Anlehnung  an  die  verwandte  Stelle  des  Testamentes  ^.  Man 
könnte  in  Anbetracht  des  Gebrauchs  zum  Teil  der  gleichen 
Worte  wie  im  Testament  auf  den  Gedanken  kommen,  dafs 
der  Brief  daraus  hergestellt  worden  sei,  denn  die  andern, 
den  gleichen  Gegenstand  behandelnden  Aufserungen  Fran- 
zens berühren  sich  nicht  so  wortgetreu  mit  dem  Testament. 

Aber  da  der  Brief  zu  einer  Gruppe  von  Briefen  geluirt, 
gegen  deren  Echtheit  ich  keine  Bedenken  habe  (s.  S.  28),  so 
ist  der  genannte  Grund  nicht  stark  genug  zur  Verwerfung. 

Wichtig  ist  an  dem  Briefe  nicht  der  Inhalt,  der  durch 
das  Testament  bereits  geboten  ist,  sondern  der  Appell  an 
alle  Geistlichen    der  Kirche  —  es   liegt   etwas   rührend   ein- 

1)  V(;l.  WaiUliiig,  Opuscula,  S.  45;  Sabatior,  Vio  de  S.  Fian- 
Qois,  S.  MG  Aniii.  2  uiul  Spociiluin  l'cifcctionis,  S.  CLXVI;  Faloci- 
Pulignani,  Mise.  Franc.  VI,  S.  95  n'wht  den  Brief  nacli  Cod.  Assis. 
338,  abgesehen  von  der  genannten  Abweichung  fast  ebenso  wie  Wadding. 

2)  Sabatier,  Speculum  Perfectionis,  S.  310. 


26  GOETZ, 

faltiges  in  dieser  Sorge  um  den  Leib  des  Herrn ,  um  gött- 
liche Namen  und  Schriften,  und  nur  die  Kenntnis  des  ganzen 
Mannes  lehrt  den  grofsen  Inhalt  dieser  naiven  Gedanken 
verstehen. 

Über  den  Zeitpunkt  dieses  Briefes  wird  unten  gesprochen 
werden  (S.  28). 

f)  Der  Brief  an    die  Obrigkeiten    der  Völker  (Ad 

populorum  Rectores). 

Dieser  im  vorangehenden  Schreiben  erwähnte  Brief  lag 
Wadding  in  einem  spanischen  handschriftlichen  und  einem 
lateinischen,  in  Spanien  gedruckten  Exemplare  vor.  Eine 
andere  Handschrift  ist  nicht  bekannt. 

Franz  mahnt  die  Obrigkeiten ,  Gott  und  seine  Befehle 
nicht  zu  vergessen,  das  Abendmahl  gerne  zu  empfangen  und 
jeden  Abend  überall  das  Lob  Gottes  verkünden  zu  lassen.  — 
Der  Stil  dieses  Briefes  zeigt  wieder  die  charakteristische  Vor- 
liebe, die  Sätze  mit  „Et"  zu  beginnen;  die  Ausdrucksweise 
ist  einfach,  wenn  auch  mit  mehr  biblischen  Reminiszenzen 
durchsetzt  als  die  früheren  Briefe.  Die  Aufforderung  an  die 
Obrigkeiten  berührt  sich  mit  dem,  was  Franz  einstmals  dem 
Kaiser  nahe  legen  wollte :  ein  Gesetz  zum  Schutze  der  Ler- 
chen und  zur  besonderen  Fürsorge  für  Vögel,  Ochsen  und 
Esel  in  der  Christnacht  K 

Die  Naivität  dieser  Aufforderung  sowie  die  Zugehörig- 
keit zu  dem  unter  g)  behandelten  Briefe  sprechen  für  die 
Echtheit  dieses  Schreibens.  Über  seinen  Wert  gilt  das 
gleiche,  was  oben  unter  e)  gesagt  wurde.  Über  den  Zeit- 
punkt dieses  Briefes  unten  S.   28. 

g)  Der  Brief  an  alle  Kustoden  der  Minderb  rüder. 
Alle  Kustoden  werden  ersucht,  den  an  die  Kleriker  ge- 
richteten Brief  (s.  oben  S.  25)  an  alle  Bischöfe  und  Kle- 
riker zu  geben  und  ebenso  den  für  alle  Obrigkeiten  be- 
stimmten Brief  (s.  oben)  nach  Möglichkeit  zu  vervielfältigen 
und  an  die  geeigneten  Stellen  gelangen  zu  lassen. 


1)  2.  Celano  III,  128. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL   FRANZ  VON  ASSISL      27 

Dieser  Brief  liegt  nur  iu  einer  von  Wadding  angefertigten 
lateinischen  Übersetzung  vor.  Wadding  hatte,  wie  er  angiebt, 
eine  spanische  Vorlage ;  handschriltlich  scheint  der  Brief  nicht 
mehr  vorhanden  zu  sein. 

Einen  stark  abweichenden  und  nui'  in  seinem  Anfang 
gleichen  Text  eines  Briefes  an  alle  Kustoden  hat  Sabatier 
aus  dem  Volterraner  Cod.  Guarnacci  225  gegeben  '.  Ein- 
zelne Satzteile  stimmen  wörtlich  mit  dem  von  Wadding  ge- 
gebenen Brief  an  alle  Kleriker  überein,  wie  denn  überhaupt 
dieser  Text  des  Briefes  an  die  Kustoden  nicht  ein  Begleit- 
schreiben für  andere  Briefe  ist,  sondern  inhaltlich  in  seiner 
ersten  Hälfte  das  Gleiche  giebt  wie  der  Brief  an  alle  Kle- 
riker. Die  zweite  Hälfte  trägt  den  Kustoden  auf,  das  Volk 
zur  Verehrung  des  Altarsakraments  zu  ermahnen,  ferner  zur 
Danksagung  an  Gott,  sobald  die  Glocken  ertönen  —  das 
ist  inhaltlich  im  wesentlichen  dasselbe,  was  der  Brief  an  alle 
Obrigkeiten  enthält;  einzelne  Satzteile  stimmen  sogar  wört- 
lich überein. 

Es  giebt  nun  zwei  MögHchkeiten :  entweder  wurden  aus 
diesem  einen  Briefe  des  Cod.  Guarnacci  drei  gemacht  oder 
aus  den  drei  Briefen  (an  alle  Kleriker,  an  alle  Obrigkeiten, 
an  alle  Kustoden)  einer.  Die  zweite  Möglichkeit  ist  sehr 
viel  wahrscheinlicher  als  die  erste  —  auf  eine  solche  Ver- 
schmelzung konnte  ein  Kompilator  wohl  eher  verfallen  als 
auf  eine  bei  diesen  Adressaten  doch  recht  auffällige  Zer- 
teilung.  Ich  glaube  deshalb,  dafs  Sabatiers  Vorschlag,  diesen 
von  ihm  entdeckten  Brief  des  Cod.  Guarnacci  (neben  dem 
Waddingschen  Briefe  an  alle  Kustoden !)  für  echt  anzusehen, 
nicht  annehmbar  ist.  Dagegen  kann  man  sich  wohl  für  die 
Echtheit  des  von  Wadding  überlieferten  Briefes  entscheiden. 
Denn  dafs  er  erfunden  sei,  läfst  sich  bei  seinem  Inhalt  nicht 
vermuten;  was  hätte  es  für  einen  Zweck  gehabt,  dieses  an 
sich  völlig  bedeutungslose  Begleitschreiben  ohne  selbständigen 
Inhalt  zu  erlinden  V 

Die  drei    unter   e),    t)  und  g)  besprochenen  Briefe   sind, 


1)  Sabatier,  Francisci  Baitholi  Tractatus  de  Iiuliilgentia,  S.  CLIV, 
Der  To.\t  des  Briefes  S.  135. 


28  GOETZ, 

wie  der  Brief  an  die  Kustoden  zeigt,  zu  gleicher  Zeit  ge- 
schrieben worden.  Als  allgemeiner  Zeitpunkt  ergeben  sich 
die  Jahre,  in  denen  auch  die  übrigen  für  weitere  Kreise  be- 
rechneten Kundgebungen  entstanden  sind,  denn  sie  entspringen, 
wie  ihr  Inhalt  glauben  macht,  alle  dem  gleichen  Wunsche  Fran- 
zens, die  Gedanken  seines  Lebens  noch  einmal  in  dringender 
Mahnung  auszusprechen,  ehe  seine  Laufbahn  zu  Ende  geht. 
Vielleicht  läfot  sich  noch  ein  engerer  Termin  —  wenn 
auch  nur  vermutungsweise  —  aufstellen.  Im  Speculum  Per- 
fectionis  c.  65,  dessen  Zurückgehen  auf  die  älteste  Überlieferung 
an  diesem  Punkte  einstweilen  vorausgesetzt  werden  mufs,  wird 
erzählt,  dafs  Franz  in  die  Ordensregel  eine  Bestimmung 
aufnehmen  wollte,  „quod  ubicunque  fratres  invenirent  nomina 
Domini  et  verba  illa,  per  quae  conficitur  corpus  Domini, 
non  bene  et  honeste  reposita  ipsi  ea  recolligerent  et  honesta 
reponerent  honorantes  Dominum  in  sermonibus  suis.  Et 
licet  non  scriberentur  haec  in  regula  quia  ministris  non  vide- 
batur  bonum  ut  fratres  haec  haberent  in  mandatum ,  tarnen 
in  testamento  suo  et  in  aliis  scriptis  suis  voluit  relinquere 
fratribus  voluntatem  suam  de  hiis"  '.  Diese  Stelle  ist  nicht 
nur  ein  indirekter  Beweis  für  die  Echtheit  der  vorliegenden 
unter  ei  und  h)  besprochenen  Schreiben,  in  denen  die  Für- 
sorge für  die  verba  et  nomina  domini  eingeschärft  wird,  son- 
dern sie  läfst  auch  vermuten,  dafs  sie  nach  der  endgültigen 
Abfassung  der  Regel,  also  frühestens  1223,  entstanden  sind. 
Vielleicht  ist  gerade  1223  der  richtigste  Zeitpunkt:  nachdem 
die  Aufnahme  der  gewünschten  Bestimmung  in  die  Regel 
gescheitert  war,  gab  Franz  auf  andere  Weise  zu  erkennen, 
was  ihm  am  Herzen  lag,  und  so  entstanden  die  obigen  drei 
Schreiben. 

h)  Der  Brief  an  das  Generalkapitel. 

Wadding    (Nr.   10  und   11)    und    seine  Nachfolger  geben 

zwei    derartige  Briefe,    einen    kürzeren    und    einen   längeren. 

Der  kürzere  hat  in  seiner  ersten  Hälfte  drei  in  einem  Brief 

Ad  sacerdotes    totius    ordinis  -  enthaltene  Sätze,    im  zweiten 


1)  Öabatier,  Speculum  Perfectionis,  S.  119. 

2)  Bei  W  ad  ding  n.  12. 


QUELLEN  ZUK  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL       29 

Teil  zwei  Sätze,  die  in  dem  längeren  Briefe  (Nr.  llj  stehen. 
Wadding  hat  die  schon  vor  ihm  ausgesprochene  Vermutung, 
dafs  dieser  kurze  Brief  nicht  als  selbständig  anzusehen  sei, 
abgelehnt;  Sabatier  hat,  gestützt  auf  die  Handschriften  (Nr.  338 
zu  Assisi,  Cod.  Ognissanti,  Cod.  Guarnacci  und  Cod.  j\Ia- 
zarinus  1743)  und  auf  Ubertino  von  Casale,  zudem  auf 
ältere  Drucke,  gezeigt,  dafs  es  sich  nur  um  einen  Brief 
handelt,  zu  dem  auch  der  Brief  Ad  sacerdotes  totius  ordinis 
—   und  zwar  als  Anfang  —  hinzugehört  ^ 

Es  folgt  im  Cod.  Assis,  338  und  bei  Ubertino  dem  Briefe, 
d.  h  den  beiden,  die  Wadding  als  Nr.  11  und  12  giebt, 
noch  das  Gebet,  das  mit  den  Worten  beginnt:  „Omnipotens, 
aeterne,  juste  et  raisericors  Deus"  ^. 

Ob  diese  sämtlichen  Stücke  zusammengehören,  scheint 
auch  auf  Grund  der  handschriftlichen  Überlieferung  nicht 
sicher  entscheidbar  zu  sein  ^  —  jedenfalls  hat  man  sie  schon 
frühzeitig  (Ubertino)  zusammengestellt,  und  dafs  der  kürzere 
(der  von  Wadding  als  Nr.  10  gegebene)  keinen  selbstän- 
digen Wert  besitzt,  ist  wohl  uu  zweifelhaft. 

Einen  Unterschied  zeigen  die  beiden  Stücke:  der  unter 
dem  Namen  Ad  capitulum  generale  gehende  Teil  enthält  nur 
ein  Bibelcitat  und  einen  Anklang  an  eine  Bibelstelle;  der 
andere  Teil  (Ad  sacerdotes  totius  ordinis)  ist  überreich  an 
Citaten  und  Anklängen.  Dennoch  machen  beide  Stücke  den 
Eindruck  der  Echtheit:  die  Ausdrücke,  mit  denen  Franz 
von  sich  selber  spricht  (ignorans,  idiota,  homo  vilis,  indigna 

2)  Sabatier,  Spoculuin  Peifectionis ,  S.  CLXV,  und  Francisci 
Bartholi  Tractatiis,  S.  CXXXV,  CLIV. 

3)  Bei  Wadding  S.   101. 

4)  Sabatier  a.  a.  0.  nimmt  es  an;  Faloci-Pulignani,  der 
Mise.  Franc.  VI,  S.  94 f.  den  Brief  „Ad  sacerdotes  totius  ordinis", 
d.  h.  ans  Generalkapitel,  nach  Cod.  Assis.  338  abdruckt,  hält  mit  dem 
Urteil  darüber  zurück.  —  Der  Schlufs  des  Briefes  „Ad  sacerdotes"  und 
der  dann  nach  Sabatiers  Angabe  folgende  Anfang  des  Briefes  „Ad  capi- 
tulum generale"  passen  nicht  sehr  einleuchtend  zusammen.  Der  Brief 
„Ad  sacerdotes"  hat  einen  völlig  geschlossenen  Inhalt:  er  handelt  nur 
von  der  Eucharistie.  Möchte  man  ihn  deshalb  für  selbständig  ansehen, 
so  stellt  sich  noch  entgegen,  dafs  er  keinen  rechten  Schlufs  hat.  Einen 
solchen  giebt  der  Brief  „An  das  Generalkaiiitel"  in  würdigster  Form. 


30  GOETZ, 

creatura),  die  demütige  Beichte,  die  er  vor  dem  ganzen  Orden 
ablegt,  die  Wiederkehr  der  in  dem  Schreiben  an  alle  Kleriker 
und  im  Testamente  geäufserten  Wünsche  (betr.  divina  verba 
scripta,  strenge  Einhaltung  der  Regel,  Verehrung  für  den 
Leib  und  das  Blut  des  Herrn,  hohe  Stellung  der  Priester 
infolge  der  Verwaltung  des  Sakraments),  die  eindringliche, 
mit  immer  neuen  Imperativen  und  bittenden  Ermahnungen 
belebte  Sprache  zeugen  dafür,  dafs  Franz  sie  geschrieben 
oder  doch  veranlafst  hat.  Es  fällt  allerdings  auf,  dafs  in 
beiden  Stücken  die  Sprache  nicht  den  einfachen  Charakter 
hat,  der  als  erstes  Kennzeichen  der  Echtheit  angesehen 
werden  konnte  '  —  aber  man  darf  bei  den  so  stark  für  die 
Echtheit  sprechenden  Gründen  vielleicht  auf  zwei  Auswege 
verfallen:  entweder  schrieb  Franz  bei  dieser  Kundgebung 
für  das  Generalkapitel  —  also  für  den  ganzen  Orden  — 
mit  strengerer  Wägung  des  Ausdrucks  '*,  oder  das  Schreiben 
ist  von  seiner  Umgebung  redigiert  worden  —  dafs  er  krank 
war ,  als  er  es  schrieb ,  sagt  die  Überschrift  im  Cod. 
Assis.   338. 

Wann  ist  dieses  Schreiben  entstanden?  Dafs  es  nach 
dem  Herbste  1220  fällt,  wird  durch  die  Erwähnung  des 
Generalministers  in  der  Anrede  bewiesen.  Dafs  es  für  ein 
Generalkapitel  bestimmt  gewesen  sei,  ist  die  alte  Überliefe- 
rung (z.  B  laut  Überschrift  im  Cod.  Assis.  338)  und  wird 
durch  den  Inhalt  des  Schreibens  unterstützt.  Leider  wird 
der  Generaiminister  selber  nur  durch  den  Buchstaben  A  be- 
zeichnet —  dafs  es  sich  um  Elias  handle  und  dafs  der  später 
so  verhafste  Name  nicht  genannt  werden  sollte,   ist  eine  an- 


1)  Einzelne  Ausdiücke  des  Testamentes  wie  das  bekräftigende  ,,fir- 
miter"  kehren  wieder;  die  Wendung  ,.ciim  osciilo  pedum"  findet  sich 
auch  am  SehUifs  der  Regel  von  1221.  Im  Teil  „Ad  cap.  gen."  beginnen 
die  Sätze  zum  Teil  mit  dem  beliebten  „Et".  Der  Teil  „Ad  sacer- 
dotes"  erscheint  den  ersten  Dokumenten  im  Stil  fast  weniger  verwandt 
als  der  andere;  aber  die  Beurteilung  des  Stils  ist  etwas  zu  subjektives, 
als  dafs  ich  in  einem  so  wenig  ausgeprägten  Falle  einen  bestimmten 
Schlufs  daraus  ziehen  möchte.     Vgl.  oben  S.  22. 

2)  Wogegen  allerdings  der  Stil  des  Testamentes,  das  doch  auch  für 
den  ganzen  Orden  bestimmt  war,  spricht. 


QUELLEN  Zri{  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  V0.\  ASSISL       31 

sprecliende  Vermutung  ^  Dadurch  würde  Pfingsten  1221  der 
früheste  Termin.  Aber  da  es  sich  um  ein  Kapitel  iiandelt, 
dem  Franz  wegen  Krankheit  t'ernbheb,  so  kann  es  sich  nur 
um  das  Kapitel  von  1224  (das  letzte  vor  seinem  Tode)  han- 
deln -.  Nur  in  die  letzten  Jahre,  wo  dauernde  Krankheit 
ihn  niederhielt  und  er  sein  Ende  nahe  tühlte,  wo  ihn  die 
Sorge  um  die  Zukunft  des  Ordens  quälte,  kann  dieses  Schrei- 
ben, an  dessen  Anfang  die  infirmitates  erwähnt  werden,  (und 
ebenso  das  inhaltlich  verwandte  Testament)  fallen. 

Für  diese  Sorgen,  für  die  unermüdliche  Arbeit  seines 
Inneren  ist  dies  Schreiben  ein  neues  Zeugnis ;  es  enthält  im 
einzelnen  auch  einige  neue,  so/ist  nicht  bekannte  Gedanken 
(z.  B.  die  Mahnung,  dafs  nur  eine  Messe  täglich  gelesen 
werden  solle,  wo  Brüder  zusammen  seien  •*),  und  es  fügt  mit 
der  Generalbeichte  vor  dem  ganzen  Orden  einen  neuen  Zug 
zu  der  Persönlichkeit  des  Heiligen  hinzu. 

i)  An  die  Pro vinzial minister  des  Ordens. 
Wadding  fand  diesen  Brief  lediglich  in  einem  spanischen 
Franziskanerbuche    (Rebolledo)    in    einer    spanischen    Über- 
setzung.    Irgendein  anderer  Text  ist,    so  viel  ich  finde,  bis 
heute    nicht    zum    Vorsciiein    gekommen;    Sabatier    hat    bei 


1)  Faloci-Piilignani,  Mise.  Franc.  VI,  S.  94.  Vgl,  Sabatier, 
Speciilum  Perfectionis,  S.  CLXXI.  —  Fieilich  aus  dem  A  zu  schliefsen, 
dafs  es  den  Anfangsbuchstaben  des  zur  Zeit  der  Manuskriptabfassung 
regierenden  Geueralniiuisters  bedeute  und  danach  den  Zeiti)unkt  dieser 
Abfassung  auf  etwa  1240  anzusetzen,  ist  eine  etwas  gar  zu  kühne  Hypo- 
these (Sabatier,  Vie  de  S.  Frangois,  S.  370  Anni.). 

2)  Faloci-Pulignani  setzt  (a.  a.  0.  S.  93)  1221  au  mit  Be- 
rufung auf  Jordanus  a  Jano  c.  17  (Anal.  P'ranc.  I,  S.  6).  Aber  Jor- 
danus  erzählt,  dafs  Franz  auf  dem  Kapitel  zugegen  war,  den  Brüdern 
predigte  und  nur  einmal  debilis  wurde  und  deshalb  Bruder  Elias,  zu 
dessen  Füfsen  er  sich  setzte,  für  sich  reden  liefs.  Unter  diesen  Um- 
stünden kann  1221  nicht  in  Betracht  kommen. 

3)  Daraus  eine  Waffe  gegen  die  Privatmessen  zu  schmieden,  wie 
es  Melanchthou  gethan,  erscheint  nicht  angiingig.  Die  Erklärung,  die 
schon  Wadding  giebt,  dafs  mit  dieser  Bestimmung  lediglich  die  Demut 
der  Minderbrüder  gegenüber  dem  Sakrament  zum  Ausdruck  kommen 
sollte,  hat  mehr  für  sich  als  die  Annahme  einer  Polemik  gegen  die 
Kirche.     Denn  eine  solche  lag  für  Franz  zu  fern. 


32  GOETZ, 

seinen  vielen  Forschungen  in  Handschriften  keine  Spur  da- 
von entdeckt.  Dieser  Mangel  jeglicher  handschrifthchen 
Unterlage  hat  bereits  Wadding  zu  Zweifeln  veranlafst.  Er 
hat  auf  die  Verwandtschaft  mit  der  27.  Collatio  monastica 
(,,De  conditionibus  ministrorum  provincialium ")  hingewiesen, 
die  im  Inhalt  (jedoch  gar  nicht  im  Ausdruck)  ähnliches 
bringt.  Diese  Collatio  ist  aber  nichts  anderes  als  eine  Ver- 
wandlung vom  2.  Celano  III,  117  in  direkte  Rede  (siehe 
unten  Ö.  48)  —  auf  die  etwaige  Ableitung  des  Briefes  aus 
dieser  Stelle  des  Celano  oder  umgekehrt  käme  es  also  an. 
Die  Berührungspunkte  sind  aber  doch  zu  gering,  als  dafs 
man  sich  für  das  eine  oder  das  andere  entscheiden  könnte. 
Die  Frage  bleibt  offen. 

Ich  vermag  auch  aus  dem  Stil  des  Schreibens  nichts  für 
seine  Echtheit  zu  folgern,  denn  erst  Wadding  hat  ja  den 
spanischen  Text  ins  Lateinische  übersetzt.  Es  fällt  aber  auf, 
dafs  zwei  sonst  nicht  eben  häufige  Worte  („acceptatores 
personarum"  und  „verba  eruere")  und  ferner  die  Warnung, 
nicht  zu  rasch  die  Hand  ans  Schwert  zu  legen,  gebraucht 
sind,  die  vielleicht  auf  Franz  zurückgehen,  da  jene  beiden 
im  Speculura  Perfectionis  c.  80  und  dieser  in  c.  49  (in  ganz 
ähnlicher  Fassung)  vorkommen  ^  Fand  Wadding  etwa  in 
einer  spanischen  Vorlage  jene  Worte ,  deren  lateinische 
Form  lediglich  hispanisiert  war  und  die  er  nun  wieder  la- 
tinisierte V 

Wie  es  nun  auch  mit  der  Echtheit  des  Briefes  steht  — 
er  bringt,  da  wir  jenes  Kapitel  bei  Thomas  von  Celano 
haben,  nichts  Neues,  und  er  kann  deshalb  beiseite  gelassen 
werden. 

k)  An  Jakoba  de  Septemsoliis. 
Diese  Aufforderung  des  Sterbenden  au  seine  Freundin 
Jakoba,  rasch  zu  kommen,  wenn  sie  ihn  noch  lebend  an- 
treffen wolle,  und  Tuch  für  seinen  Leichnam,  Wachs  für 
sein  Begräbnis  und  ferner  einen  bestimmten  römischen  Lecker- 
bissen   mitzubringen,    trägt    die    Kennzeichen    der  Erfindung 

1)  Der  Ausdruck  ,,acceptatio  personarum "   ist   auch   durch  2.  Ce- 
lano III.   122  als  von  Franz  gebraucht  bezeugt. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      33 

deutlich  an  sich  ^  Franz  stellt  darin  den  Termin  seines 
Todes  so  bestimmt  fest,  dafs  man  daraus  die  spätere  Le- 
gende, die  ihm  diese  richtige  Prophezeiung  natürlich  zum 
Ruhme  anrechnete  ^,  erkennen  mufs. 

Der  Brief  sciieint  entstanden  aus  der  Erzählung,  die  über 
den  Besuch  der  Jakoba  an  Franzens  Sterbebette  vorhanden 
war.  Denn  in  dieser  Erzählung  (Speculum  Perfectionis  c.  112) 
ist  der  Bi'ief,  den  Franz  habe  schreiben  lassen,  in  indirekter 
Rede  gegeben ;  er  enthält  jene  Wünsche ,  aber  die  Prophe- 
zeiung seines  Todes  für  einen  bestimmten  Tag  fehlt.  Wie 
aus  den  Erzählungen  des  Thomas  von  Celano  (und  des  Spe- 
culum Perfectionis)  später  die  Collationes  und  anderes  an- 
gefertigt worden  sind  (siehe  unten  S.  48),  so  ist  wohl  auch 
dieser  Brief  dem  Bedürfnis,  so  viel  wie  möglich  direkte 
Zeugnisse  des  Heiligen  bekannt  zu  geben,  entstanden.  Der 
Zusammenhang  und  die  Abhängigkeit  der  Berichte  über  den 
Besuch  der  Jakoba  am  Sterbebette  Franzens  wird  später  noch 
behandelt  werden.  Diese  späteren  Ausführungen  werden  eben- 
falls beweisen,  dafs  der  vorliegende  Brief  nicht  echt  sein  kann. 

1)  Die  Briefe  an  Elias  und  an  den  Generalminister. 
Wadding  hat  zwei  Briefe  an  Bruder  Elias  „totius  ordinis 
vicarium"  und  einen  „Ad  generalem  ministrum  fratrum 
minoren"  (ohne  Namen,  statt  dessen  ein  N.)  gegeben^. 
Keuerdings  hat  nun  P.  Ed.  d'Alen9on  den  Brief  an  den 
Generalminister  nach  dem  Cod.  Vat.  7G50  (mit  Heran- 
ziehung eines  Manuskripts  aus  Spello-Foligno)  in  einer  neuen 
Form  veröffentlicht  *,  und  Sabatier  brachte  dieselbe  neue 
Lesart  wie  Alenyon  nach  dem  Cod.  Ognissanti  ^. 


1)  Der  Brief  ist  ohne  Hchlufs;  WacUliufr  sclilofs  daraus,  dafs  Franz, 
als  er  soweit  gekommen  war,  die  Ankunft  der  Jakoba  vorausahnte  und 
deshalb  aufhörte!! 

2)  So  Pisanus,  L.  III,  Confonn.  4,  \).  2. 

3)  Opuscula,  S.  19  ff.  (n.  VI.  VII.  VIII). 

4)  P.  Eduard  US  Alinconius,  Ejiistola  S.  Francisci  ad  mi- 
nistrum generalem  in  sua  forma  authentica,  cum  apiicndice  do  fr.  Pctro 
Catanii,  Iloniae  1899. 

5)  Sabatier,  Francisci  Bartludi  Tractatus,  S.  113  ff.  Sabatier 
erwähnt  S.  121  Anm.   1  noch  drei  andere  Handschriften  des  Briefes. 

3 


34  GOETZ, 

Die  drei  Waddingschen  Briefe,  die  lauter  Ermahnungen 
zur  Liebe  und  Geduld  gegenüber  den  Brüdern  enthalten, 
fallen  dadurch  auf,  dafs  der  dritte  (Nr.  VIII)  —  der  umfang- 
reichste —  den  gröfsten  Teil  des  ersten  (VI)  und  einen  Satz 
des  zweiten  (VII)  inhaltlich  genau  so  und  in  ganz  ähnlichen 
Wortlaut  wiedergiebt.  Es  ist  nicht  recht  denkbar,  dafs  Franz 
dieselben  Dinge  und  Ausdrücke  bei  verschiedenen  Gelegen- 
heiten verschiedenen  Personen  aus  offenbar  gleichen  Gründen 
geschrieben  habe;  die  nächstliegende  Folgerung  wäre  des- 
halb, dafs  alle  drei  Briefe  an  dieselbe  Persönlichkeit  —  also 
an  den  zweimal  ausdrücklich  genannten  Elias  —  gerichtet 
sein  müfsten  —  dann  wären  diese  Wiederholungen  vielleicht 
erklärlich.  Aber  nach  den  nun  schon  mehrfach  gemachten 
Beobachtungen  liegt  es  nahe,  auch  in  diesen  drei  Briefen 
zusammengehörige,  aber  durch  die  Hände  der  Überlieferung 
verstreute  Glieder  zu  sehen.  Sind  doch  Waddings  Quellen 
so  unsicherer  Natur,  dafs  er  selber  die  Zweifel  nicht  ganz 
unterdrücken  konnte:  den  einen  (VI)  fand  er  nur  in  einem 
späten  Druck,  den  andern  (VII)  wieder  nur  in  einer  spa- 
nischen Übersetzung,  die  er  erst  ins  Lateinische  übertrug, 
den  dritten  (VIII)  in  den  Conformitates  des  Bartholomeus 
von  Pisa  —   Handschriften  fand  er  für  keinen. 

Auf  Handschriften  stützen  sich  nun  Alen9on  und  Sa- 
batier.  Der  von  ihnen  nach  der  dreifach  vorliegenden  hand- 
schriltlichen  Überlieferung  gegebene  Brief  hat  den  Text  von 
Wadding  Nr.  VIII  mit  einem  kleinen  Zusatz  am  Anfang  ^ 
und  neben  einigen  weniger  wichtigen  Varianten  mit  drei 
sehr  bedeutungsvollen  Zusätzen  in  der  zweiten  Hälfte,  die 
auf  das  bevorstehende  Pfingstkapitel  hinweisen,  wo  über  die 
Behandlung  der  in  Todsünde  gefallenen  Brüder  verhandelt 
werden  solle;  der  ganze  Brief  erhält  dadurch  ein  neues 
Aussehen,  einen  andern  Zweck. 

Hält  man  den  von  Wadding  nach  unsicherer  Überliefe- 
rung   gegebenen    Brief   mit    diesem    auf  Handschriften    sich 


1)  Der  sich  auch  in  der  italienischen  Übersetzung  des  Briefes  in 
c.  72  der  rekonstruierten  Leg.  tr.  Soc.  findet,  die  sonst  ganz  mit  Wad- 
dings Text  übereinstimmt. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.      35 

stützenden  vollständigeren  zusammen,  so  raufs  der  zweite 
den  Vorzug  verdienen:  die  auf  das  bevorstehende  Pfingst- 
kapitel  hinweisenden  Stellen  konnten  später  eher  weggelassen 
als  erfunden  und  hinzugefügt  werden  ^  So  erscheint  der 
Waddingsche  Brief  nur  als  eine  Verstümmelung,  die  weiter- 
hin nicht  mehr  als  Gegenstand  der  Untersuchung  gelten  darf  ^. 

Staramt  aber  jener  vollständigere  Brief  von  Franz?  Ich 
glaube,  dafs  man  sich  mit  Alengon  und  Sabatier  dafür  ent- 
scheiden kann.  Der  Stil  erinnert  dui'chaus  an  die  zuerst 
besprochenen  kunstlosen  Briefchen,  die  Franz  an  Leo  und 
an  die  hl.  Klara  schrieb:  ein  gesprochenes  Latein,  in  dem 
beinahe  jeder  Satz  mit  Et  anfangt  und  in  dem  das  beliebte 
„firmiter"  des  Testaments  nicht  fehlt.  Ebenso  passen  die 
Anschauungen  des  Briefes  ganz  zu  Franz:  die  Mahnungen 
zum  Mitleid  und  zur  Liebe  gegenüber  den  irrenden  Brüdern 
entsprechen  seiner  Natur  und  sind  in  derselben  Weise  durch 
zuverlässige  Überlieferung  bezeugt  *. 

Noch  wichtiger  ist,  dafs  sich  für  den  Brief  eine  ganz  be- 
stimmte Entstehungszeit  ansetzen  läfst.  Franz  giebt  Rat- 
schläge, die  der  Empfänger  des  Briefes  bis  zum  nächsten 
Pfingstkapitel  aufheben  soll  und  die  dort  bei  dem  Abschnitt 
der  Regel  über  die  Todsünden  berücksichtigt  werden  sollen. 
Damit  ergeben  sich  sogleich  zwei  Grenztermine:  der  Brief 
kann  nicht  vor  Herbst  1220  (denn  eher  wurde  über  eine  neue 


1)  Vgl.  für  alles  Folgende  die  eingehende  Untersuchung  Sabatiers 
über  diesen  Biief  in  Francisci  Bartholi  Tractatiis,  S.  113 — 131.  Dafs 
ich  mit  ihren  Ergebnissen  nicht  völlig  übereinstimme,  zeigen  die  folgen- 
den Ausführungen. 

2)  Dafs  der  Waddingsche  Text  nicht  genau  ist,  zeigt  im  zweiten 
Satze  das  einmalige  ,, sive",  dem  das  zweite  ergänzende  „sive"  fehlt; 
in  der  neuen  Lesart  heifst  es  richtig:  „sive  fratres,  sive  alii". 

3)  2.  Celano  III,  111.  Von  einer  direkten  Beziehung  des  Briefes 
zu  dieser  Stelle  (Anfertigung  danach!)  kann  nicht  die  Rede  sein.  Vgl. 
ferner  die  Regel  von  1221  und  Speculum  Perfectionis  c.  80.  Im  Gegen- 
satz zu  diesen  milden  Anschauungen  steht  allerdings  die  im  Testamente 
gegen  ungehorsame  Brüder  geforderte  Strenge;  mir  scheint  nach  den 
angeführten  Zeugnissen  kein  anderer  Ausweg  übrig,  als  dafs  Franz  sich 
zur  Zeit  der  Testamentsabfassung  in  einer  quälenden  Sorge  um  sein 
Werk  befand,  die  ihn  im  Augenblicke  die  sonst  geübte  Milde  vergessen  liofs. 

3* 


36  GOETZ, 

Regel  nicht  verhandelt)  und  nicht  nach  Pfingsten  1223  ent- 
standen sein  (denn  im  November  1223  wiu'de  die  Regel  von 
Honorius  III.  bestätigt).  Nun  enthält  aber  die  sogen.  Regel 
von  1221,  was  Franz  hier  vorschlägt ,  nicht ;  dagegen  hat 
die  endgiltige  Regel  von  1223  einzelnes  davon  mit  ähnlichen 
Worten.  Die  Grenzen  werden  dadurch  noch  enger:  der 
Brief  entstand  erst  nach  dem  Zeitpunkt,  an  dem  der  Ent- 
wurf einer  neuen  Regel  (sogen.  Regel  von  1221)  abgefafst 
wurde,  und  vor  der  Regel  von  1223,  für  die  seine  Wünsche 
in  gewisser  Weise  berücksichtigt  wurden.  Mit  voller  Sicher- 
heit ist  der  Abfassungstermin  der  Regel  von  1221  nicht  zu 
bestimmen;  jedenfalls  aber  entstand  sie  erst  nach  März  1221, 
nach  dem  Tode  des  Generalministers  Petrus  Cataneus  '.  So 
bleibt  die  Zeit  von  etwa  Herbst  1221  bis  Winter  1222/23, 
spätestens  Frühjahr  1223  für  die  Abfassung  des  Briefes 
als  wahrscheinlichste  2,  und  Ehas  mufs  der  Empfänger  ge- 
wesen sein. 

Entscheidet  man  sich  für  die  Echtheit  dieses  Briefes,  so 
ergiebt  sich  allerdings  eine  schwerwiegende  Folge  nach  einer 
andern  Richtung   hin.     Der  Brief  bildet   in    der  Form,    wie 


1)  Näheres  darüber  in  dem  Abschnitt  über  die  Regeln. 

2)  Petrus  Cataneus  als  Empfänger  des  Briefes  anzusehen,  wie 
Alenfon  (s.  oben  S.  33  Anm.  4)  event.  thun  möchte,  erscheint  auch  aus 
andern  Gründen  nicht  angängig.  Der  Titel  Generalminister,  der  in  der 
Überschrift  und  in  einer  Handschrift  auch  am  Anfang  des  Bi'iefes  (in 
den  andern  nur  „  ministro ")  steht ,  ist  nicht  beweiskräftig ;  entweder 
ist  das  ein  Zusatz  späterer  Abschriften  (weil  man  Elias  nur  als  Ge- 
neralminister kannte)  oder  ein  gar  nicht  unrichtiger  Titel  für  denjenigen, 
der  die  Geschäfte  des  verstorbenen  Generalministers  oder  Generalvikars 
Petrus  Cataneus  übernommen  hatte.  Der  Brief  setzt,  wie  mir  scheint, 
voraus,  dafs  Franz  die  Thätigkeit  des  Adressaten  eine  gute  Weile  bereits 
beobachtet  hatte;  da  aber  Petrus  nur  wenige  Monate,  vom  29.  Sep- 
tember 1220  bis  zu  seinem  Tode  am  12.  März  1221,  das  Amt  verwal- 
tete, so  wären  die  Mahnungen  mit  einer  bei  Franz  auffälligen  Raschheit 
erfolgt.  Da  ferner,  wie  oben  weiter  ausgeführt  wird,  ein  anderer  an 
Elias  gerichteter,  mahnender  Brief  vorhanden  ist,  so  mufs  wohl  auch 
der  zweite  ihm  gegolten  haben.  —  Vgl.  Lempp,  Elie  de  Cortone, 
S.  159  ff.,  wo  der  Brief  ebenfalls  als  echt  angesehen  und  vor  Pfingsten 
1223  angesetzt  wird,  und  zwar  mit  Bevorzugung  des  Sabatierschen  Textes 
vor  demjenigen  Waddings. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.       37 

Wadding  ihn  giebt,  lediglich  erweitert  um  einen  kleinen  Zu- 
satz am  Anfang,  das  c.  72  der  von  Marcellino  da  Civezza 
und  Teofilo  Domeniehelli  rekonstruierten  Legenda  trium  So- 
ciorum.  Ist  nun  dieser  Text  des  Briefes  eine  Verstümme- 
lung, so  kann  dieses  Kapitel  nicht  von  denjenigen,  die  den 
wahren  Text  kennen  mufsten,  in  die  Leg.  trium  Sociorum 
gesetzt  sein.  Es  wird  später  ausführlich  auf  diesen  Punkt 
zurückzukommen  sein.  Sabatier  (a.  a.  O.  S.  129)  hat  in- 
sonderheit eine  Lesart  seines  neuen  Textes  („Et  in  hoc  dilige 
eos  et  non  velis  quod  sint  meliores  christiani^')  gegenüber 
der  Waddingschen  Lesart  („ . . .  ut  velis  .  . .")  als  besser 
hervorgehoben.  Waddings  Quelle,  Bartolomeo  de  Pisa  oder 
schon  dessen  Vorgänger,  haben  sich  die  mit  Et  non  velis 
unverständliche  Stelle  durch  ein  Ut  verständlich  gemacht. 
Aber  auch  das  wäre  ein  Argument  gegen  die  Legenda  trium 
Sociorum  c.  72,  denn  da  heifst  es:  „et  in  questo  ama  loro 
che  vogli  sieno  migliori  christiani^',  was  auf  denselben  latei- 
nischen Text  zurückgeht,  den  Wadding  vor  sich  hatte.  — 
Übrigens  deutet  Sabatier  diese  etwas  schwierige  Stelle  des 
Briefes  dadurch,  dafs  er  christiani  mit  leprosi  gleichsetzt  — 
so  habe  Franz  das  Wort  gebraucht.  Ich  raufs  demgegen- 
über auf  die  Regel  von  1221  c,  16  hinweisen,  wo  christiani 
nur  mit  Christen  übersetzt  werden  kann.  Die  Überschrift 
des  Briefes  An  alle  Christen,  in  der  es  ebenfalls  so  gebraucht 
ist,  sei  als  vielleicht  nicht  auf  Franz  selber  zurückgehend 
beiseite  gelassen.  Dafs  Franz  die  Leprosen  christiani  ge- 
nannt hat  (Speculura  Perfectionis  c.  58),  schliefst  noch  nicht 
ein,  dafs  er  jedesmal  mit  dem  Worte  christiani  die  Leprosen 
meinte.  Es  scheint  mir  aber  doch  sehr  zweifelhaft,  die  Stelle 
auf  die  Leprosen  zu  deuten  —  es  liegt  sonst  kein  Anhalts- 
punkt dafür  in  dem  Briefe  vor,  und  nach  den  vorangehen- 
den Sätzen  kann  man  das  eos  nur  auf  die  vorher  genannten 
fratres  deuten.  Die  Lesart  ut  velis  wäre  jedenfalls  verständ- 
licher; will  man  aber  die  Lesart  der  Ilandschrilten  vor- 
ziehen, so  bleibt  dieselbe  Möglichkeit  einer  Lösung,  wie  sie 
Sabatier  gegeben  hat:  „Du  darfst  nicht  immer  wollen,  dafs 
diese  Christen  besser  seien,  als  sie  sind."  Es  lallt  damit  der 
Versuch;    auch    das   Prinzip    der   Leprosenptlege    zu    einem 


38  GOETZ, 

Gegenstande    des   Konfliktes   zwischen    Franz    und    Elias    zu 
machen  (Sabatier  a.  a.  O.  S.   129). 

Sabatier  hat  angenommen,  dafs  dieser  Brief  zu  den 
Quellen  gehöre,  die  uns  einen  Einblick  in  die  Konflikte  der 
letzten  Jahre  gewähren;  den  ganzen  Gegensatz  des  Elias  zu 
Franz  sucht  er  darin  zu  erkennen:  Elias  wird  hier  wie 
anderwärts  bei  Sabatier  zum  „  Anti  -  Franz "  ^  Ohne  dafs 
ich  die  Verschiedenheiten  der  beiden  Männer  leugnen  möchte, 
will  mir  doch  scheinen,  dafs  man  den  Gegensatz  nicht  über- 
treiben und  dafs  man  aus  dem  vorliegenden  Briefe  nicht 
mehr  machen  darf,  als  er  enthält.  Sein  Anfang  '^  läfst  er- 
kennen, dafs  sich  Elias  über  den  Zustand  seines  Inneren  bei 
Franz  (brieflich  oder  mündlich)  ausgesprochen  hatte:  über 
die  Unmöglichkeit,  Vergehen  der  Brüder  mit  Geduld  zu  er- 
tragen. Dafs  er  es  dennoch  thun  müsse,  ist  der  Inhalt  der 
Mahnungen  Franzens.  Man  mag  daraus  folgern,  dafs  Elias 
eine  herrische  Natur  war;  aber  aus  diesem  Briefe  darf, 
ohne  Anwendung  von  Zwang,  noch  nicht  gefolgert  werden, 
dafs  ein  sachlicher  Gegensatz  zwischen  den  beiden  Männern 
bestanden  oder  dafs  Franz  in  schwerem  persönlichen  Kummer 
geschrieben  habe.  Einen  solchen  Eindruck  empfinde  ich  beim 
Studium  dieses  Briefes  nicht ;  er  giebt  warme  väterliche  Er- 
mahnungen und  Ratschläge,  wie  ein  für  allemal  eine  Norm 
zur  Behandlung  irrender  Brüder  aufgestellt  und  der  subjek- 
tive Unwille  eines  Oberen  ausgeschaltet  werden  könne.  Es 
soll  an  Elias  unzweifelhaft  eine  Mahnung  erteilt  werden; 
aber  der  Brief  zeigt  die  scharfe  Spitze  nicht,  die  Sabatier 
darin  erkennen  möchte;  ich  finde  sie  auch  in  dem  späteren 
Verhalten  Franzens  zu  Elias  nicht  in  dem  Mafse  wie  Sabatier. 
Was  Franz  beklagt,  was  ihn  in  seinen  letzten  Lebensjahren 
quält,  ist  das  Abweichen  der  Brüder  von  seinen  strengen 
Idealen;  nur  entsprach  es  seiner  Natur  nicht,  mit  schroffer 
Energie  dagegen  einzuschreiten  —  solche  Strenge,  wie  Elias 


1)  Sabatier  a.  a.  0.  S.  121  f.  128. 

2)  ,,Dico  tibi  sicut  possum  de  facto  animae  tuae,  quod  ea  quae 
te  impediunt  aniaie  Doininiim  Daum  et  quicunqiie  tibi  impedimentum 
fecerint  sive  fratres  sive  alii  etiam  si  te  verberaverint,  omnia  debes 
habere  pro  gratia  et  ita  velis  et  non  aliud.'' 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.      39 

sie  üben  wollte,  verletzte  sein  weiches  Gemüt  ^  Und  schon 
deshalb  konnte  Franz  den  Elias  für  wenig  geeignet  zur 
künftigen  Leitung  des  Ordens  ansehen  ^  —  ohne  dafs  man 
notwendig  an  gröfsere  sachliche  Gegensätze  zwischen  ihm 
und  dem  Manne,  der  bis  zu  seinem  Tode  in  seiner  nächsten 
Nähe  weilte,  zu  denken  braucht. 

Höchst  wichtig  ist  ein  anderes  Ergebnis,  das  aus  diesem 
Briefe  gefolgert  werden  mufs:  was  Franz  zur  Aufnahme  in 
die  Regel  in  ganz  bestimmter  Fassung  vorschlägt,  ist,  wie 
die  Regel  von  1223  zu  erkennen  giebt,  nur  in  Bruchstücken 
aufgenommen  worden.  Was  wegfiel  ist  die  Mahnung  an 
die  Brüder,  den  in  Todsünde  gefallenen  Bruder  nicht  herab- 
zusetzen, sondern  Mitleid  mit  ihm  zu  haben  und  seine  Sünde 
möghchst  diskret  zu  behandeln,  damit  ihm  um  so  eher  ge- 
holfen werde  ^.  Und  ebenso  wurden  die  Vorschläge  für  das 
formale  Verfahren  etwas  verändert  und  das  Urteil,  das  er 
jedem  Priester  gegenüber  dem  Irrenden  anraten  wollte :  Gehe 
und  sündige  nicht  weiter,  fiel  weg  Immerhin  mufs  man 
feststellen,  dafs  auch  die  Regel  von  1223  (c.  7)  Mitleid  mit 
den  Irrenden  empfiehlt  und  vor  jedem  Zorn  über  fremde 
Sünde  warnt.  Wenn  in  die  Regel  nicht  jene  Straflosigkeit 
hineingesetzt  wurde,  die  Franz  mit  den  Worten:  „Gehe  und 
sündige  nicht  weiter"  einführen  wollte,  so  hatten  die  realer 
denkenden  Brüder  auf  dem  Generalkapitel  wohl  ein  Recht 
dazu  —  ein  Gegensatz  braucht  darin  noch  nicht  gesehen  zu 
werden,  sondern  nur  eine  etwas  nüchternere  Betrachtung  der 
Welt.  Franz  selber  blieb  nicht  immer  in  der  milden  Stim- 
mung dieses  Briefes:  mit  welcher  Schärfe  forderte  er  im 
Testamente   die   Bestrafung   jedes    ungehorsamen   Bruders!  * 

1)  Vgl.  Speculum  Perfectionis  c.  71  und  sonst! 

2)  Wie  2.  Celano  III,  116  (und  ebenso  Speculum  Perfectionis  c.  80 
beweisen. 

3)  Älinlich  stand  das  bereits  in  der  Regel  Ton  1221  c.  5;  und  nur 
in  dieser  Form  wurde  es  in  die  neue  Regel  aufgenommen  (c.  7). 

4)  Sabatier  hat  diesen  Einwand  vorausgesehen;  er  meint  (a.  a.  0. 
S.  128  Anm.  1),  Franz  habe  im  Testament  keine  Strafe,  sondern  nur 
die  Auslieferung  an  den  Ordensprotektor  Kardinal  Hugolin  befohlen. 
Aber  ganz  abgesehen  davon,  dafs  diese  Stelle  mit  ihrer  Vorschrift  eines 
peinlich  formalen  Verfahrens  nur   in   dem  Gedanken  an   strenge  Strafe 


40  GOETZ, 

Ich  kann  deshalb  nicht  zugeben ,  dafs  dieser  Brief,  ver- 
glichen mit  der  Regel  von  1223,  den  Konflikt  zwischen  den 
Ideen  Franzens  und  der  seinen  Lehren  untreuen  Mehrheit 
des  Ordens  beleuchte  ^  —  das  ist  eine  zu  weitgehende  Deu- 
tung der  schlichten  Worte  dieses  Briefes.  Damit  soll  der 
Konflikt  selber  keineswegs  geleugnet  werden;  aber  er  darf 
nicht  am  unrichtigen  Orte  festgestellt  werden  ^. 

Wie  aber  steht  es  mit  den  andern  beiden  an  Elias  ge- 
richteten Briefen  (Wadding  Nr.  VI  und  VII)?  Es  wurde 
erwähnt,  dafs  der  erste  (VI)  sich  bis  auf  seinen  Anfang  (An- 
rede und  zwei  ganz  kurze  Sätze)  vollständig  in  dem  nun- 
mehr für  echt  angenommenen  gröfseren  Briefe  an  Elias  be- 
findet ;  ich  glaube,  dafs  er  dadurch  seinen  Wert  verliert  imd 
lediglich  als  ein  späterer  Auszug  betrachtet  werden  mufs. 
Der  zweite  dagegen  berührt  sich  —  obwohl  er  einen  ähn- 
lichen Zweck  der  Ermahnung  zur  Milde  hat  —  nur  an 
einer  Stelle  direkt  und  wörtlich  mit  dem  gröfseren  Briefe, 
und  zwar  ist  diese  Stelle  ein  biblisches  Citat,  das  sich  auch 
in  der  Regel  von  1221  c.  5  findet  —  also  off"enbar  Franz 
geläufig  war  ^;  der  übrige  Inhalt  ist  in  seiner  Ausdrucks- 
weise ganz  selbständig.  Ich  möchte  deshalb  auch  diesen 
Brief,    dessen    Stil   an   die   andern   echten   Briefe   erinnert  % 

verständlich  ist,  so  steht  doch  auch  ausdrücklich  und  sogar  zweimal 
darin,  dafs  man  den  Ungehorsamen  bewachen  soll  ,,sicut  hominem  in 
vinculis  die  noctuque".  Zu  dem  Geiste  dieser  Worte  pafst  das  ,,Vade 
etc."  nicht  mehr. 

1)  Sabatier  a.  a.  0.  S.  128. 

2)  Weil  der  Brief  nicht  so  bedeutungsvoll  für  die  inneren  Kämpfe 
des  Ordens  ist,  sehe  ich  auch  darin,  dafs  Bonaventura  diesen  Brief 
(und  ebenso  die  andern!)  nicht  erwähnt,  noch  keine  Tendenz  — 
das  waren  Dinge,  die  aufserhalb  der  Aufgabe,  die  er  sich  gestellt 
hatte,  lagen. 

3)  In  dem  als  echt  erkannten  Briefe  an  Elias  und  in  der  Regel 
von  1221  stimmt  das  Citat  ganz  überein:  „non  est  sanis  opus  medicus 
sed  male  habentibus";  in  dem  noch  strittigen  Briefe  (VII)  heifst  es: 
„non  est  opus  bene  habentibus  medicus,  sed  male  habentibus".  Viel- 
leicht kann  auch  das  als  ein  Beweis  für  die  Selbständigkeit  des  strit- 
tigen Briefes  angesehen  werden. 

4)  Nur  der  Schlufs  mit  seinen  sieben  Imperativen  (Vigila,  admone, 
labora,  pasce,  ama,  expecta,  time)  hat  etwas  Rhetorisches,  das  bisher 
noch  in  keinem  Briefe  hervortrat. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL      41 

liir  echt  ansehen ;  die  Thatsaehe  einer  wiederholten  Mahnung 
an  Elias  ist  an  sich  sehr  wohl  möglich.  Und  zwar  würde 
dann  dieser  Brief  wohl  zeitlich  vor  den  andern  lallen;  da- 
für spricht  die  Nichterwähnung  des  Antrages  an  das  General- 
kapitel —  dieser  Antrag  war  das  Ergebnis  der  beiden  Briefe 
und  der  dazwischen  liegenden  Gespräche  beider  Männer. 
Geht  man  mit  Vermutungen  zu  weit,  wenn  man  annimmt, 
der  erste,  kürzere  und  weniger  herzliche  Brief  habe  zu  der 
Aussprache  geführt,  auf  die  am  Anfang  des  zweiten  Briefes 
hingedeutet  wird?  Dann  hätte  Franz  seine  Überlegungen 
schliefslich  zu  dem  für  das  Generalkapitel  bestimmten  An- 
trag verdichtet;  dafs  er  Elias  diesen  Antrag  mitteilte  und 
ihn  bat,  das  Schriftstück  bis  Pfingsten  aufzubewahren,  darf 
auch  als  ein  Zeichen  des  Vertrauens  angesehen  werden. 

Der  erste  Brief  (Wadding  VII)  würde  also  nicht  allzu 
lange  vor  dem  ausführlicheren  geschrieben  sein;  auch  für 
ihn  würde  die  Abfassungszeit  ungefähr  zwischen  Herbst  1221 
und  Frühjahr  1223  fallen. 

4.  Die  Regeln. 
Unzweifelhaft  ist  die  von  Franz  für  den  Orden  ge- 
schriebene Regel  eines  der  vornehmsten  Dokumente  seiner 
Persönlichkeit.  An  die  verschiedenen  Fassungen  dieser  Regel, 
die  uns  vorliegen,  knüpfen  sich  Zweifel  und  Streitfragen,  die 
nur  im  Zusammenhang  mit  den  ältesten  Lebensbeschreibungen 
betrachtet  werden  können;  denn  gerade  was  darüber  nach 
Karl  Müllers  Untersuchungen  noch  Neues  gesagt  werden 
könnte,  hängt  mit  dem  Speculum  Perfectionis  und  der  Echt- 
heit seiner  Nachrichten  zusammen.  So  möge  dieser  Abschnitt 
für  später  zurückgeschoben  werden.  Doch  sei  im  voraus 
bemerkt,  dafs  die  sogen.  Regel  von  1221  wohl  auf  alle  Fälle 
von  Franz  entworfen  und  wenn  nicht  ganz  von  ihm  selber, 
so  doch  unter  seiner  beherrschenden  Mitarbeit  redigiert  wor- 
den ist. 

5.  Die  Ad mon i t iones ', 

Die  „Verba  sacrae  admonitionis  b.  Patris  Francisci  ad 
omnes  fratres  suos"  enthalten  in  27,  bis  auf  das  erste  kurzen 

1)  Gedruckt  nach  AVaddiugs  Text  in  allen  Ausgaben  der  Opiisciilat 


42  GOETZ, 

Kapiteln  Ermahnungen  des  Heiligen  und  Seligpreisungen, 
diese  wie  jene  in  enger  Anlehnung  an  biblische  Stellen. 
Wadding  (Opuscula  S.  70  ff.)  hat  für  diese  Admonitiones 
sowohl  Handschriften  wie  alte  Drucke  als  Unterlage  benutzt. 
Sie  sind  in  einer  ganzen  Reihe  von  Handschriften  vorhan- 
den \  ohne  dafs  doch  dadurch  eine  Beglaubigung  ihrer  Echt- 
heit gewonnen  wäre. 

Sabatier  hat  die  Vermutung  ausgesprochen,  dafs  diese 
Admonitiones  die  Grundlage  für  die  Regel  von  1221  seien, 
so  enge  sei  die  Berührung  im  Stil  und  Gedankengang;  die 
Auseinandersetzungen,  die  in  jener  Zeit  zwischen  Franz  und 
Kardinal  Hugolin  über  die  neu  zu  schaffende  Regel  statt- 
fanden, hätten  in  diesen  Admonitiones  ihren  tagebuchartigen 
Niederschlag  gefunden:  die  Einwände,  die  man  gegen  seine 
Ideen  machte  und  die  er  in  seinem  Innern  verarbeitete, 
klängen  zwischen  den  Zeilen  hervor  ^. 

Man  mufs  doch  in  erster  Linie  fragen:  sind  diese  Ad- 
monitiones in  der  ältesten  Überlieferung  beglaubigt?  In  der 
ersten  Vita  des  Thomas  von  Celano  könnte  eine  Stelle  auf 
Kenntnis  der  Admonitiones  gedeutet  werden  —  beweiskräftig 
wäre  sie  allein  wohl  nicht  ^.  In  der  zweiten  Vita  des  Tho- 
mas ist  dagegen  die  Thatsache,  dafs  Franz  an  das  General- 
kapitel schriftliche  Ermahnungen  zu  richten  pflegte,  un- 
zweideutig bezeugt:  „Pro  generali  commonitione  in  quodam 
capitulo  scribi  fecit  haec  verba  . . ."  (folgt  ein  Citat)  ^.  Die 
Legenda  trium  Sociorum  giebt   an    einer  Stelle,    deren  Her- 


das  erste  Kapitel   in   einer  zum  Teil   besseren   Lesart  in   den  Miscell. 
Franciscana  VI,  S.  96. 

1)  Vgl.  darüber  Sabatier  im  Speculum  Perfectionis  und  im 
Tractatas  de  Indulgentia,  beidemal  im  Register  unter  Admonitiones. 
Dafs  auf  den  Cod.  338  zu  Assisi  kein  höherer  Wert  zu  legen  ist  als  auf 
andere  Handschriften:  s.  unten  S.  53  Anm.  l. 

2)  Sabatier,  Via  de  S.  Frangois  (1894),  S.  297 £f. 

3)  1.  Celano  I,  29:  ,,Cum  litteras  aliquas  salutationis  vel  admoni- 
tionis  gratia  faceret  scribi,  non  patiebatur  ex  his  deleri  litteram  ali- 
quam  . . ." 

4)  2.  Celano  III,  68.  Ich  lasse  auch  hier  das  Speculum  Perfectio- 
nis, das  in  c.  96  Ähnliches  giebt,  zunächst  beiseite.  Vgl.  auch  ebenda 
c.  87  (Schlufs). 


QUELLEN  ZUIi  GESCHICHTE  DES  HL.  FUANZ  VON  ASSISL      43 

kunt't  aus  andern  Quellen  van  Ortroy  bei  seinem  zerstören- 
den Angriff  nicht  hat  nachweisen  können  ^  und  die  also 
doch  nicht  ohne  weiteres  wegdisputiert  werden  kann,  die 
Nachricht,  dai's  Franz  auf  den  Generalkapiteln  „faciebat  ad- 
raonitiones,  reprehensiones  et  praecepta"  ^. 

So  ist  es  wohl  unzweifelhaft,  dafs  Franz  auf  den  General- 
kapiteln Ermahnungen  gab ,  die  vorher  oder  gleich  nachher 
aufgezeichnet  wurden.  Sind  die  überlieferten  Admonitiones 
die  echten? 

Das  Citat,  das  Thomas  von  Celano  in  der  zweiten  Vita 
bringt,  ist  der  nächstliegende  Anhaltspunkt:  es  findet  sich 
nicht  in  den  vorliegenden  Admonitiones.  Zwar  hat  c.  27 
derselben  einen  verwandten  Inhalt,  aber  der  Wortlaut  ist  ein 
ganz  anderer  ^.  Thatsächlich  steht  nun  das  Citat  Celanos 
in  der  Regel  von  1221  c.  7  (am  Schlufs),  und  es  bleibt  der 
Zweifel,  wie  Celano  dazu  kam,  anstatt  „in  regula"  zu 
schreiben  „pro  generali  commonitione  in  quodam    capitulo". 

Eine  unanfechtbare  Bestätigung  der  vorhandenen  Ad- 
monitiones durch  die  älteste  Überheferung  liegt  also  zu- 
nächst nicht  vor  *,  freilich  auch  kein  die  Echtheit  beein- 
trächtigendes Moment.  Es  iragt  sich,  ob  sie  nach  ihrem 
Inhalt  echt  sein  können? 

Sabatier  hat  in  der  erwähnten  Stelle  auf  die  Berührungs- 
punkte dieser  Admonitiones  mit  der  Kegel  von  1221  hin- 
gewiesen; Faloci-Pulignani  hat  das   1.  Kapitel  der  Admoni- 


1)  Vgl.  Anal.  Bollandiana  XIX,  S.  190. 

2)  Legenda  trium  Soc.  c.  14  (nach  alter  Zählung,  c.  20  in  der  Re- 
konstruktion). Dafs  in  der  rekonstruierten  Leg.  tr.  Soc.  die  c.  46  und 
47  aus  der  zweiten  Hälfte  der  Admonitiones  (c.  14—26),  den  Selig- 
preisungon,  besteht,  sei  erwähnt,  ohne  dafs  daraus  zunächst  irgendwelcher 
Schlufs  gezogen  worden  soll. 

B)  Dagegen  bringt  Spcculum  Perfectionis  c.  96  denselben  Wortlaut 
wie  die  Admonitiones  und  es  leitet  das  Citat  —  ohne  Hinweis  auf  ein 
Generalkai)itcl  —  mit  den  Worten  ein:  „Unde  in  quadam  sua  admoni- 
tione  clarius  expressit,  qualis  debet  esse  laetitia  servi  Dei,  ait  enim  . . ." 

4)  Denn  das  Citat  im  Speculnm  Perfectionis  c.  96  kann  gegenüber 
den  .Angriffen  gegen  seine  Kchtheit  und  gegenüber  den  immerhin  etwas 
bedingten  Ergebnissen,  zu  denen  später  unsere  Untersuchung  kmiunen 
wird,  nicht  als  unanfechtbar  gelten. 


44  GOETZ, 

tiones  mit  dem  Schreiben  des  Heiligen  an  das  Generalkapitel 
(einschliefslich  des  sogen.  Schreibens  an  alle  Kleriker)  zu- 
sammengestellt und  den  enge  verwandten  Inhalt  (Verehrung 
der  Eucharistie)  betont  ^  Man  kann  als  drittes  hinzufügen, 
dafs  sich  das  Schreiben  An  alle  Christen  sowohl  mit  der 
Regel  von  1221  wie  mit  den  Admonitiones  in  den  Gedanken- 
gängen mehrfach  berührt  und  doch  nicht  so,  dafs  man  das 
Schreiben  und  die  Admonitiones  etwa  als  spätere  Ableitungen 
aus  der  Regel  ansehen  könnte  ^. 

Es  liegt  in  dieser  Berührung  mit  echten  Stücken  eine 
gewisse  Gewähr  für  die  Echtheit  der  Admonitiones. 

Sie  gehören  in  die  Klasse  derjenigen  Schriften,  die  gleich 
dem  Brief  An  alle  Christen  nicht  die  kunstlose  Abfassungs- 
weise der  unanfechtbar  echten  Gruppe  (Testament,  Briefe  an 
Leo,  Klara,  Antonius)  zeigen,  sondern  in  gefeilterer  Sprache 
und  geschmückt  mit  vielen  Bibelstelien  einhergehen.  Es  will 
mir  scheinen,  als  sei  eine  stilistische  Verwandtschaft  zwischen 
den  Briefen  an  weitere  Kreise,  der  Regel  von  1221  und  den 
Admonitiones  vorhanden,  als  sei  der  Stil  noch  immer  bei 
weitem  einfacher  und  gedrängter  als  in  andern  Schrift- 
stücken der  damaligen  Zeit 

Über  die  Entstehungszeit  der  Admonitiones  läfst  sich 
ebenso  wenig  etwas  sagen  wie  über  ihre  Vollständigkeit. 
Die  vorliegende  Form  eines  in  27  Kapitel  eingeteilten  Ganzen 
ist  wohl  sicher  erst  durch  die  spätere  Sammlung  und  Zu- 
sammenstellung der  einzelnen  Ermahnungen  entstanden,  ob- 
wohl diese  Kapitel  —  bis  auf  eins  ^  —  keine  Wiederholungen 
bringen.    In  mehreren  Handschriften  folgt  noch  ein  28.  Ka- 


1)  Miscellanea  Franciscana  VI,  S.  93 ff.  Freilich  setzt  Faloci- 
Pulignani  die  Frage  der  Echtheit  dabei  voraus. 

2)  Es  berühren  sich  Admonitiones  c.  I  mit  An  alle  Christen  c.  4; 
c.  III  mit  Regel  von  1221  c.  5;  c.  IV  mit  Regel  1221  c.  4  und  An 
alle  Christen  c.  9;  c.  IX  mit  Regel  c.  22  und  An  alle  Christen  c.  8; 
c.  X  mit  Regel  c.  22;  c.  XI  mit  Regel  c.  5;  c.  XXV  mit  An  alle 
Christen  c.  7.  Es  sei  ferner  darauf  hingewiesen,  dafs  in  c.  XXV  das- 
selbe gefordert  wird  wie  im  Testamente:  unbedingte  Verehrung  der 
Priester  der  römischen  Kirche,  weil  sie  den  Leib  und  das  Blut  des 
Herrn  verwalten. 

3)  Kap.  XXII  und  XXIII  bringen  zum  Teil  das  gleiche. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL       45 

pitel  mit  der  Übersclirift :  „De  religiosa  habitatione  in  eremi- 
toriis",  das  Wadding  nach  der  Handschritt  in  Assisi  als 
dritte  seiner  Collationes  monasticae  giebt  ^  Alan  kann  nicht 
sagen,  dafs  es  zu  den  vorangehenden  Kapiteln  irgendwie 
pafste;  denn  es  enthält  nicht  wie  diese  lediglich  allgemeine 
Ermahnungen,  sondern  genaue  Bestimmungen  über  das  Leben 
und  die  Tageseinteilung  der  in  Eremitorien  weilenden  Brüder. 
Derartiges  entspricht  dem  Charakter  der  Admonitiones  nicht; 
eher  möchte  man  glauben,  dafs  diese  Vorschrift  über  das 
Leben  in  den  Eremitorien  als  eine  Vorarbeit  oder  Ergänzung 
der  Ordensregel  entstanden  ist. 

►Sabatier  hat,  wie  erwähnt,  angenommen,  es  handle  sich 
bei  den  Admonitiones  um  einen  tagebuchartigen  Entwurf  für 
die  Regel  von  1221;  aber  dafür  finde  ich  doch  die  Zahl  der 
Berührungspunkte  zu  gering,  und  vor  allem  widersprechen 
dem  die  angeführten  Zeugnisse  der  ältesten  Überlieferung 
und  die  Angaben  der  Handschriften,  in  denen  es  mehrfach 
heifst:  „Admonitiones  ...  ad  omnes  fratres." 

So  ist  es  doch  vielleicht  besser,  daran  festzuhalten,  dafs 
diese  Ermahnungen  mit  der  Regel  von  1221  in  keinem  di- 
rekten Zusammenhang  stehen,  sondern  dafs  sie  bei  Gelegen- 
heit der  Ordenskapitel  in  ihren  einzelnen  Teilen  entstanden 
sind  und  nach  dem  Tode  des  Heiligen  zusammengestellt 
wurden. 

Unbekannte  Einblicke  in  die  Anschauungen  des  Heiligen 
bringen  die  Admonitiones  nicht,  aber  doch  eine  Reihe  von 
Ergänzungen.  Noch  in  keiner  der  bisher  besprochenen 
Schriften  ist  die  Gefahr  des  eigenen  Willens,  die  Notwendig- 
keit der  Unterordnung  unter  den  Willen  des  geistlichen 
Oberen,  auch  wo  seine  Meinung  anfechtbar  erscheint,  so 
stark  betont  worden  (c.  HI);  auch  die  gelehrte  Forschung 
über  das  Bibelwort  wird,  falls  der  Geist  des  Wortes  nicht 
ergriffen  und  befolgt  wird,  als  wertlos  und  todbringend  be- 
zeichnet   (c.  VH).     Dafs    der  Körper,    weil  er   sündigt,    der 


1)  Vgl.  Sabatier,  Speciilnm  Poifcctionis,  S.  CLXXI,  CLXXXII 
und  S.  26  Anin.  1;  Francisci  Baitholi  Tnictatiis,  S.  CXXXV,  CXLVII; 
Vie  de  S.  Fran^ois  (1894),  S.  125  Auni.   1. 


46  GOETZ, 

Feind  jedes  einzelnen  sei,  wird  ausgesprochen ;  glücklich  ein 
jeder,  der  diesen  Feind  immer  gefangen  halte  und  sich  vor 
ihm  schütze. 


Wadding  lafst  aut  die  Admonitiones  eine  Exhortatio  ad 
humilitatem,  obedientiam,  devotionem  et  patientiam  folgen. 
Da  sie  lediglich  eine  Aneinanderreihung  der  c.  XIX,  XX 
und  XXII  der  Admonitiones  ist,  so  kann  ihr  ein  selbstän- 
diger Wert,  ein  Anspruch  auf  Echtheit  nicht  zugebilligt 
werden. 

Ein  anderes  kurzes  Schriftstück  ist  in  älteren  Werken 
der  Franziskanerlitteratur  ebenfalls  den  Admonitiones  (als 
c,  26)  eingereiht  ^:  der  aus  elf  Sätzen  bestehende  Traktat 
„De  virtutibus  quibus  decorata  fuit  S.  Virgo.^'  Zu  den  Ad- 
monitiones gehört  er  nach  seiner  ganzen  Art  nicht;  Thomas 
von  Celano  (2.  Vita  III,  119)  nennt  ihn  richtiger  ,,  Landes, 
quas  de  virtutibus  fecit";  denn  auch  Maria  hat,  abgesehen 
von  der  Überschrift,  keine  weitere  Beziehung  dazu.  Dafs 
es  sich  um  eine  echte  Aufzeichnung  Franzens  handelt,  wird 
durch  das  Citat  des  ersten  Satzes,  das  Celano  giebt  (a.  a.  O.), 
bestätigt  und  ebenso  durch  die  für  Franz  charakteristischen 
Bezeichnungen  „Soror  sancta  humilitas",  „soror  sancta  obe- 
dientia".    Vgl.  unten  Nr.  9  (Dichtungen  S.   50 ff.). 

Verwandt  mit  den  Admonitiones  ist  vielleicht  die  Aus- 
einandersetzung „De  Vera  et  perfecta  laetitia  fratrum  Mi- 
norum''  —  sie  enthält  Ermahnungen  an  die  Brüder,  wie  sie 
sehr  wohl  auf  einem  Generalkapitel  von  Franz  einmal  aus- 
gesprochen sein  könnten.  Er  giebt  ein  Beispiel,  wie  die  wahre 
Laetitia  beschaffen  sein  müsse:  in  Schnee  oder  Regen,  bei 
Kälte  und  Hunger  in  der  Nacht  trotz  dreimahgen  Bittens 
um  Aufnahme  abgewiesen  und  beschimpft  vom  Pförtner  der 
Portiuncula  und  schliefslich  mit  Peitschenhieben  von  der 
Pforte  vertrieben  sollen  die  Brüder  dennoch  Iröhiich  bleiben. 


1)  Nähere  Nachricht  darüber  bei  "Wadding,  Opuscula,  S.  88; 
Sabatier,  Vie  de  S.  Frangois  (1894),  S.  XL  giebt  aus  dem  Cod.  338 
zu  Assisi  eine  Lesart,  die  nur  die  vier  ersten  Sätze  enthält.  Vgl.  Spe- 
culum  Perfectionis  S.  CLXXII  und  Francisci  Barthoü  Tractatus,  S.  CXXV, 
CXXX,  CXLVIL 


QUELLEN  ZUK  GESCHICHTE  DES  HL.  FUAXZ  VON  ASSISL      47 

Wadding,  der  dieses  kleine  Schriftstück  bringt  (S.  93)^ 
kann  sich  nur  auf  spätere  Quellen  berufen;  Handschriften 
sind  seitdem  nicht  zum  Vorschein  gekommen. 

Die  Prüfung  nach  stilistischen  Merkmalen  —  deren  Wert 
nicht  überschätzt  werden  soll  —  läfst  auch  hier  die  Wag- 
schale zu  Gunsten  der  Echtheit  sinken.  Die  Sprache  ist 
einfach  und  sie  erinnert  an  das  gesprochene  Wort  in  ihrer 
Schlichtheit  und  in  ihrer  Eindringhchkeit.  Ebenso  ist  der 
Gedankengang  dem  Sinne  des  Heiligen  entsprechend.  Tho- 
mas von  Celano  hat  in  der  2.  Vita  HI,  8'^  eine  ähnliche 
Erzählung  gegeben  ':  auch  da  will  Franz  bei  allen  De- 
mütigungen sich  die  laetitia  mentis  bewahren,  wie  es  sich 
für  einen  rechten  Minderbruder  gezieme.  Ein  nicht  ganz 
unwichtiges  Zeugnis  für  die  Echtheit  ist  eine  Redewendung 
des  Traktats:  der  Pförtner  weist  die  bittenden  Brüder  ab 
und  sagt  ihnen:  „Ite  ad  hospitale."  Diese  Aufforderung, 
zum  Hospital  der  Leprosen  zu  gehen,  weist  aus  Gründen, 
die  Sabatier  vielfach  erörtert  hat  und  auf  die  bei  Prüfung 
des  Speculum  Perfectionis  noch  zurückzukommen  sein  wird, 
auf  die  älteste  Zeit  hin,  denn  die  Lepi'osenpflege  hat 
später  nicht  mehr  die  Rolle  gespielt,  die  Franz  selber  ihr 
zuwies,  und  vor  allem  die  Wendung  „ad  hospitale"  ohne 
einen  erläuternden  Zusatz  ist  nicht  gut  anders  denkbar  als 
im  Munde  desjenigen,  der  damit  eine  ganz  bestimmte  ört- 
liche Vorstellung  —  das  Hospital  Rivo  Torto  nahe  bei  der 
Portiuncula  —  verband  -.  Die  Echtheit  des  Traktates  er- 
scheint dadurch  gesichert. 

6.  Die  Gebete. 
Die  von  Wadding  S.  97 — 120  aus  Handschriften  und 
aus  der  älteren  Franziskanerlitteratur  zusammengestellten  (13) 
Gebete  des  Heiligen  samt  einer  „Expositio  super  orationem 
Dominicam"  mögen  zum  Teil  von  Franz  sein  —  aber  ich 
wage  darüber  kein  Urteil.     Der  Stil  des  Gebetes  ist  ein  so 


1)  Dasselbe  im  Spoculum  Perfectionis  c.  G4.    Vgl.  dazu  auch  c.  96. 

2)  Pisanus  liat  in  den  Confoinütatcs  L.  I  Conf.  5  u.  12  am  An- 
fang dieses  Traktats  und  an  den  beiden  Stellen,  wo  der  Imperativ 
„scribe"  vorkommt,  die  Lesart:  ,,o  frater  Leo  scribe". 


48  GOETZ, 

anderer,  dafs  die  Möglichkeit  zu  Vergleichen  fehlt.  In 
einigen  dieser  Gebete  stehen  Wendungen,  die  man  Franz 
würde  zuschreiben  können ;  einzelne  jedoch,  wie  die  „Oratio 
S.  Francisci  in  suae  conversionis  initio"  und  die  „Oratio  pro 
commendanda  sua  familia^'  erwecken  berechtigtes  Mifs- 
trauen  —  wer  hätte  jenes  erste  Gebet  aufzeichnen  sollen? 
Das  zweite  aber  steht,  nicht  als  isoliertes  Gebet,  sondern  als 
Worte,  die  Franz  nach  dem  Verzicht  auf  das  Generalminister- 
amt vor  dem  Generalkapitel  sprach,  im  Speculum  Perfectionis 
c.  39;  der  Titel  „Gebet**  stammt  erst  von  Wadding.  —  Auch 
hier  sieht  man  die  Absicht,  aus  den  Aufzeichnungen  über 
das  Leben  des  Heiligen  möglichst  viele  originale  Worte  und 
Aufzeichnungen  zu  erheben.  Da  man  aber  nicht  zu  sagen 
vermag,  wie  viel  die  Verfasser  der  Legenden  hierbei  eigen- 
mächtig gestaltet  haben,  so  sind  diese  angeblich  direkten 
Zeugnisse  wohl  alle  mit  Vorsicht  aufzunehmen.  Wie  wäre 
es  möglich  gewesen,  ein  jedes  der  Worte  des  Heiligen,  die 
bei  der  und  jener  Gelegenheit  fielen,  genau  festzuhalten? 

Der  nachfolgende  Abschnitt  über  die  CoUationes  mo- 
nasticae  führt  noch  stärker  zu  den  gleichen  Betrachtungen.  — 
Der  Wert  dieser  Gebete  ist  übrigens  so  gering,  dafs  man 
ohne  Schaden  an  ihnen  vorübergehen  kann  ^ 

7.  Die  CoUationes  Mouasticae. 
Diese  28  CoUationes  sind  von  den  bisher  betrachteten 
Werken  des  Heiligen  durchaus  zu  scheiden.  Es  besteht  für 
sie  keine  gesonderte  Überlieferung,  sondern  erst  Wadding 
hat  sie  unter  diesem  Titel  zusammengestellt,  indem  er  sie 
als  Worte  des  Heiligen  aus  den  verschiedensten  Schriften 
herauslöste  und  ihnen  ohne  weitere  Prüfung  Authenticität 
zuschrieb.  Den  Namen  CoUationes  monasticae,  d.  h.  Ge= 
spräche  für  Ordensleute,  gab  er  ihnen,  weil  er  bei  Bona- 
ventura  in    seiner  Legenda  major   das  Wort  —  doch    ganz 


1)  "Vgl.  über  die  ,,  Oratio  praeponenda  horis  canouicis"  unten  S.  51 
Anm.  3.  Ein  echtes ,  aber  für  die  geschichtliche  Würdigung  des  Hei- 
ligen belangloses  Werk  ist  das  Officium  Passionis  Dominicae  (Wad- 
ding S.  380  fif.);  es  ist  bezeugt  durch  die  Vita  S.  Clarae,  die  Thomas 
von  Celano  verfafste. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      49 

ohne  direkten  Zusammenhang  mit  dem,  was  Wadding  giebt  — 
fand  *  und  ebenso  noch  bei  andern  Schriftstellern,  und  dann 
weil  Bonaventura  zwei  seiner  Schriften  mit  dem  gleichen 
Titel  bezeichnet  hat. 

Bis  auf  die  dritte  Collatio  —  die  schon  erwähnte  De  re- 
ligiosa  habitatione  in  eremitoriis  (siehe  oben  S.  45)  —  sind 
alle  mosaikartig  und  willkürlich  zusammengesetzt.  So  ist 
z.  B.  von  der  ersten  Collatio  der  erste  Satz  aus  Bonaventura, 
der  zweite  aus  Rodulphus,  alles  weitere  aus  1.  Celano  I,  11 
(zum  Teil  jedoch  in  der  Lesart,  die  Marianus  giebt).  Die 
zweite  Collatio  stammt  aus  der  Legenda  trium  Sociorum  c.  10 
und  c.  9,  aus  Pisanus,  aus  Bonaventura  c.  III  und  Rodulphus; 
die  dritte  Collatio  aus  Speculum  Perfectionis  c.  47  und  Bona- 
ventura c.  VI  u.  s.  f.  —  Wadding  hat  seine  Quellen  überall 
gewissenhaft  notiert;  aber  häufig  hat  er,  was  die  Vorlage 
in  indirekter  Rede  gab,  eigenmächtig  in  direkte  umgesetzt. 

Es  bedarf  keiner  weiteren  Ausführungen ,  dafs  diese 
Kompilation  nicht  zu  den  „Werken"  des  Heiligen  gerechnet 
werden  kann.  Im  einzelnen  zu  untersuchen,  ob  auf  Franz 
zurückgehen  könnte,  was  die  von  Wadding  genannten  Quellen 
als  seine  Worte  geben,  ist  eine  kaum  mögliche  Arbeit ;  von 
vornherein  ist  der  stärkste  Zweifel,  dafs  es  sich  dabei  um 
eine  vollkommen  treue  Überlieferung  handle,  am  Platze  2. 
Das  eine  oder  andere  Wort  mag  ja  auf  Franz  zurückgehen, 
aber  als  authentische  Zeugnisse  können  diese  Reden  nicht 
angesehen  werden  ^. 

1)  Bonaveutura  c.  4  n.  1:  Während  Franz  unterwegs  den  Ge- 
nossen die  Regel  ans  Herz  legt,  ihnen  den  Weg  der  Heiligkeit  und  Ge. 
rechtigkeit  beschreibt  und  sie  ermahnt,  sich  selbst  zu  fördern  und  an- 
dern ein  Beispiel  zu  sein,  ,,  diutius  colhitiune  protracta  hora  per- 
transiit ". 

2)  Nicht  ganz  begreiflich  ist  die  Vermutung  Mandonnets  (Mise. 
Franc.  VII,  S.  66),  dafs  die  Collationes  „Zirkularbriefe  und  Ermah- 
nungen" Franzens,  besondeis  an  die  Kapitel,  gewesen  seien,  die  freilich 
nur  in  Bruchstücken  vorlägen,  deren  Oiigiuale  aber  vielleicht  von  Bru- 
der Leo  redigiert  seien !  Diese  Collationes  hätten  sowohl  den  Verfassern 
des  Speculum  Perfectionis  wie  Thomas  von  Celano  bei  Abfassung  der 
zweiten  Vita  vorgelegen!  Es  bedarf  in  Anbetracht  der  Angaben  Wad- 
dings keines  Wortes  gegenüber  diesen  Vermutungen. 

3)  Waddiug   geht   bei    der    Sanniiluug    der  Cullationes    vielfach    auf 

4 


50  GOETZ, 

8.  Apoplithegmata,  CoUoquia,  Prophetiae, 
Parabolae,  Exempla,  Oracula. 

Für  diese  ganze  Gruppe  gilt  das  Gleiche  wie  für  die 
CoUationes:  es  handelt  sich  dabei  lediglich  um  Zusammen- 
stellungen Waddings  aus  der  älteren  Überlieferung.  Die 
Authenticität  dieser  Stücke  hängt  ab  von  dem  Werte,  den 
man  den  ältesten  Legenden  und  den  Conformitates  des  Pi- 
sanus,  der  Chronik  des  Marianus  u.  s.  w.  zubilligen  will. 
Auch  bei  dieser  Gruppe  Waddings  ist  deshalb  der  Zweifel 
berechtigter  als  das  Vertrauen;  der  allenfalls  vorhandene 
echte  Kern  dieser  Zeugnisse  kann  für  sich  nicht  untersucht 
werden,  sondern  nur  die  Zuverlässigkeit  der  Vorlage,  aus 
der  sie  jeweils  entnommen  sind  ^ 

9.  Die  Dichtungen  des  Heiligen. 

Dafs  Franz  Gedichte  (Landes)  verfafst  hat,  ist  genugsam 
bezeugt  und  wird  von  keiner  Seite  bezweifelt  —  bestritten 
ist  nur,  ob  die  unter  seinem  Namen  gehenden  Dichtungen 
echt  sind. 

Zugeschrieben  worden  sind  ihm  Laudes  in  Prosa,  der  in 
altitalienischer  Sprache  geschriebene  „Sonnengesang"  und 
manchmal  auch  die  Gedichte  „In  foco  l'amor  mi  mise"  und 
„Amor  de  caritate". 


Maiianus  zurück,  dessen  Autorität,  obwohl  er  erst  Anfang  des  16.  Jahr- 
hunderts schrieb,  neuerdings  von  Sabatier,  Franc.  Barth.  Tractatus, 
S.  137 — 164  für  nicht  ganz  verächtlich  erklärt  wird.  Was  durch  Ma- 
rianus vielleicht  an  altem  echten  Material  überliefert  worden  ist  und 
zum  Teil  also  auch  in  den  CoUationes  durchscheint,  kann  freilich  nicht 
eher  geprüft  werden,  als  bis  seine  noch  ungedruckten  Werke  zugäng- 
lich gemacht  sind.  Inwieweit  in  diesen  Zusammenstellungen  Waddiugs 
ein  echter  Kern  steckt,  wird  sich  auch  bei  den  Untersuchungen  über 
das  Speculum  Peif.  und  die  andern  Quellen  ergeben. 

1)  Über  die  Prophezeiungen  vgl.  Sabatiers  Urteil,  Speculum  Per- 
fectionis,  S.  LXXX.  Sabatier  neigt  dazu ,  in  allen  später  überlieferten 
Prophezeiungen  einen  authentischen  Kern  zu  sehen ;  aber  sicher  hat  die 
Heiligenlegende  doch  vieles  ganz  frei  hinzugeschaffen.  —  Wadding  giebt 
(S.  491  ff.)  noch  einige  Benedictiones,  von  denen  nur  die  Benedictio 
Leonis  auf  direkte  Überlieferung  zurückgeht;  über  sie  ist  oben  (S  9) 
gesprochen  worden.  Die  andern  sechs  Benedictiones  sind  zusammen- 
gestellt wie  die  Apophthegmata  u.  s.  w. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.      51 

Als  ältestes  Zeugnis  haben  die  Landes  auf  der  Rück- 
seite der  Benedictio  Leonis  zu  gelten,  die  Franz  mit 
eigener  Hand  geschrieben  hat  ^  Freilich  ist  dieser  Auto- 
graph zu  einem  grofsen  Teil  verderbt;  er  mufs  nach  an- 
deren Handschriften,  deren  eine  ganze  Reihe  vorhanden  sind, 
ergänzt  werden  ^. 

Diese  Probe  der  Landes  ist  in  Prosa  geschrieben,  aber 
in  einer  ekstatischen  Sprache:  in  fast  lauter  Ausrufen  von 
zwei  oder  drei  oder  wenig  mehr  Worten  („Tu  es  fortis.  Tu 
es  magnus.  Tu  es  altissimus.  Tu  es  omnipotens  . . .  Tu  es 
humilitas.  Tu  patientia.  Tu  pulchritudo"  u.  s.  w.).  Diese 
eigenartige  Form  verstärkt  das  Zeugnis  des  Autographen : 
man  wird  darin  die  Natur  Franzens,  seine  oft  ekstatische 
Religiosität  wiedererkennen  dürfen  ^. 

In  der  Form  nahe  verwandt  mit  diesen  Landes  Dei  sind 
die  Landes  de  Creaturis  ^  oder,  wie  er  gewöhnlich  genannt 
wird,  der  Sonnengesang  (Canticus  fratris  Solls).  Dafs  Franz 
einen  solchen  Gesang  verfafst  hat,  berichtet  Thomas  von 
Celano  (2.  Vita  III,  138  und  139),  und  dieses  Zeugnis  ver- 
liert  dadurch   nicht   an  Wert,    dafs   Thomas   in    der    ersten 


1)  S.  oben  S.  9.  Dafs  Franz  diese  ., Landes  Dei"  geschrieben 
hat,  bezeugt  auch  2.  Celano  II,  18. 

2)  Faloci-Pulignani  hat  in  den  Miscell.  Franc.  VI,  S.  36 f. 
mit  den  Bruchstücken  des  Autographs  fünf  andere  handschriftliche  Les- 
arten zusammengestellt,  die  alle  etwas  voneinander  abweichen.  Auch 
Waddings  Lesart  (S.  101)  hat  kleine  Verschiedenheiten,  giebt  aber  im 
wesentlichen  den  gleichen  Text  wie  der  von  Faloci-Pulignani  ebenfalls 
angeführte  Cod.  Fulign.  (Kapuzinerkonvent). 

3)  Den  Charakter  von  Prosagedichteu  tragen  auch  die  oben  S.  46 
bereits  erwähnen  ,,  Landes  de  virtutibus"  und  ferner  die  ,,  Oratio  prae- 
ponenda  Horis  canonicis'"  (Wadding  S.  103),  die  im  Speculum  Per- 
fectionis  c.  82  als  ..Landes  Domini"  bezeichnet  sind.  In  c.  90  des  Spe- 
culum Perfectionis  werden  noch  „quaedam  sancta  verba  cum  cantu" 
erwähnt,  die  Franz  „pro  consolatione  et  aedificatione  pauperum  Do- 
minarum" d.  h.  der  Klarissen  schrieb;  davon  ist  nichts  erhalten. 

4)  „Landes  de  crcatuiis  tunc  quasdam  coniposnit  et  eas  utcunque 
ad  creatorem  laiidandum  acccudit ".  Und  im  c.  139:  „Invitabat  omnes 
creaturas  ad  landoni  Dei  et  per  verba  quaedam,  quae  olim  coniposuerat, 
ipse  eas  ad  divinum  hortabatur  amorem .".  Die  Entstehung  des  Souuen- 
gesangs  ausführlich  erzählt   im  Speculum  Perfectionis  c.  100,  101,  123. 

4* 


52  GOETZ, 

Vita  und  Bonaventura  darüber  schweigen.  Die  Frage  der 
Echtheit  der  überlieferten  Texte  des  Sonnengesanges  ist  seit 
dem  Erscheinen  des  Speculum  Perfectionis  von  neuem  in 
Flufs  gekommen:  das  Entstehen  des  Sonnengesangs  wird 
darin  an  mehreren  Stellen  erzählt  und  die  Handschriften 
geben  als  c.  120  einen  altitalienischen  Text  ^.  Die  Hoff- 
nung Sabatiers,  dals  nunmehr  aller  Zweifel  beendet  und  die 
Echtheit  des  Textes  allseitig  anerkannt  sein  werde,  ist  frei- 
lich nicht  in  Erfüllung  gegangen:  der  alte  Gegner  der  An- 
nahme, dafs  uns  eine  auf  Franz  zurückgehende  Form  des 
Sonnengesangs  vorliege,  Della  Giovanna,  bleibt  bei  seinem 
Widerspruch,  um  so  mehr,  als  er  die  Echtheit  des  ganzen 
Speculum  Perfectionis  bestreitet  ^ 

Nur  der  Sprachforscher  wird  diese  Frage  mit  Aussicht 
auf  Erfolg  beantworten  können.  Ist  der  Text  des  Sonnen- 
gesangs seiner  Sprache  nach  für  die  Zeit  um  1226  in  An- 
spruch zu  nehmen,  dann  ist  es  gleichgiltig,  ob  das  Speculum 
Perfectionis  von  Bruder  Leo  stammt  oder  eine  Kompilation 
des  Jahres  1318  ist.  Dann  enthält  es  eben  den  alten,  echten 
Text.  Ehe  eine  solche  sprachwissenschaftliche  Untersuchung 
nicht  von  kompetenter  Seite  bis  zur  Beseitigung  aller  Zweifel 
geführt  ist,  vermag  der  Historiker  nur  zu  bestimmen,  ob  die 
äufsere  Beglaubigung  der  Überlieferung  für  die  Möghchkeit 
der  Echtheit  spricht.     Die  Untersuchung  darüber  kann   nur 


1)  Sabatier  gibt  in  einer  besonderen  Untersuchung  über  dieses  Ka- 
pitel (Speculum  Perfectionis  S.  277 — 291)  eine  ganze  Reihe  von  Texten 
der  verschiedenen  Handschriften;  in  seiner  Ausgabe  des  Speculum  Perf. 
hat  er  den  Text  des  Cod.  Assis.  338  gegeben,  der  offenbar  gröfsei  en  An- 
spruch auf  Reinheit  machen  darf  als  irgend  ein  anderer.  Vgl.  unten 
S.  53  Anm.  1. 

2)  Giornale  stör.  d.  letteratura  ital.  XXXIII  (1898).  Ausführlicher 
hat  Giovanna  in  derselben  Zeitschi  ift  XXV  (1895)  die  Frage  behan- 
delt, vgl.  auch  Bd.  XXIX.  Gegen  Giovanna  ist  zuletzt  Faloci- 
Pulignani  in  den  Mise.  Franc.  VI,  S.  43ff.  u.  VII,  S.  17ff.  auf- 
getreten; er  nimmt  sich  lebhaft  der  Echtheit  des  Sonnengesangs,  wie 
er  im  Speculum  Perfectionis  vorliegt,  an.  Vgl.  Sabatiers  besondere 
Studie  über  diese  Frage:  Speculum  Perfectionis  S.  277 — 291  und  ferner 
Vie  de  S.  Frangois  (1894),  S.  348 ff.  Ferner  Thode,  Franz  von 
Assisi,  S.  68  (Litteraturangaben). 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      53 

stattfinden  bei  der  Prüfung  des  Speculum  Perfectionis,  denn 
nur  dieses  giebt  —  als  einzige  unter  den  ältesten  Legen- 
den —  den  Text  und  die  Erzählung  seines  Entstehens  ^ 
Dafs  Faloci  -  Pulignani  1895  gerade  mit  den  damals  noch 
nicht  von  Sabatier  herausgegebenen  Kapiteln  des  Speculum 
Perfectionis  die  Echtheit  des  Sonnengesangs  gegenüber  Della 
Giovanna  verteidigte,  ist  zwar  ein  persönliches  Mifsgeschick, 
weil  Faloci  später  die  Autorität  des  Sabatierschen  Speculum 
mit  aller  Kraft  zu  bekämpfen  strebte,  aber  es  zeigt,  welche 
Bedeutung  eine  zuverlässige  Wertung  des  Speculum  Per- 
fectionis auch  für  die  Frage  nach  der  Echtheit  des  Sonnen- 
gesanges hat.  Einstweilen  sei  auch  hier  vorausgenommen, 
dafs  man  sieh  doch  wohl  für  die  Echtheit  wird  entscheiden 
dürfen. 

Dafs  die  beiden  Dichtungen  „In  foco  amor  mi  mise"  und 
„Amor  di  caritate"  in  ihrer  jetzigen  Form  nicht  von  Franz 
verfafst  sein  können,  erscheint  aufser  Zweifel.  Schon  Affo 
hat   sie    1777    dem   Jacopone   da   Todi    zugeschrieben.      Sie 


1)  Faloci-Pulignani  hält  (Mis.  Franc.  VI,  S.  45)  den  Sonnen- 
gesang für  echt,  weil  er  im  Cod.  Assis.  338  stehe,  dessen  Abfassung 
vor  1255  falle  (Sabatier:  etwa  1240;  vgl.  oben  S.  12  Anm.  2).  Die 
Beweise  Faloci -Pulignanis  sind:  bei  einer  Aufzählung  der  Feste  fehle 
der  Tag  der  h.  Klara,  er  sei  aber  am  Rande  nachgetragen  —  wie  Fa- 
loci-Pulignani annimmt,  nach  der  Heiligsprechung  Klaras  1255;  es  fehle 
ferner  das  um  diese  Zeit  eingeführte  Fronleichnamsfest  [?]  und  der 
Name  der  h.  Klara  in  einer  Liturgie.  Palaeographische  Gründe  sprechen 
gegen  diese  schon  au  sich  nicht  ganz  überzeugenden  Beweise.  Schon 
Ehrle  hat  (Arch.  f.  Litt.  u.  KG.  I,  S.  484)  den  Codex  ins  14.  Jahr- 
hundert gesetzt;  Monaci  hat  auf  Tafel  77,  78,  79  des  Archivio  paleogr. 
ital.  I  gerade  den  Sonnengesang  aus  diesem  Codex  veröffentlicht;  er 
erläutert  die  Tafeln  als  ,,scrittura  gotica  libraria  d'etä  incerta'',  setzt 
sie  aber  im  chronologischen  Index  ins  14.  Jahrhundert.  Wilhelm  Meyer 
bezeichnet  in  einer  ausführlichen  Untersuchung  gerade  dieser  italie- 
nischen Schriften  die  von  Monaci  veröifentlichten  Tafeln  als  „grofse 
runde  Schrift  des  14.  Jahrhunderts"  (Die  Buchstabenverbindungen  der 
sog.  goth.  Schrift;  Abb.  d.  GiJtt.  Ges.  d.  Wiss.,  Phil.-hist.  Klasse,  N.  F. 
I,  S.  63).  G.  Seeligcr  setzt,  auf  meine  Anfrage  hin,  die  Schritt  eher 
ins  13.,  als  an  den  Anfang  des  14.  Jahrhunderts.  —  K.  Braudi  meint, 
dafs  ein  zwingender  Beweis  gegen  die  zweite  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts 
nicht  vorliege,  das  14.  Jahrhundert  aber  doch  wohl  vorzuziehen  sei;  im 
gleichen  Sinne  äufserte  sich  II.  Simonsfeld. 


54  GOETZ, 

stehen  beide  weit  ab  von  den  Laudes  Domini  und  dem 
Sonnengesang  —  ihre  Form  ist  viel  lyrischer,  die  Verse 
sind  in  wohl  abgewogenem  Versmafs  gereimt,  ihre  Sprache 
ist  moderner,  ihr  Inhalt  in  Gefühl  zerfliefsend,  so  dafs  der 
letzte  Teil  von  Amor  di  caritate  nur  noch  eine  dutzendfache 
Wiederholung  des  Wortes  Amore  ist  ^.  —  Es  ist  eine  Über- 
tragung der  Gedanken  sinnlicher  Liebe  auf  das  religiöse  Ge- 
biet. Bei  aller  Weichheit  der  Empfindungen  war  solche 
gesuchte  Süfsigkeit  Franz  doch  fremd;  er  verliert  nichts, 
wenn  man  ihm  diese  beiden  Gedichte  abspricht  ^. 

10.  Von  Wadding  als  zweifelhaft  bezeichnete 
Schriften. 

Wadding  hat  (Opuscula  S.  508  —  523)  sieben  Predigten 
und  zwei  kleine  Traktate^  abgedruckt,  deren  Echtheit  ihm 
in  Anbetracht  ihrer  unsicheren  Überlieferung  verdächtig  er- 
schien. Die  Predigten  finden  sich  in  spanischer  Sprache  nur 
in  der  Chronik  des  Rebolledo,  eines  späten  und  unzuverlässigen 
spanischen  Autors;  die  Traktate  liegen  zwar  handschriftlich 
vor,  aber  nach  Waddings  Angaben  unter  Umständen,  die 
Franz  als  Verfasser  ausschliefsen.  Hinsichtlich  der  Predigten 
meint  Wadding  allerdings,  dafs  ihnen  ein  echter  Kern  zu 
Grunde  liegen  könne;  in  der  That  sind  einzelne  (z.  B.  II, 
IV,  V)  inhaltlich   in    der   Art    der   Admonitiones,    und   ein 

1)  Das  Buch  von  Görres,  Der  hl.  Franziskus  als  Troubadour 
(2.  Ausg.,  Regensburg  1879)  schreibt  ohne  eiucn  Versuch  der  Kritik 
diese  Dichtungen  Franz  zu,  ja  fügt  sie  sogar,  in  Teile  zerlegt,  be- 
stimmten Perioden  seines  Lebens  ein,  d.  h.  die  innere  Entwickelung 
Franzens  ist  dann  an  einem  bestimmten  Zeitpunkt  genau  so,  wie  Görres 
sie  für  die  Einfügung  einer  Gedichtstelle  braucht.  Die  Schrift  ist  in- 
folgedessen vollkommen  wertlos. 

2)  Gamurrini  hat  kürzlich  drei  kleine  Gedichte  aus  einem  Codex 
der  Nationalbibliothek  zu  Neapel  herausgegeben,  die  er  dem  h.  Franz 
zuschreibt  (Alcuni  versi  volgari  di  S.  Francesco  d'Assisi,  scoperti  e 
pubblicati  la  prima  volta.  Cortona  1901).  Der  Herausgeber  hat  nicht 
den  Schatten  eines  Beweises  für  ihren  Zusammenhang  mit  Franz  er- 
bracht; es  liegt  nicht  der  geringste  Anlafs  vor,  sie  Franz  zuzuschreiben. 

3)  „Sex  praecipnae  rationes  quare  Dens  opt.  max.  Religionem  Mi- 
norum  suae  concesserit  ecclesiae"  und  „Opusculum  decem  perfectionum 
viri  religiosi  et  perfecti  Christiani". 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      55 

solcher  Name  pafste  auch  für  sie  besser  als  die  Bezeichnung 
Sermoncs.  Wadding  hat  Rebolledos  Texte  aus  dem  Spa- 
nischen ins  Lateinische  übersetzt;  deshalb  kann  der  Stil 
dieser  Stücke  nicht  geprüft  werden.  So  sehr  auch  Teile 
des  Inhalts  an  Franz  anklingen,  so  wenig  können  aus  diesen 
Sermones  irgendwelche  Schlüsse  gezogen  werden. 

11.  Ergebnisse. 
Die  Untersuchung  über  die  Werke   des  Heiligen  hat  zu 
folgenden  Ergebnissen  geführt.     Als  unzweifelhaft  oder 
aller    W  aiir  schein  lieh  k  ei  t    nach    echt    dürfen    ange- 
sehen worden: 

Das  Testament, 

die  Benedictio  Leonis, 

folgende  elf  (dreizehn?)  Briefe: 

einer  an  Bruder  Leo, 

einer  an  Antonius  von  Padua, 

zwei  an  die  hl.  Klara  und  ihre  Schwestern, 

einer  (zwei?)  an  alle  Christen, 

einer  an  alle  Kustoden  der  Minderbrüder, 

einer  an  die  Obrigkeiten, 

einer  an  alle  Kleriker, 

einer  (zwei?)  an  das  Generalkapitel, 

zwei  an  Elias, 
die  Regel  von  1221, 
die  Admonitiones, 
die  Traktate: 

De  Vera  et  perfecta  laetitia  fratrum  Minorum, 

De  religiosa  habitatione  in  eremitoriis, 
die  Dichtungen: 

Laudes  Dei, 

Landes  de  Creaturis  (Sonnengesang), 

Üi'atio  praeponenda  horis  canonicis  (=  Laudes  Domini), 

Laudes  de  virtutibus  (quibus  decorata  fuit  s.  virgo). 

Officium  Passionis  Dominicae. 
Als  uneciit  oder  zweifelhaft  sind  anzusehen: 
Der  kürzere  J>ri(!f  an  alle  Christen  (Wadding  Nr.  1), 
der  kürzere  Brief  an  Elias  (Wadding  Ni'.  VI), 


56  GOETZ, 

der  Brief  an  die  Provinzialmiuister  (Wadding  Nr.  IX), 

der  kürzere  Brief  an  das  Generalkapitel  (Wadding  Nr.  X), 

der  Brief  an  Jakoba  de  Septemsoliis, 

die  Gebete, 

die  Exhortatio  ad  humilitatem  etc., 

die  Laudes  „In  foeo  amor"  und  „Amor  di  caritate". 
Lediglich    Zusammenstellungen    Waddings    aus 
älteren  und  späteren  Legenden  und  deshalb  ohne  gesicherten 
Wert  sind  die 

Collationes  Monasticae,   Apophthegmata,  Colloquia,  Pro- 

phetiae,  Parabolae,  Exempla,  Oracula. 


Die  als  echt  erkannten  Werke  scheinen,  wenn  man  be- 
reits von  den  ältesten  Legenden  herkommt,  nicht  allzu  viel 
Neues  zur  Kenntnis  des  Heiligen  hinzuzufügen.  Aber  gerade 
darum  handelte  es  sich,  von  den  ältesten  Legenden,  deren 
geschichtlicher  Wert  in  Anbetracht  so  mancher  Zweifel  von 
neuem  untersucht  werden  mufs,  vollständig  abzusehen  und 
einen  zwar  bescheidneren,  aber  unanfechtbaren  Mafsstab  für 
die  Persönlichkeit  des  Heihgen  zu  gewinnen.  Die  wich- 
tigsten Züge  seines  Wesens  sind  trotz  der  Enge  dieses  Quellen- 
materials aus  seinen  eigenen  Schriften  zu  gewinnen.  Die 
Legenden  müssen  die  unentbehrlichen  Ergänzungen  dazu 
sein:  sie  geben  die  Farben  für  die  leichte  Umrifszeichnung. 

Festzustellen,  welchen  Wert  die  einzelnen  Legenden  be- 
sitzen, wird  die  Aufgabe  der  weiteren  Untersuchungen  sein. 

IL  Die  Legenden. 

Was  bis  zum  Jahre  1266,  bis  zur  offiziellen  Annahme 
der  Legende  Bonaventuras  durch  das  Generalkapitel,  ge- 
schrieben worden  ist,  gehört  zu  der  ältesten,  von  Augen- 
zeugen verfafsten  oder  doch  noch  beeinflufsten  Überlieferung. 
Nur  an  diese  ältesten  Quellen  kann  die  Forschung  über 
Franz  von  Assisi  sich  halten ;  alle  späteren  Fortbildungen  der 
Legende  sind  nur  mit  höchster  Vorsicht  aufzunehmen.  Aber 
freilich  fehlt  zunächst  auch  für  die  älteste  Überlieferung 
jeghche    Sicherheit  der  Wertung.     Die   wichtigsten    Quellen 


QUELLEN  ZUIi  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      57 

der  ältesten  Zeit:  die  beiden  Legenden  des  Thomas  von  Celano, 
das  Speculum  Perfectionis,  die  Legenda  trium  Sociorura,  die 
Legenda  niaior  des  Bonaventura  sind  in  einer  Weise  um- 
stritten, ja  zum  Teil  in  ihrer  Echtheit  bezweifelt,  dafs  sich 
die  Forschung  Schritt  für  Schritt  den  Weg  von  einer  Quelle 
zur  andern  erst  bahnen  mufs.  Sind  die  Vita  prima  des 
Thomas  von  Celano  und  die  Legende  Bonaventuras  Tendenz- 
schriften einer  bestimmten  Partei,  bedeutet  die  Vita  secunda 
des  Thomas  eine  reumütige  Rückkehr  zur  Wahrheit,  sind 
Speculum  Perfectionis  und  Legenda  trium  Sociorum  echte  Auf- 
zeichnungen der  ältesten  Zeit  oder  spätere  Kompilationen  — 
das  sind  die  Fragen,  auf  deren  Lösung  sich  die  Untersuchung 
richten  mufs.  Was  daneben  an  geringwertigeren  Quellen  der 
ältesten  Zeit  noch  vorhanden  ist,  wird  dabei  seine  Beur- 
teilung finden. 

Die  Vita  prima  des  Thomas  von  Celano  ist  der  feste 
Punkt,  von  dem  aus  die  Prüfung  der  Biographien  beginnen 
mufs:  ihre  Echtheit,  ihre  frühe  Entstehung  in  den  ersten 
Jahren  nach  dem  Tode  des  Heiligen  ist  unbestritten.  Wenn 
ich  das  Speculum  Perfectionis  hier  zunächst  ganz  übergehe 
und  sein  Verhältnis  zur  Vita  prima  des  Thomas  nicht  zu 
bestimmen  versuche,  so  entspricht  das  nur  dem  Ergebnis  der 
Diskussion,  die  über  das  Speculum  Perfectionis  in  den  letzten 
Jahren  geführt  worden  ist:  dafs  es  1227  von  Bruder  Leo 
geschrieben  worden  sei,  ist  eine  unmögliche  These,  und  da 
Sabatier  selber  auf  ihr  nicht  mehr  besteht,  so  ist  es  unnötig, 
sie  von  neuem  zu  bekämpfen.  An  späterer  Stelle  wird  über 
das  Verhältnis  des  Speculum  Perfectionis  zur  Vita  secunda 
des  Thomas  von  Celano  und  zur  Legenda  trium  Sociorum 
zu  entscheiden  sein;  aber  der  Vita  prima  des  Thomas  wird 
niemand  mehr  den  zeitlichen  Vorrang  streitig  machen. 

1.  Die  Vita  prima  des  Thomas  von  Celano  ^ 
Die  Echtheit  dieser  Vita  ist,    wie    gesagt,    nicht    zu    be- 
zweifeln, aber  hinsichtlich  ihrer  Wertung  stehen  sich  Extreme 


1)  Eine  kritische  Ausgabe   der  Vita  prima   (wie  der  Vita  secunda) 
fehlt  bisher,    wird  aber  vom  P.  Ed.  d'Alon^on  vorbereitet.     Einstweilen 


58  GOETZ, 

gegenüber.  Und  gerade  die  kritischeren  Forscher  lehnen  sie 
zumeist  ab.  FreiUch  mufs  man  sogleich  hinzulügen,  dafs  die 
Einwände  gegen  Celanos  Vita  prima  nicht  aus  ihr  selbst  ge- 
nommen sind,  nicht  etwa  aus  sichtbaren  Widersprüchen  und 
aus  greifbarer  Tendenz,  sondern  die  Aufstellung  einer  Theorie 
über  Franz  von  Assisi  ging  voran,  und  was  sich  dieser  Theorie 
nicht  einfügen  wollte ,  wurde  als  tendenziös  gebrandmarkt. 
Seitdem  Sabatier  und  Mandonnet  in  der  Tertiariergemeinschaft 
das  ursprüngliche  Ziel  des  hl.  Franz  gesehen  haben,  mufste 
Thomas  von  Celano,  der  davon  nicht  das  geringste  berichtet, 
mit  Absicht  diese  Sachlage  verschwiegen  haben ;  seitdem 
Sabatier  und  Mandonnet  die  Kurie  für  die  Zerstörung  des 
ursprünglichen  Ideals  verantwortlich  gemacht  haben,  mufste 
der  nichts  davon  berichtende  Thomas  ein  Fälscher  sein; 
seitdem  Sabatier  in  schweren  inneren  Kämpfen  des  Minoriten- 
ordens  diese  dem  Heiligen  feindliche  Entwicklung  sich  voll- 


ist man  uoch  auf  die  unvollkommenen  Texte  in  den  Acta  Sanctorum, 
Oct.  II,  bei  Rinaldi  (Rom  1806)  und  bei  Amoni  (Rom  1880)  angewiesen. 
Alle  diese  Texte  und  besonders  die  beiden  letzten  —  Amoni  gibt  nur 
einen  Neudruck  Rinaldis  —  sind  reich  an  auffallenden  Fehlern.  Über 
die  stark  auseinandergehenden  Texte  der  Handschriften  vgl.  z.  B.  Sa- 
batier, Speculum  Perf.,  S.  170,  Note  1  und  Opuscules  de  crit.  bist.  II, 
S.  67.  —  Über  die  Handschriften  vgl.  Sabatier,  Yie  de  S.  Frangois, 
S.  LIf.;  Marcellino  da  Civezza  und  Teof.  Domenich  elli, 
Legenda  trium  Sociorum,  S.  LIXif.;  ferner  Sabatier,  Vie  de  S. 
Frangois  (1894),  S.  LI,  Note  2,  und  über  zwei  Handschriften  in  London 
und  Oxford,  die  Sabatier  S.  LXXIII,  Note  2  irrtümlich  für  die  Vita 
srcunda  in  Anspruch  genommen  hat,  Ehrle  in  der  Zeitschr.  f.  kath. 
Theol.  VII  (1883),  S.  390.  —  Der  stärkste  Angriff  auf  die  Glaubwür- 
digkeit der  Vita  prima  bei  Sabatier,  Sp?culum  Perf,,  S.  XCVIII— CIX. 
Vgl.  auch  Sabatier,  Vie  de  S.  Frangois,  S.  Llllff.  Eine  kürzere 
kritische  "Würdigung  der  Vita  prima  bei  Tilemann,  Speculum  Per- 
fectionis  und  Legenda  trium  Sociorum  (Leipzig  1902),  S.  23 — 33.  Tile- 
mann will  weniger  den  Wert  der  Vita  prima  feststellen ,  als  vielmehr 
im  Gegensatz  zu  Sabatier  den  Nachweis  führen ,  dafs  die  Vita  prima 
nicht  eine  gegen  das  Speculum  Perf.  gerichtete  Parteischrift  sein  könne  — 
ein  Nachweis,  den  ich  als  gelungen  ansehe.  Eine  andere  kritische  Prü- 
fung der  Vita  prima  bei  Minocchi,  La  Legenda  trium  Sociorum; 
Nuovi  studi  sulle  fonti  biografiche  di  San  Francesco  d'Assisi  (Florenz 
1900),  S.  81—85.  —  Für  die  volle  Glaubwürdigkeit  der  Vita  prima  ist 
eingetreten  Faloci-Pulignani,  Miscellanea  Franc.  VII,  S.  146 ff. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      59 

enden  sah  und  den  Bruder  Elias  zum  Führer  der  Gegner, 
zum  willigen  Werkzeug  der  Kurie  machte,  mufste  Thomas, 
der  Franzens  Verhältnis  zu  Elias  und  zur  Kurie  als  ein 
höchst  freundschaftliches  schildert,  der  skrupellose  Anhänger 
dieser  Partei  sein.  —  Ich  habe  mich  au  anderer  Stelle  aus- 
führlich gegen  diese  Theoi'ie  ausgesprochen  ^ ;  ich  habe  den 
Nachweis  zu  führen  gesucht,  dafs  es  sich  bei  dem  Unter- 
nehmen des  Heiligen  von  Anfang  an  um  die  Entwicklung 
zum  Mönchtum  hin  gehandelt  hat,  dafs  sich  aber  die  neue  Ge- 
meinschaft aus  primitiven  Formen  im  Laufe  eines  reichlichen 
Jahrzehnts  erst  völlig  entwickelt  hat.  Auf  Grund  von  Fran- 
zens eigenen  Angaben  und  von  ]\Iitteilungen  ganz  unbeein- 
flufster  Quellen  dieses  ersten  Jahrzehnts  ist  meines  Erachtens 
die  Tertiarierthese  Sabatiers  und  Mandonnets  zu  widerlegen, 
und  damit  fällt  auch  die  Meinung  von  dem  gewalttätigen 
Eingreifen  der  Kurie  und  von  den  dadurch  hervorgerufenen 
Konflikten  im  Orden  —  ohne  dafs  deshalb  gewisse  Konflikte 
und  eine  Beeinflussung  des  Ordens  durch  die  römische  Kurie 
geleugnet  werden  sollen.  Es  war  notwendig,  bei  einer 
solchen  Untersuchung  die  Legenden,  gegen  die  sich  der 
Verdacht  der  schlimmsten  Parteilichkeit  erhob,  zunächst  ganz 
beiseite  zu  lassen;  ist  aber  die  Theorie  Sabatiers  und  seiner 
Nachfolger  ^  einmal  erschüttert,  so  darf  man  nun  an  die 
Legenden  herangehen  und  ihren  Wert  ohne  die  Last  eines 
Vorurteils  prüfen.  Läfst  man  auch  die  Theorie  Sabatiers 
fallen,  so  ist  damit  selbstverständlich  noch  nichts  Entschei- 
dendes für  die  Zuverlässigkeit  Celanos  gewonnen ;  ein  sicheres 
Urteil  darüber  kann  nur  aus  der  Prüfung  der  Vita  prima 
selber  abgeleitet  werden. 

Die  erste  Frage  gilt  der  Persönlichkeit  des  Thomas 
von  Celano.  Dafs  er  der  Verfasser  der  ältesten  Franz- 
legende ist,  wird  zwar  nicht  durch  die  Vita  prima  selber 
bestätigt,    ist    aber    anderweitig    beglaubigt:    durch    Jorda- 


1)  Hist.  Vierteljahrsschrift  1903,  S.  19—50. 

2)  Ich  werde  im  Folgenden  der  Kürze  halber  nur  von  der  Tlioorie 
Sahaticis  sprechen;  auf  ihn  poht  doch  im  Grunde  alles  ziiiück,  was 
Mandonnot.  Lompp,  Minocchi  und  andere  über  Franzens  Verhältnis  zur 
Kurie  gesagt  hal)cn. 


60  GOETZ, 

nus  de  Jano  ',    durch    Salimbene  ^    und    durch  Bernhard  de 
Bessa  ^. 

Über  sein  Leben  und  über  seine  Beziehungen  zu  Franz 
ist  die  Kunde  dürftig  genug  *.  Er  hat  dem  Minoritenorden 
angehört,  aber  der  Zeitpunkt  seines  Eintritts  in  den  Orden 
bleibt  ungewifs  ^ ;  sicher  ist  nur,  dafs  er  weder  zu  den 
Jüngern  der  ältesten  Zeit  noch  später  zu  den  vertrauten 
Genossen  des  Heiligen  gehört  hat.  Die  erste  sichere  Nach- 
richt über  Thomas  stammt  aus  dem  Jahre  1221:  nach  dem 
Pfingstkapitel  dieses  Jahres  ist  er  mit  den  andern  Brüdern  der 
deutschen  Mission  nach  Deutschland  gegangen  und  hat  dort 
nachweislich  mindestens  bis  Herbst  1223  geweilt^.  Ob  er 
bald  darauf  oder  erst  etwas  später  nach  Italien  zurückkehrte, 


1)  Anal.  Franc.  I,  S.  8  n.  19:  „Thoma  de  Celano,  qui  legendam 
s.  Francisci  et  primam  et  secundam  postea  conscripsit." 

2)  Zum  Jahre  1244  (ed.  Parm,  S.  60):  der  Generalminister  „prae- 
cepit  Thomae  de  Cellano,  qui  primam  legendam  b.  Francisci  fecerat,  ut 
iterum  scriberet  alium  librum." 

3)  Anal.  Franc.  III,  S.  666:  „beati  Francisci  vitam  scripsit  ... 
frater  Thomas  iubente  domino  Gregorio  Papa." 

4)  Die  spärlichen  Notizen  über  Thomas  sind  zusammengestellt  bei 
6.  Voigt,  Denkwürdigkeiten  des  Jordanus  von  Giano,  Abb.  d.  sächs. 
Ges.  d.  Wiss.  XII,  S.  455  ff.  —  Evers  in  der  prot.  Realencykl.,  J  eil  er 
bei  Wetzer  und  Weite  geben  nichts  von  Bedeutung. 

5)  Aus  den  Worten  der  Vita  prima,  I,  20:  Franz  wird  durch 
Krankheit  verhindert,  nach  Marokko  zu  gehen;  so  fügte  es  Gott,  „cui 
mei  et  multorum  ...  placuit  recordari",  denn  Franz  kehrte  zur  Por- 
tiuncula  zurück  und  „tempore  non  multo  post  quidam  litterati  viri  et 
quidam  nobiles  ei  gratissime  adhaeserunt"  —  hat  man  geschlossen,  dafs 
Thomas  auf  seinen  Eintritt  in  den  Orden  habe  hinweisen  wollen  und 
dafs  1215  oder  1216  dafür  anzusetzen  sei  (Acta  Sanct.  Oct.  II,  S.  546 
n.  6;  Sabatier,  Vie  de  S.  Frangois,  S.  LUX  f.).  Aber  eine  sichere 
Chronologie  läfst  sich  für  Franzens  Reise  nach  Marokko  nicht  fest- 
setzen; bezieht  sich  die  angeführte  Stelle  wirklich  auf  Celanos  Eintritt 
in  den  Orden,  so  kann  man  nur  vermuten,  dafs  er  etwa  zwischen  1213 
und  1216  stattgefunden  hat.  Ein  ganz  junges  Ordensmitglied  war 
Thomas  1223  jedenfalls  nicht,  da  er  in  Deutschland  schon  in  diesem 
Jahre  Kustode  wurde.  —  Dafs  Thomas  —  auf  Grund  von  2.  Celano 
III,  4  —  1220  in  Bologna  gewesen  sein  müsse,  ist  kein  zwingender 
Schlufs.  Aus  den  Untersuchungen  über  die  Vita  secunda  wird  hervor- 
gehen, dafs  es  sich  um  einen  der  Mitarbeiter  Celanos  handeln  kann. 

6)  Vgl.  die  Angaben  des  Jordanus  für  die  Jahre  1221,  1223. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.      61 

läfst  sich  nicht  entscheiden;  aber  von  etwa  1226  an  mufs 
er,  wenn  nicht  für  immer,  so  doch  für  die  nächsten  Jahre 
in  Italien  gewesen  sein  ^.  In  diese  Zeit  fällt  die  Abfassung 
der  Vita  prima. 

Aus  dem  Gesagten  geht  bereits  hervor,  dafs  Thomas  nicht 
allzu  lange  und  nicht  allzu  enge  mit  Franz  in  Berührung 
kommen  konnte.  Selbst  wenn  er  schon  1213  in  den  Orden 
eingetreten  sein  sollte,  so  bleiben,  da  Franz  fast  ununterbrochen 
umhergewandert  ist  und  1219  — 1220  im  Orient  war,  nur  vor- 
übergehende Begegnungen  aus  der  Zeit  vor  Pfingsten  1219 
und  dann  wieder  aus  der  letzten  Lebenszeit  des  Heiligen 
übrig.  Darauf  deuten  auch  die  Aufserungen  Celanos  hin;  im 
Prolog  der  Vita  prima  sagt  er,  er  wolle  von  Franz  erzählen, 
„quae  ex  ipsius  ore  audivi  vel  a  fidelibus  et  probatis  testibus 
intellexi"  ^;  im  c.  1  des  zweiten  Teiles  heifst  es:  er  berichte 
über  die  zwei  letzten  Lebensjahre  des  Heiligen,  „prout  po- 
tuimus  recte  scire".  Man  mufs  daraus  schliefsen,  dafs  Tho- 
mas ein  ursprüngliches,  eigenes  Wissen  über  den  Heiligen 
doch  nicht  besafs,  dafs  er  nichts  mit  ihm  durchlebt  hatte 
und  dafs  ihm  die  in  vieler  Hinsicht  wichtigste  Periode  dieses 
Lebens,  die  letzten  Jahre,  in  denen  Franz  den  vertrauten  Jün- 
gern sein  Inneres  am  stärksten  aufschlofs  und  die  Ergebnisse 
seines  Wirkens  aufgehen  sah,  nur  von  aufsen  her,  durch  Be- 


1)  Seit  1223  wird  Thoraas  bei  Jordanus,  von  einer  beiläufigen  Be- 
merkung zum  Jahr  1230  abgesehen,  nicht  mehr  erwähnt.  Aus  Jordanus 
n.  51  schlofs  man,  dafs  Thomas  1227  zum  Generalkapitel  nach  Assisi 
gekommen  sein  müsse,  da  er  als  Kustode  zur  Begleitung  des  deutschen 
Provinzialmmisters  gemäfs  der  Ordensregel  verpflichtet  war.  Zweierlei 
spricht  dagegen:  Thomas  wird  zwar  1223  Kustode,  aber  bei  der  noch 
im  gleichen  Jahre  erfolgenden  Neueinteilung  der  deutschen  Kustodien 
wird  er  bei  Jordanus  nicht  erwähnt.  Zweitens  nennt  sich  im  Tractatus 
de  Miraculis  II,  5  (Anal.  BoU.  XVIII,  S.  116)  der  Verfasser  als  gegen- 
wäitig  beim  Tode  des  Heiligen  und  als  einen  der  Augenzeugen,  die 
schon  bei  Lebzeiten  des  Heihgen  etwas  von  den  Stigmen  gesehen  hatten. 
Ist  nun  der  Tractatus  wirklich  von  Thomas,  was  ich  freilich  nicht  so 
glatt  zu  behaupten  wase,  so  müfi^te  dieser  jedenfalls  schon  vor  dem 
Tode  des  Heiligen  nach  Italien  ziirückjiekc'lirt  sein.  Zu  den  ,, vertrauten" 
Gefährten  hat  er  aber  keinesfalls  gehört. 

2)  Vgl.  auch  1.  Celano  I,  21  bei  dem  Bericht  über  die  Vögel- 
predigt: „ut  ipse  [Franz]  diccbat  et  qui  cum  co  fuerant  fratres." 


62  GOETZ, 

richterstatter  erschlossen  werden  konnte.  Auf  diese  Gewährs- 
männer und  auf  Celanos  Abhängigkeitsverhältnis  von  ihnen 
wird  es  ankommen ;  nach  unsern  Anschauungen  würde  es  für 
Thomas  vielleicht  möglich  gewesen  sein ,  aus  verschiedenartigen 
Zeugnissen  ein  objektiveres  Leben  des  Heiligen  zu  schreiben 
als  irgend  einer  der  Jünger,  die  unter  dem  Eindruck  ihrer 
Erlebnisse  ganz  im  kritiklosen  Banne  des  Heiligen  standen! 
Da  ist  es  nun  bedeutungsvoll,  dafs  die  Vita  prima  im 
Auftrage  Papst  Gregors  IX.,  der  früher  als  Kardinal  von 
Ostia  Protektor  des  Ordens  gewesen  war,  geschrieben  wurde: 
„jubente  domino  et  glorioso  Papa  Gregorio''  heifst  es  im 
Prolog  der  Vita.  Und  ist  die  Schlufsnotiz  einer  Pariser 
Handschrift  richtig,  so  hat  Gregor  IX.  am  25.  Febr.  1229 
in  Perugia  das  Werk  in  Empfang  genommen  und  bestätigt 
(„recepit,  confirmavit  et  censuit  fore  tenendam")  ^.  Selbst 
wenn  diese  Notiz  nicht  stichhaltig  sein  sollte,  ergeben  sich 
doch  als  weiteste  Grenzen  für  die  Entstehung  der  Vita  prima 
der  Tod  des  Heiligen  (Oktober  1226)  und  die  dem  Ver- 
fasser noch  unbekannte  Überführung  des  heiligen  Leich- 
nams aus  der  Kirche  S.  Giorgio  nach  S.  Francesco  zu 
Pfingsten  1230.  Da  Thoraas  aber  mit  der  Beschreibung  der 
Kanonisation  am  16.  Juli  1228  abschliefst  und  da  dieses 
Ereignis  am  leichtesten  den  päpstlichen  Auftrag  erklärt,  so  ist 
es  nicht  zu  gewagt,  den  Zeitraum  vom  Sommer  1228  bis 
zum  Februar  1229  als  wahrscheinlichste  Abfassungszeit  der 
Vita  prima  anzusetzen.  In  dieser  ganzen  Zeit  befand  sich 
die  päpstliche  Kurie  in  Perugia  und  vorübergehend  in  Assisi ; 
im  Auftrage  des  Papstes  schrieb  Thomas  —  dafs  er  unter 
dem  Einflufs  des  energischen  und  seine  Meinungen  gewifs 
nicht  zurückhaltenden  Papstes  und  des  ihm  ergebenen  Bruders 
Elias  geschrieben  habe,  ist  die  nächstliegende  Folgerung, 
und  das  reiche  Lob,  das  in  der  Schrift  dem  Papste  erteilt 
wird,    verstärkt    die   Berechtigung    dieses   Schlusses.     Wäre 


1)  Vgl.  hierzu  Sabatier,  Yie  de  S.  Frnngois,  S.  LIl  und  Spe- 
culum  Pei  f. ,  S.  XCVIII  f.  Über  die  Unsicherheit  und  nicht  zu  über- 
schätzende Tragweite  dieser  Notiz  vgl.  Tilemann  a.  a.  0.,  S.  30 f.  — 
Faloci-Puliguani  setzt  diese  Notiz  versehentlich  ins  Jahr  1231: 
Mise.  Franc.  VII,  S.  U8. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FUANZ  VON  ASSISL       63 

Sabatiers  Anschauung  richtig,  dafs  gerade  der  Kardinal  von 
Ostia  die  wahren  Absichten  Franzens  durchkreuzt  hat,  so 
wäre  es  freilich  kaum  anders  möglich,  als  dafs  die  Schrift 
Celanos   parteiisch    den    Zwecken    des  Papstes    dienen  sollte. 

Ich  verweise  hier  von  neuem  auf  die  Untersuchung,  die 
diesen  Gegensatz  zwischen  Franz  und  dem  Kardinal  von 
Ostia  durchaus  bestreitet,  und  die  Konflikte,  die  in  die  letzte 
Lebenszeit  des  Heiligen  unzweifelhaft  fallen,  in  anderer  Weise 
aufzufassen  sucht:  als  unausbleibliche  Konflikte  zwischen 
einem  unerfüllbaren  Ideal  und  der  mit  Durchschnittsmenschen 
arbeitenden  Wirklichkeit  ^  Die  Legenden  selber  liefern  noch 
ein  zweites  allgemeines  Argument  gegen  die  Richtigkeit  der 
Sabatierschen  Anschauung:  die  absichtlich  parteiische,  ja 
betrügerische,  fälschende  Tendenz  mufs  dann  nicht  nur  der 
Vita  prima,  sondern  —  trotz  mannigfach  veränderter  An- 
schauungen —  auch  der  Vita  secunda  und  der  Legende 
Bonaventuras  vorgeworfen  werden :  sie  alle  verschweigen 
gleichmäfsig,  was  Sabatier  für  den  wahren  V\'illen  des  Heiligen 
nimmt.  In  diesem  planmäfsigen  Betrug  sind  Gregor  IX. 
als  Anstifter,  sein  „Werkzeug"  Elias  und  grofse  Kreise  des 
Ordens  mit  verwickelt;  ja  die  treuesten  Anhänger  des  Heiligen, 
wofür  Sabatier  die  Verfasser  des  Speculum  Ferf.  und  der 
Legenda  trium  Sociorum  ausgibt,  haben  dann  zum  mindesten 
die  Schuld  des  feigen  Schweigens  gegenüber  mächtigen  Geg- 
nern, denn  auch  ihre  Schriften  lassen  sich,  wie  man  mit  aller 
Bestimmtheit  feststellen  mufs,  nur  durch  eine  sehr  subjektive 
Auslegung  zu  gunsten  Sabatiers  verwerten  ^.  Selbst  wenn  man 
bei  der  Diplomatie  und  dem  hierarchischen  Egoismus  der  römi- 
schen Kurie  recht  viel  für  möglich  hält  —  hier  läge  ein  unglaub- 
licher Fall  geschichtlicher  Fälschung  und  raffinierten  Zusammen- 
haltens einer  Partei  vor.  Nicht  nur  die  historische  Kritik, 
auch  der  gesunde  Menschenverstand  müssen  sich  gegen  die 
Annahme    so   gehäufter    menschlicher  Schlechtigkeit  wehren. 

Nun  fällt  freilich  schon  vieles  von  dieser  Theorie,  wenn 

1)  Ilist.  Viorteljahrsschr.  1903,  S.  85  ff.,  42  ff.;  über  Elias  iiiul 
Franz:  ebd.   1902,  S.  291. 

2)  Vfil.  IHst.  Vinrtoljalussdir.  1903,  S.  34  .\uin.  2  und  S.  43  An;ii.  1. 
Vgl.  ferner  unten  S    75. 


64  GOETZ, 

die  Entstehung  des  Speculum  Perfectionis  im  Jahre  1227 
von  ihrem  Begründer  aufgegeben  wird,  wenn  die  Vita  prima 
also  auch  nicht  die  Gegenschrift  einer  andern  Partei  sein  kann. 
Es  fällt  damit  aber  auch  das  Hauptargument  für  die  An- 
nahme, dafs  bei  Entstehung  der  Vita  prima  die  Parteigegen- 
sätze im  Minoritenorden  so  stark  gewesen  seien,  dafs  Thomas 
von  Celano  notwendig  im  Dienste  der  einen  Partei  hätte 
schreiben  müssen.  Sichere  direkte  Beweise  für  solche  Par- 
teiung  im  Orden  sind  für  die  drei  ersten  Jahre  nach  dem  Tode 
des  Heiligen  nicht  herbeizubringen ;  die  Vita  prima ,  unbe- 
fangen betrachtet,  gibt  vielmehr  eine  Reihe  von  Anzeichen, 
dafs  zwischen  den  vertrautesten  Jüngern  des  Heiligen  und 
Gregor  IX.  und  Elias  kein  offener  Konflikt  bestanden  haben 
kann  und  dafs  Thomas  von  Celano  so  wenig  im  Dienste  einer 
Gegenpartei  schrieb,  dafs  er  vielmehr  bei  Abfassung  der  Vita 
prima  auch  den  vertrauten  Jüngern  mancherlei  zu  danken  hatte. 
Ich  weise  auf  folgende  Punkte  hin.  Aus  dem  Schreiben 
des  Elias  vom  4.  Oktober  1226,  wodurch  er  dem  Orden 
Mitteilung  vom  Tode  des  Heiligen  und  von  den  Stigmen 
machte,  ist  zu  ersehen,  dafs  Elias  —  damals  wenigstens  — 
weder  über  den  Zeitpunkt  noch  über  den  Ort  der  Stigmati- 
sation etwas  Sicheres  wufste  —  er  hätte  das  unerhörte  Er- 
eignis sonst  sicherlich  mit  bestimmteren  Angaben  beglaubigt  ^. 
Thomas  von  Celano  hat  dieses  Schreiben  des  Elias  vor  sich 
gehabt;  aber  er  weifs  weit  mehr:  er  weifs,  dafs  der  Vorfall 
sich  auf  dem  Alverno  zwei  Jahre  vor  dem  Tode  des  Heiligen 
ereignete,  er  beschreibt  die  Erscheinung  des  gekreuzigten 
Seraphs  so  genau,  als  ob  Franz  selber  ihm  davon  erzählt 
hätte.  Woher  hatte  Thomas  dieses  Wissen?  —  Es  steht  zu- 
nächst fest,  dafs  Bruder  Leo  1224  mit  auf  dem  Alverno 
gewesen  ist  ^,  dafs  er  also  einer  der  wenigen  war,  die  etwas 

1)  Das  Schreiben  ist  gedruckt  in  den  Acta  SS.  Oet.  II,  S.  668, 
ebenso  bei  Wadding,  Annales  Minorum  II,  1226  n.  44  und  bei 
Lempp,  Frere  Elie,  S.  70.  Die  Echtheit  des  Schreibens  wird  nicht 
so  sehr  durch  die  Notiz  bei  Jordanus  de  Jano  (zum  Jahre  1226)  als 
vielmehr  durch  die  offenbare  Benutzung  bei  1.  Celano  II,  3  und  II,  9 
verbürgt. 

2)  Vgl.  die  Benedictio  Leonis;  vgl.  oben  S.  9.  Ferner  auch  2.  Ce- 
lano II.  18. 


QUELLEN  ZUE  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      65 

Näheres  über  den  Vorfall  wissen  konnten  ^  Zweitens  gehen 
die  einzigen  direkten  Kachrichten,  die  wir  abgesehen  von 
Thomas  von  Celano  über  die  Stigmatisation  haben,  allein  auf 
Leo  zurück:  er  hat  in  seinen  der  sogen.  Benedictio  Leonis 
eigenhändig  beigefügten  Notizen  bezeugt,  dafs  Franz  zwei 
Jahre  vor  seinem  Tode  auf  dem  Alverno  die  Stigmen  er- 
halten habe,  und  er  hat  nach  der  Erzählung  des  Thomas 
von  Eccleston  ^  Auskunft  über  die  Erscheinung  des  Seraphs 
und  über  Mitteilungen,  die  Franz  darüber  dem  Bruder 
Rufinus  —  einem  andern  der  vertrautesten  Jünger  —  ge- 
macht habe,  gegeben.  Mit  diesen  beiden  einzigen  direkten 
Zeugnissen  stimmt,  was  Thomas  von  Celano  über  Ort,  Zeit 
und  Seraph  berichtet,  überein ;  und  weil  uns  überhaupt  nur 
Leo  und  Ruhnus  als  Wissende  über  das  Ereignis  feststellbar 
sind ,  da  alles  genauere  Wissen  darüber  nur  auf  den  ver- 
trautesten Jüngerkreis  zurückgehen  konnte,  so  laufen  die 
Fäden  von  der  Vita  prima  des  Thomas  von  Celano  hinüber 
zu  diesem  Kreise  und  also  wahrscheinlich  zu  den  münd- 
liehen Berichten  der  Brüder  Leo  und  Rufinus  ^.  Diese  Ver- 
mutung wird  noch  dadurch  gestützt,  dafs  Thomas  dann  (II,  3) 
Elias  und  Rufinus  als  diejenigen  nennt,  die  als  einzige  schon 
bei  Lebzeiten  des  Heiligen  die  Seitenwunde  gesehen  oder 
berührt  haben;  während  aber  Elias  dabei  nur  kurz  erwähnt 
wird,  ist  der  Vorfall,  bei  dem  Rufinus  die  von  Franz  ängst- 
lich  verborgene    Wunde   berührte,   ausführHch  erzählt:   wer 


1)  Die  Erklärung  des  Vorfalls,  wie  wir  sie  heute  suchen  müssen, 
ist  natürlich  ganz  unabhängin;  von  der  —  quellenuiäfsig  wohl  kaum  zu 
bestreitenden  —  Tatsache,  dafs  Franz  seit  Sept.  1224  die  Wundmale 
an  seinem  Körper  getragen  hat. 

2)  Anal.  Franc.  L  S.  245. 

3)  Auch  darauf  darf  hingewiesen  werden,  dafs  Salimbene  (ed.  1854, 
S.  75)  von  Bruder  Leo  gehört  haben  will,  wie  Franz  „in  morte  vide- 
batur  sicut  unus  crucifixus  de  cruce  depositus".  Thomas  von  Ce- 
lano, Vita  pr.  II,  9  sagt:  ., quasi  recenter  e  cruce  depositus  videbatur" 
(in  der  Ausgabe  Amonis  steht  „videret",  was  unrichtig  sein  nuifs;  Acta 
SS.  Oct.  II,  S.  714  n.  112  „videbatur").  Obgleicli  der  Vorgleich  mit 
einem  Gekreuzigten  nahe  lag,  wäre  es  doch  möglich,  dafs  Thomas  auch 
hieiboi  auf  eine  Aufserung  Leos  zurückging. 

5 


66  GOETZ, 

anders  als  Rufinus  selber  konnte  Thomas  davon  berichtet 
haben?  ^ 

Man  hat  den  angeblichen  Gegensatz  zwischen  dem  Thomas 
von  Celano  der  Vita  prima  und  den  vertrauten  Gefährten 
des  Heihgen  auch  dadurch  belegen  wollen,  dafs  er  ihre 
Namen  mit  Absicht  verschwiegen  habe.  Aber  man  betrachte 
doch  den  Lobgesang,  den  er  in  c.  6  des  zweiten  Teiles  auf 
diese  Gefährten  anstimmte:  „Erant  enim  illi  viri  virtutum, 
devoti  Deo,  placentes  sanctis,  gratiosi  hominibus,  super  quos, 
velut  domus  super  columnas  quatuor,  beatus  pater  Franciscus 
innitebatur."  Thomas  fügt  weiter  hinzu:  „Eorum  namque 
nomina  supprimo,  ipsorum  verecundiae  parcens,  quae  tamquam 

spiritualibus  viris  satis  est  ei  familiaris  et  amica Haec 

virtus  adornaverat  istos  ^,  haec  utique  gratia  omnibus  erat 
communis,  sed  singulos  virtus  singula  decorabat.  Erat  unus 
discretionis  praecipuae,  alter  patientiae  singularis,  gloriosae 
simplicitatis  alius,  reliquus  vero  secundum  corpoi-is  vires 
robustus  et  secundum  animi  mores  placabilis.  li  vero  omni 
vigilantia,  omni  studio,  omni  voluntate  beati  patris  quietem 
animi  excolebant,  infirmitatem  corporis  procurabant,  nullas 
declinantes  angustiaS;  nuUos  labores,  quin  totos  se  sancti 
servitio  manciparent". 

Es  dürfte  doch  unmöglich  sein,  aus  dieser  Stelle,  nur  weil 
die  Namen  dieser  vier  Gefährten  verschwiegen  sind,  auf  böse 
Absicht  des  Verfassers  gegenüber  den  treuesten  Anhängern 
des  Heiligen  zu  schliefsen.  Sollten  die  Namen  dieser  Männer 
in  den  Kreisen  des  Ordens  nicht  so  bekannt  gewesen  sein, 
dafs  es  der  Namensnennung  gar  nicht  bedurfte?  Denn  für 
die  neugierigen  Forscher  späterer  Jahrhunderte  schrieb  Thomas 
von  Celano  nicht!  Sollte  nicht  tatsächlich  ein  Wunsch  dieser 
Männer  —  den  Idealen  des  Heiligen  ganz  und  gar  ent- 
sprechend —  vorgelegen  haben,  dafs  ihre  Namen  nicht  ge- 
nannt  würden?     So   geschah  es   auch  in  der  Vita  secunda, 


1)  Der  Vorfall,  bei  dem  Elias  die  Seitenwunde  sah,  wird  erst  in 
der  Vita  secunda  III,  77  von  Thomas  genauer  erzählt. 

2)  Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  170  Anm.  1  gibt  aus  dem  Ms.  30  in 
Montpellier  hier  noch  den  Zusatz:  „haec  amabiles  et  benevolos  reddebat 
eos  hominibus." 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL       67 

obwohl  bei  ihrer  Abfassung  (wie  sogleich  genauer  ausgeführt 
werden  soll)  diese  vertrauten  Gefährten  direkt  beteiligt 
waren:  auch  da  ist  Leos  Name  verschwiegen,  obwohl  sich 
das  Erzählte  sicherlich  auf  ihn  bezieht  '.  Rufinus  aber, 
der  unzweifelhaft  zu  diesen  vertrauten  Freunden  gehörte  ^, 
wird  an  anderer  Stelle  von  Thomas  aufs  ehrenvollste 
und  auf  gleicher  Linie  mit  Elias  genannt  ^.  Hätte  Thomas 
die  Namen  der  vertrauten  Jünger  mit  Absicht  verschwiegen, 
so  wäre  das  angeführte  Lob  dieser  JMänner  eine  grenzenlose 
Perfidie  —  ein  solcher  Schriftsteller  müfste  seinen  niedrigen 
Charakter  wohl  in  so  starkem  Mafse  verraten  haben,  dafs 
man  die  Gründe  für  seine  Fälschertätigkeit  nicht  so  mühe- 
voll zusammenzutragen  brauchte !  Der  nächste  Schlufs  aus  der 
angeführten  Stelle  ist  doch  wohl:  Thomas  von  Celano  hat 
die  Freunde  des  Heiligen  aufrichtig  aufs  höchste  verehrt. 
Verschwieg  Thomas  dann  aber  —  wie  man  aus  seinen 
Worten  vermuten  kann  —  auf  Wunsch  dieser  Männer 
ihren  Namen,  so  ergibt  sich  ein  neuer  Hinweis,  dafs  sie 
die  Abfassung  der  Vita  prima  mit  ihrem  Anteil  begleitet 
haben  *. 


1)  2.  Celano  II,  18  u.  19.  —  In  der  Vita  secunda ,  wo  doch  kein 
Anlafs  der  Parteifeindschaft  mehr  vorliegen  konnte,  sind  die  Namen  der 
Brüder  häufig  verschwiegen;  vgl.  z.  B.  2.  Gel.  II,  21:  „frater,  quem 
plurime  diligebat."     Vgl.  hierzu  Tilemann  a.  a.  0.,  S.  28. 

2)  Das  ist  aus  1.  Celano  II,  3  zu  schliefsen  und  weil  er  später 
als  einer  der  „drei  Genossen"  genannt  wird. 

3)  1.  Celano  II,  3.  —  Man  beachte,  dafs  Celano  auch  an  anderer 
Stelle  den  Namen  eines  Bruders,  der  Franzens  Seele  angeblich  zum 
Himmel  auffahren  sah,  verschweigt,  „quoniam,  dum  vivit  in  carne,  non 
vult  tanto  praeconio  gloriari"  (1.  Gel.  II,  8).  Sollte  das  auch  eine  von 
den  Perfidien  des  Thomas  gegenüber  seinen  Gegnern  gewesen  sein  —  eine 
Perfidie,  die  sofort  nach  der  Veröfifentlichung  der  Vita  prfma  für  alle 
Welt  deutlich  zu  Tage  gelegen  hätte?!  Übrigens  ist  der  Name  dieses 
•wunderschauenden  Bruders  in  den  folgenden  Legenden  überall  verschwie- 
gen; erst  bei  Bernhard  von  Bessa  taucht  er  als  ein  frater  Jacobus 
auf  (Anal.  Franc.  III,  GG8).  Da  über  diesen  frater  Jacobus  nichts  fest- 
zustellen ist  (vgl.  Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  106  Anm.  1),  so  darf 
man  wohl  schliefsen,  dafs  er  nur  eine  sehr  bescheidene  Holle  gespielt 
hat,  und  es  wird  damit  noch  unwahrscheinlicher,  dafs  Celano  gegen 
ihn  giftige  Pfeile  gerichtet  habe. 

4)  Wenn   Thomas   die   hl.   Klara   und    den   Elias    rühmt    und   ihre 


68  GOETZ, 

Der  durchschlagende  Grund  für  das  Verhältnis  des  Thomas 
von  Celano  zu  den  Gefährten  des  Heihgen  und  für  seine 
allgemeine  Glaubwürdigkeit  liegt  aber  darin,  dafs  ihm  1247 
bei  Abfassung  seiner  Vita  secunda ,  als  sich  die  Gegensätze 
innerhalb  des  Ordens  sicherlich  erweitert  und  feindseliger 
gestaltet  hatten,  gerade  diese  Männer  ihr  vollstes  Vertrauen 
zum  Ausdruck  gebracht  haben.  Die  Vita  secunda  ist,  wie 
später  noch  ausführlicher  zu  begründen  sein  wird,  entstanden 
unter  der  Mitarbeit  der  vertrauten  Gefährten  oder,  wie  man 
sie  später  nannte,  der  drei  Genossen  ^ :  sie  haben  nicht  nur 
ihr  auf  Grund  des  Generalkapitelbeschlusses  gesammeltes 
reiches  Material  zur  Verfügung  gestellt,  sondern  sie  sind 
gemeinsam  mit  Thomas  die  Verfasser  der  Vita  secunda. 
Ihre  Mitarbeiterschaft  läfst  sich  nicht  nur  wie  bei  der  Vita 
prima  aus  einigen  Mitteilungen  folgern,  die  Thomas  nur  von 
ihnen    erfahren    haben   konnte  ^,    sondern  sowohl  der  Prolog 

Namen  nicht  verschweigt  —  was  man  gegen  Thomas  hat  ausspielen 
wollen  — ,  so  mufs  daraus  geschlossen  werden,  dafs  Klara,  wie  sehr 
leicht  begreiflich,  in  keinem  näheren  persönlichen  Verhältnis  zu  Thomas 
stand  und  dafs  Elias  die  demütige  Bescheidenheit  der  vertrauten  Genossen 
nicht  besafs,  was  ebenfalls  sehr  begreiflich  ist. 

1)  Nach  1.  Celano  II,  6  mufs  man  folgern,  dafs  es  vier  vertraute 
Gefährten  des  Heiligen  in  der  letzten  Zeit  seines  Lebens  gegeben  hat. 
Ihre  Namen  nennt  Celano  nicht;  aber  Leo  darf  man  sicher  dazu  rechnen 
und  nach  L  Cel.  II,  3  auch  Rufinus.  In  der  etwa  1254  geschriebenen 
Vita  S.  Clarae  werden  Leo  und  Angelus  erwähnt  als  „illi  duo  b.  Fran- 
cisci  socii  benedicti"  (Acta  SS.  Aug  I,  S.  764).  So  könnte  man  auch  ohne 
Heranziehung  des  nicht  völlig  gesicherten  Schreibens  der  drei  Genossen 
an  den  Generalminister  vom  11,  Aug.  1247  Leo,  Angelus  und  Rufinus 
als  drei  von  den  vier  bestimmen;  über  den  vierten  läfst  sich  nichts  sagen. 
Starb  er  frühzeitig,  so  dafs  es  1247  nur  noch  drei  Genossen  gab? 

2)  Aus  der  ersten  Person  der  Mehrzahl,  in  der  sich  der  Vei fasser 
der  Vita  sec.  mehrfach  ausdrückt,  läfst  sich  noch  nicht  auf  mehrere 
Verfasser  schliefsen ;  denn  auch  in  der  Vita  prima  spricht  Thomas  ge- 
legentlich in  der  Mehrzahl  (z.  B.  II,  1 ;  III  Einl.),  und  in  der  Vita  sec. 
wechseln  Einzahl  und  Mehrzahl  wiederhdlt  miteinander  (so  III,  38.  54. 
55.  61.  70.  86.  113).  Aber  2.  Cel.  II,  19  (betr.  Leos  Tunika)  und 
III,  41  mufs  aus  Berichten  der  Genossen  herstammen.  Auch  bei  III,  38 
(„quantum  oculis  vidimus")  und  III,  67  („ut  oculis  vidimus")  hegt  der 
Gedanke  nahe,  dafs  sich  die  erste  Person  der  Mehizahl  auf  die  Ge- 
nossen bezieht,  weil  sie  solche  intime  Szenen  jedenfalls  eher  als  Thomas 
erlebt  haben  konnten. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.      69 

der  Vita  secunda  wie  das  143.  Kapitel  des  di-itten  Teils  sind 
unumstöfsliche  Zeugnisse  dafür.  In  dem  Prologe  heifst  es:  es 
beliebte  dem  Generalkapitel  und  dem  Generalminister  „parvi- 
tati  nostrae  iniungere,  xxt  gesta  vel  etiam  dicta  .  .  .  Francisci 
nos,  quibus  ex  assidua  conversatione  illius  et  mutua  famili- 
aritate  plus  ceteris  diutinis  experimentis  innotuit  .  .  .  scri- 
beremus"  u.  s.  w.  Was  ferner  aber  die  Genossen  des  Hei- 
ligen im  c.  143,  in  der  „Oratio  sociorum  sancti  ad  eundem*^ 
über  den  Verfasser  (oder  besser  Redakteur)  der  Vita  secunda 
aussagen,  kann  noch  viel  weniger  mifsdeutet  werden:  es  ist 
die  öffentliche  Kundgabe  ihres  unbedingten  Vertrauens  zu 
dem  Verarbeiter  des  zum  guten  Teil  von  ihnen  gelieferten 
Materials.  Sie  sagen:  „Ecce,  beate  pater  noster,  simplicitatis 
studia  conata  sunt,  magnifica  tua  facta  utcumque  laudare 
.  .  .  iSed  scripsimus  haec  tua  dulci  memoria  delectati,  quam 
donec  vivimus  aliis  eructare  vel  balbutiendo  conamur  .  .  .'^ 
Es  folgt  die  Bitte  an  den  Heiligen,  sich  seiner  Horde  an- 
zunehmen, und  dann  die  Fürbitte  für  den  Generalminister. 
Dann  heifst  es  weiter:  „Supplicamus  etiam  toto  cordis  affectu, 
benignissime  pater,  pro  illo  filio  tuo,  qui  nunc  et  olim 
devotus  tua  scripsit  praeconia.  Hoc  ipse  opusculum,  etsi 
non  digne  pro  meritis,  pie  tamen  pro  viribus  coUigens  una 
nobiscum  tibi  offert  et  dedicat.  Dignanter  illum  ab  omni 
malo  conserva  et  libera,  merita  sancta  in  illo  adaugens". 

Von  der  Theorie  Sabatiers  ausgehend  bliebe  wiederum 
nichts  anderes  übrig,  als  den  plumpesten  Betrug  anzunehmen : 
Thomas  hätte  das  von  den  Gegnern  dem  Generahninister 
eingelieferte  Material  benutzt  und  zur  Erhöhung  seiner  Glaub- 
würdigkeit die  Genossen  des  Heiligen  in  geradezu  scham- 
loser Weise  als  seine  Freunde  und  Helfer  und  Fürbitter 
eingeführt  ^  —  ein  Betrug,  der  doch  sofort  entlarvt  werden 
mufste!  Mir  will  scheinen:  die  Möglichkeit  dieses  Betruges 
sich  ausdenken,  heifst  sie  verneinen.  Es  liegt  eine  seelische 
Unmöglichkeit  vor,  ganz  abgesehen  davon,  dafs  ein  Wider- 

1)  Sabatier,  Opusc.  de  crit.  bist.  III,  S.  70  Aiim.  1:  „Avec  une 
babilite  que  je  me  dispciiserai  de  qualifier,  Tboinas  de  Col.  parla  de 
fa9on  a  suggorer  ä  ses  lecteuis  l'idee,  que  la  seconde  Vie  avait  iHe 
faite  en  collaboiatioii  avec  les  Socii." 


70  GOETZ, 

Spruch  gegen  den  Fälscher  sich  in  der  spätem  Literatur 
vorfinden  müfste,  auch  wenn  der  erste  Protest  der  Ver- 
gewaltigten uns  verloren  gegangen  sein  sollte  ^. 

Es  bleibt  noch  ein  anderer  Ausweg:  haben  etwa  die 
Gegner  von  1228  sich  1247  zu  gemeinsamer  Arbeit  zu- 
sammengefunden, hat  etwa  Thomas  von  Celano,  belehrt 
durch  die  Ereignisse,  seinen  früheren  Parteistandpunkt  ver- 
lassen und  sich  mit  den  Genossen  des  Heiligen  ausgesöhnt, 
so  dafs  ihre  Worte  von  1247  der  Freude  über  einen  reu- 
mütigen Sünder  Ausdruck  gaben?  —  Auch  dieser  Ausweg 
ist  nicht  gangbar.  Denn  ein  solches  Vertrauen  konnten  die 
Genossen  einem  Manne  nicht  zuwenden,  der  1228  das  Leben 
des  Heiligen  so  parteiisch,  ja  so  lügenhaft  dargestellt  hatte. 
Den  Kampf  gegen  ihre  eigene  Person  konnten  sie  wohl 
verzeihen;  für  die  Fälschung  der  Überlieferung  hätten  sie 
aber  doch  wohl  zum  mindesten  als  Genugtuung  die  Ab- 
fassung einer  ganz  neuen,  wahrheitsgetreuen  Lebensbeschrei- 
bung verlangt,  wenn  sie  sich  mit  Thomas  ausgesöhnt  hätten. 
Nun  hat  die  Vita  secunda  gewifs  manchen  neuen  Zug  im 
Gegensatz  zur  Vita  prima,  aber  ich  nehme  voraus,  was 
weiter  unten  (S.  BOff.J  noch  bewiesen  wird,  dafs  die  Vita 
secunda  keine  neue  Legende,  sondern  nur  die  planmäfsige 
Ergänzung  der  Vita  prima  ist,  dafs  sie  in  den  wichtigsten 
Punkten,  die  nach  Sabatiers  Meinung  1228  gefälscht  sein 
sollen,  mit  der  Vita  prima  genau  übereinstimmt  und  dafs 
ihre  Abweichungen  von  der  Vita  prima  ihre  richtige  Er- 
klärung in  der  Verschiebung  der  Anschauungen  von  1228 
bis    1247    finden   —    eine   Verschiebung,    die   sich   bei   den 


1)  Sabatier  (Speculum  Perf.,  S.  LXXV)  nimmt  an,  dafs  Thomas 
von  Celano  auch  die  Vita  S.  Clarae  geschrieben  hat  —  eine  Meinung, 
der  ich  mich  nicht  ohne  Bedenken  anschliefsen  könnte.  Aber  von  Sa- 
batiers Standpunkt  aus  ist  es  dann  doch  auffallend,  wie  dieser  skrupel- 
lose Fälscher  immer  von  neuem  ehrenvolle  Aufträge  bekam;  so  niedrig 
stehende  Naturen  pflegen  sich  auch  mit  ihren  Freunden  zu  überwerfen. 
Und  auch  da  treibt  er  das  betrügerische  Spiel  weiter:  er  feiert  nicht  nur 
die  h.  Klara,  die  doch  zu  der  strengen  Richtung  der  Gegner  gehört 
hatte,  sondern  er  erwähnt  auch  Leo  und  Angelus  als  die  „duo  b.  Fran- 
cisci  socii  benedicti"  (Acta  SS.  Aug.  I,  S.  764)!  Vgl.  Tractatus  de  Mi- 
raculis  c.  3:  Rufinus  „angelice  puritatis  homo  Dei." 


QUELLEN  ZL-R  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VOX  ASSISL       71 

Genossen  des  Heiligen  in  ähnlicher  Weise  wie  bei  Thomas 
von  Celano  vollzielien  mufste. 

Es  bleibt  unter  diesen  Umständen  nur  übrig,  dafs  die 
vertrauten  Gefährten  des  Heiligen  1247  in  ganz  einwandfreier 
und  seit  langem  hergebrachter  Gesinnung  Thomas  von  Celano 
ihr  Vertrauen  bezeigt  haben.  Dann  ist  es  aber  auch  un- 
möglich, dafs  Thomas  1228  denselben  Männern  feindlich 
oder  auch  nur  fremd  gegenüber  gestanden  hat,  und  der 
letzte  Schlufs  aus  allen  diesen  Erörterungen  mufs  sein,  d  a  f  s 
die  Vita  prima  des  Thomas  von  Celano  in  der 
Hauptsache  auch  den  Auffassungen  des  vertrau- 
ten Jüngerkreises  entsprochen  hat.  Es  wird  sich 
noch  zeigen,  dafs  Thomas  keineswegs  ein  vollkommener 
Berichterstatter  ist;  aber  als  absichtlicher  Parteimann  hat 
er  nicht  geschrieben.  Dann  ergibt  sich  naturgemäfs  die 
weitere  P^lgerung,  dafs  1228  die  Gegensätze  im  Orden 
überhaupt  noch  nicht  so  stark  entwickelt  waren,  dafs  ein 
jeder  notwendig  Partei  ergreifen  mufste,  wenn  er  nicht  der 
einen  oder  andern  Seite  verdächtig  werden  wollte.  In  der 
Pietät  für  den  Heiligen  und  auch  in  der  Verehrung  fiir 
Gregor  IX.  scheinen  sich  damals  die  Gemüter  noch  ver- 
eint zu  haben,  obwohl  die  Gegensätze  gewifs  in  weiterer 
Entwickelung  begriffen  waren;  aber  es  ist  möglich,  dafs 
auch  die  Nächstbeteiligten  die  Tragweite  der  Gegensätze 
noch  gar  nicht  erkannten,  mochten  sie  auch  mit  Kummer 
manche  Erscheinungen  im  Orden  verfolgen. 

Aus  allgemeineren  Gesichtspunkten  und  ohne  dafs  der 
Inhalt  der  Vita  prima  bisher  näher  herangezogen  wurde,  ist 
somit  festgestellt  worden,  dafs  Thomas  von  Celano  eine  ten- 
denziöse Parteischrift  nicht  verfassen  konnte,  weil  die  von 
Sabatier  vorausgesetzten  Gegensätze  nicht  vorhanden  waren. 
Es  ist  vielmehr  zu  vermuten,  dafs  er  in  bester  Absicht  ge- 
schrieben hat,  und  die  weitere  Untersuchung  mufs  der  Frage 
gelten,  wie  der  Inhalt  der  Vita  selber  sich  zu  diesen  all- 
gemeinen Schlüssen  stellt  '. 

1)  Sabatier,  Sj)f!ciiluin  Perf,  S.  CII  meint,  wenn  man  der  Vita 
prima  einmal  p;laube,  so  müsse  man  ihr  unbedingt  glauben  —  das  ist 
aber  doch  ein  uiiannclimbarcr  Schhifs! 


72  GOETZ, 

Liest  man  die  Vita  prima  im  Zusammenhang,  so  erhält 
man  denselben  Eindruck  subjektiver  Ehi'lichkeit:  sie  ist  in 
heller  Begeisterung  für  den  Stifter  des  Ordens  geschrieben. 
Überall  tritt  diese  Gesinnung  zu  Tage;  am  stärksten  im 
zweiten  Teile  bei  der  Erzählung  von  Franzens  Tod  (I,  9 
und  10)  —  auch  das  müfste  also  alles  schnöde  Heuchelei 
gewesen  sein,  wenn  Thomas  sowohl  die  wahren  Ideale  des 
Heiligen  wie  ihre  Zurückdrängung  durch  Elias  und  den 
Kardinal  von  Ostia  gekannt  hätte.  Aber  ehrlicher  Wille 
und  Begeisterung  machen  den  Wert  einer  Quelle  noch  nicht 
aus.  Auch  andere  Vorzüge  können  angeführt  werden,  ohne 
dafs  sie  bereits  ein  günstiges  Endurteil  über  die  Vita  er- 
möglichen. Sie  ist  mit  grofser  schriftstellerischer  Gewandtheit, 
mit  absichtlich  kunstvoller  Rhetorik  geschrieben  —  Thomas 
mufs  eine  höhere  literarische  Bildung  besessen  haben  und 
sich  dadurch  trotz  seines  Mangels  an  eigenem  Wissen  über 
das  Leben  des  Heiligen  zur  Abfassung  der  Biographie  her- 
vorragend empfohlen  haben.  Die  Gefahr  lag  nahe,  dafs 
die  Rhetorik  die  Sachlichkeit  hier  und  da  unterdrückte; 
aber  es  mufs  der  Vita  prima  nachgerühmt  werden,  dafs  sie 
dieser  Gefahr  nicht  unterlegen  ist.  Man  kann  es  in  einer 
Hinsicht  deutlich  ermessen:  sie  bringt  nur  selten  Reden  des 
Heiligen,  während  die  spätere  Überlieferung  immer  reicher 
daran  wird.  Und  das  spricht  für  die  Ursprünglichkeit  und 
Treue  der  Erzählungen  der  Vita  prima,  denn  es  liegt  ja 
auf  der  Hand,  dafs  Ansprachen  und  längere  Ausführungen 
des  Heiligen  nur  ganz  selten  aufgezeichnet  worden  sind. 
Aber  das  Streben,  möglichst  viele  wörtliche  Aufserungen 
eines  Helden  zu  bringen,  ist  das  ständige  Kennzeichen 
späterer,  ausschmückender  und  frei  erweiternder  Überliefe- 
rung: je  gröfser  der  zeitliche  Abstand  von  den  berichteten 
Ereignissen  wird,  um  so  mehr  waltet  die  Phantasie.  In 
seiner  zweiten  Vita  ist  Thomas  diesem  zwingenden  Gesetze 
der  Überlieferung  schon  weit  stärker  unterlegen;  in  der 
ersten  überwiegt  noch  der  naive  W^ahrheitssinn.  Auch  die 
Zahl  der  Wunder,  die  Thomas  berichtet,  ist  noch  gering 
und  man  erkennt  zumeist  noch  die  Natürhchkeit  des  Vor- 
ganges   —    verehrungsvoll,     aber     ohne    Übertreibung    ins 


QUELLEN  ZUIi  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.      73 

Wunderbare    sieht    Thomas    in    Franz    den    grofsen    Men- 
schen ^ 

Solche  Vorzüge  verstärken  wohl  das  schon  gevvoimene 
günstige  Vorurteil  für  die  Vita  prima,  aber  nur  die  Prüfung 
wichtiger  Einzelheiten  kann  lehren,  ob  Thomas  ein  objektiv 
treuer  Zeuge  ist  oder  nicht.  Ich  gehe  dabei  von  Punkten 
aus,  deren  richtige  Darstellung  gerade  Sabatier  als  Kenn- 
zeichen echter  Überlieferung  bezeichnet  hat.  Auf  Grund 
des  Speculum  Perfectionis  (c.  24,  27,  36)  hält  Sabatier 
Rivotorto,  eine  verlassene  Hütte  in  der  Ebene  unterhalb 
Assisi  dicht  bei  einem  Leprosenheim ,  für  den  ältesten  Auf- 
enthaltsort des  Heiligen  und  seiner  ersten  Jünger;  die  Über- 
siedlung zur  Portiuncula  fand  erst  später  statt.  Man  wird 
den  Nachweis  Öabatiers  annehmen  und  in  diesen  Angaben 
des  Speculum  Perfectionis  echte  alte  Überlieferung  sehen 
müssen ,  obwohl  oder  gerade  weil  die  spätem  Quellen 
Rivotorto  vollständig  verschwiegen  haben:  der  Ort  war  nun 
einmal  kein  Ordensheiligtum  geworden,  sondern  der  Ver- 
gessenheit anheimgefallen.  Die  Vita  prima  bestätigt  aber 
genau,  was  Sabatier  als  zur  echten  Überlieferung  gehörig 
ansieht:  sie  erzählt  (I,  16)  das  Leben  der  ältesten  Brüder 
in  einer  engen  verlassenen  Hütte  „in  loco  qui  dicitur 
Rigustortus'^  Damit  vergleiche  man  nun  die  Legenda 
trium  Sociorum,  die  von  den  drei  Genossen  stammen  soll: 
sie  berichtet  (c.  9),  dafs  Franz  nach  der  Aufnahme  der 
ersten  beiden  Jünger,  „cum  non  haberet  hospitium,  ubi  cum 
eis  maneret,  simul  cum  ipsis  ad  quandam  pauperculam 
ecclesiam  derelictam  se  transtulit,  quae  IS.  Maria  de  Portiuncula 
dicebatur".  Also  die  drei  Genossen,  unter  denen  doch  auch 
Bruder  Leo  war,  berichten  etwas  anderes  als  der  Bruder 
Leo  des  Speculum  Perfectionis?  Freilich  berichtet  dann 
dieselbe  Legenda  trium  Sociorum  an  anderer  Stelle  (c.  13 
nach    alter   Zählung)    in   fast   wörtlichem    Anschlufs    an    die 


1)  Wumlpr  enthalten  nur  die  Kapitel  23—26  des  eisten  Teiles. 
F'ür  den  Anlian;,'  ül)er  die  Wunder  im  dritten  Teil  daif  Thomas  nicht 
verantwortlich  gemacht  werden:  er  fü^t  nur  an,  was  bei  der  Kanoni- 
sation  verlesen  worden  ist,  und  es  sind  Wunder,  die  nach  dem  Tode 
des  Heiligen  geschehen  sein  sollen. 


74  GOETZ, 

genannten  Worte  der  Vita  prima:  „Conversabatur  adhuc 
pater  cum  aliis  in  quodam  loco  iuxta  Assisium,  qui  dicitur 
Rigustortus".  Dieser  Widerspruch  innerhalb  der  Legenda 
triura  Sociorum  zeigt  nicht  nur  die  Zuverlässigkeit  der  Vita 
prima  an  einer  Stelle,  wo  später  die  Überlieferung  vergefs- 
lich  wurde,  sondern  es  tritt  dabei  auch  mit  kaum  zu  be- 
seitigender Schärfe  hervor,  dals  die  Legenda  trium  Sociorum 
von  nicht  mehr  zuverlässig  unterrichteten  Geistern  kompiliert 
sein  mufs,  besonders  da  dies  nur  ein  Beispiel  unter  vielen  ist  ^ 
An  einer  zweiten  Stelle  sei  eingesetzt.  Ohne  Zuziehung 
der  Legenden  habe  ich  das  Verhältnis  Franzens  zum  Kar- 
dinal von  Ostia  klar  zu  legen  versucht:  ihre  ungetrübten 
freundschaftlichen  Beziehungen  betont,  ohne  doch  die  Gegen- 
sätze ihrer  Naturen  und  ihrer  Ziele  zu  vergessen  ^.  Man 
vergleiche  damit,  wie  Thomas  von  Celano  dieses  Verhältnis 
schildert.  Im  c.  27  des  ersten  Teils  der  Vita  prima  kommt 
er  zum  ersten  Mal  auf  den  Kardinal  von  Ostia  zu  sprechen 
und  entwickelt  gleich  hier  in  grundsätzlicher  Weise  seine 
Meinung  von  den  Beziehungen  der  beiden  Männer.  „Ad- 
haeserat  ei  [dem  Kard.]  s.  Franciscus  tamquam  filius  patri 
et  unicus  matris  suae,  securus  in  sinu  clementiae  suae  dor- 
miens  et  quiescens.  Pastoris  certe  ille  implebat  vicem  et 
faciebat  opus,  sed  sancto  viro  pastoris  reliquerat  nomen. 
Beatus  pater  necessaria  providebat,  sed  felix  dominus  illa 
provisa  effectui  mancipabat.  O  quanti  maxime  in  principio, 
cum  haec  agerentur,  novellae  plantationi  ordinis  insidiabantur, 
ut  perderent.  O  quanti  vineam  electam,  quam  dominica 
manus  benignissime  novam  in  mundo  plantabat,  sufFocare 
studebant Qui   omnes   tam   reverendi   patris  et  do- 


1)  Sabatiers  Auslegungsversuch,  dafs  llivotorto  der  Aufenthaltsort 
der  Brüder,  die  Portiuncula  aber  die  Stätte  des  Gebets  gewesen  sei,  ist 
nur  entstanden,  um  den  "Widerspruch  der  Leg.  tr.  Soc.  zu  beseitigen; 
einen  Beleg  dafür  gibt  es  nicht.  —  Dafs  die  Vita  sec.  des  Thomas 
llivotorto  nicht  mehr  nennt,  sondern  (III,  21)  nur  von  „quodam  loco" 
spricht,  zeigt,  wie  diese  Stätte  1247  schon  so  vergessen  war,  dafs  die 
namentliche  Erwähnung  keinen  Zweck  mehr  zu  haben  schien.  Aber 
wichtig  ist,  dafs  die  Vita  secuuda  von  dem  ältesten  Aufenthaltsort  eben 
doch  noch  weifs! 

2)  Eist.  Vierteljahrsschr.  1903,  S.  43  ff. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      75 

mini  gladio  interfecti  et  ad  nihilura  sunt  redacti.  Erat  enim 
rivus  eloquentiae,  murus  ecclesiae,  veritatis  assertor  et  amator 
humilium.  Benedicta  proinde  ac  meraorabilis  illa  dies,  in 
qua  sanctus  Dei  tarn  venerabili  domino  se  commisit.'' 

Im  zweiten  Teil  der  Vita  prima  c.  5  sagt  Thomas: 
Franz  erbat  sich  vom  Papst  Honorius  den  Kardinal  von 
Ostia  als  Ordensprotektor;  der  Kardinal  suchte  das  Amt 
so  gut  wie  möglich  zu  erfüllen;  „propterea  sanctus  pater 
modis  Omnibus  se  subjiciebat  ei  et  miro  ac  reverenti  eum 
venerabatur  affectu";  deshalb  nannte  Franz  in  seinen  Briefen 
den  Kardinal  „totius  mundi  episcopum"  und  begrüfste  ihn  oft 
mit  „benedictionibus  inauditis".  Dann  heifst  es  weiter  vom 
Kardinal:  „Nimis  quoque  amore  dictus  dominus  erga  sanctum 
virum  flagrabat  et  ideo,  quidquid  beatus  vir  loquebatur  et 
quidquid  faciebat,  placebat  ei  ....  Testatur  ipse  de  eo, 
quod  nunquam  in  tanta  esset  turbatione  seu  animi  motu, 
quod    in    visione   ac   collocutione    s.    Francisci    omne    mentis 

nubilum  non  discederet  rediretque  serenum Ministrabat 

iste  b.  Francisco  tanquam  servus  domino  suo,  et  quoties 
videbat  eum,  tanquam  Christi  apostolo  reverentiam  exibebat 
et  inclinato  utroque  homine  saepe  manus  eius  deosculabatur 
ore  sacrato." 

In  c.  5  des  zweiten  Teiles  entwirft  er  noch  eine  glän- 
zende Charakterschilderung  des  Kardinals,  der  „in  desiderio 
sanctitatis  cum  simplicibus  erat  simplex,  cum  humilibus  erat 
humilis,  cum  pauperibus  erat  pauper;  erat  frater  inter 
fratres,  inter  minores  minimus."  Und  in  der  Einleitung 
zum  dritten  Teile  der  Vita  prima  läfst  Thomas  den  nun- 
mehrigen Papst  Gregor  IX.  sich  freuen  über  die  Wunder  des 
toten  Franz,  seines  Sohnes,  „quem  sacro  portavit  in  utero,  fovit 
in  gremio,  lactavit  verbo  et  educavit  cibo  salutis." 

Sollte  man  glauben,  dafs  so  nur  ein  blinder  Verehrer 
des  Kardinals  von  Ostia  sprechen  konnte,  so  vergleiche  man 
damit,  was  die  angeblichen  Feinde  des  Kardinals,  die  Ver- 
fasser der  Legenda  trium  Soc.  —  Sabatier  sieht  sie  ja  für 
echt  an  —  über  den  Kardinal  sagen;  es  kommt  in  der 
Hauptsache  auf  das  gleiche  hinaus.  Im  c.  XVI  (nach  alter 
Zählung)  heifst  es :  „Videns  b.  Franciscus  fidem  et  dilectionem, 


76  GOETZ, 

quam  habebat  ad  fratres  dictus  dominus  Hostiensis,  ipsum 
cum  intimis  cordis  affectuosissime  diligebat"  ....  Später  sei 
der  Kardinal  Papst  geworden,  ,,qui  tam  fratrum  quam  ali- 
orum  Religiosorum  et  maxime  pauperum  Christi  usque  in 
finem  vitae  suae  extitit  benefactor  praecipuus  et  defensor; 
unde  non  immerito  ereditur,  ipsum  esse  sanctorum  collegio 
sociatum."  Das  also  sagten  die  drei  Genossen  von  dem 
Manne,  der  dem  Werke  ihres  Meisters  mit  aller  Kraft  ent- 
gegengearbeitet, ja  es  mit  einer  Diplomatie,  gegen  die  Franz 
nicht  aufkommen  konnte,  zerstört  hatte?  Die  mit  ihrer 
Legende  den  wahren  Idealen  des  Heiligen  wieder  Bahn 
brechen  und  die  Abgefallenen  im  Orden  bekämpfen  wollten, 
brachten  diese  Unwahrheit  in  ihre  Schrift  ^  ?  Bleibt  für 
Sabatier  und  seine  Anhänger  ein  anderer  Ausweg  offen,  als 
dafs  auch  die  vertrautesten  Jünger  des  Heiligen  unter  die 
Fälscher  gegangen  sind?  Will  man  das  nicht  annehmen 
und  die  Legenda  tr.  Soc.  doch  für  echt  halten,  so  wäre 
wiederum  ein  neuer  Beweis  gewonnen,  dafs  zwischen  Franz 
und  dem  Kardinal  der  behauptete  Gegensatz  nicht  bestanden 
haben  kann.  Bei  den  starken  Zweifeln  an  der  Echtheit  der 
Legenda  trium  Sociorum  ist  es  freilich  wichtiger,  dafs  auch 
die  Vita  secunda  des  Thomas  den  Standpunkt  der  Vita 
prima,  wenn  auch  nicht  ganz  so  enthusiastisch,  aber  doch 
in  der  Hauptsache  gleichartig  vertritt.  Unter  Tränen  läfst 
Thomas  da  den  Kardinal  die  Armut  der  Minoriten  bewun- 
dern und  er  fügt  hinzu:  „Hie  Ostiensis  ille  fuit,  qui  tandem 
ostium  maximum  in  ecclesia  factus  semper  adstitit  beato 
patri,  donec  hostiam  sacram  animam  illam  beatam  coelo 
refudit.  O  pius  portus,  o  viscera  caritatis!  In  alto  positus 
dolebat  alta  merita  non  habere,  cum  revera  sublimior  esset 
virtute  quam  sede"  (III,  9).  Ebenso  hinterläfst  die  Unter- 
redung zwischen  Franz  und  dem  Kardinal,  von  der  Thomas 
etwas  später  berichtet  (III,  19),  den  Eindruck,  dafs  der 
Kardinal  von  aufrichtiger  Verehrung  für  Franz  erfüllt  ge- 
schildert werden  soll;  nach  Tyrannei  sieht  es  nicht  aus,  wenn 


1)  Vgl.   hierzu  noch    Hist.    Vierteljahrsschr.    1903,    S.  43   Anni.  1, 
wo  auch  die  betr.  Stellen  des  Speculum  Perfectionis  herangezogen  sind. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      77 

der  Kardinal  zuletzt  zu  Franz  sagt :  „  Fili,  quod  bonum  est 
in  oculis  tuis,  lac,  quia  Dominus  tecum  est."  So  bestätigen 
die  Genossen  des  Heiligen  in  der  Vita  secunda  durch  den 
Mund  Celanos  die  Angaben  der  Vita  prima.  Es  ist  freilich 
eine  ganz  andere  Frage,  ob  diese  Angaben  der  beiden 
Lebensbeschreibungen  vollständig  sind,  ob  sie  alles  bringen, 
was  über  das  Verhältnis  der  beiden  Männer  gesagt  werden 
konnte  und  heute  zur  richtigen  Erkenntnis  des  Heiligen 
festgestellt  werden  mufs.  Darüber  wird  bei  den  kritischen 
Einwänden  zu  sprechen  sein,  die  gegen  Celanos  Darstellung 
zu  machen  sind  (s.  u.  S.  84  ff.).  Hier  genüge  zunächst  die 
Feststellung,  dafs  sich  hinsichtlich  des  Kardinals  von  Ostia 
die  bona  fides  Celanos,  gemessen  an  den  Anschauungen 
seiner  angeblichen  Gegner  und  an  den  Schlüssen  einer  all- 
gemeinen Untersuchung,  bewährt. 

Über  die  Anfänge  des  Ordens,  über  seine  künftige 
Gliederung  in  drei  Zweige  gibt  die  Vita  prima  nur  recht 
spärliche  Angaben  (I,  15);  aber  sie  bestätigen,  was  ich  nach 
andern  Quellen  festzustellen  versucht  habe  ^ :  dafs  der  erste 
Orden  der  Kern  der  franziskanischen  Bewegung  gewesen 
ist  und  dafs  der  Klarissen-  und  Tertiarierorden  ihm  nur 
angegliedert  worden  sind. 

Wie  schildert  Thomas  ferner  die  Gesinnung  und  die 
Ziele  des  Heiligen  ?  Es  ist  früher  ausgeführt  worden  ^, 
dafs  —  entgegen  allen  neueren  Konstruktionen  —  die 
Ideale  des  Heiligen  für  uns  nur  aus  seinen  eigenen  Auf- 
zeichnungen, vor  allem  aus  dem  Testament,  einwandfrei  zu 
erkennen  sind  und  dafs  nur  von  dort  aus  die  Angaben  der 
Legenden  kontrolliert  werden  müssen.  In  gleicher  Weise 
wie  für  die  Entwicklung  des  Ordens  das  Testament  und 
die  Mitteilungen  Jakobs  von  Vitry  als  Quellen  ausschlag- 
gebend sind  ^ ,  so  auch  für  die  Gedankenwelt  des  Heiligen 
in  erster  Linie  seine  eigenen  Aufzeichnungen. 

Die  wichtigsten  Gedanken  des  Testamentes  stehen  auch 
in  der  Vita  prima :  so  die  Befolgung  des  Evangeliums  (I,  30), 

1)  Ilist.  Vierteljahrsschr.  1903,  S.  33  ff. 

2)  Vpl.  oben  S.  7. 

3)  Hist.  Vierteljahrsschr.  1903,  S.  23. 


78  GOETZ, 

das  strenge  Armutsideal  (I,  14,  15,  19),  die  Pflege  der 
Leprosen  (I,  7),  das  Gehorsarasideal  (I,  15  und  17),  die 
Notwendigkeit  der  Handarbeit  (I,  15,  auch  I,  JO),  das  de- 
mütige Verhältnis  zu  den  Priestern,  also  zur  Kirche  (I,  15, 
17,  22,  27;  vgl,  auch  F.'s  doch  ganz  freiwillige  Reise  nach 
Rom  I,  13).  Wie  wird  von  Thomas  das  strenge  Leben 
der  ältesten  Brüder  gerühmt  (I,  15)  —  es  liegt  in  dieser 
Schilderung  der  schärfste  Gegensatz  zu  den  laxen  Anschau- 
ungen, wie  sie  nach  dem  Tode  des  Heiligen  im  Orden 
sich  ausbreiteten. 

An  einem  einzelnen  Beispiele  sei  der  enge  Zusammen- 
hang von  Testament  und  Vita  prima  noch  erläutert.  Im 
Kap.  17  des  ersten  Teiles  ist  nicht  nur  das  Gebet,  das 
Franz  den  Brüdern  lehrte,  wörtlich  angeführt  und  der  Ge- 
horsam in  seinem  Sinne  beschrieben,  sondern  auch  dieselbe 
übertriebene  Verehrung  des  Priesters  wird  gefordert  und  an 
einem  Beispiel  gerühmt.  Franz  hatte  im  Testamente  vor- 
geschrieben, die  Priester  als  „Herren"  zu  verehren  und  sich 
ihrem  Willen  zu  fügen,  selbst  wenn  sie  die  Brüder  ver- 
folgten: denn  er  wolle  an  den  Priestern  keine  Sünde  sehen, 
sondern  den  Sohn  Gottes,  weil  sie  das  Sakrament  verwalteten. 
Dieser  Anschauung  entspricht,  was  Celano  an  der  genannten 
Stelle  erzählt:  dafs  die  Brüder  nicht  aufhörten  bei  einem 
Priester  zu  beichten,  obwohl  ihnen  seine  vollendete  Nichts- 
würdigkeit mitgeteilt  wurde,  und  dafs  ein  Bruder  lange 
Zeit  gedrückt  umherging,  weil  ihm  dieser  Priester  —  oder 
ein  anderer,  sagt  Celano  —  gesagt  hatte:  „Vide,  frater, 
ne  sis  hypocrita."  Da  ein  Priester  nicht  lügen  könne,  so 
müsse  es  wahr  sein,  meinte  der  betrübte  Bruder.  Franz 
habe  ihm  dann  darüber  hinweggeholfen,  indem  er  „verbum 
sacerdotis  exposuit  et  eins  intentionem  sagaciter  excusavit." 
In  der  Wiedergabe  dieser  Erzählung  zeigt  sich  Celano  also 
in  engster  Übereinstimmung  mit  Franz,  und  zwar  an  einem 
Punkte,  der  auf  die  Dauer  gewifs  nicht  aufrechtzuerhalten 
war  und  dem  z.  B.  Bonaventura  später  direkt  widersprochen 
hat  \ 


1)  Bonaventura,  Opera  IX,  S.  382. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.      79 

Das  Testament  des  Heiligen  läfst  uns  die  Konflikte 
spüren,  die  in  seine  letzten  Lebensjahre  fallen ;  das  Verbergen 
dieser  Konflikte  hat  man  der  Vita  prima  ganz  besonders 
schwer  angerechnet.  Aber  nur,  weil  man  diese  Konflikte  in 
unrichtiger,  viel  zu  weit  gehender  Weise  vermutet  hatte, 
konnte  man  sagen,  dafs  Thomas  sie  verschweige;  von  den 
Konflikten,  die  man  auf  Grund  der  Quellen  und  einer  vor- 
sichtigen Kombination  feststellen  kann  ^,  spricht  die  Vita 
prima ,  wenn  auch  in  zurückhaltender  Form,  wie  es  pietät- 
voller Gesinnung  nahe  liegen  mochte  (s.  u.  S.  81  f.)  ^. 

Es  ist  zuzugeben,  dafs  ein  wichtiger  Punkt  des  Testa- 
mentes, die  Warnung  vor  päpstlichen  Privilegien,  in  der 
Vita  prima  nicht  erwähnt  wird  und  dafs  überhaupt  dem 
Testament  (trotz  Zitaten  und  Anlehnungen  an  dasselbe)  die 
Bedeutung  nicht  eingeräumt  wird,  die  Franz  selber  ihm 
geben  wollte.  Aber  wiederum  mufs  zur  Vorsicht  im  Urteil 
mahnen,  dafs  auch  die  Vita  secunda  das  Testament  in 
gleicher  Weise  zurücktreten  läfst  und  dals  weder  die  Legenda 
trium  Sociorum  noch  auch  das  Speculum  Perfectionis  das 
Testament  und  seinen  Zweck  im  Sinne  Franzens  verwerten  ^. 

Sollte  es  nicht  überhaupt  eine  unbillige  Forderung  sein, 
dafs  Thomas  in  seiner  Vita  prima  alles  und  jedes  hätte  er- 
wähnen und  bedenken  müssen ,  was  w  i  r  heute  für  wichtig 
ansehen?  Wie  vieles  hat  er  achtlos  übergangen,  was  er 
sicherlich  gewufst  hat  * ;  wie  vieles  mag  er  aus  Pietät  über- 
gangen oder  geglättet  haben,  um  das  Andenken  des  Heiligen 
ganz  hell  erscheinen  zu  lassen  und  die  vorhandenen  Gegen- 
sätze nicht  zu  verschärfen!  Eine  solche  Vermutung  wird 
gerade  dann  wahrscheinhch,  wenn  man  sich  1228  noch 
keine  offene  Spaltung  an  der  Geburtsstätte  des  Ordens 
denkt. 

1)  Vgl.  Bist.  Vierteljahrsschr.  1903,  S.  42  fif. 

2)  1.  Celano  I,  11  (Hinweis,  dafs  es  künftig  auch  minder  gute  Mit- 
glieder im  Orden  geben  werde),  II,  3  (Hinweis  auf  indiskrete  Genossen 
des  Heiligen),  II,  G  (die  Streber  im  Orden). 

3)  Vgl.  oben  S.   13. 

4)  Er  nennt  z.  ß.  (II,  10)  den  Namen  der  Kirche  nicht,  in  der 
Franz  beigesetzt  wurde;  er  spricht  nur  von  dem  „sacro  loco",  der  da- 
durch noch  geheiligter  geworden  sei.  —  Vgl.  ferner  unten  S.  86  f. 


80  GOETZ, 

Die  der  Vita  prima  Parteilichkeit  vorgeworfen  haben, 
stützten  sich  immer  mit  besonderem  Nachdruck  auf  den 
Unterschied  der  Auffassung,  der  zwischen  der  ersten  und 
zweiten  Vita  bestehe.  Aber  sind  die  Unterschiede  wirkhch 
so  grofs,  wie  man  behauptet  hat,  und  sind  sie  nur  durch 
einen  Parteiwechsel  Celanos  zu  erklären?  Ich  mufs  es  rund 
bestreiten.  Im  grofsen  Ganzen  ist  die  Vita  secunda  genau 
das,  was  sie  sein  will:  eine  Ergänzung  zur  Vita  prima  ^ 
Sie  vermeidet  in  den  weitaus  meisten  Fällen  irgend  etwas 
zu  wiederholen,  was  in  der  Vita  prima  bereits  gesagt  ist; 
nur  des  Zusammenhangs  halber  wird  hier  und  da  notwen- 
digerweise nochmals  kurz  berührt,  was  in  der  Vita  prima 
schon  ausführlicher  steht.  Wenn  trotzdem  einige  Male 
einzelne  Tatsachen  in  sich  widersprechender  Weise  be- 
richtet sind,  so  mufs  man  das  dem  Verfasser,  der  kein 
kritischer  Forscher  war,  wohl  zu  gute  halten  ■ —  man  wird 
in  jener  Zeit  kaum  einen  Anstofs  daran  genommen  haben  ^. 
Hinsichtlich  der  Gesamtanschauung  Celanos  ist  zuzugeben, 
dafs    sie    1247    etwas   anders   ist   als    1228.      Es    fragt    sich 


1)  Auch  Loofs,  Christi.  Welt  (1894),  S.  636  meint,  nach  dem 
Sturze  des  Elias  sei  die  erste  Vita  unbrauchbar  geworden  und  das 
Generalkapitel  habe  eine  neue  Vita  gewünscht.  Aber  die  Vita  sec. 
ist  kein  selbständiges  Ganzes;  das  ist  sie  nur  gemeinsam  mit  der 
Vita  prima. 

2)  Solche  Einzelwidersprüche  finden  sich  z.  B.  in  1.  Gel.  I,  10  und 
2.  Gel.  I,  10  (und  III,  52)  hinsichtlich  des  ersten  Jüngers;  doch  ist 
dabei  auf  2.  Gel.  II,  17  hinzuweisen,  wo  Übereinstimmung  mit  1.  Gel. 
I,  10.  Die  Vita  pr.  hat  gewifs  mit  ihrer  Angabe  recht;  dafs  der  un- 
bekannte, dem  Orden  vielleicht  wieder  verloren  gegangene  Jünger  in  der 
späteren  Überlieferung  verschwand,  erklärt  sich  leicht.  Ferner  ver- 
schiedenartige Schilderung  der  Eltern  in  1.  Gel.  I,  1  und  2.  Gel.  I,  1 
und  so  noch  öfters.  Die  Abweichungen  der  Vita  sec.  sollten  z.  T.  wohl 
Verbesserungen  der  Vita  prima  sein  (z.  B.  in  2.  Gel.  I,  2  einige  Klei- 
nigkeiten anders  als  in  1.  Gel.  I,  2);  z.  T.  sind  sie  gewifs  nur  Unacht- 
samkeiten, die  damals  von  niemand  schlimm  genommen  wurden.  —  Hinsicht- 
lich zweier  Stellen,  die  Sabatier,  Spec  Perf.,  S.  C  Anm.  2  als  Wider- 
sprüche zwischen  den  beiden  Viten  bezeichnet  hatte  (betr.  Benedictio 
und  Stigmen),  ist  inzwischen  der  Nachweis  geführt  worden,  dafs  keine 
Widersprüche  vorliegen:  Anal.  Bolland.  XIX,  S.  62.  Vgl.  auch  unten 
S.  83. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL  FRANZ  VON  ASSISL      81 

nur,  ob  diesei'  Unterschied  auf  einen  Frontwechsel  zurück- 
geführt werden  mufs  oder  nicht  weit  besser  auf  die  Ent- 
wickhing des  Ordens  und  auf  die  allgemeine  Umgestaltung 
mancher  Anschauungen  im  Laufe  eines  tür  die  Minoriten 
erfahrungsreichen  halben  Menschenalters.  Die  wesentlichen 
Anschauungen  des  Heiligen  sind  doch  in  beiden  Viten  ganz 
die  gleichen.  Das  Armutsideal  und  die  Demut,  der  Gehor- 
sam und  die  Askese,  die  Unterwerfung  unter  Kirche  und 
Priester,  die  Vorbildlichkeit  des  Evangeliums,  die  Leprosen- 
pflege  und  das  Verhältnis  zur  Natur  —  das  alles  steht  in 
der  Vita  prima  so  eindringlich  wie  in  der  Vita  secunda. 
Soll  man  nun  Celano  tadeln  oder  bösen  Willen  voraussetzen, 
weil  er  1247  eine  Reihe  von  Fragen  —  Einzeldinge  gegen- 
über den  Hauptanschauungen  des  Heiligen  —  behandelt, 
die  er  in  der  Vita  prima  noch  nicht  berührt  hatte?  Thomas 
hatte  für  seine  zweite  Arbeit  nicht  nur  zahlreiche  Ergän- 
zungen seines  früheren  Wissens  erhalten  —  deshalb  sollte 
ja  die  neue  Schrift  verfafst  werden  —  sondern  es  wurde 
auch  erst  in  späterer  Zeit  notwendig,  einreifsenden  Mifs- 
ständen  gegenüber  auf  den  Willen  des  Heiligen  zurück- 
zugreifen. Das  war  der  natürliche  Gang  der  Dinge.  So- 
lange Franz  lebte  und  gewifs  auch  noch  eine  Weile 
nach  seinem  Tode  wagten  sich  die  Abweichungen  von 
seinen  Vorschritten  und  Wünschen  noch  nicht  so  stark  her- 
vor; aber  in  den  folgenden  zwei  Jahrzehnten  wird,  ja  mufs 
vieles  geschehen  sein,  was  die  Vermenschlichung  der  Ordens- 
ideale anzeigte.  Und  vor  allem  bedeutete  das  Generalat 
und  die  Absetzung  des  Elias  (1233  — 1239)  die  allerschmerz- 
lichste  Erfahrung  für  die  Ordensmitglieder;  gleichviel  ob  Elias 
zu  einer  bestimmten  Partei  gehörte  oder  nicht:  er  verkörperte 
jedenfalls  einen  Abfall  von  dem  Lebensideal  des  Ordens- 
stifters. Ergab  sich  daraus  nicht  tür  die  ehrlichen  Anhänger 
des  HeiHgen  die  Verpflichtung,  strengere  Mafsstäbe  anzu- 
legen, die  Ideale  der  Gründungszeit  schärfer  und  eingehender 
zu  betonen?  Deshalb  in  der  Vita  secunda  die  spezielleren 
Ausführungen  über  das  Armutsideal:  das  Bekämpfen  des 
Häuserbesitzes,  der  gelehrten  Arbeit  und  des  Büciiersamraelns 
und  der  Hafs  gegen  das  Geld;  ferner  die  Ermahnungen  zum 


82  GOETZ, 

Bettel,  zum  geistlichen  Frohsinn  und  zur  Einfalt,  die  War- 
nungen vor  dem  Müfsiggang,  vor  jeder  Berührung  mit 
Frauen  und  vor  dem  Aufenthalt  an  einer  curia.  Deshalb 
aber  auch  das  Vorhandensein  mehrerer  Kapitel,  die  sich 
ohne  direkte  Berührung  mit  dem  biographischen  Zweck  nur 
auf  Mifsstände  der  Zeit  von  1247  beziehen  *. 

Man  hat  den  Unterschied  der  beiden  Viten  in  der  Be- 
handlung des  Elias  ganz  besonders  betont;  ergab  sich  aber 
nicht  gerade  diese  Verschiedenheit  aus  dem  Schicksal  des 
Elias?  Sein  Name  —  seit  1239  im  Orden  verfemt  —  ist 
in  der  Vita  secunda  allerdings  nicht  genannt,  aber  aus- 
gemerzt ist  er  trotzdem  aus  der  Erzählung  nicht :  als  vicarius 
Sancti  tritt  er  häufig  genug  als  ein  bekannter  Unbekannter 
auf,  und  was  einmal  in  der  Geschichte  des  Heiligen  mit 
Elias  zusammenhing,  ist  nicht  verschwiegen  worden  ^.  Nur 
an  einer  Stelle  könnte  man  von  einem  wirkhchen  Gegensatz 
der  beiden  Viten  sprechen.  In  der  ersten  Vita  II,  7  segnet 
Franz  auf  dem  Totenbett  vor  allen  andern  Brüdern  den 
Elias:  „Te,  fili,  in  omnibus  et  per  omnia  benedico,  et  sicut 
in  manibus  tiiis  fratres  meos  et  filios  augmentavit  Altissimus, 
ita  et  super  te  et  in  te  omnibus  benedico Bene- 
dico te  sicut  possum  et  plus  quam  possum  et  quod  non 
possum  ego,  possit  in  te,  qui  omnia  potest.  Recordetur  Deus 
operis  et  laboris  tui  et  in  retributione  justorum  sors  tua 
servetur.  Omnem  benedictionem ,  quam  cupis,  invenias,  et 
quod  digne  postulas,  impleatur."  In  diesen  Worten  des 
Sterbenden  liegt  eine  solche  Fülle  der  Anerkennung,  dafs 
man  zugleich  die  absichtliche  Designation  des  Nachfolgers 
darin  sehen  möchte.  Nun  bestätigt  die  Vita  secunda  III, 
139  durchaus,  dafs  Franz  auf  dem  Sterbebette  die  Brüder 
segnete  und  damit  bei  Elias  begann  („incipiens  a  vicario  suo") 
—  freilich  ohne  die  Segensworte  der  Vita  prima  zu  wieder- 
holen,   was   sich   aber   aus   der   ergänzenden   Art   der   Vita 


1)  So  2.  Celano  III,  98.  111.  113.  124,  vielleicht  auch  115. 

2)  Vgl.  2  Celano  III,  77  und  139,  —  Bei  den  Erwähnungen  des 
vicarius  Sancti  (II,  1  und  4;  III,  134.  139)  ist  freilich  nicht  sicher  zu 
sagen,  ob  sich  nicht  eine  dieser  Stellen  auf  Petrus  Cataneus  bezieht; 
auch  dieser  wird  mehrfach  (III,  13.  35.  115)  als  vicarius  bezeichnet. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      83 

secunda  oder  besser  noch  aus  dem  inzwischen  eingetretenen 
Abfall  des  Elias  genugsam  erklären  würde.  An  einer  andern 
Stelle  der  Vita  secunda  jedoch  (III,  116)  gibt  Franz,  als  man 
ihn  in  seiner  letzten  Lebenszeit  bittet,  einen  Nachfolger  zu  be- 
zeichnen, seufzend  das  Urteil  ab:  „tarn  multimodi  exereitus 
ducem,  tarn  ampli  gregis  pastorem  nullum  sufficientem  in- 
tueor;"  dann  beschreibt  er  den  Jüngern,  wie  ein  voll- 
kommener Generalminister  beschaffen  sein  müsse. 

Ich  will  es  nicht  versuchen,  den  Widerspruch  zu  lösen, 
indem  ich  den  Segen  der  Vita  prima  als  möglich  hinstelle 
neben  dem  Urteil  der  Vita  secunda,  dafs  kein  zum  General- 
ministeramt  vollkommen  geeignetes  Mitglied  im  Orden 
vorhanden  sei.  Aber  eine  andere  Lösung  bleibt  jedenfalls, 
die  in  den  Kreis  der  hier  vertretenen  Anschauungen  pafst 
und  auch  an  dieser  Stelle  ein  Zugeständnis  an  Sabatier  aus- 
schliefst ^.  Thomas  neigte  in  der  Vita  prima  unzweifelhaft 
dazu,  Gregor  IX.  und  Elias  zu  feiern:  sie  waren  nicht  nur 
seine  Auftraggeber,  sondern  auch  die  am  stärksten  hervor- 
tretenden Freunde  des  HeiUgen.  So  mag  die  benedictio, 
an  deren  Tatsache  nach  der  Vita  secunda  nicht  zu  zweifeln 
ist,  eine  übertreibende  Fassung  erhalten  haben.  Dann  aber 
bleibt  es  sehr  wohl  möghch,  dafs  Franz  zu  anderer  Zeit 
—  die  Vita  secunda  sagt:  prope  finem  vocationis  —  sich 
den  vertrautesten  Jüngern  gegenüber  dahin  ausgesprochen 
hat,  dafs  für  seine  Nachfolge  keiner  alle  notwendigen  Eigen- 
schaften besitze.  Das  konnte  Franz  aussprechen,  so  freund- 
schaftlich er  auch  Elias  gesinnt  war  —  ein  Unterschied 
zwischen  warmer  persönlicher  Freundschaft  und  der  un- 
bedingten Empfehlung  für  das  oberste  Amt  des  Ordens 
durfte  gemacht  werden.  Nachdem  Elias  gescheitert  war, 
mögen  die  vertrauten  Genossen  mit  diesem  Urteil  des  Hei- 
ligen hervorgetreten  sein  —  vielleicht  dafs  die  Wiedergabe 
des  Urteils  erst  dadurch  so  ausführlich  und  eindringlich 
geworden  ist,  weil  man  es  post  eventum  formulierte.  Die 
Einwände,  die  man  gegen  die  unbedingt  wortgetreue  Zu- 
verlässigkeit der  ersten  wie  der  zweiten  Vita  selbstverständ- 


1)  Vgl.  Sabatier,  Speculura  Perf.,  S.  XCIX  f. 


84  GOETZ, 

lieh  überall  machen  mufs,  mindern  vielleicht  hier  den  scharfen 
Gegensatz  im  wesentHchen  ab  ^ 

Um  es  zusammenzufassen:  die  Vita  secunda  zeigt  nicht, 
dafs  ihr  Verfasser  sich  inzwischen  reuig  zu  den  wahren 
Idealen  des  Heiligen  bekennen  gelernt  hatte,  sondern  sie 
zeigt  vielmehr,  wie  stark  inzwischen  das  Ideal  verfallen  war 
und  an  wie  vielen  Punkten  es  der  herben  Ermahnung  be- 
durfte. Die  Vita  secunda  mit  ihrer  etwas  veränderten  Be- 
trachtungsweise war  das  Ergebnis  einer  Entwicklung  der 
Geister,  die  wie  andere  auch  Thomas  von  Celano  durch- 
gemacht hatte  und  der  sich  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
auch  die  vertrauten  Jünger  des  Heihgen  nicht  entziehen 
konnten  —  wenn  anders  ihre  Stellung  zu  Thomas  und  zu 
Gregor  IX.  im  Jahre  1228,  wie  sie  oben  bestimmt  worden 
ist,  sich  als  richtig  erweist. 

Das  Ergebnis  dieser  Betrachtungen  ist,  dafs 
Thomas  von  Celano  seine  Vita  prima  ohne  die 
Absicht  parteiischer  Darstellung  und  ohne  einen 
Gegensatz  zu  den  vertrauten  Jüngern  des  Hei- 
ligen geschrieben  haben  mufs. 

Wollte  nun  aber  jemand  bei  diesem  Ergebnis  Leben 
und  Anschauungen  des  Heiligen  auf  Grund  der  Vita  prima 
vertrauensvoll  schildern,  so  würde  doch  nur  eine  halbe 
Arbeit  zu  stände  kommen.  Die  subjektiv  treue  Gesinnung 
Celanos  ist  doch  noch  keine  ausreichende  Gewähr  für  ein 
objektiv  treues  Bild.  Man  mufs  vielmehr  nach  dieser  mora- 
lischen Rechtfertigung  Celanos  nachdrücklichst  betonen,  dafs 
seine  Vita  prima  dennoch  starke  Mängel  hat  ^.  Ein  Teil 
davon  ist  oben  schon  erwähnt  worden:  nur  weniges  von 
dem,   was  Thomas  schildert,  hat  er  selbst  erlebt.     Gestützt 


1)  Eine  solche  Erläuterung  müfste  auch  der  Zusatz  der  Vita  secunda 
zu  der  benedictio  des  Elias  und  der  andern  Brüder  finden:  „Nullus 
sibi  hanc  benedictionem  usurpet,  quam  pro  absentibus  in  praesentibus 
promulgavit."  Aber  die  Beweiskraft  dieser  ganzen  Stelle,  deren  richtiger 
Text  durch  Alen^on  (Etudes  franc.  IX,  S.  205)  gegeben  worden  ist, 
verliert  zunächst  dadurch  wieder  an  Wert,  weil  sie  im  Ms.  von  Marseille 
ganz  fehlt:  vgl.  van  Ortroy,  Anal.  Boll.  XXII,  S.  195—202. 

2)  Vgl.  dazu  Minocchi,  Nuovi  studi,  S.  82. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.      85 

auf  mündliche  Berichte  anderer  Leute  wird  er  ferner  den 
Unsicherheiten  solcher  Berichterstattung,  dem  Zufall  subjek- 
tiver Eindrücke  nicht  entgangen  sein.  Es  wurde  bereits 
angedeutet,  dafs  Thomas  sicherlich  bis  zu  einem  gewissen 
Mafse  im  Banne  seiner  Auftraggeber  stand,  dafs  er  Gregor  IX 
und  Elias  als  seine  besten  Gewährsmänner  ansah  und  des- 
halb auch  mit  Lob  lür  sie  nicht  geizte:  Gregors  Verhältnis 
zu  Franz  ist  überschwenglich  ausgemalt  und  die  benedictio 
des  Elias  scheint  übertreibend  gefafst  zu  sein  *.  Dabei  sind 
weder  Gregor  noch  Elias  von  Thomas  charakterisiert ;  man 
erfährt  nicht,  dafs  sie  andere  Naturen  waren  als  Franz.  Die 
Unfähigkeit,  treffend  zu  charakterisieren,  tritt  vor  allem 
auch  da  hervor,  wo  Thoraas  den  Heiligen  selber  in  seinem 
Wesen  zu  kennzeichnen  versucht  (I,  29).  Nach  dem,  was 
er  an  dieser  Stelle  von  Franz  rühmt,  scheint  dem  Heiligen 
nichts  an  menschlicher  Vollkommenheit  gefehlt  zu  haben. 
Ganz  gleichmäfsig  betont  stehen  alle  Tugenden  nebenein- 
ander: er  ist  unschuldig  und  einfach  in  Taten  und  Worten, 
liebt  Gott  und  die  Menschen,  ist  gehorsam  und  sanft  in 
seinem  ganzen  Wesen,  freundlich  in  Reden,  entgegenkommend 
bei  jeder  Ermahnung,  aufs  höchste  zuverlässig,  vorsichtig 
im  Rat,  eifrig  in  der  Tat,  stets  heiter  und  klaren  Geistes, 
sich  erbaulichen  Betrachtungen  widmend,  fleifsig  im  Gebet, 
sich  ganz  seinen  Bestrebungen  hingebend,  immer  derselbe 
bleibend,  rasch  im  Verzeihen,  langsam  im  Zürnen,  freien 
Geistes,  klaren  Gedächtnisses,  scharfsinnig  und  umsichtig, 
streng  gegen  sieh  selber,  wohlwollend  gegen  andere,  discretus 
in  Omnibus;  dabei  höchst  beredt,  immer  gütig,  Feind  der 
Trägheit  und  der  Hoffart,  so  demütig  wie  nur  möglich, 
omnium  moribus  se  conformans:  fromm  unter  den  Frommen, 
unter  den  Sündern  wie  ein  Sünder.  —  Diese  Charakteristik 
—   im   Urtext   noch   viel   stärker   eine   rhetorische   Häufung 


1)  Dafs  der  Kardinal  von  Ostia  in  der  letzten  Lebenszeit  des  Hei- 
ligen den  Orden  ganz  geleitet  und  dafs  sich  Franz  ihm  in  jeder  Weise 
unterworfen  habe  (1.  Celano  II,  5),  ist  aus  andern  Quellen  nicht  zu 
kontrollieren;  bei  dem  zunehmenden  Siechtum  Franzens  ist  es  aber 
möglich,  dafs  Thomas  die  Wahrheit  berichtet  hat. 


86  GOETZ, 

ähnlicher  Eigenschaften  —  hat  vor  allem  den  Mangel,  dafs 
sie  zu  viel  des  Guten  geben  will  und  die  wesentlichsten 
Charaktereigenschaften  in  keiner  Weise  vor  andern  hervor- 
hebt :  Franz  tritt  infolgedessen  nicht  klar  hervor.  Aus  dem, 
was  Thomas  in  der  ersten  und  in  der  zweiten  Vita  hier  und 
dort  zerstreut  an  Einzelheiten  über  das  Wesen  des  Heiligen 
angibt,  läfst  sich  weit  eher  ein  deutliches  Bild  gewinnen  als 
aus  jener  Anhäufung  so  vieler  guter  Eigenschaften.  Wie  viele 
Züge  fehlen  in  dieser  Mustercharakteristik,  die  wichtiger 
sind  als  diese  zum  Teil  etwas  landläufigen  Tugenden!  Es 
fehlt  die  schroffe  Wahrheitshebe,  mit  der  er  sich  selbst  in 
der  Predigt  eines  Vergehens  schuldig  bekennt  (1.  Gel.  I,  19); 
es  fehlt  die  Fähigkeit,  auf  Menschen  einzuwirken,  und  die 
tief  blickende  Menschenkenntnis,  die  den  Brüdern  manchmal 
wie  ein  Wunder  erschien  (1.  Gel.  I,  17  und  18);  es  fehlt 
das  angeborene  Feingefühl,  das  ihn  alle  detractatores  ver- 
abscheuen läfst  (2.  Gel.  in,  115);  es  fehlt  die  kindliche 
Naivität  seines  Wesens  (2.  Gel.  III,  67),  aber  auch  die 
zeitweiHg  hervortretende  Selbstgewifsheit,  mit  der  er  im 
göttlichen  Auftrag  zu  handeln  glaubt;  es  fehlt  das  Über- 
mafs  an  Aufopferungsfähigkeit  und  an  Empfindsamkeit  vor 
allem  für  die  Passion  Ghristi,  jenes  beständige  Leben  in  den 
„hohen,  unruhigen  Regionen  der  Exaltation"  ^ 

Ist  Thomas  etwa,  wenn  er  die  wesenthchen  Seiten  des 
Heihgen  nicht  hervorzuheben  verstand,  entschuldigt  durch 
eine  Zeit,  der  die  Fähigkeit  schärferer  Gharakteristik  der 
Persönhchkeiten  mangelte?  Will  man  Thomas  auch  diese 
Entschuldigung  zubilligen,  so  bleibt  eben  doch  bestehen, 
dafs  seine  Arbeit  an  dieser  Stelle  unzureichend  ist,  und  dafs 
sie  aus  andern  Quellen  ergänzt  werden  mufs;  und  Thomas 
erscheint  doch  schuldiger,  wenn  man  zum  Vergleiche  heran- 
zieht, mit  wie  wenigen  Worten  Jordanus  a  Jano  die  ein- 
dringendste Gharakteristik  des  Heiligen  gegeben  hat:  „om- 
nia  per  humilitatem  maluit  vincere  quam  per  iudicii  potes- 
tatem"  '^. 


1)  Thode,  Franz  von  Assisi,  S.  21. 

2)  Anal.  Francisc.  I,  S.  5. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL      87 

Wie  unvollkommen  ist  ferner  der  Versuch,  die  Bedeutung 
Franzens  für  Religion  und  Kirche  zu  bestimmen  (l.  Gel.  II,  l). 
Die  Rückkehr  zum  Evangelium  ist  wohl  angedeutet:  mit 
der  doctrina  evangelica  und  dem  exemplo  Apostolorum 
überwindet  er  alle  menschliche  Weisheit,  erneuert  er  die 
alte  Religion  und  die  Wunder  früherer  Zeiten;  er  erreicht 
eine  vollkommene  sanctitas  und  wird  ein  Beispiel  für  Alle. 
Damit  hat  Thomas  Richtiges  wohl  berührt,  aber  erfafst  ist 
die  Besonderheit  der  Religiosität  des  Heiligen  und  ihre  ge- 
schichtliche Stelking  doch  keineswegs.  Vielleicht  stellt  man 
auch  hier  an  Thomas  und  seine  Zeit  unerfüllbare  Forde- 
rungen; die  Hauptsache  aber  ist,  dafs  der  Forscher  über 
Thomas  hinaus  die  Unvollkommenheit  seiner  Nachrichten 
ergänzen  mufs,  anstatt  ihn  etwa  für  eine  vollkommene 
Quelle  anzusehen. 

Unerfüllt  bleibt  ferner,  was  Thomas  im  Prolog  der  Vita 
prima  ankündigt:  der  erste  Teil  werde  in  zeitlicher  Folge 
Bekehrung  und  Leben  des  Heiligen  schildern  („historiae 
ordinem  servaf).  Wie  froh  wären  wir,  wenn  diese  Zusage 
ausgeführt  worden  wäre!  Statt  dessen  bricht  die  chrono- 
logische Schilderung  schon  mit  dem  Jahre  1212  ab,  und 
erst  im  letzten  Kapitel  erscheint  als  nächstes  sicheres  Datum 
Weihnachten  1223.  Für  die  Zwischenzeit  aber  gibt  Thomas 
eine  zum  gröfsten  Teile  zeitlich  ungeordnete  Summe  von 
Mitteilungen  und  statt  erwünschter  klarer  Kunde  häuft 
er  uns  nur  die  Schwierigkeiten  hinsichtlich  der  dunklen  Ge- 
schichte des  Ordens  in  seinem  ersten  Jahrzehnt.  Wie  gerne 
hätten  wir  nähere  Auskunft  über  die  Entwicklung  der  Ge- 
meinschaft aus  loseren  Formen  zu  festerer  Organisation, 
über  die  Leitung  des  Ordens  und  über  die  Generalkapitel, 
über  die  Anlange  der  Klarissen  und  der  Tertiarier,  über 
den  Beginn  der  auswärtigen  Missionen  u.  s.  w.  Über  keinen 
dieser  Punkte  gibt  Thomas  eine  befriedigende  Auskunft  — 
so  eingehender  Bericht  scheint  nicht  im  Zwecke  seiner  Arbeit 
gelegen  zu  haben.  Man  kann  es  mit  einer  andern  Richtung 
seiner  Absichten  erklären;  aber  mit  solchen  mehr  erbau- 
lichen als  historiographischen  Zwecken  läfst  sich  doch  nicht 
entschuldigen,  dafs  Thomas  auch  die  Ereignisse  von  1219/1220 


88  GOETZ, 

—  die  Krisis  des  Ordens  in  Italien  während  Franzens  Auf- 
enthalt im  Orient  —  vollkommen  verschweigt.  Man  würde 
hier  eine  Tendenz  vermuten  müssen,  wenn  eine  solche  nicht 
grundsätzlich  abzulehnen  wäre  und  Avenn  nicht  die  Vita 
seeunda  —  und  ebenso  das  8peculum  Perfectionis  und  die 
Legenda  trium  Sociorum!  —  in  gleicher  Weise  darüber 
schwiegen.  Wir  sind  über  diese  Vorialle  freilich  nur  durch 
Jordanus  de  Jano  (n.  13 — 15)  unterrichtet,  aber  es  ist  un- 
denkbar, dafs  er  diese  Ereignisse  erfunden  haben  sollte. 
War  für  Thomas  nicht  der  Erwähnung  wert,  was  in  der 
Geschichte  des  Ordens  so  stark  Epoche  gemacht,  was  die 
Rückkehr  Franzens  aus  dem  Orient,  die  festere  Organisation 
der  Gemeinschaft,  die  Erwählung  eines  Kardinalprotektors 
und  die  Abfassung  einer  neuen  Regel  zur  Folge  gehabt 
hatte?  Es  läfst  sich  der  Verdacht  nicht  abweisen,  dafs 
Thomas  sowohl  1228  wie  1247  gemeinsam  mit  den  Genossen 
des  Heiligen  diese  Episode  der  Ordensgeschichte  —  in  ihrer 
Veranlassung  wenigstens  —  für  so  unerfreulich  gehalten  hat, 
dafs  er  lieber  davon  schwieg.  Das  Bild  des  Heiligen  sollte 
möglichst  ungetrübt  erscheinen  —  eine  Parteilichkeit  weit 
eher  für  als  gegen  den  Heiligen!  Dann  hat  auch  hierbei 
der  erbauliche  Zweck  über  die  genaue  biographische  Dar- 
stellung gesiegt.  Und  das  ist  der  Gesamteindruck,  den  man 
schliefslich  doch  von  der  Vita  prima  hat :  sie  ist  bona  fide 
geschrieben,  aber  neben  ihren  mancherlei  begreiflichen 
Mängeln  steht  als  stärkster  P^inwand,  dafs  sie  offenbar  in 
erster  Linie  erbaulichen  Zwecken  dienen  sollte. 

2.  Die  Vita  seeunda  des  Thomas  von  Celano. 
Die  zweite  Lebensbeschreibung  des  hl.  Franz,  die  Thomas 
von  Celano  verfafst  hat,  ist  erst  in  neuester  Zeit  für  die  hi- 
storische Forschung  wieder  entdeckt  worden.  Sie  fehlt  in  den 
Acta  Sanctorum,  und  obwohl  Rinaldi  sie  1806  zusammen  mit 
der  Vita  prima  herausgab,  blieb  sie  dennoch  so  gut  wie 
unbekannt.  Georg  Voigt  stellte,  ohne  Rinaldis  Ausgabe  zu 
kennen,  das  Vorhandensein  einer  zweiten  Vita  Celanos  aus 
Zeugnissen  des  13.  Jahrhunderts  unzweifelhaft  fest;  indem 
er  sie  dann  aber  selber  zu    benutzen    glaubte,   verwechselte 


I 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      89 

er  sie  mit  dem  erst  viel  später  kompilierten  Speculum  Vitae, 
und  so  gilt  seine  scharfe  Kritik  an  der  Unzuverlässigkeit  der 
Quelle  in  Wahrheit  nicht  der  Vita  secunda  ^.  Ehrle  hat  — 
Voigts  Irrtum  aufklärend  —  die  Erörterungen  über  die 
Existenz  der  Vita  secunda  fortgesetzt  ^ ;  Karl  Müller  hat  ihr  auf 
Grund  des  von  Amoni  1880  besorgten  Neudrucks  der  Ri- 
naldischen  Ausgabe  die  erste  kritische  Untersuchung  gewid- 
met —  freilich  mit  einem  wenig  günstigen  Ergebnis  ^.  In 
dieser  Richtung  bewegt  sich  auch  die  Anschauung  Sabatiers 
vom  Werte  der  Vita  secunda:  der  trügerische  Verfasser  der 
Vita  prima  habe  zwar  die  Front  ein  wenig  gewechselt  und  ver- 
wende wertvolles  Material ,  das  ihm  von  anderer  Seite  ohne 
sein  Verdienst  zugeführt  wurde,  aber  er  gestalte  doch  alles 
in  seinem  Sinne  um,  sich  von  der  echten  Überlieferung  ent- 
fernend ■*.  Seit  Sabatier  im  Speculum  Perfectionis  die  echte 
Überlieferung  und  den  besten  Teil  von  Celanos  Material  ge- 
funden zu  haben  glaubte,  sank  für  ihn  der  Wert  der  Vita 
secunda  noch  mehr.  Van  Ortroy  war  dann  der  erste  (so- 
weit es  sich  wenigstens  um  wissenschaftliche  Beweisführung 
handelt',  der  die  Vita  secunda  höher  einschätzte  ^. 

In  den  vorangehenden  Erörterungen  über  die  Vita  prima 
ist  die  Stellung  der  Vita  secunda  zum  Teil  bereits  bestimmt.  Es 
wurde  festgestellt,  dafs  die  vertrauten  Gelahrten  des  Heiligen 
an  der  Abfassung  der  Vita  secunda  als  Freunde  Celanos  teil- 

1)  Voigt,  Denkwürdigkeiten  des  Jordanus  von  Giano,  Abhandl.  d. 
Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  XII,  455  if.  —  Die  Beweise  dafür,  dafs  Celano  tat- 
sächlich eine  zweite  Vita  geschrieben:  ebd.  S.  457  if.  Vjrl.  dazu  noch 
Vita  sec.  III  Kap.  143.  Dafs  Bernhard  von  Bessa  bei  seiner  Aufzäh- 
lung der  Quellen  die  Vita  sec.  nicht  nennt,  kann  die  obigen  Beweise 
nicht  erschüttern.  Auch  Angelo  Clareno  und  der  mit  ihm  verwandte 
Anonymus  Capponianus  zeigen,  dafs  man  später  über  die  ältesten  Quellen 
nichts  Richtiges  mehr  wufste. 

2)  Zeitschr.  f.  kath.  Theol.  VII  (1883),  393  flf.  —  Dafs  vorher  Pan- 
filo  da  Magliano  in  seiner  Storia  compendiosa  dl  San  Francesco 
(1874)  die  Vita  sec.  bereits  benutzt  hatte,  ist  bei  dem  gänzlich  kritik- 
losen Charakter  dieses  Buches  bedeutungslos. 

3)  K.  Müller,  Die  Anf.  des  Minoritenordens  (1885),  S.  175  —  184. 

4)  Sabatier,  Vie  de  S.  Fran^ois,  S.  LXXIIIff.;  Speculum  Perf., 
S.  CXVIff.     Vgl.  oben  S.  G9  Aum.   1. 

5)  Anal.  Boll.  XIX,  140  f. 


90  GOETZ, 

genommen  haben  müssen,  dafs  die  subjektive  Ehrlichkeit  da- 
durch gewährleistet  wird,  dafs  der  Gedankenkreis  der  Vita 
secunda  die  allgemeine  Entwicklung  und  Wandlung  der  An- 
schauungen von  1228  bis  1247  widerspiegelt  und  dafs  sie 
trotz  einzelner  Widersprüche  und  Wiederholungen  die  plan- 
mäfsige  Ergänzung  zur  Vita  prima  ist.  Die  Notwendigkeit 
solcher  Ergänzung  lag,  wie  leicht  erklärlich,  vor :  was  neben 
der  Vita  prima  inzwischen  an  Legenden  über  den  Heiligen 
erschienen  war  (Julian  von  Speier,  gereimte  Legenden,  Jo- 
hannes von  Ceperano?),  beruhte  fast  ganz  auf  dem  Material 
und  selbst  dem  Wortlaut  der  Vita  prima;  eine  neue  selb- 
ständige Darstellung  war  seitdem  nicht  versucht  worden. 
Neues  Wissen  über  den  Heiligen  war  aber  unzweifelhaft  in- 
zwischen reichlich  zutage  gekommen,  und  die  Entwicklung 
des  Ordens  mochte  es  erforderlich  erscheinen  lassen,  die- 
jenigen Ideale  jetzt  verstärkt  zu  betonen,  deren  Vernach- 
lässigung dem  Orden  schweren  Schaden  gebracht  hatte.  Die 
Vita  prima  war  nicht  unmöglich  geworden,  wie  Sabatier 
meint  ^,  sondern  sie  forderte  aus  doppeltem  Grunde  eine  Er- 
gänzung, nicht  aber  einen  vollständigen  Ersatz. 

Der  volle  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser  Behauptungen 
mufs  noch  an  dem  Text  der  Vita  secunda  geführt  werden. 
Nun  zeigt  sich  aber  bei  der  ersten  Prüfung  dieses  Textes, 
dafs  er  sich  im  Inhalt  und  Wortlaut  immer  wieder  aufs 
engste  mit  den  beiden  Quellen  berührt,  die  man  als  Legenda 
trium  Sociorum  und  als  Speculum  Perfectionis  bezeichnet. 
Man  kommt  nicht  eher  vorwärts,  als  bis  man  das  Verhältnis 
der  Vita  secunda  zu  diesen  beiden  Schriften  festgestellt  hat. 
Indem  ich  beide  nur  in  ihrem  Verhältnis  zur  Vita  secunda 
prüfe  und  ihnen  nicht  selbständige  Abschnitte  widme,  spreche 
ich  in  gewisser  Hinsicht  bereits  ein  Urteil  aus:  die  Vita  se- 
cunda ergibt  sich  als  die  gesichertste  von  diesen  Quellen, 
obwohl  ich  den  hohen  Wert  der  Erzählungen  des  Speculum 
Perfectionis  nicht  verkenne  ^. 


1)  Sabatier,  De  l'authenticite  de  la  Legende  de  S.  FranQois,  S.  13. 

2)  Rinaldis  Ausgabe  der  Vita  sec.  fufste  auf  der  Handschrift  686 
der  Bibl.  coramnnale  zu  Assisi.  Amoni  tat  bei  dem  Wiederabdruck 
nichts  für  die  kritische  Sicherstellung  des  Textes.    Variantes  seu  cor- 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.      91 

a)  Verhältnis  der  Vita  secunda  zur  Legen  da 
t  r  i  u  m  S  o  c  i  o  r  u  m. 

Man  hat  die  längste  Zeit  gemeint,  die  Vita  secunda  und 
die  Legenda  trium  Sociorum  seien  fast  zu  gleicher  Zeit  ent- 
standen. Die  Legenda  trium  Sociorum  ist  nach  dem  ihr 
vorangestellten  Schreiben  der  drei  Genossen  an  den  General- 
minister Crescentius  auf  Veranlassung  des  Generalkapitels 
von  1244  begonnen  und  am  12.  August  1246  —  dem  Ab- 
sendungstage des  Schreibens  —  vollendet  gewesen ;  die  Vita 
secunda  ist,  wie  oben  bereits  ausgeführt  wurde,  zwischen 
1244  und  August  1247  verfafst.  Weil  aber  Inhalt  und 
Wortlaut  der  beiden  Schriften  sich  stellenweise  stark  be- 
rühren, so  nahm  man  an,  dafs  Thomas  für  die  Vita  secunda 
die  Legenda  trium  Sociorum  noch  benutzt  habe  '. 


rectiones  zu  RinakUs  Ausgabe  stehen  in  dem  seltenen  Druck  der  Vita 
trium  Sociorum,  Pisauri  1828;  vgl.  dazu  Ehrle,  Zeitschr.  f.  kath.  Theol. 
VII,  395.  —  Wie  unsicher  der  gedruckte  Text  ist,  zeigen  nicht  nur 
einzelne  zutage  liegende  Unrichtigkeiten,  sondern  auch  die  von  Sabatier 
an  verschiedenen  Stellen  des  Speculum  Perf.  gegebenen  Proben  aus  der 
Originalhandschrift  in  Assisi,  ferner  P.  Ed.  Alencons  Mitteilungen 
(Etudes  francisc.  IX,  204  fF.)  und  ein  Vergleich  mit  der  Handschrift  in 
Marseille,  deren  Abschrift  Sabatier  mir  freundlichst  zur  Verfügung 
stellte.  —  Es  sind  bisher  nur  zwei  Handschriften  bekannt:  die  erwähnte 
in  Assisi  und  eine  zweite  im  Musee  franciscain  zu  Marseille;  beide  aus 
dem  14.  Jahrhundert.  Beide  Handschriften  weichen  stark  voneinander 
ab;  vgl.  Mise.  Franc.  VII,  80  und  Anal.  Boll.  XVIII,  85  ff.,  101  ff.  So 
fehlen  z.  B.  in  der  Handschrift  von  Marseille  der  Prolog,  der  Introitus 
ad  secundum  (wie  denn  überhaupt  die  Einteilung  der  Vita  in  drei  Teile 
fehlt),  die  Kapitel  II,  12.  16.  15.  22  und  III,  26.  102.  103—107.  143; 
dafür  hat  diese  Handschrift  drei  Kapitel  mehr.  —  Über  Bruchstücke 
einer  dritten  Handschrift  in  Popi)i  vgl.  Anal.  Boll.  XVIII,  103  f.  —  Dafs 
P.  AleuQon  eine  kritische  Ausgabe  sowohl  der  Vita  prima  wie  secunda 
vorbereitet,  wurde  bereits  erwähnt. 

1)  Karl  Müller,  Anfänge,  S.  180  vermutete,  die  Übereinstimmung 
sei  aus  der  Benutzung  der  gleichen  Quellen,  die  zwischen  der  Vita  i)rima 
und  1247  liegen,  entstanden.  Dom  steht  aber  entgegen,  dafs  die  Leg. 
tr.  Soc.  Neues  geben  will,  wie  es  in  der  Epistola  heifst:  Der  General- 
minister möge  es,  wenn  es  ihm  beliebe,  den  vorhandenen  Legenden  ein- 
reihen lassen.  Die  Frage  erledigt  sich  natürlich,  wenn  die  Leg.  tr.  Soc. 
überhaupt  keine  originale  Quelle  ist. 


92  GüETZ, 

Nach  Sabatiers  Meinung  haben  die  Kämpfe  im  Orden  zu 
einer  konkurrierenden  Geschichtschreibung  der  beiden  Par- 
teien geführt.  Das  Generalkapitel  von  1244  beschlofs  die 
Abfassung  einer  neuen  Legende  und  forderte  zur  Einsendung 
von  Material  auf;  während  sich  Thomas  von  Celano  im 
Interesse  seiner  Partei  von  neuem  an  die  Arbeit  machte^ 
sehrieben  auch  die  vertrauten  Gelahrten  des  Heiligen  von 
ihrem  Standpunkte  aus  eine  Legende  und  schickten  sie,  noch 
ehe  Thomas  seine  Arbeit  beendigt  hatte,  dem  Generalminister 
mit  einem  Schreiben  zu,  das  ein  „chef-d'oeuvre  de  malicieuse 
bonhomie  a  l'adresse  des  biographes  officiels  du  saint"  sei  ^ 
Thomas  von  Celano  benutzte  darauf  die  neue  wertvolle 
Quelle  noch  für  die  Fortsetzung  seiner  Arbeit ;  er  schmückte 
sich  nicht  nur  mit  den  Verdiensten  seiner  Feinde,  sondern 
er  machte  die  Öffentlichkeit  auch  noch  glauben,  dafs  die 
vertrauten  Genossen  des  Heiligen  seine  treuen  Helfer  ge- 
wesen seien  ^.  Das  Werk  der  Genossen  aber  verfiel  der 
Zensur  und  der  Verfolgung  der  mächtigeren  Partei. 

Ich  habe  früher  bereits  zu  beweisen  versucht,  dafs  ein 
derartiger  literarischer  Betrug  Celanos  eine  Unmöglichkeit 
ist  ^.  Ich  scheide  hier  deshalb  aus ,  was  in  der  Richtung 
solcher  Annahmen  liegt;  es  kann  sich  allein  darum  handeln, 
ob  die  drei  Genossen  vor  Thomas  von  Celano  ebenfalls  eine 
Legende  geschrieben  haben,  die  von  ihm  benutzt  werden 
konnte.  Es  bliebe  dann  noch  immer  die  Möglichkeit,  dafs 
die  Arbeit  der  drei  Genossen  beiseite  geschoben  worden  wäre. 

Sabatier  stützte  seine  Vermutung  nicht  nur  auf  das  Vor- 
handensein   von    Gegensätzen   im    Orden.      Es    war   ihm    — 


1)  Sabatier,  De  l'authenticite,  S.  12. 

2)  S.  oben  S.  69.  Sabatier  nimmt  an ,  dafs  Celano  unter  dem  Ein- 
flüsse der  Leg.  tr.  Soc.  die  Fortsetzung  der  Vita  sec.  in  einem  neuen 
Geiste  geschrieben  habe:  ,, Celano  lui-meme,  qui  au  premier  moment  avait 
pris  au  pied  de  la  lettre  les  formules  de  politesse  du  chapitre,  finit  par 
comprendre  et  par  refondre  completement  son  ceuvre "  (De  l'authenticite 
de  la  Legende  de  S.  Frangois,  S.  14).  Man  versteht  dann  wirklich  nicht, 
warum  dieser  wandlungsfähige  Schriftsteller  nicht  seine  ganze  Arbeit 
entsprechend  umgofs,  sondern  der  Welt  den  Einblick  in  seine  Charakter- 
losigkeit so  leicht  machte! 

3)  S.  oben  S.  66  ff. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      93 

schon  1894  ^  —  aufgefallen,  dafs  die  überlieferte  Legenda 
trium  Öociorum  mit  ihrem  Inhalt  nicht  zu  den  Verheifsungen 
des  erwähnten  Schreibens  an  den  Generalminister  passe:  er 
schlofs  daraus,  dafs  die  erhaltene  Legende  ein  Bruchstück 
sein  müsse  —  der  Rest  war  der  Zensur  der  Ordensoberen 
zum  Opfer  gefallen.  Im  Speculum  Vitae,  einer  weit  späteren 
Kompilation,  glaubte  Sabatier  Spuren  der  unterdrückten  Teile 
zu  finden.  Während  er  dann  nach  dem  vollständigen  Ori- 
ginal suchte  und  dabei  das  Speculum  Perfectionis  (1898)  ent- 
deckte, traten,  angeregt  durch  Sabatiers  Vermutungen,  zwei 
italienische  Franziskaner,  Marcellino  da  Civezza  und  Teofilo 
Domenichelli,  1899  mit  der  „wahren"  Legenda  trium  Socio- 
rum  hervor:  in  einer  italienischen  Übersetzung  vielleicht  des 
14.  Jahrhunderts,  die  aufser  der  überlieferten  Legende  noch 
eine  grofse  Zahl  neuer  Kapitel  enthielt,  glaubten  sie  das 
(lediglich  übersetzte)  Original  des  Werkes  der  drei  Genossen 
gefunden  zu  haben  ^.  Vermutungen  und  Funde  griffen  hier 
so  treffend  ineinander,  dafs  man  zunächst  vor  glänzenden 
wissenschaftlichen  Entdeckungen  zu  stehen  meinte  -^  Es 
kamen  wohl  Zweifel  und  Widerspruch,  aber  eine  Weile  stand 
der  durch  diese  Funde  allem  Anschein  nach  bestätigten  Meinung 
Sabatiers  nichts  mit  ähnlicher  Geschlossenheit  gegenüber  *. 
Aber  ehe   noch    die  Frage   von   der   Richtigkeit   der   „voll- 


1)  Vie  de  S.  FranQois,  S.  LXIIIfF. 

2)  La  Leggeiida  di  Sau  Francesco,  scritta  da  tre  suoi  coniparjni 
(Legenda  triam  Sociorum)  pubblicata  per  la  prima  volta  nella  vera  sua 
intcgritä  dai  Padri  Marc,  da  Civezza  e  Teof.  Domenichelli  dei  Minori. 
Roma  1899. 

ü)  Ich  bekenne  gerne,  dafs  ich  bei  der  ersten  Anzeige  dieser  neuen 
Legenda  tr.  Soc.  (N.  Jahrb.  f.  d.  klass.  Altert.,  Gesch.  u.  Lit.  1900, 
S.  621  ff.)  an  die  Richtigkeit  des  Ergebnisses  glaubte.  Ich  bin  erst  durch 
neue  Prüfung  dieser  Fragen  uod  vor  allem  durch  van  Ortroys  gleich  zu 
erwähnenden  Aufsatz  zu  anderer  Anschauung  gekommen. 

4)  Vgl.  Tocco,  Arch.  st.  ital.  Serie  V,  t.  XXXIII,  183  flf. ;  Della 
Giovanua  im  Giern,  stör.  d.  lett.  ital.  XXXI II  (1899);  Faloci- 
Pulignani,  Mise.  Franc.  VII  (1899);  Minocchi,  Arch.  stör.  ital. 
Serie  V,  lid.  XXIV  und  XXVI  (1899  und  1900;  als  eigene  Schrift  unter 
dem  Titel:  La  „Legenda  trium  Sociorum".  Nuovi  studi  suUe  fonti  bio- 
grafiche  di  San  Francesco  1900);  Barbi,  Bulletino  della  Soc.  Dantesca, 
N.  Serie  VII  (I9ü0). 


94  GOETZ, 

ständigen"  Legenda  trium  Sociorum  geklärt  war,  erschien 
ein  Aufsatz  van  Ortroys,  der  sieh  um  die  Behauptungen  der 
beiden  italienischen  Franziskaner  gar  nicht  kümmerte,  son- 
dern die  alte  Legenda  trium  Sociorum  kurzerhand  für  eine 
wertlose  Kompilation,  zusammengestellt  aus  den  beiden  Bio- 
graphien Celanos,  aus  JuHan  von  Speier,  Bonaventura  und 
anderen  Quellen  des  13.  Jahrhunderts,  erklärte  —  für  bei- 
nahe jeden  Abschnitt  zeigte  van  Ortroy  die  fremde  Herkunlt  ^ 

Es  war  die  stärkste  Überraschung  in  der  Reihe  von  Ent- 
deckungen, die  seit  1898  zum  Vorschein  gekommen  waren: 
die  bisher  nie  bezweifelte  Legende  der  drei  Genossen,  die 
Sabatier  früher  unter  allgemeiner  Zustimmung  „le  plus  beau 
monument  franciscain  et  l'une  des  productions  les  plus  de- 
licieuses  du  raoyen  äge"  hatte  nennen  können  ^,  wurde  von 
ihrem  Platze  gestofsen,  und  noch  dazu  von  der  Hand  eines 
in  der  Franziskanerforschung  gewifs  konservativ  Gesinnten. 
Die  Rollen  vertauschten  sich:  Sabatier,  bisher  der  Zerstörer 
der  alten  Legenden,  der  von  den  Strenggläubigen  bekämpfte 
Anwalt  neuer  Anschauungen,  wurde  zum  Verteidiger  der 
Tradition  gegenüber  van  Ortroy,  dem  Mitgliede  des  Jesuiten- 
ordens! ^ 

Van  Ortroy  stützte  seine  Beweisführung  auf  folgendes. 
Das  der  Legende  vorangestellte  Schreiben  der  drei  Genossen 
an  den  Generalminister  erklärte,  die  Legende  solle  Neues 
bringen,  was  den  bisherigen  Biographen  unbekannt  geblieben 
sei:  „multa  seriöse  relinquentes,  quae  in  praedictis  legendis 
sunt  posita",  anderes  aber  vorbringend,  was,  „si  venerabiübus 


1)  La  Legende  de  S.  Fran^ois  d'Assise  dite  „Legenda  trium  Sociorum" 
(Anal.  Boll.  XIX,  1900,  S.  119-197). 

2)  Vie  de  S.  Fran^ois,  S.  LXVI. 

3)  Sabatier,  De  l'authenticite  de  la  Legende  de  S.  Frangois  dite 
des  trois  compagnons  (Rev.  bist.  LXXV,  1901).  Vgl.  aucb  Minoccbi, 
La  questione  Francescana  (Giern,  stör.  d.  lett.  ital.  XXXIX,  1902, 
S.  304  ff.).  Ahnlicb  wie  Sabatier  auch  Tilemann,  Spec.  Perf.  und 
Leg.  tr.  See,  S.  55  ff.  Vgl.  ferner  Faloci-Pulignani,  Mise.  Franc. 
VIII.  —  Sowohl  Minocchi  wie  Faloci-Pulignani  halten  daran  fest,  dafs 
die  Leg.  tr.  Soc.  weder  eine  Kompilation,  noch,  wie  Sabatier  will,  ein 
Torso  sei.  —  Für  Ortroy  trat  ein  Lern  mens.  Scripta  fratris  Leonis, 
Rom  1902,  S.  26. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      95 

viris,  qui  praefatas  confecerunt  legendas,  haec  nota  fuissent, 
ea  minime  praeterissent".  Statt  dessen  folgt  nun  aber  dem 
Schreiben  eine  Legende,  die  im  allerstärksten  Malse  aus  den 
früheren  Legenden  —  aus  Celanos  Vita  prima  und  aus 
Julian  von  Speier  —  geschöpft  ist.  Man  könnte  annehmen, 
eine  solche  Entlehnung  sei  den  Verfassern  angängig  erschienen 
und  sie  hätten  damit  lediglich  den  Zusammenhang  für  ihr 
neues  Material  herstellen  wollen;  aber  fast  der  gesamte  Rest 
der  Legende  berührt  sich  wiederum  so  enge  mit  der  Vita 
secunda  und  mit  Bonaventura,  auch  mit  der  Vita  fr.  Ber- 
nardi,  der  Vita  fr.  Egidii  und  Bernhards  von  Bessa  Liber 
de  laudibus,  dafs  van  Ortroy  schlofs,  ein  solches  Mosaik  von 
Stellen  anderer  Quellen  könne  nichts  anderes  als  eine  Kom- 
pilation sein.  Auch  sagen  die  drei  Genossen  in  ihrem 
Schreiben,  sie  wollten  nicht  eine  fortlaufende  Legende  schrei- 
ben :  „  continuantem  historiam  non  sequentes ,  sed  velut  de 
amoeno  prato  quosdem  flores,  qui  arbitrio  nostro  sunt  pul- 
chriores",  excerpimus.  Die  nachfolgende  Legende  ist  aber 
eine  breite  chronologische  Führung  der  Erzählung  bis  kurz 
nach  der  ersten  Wanderung  nach  Rom  (n.  1 — 56);  dann 
folgen  einige  Angaben  über  die  Ordenskapitel,  den  Ordens- 
protektor und  die  ersten  Missionen  (n.  57—67);  zum  Schlüsse 
ein  Bericht  über  Tod  und  Heiligsprechung  (n.  68 — 73).  Auch 
darin  also  liegt  ein  Mifs Verhältnis  zwischen  dem  Schreiben 
und  der  Legende. 

Dafs  weder  die  Schriftsteller  des  13.  Jahrhunderts  noch 
die  Spiritualen  des  14.  Jahrhunderts,  wie  Ubertino  da  Casale 
und  Angelo  da  Clareno,  die  sich  doch  so  gern  auf  die 
Dicta  fratris  Leonis  und  auf  die  Gefährten  des  hl.  Franz  be- 
rufen, die  Legende  irgendwie  zitieren,  war  für  Ortroy  eben- 
falls ein  Beweis,  dafs  sie  nichts  weniger  als  ein  Werk  der 
drei  Genossen  sein  könne.  Er  setzte  die  Entstehung  der 
Kompilation  frühestens  ans  Ende  des  13.  Jahrhunderts. 

Von  den  Aufstellungen  Ortroys  mufs  man  das  eine  wohl 
als  unwiderlegbar  annehmen:  zwischen  dem  Schreiben  an 
den  Generalminister  und  der  Legende  der  drei  Genossen  be- 
steht ein  vollkommener  Widerspruch.  Sollten  sie  wirklich 
zusammengehören,  so  bliebe  nur  die  von  Sabatier  angenora- 


96  GOETZ, 

mene  Erklärung  übrig,  dafs  das  Schreiben  der  drei  Genossen 
„un  chef-d'ceuvre  de  raalicieuse  bonhomie  a  l'adresse  des  bio- 
graphes  officiels  du  saint"  sei  ',  dafs  die  Genossen  unter  Ver- 
wendung so  vielen  bekannten  Materials  ihrer  Erzählung 
lediglich  eine  bestimmte  Tendenz  geben  wollten  und  dafs 
ihr  Schreiben  mit  seinen  Verheifsungen  dies  lediglich  mas- 
kierte. Aber  diese  Erklärung  der  Schwierigkeit  bleibt  un- 
annehmbar: die  Tatsache  ihrer  Mitarbeit  an  der  Vita  secunda 
Celanos  und  alle  daraus  zu  ziehenden  Folgerungen  schliefsen 
dies  aus;  die  Quellenforschung  darf  von  so  gekünstelten 
und  innerlich  unwahrscheinlichen  Voraussetzungen  nicht  aus- 
gehen. 

Stellt  man  sich  hierin  auf  van  Ortroys  Seite,  so  bliebe 
doch  die  Möghchkeit,  dafs  Schreiben  und  Legende  zwar 
beide  echt  sind,  aber  nicht  zusammengehören.  Dann  löste 
sich  allerdings  der  auffallende  Widerspruch;  aber  einmal 
verliert  dann  die  Legende  zunächst  jede  nachweisbare  Be- 
ziehung zu  den  vertrauten  Gefährten  und  damit  den  wesent- 
lichen Teil  ihrer  bisherigen  Autorität,  und  andrerseits  wird 
die  Untersuchung  dadurch  auf  ein  neutraleres  Feld  gerückt: 
die  Frage  nach  der  Abhängigkeit  von  andern  Quellen  wird 
von  dem  drückenden  Ballast,  den  die  vorausgesetzte  Ver- 
fasserschaft der  drei  Gefährten  bildet,  befreit.  Es  braucht 
dann  nur  entschieden  zu  werden ,  ob  die  Legende  vor  oder 
nach  der  Vita  secunda  und  Bonaventura  entstanden  sein 
muls,  aber  der  Umstand,  dafs  so  viele  Irrtümer  unmöglich 
auf  die  am  besten  unterrichteten  Gefährten  zurückgehen 
könnten,  braucht  dabei  die  Untersuchung  nicht  zu  beeinträch- 
tigen —  ein  anderer,  ferner  stehender  Verfasser  konnte  sich 
in  vieler  Hinsicht  irren,  ohne  dafs  deshalb  sein  Werk  eine 
spätere  Kompilation  sein  müfste. 

Ergibt  sich  aber  bei  solcher  Untersuchung  der  kompi- 
latorische  Charakter  der  Legenda  trium  Sociorum,  so  mufs 
sie  ganz  beiseite  geschoben  werden,  und  es  bleibt  nur  noch 
die  Frage  nach  Herkunft  und  Zweck  des  Schreibens  der 
drei  Genossen  übrig. 


1)  Sabatier,  De  l'authenticit6  S.  12. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL       97 

Die  Untersuchung  darf  also  nicht  ausgehen  von  dem 
Verhältnis  zwischen  Briet'  und  Legende,  denn  sie  brauchen 
nicht  zusammenzugehören,  oder  es  kann  der  Brief  für  sich 
eine  Fälschung  sein  —  van  Ortroy  hat  es  erwogen  und  Sa- 
batier  hat  dann  auf  die  Inkonsequenz  hingewiesen,  diese 
Möglichkeit  auszusprechen  und  dann  doch  den  Inhalt  der 
Legende  zu  kritisieren,  weil  er  zu  den  Angaben  des  Briefes 
nicht  stimme.  Damit  bleibt  auch  zunächst  die  handschrift- 
liche Überlieferung,  die  für  die  Zusammengehörigkeit  von 
Text  und  Legende  spricht,  aufser  Betracht,  denn  so  weit 
reicht  sie  zeitlich  nicht  hinauf,  dafs  sie  ein  auf  anderem 
Wege  zuverlässig  gewonnenes  Ergebnis  beeinträchtigen 
könnte.  Als  ein  entscheidendes  Moment  möchte  ich  auch 
das  Schweigen  der  die  Quellen  aufzählenden  Schriftsteller 
des  13  Jahrhunderts  nicht  ansehen;  denn  diese  Angaben 
sind  nun  einmal  alle  lückenhaft  und  unzuverlässig.  Und 
ebenso  ist  es  nicht  angängig,  die  Angabe  der  Chronik  der 
24  Generale  zum  Beweise  heranzuziehen;  sie  ist  eine  zu 
späte  Quelle,  so  zuverlässig  auch  manche  ihrer  Mitteilungen 
sein  mögen ,  und  sie  schöpft  ihre  Nachricht  sicher  nur  aus 
dem  Schreiben  der  drei  Genossen. 

So  ist  die  Legenda  trium  Sociorum  zunächst  nur  nach 
ihrem  eigenen  Werte  und  nach  der  Möglichkeit  ihrer  Selb- 
ständigkeit zu  prüfen.  Geht  man  nun  aber  vom  Texte 
aus,  so  möchte  ich  einige  Argumente,  die  Sabatier  gegen 
van  Ortroy  angeführt  hat,  ebenfalls  zuvor  ausscheiden. 

Sabatier  betont,  dafs  die  Legenda  trium  Sociorum  die 
schlichteren  Lesarten  enthalte:  die  Vita  secunda  und  noch 
mehr  Bonaventura  erweiterten  bei  Schilderung  derselben 
Vorgänge  den  Text  ihrer  Vorlage  —  also  der  Legenda  trium 
Sociorum.  —  Das  Wunder  trete  schon  in  der  Vita  secunda 
stärker  hervor. 

Es  ist  wahr,  dafs  die  mittelalterliche  Quellenkritik  das 
gegenseitige  Abhängigkeitsverhältnis  der  Quellen  nach  solchen 
Grundsätzen  zu  bestimmen  strebt ;  aber  wenn  es  an  anderen 
Beispielen  dafür  fehlen  würde,  so  lehrten  die  franziskanischen 
Legenden  aufs  eindringlichste,  mit  welcher  Vorsicht  diese 
Grundsätze  angewendet  werden  müssen,    sobald  es  sich    um 


98  GOETZ, 

das  Material  einer  nicht  mehr  völHg  primitiven  Geschicht- 
schreibung handelt.  Der  Grundsatz,  dafs  die  Wunder  mit 
zunehmender  Entfernung  von  der  Urquelle  zunehmen,  bleibt 
wohl  in  Geltung;  aber  in  dieser  Hinsicht  hat  Sabatier  doch 
nur  ein  einziges  autfallendes  Beispiel  gebracht  ^. 

Dafs  aber  Erweiterungen  des  Textes,  seien  sie  nun  rhe- 
torischer Art  oder  auch  sachlich  vermehrend,  ein  Zeichen 
späterer  Entstehung  seien,  darf  im  vorliegenden  Falle  nicht  so  all- 
gemein behauptet  werden;  nur  bei  neu  auftretenden  Lokalisatio- 
nen von  Ereignissen  oder  Einfügung  von  Personennamen,  wo 
ursprünglich  keine  bestimmte  Person  mit  einem  Vorgang  in 
Beziehung  gesetzt  war,  kann  man  vielleicht  mit  mehr  Ge- 
wifsheit  auf  das  zeitliche  Verhältnis  der  Quellen  schliefsen, 
Bonaventura  hat  seine  Vorlagen  viel  häutiger  verkürzt  als 
erweitert:  seine  schriftstellerischen  Absichten  durchbrechen 
die  naiven  Prinzipien  früherer  Annalisten  und  Legenden- 
schreiber. Lemmens  hat  aus  einem  römischen  Kodex  von  S. 
Isidoro  de  Urbe  Fassungen  des  Speculum  Perfectionis  und 
der  Vita  Aegidii  veröffentlicht,  die  er  um  ihrer  kürzeren 
Form  willen  für  ursprünglichere  Redaktionen  als  die  bisher 
bekannten  hielt  ^,  während  es  nach  Sabatiers  Meinung,  dem 
ich  in  diesem  Falle  vollständig  zustimme,  kaum  ein  Zweifel 
sein  kann,  dafs  es  sich  dabei  um  spätere  Auszüge  handelt  ^. 
Ortroy  hat  ferner  Fälle  angeführt,  wo  gerade  die  Legenda 
trium  Sociorum  gegenüber  der  Vita  secunda  die  Fassung 
erweitert  *  —  Fälle,  die  nicht  zu  bestreiten  sind  und  über 
die  sich  Sabatier  nicht  geäufsert  hat.  Und  die  unanfecht- 
barsten Belege:  aus  der  Vita  prima  lassen  sich  Stellen  geben, 
die  ausgeschmückter  sind  als  die  gleichen  Stellen  der  Legenda 
trium  Sociorum  ^. 


1)  Sabatier,  De  l'authenticitd,  S.  16  Anm.  Das  ebend.  S.  7  ge- 
gebene Beispiel  (adhuc  sanctus  adorabor  bei  2.  Gel.  1,1,  gegenüber 
adhuc  adorabor  bei  Leg.  tr.  Soc.  4  [c.  IIj)   ist  nicht  gut  zu  verwenden. 

2)  Lemmens,  Documenta  antiqua  Franciscana  I  und  II,  Qua- 
raccbi  1901. 

3)  Sabatier,  Actus  b.  Francisci  et  sociorum  eius,  S.  LVIII. 

4)  Anal.  Boll.  XIX,  131  f. 

5)  Vgl.  z.  B.  1.  Gel.  II,  8  (n.  110)  mit  Leg.  tr.  Soc.  n.  68. 


QUELLEN  ZUR  GESCniCHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL      99 

Vor  allem  aber  wird  die  Anwendung  dieser  quelleu- 
kritischen  Grundsätze  dadurch  noch  erschwert  oder  unmög- 
lich gemacht,  weil  von  der  Legenda  trium  Sociorum  im 
sogen.  Anonymus  Perusinus  eine  Fassung  vorhegt,  die,  wenn 
sie  ein  späterer  Auszug  wäre,  beiden  Grundsätzen  entgegen- 
handelte. Nun  spricht  aber  nichts  dafür,  dafs  sie  ein  solcher 
Auszug  ist,  sondern  sie  raufs  entweder  eine  parallele  Fas- 
sung —  gleich  der  Legenda  trium  Sociorum  aus  gemein- 
samer Quelle  fliefsend  —  sein,  oder  sie  ist  die  Vorlage  der 
Legenda  trium  Sociorum  gewesen :  in  beiden  Fällen  sind  alle 
von  Sabatier  gezogenen  Schlüsse  hinfäUig.  Es  wird  davon 
noch  in  einem  Exkurs  zu  sprechen  sein  (s.  u.  S.  140  ff.). 

In  gleicher  Weise  scheide  ich  das  von  Sabatier  vor- 
gebrachte Argument  des  einheitlichen  Stils  der  Legenda  trium 
Sociorum  aus.  Denn  es  ist  ein  Argument,  bei  dem  ein  jeder 
Forscher  verschieden  fühlt  und  das  infolgedessen  ebensowenig 
beweiskräftig  sein  kann  wie  der  „parfum  franciscain ",  den 
Sabatier  in  dieser  Legende  findet  —  andere  haben  sie  eine 
zusammengestohlene  Kompilation  genannt!  Das  einzig  Ent- 
scheidende ist  der  Text  selber;  hält  er  der  Prüfung  nicht 
stand,  so  sind  alle  anderen  Rettungsgründe  hinfallig. 

Van  Ortroy  hat  den  Text  der  Legenda  und  der  vermut- 
lichen Vorlagen  nebeneinander  gestellt.  Ohne  dafs  ich  das 
Verdienst  van  Ortroys,  eine  neue  Anschauung  zuerst  aus- 
gesprochen zu  haben,  im  geringsten  verkleinern  will,  glaube 
ich  doch,  dafs  es  damit  noch  nicht  getan  ist.  Denn  man 
verlangt  dafür  den  unwiderleglichen  Beweis,  dafs  die  Vita 
secunda,  Bonaventura  usw.  auch  wirklich  die  Vorlagen  sind 
und  nicht  doch  etwa  die  Ableitungen.  Van  Ortroys  Beweis 
läfst  sich  in  dieser  Hinsicht  wohl  noch  etwas  ausdehnen. 
Es  finden  sich  ferner  einzelne  Stellen  mit  zum  Teil  auffallen- 
den Nachrichten,  für  die  van  Ortroy  keine  Vorlagen  hat 
nachweisen  können;  dafs  damit  Schwierigkeiten  gegeben  sind, 
läfst  sich  zunächst  nicht  bestreiten.  In  einigen  Fällen  hat 
Ortroy  Texte  nebeneinander  gestellt,  die  sich  nicht  genügend 
berühren,  um  sie  als  Vorlage  und  Ableitung  miteinander  in 
Zusammenhang  zu  bringen.  Auch  scheint  mir  in  der  Frage 
der  Anachronismen,    die  Ortroy   in    der  Legenda    trium  So- 


100  GOETZ, 

ciorum  gefunden  zu  haben  glaubte,  die  Abwehr  Sabatiers 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  geglückt  ^  —  nur  die  Erwähnung 
der  Bestätigung  des  Tertiarierordens  kann  man  mit  Ortroy 
für  einen  Anachronismus  ansehen ,  ohne  dafs  doch  der 
Wortlaut  die  Gegengründe  Sabatiers  völlig  ausschlösse. 

Ich  versuche,  zum  guten  Teil  parallel  mit  Ortroy,  den 
Wert  des  Textes  der  Legende  festzustellen.  Dafs  die  Vita 
prima  Celanos  und  die  Legende  Julians  von  Speier  aufs 
stärkste  benutzt  sind,  gehört  zu  den  sicheren  Gewinnen  der 
Beweisführung  van  Ortroys.  Das  bleibt,  auch  wenn  man, 
wie  es  zunächst  geschehen  soll,  vom  Schreiben  an  den  Ge- 
neralminister völlig  absieht,  eine  auffalhge  Tatsache.  Hatte 
Thomas  von  Celano  in  seiner  Vita  secunda  den  Wunsch  des 
General kapitels  so  aufgefafst,  dafs  er  nur  sein  frühei'es  Werk 
ergänzte,  so  wäre  in  der  Legenda  trium  Sociorum  ein  ganz 
anderer  Wunsch  erfüllt:  eine  Verarbeitung  der  früheren  Le- 
genden mit  neuen  Zutaten ;  mit  dem  Abbrechen  der  Er- 
zählung beim  Jahre  1210  und  den  kurzen  Nachrichten,  die 
dann  noch  folgen,  wäre  aber  auch  diese  Absicht  keineswegs 
durchgeführt.  Und  selbst  wenn  man  annimmt,  die  alte  Le- 
genda trium  Sociorum  sei  ein  Torso,  so  raüiste  man  den- 
noch angesichts  ihres  Charakters  eher  an  ein  vom  General- 
kapitelsbeschlufs  ganz  unabhängiges  Unternehmen  denken. 

Zu  den  beiden  Legenden,  die  also  den  Grundstock  der 
Legenda  trium  Sociorum  bilden,  sind  nun  Zusätze  hinzu- 
gefügt, von  denen  man,  auch  wenn  sie  sich  mit  den  späteren 
Quellen  berühren,  doch  nicht  ohne  weiteres  sagen  kann,  dafs 
sie  aus  diesen  geschöpft  sein  müfsten.  Denn  kompiliert  sind 
schliefslich  alle  Quellen,  die  nach  der  Vita  prima  entstanden 
sind  —  man  könnte  auch  Bonaventura  in  ein  ähnliches 
Mosaik  auflösen,  wie  es  Ortroy  mit  der  Legenda  trium  So- 
ciorum getan  hat.  Und  dafs  bei  dieser  die  spätere  Kompi- 
lation nicht  überall  zu  erweisen  ist,  mufs  den  Gegnern 
Ortroys  zugegeben  werden :  es  gibt  zahlreiche  Stellen ,  wo 
es  zunächst  vöUig  zweifelhaft  bleibt,  ob  die  Legenda  trium 
Sociorum  Vorlage  oder  Ableitung  ist.    Das  Urteil  über  diese 


1)  De  l'authenticite  S.  18  ff. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    101 

unsicheren  SteUen  kann  erst  dann  entschieden  werden,  wenn 
in  andern  Fällen  der  Beweis  für  die  eine  oder  andere  Mög- 
lichkeit zweifelsfrei  geführt  ist.  Den  gesamten  Text  mit 
solcher  Absicht  zu  prüfen,  ist  des  Raumes  halber  unmöglich; 
aber  ein  ausführliches  Eingehen  auf  eine  genügende  Anzahl 
von  Beispielen  kann  nicht  umgangen  werden. 

Das  erste  Kapitel  (n.  2—3  in  den  Acta  Sanctorum) 
bietet  in  seineu  Zusätzen  kein  verwendbares  Beispiel  '.  Um 
so  stärker  dagegen  das  zweite  Kapitel.  Auf  die  Erzählung 
der  Gefangenschaft  in  Perugia,  die  sich  mit  der  Vita  secunda 
eng  berührt,  aber  ohne  dafs  man  über  die  Abhängigkeit 
etwas  sagen  könnte  ^,  folgt  der  Plan  des  jungen  Franz,  an 
einem  Kriegszuge  nach  ApuHen  teilzunehmen.  Die  Legenda 
berührt  sich  hier  in  den  Hauptstücken  mit  der  Vita  prima  und 
secunda,  in  Einzelheiten  mit  Bonaventura.  Man  kann  einen 
allgemeinen  Öchlufs  vorausnehmen:  bestände  die  Legenda 
hier  aus  der  Vita  prima  und  eigenem  neuen  Material,  so  dafs 

1)  Sabatier,  De  l'autbenticite,  S.  6  hat  die  Worte  der  Mutter: 
„Quid  de  filio  ineo  putatis?  Adhuc  erit  filius  Dei  per  gratiam"  als  der 
Fassung  der  Vita  secunda  vorangehend  bezeichnet  („Quid  putatis  filius 
meus  erit?  Multorum  gratia  Dei  filiorum  patrem  ipsum  noveritis  affu- 
turuin").  Aber  gerade  mit  Beispielen  solcher  Art  ist  kein  Beweis  zu 
führen  (vgl.  auch  das  Beispiel  bei  Sabatier  S.  7);  sie  finden  sich 
ebenso  häufig  umgekehrt.  Im  gleichen  1.  Kapitel  ist  ein  Gegenbeispiel: 
2.  Gel.  I,  1  sagt,  Franz  schien  infolge  seiner  vornehmen  Sitten  gar  nicht 
wie  der  Sohn  seiner  [bürgerlichen]  Eltern;  die  Leg.  tr.  Soc.  aber  er- 
weitert: Franz  erschien  nicht  als  der  Sohn  seiner  Eltern,  sed  cuiusdam 
inagni  principis.  Dagegen  ist  aus  dem  1.  Kapitel  ein  auffallendes  Bei- 
spiel zu  erwähnen :  die  Leg.  tr.  Soc.  schildert  nach  L  Gel.  I,  7,  dafs  Franz 
einmal  einem  bittenden  Armen  kein  Almosen  gab  und  es  dann  sogleich 
bereute.  2.  Gel.  erwähnt  das  Ereignis  nicht;  aber  bei  Bonaventura  wie 
im  Anonymus  Perus,  ist  hinzugefügt,  dafs  Franz  dem  Armen  darauf  nach- 
lief und  ihm  das  Almosen  gab.  Hier  möchte  man  ohne  weiteres  auf  die 
Priorität  der  Leg.  tr.  Soc.  schliefsen.  Aber  der  Fall  komplizieit  sich 
dadurch,  dafs  der  Anonymus  Perus,  ebenfalls  in  Frage  kommt,  und 
zweitens  hat  die  Leg.  tr.  Soc  sowohl  gegenüber  1 .  Gel.  wie  Bonaventura 
am  Anfang  der  Erzählung  eine  Erweiterung:  der  Vorgang  ist  auf  den 
väterlichen  Laden  lokalisiert,  und  zwar  scheint  dabei  der  Ausdruck  Bo- 
naventuras „negotiationis  tuuiultibus"  das  Bindeglied  zwischen  1.  Gel.  und 
Leg.  tr.  Soc. 

2)  Vgl.  oben  S.  98  Anm.  1. 


102  GOETZ, 

die  Vita  secunda  aus  ihr  geschöpft  hätte,  so  müfste  der  Ver- 
fasser der  Vita  secunda  sorgfaltig  alles,  was  aus  1.  Celano 
in  der  Legenda  stammte,  wieder  ausgeschieden  haben,  denn 
die  Vita  secunda  enthält  hier  nichts  aus  der  Vita  prima. 
Eine  solche  Arbeit  ist  wenig  wahrscheinHch  bei  einem  Ver- 
fasser, der  um  des  Zusammenhanges  willen  sonst  doch  ge- 
legentlich etwas  aus  der  Vita  prima  mit  übernimmt.  Die  neue 
Fassung  des  Ereignisses,  die  in  der  Legenda  trium  Sociorum 
vorliegt,  hätte  ihn  wohl  bestimmen  können,  sich  ihr  an- 
zuschliefsen.  Die  Schwierigkeit  löst  sich  ohne  Frage  ein- 
facher, wenn  man  sich  die  Legenda  trium  Sociorum  aus  der 
Vita  prima  und  secunda  entstanden  denkt.  Diese  Annahme 
wird  durch  eine  Reihe  von  Einzelheiten  unterstützt:  1)  Die 
beiden  Viten  Celanos  und  Bonaventura  bringen  den  Vorgang 
noch  ohne  eine  Zeitbestimmung;  die  Legenda  trium  Sociorum 
knüpft  als  erste  an  die  Gefangenschaft  in  Perugia  mit  der 
Wendung  an:  „Post  paucos  vero  annos''.  Erweiterungen,  die 
sich  auf  bestimmtere  Chronologie  oder  auf  Lokahsierung  be- 
ziehen, deuten,  wie  bereits  erwähnt  wurde,  in  stärkerem  Mafse 
als  blofs  rhetorische  Erweiterungen  auf  spätere  Entstehungs- 
zeit hin.  2)  Die  Vita  secunda  bringt  vor  dem  Kriegszuge 
nach  Apulien  und  den  zugehörigen  Visionen  die  Erzählung, 
dafs  Franz  einem  armen  Soldaten  seine  Kleider  geschenkt 
habe,  und  zwar  ohne  direkten  Zusammenhang  mit  dem 
Kriegszuge.  Bei  Bonaventura  liegt  bereits  eine  zeitliche  Ver- 
bindung der  beiden  Ereignisse  vor:  dem  Verschenken  der 
Kleider  folgt  in  der  „nocte  sequente"  die  erste  Vision ;  aber 
die  für  den  Kriegszug  bestimmten  kostbaren  Kleider  schaffit 
sich  Franz  erst  nach  der  Vision  an.  Die  Legenda  trium 
Sociorum  gibt  nun  Geschenk  und  Vision  als  Ursache  und 
Wirkung,  und  die  verschenkten  Kleider  sind  jetzt  die  für  den 
Kriegszug  angeschafften  geworden.  3)  Die  Vita  prima  spricht 
nur  davon,  dafs  ein  „nobilis  quidam  civitatis  Assisii"  an  einem 
Kriegszuge  nach  Apulien  teilnehmen  wollte  und  dafs  Franz 
beschlofs,  sich  ihm  anzuschhefsen.  Dasselbe  berichtet  Julian 
von  Speier.  Die  Vita  secunda  nennt  bei  ihren  Zusätzen  zur 
Vita  prima  niemand.  Bonaventura  (n.  9)  erwähnt  bei  der 
Zusammenarbeitung  der  früheren  Berichte  den  nobilis  nicht, 


I 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL  FRANZ  VON  ASSISL    103 

sondern  sagt^  Franz  habe  sich  ^,in  Apuliam  ad  quemdam  li- 
beralem comitem"  begeben  wollen.  Die  Legenda  triam  So- 
ciorum  erzählt  wie  die  Vita  prima  von  der  Absicht  des 
nobilis  de  civitate  Assisii,  fährt  dann  aber  fort:  „quo  audito 
Franciscus  ad  eundum  cum  illo  aspirat,  ut  a  quodam  comite 
Gen  tili  nomine  miles  fiat".  Es  wird  also  hier  sowohl  Celanos 
nobilis  aus  Assisi  wie  Bonaventuras  apulischer  comes  gebracht, 
und  dieser  bekommt  zum  ersten  Male  einen  bestimmten  Namen  '. 
Nun  ziehe  man  noch  den  Anonymus  Perusinus  hinzu; 
da  wird  so  wenig  wie  bei  Benaventura  der  nobilis  aus 
Assisi  erwähnt,  sondern  es  heifst:  Franz  wollte  „ad  co- 
mitem  gentilem  in  Apuliam  proficisci".  Bedenkt  man  die 
doppelte  Bedeutung  von  gentilis  (sowohl  „vornehm"  wie  auch 
„demselben  Stamme  angehörig''),  so  drängt  sich  der  Schlufs 
auf,  dafs  der  Anonymus  Perusinus  aus  dem  adligen  Lands- 
manne  aus  Assisi,  von  dem  Celano  spricht,  und  dem  apu- 
lischeu  Grafen  Bonaventuras,  um  den  Widerspruch  der 
beiden  Berichte  zu  heben,  einen  in  Apulien  weilenden,  aber 
aus  Assisi  stammenden  Grafen  gemacht  hat.  Der  Verfasser 
der  Legenda  trium  Sociorum  aber  begriff  diese  Kombination 
nicht  mehr,  sondern  nahm  vielleicht  das  adjektivische  gentilis 
des  Anonymus  Perusinus  für  den  gleichlautenden  Eigen- 
namen ,  und  um  keine  der  abweichenden  Lesarten  seiner 
Vorlagen,  der  Vita  prima  und  Bonaventuras,  abzulehnen, 
brachte  er  beide  nebeneinander.  Es  scheint  mir  nicht  wohl 
möglich,  eine  andere  Entwickelungsgeschichte  dieser  Stelle  an- 
zunehmen;   Bonaventura  würde  den  Namen  des  Grafen   ge- 

1)  Es  ist  allerdings  möglich,  dafs  der  Zusatz  ,, nomine"  erst  von 
späteren  Abschreibern  beigefügt  wurde;  der  Text  in  den  Acta  SS.  lautet 
nur:  ut  a  quodam  comite  gentili  miles  tiat.  Schon  Wadding  hat  über- 
legt (Annales  I,  27),  ob  gentilis  Eigenname  sein  solle,  und  sich  dagegen 
61  klärt.  Der  Bollandist  (Acta  SS.  ö.  565)  schliefst  sich  an  Wadding  an, 
obwohl  er  auf  einen  damals  existierenden  Grafen  Gentilis  hinweist.  Die 
späteren  Ausgaben  der  Leg.  tr.  Soc.  haben,  soviel  ich  sehe,  alle  auch 
das  Wort  nomine.  Ich  würde  bei  dieser  Unsicherheit  des  Textes  den 
Punkt  nicht  so  stark  hervorgehoben  haben,  wenn  nicht  sowohl  Tliode 
S.  19  wie  öabatier,  Vie  de  S.  Franc^ois,  S.  19  Gentilis  als  Eigennamen 
genommen  hätten  —  Sabatier  unter  Feststellung  dreier  Grafen  dieses 
Namens. 


104  GOETZ, 

bracht  haben,  wenn  er  ihn  in  einer  so  gut  beglaubigten  Vor- 
lage gefunden  hätte.  4)  Die  Vita  prima  bringt  nur  eine 
Vision;  das  Abstehen  vom  Kriegszuge  ist  nicht  recht  ge- 
nügend begründet.  Die  Vita  secunda  fügt  zur  besseren 
Motivierung  eine  zweite  Vision  hinzu,  ohne  Zeit-  und  Orts- 
angabe; da  aber  Franz  nach  dieser  in  die  Heimat  „zurück- 
kehrt", so  mufs  man  schliefsen,  dafs  die  zweite  Vision  schon 
aufserhalb  Assisis  nach  Antritt  der  Reise  stattfand.  Bona- 
ventura hebt  den  Mangel,  als  er  die  beiden  Berichte  Celanos 
vereint:  er  läfst  die  Reise  „usque  ad  proximam  civitatem"  an- 
getreten sein.  Die  Legcnda  trium  Sociorum  hat  die  Er- 
zählung wie  Bonaventura,  bestimmt  aber  für  den  Leser  diese 
proxima  civitas  durch  den  Zusatz:  „usque  Spoletum",  und 
ein  Unwohlsein  des  Reisenden  in  dieser  Stadt  wird  —  da- 
mit auch  über  den  Text  des  Anonymus  Perusinus  hinaus- 
gehend —  noch  hinzugefügt.  —  So  liegen  iür  dieses  Ka- 
pitel vier  starke  Hinweise  vor,  dafs  die  Legenda  trium 
Sociorum  nicht  nur  später  als  die  Vita  secunda,  sondern 
auch  später  als  Bonaventura  verfafst  ist. 

Der  Anfang  des  dritten  Kapitels  der  Legenda  trium 
Sociorum  (n.  7 :  Gastmahl  mit  den  Freunden,  Zug  durch  die 
Stadt  Assisi,  Frage  der  Freunde,  ob  Franz  sich  verheiraten 
wolle)  berührt  sich  eng  mit  den  Erzählungen  der  Vita  prima 
(I,  3)  und  secunda  (I,  3),  und  zwar  sind  in  der  Legenda 
trium  Sociorum  die  beiden,  voneinander  ganz  unabhängigen 
Berichte  Celanos  in  feste  Verbindung  gebracht.  Natüi'- 
licher  ist  wiederum  die  Annahme,  dafs  diese  beiden  Berichte 
nachträglich  zusammengefafst  wurden,  als  dafs  Celano  für 
seine  Vita  secunda  aus  dem  Berichte  der  Legenda  trium 
Sociorum  alles  aus  der  Vita  prima  stammende  sorgfältig 
ausschied  und  dabei  den  Zusammenhang  der  Erzählung 
wieder  löste.  Sehr  auffallend  ist  ferner,  dafs  die  Legenda 
nach  dieser  Schilderung  mit  Worten  fortfährt,  die  der  Vita 
prima  entnommen  sind,  dort  aber  in  einen  andern  Zusammen- 
hang gehören.  Die  Vita  prima  (I,  2)  berichtet,  dafs  die 
neue  Entwickelung  Franzens  mit  einer  schweren  Krankheit 
begann;  als  der  Genesende  dann  zum  ersten  Maie  wieder 
ins  Freie  kommt  und   die  Landschaft   vor   der  Stadt  Assisi 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    105 

sieht,  vollzieht  sich  in  ihm  eine  Änderung:  „In  nuUo  eum 
potuit  delectare''.  Celano  fährt  fort:  „Ab  ea  itaque  die  coepit 
se  ipsum  vilescere  sibi  et  in  contemptu  quodam  habere,  quae 
prius  in  admiratione  habuerat  et  amore''  usw.  Man  hat  diese 
Krankheit  und  die  durch  sie  bedingte  Veränderung  im  Innern 
Franzens  stets  als  treffende  Wahrheit  angenommen :  der  Be- 
richt Celanos  ist  wohl  überall  verwendet  worden,  wo  man 
im  Leben  des  Heiligen  die  erste  Wendung  zur  Verinner- 
lichung  schildern  wollte.  So  hat  es  auch  Sabatier  in  seiner 
Vie  de  S.  Frangois  getan.  Wie  aber  kommt  es,  dafs  die 
Legenda  trium  Sociorum  davon  gar  nichts  weifs?  Wie 
konnte  es  geschehen,  dafs  ihre  Verfasser  die  nachfolgenden 
"\^'orte  Celanos  fast  wortgetreu  herübernehmen,  aber  im  An- 
schlufs  an  das  Gastmahl  und  die  Frage  der  Freunde,  ob 
Franz  sich  verheiraten  wolle?  '  Sabatier  hat  von  der  Le- 
genda trium  Sociorum,  um  ihre  eigenen  Wiederholungen 
z.  B.  im  zwölften  Kapitel  zu  rechtfertigen,  gesagt,  die  Ver- 
fasser strebten  nach  äufserster  Vollständigkeit,  berichteten 
alles,  was  sie  aus  der  Vita  prima  oder  aus  eigener  Erfahrung 
würzten,  selbst  wenn  dadurch  gwisse  Widersprüche  in  ihre 
Erzählung  hineingetragen  würden.  Hätten  die  Verfasser 
wirklich  ein  solches  Prinzip  der  Gewissenhaftigkeit  gehabt, 
so  bliebe  das  Verschweigen  der  Krankheit  unerklärlich.  Die 
Aneignung  des  nachfolgenden  Satzes  aus  Celano  legt  viel- 
mehr auch  hier  den  dringenden  Verdacht  nahe,  dafs  reine 
Kompihitoren  hier  am  Werke  waren.  Um  so  mehr,  als  diesem 
Satze  dann  in  der  Legenda  trium  Sociorum  sogleich  ein 
anderer  folgt,  der  wiederum  aus  der  Vita  prima,  aber  aus 
einem  andern  Zusammenhange  (Anfang  von  I,  3)  entnom- 
men ist. 

Die  Mitte  des  dritten  Kapitels  enthält  eine  Stelle  (n.  9), 
für  die  van  Ortroy  keine  Vorlage  und  keine  Berührung  mit 
irgendeiner  andern  Quelle  gefunden  hat.  Sie  berichtet  von 
Franzens  Fürsorge  für  die  Armen,  von  der  Liebe  seiner 
Mutter  zu  ihm  und  verweist  nochmals  auf  sein  früheres  un- 


1)  Die  Leg.  tr.  Soc.  fahrt  nach  dem  Gastmahl  und  der  Frape  der 
Freunde  fort:  „Ah  illa  itaque  hora  coepit  se  vilescere  et  illa  contemnere, 
quae  prius  habuerat  in  amore"  usw. 


106  GOETZ, 

gebundnes  Leben.  Die  Verteidiger  der  Legenda  trium  So- 
ciorum  können  wohl  sagen,  dafs  der  letzte  Punkt  von  den 
Späteren  weggelassen  sei,  um  Franz  nicht  allzusehr  mit 
Jugendsünden  zu  belasten;  aber  die  ersten  beiden  Punkte 
würde  man  doch  in  der  Vita  secunda  und  bei  Bonaventura 
vermuten.  Ihr  Fehlen  ist  kein  direkter  Beweis  gegen  die 
Priorität  der  Legenda  trium  Sociorum,  aber  es  ist  möglich, 
dafs  hierbei  nichts  anderes  als  eine  spätere  Erweiterung  der 
wenig  bekannten  Jugendgeschichte  des  Heiligen  vorliegt. 

Den  Schlufs  des  dritten  Kapitels  (n.  10)  bildet  die  Pil- 
gerfahrt nach  Rom.  Die  Erzählung  berührt  sich  stark  mit 
der  gedrängter  berichtenden  Vita  secunda,  an  zwei  Stellen 
(tunc  temporis  und  ante  flores  ecclesiae)  mit  Bonaventura. 
Der  Bericht  über  das  reiche  Geldgeschenk ,  das  Franz  dem 
hl.  Petrus  machte,  wird  in  der  Vita  secunda  mit  wenigen 
Worten  erzählt:  „plena  manu  pecuniam  iactat  in  loco";  Bona- 
ventura erwähnt  es  gar  nicht;  die  Legenda  trium  Sociorum 
dagegen  schmückt  den  Vorgang  so  aus,  dafs  sie  als  Er- 
weiterung der  Vita  secunda  erscheint:  „cum  magno  fervore 
manum  ad  bursam  ponit  et  plenam  denariis  traxit  eosque  per 
fenestram  altaris  proiiciens  tantum  sonum  fecit,  quod  de  tam 
magnifica  oblatione  omnes  astantes  plurimum  sunt  mirati". 
Es  ist  nur  ein  Beispiel  dafür,  wie  oft  man  die  Legenda  trium 
Sociorum  angesichts  solcher  Erweiterungen  für  die  spätere 
Quelle  ansehen  könnte,  wenn  man  darauf  allein  bauen  wollte ! 
Ein  Zusatz,  den  die  Vita  secunda  hat,  spricht  für  ihre  Ori- 
ginalität: sie  nennt  den  Platz  der  Bettler  vor  St.  Peter  das 
Paradies  (in  paradiso  ante  ecclesiam  s.  Petri)  —  ein  Aus- 
druck, der  dem  Verfasser  der  Legenda  trium  Sociorum  nicht 
bekannt  war.  Andrerseits  hat  die  Legenda  trium  Sociorum 
einen  auffalligen  Zusatz :  Franz  bettelte  „  gallice,  quia  libenter 
lingua  gallica  loquebatur,  licet  ea  recte  loqui  nesciret".  Zwar 
wird  schon  in  der  Vita  prima  erwähnt,  dafs  Franz  gern 
französisch  sang  (I,  7 :  Hngua  francigena),  und  ebenso  in  der 
Vita  secunda  (I,  8  und  III,  67);  aber  nur  aus  dieser  Stelle 
der  Legenda  trium  Sociorum  erfährt  man,  dafs  er  das  Fran- 
zösische niemals  ganz  beherrschte.  Warum  ein  späterer 
Kompilator  diesen  Zusatz  aus  freien  Stücken  beigefügt  haben 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    107 

sollte,  ist  nicht  erfindlich;  hier  mufs  irgendein  originales 
Wissen  zugrunde  liegen.  Eine  derartige  Feststellung,  die 
noch  wiederholt  zu  machen  sein  wird,  schliefst  den  kom- 
pilatorischen  Charakter  der  Legenda  trium  Sociorum  natür- 
lich nicht  aus;  aber  sie  erschwert  die  glatte  Lösung  der 
Frage  unzweit'elhait  ^ 

Ganz  ungünstig  für  die  Originalität  der  Legenda  trium 
Sociorum  fällt  das  Ergebnis  aus,  wenn  man  die  Komposition 
der  Kapitel  5  —  7  (n.  7 —  erste  Hälfte  von  13)  ins  Auge  fafst. 
Das  Gerüst  der  ganzen  Erzählung  gibt  die  Vita  prima  I,  3 
ab;  jedoch  sind  grofse  Partien  eingeschoben,  die  sich  mit 
zweitem  Celano  I,  3  —  5  berühren,  und  zwar  wird  durch 
diese  Einschiebsel,  die  also  möglicherweise  als  selbständiges 
Wissen  der  drei  Gefährten  anzusehen  wären,  die  eng  zu- 
sammengehörende Erzählung  der  Vita  prima  aufgelöst.  Diese 
beschreibt  —  von  der  Vita  secunda  darin  ergänzt  —  einen  ver- 
ständlichen, unter  immer  neuen  Eindrücken  sich  vollziehenden 
Entwicklungsgang:  wir  hören  von  der  schweren  Krankheit, 
dann  von  dem  Streben  nach  ernsthafter  äufserer  Betätigung, 
dem  ein  ständiges  Grübeln  (Visionen)  gegenübersteht;  alte 
und  neue  Ideale  streiten  sich  in  seinem  Inneren;  seit  er  den 
Zug  nach  Apulien  aufgegeben  hat,  ist  Franz  in  seinen  Ge- 
dankengängen verändert;  er  zieht  sich  von  dem  weltlichen 
Treiben  zurück  und  sucht  die  Einsamkeit  auf;  mit  einem 
Freunde  geht  er  zu  einer  Höhle,  begibt  sich  aber  allein  ins 
Innere  und  in  langem  Gebete  setzt  er  sich  mit  sich  selber 
auseinander;  zum  Freunde  zurückkehrend  ist  er  „ita  labore 
confectus,  ut  alius  intrans,  alius  exiens  videretur";  bei  solchen 
Gebeten  wird  es  in  seiner  Seele  klarer;  aber  er  verbirgt 
noch  den  neuen  geistigen  Besitz,  er  spricht  in  Bildern,  die 
nicht  verstanden  werden ,  von  seiner  Zukunft ;  man  fragt 
ihn,  angesichts  dieses  auffälligen  Wesens,  ob  er  sich  etwa  ver- 
heiraten wolle;  er  antwortet  bejahend  mit  einem  Bilde,  das 
Thoraas  von  Celano  dem  Leser  sogleich  erläutert:  die  schönste 
und  vornehmste  Braut,  die  Franz  heimführen  zu  wollen  vor- 


1)  Der  Anonymus  Perusinus  berichtet  von  der  Pilfjerfahrt  nach  Rom 
leider  überhaupt  nichts,  so  dafs  er  keine  Hilfe  zur  Erklärung  bietet. 


108  GOETZ, 

gab,  sei  die  vera  religio.  Das  folgende  Kapitel  erzählt  dann 
eine  weitere  Stufe  der  Entwickelung. 

Ob  Celanos  Erzählung  historisch  wahr  ist  oder  nicht, 
bleibt  zunächst  gleichgültig;  sie  ist  jedenfalls  einleuchtend 
als  eine  durchaus  mögliche  Entwicklung. 

Man  vergleiche  damit  die  Lcgenda  trium  Sociorum.  Bei 
ihr  fallt  die  Krankheit  weg  und  damit  der  stärkste  Anstofs 
zur  innern  Wandlung.  Auch  sie  lälst  Franz  —  im  wört- 
lichen Anschlufs  an  die  Vita  prima  —  mit  dem  Fi'eunde 
zur  Höhle  gehen  und  ihn  im  Innern  beten;  da  aber  wird 
eingeschoben,  was  die  Vita  secunda  I,  5  in  anderem  Zusammen- 
hange bringt:  dafs  der  Teufel  ihm  ein  buckliges  Weib  zeigt, 
um  ihn  abzuschrecken;  dann  geht  es  wieder  mit  den  Worten 
der  Vita  prima  weiter  —  mit  Worten,  deren  ursprünglicher 
Zusammenhang  freilich  durch  das  Einschiebsel  gestört  ist: 
denn  nun  scheint  es,  als  ob  Franz  infolge  der  teuflischen 
Vision  ganz  verändert  zum  Freunde  zurückkehrt  —  wie- 
der also  eine  Abschwächung  der  eigenen  inneren  Arbeit 
Franzens ! 

Nahm  etwa  Celano  für  seine  zweite  Vita  die  neue  Nach- 
richt der  drei  Gefährten  von  der  teuflischen  Vision  auf? 
Dann  hätte  er  nicht  nur  auch  hier  wieder  sorgfältig  aus  der 
Erzählung  der  drei  Gefährten  ausgeschieden,  was  diese  aus 
der  Vita  prima  übernommen  hatten,  sondern  auch  den  neuen 
und  ofi'enbar  von  den  Gefährten  doch  wohl  besser  ge- 
kannten Zusammenhang  der  Dinge  wieder  beseitigt.  Aber 
dieser  Zusammenhang  ist  kein  besserer:  der  einfache  Bericht 
der  Vita  prima  wird  durch  die  eingeschobene  Vision  um 
seine  Natürlichkeit  gebracht;  in  der  Vita  prima  liegt  ein 
begreiflicher  innerer  Vorgang  vor,  in  der  Legende  der  Ge- 
nossen mufs  die  Vision  motivieren  ^  Dann  hätte  also  die 
Vita  secunda  auf  den  natürlicheren  Bericht  der  Vita  prima 
zurückgegriffen.  Aber  wenn  sie  so  gewissenhaft  bringen 
wollte,  was  die  Legenda  trium  Sociorum  an  Neuem  gab,  so 

1)  Man  beachte,  dafs  die  vertrauten  Gefährten,  wenn  von  ihnen 
diese  Erzählung  herrührte,  natürliche  Vorgänge  durch  wunderbare  Visionen 
ihrer  Wahrheit  beraubt  hätten  —  ein  Moment,  das  keineswegs  zu  der 
gerühmten  Schlichtheit  der  Gefährten  pafst! 


qup:llen  zur  Geschichte  des  hl.  fkanz  von  assisi.  109 

ist  auffallend,  dafs  sie  die  zuvor  besprochenen,  bisher  unab- 
leitbaren Absätze  der  Legenda  nicht  auch  brachte. 

Die  Lösung  ist  auf  andere  Weise  überzeugender.  Die 
Vita  secunda  bringt  die  Vision,  nachdem  sie  vorher  kurz 
erwähnt  hatte,  dafs  Franz  einsame  Orte  für  seine  Gebete 
aufsuchte.  Der  Kompilator  der  Legenda  trium  Sociorum 
suchte  nun  diese  Angabe  mit  der  Höhle  der  Vita  prima  zu 
vereinen  und  verlegte  infolgedessen  die  Vision  in  die  Höhle, 
ohne  sich  um  die  Zerstörung  des  Berichtes  der  Vita  prima 
zu  kümmern.  Die  Vita  secunda  fährt  nach  der  Vision 
mit  einer  göttlichen  Ermahnung  für  Franz  fort;  sie  pafste 
dem  Kompilator  nicht  so  gut,  wie  die  Fortsetzung  in  der 
Vita  prima;  er  liefs  sie  deshalb  hier  ausfallen,  stellte  sie 
aber  an  eine  andere  Stelle,  an  den  Anfang  des  vierten  Ka- 
pitels. 

Die  Vermutung,  dafs  die  Vita  secunda  hier  die  originale 
Quelle  ist  und  nicht  die  Ableitung,  wird  dadurch  noch  be- 
stärkt, dafs  ihre  Erzälilungen  —  die  Vita  prima  ergänzend  — 
dieselben  Entwickelungsstufen  einhalten  wie  diese;  die  Le- 
genda trium  Sociorum  wirft  dagegen  vor  der  Zeit  etwas 
hinein,  was  in  den  beiden  Viten  Celanos  erst  einem  spätem 
Zeitpunkt  angehört :  die  Leprosenpflege.  Die  oben  angeführte 
Schilderung  der  Vita  prima  zeigt  die  zunehmende  Verinner- 
lichung  des  Suchenden;  die  schliefslich  erfolgende  Hinwen- 
dung zu  den  Leprosen  ist  die  erste  Tat  aus  den  neuen  An- 
schauungen heraus  und  angesichts  der  darin  liegenden  Selbst- 
aufopferung sicherlich  kein  vor  der  inneren  Wandlung 
liegendes  Ereignis.  Dieselbe  Anordnung  hält  die  Vita  se- 
cunda inne.  Die  Legenda  trium  Sociorum  wird  dadurch 
unglaubwürdig,  dafs  sie  die  Hinwendung  zu  den  Leprosen 
vor  dem  Aufsuchen  der  Einsamkeit,  vor  der  inneren  Wand- 
lung infolge  langen  Gebetes  berichtet. 

Wufsten  es  die  drei  Genossen  wirklich  besser,  so  hätte 
auch  hier  die  Vita  secunda  ihnen  folgen  müssen.  Es  will 
statt  dessen  —  wie  oben  bei  der  übergangenen  Krankheit 
Franzens  —  scheinen,  als  ob  der  Kompilator  für  den  lang- 
samen und  folgerichtigen  Entwickelungsgang  Franzens  keine 
Aufmerksamkeit  und  kein  Verständnis  besessen  habe.     Eben- 


110  GOETZ, 

SO  gravierend  ist  ferner,  dafs  in  diesen  Kapiteln  bei  dem 
Hineinsehieben  anderer  Stücke  in  den  Bericht  der  Vita  prima 
eine  zwecklose  Wiederholung  zustande  gekommen  ist.  Am 
Anfang  von  Kapitel  3  (n.  7)  ist  die  Frage  der  Freunde  er- 
zählt, ob  Franz  sich  verheiraten  wolle;  am  Anfang  des 
5.  Kapitels  wird  sie  wiederholt,  weil  der  Verfasser  gerade 
das  in  der  Vita  prima  der  Frage  Vorangehende  ausgeschrie- 
ben hatte.  Der  Kompilator  ist  sich  der  Wiederholung  zwar 
bewufst  und  schiebt  ein  rursus  ein  —  es  macht  seine  Ver- 
legenheit nur  um  so  deutlicher.  Und  der  ganze  letzte  Teil 
des  5.  Kapitels  (n.  15)  ist  ein  Vorwegnehmen  von  Dingen, 
die  in  diesen  Zusammenhang  noch  nicht  gehören  und  jeden- 
falls gegen  die  Geschicklichkeit  des  Verfassers  der  Legenda 
trium  Sociorum  sprechen. 

Auf  die  Frage  der  Freunde  folgt  die  Vision  in  S.  Damiano. 
Sie  berührt  sich  mit  der  Vita  secunda  1,  6,  aber  mitten  darin 
steht  ein  Satzteil  aus  der  Vita  prima  („quae  prae  nimia  vetustate 
casum  proximum  minabatur^').  Es  wäre  ja  denkbar,  dafs  die 
drei  Gefährten  in  ihre  neue  Erzählung  einige  passende  Worte 
aus  der  Vita  prima  eingeschoben  hätten;  aber  dafs  Celano 
bei  der  Abfassung  der  Vita  secunda  zwar  die  ganze  Stelle 
aus  der  Legenda  trium  Sociorum  übernahm,  nur  aber  gerade 
diese  Worte  aus  der  Vita  prima  wegliefs,  will  nicht  ein- 
leuchten. Auch  hier  scheint  vielmehr  Vita  prima  und  Vita 
secunda  von  einem  Späteren  zusammengearbeitet.  Um  so 
mehr,  als  an  dieser  Stelle  die  Erzählung  fortgebildet  ist:  in 
der  Vita  secunda  spricht  nur  Christus  zu  Franz,  in  der  Le- 
genda trium  Sociorum  gibt  Franz  auch  noch  eine  Antwort. 
Und  wieder  entsteht  durch  die  Hineinarbeitung  anderer  Er- 
zählungen in  die  Vita  prima  eine  Wiederholung:  der  Priester 
von  S.  Damiano  erhält  nach  dieser  Vision  Geld  von  Franz; 
am  Anfang  des  6.  Kapitels  beschenkt  ihn  Franz  von  neuem, 
und  der  Verfasser  läfst,  wie  man  deutlich  merkt,  die  ihm 
unklare  Frage  offen,  ob  beide  Male  derselbe  Priester  gemeint 
sei.  In  der  Vita  prima  und  secunda  sind  es  Erzählungen, 
die  sich  gewifs  ergänzen  sollen,  aber  Celano  erzwingt  keine 
Zusammenhänge,  weil  sie  bei  diesen  losen  Überlieferungen 
gar  nicht  ganz  herzustellen  waren ;    der   spätere  Kompilator 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    111 

verrät  sich,  indem  er  verschmelzen  und  in  eine  bestimmte 
Zeitfolge  bringen  will,  was  nicht  völlig  verschmelzbar  war. 
Bonaventura  verrichtete  die  Verschmelzung  der  Vita  prima 
und  secunda  weit  geschickter:  er  liefs,  um  keinen  Wider- 
sprüchen und  Unklarheiten  Raum  zu  geben,  die  erste  Be- 
schenkung  des  Priesters  weg. 

Die  erste  Hälfte  des  6.  Kapitels  (n.  16 — 18)  schhefst 
sich  vollkommen  an  die  Vita  prima  I,  4 — 6  an.  Die  zweite 
Hälfte  (n.  19  und  2U)  ist  zwar  ebenfalls  auf  der  Vita  prima 
aufgebaut,  aber  neben  zwei  Stellen,  die  sich  mit  der  Vita 
secunda  berühren,  stehen  auch  zwei  selbständige  Zusätze: 
da  geht  der  Vater  zuerst  zu  den  Konsuln  der  Stadt  und 
dann  erst  zum  Bischof,  und  weiterhin  erregt  der  Vater  die 
Zuschauer,  als  er  mit  dem  Geld  und  den  Kleidern  davon- 
geht und  dem  Sohne  kein  Stücklein  läfst.  Der  zweite  Zusatz 
braucht  nicht  mehr  zu  sein  als  die  sich  aufdrängende  Erwei- 
terung der  Vita  prima ;  die  Legenda  trium  Sociorum  spinnt 
den  Bericht  der  Vita  prima  in  diesem  Kapitel  überhaupt  aus: 
bei  der  Szene  vor  dem  Bischof  werden  die  gewechselten 
Reden  im  Wortlaut  gebracht  und  bei  dem  Ablegen  der 
Kleider  wird  ausgemalt,  wie  es  in  der  camera  episcopi  ge- 
schieht usw.  Alle  diese  Fortbildungen  fehlen  in  der  Vita 
secunda  und  bei  Bonaventura.  Der  erste  Zusatz  freilich  hat 
keine  Vorlage;  wieder  fragt  man,  warum  die  Vita  secunda 
und  Bonaventura  eine  so  gut  beglaubigte  Nachricht  nicht 
brachten?  Die  Nachricht  selber  ist  allerdings  nicht  ganz 
stichhaltig:  die  Konsuln  sagen  dem  Vater,  sie  hätten  keine 
Macht  über  den  Sohn,  da  dieser  nach  seiner  Aussage  in  das 
servitium  Dei  eingetreten  sei;  aber  Franz  war  ja  noch  gar 
nicht  geistlich  geworden,  und  die  blofse  unbestimmte  Er- 
klärung, sich  dem  Dienste  Gottes  widmen  zu  wollen,  hätte 
wohl  kaum  genügt,  die  Rechte  der  weltlichen  Obrigkeit  auf- 
zuheben. So  ist  dieser  Zusatz  nicht  sehr  glaubwürdig,  sondern 
auch  er  sieht  einer  späteren  Ausschmückung  sehr  ähnlich. 

Das  7.  Kapitel,  bei  dem  sich  dieselbe  Verarbeitung 
der  Vita  prima  und  secunda  behaupten  läfst,  enthält  zwei 
mit  diesem  Hinweis  noch  nicht  erledigte  Stellen,  für  die  van 
Ortroy   keine    Vorlage    und    keine    Erklärung    gewufst    hat. 


112  GOETZ, 

Es  heifst  (am  Anfang  von  n.  22):  Franz  hatte  früher  ein 
verwöhntes  Leben  geführt;  „quippe,  ut  ipse  vir  Dei  confessus 
postea  est  frequenter,  electuariis  et  confectionibus  utebatur 
et  a  eibis  contrariis  abstinebat  *^  Diese  Berufung  auf  eigene 
Aussagen  des  HeiHgen  erweckt  den  Glauben,  als  ob  der 
Verfasser  sie  selber  gehört  oder  doch  noch  von  Ohrenzeugen 
erfahren  hätte.  Es  ist  die  einzige  Stelle  dieser  Art  in  der 
Legenda  trium  Sociorum ;  sie  zwingt  zwar  nicht  zur  An- 
nahme frühzeitiger  Abfassung,  aber  sie  könnte,  falls  andere 
Gründe  dafür  vorhanden  wären,  sie  gewifs  unterstützen. 
Vielleicht  führt  sie  aber  gemeinsam  mit  den  bereits  erwähn- 
ten, bisher  unableitbaren  Stellen  auf  eine  Seitenlinie  der 
Überlieferung,  die  in  den  Viten  Celanos  und  Bonaventuras 
noch  keinen  Niederschlag  gefunden  hat.  Anders  steht  es 
mit  der  zweiten  Stelle,  die  eine  Schwierigkeit  zu  bieten 
scheint.  Die  Worte,  mit  denen  Franz  zur  Wiederherstellung 
von  S.  Damiano  autfordert  (n.  24 :  „Venite  et  adiuvate  me  in 
opere  ecclesiae  S.  Damiani,  quae  futura  est  monasterium  Do- 
minarum ,  quarum  fama  et  vita  in  universali  ecclesia  glori- 
ficabitur  Pater  noster  coelestis")  stehen  wörthch  ebenso  im  Tes- 
tamente der  hl.  Klara.  Und  das  ist  für  beide  Dokumente 
nicht  vorteilhaft.  Das  Testament  der  hl.  Klara  kann  mit 
völliger  Sicherheit  weder  für  echt  noch  für  unecht  erklärt 
werden,    aber   es   ist   in    hohem    Mafse   verdächtig  ^      Wäre 


1)  Sabatier  nimmt  es  für  echt  (Speculum  Peif.  S.  182  Anm.  iindS  320 
Anm.  1),  P.Bonaventura  undLempp  halten  es  für  unecht;  Lemmens 
hat  es  (Rom.  Quartalschr.  XVI,  97)  von  neuem  verteidigt.  Aber  das 
•flüssige  Latein  des  Testamentes,  die  starke  Benutzung  der  Klarissenregel, 
die  Erwähnung  eines  angeblich  von  Innocenz  III.  gegebenen  Privilegs 
machen  es  doch  stark  verdächtig.  Diejenigen,  die  sich  für  die  Echtheit 
der  beiden  Dokumente  ausgesprochen  haben,  mögen  den  Widerspruch 
des  Testamentes  zur  Leg.  tr.  Soc.  gerade  an  diesem  Punkte  vergleichen. 
Die  Leg.  tr.  Soc.  sagt  am  Schlüsse  von  c.  7:  „Quarum  vita  mirifica  et 
institutio  gloriosa  a  sanctae  memoriae  domino  Papa  Gregorio  IX.,  tunc 
temporis  Hostiensi  episcopo,  auctoritate  sedis  apostolicae  est  plenius  con- 
firraata."  Diese  Stelle  ist  aber  entstanden  aus  den  Worten  der  Vita 
prima:  „...  ipsarum  vita  mirifica  et  institutio  gloriosa,  quam  a  domino 
Papa  Gregorio,  tunc  temporis  Hostiensi  episcopo,  susceperunt."  Man 
sieht,  daTs  die  Leg.  tr.  Soc.  eine  päpstliche  Konfirmation  erst  in  die 
Worte   der  Vita  prima  hineingelegt  hat.     Wäre  die  Angabe  des  Testa- 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    113 

das  Testament  echt,  so  würde  es  bei  weitem  wahrschein- 
licher sein,  dafs  es  die  Vorlage  für  eine  spätere  Legende 
wurde,  als  dafs  die  hl.  Klara  bei  Aufsetzung  ihres  letzten 
Willens  die  Legenda  triura  Öociorum  zu  Rate  zog.  Ist  das 
Testament  unecht,  so  könnte  natürlich  die  Legenda  trium 
Soeiorum  sehr  wohl  echt  und  bei  der  Anfertigung  des  Testa- 
mentes benutzt  sein.  Aber  nun  ist  die  fragliche  Stelle  ja 
selber  nichts  anderes  als  Legende,  die  sich  in  der  Zeit 
zwischen  Abfassung  der  Vita  prima  und  der  Vita  secunda 
(oder  ev.  der  Legenda  trium  Soeiorum)  gebildet  hat  Die 
Vita  prima  berichtet  auch  hier  die  annehmbare  Wahrheit: 
da  spricht  Franz  keine  unmöglichen  Prophezeiungen  aus, 
sondern  Celano  sagt  lediglich,  dafs  Franz  das  Kirchlein 
wiederherstellte,  das  später  die  Heimat  der  Klarissen  wurde. 
Die  Vita  secunda  bringt  die  Fortbildung  der  Überlieferung: 
ein  Zusammenhang  zwischen  den  beiden  getrennten  Nach- 
richten der  Vita  prima  ist  hergestellt ,  indem  Franz  bei  der 
Wiederherstellung  von  S.  Damiano  prophezeit,  dafs  künftig 
dort  das  Kloster  der  sanctarum  virginum  Christi  sein  werde. 
Bonaventura  übergeht  die  Prophezeiung  ganz;  die  Legenda 
trium  Soeiorum  aber  bringt  meines  Erachtens  die  weitere 
Fortbildung  über  die  Vita  secunda  hinaus,  denn  sie  gibt 
einen  langen  Wortlaut  der  Prophezeiung  ^     Hier  wie    im 


mentes  der  hl.  Klara  ricbtif?,  so  wäre  die  Angabe  der  Leg.  tr.  Soc.  zum 
mindesten  ungenau.  Denn  da  der  Kardinal  von  Ostia  erst  nach  dem 
Tode  Innocenz'  III.  zu  Franz  in  Beziehung  getreten  ist,  so  fällt  die  von 
der  Leg.  tr.  Soc.  geraeinte  Konfirmation  oder  Anerkennung  irgendeiner 
Lebensregel  erst  in  die  Zeit  Ilonoi  ins'  III.  Wie  das  Testament,  so  spricht 
auch  die  Vita  S.  Clarae  von  Innocenz  HI.  Ilaben  diese  beiden  Zeug- 
nisse recht,  so  haben  die  angeblichen  drei  Gefähiten  unrecht.  Freilich 
liegt  es  mir  trotzdem  fern,  damit  dem  Testament  oder  der  Vita  S.  Clarae 
den  Besitz  einer  unanfechtbaren  Nachricht  zuzusprechen.  Der  Verfasser 
der  Vita  S.  Clarae  konnte  sich  irren.  Sollte  Thomas  von  Celano  der 
Verfasser  sein,  was  ich  auf  Grund  der  unkontrollierbaren  Notiz  des 
Codex  Magliab.  (Mise.  Franc.  VII,  157)  noch  nicht  für  ausgemacht  halte, 
80  würde  er  der  in  der  Vita  prima  gemachten  Angabe  widersprechen. 

1)  Vita  secunda  I,  8:  „Ferventissime  ad  opus  illius  ecclesiae  animat 
omnes  et  monasterium  esse  ibidem  sanctarum  virginum  Christi  audicntibus 
cunctis  gäUicc  loquens  clara  voce  prophetat."  —  Leg.  tr.  Soc.  c.  7 
(n.   24):   ,,Cum   aliis   autem   laborantibus   in   opere  praefato   persistcus 


114  GOETZ, 

vorangehenden  Falle  wird  der  Wortlaut  von  Aufserungen 
eingefügt,  die  in  der  Vita  secunda  nur  angedeutet  waren. 
Das  macht  den  Text  der  Legenda  trium  Sociorura  verdächtig, 
besonders  da,  wo  es  sich  um  Worte  des  hl,  Franz  selber 
handelte:  hätte  die  Vita  secunda  nicht  solche  Goldköruer, 
von  den  vertrauten  Gefährten  gewährleistet,  sicherlich  über- 
liefert? Dafs  die  Vita  secunda  angebliche  Aufserungen  des 
hL  Franz  gerne  im  Wortlaut  bringt,  zeigt  sich  sowohl  im 
vorangehenden  wie  im  nachfolgenden  Kapitel  (I,  7  und  I,  9) 
und  sonst  wiederholt.  Der  Anreiz  aber,  neue  Aussprüche 
des  hl.  Franz  zu  formulieren,  liegt  im  Wesen  der  fort- 
schreitenden Legendenbildung.  In  diese  Entwicklung  der 
Legende  reiht  sich  das  Testament  der  hl.  Klara  wie  die 
Legenda  trium  Sociorum  mit  ihrem  Wortlaute  der  Prophe- 
zeiung allzu  sichtbar  ein,  als  dafs  die  Wahrscheinlichkeit 
ihrer  Echtheit  bekräftigt  würde. 

Bei  Kapitel  8  lallt  es  auf,  dafs  für  die  erste  Hälfte  (n.  25  -  27) 
anstatt  der  Vita  prima  die  Legende  Julians  von  Öpeier  zu 
Grunde  gelegt  ist.  Eingeschoben  ist  (n.  26)  aber  eine  Stelle, 
die  wiederum  kaum  anders  denn  als  Fortbildung  der  Le- 
gende über  alle  Quellen  einschliefslich  Bonaventura  hinaus 
aufgefafst  werden  mufs:  nur  in  der  Legende  trium  Sociorum 
findet  sich,  dafs  Franz  einen  Vorläufer  gehabt  habe,  der  mit 
den  Worten  „Fax  et  bonum"  durch  die  Strafsen  von  Assisi 
gegangen  sei  und  der  „sicut  Joannes  Christum  praenuncians 
Christo  incipiente  praedicare  defecit ,  ita  et  ipse  velut  alter 
Joannes  beatum  Franciscum  praecesserit  in  annunciatione 
pacis.  Qui  etiam  post  adventum  ipsius  non  comparuit  sicut 
prius".  Eine  solche  Nachricht  hätte  sich  die  Vita  secunda 
sowohl  wie  Bonaventura  entgehen  lassen?  Wieder  zwingt 
sich  die  Annahme  späteren  Entstehens  der  Legenda  trium 
Sociorum  auf.  Denn  es  war  die  zunehmende  Tendenz  der 
Überlieferung,  Franz  mit  Christus  zu  vergleichen.    Die  Ein- 

clamabat  alta  voce  in  gaudio  spiritus  ad  habitantes  et  transeuntes  iuxta 
ecclesiam  dicens  gallice  eis:  Venite  et  adiuvate  me  in  opere  ecclesiae 
S.  Daniiani,  quae  fiitura  est  monasterium  Dominarum,  quarum  fama  et 
vita  in  iiniversali  ecclesia  glorificabitur  Pater  noster  coelestis.  Ecce 
quomodo  spiritu  prophetiae  repletus  vere  futura  piaedixit." 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    115 

Schiebung  eines  Vorläufers,  eines  Johannes,  entspricht  so  sehr 
dieser  Tendenz,  dafs  man  darin  unmöglich  eine  authentische 
Nachricht  sehen  kann  '. 

Das  9.  Kapitel  enthält  den  stärksten  Beleg  gegen  die 
Echtheit  der  Legenda  trium  Sociorum,  denn  es  berichtet, 
dafs  die  Portiuncula  die  erste  Heimstätte  Franzens  und  seiner 
ältesten  Jünger  gewesen  sei.  Es  ist  oben  bereits  ausführlich 
über  diese  Stelle  gehandelt  worden,  so  dafs  ein  Hinweis 
darauf  genügt  ^.  Dafs  die  Legenda  trium  Sociorum  später 
(c.  13)  Rivotorto  doch  noch  nennt,  bedeutet  Hinzufügung 
eines  Wiederspruchs  zum  ersten  Irrtum :  hier,  an  dieser  ersten 
Stelle  mufste,  wenn  überhaupt,   Rivotorto  erwähnt  werden  ^. 

1)  Für  den  zweiten  Teil  des  8.  Kapitels  vgl.  Aual.  BolL  XIX,  173. 
Ich  füge  noch  folgendes  hinzu:  Die  Leg.  tr.  Soc.  ist  die  einzige  Quelle, 
die  für  den  Anschlufs  der  ersten  Jünger  eine  Zeitangabe  bringt  (post 
duos  annos  a  sua  conversione),  während  die  beiden  Viten  Celanos  und 
Bonaventura  gar  nichts  darüber  sagen,  Julian  von  Speier  nur  eiuen  un- 
bestimmten Ausdruck  (post  modicum)  gibt.  Der  Verfasser  der  Leg.  tr. 
Soc.  schrieb  hier  Julian  von  Speier  aus  und  machte  aus  post  modicum 
ein  post  duos  annos,  weil  spätere  Überheferung  bestimmtere  Zeitangaben 
verlangt.  —  Die  Vita  secunda  sagt  ferner  nur,  dafs  Franz  und  Bernhard 
in  eine  Kirche  gehen;  Bonaventura  fügt  hinzu:  in  die  Kirche  S.  Nicolai; 
die  Leg.  tr.  Soc. :  in  die  Kirche  S.  Nicolai  iuxta  platcam  civitatis  Assisii.  — 
Mau  vergleiche  ferner  für  Bernhards  von  Quintavalle  Anschlufs  an  Franz 
die  Entwicklung  der  Legende,  die  sich,  immer  zunehmend,  von  der  Vita 
prima  I',  10  über  Vita  sec.  I,  10  und  Bonaventura  c.  III  (n.  28)  zur 
Leg.  tr.  Soc.  vollzieht. 

2)  Vgl.  oben  S.  73  f.  Auch  die  Vita  Aegidii  (Anal.  Franc.  III,  75) 
nennt  in  Übereinstimmung  mit  dem  Speculum  Berf.  Rivotorto.  Die  anders 
lautende  Angabe  in  der  von  Lemmens,  Documenta  antiqua  I  heraus- 
gegebenen Vita  Aegidii  (S.  39)  ist  ohne  Beweiskraft,  denn  es  kann  nicht 
zweifelhaft  sein,  dafs  alles,  was  der  von  Lemmens  aufgefundene  Codex 
S.  Isidoii  de  Urbe  enthält,  späte  Auszüge  sind. 

3)  Wer  sich  nur  auf  die  Legenden  Celanos  und  auf  Bonaventura 
stützt,  könnte  einwerfen,  dafs  diese  für  die  Zeit  des  Anschlusses  der 
ersten  Jünger  überhaupt  keinen  Aufenthaltsort  nennen  und  erst  nach  der 
Rückkehr  der  ganzen  Schar  aus  Rom  von  Rivotorto  als  dem  Sammel- 
punkte sprechen.  Schaltet  man  dann  noch  das  Speculum  Perfectionis 
als  von  unerwiesencr  Echtheit  gerade  mit  c.  36,  das  sicli  in  der  Vita 
Becunda  nicht  iindet,  aus  und  bält  man  den  Text  der  Vita  fr.  Aegidii, 
wie  er  in  der  Chronica  XXIV  gencralium  vorliegt,  für  überarbeitet  und 
deshalb  nicht  stichhaltig,  so  bliebe  allerdings  die  Möglichkeit,  auf  Grund 

8* 


116  GOETZ, 

Das  9.  Kapitel  gibt  auch  sonst  noch  zu  Bedenken  Anlafs: 
schon  der  Anfang  (n.  30  und  31:  die  Bekehrung  des  Sil- 
vester) gibt  sich  als  ein  ungeschicktes  Einschiebsel  in  die 
Erzählungen  der  Vita  prima  zu  erkennen.  Die  Vita  prima 
nennt  Silvester  überhaupt  nicht;  von  den  ersten  sechs  Jüngern 
bezeichnet  sie  mit  Namen  nur  die  drei,  die  zu  besonderem 
Ansehen  im  Minoritenorden  kamen:  Bernhard  von  Quinta- 
valle,  Agidius  und  Philippus.  Die  Vita  secunda  fügt  zu 
diesem  Bericht  der  Vita  piima  nur  eine  ausführlichere  Nach- 
richt über  den  Eintritt  Bernhards  hinzu.  Bonaventura  geht 
von  der  Vita  prima  aus,  übergeht  aber  den  unbekannten 
ersten  Jünger,  dessen  Andenken  begreiflicherweise  bald  ver- 
schwand, und  setzte  nun  den  erfolgreicheren  Bernhard  von 
Quiutavalle  an  die  erste  Stelle.  Diese  kleine  Fälschung, 
die  schon  die  Vita  secunda  beging  (III,  32),  trägt  ihre  Er- 
klärung in  sich.  Nun  hatte  aber  die  Vita  secunda  an  ganz 
anderer  Stelle  (IIl,  52)  vom  Priester  Silvester  erzählt,  dessen 
Habgier  durch  den  Anschlufs  des  reichen  Bernhard  an  Franz 
rege  gemacht  wurde,  so  dafs  er  nachträglich  noch  eine  höhere 
Summe  für  die  Steine  forderte,  die  Franz  zur  Herstellung  von 
S.  Damiano  oder  einer  andern  Kirche  gekauft  hatte.  Franz  gibt 
ihm  sofort  das  Geld;  Silvester  gelangt  durch  dieses  Beispiel 


der  Leg.  tr.  Soc.  zu  schliefsen:  als  die  ersten  Jünger  zu  Franz  kamen, 
weilten  sie  bei  der  Portiimcula,  die  Franz  wiederhergestellt  hatte;  nach 
der  Rückkehr  aus  Rom  in  Rivotorto,  dann  endgültig  bei  der  Portiuncula. 
Nur  würde  mit  einer  solchen  Kombination  denjenigen  nicht  gedient  sein, 
die  sich,  wie  Sabatier,  auf  das  Speculum  Perf.  und  auf  die  Vita  Aegidii 
gestützt  haben.  Indem  ich  selber  hier  Sabatiers  Auffassung  für  richtig 
halte,  mufs  ich  die  Angabe  der  Leg.  tr.  Soc.  verwerfen.  Deshalb  kann 
ich  in  dieser  Angabe  nichts  anderes  sehen  als  den  falschen  Ausweg  eines 
Kompilators,  der  die  Lücke  der  Legenden,  an  die  er  sich  vorwiegend 
hielt,  auf  eigene  Faust  mit  einem  Irrtum  ergänzte.  Man  beachte  auch, 
dafs  es  bei  der  späteren  Erwähnung  von  Rivotorto  in  c.  13  (n.  55)  aus- 
di-ücklich  heifst:  „Conversabatur  adhuc  pater  cum  aliis  in  quodam  loco  . . ., 
qui  dicitur  Kivus  tortus".  —  Der  Kompilator  setzt  also  an  dieser  Stelle 
voraus,  dafs  Franz  auch  früher  schon  dort  verweilt  hatte.  —  Dafs  diese 
Stelle  der  Leg.  tr.  Soc.  sich  mit  der  von  Lemmens  herausgegebenen  Vita 
fr.  Aegidii  (s.  vorangehende  Anmerkung!)  berührt,  indem  beide  die  Por- 
tiuncula nennen  und  sich  ähnlich  ausdrücken,  deutet  vielleicht  auf  Zu- 
gehörigkeit zu  einer  gemeinsamen  Gruppe  der  späteren  Überlieferung  hin. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    117 

der  Grofsherzigkeit  und  Geldverachtung  zur  Einkehr  und 
schliefst  sich  dann  dem  Jüngerkreise  an.  Aber  die  Vita 
secunda  sagt  gar  nichts  über  den  Zeitpunkt  des  Eintritts; 
Bonaventura,  der  alles  Zusammengehörige  zu  verschmelzen 
strebt,  schliefst  diese  Erzählung  deshalb  zwar  an  die  Auf- 
nahme der  ersten  fünf  Jünger  an,  aber  doch  so,  dafs  er  sich 
zum  Bericht  der  Vita  prima  in  keinen  offenen  Widersprach 
setzt:  er  macht  Silvester  zum  sechsten  Jünger,  von  dem  die 
Vita  prima  erst  an  späterer  Stelle  ohne  Namensnennung 
spricht  (J,  12  =  n.  29).  Der  Verfasser  der  Legenda  trium 
Sociorura  flocht  den  Bericht  der  Vita  secunda  da  ein,  wo 
von  Bernhards  Anschlufs  die  Rede  ist;  er  erfindet  Zeit- 
bestimmungen, die  in  der  Vita  secunda  und  bei  Bonaventura 
fehlen  ',  und  er  erweckt  beim  Leser  den  Glauben,  als  ob 
Silvester  der  dritte  Jünger  gewesen  sei.  Dafs  die  Erzählung 
dann  aber  mit  einer  Beziehung  nur  auf  die  ersten  beiden 
Jünger  fortfährt,  was  man  beim  Lesen  zunächst  wie  einen 
Widerspruch  empfindet,  zeigt,  dafs  es  sich  um  ein  wenig 
geschicktes  Einschiebsel  handelt. 

Im  Widerspruch  zur  Vita  prima  und  zu  Bonaventura  ^ 
läfst  die  Legenda  trium  Sociorum  die  kleine  Schar  auf  die 
erste  Missionsreise  ausziehen,  als  sie  mit  Franz  erst  vier 
Köpfe  zählte ;  die  andern  Quellen  lassen  dies  erst  geschehen, 
als  es  ihrer  acht  waren.  Es  bleibt  doch  kein  anderer  Aus- 
weg, als  der  Legenda  trium  Sociorum  den  Irrtum  zuzuschieben, 
weil  sonst  Bonaventura  die  von  den  drei  Gefährten  über- 
holte Angabe  der  Vita  prima  verbessert  haben  müfste.  — 
Ein  weiteres  Anzeichen  der  Kompilation  ergibt  sich  aus  dem 
folgenden  Abschnitt.    Franz  erzählt  auf  der  Reise  dem  Bruder 

1)  Die  Einkehr  Silvesters  erfulgt  „Post  paiicos  dies";  ein  Trauiu, 
der  ihn  vollends  hokchrt,  ,,seqiienti  nocte'".  —  Auch  beim  Enitritt  des 
Aegidiiis  iu  den  Jiingerkreis  (n.  ü2)  bessert  die  Leg.  tr.  Soc.  das  „Post 
non  multum  ternporis"  der  Vita  prima  (I,  10  =  n  25)  in  das  bestimmtere 
und  dadurch  weniger  glaubwürdige  „  Post  aliquot  dies ".  Bei  der  Auf- 
nahme dreier  neuer  Brüder  heifst  es  dann  ebenfalls  ,,Paucis  diebus 
elapsis"  (n.  35). 

2)  Julian  von  Spcier  folgt  hier  wie  im  vorangehenden  Fall  der  Vita 
prima.  Die  Vita  scc.  berichtete  in  dieser  Frage  nichts,  weil  sie  offen- 
bar nichts  zu  ergänzen  wiifstc. 


118  GOETZ, 

Agidius  den  V^ergleich  mit  dem  Fischer,  der  das  Netz  mit 
vielen  Fischen  aus  dem  Wasser  zieht,  aber  nur  die  besten 
davon  behält.  Die  Legenda  trium  Sociorura  und  die  Vita 
Aegidii,  wie  sie  uns  überliefert  ist,  berühren  sich  dabei  aufs 
engste.  Wer  von  beiden  den  andern  benutzte,  bleibe  ganz 
dahingestellt;  unzweifelhaft  erscheint  aber,  dafs  der  Vergleich 
in  letzter  Linie  auf  die  Vita  prima  I,  11  (n.  28)  zurück- 
geht. Dort  aber  erzählt  ihn  Franz  allen  Jüngern,  die  er 
bis  dahin  hatte.  Es  liegt  wohl  weit  näher  anzunehmen,  dafs 
die  Vita  Aegidii  diese  Erzählung  für  ihren  Helden  Agidius 
allein  in  Beschlag  nahm,  als  dafs  etwa  der  Verfasser  einen 
Irrtum  der  Vita  prima  hätte  verbessern  wollen  ^  So  steht 
auch  hieibei  die  Legenda  trium  Sociorum  auf  der  Linie 
einer  spätem  Überlieferung.  —  Gleich  darauf  folgt  ein 
Widerspruch  zu  einer  früheren  Stelle:  es  heifst  (n.  33),  Franz 
habe  (auf  der  ersten  Wanderung)  noch  nicht  gepredigt,  sondern 
das  Volk  nur  ermahnt.  Aber  vorher  (Kap.  8  =  n.  25)  ist 
erzählt  worden,  wie  Franz  zu  predigen  begann.  Der  Wider- 
spruch erklärt  sich  dadurch,  dafs  der  Verfasser  der  Legenda 
in  Kapitel  8  dem  Julian  von  Speier  (und  dieser  der  Vita 
prima),  in  Kapitel  9  der  Vita  Aegidii  folgte  '^. 

Dafs  auch  Bernhard  von  Bessa  bei  Abfassung  der  Leg. 
tr.  Soc.  benutzt  wurde,  tritt  im  letzten  Teile  des  9.  Kapitels 
hervor.  Drei  neue  Brüder  aus  Assisi  seien  beigetreten: 
Sabbatinus ,  Moricus  und  Johannes  de  Capella ;  dann  fährt 
die  Erzählung  mit  Worten  fort,  die  sich  ebenso  bei  Bern- 
hard von  Bessa,  aber  in  anderem  Zusammenhange, 
finden.  Diese  drei  Brüder  sind  in  keiner  der  früheren 
QueUen  einschliefslich  Bernhard  von  Bessa  als  Mitglieder  des 
ältesten  Jüngerkreises  genannt;  ist  es  nun  denkbar,  dafs 
Bernhard  eine  solche  von  den  vertrauten  Gefährden  stammende 
Nachricht  überging  und  daran  anschliefsende  Worte  in  einen 
andern  Zusammenhang   übernahm?     Das  Umgekehrte,    dafs 


1)  Die  von  Lern  mens  herausgegebene  Vita  fr.  Aegidii  hat  diese 
Erzählung  nicht. 

2)  Am  Anfang  des  13.  Kapitels  heifst  es  dann  nochmals,  dafs  Franz 
mit  der  Predigt  begonnen  habe  —  ein  Irrtum  oder  eine  Nachlässigkeit, 
die  sich  in  der  Vorlage  (Vita  prima)  nicht  findet. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    119 

der  Kompilator  den  Bernhard  ^t>u  Bessa  ausplünderte  und 
dessen  allgemein  gehaltene  Bemerkung  mit  den  drei  neuen 
Jüngern  zusammenbrachte,  liegt  bei  weitem  näher! 

Für  den  ersten  Teil  des  10.  Kapitels  (n.  36)  hat  Ortroy 
schon  darauf  hingewiesen,  dafs  der  Kompilator,  weil  er  seine 
verschiedncn  Vorlagen  anbringen  wollte,  sich  wiederholt: 
was  die  Legenda  trium  JSociorum  hier  und  vorher  (n.  33) 
nach  ihren  Vorlagen  bringt,  geht  alles  auf  dieselbe  Urquelle, 
die  Vita  prima  (I,  11  und  12  =  n.  27 — 29)  zurück.  Nur 
infolge  unüberlegter  Aneinanderreihung  der  Vorlagen  kommt 
die  Legenda  trium  Sociorum  zur  Erzählung  einer  zweiten 
Missionsreise  und  etwas  später  (n.  39)  zur  Wiederholung  der 
Conversio  Bernhards  von  Qaintavalle.  Was  Ortroy  sonst 
für  das  10.  und  11.  Kapitel  an  verwandten  Quellen  neben 
die  Legenda  trium  ISociorum  gestellt  hat,  entscheidet  zum 
gröfsten  Teil  die  Streitfrage  nicht  klipp  und  klar,  weil  überall 
die  Möglichkeit  doch  offen  bleibt,  dafs  die  Legenda  trium 
Sociorum  die  Vorlage  der  übrigen  gewesen  ist.  Alle  diese 
Verwandtschaften  gewinnen  erst  dann  ihr  bestimmtes  An- 
sehen, wenn  auf  andere  Weise  die  Abhängigkeit  der  Legenda 
trium  Sociorum  festgestellt  worden  ist  —  nur  die  Erzählung 
von  dem  Verschenken  des  Mantels  (am  Ende  von  n.  44) 
läfst,  verglichen  mit  Speculum  Perfectionis  c  36  und  mit 
der  Vita  fr.  Aegidii,  kaum  einen  anderen  Ausweg  zu,  als 
dafs  die  Legenda  trium  Sociorum  die  späteste  Überlieferung 
darstellt.  Dafür  spricht  die  Erwähnung  der  Portiuncula  an- 
statt Kivotorto  und  der  Schlufssatz,  der  eine  zum  Wunder 
hinüberleitende    rhetorische    Erweiterung    bedeutet  '.  —   Das 


1)  Von  Sabatiers  Versuch,  den  Widerspruch  zwischen  Leg.  tr.  Soc. 
und  Specuhim  Perf.  zu  heben,  war  oben  ö.  115  Anni.  3  schon  die  Rede. 
Diese  Episode  ist  für  alle  in  Fra^re  kommenden  Texte,  also  auch  für  die 
Vita  Aegidii  in  der  Chron.  XXIV  gen.  und  für  die  Lemmensschc  Vita 
Aegidii  wichtig:  eine  Urquelle  liegt  wohl  höchstens  im  Speculum  Pcif. 
vor.  Die  beiden  Vitae  Aegidii  erscheinen  an  dieser  Stelle  als  Fort- 
bildungen der  uns  unbekannten  originalen  Viten  —  die  Lemmenssche 
weniger  weit  entwickelt  als  die  andere.  "SVie  dem  auch  sei  —  dieses  eine 
Beispiel,  an  allen  Einzelheiten  durchgeprüft,  lehrt  zur  Genüge,  dafs  die 
älteste  franziskanische  Überlieferung,  abgesehen  von  Thomas  von  Celano, 
zweifelsfrei  für  uns  kaum  feststellbar  ist. 


120  GOETZ, 

12.  Kapitel  bringt  dann  freilich  wiederum  ein  Beispiel,  bei 
dem  ein  Zweifel  ausgeschlossen  erscheint.  Wieder  kann 
man  beobachten,  wie  die  Vita  prima  die  Grundlage  abgab 
und  anderes  mit  wenig  Geschick  eingeschoben  wurde,  so  dafs 
eine  Reihe  von  Wiederholungen  entstanden.  Die  Erzählung 
behandelt  die  Reise  Franzens  und  seiner  Genossen  nach  Rom 
zur  Erlangung  einer  päpstlichen  Anerkennung  für  ihr  Tun. 
Was  bald  nach  dem  Anfang  des  Kapitels  in  den  Text 
der  Vita  prima  eingeschoben  ist  (Wahl  Bernhards  zum 
Führer  auf  der  Wanderung,  Verhalten  unterwegs,  Beziehung 
des  Bischofs  von  Assisi  zum  Kardinal  von  St.  Paul  und 
dessen  Gespräche  mit  Franz)  ist  wohl  lediglich  als  eine  Er- 
weiterung der  kürzer  gefafsten  Vita  prima  anzusehen;  ihr 
folgt  der  Verfasser,  soweit  es  auf  die  Tatsachen  ankommt. 
Nachdem  er  aber  die  Antwort  des  Papstes  berichtet  hat, 
fügt  er  —  wiederum  in  einer  ganz  äufserlichen  Verbindung  — 
an,  was  sich  mit  der  Vita  secunda  berührt,  also  aus  dieser 
entnommen  scheint.  Was  die  Vita  secunda  (I,  11)  bringt, 
ist  eine  Ergänzung  der  Vita  prima:  die  in  dieser  nur  kurz  be- 
richtete Entscheidung  des  Papstes  zugunsten  der  Bittsteller  soll 
als  eine  Folge  von  göttlichen  Eingebungen  näher  erklärt  wer- 
den —  solche  übernatürliche  Erklärungen  hatte  die  Überlie- 
ferung seit  dem  Entstehen  der  Vita  prima  für  nötig  befunden. 
Ein  geschickter  Kompilator  hätte  den  Bericht  der  Vita  secunda 
einfügen  müssen,  ehe  er  die  Entscheidung  des  Papstes  gab ; 
statt  dessen  ist  in  der  Legenda  trium  Sociorum  das  Um- 
gekehrte geschehen,  und  es  ist  nicht  einmal  der  Versuch  ge- 
macht, die  Stelle  aus  der  Vita  secunda  als  die  nachträgliche 
Begründung  der  päpstlichen  Entscheidung  hinzustellen  — 
sie  folgt  vielmehr  als  etwas  Neues.  Mitten  hinein  in  die  aus 
der  Vita  secunda  übernommenen  Worte  ist  dann  nochmals 
ein  Satz  aus  der  Vita  prima  eingefügt  ^  und  die  Bestätigung 
der  Regel  mit  der  stets  verdächtigen  Zeitangabe  „Post  paucos 
dies"  nochmals  wiederholt.  Bonaventura  (c.  III,  n.  34 — 38) 
hat  die  beiden  Schriften  Celanos  so   verarbeitet,    dafs   seine 


1)  Im  letzten  Absatz  von  n.  51  betr.  die  Regel,   „quam  scripserat 
verbis  simplicibus"  usw. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    121 

Erzählung  einen  klaren  Zusammenhang  hat,  wenn  sie  auch 
daneben  ebenfalls  manche  sofort  sichtbare  Fortbildung  der 
Überlieferung  hinzugefügt  hat.  Selbst  der  Anonymus  Peru- 
sinus, der  sonst  hier  aufs  stärkste  mit  der  Legenda  triura 
Sociorura  übereinstimmt,  war  doch  so  geschickt,  die  Ent- 
lehnung aus  der  Vita  secunda  vor  der  endgültigen  Ent- 
scheidung des  Papstes  einzuschieben  und  dadurch  seine 
Zusammenstellung  vor  dem  Vorwurf  allzu  lässiger  Arbeit  zu 
bewahren. 

Was  dann  vor  dem  auf  die  Vita  prima  zurückgreifenden 
Schlufs  des  Kapitels  an  neuen  Nachrichten  noch  eingeschoben 
ist,  erscheint  alles  in  hohem  Mafse  verdächtig  als  eine  Er- 
findung späterer  Zeiten.  Ortroy  hat  auf  die  Berührung  mit 
der  Ordensregel  hingewiesen.  Die  Nachricht  vom  Empfang 
der  Tonsur  gehört  wiederum  zu  denjenigen,  die  Thomas  von 
Celano  in  der  Vita  secunda  hätte  verwenden  müssen,  wenn 
er  sie  bei  den  drei  Gefährten  fand;  statt  dessen  ist  Bona- 
ventura der  erste,  der  sie  bringt,  und  bei  ihm  ist  nach  seiner 
ganzen  Anschauungsweise  und  bei  seinem  dunklen  Wissen 
über  die  Anfänge  der  Bewegung  das  Auftreten  einer  solchen 
Notiz  erklärlich.  Nur  das  eine  steht  bei  Ableitung  dieser 
iStelle  aus  Bonaventura  im  Wege:  der  Empfang  der  Tonsur 
wird  in  der  Legenda  trium  Sociorum  auf  die  Vermittlung 
des  Kardinals  von  San  Paolo  zurückgeführt.  Es  ist  eine  von 
jenen  Bemerkungen,  die  sich  nicht  als  blofse  Erweiterungen 
der  Legende  ansehen  lassen,  sondern  bei  denen  man  die 
Schwierigkeit  glatter  Lösung  der  Streitfragen  empfindet. 

Noch  eine  nicht  unwichtige  Erinnerung  ist  hier  zu  machen. 
Sabatier  hat  die  im  12.  Kapitel  sich  findenden  A\'ieder- 
holungen  damit  erklären  wollen,  dafs  die  drei  Gefährten  mit 
peinlicher  Gewissenhaftigkeit  alle  Nachrichten,  deren  sie  hab- 
haft werden  konnten,  gesammelt  und  verwendet  hätten  '. 
Ich  kann  diese  Erklärung  nicht  teilen,  weil  eine  solche  Ab- 
sicht weder  die  Verarbeitung  des  Stoffes  verhindert  noch 
die  Begehung  sichtlicher  Irrtümer  hervorgerufen  zu  haben 
brauchte.      Das    Weglassen    wichtiger   Stellen    aus    der    Vita 


1)  Sabatier,  De  rauthenticite,  S.  16  Anm.  1. 


122  GOETZ, 

prima  zerstört  aber  vollends  die  Annahme  solcher  Absicht. 
Die  Überlegung  der  kleinen  Schar  nach  der  Abreise  aus 
Rom,  „utrum  inter  homines  conversari  deberent  an  ad  loca 
solitaria  se  conferrent'^  (Vita  prima  I,  14  =  n.  35),  fehlt  in 
der  Legenda  trium  Sociorum,  obwohl  doch  gerade  diese 
Frage  und  ihre  Entscheidung  für  die  Entwicklung  der  ganzen 
Bewegung  epochemachend  war.  Die  Wichtigkeit  dieser  Frage 
sollten  die  drei  Gefährten  gar  nicht  empfunden  haben? 
Weder  das  ist  möglich,  noch  dafs  ein  nach  Vollständigkeit 
strebender  Verfasser  sie  übergangen  hätte. 

Die  Übereinstimmung  dieses  Kapitels  mit  dem  Texte  des 
Anonymus  Perusinus  (n.  31  —  36)  tritt  hier  stärker  hervor 
als  je  bisher.  Der  ganze  Anfang  —  die  Erweiterung  der 
Vita  prima  —  steht  last  wörtlich  ebenso  bei  diesem;  erst 
bei  Erzählung  der  Vision  bringt  der  Anonymus  eine  etwas 
andere  Lesart,  während  die  Legenda  trium  Öociorura  sich 
genau  an  die  Vita  secunda  hält.  Bei  den  auffallenden  Nach- 
richten am  Schlüsse  des  Kapitels  wird  die  Berührung  zwischen 
Legenda  und  Anonymus  wieder  stärker.  Was  später  bei 
Kapitel  15  und  16  in  weit  deutlicherer  Weise  hervortritt, 
scheint  doch  auch  hier  schon  wahrscheinlich:  die  Erzählung 
des  Anonymus  —  oder  dessen  hier  wenig  überarbeitete,  in 
letzter  Linie  auf  die  Vita  prima  zurückgehende  Vorlage  — 
erscheint  als  die  Grundlage  der  Legenda  trium  Sociorum, 
zu  der  die  Nachrichten  der  Vita  secunda  hinzugefügt 
wurden. 

Für  das  13.  und  14.  Kapitel  verweise  ich  auf  die  Aus- 
führungen van  Ortroys,  denen  ich  nichts  hinzuzufügen  vermag. 
Aber  freihch  sind  diese  Ausführungen  für  Kapitel  14  doch 
nur  dürftige  Nachweise ;  die  fast  vollkommene  Übereinstimmung 
mit  dem  Anonymus  Perusinus  sei  einstweilen  bereits  hervor- 
gehoben. Bei  Kapitel  15  und  16  verlohnt  es  sich  jedoch, 
die  Angabe  der  Legenda  trium  Sociorum  genauer  zu  unter- 
suchen. Die  beiden  Kapitel  handeln  vom  Tode  des  Kardinals 
von  San  Paolo,  vom  Einrücken  des  Kardinals  von  Ostia  in 
die  Stellung  des  Ordensprotektors  und  von  der  Aussendung 
der  Missionen  in  das  ganze  Abendland.  Der  Kardinal  von 
S.  Paolo   wird   im   ersten  Absatz   des    15.  Kapitels   wie  der 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    123 

Protektor  des  Ordens  geschildert;  keine  andre  Nachricht, 
weder  bei  Celano  noch  bei  Bonaventura  noch  sonst,  läfst 
darauf  schliefsen,  dafs  der  Kardinal  von  Ostia  als  Ordens- 
protektor einen  Vorgänger  gehabt  habe;  vielmehr  mufs  aus 
Celano  und  aus  Jordanus  a  Jano  geschlossen  werden,  dafs 
ein  derartiges  Amt  erst  um  1220  aus  der  damaligen  Lage 
des  Ordens  entstand  ^  Man  könnte  den  Bericht  der  Legenda 
trium  Sociorum  dadurch  zu  halten  streben,  dafs  man  an  kein 
förmliches  Amt,  sondern  nur  an  das  hilfreiche  Interesse  des 
Kardinals  gegenüber  den  Minoriten  dächte;  aber  mindestens 
so  wahrscheinlich  ist  es,  dafs  die  spätere  Überlieferung  aus 
dem  Anteil,  den  der  Kardinal  nach  dem  Bericht  der  Vita 
prima  Franz  und  seinen  Jüngern  bei  ihrem  ersten  Besuche 
in  Rom  betätigt  hatte,  und  aus  der  späteren  Einsetzung  eines 
Kardiualprotektors  ein  Protektorat  des  Kardinals  von  S.  Paolo 
konstruierte.  Die  Legenda  trium  ISociorum  berichtet  weiter, 
dafs  nach  dem  Tode  des  Kardinals  von  S.  Paolo  Franz  mit 
seinen  Brüdern  den  Kardinal  von  Ostia  aufgesucht  und  um 
Übernahme  des  Protektorats  ersucht  habe,  und  zwar  erweckt 
der  Bericht  den  Eindruck,  als  ob  Franz  den  Kardinal  bei 
dieser  Gelegenheit  zum  ersten  Male  kennen  gelernt  hätte  ^. 
Diese  Nachricht  kann  deshalb  nicht  zutreffend  sein,  weil 
die  für  die  Beziehungen  des  Kardinals  zu  Franz  sicherlich 
zuverlässigere  Vita  prima  die  beiden  Männer  sich  zuerst 
zufällig  in  Florenz  begegnen  läfst,  als  Franz  nach  Frank- 
reich gehen  wollte  (J,  27  =  n.  74  und  75).  Dafs  dabei  der 
Kardinal  Franz  seinen  Schutz  zugesagt  habe,  berichtet  auch 
die  Vita  prima  —  aus  ihrer  Angabe  scheint  die  auf  das 
Protektorat  zugespitzte  Überlieferung  der  Legenda  trium 
Sociorum  entstanden  zu  sein,  wonach  der  Tod  des  Kardinals 
von  S.  Paolo  die  Ursache  gewesen  wäre,  dafs  Franz  mit  den 
Brüdern  den  Kardinal  von  Ostia  aufsuchte.  Auch  an  dieser  Stelle 
würde  man  nach  einer  Vereinigung  der  beiden  Berichte  streben 

1)  Vgl.  Uist.  Viertoljahisscbr.  1903,  S.  39. 

2)  „Cuius  [des  Kardinals  von  Ostia]  fainam  gloriosum  vir  Dci  uudions 
. .  .  acccssit  ad  euin  cum  fratribus  suis.  Ille  autcin  cum  gaudio  susci- 
piens  ipsos  ait  eis:  offero  nie  ipsum  vobis  auxilium  et  consilium  atque 
protectionem  paratus  impenderc"  . . . 


124  GOETZ, 

(dals  Franz  nämlich  das  zufallige  Zusammentreffen  benutzte, 
um  sich  nach  dem  Tode  des  Kardinals  von  S.  Paolo  1216 
einen  neuen  Fürsprecher  an  der  Kurie  zu  sichern),  wenn 
nicht  die  nachfolgende  unzweifelhaft  falsche  Angabe,  dafs 
der  Kardinal  von  Ostia  fortan  an  jedem  Generalkapitel  teil- 
genommen habe  ',  auch  gegen  das  vorangehende  raifstrauisch 
machte  und  darin  wiederum  nur  einen  Ausbau  der  Vita 
prima  vermuten  liefse.  Das  folgende  16.  Kapitel  kehrt  in 
seinem  zweiten  Teile  zur  Einsetzung  des  Ordensprotektors 
zurück,  aber  vorher  ist  die  Mitteilung  über  die  aufser- 
italienischen  Missionen  eingeschoben  — ■  eine  Abschweifung, 
die  man  entschuldigen  kann,  da  sie  nach  der  Legenda  trium 
Sociorum  die  Ursache  für  die  offizielle  Ernennung  eines 
Ordensprotektors  durch  den  Papst  gewesen  sein  soll.  Frei- 
lich ist  schon  das  Itaque  am  Anfang  des  Kapitels  bedenk- 
lich, da  im  vorangehenden  kein  Anlafs  dafür  gegeben  ist. 
Ebenso  die  Zeitbestimmung  für  diese  Missionen:  „expletis 
itaque  undecim  annis  ab  incoeptione  religionis".  Wann  diese 
Missionen  und  die  Einsetzung  von  Provinzialministern  be- 
schlossen wurden  —  ob  1217  oder  1219  — ,  ist  mit  allem 
Scharfsinn  nicht  sicher  zu  entscheiden  ^^  \  aber  das  Datum 
der  Legenda  trium  Sociorum  pafst  doch  zu  keinem  der 
beiden  Jahre  ^.  Und  indem  dann  die  Bestätigung  einer 
neuen  Regel  durch  Honorius  III.  als  Folge  des  Mifserfolges 
der  ersten  Missionen  hingestellt  wird,  kommt  man  für  die 
erneute  Aussendung  der  Brüder  auf  das  Jahr  1224  —  ein 
Schlufs,  den  die  Bollandisten  seinerzeit  auch  folgerichtig  ge- 


1)  Vgl.  Anal.  BoU.  XIX,  192. 

2)  Zu  den  Angaben  bei  Sabatier,  Speculum  Perf.  S.  122,  Anm.  2 
Tgl.  noch  Sabatier,  Vie  de  S.  Fran9ois,  S.  225  Anm.  1;  Lerapp, 
Frere  Elie,  S.  39  Anm.  2;  Lemmens,  Documenta  antiqua  I,  22  ff. 

3)  Unter  der  incoeptio  religionis  die  couversio  und  das  Jahr  1206  zu 
verstehen,  hat  seine  Bedenken,  da  die  Leg.  tr.  Sog.  anderwärts  nach  der 
conversio  rechnet  und  diese  eben  doch  nicht  der  Anfang  der  religio  ist. 
Nimmt  man  aber  1209  als  incoeptio,  so  kann  man  das  expletis  undecim 
annis  nur  auf  1220,  nicht  auf  1219  berechnen.  Es  ist  gewifs  richtig, 
dafs  man  diese  chronologischen  Angaben  der  Quellen  nicht  auf  die  Gold- 
wage legen  darf,  aber  die  Leg.  tr.  Soc.  hat  in  diesem  Kapitel  doch  mehr 
Unsicheres  als  irgendeine  andere  Quelle. 


ZUR  GESCHICHTE  QUELLEN  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    125 

zogen  haben,  um  von  den  Angaben  der  Legenda  trium  So- 
ciorum  nicht  abzuweichen  '.  Aber  für  diese  Chronologie 
hat  sich  doch  keiner  der  neueren  Forscher  erklärt,  und  ich 
denke,  dafs  eine  so  starke  Verschiebung  der  möglichen  Daten 
bei  den  vertrauten  Gefährten  nicht  vorausgesetzt  werden 
darf:  über  die  Regel  von  1223  und  über  die  Missionen 
mufsten  sie  doch  so  weit  informiert  sein,  dafs  sie  beides 
nicht  zusammenwerfen  konnten.  Selbst  eifrige  Anwälte  der 
Legenda  trium  Sociorum  haben  zugegeben,  dafs  die  Erzählung 
an  dieser  Stelle  „un  po'  confuso  ed  intricato"  ist  ^.  Sabatier 
hat  neuerdings  den  Bericht  dadurch  zu  retten  versucht,  dafs 
er  unter  der  erwähnten  Bulle  das  päpstliche  Schreiben  vom 
11.  Juni  1219  verstanden  wissen  will,  das  ein  Geleitsbrief 
für  die  missionierenden  Brüder  war  ^.  Es  ist  wahr,  dafs 
sich  dann  viele  Schwierigkeiten  glätten  würden,  besonders 
wenn  man  sich  damit  gleich  ganz  auf  den  Standpunkt 
Sabatiers  stellt  und  mit  diesem  Schreiben  den  Konflikt 
zwischen  Franz  und  der  Kurie  zum  erstenmal  dokumentarisch 
hervortreten  läfst;  aber  der  Wortlaut  der  Legenda  trium 
Sociorum  stellt  sich  dem  doch  unerbittlich  entgegen:  dafs 
der  Kardinal  von  Ostia  „aliam  regulam  a  beato  Francisco 
compositam"  durch  Papst  Ilonorius  IIL  „fecit  cum  bulla 
pendente  soleraniter  confirmari",  kann  nicht  auf  den  ganz 
kurzen  Geleitsbrief  von  1219  bezogen  werden,  in  dem  die 
„via  vitae  a  romana  ecclesia  merito  approbata"  wohl  er- 
wähnt, aber  weder  sollemniter  noch  überhaupt  bestätigt 
wird  ^.  Der  Nachsatz  der  Legenda  trium  Sociorum  be- 
kräftigt es  noch  ausdrücklich,  dafs  die  1223  bestätigte  Regel 

1)  Acta  SS.  Oct.  II,  645  f. 

2)  Marc.  daCivezza  e  Teof.  Donienichelli,  La  Leggenda  di 
S.  Francesco  scritta  da  tre  suoi  conipagni,  S.  174  Anni. 

3)  Sabatier,  De  rauthenticite,  S.  22  ff. 

4)  Sabatier,  De  l'authenticite,  S.  28  hält  die  Bulle  vom  29.  No- 
vember 1223  für  weniger  feierlich  als  diese  von  1219;  aber  er  wird 
damit  kaum  überzeugen  können.  Anderseits  läfst  sich  das  Schreiben 
von  1219  nicht  als  Brevc,  das  von  1223  als  Bulle  bezeichnen,  wie  Lem- 
mens,  Documenta  antiqua  I,  24,  will.  Die  Unterschiede  sind  damals 
noch  nicht  so  bestimmt  ausgeprägt;  die  Bulle  von  1223  hat  keinen  andern 
Tenor  als  das  Schreiben  von  1219. 


126  GOETZ, 

gemeint  ist:  „in  qua  regula  prolongatus  est  terminus  ca- 
pituli"  —  eine  Bestimmung,  die  zwar  in  dem  Regelentwurf, 
den  man  gewöhnlich  auf  1220  oder  1221  ansetzt,  schon  ent- 
halten, aber  erst   1223  Tatsache  geworden  ist  '. 

Man  kommt  deshalb  nicht  darüber  hinweg,  dafs  die  Zeit- 
angaben der  Legenda  trium  Sociorum  hier  verwirrte  sind 
und  dafs  die  in  diesem  Zusammenhang  erzählte  offizielle 
Bewilligung  eines  Kardinalprotektors  diese  Verwirrung  noch 
vermehrt  ^.  Aus  der  Erzählung  selber  hat  man  den  Ein- 
druck, dafs  sie  aus  einer  Zusammenwerfung  verschiedener 
Berichte  entstanden  ist.  Denn  sie  beginnt  zunächst  so,  dafs 
man  Franzens  Bitte  um  einen  vom  Papste  bestätigten  Kar- 
dinalprotektor an  denselben  Zeitpunkt  wie  die  Bestätigung 
der  Regel  setzen  mufs.  Ob  man  nun  dafür  1223  annimmt 
oder  mit  Sabatier  1219  —  jeder  der  beiden  Zeitpunkte 
dürfte  unrichtig  sein  ^.  Als  Grund  für  die  Bitte  um  einen 
Kardinalprotektor  fügt  die  Legenda  trium  iSociorum  eine 
Vision,  die  Franz  gehabt  hatte,  an:  beim  ersten  Lesen  glaubt 
man  nicht  anders,  als  dafs  sie  in  dieselbe  Zeit  zu  setzen  ist. 
Nach  der  Erzählung  der  Vision  geht  es  jedoch  mit  Worten 
weiter,  die  das  vorher  Berichtete  ganz  aufser  Acht  lassen: 
„Elapsis  autem  paucis  annis  post  visionem  praedictam  venit 
Romam  et  visitavit  dominum  Hostiensem'';  dieser  wünscht, 
dafs  Franz  vor  dem  Papste  predige,  und  nachdem  es  am 
nächsten  Tage  geschehen,  bittet  Franz  den  Papst  um  einen 
Ordensprotektor,  Die  Bitte  wird  bewilligt,  und  der  Kardinal 
von  Ostia  schreibt  darauf  Geleitsbriefe  für  die  missionieren- 
den Minoriten  —  hier  ist  die  Beziehung  auf  das  päpstliche 
Breve  von  1219  auch  im  Wortlaut   der  Legenda   trium  So- 


1)  Wir  wissen  über  die  Generalkapitel  dieser  Jahre  zwar  sehr  wenig; 
wäre  aber  1219  eine  derartige  Bestimmung  bereits  in  Kraft  gewesen,  so 
hätte  1221  kein  Generalkapitel  stattfinden  können.  Ein  solches  ist  aber 
durch  Jordanus  a  Jano  bezeugt.  Ich  kann  auch  hier  die  gegenteilige 
Beweisführung  von  Sabatier,  De  l'authenticite ,  S.  29  nicht  als  über- 
zeugend anerkennen. 

2)  Vgl.  die  Kritik  G.  Voigts  an  diesem  Kapitel:  Abb.  d.  sächs. 
Ges.  der  Wiss.  XII,  485  f. 

3)  Vgl.  Hist.  Vierteljahrsschr.  1903,  S.  39. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    127 

ciorum  sichtbar:  die  geistlichen  Obrigkeiten  sollen  den 
Minoriten  nicht  entgegensein,  sondern  ihnen  helfen  ,,  taraquani 
bonis  et  sanctis  religiosis,  auetoritate  sedis  apostohcae  appro- 
batis''  '.  Die  Legenda  triam  Sociorura  fährt  dann  fort:  „In 
sequenti  ergo  capitulo,  data  licentia  ministris  a  beato  Fran- 
cisco recipiendi  fratres  ad  ordinera,  misit  eos  ad  supradictas 
provincias,  portantes  litteras  cardiaalium  cum  regula  bulla 
apostolica  confirmata."  Man  mag  es  anstellen,  wie  man 
will  —  diese  Chronologie  läfst  sich  nicht  in  Ordnung  bringen. 
Denn  selbst  wenn  man  den  Weg  Iriabatiers  gehen  wollte^ 
kommt  man  nicht  zum  Ziele.  Wenn  nämlich  1219  der 
Kardinalprotektor  vom  Papste  bewilligt  worden  wäre,  so 
müfste  dieses  Ereignis  vor  dem  Ptingstkapitel  dieses  Jahres 
angesetzt  werden;  dann  hätte  die  Legenda  trium  Sociorum 
mit  der  Angabe  unrecht,  dafs  mit  der  Ernennung  des  Pro- 
tektors auch  dieser  Geleitsbrief  gegeben  worden  sei,  denn 
das  Breve  vom  11.  Juni  erscheint  als  die  Folge  des  Pfingst- 
kapitels  vom  30.  Mai  1219  ^.  Und  ferner  bliebe  der  stärkere 
Irrtum,  dufs  die  Missionare  1219  „cum  regula  bulla  apostolica 
eonfirmata"  ausgezogen  seien.  Die  Frage  spitzt  sich  für  diese 
gesamten  Ereignisse  dahin  zu,  ob  man  der  Legenda  trium 
Sociorum  oder  der  Chronik  des  Jordanus  a  Jano  mehr 
Glauben  schenken  soll.  Aber  in  Anbetracht  der  unbestreit- 
baren Irrtümer  und  Unklarheiten  der  Legenda  trium  So- 
ciorum hat  man  keine  Ursache,  ihr  den  Vorzug  vor  dem 
Berichte  des  Jordanus  zu  geben :  dieser  schreibt  mit  der  Ab- 
sicht bestimmter  Datierung,  die  Legenda  trium  Sociorura 
ohne  eine  solche,  und  die  von  Jordanus  gegebene  Begründung 
für  die  Bitte  um  einen  Generalprotektor  —  die  inneren 
Wirren  im  Orden  in  Franzens  Abwesenheit  1220  —  leuchtet 
ein,    während  man  in  der  Legenda  trium  Sociorum  vergeb- 


1)  Breve  vom  11.  Juni  1219:  „Qiuim  dilecti  ülii  frater  Fraiicisciis 
et  socii  eius  . . .  elegerint  vitae  viam  a  Roinana  ccclosia  inciito  appi o- 
batam  ..."  (Sbaralea,  Bullariiim  I,  2). 

2)  Der  Papst  befand  sich  damals  in  Ricti ;  dio  Zeit  reichte  also  aus, 
ihn  von  dem  Ansuclien  des  Generalkapitels  zu  verständigen ,  so  dafs 
bereits  am  11.  Juni  der  Scluitzbrief  ffcgeben  werden  konnte.  Vgl. 
Lemniens,  Documenta  antiqua  I,  24,  Anm.  1. 


128  GOETZ, 

lieh  nach  einem  deutlichen  Anlafs  zu  dieser  Bitte  sucht  ^ 
Und  soweit  die  Vita  secunda  auf  diese  Frage  eingeht,  be- 
stätigt sie  andeutungsweise  die  Mitteilung  des  Jordanus  ^. 

Sabatier  hat  mit  allem  Nachdruck  die  Richtigkeit  und 
organische  Einheit  dieser  beiden  Kapitel  behauptet  ^;  aber 
nach  den  vorangehenden  Erörterungen  möchte  ich  doch 
annehmen,  dafs  sie  auf  dieselbe  Weise  entstanden  sind,  wie 
die  früher  besprochenen  Kapitel:  durch  ein  Ineinanderschieben 
verschiedener  Vorlagen.  Zu  dem  Bericht  der  Vita  prima 
(II,  5  und  I,  27  =  n.  100  und  n.  73  —  75)  ist  hinzugefügt, 
was  die  Vita  secunda  (I,  16  und  17)  bringt;  —  dafs  dabei 
Franzens  Ansuchen  beim  Papst    in    der  Legenda    trium  öo- 


1)  Gegen  die  vollständige  Zuverlässigkeit  des  Jordanus  spricht  an 
dieser  Stelle  bekanntlich  zweierlei:  die  Angabe,  dafs  1219  im  „anno 
conversionis  eins  [Franz]  decimo"  gewesen  sei,  und  zweitens  das  päpst- 
liche Schreiben  vom  11.  Juni  1219,  das  die  Brüder  schützen  sollte,  wäh- 
rend nach  der  gewöhnlichen  Annahme  erst  das  Scheitern  der  nach  Jordanus 
mit  Pfingsten  1219  beginnenden  Missionen  den  Schutzbrief  hervorgerufen 
hat.  Dafs  aber  im  ersten  Falle  statt  decimo  zu  lesen  ist  tertio  decimo, 
wird  doch  wohl  dadurch  aufser  allen  Zweifel  gestellt,  dafs  Jordanus  kurz 
nachher  (n.  10)  vom  selben  Jahr  1219  spricht  als  „anno  conversionis  XIII". 
Der  zweite  Anstofs  kann  wohl  ebenfalls  gehoben  werden:  der  Papst  hat 
mehrfach  derartige  Schutzbriefe  gegeben,  und  der  am  29.  Mai  1220  an 
die  französische  Geistlichkeit  gerichtete  bezeugt,  dafs  frühere  päpstliche 
Schutzbriefe  nicht  beachtet  worden  waren  (Sbaralea  I,  S.  5) ;  es  ist  des- 
halb auch  nicht  ausgemacht,  ob  der  Geleitbrief  von  1219  sich  bereits 
gegen  vorgefallene  Verfolgungen  richtete,  denn  er  sagt  davon  nichts, 
während  der  von  1220  auf  die  den  Brüdern  bereiteten  Schwierigkeiten 
hinweist.  Da  nun  die  Legenda  tr.  Soc.  nur  von  einem  Schreiben  des 
neuen  Kardinalprotektors  und  anderer  Kardinäle  spricht,  während  uns 
nur  Schreiben  des  Papstes  erhalten  sind,  so  irrt  die  Leg.  tr.  Soc.  in 
dieser  Sache  entweder  ganz  oder  der  Kardinal  von  Ostia  hat,  nachdem 
er  Protektor  geworden  war  —  nach  Jordanus  frühestens  Ende  1220  — , 
neue  Schreiben  ausgehen  lassen,  von  denen  uns  nichts  bekannt  ist.  Man 
beachte  übrigens,  dafs  das  päpstliche  Schreiben  vom  29.  Mai  1220 
wiederum  zwölf  Tage  nach  einem  Pfingstkapitel  (Jordanus  n.  11)  aus- 
gegangen ist. 

2)  Vita  secunda  I,  16  heifst  es  von  Franz:  „Videbat  tunc  contra 
pusillum  gregem  luporum  more  sevire  quamplures  .  .  .  Praevidebat 
quaedam  inter  ipsos  filios  accidere  posse  sanctae  paci  et  unitati  con- 
traria "...     Deshalb  bittet  er  den  Papst  um  einen  Protektor. 

3)  Sabatier,  De  l'authenticite  S.  22 ff.,  36 f. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    129 

ciorum  (n.  65)  in  einer  doppelt  so  langen  direkten  Kede 
wiedergegeben  ist,  als  in  der  Vita  secunda,  erscheint  —  eben 
weil  es  sich  um  Worte  des  Heiligen  selber  handelt^  die  man 
später  doch  kaum  verkürzt  haben  würde  —  als  Zeichen  der 
Posteriorität  der  Legenda  gegenüber  der  Vita  secunda  ^ 
Am  Schlüsse  von  Kapitel  16  sind  wieder  Stellen  aus  den 
genannten  beiden  Kapiteln  der  Vita  prima  verwendet.  Da- 
zwischen steht  nun  freilich  Verschiedenes,  was  keine  der 
beiden  Schritten  Celanos  enthält,  auch  nicht  Bonaventura. 
Darin  liegt  auch  hier  wiederum  ein  Beweis,  dafs  weder  Ce- 
lano noch  Bonaventura  die  Legenda  trium  Sociorum  vor 
Augen  hatten  —  die  Nachrichten  über  den  besseren  Erfolg 
der  Missionen,  nachdem  der  Kardinal  von  Ostia  Protektor 
geworden  war  und  sich  mit  seinem  Schreiben  für  die  Brüder 
verwendet  hatte,  wären  doch  für  solche  Anhänger  des  Kar- 
dinals, wie  Celano  und  Bonaventura  es  waren,  Wasser  auf 
ihre  Mühle  gewesen!  Auch  wirft  es  auf  die  Legenda  trium 
Sociorum  kein  gutes  Licht,  dafs  sie  die  Nachrichten  der  Vita 
prima  abschwächt,  indem  sie  wegläfst,  dafs  Franz  bei  der 
Predigt  vor  dem  Papst  „pedes  quasi  saliendo  movebat";  hier 
trifft  für  die  Legenda  trium  Sociorum  zu,  was  man  der 
Vita  secunda  und  Bonaventura  so  oft  vorgeworfen  hat:  dafs 
sie  wegliefsen,  was  der  Heiligkeit  Eintrag  tun  konnte.  Auch 
predigt  Franz  in  der  Vita  prima  auf  seinen  eigenen  Wunsch, 
in  der  Legenda  trium  Sociorum  auf  Wunsch  des  Kardinals 
von  Ostia.  Die  Furcht  des  Kardinals,  wie  das  Unter- 
nehmen auslaufen  werde,  fällt  deshalb  in  der  Legenda  trium 
Sociorum  ebenfalls  weg,  und  Franz  wurde  dadurch  auch  nicht 
dem  Verdachte  ausgesetzt,  dafs  seine  Predigt  niifslingen 
könne.  Die  Vita  prima  ist  an  dieser  ganzen  Stelle  bei 
weitem    die   naivere   Quelle  ^.     Solche   Feststellung   bewirkt, 


1)  Sabatier  a.  a.  0.  S.  38  Anin.  2  glaubt  beim  Yoigleichc  dieser 
Stelle  der  Vita  sec.  mit  der  Leg.  tr.  Soc.  gerade  das  Gegenteil  aufs 
deutlichste  zu  sehen.  Ich  finde,  dafs  der  Bericht  der  Vita  sec.  zwar 
powifs  nicht  vollständig  ist  (das  zeigt  Jordanus !),  wohl  aber  ohne  irgcMul- 
einen  der  Widersprüche  und  Abschweifungen  der  Leg.  tr.  Soc. 

2)  Bonaventura  c.  XII,  7  (=  n.  178)  weicht  hierin  von  der 
Vita  prima  wie  von  der  Leg.  tr.  Soc.  ab. 

9 


130  GOETZ, 

dafs  man  um  so  eher  einen  Teil  der  neuen  Nachrichten  der 
beiden  Kapitel  (z.  B.  über  das  Protektorat  des  Kardinals 
von  S.  Paolo)  für  blofse  Erweiterungen  der  Vorlagen  ansieht 
und  auch  das  übrige  in  seinen  Widersprüchen  zu  Jordanus 
mit  Mifstrauen  betrachtet. 

Van  Ortroy  hat  geraeint,  die  Angaben  der  Legenda  trium 
Sociorum  über  den  Fehlschlag  der  Missionen  gingen  auf 
Jordanus  a  Jano  zurück.  Das  läfst  sich  schwer  erweisen; 
der  Kompilator  hätte  dann  Jordanus  nicht  nur  lückenhaft 
benutzt,  sondern  hinsichtlich  der  Ursachen,  die  zur  Ernennung 
des  Kardinalprotektors  führten,  völlig  verändert.  Aber  da 
von  den  Missionen  und  ihren  Mifserfolgen  oei  Celano  und 
Bonaventura  nichts  zu  lesen  ist,  so  weisen  hier  die  Sonder- 
nachrichten der  Legenda  trium  Sociorum  wiederum  auf 
einen  Nebenzweig  der  Überlieferung  hin,  mit  dem  vielleicht 
auch  Jordanus  im  Zusammenhang  steht.  Der  Empfang  des 
Kardinalprotektors  bei  den  Generalkapiteln,  die  Einsetzung 
der  Provinzialminister,  die  Aussendung  und  der  Mifserfolg 
der  ersten  Missionen,  sowie  die  Neuaussendung  mit  Geleit- 
briefen des  Kardinalprotektors  bleiben  bis  auf  weiteres  Nach- 
richten unbekannter  Herkunft  und  zweifelhafter  Sicherheit, 
in  denen  aber  richtige  Überlieferung  stecken  mag  ^  Das 
Vorhandensein  solcher  Nachrichten  in  der  Legenda  trium 
Sociorum  rettet  ihre  Echtheit  keineswegs;  warum  sollte  der 
Kompilator  nicht  hinzugefügt  haben,  was  ihm  aufserhalb  seiner 
Hauptvorlagen  erreichbar  war?  Bonaventura  hat  es  in  letzter 
Linie  nicht  anders  gemacht,  nur  dafs  seine  Kompilation  eine 
wirkliche  Verarbeitung  des  Stoffes  und  ein  umfassendes  Lebens- 
bild des  Heiligen  war. 

Der  schlagende  Beweis  für  diese  Annahme,  dafs  der  Ver- 
fasser der  Legenda  trium  Sociorum  bei  der  Abfassung  der 
Kapitel  15  und  16  in  die  Vita  prima  und  secunda  eine  andere 
Vorlage  hineinarbeitete,  wird  durch  den  Anonymus  Perusinus 
geliefert.  Dieser  enthält  (n.  42—45)  in  glatter  Er- 
zählung alles  das  —  und  nicht  mehr  — ,  was  in 
der  Legenda  trium  Sociorum  nicht  aus  den  beiden 


1)  Vgl.  unten  S.  145. 


QUELLEN  ZUlt  GESCHICHTE  DES  IIL.  FKANZ  VON  ASSISI.    131 

Viten  Celanos  entnommen  ist.  Es  bleibt  natürlich  zu- 
nächst neben  der  Möglichkeit,  dafs  die  Legenda  trium  So- 
ciorum  diese  drei  Vorlagen  verarbeitete,  die  andere,  dafs  der 
Anonymus  Perusinus  aus  der  Legenda  trium  Sociorum  schöpfte 
und  alles  wegliefs,  was  aus  Celano  stammte.  Aber  diese  zweite 
Möglichkeit  erscheint  ausgeschlossen.  Denn  die  Erzählung  des 
Anonymus  Perusinus  ist  vollkommen  geschlossen  und  folge- 
richtig ;  sobald  man  sie  liest,  erkennt  man,  dafs  alle  Schwächen 
des  Berichtes  der  Legenda  trium  Sociorum  dadurch  entstanden 
sind,  dafs  sie  in  den  Anonymus  Perusinus  die  scheinbar  ver- 
wandten Partien  aus  der  Vita  prima  und  secunda  einschob. 
Das  ganze  15.  Kapitel  der  Legenda  trium  Sociorum  und  der 
Anfang  des  IG.  (n.  62)  deckt  sich  inhaltlich  ganz,  dem  "Wort- 
laut nach  sehr  stark  mit  dem  Anonymus  Perusinus  (n.  42  —  44). 
Während  dieser  aber  dann  sogleich  fortfährt,  von  dem  besseren 
Erfolge  der  Älissionen  unter  dem  Eindruck  der  Schutzbriefe 
des  Kardinalprotektors  und  anderer  Kardinäle  zu  erzählen, 
schiebt  die  Legenda  trium  Sociorum  den  Bericht  der  Vita 
secunda  I,  16  und  17  mit  den  oben  bezeichneten  eigenmäch- 
tigen kleinen  Änderungen  ein.  Dadurch  entsteht  die  Wieder- 
holung, dafs  die  Legenda  trium  Sociorum  sowohl  in  Kapitel  15 
wie  in  IG  Franz  um  den  Kardinalprotektor  bitten  läfst,  da- 
durch die  ungeschickten  Übergänge  innerhalb  der  Erzählung 
(am  Anfang  von  n.  63  und  von  n.  64  und  innerhalb  n.  64 
bei  der  Rückkehr  zum  Bericht  des  Anonymus). 

Es  ist  natürlich  eine  andre  Frage,  ob  der  Bericht  des 
Anonymus  Perusinus  für  sich  in  jeder  Hinsicht  stichhaltig  ist. 
Auf  ihn  rnufs  nach  der  Feststellung,  dafs  er  in  diesem  Falle 
die  Vorlage  der  Legenda  trium  Sociorum  war  (oder  Ijesser :  sie 
ebenfalls  enthält),  die  oben  an  dem  Bericht  über  das  Protek- 
torat des  Kardinals  von  S.  Paolo,  über  die  Verbindung  des 
neuen  Protektorates  mit  dem  Mifserfolge  der  Missionen  ge- 
übte Kritik  bezogen  werden;  aber  er  stellt  sich  wenigstens 
als  ein  achtungswerterer  Faktor  dem  Berichte  des  Jordanus 
gegenüber.  Die  oben  ercirterten  Gründe,  die  zu  Gunsten  des 
Jordanus  sprechen,  bleiben  auch  dem  Anonymus  gegenüber 
in  Kraft.  Eine  eingehendere  Untersuchung  darüber  gehört 
nicht    in    den  Kreis   dieser  Betrachtungen.     Hier   genügt  es, 


132  GOETZ, 

festgestellt  zu  haben,  dafs  die  Kapitel  15  und  16  der  Legenda 
trium  Sociorum  als  Ganzes  voll  Mängel  und  ohne  organische 
Einheit  sind,  und  dafs  ihr  korapilatorischer  Charakter  durch 
das  Vorhandensein  des  Berichtes  im  Anonymus  Perusinus 
aufser  Zweifel  gestellt  wird. 

Für  die  beiden  letzten  Kapitel  der  Legenda  trium  So- 
ciorum verweise  ich  wiederum  lediglich  auf  van  Ortroys 
Ausführungen.  Diese  Kapitel,  die  sich  der  Theorie  Sabatiers 
in  keiner  Weise  einfügen  wollen,  für  interpoliert  zu  erklären, 
sei  jedoch  auf  das  nachdrücklichste  abgelehnt;  es  ist  reine 
Willkür,  wenn  Marcellino  da  Civezza  und  Teotilo  Domeni- 
chelli  in  ihrer  Ausgabe  der  Legenda  trium  Sociorum  von 
Unterschieden  des  Stiles  und  der  Auffassung  sprechen,  die 
zwischen  diesen  Kapiteln  und  der  übrigen  Legende  bestän- 
den. Sie  widersprechen  freilich  der  angeblich  zelantischen 
Tendenz  der  Legende  aufs  stärkste,  wenn  sie  die  Kirche 
S.  Francesco  als  Ordensheiligtum  feiern  —  aber  können  diese 
Kapitel  dafür,  wenn  man  heutzutage  unhaltbare  Behauptungen 
aufstellt? 

Es  sei  zum  Schlüsse  der  Bhck  noch  auf  das  hingelenkt, 
was  in  diesem  „intimsten  Denkmal"  der  franziskanischen 
Literatur  völlig  fehlt.  Es  sagt  uns  kein  Wort  über  Franzens 
Verhältnis  zur  Natur  und  zur  Tierwelt,  kein  Wort  über  seine 
Freude  an  der  Musik  und  über  seine  Dichtungen,  nichts 
über  seine  Stellung  zur  Wissenschaft  —  lauter  Dinge,  die 
in  den  beiden  Schriften  Celanos  mit  dem  Interesse,  das  sie 
verdienen,  behandelt  sind.  Über  die  Konflikte  im  Orden 
stehen  bei  Celano  wenigstens  mehrfache  Andeutungen,  in 
der  Legenda  trium  Sociorum  nichts;  die  Askese  wird  bei 
ihr  nur  ein  einziges  Mal  erwähnt.  Und  wo  steht  in  der 
Legenda  etwas  von  dem  Wunsche  des  Testamentes,  dafs  die 
Brüder  betteln  gehen  sollten?  Auch  die  Handarbeit,  die 
andere  Forderung  des  Testamentes,  ist  nur  einmal  flüchtig 
gestreift.  Es  fehlt  in  dieser  Legende  allzu  viel,  als  dafs 
man  in  ihr  das  wahre  Bild  des  Heihgen  gezeichnet  sehen 
dürfte! 

Das  Ergebnis  der  gesamten  Untersuchung  würde  demnach 
sein,  dafs  die  sogenannte  Legenda  trium  Sociorum  mit  Unrecht 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    133 

den  vertrauten  Getälirten  des  Heiligen  und  der  Mitte  der 
vierziger  Jahre  des  13.  Jahrhunderts  zugeschrieben  worden 
ist;  die  Unrichtigkeiten  der  Erzählung,  die  (z.  T.  sogar  sich 
widersprechenden)  Wiederholungen,  die  zugunsten  der  Prio- 
rität der  Vita  secunda  und  Bonaventuras  sprechenden  Be- 
rührungen mit  andern  Quellen,  die  Beziehungen  zum  Ano- 
nymus Perusinus  machen  es  in  hohem  Mafse  wahrscheinlich, 
dafs  es  sich  bei  der  Legenda  trium  Sociorum  um  eine  Kom- 
pilation handelt,  die  nach  der  Legende  Bonaventuras  und  — 
nach  den  Hinweisen  van  Ortroys  —  auch  nach  dem  Liber 
de  laudibus  des  Bernhard  von  Bessa  liegt,  also  frühestens 
im  letzten  Viei'tel  des  13.  Jahrhunderts  entstanden  ist '.  Nach- 
dem man  den  kompilatorischen  Charakter  des  Textes  fest- 
gestellt hat,  gewinnt  das  über  die  Legenda  trium  Sociorum 
herrschende  Schweigen  aller  Schriftsteller  bis  nach  der 
Mitte  des  14.  Jahrhunderts  schliefslich  auch  eine  Bedeutung; 
die  Chronica  der  24  Generale  setzte  wie  in  anderer  Hinsicht 
so  auch  hier  zuerst  mit  einer  neuen  Tradition  ein,  getäuscht 
durch  das  Schreiben  der  drei  Genossen. 

Ich  weifs,  dafs  schliefslich  doch  alle  diese  Schlüsse  über 
das  Entstehen  des  Textes  der  Legenda  trium  Sociorum  als 
Ergebnisse  subjektiven  Gefühles  betrachtet  werden  können. 
Es  will  mir  zwar  scheinen,  als  ob  das  Gewicht  der  Gründe 
zu  einem  objektiven  Urteil  ausreichte;  aber  ich  überschätze 
das  Mafs  der  Sicherheit  nicht,  mit  der  man  gegenüber  so 
schwierig  gelagerten  Problemen  überhaupt  entscheiden  kann. 
Das  Beste  an  einer  Untersuchung  ist  so  und  so  oft,  dafs  sie 
eine  Möglichkeit  folgerichtig  durchdenkt  und  eben  dadurch 
klärenden  Widerspruch  hervorruft.  So  viel  scheint  mir  innner- 
hin  erwiesen  zu  sein,  dafs  mit  den  von  Sabatier  angeführten 
Gründen  die  Echtheit  der  Legenda  trium  Sociorum  nicht 
genügend  gestützt  ist.    Läfst  sich  nichts  anderes  für  die  Echt- 

1 )  F  a  1 0  c  i  -  P 11 1  i  tr  n  a  n  i  p;laubte  gefunden  zn  haben,  dafs  der  Domini- 
kaner Franrescn  l'iiiiiii  (f  1324)  in  seinem  um  1311  Rescliriobenen 
Chronicon ,  Buch  20  c.  25  die  Legenda  trium  Snc.  benutzt  luibe  (Mise. 
Franc.  VH,  S.  170  Auin.  2  und  S.  175 ff.).  Tatsiuhlich  hat  l'iiiini  je- 
doch an  der  betreffenden  Stelle  die  Legende  des  Julian  von  Speier  und 
niclit  die  Leg.  tr.  Soc.  bLimtzt. 


134  GOETZ, 

heit  anführen,  so  ist  van  Ortroys  Beweisführung  stichhaltiger, 
denn  gegenüber  dem  allgemeinen  Eindrucke  eines  Textes  und 
der  so  schwer  kontrollierbaren  Annahme  von  Erweiterung 
oder  Zusammendrängung  einer  Vorlage  ist  jede  sicher  fest- 
stellbare Schwäche  des  Textes  im  einzelnen  bei  weitem  das 
gewichtigere  Moment.  Wie  die  Dinge  jetzt  liegen,  ist  aber 
zum  mindesten  die  Autorität  der  Legenda  trium  Sociorum 
so  stark  erschüttert,  dafs  mit  ihr  nicht  mehr  wie  bisher  ge- 
arbeitet werden  darf.  Ist  diese  Annahme  richtig,  so  fällt 
damit  selbstverständlich  auch  die  These,  dafs  es  eine  voll- 
ständigere Legende  der  drei  Genossen  gegeben  habe.  Es  bedarf 
daher  von  van  Ortroys  und  meinem  Standpunkte  aus  keiner 
Aveiteren  Widerlegung  der  von  Marcellino  da  Civezza  und 
Teofilo  Domenichelli  herausgegebenen  erweiterten  Legende  ^ 
Aber  auch  Minocchis  These,  dafs  die  alte  Legenda  trium 
Sociorum  zwar  nicht  von  den  drei  Genossen  herrühre,  dafs 
aber  in  ihr  die  vermifste  Schrift  des  Johannes  von  Ceperano 
zu  erkennen  sei,  scheidet  aus  der  Erörterung  als  unmöglich 
aus  -. 

Wenn  ich  trotzdem  das  Urteil  nicht  so  formuliere,  dafs 
jede  Möglichkeit  einer  andern  Anschauung  ausgeschlossen 
werden  soll,  so  bedenke  ich  dabei  drei  Schwierigkeiten,  die 
bisher  bei  Ortroys  und  meiner  L^ntersuchung  noch  nicht  ge- 
löst werden  konnten :  es  bleibt  immerhin  auffallend ,  dafs 
sich  eine  Kompilation  aus  so  später  Zeit  nicht  in  weit  stär- 
kerer ^Veise  durch  sachliche  L-rtümer  und  legendarischen 
Ausbau  der  Überlieferung  verrät:  es  bleibt  zunächst  noch 
unaufgeklärt,  woher  die  bisher  aus  keiner  Vorlage  abzu- 
leitenden Nachrichten  stammen,  und  es  bleibt  drittens  ein 
völliges  Rätsel,  was  es  mit  dem  der  Legende  vorangestellten 
Schreiben  der  drei  Genossen  auf  sich  hat.  Zur  Klärung 
dieser  drei  Gründe  läfst  sich  noch  folgendes  sagen: 

1)  Man  kann  wohl  anführen,  dafs  auch  andere  Schriften 
oder  Überarbeitungen  der  spätem  Zeit,  wie  sie  z.  B.  in  der 


1)  Es  sei  lediglich  auf  Barbis  Einwände  im  Bull.  d.  Soc.  Dantesca 
VII,  S.  8.5  f.  u.  87  Anm.  2  hingewiesen. 

2)  Mi nocchi,  La  Legenda  t'.ium  Sociorum.    Nuovi  Studi.    S.  100 ff. 


QUELLEN  ZUi;  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL    135 

Chronik  der  2-1  Generale  vorliegen  oder  in  der  Überarbeitung 
des  Speculum  Perlectionis  von  1317,  ihren  späten  Ursprung 
nicht  übermäfsig  stark  verraten;  aber  die  Legenda  trium 
Soeiorum  bat  doeb  unzweii'eihalt  weniger  konipilatoriscbe 
Züge  —  sonst  könnte  sie  ja  aucb  nicht  so  eifrige  Verteidiger 
ibrer  Echtheit  finden !  leb  glaube ,  gezeigt  zu  baben ,  dafs 
an  bezeichnenden  Stelleu  die  Unwissenheit  des  Verfassers  her- 
vortritt und  dafs  man  bei  eindringender  Prüfung  die  docb 
nur  äufserlicbe  Verbindung  der  zusammengeholten  Teile  er- 
kennen mufs;  aber  der  Verfasser  hat  docb  anderseits  offenbar 
mit  Vorsi(;ht  gearbeitet  und  eine  gewisse  Schlichtheit  in  seine 
Erzählung  hineingebracht,  so  dafs  er  in  dieser  Hinsiebt  den 
Gedanken  des  Heiligen  näher  zu  steben  scbeint  als  Bona- 
ventura. Diese  Schlichtheit  erklärt  sich  wohl  zum  Teil  durch 
die  Herübernabme  der  beiden  Lebensbeschreibungen  Celanos, 
aus  denen  ja  drei  Viertel  der  ganzen  Legenda  trium  Sociorum 
bestehen;  der  Verzicht  auf  Wunder  (abgesehen  von  Visionen) 
kann  aber  doch  kein  blolser  Zufall  sein  —  in  dieser  Hin- 
sicht steht  die  Legenda  dem  Charakter  der  Vita  prima  am 
nächsten  '. 

Ist  CS  eine  ausreichende  Erklärung  dieser  Eigenschaften, 
wenn  man  den  Verfasser  im  Kreise  der  strengen  Nachfolger 
des  Heiligen  sucht?  Die  Vorsicht,  mit  der  jede  Polemik 
gegen  die  laxe  Richtung  des  Ordens  vermieden  ist,  bleibt 
freilich  autfallend  genug,  wie  man  denn  überhaupt  schwer- 
lich irgendeine  zelantische  Tendenz  in  der  Schi-ift  erkennen 
kann. 

2)  Dafs  die  Legenda  trium  Sociorum  einiges  sonst  nicht 
nachweisbare  ]\Iaterial  enthält,  zwingt  zwar  noch  keineswegs 
zu  der  Annahme,  dafs  darin  eine  in  besonderer  Weise  au- 
torisierte Überlieferung  vorliege.  Denn  auch  andere,  aufser- 
halb  des  j\Iinoritenkreises  stehende  (Quellen  haben  schon  um 
die  Mitte  des  lo.  Jahrhunderts  Nachrichten,  die  sich  bei 
Celano   und  Bonaventura  nicht  finden  und  dermoch  Anspruch 

• 

1)  Es  kann  alloidiiigs  darauf  liinjrcwipseii  werden,  dafs  Vita  prima, 
Vita  seciiiida  und  Bonaventura  die  Lcbcnsbcscbroibung  von  den  Wun- 
dern trennen;  aber  die  Neigung  zum  Übernatürlichen  hat  sich  doch  auch 
in  den  Lcbciisboschrcibungen    von    einer  Legende  znv  iindcrn  gesteigert. 


136  GOETZ, 

auf  Glaubwürdigkeit  erheben  köiiDen.  So  Stephanus  de  Bor- 
bone  in  seinem  Tractatus  de  diversis  materiis  praedicabilibus^ 
der  zwischen  1250  und  1260  verf'afst  sein  mufs  und  in  dem 
sich  verschiedene,  sehr  wolil  mögliche  Züge  aus  dem  Leben 
des  Heiligen  finden  ^  Auch  ist  dasjenige,  was  in  der  Le- 
genda  trium  Sociorum  wirklich  selbständig  und  neu  ist,  von 
keinem  allzu  grofsen  Umfang.  Zieht  man  alles  sachlich  Be- 
deutungslose ab,  so  bleiben  folgende  Stellen  übrig:  Kap.  1 
(n.  2 :  die  kurze  Bemerkung  über  das  Streben,  auffallende 
Kleider  zu  tragen  ^ ;  am  Anfang  von  n.  3 :  die  erste  Ursache 
der  Conversio) ;  Kap.  3  (n.  9 :  Sorge  für  die  Armen  und 
Gesinnung  der  Mutter;  n.  10:  die  beiden  kurzen  Notizen, 
dafs  Franz  das  Französische  nicht  richtig  gekonnt  und  dafs 
er  sich  schon  frühzeitig  dem  Bischof  von  Assisi  anvertraut 
habe);  Kap.  5  (n.  15  am  Schlufs:  Franz'  Worte  zu  seinen 
Jüngern);  Kap.  6  (n.  19:  der  Vater  vor  den  Konsuln  der 
Stadt);  Kap.  7  (n.  22:  Franz'  Geständnis,  dafs  er  gern  lek- 
kere  Speisen  gegessen  habe);  Kap.  8  (n.  26:  der  angebliche 
Vorläufer;  n.  29  am  Schlufs:  die  Zitierung  des  Testaments) j 
Kap.  9  (n.  35:  die  drei  neuen  Jünger^);  Kap.  12  (n.  46: 
Verhalten  auf  der  Wanderung  nach  Kom;  in  n.  52  einige 
Zusätze   zu  den  Vorgängen  in  Rom);    Kap.   13  (n.  56:    Er- 


1)  Paris  1877,  ed.  Lecoy  de  la  Mar  che.  Die  Abfassungszeit  des 
Tractatus  ist  dadurch  zu  gewinnen,  dafs  Stephanus  etwa  1261  gestorben 
ist  und  dafs  seine  ErzähUuigen  und  Beispiele  immer  nur  bis  zu  Ereig- 
nissen von  etwa  1250  reichen.  Er  erwähnt  (n.  254:  und  473)  die  Pre- 
digt des  Heiligen  in  Rom  vor  den  Kardinälen:  er  ist  der  einzige,  der 
den  Gegenstand  der  Predigt,  als  gegen  die  insolentia  und  mala  exempla 
prelatorum  gerichtet,  nennt;  ferner  bringt  er  (n.  316)  ein  durchaus  glaub- 
haftes Beispiel,  wie  Franz  auch  den  unwürdigsten  Priester  verehrt  habe. 

2)  Ortroy  (Anal.  Bnll.  XIX,  S.  143)  stellt  hier  eine  Stelle  der  Vita 
secunda  als  Quelle  hin,  die  doch  wohl  nicht  in  Frage  kommen  kann. 

3)  Weder  die  Vita  prima  noch  die  secunda  kennt  diese  drei  neuen 
Brüder  Sabbatinus,  Moricus  und  Johannes  de  Capeila.  Bonaventura 
nennt  nur  den  Moricus,  aber  in  anderem  Zusammenhang  (c.  IV  =  n. 
49):  Franz  heilt  ihn  auf  wunderbare  Weise,  und  der  Geheilte  trat  danu„ 
in  den  Orden  ein.  Bonaventura  gibt  dafür  keine  Zeitangabe,  zählt  ihn 
aher  offenbar  nicht  den  ältesten  Jüngern  zu.  Ob  daraus  die  Notiz  der 
Legenda  tr.  Soc.  entstand?  Natürlich  wollte  man  später  die  Namen 
der  ersten  Auserwählten  wissen! 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    137 

Werbung  der  Portiuncula);  dann  in  Kap.  14  bis  16  die 
Nachrichten  über  die  Generalkapitel,  die  j\[issionen  und  den 
Ordensprotektor. 

Mancher  Forscher  wird  dazu  neigen,  einen  guten  Teil 
dieser  Zusätze  nicht  als  wirklich  neues  Material,  sondern 
lediglich  als  Fortbildung  der  Überlieferung  anzusehen,  vor 
allem  die  meisten  der  kleineren  Zusätze.  Aber  bei  den  Nach- 
richten der  Kap.  14  bis  16  ist  mit  solcher  Erklärung  nicht 
auszukommen.  Und  es  fällt  auf,  dafs  bei  diesen  Nachrichten  — 
dagegen  nicht  bei  den  kleineren  Zusätzen  —  Anonymus 
Perusinus  und  Legenda  trium  Sociorum  völlig  Hand  in  Hand 
gehen,  so  dafs  man  doch  einer  zusammenhängenderen  Über- 
lieferungsgruppe  gegenüberzustehen  scheint.  Eine  Erörte- 
rung darüber  wird  in  dem  Exkurs,  der  dem  Anonymus 
Perusinus  gewidmet  ist,  gegeben  werden. 

3)  Eine  grofse  Schwierigkeit  bleibt  fürs  erste  noch  das 
Verhältnis  des  vorangehenden  Briefes  der  drei  Genossen  zur 
Legende.  Er  findet  sich  in  allen  sechzeim  Handschriften 
mit  ihr  verbunden  und  in  seinem  Texte  liegt  kein  sicherer 
Anhaltspunkt  vor,  ihn  als  eine  Fälschung  zu  bezeichnen  ^ 
So  kommt  zunächst  die  Möglichkeit  in  Betracht,  dafs  der 
Brief  echt  ist,  aber  mit  der  Legende  nicht  ursprünglich  zu- 
sammengehört. Wir  haben  keine  ins  13.  oder  auch  nur 
ins  frühe  14.  Jahrhundert  zurückreichende  Handschrift  der 
Legenda  trium  Sociorum  -;  immerhin  läfst  sich  nicht  über- 
gehen, dafs  er  auch  in  den  ältesten  sich  bereits  neben  der 
Legende  findet.  Wer  sich  allerdings  auf  dieses  Argument 
stützt,  um  die  Zusammengehörigkeit  zu  beweisen,  darf  folge- 
richtigerweise   auch    nicht    behaupten,    dafs    die    überlieferte 


1)  Die  einzitic'ii  leisen  Voidachtsmomento,  ilie  man  in  iloni  Texte 
feststellen  könnte,  neiuit  vau  Ortroy,  .Vnal.  IJdll.  XIX,  S.  139.  An 
anderer  Stelle  (ebd.  XXI,  S.  113)  hat  er  darauf  hingewiesen,  dafs  uns 
der  als  Zeuge  zitierte  Bruder  Johannes,  der  Genosse  des  Ägidius,  sonst 
nirgends  genannt  wird.  Dafs  Bernhard  als  erster  Jünger  der  Hei- 
ligen l)ezeichnet  wird,  ist  eine  Ungenanigkeit  des  Schreibers  (vgl.  oben 
S.  110). 

2)  Verzeichnis  der  Ilanilschiiften  bei  Ortroy,  Anal.  BoU.  XI.X.. 
S.   121  f.;  Tileniann  a.  a.  0.,  S.  GG. 


138  GOETZ, 

Legende  nur  ein  Bruchstück  sei,  oder  dafs  die  beiden  letzten 
Kapitel  interpoliert  seien,  denn  die  sämtlichen  Handschriften 
geben  ja  ebenfalls  nur  einen  und  denselben  Text!  Mafs- 
gebend  kann  der  Zustand  so  später  Handschriften  nicht 
sein,  sobald  an  irgendeiner  Stelle  triftige  Gründe  dagegen- 
stehen.  Der  stärkste  Grund  gegen  die  Zugehörigkeit  des 
Schreibens  zur  Legenda  ist  die  am  Anfang  des  Anonymus 
Perusinus  stehende  Notiz  über  den  Verfasser  ^  Berichtet 
diese  die  Wahrheit,  so  kann  die  Legenda  —  von  allem  an- 
dern abgesehen  —  kein  Werk  der  vertrauten  Gefährten 
sein.  Denn  die  beiden  so  eng  verwandten  Texte  der  Legenda 
und  des  Anonymus  können  nicht  in  der  einen  Redaktion 
von  den  drei  Gefährten,  in  der  andern  nur  von  einem 
Verfasser,  der  nur  ein  discipulus  der  ältesten  Generation 
gewesen  sein  will,  verfafst  sein.  Die  Notiz  des  Anonymus 
erdrückt  aber  unzweifelhaft  die  angeblichen  Verfasser  der 
Legenda,  denn  es  ist  doch  undenkbar,  dafs  der  Anonymus 
auf  eine  solche  Autorität  verzichtet  hätte,  um  sie  durch  eine 
sehr  viel  bescheidenere  zu  ersetzen.  Dieses  Argument  drängt 
zu  dem  Schlufs,  dafs  der  Brief  der  drei  Genossen  ursprüng- 
lich nicht  zur  Legenda  gehörte. 

Die  andere  Möglichkeit  ist,  dafs  der  Brief  gefälscht  wurde, 
um  das  Ansehen  der  Kompilation  zu  erhöhen.  Darauf  leitet 
eine  andere  Betrachtung  hin.  Es  wurde  bereits  festgestellt, 
dafs  die  vertrauten  Gefährten  bei  der  Abfassung  der  Vita 
secunda  beteiligt  waren;  es  wird  weiterhin  erörtert  werden, 
dafs  das  von  ihnen  beigesteuerte  Material  noch  heute  in  den 
ältesten  Bestandteilen  des  Speculum  Perfectionis  zu  erkennen 
ist.  Gehörte  das  Schreiben  nun  etwa  zu  diesem  Material, 
als  es  von  den  drei  Gefährten  dem  Generalminister  einge- 
schickt wurde,  ehe  dieser  es  dem  Thomas  von  Celano  zur 
Bearbeitung  überwies?  Minocchi  —  und  in  ähnlicher  Weise 
Lemmens  —  hat  sich  für  diese  Annahme  entschieden,  und 
es  spricht  in  der  Tat  manches  dafür  ^.    Dieses  Material  war, 

1)  Vgl.  unten  S.  141. 

2)  Minocchi,  La  Legenda  triiim  Sociorum.  Niiovi  studi  S.  45 ff.; 
Lemmens,  Doc.  ant.  I,  S.  28 ff.  —  Van  Ortroy  lehnt  Minocchis  An- 
nahme ab:  Anal.  Bell.  XIX,  S.  139  Aum.  7. 


QUELLEN  ZUU  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    139 

wie  noch  jetzt  die  Vita  secunda  zeigt,  keine  fortlaufende  Er- 
zählung, sondern  eine  Sammlung  von  einzelnen  Zügen  aus 
dem  Leben  des  Heiligen  —  genau  wie  es  das  Schreiben  in 
Aussicht  stellt:  „per  modum  legendae  non  scribimus  .  .  .  sed 
velut  de  amoeno  prato  quosdam  flores  .  .  .  excerpimus,  con- 
tinuantem  historiam  non  sequentes";  und  die  Absender  stellen 
dem  Generalminister  ausdrücklich  anheim ,  dieses  Material 
den  vorhandenen  Legenden  einzureihen:  „quibus  [legendis] 
haec  pauca,  quae  scribimus,  poteritis  facere  inseri".  Auch 
der  Zeitpunkt  des  Schreibens  würde  zu  dieser  Annahme 
passen.  Es  würde  sich  dann  auch  erklären,  dafs  das  Schrei- 
ben mit  einer  späteren  Kompilation  vereinigt  wurde,  denn 
es  war  nach  Verarbeitung  des  überschickten  Materials  herren- 
los geworden  —  der  Vita  secunda  konnte  Celano  es  nicht 
beigeben,  denn  er  bedurfte  dieser  Beglaubigung  nicht. 

Bedenklich  ist  nur  zweierlei.  Einmal  erklären  die  Ab- 
sender, dafs  sie  das  Material  gemäfs  der  Aufiorderung  des 
letzten  Generalkapitels  einsenden  und  dafs  der  Generalminister 
es  den  vorhandenen  Legenden  einreihen  möge,  wenn  er 
es  für  gut  befinde.  Der  Prolog  der  Vita  secunda  aber  er- 
klärt, dafs  Generalminister  und  Generalkapitel  den  oder  die 
Verfasser  —  denn  es  heifst:  „nos,  quibus  ex  assidua  conver- 
satione  illius  [Francisci]  .  .  .  plus  ceteris  diutinis  experimentis 
innotuit"  —  mit  der  Abfassung  der  „gcsta  vel  etiam  dicta 
gloriosi  patris  nostri  Francisci"  beauftragt  hätten,  Wufsten 
die  drei  Genossen  von  diesem  bereits  gegebenen  Auftrag 
nichts,  so  dafs  sie  die  Einreihung  ihrer  Nachrichten  in  die 
früheren  Legenden  vorschlagen  konnten?  Das  ist  nicht 
recht  denkbar  —  man  müfste  denn  auf  Sabatiers  Behaup- 
tung zurückkommen  und  eine  süffisante  Nichtbeachtung  des 
ihrem  Gegner  gegebenen  Auitrags  annehmen.  Es  steht  zwei- 
tens im  Wege,  dafs  die  vertrauten  Gelahrten  so  am  aller- 
wenigsten schreiben,  auch  das  Material  nicht  so  förmlich  ein- 
senden konnten,  wenn  sie  die  JVIitarbeiter  des  Thomas  von 
Celano  bei  der  Abfassung  der  Vita  secunda  waren.  Auch 
bei  dieser  Lbcrlegung  würde  man  schliefslich  aut"  den  Weg 
Sabatiers  gedrängt.  Da  dieser  A\'eg  aber  völlig  ungangbar 
ist,  sobald   man  die  Legenda  triuni  Sucioiuni  iür  eine  spätere 


140  GOETZ, 

Kompilation  ansieht,  so  ergibt  sieh  daraus  doch  ein  neuer 
gewichtiger  Grund,  das  Schreiben  für  eine  Fälschung  anzu- 
sehen, die  den  Wert  einer  im  Stile  früherer  Zeit  abgefafsten 
Kompilation  erhöhen  sollte. 


Exkurs. 

Das  Verhältnis  der  sogen.  Legenda  trium  Socio- 
rum  zum  Anonymus  Perusinus. 

In  dem  Augenblick,  wo  die  Legenda  trium  Sociorum  als 
als  eine  nach  Bonaventuras  Arbeit  liegende  Kompilation  er- 
kannt ist,  hat  ihr  Verhältnis  zum  Anonymus  Perusinus  aller- 
dings nur  noch  ein  sekundäres  Interesse.  Denn  eben  dieses 
offenbar  vorhandene  enge  Verhältnis  macht  auch  den  Ano- 
nymus zu  einer  sekundären  Quelle  —  auch  er  mufs  nach 
Bonaventura  liegen. 

Die  einzige  Handschrift,  die  seinerzeit  den  Bollandisten 
aus  Perugia  zuging  und  aus  der  sie  im  Commentarius 
praevius  zu  den  Lebensbeschreibungen  des  h.  Franz  um- 
fangreiche Mitteilungen  gemacht  hatten,  befindet  sich  noch 
heute  in  der  Bibliothek  der  Bollandisten  und  sie  ist  neuer- 
dings zum  ersten  Male  vollständig  durch  van  Ortroy  heraus- 
gegeben w^orden  ^.  Die  Bollandisten  erkannten  bereits  die 
enge  Verwandtschaft  mit  der  Legenda  triura  Sociorum  '■* ; 
aber  erst  in  den  Diskussionen  der  letzten  Jahre  ist  auf  dieses 
Verhältnis  wieder  stärker  hingewiesen  worden.  Solange  die 
Autorität  der  Legenda  trium  Sociorum  unerschüttert  war, 
sah  man  freilich  den  Anonymus  nur  als  einen  Ableger  an, 
dem  ein  besonderer  Wert  neben  der  ausführlicheren  Le- 
genda nicht  zukomme;  seitdem  aber  diese  als  eine  Kompi- 
lation bezeichnet  worden  ist,  ergab  sich  die  Möglichkeit,  dafs 


1)  Miscellauea  Francescana  IX  (1902).  S.  33—48. 

2)  Papebroch  machte  zu  dem  Manuskript  die  Bemerkung:  „Est 
forte  fratris  Leonis"  (Acta  SS.  Oct.  II,  S  549,  n.  19).  Suysken  meint 
dagegen:  ,,Observandum  est,  bunc  Anonymum  Legendam  tr.  Soc.  in 
quoddam  compendium  redigisse"  (ebend.  S.  645). 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL    141 

der  Anonymus  etwa  die  nächste  Vorlage  oder  eine  ältere  Re- 
daktion der  Legenda  trium  Sociorum  sei. 

Die  beste  Untersuchung,  die  bisher  über  den  Anonymus 
und  sein  Verhältnis  zur  Legenda  trium  Sociorum  angestellt 
worden  ist,  stammt  ebenfalls  aus  der  Feder  van  Ortroys; 
sie  ist  seiner  Ausgabe  des  Textes  vorangeschickt  und 
—  teilweise  in  etwas  anderer  Form  —  schon  früher  in 
seinem  Aufsatz  über  die  Legenda  trium  Sociorum  enthalten  \ 

Der  erste  Anhaltspunkt  über  die  Entstehung  des  Ano- 
nynms  ergibt  sich  aus  dem  Anfang  des  ersten  Kapitels. 
„Quoniam  servi  Domini  non  debcnt  ignorare  viam  et  doctri- 
nam  sanctorum  virorum  .  .  .  ideo  ad  honorem  Domini  et 
aedificationem  legentium  et  audientium  ego,  qui  acta  eorum 
vidi,  verba  audivi,  quorum  etiam  discipulus  fui,  aliqua  de 
actibus  beatissimi  fratris  nostri  Francisci  et  aliquorum  fratrum, 
qui  venerunt  in  principio  religionis,  narravi  et  compilavi, 
prout  mens  mea  divinitus  fuit  docta."  Hält  man  diese  An- 
gabe mit  dem  der  Legenda  trium  Sociorum  vorangehenden 
Schreiben  der  drei  Genossen  zusammen,  so  steht  man  vor 
zwei  auf  das  engste  miteinander  verwandten  Erzählungen, 
v^on  denen  die  eine  von  den  vertrauten  Genossen  des  Hei- 
ligen, die  andere  von  einem  einzelnen  Verfasser,  der  ein 
Schüler  der  ältesten  franziskanischen  Generation  gewesen 
sein  will,  geschrieben  sein  müfste.  Ortroy  hat  aus  diesem 
Dilemma  den  Schlufs  gezogen,  dafs  beide  Angaben  nicht 
sonderlich  glaubwürdig  seien  ^.  Offenbar  gewinnt  aber  die 
Angabe  des  Anonymus  Perusinus  von  dem  Augenblicke  an, 
wo  das  Schreiben  der  drei  Genossen  und  die  sogen.  Legenda 
trium  Sociorum  als  nicht  zusammengehörig  erwiesen  sind, 
an  Glaubwürdigkeit:  es  macht  keine  hochtrabenden  Ver- 
sprechungen, der  Verfasser  bekennt  sich  als  ein  Zeuge 
zweiter  Hand,  dem  man  infolgedessen  L'rtümer  ohne  weiteres 
verzeihen  wird.  lici  der  langen  Lebensdauer  des  Bruders 
Leo,  des  Bruders  Agidius  und  anderer  INTäinier  der  ältesten 
Periode,  konnte  .sich  ein  Schriftsteller  selbst  des  letzten  Vier- 


1)  Anal.  ]!(ill.  XIX,  hos.  S.   123,   125   iiml  dami  S.  H2ir. 

2)  Anal.  Lioll.  XIX,  S.   123. 


142  GOETZ, 

tels  des  13.  Jahrhunderts  noch  sehr  wohl  als  deren  Schüler 
bezeichnen.  So  flöfst  diese  Angabe  doch  einiges  Vertrauen 
zu  dem  Verfasser  und  seinem  Werke  ein. 

Es  kommt  hinzu,  dafs  sich  der  kompilatorische  Charakter 
der  Scliriit  bei  weitem  nicht  in  dem  Mafse  aufdrängt  wie 
bei  der  Legenda  trium  Sociorum,  Es  läfst  sich  freilich  nach- 
weisen, dafs  auch  der  Anonymus  für  grofse  Teile  seines 
Werkes  aus  der  Vita  prima  und  secunda,  aus  Bonaventura, 
Bernhard  von  Bessa  und  aus  der  Vita  Aegidii  geschöpft 
haben  mufs  ' ;  aber  die  Vorlagen  sind  doch  zumeist  derart 
miteinander  verbunden,  dafs  ähnhch  wie  bei  Bonaventura 
—  wenn  auch  nicht  so  kunstvoll  —  eine  fliefsende  Erzäh- 
lung ohne  die  Stockungen  und  Wiederholungen  der  Legenda 
trium  Sociorum  entstanden  ist  ^. 

Es  kommt  zunächst  darauf  an,  das  Verhältnis  zur  Le- 
genda trium  Sociorum  klarzustellen.  Kann  der  Anonymus 
in  keinem  Falle  ein  blofser  Auszug  aus  dieser  sein?  Eine 
Reihe  von  Stellen  sprechen  in  der  Tat  dafür:  n.  8  (erste 
Hälfte),  9,  36  (Schiufs),  44,  46,  47,  wo  der  Text  überall 
nichts  anderes  zu  sein  scheint  als  ein  verkürzter  Auszug  aus 
der  Legenda.  Dafs  in  n.  7  ein  Name  für  den  Priester,  in 
n.  9  ein  Name  tür  den  alten  Mann  hinzugefügt  ist,  verstärkt 
den  Eindruck  des  Auszuges  mit  kleinen  Fortbildungen  der 
Überlieferung.  Aber  es  sprechen  doch  weit  mehr  Gründe 
gegen  eine  derartige  Annahme.  An  den  genannten  Stellen 
ist  der  Text  des  Anonymus  eine  Kürzung  gegenüber  dem 
Texte  der  Legenda;  aber  mindestens  so  zahlreich  sind  die 
Beispiele,  wo  die  Erzählung  des  Anonymus  bi'eiter  ist,  wo 
er  einen  geschmückteren  Stil  oder  auch  Ergänzungen  bietet: 
n.  4,  5^  8  (zweite  Hälfte),   15,  18,  30,  46  (Schiufs);  von 


1)  Vgl.z.  B.  Anal.  Boll.  XIX,  S.  191  und  überhaupt  Ortroys  Tabellen, 
ferner  meine  obigen  Ausführungen  über  die  Leg.  tr.  See,  die  ebensowohl 
für  den  Anonymus  gelten  dürfen,  sobald  es  sich  um  Parallelstelleu  handelt. 

2)  Nur  bei  Beginn  von  n.  7,  12  und  17  finden  sich  harte,  die  Kom- 
pilation deutlich  verratende  Übergänge. 

3)  Die  korrespondierende  Stelle  der  Leg.  tr.  Soc.  c.  II,  n.  4  ersetzte 
hier  die  ganz  unbestimmte  Zeitangabe  ihrer  Vorlagen  durch  die  Worte: 
„Post   paucos  vero  annos."     Der    Anonymus    dagegen  behält    die   un- 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HI,.  FKAXZ  VOX  ASSISI.    143 

n.  31 — 41  schwankt  es  beinahe  von  Absatz  zu  Absatz:  auf 
eine  scheinbare  Kürzung  der  Legenda  folgt  gleich  wieder 
eine  Erweiterung.  Man  kann  nun  nicht  gut  behaupten,  dafs 
im  einen  Fall  die  Kürzung,  im  andern  die  Erweiterung  das 
Kennzeichen  des  Auszuges  ist  —  mit  solcher  Willkür  könnte 
man  ja  ebenso  gut  beweisen,  dafs  die  Legenda  trium  So- 
ciorum  ein  Auszug  aus  dem  Anonymus  sein  müsse.  Es 
kommt  weiter  hinzu,  dafs  der  Anonymus  zu  wiederholten 
Malen  sachhch  andere  Nachrichten  bringt  als  die  Legenda : 
so  die  Bezeichnung  des  Jahres  1207  als  Anfang  der  neuen 
Gründung  (n.  3),  die  Umgestaltung  der  Erzählung  am  An- 
fang von  n.  7,  ebenso  in  n.  10  und  11,  die  abweichende 
Fassung  der  Fabel  vom  Könige  und  seinen  Söhnen  (n.  35)  ^ 
Und  wieder  in  andern  Fällen  hat  sich  der  Anonymus  im 
Wortlaute  enger  an  die  Vorlagen  angeschlossen  als  die  Le- 
genda —  ein  Umstand,  der  auf  selbständige  Benutzung  jener 
hindeutet  -.  So  ergibt  sich  die  Unmöglichkeit ,  dafs  der 
Anonymus  nur  ein  Auszug  aus  der  Legenda  sei.  Auch  das 
Umgekehrte  ist  aus  den  gleichen  Gründen  unmöglich. 

Aber  anderseits  zwingt  doch  die  Berührung  der  beiden 
Schriften  im  Umfang  des  Lihalts,  im  Parallelismus  der  Er- 
zählung und  im  Wortlaut,  der  oft  fast  ganz  übereinstimmt, 
zur  Annahme  der  engsten  Verwandtschaft.  Bis  zu  n.  10 
ist  der  Anonymus  allerdings  nur  ein  Überblick  über  das- 
jenige, was  die  Legenda  in  ihren  ersten  acht  Kapiteln  er- 
zählt —  es  fehlt  dabei  eigentlich  alles,  was  die  innere  Wand- 
lung Franzens  erklärt,  obwohl  der  Bericht  des  Anonymus 
glatt  weiterläuft,  so  dafs  man  die  Lücken  nur  beim  Ver- 
gleich  mit    den    andern    Quellen    empfindet.     Von  n.   11    ab 

bestimmtere  P'assuuf?  der  fiüliercn  Quellen:  ,, Tempore  praecedeute.''  — 
Ferner  ist  in  dem  mit  der  Leg.  tr.  Soc.  übereinstimmenden  Text  ein 
wohl  aus  2.  Celano  I,  2  geformter  Satz  eingeschoben:  „Qua  de  re  . . . 
deliberavit  fieri  miles,  ut  .  .  .  aiferet."  —  Über  den  comes  gontilis  ist 
bereits  oben  gehandelt  worden  (S.  102  f.).  —  An  Bonaventura  n.  1) 
klingt  an:  „ünde  disposuit.'" 

1)  Vgl.  auch  Anal.  Boll.  XIX,  S.  175,  Anm.  2. 

2)  Aufser  dem  oben  S.  142,  Anm.  3  gegebeneu  Beispiel  vgl.  Anal. 
Boll.  XIX,  S.  144  (Anm.  1  und  2),  IGO  (Anm.  1),  1G5  (Anm.  1),  175 
(Anm.  3),   176,   178,   17t»,   181,   1!)1. 


144  GOETZ, 

bis  zum  Schlufs  (n.  47)  entspricht  dagegen  jeder  Paragraph 
des  Anonymus  in  längerer  oder  kürzerer  Fassung  einem 
Paragraph  der  Legenda;  nur  deren  13.  Kapitel  ist  (bis  auf 
den  Anfangssatz)  übersprungen.  Der  volle  Parallelismus  be- 
steht also  nur  zwischen  dem  gröfsten  Teil  des  Anonymus 
und  der  zweiten  Hälfte  der  Legenda.  Ob  sich  aus  dieser 
Beobachtung  künftig  noch  einmal  ein  Ergebnis  ableiten  iäfst? 
Ich  vermag  es  zunächst  nur  in  einer  wenig  greifbaren 
AVeise.  Man  betrachte  das  Neue,  was  Anonymus  Perusinus 
und  Legenda  trium  Sociorum  gegenüber  den  altern  Quellen 
bringen. 

Es  besteht,  soweit  es  als  sachlich  Neues  und  nicht  nur 
als  legendarische  Rhetorik  in  Betracht  kommt,  zum  Teil 
nur  aus  kleinen  Zusätzen,  oft  nur  in  einem  kurzen  Satzteil, 
und  erst  in  der  zweiten  Hälfte  sowohl  des  Anonymus  (der 
die  kleineren  Zusätze  zumeist  nicht  enthält)  wie  der  Legenda 
aus  einem  gröfseren  Komplex  von  Nachrichten,  wo  es  sich 
um  die  Generalkapitel  und  Franzens  Verhalten  dabei,  um 
die  Missionen  und  den  Ordensprotektor  handelt.  Man  kann 
auch  da  in  einigen  (wie  in  den  Ermahnungen  Franzens  an 
die  Brüder  und  der  Stelle  über  den  Kardinal  von  S.  Paolo) 
einen  Ausbau  der  Vita  prima  und  secunda  sehen  —  das 
Ganze  macht  doch  den  Eindruck  einer  auf  solchem  Grunde 
in  starker  Selbständigkeit  emporgewachsenen  Übei'lieferung. 
Haben  die  ältesten  Quellen  etwa  mit  Absicht  von  diesen 
Dingen  geschwiegen?  Das  Material  ist  zum  Teil  so  un- 
verfänglich, dafs  ich  keinen  Grund  dafür  wüfste.  Oder 
kam  erst  an  einem  bestimmten  Zeitpunkt  das  Bedürfnis 
nach  Mitteilung  über  diese  Dinge?  Man  könnte  dann  Jor- 
danus  mit  diesen  Nachrichten  zusammenhalten;  aus  seiner 
1262  geschriebenen  Chronik  haben  wir,  soweit  man  bisher 
bei  Ausschaltung  der  Legenda  trium  Sociorum  urteilen  konnte, 
die  frühesten  gesicherten  Nachrichten  über  die  gleichen 
Gegenstände.  Sie  weichen  allerdings  von  denen  der  Legenda 
trium  Sociorum  und  des  Anonymus  im  einzelnen  durchaus 
ab,  so  dafs  sie  eben  nur  aus  demselben  Bedürfnis  entstanden 
sein  könnten.  Jordanus  schreibt  in  seinen  ersten  Kapiteln 
durchaus  nicht  nur  über  die  deutsche  Mission,  sondern  auch 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    145 

über  die  inneren  Angelegenheiten  des  Ordens  — -  ein  Grund 
mehr,  ihn  mit  dem  Stoffe  der  Legenda  und  des  Anonymus 
zwar  nicht  in  direkten,  aber  doch  in  einen  möglichen  Zu- 
sammenhang zu  bringen. 

Wie  diese  Nachrichten  der  Legenda  und  des  Anonymus 
einmal  sind,  zwingen  sie  zur  Annahme  einer  besondern  Über- 
lieferungsgruppe,  deren  Kern  in  den  Mitteilungen  über  die 
Generalkapitel,  Missionen  usw.  bestand.  Die  Verschieden- 
heiten zwischen  Legenda  und  Anonymus  schliefsen  aus,  dafs 
die  eine  Schrift  aus  der  andern  abgeleitet  ist;  es  bleibt 
also  nur  die  Annahme  übrig,  dafs  beide  aus  derselben  Quelle 
geschöpit  haben.  So  hat  auch  van  Ortroy  bereits  das  Er- 
gebnis formuliert  '.  Es  ist  weiterhin  der  Schlufs  noch  mög- 
lich, dafs  auch  diese  primäre  Quelle  nicht  zu  den  Urquellen 
der  franziskanischen  Überlieferung  gehört,  sondern  erst  nach 
Bonaventura  und  vielleicht  auch  nach  Bernhard  von  Bessa 
entstanden  ist.  Diese  Vermutung  ergibt  sich  im  Hinblick 
auf  die  Irrtümer,  die  sie  enthalten  haben  mufs.  Denn  was 
sowohl  in  der  Legenda  trium  Sociorum  wie  im  Anonymus 
steht,  darf  wohl  als  Bestandteil  der  Vorlage  angesehen  wer- 
den: demnach  hatte  sie  die  Angabe,  dafs  die  Portiuncula 
der  älteste  Aufenthaltsort  der  Brüder  gewesen  sei,  dafs  die 
erste  Missionswanderung  begonnen  habe,  als  Franz  erst  drei 
Jünger  besafs,  dafs  der  Kardinalprotektor  wegen  des  Fehl- 
schlagens  der  Missionen  erbeten  worden  sei,  dafs  die  Neu- 
aussendung der  Missionen  nach  Bestätigung  einer  neuen 
Regel  stattgefunden  habe.  Auch  die  Fortbildungen  der  Le- 
genda über  Bonaventura  hinaus  (z.  B.  Legenda  trium  Sociorum 
c.  2  und  Anonymus  Perusinus  n.  5  und  6 ;  ferner  die  vielen 
Stellen  mit  Nachrichten,  die  bei  Bonaventura  nicht  stehen),  die 
durch  van  Ortroy  aufgezeigten  Beziehungen  zu  Bernhard  von 
Bessa  '■*,  die  wiederum  sowohl  in  der  Legenda  wie  im  Ano- 
nymus sich  finden,  verstärken  diese  Vermutung.  Es  ist  da- 
mit nicht  gesagt,  dafs  diese  Nachrichten  völlig  wertlos  sind; 
man  wird  das  Neue,  was  der  Anonymus    und    die  Legenda 


1)  Anal,  lioll.  XIX,  S.   123  und  Mise.  Franc.  IX,  S.  34. 

2)  Anal.  Boll.  XIX,  S.  176.  190  f. 

10 


146  GOETZ, 

enthalten,  von  Fall  zu  Fall  zu  prüfen  haben  —  warum 
sollte  eine  solche  Nebenüberlieferung  nicht  ebenfalls  Rich- 
tiges enthalten?  Für  die  Hauptsache  erscheint  Jordanus 
zunächst  als  der  zuverlässigere  Zeuge;  aber  das  Vorhanden- 
sein einer  von  ihm  abweichenden  Überlieferung  mufs  be- 
achtet werden.  In  den  kleinereu  Zusätzen  der  beiden 
Schriften  mögen  zum  Teil  brauchbare  Züge  gegeben  sein. 

Der  Anonymus  Perusinus  scheint  der  Grundform  dieses 
tjberlieferungszweiges  näher  zu  stehen  als  die  Legenda  trium 
Sociorum,  so  dafs  man  ihn  weiteren  Untersuchungen  wohl 
eher  zugrunde  legen  mufs  als  die  Legenda  \  Denn  es  fehlen 
bei  ihm  die  zahlreichen  störenden  Einschachtelungen  aus 
andern  Quellen,  und  er  besitzt  im  Ganzen  seiner  Kompo- 
sition ein  weit  besseres  Ebenmafs  der  Teile  als  die  Legenda. 
Wenn  oben  der  erste  Teil  des  Anonymus  (bis  n.  11)  im 
Gegensatz  zur  Legenda  trium  iSociorum  lediglich  als  ein  kurzer 
Überblick  bezeichnet  wurde,  so  trübt  doch  nur  der  Vergleich 
mit  der  Legenda  trium  Sociorum  den  Blick  dafür,  dafs  diese 
Kürze  der  Anlage  des  Ganzen  entspricht.  Die  Legenda  trium 
Sociorum  widmet  der  Conversio  und  den  Anfängen  des  Or- 
dens einen  so  breiten  Raum,  dafs  ein  Mifsverhältnis  zum 
Rest  entsteht;  der  Anonymus  dagegen  ist  in  jedem  seiner 
Teile  eine  gedrängte  Erzählung,  eine  doch  wohl  mit  Absicht 
so  angelegte  Komposition.  Das  ergibt  dann  wieder  einen 
Rückschlufs  auf  die  Legenda  trium  Sociorum :  sie  hat  ihre 
Mifsgestalt  nicht  durch  eine  gewaltsame  Zensur,  sondern  durch 
eine  unökonomische  Erweiterung  ihrer  Grundform  erhalten  — 
ein  neuer  Beleg  für  ihren  kompilatorischen  Charakter. 

Ob  die  Angabe  über  den  Verfasser  am  Anfang  des  Ano- 
nymus Perusinus  auf  die  Vorlage  zurückgeht  oder  erst  aul 
den  neuen  Bearbeiter,  bleibt  verborgen;  beides  ist  möglich, 
da   genug  Beispiele    bekannt    sind,    wie    man    im    13.    Jahr- 


1)  Die  Leg.  tr.  Soc.  hat  nur  eine  einzige  Stelle,  die  von  Autopsie 
spricht:  die  Worte  „ut  ipse  confessus  postea  est  frequenter"  in  Kap.  7 
(n.  22)  klingen  wenigstens  wie  eigenes  Erlebnis.  Diese  Stelle  fehlt  im 
Anonymus  und  in  allen  andern  Quellen.  Sie  reicht  aber  doch  nicht 
aus,  etwas  über  den  Verfasser  zu  sagen,  und  die  Eingangsworte  des 
Anonymus  beweisen  jedenfalls  mehr. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    147 

hundert  Autorennotizen  ohne  Bedenken  in  spätere  Kompi- 
lationen hinübernahm.  Es  wurde  oben  bereits  erwähnt,  was 
aus  dieser  Angabe  für  die  Legenda  trium  Sociorura  zu  fol- 
gern ist;  zunächst  gibt  sie  dem  Anonymus  die  gröfsere 
Autorität. 

b)  Die  Vita  secunda  und  das  Speculum 
Perfectionis. 

Nach  den  Untersuchungen  des  vorangehenden  Abschnittes 
scheidet  die  Legenda  trium  Sociorum  aus  der  Reihe  der 
primären  Quellen  aus.  Das  nächste  Ergebnis  davon  ist,  dafs 
der  Wert  der  beiden  Schriften  Celanos  gesteigert  wird;  auch 
die  Vita  secunda  ist  also  so  wenig  ein  Gegenstück  zu  einer 
Schrift  der  vertrauten  Gefährten,  wie  die  Vita  prima  zu 
einem  Werke  Bruder  Leos.  So  wird  auch  für  die  Vita  se- 
cunda die  Möglichkeit,  sie  nur  in  ihrem  eigenen  Lichte  zu 
betrachten,  vermehrt.  Aber  sie  berührt  sich  noch  mit  einer 
zweiten  Quelle:  mit  dem  von  Sabatier  entdeckten  Speculum 
Perfectionis.  Und  zwar  in  weit  stärkerem  Mafse  als  mit  der 
Legenda  trium  Sociorum :  eine  grofse  Anzahl  von  Kapiteln 
der  Vita  secunda  stehen  —  oft  wörtlich  ebenso,  oft  etwas 
verändert  —  auch  im  Speculum  Perfectionis.  Gilt  auch  für 
dieses  wie  für  die  Legenda  trium  Sociorum,  dafs  die  Be- 
rührung nur  aus  späterer  Benutzung  stammt?  Es  bleibt 
nichts  anderes  übrig,  als  denselben  Weg  zu  gehen  und  die 
Parallelismen  der  beiden  Quellen  von  Kapitel  zu  Kapitel 
miteinander  zu  vergleichen  und  auf  ihre  Priorität  hin  zu 
untersuchen.  So  ermüdend  solche  Ausführlichkeit  ist  —  mit 
einigen  Stichproben  ist  in  diesem  Falle  nichts    zu  erreichen. 

Einige  Bemerkungen  über  das  Speculum  Perfectionis 
seien  vorausgeschickt.  Sabatier  hat  es,  wie  erwähnt,  beim 
Suchen  nach  der  vermuteten  vollständigen  Legenda  trium 
Sociorum  gefunden  und  mit  dem  umfangreichsten  Kommentar 
1898  herausgegeben  '.  Die  ursprüngliche  These,  die  den 
Titel    des   Buches    wie    den    ganzen    Kommentar    durchzieht. 


1)  Speculum  Perfectionis  scu  S.  Francisci  Assisiensis  Legenda  anti- 
quissima  auctore  fiatie  Leone    Paris  1898  (CCXIV  u.  37G  S.). 

lü* 


148  GOETZ, 

war  die  Annahme,  dafs  Bruder  Leo  1227  diese  Schrift  ver- 
fafst  habe.  Die  in  den  letzten  Jahren  geführten  Erörte- 
rungen haben  ergeben,  dafs  diese  Annahme  aus  der  Dis- 
kussion ausgeschaltet  werden  darf.  Ihr  einziger  Beleg,  das 
Explicit  des  Cod.  Mazarinus  1743,  war  von  Anfang  au  stark 
verdächtig;  seit  im  Konvente  Ognissanti  zu  Florenz  eine 
Handschrift  des  Speculum  Perfectionis  mit  einem  den  Mai 
1318  als  Entstehungszeit  nennenden  Explicit  gefunden  wor- 
den ist  ^,  mufs  auch  soviel  noch  als  unbestreitbar  ange- 
nommen werden:  dafs  die  Redaktion  des  uns  vorliegenden 
Speculum  Perfectionis  erst  1318  stattgefunden  hat  —  nur 
dann  erklären  sich  auch  eine  Reihe  von  offenbar  späten  Be- 
standteilen der  Schrift  und  das  Incipit  der  meisten  Hand- 
schriften („Istud  opus  compilatum  est"  etc.)  ^    Aber  schiebt 


1)  Minocchi,  Nuovi  Stiidi,  S.  37 ff. 

2)  Von  der  Literatur  über  das  Speculum  Perfectionis  sei  folgendes 
erwähnt:  Es  haben  Sabatier,  wenn  auch  mit  mancherlei  Vorbehalten  und 
Bedenken,  ursprünglich  zugestimmt:  Tocco,  Arcb.  stör,  ital.,  V.  Serie, 
XXII,  S.  134—142;  XXIII,  S.  183—198;  Cosmo,  Riv.  stör.  ital.  (1898), 
S.  303—312;  Fr.  X.  Kraus,  Beil.  der  Allg.  Zeitung  (1899),  Nr.  124 
(Kirchenpolit.  Brief);  Karl  Müller,  Theol.  Lit.-Ztg.  (1899),  S.  48 ff.; 
Zöckler,  Franz  von  Assisi,  Prot.  Realenzykl.'' (1899);  Lempp,  Frere 
Elie,  S.  16,  Anm.  4.  —  Nicht  völlig  ablehnend,  aber  doch  sehr  kritisch: 
Böhmer,  Hist.  Vierteljahrsschr.  VII,  S.  75—81.  —  Gegen  Sabutiers 
Annahmen  erklärten  sich:  Eubel,  Rom.  Quartalschr.  XII  (1898),  S.  324 
bis  327;  Faloci-Pulignani,  Mise.  Franc.  VII,  S.  3ff,  145 ff.  166 ff. 
182  ff.;  Della  Giovanna,  Giorn.  stör.  d.  lett.  ital.  XXXIII,  S.  63— 76 ; 
P.  d'Alen^on,  Annales  Franciscaines  XXXVII  (Paris  1898,  in  ital. 
Übersetzung:  Mise.  Franc.  VII,  S.  51  ff.);  van  Ortroy,  Anal.  Boll. 
XIX  (1900),  S.  58—63.  —  Eine  vermittelnde  Stellung  (Entstehung  zwar 
nicht  1227,  aber  doch  schon  im  13.  Jahrhundert)  nehmen  ein:  Man- 
donnet,  Mise.  Franc.  VII,  S.  57—66;  Barbi,  Bull.  d.  Soc  Dantesca, 
N  S.,  VII,  S.  73 — 101;  Minocchi,  Nuovi  studi  sulle  fonti  biographiche 
di  San  Francesco  (1900);  Tilemann,  Spec.  Peif.  und  Legenda  tr.  Soc. 
(1901).  Auch  Eubel  hat  in  dem  genannten  Aufsatz  die  Möglichkeit 
der  Autorschaft  Bruder  Leos,  wenn  auch  aus  späterer  Zeit,  offen  ge- 
lassen. —  Ich  werde  im  folgenden  nicht  im  einzelnen  zitieren;  die 
Giünde  für  und  wider  werden  natürlich  von  den  meisten  der  genannten 
Autoren  gleichmäfsig  vorgebracht,  so  dafs  dieser  allgemeine  Hinweis  auf 
die  vorhandene  und  von  mir  benutzte  Literatur  genügen  mag.  —  Die 
von  Lemmens,   Doc.   ant.  Franc.  11  (1901)  herausgegebene  „Redactio 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    149 

man  so  auch  im  Gegensatz  zu  Sabatier  die  endgültige  Re- 
daktion weit  hinaus,  so  ist  damit  doch  nicht  gesagt,  dafs 
der  ganze  InliaU  des  Speculum  Perfectionis  erst  1318  aut- 
gezeichnet worden  sei ;  gewichtige  Gründe  sprechen  dafür, 
dafs  von  Sabatiers  Annahme  der  Kern  zu  Recht  besteht: 
eine  alte,  aus  dem  Kreise  der  vertrauten  Gefährten  stam- 
mende und  infolgedessen  höchst  wichtige  Überlieferung  scheint 
eben  doch  im  Speculum  Perfectionis  von  1318  lediglich  ver- 
arbeitet zu  sein. 

Die  Untersuchung  mufs  darauf  näher  eingehen.  Wiederum 
sei  es  versucht,  alle  diejenigen  Momente  auszuscheiden ,  mit 
denen  man  über  subjektive  Eindrücke  nicht  hinauskommt: 
der  Stil,  der  Gesamtcharakter  der  Schrift,  die  kürzere  oder 
weitere  Fassung  der  einzelnen  Erzählungen  im  Vergleich  zu 
den  korrespondierenden  Quellen ;  es  liegen  genug  Tatsachen 
vor,  die  zu  einem  gewisseren  Ziele  hinleiten  ^ 

Es  ist,  wie  gesagt,  nicht  mehr  bestreitbar,  dafs  die  uns 
vorliegende  Redaktion  des  Speculum  Perfectionis  vom  Jahre 
1318  stammt  Das  dieses  Datum  enthaltende  Explicit  des 
Codex  Ognissanti  gibt  die  Aufklärung  für  das  schwer  zu 
deutende  Explicit  des  Codex  Mazarinus  1743,  auf  das  sich 
Sabatier  zuerst  stützte:  hierliegtira  Datum  1228  (MCCXX  VIII) 
ein  jetzt  nicht  mehr  zu  bezweifelnder  Schreibfehler  für  1318 


prima"  des  Speculum  Peifectiouis  vermag  icli  nicht  als  eine  frühere  Fas- 
sung anzusehen ;  ich  halte  sie  für  einen  späteren  Auszug.  Über  den 
Codex  S.  Isiilori  vgl.  unten  S.  153  Anm.  1. 

1)  Um  die  Wertlosigkeit  solcher  Kritorien  zu  erkennen,  vergleiche 
man,  dafs  Sabatier  vom  Speculum  Perfectionis  die  Einheitlichkeit  des 
Stils  behauptet,  P.  d'Alencon  das  Gegenteil.  Sabatier  d;e  einheitliche 
Disposition  des  Stoffes,  Aleugon  das  Gegenteil,  Sabatier  das  Zuiück- 
treten  des  Wunders,  Aleugon  und  Faloci-Puli  gnani  das  Gegen- 
teil! —  Es  bedarf  ferner  nur  gelingen  Nachpiüfens,  um  das  Voi kommen 
der  Worte  sanctus  und  beatus,  woraus  man  wiederholt  Schlüsse  zu 
ziehen  versucht  hat,  aus  der  Reihe  brauchbarer  Kriterien  auszuscheiden. 
Wie  unzuverlässig  jeder  Schhifs  ist,  der  aus  dem  Hinzuk(unmen  oder 
Fehleu  von  Orts-  oder  Personennamen  gezogen  wird,  zeigt  ebenfalls 
jedes  vergleichende  Studium  der  Legenden :  es  ist  zwischen  allen  ein 
fortwährendes  Mehr  oder  Weniger  in  dieser  Hinsicht,  und  Lern  mens 
nimmt  z.  B.  für  seine  .,  Redactio  piiuia"  des  Spec.  Perf.  vergeblich  ein 
Vorrecht  an.  weil  es  einige  Naiucn  mehr  'Aht. 


1 50  GOETZ, 

(MCCCXVIII)  vor,  und  die  Erwähnung  der  h.  Kunera  führt 
nun  ohne  Schwierigkeit  auf  eine  in  der  Utrechter  Gegend 
entstandene  spätere  Abschrift  des  Speculum  Perfectionis  hin. 
Jetzt  tinden  auch  die  in  allen  Handschriften,  bis  auf  den 
Cod.  Vatic.  4354,  stehenden  Eingangsworte  der  Schrift  („Istud 
opus  compilatum  est  per  modum  legendae  ex  quibusdam 
antiquis  quae  in  diversis  locis  scripserunt  et  scribi  fecerunt 
seu  retulerunt  socii  b.  Francisci")  ihren  natürlichen  Sinn,  um 
dessen  künstliche  Uradeutung  man  sich  nicht  mehr  zu  be- 
mühen braucht.  Und  ebenso  erklären  sich  nun  die  Ana- 
chronismen und  sachlichen  Irrtümer,  die  hier  und  da  im  Texte 
mit  unterlaufen  ^. 

Es  wäre  kein  günstiges  Zeichen  für  den  Scharfsinn  Sa- 
batiers,  wenn  seit  der  Entdeckung  des  Codex  Ognissanti  das 
ganze  Speculum  Perfectionis  ohne  Vorbehalt  erst  ins  Jahr 
1318  zu  setzen  wäre;  er  konnte  vielmehr  mit  gutem  Rechte 
darauf  hinweisen,  dafs  der  Inhalt  der  Schrift  an  vielen 
Stellen  für  eine  weit  frühere  Entstehung  spricht.  Und  diese 
Gründe  bleiben  auch  jetzt  noch  zu  Recht  bestehen  und  legen 
die  Vermutung  nahe,  dafs  1318  die  Schrift  zwar  zusammen- 
gestellt wurde,  aber  unter  Benutzung  älteren  Materials.  Da- 
für sprechen  bereits  die  angeführten  Eingangsworte:  der 
Hinweis  auf  alte  Berichte  der  Genossen  des  Heiligen.  Man 
könnte  dabei  an  die  Legenden  des  13.  Jahrhunderts  denken; 
aber  es  berührt  sich  doch  nur  eine  einzige,  die  Vita  secunda 
Celanos,  in  erheblichem  Mafse  mit  dem  Speculum  Perfectio- 
nis, und  die  Prüfung  dieser  Beziehungen  wird  ergeben,  dafs 
man  die  Vita  secunda  schwerlich  als  die  Quelle  des  Spe- 
culum Perfectionis  ansehen  kann,  ebensowenig  wie  es  dem 
Sprachgebrauch  der  Ordensüberlieferung  entsprechen  würde, 
Thomas  von  Celano  zu  den  socii,  den  vertrauten  Gelahrten 
des  Heiligen,  zu  rechnen.    Aber  es  steht  natürlich  bei  diesen 


1)  So  iu  Kap.  7  (Schlufssatz) ,  23,  43,  65  (in  allen  drei  Fällen  Er- 
wähnung des  Kardinals  von  Ostia  mit  dem  Zusatz:  ,,qui  postea  fuit 
papa  Gregorius"),  27  und  55  (Erwälniung  der  antiqui  fratres),  85  (Be- 
schreibung der  ältesten  Brüder),  107  (Tod  Bernhards  von  Quiutavalle 
erwähnt),  115  (Elias  als  Generalniinister  erwähnt),  124  (falsche  Angabe 
vom  Lebensalter  des  Heiligen)  usw. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    1 5  l 

Eingangsworten  die  Möglichkeit  noch  offen,  dafs  der  Kom- 
pilator  von   1318  sich  ein  fälschliches  Ansehen  erlog. 

Ein  zweiter  Grund  für  das  Alter  des  Materials  ist  die 
Berufung  auf  Augenzeugen,  die  sich  an  vielen  Stellen  des 
Textes  findet:  „nos  qui  cum  b.  Francisco  fuimus",  „nobis 
sociis  eins",  ?, qui  vidit  scripsit  hoc",  ,, nos  tot  et  tanta  vi- 
dimus"  und  ähnliche  Wendungen  '.  Dieser  Verweis  auf 
eigenes  Sehen  und  Hören  tritt  so  häufig  und  in  so  verschie- 
denartiger Form  auf,  dafs  er  entweder  die  Wahrheit  oder  eine 
sehr  freche  Fälschung  sein  mufs.  Man  hat  erwogen,  ob  diese 
Worte  in  Anlehnung  an  das  Johannesevangelium  (XIX,  35 
und  XXI,  24)  entstanden  seien:  wie  man  Franz  mit  Christus 
zu  vergleichen  strebte,  so  habe  vielleicht  der  Verfasser  auch 
diese  Ähnlichkeit  mit  den  Evangelien  in  seinen  Text  hinein- 
getragen. Es  bliebe  doch  eine  überaus  starke  Fälschung, 
die  man  dem  Verfasser  nur  auf  Grund  durchschlagender 
Beweise  zutrauen  darf  Es  wird  bei  der  nachfolgenden 
Untersuchung  in  jedem  einzelnen  Falle  zu  prüfen  sein,  ob 
die  Möglichkeit  eines  Betrugs  gegeben  ist. 

Die  beiden  angeführten  Gründe  gewinnen  an  Boden,  weil 
schon  vor  dem  Jahre  1318  Zitate  aus  den  Erzählungen  des 
Speculum  Perfectionis  in  andern  Schriften  auftreten. 

Ubertino  von  Casale,  ein  Führer  der  Spiritualen,  hat  in 
seinem  1305  geschriebenen  „Arbor  vitae  crucitixae"  wieder- 
holt längere  Aufzeichnungen  des  frater  Leo  zitiert,  die  sich 
ebenso  im  Speculum  Perfectionis  finden,  und  über  das  Vor- 
handensein derartiger  alter  „rotuli"  im  Klarissenkloster  zu 
Assisi  ausführliche  Älitteilung  gemacht  —  freilich  mit  dem 
Zusatz:  „audivi  illos  rotulos  fuisse  distractos  et  forsitan  per- 
ditos";  in  der  um  1311  geschriebenen  „Declaratio"  beruft 
er  sich  von  neuem  auf  ein  zum  Teil  im  Auftrag  des  h.  Franz, 
zum  Teil  „de  devotione"  geschriebenes  Buch  des  Bruders 
Leo,  das  sich  im  Minoritenkonvent  zu  Assisi  befinde,  und 
auf  die  gleichen  rotuli,  „quos  apud  me  liabeo",  so  dafs  also 
die    1305    zerstreuten    und    vermifsten    Aufzeichnungen    in- 


l)  In  Kap.  2,  G,  9,   11,   IG,  22,  33,  88,  4G,  55,  58,  G3,  67,  92,   101, 
1U4,   114,   115,   118. 


152  GOETZ, 

zwischen  gefunden  und  in  Ubertinos  Hände  gelangt  sein 
raüfsten.  Andere  Zitate  aus  den  „Scripta  fr.  Leonis"  stehen 
in  der  1311  geschriebenen  Responsio  Ubertinos  *.  Hat  Uber- 
tino  mit  allen  diesen  Zitaten  und  Angaben  gelogen?  Man 
hat  es  behauptet ;  auf  solche  Art  erspart  sich  mancher  die 
nähere  Erkenntnis  eines  Mannes,  der  zeitweise  in  Opposition 
zur  offiziellen  Kirche  geriet  und  deshalb  nicht  ehrlich  ge- 
wesen sein  kann !  Immerhin  darf  man  an  diesem  Vorwurf 
nicht  ganz  vorübergehen,  da  auch  die  Verteidiger  Ubertinos 
zugeben,  dafs  er  sich  in  seinem  Reformeifer  zeitweise  bis  zu 
einer  Trübung  seines  sittlichen  Urteils  verirrt  habe  ^. 

Alle  neun  von  Ubertino  aus  den  Schriften  Leos  zitierten 
Stellen  stehen  sonst  nur  im  Speculum  Perfectionis;  eine  einzige 
davon  ist  ähnlich,  aber  in  ganz  verkürzter  Form,  in  der 
Vita  secunda  Celanos  zu  lesen.  Hat  Ubertino  sie  alle  er- 
funden, so  müfste  der  Kompilator  des  Speculum  Perfectionis 
den  Arbor  vitae  crucifixae  bei  seiner  Arbeit  benutzt  haben. 
Man  hat  es  auffällig  gefunden,  dafs  Ubertino  die  rotuli  1305 
als  „distractos  et  forsitan  perditos"  bezeichnet  und  sie  dann 
1311  besitzen  will;  anderseits  hat  man  aber  auch  darauf 
hingewiesen,  dafs  Ubertino  1311  mit  einer  Lüge  wohl  sicher 
den  Widerstand  seiner  Gegner  —  denn  es  handelte  sich  ja 
um  einen  Prozefs,  der  auf  dem  Konzil  von  Vienne  1312 
entschieden  wurde  —  gefunden  hätte.  Eine  Erklärung  für 
jenen  scheinbaren  Widerspruch  liegt  nahe:  indem  Ubertino 
in  seiner  Schrift  von  1305  auf  den  drohenden  Verlust  der 
Aufzeichnungen  Leos  hinwies,  gab  er  den  Anlafs  zu  ihrer 
Erhaltung,  falls  er  nicht  selber  sich  ihrer  angenommen  und 
sie  in  seinen  Besitz  gebracht  hat.  Für  Ubertinos  Ehrhch- 
keit  spricht  ferner,  dafs  es  möglich  ist,  eines  seiner  Zitate 
als  wirklich  zitiert  nachzuweisen.  Denn  er  gibt  einmal  (Arb. 
1.  V,  c.  3)  eine  Stelle  aus  den  Dicta  Leonis,  übergeht  dann 
mit  einem  blofsen  Hinweis,  was  bei  Leo  weiter   folge,    und 


1)  Alle  diese  Stellen  angeführt  bei  Sabatier,  Spec.  Peif.  CXLff. 
Vgl.  auch  Tilemann  a.  a.  0.  S.  88—92. 

2)  Knoth,  Ubertino  von  Casale  (Marburg  1903),  S.  50.  Das  Ge- 
samturteil Knoths  lautet  für  Ubertino  überaus  günstig :  „  eine  durchaus 
ehrliche  Natur,  ein  reiner,  achtunggebietender  Charakter "  (S.   139). 


QUELLEN  ZUK  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    153 

zitiert  darauf  von  neuem  wörtlich.  Im  Speculum  Perfectionis 
stehen  diese  Stellen  in  weit  voneinander  getrennten  Kapiteln 
(c.  37  und  c.  4);  aber  Lemmens  hat  eine  andere  Zusammen- 
stellung dieser  DictaLeonis  gefunden  und  herausgegeben,  in  der 
sich  das  Ganze  als  fortlaufende  Erzählung  findet  und  eben  das 
von  Leo  nur  Angedeutete  in  ausführlicher  Form  ^  Da  hierbei 
ein  Kompiiator  nicht  wohl  nach  Ubertino  gearbeitet  haben 
kann  —  er  müfste  das  von  Ubertino  nur  Angedeutete  aus 
einer  andern  Quelle  ergänzt  haben,  was  nicht  gerade  wahr- 
scheinlich ist  — ,  so  zitierte  Ubertino  doch  wohl  nach  einer 
Vorlage.  So  erhärten  gute  Gründe  die  Zuverlässigkeit  Uber- 
tinos. 

Auch  auf  die  Historia  Septem  tribulationum  darf  hinge- 
wiesen werden.  Mit  einigen  Vorbehalten  freilich,  denn  weder 
ihr  Verfasser,  noch  ihre  Entstehungszeit  sind  gesichert.  War 
Angelo  Clareno  der  Verfasser,  so  würde  ihn  beglaubigen, 
dafs  er  noch  persönliche  Berührung  mit  Bruder  Leo  gehabt 
hatte;    wurden  die  betreffenden  Stellen    der  Historia   in    den 


1)  Lemmeus,  Scripta  tV.  Leonis  (=  Doc.  ant.  Franc.  I,  1901) 
S.  91  f.  Damit  soll  freilich  nicht  hehauptet  werden,  dafs  der  Codex 
S.  Isidori  die  ursprüngliche  Form  der  Scripta  Leonis  enthalte  (s.  oben 
S.  98  und  115  Anm.  2).  Gerade  an  dem  Teil,  der  die  Überschrift 
trägt:  ,,Sanotissimi  patiis  nostri  Francisci  intentio  regulae",  kann  man 
nachweisen,  dafs  er  an  andern  Stelleu  sicherlich  erst  aus  dem  Spe- 
culum Perfectionis  geschöpft  ist  (vgl.  bes.  n.  2  und  3  mit  Spec.  Perf. 
c.  26,  n.  8  und  9  mit  c.  72).  Ein  Vergleich  dieser  Scripta  des  Cod. 
Isidori  mit  Cod.  Maziar.  1743  und  Cod.  Vatic.  4354  zwingt  doch  wohl 
zu  dem  Schlufs,  dafs  wir  die  Urform  dieser  Aufzoichnungen  Leos  nicht 
besitzen  und  dafs  sie  in  den  verscliiedeuartigsten  Zusannnoustellungen 
verbreitet  worden  sind.  Im  ganzen  erscheint  der  Codex  S.  Isidori  nach 
dem,  was  Lemmens  daraus  veröffentlicht  hat,  als  eine  ziemlich  späte 
auszugsmäfsige  Form  dieser  von  Hand  zu  Hand  gohenden  Überliefe- 
rungen. Das  schliefst  nicht  aus  —  und  ich  schränke  damit  das  oben 
S.  115  Anm.  2  Gesagte  in  einer  Hinsicht  etwas  ein  — ,  dafs  ältere  Be- 
standteile hier  und  da  mit  unterlaufen;  einige  Lesaiten  füliren  vielleicht 
höher  hinauf  als  der  Text  von  Sabatiers  Speculum  Perfectionis  —  sie 
sind  im  folgenden  erwälmt.  Lemmeus  hat  gegenüber  Angriffen  seine 
Auffassung  uuchmals  veiteidigt  (Voix  de  S.  Antoint;,  1903  April);  aber  das 
meiste  von  dem,  was  er  als  Beweise  vorbringt,  bestätigt  meines  Erach- 
tens  nur,  dafs  es  sich  bei  si'iner  ,,  lledactio  piima"'  um  späte  Arbeit 
bandelt. 


154  GOETZ, 

ersten  Jahren  ihrer  mehr  als  zwanzigjährigen  Entstehungs- 
zeit (1314  —  1337?J  aufgezeichnet,  so  lägen  sie  noch  vor  der 
Zusammenstellung  des  Speculura  Perfectionis.  Drei  Stellen 
dieser  Historia,  von  denen  zwei  als  von  Bruder  Leo  her- 
rührend eigens  gekennzeichnet  sind,  berühren  sich  mit  dem 
Speculum  Perfectionis  —  die  eine  allerdings  nur  andeutungs- 
weise K 

Dafs  dem  Speculum  Perfectionis  Aufzeichnungen  Leos 
zugrunde  liegen,  wird  also  durch  diese  Zitate  Ubertinos  und 
eventuell  auch  der  Historia  septem  tribulationum  belegt. 
Auch  das  darf  für  die  Zuverlässigkeit  Ubertinos  noch  an- 
geführt werden,  dafs  Aufzeichnungen  Leos  noch  anderwärts 
bezeugt  sind.  Petrus  Johannes  Olivi  (gest.  1298)  erwähnt 
in  seiner  Expositio  regulae  S.  Francisci  c.  10  die  „cedulas 
fr.  Leonis,  quas  de  bis  quae  de  patre  nostro  tamquam  eius 
singularis  socius  viderat  et  audierat,  conscripsit ",  und  zitiert 
dann  Stellen  aus  dem  4.  Kapitel  des  Speculum  Perfectionis  ^. 
Ein  Codex  zu  Foligno,  über  den  Faloci-Pulignani  nähere 
Angaben  gemacht  hat  ^,  enthält  im  Anschlufs  an  eine  Wieder- 
gabe des  Speculum  Perfectionis  mehrere  Abschnitte,  die  als 
Mitteilungen  Leos  an  Bruder  Konrad  von  Offida  bezeichnet 
werden.  Aufserdem  haben  einige  jüngere  Zeitgenossen  Uber- 
tinos der  Aufzeichnungen  Leos  ohne  nähere  Angaben  ge- 
dacht: Francesco  Venimbeni  da  Fabriano  (gest.  1322)  will 
die  „scripta"  gelesen  haben,  die  Bruder  Leo  „recoUegit  de 
dictis  et  vita  sanctissimi  patris  nostri  Francisci"*;  Angelo 
Clareno  (gest.  ca.  1337)  hat  sich  in  einem  Briefe  auf  Leo 
berufen  („sicut  .  .  .  fr.  Leo  scribit")  °. 

Auch  der  ursprüngliche  Verfasser  des  Codex  Vaticanus 
4354    bezeugt    das  Vorhandensein    von    Aufzeichnungen    der 


1)  Vgl.  Sabatier,  Speculura  Perf.,  S.  CXXXVIIIf.;  Tilemanu 
S.  85  ff. 

2)  Firmameutum  trium  ordiuum  (Venedig  1513),  f.  123,  a.  1  (zi- 
tiert bei  Sabatier,  Franc.  Bartholi  Tractatus,  S.  CXXXVI,  Anm.  1 
und  bei  Tileniann  S.  83  Anm.  4). 

3)  Mise.  Franc.  VIT,  S.  44  ff.  134  ff. 

4)  Sabatier,  Speculum  Perf.,  S.  CXXXVII. 

5)  Arch.  f.  Lit-  u.  Kirchencresch.  d.  MA.  I,  S.  559. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    155 

vertrauten  Genossen,  zu  denen  Leo  doch  in  erster  Linie  ge- 
hörte. Denn  dieser  Verfasser  sagt,  dafs  er  bei  seinem  Aut- 
enthalt in  Avignon  neben  der  Legenda  vetus,  aus  der  Bona- 
ventura geschöpft  habe,  auch  die  „dicta  veridica  sanctorum 
sociorum  b.  Francisci  per  viros  probatos  ordinis  redacta  in 
scriptis"  benutzt  und  exzerpiert  habe  K 

Nach  allen  diesen  Zeugnissen  mufs  es  als  sicher  an- 
genommen werden,  dafs  es  Aufzeichnungen  Leos  in  ver- 
schiedener Form  und  zu  verschiedenen  Zwecken  (Dicta, 
Verba,  Scripta,  Rotuli,  Cedulae)  gegeben  hat.  Tilemann 
meint,  sie  seien  in  der  Legenda  trium  Sociorum,  deren  ur- 
sprüngliche Gestalt  uns  nur  nicht  bekannt  sei,  zusammen- 
gefafst  gewesen  '^.  Hat  es  aber,  wie  oben  zu  erweisen  ver- 
sucht wurde,  eine  solche  Legenda  trium  Sociorum  überhaupt 
nicht  gegeben,  so  fällt  bereits  der  gröfste  Teil  dieser  An- 
nahme. Der  Wortlaut  der  Angaben  Ubertinos  über  Leos 
Aufzeichnungen  spricht,  wie  mir  scheint,  ebenfalls  nicht  dafür. 
Er  sagt:  Von  dem,  was  er  (Ubertino)  über  Franzens  Ab- 
sichten ausgeführt  habe,  werde  bereits  viel  erhärtet  „per  re- 
gulam,  testamentum  et  legendam  ipsius;  omnia  tamen  patent 
per  sua  verba  expressa,  que  per  s.  virum  Leonem  eins  sotium 
tam  de  mandato  sancti  patris  quam  etiam  de  devotione  pre- 
dicti  fratris  fuerunt  solempniter  conscripta  in  libro,  qui  habetur 
in  arraario  fratrum  de  Assizio,  et  in  rotulis  eins,  quos  apud. 
me  habeo,  manu  eiusdem  fr.  Leonis  conscriptis,  in  quibus 
optime  b.  Francisci  intentio  quoad  paupertatera  regule  de- 
claratur  contra  omnes  abusiones  et  transgressiones."  Eine 
Legende  von  Leos  Hand  gab  es  danach  nicht;  strittig 
könnte  nur  sein,  ob  das  im  Schrank  zu  Assisi  verwahrte 
„Buch"  eine  besondere  Schrift  oder  nur  eine  zufäUige  Samm- 
lung in  einem   Buche  war.     Nach  Ubertino    mufs  man  aber 


1)  Sabiitior,  Spcciiliim  Poif. ,  S.  CLVIII.  Mit  der  Lpfreiula 
vetus  ist  dabei  siclitlich  Celano  mit  seinen  beiden  Legenden  gemeint, 
denn  eben  ans  ibnen  schöiifte  Bunaventma;  mit  den  dicta  veridica  usw. 
der  Stofflcreis  des  Speciiliim  Perfectionis.  —  Die  Fulgerungen,  die  Sa- 
batier  aus  diesen  Worten  des  Cod.  Vatic.  4354  zieht  (ebd.  S.  CLIIff.), 
erscheinen  mir  in  keiner  Weise  annehmbar. 

2)  Tilemann  a.  a.  0.  S.  SGfT. 


156  GOETZ, 

annehmen,  dafs  diese  Sammlung  damals  noch  unbekannt 
war,  sonst  hätte  er  nicht  den  Aufbewahrungsort  angegeben. 
Auch  das  Schweigen  der  Schriftsteller  des  13.  Jahrhunderts 
über  eine  besondere  Legende  Bruder  Leos  spricht  dafür, 
dafs  die  Aufzeichnungen  Leos  kein  schriftstellerisches  Werk, 
sondern  eine  private  Sammlung  waren.  Wenn  dann  im 
14.  Jahrhundert  der  Verfasser  der  Historia  Septem  tribu- 
lationum  bei  einer  Bemerkung  über  die  Biographen  des 
Heiligen  den  Bruder  Leo  nennt  und  zwar  erst  an  vierter 
Stelle,  nach  Bonaventura,  wenn  er  dann  nur  Zitate  gibt, 
die  in  dem  Speculum  Perfectionis  von  1318  stehen,  so  scheint 
es  doch  in  hohem  Mafse  wahrscheinlich,  dafs  er  nichts  anderes 
als  die  inzwischen  im  Speculum  Perfectionis  verarbeiteten 
Aufzeichnungen  Leos  meinte.  Diese  Wahrscheinlichkeit  soll 
nur  für  den  Fall  gelten,  dafs  man  den  Quellenangaben  der 
Historia  septem  tribulationum  überhaupt  einen  W^ert  zu- 
schreiben will ;  da  sie  als  die  vier  Biographen  des  Heiligen 
den  Johannes  und  Thomas  von  Celano,  Bonaventura  und 
Bruder  Leo  nennt,  so  hat  man  kein  gutes  Recht,  aus  Irr- 
tümern mögliche  Wahrheiten  herauszunehmen.  Aber  eine 
Erklärung  für  diese  halb  wahren  Angaben  liegt  in  dem  Gang 
der  Dinge,  wie  er  sich  einigermafsen  feststellen  läfst:  Uber- 
tino  zog  die  Aufzeichnungen  Leos  wieder  ans  Licht;  sie 
wurden  darauf  verwendet  bei  der  Zusammenstellung  des 
Speculum  Perfectionis  —  vielleicht  galt  auch  dieses  Werk 
dann  bei  manchen  als  eine  Schrift  Bruder  Leos.  Aber  das 
Speculum  Perfectionis  braucht  nicht  alle  Aufzeichnungen 
Leos  enthalten  zu  haben;  Ubertinos  Bemerkung  von  1305 
über  ihre  Zerstreuung  läfst  es  als  sehr  wohl  möglich  er- 
scheinen, dafs  anderwärts  noch  anderes  vorhanden  war  ^ 

Es  kam  zunächst  darauf  an  im  allgemeinen  zu  zeigen, 
dafs  im  Speculum  Perfectionis  altes,  vom  Bruder  Leo  und 
vielleicht  auch  seinen  Gefährten  (nos  qui  cum  eo  fuimus!) 
herrührendes  Material  nach  aller  Wahrscheinlichkeit  enthalten 
ist ;    der    Glaube    an    eine    besondere   Legende   Bruder   Leos 


1)  Vgl.  die  oben  (S.  154)  eiwähntcii  Aufzeichuungen  Leos  im  Codex 
zu  Folisno. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    157 

konnte  später  daraus  entstehen.  Die  seit  dem  14.  Jahrhundert 
herrschende  Unklarheit  über  die  äUesten  Biographen  des 
IleiHgen  mag  auch  dadurch  noch  vermehrt  worden  sein,  dafs 
die  aus  dem  so  vielfach  parallelen  Inhalt  hervorgehende  Be- 
ziehung der  Aufzeichnungen  Leos  zu  der  Vita  secunda  Celanos 
zu  neuen  Verwechslungen  Anlafs  gab  ^ 

In  der  Feststellung  dieser  Beziehungen  liegt  eine  weitere 
Möglichkeit  vor,  dem  Rätsel  der  Aufzeichnungen  Leos  etwas 
näher  zu  kommen.  Von  den  124  Kapiteln  des  Öpeculum 
Perfectionis  berühren  sich  79  mehr  oder  minder  eng  mit  der 
Vita  secunda.  Hat  der  Kompilator  von  1318  sie  lediglich 
der  Vita  secunda  entnommen  oder  darf  man,  gestützt  auf 
das  „Nos  qui  cum  eo  fuimus'^,  behaupten,  dafs  vielmehr  die 
Vita  secunda  dabei  aus  Aufzeichnungen  Leos  und  seiner 
Gefährten  geschöpft  hat?  Auch  die  Möglichkeit  bliebe  ja 
noch,  dafs  Leo,  der  bis  1271  gelebt  haben  soll,  seine  Auf- 
zeichnungen in  Anlehnung  an  die  Vita  secunda  gemacht 
hat  —  eine  (freilich  späte)  Notiz  der  Chronica  XXIV  gene- 
ralium  berichtet  z.  B.  von  Mitteilungen  Leos  aus  seinen 
letzten  Lebensjahren  an  Konrad  von  Oltida  und  Fra  Gio- 
vanni ^. 


1)  Man  vergleiche  die  verschiedenartige  Verwendung  des  Namens 
,,Legenda  antiqua"  im  14.  Jahrhundert:  Sabatier,  Speculum  Perf, 
S.  CXXII,  CLIII,  CLXI;  ferner  S.  84  Anm.  1,  S.  136  Anm.  1;  vgl. 
auch  S.  224  Textvariante  g.  In  der  Chronica  XXIV  gen.  heifst  es: 
„sicut  dicit  frater  Thomas  de  Celano  [Ceperano]  in  antiqua  legenda 
s.  Francisci"  (gemeint  ist  2.  Celano  III,  120):  Anal.  Franc.  HI,  8. 
An  anderer  Stelle  wird  ebenfalls  die  Vita  secunda  ausdrücklich  „Le- 
genda antiqua"  genannt:  ebd.  III,  262.  In  Francisci  Bartholi  Tractatus 
de  Indulgentia  wird  die  Vita  prima  als  „Legenda  antiqua"  bezeichnet: 
Sabatier,  Tractatus,  S.  4.  —  Vgl.  hierzu  Minocchi,  Nuovi  Studi, 
S  131  f.  Weun  die  Confurniitates  das  bei  ihrer  FiUtstchung  schon  weit 
zurückliegende  Speculum  Perfectionis  als  Legenda  antiqua  bezeichnen, 
weil  sie  darin  altes  Material  verwendet  wufsten,  so  ist  das  nicht  auf- 
fällig; aber  es  ist  damit  nicht  bewiesen,  dafs  sie  damit  das  Spoculum 
Perfectionis  als  die  älteste  Legende  bezeichnen  wollten. 

2)  Anal.  Franc.  III,  8.  428.  Die  im  Codex  Foligno  wiedergegebenen 
Berichte  Leos  an  Konrad  von  Oltida  könnten  also  aus  dieser  Zeit  rühren. 
Sie  enthalten  reichlich  viel  Wunderbares;  ist  das  ein  Zeichen  von  Leos 
Greisenalter  ? 


358  GOETZ, 

Die  Prüfung  der  einzelnen  Kapitel  des  Speculum  Per- 
fectionis  mufs  das  weitere  Material  zu  endgültigen  Schlüssen 
liefern. 

Kritik  des  Speculum  PerfectionisK 
Das  erste  Kapitel  bietet  besondere  Schwierigkeiten.  Es 
findet  sich  nicht  in  der  Vita  secunda,  und  seinem  Inhalt  nach 
würde  man  es  ohne  Bedenken  aus  der  Reihe  der  ältesten 
Erzählungen  streichen  und  der  Neuschöpfung  des  Kompilators 
von  1318  zurechnen.  Denn  es  enthält  Dinge,  die  den  Cha- 
rakter der  Sagenbildung  an  der  Stirne  tragen :  Franz  spricht 
bei  Abfassung  einer  neuen  Regel  mit  Christus  und  dieser 
antwortet  so  laut,  dafs  auch  andere  —  die  Gegner  einer 
strengen  Regel  —  es  hören  und  verwirrt  entweichen.  Das 
Kapitel  trägt  in  dieser  Zuspitzung  die  zelantische  Tendenz 
sichtbar  zur  Schau.  Sabatier  hat  es  deshalb  auch  nachträglich 
als  eine  Interpolation  bezeichnet  ^.  Aber  gerade  dieses  Ka- 
pitel besitzt  eine  Beglaubigung,  die  es  unter  die  Aufzeich- 
nungen Leos  einreihen  müfste.  Der  schon  erwähnte  Codex 
zu  Foligno  hat  den  zwar  nicht  wörtlich,  aber  inhaltlich  ganz 
gleichen,  sogar  noch  etwas  ausführlicheren  Bericht  über  die 
Abfassung  einer  neuen  Regel  unter  direkter  ]\Iithilfe  Christi 
und  über  den  Widerstand  lax  gesinnter  Ordensminister,  die 
den  Bruder  Elias  als  ihren  Sprecher  voranschicken ;  und  zwar 
berutt  sich  der  Anfang  des  Berichtes  darauf,  dafs  Kourad 
von  Oftida  diese  Nachrichten  von  Leo  erhalten  habe  und 
dieser  nennt  sich  im  Text  denn  auch  noch  ausdrücklich  als 
Verfasser  (^.  . .  „loquor  ego  qui  scripsi  haec,  scilicet  frater 
Leo'^j.     Dadurch    wird   ein  jedes  Wort  dieser  wunderbaren 


1)  Die  Ausgabe  Sabatier s  liegt  alleu  folgenden  Erörterungen  zu- 
grunde, und  so  sind  meine  Ausführungen,  auch  wenn  es  nicht  eigens 
erwähnt  wird,  stets  eine  Stellungnahme  zu  den  Anschauungen,  die  Sa- 
batier in  den  Anmerkungen  zu  den  einzelnen  Kapiteln  geäufsert  hat. 
Wo  ich  also  nur  sage,  dafs  sich  über  Entstehungszeit  des  Textes  nichts 
feststellen  läfst,  wird  implicite  ausgesprochen,  dafs  ich  Sabatiers  Grün- 
den nicht  zustimmen  kann. 

2)  Sabatier,  Francisci  Bartholi  Tractatus,  S.  126  und  Opusc.  de 
crit.  bist.  III,  S.  91  Anm. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    159 

Erzählung  für  authentisch  erklärt.  Ahnlich  ist  der  Text  des 
Florentiner  Codex  Ashburnh.  32G,  den  Barbi  bekanntgegeben 
hat  ^ 

Eine  jede  dieser  Überlieferungen  will  von  Leo  stammen 
und  ist  doch  für  die  historische  Kritik  wie  für  den  gesunden 
Menschenverstand  unannehmbar.  Man  hat  drei  Möglichkeiten : 
die  Berufung  auf  Leo  ist  eine  Fälschung  —  dann  würden 
alle  Angaben  des  Codex  von  Foligno  über  die  Aufzeichnungen 
Leos  verdächtig  werden;  oder  es  handelt  sich  wirklich  um 
eine  Mitteilung  Leos  —  dann  bleibt  nichts  anderes  übrig, 
als  ihm  den  tätigsten  Anteil  bei  der  Umbildung  der  Geschichte 
zur  Sage  zuzuschreiben ;  oder  eine  Mitteilung  Leos  ist  über- 
arbeitet worden,  ohne  dafs  die  Berufung  auf  Leo  eingeschränkt 
wurde.  Mit  bestimmten  Gründen  ist  die  Frage  nicht  zu 
entscheiden,  obwohl  man  für  alle  drei  Möglichkeiten  mancherlei 
anführen  kann ;  nur  ist  nicht  abzuweisen,  dafs  der  Erzählung 
ein  geschichtlicher  Kern  zugrunde  liegt  —  selbst  wenn  sie 
eine  Fälschung  wäre.  So  ergibt  sich  aber  im  günstigsten 
Falle  für  dieses  erste  Kapitel  des  Speculum  Perfectionis,  dafs 
es  nur  mit  Vorbehalten  zu  benutzen  ist.  Haltbar  nach  dem, 
was  wir  sonst  wissen,  ist  der  Eingaugssatz  mit  der  Angabe 
über  die  drei  (oder  vielmehr  vier)  verschiedenen  Kegeln ; 
ferner  der  Widerstand  gewisser  Ordenskreise,  die  den  Elias 
für  sich  vorzuschicken  streben,  und  die  Abweisung  ihrer 
Wünsche  durch  Franz.  Die  verschärfte  und  ins  Wunder- 
bare gezogene  Darstellung  ist  wohl  auf  eine  spätere  Zeit 
zurückzutühren,  wo  der  Kampf  des  Tages  diesen  Gegen- 
sätzen galt. 

Nimmt  man  das  Kapitel  in  seinem  Kern  für  historisch, 
so  bleibt  noch  die  Frage,  warum  Leo  diese  Erinnerungen 
nicht  für  die  Vita  secunda  zur  Verfügung  stellte.  Man  könnte 
schliefsen,  dafs  Thomas  und  seine  Helfer  taktvoll  zurück- 
gehalten haben,  um  die  Verbitterung  im  Orden  nicht  zu 
steigern ;  nur  in  vertraulichen  Aufzeichnungen ,  wie  es  die 
Kotuli  Leos  waren,  sagte  man  mehr.  Vielleicht  wurden  manche 
dieser    Aufzeichnungen    (oder    ihr    Kern)    von    Leo    erst    in 


1)  Bull.  d.  Soc.  Dant.  NS.  VIF,  S.  97  Aiiin.  3. 


1 60  GOETZ, 

späterer  Zeit,    als    die  Vita  secunda  längst  geschrieben  war, 
gemacht. 

Kapitel  2  des  Speculura  Perfectionis,  überaus  wichtig  durch 
die  ablehnende  Haltung  des  Heiligen  gegenüber  dem  Bücher- 
besitz und  durch  seine  Stellung  zu  den  Konflikten  im  Orden, 
fehlt  in  der  Vita  secunda,  wird  aber  von  Ubertino  in  ähn- 
licher Fassung  zitiert;  auch  kommt  in  diesem  Kapitel  die 
den  Verfasser  als  direkten  Zeugen  beglaubigende  Wendung 
vor:  „nos  qui  cum  ipso  fuimus  ad  hoc  respondemus  sicut 
audivimus  ab  ore  eius."  Die  Entscheidung  über  die  Zu- 
gehörigkeit dieses  Kapitels  zu  den  echten  Aufzeichnungen  Leos 
ruht  aufserdem  auf  seinem  Inhalt:  er  scheint  mir  aus  zweifachem 
Grunde  die  Echtheit  zu  bestätigen.  Die  Antwort  Franzens  ent- 
spricht genau  dem,  was  man  nach  dem  Testament  und  nach 
den  Angaben  der  Vita  secunda  von  ihm  zu  erwarten  hat:  das 
Bekenntnis  zur  vollkommenen  Armut,  also  zur  Verwerfung 
jeglichen  Bücherbesitzes.  Zweitens  ist  die  Charakterisierung 
der  Stellung  Franzens  zu  den  Ordenskonflikten  so  wahr  und 
so  fein,  dafs  sie  nur  aus  wirklicher  Kenntnis  dieser  später 
in  ihrer  Eigenart  gar  nicht  mehr  verstandenen  Persönlichkeit 
gegeben  werden  konnte.  Eine  um  des  Kampfes  willen  ent- 
standene Tendenzschrift  würde  doch  wohl  behauptet  haben, 
dafs  Franz  mit  seinen  Anschauungen  von  den  Widersachern 
unterdrückt  worden  sei;  hier  aber  heifst  es:  „quia  valde 
timebat  scandalum  et  in  se  et  in  fratribus,  nolebat  contendere 
cum  ipsis,  sed  condescendebat  invitus  voluntati  eorum  et 
coram  Domino  se  excusabat."  Ich  erinnere  an  das,  was 
Jordanus  a  Jano  von  Franz  sagt:  „omnia  per  humilitatem 
maluit  vincere  quam  per  iudicii  potestatem"  ^  —  das  war 
der  Eindruck  der  Augenzeugen.  Es  pafst  dazu  auch  noch 
der  Schlufssatz  des  Kapitels:  an  sich  selber  wollte  Franz  das 
Ideal  verwirklichen  —  darin  fand  er  schliefslich  Beruhigung. 
So  scheint  mir  hier  die  innere  Wahrheit  für  die  Echtheit 
der  Erzählung  Leos  und  der  Berufung  auf  Augenzeugen 
zu  sprechen;  die  Worte  „nos  qui  cum  eo  fuimus"  auf  mehrere 
Verfasser  zu  deuten,  wird  kaum  notwendig  sein. 


1)  Vgl.  oben  S.  86. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    161 

Im  3.  Kapitel  findet  sich  die  erste  Berührung  mit  der 
Vita  secunda  (III,  8).  FreiUch  stehen  der  langen  Erzählung 
im  Speculurn  Pertectionis  bei  Celano  nur  vier  Zeilen  gegen- 
über, und  die  Richtung  der  Erzählungen  ist  nicht  ganz  die 
gleiclie:  im  Speculurn  Perfectionis  scheint  es  wenigstens,  als 
ob  Franz  jeglichen  Bücherbesitz  um  der  evangelischen  Armut 
willen  verbieten  wolle,  und  er  wendet  sich  noch  mit  scharfem 
Auslall  gegen  die  in  Sachen  der  Armut  lässigen  Brüder; 
in  der  Vita  secunda  wird  nur  mit  nüchternen  Worten  kon- 
statiert, dafs  Franz  den  Besitz  wertvoller  Bücher  verwarf. 
Aber  ein  Gegensatz  der  beiden  Erzählungen  wird  doch  wohl 
mit  Unrecht  behauptet  ^  Denn  man  kann  die  Frage  des 
bücherbesitzenden  Ministers  im  Speculum  Perfectionis  genau 
so  verstehen  wie  die  in  der  Vita  secunda:  dafs  es  sich  näm- 
lich nur  um  das  Verbot  zu  vieler  und  zu  prunkvoller  Bücher 
handle,  und  man  kann  anderseits  auch  aus  der  Erzählung 
der  Vita  secunda  herauslesen,  dafs  Franz  jeglichen  Bücher- 
besitz verbieten  wollte.  Für  die  erste  Auslegung  spricht, 
dafs  Franz  an  anderer  Stelle  des  Speculum  Perfectionis  (Kap.  5) 
den  Bücherbesitz  nicht  völlig  verwirft,  sondern  nur  „paucos 
haberi  voluit  et  in  communi  eosque  ad  fratrum  necessitatera 
paratos'^  Diese  Worte  sind  bei  Celano  mit  der  eben  be- 
handelten Stelle  verbunden,  aber  es  fehlt  allerdings  der  Zu- 
satz: „et  in  communi.'^  Liegt  darin  nun  doch  eine  Ab- 
schwächung  desjenigen,  was  Leo  für  richtig  hielt?  Oder 
hat  Celano  den  Schlufs  des  Satzes  für  genügend  angesehen, 
um  den  Gemeinbesitz  auszudrücken?  Diese  Möglichkeit  liegt 
vor  und  hindert,  die  Vita  secunda  für  eine  Abschwächung  ver- 
antwortlich zu  machen  '■.    Der  Unterschied  zwischen  Kapitel  3 

1)  So  von  Sabatior,  Speculum  Perf.,  S.  9  Anin.  3. 

2)  Kap.  5  des  Speculum  Perfectionis  bietet  einen  Fall,  wo  man 
Entgopenpesetztes  folgern  kann.  Es  bandelt  in  kurzen  Sätzen  von  der 
Armut  betieflfend  Bücber,  Lagerstätten,  Gebäude  und  Utensilien;  die 
Vita  secunda  bat  alles  ebenso  bis  auf  die  oben  besprocheiu^  Ausnalime, 
aber  verteilt  auf  vier  verscbiedene  Kai)itcl  (III,  8,  9,  2,  0).  Man  kann 
nun  ebenso  gut  sagen,  dafs  Celano  dieses  Kapitel  plünderte,  wie 
dafs  ein  Kompilator  aus  verscbiedenen  Stellen  Celanos  ein  Kai)itei 
macbte.  Der  einzige  Zusatz  „et  in  communi  '  könnte  aus  der  Vorlage 
ebenso  gut  weggelassen,  wie  vom  Komiiilutor  zur  Erläuterung  beigesetzt 

11 


162  GOETZ, 

des  Speculum  Perfectionis  und  der  Vita  secunda  liegt  also 
lediglich  in  gröfserer  Ausführlichkeit  und  dem  beigefügten 
Ausfall  gegen  die  laxen  Brüder.  Die  Ausführlichkeit  ist  für 
Feststellung  der  Priorität  unbrauchbar,  wie  schon  wiederholt 
nachgewiesen  wurde;  den  Ausfall  könnte  man  ebensowohl 
für  spätere  zelantische  Tendenz  ansehen  wie  für  Leos  ur- 
sprüngliche, von  Celano  unterdrückte  Meinung.  Aber  es 
gibt  noch  eine  dritte  Lösung,  die  Celano  entlastet:  die  Auf- 
zeichnungen Leos  waren  nicht  zur  Veröffentlichung  bestimmt, 
sondern  Herzensergüsse  eines  getreuen  Schülers;  wenn  Leo, 
wie  bereits  gezeigt  wurde,  an  der  Vita  secunda  mitgearbeitet 
haben  mufs,  so  billigte  er,  dafs  die  Schärfe  des  Tons  ge- 
mäfsigt  wurde.  Tatsächlich  sagt  die  Vita  secunda  alles,  was 
gegen  den  lässigen  Geist  im  Orden  gesagt  werden  mufste ; 
dafs  sie  es  ohne  allzu  heftige  Angriffe  sagte,  kann  die  Ab- 
sicht von  Verfasser  und  Mitarbeitern  gewesen  sein.  Es  würde 
sehr  wohl  zu  allen  bisherigen  Ergebnissen  passen,  wenn  trotz 
allem  noch  ein  Geist  der  Milde  durch  diese  Schrift  gehen 
sollte.  Ich  spreche  dies  hier  zunächst  als  eine  Möglichkeit 
aus,  die  sich  an  dieser  Stelle  zum  erstenmal  ergibt;  es  wird 
im  folgenden  nach  weiteren  Bestätigungen  zu  suchen  sein. 

Der  zweite  Teil  dieses  Kapitels  hat  in  der  Vita  secunda 
kein  Gegenstück,  aber  er  steht  mitsamt  dem  ersten  Teile 
wortgetreu  bei  Ubertino  von  Casale,  mit  der  Bemerkung, 
dafs  alles  von  Bruder  Leo  stamme.  Er  behandelt  Franzens 
Sorge  um  die  strenge  Fassung  der  evangelischen  Armut  in 
der  Regel  und  die  Gegenarbeit  der  Minister.  Hat  die  Vita 
secunda  die  Stelle  absichtlich  verschwiegen?  Ich  glaube  es 
nicht.  Neben  dem  Streben  nach  Kürze,  das  Celano  geleitet 
hat,  neben  der  auch  hier  wieder  möglichen  Absicht  der  Ver- 
söhnlichkeit mufs  auf  die  Kapitel  135  und  136  des  dritten 
Teiles  der  Vita  secunda  hingewiesen  werden,  in  denen  doch 
im  wesentlichen  dasselbe  gesagt  ist:  Franz  eifert  für  die  Be- 
folgung der  Regel,  segnet  die  „Zeloten"  der  Regel  ganz  be- 


sein.  Ulizweifelhaft  ist,  dafs  bei  solcher  Unsicherheit  die  gleichartige 
Lesart  der  Vita  secunda  den  Vorzug  verdient,  während  das  Kapitel  des 
Speculum  Perfectionis  zu  beanstanden  ist. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL    163 

sonders  und  sieht  in  einer  Vision  die  iniquitas  derjenigen 
bestraft,  die  sich  der  Kegel  nicht  beugen.  Angedeutet  ist 
der  Konflikt  auch  in  III,  122:  Franz  wollte  noch  etwas  in 
die  Regel  hineinbringen,  „sed  bullatio  facta  praeclusit".  Des- 
halb besitzt  der  zweite  Teil  dieses  Speculum-Kapitels  hohe 
Wahrscheinlichkeit  der  Wahrheit:  was  Celano  in  allgemeineren 
Worten  sagt,  ist  in  den  vertraulichen  Aufzeichnungen  am 
speziellen  Falle  erörtert. 

Der  Inhalt  des  4.  Kapitels  (ein  Novize  erhält  von  Franz 
auf  die  Anfrage,  ob  er  ein  Psalteriura  besitzen  dürfe,  ab- 
lehnenden Bescheid)  ist  in  der  Vita  secunda  III,  124  mit 
anderthalb  Zeilen  zusammengefafst;  der  Zweck,  vor  Bücher- 
besitz und  Wissen  zu  warnen,  ist  beide  Male  der  gleiche. 
An  dieser  Stelle  scheint  der  sichere  Nachweis  möglich,  dafs 
der  Erzählung  des  Speculum  Perfectionis  die  Priorität  zuzu- 
erkennen ist.  Nicht  nur,  dafs  Petrus  Olivi  dieses  Kapitel 
zitiert  hat  (s.  o.  S.  154),  sondern  die  Vita  secunda  vereint  in 
III,  124  zwei  Erzählungen,  die  im  Speculum  Perfectionis  ge- 
trennt (Kap.  G9  und  4)  gegeben  sind,  und  zwar  ist  bei  Celano 
die  dem  Kapitel  4  entsprechende  Notiz  mitten  hineingeschoben  in 
den  fast  wörtlich  gegebenen  Inhalt  von  Kapitel  69.  Es  ist  einer 
der  schon  wiederholt  bei  Prüfung  der  Legenda  trium  Socio- 
rum  berührten  Fälle:  es  ist  nicht  recht  denkbar,  dafs  ein 
späterer  Kompilator  aus  dem  Celanokapitel  einen  Satz  heraus- 
gegriffen und  ein  neues  Kapitel  daraus  gemacht  hätte,  sondern 
die  nächstliegende  Annahme  ist,  dafs  Celano  aus  dem  ihm 
vorliegenden  Stoff  Verwandtes  zusammengenommen  hat.  Dann 
aber  müssen  beide  Kapitel  des  Speculum  Perfectionis  zu  den 
ältesten  Aufzeichnungen  Leos  gehören  '.  Da  Kapitel  69  fast 
wörtlich  in  die  Vita  secunda  herübergenommen  ist,  so  hat  eine 
solche  Annahme  keine  Schwierigkeit ;  bei  Kapitel  4,  das  sehr 
erzählt,  könnte  man  schon  eher  fragen,  ob  eine  auf  Leo  zwar 
breit  zurückgehende  Erzählung  nicht  doch  erst  später  ausgebaut 
worden  sei.  Dafür  spricht  die  Nennung  eines  minister  gene- 
ralis '^ ;  aber  die  Erzählung  hat  übrigens  einen  so  ursprüng- 

1)  Dafür   spricht  auch    der  Zusatz,   den    Cclauo   am    Schhisse   des 
Kapitels  noch  macht. 

2)  Vgl.  darüber  Näheres  unten  S.   177  bei  Kap.  38. 

11* 


164  GOETZ, 

lieh  frischen  Charakter  und  bietet  so  gar  keinen  Anhalts- 
punkt für  den  Zweck  späterer  Erfindung,  dafs  ich  sie  im 
wesentlichen  auf  Leo  zurückführen  möchte.  Der  zweite  Teil 
des  Kapitels,  der  bei  Celano  nicht  verwendet  ist,  spricht 
dafür  noch  mehr  als  der  erste :  er  ist  zu  fein  aus  dem  Seelen- 
leben des  Heiligen  entwickelt,  als  dafs  man  ihn  erfunden 
glauben  könnte  ^  —  Warum  gleitet  die  Vita  secunda  mit 
einem  kurzen  Satze  über  diese  Erzählungen  hinweg?  Sabatier 
sieht  darin  die  Absicht,  über  einen  heiklen  Punkt  rasch  hin- 
wegzugehen ^ ;  aber  man  mufs  dagegen  einwenden ,  dafs  die 
Vita  secunda  in  der  behandelten  Frage  (111,  8  und  124) 
genau  dieselbe  Anschauung  vertritt  wie  das  Speculum  Per- 
fectionis  und  dafs  sie  nur  ein  Beiwerk,  das  freilich  interessant 
genug  ist,  kürzt.  Für  den  Grund  der  Kürzung  lassen  sich 
allerdings  nur  dieselben  allgemeinen  Vermutungen  anstellen 
wie  beim  vorangehenden  Kapitel;  sie  sind  gewifs  nicht  be- 
weiskräftig, aber  die  Feststellung  einer  Tendenz  ist  es  zum 
mindesten  ebensowenig.  Auch  hier  wird  eine  spätere  Be- 
trachtung aller  derartigen  Kürzungen  vielleicht  noch  einen 
Schritt  weiterführen  (s.  u.  S.   226). 

Das  6.  Kapitel  ^  (Franz  läfst  das  Haus  der  Brüder  zu 
Bologna  räumen)  steht  fast  ebenso  in  der  Vita  secunda  HI,  4, 
nur  dafs  hier  am  Anfang  beigesetzt  ist,  dafs  Franz  aus 
Verona  kam  und  dafs  er  Bologna  gar  nicht  betrat,  als  er 
von  dem  dortigen  Besitztum  der  Brüder  hörte.  Man  kommt 
nicht  weit,  wenn  man  mit  Faloci-Pulignani  sagt,  die  Vita 
secunda  müsse  die  frühere  sein,  weil  sie  eine  Einzelheit  (de 
Verona  rediens)  mehr  gebe  * ;  die  gegenteilige  Behauptung 
hat  denselben  Wert:  dafs  dieser  Zusatz  späterem  Bedürfnis 


1)  Es  ist  allerdings  zuzugeben,  dafs  der  Cod.  Vaticanus  4354  eine 
wohl  sicher  später  erweiterte  Lesart  bringt  und  dafs  es  demgegenüber 
gewagt  ist,  die  von  Sabatier  aus  dem  Cod.  Maz.  1743  gegebene  Lesart 
vorbehaltlos  als  die  früheste  Fassung  anzusehen.  Vgl.  Sabatier, 
Speculum  Perf.,  S.  13  Anm.  1.  —  Minocchi,  Nuovi  Studi,  S.  113 
bestreitet  bei  Kap.  4  die  Priorität  des  Speculum  Perfectionis. 

2)  Sabatier  a.  a.  0. 

3)  Über  Kap.  5  vgl.  oben  S.  161  Anm.  2. 

4)  Mise.  Franc.  VII,  S.  8. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL   FRANZ  VON  ASSISL    165 

entspreche.  Auch  der  Schlufssatz  des  Kapitels  („Et  frater 
existens  infirm us,  qui  de  ea  domo  tunc  fuit  eiectus,  testi- 
monium  perhibet  de  hiis  et  scripsit  hoc",  während  die  Vita 
secunda  statt  scripsit  ein  scribit  hat)  führt  zu  keinem  sicheren 
Ergebnis  über  die  Priorität.  Das  Präsens  scribit  klingt  wohl 
unmittelbarer  —  aber  perhibet  steht  in  beiden  Schritten  im 
Präsens,  so  dafs  der  ursprüngliche  Verfasser  noch  gelebt  haben 
müfste.  Denn  war  der  Kompilator  von  1318  so  gewissenhaft, 
das  scribit  abzuändern,  so  hätte  er  auch  perhibuit  sagen  müssen. 
Der  Sinn  bleibt  doch  beide  Male  der  gleiche:  jeder  der  beiden 
Verfasser  bekennt  sich  selber  als  Augenzeugen;  das  ist  nur 
dann  in  keinem  Falle  eine  Unwahrheit,  wenn  Leo  beide  Male 
bei  der  Abfassung  beteiligt  war.  Man  weifs,  wie  leichtherzig 
solche  Autorenbemerkungen  im  Mittelalter  auch  von  andern 
übernommen  wurden  —  es  brauchte  das  weder  der  Ver- 
fasser des  Speculum  Perfectionis  noch  der  der  Vita  secunda 
von  sich  selber  gemeint  zu  haben.  Verdächtig  ist  die  Stelle 
auch  deshalb,  weil  sie  in  ihrem  zweiten  Teil  wörtlich  mit 
dem  Johannesevangelium  (XXI,  24)  übereinstimmt  —  in 
beiden  Fällen  derselbe  Streit  um  ihre  Deutung !  So  ist  dieses 
Kapitel  trotz  seiner  scheinbar  so  guten  Beglaubigung  ebenso- 
wenig verwendbar  für  Feststellung  der  Priorität  wie  des  Ver- 
fassers: es  kann  sowohl  von  Thomas  von  Celano  wie  von 
Leo  geschrieben  sein,  vielleicht  aber  auch  von  einem  andern 
der  Gefährten,  die  bei  der  Vita  secunda  halfen  ^ 

Kapitel  7  kann  die  Vorlage  von  Vita  secunda  III,  3  sein, 
aber  ebensogut  auch  eine  spätere  Erweiterung  —  der  Schlufs 
spricht  jedenfalls  dafür,  dafs  der  Kompilator  von  1318  das 
Seine  noch  hinzugetan  hat. 

Die  Entstehung  von  Kapitel  8  ist  nicht  näher  zu  bestimmen. 
Es  kann  zur  ältesten  Überlieferung  gehören.  Die  Vita  se- 
cunda enthält  es  nicht,  aber  vielleicht  nur,  weil  Celano  111,  3 
genau  dieselbe  Nutzanwendung  bereits  an  einem  andern  Bei- 


1)  Neben  den  beiden,  etwas  veischicdenen  Lesarten  des  Spec.  Perf. 
und  der  Vita  sec.  findet  sich  eine  dritte  in  den  Tiibulationes,  die  eben- 
falls auf  einen  Aufcenzeiißen  ziirücksiehen  will:  Sabatier,  Spec.  Perf., 
S.  16  Anm.  1.  Man  sieht  daraus,  wie  flüssig  diese  ganze  Überliefe- 
rung war. 


166  GOETZ, 

spiel  gegeben  hatte ;  wollte  er  kürzen ,  so  konnte  er  es  hier 
mit  gutem  Gewissen  tun. 

Kapitel  9  ist  beglaubigt  durch  ein  „Nos  qui  cum  eo 
fuimus  saepe  audivimus",  und  es  berührt  sich  mit  Vita  se- 
cunda  III,  5  und  2.  Wieder  hat  diese  die  kürzere  Lesart, 
aber  sie  fügt  (111,  5)  eine  Ortsbestimmung  bei.  Die  Worte 
der  Vita  secunda  klingen  wie  ein  Auszug;  aber  wenn  man 
auch  in  jedem  Fall  die  Erzählung  des  Speculum  Perfectionis 
auf  eine  Aufzeichnung  Leos  zurückführt,  so  könnte  sie  trotz- 
dem noch  überarbeitet  sein.  In  ihrem  Inhalt  steht  freilich 
nichts,  was  nicht  von  Leo  geschrieben  sein  könnte;  nur  das 
aus  dem  Testamente  gegebene  Zitat  ist  nicht  ganz  richtig, 
soweit  unsere  Kenntnis  des  echten  Wortlautes  reicht.  Zitierte 
Leo  den  echten  Wortlaut  oder  zitierte  ein  Spirituale  falsch?  — 
beides  ist  möglich.  Es  sei  noch  darauf  hingewiesen,  dafs 
Celano  den  Bibelspruch  mit  den  Worten  einführt:  „Saepe 
vero  de  paupertate  sermonem  faciens  ingerebat  fratribus  evan- 
gelium  illud;  Vulpes  etc."  Sollte  das  nicht  eine  Umgestal- 
tung des  „nos  qui  cum  eo  fuimus"  der  Vorlage  sein? 

Kapitel  10  beschreibt,  wie  die  Niederlassungen  der  Brüder 
beschaffen  sein  sollten.  Es  fehlt  in  der  Vita  secunda  und 
bei  Bonaventura  ganz.  Es  scheint  aus  verschiedenen  Gründen 
dennoch  echte  Überlieferung  zu  sein.  Denn  es  knüpft  an 
einen  Privatmann  in  Siena  an,  dessen  Name  in  späterer  Zeit 
wohl  kaum  noch  nennenswert  erschienen  wäre;  es  betont 
ferner  die  Unterwerfung  der  Brüder  unter  alle  Kleriker  und 
unter  die  Bischöfe,  was  die  Spiritualen  vielleicht  nicht  mehr 
so  in  den  Vordergrund  gestellt  hätten,  und  es  räumt  dem 
Bischof  von  Assisi  einen  Einflufs  auf  Franzens  Entwicklung 
ein,  der  später  kaum  mehr  bekannt  gewesen  oder  nicht  so 
erwähnt  worden  wäre.  Freilich  ist  das,  was  Franz  gesagt 
haben  soll,  in  langem  Wortlaut  gegeben ;  wer  hatte  das  fest- 
gehalten? Im  besten  Falle  wird  auf  Leos  Rechnung  doch 
die  Komposition  dieser  Reden  zu  setzen  sein.  Aber  der 
sachliche  Inhalt  der  Erzählung  wird  durch  das  Testament  so 
gut  beglaubigt,  dafs  sie  in  jedem  Falle  als  gute  Überliefe- 
rung  bezeichnet   werden   darf  ^     Wenn    Celano   dieses   und 

1)  Sabatier,  Spec.  Peif. ,  S.  25  Anm.  1  hat  angenommen,  dafs 


QUELLEN  ZUK  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    167 

das  folgende  Kapitel  (mit  ähnlichem  Inhalt)  nicht  benutzte 
—  immer  vorausgesetzt,  dafs  Leo  es  nicht  erst  später  auf- 
zeichnete — ,  so  kann  allerdings  der  Grund  nur  gewesen 
sein,  einen  der  heikelsten  Punkte  der  Ordensentwicklung 
nicht  allzusehr  aufzurühren;  das  von  Franz  stammende  Prinzip 
hatte  die  Vita  secunda  gewahrt  (III,  2 — 5)  —  weiteres 
wollte  sie  der  Öffentlichkeit  ersparen. 

Das  Kapitel  ist  dadurch  noch  beglaubigt,  dafs  aufser  dem 
Zitat  bei  Ubertino  auch  der  Codex  von  Foligno  ^  es  zusammen 
mit  Kapitel  50  des  Speculum  Perfectionis  bringt,  aber  mit  der 
Einleitung:  „Dicebat  b.  Franciscus,  quando,  sicut  fr.  Leo 
scribit,  coram  Domino  Hostiense  et  multis  fratribus  ac  clericis 
ac  saecularibus  et  etiam  frequenti  populo  praedicavit,  quod 
quidam  fratres  etc."  (folgt  zuerst  Kap.  50).  Das  ergibt  freilich 
zur  Kritik  dieser  beiden  Kapitel,  dafs  sie  in  verschiedenen 
Lesarten  umgegangen  sind  und  dafs  man  deshalb  keine  der- 
selben als  völlig  authentisch  ansehen  kann.  Der  Inhalt  ist 
beglaubigt,  der  Wortlaut  nicht. 

Kapitel  1 1  berichtet  von  dem  Widerstand  einzelner  Brüder 
gegen  die  primitive  Form  der  Niederlassungen.  Es  fehlt  in 
der  Vita  secunda,  aber  es  enthält  starke  Beglaubigungen, 
indem  es  darin  heifst :  „nos  vero  qui  cum  ipso,  quando 
scripsit  regulam,  fuimus  et  fere  omnia  alia  sua  scripta,  per- 
hibemus  testimonium  etc.",  und  etwas  später:  „unde  saepe 
dicebat  nobis  sociis  suis  etc.";  auch  ist  Franz  von  neuem 
als  nachgiebig  bei  Konflikten  mit  den  Brüdern  geschildert. 
Die  Worte,  dafs  Franz  vieles  in  der  Regel  und  in  seinen 
Schriften  gesagt  habe,  „quae  hodie  essent  valde  utiha  et 
necessaria  toti  religioni",  könnten  natürlich  ebensogut  1245 
wie    1270   wie    1318    geschrieben   sein;    den    Zeitpunkt    um 


dieses  Kapitel  zu  einer  Zeit  Rcschrieben  sein  müsse,  wo  man  mit  den 
grofsen  Klöstern  im  Orden  erst  anfinp,  also  um  1228;  nachdem  die  Frage 
zugunsten  der  Klöster  entschieden  war,  habe  es  keinen  Zweck  mehr 
gehabt,  darüber  zu  disputieren.  Es  ist  darauf  zu  entgegnen,  dafs  die- 
jenigen, die  Franzens  ursprünglichen  Willen  kannten,  bis  an  ihr  Lebens- 
ende dafür  eintreten  konnten;  Leo  könnte  diese  Aufzeichnungen  erst 
um  1270  geschrieben  haben. 
1)  S.  oben  S.  154. 


168  GOETZ, 

1228,  den  Sabatier  gern  annehmen  möchte  ',  sehliefsen  sie 
wohl  in  jedem  Falle  aus.  Ich  sehe  keinen  Grund,  dieses 
Kapitel  zu  beanstanden ;  ich  kann  die  Spiritualen  nicht  ohne 
Anhaltspunkt  mit  einer  Fälschung  belasten,  für  die  ich  in 
anderer  Weise  Thomas  von  Celano  für  unfähig  hielt.  Da 
uns  die  Vita  secunda  Konflikte  zwischen  Franz  und  den 
Brüdern  bezeugt,  so  können  auch  diese  näheren  Angaben  der 
Wahrheit  entsprechen. 

Kapitel  12  und  13  geben  zu  keinen  irgendwie  entscheiden- 
den Erörterungen  Anlafs. 

Kapitel  14  und  15  stehen  fast  wörtHch  ebenso  in  der 
Vita  secunda  III,  11  und  15;  ich  finde  —  im  Gegensatz 
zu  Sabatier  und  Minocchi  —  keinen  irgendwie  sicheren  An- 
haltspunkt für  Feststellung  der  Priorität. 

Kapitel  16  ist  beglaubigt  durch  ein  „Nos  qui  cum  eo 
fuimus''  und  durch  seinen  Inhalt,  der  eine  tendenziöse  Er- 
findung ausschliefst;  er  ist  anderseits  nicht  so  wichtig,  dafs 
die  Vita  secunda  ihn  hätte  aufnehmen  müssen. 

Kapitel  17  erzählt  in  schlichter  Weise  den  Neid  des 
Heiligen,  wenn  er  einen  Armeren  traf.  Vita  secunda  III,  28 
enthält  dasselbe,  aber  erweitert  mit  erbaulichen  und  rhetori- 
schen Zusätzen.  Das  Gefühl  entscheidet  sich  dafür,  dafs  hier 
die  schlichtere  Erzählung  die  ursprüngliche  sein  mufs,  ob- 
wohl natürlich  der  schematische  Kritiker  sagen  könnte,  die 
kürzere  Erzählung  müsse  ein  Auszug  der  breiteren  sein.  Aber 
es  scheint  nicht  wohl  mögfich,  dafs  aus  einer  rhetorischen 
Erzählung  eine  so  schlichte  hergestellt  werden  konnte;  die 
Priorität  liegt  hier  wohl  einwandfrei  auf  selten  des  Öpeculum 
Perfectionis ;  Celano  wenigstens  hat,  wo  er  gegenüber  dem 
Speculum  Perfectionis  kürzt,  es  nie  zu  so  einfachen  Worten 
gebracht.^. 

Umgekehrt  liegt  der  Fall  bei  Kapitel  18.  Die  Vita  se- 
cunda III,  20  hat  inhaltlich  das  gleiche,  aber  kürzer  als  das 
Speculum  Perfectionis ;  dieses  erweitert,  nicht  wie  Celano  mit 
Rhetorik,    sondern   mit  tatsächlichen  Zusätzen,    unter   denen 

1)  Sabatier,  Speculum  Perf.,  S.  29,  Anm    1. 

2)  Anders  Minocchi,  Nuovi  Studi,  S.  117,  der  gerade  hier  den 
Stü  beeinflufst  findet  von  der  Rhetorik  Celanos. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    169 

besonders  der  Sclilufs  des  Kapitels  —  die  Rückkehr  der 
Jünger  mit  ihren  Almosen  zu  Franz  —  den  Eindruck 
einer  ursprünglichen  Aufzeichnung  macht.  Trotz  seiner 
kürzeren  Fassung  ist  Celano  auch  hier  wohl  eher  Ableitung 
als  Vorlage ;  im  Speculura  Perfectionis  sagt  Franz :  „  Dominus 
pro  nobis  se  fecit  pauperem'^,  bei  Celano:  ;,Dei  filius  nobilior 
nobis  erat,  qui  pro  nobis  se  fecit  pauperem"  —  aus  dem 
einfachen  Text  das  Wortspiel  zu  machen,  war  wohl  eher 
möglich  als  das  Umgekehrte.  Ich  glaube  deshalb  auch  diesem 
Kapitel  des  Speculum  Perfectionis  Authentizität  und  Priorität 
zusprechen  zu  dürfen. 

Kapitel  19  ist  eine  Ergänzung  zu  Kapitel  18;  nicht  allzu 
wichtig,  so  dafs  Celano  es  übergehen  konnte;  für  eine  spätere 
Erfindung  mit  tendenziöser  Absicht  zu  harmlos. 

Kapitel  20  korrespondiert  mit  Vita  secunda  III,  7,  aber 
die  Texte  haben  neben  zahlreichen  wörtlichen  Berührungen 
auch  so  grofse  Unterschiede,  dafs  keiner  direkt  aus  dem  andern 
geschöpft  haben  kann.  Die  Szene  spielt  im  Speculum  Per- 
fectionis in  Rieti  und  zu  Weihnachten,  in  der  Vita  secunda 
zu  Greccio  und  zu  Ostern ;  im  Speculum  Perfectionis  ist  ein 
Provinzialminister  zugegen.  Warum  hätte  Celano  von  einem 
authentischen  Berichte  abweichen  sollen?  Weil  dafür  mit 
Rücksicht  auf  die  Art  der  Unterschiede  kein  Grund  sichtbar 
ist,  so  erscheint  mir  dieses  Kapitel  jedenfalls  nicht  die  ur- 
sprüngliche Überlieferung  zu  sein  —  der  Bericht  der  Vita 
secunda  ist  hier  (wie  in  jedem  derartigen  Falle!)  zunächst 
vorzuziehen.  Der  Kompilator  von  1318  hat  also  hier  mög- 
licherweise aus  anderer  Überlieferung  geschöpft;  Geschichten 
dieser  Art  waren  ja  genug  in  mancherlei  Form  im  Umlauf, 
wie  die  Actus  und  die  Fioretti  zeigen.  Mit  dem  Bericht  der 
Actus  b,  Francisci  in  valle  Reatina  stimmt  das  Speculum  Per- 
fectionis in  den  Punkten  überein,  in  denen  die  Vita  secunda 
abweicht  '. 

Kapitel  21   steht  mit  stark  übereinstimmendem  Wortlaut 

1)  Sabatior,  Sprc.  Poif.,  S.  42  .\nni.  —  Mit  Sabatiors  Scblufs- 
folgeruiif^eii  S.  41  Aum.  1  kann  ich  inicli  uicht  oinveistaiulon  erklären; 
das  Spec.  Perf.  kann  hier  nicht  die  Vorlage  der  Vita  sec.  sein,  sondern 
die  gemeinsame  Urquelle  fohlt  uns  bisher. 


170  GOETZ, 

in  der  Vita  secunda  III,  9,  nur  dafs  hier  der  Erzählung  ein 
Satz  vorangeht,  der  im  Speculum  Perfectionis  Kapitel  5  steht. 
Sollte  der  Kompilator  des  Speculum  Perfectionis  wirklich 
etwas  getrennt  haben ,  was  er  in  der  Vita  secunda  in  sach- 
gemäfser  Verbindung  gefunden  hatte?  Es  liegt  näher,  an- 
zunehmen, dafs  Celano  den  nicht  allzu  genau  geordneten 
Stoff  in  gute  Ordnung  brachte.  Aber  während  Celano  nur 
vom  „Dominus  Ostiensis"  spricht,  setzt  das  Speculum  Per- 
fectionis hinzu:  „qui  fuit  postea  papa  Gregorius";  dieser  Zu- 
satz verrät  die  erläuternde  Arbeit  des  Kompilators  —  ein 
neuer  Beweis,  dafs  diese  Texte  alle  irgendwie  überarbeitet 
sein  können,  genau  so  wie  auch  Celano  seine  Vorlagen  überall 
stihstisch  und  erbaulich  überarbeitete. 

Kapitel  22  berührt  sich  in  der  ersten  Hälfte  mit  dem  23., 
im  letzten  Viertel  mit  dem  18.  Kapitel  der  Vita  secunda; 
dazwischen  ist  noch  ein  Ausspruch  des  Heiligen  mit  einigen 
Bemerkungen  eingeschoben.  Das  Kapitel  enthält  am  Schlüsse 
die  Worte:  „Qui  scripsit  haec,  vidit  hoc  multoties  et  testi- 
monium  perhibet  de  hiis.^'  Liegt  ein  Grund  für  eine  Fäl- 
schung vor?  Ich  glaube  nicht;  denn  was  der  Verfasser 
selber  oft  gesehen  haben  will,  war  keine  unbekannte  Tat- 
sache, mit  der  man  Gegner  bekämpfen  wollte  —  die  Vita 
secunda  hat  ja  doch  genau  dasselbe.  Deshalb  ist  der  Schlufs- 
satz  glaubhaft  und  damit  auch  die  Priorität  der  Erzählung. 
Die  Vita  secunda  erzählt  beide  Szenen  etwas  kürzer,  auch 
mit  kleinen  Unterschieden ;  es  bleibe  auch  hier  dahingestellt, 
ob  sie  ein  direkter  Auszug  aus  dem  im  Speculum  Perfectionis 
gegebenen  Texte  ist  oder  ob  auch  der  Kompilator  von  1318 
seine  Vorlage  noch  etwas  ausbaute  ^. 

Kapitel  23  ist  umfangreicher  als  die  gleiche  Erzählung 
der  Vita  secunda  HI,  19.  Der  „Dominus  Ostiensis"  hat 
auch  hier  wieder  den  Zusatz:  „qui  postea  fuit  papa  Gre- 
gorius",  während  die  Vita  secunda  vom  „Papa  Gregorius 
adhuc  in  minori  officio  constitutus"  spricht.  Gegen  die 
Priorität    des   Speculum  Perfectionis    könnte    noch    sprechen, 


1)  Aus  den  Ortsbestimmungen  ist  nichts  zu  schliefsen ;  beide  Texte 
haben  je  eine  Ortsbestimmung  für  sich,  die  dem  andern  fehlt. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FUANZ  VON  ASSIST.    171 

dafs  es  die  gewechselten  Reden  in  allzu  langem  Wortlaut 
gibt  —  wer  konnte  so  ausführlich  über  Gespräche  berichten, 
die  unter  vier  Augen  vor  sich  gegangen  waren?  Solche 
längere  Fassung  gibt  Anlafs  zu  Verdacht  —  mag  die  Vita 
secunda  sonst  auch  noch  so  sehr  den  Eindruck  des  Auszugs 
machen.  So  möchte  ich  auch  hier  im  besten  Falle  annehmen, 
dafs  die  Vorlage  der  Vita  secunda  im  Speculum  Perfectionis 
in  einer  überarbeiteten  Form  vorliegt. 

Bei  Kapitel  24  läfst  sich  die  Priorität  gegenüber  der 
gleichen  Erzählung  in  Vita  secunda  III,  21  wohl  behaupten. 
Denn  die  Vita  secunda  läfst  den  Vorfall  sich  abspielen  „in 
quodam  loco";  das  Speculum  Perfectionis  aber  sagt:  „in 
primordio  religionis,  quum  fratres  manerent  apud  Rigum 
Tortum  prope  Assisium."  Es  ist  oben  bereits  erörtert  worden, 
was  für  eine  Bedeutung  die  Erwähnung  Rivotortos  hat  ^  — 
es  kommt  in  der  späteren  Literatur  nicht  mehr  vor.  Des- 
halb mufs  diese  Stelle  des  Speculum  Perfectionis  in  eine  Zeit 
zurückgehen ,  wo  Rivotorto  noch  in  deutlicher  Erinnerung 
war  —  die  Entstehungszeit  der  Vita  secunda  ist  dafür  bereits 
ein  später  Termin.  Ich  möchte  daher  in  diesem  Kapitel  des 
Speculum  Perfectionis  einen  vor  der  Vita  secunda  liegenden 
Text  erkennen  ^. 

Kapitel  25  hat  Sabatier  für  älter  als  das  entsprechende 
der  Vita  secunda  (III,  22)  erklärt,  weil  der  „frater"  der 
Vita  secunda  im  Speculum  Perfectionis  noch  ein  „pauper 
spiritualis"  sei  —  darin  spüre  man  die  älteste  Form  der 
Bewegung,  wo  jeder  Arme  ein  Minderbruder  gewesen  sei. 
Ob  man  so  weitgehende  Deutung  daran  knüpfen  darf,  er- 
scheint zweifelhaft  ^;  aber  auch  wenn  der  „pauper  spiritualis" 
im  Speculum  Perfectionis  nichts  anderes  ist  als  ein  zufälliger 
Ausdruck  für  einen  bettelnden  Bruder,  so  kann  man  die 
Priorität  des  Speculum  Perfectionis   auch  dann  noch  daraus 


1)  S.  oben  S.  73  f. 

2)  Dafs  Celano  den  Text  des  Spec.  Perf.  retuschiert  habe,  wie  Sa- 
batier, Op.  de  crit.  hist.  III,  S.  74  Anni.  2  sagt,  darf  jedenfalls  nur 
für  die  äufsere  Form,  nicht  für  den  Inhalt  gelten. 

3)  Z.  B.  ist  Spec.  Perf.  c.  28  von  einem  „fratcr  spiritualis" 
die  Rede. 


172  GOETZ, 

folgern.  Denn  dieser  Ausdruck  war  jedenfalls  nicht  klar 
gewählt;  die  Vita  secunda  verbessert  ihn  in  das  für  jeder- 
mann verständliche  „frater".  Der  umgekehrte  Vorgang  ist 
nicht  denkbar. 

Kapitel  26  ist  als  von  Bruder  Leo  stammend  bei  Uber- 
tino  zitiert.  Es  sei  deshalb  angenommen,  der  Text  gehe 
irgendwie  auf  Leo  zurück.  Dann  lassen  sich  einige  Be- 
merkungen über  die  Art  der  Aufzeichnungen  Leos  nicht 
unterdrücken:  sie  räumen  hier  dem  Wunder  einen  Spiel- 
raum ein,  den  es  in  der  Vita  prima  noch  nicht  gehabt  hatte  — 
auch  sie  repräsentieren  also  bereits  die  Entwicklung 
der  Überlieferung.  Denn  in  der  Vita  prima  I,  15  heifst  es, 
dafs  Franz,  an  eine  Stelle  der  ersten  Regel  anknüpfend,  der 
Bruderschaft  den  Namen  Ordo  Minorum  gegeben  habe.  Hier 
jedoch  gibt  Franz  den  Namen  infolge  göttlicher  Eingebung. 
Eine  andere  Stelle  dieses  Kapitels  verursacht  Zweifel:  es 
heifst,  dafs  Innocenz  IlL  die  erste  Regel  „approbavit  et 
concessit  et  postea  in  consistorio  omnibus  nuntiavit".  Da- 
von sagt  Celano  weder  in  der  ersten  noch  in  der  zweiten 
Vita  etwas,  obwohl  er  es  doch  bei  den  Ergänzungen,  die  er 
in  der  Vita  secunda  gab,  hätte  verwenden  sollen ;  auch  Bona- 
ventura weifs  nichts  von  einer  Verkündigung  im  Konsistorium. 

Das  ganze  Kapitel  ist  nicht  recht  homogen ;  es  ist  der 
Kapitelreihe  „De  perfectione  paupertatis'^  angefügt,  handelt 
aber  von  dem  Namen  der  Gemeinschaft  und  dann,  ohne 
logische  Verbindung,  von  dem  Grufse  „Dominus  det  tibi 
pacem"  und  der  Aufnahme,  die  er  fand.  Es  ist  nicht  zu 
leugnen,  dafs  diesem  Kapitel  gegenüber  ein  Zweifel  an  den 
Zitaten  Ubertinos  nur  mit  Mühe  zu  widerlegen  ist;  es 
macht  den  Eindruck  der  Kompilation  und  späten  Überliefe- 
rung ^      Die    schwache    Berührung    mit    1.  Gel.   I,   15    und 

1)  Die  frühe  Entstehung  des  Kapitels  wird  dadurch  nicht  gestützt, 
dafs  Lern  mens  es  sowohl  in  seinen  „Scripta  fr.  Leonis"  wie  in  der 
„Redactio  prima"  des  Spec.  Perf.  bringt.  Wohl  aber  läfst  sich  an 
diesem  Kapitel  zeigen,  wie  es  mit  diesen  beiden  Zusammenstellungen  be- 
schaffen ist.  In  den  „Scripta"  steht  das  Kapitel,  aber  mit  einer  Aus- 
lassung (S.  52  Z.  9  bis  S.  .53  Z.  6  des  Sabatierschen  Textes);  die  „Re- 
dactio prima"  enthält  das  ganze  Kapitel.  Dafs  die  Auslassung  in  den 
„Scripta"   auf  Kosten  der  Zusaramensteller   des   Codex  S.    Isidori  zu 


QUELLEN  zun  GESCHICHTE  DES  HL.  FRAiiZ  VON  ASSISL    173 

2.  Gel.  III,  1 7  gibt  keine  Möglichkeit  zu  irgendwelchen  Folge- 
rungen; die  iSpeculum  -  Erzählung  kann  daraus  entwickelt 
sein,  aber  es  wäre  ein  unbeweisbarer  iSchlufs,  die  Priorität 
für  die  Vita  secunda  oder  das  Speculum  Perfectionis  in  An- 
spruch zu  nehmen. 

Bei  Kapitel  2l  halte  ich  dagegen  den  Nachweis  der 
Priorität  des  Speculum  Perfectionis  für  möglich  ^.  Die  Vita 
secunda  gibt  dasselbe  (III,  15  und  14)  in  weit  kürzerer 
Fassung.  Obwohl  man  nun  —  um  die  Hinfälligkeit  solcher 
Gründe  von  neuem  zu  betonen  —  die  kürzere  Fassung  ebenso- 
wohl tür  den  Auszug  wie  für  die  Vorlage  der  Erweiterung 
erklären  könnte,  spricht  einiges  in  der  Fassung  des  Speculum 
Perfectionis  für  den  alten  Ursprung  dieser  Nachrichten.  Das 
Kapitel  setzt  nämlich  den  Vorgang  (wie  sich  Franz  eines 
hungernden  Bruders  annimmt)  in  die  Zeit,  „quum  b.  Fran- 
ciscus  coepit  habere  fratres  et  maueret  cum  eis  apud  Rigum- 
tortum  prope  Assisium";  es  berichtet  ferner,  wie  gerade  in 
der  ältesten  Zeit  von  den  Brüdern  die  Askese  übertrieben 
wurde,  und  es  fügt  mit  der  Berufung  auf  „nos  qui  cum  eo 
fuimus"  hinzu,  dafs  Franz  bei  den  Brüdern  nur  eine  mafs- 
volie  Askese  wünschte,  an  sich  selber  aber  die  strengste  ver- 
wirklichte, weil  er  das  Vorbild  für  alle  Brüder  sein  müsse. 
Es  trifft  hier  von  neuem  zu,  dafs  die  Erwähnung  von  Rivo- 
torto  in  späterer  Zeit  nicht  zu  erklären  wäre  - ;  für  die  Ver- 
legung der  Szene  in  die  Zeit,  als  Franz  erst  Brüder  zu  haben 
begann,  läfst  sich  ein  aus  Tendenz  geborener  Grund  nicht 
wohl  entdecken ,  und  ebenso  hätte  eine  tendenziöse  Kom- 
pilation den  letzten  Teil  des  Kapitels  anders  gestaltet,  denn 
aus  dieser  Fassung  konnte  jeder  Anhänger  der  laxen  Rich- 
tung folgern,  dafs  er  sich  in  Askese  nicht  zu  übernehmen 
brauche.    So  bestätigt  der  Inhalt,  dafs  er  aus  wahrer  Kenntnis 


setzen  ist,  zeijrt  der  beibehaltene  Scblnfssatz  des  Specnluni-Kapitels:  er 
gehört  zu  dem  Ausgelassenen  hinzu  und  ist  im  Anschiufs  an  die  Worte 
„et  postea  in  consistoiio  omnibus  nuntiavit"  völlig  sinnlos.  Es  ist 
schon  um  dieser  einen  Stelle  willen  unmöglich,  im  Codex  S.  Isidori 
einen  originalen  Text  zu  erkennen. 

1)  Vgl.  Min oc Chi,  Nuovi  Studi,  S.  42  Anm.  1. 

2)  S.  oben  S.  73  f.,  171. 


174  GOETZ, 

der  ältesten  Zeit  geschrieben  ist.  Aber  dafs  dieses  Kapitel 
mit  jedem  einzelnen  Wort  auf  Leo  zurückgehe  ^  läfst  sich 
natürlich  trotzdem  nicht  beweisen.  Die  Anrede  Franzens 
an  die  Brüder  nach  der  Mahlzeit  mit  dem  Hungernden  kann 
nicht  authentisch  sein,  denn  in  der  ältesten  Zeit,  als  noch 
keiner  die  künftige  Bedeutung  Franzens  zu  erkennen  ver- 
mochte, hat  sicherlich  keiner  der  Brüder  die  lange  Rede  auf- 
gezeichnet. Hat  es  Leo  später  getan,  so  mufste  er  sinn- 
gemäfs  erfinden  —  dann  käme  man  wieder  in  die  Notwendig- 
keit, auch  Leo  nicht  unbedingte  Authentizität  zuzuerkennen; 
oder  es  bleibt  die  Möglichkeit,  dafs  die  auf  Leo  fufsende  Über- 
lieferung mit  der  Zeit  weiter  ausgebaut  ist.  —  Der  Bericht 
der  Vita  secunda  mufs  unter  diesen  Umständen  als  ein  Aus- 
zug betrachtet  werden:  dafs  Celano  Rivotorto  nicht  erwähnte, 
hatte  sowohl  in  dem  Streben  nach  Kürze  wie  in  der  Zweck- 
losigkeit  dieser  Erwähnung  seinen  Grund,  und  selbst  für  die 
allzu  wesenlos  kurze  Umgestaltung  der  zweiten  Hälfte  des 
Speculumkapitels  zu  Vita  secunda  I,  14  läfst  sich  wohl  in 
der  ganzen  Art  Celanos,  der  immer  nach  glatter  und  gleifsen- 
der  Form  strebt,  genügende  Erklärung  finden.  Fast  genau 
dieselben  Gründe  lassen  sich  für  die  Priorität  des  28.  Kapitels 
anführen,  so  dafs  die  nähere  Prüfung  unterbleiben  kann. 

Kapitel  29  stimmt  fast  wörtlich  mit  der  Vita  secunda 
in,  30;  aber  diese  hat  noch  zwei  Zusätze:  Franz  habe  zur 
Zeit  dieser  Episode  beim  Bischof  von  Celano  gewohnt  und 
ein  Freund  aus  Tivoli  habe  ihm  einen  Mantel  geschenkt. 
Man  darf  diese  Zusätze  darauf  zurückführen,  dafs  es  sich 
um  die  Heimat  des  Verfassers  der  Vita  secunda  handelt;  der 
Text  des  Speculum  Perfectionis  erscheint  aber  dadurch,  dafs 
er  die  Zusätze  nicht  hat,  als  der  frühere;  denn  es  wird  im 
Speculum  Perfectionis  nicht  so  mit  dem  Raum  gegeizt,  dafs 
diese  kleinen  Erweiterungen  hätten  gestrichen  werden  müssen. 
Celano  spricht  bei  der  Erzählung  im  Präsens,  das  Speculum 
Perfectionis  im  Perfekt:  auch  darin  kann  man  wohl  erkennen, 
dafs  Celano  seine  Vorlage  wirkungsvoller  zu  gestalten  strebte. 

Zu  Kapitel  30 — 32 ,  die  fast  wörtlich  mit  Vita  secunda 
IH,  31 — 33  übereinstimmen,  läfst  sich  nichts  irgendwie  Ent- 
scheidendes bemerken;    der   von  Sabatier   behauptete  Unter- 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    175 

schied  im  Schlufssatz  von  Kapitel  31  gegenüber  Vita  secunda 
III,  32  scheint  mir  nicht  vorhanden  zu  sein:  Celano  meinte 
dasselbe,  drückte  sich  aber  kürzer  aus  ^ 

Kapitel  33  hat  in  seinem  letzten  Teil  das  „Nos  qui  cum 
eo  fuimus"  als  Beglaubigung.  Aber  gerade  dieser  Absatz 
fehlt  in  der  Vita  secunda  III,  36,  die  sonst  mit  kleinen  Ab- 
weichungen die  gleiche  Erzählung  bringt.  Dafs  in  der  Vita 
secunda  noch  Franzens  Aufenthalt  im  Bischofspalast  zu  Assisi 
und  ferner  eine  Gegenrede  des  Guardians,  der  den  Mantel 
nicht  gleich  geben  will,  eingefügt  ist,  spricht  zugunsten  der 
Priorität  des  Speculum  Perfectionis.  Warum  aber  fehlt  der 
letzte  Absatz  des  Speculum  Perfectionis  in  der  Vita  secunda? 
Mufs  sich  nicht  doch  die  mifstrauische  Frage  erheben,  ob 
nicht  dieser  Zusatz  auf  den  Kompilator  zurückgehe?  Der 
Inhalt  des  Absatzes  spricht  nicht  dafür;  denn  er  berichtet 
nur  im  allgemeinen  von  der  Fürsorge  Franzens  für  Kranke 
und  Gesunde:  er  habe  so  oft  das  Notwendige  verschenkt, 
dafs  Generalminister  und  Guardian  ihm  verboten,  ohne  ihre 
Erlaubnis  seine  Tunika  zu  vergeben.  Eine  Tendenz  liegt 
so  wenig  in  diesen  Sätzen,  dafs  der  Zweck  einer  Fälschung 
nicht  verständlich  wäre.  Eher  könnte  man  sagen,  dafs  Celano 
diesen  Absatz  wegliefs,  weil  er  am  Beginn  von  III,  28  bereits 
eine  zusammenfassende  Bemerkung  über  Franzens  Gesinnung 
gemacht  hatte.  Dafs  die  Erwähnung  eines  Generalministers 
im  Speculum  Perfectionis  für  Überarbeitung  spricht,  wird  bei 
Kap.  38  näher  erörtert  werden. 

Bei  Kapitel  34  lassen  sich  aus  der  Berührung  mit  Vita 
secunda  III,  114  wohl  kaum  bestimmte  Schlüsse  ziehen. 
Aber  es  folgt  wieder  im  Speculum  Perfectionis  ein  längerer 
Zusatz  über  Franzens  Tunika,  der  in  der  Vita  secunda  fehlt. 
Der  Inhalt  ist  harmlos,  doch  bringt  er  Einzelheiten  über 
Franzens  letzte  Tage  und  wie  man  ihm  da  mehrere  Tuniken 
verschaffte :  das  mufs  auf  Tatsachen  und  Augenzeugen  zurück- 
gehen, und  ein  Grund  für  die  Erfindung  dieser  Nachrichten 
wäre  schwerlich  festzustellen. 

Man  wird  bei  Kapitel  35  dazu  neigen,    es    für  die  Vor- 

1)  Sabaticr,  Öpec.  Pdf.,  S.  GO  Auiii.   1. 


176  GOETZ, 

läge  von  Vita  secunda  III,   125  anzusehen;  aber  ein  Beweis 
dafür  ist  nicht  zu  geben. 

Kapitel  36  trägt  infolge  der  Erwähnung  von  Rivotorto 
das  Kennzeichen  alter  Überlieferung  an  sich  ^  Aber  die 
Frage  wird  dadurch  erschwert,  dafs  dieses  in  der  Vita  se- 
cunda fehlende  Kapitel  mit  gewissen  Änderungen  in  der  Vita 
Aegidii  steht.  Man  führt  diese  Vita  gemäfs  der  Angabe 
Salimbenes  auf  Bruder  Leo  zurück ;  wie  ist  es  möglich,  dafs 
Leo  selber  Verschiedenes  niederschrieb?  ^  Im  Speculum  Per- 
fectionis  spielt  sich  die  Szene  in  Rivotorto  ab,  in  der  Vita 
Aegidii  auf  dem  Wege  nach  Assisi ;  im  Speculum  Perfectionis 
ist  der  Bettelnde  ein  „pauper  quidam",  in  der  Vita  „quae- 
dam  rauher  paupercula";  im  Speculum  Perfectionis  fallen 
Ankunft  des  Agidius  und  Erscheinen  des  Bettelnden  auf  ver- 
schiedene Tage,  in  der  Vita  auf  einen  Tag.  —  Es  wurde 
bereits  der  Zweifel  gedacht,  die  sich  gegen  die  uns  über- 
lieferte Form  der  Vita  Aegidii  erheben  (oben  S.  119);  und 
an  diesem  Punkte  ist  wohl  der  Nachweis  unschwer  zu  führen, 
dafs  die  Nichtübereinstimmung  mit  dem  Speculum  Perfectionis 
auf  das  Schuldkonto  der  Vita  Aegidii  zu  setzen  ist:  sie  raufs 
eine  Erweiterung  älterer  Überlieferung  sein.  Sie  spinnt  die 
ganze  Szene  aufs  breiteste  aus:  die  Erzählung  ist  dreimal  so 
lang  wie  im  Speculum  Perfectionis.  Für  Rivotorto  ist  ge- 
setzt „in  quodam  tugurio  derelicto"  —  man  mufs  an  die 
Haltung  der  Vita  prima  und  secunda  Celanos  denken:  jene 
kennt  noch  Rivotorto,  diese  spricht  nur  noch  von  „quodam 
loco"  ^.  Das  Speculum  Perfectionis  spricht  von  den  „duobus 
sociis  quos  tantum  tunc  habebat";  die  Vita  fügt  die  Namen 
bei,  und  sie  verrät  dadurch,  dafs  sie  den  Petrus  der  ältesten 
Überlieferung   zum    Petrus   Cataneus   macht,   das   Bestreben 


1)  Vgl.  oben  S.  73,  171  und  173. 

2)  Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  265  hält  die  beiden  Berichte  für 
völlig  übereinstimmend;  Lemmens,  Scripta  fr.  Leonis,  S.  17  hat  mit 
Kecht  auf  die  Unterschiede  hingewiesen,  die  nicht  für  einen  Verfasser 
sprechen.  —  Der  in  Frage  kommende  Text  der  Vita  Aegidii  bei  Sa- 
batier, Spec.  Perf.,  S.  265  und  Anal.  Franc.  III,  S.  75. 

3)  S.  oben  S.  74  Anm.  1. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    177 

der  Späteren,  unbekannt  gebliebene  Persönlichkeiten  der 
ältesten  Zeit  mit  bekannteren  zu  identifizieren  '. 

Kapitel  37  lokalisiert  im  Gegensatz  zu  der  parallelen  Er- 
zählung 2.  Celano  III,  29  das  Ereignis  und  erzählt,  von 
einer  Stelle  abgesehen,  etwas  ausführlicher.  Diese  Erzählung 
steht  um  ein  wenig  gekürzt  bereits  bei  1.  Celano  I,  28  — 
eines  der  wenigen  Beispiele,  wo  die  Vita  secunda  etwas  aus 
der  Vita  prima  ohne  sichtbaren  Zweck  wiederholt.  Alle  Er- 
weiterungen der  Erzählung  sind  nun  der  Vita  secunda  und 
dem  Speculum  Perfectionis  gemeinsam,  nur  dafs  das  Speculum 
Perfectionis  die  weitschweifigste  der  drei  Erzählungen  ist. 
Aber  es  ist  trotzdem  nicht  möglich  mit  Sicherheit  zu  sagen, 
dafs  die  Entstehungsfolge  sei:  1.  Celano,  2.  Celano,  Speculum 
Perfectionis;  die  Wahrscheinhchkeit  spricht  freihch  dafür. 

Kapitel  38  steht  in  gedrängterer  Form  bei  2.  Celano  III,  35. 
Nach  dem  Schlufssatz  möchte  man  annehmen,  dafs  im  Spe- 
culum Perfectionis  die  ältere  Überlieferung  vorliege:  „Unde 
nobis  qui  cum  eo  fuimus  .  .  .  quae  oculis  nostris  vidimus 
longum  esset  et  valde  difficile  scribere  vel  narrare."  Ander- 
seits weist  die  Erzählung  Celanos  bei  gröfstenteils  wörtlicher 
Übereinstimmung  Züge  der  Priorität  auf;  Petrus  Cathaneus 
wird  vicarius  des  Heiligen  genannt,  während  es  im  Speculum 
Perfectionis  heifst:  „qui  erat  tunc  generalis  minister";  auch 
wird  im  Speculum  Perfectionis  die  Szene  als  bei  der  Portiun- 
•cula  geschehen  lokalisiert;  2.  Celano  sagt  von  dem  ver- 
schenkten Neuen  Testament,  es  sei  das  erste  gewesen,  das 
man  im  Orden  besafs.  Nur  die  Erwähnung  des  Petrus 
Cathaneus  als  Generalminister  ist  ein  stichhaltiger  Beweis, 
dafs  die  Erzählung  des  Speculum  Perfectionis  ihre  jetzige 
Fassung  später  als  die  Vita  secunda  erhielt.  Denn  einmal 
hätte  die  Vita  secunda  aus  einem  ihr  überlieferten  minister 
generahs  schwerlich  die  geringere  Würde  eines  vicarius  ge- 
macht, und  anderseits  bietet  die  Vita  secunda  den  einheit- 
lichen  Beweis,   dafs    Petrus   Cathaneus    auch   nach   der  Re- 


l)  Die  Vita  prima  I,  22  nennt  den  Namen  des  dritten  Jüngers  (der 
später  dann  als  zweiter  angesehen  wurde)  nicht,  sicherlii-h  weil  er  zu 
keiner  Bedeutung  im  Orden  gelangt  war.     Vgl.  oben  S.   IIG. 

12 


178  GOETZ, 

signation  des  Heiligen  nur  als  sein  Stellvertreter,  vicarius, 
nicht  als  Generalminister  betrachtet  wurde;  denn  nirgends 
spricht  sie  —  weder  bei  Petrus  noch  bei  seinem  Nachfolger 
Elias  —  von  einem  minister  generalis,  sondern  stets  nur  vom 
vicarius  sancti.  So  ist  auch  im  nächsten  Kapitel  des  Spe- 
culum  Perfectionis  (39)  der  Rücktritt  des  Heiligen  von  der 
Leitung  des  Ordens  behandelt:  es  wird  kein  neuer  General- 
minister gewählt,  sondern  Franz  befiehlt  aus  eigener  Macht- 
vollkommenheit, dafs  die  Brüder  künftig  dem  Petrus  Catha- 
neus  gehorchen.  Genau  so  schildert  auch  2.  Celano  IH,  81 
den  Vorgang.  Die  Bemerkung  der  Chronik  der  24  Ordens- 
generale, dafs  EHas  sowohl  von  Franz  wie  von  vielen  Brüdern 
Generalminister  genannt  worden  sei,  obwohl  er  bei  Lebzeiten 
des  Heiligen  es  tatsächlich  nicht  gewesen  ^,  findet  in  den 
ältesten  Quellen  keinen  Beleg;  die  Vita  prima  wie  secunda 
sprechen  nur  von  dem  vicarius-,  ebenso  Jordanus  a  Jano: 
Bonaventura  erwähnt  den  Elias  nicht.  Allein  in  dem 
Schreiben  des  Heiligen  an  Elias  (s.  oben  S.  33)  wird  dieser  mit 
„minister",  aber  nicht  Generalminister,  angeredet  (die  spätere 
Überschrift  des  Briefes  kommt  natürlich  nicht  in  Betracht). 
Sollte  es  deshalb  nicht  doch  vielleicht  ein  Zeichen  der  Überarbei- 
tung sein,  wenn  im  Speculum  Perfectionis  wiederholt  (Kap.  4. 
33.  38.  46.  55.  58.  102.  115 ;  nur  in  Kap.  1  heifst  Elias  vicarius) 
von  einem  Generalminister  zu  Lebzeiten  des  Heiligen  ge- 
sprochen wird?  Später  mögen  diese  kleinen  Unterschiede 
verwischt  worden  sein.  Der  alte  Kern  des  vorliegenden  Ka- 
pitels erscheint  trotzdem  durch  das  „Nos  qui  cum  eo  fuimus" 
verbürgt,  weil  auch  hier  kein  irgendwie  tendenziöser  Grund 
für  das  Heranziehen  einer  solchen  Beglaubigung  vorliegt  ^. 

Kapitel  39  und  40  stimmen  fast  wortgetreu  mit  2.  Celano 
lU,  81  und  82  überein;  zur  Feststellung  der  Priorität  sehe 
ich  keinen  Anhaltspunkt.  —  Karl  Müller  hat  den  Inhalt  von 
2.  Celano  HI,  81  für  unwahr  angesehen;  ich  selber  habe  an 


1)  Speculum  Perf.,  S.  10  Anm.  1. 

2)  Vita  prima  II,  4  sagt  aufserdem:  „Hellas,   quem   .  .  .   aliorum 
fratrum  feceiat  pater". 

3)  Minocchi,  Nuovi  Studi,   S.  115,    nimmt  Priorität  des   Spec. 
Perf.  gegenüber  2.  Celano  an. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    179 

anderer  Stelle  auf  die  vorliegende  Schwierigkeit  hingewiesen, 
da  der  darin  erwähnte  Verzicht  auf  das  Generalministeramt 
„paucis  annis  elapsis  post  conversionem"  geschehen  sein  soll  ^ 
Da  an  der  Tatsache  der  Amtsniederlegung  doch  nicht  ge- 
zweifelt werden  kann  und  nur  das  Datum  strittig  ist,  so  ist 
es  wohl  eher  nötig,  das  Wort  „paucis"  für  verderbt  anzu- 
sehen, als  um  des  Datums  willen  an  der  ganzen  Erzählung 
zu  zweifeln.  Freilich  haben  Vita  secunda  wie  Speculum 
Perfectionis  dasselbe  „paucis",  und  man  könnte  daraus 
schliefsen,  dafs  der  spätere  Kompilator  wohl  einen  Irrtum 
Celanos  gläubig  nachschrieb,  nicht  aber  Celano  einen  —  kaum 
denkbaren  —  Irrtum  seiner  Vorlage.  Dafs  in  der  Vita  se- 
cunda die  im  Speculum  Perfectionis  Kap.  41  nachfolgende  Er- 
zählung (Anklage  gegen  die  malos  praelatos)  abgetrennt  und 
an  einen  entfernten  Platz  gewiesen  ist  (III,  118),  spricht 
ebenfalls  für  die  Möglichkeit  der  Priorität  der  Vita  secunda  ^. 
Aber  der  Vergleich  der  beiden  Kapitel  erweist  doch  wohl 
die  Priorität  des  Speculum  Perfectionis:  2.  Celano  hat  noch 
eine  Anklage  mehr  als  das  sonst  fast  wörthch  überein- 
stimmende Speculum  Perfectionis;  hatte  dieses  eine  spiritua- 
listische  Tendenz  —  warum  liefs  es  sich  derartiges  entgehen? 
Hier  ergibt  sich  der  Schlufs,  dafs  Celano  seine  Vorlage  aus 
andern  Mitteilungen  erweiterte;  auf  den  Bearbeiter  des  Spe- 
culum Perfectionis  fällt  nur,  dafs  er  dieses  Kapitel  mit  den 
vorangehenden  zusammenstellte  und  dadurch  die  Zeitbestim- 
mung der  Vorgänge  verwirrte  ^ ;  aber  dafs  er  nach  2.  Celano 
gearbeitet  habe,  scheint  ausgeschlossen  ^. 

Kapitel  42  =  2.  Celano  111,  110.  Während  die  etwas 
längere  Einleitung  bei  Celano  auf  Benutzung  und  Erweite- 
rung der  Erzählung  des  Speculum  Perfectionis  hinweisen 
könnte,  spricht  doch  auch  hier  ein  Moment  für  spätere  Über- 
arbeitung der  gemeinsamen  Vorlage  im  Speculum  Perfectionis. 


1)  K.  Müller,   Anfiinp;e,   S.  181.  —  Vgl.   Ilist.  Viortcljalusschiift 
1903,  S.  40  f. 

2)  Vgl.  dazu  Hist.  Vierteljahrsschrift  1903,  S.  41. 

3)  El)(l.  S.  41. 

4)  Minocchi,  Nuovi  Studi,  S.  114  hält   die  Priorität  Celanos  für 
gesichert. 

12* 


180  GOETZ, 

Celano  zitiert  eine  längere  Stelle,  die  „in  quadam  regula" 
stehe;  das  Speculum  Perfectionis  setzt  dafür:  „in  prima 
regula".  Aber  „quadam"  mufs  die  ursprüngliche  Lesart 
sein ;  der  Ausdruck  entstammt  dem  Wissen ,  dafs  es  zu 
Franzens  Lebzeiten  mindestens  drei  Regeln  gegeben  hat ;  die 
angeführte  Stelle  steht  —  nicht  ganz  wortgetreu,  aber  doch 
gleichartig  —  in  der  Regel,  die  man  auf  1221  ansetzt,  die 
später  irrtümlich  als  die  erste  galt  ^  Aus  der  ersten  Regel 
von  1209  oder  1210  kann  das  Zitat  nicht  stammen,  denn 
dieses  Gebot  der  Regel  über  das  Verhalten  in  Krankheiten 
konnte  erst  aufgestellt  werden,  als  Erfahrungen  über  die 
Mängel  der  Brüder  vorlagen.  Dafs  der  Bearbeiter  des  Spe- 
culum Perfectionis  aber  nicht  nach  2.  Celano  III,  110  arbeitete, 
geht  daraus  hervor,  dafs  der  Schlufs  des  Celanokapitels  im 
Speculum  Perfectionis  ein  eigenes  Kapitel  an  anderer  Stelle 
—  Kap.  28  —  bildet;  der  Schlufs  läge  auch  da  wieder  nahe, 
dafs  Celano  auf  Grund  des  Speculum  Perfectionis  gearbeitet 
und  zusammengezogen  haben  müsse  —  Arbeit  nach  gemein- 
samer Vorlage  ist  die  bessere  Lösung. 

Kapitel  43  =:  2.  Celano  III,  86  und  87.  Die  darin  ge- 
schilderte Zusammenkunft  des  h.  Franz  mit  dem  h.  Dominikus 
ist  von  Karl  Müller  im  Anschlufs  an  Hase  und  Voigt  auch 
dann  noch  als  unglaubwürdig  zurückgewiesen  worden,  als 
ihm  der  Text  der  Vita  secunda  vorlag,  den  Hase  und  Voigt 
nicht  kannten ;  Müller  sah  darin  einen  Beweis  ihrer  Unglaub- 
würdigkeit,  und  Grützmacher  hat  sich  ihm  neuerdings  noch 
angeschlossen  ^.  So  handelt  es  sich  zunächst  um  das  Ver- 
hältnis der  beiden  Texte  (Vita  secunda  und  Speculum  Per- 
fectionis) und  dann  um  die  Tatsache  der  Zusammenkunft. 
Die  beiden  Texte  stimmen  zumeist  wörtlich  überein,  nur 
schiebt  Celano  in  der  Mitte  eine  weitläufige  Ermahnung  an 
die  beiden  Orden  ein,  um  erst  in  Kap.  87  mit  dem  fortzufahren, 


1)  Sabatier  stellt  den  Text  der  Regel  mit  dem  des  Spec.  Perf. 
zusammen:  Spec.  Perf.,  S.  75  Anm.  4. 

2)  Realencykl.  f.  prot.  Theol.,  3.  Aufl.,  IV,  Art.  Dominikus.  —  Thode, 
Franz  von  Assisi,  S.  180  und  Sabatier,  Vie  de  S.  Frau^ois,  S.  244 f. 
halten  die  Zusammenkunft  für  geschichtlich;  ebenso  Faloci-Pulignani, 
Mise.  Franc.  IX,  S.  13  ff. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    181 

was  die  zweite  Hälfte  von  Kap.  4;}  des  Speculum  Perfectionis 
bildet.  Dieses  Einschiebsel  und  die  dadurch  hervorgerufene 
Trennung  des  Berichtes  ist  der  einzige  Anhaltspunkt  dafür, 
dafs  Celano  seine  Vorlage,  wie  sie  sich  im  Speculum  Per- 
fectionis wiederfindet,  überarbeitete,  dafs  also  im  Speculum 
Perfectionis  der  ursprüngliche  Text  vorliegt.  Aber  stichhaltig 
ist  diese  Annahme,  die  für  Sabatier  feststeht,  nicht;  ein  Kom- 
pilator  könnte  für  das  Speculum  Perfectionis  die  beiden 
Celanokapitel  mit  "SVeglassung  der  für  das  Ereignis  nichts 
beisteuernden  Ermahnung  zusammengelegt  haben.  So  komme 
ich  hier  im  Gegensatz  zu  Sabatier  zu  einem  Non  liquet  hin- 
sichtlich der  Priorität.  —  Über  die  Geschichtlichkeit  der  Zu- 
sammenkunft ist  folgendes  zu  sagen:  G.  Voigts  Argumente 
fallen  weg,  weil  seine  der  Vita  secunda  geltende  Kritik  sich, 
wie  erwähnt,  auf  eine  andere  Quelle  bezieht;  von  Hases 
Gründen  bleibt  bestehen,  dafs  die  rasch  entstehende  Rivalität 
der  beiden  Orden  leicht  eine  didaktische  Legende  von  dem 
guten  Verhältnis  der  beiden  Stifter  aufkommen  lassen  konnte; 
denn  was  noch  später  darüber  berichtet  wurde  —  z.  B.  über 
die  Anwesenheit  des  Dominikus  bei  dem  Generalkapitel  von 
1221  —  ist  sicherHch  eine  Fabel,  wie  Voigt  an  der  Hand 
des  Jordanus  a  Jano  erwiesen  hat.  Es  bleibt  ferner  als  Ein- 
wand gegen  die  Erzählung  Celanos  und  des  Speculum  Per- 
fectionis, dafs  Bonaventura  in  seiner  Legende  nichts  von  der 
Zusammenkunft  sagt,  obwohl  er  das  Gespräch  der  beiden 
Ordensgründer  mit  dem  Kardinal  von  Ostia  als  zwischen 
diesem  und  Franz  geschehen  erwähnt  (VI,  5  =  n.  78). 
Das  Schweigen  der  Vita  prima  ist  weit  eher  belanglos;  ehe 
Dominikus  heilig  gesprochen  war  (12.34),  wurde  er  sicherlich 
nicht  neben  Franz,  dessen  Heiligsprechung  bereits  vollzogen 
war,  gestellt,  besonders  nicht  in  IMinoritenkreisen.  Als  posi- 
tive Beweise  lassen  sich  dagegen  anführen,  dafs  der  zwischen 
1244  und  1251  schreibende  Biograph  des  Dominikus,  Bar- 
tholomeus  Tridentinus,  die  Tatsache  einer  engeren  Beziehung 
der  beiden  Männer  erwähnt  ',  dafs  1255   die  Goncralininister 


1)  \<i\.  Hase,  Franz  von  Assisi,  S.  73  Anin.  1    iiml  Müller.  Aii- 
fäiifre,  S.  183  Anin.  2.    liartholoineus  sagt,  dafs  Dominikus  dein  h.  Kranz 


182  GOETZ, 

der  beiden  Orden  in  einem  gemeinsamen  Rundschreiben  das 
gleiche  tun  \  dafs  Bonaventura,  zum  Generahninister  des  Mino- 
ritenordens  erhoben,  1256  dieses  Kundschreiben  nochmals  mit 
seinem  Namen  ausgehen  läfst,  und  dafs  Bonaventuras  Sekretär 
Bernhard  von  Bessa  die  Zusammenkunft  erwähnt  ^.  Gründe 
und  Gegengründe  halten  sich  vielleicht  die  Wage,  und  es 
wird  schUefslich  davon  abhängen,  wie  man  die  Vita  secunda 
Celanos  im  ganzen  einschätzt  —  ich  trage  kein  Bedenken, 
mit  ihrer  Hilfe  die  Wage  zugunsten  der  Zusammenkunft 
sinken  zu  lassen ;  ist  es  doch  auch  wahrscheinlich,  dafs  diese 
räumlich  so  nahe  beieinander  wirkenden  Persönlichkeiten  sich 
einmal  begegnet  sind.  Innere  V\''ahrheit  trägt  die  Erzählung 
ebenfalls  in  sich.  Dafs  Celano  vielleicht  dazu  beitrug,  die 
Tatsache  noch  etwas  auszuschmücken,  ist  natürlich  möglich. 
Kapitel  44  führt  aus,  dafs  Franz  zur  Pflege  der  Demut 
seine  ältesten  Jünger  in  den  Leprosenheimen  weilen  und 
dienen  liefs.  Die  „prima  regula"  wird  mit  einer  Stelle  er- 
wähnt, die  sich  in  den  uns  bekannten  Hegeln  nicht  findet, 
so  dafs  die  Stelle  allerdings  aus  der  ältesten  Regel  stammen 
kann.  Dafs  die  Erwähnung  der  Leprosenpflege  ein  Zeichen 
ältester  Überlieferung  ist,  wurde  schon  wiederholt  betont  (vgl. 
oben  S.  47  und  73);  anderseits  fehlen  Anhaltspunkte  dafür, 
dafs  die  späteren  Zelanten  diesen  Punkt  besonders  stark  be- 
tont hätten;  Sabatier  zitiert  nur  eine  Stelle  aus  Conrad  von 
Offida,  in  der  die  Leprosenpflege  erwähnt  wird  ^.  Da  ander- 
seits die  Vita  prima  wie  Bonaventura  von  ihr  sprechen  (vgl. 
unten  S.  227),  so  scheint  dieses  altfranziskanische  Ideal  nicht 
derart  umstritten  gewesen  zu  sein  wie  die  Armut  —  nicht 
w^eil  man  es  befolgte,  sondern  offenbar  weil  es  auch  für  die 
Zelanten  zurücktrat.  Weder  Kapitel  44  noch  das  verwandte 
Kapitel  58  machen  den  Eindruck  zelantischer  Tendenz; 
sie    klingen    mehr    wie    einfach    tatsächliche    Berichte.      So 


„tanta  caritate  fi.it  conin.nctas,   ut  idem  velle  et  idcra  liclle  esset  uter- 
que'"  [lies  utriquo  nach  Hasel. 

1)  Hase  a.  a.  0.  S.  72. 

2)  Sabatier,  Vie,  S.  24.5  Anni.  1. 

3)  Sabatier,    Spec.    Perf..    S.    79   Anm  1.      Vgl.    allerdings   auch 
Actus  S.  Francisci  et  sociorum  eins  S.  93  und  S.  HO  Anru.  1. 


QUELl.EN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    183 

mögen  sie  der  ältesten  Überlieferung  angehöx'en  (vgl.  unten 
Kapitel  58). 

Kapitel  45  stimmt  im  Inhalt  überein  mit  2.  Celano  III, 
80  und  73.  Dafs  ein  Kompilator  die  getrennten  Berichte 
Celanos  eher  miteinander  verbinden  konnte  als  umgekehrt, 
ist  auch  hier  zuzugeben.  Weitere  Schlufsfolgerungen  sind 
aus  den  Texten  nicht  zu  ziehen. 

Kapitel  46  berührt  sich  in  der  ersten  Hälfte  mit  2.  Ce- 
lano III,  88.  Wieder  spricht  das  Speculum  Perfectionis  von 
einem  Generalminister,  während  Celano  zwar  von  Franzens 
Verzicht  auf  das  Generalministeramt  spricht,  aber  dann 
doch  vorsichtiger  sagt:  „.  .  .  Petro  Cathanii,  cui  pridem 
obedientiam  sanctam  promiserat."  Daraus  könnte  man  auf 
Priorität  der  Vita  secunda  schliefsen.  Aber  das  Kapitel  des 
Speculum  Perfectionis  hat  noch  einen  zweiten  Teil,  dessen 
Anfang  eng  zum  ersten  hinzugehört  und  eine  weitere  Be- 
merkung des  Heiligen  enthält,  die  auf  Glaubwürdigkeit  An- 
spruch macht;  der  letzte  Abschnitt  des  Kapitels  wird  mit  den 
V/orten  eingeleitet:  „Hoc  autem  vidimus  oculis  nostris  uos  qui 
cum  ipso  fuimus  sicut  etiam  ipse  testatur"  usw.  Was  folgt,  ist 
ein  so  feiner  Beitrag  zur  Charakteristik  des  Heiligen  (irgend- 
wie verletzt  von  den  Brüdern,  zieht  er  sich  zum  Gebet  zurück 
und  sucht  es  zu  vergessen),  dafs  ich  an  keine  spätere  Er- 
findung glauben  kann.  —  Zur  Komposition  des  Speculum 
Perfectionis  läfst  sich  vielleicht  bei  diesem  Kapitel  etwas  fest- 
stellen. Bonaventura  und  Speculum  Perfectionis  geben  hier 
denselben  Gang  der  Erzählung,  ohne  sich  im  Wortlaut 
irgendwie  zu  berühren  —  Bonaventura  schreibt  ganz  offen- 
bar nur  die  Vita  secunda  aus.  Speculum  Perfectionis  Kap.  45, 
46  und  48  entsprechen  Bonaventura  Kap.  VI,  3  und  4  (nach 
alter  Zählung  n.  75,  76  und  77);  Bonaventura  hat  aber 
dabei  benutzt  2.  Celano  HI,  73,  74,  88  und  89.  Da  Bona- 
ventura sich  wiiitlieh,  wenn  auch  kürzend,  an  Celano  an- 
schliefst, so  kann  er  nicht  lediglich  für  die  Komposition  das 
Speculum  Perfectionis  benutzt  haben ;  wahrscheinlicher  wäre, 
dafs  der  Kompilator  des  Speculum  Perfectionis  neben  seinem 
alten  Material,  aus  dem  er  die  zweite  Hälfte  von  Kap.  40  und 
Kap   47  entnahm,  die  Vita  secunda  und  Bonaventura  vor  sich 


184  GOETZ, 

hatte  und  sich  in  der  Aufeinanderfolge  der  Erzählungen  ge- 
legentlich einmal  an  Bonaventura  anschlofs.  Bei  den  folgen- 
den Kapiteln  versagt  dann  wieder  jeglicher  Parallehsmus. 

Kapitel  47  ist  selbständig.  Über  sein  Alter  läfst  sich 
nichts  aussagen. 

Kapitel  48  fast  wörtlich  gleich  2.  Celano  III,  89;  Fest- 
stellung der  Priorität  ist  unmöglich. 

Kapitel  49  stimmt  zwar  fast  wörtlich  mit  2.  Celano  III^ 
90  überein,  doch  hat  Celano  mannigfaltige  kleine  Kürzungen, 
die  zu  dem  Schlüsse  führen  könnten,  er  habe  den  Text  des 
Speculum  Perfectiouis  vor  sich  gehabt.  Anderseits  gibt  das 
Speculum  Perfectionis  eine  bei  Celano  fehlende  Einschrän- 
kung des  unbedingten  Gehorsams:  „dura  scilicet  non  habet 
causam  necessariam  retardandi'^  So  ist  Celano  strenger  als 
das  Speculum  Perfectionis!  Oder  will  sich  ein  Zelant  da- 
gegen sichern,  laxen  Oberen  in  jeder  Hinsicht  zu  gehorchen? 
Auch  hier  ist  eine  Entscheidung  unmöglich. 

Zu  Kapitel  50  vergleiche  das  oben  bei  Kapitel  10  Ge- 
sagte. Warum  hat  die  Vita  secunda  nicht  diese  durch  das 
Testament  bestätigte  Erzählung  von  Franzens  Abneigung 
gegen  alle  Privilegien?  Sabatier  erklärt  es  damit,  dafs  bei 
Entstehung  der  Vita  secunda  der  Kampf  zwischen  Welt- 
klerus und  Bettelorden  schon  zu  lebhaft  gewesen  sei,  um 
die  Aufnahme  solcher  Anschauungen  zu  gestatten.  Das 
leuchtet  durchaus  ein.  Ubertino  da  Casale  hat  dieses  Ka- 
pitel zitiert  als  unter  den  von  ihm  gesehenen  „Scripta  de 
manu  fratris  Leonis"  befindlich.  Dafs  die  äufsere  Form  dieses 
Kapitels  nicht  ganz  gesichert  ist,  geht  aus  den  oben  bei 
Kapitel  10  gemachten  Bemerkungen  hervor;  ebenso,  dafs  es 
trotzdem  für  alte  Überlieferung  zu  nehmen  ist. 

Kapitel  51  =  2.  Celano  III,  92  bis  auf  den  Namen  des 
Bruders,  den  Celano  hinzufügt  („Barbarum  nomine")  — 
möghch  also,  dafs  Celano  damit  den  ihm  vorliegenden  Text 
des  Speculum  Perfectionis  bereicherte.  Die  Priorität  ist  nicht 
entscheidbar. 

Kapitel  52  —  eine  Vision  Leos  mit  Anklagen  gegen  die 
Brüder  —  steht  wiederum  für  sich  allein.  Faloci-Puhgnani 
hat  bezweifelt,  dafs  Leo  derartiges  geschrieben  haben  könnte. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    185 

Man  kann  anderseits  darauf  hinweisen,  dafs  die  vorgebrachten 
Anklagen  (Undankbarkeit  gegenüber  den  ihnen  von  Christus 
verliehenen  Wohltaten,  Murren  und  Müfsiggang  am  ganzen 
Tage,  Zorn  gegeneinander)  sich  nicht  auf  die  Anliegen  der 
Spiritualen  beziehen  —  da  hätte  eine  Anklage  wegen  Ver- 
nachlässigung der  Armut  wohl  nicht  gefehlt.  Die  Vision 
verlangt  in  jedem  Falle  eine  Übersetzung  ins  Geschichtliche; 
aber  an  sich  spricht  nichts  gegen  die  Worte  Leos. 

Kapitel  53  fast  wörtlich  gleich  2.  Celano  III,  46.  Weder 
hier  noch  bei  Kapitel  54,  das  mit  2.  Celano  III,  84  fast 
wörtlich  übereinstimmt,  ist  irgend  etwas  über  Priorität  fest- 
zustellen. 

Kapitel  55  bietet  vielfache  Schwierigkeiten.  Der  Um- 
fang des  Textes  ist  in  den  verschiedenen  Handschriften  ein 
sehr  verschiedener  '.  Der  Inhalt  —  die  Portiuncula  be- 
treffend —  berührt  sich  lose  mit  2.  Celano  I,  7;  das  meiste 
davon  geht  aber  ein  gutes  Stück  über  die  Nachrichten  der 
Vita  secunda  und  1.  Celano  I,  16  und  II,  7  hinaus  —  wie 
eine  Fortbildung  der  Legende  mutet  dieses  Kapitel  55  an. 
Denn  während  in  der  Vita  prima  1 ,  16  die  Übersiedlung 
nach  der  Portiuncula  mit  dem  Eindringen  eines  Bauern  in 
die  enge  Hütte  von  llivotorto  motiviert  wird,  ist  es  hier 
die  Rücksicht  auf  die  zunehmende  Zahl  der  Brüder;  aus 
der  einfachen  Übersiedlung,  wie  die  Vita  prima  I,  16  sie 
schildert,  ist  eine  Verhandlung  mit  dem  Besitzer  geworden; 
aus  der  Andeutung  der  Vita  prima  II ,  7 ,  dafs  der  neue 
Aufenthaltsort  „gratia  uberiori  repletum  et  supernorum  visi- 
tatione  spirituum  frequentatum  *'  sei,  und  aus  der  JMitteilung 
der  Vita  secunda  I,  12,  dafs  die  Kirche  auch  „Sancta  ]\Iaria 
de  Angehs"  genannt  sei,  ist  hier  geworden:  „quia  sicut  di- 
citur  cantus  angelici  ibi  saepe  sunt  auditi"^.  Dabei  enthält 
es  einige  Ausdrücke,  die  ganz  unzweifelhaft  späte  Ent- 
stehungszeit verraten  (S.  97  Zeile  14 — 18,  S.  99  Zeile  11, 
S.  100  Zeile  3 — 10;  S.  99  Zeile  6  wird  ein  Generalminister 


1)  Sabatior,  Spoc  Perf,  S.  2G8flF. 

2)  Nach  Bona  Ventura  c.  II,  8   (=  n.  24)   bemerkt  Franz  ,.  an- 
gelicarum  ibi  visitationum  frequentiam". 


186  GOETZ, 

ZU  Lebzeiten  des  Heiligen  erwähnt);  eine  Stelle  (S.  99  Zeile  11 
bis  S.  100  Zeile  10)  ist  offenbar  eingeschoben,  da  die  Fort- 
setzung an  das  vor  dieser  Stelle  Gesagte  direkt  anknüpft  ^. 
Unrichtig  ist  ferner,  dafs  Franz  in  seinem  Testamente  etwas 
über  die  Portiuncula  gesagt  habe  ^.  Dabei  enthält  dieses 
Kapitel  aber  die  Berufung  auf  das  Zeugnis  der  ältesten  Ge- 
nossen: „Nos  vero  qui  fuimus  cum  b.  Francisco  testimonium 
perhibemus"  etc.  Die  Versuchung  liegt  nahe,  diesmal  in 
der  Berufung  eine  Fälschung  zu  sehen  und  das  ganze  Ka- 
pitel fallen  zu  lassen.  Einige  Gründe  sprechen  aber  auch 
für  eine  andere  Auffassung.  Rivotorto  wird  nicht  ausdrück- 
lich genannt,  aber  es  wird  als  der  frühere  Aufenthaltsort 
der  Brüder  vorausgesetzt  (S.  95  Zeile  8:  „locus  iste  non 
est  honestus  nee  sufticiens")  —  das  ist  ein  Zeichen  alter  Über- 
lieferung; die  Verhandlung  mit  dem  Besitzer  der  Portiun- 
cula, dem  Benediktinerkloster  von  Monte  Subasio,  ist  sehr 
wohl  denkbar  als  ein  ergänzender  Nachtrag  zum  Bericht  der 
Vita  prima  —  gerade  die  Einzelheiten  dieser  Verhandlung 
(Abweisung  durch  den  Bischof  und  durch  die  Kanoniker 
von    S.  Rutino,    Entgegenkommen    des    xlbtes,    die   jährliche 


1)  Barbi,  Bull.  d.  Soc.  Dantosca  YII,  S.  81  Anm.  1  will  die 
gcbwieripkeit  dadurch  lösen,  dafs  er  diese  Stelle,  wie  das  Voranjrebeude 
und  Nachfolgende,  für  Worte  des  Heiligen  ansieht,  wofür  beim  letzten 
Worte  der  Stelle  die  Lesart  einiger  Handschriften  spricht  (vellem  statt 
velleut)  Aber  der  Inhalt  des  ganzen  Absatzes  klingt  doch  nicht  wie 
eine  Rede  des  Heiligen  —  das  Ganze  ist  zu  sehr  geschichtlicher  Rück- 
blick auf  eine  nicht  mehr  nahe  Vergangenheit.  Faloci-Pulignani 
hat  das  ganze  Kapitel  um  dieser  Stelle  willen  für  späte; c  Kompilation 
erklärt  (Mise.  Fianc.  VII,  S.  5).  Es  scheint  mir  sicher,  dals  die  ein- 
geschobene Stelle  aus  2.  Celano  I,  12  entstanden  ist. 

2)  Zwei  andere  Handschriften  haben  die  Lesait  „circa  mortem 
suam  scribi  voluit  in  testamento  "  (Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  99).  Da 
1,  Celano  II,  7  berichtet,  wie  Franz  auf  dem  Totenbett  den  B.üdern 
die  Portiuncula  ans  Herz  legt,  so  ist  wohl  auch  hier  die  Vita  piima 
der  Ausgangpunkt  der  Nachricht  des  Spec.  Perf.  Die  von  Lemmens 
herausgegebene  ,.Redactio  prima"  (Doc.  ant.  II,  S.  60)  hat  die  Lesart: 
„Et  circa  mortem  suam  hanc  ecclesiam  fratribas  in  testamentr.m  reli- 
qiiit."  Lemmens  sieht  diese  Worte  für  die  älteste  und  richtige  Lesart 
an  (Voix  de  S.  Antoine,  1903  Aprü,  S.  5);  aber  die  vorangehende  mit 
„scribi  voluit'-  kann  natürlich  ebensogut  dafür  angesehen  werden. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    187 

Übersendung  von  Fischen  als  Pacht  und  die  Gegengabe  der 
Benediktiner)  erwecken  Vertrauen,  ausgenommen  die  For- 
derung des  Abtes:  ,,si  Dominus  hanc  congregationem  ve- 
stram  multiplicaverit,  vokiraus,  quod  locus  iste  sit  caput  om- 
nium  vestrum."  Dafs  die  Portiuncula  einen  andern  Eigen- 
tümer hatte,  sagt  auch  die  Vita  secunda  I,  12:  „Hunc 
locum  sanctus  adamavit  prae  omnibus  .  .  .  proprietatem  ex 
eo  aliis  reservans,  sibi  et  suis  retinens  usum  tantum^';  Sa- 
batier  hat  aufserdem  auf  eine  Urkunde  von  124-1  aufmerk- 
sam gemacht,  die  das  Eigentum  der  Benediktiner  an  der 
Portiuncula  bestätigt  ^  Diese  neuen  Nachrichten  des  Spe- 
culum-Kapitels  über  die  Erwerbung  der  Portiuncula  können 
richtis:  sein  und  trotzdem  das  Ganze  nichts  anders  als  eine 
Ausgestaltung  der  Mitteilungen  Celanos.  Nur  das  „Nos 
vero"  etc.  spricht  für  einen  originalen  Kern.  Das  ist  das 
Aufserste,  was  man  zugestehen  kann:  ein  solcher  Kern  ist, 
wie  auch  die  Handschriften  zeigen,  so  stark  überarbeitet 
worden,  dafs  die  positiven  Nachrichten  dieses  Kapitels  nur 
mit  äufserster  Vorsicht  zu  verwenden  sind.  Dafs  diese 
Nachrichten  vom  Bruder  Leo  selber  im  Laufe  seines  langen 
Lebens  überarbeitet  worden  seien ,  wie  Sabatier  meint  ^,  ist 
eine  jener  Möglichkeiten,  die  man  aus  Verlegenheit  annimmt 
und  die  doch  weit  mehr  gegen  als  für  sich  haben.  Darauf 
hat  Sabatier  aber  mit  Recht  hingewiesen,  dafs  ein  Kompi- 
lator,  der  im  literarischen  Kampfe  alles  zugunsten  der  Por- 
tiuncula Sprechende  zusammentragen  wollte,  die  vom  2.  Ce- 
lano I,  13  berichtete  Vision  sich  nicht  hätte  entgehen 
lassen  ^. 

Kapitel  56  enthält  eine  kleine  Erzählung  über  Franzens 
Sorge  für  die  Reinlichkeit  der  Kirchen.  Sie  kann  alt  sein, 
kann  aber  auch  späterer  Legendenbildung  entstammen.  Dafs 
Franz  mit  einem  Besen  umherging,  um  die  Kirchen  zu  rei- 
nigen, pafst  jedenfalls  zu  seiner  ganzen  Art,  so  dafs  die  Er- 
zählung nicht  verworfen  zu  werden  braucht. 

1)  Sabatier,  Si)cc.  Pcrf.,  ö.  2(39. 

2)  Spec.  Perf.,  S.  2G7f. 

3)  A.  a.  0.  S.  273.  Dafs  dcsluilb  das  Spec.  Pdf.  vor  der  Vita 
secunda  entstanden  sein  müsse,  ist  damit  freilich  nicht  bewiesen. 


188  GOETZ, 

Kapitel  57  bringt  ausführliclier  dieselbe  Erzählung  wie 
2.  Celano  III,  120.  Celano  kann  die  Vorlage  ebensogut 
verkürzt,  wie  das  Speculum  Perfectionis  den  ihm  vorliegen- 
den Celano  ausgeschmückt  haben.  Es  läfst  sich  nichts  dar- 
über sagen. 

Kapitel  58  steht  ebenfalls  für  sich  allein  —  die  Vita  se- 
cunda  kennt  es  nicht.  Es  spricht  wie  Kap.  44  von  der  Le- 
prosenpflege  und  es  hat  am  Schlüsse  die  Worte:  „Qui  vidit 
hoc,  scripsit  et  testimonium  perhibet  de  hiis."  Merkwürdig^ 
dafs  Celano  eine  so  gut  beglaubigte  Erzählung  beiseite  liefs! 
Lag  sie  ihm  etwa  doch  nicht  vor  und  hat  der  Kompilator 
des  Speculum  Perfectionis  durch  den  Schlufssatz  täuschen 
wollen?  Die  Erzählung  selber  ist  nur  an  einer  Stelle  ver- 
dächtig: von  Petrus  Cathaneus  heifst  es,  dafs  er  damals  ge- 
neralis minister  gewesen  sei  (s.  oben  S.  177,  bei  Kap.  38); 
das  übrige,  besonders  das  Verhalten  des  frater  Jacobus,  der 
mit  den  Leprosen  arglos  spazieren  geht,  klingt  wie  naive 
Wahrheit.  Aber  so  weit  kann  ich  nicht  gehen,  mit  Sabatier 
in  diesem  Kapitel  „une  des  preuves  les  plus  frappantes  de 
l'authenticite  du  Speculum  Perfectionis"  zu  sehen  ^  —  das 
Schweigen  Celanos  steht  im  Wege,  und  man  raufs  sich  vor- 
sichtiger fassen. 

Die  Kapitel  59  und  60  enthalten  im  wesentlichen  das 
gleiche  wie  2.  Celano  III,  63.  Im  Speculum  Perfectionis 
ist  die  zusammengehörige  Erzählung  in  zwei  Kapitel  zerlegt; 
das  fällt  auf,  spricht  aber  eher  für,  als  gegen  die  Priorität, 
weil  das  Zusammenlegen  dem  Nachfolger  näher  liegen  mufste 
als  das  Trennen.  Ferner  lokalisiert  das  Speculum  Perfec- 
tionis den  Vorgang  auf  eine  bestimmte  Kirche  —  das  kann 
Ausbildung  von  Lokaltraditionen  sein;  aber  dafs  der  Be- 
gleiter des  Heiligen  im  Gegensatz  zu  Celano  genannt  und 
charakterisiert  wird,  scheint  doch  auf  gutes  Wissen  zurück- 
zugehen, denn  Celano  wie  Bonaventura  kennen  den  Bruder 
Paciticus  nur  als  rex  versuum,  während  er  hier  noch  als 
curialis  doctor  cantorum  bezeichnet  wird,  was  allerdings  hier 
wie  in  Kap.  100  nur  ein  rhetorischer  Zusatz  zu  sein  braucht. 


1)  Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  107  Anm.  2. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    189 

Celano  spricht  ferner  nur  vom  hospitale,  wohin  Franz  den 
Begleiter  zurückschickt;  Speculum  Perfectionis  sagt  „hospi- 
tale  leprosorum*^  Bei  Celano  gehörte  der  in  der  Vision  ge- 
sehene unbesetzte  Platz  im  Himmel  einem  der  gestürzten 
Engel,  im  Speculum  Perfectionis  dem  Lucifer.  Von  diesen 
Verschiedenheiten  sprechen  die  einen  für,  die  andern  gegen 
Priorität  des  Speculum  Perfectionis ;  mit  irgendwelcher  Sicher- 
heit ist  seine  Priorität  hier  nicht  zu  behaupten. 

Kapitel  61  berührt  sich  mit  1.  Celano  I,  19  (=  n.  52). 
Man  wird  kaum  anders  sagen  können,  als  dafs  dieses  Ka- 
pitel eine  Verarbeitung  von  1.  Celano  ist.  Das  schliefst 
nicht  aus,  dafs  diese  erweiterte  Erzählung  in  früher  Zeit 
entstand ,  obwohl  die  Aufserung  über  Petrus  Cathaneus 
(„primus  generalis  minister  fuit  electus  a  b.  Francisco") 
nicht  eben  dafür  spricht.  Dieses  Kapitel  ist  nun  aber  eines 
von  den  wenigen,  wo  sich  eine  Berührung  mit  Bonaventura 
feststellen  läfst.  Der  Text  Bonaventuras  (c.  VI,  2  =  n.  73  u.  74) 
beruht  am  Anfang  und  am  Schlufs  auf  1.  Celano,  wie  die 
wörtlichen  Anklänge  zeigen;  in  der  Mitte  dagegen  weicht 
er  von  Celano  ab,  der  die  Erzählung  anders  gibt,  und  be- 
richtet wie  das  Speculum  Perfectionis.  Hat  Bonaventura  den 
Text  des  Speculum  benutzt?  Bonaventura  ist  viel  kürzer 
als  das  Speculum ;  er  könnte  ein  Auszug  sein,  aber  ebenso- 
gut das  Speculum  eine  spätere  P^rweiterung.  Nun  ist  aber 
doch  bedeutungsvoll,  dafs  Bonaventura  trotz  seiner  gedrängten 
Fassung  einige  selbständige  Einzelheiten  gegenüber  dem  Spe- 
culum hat  (Franz  läfst  sich  zu  dem  Steine  schleifen,  „in  quo 
malefactores  puniendi  consueverant  collocari",  er  steigt  dann 
auf  den  Stein,  das  Wetter  ist  sehr  kalt),  deren  Verwendung 
einem  späteren  Legendenschreiber  im  Interesse  gröfserer 
Wirkung  hätte  am  Herzen  liegen  müssen,  wenn  einmal  die 
Erzählung  wie  im  Speculum  Peribctionis  in  so  reichlichem 
Mafse  erweitert  wurde.  Bonaventura  dagegen  hat  nichts  in 
seinem  Texte,  was  nicht  als  gedrängte  Zusammenfassung  von 
1.  Celano  und  Speculum  Perfectionis  erklärbar  wäre;  er 
scheint  deshalb  dieselbe  Vorlage  benutzt  zu  haben  wie  der 
Kompilator  des  Speculum  Perfectionis.  Aber  ist  es  denk- 
bar, dafs  Bonaventura    den  Stoff   des  Speculum  Perfectioni» 


1 90  GOETZ, 

vor  sich  hatte  und  ihn  nur  so  selten  benutzte,  dafs  man  mit 
Mühe  ein  bis  zwei  Stellen  der  Berührung  auffinden  kann?  ^ 
Oder  war  das  eine  versprengte  Aufzeichnung,  die  ihm  beim 
Suchen  nach  neuem  Materiale  zukam?  So  einleuchtend  es 
au  der  vorliegenden  Stelle  erscheint,  die  Priorität  des  Spe- 
culum-Textes  anzuerkennen,  so  schwer  sind  doch  die  Be- 
denken, die  aus  dem  allgemeinen  Verhältnis  Bonaventuras 
zum  Specalum  Perfectionis  hervorgehen.  Mit  absoluter  Sicher- 
heit wird  man  deshalb  auch  hier  die  Priorität  nicht  be- 
haupten können. 

Kapitel  62  berührt  sich  mit  2.  Celano  III,  71  und  70, 
die  Priorität  ist  unentscheidbar.  Ebenso  steht  es  mit  der 
Erzählung,  die  den  Anfang  von  Kapitel  63  bildet  und  sich 
mit  2.  Celano  III,  72  berührt.  Auf  diese  Erzählung  folgt 
dann  aber  im  Speculum  Perfectionis  noch  eine  allgemeine 
Betrachtung,  die  mit  den  Worten  beginnt:  „Et  tot  alia 
exempla  hiis  similia  vidimus  et  audivimus  de  summa  hu- 
militate  ipsius  nos  qui  cum  eo  fuimus  conversati  quod  nee 
verbis  nee  litteris  possumus  explicare."  Die  vorangehende 
kleine  Erzählung  (Franz  bekennt,  dafs  er  ein  Geschenk  aus 
Eitelkeit  gegeben  habe)  bedarf  einer  so  nachdrücklichen  Be- 
glaubigung nicht  —  in  ihr  wird  nichts  berichtet,  was  etwa 
später  im  Orden  umstritten  gewesen  wäre.  Deshalb  erscheint 
die  Beglaubigung  als  ein  absichtsloser  Zusatz;  hätte  mit  ihr 
ein  falscher  Schein  erweckt  werden  sollen,  so  wäre  sie  an 
andern  Stellen  wichtiger  gewesen  als  hier. 

Kapitel  64  vermag  einen  wertvollen  Aufschlufs  zu  geben. 
Der  Inhalt  (Franz  wünscht,  dafs  ihn  die  Brüder  als  Idioten 
von  der  Leitung  des  Ordens  entfernen)  steht  gekürzt  ebenso 
bei  2.  Celano  III,  83.  Aber  bei  Celano  geht  ein  scharfer 
Angriff  auf  ehrgeizige  Mitglieder  des  Ordens  voraus.  Warum 
nahm  das  Speculum  Perfectionis,  wenn  es  eine  spiritualistische 
Tendenz  oder  auch  nur  die  von  Sabatier  behauptete  eifernde 
Tendenz  besafs,  diese  Stelle  nicht  auf?  Hier  ist  die  Vita 
secunda  schärfer  als  das  Speculum,  und  da  dieses  ja  sonst 
mit  Tadel  nicht  spart,  so  mufs  man  annehmen,  dafs  es  diesen 


1)  S.  unten  S.  213  bei  Kap.  113. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL    191 

Tadel  noch  nicht  kannte,  d.  h.  dafs  seine  Vorlage  älter  ist 
als  die  Vita  seeunda. 

Der  Inhalt  des  65.  Kapitels  erweckt  in  seiner  Zusammen- 
setzung kein  grofses  Vertrauen :  es  beginnt  mit  dem  am  Ende 
eines  Generalkapitels  geäufserten  Wunsche  Franzens,  eben- 
falls eine  Missionsreise  zu  unternehmen,  und  zwar  nach  Frank- 
reich, weil  man  dort  den  Leib  des  Herrn  besonders  ehre; 
es  folgt  —  in  Berührung  mit  2.  Celano  III,  129  —  eine 
längere  Mitteilung,  wie  Franz  selber  darüber  dachte;  dann 
kehrt  die  Erzählung  zu  der  beabsichtigten  Reise  zurück,  in- 
dem Franz  den  Brüdern,  die  mit  ihm  selber  gehen  sollten, 
Verhaltungsmafsregeln  vorschreibt,  als  ob  sie  ohne  ihn  gehen 
sollten  („ite  bini  et  bini  per  viam"  etc.);  das  Kapitel  schliefst 
mit  dem  Bericht  über  das  Zusammentreffen  des  Kardinals 
von  Ostia  mit  Franz  und  die  Verhinderung  der  Reise.  In 
diesem  letzten  Teil  berührt  sich  die  Erzählung  mit  der  Vita 
prima  (I,  27),  aber  die  beiden  Berichte  weichen  doch  ziem- 
lich stark  voneinander  ab :  dort  heifst  es ,  dafs  Franz  die 
Reise  unternahm  „non  multos  adhuc  fratres  habens";  im 
Speculum  Perfectionis  dagegen  hat  er  auf  dem  soeben  be- 
endigten Kapitel  viele  Brüder  zur  Mission  „ad  quasdam  pro- 
vincias  ultramarinas"  geschickt;  und  während  das  Speculum 
Perfectionis  nur  von  der  Verhandlung  über  die  Reise  ausführ- 
licher und  eigenartig  berichtet,  gibt  Celano  daneben  an,  dafs 
Franz  den  Kardinal  bei  dieser  Gelegenheit  zuerst  kennen  lernte 
und  dafs  dieser  damals  bereits  eine  Art  Protektorat  über- 
nahm. Von  der  zwiespältigen  Zeitangabe  abgesehen  besteht 
allerdings  kein  eigentlicher  Widerspruch  zwischen  den  beiden 
Berichten;  in  beiden  kann  ein  Teil  des  Vorgangs  enthalten 
sein,  und  bei  der  Zeitangabe  kann  schliefslich  ein  nicht  allzu 
belangreicher  Irrtum  Celanos  vorliegen.  Das  Speculum  Per- 
fectionis fufst  aber  jedenfalls  auf  einer  andern  Überliefe- 
rung. Hier  warnt  der  Kardinal  den  Heiligen  vor  der  Reise, 
„quia  multi  praelati  sunt  qui  libenter  impedircut  bona  tuae 
religionis  in  cui'ia  Romana";  er  aber  und  andere  Kardinäle 
würden  ihn  beschützen,  wenn  er  in  Italien  bliebe.  Dann 
fragt  der  Kardinal  noch  halb  vorwurfsvoll,  warum  Franz  die 
Brüder  so  weit  hinaus  zum   Hungertode  und  andern  Leiden 


192  GOETZ, 

sende;  Franz  verteidigt  darauf  seine  der  ganzen  Welt  geltende 
Mission,    und    der  Kardinal    stimmt    bewundernd  zu.     Kann 
diese  Überlieferung  in  die  Zeit  der  ältesten  Jünger  zurück- 
gehen?   Man  kann  es  nicht  beweisen,  kann  aber  auch  ebenso- 
wenig eine  spiritualistische  Tendenz  darin  feststellen ;  die  Be- 
gründung, die  der  Kardinal  seinem  Ratschlag  gibt,  ist  histo- 
risch annehmbar,  und  dafs  Celano  in  der  Vita  prima  darauf 
nicht  näher   einging,    erklärt    sich  ohne  weiteres.     Was  sich 
mit  der  Vita  secunda  (III,  129)  berührt,  trägt  nach  Sabatiers 
Meinung    einen    weit    ursprünglicheren    Charakter   als   diese; 
die  grofse  zentrale  Bedeutung,  die  für  Franz  der  Kultus  der 
Eucharistie  gehabt,  sei  von  Celano  nicht  mehr  erkannt  worden. 
Ich  kann  einen  so  grofsen  Unterschied  zwischen  Celano  und 
Speculum  Perfectionis ,    das    doch    auch  nur  an  dieser  einen 
Stelle  von  Franzens  Verhältnis  zur  Eucharistie  spricht,  nicht 
finden ;    Celano  verkürzt    wohl    den  Gedanken   an  der  einen 
Stelle,    aber    an   der   andern    erweitert   er  ihn.     Freilich  hat 
das  Speculum  Perfectionis  einen  Zusatz,  der  von  Celano  mit 
Absicht   weggelassen    sein    könnte:    Franz    habe   über   seine 
Stellung  zur  Eucharistie  einiges  in  die  Regel  setzen  wollen; 
das    habe   aber  den  Ministern  nicht  gut  geschienen,    so  dafs 
sich  Franz  begnügt  habe,  in  seinem  Testament  und  in  andern 
„Scriptis"  seinen  Willen  darüber  kund  zu  tun.    Der  zweite 
Teil  dieser  Mitteilung  ist  tatsächhch  richtig,  wie  das  Testa- 
ment und  die  Briefe  zeigen;  es  mag  deshalb  auch  der  erste 
Teil  richtig  sein  —  um  so  mehr,  als  man  in  der  Haltung  der 
Minister  ein  begreifÜches  formales  Moment  anstatt  grundsätz- 
lichen Gegensatzes   sehen   darf      Wenn  Celano   in   der  Vita 
secunda   darüber    hinwegging   —   vorausgesetzt,    dafs    diese 
Stelle  ihm  vorlag  — ,  so  ist  der  Grund  ersichtlich:  die  Vita 
prima  I,  29  bringt  bereits  den  Kern  der  Erzählung:  Franzens 
Sorge  für  die  nomina  Domini  und  für  die  Buchstaben,    aus 
denen    diese    Namen     bestehen.      Die    übrigen    Nachrichten 
dieses  Kapitels,  die  sich  weder  mit  der  Vita  prima  noch  se- 
cunda berühren,  erwecken  zum  Teil  kein  Mifstrauen  (wie  die 
Überlegung   Franzens   am    Schlüsse   des  Generalkapitels,   in 
weiches  Land  er  gehen  solle),  zum  Teil  erscheinen  sie,  wie  ge- 
sagt, nicht  recht  am  Platze  (so  die  Ratschläge  an  die  wandern- 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    193 

den  Brüder),  so  dafs  der  Haupteinwand  gegen  dieses  Kapitel 
seine  Komposition,  nicht  seinen  Inhalt  im  einzelnen  betrifft.  Auch 
hier  scheinen  gute  alte  Nachrichten  in  einer  überarbeiteten 
Form  vorzuliegen.  Dafs  dieses  Kapitel  ledigHch  aus  Be- 
nutzung der  beiden  Viten  Celanos  entstanden  sein  könnte,  ist 
dagegen  wohl  sicher  ausgeschlossen;  dazu  weichen  bei  aller 
allgemeinen  Berührung  die  Erzählungen  zu  sehr  voneinan- 
der ab. 

Über  Kapitel  66  läfst  sich  nichts  feststellen. 

Kapitel  67  ist  weit  ausführlicher  als  die  parallele  Erzäh- 
lung bei  2.  Celano  III,  61 ;  Einzelheiten  über  den  Zweck 
des  Aufenthalts  in  Rom  (Besuch  beim  Kardinal  von  Ostia), 
über  den  Begleiter  Franzens  (Fra  Angelo  Tancredi)  und 
über  das  Ziel  der  Weiterreise  (Fönte  Columbarum  bei  Rieti) 
sind  beigefügt.  Anderseits  hat  auch  Celano  ein  paar  Kleinig- 
keiten mehr  (dafs  der  Turm  aus  neun  Eremitorien  bestand, 
den  Titel  des  Kardinals  Leo,  den  scharfen  Angriff  auf  die 
„fratres  palatini").  Heben  sich  diese  Zusätze  in  ihrer  Be- 
deutung für  die  Priorität  zunächst  gegenseitig  auf,  so  hat 
das  Speculum  Perfectionis  die  Berufung  auf  Augenzeugen  — 
zwar  nicht  für  den  erzählten  Vorgang,  sondern  wie  immer 
nur  in  allgemeiner  Form.  Aber  es  spricht  für  die  Echtheit 
der  Berufung,  dafs  sie  auch  hier  in  einem  Falle  auftritt,  wo 
jeder  tendenziöse  Zweck  fehlt  —  Celano  ist  mit  seinem  Hieb 
auf  die  „fratres  palatini"  weit  schärfer,  und  selbst  Bona- 
ventura (VI,  10  und  85)  hat  implicite  mehr  Tadel  gegen 
diese  als  das  Speculum  Perfectionis.  Der  alte  Ursprung  der 
Erzählung  ist  deshalb  sehr  wohl  möglich.  Und  es  spricht 
dafür  auch  noch  folgendes:  Celano  konnte  in  seinem  Streben 
nach  Kürze  ohne  Schaden  weglassen,  was  das  Speculum 
Perfectionis  an  Einzelheiten  mehr  hat;  der  Zusatz  Celanos 
über  die  Einrichtung  des  Turmes  ist  dagegen  als  Fortbildung 
einer  Bemerkung  des  Speculum  Perfectionis  aufzufassen.  Im 
Speculum  Perfectionis  heifst  es,  dafs  der  Turm  „spatiosa 
valdc  et  remota"  war,  in  dem  Franz  „tanquam  in  eremitorio" 
verweilen  könne;  bei  Celano  heifst  es  von  der  „turris  remota", 
dafs  sie  „per  novem  testudines  concamerata  quasi  mansiun- 
culas  heremiticas"  bot.     Auch  die  Bemerkung  Celanos  über 

13 


194  GOETZ, 

die  „fratres  palatini"  spricht  für  die  Priorität  des  Speculum 
Perfectionis. 

Kapitel  68  bringt  einen  Bericht  über  das  sogen.  Matten- 
kapitel, der  sich  sonst  nirgends  in  den  altern  Quellen  findet 
und  im  Widerspruch  zu  Angaben  des  Jordanus  a  Jano  steht. 
Jordanus  war  bei  diesem  Generalkapitel  anwesend,  und  da 
auch  er  von  der  grofsen  Zahl  von  Brüdern  und  von  Stroh- 
hütten spricht,  so  scheint  die  Erzählung  demselben  Ptingst- 
kapitel  von  1221  zu  gelten  \  Dann  aber  läfst  sich  nach- 
weisen, dafs  der  Bericht  des  Speculum  Perfectionis  irrtümlich 
ist:  der  Kardinal  von  Ostia  kann,  wie  sein  Itinerar  ergibt, 
damals  nicht  in  Assisi  gewesen  sein  ^.  Und  da  nach  Jor- 
danus Franz  damals  kränklich  war,  so  dafs  Elias  für  ihn 
das  Wort  führte,  so  ist  auch  die  lange  Rede  an  die  Brüder, 
von  der  das  Speculum  Perfectionis  berichtet,  nicht  wahr- 
scheinlich ^.  Will  man  den  Inhalt  von  Kapitel  68  trotzdem 
retten,  so  bleibt  nur  übrig,  dafs  die  Szene  sich  auf  einem 
andern  Generalkapitel  zugetragen  haben  mufs,  dafs  der  Be- 
richt des  Speculum  Perfectionis  also  in  jedem  Falle  hinsicht- 
lich der  Zeitangaben  Irrtümliches  enthält.  Kann  der  übrige 
Inhalt  wahr  sein?  Es  handelt  sich  um  die  dem  Kardinal 
von  Ostia  vorgetragene  Bitte  gelehrter  Brüder,  dafs  Franz 
dem  Rat  der  „fratrum  sapientum^'  etwas  mehr  folge  und 
eine  der  alten  Ordensregeln  zur  Richtschnur  nehme,  und  um 
die    schroffe  Ablehnunsr    der   Bitte   durch   Franz.     Die   Ent- 


1)  Sabatier,  Vie  de  S.  Frangois,  S.  229  meint,  alle  Kapitel 
dieser  Jahre  seien  Mattenkapitel  gewesen  und  man  dürfe  bei  dem  Aus- 
druck nicht  an  ein  einzelnes  denken.  Aber  die  Quellen  sprechen  doch 
ausdrücklich  von  einem  besonders  auffallenden  Kapitel.  Im  Speculum 
Perfectionis  hat  Sabatier  diese  Frage  nicht  erörtert,  setzt  aber  den  vom 
Kapitel  68  berichteten  Vorgang  ins  Jahr  1218  (Spec.  Perf.  S.  LXXXVIII). 
Gegen  Sabatier  auch  Lempp,  Frere  Elie,  S.  47  Anm.  1,  mit  der  Fest- 
stellung, dafs  sich  der  Vorgang  nicht  1218,  sondern  auf  einem  andern 
Kapitel  zugetragen  haben  müsse. 

2)  Sabatier,  Vie,  S.  301. 

3)  Soweit  die  Glaubwürdigkeit  des  Jordanus  in  Frage  kommt,  vgl. 
Voigt,  Denkwürdigkeiten  a.  a.  0.  S.  489 ff.  (Die  Kritik  Voigts  an 
2.  Celano  ist,  wie  erwähnt,  hinfällig,  da  es  sich  um  das  Speculum  Vitae 
und  nicht  2.  Celano  handelt.) 


QUELLEN  ZUK  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    195 

stehung  dieser  Erzählung  in  einer  spätem  Zeit,  in  der  die 
gelehrten  Brüder  den  Vertretern  der  simplicitas  und  humi- 
litas  wie  ein  Abfall  von  den  alten  Idealen  erschienen,  liegt 
aufserordentlich  nahe.  Aber  es  ist  doch  zu  betonen,  dals 
Franz  sich  bei  dieser  Gelegenheit  nicht  gegen  die  Gelehr- 
samkeit überhaupt  wendet,  sondern  nur  gegen  bestimmte 
Wünsche  dieser  gelehrten  Brüder,  wie  z.  B.  die  Berücksichti- 
gung älterer  Ordensregeln.  Ein  Gegensatz  gegen  die  ge- 
lehrten Brüder  tritt  in  der  Vita  secunda  ebenfalls  hervor 
(III,  123  und  124).  Die  Forderung  nach  Berücksichtigung 
anderer  Regeln  ist  allerdings  ein  eigenartiger  Zug,  den  man 
ohne  weitere  Anhaltspunkte  nicht  schlechtweg  für  spätere 
Erfindung  erklären  kann.  So  bleibt  das  Kapitel  zwar  ver- 
dächtig, aber  es  kann  auch  hier  ein  alter  Kern  lediglich 
überarbeitet  sein  —  auf  irgendeinem  Generalkapitel  mag  sich 
ähnliches  abgespielt  haben. 

Über  Kapitel  G9  ist  früher  bei  Kapitel  4  bereits  ge- 
sprochen worden. 

Der  Anfang  von  Kapitel  70  mit  seinen  heftigen  Anklagen 
gegen  einzelne  Brüder  steht  fast  wörtlich  ebenso  am  Schlufs 
von  2.  Celano  III,  93,  während  die  Fortsetzung  im  Speculum 
Perfectionis  und  der  Anfang  bei  Celano  sich  nicht  mitein- 
ander berühren.  Alan  mufs  damit  eine  dritte  Lesart  zu- 
sammenhalten, die  der  Codex  von  Foligno  bietet  ^ :  sie  stimmt 
mit  Speculum  Perfectionis  inhaltlich  ganz  und  am  Schlüsse 
wörtlich  überein,  fügt  aber  einzelnes  Neue  hinzu  und  beruft 
sich  ausdrücklich  auf  Mitteilungen  Bruder  Leos  an  Conrad 
von  Üffida.  Diese  drei  sich  berührenden  und  doch  vonein- 
ander abweichenden  Lesarten  weisen  zwingend  auf  eine  ge- 
meinsame Vorlage  hin  —  ein  Schlufs,  den  Faloci-Puhgnani 
hinsichtlich  Speculum  Perfectionis  (Kapitel  70)  und  Codex  von 
Foligno  bereits  gezogen  hat.  Celano  kann  davon  nicht  aus- 
geschlossen werden  —  er  müfste  denn  selber  die  älteste  Quelle 
sein.  Nimmt  man  jene  Berufung  auf  Bruder  Leo  als  wahr 
an,  so  mufs  auch  Celano  aus  dieser  Urquelle  geschöpft  haben. 


1)  Mise.  Franc.  VII,  S.  48  (9.  Nachtragskapitel  ziuii  Spcc.  Pcrf.); 
g.  oben  S.  154. 

13* 


196  GOETZ, 

Kapitel  71  ist  wiederum  völlig  selbständig  in  der  ganzen 
älteren  Literatur.  Es  behandelt  die  Frage  eines  Genossen, 
warum  Franz  gegen  die  laxen  Glieder  des  Ordens  nicht  ein- 
schreite. Beglaubigt  ist  der  Text  dadurch,  dafs  Ubertino  ihn 
als  Aufzeichnung  Bruder  Leos  zitiert ;  eine  Lokalbestimmung 
am  Anfang,  die  sowohl  Ubertino  wie  der  Codex  Vaticanus 
4354  haben  \  zeigt,  dafs  der  Text  Sabatiers  nicht  der  Ur- 
text zu  sein  braucht.  Ist  die  Beglaubigung  Ubertinos  für 
den  alten  Ursprung  dieser  Erzählung  ausreichend?  Überall, 
wo  die  Konflikte  im  Orden  so  stark  betont  werden,  vermutet 
man  eher  noch  als  sonst  den  Niederschlag  der  späteren  Kämpfe. 
An  der  Tatsache  der  Konflikte  ist  ja  nach  den  Berichten 
der  Vita  secunda  nicht  zu  zweifeln ;  aber  der  Inhalt  dieses 
Kapitels  ist  durchaus  eigenartig:  in  der  Begründung  seiner 
Untätigkeit  gegenüber  den  Lässigen  wird  —  ähnlich  wie  in 
Kapitel  2  —  eine  Charakteristik  des  Heiligen  gegeben,  die 
bei  ihrer  Sachlichkeit  weit  mehr  ist  als  ein  tendenziöser  An- 
grifi"  auf  die  Gegner  der  Spiritualen.  Hätte  sich  die  Tendenz 
nicht  damit  begnügt,  die  Klagen  und  Drohungen  des  Heiligen 
wiederzugeben  ?  Statt  dessen  will  er  nur  durch  sein  Beispiel 
wirken;  die  Strafe  überläfst  er  Gott.  In  dieser  Charakteristik 
liegt  innere  Wahrheit,  die  für  die  Echtheit  des  Kapitels  spricht  ^. 
Aber  mehr  kann  man  nicht  sagen,  als  dafs  die  Echtheit  aus  diesem 
inneren  Grunde  und  um  Ubertinos  Zeugnis  willen  sehr  wahr- 
scheinlich ist.  Denn  anderseits  legt  der  lange  Wortlaut  der  Frage 
wie  der  Antwort  den  Zweifel  nahe,  ob  er  völlig  authentisch 
sein  kann  —  gleichzeitig  ist  er  doch  nicht  aufgezeichnet 
worden,  und  wenn  Leo  ihn  später  abfafste,  so  mag  er  zu- 
sammengefafst  haben,  was  in  der  Sache  zu  sagen  war. 

Auf  Kapitel  7 1  folgt  ein  Abschnitt,  den  Sabatier  als  Inter- 
polation bezeichnete,  weil  die  Erwähnung  Conrads  von  Offida 
der  von  Sabatier  angenommenen  frühen  Entstehungszeit  des 
Speculum  Perfectionis  widersprach,  weil  einige  Handschriften 
den  Abschnitt   nicht   als  besonderes  Kapitel  bezeichnen  und 

1)  Vgl.  auch  Lern  mens,  Scripta  fr.  Leonis,  S.  95. 

2)  Sabatier,  Francisei  Bartholi  Tractatus,  S.  122  stützt  die  Echt- 
heit auch  auf  die  verwandte  Anschauung,  die  im  Brief  au  den  General- 
minister vorliege. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    197 

weil  er  in  zwei  älteren  italienischen  Übersetzungen  fehlt.  Aber 
einmal  bringt  der  Codex  von  Foligno  denselben  Text  ^,  und 
zweitens  ist  das  Kapitel  dann  weit  weniger  anstöfsig,  wenn 
man  überhaupt  eine  Überarbeitung  des  Ganzen  im  Jahre 
1317  annehmen  mufs.  Von  diesem  Standpunkt  aus  ist  es 
vielmehr  wesentlich,  dafs  Conrad  von  Offida  hier  wiederum 
Zeuge  für  Aufzeichnungen  Bruder  Leos  ist.  Hier  dieses 
Zeugnis  ablehnen  und  anderwärts  ihn  oder  Ubertino  als 
Kronzeugen  annehmen,  würde  eine  starke  Inkonsequenz  sein. 
Eine  Beziehung  zu  Leo  mufs  also  hier  angenommen  werden. 
Der  Inhalt  dieser  Aufzeichnungen  zeigt  allerdings,  dafs  auch 
Leo  an  der  Legendenbildung  Anteil  nahm  —  sie  sind  aus 
den  Erlebnissen  späterer  Tage  entstanden. 

Kapitel  72  ist  viel  ausführlicher  als  das  parallele  Kapitel 
der  Vita  secunda  III,  100,  wo  vor  allem  jeghcher  Angriff 
auf  Wissenschaft  und  Bücher  fehlt.  Eben  dieser  Angriff 
macht  das  Speculura  Perfectionis  hier  etwas  verdächtig.  Es 
wäre  falsch  zu  schliefsen,  dafs  das  Fehlen  dieses  Angriffes 
in  der  Vita  secunda  diese  verdächtig  mache  ob  beschwich- 
tigender Tendenz:  Celano  hat  sich  anderwärts  (III,  8,  123, 
124)  über  diesen  Punkt  genugsam  und  mit  Schärfe  geäufsert, 
80  dafs  er  hier  die  Angriffe  seiner  etwaigen  Vorlage  mit 
gutem  Gewissen  übergehen  konnte.  Für  das  Speculum- 
Kapitel  spricht,  dafs  Ubertino  Stellen  daraus  mit  dem  Hin- 
weis auf  Bruder  Leo  zitiert  und  dafs  der  Text  einen  An- 
haltspunkt für  die  Echtheit  bietet:  die  Worte  „isti  sunt 
fratres  mei  milites  tabulae  rotundae"  darf  man  wohl  ohne 
weiteres  als  authentisch  ansehen,  da  man  sich  nicht  denken 
kann,  dafs  ein  mönchischer  Legendenschreiber  sie  erfunden 
haben  sollte.  Gegen  die  Authentizität  des  ganzen  Wort- 
lautes dieses  Kapitels  spricht  auch  hier  die  Länge  der  Worte 
des  Heiligen  —  Ausbau  und  Überarbeitung  sind  wahrschein- 
lich, wenn  auch  ebenso  unbeweisbar  wie  vollständige  Erfin- 
dung eines  Kompilators. 

In  Kapitel  73  fordert  Franz  auch  von  der  Oberschicht 
des  Ordens,  den  Ministern  und  Predigern,  Werke  der  Demut 


1)  Mise.  Franc.  VII,  S.  48. 


198  GOETZ, 

wie  Gebet,  Bettel,  Handarbeit  und  anderes,  was  den  Brüdern 
ein  gutes  Beispiel  sei.  Das  Kapitel  fehlt  bei  Celano;  ent- 
stand diese  Aufzeichnung  Leos  vielleicht  erst  in  späterer 
Zeit?  Oder  wollte  Celano  die  Ordensoberen  schonen?  Beides 
ist  möglich  —  mehr  läfst  sich  nicht  behaupten. 

Kapitel  74  simmt  fast  wörtlich  mit  2.  Celano  III,  95 
überein,  nur  dafs  hier  eine  kurze  allgemeine  Betrachtung 
vorausgeschickt  und  der  Vorgang  als  nächtlicher  auf  eine 
Einsiedelei  bei  Öiena  lokalisiert  ist.  Es  läfst  sich  hier  wie 
bei  dem  folgenden  Kapitel  75  (fast  wörtlich  gleich  2.  Celano 
III,  97)  nichts  über  Priorität  entscheiden  ^ 

Kapitel  76  und  77  kann  man  mit  mehr  Sicherheit  als 
die  Vorlage  von  2.  Celano  III,  135  ansehen.  Aus  zwei  Ka- 
piteln ist  eins  gemacht  —  das  ist  wahrscheinlicher  als  die 
Zerlegung  eines  Kapitels  in  zwei.  Ferner  sind  kleine  Ab- 
weichungen im  Wortlaut  der  Texte  bezeichnend :  wo  Spe- 
culum  Perfectionis  „viam  crucis,  statum  perfectionis"  sagt, 
steht  bei  Celano  „viam  perfectionis",  was  ganz  wie  eine  Zu- 
sammenziehung der  breiteren  Vorlage  aussieht;  und  dafs 
Celano  bei  der  Erzählung  vom  Märtyrer  hinzusetzt:  „signis- 
que  et  prodigiis  postmodum  claruit "  klingt  ebenfalls  wie  ein 
Zusatz  zur  schlichteren  Vorlage  -. 

Kapitel  78  stimmt  fast  wörtlich  mit  der  zweiten  Hälfte 
von  2.  Celano  I,  16.  Franz  beschliefst,  seine  religio  unter 
die  Obhut  der  römischen  Kurie  zu  stellen;  Celano  läfst  den 
Entschlufs  aus  einer  Vision  und  aus  Beobachtungen  des 
Heiligen  über  drohende  Gefahren  entstehen.  Im  Speculum 
Perfectionis  beginnt  die  Erzählung  mit  den  Worten:  „Di- 
cebat  b.  Franciscus"  etc.    Hat  die  sich  entwickelnde  Über- 


1)  Minocchi,  Studi  Nuovi,  ist  bei  Kap.  74—77  anderer  Meinung; 
hier  wie  anderwärts  kann  ich  mich  seinen  allzu  kurz  gefafsten  Beweisen 
nicht  anschliefsen. 

2)  Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  149  Anra.  2  sieht  eine  Absicht  Ce- 
lanos darin,  dafs  der  Zusatz  des  Spec.  Perf.,  die  Befolgung  der  Regel 
sei  gleich  der  vollkommenen  Befolgung  des  Evangeliums ,  weggelassen 
sei.  Aber  natürlich  können  diese  Worte  auch  ein  Zusatz  des  Kompi- 
lators  sein.  Dem  Sinne  nach  sagt  Celano  nichts  Geringeres  als  das 
Spec.  Perf. 


QUELLEN  ZUK  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    199 

liefei'ung  die  Begründung  des  Entschlusses  erst  hinzugefügt 
oder  hat  ein  Konipilator  aus  seiner  Vorlage  nur  gerade  die 
Worte  Franzens  herausgenommen?  Wahrscheinlicher  ist  die 
erste  Möglichkeit,  aber  beweisen  kann  man  sie  nicht.  Für 
den  Charakter  des  Speculum  Perfectionis  ist  dieses  Kapitel 
aufserordentlich  wichtig  —  stände  diese  Stelle  nur  bei  Ce- 
lano, wie  würde  auf  die  kurienfreundliche  Tendenz  des  Ver- 
fassers hingewiesen  werden!  Es  ist  die  beste  Verteidigung 
Celanos,  dafs  im  Speculum  Perfectionis  genau  dasselbe  steht; 
wer  die  Erzählungen  des  Speculum  Perfectionis  auf  den  ver- 
trauten Jüngerkreis  zurückführt,  wird  infolgedessen  diesem 
keine  allzu  erbitterte  Rolle  gegenüber  der  Kurie  zuschreiben 
dürfen. 

Kapitel  79  wird  als  auf  Leo  zurückgehend  beglaubigt 
durch  die  im  übrigen  gleiche  Erzählung  bei  Thomas  von 
Eccleston  ^  Dafs  das  Kapitel  aus  Eccleston  gescluipft  sei, 
ist  nicht  anzunehmen,  denn  nirgends  sonst  ist  im  Speculum 
Perfectionis  eine  Benutzung  Ecclestons  nachweisbar.  Gab 
sich  etwa  sonst  nur  keine  Gelegenheit,  da  Ecclestons  Er- 
zählung sich  bei  ihrem  Gegenstand  mit  dem  Speculum  Per- 
fectionis nicht  öfter  berühren  konnte?  Gemeinsame  Vor- 
lage ist  in  diesem  Fall  das  wahrscheinlichere,  und  da  der 
Wortlaut  im  wesentlichen  übereinstimmt,  so  ist  eine  Auf- 
zeichnung Leos  als  Quelle  anzunehmen,  da  das  Zeugnis  Leos 
an  anderer  Stelle  bei  Eccleston  als  Quelle  feststeht  (vgl. 
oben  S.  G5). 

Kapitel  80  berührt  sich  eng  mit  2.  Celano  111,  IIG,  wo 
jedoch  der  einleitende  Absatz  des  Speculum  Perfectionis 
fehlt.  Im  übrigen  schwankt  der  Text  mit  Erweiterungen 
und  Verkürzungen  hin  und  her;  einmal  macht  das  Speculum 
Perfectionis,  das  andere  Mal  Celano  mehr  oder  auch  weniger 
Worte  —  im  ganzen  ist  das  Speculum  Perfectionis  etwas 
bi'citer,  so  dafs  man  sagen  könnte,  Celano  suchte  seine 
eventuelle  Vorlage  etwas  zu  kürzen.  Aber  natürlich  ist  das 
auch  hier  kein  zwingender  Schlufs  '^. 

1)  Vgl.  Sabatier,  Spcc.  Porf.,  S.  152  Aiiin.  1. 

2)  Sabatier,  Spec.  Pcrf.,  S.  157  Anm.  1  spiicbt  Celano  pejrenüber 
von  „quelques   legeres  suppressions".    Aber  es  wird  nicht  zu  beweisen 


200  GOETZ, 

Das  umfangreiche  Kapitel  81  findet  sich  bei  2.  Celano 
III,  94  in  einer  weit  kürzeren  Form.  Es  handelt  sich  um 
Worte  des  Herrn  an  Franz  und  um  ein  Selbstgespräch  — 
Dinge,  die  wohl  der  getreuesten  Wiedergabe  würdig  waren, 
wenn  sie  in  authentisch  erscheinender  Form  vorlagen.  Man 
kann  nun  das  Kapitel  81  nicht  lesen,  ohne  sich  der  reicher 
werdenden  Legendenbildung  sofort  bewufst  zu  werden.  Eine 
Druckseite  nimmt  ein,  was  der  Herr  zu  Franz  sagte.  Wer 
zeichnete  das  auf?  Welcher  Forscher  wird  derartiges  anders 
ansehen  denn  als  Legende?  Und  da  ist  diejenige  Quelle 
unzweifelhaft  die  ältere,  die  mit  den  Worten  des  Herrn 
noch  nicht  so  verschwenderisch  umgeht.  Die  Priorität  Ce- 
lanos mufs  an  dieser  Stelle  behauptet  werden.  Bis  auf  die 
drei  letzten  Sätze  ist  der  Text  des  Speculum  Perfectionis 
tatsächlich  auch  nichts  anderes  als  eine  rhetorische  Erweite- 
rung eines  im  Kerne  gleichen  Inhalts.  Nur  die  letzten  Sätze 
bringen  neue  Nachrichten:  Franz  habe  derartiges  den  Brü- 
dern „in  collatione  verborum  et  in  capitulis  saepius"  gesagt; 
es  folgt  noch  eine  Bemerkung  Franzens  über  die  Leitung 
des  Ordens.  Diese,  wie  mir  scheint,  guten  Nachrichten  retten 
das  Vorangehende  nicht;  aber  sie  zeigen,  dafs  es  sich  eben 
um  eine  Überarbeitung  handelt,  bei  der  alte  und  überarbeitete 
Bestandteile  nebeneinander  stehen.  Bei  Celano  findet  sich 
die  ursprüngliche  Vorlage  in  einer  reineren,  wenn  auch  viel- 
leicht (betr.  Franzens  Anreden  auf  den  Kapiteln  usw.)  ge- 
kürzten Form;  das  Speculum  Perfectionis  ist  die  volle  Ent- 
wicklung der  Urvorlage  zum  Legendarischen,  aber  mit  Be- 
wahrung ihrer  sämtlichen  Bestandteile. 

Kapitel  82  beginnt  mit  einer  Lobpreisung  der  Portiuncula 
und  gibt  dann  Bestimmungen  Franzens  gegen  den  Müfsig- 
gang  und  gegen  müfsige  Worte.  Die  Vita  secunda  III,  96 
hat  in  gedrängter  Kürze  nur  Bestimmungen  „contra  verba 
otiosa ".  Dafs  bei  Celano  die  Lobpreisung  der  Portiuncula 
und  die  Empfehlung  der  Arbeit  gegen  den  Müfsiggang  fehlt, 
ist  durchaus  berechtigt:  beides  hat  Celano  an  anderer  Stelle 

sein,  dafs  Celano  irgend  etwas  von  Bedeutung  unterdrückt  habe;  bei 
ihm  stellt  Franz  genau  so  strenge  Anforderungen  an  den  Generalminister 
wie  im  Spec.  Perf. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    201 

vorgebracht.  'Aber  die  Straf bestimmungen  gegen  müfsige 
Worte  sind  im  Speculum  Perfectionis  allem  Anscheine  nach 
original  —  wer  hätte  später  darauf  kommen  sollen,  als  Strafe 
neben  dem  Pater  noster  auch  das  Aufsagen  der  Laudes  Do- 
mini zu  verlangen?  Wenn  auch  dieses  Kapitel  überarbeitet 
sein  mag  —  wofür  der  andere  Eingang  im  Codex  Vatic.  4354 
spricht  — ,  so  liegt  ihm  doch  gute  alte  Überlieferung  zugrunde. 

Kapitel  83  entspricht  fast  wörthch  1.  Celano  II,  7,  nur 
dafs  der  Text  im  Speculum  Perfectionis  noch  etwas  erweitert 
ist.  Es  kann  nicht  strittig  sein,  dafs  dieses  Kapitel  aus 
1.  Celano  übernommen  ist  und  keine  weitere  Beachtung 
verdient  ^ 

Dafs  Kapitel  84  —  gereimte  Hexameter  zum  Lob  der 
Portiuncula  —  ein  Zusatz  späterer  Zeiten  sein  mufs,  wird 
ebensowenig  zu  bestreiten  sein  ^. 

In  Kapitel  85  beschreibt  Franz  den  vollkommenen  Minder- 
bruder und  nennt  verschiedene  von  den  ältesten  Brüdern  als 
Beispiele  der  Vollkommenheit,  unter  ihnen  auch  um  seiner 
simplicitas  und  puritas  willen  den  Bruder  Leo,  „qui  vere 
fuit  sanctissimae  puritatis".  Das  Kapitel  ist  eine  weitere 
Ausführung  desjenigen,  was  1.  Celano  II,  6  ohne  Namens- 
nennung über  die  Vortrefflichkeit  des  engeren  Jüngerkreises 
gesagt  ist.  —  Die  namentliche  Aufzählung  dieser  beispiel- 
gebenden Brüder  und  verschiedene  Ausdrücke,  die  in  eine 
zurückliegende  Zeit  verweisen  („vita  et  conditiones  istorum 
sanctorum  fratrum",  „Johannes  de  Laudibus,  qui  tempore 
illo"  etc.)  bestätigen,  dafs  hier  eine  Überarbeitung  späterer 
Zeit  vorliegen  mufs,  um  Leos  Erwähnung  willen  wohl  erst 
nach  seiner  Zeit  (gest.  1271)^.  Ob  auch  hier  aufser  der 
Anlehnung  an  1.  Celano  andere  Bestandteile  zugrunde  liegen  V 
Sabatier  hat  darauf  hingewiesen,  dafs  der  in  diesem  Kapitel 
genannte  Bruder  Johannes    de  Laudibus   von  Salimbene   als 


1)  Vgl.  den  Nachweis   bei  Tilemanu  S.  31  f.   und   Barbi,   Bull. 
d.  Soc.  Dant.  VII,  S.  89. 

2)  Vgl.  Eubel,  Röin.  QuSchr.  XII  (1898),  S.  32G;  P.  Alenyon, 
Mise.  Franc.  VII,  S.  55. 

3)  Eine    etwas    andere   Lesart    dieses   Kapitels    aus    einer   floreut. 
Handschrift  erwähnt  Barbi,  Bull.  d.  Soc.  Dant.  VII,  S.  97  Anm.  3. 


202  GOETZ, 

Anhänger  des  Elias  und  als  Quäler  der  Brüder  geschildert 
wird  ^;  sein  Name  würde  also  wie  der  des  Elias  später  wohl 
absichtlicher  Vergessenheit  anheimgefallen  sein.  Sabatier  hat 
geschlossen,  dafs  um  dieser  Erwähnung  willen  das  Kapitel 
überhaupt  in  die  allerfrüheste  Zeit  gehöre.  Dem  stehen  die 
vorher  genannten  Gründe  entgegen;  je  höher  man  den  Text 
hinaufrücken  will,  um  so  stärker  werden  diese  Gegengründe. 
Eher  könnte  man  sagen,  dafs  diese  Worte  über  Johannes 
de  Laudibus  erst  in  einer  Zeit  entstanden  seien,  wo  die  Er- 
innerung an  ihn  tatsächlich  völlig  verblafst  war,  so  dafs  man 
seinen  Namen  arglos  aufnahm.  Dann  müfsten  aber  immer- 
hin alte  Aufzeichnungen  zugrunde  gelegen  haben.  Das  Ka- 
pitel zeigt,  dafs  auch  da,  wo  das  meiste  für  eine  spätere 
Zeit  spricht,  nicht  alle  Bedenken  für  und  wider  gelöst  wer- 
den können. 

Kapitel  86  unterscheidet  sich  von  2.  Celano  III,  56  nur 
durch  andere  Eingangsworte  und  einen  andern  Schlufs. 
Hinsichtlich  des  Eingangs  ist  Celano  gerechtfertigt,  denn  er 
hat  im  vorangehenden  Kapitel  bereits  im  allgemeinen  von 
derselben  Frage  gesprochen.  Der  Schlufs  des  Speculum- 
Kapitels  ist  bei  Celano  im  nächsten  Kapitel  verarbeitet;  die- 
selbe Wendung  („Quis  non  deberet  timere  respicere  spon- 
sam  Christi?")  steht  da  mitten  in  einem  andern  Beispiele. 
Hat  der  Kompilator  des  Speculum  Perfectionis  nur  diese 
Wendung,  die  Quintessenz  der  Erzählung  Celanos,  noch  her- 
ausgegriffen, oder  hat  Celano  aus  diesen  Schlufsworten  des 
Speculum  Perfectionis  eine  neue  Erzählung  gemacht?  Der 
erste  Fall  scheint  mir  der  wahrscheinlichere.  Denn  einmal 
ist  diese  Möglichkeit  bei  Quellenabhängigkeit  die  näher 
liegende;  zweitens  ist  der  Schlufssatz  des  Speculum  Perfec- 
tionis (beginnend  mit  „Dicebat  ergo")  etwas  unverbunden 
an  die  vorangehende  Erzählung  angehängt,  und  drittens  bietet 
eine  Stelle  des  Textes  ein  weiteres  Zeichen  der  Priorität  Ce- 
lanos. Es  heifst  nämlich  im  Speculum  Perfectionis  bei  der 
Antwort  des  Boten:  „,Optime,  inquit,  mihi  videtur,  quia 
libenter  et  patienter  audivit.'     Iste  respondit  sagaciter."    Ce- 


1)  Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  1G9  Anm.  1. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    203 

lano  sagt:  „Optime  quidera;  quoniam  silenter  audivit,  re- 
spondit  sagaciter."  Es  kann  nun  kein  Zweifel  sein,  dafs  der 
Text  Celanos  der  richtige,  der  des  Speculum  Perfectionis 
(der  sich  in  allen  Handschriften  ebenso  findet)  der  unrich- 
tige, der  die  Vorlage  mifsverstehende  ist ;  denn  darauf  kommt 
es  gerade  an,  dafs  dieser  Bote  nicht  sagaciter  antwortet. 
Ich  kann  deshalb  diesem  Kapitel  keine  Priorität  zugestehen  — 
Celano  kann  nicht  danach  gearbeitet  haben  ^ 

Kapitel  87  steht  für  sich.  Der  ganze  erste  Teil,  die 
Klage  der  Jünger  um  den  möglichen  Verlust  des  Führers, 
ist  von  einer  Rhetorik,  dafs  Celano  es  nicht  besser  gemacht 
haben  könnte.  Die  naive  Einfachheit  des  Stils,  die  man 
vom  Speculum  Perfectionis  gerühmt  hat,  versagt  hier  ganz. 
Das  Kapitel  ist  eine  ausführlichere  Wiedergabe  desjenigen, 
was  1.  Celano  II,  8  (=:  n.  109)  erzählt  hat.  Aber  es 
kommen  neue  Elemente  hinzu:  Bruder  Benedikt  von  Pirato 
mufs  den  Segen  des  Sterbenden  aufzeichnen ;  Elias,  auf  den 
bei  Celano  deutlich  hingewiesen  ist,  verschwindet  hier  ganz. 
Der  Inhalt  des  Segens  wird  ausführlicher  gegeben  als  bei 
Celano  Ein  eigentlicher  Widerspruch  gegenüber  Celano  be- 
steht aber  nicht.  Dafs  EHas  verschwiegen  wurde,  hat  seinen 
guten  Grund  —  von  ihm  sollte  später  nichts  Kühmliches 
mehr  gesagt  werden;  dafs  Bruder  Benedikt  den  Segen  auf- 
zeichnete, ist  eine  annehmbare  Ergänzung  zu  Celano, 
ebenso  wie  der  Inhalt  des  Segens  neben  der  Fassung  Ce- 
lanos als  Ergänzung  zu  Recht  bestehen  kann,  denn  aus  den 
mancherlei  Abschiedsworten,  die  Franz  vor  seinem  Tode  ge- 
sprochen haben  wird,  konnte  die  Überlieferung  schöpfen  — 
das  zeigen  die  kleinen  Unterschiede  in  der  Schilderung  der 
Vita  prima  II,  8  und  der  Vita  secunda  III,  189,  die  eben- 
falls Ergänzungen  bietet.  Das  Speculum  Perlectionis  be- 
ansprucht den  authentischen,  weil  sogleich  aufgezeichneten 
Text  der  benedictio  zu  haben;  es  fehlt  in  ihr  die  Sünden- 
vergebung, die  Franz  in  der  Vita  prima  für  alle  Brüder 
ausspricht;  es  fehlt  die  Erwähnung  der  patientia  und  des 
Evangeliums,  von  denen  in  der  Vita  secunda   die  Rede  ist. 


1)  Ebenso  entscheidet  sich  Minocchi,  Niiovi  Stiidi,  S.  114. 


204  .  GOETZ, 

Dafs  man  in  jenen  Zeiten  ein  geringeres  Mafs  von  Gewissen- 
haftigkeit bei  der  Weitergabe  „  authentischer "  Worte  besafs, 
gibt  uns  von  Anfang  an  eine  gewisse  Zurückhaltung  gegen- 
über solchen  auf  Authentizität  pochenden  Berichten ;  was 
aber  für  die  Fassung  des  Speculura  Perfectionis  einnimmt, 
ist  sowohl  die  Erwähnung  des  Benedikt  von  Pirato  *  wie 
die  Ermahnung  am  Schlufs,  dafs  die  Brüder  „semper  prae- 
latis  et  clericis  sanctae  matris  ecclesiae  fideles  et  subditi 
existant".  Zu  dieser  Ermahnung  hätten  sich  spiritualistische 
Kompilatoren  aus  freien  Stücken  wohl  kaum  entschlossen. 
Auch  das  Ende  des  Kapitels  nimmt  für  seine  Echtheit  ein: 
es  berichtet,  wie  Franz  am  Schlufs  der  Generalkapitel  die 
Brüder  zu  segnen  pflegte.  Bedenkt  man  diese  annehmbaren 
Züge  des  Inhalts  und  daneben  die  Rhetorik  des  Anfangs 
wie  die  Abweichungen  von  Celano,  ebenso  die  verschiedenen 
handschriftlichen  Lesarten  ^,  so  wird  man  auch  hier  zu  dem 
Schlüsse  neigen,  in  der  Erzählung  des  Speculum  Perfectionis 
eine  Überarbeitung  alter  Überlieferung  zu  sehen. 

Gegen  Kapitel  88  erheben  sich  dann  freilich  gewichtige 
Bedenken.  Denn  es  berichtet  von  neuem  die  benedictio. 
Entweder  hätte  also  Franz  die  Brüder  vor  seinem  Tode 
wiederholt  gesegnet  —  dann  würden  die  Abweichungen  des 
87.  Kapitels  von  dem  Bericht  Celanos  vollkommen  gerecht- 
fertigt sein  — ,  oder  es  ist  bei  der  Kompilation  zusammen- 
gestellt worden,  was  an  verschiedenen  Berichten  über  Franzens 
letzte  Lebenstage  vorlag.  Nun  klingen  zwei  Stellen  dieses 
Kapitels  so  stark  wörtlich  an  2.  Celano  III,  139  an  („fecit 
vocari  omnes  fratres  existentes  in  loco"  und  „jussit  appor- 
tari  sibi  panes"  etc.),  dafs  dieses  ganze  Kapitel  wie  eine 
weitere  Ausführung  des  bei  Celano  kurz  Zusammengefafsten 
erscheint.  Diese  weitere  Ausführung  könnte  trotzdem  selb- 
ständig sein  oder  auf  gemeinsame  Vorlage  zurückgehen,  wenn 
es  eben  nicht  mit  dem  Inhalt  von  Kapitel  87  koüidierte. 
Ich  kann  ihm  deshalb  keine  Originalität  beilegen. 


1)  Lemmens,    Doc.  ant.   II,    S.  65    hat   die  Lesart   Prato    statt 
Pirato. 

2)  Vgl.  Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  177  Anm.  1. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL    205 

Kapitel  89  kann  auf  alte  Überlieferung  zurückgehen; 
mehr  ist  darüber  nicht  zu  sagen  ^ 

Kapitel  90,  wie  das  vorangehende  ohne  Beziehung  zu 
Celano,  berichtet  von  den  letzten  Kundgebungen  Franzens 
für  die  Klarissen:  ein  für  sie  verfafstes  Gedicht  cum  cantu 
wird  erwähnt,  ein  Schreiben  wird  in  seinem  Inhalt  angegeben. 
Diese  Inhaltsangabe  zwingt  zu  dem  Schlüsse,  dafs  der  Be- 
richterstatter direkt  oder  indirekt  an  das  Original  angeknüpft 
hat,  wie  auch  die  Erwähnung  des  Liedes  auf  gute  Quellen 
schliefsen  läfst.  Die  Authentizität  dieses  Kapitels  erscheint 
deshalb  gesichert. 

Auch  Kapitel  91  hat  kein  Gegenstück  in  der  übrigen 
Überlieferung;  leise  Anklänge  an  1.  Celano  II,  4  und  5  sind 
vorhanden,  ohne  irgendwelche  Gegensätze  —  nur  dafs  im 
Speculum  Perfectionis  der  Beginn  des  Augenleidens  genauer 
bezeichnet  wird.  Das  Kapitel  enthält  nichts,  was  zu  einer 
Verwerfung  Anlafs  gibt;  aber  Fortbildung  der  Überheferung 
mag  in  den  Worten  des  Kardinals  vorliegen. 

Kapitel  92  ist  die  breitere  Ausführung  der  Szene,  die  bei 
2.  Celano  I,  6  in  zwei  Zeilen  angedeutet  ist.  Das  Speculum 
Perfectionis  fügt  am  Schlüsse  hinzu:  „Hunc  virum  noviraus 
et  ab  ipso  hoc  intelleximus,  qui  etiam  fecit  multam  consola- 
tionem  et  misericordiam  b.  Francisco  et  nobis  sociis  eins." 
Das  Berichtete  ist  derart  harmlos  und  frei  von  Tendenz, 
dafs  eine  solche  Beglaubigung  in  keiner  Weise  notwendig 
war  —  eben  deshalb  erscheint  sie  glaubwürdig.  Das  Ka- 
pitel gehört  zu  denen,  wo  man  ohne  Bedenken  an  alten 
Ursprung  glauben  und  sagen  kann,  dafs  es  wohl  in  der- 
selben Form  für  Celano  die  Vorlage  gewesen  ist. 

Kapitel  93  steht  in  stark  wörtlicher  Übereinstimmung 
mit  2.  Celano  III,  67.  Aber  hier  hat  Celano  einmal  das 
Zeugnis  der  Autopsie:  „ut  oculis  vidimus"  ist  der  Beschrei- 
bung eingefügt.  Ist  damit  die  Priorität  Celanos  erwiesen? 
Dieser  Schlufs  liegt  nahe;  dann  ergibt  sich  aber  auch,  dafs 
der  Verfasser  oder  Kompilator  des  Speculum  Perfectionis,  der 


1)   Miiiocchi,   Nuovi  Studi,  S.    114   bält    die   Priorität   CelauoB 
für  gcwifs. 


206  GOETZ, 

von  Augenzeugen  nichts  erwähnt,  nicht  darauf  ausging,  so 
viel  als  möglich  mit  Autopsie  zu  prunken  und  das  geistige 
Eigentum  anderer  Leute  für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Er  schrieb,  wie  die  kleinen  Abweichungen  im  Wortlaut 
zeigen,  seine  Vorlage  auch  nicht  schlechtweg  aus.  Das  Vor- 
handensein von  Aufzeichnungen  der  Augenzeugen,  von  denen 
sowohl  Celano  (der  in  diesem  Falle  mit  andern  Brüdern 
Augenzeuge  gewesen  sein  konnte)  wie  das  Speculum  Per- 
fectionis  ausging,  bleibt  daneben  aber  ebenfalls  möghch  ^. 

Bei  Kapitel  94  und  95,  die  sich  mit  2.  Celano  III,  39 
und  65  berühren,  läfst  sich  nichts  feststellen  ^. 

Kapitel  96  ist  weit  umfangreicher  als  2.  Celano  III,  68, 
und  man  könnte  an  eine  blofse  Erweiterung  des  von  Celano 
Gegebenen  denken,  wenn  nicht  in  der  Anordnung,  im  Wort- 
laut und  im  Inhalt  starke  Verschiedenheiten  vorhanden 
wären.  Die  wichtigste  der  sachlichen  Abweichungen  ist,  dafs 
Celano  eine  Aufzeichnung  zitiert ,  die  Franz  „  pro  generali 
commonitione  in  quodam  capitulo  scribi  fecit",  während  das 
Speculum  Perfectionis  ein  anderes  Zitat  bringt  mit  dem  Zu- 
satz: „unde  in  quadam  sua  admonitione  clarius  expressit" 
etc.  Es  ist  früher  (S.  42  f)  bereits  von  diesen  Zitaten  die 
Hede  gewesen.  Für  das  Verhältnis  des  Speculum  Perfec- 
tionis zur  Vita  secunda  ergibt  sich  aus  dieser  Verschieden- 
heit, dafs  auch  hier  keine  direkte  Benutzung  stattgefunden 
haben  kann;  ein  gleichartiger  Kern  hat  sich  in  beiden  Quellen 
auf  verschiedene  Weise  weiter  entwickelt.  Das  Speculum 
Perfectionis  mag  in  diesem  Falle  stärker  überarbeitet  sein 
als  die  Vita  secunda;  aber  es  behält  seinen  Wert  neben 
dieser. 

Kapitel  97  spricht  von  Franzens  Anschauung  über  das 
Verhältnis  der  Brüder  zu  ihrem  Körper:  er  warnt  vor  zu 
starker  Askese.  2.  Celano  III,  69  gibt  mit  fast  ganz  ab- 
weichendem Wortlaut  denselben  Inhalt,  aber  es  wird  noch 
hinzugefügt,  dafs  Franz  für  sich  selber  diesen  Anschauungen 


1)  Miuocclii,  Nuovi  Studi,  S.  114  schliefst,  weil  Celano   sich  als 
Augenzeuge  bekenne,  müsse  er  die  Priorität  haben. 

2)  Das  Spec.  Perf.  widmet  Franzens  Stellung  zum  Gebet   ein  Ka- 
pitel, die  Vita  sec.  sechs. 


V 

i 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    207 

zuwider  handelte.  Die  Abweichung  im  Wortlaut  berechtigt 
auch  hier  zu  dem  Schlufs,  dafs  eine  geraeinsame  Vorlage 
überarbeitet  worden  ist. 

Von  Kapitel  98  ist  im  Vergleich  mit  2.  Celano  III,  10 
nichts  Entscheidendes  zu  sagen;  die  etwas  genauere  Orts- 
bestimmung im  Speculum  Perfectionis  („in  eremitorio  Greccii 
in  cella  ultima  post  cellam  maiorem")  klingt  allerdings,  als 
ob  ein  Augenzeuge  die  Worte  geschrieben  hätte. 

Bei  Kapitel  99  ist  die  Ortsbestimmung  am  Anfang  Avohl 
auf  die  Ungeschicklichkeit  eines  Kompilators  zurückzuführen ; 
2.  Celano  III,  58  verlegt  richtiger  nur  die  Vision  nach  der 
Portiuncula.  Dagegen  kann  die  Erzählung  am  Schlüsse  des 
Kapitels  (Anfechtungen  auf  dem  Alverno),  von  der  Celano 
nichts  weifs,  als  gute  Überlieferung  angesehen  werden,  so 
dafs  es  sich  auch  hier  um  Überarbeitung  alter  Bestände 
handeln  würde. 

Kapitel  100  weicht  von  der  verwandten  Erzählung  bei 
2.  Celano  III,  138  vor  allem  dadurch  ab,  dafs  der  ganze  lokale 
Hintergrund  und  ebenso  der  ausführlichere  Bericht  über  die 
Entstehung  des  Sonnengesangs  bei  Celano  fehlt.  Sabatier 
hat  darin  die  verblassende  Entwicklung  der  Legende  fest- 
zustellen versucht;  aber  wer  bürgt  uns  dafür,  dafs  nicht  ge- 
rade in  diesen  Erweiterungen  des  Speculum  Perfectionis 
die  Entwicklung  der  Legende  liegt?  Es  spricht  wohl 
manches  in  diesem  Kapitel  für  das  Alter  dieser  Nachrichten 
(die  Mäuseplage,  der  Wunsch  nach  Fra  Pacifico,  der  Wunsch, 
dafs  nach  der  Predigt  die  Brüder  „tanquam  joculatores  Do- 
mini" die  Laudes  singen);  aber  es  ist  kein  strikter  Beweis 
damit  zu  führen,  und  eine  gewisse  Zurückhaltung  gegenüber 
diesem  Kapitel  ist  gerechtfertigt  '.    JedenfalKs  mufs  man  nach 


1)  Man  veifflficlic  für  die  Übeilicferimgsgoscliiclite,  dafs  der  Cod. 
Vatic.  4354  den  Anfang  mit  S.  Damiano  und  der  Mäuseplage  nicht 
kennt  und  dafs  die  Actus  b.  Francisci  et  sociorura  eins  in  anderem  Zu- 
sammcnliang  die  erste  Hälfte  dieses  Speciilum-Ka])itels  haben  (Kaj).  21, 
in  der  Ausgabe  Sabatiers  S.  71  f.);  ferner  dafs  der  Codex  von  Spello 
mit  seinen  vier  Tagen  der  Blindheit  ein  fiüheres  Stadium  der  Über- 
lieferung zu  i^ein  scheint  wie  di(>  Handschriften  des  Öpec.  Perf.  mit 
ihren  40  und  das  Spccuhim  Vitae  mit  50  (s.  Sabatiers  Anmerkungen 


208  GOETZ, 

allen  bisherigen  Erfahrungen  abweisen,  dafs  Celano  dieses 
Kapitel  des  Speculum  Perfectionis  nach  seinem  Beheben  zu- 
gestutzt habe;  eher  begründet  ist  die  Annahme,  dafs  seine 
Vorlage  ihm  nicht  alles  dasjenige  bot,  was  das  Speculum 
Perfectionis  enthält. 

Kapitel  101  steht  wiederum  für  sich  allein;  am  Schlüsse 
bringt  es  die  Beglaubigung  „Nos  qui  cum  b.  Francisco  fui- 
mus"  etc.  In  der  Erzählung  selber  (Versöhnimg  des  Bischofs 
mit  dem  Podesta  von  Assisi  während  der  letzten  Krankheit 
Franzens)  liegt  nichts,  was  Celano  veranlassen  konnte,  sie 
wegzulassen,  wenn  er  sie  gekannt  hätte.  Anderseits  hat  die 
Erzählung  nichts  Unglaubwürdiges  an  sich,  so  dafs  man  in 
ihr  gute  Überlieferung  sehen  kann. 

Kapitel  102  bietet  im  Vergleich  zu  2.  Celano  II,  1  einige 
Kriterien:  Celano  spricht  richtig  vom  vicarius  sancti,  das 
Speculum  Perfectionis  vom  generalis  minister,  und  das  Spe- 
culum Perfectionis  spinnt  aufserdem  die  Erzählung  mit  einer 
neuen  Szene  weiter.  Dagegen  freilich  klingt  am  Schlüsse 
des  Speculum-Kapitels  der  Augenzeuge  durch  („valde  mirati 
fuimus"  etc.).  Die  Wahrscheinlichkeit  einer  Überarbeitung 
des  Urtextes  liegt  vor. 

Kapitel  103  ist  breiter  als  2.  Celano  II,  9,  der  nur  die 
Worte  Franzens  etwas  umfangreicher  gibt.  Celano  macht 
mit  seinen  Kürzungen  hier  den  Eindruck  eines  Auszugs  aus 
dem  Texte  des  Speculum  Perfectionis  oder  besser  der  ge- 
meinsamen Vorlage.  Im  Speculum  Perfectionis  heifst  es,  dafs 
Franz  damals  krank  im  Bischofspalaste  von  Assisi  lag;  das 
ist  eine  jener  Mitteilungen,  die  man  als  Zeichen  gut  be- 
glaubigter Überlieferung  ansehen  wird.  Derartiges  zu  er- 
finden lag  später  doch  kein  Grund  vor. 

Kapitel  104  hat  am  Schlüsse  ein  „Nos  vero  qui  fuimus 
cum  illo"  etc.  Trotzdem  wird  man  bei  diesem  Kapitel  das 
Mifstrauen  nicht  los.  Celano  hat  dieses  Wunder  (ein  be- 
raubter Weinberg  bringt  20  Salmen   Wein)  nicht;  der  Cod. 

zu  Kap.  100).  Übrigens  bringt  auch  2,  Gel.  III,  138  in  den  Worten: 
„  Has  . . .  angustias  non  poeuarum  censebat  nomine ,  sed  sororum "  ein 
„echt  franziskanisches"  Moment,  das  im  vorliegenden  Kapitel  des  Spec 
Perf.  fehlt. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    209 

Vatic.  4354  des  Speculum  Perfectionis  hat  eine  andere  Les- 
art, die  mit  derjenigen  der  Actus  b.  Francisci  et  soeiorum 
eius  Kapitel  21  zusammenfallt  —  sie  ist  zum  Teil  kürzer, 
zum  Teil  länger  als  die  hier  in  Frage  kommende.  Es  liegt 
nun  —  abgesehen  von  der  Schlufswendung  („  Nos  vero"  etc.)  — 
nicht  der  geringste  Anlafs  vor,  dieser  Fassung  den  Vorzug  als 
der  älteren  zu  geben.  Im  Gegenteil,  sie  hat  ihre  sichtbaren 
Mängel.  Sie  sagt,  dafs  Franz  „apud  ecclesiam  S.  Fabiani" 
bei  Reate  geblieben  sei  „propter  infirmitatem  oculorum". 
Aber  in  Kapitel  115  wird  berichtet,  dafs  Franz  aus  diesem 
Anlafs  im  Eremitorium  Fontis  Columbarum  bei  Reate  ge- 
weilt habe,  vom  Kardinal  von  Ostia  zu  einer  Augenkur  ge- 
zwungen. Damit  stimmt  die  Lesart  des  Codex  Vaticanus 
und  der  Actus  besser  überein :  sie  berichtet  ebenso  von  dem 
freundschaftlichem  Befehl  des  Kardinals  und  läfst  Franz  in 
S.  Fabiane  nur  deshalb  Aufenthalt  nehmen,  weil  das  neu- 
gierige, drängende  Volk  ihn  zunächst  hindert,  Rieti  zu  er- 
reichen —  aber  von  mehr  als  einem  vorübergehenden  Auf- 
enthalt will  diese  Lesart  allem  Anschein  nach  nicht  berichten. 
Ferner  ist  die  beglaubigende  Schlufswendung  fast  dieselbe 
wie  bei  Kapitel  101  —  ein  Umstand,  der  daran  gemahnt, 
dafs  die  Möglichkeit  mechanischer  Wiederholung  dieser  wich- 
tigen Worte  vorliegt;  man  wird  dadurch  in  diesem  Falle 
allerdings  mehr  auf  einen  Kompilator  als  auf  einen  Ver- 
trauten des  Heiligen  hingewiesen. 

Bei  Kapitel  105  lassen  sich  aus  dem  Vergleich  mit  2.  Ce- 
lano 11,  6  einige  Folgerungen  ziehen.  Die  beiden  Berichte 
weichen  voneinander  in  mehreren  Einzelheiten  ab;  die  Er- 
wähnung einer  Vision  am  Anfang  des  Celanoberichtes  läfst 
diesen  in  der  Legendenbildung  weiter  fortgeschritten  er- 
scheinen als  das  Kapitel  des  Speculum  Perfectionis;  auch 
die  Nachricht,  dafs  die  Adligen  von  der  Kirche  unterstützt 
wurden,  nimmt  ebenso  wie  die  Worte  „quoniam  iste  est 
Assisinatus"  für  den  Bericht  des  Speculum  Perfectionis  ein, 
als  ob  er  ein  ursprünglicheres  Stadium  der  Überlieferung 
bedeute. 

Bei  Kapitel  lOG  (=  2.  Celano  III,  64)  ist  nichts  fest- 
zustellen. 

14 


210  GOETZ, 

Kapitel  107  birgt  gegenüber  2.  Celano  II,  17  ein  stark 
legendarisches  Element.  Celano  erzählt  eine  „Prophezeiung" 
Franzens  über  Bernhard  von  Quintavalle,  die  nichts  Wunder- 
bares an  sich  hat,  sondern  nur  auf  scharfer  Menschenkennt- 
nis, wie  Franz  sie  besafs,  beruht.  Was  ist  daraus  im  Spe- 
culum  Perfectionis  geworden !  Da  beginnt  die  Erzählung 
gleich  mit  einem  Irrtum,  indem  Bernhard  der  erste  Jünger 
Franzens  genannt  wird  (Celano  sagt  hier  richtig:  der  zweite, 
während  er  ihn  an  anderer  Stelle  ebenfalls  einmal  den  ersten 
nennt,  vgl.  oben  S.  116)  und  Agidius  der  dritte,  während 
er  tatsächlich  (nach  1.  Celano  I,  10)  der  vierte  war;  ferner 
ist  die  Erzählung  hier  so  mit  Einzelheiten  zugunsten  Bern- 
hards ausgesponnen,  dafs  die  Annahme  einer  Legenden- 
bildung sich  aufdrängt.  Die  Erzählung  stimmt  zum  gröfsteu 
Teil  fast  wörtlich  mit  der  Vita  fr.  Bernardi  überein  ^ ;  eine 
verwandte  Lesart  bringen  die  Actus  b.  Francisci  et  sociorum 
eius  Kapitel  5.  Es  ist  nun  schwerlich  zu  beweisen,  dafs  im 
Speculum  Perfectionis  der  älteste  und  authentische  Bericht 
vorliege,  aus  dem  die  andern  geschöpft  seien;  Celano,  der 
mit  einer  Aufserung  in  der  Vita  Aegidii  benutzt  ist  („Vere 
usque  modo  non  fuit  cognitus  homo  iste"),  kann  ebenso- 
wenig als  ein  Auszug  aus  diesen  umfangreicheren  Berichten 
nachgewiesen  werden.  Will  man  Celano  deshalb  als  den 
späteren  ansehen,  weil  er  von  Wundern  spricht,  die  bei 
Bei'nhards  Tod  geschehen  seien,  während  das  Speculum  Per- 
fectionis nichts  davon  weifs,  so  wird  dieses  Argument  zum 
mindesten  aufgehoben  durch  den  Ii-rtum,  den  das  Speculum 
Perfectionis  hinsichthch  der  Reihenfolge  der  ersten  Jünger 
begeht.  Da  die  Erzählung  des  Speculum  Perfectionis  in 
jedem  Falle  nach  1241,  wo  Bernhard  gestorben  sein  soll, 
liegt,  so  ist  der  zeitliche  Unterschied  zwischen  ihr  und  der 
Vita  secunda  selbst  im  günstigsten  Falle  gering.  Es  ist  wahr- 
scheinlich, dafs  dieses  Kapitel  in  eine  spätere  Zeit  gehört  ^. 


1)  Anal.  Franc.  III,  S,  42,  40  und  44  f. 

2)  Celano  schliefst  mit  den  Worten:  „Hujus  Bernardi  laudes  aliis 
narrandas  reliuquimus."  Danach  scheint  eine  Vita  Bernardi  damals 
noch  nicht  vorhanden,  wohl  aber  geplant  gewesen  zu  sein.  Diese  wird 
dann  die  Legende  zuerst  ausführlich  fixiert  haben. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    211 

Kapitel  108  ist  in  seinem  zweiten  Teile  („Factum  est 
autem"  etc.)  wohl  unzweifelhaft  auf  Grund  von  1.  Celano 
II,  lU  entstanden,  wie  die  starken  Anklänge  im  Wortlaut 
zeigen.  Ein  Umstand  bestätigt  dies  noch  mehr:  bei  Celano 
bleibt  man  im  Unklaren,  ob  die  h.  Klara  und  ihre  Schwestern 
die  Klausur  verliefseu  und  an  den  in  die  Kirche  gebrachten 
Leichnam  herantraten;  das  Speculum  Perfectionis  erklärt  es 
deutlicher,  indem  es  den  Leichnam  an  das  geöffnete  Fenster 
gehoben  werden  läfst.  Es  macht  den  Eindruck ,  als  habe 
der  spätere  Schriftsteller  damit  eine  Unklarheit  des  früheren 
beseitigen  wollen.  Der  erste  Teil  des  Kapitels  gibt  einen 
Hinweis  auf  seine  Entstehungszeit;  es  ist  darin  nur  von  der 
„domina  Clara",  nicht  von  der  sancta  oder  beata  Clara  die 
Rede,  so  dafs  man  mit  Öabatier  an  einen  Zeitpunkt  vor  der 
Heiligsprechung  Klaras  (1255)  denken  mufs. 

Bei  Kapitel  109,  110  und  111  ist  nichts  festzustellen. 

Kapitel  112  berichtet  von  dem  Besuch  der  Jakoba  de 
Septemsoliis  an  Franzens  Sterbebett.  Dasselbe  Ereignis  wird 
erzählt  in  dem  Tractatus  de  Miraculis  ^,  der  als  Anhang  der 
Vita  secunda  angesehen  und  dem  Thomas  von  Celano  zu- 
geschrieben wird  (s.  unten  S.  235),  ferner  bei  Bernhard  von 
Bessa  ^  und  in  den  Actus  b.  Francisci  et  sociorum  eins  ^. 
Es  ist  nicht  möglich,  diese  Berichte  auf  eine  Vorlage  zu- 
rückzuführen; die  Unterschiede  sind  zu  grofs.  Nur  Bern- 
hards von  Bessa  kurzgefafste  Angaben  scheinen  ein  Auszug 
aus  dem  um  etwa  zwei  Jahrzehnte  früher  liegenden  Trac- 
tatus de  Äliraculis  zu  sein  *.  Der  Text  der  Actus  ist  in 
seinem  ersten  Teil  so  breit,  dafs  er  später  entstanden  sein 
wird  als  Speculum  Perfectionis  und  Tractatus:  das  aus- 
gedehnte  Zwiegespräch    zwischen   Franz   und    dem    Bruder, 


1)  Anal.  Uoll.  XVIII,  S.  128  f. 

2)  Anal.  Franc.  III,  S.  687. 

3)  In  der  Ausj^abe  Sabatiers  S.  G2f.  Danach  italienisch  in  den 
Fioretti  (ed.  Manzoni  S.  210f.)  und  lateinisch  im  Speculum  Vitao. 

4)  Während  sich  Bernhards  Bericht  mit  dem  des  Spec.  Perf.  in 
keiner  Hinsicht  berührt,  klingt  er  in  den  Worten  „frater  Jacoba'', 
„equorum  et  famuloruni  strepitus"  und  in  Franzens  Prophezeiung  über 
den  Tag  seines  Todes  stark  an  den  Tractatus  an. 


212  GOETZ, 

der  Wortlaut  des  Briefes  an  Jakoba,  das  Aufhören  im 
Schreiben,  weil  Franz  die  Ankunft  der  Jakoba  plötzlich 
ahnte,  die  Erwähnung  von  zwei  Söhnen  der  Jakoba,  Se- 
natoren und  Vornehmen  ihres  Gefolges  —  das  sind  deut- 
Hche  Züge  der  zunehmenden  Legendenbildung  ^  Es  bleiben 
als  ältere  Berichte  nur  der  des  Speculum  Perfectionis  und 
des  Tractatus  übrig.  Sie  weichen  so  stark  voneinander  ab, 
ein  jeder  hat  so  selbständige  Elemente,  dafs  Abhängigkeit 
in  keinem  Falle,  Priorität  des  einen  vor  dem  andern  mit 
Sicherheit  nicht  zu  behaupten  ist  ^.  So  spricht  zugunsten 
des  Tractatus,  dafs  nur  in  ihm  Jakoba  „frater"  genannt, 
dafs  der  Sohn  der  Jakoba  als  Zeuge  aufgeführt  und  dafs  in 
ihm  nicht  so  viel  direkte  Rede  gegeben  wird.  Zugunsten 
des  Speculum  Perfectionis  dagegen  spricht,  dafs  hier  Franz 
keine  Prophezeiung  über  seinen  Todestag  äufsert,  dafs  die 
Ankunft  der  Jakoba  Franz  gemeldet  wird,  ohne  dafs  er  mit 
seinem  Wissen  dem  meldenden  Bruder  zuvorkommt,  und  dafs 
die  Entdeckung  der  Stigmen  durch  Jakoba  fehlt.  So  viel 
ist  immerhin  sicher:  ein  Stück  Legendenbildung  steckt  be- 
reits in  beiden  Berichten.  Sie  entstammen  verschiedenen 
Überlieferungskreisen  —  klingt  doch  auch  da,  wo  sie  inhalt- 
lich gleiches  erzählen,  der  Wortlaut  in  keiner  Weise  an- 
einander an.  Ist  der  Bericht  des  Tractatus  um  die  Mitte 
des  13.  Jahrhunderts  entstanden,  so  kann  auch  der  des  Spe- 


1)  Am  Schlüsse  dieser  Erzählung  bringen  die  Actus  die  Nachricht, 
dafs  Jakoba  später  nach  Assisi  übergesiedelt  und  dort  gestorben  sei. 
Die  Nachricht  ist  richtig  (Sabatier,  Spec.  Perf. ,  S.  275f.)  und  zeigt, 
dafs  auch  in  der  späten  Überlieferung  immer  noch  einige  neue  und 
richtige  Züge  auftreten  können.  —  Dafs  etwa  ein  originaler  Brief  Fran- 
zens an  Jakoba  Anlafs  zur  Entstehung  dieser  ganzen  Erzählung  ge- 
wesen sei,  ist  natürlich  ausgeschlossen,  denn  der  Brief  beruht  ja  erst 
auf  der  Legendenbildung,  dafs  Jakoba  genau  die  Gegenstände  mit  sich 
gebracht  habe,  die  Franz  in  seinem  Briefe  begehrte.  Der  geschichtliche 
Kern  der  Legende  ist  unschwer  herauszuschälen.  Übrigens  ist  der 
Brief  in  der  Überlieferung  dann  noch  über  den  Text  der  Actus  hinaus 
dadurch  verbessert  worden,  dafs  anstatt  des  „nahen"  Todestages  ein 
ganz  bestimmter  Tag  eingesetzt  wurde. 

2)  Trotz  M  i  n  0  c  c  h  i ,  Nuovi  Studi,  S.  95,  der  für  seme  abweichende 
Meinung  doch  keine  Beweise  geben  kann. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    213 

culum  Perfectionis  in  dieser  Zeit  oder  —  um  der  fehlenden 
Prophezeiung  willen  —  noch  etwas  früher  entstanden  sein; 
aber  dafs  ihm  irgendwelche  Authentizität  vor  dem  des  Trac- 
tatus  zukomme,  ist  jedenfalls  nicht  zu  begründen  ^. 

Kapitel  113  ist  selbständig  und  als  alte  ÜberHeferung 
einwandfrei.  Nur  der  Schlufsabsatz  (Erzählung  von  den 
Lerchen,  die  bei  Franzens  Tod  das  Haus  umfliegen)  berührt 
sich  mit  Bonaventura  (c.  XIV,  6  =  n.  214).  Es  ist  hier  so 
wenig  wie  oben  bei  Kapitel  61  sicher  festzustellen,  dafs  Bona- 
ventura diese  Stelle  benutzt  habe  oder  umgekehrt;  der 
schwache  Anklang  im  Wortlaut  (super  tectum  domus  rotam 
faciebant  und  rotantes)  kann  ebensowohl  von  einer  gemein- 
samen Vorlage  herrühren.  Sollte  das  Speculum  Perfectionis 
hier  aus  Bonaventura  geschöpft  haben,  so  bliebe  doch  der 
gröfsere  Teil  des  Kapitels  als  selbständig  und  brauchbar 
übrig. 

Kapitel  114  beginnt  mit  der  Versicherung:  „Nos  qui 
fuimus  cum  b.  Francisco  et  scripsimus  haec,  testiraonium 
perhiberaus  quod  multoties  audivimus  eum  dicentem "  etc. 
Der  Inhalt  dieses  Kapitels  steht  kurz  zusammengedrängt  bei 
2.  Celano  III,  128  und  scheint  ein  Auszug  aus  dem  im  Spe- 
culum Perfectionis  überlieferten  Text  zu  sein,  wenn  anders 
man  den  Eingangsworten  „Nos  qui  fuimus"  nicht  ihre  Be- 
deutung nehmen  will. 

Auch  in  Kapitel  115  wird  das  Alter  des  Textes  durch 
ein  „Nos  vero  qui  cum  ipso  eramus  tunc  fugimus  omnes" 
gestützt,  und  zwar  steht  hier  einmal  die  Beglaubigung  bei 
einem  konkreten  Falle:  es  handelt  sich  nicht,  wie  sonst  zu- 
meist, um  ein  allgemeines  Wissen  und  Beglaubigen,  sondern 
der  Verfasser  will  bei  der  Augenoperation  in  Kieti  dabei 
gewesen  sein.  Da.s  Kapitel  ist  auch  sonst  in  mehreren 
Einzelheiten  dem  ähnlichen  in  2.  Celano  III,  102  überlegen 
(Angabe  des  Ortes,  Erwähnung  des  Elias,  Beschreibung  der 
Operation  mit  dem  Zusatz,  dafs  sie  doch  nichts  nützte)  — 
auch  hier  drängt  es  sich  einigermafsen  auf,  in  Celano  einen 
Auszug   zu   sehen.     Aber   da    EHas   zweimal    im    Texte   des 


1)  Vgl.  van  Ortroy,  Anal.  Boll.  XVIII,  S.  100. 


2 1 4  GOETZ, 

Speculum  Perfectionis  generalis  minister  genannt  wird,  so 
wird  auch  hier  die  alte  Vorlage,  aus  der  Celano  schöpfte, 
für  das  Speculum  Perfectionis  etwas  überarbeitet  worden  sein. 

Kapitel  116  und  117  berichten,  ohne  dafs  sich  ähnliches 
bei  Celano  oder  sonst  fände,  Züge  aus  dem  Leben  des  Hei- 
ligen, die  in  ihrer  Naivität  auf  volle  Glaubwürdigkeit  An- 
spruch machen.  Ebenso  Kapitel  118,  das  sich  mit  2.  Ce- 
lano in,  101  berührt  und  im  zweiten  Teil  wieder  die  Augen- 
zeugen anruft.  Aber  Celano  ist  hier  reichhaltiger,  und  der 
Schlafs  des  Speculum- Kapitels  ruft  Bedenken  auf:  da  wird 
von  neuem  die  Entstehung  der  Landes  de  creaturis  erzählt! 
Nach  Kapitel  100  fiel  diese  Entstehung  zwei  Jahre  vor 
Franzens  Tode;  hier  wird  sie  „parum  ante  obitum  suum"  an- 
gesetzt, während  in  Kapitel  119  wieder  auf  den  in  Kapitel  100 
beschriebenen  Vorgang  als  Entstehungsursache  hingewiesen 
wird  („quando  Dominus  .  .  .  certificavit  eum  de  regno  suo"). 
So  berichtet  auch  2.  Celano  III,  139,  dafs  Franz  auf  dem 
Sterbebette  mit  den  Brüdern  die  Dichtung  wiederholt  habe, 
die  er  „olim  composuerat".  Da  in  Kapitel  118  und  119 
der  Inhalt  der  Laudes  kurz  angedeutet  wird,  so  kann  es 
sich  nicht  gut  um  verschiedene  Dichtungen  handeln.  Die 
Hand  des  Kompilators  bleibt  in  diesem  Widerspruch  sicht- 
bar, und  in  Kapitel  118  scheint  der  Text  der  Vorlage  we- 
niger treu  bewahrt  zu  sein  als  in  den  beiden  vorangehenden. 

Von  Kapitel  119,  das  wiederum  selbständig  ist,  läfst  sich 
nichts  aussagen,  als  dafs  es  gute  Überlieferung  sein  kann. 

Kapitel  120  bietet  einen  Text  des  Sonnengesangs  (vgl. 
oben  S.  51  f).  Es  ist  soeben  auf  den  Widerspruch  hin- 
gewiesen worden,  den  Kapitel  118  über  seine  Entstehungs- 
zeit berichtet.  Was  jedoch  den  Inhalt  belangt,  so  stimmen 
Kapitel  100,  101,  118  und  119  überein,  und  nach  diesen 
kurzen  Inhaltsangaben  kann  man  auch  sagen,  dafs  der  vor- 
liegende Text  damit  harmoniert  und  ebenso  die  Angabe  der 
Vita  secunda  III,  139.  Die  Nachrichten  von  Kapitel  100 
gaben  zu  Bedenken  Anlafs,  ebenso  die  von  Kapitel  118; 
bei  Kapitel  101  und  119  fehlt  es  an  einer  Kontrolle.  Aber 
selbst  wenn  diese  Nachrichten  überarbeitet  sind,  liegt  doch 
in  ihnen   und   in  Celanos  Angabe   etwas  Gemeinsames,   den 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    215 

Inhalt  des  Sonnengesanges  Stützendes.  Und  da  es  immer 
wieder  das  Ergebnis  dieser  Untersuchungen  gewesen  ist,  dafs 
ein  starker  alter  Kern  in  allen  Nachrichten  des  Speculum 
Perfectionis  liegt,  so  ist  die  Echtheit  dieses  Textes  der  Dich- 
tung im  allgemeinen  doch  wohl  sicher  gestellt.  Ob  die  von 
Sabatier  gegebene  sprachliche  Fassung  die  älteste  ist,  kann 
der  Historiker,  wie  oben  bereits  gesagt  wurde  (vgl.  S.  51), 
nicht  entscheiden. 

Kapitel  121  — 124  schildern  die  letzten  Tage  und  den 
Tod  des  Heiligen.  2.  Celano  HI,  139  fafst  in  seinem  letzten 
Absatz  einiges  zusammen,  was  Speculum  Perfectionis  c.  121 
bis  123  enthält.  Kapitel  121  berührt  sich  aufserdem  mit 
1.  Celano  H,  8,  aber  doch  nicht  so,  dafs  eine  Abhängigkeit 
angenommen  werden  müfste.  Das  Wichtigste  in  diesem  Ka- 
pitel ,  Elias'  Bedenken  gegenüber  dem  Gesang  an  Franzens 
Krankenbett,  ist  neu.  Eine  verwandte  Lesart  steht  in  den 
Actus  b.  Francisci  et  soc.  eius  Kap.  18.  Ob  sie  oder  die 
des  Speculum  Perfectionis  die  ältere  ist,  läfst  sich  meines 
Erachtens  nicht  entscheiden.  Und  ebensowenig  kann  man 
aus  irgendwelchen  objektiven  Kriterien  feststellen,  ob  die 
Vita  secunda  HI,  139  mit  ihren  kurzen  Bemerkungen  ein 
Auszug  aus  den  Erzählungen  des  Speculum  Perfectionis  ist 
oder  ob  dieses  eine  Erweiterung  der  Vita  secunda  gibt. 
Die  Mitteilung  in  Kapitel  122,  wie  Franz  den  Arzt  anredet 
usw.,  und  in  Kap.  123  über  die  Verse,  die  er  dem  Sonnen- 
gesang noch  beigibt,  klingen  gewifs  wie  echte  Überliefe- 
rung —  aber  mit  solchen  Gefühlsmomenten  ist  nichts  zu 
beweisen,  und  so  bleibt  die  Entstehungszeit  dieser  Kapitel 
ungewifs. 

Das  letzte,  121.  Kapitel  bietet  leider  der  Kritik  sehr 
viel  breitere  Angriffspunkte.  Die  verwandte  Lesart  der  Actus 
(Kap.  18)  ist,  wenn  man  auf  ihre  Kürze  und  auf  ihre  innere 
Wahrscheinlichkeit  sieht,  die  frühere:  der  lange  Segen,  den 
der  todkranke  Franz  im  Speculum  Perfectionis  über  Assisi 
spricht,  ist  ganz  unwahrscheinlich.  Die  falsche  Angabe  über 
Franzens  Lebensalter  und  Todesjahr  ^  nehmen  weiter  gegen 


1)  Sabatier  meint,  das  angegebene  Jahr  1227  sei  nach  dem  Cal- 


216  GOETZ, 

das  Speculum  Perfectionis  ein  —  bei  allen  diesen  Nach- 
richten fühlt  man  sich  nur  im  Zeitalter  des  Kompilators,  im 
Jahr  1318,  von  dem  das  dann  noch  folgende  Exphcit  des 
Codex  Ognissanti  spricht.  Die  Rettung  dieses  letzten  Ka- 
pitels scheint  mir  deshalb  nicht  gut  möglich;  der  geschicht- 
liche Kern :  die  Überführung  des  Sterbenden  zur  Portiuncula 
(den  auch  1.  Celano  II,  7  am  Schlufs  berichtet)  und  der 
Abschiedsgrufs  an  die  Stadt  Assisi,  ist  wohl  noch  zu  er- 
kennen, aber  die  ganze  Umhüllung  entstammt  weit  späterer 
Zeit.  Der  Codex  von  Foligno  enthält  als  Kapitel  121  nur 
den  ersten  Absatz  des  von  Sabatier  gedruckten  Kapitels, 
also  nur  die  Nachricht  von  der  Überführung  des  Sterben- 
den aus  dem  Bischofspalast  zur  Portiuncula. 

Ergebnisse. 

Gründe,  die  für  das  Alter  des  im  Speculum  Perfectionis 
vorliegenden  Materials  sprechen,  wurden  der  Prüfung  der 
einzelnen  Kapitel  bereits  vorausgeschickt  (s.  oben  S.  150 ff.); 
das  Ergebnis  der  Einzelprüfung  sei  damit  zusammengehalten. 

Eine  statistische  Zusammenstellung  zeigt,  dafs  bei  rund 
50  Kapiteln  sich  nichts  über  das  Alter  aussagen  läfst,  dafs 
43  zwar  teilweise  alte  ÜberUeferung  haben,  aber  überarbeitet 
sein  müssen,  und  dafs  nur  bei  höchstens  32  die  alte  Über- 
lieferung authentisch  zu  sein  scheint  ^  Bei  einigen  wenigen 
Kapiteln  —  höchstens  10  (Kap.  4,  18,  24,  25,  27,  28,  29, 
64,  92,  105)  —  war  mit  einer  gewissen  Sicherheit  der  Nach- 
weis zu  führen,  dafs  sie  im  vorliegenden  Wortlaut  älter  sind 
als  Celanos  Vita  secunda;  in  andern  Fällen  war  das  um- 
gekehrte Verhältnis  ziemlich  sicher  nachweisbar  (Kap.  81, 
86,  88),  und  auch  die  Vita  prima  kam  einige  Male  deutlich 
als  Vorlage  in  Betracht  (Kap.  83,  108).  Wird  ein  so  wenig 
durchsichtiges    und    vielfach    so   zweifelhaftes   Ergebnis    der 


culus  Pisanus  gerechnet;  aber  es  fehlt  an  Beweisen,  dafs  man  in  Assisi 
danach  gerechnet  habe. 

1)  Die  Berechnung  Minocchis  (Nuovi  Studi,  S.  122),  dafs  80  Ka- 
pitel des  heutigen  Spec.  Perf.  1246  zusammengestellt  seien,  ist  meines 
Erachtens  uDannehmbar. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    217 

Einzelprüfung  imstande  sein,  jene  allgemeinen  Gründe  für 
das  Alter  dieser  Überlieferung  zu  stützen?  Verstärkt  sich 
nicht  vielmehr  das  Mifstrauen  auch  gegen  diejenigen  Mo- 
mente, auf  denen  der  Beweis  des  Altei's  aufgebaut  wurde  ? 

Bei  einer  Reihe  von  Kapiteln  war  es  vor  allem  das  ,,Nos 
qui  cum  eo  fuimus",  das  die  Annahme  alter  Überlieferung 
stützte.  Mufs  man  ihm  nicht  doch  die  Glaubhaftigkeit  be- 
streiten? Es  liegt,  wie  schon  erwähnt  wurde,  nahe,  darin 
nur  eine  auf  Täuschung  berechnete  Nachahmung  des  Jo- 
hannes-Evangeliums zu  sehen;  es  fällt  auf,  dafs  unter  den 
20  Fällen,  in  denen  es  vorkommt,  nur  6  sich  auf  direkte 
Beglaubigung  der  erzählten  Tatsachen  beziehen  (Kap.  6,  58, 
92,  102,  114,  115),  14  dagegen  in  losem  Zusammenhang 
mit  den  berichteten  Ereignissen  lediglich  allgemeine  Ver- 
sicherungen guten  Wissens  aussprechen;  es  lallt  weiter  auf, 
dafs  es  in  Kapiteln  steht,  die  ganz  sicher  überarbeitet  sind 
(z.  B.  Kap.  38  und  55),  und  dafs  Celano,  wo  er  in  der  Vita 
secunda  dieselben  Dinge  berichtet,  doch  nur  ein  einziges 
Mal  diese  Beglaubigung  beifügt  (III,  4)  *.  Ich  entscheide 
mich  dennoch  dafür,  die  Echtheit  dieser  Beglaubigung  an- 
zunehmen. Sollte  mit  diesen  Worten  betrogen  werden,  so 
müfsten  sie  da  vor  allem  stehen,  wo  die  strittigen  An- 
schauungen der  späteren  Zeit  in  Frage  kommen.  Aber  ge- 
rade da  fehlt  es  last  immer;  es  steht  zumeist  bei  Erzäh- 
lungen, deren  Harmlosigkeit  keine  tendenziöse  Beglaubigung 
nötig  machte.  Nur  in  4  Fällen  unter  20  kann  man  aus 
dem  Inhalt  der  Kapitel  vermuten,  dafs  die  Beglaubigung  er- 
funden sein  könnte  (Kap.  6,  9,  102,  104).  Oder  war  der 
Fälscher  etwa  so  gerieben,  dafs  er  die  Beglaubigung  an 
harmlose  Stellen  setzte,  um  schlimmerem  Verdacht  entgegen- 
zutreten und  doch  die  andern  tendenziösen  Stellen  damit 
zu  decken?  Dagegen  ist  zu  sagen,  was  gleich  noch  weiter 
ausgeführt  werden  soll,  dafs  dem  Speculum  Perfectionis  der 
Charakter  einer  auf  Angriff  berechneten  Tendenzschrift  nicht 

1)  Ein  aiuloier  Fall  liegt  vor,  wo  Celano  die  BcglaubiKiing  bringt 
{III,  67),  während  das  parallele  Kapitel  des  Spoc.  Perf.  (Kap.  93) 
keine  hat.  2.  Gel.  II,  21  wird  ebenfalls  Augenzeugenschaft  erwähnt; 
das  Spec.  Perf.  hat  kein  Parallelkapitel. 


218  GOETZ, 

zugesprochen  werden  kann;  ferner  dafs  Ubertino  in  einem 
Falle  zitiert,  was  im  Speculum  Perfectionis  (Kap.  2)  die  Be- 
glaubigung des  „Nos  qui  cum  eo  fuimus'^  besitzt,  dafs  also 
die  betreffende  Stelle  tatsächlich  alt  und  echt  ist,  wenn  man 
Ubertino  trauen  will.  Dafs  alle  andern  Stellen  nicht  mit 
den  Zitaten  Ubertinos  zusammenfallen,  spricht  für  die  Ehr- 
lichkeit Ubertinos  wie  für  die  Zuverlässigkeit  der  Beglau- 
bigung, denn  sonst  müfsten  eigentlich  die  Stellen,  wo  Uber- 
tino betrogen  hatte  und  wo  seine  spiritualistischen  Gesin- 
nungsgenossen wieder  betrügen  wollten,  stärker  zusammen- 
treffen. Wenn  Celano  die  Beglaubigung  wegliefs,  so  gibt  es 
einen  doppelten  Grund  dafür:  entweder  hielt  er,  der  sich  im 
ganzen  durch  die  Bekanntgabe  der  Mitarbeit  der  Genossen 
gedeckt  hatte,  für  unnötig,  im  einzelnen  solche  Kronzeugen 
heranzuziehen,  oder  er  hat  die  Augenzeugenschaft  nur  da 
erwähnt,  wo  er  sich  selber  einschliefsen  konnte  —  das  wäre 
ein  grofses  Zeichen  für  die  Gewissenhaftigkeit  seiner  Arbeit. 
Ein  weiterer  Grund  zur  wohlwollenden  Beurteilung  des 
Speculum  Perfectionis  ist  folgender:  Wäre  es  in  erster  Linie 
als  Mittel  des  Kampfes  und  der  Täuschung  beabsichtigt  ge- 
wesen, so  müfste  es  doch  seine  Tendenz  etwas  einheitlicher 
verwirklichen.  Statt  dessen  geht  es  wiederholt  die  gleichen 
Wege  wie  die  angeblichen  Vertreter  einer  dekadenten  Rich- 
tung des  Ordens:  es  berichtet,  wie  Franz  seine  ganze  Grün- 
dung der  Kurie  anvertrauen  will  (Kap.  78,  vgl.  auch  87), 
es  weifs  nichts  von  einem  offenen  oder  latenten  Gegensatz 
zum  Kardinal  von  Ostia  (Kap.  21,  23,  43,  65,  81)*,  es 
spricht  zwar  begreiflicherweise  (vgl.  oben  S.  82)  nicht  viel 
von  EHas,  aber  es  verschweigt  doch  nicht,  wieviel  Wert 
Franz  auf  EHas  legte  (Kap.  115);  es  läfst  sich  Dinge  ent- 
gehen, die  bei  einem  Angriff  auf  die  laxen  Brüder  und  ihre 
hohen  Gönner  aufs  beste  verwendbar  waren  und  in  der  Vita 
secunda  (mit  der  sonst  die  Berührung  nicht  gescheut  wurde) 
sich  zur  Verwendung  anboten  (2.  Gel.  III,  61,  83  und  90; 
vgl.  auch  Sabatier,  Spec.  Perf,  S.  53  Anm.),  ja  es  bietet 
den    laxen    Brüdern    sogar    Gründe    zu    ihrer    Verteidigung 


1)  Vgl.  Hist.  Vierteljahrsschrift  1903,  S.  43,  Anm.  1. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    219 

(Kap.  27),  es  verwertet  das  Testament  des  Heiligen  nicht 
so,  wie  es  eine  Kampfschrift  hätte  tun  müssen  ',  und  es  belädt 
seine  Erzählung  mit  so  vielen  harmlosen  Kleinigkeiten,  die 
bei  der  Absicht  starker  Wirkung  besser  weggeblieben  wären. 
Das  Speculum  Perfectionis  stammt  in  seinem  Kern  und  in 
seiner  Bearbeitung  aus  einem  Kreise,  der  den  strengen 
Idealen  anhing,  aber  es  braucht  deshalb  noch  keine  Kampf- 
schrift im  engeren  Sinne  gewesen  zu  sein  ^. 

Und  noch  eine  Zweifelsfrage:  läfst  sich  aus  dem  Cha- 
rakter derjenigen  Kapitel,  die  in  der  Vita  secunda  keine 
Parallelkapitel  haben,  nichts  schliefsen?  Es  kommen  39  Ka- 
pitel des  Speculum  Perfectionis  dabei  in  Betracht.  Sechs 
davon  enthalten  das  „Nos  qui  cum  eo  fuimus"  —  es 
treffen  also  auf  diese  Kapitel  nicht  mehr  derartige  Stellen, 
als  es  ihrem  Verhältnis  zum  ganzen  Speculum  Perfectionis 
entspricht  (20  auf  124  Kapitel);  diese  Beglaubigung  ist  also 
da  nicht  aufdringlich  stark,  wo  es  sich  eventuell  um  reine 
Kompilation  und  ihre  Beschönigung  handeln  könnte.  Unter 
diesen  39  Kapiteln  sind  9,  deren  Fehlen  bei  Celano  bedeu- 
tungslos ist,  weil  ihr  Inhalt  unwichtig  ist  (Kap.  8,  16,  19, 
47,  56,  66,  109,  111,  119)-,  13  sind  sicherlieh  überarbeitet, 
so  dafs  Celano  sie  in  der  jetzigen  Form  gar  nicht  aufnehmen 
konnte  (Kap.  1,  36,  66,  68,  79,  84,  85,  87,  91,  104,  108, 
112,  124);  bei  den  übrigen  17  fällt  allerdings  in  11  Fällen 
auf,  dafs  die  Vita  secunda  gerade  sie  nicht  bringt,  denn  sie 
behandeln   kritische   Fragen   der   Ordensgeschichte,   so    dafs 


1)  Vgl.  oben  S.  13  und  S.  79. 

2)  Der  aiisschlicf<liclie  polemische  Charakter  des  Spec.  Perf. ,  den 
Sabatier  und  Minocchi  annehmen,  findet  sich  eigentlich  nur  im 
1.  Kapitel,  vielleicht  noch  im  zweiten;  Miuocchi,  Nuovi  Studi,  S.  41 
gibt  selber  zu,  dafs  die  Polemik  vom  3.  Kapitel  an  immer  mehr  zurück- 
trete, wenn  sie  auch  pologentlich  wieder  durchbreche.  Ich  leugne  diese 
Polemik  nicht  —  sie  miifste  ja  die  Grund.stininuing  der  vertrauten  Ge- 
fährten wie  der  Spiritualen  sein;  aber  ich  bestreite  die  polemische 
Gesanittendenz  der  Schrift  (was  übrigens  durchaus  im  Interesse  der  An- 
schauungen Sabatiers  und  Minocchis  liegt!).  Ein  so  scharf  polemisches 
Kapitel  wie  das  erste  konnte  dabei  mit  unterlaufen.  Tilemann  S.  112 
sagt:  „Der  Verfasser  hat  eine  geschichtliche  Darstellung,  ohne  sie  zu 
verunstalten,  einem  lehrhaften  Zwecke  dienstbar  gemacht." 


220  GOETZ, 

ihre  Auslassung  doch  wie  eine  Absicht  aussieht  (Kap  2,  10, 
11,  12,  13,  44,  50,  52,  58,  73,  101).  Es  liegt  zwar  auch 
die  Möglichkeit  vor,  dafs  diese  Aufzeichnungen  (gleichwie 
der  geschichtliche  Kern  der  überarbeiteten  Kapitel)  erst  nach 
Vollendung  der  Vita  secunda,  aber  doch  noch  bei  Lebzeiten 
Leos  entstanden ;  aber  sowohl  diese  Möglichkeit  wie  die  einer 
Absicht  Celanos  Hegen  näher  als  die  Annahme,  dafs  diese 
Aufzeichnungen  eine  Fälschung  der  Spiritualen  oder  das  Er- 
gebnis reiner  Legendenbildung  gewesen  wären. 

Das  alles  führt  dazu,  den  Vorwurf  tendenziöser  Fälschung 
abzulehnen  und  die  zugunsten  des  Speculum  Perfectionis 
sprechenden  Gründe  anzuerkennen.  Das  Speculum  Perfec- 
tionis enthält  altes,  wertv^olles,  von  den  vertrauten  Gefährten 
oder  von  Bruder  Leo  allein  stammendes  Material,  aber  in 
einer  1318  zum  Abschlufs  gebrachten  Überarbeitung.  Der 
Zweck  der  Zusammenstellung  war  nicht  so  sehr  spiritua- 
listische  Tendenz,  als  der  Wunsch  nach  Sammlung  alter 
Aufzeichnungen,  die  aus  Vergessenheit  und  aus  Gefahr  des 
völligen  Verlustes  gerettet  werden  sollten.  In  vieler  Hinsicht 
mufste  der  Inhalt  dieser  Aufzeichnungen  den  Wünschen  der 
Spiritualen  allerdings  dienen.  Der  Quellenwert  der  Samm- 
lung wird  dadurch  beeinträchtigt,  dafs  die  Grenze  von 
Authentizität  und  Überarbeitung  fast  nirgends  mit  zwingen- 
den Beweisen  festzustellen  ist,  sondern  dafs  die  Hand  des 
Bearbeiters  überall  eingegriffen  haben  kann.  Auch  das  ver- 
ringert die  Gewifsheit  eines  Urteils,  dafs  die  handschriftliche 
Überlieferung  eine  starke  Flüssigkeit  des  ganzen  Materiales 
zeigt,  wenn  auch  der  gröfsere  Teil  dieses  Stoffes  im  Spe- 
culum Perfectionis  zu  einem  Ruhepunkt  gekommen  zu  sein 
scheint  ^  Diejenigen  Teile  der  Schrift  sind  am  stärksten 
beglaubigt,  die  mit  der  Vita  secunda  übereinstimmen,  ohne 
doch  aus  ihr  genommen  zu  sein.  Speculum  Perfectionis  und 
Vita  secunda  beglaubigen  sich  in  diesen  Fällen   gegenseitig. 

1)  Vgl.  den  Codex  von  Foligno,  Mise.  Franc.  VII,  S.  134 ff. ; 
ferner  Barbi,  Bull.  d.  soc.  Dant.  N.S.  VII,  S.  97  Anm.  3.  Vgl.  auch 
Minocchi,  Nuovi  Studi,  S.  128 ff.  Einzelnes  aus  anderer  Überliefe- 
rung vielleicht  auch  bei  Lemmens,  Doc.  ant.  II  (s.  oben  S.  153 
Anm.  1). 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    221 

Hinsichtlich  alles  übrigen,  was  das  Speculum  Perfectionis 
enthält,  kann  man  nur  von  Fall  zu  Fall  urteilen,  ob  es  an- 
nehmbar ist  oder  nicht.  Auch  das  Annehmbare  und  das  auf  Leo 
vielleicht  sicher  Zurückgehende  fordert  noch  zur  Kritik  her- 
aus. Es  ergab  sich,  dafs  auch  er  der  Legendenbildung  seinen 
Tribut  gezahlt  hat  und  dafs  er  manches  schliefslich  wunder- 
mäfsiger  gesehen  hat,  als  es  gewesen  ist.  Es  ist  zuzugeben, 
dafs  die  Zahl  der  Wunder  im  Speculum  Perfectionis  gering 
ist;  aber  das  legendarische  Element  ist  bei  der  Besprechung 
der  einzelnen  Kapitel  doch  wiedei'holt  zutage  getreten.  Naive 
Zusammenstellung  alten  Materials  ist  das  Speculum  Perfec- 
tionis keineswegs  —  dazu  enthält  es,  von  allen  angeführten 
Einzelkriterien  abgesehen,  viel  zu  häufig  angeblich  wort- 
getreue Reden,  Gespräche  des  Heiligen  mit  Gott,  mit  Christus, 
mit  Engeln  usw. 

Der  Wert  des  Speculum  Perfectionis  ist  trotz  dieser  Un- 
sicherheiten grofs.  Es  gibt  uns  etwas  von  der  Stimmung 
des  vertrauten  Jüngerkreises,  es  liefert  scharf  beobachtete 
Beiträge  zur  Charakteristik  des  Heiligen  und  es  gibt  bei 
aller  Überarbeitung  die  Möglichkeit  zum  kritischen  Vergleich 
mit  den  Lebensbeschreibungen  Celanos  und  Bonaventuras.  — 
Die  beiden  Thesen,  die  man  zugunsten  des  Speculum  Per- 
fectionis aufgestellt  hat,  fallen  allerdings:  es  ist  weder  im 
ganzen  eine  Schrift  Bruder  Leos,  noch  darf  man  in  ihr  eine 
verlorene  Legenda  trium  Sociorum  sehen. 

c)  Der  Quellenwert  der  Vita  secunda. 
Wir  kehren  zur  Vita  secunda  zurück.  Um  ihretwillen 
wurde  die  Abschweifung  zur  Legenda  trium  Sociorum  und 
zum  Speculum  Perfectionis  unternommen;  vieles  ist  dabei 
bereits  gesagt  worden,  was  das  Urteil  über  die  Vita  secunda 
festgelegt.  Fällt  die  Legenda  trium  Sociorum  aus  der  wei- 
teren Betrachtung  weg,  so  verlieren  mancherlei  Einwände 
gegen  die  Vita  secunda  ihre  Bedeutung;  birgt  das  Speculum 
Perfectionis  alte  Überlieferung,  so  gewinnt  alles  an  Wert, 
was  in  ihm  und  in  der  Vita  secunda  übereinstimmt.  Dos 
Speculum  Perfectionis  bietet,  wie  sich  zeigte,  keinen  abso- 
luten   Mafsstab    zum    Vergleiche;   aber    wenn    es    nicht   eine 


222  GOETZ, 

aus  der  Vita  secunda  und  aus  andern  Quellen  zusammen- 
gesetzte Kompilation  ist,  so  kommt  sein  Verhältnis  zur  Vita 
secunda  dieser  zugute.  Denn  sie  mufs  dann  dasselbe  Ma- 
terial benutzt  haben,  das  mehr  oder  weniger  überarbeitet 
den  Wert  des  Speculum  Perfectionis  ausmacht.  Stammt 
dieses  aus  dem  Kreis  der  vertrauten  Genossen,  so  wird  be- 
stätigt, was  früher  bereits  über  das  Verhältnis  Celanos  zu 
diesen  Männern  gesagt  wurde  (s.  oben  S.  68  f.):  sie  waren 
seine  Helfer  in  so  starkem  Mafse,  dafs  er  sie  öffentlich  als 
seine  Mitarbeiter  bezeichnen  konnte.  Es  wurden  ihm  also 
diejenigen  Aufzeichnungen  zur  Verfügung  gestellt,  die  dann 
als  Dicta,  Scripta  usw.  Leos  aufbewahrt  und  von  diesem  in 
seinen  späteren  Lebensjahren  vielleicht  noch  vermehrt  wurden, 
die  später  von  Ubertino  da  Casale  zuerst  an  die  OffentHch- 
keit  gezogen  und  dann  im  Speculum  Perfectionis  verarbeitet 
wurden. 

Ob  Thomas  von  Celano  diese  Aufzeichnungen  in  einer 
bestimmten  Zusammenstellung,  begleitet  von  dem  Schreiben 
der  drei  Gefährten,  erhielt,  oder  ob  sie  ihm  mehr  unter  der 
Hand  übergeben  wurden,  bleibt  eine  offene  Frage  (s.  oben 
S.  137  ff.).  Wer  das  Schreiben  der  drei  Gefährten  für  echt 
ansieht,  wird  es  hier  zur  Geltung  zu  bringen  suchen;  aber 
mit  jeder  derartigen  offiziellen  Überreichung  dieses  Materials 
an  den  Generalminister  verliert  es  den  vertraulichen  und 
losen  Charakter,  den  Bruder  Leos  Dicta,  Scripta  usw.  später 
unzweifelhaft  wieder  besessen  haben.  Wäre  eine  feste  Zu- 
sammenstellung vorhanden  gewesen,  so  würde  sie  in  der 
Überlieferung  irgendwie  hervortreten ;  weil  wir  aber  bei  der 
Prüfung  dieses  Materials  nirgends  sicher  sagen  können,  was 
alt  und  was  überarbeitet  ist,  so  gibt  sich  der  Schlufs,  dafs 
es  sich  bei  seiner  Bereitstellung  um  keinen  offiziellen  Akt, 
sondern  um  private  Freundschaftsdienste  gehandelt  hat.  Ich 
kann  also  auch  hier  keinen  Beweis  für  die  Echtheit  jenes 
Schreibens  finden. 

Unsicher  bleibt  ja  überhaupt  vieles  an  diesen  Schlüssen  ^ 


1)  Ich  weise  noch   darauf  hin,   dafs   keines   der  wörtlichen  Zitate 
aus  Leos  Aufzeichnungen,  die  Ubertino  da  Casale,   der  Codex  von  Fe- 


i 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    223 

Als  einigermafsen  gesichert  kann  bisher  nur  die  Richtung 
dieser  Ergebnisse  gelten.  Bei  dem,  was  Minocchi,  Lemmens, 
van  Ortroy,  Tilemann  und  ich  in  den  letzten  Jahren  be- 
hauptet haben,  liegt  trotz  allen  einzelnen  Verschiedenheiten 
doch  ein  gemeinsames  vor:  die  vertrauten  Gefährten  werden 
mit  der  Vita  secunda  Celanos  in  einen  Zusammenhang  ge- 
bracht, und  wenn  man  van  Ortroy  beiseite  läfst,  so  stimmen 
die  andern  auch  darin  noch  überein,  im  Specuium  Perl'ec- 
tionis  dasjenige  Material  verarbeitet  zu  sehen,  das  Thomas 
von  Celano  aus  der  Hand  der  Gelahrten  empfangen  hatte. 
Von  dieser  Hauptrichtuug  abgesehen,  gehen  die  Wege  der 
Forscher  freilich  auseinander.  Aber  sie  stützen  doch  alle 
gemeinsam  die  Autorität,  die  der  Vita  secunda  zukommt;  sie 
nehmen  von  ihr  den  Schatten,  als  ob  sie  ein  tendenziöses 
Machwerk  sei.  Ich  sehe  sie  deshalb  noch  nicht  als  eine 
unantastbare  Quelle  an ;  aber  es  ist  erst  jetzt  die  Möglich- 
keit gegeben,  den  Wert  ihrer  Nachrichten  vorurteilsfrei  zu 
prüfen  —  nichts  anderes  ist  mit  diesen  Ergebnissen  erreicht, 
als  dafs  der  Boden  für  eine  richtige  Kritik  geebnet  wurde. 
Denn  auch  die  Aufzeichnungen,  die  von  Leo  und  seinen 
Freunden  stammen,  sind  nicht  einwandfrei  —  sie  können  so 
viel  Tendenz  besitzen,  wie  man  ihren  Gegnern  zugeschrieben 
hat.  Und  es  erhebt  sich  auch  die  Frage,  ob  Thomas  von 
Celano  bei  aller  Freundschaft  für  die  vertrauten  Gefährten 
nicht  doch  seine  eigenen  Anschauungen  so  stark  in  sein 
Werk  hineintrug,  dafs  willkürlich  oder  unwillkürlich  einiges 
zu  kurz  kam,  woran  den  Freunden  vielleicht  mehr  lag 
als  ihm. 

Es  ist  bereits  über  das  Verhältnis  der  Vita  secunda  zur 
Vita  prima  gesprochen  worden  '.    Sie  will  nichts  anderes  sein 


ligno  und  die  Hist.  septem  trib.  bringen  (im  ganzen  15),  sich  in  der 
Vita  sec.  findet,  wenigstens  nicht  in  Ausfüliilichkeit.  Ist  das  ein  Zufall 
oder  müfste  die  Kritik  daran  einsetzen?  Zunächst  sehe  ich  keine  ge- 
nügende Handhabe  dazu,  aber  vielleicht  niufs  künftig  doch  in  dieser 
Richtung  stärker  kritisiert  werden. 

1)  Vgl.  oben  S.  80 ff.  Zu  den  S.  80  Anni.  2  gegebenen  Beispielen 
ist  noch  hinzuzufügen:  1.  Gel.  I,  28  wird  wiederholt  2.  Gel.  III,  29; 
zum  Teil  auch  1.  Gel.  I,  29  in  2.  Gel.  III,  101. 


224  GOETZ, 

und  ist  nichts  anderes  als  eine  Ergänzung  der  Vita  prima, 
wie  sie  nach  zwanzig  Jahren  selbstverständlich  notwendig 
war.  Sie  enthält  einzelne  Widersprüche  zur  Vita  prima,  sie 
bringt  einige  unnötige  Wiederholungen  —  aber  wo  in  aller 
Welt  sind  jemals  die  weit  auseinanderliegenden  Schriften 
selbst  des  gewissenhaftesten  Schriftstellers  frei  von  solchen 
kleinen  Fehlern  gewesen?  ^  Die  Vita  secunda  dringt  schärfer 
auf  die  alten  Ideale  als  die  Vita  prima  —  auch  dafür  wurde 
die  Erklärung  gegeben  in  der  Wandlung  der  Anschauungen, 
wie  sie  sich  von  1227  bis  zur  Mitte  der  vierziger  Jahre  im 
Minoritenorden  vollzog.  Anderes  steht  jetzt  für  den  Bio- 
graphen des  Heiligen  im  Vordergrund,  weil  man  sah,  wie 
ein  Teil  seiner  Ideale  sich  verlieren  wollte.  Die  zu  unter- 
suchende Frage  ist,  ob  Thomas  von  Celano  in  seiner  Vita 
secunda  diejenigen  Ideale  vertrat,  die  für  Franz  tatsächlich 
mafsgebend  gewesen  waren,  oder  ob  der  Kampf  im  Orden 
die  Parteilichkeit  auch  in  die  Herzen  derjenigen  trug,  die 
sich  als  die  echten  Anhänger  des  Heiligen  ausgaben. 

Die  Gedanken  des  Heiligen  erstreckten  sich  vor  allem 
auf  Befolgung  des  Evangeliums,  Armut,  Bettel,  Gehorsam, 
Demut,  Arbeit  ^,  er  warnt  vor  Privilegien  und  ermahnt  zur 
wortgetreuen  Beobachtung  der  Regel  und  seines  Testamentes, 
und  sein  Leben  geht  in  immer  stärkerem  Mafse  im  Nach- 
erleben des  Leidens  Christi  auf.  Die  Vita  secunda  handelt, 
nachdem  sie  im  ersten  Teile  Tatsachen  seines  Lebens,  im 
zweiten  Beweise  seiner  Prophetengabe  gebracht,  im  dritten 
und  umfangreichsten  von  den  Idealen  des  Heiligen:  Armut 
(Kap.  1  —  37,  über  Notwendigkeit  und  Art  des  Bettels  Kap. 
17—23),  Gebet  (Kap.  38—44),  Predigt  (Kap.  50  und  51), 
Fröhlichkeit  (Kap.  65— 6b),  Demut  (Kap.  70—87),  Gehor- 
sam (Kap.  88 — 91),  Arbeit  (Kap.  95 — 98,  auch  I,  12),  Liebe 
zur  Natur  (Kap.  99 — 107),  Caritas  und  compassio  (Kap.  108 


1)  Auffallende  Irrtümer  der  Vita  sec.  stehen  aufserdem  im  III,  81 
(Franzens  Verzicht  auf  das  Generalat  „  paucis  annis  elapsis  post  suam 
conversionem "  [vgl.  oben  S.  179],  III,  68  [Worte,  die  Franz  geschrieben 
habe  ,,pro  generali  commonitioue  in  quodam  capitulo";  sie  stehen  tat- 
sächlich in  der  Regel  von  1221  Kap.  7  am  Schlufs]). 

2)  Vgl.  oben  S.  77. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    225 

bis  111),  Einfalt  (Kap.  119 — 122),  Empfehlung  der  Regel 
(Kap.  135  und  136)  werden  da  geschildert.  Und  zwar  mit 
einer  Eindringlichkeit,  die  der  Vita  secunda  den  Charakter 
der  Polemik  gegen  die  matteren  Nachfolger  des  Heiligen  ge- 
geben haben.  Es  bedarf  keines  weiteren  Beweises,  dafs  der 
dritte  Teil  der  Vita  secunda  in  den  aufgezählten  Punkten 
den  Idealen  des  Heiligen  genuggetan  hat.  Aber  in  dieser 
Aufzählung  fehlen  einige  Gesichtspunkte,  die  als  wesentlich 
zu  den  Gedanken  des  Heiligen,  wie  er  sie  im  Testamente 
ausspricht,  gehören:  wo  ist  die  Warnung  vor  Privilegien, 
die  Ermahnung  zur  Befolgung  des  Testamentes,  wo  ist  bei  der 
Demut  die  Leprosenpflege  erwähnt?  Es  ist  nicht  zu  leugnen, 
dafs    die   Vita    secunda    in    diesen   Punkten    versagt  ^     Sie 


1)  Es  ist  Celano  auch  vorfreworfen  ■worden,  dafs  er  über  Franzens 
Beziehungen  zur  h.  Klara  und  zur  Jakoba  von  Settesoli  hinweggehe 
(Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  XXXIV,  CXXXI  Anm.  2).  Celano  hat  in 
der  Vita  prima  an  zwei  Stellen  von  Franz  und  Klara  berichtet  (I,  8 
und  II,  10),  in  der  Vita  sec.  in  drei  Kapiteln  (III,  132 — 134)  über 
Franzens  Stellung  zu  den  Klarissen.  Es  ist  wahr,  dafs  man  darin  von 
den  herzlichen  persönlichen  Beziehungen,  wenn  sie  auch  vielleicht  selten 
betätigt  wurden,  nichts  spürt.  Aber  hat  denn  das  Speculum  Perf.  wirk- 
lich so  viel  mehr?  Es  berichtet  Kap.  90,  wie  Franz  den  Klarissen 
eine  erbauliche  und  tröstende  Dichtung  sckickt;  Kap.  100,  ohne  Klara 
zu  erwähnen,  dafs  Franz  in  S.  Damiano  den  Sonnengesang  gedichtet 
habe,  und  ferner  (Kap.  108),  dafs  Franz  vor  seinem  Tode  an  Klara 
noch  eine  benedictio  geschickt  habe;  aber  von  der  ,,liberte,  avec  laquelle 
il  avait  agi  avec  sainte  Ciaire"  (Sabatier  a.  a.  0.  S.  172  Anm.  1) 
steht  im  Spec.  Perf.,  so  viel  ich  sehe,  keine  Probe.  Man  vergleiche 
auch,  was  oben  über  die  Kap.  100  und  108  des  Spec.  Perf.  gesagt  wor- 
den ist  —  überarbeitet  sind  wohl  beide.  Das  Spec.  Peif.  kann  auch 
in  diesem  Falle  nicht  gegen  Celano  ausgespielt  werden.  Wo  stehen 
aber  die  Beiego  für  ein  die  Schranken  der  Askese  naiv  überschrei- 
tendes Verhältnis  der  beiden?  In  der  Vita  S.  Clarae  (Acta  SS. 
Aug.  II,  bes.  n.  39 — 42),  die  doch  von  Sabatier  wie  von  andern 
dem  Thomas  von  Celano  zugoschiieben  wird!  Erst  von  dort  sind  sie 
in  die  si)äteren  Legenden  weitergewandert  und  gleich  den  Erzählungen 
des  Spec.  Perf.  weiter  ausgebaut  worden.  Nur  insofern  unterscheidet 
sich  Spec.  Perf.  von  Celano,  als  dieser  offenbar  den  Wunsch  hat,  in 
seinen  Beispielen  die  notwendige  Zurückhaltung  gegenüber  den  Kla- 
rissen den  Minoriten  ans  Herz  zu  legen.  Das  kann  man  als  Verschie- 
bung der  Tatsachen  ansehen,  weil  in  dieser  von  Franz  golelirten  Zurück- 
haltung  das   persönliche  Verhältnis  zur   h.  Klara    nicht   genügend   zum 

15 


226  GOETZ, 

weicht  darin  ab  vom  Testamente  und  ebenso  von  den  Ge- 
danken der  vertrauten  Gefährten,  wenn  anders  wir  dieselben 
im  Speculum  Perfectionis  wiedererkennen  dürfen.  Erleidet 
hiermit  nicht  die  ganze  Theorie  von  der  Freundschaft  Ce- 
lanos mit  den  Gefährten  Schiffbruch? 

Ich  lehne  zunächst  ab,  dafs  die  Disharmonie,  wie  sie  im 
Schweigen  Celanos  liegt,  über  die  genannten  Punkte  hinaus- 
geht. Wenn  Sabatier  zu  den  Kapiteln  des  Speculum  Per- 
fectionis immer  wieder  bemerkt  hat,  dafs  Celano  sie  um- 
gestalte, sie  „arrangiere",  Stellen  daraus  mit  Absicht  weg- 
lasse usw.,  so  ist  dabei  nicht  genügend  berücksichtigt,  dafs 
erstens  die  Frage  der  Priorität  in  zahlreichen  Fällen  weniger 
sicher  Hegt,  als  Sabatier  annimmt,  und  dafs  zweitens  Celano 
in  andern  Fällen  seine  wahrscheinliche  Vorlage  nicht  aus 
Tendenz,  sondern  um  der  straffen  Ordnung  seiner  Arbeit 
willen  gekürzt  hat.  Das  Speculum  Perfectionis  ist  nicht 
scharf  gegliedert;  es  bringt  Wiederholungen  und  häuft  die 
Beispiele.  Celano  hat  stärker  mit  dem  Raum  gegeizt,  da 
er  weit  mehr  zu  bringen  hatte:  112  von  den  143  Kapiteln 
der  Vita  secunda  haben  im  Speculum  Perfectionis  überhaupt 
keine  Parallelstellen.  Aus  Rücksichten  des  Raumes  und  der 
Disposition  hat  Celano  so  und  so  oft  sich  beschränkt  und  nur 
an  einer  Stelle   das  Notwendige  gesagt  ^     Anders,    wo   er 


Ausdruck  kam;  aber  vielleicht  haben  auch  hierin  bestimmte,  unerfreu- 
liche Vorkommnisse  Celano  1247  veranlafst,  das  Moment  der  Zurück- 
haltung in  den  Vordergrund  zu  stellen.  Die  Vita  S.  Clarae  —  im  Auf- 
trag Papst  Alexanders  IV.  geschrieben  —  beweist  doch,  dafs  auch  die 
offizielle  Ordensgeschichtschreibung  Franzens  Freundschaft  zu  Klara 
nicht  totschweigen  wollte.  —  Auch  hinsichtlich  Jakobas  von  Settesoli 
ist  Celano  gerechtfertigt,  wenn  der  Tractatus  de  Miraculis  von  ihm 
stammt  oder  zur  offiziellen  Geschichtschreibung  gehört;  denn  er  bringt 
ja  das  gleiche  über  Jakobas  Verhältnis  zu  Franz,  was  dem  Spec.  Perf. 
angeblich  den  Vorzug  gröfserer  Treue  gibt  (vgl.  oben  S.  211).  —  Dafs 
bei  Bonaventura  diese  Fragen  nicht  so  günstig  für  die  Treue  des  Ge- 
schichtschreibers liegen,  wird  unten  noch  erwiesen  werden. 

1)  Z.  B.  ist  Franzens  Stellung  zum  Bücherbesitz  und  zur  Wissen- 
schaft deutlich  genug  geschildert  (2.  Cel.  III,  8,  116,  123,  124),  obwohl  sich 
nicht  jeder  Ausfall  des  Spec.  Perf.  wiedergegeben  findet.  Ebenso  seine 
Stellung  zu  der  Art  der  Niederlassungen  (2.  Cel.  III,  2—6);  vgl.  o.  S.  166 
bei  Kap.  10    des   Spec.  Perf.     Eine    gewisse   Rücksicht   mag   gewaltet 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    227 

über  wichtige  Fragen  überhaupt  nichts  gesagt  hat.  Ent- 
schuldigt ihn  der  Gesichtspunkt  der  Ergänzung  der  Vita 
prima?  Glaubte  er  in  dieser  seine  und  des  Ordensstifters 
Ansicht  schon  klar  genug  zum  Ausdruck  gebracht  zu  haben  ? 
Für  die  oben  angeführten  Punkte  trifft  diese  Entschul- 
digung höchstens  bei  der  Leprosenpflege  zu.  Franz  hat  in 
seinem  Testamente  nur  gesagt,  dafs  er  am  Anfang  seiner 
Wandlung  zu  den  Leprosen  ging;  die  Forderung,  dafs  die 
Brüder  Leprosenpflege  treiben  sollten,  spricht  er  nicht  aus. 
Die  Vita  prima  hat  diesem  Ideale  insofern  Rechnung  ge- 
tragen, als  sie  an  drei  Stellen  davon  spricht  (I,  7  und  15, 
II,  6).  Aber  es  ist  doch  gewifs,  dafs  Franz  einen  hohen 
Wert  auf  die  Leprosenpflege  gelegt  hat  —  Kapitel  44  des 
Speculum  Perfectionis  und  die  Erzählungen  von  Kapitel  58 
zeigen  das  zur  Genüge.  Es  ist  keine  Forderung ,  die  zu 
den  grundlegenden  Ordensidealen  gehörte  —  sonst  hätte  Franz 
im  Testament  wohl  mehr  darüber  gesagt,  eine  Forderung 
formuliert;  aber  es  ist  nicht  bestreitbar,  dafs  Celano  in 
der  Vita  secunda  mit  Unrecht  daran  vollständig  vorüber- 
geht '.  Schlimmer  noch  steht  es  mit  der  Frage  der  Privi- 
legien —  in  keiner  der  beiden  Viten  ist  ein  Wort  darüber 
gesagt  '^.  Sabatier  hat  eine  Erklärung  zu  dieser  Unterlassung 
gegeben,  die  Celanos  Verhalten  verständlich  macht  ^ :  in  dem 
Zeitpunkt  heftigen  Kampfes  zwischen  Bettelorden  und  Welt- 
klerus um  solche  Privilegien  hiefs  es  den  Minoriten  schweren 
Schaden  zufügen,  wenn  jemand  den  Standpunkt  des  Stifters 
allzusehr  betonte.  Aber  als  die  Vita  prima  geschrieben 
wurde,  kam  dieser  Umstand  noch  nicht  in  Frage;  Celano 
mufs  hinsichtlich   der  Privilegien   anderer  Meinung   gewesen 


haben,  so  (laus  in  dieser  Frage  der  Angriff  nicht  zu  scharf  gefafst 
wurde;  aber  das  prinzipiell  Notwendige  ist  gesagt,  wenngleich  im  Geiste 
Franzens  gewifs  mehr  gesagt  werden  konnte. 

1)  Die  einzige  leise  Anspielung  III,  G3  in  den  Worten:  „vade  ad 
hospitale".  —  Dafs  mau  es  später  nicht  auf  völliges  Totschweigen  der 
Leprosenpflege  anlegte,  zeigt  sich  bei  Bonaventura,  der  zweimal  von 
Franz  und  den  Leprosen  spricht  (I,  6  =  n.  13  und  II,  G  =  n.  22). 

2)  Vgl.  oben  S.  79. 

3)  Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  86  Anm.  1. 

15* 


228  GOETZ, 

sein.  Solche  Selbständigkeit  der  Meinung  selbst  gegenüber 
dem  Ordensstifter  braucht  noch  kein  Verrat  an  dessen  Idealen 
zu  sein;  dafs  mit  Privilegien  die  religiöse  Wirkung  der  Mi- 
noriten  aufserordentlich  gesteigert  würde,  konnte  eine  An- 
schauung sehr  eifriger  Anhänger  des  Heiligen  sein.  Aber 
wie  dem  auch  sei  —  Celano  hat  in  der  Vita  secunda  die 
Meinung  des  Heiligen  in  dieser  Frage  verschwiegen,  und  das 
ist  —  von  der  Privatmeinung  des  Schriftstellers  ganz  ab- 
gesehen —  jedenfalls  eine  Rücksicht  auf  die  Verhältnisse 
des  Ordens  gewesen. 

Und  ebenso  schweigt  Celano  ganz  über  das  Testament. 
In  der  Vita  prima  hat  er  es  einmal  ausdrückHch  zitiert  (I,  7) 
und  zweimal  noch  Worte  des  Testamentes  nebenbei  erwähnt 
(I,  15  und  17);  von  der  Notwendigkeit  seiner  Befolgung  sagt 
er  nichts  ^  In  der  Vita  secunda  steht  nur  noch  ein  Anklang 
an  das  Testament  (I,  5).  Nun  ist  es  zwar  richtig,  dafs  auch 
im  Speculum  Perfectionis  strenge  Einhaltung  des  Testamentes 
ebensowenig  ausdrücklich  gefordert  wird ;  aber  es  wird  doch 
erwähnt,  mit  Nachdruck  erwähnt  ^.  Die  Vita  secunda  mufs 
mit  Absicht  darüber  geschwiegen  haben.  Der  Grund  liegt 
nahe:  seit  die  Bulle  Gregors  IX.  von  1230  die  Minoriten 
von  der  Befolgung  des  Testamentes  entbunden  hatte,  war 
es  eine  heikle  Sache,  darauf  zurückzukommen.  Dafs  er  ge- 
wisse Rücksichten  nahm,  bleibt  auch  hier  an  Celano  hangen. 

Reichen  diese  Zugeständnisse  an  andere  Strömungen  im 
Orden  aus,  Celanos  Ehrlichkeit  zu  bezweifeln?  —  Es  ist 
zunächst  ungerechtfertigt,  die  Vita  secunda  direkt  mit  den 
Äufserungen  des  Speculum  Perfectionis  über  diese  Punkte 
zu  vergleichen.  Denn  selbst  wenn  dasjenige,  was  darüber 
1318  zusammengestellt  wurde,  schon  um  1246  aufgezeichnet 
sein  sollte,  so  war  es  doch  leichter,  solche  unverbindliche 
Aufzeichnungen  zu  machen,  als  sie  in  einer  Schrift  an  die 
Öffentlichkeit  zu  bringen,  die  in  offiziellem  Auftrag  erschien. 


1)  Vgl.  oben  S.  79. 

2)  Spec.  Perf.  Kap.  11  und  65.  Die  andern  Stellen  sind  unbe- 
deutend oder,  wie  in  Kap.  9',  in  dem  uns  erhaltenen  Texte  des  Testa- 
mentes nicht  nachweisbar. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    229 

Celano  hat  als  offiziell  Beauftragter  des  Generalkapitels  und 
Generalministers  gewisse  Rücksichten  genommen  und  nehmen 
müssen.  Er  hat  in  den  erwähnten  Fragen  vermieden,  die 
Gegensätze  von  neuem  aufzuregen;  er  kam  damit  der  laxeren 
Richtung  ein  Stück  entgegen  —  sei  es  aus  Taktik,  sei  es 
aus  dem  Gefühl,  dafs  ein  Entgegenkommen  in  dieser  Hin- 
sicht sachlich  gerechtfertigt  sei.  In  der  Hauptsache  bestand 
er  um  so  mehr  auf  dem,  was  Franz  gewollt  hatte.  In  der 
Schärfe,  mit  der  Celano  sonst  gegen  die  laxe  Richtung  an- 
kämplt,  liegt  seine  Rechtfertigung  gegenüber  dem  Vorwurf 
der  Charakterlosigkeit.  Er  ist  stellenweise  schroffer  in  seinen 
Angriffen  auf  laxe  Elemente  als  das  Speculum  Perfectionis 
(vgl.  III,  61,  62,  83,  90);  er  gibt  Beispiele,  wie  man  das 
Geld  verachten  müsse,  die  im  Speculum  Perfectionis  fehlen 
(III,  12  und  14);  er  gibt  strengere  Vorschriften  für  den 
Verkehr  mit  Frauen  (III,  55 — 57);  er  mildert  anderwärts 
wohl  im  Ausdruck,  wie  seine  Absicht  überall  ist,  die  schöne 
rhetorische  Form  zu  wahren,  aber  er  sagt  dem  Sinne  nach 
weit  öfter  das  gleiche  wie  das  Speculum  Perfectionis,  als 
dafs  er  abzuschwächen  sucht.  An  den  obersten  Leiter  des 
Ordens  stellt  er  (III,  106)  genau  dieselben  strengen  An- 
forderungen wie  das  Speculum  Perfectionis  (Kap.  80);  er 
übt  offen  oder  implicite  Kritik,  verschleiert  nicht,  dafs 
Franz  in  seinen  letzten  Lebensjahren  Konflikte  mit  wider- 
strebenden Ghedcrn  des  Ordens  hatte  (I,  16,  II,  4,  III,  4, 
8,  16,  81,  83,  93,  94,  118),  und  manche  seiner  Worte  sind 
Anklagen,  die  nur  den  Zuständen  in  der  Entstehungszeit 
der  Vita  secunda  gelten  (III,  6,  10,  15  [Sciilufs],  98,  111, 
113,  115,  124).  Dieser  Zug  des  Eiferns  für  die  Ordens- 
ideale tritt  so  stark  hervor,  dafs  man  die  Vita  secunda  Ce- 
lanos der  Tendenz  „zugunsten  der  strengen  Partei"  be- 
schuldigt hat  '. 


1)  K.  Müller,  AiifiiiiEre,  S.  181,  mit  Hinweis  auf  die  Kapitel  III, 
1—7,  8  ff.,  15,  28,  8Gf.,  93  f.,  98,  100,  113,  115—118,  124,  135,  140.  — 
Müllers  Allgriffe  gegen  die  Glaubwürdigkeit  Celanos  sind  heute  nicht 
mehr  haltbar;  das  Spec.  Perf.  bestätigt,  dafs  Celano  mit  der  Bezeich- 
nung des  Petrus  Catbaneus  als  Vikar,  mit  dem  Bericht   über   eine  Zu- 


230  GOETZ, 

Es  ist  sicher,  dafs  ein  Stück  derartiger  Tendenz  in  der 
Vita  secunda  liegt,  und  indem  Celano  formulierte,  was  um 
1247  gegen  die  laxe  Richtung  des  Ordens  zu  sagen  war, 
mögen  leichte  Retuschen  am  Bilde  des  Heiligen  entstanden 
sein;  aber  im  ganzen  darf  man  doch  in  solcher  Tendenz  den 
eifernden  Geist  des  h.  Franz  erkennen.  Dieser  wollte  zwar  für 
seine  Gedanken  nicht  anders  als  durch  sein  Beispiel  wirken, 
aber  er  war  in  Tun  und  Worten  heiligen  Eifers  voll.  Der 
Geist  seines  Testamentes  ist  eifernde  Sorge  für  sein  Werk; 
wer  ihm  ganz  nachzufolgen  strebte,  mufste  anklagen,  wie 
er  es  selbst  zuletzt  getan.  Das  war  das  Zeichen  einer  Jünger- 
schaft, die  für  unerfüllbare  Ideale  kämpfte.  So  liegt  in  der 
Tendenz,  die  in  der  Vita  secunda  lebt,  nichts  Ungeschicht- 
liches, aber  auch  nichts  Vollkommenes.  Denn  wurde  Ce- 
lano damit  auch  dem  Heiligen,  wie  er  gegen  Ende  seines 
Lebens  gewesen  war,  gerecht,  so  doch  nicht  dem  ganzen 
Leben  und  noch  weniger  den  Menschen,  die  sich  von  seinen 
Wegen  abgezweigt  hatten.  Es  waren  Unwüi'dige  darunter, 
aber  auch  solche,  die  besser  für  iim  zu  arbeiten  glaubten 
als  er  selber  ^ 

Die  Mängel  der  Vita  secunda  liegen  zum  Teil  auf  diesem 
Gebiete  einer  zwar  wohlgemeinten,  aber  dennoch  einseitigen 
Auffassung.  Sie  läfst  uns  ebenso  wie  die  Vita  prima  über 
wichtige  Punkte  der  Gründung  und  Entwicklung  des  Mi- 
noritentums  im  unklaren;  sie  ist  ebenso  arm  an  geschich- 
lichen  Tatsachen  —  was  zur  Kritik  der  Vita  prima  gesagt 
wurde ,  gilt  zum  guten  Teil  auch  für  die  Vita  secunda  ^ ; 
nur  die  Beiträge  zur  Charakteristik  des  Heiligen  sind  in  ihr 
in  reicherem  Mafse  geboten. 

Die  Vita  secunda  zeigt  mit  ihrem  schroffen  Hinweis  auf 
die  wahren  Ordensideale,  wie  viel  sich  inzwischen  im  Orden 
an  Menschlichem  zugetragen  hatte.  Daraus  kann  der  For- 
scher vieles  für  eine  tiefere  geschichtliche  Erfassung  der 
ganzen  Bewegung   und    der  Persönlichkeit    des  Heiligen   ge- 


samnienkunft  Franzens  mit  Dominikus  nicht  gelogen  hatte.     Dafs  Elias 
nicht  mehr  ausdrücklich  genannt  wurde,  ist  entschuldbar  (s.  oben  S.  82). 

1)  Hist.  Vierteljahrsschrift  1903,  S.  46. 

2)  Vgl.  oben  S.  87  f. 


QUELLEN  zun  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    231 

winnen.  Aber  auf  der  andern  Seite  verschliefst  die  Vita 
seeunda  auch  wieder  diese  Möglichkeit.  Dafs  sie  20  Jahre 
nach  der  Vita  prima  geschrieben  ist,  gibt  ihr  nicht  nur  neues 
Material  und  neue  Gesichtspunkte,  sondern  führt  auch  zum 
vermehrten  Eindringen  legendarischer  Züge.  Aufserordent- 
lich  stark  ist  die  Sucht  geworden,  im  Gegensatz  zur  Vita 
prima  ',  mit  Reden  Gottes,  Christi  und  vor  allem  des  Heiligen 
selber  zu  prunken.  Oft  ist  es  nur  der  Wunsch,  die  Er- 
zählung durch  Rede  und  Gegenrede  dramatischer  zu  ge- 
stalten ;  in  mehr  als  zwei  Dutzend  Fällen  soll  die  Autorität 
des  Erzählten  gesteigert  werden,  indem  Franz  als  Redender 
eingeführt  wird.  Man  braucht  nur  die  einzelnen  Beispiele 
zu  prüfen,  um  auch  diese  oft  so  langen  Reden  Franzens  aus 
der  Legendenbildung  zu  erklären:  sie  konnten  nicht  an  Ort 
und  Stelle  aufgezeichnet  sein,  sondern  sie  entstanden  zum 
Teil  aus  der  Erinnerung  der  Ohrenzeugen,  zum  Teil  aus  der 
ein  Ereignis  ausgestaltenden  Phantasie.  So  wird  in  der  Vita 
prima  I,  4  erzählt,  wie  Franz  durch  den  Anblick  des  ver- 
fallenen Kirchleins  S.  Damiano  und  des  armen  Priesters  so 
bewegt  wird,  dafs  er  diesem  Geld  schenkt  und  bei  ihm 
bleibt  und  dann  (I,  8)  das  Kirchlein  wiederherstellt.  Das 
ist  ein  ganz  natürliches  Ereignis.  Die  Vita  seeunda  I,  6 
erzählt,  wie  in  S.  Damiano  der  Gekreuzigte  zu  Franz 
spricht  —  ein  Wunder,  „inauditum  a  saeculis"  —  und  ihn 
auffordert,  das  Gotteshaus  zu  erneuen.  So  tritt  das  Wunder 
an  die  Stelle  natürlicher  Begründung.  Ebenso  in  folgenden 
Fällen :  Vita  prima  I,  8  erzählt  bei  Gelegenheit  der  Wieder- 
herstellung von  S.  Damiano,  dafs  später  an  dieser  Stelle  der 
Klarissenorden  entstanden  sei.  Vita  seeunda  II,  8  berichtet 
dagegen,  dafs  Franz  bei  den  Wiederherstellungsarbeiten  das 
Entstehen  des  Klarissenordens  prophezeit  habe.  —  Vita 
prima  I,  10  heifst  es,  Bernhard  von  Quinta vallc  schlofs  sich 
Franz  an  und  erfüllte  die  Worte  des  Evangeliums:  „Si  vis 
perfectus  esse,  vade,  vende  omnia"  etc.  In  Vita  seeunda 
I,  10  sind  sich  Franz  und  Bernhard  darüber  einig  geworden, 
dafs  auf  allen  Besitz  zu  verzichten  sei.    Aber  Franz  schlägt 


1)  Vgl.  oben  S.  72. 


232  GOETZ, 

vor,  das  Evangelium  darüber  zu  befragen.  Sie  gehen  am 
nächsten  Morgen  zur  Kirche,  schlagen  die  Bibel  auf  und 
finden  den  Spruch :  „  Si  vis  perfectus  esse "  etc. ,  dazu  noch 
zwei  verwandte  Sprüche,  worauf  Bernhard  alles  genau  er- 
füllt. —  Vita  prima  I,  1  schildert  Franz  als  sehr  weltlich 
gesinnten  Jüngling,  mit  allen  vanitatibus  mehr  als  andere 
behaftet;  Vita  secunda  I,  1  läfst  sorgfältig  beiseite,  was  einen 
Makel  auf  Franzens  Leben  vor  der  Conversio  werfen  könnte. 
Die  Vita  prima  schildert  im  gleichen  Kapitel  die  Eltern  als 
ganz  in  Weltlichkeit  versunken ;  die  Vita  secunda  I,  1  macht 
die  Mutter  zu  einer  frommen  Frau,  ähnlich  der  Mutter  Jo- 
hannes des  Täufers.  —  Vita  prima  I,  5  trifft  Franz  einen 
Leprosen ,  steigt  vom  Pferde  und  küfst  ihn ;  Vite  secunda 
I,  5  wird  ein  Wunder  daraus:  der  Leprose  verschwindet, 
nachdem  Franz  ihn  geküfst.  Die  Vita  prima  erzählt  über- 
haupt nur  wenige  Wunder  ^  Dagegen  enthalten  die  22  Ka- 
pitel des  zweiten  Teils  der  Vita  secunda  nur  Prophezeiungen 
Franzens  und  an  zwei  Dutzend  Visionen  und  Wunder  kommen 
in  der  Vita  vor.  Von  dem  umfangreichen  Traktat  über  die 
Wunder  wird  später  noch  gesprochen  werden  ^. 

Das  alles  gibt  der  Vita  secunda  einen  andern  Charakter. 
Aus  dem  Streben  nach  Erbaulichkeit  ist  Eifern  für  die  Ideale 
des  Heiligen  und  eine  gewisse  Tendenz  gegenüber  den  laxen 
Elementen  des  Ordens  geworden,  aus  der  schlichten  Begrün- 
dung der  Tatsachen  eine  Arbeit  mit  Wundern  und  mit  dra- 
matischen Akzenten.  In  der  Vita  prima  erscheint  Franz  als 
ein  aufserordentlicher  Mensch,  in  der  Vita  secunda  als  Hei- 
liger. Eine  naturgemäfse  Entwicklung  der  Auffassung  in 
den  Köpfen  derer,  die  nun  einmal  ganz  von  seiner  Heilig- 
keit erfüllt  waren,  aber  gewifs  keine  Vertiefung  in  der  Auf- 
fassung der  Persönlichkeit.  Nur  eins  ist  in  beiden  Lebens- 
beschreibungen unverändert  das  gleiche:  die  reichliche,  lehr- 
hafte Rhetorik,  die  Celanos  schriftstellerischen  Ruhm  begründet 
haben  wird,  die  aber  auch  die  Schuld  daran  trägt,  dafs  oft 
das  Streben  nach  schöner  Form  der  schlichten  Sachlichkeit, 


1)  Vgl.  oben  S.  72. 

2)  S.  unten  S.  235. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    233 

die  wir  uns  wünschen  würden,  Eintrag  getan  hat.  Es  bleibt 
auch  hier  kein  anderer  Schlufs  übrig,  als  dafs  der  Forscher 
zwar  für  das  Material  der  Vita  secunda  von  Herzen  dank- 
bar ist,  dafs  aber  seine  Auffassung  vom  h.  Franz  von  ihr 
nicht  autoritativ  bestimmt  werden  darf. 

Entstehungszeit. 
Es  ist  zum  Schlüsse  noch  auf  die  Entstehungszeit  der 
Vita  secunda  einzugehen.  Man  bestimmte  sie  früher  an  der 
Hand  des  Schreibens  der  drei  Genossen  vom  12.  August 
1246:  da  nach  den  Angaben  des  Schreibens  das  General- 
kapitel von  1244  den  Auftrag  zur  Abfassung  einer  neuen 
Biographie  und  zur  Einsendung  von  Material  gegeben  hatte, 
da  die  Legenda  trium  Sociorum  benutzt  schien,  da  nach  einer 
Notiz  in  der  Chronik  der  24  Generale  der  Generalminister 
Johann  von  Parma  (seit  Juli  1247)  Celano  zur  Vollendung  der 
Arbeit  aufgefordert  hatte,  so  ergab  sich  als  Termin  der  Ab- 
fassung die  Zeit  zwischen  1244  und  etwa  1247  oder  1248  — ■ 
vorausgesetzt,  dafs  die  Fertigstellung  der  Schrift  bald  nach 
der  Aufforderung  des  Generalministers  vollzogen  wurde.  — 
Die  Beweisführung  über  die  Entt^tehungszeit  kommt  auch  jetzt 
noch  zu  einem  ähnlichen  Ergebnis;  sie  mufs  aber  auf  andere 
Weise  geführt  werden.  Das  Schreiben  der  drei  Genossen 
scheidet  als  unsicher  aus;  die  WiederaufHndung  eines  Trac- 
tatus  de  Miraculis,  der  als  letzter  Teil  der  Vita  secunda  an- 
gesehen wird,  gibt  der  Auft'orderung  des  Generalministers 
Johann  von  Parma  ein  neues  Aussehen,  Ob  nun  dieser 
Tractatus  der  richtige  ist  oder  nicht  (vgl.  unten  S.  235)  — 
80  viel  ist  doch  gewifs,  dafs  jene  Notiz  in  der  Chronik  der 
24  Generale  sich  nur  auf  eine  Ergänzung  über  die  VV  u  n  - 
der  des  Heiligen  bezieht  und  dafs  man  keinen  der  drei 
Teile  der  Vita  secunda,  wie  sie  in  Amonis  Ausgabe  vorliegt, 
für  jene  Notiz  in  Anspruch  nehmen  darf  Die  Dreiteilung 
hat  irregeführt;  in  Wirklichkeit  aber  bestand  diese  Vita  se- 
cunda nur  aus  zwei  Teilen.  So  sagt  es  ausdrücklich  der 
Prolog:  die  Vita  bringe  „inprimis  quaedam  conversionis 
facta  mirifica  .  .  .  Dehinc  vero  exprimere  intendiraua  .  .  . 
quae  sanctissimi  patris  tam  in   se    quam    in    suis    fuerat   vo- 


234  GOETZ, 

luntas  bona  .  .  .  Miracula  quaedam  interseruntur,  prout  se 
ponendi  opportunitas  offert".  Dementsprechend  folgt  auf  die 
Beiträge  zur  Conversio  ein  neuer  Prolog  als  Eingang  zu 
einem  zweiten  Teile;  wo  heute  der  dritte  Teil  beginnt,  fehlt 
ein  neuer  Prolog,  während  doch  in  der  Vita  prima  wie  se- 
cunda  neue  Teile  mit  einem  Prologe  eingeleitet  werden.  Die 
Vita  secunda  besafs  nach  der  Absicht  ihres  Verfassers  also 
nur  zwei  Teile  '.  Ein  Teil  über  die  Wunder  war  ursprüng- 
lich —  nach  den  Worten  des  Prologs  zu  urteilen  —  nicht 
geplant:  nur  bei  Gelegenheit  sollte  von  Wundern  berichtet 
werden.  Auch  dies  verwirklicht  die  Vita  secunda.  Eben 
daraus  mag  sich  das  Bedürfnis  nach  einem  selbständigen 
Teile  über  die  Wunder  ergeben  'haben.  Die  Vita  prima 
besafs  als  Anhang  den  bei  der  Heiligsprechung  verwendeten 
Wunderkatalog ;  auch  ihm  gegenüber  empfand  man  den 
Wunsch  nach  Ergänzung.  Deshalb  die  Bitte  des  Johann 
von  Parma  an  Celano,  die  Vita  secunda  in  den  Augen  der 
wunderhungrigen  Leser  dadurch  zu  vollenden,  dafs  auch 
ihr  ein  Abschnitt  über  die  Wunder  beigefügt  werde  ^.  Da 
nun  ferner  Celano  im  Prolog  der  Vita  secunda  sagt,  dafs 
der  Generalminister  —  sein  Name  wird  nicht  genannt  — 
und  ein  Generalkapitel  ihn  mit  der  Abfassung  der  Vita  be- 
auftragt hätten,  so  ergeben  sich  folgende  Schlüsse: 

l)  Wenn  der  im  Juli  1247  gewählte  Generalminister  Jo- 
hann von  Parma  um  Vollendung  der  Vita  durch  einen 
Traktat  über  die  Wunder  bat,  so  mufs  die  Vita  secunda  im 
Juli  1247  in  ihren  zwei  (nach  bisheriger  Zählung:  drei) 
ersten  Teilen  abgeschlossen  vorgelegen  haben  ^. 


1)  Das  in  Assisi  befindliche  Manuskript  gibt  Teil  2  und  3  als  einen: 
Sabatier,  Vie,  S.  LXXIII  Anm.  2.  Die  Marseille!-  Handschrift  hat 
überhaupt  keine  Teilung:  s.  oben  S.  90  Anm.  2. 

2)  Van  Ortroy  hat  darauf  hingewiesen  (Anal.  Bolland.  XIX,  S.  62), 
dafs  Generalmmister  verschiedener  Richtung  —  Crescentius  gilt  als  An- 
hänger der  laxen  Partei,  Johann  von  Parma  als  Zelant  —  sich  an  Ce- 
lano wandten,  dafs  seiner  Ehrlichkeit  also  allseitiges  Vertrauen  entgegen- 
gebracht wurde.  Ich  habe  dieses  Argument  nicht  verwendet,  weil  wir 
über  die  Gesinnung  dieser  Generalminister  nicht  genügend  unterrichtet  sind. 

3)  Es  ist  oben  S.  91  Z.  11  anstatt  Juli  irrtümlich  August  1247 
angegeben  worden. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL    235 

2)  Es  ist  kaum  zweifelhaft,  dafs  Celano  mit  dem  im 
Prolog  erwähnten  Generalkapitel  das  letztvergangene,  also 
das  von  1244  gemeint  hat.  Sehr  viel  weiter  kann  der  Auf- 
trag überhaupt  nicht  zurückliegen  —  jedenfalls  mufs  er  nach 
1239,  der  Absetzung  des  Elias,  gegeben  sein);  und  wäre  es 
nicht  das  letztvergangene  gewesen,  so  wäre  ein  anderer  Ge- 
neralminister —  Haimon  —  beim  Auftrag  beteiligt  gewesen  — 
nach  den  Worten  Celanos  mufs  aber  derselbe  General  Auf- 
traggeber und  Empfänger  der  Vita  gewesen  sein. 

3)  Die  Zeit  zwischen  dem  Generalkapitel  von  1244  und 
Juli  1247  ist  also  die  Entstehungszeit  der  Vita  secunda. 

d)  Der  Tractatus  de  Miraculis. 
Es  ist  durch  Salimbene  und  später  durch  die  Chronik 
der  24  Generale  überliefert,  dafs  Thomas  von  Celano  seiner 
Vita  secunda  noch  eine  Schrift  über  die  Wunder  des  h.  Franz 
habe  nachfolgen  lassen.  Karl  Müller  hatte  vermutet,  dafs 
der  heutige  zweite  Teil  der  Vita  secunda  mit  der  Schrift 
über  die  Wunder  identisch  sei  * ;  dann  fand  Sabatier  im 
Manuskript  338  zu  Assisi  Bruchstücke  von  Wundererzäh- 
lungen, die  er  für  Teile  des  vermifsten  Traktats  über  die 
Wunder  ansah  ^.  Van  Ortroy  entdeckte  schliefslich  im  Mar- 
seiller  Manuskript  der  Vita  secunda  einen  selbständigen,  bis- 
her unbekannten  Anhang,  der  nur  den  Wundern  gewidmet 
war;  er  gab  den  Text  1899  ^  im  Wortlaut  heraus  und  suchte 
in  der  Einleitung  den  Nachweis  zu  führen,  dafs  dieser  Trac- 
tatus de  MiracuHs  dem  Thomas  von  Celano  zuzuschreiben 
sei.  Es  läfst  sich  wohl  nichts  völlig  Durchschlagendes  gegen 
die  scharfsinnige  Beweisführung  van  Ortroys  sagen;  ander- 
seits sind  die  vorgebrachten  Gründe  aber  doch  nicht  derart, 
dafs  Thomas  von  Celano  mit  voller  Sicherheit  als  Ver- 
fasser bezeichnet  werden  könnte.  In  dem  Tractatus  selber 
wird  kein  Verfasser  genannt;  auch  die  frühesten  Benutzer 
dieser  Aufzeichnungen,  Bonaventura  und  Bernhard  von  Bessa 


1)  K.  Müller,  Anfänge,  S.  175  ff. 

2)  Miscell.  Francesc.  IV  (1894),  S.  40  ff. 

3)  Anal.  Bolland.  XVIII,  S.  81—177. 


236  GOETZ, 

geben  keine  Auskunft  darüber.  Was  aber  Salimbene,  der 
einzige  direkte  Zeuge  des  13.  Jahrhunderts,  sagt,  entspricht 
nicht  ganz  dem  später  von  der  Chronik  der  24  Generale 
angegebenen  Sachverhalt:  Salimbene  berichtet,  dafs  Thomas 
von  Celano  auf  Befehl  des  Generalministers  Crescentius  ein 
„pulcherrimum  librum  tam  de  miraculis  quam  de  vita"  ge- 
schrieben habe  —  eine  Aussage,  die  sich  eventuell  auf  die 
Vita  secunda  allein  beziehen  könnte;  die  Chronik  der  24 
Generale  dagegen  sagt,  dafs  Thomas  auf  Befehl  des  Cres- 
centius die  Vita  secunda,  später  auf  Befehl  des  General- 
ministers Johann  von  Parma  als  Ergänzung  dieser  Vita  einen 
Tractatus  de  Miraculis  geschrieben  habe  ^  Liegt  die  Un- 
genauigkeit  bei  Salimbene  oder  ist  die  ein  Jahrhundert  später 
zum  ersten  Male  auftauchende  Nachricht  der  Chronik  der 
Ordensgenerale  unzuverlässig?  Dafs  schon  die  Autoren  des 
13.  Jahrhunderts  hinsichtlich  der  Legenden  und  ihrer  Ver- 
fasser irren,  weifs  man  zur  Genüge;  keine  ihrer  Notizen  ist 
völlig  einwandfrei.  Für  Nachrichten  des  14.  Jahrhunderts 
gilt  dies  in  noch  höherem  Grade  ^. 


1)  Anal.  Franc.  III,  S.  276.  Dals  an  dieser  Stelle  Ceperano  ein 
Irrtum  statt  Celano  ist,  bedarf  keines  weiteren  Beweises.  —  Man- 
donnet  hat  (Mise.  Franc.  VII,  S.  63)  auf  eine  Stelle  in  der  Vita  des 
Johann  von  Parma  (Acta  SS.,  März  19,  S.  60)  hingewiesen,  in  der  das- 
selbe berichtet  werde.  Es  scheint  Mandounet  entgangen  zu  sein,  dafs 
nach  Angabe  der  Bollandisten  diese  Vita  nur  aus  Wadding  zusammen- 
gestellt ist,  also  auf  der  Chronik  der  24  Generale  beruht. 

2)  Gegen  Thomas  von  Celano  spricht  die  Wiederholung  einer  An- 
zahl von  Erzählungen  der  Vita  secunda  —  dann  kann  mau  den  Trac- 
tatus wenigstens  nicht  als  Ergänzung  der  Vita  secunda  ansehen. 
Nach  Salimbenes  Worten  müfste  man  doch  an  ein  zusammengehöriges 
Ganze  denken.  Prolog  und  Epilog  des  Traktats  machen  den  Eindruck 
einer  ganz  für  sich  bestehenden  Schrift,  was  natürlich  die  Autorschaft 
Celanos  nicht  ausschliefsen  würde  —  aber  dann  hat  Salimbene  ungenau 
berichtet.  —  Für  Celano  spricht  nicht  in  Andere  ausschliefsender  Weise, 
dafs  im  Tractatus  der  Name  des  Elias  weggelassen  wurde,  wo  die  Vor- 
lage —  die  Vita  prima  —  ihn  nennt  (n.  4  und  155);  das  entsprach,  wie 
bereits  berührt  wurde  (s.  oben  S.  229  Anm.  1),  nach  dem  Falle  des  Elias 
sicherlich  der  allgemeinen  Anschauung.  Auffallend  ist  doch  auch,  dafs 
der  Verfasser  des  Tractatus  so  lebhaft  betont,  die  Stigmen  selber  ge- 
sehen zu  haben;  in  der  Vita  prima  und  secunda  hat  Thomas  von  Ce- 
lano dies  in  keiner  Weise  durchblicken  lassen.  —  Nicht  annehmbar  ist 


QUELLEN  zun  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    237 

Da  kein  klares,  unzweideutiges  Zeugnis  für  Thomas  von 
Celano  als  Verfasser  dieses  Marseiller  Tractatus  vorliegt,  so 
ist,  was  Ortroy  dafür  auf  Grund  der  Wendungen  des  Epi- 
logs, auf  Grund  des  Stils  und  der  ganzen  Art  der  Arbeit 
angeführt  hat,  eine  sehr  annehmbare  Vermutung,  aber  keine 
Gewifsheit.  Und  deshalb  ist  es  auch  bedenklich,  aus  Be- 
merkungen des  Traktats  Schlüsse  über  Thoraas  von  Celano 
zu  ziehen.  Der  Verfasser  des  Traktats  behauptet  (c.  II, 
n.  5),  die  Stigmen  sowohl  bei  Lebzeiten  des  Heiligen, 
wie  auch  am  Leichnam  gesehen  und  sogar  berührt  zu  haben: 
ist  Thomas  von  Celano  der  Verfasser,  so  müfste  er  schon 
1226  wieder  in  Italien  gewesen  sein.  Wenn  auch  die  für 
die  Vita  prima  sich  daraus  ergebenden  Schlüsse  nicht  so 
schwerwiegend  sind,  wie  es  vielleicht  im  ersten  Augenblicke 
scheinen  könnte,  so  wäre  Gewifsheit  darüber  immerhin  von 
einigem  Werte  K 

Wie  dem  auch  sei,  so  ist  doch  wohl  gesichert,  dafs  der 
Verfasser  ein  Minorit  noch  der  ersten  Generation  gewesen 
sein  mufs.  Er  nennt  sich  als  Augenzeugen  (n.  5),  er  beruft 
sich  wiederholt  direkt  oder  indirekt  auf  die  persönliche  Be- 
kanntschaft mit  Augenzeugen  (n.  9,  39,  54),  er  bekennt  sich 
als  Minoriten  (n.  1,  109).  Die  Schrift  mufs  um  die  Mitte 
des  Jahrhunderts  geschrieben  sein,  denn  die  Vita  prima  und 


die  Behauptun«;  van  Ortroys  (a.  a.  0.  S.  95  f.),  Bonaventura  habe 
bei  Wundern,  die  sowohl  in  der  Vita  prima  wie  im  Tractatus  stehen, 
zeitweise  dem  Tractatus  den  Vorzug  gegeben,  weil  derselbe  ja  doch 
vom  gleichen  Verfasser  stammte.  Dagegen  ist  darauf  hinzuweisen,  dafs 
Bonaventura  den  Julian  von  Speier  in  auffallend  starkem  Mafse  vor 
der  Vita  prima  bevorzugt  liat,  also  eine  ganz  unselbständige  Quelle; 
Bonaventura  war  also  keineswegs  so  pietätvoll  und  gewissenhaft  gegen- 
über Thomas  von  Celano ,  dafs  er  nicht  auch  den  von  anderer  Hand 
stammenden  Tractatus  statt  der  Vita  prima  hätte  ausschreiben  können.  — 
Julian  von  Speier  hat  ausdrücklich  gesagt,  dafs  er  einen  ,, Tractatus" 
über  die  Wunder  jdane  (Anal.  Boll.  XXI,  S.  187,  n.  4G);  Celano  hat 
keine  derartige  Bemerkung  gemacht.  Zu  Julian  würde  es  durchaus  passen, 
dafs  er,  wie  früher  bei  der  Legende,  so  jetzt  im  Tractatus  die  Lebens- 
beschreibungen Celanos  ausschrieb.  Daraus  würden  sich  denn  auch  die 
von  Ortroy  betonten  Ähnlichkeiten  des  Stils  mit  dem  des  Thomas  von 
Celano  erklären. 

1)  Vgl.  oben  S.  Gl  Aum.  1. 


238  GOETZ, 

die  Vita  secunda  sind  benutzt,  während  Bonaventura  und 
Bernhard  von  Bessa  bereits  aus  ihr  geschöpft  zu  haben 
scheinen  ^  Die  Mitteilung  (am  Schlufs  von  n.  l),  dafs  schon 
mehrere  Ordensmitglieder  heilig  gesprochen  seien,  führt  wohl 
auf  einen  Zeitpunkt  nach  der  Heiligsprechung  der  h.  Klara 
1255,  denn  bis  dahin  gab  es  aufser  Franz  nur  einen  Hei- 
ligen im  Orden :  Antonius  von  Padua  ^. 

Der  Tractatus  selber  ist  seinem  Inhalt  nach  nicht  so 
wichtig,  dafs  die  Feststellung  des  Verfassers  eine  Hauptfrage 
wäre.  Da  er  fast  nur  Wunder  erzählt  und  zum  gröfsten 
Teile  solche,  die  sich  erst  nach  dem  Tode  des  Heiligen  er- 
eignet haben  sollen,  so  bleibt  nur  ein  bescheidner  Rest  von 
historisch  brauchbaren  Nachrichten  übrig.  Von  den  kleinen 
Beiträgen  zur  Lebensgeschichte  des  Heiligen  ist  der  bedeu- 
tendste die  Erzählung  von  der  Ankunft  Jakobas  da  Settesoli 
am  Sterbebette  des  Heiligen:  es  wird  dadurch  beglaubigt, 
was  bisher  nur  auf  unsichere  Nachrichten  zurückging,  und 
das  Bild  des  Heiligen  wird  durch  die  Bestätigung  seiner 
Freundschaft  mit  der  vornehmen  Römerin  um  einen  freien, 
menschlichen  Zug  bereichert  —  durchbricht  doch  Franz  so- 
gar die  Klausur  der  Portiunculazellen ,  um  den  „frater  Ja- 
coba"  noch  einmal  zu  sehen. 

Der  Tractatus  ist  kein  blofser  Anhang  zu  einer  der  vor- 
handenen Lebensbeschreibungen,  sondern  eine  selbständige 
Sclirift,  in  der  alle  bisher  bekannten  Wunder  zusammen- 
getragen sind.  So  hat  er  alle  Wundererzählungen  der  Vita 
prima  und  secunda  benutzt  und  meist  im  Wortlaut  über- 
nommen ^.  Das  Wichtigste  am  Tractatus  de  Miraculis  ist 
die  Tatsache  seines  Vorhandenseins.  Etwa  30  Jahre  nach 
dem  Tode  des  Heiligen  ist  also  die  Betrachtung  seiner  Per- 


1)  Vgl.  dafür  van  Ortroy  a.  a.  0.  S.  88f.  93 ff.  —  Auffallend 
bleibt  es  allerdings,  dafs  bei  Bonaventura  so  viele  Wunder  des  Trac- 
tatus weggelassen  sind. 

2)  Für  eine  Heiligsprechung  des  frater  Kogerius  von  Todi  fehlen 
ausreichende  Belege.     Vgl.  Acta  SS.  März,  I,  S.  417. 

3)  Es  ist  für  die  Kritik  des  Spec.  Perf.  aus  dem  Tractatus  nichts  zu 
gewinnen,  weil  das  einzige  Mal,  wo  Vita  sec,  Tractatus  und  Spec.  Perf. 
sich  berühren  (Tract.  n.  14),  nur  der  Text  der  Vita  sec.  ausgeschrieben  ist. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    239 

scinlichkeit  zum  ersten  Male  ganz  unter  den  Gesichtspunkt 
des  Wundertäters  gerückt.  Zwar  könnte  man  dem  Thomas 
von  Celano  —  wenn  er  der  Verfasser  ist  —  keinen  Vorwurf 
machen,  dafs  er  die  Geschichte  schliefslich  zur  Legende 
umgebildet  habe;  er  hatte  in  den  beiden  Lebensbeschrei- 
bungen dem  historischen  Franz  von  Assisi,  soweit  er  ihn  be- 
greifen konnte,  genuggetan,  und  es  mufs  auch  festgestellt 
werden,  dafs  die  Erzählungen  der  Vita  prima  und  secunda 
im  Tractatus  de  Miraculis  —  soweit  sie  dafür  in  Betracht 
kommen  —  nicht  ins  Legendenhafte  fortgebildet  sind:  was 
dort  an  Wundern  berichtet  war,  wird  zum  gröfsten  Teile 
ebenso,  oft  wortgetreu,  in  den  Tractatus  aufgenommen  und 
ferner  hinzugefügt,  was  der  tote  Franz  an  Wundern  in  aller 
Welt  gewirkt  hat;  an  Wundern,  die  Franz  bei  Lebzeiten 
vollzogen  haben  soll,  sind  nur  ganz  wenige  neue  hinzugetan  '. 
Die  Vita  secunda  hatte  in  stärkerem  Mafse  innerhalb  der 
einzelnen  Erzählungen  die  Legende  gegenüber  der  Vita  prima 
fortgebildet,  neue,  steigernde  Züge  zum  Vorschein  gebracht, 
und  Bonaventura  bedeutet  ebenfalls  mehr  für  die  Legenden- 
entwicklung als  der  Tractatus  de  Miraculis.  Dieser  ist  nur 
im  ganzen,  eben  durch  sein  Vorhandensein,  ein  Fortschritt 
der  Legende.  Denn  das  jetzt  auftretende  dringende  Be- 
dürfnis nach  einer  reinen  Wundersammlung  kennzeichnet  die 
Anschauung  der  Zeit  und  des  Ordens:  in  solchen  primitiven 
Gedankengängen  hat  sich  doch  offenbar  bei  den  meisten 
die  Vorstellung  von  der  Persönlichkeit  des  Heiligen  bewegt. 
Er  wurde  vor  allem  gi'ofs  durch  die  Wunder,  die  er  ge- 
wirkt hatte  und  noch  wirkte;  was  Thomas  von  Celano  in 
der  Vita  prima  ausgesprochen  hatte :  dafs  er  lieber  die  „  cx- 
cellentiam  vitae  ac  sincerissimam  conversatiouis  formam" 
schildern  wolle  als  die  „rairacula,  quae  sanctitatem  non  fa- 
ciunt,  sed  ostendunt",  mufste  in  einer  Schrift,  die  nur  den 
Wundern  gelten  sollte,  durchbrochen  werden.  Es  ist  ein 
Zugeständnis  an  den  Wunderglauben  der  Zeit,  wie  es  in 
der  Vita  prima  und  secunda  nicht  gemacht  war.    Denn  der 


1)  n.  34,  124,  174,  178,  179,  195.     Neu  sind  auch    n.  31  und  32; 
aber  das  sind  keine  Wunder. 


240  GOETZ, 

Anhang  der  Vita  prima  über  die  Wunder  ist,  wie  erwähnt, 
kein  Bestandteil  der  Vita,  sondern  nur  die  Wiedergabe  der 
bei  der  Heiligsprechung  verlesenen  Wunder,  also  ein  amtliches 
Dokument;  die  V^ita  secunda  aber  enthielt  nur  wenige  Wun- 
der. Der  Epilog  des  Tractatus  de  Miraculis  zeigt,  dafs  der 
Verfasser  erst  auf  wiederholtes  Drängen  der  Brüder  und  der 
Ordensoberen  an  seine  Arbeit  ging  —  war  also  Thomas  der 
Verfasser,  so  sah  er  in  den  Wundern  jedenfalls  keinen  not- 
wendigen Bestandteil  der  Vita. 


Exkurs. 

Thomas  von  Celano  und  die  Vita  S.  Clarae. 

Die  in  den  Acta  SS.  Aug.  11,  S.  754 — 768  gedruckte 
Vita  S.  Clarae  ist  laut  Prolog  im  Auftrag  Papst  Alexan- 
ders IV.  —  also  zwischen  1255  (Heiligsprechung  Claras) 
und  1261  (Tod  des  Papstes)  entstanden.  Die  Herausgeber 
der  Acta  SS.  haben  die  Frage  nach  dem  Verfasser  ofien  ge- 
lassen und  nur  Bonaventura  abgelehnt  (a.  a.  0.  S.  740  f.). 
Nach  dem  Vorgang  Papinis  und  Cozza-Luzis  (deren  Schriften 
ich  nur  aus  Sabatiers  Angaben  kennen  lernen  konnte),  nahm 
auch  Sabatier  an,  dafs  Thomas  von  Celano  der  Verfasser 
sei  ^  Der  von  jenen  Forschern  angeführte  Beweis  steht  in 
einem  Codex  Magliabechianus ,  wo  einer  italienischen  Über- 
setzung der  Vita  die  Bemerkung  vorausgeschickt  ist:  „AI 
santissimo  in  Cristo  Padre  Signore  mio  per  divina  Provi- 
dentia della  sacrosancta  Romana  ecclesia  sommo  Pontefice 
Alessandro  quarto  frate  Tomma  da  Celano  con  votiva  subiet- 
tione  si  racommanda  con  gli  devoti  baci  degli  beati  Piedi"  ^. 

Bei  dem  unsicheren  Stand  der  gesamten  franziskanischen 
Überlieferung  geht  es  nicht  an,  dieser  Bemerkung  unbedingten 


1)  Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  LXXV. 

2)  Diese  Worte  sind  yon  neuem  mitgeteilt  durch  Faloci-Pulig- 
nani,  Mise.  Franc.  VII,  S.  157.  —  Diese  italienische  Vita  ist  nach 
Papini  die  Übersetzung  eines  lateinischen  Textes  der  Laurenziana. 
Faloci-Pulignani  bemerkt  (a.  a.  0.  S.  157  Anm.  1),  dafs  ein  sol- 
cher Codex  in  der  Laurenziana  zurzeit  nicht  mehr  aufzufinden  ist. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    241 

Glauben  zu  schenken.  Lag  doch  den  Bollandisten  eine  Hand- 
schrift vor,  in  der  mit  der  gleichen  Bestimmtheit  Bonaventura 
als  Verfasser  bezeichnet  wurde  ^  Keine  der  beiden  Hand- 
schriften hat  Anspruch  auf  besondere  Berücksichtigung.  Die 
Bollandisten  haben  sich  seinerzeit  für  Ignorierung  der  Notiz 
ihrer  Handschrift  entschieden,  weil  keiner  der  älteren  Schrift- 
steUer  einschliefsUch  Baronius  und  Wadding  etwas  von  dem 
Verfasser  der  Vita  wufste  ^;  sie  liefseu  deshalb  die  Ungewifs- 
heit  über  den  Verfasser  bestehen.  Sehr  viel  mehr  ist  auch 
heute  noch  nicht  zu  sagen. 

Ohne  dafs  ich  die  These  von  Celanos  Beziehung 
zur  Vita  Ö.  Clarae  völlig  zerstören  möchte  oder  könnte,  will 
ich  nur  vor  allzu  grofser  Sicherheit  in  dieser  Hinsicht  warnen. 
Die  Vita  erweckt  doch  an  mehreren  Stellen  Bedenken  gegen 
die  Verfasserschaft  Celanos.  Man  vergleiche  die  Worte  des 
Prologs :  um  zu  ergänzen,  „  quae  defectiva  legeram ",  ist  der 
Verfasser  gegangen  „ad  socios  b.  Francisci  atque  ad  ipsum 
collegiura  virginum  Christi  . . .,  frequenter  illud  corde  revol- 
vens,  non  licuisse  antiquitus  historiam  texere  nisi  eis,  qui 
vidissent  aut  a  videntibus  accepissent".  Das  klingt  doch 
seltsam  im  Munde  Celanos  —  obwohl  man  einwenden  kann, 
dafs  er  ja  tatsächlich  kein  vollkommener  Augenzeuge  war 
(vgl.  oben  S.  GÜf),  weder  für  Franz  noch  für  Klara.  Wer 
Celano  für  den  Verfasser  der  Vita  S.  Clarae  hält,  mufs  aller- 
dings aus  dieser  Stelle  wiederum  folgern,  dafs  Celano  den 
vertrauten  Genossen  nahe  gestanden  hat.  Denn  wenn  er 
sich  mit  ihrem  Namen  in  der  Vita  secunda  widerrechtlich 
geschmückt  hatte,  so  konnte  sich  dieser  Betrüger  bei  seinem 
neuen  Werke  doch  unmöghch  an  diejenigen  wenden,  die  er 
so  schmählich  mifsbraucht  hatte.  Oder  betrog  er  nun  zum 
dritten  Male  die  WeltV  Ich  wiederhole  früher  Gesagtes: 
das  sind  unmöghche  Annahmen. 


1)  Acta  SS.  Aug.  11,  S.  740. 

2)  Ein  Irrtum  der  Bollandisten  war  es,  den  Verfasser  aiifserlialb 
des  Minoritcnordens  zu  suchen,  weil  er  im  Prolog  sage,  er  habe  sich 
zur  Einholung  von  Nachrichten  ,,ad  socios  s.  Francisci"  begeben. 
Unter  „socii"  sind  hier  natürlich  nicht  die  Miuoriten  im  allgemeinen, 
sondern  die  vertrauten  Gefährten  des  Heiligen  zu  verstehen. 

16 


242  GOETZ, 

Der  Text  der  Vita  enthält  mehrere  Widersprüche  zur 
Vita  prima  und  secunda.     Beispiele: 

n.  2.  Der  Gekreuzigte  spricht  zur  Mutter  Klaras.  — 
Vita  secunda  I,  6  erklärt  es  für  „a.  saeculis  inauditum", 
dafs  der  Gekreuzigte  zu  Franz  sprach ;  hier  wird  der  gleiche 
Vorgang  wie  etwas  Selbstverständliches  erzählt. 

n.  12fF.  Die  Haupttugenden  der  Klarissen  werden  ge- 
schildert. Die  Vita  prima  I,  8  nennt  deren  sieben  und 
darunter  mit  besonderer  Betonung  Keuschheit  und  Geduld, 
auch  die  Kontemplation;  in  der  Vita  S.  Clarae  werden  diese 
drei  Tugenden  nicht  eigens  hervorgehoben. 

n.  14.  Papst  Innocenz  III.  habe  den  Klarissenorden  zu- 
erst anerkannt.  Nach  Vita  prima  I,  8  verschafft  der  Kardi- 
nal von  Ostia  als  erster  dem  Orden  eine  Art  Bestätigung. 

Bis  auf  die  Stelle  des  Prologs  sind  diese  Widersprüche 
nicht  sehr  bedeutungsvoll  und  vielleicht  auch  zu  erklären; 
dafs  die  Vita  freilich  überreich  an  Wundern  ist,  pafst  eben- 
falls nicht  gut  zur  Art  Celanos. 

Anderseits  ist  zuzugeben,  dafs  manches  für  Celano 
spricht.  Die  Vita  hat  dieselbe  Rhetorik,  dieselbe  Vorliebe 
für  Wortspiele  (z.  B.  am  Schlufs  von  n.  70:  „Ciaram  dicunt 
clarificandum  in  terris,  quam  Dens  clarificavit  in  excelsis"). 
Allerdings  ist  solche  Rhetorik  nicht  Alleinbesitz  Celanos  ge- 
wesen —  Bonaventura  hat  sie  ebenso.  Aber  eine  Anzahl 
direkter  Anklänge  kommen  hinzu: 

Im  Prolog  steht  die  Wendung  „veritate  praevia";  ebenso 
im  Prolog  der  Vita  prima. 

n.  1.  Die  Worte  „Clara  vocabulo  et  virtute  ...  claro 
satis  genere"  klingen  stark  an  Vita  prima  I,  8  an. 

n.  8.  Von  der  Portiunkula  heifst  es:  „Hie  locus  ille  est, 
in  quo  nova  miütia  pauperum  duce  Francisco  felicia  sumebat 
primordia."  —  Vita  prima  I,  8  heifst  es,  jedoch  von 
S.  Damiano:  „Hie  est  locus  ille  beatus  ...  in  quo  gloriosa 
religio  . . .  pauperum  Dominarum  . . .  felix  exordium  sumpsit." 

n.  !•  .  Die  Worte  des  Kruzifixes  sind  offenbar  in  An- 
lehnung an  Vita  secunda  I,  6  entstanden.  Das  nicht  sehr 
häufige  Wort  „ergastulum"  der  Vita  S.  Clarae  steht  auch 
Vita  prima  I,  6. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL   243 

n.  55.  Über  die  Bedeutung  der  Wunder  ein  ähnliches 
Urteil  wie  Vita  prima  I,  26. 

In  allen  diesen  Fällen  kann  es  sich  natürlich  auch  ledig- 
lich um  Benutzung  Celanos  durch  den  Verfasser  der  Vita 
Clarae  handeln.  Der  Gedanke  an  eine  Schrift  über  Klara 
mag  Celano  allerdings  nahe  gelegen  haben,  denn  er  hat  Vita 
prima  I,  8  gesagt,  die  vita  rairitica  der  Klarissen  erfordere 
„proprium  opus  et  otium". 

Alles  in  allem  ein  sehr  zweifelhaftes  Material  zur  Bestim- 
mung des  Verfassers!  Die  dünnen  Anklänge  und  Wider- 
sprüche heben  sich  gegeneinander  auf  wie  die  Angaben  der 
beiden  Handschriften.  So  scheint  es  vorerst  noch  geraten, 
die  Frage  nach  dem  Verfasser  in  der  Schwebe  zu  lassen. 
Der  Wert  der  Vita  S.  Clarae  für  die  Geschichte  des  h.  Franz 
ist  nicht  sehr  grofs ;  immerhin  enthält  sie  mehrere  Beiträge, 
für  die  man  dankbar  sein  mufs  und  die  ihr  einen  Platz  unter 
den  Quellen  zweiten  Ranges  sichern. 

3.  Die  Legende  Bonaventuras*. 
1260  fafste  das  Generalkapitel  den  Beschlufs,  den  Ordens- 
general Bonaventura  mit  Abfassung  einer  neuen  Legende  des 
h.  Franz  zu  betrauen  ^.  Aus  zwei  Gründen  ist  dieser  Be- 
schlufs zu  erklären.  Celanos  Legenden  bildeten  nur  zu- 
sammen ein  Ganzes;  für  sich  allein  war  jede  der  beiden 
Legenden  ein  Torso  und  die  Vita  prima  durch  das,  was  sie 
über  Elias  sagte,  veraltet  oder  vielmehr  anstöfsig.     Das  Be- 

1)  Gedruckt  in  den  Acta  SS.  Oct.  II,  S.  742 ff.  als  ,,Vita  altera". 
Ferner  bei  Wadding,  Francisci  Assis.  Opuscula  (1623,  Antwerpen), 
S.  525  ff.  und  in  vielen  Einzelausgaben.  Die  beste  Ausgabe  jetzt  in 
den  Opera  VIII,  Quaracchi  1898;  nach  ihr  ist  im  folgenden  zitiert,  die 
Einteilung  der  Acta  SS.  aber  in  Klaniincrn  beigefügt.  —  Über  die 
zahlreiclien  Handschriften  wird  Auskunft  gegeben:  Opera  VIII, 
S.  LXXXVIff.  —  Literatur:  Karl  Müller,  Anfänge,  S.  183; 
Thodc,  Fiauz  von  Assisi,  S.  534 ff. ;  Sabatier,  Vic  de  S.  Frangois, 
S.  LXXXIff.;  Faloci-Pulignani,  Mise.  Franc.  VII,  S.  159ff.;  van 
Ortroy,  Anal.  Boll.  XVIII,  S.  93ff.;  Tilemann,  Speculum  Pcrf., 
S.  72—76;  Nitzsch,  Prot.  Realencykl.  (3.  Aufl.),  Art.  Bonaventura. 

2)  Schon  1257  scheint  die  Frage  erörtert  zu  sein:  Müller,  An- 
fänge, S.  183  (nach  Waddiug). 

16* 


244  GOETZ, 

dürfnis  nach  einer  Zusammenfassung  des  ganzen  Materials 
in  einer  Legende  war  unzweifelhaft  gegeben,  und  eventuelle 
Ausscheidung  des  Unpassenden  lag  dabei  nahe  ^.  Aber  es 
ist  wahrscheinlich,  dafs  zu  diesem  praktischen  Gesichtspunkt 
noch  ein  anderer  kam.  Die  Vita  secunda  stand  auf  der  Seite 
der  strengen  Anhänger  des  Heiligen;  weite  Kreise  des  Ordens 
teilten  diese  Anschauungen  nicht,  und  so  war  für  sie  die 
Vita  secunda  sicherlich  ein  wenig  erfreuliches  Werk  ^.  Auch 
in  vorurteilsfreien  Köpfen  konnte  der  Wunsch  auftauchen, 
eine  für  den  ganzen  Orden  verwendbare  Legende  zu  schaffen, 
damit  das  Leben  des  Heiligen  und  die  Anfange  seiner  Grrün- 
dung  dem  Streite  der  Parteien  entzogen  würden.  Es  fragt 
sich  nur,  ob  eine  so  gut  gemeinte  Absicht  —  dafür  kann 
man  sie  ansehen  —  ohne  Verfehlung  gegen  die  geschicht- 
liche Wahrheit  möglich  war.  Bonaventura  übernahm  die 
Aufgabe,  und  seine  Schrift  will  unter  diesen  beiden  Gesichts- 
punkten der  Zusammenfassung  und  der  Versöhnung  beurteilt 
sein :  man  mufs  ihr  mildernde  Umstände  von  Anfang  an  zu- 
bilhgen.  Neben  der  gröfseren  Legende  (Legenda  major)  ver- 
fafste  er  gleichzeitig  einen  Auszug  (Legenda  minor);  beide 
wurden  1263  dem  Generalkapitel  vorgelegt  und  gebilligt. 
Die  Sachlage  würde  völlig  geklärt  sein,  wenn  man  ohne  Be- 
denken die  Nachricht  annehmen  könnte,  dafs  1266  vom 
Generalkapitel  die  Zerstörung  aller  älteren  Legenden  be- 
schlossen worden  sei.  Dann  wäre  erwiesen,  dafs  Beeinflussung 
der  Überlieferung  schliefslich  doch  die  Hauptsache  bei  den 
Beschlüssen  des  Generalkapitels  war  und  dafs  ferner  Bona- 
ventura dieser  auf  Korrektur  der  Geschichte  bedachten  Rich- 
tung im  wesentlichen  genuggetan  hatte.  Der  Beschlufs  von 
1266  ist  nur  von  Rinaldi  1806  in  der  Vorrede  zu  Celanos 
beiden  Legenden  aus  einer  handschriftlichen  Predigtsammlung 


1)  Beschlufs  des  Kapitels  von  1260:  „ut  ablata  varietate  multa- 
rum  legendarum  ex  diversis  historiarum  fragmentis ,  quae  de  s.  Frau- 
cisco circumferebantur ,  gravem  et  sinceram  ipse  [Bonaventura]  con- 
cinnaret  historiam"  (Wadding,  Annales  ad  a.  1260,  n.  18). 

2)  Vgl.  die  Notiz  bei  W  ad  ding  zum  Jahre  1256  n.  4:  es  habe 
vielen  mifsfallen,  dafs  die  zweite  Legende  Celanos  „publice  legi".  Frei- 
lich weifs  man  nicht,  woher  Wadding  diese  Nachricht  nahm. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    245 

bekannt  gegeben  worden;  Bestätigung  für  diese  Nachricht 
bietet  vielleicht  die  Hist.  tribulationura  und  —  eventuell  nur 
auf  Grund  dieser  —  auch  Wadding  \  Van  Ortroy  hat  den 
Generalkapitelsbeschlufs  in  neuer  Weise  gedeutet  als  nur  die 
Liturgien  betreffend  ^  —  ganz  überzeugen  wird  er  damit 
nicht,  aber  eine  gewisse  Vorsicht  bleibt  geboten,  solange 
jener  Beschlufs  nicht  in  einwandfreier  Überlieferung  vorliegt. 
Das  sicherste  bleibt  zunächst,  die  Legende  Bonaventuras  in 
ihrer  eigenen  Richtung  zu  bestimmen.  Denn  ob  nun  die 
älteren  Legenden  verfemt  wurden  oder  nicht  —  tatsächlich 
hatte  ja  die  Schrift  Bonaventuras  den  Zweck,  die  andern  zu 
ersetzen,  und  so  mufste  sie  in  jedem  Fall  verdrängend  wirken. 

Frühzeitig  ist  Bonaventuras  Legende  kritisiert  worden: 
schon  Ubertino  von  Casale  wirft  ihr  vor,  sie  habe  aus 
Schonung  der  Ordensmitglieder  mit  Willen  weggelassen,  was 
sich  auf  die  Absichten  des  h.  Franz  hinsichtlich  der  Regel, 
auf  ihre  göttliche  Einsetzung  und  künftige  Mifsachtung  be- 
ziehe, weil  man  schon  zu  Bonaventuras  Zeiten  offen  davon 
abgewichen  sei  ^.  Nicht  viel  anders  lautet  das  heutige  Urteil 
über  Bonaventura:  dafs  er  Gegensätze  versöhnen  wollte  und 
deshalb  Steine  des  Anstofses  beiseite  liefs,  wird  fast  überein- 
stimmend angenommen  *.  Das  trifft  im  wesentlichen  das 
Richtige ;  man  kann  es  aber  vielleicht  noch  etwas  näher  er- 
läutern. 

Bonaventura  war  längst  ein  berühmter  Gelehrter,  als  er 
die  Abfassung  der  Franzlegende  übernahm.     Wie  ein  solcher 


1)  Sabatier,  Vie  de  S.  Franc^ois,  S.  LXXXV  Anm.  1.  Die  Stelle 
in  der  llist.  trib. :  Arch.  f.  Lit.-  u.  Kirch. -G.  II,  S.  2G5f. ;  vgl.  dazu 
ebenda  S.  123,  wo  Ehrlc  die  Richtifrkeit  dieser  Notiz  annimmt.  —  Was 
Ubertino  da  Casale  in  dieser  Hinsicht  sagt  (Arch.  f.  Lit.-  u.  Kirch. -G. 
III,  S.  80  und  168  f.  spricht  nicht  für  einen  oftiziellen  Beschlufs  des 
Ordens,  sondern  nur  für  die  Wünsche  und  Versuche  Einzelner. 

2)  Anal.  Bell.  XVIII,  S.  174  f. 

3)  Sabatier,  Spcc.  Perf.,   S.  CXLIV. 

4)  So  von  Karl  Müller,  Thode,  Sabatier,  van  Ortroy, 
Mandonnet,  Tileniann,  wenn  auch  mit  gewissen  Gradunterschieden. 
Die  blinde  Parteinahme  Kalo  ci- Pu  lignanis  für  Bonaventura  —  auch 
Lemmens  neigt  etwas  dazu  —  ist  auch  dann  noch  nicht  berechtigt, 
wenn  man  gegen  Sabatiers  Kritik  an  einigen  Punkten  Einsprache  erhebt. 


246  GOETZ, 

Mann  diese  Aufgabe  zu  lösen  versuchte,  interessiert  bereits 
als  ein  literargescbichtliches  Problem.  Aber  gerade  in  dieser 
Hinsicht  wird  man  doch  völlig  enttäuscht.  Seine  Legende 
zeigt  zwar  die  Vorzüge  eines  schönen  Stils,  einer  Rhetorik,  wie 
sie  damals  gefordert  wurde,  einer  sehr  guten  Anordnung  und 
Verteilung  des  Stoffes;  aber  der  Inhalt  dieser  schönen  Form  ist 
doch  nicht  viel  mehr  als  eine  nach  heutigen  Begriffen  unstatt- 
hafte Kompilation.  Zwar  mufs  man  ihm  zugestehen,  dafs  er  kein 
roher  Kompilator  ist:  er  verschmilzt  sein  entlehntes  Material 
mit  einem  Geschick,  dafs  eine  Art  von  Selbständigkeit  entsteht, 
dafs  man  seinen  Geist  in  seiner  ganzen  Arbeit  spürt  und  dafs 
von  den  gewöhnlichen  Erscheinungen  einer  Kompilation,  von 
Wiederholungen  und  V^^idersprüchen,  nichts  bei  ihm  zu  merken 
ist.  Aber  inhaltliche  Eigenart  besitzt  seine  Arbeit  nicht.  Er 
konnte  allerdings  nicht  über  das  hinausgehen,  was  an  Tat- 
sachen nun  einmal  schon  bis  zu  einer  Art  Abschlufs  gesammelt 
war;  aber  man  spürt  auch  in  seiner  Stellung  zu  diesen  Tat- 
sachen nichts  von  der  Originalität,  die  wir  heute  bei  einem 
Schriftsteller  —  zumal  von  solchem  Ansehen  —  als  selbst- 
verständlich verlangen  würden.  Auch  hätte  Bonaventura  über 
seine  Vorgänger  hinauskommen  können,  wenn  er  die  Chrono- 
logie der  Erzählungen  schärfer  ausgebaut  hätte;  statt  dessen 
bleibt  er  in  der  Unbestimmtheit  der  Zeitbestimmungen  ganz 
auf  dem  Standpunkte  der  Früheren. 

Bonaventura  berichtet  am  Eingang  seiner  Arbeit,  dafs  er 
sich  zuvor  nach  Assisi  begeben  habe,  um  sich  bei  den  über- 
lebenden Genossen  des  Heiligen  Rat  zu  holen,  besonders  bei 
einigen,  „qui  sanctitatis  eius  et  conscii  fuerunt  et  sectatores 
praecipui,  quibus  propter  agnitam  veritatem  probatamque 
virtutem  fides  est  indubitabilis  adhibenda".  Also  auch  Bona- 
ventura beruft  sich  auf  noch  lebende  vertraute  Gefährten 
des  Heihgen  —  freilich  ohne  sein  Urteil  irgendwie  dadurch 
zu  binden.  Und  dafs  er  von  diesen  Gefährten  besondere 
Kunde  nicht  erhalten  haben  kann,  zeigt  seine  Legende:  das 
wenige  Neue,  was  sie  bringt,  wird  zum  geringsten  Teil  von 
ihnen  stammen.  Bonaventura  sagt  zwar  an  derselben  Stelle, 
dafs  über  Leben  und  Worte  des  Heiligen  „fragmenta  quae- 
dam    partim    neglecta  partimque  dispersa"  vorhanden  seien, 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    247 

aber  die  allerdings  vorhandenen  „fragmenta",  die  Aufzeich- 
nungen Leos,  sind  ihm  entweder  nicht  zugänglich  gemacht 
worden  oder  er  hat  ihre  Verwendung  abgelehnt.  Man  nehme 
die  Liste  desjenigen  vor,  was  bei  Bonaventura  zum  ersten 
Male  überliefert  ist  —  dazu  bedurfte  es  keines  Besuches  bei 
den  Überlebenden  der  ersten  Generation  \  Man  sieht  es  auf 
den  ersten  Blick,  wie  das  fast  alles  nur  Erweiterung  des 
Legendarischen  ist.  Teilten  ihm  die  vertrauten  Gefährten 
nichts  anderes  mit,  so  möchte  man  glauben,  sie  seien  mit 
ihm  verfahren,  wie  ein  Diplomat  mit  einem  neugierigen 
Berichterstatter:  ein  Schwall  von  Unwichtigem,  um  das  Ver- 
schweigen des  AYichtigen  zu  verdecken.  So  weifs  Bona- 
ventura, dafs  Franz  noch  vor  der  Vision  in  S.  Damiano, 
wo  nach  der  Vita  secunda  Christus  zu  ihm  sprach,  schon 
einmal  eine  Erscheinung  des  Gekreuzigten  hatte  (I,  6  =  n.  12); 
er  weifs  ferner,  wie  nach  der  Lossagung  vom  Vater  der 
Bischof  von  Assisi  das  dem  Nackten  übergebene  Gewand  mit 
einem  Kreuze  gezeichnet  habe  (II,  4  =  n.  20),  wie  Franz 
einen  Aussätzigen  durch  einen  Kufs  heilt  (II,  6  =  n.  22); 
er  fügt  bei  der  Vision  des  Silvester  noch  einen  Drachen 
hinzu,  der  dann  vor  Franz  flieht  (III,  5  ^=  n.  3Ü)  usw.  — 
fast  lauter  Dinge,  bei  denen  man  die  unablässig  schaffende 
Legendenbildung  an  der  Arbeit  sieht.  Unter  den  Neuig- 
keiten, die  Bonaventura  bringt,  sind  nur  ganz  wenige,  die 
man  als  Tatsachen  bezeichnen  kann :  so  den  Verlust  der  von 
Franz  aufgezeichneten  Regel  durch  Elias  (IV,  11  =  n.  55), 
ferner  dafs  Bruder  lUuminatus  ihn  in  den  Orient  begleitete 
(IX,  8  =  n.  134),  dafs  Silvester  und  Klara  ihn  einmal  zum 
Predigen  bewogen  (XII,  2  =  n.  172,  173),  dafs  er  dem 
Bruder  Illuminatus  von  der  Stigmatisation  erzählt  habe 
(XIII,  4  =  n.  194),  und  hie  und  da  einmal  eine  Lokali- 
sation, ein  Name  mehr  und  älmliches.  Unter  diesen  Tat- 
sachen ist  keine,  die  uns  irgendwie  neue  Ausblicke  eröffnete; 
fast  alle  übrigen  Neuigkeiten  sind  Wunder. 


1)  Zusanimonstclliing  alles  Neuen  bei  Thode,  Franz  von  Assisi, 
S.  535 f.  Abzuziehen  ist  davon,  was  jetzt  als  bereits  im  Tractatus  de 
Miraculis  stehend  nachgewiesen  werden  kann. 


248  GOETZ, 

Das  gibt  kein  günstiges  Vorurteil  für  diese  Legende  — 
es  ist  das  denkbar  bescheidenste  Niveau,  auf  dem  sich  diese 
Zusätze  zu  der  schon  bekannten  Überlieferung  bewegen.  Wie 
Bonaventura  den  bekannten  Stoff  im  Einzelnen  und  Kleinen 
noch  weitergebildet  hat,  wird  sogleich  berichtet  werden.  Zu- 
nächst aber  ist  festzustellen,  woher  er  diesen  bekannten  Stoff 
nahm. 

Die  beiden  Legenden  Celanos  und  die  Legende  der  drei 
Genossen  wurden  früher  als  Bonaventuras  Quellen  bezeichnet. 
Die  Legende  der  drei  Genossen  scheidet  jetzt  aus ;  was  unter 
diesem  Namen  geht,  hat  vielmehr  selber  erst  aus  Bonaventura 
geschöpft.  Aber  auch  die  Benutzung  der  Vita  prima  ist 
nicht  ganz  so  stark,  wie  man  zumeist  annimmt ;  Bonaventura 
hat  ihr  merkwürdigerweise  häufig  die  Legende  Julians  von 
Speier,  die  doch  nur  ein  Auszug  aus  der  Vita  prima  war, 
vorgezogen  oder  beide  nebeneinander  verwendet  '.  Ausgiebig 
ist  die  Vita  secunda  benutzt  und  ebenso  der  Tractatus  de 
Miraculis,  der  nicht  nur  im  Anhang  über  die  Wunder,  sondern 
auch  an  vielen  Stellen  der  Legende  seine  breiten  Spuren 
hinterlassen  hat  ^.  Aus  diesen  vier  Quellen  also  —  Vita 
prima,  Julian,  Vita  secunda  und  Tractatus  —  sind  reichlich 
neun  Zehntel  von  Bonaventuras  kunstvollem  Mosaik  ent- 
standen. Mit  einer  für  uns  unbegreiflichen  Naivität  schreibt 
Bonaventura  diese  Quellen  aus,  oft  sie  ohne  jede  Änderung 
wörtlich  übernehmend,  oft  zwei  miteinander  verbindend,  so 
dafs  man  die  Herkunft  der  einzelnen  Worte  leicht  erkennt, 
oft  auch  die  übernommenen  Texte  etwas  überarbeitend.  Die 
wenigen  Stellen  seiner  Legende,  deren  Herkunft  bisher  nicht 
bestimmt  ist,  wird  man  nach  diesen  Erfahrungen  kaum  ihm 
selber  zuschreiben  können  —  sie  werden  ebenfalls  aus  andern 
Schriften  übernommen  sein  ^. 


1)  Beispiele:  I,  2  (=  n.  8),  III,  1—3  (=  n.  26—28),  III,  6 
(=  n.  31),  III,  8  (=  n.  34),  IV,  1  (=  n.  89),  XV,  3  (=  n.  217),  XV,  6 
(=  n.  220)  usw. 

2)  Über  die  Benutzung  dieser  Quellen  vgl.  Tilemann  S.  73,  van 
Ortroy,  Anal.  Boll.  XVIII.  S.  93ff.  lOBfif. 

3)  Es  ist  möglich,  dafs  auch  zwischen  der  Vita  sec.  und  Bona- 
ventura ein  Mittelsmann  steht,   wie  Julian   zwischen  ihm  und  der  Vita 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FKANZ  VON  ASSISL    249 

Das  kann  man  als  ersten  Grundsatz  Bonaventuras  fest- 
stellen: er  schreibt  seine  Vorlagen  ohne  Bedenken 
wörtlich  aus.  Es  fragt  sich,  ob  man  ein  bestimmtes 
Prinzip  nachweisen  kann,  wenn  er  etwas  verändert  —  die 
stilistischen  Überarbeitungen  bleiben  natürlich  als  belanglos 
beiseite.  Fast  unabsichtliche  Fortbildung  der  Legende 
aus  jener  wunderbegierigen  Stimmung  heraus,  die  der  Hei- 
lige wie  selbstverständlich  erzeugte,  und  absichtliche 
Veränderung  der  Tatsachen  als  Milderung  der  Gegen- 
sätze —  oder  etwa  zur  Fälschung  der  Überlieferung?  — 
kommen  in  Betracht. 

Die  Fortbildung  der  Legende  ist  unzweifelhaft  in  reichem 
Mafse  bei  Bonaventura  vorhanden.  Ich  greife  einige  von 
den  vielen  Beispielen  heraus: 

I,  1  (=  n.  7).  Nach  der  Vita  prima  I,  7  hat  Franz 
einem  Bettler  ein  Almosen  verweigert   und    es    dann  bereut. 


prima.  Manche  Abweichungen  von  dem  sonst  so  sorgfältig  benutzten 
Texte  der  Vita  sec.  weisen  darauf  hin.  So  ist  VIII,  4  (=  n.  lOG)  nach 
Vita  sec.  III,  115  gearbeitet,  bringt  aber  zum  Schlufs  neben  andern 
kleinen  Abweichungen  noch  Worte  Franzens.  Die  Unselbständigkeit 
Bonaventuras  in  Sachen  des  Materials  ist  so  grofs ,  dafs  man  ihn  über- 
all von  Vorlagen  abhängig  glauben  möchte.  —  Über  Beziehung  zum 
Spec.  Perf.  vgl.  oben  S.  189,  213;  Tilemann  S.  74.  —  Eine  Berührung 
mit  Jordanus  a  Jano  (ad  a.  1226)  bei  Bonaventura  XV,  5  (=  n.  219): 
beide  berichten  mit  ähnlichen  Worten,  dafs  Franz  in  S.  Giorgio  zuerst 
„litteras"  gelernt,  dann  dort  zuerst  gepredigt  habe  und  schliofslich  dort 
beigesetzt  sei.  Eine  Berührung  mit  Eccleston.  De  adventu  fratrum 
in  Anglia,  coli.  XIII:  wie  hier,  so  steht  auch  bei  Bonav.  XUI,  4 
(=  n.  194),  der  Seraph  habe  zu  Franz  einiges  gesagt,  was  er  niemals  einem 
Menschen  berichten  werde.  Jordanus  wie  Eccleston  haben  um  dieselbe 
Zeit  wie  Bonaventura  geschrieben,  etwal2ü2;  es  ist  möglich,  dafs  Bona- 
ventura beide  noch  benutzt  hat.  —  Es  sei  ferner  darauf  hingewiesen, 
dafs  Bonav.  XII,  7  (==  n.  178)  mit  dem  Bericht  über  die  Predigt  vor 
dem  Papste  von  Vita  i)rima  I,  27  abweicht  (ebenso  von  der  sogen.  Leg. 
tr.  Soc.  XVI  =  n.  G4),  sich  dagegen  mit  dem  berührt,  was  Stephanus 
de  Borbone  (s.  oben  S.  136)  an  zwei  Stellen  in  gleicher  Weise  erzählt 
(n.  254  und  473).  Stephanus  fügt  dann  noch  einiges  hinzu ,  was  bei 
Bonaventura  fehlt;  da  er  vor  Bonaventura  schrieb,  so  scheint  dieser  ihn 
nicht  benutzt  zu  liaben.  Auch  hier  kommt  man  wieder  zu  dem  Schlüsse, 
dafs  nocli  andere  Übcrlieferungsreihen  vorhanden  waren,  aus  denen  hier 
sowohl  Stephanus  wie  Bonaventura  geschöpft  haben. 


250  GOETZ, 

Bonaventura  schreibt  die  Vita  prima  aus,  fügt  aber  hinzu, 
dafs  Franz  dem  Bettler  nachgelaufen  sei,  um  ihm  noch  etwas 
zu  geben.  Im  selben  Paragraphen  die  bei  Bonaventura  zu- 
erst auftretende  Erzählung,  ein  ]\Iann  in  Assisi  habe  vor 
Franz  seinen  Mantel  auf  dem  Boden  ausgebreitet,  um  den 
künftigen  Heiligen  zu  ehren. 

I,  5  (=  n.  12).  Ein  Wunder  wird  hinzugefügt:  diese 
erste  Anrede  des  Kruzifixes  fehlt  in  den  früheren  Legenden. 

II,  1  (=  n.  15).  Die  Legende  ist  über  Vita  secunda 
I,  6  hinaus  fortgebildet:  Franz  sieht  zuerst  mit  tränenden 
Augen  zu  dem  Kruzifix  auf,  ehe  dieses  spricht,  und  dann 
spricht  der  Gekreuzigte  dreimal.  Bei  Celano  geht  der 
Auftrag  des  Gekreuzigten  auf  Wiederherstellung  der  Kirche, 
in  der  Franz  sich  befindet  —  eine  weitere  Deutung  ist  aller- 
dings bereits  möglich;  Bonaventura  gibt  diese  Deutung, 
indem  er  den  Auftrag  vor  allem  auf  Wiederherstellung  der 
gesamten  Kirche  Christi  bezieht. 

II,  4  (=  n.  20).  Vita  prima  I,  6  hatte  erzählt,  dafs 
der  Bischof  den  nackten  Franz  mit  seinem  Pallium  bedeckte; 
Bonaventura  hilft  der  Phantasie  des  Lesers  weiter:  das 
Gewand  eines  Bauern  wird  dann  gebracht,  um  Franz  damit 
zu  bekleiden,  und  der  Bischof  signiert  es  mit  einem  Kreuze. 

III,  5  (=  n.  30).  Die  Vision  Silvesters  über  Vita  se- 
cunda III,  52  hinaus  erweitert  durch  Hinzufügung  des 
Drachens.  Dafs  aber  der  Anfang  der  Erzählung  Celanos, 
wo  von  Silvesters  Habsucht  die  Rede  ist,  von  Bonaventura 
•weggelassen  wurde,  gehört  in  das  Gebiet  der  absichtlichen 
Veränderungen  (s.  u.). 

IV,  1  (=  n.  39).  Der  Vergleich  von  Vita  prima  I,  14, 
Julian  von  Speier  (Acta  SS.  Oct.  II,  S.  592  oder  Anal.  Boll. 
XXI,  S.  172)  und  Bonaventura  zeigt  die  Zunahme  der  Le- 
gende und  des  Wunders. 

IX,  7—9  (=  n.  133 — 138).  Die  Szene  vor  dem  Sultan 
ist  über  Vita  prima  I,  20  hinaus  breit  und  dramatisch  aus- 
gemalt unter  Hinzufügung  der  Feuerprobe  und  der  wort- 
getreuen Reden  Franzens. 

XII,  1  (=  n.  170,  171).  Die  lange  Anrede  Franzens 
zuerst  bei  Bonaventura. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    251 

Xn,  3  (=  n.  174).  Die  Vögelpredigt  in  der  Vita  prima 
I,  21  ganz  natürlich,  denn  es  handelt  sieh  um  Tauben  und 
Krähen  (die  nicht  wegfliegen,  wenn  ein  Mensch  zu  ihnen 
tritt!).  Bei  Bonaventura  sind  es  nur  Vögel  „diversi  ge- 
neris"  —  indem  er  die  nähere  Bestimmung  der  Gattung 
fortläfst,  führt  er  den  Leser  auf  die  Fährte  des  Wunders. 

XIII,  3  (=  n.  191 — 193).  Bonaventura  hat  die  Vita 
prima  II,  3  und  den  Tractatus  de  MiracuUs  Kap.  3  zugrunde 
gelegt.  Aber  er  malt  das  Erscheinen  des  Seraphs,  das  Her- 
beischweben, das  vor  Bonaventura  nicht  erwähnt  wurde, 
aus  und  fügt  dann  das  Verschwinden  des  Seraphs  noch  ein. 

XIII,  8  (=  n  200).  Weit  mehr  Zeugen  als  in  der  Vita 
secunda  haben  bei  Bonaventura  die  Stigmen  schon  bei  Leb- 
zeiten Franzens  gesehen :  mehrere  Kardinäle  und  der  spätere 
Papst  Alexander  IV. 

XV,  2  (=  n.  216).  Die  Seitenwunde  hat  bei  Bona- 
ventura das  Aussehen  einer  „rosa  pulchei-rima"  bekommen. 

XV,  4  (=  n.  218).  Bei  Bonaventura  zuerst  das  Auf- 
treten eines  Mannes,  der  an  den  Stigmen  zweifelt  („incre- 
dulus  quasi  Thomas")  und  durch  Berührung  überzeugt  wird. 

Andere  legendarische  Zusätze  sind  bereits  von  Sabatier 
angeführt  worden  ^ 

Aus  allen  diesen  Fortbildungen  der  Legende  braucht  man 
Bonaventura  keine  besondern  Vorwürfe  zu  machen,  denn 
sie  kommen  überall  in  dieser  Art  von  Literatur  wie  eine 
Naturnotwendigkeit.  Die  Heiligkeit  löscht  den  geschichtlichen 
Sinn  aus  wie  die  Nacht  den  Tag  mit  Dämmerung  und  immer 
schwererem  Dunkel.  Auch  Bonaventura  steht  unter  diesem 
allgemeinen  Gesetz :  der  Heilige  mufs  immer  heiliger  werden. 
Die  Schuld  des  Schriftstellers  beginnt  erst,  wo  er  etwa  ab- 
sichtlich verändert,  weggelassen  oder  hinzugefügt  hat  —  vor- 
ausgesetzt, dafs  diese  Veränderungen  sachliche  Bedeutung 
haben.     Beispiele  erläutern  auch  hier  am  besten. 

11^  6  (=  n.  22).  Genau  nach  Vita  prima  I,  7  wird 
erzählt,    wie  Franz  sich  den  Leprosen   widmet.     Celano   er- 


1)  Sabatier,  Vie  de  S.  Fran^ois,    S.  LXXXVIf.:  Bonaventura 
IV,  8  (=  n.  49),  VIII,  7  (=  n.  111,  112). 


252  GOETZ, 

wähnt  dabei  Franzens  Testament;  gerade  diese  Stelle  läfst 
Bonaventura  weg. 

IV,  1  und  2  (==  n.  39  und  40,  Anfang  von  41)  schliefst 
sich  enge  an  Vita  prima  I,  14  an;  IV,  3  (==  n.  41  und  42) 
an  Vita  prima  I,  16  Ausgeschaltet  ist  Vita  prima  I,  15, 
in  dessen  zweiter  Hälfte  das  strenge  Leben  und  das  Ideal 
der  ältesten  Brüder  geschildert  ist. 

IV,  3  (=  n.  41,  42),  gekürzt  nach  Vita  prima  I,  16 
und  17.  Weggelassen  ist  die  von  Celano  I,  17  durch  Bei- 
spiel erläuterte,  vollkommene  Unterwerfung  auch  unter  un- 
würdige Priester.  Bonaventura  hat  anderwärts  seine  Mei- 
nung in  dieser  Frage  gesagt:  er  hält  viele  Priester  für  so 
verderbt,  dafs  sie  „inhabiles  et  minus  idonei  sint  ad  animas 
poenitentium  absolvendas"  ^,  ja  er  spricht  im  vollen  Wider- 
spruch zur  Meinung  des  Heiligen  den  mit  Sünden  befleckten 
Priestern  die  Fähigkeit  zur  Verwaltung  des  Abendmahl- 
sakraments ab  und  erklärt  sie  für  Tempelschänder  und 
Ketzer  ^.  Bonaventuras  Standpunkt  war  gewifs  der  bessere 
als  die  auflösende  Milde  des  h.  Franz;  aber  etwas  von  den 
Anschauungen  des  Heiligen  wird  mit  dieser  Auslassung 
unterschlagen. 

Auch  in  VI,  2  (==  n.  74)  drängt  sich  Bonaventuras  ab- 
weichende Meinung  vor:  er  berichtet  zwar  nach  Vita  prima 
I,  19,  wie  Franz  sich  wegen  Fleischgenufs  in  der  Fastenzeit 
öffentlich  strafen  läfst,  fügt  aber  hinzu,  die  Zuschauer  hätten 
„humilitatem  huiusmodi  magis  admirabilem  quam  iraitabilem" 
angesehen.     Was  hätte  Franz  zu  diesem  Urteil  gesagt! 

VII,  9  (==  n,  97)  nach  Vita  secunda  III,  7;  aber  die 
Ermahnung,  die  höchste  Einfachheit  bei  allen  Mahlzeiten 
walten  zu  lassen,  verschwindet  bei  Bonaventura. 

Diese  Beispiele,  die  ohne  irgendwelche  Klassifikation  her- 
ausgegriffen sind,  zeigen  bereits,  dafs  Bonaventura  durch 
Auslassungen  verändert.  Ist  das  etwa  auch  der  Fall,  wo 
es  sich  um  Bonaventuras  Stellung  zu  den  wichtigsten  Idealen 
des  Heiligen  handelt? 

1)  In  der  Schrift-  „Quare  fraties  uiinores  praedicent  et  confessiones 
audiant";  Opera  VIII,  S.  382. 

2)  In  dem  Tractatus  de  praeparatione  ad  Missam;  ebenda  S.  101. 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    253 

Wie  steht  er  zum  Armutsideal?  Er  berichtet  (VII,  1 
=  n.  87),  wie  die  Liebe  zur  Armut  fast  aus  der  Welt  ver- 
schwunden war,  ehe  Franz  auftrat;  er  berichtet  dann  weiter 
einige  der  bezeichnenden  Züge  von  Franzens  Auffassung, 
darunter  auch  die  strengen  Anschauungen  über  die  Woh- 
nungen der  Brüder  (VII,  12  =  n.  89)  ^  —  bei  den  Fällen, 
in  denen  Franz  mit  Heftigkeit  gegen  Häuser  der  Minoriten 
eingeschritten  war,  beschränkt  er  sich  allerdings  auf  wenige 
Worte.  Aber  er  wünscht  doch  wie  Celano,  dafs  die  Brüder 
die  Kurien  meiden  (VII,  10  =  n.  85).  Er  erzählt  von  der 
Armut  der  ältesten  Brüder  (IV,  7  =  n.  47),  ferner  wie 
Franz  das  Betteln  empfiehlt  und  selber  ausübt  (VII,  8  ff.  = 
n.  96  ff.).  Noch  mehr  als  die  Armut  wird  die  Demut  er- 
wähnt (passim).  Franzens  Neigung  zu  den  Leprosen  wird 
dreimal  rühmend  hervorgehoben  (I,  6  =  n.  13;  II,  6  = 
n.  22;  Miracula  VIII,  5  =  n.  291).  Die  Nachahmung  des 
Evangehums  kommt  als  Ziel  Franzens  im  Prologe  vor 
(=  n.  1).  Die  Arbeit  wird  als  Mittel  gegen  den  Müfsiggang 
nicht  weniger  als  im  Testament  gefordert  (VI,  6  =  n.  64) 
und  ebenso  der  Gehorsam  (VI,  4  und  5  =  n.  76  —  78). 
Auch  die  Konflikte  im  Orden  hat  Bonaventura  nicht  völlig 
verschwiegen :  er  weist  auf  die  mala  exempla  mancher  Brü- 
der hin  (VIII,  3  =  n.   105). 

Aber  von  den  Forderungen  des  Testaments  fehlen  zwei: 
die  strenge  Befolgung  der  Regel  und  das  Verbot  der  Privi- 
legien. Bonaventura  ist  sonst  für  diese  Befolgung  eingetreten  ^, 
aber  in  der  Legende  sagt  er  nichts  davon.  Es  liegt  also  in 
dem  Weglassen  dieser  beiden  Forderungen  nicht  etwa  Ver- 
gefslichkeit  der  fortschreitenden  Überlieferung,  sondern  eine 
Absicht.  Auch  das  Testament  wird  nicht  erwähnt  (s.  oben 
die  absichtliche  Auslassung  S.  252),  obwohl  zweimal  Be- 
rührungen mit  ihm  stattfinden  (III,  2   =  n.  27;   Vll,  2  = 


1)  Sabatier,  Spec.  Perf.,  S.  25  Anm.  1  sagt  mit  Unrecht,  dafs 
Bonaventura  sich  nichts  anderes  als  {jrofse  Klöster  habe  denken  können ; 
VII,  12  zeigt,  dafs  er  das  alte  Ideal  noch  kannte.  Auch  das  von  Sa- 
batier ebend.  S.  CXXXI  Anm.  2  Gesagte  findet  im  folgenden  einige 
Berichtigungen. 

2)  Opera  VIII,  S.  334,  9  und  S.  389,  14. 


254  GOETZ, 

n.  89:  „sicut  peregrini  et  advenae"  —  Worte,  die  in  Bona- 
venturas Vorlage  —  Vita  secunda  —  fehlen).  Auch  über 
die  Stellung  des  Heiligen  zur  Gelehrsamkeit  gibt  die  Legende 
keine  genügende  Auskunft.  Für  Bonaventura  persönHch  ein 
heikler  Punkt  —  sein  Leben  war  der  Wissenschaft  gewidmet, 
und  er  sollte  berichten,  dafs  Franz  nicht  allzuviel  von  ihr  hielt! 
Wenn  er  sagt  (XI,  1  =  n.  152),  Franz  sei  nicht  gegen  ge- 
lehrte Studien  gewesen,  sobald  nur  Gebet  und  Lebenswandel 
dadurch  nicht  zu  kurz  gekommen  seien,  so  ist  das  nur  ein 
dürftiger  Auszug  aus  den  Anschauungen  des  Heiligen.  Bona- 
ventura umrahmt  dies  mit  Nachrichten  über  Franzens  wunder- 
bares Verständnis  der  h.  Schrift  und  dafs  er  gern  darin  las, 
obwohl  er  ohne  gelehrte  Bildung  gewesen  sei.  Was  aber 
Celano  in  dieser  Hinsicht  gebracht  und  Franzens  geringe 
Wertschätzung  der  Gelehrsamkeit  klargestellt  hatte,  fehlt  bei 
Bonaventura.  Es  ist  klar,  dafs  hier  sein  persönliches  Interesse 
und  das  der  Oberschicht  des  Ordens  zusammenfiel.  Er  hat 
sich  in  der  „Epistola  de  tribus  Quaestionibus"  einen  Ausweg 
gegenüber  der  Regel  und  dem  Evangelium  —  von  Franz 
spricht  er  dabei  nicht  —  zurechtgelegt:  wenn  die  Regel 
sage  „non  curent  nescientes  litteras  litteras  discere'',  und 
das  Evangelium  „quod  nolimus  vocari  magistri",  so  solle 
das  nur  heifsen,  „quod  unusquisque  in  ea  vocatione,  qua 
vocatus  est,  permaneat"  —  wer  einmal  Gelehrter  sei,  solle 
es  bleiben  und  nicht  Laie  zu  werden  trachten,  wer  Laie  sei, 
solle  ebenfalls  in  seinem  Stande  beharren.  Franz  selber  habe 
die  Theologen  aufs  höchste  verehrt  und  bei  seinem  Tode  be- 
fohlen —  Bonaventura  zitiert  dabei  das  Testament,  das  er 
also  sehr  wohl  kannte!  —  „quod  doctores  sacrae  Scripturae 
in  summa  veneratione  haberent  tanquam  illos,  a  quibus  per- 
ciperent  verba  vitae".  —  Nun  ist  ja  auch  hier  kein  Zweifel, 
dafs  Bonaventura  in  dieser  Frage  gegenüber  Franz  recht 
hatte;  aber  er  hat  eben  doch  die  Meinung  des  Heiligen  in 
diesem  Punkte  nicht  genügend  zum  Ausdruck  gebracht. 

Bonaventura  schweigt  ferner  über  die  Dichtungen  des 
Heiligen  und  seine  Neigung  zum  Gesang.  Auch  über  die 
Beziehungen  zur  h.  Klara  und  zur  Jakoba  da  Settesoli  gleitet 
er  fast  ganz  hinweg:  dafs  Franz  der  Jakoba  ein  Lämmlein 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISI.    255 

schenkte,  wird  erzählt  (VIII,  7  =  n.  112),  aber  die  ihm 
doch  vorhegende  Erzählung  des  Tractatus  de  Miraculis  über 
Jakobas  Ankunft  an  Franzens  Sterbebette  wird  verschwiegen ; 
was  an  vier  Stellen  von  der  h.  Klara  gesagt  wird,  betrifft 
nur  an  einer  ihr  persönliches  Verhältnis  zu  Franz  (XII,  2  = 
n.  173:  seine  Anfrage,  ob  er  predigen  solle).  Und  da,  wo 
er  nach  Vita  secunda  III,  55  —  57  Franzens  ängstliche  Zurück- 
haltung vor  Frauen  schildert,  läfst  er  die  Worte  weg,  mit 
denen  Celano  zwei  Frauen  —  offenbar  Klara  und  Jakoba  — 
ausnimmt  (V,  5  =  n.  6  "3)  '.  Es  fehlt  ferner  bei  Bonaventura, 
was  die  Vita  secunda  Franz  über  den  vollkommenen  General- 
minister  sagen  läfst  —  erschien  dieses  Ideal  dem  derzeitigen 
Träger  des  Amtes  als  unerfüllbar?  Abgeschwächt  ist  auch 
die  Stellung,  die  der  Portiunkula  in  Celanos  Legenden  nach 
Franzens  Willen  zukam ;  Bonaventura  sagt  etwas  kühl  (II,  8  = 
n.  24):  „hunc  locum  vir  sanctus  amavit  prae  ceteris  mundi 
locis,  hunc  in  morte  fratribus  tanquam  virgini  carissimum 
commendavit.*'  Dafs  die  Portiunkula  das  Haupt  (caput)  des 
Ordens  sein  sollte,  erfährt  man  nicht  mehr.  Abgeschwächt 
ist  auch  die  Strenge,  mit  der  Franz  jede  Berührung  von  Geld 
verworfen  hatte  (VII,  3  =  n.  90). 

Mancher  von  diesen  Mängeln  der  Legende  Bonaventuras 
war  auch  schon  in  der  Vita  secunda  vorhanden :  für  gewisse 
Vertuschungen  im  Interesse  des  Ordens  hatte  sie  den  W^eg 
gewiesen.  Handelte  Bonaventura  ebenso,  so  war  er  dennoch 
kein  Fälscher.  Den  gröfsten  Teil  der  alten  Ideale  hat  er  in 
seiner  Legende  geschildert.  Für  das  Fehlende  oder  Veränderte 
gibt  es  drei  Gründe,  die  man  zu  seinen  Gunsten  im  Auge 
behalten  mufs.  Bonaventura  hatte  die  ältesten  Zeiten  des 
Ordens  nicht  selber  gesehen;  geboren  1221  ist  er  frühestens 
1238  Minorit  geworden.  Sein  Idealismus  konnte  nur  der  der 
Epigonen  sein.    Einen  Teil  seiner  Abschwächungen  darf  mau 

1)  Sabatier,  Spcc.  Poif.,  S.  CXXXI  Amn.  2  meint,  dafs  aucli 
die  Bozicliiingoii  zu  Doniinikiis  vdii  Bonaventura  unteidiückt  worden 
seien.  Das  ist  allerdinj,'s  der  Fall,  aber  es  braucht  weder  eine  böse 
Absicht,  noch,  wie  Faloci-Puli  f^nani  will,  ein  Streben  nach  Kürze 
gewesen  zu  sein.  Der  aussichtslose  Streit  der  beiden  Orden  konnte  Bona- 
ventura zum  Schweigen  veranlassen.     Vgl.  oben  S.  180  f. 


256  GOETZ, 

auf  diese  Ursache  zurückführen:  es  ist  die  natürhche  Ver- 
flachung des  Ideals,  wie  zeitUcher  Abstand  sie  mit  sich  bringt. 
Zweitens  entschuldigt  ihn,  wie  oben  schon  ausgeführt  wurde, 
das  natürliche  Gesetz  zunehmender  Legendenbildung;  die 
Heihgkeit  sollte  gröfser,  die  Ähnlichkeit  mit  Christus  noch 
auffallender  werden,  und  deshalb  fielen  manche  menschliche 
Züge,  wie  der  naive  Verkehr  mit  Klara  und  Jakoba,  viel- 
leicht auch  die  Neigungen  zu  Dichtung  und  Musik;  drittens 
schreibt  er  mit  einer  Absicht,  die  nicht  aus  dem  Wunsche 
nach  Fälschung  der  Überlieferung  entstand,  sondern  er  wollte 
Gegensätze  versöhnen,  als  Vertreter  einer  wohlmeinenden 
Mittelpartei  die  Einheit  des  Ordens  wiederherstellen.  So  hat 
diese  Tendenz,  die  bei  der  Übergebung  des  Testaments,  der 
Privilegienfrage,  der  strengen  Befolgung  der  Regel,  der  Ge- 
lehrsamkeit und  der  Portiunkula  hervortritt,  ein  Anrecht  auf 
Entschuldigung,  denn  das  waren  die  Fragen,  um  derentwillen 
die  Gemüter  feindselig  entbrannt  waren.  Verwerflich  ist 
diese  Tendenz  vom  Standpunkt  der  historischen  Forschung; 
aber  Bonaventura  würde  auf  einen  Vorwurf  dieser  Art  wohl 
geantwortet  haben,  die  Aufgabe  der  Versöhnung  scheine  ihm 
wichtiger  als  die  der  geschichtlichen  Erkenntnis.  Er  konnte 
darauf  hinweisen,  dafs  er  an  andern  Stellen  seiner  Schriften 
stark  genug  die  Notwendigkeit  strenger  Ideale  betont  habe  ^ 
Sollte  es  mit  dem  Beschlufs  des  Generalkapitels  von  1266 
seine  Richtigkeit  haben ,  so  braucht  man  darin  nicht  einen 
Vorstofs  der  laxen  Partei  zu  sehen;  es  könnte  im  Sinne 
Bonaventuras  ein  Versuch  der  starken  Mittelpartei  gewesen 
sein,  gewisse  Streitigkeiten  mit  wohlmeinendem  Zwange  zu 
beseitigen. 

Nimmt  man  aber  alles  zusammen:  die  mangelnde  Ori- 
ginalität der  Auffassung,  das  Ausschreiben  der  Vorlagen, 
das  Abschwächen  der  umstrittenen  Ideale,  die  Widerstands- 
losigkeit  gegenüber  fortschreitender  Legendenbildung,  so  bleibt 
doch  herzlich  wenig  übrig,  was  Bonaventuras  Schrift   wert- 


1)  So  hinsichtlich  des  Geldes,  dessen  Besitz  er  oft  genug  scharf 
verurteüt  hat,  während  er  es  in  der  Legende  nur  einmal  flüchtig  ver- 
wirft (s.  oben  S.  255). 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  IIL.  FRANZ  VON  ASSISI.    257 

voll  machen  könnte.  Einige  neue  Nachrichten  teilt  er 
allerdings  mit;  aber  in  dieser  Hinsicht  stehen  andere  sekun- 
däre Quellen  mit  ihm  in  gleicher  Reihe.  Er  würde  sich 
von  diesen  Quellen  zweiten  Ranges  in  nichts  abheben,  v/enn 
er  nicht  doch  der  ottizielle  Bearbeiter  der  ältesten  Überliefe- 
rung und  dadurch  der  Ausdruck  der  Gesinnungen  wäre, 
die  ein  starkes  Menschenalter  nach  dem  Tode  des  Heiligen 
im  Orden  vorherrschten. 


Die  von  Bonaventura  fast  gleichzeitig  verfafste  Legenda 
minor  ist  nur  ein  Auszug  aus  der  umfangreicheren  major: 
sie  bedürfte  keiner  Erwähnung,  wenn  sie  nicht  neue  Belege 
für  den  unablässigen  Fortschritt  der  Legendeubildung  böte. 
P2in  Beispiel  sei  dafür  angeführt  Bonaventura  XHl,  3  = 
n.  193  hat  das  Aussehen  der  Stigmen  in  enger  Anlehnung 
an  die  Vita  prima  und  den  Tractatus  de  Miraculis  geschil- 
dert; XV,  "2  (=  n.  216)  gibt  Bonaventura  eine  neue  er- 
weiterte Beschreibung  ^  Die  Legenda  minor  fügt,  nachdem 
sie  wie  XHI,  ;-}  berichtet  liat,  noch  eine  Erläuterung  hinzu: 
„Siquidera  lepercussio  ipsa  clavorum  sub  pedibus  adeo 
jjrominens  erat  et  extra  protensa,  ut  non  solum  plantas  solo 
libere  applicari  non  sineret,  verum  etiam  intra  curvationem 
ai'cualem  ipsoiaun  cacuminuni  facilitei-  imnitti  valcret  digitus 
nianus,  sicut  ab  eis  ipse  accepi,  qui  oculis  propriis  con. 
spexerunt."  Man  erkennt  bei  dem  Vei'gleich  der  ältesten 
und  der  späteren  Berichte  ganz  deutlich  ,  wie  man  die 
Stigmen  immer  sinnenfälliger  zu  beschreiben  streikte. 

Der  Zweck  dieser  Legenda  minor  war  ein  liturgischer; 
noch  weniger  als  bei  der  Legenda  maior  kam  es  bei  üir 
darauf  an,  der  historischen  Forschung  zu  dienen  ^. 


1)  Die  Nägel  waren  dem  Fli-isclic  .,sic  iiinati,  qniid  ilnm  a  inute 
qiialibet  premerentiir ,  prntinus  quasi  nervi  continiii  et  dtiii  ad  luutcni 
oppositani  re.sultabant ". 

2)  Sie  ist  fiodiuckt  in  den  Opera  S.  Bonavcntiirae  VllI,  S.  5G5fl'. 


258  GOETZ, 

Schluis. 

So  ist  durch  die  von  Sabatier  eingeleitete  Bewegung  auf 
dem  Gebiete  der  franziskanischen  Urquellen  doch  in  jedem 
Falle  ein  bedeutendes  Ergebnis  erzielt.  Mag  zunächst  auch 
alles  ins  Schwanken  gekommen  sein,  was  man  früher  an- 
nahm, mag  manche  von  den  neuen  Entdeckungen  auch  hin- 
fällig sein  —  unsere  Anschauung  von  den  Quellen  ist  dennoch 
schliefslich  eine  klarere  geworden.  Mit  der  Erschliefsung  von 
Aufzeichnungen  der  verti'auten  Gefährten,  wie  sie  dem  Spe- 
culum  Perfectionis  zugrunde  liegen,  gewinnt  die  zunächst 
daraus  abgeleitete  Quelle,  die  Vita  secunda  des  Thomas  von 
Celano,  an  unmittelbarer  Glaubwürdigkeit;  indem  aber  da- 
durch das  Verhältnis  Celanos  zu  den  Gefährten  geklärt  wird, 
verliert  auch  die  Vita  prima  den  Anschein  einer  Parteischrift. 
Die  vollkommene  Ausscheidung  der  Legenda  trium  Sociorum 
vereinfacht  zudem  die  Sachlage :  die  ganze  Überlieferung  von 
der  Vita  prima  bis  zu  Bonaventura  hat  einen  einheitlicheren 
Charakter,  eine  deutlichere  Entwicklung  bekommen.  Es  war 
notwendig,  dafs  die  Forschung  vor  das  von  Sabatier  auf- 
gerollte Problem  gestellt  v/urde,  dafs  die  Möglichkeiten  einer 
verfälschten  Überlieferung  nach  allen  Seiten  hin  erwogen, 
dafs  alle  Quellen  einzeln  auf  das  peinlichste  nach  verschiedenen 
Gesichtspunkten  geprüft  wurden  —  nur  so  konnte  eine  Ver- 
tiefung der  Anschauungen  herbeigeführt  werden.  In  mancher 
Hinsicht  ist  man  auf  weiten  Umwegen  zu  früheren  Annahmen 
zurückgekehrt;  aber  diejenigen,  die  kritiklos  bei  den  alten 
Anschauungen  beharrten  und  Sabatiers  Arbeit  verwarfen,  in- 
dem sie  selber  die  Hände  bequem  in  den  Schofs  legten, 
haben  nicht  das  geringste  Recht,  sich  ihm  gegenüber  zu 
rühmen. 

Ein  jeder  Forscher  wird  in  seinen  Untersuchungen  gern 
etwas  Abschliefsendes  sehen  wollen.  Aber  ich  vermesse  mich 
doch  nicht  zu  mehr,  als  mit  meiner  Arbeit  für  mich  persön- 
lich einen  Abschlufs  gebracht  zu  haben.  Für  die  wissen- 
schaftliche Forschung  sind  zudem  auch  die  fruchtbarsten  Ge- 
danken stets  nur  ein  Durchgangspunkt.  Es  kam  mir  darauf 
an,  der  Theorie  sowohl  Sabatiers  wie  seiner  Gegner  eine  aus 


QUELLEN  ZUR  GESCHICHTE  DES  HL.  FRANZ  VON  ASSISL    259 

den  Quellen  selber  entwickelte  Anschauung  gegenüberzustellen  ; 
indem  ich  sie  einheitlich  für  das  ganze  Gebiet  durchzudenken 
strebte,  wird  sie  vielleicht  den  Nutzen  schaffen,  den  ein  jeder 
bis  zum  Ende  durchgeführter  Gedanke,  auch  wenn  er  ein- 
seitig sein  sollte,  zu  bringen  vermag.  Schon  damit  wäre  ein 
Vorteil  erzielt,  wenn  alle  unbrauchbaren  Momente  der  Quellen- 
kritik (Stil,  Gesamtcharakter,  Erweiterung  oder  Verkürzung 
der  Vorlagen,  Hinzufügung  oder  Weglassung  von  Orts-  und 
Personennamen)  endgültig  aus  den  weiteren  Eröterungen  über 
die  Franzquellen  verschwänden  und  nur  von  Fall  zu  Fall 
einmal  die  allervorsichtigste  Würdigung  erführen. 

Wer  es  jetzt  aber  von  neuem  unternimmt,  ein  Leben  des 
h.  Franz  zu  schreiben,  mufs  eins  noch  im  Auge  behalten. 
Auch  die  kritisch  gesichtete  Überlieferung  behält  einen  Grund- 
zug, der  die  Erkenntnis  dieses  Heiligen  und  aller  andern 
erschwert:  von  der  ältesten  Legende  des  h.  Martin  an  bis 
zu  den  Legenden  des  h.  Franz  haben  sie  alle  die  Tendenz, 
in  den  Heiligen  nicht  geschichtliche  Personen,  sondern  Aus- 
erwählte des  Herrn  zu  sehen.  Das  führt  im  ganzen  und 
im  einzelnen  zu  Schilderungen,  die  dem  Alten  und  dem 
Neuen  Testamente  und  vor  allem  dem  Leben  Christi  ähn- 
lich sein  sollen.  Jeder  Vergleich  dieser  Legenden  im  grofseu 
zeigt,  dafs  auch  das  scheinbar  Geschichtliche  im  Leben  des 
einzelnen  Heiligen  seine  Beziehungen  zu  dieser  alles  andere 
erdrückenden  Gedankenwelt  hat. 


Druck  von  Friedrich  Andreas  Perthes,  Aktiengesellschaft,  Goth;i 


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