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38^
i
i|.
Die Oiiellen zur Geschichte
des hl. Franz von Assisi.
Eine kritische Untersuchung
von
Walter Goetz,
Piivatdozenten der Geschichte an der Universität München.
Gotha.
Friedrich Andreas Perthes
Aktiengesellschaft.
1904.
Paul Sabatier
in dankbarer Verehrung gewidmet.
An Paul Sabatier.
Der gröfste Teil dieses Buches ist ein von Seite zu Seite
fortgeführter Widerspruch gegen Ihre Anschauungen. Ich
habe versucht, die Meinung zu erschüttern, die Sie mit stür-
mischer Beredsamkeit und immer neuen Beweisen über die
älteste franziskanische Überlieferung und über Franz von Assisi
vorgetragen haben. Erst bei dem Fortgang der Arbeit bin
ich selber dem Zauber entgangen, den Ihre Anschauungen
auszuüben vermögen.
Indem ich Ihnen dieses Buch nun widme, will ich nicht
nur für die freundschaftliche Gemeinsamkeit unserer Arbeit
Zeugnis ablegen, sondern auch dem Danke Ausdruck geben,
den wir alle. Freunde und wissenschaftliche Gegner, Ihnen
so reichlich schulden. Ob man Ihnen zustimmt oder nicht —
nur durch Ihre Forschungen und kühnen Hypothesen sind wir
vorwärtsgekommen. Sollte einer Ihrer unfreundlichen Gegner,
mit denen ich so wenig etwas zu tun habe wie Sie, dies Büch-
lein gegen Sie ausspielen wollen, so möge ihm diese Wid-
mung zeigen, mit welclier Gesinnung ich gegen Sie ge-
sciirieben habe.
Vor* w^ ort.
Ein Teil dieser Untersucliungen ist bereits iu der „Zeit-
schrift für KircheDgescbiclite", Bd. XXII, XXIV und XXV
veröffentlicht worden. Zum ersten Male gedruckt ist alles
vun Seite 140 an; das Vorangehende ist an einigen Stellen
von neuem überarbeitet. Die Buchausgabe dieser Forschungen
lindet ihre Rechtfertigung in dem Gegenstand, der gleich-
zeitig in Deutschland, Franki-eich, Italien und England vun
Laien und Geistlichen bearbeitet wird, denen eine deutsche
protestantisch-theologische Zeitschrift nicht sj leicht zugäng-
lich ist wie eine besondere Schiift. Man darf wohl auch
verlangen, dafs eine in mancher Hinsicht neue, jedenfalls
einheitliche Anschauung dieser Quellenfrage der Öffentlich-
keit in einer zusammenhängenden Foim und nicht zerstreut
in verschiedenen Bänden einer Zeitschrift vorgetragen wird.
München, Pfingsten 1904.
Walter Goetz.
Inhalt.
Seite
Einleitung 1
Die Pai'teicu und ihre Gegeusätze. Die Aufgabe .... 3
I. Eigene Äufzeiclmungen des hl. Franz 7
1. Autographeu des Heiligen 0
2. Das Testament ... 11
3. Die Briefe 16
a) An Bruder Leo 18
b) An Antonius von Padua 19
c) All die hl. Klara und ihre Schwestern 20
d) Au alle Chiisten 21
e) An alle Kleriker 25
f) An die Obrigkeiten der Völker (Ad populorura Rectores) 2G
g) An alle Kustoden der Minderbrüder 2G
h) An das Generalkapitel 28
i) An die Provinzialminister des Ordens 31
k) An Jakoba de Septerasoliis 32
1) An Elias und an den Generaliniuister 33
4. Die Regeln 41
5. Die Admonitiones 41
6. Die Gebete 47
7. Die CoUationes Monasticae 48
8. Apophthegmata, Colloqiüa, Prophetiae, Parabolae, Exempla,
Oracula 50
9. Die Dichtniigen dos Ileiligoii 50
10. Von Wadding als zweifelhaft bezeichnete Schiifton. . . 54
11. Ergebnisse 55
II. Die Legenden 5G
1. Die Vita prima des Thomas von Celano 57
2. Die Vita secunda des Thomas von Celano 80
a) Verhältnis der Vita socunda zur Legenda triiini Sociorum ül
Exkurs: Das Verhältnis der Legeuda trium Sociorum
zum Anonymus Perusinus MO
X INHALT.
Seite
b) Die Vita secimda und das SpccuUun Pcifectionis . . 147
Kritik des Specukim Pcrfectionis 158
Ergebnisse 216
c) Der Qaellenwert der Vita seciunhi 221
Entstehungszeit 233
d) Der Tractatus de Miraculis 235
Exkurs: Thomas von Celano und die Vila S. Clarae 240
3. Die Legende Bonaventuras 243
Schlufs 258
Berichtigungen.
S. 48 Auni 1 letzte Zeile, statt .,verfafste" lies: verfafst haben soll.
S. 51. Die Anmerkung 4 ist nicht nach Landes de Creaturis, sondern
3 Zeilen später zu „2. Vita III, 138 und 139" zu lesen.
S. 91 Zeile 11, statt „August" lies: Juli. Die Begründung für die
Datierung s. unten S. 233.
S. 116 Zeile 15 statt ,,III, 32" lies: III, 52.
Einleitimg.
Drei wichtige Abschnitte lassen sich in der fortschreiten-
den Forschung über Franz von Assisi feststellen. Je nach
der Sichtung und Erweiterung des Quellenkreises entstanden
dreimal neue Auffassungen von wissenschaftlicher Bedeutung.
Seitwärts davon ging freilich immer ein breiter Strom der
Erbauungslitteratur, die auf strenge Quellenforschung ver-
zichtete und allein dem Ruhme des Heiligen zu dienen be-
müht war; für die Wissenschaft haben diese zahlreichen
Schriften keinen Wert.
Die erste kritische Sichtung der Quellen unternahm 1768
Konstantin Suysken, als er die Lebensbeschreibungen des
Heiligen für die Acta Sanctorum zusammenstellte; er schuf
die erste wissenschaftliche Grundlage, indem er — wenn
auch etwas ängstlich — die wertvollen Bestandteile aus der
Masse der Überlieferung auszuscheiden begann und auf ihre
Glaubwürdigkeit hin prüfte.
Karl von Hase that den nächsten Schritt, als er 1856
das kleine Büchlein über Franz von Assisi schrieb: mit un-
erbittlicher Kritik untersuchte er die Quellen und führte
Franz aus dem Bereiche der Heiligenverehrung zurück auf
den Boden der Geschichte. Die Grundlugen seiner Schilde-
rung waren die erste Lebensbeschreibung des Thomas von
Celano (die er auf etwa 1229 richtig ansetzte), die sogen.
Legende der drei Genossen (von 1247) und die Erzäh-
lung Bonaventuras (1265), dazu noch die Ordensregeln
2 GOETZ,
und „einige Briefe und fromme Ergiefsungen ^' des Heiligen
selber.
Auf diesem von Hase bereiteten Boden blieb die For-
schung im wesentlichen ein halbes Jahrhundert, nur daf&
von Georg Voigt (I870) ', Franz Ehrle (1^83)% Ruggiero-
Bonghi (i884)3^ Henry Thode (1885)^ und Karl Müller
(1885) ■'' die zweite Lebensbeschreibuiig des Thoraas von Ce-
lano entdeckt, untersucht und als wertvoll den grundlegen-
den Quellen hinzugefügt wurde, w^ährend Bonaventura an Wert-
schätzung verlor. So viel Neues die Forschung der näch-
sten vierzig Jahre nach Hase auch ergab > so viel Hervor-
ragendes Bonghi und Thode, Karl Müller und Paul Sabatier
in ihren Werken über Franz geleistet haben — sie gingen ia
der Quellenbetrachtung alle auf dem Wege, den Hase gewiesen
hatte und nur Sabatier blickte scliliefslich mit Vermutungen
darüber hinaus, als er 1894 seine „Vie de Ö. Fran9ois"^
erscheinen liefs. Und ihm, dem protestantischen französischen
Theologen , der sich in eine schwärmerische Verehrung für
den Heiligen des 13. Jahrhunderts hineingelebt hat, dankt
die Wissenschaft die Anregung zu neuen Fortschritten. Er
glaubte ursprünglichere Quellen, als man sie bisher besessen
hatte, erschhefsen und tür die Forschung über Franz von Assisi
eine neue Grundlage schaffen zu können. Er selber brachte
als Ergebnis dieser Studien 1898 das Speculum Perfectionis
als älteste, aus der nächsten Nähe des Heiligen stammende
Quelle '^, und mehr oder minder von Sabatier angeregt, liefsen
zwei italienische Franziskaner, MarceUino da Civezza und
Teofilo Domenichelli, 1899 eine neue Legenda trium So-
1) Die Denkwüidicjkeiten des Minoiiten Jordamis von Giano. Abh.
d. k. Sachs. Ges. der Wiss. 1870.
2) Zeitschiift für kath. Theologie 1883.
3) Francesco d' Assisi. Cittä di Castello 1884.
4) Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance
in Italien. Berlin 1885.
5) Die Anfänge des Minoritenordens und der Bufsbruderschaften..
Freiburg i. B. 1885.
G) SpeciiUim Perfectionis seu S. Francisci Assisiensis Legenda.
antiquissima auctore fratre Leone. Paris 1898.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FHANZ VON ASSISL 3
ciorum ', eine Rekonstruktion, die mehr als den doppelten
Umfang der bisher bekannten Legende der drei Genossen
besafs, erscheinen. Beide Verötfenthehungen haben, sich er-
gänzend und gegenseitig ihre Ergebnisse unterstützend, den
Anspruch erhoben, die älteste aus dem vertrauten Jünger-
kreise stammende Überlieferung zu sein.
Die Frage war zu wichtig für dies ganze Forschungs-
gebiet, als dafs nicht sogleich die lebhafteste Bewegung ent-
standen wäre. Neben bedingungsloser oder begrenzter Zustim-
mung kamen auch Angriffe , die das kunstvolle Gebäude
aufs ärgste zu erschüttern drohten: nach dem Willen der
Angreifenden sollte bei den neuen Quellen kaum ein Stein
auf dem andern bleiben '^.
Die Parteien und ihre Gegensätze. Die Aufgabe.
Der litterarische Streit, der seit dem Erscheinen des Spe-
culum Perfectionis (189H) ausgebrochen ist, erhält sein Ge-
präge nicht nur durch wissenschafthche Meiuungsverschiedeu-
1) La Legjrenda di San Francesco scritta da tre siioi Cnmpagni
(Lecenda triiiin sociorum), piibhlicata per la prima volta uella vera sua
intcgritä. Rom 1899.
2) Von der für die beiden Rekonstruktionen mehr oder minder
günstigen Litteratur ist zu nennen: Cosmo, Riv. stör. ital. III (1898);
Tocco, Archivio storico italiano, 5. Seiie XXIII (1899); Minocchi,
ebd. XXIV (1899); Karl Müller Thool. Litt.-Zeitung 1899; Goetz,
N. Jalirb. f. d. klass. Altert., Gescb. u. Litt. 1900. — Sammelpunkt
der Ge^nier sind die Miscellanea Kranciscana. Im Bd. VII (Foligno
1898/1899) hat vor allein der Herausgeber, P'alo ci-Pulignani, den
Kiunpf geführt; neben ihm 1'. Edo u ard d' Alen gon, der General-
archivar der Kapuziner, und P. Mandonnet — alle freilich doch
mit mancherlei Zugeständnissen an Sabatiers Anschauungen. Lebhaften
Widersi)ruch erhob Della Giovanna, Giornale stör. d. lett. ital.
XXIII (1898). Den schärfsten Angiiff gegen die Leg. tr. Soc. (und
indirekt auch schon gegen das Speculum Perf.) führte van Ortroy
aus: Analecta Bollandiana XIX (1900). Sabatier hat darauf ge-
antwortet in der Rev. historicpie, LXXV (1901); Casali hat diesen Auf-
satz ins Italienische übersetzt (Dell' autentiritä dclla Leggenda di
S. Francesco detta dei tre Compagni; Assisi 1901) In dem Geleitwort
zu dieser Übersetzung giebt Sabatior noch einen Nachtrag zu seinen
Ausführungen.
1*
4 GOETZ,
heiten. Es spielen Tendenzen hinein, die den alten Gegen-
sätzen innerhalb des Franziskanerordens entsprechen und
aufserdem durch den religiösen Gegensatz zu dem freien
Protestanten Sabatier hervorgerufen worden sind. Je gröfser
der Einflufs Sabatiers auf katholische Priester, Gelehrte und
Laien Italiens und Frankreichs in diesen Fragen wurde, um
so lauter haben seine Gegner vor seinen der katholischen
Kirche gefährlichen Anschauungen gewarnt
Die Gruppierung der Parteien ist folgende : an Sabatier,
den Führer bei der Wiederauffindung alter Quellen, den
unermüdlichen Vorkämpfer für eine von katholischer Tra-
dition unabhängige Wertung des Heiligen, haben sich die
heutigen Nachfolger der ehemaligen „ Spiritualen " des Fran-
ziskanerordens angeschlossen; die Gelehrten dieser Richtung
und ihre Organe — L'Oriente serafico di S. Maria degli
Angeli, Mater Amabilis (di Roma) — stehen zwar den mo-
dern religiösen Idealen Sabatiers fern, aber sie billigen aus
Herzensinteresse das Bemühen, den Heiligen strenger auf-
zufassen, als die Kirche und der gröfsere Teil des Ordens es
von Anfang an gethan hat. Mit Eifer gehen sie deshalb allen
Zeugnissen nach, die noch vor der kirchlich beeinflufsten
Überlieferung zu hegen scheinen und den Heiligen im Gegen-
satz zu der schon zu seinen Lebzeiten einreifsenden laxeren
Praxis schildern. Machte Sabatier mit der Herausgabe des
Speculum Perfectionis den Anfang, so folgten Minoriten
dieser strengeren Richtung mit der Rekonstruktion der Le-
genda trium Sociorum, die sich enge mit dem Inhalt des
Speculum Perfectionis berührt.
Der rastlose Gegner der ganzen Richtung Sabatiers
und seiner Anhänger ist Faloci - Pulignani in Foligno mit
seiner Zeitschrift Miscellanea Franciscana — unzweifelhaft
ein gewandter Kämpfer und bei seiner Anlage zur höflichsten
Grobheit und zur Ironie kein angenehmer Gegner. Neben
seiner wissenschaftlichen Kritik steht sein verletztes kirch-
liches Gefühl: Sabatiers „ antikatholische ^^ Anschauungen und
der antikirchliche Radikalismus einzelner itahenischer Nach-
folger Sabatiers haben mehr als einmal das abwehrende Ur-
teil Faloci-Pulignanis auf eine falsche Bahn gedrängt. Im
QUELLEN ZUIi GESCHICHTE DES HL. FHANZ VON ASSISL 5
wesentlichen schreibt und kämpft er in seiner kleinen Zeit-
schritt ganz allein, aber er steht in enger Fühlung mit den
italienischen, deutschen, französischen, belgischen geistlichen
Gegnern Sabatiers. An wissenschaftlicher Schulung und kri-
tischer Begabung sind Männer wie Faloci-Pulignani und der
Jesuit van Ortroy den Herausgebern der rekonstruierten Le-
genda trium Sociorum und des Oriente Serafico gewifs über-
legen und es ist ganz unbestreitbar, dafs sie mit ihren Kri-
tiken und Untersuchungen der Franzforsch ung wertvolle
Dienste geleistet haben. Bei dem Kampf für seine An-
schauungen mufs sich Sabatier vor allem auf die eigenen
Kräfte veilassen , denn ganz ohne Einschränkung hat sich
bisher von den kompetentesten Beurteilern, nämlich den
kirchlich vollkommen Unabhängigen, doch niemand auf seine
iSeite gestellt: dafs er den Heiligen allzusehr vom Stand-
punkt moderner Religiosität auffasse und seinen Gegensatz
gegen die Kirche übertreibe, ist schon früher gegen Sabatier
eingewendet worden, und ganz so glatt, wie er möchte, liegen
die Zweifelsfragen beim Speculum Perfectionis jedenfalls nicht.
Die sachlichen Gegensätze, wie sie bisher aus der ver-
schiedenen Wertung der Quellen entstanden sind, beziehen
sich — um das für die Quellenforschung AVichtigste
herauszugreifen — auf folgende Punkte. Sabatier und seine
Anhänger nehmen an, dafs bereits zu Lebzeiten des Heiligen
eine Spaltung des Ordens in eine strengere und eine laxere
Richtung eingetreten sei und dafs der Ordensprotektor Kar-
dinal Hugolin von Ostia damals und später als Papst
Gregor IX. (1227 — 1241) die laxere Richtung begünstigt
habe. Die auf Veranlassung Gregors IX. um 1228,29 von
Thomas von Celano geschriebene Vita prima des Heiligen
gilt ihnen deshalb als einseitig und ebenso auch, wenngleich
in geringerem Grade, die zweite Vita, die Thomas 1247
verlafst haben soll. Sabatiers Gegner weisen jeden Vorwurf
gegen Gregor IX. zurück und sehen in ihm den aufrichtigsten
Freund des Heiligen, den Förderer seiner Idecen ; sie halten
infolgedessen die Berichte des Thomas von Celano für die
getreueste Schilderung des Heiligen und wollen von Spal-
tungen innerhalb des Ordens zu Lebzeiten des Heiligen nic-hts
6 GOETZ,
wissen Und während Sabatier und seine Freunde Bona-
venturas Legende für eine schönfärbende, den geschichtlichen
Hergang verwischende Erzählung ansehen, beurteilen die
andern Bonaventura als einen Spiegel der Wahrheit: Fa-
loci-Pulignani will Franz auch fernerhin auffassen, „corae
ce lo presento Gregorio IX. e come lo dipinse Ö. Bonaven-
tura" — wie ihn uns Gregor IX. dargestellt und wie ihn der
hl. Bonaventura gezeichnet hat '.
Für Sabatier hat jetzt das nach seiner Meinung von Bru-
der Leo 1227 geschriebene Speculum Perfectionis aufs klarste
gezeigt, wie wenig zuverlässig Thomas von Celano und Bona-
ventura gearbeitet haben, und die rekonstruierte Legenda
trium Sociorum verstärkte Sabatiers Beweise; die Gegner
lehnten aber die Echtheit oder doch die Autorität der beiden
neuen Quellen ab und setzten ihi-e Entstehung in eine viel
spätere Zeit, so dals sie keinesfalls an Wert mit Thomas
von Celano oder Bonaventura verglichen werden könnten.
Diese Meinungsverschiedenheiten fordern zu einer be-
stimmten Entscheidung heraus; die Geschichte des Heiligen
mufs der vollkommenen Unsicherheit, in der sie sich infolge
dieser Gegensätze befindet, wieder entrissen werden.
Der Versuch, einige annehmbare Ergebnisse festzustellen,
soll hiermit gemacht werden ; vielleicht ist das Wagnis einer
Klärung der strittigen Fragen geeignet, voller Zersplitterung
der Meinungen vorzubeugen. Denn aussichtslos erscheint ein
solcher Versuch nicht.
Das Schlimmste bei solchem Unternehmen ist, dafs kri-
tische Ausgaben der wichtigsten Quellen noch fehlen : einzig
das Speculum Perfectionis Sabatiers ist ein vortreffliches,
unschätzbares Hilfsmittel für vergleichende Quellenarbeit.
Weit weniger bietet in dieser Hinsicht die rekonstruierte
Legenda trium Sociorum, und die Legenden des Thomas
von Celano liegen bisher nur in Ausgaben, die zu Er-
bauungszwecken bestimmt sind, vor — ausgenommen den
über die Wunder handelnden Teil der Vita secunda, der
in den Analecta Bollandiana XVIII (1899) durch van
1) Miscellanea Franciscana VII, S. 172.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FllANZ VON ASSISL 7
Ortroy zum ersten Male gedruckt und aufs sorgfältigste
kommentiert worden ist. Aber diesen einen Abschnitt aus-
genommen fehlt es für die beiden Lebensbeschreibungen des
Thomas noch an einem gesicherten Texte — P. d'Alen9on
bereitet, wie man hört, eine kritische Ausgabe vor. Für
Bonaventura giebt die sonst vortreffliche neue Ausgabe in
den Opera Bd. VIII (Quaracchi 1898) nicht ganz, was man für
unsere Untersuchungen haben möchte: es wird im einzelnen
(und das ist das Notwendige) nicht angegeben, welche Vor-
lagen Bonaventura jeweilig benutzt hat
Das sind Schwierigkeiten, die eine volle Lösung der Auf-
gabe verzögern; aber zu warten, bis sie alle beseitigt sind,
hiefse das mögliche Gute um des Besten willen versäumen und
das Urteil über Franz von Assisi noch für eine gute Weile
im Unsichern lassen. Die Aufgabe, die durch die nachfolgen-
den Untersuchungen zu lösen versucht wird, ist die Wertung
der vorhandenen Quellen: die Feststellung vor allem der
ältesten und der Abhängigkeitsverhältnisse der späteren.
Giebt es Aufzeichnungen von Franz selber? Ist das Specu-
lum Perfectionis der früheste und intimste Bericht über den
Heiligen ? Ist die Legenda trium ISociorum in der alten Form
und in der Rekonstruktion eine wertlose Kompilation ? Ist die
erste Vita des Thomas von Celano ganz unparteiisch und zu-
verlässig, ist die zweite die selbständige Ergänzung der ersten
und von der gleichen Zuverlässigkeit ? Schreibt Bonaventura
als wahrheitsuchender Geschichtsforscher oder als Vertreter
einer Partei, die die Lebensideale des Heiligen abschwächen
wollte? — Diese Fragen geben die GUederung der nach-
folgenden Untersuchungen.
L Eigne Aufzeichnungen des hL Franz.
Von dem, was Franz selber geschrieben hat, raufs bei
der Beurteilung der späteren Überlieferung ausgegangen wer-
den. Was er selber geschrieben, ist der einzige zuverlässige
Mafsstab für die Treue dieser Überlieferung. Es ist ein
schwerer Fehler der Gegner Sabatiers, dafs sie — wie
z. B. Faloci - Pulignani ' — den Wert der Legenden Ce-
1) Miscell. Franc. Vll, S. 145 flf.
8 GOETZ,
lanoß und Bonaventuras bestimmen wollen, ohne auf die
eignen Aufzeichnungen des Heiligen irgend welche Rücksicht
zu nehmen. Es genügt nicht nachzuweisen, dafs Bonaventura
in guter Absicht schrieb; wichtiger ist zu zeigen, dafs seine
Auffassung die geschichtlich richtige ist. Diese Richtigkeit
läfst sich zum guten Teile nur an demjenigen, was wir von
Franz selber besitzen, prüfen.
Lange Zeit sind diese Selbstzeugnisse Franzens von der
gelehrten Forschung nicht hoch eingeschätzt und kaum ver-
wertet worden; Sabatier hat zuerst ihre Bedeutung betont
und einiges davon genauer untersucht. Aber was als „Werke"
des hl. Franz überliefert ist, entbehrt — von der Ordens-
regel abgesehen ■ — noch einer zusammenhängenden kriti-
schen Untersuchung.
Wadding hat zuerst zusammengestellt, was unter Franzens
Namen ging, ohne eine Sichtung dieser Überlieferung vor-
zunehmen. Alle späteren Ausgaben der „Werke" beruhen
auf Wadding und sind noch genau so unzuverlässig, wie
es diese erste Ausgabe leider ist ^ Nur für das Testament,
für einige Briefe und den Sonnengesang liegen Einzelunter-
suchungen und Einzelausgaben vor; das meiste dankt man
auch hierbei Sabatier, manches Faloci-Pulignani und P. Ed.
d'Alengon.
Die Ausgaben der Werke des Heiligen enthalten alle
gleichraäfsig folgendes: 17 Briefe, 27 Admonitiones, einige
kleinere Stücke verwandten Inhalts und Gebete, das Testament,
die sogen, erste (1221) und zweite (122.3) Regel, die Regel
für die Klarissen, die 28 Collationes monasticae, die Dich-
tungen, die Apophthegmata, CoUoquia, Prophetiae, Parabolae
und Exempla, die Benedictiones und die Oracula et sententiae
communes.
Durch die älteste Überlieferung beglaubigt ist davon nur
das allerwenigste. Dafs Franz Regeln aufgeschrieben hat, dafs
es Briefe von ihm gab, dafs er geistliche Lieder (Laudes)
1) Opuscula b. Francisci Assisiatis, ed. Wadding, Antwerpen 1623.
Die übrigen Ausgaben sind zusammengestellt bei Thode S. 539 und
Sabatier, Vie de S. Frangois (1894), S. XXXVI.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FliANZ VON ASSISL 9
vertafst hat, dafs er ein Testament hinterliefs, berichten die
Quellen ; aber die echte Form dieser Aufzeichnungen oder — wie
bei den Regeln — Franzens Anteil an der endgültigen
Fassung ist nicht so leicht zu bestimmen. Für die andern
angeblichen Werke des Heiligen fehlt es fast durchgängig
an einer Beglaubigung aus früher Zeit. So heifst es Schritt
für Schritt vorzugehen, um im kleinsten zunächst einmal festen
Boden zu gewinnen und damit einen Ausgangspunkt für
alles Weitere.
1. Autographen des Heiligen.
Was sicher festgestellt werden könnte als von Franz mit
eigener Hand geschrieben, wäre, falls ein wertvoller Inhalt
hinzukäme, gewifs das kostbarste Zeugnis für die An-
schauungen des Heiligen. Thatsächlich werden drei Schrift-
stücke als Autographen bezeichnet : die sog. Benedictio Leonis,
die auf der Rückseite derselben geschriebenen Landes Dei
(Assisi, im Sacro Convento), und ein kurzer Brief an Bruder
Leo (seit 1895 im Vatikan).
Die Echtheit dieser Autographen ist nicht unbestritten
geblieben ' ; aber seit sich hinsichtlich der Benedictio hervor-
ragende deutsche und französische Palacographen (Watten-
bach, W. Meyer, Dziatzko, Berger) bei einer neuerlichen
Anfechtung 1895 und 1896 für die Echtheit ausgesprochen
haben — ein Urteil, das auch Gerh. Seeliger-Leipzig mir be-
stätigt hat — erscheint an diesem Punkte ein Zweifel doch
wohl ausgeschlossen : die Schriftzüge passen durchaus in die
fragliche Zeit. Damit werden auch die Landes Domini der
Rückseite, die Bruder Leo als zugehörig beglaubigt hat und
die schon Thomas von Celano in der 2. Vita (H c. 18)
1247 in diesem Zusammenhange mit der Benedictio erwähnt, als
eigenhändig bestätigt — sie sind freilich in arg verderbtem
1) Vgl. Kaloci-Piilignani, Gli autografi di S. Fraiu'osco (Mise.
Franc. VI, S. 33—39, mit Faksimile- Abbildungen, 1895); Ders., La
Callijrrafia di S. Francesco (ebd. VII, S. G7— 71, 1898. Dabei weitere
Litteiatiirangaben!). Sabatier, Specultun Perfectionis , S. LXVIIIf.
LXXIlIff,
10 GüETZ,
Zustande. Das Urteil über den dritten Autographen, den
Briet" an Leo, ist viel weniger gesichert. Zwar haben sich
sowohl Faloci-Pulignani wie Sabatier mit vielerlei Gründen für
die Echtheit ausgesprochen; aber paläographische Bedenken
— nicht gegen den zeitlichen Charakter, wohl aber gegen den
Duktus der Handschrift, der mit der Benedictio nicht über-
einzustimmen scheint — müssen erwogen werden. Auf den
ersten Blick erscheinen die beiden Handschriften der Benedictio
und des Briefes ganz verschieden: die Benedictio ist mit
monumentalen, ganz vertikal und einzeln stehenden Buch-
staben geschrieben, der Brief an Leo hat etwas schräg ge-
stellte , vielfach miteinander verbundene und viel weniger
bestimmte Buchstaben. Die Landes stehen in der Mitte
zwischen beiden : sie haben keine so monumentalen Züge
und in den unteren Zeilen etwas schräg gestellte Buchstaben.
Nun zeigen aber die Buchstaben im einzelnen auf allen drei
Schriftstücken in ihrer Bildung eine starke Ähnlichkeit: vor
allem das e , das t , das d , das r , das a , das s , ferner die
Abkürzung für et, so dafs ich mich doch dem Glauben an
die Echtheit auch des dritten Autographs zuneigen möchte —
lassen doch auch innere Gründe den Brief als echt erscheinen
(vgl. darüber unten Ö. 18). Der verschiedene Duktus der
Handschrift ist vielleicht erklärbar: die Benedictio war eine
feierliche Kundgebung des Heiligen für seinen vertrautesten
Jünger -- daher die monumentale Form. Auch die Landes
Domini tragen aus natürhchen Gründen ein ähnliches, wenn
auch längst nicht so monumentales Aussehen: die Aufzeichnung
dieses Gedichtes geschah, bei Franzens Natur, jedenfalls auch
in einer gehobenen Stimmung, wie die Beischrift Leos zu-
dem beweist. Der Brief an Bruder Leo ist dagegen, wie
sein Inhalt zeigt, rasch hingeworfen ; ob sich dadurch nicht
die Verschiedenheit der Züge erklären Hefse? *
Eine vollkommene Gewifsheit wird niemand zu geben
1) Sabatieis Vermutung (Speculum Perfeotionis , S. LXXIV Anin.),
dafs die Handschrift des Briefes später vielleicht nochmals übergangen
worden sei, will mir nicht recht einleuchten; ich vermag — an dem
Faksimile allerdings — keine Spuren davon zu erkennen.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 1 1
vermögen, aber die Echtheit ist aus den angeführten Gründen
doch recht wahrscheinlich '.
Sind nun auch diese drei Autographen echt, und bieten
sie auch für drei Einzelfälle wertvollen Aufschlufs — die
Benedictio für die Stigmatisation, die Laudes für den Dichter
Franz, der Brief an Leo für eine Episode aus der letzten
Zeit des Heiligen — so reichen sie doch keineswegs aus,
einen Mafsstab abzugeben zur Beurteilung der Überheferung.
Was sie enthalten, ist viel zu dürftig, als dafs wir Allge-
meineres daraus lernen könnten. Sie bleiben lediglich in
einem begrenzteren Sinne die ursprünglichsten Stücke der
Überlieferung.
2. Das Testament.
Von allen andern Aufzeichnungen, die auf Franz zurück-
geführt werden und für die eine autographische Beglaubi-
gung nicht vorliegt, stelle ich das Testament an die Spitze
der weiteren Untersuchungen: es ist wichtiger als alle andern
Stücke und seine Echtheit erscheint am besten beglaubigt -.
Dafs Franz in einem Testamente seine Anschauungen
aufzeichnete, ist sicher merkwürdig; auf solche Weise für
Lebensideale einzutreten war für die damalige Zeit etwas
Ungewöhnliches — man müfste denn das Testament Kaiser
Heinrichs VL als aus dem Rahmen letzt williger Besitz-
verfügung heraustretend ansehen.
Es kann dennoch kein Zweifel bestehen, dafs Franz ein
Testament hinterliefs ^. Auch wenn man das Zeugnis des
Speculum Perfectionis ganz bei Seite läfst, so giebt doch den
1) Ich verdanke auch in dieser Krage Herrn Prof. SeeUger-Leipzig
palängraphisch- fachmännischen Rat und die Zustimmung zu dem Eud-
ergehnis der ohigen Ausführungen
2) Untersuchungen über das Testament hei Sabatier, Speculum
Perfectionis (vgl. das Register!). Wertvcdl sind die Aufsätze von Loofs,
Das Testament des Franz von Assisi. Ciiristl. Welt 1894 , Nr. 27,
28, 29.
3) Bezweifelt wurde es von Hase, PVanz von Assisi, S. 136 und
Renan, Nouvelles Etudes d'iiist. reli'z., S. 247; verteidigt von K. Mül-
ler, Anfänge, S. Iü9 und von Sabatier, Vgl. auch Ehrle, Arch.
f. Litt. u. K.-G. III, S. 571.
12 GOETZ,
ersten Beweis schon 1229 Thomas von Celano in der Vita
prima 1 c. 7: „sicut ipse [Franz] in testamento suo loqui-
tur . . . /' (folgt ein Citat aus dem Testamente); den zweiten
die ßuUe Gregors IX. „Quo elongati" vom 28. September 1230^
wo das Testament zweimal ausdrücklich erwähnt wird '.
Aber zugegeben, dafs Franz ein Testament hinter-
liels — ist das uns überlieferte auch wirklich das echte? ^
Folgendes spricht dafür. Die soeben erwähnte Stelle au»
der ersten Lebensbeschreibung des Thomas von Celano I c. 7
giebt ein Citat aus dem Testamente , das genau so am An-
fang des uns überlieferten steht. Ein anderes wörtliches
Citat aus dem Testamente — jedoch ohne dafs Thomas es
nennt — steht in I, c. 5 („sola tunica erant contenti, repe-
tiata quandoque intus et foris." Vgl dazu die gleichlautenden
Worte beiSabatier, Speculum Perfectionis, S. 310). Und
in I, c. 6 wird der Anfang des Gebetes citiert, das Franz
den Brüdern gelehrt hatte; es stimmt mit dem Gebete
am Anfang des Testamentes überein.
In der zweiten Vita des Thomas von Celano III c. 99 heifst
es von Franz: „fecit enim quandoque generaliter scribi"
und dann folgt fast wörtlich ein Satz, der auch im Testamente
steht (Sabatier a. a. O. S. 310, Z. 17 — 19).
Julian von Speier, der im Anschlufs an die erste Vita
1) Sabatier, Speculum Pei fectionis, S. 315.
2) Handschriften: Codex Mazarinus 989 von 1459/60; Bologna,
Univ.-Bibl. Cod. 2697 von 1503; Cod. Vaticaniis 4354 und 7650; As-
sisi, Ms. 338 (danach der Abdruck bei Sabatier, Speculum Perfectio-
nis, p. 309—313); Florenz, Cod. Magliab. XXXVIII, 52; Cod. Riccard.
1407 von 1503; Florenz, Hs. des Klosters Ognissanti. Die Handschrift
von Assisi möchte Sabatier in die Zeit um 1240 setzen (Vie de S. Fran-
5ois, 1894, S. XLI u. 370), Faloci-Pulignani in die Zeit vor 1255. Sie
gehört jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach ins 14. Jahrhundert. Vgl.
unten S. 53 Anm. 1. — In jeder der genannten Handschriften steht das
Testament neben zahlreichen frühereu und späteren Quellen zur Ge-
schichte des Heiligen. Über die vorhandenen Drucke und die Lesarten
vgl. Sabatier, Speculum Perfectionis, S. 309 Anm. 1 und S. 313
Anm. 2. Die Abweichungen der einzelnen Handschriften und Drucke sind
für den Inhalt ohne Bedeutung. Auf Grund der handschriftlichen Über-
lieferuntr ist über die Echtheit kaum etwas zu sagen.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 1 3
des Thomas zwischen 1233 und 1235 eine Legende des
Heihgen schrieb, erwähnt Franzens Grufs „Dominus det tibi
pacem", den ihm der Herr gelehrt habe („Domino relevante"),
und lügt hinzu: „sicut postmodum ipse testatus est" (Acta
Sanctorum, Oct. II, Ö. 579, n. 182); dabei hat Julian wohl
sicher das Testament im Auge gehabt, denn es enthält die
Worte: „Salutationem mihi Dominus revelavit, ut diceremus:
Dominus det tibi pacem" (öabatier ö 311) K
Es spricht weiterhin für die Echtheit des vorhandenen
Testamentes, dafs die päpstliche Bulle von 1230 zwei Stellen
desselben in indirekter Rede wiedergiebt, die mit zwei wich-
tigen Punkten des vorliegenden genau übereinstimmen (vgl.
Sabatier S. 315 mit Ö. 311 und 312)-.
Es sind mit Absicht zunächst die Erwähnungen des
Testamentes im Speculum Perfectionis und in der Legenda
trium iSociorum nicht zum Belege herangezogen — der
Wert dieser beiden Quellen soll erst in den nachfolgenden
Untersuchungen festgestellt werden und so mögen sie hier
bei Seite bleiben. Die angeführten sechs Citate, von denen
sich die zwei letzten auf die beiden um ihrer strengen Ten-
denz willen wichtigsten Stellen des Testamentes beziehen (Ab-
lehnung päpstlicher Privilegien für den Orden und Verbot
jeder Glossierung der Regel) erscheinen ausreichend für den
Schlafs, dafs in dem vorhandnen Testament das echte zu sehen
ist — das echte wenigstens dem wesentlichen Inhalte nach ^.
1) Fast wörtlich nach Julian von Speier jriebt Bonaventura, Vita
major c. III, n. 2 diese Stelle (Opera VIII, S. 510, ed. Quaracchi, 1897);
er kann deshalb als selbständiger Zeuge für das Testament, das er
ganz ignoriert, nicht in Betracht kommen. Die Woite „sicut pere-
grinae et advenae", die Bonaventura c. VII, n. 2 hat, klingen ebenfalls
an das Testament an (Sabatier, Spec. Perf., S. oll). — Ein weiteres
€itat bei Julian (Acta SS. a. a. 0. S. 566, n. 112) ist genau nach Tho-
mas von Celano Vita i)r. I, c. 7 (s. o. S. 12).
2) Zugleich weist die Bulle noch allgemein auf andere Bestim-
mungen des Testamentes hin, „ quae non possent sine multa difticultate
servari ".
3) Dafs von den fünf Citaten des Speculum Perfectionis nur drei
mit dem Testamente übereinstimmen, während die zwei anderen (c. 9
und c. 55) nicht darin stehen, ist eine Schwierigkeit, gleichviel oh man
14 GOETZ,
Diese Auffassung wird verstärkt durch innere Gründe.
Die Ausdrucksweise des Testamentes ist ungekünstelt, ja
unbeholfen — sowohl der Ausdruck im einzelnen als die
Verbindung der einzelnen Sätze, die fast durchgängig mit
„Et" geschieht, so dafs die ungefeilte Niederschrift des ge-
sprochenen Wortes vorzuliegen scheint. Das elegantere Lateinisch
der Gelehrten ist es nicht, sondern die ungeschickte Sprache
des Ungelehrten. Ob eine spätere Fälschung den Heiligen
nicht in besserem Lateinisch hätte schreiben lassen?
Ungekünstelt ist auch die Disposition des Testamentes:
lose sind eine Reihe von Gedanken nebeneinander gestellt,
die mit einem Rückblick auf den Anfang seiner Thätigkeit
beginnen, dann ein Gebet bringen, die Verehrung für die
Priester der römischen Kirche und für den Leib des Herrn,
auch für die Theologen, dann erst die Ordensideale mit
mahnenden Erläuterungen dazu und dem Grufs „ Der Herr
gebe dir Frieden" dazwischen; vor den letzten stärksten
Mahnungen zur Einhaltung der unveränderten und unge-
deuteten Regel und des Testamentes noch eine längei'e
Abschweifung über die Pflicht des Gehorsams und die Be-
strafung des Ungehorsams. Diese Anordnung des Testamentes
ist vergleichbar mit seiner Sprache: wie Franz die Gedanken
im Augenblick aussprach, sind sie aufgezeichnet worden.
die Abfassimg des Spekulum Peifectionis in frühere oder spätere Zeit
setzt. Das erste Citat (c. 9) enthält allerdings nur eine Erläuterung zu
einer Stelle des Testamentes über die Ansiedlungen der Brüder, und
die zweite (c. 55), die Ermahnung zur Verehrung der Portiuncula, kann
infolge der verschiedenen Lesarten auch als unausgeführte Absicht, etwas
darüber in das Testament zu setzen, gedeutet werden. Sabatier nimmt
an, dafs Franz mehrfach in entscheidenden Krisen seines Lebens ein
Testament gemacht habe (Speculum Peifectionis, S. XXXIII Anm. 2);
dafs er aufser dem vorhandenen noch einmal ein anderes diktiert hat,
zeigt Speculum Perfectionis c. 87 — ein Testament, das mit dem vor-
handenen und dem in der Bulle von 1230 genannten nicht übereingestimmt
haben kann. — Lediglich an verschiedene Lesarten desselben Testa-
mentes zu denken, wird durch die vorhandenen, nur in einzelnen Aus-
drücken voneinander abweichenden Handschriften (s. oben S. 12 Anm. 2)
nicht unterstützt. Auch für die hl. Klara und ihre Schwestern soll
Franz testamentarische Aufzeichnungen hinterlassen haben (Sabatier
S. 182 Anm.).
QUELLEN zun GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 15
Auch hier darf man behaupten, dafs eine spätere Fälschung
bestimmter angeordnet haben würde.
Vor allem aber enthält das Testament Gedanken, die bei
einer späteren tendenziösen Zusammenstellung wohl kaum
nebeneinander gestellt worden wären: die so stark betonte
Verehrung für jeden, auch den geringsten Priester der Kirche
und die Warnung vor jeglichem Privileg der Kurie. Auch
das Betonen der Handarbeit pafst nicht mehr in eine spätere
Zeit.
Es vereinen sich äufsere und innere Gründe, das Testa-
ment als ein echtes Dokument des Heiligen zu kennzeichnen.
Es ist damit eine feste Grundlage gewonnen. Denn so
wenig ausführlich dieses Testament auch ist, so fafst es doch
gedrängt zusammen, auf was es Franz für die Zukunft seines
Ordens ankam und an welchen Idealen seine Seele felsen-
fest hing. Auf das, was er gewollt, aber auch auf einzelnes^
was er gethan hat, und auf anderes, wofür er offenbar kämpfen
mufste, fallen helle Lichter, und ich nehme an, dafs jede
andere Überlieferung über Fran/> an diesem gesicherten und
sein Innerstes aufschliefsenden Dokumente geprüft werden
mufs. E.s fällt ins Gewicht, dafs die zweite Vita des Thomas
von Celano das Testament nur einmal streut (s ob. Ö. 12) und
dafs Bonaventura es gar nicht mehr zu kennen scheint, obwohl
er doch aus der ersten Vita des Thomas von seinem Vorhanden-
sein wissen mufste — ganz abgesehen von der Rolle, die da&
Testament bei den inneren Streitigkeiten des Ordens gespielt
hatte ' — die strengen Forderungen des Testamentes sind
eben später und vor allem zur Zeit der Spiritualenkämpfe
bei der Mehrheit des Ordens nicht mehr populär gewesen.
Die Datierung des Testamentes ist nicht bestimmt zu
geben. Dafs es erst in den letzten Jahren seines Lebens auf-
gesetzt ist, liegt in der Natur der Sache; aber ich wage
doch nicht, wie Sabatier thut^, es in die allerletzte Zeit
1) Archiv f. Litt. u. K.-G. III, S. 168.
2) Vie de S. FraiiQois (1894), S. 384. Die Stellen im Speciiliim
Perfectionis spiechen zum Teil von der Zeit „circa mortem". Diese
Zeit dehnte sich über Jahre hin — die Auflösung; des panz zerstörten
Körpers vollzog sich nur langsam.
1 6 GOETZ,
vor seinem Tode zu setzen. Es liegt noch nicht die Ab-
schiedsstimmung über diesen Gedanken — verspricht doch
Franz darin, dem Generalminister und dem Guardian^ den
man über ihn (Franz) setze, streng zu gehorchen und stets
einen Kleriker für das officium bei sich zu haben; er schärft
den Brüdern die Handarbeit ein, wie er selber noch arbeiten
wolle. Man kann nicht mehr sagen, als dafs im Testament
«in Zeugnis seiner letzten Jahre vorliegt K
o. Die Briefe.
Siebzehn Briefe sind seit Waddings Ausgabe von 1628
für Franz in Anspruch genommen worden : je zwei an alle
Christen, an die hl. Klara und ihre Schwestern, an Bruder
Elias, an das Generalkapitel, je einer an Antonius von
Padua, an den Generalminister, an die Provinzialminister,
an die Priester des Ordens, an alle Kustoden des Ordens,
an alle Kleriker, an die Obrigkeiten, an Bruder Leo und
an Jakoba de Septemsoliis — alle siebzehn ohne Datum.
Die handschriftliche Überlieferung bietet nur bei einem
dieser Briefe, bei dem an Bruder Leo, Anhaltspunkte für
die Echtheit; es ist oben (S. 9f) ausgeführt worden, dafs
dieser Brief im Original vorhanden zu sein scheint. Drei
andere Briefe (an alle Christen, an das Generalkapitel, an
alle Kleriker) liegen in einer Handschrift (Cod. Assis. 308)
vor, die Sabatier und Faloci-Pulignani gern noch vor oder
um die Mitte des 13. Jahrhunderts ansetzen möchten, die
aber ins 14. Jahrhundert gehören dürfte ^. Immerhin giebt
diese handschriftliche Überlieferung die Möglichkeit, die Briefe
in ihrer ursprünglichen Form wieder herzustellen — in spä-
terer Zeit sind sie in einzelne, anscheinend selbständige Teile
zerlegt worden.
Dafs Fi'anz sich öfters in Briefen geäufsert hat, bezeugen
1) So auch Loofs, Christi. Welt (1894), S. 639 mit dem Hinweis
auf die Bulle Quo elongati : ,, Fianciscus . . . mandavit circa ultimum
vitae suae, cuius mandatum dicitur Testamentum ..." (Sabatier,
Speculum Perfectionis, S. 315).
2) Vgl. unten S. 53 Anm. 2
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 17
die Quellen. Thomas von Celano erwähnt in der ersten Vita
II, 5, dals Franz mehrfach an den Kardinal von Ostia, den
Ordensprotektor, geschrieben habe ; vorhanden ist von solchen
Briefen nichts. In derselben Vita I, 29 spricht Thomas von
Briefen, die Franz „salutationis vel admonitionis gratia faceret
scribi" '.
Es ist das Urteil ausgesprochen worden, dafs diese von
Wadding zum ersten Mal zusammengestellten siebzehn Briefe,
auch wenn sie vielleicht echt seien, dennoch kaum etwas
zur näheren Kenntnis des Heiligen beitrügen ^. Ein wenig
günstiger kann man das Urteil doch vielleicht fassen, so
dafs die Untersuchung der Echtheit nicht nur einen philo-
logischen Wert besitzt; die Briefe geben doch bis zu einem
gewissen Grade einen Einblick in das naive Sorgen und
Hoffen des Heiligen, in seine teilnehmende Fürsorge für
andere — aber freilich sind sie nichts mehr als beschei-
dene Beiträge, kleine Zusätze zu dem, was anderweitig be-
richtet ist.
Eine kritische Ausgabe dieser Briefe fehlt ebenso wie
eine Prüfung ihrer Echtheit Was für einzelne Briefe in
beiderlei Hinsicht geleistet worden ist, wird bei Besprechung
derselben angeführt werden — das meiste hat natürlich auch
auf diesem Gebiete iSabatier geboten. Über die vorhandenen
Ausgaben s. oben S. 8. Wadding fügt seiner Ausgabe
viele wertvolle Notizen über Handschriften und Drucke bei;
aber seine Arbeit ermangelt der strengen Kritik - die ihn
abgedruckt haben, sind (wie z. B. die kleine, am leichtesten
zu erlangende Ausgabe der Opuscoli von Fivizzano, Florenz
1880) in nichts über ihn hinausgekommen. Eine kritische
Ausjrabe der Briefe müi'ste an die Handschritten und an die
ältesten Drucke gehen — das lag aufserhalb des Bei-eichs
der nachfolgenden Untersuchungen. Es ist zu hoffen, dafs
bei dem lebhaften Fortgang der Forschungen über Franz
2) Es sei erwähnt, dafs im Speciiliim Peifcctionis c. 90 und c. 1Ü8
verlorene Briefe an die hl. Klara erwähnt werden — die voiliandencu
sind damit nicht gemeint. — Vf;l. Sabatier, Vio de S Fran^ois (1894),
S. 273, Anni. 20.
4) K. Müller, Anfänge, S. 3 Anni. 1.
2
1 8 GOETZ,
nach und nach alle Briefe so eingehend untersucht werden^
wie es bisher nur für drei derselben (vgl. unten a, h und 1)
geschehen ist.
a) Der Brief an Bruder Leo ^
Er ist beglaubigt durch den Autographen. Selbst ohne
dieses Zeugnis würde aber der Brief zu keinen Bedenken
Anlal's geben ^. Sein kurzer Inhalt, der Seelenkämpfe Leos
und Franzens väterlich besorgten Anteil verrät — ein Zeug-
nis für das enge Verhältnis der beiden — bietet zu wenig
Konkretes, als dafs er erfunden sein könnte. Die Beziehung
auf ein soeben unterwegs geführtes Gespräch, die blofse An-
deutung der Armutsfrage als Grund der inneren Kämpfe
Leos ohne irgendwelche bestimmte Beziehung auf etwaige
Meinungsverschiedenheiten im Orden, macht den vollen Ein-
druck der Echtheit. Der Stil des Briefes in seiner rasch ge-
schriebenen Unbeholfenheit klingt an den Stil des Testamentes
an — er ist noch stärker gesprochene Rede wie dieses und
zeigt ebenso die Vorliebe, die Sätze mit „Und" anzufangen.
Sabatier hat den Brief genauer zu datieren versucht ^ •
ich kann mich doch nicht entschliefsen, so bestimmte Ver-
mutungen aufzustellen und den Brief mit den Streitigkeiten
im Orden in Zusammenhang zu bringen. Es kann sich
sehr wohl nur um die allerpersönlichsten Konflikte Leos
handeln. Sabatiers Deutung ist möglich; aber mit Bestimmt-
heit läfst sich nur sagen , dafs der Brief ein Dokument für
1) Mit AusnaLme des von Faloci-Pulignani gegebenen (Mise. Fran-
cisc. VI, S. 39) ist keiner der gedruckten Texte genau nach dem Auto-
grapben : bei Wadding und seinen Nacbfolgern, bei Sabatier finden sich
kleine Abweichungen , wie sie der Text in andern Handschriften auf-
weist.
2) Dafs der Brief beginnt: „F. Leo f. Francisco tuo salutem et
pacem" hat mit Recht zunächst Zweifel hervorgerufen; aber diese
seltsame Ausdrucksweise spricht wohl gerade für die Echtheit — tuo
wäre sonst ganz sinnlos. Man wird bei diesem auffallenden Dativ an
die italienische Form Francesco denken müssen. — Franz schrieb kein
klassisches Latein und man mufs übersetzen: „0 Bruder Leo, dein
Bruder Franz wünscht dir Heil und Frieden."
3) Vie de S. Frangois (1894), S. 300 f.
QUELLEN ZÜK GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISI. 19
die herzlichen Beziehungen Leos zu Franz ist und dafs er
in die letzten Jahre des Heiligen gehören wird , denn nur
in dieser Zeit sehen wir Leo in seiner Nähe '.
b) Der Brief an Antonius von Padua.
Wadding (S. 1 5 ) hat aus älteren Schriftstellern zusammen-
gestellt, dafs Antonius nur mit Franzens Erlaubnis das ihm
von den Brüdern aufgetragene Lehramt in Bologna habe
übernehmen wollen ; mit diesem kurzen Briefe habe Franz
seine Zustimmung gegeben.
Gegen die Echtheit des Briefes in der vorliegenden Form
läfst sich einwenden, dafs nach Waddings Angaben die über-
liei'erten Lesarten stark auseinandergehen, und ferner dafs
Thomas von Celano in der zweiten Vita III, 99 ein Schreiben
Franzens an Antonius erwähnt, das mit den Worten be-
gonnen habe: „Fratri Antonio episcopo meo". Diese An-
rede hat der erhaltene Brief nicht — aber man kann frei-
Uch auch nicht beweisen, dafs Franz nur diesen einen Brief
an Antonius geschrieben habe.
Der Inhalt des Briefes erweckt nicht den Verdacht einer
Fälschung, sondern pafst zu den Anschauungen Franzens:
er giebt die Erlaubnis unter der Bedingung „ut neque in
te, neque in ceteris (quod vehementer cupio) extinguatur
sanctae orationis spiritus juxta regulam, quam prolitemur". —
Der Stil des Briefes ist — soweit sich aus dem einen Satze,
der den Inhalt ausmacht, urteilen läfst — glatter als der
des Testaments und des Briefes an Bruder Leo; aber den-
noch nicht so, dafs die Echtheit daraufhin zu bestreiten
wäre.
1) Sabatier, Speculura Perfectionis , S. LXV. Sichere Nacb-
richteu, seit wann Leo dem Orden angehörte, liegen nicht vor; die
späte Angabe der Chronica XXIV generalium (Anal. Francisc. III,
S. 8) ist weder bestimmt noch zuverlässig. In der Vita Leonis, die sich
in derselben Chronica rindet (a. a. 0. S. 65 ff.), stehen nur Nachrichten,
die sieb auf die letzten Jahre Franzens beziehen; über Leos frühere
Zugehörigkeit zum Orden war nichts bekannt. Dadurch verliert jene
erste Angabe an Wert, wie denu die Chronica überhaui)t keine zuver-
lässige Quelle ist.
o*
20 GOETZ,
Die Abt'assuugszeit des Briefes fällt zwischen 1222 imd
Ende 1225 — ein engerer Termin ist nicht zu bestimmen '.
Der Gewinn, den die Forschung aus diesem Briefe zieht,
ist nicht eben grofs ; dafs Franz die gelehrte Thätigkeit
innerhalb des Ordens nicht gerne sah, wissen wir genugsam,
und ebenso dafs er das Gebet höher stellte; immerhin ist
diese Aufserung in einem konkreten Falle nicht ohne Wert:
das „quod vehementer cupio" und der Hinweis auf die
Regel klingen wie eine Sorge, die Franz im Herzen trug.
Und da diese Sorge durch andere Zeugnisse bestätigt wird,
so stützt und verstärkt ein jedes das Gewicht des andern.
c) Die beiden Briefe an die hl. Klara und ihre
Schwestern.
Da beide Briefe, für die eine handschriftliche Überliefe-
rung nicht vorzuliegen scheint, der Regel der Klarissen von
1253 einverleibt sind ^, so ist an ihrer Echtheit kaum zu
zweifeln. Der zweite der beiden kurzen Briefe, beginnend
mit „Ego frater Franciscus parvulus"^, der das Bekennt-
nis zur Armut enthält und die Schwestern zum gleichen
ermahnt, ist inhaltlich und stilistisch den bisher als echt
erkannten Dokumenten enge verwandt — er enthält ge-
sprochene, nicht sehr flüssige Rede, von den drei Sätzen
beginnen zwei mit „Et" — während der andere stilistisch
einen etwas anderen Charakter hat. Er wird in der Regel
der Klarissen auch nicht als Brief bezeichnet, sondern es
heifst von Franz: „scripsit nobis formam vivendi in hunc mo-
1) Vgl. Lempp, Zeitschr- f. Kirchengesch. XII, S. 425 Anm. 2
und S. 438 ff. Lempp hält den Brief ebenfalls für echt und meint, dafs
Elias mit seiner Sympathie für das Theologiestudium den Heiligen zum
Schreiben dieses Briefes veranlafst habe. Darüber kann man jedoch
nichts Bestimmtes sagen.
2) Seraphicae legislationis Textus originales (Qiiaracchi 1897). S. 62
u. 63. — Thomas von Celano kannte in der zweiten Vita III, 132 den
einen dieser Briefe bereits, denn er benutzt ihn bei seiner Erzählung
mit stark wörtlicher Anlehnung.
3) Ein genauer Text bei Sabatier, Speculura Perfectionis, S. 182
Anm.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 21
dum . . .'' (folgt der mit „Quia divina inspiratione" beginnende
Brief). In der Überlieferung ist dann beiden Dokumenten
eine Überschrift und ein Schlafs („Valete in Domino^') hin-
zugefügt worden, deren Echtheit höchst zweifelhaft ist; aller
Wahrscheinlichkeit nach ist die Kegel der Klarissen doch
die älteste Quelle. Ob freilich die beiden Stücke vollständig
sind oder nur Bruchstücke, ist nicht bestimmt zu entschei-
den; die „forma vivendi" macht allerdings den Eindruck
des Bruchstücks ^
In dieser Regel tinden sich zugleich die Daten der beiden
Schriftstücke: die „forma vivendi" sei „ paulo post conver-
sionem" des Heiligen, als Klara und ihre Schwestern ihm
freiwillig Gehorsam gelobt hätten, geschrieben (also etwa
1211/1212)^, der andere Brief ,, paulo ante obitum" als
„ultima voluntas" (also 1226) geschrieben. Diesen zweiten
Brief mit den Konflikten innerhalb des Ordens in einen be-
stimmteren Zusammenhang zu bringen , wie Sabatier es
thut^, liegt kein zwingender Grund vor. Doch mufs fest-
gestellt werden, dafs die Älahnung zum Festhalten an der
Armut dringlich ausgesprochen wird — die Sorge um die
Bewahrung seines Ideals erkennt man aus diesen Zeilen und
so geben sie einen Einblick in sein Inneres in der letzten
Zeit vor dem Tode.
d) Der Brief an alle Christen^.
Zwei derartige Briefe sind überliefert, doch ist der kurze
erste der beiden, wie Wadding bereits bemerkt, in anderen
1) Von dem Briefe „Ego frater Franciscus'' sa<it Klara in der
Regel , dafs Franz ihn kurz vor seinem Tode als „ nltimam voluntateni
suam" geschrieben habe. Im Speciiliim Perfectionis c. 108 ist von
dem letzten Briefe Franzens an Klara und ihre Schwestern die Rede,
aber nach dieser Angabe habe der Brief Segen und Absolution enthalten.
Ob Klara diesen Schlufs etwa weggelassen hat? Er pafste allerdings
in die Regel nicht hinein.
2) Vgl. Lempp, Zeitschr. f. Kirchengesch. XIII, S. 182/183.
3) Vie de S. Fran^nis (1894), S. 272, wo der Brief auf Ende 1220
angesetzt wird. Üeni widerspiicht aber Klaras Angabe in der Kegel;
der Biief gehört ins Jahr 122G. Gegen Sabatier bereits Loofs, Christi.
Welt (1894), S. Ü64.
4) Über die handschiiftiiche Überlieferung, aus der sicli doch nichts
22 GOETZ,
Quellen lediglich als Teil des zweiten viel längeren behan-
delt. Das erscheint nach der Form desselben das richtigste,
denn er hat weder den Anfang eines Sendschreibens, noch
ist sein Inhalt derart, dafs man ihn für ein „Schreiben an
alle Christen'^ ansehen könnte: er fordert in drei Sätzen auf,
Gott zu lieben und anzubeten. Und das wesentlichste seines
Inhalts steht mit zum Teil gleichen Worten im dritten Ka-
pitel des anderen Briefes.
Dieser andere, längere Brief ist in den Drucken einge-
geteilt in 13 zumeist kleine Kapitel und eine peroratio. Wie
die kirchlichen Schriftsteller, so hat ihn auch Sabatier für
echt genommen \
Bei Franzens Gedankengängen, die ja das Heil der ganzen
Welt umfafsten und mit höchster Naivität ohne Rücksicht
auf die Schranken der Wirklichkeit sich zu äufsern strebten
(man bedenke seinen Bekehrungsversuch vor dem Sultan in
Ägypten!), wäre ein Appell an die ganze Christenheit nichts
Unmögliches; aber es ist dennoch nicht ganz leicht, ihn auf
Franz zurückzuführen. Der Stil dieses Schreibens ist ein
anderer als der des Testamentes und der für echt erkannten
Schreiben; er ist nichts weniger als unbeholfen, sondern
kann nur von jemand stammen, der in solcher Ausdrucks-
weise geübt ist. Es kommt hinzu, dafs dieses ganze Schreiben
eine gewandte Aneinanderreihung von Bibelcitaten ist, wie
sie dem Theologen und Prediger auf der Zunge liegen, wie
man sie aber bei dem einfachen, ungelehrten. Erlebtes wieder-
gebenden Sinne des Heiligen nicht ohne weiteres vermuten
möchte. Anderseits erinnert einzelnes, besonders in der An-
rede und in der Nachrede und dann in manchen Ausdrücken
und Gedanken (c. 7 : Stellung des Priesters als Verwalters
des Sakraments) wohl an Franz (Testament!).
Dieses Schreiben für echt zu erklären, ist ein folgen-
schwerer Schritt, denn vieles andere, was Franz zugeschrieben
wird, trägt einen ähnlichen, von der Einfachheit des Testa-
für die Echtheit folgern läfst, vgl. Sabatier, Specuhim Perfectionis,
S. CLXVff.
1) Sabatier, Vie de S. Frangois (1894), S. 373ff.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 23
mentes und der kleinen unzweifelhaft echten Briefe verschie-
denen Charakter '. — Der Kreis der möglicherweise echten
Schriften erweitert sich erheblich, während andernfalls nur
das Testament, die kleineren Briefe und die nicht anzufech-
tende Regel von 1221 als echte Dokumente übrig blieben.
Aber gerade diese Regel von 1221 mit ihrem gewandteren
Stil, mit ihren Bibelcitaten giebt die Warnung, sich nicht
allzu starr an blofse Stilkritik zu halten — denn diese ist,
wie sich auch bei allen später zu besprechenden Quellen
immer wieder zeigen wird, ein unsicherer Führer. Die An-
nahme ist nicht ausgeschlossen, dafs Franz in den rasch
hingeworfenen kleinen Briefen und im Testamente, das viel-
leicht auf dem Krankenbette entstand, mit weniger Kunst
stilisierte als da, wo er Zeit hatte, sorgfältiger zu kompo-
nieren. Auch das ist ja denkbar, dafs ihm bei diesen Kund-
gebungen an weitere Kreise schriftgelehrte Jünger zur Seite
standen und die einfacheren Sätze des Heiligen redigierten,
so wie nach der Angabe des Jordanus a Jano ^ der Bruder
Caesarius die von Franz in einfachen Worten verfafste
Regel „mit den Worten des Evangeliums ausschmückte".
Obwohl die Anschauungen des Schreibens derart sind,
dafs sie später sehr leicht zusammengestellt und mit dem
Scheine der Echtheit Franz zugeschoben werden konnten,
so glaube ich mich doch für die Echtheit entscheiden zu
dürfen, sowohl um des vorliegenden Schreibens selbst als
um der verwandten Gruppe von Schriftstücken willen, gegen
deren einfache Verwerfung denn doch zu viele Gründe
sprechen — ist doch das Vorhandensein von Briefen, die
admonitionis gratia von Franz geschrieben wurden, schon
durch die erste Vita des Thomas von Celano (1 , 29) be-
zeugt. Es kommt hinzu, dafs zwischen diesem Schreiben
und der Regel von 1221 in den Gedanken und in den Bibel-
citaten eine gewisse Berührung besteht — nicht so enge,
1) Und klingt im Ausdruck (wie z. B. das Schreiben an das Ge-
neralkapitel) an das vorliegende Schreiben an. Man niiifste denn gleich
an eine gemeinsanie Fälschung einer ganzen Gruppe von Schriftstückcu
denken. Vgl. unten S. '60 .\nin. 1.
2) Analecta Franciscana I, S. 5/6 (u. 15).
24 GOETZ,
dafs man den Brief mit Benutzung der Regel angefertigt
glauben könnte, sondern nur soweit, dafs man den Gedanken-
kreis, in dem Franz lebte, in beiden gleichmäfsig wieder-
erkennt ^
Ein anderes Schreiben, das erst neuerdings durch Sa-
batier bekannt gegeben ist ^, steht mit dem Schreiben „An
alle Christen*' in engster Beziehung. Es besteht aus zwei
Teilen: „De illis qui faciunt paenitentiam '' und „De Ulis
qui non agunt paenitentiam ". Die Überschrift des Ganzen
ist der Schlufssatz der Admonitiones (s. unten S. 44) ^ —
ein auftälhger Umstand! Ein Empfänger ist nicht genannt,
aber der Schlufs kennzeichnet das Schriftstück als Brief*.
Der Anfang berührt sich enge und zum Teil schon
wörtlich mit c. 5 des Briefes „An alle Christen ''; vom
zweiten Satze an bis zum Schlufs des ersten Teiles ist eine
von Satz zu Satz zunehmende und schliefshch ganz wört-
liche Übereinstimmung mit c. 10. Der zweite Teil giebt
zunächst so gut wie wörtlich das c. 12 wieder, dann aus-
zugsartig c. ly mit kleinen Veränderungen. Nur der Schlufs
ist selbständig ^.
Sabatier vertritt die Meinung, dafs trotz der starken
wörthchen i bereinstimmung mit dem Briefe „An alle Chri-
sten " das vorliegende Schreiben als eine selbständige Kund-
gebung zu beti-achten sei; er weist darauf hin, dals diese
beiden Teile durch ihre Zusammenstellung, durch den Gegen-
satz zwischen Gerechtem und Sünder ihre gewollte Selb-
ständigkeit neben dem Briefe „An alle Christen" behaup-
teten. Es fällt vielleicht ebenso stark ins Gewicht, dafs der
selbständige Schlufs des Schreibens die Eigenart Franzens
deutlich an sich trägt, in Stil und Inhalt. Undenkbar ist
1) Vgl. nuten S. 42 bei den Admonitiones.
2) Sabatier, Francisci Baitholi Tractatus, S. 132—134; vgl.
S. CLIV.
3) „Haec sunt verba vitae et salutis, quae siquis legerit et fecerit
inveniet vitam et bauriet salutem a Domino."
4) „ Omnes illos quibus litterae istae perveuerint . . .''
5) Wie am Anfang des Briefes „An alle Christen" wird auch hier
Ton den ,,odorifera verba Domini" gesprochen.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 25
es gewifs nicht, dafs Franz zweimal dieselben Gedanken mit
fast gleichen Worten ausgesprochen habe. Dafs der Brief
„An alle Christen" die zeitlich vorangehende Kundgebung
war, erscheint deshalb näher liegend, weil die Zusammen-
fassung und Abkürzung der dort getrennten Kapitel natürlicher
ist als die Zerlegung eines Ganzen und die Erweiterung der
Teile zu einzelnen Kapiteln. — Über die Entstehungszeit
wage ich nichts zu sagen ; Sabatier meint , dafs dieses
Schreiben ein gutes Stück vor den letzten Jahren des Hei-
ligen liegen müsse, da die volle Klarheit des Tages darüber
liege. Die Beziehungen zwischen dem Schreiben „An alle
Christen" und der Regel von 1221 geben aber vielleicht
das Jahr 1221 als frühesten Termin.
e) Der Brief an alle Kleriker.
Der Brief liegt handschrittlich vor in dem Manuskript 3.'58 zu
Assisi, im Cod. Maz. 1713, Cod. i\Iaz. 989. Von diesen Hand-
schritten weichen die älteren Drucke insofern ab, als sie am An-
fang und am Schlüsse noch je einen Satz bringen '. Sein Inhalt
beschäftigt sich mit der würdigen Aufbewahrung der Ho-
stien und der nomina et scripta Domini und zwar in enger
Anlehnung an die verwandte Stelle des Testamentes ^. Man
könnte in Anbetracht des Gebrauchs zum Teil der gleichen
Worte wie im Testament auf den Gedanken kommen, dafs
der Brief daraus hergestellt worden sei, denn die andern,
den gleichen Gegenstand behandelnden Aufserungen Fran-
zens berühren sich nicht so wortgetreu mit dem Testament.
Aber da der Brief zu einer Gruppe von Briefen geluirt,
gegen deren Echtheit ich keine Bedenken habe (s. S. 28), so
ist der genannte Grund nicht stark genug zur Verwerfung.
Wichtig ist an dem Briefe nicht der Inhalt, der durch
das Testament bereits geboten ist, sondern der Appell an
alle Geistlichen der Kirche — es liegt etwas rührend ein-
1) V(;l. WaiUliiig, Opuscula, S. 45; Sabatior, Vio de S. Fian-
Qois, S. MG Aniii. 2 uiul Spociiluin l'cifcctionis, S. CLXVI; Faloci-
Pulignani, Mise. Franc. VI, S. 95 n'wht den Brief nacli Cod. Assis.
338, abgesehen von der genannten Abweichung fast ebenso wie Wadding.
2) Sabatier, Speculum Perfectionis, S. 310.
26 GOETZ,
faltiges in dieser Sorge um den Leib des Herrn , um gött-
liche Namen und Schriften, und nur die Kenntnis des ganzen
Mannes lehrt den grofsen Inhalt dieser naiven Gedanken
verstehen.
Über den Zeitpunkt dieses Briefes wird unten gesprochen
werden (S. 28).
f) Der Brief an die Obrigkeiten der Völker (Ad
populorum Rectores).
Dieser im vorangehenden Schreiben erwähnte Brief lag
Wadding in einem spanischen handschriftlichen und einem
lateinischen, in Spanien gedruckten Exemplare vor. Eine
andere Handschrift ist nicht bekannt.
Franz mahnt die Obrigkeiten , Gott und seine Befehle
nicht zu vergessen, das Abendmahl gerne zu empfangen und
jeden Abend überall das Lob Gottes verkünden zu lassen. —
Der Stil dieses Briefes zeigt wieder die charakteristische Vor-
liebe, die Sätze mit „Et" zu beginnen; die Ausdrucksweise
ist einfach, wenn auch mit mehr biblischen Reminiszenzen
durchsetzt als die früheren Briefe. Die Aufforderung an die
Obrigkeiten berührt sich mit dem, was Franz einstmals dem
Kaiser nahe legen wollte : ein Gesetz zum Schutze der Ler-
chen und zur besonderen Fürsorge für Vögel, Ochsen und
Esel in der Christnacht K
Die Naivität dieser Aufforderung sowie die Zugehörig-
keit zu dem unter g) behandelten Briefe sprechen für die
Echtheit dieses Schreibens. Über seinen Wert gilt das
gleiche, was oben unter e) gesagt wurde. Über den Zeit-
punkt dieses Briefes unten S. 28.
g) Der Brief an alle Kustoden der Minderb rüder.
Alle Kustoden werden ersucht, den an die Kleriker ge-
richteten Brief (s. oben S. 25) an alle Bischöfe und Kle-
riker zu geben und ebenso den für alle Obrigkeiten be-
stimmten Brief (s. oben) nach Möglichkeit zu vervielfältigen
und an die geeigneten Stellen gelangen zu lassen.
1) 2. Celano III, 128.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL FRANZ VON ASSISL 27
Dieser Brief liegt nur iu einer von Wadding angefertigten
lateinischen Übersetzung vor. Wadding hatte, wie er angiebt,
eine spanische Vorlage ; handschriltlich scheint der Brief nicht
mehr vorhanden zu sein.
Einen stark abweichenden und nui' in seinem Anfang
gleichen Text eines Briefes an alle Kustoden hat Sabatier
aus dem Volterraner Cod. Guarnacci 225 gegeben '. Ein-
zelne Satzteile stimmen wörtlich mit dem von Wadding ge-
gebenen Brief an alle Kleriker überein, wie denn überhaupt
dieser Text des Briefes an die Kustoden nicht ein Begleit-
schreiben für andere Briefe ist, sondern inhaltlich in seiner
ersten Hälfte das Gleiche giebt wie der Brief an alle Kle-
riker. Die zweite Hälfte trägt den Kustoden auf, das Volk
zur Verehrung des Altarsakraments zu ermahnen, ferner zur
Danksagung an Gott, sobald die Glocken ertönen — das
ist inhaltlich im wesentlichen dasselbe, was der Brief an alle
Obrigkeiten enthält; einzelne Satzteile stimmen sogar wört-
lich überein.
Es giebt nun zwei MögHchkeiten : entweder wurden aus
diesem einen Briefe des Cod. Guarnacci drei gemacht oder
aus den drei Briefen (an alle Kleriker, an alle Obrigkeiten,
an alle Kustoden) einer. Die zweite Möglichkeit ist sehr
viel wahrscheinlicher als die erste — auf eine solche Ver-
schmelzung konnte ein Kompilator wohl eher verfallen als
auf eine bei diesen Adressaten doch recht auffällige Zer-
teilung. Ich glaube deshalb, dafs Sabatiers Vorschlag, diesen
von ihm entdeckten Brief des Cod. Guarnacci (neben dem
Waddingschen Briefe an alle Kustoden !) für echt anzusehen,
nicht annehmbar ist. Dagegen kann man sich wohl für die
Echtheit des von Wadding überlieferten Briefes entscheiden.
Denn dafs er erfunden sei, läfst sich bei seinem Inhalt nicht
vermuten; was hätte es für einen Zweck gehabt, dieses an
sich völlig bedeutungslose Begleitschreiben ohne selbständigen
Inhalt zu erlinden V
Die drei unter e), t) und g) besprochenen Briefe sind,
1) Sabatier, Francisci Baitholi Tractatus de Iiuliilgentia, S. CLIV,
Der To.\t des Briefes S. 135.
28 GOETZ,
wie der Brief an die Kustoden zeigt, zu gleicher Zeit ge-
schrieben worden. Als allgemeiner Zeitpunkt ergeben sich
die Jahre, in denen auch die übrigen für weitere Kreise be-
rechneten Kundgebungen entstanden sind, denn sie entspringen,
wie ihr Inhalt glauben macht, alle dem gleichen Wunsche Fran-
zens, die Gedanken seines Lebens noch einmal in dringender
Mahnung auszusprechen, ehe seine Laufbahn zu Ende geht.
Vielleicht läfot sich noch ein engerer Termin — wenn
auch nur vermutungsweise — aufstellen. Im Speculum Per-
fectionis c. 65, dessen Zurückgehen auf die älteste Überlieferung
an diesem Punkte einstweilen vorausgesetzt werden mufs, wird
erzählt, dafs Franz in die Ordensregel eine Bestimmung
aufnehmen wollte, „quod ubicunque fratres invenirent nomina
Domini et verba illa, per quae conficitur corpus Domini,
non bene et honeste reposita ipsi ea recolligerent et honesta
reponerent honorantes Dominum in sermonibus suis. Et
licet non scriberentur haec in regula quia ministris non vide-
batur bonum ut fratres haec haberent in mandatum , tarnen
in testamento suo et in aliis scriptis suis voluit relinquere
fratribus voluntatem suam de hiis" '. Diese Stelle ist nicht
nur ein indirekter Beweis für die Echtheit der vorliegenden
unter ei und h) besprochenen Schreiben, in denen die Für-
sorge für die verba et nomina domini eingeschärft wird, son-
dern sie läfst auch vermuten, dafs sie nach der endgültigen
Abfassung der Regel, also frühestens 1223, entstanden sind.
Vielleicht ist gerade 1223 der richtigste Zeitpunkt: nachdem
die Aufnahme der gewünschten Bestimmung in die Regel
gescheitert war, gab Franz auf andere Weise zu erkennen,
was ihm am Herzen lag, und so entstanden die obigen drei
Schreiben.
h) Der Brief an das Generalkapitel.
Wadding (Nr. 10 und 11) und seine Nachfolger geben
zwei derartige Briefe, einen kürzeren und einen längeren.
Der kürzere hat in seiner ersten Hälfte drei in einem Brief
Ad sacerdotes totius ordinis - enthaltene Sätze, im zweiten
1) Öabatier, Speculum Perfectionis, S. 119.
2) Bei W ad ding n. 12.
QUELLEN ZUK GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 29
Teil zwei Sätze, die in dem längeren Briefe (Nr. llj stehen.
Wadding hat die schon vor ihm ausgesprochene Vermutung,
dafs dieser kurze Brief nicht als selbständig anzusehen sei,
abgelehnt; Sabatier hat, gestützt auf die Handschriften (Nr. 338
zu Assisi, Cod. Ognissanti, Cod. Guarnacci und Cod. j\Ia-
zarinus 1743) und auf Ubertino von Casale, zudem auf
ältere Drucke, gezeigt, dafs es sich nur um einen Brief
handelt, zu dem auch der Brief Ad sacerdotes totius ordinis
— und zwar als Anfang — hinzugehört ^
Es folgt im Cod. Assis, 338 und bei Ubertino dem Briefe,
d. h den beiden, die Wadding als Nr. 11 und 12 giebt,
noch das Gebet, das mit den Worten beginnt: „Omnipotens,
aeterne, juste et raisericors Deus" ^.
Ob diese sämtlichen Stücke zusammengehören, scheint
auch auf Grund der handschriftlichen Überlieferung nicht
sicher entscheidbar zu sein ^ — jedenfalls hat man sie schon
frühzeitig (Ubertino) zusammengestellt, und dafs der kürzere
(der von Wadding als Nr. 10 gegebene) keinen selbstän-
digen Wert besitzt, ist wohl uu zweifelhaft.
Einen Unterschied zeigen die beiden Stücke: der unter
dem Namen Ad capitulum generale gehende Teil enthält nur
ein Bibelcitat und einen Anklang an eine Bibelstelle; der
andere Teil (Ad sacerdotes totius ordinis) ist überreich an
Citaten und Anklängen. Dennoch machen beide Stücke den
Eindruck der Echtheit: die Ausdrücke, mit denen Franz
von sich selber spricht (ignorans, idiota, homo vilis, indigna
2) Sabatier, Spoculuin Peifectionis , S. CLXV, und Francisci
Bartholi Tractatiis, S. CXXXV, CLIV.
3) Bei Wadding S. 101.
4) Sabatier a. a. 0. nimmt es an; Faloci-Pulignani, der
Mise. Franc. VI, S. 94 f. den Brief „Ad sacerdotes totius ordinis",
d. h. ans Generalkapitel, nach Cod. Assis. 338 abdruckt, hält mit dem
Urteil darüber zurück. — Der Schlufs des Briefes „Ad sacerdotes" und
der dann nach Sabatiers Angabe folgende Anfang des Briefes „Ad capi-
tulum generale" passen nicht sehr einleuchtend zusammen. Der Brief
„Ad sacerdotes" hat einen völlig geschlossenen Inhalt: er handelt nur
von der Eucharistie. Möchte man ihn deshalb für selbständig ansehen,
so stellt sich noch entgegen, dafs er keinen rechten Schlufs hat. Einen
solchen giebt der Brief „An das Generalkaiiitel" in würdigster Form.
30 GOETZ,
creatura), die demütige Beichte, die er vor dem ganzen Orden
ablegt, die Wiederkehr der in dem Schreiben an alle Kleriker
und im Testamente geäufserten Wünsche (betr. divina verba
scripta, strenge Einhaltung der Regel, Verehrung für den
Leib und das Blut des Herrn, hohe Stellung der Priester
infolge der Verwaltung des Sakraments), die eindringliche,
mit immer neuen Imperativen und bittenden Ermahnungen
belebte Sprache zeugen dafür, dafs Franz sie geschrieben
oder doch veranlafst hat. Es fällt allerdings auf, dafs in
beiden Stücken die Sprache nicht den einfachen Charakter
hat, der als erstes Kennzeichen der Echtheit angesehen
werden konnte ' — aber man darf bei den so stark für die
Echtheit sprechenden Gründen vielleicht auf zwei Auswege
verfallen: entweder schrieb Franz bei dieser Kundgebung
für das Generalkapitel — also für den ganzen Orden —
mit strengerer Wägung des Ausdrucks '*, oder das Schreiben
ist von seiner Umgebung redigiert worden — dafs er krank
war , als er es schrieb , sagt die Überschrift im Cod.
Assis. 338.
Wann ist dieses Schreiben entstanden? Dafs es nach
dem Herbste 1220 fällt, wird durch die Erwähnung des
Generalministers in der Anrede bewiesen. Dafs es für ein
Generalkapitel bestimmt gewesen sei, ist die alte Überliefe-
rung (z. B laut Überschrift im Cod. Assis. 338) und wird
durch den Inhalt des Schreibens unterstützt. Leider wird
der Generaiminister selber nur durch den Buchstaben A be-
zeichnet — dafs es sich um Elias handle und dafs der später
so verhafste Name nicht genannt werden sollte, ist eine an-
1) Einzelne Ausdiücke des Testamentes wie das bekräftigende ,,fir-
miter" kehren wieder; die Wendung ,.ciim osciilo pedum" findet sich
auch am SehUifs der Regel von 1221. Im Teil „Ad cap. gen." beginnen
die Sätze zum Teil mit dem beliebten „Et". Der Teil „Ad sacer-
dotes" erscheint den ersten Dokumenten im Stil fast weniger verwandt
als der andere; aber die Beurteilung des Stils ist etwas zu subjektives,
als dafs ich in einem so wenig ausgeprägten Falle einen bestimmten
Schlufs daraus ziehen möchte. Vgl. oben S. 22.
2) Wogegen allerdings der Stil des Testamentes, das doch auch für
den ganzen Orden bestimmt war, spricht.
QUELLEN Zri{ GESCHICHTE DES HL. FKANZ V0.\ ASSISL 31
sprecliende Vermutung ^ Dadurch würde Pfingsten 1221 der
früheste Termin. Aber da es sich um ein Kapitel iiandelt,
dem Franz wegen Krankheit t'ernbheb, so kann es sich nur
um das Kapitel von 1224 (das letzte vor seinem Tode) han-
deln -. Nur in die letzten Jahre, wo dauernde Krankheit
ihn niederhielt und er sein Ende nahe tühlte, wo ihn die
Sorge um die Zukunft des Ordens quälte, kann dieses Schrei-
ben, an dessen Anfang die infirmitates erwähnt werden, (und
ebenso das inhaltlich verwandte Testament) fallen.
Für diese Sorgen, für die unermüdliche Arbeit seines
Inneren ist dies Schreiben ein neues Zeugnis ; es enthält im
einzelnen auch einige neue, so/ist nicht bekannte Gedanken
(z. B. die Mahnung, dafs nur eine Messe täglich gelesen
werden solle, wo Brüder zusammen seien •*), und es fügt mit
der Generalbeichte vor dem ganzen Orden einen neuen Zug
zu der Persönlichkeit des Heiligen hinzu.
i) An die Pro vinzial minister des Ordens.
Wadding fand diesen Brief lediglich in einem spanischen
Franziskanerbuche (Rebolledo) in einer spanischen Über-
setzung. Irgendein anderer Text ist, so viel ich finde, bis
heute nicht zum Vorsciiein gekommen; Sabatier hat bei
1) Faloci-Piilignani, Mise. Franc. VI, S. 94. Vgl, Sabatier,
Speciilum Perfectionis, S. CLXXI. — Fieilich aus dem A zu schliefsen,
dafs es den Anfangsbuchstaben des zur Zeit der Manuskriptabfassung
regierenden Geueralniiuisters bedeute und danach den Zeiti)unkt dieser
Abfassung auf etwa 1240 anzusetzen, ist eine etwas gar zu kühne Hypo-
these (Sabatier, Vie de S. Frangois, S. 370 Anni.).
2) Faloci-Pulignani setzt (a. a. 0. S. 93) 1221 au mit Be-
rufung auf Jordanus a Jano c. 17 (Anal. P'ranc. I, S. 6). Aber Jor-
danus erzählt, dafs Franz auf dem Kapitel zugegen war, den Brüdern
predigte und nur einmal debilis wurde und deshalb Bruder Elias, zu
dessen Füfsen er sich setzte, für sich reden liefs. Unter diesen Um-
stünden kann 1221 nicht in Betracht kommen.
3) Daraus eine Waffe gegen die Privatmessen zu schmieden, wie
es Melanchthou gethan, erscheint nicht angiingig. Die Erklärung, die
schon Wadding giebt, dafs mit dieser Bestimmung lediglich die Demut
der Minderbrüder gegenüber dem Sakrament zum Ausdruck kommen
sollte, hat mehr für sich als die Annahme einer Polemik gegen die
Kirche. Denn eine solche lag für Franz zu fern.
32 GOETZ,
seinen vielen Forschungen in Handschriften keine Spur da-
von entdeckt. Dieser Mangel jeglicher handschrifthchen
Unterlage hat bereits Wadding zu Zweifeln veranlafst. Er
hat auf die Verwandtschaft mit der 27. Collatio monastica
(,,De conditionibus ministrorum provincialium ") hingewiesen,
die im Inhalt (jedoch gar nicht im Ausdruck) ähnliches
bringt. Diese Collatio ist aber nichts anderes als eine Ver-
wandlung vom 2. Celano III, 117 in direkte Rede (siehe
unten Ö. 48) — auf die etwaige Ableitung des Briefes aus
dieser Stelle des Celano oder umgekehrt käme es also an.
Die Berührungspunkte sind aber doch zu gering, als dafs
man sich für das eine oder das andere entscheiden könnte.
Die Frage bleibt offen.
Ich vermag auch aus dem Stil des Schreibens nichts für
seine Echtheit zu folgern, denn erst Wadding hat ja den
spanischen Text ins Lateinische übersetzt. Es fällt aber auf,
dafs zwei sonst nicht eben häufige Worte („acceptatores
personarum" und „verba eruere") und ferner die Warnung,
nicht zu rasch die Hand ans Schwert zu legen, gebraucht
sind, die vielleicht auf Franz zurückgehen, da jene beiden
im Speculura Perfectionis c. 80 und dieser in c. 49 (in ganz
ähnlicher Fassung) vorkommen ^ Fand Wadding etwa in
einer spanischen Vorlage jene Worte , deren lateinische
Form lediglich hispanisiert war und die er nun wieder la-
tinisierte V
Wie es nun auch mit der Echtheit des Briefes steht —
er bringt, da wir jenes Kapitel bei Thomas von Celano
haben, nichts Neues, und er kann deshalb beiseite gelassen
werden.
k) An Jakoba de Septemsoliis.
Diese Aufforderung des Sterbenden au seine Freundin
Jakoba, rasch zu kommen, wenn sie ihn noch lebend an-
treffen wolle, und Tuch für seinen Leichnam, Wachs für
sein Begräbnis und ferner einen bestimmten römischen Lecker-
bissen mitzubringen, trägt die Kennzeichen der Erfindung
1) Der Ausdruck ,,acceptatio personarum " ist auch durch 2. Ce-
lano III. 122 als von Franz gebraucht bezeugt.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 33
deutlich an sich ^ Franz stellt darin den Termin seines
Todes so bestimmt fest, dafs man daraus die spätere Le-
gende, die ihm diese richtige Prophezeiung natürlich zum
Ruhme anrechnete ^, erkennen mufs.
Der Brief sciieint entstanden aus der Erzählung, die über
den Besuch der Jakoba an Franzens Sterbebette vorhanden
war. Denn in dieser Erzählung (Speculum Perfectionis c. 112)
ist der Bi'ief, den Franz habe schreiben lassen, in indirekter
Rede gegeben ; er enthält jene Wünsche , aber die Prophe-
zeiung seines Todes für einen bestimmten Tag fehlt. Wie
aus den Erzählungen des Thomas von Celano (und des Spe-
culum Perfectionis) später die Collationes und anderes an-
gefertigt worden sind (siehe unten S. 48), so ist wohl auch
dieser Brief dem Bedürfnis, so viel wie möglich direkte
Zeugnisse des Heiligen bekannt zu geben, entstanden. Der
Zusammenhang und die Abhängigkeit der Berichte über den
Besuch der Jakoba am Sterbebette Franzens wird später noch
behandelt werden. Diese späteren Ausführungen werden eben-
falls beweisen, dafs der vorliegende Brief nicht echt sein kann.
1) Die Briefe an Elias und an den Generalminister.
Wadding hat zwei Briefe an Bruder Elias „totius ordinis
vicarium" und einen „Ad generalem ministrum fratrum
minoren" (ohne Namen, statt dessen ein N.) gegeben^.
Keuerdings hat nun P. Ed. d'Alen9on den Brief an den
Generalminister nach dem Cod. Vat. 7G50 (mit Heran-
ziehung eines Manuskripts aus Spello-Foligno) in einer neuen
Form veröffentlicht *, und Sabatier brachte dieselbe neue
Lesart wie Alenyon nach dem Cod. Ognissanti ^.
1) Der Brief ist ohne Hchlufs; WacUliufr sclilofs daraus, dafs Franz,
als er soweit gekommen war, die Ankunft der Jakoba vorausahnte und
deshalb aufhörte!!
2) So Pisanus, L. III, Confonn. 4, \). 2.
3) Opuscula, S. 19 ff. (n. VI. VII. VIII).
4) P. Eduard US Alinconius, Ejiistola S. Francisci ad mi-
nistrum generalem in sua forma authentica, cum apiicndice do fr. Pctro
Catanii, Iloniae 1899.
5) Sabatier, Francisci Bartludi Tractatus, S. 113 ff. Sabatier
erwähnt S. 121 Anm. 1 noch drei andere Handschriften des Briefes.
3
34 GOETZ,
Die drei Waddingschen Briefe, die lauter Ermahnungen
zur Liebe und Geduld gegenüber den Brüdern enthalten,
fallen dadurch auf, dafs der dritte (Nr. VIII) — der umfang-
reichste — den gröfsten Teil des ersten (VI) und einen Satz
des zweiten (VII) inhaltlich genau so und in ganz ähnlichen
Wortlaut wiedergiebt. Es ist nicht recht denkbar, dafs Franz
dieselben Dinge und Ausdrücke bei verschiedenen Gelegen-
heiten verschiedenen Personen aus offenbar gleichen Gründen
geschrieben habe; die nächstliegende Folgerung wäre des-
halb, dafs alle drei Briefe an dieselbe Persönlichkeit — also
an den zweimal ausdrücklich genannten Elias — gerichtet
sein müfsten — dann wären diese Wiederholungen vielleicht
erklärlich. Aber nach den nun schon mehrfach gemachten
Beobachtungen liegt es nahe, auch in diesen drei Briefen
zusammengehörige, aber durch die Hände der Überlieferung
verstreute Glieder zu sehen. Sind doch Waddings Quellen
so unsicherer Natur, dafs er selber die Zweifel nicht ganz
unterdrücken konnte: den einen (VI) fand er nur in einem
späten Druck, den andern (VII) wieder nur in einer spa-
nischen Übersetzung, die er erst ins Lateinische übertrug,
den dritten (VIII) in den Conformitates des Bartholomeus
von Pisa — Handschriften fand er für keinen.
Auf Handschriften stützen sich nun Alen9on und Sa-
batier. Der von ihnen nach der dreifach vorliegenden hand-
schriltlichen Überlieferung gegebene Brief hat den Text von
Wadding Nr. VIII mit einem kleinen Zusatz am Anfang ^
und neben einigen weniger wichtigen Varianten mit drei
sehr bedeutungsvollen Zusätzen in der zweiten Hälfte, die
auf das bevorstehende Pfingstkapitel hinweisen, wo über die
Behandlung der in Todsünde gefallenen Brüder verhandelt
werden solle; der ganze Brief erhält dadurch ein neues
Aussehen, einen andern Zweck.
Hält man den von Wadding nach unsicherer Überliefe-
rung gegebenen Brief mit diesem auf Handschriften sich
1) Der sich auch in der italienischen Übersetzung des Briefes in
c. 72 der rekonstruierten Leg. tr. Soc. findet, die sonst ganz mit Wad-
dings Text übereinstimmt.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 35
stützenden vollständigeren zusammen, so raufs der zweite
den Vorzug verdienen: die auf das bevorstehende Pfingst-
kapitel hinweisenden Stellen konnten später eher weggelassen
als erfunden und hinzugefügt werden ^ So erscheint der
Waddingsche Brief nur als eine Verstümmelung, die weiter-
hin nicht mehr als Gegenstand der Untersuchung gelten darf ^.
Staramt aber jener vollständigere Brief von Franz? Ich
glaube, dafs man sich mit Alengon und Sabatier dafür ent-
scheiden kann. Der Stil erinnert dui'chaus an die zuerst
besprochenen kunstlosen Briefchen, die Franz an Leo und
an die hl. Klara schrieb: ein gesprochenes Latein, in dem
beinahe jeder Satz mit Et anfangt und in dem das beliebte
„firmiter" des Testaments nicht fehlt. Ebenso passen die
Anschauungen des Briefes ganz zu Franz: die Mahnungen
zum Mitleid und zur Liebe gegenüber den irrenden Brüdern
entsprechen seiner Natur und sind in derselben Weise durch
zuverlässige Überlieferung bezeugt *.
Noch wichtiger ist, dafs sich für den Brief eine ganz be-
stimmte Entstehungszeit ansetzen läfst. Franz giebt Rat-
schläge, die der Empfänger des Briefes bis zum nächsten
Pfingstkapitel aufheben soll und die dort bei dem Abschnitt
der Regel über die Todsünden berücksichtigt werden sollen.
Damit ergeben sich sogleich zwei Grenztermine: der Brief
kann nicht vor Herbst 1220 (denn eher wurde über eine neue
1) Vgl. für alles Folgende die eingehende Untersuchung Sabatiers
über diesen Biief in Francisci Bartholi Tractatiis, S. 113 — 131. Dafs
ich mit ihren Ergebnissen nicht völlig übereinstimme, zeigen die folgen-
den Ausführungen.
2) Dafs der Waddingsche Text nicht genau ist, zeigt im zweiten
Satze das einmalige ,, sive", dem das zweite ergänzende „sive" fehlt;
in der neuen Lesart heifst es richtig: „sive fratres, sive alii".
3) 2. Celano III, 111. Von einer direkten Beziehung des Briefes
zu dieser Stelle (Anfertigung danach!) kann nicht die Rede sein. Vgl.
ferner die Regel von 1221 und Speculum Perfectionis c. 80. Im Gegen-
satz zu diesen milden Anschauungen steht allerdings die im Testamente
gegen ungehorsame Brüder geforderte Strenge; mir scheint nach den
angeführten Zeugnissen kein anderer Ausweg übrig, als dafs Franz sich
zur Zeit der Testamentsabfassung in einer quälenden Sorge um sein
Werk befand, die ihn im Augenblicke die sonst geübte Milde vergessen liofs.
3*
36 GOETZ,
Regel nicht verhandelt) und nicht nach Pfingsten 1223 ent-
standen sein (denn im November 1223 wiu'de die Regel von
Honorius III. bestätigt). Nun enthält aber die sogen. Regel
von 1221, was Franz hier vorschlägt , nicht ; dagegen hat
die endgiltige Regel von 1223 einzelnes davon mit ähnlichen
Worten. Die Grenzen werden dadurch noch enger: der
Brief entstand erst nach dem Zeitpunkt, an dem der Ent-
wurf einer neuen Regel (sogen. Regel von 1221) abgefafst
wurde, und vor der Regel von 1223, für die seine Wünsche
in gewisser Weise berücksichtigt wurden. Mit voller Sicher-
heit ist der Abfassungstermin der Regel von 1221 nicht zu
bestimmen; jedenfalls aber entstand sie erst nach März 1221,
nach dem Tode des Generalministers Petrus Cataneus '. So
bleibt die Zeit von etwa Herbst 1221 bis Winter 1222/23,
spätestens Frühjahr 1223 für die Abfassung des Briefes
als wahrscheinlichste 2, und Ehas mufs der Empfänger ge-
wesen sein.
Entscheidet man sich für die Echtheit dieses Briefes, so
ergiebt sich allerdings eine schwerwiegende Folge nach einer
andern Richtung hin. Der Brief bildet in der Form, wie
1) Näheres darüber in dem Abschnitt über die Regeln.
2) Petrus Cataneus als Empfänger des Briefes anzusehen, wie
Alenfon (s. oben S. 33 Anm. 4) event. thun möchte, erscheint auch aus
andern Gründen nicht angängig. Der Titel Generalminister, der in der
Überschrift und in einer Handschrift auch am Anfang des Bi'iefes (in
den andern nur „ ministro ") steht , ist nicht beweiskräftig ; entweder
ist das ein Zusatz späterer Abschriften (weil man Elias nur als Ge-
neralminister kannte) oder ein gar nicht unrichtiger Titel für denjenigen,
der die Geschäfte des verstorbenen Generalministers oder Generalvikars
Petrus Cataneus übernommen hatte. Der Brief setzt, wie mir scheint,
voraus, dafs Franz die Thätigkeit des Adressaten eine gute Weile bereits
beobachtet hatte; da aber Petrus nur wenige Monate, vom 29. Sep-
tember 1220 bis zu seinem Tode am 12. März 1221, das Amt verwal-
tete, so wären die Mahnungen mit einer bei Franz auffälligen Raschheit
erfolgt. Da ferner, wie oben weiter ausgeführt wird, ein anderer an
Elias gerichteter, mahnender Brief vorhanden ist, so mufs wohl auch
der zweite ihm gegolten haben. — Vgl. Lempp, Elie de Cortone,
S. 159 ff., wo der Brief ebenfalls als echt angesehen und vor Pfingsten
1223 angesetzt wird, und zwar mit Bevorzugung des Sabatierschen Textes
vor demjenigen Waddings.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 37
Wadding ihn giebt, lediglich erweitert um einen kleinen Zu-
satz am Anfang, das c. 72 der von Marcellino da Civezza
und Teofilo Domeniehelli rekonstruierten Legenda trium So-
ciorum. Ist nun dieser Text des Briefes eine Verstümme-
lung, so kann dieses Kapitel nicht von denjenigen, die den
wahren Text kennen mufsten, in die Leg. trium Sociorum
gesetzt sein. Es wird später ausführlich auf diesen Punkt
zurückzukommen sein. Sabatier (a. a. O. S. 129) hat in-
sonderheit eine Lesart seines neuen Textes („Et in hoc dilige
eos et non velis quod sint meliores christiani^') gegenüber
der Waddingschen Lesart („ . . . ut velis . . .") als besser
hervorgehoben. Waddings Quelle, Bartolomeo de Pisa oder
schon dessen Vorgänger, haben sich die mit Et non velis
unverständliche Stelle durch ein Ut verständlich gemacht.
Aber auch das wäre ein Argument gegen die Legenda trium
Sociorum c. 72, denn da heifst es: „et in questo ama loro
che vogli sieno migliori christiani^', was auf denselben latei-
nischen Text zurückgeht, den Wadding vor sich hatte. —
Übrigens deutet Sabatier diese etwas schwierige Stelle des
Briefes dadurch, dafs er christiani mit leprosi gleichsetzt —
so habe Franz das Wort gebraucht. Ich raufs demgegen-
über auf die Regel von 1221 c, 16 hinweisen, wo christiani
nur mit Christen übersetzt werden kann. Die Überschrift
des Briefes An alle Christen, in der es ebenfalls so gebraucht
ist, sei als vielleicht nicht auf Franz selber zurückgehend
beiseite gelassen. Dafs Franz die Leprosen christiani ge-
nannt hat (Speculura Perfectionis c. 58), schliefst noch nicht
ein, dafs er jedesmal mit dem Worte christiani die Leprosen
meinte. Es scheint mir aber doch sehr zweifelhaft, die Stelle
auf die Leprosen zu deuten — es liegt sonst kein Anhalts-
punkt dafür in dem Briefe vor, und nach den vorangehen-
den Sätzen kann man das eos nur auf die vorher genannten
fratres deuten. Die Lesart ut velis wäre jedenfalls verständ-
licher; will man aber die Lesart der Ilandschrilten vor-
ziehen, so bleibt dieselbe Möglichkeit einer Lösung, wie sie
Sabatier gegeben hat: „Du darfst nicht immer wollen, dafs
diese Christen besser seien, als sie sind." Es lallt damit der
Versuch; auch das Prinzip der Leprosenptlege zu einem
38 GOETZ,
Gegenstande des Konfliktes zwischen Franz und Elias zu
machen (Sabatier a. a. O. S. 129).
Sabatier hat angenommen, dafs dieser Brief zu den
Quellen gehöre, die uns einen Einblick in die Konflikte der
letzten Jahre gewähren; den ganzen Gegensatz des Elias zu
Franz sucht er darin zu erkennen: Elias wird hier wie
anderwärts bei Sabatier zum „ Anti - Franz " ^ Ohne dafs
ich die Verschiedenheiten der beiden Männer leugnen möchte,
will mir doch scheinen, dafs man den Gegensatz nicht über-
treiben und dafs man aus dem vorliegenden Briefe nicht
mehr machen darf, als er enthält. Sein Anfang '^ läfst er-
kennen, dafs sich Elias über den Zustand seines Inneren bei
Franz (brieflich oder mündlich) ausgesprochen hatte: über
die Unmöglichkeit, Vergehen der Brüder mit Geduld zu er-
tragen. Dafs er es dennoch thun müsse, ist der Inhalt der
Mahnungen Franzens. Man mag daraus folgern, dafs Elias
eine herrische Natur war; aber aus diesem Briefe darf,
ohne Anwendung von Zwang, noch nicht gefolgert werden,
dafs ein sachlicher Gegensatz zwischen den beiden Männern
bestanden oder dafs Franz in schwerem persönlichen Kummer
geschrieben habe. Einen solchen Eindruck empfinde ich beim
Studium dieses Briefes nicht ; er giebt warme väterliche Er-
mahnungen und Ratschläge, wie ein für allemal eine Norm
zur Behandlung irrender Brüder aufgestellt und der subjek-
tive Unwille eines Oberen ausgeschaltet werden könne. Es
soll an Elias unzweifelhaft eine Mahnung erteilt werden;
aber der Brief zeigt die scharfe Spitze nicht, die Sabatier
darin erkennen möchte; ich finde sie auch in dem späteren
Verhalten Franzens zu Elias nicht in dem Mafse wie Sabatier.
Was Franz beklagt, was ihn in seinen letzten Lebensjahren
quält, ist das Abweichen der Brüder von seinen strengen
Idealen; nur entsprach es seiner Natur nicht, mit schroffer
Energie dagegen einzuschreiten — solche Strenge, wie Elias
1) Sabatier a. a. 0. S. 121 f. 128.
2) ,,Dico tibi sicut possum de facto animae tuae, quod ea quae
te impediunt aniaie Doininiim Daum et quicunqiie tibi impedimentum
fecerint sive fratres sive alii etiam si te verberaverint, omnia debes
habere pro gratia et ita velis et non aliud.''
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 39
sie üben wollte, verletzte sein weiches Gemüt ^ Und schon
deshalb konnte Franz den Elias für wenig geeignet zur
künftigen Leitung des Ordens ansehen ^ — ohne dafs man
notwendig an gröfsere sachliche Gegensätze zwischen ihm
und dem Manne, der bis zu seinem Tode in seiner nächsten
Nähe weilte, zu denken braucht.
Höchst wichtig ist ein anderes Ergebnis, das aus diesem
Briefe gefolgert werden mufs: was Franz zur Aufnahme in
die Regel in ganz bestimmter Fassung vorschlägt, ist, wie
die Regel von 1223 zu erkennen giebt, nur in Bruchstücken
aufgenommen worden. Was wegfiel ist die Mahnung an
die Brüder, den in Todsünde gefallenen Bruder nicht herab-
zusetzen, sondern Mitleid mit ihm zu haben und seine Sünde
möghchst diskret zu behandeln, damit ihm um so eher ge-
holfen werde ^. Und ebenso wurden die Vorschläge für das
formale Verfahren etwas verändert und das Urteil, das er
jedem Priester gegenüber dem Irrenden anraten wollte : Gehe
und sündige nicht weiter, fiel weg Immerhin mufs man
feststellen, dafs auch die Regel von 1223 (c. 7) Mitleid mit
den Irrenden empfiehlt und vor jedem Zorn über fremde
Sünde warnt. Wenn in die Regel nicht jene Straflosigkeit
hineingesetzt wurde, die Franz mit den Worten: „Gehe und
sündige nicht weiter" einführen wollte, so hatten die realer
denkenden Brüder auf dem Generalkapitel wohl ein Recht
dazu — ein Gegensatz braucht darin noch nicht gesehen zu
werden, sondern nur eine etwas nüchternere Betrachtung der
Welt. Franz selber blieb nicht immer in der milden Stim-
mung dieses Briefes: mit welcher Schärfe forderte er im
Testamente die Bestrafung jedes ungehorsamen Bruders! *
1) Vgl. Speculum Perfectionis c. 71 und sonst!
2) Wie 2. Celano III, 116 (und ebenso Speculum Perfectionis c. 80
beweisen.
3) Älinlich stand das bereits in der Regel Ton 1221 c. 5; und nur
in dieser Form wurde es in die neue Regel aufgenommen (c. 7).
4) Sabatier hat diesen Einwand vorausgesehen; er meint (a. a. 0.
S. 128 Anm. 1), Franz habe im Testament keine Strafe, sondern nur
die Auslieferung an den Ordensprotektor Kardinal Hugolin befohlen.
Aber ganz abgesehen davon, dafs diese Stelle mit ihrer Vorschrift eines
peinlich formalen Verfahrens nur in dem Gedanken an strenge Strafe
40 GOETZ,
Ich kann deshalb nicht zugeben , dafs dieser Brief, ver-
glichen mit der Regel von 1223, den Konflikt zwischen den
Ideen Franzens und der seinen Lehren untreuen Mehrheit
des Ordens beleuchte ^ — das ist eine zu weitgehende Deu-
tung der schlichten Worte dieses Briefes. Damit soll der
Konflikt selber keineswegs geleugnet werden; aber er darf
nicht am unrichtigen Orte festgestellt werden ^.
Wie aber steht es mit den andern beiden an Elias ge-
richteten Briefen (Wadding Nr. VI und VII)? Es wurde
erwähnt, dafs der erste (VI) sich bis auf seinen Anfang (An-
rede und zwei ganz kurze Sätze) vollständig in dem nun-
mehr für echt angenommenen gröfseren Briefe an Elias be-
findet ; ich glaube, dafs er dadurch seinen Wert verliert imd
lediglich als ein späterer Auszug betrachtet werden mufs.
Der zweite dagegen berührt sich — obwohl er einen ähn-
lichen Zweck der Ermahnung zur Milde hat — nur an
einer Stelle direkt und wörtlich mit dem gröfseren Briefe,
und zwar ist diese Stelle ein biblisches Citat, das sich auch
in der Regel von 1221 c. 5 findet — also off"enbar Franz
geläufig war ^; der übrige Inhalt ist in seiner Ausdrucks-
weise ganz selbständig. Ich möchte deshalb auch diesen
Brief, dessen Stil an die andern echten Briefe erinnert %
verständlich ist, so steht doch auch ausdrücklich und sogar zweimal
darin, dafs man den Ungehorsamen bewachen soll ,,sicut hominem in
vinculis die noctuque". Zu dem Geiste dieser Worte pafst das ,,Vade
etc." nicht mehr.
1) Sabatier a. a. 0. S. 128.
2) Weil der Brief nicht so bedeutungsvoll für die inneren Kämpfe
des Ordens ist, sehe ich auch darin, dafs Bonaventura diesen Brief
(und ebenso die andern!) nicht erwähnt, noch keine Tendenz —
das waren Dinge, die aufserhalb der Aufgabe, die er sich gestellt
hatte, lagen.
3) In dem als echt erkannten Briefe an Elias und in der Regel
von 1221 stimmt das Citat ganz überein: „non est sanis opus medicus
sed male habentibus"; in dem noch strittigen Briefe (VII) heifst es:
„non est opus bene habentibus medicus, sed male habentibus". Viel-
leicht kann auch das als ein Beweis für die Selbständigkeit des strit-
tigen Briefes angesehen werden.
4) Nur der Schlufs mit seinen sieben Imperativen (Vigila, admone,
labora, pasce, ama, expecta, time) hat etwas Rhetorisches, das bisher
noch in keinem Briefe hervortrat.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 41
liir echt ansehen ; die Thatsaehe einer wiederholten Mahnung
an Elias ist an sich sehr wohl möglich. Und zwar würde
dann dieser Brief wohl zeitlich vor den andern lallen; da-
für spricht die Nichterwähnung des Antrages an das General-
kapitel — dieser Antrag war das Ergebnis der beiden Briefe
und der dazwischen liegenden Gespräche beider Männer.
Geht man mit Vermutungen zu weit, wenn man annimmt,
der erste, kürzere und weniger herzliche Brief habe zu der
Aussprache geführt, auf die am Anfang des zweiten Briefes
hingedeutet wird? Dann hätte Franz seine Überlegungen
schliefslich zu dem für das Generalkapitel bestimmten An-
trag verdichtet; dafs er Elias diesen Antrag mitteilte und
ihn bat, das Schriftstück bis Pfingsten aufzubewahren, darf
auch als ein Zeichen des Vertrauens angesehen werden.
Der erste Brief (Wadding VII) würde also nicht allzu
lange vor dem ausführlicheren geschrieben sein; auch für
ihn würde die Abfassungszeit ungefähr zwischen Herbst 1221
und Frühjahr 1223 fallen.
4. Die Regeln.
Unzweifelhaft ist die von Franz für den Orden ge-
schriebene Regel eines der vornehmsten Dokumente seiner
Persönlichkeit. An die verschiedenen Fassungen dieser Regel,
die uns vorliegen, knüpfen sich Zweifel und Streitfragen, die
nur im Zusammenhang mit den ältesten Lebensbeschreibungen
betrachtet werden können; denn gerade was darüber nach
Karl Müllers Untersuchungen noch Neues gesagt werden
könnte, hängt mit dem Speculum Perfectionis und der Echt-
heit seiner Nachrichten zusammen. So möge dieser Abschnitt
für später zurückgeschoben werden. Doch sei im voraus
bemerkt, dafs die sogen. Regel von 1221 wohl auf alle Fälle
von Franz entworfen und wenn nicht ganz von ihm selber,
so doch unter seiner beherrschenden Mitarbeit redigiert wor-
den ist.
5. Die Ad mon i t iones ',
Die „Verba sacrae admonitionis b. Patris Francisci ad
omnes fratres suos" enthalten in 27, bis auf das erste kurzen
1) Gedruckt nach AVaddiugs Text in allen Ausgaben der Opiisciilat
42 GOETZ,
Kapiteln Ermahnungen des Heiligen und Seligpreisungen,
diese wie jene in enger Anlehnung an biblische Stellen.
Wadding (Opuscula S. 70 ff.) hat für diese Admonitiones
sowohl Handschriften wie alte Drucke als Unterlage benutzt.
Sie sind in einer ganzen Reihe von Handschriften vorhan-
den \ ohne dafs doch dadurch eine Beglaubigung ihrer Echt-
heit gewonnen wäre.
Sabatier hat die Vermutung ausgesprochen, dafs diese
Admonitiones die Grundlage für die Regel von 1221 seien,
so enge sei die Berührung im Stil und Gedankengang; die
Auseinandersetzungen, die in jener Zeit zwischen Franz und
Kardinal Hugolin über die neu zu schaffende Regel statt-
fanden, hätten in diesen Admonitiones ihren tagebuchartigen
Niederschlag gefunden: die Einwände, die man gegen seine
Ideen machte und die er in seinem Innern verarbeitete,
klängen zwischen den Zeilen hervor ^.
Man mufs doch in erster Linie fragen: sind diese Ad-
monitiones in der ältesten Überlieferung beglaubigt? In der
ersten Vita des Thomas von Celano könnte eine Stelle auf
Kenntnis der Admonitiones gedeutet werden — beweiskräftig
wäre sie allein wohl nicht ^. In der zweiten Vita des Tho-
mas ist dagegen die Thatsache, dafs Franz an das General-
kapitel schriftliche Ermahnungen zu richten pflegte, un-
zweideutig bezeugt: „Pro generali commonitione in quodam
capitulo scribi fecit haec verba . . ." (folgt ein Citat) ^. Die
Legenda trium Sociorum giebt an einer Stelle, deren Her-
das erste Kapitel in einer zum Teil besseren Lesart in den Miscell.
Franciscana VI, S. 96.
1) Vgl. darüber Sabatier im Speculum Perfectionis und im
Tractatas de Indulgentia, beidemal im Register unter Admonitiones.
Dafs auf den Cod. 338 zu Assisi kein höherer Wert zu legen ist als auf
andere Handschriften: s. unten S. 53 Anm. l.
2) Sabatier, Via de S. Frangois (1894), S. 297 £f.
3) 1. Celano I, 29: ,,Cum litteras aliquas salutationis vel admoni-
tionis gratia faceret scribi, non patiebatur ex his deleri litteram ali-
quam . . ."
4) 2. Celano III, 68. Ich lasse auch hier das Speculum Perfectio-
nis, das in c. 96 Ähnliches giebt, zunächst beiseite. Vgl. auch ebenda
c. 87 (Schlufs).
QUELLEN ZUIi GESCHICHTE DES HL. FUANZ VON ASSISL 43
kunt't aus andern Quellen van Ortroy bei seinem zerstören-
den Angriff nicht hat nachweisen können ^ und die also
doch nicht ohne weiteres wegdisputiert werden kann, die
Nachricht, dai's Franz auf den Generalkapiteln „faciebat ad-
raonitiones, reprehensiones et praecepta" ^.
So ist es wohl unzweifelhaft, dafs Franz auf den General-
kapiteln Ermahnungen gab , die vorher oder gleich nachher
aufgezeichnet wurden. Sind die überlieferten Admonitiones
die echten?
Das Citat, das Thomas von Celano in der zweiten Vita
bringt, ist der nächstliegende Anhaltspunkt: es findet sich
nicht in den vorliegenden Admonitiones. Zwar hat c. 27
derselben einen verwandten Inhalt, aber der Wortlaut ist ein
ganz anderer ^. Thatsächlich steht nun das Citat Celanos
in der Regel von 1221 c. 7 (am Schlufs), und es bleibt der
Zweifel, wie Celano dazu kam, anstatt „in regula" zu
schreiben „pro generali commonitione in quodam capitulo".
Eine unanfechtbare Bestätigung der vorhandenen Ad-
monitiones durch die älteste Überheferung liegt also zu-
nächst nicht vor *, freilich auch kein die Echtheit beein-
trächtigendes Moment. Es iragt sich, ob sie nach ihrem
Inhalt echt sein können?
Sabatier hat in der erwähnten Stelle auf die Berührungs-
punkte dieser Admonitiones mit der Kegel von 1221 hin-
gewiesen; Faloci-Pulignani hat das 1. Kapitel der Admoni-
1) Vgl. Anal. Bollandiana XIX, S. 190.
2) Legenda trium Soc. c. 14 (nach alter Zählung, c. 20 in der Re-
konstruktion). Dafs in der rekonstruierten Leg. tr. Soc. die c. 46 und
47 aus der zweiten Hälfte der Admonitiones (c. 14—26), den Selig-
preisungon, besteht, sei erwähnt, ohne dafs daraus zunächst irgendwelcher
Schlufs gezogen worden soll.
B) Dagegen bringt Spcculum Perfectionis c. 96 denselben Wortlaut
wie die Admonitiones und es leitet das Citat — ohne Hinweis auf ein
Generalkai)itcl — mit den Worten ein: „Unde in quadam sua admoni-
tione clarius expressit, qualis debet esse laetitia servi Dei, ait enim . . ."
4) Denn das Citat im Speculnm Perfectionis c. 96 kann gegenüber
den .Angriffen gegen seine Kchtheit und gegenüber den immerhin etwas
bedingten Ergebnissen, zu denen später unsere Untersuchung kmiunen
wird, nicht als unanfechtbar gelten.
44 GOETZ,
tiones mit dem Schreiben des Heiligen an das Generalkapitel
(einschliefslich des sogen. Schreibens an alle Kleriker) zu-
sammengestellt und den enge verwandten Inhalt (Verehrung
der Eucharistie) betont ^ Man kann als drittes hinzufügen,
dafs sich das Schreiben An alle Christen sowohl mit der
Regel von 1221 wie mit den Admonitiones in den Gedanken-
gängen mehrfach berührt und doch nicht so, dafs man das
Schreiben und die Admonitiones etwa als spätere Ableitungen
aus der Regel ansehen könnte ^.
Es liegt in dieser Berührung mit echten Stücken eine
gewisse Gewähr für die Echtheit der Admonitiones.
Sie gehören in die Klasse derjenigen Schriften, die gleich
dem Brief An alle Christen nicht die kunstlose Abfassungs-
weise der unanfechtbar echten Gruppe (Testament, Briefe an
Leo, Klara, Antonius) zeigen, sondern in gefeilterer Sprache
und geschmückt mit vielen Bibelstelien einhergehen. Es will
mir scheinen, als sei eine stilistische Verwandtschaft zwischen
den Briefen an weitere Kreise, der Regel von 1221 und den
Admonitiones vorhanden, als sei der Stil noch immer bei
weitem einfacher und gedrängter als in andern Schrift-
stücken der damaligen Zeit
Über die Entstehungszeit der Admonitiones läfst sich
ebenso wenig etwas sagen wie über ihre Vollständigkeit.
Die vorliegende Form eines in 27 Kapitel eingeteilten Ganzen
ist wohl sicher erst durch die spätere Sammlung und Zu-
sammenstellung der einzelnen Ermahnungen entstanden, ob-
wohl diese Kapitel — bis auf eins ^ — keine Wiederholungen
bringen. In mehreren Handschriften folgt noch ein 28. Ka-
1) Miscellanea Franciscana VI, S. 93 ff. Freilich setzt Faloci-
Pulignani die Frage der Echtheit dabei voraus.
2) Es berühren sich Admonitiones c. I mit An alle Christen c. 4;
c. III mit Regel von 1221 c. 5; c. IV mit Regel 1221 c. 4 und An
alle Christen c. 9; c. IX mit Regel c. 22 und An alle Christen c. 8;
c. X mit Regel c. 22; c. XI mit Regel c. 5; c. XXV mit An alle
Christen c. 7. Es sei ferner darauf hingewiesen, dafs in c. XXV das-
selbe gefordert wird wie im Testamente: unbedingte Verehrung der
Priester der römischen Kirche, weil sie den Leib und das Blut des
Herrn verwalten.
3) Kap. XXII und XXIII bringen zum Teil das gleiche.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 45
pitel mit der Übersclirift : „De religiosa habitatione in eremi-
toriis", das Wadding nach der Handschritt in Assisi als
dritte seiner Collationes monasticae giebt ^ Alan kann nicht
sagen, dafs es zu den vorangehenden Kapiteln irgendwie
pafste; denn es enthält nicht wie diese lediglich allgemeine
Ermahnungen, sondern genaue Bestimmungen über das Leben
und die Tageseinteilung der in Eremitorien weilenden Brüder.
Derartiges entspricht dem Charakter der Admonitiones nicht;
eher möchte man glauben, dafs diese Vorschrift über das
Leben in den Eremitorien als eine Vorarbeit oder Ergänzung
der Ordensregel entstanden ist.
►Sabatier hat, wie erwähnt, angenommen, es handle sich
bei den Admonitiones um einen tagebuchartigen Entwurf für
die Regel von 1221; aber dafür finde ich doch die Zahl der
Berührungspunkte zu gering, und vor allem widersprechen
dem die angeführten Zeugnisse der ältesten Überlieferung
und die Angaben der Handschriften, in denen es mehrfach
heifst: „Admonitiones ... ad omnes fratres."
So ist es doch vielleicht besser, daran festzuhalten, dafs
diese Ermahnungen mit der Regel von 1221 in keinem di-
rekten Zusammenhang stehen, sondern dafs sie bei Gelegen-
heit der Ordenskapitel in ihren einzelnen Teilen entstanden
sind und nach dem Tode des Heiligen zusammengestellt
wurden.
Unbekannte Einblicke in die Anschauungen des Heiligen
bringen die Admonitiones nicht, aber doch eine Reihe von
Ergänzungen. Noch in keiner der bisher besprochenen
Schriften ist die Gefahr des eigenen Willens, die Notwendig-
keit der Unterordnung unter den Willen des geistlichen
Oberen, auch wo seine Meinung anfechtbar erscheint, so
stark betont worden (c. HI); auch die gelehrte Forschung
über das Bibelwort wird, falls der Geist des Wortes nicht
ergriffen und befolgt wird, als wertlos und todbringend be-
zeichnet (c. VH). Dafs der Körper, weil er sündigt, der
1) Vgl. Sabatier, Speciilnm Poifcctionis, S. CLXXI, CLXXXII
und S. 26 Anin. 1; Francisci Baitholi Tnictatiis, S. CXXXV, CXLVII;
Vie de S. Fran^ois (1894), S. 125 Auni. 1.
46 GOETZ,
Feind jedes einzelnen sei, wird ausgesprochen ; glücklich ein
jeder, der diesen Feind immer gefangen halte und sich vor
ihm schütze.
Wadding lafst aut die Admonitiones eine Exhortatio ad
humilitatem, obedientiam, devotionem et patientiam folgen.
Da sie lediglich eine Aneinanderreihung der c. XIX, XX
und XXII der Admonitiones ist, so kann ihr ein selbstän-
diger Wert, ein Anspruch auf Echtheit nicht zugebilligt
werden.
Ein anderes kurzes Schriftstück ist in älteren Werken
der Franziskanerlitteratur ebenfalls den Admonitiones (als
c, 26) eingereiht ^: der aus elf Sätzen bestehende Traktat
„De virtutibus quibus decorata fuit S. Virgo.^' Zu den Ad-
monitiones gehört er nach seiner ganzen Art nicht; Thomas
von Celano (2. Vita III, 119) nennt ihn richtiger ,, Landes,
quas de virtutibus fecit"; denn auch Maria hat, abgesehen
von der Überschrift, keine weitere Beziehung dazu. Dafs
es sich um eine echte Aufzeichnung Franzens handelt, wird
durch das Citat des ersten Satzes, das Celano giebt (a. a. O.),
bestätigt und ebenso durch die für Franz charakteristischen
Bezeichnungen „Soror sancta humilitas", „soror sancta obe-
dientia". Vgl. unten Nr. 9 (Dichtungen S. 50 ff.).
Verwandt mit den Admonitiones ist vielleicht die Aus-
einandersetzung „De Vera et perfecta laetitia fratrum Mi-
norum'' — sie enthält Ermahnungen an die Brüder, wie sie
sehr wohl auf einem Generalkapitel von Franz einmal aus-
gesprochen sein könnten. Er giebt ein Beispiel, wie die wahre
Laetitia beschaffen sein müsse: in Schnee oder Regen, bei
Kälte und Hunger in der Nacht trotz dreimahgen Bittens
um Aufnahme abgewiesen und beschimpft vom Pförtner der
Portiuncula und schliefslich mit Peitschenhieben von der
Pforte vertrieben sollen die Brüder dennoch Iröhiich bleiben.
1) Nähere Nachricht darüber bei "Wadding, Opuscula, S. 88;
Sabatier, Vie de S. Frangois (1894), S. XL giebt aus dem Cod. 338
zu Assisi eine Lesart, die nur die vier ersten Sätze enthält. Vgl. Spe-
culum Perfectionis S. CLXXII und Francisci Barthoü Tractatus, S. CXXV,
CXXX, CXLVIL
QUELLEN ZUK GESCHICHTE DES HL. FUAXZ VON ASSISL 47
Wadding, der dieses kleine Schriftstück bringt (S. 93)^
kann sich nur auf spätere Quellen berufen; Handschriften
sind seitdem nicht zum Vorschein gekommen.
Die Prüfung nach stilistischen Merkmalen — deren Wert
nicht überschätzt werden soll — läfst auch hier die Wag-
schale zu Gunsten der Echtheit sinken. Die Sprache ist
einfach und sie erinnert an das gesprochene Wort in ihrer
Schlichtheit und in ihrer Eindringhchkeit. Ebenso ist der
Gedankengang dem Sinne des Heiligen entsprechend. Tho-
mas von Celano hat in der 2. Vita HI, 8'^ eine ähnliche
Erzählung gegeben ': auch da will Franz bei allen De-
mütigungen sich die laetitia mentis bewahren, wie es sich
für einen rechten Minderbruder gezieme. Ein nicht ganz
unwichtiges Zeugnis für die Echtheit ist eine Redewendung
des Traktats: der Pförtner weist die bittenden Brüder ab
und sagt ihnen: „Ite ad hospitale." Diese Aufforderung,
zum Hospital der Leprosen zu gehen, weist aus Gründen,
die Sabatier vielfach erörtert hat und auf die bei Prüfung
des Speculum Perfectionis noch zurückzukommen sein wird,
auf die älteste Zeit hin, denn die Lepi'osenpflege hat
später nicht mehr die Rolle gespielt, die Franz selber ihr
zuwies, und vor allem die Wendung „ad hospitale" ohne
einen erläuternden Zusatz ist nicht gut anders denkbar als
im Munde desjenigen, der damit eine ganz bestimmte ört-
liche Vorstellung — das Hospital Rivo Torto nahe bei der
Portiuncula — verband -. Die Echtheit des Traktates er-
scheint dadurch gesichert.
6. Die Gebete.
Die von Wadding S. 97 — 120 aus Handschriften und
aus der älteren Franziskanerlitteratur zusammengestellten (13)
Gebete des Heiligen samt einer „Expositio super orationem
Dominicam" mögen zum Teil von Franz sein — aber ich
wage darüber kein Urteil. Der Stil des Gebetes ist ein so
1) Dasselbe im Spoculum Perfectionis c. G4. Vgl. dazu auch c. 96.
2) Pisanus liat in den Confoinütatcs L. I Conf. 5 u. 12 am An-
fang dieses Traktats und an den beiden Stellen, wo der Imperativ
„scribe" vorkommt, die Lesart: ,,o frater Leo scribe".
48 GOETZ,
anderer, dafs die Möglichkeit zu Vergleichen fehlt. In
einigen dieser Gebete stehen Wendungen, die man Franz
würde zuschreiben können ; einzelne jedoch, wie die „Oratio
S. Francisci in suae conversionis initio" und die „Oratio pro
commendanda sua familia^' erwecken berechtigtes Mifs-
trauen — wer hätte jenes erste Gebet aufzeichnen sollen?
Das zweite aber steht, nicht als isoliertes Gebet, sondern als
Worte, die Franz nach dem Verzicht auf das Generalminister-
amt vor dem Generalkapitel sprach, im Speculum Perfectionis
c. 39; der Titel „Gebet** stammt erst von Wadding. — Auch
hier sieht man die Absicht, aus den Aufzeichnungen über
das Leben des Heiligen möglichst viele originale Worte und
Aufzeichnungen zu erheben. Da man aber nicht zu sagen
vermag, wie viel die Verfasser der Legenden hierbei eigen-
mächtig gestaltet haben, so sind diese angeblich direkten
Zeugnisse wohl alle mit Vorsicht aufzunehmen. Wie wäre
es möglich gewesen, ein jedes der Worte des Heiligen, die
bei der und jener Gelegenheit fielen, genau festzuhalten?
Der nachfolgende Abschnitt über die CoUationes mo-
nasticae führt noch stärker zu den gleichen Betrachtungen. —
Der Wert dieser Gebete ist übrigens so gering, dafs man
ohne Schaden an ihnen vorübergehen kann ^
7. Die CoUationes Mouasticae.
Diese 28 CoUationes sind von den bisher betrachteten
Werken des Heiligen durchaus zu scheiden. Es besteht für
sie keine gesonderte Überlieferung, sondern erst Wadding
hat sie unter diesem Titel zusammengestellt, indem er sie
als Worte des Heiligen aus den verschiedensten Schriften
herauslöste und ihnen ohne weitere Prüfung Authenticität
zuschrieb. Den Namen CoUationes monasticae, d. h. Ge=
spräche für Ordensleute, gab er ihnen, weil er bei Bona-
ventura in seiner Legenda major das Wort — doch ganz
1) "Vgl. über die ,, Oratio praeponenda horis canouicis" unten S. 51
Anm. 3. Ein echtes , aber für die geschichtliche Würdigung des Hei-
ligen belangloses Werk ist das Officium Passionis Dominicae (Wad-
ding S. 380 fif.); es ist bezeugt durch die Vita S. Clarae, die Thomas
von Celano verfafste.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 49
ohne direkten Zusammenhang mit dem, was Wadding giebt —
fand * und ebenso noch bei andern Schriftstellern, und dann
weil Bonaventura zwei seiner Schriften mit dem gleichen
Titel bezeichnet hat.
Bis auf die dritte Collatio — die schon erwähnte De re-
ligiosa habitatione in eremitoriis (siehe oben S. 45) — sind
alle mosaikartig und willkürlich zusammengesetzt. So ist
z. B. von der ersten Collatio der erste Satz aus Bonaventura,
der zweite aus Rodulphus, alles weitere aus 1. Celano I, 11
(zum Teil jedoch in der Lesart, die Marianus giebt). Die
zweite Collatio stammt aus der Legenda trium Sociorum c. 10
und c. 9, aus Pisanus, aus Bonaventura c. III und Rodulphus;
die dritte Collatio aus Speculum Perfectionis c. 47 und Bona-
ventura c. VI u. s. f. — Wadding hat seine Quellen überall
gewissenhaft notiert; aber häufig hat er, was die Vorlage
in indirekter Rede gab, eigenmächtig in direkte umgesetzt.
Es bedarf keiner weiteren Ausführungen , dafs diese
Kompilation nicht zu den „Werken" des Heiligen gerechnet
werden kann. Im einzelnen zu untersuchen, ob auf Franz
zurückgehen könnte, was die von Wadding genannten Quellen
als seine Worte geben, ist eine kaum mögliche Arbeit ; von
vornherein ist der stärkste Zweifel, dafs es sich dabei um
eine vollkommen treue Überlieferung handle, am Platze 2.
Das eine oder andere Wort mag ja auf Franz zurückgehen,
aber als authentische Zeugnisse können diese Reden nicht
angesehen werden ^.
1) Bonaveutura c. 4 n. 1: Während Franz unterwegs den Ge-
nossen die Regel ans Herz legt, ihnen den Weg der Heiligkeit und Ge.
rechtigkeit beschreibt und sie ermahnt, sich selbst zu fördern und an-
dern ein Beispiel zu sein, ,, diutius colhitiune protracta hora per-
transiit ".
2) Nicht ganz begreiflich ist die Vermutung Mandonnets (Mise.
Franc. VII, S. 66), dafs die Collationes „Zirkularbriefe und Ermah-
nungen" Franzens, besondeis an die Kapitel, gewesen seien, die freilich
nur in Bruchstücken vorlägen, deren Oiigiuale aber vielleicht von Bru-
der Leo redigiert seien ! Diese Collationes hätten sowohl den Verfassern
des Speculum Perfectionis wie Thomas von Celano bei Abfassung der
zweiten Vita vorgelegen! Es bedarf in Anbetracht der Angaben Wad-
dings keines Wortes gegenüber diesen Vermutungen.
3) Waddiug geht bei der Sanniiluug der Cullationes vielfach auf
4
50 GOETZ,
8. Apoplithegmata, CoUoquia, Prophetiae,
Parabolae, Exempla, Oracula.
Für diese ganze Gruppe gilt das Gleiche wie für die
CoUationes: es handelt sich dabei lediglich um Zusammen-
stellungen Waddings aus der älteren Überlieferung. Die
Authenticität dieser Stücke hängt ab von dem Werte, den
man den ältesten Legenden und den Conformitates des Pi-
sanus, der Chronik des Marianus u. s. w. zubilligen will.
Auch bei dieser Gruppe Waddings ist deshalb der Zweifel
berechtigter als das Vertrauen; der allenfalls vorhandene
echte Kern dieser Zeugnisse kann für sich nicht untersucht
werden, sondern nur die Zuverlässigkeit der Vorlage, aus
der sie jeweils entnommen sind ^
9. Die Dichtungen des Heiligen.
Dafs Franz Gedichte (Landes) verfafst hat, ist genugsam
bezeugt und wird von keiner Seite bezweifelt — bestritten
ist nur, ob die unter seinem Namen gehenden Dichtungen
echt sind.
Zugeschrieben worden sind ihm Laudes in Prosa, der in
altitalienischer Sprache geschriebene „Sonnengesang" und
manchmal auch die Gedichte „In foco l'amor mi mise" und
„Amor de caritate".
Maiianus zurück, dessen Autorität, obwohl er erst Anfang des 16. Jahr-
hunderts schrieb, neuerdings von Sabatier, Franc. Barth. Tractatus,
S. 137 — 164 für nicht ganz verächtlich erklärt wird. Was durch Ma-
rianus vielleicht an altem echten Material überliefert worden ist und
zum Teil also auch in den CoUationes durchscheint, kann freilich nicht
eher geprüft werden, als bis seine noch ungedruckten Werke zugäng-
lich gemacht sind. Inwieweit in diesen Zusammenstellungen Waddiugs
ein echter Kern steckt, wird sich auch bei den Untersuchungen über
das Speculum Peif. und die andern Quellen ergeben.
1) Über die Prophezeiungen vgl. Sabatiers Urteil, Speculum Per-
fectionis, S. LXXX. Sabatier neigt dazu , in allen später überlieferten
Prophezeiungen einen authentischen Kern zu sehen ; aber sicher hat die
Heiligenlegende doch vieles ganz frei hinzugeschaffen. — Wadding giebt
(S. 491 ff.) noch einige Benedictiones, von denen nur die Benedictio
Leonis auf direkte Überlieferung zurückgeht; über sie ist oben (S 9)
gesprochen worden. Die andern sechs Benedictiones sind zusammen-
gestellt wie die Apophthegmata u. s. w.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 51
Als ältestes Zeugnis haben die Landes auf der Rück-
seite der Benedictio Leonis zu gelten, die Franz mit
eigener Hand geschrieben hat ^ Freilich ist dieser Auto-
graph zu einem grofsen Teil verderbt; er mufs nach an-
deren Handschriften, deren eine ganze Reihe vorhanden sind,
ergänzt werden ^.
Diese Probe der Landes ist in Prosa geschrieben, aber
in einer ekstatischen Sprache: in fast lauter Ausrufen von
zwei oder drei oder wenig mehr Worten („Tu es fortis. Tu
es magnus. Tu es altissimus. Tu es omnipotens . . . Tu es
humilitas. Tu patientia. Tu pulchritudo" u. s. w.). Diese
eigenartige Form verstärkt das Zeugnis des Autographen :
man wird darin die Natur Franzens, seine oft ekstatische
Religiosität wiedererkennen dürfen ^.
In der Form nahe verwandt mit diesen Landes Dei sind
die Landes de Creaturis ^ oder, wie er gewöhnlich genannt
wird, der Sonnengesang (Canticus fratris Solls). Dafs Franz
einen solchen Gesang verfafst hat, berichtet Thomas von
Celano (2. Vita III, 138 und 139), und dieses Zeugnis ver-
liert dadurch nicht an Wert, dafs Thomas in der ersten
1) S. oben S. 9. Dafs Franz diese ., Landes Dei" geschrieben
hat, bezeugt auch 2. Celano II, 18.
2) Faloci-Pulignani hat in den Miscell. Franc. VI, S. 36 f.
mit den Bruchstücken des Autographs fünf andere handschriftliche Les-
arten zusammengestellt, die alle etwas voneinander abweichen. Auch
Waddings Lesart (S. 101) hat kleine Verschiedenheiten, giebt aber im
wesentlichen den gleichen Text wie der von Faloci-Pulignani ebenfalls
angeführte Cod. Fulign. (Kapuzinerkonvent).
3) Den Charakter von Prosagedichteu tragen auch die oben S. 46
bereits erwähnen ,, Landes de virtutibus" und ferner die ,, Oratio prae-
ponenda Horis canonicis'" (Wadding S. 103), die im Speculum Per-
fectionis c. 82 als ..Landes Domini" bezeichnet sind. In c. 90 des Spe-
culum Perfectionis werden noch „quaedam sancta verba cum cantu"
erwähnt, die Franz „pro consolatione et aedificatione pauperum Do-
minarum" d. h. der Klarissen schrieb; davon ist nichts erhalten.
4) „Landes de crcatuiis tunc quasdam coniposnit et eas utcunque
ad creatorem laiidandum acccudit ". Und im c. 139: „Invitabat omnes
creaturas ad landoni Dei et per verba quaedam, quae olim coniposuerat,
ipse eas ad divinum hortabatur amorem .". Die Entstehung des Souuen-
gesangs ausführlich erzählt im Speculum Perfectionis c. 100, 101, 123.
4*
52 GOETZ,
Vita und Bonaventura darüber schweigen. Die Frage der
Echtheit der überlieferten Texte des Sonnengesanges ist seit
dem Erscheinen des Speculum Perfectionis von neuem in
Flufs gekommen: das Entstehen des Sonnengesangs wird
darin an mehreren Stellen erzählt und die Handschriften
geben als c. 120 einen altitalienischen Text ^. Die Hoff-
nung Sabatiers, dals nunmehr aller Zweifel beendet und die
Echtheit des Textes allseitig anerkannt sein werde, ist frei-
lich nicht in Erfüllung gegangen: der alte Gegner der An-
nahme, dafs uns eine auf Franz zurückgehende Form des
Sonnengesangs vorliege, Della Giovanna, bleibt bei seinem
Widerspruch, um so mehr, als er die Echtheit des ganzen
Speculum Perfectionis bestreitet ^
Nur der Sprachforscher wird diese Frage mit Aussicht
auf Erfolg beantworten können. Ist der Text des Sonnen-
gesangs seiner Sprache nach für die Zeit um 1226 in An-
spruch zu nehmen, dann ist es gleichgiltig, ob das Speculum
Perfectionis von Bruder Leo stammt oder eine Kompilation
des Jahres 1318 ist. Dann enthält es eben den alten, echten
Text. Ehe eine solche sprachwissenschaftliche Untersuchung
nicht von kompetenter Seite bis zur Beseitigung aller Zweifel
geführt ist, vermag der Historiker nur zu bestimmen, ob die
äufsere Beglaubigung der Überlieferung für die Möghchkeit
der Echtheit spricht. Die Untersuchung darüber kann nur
1) Sabatier gibt in einer besonderen Untersuchung über dieses Ka-
pitel (Speculum Perfectionis S. 277 — 291) eine ganze Reihe von Texten
der verschiedenen Handschriften; in seiner Ausgabe des Speculum Perf.
hat er den Text des Cod. Assis. 338 gegeben, der offenbar gröfsei en An-
spruch auf Reinheit machen darf als irgend ein anderer. Vgl. unten
S. 53 Anm. 1.
2) Giornale stör. d. letteratura ital. XXXIII (1898). Ausführlicher
hat Giovanna in derselben Zeitschi ift XXV (1895) die Frage behan-
delt, vgl. auch Bd. XXIX. Gegen Giovanna ist zuletzt Faloci-
Pulignani in den Mise. Franc. VI, S. 43ff. u. VII, S. 17ff. auf-
getreten; er nimmt sich lebhaft der Echtheit des Sonnengesangs, wie
er im Speculum Perfectionis vorliegt, an. Vgl. Sabatiers besondere
Studie über diese Frage: Speculum Perfectionis S. 277 — 291 und ferner
Vie de S. Frangois (1894), S. 348 ff. Ferner Thode, Franz von
Assisi, S. 68 (Litteraturangaben).
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 53
stattfinden bei der Prüfung des Speculum Perfectionis, denn
nur dieses giebt — als einzige unter den ältesten Legen-
den — den Text und die Erzählung seines Entstehens ^
Dafs Faloci - Pulignani 1895 gerade mit den damals noch
nicht von Sabatier herausgegebenen Kapiteln des Speculum
Perfectionis die Echtheit des Sonnengesangs gegenüber Della
Giovanna verteidigte, ist zwar ein persönliches Mifsgeschick,
weil Faloci später die Autorität des Sabatierschen Speculum
mit aller Kraft zu bekämpfen strebte, aber es zeigt, welche
Bedeutung eine zuverlässige Wertung des Speculum Per-
fectionis auch für die Frage nach der Echtheit des Sonnen-
gesanges hat. Einstweilen sei auch hier vorausgenommen,
dafs man sieh doch wohl für die Echtheit wird entscheiden
dürfen.
Dafs die beiden Dichtungen „In foco amor mi mise" und
„Amor di caritate" in ihrer jetzigen Form nicht von Franz
verfafst sein können, erscheint aufser Zweifel. Schon Affo
hat sie 1777 dem Jacopone da Todi zugeschrieben. Sie
1) Faloci-Pulignani hält (Mis. Franc. VI, S. 45) den Sonnen-
gesang für echt, weil er im Cod. Assis. 338 stehe, dessen Abfassung
vor 1255 falle (Sabatier: etwa 1240; vgl. oben S. 12 Anm. 2). Die
Beweise Faloci -Pulignanis sind: bei einer Aufzählung der Feste fehle
der Tag der h. Klara, er sei aber am Rande nachgetragen — wie Fa-
loci-Pulignani annimmt, nach der Heiligsprechung Klaras 1255; es fehle
ferner das um diese Zeit eingeführte Fronleichnamsfest [?] und der
Name der h. Klara in einer Liturgie. Palaeographische Gründe sprechen
gegen diese schon au sich nicht ganz überzeugenden Beweise. Schon
Ehrle hat (Arch. f. Litt. u. KG. I, S. 484) den Codex ins 14. Jahr-
hundert gesetzt; Monaci hat auf Tafel 77, 78, 79 des Archivio paleogr.
ital. I gerade den Sonnengesang aus diesem Codex veröffentlicht; er
erläutert die Tafeln als ,,scrittura gotica libraria d'etä incerta'', setzt
sie aber im chronologischen Index ins 14. Jahrhundert. Wilhelm Meyer
bezeichnet in einer ausführlichen Untersuchung gerade dieser italie-
nischen Schriften die von Monaci veröifentlichten Tafeln als „grofse
runde Schrift des 14. Jahrhunderts" (Die Buchstabenverbindungen der
sog. goth. Schrift; Abb. d. GiJtt. Ges. d. Wiss., Phil.-hist. Klasse, N. F.
I, S. 63). G. Seeligcr setzt, auf meine Anfrage hin, die Schritt eher
ins 13., als an den Anfang des 14. Jahrhunderts. — K. Braudi meint,
dafs ein zwingender Beweis gegen die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts
nicht vorliege, das 14. Jahrhundert aber doch wohl vorzuziehen sei; im
gleichen Sinne äufserte sich II. Simonsfeld.
54 GOETZ,
stehen beide weit ab von den Laudes Domini und dem
Sonnengesang — ihre Form ist viel lyrischer, die Verse
sind in wohl abgewogenem Versmafs gereimt, ihre Sprache
ist moderner, ihr Inhalt in Gefühl zerfliefsend, so dafs der
letzte Teil von Amor di caritate nur noch eine dutzendfache
Wiederholung des Wortes Amore ist ^. — Es ist eine Über-
tragung der Gedanken sinnlicher Liebe auf das religiöse Ge-
biet. Bei aller Weichheit der Empfindungen war solche
gesuchte Süfsigkeit Franz doch fremd; er verliert nichts,
wenn man ihm diese beiden Gedichte abspricht ^.
10. Von Wadding als zweifelhaft bezeichnete
Schriften.
Wadding hat (Opuscula S. 508 — 523) sieben Predigten
und zwei kleine Traktate^ abgedruckt, deren Echtheit ihm
in Anbetracht ihrer unsicheren Überlieferung verdächtig er-
schien. Die Predigten finden sich in spanischer Sprache nur
in der Chronik des Rebolledo, eines späten und unzuverlässigen
spanischen Autors; die Traktate liegen zwar handschriftlich
vor, aber nach Waddings Angaben unter Umständen, die
Franz als Verfasser ausschliefsen. Hinsichtlich der Predigten
meint Wadding allerdings, dafs ihnen ein echter Kern zu
Grunde liegen könne; in der That sind einzelne (z. B. II,
IV, V) inhaltlich in der Art der Admonitiones, und ein
1) Das Buch von Görres, Der hl. Franziskus als Troubadour
(2. Ausg., Regensburg 1879) schreibt ohne eiucn Versuch der Kritik
diese Dichtungen Franz zu, ja fügt sie sogar, in Teile zerlegt, be-
stimmten Perioden seines Lebens ein, d. h. die innere Entwickelung
Franzens ist dann an einem bestimmten Zeitpunkt genau so, wie Görres
sie für die Einfügung einer Gedichtstelle braucht. Die Schrift ist in-
folgedessen vollkommen wertlos.
2) Gamurrini hat kürzlich drei kleine Gedichte aus einem Codex
der Nationalbibliothek zu Neapel herausgegeben, die er dem h. Franz
zuschreibt (Alcuni versi volgari di S. Francesco d'Assisi, scoperti e
pubblicati la prima volta. Cortona 1901). Der Herausgeber hat nicht
den Schatten eines Beweises für ihren Zusammenhang mit Franz er-
bracht; es liegt nicht der geringste Anlafs vor, sie Franz zuzuschreiben.
3) „Sex praecipnae rationes quare Dens opt. max. Religionem Mi-
norum suae concesserit ecclesiae" und „Opusculum decem perfectionum
viri religiosi et perfecti Christiani".
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 55
solcher Name pafste auch für sie besser als die Bezeichnung
Sermoncs. Wadding hat Rebolledos Texte aus dem Spa-
nischen ins Lateinische übersetzt; deshalb kann der Stil
dieser Stücke nicht geprüft werden. So sehr auch Teile
des Inhalts an Franz anklingen, so wenig können aus diesen
Sermones irgendwelche Schlüsse gezogen werden.
11. Ergebnisse.
Die Untersuchung über die Werke des Heiligen hat zu
folgenden Ergebnissen geführt. Als unzweifelhaft oder
aller W aiir schein lieh k ei t nach echt dürfen ange-
sehen worden:
Das Testament,
die Benedictio Leonis,
folgende elf (dreizehn?) Briefe:
einer an Bruder Leo,
einer an Antonius von Padua,
zwei an die hl. Klara und ihre Schwestern,
einer (zwei?) an alle Christen,
einer an alle Kustoden der Minderbrüder,
einer an die Obrigkeiten,
einer an alle Kleriker,
einer (zwei?) an das Generalkapitel,
zwei an Elias,
die Regel von 1221,
die Admonitiones,
die Traktate:
De Vera et perfecta laetitia fratrum Minorum,
De religiosa habitatione in eremitoriis,
die Dichtungen:
Laudes Dei,
Landes de Creaturis (Sonnengesang),
Üi'atio praeponenda horis canonicis (= Laudes Domini),
Laudes de virtutibus (quibus decorata fuit s. virgo).
Officium Passionis Dominicae.
Als uneciit oder zweifelhaft sind anzusehen:
Der kürzere J>ri(!f an alle Christen (Wadding Nr. 1),
der kürzere Brief an Elias (Wadding Ni'. VI),
56 GOETZ,
der Brief an die Provinzialmiuister (Wadding Nr. IX),
der kürzere Brief an das Generalkapitel (Wadding Nr. X),
der Brief an Jakoba de Septemsoliis,
die Gebete,
die Exhortatio ad humilitatem etc.,
die Laudes „In foeo amor" und „Amor di caritate".
Lediglich Zusammenstellungen Waddings aus
älteren und späteren Legenden und deshalb ohne gesicherten
Wert sind die
Collationes Monasticae, Apophthegmata, Colloquia, Pro-
phetiae, Parabolae, Exempla, Oracula.
Die als echt erkannten Werke scheinen, wenn man be-
reits von den ältesten Legenden herkommt, nicht allzu viel
Neues zur Kenntnis des Heiligen hinzuzufügen. Aber gerade
darum handelte es sich, von den ältesten Legenden, deren
geschichtlicher Wert in Anbetracht so mancher Zweifel von
neuem untersucht werden mufs, vollständig abzusehen und
einen zwar bescheidneren, aber unanfechtbaren Mafsstab für
die Persönlichkeit des Heihgen zu gewinnen. Die wich-
tigsten Züge seines Wesens sind trotz der Enge dieses Quellen-
materials aus seinen eigenen Schriften zu gewinnen. Die
Legenden müssen die unentbehrlichen Ergänzungen dazu
sein: sie geben die Farben für die leichte Umrifszeichnung.
Festzustellen, welchen Wert die einzelnen Legenden be-
sitzen, wird die Aufgabe der weiteren Untersuchungen sein.
IL Die Legenden.
Was bis zum Jahre 1266, bis zur offiziellen Annahme
der Legende Bonaventuras durch das Generalkapitel, ge-
schrieben worden ist, gehört zu der ältesten, von Augen-
zeugen verfafsten oder doch noch beeinflufsten Überlieferung.
Nur an diese ältesten Quellen kann die Forschung über
Franz von Assisi sich halten ; alle späteren Fortbildungen der
Legende sind nur mit höchster Vorsicht aufzunehmen. Aber
freilich fehlt zunächst auch für die älteste Überlieferung
jeghche Sicherheit der Wertung. Die wichtigsten Quellen
QUELLEN ZUIi GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 57
der ältesten Zeit: die beiden Legenden des Thomas von Celano,
das Speculum Perfectionis, die Legenda trium Sociorura, die
Legenda niaior des Bonaventura sind in einer Weise um-
stritten, ja zum Teil in ihrer Echtheit bezweifelt, dafs sich
die Forschung Schritt für Schritt den Weg von einer Quelle
zur andern erst bahnen mufs. Sind die Vita prima des
Thomas von Celano und die Legende Bonaventuras Tendenz-
schriften einer bestimmten Partei, bedeutet die Vita secunda
des Thomas eine reumütige Rückkehr zur Wahrheit, sind
Speculum Perfectionis und Legenda trium Sociorum echte Auf-
zeichnungen der ältesten Zeit oder spätere Kompilationen —
das sind die Fragen, auf deren Lösung sich die Untersuchung
richten mufs. Was daneben an geringwertigeren Quellen der
ältesten Zeit noch vorhanden ist, wird dabei seine Beur-
teilung finden.
Die Vita prima des Thomas von Celano ist der feste
Punkt, von dem aus die Prüfung der Biographien beginnen
mufs: ihre Echtheit, ihre frühe Entstehung in den ersten
Jahren nach dem Tode des Heiligen ist unbestritten. Wenn
ich das Speculum Perfectionis hier zunächst ganz übergehe
und sein Verhältnis zur Vita prima des Thomas nicht zu
bestimmen versuche, so entspricht das nur dem Ergebnis der
Diskussion, die über das Speculum Perfectionis in den letzten
Jahren geführt worden ist: dafs es 1227 von Bruder Leo
geschrieben worden sei, ist eine unmögliche These, und da
Sabatier selber auf ihr nicht mehr besteht, so ist es unnötig,
sie von neuem zu bekämpfen. An späterer Stelle wird über
das Verhältnis des Speculum Perfectionis zur Vita secunda
des Thomas von Celano und zur Legenda trium Sociorum
zu entscheiden sein; aber der Vita prima des Thomas wird
niemand mehr den zeitlichen Vorrang streitig machen.
1. Die Vita prima des Thomas von Celano ^
Die Echtheit dieser Vita ist, wie gesagt, nicht zu be-
zweifeln, aber hinsichtlich ihrer Wertung stehen sich Extreme
1) Eine kritische Ausgabe der Vita prima (wie der Vita secunda)
fehlt bisher, wird aber vom P. Ed. d'Alon^on vorbereitet. Einstweilen
58 GOETZ,
gegenüber. Und gerade die kritischeren Forscher lehnen sie
zumeist ab. FreiUch mufs man sogleich hinzulügen, dafs die
Einwände gegen Celanos Vita prima nicht aus ihr selbst ge-
nommen sind, nicht etwa aus sichtbaren Widersprüchen und
aus greifbarer Tendenz, sondern die Aufstellung einer Theorie
über Franz von Assisi ging voran, und was sich dieser Theorie
nicht einfügen wollte , wurde als tendenziös gebrandmarkt.
Seitdem Sabatier und Mandonnet in der Tertiariergemeinschaft
das ursprüngliche Ziel des hl. Franz gesehen haben, mufste
Thomas von Celano, der davon nicht das geringste berichtet,
mit Absicht diese Sachlage verschwiegen haben ; seitdem
Sabatier und Mandonnet die Kurie für die Zerstörung des
ursprünglichen Ideals verantwortlich gemacht haben, mufste
der nichts davon berichtende Thomas ein Fälscher sein;
seitdem Sabatier in schweren inneren Kämpfen des Minoriten-
ordens diese dem Heiligen feindliche Entwicklung sich voll-
ist man uoch auf die unvollkommenen Texte in den Acta Sanctorum,
Oct. II, bei Rinaldi (Rom 1806) und bei Amoni (Rom 1880) angewiesen.
Alle diese Texte und besonders die beiden letzten — Amoni gibt nur
einen Neudruck Rinaldis — sind reich an auffallenden Fehlern. Über
die stark auseinandergehenden Texte der Handschriften vgl. z. B. Sa-
batier, Speculum Perf., S. 170, Note 1 und Opuscules de crit. bist. II,
S. 67. — Über die Handschriften vgl. Sabatier, Yie de S. Frangois,
S. LIf.; Marcellino da Civezza und Teof. Domenich elli,
Legenda trium Sociorum, S. LIXif.; ferner Sabatier, Vie de S.
Frangois (1894), S. LI, Note 2, und über zwei Handschriften in London
und Oxford, die Sabatier S. LXXIII, Note 2 irrtümlich für die Vita
srcunda in Anspruch genommen hat, Ehrle in der Zeitschr. f. kath.
Theol. VII (1883), S. 390. — Der stärkste Angriff auf die Glaubwür-
digkeit der Vita prima bei Sabatier, Sp?culum Perf,, S. XCVIII— CIX.
Vgl. auch Sabatier, Vie de S. Frangois, S. Llllff. Eine kürzere
kritische "Würdigung der Vita prima bei Tilemann, Speculum Per-
fectionis und Legenda trium Sociorum (Leipzig 1902), S. 23 — 33. Tile-
mann will weniger den Wert der Vita prima feststellen , als vielmehr
im Gegensatz zu Sabatier den Nachweis führen , dafs die Vita prima
nicht eine gegen das Speculum Perf. gerichtete Parteischrift sein könne —
ein Nachweis, den ich als gelungen ansehe. Eine andere kritische Prü-
fung der Vita prima bei Minocchi, La Legenda trium Sociorum;
Nuovi studi sulle fonti biografiche di San Francesco d'Assisi (Florenz
1900), S. 81—85. — Für die volle Glaubwürdigkeit der Vita prima ist
eingetreten Faloci-Pulignani, Miscellanea Franc. VII, S. 146 ff.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 59
enden sah und den Bruder Elias zum Führer der Gegner,
zum willigen Werkzeug der Kurie machte, mufste Thomas,
der Franzens Verhältnis zu Elias und zur Kurie als ein
höchst freundschaftliches schildert, der skrupellose Anhänger
dieser Partei sein. — Ich habe mich au anderer Stelle aus-
führlich gegen diese Theoi'ie ausgesprochen ^ ; ich habe den
Nachweis zu führen gesucht, dafs es sich bei dem Unter-
nehmen des Heiligen von Anfang an um die Entwicklung
zum Mönchtum hin gehandelt hat, dafs sich aber die neue Ge-
meinschaft aus primitiven Formen im Laufe eines reichlichen
Jahrzehnts erst völlig entwickelt hat. Auf Grund von Fran-
zens eigenen Angaben und von ]\Iitteilungen ganz unbeein-
flufster Quellen dieses ersten Jahrzehnts ist meines Erachtens
die Tertiarierthese Sabatiers und Mandonnets zu widerlegen,
und damit fällt auch die Meinung von dem gewalttätigen
Eingreifen der Kurie und von den dadurch hervorgerufenen
Konflikten im Orden — ohne dafs deshalb gewisse Konflikte
und eine Beeinflussung des Ordens durch die römische Kurie
geleugnet werden sollen. Es war notwendig, bei einer
solchen Untersuchung die Legenden, gegen die sich der
Verdacht der schlimmsten Parteilichkeit erhob, zunächst ganz
beiseite zu lassen; ist aber die Theorie Sabatiers und seiner
Nachfolger ^ einmal erschüttert, so darf man nun an die
Legenden herangehen und ihren Wert ohne die Last eines
Vorurteils prüfen. Läfst man auch die Theorie Sabatiers
fallen, so ist damit selbstverständlich noch nichts Entschei-
dendes für die Zuverlässigkeit Celanos gewonnen ; ein sicheres
Urteil darüber kann nur aus der Prüfung der Vita prima
selber abgeleitet werden.
Die erste Frage gilt der Persönlichkeit des Thomas
von Celano. Dafs er der Verfasser der ältesten Franz-
legende ist, wird zwar nicht durch die Vita prima selber
bestätigt, ist aber anderweitig beglaubigt: durch Jorda-
1) Hist. Vierteljahrsschrift 1903, S. 19—50.
2) Ich werde im Folgenden der Kürze halber nur von der Tlioorie
Sahaticis sprechen; auf ihn poht doch im Grunde alles ziiiück, was
Mandonnot. Lompp, Minocchi und andere über Franzens Verhältnis zur
Kurie gesagt hal)cn.
60 GOETZ,
nus de Jano ', durch Salimbene ^ und durch Bernhard de
Bessa ^.
Über sein Leben und über seine Beziehungen zu Franz
ist die Kunde dürftig genug *. Er hat dem Minoritenorden
angehört, aber der Zeitpunkt seines Eintritts in den Orden
bleibt ungewifs ^ ; sicher ist nur, dafs er weder zu den
Jüngern der ältesten Zeit noch später zu den vertrauten
Genossen des Heiligen gehört hat. Die erste sichere Nach-
richt über Thomas stammt aus dem Jahre 1221: nach dem
Pfingstkapitel dieses Jahres ist er mit den andern Brüdern der
deutschen Mission nach Deutschland gegangen und hat dort
nachweislich mindestens bis Herbst 1223 geweilt^. Ob er
bald darauf oder erst etwas später nach Italien zurückkehrte,
1) Anal. Franc. I, S. 8 n. 19: „Thoma de Celano, qui legendam
s. Francisci et primam et secundam postea conscripsit."
2) Zum Jahre 1244 (ed. Parm, S. 60): der Generalminister „prae-
cepit Thomae de Cellano, qui primam legendam b. Francisci fecerat, ut
iterum scriberet alium librum."
3) Anal. Franc. III, S. 666: „beati Francisci vitam scripsit ...
frater Thomas iubente domino Gregorio Papa."
4) Die spärlichen Notizen über Thomas sind zusammengestellt bei
6. Voigt, Denkwürdigkeiten des Jordanus von Giano, Abb. d. sächs.
Ges. d. Wiss. XII, S. 455 ff. — Evers in der prot. Realencykl., J eil er
bei Wetzer und Weite geben nichts von Bedeutung.
5) Aus den Worten der Vita prima, I, 20: Franz wird durch
Krankheit verhindert, nach Marokko zu gehen; so fügte es Gott, „cui
mei et multorum ... placuit recordari", denn Franz kehrte zur Por-
tiuncula zurück und „tempore non multo post quidam litterati viri et
quidam nobiles ei gratissime adhaeserunt" — hat man geschlossen, dafs
Thomas auf seinen Eintritt in den Orden habe hinweisen wollen und
dafs 1215 oder 1216 dafür anzusetzen sei (Acta Sanct. Oct. II, S. 546
n. 6; Sabatier, Vie de S. Frangois, S. LUX f.). Aber eine sichere
Chronologie läfst sich für Franzens Reise nach Marokko nicht fest-
setzen; bezieht sich die angeführte Stelle wirklich auf Celanos Eintritt
in den Orden, so kann man nur vermuten, dafs er etwa zwischen 1213
und 1216 stattgefunden hat. Ein ganz junges Ordensmitglied war
Thomas 1223 jedenfalls nicht, da er in Deutschland schon in diesem
Jahre Kustode wurde. — Dafs Thomas — auf Grund von 2. Celano
III, 4 — 1220 in Bologna gewesen sein müsse, ist kein zwingender
Schlufs. Aus den Untersuchungen über die Vita secunda wird hervor-
gehen, dafs es sich um einen der Mitarbeiter Celanos handeln kann.
6) Vgl. die Angaben des Jordanus für die Jahre 1221, 1223.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 61
läfst sich nicht entscheiden; aber von etwa 1226 an mufs
er, wenn nicht für immer, so doch für die nächsten Jahre
in Italien gewesen sein ^. In diese Zeit fällt die Abfassung
der Vita prima.
Aus dem Gesagten geht bereits hervor, dafs Thomas nicht
allzu lange und nicht allzu enge mit Franz in Berührung
kommen konnte. Selbst wenn er schon 1213 in den Orden
eingetreten sein sollte, so bleiben, da Franz fast ununterbrochen
umhergewandert ist und 1219 — 1220 im Orient war, nur vor-
übergehende Begegnungen aus der Zeit vor Pfingsten 1219
und dann wieder aus der letzten Lebenszeit des Heiligen
übrig. Darauf deuten auch die Aufserungen Celanos hin; im
Prolog der Vita prima sagt er, er wolle von Franz erzählen,
„quae ex ipsius ore audivi vel a fidelibus et probatis testibus
intellexi" ^; im c. 1 des zweiten Teiles heifst es: er berichte
über die zwei letzten Lebensjahre des Heiligen, „prout po-
tuimus recte scire". Man mufs daraus schliefsen, dafs Tho-
mas ein ursprüngliches, eigenes Wissen über den Heiligen
doch nicht besafs, dafs er nichts mit ihm durchlebt hatte
und dafs ihm die in vieler Hinsicht wichtigste Periode dieses
Lebens, die letzten Jahre, in denen Franz den vertrauten Jün-
gern sein Inneres am stärksten aufschlofs und die Ergebnisse
seines Wirkens aufgehen sah, nur von aufsen her, durch Be-
1) Seit 1223 wird Thoraas bei Jordanus, von einer beiläufigen Be-
merkung zum Jahr 1230 abgesehen, nicht mehr erwähnt. Aus Jordanus
n. 51 schlofs man, dafs Thomas 1227 zum Generalkapitel nach Assisi
gekommen sein müsse, da er als Kustode zur Begleitung des deutschen
Provinzialmmisters gemäfs der Ordensregel verpflichtet war. Zweierlei
spricht dagegen: Thomas wird zwar 1223 Kustode, aber bei der noch
im gleichen Jahre erfolgenden Neueinteilung der deutschen Kustodien
wird er bei Jordanus nicht erwähnt. Zweitens nennt sich im Tractatus
de Miraculis II, 5 (Anal. BoU. XVIII, S. 116) der Verfasser als gegen-
wäitig beim Tode des Heiligen und als einen der Augenzeugen, die
schon bei Lebzeiten des Heihgen etwas von den Stigmen gesehen hatten.
Ist nun der Tractatus wirklich von Thomas, was ich freilich nicht so
glatt zu behaupten wase, so müfi^te dieser jedenfalls schon vor dem
Tode des Heiligen nach Italien ziirückjiekc'lirt sein. Zu den ,, vertrauten"
Gefährten hat er aber keinesfalls gehört.
2) Vgl. auch 1. Celano I, 21 bei dem Bericht über die Vögel-
predigt: „ut ipse [Franz] diccbat et qui cum co fuerant fratres."
62 GOETZ,
richterstatter erschlossen werden konnte. Auf diese Gewährs-
männer und auf Celanos Abhängigkeitsverhältnis von ihnen
wird es ankommen ; nach unsern Anschauungen würde es für
Thomas vielleicht möglich gewesen sein , aus verschiedenartigen
Zeugnissen ein objektiveres Leben des Heiligen zu schreiben
als irgend einer der Jünger, die unter dem Eindruck ihrer
Erlebnisse ganz im kritiklosen Banne des Heiligen standen!
Da ist es nun bedeutungsvoll, dafs die Vita prima im
Auftrage Papst Gregors IX., der früher als Kardinal von
Ostia Protektor des Ordens gewesen war, geschrieben wurde:
„jubente domino et glorioso Papa Gregorio'' heifst es im
Prolog der Vita. Und ist die Schlufsnotiz einer Pariser
Handschrift richtig, so hat Gregor IX. am 25. Febr. 1229
in Perugia das Werk in Empfang genommen und bestätigt
(„recepit, confirmavit et censuit fore tenendam") ^. Selbst
wenn diese Notiz nicht stichhaltig sein sollte, ergeben sich
doch als weiteste Grenzen für die Entstehung der Vita prima
der Tod des Heiligen (Oktober 1226) und die dem Ver-
fasser noch unbekannte Überführung des heiligen Leich-
nams aus der Kirche S. Giorgio nach S. Francesco zu
Pfingsten 1230. Da Thoraas aber mit der Beschreibung der
Kanonisation am 16. Juli 1228 abschliefst und da dieses
Ereignis am leichtesten den päpstlichen Auftrag erklärt, so ist
es nicht zu gewagt, den Zeitraum vom Sommer 1228 bis
zum Februar 1229 als wahrscheinlichste Abfassungszeit der
Vita prima anzusetzen. In dieser ganzen Zeit befand sich
die päpstliche Kurie in Perugia und vorübergehend in Assisi ;
im Auftrage des Papstes schrieb Thomas — dafs er unter
dem Einflufs des energischen und seine Meinungen gewifs
nicht zurückhaltenden Papstes und des ihm ergebenen Bruders
Elias geschrieben habe, ist die nächstliegende Folgerung,
und das reiche Lob, das in der Schrift dem Papste erteilt
wird, verstärkt die Berechtigung dieses Schlusses. Wäre
1) Vgl. hierzu Sabatier, Yie de S. Frnngois, S. LIl und Spe-
culum Pei f. , S. XCVIII f. Über die Unsicherheit und nicht zu über-
schätzende Tragweite dieser Notiz vgl. Tilemann a. a. 0., S. 30 f. —
Faloci-Puliguani setzt diese Notiz versehentlich ins Jahr 1231:
Mise. Franc. VII, S. U8.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FUANZ VON ASSISL 63
Sabatiers Anschauung richtig, dafs gerade der Kardinal von
Ostia die wahren Absichten Franzens durchkreuzt hat, so
wäre es freilich kaum anders möglich, als dafs die Schrift
Celanos parteiisch den Zwecken des Papstes dienen sollte.
Ich verweise hier von neuem auf die Untersuchung, die
diesen Gegensatz zwischen Franz und dem Kardinal von
Ostia durchaus bestreitet, und die Konflikte, die in die letzte
Lebenszeit des Heiligen unzweifelhaft fallen, in anderer Weise
aufzufassen sucht: als unausbleibliche Konflikte zwischen
einem unerfüllbaren Ideal und der mit Durchschnittsmenschen
arbeitenden Wirklichkeit ^ Die Legenden selber liefern noch
ein zweites allgemeines Argument gegen die Richtigkeit der
Sabatierschen Anschauung: die absichtlich parteiische, ja
betrügerische, fälschende Tendenz mufs dann nicht nur der
Vita prima, sondern — trotz mannigfach veränderter An-
schauungen — auch der Vita secunda und der Legende
Bonaventuras vorgeworfen werden : sie alle verschweigen
gleichmäfsig, was Sabatier für den wahren V\'illen des Heiligen
nimmt. In diesem planmäfsigen Betrug sind Gregor IX.
als Anstifter, sein „Werkzeug" Elias und grofse Kreise des
Ordens mit verwickelt; ja die treuesten Anhänger des Heiligen,
wofür Sabatier die Verfasser des Speculum Ferf. und der
Legenda trium Sociorum ausgibt, haben dann zum mindesten
die Schuld des feigen Schweigens gegenüber mächtigen Geg-
nern, denn auch ihre Schriften lassen sich, wie man mit aller
Bestimmtheit feststellen mufs, nur durch eine sehr subjektive
Auslegung zu gunsten Sabatiers verwerten ^. Selbst wenn man
bei der Diplomatie und dem hierarchischen Egoismus der römi-
schen Kurie recht viel für möglich hält — hier läge ein unglaub-
licher Fall geschichtlicher Fälschung und raffinierten Zusammen-
haltens einer Partei vor. Nicht nur die historische Kritik,
auch der gesunde Menschenverstand müssen sich gegen die
Annahme so gehäufter menschlicher Schlechtigkeit wehren.
Nun fällt freilich schon vieles von dieser Theorie, wenn
1) Ilist. Viorteljahrsschr. 1903, S. 85 ff., 42 ff.; über Elias iiiul
Franz: ebd. 1902, S. 291.
2) Vfil. IHst. Vinrtoljalussdir. 1903, S. 34 .\uin. 2 und S. 43 An;ii. 1.
Vgl. ferner unten S 75.
64 GOETZ,
die Entstehung des Speculum Perfectionis im Jahre 1227
von ihrem Begründer aufgegeben wird, wenn die Vita prima
also auch nicht die Gegenschrift einer andern Partei sein kann.
Es fällt damit aber auch das Hauptargument für die An-
nahme, dafs bei Entstehung der Vita prima die Parteigegen-
sätze im Minoritenorden so stark gewesen seien, dafs Thomas
von Celano notwendig im Dienste der einen Partei hätte
schreiben müssen. Sichere direkte Beweise für solche Par-
teiung im Orden sind für die drei ersten Jahre nach dem Tode
des Heiligen nicht herbeizubringen ; die Vita prima , unbe-
fangen betrachtet, gibt vielmehr eine Reihe von Anzeichen,
dafs zwischen den vertrautesten Jüngern des Heiligen und
Gregor IX. und Elias kein offener Konflikt bestanden haben
kann und dafs Thomas von Celano so wenig im Dienste einer
Gegenpartei schrieb, dafs er vielmehr bei Abfassung der Vita
prima auch den vertrauten Jüngern mancherlei zu danken hatte.
Ich weise auf folgende Punkte hin. Aus dem Schreiben
des Elias vom 4. Oktober 1226, wodurch er dem Orden
Mitteilung vom Tode des Heiligen und von den Stigmen
machte, ist zu ersehen, dafs Elias — damals wenigstens —
weder über den Zeitpunkt noch über den Ort der Stigmati-
sation etwas Sicheres wufste — er hätte das unerhörte Er-
eignis sonst sicherlich mit bestimmteren Angaben beglaubigt ^.
Thomas von Celano hat dieses Schreiben des Elias vor sich
gehabt; aber er weifs weit mehr: er weifs, dafs der Vorfall
sich auf dem Alverno zwei Jahre vor dem Tode des Heiligen
ereignete, er beschreibt die Erscheinung des gekreuzigten
Seraphs so genau, als ob Franz selber ihm davon erzählt
hätte. Woher hatte Thomas dieses Wissen? — Es steht zu-
nächst fest, dafs Bruder Leo 1224 mit auf dem Alverno
gewesen ist ^, dafs er also einer der wenigen war, die etwas
1) Das Schreiben ist gedruckt in den Acta SS. Oet. II, S. 668,
ebenso bei Wadding, Annales Minorum II, 1226 n. 44 und bei
Lempp, Frere Elie, S. 70. Die Echtheit des Schreibens wird nicht
so sehr durch die Notiz bei Jordanus de Jano (zum Jahre 1226) als
vielmehr durch die offenbare Benutzung bei 1. Celano II, 3 und II, 9
verbürgt.
2) Vgl. die Benedictio Leonis; vgl. oben S. 9. Ferner auch 2. Ce-
lano II. 18.
QUELLEN ZUE GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 65
Näheres über den Vorfall wissen konnten ^ Zweitens gehen
die einzigen direkten Kachrichten, die wir abgesehen von
Thomas von Celano über die Stigmatisation haben, allein auf
Leo zurück: er hat in seinen der sogen. Benedictio Leonis
eigenhändig beigefügten Notizen bezeugt, dafs Franz zwei
Jahre vor seinem Tode auf dem Alverno die Stigmen er-
halten habe, und er hat nach der Erzählung des Thomas
von Eccleston ^ Auskunft über die Erscheinung des Seraphs
und über Mitteilungen, die Franz darüber dem Bruder
Rufinus — einem andern der vertrautesten Jünger — ge-
macht habe, gegeben. Mit diesen beiden einzigen direkten
Zeugnissen stimmt, was Thomas von Celano über Ort, Zeit
und Seraph berichtet, überein ; und weil uns überhaupt nur
Leo und Ruhnus als Wissende über das Ereignis feststellbar
sind , da alles genauere Wissen darüber nur auf den ver-
trautesten Jüngerkreis zurückgehen konnte, so laufen die
Fäden von der Vita prima des Thomas von Celano hinüber
zu diesem Kreise und also wahrscheinlich zu den münd-
liehen Berichten der Brüder Leo und Rufinus ^. Diese Ver-
mutung wird noch dadurch gestützt, dafs Thomas dann (II, 3)
Elias und Rufinus als diejenigen nennt, die als einzige schon
bei Lebzeiten des Heiligen die Seitenwunde gesehen oder
berührt haben; während aber Elias dabei nur kurz erwähnt
wird, ist der Vorfall, bei dem Rufinus die von Franz ängst-
lich verborgene Wunde berührte, ausführHch erzählt: wer
1) Die Erklärung des Vorfalls, wie wir sie heute suchen müssen,
ist natürlich ganz unabhängin; von der — quellenuiäfsig wohl kaum zu
bestreitenden — Tatsache, dafs Franz seit Sept. 1224 die Wundmale
an seinem Körper getragen hat.
2) Anal. Franc. L S. 245.
3) Auch darauf darf hingewiesen werden, dafs Salimbene (ed. 1854,
S. 75) von Bruder Leo gehört haben will, wie Franz „in morte vide-
batur sicut unus crucifixus de cruce depositus". Thomas von Ce-
lano, Vita pr. II, 9 sagt: ., quasi recenter e cruce depositus videbatur"
(in der Ausgabe Amonis steht „videret", was unrichtig sein nuifs; Acta
SS. Oct. II, S. 714 n. 112 „videbatur"). Obgleicli der Vorgleich mit
einem Gekreuzigten nahe lag, wäre es doch möglich, dafs Thomas auch
hieiboi auf eine Aufserung Leos zurückging.
5
66 GOETZ,
anders als Rufinus selber konnte Thomas davon berichtet
haben? ^
Man hat den angeblichen Gegensatz zwischen dem Thomas
von Celano der Vita prima und den vertrauten Gefährten
des Heihgen auch dadurch belegen wollen, dafs er ihre
Namen mit Absicht verschwiegen habe. Aber man betrachte
doch den Lobgesang, den er in c. 6 des zweiten Teiles auf
diese Gefährten anstimmte: „Erant enim illi viri virtutum,
devoti Deo, placentes sanctis, gratiosi hominibus, super quos,
velut domus super columnas quatuor, beatus pater Franciscus
innitebatur." Thomas fügt weiter hinzu: „Eorum namque
nomina supprimo, ipsorum verecundiae parcens, quae tamquam
spiritualibus viris satis est ei familiaris et amica Haec
virtus adornaverat istos ^, haec utique gratia omnibus erat
communis, sed singulos virtus singula decorabat. Erat unus
discretionis praecipuae, alter patientiae singularis, gloriosae
simplicitatis alius, reliquus vero secundum corpoi-is vires
robustus et secundum animi mores placabilis. li vero omni
vigilantia, omni studio, omni voluntate beati patris quietem
animi excolebant, infirmitatem corporis procurabant, nullas
declinantes angustiaS; nuUos labores, quin totos se sancti
servitio manciparent".
Es dürfte doch unmöglich sein, aus dieser Stelle, nur weil
die Namen dieser vier Gefährten verschwiegen sind, auf böse
Absicht des Verfassers gegenüber den treuesten Anhängern
des Heiligen zu schliefsen. Sollten die Namen dieser Männer
in den Kreisen des Ordens nicht so bekannt gewesen sein,
dafs es der Namensnennung gar nicht bedurfte? Denn für
die neugierigen Forscher späterer Jahrhunderte schrieb Thomas
von Celano nicht! Sollte nicht tatsächlich ein Wunsch dieser
Männer — den Idealen des Heiligen ganz und gar ent-
sprechend — vorgelegen haben, dafs ihre Namen nicht ge-
nannt würden? So geschah es auch in der Vita secunda,
1) Der Vorfall, bei dem Elias die Seitenwunde sah, wird erst in
der Vita secunda III, 77 von Thomas genauer erzählt.
2) Sabatier, Spec. Perf., S. 170 Anm. 1 gibt aus dem Ms. 30 in
Montpellier hier noch den Zusatz: „haec amabiles et benevolos reddebat
eos hominibus."
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 67
obwohl bei ihrer Abfassung (wie sogleich genauer ausgeführt
werden soll) diese vertrauten Gefährten direkt beteiligt
waren: auch da ist Leos Name verschwiegen, obwohl sich
das Erzählte sicherlich auf ihn bezieht '. Rufinus aber,
der unzweifelhaft zu diesen vertrauten Freunden gehörte ^,
wird an anderer Stelle von Thomas aufs ehrenvollste
und auf gleicher Linie mit Elias genannt ^. Hätte Thomas
die Namen der vertrauten Jünger mit Absicht verschwiegen,
so wäre das angeführte Lob dieser JMänner eine grenzenlose
Perfidie — ein solcher Schriftsteller müfste seinen niedrigen
Charakter wohl in so starkem Mafse verraten haben, dafs
man die Gründe für seine Fälschertätigkeit nicht so mühe-
voll zusammenzutragen brauchte ! Der nächste Schlufs aus der
angeführten Stelle ist doch wohl: Thomas von Celano hat
die Freunde des Heiligen aufrichtig aufs höchste verehrt.
Verschwieg Thomas dann aber — wie man aus seinen
Worten vermuten kann — auf Wunsch dieser Männer
ihren Namen, so ergibt sich ein neuer Hinweis, dafs sie
die Abfassung der Vita prima mit ihrem Anteil begleitet
haben *.
1) 2. Celano II, 18 u. 19. — In der Vita secunda , wo doch kein
Anlafs der Parteifeindschaft mehr vorliegen konnte, sind die Namen der
Brüder häufig verschwiegen; vgl. z. B. 2. Gel. II, 21: „frater, quem
plurime diligebat." Vgl. hierzu Tilemann a. a. 0., S. 28.
2) Das ist aus 1. Celano II, 3 zu schliefsen und weil er später
als einer der „drei Genossen" genannt wird.
3) 1. Celano II, 3. — Man beachte, dafs Celano auch an anderer
Stelle den Namen eines Bruders, der Franzens Seele angeblich zum
Himmel auffahren sah, verschweigt, „quoniam, dum vivit in carne, non
vult tanto praeconio gloriari" (1. Gel. II, 8). Sollte das auch eine von
den Perfidien des Thomas gegenüber seinen Gegnern gewesen sein — eine
Perfidie, die sofort nach der Veröfifentlichung der Vita prfma für alle
Welt deutlich zu Tage gelegen hätte?! Übrigens ist der Name dieses
•wunderschauenden Bruders in den folgenden Legenden überall verschwie-
gen; erst bei Bernhard von Bessa taucht er als ein frater Jacobus
auf (Anal. Franc. III, GG8). Da über diesen frater Jacobus nichts fest-
zustellen ist (vgl. Sabatier, Spec. Perf., S. 106 Anm. 1), so darf
man wohl schliefsen, dafs er nur eine sehr bescheidene Holle gespielt
hat, und es wird damit noch unwahrscheinlicher, dafs Celano gegen
ihn giftige Pfeile gerichtet habe.
4) Wenn Thomas die hl. Klara und den Elias rühmt und ihre
68 GOETZ,
Der durchschlagende Grund für das Verhältnis des Thomas
von Celano zu den Gefährten des Heihgen und für seine
allgemeine Glaubwürdigkeit liegt aber darin, dafs ihm 1247
bei Abfassung seiner Vita secunda , als sich die Gegensätze
innerhalb des Ordens sicherlich erweitert und feindseliger
gestaltet hatten, gerade diese Männer ihr vollstes Vertrauen
zum Ausdruck gebracht haben. Die Vita secunda ist, wie
später noch ausführlicher zu begründen sein wird, entstanden
unter der Mitarbeit der vertrauten Gefährten oder, wie man
sie später nannte, der drei Genossen ^ : sie haben nicht nur
ihr auf Grund des Generalkapitelbeschlusses gesammeltes
reiches Material zur Verfügung gestellt, sondern sie sind
gemeinsam mit Thomas die Verfasser der Vita secunda.
Ihre Mitarbeiterschaft läfst sich nicht nur wie bei der Vita
prima aus einigen Mitteilungen folgern, die Thomas nur von
ihnen erfahren haben konnte ^, sondern sowohl der Prolog
Namen nicht verschweigt — was man gegen Thomas hat ausspielen
wollen — , so mufs daraus geschlossen werden, dafs Klara, wie sehr
leicht begreiflich, in keinem näheren persönlichen Verhältnis zu Thomas
stand und dafs Elias die demütige Bescheidenheit der vertrauten Genossen
nicht besafs, was ebenfalls sehr begreiflich ist.
1) Nach 1. Celano II, 6 mufs man folgern, dafs es vier vertraute
Gefährten des Heiligen in der letzten Zeit seines Lebens gegeben hat.
Ihre Namen nennt Celano nicht; aber Leo darf man sicher dazu rechnen
und nach L Cel. II, 3 auch Rufinus. In der etwa 1254 geschriebenen
Vita S. Clarae werden Leo und Angelus erwähnt als „illi duo b. Fran-
cisci socii benedicti" (Acta SS. Aug I, S. 764). So könnte man auch ohne
Heranziehung des nicht völlig gesicherten Schreibens der drei Genossen
an den Generalminister vom 11, Aug. 1247 Leo, Angelus und Rufinus
als drei von den vier bestimmen; über den vierten läfst sich nichts sagen.
Starb er frühzeitig, so dafs es 1247 nur noch drei Genossen gab?
2) Aus der ersten Person der Mehrzahl, in der sich der Vei fasser
der Vita sec. mehrfach ausdrückt, läfst sich noch nicht auf mehrere
Verfasser schliefsen ; denn auch in der Vita prima spricht Thomas ge-
legentlich in der Mehrzahl (z. B. II, 1 ; III Einl.), und in der Vita sec.
wechseln Einzahl und Mehrzahl wiederhdlt miteinander (so III, 38. 54.
55. 61. 70. 86. 113). Aber 2. Cel. II, 19 (betr. Leos Tunika) und
III, 41 mufs aus Berichten der Genossen herstammen. Auch bei III, 38
(„quantum oculis vidimus") und III, 67 („ut oculis vidimus") hegt der
Gedanke nahe, dafs sich die erste Person der Mehizahl auf die Ge-
nossen bezieht, weil sie solche intime Szenen jedenfalls eher als Thomas
erlebt haben konnten.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 69
der Vita secunda wie das 143. Kapitel des di-itten Teils sind
unumstöfsliche Zeugnisse dafür. In dem Prologe heifst es: es
beliebte dem Generalkapitel und dem Generalminister „parvi-
tati nostrae iniungere, xxt gesta vel etiam dicta . . . Francisci
nos, quibus ex assidua conversatione illius et mutua famili-
aritate plus ceteris diutinis experimentis innotuit . . . scri-
beremus" u. s. w. Was ferner aber die Genossen des Hei-
ligen im c. 143, in der „Oratio sociorum sancti ad eundem*^
über den Verfasser (oder besser Redakteur) der Vita secunda
aussagen, kann noch viel weniger mifsdeutet werden: es ist
die öffentliche Kundgabe ihres unbedingten Vertrauens zu
dem Verarbeiter des zum guten Teil von ihnen gelieferten
Materials. Sie sagen: „Ecce, beate pater noster, simplicitatis
studia conata sunt, magnifica tua facta utcumque laudare
. . . iSed scripsimus haec tua dulci memoria delectati, quam
donec vivimus aliis eructare vel balbutiendo conamur . . .'^
Es folgt die Bitte an den Heiligen, sich seiner Horde an-
zunehmen, und dann die Fürbitte für den Generalminister.
Dann heifst es weiter: „Supplicamus etiam toto cordis affectu,
benignissime pater, pro illo filio tuo, qui nunc et olim
devotus tua scripsit praeconia. Hoc ipse opusculum, etsi
non digne pro meritis, pie tamen pro viribus coUigens una
nobiscum tibi offert et dedicat. Dignanter illum ab omni
malo conserva et libera, merita sancta in illo adaugens".
Von der Theorie Sabatiers ausgehend bliebe wiederum
nichts anderes übrig, als den plumpesten Betrug anzunehmen :
Thomas hätte das von den Gegnern dem Generahninister
eingelieferte Material benutzt und zur Erhöhung seiner Glaub-
würdigkeit die Genossen des Heiligen in geradezu scham-
loser Weise als seine Freunde und Helfer und Fürbitter
eingeführt ^ — ein Betrug, der doch sofort entlarvt werden
mufste! Mir will scheinen: die Möglichkeit dieses Betruges
sich ausdenken, heifst sie verneinen. Es liegt eine seelische
Unmöglichkeit vor, ganz abgesehen davon, dafs ein Wider-
1) Sabatier, Opusc. de crit. bist. III, S. 70 Aiim. 1: „Avec une
babilite que je me dispciiserai de qualifier, Tboinas de Col. parla de
fa9on a suggorer ä ses lecteuis l'idee, que la seconde Vie avait iHe
faite en collaboiatioii avec les Socii."
70 GOETZ,
Spruch gegen den Fälscher sich in der spätem Literatur
vorfinden müfste, auch wenn der erste Protest der Ver-
gewaltigten uns verloren gegangen sein sollte ^.
Es bleibt noch ein anderer Ausweg: haben etwa die
Gegner von 1228 sich 1247 zu gemeinsamer Arbeit zu-
sammengefunden, hat etwa Thomas von Celano, belehrt
durch die Ereignisse, seinen früheren Parteistandpunkt ver-
lassen und sich mit den Genossen des Heiligen ausgesöhnt,
so dafs ihre Worte von 1247 der Freude über einen reu-
mütigen Sünder Ausdruck gaben? — Auch dieser Ausweg
ist nicht gangbar. Denn ein solches Vertrauen konnten die
Genossen einem Manne nicht zuwenden, der 1228 das Leben
des Heiligen so parteiisch, ja so lügenhaft dargestellt hatte.
Den Kampf gegen ihre eigene Person konnten sie wohl
verzeihen; für die Fälschung der Überlieferung hätten sie
aber doch wohl zum mindesten als Genugtuung die Ab-
fassung einer ganz neuen, wahrheitsgetreuen Lebensbeschrei-
bung verlangt, wenn sie sich mit Thomas ausgesöhnt hätten.
Nun hat die Vita secunda gewifs manchen neuen Zug im
Gegensatz zur Vita prima, aber ich nehme voraus, was
weiter unten (S. BOff.J noch bewiesen wird, dafs die Vita
secunda keine neue Legende, sondern nur die planmäfsige
Ergänzung der Vita prima ist, dafs sie in den wichtigsten
Punkten, die nach Sabatiers Meinung 1228 gefälscht sein
sollen, mit der Vita prima genau übereinstimmt und dafs
ihre Abweichungen von der Vita prima ihre richtige Er-
klärung in der Verschiebung der Anschauungen von 1228
bis 1247 finden — eine Verschiebung, die sich bei den
1) Sabatier (Speculum Perf., S. LXXV) nimmt an, dafs Thomas
von Celano auch die Vita S. Clarae geschrieben hat — eine Meinung,
der ich mich nicht ohne Bedenken anschliefsen könnte. Aber von Sa-
batiers Standpunkt aus ist es dann doch auffallend, wie dieser skrupel-
lose Fälscher immer von neuem ehrenvolle Aufträge bekam; so niedrig
stehende Naturen pflegen sich auch mit ihren Freunden zu überwerfen.
Und auch da treibt er das betrügerische Spiel weiter: er feiert nicht nur
die h. Klara, die doch zu der strengen Richtung der Gegner gehört
hatte, sondern er erwähnt auch Leo und Angelus als die „duo b. Fran-
cisci socii benedicti" (Acta SS. Aug. I, S. 764)! Vgl. Tractatus de Mi-
raculis c. 3: Rufinus „angelice puritatis homo Dei."
QUELLEN ZL-R GESCHICHTE DES HL. FKANZ VOX ASSISL 71
Genossen des Heiligen in ähnlicher Weise wie bei Thomas
von Celano vollzielien mufste.
Es bleibt unter diesen Umständen nur übrig, dafs die
vertrauten Gefährten des Heiligen 1247 in ganz einwandfreier
und seit langem hergebrachter Gesinnung Thomas von Celano
ihr Vertrauen bezeigt haben. Dann ist es aber auch un-
möglich, dafs Thomas 1228 denselben Männern feindlich
oder auch nur fremd gegenüber gestanden hat, und der
letzte Schlufs aus allen diesen Erörterungen mufs sein, d a f s
die Vita prima des Thomas von Celano in der
Hauptsache auch den Auffassungen des vertrau-
ten Jüngerkreises entsprochen hat. Es wird sich
noch zeigen, dafs Thomas keineswegs ein vollkommener
Berichterstatter ist; aber als absichtlicher Parteimann hat
er nicht geschrieben. Dann ergibt sich naturgemäfs die
weitere P^lgerung, dafs 1228 die Gegensätze im Orden
überhaupt noch nicht so stark entwickelt waren, dafs ein
jeder notwendig Partei ergreifen mufste, wenn er nicht der
einen oder andern Seite verdächtig werden wollte. In der
Pietät für den Heiligen und auch in der Verehrung fiir
Gregor IX. scheinen sich damals die Gemüter noch ver-
eint zu haben, obwohl die Gegensätze gewifs in weiterer
Entwickelung begriffen waren; aber es ist möglich, dafs
auch die Nächstbeteiligten die Tragweite der Gegensätze
noch gar nicht erkannten, mochten sie auch mit Kummer
manche Erscheinungen im Orden verfolgen.
Aus allgemeineren Gesichtspunkten und ohne dafs der
Inhalt der Vita prima bisher näher herangezogen wurde, ist
somit festgestellt worden, dafs Thomas von Celano eine ten-
denziöse Parteischrift nicht verfassen konnte, weil die von
Sabatier vorausgesetzten Gegensätze nicht vorhanden waren.
Es ist vielmehr zu vermuten, dafs er in bester Absicht ge-
schrieben hat, und die weitere Untersuchung mufs der Frage
gelten, wie der Inhalt der Vita selber sich zu diesen all-
gemeinen Schlüssen stellt '.
1) Sabatier, Sj)f!ciiluin Perf, S. CII meint, wenn man der Vita
prima einmal p;laube, so müsse man ihr unbedingt glauben — das ist
aber doch ein uiiannclimbarcr Schhifs!
72 GOETZ,
Liest man die Vita prima im Zusammenhang, so erhält
man denselben Eindruck subjektiver Ehi'lichkeit: sie ist in
heller Begeisterung für den Stifter des Ordens geschrieben.
Überall tritt diese Gesinnung zu Tage; am stärksten im
zweiten Teile bei der Erzählung von Franzens Tod (I, 9
und 10) — auch das müfste also alles schnöde Heuchelei
gewesen sein, wenn Thomas sowohl die wahren Ideale des
Heiligen wie ihre Zurückdrängung durch Elias und den
Kardinal von Ostia gekannt hätte. Aber ehrlicher Wille
und Begeisterung machen den Wert einer Quelle noch nicht
aus. Auch andere Vorzüge können angeführt werden, ohne
dafs sie bereits ein günstiges Endurteil über die Vita er-
möglichen. Sie ist mit grofser schriftstellerischer Gewandtheit,
mit absichtlich kunstvoller Rhetorik geschrieben — Thomas
mufs eine höhere literarische Bildung besessen haben und
sich dadurch trotz seines Mangels an eigenem Wissen über
das Leben des Heiligen zur Abfassung der Biographie her-
vorragend empfohlen haben. Die Gefahr lag nahe, dafs
die Rhetorik die Sachlichkeit hier und da unterdrückte;
aber es mufs der Vita prima nachgerühmt werden, dafs sie
dieser Gefahr nicht unterlegen ist. Man kann es in einer
Hinsicht deutlich ermessen: sie bringt nur selten Reden des
Heiligen, während die spätere Überlieferung immer reicher
daran wird. Und das spricht für die Ursprünglichkeit und
Treue der Erzählungen der Vita prima, denn es liegt ja
auf der Hand, dafs Ansprachen und längere Ausführungen
des Heiligen nur ganz selten aufgezeichnet worden sind.
Aber das Streben, möglichst viele wörtliche Aufserungen
eines Helden zu bringen, ist das ständige Kennzeichen
späterer, ausschmückender und frei erweiternder Überliefe-
rung: je gröfser der zeitliche Abstand von den berichteten
Ereignissen wird, um so mehr waltet die Phantasie. In
seiner zweiten Vita ist Thomas diesem zwingenden Gesetze
der Überlieferung schon weit stärker unterlegen; in der
ersten überwiegt noch der naive W^ahrheitssinn. Auch die
Zahl der Wunder, die Thomas berichtet, ist noch gering
und man erkennt zumeist noch die Natürhchkeit des Vor-
ganges — verehrungsvoll, aber ohne Übertreibung ins
QUELLEN ZUIi GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 73
Wunderbare sieht Thomas in Franz den grofsen Men-
schen ^
Solche Vorzüge verstärken wohl das schon gevvoimene
günstige Vorurteil für die Vita prima, aber nur die Prüfung
wichtiger Einzelheiten kann lehren, ob Thomas ein objektiv
treuer Zeuge ist oder nicht. Ich gehe dabei von Punkten
aus, deren richtige Darstellung gerade Sabatier als Kenn-
zeichen echter Überlieferung bezeichnet hat. Auf Grund
des Speculum Perfectionis (c. 24, 27, 36) hält Sabatier
Rivotorto, eine verlassene Hütte in der Ebene unterhalb
Assisi dicht bei einem Leprosenheim , für den ältesten Auf-
enthaltsort des Heiligen und seiner ersten Jünger; die Über-
siedlung zur Portiuncula fand erst später statt. Man wird
den Nachweis Öabatiers annehmen und in diesen Angaben
des Speculum Perfectionis echte alte Überlieferung sehen
müssen , obwohl oder gerade weil die spätem Quellen
Rivotorto vollständig verschwiegen haben: der Ort war nun
einmal kein Ordensheiligtum geworden, sondern der Ver-
gessenheit anheimgefallen. Die Vita prima bestätigt aber
genau, was Sabatier als zur echten Überlieferung gehörig
ansieht: sie erzählt (I, 16) das Leben der ältesten Brüder
in einer engen verlassenen Hütte „in loco qui dicitur
Rigustortus'^ Damit vergleiche man nun die Legenda
trium Sociorum, die von den drei Genossen stammen soll:
sie berichtet (c. 9), dafs Franz nach der Aufnahme der
ersten beiden Jünger, „cum non haberet hospitium, ubi cum
eis maneret, simul cum ipsis ad quandam pauperculam
ecclesiam derelictam se transtulit, quae IS. Maria de Portiuncula
dicebatur". Also die drei Genossen, unter denen doch auch
Bruder Leo war, berichten etwas anderes als der Bruder
Leo des Speculum Perfectionis? Freilich berichtet dann
dieselbe Legenda trium Sociorum an anderer Stelle (c. 13
nach alter Zählung) in fast wörtlichem Anschlufs an die
1) Wumlpr enthalten nur die Kapitel 23—26 des eisten Teiles.
F'ür den Anlian;,' ül)er die Wunder im dritten Teil daif Thomas nicht
verantwortlich gemacht werden: er fü^t nur an, was bei der Kanoni-
sation verlesen worden ist, und es sind Wunder, die nach dem Tode
des Heiligen geschehen sein sollen.
74 GOETZ,
genannten Worte der Vita prima: „Conversabatur adhuc
pater cum aliis in quodam loco iuxta Assisium, qui dicitur
Rigustortus". Dieser Widerspruch innerhalb der Legenda
triura Sociorum zeigt nicht nur die Zuverlässigkeit der Vita
prima an einer Stelle, wo später die Überlieferung vergefs-
lich wurde, sondern es tritt dabei auch mit kaum zu be-
seitigender Schärfe hervor, dals die Legenda trium Sociorum
von nicht mehr zuverlässig unterrichteten Geistern kompiliert
sein mufs, besonders da dies nur ein Beispiel unter vielen ist ^
An einer zweiten Stelle sei eingesetzt. Ohne Zuziehung
der Legenden habe ich das Verhältnis Franzens zum Kar-
dinal von Ostia klar zu legen versucht: ihre ungetrübten
freundschaftlichen Beziehungen betont, ohne doch die Gegen-
sätze ihrer Naturen und ihrer Ziele zu vergessen ^. Man
vergleiche damit, wie Thomas von Celano dieses Verhältnis
schildert. Im c. 27 des ersten Teils der Vita prima kommt
er zum ersten Mal auf den Kardinal von Ostia zu sprechen
und entwickelt gleich hier in grundsätzlicher Weise seine
Meinung von den Beziehungen der beiden Männer. „Ad-
haeserat ei [dem Kard.] s. Franciscus tamquam filius patri
et unicus matris suae, securus in sinu clementiae suae dor-
miens et quiescens. Pastoris certe ille implebat vicem et
faciebat opus, sed sancto viro pastoris reliquerat nomen.
Beatus pater necessaria providebat, sed felix dominus illa
provisa effectui mancipabat. O quanti maxime in principio,
cum haec agerentur, novellae plantationi ordinis insidiabantur,
ut perderent. O quanti vineam electam, quam dominica
manus benignissime novam in mundo plantabat, sufFocare
studebant Qui omnes tam reverendi patris et do-
1) Sabatiers Auslegungsversuch, dafs llivotorto der Aufenthaltsort
der Brüder, die Portiuncula aber die Stätte des Gebets gewesen sei, ist
nur entstanden, um den "Widerspruch der Leg. tr. Soc. zu beseitigen;
einen Beleg dafür gibt es nicht. — Dafs die Vita sec. des Thomas
llivotorto nicht mehr nennt, sondern (III, 21) nur von „quodam loco"
spricht, zeigt, wie diese Stätte 1247 schon so vergessen war, dafs die
namentliche Erwähnung keinen Zweck mehr zu haben schien. Aber
wichtig ist, dafs die Vita secuuda von dem ältesten Aufenthaltsort eben
doch noch weifs!
2) Eist. Vierteljahrsschr. 1903, S. 43 ff.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 75
mini gladio interfecti et ad nihilura sunt redacti. Erat enim
rivus eloquentiae, murus ecclesiae, veritatis assertor et amator
humilium. Benedicta proinde ac meraorabilis illa dies, in
qua sanctus Dei tarn venerabili domino se commisit.''
Im zweiten Teil der Vita prima c. 5 sagt Thomas:
Franz erbat sich vom Papst Honorius den Kardinal von
Ostia als Ordensprotektor; der Kardinal suchte das Amt
so gut wie möglich zu erfüllen; „propterea sanctus pater
modis Omnibus se subjiciebat ei et miro ac reverenti eum
venerabatur affectu"; deshalb nannte Franz in seinen Briefen
den Kardinal „totius mundi episcopum" und begrüfste ihn oft
mit „benedictionibus inauditis". Dann heifst es weiter vom
Kardinal: „Nimis quoque amore dictus dominus erga sanctum
virum flagrabat et ideo, quidquid beatus vir loquebatur et
quidquid faciebat, placebat ei .... Testatur ipse de eo,
quod nunquam in tanta esset turbatione seu animi motu,
quod in visione ac collocutione s. Francisci omne mentis
nubilum non discederet rediretque serenum Ministrabat
iste b. Francisco tanquam servus domino suo, et quoties
videbat eum, tanquam Christi apostolo reverentiam exibebat
et inclinato utroque homine saepe manus eius deosculabatur
ore sacrato."
In c. 5 des zweiten Teiles entwirft er noch eine glän-
zende Charakterschilderung des Kardinals, der „in desiderio
sanctitatis cum simplicibus erat simplex, cum humilibus erat
humilis, cum pauperibus erat pauper; erat frater inter
fratres, inter minores minimus." Und in der Einleitung
zum dritten Teile der Vita prima läfst Thomas den nun-
mehrigen Papst Gregor IX. sich freuen über die Wunder des
toten Franz, seines Sohnes, „quem sacro portavit in utero, fovit
in gremio, lactavit verbo et educavit cibo salutis."
Sollte man glauben, dafs so nur ein blinder Verehrer
des Kardinals von Ostia sprechen konnte, so vergleiche man
damit, was die angeblichen Feinde des Kardinals, die Ver-
fasser der Legenda trium Soc. — Sabatier sieht sie ja für
echt an — über den Kardinal sagen; es kommt in der
Hauptsache auf das gleiche hinaus. Im c. XVI (nach alter
Zählung) heifst es : „Videns b. Franciscus fidem et dilectionem,
76 GOETZ,
quam habebat ad fratres dictus dominus Hostiensis, ipsum
cum intimis cordis affectuosissime diligebat" .... Später sei
der Kardinal Papst geworden, ,,qui tam fratrum quam ali-
orum Religiosorum et maxime pauperum Christi usque in
finem vitae suae extitit benefactor praecipuus et defensor;
unde non immerito ereditur, ipsum esse sanctorum collegio
sociatum." Das also sagten die drei Genossen von dem
Manne, der dem Werke ihres Meisters mit aller Kraft ent-
gegengearbeitet, ja es mit einer Diplomatie, gegen die Franz
nicht aufkommen konnte, zerstört hatte? Die mit ihrer
Legende den wahren Idealen des Heiligen wieder Bahn
brechen und die Abgefallenen im Orden bekämpfen wollten,
brachten diese Unwahrheit in ihre Schrift ^ ? Bleibt für
Sabatier und seine Anhänger ein anderer Ausweg offen, als
dafs auch die vertrautesten Jünger des Heiligen unter die
Fälscher gegangen sind? Will man das nicht annehmen
und die Legenda tr. Soc. doch für echt halten, so wäre
wiederum ein neuer Beweis gewonnen, dafs zwischen Franz
und dem Kardinal der behauptete Gegensatz nicht bestanden
haben kann. Bei den starken Zweifeln an der Echtheit der
Legenda trium Sociorum ist es freilich wichtiger, dafs auch
die Vita secunda des Thomas den Standpunkt der Vita
prima, wenn auch nicht ganz so enthusiastisch, aber doch
in der Hauptsache gleichartig vertritt. Unter Tränen läfst
Thomas da den Kardinal die Armut der Minoriten bewun-
dern und er fügt hinzu: „Hie Ostiensis ille fuit, qui tandem
ostium maximum in ecclesia factus semper adstitit beato
patri, donec hostiam sacram animam illam beatam coelo
refudit. O pius portus, o viscera caritatis! In alto positus
dolebat alta merita non habere, cum revera sublimior esset
virtute quam sede" (III, 9). Ebenso hinterläfst die Unter-
redung zwischen Franz und dem Kardinal, von der Thomas
etwas später berichtet (III, 19), den Eindruck, dafs der
Kardinal von aufrichtiger Verehrung für Franz erfüllt ge-
schildert werden soll; nach Tyrannei sieht es nicht aus, wenn
1) Vgl. hierzu noch Hist. Vierteljahrsschr. 1903, S. 43 Anni. 1,
wo auch die betr. Stellen des Speculum Perfectionis herangezogen sind.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 77
der Kardinal zuletzt zu Franz sagt : „ Fili, quod bonum est
in oculis tuis, lac, quia Dominus tecum est." So bestätigen
die Genossen des Heiligen in der Vita secunda durch den
Mund Celanos die Angaben der Vita prima. Es ist freilich
eine ganz andere Frage, ob diese Angaben der beiden
Lebensbeschreibungen vollständig sind, ob sie alles bringen,
was über das Verhältnis der beiden Männer gesagt werden
konnte und heute zur richtigen Erkenntnis des Heiligen
festgestellt werden mufs. Darüber wird bei den kritischen
Einwänden zu sprechen sein, die gegen Celanos Darstellung
zu machen sind (s. u. S. 84 ff.). Hier genüge zunächst die
Feststellung, dafs sich hinsichtlich des Kardinals von Ostia
die bona fides Celanos, gemessen an den Anschauungen
seiner angeblichen Gegner und an den Schlüssen einer all-
gemeinen Untersuchung, bewährt.
Über die Anfänge des Ordens, über seine künftige
Gliederung in drei Zweige gibt die Vita prima nur recht
spärliche Angaben (I, 15); aber sie bestätigen, was ich nach
andern Quellen festzustellen versucht habe ^ : dafs der erste
Orden der Kern der franziskanischen Bewegung gewesen
ist und dafs der Klarissen- und Tertiarierorden ihm nur
angegliedert worden sind.
Wie schildert Thomas ferner die Gesinnung und die
Ziele des Heiligen ? Es ist früher ausgeführt worden ^,
dafs — entgegen allen neueren Konstruktionen — die
Ideale des Heiligen für uns nur aus seinen eigenen Auf-
zeichnungen, vor allem aus dem Testament, einwandfrei zu
erkennen sind und dafs nur von dort aus die Angaben der
Legenden kontrolliert werden müssen. In gleicher Weise
wie für die Entwicklung des Ordens das Testament und
die Mitteilungen Jakobs von Vitry als Quellen ausschlag-
gebend sind ^ , so auch für die Gedankenwelt des Heiligen
in erster Linie seine eigenen Aufzeichnungen.
Die wichtigsten Gedanken des Testamentes stehen auch
in der Vita prima : so die Befolgung des Evangeliums (I, 30),
1) Ilist. Vierteljahrsschr. 1903, S. 33 ff.
2) Vpl. oben S. 7.
3) Hist. Vierteljahrsschr. 1903, S. 23.
78 GOETZ,
das strenge Armutsideal (I, 14, 15, 19), die Pflege der
Leprosen (I, 7), das Gehorsarasideal (I, 15 und 17), die
Notwendigkeit der Handarbeit (I, 15, auch I, JO), das de-
mütige Verhältnis zu den Priestern, also zur Kirche (I, 15,
17, 22, 27; vgl, auch F.'s doch ganz freiwillige Reise nach
Rom I, 13). Wie wird von Thomas das strenge Leben
der ältesten Brüder gerühmt (I, 15) — es liegt in dieser
Schilderung der schärfste Gegensatz zu den laxen Anschau-
ungen, wie sie nach dem Tode des Heiligen im Orden
sich ausbreiteten.
An einem einzelnen Beispiele sei der enge Zusammen-
hang von Testament und Vita prima noch erläutert. Im
Kap. 17 des ersten Teiles ist nicht nur das Gebet, das
Franz den Brüdern lehrte, wörtlich angeführt und der Ge-
horsam in seinem Sinne beschrieben, sondern auch dieselbe
übertriebene Verehrung des Priesters wird gefordert und an
einem Beispiel gerühmt. Franz hatte im Testamente vor-
geschrieben, die Priester als „Herren" zu verehren und sich
ihrem Willen zu fügen, selbst wenn sie die Brüder ver-
folgten: denn er wolle an den Priestern keine Sünde sehen,
sondern den Sohn Gottes, weil sie das Sakrament verwalteten.
Dieser Anschauung entspricht, was Celano an der genannten
Stelle erzählt: dafs die Brüder nicht aufhörten bei einem
Priester zu beichten, obwohl ihnen seine vollendete Nichts-
würdigkeit mitgeteilt wurde, und dafs ein Bruder lange
Zeit gedrückt umherging, weil ihm dieser Priester — oder
ein anderer, sagt Celano — gesagt hatte: „Vide, frater,
ne sis hypocrita." Da ein Priester nicht lügen könne, so
müsse es wahr sein, meinte der betrübte Bruder. Franz
habe ihm dann darüber hinweggeholfen, indem er „verbum
sacerdotis exposuit et eins intentionem sagaciter excusavit."
In der Wiedergabe dieser Erzählung zeigt sich Celano also
in engster Übereinstimmung mit Franz, und zwar an einem
Punkte, der auf die Dauer gewifs nicht aufrechtzuerhalten
war und dem z. B. Bonaventura später direkt widersprochen
hat \
1) Bonaventura, Opera IX, S. 382.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 79
Das Testament des Heiligen läfst uns die Konflikte
spüren, die in seine letzten Lebensjahre fallen ; das Verbergen
dieser Konflikte hat man der Vita prima ganz besonders
schwer angerechnet. Aber nur, weil man diese Konflikte in
unrichtiger, viel zu weit gehender Weise vermutet hatte,
konnte man sagen, dafs Thomas sie verschweige; von den
Konflikten, die man auf Grund der Quellen und einer vor-
sichtigen Kombination feststellen kann ^, spricht die Vita
prima , wenn auch in zurückhaltender Form, wie es pietät-
voller Gesinnung nahe liegen mochte (s. u. S. 81 f.) ^.
Es ist zuzugeben, dafs ein wichtiger Punkt des Testa-
mentes, die Warnung vor päpstlichen Privilegien, in der
Vita prima nicht erwähnt wird und dafs überhaupt dem
Testament (trotz Zitaten und Anlehnungen an dasselbe) die
Bedeutung nicht eingeräumt wird, die Franz selber ihm
geben wollte. Aber wiederum mufs zur Vorsicht im Urteil
mahnen, dafs auch die Vita secunda das Testament in
gleicher Weise zurücktreten läfst und dals weder die Legenda
trium Sociorum noch auch das Speculum Perfectionis das
Testament und seinen Zweck im Sinne Franzens verwerten ^.
Sollte es nicht überhaupt eine unbillige Forderung sein,
dafs Thomas in seiner Vita prima alles und jedes hätte er-
wähnen und bedenken müssen , was w i r heute für wichtig
ansehen? Wie vieles hat er achtlos übergangen, was er
sicherlich gewufst hat * ; wie vieles mag er aus Pietät über-
gangen oder geglättet haben, um das Andenken des Heiligen
ganz hell erscheinen zu lassen und die vorhandenen Gegen-
sätze nicht zu verschärfen! Eine solche Vermutung wird
gerade dann wahrscheinhch, wenn man sich 1228 noch
keine offene Spaltung an der Geburtsstätte des Ordens
denkt.
1) Vgl. Bist. Vierteljahrsschr. 1903, S. 42 fif.
2) 1. Celano I, 11 (Hinweis, dafs es künftig auch minder gute Mit-
glieder im Orden geben werde), II, 3 (Hinweis auf indiskrete Genossen
des Heiligen), II, G (die Streber im Orden).
3) Vgl. oben S. 13.
4) Er nennt z. ß. (II, 10) den Namen der Kirche nicht, in der
Franz beigesetzt wurde; er spricht nur von dem „sacro loco", der da-
durch noch geheiligter geworden sei. — Vgl. ferner unten S. 86 f.
80 GOETZ,
Die der Vita prima Parteilichkeit vorgeworfen haben,
stützten sich immer mit besonderem Nachdruck auf den
Unterschied der Auffassung, der zwischen der ersten und
zweiten Vita bestehe. Aber sind die Unterschiede wirkhch
so grofs, wie man behauptet hat, und sind sie nur durch
einen Parteiwechsel Celanos zu erklären? Ich mufs es rund
bestreiten. Im grofsen Ganzen ist die Vita secunda genau
das, was sie sein will: eine Ergänzung zur Vita prima ^
Sie vermeidet in den weitaus meisten Fällen irgend etwas
zu wiederholen, was in der Vita prima bereits gesagt ist;
nur des Zusammenhangs halber wird hier und da notwen-
digerweise nochmals kurz berührt, was in der Vita prima
schon ausführlicher steht. Wenn trotzdem einige Male
einzelne Tatsachen in sich widersprechender Weise be-
richtet sind, so mufs man das dem Verfasser, der kein
kritischer Forscher war, wohl zu gute halten ■ — man wird
in jener Zeit kaum einen Anstofs daran genommen haben ^.
Hinsichtlich der Gesamtanschauung Celanos ist zuzugeben,
dafs sie 1247 etwas anders ist als 1228. Es fragt sich
1) Auch Loofs, Christi. Welt (1894), S. 636 meint, nach dem
Sturze des Elias sei die erste Vita unbrauchbar geworden und das
Generalkapitel habe eine neue Vita gewünscht. Aber die Vita sec.
ist kein selbständiges Ganzes; das ist sie nur gemeinsam mit der
Vita prima.
2) Solche Einzelwidersprüche finden sich z. B. in 1. Gel. I, 10 und
2. Gel. I, 10 (und III, 52) hinsichtlich des ersten Jüngers; doch ist
dabei auf 2. Gel. II, 17 hinzuweisen, wo Übereinstimmung mit 1. Gel.
I, 10. Die Vita pr. hat gewifs mit ihrer Angabe recht; dafs der un-
bekannte, dem Orden vielleicht wieder verloren gegangene Jünger in der
späteren Überlieferung verschwand, erklärt sich leicht. Ferner ver-
schiedenartige Schilderung der Eltern in 1. Gel. I, 1 und 2. Gel. I, 1
und so noch öfters. Die Abweichungen der Vita sec. sollten z. T. wohl
Verbesserungen der Vita prima sein (z. B. in 2. Gel. I, 2 einige Klei-
nigkeiten anders als in 1. Gel. I, 2); z. T. sind sie gewifs nur Unacht-
samkeiten, die damals von niemand schlimm genommen wurden. — Hinsicht-
lich zweier Stellen, die Sabatier, Spec Perf., S. C Anm. 2 als Wider-
sprüche zwischen den beiden Viten bezeichnet hatte (betr. Benedictio
und Stigmen), ist inzwischen der Nachweis geführt worden, dafs keine
Widersprüche vorliegen: Anal. Bolland. XIX, S. 62. Vgl. auch unten
S. 83.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL FRANZ VON ASSISL 81
nur, ob diesei' Unterschied auf einen Frontwechsel zurück-
geführt werden mufs oder nicht weit besser auf die Ent-
wickhing des Ordens und auf die allgemeine Umgestaltung
mancher Anschauungen im Laufe eines tür die Minoriten
erfahrungsreichen halben Menschenalters. Die wesentlichen
Anschauungen des Heiligen sind doch in beiden Viten ganz
die gleichen. Das Armutsideal und die Demut, der Gehor-
sam und die Askese, die Unterwerfung unter Kirche und
Priester, die Vorbildlichkeit des Evangeliums, die Leprosen-
pflege und das Verhältnis zur Natur — das alles steht in
der Vita prima so eindringlich wie in der Vita secunda.
Soll man nun Celano tadeln oder bösen Willen voraussetzen,
weil er 1247 eine Reihe von Fragen — Einzeldinge gegen-
über den Hauptanschauungen des Heiligen — behandelt,
die er in der Vita prima noch nicht berührt hatte? Thomas
hatte für seine zweite Arbeit nicht nur zahlreiche Ergän-
zungen seines früheren Wissens erhalten — deshalb sollte
ja die neue Schrift verfafst werden — sondern es wurde
auch erst in späterer Zeit notwendig, einreifsenden Mifs-
ständen gegenüber auf den Willen des Heiligen zurück-
zugreifen. Das war der natürliche Gang der Dinge. So-
lange Franz lebte und gewifs auch noch eine Weile
nach seinem Tode wagten sich die Abweichungen von
seinen Vorschritten und Wünschen noch nicht so stark her-
vor; aber in den folgenden zwei Jahrzehnten wird, ja mufs
vieles geschehen sein, was die Vermenschlichung der Ordens-
ideale anzeigte. Und vor allem bedeutete das Generalat
und die Absetzung des Elias (1233 — 1239) die allerschmerz-
lichste Erfahrung für die Ordensmitglieder; gleichviel ob Elias
zu einer bestimmten Partei gehörte oder nicht: er verkörperte
jedenfalls einen Abfall von dem Lebensideal des Ordens-
stifters. Ergab sich daraus nicht tür die ehrlichen Anhänger
des HeiHgen die Verpflichtung, strengere Mafsstäbe anzu-
legen, die Ideale der Gründungszeit schärfer und eingehender
zu betonen? Deshalb in der Vita secunda die spezielleren
Ausführungen über das Armutsideal: das Bekämpfen des
Häuserbesitzes, der gelehrten Arbeit und des Büciiersamraelns
und der Hafs gegen das Geld; ferner die Ermahnungen zum
82 GOETZ,
Bettel, zum geistlichen Frohsinn und zur Einfalt, die War-
nungen vor dem Müfsiggang, vor jeder Berührung mit
Frauen und vor dem Aufenthalt an einer curia. Deshalb
aber auch das Vorhandensein mehrerer Kapitel, die sich
ohne direkte Berührung mit dem biographischen Zweck nur
auf Mifsstände der Zeit von 1247 beziehen *.
Man hat den Unterschied der beiden Viten in der Be-
handlung des Elias ganz besonders betont; ergab sich aber
nicht gerade diese Verschiedenheit aus dem Schicksal des
Elias? Sein Name — seit 1239 im Orden verfemt — ist
in der Vita secunda allerdings nicht genannt, aber aus-
gemerzt ist er trotzdem aus der Erzählung nicht : als vicarius
Sancti tritt er häufig genug als ein bekannter Unbekannter
auf, und was einmal in der Geschichte des Heiligen mit
Elias zusammenhing, ist nicht verschwiegen worden ^. Nur
an einer Stelle könnte man von einem wirkhchen Gegensatz
der beiden Viten sprechen. In der ersten Vita II, 7 segnet
Franz auf dem Totenbett vor allen andern Brüdern den
Elias: „Te, fili, in omnibus et per omnia benedico, et sicut
in manibus tiiis fratres meos et filios augmentavit Altissimus,
ita et super te et in te omnibus benedico Bene-
dico te sicut possum et plus quam possum et quod non
possum ego, possit in te, qui omnia potest. Recordetur Deus
operis et laboris tui et in retributione justorum sors tua
servetur. Omnem benedictionem , quam cupis, invenias, et
quod digne postulas, impleatur." In diesen Worten des
Sterbenden liegt eine solche Fülle der Anerkennung, dafs
man zugleich die absichtliche Designation des Nachfolgers
darin sehen möchte. Nun bestätigt die Vita secunda III,
139 durchaus, dafs Franz auf dem Sterbebette die Brüder
segnete und damit bei Elias begann („incipiens a vicario suo")
— freilich ohne die Segensworte der Vita prima zu wieder-
holen, was sich aber aus der ergänzenden Art der Vita
1) So 2. Celano III, 98. 111. 113. 124, vielleicht auch 115.
2) Vgl. 2 Celano III, 77 und 139, — Bei den Erwähnungen des
vicarius Sancti (II, 1 und 4; III, 134. 139) ist freilich nicht sicher zu
sagen, ob sich nicht eine dieser Stellen auf Petrus Cataneus bezieht;
auch dieser wird mehrfach (III, 13. 35. 115) als vicarius bezeichnet.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 83
secunda oder besser noch aus dem inzwischen eingetretenen
Abfall des Elias genugsam erklären würde. An einer andern
Stelle der Vita secunda jedoch (III, 116) gibt Franz, als man
ihn in seiner letzten Lebenszeit bittet, einen Nachfolger zu be-
zeichnen, seufzend das Urteil ab: „tarn multimodi exereitus
ducem, tarn ampli gregis pastorem nullum sufficientem in-
tueor;" dann beschreibt er den Jüngern, wie ein voll-
kommener Generalminister beschaffen sein müsse.
Ich will es nicht versuchen, den Widerspruch zu lösen,
indem ich den Segen der Vita prima als möglich hinstelle
neben dem Urteil der Vita secunda, dafs kein zum General-
ministeramt vollkommen geeignetes Mitglied im Orden
vorhanden sei. Aber eine andere Lösung bleibt jedenfalls,
die in den Kreis der hier vertretenen Anschauungen pafst
und auch an dieser Stelle ein Zugeständnis an Sabatier aus-
schliefst ^. Thomas neigte in der Vita prima unzweifelhaft
dazu, Gregor IX. und Elias zu feiern: sie waren nicht nur
seine Auftraggeber, sondern auch die am stärksten hervor-
tretenden Freunde des HeiUgen. So mag die benedictio,
an deren Tatsache nach der Vita secunda nicht zu zweifeln
ist, eine übertreibende Fassung erhalten haben. Dann aber
bleibt es sehr wohl möghch, dafs Franz zu anderer Zeit
— die Vita secunda sagt: prope finem vocationis — sich
den vertrautesten Jüngern gegenüber dahin ausgesprochen
hat, dafs für seine Nachfolge keiner alle notwendigen Eigen-
schaften besitze. Das konnte Franz aussprechen, so freund-
schaftlich er auch Elias gesinnt war — ein Unterschied
zwischen warmer persönlicher Freundschaft und der un-
bedingten Empfehlung für das oberste Amt des Ordens
durfte gemacht werden. Nachdem Elias gescheitert war,
mögen die vertrauten Genossen mit diesem Urteil des Hei-
ligen hervorgetreten sein — vielleicht dafs die Wiedergabe
des Urteils erst dadurch so ausführlich und eindringlich
geworden ist, weil man es post eventum formulierte. Die
Einwände, die man gegen die unbedingt wortgetreue Zu-
verlässigkeit der ersten wie der zweiten Vita selbstverständ-
1) Vgl. Sabatier, Speculura Perf., S. XCIX f.
84 GOETZ,
lieh überall machen mufs, mindern vielleicht hier den scharfen
Gegensatz im wesentHchen ab ^
Um es zusammenzufassen: die Vita secunda zeigt nicht,
dafs ihr Verfasser sich inzwischen reuig zu den wahren
Idealen des Heiligen bekennen gelernt hatte, sondern sie
zeigt vielmehr, wie stark inzwischen das Ideal verfallen war
und an wie vielen Punkten es der herben Ermahnung be-
durfte. Die Vita secunda mit ihrer etwas veränderten Be-
trachtungsweise war das Ergebnis einer Entwicklung der
Geister, die wie andere auch Thomas von Celano durch-
gemacht hatte und der sich aller Wahrscheinlichkeit nach
auch die vertrauten Jünger des Heihgen nicht entziehen
konnten — wenn anders ihre Stellung zu Thomas und zu
Gregor IX. im Jahre 1228, wie sie oben bestimmt worden
ist, sich als richtig erweist.
Das Ergebnis dieser Betrachtungen ist, dafs
Thomas von Celano seine Vita prima ohne die
Absicht parteiischer Darstellung und ohne einen
Gegensatz zu den vertrauten Jüngern des Hei-
ligen geschrieben haben mufs.
Wollte nun aber jemand bei diesem Ergebnis Leben
und Anschauungen des Heiligen auf Grund der Vita prima
vertrauensvoll schildern, so würde doch nur eine halbe
Arbeit zu stände kommen. Die subjektiv treue Gesinnung
Celanos ist doch noch keine ausreichende Gewähr für ein
objektiv treues Bild. Man mufs vielmehr nach dieser mora-
lischen Rechtfertigung Celanos nachdrücklichst betonen, dafs
seine Vita prima dennoch starke Mängel hat ^. Ein Teil
davon ist oben schon erwähnt worden: nur weniges von
dem, was Thomas schildert, hat er selbst erlebt. Gestützt
1) Eine solche Erläuterung müfste auch der Zusatz der Vita secunda
zu der benedictio des Elias und der andern Brüder finden: „Nullus
sibi hanc benedictionem usurpet, quam pro absentibus in praesentibus
promulgavit." Aber die Beweiskraft dieser ganzen Stelle, deren richtiger
Text durch Alen^on (Etudes franc. IX, S. 205) gegeben worden ist,
verliert zunächst dadurch wieder an Wert, weil sie im Ms. von Marseille
ganz fehlt: vgl. van Ortroy, Anal. Boll. XXII, S. 195—202.
2) Vgl. dazu Minocchi, Nuovi studi, S. 82.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 85
auf mündliche Berichte anderer Leute wird er ferner den
Unsicherheiten solcher Berichterstattung, dem Zufall subjek-
tiver Eindrücke nicht entgangen sein. Es wurde bereits
angedeutet, dafs Thomas sicherlich bis zu einem gewissen
Mafse im Banne seiner Auftraggeber stand, dafs er Gregor IX
und Elias als seine besten Gewährsmänner ansah und des-
halb auch mit Lob lür sie nicht geizte: Gregors Verhältnis
zu Franz ist überschwenglich ausgemalt und die benedictio
des Elias scheint übertreibend gefafst zu sein *. Dabei sind
weder Gregor noch Elias von Thomas charakterisiert ; man
erfährt nicht, dafs sie andere Naturen waren als Franz. Die
Unfähigkeit, treffend zu charakterisieren, tritt vor allem
auch da hervor, wo Thoraas den Heiligen selber in seinem
Wesen zu kennzeichnen versucht (I, 29). Nach dem, was
er an dieser Stelle von Franz rühmt, scheint dem Heiligen
nichts an menschlicher Vollkommenheit gefehlt zu haben.
Ganz gleichmäfsig betont stehen alle Tugenden nebenein-
ander: er ist unschuldig und einfach in Taten und Worten,
liebt Gott und die Menschen, ist gehorsam und sanft in
seinem ganzen Wesen, freundlich in Reden, entgegenkommend
bei jeder Ermahnung, aufs höchste zuverlässig, vorsichtig
im Rat, eifrig in der Tat, stets heiter und klaren Geistes,
sich erbaulichen Betrachtungen widmend, fleifsig im Gebet,
sich ganz seinen Bestrebungen hingebend, immer derselbe
bleibend, rasch im Verzeihen, langsam im Zürnen, freien
Geistes, klaren Gedächtnisses, scharfsinnig und umsichtig,
streng gegen sieh selber, wohlwollend gegen andere, discretus
in Omnibus; dabei höchst beredt, immer gütig, Feind der
Trägheit und der Hoffart, so demütig wie nur möglich,
omnium moribus se conformans: fromm unter den Frommen,
unter den Sündern wie ein Sünder. — Diese Charakteristik
— im Urtext noch viel stärker eine rhetorische Häufung
1) Dafs der Kardinal von Ostia in der letzten Lebenszeit des Hei-
ligen den Orden ganz geleitet und dafs sich Franz ihm in jeder Weise
unterworfen habe (1. Celano II, 5), ist aus andern Quellen nicht zu
kontrollieren; bei dem zunehmenden Siechtum Franzens ist es aber
möglich, dafs Thomas die Wahrheit berichtet hat.
86 GOETZ,
ähnlicher Eigenschaften — hat vor allem den Mangel, dafs
sie zu viel des Guten geben will und die wesentlichsten
Charaktereigenschaften in keiner Weise vor andern hervor-
hebt : Franz tritt infolgedessen nicht klar hervor. Aus dem,
was Thomas in der ersten und in der zweiten Vita hier und
dort zerstreut an Einzelheiten über das Wesen des Heiligen
angibt, läfst sich weit eher ein deutliches Bild gewinnen als
aus jener Anhäufung so vieler guter Eigenschaften. Wie viele
Züge fehlen in dieser Mustercharakteristik, die wichtiger
sind als diese zum Teil etwas landläufigen Tugenden! Es
fehlt die schroffe Wahrheitshebe, mit der er sich selbst in
der Predigt eines Vergehens schuldig bekennt (1. Gel. I, 19);
es fehlt die Fähigkeit, auf Menschen einzuwirken, und die
tief blickende Menschenkenntnis, die den Brüdern manchmal
wie ein Wunder erschien (1. Gel. I, 17 und 18); es fehlt
das angeborene Feingefühl, das ihn alle detractatores ver-
abscheuen läfst (2. Gel. in, 115); es fehlt die kindliche
Naivität seines Wesens (2. Gel. III, 67), aber auch die
zeitweiHg hervortretende Selbstgewifsheit, mit der er im
göttlichen Auftrag zu handeln glaubt; es fehlt das Über-
mafs an Aufopferungsfähigkeit und an Empfindsamkeit vor
allem für die Passion Ghristi, jenes beständige Leben in den
„hohen, unruhigen Regionen der Exaltation" ^
Ist Thomas etwa, wenn er die wesenthchen Seiten des
Heihgen nicht hervorzuheben verstand, entschuldigt durch
eine Zeit, der die Fähigkeit schärferer Gharakteristik der
Persönhchkeiten mangelte? Will man Thomas auch diese
Entschuldigung zubilligen, so bleibt eben doch bestehen,
dafs seine Arbeit an dieser Stelle unzureichend ist, und dafs
sie aus andern Quellen ergänzt werden mufs; und Thomas
erscheint doch schuldiger, wenn man zum Vergleiche heran-
zieht, mit wie wenigen Worten Jordanus a Jano die ein-
dringendste Gharakteristik des Heiligen gegeben hat: „om-
nia per humilitatem maluit vincere quam per iudicii potes-
tatem" '^.
1) Thode, Franz von Assisi, S. 21.
2) Anal. Francisc. I, S. 5.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 87
Wie unvollkommen ist ferner der Versuch, die Bedeutung
Franzens für Religion und Kirche zu bestimmen (l. Gel. II, l).
Die Rückkehr zum Evangelium ist wohl angedeutet: mit
der doctrina evangelica und dem exemplo Apostolorum
überwindet er alle menschliche Weisheit, erneuert er die
alte Religion und die Wunder früherer Zeiten; er erreicht
eine vollkommene sanctitas und wird ein Beispiel für Alle.
Damit hat Thomas Richtiges wohl berührt, aber erfafst ist
die Besonderheit der Religiosität des Heiligen und ihre ge-
schichtliche Stelking doch keineswegs. Vielleicht stellt man
auch hier an Thomas und seine Zeit unerfüllbare Forde-
rungen; die Hauptsache aber ist, dafs der Forscher über
Thomas hinaus die Unvollkommenheit seiner Nachrichten
ergänzen mufs, anstatt ihn etwa für eine vollkommene
Quelle anzusehen.
Unerfüllt bleibt ferner, was Thomas im Prolog der Vita
prima ankündigt: der erste Teil werde in zeitlicher Folge
Bekehrung und Leben des Heiligen schildern („historiae
ordinem servaf). Wie froh wären wir, wenn diese Zusage
ausgeführt worden wäre! Statt dessen bricht die chrono-
logische Schilderung schon mit dem Jahre 1212 ab, und
erst im letzten Kapitel erscheint als nächstes sicheres Datum
Weihnachten 1223. Für die Zwischenzeit aber gibt Thomas
eine zum gröfsten Teile zeitlich ungeordnete Summe von
Mitteilungen und statt erwünschter klarer Kunde häuft
er uns nur die Schwierigkeiten hinsichtlich der dunklen Ge-
schichte des Ordens in seinem ersten Jahrzehnt. Wie gerne
hätten wir nähere Auskunft über die Entwicklung der Ge-
meinschaft aus loseren Formen zu festerer Organisation,
über die Leitung des Ordens und über die Generalkapitel,
über die Anlange der Klarissen und der Tertiarier, über
den Beginn der auswärtigen Missionen u. s. w. Über keinen
dieser Punkte gibt Thomas eine befriedigende Auskunft —
so eingehender Bericht scheint nicht im Zwecke seiner Arbeit
gelegen zu haben. Man kann es mit einer andern Richtung
seiner Absichten erklären; aber mit solchen mehr erbau-
lichen als historiographischen Zwecken läfst sich doch nicht
entschuldigen, dafs Thomas auch die Ereignisse von 1219/1220
88 GOETZ,
— die Krisis des Ordens in Italien während Franzens Auf-
enthalt im Orient — vollkommen verschweigt. Man würde
hier eine Tendenz vermuten müssen, wenn eine solche nicht
grundsätzlich abzulehnen wäre und Avenn nicht die Vita
seeunda — und ebenso das 8peculum Perfectionis und die
Legenda trium Sociorum! — in gleicher Weise darüber
schwiegen. Wir sind über diese Vorialle freilich nur durch
Jordanus de Jano (n. 13 — 15) unterrichtet, aber es ist un-
denkbar, dafs er diese Ereignisse erfunden haben sollte.
War für Thomas nicht der Erwähnung wert, was in der
Geschichte des Ordens so stark Epoche gemacht, was die
Rückkehr Franzens aus dem Orient, die festere Organisation
der Gemeinschaft, die Erwählung eines Kardinalprotektors
und die Abfassung einer neuen Regel zur Folge gehabt
hatte? Es läfst sich der Verdacht nicht abweisen, dafs
Thomas sowohl 1228 wie 1247 gemeinsam mit den Genossen
des Heiligen diese Episode der Ordensgeschichte — in ihrer
Veranlassung wenigstens — für so unerfreulich gehalten hat,
dafs er lieber davon schwieg. Das Bild des Heiligen sollte
möglichst ungetrübt erscheinen — eine Parteilichkeit weit
eher für als gegen den Heiligen! Dann hat auch hierbei
der erbauliche Zweck über die genaue biographische Dar-
stellung gesiegt. Und das ist der Gesamteindruck, den man
schliefslich doch von der Vita prima hat : sie ist bona fide
geschrieben, aber neben ihren mancherlei begreiflichen
Mängeln steht als stärkster P^inwand, dafs sie offenbar in
erster Linie erbaulichen Zwecken dienen sollte.
2. Die Vita seeunda des Thomas von Celano.
Die zweite Lebensbeschreibung des hl. Franz, die Thomas
von Celano verfafst hat, ist erst in neuester Zeit für die hi-
storische Forschung wieder entdeckt worden. Sie fehlt in den
Acta Sanctorum, und obwohl Rinaldi sie 1806 zusammen mit
der Vita prima herausgab, blieb sie dennoch so gut wie
unbekannt. Georg Voigt stellte, ohne Rinaldis Ausgabe zu
kennen, das Vorhandensein einer zweiten Vita Celanos aus
Zeugnissen des 13. Jahrhunderts unzweifelhaft fest; indem
er sie dann aber selber zu benutzen glaubte, verwechselte
I
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 89
er sie mit dem erst viel später kompilierten Speculum Vitae,
und so gilt seine scharfe Kritik an der Unzuverlässigkeit der
Quelle in Wahrheit nicht der Vita secunda ^. Ehrle hat —
Voigts Irrtum aufklärend — die Erörterungen über die
Existenz der Vita secunda fortgesetzt ^ ; Karl Müller hat ihr auf
Grund des von Amoni 1880 besorgten Neudrucks der Ri-
naldischen Ausgabe die erste kritische Untersuchung gewid-
met — freilich mit einem wenig günstigen Ergebnis ^. In
dieser Richtung bewegt sich auch die Anschauung Sabatiers
vom Werte der Vita secunda: der trügerische Verfasser der
Vita prima habe zwar die Front ein wenig gewechselt und ver-
wende wertvolles Material , das ihm von anderer Seite ohne
sein Verdienst zugeführt wurde, aber er gestalte doch alles
in seinem Sinne um, sich von der echten Überlieferung ent-
fernend ■*. Seit Sabatier im Speculum Perfectionis die echte
Überlieferung und den besten Teil von Celanos Material ge-
funden zu haben glaubte, sank für ihn der Wert der Vita
secunda noch mehr. Van Ortroy war dann der erste (so-
weit es sich wenigstens um wissenschaftliche Beweisführung
handelt', der die Vita secunda höher einschätzte ^.
In den vorangehenden Erörterungen über die Vita prima
ist die Stellung der Vita secunda zum Teil bereits bestimmt. Es
wurde festgestellt, dafs die vertrauten Gelahrten des Heiligen
an der Abfassung der Vita secunda als Freunde Celanos teil-
1) Voigt, Denkwürdigkeiten des Jordanus von Giano, Abhandl. d.
Sachs. Ges. d. Wiss. XII, 455 if. — Die Beweise dafür, dafs Celano tat-
sächlich eine zweite Vita geschrieben: ebd. S. 457 if. Vjrl. dazu noch
Vita sec. III Kap. 143. Dafs Bernhard von Bessa bei seiner Aufzäh-
lung der Quellen die Vita sec. nicht nennt, kann die obigen Beweise
nicht erschüttern. Auch Angelo Clareno und der mit ihm verwandte
Anonymus Capponianus zeigen, dafs man später über die ältesten Quellen
nichts Richtiges mehr wufste.
2) Zeitschr. f. kath. Theol. VII (1883), 393 flf. — Dafs vorher Pan-
filo da Magliano in seiner Storia compendiosa dl San Francesco
(1874) die Vita sec. bereits benutzt hatte, ist bei dem gänzlich kritik-
losen Charakter dieses Buches bedeutungslos.
3) K. Müller, Die Anf. des Minoritenordens (1885), S. 175 — 184.
4) Sabatier, Vie de S. Fran^ois, S. LXXIIIff.; Speculum Perf.,
S. CXVIff. Vgl. oben S. G9 Aum. 1.
5) Anal. Boll. XIX, 140 f.
90 GOETZ,
genommen haben müssen, dafs die subjektive Ehrlichkeit da-
durch gewährleistet wird, dafs der Gedankenkreis der Vita
secunda die allgemeine Entwicklung und Wandlung der An-
schauungen von 1228 bis 1247 widerspiegelt und dafs sie
trotz einzelner Widersprüche und Wiederholungen die plan-
mäfsige Ergänzung zur Vita prima ist. Die Notwendigkeit
solcher Ergänzung lag, wie leicht erklärlich, vor : was neben
der Vita prima inzwischen an Legenden über den Heiligen
erschienen war (Julian von Speier, gereimte Legenden, Jo-
hannes von Ceperano?), beruhte fast ganz auf dem Material
und selbst dem Wortlaut der Vita prima; eine neue selb-
ständige Darstellung war seitdem nicht versucht worden.
Neues Wissen über den Heiligen war aber unzweifelhaft in-
zwischen reichlich zutage gekommen, und die Entwicklung
des Ordens mochte es erforderlich erscheinen lassen, die-
jenigen Ideale jetzt verstärkt zu betonen, deren Vernach-
lässigung dem Orden schweren Schaden gebracht hatte. Die
Vita prima war nicht unmöglich geworden, wie Sabatier
meint ^, sondern sie forderte aus doppeltem Grunde eine Er-
gänzung, nicht aber einen vollständigen Ersatz.
Der volle Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptungen
mufs noch an dem Text der Vita secunda geführt werden.
Nun zeigt sich aber bei der ersten Prüfung dieses Textes,
dafs er sich im Inhalt und Wortlaut immer wieder aufs
engste mit den beiden Quellen berührt, die man als Legenda
trium Sociorum und als Speculum Perfectionis bezeichnet.
Man kommt nicht eher vorwärts, als bis man das Verhältnis
der Vita secunda zu diesen beiden Schriften festgestellt hat.
Indem ich beide nur in ihrem Verhältnis zur Vita secunda
prüfe und ihnen nicht selbständige Abschnitte widme, spreche
ich in gewisser Hinsicht bereits ein Urteil aus: die Vita se-
cunda ergibt sich als die gesichertste von diesen Quellen,
obwohl ich den hohen Wert der Erzählungen des Speculum
Perfectionis nicht verkenne ^.
1) Sabatier, De l'authenticite de la Legende de S. FranQois, S. 13.
2) Rinaldis Ausgabe der Vita sec. fufste auf der Handschrift 686
der Bibl. coramnnale zu Assisi. Amoni tat bei dem Wiederabdruck
nichts für die kritische Sicherstellung des Textes. Variantes seu cor-
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 91
a) Verhältnis der Vita secunda zur Legen da
t r i u m S o c i o r u m.
Man hat die längste Zeit gemeint, die Vita secunda und
die Legenda trium Sociorum seien fast zu gleicher Zeit ent-
standen. Die Legenda trium Sociorum ist nach dem ihr
vorangestellten Schreiben der drei Genossen an den General-
minister Crescentius auf Veranlassung des Generalkapitels
von 1244 begonnen und am 12. August 1246 — dem Ab-
sendungstage des Schreibens — vollendet gewesen ; die Vita
secunda ist, wie oben bereits ausgeführt wurde, zwischen
1244 und August 1247 verfafst. Weil aber Inhalt und
Wortlaut der beiden Schriften sich stellenweise stark be-
rühren, so nahm man an, dafs Thomas für die Vita secunda
die Legenda trium Sociorum noch benutzt habe '.
rectiones zu RinakUs Ausgabe stehen in dem seltenen Druck der Vita
trium Sociorum, Pisauri 1828; vgl. dazu Ehrle, Zeitschr. f. kath. Theol.
VII, 395. — Wie unsicher der gedruckte Text ist, zeigen nicht nur
einzelne zutage liegende Unrichtigkeiten, sondern auch die von Sabatier
an verschiedenen Stellen des Speculum Perf. gegebenen Proben aus der
Originalhandschrift in Assisi, ferner P. Ed. Alencons Mitteilungen
(Etudes francisc. IX, 204 fF.) und ein Vergleich mit der Handschrift in
Marseille, deren Abschrift Sabatier mir freundlichst zur Verfügung
stellte. — Es sind bisher nur zwei Handschriften bekannt: die erwähnte
in Assisi und eine zweite im Musee franciscain zu Marseille; beide aus
dem 14. Jahrhundert. Beide Handschriften weichen stark voneinander
ab; vgl. Mise. Franc. VII, 80 und Anal. Boll. XVIII, 85 ff., 101 ff. So
fehlen z. B. in der Handschrift von Marseille der Prolog, der Introitus
ad secundum (wie denn überhaupt die Einteilung der Vita in drei Teile
fehlt), die Kapitel II, 12. 16. 15. 22 und III, 26. 102. 103—107. 143;
dafür hat diese Handschrift drei Kapitel mehr. — Über Bruchstücke
einer dritten Handschrift in Popi)i vgl. Anal. Boll. XVIII, 103 f. — Dafs
P. AleuQon eine kritische Ausgabe sowohl der Vita prima wie secunda
vorbereitet, wurde bereits erwähnt.
1) Karl Müller, Anfänge, S. 180 vermutete, die Übereinstimmung
sei aus der Benutzung der gleichen Quellen, die zwischen der Vita i)rima
und 1247 liegen, entstanden. Dom steht aber entgegen, dafs die Leg.
tr. Soc. Neues geben will, wie es in der Epistola heifst: Der General-
minister möge es, wenn es ihm beliebe, den vorhandenen Legenden ein-
reihen lassen. Die Frage erledigt sich natürlich, wenn die Leg. tr. Soc.
überhaupt keine originale Quelle ist.
92 GüETZ,
Nach Sabatiers Meinung haben die Kämpfe im Orden zu
einer konkurrierenden Geschichtschreibung der beiden Par-
teien geführt. Das Generalkapitel von 1244 beschlofs die
Abfassung einer neuen Legende und forderte zur Einsendung
von Material auf; während sich Thomas von Celano im
Interesse seiner Partei von neuem an die Arbeit machte^
sehrieben auch die vertrauten Gelahrten des Heiligen von
ihrem Standpunkte aus eine Legende und schickten sie, noch
ehe Thomas seine Arbeit beendigt hatte, dem Generalminister
mit einem Schreiben zu, das ein „chef-d'oeuvre de malicieuse
bonhomie a l'adresse des biographes officiels du saint" sei ^
Thomas von Celano benutzte darauf die neue wertvolle
Quelle noch für die Fortsetzung seiner Arbeit ; er schmückte
sich nicht nur mit den Verdiensten seiner Feinde, sondern
er machte die Öffentlichkeit auch noch glauben, dafs die
vertrauten Genossen des Heiligen seine treuen Helfer ge-
wesen seien ^. Das Werk der Genossen aber verfiel der
Zensur und der Verfolgung der mächtigeren Partei.
Ich habe früher bereits zu beweisen versucht, dafs ein
derartiger literarischer Betrug Celanos eine Unmöglichkeit
ist ^. Ich scheide hier deshalb aus , was in der Richtung
solcher Annahmen liegt; es kann sich allein darum handeln,
ob die drei Genossen vor Thomas von Celano ebenfalls eine
Legende geschrieben haben, die von ihm benutzt werden
konnte. Es bliebe dann noch immer die Möglichkeit, dafs
die Arbeit der drei Genossen beiseite geschoben worden wäre.
Sabatier stützte seine Vermutung nicht nur auf das Vor-
handensein von Gegensätzen im Orden. Es war ihm —
1) Sabatier, De l'authenticite, S. 12.
2) S. oben S. 69. Sabatier nimmt an , dafs Celano unter dem Ein-
flüsse der Leg. tr. Soc. die Fortsetzung der Vita sec. in einem neuen
Geiste geschrieben habe: ,, Celano lui-meme, qui au premier moment avait
pris au pied de la lettre les formules de politesse du chapitre, finit par
comprendre et par refondre completement son ceuvre " (De l'authenticite
de la Legende de S. Frangois, S. 14). Man versteht dann wirklich nicht,
warum dieser wandlungsfähige Schriftsteller nicht seine ganze Arbeit
entsprechend umgofs, sondern der Welt den Einblick in seine Charakter-
losigkeit so leicht machte!
3) S. oben S. 66 ff.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 93
schon 1894 ^ — aufgefallen, dafs die überlieferte Legenda
trium Öociorum mit ihrem Inhalt nicht zu den Verheifsungen
des erwähnten Schreibens an den Generalminister passe: er
schlofs daraus, dafs die erhaltene Legende ein Bruchstück
sein müsse — der Rest war der Zensur der Ordensoberen
zum Opfer gefallen. Im Speculum Vitae, einer weit späteren
Kompilation, glaubte Sabatier Spuren der unterdrückten Teile
zu finden. Während er dann nach dem vollständigen Ori-
ginal suchte und dabei das Speculum Perfectionis (1898) ent-
deckte, traten, angeregt durch Sabatiers Vermutungen, zwei
italienische Franziskaner, Marcellino da Civezza und Teofilo
Domenichelli, 1899 mit der „wahren" Legenda trium Socio-
rum hervor: in einer italienischen Übersetzung vielleicht des
14. Jahrhunderts, die aufser der überlieferten Legende noch
eine grofse Zahl neuer Kapitel enthielt, glaubten sie das
(lediglich übersetzte) Original des Werkes der drei Genossen
gefunden zu haben ^. Vermutungen und Funde griffen hier
so treffend ineinander, dafs man zunächst vor glänzenden
wissenschaftlichen Entdeckungen zu stehen meinte -^ Es
kamen wohl Zweifel und Widerspruch, aber eine Weile stand
der durch diese Funde allem Anschein nach bestätigten Meinung
Sabatiers nichts mit ähnlicher Geschlossenheit gegenüber *.
Aber ehe noch die Frage von der Richtigkeit der „voll-
1) Vie de S. FranQois, S. LXIIIfF.
2) La Leggeiida di Sau Francesco, scritta da tre suoi coniparjni
(Legenda triam Sociorum) pubblicata per la prima volta nella vera sua
intcgritä dai Padri Marc, da Civezza e Teof. Domenichelli dei Minori.
Roma 1899.
ü) Ich bekenne gerne, dafs ich bei der ersten Anzeige dieser neuen
Legenda tr. Soc. (N. Jahrb. f. d. klass. Altert., Gesch. u. Lit. 1900,
S. 621 ff.) an die Richtigkeit des Ergebnisses glaubte. Ich bin erst durch
neue Prüfung dieser Fragen uod vor allem durch van Ortroys gleich zu
erwähnenden Aufsatz zu anderer Anschauung gekommen.
4) Vgl. Tocco, Arch. st. ital. Serie V, t. XXXIII, 183 flf. ; Della
Giovanua im Giern, stör. d. lett. ital. XXXI II (1899); Faloci-
Pulignani, Mise. Franc. VII (1899); Minocchi, Arch. stör. ital.
Serie V, lid. XXIV und XXVI (1899 und 1900; als eigene Schrift unter
dem Titel: La „Legenda trium Sociorum". Nuovi studi suUe fonti bio-
grafiche di San Francesco 1900); Barbi, Bulletino della Soc. Dantesca,
N. Serie VII (I9ü0).
94 GOETZ,
ständigen" Legenda trium Sociorum geklärt war, erschien
ein Aufsatz van Ortroys, der sieh um die Behauptungen der
beiden italienischen Franziskaner gar nicht kümmerte, son-
dern die alte Legenda trium Sociorum kurzerhand für eine
wertlose Kompilation, zusammengestellt aus den beiden Bio-
graphien Celanos, aus JuHan von Speier, Bonaventura und
anderen Quellen des 13. Jahrhunderts, erklärte — für bei-
nahe jeden Abschnitt zeigte van Ortroy die fremde Herkunlt ^
Es war die stärkste Überraschung in der Reihe von Ent-
deckungen, die seit 1898 zum Vorschein gekommen waren:
die bisher nie bezweifelte Legende der drei Genossen, die
Sabatier früher unter allgemeiner Zustimmung „le plus beau
monument franciscain et l'une des productions les plus de-
licieuses du raoyen äge" hatte nennen können ^, wurde von
ihrem Platze gestofsen, und noch dazu von der Hand eines
in der Franziskanerforschung gewifs konservativ Gesinnten.
Die Rollen vertauschten sich: Sabatier, bisher der Zerstörer
der alten Legenden, der von den Strenggläubigen bekämpfte
Anwalt neuer Anschauungen, wurde zum Verteidiger der
Tradition gegenüber van Ortroy, dem Mitgliede des Jesuiten-
ordens! ^
Van Ortroy stützte seine Beweisführung auf folgendes.
Das der Legende vorangestellte Schreiben der drei Genossen
an den Generalminister erklärte, die Legende solle Neues
bringen, was den bisherigen Biographen unbekannt geblieben
sei: „multa seriöse relinquentes, quae in praedictis legendis
sunt posita", anderes aber vorbringend, was, „si venerabiübus
1) La Legende de S. Fran^ois d'Assise dite „Legenda trium Sociorum"
(Anal. Boll. XIX, 1900, S. 119-197).
2) Vie de S. Fran^ois, S. LXVI.
3) Sabatier, De l'authenticite de la Legende de S. Frangois dite
des trois compagnons (Rev. bist. LXXV, 1901). Vgl. aucb Minoccbi,
La questione Francescana (Giern, stör. d. lett. ital. XXXIX, 1902,
S. 304 ff.). Ahnlicb wie Sabatier auch Tilemann, Spec. Perf. und
Leg. tr. See, S. 55 ff. Vgl. ferner Faloci-Pulignani, Mise. Franc.
VIII. — Sowohl Minocchi wie Faloci-Pulignani halten daran fest, dafs
die Leg. tr. Soc. weder eine Kompilation, noch, wie Sabatier will, ein
Torso sei. — Für Ortroy trat ein Lern mens. Scripta fratris Leonis,
Rom 1902, S. 26.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 95
viris, qui praefatas confecerunt legendas, haec nota fuissent,
ea minime praeterissent". Statt dessen folgt nun aber dem
Schreiben eine Legende, die im allerstärksten Malse aus den
früheren Legenden — aus Celanos Vita prima und aus
Julian von Speier — geschöpft ist. Man könnte annehmen,
eine solche Entlehnung sei den Verfassern angängig erschienen
und sie hätten damit lediglich den Zusammenhang für ihr
neues Material herstellen wollen; aber fast der gesamte Rest
der Legende berührt sich wiederum so enge mit der Vita
secunda und mit Bonaventura, auch mit der Vita fr. Ber-
nardi, der Vita fr. Egidii und Bernhards von Bessa Liber
de laudibus, dafs van Ortroy schlofs, ein solches Mosaik von
Stellen anderer Quellen könne nichts anderes als eine Kom-
pilation sein. Auch sagen die drei Genossen in ihrem
Schreiben, sie wollten nicht eine fortlaufende Legende schrei-
ben : „ continuantem historiam non sequentes , sed velut de
amoeno prato quosdem flores, qui arbitrio nostro sunt pul-
chriores", excerpimus. Die nachfolgende Legende ist aber
eine breite chronologische Führung der Erzählung bis kurz
nach der ersten Wanderung nach Rom (n. 1 — 56); dann
folgen einige Angaben über die Ordenskapitel, den Ordens-
protektor und die ersten Missionen (n. 57—67); zum Schlüsse
ein Bericht über Tod und Heiligsprechung (n. 68 — 73). Auch
darin also liegt ein Mifs Verhältnis zwischen dem Schreiben
und der Legende.
Dafs weder die Schriftsteller des 13. Jahrhunderts noch
die Spiritualen des 14. Jahrhunderts, wie Ubertino da Casale
und Angelo da Clareno, die sich doch so gern auf die
Dicta fratris Leonis und auf die Gefährten des hl. Franz be-
rufen, die Legende irgendwie zitieren, war für Ortroy eben-
falls ein Beweis, dafs sie nichts weniger als ein Werk der
drei Genossen sein könne. Er setzte die Entstehung der
Kompilation frühestens ans Ende des 13. Jahrhunderts.
Von den Aufstellungen Ortroys mufs man das eine wohl
als unwiderlegbar annehmen: zwischen dem Schreiben an
den Generalminister und der Legende der drei Genossen be-
steht ein vollkommener Widerspruch. Sollten sie wirklich
zusammengehören, so bliebe nur die von Sabatier angenora-
96 GOETZ,
mene Erklärung übrig, dafs das Schreiben der drei Genossen
„un chef-d'ceuvre de raalicieuse bonhomie a l'adresse des bio-
graphes officiels du saint" sei ', dafs die Genossen unter Ver-
wendung so vielen bekannten Materials ihrer Erzählung
lediglich eine bestimmte Tendenz geben wollten und dafs
ihr Schreiben mit seinen Verheifsungen dies lediglich mas-
kierte. Aber diese Erklärung der Schwierigkeit bleibt un-
annehmbar: die Tatsache ihrer Mitarbeit an der Vita secunda
Celanos und alle daraus zu ziehenden Folgerungen schliefsen
dies aus; die Quellenforschung darf von so gekünstelten
und innerlich unwahrscheinlichen Voraussetzungen nicht aus-
gehen.
Stellt man sich hierin auf van Ortroys Seite, so bliebe
doch die Möghchkeit, dafs Schreiben und Legende zwar
beide echt sind, aber nicht zusammengehören. Dann löste
sich allerdings der auffallende Widerspruch; aber einmal
verliert dann die Legende zunächst jede nachweisbare Be-
ziehung zu den vertrauten Gefährten und damit den wesent-
lichen Teil ihrer bisherigen Autorität, und andrerseits wird
die Untersuchung dadurch auf ein neutraleres Feld gerückt:
die Frage nach der Abhängigkeit von andern Quellen wird
von dem drückenden Ballast, den die vorausgesetzte Ver-
fasserschaft der drei Gefährten bildet, befreit. Es braucht
dann nur entschieden zu werden , ob die Legende vor oder
nach der Vita secunda und Bonaventura entstanden sein
muls, aber der Umstand, dafs so viele Irrtümer unmöglich
auf die am besten unterrichteten Gefährten zurückgehen
könnten, braucht dabei die Untersuchung nicht zu beeinträch-
tigen — ein anderer, ferner stehender Verfasser konnte sich
in vieler Hinsicht irren, ohne dafs deshalb sein Werk eine
spätere Kompilation sein müfste.
Ergibt sich aber bei solcher Untersuchung der kompi-
latorische Charakter der Legenda trium Sociorum, so mufs
sie ganz beiseite geschoben werden, und es bleibt nur noch
die Frage nach Herkunft und Zweck des Schreibens der
drei Genossen übrig.
1) Sabatier, De l'authenticit6 S. 12.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 97
Die Untersuchung darf also nicht ausgehen von dem
Verhältnis zwischen Briet' und Legende, denn sie brauchen
nicht zusammenzugehören, oder es kann der Brief für sich
eine Fälschung sein — van Ortroy hat es erwogen und Sa-
batier hat dann auf die Inkonsequenz hingewiesen, diese
Möglichkeit auszusprechen und dann doch den Inhalt der
Legende zu kritisieren, weil er zu den Angaben des Briefes
nicht stimme. Damit bleibt auch zunächst die handschrift-
liche Überlieferung, die für die Zusammengehörigkeit von
Text und Legende spricht, aufser Betracht, denn so weit
reicht sie zeitlich nicht hinauf, dafs sie ein auf anderem
Wege zuverlässig gewonnenes Ergebnis beeinträchtigen
könnte. Als ein entscheidendes Moment möchte ich auch
das Schweigen der die Quellen aufzählenden Schriftsteller
des 13 Jahrhunderts nicht ansehen; denn diese Angaben
sind nun einmal alle lückenhaft und unzuverlässig. Und
ebenso ist es nicht angängig, die Angabe der Chronik der
24 Generale zum Beweise heranzuziehen; sie ist eine zu
späte Quelle, so zuverlässig auch manche ihrer Mitteilungen
sein mögen , und sie schöpft ihre Nachricht sicher nur aus
dem Schreiben der drei Genossen.
So ist die Legenda trium Sociorum zunächst nur nach
ihrem eigenen Werte und nach der Möglichkeit ihrer Selb-
ständigkeit zu prüfen. Geht man nun aber vom Texte
aus, so möchte ich einige Argumente, die Sabatier gegen
van Ortroy angeführt hat, ebenfalls zuvor ausscheiden.
Sabatier betont, dafs die Legenda trium Sociorum die
schlichteren Lesarten enthalte: die Vita secunda und noch
mehr Bonaventura erweiterten bei Schilderung derselben
Vorgänge den Text ihrer Vorlage — also der Legenda trium
Sociorum. — Das Wunder trete schon in der Vita secunda
stärker hervor.
Es ist wahr, dafs die mittelalterliche Quellenkritik das
gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis der Quellen nach solchen
Grundsätzen zu bestimmen strebt ; aber wenn es an anderen
Beispielen dafür fehlen würde, so lehrten die franziskanischen
Legenden aufs eindringlichste, mit welcher Vorsicht diese
Grundsätze angewendet werden müssen, sobald es sich um
98 GOETZ,
das Material einer nicht mehr völHg primitiven Geschicht-
schreibung handelt. Der Grundsatz, dafs die Wunder mit
zunehmender Entfernung von der Urquelle zunehmen, bleibt
wohl in Geltung; aber in dieser Hinsicht hat Sabatier doch
nur ein einziges autfallendes Beispiel gebracht ^.
Dafs aber Erweiterungen des Textes, seien sie nun rhe-
torischer Art oder auch sachlich vermehrend, ein Zeichen
späterer Entstehung seien, darf im vorliegenden Falle nicht so all-
gemein behauptet werden; nur bei neu auftretenden Lokalisatio-
nen von Ereignissen oder Einfügung von Personennamen, wo
ursprünglich keine bestimmte Person mit einem Vorgang in
Beziehung gesetzt war, kann man vielleicht mit mehr Ge-
wifsheit auf das zeitliche Verhältnis der Quellen schliefsen,
Bonaventura hat seine Vorlagen viel häutiger verkürzt als
erweitert: seine schriftstellerischen Absichten durchbrechen
die naiven Prinzipien früherer Annalisten und Legenden-
schreiber. Lemmens hat aus einem römischen Kodex von S.
Isidoro de Urbe Fassungen des Speculum Perfectionis und
der Vita Aegidii veröffentlicht, die er um ihrer kürzeren
Form willen für ursprünglichere Redaktionen als die bisher
bekannten hielt ^, während es nach Sabatiers Meinung, dem
ich in diesem Falle vollständig zustimme, kaum ein Zweifel
sein kann, dafs es sich dabei um spätere Auszüge handelt ^.
Ortroy hat ferner Fälle angeführt, wo gerade die Legenda
trium Sociorum gegenüber der Vita secunda die Fassung
erweitert * — Fälle, die nicht zu bestreiten sind und über
die sich Sabatier nicht geäufsert hat. Und die unanfecht-
barsten Belege: aus der Vita prima lassen sich Stellen geben,
die ausgeschmückter sind als die gleichen Stellen der Legenda
trium Sociorum ^.
1) Sabatier, De l'authenticitd, S. 16 Anm. Das ebend. S. 7 ge-
gebene Beispiel (adhuc sanctus adorabor bei 2. Gel. 1,1, gegenüber
adhuc adorabor bei Leg. tr. Soc. 4 [c. IIj) ist nicht gut zu verwenden.
2) Lemmens, Documenta antiqua Franciscana I und II, Qua-
raccbi 1901.
3) Sabatier, Actus b. Francisci et sociorum eius, S. LVIII.
4) Anal. Boll. XIX, 131 f.
5) Vgl. z. B. 1. Gel. II, 8 (n. 110) mit Leg. tr. Soc. n. 68.
QUELLEN ZUR GESCniCHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 99
Vor allem aber wird die Anwendung dieser quelleu-
kritischen Grundsätze dadurch noch erschwert oder unmög-
lich gemacht, weil von der Legenda trium Sociorum im
sogen. Anonymus Perusinus eine Fassung vorhegt, die, wenn
sie ein späterer Auszug wäre, beiden Grundsätzen entgegen-
handelte. Nun spricht aber nichts dafür, dafs sie ein solcher
Auszug ist, sondern sie raufs entweder eine parallele Fas-
sung — gleich der Legenda trium Sociorum aus gemein-
samer Quelle fliefsend — sein, oder sie ist die Vorlage der
Legenda trium Sociorum gewesen : in beiden Fällen sind alle
von Sabatier gezogenen Schlüsse hinfäUig. Es wird davon
noch in einem Exkurs zu sprechen sein (s. u. S. 140 ff.).
In gleicher Weise scheide ich das von Sabatier vor-
gebrachte Argument des einheitlichen Stils der Legenda trium
Sociorum aus. Denn es ist ein Argument, bei dem ein jeder
Forscher verschieden fühlt und das infolgedessen ebensowenig
beweiskräftig sein kann wie der „parfum franciscain ", den
Sabatier in dieser Legende findet — andere haben sie eine
zusammengestohlene Kompilation genannt! Das einzig Ent-
scheidende ist der Text selber; hält er der Prüfung nicht
stand, so sind alle anderen Rettungsgründe hinfallig.
Van Ortroy hat den Text der Legenda und der vermut-
lichen Vorlagen nebeneinander gestellt. Ohne dafs ich das
Verdienst van Ortroys, eine neue Anschauung zuerst aus-
gesprochen zu haben, im geringsten verkleinern will, glaube
ich doch, dafs es damit noch nicht getan ist. Denn man
verlangt dafür den unwiderleglichen Beweis, dafs die Vita
secunda, Bonaventura usw. auch wirklich die Vorlagen sind
und nicht doch etwa die Ableitungen. Van Ortroys Beweis
läfst sich in dieser Hinsicht wohl noch etwas ausdehnen.
Es finden sich ferner einzelne Stellen mit zum Teil auffallen-
den Nachrichten, für die van Ortroy keine Vorlagen hat
nachweisen können; dafs damit Schwierigkeiten gegeben sind,
läfst sich zunächst nicht bestreiten. In einigen Fällen hat
Ortroy Texte nebeneinander gestellt, die sich nicht genügend
berühren, um sie als Vorlage und Ableitung miteinander in
Zusammenhang zu bringen. Auch scheint mir in der Frage
der Anachronismen, die Ortroy in der Legenda trium So-
100 GOETZ,
ciorum gefunden zu haben glaubte, die Abwehr Sabatiers
in der Mehrzahl der Fälle geglückt ^ — nur die Erwähnung
der Bestätigung des Tertiarierordens kann man mit Ortroy
für einen Anachronismus ansehen , ohne dafs doch der
Wortlaut die Gegengründe Sabatiers völlig ausschlösse.
Ich versuche, zum guten Teil parallel mit Ortroy, den
Wert des Textes der Legende festzustellen. Dafs die Vita
prima Celanos und die Legende Julians von Speier aufs
stärkste benutzt sind, gehört zu den sicheren Gewinnen der
Beweisführung van Ortroys. Das bleibt, auch wenn man,
wie es zunächst geschehen soll, vom Schreiben an den Ge-
neralminister völlig absieht, eine auffalhge Tatsache. Hatte
Thomas von Celano in seiner Vita secunda den Wunsch des
General kapitels so aufgefafst, dafs er nur sein frühei'es Werk
ergänzte, so wäre in der Legenda trium Sociorum ein ganz
anderer Wunsch erfüllt: eine Verarbeitung der früheren Le-
genden mit neuen Zutaten ; mit dem Abbrechen der Er-
zählung beim Jahre 1210 und den kurzen Nachrichten, die
dann noch folgen, wäre aber auch diese Absicht keineswegs
durchgeführt. Und selbst wenn man annimmt, die alte Le-
genda trium Sociorum sei ein Torso, so raüiste man den-
noch angesichts ihres Charakters eher an ein vom General-
kapitelsbeschlufs ganz unabhängiges Unternehmen denken.
Zu den beiden Legenden, die also den Grundstock der
Legenda trium Sociorum bilden, sind nun Zusätze hinzu-
gefügt, von denen man, auch wenn sie sich mit den späteren
Quellen berühren, doch nicht ohne weiteres sagen kann, dafs
sie aus diesen geschöpft sein müfsten. Denn kompiliert sind
schliefslich alle Quellen, die nach der Vita prima entstanden
sind — man könnte auch Bonaventura in ein ähnliches
Mosaik auflösen, wie es Ortroy mit der Legenda trium So-
ciorum getan hat. Und dafs bei dieser die spätere Kompi-
lation nicht überall zu erweisen ist, mufs den Gegnern
Ortroys zugegeben werden : es gibt zahlreiche Stellen , wo
es zunächst vöUig zweifelhaft bleibt, ob die Legenda trium
Sociorum Vorlage oder Ableitung ist. Das Urteil über diese
1) De l'authenticite S. 18 ff.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 101
unsicheren SteUen kann erst dann entschieden werden, wenn
in andern Fällen der Beweis für die eine oder andere Mög-
lichkeit zweifelsfrei geführt ist. Den gesamten Text mit
solcher Absicht zu prüfen, ist des Raumes halber unmöglich;
aber ein ausführliches Eingehen auf eine genügende Anzahl
von Beispielen kann nicht umgangen werden.
Das erste Kapitel (n. 2—3 in den Acta Sanctorum)
bietet in seineu Zusätzen kein verwendbares Beispiel '. Um
so stärker dagegen das zweite Kapitel. Auf die Erzählung
der Gefangenschaft in Perugia, die sich mit der Vita secunda
eng berührt, aber ohne dafs man über die Abhängigkeit
etwas sagen könnte ^, folgt der Plan des jungen Franz, an
einem Kriegszuge nach ApuHen teilzunehmen. Die Legenda
berührt sich hier in den Hauptstücken mit der Vita prima und
secunda, in Einzelheiten mit Bonaventura. Man kann einen
allgemeinen Öchlufs vorausnehmen: bestände die Legenda
hier aus der Vita prima und eigenem neuen Material, so dafs
1) Sabatier, De l'autbenticite, S. 6 hat die Worte der Mutter:
„Quid de filio ineo putatis? Adhuc erit filius Dei per gratiam" als der
Fassung der Vita secunda vorangehend bezeichnet („Quid putatis filius
meus erit? Multorum gratia Dei filiorum patrem ipsum noveritis affu-
turuin"). Aber gerade mit Beispielen solcher Art ist kein Beweis zu
führen (vgl. auch das Beispiel bei Sabatier S. 7); sie finden sich
ebenso häufig umgekehrt. Im gleichen 1. Kapitel ist ein Gegenbeispiel:
2. Gel. I, 1 sagt, Franz schien infolge seiner vornehmen Sitten gar nicht
wie der Sohn seiner [bürgerlichen] Eltern; die Leg. tr. Soc. aber er-
weitert: Franz erschien nicht als der Sohn seiner Eltern, sed cuiusdam
inagni principis. Dagegen ist aus dem 1. Kapitel ein auffallendes Bei-
spiel zu erwähnen : die Leg. tr. Soc. schildert nach L Gel. I, 7, dafs Franz
einmal einem bittenden Armen kein Almosen gab und es dann sogleich
bereute. 2. Gel. erwähnt das Ereignis nicht; aber bei Bonaventura wie
im Anonymus Perus, ist hinzugefügt, dafs Franz dem Armen darauf nach-
lief und ihm das Almosen gab. Hier möchte man ohne weiteres auf die
Priorität der Leg. tr. Soc. schliefsen. Aber der Fall komplizieit sich
dadurch, dafs der Anonymus Perus, ebenfalls in Frage kommt, und
zweitens hat die Leg. tr. Soc sowohl gegenüber 1 . Gel. wie Bonaventura
am Anfang der Erzählung eine Erweiterung: der Vorgang ist auf den
väterlichen Laden lokalisiert, und zwar scheint dabei der Ausdruck Bo-
naventuras „negotiationis tuuiultibus" das Bindeglied zwischen 1. Gel. und
Leg. tr. Soc.
2) Vgl. oben S. 98 Anm. 1.
102 GOETZ,
die Vita secunda aus ihr geschöpft hätte, so müfste der Ver-
fasser der Vita secunda sorgfaltig alles, was aus 1. Celano
in der Legenda stammte, wieder ausgeschieden haben, denn
die Vita secunda enthält hier nichts aus der Vita prima.
Eine solche Arbeit ist wenig wahrscheinHch bei einem Ver-
fasser, der um des Zusammenhanges willen sonst doch ge-
legentlich etwas aus der Vita prima mit übernimmt. Die neue
Fassung des Ereignisses, die in der Legenda trium Sociorum
vorliegt, hätte ihn wohl bestimmen können, sich ihr an-
zuschliefsen. Die Schwierigkeit löst sich ohne Frage ein-
facher, wenn man sich die Legenda trium Sociorum aus der
Vita prima und secunda entstanden denkt. Diese Annahme
wird durch eine Reihe von Einzelheiten unterstützt: 1) Die
beiden Viten Celanos und Bonaventura bringen den Vorgang
noch ohne eine Zeitbestimmung; die Legenda trium Sociorum
knüpft als erste an die Gefangenschaft in Perugia mit der
Wendung an: „Post paucos vero annos''. Erweiterungen, die
sich auf bestimmtere Chronologie oder auf Lokahsierung be-
ziehen, deuten, wie bereits erwähnt wurde, in stärkerem Mafse
als blofs rhetorische Erweiterungen auf spätere Entstehungs-
zeit hin. 2) Die Vita secunda bringt vor dem Kriegszuge
nach Apulien und den zugehörigen Visionen die Erzählung,
dafs Franz einem armen Soldaten seine Kleider geschenkt
habe, und zwar ohne direkten Zusammenhang mit dem
Kriegszuge. Bei Bonaventura liegt bereits eine zeitliche Ver-
bindung der beiden Ereignisse vor: dem Verschenken der
Kleider folgt in der „nocte sequente" die erste Vision ; aber
die für den Kriegszug bestimmten kostbaren Kleider schaffit
sich Franz erst nach der Vision an. Die Legenda trium
Sociorum gibt nun Geschenk und Vision als Ursache und
Wirkung, und die verschenkten Kleider sind jetzt die für den
Kriegszug angeschafften geworden. 3) Die Vita prima spricht
nur davon, dafs ein „nobilis quidam civitatis Assisii" an einem
Kriegszuge nach Apulien teilnehmen wollte und dafs Franz
beschlofs, sich ihm anzuschhefsen. Dasselbe berichtet Julian
von Speier. Die Vita secunda nennt bei ihren Zusätzen zur
Vita prima niemand. Bonaventura (n. 9) erwähnt bei der
Zusammenarbeitung der früheren Berichte den nobilis nicht,
I
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL FRANZ VON ASSISL 103
sondern sagt^ Franz habe sich ^,in Apuliam ad quemdam li-
beralem comitem" begeben wollen. Die Legenda triam So-
ciorum erzählt wie die Vita prima von der Absicht des
nobilis de civitate Assisii, fährt dann aber fort: „quo audito
Franciscus ad eundum cum illo aspirat, ut a quodam comite
Gen tili nomine miles fiat". Es wird also hier sowohl Celanos
nobilis aus Assisi wie Bonaventuras apulischer comes gebracht,
und dieser bekommt zum ersten Male einen bestimmten Namen '.
Nun ziehe man noch den Anonymus Perusinus hinzu;
da wird so wenig wie bei Benaventura der nobilis aus
Assisi erwähnt, sondern es heifst: Franz wollte „ad co-
mitem gentilem in Apuliam proficisci". Bedenkt man die
doppelte Bedeutung von gentilis (sowohl „vornehm" wie auch
„demselben Stamme angehörig''), so drängt sich der Schlufs
auf, dafs der Anonymus Perusinus aus dem adligen Lands-
manne aus Assisi, von dem Celano spricht, und dem apu-
lischeu Grafen Bonaventuras, um den Widerspruch der
beiden Berichte zu heben, einen in Apulien weilenden, aber
aus Assisi stammenden Grafen gemacht hat. Der Verfasser
der Legenda trium Sociorum aber begriff diese Kombination
nicht mehr, sondern nahm vielleicht das adjektivische gentilis
des Anonymus Perusinus für den gleichlautenden Eigen-
namen , und um keine der abweichenden Lesarten seiner
Vorlagen, der Vita prima und Bonaventuras, abzulehnen,
brachte er beide nebeneinander. Es scheint mir nicht wohl
möglich, eine andere Entwickelungsgeschichte dieser Stelle an-
zunehmen; Bonaventura würde den Namen des Grafen ge-
1) Es ist allerdings möglich, dafs der Zusatz ,, nomine" erst von
späteren Abschreibern beigefügt wurde; der Text in den Acta SS. lautet
nur: ut a quodam comite gentili miles tiat. Schon Wadding hat über-
legt (Annales I, 27), ob gentilis Eigenname sein solle, und sich dagegen
61 klärt. Der Bollandist (Acta SS. ö. 565) schliefst sich an Wadding an,
obwohl er auf einen damals existierenden Grafen Gentilis hinweist. Die
späteren Ausgaben der Leg. tr. Soc. haben, soviel ich sehe, alle auch
das Wort nomine. Ich würde bei dieser Unsicherheit des Textes den
Punkt nicht so stark hervorgehoben haben, wenn nicht sowohl Tliode
S. 19 wie öabatier, Vie de S. Franc^ois, S. 19 Gentilis als Eigennamen
genommen hätten — Sabatier unter Feststellung dreier Grafen dieses
Namens.
104 GOETZ,
bracht haben, wenn er ihn in einer so gut beglaubigten Vor-
lage gefunden hätte. 4) Die Vita prima bringt nur eine
Vision; das Abstehen vom Kriegszuge ist nicht recht ge-
nügend begründet. Die Vita secunda fügt zur besseren
Motivierung eine zweite Vision hinzu, ohne Zeit- und Orts-
angabe; da aber Franz nach dieser in die Heimat „zurück-
kehrt", so mufs man schliefsen, dafs die zweite Vision schon
aufserhalb Assisis nach Antritt der Reise stattfand. Bona-
ventura hebt den Mangel, als er die beiden Berichte Celanos
vereint: er läfst die Reise „usque ad proximam civitatem" an-
getreten sein. Die Legcnda trium Sociorum hat die Er-
zählung wie Bonaventura, bestimmt aber für den Leser diese
proxima civitas durch den Zusatz: „usque Spoletum", und
ein Unwohlsein des Reisenden in dieser Stadt wird — da-
mit auch über den Text des Anonymus Perusinus hinaus-
gehend — noch hinzugefügt. — So liegen iür dieses Ka-
pitel vier starke Hinweise vor, dafs die Legenda trium
Sociorum nicht nur später als die Vita secunda, sondern
auch später als Bonaventura verfafst ist.
Der Anfang des dritten Kapitels der Legenda trium
Sociorum (n. 7 : Gastmahl mit den Freunden, Zug durch die
Stadt Assisi, Frage der Freunde, ob Franz sich verheiraten
wolle) berührt sich eng mit den Erzählungen der Vita prima
(I, 3) und secunda (I, 3), und zwar sind in der Legenda
trium Sociorum die beiden, voneinander ganz unabhängigen
Berichte Celanos in feste Verbindung gebracht. Natüi'-
licher ist wiederum die Annahme, dafs diese beiden Berichte
nachträglich zusammengefafst wurden, als dafs Celano für
seine Vita secunda aus dem Berichte der Legenda trium
Sociorum alles aus der Vita prima stammende sorgfältig
ausschied und dabei den Zusammenhang der Erzählung
wieder löste. Sehr auffallend ist ferner, dafs die Legenda
nach dieser Schilderung mit Worten fortfährt, die der Vita
prima entnommen sind, dort aber in einen andern Zusammen-
hang gehören. Die Vita prima (I, 2) berichtet, dafs die
neue Entwickelung Franzens mit einer schweren Krankheit
begann; als der Genesende dann zum ersten Maie wieder
ins Freie kommt und die Landschaft vor der Stadt Assisi
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 105
sieht, vollzieht sich in ihm eine Änderung: „In nuUo eum
potuit delectare''. Celano fährt fort: „Ab ea itaque die coepit
se ipsum vilescere sibi et in contemptu quodam habere, quae
prius in admiratione habuerat et amore'' usw. Man hat diese
Krankheit und die durch sie bedingte Veränderung im Innern
Franzens stets als treffende Wahrheit angenommen : der Be-
richt Celanos ist wohl überall verwendet worden, wo man
im Leben des Heiligen die erste Wendung zur Verinner-
lichung schildern wollte. So hat es auch Sabatier in seiner
Vie de S. Frangois getan. Wie aber kommt es, dafs die
Legenda trium Sociorum davon gar nichts weifs? Wie
konnte es geschehen, dafs ihre Verfasser die nachfolgenden
"\^'orte Celanos fast wortgetreu herübernehmen, aber im An-
schlufs an das Gastmahl und die Frage der Freunde, ob
Franz sich verheiraten wolle? ' Sabatier hat von der Le-
genda trium Sociorum, um ihre eigenen Wiederholungen
z. B. im zwölften Kapitel zu rechtfertigen, gesagt, die Ver-
fasser strebten nach äufserster Vollständigkeit, berichteten
alles, was sie aus der Vita prima oder aus eigener Erfahrung
würzten, selbst wenn dadurch gwisse Widersprüche in ihre
Erzählung hineingetragen würden. Hätten die Verfasser
wirklich ein solches Prinzip der Gewissenhaftigkeit gehabt,
so bliebe das Verschweigen der Krankheit unerklärlich. Die
Aneignung des nachfolgenden Satzes aus Celano legt viel-
mehr auch hier den dringenden Verdacht nahe, dafs reine
Kompihitoren hier am Werke waren. Um so mehr, als diesem
Satze dann in der Legenda trium Sociorum sogleich ein
anderer folgt, der wiederum aus der Vita prima, aber aus
einem andern Zusammenhange (Anfang von I, 3) entnom-
men ist.
Die Mitte des dritten Kapitels enthält eine Stelle (n. 9),
für die van Ortroy keine Vorlage und keine Berührung mit
irgendeiner andern Quelle gefunden hat. Sie berichtet von
Franzens Fürsorge für die Armen, von der Liebe seiner
Mutter zu ihm und verweist nochmals auf sein früheres un-
1) Die Leg. tr. Soc. fahrt nach dem Gastmahl und der Frape der
Freunde fort: „Ah illa itaque hora coepit se vilescere et illa contemnere,
quae prius habuerat in amore" usw.
106 GOETZ,
gebundnes Leben. Die Verteidiger der Legenda trium So-
ciorum können wohl sagen, dafs der letzte Punkt von den
Späteren weggelassen sei, um Franz nicht allzusehr mit
Jugendsünden zu belasten; aber die ersten beiden Punkte
würde man doch in der Vita secunda und bei Bonaventura
vermuten. Ihr Fehlen ist kein direkter Beweis gegen die
Priorität der Legenda trium Sociorum, aber es ist möglich,
dafs hierbei nichts anderes als eine spätere Erweiterung der
wenig bekannten Jugendgeschichte des Heiligen vorliegt.
Den Schlufs des dritten Kapitels (n. 10) bildet die Pil-
gerfahrt nach Rom. Die Erzählung berührt sich stark mit
der gedrängter berichtenden Vita secunda, an zwei Stellen
(tunc temporis und ante flores ecclesiae) mit Bonaventura.
Der Bericht über das reiche Geldgeschenk , das Franz dem
hl. Petrus machte, wird in der Vita secunda mit wenigen
Worten erzählt: „plena manu pecuniam iactat in loco"; Bona-
ventura erwähnt es gar nicht; die Legenda trium Sociorum
dagegen schmückt den Vorgang so aus, dafs sie als Er-
weiterung der Vita secunda erscheint: „cum magno fervore
manum ad bursam ponit et plenam denariis traxit eosque per
fenestram altaris proiiciens tantum sonum fecit, quod de tam
magnifica oblatione omnes astantes plurimum sunt mirati".
Es ist nur ein Beispiel dafür, wie oft man die Legenda trium
Sociorum angesichts solcher Erweiterungen für die spätere
Quelle ansehen könnte, wenn man darauf allein bauen wollte !
Ein Zusatz, den die Vita secunda hat, spricht für ihre Ori-
ginalität: sie nennt den Platz der Bettler vor St. Peter das
Paradies (in paradiso ante ecclesiam s. Petri) — ein Aus-
druck, der dem Verfasser der Legenda trium Sociorum nicht
bekannt war. Andrerseits hat die Legenda trium Sociorum
einen auffalligen Zusatz : Franz bettelte „ gallice, quia libenter
lingua gallica loquebatur, licet ea recte loqui nesciret". Zwar
wird schon in der Vita prima erwähnt, dafs Franz gern
französisch sang (I, 7 : Hngua francigena), und ebenso in der
Vita secunda (I, 8 und III, 67); aber nur aus dieser Stelle
der Legenda trium Sociorum erfährt man, dafs er das Fran-
zösische niemals ganz beherrschte. Warum ein späterer
Kompilator diesen Zusatz aus freien Stücken beigefügt haben
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 107
sollte, ist nicht erfindlich; hier mufs irgendein originales
Wissen zugrunde liegen. Eine derartige Feststellung, die
noch wiederholt zu machen sein wird, schliefst den kom-
pilatorischen Charakter der Legenda trium Sociorum natür-
lich nicht aus; aber sie erschwert die glatte Lösung der
Frage unzweit'elhait ^
Ganz ungünstig für die Originalität der Legenda trium
Sociorum fällt das Ergebnis aus, wenn man die Komposition
der Kapitel 5 — 7 (n. 7 — erste Hälfte von 13) ins Auge fafst.
Das Gerüst der ganzen Erzählung gibt die Vita prima I, 3
ab; jedoch sind grofse Partien eingeschoben, die sich mit
zweitem Celano I, 3 — 5 berühren, und zwar wird durch
diese Einschiebsel, die also möglicherweise als selbständiges
Wissen der drei Gefährten anzusehen wären, die eng zu-
sammengehörende Erzählung der Vita prima aufgelöst. Diese
beschreibt — von der Vita secunda darin ergänzt — einen ver-
ständlichen, unter immer neuen Eindrücken sich vollziehenden
Entwicklungsgang: wir hören von der schweren Krankheit,
dann von dem Streben nach ernsthafter äufserer Betätigung,
dem ein ständiges Grübeln (Visionen) gegenübersteht; alte
und neue Ideale streiten sich in seinem Inneren; seit er den
Zug nach Apulien aufgegeben hat, ist Franz in seinen Ge-
dankengängen verändert; er zieht sich von dem weltlichen
Treiben zurück und sucht die Einsamkeit auf; mit einem
Freunde geht er zu einer Höhle, begibt sich aber allein ins
Innere und in langem Gebete setzt er sich mit sich selber
auseinander; zum Freunde zurückkehrend ist er „ita labore
confectus, ut alius intrans, alius exiens videretur"; bei solchen
Gebeten wird es in seiner Seele klarer; aber er verbirgt
noch den neuen geistigen Besitz, er spricht in Bildern, die
nicht verstanden werden , von seiner Zukunft ; man fragt
ihn, angesichts dieses auffälligen Wesens, ob er sich etwa ver-
heiraten wolle; er antwortet bejahend mit einem Bilde, das
Thoraas von Celano dem Leser sogleich erläutert: die schönste
und vornehmste Braut, die Franz heimführen zu wollen vor-
1) Der Anonymus Perusinus berichtet von der Pilfjerfahrt nach Rom
leider überhaupt nichts, so dafs er keine Hilfe zur Erklärung bietet.
108 GOETZ,
gab, sei die vera religio. Das folgende Kapitel erzählt dann
eine weitere Stufe der Entwickelung.
Ob Celanos Erzählung historisch wahr ist oder nicht,
bleibt zunächst gleichgültig; sie ist jedenfalls einleuchtend
als eine durchaus mögliche Entwicklung.
Man vergleiche damit die Lcgenda trium Sociorum. Bei
ihr fallt die Krankheit weg und damit der stärkste Anstofs
zur innern Wandlung. Auch sie lälst Franz — im wört-
lichen Anschlufs an die Vita prima — mit dem Fi'eunde
zur Höhle gehen und ihn im Innern beten; da aber wird
eingeschoben, was die Vita secunda I, 5 in anderem Zusammen-
hange bringt: dafs der Teufel ihm ein buckliges Weib zeigt,
um ihn abzuschrecken; dann geht es wieder mit den Worten
der Vita prima weiter — mit Worten, deren ursprünglicher
Zusammenhang freilich durch das Einschiebsel gestört ist:
denn nun scheint es, als ob Franz infolge der teuflischen
Vision ganz verändert zum Freunde zurückkehrt — wie-
der also eine Abschwächung der eigenen inneren Arbeit
Franzens !
Nahm etwa Celano für seine zweite Vita die neue Nach-
richt der drei Gefährten von der teuflischen Vision auf?
Dann hätte er nicht nur auch hier wieder sorgfältig aus der
Erzählung der drei Gefährten ausgeschieden, was diese aus
der Vita prima übernommen hatten, sondern auch den neuen
und ofi'enbar von den Gefährten doch wohl besser ge-
kannten Zusammenhang der Dinge wieder beseitigt. Aber
dieser Zusammenhang ist kein besserer: der einfache Bericht
der Vita prima wird durch die eingeschobene Vision um
seine Natürlichkeit gebracht; in der Vita prima liegt ein
begreiflicher innerer Vorgang vor, in der Legende der Ge-
nossen mufs die Vision motivieren ^ Dann hätte also die
Vita secunda auf den natürlicheren Bericht der Vita prima
zurückgegriffen. Aber wenn sie so gewissenhaft bringen
wollte, was die Legenda trium Sociorum an Neuem gab, so
1) Man beachte, dafs die vertrauten Gefährten, wenn von ihnen
diese Erzählung herrührte, natürliche Vorgänge durch wunderbare Visionen
ihrer Wahrheit beraubt hätten — ein Moment, das keineswegs zu der
gerühmten Schlichtheit der Gefährten pafst!
qup:llen zur Geschichte des hl. fkanz von assisi. 109
ist auffallend, dafs sie die zuvor besprochenen, bisher unab-
leitbaren Absätze der Legenda nicht auch brachte.
Die Lösung ist auf andere Weise überzeugender. Die
Vita secunda bringt die Vision, nachdem sie vorher kurz
erwähnt hatte, dafs Franz einsame Orte für seine Gebete
aufsuchte. Der Kompilator der Legenda trium Sociorum
suchte nun diese Angabe mit der Höhle der Vita prima zu
vereinen und verlegte infolgedessen die Vision in die Höhle,
ohne sich um die Zerstörung des Berichtes der Vita prima
zu kümmern. Die Vita secunda fährt nach der Vision
mit einer göttlichen Ermahnung für Franz fort; sie pafste
dem Kompilator nicht so gut, wie die Fortsetzung in der
Vita prima; er liefs sie deshalb hier ausfallen, stellte sie
aber an eine andere Stelle, an den Anfang des vierten Ka-
pitels.
Die Vermutung, dafs die Vita secunda hier die originale
Quelle ist und nicht die Ableitung, wird dadurch noch be-
stärkt, dafs ihre Erzälilungen — die Vita prima ergänzend —
dieselben Entwickelungsstufen einhalten wie diese; die Le-
genda trium Sociorum wirft dagegen vor der Zeit etwas
hinein, was in den beiden Viten Celanos erst einem spätem
Zeitpunkt angehört : die Leprosenpflege. Die oben angeführte
Schilderung der Vita prima zeigt die zunehmende Verinner-
lichung des Suchenden; die schliefslich erfolgende Hinwen-
dung zu den Leprosen ist die erste Tat aus den neuen An-
schauungen heraus und angesichts der darin liegenden Selbst-
aufopferung sicherlich kein vor der inneren Wandlung
liegendes Ereignis. Dieselbe Anordnung hält die Vita se-
cunda inne. Die Legenda trium Sociorum wird dadurch
unglaubwürdig, dafs sie die Hinwendung zu den Leprosen
vor dem Aufsuchen der Einsamkeit, vor der inneren Wand-
lung infolge langen Gebetes berichtet.
Wufsten es die drei Genossen wirklich besser, so hätte
auch hier die Vita secunda ihnen folgen müssen. Es will
statt dessen — wie oben bei der übergangenen Krankheit
Franzens — scheinen, als ob der Kompilator für den lang-
samen und folgerichtigen Entwickelungsgang Franzens keine
Aufmerksamkeit und kein Verständnis besessen habe. Eben-
110 GOETZ,
SO gravierend ist ferner, dafs in diesen Kapiteln bei dem
Hineinsehieben anderer Stücke in den Bericht der Vita prima
eine zwecklose Wiederholung zustande gekommen ist. Am
Anfang von Kapitel 3 (n. 7) ist die Frage der Freunde er-
zählt, ob Franz sich verheiraten wolle; am Anfang des
5. Kapitels wird sie wiederholt, weil der Verfasser gerade
das in der Vita prima der Frage Vorangehende ausgeschrie-
ben hatte. Der Kompilator ist sich der Wiederholung zwar
bewufst und schiebt ein rursus ein — es macht seine Ver-
legenheit nur um so deutlicher. Und der ganze letzte Teil
des 5. Kapitels (n. 15) ist ein Vorwegnehmen von Dingen,
die in diesen Zusammenhang noch nicht gehören und jeden-
falls gegen die Geschicklichkeit des Verfassers der Legenda
trium Sociorum sprechen.
Auf die Frage der Freunde folgt die Vision in S. Damiano.
Sie berührt sich mit der Vita secunda 1, 6, aber mitten darin
steht ein Satzteil aus der Vita prima („quae prae nimia vetustate
casum proximum minabatur^'). Es wäre ja denkbar, dafs die
drei Gefährten in ihre neue Erzählung einige passende Worte
aus der Vita prima eingeschoben hätten; aber dafs Celano
bei der Abfassung der Vita secunda zwar die ganze Stelle
aus der Legenda trium Sociorum übernahm, nur aber gerade
diese Worte aus der Vita prima wegliefs, will nicht ein-
leuchten. Auch hier scheint vielmehr Vita prima und Vita
secunda von einem Späteren zusammengearbeitet. Um so
mehr, als an dieser Stelle die Erzählung fortgebildet ist: in
der Vita secunda spricht nur Christus zu Franz, in der Le-
genda trium Sociorum gibt Franz auch noch eine Antwort.
Und wieder entsteht durch die Hineinarbeitung anderer Er-
zählungen in die Vita prima eine Wiederholung: der Priester
von S. Damiano erhält nach dieser Vision Geld von Franz;
am Anfang des 6. Kapitels beschenkt ihn Franz von neuem,
und der Verfasser läfst, wie man deutlich merkt, die ihm
unklare Frage offen, ob beide Male derselbe Priester gemeint
sei. In der Vita prima und secunda sind es Erzählungen,
die sich gewifs ergänzen sollen, aber Celano erzwingt keine
Zusammenhänge, weil sie bei diesen losen Überlieferungen
gar nicht ganz herzustellen waren ; der spätere Kompilator
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 111
verrät sich, indem er verschmelzen und in eine bestimmte
Zeitfolge bringen will, was nicht völlig verschmelzbar war.
Bonaventura verrichtete die Verschmelzung der Vita prima
und secunda weit geschickter: er liefs, um keinen Wider-
sprüchen und Unklarheiten Raum zu geben, die erste Be-
schenkung des Priesters weg.
Die erste Hälfte des 6. Kapitels (n. 16 — 18) schhefst
sich vollkommen an die Vita prima I, 4 — 6 an. Die zweite
Hälfte (n. 19 und 2U) ist zwar ebenfalls auf der Vita prima
aufgebaut, aber neben zwei Stellen, die sich mit der Vita
secunda berühren, stehen auch zwei selbständige Zusätze:
da geht der Vater zuerst zu den Konsuln der Stadt und
dann erst zum Bischof, und weiterhin erregt der Vater die
Zuschauer, als er mit dem Geld und den Kleidern davon-
geht und dem Sohne kein Stücklein läfst. Der zweite Zusatz
braucht nicht mehr zu sein als die sich aufdrängende Erwei-
terung der Vita prima ; die Legenda trium Sociorum spinnt
den Bericht der Vita prima in diesem Kapitel überhaupt aus:
bei der Szene vor dem Bischof werden die gewechselten
Reden im Wortlaut gebracht und bei dem Ablegen der
Kleider wird ausgemalt, wie es in der camera episcopi ge-
schieht usw. Alle diese Fortbildungen fehlen in der Vita
secunda und bei Bonaventura. Der erste Zusatz freilich hat
keine Vorlage; wieder fragt man, warum die Vita secunda
und Bonaventura eine so gut beglaubigte Nachricht nicht
brachten? Die Nachricht selber ist allerdings nicht ganz
stichhaltig: die Konsuln sagen dem Vater, sie hätten keine
Macht über den Sohn, da dieser nach seiner Aussage in das
servitium Dei eingetreten sei; aber Franz war ja noch gar
nicht geistlich geworden, und die blofse unbestimmte Er-
klärung, sich dem Dienste Gottes widmen zu wollen, hätte
wohl kaum genügt, die Rechte der weltlichen Obrigkeit auf-
zuheben. So ist dieser Zusatz nicht sehr glaubwürdig, sondern
auch er sieht einer späteren Ausschmückung sehr ähnlich.
Das 7. Kapitel, bei dem sich dieselbe Verarbeitung
der Vita prima und secunda behaupten läfst, enthält zwei
mit diesem Hinweis noch nicht erledigte Stellen, für die van
Ortroy keine Vorlage und keine Erklärung gewufst hat.
112 GOETZ,
Es heifst (am Anfang von n. 22): Franz hatte früher ein
verwöhntes Leben geführt; „quippe, ut ipse vir Dei confessus
postea est frequenter, electuariis et confectionibus utebatur
et a eibis contrariis abstinebat *^ Diese Berufung auf eigene
Aussagen des HeiHgen erweckt den Glauben, als ob der
Verfasser sie selber gehört oder doch noch von Ohrenzeugen
erfahren hätte. Es ist die einzige Stelle dieser Art in der
Legenda trium Sociorum ; sie zwingt zwar nicht zur An-
nahme frühzeitiger Abfassung, aber sie könnte, falls andere
Gründe dafür vorhanden wären, sie gewifs unterstützen.
Vielleicht führt sie aber gemeinsam mit den bereits erwähn-
ten, bisher unableitbaren Stellen auf eine Seitenlinie der
Überlieferung, die in den Viten Celanos und Bonaventuras
noch keinen Niederschlag gefunden hat. Anders steht es
mit der zweiten Stelle, die eine Schwierigkeit zu bieten
scheint. Die Worte, mit denen Franz zur Wiederherstellung
von S. Damiano autfordert (n. 24 : „Venite et adiuvate me in
opere ecclesiae S. Damiani, quae futura est monasterium Do-
minarum , quarum fama et vita in universali ecclesia glori-
ficabitur Pater noster coelestis") stehen wörthch ebenso im Tes-
tamente der hl. Klara. Und das ist für beide Dokumente
nicht vorteilhaft. Das Testament der hl. Klara kann mit
völliger Sicherheit weder für echt noch für unecht erklärt
werden, aber es ist in hohem Mafse verdächtig ^ Wäre
1) Sabatier nimmt es für echt (Speculum Peif. S. 182 Anm. iindS 320
Anm. 1), P.Bonaventura undLempp halten es für unecht; Lemmens
hat es (Rom. Quartalschr. XVI, 97) von neuem verteidigt. Aber das
•flüssige Latein des Testamentes, die starke Benutzung der Klarissenregel,
die Erwähnung eines angeblich von Innocenz III. gegebenen Privilegs
machen es doch stark verdächtig. Diejenigen, die sich für die Echtheit
der beiden Dokumente ausgesprochen haben, mögen den Widerspruch
des Testamentes zur Leg. tr. Soc. gerade an diesem Punkte vergleichen.
Die Leg. tr. Soc. sagt am Schlüsse von c. 7: „Quarum vita mirifica et
institutio gloriosa a sanctae memoriae domino Papa Gregorio IX., tunc
temporis Hostiensi episcopo, auctoritate sedis apostolicae est plenius con-
firraata." Diese Stelle ist aber entstanden aus den Worten der Vita
prima: „... ipsarum vita mirifica et institutio gloriosa, quam a domino
Papa Gregorio, tunc temporis Hostiensi episcopo, susceperunt." Man
sieht, daTs die Leg. tr. Soc. eine päpstliche Konfirmation erst in die
Worte der Vita prima hineingelegt hat. Wäre die Angabe des Testa-
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 113
das Testament echt, so würde es bei weitem wahrschein-
licher sein, dafs es die Vorlage für eine spätere Legende
wurde, als dafs die hl. Klara bei Aufsetzung ihres letzten
Willens die Legenda triura Öociorum zu Rate zog. Ist das
Testament unecht, so könnte natürlich die Legenda trium
Soeiorum sehr wohl echt und bei der Anfertigung des Testa-
mentes benutzt sein. Aber nun ist die fragliche Stelle ja
selber nichts anderes als Legende, die sich in der Zeit
zwischen Abfassung der Vita prima und der Vita secunda
(oder ev. der Legenda trium Soeiorum) gebildet hat Die
Vita prima berichtet auch hier die annehmbare Wahrheit:
da spricht Franz keine unmöglichen Prophezeiungen aus,
sondern Celano sagt lediglich, dafs Franz das Kirchlein
wiederherstellte, das später die Heimat der Klarissen wurde.
Die Vita secunda bringt die Fortbildung der Überlieferung:
ein Zusammenhang zwischen den beiden getrennten Nach-
richten der Vita prima ist hergestellt , indem Franz bei der
Wiederherstellung von S. Damiano prophezeit, dafs künftig
dort das Kloster der sanctarum virginum Christi sein werde.
Bonaventura übergeht die Prophezeiung ganz; die Legenda
trium Soeiorum aber bringt meines Erachtens die weitere
Fortbildung über die Vita secunda hinaus, denn sie gibt
einen langen Wortlaut der Prophezeiung ^ Hier wie im
mentes der hl. Klara ricbtif?, so wäre die Angabe der Leg. tr. Soc. zum
mindesten ungenau. Denn da der Kardinal von Ostia erst nach dem
Tode Innocenz' III. zu Franz in Beziehung getreten ist, so fällt die von
der Leg. tr. Soc. geraeinte Konfirmation oder Anerkennung irgendeiner
Lebensregel erst in die Zeit Ilonoi ins' III. Wie das Testament, so spricht
auch die Vita S. Clarae von Innocenz HI. Ilaben diese beiden Zeug-
nisse recht, so haben die angeblichen drei Gefähiten unrecht. Freilich
liegt es mir trotzdem fern, damit dem Testament oder der Vita S. Clarae
den Besitz einer unanfechtbaren Nachricht zuzusprechen. Der Verfasser
der Vita S. Clarae konnte sich irren. Sollte Thomas von Celano der
Verfasser sein, was ich auf Grund der unkontrollierbaren Notiz des
Codex Magliab. (Mise. Franc. VII, 157) noch nicht für ausgemacht halte,
80 würde er der in der Vita prima gemachten Angabe widersprechen.
1) Vita secunda I, 8: „Ferventissime ad opus illius ecclesiae animat
omnes et monasterium esse ibidem sanctarum virginum Christi audicntibus
cunctis gäUicc loquens clara voce prophetat." — Leg. tr. Soc. c. 7
(n. 24): ,,Cum aliis autem laborantibus in opere praefato persistcus
114 GOETZ,
vorangehenden Falle wird der Wortlaut von Aufserungen
eingefügt, die in der Vita secunda nur angedeutet waren.
Das macht den Text der Legenda trium Sociorura verdächtig,
besonders da, wo es sich um Worte des hl, Franz selber
handelte: hätte die Vita secunda nicht solche Goldköruer,
von den vertrauten Gefährten gewährleistet, sicherlich über-
liefert? Dafs die Vita secunda angebliche Aufserungen des
hL Franz gerne im Wortlaut bringt, zeigt sich sowohl im
vorangehenden wie im nachfolgenden Kapitel (I, 7 und I, 9)
und sonst wiederholt. Der Anreiz aber, neue Aussprüche
des hl. Franz zu formulieren, liegt im Wesen der fort-
schreitenden Legendenbildung. In diese Entwicklung der
Legende reiht sich das Testament der hl. Klara wie die
Legenda trium Sociorum mit ihrem Wortlaute der Prophe-
zeiung allzu sichtbar ein, als dafs die Wahrscheinlichkeit
ihrer Echtheit bekräftigt würde.
Bei Kapitel 8 lallt es auf, dafs für die erste Hälfte (n. 25 - 27)
anstatt der Vita prima die Legende Julians von Öpeier zu
Grunde gelegt ist. Eingeschoben ist (n. 26) aber eine Stelle,
die wiederum kaum anders denn als Fortbildung der Le-
gende über alle Quellen einschliefslich Bonaventura hinaus
aufgefafst werden mufs: nur in der Legende trium Sociorum
findet sich, dafs Franz einen Vorläufer gehabt habe, der mit
den Worten „Fax et bonum" durch die Strafsen von Assisi
gegangen sei und der „sicut Joannes Christum praenuncians
Christo incipiente praedicare defecit , ita et ipse velut alter
Joannes beatum Franciscum praecesserit in annunciatione
pacis. Qui etiam post adventum ipsius non comparuit sicut
prius". Eine solche Nachricht hätte sich die Vita secunda
sowohl wie Bonaventura entgehen lassen? Wieder zwingt
sich die Annahme späteren Entstehens der Legenda trium
Sociorum auf. Denn es war die zunehmende Tendenz der
Überlieferung, Franz mit Christus zu vergleichen. Die Ein-
clamabat alta voce in gaudio spiritus ad habitantes et transeuntes iuxta
ecclesiam dicens gallice eis: Venite et adiuvate me in opere ecclesiae
S. Daniiani, quae fiitura est monasterium Dominarum, quarum fama et
vita in iiniversali ecclesia glorificabitur Pater noster coelestis. Ecce
quomodo spiritu prophetiae repletus vere futura piaedixit."
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 115
Schiebung eines Vorläufers, eines Johannes, entspricht so sehr
dieser Tendenz, dafs man darin unmöglich eine authentische
Nachricht sehen kann '.
Das 9. Kapitel enthält den stärksten Beleg gegen die
Echtheit der Legenda trium Sociorum, denn es berichtet,
dafs die Portiuncula die erste Heimstätte Franzens und seiner
ältesten Jünger gewesen sei. Es ist oben bereits ausführlich
über diese Stelle gehandelt worden, so dafs ein Hinweis
darauf genügt ^. Dafs die Legenda trium Sociorum später
(c. 13) Rivotorto doch noch nennt, bedeutet Hinzufügung
eines Wiederspruchs zum ersten Irrtum : hier, an dieser ersten
Stelle mufste, wenn überhaupt, Rivotorto erwähnt werden ^.
1) Für den zweiten Teil des 8. Kapitels vgl. Aual. BolL XIX, 173.
Ich füge noch folgendes hinzu: Die Leg. tr. Soc. ist die einzige Quelle,
die für den Anschlufs der ersten Jünger eine Zeitangabe bringt (post
duos annos a sua conversione), während die beiden Viten Celanos und
Bonaventura gar nichts darüber sagen, Julian von Speier nur eiuen un-
bestimmten Ausdruck (post modicum) gibt. Der Verfasser der Leg. tr.
Soc. schrieb hier Julian von Speier aus und machte aus post modicum
ein post duos annos, weil spätere Überheferung bestimmtere Zeitangaben
verlangt. — Die Vita secunda sagt ferner nur, dafs Franz und Bernhard
in eine Kirche gehen; Bonaventura fügt hinzu: in die Kirche S. Nicolai;
die Leg. tr. Soc. : in die Kirche S. Nicolai iuxta platcam civitatis Assisii. —
Mau vergleiche ferner für Bernhards von Quintavalle Anschlufs an Franz
die Entwicklung der Legende, die sich, immer zunehmend, von der Vita
prima I', 10 über Vita sec. I, 10 und Bonaventura c. III (n. 28) zur
Leg. tr. Soc. vollzieht.
2) Vgl. oben S. 73 f. Auch die Vita Aegidii (Anal. Franc. III, 75)
nennt in Übereinstimmung mit dem Speculum Berf. Rivotorto. Die anders
lautende Angabe in der von Lemmens, Documenta antiqua I heraus-
gegebenen Vita Aegidii (S. 39) ist ohne Beweiskraft, denn es kann nicht
zweifelhaft sein, dafs alles, was der von Lemmens aufgefundene Codex
S. Isidoii de Urbe enthält, späte Auszüge sind.
3) Wer sich nur auf die Legenden Celanos und auf Bonaventura
stützt, könnte einwerfen, dafs diese für die Zeit des Anschlusses der
ersten Jünger überhaupt keinen Aufenthaltsort nennen und erst nach der
Rückkehr der ganzen Schar aus Rom von Rivotorto als dem Sammel-
punkte sprechen. Schaltet man dann noch das Speculum Perfectionis
als von unerwiesencr Echtheit gerade mit c. 36, das sicli in der Vita
Becunda nicht iindet, aus und bält man den Text der Vita fr. Aegidii,
wie er in der Chronica XXIV gencralium vorliegt, für überarbeitet und
deshalb nicht stichhaltig, so bliebe allerdings die Möglichkeit, auf Grund
8*
116 GOETZ,
Das 9. Kapitel gibt auch sonst noch zu Bedenken Anlafs:
schon der Anfang (n. 30 und 31: die Bekehrung des Sil-
vester) gibt sich als ein ungeschicktes Einschiebsel in die
Erzählungen der Vita prima zu erkennen. Die Vita prima
nennt Silvester überhaupt nicht; von den ersten sechs Jüngern
bezeichnet sie mit Namen nur die drei, die zu besonderem
Ansehen im Minoritenorden kamen: Bernhard von Quinta-
valle, Agidius und Philippus. Die Vita secunda fügt zu
diesem Bericht der Vita piima nur eine ausführlichere Nach-
richt über den Eintritt Bernhards hinzu. Bonaventura geht
von der Vita prima aus, übergeht aber den unbekannten
ersten Jünger, dessen Andenken begreiflicherweise bald ver-
schwand, und setzte nun den erfolgreicheren Bernhard von
Quiutavalle an die erste Stelle. Diese kleine Fälschung,
die schon die Vita secunda beging (III, 32), trägt ihre Er-
klärung in sich. Nun hatte aber die Vita secunda an ganz
anderer Stelle (IIl, 52) vom Priester Silvester erzählt, dessen
Habgier durch den Anschlufs des reichen Bernhard an Franz
rege gemacht wurde, so dafs er nachträglich noch eine höhere
Summe für die Steine forderte, die Franz zur Herstellung von
S. Damiano oder einer andern Kirche gekauft hatte. Franz gibt
ihm sofort das Geld; Silvester gelangt durch dieses Beispiel
der Leg. tr. Soc. zu schliefsen: als die ersten Jünger zu Franz kamen,
weilten sie bei der Portiimcula, die Franz wiederhergestellt hatte; nach
der Rückkehr aus Rom in Rivotorto, dann endgültig bei der Portiuncula.
Nur würde mit einer solchen Kombination denjenigen nicht gedient sein,
die sich, wie Sabatier, auf das Speculum Perf. und auf die Vita Aegidii
gestützt haben. Indem ich selber hier Sabatiers Auffassung für richtig
halte, mufs ich die Angabe der Leg. tr. Soc. verwerfen. Deshalb kann
ich in dieser Angabe nichts anderes sehen als den falschen Ausweg eines
Kompilators, der die Lücke der Legenden, an die er sich vorwiegend
hielt, auf eigene Faust mit einem Irrtum ergänzte. Man beachte auch,
dafs es bei der späteren Erwähnung von Rivotorto in c. 13 (n. 55) aus-
di-ücklich heifst: „Conversabatur adhuc pater cum aliis in quodam loco . . .,
qui dicitur Kivus tortus". — Der Kompilator setzt also an dieser Stelle
voraus, dafs Franz auch früher schon dort verweilt hatte. — Dafs diese
Stelle der Leg. tr. Soc. sich mit der von Lemmens herausgegebenen Vita
fr. Aegidii (s. vorangehende Anmerkung!) berührt, indem beide die Por-
tiuncula nennen und sich ähnlich ausdrücken, deutet vielleicht auf Zu-
gehörigkeit zu einer gemeinsamen Gruppe der späteren Überlieferung hin.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 117
der Grofsherzigkeit und Geldverachtung zur Einkehr und
schliefst sich dann dem Jüngerkreise an. Aber die Vita
secunda sagt gar nichts über den Zeitpunkt des Eintritts;
Bonaventura, der alles Zusammengehörige zu verschmelzen
strebt, schliefst diese Erzählung deshalb zwar an die Auf-
nahme der ersten fünf Jünger an, aber doch so, dafs er sich
zum Bericht der Vita prima in keinen offenen Widersprach
setzt: er macht Silvester zum sechsten Jünger, von dem die
Vita prima erst an späterer Stelle ohne Namensnennung
spricht (J, 12 = n. 29). Der Verfasser der Legenda trium
Sociorura flocht den Bericht der Vita secunda da ein, wo
von Bernhards Anschlufs die Rede ist; er erfindet Zeit-
bestimmungen, die in der Vita secunda und bei Bonaventura
fehlen ', und er erweckt beim Leser den Glauben, als ob
Silvester der dritte Jünger gewesen sei. Dafs die Erzählung
dann aber mit einer Beziehung nur auf die ersten beiden
Jünger fortfährt, was man beim Lesen zunächst wie einen
Widerspruch empfindet, zeigt, dafs es sich um ein wenig
geschicktes Einschiebsel handelt.
Im Widerspruch zur Vita prima und zu Bonaventura ^
läfst die Legenda trium Sociorum die kleine Schar auf die
erste Missionsreise ausziehen, als sie mit Franz erst vier
Köpfe zählte ; die andern Quellen lassen dies erst geschehen,
als es ihrer acht waren. Es bleibt doch kein anderer Aus-
weg, als der Legenda trium Sociorum den Irrtum zuzuschieben,
weil sonst Bonaventura die von den drei Gefährten über-
holte Angabe der Vita prima verbessert haben müfste. —
Ein weiteres Anzeichen der Kompilation ergibt sich aus dem
folgenden Abschnitt. Franz erzählt auf der Reise dem Bruder
1) Die Einkehr Silvesters erfulgt „Post paiicos dies"; ein Trauiu,
der ihn vollends hokchrt, ,,seqiienti nocte'". — Auch beim Enitritt des
Aegidiiis iu den Jiingerkreis (n. ü2) bessert die Leg. tr. Soc. das „Post
non multum ternporis" der Vita prima (I, 10 = n 25) in das bestimmtere
und dadurch weniger glaubwürdige „ Post aliquot dies ". Bei der Auf-
nahme dreier neuer Brüder heifst es dann ebenfalls ,,Paucis diebus
elapsis" (n. 35).
2) Julian von Spcier folgt hier wie im vorangehenden Fall der Vita
prima. Die Vita scc. berichtete in dieser Frage nichts, weil sie offen-
bar nichts zu ergänzen wiifstc.
118 GOETZ,
Agidius den V^ergleich mit dem Fischer, der das Netz mit
vielen Fischen aus dem Wasser zieht, aber nur die besten
davon behält. Die Legenda trium Sociorura und die Vita
Aegidii, wie sie uns überliefert ist, berühren sich dabei aufs
engste. Wer von beiden den andern benutzte, bleibe ganz
dahingestellt; unzweifelhaft erscheint aber, dafs der Vergleich
in letzter Linie auf die Vita prima I, 11 (n. 28) zurück-
geht. Dort aber erzählt ihn Franz allen Jüngern, die er
bis dahin hatte. Es liegt wohl weit näher anzunehmen, dafs
die Vita Aegidii diese Erzählung für ihren Helden Agidius
allein in Beschlag nahm, als dafs etwa der Verfasser einen
Irrtum der Vita prima hätte verbessern wollen ^ So steht
auch hieibei die Legenda trium Sociorum auf der Linie
einer spätem Überlieferung. — Gleich darauf folgt ein
Widerspruch zu einer früheren Stelle: es heifst (n. 33), Franz
habe (auf der ersten Wanderung) noch nicht gepredigt, sondern
das Volk nur ermahnt. Aber vorher (Kap. 8 = n. 25) ist
erzählt worden, wie Franz zu predigen begann. Der Wider-
spruch erklärt sich dadurch, dafs der Verfasser der Legenda
in Kapitel 8 dem Julian von Speier (und dieser der Vita
prima), in Kapitel 9 der Vita Aegidii folgte '^.
Dafs auch Bernhard von Bessa bei Abfassung der Leg.
tr. Soc. benutzt wurde, tritt im letzten Teile des 9. Kapitels
hervor. Drei neue Brüder aus Assisi seien beigetreten:
Sabbatinus , Moricus und Johannes de Capella ; dann fährt
die Erzählung mit Worten fort, die sich ebenso bei Bern-
hard von Bessa, aber in anderem Zusammenhange,
finden. Diese drei Brüder sind in keiner der früheren
QueUen einschliefslich Bernhard von Bessa als Mitglieder des
ältesten Jüngerkreises genannt; ist es nun denkbar, dafs
Bernhard eine solche von den vertrauten Gefährden stammende
Nachricht überging und daran anschliefsende Worte in einen
andern Zusammenhang übernahm? Das Umgekehrte, dafs
1) Die von Lern mens herausgegebene Vita fr. Aegidii hat diese
Erzählung nicht.
2) Am Anfang des 13. Kapitels heifst es dann nochmals, dafs Franz
mit der Predigt begonnen habe — ein Irrtum oder eine Nachlässigkeit,
die sich in der Vorlage (Vita prima) nicht findet.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 119
der Kompilator den Bernhard ^t>u Bessa ausplünderte und
dessen allgemein gehaltene Bemerkung mit den drei neuen
Jüngern zusammenbrachte, liegt bei weitem näher!
Für den ersten Teil des 10. Kapitels (n. 36) hat Ortroy
schon darauf hingewiesen, dafs der Kompilator, weil er seine
verschiedncn Vorlagen anbringen wollte, sich wiederholt:
was die Legenda trium JSociorum hier und vorher (n. 33)
nach ihren Vorlagen bringt, geht alles auf dieselbe Urquelle,
die Vita prima (I, 11 und 12 = n. 27 — 29) zurück. Nur
infolge unüberlegter Aneinanderreihung der Vorlagen kommt
die Legenda trium Sociorum zur Erzählung einer zweiten
Missionsreise und etwas später (n. 39) zur Wiederholung der
Conversio Bernhards von Qaintavalle. Was Ortroy sonst
für das 10. und 11. Kapitel an verwandten Quellen neben
die Legenda trium ISociorum gestellt hat, entscheidet zum
gröfsten Teil die Streitfrage nicht klipp und klar, weil überall
die Möglichkeit doch offen bleibt, dafs die Legenda trium
Sociorum die Vorlage der übrigen gewesen ist. Alle diese
Verwandtschaften gewinnen erst dann ihr bestimmtes An-
sehen, wenn auf andere Weise die Abhängigkeit der Legenda
trium Sociorum festgestellt worden ist — nur die Erzählung
von dem Verschenken des Mantels (am Ende von n. 44)
läfst, verglichen mit Speculum Perfectionis c 36 und mit
der Vita fr. Aegidii, kaum einen anderen Ausweg zu, als
dafs die Legenda trium Sociorum die späteste Überlieferung
darstellt. Dafür spricht die Erwähnung der Portiuncula an-
statt Kivotorto und der Schlufssatz, der eine zum Wunder
hinüberleitende rhetorische Erweiterung bedeutet '. — Das
1) Von Sabatiers Versuch, den Widerspruch zwischen Leg. tr. Soc.
und Specuhim Perf. zu heben, war oben ö. 115 Anni. 3 schon die Rede.
Diese Episode ist für alle in Fra^re kommenden Texte, also auch für die
Vita Aegidii in der Chron. XXIV gen. und für die Lemmensschc Vita
Aegidii wichtig: eine Urquelle liegt wohl höchstens im Speculum Pcif.
vor. Die beiden Vitae Aegidii erscheinen an dieser Stelle als Fort-
bildungen der uns unbekannten originalen Viten — die Lemmenssche
weniger weit entwickelt als die andere. "SVie dem auch sei — dieses eine
Beispiel, an allen Einzelheiten durchgeprüft, lehrt zur Genüge, dafs die
älteste franziskanische Überlieferung, abgesehen von Thomas von Celano,
zweifelsfrei für uns kaum feststellbar ist.
120 GOETZ,
12. Kapitel bringt dann freilich wiederum ein Beispiel, bei
dem ein Zweifel ausgeschlossen erscheint. Wieder kann
man beobachten, wie die Vita prima die Grundlage abgab
und anderes mit wenig Geschick eingeschoben wurde, so dafs
eine Reihe von Wiederholungen entstanden. Die Erzählung
behandelt die Reise Franzens und seiner Genossen nach Rom
zur Erlangung einer päpstlichen Anerkennung für ihr Tun.
Was bald nach dem Anfang des Kapitels in den Text
der Vita prima eingeschoben ist (Wahl Bernhards zum
Führer auf der Wanderung, Verhalten unterwegs, Beziehung
des Bischofs von Assisi zum Kardinal von St. Paul und
dessen Gespräche mit Franz) ist wohl lediglich als eine Er-
weiterung der kürzer gefafsten Vita prima anzusehen; ihr
folgt der Verfasser, soweit es auf die Tatsachen ankommt.
Nachdem er aber die Antwort des Papstes berichtet hat,
fügt er — wiederum in einer ganz äufserlichen Verbindung —
an, was sich mit der Vita secunda berührt, also aus dieser
entnommen scheint. Was die Vita secunda (I, 11) bringt,
ist eine Ergänzung der Vita prima: die in dieser nur kurz be-
richtete Entscheidung des Papstes zugunsten der Bittsteller soll
als eine Folge von göttlichen Eingebungen näher erklärt wer-
den — solche übernatürliche Erklärungen hatte die Überlie-
ferung seit dem Entstehen der Vita prima für nötig befunden.
Ein geschickter Kompilator hätte den Bericht der Vita secunda
einfügen müssen, ehe er die Entscheidung des Papstes gab ;
statt dessen ist in der Legenda trium Sociorum das Um-
gekehrte geschehen, und es ist nicht einmal der Versuch ge-
macht, die Stelle aus der Vita secunda als die nachträgliche
Begründung der päpstlichen Entscheidung hinzustellen —
sie folgt vielmehr als etwas Neues. Mitten hinein in die aus
der Vita secunda übernommenen Worte ist dann nochmals
ein Satz aus der Vita prima eingefügt ^ und die Bestätigung
der Regel mit der stets verdächtigen Zeitangabe „Post paucos
dies" nochmals wiederholt. Bonaventura (c. III, n. 34 — 38)
hat die beiden Schriften Celanos so verarbeitet, dafs seine
1) Im letzten Absatz von n. 51 betr. die Regel, „quam scripserat
verbis simplicibus" usw.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 121
Erzählung einen klaren Zusammenhang hat, wenn sie auch
daneben ebenfalls manche sofort sichtbare Fortbildung der
Überlieferung hinzugefügt hat. Selbst der Anonymus Peru-
sinus, der sonst hier aufs stärkste mit der Legenda triura
Sociorura übereinstimmt, war doch so geschickt, die Ent-
lehnung aus der Vita secunda vor der endgültigen Ent-
scheidung des Papstes einzuschieben und dadurch seine
Zusammenstellung vor dem Vorwurf allzu lässiger Arbeit zu
bewahren.
Was dann vor dem auf die Vita prima zurückgreifenden
Schlufs des Kapitels an neuen Nachrichten noch eingeschoben
ist, erscheint alles in hohem Mafse verdächtig als eine Er-
findung späterer Zeiten. Ortroy hat auf die Berührung mit
der Ordensregel hingewiesen. Die Nachricht vom Empfang
der Tonsur gehört wiederum zu denjenigen, die Thomas von
Celano in der Vita secunda hätte verwenden müssen, wenn
er sie bei den drei Gefährten fand; statt dessen ist Bona-
ventura der erste, der sie bringt, und bei ihm ist nach seiner
ganzen Anschauungsweise und bei seinem dunklen Wissen
über die Anfänge der Bewegung das Auftreten einer solchen
Notiz erklärlich. Nur das eine steht bei Ableitung dieser
iStelle aus Bonaventura im Wege: der Empfang der Tonsur
wird in der Legenda trium Sociorum auf die Vermittlung
des Kardinals von San Paolo zurückgeführt. Es ist eine von
jenen Bemerkungen, die sich nicht als blofse Erweiterungen
der Legende ansehen lassen, sondern bei denen man die
Schwierigkeit glatter Lösung der Streitfragen empfindet.
Noch eine nicht unwichtige Erinnerung ist hier zu machen.
Sabatier hat die im 12. Kapitel sich findenden A\'ieder-
holungen damit erklären wollen, dafs die drei Gefährten mit
peinlicher Gewissenhaftigkeit alle Nachrichten, deren sie hab-
haft werden konnten, gesammelt und verwendet hätten '.
Ich kann diese Erklärung nicht teilen, weil eine solche Ab-
sicht weder die Verarbeitung des Stoffes verhindert noch
die Begehung sichtlicher Irrtümer hervorgerufen zu haben
brauchte. Das Weglassen wichtiger Stellen aus der Vita
1) Sabatier, De rauthenticite, S. 16 Anm. 1.
122 GOETZ,
prima zerstört aber vollends die Annahme solcher Absicht.
Die Überlegung der kleinen Schar nach der Abreise aus
Rom, „utrum inter homines conversari deberent an ad loca
solitaria se conferrent'^ (Vita prima I, 14 = n. 35), fehlt in
der Legenda trium Sociorum, obwohl doch gerade diese
Frage und ihre Entscheidung für die Entwicklung der ganzen
Bewegung epochemachend war. Die Wichtigkeit dieser Frage
sollten die drei Gefährten gar nicht empfunden haben?
Weder das ist möglich, noch dafs ein nach Vollständigkeit
strebender Verfasser sie übergangen hätte.
Die Übereinstimmung dieses Kapitels mit dem Texte des
Anonymus Perusinus (n. 31 — 36) tritt hier stärker hervor
als je bisher. Der ganze Anfang — die Erweiterung der
Vita prima — steht last wörtlich ebenso bei diesem; erst
bei Erzählung der Vision bringt der Anonymus eine etwas
andere Lesart, während die Legenda trium Öociorura sich
genau an die Vita secunda hält. Bei den auffallenden Nach-
richten am Schlüsse des Kapitels wird die Berührung zwischen
Legenda und Anonymus wieder stärker. Was später bei
Kapitel 15 und 16 in weit deutlicherer Weise hervortritt,
scheint doch auch hier schon wahrscheinlich: die Erzählung
des Anonymus — oder dessen hier wenig überarbeitete, in
letzter Linie auf die Vita prima zurückgehende Vorlage —
erscheint als die Grundlage der Legenda trium Sociorum,
zu der die Nachrichten der Vita secunda hinzugefügt
wurden.
Für das 13. und 14. Kapitel verweise ich auf die Aus-
führungen van Ortroys, denen ich nichts hinzuzufügen vermag.
Aber freihch sind diese Ausführungen für Kapitel 14 doch
nur dürftige Nachweise ; die fast vollkommene Übereinstimmung
mit dem Anonymus Perusinus sei einstweilen bereits hervor-
gehoben. Bei Kapitel 15 und 16 verlohnt es sich jedoch,
die Angabe der Legenda trium Sociorum genauer zu unter-
suchen. Die beiden Kapitel handeln vom Tode des Kardinals
von San Paolo, vom Einrücken des Kardinals von Ostia in
die Stellung des Ordensprotektors und von der Aussendung
der Missionen in das ganze Abendland. Der Kardinal von
S. Paolo wird im ersten Absatz des 15. Kapitels wie der
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 123
Protektor des Ordens geschildert; keine andre Nachricht,
weder bei Celano noch bei Bonaventura noch sonst, läfst
darauf schliefsen, dafs der Kardinal von Ostia als Ordens-
protektor einen Vorgänger gehabt habe; vielmehr mufs aus
Celano und aus Jordanus a Jano geschlossen werden, dafs
ein derartiges Amt erst um 1220 aus der damaligen Lage
des Ordens entstand ^ Man könnte den Bericht der Legenda
trium Sociorum dadurch zu halten streben, dafs man an kein
förmliches Amt, sondern nur an das hilfreiche Interesse des
Kardinals gegenüber den Minoriten dächte; aber mindestens
so wahrscheinlich ist es, dafs die spätere Überlieferung aus
dem Anteil, den der Kardinal nach dem Bericht der Vita
prima Franz und seinen Jüngern bei ihrem ersten Besuche
in Rom betätigt hatte, und aus der späteren Einsetzung eines
Kardiualprotektors ein Protektorat des Kardinals von S. Paolo
konstruierte. Die Legenda trium ISociorum berichtet weiter,
dafs nach dem Tode des Kardinals von S. Paolo Franz mit
seinen Brüdern den Kardinal von Ostia aufgesucht und um
Übernahme des Protektorats ersucht habe, und zwar erweckt
der Bericht den Eindruck, als ob Franz den Kardinal bei
dieser Gelegenheit zum ersten Male kennen gelernt hätte ^.
Diese Nachricht kann deshalb nicht zutreffend sein, weil
die für die Beziehungen des Kardinals zu Franz sicherlich
zuverlässigere Vita prima die beiden Männer sich zuerst
zufällig in Florenz begegnen läfst, als Franz nach Frank-
reich gehen wollte (J, 27 = n. 74 und 75). Dafs dabei der
Kardinal Franz seinen Schutz zugesagt habe, berichtet auch
die Vita prima — aus ihrer Angabe scheint die auf das
Protektorat zugespitzte Überlieferung der Legenda trium
Sociorum entstanden zu sein, wonach der Tod des Kardinals
von S. Paolo die Ursache gewesen wäre, dafs Franz mit den
Brüdern den Kardinal von Ostia aufsuchte. Auch an dieser Stelle
würde man nach einer Vereinigung der beiden Berichte streben
1) Vgl. Uist. Viertoljahisscbr. 1903, S. 39.
2) „Cuius [des Kardinals von Ostia] fainam gloriosum vir Dci uudions
. . . acccssit ad euin cum fratribus suis. Ille autcin cum gaudio susci-
piens ipsos ait eis: offero nie ipsum vobis auxilium et consilium atque
protectionem paratus impenderc" . . .
124 GOETZ,
(dals Franz nämlich das zufallige Zusammentreffen benutzte,
um sich nach dem Tode des Kardinals von S. Paolo 1216
einen neuen Fürsprecher an der Kurie zu sichern), wenn
nicht die nachfolgende unzweifelhaft falsche Angabe, dafs
der Kardinal von Ostia fortan an jedem Generalkapitel teil-
genommen habe ', auch gegen das vorangehende raifstrauisch
machte und darin wiederum nur einen Ausbau der Vita
prima vermuten liefse. Das folgende 16. Kapitel kehrt in
seinem zweiten Teile zur Einsetzung des Ordensprotektors
zurück, aber vorher ist die Mitteilung über die aufser-
italienischen Missionen eingeschoben — ■ eine Abschweifung,
die man entschuldigen kann, da sie nach der Legenda trium
Sociorum die Ursache für die offizielle Ernennung eines
Ordensprotektors durch den Papst gewesen sein soll. Frei-
lich ist schon das Itaque am Anfang des Kapitels bedenk-
lich, da im vorangehenden kein Anlafs dafür gegeben ist.
Ebenso die Zeitbestimmung für diese Missionen: „expletis
itaque undecim annis ab incoeptione religionis". Wann diese
Missionen und die Einsetzung von Provinzialministern be-
schlossen wurden — ob 1217 oder 1219 — , ist mit allem
Scharfsinn nicht sicher zu entscheiden ^^ \ aber das Datum
der Legenda trium Sociorum pafst doch zu keinem der
beiden Jahre ^. Und indem dann die Bestätigung einer
neuen Regel durch Honorius III. als Folge des Mifserfolges
der ersten Missionen hingestellt wird, kommt man für die
erneute Aussendung der Brüder auf das Jahr 1224 — ein
Schlufs, den die Bollandisten seinerzeit auch folgerichtig ge-
1) Vgl. Anal. BoU. XIX, 192.
2) Zu den Angaben bei Sabatier, Speculum Perf. S. 122, Anm. 2
Tgl. noch Sabatier, Vie de S. Fran9ois, S. 225 Anm. 1; Lerapp,
Frere Elie, S. 39 Anm. 2; Lemmens, Documenta antiqua I, 22 ff.
3) Unter der incoeptio religionis die couversio und das Jahr 1206 zu
verstehen, hat seine Bedenken, da die Leg. tr. Sog. anderwärts nach der
conversio rechnet und diese eben doch nicht der Anfang der religio ist.
Nimmt man aber 1209 als incoeptio, so kann man das expletis undecim
annis nur auf 1220, nicht auf 1219 berechnen. Es ist gewifs richtig,
dafs man diese chronologischen Angaben der Quellen nicht auf die Gold-
wage legen darf, aber die Leg. tr. Soc. hat in diesem Kapitel doch mehr
Unsicheres als irgendeine andere Quelle.
ZUR GESCHICHTE QUELLEN DES HL. FRANZ VON ASSISL 125
zogen haben, um von den Angaben der Legenda trium So-
ciorum nicht abzuweichen '. Aber für diese Chronologie
hat sich doch keiner der neueren Forscher erklärt, und ich
denke, dafs eine so starke Verschiebung der möglichen Daten
bei den vertrauten Gefährten nicht vorausgesetzt werden
darf: über die Regel von 1223 und über die Missionen
mufsten sie doch so weit informiert sein, dafs sie beides
nicht zusammenwerfen konnten. Selbst eifrige Anwälte der
Legenda trium Sociorum haben zugegeben, dafs die Erzählung
an dieser Stelle „un po' confuso ed intricato" ist ^. Sabatier
hat neuerdings den Bericht dadurch zu retten versucht, dafs
er unter der erwähnten Bulle das päpstliche Schreiben vom
11. Juni 1219 verstanden wissen will, das ein Geleitsbrief
für die missionierenden Brüder war ^. Es ist wahr, dafs
sich dann viele Schwierigkeiten glätten würden, besonders
wenn man sich damit gleich ganz auf den Standpunkt
Sabatiers stellt und mit diesem Schreiben den Konflikt
zwischen Franz und der Kurie zum erstenmal dokumentarisch
hervortreten läfst; aber der Wortlaut der Legenda trium
Sociorum stellt sich dem doch unerbittlich entgegen: dafs
der Kardinal von Ostia „aliam regulam a beato Francisco
compositam" durch Papst Ilonorius IIL „fecit cum bulla
pendente soleraniter confirmari", kann nicht auf den ganz
kurzen Geleitsbrief von 1219 bezogen werden, in dem die
„via vitae a romana ecclesia merito approbata" wohl er-
wähnt, aber weder sollemniter noch überhaupt bestätigt
wird ^. Der Nachsatz der Legenda trium Sociorum be-
kräftigt es noch ausdrücklich, dafs die 1223 bestätigte Regel
1) Acta SS. Oct. II, 645 f.
2) Marc. daCivezza e Teof. Donienichelli, La Leggenda di
S. Francesco scritta da tre suoi conipagni, S. 174 Anni.
3) Sabatier, De rauthenticite, S. 22 ff.
4) Sabatier, De l'authenticite, S. 28 hält die Bulle vom 29. No-
vember 1223 für weniger feierlich als diese von 1219; aber er wird
damit kaum überzeugen können. Anderseits läfst sich das Schreiben
von 1219 nicht als Brevc, das von 1223 als Bulle bezeichnen, wie Lem-
mens, Documenta antiqua I, 24, will. Die Unterschiede sind damals
noch nicht so bestimmt ausgeprägt; die Bulle von 1223 hat keinen andern
Tenor als das Schreiben von 1219.
126 GOETZ,
gemeint ist: „in qua regula prolongatus est terminus ca-
pituli" — eine Bestimmung, die zwar in dem Regelentwurf,
den man gewöhnlich auf 1220 oder 1221 ansetzt, schon ent-
halten, aber erst 1223 Tatsache geworden ist '.
Man kommt deshalb nicht darüber hinweg, dafs die Zeit-
angaben der Legenda trium Sociorum hier verwirrte sind
und dafs die in diesem Zusammenhang erzählte offizielle
Bewilligung eines Kardinalprotektors diese Verwirrung noch
vermehrt ^. Aus der Erzählung selber hat man den Ein-
druck, dafs sie aus einer Zusammenwerfung verschiedener
Berichte entstanden ist. Denn sie beginnt zunächst so, dafs
man Franzens Bitte um einen vom Papste bestätigten Kar-
dinalprotektor an denselben Zeitpunkt wie die Bestätigung
der Regel setzen mufs. Ob man nun dafür 1223 annimmt
oder mit Sabatier 1219 — jeder der beiden Zeitpunkte
dürfte unrichtig sein ^. Als Grund für die Bitte um einen
Kardinalprotektor fügt die Legenda trium iSociorum eine
Vision, die Franz gehabt hatte, an: beim ersten Lesen glaubt
man nicht anders, als dafs sie in dieselbe Zeit zu setzen ist.
Nach der Erzählung der Vision geht es jedoch mit Worten
weiter, die das vorher Berichtete ganz aufser Acht lassen:
„Elapsis autem paucis annis post visionem praedictam venit
Romam et visitavit dominum Hostiensem''; dieser wünscht,
dafs Franz vor dem Papste predige, und nachdem es am
nächsten Tage geschehen, bittet Franz den Papst um einen
Ordensprotektor, Die Bitte wird bewilligt, und der Kardinal
von Ostia schreibt darauf Geleitsbriefe für die missionieren-
den Minoriten — hier ist die Beziehung auf das päpstliche
Breve von 1219 auch im Wortlaut der Legenda trium So-
1) Wir wissen über die Generalkapitel dieser Jahre zwar sehr wenig;
wäre aber 1219 eine derartige Bestimmung bereits in Kraft gewesen, so
hätte 1221 kein Generalkapitel stattfinden können. Ein solches ist aber
durch Jordanus a Jano bezeugt. Ich kann auch hier die gegenteilige
Beweisführung von Sabatier, De l'authenticite , S. 29 nicht als über-
zeugend anerkennen.
2) Vgl. die Kritik G. Voigts an diesem Kapitel: Abb. d. sächs.
Ges. der Wiss. XII, 485 f.
3) Vgl. Hist. Vierteljahrsschr. 1903, S. 39.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 127
ciorum sichtbar: die geistlichen Obrigkeiten sollen den
Minoriten nicht entgegensein, sondern ihnen helfen ,, taraquani
bonis et sanctis religiosis, auetoritate sedis apostohcae appro-
batis'' '. Die Legenda triam Sociorura fährt dann fort: „In
sequenti ergo capitulo, data licentia ministris a beato Fran-
cisco recipiendi fratres ad ordinera, misit eos ad supradictas
provincias, portantes litteras cardiaalium cum regula bulla
apostolica confirmata." Man mag es anstellen, wie man
will — diese Chronologie läfst sich nicht in Ordnung bringen.
Denn selbst wenn man den Weg Iriabatiers gehen wollte^
kommt man nicht zum Ziele. Wenn nämlich 1219 der
Kardinalprotektor vom Papste bewilligt worden wäre, so
müfste dieses Ereignis vor dem Ptingstkapitel dieses Jahres
angesetzt werden; dann hätte die Legenda trium Sociorum
mit der Angabe unrecht, dafs mit der Ernennung des Pro-
tektors auch dieser Geleitsbrief gegeben worden sei, denn
das Breve vom 11. Juni erscheint als die Folge des Pfingst-
kapitels vom 30. Mai 1219 ^. Und ferner bliebe der stärkere
Irrtum, dufs die Missionare 1219 „cum regula bulla apostolica
eonfirmata" ausgezogen seien. Die Frage spitzt sich für diese
gesamten Ereignisse dahin zu, ob man der Legenda trium
Sociorum oder der Chronik des Jordanus a Jano mehr
Glauben schenken soll. Aber in Anbetracht der unbestreit-
baren Irrtümer und Unklarheiten der Legenda trium So-
ciorum hat man keine Ursache, ihr den Vorzug vor dem
Berichte des Jordanus zu geben : dieser schreibt mit der Ab-
sicht bestimmter Datierung, die Legenda trium Sociorura
ohne eine solche, und die von Jordanus gegebene Begründung
für die Bitte um einen Generalprotektor — die inneren
Wirren im Orden in Franzens Abwesenheit 1220 — leuchtet
ein, während man in der Legenda trium Sociorum vergeb-
1) Breve vom 11. Juni 1219: „Qiuim dilecti ülii frater Fraiicisciis
et socii eius . . . elegerint vitae viam a Roinana ccclosia inciito appi o-
batam ..." (Sbaralea, Bullariiim I, 2).
2) Der Papst befand sich damals in Ricti ; dio Zeit reichte also aus,
ihn von dem Ansuclien des Generalkapitels zu verständigen , so dafs
bereits am 11. Juni der Scluitzbrief ffcgeben werden konnte. Vgl.
Lemniens, Documenta antiqua I, 24, Anm. 1.
128 GOETZ,
lieh nach einem deutlichen Anlafs zu dieser Bitte sucht ^
Und soweit die Vita secunda auf diese Frage eingeht, be-
stätigt sie andeutungsweise die Mitteilung des Jordanus ^.
Sabatier hat mit allem Nachdruck die Richtigkeit und
organische Einheit dieser beiden Kapitel behauptet ^; aber
nach den vorangehenden Erörterungen möchte ich doch
annehmen, dafs sie auf dieselbe Weise entstanden sind, wie
die früher besprochenen Kapitel: durch ein Ineinanderschieben
verschiedener Vorlagen. Zu dem Bericht der Vita prima
(II, 5 und I, 27 = n. 100 und n. 73 — 75) ist hinzugefügt,
was die Vita secunda (I, 16 und 17) bringt; — dafs dabei
Franzens Ansuchen beim Papst in der Legenda trium öo-
1) Gegen die vollständige Zuverlässigkeit des Jordanus spricht an
dieser Stelle bekanntlich zweierlei: die Angabe, dafs 1219 im „anno
conversionis eins [Franz] decimo" gewesen sei, und zweitens das päpst-
liche Schreiben vom 11. Juni 1219, das die Brüder schützen sollte, wäh-
rend nach der gewöhnlichen Annahme erst das Scheitern der nach Jordanus
mit Pfingsten 1219 beginnenden Missionen den Schutzbrief hervorgerufen
hat. Dafs aber im ersten Falle statt decimo zu lesen ist tertio decimo,
wird doch wohl dadurch aufser allen Zweifel gestellt, dafs Jordanus kurz
nachher (n. 10) vom selben Jahr 1219 spricht als „anno conversionis XIII".
Der zweite Anstofs kann wohl ebenfalls gehoben werden: der Papst hat
mehrfach derartige Schutzbriefe gegeben, und der am 29. Mai 1220 an
die französische Geistlichkeit gerichtete bezeugt, dafs frühere päpstliche
Schutzbriefe nicht beachtet worden waren (Sbaralea I, S. 5) ; es ist des-
halb auch nicht ausgemacht, ob der Geleitbrief von 1219 sich bereits
gegen vorgefallene Verfolgungen richtete, denn er sagt davon nichts,
während der von 1220 auf die den Brüdern bereiteten Schwierigkeiten
hinweist. Da nun die Legenda tr. Soc. nur von einem Schreiben des
neuen Kardinalprotektors und anderer Kardinäle spricht, während uns
nur Schreiben des Papstes erhalten sind, so irrt die Leg. tr. Soc. in
dieser Sache entweder ganz oder der Kardinal von Ostia hat, nachdem
er Protektor geworden war — nach Jordanus frühestens Ende 1220 — ,
neue Schreiben ausgehen lassen, von denen uns nichts bekannt ist. Man
beachte übrigens, dafs das päpstliche Schreiben vom 29. Mai 1220
wiederum zwölf Tage nach einem Pfingstkapitel (Jordanus n. 11) aus-
gegangen ist.
2) Vita secunda I, 16 heifst es von Franz: „Videbat tunc contra
pusillum gregem luporum more sevire quamplures . . . Praevidebat
quaedam inter ipsos filios accidere posse sanctae paci et unitati con-
traria "... Deshalb bittet er den Papst um einen Protektor.
3) Sabatier, De l'authenticite S. 22 ff., 36 f.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 129
ciorum (n. 65) in einer doppelt so langen direkten Kede
wiedergegeben ist, als in der Vita secunda, erscheint — eben
weil es sich um Worte des Heiligen selber handelt^ die man
später doch kaum verkürzt haben würde — als Zeichen der
Posteriorität der Legenda gegenüber der Vita secunda ^
Am Schlüsse von Kapitel 16 sind wieder Stellen aus den
genannten beiden Kapiteln der Vita prima verwendet. Da-
zwischen steht nun freilich Verschiedenes, was keine der
beiden Schritten Celanos enthält, auch nicht Bonaventura.
Darin liegt auch hier wiederum ein Beweis, dafs weder Ce-
lano noch Bonaventura die Legenda trium Sociorum vor
Augen hatten — die Nachrichten über den besseren Erfolg
der Missionen, nachdem der Kardinal von Ostia Protektor
geworden war und sich mit seinem Schreiben für die Brüder
verwendet hatte, wären doch für solche Anhänger des Kar-
dinals, wie Celano und Bonaventura es waren, Wasser auf
ihre Mühle gewesen! Auch wirft es auf die Legenda trium
Sociorum kein gutes Licht, dafs sie die Nachrichten der Vita
prima abschwächt, indem sie wegläfst, dafs Franz bei der
Predigt vor dem Papst „pedes quasi saliendo movebat"; hier
trifft für die Legenda trium Sociorum zu, was man der
Vita secunda und Bonaventura so oft vorgeworfen hat: dafs
sie wegliefsen, was der Heiligkeit Eintrag tun konnte. Auch
predigt Franz in der Vita prima auf seinen eigenen Wunsch,
in der Legenda trium Sociorum auf Wunsch des Kardinals
von Ostia. Die Furcht des Kardinals, wie das Unter-
nehmen auslaufen werde, fällt deshalb in der Legenda trium
Sociorum ebenfalls weg, und Franz wurde dadurch auch nicht
dem Verdachte ausgesetzt, dafs seine Predigt niifslingen
könne. Die Vita prima ist an dieser ganzen Stelle bei
weitem die naivere Quelle ^. Solche Feststellung bewirkt,
1) Sabatier a. a. 0. S. 38 Anin. 2 glaubt beim Yoigleichc dieser
Stelle der Vita sec. mit der Leg. tr. Soc. gerade das Gegenteil aufs
deutlichste zu sehen. Ich finde, dafs der Bericht der Vita sec. zwar
powifs nicht vollständig ist (das zeigt Jordanus !), wohl aber ohne irgcMul-
einen der Widersprüche und Abschweifungen der Leg. tr. Soc.
2) Bonaventura c. XII, 7 (= n. 178) weicht hierin von der
Vita prima wie von der Leg. tr. Soc. ab.
9
130 GOETZ,
dafs man um so eher einen Teil der neuen Nachrichten der
beiden Kapitel (z. B. über das Protektorat des Kardinals
von S. Paolo) für blofse Erweiterungen der Vorlagen ansieht
und auch das übrige in seinen Widersprüchen zu Jordanus
mit Mifstrauen betrachtet.
Van Ortroy hat geraeint, die Angaben der Legenda trium
Sociorum über den Fehlschlag der Missionen gingen auf
Jordanus a Jano zurück. Das läfst sich schwer erweisen;
der Kompilator hätte dann Jordanus nicht nur lückenhaft
benutzt, sondern hinsichtlich der Ursachen, die zur Ernennung
des Kardinalprotektors führten, völlig verändert. Aber da
von den Missionen und ihren Mifserfolgen oei Celano und
Bonaventura nichts zu lesen ist, so weisen hier die Sonder-
nachrichten der Legenda trium Sociorum wiederum auf
einen Nebenzweig der Überlieferung hin, mit dem vielleicht
auch Jordanus im Zusammenhang steht. Der Empfang des
Kardinalprotektors bei den Generalkapiteln, die Einsetzung
der Provinzialminister, die Aussendung und der Mifserfolg
der ersten Missionen, sowie die Neuaussendung mit Geleit-
briefen des Kardinalprotektors bleiben bis auf weiteres Nach-
richten unbekannter Herkunft und zweifelhafter Sicherheit,
in denen aber richtige Überlieferung stecken mag ^ Das
Vorhandensein solcher Nachrichten in der Legenda trium
Sociorum rettet ihre Echtheit keineswegs; warum sollte der
Kompilator nicht hinzugefügt haben, was ihm aufserhalb seiner
Hauptvorlagen erreichbar war? Bonaventura hat es in letzter
Linie nicht anders gemacht, nur dafs seine Kompilation eine
wirkliche Verarbeitung des Stoffes und ein umfassendes Lebens-
bild des Heiligen war.
Der schlagende Beweis für diese Annahme, dafs der Ver-
fasser der Legenda trium Sociorum bei der Abfassung der
Kapitel 15 und 16 in die Vita prima und secunda eine andere
Vorlage hineinarbeitete, wird durch den Anonymus Perusinus
geliefert. Dieser enthält (n. 42—45) in glatter Er-
zählung alles das — und nicht mehr — , was in
der Legenda trium Sociorum nicht aus den beiden
1) Vgl. unten S. 145.
QUELLEN ZUlt GESCHICHTE DES IIL. FKANZ VON ASSISI. 131
Viten Celanos entnommen ist. Es bleibt natürlich zu-
nächst neben der Möglichkeit, dafs die Legenda trium So-
ciorum diese drei Vorlagen verarbeitete, die andere, dafs der
Anonymus Perusinus aus der Legenda trium Sociorum schöpfte
und alles wegliefs, was aus Celano stammte. Aber diese zweite
Möglichkeit erscheint ausgeschlossen. Denn die Erzählung des
Anonymus Perusinus ist vollkommen geschlossen und folge-
richtig ; sobald man sie liest, erkennt man, dafs alle Schwächen
des Berichtes der Legenda trium Sociorum dadurch entstanden
sind, dafs sie in den Anonymus Perusinus die scheinbar ver-
wandten Partien aus der Vita prima und secunda einschob.
Das ganze 15. Kapitel der Legenda trium Sociorum und der
Anfang des IG. (n. 62) deckt sich inhaltlich ganz, dem "Wort-
laut nach sehr stark mit dem Anonymus Perusinus (n. 42 — 44).
Während dieser aber dann sogleich fortfährt, von dem besseren
Erfolge der Älissionen unter dem Eindruck der Schutzbriefe
des Kardinalprotektors und anderer Kardinäle zu erzählen,
schiebt die Legenda trium Sociorum den Bericht der Vita
secunda I, 16 und 17 mit den oben bezeichneten eigenmäch-
tigen kleinen Änderungen ein. Dadurch entsteht die Wieder-
holung, dafs die Legenda trium Sociorum sowohl in Kapitel 15
wie in IG Franz um den Kardinalprotektor bitten läfst, da-
durch die ungeschickten Übergänge innerhalb der Erzählung
(am Anfang von n. 63 und von n. 64 und innerhalb n. 64
bei der Rückkehr zum Bericht des Anonymus).
Es ist natürlich eine andre Frage, ob der Bericht des
Anonymus Perusinus für sich in jeder Hinsicht stichhaltig ist.
Auf ihn rnufs nach der Feststellung, dafs er in diesem Falle
die Vorlage der Legenda trium Sociorum war (oder Ijesser : sie
ebenfalls enthält), die oben an dem Bericht über das Protek-
torat des Kardinals von S. Paolo, über die Verbindung des
neuen Protektorates mit dem Mifserfolge der Missionen ge-
übte Kritik bezogen werden; aber er stellt sich wenigstens
als ein achtungswerterer Faktor dem Berichte des Jordanus
gegenüber. Die oben ercirterten Gründe, die zu Gunsten des
Jordanus sprechen, bleiben auch dem Anonymus gegenüber
in Kraft. Eine eingehendere Untersuchung darüber gehört
nicht in den Kreis dieser Betrachtungen. Hier genügt es,
132 GOETZ,
festgestellt zu haben, dafs die Kapitel 15 und 16 der Legenda
trium Sociorum als Ganzes voll Mängel und ohne organische
Einheit sind, und dafs ihr korapilatorischer Charakter durch
das Vorhandensein des Berichtes im Anonymus Perusinus
aufser Zweifel gestellt wird.
Für die beiden letzten Kapitel der Legenda trium So-
ciorum verweise ich wiederum lediglich auf van Ortroys
Ausführungen. Diese Kapitel, die sich der Theorie Sabatiers
in keiner Weise einfügen wollen, für interpoliert zu erklären,
sei jedoch auf das nachdrücklichste abgelehnt; es ist reine
Willkür, wenn Marcellino da Civezza und Teotilo Domeni-
chelli in ihrer Ausgabe der Legenda trium Sociorum von
Unterschieden des Stiles und der Auffassung sprechen, die
zwischen diesen Kapiteln und der übrigen Legende bestän-
den. Sie widersprechen freilich der angeblich zelantischen
Tendenz der Legende aufs stärkste, wenn sie die Kirche
S. Francesco als Ordensheiligtum feiern — aber können diese
Kapitel dafür, wenn man heutzutage unhaltbare Behauptungen
aufstellt?
Es sei zum Schlüsse der Bhck noch auf das hingelenkt,
was in diesem „intimsten Denkmal" der franziskanischen
Literatur völlig fehlt. Es sagt uns kein Wort über Franzens
Verhältnis zur Natur und zur Tierwelt, kein Wort über seine
Freude an der Musik und über seine Dichtungen, nichts
über seine Stellung zur Wissenschaft — lauter Dinge, die
in den beiden Schriften Celanos mit dem Interesse, das sie
verdienen, behandelt sind. Über die Konflikte im Orden
stehen bei Celano wenigstens mehrfache Andeutungen, in
der Legenda trium Sociorum nichts; die Askese wird bei
ihr nur ein einziges Mal erwähnt. Und wo steht in der
Legenda etwas von dem Wunsche des Testamentes, dafs die
Brüder betteln gehen sollten? Auch die Handarbeit, die
andere Forderung des Testamentes, ist nur einmal flüchtig
gestreift. Es fehlt in dieser Legende allzu viel, als dafs
man in ihr das wahre Bild des Heihgen gezeichnet sehen
dürfte!
Das Ergebnis der gesamten Untersuchung würde demnach
sein, dafs die sogenannte Legenda trium Sociorum mit Unrecht
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 133
den vertrauten Getälirten des Heiligen und der Mitte der
vierziger Jahre des 13. Jahrhunderts zugeschrieben worden
ist; die Unrichtigkeiten der Erzählung, die (z. T. sogar sich
widersprechenden) Wiederholungen, die zugunsten der Prio-
rität der Vita secunda und Bonaventuras sprechenden Be-
rührungen mit andern Quellen, die Beziehungen zum Ano-
nymus Perusinus machen es in hohem Mafse wahrscheinlich,
dafs es sich bei der Legenda trium Sociorum um eine Kom-
pilation handelt, die nach der Legende Bonaventuras und —
nach den Hinweisen van Ortroys — auch nach dem Liber
de laudibus des Bernhard von Bessa liegt, also frühestens
im letzten Viei'tel des 13. Jahrhunderts entstanden ist '. Nach-
dem man den kompilatorischen Charakter des Textes fest-
gestellt hat, gewinnt das über die Legenda trium Sociorum
herrschende Schweigen aller Schriftsteller bis nach der
Mitte des 14. Jahrhunderts schliefslich auch eine Bedeutung;
die Chronica der 24 Generale setzte wie in anderer Hinsicht
so auch hier zuerst mit einer neuen Tradition ein, getäuscht
durch das Schreiben der drei Genossen.
Ich weifs, dafs schliefslich doch alle diese Schlüsse über
das Entstehen des Textes der Legenda trium Sociorum als
Ergebnisse subjektiven Gefühles betrachtet werden können.
Es will mir zwar scheinen, als ob das Gewicht der Gründe
zu einem objektiven Urteil ausreichte; aber ich überschätze
das Mafs der Sicherheit nicht, mit der man gegenüber so
schwierig gelagerten Problemen überhaupt entscheiden kann.
Das Beste an einer Untersuchung ist so und so oft, dafs sie
eine Möglichkeit folgerichtig durchdenkt und eben dadurch
klärenden Widerspruch hervorruft. So viel scheint mir innner-
hin erwiesen zu sein, dafs mit den von Sabatier angeführten
Gründen die Echtheit der Legenda trium Sociorum nicht
genügend gestützt ist. Läfst sich nichts anderes für die Echt-
1 ) F a 1 0 c i - P 11 1 i tr n a n i p;laubte gefunden zn haben, dafs der Domini-
kaner Franrescn l'iiiiiii (f 1324) in seinem um 1311 Rescliriobenen
Chronicon , Buch 20 c. 25 die Legenda trium Snc. benutzt luibe (Mise.
Franc. VH, S. 170 Auin. 2 und S. 175 ff.). Tatsiuhlich hat l'iiiini je-
doch an der betreffenden Stelle die Legende des Julian von Speier und
niclit die Leg. tr. Soc. bLimtzt.
134 GOETZ,
heit anführen, so ist van Ortroys Beweisführung stichhaltiger,
denn gegenüber dem allgemeinen Eindrucke eines Textes und
der so schwer kontrollierbaren Annahme von Erweiterung
oder Zusammendrängung einer Vorlage ist jede sicher fest-
stellbare Schwäche des Textes im einzelnen bei weitem das
gewichtigere Moment. Wie die Dinge jetzt liegen, ist aber
zum mindesten die Autorität der Legenda trium Sociorum
so stark erschüttert, dafs mit ihr nicht mehr wie bisher ge-
arbeitet werden darf. Ist diese Annahme richtig, so fällt
damit selbstverständlich auch die These, dafs es eine voll-
ständigere Legende der drei Genossen gegeben habe. Es bedarf
daher von van Ortroys und meinem Standpunkte aus keiner
Aveiteren Widerlegung der von Marcellino da Civezza und
Teofilo Domenichelli herausgegebenen erweiterten Legende ^
Aber auch Minocchis These, dafs die alte Legenda trium
Sociorum zwar nicht von den drei Genossen herrühre, dafs
aber in ihr die vermifste Schrift des Johannes von Ceperano
zu erkennen sei, scheidet aus der Erörterung als unmöglich
aus -.
Wenn ich trotzdem das Urteil nicht so formuliere, dafs
jede Möglichkeit einer andern Anschauung ausgeschlossen
werden soll, so bedenke ich dabei drei Schwierigkeiten, die
bisher bei Ortroys und meiner L^ntersuchung noch nicht ge-
löst werden konnten : es bleibt immerhin auffallend , dafs
sich eine Kompilation aus so später Zeit nicht in weit stär-
kerer ^Veise durch sachliche L-rtümer und legendarischen
Ausbau der Überlieferung verrät: es bleibt zunächst noch
unaufgeklärt, woher die bisher aus keiner Vorlage abzu-
leitenden Nachrichten stammen, und es bleibt drittens ein
völliges Rätsel, was es mit dem der Legende vorangestellten
Schreiben der drei Genossen auf sich hat. Zur Klärung
dieser drei Gründe läfst sich noch folgendes sagen:
1) Man kann wohl anführen, dafs auch andere Schriften
oder Überarbeitungen der spätem Zeit, wie sie z. B. in der
1) Es sei lediglich auf Barbis Einwände im Bull. d. Soc. Dantesca
VII, S. 8.5 f. u. 87 Anm. 2 hingewiesen.
2) Mi nocchi, La Legenda t'.ium Sociorum. Nuovi Studi. S. 100 ff.
QUELLEN ZUi; GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 135
Chronik der 2-1 Generale vorliegen oder in der Überarbeitung
des Speculum Perlectionis von 1317, ihren späten Ursprung
nicht übermäfsig stark verraten; aber die Legenda trium
Soeiorum bat doeb unzweii'eihalt weniger konipilatoriscbe
Züge — sonst könnte sie ja aucb nicht so eifrige Verteidiger
ibrer Echtheit finden ! leb glaube , gezeigt zu baben , dafs
an bezeichnenden Stelleu die Unwissenheit des Verfassers her-
vortritt und dafs man bei eindringender Prüfung die docb
nur äufserlicbe Verbindung der zusammengeholten Teile er-
kennen mufs; aber der Verfasser hat docb anderseits offenbar
mit Vorsi(;ht gearbeitet und eine gewisse Schlichtheit in seine
Erzählung hineingebracht, so dafs er in dieser Hinsiebt den
Gedanken des Heiligen näher zu steben scbeint als Bona-
ventura. Diese Schlichtheit erklärt sich wohl zum Teil durch
die Herübernabme der beiden Lebensbeschreibungen Celanos,
aus denen ja drei Viertel der ganzen Legenda trium Sociorum
bestehen; der Verzicht auf Wunder (abgesehen von Visionen)
kann aber doch kein blolser Zufall sein — in dieser Hin-
sicht steht die Legenda dem Charakter der Vita prima am
nächsten '.
Ist CS eine ausreichende Erklärung dieser Eigenschaften,
wenn man den Verfasser im Kreise der strengen Nachfolger
des Heiligen sucht? Die Vorsicht, mit der jede Polemik
gegen die laxe Richtung des Ordens vermieden ist, bleibt
freilich autfallend genug, wie man denn überhaupt schwer-
lich irgendeine zelantische Tendenz in der Schi-ift erkennen
kann.
2) Dafs die Legenda trium Sociorum einiges sonst nicht
nachweisbare ]\Iaterial enthält, zwingt zwar noch keineswegs
zu der Annahme, dafs darin eine in besonderer Weise au-
torisierte Überlieferung vorliege. Denn auch andere, aufser-
halb des j\Iinoritenkreises stehende (Quellen haben schon um
die Mitte des lo. Jahrhunderts Nachrichten, die sich bei
Celano und Bonaventura nicht finden und dermoch Anspruch
•
1) Es kann alloidiiigs darauf liinjrcwipseii werden, dafs Vita prima,
Vita seciiiida und Bonaventura die Lcbcnsbcscbroibung von den Wun-
dern trennen; aber die Neigung zum Übernatürlichen hat sich doch auch
in den Lcbciisboschrcibungen von einer Legende znv iindcrn gesteigert.
136 GOETZ,
auf Glaubwürdigkeit erheben köiiDen. So Stephanus de Bor-
bone in seinem Tractatus de diversis materiis praedicabilibus^
der zwischen 1250 und 1260 verf'afst sein mufs und in dem
sich verschiedene, sehr wolil mögliche Züge aus dem Leben
des Heiligen finden ^ Auch ist dasjenige, was in der Le-
genda trium Sociorum wirklich selbständig und neu ist, von
keinem allzu grofsen Umfang. Zieht man alles sachlich Be-
deutungslose ab, so bleiben folgende Stellen übrig: Kap. 1
(n. 2 : die kurze Bemerkung über das Streben, auffallende
Kleider zu tragen ^ ; am Anfang von n. 3 : die erste Ursache
der Conversio) ; Kap. 3 (n. 9 : Sorge für die Armen und
Gesinnung der Mutter; n. 10: die beiden kurzen Notizen,
dafs Franz das Französische nicht richtig gekonnt und dafs
er sich schon frühzeitig dem Bischof von Assisi anvertraut
habe); Kap. 5 (n. 15 am Schlufs: Franz' Worte zu seinen
Jüngern); Kap. 6 (n. 19: der Vater vor den Konsuln der
Stadt); Kap. 7 (n. 22: Franz' Geständnis, dafs er gern lek-
kere Speisen gegessen habe); Kap. 8 (n. 26: der angebliche
Vorläufer; n. 29 am Schlufs: die Zitierung des Testaments) j
Kap. 9 (n. 35: die drei neuen Jünger^); Kap. 12 (n. 46:
Verhalten auf der Wanderung nach Kom; in n. 52 einige
Zusätze zu den Vorgängen in Rom); Kap. 13 (n. 56: Er-
1) Paris 1877, ed. Lecoy de la Mar che. Die Abfassungszeit des
Tractatus ist dadurch zu gewinnen, dafs Stephanus etwa 1261 gestorben
ist und dafs seine ErzähUuigen und Beispiele immer nur bis zu Ereig-
nissen von etwa 1250 reichen. Er erwähnt (n. 254: und 473) die Pre-
digt des Heiligen in Rom vor den Kardinälen: er ist der einzige, der
den Gegenstand der Predigt, als gegen die insolentia und mala exempla
prelatorum gerichtet, nennt; ferner bringt er (n. 316) ein durchaus glaub-
haftes Beispiel, wie Franz auch den unwürdigsten Priester verehrt habe.
2) Ortroy (Anal. Bnll. XIX, S. 143) stellt hier eine Stelle der Vita
secunda als Quelle hin, die doch wohl nicht in Frage kommen kann.
3) Weder die Vita prima noch die secunda kennt diese drei neuen
Brüder Sabbatinus, Moricus und Johannes de Capeila. Bonaventura
nennt nur den Moricus, aber in anderem Zusammenhang (c. IV = n.
49): Franz heilt ihn auf wunderbare Weise, und der Geheilte trat danu„
in den Orden ein. Bonaventura gibt dafür keine Zeitangabe, zählt ihn
aher offenbar nicht den ältesten Jüngern zu. Ob daraus die Notiz der
Legenda tr. Soc. entstand? Natürlich wollte man später die Namen
der ersten Auserwählten wissen!
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 137
Werbung der Portiuncula); dann in Kap. 14 bis 16 die
Nachrichten über die Generalkapitel, die j\[issionen und den
Ordensprotektor.
Mancher Forscher wird dazu neigen, einen guten Teil
dieser Zusätze nicht als wirklich neues Material, sondern
lediglich als Fortbildung der Überlieferung anzusehen, vor
allem die meisten der kleineren Zusätze. Aber bei den Nach-
richten der Kap. 14 bis 16 ist mit solcher Erklärung nicht
auszukommen. Und es fällt auf, dafs bei diesen Nachrichten —
dagegen nicht bei den kleineren Zusätzen — Anonymus
Perusinus und Legenda trium Sociorum völlig Hand in Hand
gehen, so dafs man doch einer zusammenhängenderen Über-
lieferungsgruppe gegenüberzustehen scheint. Eine Erörte-
rung darüber wird in dem Exkurs, der dem Anonymus
Perusinus gewidmet ist, gegeben werden.
3) Eine grofse Schwierigkeit bleibt fürs erste noch das
Verhältnis des vorangehenden Briefes der drei Genossen zur
Legende. Er findet sich in allen sechzeim Handschriften
mit ihr verbunden und in seinem Texte liegt kein sicherer
Anhaltspunkt vor, ihn als eine Fälschung zu bezeichnen ^
So kommt zunächst die Möglichkeit in Betracht, dafs der
Brief echt ist, aber mit der Legende nicht ursprünglich zu-
sammengehört. Wir haben keine ins 13. oder auch nur
ins frühe 14. Jahrhundert zurückreichende Handschrift der
Legenda trium Sociorum -; immerhin läfst sich nicht über-
gehen, dafs er auch in den ältesten sich bereits neben der
Legende findet. Wer sich allerdings auf dieses Argument
stützt, um die Zusammengehörigkeit zu beweisen, darf folge-
richtigerweise auch nicht behaupten, dafs die überlieferte
1) Die einzitic'ii leisen Voidachtsmomento, ilie man in iloni Texte
feststellen könnte, neiuit vau Ortroy, .Vnal. IJdll. XIX, S. 139. An
anderer Stelle (ebd. XXI, S. 113) hat er darauf hingewiesen, dafs uns
der als Zeuge zitierte Bruder Johannes, der Genosse des Ägidius, sonst
nirgends genannt wird. Dafs Bernhard als erster Jünger der Hei-
ligen l)ezeichnet wird, ist eine Ungenanigkeit des Schreibers (vgl. oben
S. 110).
2) Verzeichnis der Ilanilschiiften bei Ortroy, Anal. BoU. XI.X..
S. 121 f.; Tileniann a. a. 0., S. GG.
138 GOETZ,
Legende nur ein Bruchstück sei, oder dafs die beiden letzten
Kapitel interpoliert seien, denn die sämtlichen Handschriften
geben ja ebenfalls nur einen und denselben Text! Mafs-
gebend kann der Zustand so später Handschriften nicht
sein, sobald an irgendeiner Stelle triftige Gründe dagegen-
stehen. Der stärkste Grund gegen die Zugehörigkeit des
Schreibens zur Legenda ist die am Anfang des Anonymus
Perusinus stehende Notiz über den Verfasser ^ Berichtet
diese die Wahrheit, so kann die Legenda — von allem an-
dern abgesehen — kein Werk der vertrauten Gefährten
sein. Denn die beiden so eng verwandten Texte der Legenda
und des Anonymus können nicht in der einen Redaktion
von den drei Gefährten, in der andern nur von einem
Verfasser, der nur ein discipulus der ältesten Generation
gewesen sein will, verfafst sein. Die Notiz des Anonymus
erdrückt aber unzweifelhaft die angeblichen Verfasser der
Legenda, denn es ist doch undenkbar, dafs der Anonymus
auf eine solche Autorität verzichtet hätte, um sie durch eine
sehr viel bescheidenere zu ersetzen. Dieses Argument drängt
zu dem Schlufs, dafs der Brief der drei Genossen ursprüng-
lich nicht zur Legenda gehörte.
Die andere Möglichkeit ist, dafs der Brief gefälscht wurde,
um das Ansehen der Kompilation zu erhöhen. Darauf leitet
eine andere Betrachtung hin. Es wurde bereits festgestellt,
dafs die vertrauten Gefährten bei der Abfassung der Vita
secunda beteiligt waren; es wird weiterhin erörtert werden,
dafs das von ihnen beigesteuerte Material noch heute in den
ältesten Bestandteilen des Speculum Perfectionis zu erkennen
ist. Gehörte das Schreiben nun etwa zu diesem Material,
als es von den drei Gefährten dem Generalminister einge-
schickt wurde, ehe dieser es dem Thomas von Celano zur
Bearbeitung überwies? Minocchi — und in ähnlicher Weise
Lemmens — hat sich für diese Annahme entschieden, und
es spricht in der Tat manches dafür ^. Dieses Material war,
1) Vgl. unten S. 141.
2) Minocchi, La Legenda triiim Sociorum. Niiovi studi S. 45 ff.;
Lemmens, Doc. ant. I, S. 28 ff. — Van Ortroy lehnt Minocchis An-
nahme ab: Anal. Bell. XIX, S. 139 Aum. 7.
QUELLEN ZUU GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 139
wie noch jetzt die Vita secunda zeigt, keine fortlaufende Er-
zählung, sondern eine Sammlung von einzelnen Zügen aus
dem Leben des Heiligen — genau wie es das Schreiben in
Aussicht stellt: „per modum legendae non scribimus . . . sed
velut de amoeno prato quosdam flores . . . excerpimus, con-
tinuantem historiam non sequentes"; und die Absender stellen
dem Generalminister ausdrücklich anheim , dieses Material
den vorhandenen Legenden einzureihen: „quibus [legendis]
haec pauca, quae scribimus, poteritis facere inseri". Auch
der Zeitpunkt des Schreibens würde zu dieser Annahme
passen. Es würde sich dann auch erklären, dafs das Schrei-
ben mit einer späteren Kompilation vereinigt wurde, denn
es war nach Verarbeitung des überschickten Materials herren-
los geworden — der Vita secunda konnte Celano es nicht
beigeben, denn er bedurfte dieser Beglaubigung nicht.
Bedenklich ist nur zweierlei. Einmal erklären die Ab-
sender, dafs sie das Material gemäfs der Aufiorderung des
letzten Generalkapitels einsenden und dafs der Generalminister
es den vorhandenen Legenden einreihen möge, wenn er
es für gut befinde. Der Prolog der Vita secunda aber er-
klärt, dafs Generalminister und Generalkapitel den oder die
Verfasser — denn es heifst: „nos, quibus ex assidua conver-
satione illius [Francisci] . . . plus ceteris diutinis experimentis
innotuit" — mit der Abfassung der „gcsta vel etiam dicta
gloriosi patris nostri Francisci" beauftragt hätten, Wufsten
die drei Genossen von diesem bereits gegebenen Auftrag
nichts, so dafs sie die Einreihung ihrer Nachrichten in die
früheren Legenden vorschlagen konnten? Das ist nicht
recht denkbar — man müfste denn auf Sabatiers Behaup-
tung zurückkommen und eine süffisante Nichtbeachtung des
ihrem Gegner gegebenen Auitrags annehmen. Es steht zwei-
tens im Wege, dafs die vertrauten Gelahrten so am aller-
wenigsten schreiben, auch das Material nicht so förmlich ein-
senden konnten, wenn sie die JVIitarbeiter des Thomas von
Celano bei der Abfassung der Vita secunda waren. Auch
bei dieser Lbcrlegung würde man schliefslich aut" den Weg
Sabatiers gedrängt. Da dieser A\'eg aber völlig ungangbar
ist, sobald man die Legenda triuni Sucioiuni iür eine spätere
140 GOETZ,
Kompilation ansieht, so ergibt sieh daraus doch ein neuer
gewichtiger Grund, das Schreiben für eine Fälschung anzu-
sehen, die den Wert einer im Stile früherer Zeit abgefafsten
Kompilation erhöhen sollte.
Exkurs.
Das Verhältnis der sogen. Legenda trium Socio-
rum zum Anonymus Perusinus.
In dem Augenblick, wo die Legenda trium Sociorum als
als eine nach Bonaventuras Arbeit liegende Kompilation er-
kannt ist, hat ihr Verhältnis zum Anonymus Perusinus aller-
dings nur noch ein sekundäres Interesse. Denn eben dieses
offenbar vorhandene enge Verhältnis macht auch den Ano-
nymus zu einer sekundären Quelle — auch er mufs nach
Bonaventura liegen.
Die einzige Handschrift, die seinerzeit den Bollandisten
aus Perugia zuging und aus der sie im Commentarius
praevius zu den Lebensbeschreibungen des h. Franz um-
fangreiche Mitteilungen gemacht hatten, befindet sich noch
heute in der Bibliothek der Bollandisten und sie ist neuer-
dings zum ersten Male vollständig durch van Ortroy heraus-
gegeben w^orden ^. Die Bollandisten erkannten bereits die
enge Verwandtschaft mit der Legenda triura Sociorum '■* ;
aber erst in den Diskussionen der letzten Jahre ist auf dieses
Verhältnis wieder stärker hingewiesen worden. Solange die
Autorität der Legenda trium Sociorum unerschüttert war,
sah man freilich den Anonymus nur als einen Ableger an,
dem ein besonderer Wert neben der ausführlicheren Le-
genda nicht zukomme; seitdem aber diese als eine Kompi-
lation bezeichnet worden ist, ergab sich die Möglichkeit, dafs
1) Miscellauea Francescana IX (1902). S. 33—48.
2) Papebroch machte zu dem Manuskript die Bemerkung: „Est
forte fratris Leonis" (Acta SS. Oct. II, S 549, n. 19). Suysken meint
dagegen: ,,Observandum est, bunc Anonymum Legendam tr. Soc. in
quoddam compendium redigisse" (ebend. S. 645).
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 141
der Anonymus etwa die nächste Vorlage oder eine ältere Re-
daktion der Legenda trium Sociorum sei.
Die beste Untersuchung, die bisher über den Anonymus
und sein Verhältnis zur Legenda trium Sociorum angestellt
worden ist, stammt ebenfalls aus der Feder van Ortroys;
sie ist seiner Ausgabe des Textes vorangeschickt und
— teilweise in etwas anderer Form — schon früher in
seinem Aufsatz über die Legenda trium Sociorum enthalten \
Der erste Anhaltspunkt über die Entstehung des Ano-
nynms ergibt sich aus dem Anfang des ersten Kapitels.
„Quoniam servi Domini non debcnt ignorare viam et doctri-
nam sanctorum virorum . . . ideo ad honorem Domini et
aedificationem legentium et audientium ego, qui acta eorum
vidi, verba audivi, quorum etiam discipulus fui, aliqua de
actibus beatissimi fratris nostri Francisci et aliquorum fratrum,
qui venerunt in principio religionis, narravi et compilavi,
prout mens mea divinitus fuit docta." Hält man diese An-
gabe mit dem der Legenda trium Sociorum vorangehenden
Schreiben der drei Genossen zusammen, so steht man vor
zwei auf das engste miteinander verwandten Erzählungen,
v^on denen die eine von den vertrauten Genossen des Hei-
ligen, die andere von einem einzelnen Verfasser, der ein
Schüler der ältesten franziskanischen Generation gewesen
sein will, geschrieben sein müfste. Ortroy hat aus diesem
Dilemma den Schlufs gezogen, dafs beide Angaben nicht
sonderlich glaubwürdig seien ^. Offenbar gewinnt aber die
Angabe des Anonymus Perusinus von dem Augenblicke an,
wo das Schreiben der drei Genossen und die sogen. Legenda
trium Sociorum als nicht zusammengehörig erwiesen sind,
an Glaubwürdigkeit: es macht keine hochtrabenden Ver-
sprechungen, der Verfasser bekennt sich als ein Zeuge
zweiter Hand, dem man infolgedessen L'rtümer ohne weiteres
verzeihen wird. lici der langen Lebensdauer des Bruders
Leo, des Bruders Agidius und anderer INTäinier der ältesten
Periode, konnte .sich ein Schriftsteller selbst des letzten Vier-
1) Anal. ]!(ill. XIX, hos. S. 123, 125 iiml dami S. H2ir.
2) Anal. Lioll. XIX, S. 123.
142 GOETZ,
tels des 13. Jahrhunderts noch sehr wohl als deren Schüler
bezeichnen. So flöfst diese Angabe doch einiges Vertrauen
zu dem Verfasser und seinem Werke ein.
Es kommt hinzu, dafs sich der kompilatorische Charakter
der Scliriit bei weitem nicht in dem Mafse aufdrängt wie
bei der Legenda trium Sociorum, Es läfst sich freilich nach-
weisen, dafs auch der Anonymus für grofse Teile seines
Werkes aus der Vita prima und secunda, aus Bonaventura,
Bernhard von Bessa und aus der Vita Aegidii geschöpft
haben mufs ' ; aber die Vorlagen sind doch zumeist derart
miteinander verbunden, dafs ähnhch wie bei Bonaventura
— wenn auch nicht so kunstvoll — eine fliefsende Erzäh-
lung ohne die Stockungen und Wiederholungen der Legenda
trium Sociorum entstanden ist ^.
Es kommt zunächst darauf an, das Verhältnis zur Le-
genda trium Sociorum klarzustellen. Kann der Anonymus
in keinem Falle ein blofser Auszug aus dieser sein? Eine
Reihe von Stellen sprechen in der Tat dafür: n. 8 (erste
Hälfte), 9, 36 (Schiufs), 44, 46, 47, wo der Text überall
nichts anderes zu sein scheint als ein verkürzter Auszug aus
der Legenda. Dafs in n. 7 ein Name für den Priester, in
n. 9 ein Name tür den alten Mann hinzugefügt ist, verstärkt
den Eindruck des Auszuges mit kleinen Fortbildungen der
Überlieferung. Aber es sprechen doch weit mehr Gründe
gegen eine derartige Annahme. An den genannten Stellen
ist der Text des Anonymus eine Kürzung gegenüber dem
Texte der Legenda; aber mindestens so zahlreich sind die
Beispiele, wo die Erzählung des Anonymus bi'eiter ist, wo
er einen geschmückteren Stil oder auch Ergänzungen bietet:
n. 4, 5^ 8 (zweite Hälfte), 15, 18, 30, 46 (Schiufs); von
1) Vgl.z. B. Anal. Boll. XIX, S. 191 und überhaupt Ortroys Tabellen,
ferner meine obigen Ausführungen über die Leg. tr. See, die ebensowohl
für den Anonymus gelten dürfen, sobald es sich um Parallelstelleu handelt.
2) Nur bei Beginn von n. 7, 12 und 17 finden sich harte, die Kom-
pilation deutlich verratende Übergänge.
3) Die korrespondierende Stelle der Leg. tr. Soc. c. II, n. 4 ersetzte
hier die ganz unbestimmte Zeitangabe ihrer Vorlagen durch die Worte:
„Post paucos vero annos." Der Anonymus dagegen behält die un-
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HI,. FKAXZ VOX ASSISI. 143
n. 31 — 41 schwankt es beinahe von Absatz zu Absatz: auf
eine scheinbare Kürzung der Legenda folgt gleich wieder
eine Erweiterung. Man kann nun nicht gut behaupten, dafs
im einen Fall die Kürzung, im andern die Erweiterung das
Kennzeichen des Auszuges ist — mit solcher Willkür könnte
man ja ebenso gut beweisen, dafs die Legenda trium So-
ciorum ein Auszug aus dem Anonymus sein müsse. Es
kommt weiter hinzu, dafs der Anonymus zu wiederholten
Malen sachhch andere Nachrichten bringt als die Legenda :
so die Bezeichnung des Jahres 1207 als Anfang der neuen
Gründung (n. 3), die Umgestaltung der Erzählung am An-
fang von n. 7, ebenso in n. 10 und 11, die abweichende
Fassung der Fabel vom Könige und seinen Söhnen (n. 35) ^
Und wieder in andern Fällen hat sich der Anonymus im
Wortlaute enger an die Vorlagen angeschlossen als die Le-
genda — ein Umstand, der auf selbständige Benutzung jener
hindeutet -. So ergibt sich die Unmöglichkeit , dafs der
Anonymus nur ein Auszug aus der Legenda sei. Auch das
Umgekehrte ist aus den gleichen Gründen unmöglich.
Aber anderseits zwingt doch die Berührung der beiden
Schriften im Umfang des Lihalts, im Parallelismus der Er-
zählung und im Wortlaut, der oft fast ganz übereinstimmt,
zur Annahme der engsten Verwandtschaft. Bis zu n. 10
ist der Anonymus allerdings nur ein Überblick über das-
jenige, was die Legenda in ihren ersten acht Kapiteln er-
zählt — es fehlt dabei eigentlich alles, was die innere Wand-
lung Franzens erklärt, obwohl der Bericht des Anonymus
glatt weiterläuft, so dafs man die Lücken nur beim Ver-
gleich mit den andern Quellen empfindet. Von n. 11 ab
bestimmtere P'assuuf? der fiüliercn Quellen: ,, Tempore praecedeute.'' —
Ferner ist in dem mit der Leg. tr. Soc. übereinstimmenden Text ein
wohl aus 2. Celano I, 2 geformter Satz eingeschoben: „Qua de re . . .
deliberavit fieri miles, ut . . . aiferet." — Über den comes gontilis ist
bereits oben gehandelt worden (S. 102 f.). — An Bonaventura n. 1)
klingt an: „ünde disposuit.'"
1) Vgl. auch Anal. Boll. XIX, S. 175, Anm. 2.
2) Aufser dem oben S. 142, Anm. 3 gegebeneu Beispiel vgl. Anal.
Boll. XIX, S. 144 (Anm. 1 und 2), IGO (Anm. 1), 1G5 (Anm. 1), 175
(Anm. 3), 176, 178, 17t», 181, 1!)1.
144 GOETZ,
bis zum Schlufs (n. 47) entspricht dagegen jeder Paragraph
des Anonymus in längerer oder kürzerer Fassung einem
Paragraph der Legenda; nur deren 13. Kapitel ist (bis auf
den Anfangssatz) übersprungen. Der volle Parallelismus be-
steht also nur zwischen dem gröfsten Teil des Anonymus
und der zweiten Hälfte der Legenda. Ob sich aus dieser
Beobachtung künftig noch einmal ein Ergebnis ableiten iäfst?
Ich vermag es zunächst nur in einer wenig greifbaren
AVeise. Man betrachte das Neue, was Anonymus Perusinus
und Legenda trium Sociorum gegenüber den altern Quellen
bringen.
Es besteht, soweit es als sachlich Neues und nicht nur
als legendarische Rhetorik in Betracht kommt, zum Teil
nur aus kleinen Zusätzen, oft nur in einem kurzen Satzteil,
und erst in der zweiten Hälfte sowohl des Anonymus (der
die kleineren Zusätze zumeist nicht enthält) wie der Legenda
aus einem gröfseren Komplex von Nachrichten, wo es sich
um die Generalkapitel und Franzens Verhalten dabei, um
die Missionen und den Ordensprotektor handelt. Man kann
auch da in einigen (wie in den Ermahnungen Franzens an
die Brüder und der Stelle über den Kardinal von S. Paolo)
einen Ausbau der Vita prima und secunda sehen — das
Ganze macht doch den Eindruck einer auf solchem Grunde
in starker Selbständigkeit emporgewachsenen Übei'lieferung.
Haben die ältesten Quellen etwa mit Absicht von diesen
Dingen geschwiegen? Das Material ist zum Teil so un-
verfänglich, dafs ich keinen Grund dafür wüfste. Oder
kam erst an einem bestimmten Zeitpunkt das Bedürfnis
nach Mitteilung über diese Dinge? Man könnte dann Jor-
danus mit diesen Nachrichten zusammenhalten; aus seiner
1262 geschriebenen Chronik haben wir, soweit man bisher
bei Ausschaltung der Legenda trium Sociorum urteilen konnte,
die frühesten gesicherten Nachrichten über die gleichen
Gegenstände. Sie weichen allerdings von denen der Legenda
trium Sociorum und des Anonymus im einzelnen durchaus
ab, so dafs sie eben nur aus demselben Bedürfnis entstanden
sein könnten. Jordanus schreibt in seinen ersten Kapiteln
durchaus nicht nur über die deutsche Mission, sondern auch
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 145
über die inneren Angelegenheiten des Ordens — - ein Grund
mehr, ihn mit dem Stoffe der Legenda und des Anonymus
zwar nicht in direkten, aber doch in einen möglichen Zu-
sammenhang zu bringen.
Wie diese Nachrichten der Legenda und des Anonymus
einmal sind, zwingen sie zur Annahme einer besondern Über-
lieferungsgruppe, deren Kern in den Mitteilungen über die
Generalkapitel, Missionen usw. bestand. Die Verschieden-
heiten zwischen Legenda und Anonymus schliefsen aus, dafs
die eine Schrift aus der andern abgeleitet ist; es bleibt
also nur die Annahme übrig, dafs beide aus derselben Quelle
geschöpit haben. So hat auch van Ortroy bereits das Er-
gebnis formuliert '. Es ist weiterhin der Schlufs noch mög-
lich, dafs auch diese primäre Quelle nicht zu den Urquellen
der franziskanischen Überlieferung gehört, sondern erst nach
Bonaventura und vielleicht auch nach Bernhard von Bessa
entstanden ist. Diese Vermutung ergibt sich im Hinblick
auf die Irrtümer, die sie enthalten haben mufs. Denn was
sowohl in der Legenda trium Sociorum wie im Anonymus
steht, darf wohl als Bestandteil der Vorlage angesehen wer-
den: demnach hatte sie die Angabe, dafs die Portiuncula
der älteste Aufenthaltsort der Brüder gewesen sei, dafs die
erste Missionswanderung begonnen habe, als Franz erst drei
Jünger besafs, dafs der Kardinalprotektor wegen des Fehl-
schlagens der Missionen erbeten worden sei, dafs die Neu-
aussendung der Missionen nach Bestätigung einer neuen
Regel stattgefunden habe. Auch die Fortbildungen der Le-
genda über Bonaventura hinaus (z. B. Legenda trium Sociorum
c. 2 und Anonymus Perusinus n. 5 und 6 ; ferner die vielen
Stellen mit Nachrichten, die bei Bonaventura nicht stehen), die
durch van Ortroy aufgezeigten Beziehungen zu Bernhard von
Bessa '■*, die wiederum sowohl in der Legenda wie im Ano-
nymus sich finden, verstärken diese Vermutung. Es ist da-
mit nicht gesagt, dafs diese Nachrichten völlig wertlos sind;
man wird das Neue, was der Anonymus und die Legenda
1) Anal, lioll. XIX, S. 123 und Mise. Franc. IX, S. 34.
2) Anal. Boll. XIX, S. 176. 190 f.
10
146 GOETZ,
enthalten, von Fall zu Fall zu prüfen haben — warum
sollte eine solche Nebenüberlieferung nicht ebenfalls Rich-
tiges enthalten? Für die Hauptsache erscheint Jordanus
zunächst als der zuverlässigere Zeuge; aber das Vorhanden-
sein einer von ihm abweichenden Überlieferung mufs be-
achtet werden. In den kleinereu Zusätzen der beiden
Schriften mögen zum Teil brauchbare Züge gegeben sein.
Der Anonymus Perusinus scheint der Grundform dieses
tjberlieferungszweiges näher zu stehen als die Legenda trium
Sociorum, so dafs man ihn weiteren Untersuchungen wohl
eher zugrunde legen mufs als die Legenda \ Denn es fehlen
bei ihm die zahlreichen störenden Einschachtelungen aus
andern Quellen, und er besitzt im Ganzen seiner Kompo-
sition ein weit besseres Ebenmafs der Teile als die Legenda.
Wenn oben der erste Teil des Anonymus (bis n. 11) im
Gegensatz zur Legenda trium iSociorum lediglich als ein kurzer
Überblick bezeichnet wurde, so trübt doch nur der Vergleich
mit der Legenda trium Sociorum den Blick dafür, dafs diese
Kürze der Anlage des Ganzen entspricht. Die Legenda trium
Sociorum widmet der Conversio und den Anfängen des Or-
dens einen so breiten Raum, dafs ein Mifsverhältnis zum
Rest entsteht; der Anonymus dagegen ist in jedem seiner
Teile eine gedrängte Erzählung, eine doch wohl mit Absicht
so angelegte Komposition. Das ergibt dann wieder einen
Rückschlufs auf die Legenda trium Sociorum : sie hat ihre
Mifsgestalt nicht durch eine gewaltsame Zensur, sondern durch
eine unökonomische Erweiterung ihrer Grundform erhalten —
ein neuer Beleg für ihren kompilatorischen Charakter.
Ob die Angabe über den Verfasser am Anfang des Ano-
nymus Perusinus auf die Vorlage zurückgeht oder erst aul
den neuen Bearbeiter, bleibt verborgen; beides ist möglich,
da genug Beispiele bekannt sind, wie man im 13. Jahr-
1) Die Leg. tr. Soc. hat nur eine einzige Stelle, die von Autopsie
spricht: die Worte „ut ipse confessus postea est frequenter" in Kap. 7
(n. 22) klingen wenigstens wie eigenes Erlebnis. Diese Stelle fehlt im
Anonymus und in allen andern Quellen. Sie reicht aber doch nicht
aus, etwas über den Verfasser zu sagen, und die Eingangsworte des
Anonymus beweisen jedenfalls mehr.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 147
hundert Autorennotizen ohne Bedenken in spätere Kompi-
lationen hinübernahm. Es wurde oben bereits erwähnt, was
aus dieser Angabe für die Legenda trium Sociorura zu fol-
gern ist; zunächst gibt sie dem Anonymus die gröfsere
Autorität.
b) Die Vita secunda und das Speculum
Perfectionis.
Nach den Untersuchungen des vorangehenden Abschnittes
scheidet die Legenda trium Sociorum aus der Reihe der
primären Quellen aus. Das nächste Ergebnis davon ist, dafs
der Wert der beiden Schriften Celanos gesteigert wird; auch
die Vita secunda ist also so wenig ein Gegenstück zu einer
Schrift der vertrauten Gefährten, wie die Vita prima zu
einem Werke Bruder Leos. So wird auch für die Vita se-
cunda die Möglichkeit, sie nur in ihrem eigenen Lichte zu
betrachten, vermehrt. Aber sie berührt sich noch mit einer
zweiten Quelle: mit dem von Sabatier entdeckten Speculum
Perfectionis. Und zwar in weit stärkerem Mafse als mit der
Legenda trium Sociorum : eine grofse Anzahl von Kapiteln
der Vita secunda stehen — oft wörtlich ebenso, oft etwas
verändert — auch im Speculum Perfectionis. Gilt auch für
dieses wie für die Legenda trium Sociorum, dafs die Be-
rührung nur aus späterer Benutzung stammt? Es bleibt
nichts anderes übrig, als denselben Weg zu gehen und die
Parallelismen der beiden Quellen von Kapitel zu Kapitel
miteinander zu vergleichen und auf ihre Priorität hin zu
untersuchen. So ermüdend solche Ausführlichkeit ist — mit
einigen Stichproben ist in diesem Falle nichts zu erreichen.
Einige Bemerkungen über das Speculum Perfectionis
seien vorausgeschickt. Sabatier hat es, wie erwähnt, beim
Suchen nach der vermuteten vollständigen Legenda trium
Sociorum gefunden und mit dem umfangreichsten Kommentar
1898 herausgegeben '. Die ursprüngliche These, die den
Titel des Buches wie den ganzen Kommentar durchzieht.
1) Speculum Perfectionis scu S. Francisci Assisiensis Legenda anti-
quissima auctore fiatie Leone Paris 1898 (CCXIV u. 37G S.).
lü*
148 GOETZ,
war die Annahme, dafs Bruder Leo 1227 diese Schrift ver-
fafst habe. Die in den letzten Jahren geführten Erörte-
rungen haben ergeben, dafs diese Annahme aus der Dis-
kussion ausgeschaltet werden darf. Ihr einziger Beleg, das
Explicit des Cod. Mazarinus 1743, war von Anfang au stark
verdächtig; seit im Konvente Ognissanti zu Florenz eine
Handschrift des Speculum Perfectionis mit einem den Mai
1318 als Entstehungszeit nennenden Explicit gefunden wor-
den ist ^, mufs auch soviel noch als unbestreitbar ange-
nommen werden: dafs die Redaktion des uns vorliegenden
Speculum Perfectionis erst 1318 stattgefunden hat — nur
dann erklären sich auch eine Reihe von offenbar späten Be-
standteilen der Schrift und das Incipit der meisten Hand-
schriften („Istud opus compilatum est" etc.) ^ Aber schiebt
1) Minocchi, Nuovi Stiidi, S. 37 ff.
2) Von der Literatur über das Speculum Perfectionis sei folgendes
erwähnt: Es haben Sabatier, wenn auch mit mancherlei Vorbehalten und
Bedenken, ursprünglich zugestimmt: Tocco, Arcb. stör, ital., V. Serie,
XXII, S. 134—142; XXIII, S. 183—198; Cosmo, Riv. stör. ital. (1898),
S. 303—312; Fr. X. Kraus, Beil. der Allg. Zeitung (1899), Nr. 124
(Kirchenpolit. Brief); Karl Müller, Theol. Lit.-Ztg. (1899), S. 48 ff.;
Zöckler, Franz von Assisi, Prot. Realenzykl.'' (1899); Lempp, Frere
Elie, S. 16, Anm. 4. — Nicht völlig ablehnend, aber doch sehr kritisch:
Böhmer, Hist. Vierteljahrsschr. VII, S. 75—81. — Gegen Sabutiers
Annahmen erklärten sich: Eubel, Rom. Quartalschr. XII (1898), S. 324
bis 327; Faloci-Pulignani, Mise. Franc. VII, S. 3ff, 145 ff. 166 ff.
182 ff.; Della Giovanna, Giorn. stör. d. lett. ital. XXXIII, S. 63— 76 ;
P. d'Alen^on, Annales Franciscaines XXXVII (Paris 1898, in ital.
Übersetzung: Mise. Franc. VII, S. 51 ff.); van Ortroy, Anal. Boll.
XIX (1900), S. 58—63. — Eine vermittelnde Stellung (Entstehung zwar
nicht 1227, aber doch schon im 13. Jahrhundert) nehmen ein: Man-
donnet, Mise. Franc. VII, S. 57—66; Barbi, Bull. d. Soc Dantesca,
N S., VII, S. 73 — 101; Minocchi, Nuovi studi sulle fonti biographiche
di San Francesco (1900); Tilemann, Spec. Peif. und Legenda tr. Soc.
(1901). Auch Eubel hat in dem genannten Aufsatz die Möglichkeit
der Autorschaft Bruder Leos, wenn auch aus späterer Zeit, offen ge-
lassen. — Ich werde im folgenden nicht im einzelnen zitieren; die
Giünde für und wider werden natürlich von den meisten der genannten
Autoren gleichmäfsig vorgebracht, so dafs dieser allgemeine Hinweis auf
die vorhandene und von mir benutzte Literatur genügen mag. — Die
von Lemmens, Doc. ant. Franc. 11 (1901) herausgegebene „Redactio
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 149
man so auch im Gegensatz zu Sabatier die endgültige Re-
daktion weit hinaus, so ist damit doch nicht gesagt, dafs
der ganze InliaU des Speculum Perfectionis erst 1318 aut-
gezeichnet worden sei ; gewichtige Gründe sprechen dafür,
dafs von Sabatiers Annahme der Kern zu Recht besteht:
eine alte, aus dem Kreise der vertrauten Gefährten stam-
mende und infolgedessen höchst wichtige Überlieferung scheint
eben doch im Speculum Perfectionis von 1318 lediglich ver-
arbeitet zu sein.
Die Untersuchung mufs darauf näher eingehen. Wiederum
sei es versucht, alle diejenigen Momente auszuscheiden , mit
denen man über subjektive Eindrücke nicht hinauskommt:
der Stil, der Gesamtcharakter der Schrift, die kürzere oder
weitere Fassung der einzelnen Erzählungen im Vergleich zu
den korrespondierenden Quellen ; es liegen genug Tatsachen
vor, die zu einem gewisseren Ziele hinleiten ^
Es ist, wie gesagt, nicht mehr bestreitbar, dafs die uns
vorliegende Redaktion des Speculum Perfectionis vom Jahre
1318 stammt Das dieses Datum enthaltende Explicit des
Codex Ognissanti gibt die Aufklärung für das schwer zu
deutende Explicit des Codex Mazarinus 1743, auf das sich
Sabatier zuerst stützte: hierliegtira Datum 1228 (MCCXX VIII)
ein jetzt nicht mehr zu bezweifelnder Schreibfehler für 1318
prima" des Speculum Peifectiouis vermag icli nicht als eine frühere Fas-
sung anzusehen ; ich halte sie für einen späteren Auszug. Über den
Codex S. Isiilori vgl. unten S. 153 Anm. 1.
1) Um die Wertlosigkeit solcher Kritorien zu erkennen, vergleiche
man, dafs Sabatier vom Speculum Perfectionis die Einheitlichkeit des
Stils behauptet, P. d'Alencon das Gegenteil. Sabatier d;e einheitliche
Disposition des Stoffes, Aleugon das Gegenteil, Sabatier das Zuiück-
treten des Wunders, Aleugon und Faloci-Puli gnani das Gegen-
teil! — Es bedarf ferner nur gelingen Nachpiüfens, um das Voi kommen
der Worte sanctus und beatus, woraus man wiederholt Schlüsse zu
ziehen versucht hat, aus der Reihe brauchbarer Kriterien auszuscheiden.
Wie unzuverlässig jeder Schhifs ist, der aus dem Hinzuk(unmen oder
Fehleu von Orts- oder Personennamen gezogen wird, zeigt ebenfalls
jedes vergleichende Studium der Legenden : es ist zwischen allen ein
fortwährendes Mehr oder Weniger in dieser Hinsicht, und Lern mens
nimmt z. B. für seine ., Redactio piiuia" des Spec. Perf. vergeblich ein
Vorrecht an. weil es einige Naiucn mehr 'Aht.
1 50 GOETZ,
(MCCCXVIII) vor, und die Erwähnung der h. Kunera führt
nun ohne Schwierigkeit auf eine in der Utrechter Gegend
entstandene spätere Abschrift des Speculum Perfectionis hin.
Jetzt tinden auch die in allen Handschriften, bis auf den
Cod. Vatic. 4354, stehenden Eingangsworte der Schrift („Istud
opus compilatum est per modum legendae ex quibusdam
antiquis quae in diversis locis scripserunt et scribi fecerunt
seu retulerunt socii b. Francisci") ihren natürlichen Sinn, um
dessen künstliche Uradeutung man sich nicht mehr zu be-
mühen braucht. Und ebenso erklären sich nun die Ana-
chronismen und sachlichen Irrtümer, die hier und da im Texte
mit unterlaufen ^.
Es wäre kein günstiges Zeichen für den Scharfsinn Sa-
batiers, wenn seit der Entdeckung des Codex Ognissanti das
ganze Speculum Perfectionis ohne Vorbehalt erst ins Jahr
1318 zu setzen wäre; er konnte vielmehr mit gutem Rechte
darauf hinweisen, dafs der Inhalt der Schrift an vielen
Stellen für eine weit frühere Entstehung spricht. Und diese
Gründe bleiben auch jetzt noch zu Recht bestehen und legen
die Vermutung nahe, dafs 1318 die Schrift zwar zusammen-
gestellt wurde, aber unter Benutzung älteren Materials. Da-
für sprechen bereits die angeführten Eingangsworte: der
Hinweis auf alte Berichte der Genossen des Heiligen. Man
könnte dabei an die Legenden des 13. Jahrhunderts denken;
aber es berührt sich doch nur eine einzige, die Vita secunda
Celanos, in erheblichem Mafse mit dem Speculum Perfectio-
nis, und die Prüfung dieser Beziehungen wird ergeben, dafs
man die Vita secunda schwerlich als die Quelle des Spe-
culum Perfectionis ansehen kann, ebensowenig wie es dem
Sprachgebrauch der Ordensüberlieferung entsprechen würde,
Thomas von Celano zu den socii, den vertrauten Gelahrten
des Heiligen, zu rechnen. Aber es steht natürlich bei diesen
1) So iu Kap. 7 (Schlufssatz) , 23, 43, 65 (in allen drei Fällen Er-
wähnung des Kardinals von Ostia mit dem Zusatz: ,,qui postea fuit
papa Gregorius"), 27 und 55 (Erwälniung der antiqui fratres), 85 (Be-
schreibung der ältesten Brüder), 107 (Tod Bernhards von Quiutavalle
erwähnt), 115 (Elias als Generalniinister erwähnt), 124 (falsche Angabe
vom Lebensalter des Heiligen) usw.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 1 5 l
Eingangsworten die Möglichkeit noch offen, dafs der Kom-
pilator von 1318 sich ein fälschliches Ansehen erlog.
Ein zweiter Grund für das Alter des Materials ist die
Berufung auf Augenzeugen, die sich an vielen Stellen des
Textes findet: „nos qui cum b. Francisco fuimus", „nobis
sociis eins", ?, qui vidit scripsit hoc", ,, nos tot et tanta vi-
dimus" und ähnliche Wendungen '. Dieser Verweis auf
eigenes Sehen und Hören tritt so häufig und in so verschie-
denartiger Form auf, dafs er entweder die Wahrheit oder eine
sehr freche Fälschung sein mufs. Man hat erwogen, ob diese
Worte in Anlehnung an das Johannesevangelium (XIX, 35
und XXI, 24) entstanden seien: wie man Franz mit Christus
zu vergleichen strebte, so habe vielleicht der Verfasser auch
diese Ähnlichkeit mit den Evangelien in seinen Text hinein-
getragen. Es bliebe doch eine überaus starke Fälschung,
die man dem Verfasser nur auf Grund durchschlagender
Beweise zutrauen darf Es wird bei der nachfolgenden
Untersuchung in jedem einzelnen Falle zu prüfen sein, ob
die Möglichkeit eines Betrugs gegeben ist.
Die beiden angeführten Gründe gewinnen an Boden, weil
schon vor dem Jahre 1318 Zitate aus den Erzählungen des
Speculum Perfectionis in andern Schriften auftreten.
Ubertino von Casale, ein Führer der Spiritualen, hat in
seinem 1305 geschriebenen „Arbor vitae crucitixae" wieder-
holt längere Aufzeichnungen des frater Leo zitiert, die sich
ebenso im Speculum Perfectionis finden, und über das Vor-
handensein derartiger alter „rotuli" im Klarissenkloster zu
Assisi ausführliche Älitteilung gemacht — freilich mit dem
Zusatz: „audivi illos rotulos fuisse distractos et forsitan per-
ditos"; in der um 1311 geschriebenen „Declaratio" beruft
er sich von neuem auf ein zum Teil im Auftrag des h. Franz,
zum Teil „de devotione" geschriebenes Buch des Bruders
Leo, das sich im Minoritenkonvent zu Assisi befinde, und
auf die gleichen rotuli, „quos apud me liabeo", so dafs also
die 1305 zerstreuten und vermifsten Aufzeichnungen in-
l) In Kap. 2, G, 9, 11, IG, 22, 33, 88, 4G, 55, 58, G3, 67, 92, 101,
1U4, 114, 115, 118.
152 GOETZ,
zwischen gefunden und in Ubertinos Hände gelangt sein
raüfsten. Andere Zitate aus den „Scripta fr. Leonis" stehen
in der 1311 geschriebenen Responsio Ubertinos *. Hat Uber-
tino mit allen diesen Zitaten und Angaben gelogen? Man
hat es behauptet ; auf solche Art erspart sich mancher die
nähere Erkenntnis eines Mannes, der zeitweise in Opposition
zur offiziellen Kirche geriet und deshalb nicht ehrlich ge-
wesen sein kann ! Immerhin darf man an diesem Vorwurf
nicht ganz vorübergehen, da auch die Verteidiger Ubertinos
zugeben, dafs er sich in seinem Reformeifer zeitweise bis zu
einer Trübung seines sittlichen Urteils verirrt habe ^.
Alle neun von Ubertino aus den Schriften Leos zitierten
Stellen stehen sonst nur im Speculum Perfectionis; eine einzige
davon ist ähnlich, aber in ganz verkürzter Form, in der
Vita secunda Celanos zu lesen. Hat Ubertino sie alle er-
funden, so müfste der Kompilator des Speculum Perfectionis
den Arbor vitae crucifixae bei seiner Arbeit benutzt haben.
Man hat es auffällig gefunden, dafs Ubertino die rotuli 1305
als „distractos et forsitan perditos" bezeichnet und sie dann
1311 besitzen will; anderseits hat man aber auch darauf
hingewiesen, dafs Ubertino 1311 mit einer Lüge wohl sicher
den Widerstand seiner Gegner — denn es handelte sich ja
um einen Prozefs, der auf dem Konzil von Vienne 1312
entschieden wurde — gefunden hätte. Eine Erklärung für
jenen scheinbaren Widerspruch liegt nahe: indem Ubertino
in seiner Schrift von 1305 auf den drohenden Verlust der
Aufzeichnungen Leos hinwies, gab er den Anlafs zu ihrer
Erhaltung, falls er nicht selber sich ihrer angenommen und
sie in seinen Besitz gebracht hat. Für Ubertinos Ehrhch-
keit spricht ferner, dafs es möglich ist, eines seiner Zitate
als wirklich zitiert nachzuweisen. Denn er gibt einmal (Arb.
1. V, c. 3) eine Stelle aus den Dicta Leonis, übergeht dann
mit einem blofsen Hinweis, was bei Leo weiter folge, und
1) Alle diese Stellen angeführt bei Sabatier, Spec. Peif. CXLff.
Vgl. auch Tilemann a. a. 0. S. 88—92.
2) Knoth, Ubertino von Casale (Marburg 1903), S. 50. Das Ge-
samturteil Knoths lautet für Ubertino überaus günstig : „ eine durchaus
ehrliche Natur, ein reiner, achtunggebietender Charakter " (S. 139).
QUELLEN ZUK GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 153
zitiert darauf von neuem wörtlich. Im Speculum Perfectionis
stehen diese Stellen in weit voneinander getrennten Kapiteln
(c. 37 und c. 4); aber Lemmens hat eine andere Zusammen-
stellung dieser DictaLeonis gefunden und herausgegeben, in der
sich das Ganze als fortlaufende Erzählung findet und eben das
von Leo nur Angedeutete in ausführlicher Form ^ Da hierbei
ein Kompiiator nicht wohl nach Ubertino gearbeitet haben
kann — er müfste das von Ubertino nur Angedeutete aus
einer andern Quelle ergänzt haben, was nicht gerade wahr-
scheinlich ist — , so zitierte Ubertino doch wohl nach einer
Vorlage. So erhärten gute Gründe die Zuverlässigkeit Uber-
tinos.
Auch auf die Historia Septem tribulationum darf hinge-
wiesen werden. Mit einigen Vorbehalten freilich, denn weder
ihr Verfasser, noch ihre Entstehungszeit sind gesichert. War
Angelo Clareno der Verfasser, so würde ihn beglaubigen,
dafs er noch persönliche Berührung mit Bruder Leo gehabt
hatte; wurden die betreffenden Stellen der Historia in den
1) Lemmeus, Scripta tV. Leonis (= Doc. ant. Franc. I, 1901)
S. 91 f. Damit soll freilich nicht hehauptet werden, dafs der Codex
S. Isidori die ursprüngliche Form der Scripta Leonis enthalte (s. oben
S. 98 und 115 Anm. 2). Gerade an dem Teil, der die Überschrift
trägt: ,,Sanotissimi patiis nostri Francisci intentio regulae", kann man
nachweisen, dafs er an andern Stelleu sicherlich erst aus dem Spe-
culum Perfectionis geschöpft ist (vgl. bes. n. 2 und 3 mit Spec. Perf.
c. 26, n. 8 und 9 mit c. 72). Ein Vergleich dieser Scripta des Cod.
Isidori mit Cod. Maziar. 1743 und Cod. Vatic. 4354 zwingt doch wohl
zu dem Schlufs, dafs wir die Urform dieser Aufzoichnungen Leos nicht
besitzen und dafs sie in den verscliiedeuartigsten Zusannnoustellungen
verbreitet worden sind. Im ganzen erscheint der Codex S. Isidori nach
dem, was Lemmens daraus veröffentlicht hat, als eine ziemlich späte
auszugsmäfsige Form dieser von Hand zu Hand gohenden Überliefe-
rungen. Das schliefst nicht aus — und ich schränke damit das oben
S. 115 Anm. 2 Gesagte in einer Hinsicht etwas ein — , dafs ältere Be-
standteile hier und da mit unterlaufen; einige Lesaiten füliren vielleicht
höher hinauf als der Text von Sabatiers Speculum Perfectionis — sie
sind im folgenden erwälmt. Lemmeus hat gegenüber Angriffen seine
Auffassung uuchmals veiteidigt (Voix de S. Antoint;, 1903 April); aber das
meiste von dem, was er als Beweise vorbringt, bestätigt meines Erach-
tens nur, dafs es sich bei si'iner ,, lledactio piima"' um späte Arbeit
bandelt.
154 GOETZ,
ersten Jahren ihrer mehr als zwanzigjährigen Entstehungs-
zeit (1314 — 1337?J aufgezeichnet, so lägen sie noch vor der
Zusammenstellung des Speculura Perfectionis. Drei Stellen
dieser Historia, von denen zwei als von Bruder Leo her-
rührend eigens gekennzeichnet sind, berühren sich mit dem
Speculum Perfectionis — die eine allerdings nur andeutungs-
weise K
Dafs dem Speculum Perfectionis Aufzeichnungen Leos
zugrunde liegen, wird also durch diese Zitate Ubertinos und
eventuell auch der Historia septem tribulationum belegt.
Auch das darf für die Zuverlässigkeit Ubertinos noch an-
geführt werden, dafs Aufzeichnungen Leos noch anderwärts
bezeugt sind. Petrus Johannes Olivi (gest. 1298) erwähnt
in seiner Expositio regulae S. Francisci c. 10 die „cedulas
fr. Leonis, quas de bis quae de patre nostro tamquam eius
singularis socius viderat et audierat, conscripsit ", und zitiert
dann Stellen aus dem 4. Kapitel des Speculum Perfectionis ^.
Ein Codex zu Foligno, über den Faloci-Pulignani nähere
Angaben gemacht hat ^, enthält im Anschlufs an eine Wieder-
gabe des Speculum Perfectionis mehrere Abschnitte, die als
Mitteilungen Leos an Bruder Konrad von Offida bezeichnet
werden. Aufserdem haben einige jüngere Zeitgenossen Uber-
tinos der Aufzeichnungen Leos ohne nähere Angaben ge-
dacht: Francesco Venimbeni da Fabriano (gest. 1322) will
die „scripta" gelesen haben, die Bruder Leo „recoUegit de
dictis et vita sanctissimi patris nostri Francisci"*; Angelo
Clareno (gest. ca. 1337) hat sich in einem Briefe auf Leo
berufen („sicut . . . fr. Leo scribit") °.
Auch der ursprüngliche Verfasser des Codex Vaticanus
4354 bezeugt das Vorhandensein von Aufzeichnungen der
1) Vgl. Sabatier, Speculura Perf., S. CXXXVIIIf.; Tilemanu
S. 85 ff.
2) Firmameutum trium ordiuum (Venedig 1513), f. 123, a. 1 (zi-
tiert bei Sabatier, Franc. Bartholi Tractatus, S. CXXXVI, Anm. 1
und bei Tileniann S. 83 Anm. 4).
3) Mise. Franc. VIT, S. 44 ff. 134 ff.
4) Sabatier, Speculum Perf., S. CXXXVII.
5) Arch. f. Lit- u. Kirchencresch. d. MA. I, S. 559.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 155
vertrauten Genossen, zu denen Leo doch in erster Linie ge-
hörte. Denn dieser Verfasser sagt, dafs er bei seinem Aut-
enthalt in Avignon neben der Legenda vetus, aus der Bona-
ventura geschöpft habe, auch die „dicta veridica sanctorum
sociorum b. Francisci per viros probatos ordinis redacta in
scriptis" benutzt und exzerpiert habe K
Nach allen diesen Zeugnissen mufs es als sicher an-
genommen werden, dafs es Aufzeichnungen Leos in ver-
schiedener Form und zu verschiedenen Zwecken (Dicta,
Verba, Scripta, Rotuli, Cedulae) gegeben hat. Tilemann
meint, sie seien in der Legenda trium Sociorum, deren ur-
sprüngliche Gestalt uns nur nicht bekannt sei, zusammen-
gefafst gewesen '^. Hat es aber, wie oben zu erweisen ver-
sucht wurde, eine solche Legenda trium Sociorum überhaupt
nicht gegeben, so fällt bereits der gröfste Teil dieser An-
nahme. Der Wortlaut der Angaben Ubertinos über Leos
Aufzeichnungen spricht, wie mir scheint, ebenfalls nicht dafür.
Er sagt: Von dem, was er (Ubertino) über Franzens Ab-
sichten ausgeführt habe, werde bereits viel erhärtet „per re-
gulam, testamentum et legendam ipsius; omnia tamen patent
per sua verba expressa, que per s. virum Leonem eins sotium
tam de mandato sancti patris quam etiam de devotione pre-
dicti fratris fuerunt solempniter conscripta in libro, qui habetur
in arraario fratrum de Assizio, et in rotulis eins, quos apud.
me habeo, manu eiusdem fr. Leonis conscriptis, in quibus
optime b. Francisci intentio quoad paupertatera regule de-
claratur contra omnes abusiones et transgressiones." Eine
Legende von Leos Hand gab es danach nicht; strittig
könnte nur sein, ob das im Schrank zu Assisi verwahrte
„Buch" eine besondere Schrift oder nur eine zufäUige Samm-
lung in einem Buche war. Nach Ubertino mufs man aber
1) Sabiitior, Spcciiliim Poif. , S. CLVIII. Mit der Lpfreiula
vetus ist dabei siclitlich Celano mit seinen beiden Legenden gemeint,
denn eben ans ibnen schöiifte Bunaventma; mit den dicta veridica usw.
der Stofflcreis des Speciiliim Perfectionis. — Die Fulgerungen, die Sa-
batier aus diesen Worten des Cod. Vatic. 4354 zieht (ebd. S. CLIIff.),
erscheinen mir in keiner Weise annehmbar.
2) Tilemann a. a. 0. S. SGfT.
156 GOETZ,
annehmen, dafs diese Sammlung damals noch unbekannt
war, sonst hätte er nicht den Aufbewahrungsort angegeben.
Auch das Schweigen der Schriftsteller des 13. Jahrhunderts
über eine besondere Legende Bruder Leos spricht dafür,
dafs die Aufzeichnungen Leos kein schriftstellerisches Werk,
sondern eine private Sammlung waren. Wenn dann im
14. Jahrhundert der Verfasser der Historia Septem tribu-
lationum bei einer Bemerkung über die Biographen des
Heiligen den Bruder Leo nennt und zwar erst an vierter
Stelle, nach Bonaventura, wenn er dann nur Zitate gibt,
die in dem Speculum Perfectionis von 1318 stehen, so scheint
es doch in hohem Mafse wahrscheinlich, dafs er nichts anderes
als die inzwischen im Speculum Perfectionis verarbeiteten
Aufzeichnungen Leos meinte. Diese Wahrscheinlichkeit soll
nur für den Fall gelten, dafs man den Quellenangaben der
Historia septem tribulationum überhaupt einen W^ert zu-
schreiben will ; da sie als die vier Biographen des Heiligen
den Johannes und Thomas von Celano, Bonaventura und
Bruder Leo nennt, so hat man kein gutes Recht, aus Irr-
tümern mögliche Wahrheiten herauszunehmen. Aber eine
Erklärung für diese halb wahren Angaben liegt in dem Gang
der Dinge, wie er sich einigermafsen feststellen läfst: Uber-
tino zog die Aufzeichnungen Leos wieder ans Licht; sie
wurden darauf verwendet bei der Zusammenstellung des
Speculum Perfectionis — vielleicht galt auch dieses Werk
dann bei manchen als eine Schrift Bruder Leos. Aber das
Speculum Perfectionis braucht nicht alle Aufzeichnungen
Leos enthalten zu haben; Ubertinos Bemerkung von 1305
über ihre Zerstreuung läfst es als sehr wohl möglich er-
scheinen, dafs anderwärts noch anderes vorhanden war ^
Es kam zunächst darauf an im allgemeinen zu zeigen,
dafs im Speculum Perfectionis altes, vom Bruder Leo und
vielleicht auch seinen Gefährten (nos qui cum eo fuimus!)
herrührendes Material nach aller Wahrscheinlichkeit enthalten
ist ; der Glaube an eine besondere Legende Bruder Leos
1) Vgl. die oben (S. 154) eiwähntcii Aufzeichuungen Leos im Codex
zu Folisno.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 157
konnte später daraus entstehen. Die seit dem 14. Jahrhundert
herrschende Unklarheit über die äUesten Biographen des
IleiHgen mag auch dadurch noch vermehrt worden sein, dafs
die aus dem so vielfach parallelen Inhalt hervorgehende Be-
ziehung der Aufzeichnungen Leos zu der Vita secunda Celanos
zu neuen Verwechslungen Anlafs gab ^
In der Feststellung dieser Beziehungen liegt eine weitere
Möglichkeit vor, dem Rätsel der Aufzeichnungen Leos etwas
näher zu kommen. Von den 124 Kapiteln des Öpeculum
Perfectionis berühren sich 79 mehr oder minder eng mit der
Vita secunda. Hat der Kompilator von 1318 sie lediglich
der Vita secunda entnommen oder darf man, gestützt auf
das „Nos qui cum eo fuimus'^, behaupten, dafs vielmehr die
Vita secunda dabei aus Aufzeichnungen Leos und seiner
Gefährten geschöpft hat? Auch die Möglichkeit bliebe ja
noch, dafs Leo, der bis 1271 gelebt haben soll, seine Auf-
zeichnungen in Anlehnung an die Vita secunda gemacht
hat — eine (freilich späte) Notiz der Chronica XXIV gene-
ralium berichtet z. B. von Mitteilungen Leos aus seinen
letzten Lebensjahren an Konrad von Oltida und Fra Gio-
vanni ^.
1) Man vergleiche die verschiedenartige Verwendung des Namens
,,Legenda antiqua" im 14. Jahrhundert: Sabatier, Speculum Perf,
S. CXXII, CLIII, CLXI; ferner S. 84 Anm. 1, S. 136 Anm. 1; vgl.
auch S. 224 Textvariante g. In der Chronica XXIV gen. heifst es:
„sicut dicit frater Thomas de Celano [Ceperano] in antiqua legenda
s. Francisci" (gemeint ist 2. Celano III, 120): Anal. Franc. HI, 8.
An anderer Stelle wird ebenfalls die Vita secunda ausdrücklich „Le-
genda antiqua" genannt: ebd. III, 262. In Francisci Bartholi Tractatus
de Indulgentia wird die Vita prima als „Legenda antiqua" bezeichnet:
Sabatier, Tractatus, S. 4. — Vgl. hierzu Minocchi, Nuovi Studi,
S 131 f. Weun die Confurniitates das bei ihrer FiUtstchung schon weit
zurückliegende Speculum Perfectionis als Legenda antiqua bezeichnen,
weil sie darin altes Material verwendet wufsten, so ist das nicht auf-
fällig; aber es ist damit nicht bewiesen, dafs sie damit das Spoculum
Perfectionis als die älteste Legende bezeichnen wollten.
2) Anal. Franc. III, 8. 428. Die im Codex Foligno wiedergegebenen
Berichte Leos an Konrad von Oltida könnten also aus dieser Zeit rühren.
Sie enthalten reichlich viel Wunderbares; ist das ein Zeichen von Leos
Greisenalter ?
358 GOETZ,
Die Prüfung der einzelnen Kapitel des Speculum Per-
fectionis mufs das weitere Material zu endgültigen Schlüssen
liefern.
Kritik des Speculum PerfectionisK
Das erste Kapitel bietet besondere Schwierigkeiten. Es
findet sich nicht in der Vita secunda, und seinem Inhalt nach
würde man es ohne Bedenken aus der Reihe der ältesten
Erzählungen streichen und der Neuschöpfung des Kompilators
von 1318 zurechnen. Denn es enthält Dinge, die den Cha-
rakter der Sagenbildung an der Stirne tragen : Franz spricht
bei Abfassung einer neuen Regel mit Christus und dieser
antwortet so laut, dafs auch andere — die Gegner einer
strengen Regel — es hören und verwirrt entweichen. Das
Kapitel trägt in dieser Zuspitzung die zelantische Tendenz
sichtbar zur Schau. Sabatier hat es deshalb auch nachträglich
als eine Interpolation bezeichnet ^. Aber gerade dieses Ka-
pitel besitzt eine Beglaubigung, die es unter die Aufzeich-
nungen Leos einreihen müfste. Der schon erwähnte Codex
zu Foligno hat den zwar nicht wörtlich, aber inhaltlich ganz
gleichen, sogar noch etwas ausführlicheren Bericht über die
Abfassung einer neuen Regel unter direkter ]\Iithilfe Christi
und über den Widerstand lax gesinnter Ordensminister, die
den Bruder Elias als ihren Sprecher voranschicken ; und zwar
berutt sich der Anfang des Berichtes darauf, dafs Kourad
von Oftida diese Nachrichten von Leo erhalten habe und
dieser nennt sich im Text denn auch noch ausdrücklich als
Verfasser (^. . . „loquor ego qui scripsi haec, scilicet frater
Leo'^j. Dadurch wird ein jedes Wort dieser wunderbaren
1) Die Ausgabe Sabatier s liegt alleu folgenden Erörterungen zu-
grunde, und so sind meine Ausführungen, auch wenn es nicht eigens
erwähnt wird, stets eine Stellungnahme zu den Anschauungen, die Sa-
batier in den Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln geäufsert hat.
Wo ich also nur sage, dafs sich über Entstehungszeit des Textes nichts
feststellen läfst, wird implicite ausgesprochen, dafs ich Sabatiers Grün-
den nicht zustimmen kann.
2) Sabatier, Francisci Bartholi Tractatus, S. 126 und Opusc. de
crit. bist. III, S. 91 Anm.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 159
Erzählung für authentisch erklärt. Ahnlich ist der Text des
Florentiner Codex Ashburnh. 32G, den Barbi bekanntgegeben
hat ^
Eine jede dieser Überlieferungen will von Leo stammen
und ist doch für die historische Kritik wie für den gesunden
Menschenverstand unannehmbar. Man hat drei Möglichkeiten :
die Berufung auf Leo ist eine Fälschung — dann würden
alle Angaben des Codex von Foligno über die Aufzeichnungen
Leos verdächtig werden; oder es handelt sich wirklich um
eine Mitteilung Leos — dann bleibt nichts anderes übrig,
als ihm den tätigsten Anteil bei der Umbildung der Geschichte
zur Sage zuzuschreiben ; oder eine Mitteilung Leos ist über-
arbeitet worden, ohne dafs die Berufung auf Leo eingeschränkt
wurde. Mit bestimmten Gründen ist die Frage nicht zu
entscheiden, obwohl man für alle drei Möglichkeiten mancherlei
anführen kann ; nur ist nicht abzuweisen, dafs der Erzählung
ein geschichtlicher Kern zugrunde liegt — selbst wenn sie
eine Fälschung wäre. So ergibt sich aber im günstigsten
Falle für dieses erste Kapitel des Speculum Perfectionis, dafs
es nur mit Vorbehalten zu benutzen ist. Haltbar nach dem,
was wir sonst wissen, ist der Eingaugssatz mit der Angabe
über die drei (oder vielmehr vier) verschiedenen Kegeln ;
ferner der Widerstand gewisser Ordenskreise, die den Elias
für sich vorzuschicken streben, und die Abweisung ihrer
Wünsche durch Franz. Die verschärfte und ins Wunder-
bare gezogene Darstellung ist wohl auf eine spätere Zeit
zurückzutühren, wo der Kampf des Tages diesen Gegen-
sätzen galt.
Nimmt man das Kapitel in seinem Kern für historisch,
so bleibt noch die Frage, warum Leo diese Erinnerungen
nicht für die Vita secunda zur Verfügung stellte. Man könnte
schliefsen, dafs Thomas und seine Helfer taktvoll zurück-
gehalten haben, um die Verbitterung im Orden nicht zu
steigern ; nur in vertraulichen Aufzeichnungen , wie es die
Kotuli Leos waren, sagte man mehr. Vielleicht wurden manche
dieser Aufzeichnungen (oder ihr Kern) von Leo erst in
1) Bull. d. Soc. Dant. NS. VIF, S. 97 Aiiin. 3.
1 60 GOETZ,
späterer Zeit, als die Vita secunda längst geschrieben war,
gemacht.
Kapitel 2 des Speculura Perfectionis, überaus wichtig durch
die ablehnende Haltung des Heiligen gegenüber dem Bücher-
besitz und durch seine Stellung zu den Konflikten im Orden,
fehlt in der Vita secunda, wird aber von Ubertino in ähn-
licher Fassung zitiert; auch kommt in diesem Kapitel die
den Verfasser als direkten Zeugen beglaubigende Wendung
vor: „nos qui cum ipso fuimus ad hoc respondemus sicut
audivimus ab ore eius." Die Entscheidung über die Zu-
gehörigkeit dieses Kapitels zu den echten Aufzeichnungen Leos
ruht aufserdem auf seinem Inhalt: er scheint mir aus zweifachem
Grunde die Echtheit zu bestätigen. Die Antwort Franzens ent-
spricht genau dem, was man nach dem Testament und nach
den Angaben der Vita secunda von ihm zu erwarten hat: das
Bekenntnis zur vollkommenen Armut, also zur Verwerfung
jeglichen Bücherbesitzes. Zweitens ist die Charakterisierung
der Stellung Franzens zu den Ordenskonflikten so wahr und
so fein, dafs sie nur aus wirklicher Kenntnis dieser später
in ihrer Eigenart gar nicht mehr verstandenen Persönlichkeit
gegeben werden konnte. Eine um des Kampfes willen ent-
standene Tendenzschrift würde doch wohl behauptet haben,
dafs Franz mit seinen Anschauungen von den Widersachern
unterdrückt worden sei; hier aber heifst es: „quia valde
timebat scandalum et in se et in fratribus, nolebat contendere
cum ipsis, sed condescendebat invitus voluntati eorum et
coram Domino se excusabat." Ich erinnere an das, was
Jordanus a Jano von Franz sagt: „omnia per humilitatem
maluit vincere quam per iudicii potestatem" ^ — das war
der Eindruck der Augenzeugen. Es pafst dazu auch noch
der Schlufssatz des Kapitels: an sich selber wollte Franz das
Ideal verwirklichen — darin fand er schliefslich Beruhigung.
So scheint mir hier die innere Wahrheit für die Echtheit
der Erzählung Leos und der Berufung auf Augenzeugen
zu sprechen; die Worte „nos qui cum eo fuimus" auf mehrere
Verfasser zu deuten, wird kaum notwendig sein.
1) Vgl. oben S. 86.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 161
Im 3. Kapitel findet sich die erste Berührung mit der
Vita secunda (III, 8). FreiUch stehen der langen Erzählung
im Speculurn Pertectionis bei Celano nur vier Zeilen gegen-
über, und die Richtung der Erzählungen ist nicht ganz die
gleiclie: im Speculurn Perfectionis scheint es wenigstens, als
ob Franz jeglichen Bücherbesitz um der evangelischen Armut
willen verbieten wolle, und er wendet sich noch mit scharfem
Auslall gegen die in Sachen der Armut lässigen Brüder;
in der Vita secunda wird nur mit nüchternen Worten kon-
statiert, dafs Franz den Besitz wertvoller Bücher verwarf.
Aber ein Gegensatz der beiden Erzählungen wird doch wohl
mit Unrecht behauptet ^ Denn man kann die Frage des
bücherbesitzenden Ministers im Speculum Perfectionis genau
so verstehen wie die in der Vita secunda: dafs es sich näm-
lich nur um das Verbot zu vieler und zu prunkvoller Bücher
handle, und man kann anderseits auch aus der Erzählung
der Vita secunda herauslesen, dafs Franz jeglichen Bücher-
besitz verbieten wollte. Für die erste Auslegung spricht,
dafs Franz an anderer Stelle des Speculum Perfectionis (Kap. 5)
den Bücherbesitz nicht völlig verwirft, sondern nur „paucos
haberi voluit et in communi eosque ad fratrum necessitatera
paratos'^ Diese Worte sind bei Celano mit der eben be-
handelten Stelle verbunden, aber es fehlt allerdings der Zu-
satz: „et in communi.'^ Liegt darin nun doch eine Ab-
schwächung desjenigen, was Leo für richtig hielt? Oder
hat Celano den Schlufs des Satzes für genügend angesehen,
um den Gemeinbesitz auszudrücken? Diese Möglichkeit liegt
vor und hindert, die Vita secunda für eine Abschwächung ver-
antwortlich zu machen '■. Der Unterschied zwischen Kapitel 3
1) So von Sabatior, Speculum Perf., S. 9 Anin. 3.
2) Kap. 5 des Speculum Perfectionis bietet einen Fall, wo man
Entgopenpesetztes folgern kann. Es bandelt in kurzen Sätzen von der
Armut betieflfend Bücber, Lagerstätten, Gebäude und Utensilien; die
Vita secunda bat alles ebenso bis auf die oben besprocheiu^ Ausnalime,
aber verteilt auf vier verscbiedene Kai)itcl (III, 8, 9, 2, 0). Man kann
nun ebenso gut sagen, dafs Celano dieses Kapitel plünderte, wie
dafs ein Kompilator aus verscbiedenen Stellen Celanos ein Kai)itei
macbte. Der einzige Zusatz „et in communi ' könnte aus der Vorlage
ebenso gut weggelassen, wie vom Komiiilutor zur Erläuterung beigesetzt
11
162 GOETZ,
des Speculum Perfectionis und der Vita secunda liegt also
lediglich in gröfserer Ausführlichkeit und dem beigefügten
Ausfall gegen die laxen Brüder. Die Ausführlichkeit ist für
Feststellung der Priorität unbrauchbar, wie schon wiederholt
nachgewiesen wurde; den Ausfall könnte man ebensowohl
für spätere zelantische Tendenz ansehen wie für Leos ur-
sprüngliche, von Celano unterdrückte Meinung. Aber es
gibt noch eine dritte Lösung, die Celano entlastet: die Auf-
zeichnungen Leos waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt,
sondern Herzensergüsse eines getreuen Schülers; wenn Leo,
wie bereits gezeigt wurde, an der Vita secunda mitgearbeitet
haben mufs, so billigte er, dafs die Schärfe des Tons ge-
mäfsigt wurde. Tatsächlich sagt die Vita secunda alles, was
gegen den lässigen Geist im Orden gesagt werden mufste ;
dafs sie es ohne allzu heftige Angriffe sagte, kann die Ab-
sicht von Verfasser und Mitarbeitern gewesen sein. Es würde
sehr wohl zu allen bisherigen Ergebnissen passen, wenn trotz
allem noch ein Geist der Milde durch diese Schrift gehen
sollte. Ich spreche dies hier zunächst als eine Möglichkeit
aus, die sich an dieser Stelle zum erstenmal ergibt; es wird
im folgenden nach weiteren Bestätigungen zu suchen sein.
Der zweite Teil dieses Kapitels hat in der Vita secunda
kein Gegenstück, aber er steht mitsamt dem ersten Teile
wortgetreu bei Ubertino von Casale, mit der Bemerkung,
dafs alles von Bruder Leo stamme. Er behandelt Franzens
Sorge um die strenge Fassung der evangelischen Armut in
der Regel und die Gegenarbeit der Minister. Hat die Vita
secunda die Stelle absichtlich verschwiegen? Ich glaube es
nicht. Neben dem Streben nach Kürze, das Celano geleitet
hat, neben der auch hier wieder möglichen Absicht der Ver-
söhnlichkeit mufs auf die Kapitel 135 und 136 des dritten
Teiles der Vita secunda hingewiesen werden, in denen doch
im wesentlichen dasselbe gesagt ist: Franz eifert für die Be-
folgung der Regel, segnet die „Zeloten" der Regel ganz be-
sein. Ulizweifelhaft ist, dafs bei solcher Unsicherheit die gleichartige
Lesart der Vita secunda den Vorzug verdient, während das Kapitel des
Speculum Perfectionis zu beanstanden ist.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 163
sonders und sieht in einer Vision die iniquitas derjenigen
bestraft, die sich der Kegel nicht beugen. Angedeutet ist
der Konflikt auch in III, 122: Franz wollte noch etwas in
die Regel hineinbringen, „sed bullatio facta praeclusit". Des-
halb besitzt der zweite Teil dieses Speculum-Kapitels hohe
Wahrscheinlichkeit der Wahrheit: was Celano in allgemeineren
Worten sagt, ist in den vertraulichen Aufzeichnungen am
speziellen Falle erörtert.
Der Inhalt des 4. Kapitels (ein Novize erhält von Franz
auf die Anfrage, ob er ein Psalteriura besitzen dürfe, ab-
lehnenden Bescheid) ist in der Vita secunda III, 124 mit
anderthalb Zeilen zusammengefafst; der Zweck, vor Bücher-
besitz und Wissen zu warnen, ist beide Male der gleiche.
An dieser Stelle scheint der sichere Nachweis möglich, dafs
der Erzählung des Speculum Perfectionis die Priorität zuzu-
erkennen ist. Nicht nur, dafs Petrus Olivi dieses Kapitel
zitiert hat (s. o. S. 154), sondern die Vita secunda vereint in
III, 124 zwei Erzählungen, die im Speculum Perfectionis ge-
trennt (Kap. G9 und 4) gegeben sind, und zwar ist bei Celano
die dem Kapitel 4 entsprechende Notiz mitten hineingeschoben in
den fast wörtlich gegebenen Inhalt von Kapitel 69. Es ist einer
der schon wiederholt bei Prüfung der Legenda trium Socio-
rum berührten Fälle: es ist nicht recht denkbar, dafs ein
späterer Kompilator aus dem Celanokapitel einen Satz heraus-
gegriffen und ein neues Kapitel daraus gemacht hätte, sondern
die nächstliegende Annahme ist, dafs Celano aus dem ihm
vorliegenden Stoff Verwandtes zusammengenommen hat. Dann
aber müssen beide Kapitel des Speculum Perfectionis zu den
ältesten Aufzeichnungen Leos gehören '. Da Kapitel 69 fast
wörtlich in die Vita secunda herübergenommen ist, so hat eine
solche Annahme keine Schwierigkeit ; bei Kapitel 4, das sehr
erzählt, könnte man schon eher fragen, ob eine auf Leo zwar
breit zurückgehende Erzählung nicht doch erst später ausgebaut
worden sei. Dafür spricht die Nennung eines minister gene-
ralis '^ ; aber die Erzählung hat übrigens einen so ursprüng-
1) Dafür spricht auch der Zusatz, den Cclauo am Schhisse des
Kapitels noch macht.
2) Vgl. darüber Näheres unten S. 177 bei Kap. 38.
11*
164 GOETZ,
lieh frischen Charakter und bietet so gar keinen Anhalts-
punkt für den Zweck späterer Erfindung, dafs ich sie im
wesentlichen auf Leo zurückführen möchte. Der zweite Teil
des Kapitels, der bei Celano nicht verwendet ist, spricht
dafür noch mehr als der erste : er ist zu fein aus dem Seelen-
leben des Heiligen entwickelt, als dafs man ihn erfunden
glauben könnte ^ — Warum gleitet die Vita secunda mit
einem kurzen Satze über diese Erzählungen hinweg? Sabatier
sieht darin die Absicht, über einen heiklen Punkt rasch hin-
wegzugehen ^ ; aber man mufs dagegen einwenden , dafs die
Vita secunda in der behandelten Frage (111, 8 und 124)
genau dieselbe Anschauung vertritt wie das Speculum Per-
fectionis und dafs sie nur ein Beiwerk, das freilich interessant
genug ist, kürzt. Für den Grund der Kürzung lassen sich
allerdings nur dieselben allgemeinen Vermutungen anstellen
wie beim vorangehenden Kapitel; sie sind gewifs nicht be-
weiskräftig, aber die Feststellung einer Tendenz ist es zum
mindesten ebensowenig. Auch hier wird eine spätere Be-
trachtung aller derartigen Kürzungen vielleicht noch einen
Schritt weiterführen (s. u. S. 226).
Das 6. Kapitel ^ (Franz läfst das Haus der Brüder zu
Bologna räumen) steht fast ebenso in der Vita secunda HI, 4,
nur dafs hier am Anfang beigesetzt ist, dafs Franz aus
Verona kam und dafs er Bologna gar nicht betrat, als er
von dem dortigen Besitztum der Brüder hörte. Man kommt
nicht weit, wenn man mit Faloci-Pulignani sagt, die Vita
secunda müsse die frühere sein, weil sie eine Einzelheit (de
Verona rediens) mehr gebe * ; die gegenteilige Behauptung
hat denselben Wert: dafs dieser Zusatz späterem Bedürfnis
1) Es ist allerdings zuzugeben, dafs der Cod. Vaticanus 4354 eine
wohl sicher später erweiterte Lesart bringt und dafs es demgegenüber
gewagt ist, die von Sabatier aus dem Cod. Maz. 1743 gegebene Lesart
vorbehaltlos als die früheste Fassung anzusehen. Vgl. Sabatier,
Speculum Perf., S. 13 Anm. 1. — Minocchi, Nuovi Studi, S. 113
bestreitet bei Kap. 4 die Priorität des Speculum Perfectionis.
2) Sabatier a. a. 0.
3) Über Kap. 5 vgl. oben S. 161 Anm. 2.
4) Mise. Franc. VII, S. 8.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL FRANZ VON ASSISL 165
entspreche. Auch der Schlufssatz des Kapitels („Et frater
existens infirm us, qui de ea domo tunc fuit eiectus, testi-
monium perhibet de hiis et scripsit hoc", während die Vita
secunda statt scripsit ein scribit hat) führt zu keinem sicheren
Ergebnis über die Priorität. Das Präsens scribit klingt wohl
unmittelbarer — aber perhibet steht in beiden Schritten im
Präsens, so dafs der ursprüngliche Verfasser noch gelebt haben
müfste. Denn war der Kompilator von 1318 so gewissenhaft,
das scribit abzuändern, so hätte er auch perhibuit sagen müssen.
Der Sinn bleibt doch beide Male der gleiche: jeder der beiden
Verfasser bekennt sich selber als Augenzeugen; das ist nur
dann in keinem Falle eine Unwahrheit, wenn Leo beide Male
bei der Abfassung beteiligt war. Man weifs, wie leichtherzig
solche Autorenbemerkungen im Mittelalter auch von andern
übernommen wurden — es brauchte das weder der Ver-
fasser des Speculum Perfectionis noch der der Vita secunda
von sich selber gemeint zu haben. Verdächtig ist die Stelle
auch deshalb, weil sie in ihrem zweiten Teil wörtlich mit
dem Johannesevangelium (XXI, 24) übereinstimmt — in
beiden Fällen derselbe Streit um ihre Deutung ! So ist dieses
Kapitel trotz seiner scheinbar so guten Beglaubigung ebenso-
wenig verwendbar für Feststellung der Priorität wie des Ver-
fassers: es kann sowohl von Thomas von Celano wie von
Leo geschrieben sein, vielleicht aber auch von einem andern
der Gefährten, die bei der Vita secunda halfen ^
Kapitel 7 kann die Vorlage von Vita secunda III, 3 sein,
aber ebensogut auch eine spätere Erweiterung — der Schlufs
spricht jedenfalls dafür, dafs der Kompilator von 1318 das
Seine noch hinzugetan hat.
Die Entstehung von Kapitel 8 ist nicht näher zu bestimmen.
Es kann zur ältesten Überlieferung gehören. Die Vita se-
cunda enthält es nicht, aber vielleicht nur, weil Celano 111, 3
genau dieselbe Nutzanwendung bereits an einem andern Bei-
1) Neben den beiden, etwas veischicdenen Lesarten des Spec. Perf.
und der Vita sec. findet sich eine dritte in den Tiibulationes, die eben-
falls auf einen Aufcenzeiißen ziirücksiehen will: Sabatier, Spec. Perf.,
S. 16 Anm. 1. Man sieht daraus, wie flüssig diese ganze Überliefe-
rung war.
166 GOETZ,
spiel gegeben hatte ; wollte er kürzen , so konnte er es hier
mit gutem Gewissen tun.
Kapitel 9 ist beglaubigt durch ein „Nos qui cum eo
fuimus saepe audivimus", und es berührt sich mit Vita se-
cunda III, 5 und 2. Wieder hat diese die kürzere Lesart,
aber sie fügt (111, 5) eine Ortsbestimmung bei. Die Worte
der Vita secunda klingen wie ein Auszug; aber wenn man
auch in jedem Fall die Erzählung des Speculum Perfectionis
auf eine Aufzeichnung Leos zurückführt, so könnte sie trotz-
dem noch überarbeitet sein. In ihrem Inhalt steht freilich
nichts, was nicht von Leo geschrieben sein könnte; nur das
aus dem Testamente gegebene Zitat ist nicht ganz richtig,
soweit unsere Kenntnis des echten Wortlautes reicht. Zitierte
Leo den echten Wortlaut oder zitierte ein Spirituale falsch? —
beides ist möglich. Es sei noch darauf hingewiesen, dafs
Celano den Bibelspruch mit den Worten einführt: „Saepe
vero de paupertate sermonem faciens ingerebat fratribus evan-
gelium illud; Vulpes etc." Sollte das nicht eine Umgestal-
tung des „nos qui cum eo fuimus" der Vorlage sein?
Kapitel 10 beschreibt, wie die Niederlassungen der Brüder
beschaffen sein sollten. Es fehlt in der Vita secunda und
bei Bonaventura ganz. Es scheint aus verschiedenen Gründen
dennoch echte Überlieferung zu sein. Denn es knüpft an
einen Privatmann in Siena an, dessen Name in späterer Zeit
wohl kaum noch nennenswert erschienen wäre; es betont
ferner die Unterwerfung der Brüder unter alle Kleriker und
unter die Bischöfe, was die Spiritualen vielleicht nicht mehr
so in den Vordergrund gestellt hätten, und es räumt dem
Bischof von Assisi einen Einflufs auf Franzens Entwicklung
ein, der später kaum mehr bekannt gewesen oder nicht so
erwähnt worden wäre. Freilich ist das, was Franz gesagt
haben soll, in langem Wortlaut gegeben ; wer hatte das fest-
gehalten? Im besten Falle wird auf Leos Rechnung doch
die Komposition dieser Reden zu setzen sein. Aber der
sachliche Inhalt der Erzählung wird durch das Testament so
gut beglaubigt, dafs sie in jedem Falle als gute Überliefe-
rung bezeichnet werden darf ^ Wenn Celano dieses und
1) Sabatier, Spec. Peif. , S. 25 Anm. 1 hat angenommen, dafs
QUELLEN ZUK GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 167
das folgende Kapitel (mit ähnlichem Inhalt) nicht benutzte
— immer vorausgesetzt, dafs Leo es nicht erst später auf-
zeichnete — , so kann allerdings der Grund nur gewesen
sein, einen der heikelsten Punkte der Ordensentwicklung
nicht allzusehr aufzurühren; das von Franz stammende Prinzip
hatte die Vita secunda gewahrt (III, 2 — 5) — weiteres
wollte sie der Öffentlichkeit ersparen.
Das Kapitel ist dadurch noch beglaubigt, dafs aufser dem
Zitat bei Ubertino auch der Codex von Foligno ^ es zusammen
mit Kapitel 50 des Speculum Perfectionis bringt, aber mit der
Einleitung: „Dicebat b. Franciscus, quando, sicut fr. Leo
scribit, coram Domino Hostiense et multis fratribus ac clericis
ac saecularibus et etiam frequenti populo praedicavit, quod
quidam fratres etc." (folgt zuerst Kap. 50). Das ergibt freilich
zur Kritik dieser beiden Kapitel, dafs sie in verschiedenen
Lesarten umgegangen sind und dafs man deshalb keine der-
selben als völlig authentisch ansehen kann. Der Inhalt ist
beglaubigt, der Wortlaut nicht.
Kapitel 1 1 berichtet von dem Widerstand einzelner Brüder
gegen die primitive Form der Niederlassungen. Es fehlt in
der Vita secunda, aber es enthält starke Beglaubigungen,
indem es darin heifst : „nos vero qui cum ipso, quando
scripsit regulam, fuimus et fere omnia alia sua scripta, per-
hibemus testimonium etc.", und etwas später: „unde saepe
dicebat nobis sociis suis etc."; auch ist Franz von neuem
als nachgiebig bei Konflikten mit den Brüdern geschildert.
Die Worte, dafs Franz vieles in der Regel und in seinen
Schriften gesagt habe, „quae hodie essent valde utiha et
necessaria toti religioni", könnten natürlich ebensogut 1245
wie 1270 wie 1318 geschrieben sein; den Zeitpunkt um
dieses Kapitel zu einer Zeit Rcschrieben sein müsse, wo man mit den
grofsen Klöstern im Orden erst anfinp, also um 1228; nachdem die Frage
zugunsten der Klöster entschieden war, habe es keinen Zweck mehr
gehabt, darüber zu disputieren. Es ist darauf zu entgegnen, dafs die-
jenigen, die Franzens ursprünglichen Willen kannten, bis an ihr Lebens-
ende dafür eintreten konnten; Leo könnte diese Aufzeichnungen erst
um 1270 geschrieben haben.
1) S. oben S. 154.
168 GOETZ,
1228, den Sabatier gern annehmen möchte ', sehliefsen sie
wohl in jedem Falle aus. Ich sehe keinen Grund, dieses
Kapitel zu beanstanden ; ich kann die Spiritualen nicht ohne
Anhaltspunkt mit einer Fälschung belasten, für die ich in
anderer Weise Thomas von Celano für unfähig hielt. Da
uns die Vita secunda Konflikte zwischen Franz und den
Brüdern bezeugt, so können auch diese näheren Angaben der
Wahrheit entsprechen.
Kapitel 12 und 13 geben zu keinen irgendwie entscheiden-
den Erörterungen Anlafs.
Kapitel 14 und 15 stehen fast wörtHch ebenso in der
Vita secunda III, 11 und 15; ich finde — im Gegensatz
zu Sabatier und Minocchi — keinen irgendwie sicheren An-
haltspunkt für Feststellung der Priorität.
Kapitel 16 ist beglaubigt durch ein „Nos qui cum eo
fuimus'' und durch seinen Inhalt, der eine tendenziöse Er-
findung ausschliefst; er ist anderseits nicht so wichtig, dafs
die Vita secunda ihn hätte aufnehmen müssen.
Kapitel 17 erzählt in schlichter Weise den Neid des
Heiligen, wenn er einen Armeren traf. Vita secunda III, 28
enthält dasselbe, aber erweitert mit erbaulichen und rhetori-
schen Zusätzen. Das Gefühl entscheidet sich dafür, dafs hier
die schlichtere Erzählung die ursprüngliche sein mufs, ob-
wohl natürlich der schematische Kritiker sagen könnte, die
kürzere Erzählung müsse ein Auszug der breiteren sein. Aber
es scheint nicht wohl mögfich, dafs aus einer rhetorischen
Erzählung eine so schlichte hergestellt werden konnte; die
Priorität liegt hier wohl einwandfrei auf selten des Öpeculum
Perfectionis ; Celano wenigstens hat, wo er gegenüber dem
Speculum Perfectionis kürzt, es nie zu so einfachen Worten
gebracht.^.
Umgekehrt liegt der Fall bei Kapitel 18. Die Vita se-
cunda III, 20 hat inhaltlich das gleiche, aber kürzer als das
Speculum Perfectionis ; dieses erweitert, nicht wie Celano mit
Rhetorik, sondern mit tatsächlichen Zusätzen, unter denen
1) Sabatier, Speculum Perf., S. 29, Anm 1.
2) Anders Minocchi, Nuovi Studi, S. 117, der gerade hier den
Stü beeinflufst findet von der Rhetorik Celanos.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 169
besonders der Sclilufs des Kapitels — die Rückkehr der
Jünger mit ihren Almosen zu Franz — den Eindruck
einer ursprünglichen Aufzeichnung macht. Trotz seiner
kürzeren Fassung ist Celano auch hier wohl eher Ableitung
als Vorlage ; im Speculura Perfectionis sagt Franz : „ Dominus
pro nobis se fecit pauperem'^, bei Celano: ;,Dei filius nobilior
nobis erat, qui pro nobis se fecit pauperem" — aus dem
einfachen Text das Wortspiel zu machen, war wohl eher
möglich als das Umgekehrte. Ich glaube deshalb auch diesem
Kapitel des Speculum Perfectionis Authentizität und Priorität
zusprechen zu dürfen.
Kapitel 19 ist eine Ergänzung zu Kapitel 18; nicht allzu
wichtig, so dafs Celano es übergehen konnte; für eine spätere
Erfindung mit tendenziöser Absicht zu harmlos.
Kapitel 20 korrespondiert mit Vita secunda III, 7, aber
die Texte haben neben zahlreichen wörtlichen Berührungen
auch so grofse Unterschiede, dafs keiner direkt aus dem andern
geschöpft haben kann. Die Szene spielt im Speculum Per-
fectionis in Rieti und zu Weihnachten, in der Vita secunda
zu Greccio und zu Ostern ; im Speculum Perfectionis ist ein
Provinzialminister zugegen. Warum hätte Celano von einem
authentischen Berichte abweichen sollen? Weil dafür mit
Rücksicht auf die Art der Unterschiede kein Grund sichtbar
ist, so erscheint mir dieses Kapitel jedenfalls nicht die ur-
sprüngliche Überlieferung zu sein — der Bericht der Vita
secunda ist hier (wie in jedem derartigen Falle!) zunächst
vorzuziehen. Der Kompilator von 1318 hat also hier mög-
licherweise aus anderer Überlieferung geschöpft; Geschichten
dieser Art waren ja genug in mancherlei Form im Umlauf,
wie die Actus und die Fioretti zeigen. Mit dem Bericht der
Actus b, Francisci in valle Reatina stimmt das Speculum Per-
fectionis in den Punkten überein, in denen die Vita secunda
abweicht '.
Kapitel 21 steht mit stark übereinstimmendem Wortlaut
1) Sabatior, Sprc. Poif., S. 42 .\nni. — Mit Sabatiors Scblufs-
folgeruiif^eii S. 41 Aum. 1 kann ich inicli uicht oinveistaiulon erklären;
das Spec. Perf. kann hier nicht die Vorlage der Vita sec. sein, sondern
die gemeinsame Urquelle fohlt uns bisher.
170 GOETZ,
in der Vita secunda III, 9, nur dafs hier der Erzählung ein
Satz vorangeht, der im Speculum Perfectionis Kapitel 5 steht.
Sollte der Kompilator des Speculum Perfectionis wirklich
etwas getrennt haben , was er in der Vita secunda in sach-
gemäfser Verbindung gefunden hatte? Es liegt näher, an-
zunehmen, dafs Celano den nicht allzu genau geordneten
Stoff in gute Ordnung brachte. Aber während Celano nur
vom „Dominus Ostiensis" spricht, setzt das Speculum Per-
fectionis hinzu: „qui fuit postea papa Gregorius"; dieser Zu-
satz verrät die erläuternde Arbeit des Kompilators — ein
neuer Beweis, dafs diese Texte alle irgendwie überarbeitet
sein können, genau so wie auch Celano seine Vorlagen überall
stihstisch und erbaulich überarbeitete.
Kapitel 22 berührt sich in der ersten Hälfte mit dem 23.,
im letzten Viertel mit dem 18. Kapitel der Vita secunda;
dazwischen ist noch ein Ausspruch des Heiligen mit einigen
Bemerkungen eingeschoben. Das Kapitel enthält am Schlüsse
die Worte: „Qui scripsit haec, vidit hoc multoties et testi-
monium perhibet de hiis.^' Liegt ein Grund für eine Fäl-
schung vor? Ich glaube nicht; denn was der Verfasser
selber oft gesehen haben will, war keine unbekannte Tat-
sache, mit der man Gegner bekämpfen wollte — die Vita
secunda hat ja doch genau dasselbe. Deshalb ist der Schlufs-
satz glaubhaft und damit auch die Priorität der Erzählung.
Die Vita secunda erzählt beide Szenen etwas kürzer, auch
mit kleinen Unterschieden ; es bleibe auch hier dahingestellt,
ob sie ein direkter Auszug aus dem im Speculum Perfectionis
gegebenen Texte ist oder ob auch der Kompilator von 1318
seine Vorlage noch etwas ausbaute ^.
Kapitel 23 ist umfangreicher als die gleiche Erzählung
der Vita secunda HI, 19. Der „Dominus Ostiensis" hat
auch hier wieder den Zusatz: „qui postea fuit papa Gre-
gorius", während die Vita secunda vom „Papa Gregorius
adhuc in minori officio constitutus" spricht. Gegen die
Priorität des Speculum Perfectionis könnte noch sprechen,
1) Aus den Ortsbestimmungen ist nichts zu schliefsen ; beide Texte
haben je eine Ortsbestimmung für sich, die dem andern fehlt.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FUANZ VON ASSIST. 171
dafs es die gewechselten Reden in allzu langem Wortlaut
gibt — wer konnte so ausführlich über Gespräche berichten,
die unter vier Augen vor sich gegangen waren? Solche
längere Fassung gibt Anlafs zu Verdacht — mag die Vita
secunda sonst auch noch so sehr den Eindruck des Auszugs
machen. So möchte ich auch hier im besten Falle annehmen,
dafs die Vorlage der Vita secunda im Speculum Perfectionis
in einer überarbeiteten Form vorliegt.
Bei Kapitel 24 läfst sich die Priorität gegenüber der
gleichen Erzählung in Vita secunda III, 21 wohl behaupten.
Denn die Vita secunda läfst den Vorfall sich abspielen „in
quodam loco"; das Speculum Perfectionis aber sagt: „in
primordio religionis, quum fratres manerent apud Rigum
Tortum prope Assisium." Es ist oben bereits erörtert worden,
was für eine Bedeutung die Erwähnung Rivotortos hat ^ —
es kommt in der späteren Literatur nicht mehr vor. Des-
halb mufs diese Stelle des Speculum Perfectionis in eine Zeit
zurückgehen , wo Rivotorto noch in deutlicher Erinnerung
war — die Entstehungszeit der Vita secunda ist dafür bereits
ein später Termin. Ich möchte daher in diesem Kapitel des
Speculum Perfectionis einen vor der Vita secunda liegenden
Text erkennen ^.
Kapitel 25 hat Sabatier für älter als das entsprechende
der Vita secunda (III, 22) erklärt, weil der „frater" der
Vita secunda im Speculum Perfectionis noch ein „pauper
spiritualis" sei — darin spüre man die älteste Form der
Bewegung, wo jeder Arme ein Minderbruder gewesen sei.
Ob man so weitgehende Deutung daran knüpfen darf, er-
scheint zweifelhaft ^; aber auch wenn der „pauper spiritualis"
im Speculum Perfectionis nichts anderes ist als ein zufälliger
Ausdruck für einen bettelnden Bruder, so kann man die
Priorität des Speculum Perfectionis auch dann noch daraus
1) S. oben S. 73 f.
2) Dafs Celano den Text des Spec. Perf. retuschiert habe, wie Sa-
batier, Op. de crit. hist. III, S. 74 Anni. 2 sagt, darf jedenfalls nur
für die äufsere Form, nicht für den Inhalt gelten.
3) Z. B. ist Spec. Perf. c. 28 von einem „fratcr spiritualis"
die Rede.
172 GOETZ,
folgern. Denn dieser Ausdruck war jedenfalls nicht klar
gewählt; die Vita secunda verbessert ihn in das für jeder-
mann verständliche „frater". Der umgekehrte Vorgang ist
nicht denkbar.
Kapitel 26 ist als von Bruder Leo stammend bei Uber-
tino zitiert. Es sei deshalb angenommen, der Text gehe
irgendwie auf Leo zurück. Dann lassen sich einige Be-
merkungen über die Art der Aufzeichnungen Leos nicht
unterdrücken: sie räumen hier dem Wunder einen Spiel-
raum ein, den es in der Vita prima noch nicht gehabt hatte —
auch sie repräsentieren also bereits die Entwicklung
der Überlieferung. Denn in der Vita prima I, 15 heifst es,
dafs Franz, an eine Stelle der ersten Regel anknüpfend, der
Bruderschaft den Namen Ordo Minorum gegeben habe. Hier
jedoch gibt Franz den Namen infolge göttlicher Eingebung.
Eine andere Stelle dieses Kapitels verursacht Zweifel: es
heifst, dafs Innocenz IlL die erste Regel „approbavit et
concessit et postea in consistorio omnibus nuntiavit". Da-
von sagt Celano weder in der ersten noch in der zweiten
Vita etwas, obwohl er es doch bei den Ergänzungen, die er
in der Vita secunda gab, hätte verwenden sollen ; auch Bona-
ventura weifs nichts von einer Verkündigung im Konsistorium.
Das ganze Kapitel ist nicht recht homogen ; es ist der
Kapitelreihe „De perfectione paupertatis'^ angefügt, handelt
aber von dem Namen der Gemeinschaft und dann, ohne
logische Verbindung, von dem Grufse „Dominus det tibi
pacem" und der Aufnahme, die er fand. Es ist nicht zu
leugnen, dafs diesem Kapitel gegenüber ein Zweifel an den
Zitaten Ubertinos nur mit Mühe zu widerlegen ist; es
macht den Eindruck der Kompilation und späten Überliefe-
rung ^ Die schwache Berührung mit 1. Gel. I, 15 und
1) Die frühe Entstehung des Kapitels wird dadurch nicht gestützt,
dafs Lern mens es sowohl in seinen „Scripta fr. Leonis" wie in der
„Redactio prima" des Spec. Perf. bringt. Wohl aber läfst sich an
diesem Kapitel zeigen, wie es mit diesen beiden Zusammenstellungen be-
schaffen ist. In den „Scripta" steht das Kapitel, aber mit einer Aus-
lassung (S. 52 Z. 9 bis S. .53 Z. 6 des Sabatierschen Textes); die „Re-
dactio prima" enthält das ganze Kapitel. Dafs die Auslassung in den
„Scripta" auf Kosten der Zusaramensteller des Codex S. Isidori zu
QUELLEN zun GESCHICHTE DES HL. FRAiiZ VON ASSISL 173
2. Gel. III, 1 7 gibt keine Möglichkeit zu irgendwelchen Folge-
rungen; die iSpeculum - Erzählung kann daraus entwickelt
sein, aber es wäre ein unbeweisbarer iSchlufs, die Priorität
für die Vita secunda oder das Speculum Perfectionis in An-
spruch zu nehmen.
Bei Kapitel 2l halte ich dagegen den Nachweis der
Priorität des Speculum Perfectionis für möglich ^. Die Vita
secunda gibt dasselbe (III, 15 und 14) in weit kürzerer
Fassung. Obwohl man nun — um die Hinfälligkeit solcher
Gründe von neuem zu betonen — die kürzere Fassung ebenso-
wohl tür den Auszug wie für die Vorlage der Erweiterung
erklären könnte, spricht einiges in der Fassung des Speculum
Perfectionis für den alten Ursprung dieser Nachrichten. Das
Kapitel setzt nämlich den Vorgang (wie sich Franz eines
hungernden Bruders annimmt) in die Zeit, „quum b. Fran-
ciscus coepit habere fratres et maueret cum eis apud Rigum-
tortum prope Assisium"; es berichtet ferner, wie gerade in
der ältesten Zeit von den Brüdern die Askese übertrieben
wurde, und es fügt mit der Berufung auf „nos qui cum eo
fuimus" hinzu, dafs Franz bei den Brüdern nur eine mafs-
volie Askese wünschte, an sich selber aber die strengste ver-
wirklichte, weil er das Vorbild für alle Brüder sein müsse.
Es trifft hier von neuem zu, dafs die Erwähnung von Rivo-
torto in späterer Zeit nicht zu erklären wäre - ; für die Ver-
legung der Szene in die Zeit, als Franz erst Brüder zu haben
begann, läfst sich ein aus Tendenz geborener Grund nicht
wohl entdecken , und ebenso hätte eine tendenziöse Kom-
pilation den letzten Teil des Kapitels anders gestaltet, denn
aus dieser Fassung konnte jeder Anhänger der laxen Rich-
tung folgern, dafs er sich in Askese nicht zu übernehmen
brauche. So bestätigt der Inhalt, dafs er aus wahrer Kenntnis
setzen ist, zeijrt der beibehaltene Scblnfssatz des Specnluni-Kapitels: er
gehört zu dem Ausgelassenen hinzu und ist im Anschiufs an die Worte
„et postea in consistoiio omnibus nuntiavit" völlig sinnlos. Es ist
schon um dieser einen Stelle willen unmöglich, im Codex S. Isidori
einen originalen Text zu erkennen.
1) Vgl. Min oc Chi, Nuovi Studi, S. 42 Anm. 1.
2) S. oben S. 73 f., 171.
174 GOETZ,
der ältesten Zeit geschrieben ist. Aber dafs dieses Kapitel
mit jedem einzelnen Wort auf Leo zurückgehe ^ läfst sich
natürlich trotzdem nicht beweisen. Die Anrede Franzens
an die Brüder nach der Mahlzeit mit dem Hungernden kann
nicht authentisch sein, denn in der ältesten Zeit, als noch
keiner die künftige Bedeutung Franzens zu erkennen ver-
mochte, hat sicherlich keiner der Brüder die lange Rede auf-
gezeichnet. Hat es Leo später getan, so mufste er sinn-
gemäfs erfinden — dann käme man wieder in die Notwendig-
keit, auch Leo nicht unbedingte Authentizität zuzuerkennen;
oder es bleibt die Möglichkeit, dafs die auf Leo fufsende Über-
lieferung mit der Zeit weiter ausgebaut ist. — Der Bericht
der Vita secunda mufs unter diesen Umständen als ein Aus-
zug betrachtet werden: dafs Celano Rivotorto nicht erwähnte,
hatte sowohl in dem Streben nach Kürze wie in der Zweck-
losigkeit dieser Erwähnung seinen Grund, und selbst für die
allzu wesenlos kurze Umgestaltung der zweiten Hälfte des
Speculumkapitels zu Vita secunda I, 14 läfst sich wohl in
der ganzen Art Celanos, der immer nach glatter und gleifsen-
der Form strebt, genügende Erklärung finden. Fast genau
dieselben Gründe lassen sich für die Priorität des 28. Kapitels
anführen, so dafs die nähere Prüfung unterbleiben kann.
Kapitel 29 stimmt fast wörtlich mit der Vita secunda
in, 30; aber diese hat noch zwei Zusätze: Franz habe zur
Zeit dieser Episode beim Bischof von Celano gewohnt und
ein Freund aus Tivoli habe ihm einen Mantel geschenkt.
Man darf diese Zusätze darauf zurückführen, dafs es sich
um die Heimat des Verfassers der Vita secunda handelt; der
Text des Speculum Perfectionis erscheint aber dadurch, dafs
er die Zusätze nicht hat, als der frühere; denn es wird im
Speculum Perfectionis nicht so mit dem Raum gegeizt, dafs
diese kleinen Erweiterungen hätten gestrichen werden müssen.
Celano spricht bei der Erzählung im Präsens, das Speculum
Perfectionis im Perfekt: auch darin kann man wohl erkennen,
dafs Celano seine Vorlage wirkungsvoller zu gestalten strebte.
Zu Kapitel 30 — 32 , die fast wörtlich mit Vita secunda
IH, 31 — 33 übereinstimmen, läfst sich nichts irgendwie Ent-
scheidendes bemerken; der von Sabatier behauptete Unter-
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 175
schied im Schlufssatz von Kapitel 31 gegenüber Vita secunda
III, 32 scheint mir nicht vorhanden zu sein: Celano meinte
dasselbe, drückte sich aber kürzer aus ^
Kapitel 33 hat in seinem letzten Teil das „Nos qui cum
eo fuimus" als Beglaubigung. Aber gerade dieser Absatz
fehlt in der Vita secunda III, 36, die sonst mit kleinen Ab-
weichungen die gleiche Erzählung bringt. Dafs in der Vita
secunda noch Franzens Aufenthalt im Bischofspalast zu Assisi
und ferner eine Gegenrede des Guardians, der den Mantel
nicht gleich geben will, eingefügt ist, spricht zugunsten der
Priorität des Speculum Perfectionis. Warum aber fehlt der
letzte Absatz des Speculum Perfectionis in der Vita secunda?
Mufs sich nicht doch die mifstrauische Frage erheben, ob
nicht dieser Zusatz auf den Kompilator zurückgehe? Der
Inhalt des Absatzes spricht nicht dafür; denn er berichtet
nur im allgemeinen von der Fürsorge Franzens für Kranke
und Gesunde: er habe so oft das Notwendige verschenkt,
dafs Generalminister und Guardian ihm verboten, ohne ihre
Erlaubnis seine Tunika zu vergeben. Eine Tendenz liegt
so wenig in diesen Sätzen, dafs der Zweck einer Fälschung
nicht verständlich wäre. Eher könnte man sagen, dafs Celano
diesen Absatz wegliefs, weil er am Beginn von III, 28 bereits
eine zusammenfassende Bemerkung über Franzens Gesinnung
gemacht hatte. Dafs die Erwähnung eines Generalministers
im Speculum Perfectionis für Überarbeitung spricht, wird bei
Kap. 38 näher erörtert werden.
Bei Kapitel 34 lassen sich aus der Berührung mit Vita
secunda III, 114 wohl kaum bestimmte Schlüsse ziehen.
Aber es folgt wieder im Speculum Perfectionis ein längerer
Zusatz über Franzens Tunika, der in der Vita secunda fehlt.
Der Inhalt ist harmlos, doch bringt er Einzelheiten über
Franzens letzte Tage und wie man ihm da mehrere Tuniken
verschaffte : das mufs auf Tatsachen und Augenzeugen zurück-
gehen, und ein Grund für die Erfindung dieser Nachrichten
wäre schwerlich festzustellen.
Man wird bei Kapitel 35 dazu neigen, es für die Vor-
1) Sabaticr, Öpec. Pdf., S. GO Auiii. 1.
176 GOETZ,
läge von Vita secunda III, 125 anzusehen; aber ein Beweis
dafür ist nicht zu geben.
Kapitel 36 trägt infolge der Erwähnung von Rivotorto
das Kennzeichen alter Überlieferung an sich ^ Aber die
Frage wird dadurch erschwert, dafs dieses in der Vita se-
cunda fehlende Kapitel mit gewissen Änderungen in der Vita
Aegidii steht. Man führt diese Vita gemäfs der Angabe
Salimbenes auf Bruder Leo zurück ; wie ist es möglich, dafs
Leo selber Verschiedenes niederschrieb? ^ Im Speculum Per-
fectionis spielt sich die Szene in Rivotorto ab, in der Vita
Aegidii auf dem Wege nach Assisi ; im Speculum Perfectionis
ist der Bettelnde ein „pauper quidam", in der Vita „quae-
dam rauher paupercula"; im Speculum Perfectionis fallen
Ankunft des Agidius und Erscheinen des Bettelnden auf ver-
schiedene Tage, in der Vita auf einen Tag. — Es wurde
bereits der Zweifel gedacht, die sich gegen die uns über-
lieferte Form der Vita Aegidii erheben (oben S. 119); und
an diesem Punkte ist wohl der Nachweis unschwer zu führen,
dafs die Nichtübereinstimmung mit dem Speculum Perfectionis
auf das Schuldkonto der Vita Aegidii zu setzen ist: sie raufs
eine Erweiterung älterer Überlieferung sein. Sie spinnt die
ganze Szene aufs breiteste aus: die Erzählung ist dreimal so
lang wie im Speculum Perfectionis. Für Rivotorto ist ge-
setzt „in quodam tugurio derelicto" — man mufs an die
Haltung der Vita prima und secunda Celanos denken: jene
kennt noch Rivotorto, diese spricht nur noch von „quodam
loco" ^. Das Speculum Perfectionis spricht von den „duobus
sociis quos tantum tunc habebat"; die Vita fügt die Namen
bei, und sie verrät dadurch, dafs sie den Petrus der ältesten
Überlieferung zum Petrus Cataneus macht, das Bestreben
1) Vgl. oben S. 73, 171 und 173.
2) Sabatier, Spec. Perf., S. 265 hält die beiden Berichte für
völlig übereinstimmend; Lemmens, Scripta fr. Leonis, S. 17 hat mit
Kecht auf die Unterschiede hingewiesen, die nicht für einen Verfasser
sprechen. — Der in Frage kommende Text der Vita Aegidii bei Sa-
batier, Spec. Perf., S. 265 und Anal. Franc. III, S. 75.
3) S. oben S. 74 Anm. 1.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 177
der Späteren, unbekannt gebliebene Persönlichkeiten der
ältesten Zeit mit bekannteren zu identifizieren '.
Kapitel 37 lokalisiert im Gegensatz zu der parallelen Er-
zählung 2. Celano III, 29 das Ereignis und erzählt, von
einer Stelle abgesehen, etwas ausführlicher. Diese Erzählung
steht um ein wenig gekürzt bereits bei 1. Celano I, 28 —
eines der wenigen Beispiele, wo die Vita secunda etwas aus
der Vita prima ohne sichtbaren Zweck wiederholt. Alle Er-
weiterungen der Erzählung sind nun der Vita secunda und
dem Speculum Perfectionis gemeinsam, nur dafs das Speculum
Perfectionis die weitschweifigste der drei Erzählungen ist.
Aber es ist trotzdem nicht möglich mit Sicherheit zu sagen,
dafs die Entstehungsfolge sei: 1. Celano, 2. Celano, Speculum
Perfectionis; die Wahrscheinhchkeit spricht freihch dafür.
Kapitel 38 steht in gedrängterer Form bei 2. Celano III, 35.
Nach dem Schlufssatz möchte man annehmen, dafs im Spe-
culum Perfectionis die ältere Überlieferung vorliege: „Unde
nobis qui cum eo fuimus . . . quae oculis nostris vidimus
longum esset et valde difficile scribere vel narrare." Ander-
seits weist die Erzählung Celanos bei gröfstenteils wörtlicher
Übereinstimmung Züge der Priorität auf; Petrus Cathaneus
wird vicarius des Heiligen genannt, während es im Speculum
Perfectionis heifst: „qui erat tunc generalis minister"; auch
wird im Speculum Perfectionis die Szene als bei der Portiun-
•cula geschehen lokalisiert; 2. Celano sagt von dem ver-
schenkten Neuen Testament, es sei das erste gewesen, das
man im Orden besafs. Nur die Erwähnung des Petrus
Cathaneus als Generalminister ist ein stichhaltiger Beweis,
dafs die Erzählung des Speculum Perfectionis ihre jetzige
Fassung später als die Vita secunda erhielt. Denn einmal
hätte die Vita secunda aus einem ihr überlieferten minister
generahs schwerlich die geringere Würde eines vicarius ge-
macht, und anderseits bietet die Vita secunda den einheit-
lichen Beweis, dafs Petrus Cathaneus auch nach der Re-
l) Die Vita prima I, 22 nennt den Namen des dritten Jüngers (der
später dann als zweiter angesehen wurde) nicht, sicherlii-h weil er zu
keiner Bedeutung im Orden gelangt war. Vgl. oben S. IIG.
12
178 GOETZ,
signation des Heiligen nur als sein Stellvertreter, vicarius,
nicht als Generalminister betrachtet wurde; denn nirgends
spricht sie — weder bei Petrus noch bei seinem Nachfolger
Elias — von einem minister generalis, sondern stets nur vom
vicarius sancti. So ist auch im nächsten Kapitel des Spe-
culum Perfectionis (39) der Rücktritt des Heiligen von der
Leitung des Ordens behandelt: es wird kein neuer General-
minister gewählt, sondern Franz befiehlt aus eigener Macht-
vollkommenheit, dafs die Brüder künftig dem Petrus Catha-
neus gehorchen. Genau so schildert auch 2. Celano IH, 81
den Vorgang. Die Bemerkung der Chronik der 24 Ordens-
generale, dafs EHas sowohl von Franz wie von vielen Brüdern
Generalminister genannt worden sei, obwohl er bei Lebzeiten
des Heiligen es tatsächlich nicht gewesen ^, findet in den
ältesten Quellen keinen Beleg; die Vita prima wie secunda
sprechen nur von dem vicarius-, ebenso Jordanus a Jano:
Bonaventura erwähnt den Elias nicht. Allein in dem
Schreiben des Heiligen an Elias (s. oben S. 33) wird dieser mit
„minister", aber nicht Generalminister, angeredet (die spätere
Überschrift des Briefes kommt natürlich nicht in Betracht).
Sollte es deshalb nicht doch vielleicht ein Zeichen der Überarbei-
tung sein, wenn im Speculum Perfectionis wiederholt (Kap. 4.
33. 38. 46. 55. 58. 102. 115 ; nur in Kap. 1 heifst Elias vicarius)
von einem Generalminister zu Lebzeiten des Heiligen ge-
sprochen wird? Später mögen diese kleinen Unterschiede
verwischt worden sein. Der alte Kern des vorliegenden Ka-
pitels erscheint trotzdem durch das „Nos qui cum eo fuimus"
verbürgt, weil auch hier kein irgendwie tendenziöser Grund
für das Heranziehen einer solchen Beglaubigung vorliegt ^.
Kapitel 39 und 40 stimmen fast wortgetreu mit 2. Celano
lU, 81 und 82 überein; zur Feststellung der Priorität sehe
ich keinen Anhaltspunkt. — Karl Müller hat den Inhalt von
2. Celano HI, 81 für unwahr angesehen; ich selber habe an
1) Speculum Perf., S. 10 Anm. 1.
2) Vita prima II, 4 sagt aufserdem: „Hellas, quem . . . aliorum
fratrum feceiat pater".
3) Minocchi, Nuovi Studi, S. 115, nimmt Priorität des Spec.
Perf. gegenüber 2. Celano an.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 179
anderer Stelle auf die vorliegende Schwierigkeit hingewiesen,
da der darin erwähnte Verzicht auf das Generalministeramt
„paucis annis elapsis post conversionem" geschehen sein soll ^
Da an der Tatsache der Amtsniederlegung doch nicht ge-
zweifelt werden kann und nur das Datum strittig ist, so ist
es wohl eher nötig, das Wort „paucis" für verderbt anzu-
sehen, als um des Datums willen an der ganzen Erzählung
zu zweifeln. Freilich haben Vita secunda wie Speculum
Perfectionis dasselbe „paucis", und man könnte daraus
schliefsen, dafs der spätere Kompilator wohl einen Irrtum
Celanos gläubig nachschrieb, nicht aber Celano einen — kaum
denkbaren — Irrtum seiner Vorlage. Dafs in der Vita se-
cunda die im Speculum Perfectionis Kap. 41 nachfolgende Er-
zählung (Anklage gegen die malos praelatos) abgetrennt und
an einen entfernten Platz gewiesen ist (III, 118), spricht
ebenfalls für die Möglichkeit der Priorität der Vita secunda ^.
Aber der Vergleich der beiden Kapitel erweist doch wohl
die Priorität des Speculum Perfectionis: 2. Celano hat noch
eine Anklage mehr als das sonst fast wörthch überein-
stimmende Speculum Perfectionis; hatte dieses eine spiritua-
listische Tendenz — warum liefs es sich derartiges entgehen?
Hier ergibt sich der Schlufs, dafs Celano seine Vorlage aus
andern Mitteilungen erweiterte; auf den Bearbeiter des Spe-
culum Perfectionis fällt nur, dafs er dieses Kapitel mit den
vorangehenden zusammenstellte und dadurch die Zeitbestim-
mung der Vorgänge verwirrte ^ ; aber dafs er nach 2. Celano
gearbeitet habe, scheint ausgeschlossen ^.
Kapitel 42 = 2. Celano 111, 110. Während die etwas
längere Einleitung bei Celano auf Benutzung und Erweite-
rung der Erzählung des Speculum Perfectionis hinweisen
könnte, spricht doch auch hier ein Moment für spätere Über-
arbeitung der gemeinsamen Vorlage im Speculum Perfectionis.
1) K. Müller, Anfiinp;e, S. 181. — Vgl. Ilist. Viortcljalusschiift
1903, S. 40 f.
2) Vgl. dazu Hist. Vierteljahrsschrift 1903, S. 41.
3) El)(l. S. 41.
4) Minocchi, Nuovi Studi, S. 114 hält die Priorität Celanos für
gesichert.
12*
180 GOETZ,
Celano zitiert eine längere Stelle, die „in quadam regula"
stehe; das Speculum Perfectionis setzt dafür: „in prima
regula". Aber „quadam" mufs die ursprüngliche Lesart
sein ; der Ausdruck entstammt dem Wissen , dafs es zu
Franzens Lebzeiten mindestens drei Regeln gegeben hat ; die
angeführte Stelle steht — nicht ganz wortgetreu, aber doch
gleichartig — in der Regel, die man auf 1221 ansetzt, die
später irrtümlich als die erste galt ^ Aus der ersten Regel
von 1209 oder 1210 kann das Zitat nicht stammen, denn
dieses Gebot der Regel über das Verhalten in Krankheiten
konnte erst aufgestellt werden, als Erfahrungen über die
Mängel der Brüder vorlagen. Dafs der Bearbeiter des Spe-
culum Perfectionis aber nicht nach 2. Celano III, 110 arbeitete,
geht daraus hervor, dafs der Schlufs des Celanokapitels im
Speculum Perfectionis ein eigenes Kapitel an anderer Stelle
— Kap. 28 — bildet; der Schlufs läge auch da wieder nahe,
dafs Celano auf Grund des Speculum Perfectionis gearbeitet
und zusammengezogen haben müsse — Arbeit nach gemein-
samer Vorlage ist die bessere Lösung.
Kapitel 43 =: 2. Celano III, 86 und 87. Die darin ge-
schilderte Zusammenkunft des h. Franz mit dem h. Dominikus
ist von Karl Müller im Anschlufs an Hase und Voigt auch
dann noch als unglaubwürdig zurückgewiesen worden, als
ihm der Text der Vita secunda vorlag, den Hase und Voigt
nicht kannten ; Müller sah darin einen Beweis ihrer Unglaub-
würdigkeit, und Grützmacher hat sich ihm neuerdings noch
angeschlossen ^. So handelt es sich zunächst um das Ver-
hältnis der beiden Texte (Vita secunda und Speculum Per-
fectionis) und dann um die Tatsache der Zusammenkunft.
Die beiden Texte stimmen zumeist wörtlich überein, nur
schiebt Celano in der Mitte eine weitläufige Ermahnung an
die beiden Orden ein, um erst in Kap. 87 mit dem fortzufahren,
1) Sabatier stellt den Text der Regel mit dem des Spec. Perf.
zusammen: Spec. Perf., S. 75 Anm. 4.
2) Realencykl. f. prot. Theol., 3. Aufl., IV, Art. Dominikus. — Thode,
Franz von Assisi, S. 180 und Sabatier, Vie de S. Frau^ois, S. 244 f.
halten die Zusammenkunft für geschichtlich; ebenso Faloci-Pulignani,
Mise. Franc. IX, S. 13 ff.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 181
was die zweite Hälfte von Kap. 4;} des Speculum Perfectionis
bildet. Dieses Einschiebsel und die dadurch hervorgerufene
Trennung des Berichtes ist der einzige Anhaltspunkt dafür,
dafs Celano seine Vorlage, wie sie sich im Speculum Per-
fectionis wiederfindet, überarbeitete, dafs also im Speculum
Perfectionis der ursprüngliche Text vorliegt. Aber stichhaltig
ist diese Annahme, die für Sabatier feststeht, nicht; ein Kom-
pilator könnte für das Speculum Perfectionis die beiden
Celanokapitel mit "SVeglassung der für das Ereignis nichts
beisteuernden Ermahnung zusammengelegt haben. So komme
ich hier im Gegensatz zu Sabatier zu einem Non liquet hin-
sichtlich der Priorität. — Über die Geschichtlichkeit der Zu-
sammenkunft ist folgendes zu sagen: G. Voigts Argumente
fallen weg, weil seine der Vita secunda geltende Kritik sich,
wie erwähnt, auf eine andere Quelle bezieht; von Hases
Gründen bleibt bestehen, dafs die rasch entstehende Rivalität
der beiden Orden leicht eine didaktische Legende von dem
guten Verhältnis der beiden Stifter aufkommen lassen konnte;
denn was noch später darüber berichtet wurde — z. B. über
die Anwesenheit des Dominikus bei dem Generalkapitel von
1221 — ist sicherHch eine Fabel, wie Voigt an der Hand
des Jordanus a Jano erwiesen hat. Es bleibt ferner als Ein-
wand gegen die Erzählung Celanos und des Speculum Per-
fectionis, dafs Bonaventura in seiner Legende nichts von der
Zusammenkunft sagt, obwohl er das Gespräch der beiden
Ordensgründer mit dem Kardinal von Ostia als zwischen
diesem und Franz geschehen erwähnt (VI, 5 = n. 78).
Das Schweigen der Vita prima ist weit eher belanglos; ehe
Dominikus heilig gesprochen war (12.34), wurde er sicherlich
nicht neben Franz, dessen Heiligsprechung bereits vollzogen
war, gestellt, besonders nicht in IMinoritenkreisen. Als posi-
tive Beweise lassen sich dagegen anführen, dafs der zwischen
1244 und 1251 schreibende Biograph des Dominikus, Bar-
tholomeus Tridentinus, die Tatsache einer engeren Beziehung
der beiden Männer erwähnt ', dafs 1255 die Goncralininister
1) \<i\. Hase, Franz von Assisi, S. 73 Anin. 1 iiml Müller. Aii-
fäiifre, S. 183 Anin. 2. liartholoineus sagt, dafs Dominikus dein h. Kranz
182 GOETZ,
der beiden Orden in einem gemeinsamen Rundschreiben das
gleiche tun \ dafs Bonaventura, zum Generahninister des Mino-
ritenordens erhoben, 1256 dieses Kundschreiben nochmals mit
seinem Namen ausgehen läfst, und dafs Bonaventuras Sekretär
Bernhard von Bessa die Zusammenkunft erwähnt ^. Gründe
und Gegengründe halten sich vielleicht die Wage, und es
wird schUefslich davon abhängen, wie man die Vita secunda
Celanos im ganzen einschätzt — ich trage kein Bedenken,
mit ihrer Hilfe die Wage zugunsten der Zusammenkunft
sinken zu lassen ; ist es doch auch wahrscheinlich, dafs diese
räumlich so nahe beieinander wirkenden Persönlichkeiten sich
einmal begegnet sind. Innere V\''ahrheit trägt die Erzählung
ebenfalls in sich. Dafs Celano vielleicht dazu beitrug, die
Tatsache noch etwas auszuschmücken, ist natürlich möglich.
Kapitel 44 führt aus, dafs Franz zur Pflege der Demut
seine ältesten Jünger in den Leprosenheimen weilen und
dienen liefs. Die „prima regula" wird mit einer Stelle er-
wähnt, die sich in den uns bekannten Hegeln nicht findet,
so dafs die Stelle allerdings aus der ältesten Regel stammen
kann. Dafs die Erwähnung der Leprosenpflege ein Zeichen
ältester Überlieferung ist, wurde schon wiederholt betont (vgl.
oben S. 47 und 73); anderseits fehlen Anhaltspunkte dafür,
dafs die späteren Zelanten diesen Punkt besonders stark be-
tont hätten; Sabatier zitiert nur eine Stelle aus Conrad von
Offida, in der die Leprosenpflege erwähnt wird ^. Da ander-
seits die Vita prima wie Bonaventura von ihr sprechen (vgl.
unten S. 227), so scheint dieses altfranziskanische Ideal nicht
derart umstritten gewesen zu sein wie die Armut — nicht
w^eil man es befolgte, sondern offenbar weil es auch für die
Zelanten zurücktrat. Weder Kapitel 44 noch das verwandte
Kapitel 58 machen den Eindruck zelantischer Tendenz;
sie klingen mehr wie einfach tatsächliche Berichte. So
„tanta caritate fi.it conin.nctas, ut idem velle et idcra liclle esset uter-
que'" [lies utriquo nach Hasel.
1) Hase a. a. 0. S. 72.
2) Sabatier, Vie, S. 24.5 Anni. 1.
3) Sabatier, Spec. Perf.. S. 79 Anm 1. Vgl. allerdings auch
Actus S. Francisci et sociorum eins S. 93 und S. HO Anru. 1.
QUELl.EN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 183
mögen sie der ältesten Überlieferung angehöx'en (vgl. unten
Kapitel 58).
Kapitel 45 stimmt im Inhalt überein mit 2. Celano III,
80 und 73. Dafs ein Kompilator die getrennten Berichte
Celanos eher miteinander verbinden konnte als umgekehrt,
ist auch hier zuzugeben. Weitere Schlufsfolgerungen sind
aus den Texten nicht zu ziehen.
Kapitel 46 berührt sich in der ersten Hälfte mit 2. Ce-
lano III, 88. Wieder spricht das Speculum Perfectionis von
einem Generalminister, während Celano zwar von Franzens
Verzicht auf das Generalministeramt spricht, aber dann
doch vorsichtiger sagt: „. . . Petro Cathanii, cui pridem
obedientiam sanctam promiserat." Daraus könnte man auf
Priorität der Vita secunda schliefsen. Aber das Kapitel des
Speculum Perfectionis hat noch einen zweiten Teil, dessen
Anfang eng zum ersten hinzugehört und eine weitere Be-
merkung des Heiligen enthält, die auf Glaubwürdigkeit An-
spruch macht; der letzte Abschnitt des Kapitels wird mit den
V/orten eingeleitet: „Hoc autem vidimus oculis nostris uos qui
cum ipso fuimus sicut etiam ipse testatur" usw. Was folgt, ist
ein so feiner Beitrag zur Charakteristik des Heiligen (irgend-
wie verletzt von den Brüdern, zieht er sich zum Gebet zurück
und sucht es zu vergessen), dafs ich an keine spätere Er-
findung glauben kann. — Zur Komposition des Speculum
Perfectionis läfst sich vielleicht bei diesem Kapitel etwas fest-
stellen. Bonaventura und Speculum Perfectionis geben hier
denselben Gang der Erzählung, ohne sich im Wortlaut
irgendwie zu berühren — Bonaventura schreibt ganz offen-
bar nur die Vita secunda aus. Speculum Perfectionis Kap. 45,
46 und 48 entsprechen Bonaventura Kap. VI, 3 und 4 (nach
alter Zählung n. 75, 76 und 77); Bonaventura hat aber
dabei benutzt 2. Celano HI, 73, 74, 88 und 89. Da Bona-
ventura sich wiiitlieh, wenn auch kürzend, an Celano an-
schliefst, so kann er nicht lediglich für die Komposition das
Speculum Perfectionis benutzt haben ; wahrscheinlicher wäre,
dafs der Kompilator des Speculum Perfectionis neben seinem
alten Material, aus dem er die zweite Hälfte von Kap. 40 und
Kap 47 entnahm, die Vita secunda und Bonaventura vor sich
184 GOETZ,
hatte und sich in der Aufeinanderfolge der Erzählungen ge-
legentlich einmal an Bonaventura anschlofs. Bei den folgen-
den Kapiteln versagt dann wieder jeglicher Parallehsmus.
Kapitel 47 ist selbständig. Über sein Alter läfst sich
nichts aussagen.
Kapitel 48 fast wörtlich gleich 2. Celano III, 89; Fest-
stellung der Priorität ist unmöglich.
Kapitel 49 stimmt zwar fast wörtlich mit 2. Celano III^
90 überein, doch hat Celano mannigfaltige kleine Kürzungen,
die zu dem Schlüsse führen könnten, er habe den Text des
Speculum Perfectiouis vor sich gehabt. Anderseits gibt das
Speculum Perfectionis eine bei Celano fehlende Einschrän-
kung des unbedingten Gehorsams: „dura scilicet non habet
causam necessariam retardandi'^ So ist Celano strenger als
das Speculum Perfectionis! Oder will sich ein Zelant da-
gegen sichern, laxen Oberen in jeder Hinsicht zu gehorchen?
Auch hier ist eine Entscheidung unmöglich.
Zu Kapitel 50 vergleiche das oben bei Kapitel 10 Ge-
sagte. Warum hat die Vita secunda nicht diese durch das
Testament bestätigte Erzählung von Franzens Abneigung
gegen alle Privilegien? Sabatier erklärt es damit, dafs bei
Entstehung der Vita secunda der Kampf zwischen Welt-
klerus und Bettelorden schon zu lebhaft gewesen sei, um
die Aufnahme solcher Anschauungen zu gestatten. Das
leuchtet durchaus ein. Ubertino da Casale hat dieses Ka-
pitel zitiert als unter den von ihm gesehenen „Scripta de
manu fratris Leonis" befindlich. Dafs die äufsere Form dieses
Kapitels nicht ganz gesichert ist, geht aus den oben bei
Kapitel 10 gemachten Bemerkungen hervor; ebenso, dafs es
trotzdem für alte Überlieferung zu nehmen ist.
Kapitel 51 = 2. Celano III, 92 bis auf den Namen des
Bruders, den Celano hinzufügt („Barbarum nomine") —
möghch also, dafs Celano damit den ihm vorliegenden Text
des Speculum Perfectionis bereicherte. Die Priorität ist nicht
entscheidbar.
Kapitel 52 — eine Vision Leos mit Anklagen gegen die
Brüder — steht wiederum für sich allein. Faloci-Puhgnani
hat bezweifelt, dafs Leo derartiges geschrieben haben könnte.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 185
Man kann anderseits darauf hinweisen, dafs die vorgebrachten
Anklagen (Undankbarkeit gegenüber den ihnen von Christus
verliehenen Wohltaten, Murren und Müfsiggang am ganzen
Tage, Zorn gegeneinander) sich nicht auf die Anliegen der
Spiritualen beziehen — da hätte eine Anklage wegen Ver-
nachlässigung der Armut wohl nicht gefehlt. Die Vision
verlangt in jedem Falle eine Übersetzung ins Geschichtliche;
aber an sich spricht nichts gegen die Worte Leos.
Kapitel 53 fast wörtlich gleich 2. Celano III, 46. Weder
hier noch bei Kapitel 54, das mit 2. Celano III, 84 fast
wörtlich übereinstimmt, ist irgend etwas über Priorität fest-
zustellen.
Kapitel 55 bietet vielfache Schwierigkeiten. Der Um-
fang des Textes ist in den verschiedenen Handschriften ein
sehr verschiedener '. Der Inhalt — die Portiuncula be-
treffend — berührt sich lose mit 2. Celano I, 7; das meiste
davon geht aber ein gutes Stück über die Nachrichten der
Vita secunda und 1. Celano I, 16 und II, 7 hinaus — wie
eine Fortbildung der Legende mutet dieses Kapitel 55 an.
Denn während in der Vita prima 1 , 16 die Übersiedlung
nach der Portiuncula mit dem Eindringen eines Bauern in
die enge Hütte von llivotorto motiviert wird, ist es hier
die Rücksicht auf die zunehmende Zahl der Brüder; aus
der einfachen Übersiedlung, wie die Vita prima I, 16 sie
schildert, ist eine Verhandlung mit dem Besitzer geworden;
aus der Andeutung der Vita prima II , 7 , dafs der neue
Aufenthaltsort „gratia uberiori repletum et supernorum visi-
tatione spirituum frequentatum *' sei, und aus der JMitteilung
der Vita secunda I, 12, dafs die Kirche auch „Sancta ]\Iaria
de Angehs" genannt sei, ist hier geworden: „quia sicut di-
citur cantus angelici ibi saepe sunt auditi"^. Dabei enthält
es einige Ausdrücke, die ganz unzweifelhaft späte Ent-
stehungszeit verraten (S. 97 Zeile 14 — 18, S. 99 Zeile 11,
S. 100 Zeile 3 — 10; S. 99 Zeile 6 wird ein Generalminister
1) Sabatior, Spoc Perf, S. 2G8flF.
2) Nach Bona Ventura c. II, 8 (= n. 24) bemerkt Franz ,. an-
gelicarum ibi visitationum frequentiam".
186 GOETZ,
ZU Lebzeiten des Heiligen erwähnt); eine Stelle (S. 99 Zeile 11
bis S. 100 Zeile 10) ist offenbar eingeschoben, da die Fort-
setzung an das vor dieser Stelle Gesagte direkt anknüpft ^.
Unrichtig ist ferner, dafs Franz in seinem Testamente etwas
über die Portiuncula gesagt habe ^. Dabei enthält dieses
Kapitel aber die Berufung auf das Zeugnis der ältesten Ge-
nossen: „Nos vero qui fuimus cum b. Francisco testimonium
perhibemus" etc. Die Versuchung liegt nahe, diesmal in
der Berufung eine Fälschung zu sehen und das ganze Ka-
pitel fallen zu lassen. Einige Gründe sprechen aber auch
für eine andere Auffassung. Rivotorto wird nicht ausdrück-
lich genannt, aber es wird als der frühere Aufenthaltsort
der Brüder vorausgesetzt (S. 95 Zeile 8: „locus iste non
est honestus nee sufticiens") — das ist ein Zeichen alter Über-
lieferung; die Verhandlung mit dem Besitzer der Portiun-
cula, dem Benediktinerkloster von Monte Subasio, ist sehr
wohl denkbar als ein ergänzender Nachtrag zum Bericht der
Vita prima — gerade die Einzelheiten dieser Verhandlung
(Abweisung durch den Bischof und durch die Kanoniker
von S. Rutino, Entgegenkommen des xlbtes, die jährliche
1) Barbi, Bull. d. Soc. Dantosca YII, S. 81 Anm. 1 will die
gcbwieripkeit dadurch lösen, dafs er diese Stelle, wie das Voranjrebeude
und Nachfolgende, für Worte des Heiligen ansieht, wofür beim letzten
Worte der Stelle die Lesart einiger Handschriften spricht (vellem statt
velleut) Aber der Inhalt des ganzen Absatzes klingt doch nicht wie
eine Rede des Heiligen — das Ganze ist zu sehr geschichtlicher Rück-
blick auf eine nicht mehr nahe Vergangenheit. Faloci-Pulignani
hat das ganze Kapitel um dieser Stelle willen für späte; c Kompilation
erklärt (Mise. Fianc. VII, S. 5). Es scheint mir sicher, dals die ein-
geschobene Stelle aus 2. Celano I, 12 entstanden ist.
2) Zwei andere Handschriften haben die Lesait „circa mortem
suam scribi voluit in testamento " (Sabatier, Spec. Perf., S. 99). Da
1, Celano II, 7 berichtet, wie Franz auf dem Totenbett den B.üdern
die Portiuncula ans Herz legt, so ist wohl auch hier die Vita piima
der Ausgangpunkt der Nachricht des Spec. Perf. Die von Lemmens
herausgegebene ,.Redactio prima" (Doc. ant. II, S. 60) hat die Lesart:
„Et circa mortem suam hanc ecclesiam fratribas in testamentr.m reli-
qiiit." Lemmens sieht diese Worte für die älteste und richtige Lesart
an (Voix de S. Antoine, 1903 Aprü, S. 5); aber die vorangehende mit
„scribi voluit'- kann natürlich ebensogut dafür angesehen werden.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 187
Übersendung von Fischen als Pacht und die Gegengabe der
Benediktiner) erwecken Vertrauen, ausgenommen die For-
derung des Abtes: ,,si Dominus hanc congregationem ve-
stram multiplicaverit, vokiraus, quod locus iste sit caput om-
nium vestrum." Dafs die Portiuncula einen andern Eigen-
tümer hatte, sagt auch die Vita secunda I, 12: „Hunc
locum sanctus adamavit prae omnibus . . . proprietatem ex
eo aliis reservans, sibi et suis retinens usum tantum^'; Sa-
batier hat aufserdem auf eine Urkunde von 124-1 aufmerk-
sam gemacht, die das Eigentum der Benediktiner an der
Portiuncula bestätigt ^ Diese neuen Nachrichten des Spe-
culum-Kapitels über die Erwerbung der Portiuncula können
richtis: sein und trotzdem das Ganze nichts anders als eine
Ausgestaltung der Mitteilungen Celanos. Nur das „Nos
vero" etc. spricht für einen originalen Kern. Das ist das
Aufserste, was man zugestehen kann: ein solcher Kern ist,
wie auch die Handschriften zeigen, so stark überarbeitet
worden, dafs die positiven Nachrichten dieses Kapitels nur
mit äufserster Vorsicht zu verwenden sind. Dafs diese
Nachrichten vom Bruder Leo selber im Laufe seines langen
Lebens überarbeitet worden seien , wie Sabatier meint ^, ist
eine jener Möglichkeiten, die man aus Verlegenheit annimmt
und die doch weit mehr gegen als für sich haben. Darauf
hat Sabatier aber mit Recht hingewiesen, dafs ein Kompi-
lator, der im literarischen Kampfe alles zugunsten der Por-
tiuncula Sprechende zusammentragen wollte, die vom 2. Ce-
lano I, 13 berichtete Vision sich nicht hätte entgehen
lassen ^.
Kapitel 56 enthält eine kleine Erzählung über Franzens
Sorge für die Reinlichkeit der Kirchen. Sie kann alt sein,
kann aber auch späterer Legendenbildung entstammen. Dafs
Franz mit einem Besen umherging, um die Kirchen zu rei-
nigen, pafst jedenfalls zu seiner ganzen Art, so dafs die Er-
zählung nicht verworfen zu werden braucht.
1) Sabatier, Si)cc. Pcrf., ö. 2(39.
2) Spec. Perf., S. 2G7f.
3) A. a. 0. S. 273. Dafs dcsluilb das Spec. Pdf. vor der Vita
secunda entstanden sein müsse, ist damit freilich nicht bewiesen.
188 GOETZ,
Kapitel 57 bringt ausführliclier dieselbe Erzählung wie
2. Celano III, 120. Celano kann die Vorlage ebensogut
verkürzt, wie das Speculum Perfectionis den ihm vorliegen-
den Celano ausgeschmückt haben. Es läfst sich nichts dar-
über sagen.
Kapitel 58 steht ebenfalls für sich allein — die Vita se-
cunda kennt es nicht. Es spricht wie Kap. 44 von der Le-
prosenpflege und es hat am Schlüsse die Worte: „Qui vidit
hoc, scripsit et testimonium perhibet de hiis." Merkwürdig^
dafs Celano eine so gut beglaubigte Erzählung beiseite liefs!
Lag sie ihm etwa doch nicht vor und hat der Kompilator
des Speculum Perfectionis durch den Schlufssatz täuschen
wollen? Die Erzählung selber ist nur an einer Stelle ver-
dächtig: von Petrus Cathaneus heifst es, dafs er damals ge-
neralis minister gewesen sei (s. oben S. 177, bei Kap. 38);
das übrige, besonders das Verhalten des frater Jacobus, der
mit den Leprosen arglos spazieren geht, klingt wie naive
Wahrheit. Aber so weit kann ich nicht gehen, mit Sabatier
in diesem Kapitel „une des preuves les plus frappantes de
l'authenticite du Speculum Perfectionis" zu sehen ^ — das
Schweigen Celanos steht im Wege, und man raufs sich vor-
sichtiger fassen.
Die Kapitel 59 und 60 enthalten im wesentlichen das
gleiche wie 2. Celano III, 63. Im Speculum Perfectionis
ist die zusammengehörige Erzählung in zwei Kapitel zerlegt;
das fällt auf, spricht aber eher für, als gegen die Priorität,
weil das Zusammenlegen dem Nachfolger näher liegen mufste
als das Trennen. Ferner lokalisiert das Speculum Perfec-
tionis den Vorgang auf eine bestimmte Kirche — das kann
Ausbildung von Lokaltraditionen sein; aber dafs der Be-
gleiter des Heiligen im Gegensatz zu Celano genannt und
charakterisiert wird, scheint doch auf gutes Wissen zurück-
zugehen, denn Celano wie Bonaventura kennen den Bruder
Paciticus nur als rex versuum, während er hier noch als
curialis doctor cantorum bezeichnet wird, was allerdings hier
wie in Kap. 100 nur ein rhetorischer Zusatz zu sein braucht.
1) Sabatier, Spec. Perf., S. 107 Anm. 2.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 189
Celano spricht ferner nur vom hospitale, wohin Franz den
Begleiter zurückschickt; Speculum Perfectionis sagt „hospi-
tale leprosorum*^ Bei Celano gehörte der in der Vision ge-
sehene unbesetzte Platz im Himmel einem der gestürzten
Engel, im Speculum Perfectionis dem Lucifer. Von diesen
Verschiedenheiten sprechen die einen für, die andern gegen
Priorität des Speculum Perfectionis ; mit irgendwelcher Sicher-
heit ist seine Priorität hier nicht zu behaupten.
Kapitel 61 berührt sich mit 1. Celano I, 19 (= n. 52).
Man wird kaum anders sagen können, als dafs dieses Ka-
pitel eine Verarbeitung von 1. Celano ist. Das schliefst
nicht aus, dafs diese erweiterte Erzählung in früher Zeit
entstand , obwohl die Aufserung über Petrus Cathaneus
(„primus generalis minister fuit electus a b. Francisco")
nicht eben dafür spricht. Dieses Kapitel ist nun aber eines
von den wenigen, wo sich eine Berührung mit Bonaventura
feststellen läfst. Der Text Bonaventuras (c. VI, 2 = n. 73 u. 74)
beruht am Anfang und am Schlufs auf 1. Celano, wie die
wörtlichen Anklänge zeigen; in der Mitte dagegen weicht
er von Celano ab, der die Erzählung anders gibt, und be-
richtet wie das Speculum Perfectionis. Hat Bonaventura den
Text des Speculum benutzt? Bonaventura ist viel kürzer
als das Speculum ; er könnte ein Auszug sein, aber ebenso-
gut das Speculum eine spätere P^rweiterung. Nun ist aber
doch bedeutungsvoll, dafs Bonaventura trotz seiner gedrängten
Fassung einige selbständige Einzelheiten gegenüber dem Spe-
culum hat (Franz läfst sich zu dem Steine schleifen, „in quo
malefactores puniendi consueverant collocari", er steigt dann
auf den Stein, das Wetter ist sehr kalt), deren Verwendung
einem späteren Legendenschreiber im Interesse gröfserer
Wirkung hätte am Herzen liegen müssen, wenn einmal die
Erzählung wie im Speculum Peribctionis in so reichlichem
Mafse erweitert wurde. Bonaventura dagegen hat nichts in
seinem Texte, was nicht als gedrängte Zusammenfassung von
1. Celano und Speculum Perfectionis erklärbar wäre; er
scheint deshalb dieselbe Vorlage benutzt zu haben wie der
Kompilator des Speculum Perfectionis. Aber ist es denk-
bar, dafs Bonaventura den Stoff des Speculum Perfectioni»
1 90 GOETZ,
vor sich hatte und ihn nur so selten benutzte, dafs man mit
Mühe ein bis zwei Stellen der Berührung auffinden kann? ^
Oder war das eine versprengte Aufzeichnung, die ihm beim
Suchen nach neuem Materiale zukam? So einleuchtend es
au der vorliegenden Stelle erscheint, die Priorität des Spe-
culum-Textes anzuerkennen, so schwer sind doch die Be-
denken, die aus dem allgemeinen Verhältnis Bonaventuras
zum Specalum Perfectionis hervorgehen. Mit absoluter Sicher-
heit wird man deshalb auch hier die Priorität nicht be-
haupten können.
Kapitel 62 berührt sich mit 2. Celano III, 71 und 70,
die Priorität ist unentscheidbar. Ebenso steht es mit der
Erzählung, die den Anfang von Kapitel 63 bildet und sich
mit 2. Celano III, 72 berührt. Auf diese Erzählung folgt
dann aber im Speculum Perfectionis noch eine allgemeine
Betrachtung, die mit den Worten beginnt: „Et tot alia
exempla hiis similia vidimus et audivimus de summa hu-
militate ipsius nos qui cum eo fuimus conversati quod nee
verbis nee litteris possumus explicare." Die vorangehende
kleine Erzählung (Franz bekennt, dafs er ein Geschenk aus
Eitelkeit gegeben habe) bedarf einer so nachdrücklichen Be-
glaubigung nicht — in ihr wird nichts berichtet, was etwa
später im Orden umstritten gewesen wäre. Deshalb erscheint
die Beglaubigung als ein absichtsloser Zusatz; hätte mit ihr
ein falscher Schein erweckt werden sollen, so wäre sie an
andern Stellen wichtiger gewesen als hier.
Kapitel 64 vermag einen wertvollen Aufschlufs zu geben.
Der Inhalt (Franz wünscht, dafs ihn die Brüder als Idioten
von der Leitung des Ordens entfernen) steht gekürzt ebenso
bei 2. Celano III, 83. Aber bei Celano geht ein scharfer
Angriff auf ehrgeizige Mitglieder des Ordens voraus. Warum
nahm das Speculum Perfectionis, wenn es eine spiritualistische
Tendenz oder auch nur die von Sabatier behauptete eifernde
Tendenz besafs, diese Stelle nicht auf? Hier ist die Vita
secunda schärfer als das Speculum, und da dieses ja sonst
mit Tadel nicht spart, so mufs man annehmen, dafs es diesen
1) S. unten S. 213 bei Kap. 113.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 191
Tadel noch nicht kannte, d. h. dafs seine Vorlage älter ist
als die Vita seeunda.
Der Inhalt des 65. Kapitels erweckt in seiner Zusammen-
setzung kein grofses Vertrauen : es beginnt mit dem am Ende
eines Generalkapitels geäufserten Wunsche Franzens, eben-
falls eine Missionsreise zu unternehmen, und zwar nach Frank-
reich, weil man dort den Leib des Herrn besonders ehre;
es folgt — in Berührung mit 2. Celano III, 129 — eine
längere Mitteilung, wie Franz selber darüber dachte; dann
kehrt die Erzählung zu der beabsichtigten Reise zurück, in-
dem Franz den Brüdern, die mit ihm selber gehen sollten,
Verhaltungsmafsregeln vorschreibt, als ob sie ohne ihn gehen
sollten („ite bini et bini per viam" etc.); das Kapitel schliefst
mit dem Bericht über das Zusammentreffen des Kardinals
von Ostia mit Franz und die Verhinderung der Reise. In
diesem letzten Teil berührt sich die Erzählung mit der Vita
prima (I, 27), aber die beiden Berichte weichen doch ziem-
lich stark voneinander ab : dort heifst es , dafs Franz die
Reise unternahm „non multos adhuc fratres habens"; im
Speculum Perfectionis dagegen hat er auf dem soeben be-
endigten Kapitel viele Brüder zur Mission „ad quasdam pro-
vincias ultramarinas" geschickt; und während das Speculum
Perfectionis nur von der Verhandlung über die Reise ausführ-
licher und eigenartig berichtet, gibt Celano daneben an, dafs
Franz den Kardinal bei dieser Gelegenheit zuerst kennen lernte
und dafs dieser damals bereits eine Art Protektorat über-
nahm. Von der zwiespältigen Zeitangabe abgesehen besteht
allerdings kein eigentlicher Widerspruch zwischen den beiden
Berichten; in beiden kann ein Teil des Vorgangs enthalten
sein, und bei der Zeitangabe kann schliefslich ein nicht allzu
belangreicher Irrtum Celanos vorliegen. Das Speculum Per-
fectionis fufst aber jedenfalls auf einer andern Überliefe-
rung. Hier warnt der Kardinal den Heiligen vor der Reise,
„quia multi praelati sunt qui libenter impedircut bona tuae
religionis in cui'ia Romana"; er aber und andere Kardinäle
würden ihn beschützen, wenn er in Italien bliebe. Dann
fragt der Kardinal noch halb vorwurfsvoll, warum Franz die
Brüder so weit hinaus zum Hungertode und andern Leiden
192 GOETZ,
sende; Franz verteidigt darauf seine der ganzen Welt geltende
Mission, und der Kardinal stimmt bewundernd zu. Kann
diese Überlieferung in die Zeit der ältesten Jünger zurück-
gehen? Man kann es nicht beweisen, kann aber auch ebenso-
wenig eine spiritualistische Tendenz darin feststellen ; die Be-
gründung, die der Kardinal seinem Ratschlag gibt, ist histo-
risch annehmbar, und dafs Celano in der Vita prima darauf
nicht näher einging, erklärt sich ohne weiteres. Was sich
mit der Vita secunda (III, 129) berührt, trägt nach Sabatiers
Meinung einen weit ursprünglicheren Charakter als diese;
die grofse zentrale Bedeutung, die für Franz der Kultus der
Eucharistie gehabt, sei von Celano nicht mehr erkannt worden.
Ich kann einen so grofsen Unterschied zwischen Celano und
Speculum Perfectionis , das doch auch nur an dieser einen
Stelle von Franzens Verhältnis zur Eucharistie spricht, nicht
finden ; Celano verkürzt wohl den Gedanken an der einen
Stelle, aber an der andern erweitert er ihn. Freilich hat
das Speculum Perfectionis einen Zusatz, der von Celano mit
Absicht weggelassen sein könnte: Franz habe über seine
Stellung zur Eucharistie einiges in die Regel setzen wollen;
das habe aber den Ministern nicht gut geschienen, so dafs
sich Franz begnügt habe, in seinem Testament und in andern
„Scriptis" seinen Willen darüber kund zu tun. Der zweite
Teil dieser Mitteilung ist tatsächhch richtig, wie das Testa-
ment und die Briefe zeigen; es mag deshalb auch der erste
Teil richtig sein — um so mehr, als man in der Haltung der
Minister ein begreifÜches formales Moment anstatt grundsätz-
lichen Gegensatzes sehen darf Wenn Celano in der Vita
secunda darüber hinwegging — vorausgesetzt, dafs diese
Stelle ihm vorlag — , so ist der Grund ersichtlich: die Vita
prima I, 29 bringt bereits den Kern der Erzählung: Franzens
Sorge für die nomina Domini und für die Buchstaben, aus
denen diese Namen bestehen. Die übrigen Nachrichten
dieses Kapitels, die sich weder mit der Vita prima noch se-
cunda berühren, erwecken zum Teil kein Mifstrauen (wie die
Überlegung Franzens am Schlüsse des Generalkapitels, in
weiches Land er gehen solle), zum Teil erscheinen sie, wie ge-
sagt, nicht recht am Platze (so die Ratschläge an die wandern-
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 193
den Brüder), so dafs der Haupteinwand gegen dieses Kapitel
seine Komposition, nicht seinen Inhalt im einzelnen betrifft. Auch
hier scheinen gute alte Nachrichten in einer überarbeiteten
Form vorzuliegen. Dafs dieses Kapitel ledigHch aus Be-
nutzung der beiden Viten Celanos entstanden sein könnte, ist
dagegen wohl sicher ausgeschlossen; dazu weichen bei aller
allgemeinen Berührung die Erzählungen zu sehr voneinan-
der ab.
Über Kapitel 66 läfst sich nichts feststellen.
Kapitel 67 ist weit ausführlicher als die parallele Erzäh-
lung bei 2. Celano III, 61 ; Einzelheiten über den Zweck
des Aufenthalts in Rom (Besuch beim Kardinal von Ostia),
über den Begleiter Franzens (Fra Angelo Tancredi) und
über das Ziel der Weiterreise (Fönte Columbarum bei Rieti)
sind beigefügt. Anderseits hat auch Celano ein paar Kleinig-
keiten mehr (dafs der Turm aus neun Eremitorien bestand,
den Titel des Kardinals Leo, den scharfen Angriff auf die
„fratres palatini"). Heben sich diese Zusätze in ihrer Be-
deutung für die Priorität zunächst gegenseitig auf, so hat
das Speculum Perfectionis die Berufung auf Augenzeugen —
zwar nicht für den erzählten Vorgang, sondern wie immer
nur in allgemeiner Form. Aber es spricht für die Echtheit
der Berufung, dafs sie auch hier in einem Falle auftritt, wo
jeder tendenziöse Zweck fehlt — Celano ist mit seinem Hieb
auf die „fratres palatini" weit schärfer, und selbst Bona-
ventura (VI, 10 und 85) hat implicite mehr Tadel gegen
diese als das Speculum Perfectionis. Der alte Ursprung der
Erzählung ist deshalb sehr wohl möglich. Und es spricht
dafür auch noch folgendes: Celano konnte in seinem Streben
nach Kürze ohne Schaden weglassen, was das Speculum
Perfectionis an Einzelheiten mehr hat; der Zusatz Celanos
über die Einrichtung des Turmes ist dagegen als Fortbildung
einer Bemerkung des Speculum Perfectionis aufzufassen. Im
Speculum Perfectionis heifst es, dafs der Turm „spatiosa
valdc et remota" war, in dem Franz „tanquam in eremitorio"
verweilen könne; bei Celano heifst es von der „turris remota",
dafs sie „per novem testudines concamerata quasi mansiun-
culas heremiticas" bot. Auch die Bemerkung Celanos über
13
194 GOETZ,
die „fratres palatini" spricht für die Priorität des Speculum
Perfectionis.
Kapitel 68 bringt einen Bericht über das sogen. Matten-
kapitel, der sich sonst nirgends in den altern Quellen findet
und im Widerspruch zu Angaben des Jordanus a Jano steht.
Jordanus war bei diesem Generalkapitel anwesend, und da
auch er von der grofsen Zahl von Brüdern und von Stroh-
hütten spricht, so scheint die Erzählung demselben Ptingst-
kapitel von 1221 zu gelten \ Dann aber läfst sich nach-
weisen, dafs der Bericht des Speculum Perfectionis irrtümlich
ist: der Kardinal von Ostia kann, wie sein Itinerar ergibt,
damals nicht in Assisi gewesen sein ^. Und da nach Jor-
danus Franz damals kränklich war, so dafs Elias für ihn
das Wort führte, so ist auch die lange Rede an die Brüder,
von der das Speculum Perfectionis berichtet, nicht wahr-
scheinlich ^. Will man den Inhalt von Kapitel 68 trotzdem
retten, so bleibt nur übrig, dafs die Szene sich auf einem
andern Generalkapitel zugetragen haben mufs, dafs der Be-
richt des Speculum Perfectionis also in jedem Falle hinsicht-
lich der Zeitangaben Irrtümliches enthält. Kann der übrige
Inhalt wahr sein? Es handelt sich um die dem Kardinal
von Ostia vorgetragene Bitte gelehrter Brüder, dafs Franz
dem Rat der „fratrum sapientum^' etwas mehr folge und
eine der alten Ordensregeln zur Richtschnur nehme, und um
die schroffe Ablehnunsr der Bitte durch Franz. Die Ent-
1) Sabatier, Vie de S. Frangois, S. 229 meint, alle Kapitel
dieser Jahre seien Mattenkapitel gewesen und man dürfe bei dem Aus-
druck nicht an ein einzelnes denken. Aber die Quellen sprechen doch
ausdrücklich von einem besonders auffallenden Kapitel. Im Speculum
Perfectionis hat Sabatier diese Frage nicht erörtert, setzt aber den vom
Kapitel 68 berichteten Vorgang ins Jahr 1218 (Spec. Perf. S. LXXXVIII).
Gegen Sabatier auch Lempp, Frere Elie, S. 47 Anm. 1, mit der Fest-
stellung, dafs sich der Vorgang nicht 1218, sondern auf einem andern
Kapitel zugetragen haben müsse.
2) Sabatier, Vie, S. 301.
3) Soweit die Glaubwürdigkeit des Jordanus in Frage kommt, vgl.
Voigt, Denkwürdigkeiten a. a. 0. S. 489 ff. (Die Kritik Voigts an
2. Celano ist, wie erwähnt, hinfällig, da es sich um das Speculum Vitae
und nicht 2. Celano handelt.)
QUELLEN ZUK GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 195
stehung dieser Erzählung in einer spätem Zeit, in der die
gelehrten Brüder den Vertretern der simplicitas und humi-
litas wie ein Abfall von den alten Idealen erschienen, liegt
aufserordentlich nahe. Aber es ist doch zu betonen, dals
Franz sich bei dieser Gelegenheit nicht gegen die Gelehr-
samkeit überhaupt wendet, sondern nur gegen bestimmte
Wünsche dieser gelehrten Brüder, wie z. B. die Berücksichti-
gung älterer Ordensregeln. Ein Gegensatz gegen die ge-
lehrten Brüder tritt in der Vita secunda ebenfalls hervor
(III, 123 und 124). Die Forderung nach Berücksichtigung
anderer Regeln ist allerdings ein eigenartiger Zug, den man
ohne weitere Anhaltspunkte nicht schlechtweg für spätere
Erfindung erklären kann. So bleibt das Kapitel zwar ver-
dächtig, aber es kann auch hier ein alter Kern lediglich
überarbeitet sein — auf irgendeinem Generalkapitel mag sich
ähnliches abgespielt haben.
Über Kapitel G9 ist früher bei Kapitel 4 bereits ge-
sprochen worden.
Der Anfang von Kapitel 70 mit seinen heftigen Anklagen
gegen einzelne Brüder steht fast wörtlich ebenso am Schlufs
von 2. Celano III, 93, während die Fortsetzung im Speculum
Perfectionis und der Anfang bei Celano sich nicht mitein-
ander berühren. Alan mufs damit eine dritte Lesart zu-
sammenhalten, die der Codex von Foligno bietet ^ : sie stimmt
mit Speculum Perfectionis inhaltlich ganz und am Schlüsse
wörtlich überein, fügt aber einzelnes Neue hinzu und beruft
sich ausdrücklich auf Mitteilungen Bruder Leos an Conrad
von Üffida. Diese drei sich berührenden und doch vonein-
ander abweichenden Lesarten weisen zwingend auf eine ge-
meinsame Vorlage hin — ein Schlufs, den Faloci-Puhgnani
hinsichtlich Speculum Perfectionis (Kapitel 70) und Codex von
Foligno bereits gezogen hat. Celano kann davon nicht aus-
geschlossen werden — er müfste denn selber die älteste Quelle
sein. Nimmt man jene Berufung auf Bruder Leo als wahr
an, so mufs auch Celano aus dieser Urquelle geschöpft haben.
1) Mise. Franc. VII, S. 48 (9. Nachtragskapitel ziuii Spcc. Pcrf.);
g. oben S. 154.
13*
196 GOETZ,
Kapitel 71 ist wiederum völlig selbständig in der ganzen
älteren Literatur. Es behandelt die Frage eines Genossen,
warum Franz gegen die laxen Glieder des Ordens nicht ein-
schreite. Beglaubigt ist der Text dadurch, dafs Ubertino ihn
als Aufzeichnung Bruder Leos zitiert ; eine Lokalbestimmung
am Anfang, die sowohl Ubertino wie der Codex Vaticanus
4354 haben \ zeigt, dafs der Text Sabatiers nicht der Ur-
text zu sein braucht. Ist die Beglaubigung Ubertinos für
den alten Ursprung dieser Erzählung ausreichend? Überall,
wo die Konflikte im Orden so stark betont werden, vermutet
man eher noch als sonst den Niederschlag der späteren Kämpfe.
An der Tatsache der Konflikte ist ja nach den Berichten
der Vita secunda nicht zu zweifeln ; aber der Inhalt dieses
Kapitels ist durchaus eigenartig: in der Begründung seiner
Untätigkeit gegenüber den Lässigen wird — ähnlich wie in
Kapitel 2 — eine Charakteristik des Heiligen gegeben, die
bei ihrer Sachlichkeit weit mehr ist als ein tendenziöser An-
grifi" auf die Gegner der Spiritualen. Hätte sich die Tendenz
nicht damit begnügt, die Klagen und Drohungen des Heiligen
wiederzugeben ? Statt dessen will er nur durch sein Beispiel
wirken; die Strafe überläfst er Gott. In dieser Charakteristik
liegt innere Wahrheit, die für die Echtheit des Kapitels spricht ^.
Aber mehr kann man nicht sagen, als dafs die Echtheit aus diesem
inneren Grunde und um Ubertinos Zeugnis willen sehr wahr-
scheinlich ist. Denn anderseits legt der lange Wortlaut der Frage
wie der Antwort den Zweifel nahe, ob er völlig authentisch
sein kann — gleichzeitig ist er doch nicht aufgezeichnet
worden, und wenn Leo ihn später abfafste, so mag er zu-
sammengefafst haben, was in der Sache zu sagen war.
Auf Kapitel 7 1 folgt ein Abschnitt, den Sabatier als Inter-
polation bezeichnete, weil die Erwähnung Conrads von Offida
der von Sabatier angenommenen frühen Entstehungszeit des
Speculum Perfectionis widersprach, weil einige Handschriften
den Abschnitt nicht als besonderes Kapitel bezeichnen und
1) Vgl. auch Lern mens, Scripta fr. Leonis, S. 95.
2) Sabatier, Francisei Bartholi Tractatus, S. 122 stützt die Echt-
heit auch auf die verwandte Anschauung, die im Brief au den General-
minister vorliege.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 197
weil er in zwei älteren italienischen Übersetzungen fehlt. Aber
einmal bringt der Codex von Foligno denselben Text ^, und
zweitens ist das Kapitel dann weit weniger anstöfsig, wenn
man überhaupt eine Überarbeitung des Ganzen im Jahre
1317 annehmen mufs. Von diesem Standpunkt aus ist es
vielmehr wesentlich, dafs Conrad von Offida hier wiederum
Zeuge für Aufzeichnungen Bruder Leos ist. Hier dieses
Zeugnis ablehnen und anderwärts ihn oder Ubertino als
Kronzeugen annehmen, würde eine starke Inkonsequenz sein.
Eine Beziehung zu Leo mufs also hier angenommen werden.
Der Inhalt dieser Aufzeichnungen zeigt allerdings, dafs auch
Leo an der Legendenbildung Anteil nahm — sie sind aus
den Erlebnissen späterer Tage entstanden.
Kapitel 72 ist viel ausführlicher als das parallele Kapitel
der Vita secunda III, 100, wo vor allem jeghcher Angriff
auf Wissenschaft und Bücher fehlt. Eben dieser Angriff
macht das Speculura Perfectionis hier etwas verdächtig. Es
wäre falsch zu schliefsen, dafs das Fehlen dieses Angriffes
in der Vita secunda diese verdächtig mache ob beschwich-
tigender Tendenz: Celano hat sich anderwärts (III, 8, 123,
124) über diesen Punkt genugsam und mit Schärfe geäufsert,
80 dafs er hier die Angriffe seiner etwaigen Vorlage mit
gutem Gewissen übergehen konnte. Für das Speculum-
Kapitel spricht, dafs Ubertino Stellen daraus mit dem Hin-
weis auf Bruder Leo zitiert und dafs der Text einen An-
haltspunkt für die Echtheit bietet: die Worte „isti sunt
fratres mei milites tabulae rotundae" darf man wohl ohne
weiteres als authentisch ansehen, da man sich nicht denken
kann, dafs ein mönchischer Legendenschreiber sie erfunden
haben sollte. Gegen die Authentizität des ganzen Wort-
lautes dieses Kapitels spricht auch hier die Länge der Worte
des Heiligen — Ausbau und Überarbeitung sind wahrschein-
lich, wenn auch ebenso unbeweisbar wie vollständige Erfin-
dung eines Kompilators.
In Kapitel 73 fordert Franz auch von der Oberschicht
des Ordens, den Ministern und Predigern, Werke der Demut
1) Mise. Franc. VII, S. 48.
198 GOETZ,
wie Gebet, Bettel, Handarbeit und anderes, was den Brüdern
ein gutes Beispiel sei. Das Kapitel fehlt bei Celano; ent-
stand diese Aufzeichnung Leos vielleicht erst in späterer
Zeit? Oder wollte Celano die Ordensoberen schonen? Beides
ist möglich — mehr läfst sich nicht behaupten.
Kapitel 74 simmt fast wörtlich mit 2. Celano III, 95
überein, nur dafs hier eine kurze allgemeine Betrachtung
vorausgeschickt und der Vorgang als nächtlicher auf eine
Einsiedelei bei Öiena lokalisiert ist. Es läfst sich hier wie
bei dem folgenden Kapitel 75 (fast wörtlich gleich 2. Celano
III, 97) nichts über Priorität entscheiden ^
Kapitel 76 und 77 kann man mit mehr Sicherheit als
die Vorlage von 2. Celano III, 135 ansehen. Aus zwei Ka-
piteln ist eins gemacht — das ist wahrscheinlicher als die
Zerlegung eines Kapitels in zwei. Ferner sind kleine Ab-
weichungen im Wortlaut der Texte bezeichnend : wo Spe-
culum Perfectionis „viam crucis, statum perfectionis" sagt,
steht bei Celano „viam perfectionis", was ganz wie eine Zu-
sammenziehung der breiteren Vorlage aussieht; und dafs
Celano bei der Erzählung vom Märtyrer hinzusetzt: „signis-
que et prodigiis postmodum claruit " klingt ebenfalls wie ein
Zusatz zur schlichteren Vorlage -.
Kapitel 78 stimmt fast wörtlich mit der zweiten Hälfte
von 2. Celano I, 16. Franz beschliefst, seine religio unter
die Obhut der römischen Kurie zu stellen; Celano läfst den
Entschlufs aus einer Vision und aus Beobachtungen des
Heiligen über drohende Gefahren entstehen. Im Speculum
Perfectionis beginnt die Erzählung mit den Worten: „Di-
cebat b. Franciscus" etc. Hat die sich entwickelnde Über-
1) Minocchi, Studi Nuovi, ist bei Kap. 74—77 anderer Meinung;
hier wie anderwärts kann ich mich seinen allzu kurz gefafsten Beweisen
nicht anschliefsen.
2) Sabatier, Spec. Perf., S. 149 Anra. 2 sieht eine Absicht Ce-
lanos darin, dafs der Zusatz des Spec. Perf., die Befolgung der Regel
sei gleich der vollkommenen Befolgung des Evangeliums , weggelassen
sei. Aber natürlich können diese Worte auch ein Zusatz des Kompi-
lators sein. Dem Sinne nach sagt Celano nichts Geringeres als das
Spec. Perf.
QUELLEN ZUK GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 199
liefei'ung die Begründung des Entschlusses erst hinzugefügt
oder hat ein Konipilator aus seiner Vorlage nur gerade die
Worte Franzens herausgenommen? Wahrscheinlicher ist die
erste Möglichkeit, aber beweisen kann man sie nicht. Für
den Charakter des Speculum Perfectionis ist dieses Kapitel
aufserordentlich wichtig — stände diese Stelle nur bei Ce-
lano, wie würde auf die kurienfreundliche Tendenz des Ver-
fassers hingewiesen werden! Es ist die beste Verteidigung
Celanos, dafs im Speculum Perfectionis genau dasselbe steht;
wer die Erzählungen des Speculum Perfectionis auf den ver-
trauten Jüngerkreis zurückführt, wird infolgedessen diesem
keine allzu erbitterte Rolle gegenüber der Kurie zuschreiben
dürfen.
Kapitel 79 wird als auf Leo zurückgehend beglaubigt
durch die im übrigen gleiche Erzählung bei Thomas von
Eccleston ^ Dafs das Kapitel aus Eccleston gescluipft sei,
ist nicht anzunehmen, denn nirgends sonst ist im Speculum
Perfectionis eine Benutzung Ecclestons nachweisbar. Gab
sich etwa sonst nur keine Gelegenheit, da Ecclestons Er-
zählung sich bei ihrem Gegenstand mit dem Speculum Per-
fectionis nicht öfter berühren konnte? Gemeinsame Vor-
lage ist in diesem Fall das wahrscheinlichere, und da der
Wortlaut im wesentlichen übereinstimmt, so ist eine Auf-
zeichnung Leos als Quelle anzunehmen, da das Zeugnis Leos
an anderer Stelle bei Eccleston als Quelle feststeht (vgl.
oben S. G5).
Kapitel 80 berührt sich eng mit 2. Celano 111, IIG, wo
jedoch der einleitende Absatz des Speculum Perfectionis
fehlt. Im übrigen schwankt der Text mit Erweiterungen
und Verkürzungen hin und her; einmal macht das Speculum
Perfectionis, das andere Mal Celano mehr oder auch weniger
Worte — im ganzen ist das Speculum Perfectionis etwas
bi'citer, so dafs man sagen könnte, Celano suchte seine
eventuelle Vorlage etwas zu kürzen. Aber natürlich ist das
auch hier kein zwingender Schlufs '^.
1) Vgl. Sabatier, Spcc. Porf., S. 152 Aiiin. 1.
2) Sabatier, Spec. Pcrf., S. 157 Anm. 1 spiicbt Celano pejrenüber
von „quelques legeres suppressions". Aber es wird nicht zu beweisen
200 GOETZ,
Das umfangreiche Kapitel 81 findet sich bei 2. Celano
III, 94 in einer weit kürzeren Form. Es handelt sich um
Worte des Herrn an Franz und um ein Selbstgespräch —
Dinge, die wohl der getreuesten Wiedergabe würdig waren,
wenn sie in authentisch erscheinender Form vorlagen. Man
kann nun das Kapitel 81 nicht lesen, ohne sich der reicher
werdenden Legendenbildung sofort bewufst zu werden. Eine
Druckseite nimmt ein, was der Herr zu Franz sagte. Wer
zeichnete das auf? Welcher Forscher wird derartiges anders
ansehen denn als Legende? Und da ist diejenige Quelle
unzweifelhaft die ältere, die mit den Worten des Herrn
noch nicht so verschwenderisch umgeht. Die Priorität Ce-
lanos mufs an dieser Stelle behauptet werden. Bis auf die
drei letzten Sätze ist der Text des Speculum Perfectionis
tatsächlich auch nichts anderes als eine rhetorische Erweite-
rung eines im Kerne gleichen Inhalts. Nur die letzten Sätze
bringen neue Nachrichten: Franz habe derartiges den Brü-
dern „in collatione verborum et in capitulis saepius" gesagt;
es folgt noch eine Bemerkung Franzens über die Leitung
des Ordens. Diese, wie mir scheint, guten Nachrichten retten
das Vorangehende nicht; aber sie zeigen, dafs es sich eben
um eine Überarbeitung handelt, bei der alte und überarbeitete
Bestandteile nebeneinander stehen. Bei Celano findet sich
die ursprüngliche Vorlage in einer reineren, wenn auch viel-
leicht (betr. Franzens Anreden auf den Kapiteln usw.) ge-
kürzten Form; das Speculum Perfectionis ist die volle Ent-
wicklung der Urvorlage zum Legendarischen, aber mit Be-
wahrung ihrer sämtlichen Bestandteile.
Kapitel 82 beginnt mit einer Lobpreisung der Portiuncula
und gibt dann Bestimmungen Franzens gegen den Müfsig-
gang und gegen müfsige Worte. Die Vita secunda III, 96
hat in gedrängter Kürze nur Bestimmungen „contra verba
otiosa ". Dafs bei Celano die Lobpreisung der Portiuncula
und die Empfehlung der Arbeit gegen den Müfsiggang fehlt,
ist durchaus berechtigt: beides hat Celano an anderer Stelle
sein, dafs Celano irgend etwas von Bedeutung unterdrückt habe; bei
ihm stellt Franz genau so strenge Anforderungen an den Generalminister
wie im Spec. Perf.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 201
vorgebracht. 'Aber die Straf bestimmungen gegen müfsige
Worte sind im Speculum Perfectionis allem Anscheine nach
original — wer hätte später darauf kommen sollen, als Strafe
neben dem Pater noster auch das Aufsagen der Laudes Do-
mini zu verlangen? Wenn auch dieses Kapitel überarbeitet
sein mag — wofür der andere Eingang im Codex Vatic. 4354
spricht — , so liegt ihm doch gute alte Überlieferung zugrunde.
Kapitel 83 entspricht fast wörthch 1. Celano II, 7, nur
dafs der Text im Speculum Perfectionis noch etwas erweitert
ist. Es kann nicht strittig sein, dafs dieses Kapitel aus
1. Celano übernommen ist und keine weitere Beachtung
verdient ^
Dafs Kapitel 84 — gereimte Hexameter zum Lob der
Portiuncula — ein Zusatz späterer Zeiten sein mufs, wird
ebensowenig zu bestreiten sein ^.
In Kapitel 85 beschreibt Franz den vollkommenen Minder-
bruder und nennt verschiedene von den ältesten Brüdern als
Beispiele der Vollkommenheit, unter ihnen auch um seiner
simplicitas und puritas willen den Bruder Leo, „qui vere
fuit sanctissimae puritatis". Das Kapitel ist eine weitere
Ausführung desjenigen, was 1. Celano II, 6 ohne Namens-
nennung über die Vortrefflichkeit des engeren Jüngerkreises
gesagt ist. — Die namentliche Aufzählung dieser beispiel-
gebenden Brüder und verschiedene Ausdrücke, die in eine
zurückliegende Zeit verweisen („vita et conditiones istorum
sanctorum fratrum", „Johannes de Laudibus, qui tempore
illo" etc.) bestätigen, dafs hier eine Überarbeitung späterer
Zeit vorliegen mufs, um Leos Erwähnung willen wohl erst
nach seiner Zeit (gest. 1271)^. Ob auch hier aufser der
Anlehnung an 1. Celano andere Bestandteile zugrunde liegen V
Sabatier hat darauf hingewiesen, dafs der in diesem Kapitel
genannte Bruder Johannes de Laudibus von Salimbene als
1) Vgl. den Nachweis bei Tilemanu S. 31 f. und Barbi, Bull.
d. Soc. Dant. VII, S. 89.
2) Vgl. Eubel, Röin. QuSchr. XII (1898), S. 32G; P. Alenyon,
Mise. Franc. VII, S. 55.
3) Eine etwas andere Lesart dieses Kapitels aus einer floreut.
Handschrift erwähnt Barbi, Bull. d. Soc. Dant. VII, S. 97 Anm. 3.
202 GOETZ,
Anhänger des Elias und als Quäler der Brüder geschildert
wird ^; sein Name würde also wie der des Elias später wohl
absichtlicher Vergessenheit anheimgefallen sein. Sabatier hat
geschlossen, dafs um dieser Erwähnung willen das Kapitel
überhaupt in die allerfrüheste Zeit gehöre. Dem stehen die
vorher genannten Gründe entgegen; je höher man den Text
hinaufrücken will, um so stärker werden diese Gegengründe.
Eher könnte man sagen, dafs diese Worte über Johannes
de Laudibus erst in einer Zeit entstanden seien, wo die Er-
innerung an ihn tatsächlich völlig verblafst war, so dafs man
seinen Namen arglos aufnahm. Dann müfsten aber immer-
hin alte Aufzeichnungen zugrunde gelegen haben. Das Ka-
pitel zeigt, dafs auch da, wo das meiste für eine spätere
Zeit spricht, nicht alle Bedenken für und wider gelöst wer-
den können.
Kapitel 86 unterscheidet sich von 2. Celano III, 56 nur
durch andere Eingangsworte und einen andern Schlufs.
Hinsichtlich des Eingangs ist Celano gerechtfertigt, denn er
hat im vorangehenden Kapitel bereits im allgemeinen von
derselben Frage gesprochen. Der Schlufs des Speculum-
Kapitels ist bei Celano im nächsten Kapitel verarbeitet; die-
selbe Wendung („Quis non deberet timere respicere spon-
sam Christi?") steht da mitten in einem andern Beispiele.
Hat der Kompilator des Speculum Perfectionis nur diese
Wendung, die Quintessenz der Erzählung Celanos, noch her-
ausgegriffen, oder hat Celano aus diesen Schlufsworten des
Speculum Perfectionis eine neue Erzählung gemacht? Der
erste Fall scheint mir der wahrscheinlichere. Denn einmal
ist diese Möglichkeit bei Quellenabhängigkeit die näher
liegende; zweitens ist der Schlufssatz des Speculum Perfec-
tionis (beginnend mit „Dicebat ergo") etwas unverbunden
an die vorangehende Erzählung angehängt, und drittens bietet
eine Stelle des Textes ein weiteres Zeichen der Priorität Ce-
lanos. Es heifst nämlich im Speculum Perfectionis bei der
Antwort des Boten: „,Optime, inquit, mihi videtur, quia
libenter et patienter audivit.' Iste respondit sagaciter." Ce-
1) Sabatier, Spec. Perf., S. 1G9 Anm. 1.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 203
lano sagt: „Optime quidera; quoniam silenter audivit, re-
spondit sagaciter." Es kann nun kein Zweifel sein, dafs der
Text Celanos der richtige, der des Speculum Perfectionis
(der sich in allen Handschriften ebenso findet) der unrich-
tige, der die Vorlage mifsverstehende ist ; denn darauf kommt
es gerade an, dafs dieser Bote nicht sagaciter antwortet.
Ich kann deshalb diesem Kapitel keine Priorität zugestehen —
Celano kann nicht danach gearbeitet haben ^
Kapitel 87 steht für sich. Der ganze erste Teil, die
Klage der Jünger um den möglichen Verlust des Führers,
ist von einer Rhetorik, dafs Celano es nicht besser gemacht
haben könnte. Die naive Einfachheit des Stils, die man
vom Speculum Perfectionis gerühmt hat, versagt hier ganz.
Das Kapitel ist eine ausführlichere Wiedergabe desjenigen,
was 1. Celano II, 8 (=: n. 109) erzählt hat. Aber es
kommen neue Elemente hinzu: Bruder Benedikt von Pirato
mufs den Segen des Sterbenden aufzeichnen ; Elias, auf den
bei Celano deutlich hingewiesen ist, verschwindet hier ganz.
Der Inhalt des Segens wird ausführlicher gegeben als bei
Celano Ein eigentlicher Widerspruch gegenüber Celano be-
steht aber nicht. Dafs EHas verschwiegen wurde, hat seinen
guten Grund — von ihm sollte später nichts Kühmliches
mehr gesagt werden; dafs Bruder Benedikt den Segen auf-
zeichnete, ist eine annehmbare Ergänzung zu Celano,
ebenso wie der Inhalt des Segens neben der Fassung Ce-
lanos als Ergänzung zu Recht bestehen kann, denn aus den
mancherlei Abschiedsworten, die Franz vor seinem Tode ge-
sprochen haben wird, konnte die Überlieferung schöpfen —
das zeigen die kleinen Unterschiede in der Schilderung der
Vita prima II, 8 und der Vita secunda III, 189, die eben-
falls Ergänzungen bietet. Das Speculum Perlectionis be-
ansprucht den authentischen, weil sogleich aufgezeichneten
Text der benedictio zu haben; es fehlt in ihr die Sünden-
vergebung, die Franz in der Vita prima für alle Brüder
ausspricht; es fehlt die Erwähnung der patientia und des
Evangeliums, von denen in der Vita secunda die Rede ist.
1) Ebenso entscheidet sich Minocchi, Niiovi Stiidi, S. 114.
204 . GOETZ,
Dafs man in jenen Zeiten ein geringeres Mafs von Gewissen-
haftigkeit bei der Weitergabe „ authentischer " Worte besafs,
gibt uns von Anfang an eine gewisse Zurückhaltung gegen-
über solchen auf Authentizität pochenden Berichten ; was
aber für die Fassung des Speculura Perfectionis einnimmt,
ist sowohl die Erwähnung des Benedikt von Pirato * wie
die Ermahnung am Schlufs, dafs die Brüder „semper prae-
latis et clericis sanctae matris ecclesiae fideles et subditi
existant". Zu dieser Ermahnung hätten sich spiritualistische
Kompilatoren aus freien Stücken wohl kaum entschlossen.
Auch das Ende des Kapitels nimmt für seine Echtheit ein:
es berichtet, wie Franz am Schlufs der Generalkapitel die
Brüder zu segnen pflegte. Bedenkt man diese annehmbaren
Züge des Inhalts und daneben die Rhetorik des Anfangs
wie die Abweichungen von Celano, ebenso die verschiedenen
handschriftlichen Lesarten ^, so wird man auch hier zu dem
Schlüsse neigen, in der Erzählung des Speculum Perfectionis
eine Überarbeitung alter Überlieferung zu sehen.
Gegen Kapitel 88 erheben sich dann freilich gewichtige
Bedenken. Denn es berichtet von neuem die benedictio.
Entweder hätte also Franz die Brüder vor seinem Tode
wiederholt gesegnet — dann würden die Abweichungen des
87. Kapitels von dem Bericht Celanos vollkommen gerecht-
fertigt sein — , oder es ist bei der Kompilation zusammen-
gestellt worden, was an verschiedenen Berichten über Franzens
letzte Lebenstage vorlag. Nun klingen zwei Stellen dieses
Kapitels so stark wörtlich an 2. Celano III, 139 an („fecit
vocari omnes fratres existentes in loco" und „jussit appor-
tari sibi panes" etc.), dafs dieses ganze Kapitel wie eine
weitere Ausführung des bei Celano kurz Zusammengefafsten
erscheint. Diese weitere Ausführung könnte trotzdem selb-
ständig sein oder auf gemeinsame Vorlage zurückgehen, wenn
es eben nicht mit dem Inhalt von Kapitel 87 koüidierte.
Ich kann ihm deshalb keine Originalität beilegen.
1) Lemmens, Doc. ant. II, S. 65 hat die Lesart Prato statt
Pirato.
2) Vgl. Sabatier, Spec. Perf., S. 177 Anm. 1.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 205
Kapitel 89 kann auf alte Überlieferung zurückgehen;
mehr ist darüber nicht zu sagen ^
Kapitel 90, wie das vorangehende ohne Beziehung zu
Celano, berichtet von den letzten Kundgebungen Franzens
für die Klarissen: ein für sie verfafstes Gedicht cum cantu
wird erwähnt, ein Schreiben wird in seinem Inhalt angegeben.
Diese Inhaltsangabe zwingt zu dem Schlüsse, dafs der Be-
richterstatter direkt oder indirekt an das Original angeknüpft
hat, wie auch die Erwähnung des Liedes auf gute Quellen
schliefsen läfst. Die Authentizität dieses Kapitels erscheint
deshalb gesichert.
Auch Kapitel 91 hat kein Gegenstück in der übrigen
Überlieferung; leise Anklänge an 1. Celano II, 4 und 5 sind
vorhanden, ohne irgendwelche Gegensätze — nur dafs im
Speculum Perfectionis der Beginn des Augenleidens genauer
bezeichnet wird. Das Kapitel enthält nichts, was zu einer
Verwerfung Anlafs gibt; aber Fortbildung der Überheferung
mag in den Worten des Kardinals vorliegen.
Kapitel 92 ist die breitere Ausführung der Szene, die bei
2. Celano I, 6 in zwei Zeilen angedeutet ist. Das Speculum
Perfectionis fügt am Schlüsse hinzu: „Hunc virum noviraus
et ab ipso hoc intelleximus, qui etiam fecit multam consola-
tionem et misericordiam b. Francisco et nobis sociis eins."
Das Berichtete ist derart harmlos und frei von Tendenz,
dafs eine solche Beglaubigung in keiner Weise notwendig
war — eben deshalb erscheint sie glaubwürdig. Das Ka-
pitel gehört zu denen, wo man ohne Bedenken an alten
Ursprung glauben und sagen kann, dafs es wohl in der-
selben Form für Celano die Vorlage gewesen ist.
Kapitel 93 steht in stark wörtlicher Übereinstimmung
mit 2. Celano III, 67. Aber hier hat Celano einmal das
Zeugnis der Autopsie: „ut oculis vidimus" ist der Beschrei-
bung eingefügt. Ist damit die Priorität Celanos erwiesen?
Dieser Schlufs liegt nahe; dann ergibt sich aber auch, dafs
der Verfasser oder Kompilator des Speculum Perfectionis, der
1) Miiiocchi, Nuovi Studi, S. 114 bält die Priorität CelauoB
für gcwifs.
206 GOETZ,
von Augenzeugen nichts erwähnt, nicht darauf ausging, so
viel als möglich mit Autopsie zu prunken und das geistige
Eigentum anderer Leute für sich in Anspruch zu nehmen.
Er schrieb, wie die kleinen Abweichungen im Wortlaut
zeigen, seine Vorlage auch nicht schlechtweg aus. Das Vor-
handensein von Aufzeichnungen der Augenzeugen, von denen
sowohl Celano (der in diesem Falle mit andern Brüdern
Augenzeuge gewesen sein konnte) wie das Speculum Per-
fectionis ausging, bleibt daneben aber ebenfalls möghch ^.
Bei Kapitel 94 und 95, die sich mit 2. Celano III, 39
und 65 berühren, läfst sich nichts feststellen ^.
Kapitel 96 ist weit umfangreicher als 2. Celano III, 68,
und man könnte an eine blofse Erweiterung des von Celano
Gegebenen denken, wenn nicht in der Anordnung, im Wort-
laut und im Inhalt starke Verschiedenheiten vorhanden
wären. Die wichtigste der sachlichen Abweichungen ist, dafs
Celano eine Aufzeichnung zitiert , die Franz „ pro generali
commonitione in quodam capitulo scribi fecit", während das
Speculum Perfectionis ein anderes Zitat bringt mit dem Zu-
satz: „unde in quadam sua admonitione clarius expressit"
etc. Es ist früher (S. 42 f) bereits von diesen Zitaten die
Hede gewesen. Für das Verhältnis des Speculum Perfec-
tionis zur Vita secunda ergibt sich aus dieser Verschieden-
heit, dafs auch hier keine direkte Benutzung stattgefunden
haben kann; ein gleichartiger Kern hat sich in beiden Quellen
auf verschiedene Weise weiter entwickelt. Das Speculum
Perfectionis mag in diesem Falle stärker überarbeitet sein
als die Vita secunda; aber es behält seinen Wert neben
dieser.
Kapitel 97 spricht von Franzens Anschauung über das
Verhältnis der Brüder zu ihrem Körper: er warnt vor zu
starker Askese. 2. Celano III, 69 gibt mit fast ganz ab-
weichendem Wortlaut denselben Inhalt, aber es wird noch
hinzugefügt, dafs Franz für sich selber diesen Anschauungen
1) Miuocclii, Nuovi Studi, S. 114 schliefst, weil Celano sich als
Augenzeuge bekenne, müsse er die Priorität haben.
2) Das Spec. Perf. widmet Franzens Stellung zum Gebet ein Ka-
pitel, die Vita sec. sechs.
V
i
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 207
zuwider handelte. Die Abweichung im Wortlaut berechtigt
auch hier zu dem Schlufs, dafs eine geraeinsame Vorlage
überarbeitet worden ist.
Von Kapitel 98 ist im Vergleich mit 2. Celano III, 10
nichts Entscheidendes zu sagen; die etwas genauere Orts-
bestimmung im Speculum Perfectionis („in eremitorio Greccii
in cella ultima post cellam maiorem") klingt allerdings, als
ob ein Augenzeuge die Worte geschrieben hätte.
Bei Kapitel 99 ist die Ortsbestimmung am Anfang Avohl
auf die Ungeschicklichkeit eines Kompilators zurückzuführen ;
2. Celano III, 58 verlegt richtiger nur die Vision nach der
Portiuncula. Dagegen kann die Erzählung am Schlüsse des
Kapitels (Anfechtungen auf dem Alverno), von der Celano
nichts weifs, als gute Überlieferung angesehen werden, so
dafs es sich auch hier um Überarbeitung alter Bestände
handeln würde.
Kapitel 100 weicht von der verwandten Erzählung bei
2. Celano III, 138 vor allem dadurch ab, dafs der ganze lokale
Hintergrund und ebenso der ausführlichere Bericht über die
Entstehung des Sonnengesangs bei Celano fehlt. Sabatier
hat darin die verblassende Entwicklung der Legende fest-
zustellen versucht; aber wer bürgt uns dafür, dafs nicht ge-
rade in diesen Erweiterungen des Speculum Perfectionis
die Entwicklung der Legende liegt? Es spricht wohl
manches in diesem Kapitel für das Alter dieser Nachrichten
(die Mäuseplage, der Wunsch nach Fra Pacifico, der Wunsch,
dafs nach der Predigt die Brüder „tanquam joculatores Do-
mini" die Laudes singen); aber es ist kein strikter Beweis
damit zu führen, und eine gewisse Zurückhaltung gegenüber
diesem Kapitel ist gerechtfertigt '. JedenfalKs mufs man nach
1) Man veifflficlic für die Übeilicferimgsgoscliiclite, dafs der Cod.
Vatic. 4354 den Anfang mit S. Damiano und der Mäuseplage nicht
kennt und dafs die Actus b. Francisci et sociorura eins in anderem Zu-
sammcnliang die erste Hälfte dieses Speciilum-Ka])itels haben (Kaj). 21,
in der Ausgabe Sabatiers S. 71 f.); ferner dafs der Codex von Spello
mit seinen vier Tagen der Blindheit ein fiüheres Stadium der Über-
lieferung zu i^ein scheint wie di(> Handschriften des Öpec. Perf. mit
ihren 40 und das Spccuhim Vitae mit 50 (s. Sabatiers Anmerkungen
208 GOETZ,
allen bisherigen Erfahrungen abweisen, dafs Celano dieses
Kapitel des Speculum Perfectionis nach seinem Beheben zu-
gestutzt habe; eher begründet ist die Annahme, dafs seine
Vorlage ihm nicht alles dasjenige bot, was das Speculum
Perfectionis enthält.
Kapitel 101 steht wiederum für sich allein; am Schlüsse
bringt es die Beglaubigung „Nos qui cum b. Francisco fui-
mus" etc. In der Erzählung selber (Versöhnimg des Bischofs
mit dem Podesta von Assisi während der letzten Krankheit
Franzens) liegt nichts, was Celano veranlassen konnte, sie
wegzulassen, wenn er sie gekannt hätte. Anderseits hat die
Erzählung nichts Unglaubwürdiges an sich, so dafs man in
ihr gute Überlieferung sehen kann.
Kapitel 102 bietet im Vergleich zu 2. Celano II, 1 einige
Kriterien: Celano spricht richtig vom vicarius sancti, das
Speculum Perfectionis vom generalis minister, und das Spe-
culum Perfectionis spinnt aufserdem die Erzählung mit einer
neuen Szene weiter. Dagegen freilich klingt am Schlüsse
des Speculum-Kapitels der Augenzeuge durch („valde mirati
fuimus" etc.). Die Wahrscheinlichkeit einer Überarbeitung
des Urtextes liegt vor.
Kapitel 103 ist breiter als 2. Celano II, 9, der nur die
Worte Franzens etwas umfangreicher gibt. Celano macht
mit seinen Kürzungen hier den Eindruck eines Auszugs aus
dem Texte des Speculum Perfectionis oder besser der ge-
meinsamen Vorlage. Im Speculum Perfectionis heifst es, dafs
Franz damals krank im Bischofspalaste von Assisi lag; das
ist eine jener Mitteilungen, die man als Zeichen gut be-
glaubigter Überlieferung ansehen wird. Derartiges zu er-
finden lag später doch kein Grund vor.
Kapitel 104 hat am Schlüsse ein „Nos vero qui fuimus
cum illo" etc. Trotzdem wird man bei diesem Kapitel das
Mifstrauen nicht los. Celano hat dieses Wunder (ein be-
raubter Weinberg bringt 20 Salmen Wein) nicht; der Cod.
zu Kap. 100). Übrigens bringt auch 2, Gel. III, 138 in den Worten:
„ Has . . . angustias non poeuarum censebat nomine , sed sororum " ein
„echt franziskanisches" Moment, das im vorliegenden Kapitel des Spec
Perf. fehlt.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 209
Vatic. 4354 des Speculum Perfectionis hat eine andere Les-
art, die mit derjenigen der Actus b. Francisci et soeiorum
eius Kapitel 21 zusammenfallt — sie ist zum Teil kürzer,
zum Teil länger als die hier in Frage kommende. Es liegt
nun — abgesehen von der Schlufswendung („ Nos vero" etc.) —
nicht der geringste Anlafs vor, dieser Fassung den Vorzug als
der älteren zu geben. Im Gegenteil, sie hat ihre sichtbaren
Mängel. Sie sagt, dafs Franz „apud ecclesiam S. Fabiani"
bei Reate geblieben sei „propter infirmitatem oculorum".
Aber in Kapitel 115 wird berichtet, dafs Franz aus diesem
Anlafs im Eremitorium Fontis Columbarum bei Reate ge-
weilt habe, vom Kardinal von Ostia zu einer Augenkur ge-
zwungen. Damit stimmt die Lesart des Codex Vaticanus
und der Actus besser überein : sie berichtet ebenso von dem
freundschaftlichem Befehl des Kardinals und läfst Franz in
S. Fabiane nur deshalb Aufenthalt nehmen, weil das neu-
gierige, drängende Volk ihn zunächst hindert, Rieti zu er-
reichen — aber von mehr als einem vorübergehenden Auf-
enthalt will diese Lesart allem Anschein nach nicht berichten.
Ferner ist die beglaubigende Schlufswendung fast dieselbe
wie bei Kapitel 101 — ein Umstand, der daran gemahnt,
dafs die Möglichkeit mechanischer Wiederholung dieser wich-
tigen Worte vorliegt; man wird dadurch in diesem Falle
allerdings mehr auf einen Kompilator als auf einen Ver-
trauten des Heiligen hingewiesen.
Bei Kapitel 105 lassen sich aus dem Vergleich mit 2. Ce-
lano 11, 6 einige Folgerungen ziehen. Die beiden Berichte
weichen voneinander in mehreren Einzelheiten ab; die Er-
wähnung einer Vision am Anfang des Celanoberichtes läfst
diesen in der Legendenbildung weiter fortgeschritten er-
scheinen als das Kapitel des Speculum Perfectionis; auch
die Nachricht, dafs die Adligen von der Kirche unterstützt
wurden, nimmt ebenso wie die Worte „quoniam iste est
Assisinatus" für den Bericht des Speculum Perfectionis ein,
als ob er ein ursprünglicheres Stadium der Überlieferung
bedeute.
Bei Kapitel lOG (= 2. Celano III, 64) ist nichts fest-
zustellen.
14
210 GOETZ,
Kapitel 107 birgt gegenüber 2. Celano II, 17 ein stark
legendarisches Element. Celano erzählt eine „Prophezeiung"
Franzens über Bernhard von Quintavalle, die nichts Wunder-
bares an sich hat, sondern nur auf scharfer Menschenkennt-
nis, wie Franz sie besafs, beruht. Was ist daraus im Spe-
culum Perfectionis geworden ! Da beginnt die Erzählung
gleich mit einem Irrtum, indem Bernhard der erste Jünger
Franzens genannt wird (Celano sagt hier richtig: der zweite,
während er ihn an anderer Stelle ebenfalls einmal den ersten
nennt, vgl. oben S. 116) und Agidius der dritte, während
er tatsächlich (nach 1. Celano I, 10) der vierte war; ferner
ist die Erzählung hier so mit Einzelheiten zugunsten Bern-
hards ausgesponnen, dafs die Annahme einer Legenden-
bildung sich aufdrängt. Die Erzählung stimmt zum gröfsteu
Teil fast wörtlich mit der Vita fr. Bernardi überein ^ ; eine
verwandte Lesart bringen die Actus b. Francisci et sociorum
eius Kapitel 5. Es ist nun schwerlich zu beweisen, dafs im
Speculum Perfectionis der älteste und authentische Bericht
vorliege, aus dem die andern geschöpft seien; Celano, der
mit einer Aufserung in der Vita Aegidii benutzt ist („Vere
usque modo non fuit cognitus homo iste"), kann ebenso-
wenig als ein Auszug aus diesen umfangreicheren Berichten
nachgewiesen werden. Will man Celano deshalb als den
späteren ansehen, weil er von Wundern spricht, die bei
Bei'nhards Tod geschehen seien, während das Speculum Per-
fectionis nichts davon weifs, so wird dieses Argument zum
mindesten aufgehoben durch den Ii-rtum, den das Speculum
Perfectionis hinsichthch der Reihenfolge der ersten Jünger
begeht. Da die Erzählung des Speculum Perfectionis in
jedem Falle nach 1241, wo Bernhard gestorben sein soll,
liegt, so ist der zeitliche Unterschied zwischen ihr und der
Vita secunda selbst im günstigsten Falle gering. Es ist wahr-
scheinlich, dafs dieses Kapitel in eine spätere Zeit gehört ^.
1) Anal. Franc. III, S, 42, 40 und 44 f.
2) Celano schliefst mit den Worten: „Hujus Bernardi laudes aliis
narrandas reliuquimus." Danach scheint eine Vita Bernardi damals
noch nicht vorhanden, wohl aber geplant gewesen zu sein. Diese wird
dann die Legende zuerst ausführlich fixiert haben.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 211
Kapitel 108 ist in seinem zweiten Teile („Factum est
autem" etc.) wohl unzweifelhaft auf Grund von 1. Celano
II, lU entstanden, wie die starken Anklänge im Wortlaut
zeigen. Ein Umstand bestätigt dies noch mehr: bei Celano
bleibt man im Unklaren, ob die h. Klara und ihre Schwestern
die Klausur verliefseu und an den in die Kirche gebrachten
Leichnam herantraten; das Speculum Perfectionis erklärt es
deutlicher, indem es den Leichnam an das geöffnete Fenster
gehoben werden läfst. Es macht den Eindruck , als habe
der spätere Schriftsteller damit eine Unklarheit des früheren
beseitigen wollen. Der erste Teil des Kapitels gibt einen
Hinweis auf seine Entstehungszeit; es ist darin nur von der
„domina Clara", nicht von der sancta oder beata Clara die
Rede, so dafs man mit Öabatier an einen Zeitpunkt vor der
Heiligsprechung Klaras (1255) denken mufs.
Bei Kapitel 109, 110 und 111 ist nichts festzustellen.
Kapitel 112 berichtet von dem Besuch der Jakoba de
Septemsoliis an Franzens Sterbebett. Dasselbe Ereignis wird
erzählt in dem Tractatus de Miraculis ^, der als Anhang der
Vita secunda angesehen und dem Thomas von Celano zu-
geschrieben wird (s. unten S. 235), ferner bei Bernhard von
Bessa ^ und in den Actus b. Francisci et sociorum eins ^.
Es ist nicht möglich, diese Berichte auf eine Vorlage zu-
rückzuführen; die Unterschiede sind zu grofs. Nur Bern-
hards von Bessa kurzgefafste Angaben scheinen ein Auszug
aus dem um etwa zwei Jahrzehnte früher liegenden Trac-
tatus de Äliraculis zu sein *. Der Text der Actus ist in
seinem ersten Teil so breit, dafs er später entstanden sein
wird als Speculum Perfectionis und Tractatus: das aus-
gedehnte Zwiegespräch zwischen Franz und dem Bruder,
1) Anal. Uoll. XVIII, S. 128 f.
2) Anal. Franc. III, S. 687.
3) In der Ausj^abe Sabatiers S. G2f. Danach italienisch in den
Fioretti (ed. Manzoni S. 210f.) und lateinisch im Speculum Vitao.
4) Während sich Bernhards Bericht mit dem des Spec. Perf. in
keiner Hinsicht berührt, klingt er in den Worten „frater Jacoba'',
„equorum et famuloruni strepitus" und in Franzens Prophezeiung über
den Tag seines Todes stark an den Tractatus an.
212 GOETZ,
der Wortlaut des Briefes an Jakoba, das Aufhören im
Schreiben, weil Franz die Ankunft der Jakoba plötzlich
ahnte, die Erwähnung von zwei Söhnen der Jakoba, Se-
natoren und Vornehmen ihres Gefolges — das sind deut-
Hche Züge der zunehmenden Legendenbildung ^ Es bleiben
als ältere Berichte nur der des Speculum Perfectionis und
des Tractatus übrig. Sie weichen so stark voneinander ab,
ein jeder hat so selbständige Elemente, dafs Abhängigkeit
in keinem Falle, Priorität des einen vor dem andern mit
Sicherheit nicht zu behaupten ist ^. So spricht zugunsten
des Tractatus, dafs nur in ihm Jakoba „frater" genannt,
dafs der Sohn der Jakoba als Zeuge aufgeführt und dafs in
ihm nicht so viel direkte Rede gegeben wird. Zugunsten
des Speculum Perfectionis dagegen spricht, dafs hier Franz
keine Prophezeiung über seinen Todestag äufsert, dafs die
Ankunft der Jakoba Franz gemeldet wird, ohne dafs er mit
seinem Wissen dem meldenden Bruder zuvorkommt, und dafs
die Entdeckung der Stigmen durch Jakoba fehlt. So viel
ist immerhin sicher: ein Stück Legendenbildung steckt be-
reits in beiden Berichten. Sie entstammen verschiedenen
Überlieferungskreisen — klingt doch auch da, wo sie inhalt-
lich gleiches erzählen, der Wortlaut in keiner Weise an-
einander an. Ist der Bericht des Tractatus um die Mitte
des 13. Jahrhunderts entstanden, so kann auch der des Spe-
1) Am Schlüsse dieser Erzählung bringen die Actus die Nachricht,
dafs Jakoba später nach Assisi übergesiedelt und dort gestorben sei.
Die Nachricht ist richtig (Sabatier, Spec. Perf. , S. 275f.) und zeigt,
dafs auch in der späten Überlieferung immer noch einige neue und
richtige Züge auftreten können. — Dafs etwa ein originaler Brief Fran-
zens an Jakoba Anlafs zur Entstehung dieser ganzen Erzählung ge-
wesen sei, ist natürlich ausgeschlossen, denn der Brief beruht ja erst
auf der Legendenbildung, dafs Jakoba genau die Gegenstände mit sich
gebracht habe, die Franz in seinem Briefe begehrte. Der geschichtliche
Kern der Legende ist unschwer herauszuschälen. Übrigens ist der
Brief in der Überlieferung dann noch über den Text der Actus hinaus
dadurch verbessert worden, dafs anstatt des „nahen" Todestages ein
ganz bestimmter Tag eingesetzt wurde.
2) Trotz M i n 0 c c h i , Nuovi Studi, S. 95, der für seme abweichende
Meinung doch keine Beweise geben kann.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 213
culum Perfectionis in dieser Zeit oder — um der fehlenden
Prophezeiung willen — noch etwas früher entstanden sein;
aber dafs ihm irgendwelche Authentizität vor dem des Trac-
tatus zukomme, ist jedenfalls nicht zu begründen ^.
Kapitel 113 ist selbständig und als alte ÜberHeferung
einwandfrei. Nur der Schlufsabsatz (Erzählung von den
Lerchen, die bei Franzens Tod das Haus umfliegen) berührt
sich mit Bonaventura (c. XIV, 6 = n. 214). Es ist hier so
wenig wie oben bei Kapitel 61 sicher festzustellen, dafs Bona-
ventura diese Stelle benutzt habe oder umgekehrt; der
schwache Anklang im Wortlaut (super tectum domus rotam
faciebant und rotantes) kann ebensowohl von einer gemein-
samen Vorlage herrühren. Sollte das Speculum Perfectionis
hier aus Bonaventura geschöpft haben, so bliebe doch der
gröfsere Teil des Kapitels als selbständig und brauchbar
übrig.
Kapitel 114 beginnt mit der Versicherung: „Nos qui
fuimus cum b. Francisco et scripsimus haec, testiraonium
perhiberaus quod multoties audivimus eum dicentem " etc.
Der Inhalt dieses Kapitels steht kurz zusammengedrängt bei
2. Celano III, 128 und scheint ein Auszug aus dem im Spe-
culum Perfectionis überlieferten Text zu sein, wenn anders
man den Eingangsworten „Nos qui fuimus" nicht ihre Be-
deutung nehmen will.
Auch in Kapitel 115 wird das Alter des Textes durch
ein „Nos vero qui cum ipso eramus tunc fugimus omnes"
gestützt, und zwar steht hier einmal die Beglaubigung bei
einem konkreten Falle: es handelt sich nicht, wie sonst zu-
meist, um ein allgemeines Wissen und Beglaubigen, sondern
der Verfasser will bei der Augenoperation in Kieti dabei
gewesen sein. Da.s Kapitel ist auch sonst in mehreren
Einzelheiten dem ähnlichen in 2. Celano III, 102 überlegen
(Angabe des Ortes, Erwähnung des Elias, Beschreibung der
Operation mit dem Zusatz, dafs sie doch nichts nützte) —
auch hier drängt es sich einigermafsen auf, in Celano einen
Auszug zu sehen. Aber da EHas zweimal im Texte des
1) Vgl. van Ortroy, Anal. Boll. XVIII, S. 100.
2 1 4 GOETZ,
Speculum Perfectionis generalis minister genannt wird, so
wird auch hier die alte Vorlage, aus der Celano schöpfte,
für das Speculum Perfectionis etwas überarbeitet worden sein.
Kapitel 116 und 117 berichten, ohne dafs sich ähnliches
bei Celano oder sonst fände, Züge aus dem Leben des Hei-
ligen, die in ihrer Naivität auf volle Glaubwürdigkeit An-
spruch machen. Ebenso Kapitel 118, das sich mit 2. Ce-
lano in, 101 berührt und im zweiten Teil wieder die Augen-
zeugen anruft. Aber Celano ist hier reichhaltiger, und der
Schlafs des Speculum- Kapitels ruft Bedenken auf: da wird
von neuem die Entstehung der Landes de creaturis erzählt!
Nach Kapitel 100 fiel diese Entstehung zwei Jahre vor
Franzens Tode; hier wird sie „parum ante obitum suum" an-
gesetzt, während in Kapitel 119 wieder auf den in Kapitel 100
beschriebenen Vorgang als Entstehungsursache hingewiesen
wird („quando Dominus . . . certificavit eum de regno suo").
So berichtet auch 2. Celano III, 139, dafs Franz auf dem
Sterbebette mit den Brüdern die Dichtung wiederholt habe,
die er „olim composuerat". Da in Kapitel 118 und 119
der Inhalt der Laudes kurz angedeutet wird, so kann es
sich nicht gut um verschiedene Dichtungen handeln. Die
Hand des Kompilators bleibt in diesem Widerspruch sicht-
bar, und in Kapitel 118 scheint der Text der Vorlage we-
niger treu bewahrt zu sein als in den beiden vorangehenden.
Von Kapitel 119, das wiederum selbständig ist, läfst sich
nichts aussagen, als dafs es gute Überlieferung sein kann.
Kapitel 120 bietet einen Text des Sonnengesangs (vgl.
oben S. 51 f). Es ist soeben auf den Widerspruch hin-
gewiesen worden, den Kapitel 118 über seine Entstehungs-
zeit berichtet. Was jedoch den Inhalt belangt, so stimmen
Kapitel 100, 101, 118 und 119 überein, und nach diesen
kurzen Inhaltsangaben kann man auch sagen, dafs der vor-
liegende Text damit harmoniert und ebenso die Angabe der
Vita secunda III, 139. Die Nachrichten von Kapitel 100
gaben zu Bedenken Anlafs, ebenso die von Kapitel 118;
bei Kapitel 101 und 119 fehlt es an einer Kontrolle. Aber
selbst wenn diese Nachrichten überarbeitet sind, liegt doch
in ihnen und in Celanos Angabe etwas Gemeinsames, den
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 215
Inhalt des Sonnengesanges Stützendes. Und da es immer
wieder das Ergebnis dieser Untersuchungen gewesen ist, dafs
ein starker alter Kern in allen Nachrichten des Speculum
Perfectionis liegt, so ist die Echtheit dieses Textes der Dich-
tung im allgemeinen doch wohl sicher gestellt. Ob die von
Sabatier gegebene sprachliche Fassung die älteste ist, kann
der Historiker, wie oben bereits gesagt wurde (vgl. S. 51),
nicht entscheiden.
Kapitel 121 — 124 schildern die letzten Tage und den
Tod des Heiligen. 2. Celano HI, 139 fafst in seinem letzten
Absatz einiges zusammen, was Speculum Perfectionis c. 121
bis 123 enthält. Kapitel 121 berührt sich aufserdem mit
1. Celano H, 8, aber doch nicht so, dafs eine Abhängigkeit
angenommen werden müfste. Das Wichtigste in diesem Ka-
pitel , Elias' Bedenken gegenüber dem Gesang an Franzens
Krankenbett, ist neu. Eine verwandte Lesart steht in den
Actus b. Francisci et soc. eius Kap. 18. Ob sie oder die
des Speculum Perfectionis die ältere ist, läfst sich meines
Erachtens nicht entscheiden. Und ebensowenig kann man
aus irgendwelchen objektiven Kriterien feststellen, ob die
Vita secunda HI, 139 mit ihren kurzen Bemerkungen ein
Auszug aus den Erzählungen des Speculum Perfectionis ist
oder ob dieses eine Erweiterung der Vita secunda gibt.
Die Mitteilung in Kapitel 122, wie Franz den Arzt anredet
usw., und in Kap. 123 über die Verse, die er dem Sonnen-
gesang noch beigibt, klingen gewifs wie echte Überliefe-
rung — aber mit solchen Gefühlsmomenten ist nichts zu
beweisen, und so bleibt die Entstehungszeit dieser Kapitel
ungewifs.
Das letzte, 121. Kapitel bietet leider der Kritik sehr
viel breitere Angriffspunkte. Die verwandte Lesart der Actus
(Kap. 18) ist, wenn man auf ihre Kürze und auf ihre innere
Wahrscheinlichkeit sieht, die frühere: der lange Segen, den
der todkranke Franz im Speculum Perfectionis über Assisi
spricht, ist ganz unwahrscheinlich. Die falsche Angabe über
Franzens Lebensalter und Todesjahr ^ nehmen weiter gegen
1) Sabatier meint, das angegebene Jahr 1227 sei nach dem Cal-
216 GOETZ,
das Speculum Perfectionis ein — bei allen diesen Nach-
richten fühlt man sich nur im Zeitalter des Kompilators, im
Jahr 1318, von dem das dann noch folgende Exphcit des
Codex Ognissanti spricht. Die Rettung dieses letzten Ka-
pitels scheint mir deshalb nicht gut möglich; der geschicht-
liche Kern : die Überführung des Sterbenden zur Portiuncula
(den auch 1. Celano II, 7 am Schlufs berichtet) und der
Abschiedsgrufs an die Stadt Assisi, ist wohl noch zu er-
kennen, aber die ganze Umhüllung entstammt weit späterer
Zeit. Der Codex von Foligno enthält als Kapitel 121 nur
den ersten Absatz des von Sabatier gedruckten Kapitels,
also nur die Nachricht von der Überführung des Sterben-
den aus dem Bischofspalast zur Portiuncula.
Ergebnisse.
Gründe, die für das Alter des im Speculum Perfectionis
vorliegenden Materials sprechen, wurden der Prüfung der
einzelnen Kapitel bereits vorausgeschickt (s. oben S. 150 ff.);
das Ergebnis der Einzelprüfung sei damit zusammengehalten.
Eine statistische Zusammenstellung zeigt, dafs bei rund
50 Kapiteln sich nichts über das Alter aussagen läfst, dafs
43 zwar teilweise alte ÜberUeferung haben, aber überarbeitet
sein müssen, und dafs nur bei höchstens 32 die alte Über-
lieferung authentisch zu sein scheint ^ Bei einigen wenigen
Kapiteln — höchstens 10 (Kap. 4, 18, 24, 25, 27, 28, 29,
64, 92, 105) — war mit einer gewissen Sicherheit der Nach-
weis zu führen, dafs sie im vorliegenden Wortlaut älter sind
als Celanos Vita secunda; in andern Fällen war das um-
gekehrte Verhältnis ziemlich sicher nachweisbar (Kap. 81,
86, 88), und auch die Vita prima kam einige Male deutlich
als Vorlage in Betracht (Kap. 83, 108). Wird ein so wenig
durchsichtiges und vielfach so zweifelhaftes Ergebnis der
culus Pisanus gerechnet; aber es fehlt an Beweisen, dafs man in Assisi
danach gerechnet habe.
1) Die Berechnung Minocchis (Nuovi Studi, S. 122), dafs 80 Ka-
pitel des heutigen Spec. Perf. 1246 zusammengestellt seien, ist meines
Erachtens uDannehmbar.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 217
Einzelprüfung imstande sein, jene allgemeinen Gründe für
das Alter dieser Überlieferung zu stützen? Verstärkt sich
nicht vielmehr das Mifstrauen auch gegen diejenigen Mo-
mente, auf denen der Beweis des Altei's aufgebaut wurde ?
Bei einer Reihe von Kapiteln war es vor allem das ,,Nos
qui cum eo fuimus", das die Annahme alter Überlieferung
stützte. Mufs man ihm nicht doch die Glaubhaftigkeit be-
streiten? Es liegt, wie schon erwähnt wurde, nahe, darin
nur eine auf Täuschung berechnete Nachahmung des Jo-
hannes-Evangeliums zu sehen; es fällt auf, dafs unter den
20 Fällen, in denen es vorkommt, nur 6 sich auf direkte
Beglaubigung der erzählten Tatsachen beziehen (Kap. 6, 58,
92, 102, 114, 115), 14 dagegen in losem Zusammenhang
mit den berichteten Ereignissen lediglich allgemeine Ver-
sicherungen guten Wissens aussprechen; es lallt weiter auf,
dafs es in Kapiteln steht, die ganz sicher überarbeitet sind
(z. B. Kap. 38 und 55), und dafs Celano, wo er in der Vita
secunda dieselben Dinge berichtet, doch nur ein einziges
Mal diese Beglaubigung beifügt (III, 4) *. Ich entscheide
mich dennoch dafür, die Echtheit dieser Beglaubigung an-
zunehmen. Sollte mit diesen Worten betrogen werden, so
müfsten sie da vor allem stehen, wo die strittigen An-
schauungen der späteren Zeit in Frage kommen. Aber ge-
rade da fehlt es last immer; es steht zumeist bei Erzäh-
lungen, deren Harmlosigkeit keine tendenziöse Beglaubigung
nötig machte. Nur in 4 Fällen unter 20 kann man aus
dem Inhalt der Kapitel vermuten, dafs die Beglaubigung er-
funden sein könnte (Kap. 6, 9, 102, 104). Oder war der
Fälscher etwa so gerieben, dafs er die Beglaubigung an
harmlose Stellen setzte, um schlimmerem Verdacht entgegen-
zutreten und doch die andern tendenziösen Stellen damit
zu decken? Dagegen ist zu sagen, was gleich noch weiter
ausgeführt werden soll, dafs dem Speculum Perfectionis der
Charakter einer auf Angriff berechneten Tendenzschrift nicht
1) Ein aiuloier Fall liegt vor, wo Celano die BcglaubiKiing bringt
{III, 67), während das parallele Kapitel des Spoc. Perf. (Kap. 93)
keine hat. 2. Gel. II, 21 wird ebenfalls Augenzeugenschaft erwähnt;
das Spec. Perf. hat kein Parallelkapitel.
218 GOETZ,
zugesprochen werden kann; ferner dafs Ubertino in einem
Falle zitiert, was im Speculum Perfectionis (Kap. 2) die Be-
glaubigung des „Nos qui cum eo fuimus'^ besitzt, dafs also
die betreffende Stelle tatsächlich alt und echt ist, wenn man
Ubertino trauen will. Dafs alle andern Stellen nicht mit
den Zitaten Ubertinos zusammenfallen, spricht für die Ehr-
lichkeit Ubertinos wie für die Zuverlässigkeit der Beglau-
bigung, denn sonst müfsten eigentlich die Stellen, wo Uber-
tino betrogen hatte und wo seine spiritualistischen Gesin-
nungsgenossen wieder betrügen wollten, stärker zusammen-
treffen. Wenn Celano die Beglaubigung wegliefs, so gibt es
einen doppelten Grund dafür: entweder hielt er, der sich im
ganzen durch die Bekanntgabe der Mitarbeit der Genossen
gedeckt hatte, für unnötig, im einzelnen solche Kronzeugen
heranzuziehen, oder er hat die Augenzeugenschaft nur da
erwähnt, wo er sich selber einschliefsen konnte — das wäre
ein grofses Zeichen für die Gewissenhaftigkeit seiner Arbeit.
Ein weiterer Grund zur wohlwollenden Beurteilung des
Speculum Perfectionis ist folgender: Wäre es in erster Linie
als Mittel des Kampfes und der Täuschung beabsichtigt ge-
wesen, so müfste es doch seine Tendenz etwas einheitlicher
verwirklichen. Statt dessen geht es wiederholt die gleichen
Wege wie die angeblichen Vertreter einer dekadenten Rich-
tung des Ordens: es berichtet, wie Franz seine ganze Grün-
dung der Kurie anvertrauen will (Kap. 78, vgl. auch 87),
es weifs nichts von einem offenen oder latenten Gegensatz
zum Kardinal von Ostia (Kap. 21, 23, 43, 65, 81)*, es
spricht zwar begreiflicherweise (vgl. oben S. 82) nicht viel
von EHas, aber es verschweigt doch nicht, wieviel Wert
Franz auf EHas legte (Kap. 115); es läfst sich Dinge ent-
gehen, die bei einem Angriff auf die laxen Brüder und ihre
hohen Gönner aufs beste verwendbar waren und in der Vita
secunda (mit der sonst die Berührung nicht gescheut wurde)
sich zur Verwendung anboten (2. Gel. III, 61, 83 und 90;
vgl. auch Sabatier, Spec. Perf, S. 53 Anm.), ja es bietet
den laxen Brüdern sogar Gründe zu ihrer Verteidigung
1) Vgl. Hist. Vierteljahrsschrift 1903, S. 43, Anm. 1.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 219
(Kap. 27), es verwertet das Testament des Heiligen nicht
so, wie es eine Kampfschrift hätte tun müssen ', und es belädt
seine Erzählung mit so vielen harmlosen Kleinigkeiten, die
bei der Absicht starker Wirkung besser weggeblieben wären.
Das Speculum Perfectionis stammt in seinem Kern und in
seiner Bearbeitung aus einem Kreise, der den strengen
Idealen anhing, aber es braucht deshalb noch keine Kampf-
schrift im engeren Sinne gewesen zu sein ^.
Und noch eine Zweifelsfrage: läfst sich aus dem Cha-
rakter derjenigen Kapitel, die in der Vita secunda keine
Parallelkapitel haben, nichts schliefsen? Es kommen 39 Ka-
pitel des Speculum Perfectionis dabei in Betracht. Sechs
davon enthalten das „Nos qui cum eo fuimus" — es
treffen also auf diese Kapitel nicht mehr derartige Stellen,
als es ihrem Verhältnis zum ganzen Speculum Perfectionis
entspricht (20 auf 124 Kapitel); diese Beglaubigung ist also
da nicht aufdringlich stark, wo es sich eventuell um reine
Kompilation und ihre Beschönigung handeln könnte. Unter
diesen 39 Kapiteln sind 9, deren Fehlen bei Celano bedeu-
tungslos ist, weil ihr Inhalt unwichtig ist (Kap. 8, 16, 19,
47, 56, 66, 109, 111, 119)-, 13 sind sicherlieh überarbeitet,
so dafs Celano sie in der jetzigen Form gar nicht aufnehmen
konnte (Kap. 1, 36, 66, 68, 79, 84, 85, 87, 91, 104, 108,
112, 124); bei den übrigen 17 fällt allerdings in 11 Fällen
auf, dafs die Vita secunda gerade sie nicht bringt, denn sie
behandeln kritische Fragen der Ordensgeschichte, so dafs
1) Vgl. oben S. 13 und S. 79.
2) Der aiisschlicf<liclie polemische Charakter des Spec. Perf. , den
Sabatier und Minocchi annehmen, findet sich eigentlich nur im
1. Kapitel, vielleicht noch im zweiten; Miuocchi, Nuovi Studi, S. 41
gibt selber zu, dafs die Polemik vom 3. Kapitel an immer mehr zurück-
trete, wenn sie auch pologentlich wieder durchbreche. Ich leugne diese
Polemik nicht — sie miifste ja die Grund.stininuing der vertrauten Ge-
fährten wie der Spiritualen sein; aber ich bestreite die polemische
Gesanittendenz der Schrift (was übrigens durchaus im Interesse der An-
schauungen Sabatiers und Minocchis liegt!). Ein so scharf polemisches
Kapitel wie das erste konnte dabei mit unterlaufen. Tilemann S. 112
sagt: „Der Verfasser hat eine geschichtliche Darstellung, ohne sie zu
verunstalten, einem lehrhaften Zwecke dienstbar gemacht."
220 GOETZ,
ihre Auslassung doch wie eine Absicht aussieht (Kap 2, 10,
11, 12, 13, 44, 50, 52, 58, 73, 101). Es liegt zwar auch
die Möglichkeit vor, dafs diese Aufzeichnungen (gleichwie
der geschichtliche Kern der überarbeiteten Kapitel) erst nach
Vollendung der Vita secunda, aber doch noch bei Lebzeiten
Leos entstanden ; aber sowohl diese Möglichkeit wie die einer
Absicht Celanos Hegen näher als die Annahme, dafs diese
Aufzeichnungen eine Fälschung der Spiritualen oder das Er-
gebnis reiner Legendenbildung gewesen wären.
Das alles führt dazu, den Vorwurf tendenziöser Fälschung
abzulehnen und die zugunsten des Speculum Perfectionis
sprechenden Gründe anzuerkennen. Das Speculum Perfec-
tionis enthält altes, wertv^olles, von den vertrauten Gefährten
oder von Bruder Leo allein stammendes Material, aber in
einer 1318 zum Abschlufs gebrachten Überarbeitung. Der
Zweck der Zusammenstellung war nicht so sehr spiritua-
listische Tendenz, als der Wunsch nach Sammlung alter
Aufzeichnungen, die aus Vergessenheit und aus Gefahr des
völligen Verlustes gerettet werden sollten. In vieler Hinsicht
mufste der Inhalt dieser Aufzeichnungen den Wünschen der
Spiritualen allerdings dienen. Der Quellenwert der Samm-
lung wird dadurch beeinträchtigt, dafs die Grenze von
Authentizität und Überarbeitung fast nirgends mit zwingen-
den Beweisen festzustellen ist, sondern dafs die Hand des
Bearbeiters überall eingegriffen haben kann. Auch das ver-
ringert die Gewifsheit eines Urteils, dafs die handschriftliche
Überlieferung eine starke Flüssigkeit des ganzen Materiales
zeigt, wenn auch der gröfsere Teil dieses Stoffes im Spe-
culum Perfectionis zu einem Ruhepunkt gekommen zu sein
scheint ^ Diejenigen Teile der Schrift sind am stärksten
beglaubigt, die mit der Vita secunda übereinstimmen, ohne
doch aus ihr genommen zu sein. Speculum Perfectionis und
Vita secunda beglaubigen sich in diesen Fällen gegenseitig.
1) Vgl. den Codex von Foligno, Mise. Franc. VII, S. 134 ff. ;
ferner Barbi, Bull. d. soc. Dant. N.S. VII, S. 97 Anm. 3. Vgl. auch
Minocchi, Nuovi Studi, S. 128 ff. Einzelnes aus anderer Überliefe-
rung vielleicht auch bei Lemmens, Doc. ant. II (s. oben S. 153
Anm. 1).
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 221
Hinsichtlich alles übrigen, was das Speculum Perfectionis
enthält, kann man nur von Fall zu Fall urteilen, ob es an-
nehmbar ist oder nicht. Auch das Annehmbare und das auf Leo
vielleicht sicher Zurückgehende fordert noch zur Kritik her-
aus. Es ergab sich, dafs auch er der Legendenbildung seinen
Tribut gezahlt hat und dafs er manches schliefslich wunder-
mäfsiger gesehen hat, als es gewesen ist. Es ist zuzugeben,
dafs die Zahl der Wunder im Speculum Perfectionis gering
ist; aber das legendarische Element ist bei der Besprechung
der einzelnen Kapitel doch wiedei'holt zutage getreten. Naive
Zusammenstellung alten Materials ist das Speculum Perfec-
tionis keineswegs — dazu enthält es, von allen angeführten
Einzelkriterien abgesehen, viel zu häufig angeblich wort-
getreue Reden, Gespräche des Heiligen mit Gott, mit Christus,
mit Engeln usw.
Der Wert des Speculum Perfectionis ist trotz dieser Un-
sicherheiten grofs. Es gibt uns etwas von der Stimmung
des vertrauten Jüngerkreises, es liefert scharf beobachtete
Beiträge zur Charakteristik des Heiligen und es gibt bei
aller Überarbeitung die Möglichkeit zum kritischen Vergleich
mit den Lebensbeschreibungen Celanos und Bonaventuras. —
Die beiden Thesen, die man zugunsten des Speculum Per-
fectionis aufgestellt hat, fallen allerdings: es ist weder im
ganzen eine Schrift Bruder Leos, noch darf man in ihr eine
verlorene Legenda trium Sociorum sehen.
c) Der Quellenwert der Vita secunda.
Wir kehren zur Vita secunda zurück. Um ihretwillen
wurde die Abschweifung zur Legenda trium Sociorum und
zum Speculum Perfectionis unternommen; vieles ist dabei
bereits gesagt worden, was das Urteil über die Vita secunda
festgelegt. Fällt die Legenda trium Sociorum aus der wei-
teren Betrachtung weg, so verlieren mancherlei Einwände
gegen die Vita secunda ihre Bedeutung; birgt das Speculum
Perfectionis alte Überlieferung, so gewinnt alles an Wert,
was in ihm und in der Vita secunda übereinstimmt. Dos
Speculum Perfectionis bietet, wie sich zeigte, keinen abso-
luten Mafsstab zum Vergleiche; aber wenn es nicht eine
222 GOETZ,
aus der Vita secunda und aus andern Quellen zusammen-
gesetzte Kompilation ist, so kommt sein Verhältnis zur Vita
secunda dieser zugute. Denn sie mufs dann dasselbe Ma-
terial benutzt haben, das mehr oder weniger überarbeitet
den Wert des Speculum Perfectionis ausmacht. Stammt
dieses aus dem Kreis der vertrauten Genossen, so wird be-
stätigt, was früher bereits über das Verhältnis Celanos zu
diesen Männern gesagt wurde (s. oben S. 68 f.): sie waren
seine Helfer in so starkem Mafse, dafs er sie öffentlich als
seine Mitarbeiter bezeichnen konnte. Es wurden ihm also
diejenigen Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt, die dann
als Dicta, Scripta usw. Leos aufbewahrt und von diesem in
seinen späteren Lebensjahren vielleicht noch vermehrt wurden,
die später von Ubertino da Casale zuerst an die OffentHch-
keit gezogen und dann im Speculum Perfectionis verarbeitet
wurden.
Ob Thomas von Celano diese Aufzeichnungen in einer
bestimmten Zusammenstellung, begleitet von dem Schreiben
der drei Gefährten, erhielt, oder ob sie ihm mehr unter der
Hand übergeben wurden, bleibt eine offene Frage (s. oben
S. 137 ff.). Wer das Schreiben der drei Gefährten für echt
ansieht, wird es hier zur Geltung zu bringen suchen; aber
mit jeder derartigen offiziellen Überreichung dieses Materials
an den Generalminister verliert es den vertraulichen und
losen Charakter, den Bruder Leos Dicta, Scripta usw. später
unzweifelhaft wieder besessen haben. Wäre eine feste Zu-
sammenstellung vorhanden gewesen, so würde sie in der
Überlieferung irgendwie hervortreten ; weil wir aber bei der
Prüfung dieses Materials nirgends sicher sagen können, was
alt und was überarbeitet ist, so gibt sich der Schlufs, dafs
es sich bei seiner Bereitstellung um keinen offiziellen Akt,
sondern um private Freundschaftsdienste gehandelt hat. Ich
kann also auch hier keinen Beweis für die Echtheit jenes
Schreibens finden.
Unsicher bleibt ja überhaupt vieles an diesen Schlüssen ^
1) Ich weise noch darauf hin, dafs keines der wörtlichen Zitate
aus Leos Aufzeichnungen, die Ubertino da Casale, der Codex von Fe-
i
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 223
Als einigermafsen gesichert kann bisher nur die Richtung
dieser Ergebnisse gelten. Bei dem, was Minocchi, Lemmens,
van Ortroy, Tilemann und ich in den letzten Jahren be-
hauptet haben, liegt trotz allen einzelnen Verschiedenheiten
doch ein gemeinsames vor: die vertrauten Gefährten werden
mit der Vita secunda Celanos in einen Zusammenhang ge-
bracht, und wenn man van Ortroy beiseite läfst, so stimmen
die andern auch darin noch überein, im Specuium Perl'ec-
tionis dasjenige Material verarbeitet zu sehen, das Thomas
von Celano aus der Hand der Gelahrten empfangen hatte.
Von dieser Hauptrichtuug abgesehen, gehen die Wege der
Forscher freilich auseinander. Aber sie stützen doch alle
gemeinsam die Autorität, die der Vita secunda zukommt; sie
nehmen von ihr den Schatten, als ob sie ein tendenziöses
Machwerk sei. Ich sehe sie deshalb noch nicht als eine
unantastbare Quelle an ; aber es ist erst jetzt die Möglich-
keit gegeben, den Wert ihrer Nachrichten vorurteilsfrei zu
prüfen — nichts anderes ist mit diesen Ergebnissen erreicht,
als dafs der Boden für eine richtige Kritik geebnet wurde.
Denn auch die Aufzeichnungen, die von Leo und seinen
Freunden stammen, sind nicht einwandfrei — sie können so
viel Tendenz besitzen, wie man ihren Gegnern zugeschrieben
hat. Und es erhebt sich auch die Frage, ob Thomas von
Celano bei aller Freundschaft für die vertrauten Gefährten
nicht doch seine eigenen Anschauungen so stark in sein
Werk hineintrug, dafs willkürlich oder unwillkürlich einiges
zu kurz kam, woran den Freunden vielleicht mehr lag
als ihm.
Es ist bereits über das Verhältnis der Vita secunda zur
Vita prima gesprochen worden '. Sie will nichts anderes sein
ligno und die Hist. septem trib. bringen (im ganzen 15), sich in der
Vita sec. findet, wenigstens nicht in Ausfüliilichkeit. Ist das ein Zufall
oder müfste die Kritik daran einsetzen? Zunächst sehe ich keine ge-
nügende Handhabe dazu, aber vielleicht niufs künftig doch in dieser
Richtung stärker kritisiert werden.
1) Vgl. oben S. 80 ff. Zu den S. 80 Anni. 2 gegebenen Beispielen
ist noch hinzuzufügen: 1. Gel. I, 28 wird wiederholt 2. Gel. III, 29;
zum Teil auch 1. Gel. I, 29 in 2. Gel. III, 101.
224 GOETZ,
und ist nichts anderes als eine Ergänzung der Vita prima,
wie sie nach zwanzig Jahren selbstverständlich notwendig
war. Sie enthält einzelne Widersprüche zur Vita prima, sie
bringt einige unnötige Wiederholungen — aber wo in aller
Welt sind jemals die weit auseinanderliegenden Schriften
selbst des gewissenhaftesten Schriftstellers frei von solchen
kleinen Fehlern gewesen? ^ Die Vita secunda dringt schärfer
auf die alten Ideale als die Vita prima — auch dafür wurde
die Erklärung gegeben in der Wandlung der Anschauungen,
wie sie sich von 1227 bis zur Mitte der vierziger Jahre im
Minoritenorden vollzog. Anderes steht jetzt für den Bio-
graphen des Heiligen im Vordergrund, weil man sah, wie
ein Teil seiner Ideale sich verlieren wollte. Die zu unter-
suchende Frage ist, ob Thomas von Celano in seiner Vita
secunda diejenigen Ideale vertrat, die für Franz tatsächlich
mafsgebend gewesen waren, oder ob der Kampf im Orden
die Parteilichkeit auch in die Herzen derjenigen trug, die
sich als die echten Anhänger des Heiligen ausgaben.
Die Gedanken des Heiligen erstreckten sich vor allem
auf Befolgung des Evangeliums, Armut, Bettel, Gehorsam,
Demut, Arbeit ^, er warnt vor Privilegien und ermahnt zur
wortgetreuen Beobachtung der Regel und seines Testamentes,
und sein Leben geht in immer stärkerem Mafse im Nach-
erleben des Leidens Christi auf. Die Vita secunda handelt,
nachdem sie im ersten Teile Tatsachen seines Lebens, im
zweiten Beweise seiner Prophetengabe gebracht, im dritten
und umfangreichsten von den Idealen des Heiligen: Armut
(Kap. 1 — 37, über Notwendigkeit und Art des Bettels Kap.
17—23), Gebet (Kap. 38—44), Predigt (Kap. 50 und 51),
Fröhlichkeit (Kap. 65— 6b), Demut (Kap. 70—87), Gehor-
sam (Kap. 88 — 91), Arbeit (Kap. 95 — 98, auch I, 12), Liebe
zur Natur (Kap. 99 — 107), Caritas und compassio (Kap. 108
1) Auffallende Irrtümer der Vita sec. stehen aufserdem im III, 81
(Franzens Verzicht auf das Generalat „ paucis annis elapsis post suam
conversionem " [vgl. oben S. 179], III, 68 [Worte, die Franz geschrieben
habe ,,pro generali commonitioue in quodam capitulo"; sie stehen tat-
sächlich in der Regel von 1221 Kap. 7 am Schlufs]).
2) Vgl. oben S. 77.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 225
bis 111), Einfalt (Kap. 119 — 122), Empfehlung der Regel
(Kap. 135 und 136) werden da geschildert. Und zwar mit
einer Eindringlichkeit, die der Vita secunda den Charakter
der Polemik gegen die matteren Nachfolger des Heiligen ge-
geben haben. Es bedarf keines weiteren Beweises, dafs der
dritte Teil der Vita secunda in den aufgezählten Punkten
den Idealen des Heiligen genuggetan hat. Aber in dieser
Aufzählung fehlen einige Gesichtspunkte, die als wesentlich
zu den Gedanken des Heiligen, wie er sie im Testamente
ausspricht, gehören: wo ist die Warnung vor Privilegien,
die Ermahnung zur Befolgung des Testamentes, wo ist bei der
Demut die Leprosenpflege erwähnt? Es ist nicht zu leugnen,
dafs die Vita secunda in diesen Punkten versagt ^ Sie
1) Es ist Celano auch vorfreworfen ■worden, dafs er über Franzens
Beziehungen zur h. Klara und zur Jakoba von Settesoli hinweggehe
(Sabatier, Spec. Perf., S. XXXIV, CXXXI Anm. 2). Celano hat in
der Vita prima an zwei Stellen von Franz und Klara berichtet (I, 8
und II, 10), in der Vita sec. in drei Kapiteln (III, 132 — 134) über
Franzens Stellung zu den Klarissen. Es ist wahr, dafs man darin von
den herzlichen persönlichen Beziehungen, wenn sie auch vielleicht selten
betätigt wurden, nichts spürt. Aber hat denn das Speculum Perf. wirk-
lich so viel mehr? Es berichtet Kap. 90, wie Franz den Klarissen
eine erbauliche und tröstende Dichtung sckickt; Kap. 100, ohne Klara
zu erwähnen, dafs Franz in S. Damiano den Sonnengesang gedichtet
habe, und ferner (Kap. 108), dafs Franz vor seinem Tode an Klara
noch eine benedictio geschickt habe; aber von der ,,liberte, avec laquelle
il avait agi avec sainte Ciaire" (Sabatier a. a. 0. S. 172 Anm. 1)
steht im Spec. Perf., so viel ich sehe, keine Probe. Man vergleiche
auch, was oben über die Kap. 100 und 108 des Spec. Perf. gesagt wor-
den ist — überarbeitet sind wohl beide. Das Spec. Peif. kann auch
in diesem Falle nicht gegen Celano ausgespielt werden. Wo stehen
aber die Beiego für ein die Schranken der Askese naiv überschrei-
tendes Verhältnis der beiden? In der Vita S. Clarae (Acta SS.
Aug. II, bes. n. 39 — 42), die doch von Sabatier wie von andern
dem Thomas von Celano zugoschiieben wird! Erst von dort sind sie
in die si)äteren Legenden weitergewandert und gleich den Erzählungen
des Spec. Perf. weiter ausgebaut worden. Nur insofern unterscheidet
sich Spec. Perf. von Celano, als dieser offenbar den Wunsch hat, in
seinen Beispielen die notwendige Zurückhaltung gegenüber den Kla-
rissen den Minoriten ans Herz zu legen. Das kann man als Verschie-
bung der Tatsachen ansehen, weil in dieser von Franz golelirten Zurück-
haltung das persönliche Verhältnis zur h. Klara nicht genügend zum
15
226 GOETZ,
weicht darin ab vom Testamente und ebenso von den Ge-
danken der vertrauten Gefährten, wenn anders wir dieselben
im Speculum Perfectionis wiedererkennen dürfen. Erleidet
hiermit nicht die ganze Theorie von der Freundschaft Ce-
lanos mit den Gefährten Schiffbruch?
Ich lehne zunächst ab, dafs die Disharmonie, wie sie im
Schweigen Celanos liegt, über die genannten Punkte hinaus-
geht. Wenn Sabatier zu den Kapiteln des Speculum Per-
fectionis immer wieder bemerkt hat, dafs Celano sie um-
gestalte, sie „arrangiere", Stellen daraus mit Absicht weg-
lasse usw., so ist dabei nicht genügend berücksichtigt, dafs
erstens die Frage der Priorität in zahlreichen Fällen weniger
sicher Hegt, als Sabatier annimmt, und dafs zweitens Celano
in andern Fällen seine wahrscheinliche Vorlage nicht aus
Tendenz, sondern um der straffen Ordnung seiner Arbeit
willen gekürzt hat. Das Speculum Perfectionis ist nicht
scharf gegliedert; es bringt Wiederholungen und häuft die
Beispiele. Celano hat stärker mit dem Raum gegeizt, da
er weit mehr zu bringen hatte: 112 von den 143 Kapiteln
der Vita secunda haben im Speculum Perfectionis überhaupt
keine Parallelstellen. Aus Rücksichten des Raumes und der
Disposition hat Celano so und so oft sich beschränkt und nur
an einer Stelle das Notwendige gesagt ^ Anders, wo er
Ausdruck kam; aber vielleicht haben auch hierin bestimmte, unerfreu-
liche Vorkommnisse Celano 1247 veranlafst, das Moment der Zurück-
haltung in den Vordergrund zu stellen. Die Vita S. Clarae — im Auf-
trag Papst Alexanders IV. geschrieben — beweist doch, dafs auch die
offizielle Ordensgeschichtschreibung Franzens Freundschaft zu Klara
nicht totschweigen wollte. — Auch hinsichtlich Jakobas von Settesoli
ist Celano gerechtfertigt, wenn der Tractatus de Miraculis von ihm
stammt oder zur offiziellen Geschichtschreibung gehört; denn er bringt
ja das gleiche über Jakobas Verhältnis zu Franz, was dem Spec. Perf.
angeblich den Vorzug gröfserer Treue gibt (vgl. oben S. 211). — Dafs
bei Bonaventura diese Fragen nicht so günstig für die Treue des Ge-
schichtschreibers liegen, wird unten noch erwiesen werden.
1) Z. B. ist Franzens Stellung zum Bücherbesitz und zur Wissen-
schaft deutlich genug geschildert (2. Cel. III, 8, 116, 123, 124), obwohl sich
nicht jeder Ausfall des Spec. Perf. wiedergegeben findet. Ebenso seine
Stellung zu der Art der Niederlassungen (2. Cel. III, 2—6); vgl. o. S. 166
bei Kap. 10 des Spec. Perf. Eine gewisse Rücksicht mag gewaltet
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 227
über wichtige Fragen überhaupt nichts gesagt hat. Ent-
schuldigt ihn der Gesichtspunkt der Ergänzung der Vita
prima? Glaubte er in dieser seine und des Ordensstifters
Ansicht schon klar genug zum Ausdruck gebracht zu haben ?
Für die oben angeführten Punkte trifft diese Entschul-
digung höchstens bei der Leprosenpflege zu. Franz hat in
seinem Testamente nur gesagt, dafs er am Anfang seiner
Wandlung zu den Leprosen ging; die Forderung, dafs die
Brüder Leprosenpflege treiben sollten, spricht er nicht aus.
Die Vita prima hat diesem Ideale insofern Rechnung ge-
tragen, als sie an drei Stellen davon spricht (I, 7 und 15,
II, 6). Aber es ist doch gewifs, dafs Franz einen hohen
Wert auf die Leprosenpflege gelegt hat — Kapitel 44 des
Speculum Perfectionis und die Erzählungen von Kapitel 58
zeigen das zur Genüge. Es ist keine Forderung , die zu
den grundlegenden Ordensidealen gehörte — sonst hätte Franz
im Testament wohl mehr darüber gesagt, eine Forderung
formuliert; aber es ist nicht bestreitbar, dafs Celano in
der Vita secunda mit Unrecht daran vollständig vorüber-
geht '. Schlimmer noch steht es mit der Frage der Privi-
legien — in keiner der beiden Viten ist ein Wort darüber
gesagt '^. Sabatier hat eine Erklärung zu dieser Unterlassung
gegeben, die Celanos Verhalten verständlich macht ^ : in dem
Zeitpunkt heftigen Kampfes zwischen Bettelorden und Welt-
klerus um solche Privilegien hiefs es den Minoriten schweren
Schaden zufügen, wenn jemand den Standpunkt des Stifters
allzusehr betonte. Aber als die Vita prima geschrieben
wurde, kam dieser Umstand noch nicht in Frage; Celano
mufs hinsichtlich der Privilegien anderer Meinung gewesen
haben, so (laus in dieser Frage der Angriff nicht zu scharf gefafst
wurde; aber das prinzipiell Notwendige ist gesagt, wenngleich im Geiste
Franzens gewifs mehr gesagt werden konnte.
1) Die einzige leise Anspielung III, G3 in den Worten: „vade ad
hospitale". — Dafs mau es später nicht auf völliges Totschweigen der
Leprosenpflege anlegte, zeigt sich bei Bonaventura, der zweimal von
Franz und den Leprosen spricht (I, 6 = n. 13 und II, G = n. 22).
2) Vgl. oben S. 79.
3) Sabatier, Spec. Perf., S. 86 Anm. 1.
15*
228 GOETZ,
sein. Solche Selbständigkeit der Meinung selbst gegenüber
dem Ordensstifter braucht noch kein Verrat an dessen Idealen
zu sein; dafs mit Privilegien die religiöse Wirkung der Mi-
noriten aufserordentlich gesteigert würde, konnte eine An-
schauung sehr eifriger Anhänger des Heiligen sein. Aber
wie dem auch sei — Celano hat in der Vita secunda die
Meinung des Heiligen in dieser Frage verschwiegen, und das
ist — von der Privatmeinung des Schriftstellers ganz ab-
gesehen — jedenfalls eine Rücksicht auf die Verhältnisse
des Ordens gewesen.
Und ebenso schweigt Celano ganz über das Testament.
In der Vita prima hat er es einmal ausdrückHch zitiert (I, 7)
und zweimal noch Worte des Testamentes nebenbei erwähnt
(I, 15 und 17); von der Notwendigkeit seiner Befolgung sagt
er nichts ^ In der Vita secunda steht nur noch ein Anklang
an das Testament (I, 5). Nun ist es zwar richtig, dafs auch
im Speculum Perfectionis strenge Einhaltung des Testamentes
ebensowenig ausdrücklich gefordert wird ; aber es wird doch
erwähnt, mit Nachdruck erwähnt ^. Die Vita secunda mufs
mit Absicht darüber geschwiegen haben. Der Grund liegt
nahe: seit die Bulle Gregors IX. von 1230 die Minoriten
von der Befolgung des Testamentes entbunden hatte, war
es eine heikle Sache, darauf zurückzukommen. Dafs er ge-
wisse Rücksichten nahm, bleibt auch hier an Celano hangen.
Reichen diese Zugeständnisse an andere Strömungen im
Orden aus, Celanos Ehrlichkeit zu bezweifeln? — Es ist
zunächst ungerechtfertigt, die Vita secunda direkt mit den
Äufserungen des Speculum Perfectionis über diese Punkte
zu vergleichen. Denn selbst wenn dasjenige, was darüber
1318 zusammengestellt wurde, schon um 1246 aufgezeichnet
sein sollte, so war es doch leichter, solche unverbindliche
Aufzeichnungen zu machen, als sie in einer Schrift an die
Öffentlichkeit zu bringen, die in offiziellem Auftrag erschien.
1) Vgl. oben S. 79.
2) Spec. Perf. Kap. 11 und 65. Die andern Stellen sind unbe-
deutend oder, wie in Kap. 9', in dem uns erhaltenen Texte des Testa-
mentes nicht nachweisbar.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 229
Celano hat als offiziell Beauftragter des Generalkapitels und
Generalministers gewisse Rücksichten genommen und nehmen
müssen. Er hat in den erwähnten Fragen vermieden, die
Gegensätze von neuem aufzuregen; er kam damit der laxeren
Richtung ein Stück entgegen — sei es aus Taktik, sei es
aus dem Gefühl, dafs ein Entgegenkommen in dieser Hin-
sicht sachlich gerechtfertigt sei. In der Hauptsache bestand
er um so mehr auf dem, was Franz gewollt hatte. In der
Schärfe, mit der Celano sonst gegen die laxe Richtung an-
kämplt, liegt seine Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf
der Charakterlosigkeit. Er ist stellenweise schroffer in seinen
Angriffen auf laxe Elemente als das Speculum Perfectionis
(vgl. III, 61, 62, 83, 90); er gibt Beispiele, wie man das
Geld verachten müsse, die im Speculum Perfectionis fehlen
(III, 12 und 14); er gibt strengere Vorschriften für den
Verkehr mit Frauen (III, 55 — 57); er mildert anderwärts
wohl im Ausdruck, wie seine Absicht überall ist, die schöne
rhetorische Form zu wahren, aber er sagt dem Sinne nach
weit öfter das gleiche wie das Speculum Perfectionis, als
dafs er abzuschwächen sucht. An den obersten Leiter des
Ordens stellt er (III, 106) genau dieselben strengen An-
forderungen wie das Speculum Perfectionis (Kap. 80); er
übt offen oder implicite Kritik, verschleiert nicht, dafs
Franz in seinen letzten Lebensjahren Konflikte mit wider-
strebenden Ghedcrn des Ordens hatte (I, 16, II, 4, III, 4,
8, 16, 81, 83, 93, 94, 118), und manche seiner Worte sind
Anklagen, die nur den Zuständen in der Entstehungszeit
der Vita secunda gelten (III, 6, 10, 15 [Sciilufs], 98, 111,
113, 115, 124). Dieser Zug des Eiferns für die Ordens-
ideale tritt so stark hervor, dafs man die Vita secunda Ce-
lanos der Tendenz „zugunsten der strengen Partei" be-
schuldigt hat '.
1) K. Müller, AiifiiiiEre, S. 181, mit Hinweis auf die Kapitel III,
1—7, 8 ff., 15, 28, 8Gf., 93 f., 98, 100, 113, 115—118, 124, 135, 140. —
Müllers Allgriffe gegen die Glaubwürdigkeit Celanos sind heute nicht
mehr haltbar; das Spec. Perf. bestätigt, dafs Celano mit der Bezeich-
nung des Petrus Catbaneus als Vikar, mit dem Bericht über eine Zu-
230 GOETZ,
Es ist sicher, dafs ein Stück derartiger Tendenz in der
Vita secunda liegt, und indem Celano formulierte, was um
1247 gegen die laxe Richtung des Ordens zu sagen war,
mögen leichte Retuschen am Bilde des Heiligen entstanden
sein; aber im ganzen darf man doch in solcher Tendenz den
eifernden Geist des h. Franz erkennen. Dieser wollte zwar für
seine Gedanken nicht anders als durch sein Beispiel wirken,
aber er war in Tun und Worten heiligen Eifers voll. Der
Geist seines Testamentes ist eifernde Sorge für sein Werk;
wer ihm ganz nachzufolgen strebte, mufste anklagen, wie
er es selbst zuletzt getan. Das war das Zeichen einer Jünger-
schaft, die für unerfüllbare Ideale kämpfte. So liegt in der
Tendenz, die in der Vita secunda lebt, nichts Ungeschicht-
liches, aber auch nichts Vollkommenes. Denn wurde Ce-
lano damit auch dem Heiligen, wie er gegen Ende seines
Lebens gewesen war, gerecht, so doch nicht dem ganzen
Leben und noch weniger den Menschen, die sich von seinen
Wegen abgezweigt hatten. Es waren Unwüi'dige darunter,
aber auch solche, die besser für iim zu arbeiten glaubten
als er selber ^
Die Mängel der Vita secunda liegen zum Teil auf diesem
Gebiete einer zwar wohlgemeinten, aber dennoch einseitigen
Auffassung. Sie läfst uns ebenso wie die Vita prima über
wichtige Punkte der Gründung und Entwicklung des Mi-
noritentums im unklaren; sie ist ebenso arm an geschich-
lichen Tatsachen — was zur Kritik der Vita prima gesagt
wurde , gilt zum guten Teil auch für die Vita secunda ^ ;
nur die Beiträge zur Charakteristik des Heiligen sind in ihr
in reicherem Mafse geboten.
Die Vita secunda zeigt mit ihrem schroffen Hinweis auf
die wahren Ordensideale, wie viel sich inzwischen im Orden
an Menschlichem zugetragen hatte. Daraus kann der For-
scher vieles für eine tiefere geschichtliche Erfassung der
ganzen Bewegung und der Persönlichkeit des Heiligen ge-
samnienkunft Franzens mit Dominikus nicht gelogen hatte. Dafs Elias
nicht mehr ausdrücklich genannt wurde, ist entschuldbar (s. oben S. 82).
1) Hist. Vierteljahrsschrift 1903, S. 46.
2) Vgl. oben S. 87 f.
QUELLEN zun GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 231
winnen. Aber auf der andern Seite verschliefst die Vita
seeunda auch wieder diese Möglichkeit. Dafs sie 20 Jahre
nach der Vita prima geschrieben ist, gibt ihr nicht nur neues
Material und neue Gesichtspunkte, sondern führt auch zum
vermehrten Eindringen legendarischer Züge. Aufserordent-
lich stark ist die Sucht geworden, im Gegensatz zur Vita
prima ', mit Reden Gottes, Christi und vor allem des Heiligen
selber zu prunken. Oft ist es nur der Wunsch, die Er-
zählung durch Rede und Gegenrede dramatischer zu ge-
stalten ; in mehr als zwei Dutzend Fällen soll die Autorität
des Erzählten gesteigert werden, indem Franz als Redender
eingeführt wird. Man braucht nur die einzelnen Beispiele
zu prüfen, um auch diese oft so langen Reden Franzens aus
der Legendenbildung zu erklären: sie konnten nicht an Ort
und Stelle aufgezeichnet sein, sondern sie entstanden zum
Teil aus der Erinnerung der Ohrenzeugen, zum Teil aus der
ein Ereignis ausgestaltenden Phantasie. So wird in der Vita
prima I, 4 erzählt, wie Franz durch den Anblick des ver-
fallenen Kirchleins S. Damiano und des armen Priesters so
bewegt wird, dafs er diesem Geld schenkt und bei ihm
bleibt und dann (I, 8) das Kirchlein wiederherstellt. Das
ist ein ganz natürliches Ereignis. Die Vita seeunda I, 6
erzählt, wie in S. Damiano der Gekreuzigte zu Franz
spricht — ein Wunder, „inauditum a saeculis" — und ihn
auffordert, das Gotteshaus zu erneuen. So tritt das Wunder
an die Stelle natürlicher Begründung. Ebenso in folgenden
Fällen : Vita prima I, 8 erzählt bei Gelegenheit der Wieder-
herstellung von S. Damiano, dafs später an dieser Stelle der
Klarissenorden entstanden sei. Vita seeunda II, 8 berichtet
dagegen, dafs Franz bei den Wiederherstellungsarbeiten das
Entstehen des Klarissenordens prophezeit habe. — Vita
prima I, 10 heifst es, Bernhard von Quinta vallc schlofs sich
Franz an und erfüllte die Worte des Evangeliums: „Si vis
perfectus esse, vade, vende omnia" etc. In Vita seeunda
I, 10 sind sich Franz und Bernhard darüber einig geworden,
dafs auf allen Besitz zu verzichten sei. Aber Franz schlägt
1) Vgl. oben S. 72.
232 GOETZ,
vor, das Evangelium darüber zu befragen. Sie gehen am
nächsten Morgen zur Kirche, schlagen die Bibel auf und
finden den Spruch : „ Si vis perfectus esse " etc. , dazu noch
zwei verwandte Sprüche, worauf Bernhard alles genau er-
füllt. — Vita prima I, 1 schildert Franz als sehr weltlich
gesinnten Jüngling, mit allen vanitatibus mehr als andere
behaftet; Vita secunda I, 1 läfst sorgfältig beiseite, was einen
Makel auf Franzens Leben vor der Conversio werfen könnte.
Die Vita prima schildert im gleichen Kapitel die Eltern als
ganz in Weltlichkeit versunken ; die Vita secunda I, 1 macht
die Mutter zu einer frommen Frau, ähnlich der Mutter Jo-
hannes des Täufers. — Vita prima I, 5 trifft Franz einen
Leprosen , steigt vom Pferde und küfst ihn ; Vite secunda
I, 5 wird ein Wunder daraus: der Leprose verschwindet,
nachdem Franz ihn geküfst. Die Vita prima erzählt über-
haupt nur wenige Wunder ^ Dagegen enthalten die 22 Ka-
pitel des zweiten Teils der Vita secunda nur Prophezeiungen
Franzens und an zwei Dutzend Visionen und Wunder kommen
in der Vita vor. Von dem umfangreichen Traktat über die
Wunder wird später noch gesprochen werden ^.
Das alles gibt der Vita secunda einen andern Charakter.
Aus dem Streben nach Erbaulichkeit ist Eifern für die Ideale
des Heiligen und eine gewisse Tendenz gegenüber den laxen
Elementen des Ordens geworden, aus der schlichten Begrün-
dung der Tatsachen eine Arbeit mit Wundern und mit dra-
matischen Akzenten. In der Vita prima erscheint Franz als
ein aufserordentlicher Mensch, in der Vita secunda als Hei-
liger. Eine naturgemäfse Entwicklung der Auffassung in
den Köpfen derer, die nun einmal ganz von seiner Heilig-
keit erfüllt waren, aber gewifs keine Vertiefung in der Auf-
fassung der Persönlichkeit. Nur eins ist in beiden Lebens-
beschreibungen unverändert das gleiche: die reichliche, lehr-
hafte Rhetorik, die Celanos schriftstellerischen Ruhm begründet
haben wird, die aber auch die Schuld daran trägt, dafs oft
das Streben nach schöner Form der schlichten Sachlichkeit,
1) Vgl. oben S. 72.
2) S. unten S. 235.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 233
die wir uns wünschen würden, Eintrag getan hat. Es bleibt
auch hier kein anderer Schlufs übrig, als dafs der Forscher
zwar für das Material der Vita secunda von Herzen dank-
bar ist, dafs aber seine Auffassung vom h. Franz von ihr
nicht autoritativ bestimmt werden darf.
Entstehungszeit.
Es ist zum Schlüsse noch auf die Entstehungszeit der
Vita secunda einzugehen. Man bestimmte sie früher an der
Hand des Schreibens der drei Genossen vom 12. August
1246: da nach den Angaben des Schreibens das General-
kapitel von 1244 den Auftrag zur Abfassung einer neuen
Biographie und zur Einsendung von Material gegeben hatte,
da die Legenda trium Sociorum benutzt schien, da nach einer
Notiz in der Chronik der 24 Generale der Generalminister
Johann von Parma (seit Juli 1247) Celano zur Vollendung der
Arbeit aufgefordert hatte, so ergab sich als Termin der Ab-
fassung die Zeit zwischen 1244 und etwa 1247 oder 1248 — ■
vorausgesetzt, dafs die Fertigstellung der Schrift bald nach
der Aufforderung des Generalministers vollzogen wurde. —
Die Beweisführung über die Entt^tehungszeit kommt auch jetzt
noch zu einem ähnlichen Ergebnis; sie mufs aber auf andere
Weise geführt werden. Das Schreiben der drei Genossen
scheidet als unsicher aus; die WiederaufHndung eines Trac-
tatus de Miraculis, der als letzter Teil der Vita secunda an-
gesehen wird, gibt der Auft'orderung des Generalministers
Johann von Parma ein neues Aussehen, Ob nun dieser
Tractatus der richtige ist oder nicht (vgl. unten S. 235) —
80 viel ist doch gewifs, dafs jene Notiz in der Chronik der
24 Generale sich nur auf eine Ergänzung über die VV u n -
der des Heiligen bezieht und dafs man keinen der drei
Teile der Vita secunda, wie sie in Amonis Ausgabe vorliegt,
für jene Notiz in Anspruch nehmen darf Die Dreiteilung
hat irregeführt; in Wirklichkeit aber bestand diese Vita se-
cunda nur aus zwei Teilen. So sagt es ausdrücklich der
Prolog: die Vita bringe „inprimis quaedam conversionis
facta mirifica . . . Dehinc vero exprimere intendiraua . . .
quae sanctissimi patris tam in se quam in suis fuerat vo-
234 GOETZ,
luntas bona . . . Miracula quaedam interseruntur, prout se
ponendi opportunitas offert". Dementsprechend folgt auf die
Beiträge zur Conversio ein neuer Prolog als Eingang zu
einem zweiten Teile; wo heute der dritte Teil beginnt, fehlt
ein neuer Prolog, während doch in der Vita prima wie se-
cunda neue Teile mit einem Prologe eingeleitet werden. Die
Vita secunda besafs nach der Absicht ihres Verfassers also
nur zwei Teile '. Ein Teil über die Wunder war ursprüng-
lich — nach den Worten des Prologs zu urteilen — nicht
geplant: nur bei Gelegenheit sollte von Wundern berichtet
werden. Auch dies verwirklicht die Vita secunda. Eben
daraus mag sich das Bedürfnis nach einem selbständigen
Teile über die Wunder ergeben 'haben. Die Vita prima
besafs als Anhang den bei der Heiligsprechung verwendeten
Wunderkatalog ; auch ihm gegenüber empfand man den
Wunsch nach Ergänzung. Deshalb die Bitte des Johann
von Parma an Celano, die Vita secunda in den Augen der
wunderhungrigen Leser dadurch zu vollenden, dafs auch
ihr ein Abschnitt über die Wunder beigefügt werde ^. Da
nun ferner Celano im Prolog der Vita secunda sagt, dafs
der Generalminister — sein Name wird nicht genannt —
und ein Generalkapitel ihn mit der Abfassung der Vita be-
auftragt hätten, so ergeben sich folgende Schlüsse:
l) Wenn der im Juli 1247 gewählte Generalminister Jo-
hann von Parma um Vollendung der Vita durch einen
Traktat über die Wunder bat, so mufs die Vita secunda im
Juli 1247 in ihren zwei (nach bisheriger Zählung: drei)
ersten Teilen abgeschlossen vorgelegen haben ^.
1) Das in Assisi befindliche Manuskript gibt Teil 2 und 3 als einen:
Sabatier, Vie, S. LXXIII Anm. 2. Die Marseille!- Handschrift hat
überhaupt keine Teilung: s. oben S. 90 Anm. 2.
2) Van Ortroy hat darauf hingewiesen (Anal. Bolland. XIX, S. 62),
dafs Generalmmister verschiedener Richtung — Crescentius gilt als An-
hänger der laxen Partei, Johann von Parma als Zelant — sich an Ce-
lano wandten, dafs seiner Ehrlichkeit also allseitiges Vertrauen entgegen-
gebracht wurde. Ich habe dieses Argument nicht verwendet, weil wir
über die Gesinnung dieser Generalminister nicht genügend unterrichtet sind.
3) Es ist oben S. 91 Z. 11 anstatt Juli irrtümlich August 1247
angegeben worden.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 235
2) Es ist kaum zweifelhaft, dafs Celano mit dem im
Prolog erwähnten Generalkapitel das letztvergangene, also
das von 1244 gemeint hat. Sehr viel weiter kann der Auf-
trag überhaupt nicht zurückliegen — jedenfalls mufs er nach
1239, der Absetzung des Elias, gegeben sein); und wäre es
nicht das letztvergangene gewesen, so wäre ein anderer Ge-
neralminister — Haimon — beim Auftrag beteiligt gewesen —
nach den Worten Celanos mufs aber derselbe General Auf-
traggeber und Empfänger der Vita gewesen sein.
3) Die Zeit zwischen dem Generalkapitel von 1244 und
Juli 1247 ist also die Entstehungszeit der Vita secunda.
d) Der Tractatus de Miraculis.
Es ist durch Salimbene und später durch die Chronik
der 24 Generale überliefert, dafs Thomas von Celano seiner
Vita secunda noch eine Schrift über die Wunder des h. Franz
habe nachfolgen lassen. Karl Müller hatte vermutet, dafs
der heutige zweite Teil der Vita secunda mit der Schrift
über die Wunder identisch sei * ; dann fand Sabatier im
Manuskript 338 zu Assisi Bruchstücke von Wundererzäh-
lungen, die er für Teile des vermifsten Traktats über die
Wunder ansah ^. Van Ortroy entdeckte schliefslich im Mar-
seiller Manuskript der Vita secunda einen selbständigen, bis-
her unbekannten Anhang, der nur den Wundern gewidmet
war; er gab den Text 1899 ^ im Wortlaut heraus und suchte
in der Einleitung den Nachweis zu führen, dafs dieser Trac-
tatus de MiracuHs dem Thomas von Celano zuzuschreiben
sei. Es läfst sich wohl nichts völlig Durchschlagendes gegen
die scharfsinnige Beweisführung van Ortroys sagen; ander-
seits sind die vorgebrachten Gründe aber doch nicht derart,
dafs Thomas von Celano mit voller Sicherheit als Ver-
fasser bezeichnet werden könnte. In dem Tractatus selber
wird kein Verfasser genannt; auch die frühesten Benutzer
dieser Aufzeichnungen, Bonaventura und Bernhard von Bessa
1) K. Müller, Anfänge, S. 175 ff.
2) Miscell. Francesc. IV (1894), S. 40 ff.
3) Anal. Bolland. XVIII, S. 81—177.
236 GOETZ,
geben keine Auskunft darüber. Was aber Salimbene, der
einzige direkte Zeuge des 13. Jahrhunderts, sagt, entspricht
nicht ganz dem später von der Chronik der 24 Generale
angegebenen Sachverhalt: Salimbene berichtet, dafs Thomas
von Celano auf Befehl des Generalministers Crescentius ein
„pulcherrimum librum tam de miraculis quam de vita" ge-
schrieben habe — eine Aussage, die sich eventuell auf die
Vita secunda allein beziehen könnte; die Chronik der 24
Generale dagegen sagt, dafs Thomas auf Befehl des Cres-
centius die Vita secunda, später auf Befehl des General-
ministers Johann von Parma als Ergänzung dieser Vita einen
Tractatus de Miraculis geschrieben habe ^ Liegt die Un-
genauigkeit bei Salimbene oder ist die ein Jahrhundert später
zum ersten Male auftauchende Nachricht der Chronik der
Ordensgenerale unzuverlässig? Dafs schon die Autoren des
13. Jahrhunderts hinsichtlich der Legenden und ihrer Ver-
fasser irren, weifs man zur Genüge; keine ihrer Notizen ist
völlig einwandfrei. Für Nachrichten des 14. Jahrhunderts
gilt dies in noch höherem Grade ^.
1) Anal. Franc. III, S. 276. Dals an dieser Stelle Ceperano ein
Irrtum statt Celano ist, bedarf keines weiteren Beweises. — Man-
donnet hat (Mise. Franc. VII, S. 63) auf eine Stelle in der Vita des
Johann von Parma (Acta SS., März 19, S. 60) hingewiesen, in der das-
selbe berichtet werde. Es scheint Mandounet entgangen zu sein, dafs
nach Angabe der Bollandisten diese Vita nur aus Wadding zusammen-
gestellt ist, also auf der Chronik der 24 Generale beruht.
2) Gegen Thomas von Celano spricht die Wiederholung einer An-
zahl von Erzählungen der Vita secunda — dann kann mau den Trac-
tatus wenigstens nicht als Ergänzung der Vita secunda ansehen.
Nach Salimbenes Worten müfste man doch an ein zusammengehöriges
Ganze denken. Prolog und Epilog des Traktats machen den Eindruck
einer ganz für sich bestehenden Schrift, was natürlich die Autorschaft
Celanos nicht ausschliefsen würde — aber dann hat Salimbene ungenau
berichtet. — Für Celano spricht nicht in Andere ausschliefsender Weise,
dafs im Tractatus der Name des Elias weggelassen wurde, wo die Vor-
lage — die Vita prima — ihn nennt (n. 4 und 155); das entsprach, wie
bereits berührt wurde (s. oben S. 229 Anm. 1), nach dem Falle des Elias
sicherlich der allgemeinen Anschauung. Auffallend ist doch auch, dafs
der Verfasser des Tractatus so lebhaft betont, die Stigmen selber ge-
sehen zu haben; in der Vita prima und secunda hat Thomas von Ce-
lano dies in keiner Weise durchblicken lassen. — Nicht annehmbar ist
QUELLEN zun GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 237
Da kein klares, unzweideutiges Zeugnis für Thomas von
Celano als Verfasser dieses Marseiller Tractatus vorliegt, so
ist, was Ortroy dafür auf Grund der Wendungen des Epi-
logs, auf Grund des Stils und der ganzen Art der Arbeit
angeführt hat, eine sehr annehmbare Vermutung, aber keine
Gewifsheit. Und deshalb ist es auch bedenklich, aus Be-
merkungen des Traktats Schlüsse über Thoraas von Celano
zu ziehen. Der Verfasser des Traktats behauptet (c. II,
n. 5), die Stigmen sowohl bei Lebzeiten des Heiligen,
wie auch am Leichnam gesehen und sogar berührt zu haben:
ist Thomas von Celano der Verfasser, so müfste er schon
1226 wieder in Italien gewesen sein. Wenn auch die für
die Vita prima sich daraus ergebenden Schlüsse nicht so
schwerwiegend sind, wie es vielleicht im ersten Augenblicke
scheinen könnte, so wäre Gewifsheit darüber immerhin von
einigem Werte K
Wie dem auch sei, so ist doch wohl gesichert, dafs der
Verfasser ein Minorit noch der ersten Generation gewesen
sein mufs. Er nennt sich als Augenzeugen (n. 5), er beruft
sich wiederholt direkt oder indirekt auf die persönliche Be-
kanntschaft mit Augenzeugen (n. 9, 39, 54), er bekennt sich
als Minoriten (n. 1, 109). Die Schrift mufs um die Mitte
des Jahrhunderts geschrieben sein, denn die Vita prima und
die Behauptun«; van Ortroys (a. a. 0. S. 95 f.), Bonaventura habe
bei Wundern, die sowohl in der Vita prima wie im Tractatus stehen,
zeitweise dem Tractatus den Vorzug gegeben, weil derselbe ja doch
vom gleichen Verfasser stammte. Dagegen ist darauf hinzuweisen, dafs
Bonaventura den Julian von Speier in auffallend starkem Mafse vor
der Vita prima bevorzugt liat, also eine ganz unselbständige Quelle;
Bonaventura war also keineswegs so pietätvoll und gewissenhaft gegen-
über Thomas von Celano , dafs er nicht auch den von anderer Hand
stammenden Tractatus statt der Vita prima hätte ausschreiben können. —
Julian von Speier hat ausdrücklich gesagt, dafs er einen ,, Tractatus"
über die Wunder jdane (Anal. Boll. XXI, S. 187, n. 4G); Celano hat
keine derartige Bemerkung gemacht. Zu Julian würde es durchaus passen,
dafs er, wie früher bei der Legende, so jetzt im Tractatus die Lebens-
beschreibungen Celanos ausschrieb. Daraus würden sich denn auch die
von Ortroy betonten Ähnlichkeiten des Stils mit dem des Thomas von
Celano erklären.
1) Vgl. oben S. Gl Aum. 1.
238 GOETZ,
die Vita secunda sind benutzt, während Bonaventura und
Bernhard von Bessa bereits aus ihr geschöpft zu haben
scheinen ^ Die Mitteilung (am Schlufs von n. l), dafs schon
mehrere Ordensmitglieder heilig gesprochen seien, führt wohl
auf einen Zeitpunkt nach der Heiligsprechung der h. Klara
1255, denn bis dahin gab es aufser Franz nur einen Hei-
ligen im Orden : Antonius von Padua ^.
Der Tractatus selber ist seinem Inhalt nach nicht so
wichtig, dafs die Feststellung des Verfassers eine Hauptfrage
wäre. Da er fast nur Wunder erzählt und zum gröfsten
Teile solche, die sich erst nach dem Tode des Heiligen er-
eignet haben sollen, so bleibt nur ein bescheidner Rest von
historisch brauchbaren Nachrichten übrig. Von den kleinen
Beiträgen zur Lebensgeschichte des Heiligen ist der bedeu-
tendste die Erzählung von der Ankunft Jakobas da Settesoli
am Sterbebette des Heiligen: es wird dadurch beglaubigt,
was bisher nur auf unsichere Nachrichten zurückging, und
das Bild des Heiligen wird durch die Bestätigung seiner
Freundschaft mit der vornehmen Römerin um einen freien,
menschlichen Zug bereichert — durchbricht doch Franz so-
gar die Klausur der Portiunculazellen , um den „frater Ja-
coba" noch einmal zu sehen.
Der Tractatus ist kein blofser Anhang zu einer der vor-
handenen Lebensbeschreibungen, sondern eine selbständige
Sclirift, in der alle bisher bekannten Wunder zusammen-
getragen sind. So hat er alle Wundererzählungen der Vita
prima und secunda benutzt und meist im Wortlaut über-
nommen ^. Das Wichtigste am Tractatus de Miraculis ist
die Tatsache seines Vorhandenseins. Etwa 30 Jahre nach
dem Tode des Heiligen ist also die Betrachtung seiner Per-
1) Vgl. dafür van Ortroy a. a. 0. S. 88f. 93 ff. — Auffallend
bleibt es allerdings, dafs bei Bonaventura so viele Wunder des Trac-
tatus weggelassen sind.
2) Für eine Heiligsprechung des frater Kogerius von Todi fehlen
ausreichende Belege. Vgl. Acta SS. März, I, S. 417.
3) Es ist für die Kritik des Spec. Perf. aus dem Tractatus nichts zu
gewinnen, weil das einzige Mal, wo Vita sec, Tractatus und Spec. Perf.
sich berühren (Tract. n. 14), nur der Text der Vita sec. ausgeschrieben ist.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 239
scinlichkeit zum ersten Male ganz unter den Gesichtspunkt
des Wundertäters gerückt. Zwar könnte man dem Thomas
von Celano — wenn er der Verfasser ist — keinen Vorwurf
machen, dafs er die Geschichte schliefslich zur Legende
umgebildet habe; er hatte in den beiden Lebensbeschrei-
bungen dem historischen Franz von Assisi, soweit er ihn be-
greifen konnte, genuggetan, und es mufs auch festgestellt
werden, dafs die Erzählungen der Vita prima und secunda
im Tractatus de Miraculis — soweit sie dafür in Betracht
kommen — nicht ins Legendenhafte fortgebildet sind: was
dort an Wundern berichtet war, wird zum gröfsten Teile
ebenso, oft wortgetreu, in den Tractatus aufgenommen und
ferner hinzugefügt, was der tote Franz an Wundern in aller
Welt gewirkt hat; an Wundern, die Franz bei Lebzeiten
vollzogen haben soll, sind nur ganz wenige neue hinzugetan '.
Die Vita secunda hatte in stärkerem Mafse innerhalb der
einzelnen Erzählungen die Legende gegenüber der Vita prima
fortgebildet, neue, steigernde Züge zum Vorschein gebracht,
und Bonaventura bedeutet ebenfalls mehr für die Legenden-
entwicklung als der Tractatus de Miraculis. Dieser ist nur
im ganzen, eben durch sein Vorhandensein, ein Fortschritt
der Legende. Denn das jetzt auftretende dringende Be-
dürfnis nach einer reinen Wundersammlung kennzeichnet die
Anschauung der Zeit und des Ordens: in solchen primitiven
Gedankengängen hat sich doch offenbar bei den meisten
die Vorstellung von der Persönlichkeit des Heiligen bewegt.
Er wurde vor allem gi'ofs durch die Wunder, die er ge-
wirkt hatte und noch wirkte; was Thomas von Celano in
der Vita prima ausgesprochen hatte : dafs er lieber die „ cx-
cellentiam vitae ac sincerissimam conversatiouis formam"
schildern wolle als die „rairacula, quae sanctitatem non fa-
ciunt, sed ostendunt", mufste in einer Schrift, die nur den
Wundern gelten sollte, durchbrochen werden. Es ist ein
Zugeständnis an den Wunderglauben der Zeit, wie es in
der Vita prima und secunda nicht gemacht war. Denn der
1) n. 34, 124, 174, 178, 179, 195. Neu sind auch n. 31 und 32;
aber das sind keine Wunder.
240 GOETZ,
Anhang der Vita prima über die Wunder ist, wie erwähnt,
kein Bestandteil der Vita, sondern nur die Wiedergabe der
bei der Heiligsprechung verlesenen Wunder, also ein amtliches
Dokument; die V^ita secunda aber enthielt nur wenige Wun-
der. Der Epilog des Tractatus de Miraculis zeigt, dafs der
Verfasser erst auf wiederholtes Drängen der Brüder und der
Ordensoberen an seine Arbeit ging — war also Thomas der
Verfasser, so sah er in den Wundern jedenfalls keinen not-
wendigen Bestandteil der Vita.
Exkurs.
Thomas von Celano und die Vita S. Clarae.
Die in den Acta SS. Aug. 11, S. 754 — 768 gedruckte
Vita S. Clarae ist laut Prolog im Auftrag Papst Alexan-
ders IV. — also zwischen 1255 (Heiligsprechung Claras)
und 1261 (Tod des Papstes) entstanden. Die Herausgeber
der Acta SS. haben die Frage nach dem Verfasser ofien ge-
lassen und nur Bonaventura abgelehnt (a. a. 0. S. 740 f.).
Nach dem Vorgang Papinis und Cozza-Luzis (deren Schriften
ich nur aus Sabatiers Angaben kennen lernen konnte), nahm
auch Sabatier an, dafs Thomas von Celano der Verfasser
sei ^ Der von jenen Forschern angeführte Beweis steht in
einem Codex Magliabechianus , wo einer italienischen Über-
setzung der Vita die Bemerkung vorausgeschickt ist: „AI
santissimo in Cristo Padre Signore mio per divina Provi-
dentia della sacrosancta Romana ecclesia sommo Pontefice
Alessandro quarto frate Tomma da Celano con votiva subiet-
tione si racommanda con gli devoti baci degli beati Piedi" ^.
Bei dem unsicheren Stand der gesamten franziskanischen
Überlieferung geht es nicht an, dieser Bemerkung unbedingten
1) Sabatier, Spec. Perf., S. LXXV.
2) Diese Worte sind yon neuem mitgeteilt durch Faloci-Pulig-
nani, Mise. Franc. VII, S. 157. — Diese italienische Vita ist nach
Papini die Übersetzung eines lateinischen Textes der Laurenziana.
Faloci-Pulignani bemerkt (a. a. 0. S. 157 Anm. 1), dafs ein sol-
cher Codex in der Laurenziana zurzeit nicht mehr aufzufinden ist.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 241
Glauben zu schenken. Lag doch den Bollandisten eine Hand-
schrift vor, in der mit der gleichen Bestimmtheit Bonaventura
als Verfasser bezeichnet wurde ^ Keine der beiden Hand-
schriften hat Anspruch auf besondere Berücksichtigung. Die
Bollandisten haben sich seinerzeit für Ignorierung der Notiz
ihrer Handschrift entschieden, weil keiner der älteren Schrift-
steUer einschliefsUch Baronius und Wadding etwas von dem
Verfasser der Vita wufste ^; sie liefseu deshalb die Ungewifs-
heit über den Verfasser bestehen. Sehr viel mehr ist auch
heute noch nicht zu sagen.
Ohne dafs ich die These von Celanos Beziehung
zur Vita Ö. Clarae völlig zerstören möchte oder könnte, will
ich nur vor allzu grofser Sicherheit in dieser Hinsicht warnen.
Die Vita erweckt doch an mehreren Stellen Bedenken gegen
die Verfasserschaft Celanos. Man vergleiche die Worte des
Prologs : um zu ergänzen, „ quae defectiva legeram ", ist der
Verfasser gegangen „ad socios b. Francisci atque ad ipsum
collegiura virginum Christi . . ., frequenter illud corde revol-
vens, non licuisse antiquitus historiam texere nisi eis, qui
vidissent aut a videntibus accepissent". Das klingt doch
seltsam im Munde Celanos — obwohl man einwenden kann,
dafs er ja tatsächlich kein vollkommener Augenzeuge war
(vgl. oben S. GÜf), weder für Franz noch für Klara. Wer
Celano für den Verfasser der Vita S. Clarae hält, mufs aller-
dings aus dieser Stelle wiederum folgern, dafs Celano den
vertrauten Genossen nahe gestanden hat. Denn wenn er
sich mit ihrem Namen in der Vita secunda widerrechtlich
geschmückt hatte, so konnte sich dieser Betrüger bei seinem
neuen Werke doch unmöghch an diejenigen wenden, die er
so schmählich mifsbraucht hatte. Oder betrog er nun zum
dritten Male die WeltV Ich wiederhole früher Gesagtes:
das sind unmöghche Annahmen.
1) Acta SS. Aug. 11, S. 740.
2) Ein Irrtum der Bollandisten war es, den Verfasser aiifserlialb
des Minoritcnordens zu suchen, weil er im Prolog sage, er habe sich
zur Einholung von Nachrichten ,,ad socios s. Francisci" begeben.
Unter „socii" sind hier natürlich nicht die Miuoriten im allgemeinen,
sondern die vertrauten Gefährten des Heiligen zu verstehen.
16
242 GOETZ,
Der Text der Vita enthält mehrere Widersprüche zur
Vita prima und secunda. Beispiele:
n. 2. Der Gekreuzigte spricht zur Mutter Klaras. —
Vita secunda I, 6 erklärt es für „a. saeculis inauditum",
dafs der Gekreuzigte zu Franz sprach ; hier wird der gleiche
Vorgang wie etwas Selbstverständliches erzählt.
n. 12fF. Die Haupttugenden der Klarissen werden ge-
schildert. Die Vita prima I, 8 nennt deren sieben und
darunter mit besonderer Betonung Keuschheit und Geduld,
auch die Kontemplation; in der Vita S. Clarae werden diese
drei Tugenden nicht eigens hervorgehoben.
n. 14. Papst Innocenz III. habe den Klarissenorden zu-
erst anerkannt. Nach Vita prima I, 8 verschafft der Kardi-
nal von Ostia als erster dem Orden eine Art Bestätigung.
Bis auf die Stelle des Prologs sind diese Widersprüche
nicht sehr bedeutungsvoll und vielleicht auch zu erklären;
dafs die Vita freilich überreich an Wundern ist, pafst eben-
falls nicht gut zur Art Celanos.
Anderseits ist zuzugeben, dafs manches für Celano
spricht. Die Vita hat dieselbe Rhetorik, dieselbe Vorliebe
für Wortspiele (z. B. am Schlufs von n. 70: „Ciaram dicunt
clarificandum in terris, quam Dens clarificavit in excelsis").
Allerdings ist solche Rhetorik nicht Alleinbesitz Celanos ge-
wesen — Bonaventura hat sie ebenso. Aber eine Anzahl
direkter Anklänge kommen hinzu:
Im Prolog steht die Wendung „veritate praevia"; ebenso
im Prolog der Vita prima.
n. 1. Die Worte „Clara vocabulo et virtute ... claro
satis genere" klingen stark an Vita prima I, 8 an.
n. 8. Von der Portiunkula heifst es: „Hie locus ille est,
in quo nova miütia pauperum duce Francisco felicia sumebat
primordia." — Vita prima I, 8 heifst es, jedoch von
S. Damiano: „Hie est locus ille beatus ... in quo gloriosa
religio . . . pauperum Dominarum . . . felix exordium sumpsit."
n. !• . Die Worte des Kruzifixes sind offenbar in An-
lehnung an Vita secunda I, 6 entstanden. Das nicht sehr
häufige Wort „ergastulum" der Vita S. Clarae steht auch
Vita prima I, 6.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 243
n. 55. Über die Bedeutung der Wunder ein ähnliches
Urteil wie Vita prima I, 26.
In allen diesen Fällen kann es sich natürlich auch ledig-
lich um Benutzung Celanos durch den Verfasser der Vita
Clarae handeln. Der Gedanke an eine Schrift über Klara
mag Celano allerdings nahe gelegen haben, denn er hat Vita
prima I, 8 gesagt, die vita rairitica der Klarissen erfordere
„proprium opus et otium".
Alles in allem ein sehr zweifelhaftes Material zur Bestim-
mung des Verfassers! Die dünnen Anklänge und Wider-
sprüche heben sich gegeneinander auf wie die Angaben der
beiden Handschriften. So scheint es vorerst noch geraten,
die Frage nach dem Verfasser in der Schwebe zu lassen.
Der Wert der Vita S. Clarae für die Geschichte des h. Franz
ist nicht sehr grofs ; immerhin enthält sie mehrere Beiträge,
für die man dankbar sein mufs und die ihr einen Platz unter
den Quellen zweiten Ranges sichern.
3. Die Legende Bonaventuras*.
1260 fafste das Generalkapitel den Beschlufs, den Ordens-
general Bonaventura mit Abfassung einer neuen Legende des
h. Franz zu betrauen ^. Aus zwei Gründen ist dieser Be-
schlufs zu erklären. Celanos Legenden bildeten nur zu-
sammen ein Ganzes; für sich allein war jede der beiden
Legenden ein Torso und die Vita prima durch das, was sie
über Elias sagte, veraltet oder vielmehr anstöfsig. Das Be-
1) Gedruckt in den Acta SS. Oct. II, S. 742 ff. als ,,Vita altera".
Ferner bei Wadding, Francisci Assis. Opuscula (1623, Antwerpen),
S. 525 ff. und in vielen Einzelausgaben. Die beste Ausgabe jetzt in
den Opera VIII, Quaracchi 1898; nach ihr ist im folgenden zitiert, die
Einteilung der Acta SS. aber in Klaniincrn beigefügt. — Über die
zahlreiclien Handschriften wird Auskunft gegeben: Opera VIII,
S. LXXXVIff. — Literatur: Karl Müller, Anfänge, S. 183;
Thodc, Fiauz von Assisi, S. 534 ff. ; Sabatier, Vic de S. Frangois,
S. LXXXIff.; Faloci-Pulignani, Mise. Franc. VII, S. 159ff.; van
Ortroy, Anal. Boll. XVIII, S. 93ff.; Tilemann, Speculum Pcrf.,
S. 72—76; Nitzsch, Prot. Realencykl. (3. Aufl.), Art. Bonaventura.
2) Schon 1257 scheint die Frage erörtert zu sein: Müller, An-
fänge, S. 183 (nach Waddiug).
16*
244 GOETZ,
dürfnis nach einer Zusammenfassung des ganzen Materials
in einer Legende war unzweifelhaft gegeben, und eventuelle
Ausscheidung des Unpassenden lag dabei nahe ^. Aber es
ist wahrscheinlich, dafs zu diesem praktischen Gesichtspunkt
noch ein anderer kam. Die Vita secunda stand auf der Seite
der strengen Anhänger des Heiligen; weite Kreise des Ordens
teilten diese Anschauungen nicht, und so war für sie die
Vita secunda sicherlich ein wenig erfreuliches Werk ^. Auch
in vorurteilsfreien Köpfen konnte der Wunsch auftauchen,
eine für den ganzen Orden verwendbare Legende zu schaffen,
damit das Leben des Heiligen und die Anfange seiner Grrün-
dung dem Streite der Parteien entzogen würden. Es fragt
sich nur, ob eine so gut gemeinte Absicht — dafür kann
man sie ansehen — ohne Verfehlung gegen die geschicht-
liche Wahrheit möglich war. Bonaventura übernahm die
Aufgabe, und seine Schrift will unter diesen beiden Gesichts-
punkten der Zusammenfassung und der Versöhnung beurteilt
sein : man mufs ihr mildernde Umstände von Anfang an zu-
bilhgen. Neben der gröfseren Legende (Legenda major) ver-
fafste er gleichzeitig einen Auszug (Legenda minor); beide
wurden 1263 dem Generalkapitel vorgelegt und gebilligt.
Die Sachlage würde völlig geklärt sein, wenn man ohne Be-
denken die Nachricht annehmen könnte, dafs 1266 vom
Generalkapitel die Zerstörung aller älteren Legenden be-
schlossen worden sei. Dann wäre erwiesen, dafs Beeinflussung
der Überlieferung schliefslich doch die Hauptsache bei den
Beschlüssen des Generalkapitels war und dafs ferner Bona-
ventura dieser auf Korrektur der Geschichte bedachten Rich-
tung im wesentlichen genuggetan hatte. Der Beschlufs von
1266 ist nur von Rinaldi 1806 in der Vorrede zu Celanos
beiden Legenden aus einer handschriftlichen Predigtsammlung
1) Beschlufs des Kapitels von 1260: „ut ablata varietate multa-
rum legendarum ex diversis historiarum fragmentis , quae de s. Frau-
cisco circumferebantur , gravem et sinceram ipse [Bonaventura] con-
cinnaret historiam" (Wadding, Annales ad a. 1260, n. 18).
2) Vgl. die Notiz bei W ad ding zum Jahre 1256 n. 4: es habe
vielen mifsfallen, dafs die zweite Legende Celanos „publice legi". Frei-
lich weifs man nicht, woher Wadding diese Nachricht nahm.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 245
bekannt gegeben worden; Bestätigung für diese Nachricht
bietet vielleicht die Hist. tribulationura und — eventuell nur
auf Grund dieser — auch Wadding \ Van Ortroy hat den
Generalkapitelsbeschlufs in neuer Weise gedeutet als nur die
Liturgien betreffend ^ — ganz überzeugen wird er damit
nicht, aber eine gewisse Vorsicht bleibt geboten, solange
jener Beschlufs nicht in einwandfreier Überlieferung vorliegt.
Das sicherste bleibt zunächst, die Legende Bonaventuras in
ihrer eigenen Richtung zu bestimmen. Denn ob nun die
älteren Legenden verfemt wurden oder nicht — tatsächlich
hatte ja die Schrift Bonaventuras den Zweck, die andern zu
ersetzen, und so mufste sie in jedem Fall verdrängend wirken.
Frühzeitig ist Bonaventuras Legende kritisiert worden:
schon Ubertino von Casale wirft ihr vor, sie habe aus
Schonung der Ordensmitglieder mit Willen weggelassen, was
sich auf die Absichten des h. Franz hinsichtlich der Regel,
auf ihre göttliche Einsetzung und künftige Mifsachtung be-
ziehe, weil man schon zu Bonaventuras Zeiten offen davon
abgewichen sei ^. Nicht viel anders lautet das heutige Urteil
über Bonaventura: dafs er Gegensätze versöhnen wollte und
deshalb Steine des Anstofses beiseite liefs, wird fast überein-
stimmend angenommen *. Das trifft im wesentlichen das
Richtige ; man kann es aber vielleicht noch etwas näher er-
läutern.
Bonaventura war längst ein berühmter Gelehrter, als er
die Abfassung der Franzlegende übernahm. Wie ein solcher
1) Sabatier, Vie de S. Franc^ois, S. LXXXV Anm. 1. Die Stelle
in der llist. trib. : Arch. f. Lit.- u. Kirch. -G. II, S. 2G5f. ; vgl. dazu
ebenda S. 123, wo Ehrlc die Richtifrkeit dieser Notiz annimmt. — Was
Ubertino da Casale in dieser Hinsicht sagt (Arch. f. Lit.- u. Kirch. -G.
III, S. 80 und 168 f. spricht nicht für einen oftiziellen Beschlufs des
Ordens, sondern nur für die Wünsche und Versuche Einzelner.
2) Anal. Bell. XVIII, S. 174 f.
3) Sabatier, Spcc. Perf., S. CXLIV.
4) So von Karl Müller, Thode, Sabatier, van Ortroy,
Mandonnet, Tileniann, wenn auch mit gewissen Gradunterschieden.
Die blinde Parteinahme Kalo ci- Pu lignanis für Bonaventura — auch
Lemmens neigt etwas dazu — ist auch dann noch nicht berechtigt,
wenn man gegen Sabatiers Kritik an einigen Punkten Einsprache erhebt.
246 GOETZ,
Mann diese Aufgabe zu lösen versuchte, interessiert bereits
als ein literargescbichtliches Problem. Aber gerade in dieser
Hinsicht wird man doch völlig enttäuscht. Seine Legende
zeigt zwar die Vorzüge eines schönen Stils, einer Rhetorik, wie
sie damals gefordert wurde, einer sehr guten Anordnung und
Verteilung des Stoffes; aber der Inhalt dieser schönen Form ist
doch nicht viel mehr als eine nach heutigen Begriffen unstatt-
hafte Kompilation. Zwar mufs man ihm zugestehen, dafs er kein
roher Kompilator ist: er verschmilzt sein entlehntes Material
mit einem Geschick, dafs eine Art von Selbständigkeit entsteht,
dafs man seinen Geist in seiner ganzen Arbeit spürt und dafs
von den gewöhnlichen Erscheinungen einer Kompilation, von
Wiederholungen und V^^idersprüchen, nichts bei ihm zu merken
ist. Aber inhaltliche Eigenart besitzt seine Arbeit nicht. Er
konnte allerdings nicht über das hinausgehen, was an Tat-
sachen nun einmal schon bis zu einer Art Abschlufs gesammelt
war; aber man spürt auch in seiner Stellung zu diesen Tat-
sachen nichts von der Originalität, die wir heute bei einem
Schriftsteller — zumal von solchem Ansehen — als selbst-
verständlich verlangen würden. Auch hätte Bonaventura über
seine Vorgänger hinauskommen können, wenn er die Chrono-
logie der Erzählungen schärfer ausgebaut hätte; statt dessen
bleibt er in der Unbestimmtheit der Zeitbestimmungen ganz
auf dem Standpunkte der Früheren.
Bonaventura berichtet am Eingang seiner Arbeit, dafs er
sich zuvor nach Assisi begeben habe, um sich bei den über-
lebenden Genossen des Heiligen Rat zu holen, besonders bei
einigen, „qui sanctitatis eius et conscii fuerunt et sectatores
praecipui, quibus propter agnitam veritatem probatamque
virtutem fides est indubitabilis adhibenda". Also auch Bona-
ventura beruft sich auf noch lebende vertraute Gefährten
des Heihgen — freilich ohne sein Urteil irgendwie dadurch
zu binden. Und dafs er von diesen Gefährten besondere
Kunde nicht erhalten haben kann, zeigt seine Legende: das
wenige Neue, was sie bringt, wird zum geringsten Teil von
ihnen stammen. Bonaventura sagt zwar an derselben Stelle,
dafs über Leben und Worte des Heiligen „fragmenta quae-
dam partim neglecta partimque dispersa" vorhanden seien,
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 247
aber die allerdings vorhandenen „fragmenta", die Aufzeich-
nungen Leos, sind ihm entweder nicht zugänglich gemacht
worden oder er hat ihre Verwendung abgelehnt. Man nehme
die Liste desjenigen vor, was bei Bonaventura zum ersten
Male überliefert ist — dazu bedurfte es keines Besuches bei
den Überlebenden der ersten Generation \ Man sieht es auf
den ersten Blick, wie das fast alles nur Erweiterung des
Legendarischen ist. Teilten ihm die vertrauten Gefährten
nichts anderes mit, so möchte man glauben, sie seien mit
ihm verfahren, wie ein Diplomat mit einem neugierigen
Berichterstatter: ein Schwall von Unwichtigem, um das Ver-
schweigen des AYichtigen zu verdecken. So weifs Bona-
ventura, dafs Franz noch vor der Vision in S. Damiano,
wo nach der Vita secunda Christus zu ihm sprach, schon
einmal eine Erscheinung des Gekreuzigten hatte (I, 6 = n. 12);
er weifs ferner, wie nach der Lossagung vom Vater der
Bischof von Assisi das dem Nackten übergebene Gewand mit
einem Kreuze gezeichnet habe (II, 4 = n. 20), wie Franz
einen Aussätzigen durch einen Kufs heilt (II, 6 = n. 22);
er fügt bei der Vision des Silvester noch einen Drachen
hinzu, der dann vor Franz flieht (III, 5 ^= n. 3Ü) usw. —
fast lauter Dinge, bei denen man die unablässig schaffende
Legendenbildung an der Arbeit sieht. Unter den Neuig-
keiten, die Bonaventura bringt, sind nur ganz wenige, die
man als Tatsachen bezeichnen kann : so den Verlust der von
Franz aufgezeichneten Regel durch Elias (IV, 11 = n. 55),
ferner dafs Bruder lUuminatus ihn in den Orient begleitete
(IX, 8 = n. 134), dafs Silvester und Klara ihn einmal zum
Predigen bewogen (XII, 2 = n. 172, 173), dafs er dem
Bruder Illuminatus von der Stigmatisation erzählt habe
(XIII, 4 = n. 194), und hie und da einmal eine Lokali-
sation, ein Name mehr und älmliches. Unter diesen Tat-
sachen ist keine, die uns irgendwie neue Ausblicke eröffnete;
fast alle übrigen Neuigkeiten sind Wunder.
1) Zusanimonstclliing alles Neuen bei Thode, Franz von Assisi,
S. 535 f. Abzuziehen ist davon, was jetzt als bereits im Tractatus de
Miraculis stehend nachgewiesen werden kann.
248 GOETZ,
Das gibt kein günstiges Vorurteil für diese Legende —
es ist das denkbar bescheidenste Niveau, auf dem sich diese
Zusätze zu der schon bekannten Überlieferung bewegen. Wie
Bonaventura den bekannten Stoff im Einzelnen und Kleinen
noch weitergebildet hat, wird sogleich berichtet werden. Zu-
nächst aber ist festzustellen, woher er diesen bekannten Stoff
nahm.
Die beiden Legenden Celanos und die Legende der drei
Genossen wurden früher als Bonaventuras Quellen bezeichnet.
Die Legende der drei Genossen scheidet jetzt aus ; was unter
diesem Namen geht, hat vielmehr selber erst aus Bonaventura
geschöpft. Aber auch die Benutzung der Vita prima ist
nicht ganz so stark, wie man zumeist annimmt ; Bonaventura
hat ihr merkwürdigerweise häufig die Legende Julians von
Speier, die doch nur ein Auszug aus der Vita prima war,
vorgezogen oder beide nebeneinander verwendet '. Ausgiebig
ist die Vita secunda benutzt und ebenso der Tractatus de
Miraculis, der nicht nur im Anhang über die Wunder, sondern
auch an vielen Stellen der Legende seine breiten Spuren
hinterlassen hat ^. Aus diesen vier Quellen also — Vita
prima, Julian, Vita secunda und Tractatus — sind reichlich
neun Zehntel von Bonaventuras kunstvollem Mosaik ent-
standen. Mit einer für uns unbegreiflichen Naivität schreibt
Bonaventura diese Quellen aus, oft sie ohne jede Änderung
wörtlich übernehmend, oft zwei miteinander verbindend, so
dafs man die Herkunft der einzelnen Worte leicht erkennt,
oft auch die übernommenen Texte etwas überarbeitend. Die
wenigen Stellen seiner Legende, deren Herkunft bisher nicht
bestimmt ist, wird man nach diesen Erfahrungen kaum ihm
selber zuschreiben können — sie werden ebenfalls aus andern
Schriften übernommen sein ^.
1) Beispiele: I, 2 (= n. 8), III, 1—3 (= n. 26—28), III, 6
(= n. 31), III, 8 (= n. 34), IV, 1 (= n. 89), XV, 3 (= n. 217), XV, 6
(= n. 220) usw.
2) Über die Benutzung dieser Quellen vgl. Tilemann S. 73, van
Ortroy, Anal. Boll. XVIII. S. 93ff. lOBfif.
3) Es ist möglich, dafs auch zwischen der Vita sec. und Bona-
ventura ein Mittelsmann steht, wie Julian zwischen ihm und der Vita
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FKANZ VON ASSISL 249
Das kann man als ersten Grundsatz Bonaventuras fest-
stellen: er schreibt seine Vorlagen ohne Bedenken
wörtlich aus. Es fragt sich, ob man ein bestimmtes
Prinzip nachweisen kann, wenn er etwas verändert — die
stilistischen Überarbeitungen bleiben natürlich als belanglos
beiseite. Fast unabsichtliche Fortbildung der Legende
aus jener wunderbegierigen Stimmung heraus, die der Hei-
lige wie selbstverständlich erzeugte, und absichtliche
Veränderung der Tatsachen als Milderung der Gegen-
sätze — oder etwa zur Fälschung der Überlieferung? —
kommen in Betracht.
Die Fortbildung der Legende ist unzweifelhaft in reichem
Mafse bei Bonaventura vorhanden. Ich greife einige von
den vielen Beispielen heraus:
I, 1 (= n. 7). Nach der Vita prima I, 7 hat Franz
einem Bettler ein Almosen verweigert und es dann bereut.
prima. Manche Abweichungen von dem sonst so sorgfältig benutzten
Texte der Vita sec. weisen darauf hin. So ist VIII, 4 (= n. lOG) nach
Vita sec. III, 115 gearbeitet, bringt aber zum Schlufs neben andern
kleinen Abweichungen noch Worte Franzens. Die Unselbständigkeit
Bonaventuras in Sachen des Materials ist so grofs , dafs man ihn über-
all von Vorlagen abhängig glauben möchte. — Über Beziehung zum
Spec. Perf. vgl. oben S. 189, 213; Tilemann S. 74. — Eine Berührung
mit Jordanus a Jano (ad a. 1226) bei Bonaventura XV, 5 (= n. 219):
beide berichten mit ähnlichen Worten, dafs Franz in S. Giorgio zuerst
„litteras" gelernt, dann dort zuerst gepredigt habe und schliofslich dort
beigesetzt sei. Eine Berührung mit Eccleston. De adventu fratrum
in Anglia, coli. XIII: wie hier, so steht auch bei Bonav. XUI, 4
(= n. 194), der Seraph habe zu Franz einiges gesagt, was er niemals einem
Menschen berichten werde. Jordanus wie Eccleston haben um dieselbe
Zeit wie Bonaventura geschrieben, etwal2ü2; es ist möglich, dafs Bona-
ventura beide noch benutzt hat. — Es sei ferner darauf hingewiesen,
dafs Bonav. XII, 7 (== n. 178) mit dem Bericht über die Predigt vor
dem Papste von Vita i)rima I, 27 abweicht (ebenso von der sogen. Leg.
tr. Soc. XVI = n. G4), sich dagegen mit dem berührt, was Stephanus
de Borbone (s. oben S. 136) an zwei Stellen in gleicher Weise erzählt
(n. 254 und 473). Stephanus fügt dann noch einiges hinzu , was bei
Bonaventura fehlt; da er vor Bonaventura schrieb, so scheint dieser ihn
nicht benutzt zu liaben. Auch hier kommt man wieder zu dem Schlüsse,
dafs nocli andere Übcrlieferungsreihen vorhanden waren, aus denen hier
sowohl Stephanus wie Bonaventura geschöpft haben.
250 GOETZ,
Bonaventura schreibt die Vita prima aus, fügt aber hinzu,
dafs Franz dem Bettler nachgelaufen sei, um ihm noch etwas
zu geben. Im selben Paragraphen die bei Bonaventura zu-
erst auftretende Erzählung, ein ]\Iann in Assisi habe vor
Franz seinen Mantel auf dem Boden ausgebreitet, um den
künftigen Heiligen zu ehren.
I, 5 (= n. 12). Ein Wunder wird hinzugefügt: diese
erste Anrede des Kruzifixes fehlt in den früheren Legenden.
II, 1 (= n. 15). Die Legende ist über Vita secunda
I, 6 hinaus fortgebildet: Franz sieht zuerst mit tränenden
Augen zu dem Kruzifix auf, ehe dieses spricht, und dann
spricht der Gekreuzigte dreimal. Bei Celano geht der
Auftrag des Gekreuzigten auf Wiederherstellung der Kirche,
in der Franz sich befindet — eine weitere Deutung ist aller-
dings bereits möglich; Bonaventura gibt diese Deutung,
indem er den Auftrag vor allem auf Wiederherstellung der
gesamten Kirche Christi bezieht.
II, 4 (= n. 20). Vita prima I, 6 hatte erzählt, dafs
der Bischof den nackten Franz mit seinem Pallium bedeckte;
Bonaventura hilft der Phantasie des Lesers weiter: das
Gewand eines Bauern wird dann gebracht, um Franz damit
zu bekleiden, und der Bischof signiert es mit einem Kreuze.
III, 5 (= n. 30). Die Vision Silvesters über Vita se-
cunda III, 52 hinaus erweitert durch Hinzufügung des
Drachens. Dafs aber der Anfang der Erzählung Celanos,
wo von Silvesters Habsucht die Rede ist, von Bonaventura
•weggelassen wurde, gehört in das Gebiet der absichtlichen
Veränderungen (s. u.).
IV, 1 (= n. 39). Der Vergleich von Vita prima I, 14,
Julian von Speier (Acta SS. Oct. II, S. 592 oder Anal. Boll.
XXI, S. 172) und Bonaventura zeigt die Zunahme der Le-
gende und des Wunders.
IX, 7—9 (= n. 133 — 138). Die Szene vor dem Sultan
ist über Vita prima I, 20 hinaus breit und dramatisch aus-
gemalt unter Hinzufügung der Feuerprobe und der wort-
getreuen Reden Franzens.
XII, 1 (= n. 170, 171). Die lange Anrede Franzens
zuerst bei Bonaventura.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 251
Xn, 3 (= n. 174). Die Vögelpredigt in der Vita prima
I, 21 ganz natürlich, denn es handelt sieh um Tauben und
Krähen (die nicht wegfliegen, wenn ein Mensch zu ihnen
tritt!). Bei Bonaventura sind es nur Vögel „diversi ge-
neris" — indem er die nähere Bestimmung der Gattung
fortläfst, führt er den Leser auf die Fährte des Wunders.
XIII, 3 (= n. 191 — 193). Bonaventura hat die Vita
prima II, 3 und den Tractatus de MiracuUs Kap. 3 zugrunde
gelegt. Aber er malt das Erscheinen des Seraphs, das Her-
beischweben, das vor Bonaventura nicht erwähnt wurde,
aus und fügt dann das Verschwinden des Seraphs noch ein.
XIII, 8 (= n 200). Weit mehr Zeugen als in der Vita
secunda haben bei Bonaventura die Stigmen schon bei Leb-
zeiten Franzens gesehen : mehrere Kardinäle und der spätere
Papst Alexander IV.
XV, 2 (= n. 216). Die Seitenwunde hat bei Bona-
ventura das Aussehen einer „rosa pulchei-rima" bekommen.
XV, 4 (= n. 218). Bei Bonaventura zuerst das Auf-
treten eines Mannes, der an den Stigmen zweifelt („incre-
dulus quasi Thomas") und durch Berührung überzeugt wird.
Andere legendarische Zusätze sind bereits von Sabatier
angeführt worden ^
Aus allen diesen Fortbildungen der Legende braucht man
Bonaventura keine besondern Vorwürfe zu machen, denn
sie kommen überall in dieser Art von Literatur wie eine
Naturnotwendigkeit. Die Heiligkeit löscht den geschichtlichen
Sinn aus wie die Nacht den Tag mit Dämmerung und immer
schwererem Dunkel. Auch Bonaventura steht unter diesem
allgemeinen Gesetz : der Heilige mufs immer heiliger werden.
Die Schuld des Schriftstellers beginnt erst, wo er etwa ab-
sichtlich verändert, weggelassen oder hinzugefügt hat — vor-
ausgesetzt, dafs diese Veränderungen sachliche Bedeutung
haben. Beispiele erläutern auch hier am besten.
11^ 6 (= n. 22). Genau nach Vita prima I, 7 wird
erzählt, wie Franz sich den Leprosen widmet. Celano er-
1) Sabatier, Vie de S. Fran^ois, S. LXXXVIf.: Bonaventura
IV, 8 (= n. 49), VIII, 7 (= n. 111, 112).
252 GOETZ,
wähnt dabei Franzens Testament; gerade diese Stelle läfst
Bonaventura weg.
IV, 1 und 2 (== n. 39 und 40, Anfang von 41) schliefst
sich enge an Vita prima I, 14 an; IV, 3 (== n. 41 und 42)
an Vita prima I, 16 Ausgeschaltet ist Vita prima I, 15,
in dessen zweiter Hälfte das strenge Leben und das Ideal
der ältesten Brüder geschildert ist.
IV, 3 (= n. 41, 42), gekürzt nach Vita prima I, 16
und 17. Weggelassen ist die von Celano I, 17 durch Bei-
spiel erläuterte, vollkommene Unterwerfung auch unter un-
würdige Priester. Bonaventura hat anderwärts seine Mei-
nung in dieser Frage gesagt: er hält viele Priester für so
verderbt, dafs sie „inhabiles et minus idonei sint ad animas
poenitentium absolvendas" ^, ja er spricht im vollen Wider-
spruch zur Meinung des Heiligen den mit Sünden befleckten
Priestern die Fähigkeit zur Verwaltung des Abendmahl-
sakraments ab und erklärt sie für Tempelschänder und
Ketzer ^. Bonaventuras Standpunkt war gewifs der bessere
als die auflösende Milde des h. Franz; aber etwas von den
Anschauungen des Heiligen wird mit dieser Auslassung
unterschlagen.
Auch in VI, 2 (== n. 74) drängt sich Bonaventuras ab-
weichende Meinung vor: er berichtet zwar nach Vita prima
I, 19, wie Franz sich wegen Fleischgenufs in der Fastenzeit
öffentlich strafen läfst, fügt aber hinzu, die Zuschauer hätten
„humilitatem huiusmodi magis admirabilem quam iraitabilem"
angesehen. Was hätte Franz zu diesem Urteil gesagt!
VII, 9 (== n, 97) nach Vita secunda III, 7; aber die
Ermahnung, die höchste Einfachheit bei allen Mahlzeiten
walten zu lassen, verschwindet bei Bonaventura.
Diese Beispiele, die ohne irgendwelche Klassifikation her-
ausgegriffen sind, zeigen bereits, dafs Bonaventura durch
Auslassungen verändert. Ist das etwa auch der Fall, wo
es sich um Bonaventuras Stellung zu den wichtigsten Idealen
des Heiligen handelt?
1) In der Schrift- „Quare fraties uiinores praedicent et confessiones
audiant"; Opera VIII, S. 382.
2) In dem Tractatus de praeparatione ad Missam; ebenda S. 101.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 253
Wie steht er zum Armutsideal? Er berichtet (VII, 1
= n. 87), wie die Liebe zur Armut fast aus der Welt ver-
schwunden war, ehe Franz auftrat; er berichtet dann weiter
einige der bezeichnenden Züge von Franzens Auffassung,
darunter auch die strengen Anschauungen über die Woh-
nungen der Brüder (VII, 12 = n. 89) ^ — bei den Fällen,
in denen Franz mit Heftigkeit gegen Häuser der Minoriten
eingeschritten war, beschränkt er sich allerdings auf wenige
Worte. Aber er wünscht doch wie Celano, dafs die Brüder
die Kurien meiden (VII, 10 = n. 85). Er erzählt von der
Armut der ältesten Brüder (IV, 7 = n. 47), ferner wie
Franz das Betteln empfiehlt und selber ausübt (VII, 8 ff. =
n. 96 ff.). Noch mehr als die Armut wird die Demut er-
wähnt (passim). Franzens Neigung zu den Leprosen wird
dreimal rühmend hervorgehoben (I, 6 = n. 13; II, 6 =
n. 22; Miracula VIII, 5 = n. 291). Die Nachahmung des
Evangehums kommt als Ziel Franzens im Prologe vor
(= n. 1). Die Arbeit wird als Mittel gegen den Müfsiggang
nicht weniger als im Testament gefordert (VI, 6 = n. 64)
und ebenso der Gehorsam (VI, 4 und 5 = n. 76 — 78).
Auch die Konflikte im Orden hat Bonaventura nicht völlig
verschwiegen : er weist auf die mala exempla mancher Brü-
der hin (VIII, 3 = n. 105).
Aber von den Forderungen des Testaments fehlen zwei:
die strenge Befolgung der Regel und das Verbot der Privi-
legien. Bonaventura ist sonst für diese Befolgung eingetreten ^,
aber in der Legende sagt er nichts davon. Es liegt also in
dem Weglassen dieser beiden Forderungen nicht etwa Ver-
gefslichkeit der fortschreitenden Überlieferung, sondern eine
Absicht. Auch das Testament wird nicht erwähnt (s. oben
die absichtliche Auslassung S. 252), obwohl zweimal Be-
rührungen mit ihm stattfinden (III, 2 = n. 27; Vll, 2 =
1) Sabatier, Spec. Perf., S. 25 Anm. 1 sagt mit Unrecht, dafs
Bonaventura sich nichts anderes als {jrofse Klöster habe denken können ;
VII, 12 zeigt, dafs er das alte Ideal noch kannte. Auch das von Sa-
batier ebend. S. CXXXI Anm. 2 Gesagte findet im folgenden einige
Berichtigungen.
2) Opera VIII, S. 334, 9 und S. 389, 14.
254 GOETZ,
n. 89: „sicut peregrini et advenae" — Worte, die in Bona-
venturas Vorlage — Vita secunda — fehlen). Auch über
die Stellung des Heiligen zur Gelehrsamkeit gibt die Legende
keine genügende Auskunft. Für Bonaventura persönHch ein
heikler Punkt — sein Leben war der Wissenschaft gewidmet,
und er sollte berichten, dafs Franz nicht allzuviel von ihr hielt!
Wenn er sagt (XI, 1 = n. 152), Franz sei nicht gegen ge-
lehrte Studien gewesen, sobald nur Gebet und Lebenswandel
dadurch nicht zu kurz gekommen seien, so ist das nur ein
dürftiger Auszug aus den Anschauungen des Heiligen. Bona-
ventura umrahmt dies mit Nachrichten über Franzens wunder-
bares Verständnis der h. Schrift und dafs er gern darin las,
obwohl er ohne gelehrte Bildung gewesen sei. Was aber
Celano in dieser Hinsicht gebracht und Franzens geringe
Wertschätzung der Gelehrsamkeit klargestellt hatte, fehlt bei
Bonaventura. Es ist klar, dafs hier sein persönliches Interesse
und das der Oberschicht des Ordens zusammenfiel. Er hat
sich in der „Epistola de tribus Quaestionibus" einen Ausweg
gegenüber der Regel und dem Evangelium — von Franz
spricht er dabei nicht — zurechtgelegt: wenn die Regel
sage „non curent nescientes litteras litteras discere'', und
das Evangelium „quod nolimus vocari magistri", so solle
das nur heifsen, „quod unusquisque in ea vocatione, qua
vocatus est, permaneat" — wer einmal Gelehrter sei, solle
es bleiben und nicht Laie zu werden trachten, wer Laie sei,
solle ebenfalls in seinem Stande beharren. Franz selber habe
die Theologen aufs höchste verehrt und bei seinem Tode be-
fohlen — Bonaventura zitiert dabei das Testament, das er
also sehr wohl kannte! — „quod doctores sacrae Scripturae
in summa veneratione haberent tanquam illos, a quibus per-
ciperent verba vitae". — Nun ist ja auch hier kein Zweifel,
dafs Bonaventura in dieser Frage gegenüber Franz recht
hatte; aber er hat eben doch die Meinung des Heiligen in
diesem Punkte nicht genügend zum Ausdruck gebracht.
Bonaventura schweigt ferner über die Dichtungen des
Heiligen und seine Neigung zum Gesang. Auch über die
Beziehungen zur h. Klara und zur Jakoba da Settesoli gleitet
er fast ganz hinweg: dafs Franz der Jakoba ein Lämmlein
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISI. 255
schenkte, wird erzählt (VIII, 7 = n. 112), aber die ihm
doch vorhegende Erzählung des Tractatus de Miraculis über
Jakobas Ankunft an Franzens Sterbebette wird verschwiegen ;
was an vier Stellen von der h. Klara gesagt wird, betrifft
nur an einer ihr persönliches Verhältnis zu Franz (XII, 2 =
n. 173: seine Anfrage, ob er predigen solle). Und da, wo
er nach Vita secunda III, 55 — 57 Franzens ängstliche Zurück-
haltung vor Frauen schildert, läfst er die Worte weg, mit
denen Celano zwei Frauen — offenbar Klara und Jakoba —
ausnimmt (V, 5 = n. 6 "3) '. Es fehlt ferner bei Bonaventura,
was die Vita secunda Franz über den vollkommenen General-
minister sagen läfst — erschien dieses Ideal dem derzeitigen
Träger des Amtes als unerfüllbar? Abgeschwächt ist auch
die Stellung, die der Portiunkula in Celanos Legenden nach
Franzens Willen zukam ; Bonaventura sagt etwas kühl (II, 8 =
n. 24): „hunc locum vir sanctus amavit prae ceteris mundi
locis, hunc in morte fratribus tanquam virgini carissimum
commendavit.*' Dafs die Portiunkula das Haupt (caput) des
Ordens sein sollte, erfährt man nicht mehr. Abgeschwächt
ist auch die Strenge, mit der Franz jede Berührung von Geld
verworfen hatte (VII, 3 = n. 90).
Mancher von diesen Mängeln der Legende Bonaventuras
war auch schon in der Vita secunda vorhanden : für gewisse
Vertuschungen im Interesse des Ordens hatte sie den W^eg
gewiesen. Handelte Bonaventura ebenso, so war er dennoch
kein Fälscher. Den gröfsten Teil der alten Ideale hat er in
seiner Legende geschildert. Für das Fehlende oder Veränderte
gibt es drei Gründe, die man zu seinen Gunsten im Auge
behalten mufs. Bonaventura hatte die ältesten Zeiten des
Ordens nicht selber gesehen; geboren 1221 ist er frühestens
1238 Minorit geworden. Sein Idealismus konnte nur der der
Epigonen sein. Einen Teil seiner Abschwächungen darf mau
1) Sabatier, Spcc. Poif., S. CXXXI Amn. 2 meint, dafs aucli
die Bozicliiingoii zu Doniinikiis vdii Bonaventura unteidiückt worden
seien. Das ist allerdinj,'s der Fall, aber es braucht weder eine böse
Absicht, noch, wie Faloci-Puli f^nani will, ein Streben nach Kürze
gewesen zu sein. Der aussichtslose Streit der beiden Orden konnte Bona-
ventura zum Schweigen veranlassen. Vgl. oben S. 180 f.
256 GOETZ,
auf diese Ursache zurückführen: es ist die natürhche Ver-
flachung des Ideals, wie zeitUcher Abstand sie mit sich bringt.
Zweitens entschuldigt ihn, wie oben schon ausgeführt wurde,
das natürliche Gesetz zunehmender Legendenbildung; die
Heihgkeit sollte gröfser, die Ähnlichkeit mit Christus noch
auffallender werden, und deshalb fielen manche menschliche
Züge, wie der naive Verkehr mit Klara und Jakoba, viel-
leicht auch die Neigungen zu Dichtung und Musik; drittens
schreibt er mit einer Absicht, die nicht aus dem Wunsche
nach Fälschung der Überlieferung entstand, sondern er wollte
Gegensätze versöhnen, als Vertreter einer wohlmeinenden
Mittelpartei die Einheit des Ordens wiederherstellen. So hat
diese Tendenz, die bei der Übergebung des Testaments, der
Privilegienfrage, der strengen Befolgung der Regel, der Ge-
lehrsamkeit und der Portiunkula hervortritt, ein Anrecht auf
Entschuldigung, denn das waren die Fragen, um derentwillen
die Gemüter feindselig entbrannt waren. Verwerflich ist
diese Tendenz vom Standpunkt der historischen Forschung;
aber Bonaventura würde auf einen Vorwurf dieser Art wohl
geantwortet haben, die Aufgabe der Versöhnung scheine ihm
wichtiger als die der geschichtlichen Erkenntnis. Er konnte
darauf hinweisen, dafs er an andern Stellen seiner Schriften
stark genug die Notwendigkeit strenger Ideale betont habe ^
Sollte es mit dem Beschlufs des Generalkapitels von 1266
seine Richtigkeit haben , so braucht man darin nicht einen
Vorstofs der laxen Partei zu sehen; es könnte im Sinne
Bonaventuras ein Versuch der starken Mittelpartei gewesen
sein, gewisse Streitigkeiten mit wohlmeinendem Zwange zu
beseitigen.
Nimmt man aber alles zusammen: die mangelnde Ori-
ginalität der Auffassung, das Ausschreiben der Vorlagen,
das Abschwächen der umstrittenen Ideale, die Widerstands-
losigkeit gegenüber fortschreitender Legendenbildung, so bleibt
doch herzlich wenig übrig, was Bonaventuras Schrift wert-
1) So hinsichtlich des Geldes, dessen Besitz er oft genug scharf
verurteüt hat, während er es in der Legende nur einmal flüchtig ver-
wirft (s. oben S. 255).
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES IIL. FRANZ VON ASSISI. 257
voll machen könnte. Einige neue Nachrichten teilt er
allerdings mit; aber in dieser Hinsicht stehen andere sekun-
däre Quellen mit ihm in gleicher Reihe. Er würde sich
von diesen Quellen zweiten Ranges in nichts abheben, v/enn
er nicht doch der ottizielle Bearbeiter der ältesten Überliefe-
rung und dadurch der Ausdruck der Gesinnungen wäre,
die ein starkes Menschenalter nach dem Tode des Heiligen
im Orden vorherrschten.
Die von Bonaventura fast gleichzeitig verfafste Legenda
minor ist nur ein Auszug aus der umfangreicheren major:
sie bedürfte keiner Erwähnung, wenn sie nicht neue Belege
für den unablässigen Fortschritt der Legendeubildung böte.
P2in Beispiel sei dafür angeführt Bonaventura XHl, 3 =
n. 193 hat das Aussehen der Stigmen in enger Anlehnung
an die Vita prima und den Tractatus de Miraculis geschil-
dert; XV, "2 (= n. 216) gibt Bonaventura eine neue er-
weiterte Beschreibung ^ Die Legenda minor fügt, nachdem
sie wie XHI, ;-} berichtet liat, noch eine Erläuterung hinzu:
„Siquidera lepercussio ipsa clavorum sub pedibus adeo
jjrominens erat et extra protensa, ut non solum plantas solo
libere applicari non sineret, verum etiam intra curvationem
ai'cualem ipsoiaun cacuminuni facilitei- imnitti valcret digitus
nianus, sicut ab eis ipse accepi, qui oculis propriis con.
spexerunt." Man erkennt bei dem Vei'gleich der ältesten
und der späteren Berichte ganz deutlich , wie man die
Stigmen immer sinnenfälliger zu beschreiben streikte.
Der Zweck dieser Legenda minor war ein liturgischer;
noch weniger als bei der Legenda maior kam es bei üir
darauf an, der historischen Forschung zu dienen ^.
1) Die Nägel waren dem Fli-isclic .,sic iiinati, qniid ilnm a inute
qiialibet premerentiir , prntinus quasi nervi continiii et dtiii ad luutcni
oppositani re.sultabant ".
2) Sie ist fiodiuckt in den Opera S. Bonavcntiirae VllI, S. 5G5fl'.
258 GOETZ,
Schluis.
So ist durch die von Sabatier eingeleitete Bewegung auf
dem Gebiete der franziskanischen Urquellen doch in jedem
Falle ein bedeutendes Ergebnis erzielt. Mag zunächst auch
alles ins Schwanken gekommen sein, was man früher an-
nahm, mag manche von den neuen Entdeckungen auch hin-
fällig sein — unsere Anschauung von den Quellen ist dennoch
schliefslich eine klarere geworden. Mit der Erschliefsung von
Aufzeichnungen der verti'auten Gefährten, wie sie dem Spe-
culum Perfectionis zugrunde liegen, gewinnt die zunächst
daraus abgeleitete Quelle, die Vita secunda des Thomas von
Celano, an unmittelbarer Glaubwürdigkeit; indem aber da-
durch das Verhältnis Celanos zu den Gefährten geklärt wird,
verliert auch die Vita prima den Anschein einer Parteischrift.
Die vollkommene Ausscheidung der Legenda trium Sociorum
vereinfacht zudem die Sachlage : die ganze Überlieferung von
der Vita prima bis zu Bonaventura hat einen einheitlicheren
Charakter, eine deutlichere Entwicklung bekommen. Es war
notwendig, dafs die Forschung vor das von Sabatier auf-
gerollte Problem gestellt v/urde, dafs die Möglichkeiten einer
verfälschten Überlieferung nach allen Seiten hin erwogen,
dafs alle Quellen einzeln auf das peinlichste nach verschiedenen
Gesichtspunkten geprüft wurden — nur so konnte eine Ver-
tiefung der Anschauungen herbeigeführt werden. In mancher
Hinsicht ist man auf weiten Umwegen zu früheren Annahmen
zurückgekehrt; aber diejenigen, die kritiklos bei den alten
Anschauungen beharrten und Sabatiers Arbeit verwarfen, in-
dem sie selber die Hände bequem in den Schofs legten,
haben nicht das geringste Recht, sich ihm gegenüber zu
rühmen.
Ein jeder Forscher wird in seinen Untersuchungen gern
etwas Abschliefsendes sehen wollen. Aber ich vermesse mich
doch nicht zu mehr, als mit meiner Arbeit für mich persön-
lich einen Abschlufs gebracht zu haben. Für die wissen-
schaftliche Forschung sind zudem auch die fruchtbarsten Ge-
danken stets nur ein Durchgangspunkt. Es kam mir darauf
an, der Theorie sowohl Sabatiers wie seiner Gegner eine aus
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DES HL. FRANZ VON ASSISL 259
den Quellen selber entwickelte Anschauung gegenüberzustellen ;
indem ich sie einheitlich für das ganze Gebiet durchzudenken
strebte, wird sie vielleicht den Nutzen schaffen, den ein jeder
bis zum Ende durchgeführter Gedanke, auch wenn er ein-
seitig sein sollte, zu bringen vermag. Schon damit wäre ein
Vorteil erzielt, wenn alle unbrauchbaren Momente der Quellen-
kritik (Stil, Gesamtcharakter, Erweiterung oder Verkürzung
der Vorlagen, Hinzufügung oder Weglassung von Orts- und
Personennamen) endgültig aus den weiteren Eröterungen über
die Franzquellen verschwänden und nur von Fall zu Fall
einmal die allervorsichtigste Würdigung erführen.
Wer es jetzt aber von neuem unternimmt, ein Leben des
h. Franz zu schreiben, mufs eins noch im Auge behalten.
Auch die kritisch gesichtete Überlieferung behält einen Grund-
zug, der die Erkenntnis dieses Heiligen und aller andern
erschwert: von der ältesten Legende des h. Martin an bis
zu den Legenden des h. Franz haben sie alle die Tendenz,
in den Heiligen nicht geschichtliche Personen, sondern Aus-
erwählte des Herrn zu sehen. Das führt im ganzen und
im einzelnen zu Schilderungen, die dem Alten und dem
Neuen Testamente und vor allem dem Leben Christi ähn-
lich sein sollen. Jeder Vergleich dieser Legenden im grofseu
zeigt, dafs auch das scheinbar Geschichtliche im Leben des
einzelnen Heiligen seine Beziehungen zu dieser alles andere
erdrückenden Gedankenwelt hat.
Druck von Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Goth;i
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