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J?iT<3a30'/
n
^ DIE RECHTLICHE MTUE
DER
STAATENVEETRAGE.
EIN BEITRAG
ZUB
JURISTISCHEN CONSTRUCTION DES VOLKERRECHTS
VON
D^- Georg Jellinek,
DOCCNT AM DKR K. K. UMIYBBSITAT WIBM.
/
I
WIEN, 1880.
ALFRED HOLDER,
K. K. HOP- UND UNIVERSITATS-BUCHHANDLER,
ROTUBMTUUKMSTRA88K 16.
Vorrede.
Die Discussion iiber die Grrundlagen des Volkerreclits
pflegt nur die aussersten Umrisse zu beriihren. Aber erst
die Losung des einzelnen Problems kann die Kraft und Be-
deutung allgemeiner Principien erproben.
Wenn in den vorliegenden Blattem die juristisclie Con-
struction einer der wichtigsten Partien des Volkerrechts voll-
zogen werden soil, so ist ibnen damit ein dbppeltes Ziel gesteckt.
Zuvorderst eine vertiefte Erorterung des subjectiven
Principes des Volkerrechts, von welcbem ja die juristische
Beurtheilung desselben abhangt. Der JEleclitscliarakter des
internationalen Rechts ist meines Erachtens nur auf dem Wege
darzuthun, den K, K al t enb o r n und Bulmerincq und neuer-
dings Bergbohm eingeschlagen haben. Wia sehr aber dieser
Punkt noch eindringender Untersuchung und Rechtfertigung
bedarf, hat erst jiingst die F r i c k e r'sche Leugnung der Mog-
lichkeit autonomer Rechtsbildung bewiesen.
Sodann die Begriindung des Vertragsrechts auf die Natur
der Sache. Gegeniiber der selbst Anhangern des Volker-
rechts gelaufigen Leugnung eines allgemeinen positiven Volker-
IV
rechts nnd der ans Dir mambxnmAsa^
%iifalligen Uebereinstimiiimg; der Scas&iK is BfgifmB«g mid:
intemationale Gnmdsatzey miuste dss rssa«E&Le
Volkerreclite herrorgehoben nnd der Xae£.vec? g^^krt
dass hier Normen vorhaiiden sind* d^ _
xmng flchon dnrcli die Xatnr des RecfLtsgeaecaft^s g g ggh cm iat.
Gerade die Frage nach der Entstekinig des <> rj^raroi Ycttrmg^
rechts zeigt die TJnznlanglichteit der AiEsdiasaag. w^ddie das
Yolkerreclit anf ein aosaerea Staatsreckt redndrcB wilL
Der erste TheQ dieaer Abhandlmig soil i^berdies anf-
zeigen, wie ihnig die jniistische Existenz d^ Yolkerreekts mit
der der inneren Reehtsordnmig yngmimwtliSiifl^ jn^ welche
bedenkliclie Consequeiizeii die Lengnnog des ersteren f&r den
juriBtiscIien Charakter der letzteren Kat. Somit iMfflfen diese
Blatter aucH einige Bedentang fSr die allgemeine Seditslehre
beansprachen za koimeii.
Wien, im Mai 1880.
d
In keiner juristischen Disciplin kommt es so haufig zu
einer Erorterung der Grundbegriffe, wie im Volkerrecht. Von
den Vertretern der anderen Facher der Rechtswissensehaft
oft nicht als ebenbiirtig betrachtet, von Zeit zu Zeit in seiner
juristischen Existenz negirt und in die Staatenmoral oder die
Politik , oder. sonst eine zweifelha;fte wissenschaftliche Kate-
gorie verwTesen , muss es. stets um sein wissenschaftliches
Dasein ringen und stets darauf bedacht sein, gegnerische
Argumente durch den Nacbweis zn entkraftigen, dass es^auf
demselben Fundamente rube, wie Staats-, Process-, Straf- und
Privatrecht.
AUe Versuche, das Volkerrecht zu begriinden, konnen
auf zwei Grundformen zuruckgeflihrt werden. Entweder man
geht speculativ vor und sucht nachzuweisen , dass ein sub-
stantielles Moment' vorhanden sei, aus welchem mit logischer
Nothwendigkeit die Existenz einer uber den Staaten stehenden
JElechtsordnung gefolgert werden konne, oder man zeigt, dass
derselbe Rechtsbegriff, der den unbezweifelten Theilen des
Rechts zu Grunde liegt, auch das Wesen. der fiir die
internationalen Beziehungen giltigQu Bestimmungen bijde. So
unentbehrlich die ersteArt fiir eine den letztenGriinden nach-
forsch^ade Betrachtung ist, so unmoglich es ist, eine Rechts-
ordnung in ihrem innersten Wesen zu begreifen, wenn man
jenes substantielle Moment ausser Acht lasst , so wird doch
der Jurist im Innern seines Herzens nur dann von der
Rechtsqualitat des Volkerrechts voUig iiberzeugt sein, wenn
Dr. Jellinek, Natnr d. StaatenvertrSge. % ^ 1
f
n
n
ihm im Volkerrechte derselbe forma le Grand aufgewiesen-
wird, auf dem die Gebaude der anderen juristischen Disci-
plinen errichtet sind. Ob man mit S u a r e z und Bluntschli
von der Idee der Menschheit ausgeht, ob man mit Ka It en-
born und Mo hi die verniinftige Ordnxmg der internationalen
Gemeinsehaft , mit Savigny und Halschner das Rechts-
bewusstsein der Volker als die materielle Quelle des Volkerreehts
f betrachtet, immer bleibt die Frage iibrig, wie dieses Kecht
I juristisch zu denken sei, wie es in Uebereinstimmung zu bringen
l| sei mit den Grundsatzen, welche, ein Ergebniss eindringender
I wissenschaftlicher Untersuchung , als Bedingungen einesjeden
g; Recbts von der juristischen Wissenschaft f estgesetzt worden sind.
Die scharfe formelle Ausbildung, welche der Rechtsbegriff durch
die systematischen Arbeiten der letzten Jahrzehnte erfahren hat,
^'. lasst alle aus der reinen Rechtsidee flieasenden Forderungen,
I bei allem sonstigen Werthe, den sie besitzen, nicht mehr als
I ein Recht im formalen Sinne erscheinen, welcher neben, iiber
Oder gar gegen das positive Recht seine Existfenz behauptet,
sondern erkennt den Rechtscharakter nur solchen Satzen zu,
deren praktischc Geltung unmittelbar feststeht. Als reqht-
erzeugendes Organ aber kennt die Jurisprudenz nur einerseits
das Volk in seiner natiirlichen Existenz, das auf dem Wege'
der Gewohnheit sich der Normen bewusst wird, welche das
Thun und Lassen der Volksgenossen regeln , andererseits das
Volk als organisirte Einheit, als Staat, welcher als souveraner
Wille der Gesammtheit das Recht setzt und erhalt. Als
Wille der Gemeinsehaft, sei es des Volkes, sei es des Staates 0?
muss ein jeder Satz nachgewiesen werden, der den Anspruch
erhebt, als Rechtssatz zu gelten. Hiemit ist fiir eine juri-
stische Begriindung des Volkerreehts der einzig mogliche
Weg gewiesen. Es muss aufgezeigt werden als begriindet in
dem freien Willen der Staaten oder Volker, ein Gedanke, der
1/ schon dem Vater der Volkerrechtswissenschaft yorgeschwebt
^) Aach der Becht erzeugende WiUe der antonomischen Eorperschaften
fallt nnter den Begriff des Staatswillens , insofem jener nur dadurch Becht
schafft, dass der Staat seine Qnalitat als BechtsqneUe anerkannt, d. h. dass
er stillschweigend oder ansdriicklich die antonomen Willensanssenmgen als
seine eigenen anerkennt.
3
hat. 2) Aber erst durch H e g e 1 und seine Schule ist energisch
als der unverriickbare Ausgangspunkt des positiven Volker-
reohts, wenigstens fiir so lange als keine den Staaten iiber-
geordnete Gewalt existirt, der Satz betont worden, dass die
E,eclite der Staaten „nicht in einem allgemeinen liber sie
eonstituirten, sondern in ihrem besondern Willen ihre Wirk-
Hchkeit haben*'.^) Als Grund- und Eckstein /einer juristisehen
Construction des Volkerrechts muss der Saxz gelten, dass die
„Haaptfactoren zur Setzung und Durchsetzung des Volkerrechts
die allein berufenen Subjecte des Volkerrechtes, die
Staaten bleiben".*)
Ich habe diese Bemerkungen vorangeschickt , um meine
Stellung zu einem Problem zu kennzeichnen, welches zu den
. ''^) Hugo Gro tins. De Jure Belli ac Pads, Proleg. 40: quod enim ex
certis principiis certa arffumentatione dediici non potest^ et tamen uhique ohser-
vatum apparetf sequitur^ ut ex voluntate libera ortum haheat. Vgl. A. Bnl-
merincq, Praxis, Theorie und Codification des VSlkerrechts. Leipzig 1874.
' Seite 72.
^) Hegel, Grundlinien der Philosophie des Bechts, §. 333. Wenn B.
y. Mo 111, Die Geschichte nndLiteratur der Staatswissenschaften, I. Bd , S. 382 ;
gegen Ptitter bemerkt, dass die Begrdndnng des Ydlkerrechts anf den freien
Staatswillen zu einetn Cliaos von Willkilr und zur vdiligen Aufhebnng des
y&lkerrechts fiihrt, nnd wenn Blunts chli, Das moderne Yolkerrecht als
Bechtsbucli dargestellt. 3. Auflage, 1878, S. 60, denselben Gedanken Ausdruck
verleiht, so negiren sie damit die Anwendbarkeit des Bechtsbegriffs anf das
Yolkerrecht, ja sogar anf das ganze innerhalb des Staates geltende Becht.
Buht doch dieses seiner formal-jo ristiscben Seite nacb unbezweifelt anf der
Freiheit des Staatswillens, obne dass deshalb die Becbtsordnung zu einem
Cbaos berabsanke. Diese Freifaeit ist allerdings, wie wir bereits oben bemerkt
baben, nicbt der letzte, nicbt der pbilosopbiscbe Grund des Becbts, der nnseres
Eracbtens nur in einem objectiven Principe gefunden werden kann, aber fur
die juristiscbe Constructionist, wie erwabnt, das substantielle Moment im
Bechte ziemlicb gleicbgiltig , es ist, wenn man sicb so ausdrticken darf,
metajuristiscber Natur. Der Jurist darf und kann keinen andern
formellen Grund des Becfates anerkennen, als den freien Willen der Yolks-
oder Staatsgemeinscbaft, wenn er nicbt die Grenzen preisgeben will, die er
mubsam seinem Gegenstande gezogen bat und dadurcb in eine Yerwirrnng
und Unklarbeit stiirzen will, welcbe ftlr ibn das wabre Cbaos bedeutete.
Uebrigens erkennt Bluntscbli bereitwillig an, dass die Staaten gegenwartig
ibre Becbtsfiberzeugung nur in der „bedenklicben Form einer yielstimmigen
Erkl&rung'' aussprecben a. a. 0. S. 5.
*) Bulmerincq a. a. 0. S. 7.
1*
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Grundfragen des Volkerrechts gehort, das aber merkwlirdiger-
weise in neuerer Zeit gar nicht eiDgehend behandelt und
|;*;^ dessen in der alten Literatur nar in anklarer, wenig praciser
Weise gedacht worden ist. Zu den allerwichtigsten Momenten
im internationalen Leben zahlen die Vertrage zwischen den
Staaten. Durch sie hauptsachlich werden Grundsatze. fur das
gegenseitige Verhaltniss der Staaten aufgestellt, ihre Bedeur
tnng fiir das Volkerrecht ist eine immense, denn sie bilden
eine Hauptquelle fiir die Erkenntniss dessen, was die Staaten
sich fiir ihre Beziehungen zu anderen als Recht setzen. Wenn
nun angenommen wird, dass diese Vertrage rechtlicher Natur
sind, wenn sie Rechte gewahren und die Freiheit der Staaten
binden, woher entspringt das objective Reeht, nach welehem
sie zu beurtheilen sind? AUes Recht setzt einen Massstab
voraus, an dem es zu messen, Normen, durch welche es zu
priifen ist. Die Staatenvertrage konnen nur dann einen recht-
licben Charakter haben, wenn solche Normen existiren, welche
iiber den Vertragen stehen, von welchen die Vertrage ihre
rechtliche G^ltung empfangen. In der That finden sich in
jedem Lehrbuche des Volkerrechts eineganze Reihe von recht-
lichen Bestimipungen, welche die Entstehung, den Inhalt, die
Wirkung, die Modalitaten und die Endigung der Vertrage
regeln soUen. Welcher Quelle entspringen nun die Rechts-
satze, welche die Vertragsverhaltnisse unter den Staaten
beherrschen soUen? Sind es Satze des Naturrechts, da viele
dieser Normen den friiher im natiirlichen Privatrechte auf-
gestellten Bestimmungen so ahnlich sind? Sind es Abstrac-
tionen aus dem modernen Obligationenrecht, welche per ana-
logiam auf die Vertrage zwischen Staaten iibertragen worden
sind? Sind es Volkergewohnheiten, denen sie ihren Ursprung
verdanken, oder beruhen sie auf dem in Form Gesetzes erklarten
Willen des Staates? So sorgfaltig das altere Volkerrecht
zwischen den verschiedenen QueUen des internationalen Rechts
unterschied, so hat es doch nie im Einzelnen untersucht
welche SStze dem angeblichen natiirlichen, dem Vertrags-
dem Gewohnheitsrechte u. s. w. angehoren. Hochstens stellte
man die diirftigen Satze, welche dem jus gentium necessarlum
angehoren sollen, an die Spitze der Untersuchung, um dann
unbekiimmert um den Ursprung der einzelnen Volkerrecht^- A
satze , die ganze Materie abznhandeln. Wie dem auch sei,
fiir die Wissenschaft bleibt die Aufgabe librig, zu zeigen^
^dass die Volkervertrage Etwas sind" '^) urid dieses Etwa« mit
juristischer Scharfe zu bestimmen, eine Aufgabe, die wohl zu
den schwierigsten der Wissenschaft zahlt. Mit voUem Reeht
bemerkt E. Meier: ^Die Frage nach dem Vorhandensein
objectiver Rech^ssatze unterliegt fur das Volkerrecht grosseren
Schwierigkeiten als fiir irgend ein anderes Rechtsgebiet. Denn
die ausdriicklichen Verabredungen untep souveranen Sfcaaten
beziehen sich bis auf den heutigen T^ag mehr auf die Fest"
setzung subjeetiven als objectiven Rechts , mehr auf Recbts-
verhaltnisse, als auf Rechtsnormen undRechtseinricbtungen." «)
Das bier aufgeworfene Problem spitzt sieb also zu der Frage
zu, ob und auf welcbem Wege der Staat. objectives Volker-
recbt scbafft, wie er Recbtssatze producirt, die fiir seine
eigenen Handlungen bindend sind.
Zur Losung dieses Problems ist vorerst eine andere
Frage zu beant^? orten, welcke zu den principiellen des ganzen
Rechts gehoren und von deren Beantwortung nicht nur die
juristiscbe Existenz des Volkerrechts , sondern der Charakter
des Rechts iiberhaupt abhangt. AUes Recht ist Wille der
staatlichen Gemeinscbaft, der in Form des Gesetzes oder der
Recbtsgewohnbeit auftritt. Demnach kann ein Recht fur den
Staat selbst nur geschaflFen werden, wenn dieser im Stande ist,
sich selbst Vorschriften zu geben, an deren Befolgung er- ge-
bunden ist. Es ist nicht geniigend, nachzuweisen , dass das
Volkerrecht Staatswille ist, wie es erst jttegst wieder in der
trefflichen Arbeit.Bergbohm's geschehen ist. 7) Es erschopft
*^) Heffter, Das enropaische VSlkerrecht der Gegenwart. 3. Aufl., § 81.
*) TTeber den Abschlnss von Staatsvertragen, Leipzig 1874, S. 36
') Staatsvertrfige nnd Gesetze als Qnellen des VSlkerrechts, Dorpat 1877,
S. 18ff. Wenn Be rgb ohm, S. 19, die Frage anfwirft : „Ihren eigenen Willen
konnen sie (die Staaten) dock nnbeschadet ihrer Selbststandigkeit far sick
gelten lassen? Oder miissen sie wirklick ikren eigenen Willen gerade deshalb
verlangnen, weil der Wille einiger oder vieler anderer Staaten genaa denselben
Inkalt bat?" so ist es eben der Eernpankt der jnristischen Begrtindaog des
Ydlkerrechts, die Antwort anf diese Frage zn motiviren, iadem man zeigt, dass
der eigene Wille des Staates fiir diesen Recht sckaffen kann.
das Wesen des Rechts nicht, dass es Staatswille ist, denn
nicht der Staatswille schlechthin , sondem der verpflich-
tende Staatswille ist Recht. Recht schafft der Staat nur
dadurch, dass er sich an einen Willen mit einer Norm wendet. ®)
Nut indem er Vorschriften aufstellt, welehe einen Willen in
seinem Thun uud Lassen beherrschen , ist der Staat der
Schopfer des Rechts. Jeder Act , durcli welchen der Staat
Recht schafft, ^rnuss aufgefasst werden als ein Act der Ver-
pflichtung. ») Es ist nun nach den herrschenden Ansichten
nnbestritten , dass der Staat durch seine Normen einerseits
Ji seine Unterthanen , anderseits diejenigen seiner Organe ver-
pflichten kann, welehe fiir die Anfrechthaltung des betreffen-
den Rechtssatzes zu sorgen haben. Jeder Rechtssatz bindet
g: sowohl Diejenigen, an die er unmittelbar gerichtet ist, als
auch die staatlichen Organe , insoferne diese verpflichtet sind,
ihn gegebenen Falles znr Greltung zu bringen. Es handelt sich
k nun darum, ob es moglich ist, noch eine dritte Richtung des
Staatswillens nachzuweisen , ob namlich der Staat seinem
eigenen Willen verpflichtende Vorschriften zu geben im'
i Stande ist. Und zwar muss dieser Nachweis gelingen an dem',
was unzweifelhaft als Recht gilt. Es muss aufgezeigt werden,
dass es' in dem innerstaatlichen Rechte ein reflexives Moment
gibt, dass Rechtssatze , deren juristische Qualitat feststeht;
vorhanden sind, welehe vom Staate ausgehen und den Staat
■J'
*) Thon, Eechtsnoim und snbjectives Becht. Weimar 1878, S. 8: j,Das
gesammte Recht einer GemeiDSchaft ist nichts als ein Complex von Impera-
tiven^, ein Satz, dem ich insoferne znstimme, als ancb die erlaubenden
^ Rechtssatze, die Thon elimioiren will, eine negative Seite h&ben, von der
ans gesehen sle aid Befehle erscheinen. Ygl. Binding, Kritische Yiertel-
jahrsschrift, 21. Bd. (1879), S. 561. Wenn Zorn, Die dentschen Staatsver-
tr^ge, Zeitschriftftir Staatswissenschaft, Bd. 36, S. 6 der Thon'schen Definition
die Worte hinznftlgt: ^welehe der Staat an seine Unterthanen richtet und
mit Zwang schutzt^, so tri£ft ihn der berechtigte Vorwurf, den v. Eal ten-
born den Lf'ugnem des Vdlkerrechts macht, dass man sich das Recht iii der
Weise zuschneidet, dass das Ydlkefrecht nicht mehr Recht sein konne. Vgl.
V. Ealtenborn, Eritik des Yolkerrechts, S. 307. Hingegen hat Zorn darin
ganz Recht, dass auch das Gewohnheitsrecht sich nnter die Thon'sche Defi-
nition subsumiren ISlsst, a. a. 0. S. 7.
^) „ Jede Rechtsnorm lUsst sich in der Form ansdriieken : „Da bist ver-
pflichtet.^ Zitelmann, Irrthnm und Rechtsgesch&ft, Leipzig 1879, S 2^3.
i
i
binden. Gelingk jdieser Nachweis, so ist damit die juristische
Basis des Volkerrechts gefiinden. Misslingt er, so ist eine
Construction des Volkerrechts auf GrundT des in dem inner-
staatlichen Rechte enthaltenen Rechtsbegriffes Jiicht moglich.
Das Volkerrecht ist dann nicht in jenem Sinne Recht, in
welchem es das Privatrecht, das Strafrecht oder irgend ein
anderer Theil der vom Staate ausgehenden Rechtsordnung ist,
ja es ist damit den Leugnern des Volkerrechts im Grunde
AUes eingeraumt, was sie nur wlinscheny denn ob man die
nnabhangig von dem staatlichen Willen existirenden Normen,
welche den Staat binden soUen, eiri Volkerrecht oder eine
Volkermoral nennt, ob man sie als unvoUkommenes oder
als unentwickeltes Recht oder als Klngheitisregeln ^bezeichnen
will, ist im Grunde nur ein Wortstreit fiir den Juristen. Es
fehlt dann jedes Kriterium , um das , was in jenen Satzen'
Recht sein soil, abzusondern von Bestimmungeri, welche einein
anderen als dem Rechtsgebiete angehor^n. ^^
Somit hangt nicht nur unser Eingangs formulirtes Problem,
sondern auch die ganze juristische Existenz des Volkerrechts
von dem Nachweise ab, dass der Staat durch seine Normen
sich selbst verpflichten kann, dass es moglich ist, dass Ver-
pflichtender und Verpflichteter in einer Person existiren
konnen. ^ Ist dieser Nachweis gelungen, dann muss gezeigt
werden, dass auch in seinen Bezienungen nach Aussen der
Staat sich selbst Normen schafft, dass auch bier ein Ver-
pflichtungsverhaltniss existirt, in welchem der Recht Setzende
und derjenige, dem das Recht gesetzt ist, identisch sind.
Denn nur sich selbst kann der Staat sich unterordnen ^^) und
nur, wenn er sich sich selbst unterordnen kann, ist. er im
Stande, sich ein Recht nach Aussen zu setzen. ")
*^) Gewiss ist Lass on, Princip nndZakanft des Ydlkerrechts, Leipzig
1871, S. 22, so yiel znzngeben, dass „der Staat sich niemals einer Recbts-
ordnang, wie iiberhaapt keinem Willen ansser ibm nnterwerfen kann.''
^^) Ganz consequent kommt J. t. Held znr Lengnnng des jaristiscben
Cbarakters des Volkerrecbts , weil er das bier vorbandene Yerpflicbtangsver-
baltniss nicht zn erkennen yermag: „Zn den Disciplinen des offentlicben
Eecbts im jnristiscben Sinne des Wortes gehort es (das Volkerrecht) nicht,
weil es rechtlich ansscbliesslich anf der freien Uebereinknnft hernht, ibm also
das nnentbehrliche offentlich-rechtlicbe Pflicbtverbaltniss , welches das Spe-
8
Gegen die Moglichkeit der juristischen Begriindung des
Volkerrechts auf der staatlichen Autonomie hat sichFricker
in einem gegen Be rgb ohm's Ausftihrungen gerichteten Auf-
satz erklart. ^^*) Der eigene Wille des Staates kann kein
Recht fiir denselben schaffen , selbst wenn der Staat far sein
Verhalten Regeln feststellt. Ein rechtliches Gebundensein
des Staates gibt es nicht, denn die Consequenz des eigenen
Willens steht ausserhalb des Reehts.
Den Beweis fiir diese Behauptungen ist aber Fricker
schuldig geblieben; sie sind eben die Consequenz des a priori
aufgestellten Satzes, dass alle Rechtsnormen Zwangsnormen
sind, womit die , wie wir sehen werden , hochst wichtigen
rechtlichen Erscheinungen , welche sich dieser Definition
nicht fiigen wollen , ohne nahere Priifung aus dem Ge-
biete des Rechts hinausgewiesen werden. Vor AUem miissen
dann diejenigen Handlungen, welche in freier Befolgung des
Rechtsgebotes voUbracht worden, der juristischen Qualification
ganzlich ermangeln. Wenn die Consequenz des eigenen
Willens ausserhalb des Rechts steht , dann wiirde mit der
Aufnahme des Gesetzes in den Willen dasselbe verschwinden
und fiir den Gerechten gabe es kein Recht mehr.
Wir wollen indessen unserer Untersuchung nicht vor-
^-•^•^'
greifen. Das beste Argument gegen die gegnerische Behauptung
kann nur darin bestehen, dass der Nachweis gelingt, dass eine
Selbstverpflichtung des Staates moglich sei und es Rechtssatze
gebe, welche eine staatliche Selbstverpflichtung Nin sich
schliessen. Wir haben daher zunachst die Fra^e zu beant-
worten : Kann sich der Staat durch seine Normen selbst ver-
pflichten ?
cielle dem Ailgemeinen unterordnet, fehlt." Grundzuge des allgemeinen Staats-
rechts, Leipzig 1868, S. 277.
"') Noch einmal das Problem des Volkerrechts. Zeitschrift fiir d. ges.
Staatswissenschaft, Bd. 34, S. 368 ff.
I.
Der Gedanke stutzt im ersten Momente vor der Vorstel-
lung einer Selbstverpflichtung des Staates. Innerlialb des
Staates konnen dem Unterthan durch den Staatswillen Ver-
pflichtungen auferlegt werden, der Staatswille kann den
Willen des Einzelpen an die von diesem abgegebene Erkla-
rung binden. Wie ist aber ein Sichselbstbinden auch nur
logisch moglich? Kann Derjenige, den nichts bindet als sein
eigener Wille, sich nicht durch eben diesen Willen wieder von
dem selbstgesetzten Bande losen? Der Staat als das Subject
des allgemeinen Willens kann ja juristisch Alles, er kann sich
daher auch von den Verpflichtungen befreien, die er auf sich
genommen hat, ohne ein Unrecht zu begehen, denn er ist die
Quelle alles Rechts. Der allgemeine Wille kann von keinem
Rechtsges^tz gebunden werden!
Be vor wir jedoch an die weitere Untersuchung schreiten,
woUen wir den dunkeln und in seinem inneren Wesen uner-
forschten Begriff des Staates, an dem Metaphysiker, Psyclio-
logen, Sociologen und Theologen sich* herumqualen, durch den
klaren, fiir den Juristen einzig und allein interessanten Be-
griff der Staatsgewalt ersetzen. Nicht die Substanz, das
An-sich des Staates kiimmert den Juristen, sowie der Psy-
cholog sich nicht um die Seele, sondern nur urn die psychi-
schen Zustande, sowie der Mathematiker sich nicht um das
Wesen des Raumes, sondern um die raumlichen Figuren
kiimmert. Es ist die nie geloste Aufgabe der Philosophie, jenes
/
10
An-sich der Dinge, welches unter ihren Functionen verborgen
liegt, zu erforschen. Der Jurist hat es nur mit den Thatig-
keitsaussernngen des Staates zu thun, nur der woUende
und handelnde Staat ist es, um den der Jurist sich ktimmert.
Daher gibt es keine knappere und treffendere Definition des
Staatsrechts als die Gerber's: „Das Staatsrecht ist die
Lehre von der Staatsgewalt". ^^) Um alien Einwanden zu ent-
gehen, welche aus i^gelnd einer Theorie von der substantiellen
Natur des Staates hergeholt werden konnten, erklaren wir,
dass, wenn wir jetzt vom Staate sprechen werden, wir ihn
vorderhand nur seiner formal-juristischen Seite nach als Staats-
gewalt vor Augen haben.
Horen wir nun zunachst die alteren Lehren vom Staate,
so ist nach den meisten die Idee der Souveranetat unver-
traglich mit der Moglichkeit einer rechtlichgn Selbstverpflich-
tung des Souverans durch seine Gebot,e^^ Besonders bei den
Absolutisten figden wir die entschiedenste Leugnung eines
solchen Vernattnisses. Der Vater der Lehre von. der Souve-
ranetat, Jean Bo din, der von der principiellen Anschauung
ausgeht, dass die Staatsgewalt Jemandem iibertragen wer4en
konne, „pour disposer des Mens, des personnesj et de tout Vestat
h son plaisir^ ") und der fiir die Souveranetat keine andere
Schranke kennt, ^que la loy de Dieu et de nature ne commanded i*)
erklart ganz consequent: „&' done le prince souveram est exempt
des lotx des ses predecesseurs ^ heaucoup moins seroit-il tenu aux
loix et ordonnances, qu*il fait\ car on pent Men recevoir loy d^autruy,
mais it est impossible par nature de se donner loy, non plus que
commander h soimesme chose qui depend de sa volontij comme dit
la loy: Nulla obligatio consistere potest^ quae a voluntate promit-
tentis statum capit: qui est une raison necessaire, qui monstre Svi-
demment, que le Boy ne peut estre suget h ses loix.^ ") Denselben
Gedankengang verfolgt der eifrigste Vertheidiger der Lehre
^^) Grnndziige eines Systems des dentschen Staatsrechts. 2. Aufl., d. 3.
^») Lei six livres de la BdpuhUque. Paris 1576. Bd. I. Ch. IX. p. 129.
^^) ib. p. 132 n. 133. Der Sonver&D kann sich nach Bo din anch dann
nicht binden, wenn er wollte: ^£c prince souverain ne ae peut Her lea maim^
quandorea il voud''oit.^ p. 133.
»*) ib. p. 130.
11
von der absoluten Staatsgewalt, H o b b e s : „Neque sibi dare
aliquid quisquam potest; neque sibi ohligari. Nam cum idem esset
obligaius et ohligana , obligans autem liberare obligatum possit,
frustra esset, sibi obligari, quia se ipsum potest arbitraiu suo libe-
rare; et qui hoc potest y actu tarn liber est. Ex quo constat , legibus
civilibus non teneri ipsam civitatem. Nam leges civiles sunt leges
civitatis; quibus si obligaretur, ipsa obligaretur sibi,^ Ja,
H b b e s geht noch weiter als B o d i n , der Vertrage zwischen
Souveran und Unterthan als bindend erklart. Er behauptet
namlich ferner: ^ Neque obligari potest civitas civi, Quoniam enim
hie ilium, si voluerit, potest obligatione liberare et vult quoties ipsa
vult (quia civis cuiusque voluntas in omnibus rebus comprehenditur
in voluntate civitatisj, libera est civitas ' quando vult, hoc est, actu
iam liber est, Concilii autem sive ho minis, cui summum im-
perium commissum est, voluntas est voluntas civium, Gomplec-
titur ergo voluntates singulorum cioium] neque igitnr tenetur is,
cui summum imperium commissum est legibus civilibus;
hoc enim est obligari sibi, neque cuiquam civium.^ ^^) Diese schroffe
Auffassung des Wesens der Staatsgewalt, die auch nur die
Denkbarkeit einer Selbstverpflichtung zuruckweist, kehrt unge-
mildert bei Rousseau wieder, der in diesem Punkte sich als
Schiller des VerSGieiaigers der absoluten Fiirstengewalt erweist :
II Jaut remarquer, que la dilibiration publique, qui peut obliger
tous les sujets envers le souverain ne peut obliger le
souverai?i envers lui-meme, et que par consSquent il est centre la
nature du corps politique que le souverain sHmpose une loi, qu'ilpuisse
*®) De cive c. VL 14. Ganz wie Hobbes, sogar sich anf ihn berufend,
Puffendorf, de jure nafurae et gentium lib. VII. c. 6, 3: Humanae autem
leges nihil aliud sunt^ quant summi imperii decreta circa ea, quae subj.ctis ad
aalutem civifaiis observanda aunt — — Hi«ce direc'e non obligari summum im-
perium potest. Summum enim est: ergo a svperiore homine obligatio if si non
potest acc':dere. Seipsum autem per modum legis^ id est^ per modum superioris
obligare nemo potest. Yon sp&teren vorkantischen Natarrechtslehrem hnldigen
demselben Grandsatze n. A. Achenwall, Jus naturae Ed. sept. torn. II. §. 34.
Quoniam porro imperans legem ferem obligaiionem imponit subditis^ non «i-
bimet ipsi; imperans legibus a se laiis natural! ter ipse iion tenetur. ** Ferner
Hopfner, Natnrrecht, 6. Aufl. Giessen 1795. §.185, Anm. 2. Dagegen jedoch
besonders Schnanbert, aach der Regent ist an die von ihm gegebeoen
Gesetze gebnnden. Ans dem Lateinischen von Hagemelster. Rostock and
Leipzig 1795.
12
enfreindre, Ne pauvani se constdSrer que sous un seul et m^me
rapport, il est alors dans le cas Wun particulier contractant avec
Boi-m^e ; par oil Von voit^ qyHH n^y a ni peUt y avoir nulle espece
de loi fondamentale ohligatoire pour le corps du peuple , pas
mtmele contrat social,^^'^) Auch das deutsche Naturrecht
hat in kemem Genngeren als in K a n t einen AnhS-nger der Lehre
von der formellen Unbeschrankbarkeit der Staatsgewalt. Der
Einfluss Rousseau's verleugnet sich nicht, wenn er den Satz
aufstellt: „Der Herrseher im Staate hat gegen den Unterthan
lauter Rechte und keine (Zwangs-)Pflichten." ^^) Aber nicht nur
das alte Naturrecht, auch die neuere Reehtsphilosophie hat Ver-
treter, die sich zu dieser Anschauung bekennen. So sagt St ah 1,
dass „der Staat, wenn auch die souverane, doch nicht die ab-
solute Macht, formell, aber nicht materiell uiibeschrankt
sei". ^^) Ferner „kann iiberhaupt der Gesetzgeber selbst nicht
durch seine Gesetze gebunden sein^^o)
Die Quelle aller dieser Ansichten ist in dem Satze des
romischen Rechtes zu suchen: Frinceps legibus solutus est, und
es war natiirlich, dass gerade in der Zeit, wo die moderne
Staatsidee mit den iiberkommenen Institutionen des Mittel-
alters zu kampfen hatte, die Unumschranktheit der Staats-
gewalt von den Vertretern der neuen Ideen besonders scharf
hervorgehoben wurde, sowie, dass die revolutionare Staats-
lehre der Theorie von der unverpflichtbaren Souveranetat
sich mit Freuden bemachtigte. Aber schon friihe sehen wir
selbst die Vertreter des Staatsabsolutismus nach Garantien
suchen, welche die Gewissheit gewahren, dass die Staatsgewalt
") Du control social, Livre i, ch, VII.
^^) Eechtslehre §. 49. Allgemeine Anmerkung A. W. W., heransgeg. v.
Bosenkranz and Schubert. Bd. 8, S. 165.
^») Staatslehre. 3. Aufl., S. 155.
'^) Ebd. S. 282. Andere Stellen lassen die Anffassung Stahl's anders
erscheinen, wie er sich denn tiberhaapt darch seine dialektische Geschicklich-
keit oft nm die Probleme herumredet. So sagt er z. B. S. 189: Das Gesetz
ist Grnnd und Voraussetznng der Staatsgewalt, durch welche sie Staatsgewalt
ist auf der anderen Seite ist die Staatsgewalt wieder Grund und Vor-
aussetzung des Gesetzes es besteht zwischen Gesetz und Staatsgewalt,
wie in der Personlichkeit und im Organischen, wechselseitige Voraussetzuug
und Wechselwirkung.
' ' ' 13
ir
zum Besten der Unterthanen ausgeubt werde, Schon Bo din
nennt die loy de Dieu et de nature als Schi*anke, welche der
souveranen Gewalt gezogen ist. Bei aller Anerkennung der
formalen Ungebundenheit der Staatsgewalt suchen die Abso-
latisten wenigstens moralisclie Schranken fur dieselbe zu finden.
Bei ihnen alien bricht der natiirliche Gedanke durch, dass der
Staat, wie iiberhaupt jede menschliche Gewalt, nicht als baare
Willkiir existiren diirfe , und . so suchen sie die dem Staate
zngestandene formelle Willkiir durch ein materielles Princip,
welches die Trager der Staatsgewalt verpflichtet, zu massigen.
Von anderer Seite aber werden nicht nur moralische Schranken
der Ausubung der Staatsgewalt zu ziehen versucht, sondern
es tritt die Idee auf, sie in ein rechtlich abgegrenztes
Gebiet zu bannen. AHerdings sind dies vorlaufig nicht positiv
rechtliche Schranken, sondern die Regulirung der Staatsgewalt
wird aus dem Naturrecht deducirt. Entweder geht man von
privatrechtlicher Staatsauffassung aus und lasst die Inhaber
der Staatsgewalt als gebunden erscheinen durch die Ver-
sprechen^ welche sie ihren Unterthanen geleistet haben und die
von diesen angenommen worden sind, oder man zieht der
Staatsgewalt unverriickbare Grenzen durch den Inhalt der der
staatlichen Vereinigung zu Grunde liegenden Vertrage, welche
der Staatsgewalt nur ein beschranktes Mass von Macht, nur
so viel einraumen, als zur Erreichung der Staatszwecke unum-
ganglich nothwendig ist. Das pactum unionis und subjectionis
enthalt die Legitimation zur Ausubung der hochsten Gewalt.
Was in diesen pactis nicht gewahrt wurde, das steht der
obersten Gewalt nicht zu. In der deutschen Staatsphilosophie
taucht ferner der grosse Gedanke auf, dass der Staat an
seinem Wesen eine Schranke finde; ein Gedanke, von dem
sich der deutsche Geist seit Thomasius und Wolff nicht mehr
abgewendet hat. ^^) So gewaltig ist der naturliche Drang, eine
^^) Die erste scharfe und klare Formnlirang bei Wolff, InsHtutiones
juris not, et gentium §. 980 : Imperium civile cum metiendum nt ex fine cicitatis ;
idem non extenditur vltra eas civium actionea , quae ad honum publicum con-
sequendum pertinent, corueguenter cum nonnisi quoad easdem lihertaa naluralis
aingulorum reatringafur , quoad ceteraa a^tionea ea illibata manet; ferHer:
Verntinftige Gedanken yon dem gesellschaftliclien Leben der Menscheo §. 215
und andere Stellen.
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Grenze zwischen Individuum und Staat zu finden, dass selbst
ein so entschiedener Vertheidiger der absoluten Staatssouve-
ranetat, wie Rousseau, im Widerspruch zu seinen Voraus-
setzungen dazu gelangt, ein Capitel seines contrat social mit
der Ueberschrift : Des homes du pouvoir souveratn zu versehen. ^a)
Das Naturrecht also, welches von der Anschauung aus-
geht, dass ein Sichselbstbinden der Staatsgewalt logisoh
unmoglich ist, sieht sich genothigt, den formellen Mangel
durch ein substantielles Moment zu ersetzen. Ja, von dem
Augenblicke an, wo es als geistige Macht in den Kampf gegen
das herrscliende^ Regierungssystem eintritt , wird es seine
Hauptaufgabe, den Punkt zu finden, von dem aus die unver-
riickbare Grenze zwischen den Rechten des Staates und des
Einzelnen gezogen werden kann. Von Grotius und Spinoza,
von Locke und Algernon Sidney angefangen, bis auf
Rousseau und Fichte ist das die grosse Frage, welche
die philosophische Rechtslehre bewegt.
Wie steht es nun mit der Richtigkeit der Behauptung
der Unmoglichkeit einer juristischen Verpflichtung des Staates,
welche auch vielen der heutigen Juristen gelaufig ist?^^) Ist
die Idee, dass Verpflichtender und Verpflichteter eine und
dies^lbe Person sind, wirklich so widersinnig? Wenn wir voji
der Rechtslehre in die Ethik blick^n, so begegnet uns die
Vorstellung von dem Unterwerfen des Willens unter seine
eigenen Gebote als der Grund- und Eckstein der modernen
Ethik. Die moderne Ethik ist aufgebaut auf dem Grundsatze
der Autonomic. Nur jene Handlungen haben voUen sittlichen
Werth, welche der sittlichen Ge sin nun g entspringen, d. h.,
welche dem nur von dem selbstgesetzten Sittengebote gelei-
teten Willen entstammen. Keine aussere Autoritat, nur die
Gesetze, welche er sich selbst vorgeschrieben hat, deren Be-
'*) Livre. IL ch,IV, Vgl. Warnkdnig, die gegen wartige Anfgabe der
Rechtsphilosophie. Zeitschrift f. d. g. Staatswissenschaft, Bd. 7, S. 502.
*') Erst nenerdings wieder Zofd. S. oben N. 8. Die principielle M3g-
lichkeit einer SSelbstverpflichtung anerkennt von Windscheid, Pandekten
3. Anfl., §. 305. Anmerknng: „W8mm soUte nicht Jemand dnrcb seinen Willen
sich selbst ein Gesetz geben kdnnen, wie der Erblasser im Yermachtniss den
Erben ein Gesetz setzt?''
15
folgung es sich selbst durch sein Gewissen befiehlt, soUen den
sittlich handelnden Willen binden. Aber nicht nur die tlieo-
retische Sittenlehre, auch das praktische Leben bietet uns
eine Fiille von Beispielen fiir die Selbst verpflichtung. G-rund-
satze baben, einen starken Charakter besitzen, was heisst das
anders, als die Fahigkeit^haben, seine Entschlusse zu bindenden
Vorsehriften fiir den Willen zu erheben, sie zum starksten
Motiv gegen andere dagegen andringende zu machen , den
kiinftigen Willen zu leiten durch den gegenwartigen ? Worin
anders besteht die Willensstarke, als in dem Vermogen, den
Willen durch selbsteigene Entschlusse zu einer constanten
Kraft zu erheben, die den gefassten Vorsaiz unter alien Um-
standen ausfiihrt? Der Act der Verpflichtung ist ein Vorgang
der Motivation, er besteht darin, dass an einen Willen die
Anforderung gestellt wird, ein bestimmtes Motiv als das ab-
solut starkste anzusehen. Von wem diese Anforderung. aus-
geht, ob sie einer fremden Intelligenz oder dem Vorstellungs-
leben des Handelnden selbst entspringt , ist fiir den Act der.
Verpflichtung gleichgiltig. Ja man kann noch weiter gehen/
und sogar behaupten, dass gewissermassen jede Verpflichtung
Selbstverpflichtung ist, insoferne die fremde Vorstellung,
welche micli verpflichten soil, erst meine eigene Vorstellung
sein muss, •eKe sie als Motiv auf den Willen einwirken kann.
Nur durch das Medium meines Intellects kann eine andere
Person meinen Willen bestimmen. Nur meine Vorstellungen
konnen mich bestimmen und das Gesetz, welches einer mir
fremden Macht entstammt, kann Leben und Kraft erst dann
gewinnen, wenn ich es selbst meinem Willen zur Richtschnur
vorgeschrieben habe. 2*) Von einer 1 g i s c h e n Unmoglichkeit
eines Sichselbstverpflichten , von einem Widerspruche dieser
Vorstellung mit unseren Denkgesetzen , kann also nicht die
Rede sein.
'*) „Der Versnch einer Gemeinschaft, durch ihre Befehle das Yerhalten
der GeDossen zu bestimmen, ist Versnch der Rechtssetznng. Das Befohlene
wird and bleibt Recht, wenn nnd so lange dieser Versnch gelingt. — Recht
ist Motivation, es hort anf Recht zn sein, wenn es nicht mehr als Motiv wirkt.^
Thon, Der Rechtsbegriff in Griinhnt's Zeitschrift f. d. Privat- n. 5ffentl.
Recht d. Gegenwart. Bd. 7, S. 247.
16
Nur von einem Standpunkte aus konnte man die Denk-
barkeit der Selbstverpflichtnng energisch nnd mit Erfolg
bestreiten, von dem der absoluten Willensfreiheit , welche
Freiheit mit Willkiir identificirt. Wenn der Wille als durch
verniinftige Motive nicht bestimmbar angesehen wird> danu
freilich ist es unmoglich, von Grundsatzen und Gresetzen, aber
natiirlich auch von Ethik und Recht zu spreehen. Wenn
Niihts die Gewahr dafiir bietet, dass der Wille des Menschen
im nachsten Momente derselbe ist, wie im gegenwartigen , so
ware eine Gemeinschaft zwischen Menschen anch nicht eine
Stunde moglich. Und wenn man auf den Staatswillen mit
seiner zwingenden^ Macht hinweist, der die Constanz des
Willens der Untertbanen verburgt, woher nehmen wir denn
die Gewissheit, dass dieser Staatswille, der dock anch Menschen-
wille ist, im nachsten Momente sich nicht geandert hat? Gabe
es eine solche Willkiir, so ware die Welt ein grosses Toll-
(/ bans , dessen Insassen von Verpflichtung , Zurechnung uDd
Schuld sich eine Idee zu bilden unfahig waren. ^^) Die Leug-
nung der Moglichkeit einer Selbstverpflichtung aus dem Grunde,
weil der freie Wille seine Freiheit auch in der Loslosung von
dem einmal gefassten Entschlusse beweisen kann, fiihrt daher,
consequent zu Ende gedacht, zur Leugnung von Moral und
Recht, zur Leugnung der Moglichkeit menschlicher Gemein-
schaft. Ist also die Selbstverpflichtung einerseits logisch
moglich, so ist sie andererseits sittlich und rechtlich noth-
wendig, rechtlich im Sinne der Rechtsidee, weil sie die uner-
lassliche Vorbedingung. eines geordneten Gemeinlebens ist.
Eines ist jedoch hier zu bemerken. Die Selbstverpflichtung
ist nicht so aufzufassen, als ob der eiDzelne Willensact es
ware, in dem der letzteGrund der Verpflichtung des Willens
zu suchen sei. Es ist nichts als scholastische Spitzflndigkeit,
wenn man behauptet , die Freiheit des Willens konne sich
auch in dem Verzichten auf die Freiheit zeigen. Der verpflich-
y tende Willensact ist nur der formale Grund der Verpflichtung
und der Jurist kann sich bei dieser Vorstellung beruhigen.
^0 Ygl. die treffenden Ansfahrnngen von Edaard v. Hartmann,
Phanomenologie des sittlichen Bewusstseins. Berlin 1879, S. ^48 ff.
17
Der letztepsychologische Grund derVerpflichtung, sei es durch
eigenen, sei es durch fremdenWillen, besteht aber darin, dass
der WiUe sicli durch seine Aeusserung als gebunden erachtet.
Die ganze Aufgabe der Rechtsphilosophie concentrirt
sich in der Frage, weshalb der Wille sich als gebunden an-
sehen muss. Ob man mit der theologisirenden Rechtsschule
das gottliche Gebot, mit der naturalistischen das Gesetz der
menschlichen Natur , mit dem Naturrecht den Vertrag als
Quelle der Reehtsordnung annimmt, immer handelt es sich
um die Erklarung der rathselhaften psychologischen Erschei-
nung, dass der Wille sich als verpflichtbar und verpflichtet
weiss. Wenn Kant die Discussion iiber den Grund der ver-
pflichtenden Kraft der Vertrage mit der Behauptung ab-
schliessen wollte , dass er die Verpflichtung durch Vertrag
als einen kategorischen Imperativ bezeichnet ^^) , so hat er
darait insoferne das Richtige getroffen, als der letzte psycho-
logische Grund einer Verpflichtung nur in dem unmittelbaren
Bewusstsein liegen kann, dass man sich verpflichtet weiss. Es
liegt in dem angeblichen kategorischen Imperativ nur eine
Umschreibung der Thatsache, dass eine weitere psychologische
Ableitung des Bewusstseins der Verpflichtung nicht moglich
. ist, Wie dem auch sei, die Reehtsordnung setzt die Moglich-
keit der Verpflichtbarkeit des Willens ebenso voraus, wie der
Mathematiker den Raum und der Physiker die Atome. Eine
Reehtsordnung, die Existenz eines allgemeinen Willens, der
sich durch den Willen der Einzelnen in That umsetzt, ist nur
moglich unter der Voraussetzung , dass der allgemeine Wille
von den Einzel willen , d. h. dass die Reehtsordnung von der
Gemeinschaft, fiir welche sie bestimmt ist , als bindend ange-
sehen wird.^') Wenn auch einzelne Widerstrebende durch die
Macht der Gemeinschaft bezwungen werden konnen und ein
Widerstand derselben unschadlich fiir das Recht ist, so ist ein
Nichtanerkennen des Rechts durch die Gesammtheit gleich-
bedeutend mit der Vernichtung desselben. Die Anerkennung
3«) Rechtslehre, §. 19.
^') ^g^« di® klaren, von einem bei modernen Juristen selten gewordenen
Verstandniss der rechtsphilosopliisclienProbleine zeigendenUntersncliaiigen von
Bierling, Zur Kritik der juris tischen Grnndbegriffe , 1. Theil, Gotlia 1877.
Dr. Jellinek, Natur d. Staatenvertrage. 2
18
des allgemeinen Willens durch die Gemeinschaft ist seiji
letzter formaler Grund. Und diese Anerkennung kann nur
' darin bestehen, dass man sick durck denselben fur verpflicktet
kalt; „die Anerkennung, die das Reckt zumReekt mackt, ist
nickt ein voriibergekender Act, sondern ein dauerndes kabi-
tuelles Verkalten in Beziekung auf die betreffenden Reckts-
grundsatze." ^^)
So versckwindet denn bei nakerer Betracktnng das Be-
fremdende, welckes in der Idee der Recktserzeugung durck
'autonomisckes Binden des Willens liegt. fDer Fekler des
Naturreckts war es , dass es die Souveranetat im Sinne der
WiUkiir auffasste, dass es nickt erkannte, dass Unabkangig-
keit und Autonomie keine Gegensatze, sondern Correlata
sind. ) Aus dem Wesen des Menscken, aus der Natur der
Recktsordnung ergibt sick nickt nur die Denkbarkeit, sondern
auck die reale Notkwendigkeit der Selbstgesetzgebung. Daker
bestekt das Wesen der Souveranetat nickt nur in der Eigen-
sckaft der Staatsgewalt als kockster Mackt nack aussen,
sondern vor Allem in der S elbstkerrlicbk eit, in der
Mackt , dem eigenen Willen Vorsckriften zu geben , in der
Fakigkeit, fiir sick Reckt zu erzeugen. Mit tiefdringendem
Blick kat L. v. Stein die Selbstkerrlickkeit des Staates als
das staatlicke Recktsprincip bezeichnet, welckes den Staat von
alien anderen Formen der Personliokkeit auszeicknet. ^^)
Haben wir so den abstracten Beweis fiir die Moglickkeit
und Notkwendigkeit der Recktserzeugung durck Selbstver-
pflicktung der Staatsgewalt gefiikrt, so gilt es nun, die Probe
an den Tkatsacken. zu macken. Es ist zu zeigen, dass in
dem, was unzweifelkaft als Reckt gilt, ein Moment vorkanden
sei, welckes nur auf die staatlicke Selbstgesetzgebung zuruck-
gefukrt werden kann. Auf die Deduction soil die Induction
folgen, um durck Analyse der concreten Ersckeinungen als
wirklick zu bestatigen, was sick uns a priori als notkwendig
kerausgestellt kat.
") Bierling a. a. 0. S. 8. Auch der Nachweis Bierling's, dass
die Anerkennnng als letzter jaristischer Grand des Rechts nicht aaf die Ver-
tragstheorie hinansl&aft, ist zn beachten.
'®) Handbuch der Verwaltungslehre, 2. Aufl , S. 42.
19
Am reinsten und deshalb von den Gregnern der staat-
lichen Selbstverpflichtung oft als juristisch unqualilicirbar
bezeichnet, zeigt sich dieselbe in den Acten, durch welche die
Staatsgewalt ihre bisherige staatsrechtliehe Stellung aus freiem
Entschlusse verandert, aho hauptsachlich in den Fallen, wo ein
unbeschrankter personlicher Souveran erklart, die Gesetzgebung
in Zukunft nur mit Zustimmung Anderer auszuiiben. So lange
die Idee des Staates sich noch nicht rein und klar herausgebildet
hatte, konnte man die Octroy irung einer Verfassung von Seite
des Fiirsten als einen Vertrag auffassen, der zwischen Furst und
Untertbanen geschlossen wurde. Dem modernen Staatsgedanken
jedoch, welcher die Kategorie des Vertrags zur Erklarung
der Erscheinungen des inneren Staatslebens fast ganzlich ver-
bannt hat, kann in jenen Acten nur den ein fiir allemal bin-
denden Entschluss des Herrschers erblicken, ein Entschluss,
der nicht nur itir die Unterthanen, sondern auch fiir ihn selbst
Recht erzeugt. Der Trager der Staatsgewalt unterwirft sich
dem Gesetze, das er selbst aufgestellt hat. ^^)
Von diesem Standpunkte aus miissen nun auch alle ubrigen
Schranken der Staatsgewalt beurtheilt werden. Das moderne
Staatsrecht kennt unzweifelhaft Einschrankungen der Staats-
gewalt, und zwar positiv-rechtliche Einschrankungen. 'i) Die
'^) Vgl. Zopfl, Grnndsatze des allgemeinen Staatsrechts, 3. Anfl.,
S. 319. Ein anch der Form nach zutreffendes Beispiel der Selbstgesetzgebnng
im Diplom des Kaisers von Oesterreich vom 20. October 1860 : „In Erwagnng
dass haben Wir — aaf Grundlage der pragmatischen Sanction nnd
Kraft Unserer Machtvollkommenbeit Nacbitehendes als ein best&ndiges und
unwidermfliches Staatsgnindgesetz zu Unserer eigenen, so auch zur
Kicbtscbnur Unserer gesetzlichen Nachkommen in der Regiemng zu bescbliessen
und zu verordnen befunden.^
'^) Yon den moisten Pnblicisten der neueren Zeit anerkannt, z. B.
Scbmittbenner, Zwdlf Biicher vom Staate. 3. Bd., S. 288: ^Die Grenzen
der politischen Gewalt sind .... 2. Positiv-rechtliche (geschichtliche) durch
die concrete Form und positive Verfassung des Staates gesetzte.*' Z d p f 1 , a a. 0.,
S. 92. Dahlmann, Politik, S. 81: Es liegt nicht in dem Begriffe der Re-
giemng, dass ihre Willenserkl&rung an keine Begel gebunden sei. Mo hi,
Staatsrecht, Volkerrecht, Politik. 2. Bd., S. 408. Gerber, Ueber oflfentliche
Rechte. Tfibingen 1852, S. 79. Derselbe, GrundzQge d. allg. Staatsr. S. 31.
229. Hermann Schulze, Einleitung in*s deutsche Staatsrecht. 2. Aufl.,
S. 165. J. V. Held, Grundziige des allgemeinen Staatsrechts. S. 324.
2*
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20
ganze Idee des Rechtsstaates ist in dem Satze zusammenge-
fasst, dass rechtliehe Grenzen fur die Ausiibung der Staats-
gewalt existiren. Da nun auf dem Grebiete des offentlichen
Rechts, wenigstens im modernen Staate, die Staatsgewalt aus-
schliesslich Erzeugerin des Rechts ist, so konnen jene
Schranken nur als Resultat einer Selbstbeschrankung aufge-
fasst werden. vDaher ist jeder Act des Staatswillens, der sich
auf die Verfassung bezieht, zugleich eine Anforderung an den
Staatswillen selbst. Was die Grundgesetze anbelangt, so bat
„in ibrer Ertheilung, Abanderung, Erganzung, die Staatsgewalt
sicb selbst zum Gegenstande." ^^) Die staatsbiirgerlicben Rechte
in ibrer rein negativen .Natur als Erklarungen der Staats-
gewalt, die Freibeit der Untertbanen in gewissen Beziebungen
nicbt zu bemmen, beruben wesentlicb auf Einengung des Herr-
sebaftsgebietes der Staatsgewalt durcb diese selbst, und
G e r b e r konnte sie daber ganz gut in der imperativen Form
verpflicbtender Normen oder als verneinende Recbtssatze for-
muliren: Der Staat soil nicbt die religiose Ueberzeugung
seiner Volksglieder beberrscben, er soil nicbt die wissen-
scbaftlicben Ueberzeugungen seiner Volksglieder beberrscben
woUen, der Staat kann die freie Meinungsausserung durcb
die Presse nicbt von seiner vorberigen Genebmigung, Censur,
abbangig macben u. s. w. ^^) Wer daber das Recbt auf die
von der Staatsgewalt an die Untertbanen erlassenen Normen
Holder, Das Wesen des Staates. ZeitschYift f. d. g. Staatswissensch. Bd. 26,
S. 651: ,,Das Staatsrecht ist der Inbegriff der rechtlichen, d. i. eben der von
der Staatsgewalt selbst als solcher anerkannten Bedingungen, nnter welchen
allein ihre Wirksamkeit die Bedeatung nnd Geltung einer staatlichen dem
Yolke gegenuber beaDspruchen darf." Lab and, Das Staatsrecht des deutschen
Belches. II. Bd., S. 202: „Der Staat kann von seinen Angehorigen keine
Leistnng nnd keine Unterlassang fordern, er kann ihnen nichts befehlen und
nichts yerbieten, als auf Grund eines Rechtssatzes. Das ist das Merkmal des
Bechtsstaates im Gegensatz zur Despotie."
3«) Gerber, Grundziige. S. 13. 14.
»3) Gerber, Grundziige. S. 34 ff. Laband, a. a. 0. Bd. 1, S. 149:
^DieFreiheitsrechte oder Grundrechte sind Normen ftir die Staatsgewalt, welche
die Staatsgewalt sich selbst gibt.*' Gerade in derAuffassung der Grundrechte
als bios verpflichtender Satze des objectiven Rechts tritt der Charakter der
staatlichen Selbstverpflichtung am deutlichsten hervor.
A
21
beschrankt, der muss consequenterweise die Rechtsnatur des
Verfassungsrechts und damit impUcite des ganzen Staatsreehts
laugnen, welches ja auf dem Boden der Verfassnng ruht.
Die von uns vertretene Ansicht, dass in den grund-
legenden Efestimmungen des Staatsreehts wesentlich Selbst-
verpfliehtungen des Staates zu suchen sind , wird mit einer
principiellen Einschrankung gebilligt von der Normentheorie
in der Ausbildung, die sie von Thon empfangen hat. Nach
Thon kann der Staat auch fiir sein eigenes rechtliches Ver-
halten Normen aufstellen; eine derartige Beschrankung der
eigenen Handlungsfreiheit enthalt aber zunachst die Verkiin-
digung des Entschlusses , kiinftighin in der oder jener Lage
in gewisser Weise zu handeln. Erst die Vertheilung der ver-
schiedenen staatlichen Functionen unter verschiedene Organe,
insbesondere die Trennutig der legislativen von der regierenden
Gewalt, machen es moglich, dass dieser Willensentschluss, von
bestimmten Organen des Staates gefasst und verkiindigt , fiir
den andern, zur Ausfiihrung berufenen Theil zugleich einen
Imperativ enthalt. 8*) Hiernach wiirde in der Selbstverpflieh-
tung der Staatsgewalt eine Verpflichtung einer Richtung der
Sfcaatsgewalt durch die andere liegen/ In den meisten Fallen
trifft dies allerdings zu. Aber auch eine' Verpflichtung der
legislativen Grewalt durch sich selbst ist nicht nur denkbar,
sondern auch thatsachlich vorhanden. Die Rechtssatze uber
die politischen Freiheitsrechte sind allerdings Normen fiir die
verwaltende Thatigkeit des Staates, aber sie sind auch
„Schranken der gesetzgebenden Gewalt insofern, als eine Be-
seitigung derselben nur durch verfassungsmassige Aufhebung
eines Theiles der Grundgesetze moglich wird". ^5) Die Bestim-
mungen fiir das verfassungsmassige Zustandekommen der Ge-
setze, der Grundsatz, d'ass Gesetzen keine riickwirkende Kraft
beigelegt werden soil, die Erklarung der Unantastbarkeit
erworbener Rechte konnen nur als rechtliche Einschrankungen,
'^) Bechtsnorm n. snbj. Becht. S. 141. Ganz richtig fiihrt Thon die
privatrechtliche Stellnng des Staates als Fiscns auf staatliche Selbstver-
pflichtnng zurtlck. Vgl. Mo hi, Eccyclopadie der Staatswissenschaften,
1. Aufll. S. 193.
") Gerber, Grundztige S. 36.
I
1
22
welche die gesetzgebende Gewalt sich selbst gesetzt hat, auf-
gefasst werden. Es liegt in ihnen mehr als ein Entschluss,
es ist in ihnen eine wirkliche Vorschrift fiir den kiinftigen
Staatswillen vorhanden. ^*) AUerdings hat es nicht an Solchen
gefehlt, welche in diesen Bestimmungen nur moralische Ver-
pflichtungen erblicken woUten, was aber seinen Grund nur
darin hat, dass diese mit einem a priori zu eng gefassten
Rechtsbegriffe operirten, von dem ans die angefiihrten Satze
des Verfassungsrechtes als B»echtssatze allerdings nicht mehr
begriffen werden konnen. So erklart z. B. Bahr, dass der
Satz , dass die Gesetzgebung wohlerworbene Rechte
nicht verletzen diirfe, nur eine moralische Schranke fUr die
Gesetzgebung sei 5'), welche Behauptung jedoch in der petitio
principii wurzelt, dass B;echt und Gesetz nur da wahre Be-
deutung und Macht gewahren, wo sie einen Richterspruch zu
ihrer Verwirklichung bereit finden^^), ferner behauptet Max
Seydel, ganz an Hobbes erinnernd, dass Derjenige, von
dem das Recht ausgeht, liber dem Rechte steht , dass der
Wille des Herrschers Land und Leute ohne jede rechtliche
Grenze umfasst, dass der Herrscherwille als Rechtsquelle nicht
selbst Recht sein kann. ^9) Daneben spricht aber Seydel
von „gesetzlicher Beschrankung des Herrscherwillens", welche
eine vom Herrscher sich selbst gesetzte ist *o). Diesen Wider-
'^) Dies zeigt am deatlichsten Art. I des Amendements vom 25. De«
cember 1791 zar Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika : „Ber
Congress soil nie ein Gesetz geben, wodnrch eine Religion znr herrschenden
erklart oder die freie Ansiibnng einer andern verboten, oder wodnrch die
Preiheit im Reden oder die Pressfreiheit , oder das Recht des Volkes, sich
freiwillig zn versammeln nnd der Regiemng Petitionen wegen Abstellnng
von Missbranchen zn uberreichen, vermindert wfirde^. Siehe Schnbert, Die
Verfassnngsurknnden, I. Bd., S. 319.
•') Der Rechtsstaat, Cassel nnd Gbttingen 1864, S. 50.
»«) Ebd. S 12.
«») AUgemeine Staatslehre, Wurzbnrg 1873, S. 9, 13, 61.
^^) Ebd. S. 66. Wie man von diesem Standpnnkte ans zn offentlichen
Rechten, zn Rechten gegen den Herrscher gelangen kann, wie dies
bei Seydel der Fall ist, bleibt vollig nnbegreiflich. Der S e y d e I'sche Unter-
schied zwischen Herrscher nnd Staat deckt sich gen an mit dem Rons sea n's
zwischen souverain nnd ^tat.
23
spruch zu loseu, macht S ey d e 1 nicbt den geringsten Versuch.*^)
Auch Ihering, der, wie wir bald sehen werden, einer der
eifrigsten und geistreichsten Vertreter der Ansicbt von der
SelbstbeschrankuDg der Staatsgewalt ist, fasst ganz im StahT-
schen Sinne die Gesetzgebung als absolut fiber dem Gesetze
stehend anf. Jedes Gesetz, das sie erlasst, wie immer bier
aueh sein Inbalt bescbaffen sein moge, ist im Recbtssinn ein
voUkommen legaler Act , die Gesetzgebung kann daher im
juristiscben Sinne nie eine Willk'dr begeben, das wiirde beissen,
dass ibr nicbt das Recbt zustunde, die bestebenden Gesetze
zu andern, ein Widersprucb der gesetzgebenden Gewalt mit
sicb selber. *^) Aber far die Aenderung des gesetzgeberiacben
Willens sind im Recbtsstaate stets gewisse Formen vorge-
scbrieben, Formen, obne deren Innebaltung ein Gesetz gar
nicbt zu Stande kommen kann. Diese Formen bescbranken
den Willen des Gesetzgebers , und zwar weil er sie gewoUt
bat. Er kann allerdings diese Formen andern, aber er ist
durcb das Wesen des Staates gezwungen, seine Willkiir, die
materiell gar nicbt bestebt, formell einzuengen, an Stelle der
aufgebobenen Formen miissen neue treten, denn einen form-
losen Staatswillen kennt der Staat nicbt. tJnd wenn der
Gesetzgeber die bestebenden Gesetze andern kann, so ist docb
stets ein neuer selbstandiger Willensact zu einer solcben
Aenderung notbwendig. So lange der Gesetzgeber nicbt ein
Anderes gewollt bat, sind die von ibm aufgestellten , an ibn
sicb ricbtenden Vorscbriften fur seinen Willen bindend. Nur
dann waren die Selbstbescbrankungen der Gesetzgebung nicbt
recbtlicber Natur, wenn die Gesetzgebung als Willkiir gefasst
werden konnte, eine Auffassung, die dem Wesen des Staates
von Grund aus widerstreitet. Wie aber der Gesetzgeber
trotz der' Selbstverpflicbtung seines Willens juristiscb im
Stande ist, seinen Willen zu andern, diesen fiir unsere Tbeorie
so wicbtigen Punkt werden wir bald zu erortern baben.
*^) Ferner ist Fricker za den Lengnern einer reehtlichen Verpflich-
tung der Legislative zn zahlen. S. oben S. 8. Vgl. a. a. 0. S. 402: „Wenn
der Staat kein Recht tiber sicb bat, so ist er nnr von seinem eigenen Willen
gebonden, also recbtlicb ilberbanpt nicbt gebunden.**
**) V. Ihering, Der Zweck im Recbt, 1. Bd. S. 350.
24
In dem Nachweis der Selbstverpflichtung der gesetz-
gebenden Gewalt liegt eigentlich der Schwerpunkt unserer
Untersuchung. Denn an einer Verpflichtung anderer Staats-
thatigkeiten durch die gesetzgebende kann fliglich nicht
gezweifelt werden. Dass Administration und Justiz von. der
Gesetzgebung Befehle empfangen konnen, gehort zu den fun-
damentalen Thatsachen des offentliehen Rechts, ohne welche
die Existenz einer Rechtsordnung gar nicht denkbar ist. In-
sof em die Staatsgewalt in abstracto als eine einheitliche ge-
dacht werden muss, liegt allerdings auch hier eine Selbstver-
pfliehtung vor, so dass. jede Norm des offentliehen Rechts ein
Moment der Selbstverpflichtung enthalt. So hat Binding
mit vollem Recht hervorgehoben, dass die Normen des Straf-
gesetzes an den Staat selbst gerichtet sind. *3) In der Ge-
wahrung offentlicher Rechte an die Unterthanen verpflichtet
sich der Staat den Unterthanen gegeniiber zu gewissen Lei-
stungen ; vom Standpunkt des der Staatsgewalt Unterworfenen
erscheint hier die Staatsgewalt selbst verpflichtet. **) Da aber
die Ausfiihrung des Staatswillens anderen Organen iiberlassen
ist, als den den Willen erzeugenden , da innerhalb der ein-
heitlichen Staatsgewalt die verschiedenen Organe derselben
eine gewisse Selbstandigkeit gegen einander haben, in welcher
zumeist die Garantien des offentliehen Rechts zu suchen
sind, so kann man, wenn man dieses Moment der Selbstandig-
keit einseitig in's Ange fasst nnd zugleich auf das Subjections-
verhaltniss hinweist , in welchem die anderen Thatigkeiten
der Staatsgewalt zu der Gesetzgebung stehen, die Behaup-
tung aufstellen, dass auch die Verpflichtung der Verwaltung
durch die legislative Gewalt unter jenen Begriff des Rechts
**) Die Normen und ihre Uebertretung, 1. Bd., S. 13. Auch wenn man
annimmt, dass die Strafgesetze Yerpflichtungen des Kichters sind, sie bei
seinen Urtheilen zu Grande zu legen, muss man doch zugeben, dass sie, wie
Binding treffend ausfiibrt, eine Fixirnng des StaatswiUens gegeniiber dem
Verbrecher enthalten, eine Fixirung, welche nicht nA, wie Thon meint,
ein Entschluss, sondern eine wahre Norm ist , eine Norm , durch welche der
hiinftige Staatswille bis zur Aenderung des Strafgesetzes gebunden ist. Ygl.
die folgenden Ausfiihrungen im Texte.
**) Vgl. Ulbrich, Oeffentliche Rechte und Verwaltungs-Gerichtsbarkeit.
Prag 1875. S. 53.
25
falle, wonach dieses nur in der von der Staatsgewalt an die
ihr TJnterworfenen erlassenen Normen besteht. Gegeniiber der
Verpflichtung der Gesetzgebnng durch diese selbst ist jedoch
ein solcher Einwand unmoglich. Wahrend man sich dort
darauf berufen kann , dass gewissermassen der Staatswille
sich spalte und sich innerhalb seiner selbst ein von ihm ver-
schiedenes Object schaffe, efgreift sich hier der Wille selber.
Man muss entweder alle die Satze, welche den Willen des
Gesetzgebers binden , aus dem Rechte wegescamotiren oder
zugeben, dass jener enge Rechtsbegriff nicht im Stande sei,
alle Erscheinungen des Rechts zu erklaren. Und jenes Hin-
auswerfen der den Willen des Gesetzgebers bindenden Be-
stimmungen ans dem Rechte ist , wie schon erwahnt , eine
Negirung des ganzen Verf assungsrechtes , welches nach der
pracisen Definition L. v. Stein's als die gesetzlich be-
stimmte Ordnung fiir die Bildnng des Staatswillens aufgefasst
werden muss *^) und damit eine Negirung der Moglichkeit des
Rechtsstaates , welcher ja auf der gesetzlichen Fixirurig der
Competenz der Staatsgewalt in alien ihren Functionen, also
auch der gesetzgeberischen, besteht.
In der Selbstverpflichtung des Souverains und der legis-
iativen Gewalt tritt aber der Charakter des autonomen Bindens
des Staatswillens nur am reinsten und deutlichsten hervor. Fac-
tisch enthalten ist sie aber, wie wir schon angedeutet haben,
in jedem Satze des offentlichen Rechtes, ja in jedem Rechts-
satze iiberhaupt. Zu den grossten Verdiensten der deutschen
Staatswissenschaft gehort es, den einheitlichen Charakter der
Staatsgewalt dargethan, den Nachweis gefuhrt zu haben, dass
dasjenige, was man Staatsgewalten nannte, in deren absoluten
Trennung man das Heil des Volkes erblickte, nur verschie-
dene Functionen einer und derselben Staatsgewalt sind. Bei
aller Abgrenzung der Gebiete der einzelnen Staatsfunctionen
gegen einander darf doch der Gedanke, dass ein mechanisches
Zerreissen der Staatsgewalt in mehrere Theile zugleich ein
Zerreissen der Staatseinheit bedeutet, nie ausser Augen ge-
lassen werden. Wenn eine Scheidung der Staatsgewalt in
mehrere selbstandige Gewalten theoretisch schadlich ist, so
45
) Die Verwaltungslehre, 1. Bd., Stuttgart 1865, S. 24,
26
ist sie iiberdies praktisch undurchfuhrbar. Es diirften nur
wenige staatliche Organe zu finden sein, deren . Functionen
ganz und ausschliesslich einer der Gewalten angehorten.*^) Wenn
man daher auf die innere organische Einheit der Staatsfabig-
keiten achtet , so wird man jeden Entscbluss des Staates,
dureh welchen er irgend eine seiner Thatigkeiten in irgend
einer Richtung bindet, als Selbstverpflichtung anffassen miissen.
Und da jedes Gesetz durch irgend eine Function der Staats-
gewalt verwirklicht werden muss, da es das Wesen des Ge-
setzes ist, dass es nicht bios ein Wiinschen des Gesetzgebers
bedeutet, sondern ein WoUen, das in That umgesetzt werden
soil, so lasst sich nicht nur, wie Gerber meint, ein grosser
Theil der Staatsgesetze , welches auch immer im Uebrigen
ihr Gegenstand sein moge, von dem Gesichtspunkte aus be-
trachten, dass darin zugleich das Mass und die Einwirkung
der Staatsgewalt rechtlich festgestellt wird*^), sondern in
jedem Gesetze ohne Ausnahme, ja in jedem Satze des posi-
tiven Rechts, welcher Quelle er auch entstammen moge, da
er direct oder indirect Inhalt des Staatswillens ist, muss eine
solche rechtliche Fixirung der Ausiibung der Staatsgewalt
erblickt werden. Wenn ein Gesetz erlassen wird, welches
sich auf Privatverhaltnisse bezieht, so liegt die Beschrankung
der Staatsgewalt darin, dass die unter das betreffende Gesetz
zu subsummirenden Erscheinungen des Rechtslebens nur nach
diesem Gesetze und sonst nach keinem andern zu beurtheilen
*®) Ueber die UnricTitigkeit des noch hetite popularen Irrthums, dass die
englische Yerfassnng auf dem Principe der Gewaltentheilung basirt set , s.
B a g e h 1 , Englische Yerfassungszastande. Dentsch , mit einem Yorwort von
y. Holtzendorff yersehen , Berlin 1868. Ancb die continentalen legis-
latiyen Korperschaften fibenActe der Administration aus. Hierber geboren die
Wahl der Functionare, die Aufrechtbaltung der Disciplin u. s. w. Selbst die
Einsetzung yon richterlichen Organen kann in die Competenz der Legislatiye
geboren , wie z. B. in Oesterreich jdie Wabl der Mitglieder des tiber Minister-
anklagen entscbeidenden Staatsgerichtshofes durcb den Keichsrath.
♦*) Grnndziige. S. 31. Ygl. La band, a. a. 0. 11. Bd , S. 205: „Die
Gesetze, von denen bier die Rede ist (die Yerwaltungsgesetze) baben es
sammtlicb zti tbun mit einer Abgrenzung der Staatsgewalt. Sie geben
die Rechtsvorschrifken fiber die Einwirkungen, welche der Staat auf Personen
und Yermogen seiner Untertbanen yornehmen darf. Der Gesammtinhalt
aller dieser Gesetze definirt den recbtlichen Inbalt der Staatsgewalt."
J
V
27
sind. Das Wesen des Gesetzes , des objectiven Rechts liber-
haupt, besteht eben darin, dass es fur die Beurtheilung der
ihm unterworfenen Ersch(iiniingen die Willkiir ausschliesst,
dass es den Willen des Staates mit einem bestimmten Inbalt
erfiillt, der keinen ihin widersprechenden neben sich duldet,
Gresetz "and Selbstbeschrankung des Staat swill ens sind corre-
late Begriffe. Auch beim Individuum scbliesst ein bestimmter
Willen sinbalt fur die Dauer des WoUens jeden anderen aus.
Selbst der eifrigste Indeterminist muss zugeben, dass man in
einem und demselben Momente nicht etwas zugleich mit seinem
Gegentheile wollen kann.
In jedem concreten Wollen liegt daher eine Besehrankung
des Willens als der Fahigkeit des Wollens. Und diese Be-
sehrankung ist eine selbstgewollte, weil sie nothwendigerweise
mit dem Willensinhalt selbst gesetzt ist. Daher ist jeder Act;
staatlichen Wollens eine Besehrankung des Staatswillens undj
zwar , da diese Besehrankung dem Staate nicht von Aussen ^
her aufgedrungen ist, sondern aus der inneren Natur seines \
Willens hervorgeht, eine Selbstbeschrankung. Und die Selb^- /
besehrankung des Staates ist keine vorttbergehende. Der na-
tiirliche Wille des Individuums ist als solcher durch die Voll-
endung eines Willensactes form ell nicht weiter gebunden , es
sei denn , dass ein hoherer Wille ihm ein Gebundensein an
die entschwundene WiUensaction gebietet oder die Fortdauer
des einmal geausserten Willens voraussetzt *®) , oder dass der
Individualwille selbst sich durch das einmal GewoUte aus
ethischen Griinden fur verpflichtet halt. Anders der Staats-
wille. Beim Staatswillen dauert das Wollen des einmal fur
den Willen als Inhalt Gesetzten so lange fort, bis ein zweiter
Willensact erfolgt, durch welchen der Fortdauer des friiheren
Willeneactes ein Ende gemacht wird. Der Staat hort nicht
auf, das zu wollen, was er einmal als Inhalt seines Willens
gesetzt hat *^), bis ein entgegengesetzter Willensact den ersten
aufhebt. Der Staatswille, wenigstens der des Rechtsstaates,
*®) Wie z. B. beim Besitzwillen, der nach der BestimmuDg derRechtsordnung
nicht dnrch das -blosse Nicht wollen, sondern erst durch tin in contr avium agere
erlischt.
^^) Es sei denn, dass er sich selbst eine bestimmte Frist gesetzt hat.
28
ist daher viel constanter und verlasslicher als der Wille des
Individuums und auf dieser Constanz des staatlichen WoUens,
auf der Fortdauer des Gebundenaeins des Staatswillens an
seinen Inhalt, beruht im Grunde die ganze Rechtsordnung,
berubt das Gefiihl der Sicherheit, welcbes die unerlassliche
Vorbedingung des Sehaffens und Arbeitens der Unterthanen
ist. Wenn man nicht darauf bauen konnte, dass der Staat
in seinen Gesetzen und den von ihm anerkannten Rechtssatzen
eine Schranke seines Willens anerkennt und respectirt, dann
ware das Leben im Staate das unertraglichste , und solche
staatliche Zustande waren es , welche die Vorlaufer der Re-
volution dazu angetrieben haben, die Zeit der Staatslosigkeit
als die idealste Periode der Menschheit zu preisen.
Dieses Moment der Selbstunterwerfung des Staates unter
den eigenen Willen, welches in jedem Rechtssatze liegt, ist
nun von Niemandem scharfer hervorgehoben worden als von
Ihering. *^°) Er unterseheidet in der Entwicklung des Rechts
als Befebl, als Norm, drei Stufen. Die erste Stufe ist die des
Individualgebotes , welches nur durch das unmittelbare Be-
diirfniss des einzelnen Falles auftaucht, um sofort zu ver-
Bchwinden, nachdem der Fall, fiir welchen es bestimmt war,
erledigt ist. Die zweite Stufe ist die einseitig verbindende
Norm, die abstracte, fiir eine Reihe von Fallen aufgestellte
Regel, welche die Unterthanen der Staatsgewalt verpflichtet,
ohne dass ihr Urheber durch sie gebunden ist. Die dritte
Stufe der Norm ist die, in welcher sie zugleich die Staats-
gewalt, welche sie erlassen hat, selbst bindet. Erst dadurch
wird der Rechtszustand erreicht und der Zufall in der
Anwendung der Normen verbannt. „Recht in diesem vollen
Sinne des Wortes ist also die zweiseitig verbindende Kraft
des Gesetzes, die eigene Unterordnung der Staatsgewalt unter
die von ihr selbst erlassenen Gesetze." ^^) Die Verbindlichkeit
der Rechtsnormen fiir sich selber erkennt die Staatsgewalt
dadurch an, dass sie sich des Rechtsprechens begibt und es
dem Richter iiberweist. „Einsetzung des Richteramts ist prin-
cipielle Selbstbeschrankung der Staatsgewalt in
*o) a. a. 0. S. 321—426.
") a. a. 0. S. 344.
29
Bezug auf den dem Richter zur Verwirklichung iiberwiesenen
Theil des Rechts, Ermachtigung des Richters, nach eigener
Ueberzeugung, unabhangig von ihr das Recht zu finden, und
Zusicherung der bindenden Kraft des von ihm gefallten
Sprucbs."^2) Die 'Einsetzung des Ricbters und die ibm ge-
wahrte Unabhangigkeit ist also die Garantie fiir die Verwirk-
lichung des Rechts nach der Seite der Verpflichtung der Staats-
gewalt bin und sie ist zugleicb das unterschoidende Merkmal
des Recbts gegeniiber der Verwaltungstbatigkeit des Staates.
Icb will bier abseben von der scbroffen Scbeidung, die
Ibering zwiscben Justiz und Verwaltung macbt, der scbon
die blosse Existenz eines Verwaltungsrecbts, die Tbatsacbe,
dass die Verwaltung selbst zur Bildung von Reebtssatzen
fiibrt^^) und andererseits die Qualitat der Recbtspf lege als
eines Zweiges der Verwaltung widerstreitet. So ricbtig und scbarf
aber Ibering das Moment der Selbstverpflicbtung in den
Normen des Recbtsstaates erfasst bat. so erbeben sicb docb
gegen seine Ausfiibrungen gewicbtige Bedenken. Vor allem
iibersiebt er die Existenz einseitig verbindender Normen,
welcbe ibre verbindende Kraft nur der Staatsgewalt gegen-
iiber aussern, oder vielmebr, er muss nacb seiner Bebauptung,
dass die Gesetzgebung sicb nicbt unter ein von ibr erlassenes
Gesetz stellen kann, die Existenz verfassungsrecbtlicber Normen
negiren und ziebt damit der Construction des Recbtsstaats den
Boden unter den Fiissen weg. Und docb ist seine ganze Con-
struction zweiseitig verbindender Normen nur auf Grund der
Anerkennung einer ausscbliesslicb die Staatsgewalt ver bin-
denden Norm moglicb, namlich jener Norm, durcb welcbe die
Staatsgewalt die „principielle Selbstbescbrankung" vornimmt.
Der Act, mittelst welcbes die Staatsgewalt die Grenzen ab-
steckt, innerbalb welcber sie dem Ricbter die Selbstandigkeit
ge wabrt, muss docb von Ibering als Recbtsnorm aufgefasst
'*) a. a. 0. S. 382.
") Vgl. die Einwande Thon's, Zeitschrift f. d. Pr.- u. offentl. Recht.
S. 256 ff. S. ferner Laband, Staatsrecht. II. Bd., §. 67: „Die Verwaltungs-
tbatigkeit des Staates ist zagleich Handhabung und Erzeugung des offentlicben
Rechts nnd es findet eine fortwahrende Wecbselwirkang zwischen Verwaltung
und Rechtsbildung statt."
30
werden, sonst konnte er eine Missachtung der richterlicben
Selbstandigkeit von Seite des Staates nicht einen durch nichts
zu beschonigenden Rechtsbrnch nennen. ^^) Mindestens die Or-
ganisirung der Grerichte und die Feststellung ibrer Competenzen
mussen von diesem Standpunkte aus als Reclitssatze aufgefasst
werden, die sieb nur an die Staatsgewalt wenden, einseitig ver-
bindende Normen, die Niemanden binden, als ihren Urheber. Und
zwar mussen diese Normen aach als Verpfliebtungen der Ge-
setzgebung angeseben werden. Oder meint Ibering, dass
die Legislative durcb den Grundsatz der Unabbangigkeit der
Ricbter nicbt verpfliebtet ist ? Darf sie Gesetze erlassen, welcbe
diesen Grundsatz aufbeben? Begebt sie, indem sie diesem
Satze, der nacb Ibering zu den unerlasslicben Bedingungen
des Recbtsstaates gebort, derogirt, nicbt ebenso einen Recbts-
brueb, wie die Staatsgewalt, die den Ricbtersprucb missacbtet ?
Eine widersprucbslose Durcbfubrung der Ibering'scben Ge-
danken ist nur moglicb, wenn man einseitig verbindende, nur
an die Staatsgewalt sicb wendende Normen anerkennt, welcbe
aucb den recbtscbaffenden Factor im Staatsleben, die Legis-
lative, zu fesseln im Stande ist. Wenn aucb die Normen, durcb
deren Erlassung die Legislative eine ibr selbst auferlegte Ver-
pflicbtang iibertritt, formelles Recbt bilden, so liegt das Un-
recbt, welcbes die Gesetzgebung begebt, in der Aufstellung
neuen Recbts, wo das alte batte weiter gelten soUen. Durcb
den Act der Recbtsscbopfung begebt die Staatsgewalt bier
einen Recbtsbrucb, den Fall ausgenommen, dass die Neubildung
des Recbts eine notbwendige, durcb die Staatszwecke gebotene
war, von dem wir bald zu reden baben werden. Es ist formell
moglicb, dass die Gesetzgebung auf verfassungsmassigem Wege
durcb ein Specialgesetz die Confiscation des Vermogens eines
Unscbuldigen anbefieblt; sie wiirde aber in diesem Falle die
Norm, welcbe die Unverletzlicbkeit des Eigentbums anbefieblt
und die sie fur sicb als verbindlicb anerkannt bat, ebenso
libertreten, wie der Dieb.^***)
Aus der Existenz einseitig verbindender Normen, welcbe
nur an die Staatsgewalt gericbtet sind, ergibt sicb, dass die*
") a. a. 0. S. 382.
'**) Vgl. Gerber, Grandziige S. 29.
31
Verpflichtung der Staatsgewalt der einzige Punkt ist, welcber
alien vom Staate aDerkannten Rechtssatzen, also alien Satzen
des positiven Rechts gemeinsam ist. Es gibt, wie aus unserer
Darstellung hervorgeht, Rechtssatze, welehe sich nicht an die
Gesetzesunterthanen ricbten, aber eine Norm, welcbe niebt
den Staat verpflicbtete, ist gar nicbt denkbar, es miisste sonst
etwas zugleicb Inbalt des Staatswillens und nicbt in dem-
selben entbalten sein konnen. Die weiteste Definition vom
Recbte ware demnacb die Bezeicbnung des Recbts als der I
Inbegriff der vom Staate als fur ibn verbindlieb
angesebenenNormen, So zeigt sieb uns die Selbstverpflicb-
tung der Staatsgewalt, deren logisebe Moglicbkeit wir anfangs
zweifelnd priiften, als die Essenz der ganzen Recbtsordnung.
Der zweite Punkt in den Ausfiibrungen lb e ring's,
gegen den wir uns erklaren miissen, ist die Stellung, die er
dem Ricbter einraumt. Der Ricbter erscbeint bei ibm ganz
unabbangig von der Staatsgewalt, er stebt ibr selbstandig
gegeniiber und sie beugt sicb vor seinem Sprucbe. Hier baben
wir jenes Auseinanderreissen der Staatsgewalt, welcbes notb-
wendig zu einer Vernicbtung der Staatsidee fubrt, „die tbeo-
retisebe Construction der Grrundlage eines permanenten Staats-
conflicts". ^^) Der Ricbter stebt nicbt dem Staate als ein
Fremder gegeniiber, er stebt nicbt iiber dem Staate als ein
Hoberer. Er selbst bezeicbnet nur eine bestimmte Ricbtung
der Staatsgewalt, ist innerbalb der Staatsgewalt nur ein
Moment , welcbes in seinen ibm eigentbiimlicben Functionen
gegen die anderen scbarf abgegrenzt ist. Aber es ist der Staat
selbst, der aus dem Munde des Ricbters spricbt, in ibm per-
sonificirt sicb der Staat, wenn er das Recbt spricbt und im
Namen des Staates oder seines souveranen Reprasentanten
fallt er seine Urtbeile. Insoweit ferner der Ricbtersprucb nicbt
nur ein Urtbeilen, eine Declaration des auf den concreten Fall
anzuwendenden Recbts, sondem aucb einen Befebl entbalt, sei
es an Parteien, sei es an die Staatsgewalt, insofern also ein
Auferlegen oder ein Anordnen im Ricbtersprucbe entbalten
") F. V. Holtzendorff , Die Principien der Politik. 2. Aufl. Berlin
1879. S.125.
32
ist, ist es die Staatsgewalt selbst, von welcher die
Anordnung ausgeht. ^^) Richterwille ist Staatswille. Ware dies
nicht der Fall, so konnte der Staat sich nie einem Richter-
spruche unterordnen. Denn wie imraer man die Souveranetat
auffassen mag, das eine steht fest, dass zu ihren nothwen-
digen Merkmalen die Unabhangigkeit des Staates zahlt. Der
Staat darf keinen hoheren Willen iiber sieh anerkennen, er
darf sich keinem Willen beugen, als seinem eigenen. Stiinde
der Richter als ein Hoherer iiber dem Staate, dann mtisste
der Staat von ihm Befehle empfangen konnen, dann ware der
Richter Souveran und nicht er. Indem die Staatsgewalt dem
Richter das Rechtsprech6n liberweist, legt sie nicht „vor
allem Volke die Erklarung ab, dass sie sich selber dessen
begeben woUe" '^'), sondern sie stellt ihren eigenen Willen und
die Ausfiihrung desselben vor der Willkiir ihrer Organe
sicher.
Und nun wird es klar, warum der Nachweis, dass staat-
liche Selbstverpflichtung Recht schafft, von principieller Be-
deutung fiir den Rechtsbegriff liberhaupt ist. Nach der tinter
dem weitaus grossten Theile der Juristen herrschenden An-
schauung, die erst neuerdings wieder durch Ihering Unter-
stiitzung erhalten hat^®), ist Recht nar moglich unter der
Voraussetzung, dass eine rich ten de und zwingende Autoritat
vorhanden ist. Rechtsnormen in dieser Auffassung sind Zwangs-
^^) Vgl. Degenkolb, Einlassungszwang and Urtheilsnorm. Leipzig
1877. S. 82: „Ini Gericht als Ganzen treffen Urtheilen nnd Anordnen noth-
wendig znsammen." Dieses richterliche Anordnen kann nie als losgelost von
der Staatsgewalt gedacht werden, wie das Urtheilen, welches kein WoUen und
Handeln, sondern ein rein logischer Process ist : „Das Wesen der richterlichen
Gewalt liegt nicht im Urtheilen, sondern im Richten. — Das Urtheilen in
dem Sinne, das Recht im einzelnen Falle zu erkennen nnd auszusprechen,
ist gar nicht nothwendig eine obrigkeitliche Fanction, noch die Ansilbung
einer staatlichen Gewalt oder Macht das Richten dagegen, d. h. die
Gewahrnng des Rechtsschntzes nnd die Handhabnng des Rechts — — ist
von jeher als eine obrigkeitliche Thatigkeit angesehen, nnd daher uberall
richterlichen Magistraten nnd Beamten als eine staatliche Gewalt zngetheilt
werden." Bluntschli, AUgemeine Staatslehre. 5. Anfl., S. 595.
^') a. a. 0. S. 382.
") a. a. 0. S. 434. Recht = Sicherung der Lebensbedingungen der Ge-
sellschaft in Form des Zwanges.
y.
33
normen, deren Anwendung durch richterlichen Spruch gesichert
ist. Eine Autoritat, die fiber den Parteien erhaben ist, eine
Gewalt, die machtiger ist als die Untefthanen der Norm, muss
die Garantie fur , die ErfuUung derselben geben. Wenn es nun
Normen gibt, welche sich an die Staatsgewalt selbst wenden,
welche RoUe kann ihnen gegenuber der Zwang spielen? Ist
ein Zwang, den die Staatsgewalt gegen sich selbst ausfibt
auch nur denkbar? Ein sich selbst Verpflichten ist moglich,
niemals aber ein sich selbst Zwingen ! Wenn die Staatsgewalt
irgend einer der sich selbst auferlegten Verpflichtungen nieht
nachkommt, so ist keine rechtliehe Macht vorhanden, welche
im Stande ware sie zur ErfuUung ihrer Verbindlichkeiten an-
zuhalten. Die Garantien dafur, dass der Staat eine in der
Verfassung enthaltene Bestimmung zur Ausfuhrung bringen,
dass ein gerichtliches Urtheil voUzogen, dass die Verwaltung
innerhalb der rechtlichen Schranken ausgeubt werde, sind und
bleiben rein moralischer Natur , dem Rechte steht in diesen
Fallen kein Zwangsmittel zu Grebote. ^^) Man wende uns nicht
ein, dass Garantien fur die Ausfuhrung der verfassungsmassigen
BestiiiimungeD, fur die Ausubung der Verwaltung innerhalb der
Rechtsschranken u. s. w. in der Verantwortlichkeit der Minister,
in den Spruchen der Verwaltungsgerichte existiren. Denn der
Staat selbst ist es ja, der die Minister zur Verantwortung
zieht, der die unrechtmassigen Verfugungen der Verwaltungs-
behorden cassirt. In alien diesen Fallen will der Staat noch
immer die Verwirklichung desRechts; nicht gegen ihn selbst
ist hier der Zwang gerichtet, sondern gegen einzelne Organe,
die zu ihm im Subjectionsverhaltnisse stehen. Wenn aber alle
Elemente der Staatsgewalt sich vereinigen, um an Stelle des
Rechts die Willkur zu setzen, um Verptiichtungen zu brechen,
die sie als solche anerkennen mussen, dann handelt der Staat
unrecht, ohne dass ein Richter vorhanden ware , der ihm be-
fehlen konnte und ein Executor, der den Spruch voUziehen
durfte. Wenn dann die elementaren Krafte des Volkes sich
*^) B e r g b h m , a. a. 0. S. 25. Ferner hebt Bergbohm ganz richtig
hervor, dass es Rechtsbestimmungen gibt, welche den Richter uberhaupt aus-
schliesseD. S. 26, Nr. 1.
Dr. Jellinek, Natur d. Staatenvertrage. 3
34
regen und der Staatsgewalt die Volksgewalt kampfend und
siegend entgegentritt, so ist das ein Process, der einer juristi-
schen Qualification ganzlich entbebrt, oder vielmebr es stehen
sich hier juristisch TJnrecht und Unrecht gegeniiber. Eine Recbt-
fertigung der Revolution ist vom etbiscben und gescbicbtspbilo-
sopbiscben Standpunkte und von einer das substantielle Moment
des Recbts beacbtenden Anscbauung aus moglicb, aber eine juris-
tiscbe Recbtfertigung derselben, eine Auffassung derselben
als Recbtszwang gegen staatlicbes Unrecbt ist undenkbar.
Ist nun einerseits der Recbtszwang gegen den Staat un-
moglicb , so ist andererseits die Stellung des Ricbters ibm
gegeniiber ganz anderer Natur als gegenuber dem Untertban.
Nicbt als eine Autoritat kann der Ricbter ibm gegeniiber-
treten. Sofern die ricbterlicbe Function nicbt in dem rein
. logiscben Process des Findens des Recbts bestebt, ist, wie er-
wabnt, der Ricbter identiscb mit der Staatsgewalt. Der Staat,
indem er ricbterlicbes Urtbeil ausfiibrt, fubrt sein eigenes
TJrtbeil aus. Aucb insofern der ricbterlicbe Befebl an ibn
selbst gericbtet ist, vollfiibrt der Staat in dessen Execution
nur seine eigenen Bescblusse.( Der Staat ist daber immer Ricbter
in eigener Sacbe. jEr ordnet sicbnie dem Ricbtersprucbe eines
als bober Anerkannten unter, sondern er erkennt den Ricbter-
willen als seinen eigenen an. Es gebt bierbei im Organismus
der Staatsgewalt derselbe Process vor, wie im Individuum,
das eine verntinftige Vor stellung zum Motiv fiir seinen Willen
erbebt. Hier wie dort ordnet sicb der Wille dem als verniinftig
Erkannten freiwillig unter.
Die staatlicbe Selbstverpflicbtung kennt also keinen
Zwang und aucb keinen Ricbter in dem gewohnlicben Sinne.
Und da in jedem Gesetze das Moment der staatlicben Selbst-
verpflicbtung entbalten ist, da es Recbtssatze gibt, deren
Natur ausscbliesslicb in dem autonomen Binden des Staatswillens
bestebt, so ergibt sicb obne eindringende dialektiscbe und spe-
culative Untersucbung der Frage, inwieweit die Existenz des
Recbts durcb die Existenz seiner Garantien bedingt ist, aus
der vorurtbeilslosen Betracbtung der unzweifelbaft Recbtskraft
besitzenden Normen, dass esRecbt gibt, welcbes keine andere
Garantien in sicb tragt, als den Willen desjenigen, an den
35
sie gerichtet sind — des Staates. Will man diesen legibus imper-
fectis den Rechtscharakter nehmen, weil sie imperfectae sind, so
muss man nacb unseren Ausfiihrungen die Existenz einer Rechts-
ordnung fiir den Staat, also das offentliche Recht liberhanpt
negiren, weil jeder Rechtssatz in seiner Riehtung auf die Staatsr
gewalt nothwendig imperfect ist und imperfect bleiben muss.
Die doppelte Riehtung, in weleher eich der Staatswille
aussert, findet iibrigens in den verschiedenen Stadien des ver-
fassungsmassigen Zustandekommens der Gesetze ihren Aus-
druck. Ein Gesetzentwurf wird zum Bestanrdtheil der Rechts-
ordnung erhoben erstens durch die Sanction, welche dem
Gesetzesinhalt Rechtskraft verleiht und zweitens durcb die Aus-
ferligung und Publication, durch welche das Gesetz als ver-
fassungsmassig zu Stande gekommen erklart und sein^ Be-
folgung den TJnterthanen vorgeschrieben wird. Durch die Sanc-
tion verpflichtet sich nun zuvorderst der Gesetzgeber selbst.
Durch diesen Act erklart er, dass ein bestimmter Rechts-
gedanke Inhalt seines Willens sein soll^^), es ist wesentlich
die Selbstbestimmung des gesetzgeberischen Willens, welche
die Sanction zum Ausdruck bringt. Es gibt in dem Leben
des Gesetzes einen Zeitraum, wo es noch nicht die Unterthanen
verpflichtet, trotzdem es schon den Willen des Gesetzgebers
gebunden. hat, und zwar ist dies der Zeitraum zwischen der
Sanction und Publication, oder noch genauer, dem Momente,
von dem angefangen die Unterthanen, an welche sich das Ge-
setz wendet, an dasselbe gebunden sind. So beginnt bekannt-
lioh in Oesterreich nach. dem Gesetze vom 10. Juli 1869 die
verbindende Kraft der im Reichsgesetzblatte enthaltenen Kund-
machungen, wenn in denselben nicht ausdriicklich eine andere
Bestimmung getroffen wird, mit dem Anfange des fiinfund-
vierzigsten Tages nach Ablauf des Tages, an welchem die
deutsche Ausgabe jenes Stiickes des Reichsgesetzblattes, in
welchem die Kundmachung enthalten ist, herausgegeben und
versendet wurde; im deutschen Reiche nach Artikel 2 der
Reichsverfassung am vierzehnten Tage nach Ablauf des Tages,
«<») Vgl. Lab and a. a. 0. 2. Bd. §§. 56, 57. Gegen La band's Be-
banptang, dass dorcb die Sanction ein Rechts s a t z zam Gesetz erhoben wird,
Binding, Krit. Vierteljahrschrift, 21. Bd. S. 549.
3*
\
\
\
36
an welchem das betreffende Stiick des Reichsgesetzblattes in
Berlin ausgegeben worden ist. ^i) In der Zeit, welche von der
Sanction des Gesetzes bis zur Publication, von der Publica-
tion , die vacatlo legis hindurcb, bis zum Beginne seiner ver-
pflichtenden Kraft verfliesst, ist das Gesetz bereits Bestand-
theil der Rechtsordnung , aber nur, insofern als es einseitig
verpflichtende Norm ist, die ausschliesslich. den Gesetzgeber
bindet. Der Gesetzgeber kann vom Momente der Sanction bis
zu dem des Inkrafttretens des Gesetzes, trotzdem noch keiner
der Unterthanen daran gebunden ist, das Gesetz nicht anders
. aufheben, als auf verfassungsmassigem Wege, er ist also unzweifel-
haft durch dasselbe bereits ebenso verbunden, als ob es schon
fiir die Unterthanen in Kraft getreten ware. Ein jedes Gesetz
durchlauft in seinem Entwicklungsprocess daher ein Stadium^
in welchem es das ausschliessliche Charakteristikon aller Nor-
men des positiven Eechts, die Selbstverpflichtung der Staats-
gewalt ganz rein und ohne jede Beimischung zeigt. Schon diese
Thatsache allein wiirde einen hinreichenden Beweis dafiir ge-
wahren, dass es Recht gibt, durch welches nur der Staat,
nicht aber die Unterthanen verpflichtet sind. Aus ihr folgt
auch, dass ein Act des Staatswillens , der nie publicirt wird,
dennoch fiir die Staatsgewalt bindende Kraft haben kann,
trotzdem die Unterthanen von dem Entschlusse der Staats-
gewalt vielleicht nie authentische Kunde erhalten, ein Umstand,
der fiir die Erfassung der rechtlichen Natur der Staatenver-
trage von der grossten Bedeutung ist.
Mit der Erkenntniss nun, dass es Recht gibt, welches
ausschliesslich in dem Binden des Staatswillens besteht, dass
jedem Rechtssatze ein solches Moment, von dem seine ganze
^^) Vgl. CodeN ap 16 on, Art. 1. Einer genauen Untersuchnng ist die
vacatio legis meines Wissens nur von Binding, Krit. Vierteljahrschr.
S. 580ff. unterzogen worden. Ganz richtig wird von Binding zwischen der
feierlichen Erklarang des Gesetzgebers, dass etwas, was Recht bis dahin nicht
war, die Qaalitat des Becbtssatzes fiirderhin tragen soil und der Erklarung
des Gesetzgebers, dass der Recbtssatz von einem bestimmten Tage an gelten
soli, unterscbieden. Nurglanbe icb, trotz B i n d i n g 's Widerspruch, dass auch
in der ersten Erklarung eine Norm enthalten ist, namlich die Verpflichtung
des Gesetzgebers, die „ideale Ordnung" zur realen zu erheben.
37
Existenz abhangt, innewohnt und das weder durch Zwang,
noch auch durch einen Richter, als hohere Autoritat, seiner
Verwirklichung entgegengefuhrt wird, sondern uur in dem
sittliehen Willen des Staates seine Garantien findet, mit dieser
Erkenntniss sind zwei der Haupteinwande gefallen , welche
mit ermiidender Eintonigkeit gegen die juristische Existenz
des Volkerrechts erhoben werden. Es ist damit bewiesen, dass
das innerstaatlicbe Recht einer seiner wichtigsten Beziehungen
nach an denselben angeblichen Mangeln leidet, wie das Volker-
reebt nnd seiner Natur nach ewig leiden mnss. Der grosse
Unterschied zwischen Staats- und Volkerrecbt, der in jenen
auf den ersten Blick ein fester gefiigtes, auf soliderer Basis,
^egriindetes Recbt zu sehen verleitet, besteht darin, dass diej
moralischen Garantien des Staatsrechts starkere sind.i
als die des Volkerrechts, dass das Bewasstsein der Staats-/'
gewalt , dem selbstgesetzten Rechte verpflichtet zu sein , i
Beziehungen auf die Aufgaben des Staates gegeniiber de
Volke ein machtigeres ist, als fremden Staaten gegeniiber.
Wenn das sittliche Bewusstsein der Volker die Hohe erklommen
haben wird, welche zur unbedingten Achtung internationaler
Verpflichtungen nothig ist, dann werden dem Volkerrecbt e
dieselben Garantien zu Gebote stehen, die heute das Staats-
recht der civilisirten Volker schiitzen/j Mit dem positiven
Charakter des Volkerrechts steht es daher in diesen Punkten
ebenso, wie mit irgend einem Bestandtheile des innerhalb des
Staates geltenden Rechtes, dessen Verwirklichung in letzter
Instanz immer von Momenten abhangt, welche ausserhalb des
Rechtes liegen. ^^) Losgelost • von der ethischen Basis, auf
der es ruht , gleicht das R'echt einem Kartenhaus , das der
leiseste Windzng vernichtet.
Jetzt gilt es den gewichtigsten Einwand zu prtifen, der
gegen die von uns verfochtene Theorie der staatlichen Ver-
pflichtung erhoben werden kann, auf den wir bereits zu
Anfang unserer Untersuchung hingewiesen haben. Ist nicht
^^) Damit soil nicht die M5gliclikeit eines Schutzes dnrch Zwang ftir ein-
zelne Bestimmnngen des Yolkerreclits gelangnet werden. Vgl. y. Kaltenborni
Kritik, S. 310. Bergbohm, a. a. 0. S. 23.
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38
die Behauptimg einer Selbstverpflichtung durch den einfachen
TJmstand hinfallig, dass der Staat seinen Willen stets andern
kann? Liegt nicht in der Moglichkeit, dass der Staat in den
verfassungsmassigen Formen AUes woUen kann, auch die
Moglichkeit eingeschlossen, dass sich der Staat von jedem mog-
liehen Willensinhalt wieder befreit? 1st es nicht die Selbst-
befreiung des Staates , welche die Selbstverpflichtung zur
Unmoglichkeit macht und hat die Lehre der Staatsabsolutisten
nicht demnach Recht, dass eine Verpflichtung der Staats-
gewalt als Subject undenkbar ist?
Um diese Frage zu beantworten , milssen wir vor der
Hand den formell juristischen Standpunkt verlassen, um zu
untersuchen , welche Momente es sind, die den Willen des
Staates beim Schopfen des Rechtes leiten. Denn die Bestim-
mung dessen, was Recht werden soli, ist nothwendiger-
weise abhangig vom . substantiellen Momente des Rechts und
des Staates. Hier sind wir daher gencthigt, uns an die Natur
des Staates zu wenden, um Aufschluss iiber den Process zu
gewinnen, welcher den Staat bestimmt, seinem Willen einen
concreten Inhalt zu setzen.
Wie immer man iiber das Wesen des Staates denken
moge, das Eine ist wohl heute iiber jeden Zweifel erhaben,
dass es nicht als Willkur gefasst werden kann, dass nicht
launische Einfalle , sondern verniinftige Motive es sind,
welche den Staats willen bestimmen. Es ist materiell nicht in
das Belieben des Staates gestellt, ob er iiberhaupt eine Rechts-
ordnung schaffen will und welchen Inhalt dieselbe zu besitzen
hat. Vielmehr ist der Staat durch seine Zwecke, zu welchen
auch der gehort, das r.chtsetzende und rechtschirmende Organ
des Volkes zu sein, gebunden. Kommt der Staat diesen Zwecken
nicht nach, oder handelt er gar gegen dieselben, so macht er
damit einen AngriiF auf sich selbst, er sucht damit die Bedin-
gungen seiner eigenen Existenz zu vernichten. Es ist aller-
dings moglich, dass ein Gesetz unverniinftig ist, die Gesetze
sind haufig fehlerhaft und unvoUkommen, aber es ist beinahe
unmoglich, dass in einem civilisirten Lande ein Gesetz erlassen
wird, welches nicht wenigstens nach der subjectiven Einsicht
des Gesetzgebers den Staatszwecken genugt. So frivol dttrfte im
39
modernen Staate wohl selten ein Gesetzgeber sein , dass er
einer nach seiner Erkenntniss den Staatszwecken zuwider-
laufenden Bestimmung den Rechtscharakter verleihen wttrde.
Die Einsicht des Staates ist menschliche Einsicht, und mensch-
liehe Einsicht kann irren. Das hindert aber nicht, dass die
Staaten den Satz anzuerkennen haben und auch thatsachlich
anerkennenv dass sie darch ihre Natur zur Schaffung von
Recht , welches den socialen Zwecken des Rechts geniigt,
verflichtet sind. Ist der Staat aber durch seine Zwecke zur
Aufstellung und Aufrechterhaltung der Eechtsordnung ver-
pflichtet, und hat das Recht, welches der Staat schafft und
schiitzt, den socialen Zwecken des Rechtes, der Erhaltung der
vom Willen abhangigen Existenzbedingungen der Volksgemein-
scbaft zu geniigen ^^), so findet hieran jede Verpflichtung, die
der Staat sich auferlegt hat, ihre Grenze. Vor der hochsten
Verpflichtung des Staates, Recht zu schaffen, welches dem Staats-
zwecke geniigt, treten alle anderen Verpflichtungen in den
Hintergrund. Wenn ein bestimmter Rechtssaiz dem Staats-
zwecke nicht mehr geniigt, so erlischt fiir den Staatswillen
die selbstgesetzte Verpflichtung ihn aufrecht zu erhalten, durch
die hohere Verpflichtung, dem Staatszweck zu geniigen, Es
geht hier nur derselbe Process vor sich, der bei alien Pflichten-
collisionen stattfindet, die niedere Pflicht erlischt durch die
hohere. Daher kann auch nur die hochste Pflicht als eine
absolute erscheinen, wahrend alle anderen Pflichten ihr gegen-
iiber nur relativ sind. Ware das Volk und seine sociale Orga-
nisation zu alien Zeiten eine und dieselbe, so l&ge nie ein
Grund zu einer Veranderung der Gesetze vor , ja, jeder Act
der Gesetzgebung , der die bestehenden, dem Rechtszwecke
geniigenden Gesetze abandern woUte, ware dann ein unrecht-
massiger. Da aber die Gesellschaft , fiir welche die Gesetze
berechnet sind, in steter Bewegung und Umanderung begriff'en
ist, so wiirde die Staatsgewalt das hochste materielle Unrecht
begehen, woUte sie sich durch ihre Gesetze auf ewig fiir
gebunden erachten ; sie wiirde dadurch eben an ihrem eigenen
®') Vgl. m e i n : Die social-ethische Bedeutung von Recht, Unrecht und
Strafe. Wien 1878. S. 42 ff.
40
■
£.uin arbeiten, wie siees durch jedes Zuwiderhandeln gegen
die Staatszwecke thut. ^*)
Nicht einmal zur unbedingten Anerkennung eines
Rechtssatzes kann sich der Staat verpflichten. Wo immer
im concreten Falle die hocbsten Zwecke des Staat es in 's Spiel
kommen, gegen die Aufrechterhaltung einer abstracten E,echts-
regel, muss die letztere ansser Kraft gesetztwerden. Es ist wider-
sinnig, dem Staate zuzumuthen, dass er nm einer iibernommenen
Verbindlichkeit zu geniigen, sich selbst vernichten soUe und
wie dem Individuum muss aucli dem Staate ein Nothreelit ein-
geraumt werden. ^^) Es ist ferner von Binding darauf hin-
gewiesen worden, dass die Normen keine ausnahmslos geltenden
Gebote , sondern Regeln mit Ausnahmen sind. 6®) Der Staat
befieblt : Du soUst nicht todten ; der Befehl jedoch, den er an
den Scharfrichter ergehen lasst, den Verurtheilten hinzurichten,
der Auftrag an seine Soldaten, gegen den Feind mit todtlichen
Waffen . zu kampfen u. s. w., setzt seine eigene Norm ftir
bestimmte Falle ausser Kraft. Der Staat erklart das Eigen-
thum fur unverletzlich ; im Interesse der Gemeinschaft jedoch
ist er gezwungen, durch die Expropriation die eigene Regel
zu durchbrechen. Weder der Dauer noch dem Geltungsgebiete
nach kann die staatliche Selbstverpflichtung eine absolute sein.
Da jede staatliche Verpflichtung , ihrer substantiellen Seite
nach, eine Erfiillung des Staatsz weeks ist, so besteht sie nur so
lange, als sie diesem Zwecke genligt. DahertragtjederAct
C des Staatswillens dieClausel: Rebus sic stantibus
in sich. Nur fiir die Zeit, in welcher die objectiven Ver-
haltnisse, zu deren Normirung das betreffende Gesetz bestimmt
^*) Zachariae, Vierzig Bucher vom Staate, IV. Bd., S. 12.: ^Es steht
nicht in der Macbt des Staatsherrschers, wer dieser auch sei, den Znstand der
burgerlichen Gesellschaft, auf welchen doch die Gesetze zu berechnen sind,
unveramlerlich zn erhalten. Eein Sterblicher kann sagen: Sonne stehe still!
Oder; Bishieherund nicht weiter.* Vgl. Ihering, a. a.O. S. 413 ff. v. Ho Itz en-
do rff a. a. 0. S. 136 ff.
") Ihering a. a. 0. S. 418. Bergbohm, a. a. 0. S. 109.
®®) Normen, I. Bd., §. 8. E. Vgl. Trendelenburg, Naturrecht auf dem
Orande der Ethik. 2. Aufl. §. 47.
r
4i
ist, unverandert dieselben geblieben sind, hat die Selbstver-
pflichtung des Staates absolut bindende Kraft fiir ilin. ^'')
Mit der Einsicht, dass eine Verpflichtung des Staates
nur so lange bestehen kann, als sie verniinftig, d. h. den
Staatszwecken entsprechend, ist, schwindet wieder eines der
beliebtesten Argumente gegen den Rechtscharakter des Volkef-
rechts. Es ist dann nicht mehr moglich, anf die grosse Kluft
zwischen Staatenvertragen und Privatvertragen hinzuweisen,
weil jene angeblich gehalten oder gebrochen werden, nicht nach'
Kiicksicht des Rechts, sondern des Vortheils nnd der Macht ^®), '
weil die Vergleichung eine ganz unzutreffende ist. (Nicht'
mit den unter den staatlichen Normen stehenden Privatver-
tragen, sondern mit den Normen , die der Staat sich selbst
schaift, miissen die Staatenvertrage verglichen werden.) Und
da zeigt es sich, dass inBeziehung anf die Grarantien und die
Dauer der Verpflichtung der Staaten in ihren innern und
ausseren Verhaltnissen kein Unterschied besteht. Das Interesse
der Staaten, so wird behauptet, bestimrat ausschliesslieh ihr
Verhaltniss zu ihresgleichen. Aber das Interesse der Staaten,
welches identisch ist mit ihren verniinftigen
Z week en, bestimmt auch ausschliesslieh das Vei'haltniss der
Staaten zu ihren Unterthanen. Wenn man in rein privatrecht-
lichen Anschauungen befangen ist, wenn man das Eecht
immer nur vom Standpunkte des Individuums aus betrachtet,
dann erscheint die Rechtsordnung, welche innerhalb des Staates
gilt, als unantastbar, als entriickt jedem Willen, der an
ihr zu riitteln wagen konnte. Stellt man sich aber auf den
Standpunkt des Staates, blickt man von der Hohe auf die
Normen herab, anstatt zu ihnen emporzublicken, dann ist die
Rechtsordnung, trotz ihres verbindlichen Charakters fiir den
Staat, in einem steten Flusse begriffen. So wenig man aber
aus der Veranderlichkeit der Gesetze einen Beweis fiihren
kann gegen die Existenz einer den Staat selbst verpflichtenden
Rechtsordnung, so wenig kann es als ein Einwand gegen
**') Treffend bemerkt v. Holtzendorff a. a. 0. S. 145: ;,dass jedes
Gesetz seine znkanftige Yerletzung sanctionirt , das seine historisclie Unver-
anderlichkeit selbst im Yorans verordnet."
®®) Lasson, a. a. 0. S. 65.
42
das Volkerrecht gelten, wenn der Staat in ilim denselben
Bedingungen unterworfen ist, wie in seinem eigenen Rechte.
Indem man die Clausel: Rebus sic stantibus als nothwendige
Voranssetzung eines jeden Staatenvertrages anerkennt, stellt
man die Erfullung der Vertrage trotzdem nicht in die Willkiir
der Staaten.
Nur ein verniinftiger Grand kann den Staat von
der Heiligkeit des Vertrages befreien, wie nur ein verniinftiger
Grrund ihn von der Heiligkeit seines Gesetzes dispensiren
kann. ^9) Bricht der Staat ohne zwingenden Grand einen Ver-
trag, dann begeht er materielles nnd formelles Unrecht. Er
begeht materielles Unrecht, weil er durch eine solche That
seinen nothwendigen, ihm durch seine Natur gesetzten Zwecken
ebenso widerstreitet , wie durch einen willkiirlichen Bruch
seines Gesetzes. Denn unter die Staatszwecke gehort auch,
was nur zu oft ausser Acht gelassen wird , die Herstellung
und Aufrechterhaltung des Verkehres mit andern Staaten. Nur
eine die reale Welt total verkennende Stubenphilosophie konnte
dem Staate , besonders dem modernen Staate , Autarkic zu-
schreiben in dem Sinne, dass es in seinem Belieben stehe, ob er
mit anderen Staaten verkehren wollte oder nichj;;. Denn nicht
erst durch die Thatsache der Staatengemeinschaft, schondurch
die der Erganzung b^diirftige Natur des Staates
s e 1 b s t, ist die Forderung der rechtlichen Anerkennung fremder
Staaten und des Verkehrs mit ihnen gegeben. Wenn man den
Blick auf die substantielle Natur des Staates richtet, so ver-
schwindet die Willkiir , welche man allenfalls vom rein for-
malistischen Standpunkte aus noch behaupten konnte, ganzlich.
Darin haben Diejenigen, welche dem materiellen Princip des
Volkerrechts ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben, gewiss
Eecht, dass es nicht vom Belieben der Staaten abhangt, ob
^^) Die Oleichartigkeit der Staiaten vertrage and der Staatsrechtssatze
in Beziehnng anf ihre Daaer treffend hervorgehoben von Blnntschli,
Modernes Volkerrecht. Art 454. Anm.: ^Die „Ewi gkeit der Vertr'ige" ist
so unsinnig, wie die „Ewigkeit der Verfassun gen*'. Sie sind beide
unvereinbar mit der natnrgemassen Entwicklong, d. h. Verandernng der
Menschheit nnd der Volker, nnd deshalb im Widerspruch mit dem ricbtigen
Recbtsbegriff."
r
43
sie in Gemeinschaft mitAnderen leben woUen oder nicht. Es
hangt nicht von ihrem Belieben ab, weil es zu ihren Existenz-
bedingungen gebort, Mitglieder , Staatengesellscbaft zu sein.
Wie verhalt sich nun diese letzte Bebauptung zu dem
an die Spitze unserer TJntersuchung gestellten Satz, dass nur
in dem Willen der Staaten der juristische Grund des Volker-
rechts gesucht werden konne? Hat sieb uns nicht unbemerkt
eine andere Grundlage des Volkerrechts untergeschoben ? Es
scheint doch ein offenbai*er Widerspruch zu sein, das Recht
auf die Ereiheit zu griinden und diese Ereihelt auf eine'Noth-
wendigkeit zu basiren. Hier ist eine neue Schwierigkeit vor-
handen, die hinweggeraumt werden muss, ehe wir weiter
gehen konnen.
Wir haben bereits Anfangs erklart, dass eine rein formale
Construction des Rechts eine Unmoglichkeit ist , dass der
letzte Grund des Rechts nur in einem objectiven Principe ge-
funden werden konne. Dieses Princip, welches wir nun
bezeichnen miissen , ist die Natur der Lebensverhaltnisse,
welche der rechtlichen Normirung bedurfen. Diese Natur
steht dem Staatswillen ebenso unantastbar gegenuber,. wie
die Natur dem Willen uberhaupt. Wir haben ferner zu wieder-
holten Malen hervorgehoben, dass das Wesen des Willens
nicht als Willkiir gefasst werden konne. Hier haben wir nun
eine objective Schranke des Willens , welche ausser allem
Zweifel steht. Wenn der Wille das Organ ist, durch welches
wir auf die Aussenwelt einwirken, durch welches wir in den
Dingen ausser uns Veranderungen hervorrufen konnen, so ist
er gebunden an die objective Natur desjenigen, auf das ge-
wirkt werden soil. Wir konnen einen gefassten Entschluss
durch den Willen nur dann zur That erheben, wenn wir die
von uns unabhangigen Umstande woUen , durch deren causale
Verkettung allein jene Veranderungen hervorgerufen werden
konnen, deren Abschluss der gewollte Zustand bildet. WoUen
kann man nur das Mogliche, das Unmogliche kann man
wunschen, aber dem Willen ist" es- ganzlich entriickt. Wenn
man also ernstlich will, d. h. wenn man Causalitat erzeugen
will, so muss man die Bedingungen wollen, unter denen allein
der Wille sich realisiren kann. Es ist in des Menschen Macht
44
gegeben, ob er iiberhaupt anfangen will, zu woUen oder nicht.
Will er aber einmal, so kann er nur unter der Voraussetzung
sein Ziel erreichen, dass er den durch die Natur der Dinge
vorgezeicbneten Weg zur Erzielung des E,esultates zum Inhalt
seines Willens erhebt. Trotz dieses Gebundenseins des
Willens an die objectiven Momente , durch welche er sein
Ziel erreieht, wird doch Niemand zweifeln, dass alle Mittel,
die der "Wille gewahlt hatte, frei gewollt waren. Wer z. B.
ein Haus mittelst eines Schwefelfadens in Brand stecken will,
kann dies nur dadurch voUbringen, dass er den Schwefelfaden
anzundet. Ohne den Act des Anzundens ist jene Causalreihe
nicht vorhanden, welche zum Brande des Hauses fiihrt.
Ein so objectiv nothwendiges Moment die EntzUndung des
Schwefelfadens in dem gesammten Complexe der Brandstiftnng
bildet, so ist dennoch der Act des Anzundens ein Act des
freien Willens. Diese objective Nothwendigkeit hebt die sub-
jective Freiheit nicht auf, das objectiv Nothwendige ist den-
noch frei gewollt.
Was fiir den Willen des Individuums gilt , hat nicht
minder seine Geltung fiir den Staatswillen. Auch der Staat
kann nur wollen, indem er die Bedingangen der B,ealisirbar-
keit seines Willens zum Inhalte desselben erhebt. Wenn der
Staat existiren , wenn er die ihm durch seine Natur vorge-
zeichneten Zwecke erfuUen will, so muss er auch die Mittel
wollen, durch welche dies allein moglich ist. Zu den Staats-
zwecken zahlt die Aufstellung und Aufrechthaltung der
Rechtsordnung. Trotzdem ihm sein Wesen das Schaffen und
Verwirklichen des Rechts vorschreibt, ist die von ihm in Er-
* fuUung seines Zweckes geschaffene Rechtsordnung doch sein
eigenes Werk, sie ist Product seines Willens. Indem der Staat
die Rechtsordnung schaflt und erhalt , erfiillt er also mit
freiem Willen, was ihm durch seine nothwendigen Zwecke
geboten ist. Die ganze Aufgabe des Staates concentrirt sich
darin, das objective Nothwendige seiner Natur zum subjectiven
Momente seines Willens zu machen. Das Nothwendige ist
aber deshalb, wie erwahnt, doch frei gewollt; er hatte es
auch unterlassen konnen , aber er hatte damit an seinem
eigenen Grabe gegraben. Der Mensch muss essen und trinken,
r
45
um zu existiren ; deshalb sind Essen und Trinken nicht minder
freie Handlungen, wie Jagen oder Tanzen.
Und jetzt ist es wohl klar, dass zwischen der substan-
tiell-philosophisclien und der formal- jnristischen Begriindung
des Volkerrechts nicht der geringste Zwiespalt existirt. Wenn
es zu den Staatszwecken zahlt, mit anderen Staaten zu ver-
kehren, wenn die Nichterfiillung dieses Staatszwecks ebenso
einen Angriff auf die Existenz des Staates bedeutet, wie das
willkiirliche Brechen des selbstgesetzten Rechts, dann ist es
eine Forderung der staatliehen Natur, Normen herzustellen,
durch welche die Beziehungen des Staates zu den anderen
geregelt werden. Diese Normen , obwohl aus dem Wesen der
nur in der Staatengemeinschaft existiren konnenden Staats-
personlichkeit hervorgehend, sind trotz dieses llmstandes doch
freie Thaten des Staatswillens. Wenn auch sein Wesen es i.st,
welches ihm die Aufstellung bindender Normen fiir den Ver-
kehr mit anderen Staaten vorschreibt, so ist es doch sein
freier Wille, mit dem er dieser Nothwendigkeit nachkommt.
Jene Natur der Sache, welche, unabhangig von ihm, uner-
schiitterlich fest steht , ist psychologisch nur ein Motiv fiir
seinen Willen 7^), aber es ist der freie Entschluss des Staates,
wenn er die aus den Staatszwecken fliessenden Anforderungen
an seinen Willen zu Motiven fiir denselben erhebt. Es wird also
kein Zwang auf den Staat ausgeiibt, wenn er Normen fiir
sein Verhalten zu anderen anerkennt, die volkerrechtlichen
Normen sind nicht das Product, einer iiber dem Staate stehenden
hoheren Macht, welche ihm dieselben etwa aufdrange, es ist
das Volkerrecht kein iiberstaatliches Recht, sondern es ent-
springt formell derselben Quelle, wie alles objective Recht:
dem Willen des rechtsetzenden Staates.
'°) „Die Natur der Sache ist nur das Motiv znr Bildang des Rechts,
die Veranlassung dazu, dass ein Organ die in der Natur der Sache liegende
Regel alsRechtsregelaufstellt." linger, System des osterr. Privatrechts, 4, Aufl.
S. 67, Nr. 37.
1
Wir haben den Nacbweis gefuhrt, dass der Staat mit
seinen Normen sich an aich selbst wenden bann. Diejenigen
Normen, durch welche er sein Verhaltniss zu anderen
Staaten regelt, bildendaa objective Vblkerrecht, welches daher
formell ebenso auf dera Staatswillen beruht, wie das inner-
halb des Staates geltende Recbt.
Kommt aber diese Begrundung des Volkerrecbts nicbt
detinocb einer Negation desselben gleich? Ein Volkerrecht,
so wird bebauptet, ist nur dnrch Ueberein stimmnng
des Willens der verscbiedenen Staaten moglich, durch die
gleichmassige AnerkenHung eines fiir alle verbindlieben Recbta,
es muss ein Kecht sein , quod apud omnes gentea peraeque eusto-
dltur. Indem man die Einzelstaaten zu souveranen Schopfern
des Volkerrecbts macbt, wird dieses in der That zu einem
ausseren Staatsrecbte degradlrt und damit zugegeben, daes
daa Uebereinstimmen in den von den Staaten fur ihre Bezie-
biuigen nach Aussen gesetzten Normen eine Sacbe des Zufalls
ist. Indem man den Staat zum Schopfer des Volkerrecbts
macht, wird dieses nur ein Recht fiir den Staat, der es auf-
stellt, aber es ist unmoglicb, auf diesem Wege ein Recht des
Staates gegen den andem zu gewinnen. nWas fur micb nur
gilt, weil icb es will, kann eben kein Recht zwischen mir
uud einem Anderen, mir Gileichen, erzeugen." ")
Ein grosser Theil des Volkerrecbts existirt uun aller-
dings nur in der Form eines ausseren Staatsrecbts und es
") Flicker a. ». 0. 8.394.
47
gibt zahlreiche Bestimmungen fur das Verhaltniss eines Staates
zum anderen, in welchen ei'ne Uebereinstimmung unter den
Staaten entweder gar nicht oder nur zufallig vorhanden ist.
Selbst das auf der Volkergewohnheit basirte Recht ist kein
durchgangig einheitliches und je weiter sich die concreten
Festsetzungen von den allgemeinen Recbtsgrundsatzen entfer-
nen, desto mehr tritt die Eigenart eines jeden Volkes auch
in Beziehung auf sein Verhaltniss zu andern Volkern hervor.
Wenn aber alles Volkerrecht nur ausseres Staatsrecht
in dem Sinne ware, dass eine Uebereinstimmung zwisehen den
verschiedenen Staaten in demselben keine nothwendige ist, so
wiirde durch dieses Resultat die Losung der uns beschaftigenden
Frage ganz unmoglich sein. Denn kein volkerrechtliches Problem
hangt mehr von der Existenz eines gemeinsamen Rechts ab,
als die Frage nach der rechtlichen Natur der Staatenvertrage.
"Wenn von zwei vertragschliessenden Staaten ein jeder ein
anderes Recht fur die Beurtheilung der von ihm eingegangenen
Verbindlichkeiten hat, dann ist ein Vertrag, eine conventio
plurium in i d e m placitum als volkerrechtliches Institut gar nicht
moglich. Ebensowenig aber konnte von einem volkerrechtlichen
Vertragsrechte die Rede sein, wenn Fricker's Behauptung
richtig ware, dass der eigene "Wille des Staates fiir den
andern Recht zu schaffen nicht im Stande ist.
Was zuvorderst diesen Punkt anbelangt, so wiirde der
Fricker'sche Satz consequent weiter gedacht zur Laugnung
der Moglichkeit des Rechts iiberhaupt fuhren. Beruht doch
juristisch die Qualitat der Menschen als Rechtssubjecte auf
ihrer Anerkennung durch den Staat als solche. Wenn der
Wille des Staates ein ihm unterworfenes Individuum zur Rechts-
personlichkeit erheben, wenn er dadurch ein Recht zwisehen
sich und ihr hervorbringen kann , so ist nicht abzusehen,
warum er das nicht auch einer ihm gleichen Personlichkeit
gegeniiber im Stande ist. Zum Rechtssubject kann ein Indi-
viduum mir gegenuber nur durch meinen Willen erhoben werden,
nur dadurch, dass ich meinen Willen als durch den anderen
beschrankbar anerkenne. Das gilt nicht nur fiir den Staat in
seinem Verhaltnisse zu den Einzelnen , es gilt ebenso fiir die
im Staate lebenden Individuen in ihren Verhaltnissen unter-
43
einander. Der Staat gebietet allerdings den Einzelnen, sich
gegenseitig als Rechtssubjecte anzuerkennen und zu achten;
wer aber die Rechtsgebote iibertritt und in fremde Rechts-
spharen eingreift, der gibt dareh eine solche Handlung
za erkennen, dass das Individuum, welches er verletzt hat, in
der Beziehung, in welcher es von ihm ladirt wurde, als
Rechtssubject von ihm nicht anerkannt worden ist. Diese
Thatsache kann keine Strafe ungeschehen machen. Es gilt
also gerade das Gregentheil des Fricker'schen Satzes. Nur
dadurch, dass Etwas fiir mich gilt, weil ieh es will, kann
ein Recht zwisehen mir und einem Anderen erzeugt werden.
Denn auch das Rechtsgebot gilt fiir mich nur, weil ich es
will, selbst dann, wenn seine Befolgung erzwungen wurde.
Goactus volui\ sed tameti volui!
Ein Recht zwisehen zwei Individuen wird also dadurch
geschaffen, dass ein Jedes von dem Anderen thatsachlich als
Trager von Rechten anerkannt wird. Dies gilt fiir alle ver-
niinftigen Individualitaten in ihren Verhaltnissen zu einander,
also auch fiir die Staaten. Auch fiir den Staat wird ein
anderer zum Rechtssubject dadurch, dass er ihn als solches
anerkennt, dass er erklart, seine Handlungsfreiheit ihm gegen-
iiber beschranken zu wollen. Und diese Anerkennung besitzt
dieselbe Garantie, wie die Anerkennung der anderen Rechts-
subjecte, den Willen des Staates. Und der Staat muss den
anderen als Rechtssubject anerkennen, wenn er iiberhaupt mit
ihm in Verkehr treten will. Der Staatswille ist hier gebunden
an die objective Natur der Staatenbeziehungen. Verkehren
kann man nur mit Einem, dessen rechtliche Existenz man an-
erkennt. Mit Bergen und Waldern, mit Pflanzen und Thieren
ist kein Verkehr moglich , desseii Vorausetzung immer ein
gegenseitiges Verhaltniss ist. Hier bewahrt der alte Satz seine
Giltigkeit: Ubl societaSj ibi jus. Es steht dem Staate formell
frei, ob er in die societas eintreten will oder nicht. Hat er es
aber gethan, dann hat er mit der societas auch Asisjus gewoUt.
Und hiemit ist uns der Fingerzeig gegeben, wie trotz
der einseitigen Schopfung des Volkerrechts durch die Einzel-
staaten ein gemeinsames und zwar nicht nur zufallig gemein-
sames Recht erzeugt wird. Die moglichen Beziehungen zwisehen
f'
49
den Staaten haben ebenso ikre eigenthiimliche objective Natur,
wie die Beziebungen zwischen den Individuen. Diese Natnr
der Lebensverbaltnisse zwischen den Staaten ist gegriindet auf
die Natur uad die Zwecke der Staaten. Indem nun ein Staat
durch aeinen freien Willen in ein solcbea Lebens verbal tnisa
za einem anderen Staate tritt , nimmt er die objectiven Mn-
mente, welche dieses Lebensverbaltniss regeln, in seinen Willen
auf, sie werden zu Normen, welche seinen Willen durcb seinen
Willen binden. Diese objectiven Momente werden zum Recbte
in dem Augenblicke, wo der Staat sie durcb daa Eingeheu
des betreffenden Verhaltnisses in aeinen Willen aufniramt. Ea
ist kein Naturrecbt etwa, welchea den Staat in diesen Fallen
bindet, denn die objectiven Momente der internationalen Lebens-
verbaltnisse und deren logische Consequenzen haben unab-
hangig vom Staatswillen iiberhaupt keine rechtliche Natur,
sie aind als nur gedachte, ala rein potentielle Beziebungen
von Staat zn Staat leere Schemen, die Fleiseb und Blut, Leben
und Bewegung erst durch den scbopferiscben Willen des
Staates erhalten , zu dem aie jedoch in dem eigenthumlicben
Verhaltniase stehen , dass er nur sie und nur in der eigen-
thumlicben Form ins Dasein rufen kann. ''^) Ea ist also positives
Eecbt, Welches die Staaten fiir sich durch Eingehung einea
solchen Verhaltnisses achaffen,, und zwar ein poaitivea Recht,
Welches alle in Verkehr atehenden Staaten gleichmasaig bindet,
weil ein Abweichen von den hier zur Anerkennung kommenden
Regeln, wenigstens so lange keine habere rechtsetzende Macht
liber den Staaten exiatirt, logiacb unmoglieh lat.
Dieae Begriindung objectiven Volkerrechts entspricbt
ganz den Anscbauungen, welche die romischen Juristen von
der Entstehung internationaler Rechtasatze hegten auf dem
Gebiete, auf welcbem es fiir Rom einzig und allein ein
wahres Volkerrecht gab — dem Privatrechte. Jenea jus gen-
tium, dessen Entwickelung nnd Auabildung daa romische Kecht
hauptsachlich aeinen Cbarakter ala Weltrecht zn verdanken
hat, war nach der Ansicht der Juristen ein Reebt, welches
der Natur der Dinge entsprang , ein Jus , quod naturalis ratio
") Vgl. Leiat, Civilisti'clie Stadien aaf dem Gebiete dogmatiscber
Analyse, I. Heft. Jena 1854, S. 62 ff.
Dr. Jelliiiek, Natur d. StaatenTOTtrSEe- ^
^'
r)0
consttfuitj das aber positives Recht nur durch seinen Charakter
als jus, quo omnes gentes utuntur wurde, ''^)
, Niemand hat iiberhaupt klarer das Gebundensein der
I Rechtsquelle an die objective Natur der einer Normirung zu
unterwerfenden Verhaltnisse erkannt, als die Meister der
olassischen Jurisprudenz. Wenn der Seoat bestimmt, dass
}. der TJsusfruct aller, also auch verbrauchbarer Vermogens-
gegenstande legirt werden kann, so hat er dadurch doch
keinen TJsusfruct an Geld schaffen konnen: nee enim naturalis
ratio auctoritate Senatus commutari potuit, '*) Diese naturalis
ratio, welche den rechtschaflFenden Will en beherrscht, war flir
die mit dem jus respondendi begabten Juristen die Quelle, aus
der sie ihre das Recht fortbildenden Entscheidungen schopften,
indem sie aus der Natur der ihrem Gutachten vorgelegten
Falle die Regeln fiir deren Beurtheilung zu gewinnen suchten.
Denselben Weg nun, welchen die romischen Juristen ein-
schlugen, miissen auch die Staaten bei Schopfung der objec-
tiven Rechtssatze wandeln, die sich auf ihren gegenseitigen
Verkehr beziehen. Denn wo keine hohere rechtsetzende Auto-
ritat vorhanden ist, kann ein gemeinsames objectives Recht
nur dadurch geschaflFen werden, dass diejenigen, flir welche
das Recht gelten soil, die naturalis ratio zur Richtschnur ihres
Willens erheben und sie dadurch zur civilis ratio machen.
"^ Damit ist auch der Standpunkt gefundeu, von dem aus
allein die rechtliche Natur der Staatenvertrage erkannt werden
kann. Die gewohnliohe Ansicht geht dahin, dass die volker-
rechtlichen Vertragsnormen nach Analogic des Privatrechts
gebildet sind; es ward von einer directen Uebertragung der
Grundsatze des Obligationenrechts auf das Volkerrecht ge-
sprochen. '^j Allein diese Ansicht lasst unaufgeklart , mit
'^^) S. Warnkonig, a. a. 0. S. 630. AUerdings entsprach die Ansiclit
der Jaristen nicht ganz dem wahren Sachverhalt. Vgl. M. Voigt, Die Lebre
vom jus naturalCf aequum et honum n. jus gentivm der Romer. Leipzig 1856.
1. Bd., §. 79 S. Hildenbrand, Geschichte and System der Rechts- und Staats-
philosophie. £rlangen 1862. S. 611 ff.i and nenerdings Leist, Die realen Grand-
lagen und die Stoffe des Rechts (Civil. Studien 4. Heft ) S. 170 ff. Jena 1677.
^^) L, 2 §. 1 D, de usufr, ear, rer, 7, 5.
^^) Y. Holtzendorff, Enciyclopadie der Rechts wissensch aft. 2. Aufl.,
S. 954.
51
welchem Rechte man Analogien aus einer in sich geschlos-
senen Rechtsordnung zu einem jus cogens in einer ganz anderen
erheben darf . Analogie als Rechtsquelle ist nur in Folge einer
Anerkennung derselben durch die bestehende Rechtsordnung
moglieh, sie ist „Beantwortung einer Frage im Geiste des
bestehenden Rechts" ''^), setzt also das Recht voraus, dessen
Lueken auszufiillen sie zwar berufen ist, das sie aber nicht
von Grund aus neu schaffen kann. Erst muss ein objectives
Volkerrecht vorhanden sein, ehe die Analogie ihre supple-
torische Tbatigkeit beginnen kann.
Nicht mit der Uebertragung privatrechtlicher Satze auf
das Volkerrecht haben wir es bei Beurtheilung der Staaten-
vertrage zu thun. Es sind vielmehr ganz selbstandige Rechts-
satze, welche die Staatenvertrage regeln. Es sind die objectiven
Momente des Staatenvertrags und deren logische Consequenzen,
welche von den in Vertragsverhaltnissen stehenden Staaten
vermoge der Thatsache, dass sie mit einander contrahirt haben,
anerkannt werden. Die Anhanger der privatrechtlichen Ana-
logic* sehen sich genothigt, vor buchstablicher Anwendung des
Privatrechts auf das Volkerrecht zu warnen, indem sie eben
auf „die eigenthiimliche Natur des Verkehrs unter Staaten" ^^),
auf die „eigenthumlichen Principien des Volkerrechts" '^) hin-
weisen, welche bei Beurtheilung der Staatenvertrage zu Grunde
gelegt werden mussen. Also auch sie sind gezwungen zur
Erklarung mancher Erscheinungen des internationalen Ver-
tragsrechts den Gesichtspunkt einzunehmen, der, wie sich
ergeben wird , alle hier in Betracht kommenden Momente mit
einem Blicke uberschauen lasst. Jene angebliche Analogie des
Privatrechts riihrt einfach davon her, dass bei dem Charakter
des Vertrages als ,universellen Rechtsinstitutes" 7^) der Ver-
^•) Arndts, Pandekten. §. 14. Vgl. Kltlber, Droit des gens moderns
de V Europe. §.4. Phillimore, Commentaries upon intern itioial law. Vo '. I.
p. 35 bezeichnet die volkerrechtliche Analogie richtig als „e7te application of
the principle of a rule , which has been adopted in certain former cases , to
govern others of a similar character as yet indtterminated^ .
") E. Meier, a. a. 0. S. 38.
78) Berner, Im Staatsworterbuch s. v. Staatenvertrage. Bd. IX.
S. 639.
") Unger, a. a. 0. I. Bd., §. 93.
4*
52
trag zwischen Individuen in manchen Punkten denselben objec-
tiven Charakter hat, wie der zwischen Staaten, so dass aus
der Natur des Verkehrs zwischen Staaten sich Satze ergeben
miissen, welche mit denen aus der Natur des Privatverkehrs
fliessenden identisch sind. Dadurch werden sie aber noch nicht
zu Abstractionen aus dem Privatrecht, wie E. Meier meint ®<*),
wenn auch das Privatrecht die universellen Momente des Ver-
trages in's wissenschaftliche Bewusstsein erhoben hat, sondern
sie entspringen ebenso aus der eigenthiimlichen Natur der
Staatenvertrage, wie die anderen nicht mit dem Privatrechte iiber-
einstimmenden Rechtssatze. Die Aehnlichkeit zwischen Privat-
und Staatenvertragen wurde und wird haufig iiberschatzt und
zwar zum Schaden klarer volkerrechtlicher Erkenntniss. Fast
in jeder Hinsicht, in Beziehung auf die Contrahenten, auf die
Form, die Objecte, die Wirksamkeit u. s. w. der Staatenvertrage
herrschen grosse Differenzen vom Privatrecht, wie neuer-
dings ausfiihrlich von Carnazza A m a r i hervorgehoben
wurde. ®^)
Wenn wir nun daran gehen , die Hauptsatze des inter-
nationalen Vertragsrechts abzuleiten ,. so werden wir uns die
objective Natur der Vertragsverhaltnisse zwischen Staaten
stets vor Augen halten miissen. Diese Natur wird erkannt
einerseits aus dem Wesen der vertragschliessenden Subjecte
und andererseits aus der Natur und dem Inhalt des Willens
der vertragschliessenden Theile.
Was zuvorderst die Contrahenten anbelangt, so sind es
(wenigstens in Beziehung auf diePunkte, in welchen sie sich
verpflichten konnen) unabhangige Staaten. Aus der Natur des
Staates wird sich vor AUem ergeben, wer zum Abschluss der
Vertrage berechtigt ist. Es sind dies diejenigen Factoren,
denen nach dem particularen Rechte des betreffenden Staates
die Bildung des Staatswillens obliegt, eine Frage also, die im
concreten Falle nur nach dem Staatsrechte der contrahiren-
den Theile beantwortet werden kann. In diesem Punkte sind
««) a. a. 0. S. 37.
^^) TratlcUo 8ul dtritto inlernazionale pubblico di pace, Milano 1875,
S. 745 ff.
53
die hervorragendsten Autoritaten des Volkerrechts alterer und
neuerer Zeit einig. ®2)
Eine grosse Schwierigkeit scheint in den volkerrechtlichen
Bestimmungen liber die Ratification zu liegen, zumal die
Theorie durchaus nicht zu einem einheitlichen Resultate liber
die rechtliche Bedeutung der Ratification gekommen ist.
Wahrend die einen von der privatrechtlichen Anschauung
Groot's und Puffendorfs ausgehend eine Verweigerung
der Ratification ,. wenn sie nicht ausdriicklicli vorbehalten
wurde, fiir unstatthaft erklaren, wenn der Unterhandler sich
innerhaJb der Grenzen seiner Instruction gehalten hat ^^), stellen
Andere die Ratification in diesem Falle als eine moralische
oder Ehrenpflicht hin®*), ein Dritter macht den Versuch, fiir
die Verweigerung der Ratification bei eingehaltenen Instruc-
tionen bestimmte Regeln aufzustellen. ^^) Ebenso halten die
Einen den Vertrag lur perfect, sobald die Unterhandler ihn
abgeschlossen haben, wahrend die Anderen von der erfolgten
Ratification dieExistenz eines Vertrags nicht anerkennen wollen.
Hier scheinen nun off'enbar Rechtssatze vorhanden zu
sein, die nur auf die Volkergewohnheit , aber nicht auf die
Natur der Sache zuriickgefuhrt werden konnen. Wenn man
sich jedoch von privatrechtlichen Vorurtheilen feme halt und
das Wesen der Staatsgewalt untersucht, so findet man, dass
das Recht der Ratification eine logische Consequenz des Be-
griff'es der Souveranetat ist. Zu den wesentlichen Merkmalen
^^) E. Meier, a. a. 0. S. 91 if.
^') Kl fiber, Droit des gens. %. 142. Phillimore, Commentaries II.
p. 64 Martens, Einleitung in das positive europaische Volkerrecht, §. 42:
„Der ganze Grnnd dieser Sitte aber ergibt , dass , wenn ein Theil sich zur
Ratification erbietet , der andere sie nnr dann mit Recht verweigern kann,
wenn sein Gesandter sich von den Grenzen seiner Instruction entfernt hat."
**) Vattel, Droit des gens. L. JI. §. 156: Pour refvser avec hon-
neur de ratifitr ce que a 4te conclu en veriu d'nn plein pouvoir , il faut que
le souverain en ait de fortes et. solides raison". Heffter, a. a. 0. §. 87: ^l^io
grandiose Verweigerung ist nur eine Incorrectheit, welche das Vertrauen des
anderen Theiles verletzt nnd eine Missstimmang desselben rechtfertigt.'*
**) Wurm, Die Ratification von Staatsvertragen. Deutsche Vierteljahrs-
schrift, 1845 S. 163 ff. Indessen ist "Wurm zu den Gegnern des freien Ratifica-
lionsrechts zu zahlen, da die von ihm fiir die Verweigerung der Ratification
als zureichend angefnhrten Grunde zugleich Nullitatsgriinde der Vertrage sind.
54
der Souveranetat zahlt ihre Unverausserlichkeit. Sle kann von
ihrem legitimen Trager auf keinen Anderen iibertragen werden.
Das Kecht, Staatenvertrage abzuschliessen, istnun ein integri-
render Bestandtheil der Souveranetat ; hat man doch von
einer eigenen vertragschliessenden Gewalt gesprochen! Daher
kann dieses Recht so wenig auf einen Anderen iibertragen
werden, als das Recht, Krieg zu erklaren oder die Gesetze
zu sanctioniren. Der Souveran kann den Willen des XJnter-
handlers zu dem seinigen machen ; aber erst nachdem er den
Inhalt desselben erfahren hat , mag nun dieser Inhalt mit
einem von ihm friiher ertheilten Auftrage tibereinstimmen
oder nicht. Nicht nur die Wichtigkeit der Sache, auf die
Martens, Berner, Bluntschli, Neumann u. A. hin-
weisen , reehtfertigt den Vorbehalt der Ratification. An eh
wenn es sich in den Staatenvertragen nur um unbedeutende
Dinge handeln, auch wenn die Ratification nie ausdriicklich
voUzogen werden wiirde, miisste man juristisch stets eine
Ratification, wenn auch nur eine stillschweigende, annehmen,
weil sie mit logischer Nothwendigkeit aus dem Wesen der
Souveranetat folgt. Gerade in dem Umstande , dass die
Staaten seit dreizehnhundert Jahren von dem Recht der Ra-
tification Gebrauch machen, zeigt sich die logische Kraft der
Natur der Sache , welche falschen Theorien siegreich wider-
steht. Trotzdem hervorragende Autoritaten der Wissenschaft
mit der Kategorie des Mandats , wie sie das romische Recht
entwickelt hat , an die Frage nach der Ratification heran-
traten, hat sich die Staatenpraxis und in Folge dessen die
neueren wissenschaftlichen Ansichten mit richtigem Tacte
durch das vom alteren Naturrecht nur zu sehr verkannte
Wesen des Staates leiten lassen, wenn auch noch nicht iiberall
voile Klarheit iiber die rechtliche Stellung des Souverans
gegeniiber einer von dem TJnterhandler gemass seiner Instruc-
tion geschlossenen Vereinbarung herrscht. Am scharfsten hat
die richtige , aus der Natur des Staates entspringende An-
schauung ihren Ausdruok gefunden durch Cal vo: „/Z est hors
de doute pour nous que le droit de ne pas ratifier un traite est
aussi incontestable que le droit de n6gocier et de conclure des
conventions intemationales, et quHl exlste virtuellement, meme guand
55
il n^a pas 6tS reservS en termes expres et formels^ ®*) und der
eiDzig wahre Rechtsgrund der Ratification ist erkannt worden
von Amari: „Il conchmdere trattati ^ una funzione sovrana^
la pill interessante forse, e se quella ^ dalla costituzione aUribuita
al principe^ egli non pub ad altri trasfertrla^ come il magtstrato
che non pub investire un altro di diritto di giudicare, che la legge
a lui solo accorda.^ ^^) Vor der ertheilten Ratification besteht nie
urid nimmer ein Vertrag, sondern nur eine Sponsion. Die Ver-
weigerung der Ratification ist ein Act, der unter Umstanden
allerdings einermoralischenBeurtheilungunterliegt, und frivoles
Handeln in dieser Hinsicht untergrabt gewiss das Ansehen
des Staates, aber ein Unrecht begeht dadurch der Staat auf
keinen Fall. Eine Rechtsnorm, die dem noch nicht Gebundenen
den Abschluss eines Vertrages anbefohle, ist juristiscli nicht
denkbar.
Die Ratification ist also der Act, dnrch welchen der Staat
den Vertrag schliesst und insofern hat Zorn Recht, die
Ratification der Vertrage mit der Sanction der Gesetze in
Parallele zu stellen. ^^) Ganz unrichtig ist es jedoch, wenn er
in der Ratification auch den nach Innen das Recht consti-
tuirenden Imperativ, den Gesetzesbefehl, welcher den Staats-
angehorigen die Beobachtung des Vertrages befiehlt, erblickt. ^^)
Es gibt Vertrage, deren Inhalt sich nur an die Staatsgewalt
wendet, die nur die Staatsgewalt binden konnen, so dass
ein Imperativ an die Staatsangehorigen gar nicht ein-
mal moglich ist. Ein Beispiel einer solchen nur auf der
Staatsgewalt lastenden Verpflichtung ist erst neulich wieder
in der internationalen Convention vom 18. September 1878,
Massregeln gegen die Reblaus betreffend, enthalten. Hier
heisst es im Article premier: y^Les Etats contractants s^engagent
h computer, s'ils ne Vont dijh fait, leur iSgislation interieure en
vue d' assurer une action commune et efficace centre V introduction
et la propagation du Phylloxera,^ An welche Staatsangehorige
soUte sich hier ein Imperativ wenden? Aus dieser und ahn-
®®; I.e droit international 2. edit. Paris 1870, p. 710.
8') a. a. 0. p. 758.
8») a. a. 0. S. 25.
»»j Ebd. S. 30.
56
lichen Vertragsbestimmungen erwachst nur fiir die Staats-
gewalt als solche eine Verpflichtung. Und im Grunde verhalt
es sich so mit jeder anderen Vertragsbestimmung. Auch in
alien anderen Fallen wird durch die Ratification nur der
Staat verpflichtet, wie es ja auch bei der Sanction der Gesetze
der Fall ist. ^°*) Erst die Publikation kann jene Bestim-
mungen, welche potentiell Normen fiir die Staatsangehorigen
enthalten, zu Verpflichtungen fiir dieselben erheben. Aber
Publication und Ratification sind zwei ganzlich verschiedene
Vorgange. Die Staatsgewalt als solche ist'bereits durch die
Ratification gebunden ; die Publikation , wo sie iiberhaupt
moglich und nothig ist, gehort volkerrechtlich bereits zur Aus-
fiihrung des Vertrages.
Aus dem Umstande, dass keine hohere Macht iiber den
Staaten formelle Erfordernisse fiir die Yertrage vorschreibt,
ergibt sich, dass eine bestimmte Form fiir die Giltigkeit der
Staatenvertrage durchaus nicht nothwendig ist, dass also ins-
besondere eine schriftliche Fixirung des Vertrages keine
unerlassliche Bedingung fiir den rechtlichen Bestand desselben
ist. Denn bestimmte Formen lassen sich nie a priori aus der
Natur eines Lebensverhaltnisses deduciren, sie sind stets freie
Festsetzungen der civilis ratio. Daher entbehrt die entgegen-
stehende Ansicht N e y r o n 's und S c h m a 1 z' der Begriindung.
Nicht einmal Worte sind zum Abschlusse des Vertrages noth-
wendig, wie die im Kriege durch Zeichen geschlossenen Ver-
trage beweisen. ^° ^)
Aus dem Wesen des Vertragsverhaltnisses folgt, dass
ein solcher nur dann zu Stande gekommen ist, wenn eine
Einigung des Willens zwischen den Contrahenten erzielt
worden ist, wenn also Versprechen von der einen und An-
nahme von der anderen Seite stattgefunden hat. Dabei macht
es keinen Unterschied , ob die Vertrage ausdriicklich oder
stiUschweigend abgeschlossen wurden. Hingegen kann juristisch
»«•) S. oben S. 35. Vgl.E. Meier, a. a. 0. S. 329. Bluntschli, Mod.
Vblkerr. Art. 422.
»«»') Martens, §. 58 n. a. Bluntschli, Mod. Volkerrecht. Art. 422.
Hartmann, Institntionen des praktischen Yolkerrechts in Friedenszeiten.
Hannover 1874. S. 135.
57
von prasumirten Conventionen keine Rede sein, weil solche
nur in Folge ausdriickliclier Festsetzungen der Rechtsordnung
stattfinden konnten, sich jedoch aus der allein hier mass-
gebenden Natur der Sache nicht ableiten lassen.
Was den Inhalt der Vertrage betrifft, so gilt hier der
Satz, welcher das Rechtsinstitut des Vertrags in seinem ganzen
Umfange beherrscht, in welcher Form, unter welchen Pacis-
€enten immer er auftreten mag: Pacta sunt servanda, Formell
folgt dieser Satz aus dem vertragschliessenden Will en, denn
es ist unmoglich, Etwas zugleich zu woUen nnd nicht zu
wollen, nnd da alles Wollen sich auf die Zukunft bezieht, so
erkennt der vertrag^chliessende Wille durch den Act des Ver-
tragschlusses sich fur die Zukunft als gebunden an, sonst
ware der Vertrag an sich unmoglich, wie bereits Hobbes
erkannt hat: frustra essent pacta^ nisi tilts star etur.^^) Und was
die materiellen Griinde der bindenden Kraft der Staatsver-
trage anbetrifft, so sind es genau dieselben, die den Staat
bewegen , den von Privaten abgeschlossenen Vertragen den
Rechtsschutz zu verleihen : das ethische Moment der Treue
und das praktische des Verkehrsbediirfnisses. ^^) Das Interesse
gebietet denStaaten Vertrage zu schliessen ^^) und das Interesse
erheischt es, den Vertrag aufrecht zu erhalten, weil dem Ver-
tragsbrtichigen der Glaube an sein Wort entzogen und er
dadurch aus der Verkehrsgemeinschaft ausgestossen wird.
Andererseits binden die Grundsatze der Sittlichkeit , welche
fiir Staaten mit den durch deren Natur bewirkten Aenderungen
ebenso in Itraft sind, ,wie fiir den Einzelnen — ein Satz, der
nur von Solchen bestritten werden kann, welche, unbekiimmert
um die sittliche Entwickelung zweier Jahrtausende, im Staate
die hochste objective sittliche Macht erblicken — den Staat
an das einmal gegebene Wort. So ist es das Interesse, welches
die Treue, und die Treue, welche das Interesse schiitzt. In
dem ethisch gebotenen Festhalten an dem einmal gegebenen
«i) De cive III, 1.
®*) Vgl. F. Hofmann, Die Entstehungsgrtind** der Obligationen. Wien,
1874. §. 9.
®') „Un traits .... est unpactefait en vue du hi en public par des
puissances sup^rieures.^ Vattel. Liv. II. Ch. XII. §. 152.
58
Worte liegen auch die wichtigsten Garantien des volkerrecht-
lichen Verkelirslebens , welche, wie die hochsten Garantien
alles Rechts, nicht mehr juristischer Natur ' sind. Der Staat,
welch er im 'Verkehre mit anderen Staaten seinen Willen ala
niclit fiir sich bindend anerkennen, der die Verpflichtung durch's
eigene Wort als fiir ihn iiicht existirend ansehen wiirde, der
betrachtete sich dadurch ipso facto als ausser der Staatengemein-
schaft stehend; daher hat trotz aller gebrochenen Vertrage,
so lange es einen ausgebildeten Staatenverkehr gibt, noch kein
Staat gewagt, die Rechtsverbindliehkeit der von ihm ab-
geschlossenen Conventionen zu negiren. ^*) Bei keinem Satze
des Volkerrechts zeigt sich die Gebundenheit des Willena
durch sein Object klarer, als bei dieser fundamentalen Bestim-
mung des internationalen Verkehrs. Auch der Staat, der
factisch nie einen Vertrag einhielte, ware doch durch die
Natur der Sache gezwungen, den Satz von der Verbindlichkeit
der Vertrage anzuerkennen, er miisste doch eingestehen, dass
er durch den unbegriindeten Vertragsbruch ein von ihm fiir
verbindlich anerkanntes Gebot ubertrete und demnach Unrecht
begehe ; wie immer das Verhalten des Staates zu dem ab-
geschlossenen Vertrage sein moge, das Eine steht ausser Zweife]^
dass er seine Handlungen beziiglich des Vertrages durch deu
Abschluss desselben einer juristischen Qualification unterwirft.
Denn dass zwischen Staaten ein Vertrag geschlossen wiirde,
mit der Absicht ihn nicht zu halten, ist, wie gesagt, logisch
unmoglich, well ein Vertrag nur zu Stande kommen kann^
wenn die Einwilligung in denselben ernsthaft und von dem
Entschlusse begleitet war, sich durch das gegebene Versprechen
fiir gebunden zu erachten. Wer die Existenz des Volkerrechts
negirt, muss folglich auch die Moglichkeit eines Vertrages
negiren, also negiren, was vor seinen Augen thatsachlich vor-
geht. Es hatte durchaus nicht der ausdriicklichen Erklarung
der Machte in dem Londoner Protokolle vom 13. Marz 1871
bedurft, que c'est un principe essentiel du droit des gens qu'aucune.
**) „ Pacta privatorum tuetur Jus Civile ^ pacta Principum bona fides.
Sane si iollas, toUis mutua inter Principes commerda , quae oriuntur e pacfis
expressiSf quin et tollis ipsum Jus Gentium." Bynkersh oeh^ de servanda fide
pactorum puhlicorum, Quaest. juris publ. L, II. Cap. X.
\
59
Puissance ne pent se delier des engagements d^un Traiti, ni en
modifier les stipulations, qu*h la suite de Vassentiment des Parties
Contractantes au moyen d*une entente amicale^ weil diese Erklarung
dem Rechtscharakter dieses volkerrechtlichen Grundsatzes kein
neues Moment hinzugefiigt hat, der von dem Augenbllcke an-
gefangen existirte, als das erste Mai ein Staat einem andern
gegeniiber sich zu Etwas verpflichtete.
Sowie die den Willensinhalt beherrschende Rechtsbestim-
mung sich aus der Natnr des Staatenvertrages ergibt , so
folgen aus dec Natur des rechtschaffenden Willens die Um-
stande, unter denen allein von einem Znstandekommen eines
Vertrages gesprochen werden kann. WoUen kann man nur
das Mogliche, und zwar das physisch Mogliche; woUen darf
man nur das rechtlicli und sittlich Mogliche. Daher kann ein
Vertrag nur zu Stande kommen, wenn eine zulassige causa
vorhanden ist. Dass nur das rechtlich und sittliche Mogliche
gewollt werden darf, ergibt sich vor Allem aus der Erwagung,
dass man durch die Zulassigkeit des rechtlich und sittlich
Unmoglichen als Vertragsinhaltes dem Volkerrecht den Boden
unter den Fiissen wegzieht. AUes volkerrecht liche Unrecht
konnte ja sonst dadurch zum Rechte erhoben werden , dass
man es zum rechtsgiltigen Inhalt eines Vertrages erhebt ; der
Vertrag mit dem einen Staate konnte durch einen Vertrag
mit einem anderen ohneweiteres aufgehoben werden und das
ganze Vertragsrecht ware somit illusorisch. Was insbesondere
das sittlich Mogliche anbelangt, so folgt die ausschliessliche
Zulassigkeit derselben als Vertragsinhalt aus dem ethischen
Charakter des Rechts, welches seiner Natur nach nie das aus
dem ethischen Gebiete ganzlich Ausgewiesene billigen darf. ^^)
Wenn darauf hingewiesen wurde, dass die Geschichte eine
Reihe erfiillter Vertrage, unsittlichen Inhalts kennt ^^), so folgt
daraus so wenig die Rechtsnatur solcher Vertrage, als die-
selbe fiir das Privatrecht daraus folgt, dass factisch unzahlige
von der Rechtsordnung nicht anerkannte, unsittliche Vertrage
geschlossen und gehalten werden. £s hat vielmehr der Satz,
®*) Vjil. nieine socialeth. Bed. Cap. 2.
®®j H. B. Oppenheim, System des Volkerrechts. 2. Aufl. 1866. S. 186.
60
dass unsittliche Vertrage rechtlicli nichtig sind, im Verein
mit der Rechtsungiltigkeit der reclitlich unmoglicliei) Vertrage
als das zweite wichtigste Princip des international en Vertrags-
rechts, ja des ganzen Volkerechts zu gelten, weil ohne diese
Bestimmnngen dem Volkerrechte eine seiner bedeutendsten
Garantien entzogen ware.
Eine an der e Beschrankung des Willens der Contralienten
als die angegebenen ist nicht vorhanden. Nur eine jener ungluck-
lich angebrachten Analogien aus dem Privatrecht war es, wenn
man Anfechtbarkeit der Vertrage wegen enormer Lasion be-
hauptete, eine Analogic, die umso schiefer war, als die Bestim-
mnngen iiber den laesto enormis zu verschiedenen Zeiten ganz ver-
schieden waren nnd keineswegs aus der Natur des Vertrags
hervorgehen. ^'^) Die Anwendung einer unrichtigen rechts-
philosophischen Lehre des Aristoteles^ welche den okonomischen
Gesichtspunkt mit dem rechtlichen verwechselt ^^), war es
ferner, die Grotius zur Aufstellung der Lehre von der
Gleichheit der Leistung und Gegenleistung bewog. ^®) Aus der
Natur des Willens lasst sich keine jener Beschrankungen der
Vertragsf I eiheit deduciren , welche in den jeweiligen Bestim-
mnngen des Privatrechts zu finden sind. Aus der Natur der
Sache ergibt sich jedoch, dass der Vertrag Rechte und Pflichten
nur fiir die Contrahenten erzeugt. ^^^)
Aus der Natur des Willens folgt ferner, dass eine wahre
Einwilligung nur dann vorhanden ist, wenn kein wesentlicher
unverschnldeter Irrthum oder Betrug beim AbscHluss des
Vertrags unterlauft. Dies ist wieder einer von den Satzen,
welche fiir alle . Vertrage des gesammten Rechtsgebietes gilt.
Anders verhalt es sich jedoch mit dem Einfluss des Zwanges
auf die Giltigkeit der Staatsvertrage. Da eine liber den
Staaten stehende, mit Zwangsmitteln versehene Rechtsordnung
nicht vorhanden ist, also jeder Staat sein Recht selbst wahren
muss, so ist der durch Selbsthilfe ausgeiibte Zwang, wofern
«7) Berner, a, a. 0. S. 639.
»«) Vgl. Hildenbrand, a. a. 0. S. ^97.
99>
^) De J B. a. P. II, 12, 12—14.
^"®) Einzelne sich ebenfaHs aus der Natur der Sache ergebende Ans-
nabmen bei Heffter. §. 83.
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er durch eine Rechtsverletzung hervorgerufen wurde^ nicht
unreclitmassig ; nur eine Autoritat, welche machtiger als jeder
Einzelne ist , kann die Ausiibung der Selbsthilfe verbieten.
Es darf nicht vergessen werden, dass es einst eine Zeit gab,
wo innerhalb der Volksgemeinschaft ein R e c h t s zustand
herrschte, welchem die Verfolgung des eigenen Rechts zum
grossen Theile der Selbsthilfe anheimgegeben war. 1°^)
Der auf die fremde Staatsgewalt ausgeiibte Zwang macht
also den erzwungenen Vertrag nicht ungiltig, sonst konnte es
keine Friedensschliisse geben. Nur ein absoluter Zwang, der
eine Action des Willens ausschlosse, wiirde den Vertrag un-
giltig machen konnen. Ein solcher ist aber gegen einen Staat
gar nicht anwendbar. Selbst die Wahl zwischen Untergang
und Einwilligung in den Vertrag ist ' noch ein compulsiver
Zwang; selbst in dem Anbieten einer solchen Alternative
liegt noch eine Anerkennung der freien Staatspersonlichkeit
des Gegners vor. ^^^)
Der theoretischen Beschrankung des den Vertrag nicht
hindernden Zwanges auf einen rechtmassigen stehen aber grosse
praktische Schwierigkeiten entgegen, da eine objective Ent-
scheidung iiber die Rechtmassigkeit volkerrechtlichen Zwanges
nicht vorhanden ist, so lange die Staaten Richter in eigener
Sache sind. Mit der Aufnahme des Merkmals der Recht-
massigkeit in den Begriff des volkerrechtlich erlaubten Zwanges
stellt man es factisch in das Belieben des besiegten Staates,
ob er sich durch einen Friedensvertrag gebunden erachte oder
nicht, oder vielmehr , man erklart dadurch die Friedensver-
trage fiir unverbindlich, denn der Pall , dass ein Staat von
dem Recht des Gegners und seinem eigenen Unrecht, das den
Krieg provocirt hat, iiberzeugt ist, zahlt zu den allerselten-
sten in der Geschichte. ^^^) Nur da, wo ein Zwang unmittelbar
auf die Person des Unterhandlers oder Souverans derart ausgeiibt
»oi) Bergbohm, a. a. 0. S. 26.
^^^) „Im Vblkerrecht wird angenommen , der Staat selbst sei alle Zeit
frei und willensfahig , wenn nur seine Vertreter persdnlicb frei sind."
Bluntschli, Mod. Volkenecht. §. 408.
"") Die recbtliche Natur der Friedensvertrage wegen des dabei obwal-
tenden Zwanges wird in der That gelengnet von Amari, a. a. 0. p. 772.
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wird, dass er die Widerstandsfahigkeit desselben ausschliesst,
ist ein unleugl)ares Hinderniss des Vertrages vorhanden.
Die Endigungsgriinde der Vertrage ergeben sich erstens
als logische Folgerungen aus dem Wesen des Vertrages, also
Leistung des Versprochenen, muiuus dissensus, Erlass , Ablauf
der Zeit, unversehuldeter Untergang des versprochenen Gegen-
standes, Untergang eines der contrahirenden Subjecte, Auf-
kiindigung, Eintritt einer Resolutivbedingung. Zwei andere
Endigungsgriinde der Staatenvertrage sind aber auf die eigen-
thiimliche Natur des Staates zuriickzufiiliren. Der eine ist
die Collision der hochsten Staatszwecke, unter welchen vor-
AUem die Selbsterbaltung zahlt, mit der Erfiillung des Ver-
trages. Hier tritt das Nothreebt des Staates ein , welches
ihm gebietet , seine Existenz hoher zu achten , als die Ver-
pflichtungen, welche er gegen Fremde iibernommen hat. Juri-
stisch ist das Eintreten solcher, die Vertragserfiillung zur
Verletzung der Pflichten gegen sich selbst machender Um-
stande als unverschuldetes Eintreten der Unmoglichkeit der
Leistung aufzufassen. Eine Gebundenheit des Staates in alle
Ewigkeit hinaus gehort eben zu dem rechtlich Unmoglichen,
wie wir oben gezeigt haben. Nur falsehe Abstractionen aus
dem Privatrecht konnen zu dem Glauben verleiten, dass durch
die Anerkennung der dem Staatenvertrage stillschweigend
beigefugten Clausel : Rebus sic stantibus das staatliche Vertrags-
recht illusorisch gemacht wurde. ^o*) Ein Staat ist kein phy-
sisehes Individuum, welches die ganze Zeit seines Lebens hin-
durch einen nur innerhalb gewisser Grenzen sich verandernden
Typus tragt, sondern es ist ein in steter Bewegung und
Umbildung begriffener Factor der weltgeschichtlichen Ent-
wickelung. Die Jahrhunderte, oft schon die Jahrzehnte, bilden
ihn um, so dass, wer die historische Continuitat nicht kennt,
einen Zusammenhang der gegenwartigen mit dem vergangenen
Staate kaum zu ahnen im Stande ware. Welche Aehnlichkeit
zeigt das Frankreich der Capetinger mit der heutigen franzo-
sischen B,epublik, oder das England Alfred des Grossen mit
*^*) War es doch tibrigens lange Zeit hindnrch natarrechtliche An-
schaunng , dass anch fiir privatrechtliclie Yertr&ge die Aenderang der Um-
Btaade als Anflosungsgnmd gilt !
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dem England der Victoria? Und der Staat der Vergangenheit
soUte die Macht haben, die Gregenwart nnd Zukunft des Staates
zu beherrschen ? Die Erstarrung der Staaten, der Tod der
Weltgeschichte ware die Consequenz! Nur eine den Zweck
nnd die geschichtliche Function des Rechts vergessende Theorie
konnte dem Staate eine unlosbare Verbindlichkeit auferlegen
wollen. Der Zweck des Rechts besteht aber in der Erhaltung
der Bedingungen des menschlichen Gemeinlebens. Zu diesen
Bedingungen zahlt aber vor Allem die staatliche Organisation
in ihrer freien Entwickelung. Was diese hemmt, kann also
nimmermehr Recht sein. Da alles Eecht, will es auf die Dauer
Verwirklicbung finden, der Natur der Personen angepasst sein
muss, ftir welche es bestimmt ist, so miissen die Bestimmungen
des internationalen Vertragsrechts sich fiigen der Eigenart
der staatlichen, welche von der des menschlichen Individuums
verschieden ist. Darum ist es eben ein privatrechtliches Vor-
urtheil, dass nur dann von dem Rechtscharakter der Vertrage
gesprochen werden konne, wenn die Leistung des Verspro-
chenen unabhangig ist von dem Umstande , ob sie die Inter-
essen des Leistenden schadigt oder nicht. Sobald man nur im
Auge behalt, dass die Moglichkeit der Leistung einer anderen
Beurtheilung im Volker- als im Privatrecht unterliegt, so
gilt der Satz, dass Vertrage zu halten sind, trotz der auf-
losenden Kraft der wesentlichen Veranderung der Umstande,
genau in demselben Sinne, wie im Privatrecht. Es kann iiber-
haupt nicht oft genug darauf hingewiesen werden, wie ge-
fahrlich fiir die unbefangene Betrachtung des Volkerrechts
oberflachliche Vergleiche mit dem Privatrechte sind. Die
meisten Ein wan de, welche gegen die rechtliche Existenz des
Volkerrechts erhoben werden, entspringen der voreUigen Iden-
tificirung alles Rechts mit den wesentlichen Merkmalen des
Privatrechts. Da das Privatrecht durch eine stetige Ent-
wickelung von Jahrtausenden unter alien Zweigen des Rechts
die reichste Ausbildung erfahren und die starksten Garantien
gewonnen hat, so vermag der durch die Strahlen dieser
hellsten Partie des Rechtsgebiets geblendete Blick, wenn er
sich den internationalen Verhaltnissen zuwendet, in der
selbstverschuldeten Finsterniss, in die er sich versetzt hat.
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Nichts mehr zu unterscheiden. Aber schon, wenn man das
Staatsrecht aufmerksam betrachtet, scbwindet das Vorurtheil,
als seien die Grundbestimmungen des Privatrechts mit denen
des Rechts iiberhaupt identisch.
Der zweite Endigungsgrund der Staatenvertrage , der
sich aus der Natur des Staates ergibt, ist der Bruch des
Vertrags von Seite eines Contrahenten^ wodurch volkerrecht-
licb der andere Contrahent ihm gegeniiber befreit wird. Da
die Staaten keinen Richter und keine Zwangsgewalt iiber
sich haben, so konnen sie auf rechtlichem Weo-e — man
miisste denn die Selbsthilfe als einen solchen ansehen — keine
Erfiillung der ihnen gegeniiber eingegangenen Verbindlich-
keiten erlangen. Wenn also ein Staat sich von der ihm auf-
erliegenden Verbindlichkeit widerrecbtlicli lossagt, so ist
die Willenseinigung , in welcher der Vertrag bestand, gebro-
chen, ohne dass eine hohere Macht durch ihr Grebot und ihren
Zwang die Wiederherstellung des rechtmassigen Zustandes
herbeifiiliren konnte.
Was die Anslegung der Vertrage anbelangt, so ist diese
den contrahirenden Staaten selbst iiberlassen, es sei denn,
dass sie von diesen einem S.chiedsgericlit iibertragen wird.
Die Grundsatze, welche die Staaten, respective die Sehieds-
richter hierbei in Anwendung zu bringen haben, entspringen
der bona fides ^ welche die unerlassliche Grundlage freuad-
schaftlichen Verkehrs zwischen den Staaten bildet. Wenn hier
die Grundsatze des Privatrechts iiber die Anslegung in An-
wendung zu bringen sind, so hat dies seinen Grund darin,
dass diese Satze in ihrer gegenwartig anerkannten Fassung sich
im AUgemeinen der materiellen Gerechtigkeit angenahert
haben.
Aus dem Wesen der verschiedenen zwischen Staaten
stattfindenden Vertrage ergibt sich endlich auch die Classi-
fication derselben. Das richtige System hier aufzufinden, ist
aller dings mit grossen Schwierigkeiten verkniipft, ja es ist die
Frage, ob es ein ausschliesslich richtiges System iiberhaupt
gibt. Da es im Volkerrechte nicht , wie im Privatrechte
dispositive Rechtssatze gibt, welche fUr den Willen der
Contrahenten suppletorische Geltung haben und, da keine
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formellen Erfordernisse fur die Vertrage vorhanden sind, so
konnen sich dieselben nur dnrch ihren Inhalt unterscheiden,
Dieser kann aber nach verschiedenen Gesichtspunkten geordnet
werden, ohne dass es moglich ist, einen derselben fiir den
absolut richtigen zu erklaren. Ein System der Staatenvertrage
aufznstellen, halten wir als ansserhalb der uns hier geseftzten
Anfgabe liegend.
Wenn sich uns somit die Hauptsatze des internationalen
Vertragsrechts aus nnserem Principe ergeben haben, so wiirde
dies anch mit der detaillirtesten Bestimmnng der Fall sein;
Bonn eine andere jnristische Ableitang eines objectiven Ver-t
tragsrechtes als die von nns gegebene ist nicht moglich.
Mit der Feststellung des juristischen Charakters de*
internationalen Vertragsrechts ist aber fiir das Volkerrecht
Tmendlich viel gewonnen. Es sind djadurch fiir die Stuaten,
denen es um die gfosstmogliche Einhaltung der eingegangenen
Verpflichtungen zn thnn ist , die Normen gegeben , nach wel-
chen sie sich zu richten haben; es ist dadurch fiir die offent-
liche Meinung der civilisirten Welt ein Massstab fiir die recht-
liche Beurtheilung der hierher gehorigen Handlungen der
Staaten und damit ein nicht zu unterschatzendes Pressions-
mittel gegen unrechtmassige Geliiste gegeben.
Das Wichtigste jedoch ist, dass mit der Existenz eines
objectiven Vertragsrechts erst die rechtliche Bedeutung des
Inhalts der Vertrage gesichert und erst damit die Moglichkeit
einer bewussteu Fortbildung des Volkerrechts vorhanden ist.
Durch die rechtliche Natur der Staatenvertrage empfangt auch
deren Inhalt rechtliche Bedeutung : er bildet ein jus inter partes.
Wenn nun der Inhalt eines Staatenvertrages nicht in einem
subjective Rechte begriindenden Rechtsgeschafte , sondern in
der gegenseitigen Anerkennung von Rechtssatzen internatio-
naler Natxir besteht, dann wird durch den Vertrag Volker-
recht geschaffen, und zwar ein Volkerrecht im voUen Sinne
des Wortes, da hier nothwendig Uebereinstimmung zwischen
den contrahirenden Staaten vorhanden ist, wahrend alle ein-
seitigen Festsetzungen der Staaten beziiglich ihres Verhalt-
nisses nach Aussen nur ein Volkerrecht in der unvoUkom-
menen Form eines ausseren Staatsrechts darbieten. Es ist
Dr. Jellinek, ICatnr d. Staatenvertrage. 5
66
durchaus nicht richtig, dass im Falle der Festsetzung objec-
tiver Rechtssatze durch Staatenvertrag der Vertrag nur die
unwesentliche Hiille fur die Anerkennung und Bestatigung
einer Rechtsregel ist^^^), es sei denn, dass diese fiechtssatze
aus der Natur der Lebensverhaltnisse fliessen, wo aber eine
Anerkennung anderen Staaten gegenuber iiberfliissig erscheint,
da sie ja schon durch den Beatand der betreffenden Verhaltnisse
gesetzt ist. In alien anderen Fallen wird aber erst durch
den Vertrag das Abweicben von der Rechtsregel den anderen
Staaten gegenuber zum Unrecht, wahrend da, wo ein Bechts-
satz nur als Wille des Einzelstaates existirt, von einer Be-
rechtigu;ng anderer Staaten, die Einhaltung der Becbtsregel
zu verlangen, nicht die £ede sein kann.
!
io») Bluntschli, Mod. Vdlkenrecht, S. 64. Bergbohm, a.a.O. S.8L
Nacbtrag und Berichtignng.
S. 11 Z. 8 Yon unten ist einzuschalten: Zn diesem Resaltate gelangt
anch Thomasins, well nach iliin alles Becht die Beziehung zweier Persdn-
lichkeiten yoraassetzt. Ygl. Fundamenia juris ncUurae et gentium lib, I c, 5
§. 16 : „ — nemo hahet proprie jus in se ipsum^ nee sibi injuriam facere potest,
nee sibi ohligcUur. St nemo sibi ipsi legem dicere potest,
S, 26 Z. 5 V. 0. Ues ^Staatsthatigkeiten*' anstott ^Stafitef&higkeiteii*<.
omcs «oa eoTTLio oistcl a «•., win, mmstimistmuc la.
/
y
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fuU %'^. >«1*
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iiiii iiiii \i%^r^
i* JjiM^Aji^f^ ^4<A^^^L^
3
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DUE''^2 -51