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Full text of "Die Reformation; ein Stück aus Deutschlands Weltgeschichte"

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Die Reformation 


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Doctor Martin Luther / Nach einem 
Gemaͤlde von Lucas Cranach 


Mit Genehmigung des Herrn Ober— 
burghauptmann v. Cranach 
Wartburg 


Die Reformation 


Ein Stuͤck aus Deutſchlands 
Weltgeſchichte 


von 


Theodor 
BMefeger 


Verlegt bei Ullſtein & Lo, Berlin 


Alle Rechte, insbeſondere das der Überfegung vor⸗ 
behalten. Copyright 1913 by Ullſtein & Co, Berlin 


Max Lenz 


in Freundſchaft zugeeignet 


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Wir finden im Zeitalter der Reformation — wer koͤnnte ſeit Ranke 
daran zweifeln? — unſer Vaterland auf der Hoͤhe ſeines weltgeſchicht⸗ 
lichen Einfluſſes. Nie zuvor und niemals in den ſeitdem verfloſſenen 
Jahrhunderten war Deutſchland in dieſem Grade der bewegende Mittel⸗ 
punkt fuͤr Europa. Denn nirgend anderswo als bei uns iſt die Neuzeit 
geboren; von uns aus ſtroͤmten die Kraͤfte des neuen Lebens zu allen 
Kulturvoͤlkern unſeres Weltteils, die einen umgeſtaltend, die andern zu 
Gegenwirkungen anreizend, nicht ohne — dieſen zum Trotz — auch ihre 
Zukunft mitzubedingen. 

Indem die nachfolgende Schilderung der Zeit Martin Luthers 
Deutſchland den ihm gebuͤhrenden Platz anzuweiſen hatte, durfte ſie 
glauben, ein Recht darauf zu beſitzen, ungeachtet der weſentlichen Be⸗ 
ſchraͤnkung auf das Heimatland der Reformation als Teil einer Welt⸗ 
geſchichte ans Licht zu treten: nicht nur, daß die mannigfachen Aus⸗ 
ſtrahlungen des deutſchen Geiſtes zu verfolgen waren, wie haͤtte der 
Fortgang des Werkes Luthers, die Hemmung, der es ſeinen Zoll zu 
zahlen hatte, gezeichnet werden koͤnnen, ohne auf Schritt und Tritt den 
Antipoden des deutſchen Reformators, den undeutſchen Kaiſer mit ſeiner 
univerſalen Weltmacht, im Auge zu behalten? 

Dank dieſer Geſchloſſenheit unſerer Geſchichte konnte bei ihrer Sonder⸗ 
veroͤffentlichung, die nunmehr erfolgt, der Aufbau des Ganzen ohne 
weiteres beibehalten werden. Auch jeder Erweiterung habe ich mich ent⸗ 
halten, indem ich mich auf eine ſorgſame Durchſicht beſchraͤnkte. Wenn 
gleichwohl dieſe Skizze hier etwa um ein Viertel an Umfang gewonnen 
hat gegenuͤber ihrem erſten Abdruck in der von Julius von Pflugk⸗ 
Harttung im gleichen Verlage herausgegebenen Weltgeſchichte, ſo handelt 
es ſich vielmehr um eine Wiederherſtellung des Urſpruͤnglichen, da an 
jener Stelle aus Ruͤckſicht auf den Raum erhebliche Abſtriche ſich noͤtig 


IX 


Vorwort 


machten, unter denen vor anderen die beiden Abſchnitte uͤber den Fort⸗ 
ſchritt der Bewegung in Deutſchland waͤhrend der Jahre 1532 bis 1545 
und uͤber die von Spanien und Italien ausgehenden Anfaͤnge der 
Reſtauration des Katholizismus zu leiden hatten. In dieſer Neuaus⸗ 
gabe iſt ſomit das Ebenmaß der Darſtellung, um das ich mich bemuͤht 
habe, wieder hergeſtellt. 

Moͤge es ihr beſchieden ſein, an ihrem Teile dazu mitzuwirken, daß 
den Erben Martin Luthers dieſe ruhmvolle Epoche, von deren unermeß 
lich reichen Kräften noch Geſchlecht um Geſchlecht zu zehren haben wird, 
in ihrer einzig daſtehenden Groͤße offenbar werde. 


Leipzig, Oſtern 1913 


Theodor Brieger 


Inhaltsuͤberſicht 


Vor der Reformation - n 1—44 
l. Die geiſtliche Weltmacht des Mittelalters. 3—13 


1. Der Kern ihres Weſens. Der Papſt als irdiſcher 
Gott S. 3. — 2. Die Prieſter⸗ und Sakramentskirche 
S. 7. — 3. Die Weltherrſchaft der Papſtkirche S. rr. 

ll. Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwing— 
herrſchaft des Papſttun—ͤU Im 14—44 
1. Die Bekämpfung des päpftlichen Abſolutismus S. 14. 
— 2. Die antihierarchiſche Bewegung Wiclifs und der 
Huſiten S. 17. — 3. Die neue Wirtſchaftsordnung und 
die höhere ſtaͤdtiſche Bildung S. 21. — 4. Die Renaiſſance 
und der Humanismus S. 24. — 5. Renaiſſance und 
roͤmiſche Kirche: ihr gegenſeitiges Verhältnis S. 29. — 
6. Die Laienfroͤmmigkeit am Ende des Mittelalters; ihre 
Bedeutung für die Zeit S. 35. — 7. Die Lage des Papſt⸗ 
tums unmittelbar vor der Reformation S. 41. 


Erſte Epoche der Weltgeſchichte im Zeitalter der Refor⸗ 
mation. Die Zeit der Hoffnungen 1517—1524 45—170 


Der Angriff auf den Ablass . 4976 


1. Leo X. und der Mainzer Ablaß S. 49. — 2. Der 
Ablaß zur Zeit Luthers S. 55. — 3. Luthers Theſen 
vom 31. Oktober 1517 S. 61. — 4. Die Aufnahme der 
Theſen und ihre Folgen S. 64. — 5. Leo X. und Friedrich 
der Weiſe (1518) S. 68. — 6. Das Zwiſchenſpiel der Kaiſer⸗ 
wahl (1519) und der Bannſtrahl Leo's X. (1520) S. 72. 


— 


XI 


1. Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich. 


Inhaltsuͤberſicht 


1 Der Reformator. K 


1. Luthers Eltern S. 77. — 2. Luther im Kloſter. Die 
Eroberung einer neuen religioͤſen Welt S. 80. — 3. Das 
reformatoriſche Prinzip das Ende des Mittelalters S. 85. 
— 4. Das Erwachen des reformatoriſchen Bewußtſeins 
in Luther S. 87. — 5. Die Abſage an das antichriſtiſche 
Papſttum und die Eroͤffnung des Angriffes S. 89. — 
6. Die Reformvorſchlaͤge der Schrift „An den Adel“ 
S. 93. — 7. Die Befreiung der Gewiſſen: die Zer⸗ 
ſtoͤrung der Prieſterkirche S. 97. — 8. Die Befreiung 
des Staates aus der Prieſtergewalt S. 99. — 9. Die 
Zerſtoͤrung der Sakramentskirche S. 102. — Io. Das 
neue Lebensideal: die Zuruͤckgabe des Menſchen an das 
Diesſeits S. 105. — 11. Der Sieg der individuellen 
Froͤmmigkeit und des Rechtes perſoͤnlicher Eigenart 
S. 109. — 12. Die Verewigung des Bruches mit dem 
Antichriſt: das Flammengericht von Wittenberg S. ııı. 


1. Die Zeit und das Volk Luthers. Die Erhebung 
der deutſchen Nation S. 116. — 2. Die Gegner und die 
Mitſtreiter Luthers S. 122. 3. Der deutſche Huma⸗ 
nismus und die Reformation S. 126. — 4. Die ver⸗ 
ſchiedene Stellung der Humaniſten zur Reformation. 
Erasmus, Melanchthon, Hutten S. 129. — 5. Der 
nationale Gedanke S. 136. — 6. Deutſchland und Karl V. 
S. 138. — 7. Karl V. und Luther auf dem Reichstage 
zu Worms 1521 S. 143. 


IV. Der unaufhaltſame Fortgang der evangeliſchen 


XII 


Bewegung 1521—1524 32 2 „% % & W „ „ „ „ „ $ 


1. Der Reformator in Kampf und Arbeit auf der Wart⸗ 
burg 1521—1522 S. 152. — 2. Die Haltung der deut⸗ 
ſchen Fuͤrſten, 1522 — 1524 S. 156. — 3. Die Aus; 
breitung und Befeſtigung des evangeliſchen Glaubens 
in Deutſchland S. 160. — 4. Erſter Ruͤckſchlag. Der 
Anfang der Spaltung der Nation, 1524 S. 166. 


SIEG EST 


152—170 


Inhaltsůͤberſicht 


Zweite Epoche der Weltgeſchichte im Zeitalter der Re— 


formation. Die Zeit des Ringens 1525-1555. 


Seite 


171—396 


J. Die Revolution von 1525 und die Reformation 173 —211 


II. 


III. 


1. Die Bauernerhebungen des ausgehenden Mittel⸗ 
alters S. 173. — 2. Die vornehmſten Anſtoͤße zum 
großen Bauernkriege S. 181. — 3. Das allgemeine 
Programm der Bauern und die weitergehenden Ab⸗ 
ſichten im Suͤden S. 186. — 4. Die theokratiſche Revo⸗ 
lution in Mitteldeutſchland S. 191. — 5. Luther und 
die Bauern S. 196. — 6. Der Verlauf des Krieges. 
Seine Folgen S. 204. 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


1. Die auswärtigen Verhaͤltniſſe 15251526. Frankreich 
und der Papſt S. 212. — 2. Der Speierer Reichstag 
von 1526. Die Errichtung evangeliſcher Landeskirchen 
auf reichsrechtlicher Grundlage S. 215. — 3. Karl V. 
im Krieg mit dem Papſt und mit Frankreich (1526 
bis 1529). Die Pluͤnderung Roms (1527) S. 219. — 
4. Der Ruͤckſchlag der Machtſtellung Karls auf Deutſch⸗ 
land. Der Speierer Reichstag von 1529 und die Pro⸗ 
teſtation S. 223. — 5. Ulrich Zwingli. Die Eigenart 
ſeiner Reformation S. 226. — 6. Der Glaubenskampf 
in der Schweiz (bis 1529) S. 232. — 7. Die Welt; 
politik Zwinglis. Politik und Religion auf der Zuſam⸗ 
menkunft zu Marburg (1529) S. 235. — 8. Die Be; 
draͤngnis der deutſchen Proteſtanten (1529 — 1530). 
Der Sturz Zwinglis und der Schmalkaldiſche Bund 
(1531) S. 240. — 9. Die ſteigende Not Karls V. und 
der Nuͤrnberger Religionsfriede von 1532 S. 244. 


Der neue Aufſchwung der Reformation in 
Deutſchland 1532 — 1545 e tee 2 * 


1. Die erſten Fortſchritte des Proteſtantismus nach 
dem Nuͤrnberger Frieden und ihr politiſcher Hinter⸗ 


212 —249 


. 250—276 


XIII 


Inhaltsuͤberſicht 


grund (bis 1538) S. 250. — 2. Die Eroberungen des 
Jahres 1539 S. 255. — 3. Die Ohnmacht und die 
Aufloͤſung der roͤmiſchen Kirche in Deutſchland S. 260. 
— 4. Die friedliche Wendung in der deutſchen Politik 
Karls V.: neue Siege der Proteſtanten S. 264. — 
5. Eine großartige Ausſicht fuͤr den Proteſtantismus 
im Reiche: die beginnende Reform der geiſtlichen 
Gebiete S. 269. — 6. Der Speierer Reichstag von 
1544: die augenblickliche Machtſtellung der Proteſtanten 
S. 272. 


IV. Spanien und Italien. Die Anfaͤnge einer 


Reſtauration des Katholizismus 


1. Die Grundlegung für das Spanien der Neuzeit 
durch die katholiſchen Könige S. 277. — 2. Die Welt; 
macht Spanien unter Karl V. S. 282. — 3. Italien 
im Kampf: das Eindringen des Proteſtantismus 
S. 286. — 4. Die Abweiſung des Proteſtantismus 
durch das italieniſche Volk S. 291. — 5. Der Triumph 
des ſpaniſchen Geiſtes uͤber Italien. Jeſuiten und 
Inquiſition S. 295. 


V. Weſteuropa und der Calvinis mus 


1. Frankreich S. 301. — 2. Calvin und der weſteuro⸗ 
paͤiſche Proteſtantismus S. 304. — 3. Die kirchliche 
Umwaͤlzung in England S. 314. 


VI. Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges 


XIV 


und das Konzil von Trient 1546/1547. 


1. Die Wendung zum Kriege. Karls Buͤndnis mit 
dem Papſt S. 320. — 2. Die deutſchen Helfer Karls V. 
Herzog Moritz von Sachſen. Die Kriegserklaͤrung von 
Kaiſer und Papſt S. 337. — 3. Der Krieg von 1546/47. 
Die Niederwerfung des Schmalkaldiſchen Bundes und 
ihre naͤchſten Folgen S. 347. — 4. Das Konzil und 
der Papſt S. 353. 


Seite 


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Snhaltsüberficht 


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VII. Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. 
Das Abkommen der deutſchen Parteien unter; 
einguder LSA een 360—388 


1. Das proviſoriſche Religionsgeſetz des Kaiſers, das 
„Interim“ von 1548 S. 360. — 2. Der Widerſtand 
gegen die Glaubensdiktatur des Kaiſers, 1548— 1552 
S. 367. — 3. Die Fuͤrſtenrevolution von 1552 S. 371.— 
4. Von Paſſau nach Augsburg, 1552-1555. Kurfuͤrſt 
Moritz. Die Ohnmacht des Kaiſers S. 377. — 5. Der 
Friede von Augsburg, 1555. Seine prinzipielle Be⸗ 
deutung und ſeine Maͤngel S. 382. 


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I. 
Die geiſtliche Weltmacht 
des Mittelalters 


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1. Der Kern ihres Weſens. Der Papſt als irdiſcher Gott 


Jie moderne Zeit faͤngt mit Martin Luther an. 
5 Zwar ſind neuerdings mannigfach abweichende An⸗ 


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So hat man juͤngſt hin und wieder geurteilt, das 
moderne Leben ſei erſt mit der geiſtigen Umwaͤlzung 
5 : des 18. Jahrhunderts voll in die Erſcheinung getreten, 
waͤhrend den voraufgegangenen Jahrhunderten nur die Bedeutung einer 
Übergangsepoche zukomme. 

Gewiß iſt das 18. Jahrhundert von einſchneidender Bedeutung: je 
weiter wir uns von ihm entfernt haben, deſto klarer iſt ſie hervorgetreten. 


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Die geiftlihe Weltmacht des Mittelalters 


Allein wir duͤrfen daruͤber doch die bahnbrechende Kraft des 16. nicht 
überfehen. Eines Eingehens auf fie bedarf es an dieſer Stelle nicht. 
Bei unſerer Betrachtung der entſcheidenden Jahrzehnte wird ihre einzig 
daſtehende Groͤße von ſelber ſich uns aufdraͤngen, mit jener Gewalt, 
welche den fundamentalen Tatſachen der Geſchichte eigen iſt. 

Dahingegen koͤnnen wir uns der Auseinanderſetzung mit einer 
anderen, vor etwa einem Menſchenalter aufgekommenen Anſchauung hier 
nicht entziehen. Jener erſteren entgegengeſetzt und doch mit ihr in einem 
wichtigen Punkte, der Unterſchaͤtzung der Macht des mittelalterlichen 
Geiſtes, ſich beruͤhrend, läßt fie die Neuzeit nach verſchiedenen Geſichts⸗ 
punkten ſchon vor der Reformation beginnen. 

Die einen weiſen auf die große Kulturbewegung hin, welche Italien 
ſeit dem Ende des 13. Jahrhunderts ergreift und ſtaͤrker und ftärfer 
durchſchuͤttert. Da kommt es in den Männern der ſogenannten „Wieder⸗ 
geburt des Geiſteslebens“, der Renaiſſance, zur „Entdeckung der Welt 
und des Menſchen“, die beide dem Mittelalter im Grunde fremd waren. 
So iſt es der „moderne Menſch“, deſſen Geburt in jene Zeit fällt. Der 
Menſchengeiſt wagt es, ſich der geiſtigen Bevormundung zu entziehen, er 
ſtellt ſich bewußt auf ſich ſelber und zerbricht zugleich die Ketten, in welchen 
bis dahin die Geſellſchaft den einzelnen gefeſſelt hielt. Daher koͤnnen wir 
denn auch ſchon im 14. und 15. Jahrhundert die Anfaͤnge der „modernen, 
der individuellen Geſellſchaft“ wahrnehmen. 

Andere betonen mit gleich ſtarkem Nachdruck die gewaltige wirt⸗ 
ſchaftliche Umwaͤlzung, die ſich ſeit der Mitte des 13. Jahrhunderts in 
Deutſchland vollzieht. Von Grund aus geſtaltet der allmaͤhliche Sieg 
der Geldwirtſchaft uͤber die bisherige baͤuerliche Naturalwirtſchaft die 
materielle Lage des Volkes um; die unmittelbare Folge davon iſt eine 
tiefgreifende Veränderung der ſozialen Verhaͤltniſſe, eine mittelbare Folge 
die Erweiterung des geiſtigen Horizontes der oberen Schichten und ſo eine 
Art von „geiſtiger Revolution“ uͤberhaupt. 

Zweifellos haben wir es hier mit Bewegungen von ungemeiner Be⸗ 
deutung zu tun: die Renaiſſance ſowohl wie die neue wirtſchaftliche Ent⸗ 
wicklung haben Kraͤfte entbunden, deren zerſetzende Wirkung das aus⸗ 
gehende Mittelalter auf ſo manchem Lebensgebiete erfahren hat. 

Aber die Pforte der Neuzeit bilden gleichwohl dieſe Erſcheinungen 
nicht. Denn den Kernpunkt des mittelalterlichen Seins haben ſie nicht zu 
erreichen, geſchweige denn zu erweichen vermocht. Sie offenbaren ihre 
Ohnmacht gegenüber derjenigen Gewalt, welche das Weſtabendland zu; 


4 


Der Kern ihres Weſens. Der Papſt als irdiſcher Gott 


ſammenhielt und beherrſchte, ſeitdem ſich die germaniſch-romaniſchen 
Nationen uͤberhaupt erſt zur Selbſtaͤndigkeit erhoben hatten, und jetzt um 
ſo maͤchtiger umſchloß und durchwaltete, als ſie ſeit mehr denn zwei 
Jahrhunderten die einzige univerſale Macht Europas war. Denn ſchon 
im 13. Jahrhundert war es den Paͤpſten gelungen, in den letzten Staufern 
das roͤmiſch⸗deutſche Kaiſertum niederzuringen, ſo daß es, zu einem 
Schatten zuſammengeſchrumpft, ſein Daſein nur noch friſtete durch die 
verblaßte Erinnerung an ſeine einſtige Aufgabe und Groͤße. Niemals 
haͤtte es ja uͤberhaupt den deutſchen Kaiſern gluͤcken koͤnnen, ihr truͤge⸗ 
riſches Vorbild, die Weltmonarchie des alten Rom, auch nur entfernt zu 
erreichen. Dagegen durfte die Weltmacht des neuen Rom in ihrer ein⸗ 
heitlichen Geſchloſſenheit, ihrer Laͤnder und Voͤlker umklammernden Or⸗ 
ganiſation, dieſem reichen und gleich feſten wie biegſamen Gefuͤge aller 
nur erdenklichen Erfindungen und Regierungskunſt und des finanziellen 
Ausbeutungstalentes, ſich mit dem alten roͤmiſchen Weltimperium getroſt 
vergleichen. Und durch Eines uͤbertraf ſie dieſes noch, und zwar gerade 
durch das, was den Kern ihres Weſens ausmachte, das Eigentuͤmliche 
ihrer Gewalt ſchuf und formte. Dieſe Weltmacht erhob den Anſpruch, eine 
geiſtige, eine uͤberweltlich⸗geiſtige zu ſein, und noch mehr: ſie war es bis 
auf einen gewiſſen Grad, war es trotz all ihrer weltlichen Ziele und welt⸗ 
lichen Mittel, und vermochte ſo, eine Geiſtesherrſchaft auszuuͤben, die ohne 
Beiſpiel in der Geſchichte daſteht. 

Worin aber beſtand ihr uͤberweltlich⸗geiſtiger Charakter? Die roͤmiſche 
Kirche erbot ſich, mit unfehlbarer Sicherheit fuͤr das ewige Heil aller 
derer zu ſorgen, die ſich vertrauensvoll ihr unterwarfen. Um das Ewige 
alſo handelte es ſich, um das im Menſchen, was dieſe irdiſche Welt mit 
all ihrer Luſt und all ihrem Leid uͤberdauert: die unſterbliche Seele. Wer 
immer alſo davon uͤberzeugt war, daß ſein Daſein mit dem Tode nicht 
ein Ende habe, oder wer wenigſtens in dieſem oder jenem Augenblick von 
der Vorſtellung eines Jenſeits durchdrungen, erſchuͤttert und mit Angſt 
erfuͤllt wurde, der ſah ſich auf die große Heilsanſtalt angewieſen, welche 
ihm Rettung verhieß. Sie gewann eine Macht uͤber ihn, ſo hoch erhaben 
uͤber alle irdiſche Gewalt, wie die Seele erhaben iſt uͤber den dem Tode 
verfallenen Leib, die Ewigkeit mit ihren unvergaͤnglichen Freuden hoͤher 
zu ſchaͤtzen iſt als alle Luft und Herrlichkeit des flüchtigen Erdenlebens. 
Die Furcht vor dem Jenſeits, das Verlangen nach ſeinen Wonnen, bei 
tiefer religiöfen Gemütern die Sehnſucht nach der Gemeinſchaft mit Gott 
bildete die unvergleichlich ſichere Grundlage dieſer unvergleichlichen Macht. 


5 


Die geiftliche Weltmacht des Mittelalters 


Sollte aber ihr Wille fuͤr den ob ſeiner Suͤnde bangenden Menſchen 
oberſtes Geſetz fein, ſollten ihre Verheißungen für ihn ausgeſtattet ſein mit 
der troͤſtlichen Gewaͤhr der Untruͤglichkeit, dann mußte ſie ſelber, dieſe 
Macht, der ſichtbare Ausdruck deſſen fein, der über Tod und Leben, ewige 
Verdammnis und ewige Seligkeit zu gebieten hat. Da iſt es wahrlich kein 
Zufall noch irgendein Einfall der Willfür, wenn der roͤmiſche Biſchof, zu 
Beginn des Mittelalters nur der Nachfolger und Stellvertreter des 
Apoſtelfuͤrſten Petrus, auf dem Hoͤhepunkt dieſer Epoche (in den Tagen 
Innocenz“ III., 11981216) zur Wuͤrde des Stellvertreters Gottes auf 
Erden aufrüͤckte, fortan Vize⸗Gott fein wollte, „ein Gott auf Erden“, 
„ein irdiſcher Gott“ (fo daß es, wenn auch kuͤhn, fo doch nicht unrichtig 
war, wenn ein Ausleger des paͤpſtlichen Rechts im 14. Jahrhundert von 
„unſerem Herrgott dem Papſte“ redete ). Und damit war die Kirche, die 
laͤngſt den Anſpruch erhoben hatte, das Reich Gottes auf Erden zu ſein, 
vollends als ſolches beglaubigt. Denn war ihr Haupt nun nichts anderes 
als die Verſichtbarung Gottes, ſo mußte auch die Herrſchaft dieſes ſicht⸗ 
baren Hauptes die Herrſchaft Gottes ſelber ſein, die Kirche ſein Reich. 

In der mit dem heiligſten Ernſt gemeinten Gottes herrſchaft (Theo; 
kratie) gipfelt, vollendet ſich der alles beherrſchende Gedanke der mittel⸗ 
alterlichen Weltkirche. Wehe dem Sterblichen, der den Verſuch macht, 
ſich dieſer Gottesherrſchaft zu entziehen! Wehe dem, welcher dem irdiſchen 
Oberhaupt des Gottesreiches den Gehorſam verweigert. „Dem roͤmiſchen 
Oberprieſter untertaͤnig zu ſein iſt fuͤr jedes menſchliche Geſchoͤpf Bedin⸗ 
gung der Seligkeit“ — den Satz hatte der groͤßte Gottesgelehrte des 
Mittelalters, Thomas von Aquino (F 1274), ausgeſprochen, und Papſt 
Bonifatius VIII. hat ihn in einer beruͤhmten Bulle (1302) der Chriſten⸗ 
heit als ewige Wahrheit verkuͤndet. „Untertan dem roͤmiſchen Ober⸗ 
priefter” — das mußte hiernach für jeden Chriſtglaͤubigen der oberſte 
Grundſatz ſein im Leben und im Sterben. Denn wer, getroffen von dem 
Bannſtrahl der Kirche, losgeloͤſt vom Papſt dem Tode entgegenging, dem 
oͤffneten ſich mit furchtbarer Gewißheit die Pforten ewiger Qual und Pein. 


Die Prieſter⸗ und Sakramentskirche 


2. Die Prieſter⸗ und Sakramentskirche 


ee An enn aber die Kirche, deren Spruch in die Hölle hinab⸗ 


Re werden, muͤſſen wir von allen anderen abfehen, ſeien fie 
auch noch ſo bedeutſam, wie ihre Predigt des Evangeliums und ihr die 
Sinne gefangennehmender Kultus mit ſeinem Hoͤhepunkt des Meßwunders. 

Obenan ſteht ein Mittel, welches fuͤr ſo weſentlich erachtet wurde, 
daß ohne dasſelbe dieſe Kirche gar nicht gedacht werden konnte. Es war 
die Verfaſſung. Faßt man den wahren, religioͤſen Charakter einer kirch⸗ 
lichen Gemeinſchaft ins Auge, ſo erſcheint die Verfaſſung als etwas durch⸗ 
aus Untergeordnetes: ſie iſt ein bloßes Mittel zum Zweck und kann da⸗ 
her auch je nach Lage der Verhaͤltniſſe ſo oder ſo geſtaltet und geaͤndert 
werden. Allein bei einer Kirche von der Eigenart der roͤmiſchen trifft 
das nicht zu. Bei ihr handelt es ſich nicht um dieſe oder jene Verfaſſung, 
ſondern um die Verfaſſung: es gibt nur eine, und ſie iſt von Gott 
ſelber gegeben, ein fuͤr allemal, iſt etwas goͤttliches wie die Kirche ſelbſt. Wir 
begreifen das: denn freilich, wir ſtoßen hier auf eine Verfaſſung, wie ſie 
dieſer Kirche, der Gottesherrſchaft auf Erden, einzig und allein entſpricht. 

Kommt alles auf die Verbindung eines jeden Gliedes mit dem 
Haupte an, ſo iſt es die vornehmſte Aufgabe der Verfaſſung, dieſe Ver⸗ 
bindung zu ermoͤglichen: der Papſt muß fuͤr jeden Glaͤubigen erreichbar 
ſein. Er muß daher ſeine Stellvertreter haben — auch noch im ent⸗ 
fernteſten Winkel der Chriſtenheit. Und dieſe Stellvertreter, die Prieſter, 
muͤſſen wirklich den Papſt darſtellen, nicht nur in feinem Auftrage, ſon⸗ 
dern ebenſo in ſeinem Sinn und Geiſte handeln. Hierfuͤr aber bedarf es 
einer Aufſicht. Es muͤſſen jene Prieſter in den einzelnen Bezirken unter 
der Herrſchaft hoͤherer Prieſter ſtehen, und auch dieſe wieder der Kontrolle 
noch hoͤher geſtellter unterworfen ſein, bis hinauf zu denen, die un⸗ 
mittelbar vom Papſt ihre Weiſung empfangen. Als ein wohlgegliederter 
Stufenaufbau (die gewaltige Schoͤpfung von mehr als tauſend Jahren) 
ſtellt ſich uns ſo dieſe geiſtliche Monarchie dar. Es iſt zunaͤchſt eine 
Herrſchaft von Prieſtern uͤber Prieſter, eine Hierarchie im urſpruͤnglichen 


7 


Die geiſtliche Weltmacht des Mittelalters 


Sinne des Wortes. Als ein kunſtreiches und feinmaſchiges Netz breitet 
ſie ſich uͤber die abendlaͤndiſche Welt aus. Aber die Faͤden dieſes 
Netzes ſind kein totes Garn. Es ſind Adern, in denen das Leben pocht. 
Dieſe Adern, ſtarke, feine und feinſte, treiben in ihrer Veraͤſtelung vom 
Papſt als dem ſchlagenden Herzen das Blut durch den Kirchenkoͤrper — 
das Blut, das will ſagen: die goͤttliche Gnade. In wen ſie einſtroͤmt, 
der kann ſelig werden; wem ſie fernbleibt, dem bleibt der Himmel ver⸗ 
ſchloſſen. 

Bei dieſer ungeheuren Bedeutung des vom Haupte den Gliedern 
zufließenden Gutes kommt alles darauf an, daß es rein und ſicher uͤber⸗ 
tragen wird. Darum muß die perſoͤnliche Beſchaffenheit der Mittels⸗ 
perſonen, ob ſie gut oder boͤſe, heilig oder unheilig ſind, fuͤr ihr Tun 
gleichgültig fein; ſonſt wären fie ja unter Umſtaͤnden nicht die gnaden⸗ 
reichen Kanäle, die fie doch fein ſollen. Von Amts wegen, und nicht ent; 
fernt perſoͤnlich, muͤſſen ſie Vermittler der Gnade ſein. Dazu aber beduͤrfen 
ſie ſelber einer beſonderen Gnade, der geheimnisvollen „Gnade des 
Amtes“. Durch eine heilige Handlung, das Sakrament der Ordination, 
wird ſie ihnen mitgeteilt — unfehlbar und fuͤr immer. Aus der Maſſe 
der gemeinen Sterblichen werden ſie damit herausgehoben, in unaus⸗ 
loͤſchlicher Weiſe geſtempelt zu hoͤheren Weſen, zu Mittlern zwiſchen Gott 
und Menſchen. 

So iſt die hierarchiſche Verfaſſung, die ihrer Natur nach in recht⸗ 
lichen Formen und mit dem vollen Gewicht des Rechtes auftritt, fuͤr dieſe 
Kirche in der Tat von weſentlicher Bedeutung. Wer ſie antaſtet oder gar 
umſtuͤrzt, der macht fuͤr die Glieder dieſer Kirche das Heil unſicher. Wird 
der große Strom der Gnade durch Abgraben ſeines hierarchiſchen Bettes 
unterbrochen, ſo weiß niemand mehr, ob der Prieſter, der ihn von Suͤnden 
entbindet und ihm die Seligkeit zuſpricht, die Befugnis dazu beſitzt, ob 
ſein Spruch Rechtskraft hat. — 

Gleich unentbehrlich wie die Verfaſſung iſt aber für die roͤmiſche 
Kirche das zweite Mittel, auf das wir noch einen fluͤchtigen Blick zu werfen 
haben. Es ſind jene geheimnisvollen Handlungen (Sakramente, d. h. 
Geheimniſſe, Myſterien), durch welche ſie das uͤberſinnliche Gut an jedes 
ihrer Glieder heranbringt. Denn jedem Einzelnen muß, durch das Tun 
des Prieſters herbeigerufen, Gott im Geheimnis ſich nahen. Die Prieſter⸗ 
kirche iſt zugleich Sakramentskirche. Ohne die Sakramente gaͤbe es keine 
Chriſten. Eines von ihnen haben wir ſchon kennen gelernt und zugleich 
in ſeiner Bedeutung erkannt: jene Weihe, die dem Prieſter die fuͤr ſein 


8 


Die Prieſter⸗ und Sakramentskirche 


Amt ſchlechthin notwendige Gnade ſpendet. Aber an dieſes Sakrament 
reiht ſich ein Kranz weiterer, dazu beſtimmt, das ganze Leben der Glaͤu⸗ 
bigen weihend und ſegnend zu umſchließen. Wie dem Neugeborenen 
alsbald der Segen der Kirche ſich naht, ſo dem Sterbenden in ſeiner 
letzten Not. Und auf der Hoͤhe des Lebens, wenn der Mann der Gefaͤhrtin 
die Hand reicht, draͤngt ſich zwiſchen beide die Kirche — mit ihrem Segen, 
aber auch mit dem Anſpruch auf Unterwerfung unter die vielen und 
ſtrengen von ihr fuͤr die Eheſchließung aufgeſtellten Geſetze. Denn die 
erfindungsreiche Willkuͤr der roͤmiſchen Kirche hat es verſtanden, die rein 
menſchliche, buͤrgerliche Handlung umzuſchaffen zu einem Sakrament. 
Es hat ſie auch nie irre gemacht, daß aller Scharfſinn ihrer Gelehrten ſich 
unfaͤhig erwies, die Elemente dieſes Sakramentes aufzuzeigen und Raum 
zu ſchaffen für das durch die Idee geforderte geheimnisvolle Tun des 
Prieſters. So bedarf es bei dieſem ſonderbaren Sakrament nach roͤmiſcher 
Anſchauung keines ſegenſpendenden Dieners der Kirche: die Ehegatten 
reichen es ſich ſelbſt — nur, daß dies in Gehorſam gegen die Kirche 
geſchehen ſoll. Durch letzteres war freilich deren Einfluß und Vorteil 
zur Genuͤge geſichert. Wie reiche, uͤberreiche Gelegenheit bot ſich hier 
doch, daß der Prieſter, der Papſt ſich einmiſchte in die ſehnlichſten Wuͤnſche, 
das heißeſte Verlangen der einander begehrenden. In der kirchlichen 
Ehegeſetzgebung und Ehegerichtsbarkeit erſchloß ſich ein unermeßliches 
Feld, auf dem der Weizen der Kirche bluͤhen und goldene Ahren tragen 
konnte. Und noch ein Sakrament gab es, das wie dazu geſchaffen war, 
unmittelbar ins Leben einzugreifen und in mannigfachſter Weiſe, überall 
da, wo Suͤnde und Schuld ihre dunklen Schatten warfen, die Furcht 
vor den Strafen des Himmels den Suͤnder zittern machte. Und wiederum 
ergoß ſich ein goldener Regen über das allezeit duͤrre Erdreich Roms. 
Wir werden das Sakrament der Buße noch in einem anderen Zuſammen⸗ 
hange genauer zu beachten haben. 

Das war die Kirche Roms, die theokratiſche Papſtkirche jener Epoche, 
wo die Sonne des Mittelalters am hoͤchſten ſtand. Wir haben, denke ich, 
den Kernpunkt ihrer Macht jetzt in hinreichender Deutlichkeit erkannt. 
Kraft ihres uͤberweltlich⸗geiſtigen Charakters erhebt ſie die Forderung, 
daß jeder Sterbliche ihr als hoͤchſter Gebieterin ſich unterwirft. In ihrer 
Verfaſſung beſitzt ſie ein großartiges, bewundernswertes Mittel, den Ge⸗ 
horſam zu erzwingen. Niemals iſt ein Reich der Welt feiner und zweck⸗ 
maͤßiger organiſiert geweſen. Die Herrſchaft von Prieſtern uͤber Prieſter, 
dieſe urſpruͤngliche Hierarchie, iſt in ihrer Wirkung das, was wir heute 


9 


Die geiftlihe Weltmacht des Mittelalters 


Hierarchie nennen: eine Herrſchaft von Prieſtern uͤber die Laien. Der 
Laie hat in dieſer Kirche nur Pflichten, keine Rechte, keinen Schimmer 
eines Anteils an der Regierungsgewalt. Er iſt der Leibeigene der Kirche! 
Und — erſt darin erreicht die Gewalt der Kirche des Mittelalters ihren 
Hoͤhepunkt — er iſt es willig. Denn er weiß es und erfaͤhrt es immer 
aufs neue: ſeine Herrin, mag auch ihre Hand mitunter ſchwer auf ihm 
laſten, ſorgt fuͤr ſein Wohl, ſein wahres Wohl: die Fuͤlle ihrer ſakramen⸗ 
talen Segnungen begleitet ihn durch das Leben, bewahrt ihn vor der 
Hoͤlle, erſchließt ihm das Reich der Herrlichkeit. Mag er ſich auch hie und 
da innerlich aufbaͤumen gegen die rauhe Gewalt der Prieſterkirche, die 
ſaͤnftigende Macht der von Segen triefenden Myſterienkirche ſtillt jeden 
Sturm. Unmut, Zorn, kuͤhne Reden tun der Gebundenheit des mittel⸗ 
alterlichen Chriſten keinen Eintrag. 

Auch war dafuͤr geſorgt, daß ſich ſelbſt der frommſte Laie nicht uͤber⸗ 
heben konnte. Ein jeder Moͤnch, der ihm begegnete, fuͤhrte ihm durch 
ſeinen bloßen Anblick den eigenen Unwert zu Gemuͤte. Denn nach alt⸗ 
chriſtlicher Anſchauung, welche die weltfreudige Hierarchie aus der Epoche 
weltfluͤchtigen Sinnes uͤbernommen hatte, ſtellte der Moͤnch mit dem 
unerbittlichen Ernſt ſeiner Weltentſagung eine „hoͤhere Sittlichkeit“ dar, 
war er das verkoͤrperte Ideal der Vollkommenheit. Die Kirche hatte ja 
freilich niemals daran denken koͤnnen, das Leben in der Welt, die Arbeit 
des irdiſchen Berufes zu verpoͤnen; denn was haͤtte alsdann aus ihr 
werden ſollen? Allein ein jeder „Weltliche“ ſollte durch die moͤnchiſche 
„Heiligkeit“ doch ſtets daran gemahnt werden, daß der Laie, dem es ver⸗ 
ſagt geblieben, oder der es gar verſchmaͤht, das hoͤchſte Opfer zu bringen, 
mit all ſeiner Froͤmmigkeit doch uͤber eine niedere Stufe des chriſtlichen 
Lebens es nicht hinausbringe, daß ſein Leben, ſeine Arbeit, ſelbſt die 
aufopfernde Fuͤrſorge fuͤr die Seinen — als ein Dienſt der Welt — im 
letzten Grunde mit einer Art von Makel behaftet ſei. Welch“ ſtarker An⸗ 
reiz für ihn, ſich ruͤckhaltlos in die Arme der Kirche zu werfen, durch fie 
und durch die Verdienſte ihrer „Heiligen“ ſich erſetzen zu laſſen, was ihm 
ſelber abging! 

Bei dieſer Abhaͤngigkeit der Laienwelt ſpielte das religioͤſe Leben Aller, 
mit faſt verſchwindenden Ausnahmen, ſich in den Formen der Kirche ab. 
Die Froͤmmigkeit der Maſſe war die der Kirche. Nur eine winzige 
Minderheit ſonderte ſich ab, etwa weil die Waͤrme ihres religioͤſen Gefuͤhls 
auf kalte Satzungen ſtieß, ihr ſittlicher Ernſt verletzt wurde: man ſehnte 
ſich zuruͤck nach der Gemeinde des apoſtoliſchen Zeitalters, von welcher 


10 


Die Weltherrſchaft der Papſtkirche 


die Papſtkirche mit ihrem weltlichen Treiben himmelweit abſtand. Allein 
auch dieſe Abtruͤnnigen blieben in ihren religioͤſen Grundanſchauungen 
in Übereinſtimmung mit der Kirche. Die Sekten des Mittelalters tragen, 
ſo mannigfach dieſe Abſplitterungen auch ſein moͤgen, ohne Ausnahme 
das Gepraͤge des Katholizismus der Zeit; ſie gehoͤren ihm an, ſind 
ſeine Gebilde; nur auf dieſem Grund und Boden konnten ſie erwachſen 
mehr noch, überall laͤßt ſich in den wilden Senkreiſern das Gewebe des 
Stammes erkennen. 

So wie wir den hierarchiſchen Bau der roͤmiſchen Kirche kennen 
gelernt haben, bedarf es kaum noch der Bemerkung, daß wie die Laien 
ſo auch die Geiſtlichen vom niedrigſten Prieſter bis zum hoͤchſten Praͤlaten 
in ſtrenger Botmaͤßigkeit des roͤmiſchen Biſchofs gehalten wurden. Mit 
der vollendeten Ausbildung des Papſttums im 13. Jahrhundert hoͤrte 
im Grunde jede andere kirchliche Gewalt auf. Nach roͤmiſcher Anſchauung 
war grundſaͤtzlich alle Gewalt Papſtgewalt. Der Papſt war auch die 
Quelle alles Rechtes in der Kirche. Die Biſchoͤfe, deren urſpruͤngliche 
Eigengewalt hierdurch gebrochen war, haben ſich freilich ſpaͤter noch ein⸗ 
mal zu dem Verſuche aufgerafft, die ihnen unguͤnſtige Entwicklung rüds 
gaͤngig zu machen, doch, wie wir noch ſehen werden, ohne ihr Ziel zu erreichen. 


3. Die Weltherrſchaft der Papſtkirche 


ieſe Machtſtellung des Papſttums mußte auch außerhalb 
SE der Kirche auf das flärkfie zum Ausdruck kommen. So 
e. felbfiverftändlich iſt dies, daß es dafür kaum noch des 
0 5 Nachweiſes bedarf. Auf den verſchiedenſten Gebieten 

x I, des Lebens vermochte die Weltkirche Roms faſt mühe, 
— — los ihre Herrſchaft durchzufuͤhren. Ihre Überlegenheit 
uͤber den mittelalterlichen Staat offenbarte ſich am deutlichſten in der 
Niederwerfung des Kaiſertums. Hat es hier noch eines harten Ringens 
bedurft, ſo war ſie im Reiche des Geiſtes von allem Anfang an die allge⸗ 
mein anerkannte Fuͤhrerin. Denn ſie war die einzige Traͤgerin der Kultur. 


11 


Die geiftlihe Weltmacht des Mittelalters 


Darum konnte Kunſt und Wiſſenſchaft nur in ihrem Bannkreiſe gedeihen, 
war fie es, die auch das geſellſchaftliche Leben maßgebend beſtimmte. Alle 
idealen Beſtrebungen der Zeit gingen von ihr aus. Unter ihrer Einwirkung 
ſtanden aber auch die praktiſchen Ziele, waren ſie nicht gar ebenfalls aus 
ihrer Eingebung gefloſſen. Im Wirtſchaftsleben durfte ſie als der wichtigſte 
Faktor gelten: ſie war die reichſte Grundbeſitzerin, und wie viele Kloͤſter 
waren Muſterſtaͤtten des wichtigſten Erwerbszweiges, der Landwirtſchaft. 
Allen ſozialen Einrichtungen, den fuͤr den mittelalterlichen Menſchen 
ſelbſtverſtaͤndlichen genoſſenſchaftlichen Bildungen war der Stempel der 
Kirche aufgedruͤckt. Nichts waͤre imſtande geweſen, ſich im Gegenſatze zu 
ihr zu behaupten. Alles Weltliche, alles Buͤrgerliche war mit dem Firnis 
des Geiſtlichen uͤberzogen. Das rein Menſchliche ſchien ausgeloͤſcht. Ja, 
haͤtte ein ſeit Beginn des 13. Jahrhunderts maͤchtig hervortretendes, von 
der Kirche eine Zeitlang unterſtuͤtztes Streben ſich voll durchgeſetzt, ſo 
waͤre — dank dem Umſichgreifen der an die Bettelorden ſich anlehnenden 
„Bußbruderſchaften“ — jedes Haus das abgeblaßte Abbild eines Kloſters 
geworden, haͤtte ein jeder Laie unter ſeinem weltlichen Gewand ein Ab⸗ 
zeichen moͤnchiſcher Weltentſagung getragen, der Koͤnig unter ſeinem 
Purpurkleid, unter ſeinen Lumpen der Bettler. Und welch“ gewaltigen 
Triumph feierte Jahrhunderte hindurch der von der Kirche eingegebene 
Sinn entſagungsreichen Dienſtes in den mitunter lawinenartig an⸗ 
ſchwellenden Scharen aller derer, die Haus und Hof und die Heimat 
verließen, um als begeiſterte Gottesſtreiter oder auch als kampfes freudige 
Buͤßer zur Wiedereroberung des Heiligen Landes, zur Ausrottung ver⸗ 
ruchter Ketzer auszuziehen! Dieſelbe Kirche erſcheint zugleich als die 
große koloniſatoriſche Kraft der Zeit: wie es ihre Moͤnche waren, deren 
geraͤuſchlos-emſige Arbeit weiten bis dahin unangebauten Flaͤchen ihren 
Ertrag abrang, ſo zogen auf des Papſtes Geheiß oder wenigſtens mit 
ſeiner Zuſtimmung die geiſtlichen Ritterorden hinaus in die Ferne, um 
ganze Laͤnder unter das Kreuz zu beugen und fuͤr die Kultur zu erſchließen. 
Und noch eins — es iſt wahrlich an Bedeutung nicht das letzte — haben 
wir hier zu beachten: die Voͤlker verbindende Kraft des Papſttums. Von 
ihm werden die auseinanderſtrebenden Nationalitaͤten des Abendlandes 
zuſammengehalten, und von ihm allein, ſeitdem das Kaiſertum ſich un, 
faͤhig gezeigt, dieſe Aufgabe zu erfuͤllen. Jedes Volk, jeder Stamm, 
jedes Land, jede Provinz von den Suͤdkuͤſten Italiens und Spaniens bis 
zum Norden Skandinaviens hinauf hat in Rom ſeinen Mittelpunkt, in 
ihm ſeinen Zuſammenhang. Es iſt die Klammer der abendlaͤndiſchen 


12 


Die Weltherrſchaft der Papſtkirche 


Welt. Kein Wunder daher, daß alles, alles von ſeinem Geiſte erfuͤllt iſt, 
dieſem Geiſte, deſſen Art wir ſchon kennen. 

Kein Wunder zugleich, daß dieſer Geiſt ſich als unbeſieglich erwieſen 
hat, noch durch Jahrhunderte — unbezwinglich bis zu dem letzten Tage 
des Mittelalters. Denn einzig und allein die Dauer ſeiner Unbezwing⸗ 
lichkeit friſtet dem ſinkenden Mittelalter das Leben. Es geht unter in dem⸗ 
ſelben Augenblick, wo er ſeine erſte entſcheidende Niederlage erleidet — 
nicht durch irgend eine aͤußere Gewalt, ſondern durch einen andern, 
neuen Geiſt, den Geiſt einer reineren und tieferen Religioſttaͤt. 


S . 


N 
SET 1 


— 


7 


II. 
Vergebliches Sturmlaufen 


wider die Zwingherrſchaft 
des Papſttums 


1. Die Bekaͤmpfung des paͤpſtlichen Abſolutismus 


PT och Jahrhunderte lang, ſagten wir, hat ſich der roͤmiſche 
N 0 Geiſt als unbezwinglich erwieſen. Wohl zogen ſich gegen 
ende des Mittelalters ſchwere Gefahren uͤber dem Papſt⸗ 
DENT S tum zuſammen, und es gab Zeiten, in denen feinem Ab⸗ 
I& Sn 8 ſolutismus, wie es ſchien, ein nahes Ende geweisſagt 


—.— SER werden durfte. Der hierarchiſche Ubermut, in dem es 
nach den Zuͤgeln eines unumſchraͤnkten Weltregiments gegriffen hatte, er⸗ 
litt einen Stoß, als zu Anfang des 14. Jahrhunderts Bonifatius VIII. es 
mit einem Koͤnigtum zu tun bekam, das ſich auf den Willen einer Nation zu 
ſtuͤtzen vermochte. Was den gewaltigſten Anſtrengungen der Kaiſer verſagt 
geblieben war, das gluͤckte dem franzoͤſiſchen König: er warf einen Damm 
auf gegen die päpftlichen Herrſchaftsgeluͤſte. Ja bald durften die Könige 


14 


Die Bekämpfung des paͤpſtlichen Abſolutismus 


Frankreichs, nachdem Klemens V., ein fruͤherer franzoͤſiſcher Praͤlat, die 
paͤpſtliche Reſidenz aus der Welthauptſtadt Rom nach einer kleinen Stadt 
der Provence, nach Avignon, verlegt hatte, ſich des unerhoͤrten Vorzuges 
ruͤhmen, in den nach wie vor von dem geſamten Abendlande anerkannten 
Oberhirten der Chriſtenheit ein gefuͤgiges Werkzeug ihrer Launen zu 
beſitzen. Zwar dachten die Avignoniſchen Paͤpſte nicht daran, auch nur 
ein Titelchen ihrer ererbten Rechte und Anſpruͤche aufzugeben, ja noch 
mehr, fie ſahen ſich im Stande, in ihrem unerſaͤttlichen Hunger nach 
Macht und Reichtum außerhalb Frankreichs ihre Gewalt noch zu ſteigern. 
Trotzdem mußte jene unwuͤrdige Knechtſchaft zu einer nicht ganz un⸗ 
gefaͤhrlichen Schmaͤlerung ihres univerſalen Anſehens ausſchlagen. Und 
wie viel ſtaͤrker mußte ihr Anſehen uͤberhaupt leiden, als es im letzten 
Viertel des 14. Jahrhunderts zu der verderblichen Spaltung des Papſt⸗ 
tums kam. Da hatte die abendländifche Welt, jetzt ſelber in zwei Hälften 
zerriſſen (denn an ein jedes Land war die Noͤtigung herangetreten, ſich 
für einen der beiden Paͤpſte zu entſcheiden), länger denn ein Menſchen⸗ 
alter hindurch das klaͤgliche Schauſpiel vor Augen, daß der roͤmiſche und 
der franzoͤſiſche Papſt ſich gegenſeitig unter entſetzlichen Fluͤchen in den 
Bann taten. Und zu gleicher Zeit wurde ihre Mißwirtſchaft, dieſes Syſtem 
von Bedruͤckungen und Erpreſſungen, unter denen ganz beſonders das un⸗ 
gluͤckliche Deutſchland zu leiden hatte, auf eine bis dahin noch nicht erreichte 
Hoͤhe getrieben. Da ward doch mancher Zweifel laut an der Recht⸗ 
mäßigfeit einer fo ſchrankenloſen Papſtgewalt, und noch mehr der Klagen 
— ſelbſt aus dem Munde der eifrigſten Kirchenmaͤnner. Man zog bedenk⸗ 
liche Vergleiche mit den fruͤheren, ſo viel beſſeren Zeiten der Kirche. 
Stärker und ſtaͤrker wurde der Ruf nach einem allgemeinen Konzil. Mit 
ruhiger Zuverſicht bald, bald mit ſtuͤrmiſcher Begeiſterung verlangte 
man nach ihm als dem einzigen, aber auch unfehlbar wirkenden Heil; 
mittel für die Krankheit des Kirchenkörpers. „Reform der Kirche an 
Haupt und Gliedern“, des Hauptes zumal, war die Loſung. Aber wer 
ſollte das Konzil einberufen? wer die Reform in die Hand nehmen? 
Vom Kaiſertum war ja nichts zu erwarten, kaum mehr von den uneinigen 
Fuͤrſten. In dieſer Not kam der Kirche die Wiſſenſchaft zu Huͤlfe: als 
„das wahre Licht der Kirche“, das niemals eine Verdunkelung erfahren 
habe, glaubte ſie, die truͤbe und dunkle Gegenwart durch die Helle eines 
neuen Tages verſcheuchen zu koͤnnen. Zum erſten Mal fuͤhlte ſie ſich als 
eine Großmacht der Geſchichte. Sie erhob ſich in ihrer Hauptburg, der 
Univerſität Paris — und nicht ohne Erfolg. Der eifrigen Agitation der 


15 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


Gelehrten, ihrer geſchickten Bearbeitung der oͤffentlichen Meinung war 
es zu danken, wenn die Kardinalskollegien der beiden zaͤh an ihrem 
Rechte feſthaltenden Paͤpſte ſich die Hand reichten zur Beſeitigung der 
Spaltung, zum Ausſchreiben eines allgemeinen Konzils, und wenn die 
Fuͤrſten, ſich fuͤr die Reform des Papſttums erwaͤrmend, dieſes Unter⸗ 
nehmen unterſtuͤtzten. Aber auch das durften die Maͤnner der Wiſſen⸗ 
ſchaft als eine Wirkung ihres Wortes betrachten, daß in den Biſchoͤfen 
das Verlangen erwachte, ihre angeſtammten, durch die Paͤpſte ſo empfind⸗ 
lich geſchmaͤlerten Rechte auf einer allgemeinen Kirchenverſammlung, in 
welcher ſie als Vertreter der geſamten abendlaͤndiſchen Chriſtenheit die 
Hauptrolle ſpielen durften, zuruͤckzugewinnen. Allein, fie waren ſchlechte 
Diplomaten, und noch ſchlechtere die auf den Konzilien im Glanze ihrer 
beredten Weisheit ſtrahlenden Gelehrten mit ihren feindurchdachten 
Schreibpult⸗Theorien. Lange Reden, mutige Worte, tapfere Beſchluͤſſe, 
obenan der im Prinzip entſcheidende von der Überordnung eines all⸗ 
gemeinen Konzils uͤber den Papſt, unkluge Taten, vor allem die, daß die 
Konſtanzer Synode nach Abſetzung der alten Paͤpſte — es gab zuletzt 
deren drei — zur Wahl eines neuen ſchritt, ohne daß zuvor ſeine Macht 
weſentlich beſchnitten worden waͤre; infolgedeſſen Reformen, die im 
Grunde nichts reformierten, nur einige der aͤrgerlichſten Mißbraͤuche 
abſtellten oder doch zeitweilig einſchraͤnkten — das alles zeichnet die 
Haltung der großen fog. reformatoriſchen Konzilien, an welche das Abend⸗ 
land Jahrzehnte hindurch mit all ſeinen Hoffnungen ſich anklammerte. 
Ihr einziges ſchwerer in die Wage fallendes Ergebnis war die Wieder⸗ 
herſtellung der Einheit des Papſttums und — ſeiner Allmacht. Denn die 
überlegene Politik der neuen roͤmiſchen Paͤpſte verſtand es, die Fuͤrſten, 
große und kleine, auf ihre Seite zu bringen. Die einen waren nach einer 
Steigerung ihrer monarchiſchen Gewalt luͤſtern, die anderen (hier kamen 
namentlich die zahlreichen Territorialgewalten Deutſchlands in Betracht) 
nach Mehrung ihrer landesherrlichen Befugniſſe — alle ließen ſich gleicher⸗ 
maßen durch Einraͤumung einiger geiſtlicher Rechte koͤdern; ihre Preis; 
gabe erſchien ungefährlich für die Kurie und war es auch zur Zeit; welche 
Bedeutung ſie dereinſt gewinnen ſollten als brauchbare Bauſteine zur 
Errichtung von Landeskirchen, ahnte man in Rom nicht. Immer konnten 
die Paͤpſte, die alsbald die ſie bindenden Feſſeln der Konzilien wie Spinnen⸗ 
gewebe zerriſſen, dank jener Ruͤckendeckung in den letzten ſechzig Jahren 
vor der Reformation nach und nach zuruͤckerobern, was ihnen waͤhrend 
der Wirren der Kirchenſpaltung verloren gegangen war — und das um 


16 


Die antihierarchiſche Bewegung Wiclifs und der Huſiten 


ſo leichter, als der Ruf nach einem allgemeinen Konzil ſeine Kraft ver⸗ 
loren hatte. Zwar fand er noch lange einen Nachhall — bis zu den Tagen 
Luthers hin; und noch lange ſuchten weite Kreiſe Beruhigung in dem 
Satze von der ſelbſtaͤndigen Gewalt der Biſchoͤfe und der Stellung der 
allgemeinen Kirchenverſammlungen uͤber dem Papſt. Indes, die Zuver⸗ 
ſicht war dahin — matt und muͤde beugte man ſich von neuem unter das 
Joch. Mochten gleich die Freiheitsgeluͤſte der Biſchoͤfe nicht gänzlich erſtickt 
ſein (ſie haben auch noch den Paͤpſten der Neuzeit manche Schwierigkeit 
bereitet, bis fie im Jahre 1870 mit Stumpf und Stiel ausgerottet wur⸗ 
den), immer war die biſchoͤfliche Auflehnung mißgluͤckt, war dieſe eine Zeit 
lang fo bedrohlich ausſehende innerkirchliche Oppoſition niedergeſchlagen. 


2. Die antihierarchiſche Bewegung Wiclifs und der Huſiten 


ndeſſen, es war noch zu einer anderen Bewegung ge 
kommen (in der letzten Zeit der Spaltung), die ſich nicht 
= wie jene gegen den päpftlichen Abſolutismus richtete, 

1 85 ſondern gegen die Hierarchie überhaupt, den Papſt und 

8 En die ganze üppige Kleriſei. Es war die wildeſte des ganz 
zen Mittelalters. Wer wüßte nicht von dem trotzigen 
lem des Huſitentums? 

Ein breiter, reißender Strom flutete es dahin. Von verſchiedenen 
Quellen geſpeiſt, verdankte er doch ſeinen Hauptzufluß der Wirkſamkeit 
eines Mannes, an dem wir bei unſerem fluͤchtigen Ruͤckblick auf die 
letzten Zeiten des Mittelalters ohnehin nicht achtlos voruͤbergehen duͤrften, 
des Englaͤnders Johann Wiclif. Denn einen groͤßeren und entſchiede⸗ 
neren Feind hat vor Luther das verweltlichte Papſttum nicht geſehen; 
er uͤberragt um mehr als Haupteslaͤnge alle, die ſich ſonſt wider St. Peters 
ſtolze Nachfolger erhoben haben. Indem er, allerdings in ſehr beſchraͤnktem 
Umfange, auf die Heilige Schrift zuruͤckging, gewann er einen Maßſtab 
fuͤr die Abſchaͤtzung des Papſttums. Dieſer Maßſtab war das „Geſetz 
Chriſti“. Unter ihm verſtand er, nach dem Vorgange Anderer, die Vor⸗ 


2 Brieger, Reformationsgeſchichte 17 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


ſchrift eines Lebens in apoſtoliſcher Armut und Demut. Wo blieb da 
noch Raum fuͤr das paͤpſtliche Weltregiment? ja, auch nur fuͤr den welt⸗ 
lichen Beſitz des Papſtes, der Kirche? Der Papſt, der kein apoſtoliſches 
Leben fuͤhrt, der kein „Mann des Evangeliums“ iſt, indem er auf Hof⸗ 
fart und Reichtum nicht verzichten will, iſt nichts anderes als der Anti⸗ 
chriſt. Wie haͤtte Wiclif vor deſſen Bannſtrahlen erzittern ſollen? Es 
iſt etwas großes, daß er da nicht wankte, ſondern ſich auf das Recht 
ſeines chriſtlichen Gewiſſens zuruͤckzog, wie ſpaͤter auch der von ihm durch⸗ 
geiſtete Blutzeuge des Geſetzes Chriſti, Johann Hus. So kannte Wiclif 
eine Kirche, deren rechtliche Ordnungen und Sprüche keine bindende Kraft 
beſitzen, und die der Pracht eines hierarchiſchen Aufbaues nicht bedarf, ja 
ſie nicht eimal vertraͤgt. Es waren fruchtbare Gedanken, welche er mit dieſer 
Auffaſſung der Kirche an den Tag foͤrderte. Allein, die Linie des Mittel⸗ 
alters hat er doch nicht uͤberſchritten. Denn feinen Augen blieb d ie Kirche 
verhuͤllt, die auch der Prieſter entbehren kann, und der „Geheimniſſe“ als 
der magiſchen Kanaͤle des ewigen Heils. Der grimme Feind der Papſt⸗ 
kirche hielt an der Sakramentskirche feſt und damit an einer Kirche, 
die einen „Glauben“ verlangt, der vor allem gehorſame Unterwerfung 
iſt. Zur „Freiheit des Chriſtenmenſchen“ iſt ſo auch Wiclif nicht hindurch⸗ 
gedrungen. 

Durchaus innerhalb der Schranken des Mittelalters hat ſich auch 
Wiclifs bedeutendſter Anhaͤnger Johann Hus gehalten, innerhalb dieſer 
Schranken die Huſiten, welche eiferſuͤchtig uͤber der Ehre ihres katho⸗ 
liſchen Namens wachten. 

Huſens mannhafter Perſoͤnlichkeit war es dank einer merkwuͤrdigen 
Verkettung der verſchiedenſten Verhaͤltniſſe gelungen, dem in England 
raſch unterdruͤckten Wiclifismus unter den Tſchechen eine zweite Heimat 
zu ſchaffen. Und hier entwickelte dieſer bald eine ungeahnte Kraft: 
verbuͤndet mit der Macht eines empfindlichen Nationalgefuͤhls, vermochte 
er einen ungeheuren Brand zu entzuͤnden. Es kam zu dem großen 
Drama der Revolution des 15. Jahrhunderts, in der religioͤſe, nationale, 
politiſche und ſoziale Elemente bunt durcheinander wogten (das ſoziale 
vornehmlich in der Rolle bemerklich, welche die Bauern ſpielten). Zum 
erſten Mal kuͤndigte ein ganzes Volk, wenigſtens ſeiner uͤberwiegenden 
Mehrheit nach, der Hierarchie den ſklaviſchen Gehorſam auf, ſagte ſich 
los nicht bloß vom Papſttum, ſondern auch von der Papſtkirche. 

Auch von den Huſiten wurde „das Geſetz Gottes“ auf den Thron 
erhoben — und zwar in einer Weiſe, die ganz unzweifelhaft nicht nur 


18 


Die antihierarchiſche Bewegung Wiclifs und der Huſiten 


religioͤſes Verlangen zeigt, ſondern auch religioͤſen Schwung und, trotz 
aller Ausſchreitungen, ein hohes Maß von ſittlicher Kraft. Das „goͤtt⸗ 
liche Geſetz“ oder die (auch von ihnen im Sinne Wiclifs verſtandene) 
Heil. Schrift ſoll maßgebend ſein fuͤr die Kirche, ihre Lehren, Ordnungen, 
Einrichtungen, fuͤr das ganze chriſtliche Leben. So verlangten ſie „freie 
Predigt des Wortes Gottes“, Einziehung der reichen Kirchenguͤter durch 
die weltliche Gewalt und Zuruͤckfuͤhrung der Geiſtlichen zu einem 
„apoſtoliſchen“ Leben, Beſtrafung, ja Ausrottung aller öffentlich Anſtoß 
gebenden Suͤnden, Beſeitigung aller Ordnungen, die dem „Geſetze 
Chriſti“ widerſtritten, im Zuſammenhang hiermit Ruͤckgabe des Kelches 
an die Laien. Dazu finden wir bei den am weiteſten Fortgeſchrittenen 
die Forderungen, daß die Kirche, unter Beſeitigung ihrer gegenwaͤrtigen 
Verfaſſung und Braͤuche, dieſer bloß menſchlichen Erfindungen, nach 
dem Muſter der Bibel dem Ideal der apoſtoliſchen Gemeinden nahe 
gebracht werde, und daß der ganze Gottes dienſt in der Landesſprache 
vor ſich gehe. 

Das waren ja nun alles verdammte Ketzereien, die nach gut roͤmi⸗ 
ſchem Grundſatz mit Gewalt ausgerottet werden mußten. Doch der erſte 
Verſuch ihrer Anwendung entflammte die Huſiten zum heiligen Kriege. 
Griffen ſie anfangs bloß zum Schutz des Glaubens und ſeiner Anhaͤnger 
zu den Waffen, fo faßten die Vorkaͤmpfer des goͤttlichen Geſetzes ihre 
Aufgabe bald noch ernſter und größer, Sie glaubten den Krieg auch in 
die Nachbarländer tragen zu müffen, um den heiligen Gott an den Über⸗ 
tretern ſeines Geſetzes zu raͤchen und ſo deſſen Wiederaufrichtung und 
Erfuͤllung zu erzwingen, d. h. den wahren Glauben auszubreiten. Ja, 
„die ganze chriſtliche Welt“ ſollte „gewaltſam zur Bekehrung und zur 
idealen Vollkommenheit“ gebracht werden. Auf dieſem Wege gedachten 
fie die Einheit der Kirche wiederherzuſtellen, die dann eine huſttiſche 
geweſen waͤre. Wie oft leſen wir mit Betruͤbnis auf den Blaͤttern der 
Geſchichte, daß der Eifer fuͤr das goͤttliche Geſetz ſeine Vollſtrecker hart 
und grauſam gemacht hat. Auch hier war erbarmungsloſer Eifer Prinzip, 
Austilgung aller Boͤſen, Gottloſen, Unglaͤubigen die nicht ſelten aus⸗ 
gegebene Parole: „verflucht iſt jeder Glaͤubige, der ſein Schwert vom 
Blut der Widerſacher des Geſetzes Chriſti fern haͤlt“. Wieder konnte ſich 
da die vermeintliche religioͤſe Pflicht ein Genuͤge tun in Taten der goͤtt⸗ 
lichen Rache, entſetzlichem Blutvergießen, furchtbaren Grauſamkeiten. Und 
nicht bloß gegenuͤber den verhaßten Deutſchen iſt ſie — und zwar mit 
Luſt — geuͤbt, ſondern auch an tſchechiſchen Volksgenoſſen, die dem 


2* 19 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


heiligen Geſetze widerſtrebten. Der nationale Fanatismus wurde von 
dem religioͤſen uͤberboten (uͤbrigens auch bei den Deutſchen, die im Namen 
der heiligen Kirche ſich an den Ketzern mit wahrlich nicht geringerer Haͤrte 
raͤchten). Für den Ernſt ihres Glaubens an eine Weltmiſſion, der fie 
die nationalen Schranken durchbrechen ließ, haben aber die Huſiten 
einen ſchlagenden Beweis gegeben: ſie wußten zur Erreichung ihres 
Zieles neben dem Kriege noch ein zweites Mittel anzuwenden: eine 
umfaſſende friedliche Miſſionstaͤtigkeit. In allen Laͤndern des Kon⸗ 
tinents konnte man ihren Sendboten begegnen, die ihre Manifeſte 
verbreiteten, dieſe „Ketzerbriefe“ — mit ihrer Warnung vor dem Ber 
trug der Pfaffen, ihrem Wunſche nach einer „heiligen goͤttlichen Eini⸗ 
gung“. — 

Was hat die roͤmiſche Kirche getan, dieſe Flut einzudaͤmmen? Sie 
griff, wie wir ſchon ſahen, anfangs zur Gewalt. Als aber ihre Kreuz⸗ 
heere verſprengt waren wie die Spreu, unter die der Sturmwind faͤhrt, 
verſuchte ſie es mit guͤtigem Entgegenkommen — das beruͤhmte roͤmiſche 
„Wir koͤnnen nicht“ (non possumus) hat noch zu jeder Zeit ſeine Grenze 
an dem harten „Muß“ gefunden. Es ging bei dieſen guͤtlichen Ver⸗ 
handlungen freilich nicht ohne eine arge Demuͤtigung der katholiſchen 
Kirche ab, aber zuletzt triumphierte bei dieſen die Liſt: das Konzil von 
Baſel verſtand es, einen Zankapfel unter die boͤhmiſchen Parteien zu 
werfen: ein brudermoͤrderiſcher Kampf endete mit der Aufreibung der 
entſchiedeneren Huſiten; die milderen behaupteten das Feld. Das uͤbrige 
beſorgte dann auch hier die Taktik und Zaͤhigkeit der Paͤpſte, die noͤtigen⸗ 
falls auch zu warten wußten. Genug, ſchon um die Mitte des 15. Jahr⸗ 
hunderts war ihr Sieg auch uͤber dieſe große Ketzerei, vielmehr uͤber dieſe 
Volkserhebung gegen die Hierarchie, nur noch eine Frage der Zeit, und 
die roͤmiſche Kurie konnte das tief zerruͤttete Tſchechenvolk fuͤr die ande⸗ 
ren Nationen als ein abſchreckendes Beiſpiel dafuͤr verwenden, wohin 
Unbotmaͤßigkeit gegen die Kirche fuͤhre. Furcht vor einer neuen Auf⸗ 
lehnung war ihr fremd. Und in der Tat war eine ſolche nicht zu beſorgen! 
Und doch hatten die Huſiten weit uͤber die Grenzen ihrer Heimat hinaus 
den Samen ihrer kirchlich⸗ und auch ſozial⸗revolutionaͤren Gedanken 
ausgeſtreut, war dieſer vielfach bei dem gemeinen Manne auf einen 
guͤnſtigen Boden gefallen, um den blinden Gehorſam allmaͤhlich zu 
untergraben, eine Stimmung der Gleichguͤltigkeit, wenn nicht gar 
feindſeliger Kritik gegen die Papſt⸗ und Prieſter⸗Kirche zu erwecken — 
hier bei den Stillen im Lande, myſtiſch⸗weichen Seelen, dort bei 


20 


Die neue Wirtſchaftsordnung und die höhere frädtifche Bildung 


unruhigen Schwaͤrmern mit trotzigen Zukunftsbildern in dem wirren 
Hirn. Doch nur im Verborgenen, tief unter der mit Schnee und 
Eis bedeckten Erde, entfaltete jener Same ſeine Keimkraft. Nur 
die Fruͤhlingsſonne konnte ihm zum Durchbruch verhelfen. Die aber 
fehlte. 

Und ſo ging es mit allem, allem, was da in den letzten Zeitſpannen 
des Mittelalters an fruchtbaren Samenkoͤrnern in das Erdreich geſenkt 
war. Es trieb und keimte, aber es war noch Winterszeit, die Sonne 
fehlte. 

Der Winter, der regierte, war — wir wiſſen es — der roͤmiſche Geiſt. 


2755) aben ihn nun die Mächte, deren Walten wir bisher 

beobachteten, nicht uͤbermocht, fo ſteht es vielleicht 

anders mit jenen Kraͤften, von deren Eintritt in die 

J Geſchichte man, wie wir früher ſahen, heute fo oft die 
neue Zeit datiert? 

f unzweifelhaft muten die jungen, friſch aufſtrebenden 
Kraͤfte, welche der neuen wirtſchaftlichen Entwicklung und der großen 
Geiſtesbewegung der Renaiſſance ihr Dafein verdanken, uns nicht mit 
Unrecht modern an. 

Zunaͤchſt die neue wirtſchaftliche Entwicklung, die allmaͤhliche Ver⸗ 
draͤngung der Naturalwirtſchaft durch die aufſchießende Großmacht des 
Geldes! Deutlich laͤßt ſie, ſeit Mitte des 13. Jahrhunderts, am Horizont 
ein Gebilde auftauchen, welches bereits das Gepraͤge der Neuzeit traͤgt. 
Und nicht bloß das Wirtſchaftsleben im engeren Sinne wirkt in dieſer 
Weiſe, ſondern auch feine Folge, die Verſchiebung der ſozialen Verhaͤlt⸗ 
niſſe mit ihren erſchuͤtternden Revolutionen und erbitterten Kaͤmpfen. 
Mehr als anderswo trat dieſe in Deutſchland hervor. Es waren hier, 
bei dem Fehlen einer einheitlichen, regulierenden Obergewalt, natur⸗ 
gemaͤß die Mittelpunkte des Handels und des Handwerks, wohin das 
Geld zuſammenfloß, um das Leben, zunaͤchſt das der fuͤhrenden Klaſſen, 


21 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


auf eine höhere Stufe des Daſeins zu heben. So überflügelten die Staͤdte 
nicht nur das platte Land, ſondern auch die Fuͤrſten und Herren, welt⸗ 
liche und geiſtliche. Das deutſche Bürgertum trat in ſeine klaſſiſche Epoche. 

Es ſchuf kleine Staaten im Staate, das will ſagen im Reich! Und 
dieſe ſuchten auch in kirchlicher Hinſicht ein entſprechendes Maß von 
Selbſtaͤndigkeit zu gewinnen, und das um ſo mehr, je ſtaͤrker ſie, ver⸗ 
ſtaͤndig, ja kunſtgemaͤß verwaltet, die kirchlichen Schoͤpfungen mit der 
Fuͤlle ihrer ſelbſtiſchen Zwecke als einen Pfahl im Fleiſche empfinden 
mußten. Daher ihr, nicht ſelten erfolgreiches, Streben, allerlei geiſtliche 
Rechte zu erwerben, die Pfaffheit, die zu den Laſten der Stadt nicht 
beitrug und uͤberdies ihrer Gerichtsbarkeit Hohn ſprach, ſich, ihrem 
Regimente zu unterwerfen, Kirchen, Kloͤſter und die ſonſtigen kirchlichen 
Stiftungen in Abhaͤngigkeit von ſich zu bringen. Und zu gleicher Zeit floͤßte 
auch die Macht des Reichtums, der in ſeinem Gefolge groͤßere Anſpruͤche 
an die ganze Lebenshaltung, die materielle wie die geiſtige, mit ſich brachte, 
dem Buͤrgerſtande ein bis dahin ungekanntes Selbſtgefuͤhl ein. Bald 
fand es neue Nahrung in der hoͤheren Bildung, die jetzt Einzug hielt, 
einer ſolchen, wie ſie der Laienwelt bis dahin im ganzen fremd geweſen 
war. Als eine neue Kraft von unberechenbarem Werte iſt damals bei 
uns in Deutfchland dieſe Laienbildung in die Geſchichte des Mittelalters 
eingetreten. Immer mehr erweiterte ſich der Geſichtskreis. Der Einzelne, 
auch aͤußerlich durch Handelsunternehmungen und Reiſen der Enge des 
ſtaͤdtiſchen Lebens entruͤckt, begann ſich auf feine eigenen Fuͤße zu ſtellen, 
ſich der Bevormundung durch die Geſamtheit zu entziehen. Das Leben 
der Staͤdte wird durch einen neuen Zug bereichert: es zeigen ſich die erſten 
Spuren einer Herausbildung der Einzelperſoͤnlichkeit: die Familie, die 
Korporation, die Zunft verlieren von ihrer bis dahin alles und alle 
baͤndigenden Macht. Wie hätten die Wellen dieſer Bewegung nicht auch 
an die Mauern derjenigen Koͤrperſchaft ſchlagen ſollen, die das Indi⸗ 
viduum am ſtaͤrkſten band? Zwar fand ihre uͤberweltliche Gewalt und 
Hoheit noch immer eine uneingeſchraͤnkte Anerkennung. Das vermochte 
doch nicht zu hindern, daß man ſich ihre Diener und ihre Inſtitute etwas 
genauer anſah, und da nahm der geſchaͤrfte Blick nur allzuviel Menſch⸗ 
liches wahr. Das Vermoͤgen zu urteilen fuͤhrt leicht zu Spottluſt und — 
der Tyrannei gegenuͤber zu Haß. An Stimmen der Kritik hatte es auch 
ſchon in früheren Jahrhunderten nicht gefehlt; man braucht hier nur an 
Walter von der Vogelweide zu denken. Aber wie viel bitterer klingen 
die Klagen, wie ſie ſchon im 14. und noch mehr im 15. Jahrhundert aus 


22 


Die neue Wirtſchaftsordnung und die höhere ſtaͤdtiſche Bildung 


dem Kreiſe der Buͤrgerſchaft erfchallen, um bei dem Bauern einen viel; 
fachen Widerhall zu finden. Es iſt ein vielſtimmiger Chor, der, oft in 
ſchrillen Toͤnen, das garſtige und doch gern gehoͤrte Lied ſingt von der 
Pfaffen Übermut, Uppigkeit, Geiz, Eigennutz und Blutſaugerei, von ihrer 
Unbildung und Verwilderung, von der „Geweihten“ wie der Moͤnche 
und Nonnen unflaͤtigem Treiben, und auch der Paͤpſte nicht ſchweigt. 
Und welches Maß von Haß hat ſich in dieſen beiden Jahrhunderten 
angehaͤuft bei Buͤrgers⸗ und Bauersmann, der lieber heute als morgen 
ſeinen Mut in heißem Blute gekuͤhlt haͤtte der Geiſtlichen (und der Reichen; 
denn uͤberall iſt bei dem Proletariat, dem ſtaͤdtiſchen wie dem laͤndlichen, 
dieſer Haß durchwoben von ſozialiſtiſchen Gedanken). Die Bauern⸗ 
haufen, die im Jahre 1476, durch die Aufruhrpredigt des „Pfeiffers 
von Niklashauſen“ in Bewegung geſetzt, dem Fuͤhrer zuzogen, ſangen im 
Ton eines Wallfahrtsliedes: 


„Wir wollen Gott im Himmel klagen, 
Kyrie eleiſon, 
Daß wir die Pfaffen nit ſollen zu Tode ſchlagen, 
Kyrie eleiſon“. 


Lauerte hier nun etwa eine Gefahr fuͤr das Papſttum, fuͤr den Geiſt 
Roms? Es iſt ſchon vor dem Auftreten Martin Luthers gelegentlich zu 
einem „Pfaffenſtuͤrmen“ gekommen. Aber was bedeuten lokale Vor⸗ 
gaͤnge der Art fuͤr die Weltkirche? Ein Kraͤuſeln der Wellen am Ufer⸗ 
felſen bei glatter See. St. Peters Schiff hatte ruhige Fahrt. Wurde dieſer 
pfaffenfeindlichen Stroͤmung nicht von irgend einer Seite ein poſitives 
Ziel vorgehalten, ſo hatte der Klerus ein gutes Recht, in ſtolzer Sicher⸗ 
heit fich über fie hinwegzuſetzen. Und vollends die neue Wirtſchaftsordnung 
und die junge Laienbildung vermochten die roͤmiſche Kirche nicht zu 
ſchrecken. Mit jener konnte ſie ſich mit der Zeit vortrefflich befreunden, 
und dieſe vertrug ſich ſehr wohl mit der hergebrachten Froͤmmigkeit. 
Letztere hat in dieſer Zeit nicht gelitten, vielmehr, wir werden es noch ſehen, 
an Waͤrme zugenommen. Nirgends finden wir in der Laienbildung die 
Anzeichen einer „geiſtigen Revolution“. 

Wohl aber kann man eine ſolche finden in der maͤchtigen Bewegung 
der Renaiſſance und des Humanismus. 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


4. Die Renaiſſance und der Humanismus 


— 5 aben wir unter Renaiſſance, wie der Name beſagt, die 
N ZW „Wiedergeburt“ des klaſſiſchen Altertums zu verſtehen, 
cſo weiſt die zweite Bezeichnung auf dasjenige hin, was 

N zunaͤchſt und vor allem an dieſem Altertum anzog: das 
8 Rein⸗Menſchliche. Das Wort „Humanismus“ hat frei⸗ 


man darunter die e wiſſenſchaftliche und literariſche Pflege des Altertums ver⸗ 
ſteht, wie ſie die ſog. Humaniſten vornehmlich des 15. und 16. Jahrhun⸗ 
derts ſich angelegen fein ließen. Aber diefen ſelbſt kam es doch, fo weit fie nicht 
zu duͤrren Gelehrten oder zu geiſtloſen Antiquitaͤtenſammlern zuſammen⸗ 
ſchrumpften, immer auf das an, was das Wort Humanismus in Wahr⸗ 
heit beſagt: die Hervorkehrung des Menſchen im Menſchen — ein Streben, 
deſſen Gegenſatz zur Kirche des Mittelalters klar zu Tage liegt. Denn dieſe 
ging ja, wie wir fruͤher ſahen, gerade darauf aus, alles „Menſchliche“ 
zu unterdruͤcken: Wiſſenſchaft, Kunſt, der Verkehr des Menſchen mit dem 
Menſchen, ſeine Betaͤtigung in den Aufgaben des buͤrgerlichen Berufes, 
des weltlichen Lebens uͤberhaupt — alles ſollte ja nur ein Recht haben, 
wenn es ſich von der Kirche gaͤngeln ließ. Fing die Menſchheit an, ſich 
dieſer Bevormundung zu entziehen, ſo war das unfraglich der Beginn 
einer geiſtigen Revolution. 

Wie aber hat ſie ſich im einzelnen geaͤußert? und zu welcher Wirkung 
hat ſie es gebracht? 

Die Heimat der Renaiſſance iſt Italien, das klaſſiſche Land des 
Papſttums. Hier vor allem hat ſie ſich daher in ihrem wahren Weſen 
offenbaren, hier am ſtaͤrkſten auswirken muͤſſen. 

Noch bevor das wiederauflebende Altertum auf die Italiener einwirkte, 
hatte ihre geiſtige Entwicklung in uͤberraſchender Weiſe einen neuen Anlauf 
genommen, fie wie mit einem Schlage in ein neues Zeitalter geführt, eben die⸗ 
ſes der Renaiſſance ſelbſt. Denn es iſt bereits ihr Fluͤgelſchlag, den wir in 
Italien vernehmen, noch ehe es in den Gebeinen der Alten zu rauſchen begann. 

Mehr als anderswo hatte hier der Geiſt ſich der Betrachtung der 
Natur, ihrer Wunder, ihrer Schoͤnheit zugewendet. Kein anderer als 
Italiens größter, genialſter Dichter, der Laie Dante, der aus eigener 
Kraft ſich ein Weltbild gezimmert, der naͤmliche, vor deſſen ahnungs⸗ 
reichem Geiſte das neue Land der Renaiſſance ſchon von Ferne auf⸗ 


24 


Die Renaiſſance und der Humanismus 


getaucht iſt, war ſeinen Landsleuten darin vorangegangen; ſchon bei ihm 
finden ſich Spuren einer empiriſchen Erforſchung der Natur. Indem die 
Italiener dieſen Spuren folgten, entdeckten ſie die Welt, die ſie umgab. 
Man hat ſie deshalb geradezu „das moderne Entdeckervolk“ des ſpaͤteren 
Mittelalters genannt, deſſen Stolz fuͤr immer Kolumbus ſein darf. Aber 
noch mehr, nicht nur die Entdeckung der aͤußeren Welt hat man ihnen 
zugeſchrieben, nein, auch „die Entdeckung des Menſchen“, „des Ich“. 
Wir werden ſpaͤter ſehen, ob mit vollem Rechte. Auf alle Faͤlle ſind ſie 
an dieſer Entdeckung auf das ſtaͤrkſte beteiligt. Nicht umſonſt haben hier 
ſchon vom 13. Jahrhundert ab jene wilden, zuͤgelloſen, tief aufwuͤhlenden 
politiſchen und kommunalen Kaͤmpfe gewuͤtet, die den Einzelnen aus ſeiner 
Ruhe herausriſſen, ihn zwangen, alle Kraͤfte wie des Leibes ſo der 
Seele anzuſpannen, um ſich zu behaupten. Und da, mitten im Kampf, 
lernte der Einzelne ſich in einer neuen Weiſe kennen, lernte er achten auf 
ſich, ſein Inneres. Wiederum iſt es Dante, der mit ſeinen Seelenſchilde⸗ 
rungen zuerſt in dieſe Tiefe hineinleuchtete. Er konnte als Pfadfinder 
dienen, wenn man jetzt mehr und mehr das eigene Ich, das Anderer zu 
ergruͤnden ſuchte. Jener Kampf des Einzelnen, dieſes Eindringen in den 
Lebensgehalt des Menſchen — was war es aber anders als der begin⸗ 
nende Prozeß der Herausbildung der Perſoͤnlichkeit? 

Und in ſeine Anfaͤnge fiel nun — wahrlich nicht durch Zufall — die 
Wiederentdeckung einer Welt, in der einſt die Perſoͤnlichkeit Spielraum 
gehabt hatte zu freieſter Entfaltung. 

Man ſpricht allgemein von der „Wiederbelebung des klaſſiſchen 
Altertums“, und mit Recht. 

Zwar war dieſes keineswegs untergegangen. Ein gutes Stuͤck von 
ihm lebte in der Kirche ſelbſt. Ihr Dogma, aus der Vermaͤhlung des 
Chriſtentums mit dem griechiſchen, zum Teil auch dem roͤmiſchen Geiſte 
hervorgegangen, hatte eine Menge von Gedanken der alten griechiſch⸗ 
roͤmiſchen Welt auf die Gegenwart gebracht — in autoritativer Geltung. 
Und aͤhnliches wie vom Dogma galt von der Verfaſſung der Kirche, dieſer 
Hierarchie, welche die Religion Jeſu zu einer Summe von Rechts⸗ 
ordnungen umgeſchaffen hatte: ſie war ein Erzeugnis des Roͤmergeiſtes 
auf dem Boden des Chriſtentums. Und damit nicht genug. Der groͤßte 
und einflußreichſte aller Vaͤter der Kirche, Auguſtinus, war in all ſeinem 
Denken durchdrungen von den Ideen des Altertums und trug ſie ſo weiter. 
Dazu die Herrſchaft, welche in der Bluͤtezeit der mittelalterlichen Wiſſenſchaft 
der Grieche Ariſtoteles mit ſeiner alles umſpannenden Philoſophie aus⸗ 


25 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


uͤbte — um all der anderen Kanaͤle nicht zu gedenken, welche fort und 
fort der Menſchheit des Mittelalters den Erwerb der alten Kulturvoͤlker 
zufuͤhrten. Aber freilich, alles das war doch nicht mehr das Altertum. Es 
war doch nur in Bruchſtuͤcken uͤbrig, die, groß oder klein, eingefuͤgt waren 
in einen Bau ganz anderen Stiles und völlig anderer Beſtimmung. Und es 
war ein Bau, in dem gerade das keinen Raum gefunden hatte, was einſt 
in Hellas und Rom das Ideal geweſen war: die freie Menſchlichkeit. 

Von dieſem Ideal mußte ſich inſtinktiv angezogen fuͤhlen die nach 
Freiheit durſtende Perſoͤnlichkeit des Italieners, und gerade auf Italiens 
Boden konnte dieſes halb bewußte Sehnen geſtillt werden. In ſeinem 
Mittelpunkte Rom beſaß es das Zentrum der Welt des Altertums, in 
Roms Mauern und durch die ganze Halbinſel zerſtreut ungezaͤhlte Über; 
reſte aus ihr. Selbſt die Sprache Italiens ſtand der des alten Latium 
noch nahe, wie uͤberhaupt der Grundſtock der Bevoͤlkerung in weiten 
Strichen noch der naͤmliche war wie in den Tagen der weltherrſchenden 
Roma und, ohne es zu wiſſen, ſo manches im Buſen trug, was ſeinen 
antiken Urſprung nicht verleugnete. | 

Gewiß, Anknuͤpfungspunkte genug, zugleich aber auch ebenſoviele 
Quellen der nationalen Begeiſterung, die den Entdecker des Alterrums 
beſeelte, und die — ſtuͤrmiſch, wie nur dieſes heißbluͤtige Volk ihrer 
faͤhig war — ſein großes Werk begleitete, ihn ſelbſt, den Fuͤhrer auf 
dem Gebiete der Kultur, zum nationalen Heros ſeiner Zeit emporhob. 
Niemals ſonſt iſt ein Mann der Feder, des Wortes (denn Luther iſt vom 
erſten Augenblick ſeines Auftretens an mehr als dieſes geweſen) von 
den Gebildeten ſeines Volkes umjubelt worden wie Francesco Petrarca. 

Ein Talent von einem ſtaunenswerten Vermoͤgen der Aneignung und 
der Anempfindung, verſenkt er ſich in das Altertum, in ſeine formvollendete 
und weisheitsvolle Literatur. Je tiefer er in den verjuͤngenden Quell 
eintaucht, deſto mehr erſtarkt er. Es waͤchſt ihm die Kraft, in ſeiner eigenen 
Seele die Welt des Altertums von neuem aufzubauen. Indem er, ſein 
Selbſt zergliedernd, hohe Muſter vor Augen, in Seelenmalerei ſchwelgt, 
wird er zum Weisheitsorakel ſeiner Zeit. Selber hingeriſſen, zeugt er 
mit hinreißender Gewalt von der Herrlichkeit der Antike und laͤßt die 
eigene Begeiſterung auf Andere uͤberſtroͤmen. 

Er allein vollfuͤhrt dieſes Werk der Wiederbelebung der Alten. 
Seinen Juͤngern und Nachfolgern bleibt nur die Aufgabe, das vom 
Meiſter entdeckte, ihnen als Erbe zugefallene Land durch fortgeſetzten 
Anbau in Beſitz zu nehmen. Fuͤr immer iſt dem Entdecker, wie auch 


26 


Die Renaiſſance und der Humanismus 


ſonſt das Urteil über feine Perſon, über den Menſchen Petrarca, aus; 
fallen mag, ein Ehrenplatz in der Geſchichte der europaͤiſchen Kultur 
geſichert. 

Suchen wir, was er gewollt und was er geleiſtet, im Lichte der 
Geſchichte zu erfaſſen! 

Was er wollte, ſtand im vollſten Einklang mit dem Geiſte der 
Renaiſſance. Wollte ſie eine Ruͤckkehr ſein, ſo gab Petrarca als ihr 
Vorkaͤmpfer die Loſung aus: zuruͤck von der Unbildung, der Barbarei 
der Gegenwart zu der ſo lange verſchuͤttet geweſenen Quelle der Bildung! 
Was unterdruͤckt war von der Kirche des Mittelalters, mit Unrecht 
unterdruͤckt, das ſollte wieder auf den Thron geſetzt werden. Aber uͤberſehen 
wir es nicht, es war nichts neues, nur ein altes, das ſich dereinſt nicht zu 
behaupten — vermocht hatte, uͤber das die Entwickelung hinweggegangen 
war, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht. Die Zeit, die Welt, in die es jetzt, 
zu neuem Leben erwacht, eintrat, war eine andere. Sollte es in ihr ſich 
entfalten, die Welt der Gegenwart vorwaͤrts treiben, im großen Schritt 
der Geſchichte, dann mußte das Alte zugleich ein neues ſein, nicht etwas 
kuͤnſtlich belebtes, nichts nachgeahmtes, ſondern Leben, volles, friſch 
ſprudelndes Leben, kurz: Leben der Gegenwart. Das heißt, dieſes neue Alte 
mußte das ganze ungeſchmaͤlerte Erbe auch der juͤngſten Entwickelungs⸗ 
epoche der Menſchheit, das, was ſie als wirkliches Gut erarbeitet hatte, 
mit ſich fuͤhren. 

Iſt dieſe „Wiederbelebung“ dazu imſtande geweſen? hat ſie wirklich 
ein neues Leben gebracht? 

Auf mehr als einem Gebiete gewiß! 

Vor allem — dies iſt ihr ewiges Ruhmesblatt — auf dem der Kunſt. 
Sie hat der Welt den Sinn fuͤr das Schoͤne wiedergegeben und Werke 
der Unvergaͤnglichkeit geſchaffen. Michel Angelo, Rafael, Bramante 
prangen am Himmel der Renaiſſance als Sterne von unvergleichlichem 
Glanze. Aber die Renaiſſance hat noch eine zweite Großtat aufzuweiſen, 
die wahrlich an geſchichtlicher Bedeutung hinter jener erſten nicht zuruͤck⸗ 
ſteht. Indem ſie den lange verſiegten Quell der Bildung des Altertums 
wieder erſchloß in dem ganzen Reichtum ſeines Inhaltes, hat ſie dem Mittel⸗ 
alter ein ganz neues Element zugefuͤhrt. Und dieſes Kulturelement, an 
ſich ſchon von unſchaͤtzbarem Werte, gewann noch eine beſondere Bedeu⸗ 
tung, indem es von Italien her den auseinanderſtrebenden Nationen 
des Abendlandes als ein Gemeingut zufloß — ein neues Band der 
Einheit, deſſen Feſtigkeit ein halbes Jahrtauſend erprobt hat. 


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Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


Freilich, dieſe am Altertum ſich emporrankende Bildung, deren 
innerem Reichtum bald ihr aͤußeres Machtgebiet entſprach, fuͤhrte unver⸗ 
meidlich einen tiefen Schatten mit ſich. Naturgemaͤß nur den hoͤheren 
Staͤnden zugaͤnglich, verſetzte ſie der inneren Einheitlichkeit des Volks⸗ 
lebens uͤberall einen toͤdlichen Stoß. Wer in Sprache und Weisheit der 
Alten eingeweiht war, erhob ſich hoch, hoch uͤber die „ungebildete“ Menge. 
Aber war dieſe Scheidung nicht einfach der Preis, der hier wie ſo oft 
fuͤr einen Fortſchritt gezahlt werden mußte? Einen Fortſchritt bedeutete 
aber die neue Bildung auch noch in einer ganz beſtimmten Hinſicht. 
Mochten gleich auch die Spitzen der Geiſtlichkeit von ihr beruͤhrt werden, 
ihr eigentlicher Boden war doch die Laienwelt, und unkirchlich, „weltlich“ 
war ſchon aus dieſem Grunde ihr Gepräge. 

Haben wir es hier ſomit von neuem mit einer Laienbildung zu tun, 
ſo erhellt ſofort, daß ſie jene erſte, auf die wir fruͤher bei dem deutſchen 
Buͤrger geſtoßen ſind, binnen kurzem weit uͤberholen mußte. Wie unendlich 
war ſie ihr doch uͤberlegen an Umfang, Tiefe und nicht zuletzt an Kraft! 
Von dieſer hat ſie, ſo jung ſie war, eine erſtaunliche Probe abgelegt, 
indem ſie die erſten Spatenſtiche zu einer Laien wiſſenſchaft tat. Die 
Wiſſenſchaft fing an, der Hand der Geiſtlichen, der Theologen zu ent⸗ 
gleiten, und die Geſellſchaft wurde bereichert durch einen neuen Stand, 
den des weltlichen Gelehrten. Es ſind die erſten, wenn auch noch ſchwachen 
Anſaͤtze der modernen Wiſſenſchaft, die wir hier wahrnehmen. 

Welche Bedeutung ſollte es allein ſchon gewinnen, daß neben dem 
Latein, dem echten, urſpruͤnglichen, auch das dem Abendland ſo gut wie 
verloren gegangene Griechiſch, ja bei dem weiteren Fortſchreiten des 
Humanismus ſelbſt das fernliegende Hebraͤiſch dem Verſtaͤndnis 
erſchloſſen und in rationeller Weiſe ſtudiert wurde! Zeigte ſich ſchon in dem 
neuen Betrieb des Latein, in dem Verlangen, die griechiſchen Schrift⸗ 
ſteller ſtatt aus Überſetzungen oder gar Überarbeitungen in ihrer wahren 
Geſtalt kennen zu lernen, der Sinn fuͤr das Urſpruͤngliche, ſo griff dieſer 
weiter und brachte es zu dem allgemeinen Grundſatz: zuruͤck zu den 
Quellen, von dem truͤben Gewaͤſſer der abgeleiteten Baͤche und Rinnſale 
zu dem lauteren Born! Dieſer fuͤr die Forſchung ſo belangreiche Ruf 
mußte vor allem einer unſerer heutigen Wiſſenſchaften zugute kommen, 
der Geſchichte — und gerade fuͤr ſie hatte die Renaiſſance noch in anderer 
Weiſe den Boden bereitet. Die Kirche hatte ihre Glieder Jahrhunderte 
hindurch mit einer dumpfen Bewunderung ihrer Heiligen erfuͤllt. Dieſe 
hatten zwar zum Teil nie gelebt oder doch nur ein fluͤchtiges Daſein von 


28 


Renaiſſance und römifhe Kirche: ihr gegenſeitiges Verhältnis 


heute auf morgen geführt, das mit ihrem Tode verwiſcht war; trotzdem 
wurde ihr Ruhm verewigt durch pomphafte Feſte und durch Legenden, 
die von Wundern und ungeheuerlichen Unwahrheiten wimmelten. Jetzt 
lenkte das Altertum den Blick auf ſeine Helden, die ihre noch nach vielen 
Jahrhunderten ſichtbaren Spuren in der Geſchichte hinterlaſſen hatten. 
Es waren Maͤnner der Vergangenheit, die den Menſchen menſchlich 
anſprachen und fo unmittelbar das Gefühl für die „geſchichtliche Größe” 
weckten. Man ging ihnen an der Hand der alten Schriftſteller nach, 
verglich die verſchiedenen Berichte und war ſo, ohne es zu wiſſen, ſchon 
in den allererſten Anfaͤngen der hiſtoriſchen Kritik. Von hier aus bedurfte 
es nur noch eines Schrittes weiter und man wagte den Verſuch, auch 
bei einem oder dem anderen Stuͤcke der kirchlichen Überlieferung, wie z. B. 
der angeblichen Schenkung Konſtantins des Großen an den roͤmiſchen 
Biſchof, durch ein bewußtes Zuruͤckgehen auf die aͤlteſten Nachrichten, 
auf die „Quellen“, unter Verwerfung des Sagenhaften oder auch 
des Erdichteten, Gefaͤlſchten die Wahrheit ans Licht zu bringen. — 


5. Renaiffance und roͤmiſche Kirche: ihr gegenſeitiges Verhältnis 


X ber wie ſtellte N die Kirche zu dieſen Ans aͤtzen einer neuen, 
N €) von ihr unabhängigen Wiſſenſchaft? wie zu der neuen 
ENG: FO) Bildung überhaupt? Gelegentlich hat wohl die allzeit 
25 7 N wache Inquiſition Miene gemacht einzuſchreiten, ereiferte 
r 22 A ſich ein beſchraͤnkter Mönch gegen die „heidniſchen Stu⸗ 

8 dien“. Doch das waren Ausnahmen. Im ganzen hat die 
Kirche ſich nichts weniger als unduldſam gezeigt: ſie fuͤhlte ſich nicht 
bedroht. Und dieſes Kraftgefuͤhl, mit dem ſie dem anſpruchsvollen 
Treiben der Herolde der antiken Kultur gleichmuͤtig zuſah, beruhte nicht 
auf Selbſttaͤuſchung. Nur dann waͤre ſie der von dieſer Bewegung aus⸗ 
gehenden Gefahr nicht mehr gewachſen geweſen, haͤtte die Renaiſſance es 
vermocht, ihr letztes und hoͤchſtes Ziel zu erreichen: die Wiederbelebung der 
geſamten Welt⸗ und Lebensanſchauung des Altertums. Aber wie waͤre das 


29 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


allerwegen eine Möglichkeit geweſen? Auf einen fo ganz und gar unausfuͤhr⸗ 
baren, utopiſchen Gedanken konnten uͤberhaupt nur Maͤnner verfallen, 
welche — in blinder Anbetung einer idealiſierten Vergangenheit, „des 
goldenen Zeitalters“, — der Gegenwart, ja der geſamten Welt der 
Wirklichkeit fremd gegenuͤberſtanden. Es iſt ein ewiges Geſetz der 
Geſchichte, daß keine Epoche, die einſt geweſen, wiederkehrt. Auch das 
Altertum ließ ſich nicht von den Toten heraufbeſchwoͤren. 

Daher verſagte die Renaiſſance gerade auf dem Gebiete, das den 
Menſchen formt und bildet, dem der Religion und Sittlichkeit. Da blieb 
das Alte alt, das will ſagen: ſchwaͤchlich, nur zu hohlen, unwahren 
Kompromiſſen faͤhig, kurz, unfruchtbar, ohne die Kraft, neues Leben 
zu zeugen. 

Dieſes Unvermoͤgen des Humanismus hat gleich Petrarca, ſein 
großer Begruͤnder, in typiſcher Weiſe an den Tag gelegt. Ganz verſenkt 
in den Gedankenkreis ſeiner Alten, lebte er wie in einer Welt des Traumes. 
Da waͤhnt er, als Kenner der alten roͤmiſchen Republik, ihrer großen 
Maͤnner mit ihrer Weltpolitik ſei er ſelber berufen, mit ſeinem Worte in 
die Welthaͤndel einzugreifen. Er wuͤßte wohl, wie dem armen zerriſſenen 
und geknechteten Land ſeiner Vaͤter zu helfen waͤre: nur der Ruͤckkehr zur 
Freiheit des alten Rom, zu den Tugenden ſeiner Buͤrger beduͤrfte es. Er 
draͤngt den politiſchen Machthabern ſeinen weltklugen Rat auf. Bald 
ſchwaͤrmt er mit dem roͤmiſchen Volkstribunen Cola di Rienzi fuͤr die 
Wiederherſtellung der republikaniſchen Formen in „der heiligen Roma“, 
bald, nach dem Sturz des phantaſtiſchen Weltverbeſſerers, ruft er Kaiſer 
Karl IV. auf, dem Beiſpiel der alten Kaiſer folgend Italien zu retten. 
Der Einwurf des Kaiſers, man lebe „nicht mehr im Altertum und im 
alten roͤmiſchen Reiche“, macht ihn nicht irre; die Welt, entgegnet er, ſei 
dieſelbe geblieben und nur die Menſchen waͤren aͤrmer an Tatkraft 
geworden. Wir werden es erklaͤrlich finden, daß dieſe Welt des Traumes 
bei Petrarca zugleich die Welt der Worte war. Zum Worte die Tat zu 
fuͤgen, war dem Dichter nicht beſchieden. Beweis dafuͤr iſt ſein politiſches 
Verhalten, Beweis ſein Kampf wider die Kurie von Avignon: im Ton 
des altteſtamentariſchen Propheten eifert er wider dieſen „Laſterpfuhl der 
neuen Babel“, aber von eben dieſem Hofe fuͤhlt ſich der Pfruͤndenjaͤger 
Petrarca immer von neuem angezogen. Über Worte hat er es auch in 
ſeinen „moraliſchen Kaͤmpfen“ nicht hinausgebracht. Er prunkt mit 
ihnen. Offentlich legt er — in Nachahmung der „Bekenntniſſe“, in denen 
einſt Auguſtinus den Zwieſpalt ſeines Fauſtiſchen Ich mit den Mitteln 


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Renaiſſance und roͤmiſche Kirche: ihr gegenſeitiges Verhältnis 


antiker Rhetorik aufgedeckt hatte — feine „Beichte“ ab. Sie iſt ein farben⸗ 
praͤchtiges Gemälde einer innerlich friedloſen Natur, das doch eins 
vermiſſen läßt: religioͤſen und ſittlichen Ernſt. 

Man hat wohl geurteilt, „das ruheloſe Draͤngen und Pochen tief⸗ 
greifender Widerſpruͤche, das gewaltige Ringen verſchiedener Bildungs⸗ 
elemente“ kuͤndige in Petrarca den „modernen Individualmenſchen“ 
an. Es koͤnnte wohl fraglich erſcheinen, ob man bei Petrarca wirklich 
von „tiefgreifenden“ Widerſpruͤchen reden darf. Aber geſetzt, ſie waren 
vorhanden, dann muͤßten wir doch ſogleich hinzufuͤgen, daß er ſich nur 
allzu oberflächlich mit ihnen abgefunden hat; vor allem aber: nicht fie 
verraten etwas von dem modernen Menſchen. Dem Kenner des mittel⸗ 
alterlichen Chriſtentums treten Widerfprüche, wie wir fie bei dem „Vater 
des Humanismus“ finden, als eine wohlbekannte Erſcheinung ent⸗ 
gegen: neu an ihr iſt nur der antike Faltenwurf des Gewandes. Nicht 
der Zwieſpalt zwiſchen Chriſtentum und Heidentum, eines neuen und 
eines alten Bildungselementes, durchzieht ihn, vielmehr der alte Zwie⸗ 
ſpalt zwiſchen den Forderungen ſeines Gewiſſens und den widerſtrebenden 
Neigungen, die Herr uͤber ihn werden wollen. Sein Gewiſſen aber iſt 
eintraͤchtig vom Chriſtentum und von der heidniſchen Philoſophie geſchult. 
Das konventionelle Chriſtentum ſeiner Zeit war auch das ſeine. Es war 
ein Chriſtentum zweiten oder dritten Grades, das ſeine Herrſchaft uͤber 
das Gemuͤt nicht zum wenigſten durch die Vorſpiegelung von furcht⸗ 
baren Strafen des Jenſeits behauptete. Dieſes Chriſtentum ließ ihn einen 
Widerſpruch mit der heidniſchen Weisheit uͤberhaupt nicht empfinden: 
Chriſtus und die erhabene Tugendlehre der ſtoiſchen Philoſophie waren 
gleich wahre Normen fuͤr ihn. Daher war es ſicher keine Unwahrheit, 
wenn er fein Chriſtentum mit Nachdruck beteuerte, keine Lüge, wenn er 
die chriſtliche Religion als „die einzige und unerſchuͤtterliche Grundlage 
aller wahren Wiſſenſchaft“ pries, auf die allein der menſchliche Geiſt 
bauen duͤrfe; wenn er ausrief: wo es ſich um die hoͤchſten Wahrheiten 
der Religion, um das ewige Heil handle, da ſei er weder Ciceronianer noch 
Platoniker, ſondern Chriſt! 

Auch Petrarcas Verhaͤltnis zur Kirche war ein einfaches und unter⸗ 
ſchied ſich von dem der Maſſe nur durch einen nebenſaͤchlichen Zug. Den 
Kernpunkt der Religion bildete auch bei ihm der „Glaube“, d. h. Ver⸗ 
trauen zu der Kirche und gehorſame Unterwerfung unter ihre Glaubens⸗ 
ſaͤtze und Vorſchriften. Nur möchte er ſich der auch ihn feſſelnden Autorität 
nicht wie der gemeine Haufe unterordnen: blind und unter Aufgabe 


317 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


jeder eigenen Anſicht; einem Manne von ſeiner Bildung mußte es doch 
erlaubt ſein, die verſchiedenen Meinungen zu pruͤfen und auch uͤber die 
Kirche ſelbſt zu urteilen. Allein von der beſonderen Vollmacht, die er 
damit fuͤr ſich in Anſpruch nahm, hat er den beſcheidenſten Gebrauch 
gemacht. Sehen wir ab von ſeinem Klagelied uͤber das ſittliche Ver⸗ 
derben in der Kirche, ſo hat er nur Eines an ihr verurteilt: ihre moderne 
Theologie, die Scholaſtik. Aber auch ſie bekaͤmpfte er ohne Ernſt; denn 
er hat ſich nicht erſt die Mühe genommen, fie kennen zu lernen; es genügte 
ihm, ſich im Gegenſatz zu ihr zu Auguſtinus und andern großen Lehrern 
der alten Kirche zu bekennen, den naͤmlichen, die doch unter den Autori⸗ 
taͤten der Scholaſtik obenan ſtanden. Indem er ſo religioͤs mit ihr auf 
demſelben Boden ſtand, war ſeinem Angriff von vornherein der Erfolg 
verſagt; denn die einzige Waffe, die ihm blieb, die des Witzes und Spottes, 
mußte ſich als ſtumpf erweiſen. Mochte auch die Scholaſtik jener Tage 
durch ihre wunderlichen Auswuͤchſe zum Lachen reizen, es ſteckte in ihr 
doch immer ein viel zu großes Maß ernſter Gedankenarbeit von Maͤnnern, 
die ſelbſt unſere heutige Wiſſenſchaft zu den großen Denkern zaͤhlt. Auch 
die Juͤnger Petrarcas haben die Scholaſtik nicht zu ſtuͤrzen vermocht, ſo 
ingrimmig ſie auch den Kampf des Meiſters fortſetzten. — 

Es kann fuͤr uns nach alledem keinem Zweifel unterliegen: die 
Geſamthaltung Petrarcas gegenuͤber den herrſchenden geiſtigen Maͤchten 
des Mittelalters draͤngt uns die Wahrnehmung auf, daß die Renaiſſance 
in ihm ihr Ziel der Befreiung der Perſoͤnlichkeit nicht erreicht hat: auch 
das Moderne bleibt mittelalterlich gebunden. 

Aber auch in ihrem weiteren Verlaufe iſt ſie dem Ziele nicht naͤher 
gekommen. Es gilt fuͤr ſie bis zu ihrem Ausgange hin, was Adolf Harnack 
geſagt hat: „in ihren großen Repraͤſentanten fuͤhlte ſie ſich weder der 
chriſtlichen Religion noch der katholiſchen Kirche entwachſen“; „der Spott 
und die Frivolitaͤt einiger untergeordneter italieniſcher Poeten und 
Novelliſten kommt uͤberhaupt nicht in Betracht“. Es iſt wahr, die 
Renaiſſance hat in Italien Individuen in Fuͤlle geſchaffen, unter ihnen 
auch ſolche, die im erſten Freiheitsrauſche alle Feſſeln, auch die der Moral, 
von ſich warfen, ja zuͤgellos in ungeheuren Frevelmut gerieten. Aber 
Zuͤgelloſigkeit iſt keine Freiheit. Überdies, auch dieſe blieben Kinder 
ihrer Zeit und ſchloſſen, mit verſchwindenden Ausnahmen, ernuͤchtert 
von neuem einen Pakt mit der Macht, die ſie und alle band, — ob mit 
mehr oder weniger innerem Zwieſpalt, iſt für die Tatſache ſelbſt gleich⸗ 
gültig. Es hat, zumal im letzten Jahrhundert des Mittelalters, nicht 


32 


Renaiſſance und roͤmiſche Kirche: ihr gegenfeitiges Verhältnis 


wenige Humaniſten gegeben, die mit ihren Gedanken faſt mehr im 
Heidentum lebten als in der ihnen anerzogenen Religion und die ſich 
auch mit dem heidniſchen Aberglauben durchdrangen, freilich ohne ſich 
von dem kirchlichen ihrer Zeit zu befreien. Aber alle blieben ſie abhaͤngig 
von der Kirche, wenigſtens aͤußerlich. Nicht nur, daß viele, ja die meiſten 
von ihnen ihr Brot aßen; auch ſonſt ragte ſie nach wie vor uͤberall in das 
aͤußere Leben hinein. Wer konnte mit ihr brechen? Ein Austritt aus 
ihr war ja unmöglich, Niemand konnte ſich ihrer Zwangsgewalt ent 
ziehen, es haͤtte ihn denn der Mut erfuͤllen muͤſſen, als ein Maͤrtyrer 
ſeiner Überzeugung auf dem Scheiterhaufen zu enden. Wie oft hatten 
ſeit zwei Jahrhunderten deſſen Flammen (man hat ſie noch neuerdings 
als „geſegnete“ geprieſen!) gelodert, ja wie oft zuͤngelten fie noch jetzt, 
wenn es darauf ankam, hartnaͤckige Ketzer zu ſtrafen fuͤr ihr Kapital⸗ 
verbrechen, ihren Zweifel an der alleinſeligmachenden Kraft der Papſt⸗ 
kirche! Aber freilich aus dem harten Holz ſolcher Ketzer waren dieſe 
ſchoͤngeiſtigen Gelehrten und Dichter nebſt ihren Goͤnnern und Bewun⸗ 
derern nicht geſchnitzt. Sie meinten es auch gar nicht ſo ſchlimm. Mag 
auch hie und da unter der unvermeidlichen Anbequemung ſich ein harter 
Widerwille gegen die Kirche verborgen haben, die uͤbergroße Mehrzahl 
fuͤhlte ſich doch auch innerlich an ſie gebunden. Wie wenige waren 
im Stande, auch nur der Macht der Gewohnheit ſich zu entziehen und dem 
phantaſievollen, die Sinne umſchmeichelnden Kultus. Vollends der 
Reichtum der ſakramentalen Segnungen der Kirche hatte auch fuͤr den 
Gebildeten kaum etwas von ſeinem alten Zauber eingebuͤßt; und wer 
ausnahmsweiſe ſoviel Feſtigkeit beſaß, ſie in den Jahren der Kraft, in 
den Tagen des Gluͤckes zu verſchmaͤhen, der nahm ſicher ſeine Zuflucht 
zu ihnen, wenn — etwa nach einem „wuͤſten Sinnenleben“ — Alter und 
Krankheit kam oder der Tod ſich nahte. 

Jenes Heidentum im Herzen, mit dem bald Zweifelſucht, bald, 
was ſchlimmer, religioͤſe Gleichguͤltigkeit verknuͤpft war, wäre nun freilich 
trotz alledem unvereinbar mit der Kirche geweſen, haͤtte ſie einen Glauben 
gefordert, der freie innere Überzeugung von der Wahrheit iſt, und nicht 
vielmehr Unterwerfung. Der blinde Gehorſam der Unmuͤndigen iſt der 
Kirche freilich zu allen Zeiten lieber geweſen; denn auf keinem anderen 
Wege wandelt es ſich fuͤr ſie ſo ſicher. Doch auch die nichts weniger als 
uͤberzeugungsvolle Unterwerfung der Muͤndigen, der Hochgebildeten, 
hatte ihren Vorzug fuͤr die Kirche — wie fuͤr die ſich Unterwerfenden 
ſelbſt: brachte fie dieſen höheren Lohn (denn je ſchwerer der „Glaube“ 


3 Brieger, Reformationsgeſchichte 33 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


faͤllt, deſto groͤßer das Verdienſt, das man ſich bei Gott erwirbt), ſo der 
Kirche hoͤheren Ruhm. 

Zum hoͤheren Ruhm der Kirche, des Papſttums iſt aber die 
Renaiſſance uͤberhaupt ausgeſchlagen. 

Die Kirche hat ſie geradezu in ihren Dienſt genommen — ein 
unwiderleglicher Beweis dafür, daß dieſe Umwaͤlzung des Geiſteslebens, 
wie fie ſich damals in den Köpfen der Stürmer darſtellte, in keinem 
inneren Gegenſatze zu dem mittelalterlichen Chriſtentum geſtanden hat. 
Denn fuͤr die ihr wirklich feindlichen Maͤchte hat die roͤmiſche Kirche alle⸗ 
zeit einen klaren Blick gehabt, eine gute Witterung der Gefahren, die 
neu auftauchende Zeiterſcheinungen etwa in ſich bargen. Es hat daher 
in der Tat nichts Auffallendes, „wenn Moͤnche, Prieſter, Kardinaͤle“ 
dieſe literariſch⸗kuͤnſtleriſche Bewegung „mit Begeiſterung begruͤßten, 
Paͤpſte ihr die Pforten des Vatikans öffneten”. Auffallend könnten wir 
nur finden, in welchem Umfange man in Rom, an der Kurie ſelbſt, 
beſonders unter Leo X., zugleich das Heidentum mit aufgenommen hat, 
das die Humaniſten ſogar in gewiſſen Außerlichkeiten in laͤcherlicher Weiſe 
zur Schau trugen. Im uͤbrigen wußten die Paͤpſte ſehr wohl, was ſie 
taten, wenn ſie das neue Kulturelement nicht verſchmaͤhten. Die Kunſt 
der Renaiſſance, hochſinnig von ihnen gepflegt, hat ſie ſelber und ihre 
Reſidenz, das unvergleichliche Rom, mit einem neuen Zauberlicht uͤber⸗ 
goſſen. Aber nicht minder begierig gingen Paͤpſte, die ihre Zeit und 
deren Anforderungen verſtanden, auf die literariſche Pflege des Alter⸗ 
tums ein. Sie machten den juͤngſten Fortſchritt mit, ja ſchritten wohl 
gar an der Spitze. Niemand hätte da über bildungsfeindliche Zuruͤck⸗ 
gebliebenheit oder gar uͤber Erſtarrung klagen koͤnnen. Das Papſttum, 
das ſich vor einer langen Reihe von Jahrhunderten als die groͤßte Kultur⸗ 
macht ausgewieſen hatte, erſtrahlte ſo noch ein Mal im Glanze einer 
modernen Kulturgroͤße, im Glanze zugleich ewiger Jugend. Wer mit der 
Zeit fortſchreitet, altert nicht. 

Nur wenige Jahrzehnte ſpaͤter ſollte fuͤr die Kirche aus ihrer Pflege 
der klaſſiſchen Bildung noch ein ganz beſonderer Segen erwachſen. Es 
war die junge „weltliche“ Wiſſenſchaft, die ihr damals einen Dienſt von 
geradezu unſchaͤtzbarem Werte zu leiſten vermochte. Wie wehrlos haͤtte 
da die roͤmiſche Kirche dageſtanden in dem Kampfe ums Dafein, der ihr 
vom deutſchen Geiſte aufgezwungen war, haͤtte nicht Ignatius von 
Loyola die Bedeutung eines vom Heidentum losgelöften Humanis⸗ 
mus begriffen und ihn zu einer Waffe umgeſchmiedet, deren Gewalt 


34 


Die Laienfroͤmmigkeit am Ende des Mittelalters; ihre Bedeutung für die Zeit 


und Schaͤrfe ſeine Juͤnger in der Gegenreformation ſattſam erprobt 
haben. 

Aber auch wenn wir dieſen Vorteil, den in den Tagen Leo's X. 
niemand haͤtte ahnen koͤnnen, außer Anſatz laſſen, immer ſehen wir unter 
dieſem Papſte die Kurie, deren geiſtliche Herrſchaft, wie wir fanden, aus 
den gefahrvollen Zeiten der Reformkonzilien und der Huſitiſchen Revo⸗ 
lution neu erſtarkt hervorgegangen war, auch in rein geiſtiger Hinſicht 
noch ein Mal auf einem Hoͤhepunkte von Einfluß und Macht angelangt. 

Von einem Niedergange des roͤmiſchen Geiſtes war wahrlich nichts 
zu ſpuͤren! Noch immer hielt er die mittelalterliche Menſchheit in Feſſeln. 

Und doch erhoben ſich bereits ſeit lange und mit ſteigender Gewalt 
aus dem Inneren dieſes mittelalterlichen Chriſtentums ſelber Kraͤfte, 
welche uͤber die dieſem eigene Gebundenheit des religioͤſen Lebens hinaus⸗ 
ſtrebten. Schon ſeit dem 13. Jahrhundert finden wir ſie an der Arbeit. 


6. Die Laienfroͤmmigkeit am Ende des Mittelalters; ihre Be— 
deutung fuͤr die Zeit 


Nie beiden damals entſtandenen großen Bettelorden der 
Franziskaner und Dominikaner haben auf der einen 
Seite die Aufgabe erfüllt, die großen Maſſen des Volkes 
im Gehorſam gegen die Kirche zu erhalten, ſie taub zu 
> machen gegen den verlockenden Ruf volkstuͤmlicher Ketze⸗ 

5 A reien. Aber zugleich haben fie andererſeits in Seelſorge 
und Predigt eine Taͤtigkeit entfaltet, welche geeignet war, gerade in der ent⸗ 
gegengeſetzten Richtung wirkſam zu werden, d. h. dem Einzelnen der Kirche 
gegenuͤber eine gewiſſe Selbſtaͤndigkeit zu verleihen. Denn die Bettelorden 
haben — es iſt das ihre groͤßte Tat — in weiten Kreiſen des Volkes ein 
religioͤſes Leben erweckt, das, im Unterſchied von der landlaͤufigen Kirchlich⸗ 
keit, einen perſoͤnlich eigenartigen Charakter annahm. Es war die ſogenannte 
Myſtik, welche von dieſen Orden gepflegt und populariſiert wurde. Wir 


35 35 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Paſttums 


haben unter ihr eine durch die lebendigere Beziehung der einzelnen Seele 
auf Gott verinnerlichte katholiſche Froͤmmigkeit zu verſtehen, die bis dahin 
faſt ausſchließlich in der Stille des Kloſters ausgebildet und geuͤbt war. 
Hier hatte die Beobachtung des eigenen inneren Lebens, die Erforſchung 
des Ich, laͤngſt ihre Bluͤten getrieben. Schon das 12. Jahrhundert 
hatte in Bernhard von Clairvaux einen Meiſter dieſer pſychologiſchen 
Kunſt geſehen. Was ſpaͤter in dieſer Hinſicht Petrarca, einen Seneca 
und Auguſtinus nachahmend verſuchte, das hatte mit ungleich groͤßerer 
Feinheit und Vollkommenheit die Selbſtbetrachtung dieſes Moͤnches 
vollbracht, ſein Studium aller der zarteſten individuellen Regungen 
des Seelenlebens; und was er zu Tage gefoͤrdert, das war echt geweſen 
und wahr und urſpruͤnglich, weil empfunden von dem Innerſten ſeines 
Seins. Und das wurde von ſeinen Nachfolgern nicht nachgeahmt, 
ſondern nacherlebt. Welche Wirkung mußte es da haben, daß jetzt dieſe 
Myſtik von den neuen Orden hinausgetragen wurde ins Volk? Denn 
bald begnuͤgten ſie ſich nicht damit, ſie nur in der Sprache der Gelehrten⸗ 
welt vorzutragen; ſie bedienten ſich bei uns in Deutſchland der Mutter⸗ 
ſprache. Maͤchtig und praͤchtig ertoͤnte da in deutſchen Lauten die Stimme 
der neuen, tieferen Froͤmmigkeit. Mit der Innigkeit der religioͤſen Waͤrme 
wetteiferte in dieſen deutſchen Schriften, die zu den Perlen unſerer Literatur 
gehoͤren, die Kraft einer volkstuͤmlichen Sprache, deren Schoͤnheit nicht 
zum wenigſten auf ihrer Einfachheit beruhte. 

„Ein Meiſter hat geſagt: „daß wir nicht das Beſte lieb haben, das 
kommt von Gebrechen“. Er hat wahr geſagt: das Beſte ſollte das Liebſte 
ſein, und in dieſer Liebe ſollte nicht angeſehen werden Nutz oder Unnutz, 
Frommen oder Schaden, Gewinn oder Verluſt, Ehre oder Unehre, Lob 
oder Unlob oder dieſer eins; ſondern was in Wahrheit das Edelſte und 
Beſte iſt, das ſollte auch das allerliebſte ſein, und wegen nichts anderem 
denn allein deshalb, weil es das Beſte und Edelſte iſt. Hiernach moͤchte 
ein Menſch ſein Leben richten von außen und von innen“. — „In ganzer 
Wahrheit ſoll man wiſſen und glauben, daß kein ſo edles und gutes und 
auch Gott ſo liebes Leben iſt als das Leben Chriſti, und iſt doch aller 
Natur und Selbſtheit das bitterſte Leben — und dennoch das allerliebſte“. 

Was Wunder, daß da auch die Laienwelt aufhorchte und ſich zum 
Nachdenken angeregt fuͤhlte uͤber das Beſte in der Welt, das auch das 
Liebſte ſein ſollte, und ſich in das Leben Chriſti vertiefte und ſich in Gott 
verſenkte und in das eigene Ich und in die Außenwelt, die als Schoͤpfung 
Gottes auch ihre Sprache redete? 


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Die Laienfroͤmmigkeit am Ende des Mittelalters; ihre Bedeutung für die Zeit 


Hier zuerſt erwachte der mittelalterliche Menſch zu ſelbſtbewußtem 
inneren Leben. Von hier aus iſt ein individuelles Leben in viel breitere 
Schichten hineingetragen worden, als wie ſie ſpaͤter der Renaiſſance fuͤr 
einen ganz aͤhnlichen Einfluß offen ſtanden; denn dieſe wandte ſich doch 
ausſchließlich an die Ariſtokratie des Geiſtes. 

So darf man fuͤr die drei letzten Jahrhunderte des Mittelalters von 
einer Laienfroͤmmigkeit reden, deren Natur es mit ſich brachte, daß ſie den 
Lehren und den Anforderungen der Kirche nicht gaͤnzlich urteilslos gegen⸗ 
uͤberſtand, vielmehr uͤber beide ſich Rechenſchaft zu geben bemuͤht war, 
waͤhrend ſie zugleich fuͤr ihre Aufrichtigkeit ein ſchoͤnes Zeugnis in den 
von ihr geuͤbten Werken der Naͤchſtenliebe ablegte. Wir koͤnnen dieſe 
Froͤmmigkeit in ihrem Wachstum und Erſtarken verfolgen. Es iſt ein 
beſtaͤndiger Aufſchwung. Beſonders deutlich tritt er um die Mitte des 
15. Jahrhunderts hervor. Hart ſtreifte hier die Religioſitaͤt bis an die 
Grenze, wo die Pforte der Freiheit ſich ihr haͤtte auftun koͤnnen; und ſie 
ſuchte nach ihr je laͤnger deſto verlangender, aber — ohne ſie zu finden. 
Man wagte es noch immer nicht, Gott gegenuͤber ſich ſelber und ſich 
ſelber ganz allein verantwortlich zu fuͤhlen, anſtatt die Verantwortung, 
die Sorge fuͤr das Heil doch zuletzt immer wieder der Kirche zu uͤber⸗ 
laſſen, ihr im Vertrauen auf ihre Huͤlfe, ihre ſakramentalen Gnaden⸗ 
ſchaͤtze gehorſam ſich zu unterwerfen. 

So kam man nicht dazu, in der Religion auf eigenen Fuͤßen zu ſtehen. 
Im Gegenteil, bei der Unruhe und Unbefriedigtheit des inneren Lebens, 
das vergeblich nach einem feſten Halt ſuchte, warf man ſich der Kirche erſt 
recht in die Arme. Nur deſto tiefer ſtuͤrzte ſich die Laienfroͤmmigkeit in 
den Abgrund des mittelalterlichen Chriſtentums, nur deſto ſtuͤrmiſcher 
nahm ſie ihre Zuflucht zu den kirchlichen Surrogaten einer tieferen Reli⸗ 
gioſitaͤt. Es iſt ein religioͤſes Haſten und Jagen, wie es keine der früheren 
Zeiten geſehen hatte. Der kirchliche Sinn wußte ſich ſchier kein Genuͤge 
zu tun. Er tat ſich kund nicht nur in der Unmenge von frommen 
Stiftungen, ſondern vor allem in der aberglaͤubiſchen Verehrung von 
gewiſſen aͤußeren Dingen, von „heiligen Zeichen“, hinter denen von jeher 
die Myſtik einen beſonderen Sinn geſucht hatte, und die nun wie Kreuze, 
Reliquien, „Heiltuͤmer“ aller Art zur Steigerung der Andacht benutzt 
wurden. Nicht minder aͤußerte er ſich in dem ungewohnten Eifer des 
Heiligenkultus und in den „Bruderſchaften“, die jetzt wie Pilze aufſchoſſen: 
in groͤßeren deutſchen Staͤdten zaͤhlte man deren bis gegen hundert. Es 
waren fromme Vereinigungen von Laien, die ſich an irgendeine Ordens⸗ 


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Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


kirche anlehnten, auf daß den Bruͤdern all die guten Werke der frommen 
Mönche wie ihre Fuͤrbitten und Seelmeſſen zugute kaͤmen. Nicht ſelten 
wurden ſie zu Ehren dieſes oder jenes Heiligen geſtiftet, dem man eine 
beſondere Provinz im Reiche der himmliſchen Protektion uͤbertrug. Fuͤr 
die Fuͤlle der Aufgaben wollten — fo gewann es den Anſchein — die 
alten Heiligen nicht ausreichen; das glaͤubige, nach Fuͤrſprechern ver⸗ 
langende Volk ſchuf, von den Prieſtern unterſtuͤtzt, neue, unter denen 
die heilige Anna, die Mutter der Jungfrau Maria, ſich bald einer ganz 
beſonderen Beliebtheit erfreute. Noch ſtaͤrker womöglich aͤußerte ſich der 
kirchliche Sinn in dem ungeheuren Zudrang zu der Himmelsgnade des 
Ablaſſes, welche die Kirche nie ſo freigebig geſpendet hatte wie um dieſe 
Zeit: das unfehlbare Mittel wider die Qualen des Fegefeuers fuͤr Lebende 
und fuͤr Tote verdiente ſolche Nachfrage. Und damit nicht genug: von 
neuem, wie in den Tagen der Kreuzzuͤge, trieb das Verlangen nach Ver⸗ 
gebung hinaus in die Ferne. Zu den Wallfahrten nach Rom und nach 
St. Jago di Compoſtella in Spanien geſellten ſich die haͤufigen Pilger⸗ 
fahrten ins Heilige Land, wo ungezaͤhlte Stätten dem Suͤnder „Ablaß 
von Pein und Schuld“ gewaͤhrten. 

Und nicht ſelten ſchlug die religioͤſe Regſamkeit in Reizbarkeit um. 
Auf dieſer beruhte der großartige, freilich wie ein Rauſch voruͤbergehende 
Erfolg der gewaltigen Bußprediger des 18. Jahrhunderts, wie ſie — 
wir brauchen hier nur an Bernardino von Siena und an Girolamo 
Savonarola zu denken — vor andern Laͤndern Italien hervorgebracht hat, 
deſſen uͤppige und leichtlebige Kinder ſich ploͤtzlich von einem Strudel 
von Bußepidemien erfaßt ſahen. Aber auch das kuͤhlere Gemuͤt des 
Deutſchen war nicht gefeit gegen den Anprall der ſuͤdlaͤndiſchen Buße. 
Welche Triumphe hat einer jener Italiener, der redegewandte Barfuͤßer⸗ 
mönd Johann von Capiſtrano, in den Jahren 1451 bis 1454 in einer 
Reihe deutſcher Städte mit feinen Buß⸗ und Sittenpredigten errungen, 
in Wien und Augsburg, Nuͤrnberg und Frankfurt a. M., in Magdeburg, 
Erfurt, Leipzig und Breslau. Da trug maͤnniglich auf Geheiß des ob 
ſeiner Wunder abgoͤttiſch verehrten „heiligen Mannes“ ſeine „Eitel⸗ 
keiten“ herbei, die Maͤnner Brettſpiel, Karten und Wuͤrfel, dazu die 
Prunkſchlitten, die Frauen allerlei Luxusgegenſtaͤnde, vor allem den 
ſchoͤnſten Schmuck, ihre großen Zoͤpfe, auf daß alles miteinander auf 
dem Holzſtoß als Opferflamme gen Himmel loderte. In Nuͤrnberg 
fielen fo am 10. Auguſt 1452 „3612 Brettſpiele und mehr denn 20 000 
Wuͤrfel und Kartenſpiele ohne Zahl und 72 Schlitten“ dem Feuer anheim. 


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Die Laienfroͤmmigkeit am Ende des Mittelalters; ihre Bedeutung für die Zeit 


Gelegentlich hatte ſein erſchuͤtterndes Wort noch eine andere Wirkung. 
So in Leipzig, wo infolge einer Predigt uͤber den Tod, die er durch das 
Vorzeigen eines Totenkopfes wirkſam unterſtuͤtzte, alsbald gegen 120 
Studenten der Welt abſagten und ſich in verſchiedene Orden aufnehmen 
ließen, die meiſten in den, dem der Gottes mann ſelber angehörte. 

Allein, auch wo eine kuͤnſtliche Erregung dieſer Art fehlte, offenbarte 
ſich mitunter die religioͤſe Reizbarkeit in hoͤchſt auffallender Weiſe. Schon 
ſeit dem Jahre 1383 hatte das „heilige Blut“ von Wilsnack (in der Mark 
Brandenburg) unzaͤhlige Glaͤubige angelockt. Hier konnte jedermann 
an der blutigen Hoſtie das Wunder der Verwandlung des Abendmahls⸗ 
brotes in den Leib des Herrn mit Augen ſehen. Zwar hatte der Erz⸗ 
biſchof von Magdeburg dieſen Prieſtertrug mit allen Mitteln bekaͤmpft; 
allein der Papſt (es war Nikolaus V., der erſte Humaniſt auf dem Stuhle 
St. Peters) hatte im Jahre 1453 das eintraͤgliche Wunder anerkannt 
und beglaubigt. Und von neuem uͤbte es ſeine Anziehungskraft. Aus⸗ 
gezeichnet iſt hier das Jahr 1475. Damals erhob ſich in Thuͤringen, 
Meißen, Heſſen und Franken, ja bis nach Oſterreich, Ungarn und Polen 
hin, um mit einem klar blickenden Zeitgenoſſen zu reden, wie eine 
„anftedende böfe geiſtliche Seuche“ das „Lauffen“ nach Wilsnack. Es waren 
zuerſt und zumeiſt die jungen Leute, die ſich auf den Weg machten: „Knaben 
und Jungfrauen“ — ſo erzählt ein Thüringer Chroniſt — „zwiſchen zwanzig 
und acht Jahren, zumal kleine Kinder“. Sie zogen davon „ohn Wiſſen 
der Eltern“, auch ſolche, die ſonſt ohne der Eltern Geheiß nicht aus dem 
Haufe gegangen wären, frommer Leute Kinder und wohlgezogen“. 
„Dienſtboten, Maͤgde und Knechte, ließen ihre Kleider und was ſie hatten 
unbewahrt und liefen ihre Straße, oft in Haufen von zwei⸗ oder drei⸗ 
hundert und ſangen Leiſen und hatten ein Banner, und ein rotes Kreuz 
ging vor“. Auch Alte ſchloſſen ſich an: „Mancher Mann um ſeiner Kinder 
willen, manche Frau wegen ihrer Tochter, oft der Mann von wegen der 
Frau; desgleichen Sechswochenfrauen mit Kindern, und manche junge 
Frau hatte fuͤnf oder ſechs Kinder daheim; die ließen ſie alle unbeſorgt 
und liefen dahin; Vieh, Kuͤhe und Schafe, Haus und Hof ließen ſie 
unbeſtellt daheim“. Und wo immer die Wallfahrer durch Doͤrfer oder 
Staͤdte kamen, lief man, von demſelben unwiderſtehlichen Triebe fort⸗ 
geriſſen, ihnen zu. 

Geiſtige Epidemien dieſer Art waren ja freilich nichts Neues. 
Unwillkuͤrlich werden wir an den Kinderkreuzzug von 1213 erinnert, auch 
wohl an die italieniſchen Geißlerfahrten des Jahres 1260, deren anſteckende 


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Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


Gewalt damals auch Deutſchland zu fuͤhlen bekam. Immer aber legt 
die von uns ins Auge gefaßte Bewegung Zeugnis ab von der Übers 
reizung der Gemüter im 15. Jahrhundert. Und dieſe hinwiederum iſt ſicher 
nicht zum kleinſten Teile zuruͤckzufuͤhren auf die ungemeine Regſamkeit 
der kirchlichen Froͤmmigkeit der Laien, die bei dem religioͤſen Sehnen 
und Suchen der Zeit noch ein Mal einen ungewoͤhnlichen Aufſchwung 
nahm. 

Sie iſt es, die im Verein mit dem durch ſie trotz all ihrer Anſtren⸗ 
gungen nicht gebannten Verlangen nach einem geſicherten religioͤſen 
Grunde die letzten Jahrzehnte vor der Reformation kennzeichnet, die 
naͤmlichen, in denen das von der Renaiſſance geweckte reiche geiſtige 
Leben wogte, und in denen die alte, faſt durch das ganze Mittelalter 
gehende Lebenskraft und Lebensluſt ſich ungeſchwaͤcht erhalten hatte und 
bei Hoch und Niedrig in einer derben Sinnlichkeit ſich aͤußerte, doch nicht, 
ohne immer noch bei fo manchem in Peſſimismus umzuſchlagen. 

Dieſes bunte Nebeneinander der verſchiedenſten Stroͤmungen hat 
dieſe Zeit zu einer der bewegteſten gemacht. Eine Menge einander 
zuwiderlaufender Anſchauungen, Empfindungen, Stimmungen liegen hier 
im Streit, zweifellos einem heftigeren, als wie wir ihn ſchon im 13. Jahr⸗ 
hundert bemerken. Man hat daher das 25. Jahrhundert haͤufig als 
ein Zeitalter des Zwieſpaltes dargeſtellt — aber ſchwerlich mit Recht. 
Uns, die wir es von der hohen Warte der Geſchichte zu uͤberſchauen ver⸗ 
moͤgen, kann es wohl leicht als ſolches erſcheinen; denn vor unſerem Blicke 
entſchleiert ſich der geheime Widerſpruch, den dieſe Zeit in ſich birgt. Wir 
nehmen heute die neuen Kraͤfte wahr, die ſich zum Lichte emporringen, 
um ſtill und geraͤuſchlos das Alte zu zerſetzen, und deuten ſie als Zeichen 
deſſen, daß eine vielhundertjaͤhrige Entwickelungsperiode ſich dem Ende 
zuneigt. Und wir wiſſen, daß Altes und Neues nimmer ſich reimt, daß 
ihr Zwieſpalt erſt mit dem Unterliegen des einen endet. Aber haben ſie 
hier wirklich ſchon im Kampfe geſtanden? Und wenn dem ſo war, iſt er 
den Zeitgenoſſen zum Bewußtſein gekommen oder wenigſtens von ihnen 
empfunden worden? Oft hat man dies behauptet: uͤberall habe man 
das Gefuͤhl gehabt, welches beſonders in den Gebilden der Volksphantaſie 
und in mancherlei Phrophezeiungen zum Ausdruck kam, daß es in der 
bisherigen Weiſe nicht weiter gehen koͤnne, daß man hart vor einer 
„Anderung“, einem großen Umſturz ſtehe, dem Strafgericht uͤber die Kirche 
und über die „Herren“, wenn nicht gar hart vor dem juͤngſten Tage. 
Indes, die Erwartung des Weltuntergangs hat nichts zu beſagen. Stets 


40 


Die Lage des Papſttums unmittelbar vor der Reformation 


noch hat ſich in Zeiten eines erregten religioͤſen Gefuͤhls die Vorſtellung 
von dem nahen Ende der Welt gezeigt, und wer haͤtte ſtaͤrker in ihr gelebt 
als gerade der Mann, der wie kein zweiter die neue Zeit heraufgefuͤhrt 
hatte, Martin Luther? Aber auch jene Lieblingsgedanken des gemeinen 
Mannes umſchloſſen doch als Kern nur die Hoffnung auf eine ſoziale 
Revolution, durch welche auch die Kirche von dem Geſchmeiß der gott⸗ 
loſen Pfaffen geſaͤubert werden ſollte. „Die Erwartung ſchwerer Gerichte 
über die Kirche, großer ſozialer Umwaͤlzungen und eines goldenen Zeitz 
alters in Kirche und Staat“ gehoͤrten ſchon ſeit dem 13. Jahrhundert 
zu dem eiſernen Beſtand einzelner kirchlicher Kreiſe. 


7. Die Lage des Papſttums unmittelbar vor der Reformation 


„dan darf ſich durch das Auftauchen ſolcher Phantaſien, 
5 er denen jetzt freilich die Kunſt des Buchdruckes eine 
7 (weite Verbreitung in Wort und Bild ſicherte, nicht 

ben Blick ablenken laſſen von dem, was fuͤr das richtige 
7 N Verſtaͤndnis der Zeit von ausſchlaggebender Bedeutung 


heimlichen Sektierer, alle eins: ſie waren nicht irre geworden an der 
Kirche, ja nicht einmal am Papſttum. Niemand dachte an die Abſchaffung 
der einen, des anderen, niemand auch nur an eine ins Innere dringende 
Reform. Das Weſen dieſer mittelalterlichen Kirche anzutaſten, ihren 
Glauben, ihre Dogmen, ihre Sakramente, ihre Verfaſſung, das kam 
Keinem in den Sinn. Ja, ſogar zu der beſcheidenen „Reformation“, die 
ſo viele im Munde fuͤhrten, wußte niemand den Weg. So fehlte den 
maſſenhaften Klagen uͤber das Verderben die Kraft. Je ernſter die 
einzelnen ſie meinten, deſto ſchwerer laſtete auf ihnen der Druck einer 
dumpfen Verzichtleiſtung. 


41 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


Und was hatte es doch zu bedeuten, daß man an der Kirche nicht irre 
wurde! an der Kirche, wie ſie unmittelbar vor dem Auftreten Luthers 
war! Wie hatte ſie denn in den letzten Jahrhunderten ihren religioͤſen 
Beruf erfuͤllt? Jakob Burckhardt, der kundige Geſchichtſchreiber der 
„Kultur der Renaiſſance“, hat geurteilt: es falle auf dieſe Kirche die 
„ſchwerſte Verantwortung, die je in der Geſchichte vorgekommen“ ſei: 
„ſie hat eine getruͤbte und zum Vorteil ihrer Allmacht entſtellte Lehre mit 
allen Mitteln der Gewalt als reine Wahrheit durchgeſetzt und im Gefuͤhl 
ihrer Unantaſtbarkeit ſich der ſchwerſten Entſittlichung uͤberlaſſen; ſie 
hat, um ſich in ſolchem Zuſtande zu behaupten, gegen den Geiſt und 
das Gewiſſen der Voͤlker toͤdliche Streiche gefuͤhrt“. Iſt dieſe furchtbare 
Anklage zu hart? Wir verkennen nicht die reichen religioͤſen Schaͤtze, 
welche die roͤmiſche Kirche als Überbleibfel der unverwuͤſtlichen Religion 
Jeſu noch immer in ſich trug und darbot. Aber hatte fie nicht, ſoviel 
an ihr war, die Religion mißbraucht zu den Zwecken einer politiſchen 
Herrſchaft? ſie umgeſchaffen hier in ein ſtarres Geſetz (der Kodex ihres 
Rechtes war fuͤr ſie von unendlich hoͤherem Werte als die Heilige Schrift), 
dort in das Handelsgeſchaͤft gemeiner Kraͤmerſeelen? Waren ſo nicht 
alle religioͤſen Fragen zu Fragen der Macht geworden? „Die Kirche 
im Kampf um die Macht“ — das koͤnnte man als Überſchrift ſetzen 
uͤber die Geſchichte von Jahrhunderten. Das Heiligſte war das 
Profanſte geworden! 

Und nun vollends das Papſttum! Wie verſtanden denn ſeine 
Inhaber zuletzt ihre Aufgabe? 

Seitdem ſie wieder feſt im Sattel ſaßen, jagten ſie ruͤckſichts loſer 
denn je nur dem eigenen Vorteil nach, faſt ohne ſich uͤberhaupt noch 
als die Oberhirten der Chriſtenheit zu fuͤhlen. Deſto weniger ver⸗ 
gaßen ſie, daß ſie Herren des Kirchenſtaates waren. Als ſolche 
ſahen fie ſich im 15. Jahrhundert mitten in dem Gewirr der großen 
und kleinen Tyrannen, wie Italien ſie in Fuͤlle hervorgebracht hatte. 
Sich unter ihnen zu behaupten, darauf kam es an, darauf vornehm⸗ 
lich war ihr Sinnen und Denken gerichtet. Lag einmal einem Beſſeren 
unter ihnen die Vergroͤßerung des Kirchenſtaates am Herzen, ſo waren 
die meiſten erfuͤllt von der niedrigen Leidenſchaft, den Neffen, die Nichte, 
den Sohn, die Tochter glaͤnzend auszuſtatten — mit Fuͤrſtentuͤmern 
oder doch fuͤrſtlichem Reichtum. Blieb da noch Raum fuͤr den geiſt⸗ 
lichen Beruf? Doch! Denn auch er war von Wert, ja von unſchaͤtz⸗ 
barem Werte. Er bot den Paͤpſten die Gelegenheit, uͤberall in die 


42 


Die Lage des Papſttums unmittelbar vor der Reformation 


großen Welthaͤndel ſich einzumiſchen, vor allem aber, er war der 
tadellos funktionierende Apparat, die „Schaͤflein Chriſti“ zu ſcheren 
und auszuſaugen. 

Dieſer frivolen Auffaſſung ihrer Pflicht entſprach das Ausſehen 
ihres Hofes nur zu genau. Einſt, im Jahre 1376, hatte ein mutiges 
Weib, die heilige Caterina von Siena, dem Papſt ins Geſicht geſagt, 
„daß an der roͤmiſchen Kurie, die ein Paradies himmliſcher Tugenden ſein 
ſollte, der Geſtank ſataniſcher Suͤnden verſpuͤrt werde; ſelbſt in ihrer 
Vaterſtadt Siena habe ſie ihn empfunden“. Jetzt ergoß er ſich, unſagbar 
verftärkt, über alle Länder der roͤmiſchen Chriſtenheit. Denn wo waͤre 
eine aͤrgere Sittenloſigkeit anzutreffen geweſen als in Rom, an der Kurie, 
im Haufe des Papſtes? Wir kennen die „heiligen Väter“ Paul IL, 
Sixtus IV., Innocenz VIII., Alexander VI., und wie ſie weiter heißen, 
nur zu gut. Jahrzehnt um Jahrzehnt wurde hier eine Saat ſittlichen Ver; 
derbens ausgeſtreut, deren fruchtbarer Bluͤtenſtaub weit uͤber die Laͤnder 
getragen wurde: fuͤr ungezaͤhlte Kleriker aller Nationen war Rom die 
Schule des Laſters und — des Unglaubens. Denn nirgends erhob dieſer 
kecker ſein Haupt als an der Kurie. „In Rom“, ſagt Leopold Ranke, 
„gehoͤrte es zum guten Ton der Geſellſchaft, den Grundſaͤtzen des Chriſten⸗ 
tums zu widerſprechen. Am Hofe ſprach man von den Satzungen der 
katholiſchen Kirche, von den Stellen der Heiligen Schrift nur noch ſcherz⸗ 
haft: die Geheimniſſe des Glaubens wurden verachtet“ — oder blas⸗ 
phemiſch verwendet. Der ſchluͤpfrige Kardinal Bibbiena, der ſich unaus⸗ 
geſetzt des hoͤchſten Vertrauens feines Herrn, Leo's X., erfreute, ſchrieb 
an die Koͤnigin⸗Mutter von Frankreich, er verehre ſie, ihren Sohn Franz 
und ihre Tochter Margarete wie die heilige Dreifaltigkeit und wuͤrde 
dieſer Trinitaͤt treu und fromm beichten „wie unſerem Herrgott ſelber“. 
Und dazu nehme man nun die geſalbten Reden, die dem Munde dieſer 
chriſtlichen Praͤlaten entſtroͤmten. Bekannt iſt das Wort des großen 
Florentiners jener Zeit, Macchiavelli, der, wohltuend von jenen heuch⸗ 
leriſchen Dienern der Kirche ſich abhebend, aus feiner irreligioͤſen Sinnes⸗ 
art kein Hehl machte: „Wir Italiener“, ſo hat er in den Tagen Leo's X. 
geſchrieben, „ſind mehr als andere irreligioͤs und boͤſe, weil der roͤmiſche 
Hof, die Kirche nebſt ihren Prieſtern, uns das uͤbelſte Beiſpiel gibt. Je 
naͤher ein Volk Rom, dem Haupte unſerer Religion, deſto weniger Religion 
hat es“. 

An dieſer Kirche und an dieſem Papſttum waren die Voͤlker des 
Abendlandes nicht irre geworden! Wie viele Geſchlechter hindurch war 


43 


Vergebliches Sturmlaufen wider die Zwingherrſchaft des Papſttums 


ihnen eingeſchaͤrft worden, daß dem Segen der Kirche das boͤſe Leben 
ihrer Diener keinen Abbruch zu tun vermoͤge. So ſchalten ſie auf die 
Prieſter und ließen ſich glaͤubig ihre Weihen gefallen. Noch immer trium⸗ 
phierte der roͤmiſche Geiſt. 

Erſt von hier aus wird uns die ungeheure Sicherheit begreiflich, 
die aus dem Walten der Paͤpſte dieſer Zeit ſpricht, wie wir es uns in ein 
paar Zuͤgen vergegenwaͤrtigt haben. Sie wagten alles, weil ſie alles 
wagen durften. Sie haͤtten ſo wenig an eine Reformation gedacht wie 
an den Einſturz des Himmels. In der Tat hatte ſie von allem, was 
die Zukunft bringen mochte, das geringſte Maß von Wahrſcheinlichkeit 
für ſich. Und dennoch war die Zeit, ohne es zu ahnen, reif fuͤr ſie. Ja 
ſie ſelber, die Reformation, ſtand ſchon vor der Tuͤr. 

Das Unerwartete wurde Ereignis. 

Da lebte in deutſchen Landen ein einfacher Moͤnch. Seine Gedanken 
gingen kaum von heute auf morgen: nur einen jeden Tag wollte er 
ſchlicht und einfach tun, was Beruf und Gewiſſen von ihm verlangten. 
Aber ſchon arbeitete in ihm ein religiöfer Geiſt von eigener Art. In 
feinem äußeren Bezeigen glich dieſer noch ganz der tieferen Froͤmmigkeit, 
wie fie ſeit lange die Beſten des deutſchen Volkes durchdrang, die fern 
waren von roͤmiſcher Frivolitaͤt. Aber in ſeinem Innern war er neu: 
eigenſtaͤndig und mannhaft und mit der Kraft ausgeſtattet, einer Welt 
zu trotzen. Der Mönch wußte freilich nicht von dem Rieſen, der in ihm 
ſchlummerte. Allein es kam die Stunde, da dieſer geweckt wurde. Es 
war die Stunde des Einzuges der neuen Zeit. 


UT, Erſte Epoche 
der Weltgeſchichte im 
1 Zeitalter der 
Reformation 


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ie neue geit der Weltgefchichte wird gekennzeichnet durch 
deen großen Riß, der, ein Werk Martin Luthers, durch 
5 das Abendland geht, noch heute ungeheilt. Denn weder 
|| if die Reformation, der im 16. Jahrhundert die Errei⸗ 
chung ihres Zieles, ſich uͤber die ganze Kirche auszubrei⸗ 

- ten, verſagt blieb, ſeitdem ſiegreich durchgeführt, noch 
hat die Papſtkirche vermocht, ſie niederzutreten. Noch immer liegen Mittel⸗ 
alter und Neuzeit im Streite. Das Getoͤſe dieſes großen Kampfes, deſſen 
Preis die edelſten Guͤter der Menſchheit ſind, hat noch, bald ſtaͤrker, bald 
ſchwaͤcher, ein jedes Jahrhundert durchzittert, und unſere heutige Gene⸗ 
ration ſteht noch mitten darin. 

Das Zeitalter, deſſen Schattenriß wir hier betrachten wollen, bildet 
nur den erſten Abſchnitt dieſes Kampfes. Es iſt die Epoche des aller⸗ 
erſten Ringens von Neu und Alt, die mit der Herſtellung eines gewiſſen 
Gleichgewichtes von beiden endet. Sie iſt lehrreich wie vielleicht keine der 
folgenden. Denn ſie gewaͤhrt uns einen Einblick in den ganzen urſpruͤng⸗ 
lichen Reichtum des neuen Geiſtes und in die Urſachen ſeiner Verengung, 
ja Verkuͤmmerung. — 

Der Kampf ſpielt ſich in dieſem Zeitraum vornehmlich in Deutſchland 
ab. Das tut aber ſeinem weltgeſchichtlichen Charakter nicht im mindeſten 
Abbruch. Schon inſofern iſt die deutſche Reformation ein europaͤiſches 
Ereignis, als die Zerreißung der hierarchiſchen Einheit gleichbedeutend 
wurde mit der Zerreißung der germaniſch⸗romaniſchen Welt, deren 
Glieder heute den Erdkreis beherrſchen. Aber man darf noch mehr ſagen: 
Deutſchland war in dieſer Epoche das ſchlagende Herz Europas. Deshalb 
heißt „Weltgeſchichte im Zeitalter der Reformation“ weſentlich „deutſche 
Geſchichte der Reformationszeit“. Die großen europaͤiſchen Verhaͤltniſſe 
gruppieren ſich um unſer Vaterland und ſeinen freilich kosmopolitiſchen 
Herrſcher. Und was das geiſtige Leben anbelangt, fuͤhrt Deutſchland 
den Reigen wie nie zuvor und wie in dieſer maßgebenden Weiſe niemals 
wieder in der Folge. Es iſt der religioͤſe Gedanke, welcher als alles 
beherrſchende Macht ſich Geltung erzwingt: alle Nationen muͤſſen zu ihm 
Stellung nehmen, fie mögen wollen oder nicht. Dieſer religiöfe Gedanke 


47 


Erſte Epoche der Weltgeſchichte im Zeitalter der Reformation 


aber war das Eigentum Deutſchlands. Die Überlegenheit uͤber die roma⸗ 
niſchen Voͤlker, deren wir uns heute erfreuen, verdanken wir einzig der 
religioͤſen Idee, ihrem ſchoͤpferiſchen Inhalt. Denn uns iſt ſie ganz 
unmittelbar und in voller Staͤrke zu gute gekommen, ihnen nur mittelbar 
in ihren Ausſtrahlungen. Kein Volk kann auf die Dauer von Gedanken 
der Verneinung leben, ſie moͤgen noch ſo berechtigt ſein. Die Saͤuberung 
des Erdreiches von wucherndem Unkraut ſchafft kein Brot, wird nicht 
der fruchtbringende Same eingeſenkt. Nur das Poſitive, das ein Mann 
ſeinem Volke gibt (denn alles Große geht ſtets von einer uͤberragenden 
Perfünlichkeit aus), vermag es zu ſaͤttigen. Hierin aber ſteht Luther 
unerreicht da. Was in der Seele des deutſchen Moͤnches, die wie in 
einem verkleinerten Bilde die ganze Entwickelung der letzten Jahrhunderte 
in ſich widerſpiegelte, auftauchte und zum Lichte draͤngte — es war zwar 
zerſtoͤrungsgewaltig (zu unſerem Gluͤckl!), aber doch feiner innerſten Natur 
nach ſchoͤpferiſch, unuͤberſehbar in ſeinen Hervorbringungen. Hier erſtand 
eine Schoͤpfung, herrlich in ihren Anfaͤngen, groß in ihrer ſpaͤteren Ent⸗ 
faltung, voll Verheißung einer noch ſchoͤneren Zukunft. 

Wie oft in den letzten Menſchenaltern hatte man eine Reformation 
machen wollen. Hier ward ſie geboren: alles machte ſich ganz wie von 
ſelbſt, wie rein zufaͤllig; keine Abſicht war vorhanden; ja, der ihr zum 
Durchbruch verhalf, wußte nicht von dem, was er tat, er handelte wie 
von einer hoͤheren Macht getrieben. 

Dieſen unſcheinbaren Anfang muͤſſen wir jetzt ins Auge faſſen. 


J. 


Der Angriff auf den 


1. Leo X. und der Mainzer Ablaß 


Jedermann weiß, was den Stein ins Rollen gebracht hat: 
Luthers 95 Saͤtze „über die Kraft des Ablaſſes“, die er 
am Vorabend von Allerheiligen, am 3. Oktober, 1517 
EN an die Tuͤr der Schloßkirche zu Wittenberg ſchlug. Der 

2 Ablaß, den die Theſen unter die Lupe nehmen, war ein 

—ſog. Jubelablaß, wie die Paͤpſte ihn unter mancherlei 

Titeln und Vorwaͤnden zum Beſten der Empfaͤnger wie ihrer eigenen Kaſſe 
als ſonderliches Gnadengeſchenk zu gewaͤhren pflegten: diesmal war der 
Ertrag angeblich zum Bau von St. Peter in Rom beſtimmt. Leo X. hatte 
ihn vor kurzem dem maͤchtigſten Kirchenfuͤrſten Deutſchlands, dem Kur⸗ 
fuͤrſten⸗Erzbiſchof von Mainz, bewilligt. Es war der Hohenzoller Albrecht 


4 Brieger, Reformationsgeſchichte 49 


Der Angriff auf den Ablaß 


von Brandenburg, ein blutjunger, aufs eifrigſte dem Humanismus ergebener 
Fuͤrſt. Ihm war zugleich die Aufgabe zugefallen, als paͤpſtlicher Oberkom⸗ 
miſſar in den von der Kurie feſtgeſetzten Bezirken, einem anſehnlichen Teile 
Deutſchlands, die bewilligte „Gnade“ in Geld umzuſetzen. Erſt in juͤngſter 
Zeit ſind die Berichte bekannt geworden, welche die Geſandten Albrechts 
uͤber ihre Verhandlungen in Rom ihrem Herrn erſtatteten. Sie laſſen uns 
hinter die Kuliſſen ſehen, wo um dieſen Ablaß gemarktet wurde, und es 
faͤllt dabei auf das Treiben dieſes Papſtes ein grelles Schlaglicht. Es 
duͤrfte ſich aber uͤberhaupt fuͤr uns empfehlen, den Papſt etwas genauer 
kennen zu lernen, der, ohne es zu ahnen, den letzten Anſtoß zu der Empoͤrung 
des deutſchen Gewiſſens gab. 

Leo X. bietet ein klaſſiſches Beiſpiel jener, dem Anſchein nach durch⸗ 
aus berechtigten, Sorgloſigkeit, der ſich, wie wir fruͤher ſahen, die Paͤpſte 
etwa ſeit dem Jahre 1450 hingaben. „Als er im Jahre 1513 gewaͤhlt 
wurde, mußte er (ſagt Doͤllinger mit Recht) eine furchtbare Erbſchaft 
antreten, die auch den Mutigſten mit Bangen haͤtte erfuͤllen koͤnnen. 
Seine Vorgaͤnger ſeit Paul II. hatten das moͤgliche geleiſtet, um den 
paͤpſtlichen Stuhl mit Schmach und Schande zu bedecken und Italien 
allen Greueln endloſer Kriege preiszugeben. Gleichwohl war die erſte 
Regung bei ihm die, daß nun, da er Papſt ſei, ein Leben des behaglichen 
Genuſſes fuͤr ihn begonnen habe“. „Wir wollen“, ſo ſagte er am Tage 
ſeiner Wahl zu ſeinem Bruder, „das Papſttum genießen, das uns Gott 
verliehen hat“ — ein Wort, gut bezeugt, von dem uͤberdies der neueſte 
katholiſche Biograph dieſes Papſtes einraͤumt, es bezeichne „im allgemeinen 
gut ſein genußſuͤchtiges Weſen und die Art und Weiſe, wie er ſeine Stellung 
auffaßte“. Das Wort „Pflicht“ gab es fuͤr ihn nicht; denn er kannte keine 
gebietende ſittliche Norm; „gut“ war, was ihm angenehm deuchte, und 
„boͤſe“, was ihn in ſeiner Lebensfreude ſtoͤrte. Er froͤnte zwar nicht 
jenem gemeinſten Sinnengenuß, deſſen Sklave ſo mancher ſeiner paͤpſt⸗ 
lichen Vorgaͤnger geweſen war. Der Sproß des Hauſes Medici, der auf 
der Hoͤhe der Renaiſſancebildung ſtand, der verſtaͤndnisvolle und frei⸗ 
gebige Goͤnner von Kunſt und Wiſſenſchaft, huldigte mehr den ver⸗ 
feinerten Genuͤſſen halb ſinnlicher, halb geiſtiger Art. Von ſeiner Liebe 
zu aͤußerem Pomp gab zugleich der Umzug des jungen Papſtes zum 
Lateran Zeugnis: eine ſinnenverwirrende Pracht wie dieſe hatte Rom in 
langer Zeit nicht geſehen. Der Glanz dieſes Tages konnte gleichſam als 
Programm der neuen Papſtregierung gelten, in welcher Schwelgerei, 
Prunk und Verſchwendung jeglicher Art einen Hoͤhepunkt erreichte wie 


50 


Leo X. und der Mainzer Ablaß 


nie zuvor. Dieſes Treiben verſchlang unglaubliche Summen; kaum weniger 
große die Verſorgung von Neffen und Nichten, zu deren Gunſten auch 
Leo X. auf Laͤnder Jagd machen mußte — ein koſtſpieliges Unternehmen 
der hohen Politik. So war ungeachtet der reichen Einkuͤnfte die Kaſſe 
dieſes Papſtes faſt beſtaͤndig leer. Dieſer Not konnte nur durch eine 
ſkrupelloſe Finanzkunſt abgeholfen werden. Ihren Schlichen im einzelnen 
nachzugehen, waͤre eine Aufgabe fuͤr ſich. Hier koͤnnen nur einige der 
Maßnahmen herausgegriffen werden. Die Verſteigerung von Pfruͤnden 
und von Amtern, die hoͤchſten nicht ausgeſchloſſen, an den Meiſtbietenden 
wurde ſchamlos ganz oͤffentlich betrieben. Dieſer Papſt hat — es war 
noch nicht dageweſen — auf Einen Tag 31 Kardinaͤle ernannt, die meiſten 
von ihnen für Geld; man ſchaͤtzte den Gewinn verſchieden: von 200 000 
bis uͤber eine halbe Million Dukaten. „Der Papſt ſucht auf jede Weiſe 
Geld zu machen, ſo daß man hier ſagen kann: alles iſt kaͤuflich“, ſchrieb 
ein paar Jahre ſpaͤter der venezianiſche Geſandte nach Hauſe. Es war 
eine alte Klage, die durch die Jahrhunderte toͤnte, aber niemals berechtigter 
als unter dieſem Florentiner, welcher die landlaͤufige Rede von der 
„Florentiner Habſucht und Geiz“ uͤber die Welt ausbreitete. Laͤngſt 
fuͤhrte man an der Kurie Liſten von Übertretungen, die von den leichteſten 
Vergehen zu den ſchwerſten Verbrechen aufſtiegen und bei einer jeden 
den Preis angaben, fuͤr den in Rom Losſprechung von der Schuld zu 
haben war. Dazu kam hier das faſt unuͤberſehbare Heer von Dis⸗ 
penſationen und Erlaubniſſen, von denen jede wieder ihren Preis hatte. 
Denn unzaͤhlige Dinge hatten die Paͤpſte verboten, bloß um ſie erlauben 
zu koͤnnen, unzählige Beſtimmungen nur dazu gegeben, um die Moͤg⸗ 
lichkeit zu haben, von ihnen zu befreien. Es war eine Geſetzgebung, 
berechnet auf die Verletzung der Geſetze. Je haͤufiger die Übertretungen 
und die Suͤnden, deſto mehr Nachfrage nach dieſen geiſtlichen Gnaden, 
deſto bluͤhender der Handel. Ein Jahr vor Leo's Wahl war jene Preisliſte, 
ſchon ſeit 1479 wiederholt unter dem hergebrachten ehrſamen Titel einer 
„Kanzlei⸗Taxe“ gedruckt, von neuem durch die Preſſe der Öffentlichkeit 
preisgegeben, und ſie ging nun auch unter ihm in alle Welt hinaus, um 
das ſchwungvolle Geſchaͤft noch eintraͤglicher zu machen. Ein uͤbler 
Mißbrauch war ſeit lange die Haͤufung von Pfruͤnden, d. h. von geiſt⸗ 
lichen Stellen, auf eine Perſon: von einfachen Pfarraͤmtern und Kano⸗ 
nikaten an bis zu Bistuͤmern und Erzbistuͤmern hin. Auch dieſes Unweſen 
wurde von oben her beguͤnſtigt, ja gepflegt. Es war den Paͤpſten wert, 
bald weil ſie auf dieſe Weiſe ihre Verwandten oder Guͤnſtlinge leicht mit 


4* 51 


Der Angriff auf den Ablaß 


Reichtuͤmern uͤberſchuͤtten konnten, bald weil auch hier wieder ſich eine 
guͤnſtige Gelegenheit bot, zu „dispenſieren“. Je hoͤher die Amter waren, um 
die es ſich dabei handelte, deſto groͤßer war ſelbſtverſtaͤndlich die Ent⸗ 
ſchaͤdigungsſumme — man nannte ſie „Kompoſition“ —, welche der Papſt 
fordern zu duͤrfen glaubte, waͤhrend die Praͤlaten, deren Beutel geſchroͤpft 
werden ſollte, ebenſo natuͤrlich nach Kraͤften beſtrebt waren, etwas davon 
abzuhandeln. Wie es in einem ſolchen Falle unter Leo X. gelegentlich in 
Rom hergegangen iſt, eben davon geben uns die bereits erwähnten 
Berichte uͤber den Urſprung des Mainzer Ablaſſes das anſchaulichſte Bild. 

Im Sommer 1513 war Albrecht von Brandenburg zum Erzbiſchof 
von Magdeburg, desgleichen zum Adminiſtrator des Bistums Halber⸗ 
ſtadt erwaͤhlt worden, und ſchon im naͤchſten Fruͤhjahr ſah er ſich dank 
der eifrigen und geſchickten Werbung ſeines Bruders, des Kurfuͤrſten 
Joachim I. von Brandenburg, auch zum Erzbiſchof von Mainz erkoren. 
Sofort ſandte Albrecht Maͤnner ſeines Vertrauens nach Rom, welche 
beim Papſt die Beſtaͤtigung der Mainzer Wahl und zugleich die 
Genehmigung fuͤr die Beibehaltung von Magdeburg und Halberſtadt 
erwirken ſollten. Sie hatten keine leichte Arbeit; denn was ſie durch⸗ 
ſetzen ſollten, war in Deutſchland ohne Vorgang. Doch wurde ihnen 
gleich anfangs von einem Vertrauten des Kardinals Medici, Leo's X. 
Vetter (des ſpaͤteren Papſtes Klemens VII.), der Weg gewieſen, auf dem 
ſie zum Ziele kommen koͤnnten: ſie muͤßten ſich in „Kompoſitionen“ mit 
paͤpſtlicher Heiligkeit einlaſſen, nämlich ro 000 Dukaten geben, doch ſollte 
das nicht „den Namen der Kompoſition“ haben, denn der Papſt wuͤrde 
ihnen dafuͤr „eine Indulgenz und Plenarablaß“ fuͤr das Stift Mainz 
zehn Jahre lang geben. Alsbald entſchloſſen, den Weg zu wandeln, 
hatten die Geſandten fortan nur das Beſtreben, den Handel womoͤglich 
billiger abzuſchließen. Es begann das Feilſchen. Unter Verzicht auf den 
Ablaß, aus dem „ein Widerwille und vielleicht anderes erwachſen moͤchte“, 
erklaͤrten fie fich bereit, „in zwei⸗ oder dreitauſend Dukaten mit Seiner 
Heiligkeit zu komponieren“. Darauf bekamen ſie zu hoͤren: die Kom⸗ 
pofition ſei urſpruͤnglich auf ı5 o00 Dukaten veranſchlagt geweſen; fie 
müßten zufrieden fein, wenn fie auf 137 oder ı27 oder vielleicht auf die 
10 ooo herabgemindert werde: dieſe ſeien auch ohne den Ablaß die niedrigſte 
Summe. Unter dieſen Umſtaͤnden wollten ſie den Ablaß doch lieber 
mit in den Kauf nehmen, und zwar von Mainz gleich auf alle drei Stifte 
und deren Kirchenprovinzen ausgedehnt. Es folgte ein lebhaftes Hin 
und Her. Zoͤgern auf der einen Seite wurde mit Drohungen von der 


52 


Leo X. und der Mainzer Ablaß 


anderen beantwortet. Zuletzt mußten ſich die Geſandten in einer Be⸗ 
ſprechung mit dem Kardinal Medici davon uͤberzeugen, der Papſt, der 
noch immer von 12 000 oder 15 000 redete, werde unter keinen Umſtaͤnden 
unter die ro o00 herabgehen; und fie durften ſich ſchließlich gluͤcklich 
ſchaͤtzen, als es ihnen gelungen war, endlich auf dieſe Summe abzu⸗ 
ſchließen und den Ablaß in dem gewuͤnſchten Umfange zu erlangen. 

Wir wiſſen jetzt alſo, wie es zu dieſem Ablaß gekommen iſt: keines⸗ 
wegs hat ſich Albrecht um ihn beworben, der Papſt ſelbſt hat ihn dem 
deutſchen Kirchenfuͤrſten angetragen, um ihn für die Zahlung der 30 000 
Dukaten, welche die Beſtaͤtigung mit Einſchluß jener Kompoſition im 
ganzen koſtete, zu kraͤftigen und die Hälfte des Reingewinnes als angenehme 
Zugabe einſtreichen zu koͤnnen. Die Unterhaͤndler Albrechts, ſelber geiſt⸗ 
liche Herren (und ſpaͤtere Biſchoͤfe), gehen, nachdem fie ihr anfaͤngliches 
Bedenken, ob er nicht etwa uͤble Folgen haben koͤnne, aufgegeben, begierig 
auf das Anerbieten ein, und ihr Herr und Gebieter hat ihre Abmachung 
beſtaͤtigt — von der Stimme des Gewiſſens vernehmen wir nirgends 
einen Laut. Und doch wußten alle ſehr wohl, wie das Urteil der Kirche 
uͤber dieſes ſimoniſtiſche Unweſen der Kompoſitionen, deſſen Frivolitaͤt 
hier durch Hineinziehung des Ablaſſes noch geſteigert wurde, lautete. 
Ein paar Jahre ſpaͤter, waͤhrend der kurzen Regierung des auf Reformen 
bedachten Hadrian VI., hat in Rom ſelbſt ein ſittenſtrenger Kardinal 
es mit dem rechten Namen genannt: es ſei „der ſchaͤndlichſte Gewinn“, 
„ein Handelsgeſchaͤft, wo geiſtige Güter und was zum Heile der Seele 
erſonnen ſei, verſchachert wuͤrden“. 

Niemals hatten die Paͤpſte die Steuerſchraube des Ablaſſes ſchaͤrfer 
angezogen als ſeit dem Jahre 1500, wo das roͤmiſche „Jubilaͤum“ eine 
faſt ununterbrochene Reihe von Ablaͤſſen einleitete. Allein waͤhrend der 
erſten Jahre der Regierung Leo's konnte die paͤpſtliche Kammer in ihren 
Rechnungsbuͤchern die Ertraͤgniſſe von nicht weniger als elf Plenar⸗ 
abläffen verzeichnen. Insgeſamt lauten die, ohne Zweifel nicht luͤckenlos 
auf uns gekommenen, Quittungen des Papſtes, ſoweit ſie ſich auf unſer 
heutiges Deutſches Reich beziehen, fuͤr die Jahre 1515 bis 1520 auf rund 
28 O00 Dukaten. Im ganzen dürfen wir die hier verrechnete Ausbeutung 
des frommen Bußeifers der Chriſtglaͤubigen Deutſchlands, bei ſehr geringer 
Tarierung der Unkoſten, auf ungefaͤhr 60 000 Dukaten veranſchlagen. 
Sie bedeuten nach dem heutigen Geldwerte etwa 600 o00 Mark. Das 
waren nun freilich laͤngſt nicht mehr die Summen, welche der Ablaß in 
Deutſchland etwa 15 Jahre früher eingetragen hatte. Bei dem gehaͤuften 


53 


Der Angriff auf den Ablaß 


Angebot hatte mittlerweile die Nachfrage nach dieſer „koſtbaren Ware“ 
(um mit einem Kardinal jener Zeit zu reden, der ſein halbes Leben im 
Ablaßhandel verzehrt hatte) erheblich nachgelaſſen. 

Immer war die Ausbeute der Goldgrube noch groß genug, daß 
fie den Landesherrn nicht gleichgültig fein konnte. Wo dieſe nicht in einer 
oder der anderen Weiſe perſoͤnlich an dem Gewinn beteiligt waren, ver⸗ 
boten ſie daher unter Umſtaͤnden das Feilbieten des Ablaſſes in ihrem 
Lande. Auch dem Mainzer Ablaß iſt dieſes Schickſal begegnet. Wie 
Kurfuͤrſt Friedrich der Weiſe, ſo hat auch ſein Vetter von der Albertiniſchen 
Linie, der bis an das Ende ſeines Lebens der roͤmiſchen Kirche eifrig ergebene 
Herzog Georg von Sachſen, ihm ſeine Grenzen verſperrt. 

Schon ſeit zwei Menſchenaltern war uͤbrigens die finanzielle Seite 
des Ablaſſes ein Gegenſtand der Aufmerkſamkeit fuͤr die Staatsgewalten 
geweſen; und ziemlich ebenſo lange durchſchauten alle Vernuͤnftigen, 
daß hinter dieſer angeblichen Foͤrderung des Heiles der Seele eitel Geld⸗ 
durſt ſich verberge, der im Verein mit den anderen Mitteln der roͤmiſchen 
Ausſaugungskunſt Land und Leute verarmen laſſe. 

Dieſe Brandſchatzung konnte auch Luther nicht uͤberſehen; aber er 
glaubte fuͤr ſie nicht ſowohl den Papſt, als die Habſucht der markt⸗ 
ſchreieriſchen Ablaßhaͤndler verantwortlich machen zu muͤſſen. So ſagt 
er in der 50. Theſe: „Man ſoll die Chriſten lehren, daß der Papſt, wenn 
er von der Ablaßprediger Schinderei wuͤßte, lieber St. Peters Dom in 
Flammen aufgehen laſſen wuͤrde, als ihn aufbauen laſſen von Haut, 
Fleiſch und Knochen ſeiner Schafe“. 

Indeſſen nicht die Ruͤckſicht, die dem Politiker obenan ſtand, hat den 
Wittenberger Moͤnch auf den Kampfplatz geführt, ſondern vielmehr die Ver⸗ 
derblichkeit des Ablaſſes fuͤr das religioͤſe und ſittliche Leben des Volkes. 
Um den Anſtoß, den ihm in dieſer Beziehung der Ablaß bot, verſtehen zu 
koͤnnen, muß man wiſſen, was dieſer damals ſeinem Weſen nach denn 
eigentlich war, was er zu bedeuten hatte. Davon hat man nicht überall die 
richtige Vorſtellung: war er „Erlaß der Suͤnden“, „Suͤndenvergebung“, 
wie man fruͤher auf proteſtantiſcher Seite angenommen hat, oder nur 
Erlaß von Suͤndenſtrafen, wie man uns heute glauben machen will? 


Der Ablaß zur Zeit Luthers 


2. Der Ablaß zur Zeit Luthers 


Oer Ablaß war uranfaͤnglich, bei feinem erſten Auf⸗ 
* N tauchen im 11. Jahrhundert, ein teilweiſer Nachlaß von 
FA Bußſtrafen, d. h. von Strafen, die dem Einzelnen nach 

} voraufgegangener Reue und kirchlicher Beichte von dem 
Prieſter auferlegt waren. Es waren die Biſchoͤfe, 
welche bei einer beſonderen Gelegenheit, wie der Ein⸗ 
weihung einer Kirche oder eines Kloſters, dieſen Nachlaß allen Buͤßern 
unter der Bedingung gewaͤhrten, daß ſie eine beſtimmte fromme Hand⸗ 
lung vollbraͤchten, wie Beſuch der betreffenden Kirche zu einer feſt⸗ 
geſetzten Zeit und Darbringung einer Beiſteuer zu ihrem Beſten. Von 
dieſen erſten Ablaͤſſen unterſchied ſich der vom Jahre 1095 ab von den 
Paͤpſten erteilte Kreuzzugsablaß nur dadurch, daß den Kreuzfahrern nicht 
ein Teil ihrer Buße, ſondern das ganze Bußwerk erlaſſen wurde. 
Noch immer bezog ſich der Ablaß ausſchließlich auf die von der Kirche 
ſelber verhaͤngten Strafen oder vorgeſchriebenen Werke der Genug⸗ 
tuung (wie Faſten, Beten, Almoſen und aͤhnliches). 

Das waren aber nur ſeine erſten beſcheidenen Anfaͤnge. Im 13. Jahr⸗ 
hundert erfuhr er eine ungemein belangreiche Umbildung: er wurde aus⸗ 
gedehnt auf einen Erlaß der zeitlichen Suͤndenſtrafen uͤberhaupt: nicht 
nur die von dem Prieſter auferlegten Bußuͤbungen, ſondern auch die 
von Gott dem Sünder noch vorbehaltenen Strafen des Diesſeits und 
ganz beſonders des Jenſeits ſollten jetzt durch ihn nachgelaſſen werden. 
Jedermann weiß, was das „Jenſeits“ hier bedeutete. Die Hoͤlle hatte 
die Kirche des Mittelalters fuͤr ihre getreuen und gehorſamen Kinder 
zugedaͤmmt: wer nur der Kirche glaͤubig ſich unterwarf und die von ihr 
geſpendeten Mittel des Heiles nicht verachtete, der brauchte die Hoͤlle 
nicht zu fuͤrchten. Dagegen hatte die Kirche einen andern Ort der Qual 
und der Pein geſchaffen, der ganz geeignet war, einer falſchen Sicherheit 
ihrer Glieder zu ſteuern, ihnen immer aufs neue die Heilsanſtalt als 
einzigen Rettungshafen vor Augen zu fuͤhren. Wie namenlos ſollten 
doch die Qualen des Fegefeuers ſein! Wie wurden ſie doch dem Volke 
geſchildert als unendlich viel furchtbarer als alles, was der Menſch hier 
auf Erden nur leiden koͤnne; und wie wurde dies anſchaulich gemacht 
durch die Erzaͤhlung von Geiſtern, die Hilfe flehend dieſem oder jenem 
erſchienen waren. Kaum geringeres ſollten die armen abgeſchiedenen 


55 


Der Angriff auf den Ablaß 


Seelen dort auszuſtehen haben als in der Hoͤlle, nur daß es nicht die ganze 
lange Ewigkeit dauerte, vielmehr die durch die Pein hinlaͤnglich gelaͤuterten 
Seelen zu den Freuden des Himmels aufſteigen durften. Es war alſo 
ein Leiden mit Hoffnung auf Erlöfung, mochten auch die Leidenden oft 
genug der Verzweiflung nahe ſein. 

Das war die Qual, vor welcher der mittelalterliche Chriſt in ſteter, 
ja ſtuͤndlicher Furcht zu leben hatte. Denn wenn er auch hoffen durfte, 
ſchließlich die ewige Seligkeit zu erlangen, fo konnte er doch nie willen, 
ob ſeine Reue und alle ſeine Bußuͤbungen und guten Werke genuͤgten, 
ſein Schuldkonto bei Gott bis auf den letzten Heller zu tilgen. 

Aber wurde denn nicht im Bußſakrament mit ſeiner Beichte vor dem 
Prieſter, die ſeit dem Jahre ı2ı5 für jeden Erwachſenen Geſetz war, 
und mit ſeiner prieſterlichen Abſolution dem reuigen Suͤnder Vergebung 
zuteil? Wohl! Allein die Chriſten wurden belehrt, daß ſie zu unterſcheiden 
haͤtten zwiſchen der Vergebung der Schuld, mit welcher die Befreiung von 
der Strafe ewiger Verdammnis verbunden ſei, und der Vergebung der 
zeitlichen Strafen: nur jene, nicht dieſe wuͤrden im Bußſakrament erlaſſen; 
die zeitlichen Strafen muͤſſe der Suͤnder, nachdem er durch die Abſolution 
des Prieſters mit Gott verſöhnt fei, noch abbuͤßen durch Leiſtung der 
ihm vom Prieſter zudiktierten Werke der „Genugtuung“, und was da 
nicht auf Erden gebuͤßt ſei, das muͤſſe im Jenſeits nachgeholt werden. 
Damit drohte das Fegefeuer ſicher einem jeden, der vor Vollendung 
ſeiner Bußwerke ſtarb. Aber nicht er allein war dieſer Gefahr ausgeſetzt. 
Ungluͤcklicherweiſe erinnerte ſich die Kirche daran, daß doch ihre Prieſter 
fehlbare Menſchen ſeien und ſich daher bei der Abmeſſung der Strafe 
leicht vergreifen konnten. Ein „Zuviel“, vor dem ſich der Prieſter aus 
verſchiedenen Gruͤnden ſorgſam huͤtete, haͤtte da ja nun nichts geſchadet, 
wohl aber ein „Zuwenig“. Denn die infolge dieſes Irrtums nicht abge⸗ 
buͤßte Strafe des gerechten Gottes hatte der Ungluͤckliche nach dem Tode 
in jener ſo unendlich peinlicheren Weiſe zu erdulden. 

Mit welcher Freude, ja Wonne mußte da von der Chriſtenheit ein Mittel 
begruͤßt werden, das ſich anheiſchig machte, jener furchtbaren Gefahr vorzu⸗ 
beugen! Mit welcher Begier mußte man da dem Ablaß der Paͤpſte nach⸗ 
jagen, der eben dies und nichts geringeres verhieß! Wer nur Plenar⸗ oder 
Vollablaß erhalten hatte (d. h. Erlaß der geſamten zeitlichen Strafe), deß 
Seele fuhr im Tode, von dem Laͤuterungsfeuer befreit, „von Mund 
auf gen Himmel“. Und auch der minder Beguͤnſtigte, der nur einen 
Teil⸗Ablaß erwarb, einen Ablaß von etwa vierzig Tagen oder auch von 


56 


Der Ablaß zur Zeit Luthers 


zwei, drei Jahren, durfte doch einer entſprechenden Abkuͤrzung ſeiner 
Fegefeuerpein gewiß ſein. 

Bald aber hatten die Glaͤubigen ſich nicht damit begnuͤgen wollen, 
nur fuͤr ſich ſelber dieſes Schutzmittel wider die Qualen des Jenſeits zu 
erwerben; ſie trugen Verlangen, die Wohltat auch geliebten Toten, die 
ſich in der Pein befanden, zuzuwenden, ihr Leiden abzukuͤrzen. Eine 
lindernde Einwirkung auf das Fegefeuer nahm die Kirche ja auch in 
Anſpruch: die Kraft ihrer Fuͤrbitte, vor allem die Kraft des fuͤr die Toten 
dargebrachten Meßopfers (der Seelenmeſſen) ſtand uͤber jedem Zweifel. 
Sollte die Kraft frommer Liebe, die den Abgeſchiedenen den Ablaß nach⸗ 
ſendete, weniger weit reichen? So hatte dem Volksglauben fruͤhzeitig 
feſtgeſtanden, man koͤnne Ablaß loͤſen nicht bloß fuͤr ſich, ſondern auch 
fuͤr zwei oder drei oder gar noch mehr Seelen im Fegefeuer. Es hatten 
ſich auch wohl betruͤgeriſche Ablaßhaͤndler gefunden, die dieſen Glauben 
begierig fuͤr ſich ausnutzten. Aber die Paͤpſte hatten doch laͤnger denn 
zweihundert Jahre ſich gehuͤtet, dem liebevollen Verlangen nachzugeben. 
Es hieß doch, ſo mochten ſie glauben, jedes Maß uͤberſchreiten, haͤtten 
ſie ihre „apoſtoliſche Machtvollkommenheit“, dieſe dem Petrus verliehene 
Vollmacht, auf Erden zu binden und zu loͤſen, kraft deren ſie Lebende 
von der goͤttlichen Strafe befreiten, ausdehnen wollen auf diejenigen, 
die bereits vor Gottes Richterſtuhl ſtanden. Erſt die Paͤpſte der Renaiſ⸗ 
ſance waren kuͤhn uͤber dieſes Bedenken hinweggeſchritten. Die erſte 
Bulle, die das bekundet, iſt nur ſieben Jahre vor Luthers Geburt in die 
Welt geſchickt, von Sixtus IV. „Aus der Fuͤlle ſeiner Gewalt“ geſtattete 
dieſer Papſt, daß Verwandte und Freunde „fuͤr die Seelen, welche zur 
Suͤhnung der von der goͤttlichen Gerechtigkeit über fie verhaͤngten Strafen 
dem Laͤuterungsfeuer ausgeſetzt“ ſeien, eine beſtimmte Geldſpende an 
eine naͤher bezeichnete Kirche zahlten; und zugleich erklaͤrte er ſeinen „Willen“, 
daß den Abgeſchiedenen dieſe ihnen von den Lebenden gewaͤhrte Unter⸗ 
ſtuͤtzung „zum Erlaß der Strafen gereiche“. Das hier erlaubte huͤlfreiche 
Eingreifen beſtand alſo darin, daß die Lebenden fuͤr die Toten ſtellver⸗ 
tretend zahlten. Dadurch allein unterſchied ſich dieſer neue Totenablaß 
von dem bisherigen, der nur dem Erdenpilger zu gute kommen konnte: 
an Sicherheit ſollte er hinter dem letzteren nicht zuruͤckſtehen. Tetzels 
bekannter Reim, an deſſen geſchichtlicher Glaubwuͤrdigkeit kein Zweifel 
aufkommen kann: „Sobald das Geld im Kaſten klingt, die Seele aus 
dem Fegfeuer ſpringt“, iſt nicht aus marktſchreieriſchem Übereifer geboren; 
er ſteht in vollem Einklang mit der Willenserklaͤrung Sixtus“ IV. und 


57 


Der Angriff auf den Ablaß 


ſeiner Nachfolger bis Leo X. hin. Denn auch an irgend eine Bedingung 
auf ſeiten des Kaͤufers war die Wirkung des Ablaſſes in jener Bulle 
nicht geknuͤpft; ein jeder — das hat die Ablaßinſtruktion des Erzbiſchofs 
Albrecht ausdruͤcklich feſtgeſtellt — konnte ihn verſtehen: es bedurfte nicht 
eines reumuͤtigen Sinnes, man brauchte nicht gebeichtet zu haben. Der 
verſtockteſte Todſuͤnder konnte ſeinen Vater, ſeine Mutter aus dem Fege⸗ 
feuer erlöfen: er zahlte, das übrige beſorgte der Papſt mit feiner Macht; 
vollkommenheit. 

Die unerhoͤrte Kuͤhnheit Sixtus“ IV. rief zwar das gewaltigſte Auf⸗ 
ſehen hervor, weckte vereinzelt auch den Widerſpruch der Wiſſenſchaft. 
Aber der Siegeslauf des Totenablaſſes war dadurch nicht aufzuhalten, 
und die neue Finanzquelle, die damit angeſchlagen war, ergoß einen Strom 
von Gold uͤber den paͤpſtlichen Hof. 

Allein, ſo zugkraͤftig dieſer Fegefeuerablaß ſein mochte, der Schwer⸗ 
punkt des ganzen Inſtitutes ruhte doch nach wie vor auf dem Ablaß 
fuͤr die Lebenden. Aber auch dieſer war in den Tagen Luthers nicht mehr 
derſelbe wie zu jener Zeit, wo wir ihn vorhin verlaſſen haben, als er (im 
13. Jahrhundert) ploͤtzlich durch fein Übergreifen von den kirchlichen Buß⸗ 
ſtrafen auf die zeitlichen Suͤndenſtrafen uͤberhaupt eine ungeahnte Bedeu⸗ 
tung gewonnen hatte. Er hatte ſeitdem eine reiche Entwickelung durch⸗ 
gemacht. Schon aͤußerlich ſtellte er ſich jetzt anders dar. War der Voll⸗ 
ablaß damals nur durch Teilnahme an einem Kreuzzug zu erwerben 
geweſen, ſo konnte man ihn jetzt faſt uͤberall gewinnen. Nicht bloß waren 
mittlerweile zahlreiche Kirchen mit ihm begabt worden (wie z. B. der 
Dom zu Trier ob ſeines heiligen Rockes), nein, er wurde ſeit dem letzten 
Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts auch außerhalb Roms im großen ver⸗ 
trieben. Im Jahre 1300 war dem in ſeinen Ertraͤgen ſtark zuruͤckgehenden 
Kreuzzugsablaß der ſog. Jubelablaß an die Seite geſtellt worden, der 
von Zeit zu Zeit in Rom ein Jahr lang zu haben ſein ſollte. Aber ſchon 
Bonifatius IX. hatte das „Jubilaͤum“ des Jahres 1390 durch apoſtoliſche 
Sendboten hinaustragen laſſen in die Laͤnder der Chriſtenheit: wo immer 
das Banner des roͤmiſchen Papſtes entfaltet wurde, da war die „Gnade“, 
„das gnadenreiche (oder „das guͤldene“) Jahr“. „Rom kommt jetzt vor 
unſere Tuͤr“, hatte man da im fernen England gejubelt. 

Dazu war weiterhin (im 15. Jahrhundert) die Einrichtung der ſog. 
Beicht⸗ oder Ablaßbriefe gekommen. Dieſe ermoͤglichten ihren Beſitzern, 
den erworbenen Ablaß, ſtatt ihn ſofort zu verwenden, aufzubewahren: 
einmal im Leben und dann in der Stunde des Todes durften ſie ihn ſich 


58 


Der Ablaß zur Zeit Luthers 


von einem beliebig gewählten Prieſter nach voraufgegangener Beichte 
erteilen laſſen. Der innere Wert dieſer Briefe war unausgeſetzt geſtiegen, 
in demſelben Maße, wie der Papſt ſeine Ablaßkommiſſare mit ausgedehn⸗ 
teren Vollmachten ausgeſtattet hatte: ſo durften die Beichtvaͤter los⸗ 
ſprechen von einer Menge ſchwerer Vergehen, von denen zu abſolvieren 
ſonſt das Vorrecht des Papſtes war, und ebenſo von Bann und Interdikt 
befreien, desgleichen in einer reichen Fuͤlle von Faͤllen dispenſieren, 
wie z. B. von Geluͤbden und von verbotenen Verwandtſchaftsgraden 
bei der Ehe, uͤberdies den Fortbeſitz unrecht erworbenen Gutes, deſſen 
Ruͤckgabe an den rechtmaͤßigen Beſitzer nicht wohl moͤglich war, geſtatten, 
ſelbſtverſtaͤndlich unter angemeſſener Spende an die Kirche. Sie fanden 
reißenden Abſatz, dieſe Ablaßbriefe. Als in Nuͤrnberg 1489 Innocenz“ VIII. 
„großer und vormals an den Enden unerhoͤrter Ablaß“ erworben werden 
konnte, da wurden nicht weniger als 7000 Stuͤck ausgegeben, das Stuͤck 
zu 70 Heller (etwa einem viertel Gulden). 

Aber auch innerlich war der Vollablaß ein anderer geworden. Wir 
finden ihn hinuͤbergeſpielt auf ein ganz neues, ihm bis dahin fremdes 
Gebiet. Er war nicht mehr bloßer Straferlaß, ſondern umſchloß zugleich 
die Suͤndenvergebung. Wir ſtoßen auf den „Ablaß von Strafe und 
Schuld“ — eine Bezeichnung, welche, ſchon im 13. Jahrhundert auf⸗ 
gekommen, uns in unzaͤhligen Chroniken begegnet, aber auch im Gebrauche 
der Kurie nachweisbar iſt. Auf dieſe neue Wendung weiſen ſchon die den 
Ablaßbriefen angehaͤngten Abſolutionsformeln hin: denn ſie umfaſſen 
beides, die im Bußſakrament erfolgende Suͤndenvergebung und die 
Freiſprechung von den zeitlichen Suͤndenſtrafen. Mit der Erteilung jener 
Beichtvollmachten hatten namlich die Paͤpſte ſelbſt die Spendung des 
Bußſakramentes in die Hand genommen. Überall in der ganzen Chriſten⸗ 
heit, wo jetzt dieſer gnadenreiche Vollablaß ausgeboten wurde, da ward 
das Sakrament der Buße in ihrem Auftrage verwaltet, von Beicht⸗ 
vaͤtern, deren Befugniſſe ein Ausfluß der paͤpſtlichen Gewalt waren, und 
die nun der Spendung des Sakramentes die Spendung des Ablaſſes 
unmittelbar anſchloſſen. An dieſe mit der Austeilung der Ablaßgnaden 
betrauten paͤpſtlichen Beichtiger hatte ſich das Volk zu halten; von ihnen 
empfing es, was es zum Heile der Seelen bedurfte: Losſprechung von der 
Suͤndenſchuld und Losſprechung von den Strafen des Fegefeuers: beides 
floß in eine einzige Handlung zuſammen. 

Beſonders klar erkennt man dieſen Charakter des Vollablaſſes aus 
der bereits erwaͤhnten Ablaßinſtruktion des Erzbiſchofs Albrecht von 


59 


Der Angriff auf den Ablaß 


Mainz. Sie zaͤhlt „die vier Hauptgnaden“ auf, die der Papſt gewaͤhre: die 
erſte ſei „volle Vergebung aller Suͤnden“; eine groͤßere Gnade koͤnne man 
uͤberhaupt nicht ausſagen: „denn der Menſch, der ſich durch ſeine Suͤnde 
der goͤttlichen Gnade beraubt hat, erlangt durch dieſelbe vollkommene Ver⸗ 
gebung und gewinnt die Gnade Gottes wieder, und durch dieſe Suͤnden⸗ 
vergebung werden auch die Strafen, die er wegen Beleidigung der 
göttlichen Majeſtaͤt fonft im Fegefeuer buͤßen müßte, erlaſſen und ganz 
und gar getilgt“. Kurz, dieſer „Ablaß von Strafe und Schuld“ war die 
Verſoͤhnung mit Gott. In duͤrren Worten haben Paͤpſte, wie Sixtus IV. 
(1475) und Alexander VI. (1500) ihr „Jubeljahr“ gefeiert als „das Jahr 
der Verſöhnung des Menſchengeſchlechtes mit dem allerliebreichſten Erloͤſer“! 

Und was hatte man zu leiſten, um dieſer unſchaͤtzbaren Gnade teilhaft 
zu werden? Wie lange waren die Zeiten voruͤber, wo es, um den Plenar⸗ 
ablaß zu gewinnen, einer beſchwerlichen und gefahrvollen Kriegsfahrt 
ins Heilige Land oder auch nur der Wallfahrt nach Rom bedurfte. Ein 
paar geringfuͤgige Handlungen kirchlicher Froͤmmigkeit, die niemandem 
laͤſtig fallen konnten — das war alles, was gefordert wurde, abgeſehen 
von dem, worauf es ankam, wofuͤr jenes nur ein zierendes Beiwerk war: 
der klingenden Muͤnze. Durch immer weiter geoͤffnete Pforten war das 
Geld eingezogen in den Tempel des Heiligen, war Gottes Haus zum 
Kaufhaus geworden. Kaufen konnte jeder Gottloſe die wohltuende 
Gewißheit, ſeine Liebſten aus der Qual befreit zu haben. Kaufen konnte 
ein jeder, auch ohne den Schmerz der Reue zu fuͤhlen, ſeinen Ablaßbrief. 
Und (vergegenwaͤrtigen wir es uns an dieſer Stelle noch einmal): welch 
unſaͤglicher Segen war doch ſo ein Brief mit Schnur und Siegel! Ein 
unſchaͤtzbarer Talisman, ein Troſt fuͤr geaͤngſtigte Gewiſſen, ein ſanftes 
Ruhekiſſen für die Läffigen und Laxen, ein Schild für die Frechen, welche 
auf den paͤpſtlichen Freibrief pochten und trotzten, daß nun ein Prieſter 
nach ihrer Wahl, der nur ihre Beichte hoͤre, ſie abſolvieren muͤſſe von 
allen Suͤnden, wie groß und ſchwer auch immer, wenigſtens ein Mal im 
Leben, und dann zu guter letzt, wenn es zum Sterben ginge, ſie frei 
machen muͤſſe von der Sünde und ihren Folgen, fo daß ihre Seele ohn“ 
alle Furcht und Pein auffliegen koͤnne unmittelbar „zur himmeliſchen Freud“. 

Das war der Ablaß, wie Luther ihn vorfand. Ihm galt ſein Angriff. 


Luthers Theſen vom 31. Oktober 1517 


3. Luthers Theſen vom 31. Oktober 1517 


war er fo mehr oder weniger ſcharf bekaͤmpft worden. 
Auch die 95 Theſen, ohne jeden weitergehenden Gedanken 
7 bloß zu einer gelehrten Disputation beſtimmt, halten 
; lEüſich— es iſt das beachtenswert — durchaus innerhalb 
der Grenzen des mittelalterlichen Chriſtentums. Wohl lebte bereits ein 
Neues in Luther. Aber noch war er ſich des Widerſpruchs, in dem es mit 
dem Alten ſtand, nicht bewußt. Auch kommt dieſes Neue hier gar nicht 
zum Ausdruck; es bildet nur den ſchwach angedeuteten Hintergrund. 
Dagegen finden ſich Theſen, die zweifellos mit ihm ſtreiten. Daneben 
andere, die es wenigſtens ſcheinbar verleugnen: dies iſt der Fall in den Saͤtzen, 
in denen er ſich unbefangen auf den Boden der Gegner ſtellt, um ihnen zu 
zeigen, daß ſie ſelber folgerichtig ſeiner Bekaͤmpfung des Unweſens 
zuſtimmen muͤſſen. Daß ſie da wirklich von ihm abweichen koͤnnten, iſt 
ihm undenkbar; dann muͤßten ſie ja ihre eigenen Vorſtellungen von dem 
Wert der Reue und der guten Werke preisgeben. Überall ſpricht der treue 
Sohn der Kirche, ja ein ſolcher, der auch an ihrem Haupte nicht irre geworden 
iſt: voll kindlichen Vertrauens blickt er zu dem Papſte auf. Er haͤlt fuͤr 
einen Mißbrauch der Praxis, was ſich doch, nicht ohne Schuld der Paͤpſte, 
zu einer feſtgewurzelten kirchlichen Einrichtung ausgewachſen hatte; 
und ſo iſt er feſt davon uͤberzeugt, im Sinne des Papſtes zu handeln, 
wenn er alle die für das religiöfe Leben ſchaͤdlichen Auswuͤchſe des 
Ablaſſes abſchneidet. Daher die gluͤckliche Sorgloſigkeit, mit welcher er 
hier zu Werke geht. 

In ihr hat er wahrlich ganze Arbeit getan. Kaum wiederzuerkennen 
war nach ſeinen Schnitten der Baum. Ein maͤchtiger Schnitt — und der 
ganze Schuldablaß war geſunken: „Der Papſt kann keine Schuld ver⸗ 
geben“, „des Papſtes Ablaß vermag nicht die allergeringſte Suͤnde 
hinwegzunehmen“. Ein zweiter Schnitt, gleich gewaltig: „Der Papſt 
will noch kann keine anderen Strafen erlaſſen außer denen, die er ſelber 
aufgelegt hat“. Ein Doppeltes war damit zu Boden gefallen: 1. der 
Fegefeuerablaß; denn die Strafen, die im Fegefeuer zu buͤßen ſind, hat 
der Papſt nicht verhaͤngt, uͤberdies reicht ſeine Gewalt nicht bis dahin; 
und 2. der Erlaß der zeitlichen Suͤndenſtrafen überhaupt: mit den Strafen 


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Der Angriff auf den Ablaß 


Gottes in dieſem Leben hat der Ablaß nichts zu ſchaffen, er iſt lediglich 
Nachlaß der von der Kirche auferlegten Bußſtrafen. 

Wir ſehen, es wird der Ablaß auf ſeine urſpruͤngliche Geſtalt, auf 
ſeine hoͤchſt beſcheidenen Anfaͤnge zuruͤckgefuͤhrt. 

Die Theſen laſſen uns aber auch deutlich erkennen, warum es einer 
ſolchen Einſchraͤnkung bedarf. Der Ablaß iſt eine verwerfliche Scheu 
vor dem heilſamen Werke der Buße, der Selbſtertoͤtung; er iſt eine feige 
Flucht vor der Strafe. Welche Leichtfertigkeit, die Suͤndenſtrafen auf 
eine ſo bequeme Weiſe loswerden zu wollen! Dieſe Erwaͤgung konnte 
jeder katholiſche Chriſt anſtellen, in welchem der beſſere Geiſt der Kirche des 
Mittelalters Raum hatte. Der Gedanke der Genugtuungen war doch 
herausgeboren aus einem lebhafteren Suͤndenbewußtſein. Wer es als 
katholiſcher Chriſt ernſt nahm mit ſeiner Suͤnde, der konnte ſich unmoͤglich 
dieſe Bußwerke ſchenken laſſen. Deshalb war, wie Luther ſagt, der Ablaß 
nur fuͤr die „faulen und ſchlaͤfrigen Chriſten“ oder fuͤr die ſchwachen, die 
nichts leiſten koͤnnen. Deshalb hat der Ablaß, den die Theſen gelten laſſen 
wollen, nur einen ſehr geringen Wert; er iſt, wie es in den „Erlaͤuterungen“ 
der 95 Saͤtze heißt, „das winzigſte Gut unter allen Gütern der Kirche“. 
Immerhin kann man ihn gelten laſſen, ja, die Hochachtung vor der 
Kirche, vor dem Papſte erheiſcht, daß man ihn nicht verachte. An ihn 
kann ſich wenigſtens nicht das unſelige Mißverſtaͤndnis heften, als ob er 
irgend etwas mit dem Heile der Seele zu ſchaffen haͤtte: denn ohne 
dieſen Ablaß kann man wohl ſelig werden, mit jenem, dem Ablaß 
von heute, nicht! Denn ſo lauten die beiden Saͤtze, in denen das Leben 
der Theſen am ſtaͤrkſten pulſiert (Satz 32 und 33): „Die werden ſamt 
ihren Meiſtern zum Teufel fahren, welche vermeinen, durch Ablaßbriefe 
ihrer Seligkeit gewiß zu werden“. „Vor denen ſoll man ſich wohl huͤten, 
die da ſagen, des Papſtes Ablaß ſei jene unſchaͤtzbare Gabe Gottes, durch 
die man mit Gott verſoͤhnt wird!“ 

Spricht ſonſt in den Theſen der Gelehrte, meiſt in ruhiger, wenn auch 
ſcharfer Beweisfuͤhrung, ſo kommt in dieſen Saͤtzen der Prieſter, der 
treue Seelſorger zu Worte. Denn nirgends anderswo als im Beicht⸗ 
ſtuhl hat die Reformation Luthers ihren Anſtoß empfangen. Hier hatte 
er den heilloſen Schaden kennen gelernt, wenn ihm die Ablaßbriefe 
entgegengehalten wurden als ein untruͤgliches Mittel des Heils; in dieſem 
Vertrauen hatten ſich die verſchiedenſten Kaͤufer der Gnadenbriefe beruͤhrt: 
die Frechen, die Sicheren, die Gleichguͤltigen und die veraͤngſtigten Ge⸗ 
wiſſen. Und er war ergriffen worden von Erbarmen mit dem ſo jaͤmmer⸗ 


62 


Luthers Theſen vom 31. Oktober 1517 


lich verfuͤhrten Volke und entflammt von Empoͤrung uͤber den ſchnoͤden 
Mißbrauch des Heiligſten. So hatte ihm, was er in jenen zwei Saͤtzen 
ausſprach, ſchon lange auf dem Herzen gebrannt. Schon vor Jahr und 
Tag hatte er auf der Kanzel bitter geklagt, daß das arme getaͤuſchte Volk 
waͤhne, durch den vollkommenen Erlaß werde die Sünde in der Art fort; 
genommen, daß die Seele ſogleich auffliegen koͤnne. Er hatte hingewieſen 
auf die Frucht des Ablaſſes, dieſe Frechheit im Suͤndigen — kein Wunder, 
ſcheine doch die Nachſicht, die man Ablaß nenne, nichts anderes zu ſein als 
Zuſicherung der Strafloſigkeit, Erlaubnis zum Suͤndigen. 

Das war es auch, was er am Tage des Theſenanſchlages ſelber dem 
Erzbiſchof Albrecht, da unter ſeinem erlauchten Namen die Ablaßinſtruktion 
ausgegangen war, in einem freimuͤtigen Briefe vorhielt: „Die Ungluͤck⸗ 
lichen glauben, wenn ſie Ablaßbriefe kaufen, ihres Heiles gewiß ſein zu 
duͤrfen; durch dieſen Ablaß werde der Menſch frei von aller Pein und 
Schuld“. Der Brief, dem er ſeine Theſen beifuͤgte, ſchließt mit der Bitte, 
der Erzbiſchof moͤge ſeine Inſtruktion mit ihrem frevelhaften Satze vom 
„Ablaß als der unſchaͤtzbaren Gnade, durch die man mit Gott verſoͤhnt 
werde“, zuruͤckziehen und ſeinen Ablaßpredigern eine andere Weiſe zu 
predigen vorſchreiben, „damit nicht etwa endlich einer ſich erhebe, der 
jene Inſtruktion und dieſe Prediger öffentlich widerlege — dem Erz 
biſchof zum Schimpf“. 

Auch das beklagte Luther in dieſem Briefe, daß das Volk der Meinung 
ſei, die Seelen floͤgen aus dem Fegefeuer, ſobald nur der Beitrag in den 
Kaſten geworfen. Auch hier wieder mußte ſich Albrecht getroffen fuͤhlen. 
Denn wie ſtark hatte er doch dieſer truͤgeriſchen Meinung durch ſeine 
Inſtruktion Vorſchub geleiſtet! Da hieß es von dem Ablaß fuͤr die Seelen 
im Fegefeuer: „Dieſe Gnade recht eindringlich darzulegen, ſollen die 
Prediger fleißig bemuͤht ſein, weil durch dieſelbe den abgeſchiedenen Seelen 
mit voller Sicherheit zu Hilfe gekommen und — fuͤr das Werk des 
Baues von St. Peter auf das fruchtbarſte und reichlichſte geſorgt wird“. 
(Vir bemerken beilaͤufig, wie hier des Heiles der Seelen und des Vor⸗ 
teils der paͤpſtlichen Kaſſe offen nebeneinander gedacht wird, nur von 
ſeinen eigenen Bezuͤgen, der Haͤlfte des Reinertrages, ſchweigt der Erz⸗ 
biſchof.) An eindringlicher Rede hatten es die Prediger denn auch nicht 
fehlen laſſen. Wir beſitzen zufällig das Bruchſtuͤck einer Ablaßpredigt aus 
dieſer Zeit, die wohl mit Recht dem gewandteſten Unterkommiſſar Albrechts, 
keinem geringeren als dem „großen Schreier“ Johann Tetzel zugeſchrieben 
wird. Reich mit Spruͤchen der Heiligen Schrift durchwirkt, behandelt ſie 


63 


Der Angriff auf den Ablaß 


unter anderem auch dieſes Thema: „Was ſteht ihr muͤßig? Laufet doch 
alle nach dem Heil eurer Seele! Es ſei ein jeder hurtig dazu und bekuͤmmere 
ſich um ſeine Seligkeit, wie um die zeitlichen Guͤter, die euch Tag und Nacht 
keine Ruhe laſſen. Suchet den Herrn, dieweil er nahe iſt und ſo lange er 
zu finden iſt (Jeſ. 55, 6). Wirket, ſo lange es Tag iſt, es kommt die Nacht, 
da niemand wirken kann (Joh. 9, J). Hört ihr nicht die Stimme eurer 
Eltern und anderen Abgeſchiedenen, die rufen und ſchreien: Ach, erbarmt 
euch mein, erbarmt euch mein, ihr, meine Freunde; denn die Hand Gottes 
hat mich gerühret‘ (Hiob 19, 21). Denn wir find in den allerhaͤrteſten 
Strafen und Qualen, daraus ihr uns durch ein winziges Almoſen erloͤſen 
koͤnntet. Und ihr wollt nicht? Ach, tut doch eure Ohren auf, weil der 
Vater zum Sohn und die Mutter zur Tochter ſpricht: „Warum verfolgt 
ihr mich gleich ſowohl als Gott und koͤnnt meines Fleiſches nicht ſatt 
werden? (Hiob 19, 22). Gleich als wollten ſie ſagen: „Wir haben euch 
erzeugt, genaͤhrt, geleitet, haben euch unſere zeitlichen Guͤter hinterlaſſen, 
und ihr ſeid ſo grauſam und hart, daß, da ihr uns mit ſo großer Leichtig⸗ 
keit befreien koͤnntet, ihr dennoch nicht wollt, ſondern laſſet uns in den 
Flammen liegen und haltet uns auf, daß wir nicht zu der verheißenen 


Herrlichkeit gelangen?“ 


4. Die Aufnahme der Theſen und ihre Folgen 


in Fuͤrſt wie Herzog Georg von Sachſen war der Anſicht, 
. durch ſolche Predigt, wie wir ſie ſoeben aus dem 


Fat um das Seine betrogen werde“. Schon im November 

157 ſandte er einen feiner Raͤte in dieſer Sache an den 

— Biſchof von Merſeburg. Dieſer, Fuͤrſt Adolf von Anhalt, 

ließ ihm ee es gefiel auch ihm „wohl, daß die armen Leute, die alfo 

zuliefen und die Gnade ſuchten, vor dem Betrug Tetzels gewarnt wuͤrden, 

und die Saͤtze, die der Auguſtinermoͤnch zu Wittenberg gemacht, an vielen 

Orten angeſchlagen wuͤrden“. In dieſem Urteil waren alſo der Biſchof und 
der weltliche Fuͤrſt eins. 


64 


Die Aufnahme der Theſen und ihre Folgen 


Voͤllig anders aber ſah derjenige die Sache an, den der ganze Handel 
zunaͤchſt und ganz perſoͤnlich anging. Erzbiſchof Albrecht las aus des 
„vermeſſenen Moͤnches zu Wittenberg“ Brief und Theſen, ſo „das heilige 
negotium indulgentiarum“ (d. h. das heilige Ablaßgeſchaͤft) betrafen, 
nur ein „trotzig Vornehmen des Moͤnches“ heraus, das, wie er ſeinen 
Magdeburger Raͤten ſchrieb, ihn zwar ſeiner Perſon halben wenig anfechte, 
ihn aber gleichwohl bewege, weil dadurch „das arme unverſtaͤndige Volk 
geaͤrgert und in beſchwerlichen Irrtum gefuͤhrt“ werde. Dort alſo Tetzel 
der Betruͤger der armen Leute, hier Luther der Verfuͤhrer des unverſtaͤn⸗ 
digen Volkes. Dem frechen Agitator mußte ungeſaͤumt das Handwerk 
gelegt werden. „Eilends“ (fo leſen wir in dem angezogenen Briefe) „fertigte 
der Erzbiſchof daher den Handel paͤpſtlicher Heiligkeit zu guter Hoffnung, 
Se. Heiligkeit werde alſo zur Sache greifen und tun, daß ſolchem Irrſal 
zeitlich [beizeiten] nach Gelegenheit und Notdurft widerſtanden“ werde. 
Inzwiſchen wollte er ſelber doch nicht die Haͤnde in den Schoß legen. 
So beauftragte er am 13. Dezember 1517 feine Magdeburger Raͤte, nach 
Befinden durch ſeinen „Subkommiſſaren Ern Johann Tetzel“ gegen den 
Wittenberger Moͤnch einen Prozeß anſtrengen zu laſſen, „damit ſolcher 
giftiger Irrtum unter dem gemeinen Volke nicht weiter gepflanzt werde“. 

Dem Weiterdringen des Giftes war doch kaum noch vorzubeugen. 
Zwar teilte Luther ſeine Theſen zunaͤchſt nur unter der Hand guten Freun⸗ 
den mit; trotzdem wurden ſie, ganz wider ſein Erwarten, in kuͤrzeſter 
Friſt durch die Preſſe uͤber ganz Deutſchland verbreitet, uͤberdies, was 
er ungern vernahm, ins Deutſche uͤberſetzt: für die Ungelehrten, meinte 
er, ſeien ſie ja gar nicht beſtimmt, fuͤr ſie wuͤrde er den Gegenſtand klarer 
und verſtaͤndlicher dargeſtellt haben. Allein, an Verſtaͤndnis fehlte es 
nicht: wer die gelehrten Einzelheiten zu erfaſſen unfaͤhig war, der begriff 
doch ſeine Abſicht, und viele jubelten, daß jetzt der Doktor gekommen 
ſei, der es wagte „dreinzugreifen“. Seine Freunde freilich waren voll 
Bedenken, wenn nicht gar erſchrocken. Er ſelber war durch den Erfolg 
ſeines Wortes auf das ſtaͤrkſte uͤberraſcht, aber doch voll ruhiger Zuver⸗ 
ſicht: was er getan, das konnte er vor Gott verantworten. An dieſer 
überzeugung vermochten auch die Gegner, die ſich auf ihn ſtuͤrzten, ihn 
nicht irre zu machen. Einer nach dem andern erſchienen ſie auf dem 
Kampfplatz: als erſter der perſoͤnlich beleidigte Dominikaner Johann 
Tetzel, der Inquiſitor, der uͤber den „Erzketzer, Abtruͤnnigen, Frevler 
und Übelredner“ ſchrie, dann der gelehrte Ingolſtaͤdter Profeſſor Johann 
Eck, der die Theſen irrig, falſch, frivol fand, voll Gift und Hufitifcher 


5 Brieger, Reformationsgeſchichte 65 


Der Angriff auf den Ablaß 


Ketzerei, voll Unehrerbietung gegen die Heiligkeit des Papſtes, geeignet, 
den ganzen Bau der Hierarchie umzuſtuͤrzen, zu Aufruhr und Spaltung 
in der Kirche zu fuͤhren. „Das iſt Ketzerei“ — ſo ertoͤnte es aber auch aus 
Rom, vom paͤpſtlichen Hofe ſelber, wo man, gegen unſchuldiges Heiden⸗ 
tum ſo nachſichtig, jener gegenuͤber deſto empfindlicher war. „Ein Ketzer“, 
ſo wurde Luther in einer zur Widerlegung ſeiner Theſen beſtimmten 
Schrift belehrt, „ein Ketzer iſt nicht bloß, wer falſch uͤber die Lehre, ſondern 
auch, wer falſch über das Tun der Kirche urteilt, ſoweit es den Glauben 
und die Sitten anlangt; wer vom Ablaß ſagt, die roͤmiſche Kirche koͤnne 
nicht tun, was ſie tatſaͤchlich tut, der iſt ein Ketzer“. In dieſer Weiſe 
ließ ſich Tetzels Ordensgenoſſe, der Dominikaner Silveſter Mazzolini 
von Prierio, vernehmen, ein Mann, der an der Kurie ein hohes Amt inne 
hatte; denn er war „Magiſter des heiligen Palaſtes“, d. h. der Beicht⸗ 
vater Leo's X., und nicht ohne Grund fühlte er ſich als paͤpſtlicher Hof⸗ 
theologe. Soeben hatte ihn der Papſt zu einem amtlichen Gutachten 
uͤber die Irrlehre des Auguſtinermoͤnches aufgefordert, und es hat die 
Vermutung viel fuͤr ſich, daß jene, uͤbrigens dem Papſt gewidmete, 
Streitſchrift nichts anderes iſt als eine Überarbeitung dieſes Gutachtens. 

Man hat wohl behauptet, dieſe Gegner Luthers haͤtten dem Papſt 
einen ſchlechten Dienſt geleiſtet: in blindem Eifer haͤtten ſie eine abſeits 
liegende Frage von verhaͤngnisvoller Tragweite, die von der Gewalt 
des Papſtes, herangezogen und ſo den Streit auf ein ganz anderes Gebiet 
hinuͤbergeſpielt. Man tut ihnen damit doch Unrecht. Hatte nicht Luther 
eine Einrichtung bekaͤmpft, die tief in das kirchliche und religioͤſe Leben 
einſchnitt? und in einer Weiſe, daß von einer Schoͤpfung von Jahrhun⸗ 
derten, an der Paͤpſte und Theologen mit gleich regem Eifer gearbeitet 
hatten, kaum mehr uͤbrig blieb als der Name? War das nicht in der Tat 
ganz unmittelbar ein Angriff auf die paͤpſtliche Gewalt? Nur in einem 
irrten die Gegner. Sie wußten nicht und konnten es nicht wiſſen, daß 
dieſer Moͤnch ſich nicht von ferne vorſtellte, was die ſelbſtverſtaͤndliche 
Tat ſeiner religioͤſen Gewiſſenhaftigkeit zu bedeuten habe. In ſeiner 
weltfremden Anſchauung der Dinge, in ſeiner kindlichen Vorſtellung 
von des Papſtes Macht, in ſeiner ehrlichen Zuverſicht zu dem guten Willen 
des Oberhirten der Chriſtenheit hatte er naiv der Überzeugung gelebt, 
der Papſt muͤſſe nicht nur, nein, er koͤnne und werde abſchaffen, was 
hier als gegen das Heil der Seele ſtreitend angefochten war. 

Da kamen ihm nun die Gegner zu Huͤlfe und oͤffneten ihm die Augen. 
Je mehr ſie tobten, deſto ſchnellere Fortſchritte machte er. Keinem blieb 


66 


Die Aufnahme der Theſen und ihre Folgen 


er die Antwort ſchuldig, mit maͤchtigen Waffen verteidigte er ſich. Er 
entnahm ſie der Heiligen Schrift und der Geſchichte, in deren Studium 
er mit Gewalt hineingetrieben wurde. Es iſt reizvoll, zu verfolgen, wie 
die Verſenkung in ſie, in die Vaͤter der alten Kirche, in die Urkunden 
des Mittelalters, ihn von Entdeckung zu Entdeckung fuͤhrt. Jene Vaͤter 
wußten nichts von einem Primat des roͤmiſchen Biſchofs mit ſeiner 
Allgewalt, wie er von Uranfang an beſtanden haben ſollte. Und die 
Urkunden, auf die der Papſttyrann ſich ſtuͤtzte, erwieſen ſich ihm hier als im 
Widerſtreit mit Bibel und Vernunft, dort gar als gefaͤlſcht. Vor Staunen 
wußte er mitunter kaum, was er ſagen ſollte. Aber nicht weniger groß 
als ſein Erſtaunen war ſeine Erſchuͤtterung. Ein Stuͤck nach dem andern 
von dem, woran er feſthielt, woran er hing mit allen Faſern ſeiner Seele, 
ſah er ſtuͤrzen: es ſtuͤrzte das goͤttliche Anſehen des Papſtes, es ſtuͤrzte die 
Unfehlbarkeit der Konzilien, die Unfehlbarkeit der Kirche ſelbſt. Woran 
konnte er ſich noch halten? Gab es noch eine aͤußere Autoritaͤt fuͤr ihn? 
Und welchen Schmerz mußte es ihm doch machen, wenn er, der treueſte 
Sohn der Kirche, die Stuͤtzen ſeiner Zuverſicht zu ihr brechen ſah? Denn 
der groͤßte Umſtuͤrzler der Weltgeſchichte, er hatte keine Freude am 
Umſturz, er ging nicht einmal auf Neuerungen aus. Er gehoͤrte zu den 
Naturen, die, durchdrungen von dem lebendigſten Gefuͤhl der Ehrfurcht 
der Pietaͤt, mit Zaͤhigkeit am Alten feſthalten. Jede neue Erkenntnis 
mußte er ſich daher abringen. Dem harten Kampf mit den Gegnern 
ging ſtets voraus ein haͤrterer Kampf in ſeinem Innern. Aber war er 
erſt aus ihm ſiegreich hervorgegangen, dann blickte er nicht mehr zuruͤck, 
es gab nur ein Vorwaͤrts. 

So hat Luther im Kampfe — es iſt das die wichtigſte Folge, die ſich 
an ſeine Tat vom 31. Oktober anſchloß — in den naͤchſten Jahren, bis 
1520 hin, ſich zur vollen Reife des Reformators entwickelt. 

Aber ließ man ihm denn Zeit zu ſolcher Entwickelung? Durfte er 
denn ungeſtoͤrt den großen Kampf fuͤhren, ungehindert den Samen des 
Wortes ausſtreuen, volle drei Jahre lang? 


Der Angriff auf den Ablaß 


5. Leo X. und Friedrich der Weiſe (1518) 


s war etwa vierzig Jahre her, da war ein rheiniſcher 
pfarrer, der Doktor der Heil. Schrift Johann von 
2 Weſel, der vor Jahrzehnten ein gefeierter Lehrer der 
FI 8 U Univerfität Erfurt geweſen war, zu Mainz auf Befehl 
2, . des Erzbiſchofs vor ein Inquiſitionsgericht geſtellt 
— . ſworden, bei welchem ein Kölner Dominikaner den 
Vorſitz hatte. Vielfacher Ketzerei war er hier ſchuldig befunden, ſo auch 
in betreff des Ablaſſes, uͤber den er ganz ebenſo urteilte wie Luther. Mit 
vieler Muͤhe war der alte, kraͤnkliche und durch Haft geſchwaͤchte Mann 
dazu gebracht worden, um Gnade zu bitten. Feierlich hatte er darauf im 
Dome zu Mainz ſeine falſchen Lehren abſchwoͤren muͤſſen und war dank 
ſeiner Unterwerfung zu lebenslaͤnglichem Kloſtergefaͤngnis begnadigt 
worden. Ohne den Widerruf waͤre zweifellos „eine Gnade ohne Gnade“, 
wie der Koͤlner Ketzermeiſter ihm drohte, ſein Teil geweſen, der Tod 
in den Flammen. 

Wie ging es zu, daß der Wittenberger Moͤnch nicht alsbald einem 
aͤhnlichen Geſchick verfiel? 

Sein Erzbiſchof hatte ihn ja, wie wir ſahen, zeitig genug in Rom 
angeklagt (noch in der erſten Haͤlfte des Dezembers 1517), und ein paar 
Monate ſpaͤter war von Tetzels Ordensbruͤdern, den Dominikanern, 
eine zweite Anklage in Rom eingelaufen. Schon vorher aber hatte 
Leo X. in klarer Erkenntnis der Gefahr den erſten Schritt getan, den in 
Deutſchland ausgebrochenen Brand zu daͤmpfen. Immerhin hatte er noch 
geglaubt, auf dem Wege der Milde zum Ziele zu kommen, und den Verſuch 
gemacht, Luther durch ſeine Ordensoberen von ſeiner „Neuerungsſucht“ 
abzubringen und zu „beſchwichtigen“. Erſt als dieſes Mittel verſagte, 
ſchritt er mit unnachſichtlicher Strenge ein. Im Juni wurde der 
Prozeß gegen den „Ketzer“ an der Kurie angeſtrengt, am 7. Auguſt hatte 
Luther bereits die Vorladung nach Rom in Haͤnden. Zwar gab der 
Papſt dann der Bitte des Kurfuͤrſten von Sachſen nach, daß der Ange⸗ 
klagte ſtatt in Rom ſich vor einem gerade in Deutſchland weilenden 
paͤpſtlichen Legaten, dem Kardinal Kajetan, verantworten durfte. Gleich⸗ 
wohl war fuͤr den Fall, daß Luther nicht widerriefe, ſeine Verurteilung 
beſchloſſene Sache. Ja, ſchon lag im Herbſt, wenn wir recht ſehen, die 
Bannbulle fertig vor, und ſchon hatte Kaiſer Maximilian, von Kajetan 


68 


Leo X. und Friedrich der Weiſe (1518) 


bearbeitet, in einem Briefe an Leo X. ſeine Bereitwilligkeit aus⸗ 
geſprochen, ſobald der Papſt das Urteil gefaͤllt, auch von Reichs wegen 
gegen den Hartnaͤckigen einzuſchreiten. Luther, der zu Augsburg eine 
Berufung von dem Legaten an den Papſt eingelegt hatte, appellierte 
einen Monat ſpaͤter von dieſem an ein allgemeines Konzil. Es war in 
den Tagen, wo er nicht ohne Grund tagtaͤglich „die Fluͤche aus der Stadt 
Rom“ erwartete. Er war entſchloſſen, die kurfuͤrſtlichen Lande zu verlaſſen, 
um feinen Landesherrn nicht in Gefahr zu bringen, die Univerſitaͤt 
nicht zu ſchaͤdigen. Er ordnete ſeine Angelegenheiten, jeden Tag zum 
Aufbruch bereit, „geguͤrtet“, wie er ſagte, „um auszuziehen wie Abraham, 
ohne zu wiſſen, ‚wohin‘, und doch ganz gewiß ‚wohin‘, weil Gott überall 
iſt. Der Herr wird mein Rat und Beiſtand ſein“. Von ſeinen Witten⸗ 
bergern nahm er auf der Kanzel Abſchied fuͤr den Fall, daß er eines 
Tages plotzlich davongehe ohne wiederzukehren. Auch feinem gnaͤdigen 
Herrn, dem Kurfuͤrſten, ſagte er Lebewohl: „Siehe, ich verlaſſe dein 
Land und gehe wohin der barmherzige Gott mich fuͤhrt, ſeinem Willen 
uͤberlaſſe ich mich, mag es kommen wie es wolle“. Er war in derſelben 
hochgemuten Stimmung wie vor einem halben Jahre, als er nach Ver⸗ 
eitelung des paͤpſtlichen Beſchwichtigungsverſuches zuerſt auf die Eröffnung 
des Prozeſſes in Rom gefaßt ſein mußte. Damals hatte er ſeinem Ordens⸗ 
oberen und vaͤterlich geſinnten Freunde, dem Generalvikar Johann 
von Staupitz, geſchrieben: „Wer arm iſt, fuͤrchtet nichts, denn er kann 
nichts verlieren; Gut und Geld habe ich nicht, begehre ſein auch nicht; 
mein guter Ruf und Ehre iſt dahin. Nur eins bleibt uͤbrig, der nichtige 
und durch viel Widerwaͤrtigkeit geſchwaͤchte Leib; nehmen fie den durch 
Liſt oder Gewalt dahin (Gott zum Dienft), fo machen fie mich vielleicht 
um ein oder zwei Stunden meines Lebens aͤrmer“. Der Fortgang von 
Wittenberg erſchien ihm jetzt ſogar in einem guͤnſtigen Lichte: „Wenn 
ich hier bleibe“, ſchrieb er Anfang Dezember ſeinem vertrauten Freunde 
Spalatin, „werde ich nicht mit der erforderlichen Freiheit reden und 
ſchreiben dürfen; wenn ich aber gehe, will ich alles ausſchuͤtten und mein 
Leben Chriſto dargeben“. Er hat wohl flüchtig daran gedacht, ſich nach 
Frankreich zu wenden, doch war ihm das von ſeinem Fuͤrſten wider⸗ 
raten worden. Wohin er ſonſt zu gehen gedachte, wiſſen wir nicht. Raſtlos 
arbeitete er in ſeinem Berufe weiter: er hielt Vorleſungen und predigte, 
veröffentlichte eine Darſtellung feiner Verhandlungen mit Kajetan und da⸗ 
neben eine erbauliche Auslegung des Vaterunſers, ‚für die einfältigen Laien“. 
„Mein Sinn iſt je, daß ich jedermann nuͤtzlich, niemand ſchaͤdlich wäre”, 


69 


Der Angriff auf den Ablaß 


Friedrich der Weiſe iſt in der Tat eine Zeitlang damit einverſtanden 
geweſen, daß ſein Wittenberger Profeſſor zum Stabe griffe. Wiederholt 
hatte der Papſt in beſtimmter, wenn nicht gar drohender Weiſe die For⸗ 
derung an ihn geſtellt, daß er den ketzeriſchen Bruder Martinus nach 
Rom ausliefere oder ihn wenigſtens aus dem Lande jage. Zu dem erſteren 
wuͤrde er ſich nie verſtanden haben, zu dem letzteren nur im aͤußerſten 
Notfall. Dieſe Haltung des Wettiners hat eine weltgeſchichtliche Bedeu⸗ 
tung gewonnen. Daß die Reformation nicht im Keime erſtickt werden 
konnte, obwohl, um mit Friedrich ſelber zu reden, die Hohenprieſter 
Hannas und Kaiphas ſich mit Pilatus und Herodes dazu die Hand 
reichten, das haben wir allein dieſem charaktervollen, wahrhaft weiſen, 
ja in feiner Art großen Fuͤrſten zu danken: feiner religioͤſen Gewiſſenhaftig⸗ 
keit wie ſeiner diplomatiſchen Umſicht und Zaͤhigkeit. Es duͤrfte daher 
nicht unzweckmaͤßig ſein, wenn wir ſein Verhalten zu der tiefgehenden 
kirchlichen Bewegung ſeiner Zeit gleich hier im Zuſammenhang uͤberſchauen. 
Mit einem regen Sinne fuͤr die religioͤſe Wahrheit ausgeſtattet, der ihm 
frühzeitig den Blick ſchaͤrfte für die Truͤbung der Religion durch politiſche 
Ausbeutung, war er doch der Kirche und ihrem Oberhaupte aufrichtig 
ergeben, und ſeine Froͤmmigkeit trug durchaus das kirchliche Gepraͤge. 
Sie aͤußerte ſich namentlich in ſeiner Wertſchaͤtzung der Ablaͤſſe und ſeiner 
Verehrung der Reliquien. Von dieſen hat er eine faſt unglaubliche Menge 
zuſammengebracht. Der ſonſt ſparſame Haushalter opferte dieſer Lieb⸗ 
haberei, an der er noch jahrelang nach Luthers Auftreten feſtgehalten 
hat, erkleckliche Summen. Kaum weniger eifrig war er darauf bedacht, 
für feine Stiftskirche zu Wittenberg immer reichere Ablaßgnaden in Rom 
zu erwirken, die alljährlich am Tage Allerheiligen den Beſuchern der 
Kirche geſpendet wurden. Nicht ohne Abſicht hatte Luther fuͤr den 
Anſchlag feiner Theſen gerade den Vorabend dieſes Feſtes gewählt. So 
mußte Friedrich durch das Vorgehen ſeines Wittenberger Profeſſors, 
auf den er ſonſt große Stüde hielt, ſich faſt wie perfönlich getroffen fühlen, 
wie uns denn Luther ſpaͤter erzaͤhlt hat: „er habe ſich beim Herzog Friedrich 
ſchlechte Gnade verdient, denn er ſein Stift ſehr lieb hatte“. Trotzdem 
hat der Kurfürft vom erſten Augenblick an, wo dem Bekaͤmpfer des 
Ablaſſes Vergewaltigung drohte, ſeine Hand uͤber ihn gebreitet; ſchon 
im Maͤrz 1518 hat er ihn wiſſen laſſen, nimmer werde er dulden, daß 
man ihn nach Rom ſchleppe. Die Wahrheit ſollte unterſucht werden: 
deshalb ſollte Luther ſich nur einem unparteiiſchen Richter ſtellen und unter 
der Vorausſetzung perfönlicher Sicherheit. An dieſem Grundſatz hat 


70 


Leo X. und Friedrich der Weiſe (1518) 


Friedrich der Weiſe unerſchuͤtterlich feſtgehalten — ſelbſt auf die Gefahr 
hin, Land und Leute zu verlieren. Das roͤmiſche Gericht, das den Ange⸗ 
klagten ungehoͤrt verdammte, wo der Papſt uͤberdies in eigener Sache 
urteilte (denn zuletzt handelte es ſich doch um die Auflehnung gegen 
ſeine Gewalt), haͤtte er nie anerkannt. Mochte auch der Papſt zum Bann 
greifen, damit war der Verurteilte der Ketzerei noch nicht uͤberfuͤhrt, 
war ſeine Lehre noch nicht als unchriſtlich erwieſen — und ſo lange das 
nicht geſchehen, war es ſeine Pflicht, ihn zu ſchuͤtzen gegen brutale Gewalt. 

Von einer Zuſtimmung zu dem, was Luther vertrat, iſt er dabei 
Jahre lang weit entfernt geweſen. Indeſſen, Luthers gewaltige Schriften 
des Jahres 1520 machten auch auf ihn einen tiefen Eindruck. Mehr und 
mehr erſchloß er ſich von da ab den religioͤſen Ideen Luthers und dem 
Worte Gottes, deſſen Verſtaͤndnis ihm jetzt aufging. Fortan ſtand ihm 
feſt: Luther fuͤhrte eine gerechte Sache, die Sache Gottes, und er hielt 
zu ihm, in ruhigem Gottvertrauen; denn die Wahrheit durfte nicht 
unterdruͤckt, das Wort aus Gott nicht zertreten werden. Allein durch 
ſeine Stellung genoͤtigt, die politiſchen Folgen der kirchlichen Neuerungen 
ins Auge zu faſſen, vermochte er auch jetzt nicht, dem kuͤhnen Vorſchreiten 
des Reformators zu folgen. Soviel er konnte, hemmte er den bedenklich 
ſchnellen Lauf des Rades, woruͤber es gelegentlich zu einer Art von Span⸗ 
nung zwiſchen ihm und ſeinem großen Untertanen gekommen iſt, der, 
wo es ſich um die Sache handelte, auch feinen Fuͤrſten nicht ſchonte. Im 
ganzen hat ſich Kurfuͤrſt Friedrich daher in weiſer Politik auf ein ruhiges 
Gewaͤhrenlaſſen beſchraͤnkt, ſich von jeder aktiven Einmiſchung fern gehalten 
(niemals ordnete er etwas von ſich aus an), ſchon um ſeine ſtaͤndige 
diplomatiſche Ausrede nicht Luͤgen zu ſtrafen, daß das ganze ja ein Handel 
ſei, der ihn als Laien nichts angehe, von dem er als ſolcher nichts ver⸗ 
ſtehe. Auch rein aͤußerlich bemaß er ſein Verhalten danach. Waͤhrend 
er durch ſeinen Geheimſchreiber und Hofkaplan Georg Spalatin in ſtetem 
Verkehr mit dem Manne war, deſſen Rat er nicht entbehren konnte, hielt 
er ſich perſoͤnlich gefliſſentlich von Luther fern; nie ſeit dem Wormſer 
Reichstage hat er ihn geſehen, niemals mit ihm geſprochen. 

Als Friedrich, wie wir vorhin bemerkten, gegen Ende des Jahres 
1518 es fuͤr geraten hielt, Luther aus dem Lande ziehen zu laſſen, kam es 
plotzlich zu einer Wendung in dem Verhalten der Kurie. Der Papſt ent⸗ 
ſchloß ſich zu dem Verſuche, den Kurfuͤrſten durch freundliches Entgegen⸗ 
kommen zur Preisgabe des Ketzers zu bringen. Ein Hoͤfling Leo's X. 
mußte ſich auf den Weg nach Deutſchland machen, um dem Fuͤrſten die 


71 


Der Angriff auf den Ablaß 


geweihte goldene Roſe, die ſeit Jahren das Ziel ſeines frommen Ehr⸗ 
geizes war, nebſt den eifrig umworbenen Ablaͤſſen zu uͤberbringen; ein 
Sack voll anderer paͤpſtlicher Gnaden, die ſonſt nur fuͤr Geld zu haben 
waren, wurde dem Geſandten mitgegeben. Als man am kurfuͤrſtlichen 
Hofe von der gnaͤdigen Abſicht paͤpſtlicher Heiligkeit vernahm, erging 
ſofort an Luther der Befehl, in Wittenberg zu bleiben. Unmittelbar 
darauf trat aber ein Ereignis ein, das ihm vollends Ruhe verſchaffte. 


* 


| 6. Das Zwiſchenſpiel der Kaiſerwahl (1519) und der Bannſtrahl 
Leo's X. (1520) 


Ilm 12. Januar 1519 ſtarb Kaiſer Maximilian, und die 
25 3) Wahl feines Nachfolgers, die ſchon ſeit Jahren die 
K Reh politiſche Welt beſchaͤftigt hatte, rüdte in den Border; 
K 1 d © grund des Intereſſes. Es gab bereits zwei Bewerber 
7 22 1 um die Kaiſerkrone, die unerachtet der tatſaͤchlichen 
= VD Schwäche des Heiligen Roͤmiſchen Reiches noch immer 
in dem Zauberglanze des Mittelalters leuchtete: Maximilians Enkel Karl 
und König Franz I. von Frankreich. Der Wahl des erſteren hatte Leo X. 
laͤngſt entgegengearbeitet. Schon herrſchte Karl nicht nur uͤber die 
Niederlande und das Koͤnigreich Spanien, dem durch die juͤngſt ent⸗ 
deckten Laͤnder der Neuen Welt ſich eine Zukunft von unberechenbarer 
Bedeutung oͤffnete, ſondern auch uͤber das ſozuſagen vor den Toren 
Roms liegende Koͤnigreich Neapel. Gewann er nun gar noch die Kaiſer⸗ 
wuͤrde und die gewaltige Kraft des deutſchen Volkes hinzu, ſo ſchien 
er eine Macht in ſeiner Hand zu vereinen, die fuͤr die weltliche Ge⸗ 
walt des Papſtes und das territoriale Intereſſe des Hauſes Medici 
gleich verderblich zu werden drohte. In einem ganz anderen Lichte hatte 
dem Papſte die Wahl des Franzoſen erſcheinen muͤſſen, zumal wenn 
er an den Vorteil ſeines Hauſes dachte; denn ſein Neffe Lorenzo von 
Medici, fuͤr den er das Herzogtum Urbino erobert hatte, war mit einer 
franzoͤſiſchen Prinzeſſin vermaͤhlt. Jetzt nach dem Tode des Kaiſers ver; 


72 


Das Zwiſchenſpiel der Kaiſerwahl (1519) und der Bannſtrahl Leo's X. (1520) 


doppelte Leo ſeine Anſtrengungen, die Wahl des Habsburgers zu ver⸗ 
eiteln, und arbeitete leidenſchaftlich für Franz J. Dazwiſchen flößte 
ihm freilich auch die Ausſicht auf einen franzoͤſiſchen Kaiſer Bedenken 
ein. Schon lange ſtand Italien in Gefahr, der Herrſchaft von Fremden 
zu verfallen, indem Spanien und Frankreich — jenes vom Süden, dieſes 
vom Norden aus — ſich die Halbinſel zu unterwerfen beſtrebt waren; 
und es kam fuͤr die Paͤpſte darauf an, ſich der Umklammerung durch den 
einen wie durch den anderen gleichermaßen zu erwehren. Eine Erwaͤgung 
dieſer Art ließ in dem Papſte den Wunſch aufſteigen, daß die deutſchen 
Wahlfuͤrſten einen aus ihrer Mitte kuͤren moͤchten. Hierfuͤr konnte aber 
nur der Sachſe in Betracht kommen, ob der Größe feiner Haus macht 
ſowohl wie wegen ſeiner Volkstuͤmlichkeit. Und, ſo unglaublich es klingen 
mag, Leo X. hat wirklich ſeinen politiſchen Vertreter in Deutſchland ange⸗ 
wieſen, fuͤr die Wahl Friedrichs des Weiſen zu wirken, und auch den 
Koͤnig von Frankreich fuͤr ſie zu gewinnen geſucht, ja er iſt zuletzt an den 
Kurfuͤrſten ſelbſt als Verſucher herangetreten. Hier fällt auf die völlig 
weltliche Politik dieſes Papſtes ein grelles Licht. Zweifellos haͤtte die 
allgemeine Lage der Chriſtenheit dem Vater derſelben zur Pflicht gemacht, 
fuͤr den „katholiſchen Koͤnig“ von Spanien einzutreten. Denn dieſer 
war nicht nur bei der drohenden Tuͤrkengefahr der geeignetere Vorkaͤmpfer 
wider die Unglaͤubigen, ſondern er bot zugleich durch den Ernſt ſeiner 
kirchlichen Geſinnung die ſtaͤrkere Buͤrgſchaft fuͤr die Unterdruͤckung der 
Ketzerei in Deutſchland. Statt deſſen denkt der Papſt in allem Ernſte 
daran, dem hohen Schirmherrn dieſer gefaͤhrlichen Ketzerei die hoͤchſte 
Wuͤrde der Chriſtenheit zu verſchaffen. Zwar war ja die von dem deutſchen 
Mönche angeregte Frage für ihn bloß eine kirchliche Machtfrage. Aber 
auch die kirchliche Machtfrage ſehen wir hier unter die Fuͤße getreten 
von dem politiſchen Vorteil des Papſtes aus dem Hauſe Medici. Man 
kann allerdings vielleicht zu ſeiner Entſchuldigung ſagen, er habe ſich bei 
der allgemeinen Kaͤuflichkeit leichtfertig der Vorſtellung hingegeben, 
den Beſchuͤtzer Luthers durch den Erweis ſo hoher Gunſt unſchwer in einen 
„Verteidiger des apoſtoliſchen Stuhles“ umwandeln zu koͤnnen. Wie er 
unvermoͤgend geweſen waͤre, den religioͤſen Ernſt ſeines Thronkandidaten 
zu erfaſſen, ſo wußte er nicht einmal davon, daß unter allen Wahlfuͤrſten 
Friedrich der einzige war, deſſen Ohren taub blieben fuͤr den lieblichen 
Klang des Goldes und den Ton goldener Verheißungen. Mit voller 
Uneigennuͤtzigkeit hat der ſaͤchſiſche Kurfuͤrſt demjenigen Bewerber ſeine 
Stimme gegeben, der ihm fuͤr das Vaterland der rechte zu ſein ſchien, 


73 


Der Angriff auf den Ablaß 


indem er von ſeiner eigenen Wahl, an die man auch in Deutſchland 
dachte, nichts wiſſen wollte: in richtiger Erkenntnis ſeiner unzureichenden 
Macht und der Eigenart der Aufgabe: die Rabenbrut der deutſchen 
Fuͤrſten, ſo aͤußerte er damals, koͤnne nur durch einen noch groͤßeren 
Raubvogel gebaͤndigt werden. 

Ein ſolcher iſt in der Tat in Karl V. am 28. Juni 1519 zu Frank⸗ 
furt a. M. aus der einhelligen Wahl der Kurfuͤrſten hervorgegangen. 
Ein Menſchenalter ſpaͤter griff ein Nachfolger Friedrichs in der Kur zu 
Sachſen zum Schwerte wider dieſen Kaiſer unter dem Vorgeben, Karl 
wolle das deutſche Fuͤrſtentum unterdruͤcken, die deutſche Nation in „eine 
viehiſche erbliche Knechtſchaft bringen“. 

Nur in einem hat ſich Friedrich der Weiſe geirrt. Er hielt den Enkel 
Maximilians, für deſſen Wahl die deutſchen Humaniſten in politiſcher 
Vnreife ſchwaͤrmten, das deutſche Volk in biederem Unverſtande ſich be; 
geiſterte, fuͤr einen Deutſchen. Allein das Reich iſt an jenem Tag in die 
Faͤnge eines Fremden geraten, in dem keine Ader deutſchen Weſens ſich 
regte. 

Es iſt nicht auszudenken, was unter ſeinem Regimente aus Deutſch⸗ 
land und ſeinen Großen geworden waͤre, haͤtte nicht Germanien in einem 
ſeiner Kleinſten eine geiſtige Macht beſeſſen, an der die Staatskunſt des 
Spaniers mit ihren weltumſpannenden Plaͤnen, mit ihren das halbe 
Weſteuropa umfaſſenden Mitteln zuletzt ſcheitern ſollte. 

Daß dieſer geiſtigen Macht in der entſcheidenden Zeit vergoͤnnt 
geweſen iſt, von Wittenberg aus auf das deutſche Volk einzuwirken und 
es mit einer Idee von unermeßlicher Spannkraft zu erfuͤllen, das haben 
wir, wie wir fruͤher wahrgenommen, dem ſaͤchſiſchen Kurfuͤrſten zu ver⸗ 
danken und, was uns jetzt klar geworden fein wird — der Politik Leo's X. 
Wir haben geſehen, wie Luther gegen Ende des Jahres 1518 täglich feiner 
Verurteilung gewaͤrtig war. Indes, das ganze Jahr 1519 verging und 
kein Bannſtrahl zuckte. Wie haͤtte auch der Papſt in der Hitze des Wahl⸗ 
kampfes, waͤhrend er Luthers Landesherrn und Goͤnner als kuͤnftigen 
Kaiſer ins Auge faßte, daran denken koͤnnen, den Prozeß wiederaufzu⸗ 
nehmen und zu Ende zu fuͤhren? Und als dann zu Frankfurt Leo X. eine 
empfindliche Niederlage erlitten hatte, da haͤtte er ſchon, um den Schein 
des Anſtandes zu wahren, noch eine Zeit lang an ſich halten muͤſſen, 
waͤre nicht ohnehin die Kurie ganz von der Aufgabe hingenommen geweſen, 
zu dem wider ihren Willen Erkorenen ein leidliches Verhaͤltnis zu gewinnen. 
So hat der Papſt erſt zu Anfang des Jahres 1520 den vor etwa vierzehn 


74 


Das Zwiſchenſpiel der Kaiſerwahl (1519) und der Bannſtrahl Leo's X. (1520) 


Monaten abgeriſſenen Faden des Prozeſſes wieder angeknuͤpft, nicht ohne 
der Anklage jetzt eine Spitze gegen den Kurfuͤrſten als „Feind der Religion“ 
zu geben, und dies mit deſto groͤßerer Heftigkeit, je ſchnoͤder ſein Liebes⸗ 
werben zuruͤckgewieſen war. Ganze fuͤnf Monate lang iſt jetzt, oft unter 
perſoͤnlicher Beteiligung des Papſtes und der Kardinaͤle, von den Juriſten 
und den Theologen des paͤpſtlichen Hofes an dem Verdammungsurteil 
gearbeitet worden. Erſt am 15. Juni konnte die Bulle ausgefertigt 
werden. Fromm mit Schriftworten geziert hebt ſie an: „Mache dich 
auf, Herr, und fuͤhre deine Sache, gedenke an die Schmach, die dir taͤglich 
von den Toren widerfaͤhrt (Pfalm 74, 22). Neige deine Ohren zu unſerer 
Bitte (Pfalm 88, 3). Denn es find hervorgekommen Fuͤchſe, die deinen 
Weinberg zu verwuͤſten trachten (vgl. Hoh. L. 2, 15), deſſen Kelter du 
allein getreten haft (vgl. Jeſ. 63, 3), und deſſen Pflege, Regiment und 
Verwaltung du, als du zum Vater auffuhreſt, Petrus als dem Haupte 
und deinem Statthalter und ſeinen Nachfolgern uͤbertragen haſt. Dieſen 
Weinberg unterwindet ſich zu zerwuͤhlen ein Eber aus dem Walde, und 
ein ſonderlich wildes Tier weidet ihn ab (Pſ. 80, 14)“. Man bezeichnet 
dieſes Aktenſtuͤck in der Regel und nicht ohne Grund als Bannbulle, 
obgleich der Bann hier erſt bedingungsweiſe ausgeſprochen wird. Die 
Bulle enthaͤlt dreierlei. Sie verwirft zunaͤchſt 41 Saͤtze Luthers, ver⸗ 
bietet ſodann ſeine Buͤcher, mit der Beſtimmung, daß ſie ſofort nach der 
Veroͤffentlichung der Bulle uͤberall feierlich verbrannt werden, und bedroht 
endlich Luther ſelbſt wie ſeine Goͤnner und Anhaͤnger fuͤr den Fall, daß 
ſie nicht binnen ſechzig Tagen widerrufen, mit dem Bann: nach Ablauf 
dieſer Friſt ſoll jede geiſtliche und weltliche Obrigkeit bei Strafe des 
Interdiktes verpflichtet ſein, ſie gefangenzunehmen und nach Rom aus⸗ 
zuliefern. 

Erſt drei Monate ſpaͤter kam die Bulle nach Deutſchland. Ende Sep⸗ 
tember wurde ſie durch Eck feierlich in den Bistuͤmern Meißen, Merſe⸗ 
burg und Brandenburg durch Anſchlag an die Tuͤren der drei Domkirchen 
veröffentlicht. 

Der päpftlihe Gewaltſtreich kam zu ſpaͤt! 

Der Reformator war ausgereift, und ſoeben hatte er auch — im 
Sommer 1520 — in ſeiner Schrift „An den Adel deutſcher Nation von 
des chriſtlichen Standes Beſſerung“ jenen entſcheidenden Angriff auf das 
Papſttum gemacht, der dieſes in ſeinen Grundfeſten erſchuͤtterte. Dazu 
ſtand er nicht mehr allein, ſondern hatte bereits einen großen Teil des 
deutſchen Volkes hinter ſich. 


75 


Der Angriff auf den Ablaß 


Als Leo X. im Mai kurz vor Vollendung der Bannbulle noch einmal 
unter Drohungen vom Kurfürften verlangt hatte, Luther zum Widerruf 
zu zwingen, hatte Friedrich geantwortet: es ſeien „dieſer Zeit in Deutſch⸗ 
land viel hochgelahrte und verſtaͤndige Leute, in Sprachen und jeder Art 
Wiſſenſchaft wohlbewandert; dazu fingen auch die Laien an klug zu werden 
und die Heilige Schrift zu verſtehen“; deshalb ſei nach dem Urteil vieler 
zu beſorgen, daß, wenn man Luther ohne ordentliche Pruͤfung ſeiner 
Lehre allein mit der Gewalt der Kirche angreife, die Sachen dadurch 
viel weitläufiger, ärger und gefährlicher werden möchten: „denn Luthers 
Lehre iſt alſo in das Volk in deutſchen Landen und daruͤber hinaus gebildet 
und hat ſo tiefe Wurzeln geſchlagen, daß, wenn er nicht mit vernuͤnftigen 
Gruͤnden und der Heiligen Schrift uͤberwunden, ſondern allein mit geiſt⸗ 
licher Gewalt und Beſchwerung angegriffen wird, das deutſche Land 
dadurch zu großem Unwillen und verderblicher Empoͤrung erregt werden 
wuͤrde“. Und dieſes Wort war geſchrieben, bevor noch die gewaltigen 
Schriften des Jahres 1520 ihre Wirkung getan hatten. 

Aber was war es denn, was in dieſer Weiſe zuͤndete? Weshalb hörte 
man auf das Wort des Wittenberger Moͤnches wie auf die Stimme eines 
Propheten? Weshalb klang gar manchem ſein Ruf wie der Hornſtoß 
des Waͤchters auf der Zinne, der nach langer, banger Nacht den Anbruch 
des Tages verkuͤndet? 

Es iſt Zeit, daß wir dem Neuen, was aus Luther ſprach und was dem 
Mittelalter ein Ende bereitete, nunmehr unſere Aufmerkſamkeit zuwenden. 


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9 


1. Luthers Eltern 


artin Luther war ein Sohn des Volkes, das will ſagen: 
ger war aus einer Schicht des Volkes hervorgegangen, 
* N deren Kraft noch nicht berührt war von einer Verfeine⸗ 
rung der Sitte und einer gehobenen Lebenshaltung, wie 

beide der hoͤhere Buͤrgerſtand und in anderer Weiſe der 


fahren das volkstuͤmliche Denken geſchwaͤcht. Er durfte von ſeinen Ahnen 
ſagen, daß fie ‚rechte Bauern‘ geweſen. Seit Geſchlechtern, dürfen wir 
annehmen, hatten ſie auf der naͤmlichen Scholle geſeſſen — dort, wo der 
Thuͤringer Wald im Suͤdweſten ſich zur Ebene ſenkt. Noch ſein Vater, 


77 


Der Reformator 


Hans Luther, war auf dem Bauernhofe zu Moͤhra groß geworden, und 
es war ein praktiſcher Beruf geweſen, in dem er, da das Erbe des Vaters 
nicht auf ihn uͤberging, auf ſich ſelbſt angewieſen, mit eigener Kraft ſich 
emporarbeitete, ſo daß er imſtande war, ſeinem aͤlteſten Sohne, wenn 
auch unter Muͤhen und Sorgen, eine beſſere Bildung zu geben, als 
ſie ihm ſelber beſchieden war. Das einfache Weſen des Volkes lebte auch 
in Luthers Mutter. Von ihr iſt der Knabe tief eingetaucht worden in 
alles das, was das Volk ſich erzaͤhlte, was es liebte und was es fuͤrchtete, 
in ſeine Sagen und in ſeine Vorſtellungen von der Natur und ihren 
geheimen Kraͤften. Auch der breite Strom des Aberglaubens, deſſen fruͤheſte 
Zufluͤſſe noch auf dem Gebiete des germaniſchen Heidentums lagen, 
fand ſo Zugang zu ſeiner Seele, und vieles von dem, was damals ein⸗ 
drang, iſt Zeit ſeines Lebens nicht gewichen. Er hoͤrte von den Geiſtern, 
von den guten, wie den „Wichteln“ (Wichtelmaͤnnern) und „Helkaͤpplein“ 
(Tarnkaͤppchen), und noch mehr von den boͤſen, wie den ‚Alpen‘, die 
ſchlimmes ‚Herzgefpann‘ verurſachten, und den Hexen, welche Vieh und 
Menſchen, beſonders die Kinder zu bezaubern, durch grauſames Unwetter 
und Hagel den Saaten zu ſchaden vermochten, die Eier aus den 
Huͤhnerneſtern ſtahlen und den Kuͤhen die Milch entzogen. Gerade damals 
gewann der Hexenglaube eine ſteigende Macht uͤber die Gemuͤter, und 
auch Luthers Mutter war dieſem Wahne verfallen: arg wurde ſie von 
dem boͤſen Zauber einer Nachbarin geplagt, die „ihr die Kinder ſchoß, daß 
ſie ſich zu Tode ſchrieen“. Einzelne Schriften des Reformators ſind noch 
heute eine Fundgrube fuͤr unſere Kenntnis dieſes mannigfachen Volks⸗ 
aberglaubens. 

Aber auch die Unmittelbarkeit und Natuͤrlichkeit des Empfindens in 
Luther, ſeine Freude an der Natur, das friſche Mitleben mit ihr werden 
wir als ein ſchoͤnes Erbteil ſeiner Vaͤter betrachten duͤrfen. Weder die 
moͤnchiſche Gewoͤhnung noch die tiefe Schulgelehrſamkeit, welche ein 
Jahrzehnt ſeines Lebens ihm die beſten Kraͤfte koſtete, hat ihm jenes Erbe 
zu verkuͤmmern vermocht. Sein heiterer Sinn fand ringsum die Gegen⸗ 
ſtaͤnde des Ergoͤtzens und genußreicher Beobachtung. Die zarten Töne 
ſeiner Naturfreude erinnern an bekannte Außerungen Bismarcks, deſſen 
Kraftbetaͤtigungen in der Natur ihm doch verſagt geblieben ſind. 

Wir wiſſen es nicht, ob er den ſinnigen und zarten Zug ſeines Weſens 
der Mutter verdankt, deren leibliches Ebenbild er war. Die Eltern ſtehen 
fuͤr uns leider nicht in dem hellen Lichte der Geſchichte. Die phantaſie⸗ 
vollen Schilderungen, die man in neuerer Zeit von ihnen gegeben, haben 


78 


Luthers Eltern 


nur Wert als Zeichen des lebhaften Verlangens, in die Verhaͤltniſſe eins 
zudringen, in denen Daſein und Eigenart des Gewaltigen ſich gebildet haben. 
Vom Vater wiſſen wir nur: er war feſt und zuverlaͤſſig, ernſt und ſtrenge, 
allem Scheine abhold — nicht zuletzt auf dem Gebiete des religioͤſen Lebens. 
Die einfache Betaͤtigung der Froͤmmigkeit in Haus und Beruf ſtand ihm 
hoͤher als das moͤnchiſche Jagen nach beſonderer Heiligkeit: als gleißneriſch 
erſchien es ihm wohl. Daß ſein Alteſter, der Magiſter Martinus, den er im 
Geiſte bereits als einen tuͤchtigen Rechtsgelehrten wirken ſah, den er ſoeben 
in das Joch der Ehe mit einem ehrſamen und vermoͤgenden Maͤdchen zu 
ſpannen vorhatte, wider des Vaters Willen, ja ohne ſein Wiſſen Moͤnch 
geworden war, hat er lange nicht verwinden koͤnnen. Es war zwei Jahre nach 
der Flucht des Sohnes aus der Welt, als er 1507 aͤußerlich feinen Frieden 
mit ihm machte. Er erſchien im Erfurter Kloſter, um einen Ehrentag mit 
ihm zu feiern: der junge Prieſter las ſeine erſte Meſſe. Nach der Vorſtellung 
der Zeit von der Hoheit der Prieſterwuͤrde durfte der Oreiundzwanzigjaͤhrige 
wohl waͤhnen, etwas Großes erreicht zu haben. So wagte er es in kindlichem 
Vertrauen, dem Vater die Heftigkeit ſeines Unwillens, ja Zornes vorzu⸗ 
ruͤcken. Allein die Antwort lautete kurz und hart: „Haft du nicht gehört, 
daß man den Eltern gehorſam fein ſoll?“ Der Sohn drang weiter auf den 
Vater ein: er ſei „mit einer erſchrecklichen Erſcheinung vom Himmel 
gerufen worden“ und habe, „von Schrecken und Angſt jaͤhen Todes umgeben, 
ein gezwungenes und gedrungenes Geluͤbde getan“. Auch das machte 
keinen Eindruck auf den Alten. „Gott gebe“, erwiderte er, „daß es nicht ein 
Betrug und teufliſch Geſpenſt war“. Das vierte Gebot geht dem Ratſchlag 
der Kirche und aller ſelbſtgewaͤhlten Heiligkeit, mag ſie auch auf einen Ruf 
vom Himmel ſich berufen, unbedingt vor. Daran hielt er ſich — ein erfreu- 
licher Zug des religioͤſen Lebens in dem einfachen Manne: das roͤmiſche 
Weſen hatte das geſunde Empfinden doch nicht in allen zerſtoͤrt. Auch ſonſt 
hat der alte Luther, obwohl durchaus kirchlich fromm, dies gezeigt. „Mein 
Vater“, erzaͤhlt der Sohn, „war einmal zu Mansfeld todkrank, und da 
der Pfarrherr zu ihm kam und ihn ermahnte, daß er der Geiſtlichkeit etwas 
beſcheiden ſollte, da antwortete er aus einfältigem Herzen: „Ich hab“ viel 
Kinder, denen will ich's laſſen, die beduͤrfen“s beſſer.“ — 


Der Reformator 


2. Luther im Kloſter. Die Eroberung einer neuen religioͤſen Welt 


urch einen „Schrecken vom Himmel her“ wollte Luther 
N ins Kloſter getrieben fein. Er deutet damit hin auf ein 
2 Zi * furchtbares Unwetter, das ihn Anfang Juli 1505 unweit 
5 Erfurt im Freien uͤberfiel. Allein, das Gewitter, noch 
e fo heftig, würde dem „fröhlichen Geſellen“, als welchen 

i n ſeine Freunde zu ruͤhmen wußten, ſicher nicht das 
Gelübde entlockt haben: „Hilf, liebe Sankt Anna, ich will ein Moͤnch wer⸗ 
den!“ — hätte er nicht laͤngſt unter dem Banne einer Macht geſtanden, die 
ſein Innerſtes aufwuͤhlte und mit ſchreckhafter Unruhe erfuͤllte. Dieſe Macht 
war ſein Gewiſſen. Zwar vermochte es ſeine Anklagen nicht etwa durch den 
Hinweis auf ein leichtſinniges Leben zu begruͤnden: auch der ſcharfe Blick der 
Feinde hat ſpaͤter an dem Treiben des Erfurter Studenten keinen Makel 
entdecken koͤnnen. Aber auch aus ſeiner Wiſſenſchaft konnten die anklagen⸗ 
den Gedanken nicht ſtammen. Noch hatte er ſich mit der Theologie nicht 
beſchaͤftigt. Sein nahezu vierjaͤhriges Studium zu Erfurt bis zur 
Erlangung der Würde eines „Magiſters der freien Kuͤnſte“ (15011505) 
hatte ihn tief in die verſchiedenen Gebiete der Philoſophie eingefuͤhrt; mit 
Eifer hatte er ſeinen Scharfſinn in der Loͤſung verwickelter Fragen geuͤbt 
und ihn in den Disputationen gewandt zu betaͤtigen gelernt. Daneben aber 
hatte er, wohl durch einige junge Humaniſten angeregt, deren vorwiegend 
auf die Form gerichtetes Intereſſe er freilich nicht teilte, ſich unbefangen 
in das klaſſiſche Altertum verſenkt, mit Luſt und Liebe ſeine Philoſophen, 
Geſchichtſchreiber und Dichter geleſen (zwei der letzteren, der Luſtſpiel⸗ 
dichter Plautus und der gefuͤhlvolle und fromme Virgil, waren es nach⸗ 
mals, welche als die einzigen Buͤcher ihn in die Einſamkeit des Kloſters 
begleiteten). Seit ein paar Monaten lag er nun dem Studium der Rechte 
ob. Dieſes hat ihn allerdings in keiner Weiſe zu befriedigen vermocht, 
wird aber an ſeinem Entſchluſſe, die Welt zu verlaſſen, kaum beteiligt 
geweſen ſein. Den Anſtoß zu ihm und zu den Kaͤmpfen, die des jungen 
Moͤnches warteten, und in denen es zu der Geburt der modernen Welt 
kommen ſollte, hat etwas ganz anderes gegeben; etwas, das heute vielen 
von denen, die ſich des Genuſſes der von ihm eroberten Guͤter erfreuen, 
altmodiſch vorkommt, wenn nicht gar ebenſo toͤricht wie uͤberfluͤſſig 
erſcheint: die Tiefe des Suͤndengefuͤhls, in dem er ſich von Gott getrennt 
wußte, demſelben Gott, nach dem er doch ſo heiß verlangte. Es marterte 


80 


Luther im Kloſter. Die Eroberung einer neuen religiöfen Welt 


ihn die Frage: „O, wann willſt du einmal fromm werden und genugtun, 
daß du einen gnaͤdigen Gott kriegeſt?“ Was in feinem Gewiſſen dieſe 
Frage hat erwachen laſſen, noch vor jenem aͤußeren Ereignis — wir 
wiſſen es nicht. Er hat uͤber die Geburt ſeines inneren Lebens mit Zart⸗ 
gefühl den Schleier des Geheimniſſes gebreitet und nur ab und zu wie 
abſichtlos einen Zipfel geluͤftet. Aber jene Frage ſelber, was verrät fie 
denn? Indem in ihr die Sehnſucht nach dem „gnaͤdigen Gott“ laut 
wird, iſt ſie nichts anderes als der Naturlaut der Religion, ein Laut, 
ſo alt wie die Menſchheit. Indem „Gott genugtun als Mittel der 
Beſaͤnftigung der Gottheit hingeſtellt wird, vernehmen wir eine Stimme, 
die zwar durch ſo viele Religionen hindurchgeht, die aber doch gerade im 
Munde eines mittelalterlichen Chriſten am wenigſten uͤberraſchen kann. 
Wie viel hörte er doch von dem Syſtem von „Genugtuungen', das ſich 
durch das katholiſche Chriſtentum hindurchzog? Und wie trat ihm doch 
die Forderung ‚genugzutun perſoͤnlich nahe, fo oft er dem Prieſter 
beichtete? Wer es aber ernſter nahm, ſo daß ihm die paar auferlegten 
Werke der Genugtuung nicht genuͤgen wollten, der mußte ſich erinnern 
an das, was man auf allen Gaſſen vernahm, daß man Gott nicht 
vollkommener genugtun konnte, als durch die Aufgabe des irdiſchen 
Berufes, durch das Verlaſſen von Vater und Mutter, durch das Fliehen 
der „Welt', die ruͤckhaltloſe Hingabe an den Dienſt Gottes, durch ein Leben 
fortwaͤhrender „Kreuzigung des Fleiſches“, unausgeſetzter Selbſtertoͤtung, 
durch dieſes „irdiſche Fegefeuer, in dem“, wie es hieß, „der Roſt vieler 
Suͤnden gereinigt werde“. Schon von Bernhard von Clairvaux an feierte 
man den Eintritt in einen Orden als eine zweite Taufe‘, durch welche das 
Fegefeuer ausgelöfcht werde. Da erſchien dem heilsbegierigen Sünder 
die Pforte des Kloſters wie das Eingangstor zu jenem ſteilen Wege, der 
am ſicherſten zum Himmel fuͤhrte. 

An dieſes Tor klopfte am 17. Juli 1505 auch Martin Luther. 

Mit dem ſteilen Wege war es ihm ein heiliger Ernſt. Faſt nicht 
genugtun konnte er ſich in den moͤnchiſchen Übungen und Kaſteiungen. 
Noch mehr als die Regel forderte, mutete er ſich zu, mehr als ſein von 
Hauſe aus kraͤftiger Koͤrper ertragen konnte, ſo daß er ſpaͤter urteilte, 
er ſei im Kloſter „um des Leibes Geſundheit gekommen“. Eine Zeit 
lang ſcheint er in der ſaueren Arbeit fuͤr ſein Seelenheil, der uͤbrigens das 
angeſtrengteſte Studium der Theologie zur Seite ging, wirkliche Befrie⸗ 
digung und Ruhe gefunden zu haben. Aber von Dauer war ſie nicht. 
Die Beobachtung, wie mangelhaft doch in den Augen des heiligen Gottes 


6 Brieger, Reformationsgefchichte 81 


Der Reformator 


ſein redlichſtes Tun ſei, ließ den Zweifel in ihm erwachen, daß er auf 
dieſem Wege Gott genugtun koͤnne, und mehr und mehr drohte der Zweifel 
zur furchtbaren Gewißheit zu werden. Da mußte er die Erfahrung 
machen: ſeine Kirche ließ ihn im Stich, ihre heiligenden Sakramente ſo 
gut wie die von ihr empfohlenen Mittel der Selbſtheiligung. Die Gewiß⸗ 
heit des Heiles, nach der er verlangte, hatte ſie ihm ſo wenig gegeben, 
daß ihm in ſo mancher bitteren Stunde nichts ſicherer zu ſein ſchien als 
die ewige Verſtoßung von Gottes Angeſicht. Vorlaͤngſt hatte die Kirche 
mit ihrem Prieſtertum und Opferweſen ſich eingedraͤngt zwiſchen die 
Seele und ihren Gott, und alles, was nur in ihrer Macht ſtand, hatte 
ſie aufgeboten, Gott mit einem Walle zu umſchanzen, durch deſſen geheime 
Pforte ſie und ſonſt Niemand zu fuͤhren vermochte. Hier fiel ihre Mittler⸗ 
ſchaft zu Boden. Dieſer Moͤnch ſah ſich ſeinem Gott allein gegenuͤber 
— in den harten Kämpfen feiner Seele. 

Wir ſind, wie ſchon angedeutet, nicht naͤher in ſie eingeweiht, wiſſen 
aber doch genug von ihnen, um ſagen zu koͤnnen, daß es heroiſche geweſen 
find. Die landlaͤufigen Fehden, welche dem Weltfluͤchtigen der Ruͤck⸗ 
ſchlag einer raffiniert unterdruͤckten Sinnlichkeit zu erwecken pflegt, ließen 
ſie tief unter ſich. Es war ein Ringen der hoͤchſten Maͤchte der Welt. 
Denn hier kaͤmpfte eine unſterbliche Seele mit ihrem allgewaltigen 
Schoͤpfer. Durch ihre Suͤnde fuͤhlt ſie ſich von Gott geſchieden, der doch 
allein ſie befriedigen koͤnnte. Sie ſieht in ihm nur den furchtbaren und 
ſchrecklichen Richter und deshalb ihren Feind, und in dem Gefuͤhl durch⸗ 
dringenden Schmerzes uͤber ihre unſelige Lage durchkoſtet ſie nichts 
anderes als die Qualen einer Ewigkeit. „Ich kenne einen Menſchen“, ſo 
ſchrieb Luther 1518 in den Erläuterungen feiner Theſen, „ich kenne einen 
Menſchen, der mir verſichert hat, daß er oͤfter Qualen erduldet habe, 
allerdings nur ganz kurze Zeit, aber ſo heftige und infernale, daß keine 
Zunge ſie ausſagen, kein Griffel ſie beſchreiben, keiner, der ſie nicht 
erfahren, ſie glauben koͤnne, ſo daß, wenn ſie ganz an ihm ſich vollendet 
oder auch nur eine halbe, ja eine zehntel Stunde gedauert haͤtten, er 
gaͤnzlich haͤtte vergehen muͤſſen, und alle ſeine Gebeine zu Aſche ver⸗ 
brannt waͤren. Da erſcheint Gott als furchtbar zornig und mit ihm die 
ganze Schoͤpfung. Da gibt es keine Flucht, keinen Troſt, weder innen 
noch außen, ſondern alles iſt Anklage. Da wehklagt er: ‚verſtoßen bin 
ich von deinem Angeſicht', und er wagt nicht einmal zu flehen, Herr 
ſtrafe mich nicht in deinem Zorn“. In dieſem Augenblicke kann die Seele 
— es iſt wunderſam zu ſagen — nicht glauben, daß ſie jemals erloͤſt 


82 


Luther im Kloſter. Die Eroberung einer neuen religiöfen Welt 


werden koͤnne; ſie fuͤhlte nur: die Strafe hat ihr Maß noch nicht erreicht; 
es iſt doch eine ewige, und ſie kann ſie nicht fuͤr eine zeitliche halten. Es 
bleibt ihr nur die bloße Sehnſucht nach Huͤlfe und ein ſchrecklich Seufzen; 
aber ſie weiß nicht, wo ſie um Huͤlfe bitten ſoll. Hier iſt die Seele aus⸗ 
geſpannt mit Chriſto, daß man alle Gebeine zaͤhlen kann; und es gibt 
keinen Winkel in ihr, der nicht erfuͤllt waͤre von bitterſter Bitternis, von 
Schauder, Entſetzen, Traurigkeit, die ewig duͤnken“. So Luther unzweifel⸗ 
haft uͤber ſich ſelbſt. Er laͤßt uns damit etwas ahnen von den Abgruͤnden 
tiefſten Seelenſchmerzes in dieſer doch ſo kernigen, geſunden, nichts 
weniger als weichlichen Natur. „Alles iſt Anklage“ — alles verſenkt 
momentan in die tiefe Nacht der Hoffnungsloſigkeit, durch die gleichwohl 
nicht erſtickt zu werden vermag das ſtille Feuer der Sehnſucht in der bang 
aufſeufzenden Seele. 

Wie iſt es nun anders geworden? Was hat ihm geholfen? Das 
Wort eben des Gottes, vor dem er ſich fuͤrchtete, iſt es geweſen, was 
ihm Troſt brachte. Das Wort Gottes, das will ſagen: ſeine Verheißungen. 
In bruͤderlicher Zuſprache zuerſt traten ſie ihm nahe (es war ein Zeugnis 
des „Glaubens“, der nie in der Kirche untergegangen war), dann in 
der Schrift, auf die er ſich hingefuͤhrt ſah. Laͤngſt kannte er dieſe Ver⸗ 
heißungen; aber ſie waren ihm unfaßbar geblieben. Jetzt endlich erſchloß 
ſich ſeinem Heilsverlangen ihr Verſtaͤndnis. Der Gedanke von der Barm⸗ 
herzigkeit Gottes, des naͤmlichen, von deſſen Feindſchaft ſein Gewiſſen 
zeugte, geht ihm auf — als ein fernes, noch ſchwaches Licht zuerſt, dann 
heller und heller leuchtend, ſchließlich ſeinen ganzen Weg, ja Zeit und 
Ewigkeit ihm erhellend. Aber Barmherzigkeit Gottes, was verkuͤndet 
ſie? und wodurch wird ſie verbuͤrgt? Mutet ſie doch den von der Not 
ſeiner Suͤnde Niedergebeugten wie eine unglaubliche Botſchaft an. Die 
Natur oder, wie Luther ſich ausdruͤckt, die Kreatur weiß nichts von ihr, 
des Menſchen Herz weiß nur das Gegenteil, die Geſchichte kennt ſie auch 
nicht — abgeſehen von einer Tat, in welcher Gott ſich geoffenbart hat, 
aus der allein er demnach zu erkennen iſt: der Sendung ſeines Sohnes, 
des Menſchen Chriſtus. Dieſe Tat der Liebe, wie ſie ihm aus dem Worte 
Gottes entgegentritt als deſſen Kern und Stern, ja einziger Inhalt, 
uͤberwaͤltigt ihn. Sie ergreift ihn und ſo ergreift er ſie. Der bei allem 
Verlangen nach Gott Gott erſchrocken Fliehende gewinnt Zutrauen zu ihm 
wie das Kind zu dem vergebenden Vater, deſſen Liebe durch keinen Zorn 
hatte geſchmaͤlert werden koͤnnen. Jetzt wird er deſſen gewiß, daß er an 
Gott einen gnaͤdigen Gott hat, durch Chriſtus hat, „den Spiegel des 


6* 83 


Der Reformator 


vaͤterlichen Herzens Gottes“; und er fuͤhlt ſich (ohne jede Kuͤnſtelei eines 
myſtiſchen Aufſchwunges) geborgen in Gott, nicht anders als wie das 
Kind ſich geborgen fuͤhlt in der Huld ſeines Vaters — und das iſt der 
Glaube, mit dem er Gott umfaßt, der Glaube, der ſich ſelber als ein 
Geſchenk Gottes weiß, als der reine Ausfluß ſeiner Barmherzigkeit, ganz 
umſonſt, ohne Verdienſt gegeben. 

Der Glaube — das war die Entdeckung, die Luther in dieſen Kaͤmpfen 
machte — iſt gar nichts anderes als Vertrauen zu Gott, ein Zutrauen 
zu ihm, ein „feſtiglich Trauen, daß man Gott wohlgefalle“, und damit 
eine Macht, die das ganze Leben bildend, geſtaltend beherrſcht. „Ein 
Chriſtenmenſch, der in dieſer Zuverſicht zu Gott lebt“, ſagt Luther in 
einer ſeiner großartigſten Schriften („Von den guten Werken“, 1520), 
weiß alle Dinge, vermag alle Dinge, vermiſſet ſich aller Dinge, was zu 
tun iſt, und tut's alles froͤhlich und frei, nicht um viel guter Verdienſte 
und Werke zu ſammeln, ſondern daß ihm eine Luſt iſt Gott alſo wohl⸗ 
gefallen und daß er lauterlich umſonſt Gott dienet, ſich daran genuͤgen 
laͤſſet, daß es Gott gefällt”. „Solche Zuverſicht und Glaube bringen mit ſich 
Liebe und Hoffnung. Ja, wenn wir's recht anſehen, fo iſt die Liebe das 
erſte oder je zugleich mit dem Glauben. Denn ich moͤchte Gott nicht 
trauen, wenn ich nicht gedaͤchte, er wollte mir guͤnſtig und hold ſein, 
dadurch ich ihm wieder hold und beweget werde, ihm herzlich zu trauen 
und alles Guten zu ihm mich zu verſehen“. 

Wie weit ſticht doch dieſe Art des Glaubens von dem ab, den die 
Kirche des Mittelalters forderte! Glaube war da Vertrauen auf die 
Kirche, Unterwerfung unter ihre Gewalt, blinder Gehorſam gegen ſie, 
weiter die Annahme einer Summe von Lehrſaͤtzen, d. h. ein Fuͤrwahr⸗ 
halten derſelben um der Kirche willen. 

Hier iſt der Glaube, in einem religioͤſen Erlebnis gewonnen, etwas 
ganz Perſoͤnliches, eine beſtimmte Stellung zu Gott, die das Herz froͤhlich 
und gewiß macht, das geringſte Werk des Berufes zu einem Gottes dienſt 
geſtaltet — das freieſte zugleich, was es gibt, frei gegenuͤber allen aͤußeren 
Autoritaͤten; keine Kirche, kein Dogma darf ihm befehleriſch entgegen⸗ 
treten, ja ſelbſt der Heiligen Schrift unterwirft ſich der Glaube nicht, 
weil etwa die Kirche ihn verſichert, ſie ſei Gottes Wort, ſondern was, Gottes 
Wort ſein will, muß ſich vor dem Glauben als ſolches ausweiſen: er 
iſt „der Richter uͤber alles“. 

Dieſer Glaube iſt der Mittelpunkt des ganzen Chriſtentums Luthers, 
ja, recht verſtanden, der Inbegriff ſeines Chriſtentums. Er macht dieſes 


84 


Das reformatoriſche Prinzip das Ende des Mittelalters 


zu dem einfachſten und kindlichſten: ohne jede theologiſche Kunſt iſt es 
zu verſtehen und ohne alle hohen Worte menſchlicher Weisheit iſt es 
wiedergegeben, faßbar fuͤr den Geiſtesaͤrmſten und jeder Bildung baren, 
der nur die religioͤſen Vorbedingungen beſitzt: Gefuͤhl ſeiner Gott⸗ 
entfremdung und Sehnſucht nach Gott. 


3. Das reformatoriſche Prinzip das Ende des Mittelalters 


a iefer Glaube — braucht es noch erſt ausdruͤcklich geſagt 
zu werden? — iſt zugleich das Neue, was, in manchem 


e Luther zum Durchbruch gekommen iſt und das Mittel⸗ 
N alter grundſaͤtzlich überwunden hat! 

I Warum iſt er des Mittelalters Ende? Wer dieſen Glau⸗ 
ben hat, der ſteht religioͤs auf feſtem Grund und Boden und — auf eige⸗ 
nen Fuͤßen; er uͤberlaͤßt die Verantwortung fuͤr ſein Heil nicht mehr oder 
weniger der Kirche, ſondern iſt ſich ſeiner eigenen Verantwortung bewußt, 
weiß, daß keine Macht der Welt ſie ihm abnehmen koͤnnte. Damit iſt das 
ganze hierarchiſche Gebaͤude uͤber den Haufen geſtuͤrzt, geſprengt der 
Grundſtein, der das mittleriſche Prieſtertum trug. Petrus hat die Schluͤſſel 
des Himmelreiches abgeben muͤſſen, jeder glaͤubige Chriſt beſitzt ſie fortan. 
Aus der ſchwaͤchlichen Religion des Mittelalters iſt eine mannhafte 
geworden. 

Grundſaͤtzlich, ſagte ich, im Prinzip, iſt durch jenes Neue in Luther 
das Mittelalter uͤberwunden worden. Daß es auch uͤberall in der Wirk⸗ 
lichkeit niedergekaͤmpft ſein ſollte, koͤnnen wir von vorneherein nicht 
erwarten. Große, bahnbrechende Prinzipien brauchen Zeit, ſich in der 
Welt durchzuſetzen, und je tiefer ſie greifen, je reicher ihr Inhalt iſt, deſto 
langſamer wirken ſie naturgemaͤß ſich aus. Hier aber war ein Prinzip 
von unermeßlichem Reichtum in die Geſchichte eingetreten. So hat es 
nichts Auffallendes, wenn es dem Reformator ſelber, um das gleich hier 
im voraus hervorzuheben, nicht beſchieden geweſen iſt, nach allen Seiten 


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Der Reformator 


hin die Folgerungen aus feinem ‚Evangelium‘ zu ziehen. Schon für ihn, 
den einzelnen, waͤre das eine uͤbermenſchliche Aufgabe geweſen: wir 
muͤhen uns heute noch um ihre Loͤſung, und noch Geſchlechter werden 
hier Arbeit in Menge finden. Aber auch die Zeit waͤre unvermoͤgend 
geweſen, die ganze Fuͤlle deſſen, was in dem Prinzip der Reformation 
beſchloſſen lag, in ſich aufzunehmen. 

Luther iſt zwar nie in Gefahr geweſen, mit ſeinem Prinzip zu brechen, 
um keinen Preis der Welt wäre er ‚zuruͤckgekrochen'. Aber, ohne es zu 
wiſſen, hat er einzelne Stuͤcke ſeiner alten Weltanſchauung, welche er 
haͤtte ausfegen muͤſſen, weiter in ſich beherbergt. Auch hat es nicht an 
Stunden gefehlt, in denen er nicht im Stande geweſen iſt, ſich auf der Höhe 
ſeiner grundſaͤtzlichen Anſchauung zu halten. Man kann daher gar manches 
Mittelalterliche mit Worten oder Taten des großen Mannes decken, aber 
nur, wenn man die Augen verſchließt vor dem, worin ſeine geſchichtliche 
Groͤße beſteht. Es gibt heute im Proteſtantismus Parteien, denen bange 
wird bei den Folgerungen, die ſich uns aus Luthers grundſaͤtzlicher Stellung 
zum Dogma und vollends zu der Heiligen Schrift ergeben. Da klammern 
fie ſich an jene Überbleibſel des Mittelalters in ihm. Er hat einmal das 
kuͤhne Wort geſprochen: „Dringen meine Gegner wider Chriſtum auf die 
Schrift, ſo will ich wider die Schrift auf Chriſtum dringen“. Jenen 
kleinglaͤubigen Proteſtanten gegenuͤber hat Luther ſelbſt damit unſere 
Aufgabe hingeſtellt: dringen jene wider das reformatoriſche Prinzip auf 
Luther, ſo dringen wir wider Luther auf das reformatoriſche Prinzip oder 
lieber, denn dazu haben wir ein gutes Recht, auf den Reformator Luther. 

Und an dem duͤrfen wir unſere helle Freude haben, auch wenn wir 
die angedeuteten Schranken, die ihm und ſeiner Zeit geſetzt waren, nicht 
uͤberſehen. Er fuͤhrt den Fruͤhling herauf, und alle Wonne, die der Lenz 
mitbringt inmitten von Sturm und Drang, hat ſeine Zeitgenoſſenſchaft 
in den erſten Jahren ſeines reformatoriſchen Vorgehens in tiefſter Seele 
empfunden. 


Das Erwachen des reformatoriſchen Bewußtſeins in Luther 


4. Das Erwachen des reformatoriſchen Bewußtſeins in Luther 


Ils Luthers innere Kaͤmpfe mit jenem religioͤſen Erlebnis 
a N ein Ende gefunden hatten, da wußte er zwar, daß er 
e ein anderer geworden ſei: er war jetzt mit feinem Gott 
N A im Bunde und meinte „durch weit geöffnete Pforten 
2 ins Paradies eingetreten“ zu ſein. Aber, was dieſer ihn 
beſeligende, Glaube mit fich brachte, daß er ausſchlagen 
muͤſſe zu einem voͤlligen Umſturz alles Beſtehenden, davon hat er Jahre 
lang keine Ahnung gehabt, auch (wir wiſſen es ſchon) damals noch nicht, als 
er kuͤhnen Mutes zum Angriff auf den Ablaß ſchritt. Erſt langſam wurde 
er ſich der folgenſchweren Bedeutung deſſen, was er in ſich trug, bewußt, 
eben in jenen Fehden mit den Gegnern, die ihn von der Ablaßfrage aus 
weiter und weiter draͤngten und ihn noͤtigten, die Anſpruͤche des Papſt⸗ 
tums einer Pruͤfung zu unterziehen, wie mit dem Maßſtabe der Bibel ſo 
an der Hand der Geſchichte. So zog er nach und nach die Folgerungen, 
deren es nach Lage der Dinge bedurfte, und erkannte allgemach die 
Unvereinbarkeit des Evangeliums mit dem roͤmiſchen Weſen. Das Papſt⸗ 
tum erſchien ihm jetzt als der vollendetſte Gegenſatz zu Chriſtus und ſeiner 
Kirche. Dieſe Erkenntnis goß er in eine Form, welche ihm eine in den 
letzten Jahrhunderten weit verbreitete Vorſtellung gab: es war die Idee 
von dem Kommen des Antichriſts. Der Gedanke, daß dieſer und niemand 
anders gegenwaͤrtig in der roͤmiſchen Kurie regiere, war ſchon vor Jahr 
und Tag in ihm aufgedaͤmmert. Alles, was er ſeitdem erlebt und 
erfahren hatte, war nur geeignet geweſen, jenen anfangs ſchuͤchtern 
auftauchenden Gedanken zur feſten Überzeugung zu wandeln: Hie Chriſtus 
und ſein Evangelium, dort der Antichriſt mit ſeiner Luͤge. 

Mit dieſer, wiederum nur in unausgeſetzten inneren Kaͤmpfen 
gewonnenen, Erkenntnis hatte Luther die Hoͤhe ſeines reformatoriſchen 
Berufes erreicht. Seine eigene Aufgabe ſtand jetzt klar vor ihm. Er ſah 
nicht rechts, er ſah nicht links, er blickte nur auf das Evangelium. Deſſen 
Sache mußte er fuͤhren, und was das hieß, das wußte er. „Glaube nicht,“ 
fo ſchrieb er im Februar 1520 feinem vertrauteſten Freunde (Spalatin), 
„daß man die Sache des Evangeliums fuͤhren kann, ohne dadurch 
Unruhe, Argernis, Aufruhr zu erregen. Du kannſt aus dem Schwerte 
nicht eine Feder machen, noch aus dem Kriege Frieden. Das Wort 
Gottes iſt ein Schwert, es iſt Krieg, Umſturz, Argernis, Verderben, Gift.“ 


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Der Reformator 


Jetzt erſt trat er mit Bewußtſein, mit trotzigem Willen auf den Kampf⸗ 
platz und, ſeiner Sache gewiß, ſtritt er mit unwiderſtehlicher Gewalt. Wie 
ein Bergſtrom, vor dem nichts ſtandhalten kann, flutete ſeine Rede: voll Haß 
und voll Liebe (jener nur die Kehrſeite von dieſer), zornig und einſchmei⸗ 
chelnd, rauh, derb und doch zart und innig, ſprudelnd bald von verletzen⸗ 
dem Hohn, bald von gutmuͤtigem Humor — in allem von der echteſten 
Leidenſchaft und jener ungeſchminkten Wahrheit, die ohne Scheu das 
Innerſte mit ſeinen Falten und Schlupfwinkeln vor der ganzen Welt 
bloßlegt. Welcher Gegenſatz zu dem eitelen Pomp und Getoͤſe der Worte, 
mit dem einſt die Maͤnner der Renaiſſance zu betaͤuben wußten, und 
woruͤber, mit Ausnahme von ein paar ernſthaften Gelehrten, auch die 
deutſchen Humaniſten von damals nicht hinauskamen, wenn nicht etwa, 
wie bei Ulrich von Hutten, der Hauch der Vaterlandsliebe oder wenig⸗ 
ſtens, wie in den „Dunkelmaͤnnerbriefen“, der Haß gegen die moͤnchiſchen 
und pfaͤffiſchen Gegner den Worten Inhalt gab. Hatte Petrarca in ein⸗ 
ſamer Hoͤhe uͤber ſeiner Zeit gethront und in dem Bewußtſein ſeiner 
Erhabenheit auf das Gewimmel der Kleinen unter ihm voll Verachtung 
herabgeſehen, ſo aͤußert ſich bei Luther die wahre Groͤße in dem Gefuͤhl 
der Dienſtbarkeit, in der er ſich dem Geringſten gegenuͤber verpflichtet 
weiß. „Wiewohl ich“, ſchrieb er zu jener Zeit, „ihrer viele weiß und taͤglich 
hoͤre, die meine Armut gering achten und ſprechen, ich mache nur kleine 
Sexternlein [Broſchuͤren! und deutſche Predigten für die ungelehrten 
Laien, laß ich mich nicht bewegen. Wollt“ Gott, ich hätt’ Einem Laien 
mein Lebtag mit allem meinem Vermoͤgen zur Beſſerung gedienet, ich 
wollt“ mir genuͤgen laſſen, Gott danken und gar willig hernach alle meine 
Büchlein laſſen umkommen“. Dieſe feine Dienſtbarkeit iſt es, wodurch er 
die deutſche Volksſeele hingeriſſen hat, Hoch und Niedrig, die Einfaͤltigſten 
wie die Gebildeten. Durch dieſe Selbſthingabe hat er ſie empfaͤnglich gemacht 
für das, was er ihnen zu geben im Stande war, und was ihr Verlangen ſtillte. 


Die Abſage an das antichriſtiſche Papſttum und die Eröffnung des Angriffes 
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5. Die Abſage an das antichriftifche Papſttum und die Eröffnung 
des Angriffes 


s war Anfang Juni 1520 (in den naͤmlichen Tagen, 
LE, N] wo in Rom die Bannbulle im Begriff war vom 
Stapel zu laufen), als Luther den Kampf eröffnete: 
mit einer Abſage, aus der ein tiefer Schmerz und ein 
ET flaſt wilder Zorn zugleich ſprechen. Den Anlaß gab eine 
EMH neue Schrift des Silveſter Mazzolini Prierias, die ihm 

damals zuging. In ihr verherrlichte der Haustheologe Leo's X. die 
Allgewalt des Papſtes in ausſchweifendſter Weiſe und feierte die richter⸗ 
liche Entſcheidung des Statthalters Chriſti als „himmliſchen Wahrſpruch“, 
dem ein jeder Glaͤubige bei Strafe des „zeitlichen und ewigen Todes“ ſich 
unterwerfen muͤſſe. Luther hielt es fuͤr angezeigt, das Machwerk „zu Ehre 
und Ruhm aller Feinde der chriſtlichen Wahrheit“ durch einen Nachdruck, 
dem er ein kurzes Vor⸗ und Nachwort beigab, der deutſchen Gelehrtenwelt 
zugaͤnglicher zu machen. Hier zum erſten Mal ſprach er oͤffentlich (wenngleich 
noch nicht vor dem Volke, denn er ſchrieb lateiniſch) aus, was ihn bewegte: 
„Denkt und lehret man dermaßen in Rom mit Vorwiſſen des Papſtes und 
der Kardinaͤle (als ich nicht hoffe), ſo ſage ich hiermit frei heraus, daß der 
wahrhaftige Antichriſt in dem Tempel Gottes throne und herrſche in jenem 
purpurfarbenen Babylon, in Rom, und daß der roͤmiſche Hof die Synagoge 
des Satans ſei“. „Wenn Papſt und Kardinaͤle dieſes Satansmaul nicht 
zum Schweigen bringen und zum Widerruf zwingen, ſo bekenne ich, daß 
ich mit der roͤmiſchen Kirche nichts zu ſchaffen haben will, ſondern ſie 
verleugne, ſamt dem Papſt und den Kardinaͤlen, als ‚den Greuel der 
Verwuͤſtung, ſo da ſtehet an der heiligen Staͤtte (Matth. 24, 15). Schon 
laͤngſt iſt in ihr der Glaube erloſchen, das Evangelium geaͤchtet, Chriſtus 
verbannt, Leben und Sitte ärger denn barbariſch“. „Nun fahre hin, du 
unſeliges, verkommenes und laͤſterliches Rom, der Zorn Gottes iſt endlich 
uͤber dich gekommen, wie du verdienet haſt“. „Gehab dich wohl, lieber 
Leſer, und verzeihe, daß ich in meinem Schmerze ſo heftig rede, und habe 
Mitleid mit ihm“. Aber noch heftiger bricht er in dem Nachworte los: 
„Mir ſcheinet wahrlich, wenn das Wuͤten der Roͤmlinge alſo fortfaͤhrt, 
dann bleibt kein anderes Heilmittel uͤbrig, als daß der Kaiſer, die Könige 
und Fuͤrſten, mit Gewalt der Waffen ausgeruͤſtet, dieſe Peſt des Erd; 
kreiſes angreifen und die Sache nicht mehr mit Worten, ſondern mit 


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Der Reformator 


dem Eiſen entſcheiden“. „Wenn wir die Diebe mit dem Galgen, die 
Moͤrder mit dem Schwerte, die Ketzer mit dem Feuer ſtrafen, warum 
greifen wir dann nicht vielmehr dieſe Lehrmeiſter des Verderbens, dieſe 
Kardinaͤle, dieſe Paͤpſte und das ganze Geſchwuͤrm des roͤmiſchen Sodom, 
welche die Kirche Gottes ohn“ Unterlaß ſchaͤnden, mit allen Waffen an 
und waſchen unſere Haͤnde in ihrem Blut, um uns und die Unſeren aus 
dem allgemeinen und gefaͤhrlichſten Brande zu erretten er 

Wie oft haben die Gegner des Reformators uͤber dieſe grimme 
Außerung gezetert, bis heute, ſie, die freilich niemals ihre Haͤnde in Blut 
gebadet haben, auch nicht in dem von Ketzern! Auch Proteſtanten haben 
den Ausſpruch revolutionaͤr genannt. Man braucht hier uͤber Worte nicht 
zu ſtreiten. Gewiß war Luther ein Revolutionaͤr, der groͤßte ſogar, den 
wir kennen. Denn keiner hat einen aͤrgeren Umſturz gepredigt, keiner 
einen gewaltigeren ins Werk geſetzt. Die Frage wuͤrde nur ſein, ob er 
ein Recht hatte zu dieſer Revolution. Wer dies beſtreiten wollte, wuͤrde 
damit der Religion das Recht abſprechen, ſich aufzulehnen gegen den 
frivolſten Mißbrauch, der je mit ihr getrieben worden, der Wahrheit den 
Mund verbieten zum Proteſt gegen ſcheinheilige Heuchelei. Dabei duͤrfen 
wir ganz außer Betracht laſſen, daß dieſer Revolutionaͤr die Eigenheit 
hatte, den Umſturz auf geſetzlichem Wege bewerkſtelligen zu wollen. An 
ein Konzil hatte er appelliert. Dieſe Berufung hatte Prierias ſoeben fuͤr 
ein Verbrechen erklaͤrt, ihr die Behauptung entgegengeſchleudert, das 
Konzil bedeute nichts gegenuͤber dem Papſt als der „unfehlbaren Richt⸗ 
ſchnur der Wahrheit“. Sollte der Wittenberger Profeſſor, dem es um 
die goͤttliche Wahrheit zu tun war, da feine Hoffnung noch auf ein Puppen⸗ 
fpiel ſetzen, deſſen Drähte von der Hand des Papſtes gezogen wurden, und 
das man Konzil nannte? Er wandte ſich vielmehr an die weltliche Macht 
und forderte fie auf, der ſchaͤndlichen Wirtſchaft in Rom ein Ende zu 
machen. Nicht ſeine Anhaͤnger, nicht die Volksmaſſen rief er in heiligem 
Zorne auf: den weltlichen Gewalten, die er fuͤr zuſtaͤndig halten durfte, 
ſchaͤrfte er das Gewiſſen. 

Aber freilich, ſeine Waffen waren es nicht, mit denen er hier ein⸗ 
geſchritten wiſſen wollte. Er konnte nur die Waffe des Wortes ſchwingen. 
Und ihrer und keiner anderen hat er ſich bedient, als er jetzt unmittelbar 
auf die Abſage den Angriff folgen ließ. 

„Man muß endlich einmal die Geheimniſſe des Antichriſts enthuͤllen; 
fie felber drängen dazu und wollen nicht länger verborgen bleiben“. So 
leſen wir in dem naͤmlichen Briefe an Spalatin von Anfang Juni, der 


90 


Die Abſage an das antichriſtiſche Papſttum und die Eröffnung des Angriffes 


uns von Luthers Abſicht Kunde gibt, die „tolle“ Schrift des Prierias mit 
etlichen Beigaben neu drucken zu laſſen, und in welchem er zugleich dem 
Freunde anvertraut: er trage ſich mit dem Gedanken, „wider die Tyrannei 
und Schaͤndlichkeit der roͤmiſchen Kurie“ ein „Blatt“ an Karl V. und 
den deutſchen Adel herauszugeben. 

Mitte Auguſt war die Schrift bereits in aller Haͤnden: „An den 
chriſtlichen Adel deutſcher Nation: von des chriſtlichen Standes Beſſerung“. 
Innerhalb weniger Tage war die erſte, 4000 Exemplare ſtarke Ausgabe 
vergriffen. Sofort erſchien eine zweite, vermehrte Auflage; eine dritte 
mußte ihr folgen. Und mit welchem Eifer bemaͤchtigte ſich der Nachdruck 
der Schrift: Leipzig, Augsburg, Straßburg, Baſel wetteiferten darin. 
Die Preſſe erwies ſich als eine Macht. 

Wir begreifen einen derartigen Erfolg. Ein Freund Luthers nannte 
die Schrift eine „Kriegspoſaune“. Allein, ſie war mehr als das, nicht 
bloß das Signal zum Angriff, ſondern der Angriff ſelbſt, und ein 
Angriff von Staunen erregender Kuͤhnheit und Gewalt. Aber darin 
geht die Bedeutung der Schrift noch nicht auf: ſie verdankt ihre Wirkung 
zuhöchft der Kraft und der Fülle ihrer poſitiven Ideen. Nicht allein 
ſind ſie es, die dem Angriff ſeine Wucht geben, nein, mitten in der 
Hitze des Streites verfolgen ſie ein weiteres, ein hoͤheres Ziel: den 
Aufbau. Nicht als ein bloßer Zierat ſtand auf dem Titel: „Von des 
chriſtlichen Standes Beſſerung“. „Es ſind,“ ſagt unſer großer Geſchicht⸗ 
ſchreiber des Reformationszeitalters, Leopold Ranke, „es ſind ein paar 
Bogen von welthiſtoriſchem, zukuͤnftige Entwickelungen zugleich vor⸗ 
bereitendem und vorausſagendem Inhalt“. 

In dem zweiten (dem Umfang nach größeren), praktiſchen Teile der 
Schrift bekaͤmpft Luther zuvoͤrderſt die weltliche Pracht und Hoffart des 
Papſtes, die unerſaͤttliche Geldgier Roms („der Antichriſt muß die Schaͤtze 
der Erde heben“), wie ſie hundertfach ſich aͤußerte in dem Verkauf von 
Pfruͤnden und Bistuͤmern, von Recht und von Unrecht; ferner die Unter⸗ 
druͤckung der Freiheit und der Rechte der Landeskirchen, der deutſchen 
voran, ſo daß „den Biſchoͤfen und Stiften alle Gewalt genommen iſt, 
ſitzen wie die Ziffern, haben weder Amt, Macht noch Werk, ſondern alle 
Dinge regieren die Hauptbuben zu Rom“. Über die von ihm an den 
Pranger geſtellten Kniffe und „edlen Fuͤndlein“ der roͤmiſchen Kurie, 
ihre „heilige Behendigkeit“, hatte ſich Luther ſorgfaͤltig unterrichtet, teils 
aus muͤndlichen Berichten, teils aus Schriften. Wie genau und zuverlaͤſſig 
ſeine Kunde war, kann uns ſeine lebhafte Schilderung des großen roͤmiſchen 


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Der Reformator 


Bankhauſes zeigen. „Zuletzt hat der Papſt zu all dieſen edlen Haͤndeln 
ein eigen Kaufhaus eingerichtet, das iſt des Datarius Haus zu Rom. 
Dahin muͤſſen alle die kommen, die dieſer Weiſe nach um Lehen und 
Pfruͤnden handeln. Haſt du nu Geld in dieſem Haus, ſo kannſt du zu 
allen den geſagten Stuͤcken kommen“. „Da iſt ein Kaufen, Verkaufen, 
Wechſeln, Tauſchen, Rauſchen, Luͤgen, Truͤgen, Rauben, Stehlen, Prachten. 
Es iſt nichts mit Venedig, Antwerpen, Kairo gegen dieſem Jahrmarkt und 
Kaufshandel zu Rom“. Es iſt die Zentralboͤrſe, wo Dispenſe aller Art 
feilgeboten werden: da wird Wucher redlich, gerechtfertigt geſtohlen, 
geraubtes Gut; da werden die Geluͤbde aufgehoben, wird den Moͤnchen 
Freiheit gegeben, aus dem Orden zu treten; da kommt alle Unehre und 
Schande zu Ehren, wird boͤſer Makel zum Ritter geſchlagen und edel; 
da regiert eine Schaͤtzerei und Schinderei, daß es den Anſchein hat, alle 
geiſtlichen Geſetze ſeien allein dazu gegeben, daß nur viele Geldſtricke 
wuͤrden, daraus man ſich loͤſen muß, wenn man ein Chriſt ſein will. 
Kurz, „hier wird der Teufel ein Heiliger und ein Gott dazu. Was Himmel 
und Erde nicht vermag, das vermag dies Haus. Es heißen „Kompo⸗ 
fitionen‘“. Auch daß man, wie Albrecht von Brandenburg, dem Papſte 
die Vereinigung mehrerer Lehen „abkaufen konnte“, alſo daß deren „viel 
zuſammengekoppelt werden als ein Stuͤck Holz“, iſt dem aufmerkſamen 
Beobachter nicht entgangen. Es iſt, als ſei ihm kein Geheimnis geweſen, 
was wir erſt in juͤngſter Zeit erfahren haben, wie es ſechs Jahre zuvor 
mit der ‚Kompofition‘ des Mainzer Erzbiſchofs zugegangen war. 

Indem der Reformator in dieſer Weiſe gegen die roͤmiſche „Schaͤnd⸗ 
lichkeit“ zu Felde zieht, kommt es zugleich zu mannigfachen Entladungen 
ſeiner patriotiſchen Entruͤſtung: denn ſchon vor Jahr und Tag war auch 
der Deutſche in ihm erwacht. Man koͤnnte als Motto auf den Titel der 
Schrift die Aufforderung ſetzen, auf die wir im Eingang des zweiten 
Teiles ſtoßen: „Laſſet uns aufwachen, liebe Deutſchen, und Gott mehr 
als die Menſchen fuͤrchten, daß wir nicht teilhaftig werden aller armen 
Seelen, die ſo klaͤglich durch das ſchaͤndlich, teufeliſch Regiment der Roͤmer 
verloren werden“. „Wir wollen ſehen laſſen, wie die Deutſchen nicht ſo 
ganz grobe Narren find, daß fie von der roͤmiſchen Praktik nichts wiſſen 
oder verſtehen“. Allezeit haben die Paͤpſte „unſere Einfaͤltigkeit gemiß⸗ 
braucht zu ihrem Übermut und Tyrannei und heißen uns tolle Oeutſche, 
die ſich aͤffen und narren laſſen, wie ſie wollen“. „Ich achte, daß Deutſch⸗ 
land jetzt weit mehr gen Rom gibt dem Papſt als vorzeiten den Kaiſern. 
Ja, es meinen etliche, daß jaͤhrlich mehr denn 300 ooo Gulden aus Deutſch⸗ 


92 


Die Reformvorſchlaͤge der Schrift „An den Adel“ 


land gen Rom kommen, lauterlich vergebens und umſonſt, dafuͤr wir 
nichts als Spott und Schmach erlangen; und wir verwundern uns noch, 
daß Fuͤrſten, Adel, Städte, Stifte, Land und Leute arm werden, daß 
wir noch zu eſſen haben“. Aber noch weit ſchlimmer wird uns von paͤpſt⸗ 
licher Heiligkeit mitgeſpielt: „Gott hat geboten, man ſoll Eid und Treue 
halten, auch den Feinden, und du, Papſt, unterwindeſt dich, ſolches 
Gebot zu loͤſen“. „Wer hat dir Gewalt gegeben uͤber deinen Gott, und 
Macht, die Chriſten, ſonderlich deutſcher Nation, die von edler Natur, 
beſtaͤndig und treu in allen Hiſtorien gelobt find, zu lehren, unbeſtaͤndig, 
meineidig, Verräter, Boͤſewichter, treulos zu fein?” „Ach, Chriſte, mein 
Herr, erhebe dich, laß hereinbrechen den juͤngſten Tag und zerflöre des 
Teufels Neſt in Rom“. — In Worten dieſer Art war die Schrift an den 
deutſchen Adel ein Appell an das Nationalgefühl, und in wieviel hundert 
tauſend Herzen hat er einen Widerhall gefunden. 


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6. Die Reformvorſchlaͤge der Schrift „An den Adel“ 
s wäre verkehrt, wollten wir das Echo, welches die Schrift 

öbervorrief, vornehmlich auf dieſe patriotiſchen Schlacht⸗ 

„rufe zuruͤckfuͤhren, die den religioͤſen Kampf gegen das 

45 8 80 roͤmiſche Weſen begleiten. Auch die weiteren Abſchnitte, 
nun denen eine lange Reihe von „geiſtlichen Gebrechen“ 
BA] der Chriſtenheit, nebſt einigen „weltlichen“ als Nachtrab, 
aufmarſchiert, reden eine eindringliche Sprache. Und ihre Wirkung mußte 
noch erheblich geſteigert werden durch die zahlreichen dem Tadel zur Seite 
gehenden Hinweiſe auf die fuͤgliche Art der Abhuͤlfe. Ein reiches Fuͤllhorn von 
Verbeſſerungsvorſchlaͤgen ſchuͤttet Luther hier aus. Sie find bald religiöͤs⸗ 
kirchlicher, bald auch rechtlicher und ſozialer Natur. In uͤberraſchender 
Weiſe trifft dabei ſein geſunder und ſcharfer Verſtand auch in ihm bis dahin 
fernliegenden Dingen vielfach den Nagel auf den Kopf, wie das in neuerer 
Zeit von urteilsfaͤhiger Seite auch in bezug auf feine nationaloͤkonomiſchen 
Gedanken betont worden iſt. Überall kann man die Wahrnehmung machen, 


93 


Der Reformator 


der fuͤnfzehnjaͤhrige Moͤnchsſtand hatte den Sohn des Volkes nicht dem 
Leben entfremdet. 

Nur ganz Weniges kann hier herausgegriffen werden. 

Es zeugt von der Unabhaͤngigkeit ſeines Denkens, wenn ihm, indem 
er die kirchlichen Gebrechen durchgeht, auch das Verhaͤltnis der Kirche zu 
den verhaßten Huſiten einer Anderung beduͤrftig erſcheint. „Es iſt hoch 
Zeit, daß wir auch einmal ernſtlich und mit Wahrheit der Boͤhmen Sache 
vornehmen, ſie mit uns und uns mit ihnen vereinigen, daß einmal auf⸗ 
hoͤren die greulichen Laͤſterungen, Haß und Neid auf beiden Seiten.“ 
Weit entfernt, das Verhalten der Huſiten zu billigen, iſt er doch der 
Meinung, daß vor allem die Kirche ihr Unrecht zu bekennen haͤtte, das ſie 
begangen hat, indem ſie Johann Hus verbrannte, noch dazu unter 
Brechung des kaiſerlichen Geleites. „Man ſollte die Ketzer durch Schriften, 
nicht durch Feuer uͤberwinden. Wenn es eine Kunſt waͤre, mit Feuer Ketzer 
zu uͤberwinden, ſo waͤren die Henker die gelehrteſten Doktoren auf Erden“. 

Eingehend behandelt Luther zwei weitere Stuͤcke, die ihm beſonders 
ſtark am Herzen liegen, das eine iſt der Krebsſchaden der erzwungenen 
Eheloſigkeit der „armen Pfaffen“, dieſe „teufliſche Tyrannei“, mit der 
gaͤnzlich aufgeraͤumt werden muß, weil „dadurch leider ſo viel Jammers 
entſtanden, daß nicht zu erzählen iſt, und Suͤnde, Schand’ und Argernis 
gemehret“. Das zweite Stuͤck iſt das Moͤnchtum, „der große Haufe derer, 
die das Viel geloben und das Wenig halten“. Dieſes bedarf einer ſtarken 
Einſchraͤnkung und Reformation. Die Unmenge der Bettelordenskloͤſter 
iſt zu verringern, ihren Inſaſſen wie das Betteln ſo auch ihr aͤrgerliches 
Eingreifen in die geordnete Seelſorge der Pfarrgeiſtlichkeit zu verbieten. 
Man ſollte Stifte und Kloͤſter zu ihrem vorigen Stand zuruͤckfuͤhren, da 
ſie Schulen und Erziehungsanſtalten waren, und jedermann Freiheit 
hatte, „darinnen zu bleiben, ſo lange es ihm geluͤſtet“, waͤhrend heute 
das Kloſter ein „ewiges Gefaͤngnis“ iſt. 

Hatte Luther hier bereits das Betteln der Moͤnche geſtraft, ſo wendet 
er ſich ſpaͤter in einem eigenen Abſchnitt gegen den Bettel uͤberhaupt. 
Wir verſtehen das wohl. Denn von ganzen Scharen nahezu kunſtgerecht 
betrieben, war der Bettel damals eine der groͤßten Landplagen, eine Folge 
zumeiſt der wirtſchaftlichen Umwaͤlzung der Zeit. „Es waͤre wohl der 
groͤßten Not eine, daß alle Bettelei abgetan wuͤrde. Es ſollte ja niemand 
unter den Chriſten betteln gehen“. Mit Mut und Ernſt waͤre es leicht, 
„eine Ordnung drob zu machen, naͤmlich daß eine jede Stadt ihre armen 
Leute verſorgte“ und fremde Bettler und Landlaͤufer, auch die Wall⸗ 


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Die Reformvorſchlaͤge der Schrift „An den Adel“ 


bruͤder und ſammelnden Moͤnche nicht zuließe; und nun entwickelt er 
hier, wie man mit Recht geſagt hat, „ein vollſtaͤndiges Programm der 
Armenpflege“. Es rang ſich, wie das juͤngſt ein Kenner wie Guſtav 
Schmoller ausgefuͤhrt hat, mit der Reformation der Grundgedanke 
durch: „es ſoll nicht mehr durch planloſes Almoſengeben das Seelenheil 
gefoͤrdert werden, ſondern es ſoll aus Naͤchſtenliebe den notleidenden 
Gemeindegenoſſen durch eine geordnete Armenpflege das Noͤtigſte nach 
genauer Pruͤfung gegeben, der Arme ſoll zur Arbeit angehalten werden. 
Gemeinde und Staat ſollen als chriſtliche Obrigkeit all dies ordnen“. 
Das Reformationszeitalter hat damit „einen großen weltgeſchichtlichen 
Fortſchritt herbeigeführt”. — Nicht ganz ohne Zuſammenhang hiermit iſt 
es, wenn Luther auch gegen die Menge der kirchlichen Feiertage eifert: 
man ſollte alle Feſte abtun und allein den Sonntag behalten, aus mehr 
als Einer Urſache: denn die heiligen Tage werden gemißbraucht zu „Saufen, 
Spielen, Muͤßiggang und allerlei Suͤnde“, und zu dem Schaden der 
Seele tritt noch ein „leiblicher Schaden des gemeinen Mannes“, daß er 
„an ſeiner Arbeit verſaͤumt wird, dazu mehr verzehret denn ſonſt, ja auch 
ſeinen Leib ſchwaͤcht und ungeſchickt macht“. — Noch lenkt das letzte 
Stuͤck der „geiſtlichen Gebrechen“ unſere Aufmerkſamkeit auf ſich. Es iſt 
die Forderung einer „guten ſtarken Reformation“ der Univerfitäten: 
„denn hier ſoll die chriſtliche Jugend und unſer edelſtes Volk bereitet und 
erzogen werden“. Man ſollte hier nicht auf die Menge ſehen, ſondern nur 
„die allergeſchickteſten“ auf die Univerſitaͤt ſchicken. Aber das Studium 
ſelber iſt hier auf eine ganz neue Grundlage zu ſtellen, vornehmlich das 
der Juriſten und Theologen. Bei jenen muͤßte das ſchaͤndliche „geiſtliche 
Recht“, an das ſich der Papſt in ſeinem Mutwillen ja ſelbſt nicht mehr 
bindet, „vom erſten Buchſtaben an bis zu dem letzten von Grund aus 
ausgetilgt“ werden; das weltliche Recht aber, das gar „eine Wildnis“ 
geworden, waͤre zu vereinfachen. Das Studium der Theologen aber iſt 
ſtatt auf die Schulweisheit des Mittelalters vielmehr auf die Heilige 
Schrift zu gründen. Ja, auch in den niederen Schulen ſollte das Evan; 
gelium gelehrt werden, und nicht bloß den jungen Knaben: denn „wollt“ 
Gott, eine jegliche Stadt haͤtte auch eine Maidenſchule, darinnen des Tages 
die Maidlin eine Stunde das Evangelium hoͤreten, es waͤre zu deutſch oder 
lateiniſch“. Jetzt iſt nichts „denn Beten und Singen“ in den Schulen! 
Bei den zum Schluß behandelten „weltlichen Gebrechen“ will Luther 
nur aufmerkſam machen auf einige Übelftände des öffentlichen Lebens, 
deren Abſtellung das hohe und ſchwere Amt der weltlichen Obrigkeit ſich 


95 


Der Reformator 


angelegen laſſen fein ſollte. Es find folgende: die uͤberſchwengliche Uppig⸗ 
keit in ausländifchen Kleiderſtoffen und in Spezereien, die das Geld aus 
deutſchen Landen fuͤhrt; der immer aͤrger werdende Geldwucher und die 
Handelsgeſellſchaften, wie die Fugger, die „bei eines Menſchen Leben 
fo große koͤnigliche Guͤter“ zuſammenbringen, ohne daß man verſtehen 
konnte, wie das mit Recht zugehen ſolle (doch ſetzt er hinzu: „Ich befehle 
das den Weltverſtaͤndigen“; er als Theologe habe „nicht mehr dran zu 
ſtrafen als das boͤſe aͤrgerliche Anſehn“). Er ſchließt mit ernſten Worten 
uͤber den „Mißbrauch des Freſſens und Saufens, davon wir Deutſchen 
als einem ſondern Laſter nicht ein gut Geſchrei haben in fremden Landen“, 
und uͤber die Verfuͤhrung der Jugend zur Unkeuſchheit. „Die Jugend 
hat niemand, der für fie forget. Die Obrigkeiten find ebenſoviel nuͤtze, 
als waͤren ſie nichts, ſo doch das ſollte die vornehmſte Sorge ſein. Sie 
wollen fern und weit regieren und doch kein nuͤtze ſein. O wie ein ſelten 
Wildpret wird um dieſer Sachen willen ſein ein Herr und Oberer im Him⸗ 
mel, ob er ſchon Gott ſelbſt hundert Kirchen bauet und alle Toten aufweckt“. 

„Ich acht wohl“, heißt es im Schlußwort, „daß ich hoch geſungen habe, 
viel Dings vorgebracht, das für unmöglich wird angeſehen, viel Stuͤck 
zu ſcharf angegriffen. Wie ſoll ich ihm aber tun? Ich bin es ſchuldig zu 
ſagen. Es iſt mir lieber, die Welt zuͤrne mit mir, denn Gott, man wird 
mir je nicht mehr denn das Leben koͤnnen nehmen“. 

„Zu ſcharf angegriffen“ — da koͤnnten wir heute doch nur zwei oder 
drei Stuͤcke nennen von den mit Zuruͤckhaltung behandelten „weltlichen“ 
Maͤngeln. Aber „hoch geſungen“ war das Lied. So manches in ihm war 
ja freilich nicht neu. Wir haben fruͤher wahrgenommen: ſeit Hunderten 
von Jahren waren unzählige Klagen über das Verderben des roͤmiſchen 
Hauptes laut geworden, und ſcharf war bald dieſer, bald jener Mißbrauch 
gegeißelt worden. Und dennoch: ſo hatte noch niemand zu dem deutſchen 
Volke geſprochen, in ſeiner Sprache, mit ſo hinreißender Gewalt, mit 
einem ſolchen Freimut und — was ſchwerer wog als alles andere — 
innerlich ſo frei gegenuͤber der Macht, welcher der Angriff galt. 


Die Befreiung der Gewiſſen: die Zerftörung der Prieſterkirche 


7. Die Befreiung der Gewiſſen: die Zerſtoͤrung der Prieſterkirche 


ö Nollte aber das Wort nicht bloß Widerhall finden, 
= = 7 ſondern Frucht ſchaffen, d. h. die, in deren Herz es fiel, 
Rmmit dem Mut der Abſage an die alles beherrſchende 
Gewalt erfuͤllen, dann mußte es auch ſie innerlich 
Afrei machen. Wodurch aber konnte der Reformator 
.. dss erreichen? Alles, was wir bisher aus der Schrift 
Perg? war wohl geeignet, die Leſer mit Verachtung und Haß gegen das 
tyranniſche Regiment des Papſtes zu erfuͤllen und mit dem heißeſten 
Verlangen nach „Reformation“, nicht aber, fie zu loͤſen von dieſer Kirche, 
in der allein ſie, der auf ſie vererbten Überzeugung nach, ihr ewiges Heil 
finden konnten. Der berechtigte Tadel und die tapferen Ratſchlaͤge 
wuͤrden darum nichts ausgerichtet haben, haͤtte nicht die Schrift zuvor 
den gänzlichen Ungrund der anmaßlichen Bevormundung, in welcher die 
roͤmiſche Kirche den freien Chriſtenmenſchen gefangen hielt, erwieſen und 
damit die Gewiſſen befreit, einen jeden Chriſten in dem Hoͤchſten und 
Heiligſten vor die eigene Verantwortung geſtellt. 

Deshalb liegt die weltgeſchichtliche Bedeutung der Schrift mehr als 
in dem genial hingeworfenen Reformationsentwurf in jener an die 
Spitze geſtellten Kritik der Hierarchie, durch welche die Mauern Roms 
umgeworfen wurden. Aber das gewaltige Werk der Zerftörung läuft aus 
in die Zuruͤckeroberung des Grundrechts des Chriſten, der Freiheit der 
Kirche, des goͤttlichen Rechtes des Staates. — 

Luther bedient ſich hier, wie allgemein bekannt, des Bildes von „den 
drei Mauern der Romaniſten“, „damit ſie ſich bisher geſchuͤtzt, daß niemand 
fie hat mögen reformieren“. Mit Gottes Huͤlfe will er fie umſtoßen: 
„Nun helf uns Gott und geb’ uns der Poſaunen eine, damit die Mauern 
Jerichos wurden umgeworfen, daß wir dieſe ſtrohernen und papiernen 
Mauern auch umblaſen“. Wir haben es hier aber nur mit dem Nieder⸗ 
werfen der erſten Mauer (d. i. der hierarchiſchen Gewalt uͤberhaupt) zu 
tun; denn indem fie fiel, ſtuͤrzte von ſelbſt, was Luther als zweite und 
dritte Mauer hinſtellt: naͤmlich die „frevelhaft erdichtete Fabel“, daß der 
Papſt, der „nicht irren koͤnne im Glauben“, allein Gewalt habe uͤber 
die Schrift, d. h. allein und ganz nach Gefallen die Heilige Schrift aus⸗ 
legen koͤnne, und die angemaßte Gewalt, der Papſt allein duͤrfe ein Konzil 
berufen und er allein verleihe ihm Geltung. 


7 Brieger, Reformationsgeſchichte 97 


Der Reformator 


Doch nun zu der erſten Mauer der roͤmiſchen Feſtung! Luther denkt 
bei ihr an den Grundſatz der Romaniſten: „weltliche Gewalt habe nicht 
Recht uͤber den Papſt, im Gegenteil: die geiſtliche ſei uͤber die weltliche“. 
Wir kennen den alten Satz von der Allgewalt des irdiſchen Vize⸗Gottes. 
Womit ruͤckt der Reformator gegen dieſe Mauer vor? Mit einer einfachen 
chriſtlichen Wahrheit, die ihren Grundpfeiler zerſchmettert: das Chriſten⸗ 
tum weiß nichts von der ganzen Unterſcheidung von „geiſtlich“ und 
„weltlich“, von Prieſter und Laien. „Man hat's erfunden, daß Papſt, 
Biſchoͤfe, Prieſter und Kloſtervolk wird der geiſtliche Stand genannt, 
Fuͤrſten, Herren, Handwerks⸗ und Ackerleut der weltliche Stand“. Das 
mittleriſche Prieſtertum iſt eine Verfaͤlſchung der chriſtlichen Religion: 
„alle Chriſten ſind wahrhaftig geiſtlichen Standes“. Alle ſamt ſind wir 
ein Koͤrper; die Taufe, das Evangelium, der Glaube machen uns zum 
„geiſtlichen“ oder zum „Chriſtenvolk“. In ihm ſind alle gleich, alle 
Prieſter. Es iſt kein Unterſchied unter ihnen als bloß nach Seiten des 
Amtes: der eine hat dieſes, der andere jenes Amt. So gibt es allerdings 
auch ein Amt der Predigt des Wortes Gottes. An ſich kann ein ſog. 
Laie ſo gut das Wort Gottes verkuͤnden und die Sakramente verwalten 
wie jeder „Prieſter“. Nur um der Ordnung willen wird beſtimmten Per⸗ 
ſonen im Namen der Geſamtheit uͤbertragen, was allen gehoͤrt. „Denn, 
weil wir alle gleich Prieſter ſind, muß ſich niemand ſelbſt herfuͤr tun und 
unterwinden, ohne unſer Bewilligen und Erwaͤhlen das zu tun, deß wir 
alle gleiche Gewalt haben. Denn was gemeinſam iſt, kann niemand 
ohne der Gemeinde Willen und Befehl an ſich nehmen. Und wo es 
geſchaͤhe, daß jemand, der zu ſolchem Amt erwaͤhlt worden, wegen 
Mißbrauch desſelben abgeſetzt wuͤrde, ſo waͤre er gleich als vorhin“. 

Wir ſahen fruͤher: in der Kirche des Mittelalters war der Prieſter 
der Vermittler der goͤttlichen Gnade, ihr Kanal; und um das ſein zu 
koͤnnen, wurde er ſelber durch ein von der Kirche geſchaffenes Sakrament, 
die Ordination, mit der geheimnisvollen Gnade des Amtes ausgeſtattet, 
unfehlbar und ein fuͤr alle Mal. Es wurde ihm ein Gepraͤge aufgedruͤckt, 
das niemals ausgetilgt werden konnte, er wurde zu einem hoͤheren Weſen 
geſtempelt, für immer. Und dieſes Prieſtertum war das Fundament 
des ganzen Baues, von deſſen Zinnen das paͤpſtliche Banner mit den 
Schluͤſſeln St. Peters und der dreifachen Krone daruͤber flatterte. Mit 
all der Herrlichkeit war es nun ploͤtzlich vorbei. Ein Sprengſchuß war 
gefallen von vernichtender Wirkung, wie ihn auf phyſiſchem Gebiete 
das 16. Jahrhundert noch nicht kannte. Zertruͤmmert war jener 


98 


Die Befreiung des Staates aus der Prieſtergewalt 


Grundſtein, und was darauf ſtand, mußte fallen. Mit dem Prieſter 
ſtuͤrzte der Papſt. 

Hier tritt die ganze Weite des Abſtandes der Reformation Martin 
Luthers von allen Reformverſuchen des Mittelalters klar zu Tage. Man 
hatte wohl die Macht des Papſttums beſchneiden wollen, die meiſten ſo, 
daß es ihm nicht wehe getan haͤtte, und kaum der Kuͤhnſte hatte ſich zu 
dem Gedanken erhoben, das Papſttum ſei uͤberhaupt entbehrlich. Die 
Wurzel, aus der es immer wieder aufſchießen mußte, das Prieſtertum, 
hatten alle miteinander unberuͤhrt gelaſſen, auch Wiclif. 


8. Die Befreiung des Staates aus der Prieſtergewalt 


. s konnte aber dem Reformator nicht verborgen bleiben, 
daß ſein Prinzip nicht bloß die Freiheit der Kirche bedeute, 
SA fondern zugleich in ganz anderer Hinſicht der Welt die 
U Freiheit bringe, und gerade die Aufgabe dieſer Schrift 
nuoͤtigte ihn, es auch nach dieſer Seite hin ſofort geltend 
zu machen. 
„Ein Schuster, ein Schmied, ein Bauer, ein jeglicher hat ſeines Hand⸗ 
werks Amt, und doch ſind alle gleich geweihte Prieſter, und ein jeder 
ſoll mit feinem Amte den andern nuͤtzlich und dienſtlich fein“. So 
gehoͤrt auch „das Amt der weltlichen Gewalt“, welche „das Schwert und 
die Rute in der Hand hat, die Boͤſen damit zu ſtrafen und die Frommen 
zu ſchuͤtzen“, der chriſtlichen Gemeinde und iſt ihr nuͤtzlich. Die Inhaber 
dieſer Gewalt find als Chriſten fo gut Prieſter wie die Biſchoͤfe und alle 
anderen. Überall iſt der einzige Unterſchied die Verſchiedenheit des 
Amtes. Dieſe Amter ſtehen aber eines neben dem andern, und ein jedes 
hat ſeinen eigenen Beruf. Das „geiſtliche“ hat daher nicht uͤber das 
weltliche zu herrſchen. Vielmehr ſind die Verwalter des geiſtlichen Amtes 
in allen weltlichen Dingen der Obrigkeit ſo gut unterworfen wie jeder 
andere. „Darum, dieweil die weltliche Gewalt von Gott geordnet iſt, 
ſo ſoll man ihr Amt laſſen frei gehen unverhindert durch den ganzen 


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2° 99 


Der Reformator 


Körper der Chriſtenheit, niemands angeſehen, fie treffe Papſt, Biſchof, 
Pfaffen, Moͤnche, Nonnen oder was es iſt. Wer ſchuldig iſt, der leide“. 

Die weltliche Gewalt ſoll alſo, wo es not tut, die „geiſtliche“ ſtrafen. 
Darin liegt zunaͤchſt, daß der Staat verbunden iſt, keinerlei Übergriffe 
in fein Gebiet zu dulden und feine Untertanen gegen roͤmiſchen Zwang 
und Geiz zu ſchuͤtzen. So fordert Luther unter anderem eine Verordnung, 
daß keine weltliche Sache nach Rom gezogen werde, anſtatt daheim von 
den ordentlichen Gerichten entſchieden zu werden; desgleichen ein kaiſer⸗ 
liches Geſetz, daß kein Biſchof ſeine Beſtaͤtigung in Rom holen duͤrfe; 
und ebenſo wuͤnſcht er, „daß Fuͤrſt, Adel, Stadt bei ihren Untertanen 
friſch verbiete“, die ſog. Jahrgelder, die „zu Schaden und Schanden der 
ganzen deutſchen Nation“ ausſchlagen, an den Papſt zu zahlen. 

Indeſſen die Aufgabe der Obrigkeit, die ein „Glied des chriſtlichen 
Koͤrpers iſt“, reicht noch weiter. Sie muß bei der gegenwaͤrtigen Not⸗ 
lage der Chriſtenheit zur Reformation der Kirche mitwirken. Wenn ein 
Glied des Koͤrpers leidet, muß ein jedes, das es vermag, ihm zu Huͤlfe 
kommen. „Einem jeden Chriſten gebuͤhret es, daß er ſich“ (nach ſeinem 
„glaͤubigen Verſtand der Schrift“) „des Glaubens annehme, ihn zu ver⸗ 
fechten“ — zumal gegen ein „regierendes Glied“, welches als ſolches fo 
großen Schaden ſtiftet. „Wo es die Not fordert, ſoll dazu tun, wer es 
am erſten kann, als ein treu Glied des ganzen Koͤrpers, daß ein recht frei 
Konzil werde, was niemand ſo wohl vermag als das weltliche Schwert, 
ſonderlich dieweil ſie nun auch Mitchriſten ſind, Mitprieſter, mitgeiſtlich, 
mitmaͤchtig in allen Dingen“. 

Hier haben wir den Grund, weshalb Luther uͤberhaupt mit ſeinem 
Aufruf ſich an den deutſchen ‚Adel‘ gewendet hat, den Kaiſer und die 
Fuͤrſten an ſeiner Spitze (denn an den Adel in dieſem weiteſten Sinne 
hat er gedacht, nicht aber, wie man ihn oft mißverſtanden hat, etwa 
nur an die Reichsritterſchafth). Von der Geiſtlichkeit, der „es billiger 
gebuͤhrte“, iſt keine Beſſerung zu erwarten. Das hatte er auch ſchon in 
einer wichtigen Schrift, die im Mai unter die Preſſe gekommen war 
(„Von dem Papſttum zu Rom“), ausgeſprochen, und ſchon damals 
hatte er hinzugefuͤgt, es ſei „keine Hoffnung mehr auf Erden denn bei 
der weltlichen Gewalt“: „Koͤnige, Fuͤrſten und aller Adel“ muͤßten „dazu 
tun“. Und ſo erklaͤrt er es auch hier fuͤr eine Pflicht des „Laienſtandes, 
der Kirche zu helfen“. Die zuſtaͤndigen Gewalten, „das junge edle 
Blut“ Kaiſer Carolus, den er in einem der Schrift vorgedruckten Briefe 
fuͤr das große Werk zu gewinnen ſucht, die Fuͤrſten, der Adel und die 


100 


Die Befreiung des Staates aus der Prieſtergewalt 


ſtaͤdtiſchen Obrigkeiten, ſollen für „des chriſtlichen Standes Beſſerung“ 
eintreten — und zwar in doppelter Weiſe: indem ſie, ſoweit ihr obrig⸗ 
keitlicher Beruf das mit ſich bringt, unmittelbar von ſich aus eingreifen, 
im uͤbrigen aber, ein jeder an ſeinem Teile, zur Einberufung eines freien 
Konzils wirken (nicht eines paͤpſtlichen, „das uns nur durch Larven und 
Spiegelfechterei betruͤgt“). Deshalb ſind die einzelnen Beſſerungs⸗ 
vorſchlaͤge, welche die Schrift bringt, zum großen Teil nichts anderes 
als eine Liſte von Stuͤcken, die auf die Tagesordnung des Konzils zu 
ſetzen waͤren. 

Luthers Satz vom allgemeinen Prieſtertum, der ihm die Möglichkeit 
eines freien Konzils vor Augen zauberte, ſetzte freilich zugleich eine freie, 
d. h. ganz neue Kirche voraus, welche die Unabhaͤngigkeit ſeines Glaubens 
ohnehin forderte — und auch ſie hatte er bereits in jener Schrift „Von 
dem Papſttum zu Rom“ in kraͤftigen Strichen kecken Mutes gezeichnet: 
Die Chriſtenheit iſt nicht eine aͤußere Gemeinſchaft mit einer beſtimmten 
Verfaſſung und einem ſichtbaren Haupte wie die an Rom gebundene 
Kirche, ſondern ſie iſt uͤberall da, wo „innerlich der Glaube iſt“, ſomit 
„eine geiftliche Verſammlung“ der Seelen in Einem Glauben, „jo daß die 
eigentliche, rechte, weſentliche Chriſtenheit im Geiſte ſteht und in keinem 
aͤußerlichen Ding“. 

Erſt dieſe Kirche konnte Gott geben, was Gottes iſt, und dem Kaiſer, 
was des Kaiſers iſt. 

Welche Anſtrengungen hatten es ſich doch Kaiſer und Koͤnige koſten 
laſſen, die Oberhoheit der geiſtlichen Gewalt abzuſchuͤtteln, und mit 
welchem Ernſt hatten ſie fuͤr den Staat ſein eigenes Recht gefordert. 
Aber immer hatten ſie vor der Unmoͤglichkeit geſtanden, den Anſpruch 
wirkſam zu begruͤnden. So lange der „weltlichen“ Gewalt die „geiſtliche“ 
gegenuͤberſtand, war der Kampf ein ungleicher. Von dem erzgepanzerten 
Schilde der Kirche prallten alle Geſchoſſe ab. Denn auf ihrer Seite war 
das goͤttliche Recht, der Staat war doch nur ein Stuͤck der ſuͤndigen Welt. 
Himmliſches und Irdiſches ſtritten miteinander. 

Erſt Luther hat dem Staate fein „goͤttliches“ Recht zuruͤckgegeben 
und es auf einer unanfechtbaren Grundlage auferbaut. Die Religion, 
von deren Zerrbild es ihm geraubt war, konnte ihm in Zukunft nichts 
mehr anhaben; denn gerade im Namen der Religion, der echten, nur ſich 
ſelbſt wollenden, wurde die Ehre des Staates hier zuruͤckgefordert. 

Inſofern iſt Luther der Begruͤnder des modernen Staates, der es 
weiß, daß er die Rechte ſeiner Hoheit von keiner Kirche ſich gewaͤhren, von 


101 


Der Reformator 


keiner ſich ſchmaͤlern laſſen darf; und inſofern reicht der Einfluß des 
Wittenberger Recken weit über das Gebiet des Proteſtantismus hinaus. — 

Es iſt klar, ſetzten die Ideen dieſer Schrift ſich durch, ſo mußte eine 
Umwaͤlzung von Grund aus erfolgen: die kirchliche zog unmittelbar die 
politiſche nach ſich, und auch auf dem Gebiete des ſozialen Lebens konnten 
die Folgen nicht ausbleiben. 


5 nur mach als Hintergrund angedeutet. Aber ſchon 
einige Monate fruͤher hatte er in einer großen, eben⸗ 
Kfalls für die Laienwelt beſtimmten Schrift Art und Kraft 

des epangelif chen Glaubens mit der ihm eigenen Gewalt des Gedankens und 
der Sprache geſchildert. Es iſt die bereits beiläufig erwähnte Schrift „Von 
den guten Werken“, deren Vollendung in den Mai des Jahres 1520 fällt. 
Niemals iſt der Reformator ſchoͤpferiſcher geweſen als in den Monaten vom 
Fruͤhling bis zum Herbſt dieſes Jahres, zu jener Zeit, wo die dunkle Wolke 
des Bannes uͤber ſeinem Haupte hing, um ſich dann mitten waͤhrend 
feiner ſchaffensfrohen Tätigkeit zu entladen. Wir können mindeſtens vier 
große reformatoriſche Hauptſchriften dieſes Jahres zaͤhlen und laſſen 
dabei gar manches fuͤr die Reformation Wichtige, was ſeiner nie ruhenden 
Feder entſtroͤmte, beiſeite. Auf die Schrift „An den Adel“ folgte ein 
zweiter gleich mächtiger Vorſtoß in der (lateinifch verfaßten) gelehrten 
Streitſchrift „Von der babyloniſchen Gefangenſchaft der Kirche“, und an 
dieſe ſchloß ſich die ſowohl deutſch wie lateiniſch erſcheinende Schrift „Von 
der Freiheit eines Chriſtenmenſchen“, ein wunderbares Buͤchlein! Indem 
es das Hohe Lied von der Herrlichkeit des evangeliſchen Chriſtentums, 
des ſich zu Gott emporſchwingenden Glaubens und der ſich zum Naͤchſten 
herablaſſenden Liebe, ſang, legte es ohne allen Zorn und Streit, als 
wäre Luther aus dem Getuͤmmel des weltgeſchichtlichen Kampfes plotzlich 


102 


Die Zerſtoͤrung der Sakramentskirche 


in eine Oaſe himmliſcher Ruhe und ſeligen Friedens entruͤckt, auf ein 
paar Blaͤttern, wie er an Papſt Leo ſchrieb, „die ganze Summe des chriſt⸗ 
lichen Lebens“ dar: in der Tonart einer Froͤmmigkeit, die zart und innig, 
mannhaft und kuͤhn, frei und froͤhlich zugleich war. 

Das Bild des Reformators, welches dieſes Kapitel entwerfen will, iſt mit 
Huͤlfe der von dieſen Schriften bald ausfuͤhrlich entwickelten, bald nur an⸗ 
gedeuteten Gedanken noch um einige nicht unweſentliche Zuͤge zu bereichern. 

In ſeiner Schrift „Von der babyloniſchen Gefangenſchaft der Kirche“ 
denkt Luther zumeiſt an jene Knechtſchaft, in welcher der mittelalterliche 
Chriſt von der Kirche durch die Feſſeln ihrer ſakramentalen Segnungen 
gehalten wurde, durch dieſes Netz, das, wie wir fruͤher ſahen, ſein ganzes 
Leben umſpannte. Gegenſtand des Angriffes iſt hier daher das geſamte 
Syſtem der Sakramente, ihr Mißbrauch in der Praxis ſowohl wie das 
falſche Dogma von ihnen. Gegen beide konnte Luther mit Leichtigkeit 
die Heilige Schrift ins Feld fuͤhren. Im uͤbrigen zog er auch hier einfach 
eine Folgerung ſeines Glaubensbegriffes und verſetzte damit der Hierarchie 
nicht minder toͤdliche Streiche, als wie er ſie in der Schrift „An den Adel“ 
gefuͤhrt hatte. 

Und wiederum griff er das Übel an der Wurzel an. Denn er warf 
die ganze bisher angenommene Weiſe der Wirkſamkeit der Sakramente 
uͤber den Haufen. Eine Art von hoͤherer Naturkraft ſollte durch ſie in 
den Menſchen einſtroͤmen und in ihm wirken, was ihn zum ewigen Leben 
befaͤhigte, ohne daß durch Empfang der Sakramente eine irgendwie 
tiefer gehende Wirkung auf das Bewußtſein ausgeuͤbt wurde. Dieſes 
Magiſche der Wirkung wurde jetzt abgeſtreift: ein Sakrament kann nie 
wie ein Zaubermittel wirken. Die Sakramente — dies die neue von 
Luther vertretene Anſchauung — ſind Zeichen der goͤttlichen Huld, bei 
denen die Hauptſache das Wort der Gnadenverheißung iſt. Am Worte 
iſt mehr gelegen als am Zeichen, das nur die Bedeutung einer lebhaften 
Vergegenwaͤrtigung des erſteren hat. Das Zeichen (d. h. das Sakrament) 
koͤnnte daher zur Not entbehrt werden, nicht aber das Wort. Deshalb 
verlangt aber auch das Sakrament auf ſeiten des Empfaͤngers Ver⸗ 
trauen zu Gott, Glauben. An letzteren, an dieſe bereits vorhandene 
Kindesſtellung des einzelnen zu Gott, iſt ſomit die Wirkſamkeit des 
Sakramentes gebunden. Nur der Glaͤubige kann ſeines Segens teil⸗ 
haft werden („Soviel du glaubſt, ſoviel haſt du“), und dieſer ſelbſt 
kann nie etwas anderes ſein als die Steigerung jener Geſinnung des 
Vertrauens und ihre Ausſtattung mit neuer Kraft. 


103 


Der Reformator 


Gleichwie jene des Chriſtentums unwuͤrdige Vorſtellung von der 
Zauberkraft der Sakramente zerſtoͤrt wird, ſo ſtoͤßt Luther auch ihre 
Siebenzahl um, durch den einfachen Nachweis, daß von der Mehrzahl 
derſelben fein Neues Teſtament nichts weiß. Das merkwuͤrdigſte dieſer 
von der Kirche des Mittelalters aus freier Hand erfundenen Sakramente, 
die Ehe, iſt ſogar ſo alt wie die Welt und beſteht bei den Heiden ſo gut 
wie in der Chriſtenheit. Und wie iſt nun vollends „dieſe von Gott ein⸗ 
geſetzte Lebensweiſe durch gottloſe Geſetze verſtrickt und zum Spielball 
der Willkuͤr gemacht“! Luther ſchuͤttet hier die Schale ſeines Zornes aus 
uͤber „den Frevel der roͤmiſchen Tyrannen“, „die ganz nach ihrem Gefallen 
die Ehe zerreißen und wieder zuſammenzwingen“. Hier das Verbieten 
der Heiraten durch die nichtigſten „Ehehinderniſſe“, dort ihre Kunſt, 
mit ihrer Huͤlfe rechtmaͤßige Ehen zu ſcheiden — alles nur, damit die 
„roͤmiſchen Kraͤmer ihre Goldnetze und Seelenſchlingen“ auswerfen koͤnnen. 
Allein den Hoͤhepunkt erreicht der verzehrende Eifer des Reformators erſt, 
indem er den ſchaͤndlichen Mißbrauch aufdeckt, den die Kirche mannigfach 
mit dem Vermaͤchtnis des Herrn, dem Sakrament des heiligen Abend⸗ 
mahls, treibt. Es iſt ein dreifacher: die „Verletzung der Majeſtaͤt des 
Evangeliums“, daß die Kirche den Laien den Kelch entzogen hat, der 
doch allen gegeben iſt; die Tyrannei, zu einem Glaubensartikel zu ſtem⸗ 
peln, was doch nur „eine abenteuerliche Traumphantaſie“ iſt, von der 
man zwoͤlf Jahrhunderte lang nichts gewußt hat, daß naͤmlich Brot und 
Wein im Sakramente der Subſtanz nach in Leib und Blut Chriſti ver⸗ 
wandelt werden; endlich das groͤßte Argernis von allen, daß das Abend⸗ 
mahl in der Meſſe zu einem Opfer fuͤr Lebendige und Tote gemacht iſt. 
Er weiß wohl, welches Wagnis es iſt, die Verwandlungslehre in Zweifel 
zu ziehen, und welche „ſchwierige, vielleicht unmoͤgliche Sache“ er angreift, 
wenn er das Meßopfer, das im Mittelpunkt des ganzen katholiſchen 
Kultus ſteht, und „daran die ganze Nahrung der Prieſter und Moͤnche 
hangt“, zu beſeitigen unternimmt. Denn „durch einen Jahrhunderte 
alten Brauch befeſtigt und ganz allgemein gebilligt, iſt dieſer Mißbrauch 
ſo tief eingewurzelt, daß es noͤtig iſt, den groͤßeren Teil der Buͤcher, die 
jetzt gaͤng und gäbe find, und faſt die ganze aͤußere Geſtalt der Kirche zu 
veraͤndern und eine ganz andere Art von Gebraͤuchen einzufuͤhren oder 
vielmehr wieder herzuſtellen“. Und dazu ſind auf dieſe Meſſen die 
„fetteften” Einnahmen fo vieler Kirchen und Kloͤſter gegründet! 
„Aber gerade das hat mich getrieben, von der Gefangenſchaft der 
Kirche zu ſchreiben: denn ſo iſt das verehrungswuͤrdige Teſtament 


204 


Das neue Lebensideal: die Zuruckgabe des Menſchen an das Diesſeits 


Gottes in den knechtiſchen Dienſt des ſchnoͤdeſten Gewinnes gezwungen 
worden“. 

Wiederum eine radikale Umwaͤlzung, zu der hier in klarer Erkenntnis 
ihrer Tragweite der Anſtoß gegeben wird! Der wirtſchaftliche Ruin ſo 
vieler kirchlicher Inſtitute war das Geringſte dabei. Denn wieder war 
hier die Macht der Kirche mitten ins Herz getroffen: die hierarchiſche An⸗ 
maßung, daß nur den „Geweihten“ der Kelch gebuͤhre, war zuruͤckgewieſen; 
gebrochen die Schoͤpferkraft der Kirche, die, fo oft es ihr gefällt, durch das 
Tun ihrer von göttlicher Glorie umſtrahlten Prieſter aus vergaͤnglichen 
Elementen den Leib des Herrn ins Daſein ruft; vom Altar geſtoßen 
das „Suͤhnopfer“, das der Prieſter zur Erloͤſung der armen Seelen im 
Fegefeuer oder auch fuͤr große und kleine Noͤte derer, die ihn fuͤr das 
eine wie fuͤr das andere geworben, darbringt. War fruͤher der Prieſter 
gefallen, ſo ſank jetzt das Hauptſtuͤck ſeiner Mittlerſchaft in den Staub. 
Denn Prieſter und Opfer gehoͤren zuſammen. 


10. Das neue Lebensideal: die Zuruͤckgabe des Menſchen an das 
Diesſeits 


ihr die Sicherheit des neuen Beſitzes. Und wenn ſie 
auch nicht wie der Weckruf „An den Adel“ aus⸗ 

EUdze deeſprochene rmaßen mit dem Niederreißen das Aufbauen 
verbindet, fo fördert fie doch in faſt verſchwenderiſcher Fülle Steine zutage, 
die ohne weiteres zu dem neuen Baue verwendet werden konnten. Staͤrker 
aber als in dieſen beiden Schriften tritt der den Reformator beherrſchende 
Drang, die Grundlage fuͤr einen ſolchen aufzufuͤhren, in der Schrift „Von 
den guten Werken“ hervor, und gar das Buch „Von der Freiheit eines 
Chriſtenmenſchen“ zeigt keine Spur von dem Schutt und den Truͤmmern, 
die das Evangelium aufhaͤufen mußte. Der Leſer wird hier durch die neue 


105 


Der Reformator 


veligiöfe Welt geführt, die fo ruhig und in ſich abgefchloffen daliegt, daß 
kaum irgend ein Ton aus der alten Welt zu ihr hinuͤberdringt. Wir muͤſſen 
zum Schluß bei dieſen beiden, im weſentlichen zuſammenklingenden 
Schriften noch aus dem Grunde verweilen, weil ſie etwas, worauf wir 
bisher noch nicht gefuͤhrt ſind, in deutlichen Umriſſen vor uns auftauchen 
laſſen, ein ungemein wichtiges Stuͤck der neuen Weltanſchauung, was 
ſich binnen kurzem in einſchneidender Weiſe praktiſch geltend machen 
ſollte. Denn es hat in erheblichem Maße beigetragen zur Umgeſtaltung 
des geſamten geſellſchaftlichen Lebens. Es iſt das neue, evangeliſche 
Lebensideal, die ſpezifiſche Art der evangeliſchen Sittlichkeit, welche aus 
der vom Dunſt und Nebel des Kloſters bedeckten Erde einen Garten 
pflichtfroher und weltfreudiger Arbeit gemacht hat. Zwar duͤrfen wir 
auch hier nicht erwarten, daß ſich dieſe Umwandlung wie mit einem 
Schlage vollzogen habe. Noch manches Überbleibſel von dem alten Ideal 
weltabgewandter Froͤmmigkeit hat eine Zeit lang nachgewirkt (auch in 
Luther ſelbſt). Aber was hatte das zu bedeuten? Das neue Prinzip war 
gefunden! Kann man an dem Anbruch des Tages zweifeln, wenn 
blendender Sonnenglanz die ragenden Berge und das flache Land 
überflutet und nur hier und da eine Schlucht ſich nicht von ihm durch⸗ 
leuchten laͤßt? 

Nicht „ſonderlicher Heiligkeit“ iſt nachzulaufen, durch Wallfahrten, 
ins Kloſter gehen, die „Welt“ fliehen, auch nicht durch Vollbringen der 
von der Kirche vorgeſchriebenen guten Werke, wie Schenkungen zu frommen 
Zwecken oder Almoſen, mit denen man ſich ſelber dienen will. „Wenn du 
die Leute frageſt, ob ſie das auch fuͤr gute Werke halten, wenn ſie ihr 
Handwerk arbeiten, gehen, ſtehen, eſſen, trinken, ſchlafen und allerlei 
Werk tun zu des Leibes Nahrung oder gemeinem Nutz, und ob ſie glauben, 
daß Gott ein Wohlgefallen darinnen uͤber ſie habe, ſo wirſt du finden, 
daß ſie nein ſagen und die guten Werke ſo enge ſpannen, daß ſie nur in 
Beten in der Kirche, in Faſten und Almoſen beſtehen; die andern achten 
ſie als vergeblich, daran Gott nichts gelegen ſei“. Dagegen iſt die Regel 
aufzustellen, mit deren Huͤlfe „ein jeder merken und fühlen kann, wann 
er Gutes und nicht Gutes tut“: „findet er ſein Herz in der Zuverſicht, 
daß ſein Tun Gott gefalle, ſo iſt das Werk gut, wenn es auch ſo gering 
waͤre, wie einen Strohhalm aufheben“. „Ein Chriſtenmenſch (wir haben 
dieſes Wort ſchon einmal vernommen), der in dieſer Zuverſicht zu Gott 
lebt, weiß alle Dinge, vermag alle Dinge, vermiſſet ſich aller Dinge, was zu 
tun iſt, und tut es alles fröhlich und frei, nicht um viel guter Verdienſte und 


106 


Das neue Lebensideal: die Zuruͤckgabe des Menſchen an das Diesſeits 


Werke zu ſammeln, ſondern daß ihm eine Luſt iſt Gott alſo wohlgefallen, 
und lauterlich umſonſt Gott dienet, ſich daran genuͤgen laͤßt, daß es Gott 
gefällt”. „Wer in dieſem Glauben lebt, bedarf nicht eines Lehrers guter 
Werke, ſondern was ihm vorkommt, das tut er, und iſt alles wohlgetan“. 
Damit will Luther ſagen: die guten Werke, die der Glaube ganz von 
ſelber wirkt und ſchafft, haben ihren Bereich unmittelbar in Stand und 
Beruf des einzelnen, ſind die Erfuͤllung deſſen, was die von Gott einem 
jeden angewieſene Stellung in der Welt jeweilen fordert. Da bedarf es 
keiner großen vor der Welt prangenden Werke, ſondern das Allergeringſte, 
was der Beruf mit ſich bringt, iſt Gott wohlgefaͤllig, iſt ein Gottesdienſt. 
So koͤnnen die Eltern beſſer als durch Faſten, Kirchenbauen, Beobachtung 
aller der kirchlichen Zeremonien „ihre Seligkeit erlangen“ durch die ein⸗ 
fache Erfuͤllung ihrer Elternpflicht: „So ſie ihre Kinder zu Gottes Dienſt 
recht erziehen, haben ſie fuͤrwahr beide Haͤnde voll guter Werke vor ſich. 
Denn was ſind hier die Hungrigen, Durſtenden, Nackten, Gefangenen, 
Kranken, Fremdlinge als deiner eigenen Kinder Seelen? mit welchen dir 
Gott aus deinem Haus ein Spital macht und dich ihnen zum Spittel⸗ 
meiſter ſetzet, daß du ihrer warten ſollſt, ſie ſpeiſen und traͤnken mit guten 
Worten und Werken, daß ſie lernen Gott trauen, glauben und fuͤrchten 
und ihre Hoffnung auf ihn ſetzen, daß ſie zeitlich Ding lernen verachten, 
Ungluͤck ſanfte tragen und den Tod nicht fuͤrchten, dies Leben nicht lieb 
haben. Siehe, welche große Lektion das iſt, wie viel du habeſt guter 
Werke vor dir in deinem Haus, an deinem Kind, das ſolcher Dinge aller 
bedarf. O wie eine ſelige Ehe und Haus waͤre das, wo ſolche Eltern 
innen waͤren! Fuͤrwahr, es waͤre eine rechte Kirche, ein auserwaͤhlt 
Kloſter, ja ein Paradies“. 

Alles dieſes leſen wir in der Schrift „Von den guten Werken“. 

Weil Luther ſich feſt und ſicher in Gottes Huld geborgen wußte für 
dieſes und fuͤr jenes Leben, ſtand er zugleich ſo feſt mit beiden Fuͤßen auf 
dieſer Erde. Keine Hoͤlle und kein Fegefeuer vermochte ihn zu ſchrecken. 
Gott hat ſeinen Kindern keine Strafen vorbehalten, die durch muͤhſeliges 
Ringen, durch quaͤleriſche Genugtuungen, durch Arbeiten angeblicher 
Froͤmmigkeit dem ſtrengen Richter abgekauft werden muͤßten. Aus dem 
Herzen geſprochen war ihm das Wort des „Predigers“ des Alten Bundes, 
das er im Zuſammenhang mit einem der vorhin mitgeteilten Saͤtze 
anfuͤhrt: „Gang hin froͤhlich, iß und trink und wiſſe, daß deine Werke 
gefallen Gott wohl. Alle Zeit laß dein Kleid weiß ſein und das Ol laß 
deinem Haupte nimmermehr gebrechen. Genieße des Lebens mit deinem 


107 


Der Reformator 


Weibe, das du lieb haſt, ſo lange du dein eitles (d. h. fluͤchtiges) Leben 
haſt, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat“ (Prediger Salomon. 
9, 70). 

Es iſt ein frohes, ſchaffensfreudiges, insbeſondere in Liebe zum Naͤch⸗ 
ſten ſich betaͤtigendes Chriſtentum, was das Evangelium ihn gelehrt hatte. 
Eben dieſes hat er auch in der Schrift „Von der Freiheit eines Chriſten⸗ 
menſchen“ verkuͤndet. Da feiert er als „das wahrhaft chriſtliche Leben“ 
jenes, wo „der Glaube wahrhaft durch die Liebe taͤtig iſt, d. h. mit Freude 
und Luſt an das Werk der freieſten Dienſtbarkeit geht, indem er dem anderen 
umſonſt und freiwillig dient“. 

Und Luther iſt nicht muͤde geworden, ſeinen Zeitgenoſſen, welche in 
dem ſich abhaͤrmenden Moͤnche, in dem eheloſen Prieſter Heilige zu 
erblicken gewohnt waren, immer aufs neue zuzurufen, daß der Glaube, 
das Vertrauen zu Gott, ſich bewaͤhren ſoll gerade im Leben des buͤrger⸗ 
lichen Berufes, nur hier ſich bewaͤhren kann, nur im Verkehr mit der 
Welt, nicht wenn man ſich aus ihr fluͤchtet, all ihren Verſuchungen, 
Sorgen, Muͤhen, Aufgaben feige zu entrinnen verſucht, und daß Gott 
dienen heißt, ihm in ſeinem Naͤchſten dienen: „Heißt das Gott dienen: 
in einen Winkel kriechen, niemand raten noch helfen? Wer Gott dienen 
will, der ſoll unter den Leuten bleiben und ihnen dienen, womit er kann“. 
„Du haſt Weib, Kind, Geſind, Nachbarn, Fuͤrſten, Herren und allerlei 
Staͤnde; da findeſt du zu ſchaffen genug, da diene Gott“. Folgte die 
Welt dieſem Rate, dann brauchte keiner mehr am Ende ſeiner Tage zu 
fuͤrchten, er ſei „in einem verdammlichen Stande“ geweſen und muͤſſe 
jetzt anfangen, auf beſondere Weiſe Gott zu dienen. 

So hat Luther den irdiſchen Beruf erſt wieder zu Ehren gebracht, die 
Arbeit, auch die unſcheinbarſte, geadelt, jedem in ſeinem Stand die Freudig⸗ 
keit und den inneren Genuß treuer Pflichterfuͤllung wiedergeſchenkt. Man 
kann auch ſagen: er hat den Menſchen dem Diesſeits wiedergegeben, 
die Berechtigung und Freiheit des weltlichen Lebens gerettet. 

Niemand kann die Bedeutung dieſes Momentes verkennen. Denn 
wie augenfällig unterſcheidet ſich doch . hierdurch die moderne Zeit 
von dem Mittelalter! 


Der Sieg der individuellen Frömmigkeit und des Rechtes perſönlicher Eigenart 


11. Der Sieg der individuellen Froͤmmigkeit und des Rechtes 
perſoͤnlicher Eigenart 


Jenn wir als ein Merkmal des modernen Menſchen die 
N A Entwidelung des individuellen Lebens in ihm betrach⸗ 
0 en, fo iſt auch dieſes, deſſen Auf keimen in den letzten 
Jahrhunderten vor der Reformation wir fruͤher be⸗ 
4 1 obachtet haben, erſt durch Luther zum Wachstum und 
— lEmdiur Blute gebracht. Es gilt das zunaͤchſt freilich nur 

von der individuellen Froͤmmigkeit, mittelbar aber von dem Indivi⸗ 
dualismus uͤberhaupt. Denn wo immer in der Tiefe des Weſens, dort 
wo die Wurzeln des religioͤſen und ſittlichen Empfindens liegen, auf⸗ 
geraͤumt iſt mit dem Inſtinkt der Maſſe, dem Fuͤhrer zu folgen, dort 
iſt der Boden bereitet, in welchem auch das uͤbrige Geiſtesleben, unter 
guͤnſtigen Umſtaͤnden, ſich in perſoͤnlicher Eigenart zu entfalten vermag. 
Dieſe Herausbildung eines individuellen Kernes, wenn der Ausdruck 
erlaubt iſt, konnte aber dank der Einfachheit der religiöfen Verkuͤndigung 
Luthers in den weiteſten und breiteſten Schichten des Volkes ſich voll; 
ziehen; auch in jenen, welche fuͤr die Einwirkung der Renaiſſance und 
des Humanismus, die nur einer winzigen Auswahl Bevorzugter zu gute 
kommen konnten, unerreichbar blieben und großenteils ſelbſt heute noch 
für keine Philoſophie, für keine Wiſſenſchaft überhaupt zugaͤnglich find, 
Daß aber die Froͤmmigkeit Luthers ihrer Natur nach eine durchaus 
individuelle war, liegt klar zu Tage. Erinnern wir uns nur: ein jeder 
wird perſoͤnlich fuͤr ſein Heil verantwortlich gemacht. Ganz allein auf 
ſich ſelbſt iſt da ein jedes Menſchenleben geſtellt. Andere koͤnnen wohl in 
mannigfacher Weiſe huͤlfreiche Hand leiſten: durch das Vorbild ihrer 
Perſoͤnlichkeit, durch manches Wort des Zuſpruches. Aber nicht Nach⸗ 
ſprechen tut es, nicht ſich Vorſchriften machen laſſen, nicht Unterwerfung 
unter eine von außen herantretende Autoritaͤt. Jede falſche Sicherheit, 
welche die Kirche, ſich als ſeligmachende gebend, gewaͤhrt hatte, iſt zer⸗ 
ſtoͤrt. Gewiß ſein muß ein jeder in ſeinem Innern. Und dieſe Gewißheit 
muß nach Luther erworben werden in Augenblicken der tiefſten Einſam⸗ 
keit, wo die ganze Welt wie ausgeloͤſcht iſt, und die Seele ſich einzig ihrem 
Gott gegenuͤber ſieht und, in Erkenntnis ihrer Unkraft, von ſich aus 
alles das, was Gott widerſpricht, in ſich zu ertoͤten, ihm, ſeiner vergeben⸗ 
den Zuſage, ſeinem Worte ſich zuwendet, um ſo die Ruhe, den Frieden 


109 


Der Reformator 


zu finden. In dieſem Sinne ſagt Luther in der Schrift „Von der Freiheit 
eines Chriſtenmenſchen“: „So muͤſſen wir nun gewiß ſein, daß die Seele 
kann alles Dinges entbehren ohn“ des Wortes Gottes, und ohn“ das 
Wort Gottes iſt ihr mit keinem Ding beholfen. Wo ſie aber das Wort 
hat, ſo darf ſie auch keines andern Dinges mehr; ſondern ſie hat in dem 
Worte Genuͤge, Speif’, Freud“, Fried“, Licht, Kunſt, Gerechtigkeit, 
Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gut uͤberſchwenglich“. 

Gewiß iſt ein „Genuͤgen“ dieſer Art nicht jedermanns Ding. Aber 
iſt es darum ſchon Schwaͤrmerei, anſtatt Religion? und zwar ganz per⸗ 
fünliche Religion? die ſtaͤrkſte Entfeſſelung der Perſoͤnlichkeit? 

Eine Entfeſſelung der Perſoͤnlichkeit hatte auch die Renaiſſance in 
Italien zu Stande gebracht; und zwar finden wir hier, um mit Jakob 
Burckhardt zu reden, „eine ſchrankenloſe Entwickelung des Individuums“. 
Die Geſchichte weiß, in welcher furchtbaren Weiſe ſich dieſer Individualis⸗ 
mus, der nirgends ein hinreichendes Gegengewicht fand, entladen hat: 
in jenen entſetzlichen Geſtalten der Ausgeburt eines Egoismus, welcher 
den Nebenmenſchen erbarmungslos, wenn nicht gar mit einer Art von 
grauſamem Genuß unter die Fuͤße trat, ja in jenem Frevelſinn von 
„Menſchen abſoluter Ruchloſigkeit, bei welchen das Verbrechen auftrat 
um des Verbrechens willen“. Recht und Sitte, Haus, Geſellſchaft, 
Staat waren, wenn dieſer Individualismus allgemein wurde, dem Unter⸗ 
gang verfallen. Hoͤrt der religioͤſe Individualismus Luthers etwa auf, 
ein Gut zu ſein, weil er von einer Schrankenloſigkeit dieſer Art nichts 
weiß? weil er das Evangelium der Naͤchſtenliebe kennt? „Der Menſch“, 
ſo heißt es wiederum in der Schrift „Von der Freiheit“, „lebt nicht allein, 
ſondern unter andern Menſchen auf Erden, und alle unſere Werke ſollen 
auf das Beſte des Naͤchſten gerichtet ſein. Gottes Guͤter muͤſſen aus 
einem in den anderen fließen und gemein werden, daß ein jeglicher ſich 
ſeines Naͤchſten alſo annehme, als waͤre er's ſelbſt“. 


Die Verewigung des Bruches mit dem Antichriſt: das Flammengericht von Wittenberg 


12. Die Verewigung des Bruches mit dem Antichriſt: das 
Flammengericht von Wittenberg 


ie Schrift „Von der Freiheit“ ſtammt aus den naͤchſten 
Wochen nach der Veroͤffentlichung der Bannbulle durch 
Johann Eck als paͤpſtlichen Nuntius. Luther hat ſein 
5 ykleines Buͤchle“ Papſt Leo X. zugeſchrieben, mit einem 
öffentlichen Sendbrief an ihn an der Spitze. Hiermit 
hatte es eine ſonderbare Bewandtnis. Noch immer 
machte ſich in Sachſen jener Sendbote des Papſtes, Karl von Miltitz, unnuͤtz, 
der vor zwei Jahren mit der fuͤr den Kurfuͤrſten Friedrich beſtimmten 
goldenen Roſe nach Deutſchland geſchickt war. Ein zuchtloſer Geſell, hatte 
er, waͤhrend ſeinem Herrn und Gebieter die Kaiſerwahl zu ſchaffen machte, 
auf eigene Fauſt ſich an dem Handel Luthers verſucht und konnte ſelbſt 
jetzt feine Hand nicht aus dem Spiele laſſen. Der Hoͤfling nahm den Schein 
an, als halte er eine Zuruͤcknahme der Bulle fuͤr durchaus nicht unmoͤglich, 
wenn nur der Papſt richtig uͤber die Sache aufgeklaͤrt wuͤrde. Er ſuchte 
es bei Luther durchzuſetzen, daß er in einem Briefe den ganzen Handel 
darlegte und dem Heiligen Vater die Verſicherung gaͤbe, niemals einen 
Angriff auf ſeine Perſon im Sinne gehabt zu haben. Dieſe Erklaͤrung 
glaubte Luther mit gutem Gewiſſen abgeben zu koͤnnen, da er ja immer 
nur den roͤmiſchen Stuhl bekaͤmpft habe, der auch bei dieſer Gelegenheit 
nach Gebuͤhr bedacht werden ſolle. Daran laͤßt es der Brief wahrlich nicht 
fehlen. Hier einige Proben. Nachdem der ſo arg Bedraͤngte ſeine Bitte 
vorgebracht, der Papſt wolle „ihn gewiß fuͤr den halten, der wider ſeine 
Perſon nie nichts Boͤſes vorgenommen, und der alſo geſinnet ſei, daß 
er ihm wuͤnſche und gönne das Allerbeſte“, geſteht er: „Das iſt aber 
wahr, ich hab' friſch angetaſtet den roͤmiſchen Stuhl, den man nennet 
roͤmiſchen Hof, von dem du ſelbſt und jedermann auf Erden bekennen 
muß, daß er ſei aͤrger und ſchaͤndlicher, denn je kein Sodom, Gomorra 
und Babylon geweſen“. „Indeß ſitzeſt du, Heiliger Vater Leo, wie ein 
Schaf unter den Wölfen und gleichwie Daniel unter den Löwen”. Er 
beklagt den Papſt, von deſſen Wandel er Gutes gehoͤrt hat, daß er zu 
dieſer Zeit Papſt geworden ſei, wo die Krankheit der Arzenei ſpotte: „Der 
roͤmiſche Stuhl iſt deiner und deinesgleichen nicht wert, ſondern der boͤſe 
Geiſt ſollte Papſt fein oder auch ein Judas Iſcharioth!“ „O, wollt' 
Gott, daß du entledigt von der Ehre (wie ſie es nennen, deine allerſchaͤd⸗ 


111 


Der Reformator 


lichſten Feinde) etwa von einer Pfruͤnde oder deinem vaͤterlichen Erbe 
dich halten moͤchteſt“. „O du allerunſeligſter Leo, der du ſitzeſt auf dem 
allerfaͤhrlichſten Stuhl, wahrlich, ich fag’ dir die Wahrheit, denn ich 
goͤnn dir Gutes“. Er beſchwoͤrt ihn, ſich nicht betruͤgen zu laſſen von 
den Schmeichlern und Heuchlern und „ſuͤßen Ohrenſingern, die da ſagen, 
du ſeieſt nicht ein bloßer Menſch, ſondern gemiſcht mit Gott, der alle Ding 
zu gebieten und zu fordern habe“, und daß „aller Koͤnige und Richter 
Throne von dir Urteil empfaen“. „Alſo komm' ich nu, Heiliger Vater 
Leo, und zu deinen Fuͤßen liegend bitte, ſo es moͤglich iſt, wolleſt deine 
Haͤnde dran legen, den Schmeichlern, die des Friedens Feinde ſind und 
doch Frieden vorgeben, einen Zaum einlegen. Daß ich aber ſollt wider⸗ 
rufen meine Lehre, da wird nichts aus. Dazu mag ich nicht leiden Regel 
oder Maße, die Schrift auszulegen, dieweil das Wort Gottes, das alle 
Freiheit lehret, nicht ſoll noch muß gefangen ſein“. 

So der Appell des tatſaͤchlich bereits Verurteilten. Der Bulle war 
hier nicht gedacht: nach dem Wunſche des paͤpſtlichen Diplomaten ſollte 
der Brief die Vorſtellung erwecken, als waͤre er vor deren Veroͤffent⸗ 
lichung geſchrieben. Hat Luther aber wirklich das naive Zutrauen zu 
der Perſon des Papſtes gehabt, das aus ſeinen Worten ſpricht? Oft 
hat ihn ſpaͤter ſein geſundes Empfinden, ſein ſcharfer Verſtand auch in 
politiſchen Fragen das Rechte finden laſſen, wo die berufenen Vertreter 
der Staatskunſt in der Irre gingen. Aber es gab eine gefaͤhrliche Klippe 
fuͤr ſein Urteil. Es durften keine Perſonen ins Spiel kommen, zu denen 
er mit Ehrfurcht aufblickte, und die ihm doch perſoͤnlich nicht nahe traten. 
Sie ſah er im Lichte eines faſt unverwuͤſtlichen Optimismus. Welche 
gute Meinung hatte er doch von der Perſon Karls V.: er hat ſie ſich erſt 
ſpaͤt rauben laſſen, lange, lange alles zum beſten ausgelegt, auch wo 
die Tatſachen laut das Gegenteil redeten. So mag er auch den Berichten 
eines Miltitz, deſſen Flunkerei er ſonſt durchſchaute, in bezug auf die 
Perſon des Papſtes gern Glauben geſchenkt haben. Im uͤbrigen aber 
legte er auch mit dieſem Briefe das Zeugnis ab, ſein Kampf gelte einzig 
der Sache. Und hier war er, wie wir ſahen, weit entfernt, auch nur einen 
Buchſtaben zuruͤckzunehmen. Der Widerruf, den die Bulle verlangte, 
war verweigert. Es war ſelbſtverſtaͤndlich, daß da die paͤpſtlichen Nuntien 
(neben Johann Eck Girolamo Aleander, welcher in den Niederlanden 
und am Rhein tätig war) ihr Geſchaͤft als Exekutoren der Bulle fort⸗ 
ſetzten. Schon im Juni hatte Luther an Spalatin geſchrieben: „Moͤgen 
ſie meine Sachen verdammen und verbrennen, ich werde ebenfalls ver⸗ 


112 


Die Verewigung des Bruches mit dem Antichriſt: das Flammengericht von Wittenberg 


dammen und oͤffentlich das ganze paͤpſtliche Recht verbrennen“. Jetzt 
war die Zeit gekommen, wo er dieſes Wort zur Wahrheit machen ſollte. 
Er ſchickte eine Reihe geharniſchter Schriften „wider die Bulle des End⸗ 
chriſts“ in die Welt, appellierte noch einmal an ein allgemeines Konzil, 
indem er zugleich „den Kaiſer, die Kurfuͤrſten, Fuͤrſten, Grafen, Herren, 
Ritter, Adel, Raͤte, Staͤdte und Gemeine ganzer deutſcher Nation“ auf⸗ 
forderte, ſich ſeiner Appellation anzuſchließen, und verbrannte alsdann 
— es war ein feierlicher Akt der Univerſitaͤt, zu welchem die akademiſche 
Jugend durch einen lateiniſchen Anſchlag Melanchthons eingeladen war 
— vor dem Elſtertore zu Wittenberg das „geiſtliche Recht“, das er in 
den Schriften der letzten Monate ſo arg zerpfluͤckt hatte, und die Bulle 
des Papſtes, die ſich erdreiſtet hatte, die einfachſten Wahrheiten des 
Evangeliums zu verwerfen. Es war am 10. Dezember 1520. 

Was hatte dieſes Flammenzeichen zu bedeuten? War es die Brand⸗ 
fackel der Empoͤrung? Äußerlich unterſchied ſich das Verfahren des 
Reformators in nichts von dem finſtern mittelalterlichen Brauche ſeiner 
Gegner, dieſer paͤpſtlichen Inquiſitoren, die eine nur allzu reiche Erfahrung 
hatten im Verbrennen von Ketzerſchriften und — von Ketzern. Aber 
— pir koͤnnen es nicht in Abrede ſtellen — auch innerlich beruͤhrte ſich 
Luther mit ihnen. Denn vor ſeinem Gewiſſen rechtfertigte er die Tat 
mit der ihm obliegenden Verpflichtung, in jeder Weiſe „falſche, ver⸗ 
fuͤhreriſche, unchriſtliche Lehre zu vertilgen oder je zu wehren“; und er 
glaubte das aus der Bibel begruͤnden zu koͤnnen, da in der Apoſtel⸗ 
geſchichte (19, 19) zu leſen ſteht, daß zu Epheſus juͤngſt bekehrte Chriſten 
die Buͤcher, deren ſie ſich zu ihren Zauberkuͤnſten bedient hatten, 
zuſammenbrachten und oͤffentlich verbrannten. Mit einer ſolchen Be⸗ 
gruͤndung taͤuſchte er ſich doch ſelber über fein Tun. Hatte er nicht bereits 
den Grundſatz verkuͤndet, die Ketzer ſeien mit Schriften, nicht mit Feuer 
zu uͤberwinden? Was von der Überwindung der Ketzer galt, mußte 
doch auch von ihren Schriften gelten. Vielmehr zeigte er den Gegnern, 
daß, was ſie koͤnnten, auch er koͤnne, dieſe elende Kunſt der Henkersknechte, 
die indeſſen ſeiner Meinung nach hier als Gegenmaßregel aufklaͤrend auf 
das Volk wirken koͤnne: „Dieweil durch ihr Verbrennen ſolcher Buͤcher 
ein großer Nachteil fuͤr die Wahrheit und bei dem ſchlechten gemeinen 
Volk ein Wahn erfolgen moͤchte zu vieler Seelen Verderben, hab“ ich, 
durch Anregen (wie ich hoff“) des Geiſtes, um dieſelben zu ſtaͤrken und 
zu erhalten, der Widerſacher Buͤcher wiederum verbrannt, angeſehen 
ihre unhoͤffliche (d. h. nicht mehr zu hoffende) Beſſerung“. 


8 Brieger, Reformationsgeſchichte 113 


Der Reformator 


Aber auch das war nicht die eigentliche Bedeutung ſeiner kuͤhnen Tat, 
zuf der er blind, wie von einer hoͤheren Kraft, geriſſen wurde. Zitternd 
und ſeinen Gott anrufend (ſo hat er einige Wochen ſpaͤter ſeinem ehe⸗ 
maligen Oberen Johann von Staupitz bekannt) hatte er ſie begonnen, 
bald war er froh uͤber ſie wie uͤber keine andere ſeines Lebens. Und mit 
Recht! Denn ſie war nichts anderes als das Abbrechen der Bruͤcke, die 
ihn noch zur Papſtkirche zuruͤckfuͤhren konnte. Unter ſeiner Abſage an 
das antichriſtiſche Papſttum ſetzte er damit das Siegel. Vor aller Welt 
bekraͤftigte er einen Ausruf, der ihm im Sommer 1520 in einem ver⸗ 
traulichen Briefe entfahren war: „Mir iſt der Wuͤrfel gefallen! Ich ver⸗ 
achte Roms Wut und Gunſt. Nicht will ich mit ihnen mich verfühnen 
noch teil haben auf ewig!“ Es galt zu waͤhlen zwiſchen Chriſtus und 
ſeinem Widerſpiel, dem Antichriſt. Konnte das fuͤr ihn uͤberhaupt noch 
eine Wahl ſein? Ganz ſelbſtverſtaͤndlich erſcheint uns ſeine Entſcheidung. 
Aber verſtand ſie ſich wirklich ſo ganz von ſelber? Er gab nicht bloß dem 
Antichriſt ſeinen Abſchied, ſondern er riß ſich zugleich los von der Einheit 
der Kirche, fuͤr immer. Man muß wiſſen, welche ungeheure Wucht dieſer 
Gedanke von der Einheit der Kirche ſelbſt heute noch fuͤr den katholiſchen 
Chriſten hat; man muß wiſſen, mit welcher Entſchiedenheit Luther ſelbſt 
noch zwei Jahre vorher, damals, als er die Erlaͤuterungen zu ſeinen 
Theſen ſchrieb, an ihm feſtgehalten hatte. Erſt dann werden wir in etwas 
ermeſſen koͤnnen, welchen Kampf es ihn, obgleich die Kirche ſelbſt ihn 
verwarf und von ſich ſtieß, gekoſtet haben muß, aus ihrer Einheit zu 
ſcheiden und jede Ruͤckkehr unmöglich zu machen. Und wohin trat er 
denn, indem er ſie verließ, er als erſter, ja ganz allein? Es war, aͤußerlich 
betrachtet, der große Schritt ins Leere. Denn „die Gemeinde der Glaͤu⸗ 
bigen“, welcher er ſich zugehoͤrig wußte, war nur in der Idee vorhanden 
— in dieſer freilich in voller Wirklichkeit. Sein Geiſtesauge ſah ſie vor 
ſich, ſein Glaube umfaßte ſie und wußte in ihr ſeine Heimat. In dieſer 
Kraft tat er den Schritt, nicht ohne anfaͤngliches Zagen zwar, dennoch 
gewiß und zuletzt froͤhlich, trotzte er der ganzen Welt. 

Der Wuͤrfel war ihm gefallen. Aber auch andere ſollten, nein, 
mußten den großen Wurf wagen. Das war es, was er tags darauf in 
der Vorleſung ſeinen Studenten zurief, die, nicht zu ſeiner Freude, an 
den ernſten Akt vor dem Tore im Feuer der Jugend ein Spiel uͤber⸗ 
muͤtiger Laune geknuͤpft hatten: mit einem ſolchen Feuerwerk ſei es 
nicht getan, der Papſt ſelber, das heiße: der paͤpſtliche Stuhl muͤſſe in 
Flammen aufgehen. „Wenn ihr nicht“, ſo redete er ſie, ſich des Deutſchen 


114 


Die Verewigung des Bruches mit dem Antichriſt: das Flammengericht von Wittenberg 


bedienend, mit großem Ernſte an, „mit ganzem Herzen euch von des 
Papſtes Reich losſagt, koͤnnt ihr eurer Seelen Seligkeit nicht erlangen; 
wer dem Regiment des Antichriſts zuſtimmt, verleugnet Chriſtum“. Hier 
drohe zeitliche Gefahr, dort ewiges Verderben. Vor die Wahl ſei ein 
jeder geſtellt. Er wolle lieber auf Erden in Gefahr ſchweben, als durch 
Schweigen eine ſo ſchwere Verantwortung auf ſein Gewiſſen laden. 
„Es ſoll dies“, ſo ſchrieb er bald darauf in ſeiner Verteidigung des 
Flammengerichtes vom 10. Dezember, „ein Anfang des Ernſtes ſein; 
denn ich bisher doch nur geſcherzt und geſpielt hab“ mit des Papſtes 
Sach“. Ich hab's in Gottes Namen anfangen, hoff’, es ſei an der Zeit, 
daß es auch in demſelben, ohn“ mich, ſich ſelbſt hinausfuͤhre“. 

Gott hat ſich freilich auch ſpaͤter ſeiner noch bedient. Immer aber 
erſcheinen jetzt neben ihm auch Andere im Vordergrunde der Weltbuͤhne, 
auf der dies gewaltige Drama der Geſchichte aufgefuͤhrt wird. Wir haben 
uns jetzt dem Volke Luthers zuzuwenden und weiterhin Kaiſer und Reich. 


8* 


III. 


Das deutſche Volk 
Kaiſer und Reich 


1. Die Zeit und das Volk Luthers. Die Erhebung der deutſchen 
Nation 


5 7 ir koͤnnen uns von Luther nicht vorſtellen, daß er etwa, 
5, | als Zeitgenoſſe Innocenz“ III., des machtvollſten aller 


I, 7 Paͤpſte, um das Jahr ı200 gelebt habe. So manche 
Zuͤge in ihm, und darunter wahrlich nicht unweſentliche, 


= 


RA A Are werden uns nur aus dem Ertrage der letzten Jahr⸗ 
EIS Hunderte des Mittelalters verſtaͤndlich. Zwar innen wir 
Luther fo wenig wie irgend einen der anderen Großen der Geſchichte, unter 
deren droͤhnendem Tritte der Erdboden erbebte, völlig aus feiner Zeit 
erklaͤren. Es bleibt auch bei ihm ein unaufgeloͤſter Reſt von Eigenart, der 


116 


Die Zeit und das Volk Luthers. Die Erhebung der deutſchen Nation 


jedes Verſuches der Ableitung ſpottet, und gerade in ihm liegt das Geheimnis 
der weltgeſchichtlichen Wirkung. Immer aber zeigen auch dieſe Heroen in 
allem uͤbrigen ſich als Kinder ihrer Zeit. Aber, geſetzt auch, es waͤre drei⸗ 
hundert Jahre fruͤher ein Mann genau ſo wie der deutſche Reformator 
moͤglich geweſen, ſo duͤrften wir doch mit Beſtimmtheit ſagen, daß ihm 
eine Einwirkung im großen verſagt geblieben waͤre. Der Zeit im ganzen 
haͤtte die Empfaͤnglichkeit fuͤr das, was er Neues brachte, gefehlt. 

Wie anders zu Anfang des 16. Jahrhunderts! Die Zeit war reif 
fuͤr eine Reformation! Sie war es dank jener, ſei es bewußt, ſei es 
unbewußt und in der Stille gegen den roͤmiſchen Geiſt und ſein knechtendes 
Joch ſich erhebenden Bewegungen, von denen wir freilich ſagen mußten, 
daß ſie alle miteinander unvermoͤgend waren, das Mittelalter zu 
brechen. Denn alle waren ſie gehemmt durch die uͤberirdiſch⸗geiſtige 
Weltmacht, bei der alles auf eine noch lange Dauer ungeſchmaͤlerter 
Herrſchaft hinzudeuten ſchien. Es hat ſich uns ergeben: ſo mancherlei 
neue Kraͤfte ſich regten, es war nicht eine unter ihnen, die nicht in Banden 
lag. Immer aber waren dieſe Kraͤfte da und, durch Luther befreit, wurden 
ſie jetzt mit einem Male eine Macht, eben jene, ohne deren Mitwirken ſich 
die Reformation nicht haͤtte durchſetzen koͤnnen. Denn fo groß, über; 
groß wir uns die vorwaͤrtstreibende Gewalt einer gigantiſchen, genialen 
Perſoͤnlichkeit vorſtellen mögen, fie iſt doch immer an die Kräfte, die fie 
in ihrer Zeit vorfindet, gebunden. Entbehrt dieſe des Lebens oder iſt 
ſie taub und unempfaͤnglich, dann bleibt auch der Weckruf der Poſaune 
ein verhallender Hauch. Immer gehoͤrt das Genie und ſeine Zeit 
zuſammen, und die Groͤße der Wirkung iſt von dem Zuſammenklang beider 
abhängig. — 

Kaum hatte Luther den Weckruf ertoͤnen laſſen und es begann zu 
erwachen, was alles ſchlummernd in der Zeit lag; und was zum Leben 
erſtand und Kraft gewann, das trat in den Dienſt des reformatoriſchen 
Gedankens. Eines Aufgebotes der einzelnen bedurfte es nicht. Frei⸗ 
willig ſtellten ſie ſich alle. „Es war“, ſagt Leopold Ranke, „keine Anſtalt 
zu treffen, kein Plan zu verabreden, einer Miſſion bedurfte es nicht: wie 
uͤber das geackerte Gefilde hin bei der erſten Gunſt der Fruͤhlingsſonne 
die Saat allenthalben emporſchießt, ſo drangen die neuen Überzeugungen 
in dem geſamten Gebiete, wo man deutſch redete, jetzt ganz von ſelbſt 
oder auf den leichteſten Anlaß zutage“. 

Die wichtigſte Vorbedingung fuͤr den Erfolg Luthers haben wir 
der Natur der Sache nach in der religioͤſen Empfaͤnglichkeit ſeiner Zeit⸗ 


117 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


genoſſen zu erblicken. „Die Welt war duͤrſtig nach dem Evangelio“, leſen 
wir in einer Flugſchrift jener Zeit. Wie wir uns erinnern, hatte ſich, 
urſpruͤnglich aus den Kreiſen des Moͤnchtums hervorgegangen und durch 
die Myſtik gepflegt, eine bereits perſoͤnlich gefärbte Religioſitaͤt in der 
Laienwelt ausgebreitet. Ein religiöfes Verlangen von ſeltener Staͤrke 
machte ſich geltend. Zwar aͤußerte es ſich noch durchaus in Werken ſtreng 
kirchlicher Art. Aber das Suchen nach neuen und ſtaͤrkeren Reizmitteln 
der Froͤmmigkeit, das Haſten und Jagen auf dem herkoͤmmlichen Wege 
zur Seligkeit verriet doch nur den Mangel an innerer Befriedigung und 
die Sehnſucht nach einem ſicheren Beſitze. Ob Edelmann, ob Buͤrger, 
ob Bauer, das machte zunaͤchſt keinen Unterſchied: in allen Staͤnden ergriff 
man das befreiende Evangelium mit derſelben Innigkeit, mochte auch 
der Gebildete freieren Blickes gleich die Tragweite des Neuen uͤberſehen. 

Eine Macht wurde da plotzlich auch der alte Pfaffenhaß, der — wir 
ſahen es — auch das Landvolk ergriffen hatte. Jetzt erſt ward er feines 
Rechtes inne, und jetzt erſt hatte er ein greifbares Ziel. Nicht allein dieſes 
ſchandbare Leben des verweltlichten, uͤppigen, verkommenen Klerus war 
zu haſſen, waͤhrend man der Kirche ſelber in dumpfer Traͤgheit untertan 
blieb, nein, der Prieſterſtand ſelber war ſchon ein Unrecht an dem Laien, 
ſeine Entrechtung, ſeine Knechtung. Wir beſitzen eine reiche Literatur 
volkstuͤmlicher Flugſchriften aus dieſen Jahren. Vielleicht die Mehr⸗ 
zahl von ihnen war auf den gemeinen Mann berechnet, beſonders auf 
den Bauer, der mit Karſt und Hacke arbeitete (den „Karſthans“). Von 
Maͤnnern verfaßt, die mitten im Volke ſtanden, fanden ſie die weiteſte 
Verbreitung. Da koͤnnen wir ſehen, wie die Grundſaͤtze Luthers durch⸗ 
ſchlugen, nicht zuletzt der vom allgemeinen Prieſtertum. In einer aus 
dem Elſaß ſtammenden Schrift, in welcher ein Schultheiß mit unbarm⸗ 
herzigem Ernſt ſeinem Pfarrer das Suͤndenregiſter des geiſtlichen Standes 
vorhaͤlt, heißt es: „Der Glaub aller frommen Menſchen iſt eine Kirche 
Gottes, und was fromm und gerecht iſt, iſt ein Erbe Chriſti, und welche 
Erben Chriſti find, die gewinnen Alle Schluͤſſel“. Der Pfarrer pocht auf 
ſeine Weihe, der Schultheiß entgegnet: „Was geht mich euere Weihe an? Ihr 
Pfaffen pocht alle auf eure Weihe. Ihr wollt beſſere Chriſten ſein, und die 
Heiligkeit der chriſtlichen Kirche ſoll allein an euch liegen“. Der Apoſtel 
Paulus (Epheſ. 4, 3—7) wife nichts von einem ſolchen Vorzuge einzelner: 
„er ſondert keinen vor dem anderen und macht auch keinen heiliger denn 
den anderen, er uͤbe es denn mit rechtem Glauben und guten Werken“. 
Das Selbſtgefuͤhl des Laien dem bisherigen Vormund gegenuͤber tritt 


118 


Die Zeit und das Volk Luthers. Die Erhebung der deutſchen Nation 


uͤberall in der ſtarken Betonung hervor, daß „jetzt auch der Karſthans 
die Heilige Schrift verſteht“. „Derhalben ſiehſt du jetzund manchen 
ungelehrten Laien, der allein lutheriſche Geſchrift hat leſen hoͤren, mehr von 
dem Evangelio und Grund unſeres Glaubens wiſſen zu ſagen als man⸗ 
chen Pfaffen, der zehn oder funfzehn Jahre gepredigt und viel Buͤcher 
durchleſen hat. Das ſchafft, daß dieſe Lehr tief eingeht, lang bleibt und 
Frucht bringt“. „Ungelehrte Laien“, ſchreibt der Franziskaner Eberlin 
von Guͤnzburg, einer der volkstuͤmlichſten evangeliſchen Praͤdikanten, 
„Bauern, Koͤhler, Dreſcher wiſſen und lehren das Evangelium beſſer 
als ganze Dorf⸗ und Stadt⸗Kapitel der Domherrn oder Pfaffen, ja als 
hochhuͤbig (hochmuͤtige) Doctores“. Dieſe Laien traten gelegentlich ſelbſt 
als Prediger auf. So wird uns von einem „Karſthans“ erzaͤhlt, der in 
Baſel, Straßburg und ſonſt am Rhein „die Menge des Volkes zu den 
Gaſſen und den Straßen verſammelte“ und ſeine aufreizenden Reden wider 
den Betrug der Pfaffen hielt. Auch kam es vor, daß ein Pfarrer, der 
als Wanderprediger das Evangelium ausbreiten wollte, ſich fuͤr einen 
Bauersmann ausgab, wie jener Schwabe, der „Bauer von Woͤrth“, der 
in Franken ſein Weſen trieb und auch in einer Stadt wie Nuͤrnberg 
ſtarken Zulauf zu ſeiner derben Predigt hatte. Wie wußte er den rechten 
Ton zu treffen, wenn er z. B. gegen den „Goͤtzendienſt der Heiligen⸗ 
anrufung“ und den groben Trug der Pfaffen und Moͤnche eiferte, die 
„mit boͤsliſtiger Geſtalt die materlichen (aus Materie gemachten) Bilder 
aufgemutzt (aufgeputzt) und mit falſcher, betruͤgeriſcher Geſtalt ver⸗ 
faͤlſchten“: „einem haben fie Ol hinten in den Kopf gegoſſen, daß es zu 
den Augen hinausfloſſen iſt, dem anderen Blut, daß es Blut geſchwitzt 
hat, und alſo dergleichen, und dann haben fie geſagt: ‚Schau, iſt das nit 
ein groß Wunderzeichen? Dann ſo ſind die armen ſchlechten Bauern hin⸗ 
zugelaufen und haben den Heiligen angerufen und Gott laſſen liegen. 
So haben die Papiſten die Goͤtzen (d. h. die Heiligen bilder) als Lockvoͤgel 
gebraucht, von denen ſie ihre Konkubinen feiſt machten und wohl 
bekleideten“. So dieſer angebliche Laie. Hinter den Maͤnnern blieben aber 
auch die Frauen nicht zuruͤck. Mit gutem Grund konnte Eberlin von 
Guͤnzburg ſchreiben: „Das Allergroͤßte iſt, daß viel Weibsbild ſich ſo faſt 
(d. h. ſtark) bemühen mit Leſen Heiliger Schrift und fo gar erleucht und erhitzt 
werden im Gottes wort, daß fie duͤrfen ehe ſich begeben in große Gefahr, 
ehe ſie wollen Gottes Wort leugnen oder ſchweigen“. Eine von den 
begeiſterten Juͤngerinnen des Reformators hat ſich ſelbſt auf den litera⸗ 
riſchen Kampfplatz gewagt. Frau Argula von Grumbach, eine geborene 


119 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


Freiin von Stauff, warf der Hohen Schule zu Ingolſtadt den Fehde⸗ 
handſchuh hin, als dieſe einen jungen Dozenten, einen Schuͤler Witten⸗ 
bergs, zum Widerruf gezwungen hatte: ſie forderte die Herren von der 
Univerſitaͤt zu einer oͤffentlichen Disputation heraus, bei der die Heilige 
Schrift entſcheiden ſollte, anſtatt daß „man gewaltiglich mit dem Gefaͤngnis 
oder dem Feuer beweiſen wollte“. In ihrer Kenntnis der Schrift fuͤhlte 
ſie ſich den Gelehrten gegenuͤber mehr als gewachſen: „Es iſt leicht dis⸗ 
putiert, wenn man nicht die Schrift, ſondern die Gewalt gebraucht; in einer 
ſolchen Disputation ſehe ich nichts anderes, als daß der Zuͤchtiger (d. h. 
Scharfrichter) der Gelehrteſte iſt. Gott wird's nicht lange von euch leiden“. 

„Gott wird's nicht lange leiden“ — das war die Überzeugung, der 
alle Anhaͤnger des Evangeliums lebten: der Antichriſt wird geſtuͤrzt 
werden, bald. Denn tief hatte ſich Luthers Gedanke von dem Papſt als 
dem Widerchriſt in Herz und Sinn des deutſchen Volkes geſenkt. Welche 
Rolle ſpielt er allein in den Flugſchriften. Mehr als eine iſt ihm aus⸗ 
ſchließlich gewidmet. So jene „Klag und Bitt der deutſchen Nation an 
den allmaͤchtigen Gott um Erloͤſung aus dem Gefaͤngnis des Antichriſts“: 


„O Jeſu Chriſt, reg 
Erlös uns aus dem Gefängnis des Antichriſt zu Rom! 
Der deine Schaͤflein nit weidet, ſondern beſtrickt“. 


Vor allem: er hat die Heilige Schrift vom Stuhl geſtoßen! Schon iſt 
uͤber die Praͤlaten in Griechenland das Strafgericht ergangen; unzaͤhlig 
Volk hat der Tuͤrke der Chriſtenheit geraubt: 


„Noch wollen wir blind ſein bei der hellen Sonnen!“ 


Damals „iſt die Schrift noch ſeltſam geweſt“; denn „die Druckerei war 
noch nicht vorhanden“: 

„Den Druck uns Deutſchen Gott zugeſchickt hat, 

Zu lernen die Schrift und erkennen der Roͤmer Art, 

Welche die Heilige Schrift wollen unterdrüden. 

So wir nicht wehren und flegeln ihre Ruͤcken, 

So wird uͤber uns kommen der goͤttlich Zorn!“ 


So wird hier zur Zuͤchtigung der Roͤmer aufgefordert. Doch bildet den Schluß 
die erneute Bitte an den allmaͤchtigen Gott um Erloͤſung vom Antichriſt: 


„Daß wir Gutes tun und vermeiden das Boͤſe, 
Darzu helf“ uns die evangeliſche Wahrheit!“ 


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Die Zeit und das Volk Luthers. Die Erhebung der deutſchen Nation 


Soll die doch zuletzt allein helfen? ſo wie der „Bauer von Woͤrth“ ſeine 
Hoffnung nicht auf aͤußere Gewalt ſetzen wollte: „Nun darfſt du nicht 
denken, daß der Antichriſt anders als mit dem Geiſt Gottes ſoll ver⸗ 
trieben werden, ohn“ alle Schwertſchlaͤge“. 

Die innere Wahrheit des Satzes von dem antichriſtlichen Weſen des 
Papſttums wurde mit einer Lebhaftigkeit empfunden, von der wir uns 
heute kaum noch eine zutreffende Vorſtellung machen koͤnnen. Hundert⸗ 
fach freilich wurde ſie durch das, was das Volk rings um ſich herum ſah, 
mit Beiſpielen aus dem Leben belegt. Wie eine Offenbarung war es 
uͤber die Maſſe gekommen. Woruͤber man ſo oft geklagt hatte, worunter 
man ſeufzte bis auf dieſen Tag, das erkannte man jetzt in ſeiner wahren 
Geſtalt, und es gab nur eine Loſung: rein ab damit! So ſprach, wer 
als Chriſt den Schaden in ſeiner ganzen Tiefe erkannte. So ſprach aber 
auch der deutſche Patriot. So endlich der Arme und Gedruͤckte, der 
ſich von der Befreiung von dem tyranniſchen Joch des Antichriſts auch 
eine Verbeſſerung ſeiner ſozialen Lage verſprach, und das nicht bloß, 
weil jetzt die Ausmergelung durch „das beſchworene Volk“ ein Ende haben 
mußte: brach die Macht des einen Zwingherrn und Blutſaugers zuſammen, 
hätten da die Wuͤnſche, ja die Hoffnungen nicht noch weiter gehen ſollen? 
So verſchlang ſich mit der religioͤs⸗kirchlichen Idee zu untrennbarer 
Einheit der nationale Gedanke und ſchloß ſich dieſem Bunde an, was 
die Zeit an ſozialen Strebungen in ihrem Schoße trug. Faſt kein Flug⸗ 
blatt dieſer gaͤrungsreichen Jahre koͤnnen wir in die Hand nehmen, aus 
dem uns nicht auch dieſe beiden Untertoͤne der Schriften des Reformators 
entgegenklaͤngen. Auch hiervon gilt die Klage, die wir einem Moͤnch in 
den Mund gelegt finden: „Es hat der Teufel den Luther in alle Land 
geführt: fie haben ihn mit Haut und Haaren gar gefreſſen“. 

Wir koͤnnen von hier aus einigermaßen ermeſſen, mit welcher unge⸗ 
heuren Gewalt (ſeit dem Jahre 1520/21) der große Kampf geführt worden 
iſt. Nicht von einzelnen: die Nation hatte ſich erhoben. Wohin der Strom 
der Bewegung flutete, da war der gemeine Mann in Stadt und Land 
von ihm ergriffen. Die hoͤheren Staͤnde ſpalteten ſich freilich. Auch da 
wurden die einen mit fortgeriſſen, Andere dagegen ſuchten Stand zu halten, 
aber ſie waren eine kleine Minderheit. 


* 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


2. Die Gegner und die Mitſtreiter Luthers 


Jie Gegnerſchaft des Reformators ſetzte ſich bunt aus 
verſchiedenen Gruppen zuſammen, und ebenſo bunt 
(waren die Beweggründe, die fie ans Alte banden. 
Alles, was dem Volke als „Anhang des Antichriſts“ 
> erſchien, hatte ja nicht erſt zu wählen: von den geiſtlichen 

Reichsfuͤrſten an bis zu dem vom Gluͤck beguͤnſtigten 
a, dem paͤpſtlichen „Kurtiſanen“, hin. Sie alle waren des 
Papſtes „Geſinde“. „Die Biſchoͤfe und ihre Plattentraͤger“, ruft Bruder 
Heinrich von Kettenbach aus, „ſind bei ihrem Eid ſchuldig wider Gott 
und Wahrheit zu tun“. Wie ein weißer Rabe erſcheint da ein Biſchof, 
der es wagt, dem Evangelium die Tuͤr zu oͤffnen. 

Nicht weniger als der hohe Klerus war in einen Kampf ums Daſein 
die kirchliche Wiſſenſchaft verwickelt. Luther hatte die Fundamente der 
ſcholaſtiſchen Theologie untergraben. Koͤnnen wir es ihren Vertretern 
verdenken, wenn ſie mit allen Mitteln gegen den Zerſtoͤrer ihrer ſtolzen 
Burg ſich wehrten und in Haß gegen ihn einander in boͤſem Wetteifer 
uͤberboten? 

Fuͤhlten dieſe Theologen — und den Kundigen des päpftlichen 
Rechts ging es nicht beſſer — ſich in ihrem Handwerk getroffen, ſo war 
den „heiligen Leuten“, welche in ihrer Perſon die chriſtliche Vollkommen⸗ 
heit darſtellen wollten, noch uͤbler mitgeſpielt. Ihnen war der Schleier 
beſonderer Heiligkeit vom Haupte geriſſen: ihr ganzes Leben ſollte ein 
verfehltes ſein, ein Verkennen des Zweckes des Daſeins, eine Art von 
feinerem Egoismus. Viele ließen ſich das geſagt ſein und kehrten mit 
befreitem Gewiſſen in die Welt zuruͤck, fortan nuͤtzliche Glieder der Geſell⸗ 
ſchaft, wenn nicht gar begeiſterte Mitſtreiter ihres Befreiers: eine ſtatt⸗ 
liche Reihe von Gehilfen Luthers iſt aus den verſchiedenſten Orden 
hervorgegangen. Daneben gab es andere, welche, einſt nur durch aͤußere 
Gruͤnde ins Kloſter gefuͤhrt, jetzt von gleich niedrigen Motiven geleitet 
durch die von Luther geoͤffneten Pforten aus ihrem Gefaͤngnis entwichen. 
Wie viele Klöfter haben ſich fo geleert! Aber es blieben immer noch, wenn 
auch in verhaͤltnismaͤßig geringer Anzahl, Moͤnche und Nonnen uͤbrig, 
die im Kloſter ausharrten, bald wegen Alter oder Mangel an Geſchick 
fuͤr einen buͤrgerlichen Beruf oder aus Bequemlichkeit, bald auch, weil 
ſie durch die Antaſtung ihres Lebensideals in ihrem Heiligſten verletzt 


122 


Die Gegner und die Mitſtreiter Luthers 


waren. Dieſe letzteren gehoͤrten bald zu den heftigſten Feinden des 
Reformators. Manche von ihnen redeten ſich in eine Wut hinein, die nur 
zu deutlich ihre innere Ohnmacht offenbarte. Das Moͤnchtum hat es bis 
auf den heutigen Tag ſeinem großen Renegaten nicht vergeſſen, was er 
ihm angetan hat. Noch in juͤngſter Zeit haben wir bei einem gelehrten 
Dominikaner den leidenſchaftlichſten Ausbruch dieſer Wut erlebt. Wider 
Willen hat er damit Zeugnis abgelegt von der unvergaͤnglichen Groͤße 
Luthers. Denn ſo urkraͤftig und friſch brach hier der Haß hervor, als waͤre 
der Frevel am Heiligen ſoeben erſt geſchehen. 

Auch unter den Laien waren viele allein ſchon zu alt, als daß ſie noch 
fuͤr das Neue zugaͤnglich geweſen waͤren. Haͤlt es im Alter ſchon ſchwer, 
noch umzulernen, fo iſt es ja für die meiſten unmöglich, noch „umzudenken“, 
die ganze Gedankenwelt zu erneuern, noch dazu in der wichtigſten Ange⸗ 
legenheit des Lebens. Andere hielt auch hier der Hang zur Bequemlichkeit 
zuruͤck, ein traͤges Beharrungsvermoͤgen oder auch religioͤſe Stumpfheit, 
wenn nicht gar ſittliche Laxheit. Und wie haͤtte es an ſolchen fehlen 
koͤnnen auch hier in der Laienwelt, die nur ihren Vorteil im Auge 
hatten? Ein Teil der „Geſchlechter“ in den Staͤdten fuͤhlte ſich 
zuruͤckgeſtoßen durch die Begeiſterung, mit der das niedere Volk 
die Reformation aufnahm; der ſtarke demokratiſche Zug, der ſich 
da kundgab, ließ ſie fuͤrchten fuͤr den Fortbeſtand ihrer bevorzugten 
Stellung. Neben ihnen gab es andere, welche, etwa unter einem 
dem Alten ergebenen Oberherrn ſitzend, ſich beugten, wo die Gewalt 
ſich regte, und den Mut der eigenen Meinung verloren. Wo haͤtte es 
ſelbſt in einem heroiſchen Zeitalter nicht Furchtſame, Bloͤde gegeben? 
Im Blick auf dieſe Klaſſe ruft Heinrich von Kettenbach in bitterem Tone 
aus: „Die Staͤdte fuͤrchten den Kaiſer Nero; die Fuͤrſten haben Kinder 
und Bruͤder, die haben oder warten Lehen von dem Antichriſt, und hilft 
Pilatus dem Kaiphas wider Chriſtum, und ſchreit die ganze Gemeinde 
auch zuletzt, man ſolle ihnen den Moͤrder Barrabam geben und Jeſum 
toͤten“. Dazu kamen die Weiblein, die unter dem ſtarken Willen ihres 
Beichtvaters ſtanden; mit allen Qualen der Hoͤlle ſahen ſie ſich bedroht, 
oder auch ſie wurden beſtaͤrkt in ihrem Hang zu den teils gemuͤtvollen, 
teils aberglaͤubiſchen Braͤuchen der Kirche und konnten der beruhigenden, 
einſchlaͤfernden Mittel des Heiles noch weniger entraten als die Maͤnner. 
Innerlich gebunden waren auch jene treuen Soͤhne der Kirche, in denen 
das eingefleiſchte Autoritaͤtsbewußſtein zu ſtark, das Gefuͤhl fuͤr das 
Gut der Einheit der Kirche zu maͤchtig war, als daß ſie es uͤber ſich ver⸗ 


123 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


mocht haͤtten, ſich loszuſagen. Ulrich Zaſius zu Freiburg i. B., einer der 
vorzuͤglichſten Juriſten ſeiner Zeit, ein Mann von freiem Blicke und viel⸗ 
ſeitiger Bildung, ſah anfangs in Luther einen Sendboten des Himmels; 
als dieſer aber dazu fortſchritt, das goͤttliche Recht des Papſttums zu 
leugnen, und das ganze kanoniſche Recht uͤber den Haufen warf, da urteilte 
Zaſius, der bewundernswerte Mann ſei geſtrauchelt, ja auf einen Abweg 
geraten. Dennoch bekannte er ſich noch 1520 in einem Briefe an Luther 
mit Freuden zu deſſen „herrlichen Lehren“ vom Ablaß, Beichte und Buße, 
doch ohne fein Bedenken zu verſchweigen, daß Luther „die Autorität des 
apoſtoliſchen Stuhles allzuſehr herabſetze“: „Die Autoritaͤt ſo vieler 
Menſchenalter, welche fuͤr die Gewalt des roͤmiſchen Biſchofs ſprechen, 
und ſo vieler heiliger Maͤnner zu erſchuͤttern, iſt unvorſichtig und gefaͤhr⸗ 
lich, wenn es nicht mit den allerſtaͤrkſten Gruͤnden geſchieht. Wenn unſer 
Recht [naͤmlich das päpftliche] bei dir irgend eine Autoritaͤt haͤtte, würde dir 
dieſe Erwaͤgung unuͤberwindlich ſein. Denn wir halten es fuͤr unrecht, einen 
Zuſtand, der ſeit undenklichen Zeiten fuͤr Recht gegolten hat, umſtuͤrzen 
zu wollen.“ Bald aber erſchien ihm eben dieſes als „wahnſinnige Lehre“. 
„Was iſt das fuͤr ein unerhoͤrter Hochmut, wenn ein einzelner Menſch 
verlangt, daß feine Auslegung [der Heiligen Schrift] derjenigen aller 
Kirchenvater, der Kirche ſelbſt, der ganzen Chriſtenheit vorgezogen werde!“ 
Ein jugendlicher Freund von Zaſius, der andere Wege ging als der 
alternde Meiſter, bekam von ihm zu hoͤren, er, ein „ungluͤcklicher, verfuͤhrter 
Juͤngling, kenne die Welt nicht und verlaſſe die Kirche, indem er Schatten⸗ 
bildern nachlaufe“. Wir begreifen dieſe Stimmung: Luthers Bruch mit 
dem Mittelalter mußte, wie man treffend geſagt hat, in allen denen „ein 
unheimliches Grauen erregen, deren ſittliches Bewußtſein ganz und gar 
mit der mittelalterlichen Weltanſchauung verwachſen war“. — Mit Maͤn⸗ 
nern wie Zaſius berührt ſich die letzte Gruppe von Gegnern Luthers, auf 
die wir ſtoßen. Sie haͤtten wohl gegen eine gruͤndliche Reformation an 
ſich nichts einzuwenden gehabt; aber ſie ſollte ſich auf geſetzlichem Wege, 
d. h. von den kirchlichen Gewalten aus, und nach kirchlichen Grundſaͤtzen 
vollziehen, ſich ſelber ganz innerhalb der Kirche halten. Manch treff⸗ 
licher Mann, der fuͤr die Schaͤden der Kirche keineswegs blind war, hat 
ſich deshalb dem nationalen Werke verſagt. Aus der Geſchichte hatten 
dieſe Leute nichts gelernt. Daß die Krankheit der Kirche der Mittelchen 
ſpotte, die man vor zwei Menſchenaltern verſucht hatte, daß es jetzt, ſollte 
das Chriſtentum geſunden, eines gewaltſamen operativen Eingriffes 
beduͤrfe, das ging uͤber ihr Faſſungsvermoͤgen. Der durch die Not 


124 


Die Gegner und die Mitſtreiter Luthers 


geforderte Bruch mit dem Übereinkommen war in ihren Augen eine 
verabſcheuenswerte Revolution. Und zugleich wurden ſie gepackt von der 
Angſt, daß die kirchliche Umwaͤlzung unmittelbar auch die ſtaatliche und 
buͤrgerliche Ordnung umſtuͤrzen werde, daß die geiſtigen Waffen, mit 
denen Luther das große Werk vollbringen wollte, nur zu bald abgeloͤſt 
werden wuͤrden von brutaler, blind wuͤtender Gewalt. 

Wir kennen jetzt dieſe bunte Schar von ſolchen, die nur das Ihre 
ſuchten, von rechtſchaffenen Alten, die an der Vergangenheit klebten, 
von philiſterhaften Seelen, die wert geweſen waͤren, zu einer ruhigeren 
Zeit auf die Welt gekommen zu ſein. Hier haben wir uns nur noch einmal 
daran zu erinnern: fie alle miteinander machten nur einen kleinen Bruch⸗ 
teil des deutſchen Volkes aus, den noch Nacht und Finſternis deckte. Die 
uͤberwaͤltigende Mehrheit der Nation war wie der Tau des Morgens, 
in deſſen Millionen von Tropfen der Strahl der aufgehenden Sonne ſich 
ſpiegelt. Ubergeflutet war aus der Seele des Einen in die Seele des 
Volkes kuͤhner Mut und frohe Zuverſicht, und aus beidem war der feſte 
Entſchluß erwachſen, mit dem unchriſtlichen Roͤmerweſen zu brechen 
und eine neue Ordnung der Dinge aufzurichten — Gott zu Ehren, dem 
Einzelnen zum ewigen Heil, dem Vaterland zum Ruhme. 

Unter denen, die jetzt neben oder vielmehr unter Luther als die geiſtigen 
Fuͤhrer der Nation hervortraten, zeigen ſich trotz der Gleichheit des naͤchſten 
Zieles, der Abſchuͤttelung des Prieſterjoches, doch beachtenswerte Unter⸗ 
ſchiede. Bei den einen ſtand wie bei Luther das Religioͤſe obenan; bei 
anderen wog mehr das Patriotiſche vor; und daneben fehlte es nicht an 
ſolchen, die dem Reformator als die Wortfuͤhrer einer aufgeklaͤrten Wiſſen⸗ 
ſchaft zuſtimmten. Die Glieder der erſten Gruppe ſtellten ſich unmittelbar 
als Gehuͤlfen Luthers in den Dienſt der großen Sache, Geiſtliche und Laien. 
In hellen Scharen ſtroͤmte ihm wie die Kloſtergeiſtlichkeit ſo der niedere 
Weltklerus zu; darunter wohl gelegentlich auch gelehrte Theologen, 
doch der Mehrzahl nach volkstuͤmliche Prediger und Schriftſteller. Sie 
entfalteten die regſte Wirkſamkeit, unterſtuͤtzt durch Laien der ver⸗ 
ſchiedenſten Berufszweige, Maͤnner, die im Rate der Fuͤrſten ſaßen oder 
deren Wort etwas galt in den Stadtmagiſtraten. 

Sie alle waren die Mitſtreiter des Reformators; aus eigenem 
Antriebe hatten fie ſich unter feinen Befehl geſtellt, felbftändig arbeitete 
ein jeder auf ſeinem Poſten in Luthers Geiſte. 

Anders war die Stellung gewiſſer Patrioten und Humaniſten zu 
ihm und ſeiner Sache, welche ſich ihm als Bundesgenoſſen anboten, 


125 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


um an ſeiner Seite ihren Kampfesmut zu kuͤhlen. Auch ſie waren nicht 
ganz unberuͤhrt geblieben von dem religioͤſen Hauche Luthers und nahmen 
ſo, was ihm am Herzen lag, mit in ihr Programm auf, doch ohne dieſes 
im uͤbrigen umzugeſtalten. Um ihre Haltung zu verſtehen, muͤſſen wir 
hier dem deutſchen Humanismus der Reformationszeit unſere Auf⸗ 
merkſamkeit zuwenden. 


ie deutſchen Humaniſten verfolgten wie ihre Lehrmeiſter, 
55 italieniſchen, das Ziel, eine weltfrohe, von dem 


aa 


anch unter ihnen begegnen uns, zumal in den unſteten 
„fahrenden Literaten und Poeten“ leichtlebige Anhaͤnger 
b eines verblaßten Heidentums, die für die Kirche und 
ihre an nur Spott übrig hatten, felbft wenn fie von deren 
Gnadenbrot ſich naͤhrten. Aber daneben finden wir eine Menge von ernſt⸗ 
haften Maͤnnern, die ſich fernhielten von italieniſcher Frivolitaͤt. Auch ihr 
Verhaͤltnis zur Kirche war ohne die Schroffheit jener. Sie lebten zum 
Teil in den Reformgedanken des 15. Jahrhunderts fort. Ihre Feindſchaft 
galt in herkoͤmmlicher Weiſe „den Pfaffen und Mönchen“ und der in ihren 
Augen laͤcherlichen Wiſſenſchaft des Mittelalters, der Scholaſtik. Die 
Tuͤchtigeren unter ihnen kannten dieſe Feindin auch wirklich mehr als vom 
Hoͤrenſagen und bekaͤmpften ſie daher nicht mit bloßen Worten. Doch hat 
zwiſchen Scholaſtik und Humanismus keine reinliche Scheidung beſtanden. 
Es gab eine Richtung jener, die ſich dem Humanismus verwandt fuͤhlte 
und ihm in der Tat auf einzelnen Gebieten des Wiſſens die Wege gebahnt 
hat. Wir koͤnnen ein ſolches Verhaͤltnis verſtehen. Denn keineswegs 
ſtanden ſich hier zwei verſchiedene Weltanſchauungen gegenuͤber. Was 
der alte Humanismus vergeblich verſucht hatte, eine Wiedergeburt des 
geſamten Geiſteslebens, wollte auch den Nachgeborenen nicht gelingen. 
Bei den meiſten Humaniſten hat ihr Studium des Altertums nicht zu 


126 


Der deutſche Humanismus und die Reformation 


einer tieferen Bildung gefuͤhrt: ſie ahmten die Alten in Proſa und noch 
mehr in Verſen nach. Das Gefuͤhl, das der Renaiſſance von Anfang an 
innewohnte: „Wir koͤnnen nicht uͤber das Altertum hinaus“, uͤbte auch 
auf ſie eine laͤhmende Wirkung. Die Bruchſtuͤcke der antiken Welt⸗ 
anſchauung, welche ſie in ſich aufnahmen, waren fuͤr ſie ein Schmuck 
des Daſeins oder auch ein Gegenſtand vornehmer Spielerei. Trat einmal 
das Leben mit ſeinem ganzen Ernſte an ſie heran, ſo gewaͤhrten ihnen 
jene Fragmente keine Stuͤtze. Aber auch ſonſt entbehrten ſie nur zu oft 
des Haltes. Das alte Ruhmesbeduͤrfnis eines Petrarca und niedrige 
Eitelkeit verleiteten ſie zu einer gegenſeitigen Beraͤucherung, in welcher ihr 
geſteigertes Selbſtgefuͤhl den natuͤrlichſten Ausdruck fand. Dieſes Selbſt⸗ 
gefühl ließ fie freilich im Stiche, ſobald die Armen um die Gunſt der 
Großen buhlen mußten — ein Los, das nur wenigen erſpart geblieben 
iſt. Eine Schule zur Bildung von Charakteren werden wir daher auch hier 
im Humanismus nicht ſuchen. An hohen Goͤnnern fehlte es ihnen uͤbrigens 
nicht. Papſt und Kaiſer ſchaͤtzten ſie, und ſo mancher weltliche und geiſt⸗ 
liche Fuͤrſt, wie z. B. der junge Hohenzoller, Erzbiſchof Albrecht von 
Mainz, erblickte in ihnen eine Zierde ſeines Hofes. Mit den Fuͤrſten wett⸗ 
eiferte in der Fuͤrſorge für fie die Ariſtokratie der Städte, So hatte ſich 
auch in Deutſchland dem Humanismus ein weites Gebiet erſchloſſen, 
und ſchon waren die Kreiſe der Gebildeten zum guten Teil von ihm 
durchdrungen. 

Bei einer jeden Erſcheinung dieſer Zeit wird uns von dem geſchicht⸗ 
lichen Intereſſe immer nur eine Frage eingegeben: welches war ihre 
Stellung zur religiöfen Aufgabe jener Tage? hat fie die religiöfe Bewer 
gung gefoͤrdert oder gehemmt? oder kurz: welches iſt ihre Bedeutung fuͤr 
die Neuzeit? 

Bei Beantwortung dieſer Frage haben wir bei dem Humanismus 
zu unterſcheiden zwiſchen ihm ſelbſt und ſeinen Juͤngern. 

Was den erſteren anbetrifft, wird es kaum noch des ausdruͤcklichen 
Hinweiſes darauf bedürfen: er war religiös indifferent. Deshalb hat 
es nichts Auffallendes, wenn nicht bloß die Reformation aus ihm Nutzen 
gezogen hat, ſondern ſpaͤter auch die Gegenreformation ihn zu ihren 
Gunſten ausbeutete: die formellwiſſenſchaftliche Methode der Forſchung 
auf dem Gebiete der Sprachen, der Geſchichte und der Naturkunde haben, 
worauf ſchon in der Einleitung hingewieſen iſt, die Jeſuiten mit einem 
faſt beiſpielloſen Geſchicke für die Bildung der Jugend, deren Oreſſur viel⸗ 
mehr, verwendet. Zwar, ſoweit wir den Humanismus gleichſetzen duͤrfen 


127 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


mit dem ruͤckſichtsloſen Streben nach Wahrheit, ſpringt ſeine innere Ver⸗ 
wandtſchaft mit dem Proteſtantismus ſofort in die Augen. Nur eine 
von der „Kirche“ unabhaͤngige Wiſſenſchaft kann dem Wahrheitstriebe 
ungehindert folgen. Klar koͤnnen wir das z. B. an der Geſchichte erkennen. 
Die handwerksmaͤßige Methode, eine nach beſtimmten Regeln geuͤbte 
geſchichtliche Kritik iſt an und fuͤr ſich im Katholizismus ſo gut moͤglich 
wie im Proteſtantismus. Dagegen iſt es den uͤberzeugungstreuen Soͤhnen 
der roͤmiſchen Kirche verſagt, der inneren Stimme des geſchichtlichen 
Sinnes zu gehorchen. „Ein hoͤherer Wille“, ſagt treffend Max Lenz, 
„zwingt ſie, die Vergangenheit ſich ſo vorzuſtellen, wie es ſeinen Zwecken 
entſpricht“. Mag der einzelne noch ſo kuͤhn, die Segel von dem Wage⸗ 
mut des Entdeckers geſchwellt, aus dem Hafen ſteuern, auf hoher See 
hat er den geheimen Befehl zu entſiegeln, der ihm ein beſtimmtes Ziel 
ſteckt: er muß bei einem im voraus feſtſtehenden Ergebnis der Forſchung 
landen, und hoͤchſtens iſt ihm anheimgegeben, wie er es erreicht. Wahrlich, 
nicht zufaͤllig ſpielt ſich die Geſchichte der modernen Wiſſenſchaft in allen 
den Feldern, die nur in Freiluft gedeihen, auf dem Boden des Pro; 
teſtantismus ab, obgleich es noch lange, lange gedauert hat, bis die ein⸗ 
zelnen Wiſſenſchaften (wie z. B. das Naturerkennen) zu ihrer vollen Frei⸗ 
heit entlaſſen worden ſind, ja die Theologie noch jetzt (oder ſoll man ſagen: 
heute von neuem?) um ihre Freiheit zu kaͤmpfen hat. Denn auch nach 
dieſer Seite hin will ſich das proteſtantiſche Prinzip nur langſam zur vollen 
Bluͤte entfalten. 

Aber hat die Reformation dem Humanismus wirklich weiter nichts 
zu danken, als daß ſie in ihm die erſten Anfaͤnge einer „weltlichen“ Wiſſen⸗ 
ſchaft erblicken durfte, von ihm das Handwerkszeug der Sprachwiſſen⸗ 
ſchaft empfing, und daß ſie die Luft erfuͤllt fand von dem zu ihrem eigenen 
Weſen ſo herrlich ſtimmenden Rufe: „zuruͤck zu den Quellen“? Hat denn 
nicht der Humanismus, obenan der deutſche, auch eine Theologie erzeugt, 
von der man wohl gemeint hat, ſie haͤtte der reformatoriſchen als nicht 
ganz unebenbuͤrtig an die Seite treten koͤnnen? Es ſcheint in aller⸗ 
jüngfter Zeit nachgerade zum guten Ton gehören zu ſollen, daß man von 
der humaniſtiſchen Theologie, derjenigen des Erasmus voran, mit 
Bewunderung ſpricht. Wiſſen denn dieſe Lobredner nicht, wo die Quellen 
rauſchen, die das Waſſer des Lebens fuͤhren? in welcher Tiefe jene Maͤchte 
arbeiten, welche die Geſchichte machen? Die Theologie in allen Ehren! 
Allein, ſie kann nie religioͤſe Werte erzeugen. Nur das iſt ihre Aufgabe, 
daruͤber zu wachen, ja dafuͤr zu ſorgen, daß die aus der Tiefe des religioͤſen 


128 


Die verſchiedene Stellung der Humaniſten zur Reformation 


Gemuͤtes emportauchenden Schaͤtze bei der notwendigen Umpraͤgung 
in klare, mitteilbare Gedanken nicht verfaͤlſcht werden, daß die Klein⸗ 
muͤnze, in der ſie in Umlauf geſetzt werden, nicht allzuviel von ihrem 
Werte einbuͤße. Nur dieſe Bedeutung hatte auch die Theologie Luthers. 
Gewiß, es war eine goͤttliche Fuͤgung, daß dieſes religioͤſe Genie das 
noͤtige Maß von Kenntnis der kirchlichen Vergangenheit und von theo⸗ 
logiſcher Bildung beſaß, um die religioͤſe Idee nach ihrem wahren Werte 
zu würdigen und auf einen, wenn auch keineswegs in jeder Einzelheit 
zutreffenden, ſo doch uͤberhaupt verſtaͤndlichen Ausdruck zu bringen. 
Ein der geſchichtlichen Erkenntnis barer und der begrifflichſcharfen Aus⸗ 
ſprache nicht maͤchtiger Laie wuͤrde in uͤberſchwenglicher Myſtik wie „in 
Zungen geredet“ haben und niemand haͤtte ihn verſtanden. Aber, was 
wirkte und worauf es ankam, das war nicht dieſes Medium der Theologie 
Luthers; es war ſein Chriſtentum, welches, um eine ſeiner eigenen Wen⸗ 
dungen zu gebrauchen, auch „in den ſchlechten Windeln das Chriſtkindlein 
umſchloß“. Was aber hatte die Theologie der Humaniſten dem heils⸗ 
begierigen Volke zu bieten? Steine ſtatt Brot. Kein Wunder, daß nicht 
die geringſte Nachfrage nach ihr war. 


4. Die verſchiedene Stellung der Humaniſten zur Reformation. 
Erasmus, Melanchthon, Hutten 


Jas Recht dieſes Urteils wird von ſelbſt einleuchten, wenn 
ZA wir uns jetzt der Beantwortung der zweiten Frage 
e sumenden: welche Stellung nahmen die Juͤnger des 
i Humanismus zur Reformation ein? Wie wir ihn ſelber 
STAY bereits erkennen, werden wir im voraus als ausgeſchloſſen 
— betrachten, daß ſie bei allen die naͤmliche geweſen ſei. 
Sobald unſer Blick die Schar der deutſchen Humaniſten erhaſcht, bleibt 
er haften auf dem einen, der alle um mehr als Haupteslaͤnge uͤber⸗ 
ragt. Es war Erasmus von Rotterdam, in Wahrheit der Koͤnig des 


9 Brieger, Reformationsgeſchichte 129 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


ganzen Volkes, angebetet von den Seinen, bewundert von der geſamten 
gebildeten Welt. Waren die anderen zum Teil treffliche Philologen 
und Altertumsforſcher, die humaniſtiſche Wiſſenſchaft im großen betrieb 
doch nur er allein, dieſes wiſſenſchaftliche Talent, an das Keiner heran⸗ 
reichte. Philologe, Hiſtoriker und Theologe zugleich, machte er auf allen 
Gebieten mit dem Grundſatz, auf die Quellen zuruͤckzugehen, Ernſt wie 
kein zweiter. Und keineswegs war er ein verknoͤcherter Gelehrter, der 
duͤnkelhaft waͤhnt, die Wiſſenſchaft ſei um ihrer ſelbſt willen da. Er wollte 
mit ihr der Menſchheit dienen, jenem Koͤrper, der ſie umſchloß, der Kirche. 
Ihre Beſſerung lag ihm bei ſeinen Studien am Herzen. Auch die Sprach⸗ 
wiſſenſchaft ſollte ſich dieſer Aufgabe widmen. Mit ihrer Huͤlfe ſollten 
die Quellen des urſpruͤnglichen Chriſtentums erſchloſſen werden, die 
Kirchenvaͤter und die Bibel. Die Kirchenvaͤter ſpielte er namentlich 
wider die abgeſtandene ſcholaſtiſche Theologie aus. Des weiteren galt 
ſein Kampf den Übergriffen der Hierarchie, dem Unweſen der Moͤncherei, 
in welche ein ungluͤckſeliges Geſchick ihn ſelber verſtrickt hatte, dem Zere⸗ 
moniendienſt und dem Satzungsweſen der Kirche, wie endlich dem heid⸗ 
niſchen Aberglauben in ihr. Daß in jenen „Vaͤtern der Kirche“ das 
geſamte Syſtem des Katholizismus, an deſſen Auswuͤchſen er Anſtoß 
nahm, im Keime enthalten ſei, entging ſeiner Wahrnehmung ebenſo, 
wie es einſt dem Blicke Petrarcas ſich entzogen hatte. Aber, wie ſchon 
angedeutet, Erasmus blieb ja auch bei den Vaͤtern nicht ſtehen. Er 
hat ſich — nach dem Vorgang von Humaniſten anderer Laͤnder — auch 
um die Bibel ernſthaft bemuͤht. Von großer Bedeutung iſt ſeine Aus⸗ 
gabe des griechiſchen Neuen Teſtaments geworden. Auch Anmerkungen 
zu dieſem ſchickte er in die Welt; ſie waren nicht ohne Spitzen gegen kirch⸗ 
liche Mißſtaͤnde und wurden durch ihre Methode einer ſprachlich-⸗geſchicht⸗ 
lichen Auslegung bahnbrechend. Immer aber iſt es im weſentlichen 
die katholiſche Froͤmmigkeit, die er in die Ausſagen des Neuen Teſtaments 
hineindeutet. So fuͤhrte ihn ſein Geſamtverſtaͤndnis der Bibel nicht uͤber 
ein in etwas gereinigtes katholiſches Chriſtentum hinaus, auch nicht ſeine 
Vorliebe fuͤr den Apoſtel Paulus, noch ſeine Betonung der Perſon Jeſu 
und der Sittenlehre der Bergpredigt. Mit dieſer ſtand fuͤr ihn bezeich⸗ 
nender Weiſe die wahre Philoſophie des klaſſiſchen Altertums in ſchoͤner 
Eintracht. — 

An Einſicht im einzelnen hat es ihm nicht gefehlt. Mannigfachen 
Anſtoß nahm er am kirchlichen Dogma, doch ohne daß es ihm in den Sinn 
gekommen waͤre, an ſeiner Grundlage zu ruͤtteln. Auch gewann er wohl 


130 


Die verſchiedene Stellung der Humaniſten zur Reformation 


voruͤbergehend den Eindruck von der Nichtigkeit des Froͤmmigkeits⸗ 
ideales der Eheloſigkeit und der Weltflucht; er urteilte, daß ein Lehrer, 
welcher Kinder unterrichte, in den Augen Gottes höher ſtehe als ein Moͤnch. 
Dennoch blieb er im ganzen in der moͤnchiſchen Weltbetrachtung ſtecken, 
ſo daß er, ohne ſich untreu zu werden, ſpaͤter wieder im Lobpreis des 
Moͤnchtums ſich ergehen und uͤber die Prieſterehe ſpotten konnte. Seine 
Klagen uͤber das hundertfache Verderben der Kirche ſind ebenſo ſcharf 
wie zutreffend. Wie reichlich hat er ſie entſtroͤmen laſſen! Beſonders 
war es ihm ein Vergnügen, den bitterböfe gehaßten Mönchen ein Spiegel⸗ 
bild vorzuhalten, aus dem ihnen die kraß verzerrten Zuͤge des Chriſten⸗ 
tums entgegenſtarrten. Unerſchoͤpflich war fein ſpielender Geiſt in bos⸗ 
haften Einfällen des Witzes, der Ironie, der Satire. Aber die Seele 
war nicht dabei. Er konnte lachen und ſpotten, wo Luther von Schmerz 
und heiligem Zorn uͤbermannt wurde. Weckte die harte Strafrede Luthers 
uͤberall in der Seele der Kirchenoberen Entruͤſtung, ja Haß, ſo fanden 
die ſatiriſchen Plaudereien des geiſtreichen Literaten auch unter den 
Praͤlaten Leſer genug, welche fie mit dem Lächeln des Behagens genoſſen. 
Es fehlte bei Erasmus nicht nur die Waͤrme und Tiefe des religioͤſen 
Empfindens, es fehlte ſogar jenes Maß von ſittlichem Ernſte, das ſelbſt 
zu einer am Außeren haften bleibenden Reformation gehoͤrt haͤtte. Es 
fehlte die über alle Ruͤckſichten ſich hinwegſetzende Kraft des Wahrheits⸗ 
ſinnes und damit der Mut der Überzeugung. „Friede“, „Einheit“ waren 
ſeine Leitſterne. Er ſei, ſchrieb er 1522, „in dem Maße ein Freund des 
Friedens, daß er im Notfall lieber einen Teil der Wahrheit preisgeben, 
als die Einigkeit ſtoͤren wollte“. Nur ja keinen „Tumult“! Nur die Sache 
nicht vor die große Menge bringen! „Unruhſtifter mit einem zuͤgelloſen 
Leichtſinn“ ſah er in den ſchweizeriſchen Reformatoren, die freilich ſeinen 
monotonen Ruf „Maͤßigung, Maͤßigung!“ überhört hatten. 

Sein eigenes Verhalten hat Erasmus von Anfang an mit peinlicher 
Sorgfalt nach jenen Grundſaͤtzen geregelt. „Er wolle ſich“, ſo ſchrieb er 
ſchon 1519, „ſoweit es angehe, unverſehrt erhalten, um den aufbluͤhenden 
Wiſſenſchaften deſto mehr nuͤtzen zu koͤnnen“. Kuͤhl und vornehm ſtand 
er ſo der Sache Luthers gegenuͤber, einzig von dem Beſtreben geleitet, 
in dem, worin die ganze Welt Partei ergriff, eine volle Neutralitaͤt zu 
wahren, ſich nicht in die „Tragoͤdie“ hineinziehen zu laſſen. Es iſt wahr, 
er hat dann, als die Feinde Luthers, die auch die ſeinen waren, die Bann⸗ 
bulle erwirkt hatten, wacker gegen die Finſterlinge geſtritten und manchen 
ſcharfen Pfeil des Witzes abgeſchoſſen, der ſein Ziel nicht verfehlte, aber 


9* 131 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


unter dem Deckmantel der Namenloſigkeit. Als die Zeit kam, das Viſier 
zu luͤften, aus dem Spiel Ernſt zu machen, Auge in Auge die Waffen 
mit dem Gegner zu meſſen, da war der ſtolze Ritter vom Kampfplatz 
verſchwunden. Man konnte ihn daheim im Studierzimmer als gries⸗ 
graͤmig polternden Gelehrten wiederfinden, der im Grunde ſeines Herzens 
froh war, ſich in Sicherheit gebracht zu haben. Er hatte dem Papſt erklaͤrt, 
daß er nie Gemeinſchaft mit Luther gehabt habe, ja ſeine Schriften nicht 
einmal kenne. Luther, ſo ließ er ſich anderen gegenuͤber vernehmen, 
haͤtte, ohne anzugreifen, die Philoſophie des Evangeliums vortragen 
und Chriſti Sache ſo fuͤhren ſollen, daß er ſich bei den Leitern der Kirche, 
wenn auch nicht beliebt, ſo doch nicht mißliebig machte; ihn ſolle weder 
Tod noch Leben von der Gemeinſchaft mit der Kirche trennen. Er iſt 
dann reuig zu Kreuze gekrochen, ohne einen foͤrmlichen Widerruf leiſten 
zu muͤſſen. Einem Manne von einer Weltſtellung, wie er ſie einnahm, 
durfte die Kurie es ſchon zu gute halten, wenn er nicht alles unbedingt 
lobte, was er fruͤher verdammt hatte, lief nur ein jeder Tadel in die 
Verſicherung ſeiner Unterwerfung unter die Kirche aus! Es war kein 
uͤbler Einfall Papſt Pauls III., wenn er (1535) dem ruhmvollen Gelehrten 
noch kurz vor deſſen Tode den Purpur des Kardinals anbot. 

Die Haltung des Fuͤhrers iſt beſtimmend geweſen fuͤr die Mehrzahl 
der Humaniſten überhaupt. Anfangs ſchwankend oder lau und zuruͤck⸗ 
haltend, wandten ſie ſich mit groͤßerer oder geringerer Entſchiedenheit 
dem Lager Roms zu, nachdem Erasmus 1524 endlich es uͤber ſich ver; 
mocht hatte, auch oͤffentlich Partei zu ergreifen. Denn erſt jetzt eroͤffnete 
er, der Aufforderung von Papſt und Kaiſer, von Koͤnigen, Fuͤrſten und 
Biſchoͤfen nachgebend, den literariſchen Kampf gegen Luther, um dadurch 
zugleich den uͤblen, wenn auch voͤllig unbegruͤndeten Verdacht zu zerſtoͤren, 
er ſei der heimliche Urheber der lutheriſchen Ketzerei, oder, wie ſeine 
moͤnchiſchen Gegner ſich ausdruͤckten, er habe die Eier gelegt, Luther die 
Huͤhnchen ausgebruͤtet. 

Allein, es hatte gleich zu Anfang auch Humaniſten gegeben, die ohne 
Bedenken und ruͤckhaltlos der Fahne des Reformators folgten: Maͤnner 
wie Georg Spalatin und Juſtus Jonas und jener glaͤnzende Gelehrte, 
dem trotz ſeiner Jugend von allen der erſte Preis nach Erasmus zuerkannt 
wurde, Philipp Melanchthon, ſeit dem Sommer 1518 Profeſſor des 
Griechiſchen an der Univerſitaͤt Wittenberg. Binnen kurzem ſtand er 
unter dem Banne der gewaltigen Perſoͤnlichkeit Luthers und wurde 
ganz ſeines Geiſtes voll. Bei dem Reichtum ſeiner Gaben mußte er da 


132 


Die verſchiedene Stellung der Humaniſten zur Reformatlon 


unter allen Genoſſen des Reformators der bedeutendſte werden. Er ver⸗ 
folgte von jetzt ab nur das eine Ziel, den beſten Ertrag des Humanismus 
fuͤr die Sache des Evangeliums fruchtbar zu machen. Iſt er ſo neben, ja 
vor Luther der Begruͤnder der proteſtantiſchen Wiſſenſchaft geworden, 
ſo hat (wer wuͤßte es nicht?) der große Paͤdagoge, der Schoͤpfer des 
humaniſtiſchen Schulweſens in Deutſchland den hoͤheren Unterricht auf jene 
Hoͤhe gehoben, die dem Humanismus als Ziel vorſchwebte. Melanchthon 
hat zwar nie aufgehoͤrt, Humaniſt zu ſein, aber niemals waͤre er faͤhig 
geweſen, fahnenfluͤchtig ſich dem auch von ihm bewunderten Erasmus 
anzuſchließen. Von Hauſe aus ſchuͤchtern und zaghaft, nichts weniger als 
mannhaft, von faſt uͤbergroßer Vorſicht und ein bedenklicher Schwarzſeher, 
trug er doch einen Wahrheitsſinn in ſich, der ihn fuͤr Momente mit dem 
Mute des Helden ausſtattete und ein für alle Mal an das neue religioͤſe 
Ideal kettete. Kurz, kein Buͤndnis hatte in ſeiner Perſon der Humanismus 
mit der Reformation geſchloſſen, eins waren in ihm beide geworden. 

Einen Bund mit Luther iſt vielmehr ein Kreis jugendlich⸗ſtuͤrmiſcher 
und feuriger Humaniſten eingegangen, als deſſen Fuͤhrer Ulrich von Hutten 
gelten darf. War der deutſche Humanismus in ſeiner Geſamtheit (nur von 
feinem kosmopolitiſchen Haupte muͤſſen wir abſehen) von der Wärme vater; 
laͤndiſcher Geſinnung durchdrungen, ſo hatte in Hutten und ſeinen Genoſſen 
der Haß gegen roͤmiſches Weſen den Patriotismus zu heller Flamme 
entfacht. Hutten ſelber und ſo mancher andere von ihnen hatte allerdings 
Gelegenheit gehabt, in die wahre Natur des „Roͤmertums“ in deſſen 
Heimat Italien eingeweiht zu werden, dort die Schlingen kennen zu lernen, 
die fuͤr den Fang der verachteten deutſchen Gimpel beſtimmt waren. 

Anfangs, noch damals, als Luther in Augsburg vor dem Kardinal 
Cajetan ſtand, hatte Hutten geglaubt, es handle ſich um ein eitel Moͤnchs⸗ 
gezaͤnk, und er ſchaute ihm unparteiiſch mit dem Wunſche zu, daß dieſe 
Leute ſich dabei gegenſeitig umbringen moͤchten. Erſt das große Leip⸗ 
ziger Redeturnier zwiſchen Luther und Johann Eck (vom Sommer 1519) 
belehrte ihn eines Beſſeren, und bald erkannte er die Bedeutung und die 
ganze Schwere des Kampfes, in welchem der kuͤhne Moͤnch ſtand. Da 
war ſein Entſchluß gefaßt — er wollte dem erleuchteten Gotteshelden 
als „Schildknappe“ zur Seite ſtehen. Im Laufe des Jahres 1520 ſuchte 
er brieflich Fuͤhlung mit Luther und ſchickte zu gleicher Zeit ſeine von 
wildem, unbaͤndigem Haß gegen das Papſttum durchgluͤhten Schriften in 
die Welt. Durch dieſen ſeinen Kampf gegen die roͤmiſche Hierarchie hat 
auch er ſich eine Feindſchaft erweckt, die bei den Anhaͤngern Roms von 


133 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


Geſchlecht zu Geſchlecht ſich fortvererbt hat bis auf unſere Tage. Noch in 
den letzten Monaten hat der juͤngſte Biograph Leo's X. ihn wieder als 
„ſittlich verkommenen“ Menſchen an den Pranger geſtellt. Wir uͤber⸗ 
ſehen ſeine Schwaͤchen nicht. Wir verheimlichen nicht das ungezuͤgelte 
Treiben ſeiner Jugend, noch jenes furchtbare, hoͤchſtwahrſcheinlich ſelbſt⸗ 
verſchuldete Leiden, welches Jahre ſeines Lebens zu einer Pein fuͤr ihn 
gemacht und ihm ein fruͤhes Ende bereitet hat; und wir erblicken auch 
darin keine Spur von Entſchuldigung, daß dieſe damals ſo weit ver⸗ 
breitete Krankheit haͤufig auch bei den Dienern der Kirche, die Biſchoͤfe 
nicht ausgenommen, anzutreffen war. Aber freilich, wir ſehen mehr als 
die Schatten, die auf ſein Bild fallen. Wir verſchließen unſern Blick nicht 
vor dem echten Gold ſeines Charakters, welches ein hartes Leben aus den 
Schlacken herausgearbeitet hat und das am hellſten ſtrahlt in der ſelbſt⸗ 
loſen, Alles: Behagen, Ruhe, fuͤrſtliche Gunſt aufopfernden Hingabe an 
das Vaterland, an ſein Ideal deutſcher Freiheit. Gewiß, er verſtand dieſe 
nicht richtig, und er taͤuſchte ſich überdies über den Weg, auf dem fie zu 
gewinnen war, wenn er zuletzt bei dem Glauben anlangte, mit Huͤlfe einer 
Adelserhebung, zu welcher er in flammenden Worten aufrief, koͤnne fuͤr 
Deutſchland die politiſche wie die religioͤſe Freiheit errungen werden: 


„Erbarmt euch uͤbers Vaterland, 

Ihr werten Deutſchen, regt die Hand! 
Jetzt iſt die Zeit zu heben an 

Um Freiheit kriegen. Gott will's han!“ 
„Herzu, ihr frommen Deutſchen all, 
Mit Gottes Huͤlf, der Wahrheit Schall! 
Ihr Landsknecht und ihr Reuter gut 
Und all, die haben freien Mut. 

Den Aberglauben tilgen wir, 

Die Freiheit bringen wieder hier, 

Und d'weil das nit mag ſein in gut, 
So muß es koſten aber Blut!“ 

„Viel Harniſch han wir und viel Pferd, 
Viel Hellebarden und auch Schwert. 
Und ſo hilft freundlich Mahnung nit, 
So wollen wir die brauchen mit. 

Nit fraget weiter Jemands nach: 

Mit uns iſt Gottes Huͤlf und Rach!“ 


134 


Die verſchiedene Stellung der Humaniſten zur Reformation 


Es war der Zoll, den der Ritter ſeinem Stande, der Humaniſt 
dem alten Erbuͤbel ſeiner Zunft zu zahlen hatte. Denn noch immer, 
wie einſt in den Tagen Petrarcas, gingen die Juͤnger der Antike nur zu 
oft wie Traͤumer durch die Welt der Wirklichkeit, außer Stande, die Kraͤfte 
des realen Lebens richtig einzuſchaͤtzen. Der klare, ſcharfe Geiſt des Witten⸗ 
berger Moͤnches hat das zu jeder Zeit beſſer verſtanden. Luther lebte 
freilich niemals in Zukunftstraͤumen, ſondern im hellen Lichte der Gegen⸗ 
wart: er ſah die Dinge, wie ſie waren, und ließ ſich, ohne je ſein mit uͤber⸗ 
irdiſcher Gewißheit ihm feſtſtehendes Ziel aus dem Auge zu verlieren, 
von einem jeden neu anbrechenden Tage ſeine Aufgabe ſtellen. 

Schwer hat Hutten fuͤr den Sturm und Drang ſeiner revolutionaͤren 
Agitation buͤßen muͤſſen. Nach dem Fall ſeines Freundes und Beſchuͤtzers 
Franz von Sickingen mußte er, um alle Hoffnungen betrogen, aus 
der Heimat weichen. Wie ein Geaͤchteter verfolgt, in bitterer Not, von 
Krankheit erſchoͤpft, durfte er froh ſein, daß es nicht dem Haſſe ſeiner 
Feinde, zuvor des Erasmus, gelang, ihm ſelbſt auf freiem ſchweizeriſchen 
Boden die letzte Zufluchtsſtaͤtte zu entziehen, deren er doch nur noch für 
kurze Zeit bedurfte, um in Ruhe ſterben zu koͤnnen (Sommer 1523). 
Aber er ſtarb mit ungebrochenem Mute, ohne an ſeinem Vaterlande zu 
verzweifeln. Sagte ihm eine innere Stimme, daß doch die wenigen 
Jahre ſeiner Manneskraft nicht umſonſt im Kampf ſich verzehrt hatten? 
Es iſt doch mehr als jedes anderen ſein Werk geweſen, wenn das ganze 
junge Volk der Humaniſten in den Kreiſen der Gebildeten die Werbe⸗ 
trommel ruͤhrte zum heiligen Kampf, und wenn derſelbe Kampf um das 
Heiligtum der Religion von dem maͤchtig anſchwellenden vaterlaͤndiſchen 
Empfinden zugleich zu einer nationalen Pflicht gemacht wurde. 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


5. Der nationale Gedanke 


Dm das Maß von Idealismus, das zur Entfeſſelung 
dieſes nationalen Gedankens gehörte, würdigen zu 
n > koͤnnen, muͤſſen wir bedenken, was Deutſchland damals 

war: eine Nation, welche über eine großartige Fuͤlle 
BE N von Kräften verfügte — von materiellen, körperlichen, 
= geiſtigen —, aber ſozial zerkluͤftet, politiſch zerſplittert 
war und kaum noch in die Reihe der Staaten gezaͤhlt werden konnte. 
Freilich noch immer lebte die Idee des Kaiſertums, und das deutſche Volk 
durfte in dem erſten Rauſche ſeiner Begeiſterung wohl waͤhnen, es ſei jetzt 
die Stunde gekommen, wo ſie herrlicher als je ihre alte Kraft entfalten werde. 
Es war ja in der Tat eine ſchickſalsſchwere Zeit, wie ſie oft in Jahrhunderten 
nicht fuͤr eine Nation kommt: nie zuvor hatte unſer Volk eine ſo tief⸗ 
gehende Gaͤrung durchgemacht, und, wir wiſſen es, ſie zielte auf nichts 
Geringeres als auf die politiſche und religioͤſe Wiedergeburt des Vater⸗ 
landes zugleich. Es hat etwas Ruͤhrendes, zu ſehen, wie ſich da die Hoff⸗ 
nungen der Patrioten an dem jungen Kaiſer emporrankten. In zahlreichen 
Flugſchriften aller Art: in Sendſchreiben, Geſpraͤchbuͤchlein, Anſprachen, 
Reden und Gedichten gaben ſie ſich kund. Hutten ſtand nicht allein, wenn 
er in beredten Worten den Kaiſer aufforderte, ſich an die Spitze der anti⸗ 
roͤmiſchen Bewegung zu ſtellen: er ſolle der Hauptmann ſein, allein an 
ſeinem Gebot fehlte es: 


„Drum hab ein Herz und ſchaff ein Mut, 
Ich will dir wecken auf zu gut 
Und reizen manchen ſtolzen Held“. 


Nicht weniger lebhaft gab Eberlin von Günzburg in volkstuͤmlichen 
Schriften der Stimme der Nation Ausdruck. Er wollte, wie er ſagt, 
„alte feine Reden kehren auf das trew adlig chriſtlich Herz unſers gnaͤdigſten 
Kaiſers Karl, in Hoffnung, ſo ſein kaiſerlich Majeſtaͤt als unſer Haupt 
wohl berichtet wuͤrde, alle ſeine Untertanen haͤtten Gluͤck und Heil“. Er 
raͤt dem Kaiſer, vor allen Dingen Abſchied zu geben „dem paͤpſtlichen Volk“, 
den Bettelmoͤnchen und Kurtiſanen, von denen alles Übel kommt, zu 
entlaſſen daher auch ſeinen Beichtvater, den Graumoͤnch (den Fran⸗ 
ziskaner Glapion) und dafuͤr den Erasmus „zu einem Beichtvater und 
innerlichem Rat“ anzunehmen oder auch Luther oder Karlſtadt. Es gibt 


136 


Der nationale Gedanke 


keine größeren Freunde des Kaiſers wie des Reiches als Luther und 
Hutten, „die allein dein und deiner Untertanen Heil, Ehre, Gluͤck und 
Seligkeit ſuchen, ſie und all ihr Anhang: Leib und Ehre, Gut und Leben 
wollen ſie bei dir laſſen“. Das muß der Kaiſer erkennen und mit ihrer 
Huͤlfe aufraͤumen mit den Mißbraͤuchen der Kurie in Deutſchland, ja 
mit dem ganzen deutſchen Kirchenſtaat: „Kein Biſchof darf fuͤrder ein 
Kurfuͤrſt ſein!“ „Dann werden die ſtarken Deutſchen auf ſein mit Leib 
und Gut und mit dir ziehen gen Rom und ganz Italia dir untertaͤnig 
machen. Da darfſt du weder um Papſt noch Kardinaͤle forthin werben. 
So wirſt du ein gewaltiger Koͤnig werden. Wirſt du zuerſt Gottes Handel 
ausrichten, dann wird Gott auch deinen Handel ausrichten“. 

Was Eberlin dem Kaiſer zurief, iſt zweifellos aus der Tiefe der Seele 
des Volkes aufgeſtiegen. Und dieſe war gepackt und durchſchuͤttert von 
der faſt einzig daſtehenden Bedeutung des Momentes. Der Hiſtoriker 
kann ſie heute in ihrer ganzen weittragenden Kraft erkennen. Wir ſehen: 
es bot ſich Karl dem Fuͤnften eine weltgeſchichtliche Aufgabe ſondergleichen: 
er konnte in die Reihe der groͤßten Wohltaͤter der Menſchheit eintreten, 
falls er fie begriff und fähig war, fie zu loͤſen. 

Und dennoch, konnte man uͤberhaupt naiver, ja toͤrichter reden als 
jene heißbluͤtigen Vaterlandsfreunde, die Wortfuͤhrer des Volkes? welt⸗ 
unkundiger? und mit aͤrgerer Verkennung des jungen Habsburgers? 

Es war unſer Verhaͤngnis, und das ſchlimmſte von allen, welche jemals 
uͤber Deutſchland hereingebrochen ſind: was hier vom Kaiſer verlangt 
wurde, war eine Unmoͤglichkeit fuͤr ihn — in mehr als einer Beziehung: 
rein menſchlich, politiſch, religiös war es undenkbar! 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


6. Deutſchland und Karl V. 


PS eiſt je ein Kaiſer auf deutſchem Boden ein Fremder 
er urn al gerwefen und es Zeit feines Lebens geblieben, fo Karl V. 
Sr = In niederlaͤndiſcher Umgebung aufgewachſen, groß 
er ER geworden in franzoͤſiſcher Zunge, von einem Spanier 
1215 erzogen, war er mit ſechzehn Jahren (1516) Nach⸗ 
— A folger feiner muͤtterlichen Großeltern, „der katholiſchen 
Könige Iſabella von Kaſtilien und Ferdinand von Aragon, geworden 
und von jetzt ab tiefer und tiefer eingetaucht in ſpaniſches Weſen, in 
die ſpaniſche Sprache, in die geſamte Vorſtellungsweiſe eines Landes, in 
welchem das Mittelalter eine Nachbluͤte erlebte wie ſonſt nirgends. So 
war er unfaͤhig, mit dem deutſchen Volke zu fuͤhlen, zu empfinden. 
Was war ihm uͤberhaupt Deutſchland? Eine Ziffer in dem großen 
Rechenexempel feiner Weltpolitik. Schon vor feiner Wahl zum Kaiſer 
ſah ſich Karl mit einer univerſalen Macht ausgeſtattet, wie ſie kein anderer 
Herrſcher Europas aufzuweiſen hatte. Er war Herr der Niederlande und 
Burgunds, Erbe der Habsburgiſchen Hausmacht, Koͤnig von Neapel 
und im Beſitz der ſpaniſchen Monarchie, der man nachruͤhmte, daß in ihr 
die Sonne nicht untergehe, und der wirklich zu jener Zeit die neuentdeckten 
Laͤnder jenſeits des Weltmeeres eine unermeßliche Zukunft von Reichtum 
und Macht vorſpiegelten. Die Kaiſerkrone, die er ſchon als Habsburgiſches 
Erbe beanſpruchen zu duͤrfen glaubte, war ihm in hoͤchſtem Maße begeh⸗ 
renswert erſchienen als Abſchluß und Befeſtigung ſeiner ererbten euro⸗ 
paͤiſchen Machtſtellung. Hierzu konnte und ſollte ſie ſeiner Meinung nach 
ihm in zwiefacher Weiſe ausſchlagen. Erſtens konnte ſie wie nichts anderes 
ſein Streben, eine Art von Oberhoheit uͤber die Voͤlker des Abendlandes 
zu gewinnen, in dem Schimmer des Rechtes erglaͤnzen laſſen; und 
zweitens ſtellte ſie, ſo ſchien es, die Kraft Deutſchlands zu ſeiner Ver⸗ 
fuͤgung. Und was hatte die doch damals zu bedeuten! „Niemals“, 
ſagt Max Lenz, „iſt in unſerem Vaterlande eine groͤßere Summe von 
Kraft vereinigt geweſen als in dieſer Epoche voͤlliger Zerſplitterung. 
Sprichwoͤrtlich war der Reichtum der deutſchen Staͤdte. Verbuͤndet boten 
ſie Fuͤrſten und Kaiſer Trotz; der Oſten und Norden, ja wohl auch Flan⸗ 
dern und England waren wirtſchaftlich, zum Teil gar politiſch von ihnen 
abhaͤngig. Doch auch ihre fuͤrſtlichen Gegner und ſelbſt die Ritter wußten 
ſich zu behaupten“. Welche Kraft ſteckte allein in dem deutſchen Lands⸗ 


138 


Deutſchland und Karl V. 


knechte! Welche Heere von unwiderſtehlicher Gewalt haͤtten ſich aus dieſem 
Material bilden laſſen! Karls Rivale, Koͤnig Franz von Frankreich, 
hatte wohl gewußt, was er tat, wenn er alle Minen ſpringen ließ, um das 
Kaiſertum und damit dieſe Macht Deutſchlands an ſich zu bringen. 

Jetzt hatte Karl ſie hinter ſich: falls er es verſtand, ſie feſtzuhalten 
und den Intereſſen ſeiner angeſtammten Gewalt dienſtbar zu machen, 
der Herr der Welt — doch ohne Deutſchland unvermoͤgend, ihr ſeinen 
Willen aufzuzwingen. Die Entſcheidung — es gibt das der Epoche Karls V. 
ihr politiſches Gepraͤge — lag in den deutſchen Verhaͤltniſſen, ſo wenig 
ſie auch die einzigen waren, die in dem Spiel der politiſchen Kraͤfte in 
Betracht kamen, und ſo ſehr ſie fuͤr jene Weltherrſchaft des Spaniers 
lediglich die Bedeutung eines Mittels zum Zweck haben mochten. 

Welche Rolle damit dem deutſchen Volke zufiel, ſpringt von ſelbſt in 
die Augen. Was konnte ſie ihm Gutes eintragen? Deutſchlands Wohl 
lag dem fremden Herrſcher nur am Herzen, ſoweit es ſich mit ſeinem 
eigenen Vorteil deckte. Gewiß, ſollte Deutſchland ihm leiſten, was er 
von ihm verlangte, dann mußte der Zerſplitterung, dem faſt anarchiſchen 
Treiben der vielen großen und kleinen Herren ein Ende gemacht werden: 
beugen mußten ſich die eigenmaͤchtigen Staͤnde des Reiches unter den 
Willen des jungen Kaiſers, der ſich auf eine fo gewaltige Haus macht ſtuͤtzen 
konnte wie kaum einer ſeiner Vorgaͤnger. Aber geſetzt auch, dieſe Zuſam⸗ 
menfaſſung Deutſchlands zu einem Einheitsſtaat, einem Staat uͤber⸗ 
haupt, wäre gelungen, dann haͤtte wohl das patriotiſche Sehnen nach 
Einheit ſeine Erfuͤllung gefunden. Doch wer wuͤrde ihrer recht froh 
geworden ſein? Denn ſicher haͤtte die mit jenem Verlangen eng ver⸗ 
ſchwiſterte Sehnſucht nach Freiheit ſich getaͤuſcht geſehen. Jene „viehiſche 
erbliche Servitut“ (Knechtſchaft), die gegen Ende der Regierung Karls V. 
der ſcharfe Blick des Kurfuͤrſten Moritz von Sachſen am Horizont auf⸗ 
tauchen ſah, wuͤrde das Los Deutſchlands geweſen ſein! 

Und vollends, wie war es alsdann beſtellt mit dem beſonderen 
Beruf des deutſchen Volkes, den es ſeinem groͤßten Sohne verdankte, 
das verweltlichte, ſchaͤndlich mißbrauchte Chriſtentum aus der Gewalt 
der Hierarchie zu befreien, die herrliche Aufgabe der Wiedergeburt der 
Religion zu der ſeinigen zu machen? Konnte in einem halbwegs einſichts⸗ 
vollen Politiker auch nur fluͤchtig der Gedanke aufſteigen, daß der neue 
Herr ſich da an die Spitze der Nation ſtellen wuͤrde? War er nicht viel⸗ 
mehr durch ſeine geſamte Lage dazu gezwungen, die Widerpart zu ergreifen 
und mit aller Kraft zu halten? die ketzeriſche Bewegung womoͤglich in 


139 


Das deutſche Volk, Kaifer und Reich 


ihren erſten Regungen zu erſticken? Gebot ihm das nicht, um von den 
Intereſſen feiner anderen Länder zu ſchweigen, allein ſchon fein Spanien? 
Denn, wie bereits angedeutet, Spanien war wie kein anderes Land ein⸗ 
geſponnen in die Romantik des Mittelalters: es war die klaſſiſche Stätte 
einer blühenden Scholaſtik und einer glutvollen Myſtik, das Wirkungs⸗ 
gebiet eines in achtungswerter Weiſe reformierten Klerus und Moͤnchs⸗ 
ſtandes, das Land der unter ſtaatlicher Aufſicht mit peinlicher Genauigkeit 
arbeitenden Inquiſition und ihrer „Glaubensgerichte“ (Autos dafe), 
das Land endlich, wo die koͤnigliche Gewalt durch hoͤchſt belangreiche 
kirchliche Vollmachten auf das ſtaͤrkſte in den Intereſſenkreis des Papſt⸗ 
tums hineingezogen war. Hier, im Schoße der juͤngſten europaͤiſchen 
Weltmacht, fanden ſich alle die Elemente vereint, aus denen ſpaͤter die 
Gegenreformation ſich entwickelt hat, um, von ſpaniſchem Boden ihren 
Ausgang nehmend, die Welt des Abendlandes von neuem Rom und dem 
„heiligen Glauben“ untertan zu machen. Es iſt der ſpaniſche Geiſt geweſen, 
der ſich in ihr gegen den deutſchen Geiſt erhoben hat. Karl V. haͤtte nur 
die Wahl zwiſchen Deutſchland und Spanien gehabt. Aber haͤtte ſie je 
an ihn herantreten koͤnnen? Jenes Ziel der Weltſuprematie, dem er 
nachjagte — war es zu erreichen im Gegenſatz zu Rom? Wie ſie ſelber 
ihrer Natur nach im Mittelalter wurzelte, ſetzte ſie als ihre Ergaͤnzung die 
andere univerſale Macht des Mittelalters, das die Voͤlker kirchlich (geiſtlich 
und geiſtig) einigende Papſttum voraus. Stuͤrzte dieſes, dann ſank auch 
das Ideal der weltlichen Oberhoheit uͤber das Abendland in das Nichts. 

Drohte dem Papſttum der Sturz, als Politiker mußte Karl V. zu 
ſeinem Retter ſich aufwerfen. 

Das naͤmliche war aber fuͤr ihn ein Gebot der Froͤmmigkeit. Die 
roͤmiſch⸗katholiſche Kirche hat ſelbſt zur Zeit ihrer Blüte keinen Fuͤrſten 
geſehen, der ihr treuer und ſelbſtloſer ergeben geweſen waͤre als dieſer 
Habsburger. Die kirchliche Froͤmmigkeit des Mittelalters faßte ſich in 
ihm noch einmal wie in einem Brennpunkt zuſammen. Die Saat der 
Religion, welche ſein Lehrer, der fromme Niederlaͤnder Hadrian von 
Utrecht, der ſpaͤtere Kardinal und Papſt, in die Seele des Knaben geſenkt 
hatte, war unter den heißen Strahlen der Sonne des katholiſchen Muſter⸗ 
landes Spanien uͤppig aufgeſchoſſen, um eine Frucht zu tragen fuͤr das 
ganze Leben Karls. Dieſe ſtreng⸗kirchliche Religioſitaͤt, die ſich in einem 
unverföhnlichen Gegenſatz wußte zu den Unglaͤubigen und den Ketzern, 
beſeelte den fruͤhreifen, den vom Ernſt der Mannesjahre durchdrungenen 
Juͤngling; ſie leitete noch ſeinen letzten Schritt, als der Weltherrſcher, 


140 


Deutſchland und Karl V. 


deſſen Kunſt ſich vergeblich damit abgemuͤht hatte, die große Uhr der Zeiten 
zuruͤckzuſtellen, alle Macht von ſich warf und ſich in die Stille des Kloſters 
zuruͤckzog. 

In der fruͤheſten Außerung jener kirchlichen Sinnesart haben wir 
ſogar das erſte Anzeichen perſoͤnlicher Selbſtaͤndigkeit zu erblicken. Im 
Februar 1519 hatte Karls Tante Margarete, die Regentin der Nieder⸗ 
lande, den Gedanken angeregt, der Koͤnig ſolle, falls ſeine eigene Wahl 
in Deutſchland auf unuͤberwindliche Schwierigkeiten ſtoße, in die Wahl 
ſeines Bruders Ferdinand willigen. Mit ungewohnter Lebhaftigkeit 
wies damals Karl dieſen Vorſchlag zuruͤck. Wir erſehen das aus einer 
Inſtruktion, welcher ſein neueſter Biograph, Hermann Baumgarten, 
mit Recht beſondere Aufmerkſamkeit geſchenkt hat. Denn in ihr ver; 
nehmen wir einen ganz perſoͤnlichen Ton. „Hier zuerſt tritt uns der große, 
die Welt umſpannende Ehrgeiz, der Glaube an eine hohe Miſſion ent; 
gegen, welche das ganze ſpaͤtere Leben Karls beſtimmt haben“. Kein Wort, 
heißt es hier, dürfe von der Wahl feines Bruders fallen; an feine Wahl 
wolle er alles ſetzen. Und warum? Er gibt als „hauptſaͤchlichſten Grund“ 
an, daß er als Kaiſer imſtande fein werde, „der ganzen Chriſtenheit 
Friede und Ruhe zu geben und unſeren heiligen katholiſchen Glauben zu 
erhöhen und zu mehren“; „im Beſitze fo großer Koͤnigreiche und Herr— 
ſchaften werde es von allen chriſtlichen Koͤnigen und Fuͤrſten und vor allem 
von den Untertanen des Reiches ſelbſt geachtet und gefuͤrchtet ſein und 
ſtaͤrker werden und groͤßeren Ruhm gegen die Feinde unſeres heiligen 
katholiſchen Glaubens erwerben koͤnnen“. Dieſe Worte leſen wir nicht 
in einem Briefe an den Papſt oder einen fremden Fuͤrſten, ſondern in 
einer vertraulichen Weiſung an ſeine Tante. So ſprechen ſie ſicher ſeinen 
innerſten Gedanken aus. Daß er bei der Erhoͤhung des katholiſchen Glau⸗ 
bens aber nicht bloß an den Kampf gegen die Unglaͤubigen dachte, zeigt 
ein bald nach ſeiner Wahl (im Auguſt 1519) geſchriebener Brief an Franz 
von Frankreich. Hier fordert er den Koͤnig auf, gemeinſam mit ihm die 
Ketzerei auszurotten. Welche, das ſagt er nicht; es gab damals nur eine: 
die Martin Luthers. Ein Jahr ſpaͤter hat Karl den Regenten, welche er 
fuͤr die Zeit ſeiner Abweſenheit fuͤr Spanien ernannt hatte, vor allem andern 
ans Herz gelegt, daß ſie „die heilige Inquiſition als die hauptſaͤchlichſte 
Stuͤtze unſeres heiligen katholiſchen Glaubens“ hochhalten und beguͤnſtigen 
ſollten. 

Es wird immer als eine der merkwuͤrdigſten Verſchlingungen der 
Verhaͤltniſſe betrachtet werden, daß derjenige Kaiſer, dem die neue Welt 


141 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


gehorchte, dem das Zeitalter der Entdeckungen als erſtem ſeinen Tribut 
zahlte, der umbrauſt wurde von der Brandung der gewaltigſten religioͤſen 
Flutwelle, kurz, der an die Schwelle der Neuzeit geſtellt war, — daß dieſer 
Kaiſer in feinem religioͤſen Leben auch nicht mit dem Schatten eines 
Gedankens das Mittelalter uͤberſchritten hat: er, der weltliche Fuͤrſt, war 
daher eine ernſthaftere, ſtrengere, wuͤrdigere Repraͤſentation desſelben 
als die Paͤpſte ſeiner Zeit, deren traurige Schwaͤchen und beklagenswerte 
Fehler er nicht uͤberſah, doch ohne daß ſeine Ehrfurcht gegen das Inſtitut 
eine Einbuße erlitten haͤtte. 

Fuͤr ſeine Kirchenpolitik waren damit ein fuͤr alle Mal die Zielpunkte 
feſtgelegt. Auf der einen Seite mußte er das Papſttum als Vorſpann 
zur Foͤrderung ſeiner weltlich⸗dynaſtiſchen Zwecke benutzen; auf der anderen 
Seite mußte er auf eine Reform desſelben bedacht ſein. War letzteres 
zunaͤchſt ein Anliegen ſeiner religioͤſen Gewiſſenhaftigkeit, ſo war es ſpaͤter 
zugleich eine politiſche Notwendigkeit. Denn nur unter ein ſittlich gehobenes 
und dem kirchlichen Berufe zuruͤckgegebenes Papſttum durfte er hoffen 
die Anhänger Luthers beugen zu koͤnnen. Daß die „lutheriſche Ketzerei“ 
unterdruͤckt werden muͤſſe, ſtand ihm — wir ſahen es ſchon — von allem 
Anfang an feſt. Am liebſten haͤtte er ſie zertreten wie eine giftige Schlange. 
Er wuͤrde es getan haben zur Erhoͤhung der chriſtlichen Religion, zur Meh⸗ 
rung ſeines Ruhmes, nicht zuletzt zur Erlangung der goͤttlichen Gnade 
und des ewigen Heiles, haͤtte die außerordentliche Fuͤlle von Macht, 
die er in ſeiner Hand vereinigte, dazu hingereicht. Immer war er ſtark 
genug, ſich den nationalen und religioͤſen Forderungen des deutſchen 
Volkes zu widerſetzen und den großen, durch Jahrzehnte ſich hinziehenden 
Krieg mit Martin Luther aufzunehmen. Denn Karl V. (und nicht der 
Papſt) iſt der Hauptfeind Luthers geweſen — und wiederum hat Karl V., 
der faſt unausgeſetzt mit Frankreich im Kriege lag und daneben bald mit 
dem Tuͤrken, bald mit dem Papſt, bald mit England, bald mit den deut⸗ 
ſchen Fuͤrſten, keinen ſchlimmeren Gegner gehabt als den Wittenberger 
Moͤnch mit der unſcheinbaren Macht ſeines Wortes, ſeiner Feder. Ein 
Menſchenalter hindurch haben die zwei einander gegenuͤber geſtanden 
auf der Wahlſtatt: der deutſche Mann des Volkes und der kosmopolitiſche 
Herr der Welt, der Schoͤpfer der neuen Zeit und der entſchloſſenſte Ver⸗ 
teidiger der alten. Das Hin⸗ und Herwogen des Kampfes hat fuͤnfund⸗ 
dreißig Jahren deutſcher Geſchichte ihr Gepraͤge aufgedruͤckt. Es iſt die 
Epoche Luthers und Karls V. zumal. Segen und Fluch — ſie rangen in 
der Stunde der Entſcheidung um des deutſchen Volkes Seele. Keiner 


142 


Karl V. und Luther auf dem Reichstage zu Worms 1521 


hat einen vollen Sieg davongetragen: der Fluch war unvermoͤgend, den 
Segen auszuloͤſchen. Aber auch der Segen, fo groß und reich er war, 
konnte den Fluch nicht voͤllig bannen: faſt durch vier Jahrhunderte 
ſchleppen wir ſein boͤſes Angebinde — und wie lange noch wird dies das 
Schickſal des deutſchen Volkes ſein? 


7. Karl V. und Luther auf dem Reichstage zu Worms 1521 


eutſchland ſah ſeinen neuen Kaiſer zum erſten Mal im 
. Spaͤtherbſt 1520. Gleich nach der Krönung zu Aachen 


Januar in Worms zuſammentreten. Kurfuͤrſt Friedrich 
hatte den Kaiſer gebeten, den mit dem Bann des Papſtes 
bedrohten Moͤnch nicht unverhoͤrt vergewaltigen zu 
laſſen, und hatte daraufhin die Aufforderung erhalten, Luther mit nach 
Worms zu bringen. Das war nun freilich keineswegs im Sinne des paͤpſt⸗ 
lichen Geſandten, des ebenſo eifrigen wie gewandten und ſchlauen Nuntius 
Aleander. Schon hatte dieſer es wagen duͤrfen, auch auf deutſchem Boden, 
in Köln, Mainz und Trier, die Schriften des Ketzers zu verbrennen. Er 
drang daher darauf, daß Karl, wie er bereits in den Niederlanden getan, ſo 
auch im Reiche von ſich aus, ohne die Staͤnde zu befragen, die Aus⸗ 
fuͤhrung der Bannbulle befehle. Ohne Muͤhe ſetzte er durch, daß an den 
Kurfürften von Sachſen die Weiſung erging, den Gebannten ja nicht 
mitzubringen. Ja noch mehr, noch vor Ablauf des Jahres, am 29. Dezem⸗ 
ber, lag dem kaiſerlichen Rate bereits der Entwurf eines Ediktes vor, 
wie der Nuntius es wuͤnſchte. Das Aktenſtuͤck iſt erſt jüngft bekannt 
geworden. Nachdem der Kaiſer den Hauptinhalt der Bulle wiedergegeben, 
auch der an ihn ergangenen Aufforderung des Papſtes, ſie von Amts 
wegen zu vollziehen, gedacht hat, erklart er, „eine fo große Sache ohne 
merklichen Verweis, auch des chriſtlichen Glaubens Schmach nicht 
umgehen zu koͤnnen“, und gebietet allen und jeglichen Untertanen von den 
Kurfürften an bis zu Bürgern und Gemeinden hin bei den ſchwerſten 


143 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


Strafen, des Reiches Acht und Aberacht, „dieweil einen öffentlichen Ketzer, 
der jetzt verklaͤrt [dafür erklaͤrt! und verdammt, zu verhoͤren nicht not 
iſt“: 1. Luthers vergiftete Schriften einzuziehen, „oͤffentlich zu ver; 
brennen und ganz auszutilgen“, 2. Luther ſelbſt, ſofern er nicht urkundlich 
nachweiſen koͤnne, vom Papſt Abſolution erhalten zu haben, zu greifen, 
zu verwahren und an den Kaiſer auszuliefern, 3. endlich, Luthers 
Anhaͤnger und Goͤnner, es ſei denn, daß ſie vom Papſt abſolviert ſeien, 
als vogelfrei zu betrachten, ſo daß Jedermann das Recht habe, ihre Guͤter 
ihnen zu nehmen und zu ſeinem Vorteil zu gebrauchen. 

Indeſſen, zum Geſetz hat Karl V. dieſen Entwurf nicht erhoben. 
Der Kardinal von Mainz, Albrecht von Brandenburg, riet davon ab: 
ein ſo ſchroffes Vorgehen ſchien ihm nicht ohne Gefahr zu ſein. So wurde 
die Sache Luthers doch an den Reichstag gebracht. Mitte Februar legte 
ihm der Kaiſer ein Edikt vor, das in allem Weſentlichen mit jenem vom 
29. Dezember ſich deckte. Allein die Reichsſtaͤnde lehnten es ab, des⸗ 
gleichen ein zweites, welches, die Perſon Luthers vorlaͤufig aus dem Spiele 
laſſend, feine Schriften zu verbrennen befahl. Sie waren zwar Feines; 
wegs gegen ſeine Verurteilung; ſie glaubten aber in Anbetracht der Gunſt, 
die er aller Orten beim Volke genoß, um „Unruhe und Empoͤrung des 
gemeinen Mannes“ zu verhuͤten, ihn zuvor hoͤren zu muͤſſen (auch die 
Ruͤckſicht auf den Kurfuͤrſten Friedrich ſcheint hierbei mitgewirkt zu haben). 
Jenes „Verhoͤr“ ſollte ihm aber nur Gelegenheit zum Widerruf bieten; 
widerrufen ſollte er, was er „wider die chriſtliche Kirche und wider unſern 
heiligen chriſtlichen Glauben“ gelehrt; widerrufe Luther, ſo ſolle er „in 
andern Punkten“ weiter gehoͤrt werden; weigere er den Widerruf, ſo 
ſolle der Kaiſer ein Edikt gegen ihn in das Reich ausgehen laſſen. Wenn 
Luther in anderen Punkten weiter gehoͤrt werden ſollte, ſo dachten die 
Staͤnde an dasjenige, was er von „Beſchwerden der deutſchen Nation 
durch den Stuhl zu Rom“ vorgebracht hatte. Hierin wußten ſie ſich mit 
ihm eins: den Vorteil dieſer ſeiner antiroͤmiſch⸗nationalen Agitation 
haͤtten ſie gern fuͤr ſich eingeheimſt. Dagegen traten ſie, ohne alle Fuͤhlung 
mit dem Volke, in der entſcheidenden Frage der Religion ruͤckhaltlos 
auf die Seite des Kaiſers. Es war Mitte Februar. Luthers Schickſal 
war damit bereits entſchieden. In dieſen Tagen berichtete der Frank⸗ 
furter Geſandte Philipp Fuͤrſtenberg nach Haufe: „Der Mönch macht 
viel Arbeit. Es wollte ihn ein Teil je gern ans Kreuz ſchlagen. Fuͤrcht, 
er werd ihnen kaum entrinnen. Allein zu beſorgen, wo es geſchehe, er 
werd am dritten Tage wieder erſtehen“. Die Fuͤhrung hatten, wie wir 


144 


Karl V. und Luther auf dem Reichstage zu Worms 1521 


uns leicht denken koͤnnen, die geiſtlichen Fuͤrſten, neben ihnen Kurfuͤrſt 
Joachim I. von Brandenburg. Fuͤhlten ſich jene in ihrer Exiſtenz bedroht, 
ſo war dieſer ſchon durch ſeinen Bruder, den Mainzer, ganz unmittelbar 
an der Sache beteiligt. Luthers Landesherr, der einzige Fuͤrſt damals, 
der von dem Geiſte des Reformators berührt war, ſtand völlig ver; 
einſamt. Gleich nach ſeiner Ankunft in Worms hatte er beobachten koͤnnen, 
wie uͤbel es um Luther beſtellt ſei. „Alle Tage“, ſo ſchrieb er am 16. Januar 
1521 an ſeinen Bruder, den Herzog Johann, „haͤlt man wider Martinus 
Rat, ihn in Bann und Acht zu tun und auf das hoͤchſte zu verfolgen. 
Das tun die mit den roten Huͤtlein ſes waren nicht weniger als drei deutſche 
Kardinaͤle in Worms anweſend] und die Römer mit ihrem Anhang“. 
Vierzehn Tage ſpaͤter klagt er von neuem: „Martinus“ Sache ſteht, 
wie ich Euer Lieb angezeigt habe. Ich will aber auch dem allmaͤchtigen 
Gott vertrauen, die Wahrheit ſolle an Tag kommen. Die roten Huͤtlein 
fein faft ſſtark wider ihn mit ihrem Anhang. Mainz Hält ſich ganz unfreund⸗ 
lich gegen mir“. So hat ſich Kurfuͤrſt Friedrich auch von der Berufung 
Luthers nach Worms nichts verſprochen. Der Kaiſer hatte ſich unter 
dem Druck der Staͤnde zu ihr entſchloſſen, nur widerwillig, wie es ſcheint, 
obwohl doch die Verurteilung des Ketzers fuͤr den hoͤchſt wahrſcheinlichen 
Fall ſeiner Hartnaͤckigkeit bereits beſchloſſene Sache war. Er raͤchte ſich, 
indem er in denſelben Tagen, wo der Reichsherold die kaiſerliche Vorladung 
und das freie Geleit in Wittenberg Luther einhaͤndigte, ohne Befragen 
des Reichstages zu Worms und überall im Reich ein Edikt anſchlagen 
ließ, welches, um fernerem „Irrſal und Unrat“ vorzubeugen, die Schriften 
Luthers als vom Papſt verdammt allenthalben der Obrigkeit auszuliefern 
gebot, ihren ferneren Druck und ihre Verbreitung, ja die Zuſtimmung 
zu ihnen verpoͤnte. Luther, ſofort entſchloſſen, dem Rufe des Kaiſers zu 
folgen, hatte alles liegen laſſen und ſich auf die Reiſe gemacht, die ſich 
fuͤr ihn hier und da zu einem Triumphzuge geſtaltete. Schon in 
Thuͤringen kam ihm die Kunde von dem „erſchrecklichen Mandate“ des 
Kaiſers, das leicht wie ein Bruch des Geleites gedeutet werden konnte. 
Er zog ruhig weiter. Von Frankfurt aus ſchrieb er in bezug auf dieſen 
Zwiſchenfall nach Worms: „Chriſtus lebt, und ich werde nach Worms 
kommen allen Pforten der Hoͤlle zum Trotz“. Wenn wir einer Erzaͤhlung 
Glauben ſchenken duͤrfen, die Luther 1546 (wenige Tage vor ſeinem Tode) 
zu Eisleben uͤber Tiſch zum beſten gegeben hat, ſo haͤtte ihm ſein Kurfuͤrſt 
ſelber eine Warnung zukommen laſſen. „Wie ich nu“, heißt es hier, 
„nicht weit von Worms bin, ſchicket mir Spalatinus (ſo mit Herzog Friedrich, 


10 Brieger, Reformationsgeſchichte 145 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


dem Kurfuͤrſten, draußen war) unter Augen, laͤſſet mich warnen, ich ſollte 
nicht hineinkommen, noch mich in ſolche Faͤhrlichkeit begeben. Aber ich 
entbot ihm wieder: „Wenn ſo viel Teufel zu Worms waͤren, als Ziegel 
auf den Dächern, noch [dennoch] wollt ich hinein. Dieſes Wort ſteht 
geſchichtlich feſt; denn auch Spalatin erzaͤhlt uns, daß Luther von Oppen⸗ 
heim gen Worms ſo an ihn geſchrieben habe.] Denn ich war unerſchrocken, 
fuͤrchtete mich nichts. Gott kann einen wohl ſo toll machen. Ich weiß 
nicht, ob ich jetzt auch ſo freudig waͤre“. Dieſelbe „tolle“ Unerſchrocken⸗ 
heit bewies er auch — wer wuͤßte es nicht? — an jenem großen Tage ſeines 
Lebens, dem 18. April 1521, als er vor Kaiſer und Reich der goͤttlichen 
Wahrheit Zeugnis gab. Der Glanz der Großen der Welt, der hier den 
einfachen Moͤnch und Gelehrten umflutete, blendete ihn nicht. Keine Spur 
von Befangenheit bemerken wir in der entſcheidungsvollen Stunde, 
vielmehr die vollkommenſte Ruhe und jene innere Überlegenheit, welche 
das Bewußtſein einer gerechten Sache von unermeßlicher Bedeutung 
und die Bereitwilligkeit, alles, auch das Leben, fuͤr ſie einzuſetzen, nur 
zu verleihen vermag. Nach laͤngerer Darlegung, welche Bewandtnis es 
mit ſeinen ihrer Art nach ſehr verſchiedenen Schriften habe, erklaͤrte er, 
keine von ihnen widerrufen zu koͤnnen, es ſei denn, daß er aus der Heil. 
Schrift eines Irrtums uͤberfuͤhrt werde. Der Trierſche Offizial, der im 
Namen des Reiches das Wort fuͤhrte, erwiderte auf eine Weiſung des 
Kaiſers hin: uͤber ſeine Saͤtze ſei nicht erſt zu disputieren, da ſie nur laͤngſt, 
bereits auf dem Konzil zu Konſtanz verdammte Ketzereien enthielten; er 
ſolle eine runde Antwort geben, ob er widerrufen wolle oder nicht. Darauf 
gab Luther die beſtimmte Erklaͤrung ab, „die (um mit Adolf Hausrath zu 
reden) der großen Szene wuͤrdig war und die einen Wendepunkt in der 
Geſchichte der Welt bedeutet“: ſolange er nicht durch die Heil. Schrift 
oder durch helle Gruͤnde der Vernunft uͤberwunden worden, ſei ſein 
Gewiſſen gefangen in Gottes Wort; denn er glaube weder dem Papſt noch 
den Konzilien allein, da es am Tage ſei, daß ſie oͤfter geirrt und ſich ſelber 
widerſprochen haben. „Widerrufen kann ich nicht und will ich nicht, 
weil wider das Gewiſſen zu handeln beſchwerlich, unheilſam und faͤhrlich 
iſt. Gott helf mir. Amen!“ (Für dieſes ‚Gott helf mir. Amen!‘ koͤnnen 
wir uns verbuͤrgen; denn es geht auf Luthers eigene knappe Aufzeichnung 
der Verhandlungen zuruͤck. Moͤglicher, wenn auch nicht gerade wahrſchein⸗ 
licher Weiſe hat das Schlußwort jene bekannte vollere Form gehabt, 
die zwei 1521 in Wittenberg gedruckte Berichte bringen: „Ich kann nicht 
anders. Hie ſteh ich. Gott helf mir. Amen!“) Wie ein Fels in der Bran⸗ 


146 


Karl V. und Luther auf dem Reichstage zu Worms 1521 


dung ſtand er da: „Iſt auch (ſo leſen wir in einem Briefe dieſer Tage aus 
Worms) alſo darauf als ein harter Fels verharret“. Von ſeinem Eifer 
hingeriſſen, ließ ſich des „Reiches Redner“ doch noch in einen kurzen 
Wortſtreit mit dem Ketzer ein; es handelte ſich um die Unfehlbarkeit der 
Konzilien, die der eine beſtritt, der andere beweiſen zu wollen erklaͤrte, 
bis der Kaiſer mit dem Ausruf dazwiſchen fuhr: es ſei genug, er wolle 
nichts mehr hoͤren, da dieſer die Konzilien verwerfe, und ſich erhob. 

Als der ketzeriſche Moͤnch, von ſaͤchſiſchen Edelleuten geleitet, aus 
der biſchoͤflichen Pfalz trat (wo die Reichstagsſitzung ſtattgefunden hatte), 
empfing ihn draußen eine Menge von Spaniern mit dem Ruf: „Ins 
Feuer mit ihm! ins Feuer!“ und verfolgte ihn mit anhaltendem Gebruͤll. 
Etwa 8 Uhr erreichte er ſeine Herberge; da reckte er, wie ein Augenzeuge 
noch denſelben Abend nach Hauſe berichtete, die Haͤnde empor und ſchrie: 
„Ich bin hindurch, ich bin hindurch!“ Auch Spalatin erzaͤhlt: „er ging 
in feine Herberg fo mutig und getroſt und fröhlich in dem Herrn, daß er 
vor Andern und mir, Spalatino, ſagte: wenn er tauſend Köpfe hätt’, 
ſo wollt er ſie ihm eher alle laſſen abhauen denn ein Widerſpruch tun“. 
Auch ſein Herr war mit dem Ausgang zufrieden. Er ließ noch vor dem 
Abendeſſen ſeinen Kaplan und Geheimſchreiber Spalatin, der Luther 
begleitet hatte, von dieſem holen, nahm ihn allein und ſprach voll „Ver⸗ 
wunderung ob der chriſtlichen mutigen Antwort“: „Wohl hat der Pater, 
Doktor Martinus, geredt vor dem Herrn Kaiſer und allen Fuͤrſten und 
Standen des Reichs in Latein und Deutſch. Er iſt mir viel zu kuͤhn“ 
(d. h. „nimmt einen ſo hohen Flug, daß ich ihm nicht zu folgen vermag”). 
Unverweilt ſandte er ihn mit dieſer Botſchaft zu Luther zuruͤck. Von der 
Waͤrme ſeiner Teilnahme und von ſeiner Hinneigung zu dem von Luther 
verfündeten Evangelium legen auch feine Briefe aus den naͤchſtfolgenden 
Wochen Zeugnis ab. Da ſchreibt er ſeinem Bruder: „Waͤre es in meinem 
Vermoͤgen, ſo waͤre ich ganz willig, Martinus, was er Fug hat, zu verhelfen. 
Aber Euer Lieb glauben mir, daß man ihm alſo zuſetzet und von Leuten, 
darob ſich E. L. verwundern werden. Ich acht’, man wird ihn verjagen und 
vertreiben; und wer ſich nun merken läßt, daß er Doktor Martinus Gutes 
goͤnne, der iſt ein Ketzer. Gott füge es zum beſten; der wird ſonder Zweifel 
die Gerechtigkeit nicht verlaſſen“. Und aͤhnlich Anfang Mai: „Martinus“ 
Sache ſteht, das man ihn ganz verfolgen will. Davor will nichts helfen. 
Es ſteht bei Gott, der wird es ſonder Zweifel wohl ſchicken. E. L. glauben 
mir, daß nicht allein Hannas und Kaiphas wider Martinum ſein, ſondern 
auch Pilatus und Herodes“. 


10* 147 


Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


So war es! Die Hohenprieſter und der „katholiſche Koͤnig“ gingen 
Hand in Hand. Auch das Volk hat die Bedeutung dieſes Buͤndniſſes 
wohl verſtanden. In einer volkstuͤmlichen Flugſchrift „Doktor Martin 
Luthers Paſſion“ wurde der ganze Hergang im Erzaͤhlerton der Evange⸗ 
liſten als ein Nachbild des Leidens Chriſti dargeſtellt. 

Dem paͤpſtlichen Nuntius, deſſen Eifer keine Grenzen kannte, war 
es uͤbrigens nicht ſchwer gemacht, ſein Ziel zu erreichen. Denn gleich am 
Morgen nach Luthers Verhoͤr hatte Karl V. den Fuͤrſten, die er um ſich 
verſammelte, eine eigenhaͤndig franzoͤſiſch aufgeſetzte Erklaͤrung gegen 
den Ketzer vorgelegt, welche die entſchiedenſte Sprache fuͤhrte; ſie gipfelte 
in dem Bekenntnis, er ſei entſchloſſen, an dieſe Sache (die Ausrottung 
der Ketzerei) ſeine Koͤnigreiche und Herrſchaften, ſeine Freunde, Leib und 
Blut, Leben und Seele zu ſetzen. Dieſer Kundgebung entſprach genau das 
Edikt, das er jetzt ausarbeiten ließ, und dem er am 26. Mai 1521 Rechts⸗ 
kraft verlieh, ohne mit den Staͤnden daruͤber verhandelt zu haben. Indem 
es des Reiches Acht und Aberacht uͤber Luther und alle ſeine Anhaͤnger 
und Goͤnner verhaͤngt, ſeine Schriften zu vernichten befiehlt und beilaͤufig 
die deutſche Preſſe zu knebeln unternimmt, ſtellt ſich uns das Wormſer 
Edikt als eine Erweiterung und Verſchaͤrfung jenes erſten Entwurfes 
von Ende Dezember dar. Die Übereinſtimmung erklaͤrt ſich leicht: beide 
haben den naͤmlichen Verfaſſer. Da durfte jetzt des Papſtes ſchlauer Diener, 
der Welſche, den der Kaiſer zu ſeinem Mundſtuͤck gemacht hatte, im Namen 
des Reiches (nicht weniger als drei Mal tiſcht das Edikt die „ſchreiende 
Unwahrheit“ auf, es ſei „mit einhelligem Rat und Willen“ der Staͤnde 
erlafien) all fein Gift ausſpritzen wider den geiſtigen Befreier Deutſch⸗ 
lands, den die Tage von Worms vollends als den Helden der deutſchen 
Nation auf den Schild gehoben hatten. So wird dieſer hier von dem 
paͤpſtlichen Nuntius ſeinem Volke vorgefuͤhrt als „unſinnig oder mit 
dem boͤſen Geiſt beſeſſen“, ja als „nit ein Menſch, ſondern als der boͤſe 
Feind in Geſtalt eines Menſchen mit angenommener Noͤnchskutten“. 
Dieſer leibhaftige Teufel hat eine Menge alter, aufs hoͤchſte verdammter 
Ketzereien „in eine Pfuͤtze verſammelt“ und etliche neue dazu erdacht. 
So „nimmt er gaͤnzlichen hinweg die Gehorſam und Regierung und 
ſchreibt beilaͤufig gar nichts anders, das nit zu Aufruhr, Zertrennung, 
Krieg, Totſchlaͤge, Raͤuberei und Brand und zu ganzem Abfall des chriſten⸗ 
lichen Glaubens reich und diene. Denn wie er lehret ein frei, eigen⸗ 
willig Leben, das von allem Geſetz ausgeſchloſſen und ganz viehiſch, 
alſo iſt er ein frei, eigenwillig Menſch, der alle Geſetze verdammt und 


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Karl V. und Luther auf dem Reichstage zu Worms 1521 


unterdruͤckt“. Daher denn billig der Kaiſer in dieſem Edikt, dem fein 
Verfaſſer nachruͤhmt, es ſei „furchtbarer als je eins zuvor“, bei den 
ſchwerſten Strafen zur Pflicht macht, „den gedachten Martin Luther als 
ein von Gottes Kirche abgeſondertes Glied und einen verſtopften Zertrenner 
und offenbaren Ketzer zu achten und zu halten“, und allen ſeinen Unter⸗ 
tanen gebietet, „daß ihr ihn nit hauſet, hoffet [in eurren Hof aufnehmer], 
aͤtzet, traͤnket, noch enthaltet [bewirtet], noch ihm mit Worten oder Werken 
heimlich noch oͤffentlich keinerlei Hilf, Anhang, Beiſtand noch Fuͤrſchub 
beweiſet, ſondern wo ihr ihn alsdann ankommen und betreten und deß 
maͤchtig ſein muͤgt, gefaͤnglich annehmet und uns wohlbewahrt zuſendet“. 
Waͤre irgend jemand in der Lage geweſen, dieſem Befehl nachzukommen, 
dann haͤtte dem Nuntius vielleicht das Gluͤck gebluͤht, bei ſeiner Ruͤckkehr 
nach Rom „den großen Haͤreſiarchen“ [Ketzerkoͤnig! in Ketten vor ſeinem 
Triumphwagen einherſchreiten zu ſehen. Aber auch die Anhaͤnger Luthers 
werden vom Kaiſer fuͤr vogelfrei erklaͤrt: „Aber gegen ſeine Mitverwandten, 
Anhaͤnger, Enthalter, Fuͤrſchieber, Goͤnner und Nachfolger und derſelben 
bewegliche und unbewegliche Guͤter ſollt ihr in Kraft unſerer und des 
Reiches Acht und Aberacht in dieſer Weiſe handeln: naͤmlich ſie niederwerfen 
und fahen und ihre Guͤter zu eueren Handen nehmen und die in euern 
eigen Nutzen wenden und behalten, ohne maͤnniglichs Verhinderung“. 

Was ſollte dieſer Aufruf? Hatte er Erfolg, was anders konnte 
ſeine Wirkung ſein als der Buͤrgerkrieg in deutſchen Landen, der Krieg 
um das Heiligtum des Glaubens mit all der ihm eigenen fanatiſchen 
Wut? der kleine Krieg des Nachbarn wider den Nachbarn, des Bruders 
wider den Bruder, des Vaters wider den Sohn? dazu der große der 
Reichs ſtaͤnde wider einander? Es waͤre nicht das erſte ketzeriſche Land 
geweſen, das die roͤmiſche Kirche durch eine blutige Ausſaat geſtraft und 
— gerettet. Aleander haͤtte ſicher kein erfreulicheres Schauſpiel ſehen koͤn⸗ 
nen. Schon vor Monaten hatte man in evangeliſchen Kreiſen eine Auße⸗ 
rung ſeines dreiſten Mundes weitergetragen, die Drohung: „Wenn auch 
Ihr Deutſchen, die Ihr am wenigſten von allen zur Kaſſe des Papſtes 
ſteuert, das paͤpſtliche Joch abwerfen werdet, ſo wollen wir ſchon dafuͤr 
ſorgen, daß Ihr euch ſelbſt untereinander aufreiben und in eurem Blut 
erſticken ſollt z“. — — 

So triumphierte in Worms noch einmal der roͤmiſche Geiſt! 

Aber er war doch nicht allein auf dem Plan. 

Hier der Kaiſer, der aus Überzeugung ſich zum Pfaffendiener macht, 
dort Luther, der keinen Schritt zuruͤckweicht. 


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Das deutſche Volk, Kaiſer und Reich 


Fuͤr beide war in Einer Welt kein Raum! 

Setzte ſich das Edikt durch, dann war es mit Luther und ſeinem 
Werke vorbei; geaͤchtet war dann wie er ſo auch ſein Volk, es ſei denn, es 
gab ſein Heiligſtes preis; dann hatte Deutſchland nur die Wahl, es mit 
der Religion leicht zu nehmen wie des Papſtes Landsleute oder unter 
Fuͤhrung ſeines Herrn zu einem zweiten Spanien zu werden. 

Konnte aber „dieſes gute Kind, der Kaiſer“ (ce bon enfant l'em- 
pereur), wie man ihn an der Kurie nannte, der ohne jede diplomatiſche 
Ruͤckſicht der Stimme des Gewiſſens gefolgt war, ſein Edikt nicht durch⸗ 
ſetzen, ganz und ohne Einſchraͤnkung und ohne Erbarmen, dann hatte er 
verſpielt: all ſein Glaubenseifer konnte das Mittelalter nicht retten! 

Und das iſt die Bedeutung des Tages von Worms, daß die beiden 
Maͤnner, die, wie wir fruͤher ſahen, ihrer Zeit das Gepraͤge geben ſollten, 
hier Stellung nahmen zu einander, wider einander: der eine durch Ver⸗ 
weigerung der Unterwerfung in dem, was das Freieſte iſt, der andere 
durch ſein Aufgebot der Gewalt, das Edikt von Worms. 

Letzteres war jetzt das Objekt des Kampfes — ein volles Menſchen⸗ 
alter hindurch, bis im Augsburger Frieden von 1555 das Mandat des 
Jahres 1521 fuͤr die Glaubensgenoſſen des Geaͤchteten endguͤltig beſeitigt 
wurde. 

Aber wie ſtellte ſich das deutſche Volk gleich nach Worms zu dem 
Edikt? Ließ es ſich das Schalten dieſes Fremden, dieſe neue Tyrannei 
des roͤmiſchen Geiſtes gefallen? War es erſchreckt oder gar geknickt? Gab 
es ſeine großen Hoffnungen auf? Nichts von alledem! Das Mandat 
von Worms war ihm wie ein wehendes Blatt Papier, dem Niemand nach⸗ 
jagt, und kaum mehr fragte es dem jungen Kaiſer nach, der gleich nach 
Schluß des Reichstages, mit ſeinem Gefolge von Pfaffen und Moͤnchen 
rheinabwaͤrts fahrend, das Reich verließ, deſſen Boden er erſt nach faſt 
neun Jahren wieder betreten ſollte. Seine anderen Reiche riefen ihn, 
und die Noͤte Spaniens wie die kriegeriſchen Wirren mit Frankreich, die 
gleich 1521 ausbrachen, hielten ihn ſo lange fern, zugleich ſeine beſte Kraft 
verzehrend. 

Karl hatte fuͤr die Zeit ſeiner Abweſenheit ein ſtaͤndiges Regiment 
bewilligen muͤſſen, an deſſen Spitze er freilich ſeinen Bruder, den Erz⸗ 
herzog Ferdinand, zu bringen gewußt hatte. Aber dieſer konnte doch nicht 
mit dem Gewichte des Kaiſers auftreten. Immer hatten die deutſchen 
Staͤnde jetzt eine Vertretung, die ihnen einen bedeutenden Einfluß auf 
die Regierung des Reiches geſtattete. Da war doch vielleicht die Nation 


150 


Karl V. und Luther auf dem Reichstage zu Worms 1521 


nicht ganz dem Fremden ausgeliefert, der ſie ſoeben zu vergewaltigen 
verſucht hatte? 

So hielt das junge Deutſchland feſt an ſeinem Programm: es galt 
nach wie vor die Wiedergeburt des Vaterlandes, des geſamten, nicht nur 
einzelner Gebiete, und — von Reichs wegen. Frohen und kuͤhnen Mutes 
blickte man in die Zukunft. Und hatte man etwa keinen Grund dazu? 
Sollte denn der Fruͤhling, deſſen Luft man mit Wonne atmete, nur taube 
Bluͤten angeſetzt haben? Oder war ein Unwetter gekommen, das die 
Bluͤtenpracht zerſtoͤrte? Nein! Überall erſcholl die neue Botſchaft vom 
Heile. Keine Macht mehr war im Stande, die evangeliſche Bewegung zu 
erſticken. Unaufhaltſam ſchritt ſie in den naͤchſten Jahren nach Worms vor. 


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Der unaufhaltſame 


75 Fortgang der evangeliſchen I | 
Bewegung 1521-1524, 


1. Der Reformator in Kampf und Arbeit auf der Wartburg 
1921741922 


ZI a8 weiß ich unzweifenlich, daß mir, der ſich für keinen 
e Hochvernuͤnftigen, Gelehrten oder Geſchickten hält, mein 

= 2 Leben lang einig Lehr oder Predigt fo ſtark in meine 

f N Vernunft nie gegangen iſt als Luthers Lehr und Unter⸗ 

A weiſung“. „Ich hab auch von viel trefflichen hoch⸗ 

— Al gelehrten Perſonen geiſtlichen und weltlichen Standes 
gar zu offteren Malen gehoͤrt, daß ſie Gott darum dankbar geweſt ſein, 
daß ſie dieſe Stund erlebt, Doktor Luthern und ſein Lehr zu hoͤren“. So 
hatte 1519 der Nuͤrnberger Ratsherr Lazarus Spengler in einer weit ver⸗ 
breiteten „Schutzſchrift“ geſchrieben. „Ich acht, Doktor Luther habe der 


152 


Der Reformator in Kampf und Arbeit auf der Wartburg, 1IS21—ı522 


Deutſchen Vernunft erwecket“, ſo ließ ſich 1521 zu Worms ein ſaͤchſiſcher 
Edelmann, Bernhard von Hirſchfeld, vernehmen. Beide gaben, indem ſie 
das Packende an Luther hervorhoben, die Einfachheit ſeiner Verkuͤndigung, 
die einem jeden „einging“, der allgemeinen Meinung Ausdruck. Man hatte 
eine beiſpiellos daſtehende Vereinfachung der Religion erlebt: der Schutt 
von mehr als einem Jahrtauſend war hinweggeraͤumt: herausgehoben aus 
dem Dunkel uͤbernatuͤrlicher Wirkungen von heiligen Handlungen und 
heiligen Dingen, befreit von dem Glanz und Pomp eines aͤußeren Zere⸗ 
moniendienſtes, erloͤſt aus dem Wirrſal von Vorſchriften intellektueller, 
ſittlicher, kirchlicher Art und ſo zuruͤckgefuͤhrt auf ihren Kernpunkt, war die 
Religion nicht mehr eine harte Arbeit, die man im Vertrauen auf die 
Kirche leiſtete oder in noch groͤßerem Vertrauen auf ſie auch wohl unterließ, 
ſondern eine in freier Selbſtaͤndigkeit erworbene Geſinnung, und wer ſie 
hatte, der wußte ſich mit ſeinem Gott im Bunde und betaͤtigte ſie ohne 
Zwang, ja ohne Vorſchrift im Treiben der Welt, im Verkehr mit den 
Menſchen. Von dieſer lichten Klarheit hatten alle Empfaͤnglichen einen Ein⸗ 
druck. Wer kennte nicht den langen Erguß beweglicher Klage und heißer Bitte 
zu Gott, den Albrecht Duͤrer mitten unter die duͤrren Ziffern ſeiner Aus⸗ 
gaben in fein Tagebuch einfließen ließ, als ihm im Mai 1521 zu Antwerpen 
„die Maͤr“ gekommen war, „daß man Martin Luther ſo verraͤterlich gefangen 
hatt”, und er den „Nachfolger des wahren Glaubens“, der ihn ſelber, wie er 
vor Jahresfriſt dem Spalatin anvertraut hatte, einſt „aus großen Angſten 
geholfen“, faſt ſchon fuͤr verloren gab. Es „ſehe ein jeglicher, ſo do Martin 
Luthers Buͤcher lieſt, wie ſein Lehr ſo klar durchſichtig iſt, ſo er das heilig 
Evangelium fuͤhret“. „O Gott, iſt Luther tot, wer wird uns hinfort 
das heilig Evangelium ſo klar vortragen? Ach Gott, was haͤtt er uns 
noch in zehn oder zwanzig Jahren ſchreiben moͤgen! O, ihr allen frommen 
Chriſtenmenſchen, helft mir fleißig bitten und beweinen dieſen gottgeiſtigen 
Menſchen und ihn bitten, daß er uns einen neuen erleuchten Mann ſende“. 
„Ach Gott vom Himmel, erbarm dich unſer, erloͤſ“ uns zur rechten Zeit, 
behalt in uns den rechten, wahren chriſtlichen Glauben“. 

Der von Duͤrer und nicht von ihm allein als tot Beklagte ſaß ja nun 
inzwiſchen in ſtrengſtem Geheim wohl geborgen unter dem ſchirmenden 
Dach der Wartburg, ein neuer Ritter Georg. Als ſolcher hatte er auch 
hier zu kaͤmpfen, vor allem mit ſich ſelbſt. In der tiefen Stille, die auf die 
ſtuͤrmenden Tage von Worms gefolgt war, und unter dem Druck einer 
aufgezwungenen Untaͤtigkeit tauchten alte, laͤngſt verſunkene Anfechtungen 
wieder auf. Das Ungeheuere der Verantwortung, die er auf ſich genom⸗ 


153 


Der unaufhaltſame Fortgang der evangeliſchen Bewegung 1521—1524 


men, wollte ihn uͤbermannen. „Das einig ſtaͤrkſte Argument“ der Gegner 
ſtieg ſtrafend aus ſeiner eigenen Seele auf: „Du biſt allein klug? Sollten 
die andern alle irren oder ſo eine lange Zeit geirret haben? Wie, wenn du 
irreſt und ſo viele Leute in Irrtum verfuͤhreſt, welche alle ewiglich ver⸗ 
dammt werden?“ Doch das Wort ſeines Gottes, das ihn zu ſeinem Werke 
entflammt hatte, gab ihm Ruhe und Frieden zuruͤck, ſo „daß (wie er damals 
ſchrieb) mein Herz nicht mehr zappelt, ſondern ſich wider dieſe Argument 
der Papiſten als ein ſteinern Ufer wider die Wellen auflehnt und ihr 
Draͤuen und Stuͤrmen verlachet“. Damit war es auch gefeit gegen etwas 
anderes, was aus ſeinem Herzen emporſtieg, die Ahnung eines furcht⸗ 
baren Strafgerichts uͤber ſein geliebtes Vaterland. Bei der Feinheit 
ſeines Empfindungsvermoͤgens fuͤhlte er bereits das leiſe Zittern des 
Bodens unter ſeinen Fuͤßen, den Vorboten einer gewaltigen Erſchuͤtte⸗ 
rung, die man — das hat er ſchon zu jener Zeit mit duͤrren Worten 
geweiſſagt — ihm ſchuld geben werde, waͤhrend doch vielmehr der Wider⸗ 
ſtand gegen das Evangelium die Urſache dazu ſei. Mit einem: „Es 
geſchehe, es geſchehe der Wille des Herrn“ ergab er ſich ſchon jetzt in dieſes 
Geſchick. Im Uebrigen fehlte es ihm an Zeit, Gedanken dieſer Art nachzu⸗ 
haͤngen. Denn ſchon beutete er die Muße, die ihm die Wartburg bot 
(faſt volle zehn Monate lang), zu eifrigem Studium, reger und vielſeitiger 
literariſcher Taͤtigkeit aus. Der alte Kaͤmpfer konnte auch hier nicht feiern: 
es flogen Schriften ins Land, die wuchtige Schlaͤge fuͤhrten: gegen den 
Beichtzwang, die Moͤnchsgeluͤbde, den Mißbrauch der Meſſe. Doch mit 
groͤßerer Luſt und Liebe fuͤhrte der Verkuͤndiger des Evangeliums die Feder. 
Was haͤtte er lieber geſehen, als das Schwert bei Seite legen zu duͤrfen 
und mit der Kelle in der Hand zu bauen? Hier auf der Wartburg iſt 
der Anfang ſeiner ebenſo wirkſamen wie volkstuͤmlichen „Kirchenpoſtille“ 
entſtanden, dieſe Predigten, die trotz manchem fuͤr uns Fremdartigen 
und trotz ihrer gelegentlichen kriegeriſchen Ausfaͤlle noch heute einen ſtillen 
Zauber uͤben durch ihre Friſche und die Unmittelbarkeit des religioͤſen 
Empfindens. Vor allem aber machte er ſich hier an jene hohe und ſchwere 
Aufgabe, neben der all ſeine ſonſtige Wartburgarbeit klein erſcheint, 
die Überſetzung der Heiligen Schrift, zunaͤchſt des Neuen Teſtaments. 
Schon im Herbſt 1522 konnte dieſes ausgegeben werden, und die Arbeit 
hat nicht geruht, bis zwoͤlf Jahre ſpaͤter die ganze Bibel in deutſcher 
Sprache vorlag. In Betreff der geſchichtlichen Bedeutung dieſer mit dem 
genialen Sprachgefuͤhl des Deutſcheſten der Deutſchen geſchaffenen 
Überfegung find nicht viele Worte von noͤten. In religioͤſer Beziehung 


154 


Der Reformator in Kampf und Arbeit auf der Wartburg, 1521—1522 


unſchaͤtzbar, da jetzt dem Volke in ſeinem weiteſten Umfang die Quelle 
der religioͤſen Bildung erſchloſſen wurde, ſpielt ſie auch in der deutſchen 
Kulturgeſchichte eine Rolle wie kein zweites Werk der Literatur. Nennen 
wir gleich Luther, nachdem die Anfaͤnge unſerer neuhochdeutſchen Sprache 
in ein helleres Licht getreten ſind, nicht mehr wie fruͤher deren Schoͤpfer 
im ſtrengen Sinne des Wortes (denn ihren erſten, beſcheidenen Anſaͤtzen 
nach fand er ſie ſchon vor), ſo hat doch unſer Gemeindeutſch nie einen 
gewaltigeren Foͤrderer gehabt als ihn, verdanken wir den Reichtum des 
Neuhochdeutſchen keinem mehr als ihm, deſſen Sprache uͤberdies in ihrer 
Reinheit, in ihrer Wucht, in ihrem Schmelz noch heute ein Muſter iſt. 
Und zwar kommt hier alles in Betracht, was in Mutterlauten ſeiner 
Feder entſtroͤmte, am ſtaͤrkſten aber durch Jahrhunderte die deutſche 
Bibel, das Leſe⸗, Lern⸗ und Erbauungsbuch fuͤr Jung und Alt. Nichts 
anderes koͤnnte dieſem Volksbuch der Wirkung nach an die Seite geſtellt 
werden. Noch heute iſt es der Grundlage nach ſeine Sprache, welche die 
Gebildeten Alldeutſchlands reden. Mit gutem Grunde hat Ignaz von 
Doͤllinger in ſeiner altkatholiſchen Epoche von Luther geſagt: Seine 
Gegner „ſtammelten, er redete. Nur er hat wie der deutſchen Sprache, 
fo dem deutſchen Geiſte das unvergaͤngliche Siegel feines Geiſtes auf⸗ 
gedruͤckt, ſo daß ſelbſt diejenigen unter uns, die ihn von Grund der Seele 
verabſcheuen, als den gewaltigen Irrlehrer und Verfuͤhrer der Nation, 
nicht anders koͤnnen: ſie muͤſſen reden mit ſeinen Worten, denken mit 
ſeinen Gedanken“. — 

Die Schriften der Wartburgmuße uͤbten eine maͤchtige Wirkung. 
Welches ſtaͤrkere Foͤrderungsmittel fuͤr die Verbreitung ſeiner Ideen 
haͤtte er uberhaupt unter die Maſſe werfen koͤnnen als „das Neue Teſta⸗ 
ment deutſch“? Und als dieſes erſchien, da ſtand Luther laͤngſt wieder 
Öffentlich an der Spitze der Bewegung. Unberufene Führer, Stürmer 
und Draͤnger und Schwaͤrmer, die ihren Wuſt mittelalterlicher Ideen 
fuͤr gut evangeliſch hielten, hatten ſein Werk in Wittenberg gefaͤhrdet. 
Da hatte es ihn nimmer in der Verborgenheit geduldet. Es war „der 
Satan“, der „in ſeine Huͤrden gefallen und etliche Stuͤcke zugerichtet“ 
hatte, „die ich“, ſo ſchrieb er ſeinem Herrn zu ſeiner Rechtfertigung, 
„mit keiner Schrift ſtillen kann, ſondern muß mit ſelbwaͤrtiger Perſon 
und lebendigem Mund und Ohren da handeln. Es ſind meine Kinder 
in Chriſto. Da iſt keine Disputation mehr geweſen, ob ich kommen 
oder nicht kommen ſoll. Ich bin ſchuldig, den Tod fuͤr ſie zu leiden. Das 
will ich auch gern und froͤhlich tun“. So war er im Maͤrz 1522 eigen⸗ 


155 


Der unaufhaltſame Fortgang der evangeliſchen Bewegung 1521—1524 


maͤchtig, den Schutz ſeines Fuͤrſten verſchmaͤhend, ſeiner Abmahnung 
zum Trotz wieder auf dem Plan erſchienen. In der Tat ein Wagnis, 
bei dem er alles aufs Spiel ſetzte. Denn noch immer ſtand Kurfuͤrſt 
Friedrich unter den Großen des Reiches ganz allein. Erſt im Laufe des 
Jahres 1524 fiel auch der junge Heſſenfuͤrſt dem Evangelium bei. 


- 


2. Die Haltung der deutſchen Fürften, 1522— 1524 


? 2 u als die Haltung, welche in diefen Jahren die deutſchen 
A Fuͤrſten zu ihr einnahmen. Wie oft haben die Gegner 
Ader Reformation behauptet, fie ſei aus Eigennutz von 
deer weltlichen Macht gewaltſam durchgeſetzt. Wie ſtrafen 
doch dieſe Jahre eine ſolche Rede Luͤgen! Haͤtte es in dem Vermoͤgen der 
Fuͤrſten geſtanden, denen uͤbrigens mit wenigen Ausnahmen das Ver⸗ 
ſtaͤndnis für die große religiöfe Frage abging, es wäre das Wormſer Edikt 
hier mit groͤßerem, dort mit geringerem Ernſt durchgefuͤhrt worden. Stand 
auch ein Teil von ihnen nur lau zur Sache des Papſtes, ſo finden wir doch 
daneben andere, die mit deſto groͤßerem Eifer fuͤr die alte Kirche eintraten. 
Von den geiſtlichen Fuͤrſten ſehen wir hier billig ab: fie kaͤmpften für den 
eigenen Herd. Unter den weltlichen Herren lenkt vor allen der Erzherzog 
den Blick auf ſich. Durch innere und aͤußere Gruͤnde an die Seite Ferdinand 
des Bruders gebannt, konnte er ſich in Klagen uͤber „dieſe verfluchte luthe⸗ 
riſche Sekte“ kaum genug tun und entfaltete eine raſtloſe Taͤtigkeit wider 
ſie. Unter den uͤbrigen war ohne Frage der ehrlichſte Anhaͤnger des Papſtes 
Herzog Georg von Sachſen. Schon ſeit 1522 war der Angelpunkt ſeines 
regimentlichen Waltens Martin Luther. Er war uͤberzeugt, daß der 
Ruͤckgang ſeines erzgebirgiſchen Bergbaues nur eine Strafe fuͤr die 
unchriſtliche Duldung des Ketzers ſei, und daß man zur Abwehr des grau⸗ 
ſamen Tuͤrken vor allem Gottes Ehre ſuchen muͤſſe durch Strafe und 
Ausrottung der lutheriſchen Ketzerei. Er war, wie er in einer Inſtruktion 


156 


* 


Die Haltung der deutſchen Fuͤrſten, 1522—1524 


fuͤr ſeinen Vertreter auf dem Reichsregiment (Fruͤhjahr 1522) ſagt, 
entſchloſſen, „dieſem Irrtum zu widerſtehen mit allen Kraͤften, mit allem 
Vermögen und mit aller Macht bis in Tod“. Er hat das Wort wahr 
gemacht. Wie er zu Hauſe unaufhörlich den kleinen Krieg gegen ſeine 
Untertanen fuͤhrte, ſo ſchuͤrte er zu Nuͤrnberg im Regiment das Feuer 
kirchlicher Leidenſchaft, ſo oft er dort ſeinen Platz einzunehmen hatte. 
Soeben hatte er durchgeſetzt, daß das Regiment in einem Mandate 
ſeinen Vetter den Kurfuͤrſten aufforderte, gegen die kirchlichen Neuerer 
einzuſchreiten. Und kaum hatte er von Luthers Ruͤckkehr nach Witten⸗ 
berg vernommen, als er beim Regiment den Befehl an den Kurfuͤrſten 
Friedrich auszuwirken bemuͤht war, er ſolle Luther gefangen nehmen 
„bis auf weiteren Befehl Kaiſerlicher Majeſtaͤt“ und die Wittenberger, 
die den Gebannten und Geaͤchteten aufgenommen, mit Ernſt ſtrafen, 
das will ſagen: das Wormſer Edikt ausfuͤhren. 

An Eifer ſtand hinter dem Wettiner der Hohenzoller Joachim I. von 
Brandenburg nicht zuruͤck, nur daß er nichts von der Reinheit der kirch⸗ 
lichen Geſinnung Georgs kannte. Am fruͤhzeitigſten von allen hatte (gleich zu 
Worms) der Brandenburger Kurfuͤrſt Partei ergriffen wider den Feind 
des Papſttums. Wir wiſſen heute: er hat auch vor allen andern ſein Wohl⸗ 
verhalten durch Zugeſtaͤndniſſe des Papſtes im voraus ſich vergelten laſſen. 

Auf derſelben Bahn waren ein paar Jahre ſpaͤter auch die Herzöge 
Wilhelm und Ludwig von Bayern anzutreffen. Neligids nicht beſonders 
intereſſiert, legten fie feit 1522 ein hohes Maß von kirchlichem Eifer an 
den Tag. Dieſe Haltung der Wittelsbacher ſollte verhaͤngnisvoll fuͤr das 
Vaterland werden. Bald ſollte mit ihrer Hilfe der erſte Keil in die Einheit 
Deutſchlands getrieben werden, und zugleich wurden die erſten Steine 
herbeigetragen zu der ſpaͤteren Hochburg roͤmiſch⸗ſpaniſchen Geiſtes im 
Lande Martin Luthers. 

Dieſe entſchloſſenen Parteigaͤnger Roms konnten gemeinſam mit 
den Biſchoͤfen im Reichsregiment wie auf den Reichstagen ihren Willen 
muͤhelos durchſetzen, d. h. Beſchluͤſſe in ihrem Sinne erzielen. 

Wie ſtellte ſich nun dieſe uͤberwaͤltigende Mehrheit in den Jahren 
1522—1524 zu der Vollſtreckung des Ediktes von Worms? 

Wie nachdruͤcklich drang doch wieder und wieder Herzog Georg von 
Sachſen im Regiment auf ſtrenge Mandate — ohne Erfolg. Hoͤhnend 
mochte er dem kaiſerlichen Statthalter, dem Pfalzgrafen Friedrich, in 
einem Briefe ſeine Bewunderung ausſprechen, „daß der Mann [Luther] 
fo viel Gluͤcks hat, daß ſich fo viel tapferer, großmutiger Leute vor ihm 


157 


Der unaufhaltſame Fortgang der evangelifhen Bewegung 1521—1524 


forchten“, das Regiment beobachtete nach wie vor die vorſichtigſte Zuruͤck⸗ 
haltung. 

Wir koͤnnen dieſe unmoͤglich auf die hervorragende Taͤtigkeit des 
kurſaͤchſiſchen Bevollmaͤchtigten im Regiment Hans von der Planitz 
zuruͤckfuͤhren, der mit gleich großer Klugheit wie Waͤrme die Sache ſeines 
Herrn und Luthers fuͤhrte. Auch nicht auf die Unterſtuͤtzung, die er bei 
mehr als einem der uͤbrigen Raͤte fand. Denn die Raͤte der Luther abge⸗ 
neigten Fuͤrſten waren, wie Planitz gelegentlich nach Haufe ſchrieb, „mehren⸗ 
teils gut lutheriſch“. Beſonders hatte er die Huͤlfe des Hans von Schwar⸗ 
zenberg zu ruͤhmen, des bedeutendſten Kopfes, über den das Regiment 
verfuͤgte. Auch Sebaſtian von Rotenhan ſtand ihm bei. Beide waren 
Abgeordnete geiſtlicher Fuͤrſten: jener des Biſchofs von Bamberg, dieſer 
des Mainzers. 

Indeſſen ſo einflußreich dieſe gewandten und arbeitſamen Maͤnner 
ſein mochten, ſie waͤren doch außer Stande geweſen, die lutherfeindliche 
Mehrheit im Regiment lahm zu legen. Und vollends werden wir nicht 
annehmen duͤrfen, es ſei das Verhalten jener Mehrheit auf den Reichs⸗ 
tagen dieſer Jahre durch ihre Raͤte beſtimmt worden. Dieſes aber iſt 
kaum weniger bezeichnend als ihr Betragen im Regiment. Zum erſten 
Male nach Worms beſchaͤftigte ſich mit der religioͤſen Frage 1523 ein 
Reichstag zu Nürnberg. Hier verlangte der Geſandte Papſt Hadrian's VI. 
(des ſittenſtrengen Nachfolgers Leo's X.) ernſtlich die Vollſtreckung des 
Reichsgeſetzes gegen Luther; dieſelbe Forderung ſtellte Erzherzog Fer⸗ 
dinand. Allein der Reichstag antwortete mit der Gegenforderung eines 
allgemeinen und freien Konzils und lehnte die Ausfuͤhrung des Ediktes 
als untunlich ab. Nicht ganz ſo war der Ausgang des naͤchſten Reichs⸗ 
tages, der ein Jahr ſpaͤter wiederum zu Nuͤrnberg abgehalten wurde. 
Der Legat des neuen Papſtes Clemens“ VII. (es iſt jener Kardinal Giulio 
Medici, der Vetter Leo's X., dem wir bereits begegnet find), der Kardinal 
Campegi, fuͤhrte den Staͤnden ihre Pflicht zu Gemuͤte, fuͤr die Beob⸗ 
achtung des Geſetzes von 1521 zu ſorgen. Karl V. hatte einen eigenen 
Botſchafter aus Spanien heruͤbergeſchickt, der in demſelben Sinne zu 
wirken hatte. Auch Ferdinand bemuͤhte ſich nach Kraͤften. Die Beſchluͤſſe 
des Reichstages, die am 18. April 1524 im Namen des Kaiſers veroͤffent⸗ 
licht wurden, entſprachen doch nicht entfernt ihren Wuͤnſchen. Die Staͤnde 
verſicherten zwar, dem Mandat pflichtſchuldig nachkommen zu wollen, 
aber mit der Einſchraͤnkung: „ſo viel als moͤglich“; und ſo eben hatten die 
Reichsſtaͤnde einmuͤtig in lebhaften Worten die voͤllige Unmoͤglichkeit 


158 


Die Haltung der deutſchen Fuͤrſten, 1522—1524 


der Durchführung begründet. Aber, was ſchlimmer, der Reichstag ließ 
durchblicken, daß er die bisherigen Entſcheidungen von Papſt und Kaiſer 
keineswegs für endgültige halte. Denn er erneuerte die Forderung eines 
„gemeinen, freien Konzils an gelegener Mahlſtatt deutſcher Nation“, 
ja beſchloß, daß zu Martini des Jahres (11. November) in Speier „eine 
gemeine Verſammlung deutſcher Nation“, die man als ein National⸗ 
konzil dachte, zuſammentrete — zum Zweck einer gemeinſamen Beratung, 
wie es bis zum Zuſammentritt des doch in weiter Ferne ſtehenden Konzils 
„gehalten werden ſolle“. Um eine Grundlage fuͤr die Verhandlungen 
zu gewinnen, forderte der Reichstag die einzelnen Staͤnde, namentlich 
die, „ſo hohe Schulen hatten“, auf, „einen Auszug aller neuen Lehren 
und Buͤcher, was darin disputierlich gefunden“, machen zu laſſen. 

Es war ein Beſchluß, uͤber den der Papſt außer ſich geriet, den der 
Kaiſer (wir werden es noch ſehen) im Zorn durch einen Federſtrich unguͤltig 
machte, und doch ein Werk der Mehrheit, „der Bayern und der Pfaffen“, 
wie Planitz ſich ausdruͤckte. 

Wie haben wir ihn uns zu erklaͤren? wie den fuͤr die Reformation 
ſo guͤnſtigen des voraufgehenden Nuͤrnberger Tages? 

Die Antwort kann uns kurz und buͤndig derſelbe Hans von der 
Planitz geben. Die Gegner haben, ſchreibt er ſeinem Herrn, etwas gutes 
getan, „aber nicht um des Guten willen, ſondern daß ſie ihrer Haut 
gefürchtet”. 

Dieſe Reichstagsbeſchluͤſſe find das beredteſte Zeugnis von der 
Macht der evangeliſchen Bewegung im Volke. Man koͤnnte Seiten fuͤllen, 
wollte man alle die Außerungen zuſammenſtellen, in denen der Grund 
der von uns beobachteten Zuruͤckhaltung der papſtfreundlichen Staͤnde⸗ 
mehrheit offenbar wird. Ich beſchraͤnke mich auf eine einzige, eine ſolche, 
die einen amtlichen Charakter traͤgt. Ich denke an den Abſchied des 
Reichstages von 1523, der offen mit der Sprache herausgeht. Er macht 
naͤmlich geltend, man habe von den Mandaten wider Luther bisher 
„nicht ohne merkliche Urſache“ abgeſehen, weil ihre Befolgung die Vor⸗ 
ſtellung erweckt haben wuͤrde, „als wollte man die evangeliſche Wahrheit 
durch Tyrannei unterdruͤcken und unchriſtliche ſchlimme Mißbraͤuche 
aufrecht erhalten; daraus dann unzweifelhaft eine große Empoͤrung, 
Abfall und Widerſtand wider die Obrigkeit erwachſen ſein wuͤrde“. Es 
kommt vielmehr alles darauf an, ein Mittel ausfindig zu machen, um 
„dieſe Empoͤrung, Irrung und Unwillen des gemeinen Mannes“ zu 


ſtillen. 
159 


Der unaufhaltſame Fortgang der evangeliſchen Bewegung 1521—1524 


In der Tat war dies die Aufgabe in all dieſen Jahren, 1524 noch 
mehr als zu jener Zeit, wo dieſer Reichstag ſie ſo klar ausſprach. Damals 
legten auf dem neuen Nuͤrnberger Tage (April 1524) die Reichsſtaͤdte, 
welche die Lage zweifellos am beſten kannten, eng zuſammengeſchloſſen 
lebhaft Verwahrung ein gegen jede, wenn auch noch fo ſchonende Erz 
neuerung des Wormſer Ediktes, weil „damit ein unzweifenliche gewiſſe 
Urſach gegeben wuͤrde zu viel Aufruhr, Ungehorſam, Blutvergießen, 
ja ganzem Verderben“; denn „der gemeine Mann ſei allenthalben zum 
Wort Gottes und heiligen Evangelio ganz begierig“, und dieſes habe 
ſich, wie maͤnniglich wiſſe, viel mehr ausgebreitet und erweitert. 

So war es. Niemand konnte ſich daruͤber taͤuſchen. 2 

Auch wir muͤſſen eine Überſicht zu gewinnen ſuchen uͤber den Um⸗ 
fang, in welchem das Evangelium ſich ausgebreitet und feſtgeſetzt hatte. 


3. Die Ausbreitung und Befeſtigung des evangeliſchen Glaubens 
in Deutſchland 


n u Anfang des Jahres 1523 ſchrieb Erzherzog Ferdinand 
b x ' AN feinem Bruder: „Die Lehre Luthers iſt im ganzen 
N 11 Reiche ſo eingewurzelt, daß unter tauſend Perſonen 

heute nicht eine davon ganz frei iſt. Das Ganze iſt in 
ſo uͤbler Lage, daß es nicht ſchlimmer fein koͤnnte“. Und 
zu Ende des Jahres klagt er: „Die lutheriſche Sekte 
ek in 1 ganzen Lande ſo, daß die guten Chriſten ſich fuͤrchten, 
dagegen aufzutreten“. Es traf das auch fuͤr diejenigen Gebiete zu, wo die 
Obrigkeit mit Ernſt der Bewegung zu ſteuern ſuchte. Bereits zu Beginn des 
Jahres 1522 hatte Herzog Georg von Sachſen dem Hans von der Planitz 
geſtanden, wenn er „nicht mit der Tat und Gewalt dazu taͤte, wuͤrde ſein 
Land ſchier gar ketzeriſch“. Aber Gewalt wollte hier ebenſowenig fruchten wie 
unter Habsburgiſchem Szepter. Als 1524 Ferdinand in ſeinen Erblanden mit 
Schaͤrfe auf Ausfuͤhrung des Wormſer Ediktes drang, erklaͤrten ihm ſeine 


160 


Die Ausbreitung und Befeſtigung des evangeliſchen Glaubens in Deutſchland 


Niederoͤſterreichiſchen Lande: er ſei „ihres Leibes und Gutes Herr“, und 
darin wollten ſie willigen Gehorſam leiſten, aber „mit dem, ſo ihre Seele 
beruͤhret“, moͤge er „ſie nicht beladen, Gebot oder Verbot tun“. 

Gleich hier können wir ſehen, in wie weiter Ferne der Wellenſchlag 
der evangeliſchen Stroͤmung bereits zu ſpuͤren war. So weit die deutſche 
Zunge klang, ſo weit war der Schall des Evangeliums gedrungen. Alles 
war von ihm erfuͤllt. Von den Niederlanden bis nach Livland, vom 
Elſaß bis zur Grenze Ungarns, von der Oſtſee bis zu den Alpen der 
Schweiz und Tirols — alles war ein einziges großes Flutgebiet, aus 
dem nur groͤßere oder kleinere Inſeln hervorragten. Allerdings gingen 
die Fluten hier ſtaͤrker, dort ſchwaͤcher. Am ſtaͤrkſten, abgeſehen von Witten⸗ 
berg und ſeiner ſaͤchſiſch⸗thuͤringiſchen Nachbarſchaft, in den Reichsſtaͤdten, 
vor allen in Nuͤrnberg, daneben, um nur die wichtigſten zu nennen, in 
Augsburg, Straßburg, Ulm, uͤberhaupt im ganzen Suͤdweſten Deutſch⸗ 
lands. Es war nicht die ſtaͤdtiſche Kultur allein, welche hier der Refor⸗ 
mation die Staͤtte bereitete: oft wetteiferte das niedere Volk mit den 
Maͤnnern humaniſtiſcher Bildung. 

Die Mittel der Ausbreitung waren die naͤmlichen wie fruͤher. Neben 
den perſoͤnlichen Trägern der neuen Ideen, Predigern, Mönchen, Laien, 
gewann die Preſſe eine ungeahnte Bedeutung. Man hat berechnet, daß 
von 1516 bis 1524 die Zahl der deutſchen Drucke auf das Neunfache 
geſtiegen iſt. Und dieſe Schriften, die, oft mit erlaͤuterndem oder auch 
ſatiriſchem Bilderwerk ausgeſtattet, hier in gemeinverſtaͤndlicher Proſa, 
dort in beliebten Reimweiſen ſich an das Volk wandten, wurden von 
hoch und niedrig verſchlungen. Ihre Wirkung beſchraͤnkte ſich nicht auf 
den Umfang der Leſewelt. Wer der Kunſt des Leſens nicht maͤchtig war, 
nahm ſich wohl einen „Schüler“, ſich die Schriften Luthers, die religiöfen 
Flugblätter vorleſen zu laſſen; oder auch es wurden die Erzeugniſſe 
der Preſſe, und nicht zuletzt die Schriften des Neuen Teſtaments, in 
einem größeren Kreiſe vorgetragen und in lebendiger Rede und Wider; 
rede zum inneren Eigentum gemacht. An derartige Verſammlungen 
denkt Bruder Heinrich von Kettenbach, wenn er ſagt: „Zu Ulm in den 
Trinkſtuben und Buͤrgerhaͤuſern geſchehen etwan [d. h. wohl, vielleicht! 
beſſere Predigten, denn auf allen Kanzeln der Stadt“ (die den Evangeliſchen 
damals noch verſchloſſen waren). 

Schon aber gab man, wo es irgend moͤglich war, dieſe notgedrungene 
Konventikelexiſtenz auf. Denn nicht die enge Froͤmmigkeit myſtiſcher 
Sektierer, die das Licht ſcheut, trieb hier ihr Weſen. So ſchloſſen ſich an 


11 Brieger, Reformationsgeſchichte 161 


Der unaufhaltſame Fortgang der evangeliſchen Bewegung I521—1524 


vielen Orten die anfangs zerſtreuten Anhaͤnger Luthers zu evangeliſchen 
Gemeinden zuſammen — ein Fortſchritt, der ſehr erheblich zur Befeſtigung 
der Reformation beitragen mußte. Da fielen denn natuͤrlich die alten 
gottesdienſtlichen Ordnungen, ſo weit ſie dem Evangelium widerſprachen; 
neue, durchaus einfach gehaltene traten an ihre Stelle. Luther ſelber 
ging mit ihrer Aufſtellung voran, doch nur um ein Vorbild, ein Muſter 
zu geben, nicht daß uͤberall „einerlei Ordnung“ ſein ſollte; Mannigfaltig⸗ 
keit ſchien ihm erwuͤnſcht, jeder Zwang, jedes Geſetz verwerflich. Daß bei 
dieſer Umgeſtaltung auch die Mutterſprache zu ihrem Rechte kam, braucht 
kaum noch geſagt zu werden. Alles in der deutſchen Reformation war 
von einem nationalen Hauche umwoben. „Der deutſche Geiſt“, ſagt 
Ranke, „war ſich bewußt, daß die Zeit ſeiner Reife gekommen“. Schon 
damals (1523/24) hielt auch das deutſche Lied feinen Einzug in den Gottes⸗ 
dienſt, und mit einer Melodie, „in der (um noch einmal mit Ranke zu 
reden) ſich die alten Kirchentonarten mit ihrem Ernſt und die anmuten⸗ 
den Weiſen des Volksliedes durchdrangen“. Wie entfeſſelte der Geſang 
dieſer Lieder das Gemeingefuͤhl und trug die Begeiſterung in immer 
weitere Kreiſe! Eins von ihnen, das uns heute in ſeiner lehrhaften Art 
faſt trocken anmutet, des ſchwaͤbiſchen Saͤngers Paul Speratus „Es iſt 
das Heil uns kommen her von Gnad und lauter Guͤten“, hat damals 
(das Trutzlied der Reformation iſt erſt einige Jahre ſpaͤter gedichtet) 
an mehr als einem Orte als Sturmlied gedient: mit ihm ſtuͤrmte in Suͤd⸗ 
deutſchland die Menge die Kirchen, eroberte ſie die Kanzeln. 

Denn laͤngſt nicht uͤberall ging es bei der kirchlichen Umwaͤlzung 
ohne Gewalt ab. Nicht ſelten wurde in den Staͤdten, falls der Rat nicht 
rechtzeitig von ſich aus vorging, die Anderung vom Volke erzwungen. 
Auch an mancherlei, zum Teil abſcheulichen Gewaltſamkeiten gegen die 
Vertreter des Alten, die uͤbrigens mitunter herausfordernd genug auf⸗ 
traten, hat es dabei nicht gefehlt. Wer moͤchte ſich daruͤber wundern? 
Nicht allein, daß es in Zeiten einer ſo tief gehenden Gaͤrung an ſich ſchon 
ſchwer haͤlt, die aufgeregten Maſſen uͤberall im Zuͤgel zu behalten — von 
wem ſonſt hatten dieſe Eiferer es denn gelernt, auch in Sachen der Religion 
Zwang zu uͤben, als von der Kirche, gegen welche ſie hier ſo leidenſchaft⸗ 
lich ankaͤmpften, ohne die Nachwirkungen ihrer Erziehung auf allen 
Gebieten unſchaͤdlich machen zu koͤnnen? „Es beruͤhrt“, ſagt Friedrich 
von Bezold, „beinahe erheiternd, wenn die Abtiſſin Charitas Pirk⸗ 
heimer ſich hoͤchlich daruͤber entrüftet, ‚Daß fie uns mit Gewalt zu einem 
andern Glauben wollen noͤten, der uns nicht im Herzen if‘. Das war 


162 


Die Ausbreitung und Befeſtigung des evangeliſchen Glaubens in Deutſchland 


ja eben die alte kirchliche Gepflogenheit, die natuͤrlich auch den Neuglaͤubigen 
noch tief genug im Blute ſteckte“. So muͤſſen wir uns vielmehr darüber 
verwundern, daß Ausſchreitungen dieſer Art nicht haͤufiger vorgekommen 
ſind. Die Wagſchale mit der ganzen Summe dieſer Vergewaltigungen 
ſchnellt faſt federleicht in die Hoͤhe, ſobald die andere Schale der Wage 
belaſtet wird mit den Bluttaten, die — um von den Greueln der Gegen⸗ 
reformation zu ſchweigen — ſchon in dieſen erſten Jahren der evangeliſchen 
Bewegung katholiſcher Glaubenseifer vollbracht hat. 

Wer hätte aber weniger von Gewalt wiſſen wollen, mit welchem 
Schein des Rechts ſie auch auftreten mochte, als das Haupt des kirchlichen 
Umſturzes? 

Schon als in Wittenberg waͤhrend ſeiner Abweſenheit der Reform⸗ 
eifer einzelner Stuͤrmer ſich in allerlei Gewalttaͤtigkeiten entlud, hatte 
er von der Wartburg ein Schriftchen ausgehen laſſen: „Eine treue Ver; 
mahnung an alle Chriſten, ſich zu huͤten vor Aufruhr und Empoͤrung“, 
und in ihr auf Grund feiner alten Überzeugung, das antichriſtliche Regi⸗ 
ment des Papſtes werde „ohne Hand“ allein „durch den Mund Chriſti“, 
d. h. „mit dem Licht der Wahrheit“, zerſtoͤrt werden, ſeine Anhaͤnger 
erinnert, daß die Abſtellung der Mißbraͤuche „durch ordentliche Gewalt“ 
geſchehen muͤſſe, nicht durch das Aufſtehen des „Herrn Omnes“ des 
großen Haufens. „Denn Aufruhr hat keine Vernunft und gehet gemeinig⸗ 
lich mehr uͤber die Unſchuldigen denn uͤber die Schuldigen“: darum, 
„welche meine Lehre recht leſen und verſtehen, die machen nit Aufruhr, 
ſie habens nit von mir gelernet“. Als er bald darauf von der Wartburg 
heimgekehrt war, um der Verwirrung in Wittenberg ein Ende zu machen, 
da trieb er von neuem mit gluͤhender Beredſamkeit ſeinen Satz von der 
Macht des Wortes. „Summa Summarum“, ſo redete er zu den Seinen 
von der Kanzel, „predigen will ichs, ſagen will ichs, ſchreiben will ichs 
namlich, daß die Meſſe von Übel iſt; dagegen hatten unberufene Führer, 
ſtatt wider ſie zu predigen, die Leute „mit den Haaren und Gewalt davon 
geriffen“]. Aber zwingen, dringen mit Gewalt will ich niemand. Denn 
der Glaube will willig, ungenoͤtigt angezogen werden. Nehmet ein Exempel 
an mir. Ich bin dem Ablaß und allen Papiſten entgegen geweſen, aber 
mit keiner Gewalt. Ich hab allein Gottes Wort getrieben, geprediget und 
geſchrieben; ſonſt hab ich nichts getan. Das hat, wenn ich geſchlafen han, 
wenn ich Wittenbergiſch Bier mit meinem Philippo [Melanchthon] und 
Amsdorf getrunken hab, alſo viel getan, daß das Papſttum alſo ſchwach 
worden iſt, daß ihm noch nie kein Fuͤrſt noch Kaiſer ſo viel abgebrochen 


11* 163 


Der unaufhaltſame Fortgang der evangelifhen Bewegung 1521—1524 


hat. Ich hab nichts getan: das Wort hat es alles gehandelt und aus⸗ 
gericht“. Wenn er ſich die Wirkung feiner Verkuͤndigung der Wahrheit 
im letzten Jahre vergegenwaͤrtigte, ſo verſtieg er ſich wohl, wie in jener 
vorhin erwaͤhnten Schrift, zu dem Ausruf: noch zwei Jahre ſo weiter das 
Wort getrieben, und man ſolle ſehn, wo des Papſtes Regiment bleibe: 
„wie der Rauch ſoll es verſchwinden!“ 

Großartig dieſe Staͤrke des Glaubens, der Hoffnung in dem Ge⸗ 
bannten, Geaͤchteten, im Verſtecke Sitzenden! Von derſelben freudigen 
Zuverſicht in die ſiegreiche Gewalt ihrer Waffe des Wortes waren aber auch 
alle ſeine Mitkaͤmpfer erfuͤllt. Gab es irgend eine geiſtige Macht, die 
gegen dieſe hochgemute Stimmung hätte aufkommen koͤnnen? Wie 
nichts anderes kennzeichnet die Hoffnungsfreudigkeit der leitenden Kreiſe, 
der von ihnen inſpirierten Menge dieſe kampfesreichen Jahre der erſten 
Ausbreitung der deutſchen Reformation. 

Die Wonnetage des Fruͤhlings waren gekommen. Die Nachtigall 
ſang im Hag. So ſpiegelte ſich in dem frommen Gemuͤt des biederen 
Nuͤrnberger Meiſterſingers Hans Sachs die Lage der Chriſtenheit wider. 
Wer kennte nicht die Verſe, mit denen er (1523) ſeine „Wittenbergiſch 
Nachtigall“ begann? 

Wach auf! Es nahent gen dem Tag 
Ich hoͤr ſingen im gruͤnen Hag 

Ein wunigkliche Nachtigall. 

Ihr Stimm durchklinget Berg und Tal. 
Die Nacht neigt ſich gen Occident, 

Der Tag geht auf von Orient. 

Die rotpruͤnſtige Morgenroͤt 

Her durch die truͤben Wolken geht. 

Noch jubelnder aber klingt das Lied, das Luther ſelbſt dieſem Fruͤhling 
geſungen hat. Es war ein eigener Anlaß, der in dem Vierzigjaͤhrigen den 
Dichter weckte. Zwei junge Auguſtiner, Ordensgenoſſen des Reformators, 
waren 1523 zu Bruͤſſel wegen ihres ſtandhaften Bekenntniſſes zur Wahr⸗ 
heit verbrannt worden, noch in den Flammen voll Lobpreis Gottes: 
die junge Kirche hatte ihre erſten Maͤrtyrer! Da greift er zu der Leier. Im 
Volkston des Landsknechtsliedes erzaͤhlt er ihre Geſchichte, um dann 
triumphierend zu verkuͤnden, wie die Mörder, die Lömwener Sophiſten, 
den kuͤrzeren gezogen haben: ſchon reut ſie ihre Tat. Denn: 

Die Aſchen will nicht laſſen ab, 
Sie ſtaͤubt in allen Landen. 


Hie hilft kein Bach, Loch, Grub noch Grab, 
Sie macht den Feind zu Schanden. 


164 


Die Ausbreitung und Befeſtigung des evangeliſchen Glaubens in Deutſchland 


Die er im Leben durch den Mord 
Zu ſchweigen hat gedrungen, 

Die muß er tot an allem Ort 
Mit aller Stimm und Zungen 
Gar froͤhlich laſſen ſingen. 


So kaun das Lied ausklingen in den hoffnungsvollen Jubelruf: 


Der Sommer iſt hart fuͤr der Tuͤr, 
Der Winter iſt vergangen, 

Die zarte Bluͤmlin gehn herfuͤr: 
Der das hat angefangen, 

Der wird es wohl vollenden! 


Auch in Deutſchland kamen zu dieſer Zeit (1523/24) mannigfache 
Verfolgungen vor: unter dem Krummſtab wie unter Habsburgiſchem 
Regiment, in Bayern wie in Sachſen; im Suͤden wagte man ab und zu 
ſelbſt zu Hinrichtungen zu ſchreiten. 

Aber waren nicht auch das verheißungs volle Fruͤhlingszeichen? Ver⸗ 
riet ſich nicht in dieſem Glaubenszwang nur die Schwaͤche der Gegner, 
das Verſagen der Waffe des Geiſtes? Umſonſt mußte all ihr Beginnen 
fein. „Laſſet ab,“ fo rief damals der Elſaͤſſiſche Ritter Eckhardt zum Druͤbel 
den Geiſtlichen ſeiner Heimat zu, „Laſſet ab, es iſt Zeit, Gott wills alſo 
haben; die Blinden greifens, die Tauben und Stummen riechens und 
vernehmens; es iſt um die Zeit, wie der Herr geſagt hat: die Steine 
muͤſſen reden“. Wie haͤtten Luther und die Seinen da nicht beſtaͤrkt werden 
ſollen in ihrer zuverſichtlichen Hoffnung, das ganze Deutſchland werde 
die Kette ſeiner Gefangenſchaft von ſich werfen? 

Auch die politiſche Lage des Vaterlandes, wie wir ſie fuͤr das Fruͤh⸗ 
jahr 1524 kennen gelernt haben, ſchien dieſem Optimismus recht zu 
geben. Zwar hatte ja der juͤngſte Reichstag, dem Andringen von Papſt 
und Kaiſer weichend, das Mandat von Worms aus ſeiner Verborgenheit 
herausgeholt, aber mit einer Klauſel, die jeden Erfolg um ſo zweifelhafter 
erſcheinen ließ, als die Ausſchreibung jenes Nationalkonzils nach Speier 
offenbar gleichbedeutend war mit einer Verleugnung des Acht⸗ und 
Machtſpruches von Worms. Auf dieſer Nationalverſammlung ſollte ja 
erſt, unter Benutzung der Vorlagen von gelehrten und ſachverſtaͤndigen 
Maͤnnern, beratſchlagt werden, wie es bis zu einem Konzil mit der neuen 
Lehre zu halten ſei. Wir wiſſen nicht, von welcher Seite die Anregung 
zum Nationalkonzil gegeben iſt. Sie ſcheint nicht von den evangeliſch 
geſinnten Staͤnden, ſondern vielmehr von Bayern ausgegangen zu ſein. 
Nur um ſo ſtaͤrker wuͤrde dann dieſer Beſchluß der Mehrheit (das Gute, 


165 


Der unaufhaltſame Fortgang der evangelifchen Bewegung 1521—1524 


was ſie nach Planitz nur aus Furcht tat) ihre Überzeugung ausdruͤcken, 
daß die Lage Deutſchlands gebieteriſch den Verſuch eines Ausgleiches im 
Schoße der Nation ſelbſt erheiſche. Sicher ſah man dem Zuſammentritt 
dieſer „Verſammlung deutſcher Nation“ mit freudiger Erwartung ent⸗ 
gegen. Sie war, wie Luther ſagt, „mit fo herrlicher, troͤſtlicher Hoffnung 
ausgeſchrieben, daß alle Welt mit großer Gier gaffte und herzlich wartete, 
es ſolle da gut werden“. Eifrig machten ſich viele der Obrigkeiten an die 
verlangten Gutachten. 

Die Arbeit war umſonſt, jene Hoffnung wurde bitter getaͤuſcht! 

In kritiſcher Stunde rafften die reaktionaͤren Gewalten ſich auf. 
Die Reformation erlebte ihren erſten Ruͤckſchlag: unvermoͤgend ſie zu 
ertoͤten, wurde er doch toͤdlich fuͤr die Einheit der Nation. 


* 


4. Erſter Ruͤckſchlag. Der Anfang der Spaltung der Nation, 1524 


5 Japſt Clemens VII. geriet außer ſich uͤber das Emanzipa⸗ 
vr N tionsgeluͤſte der deutſchen Stände, über dieſen Plan einer 
„Verſammlung in Glaubensſachen, in denen das Volk 
u doch nur zu gehorchen habe“, und ſetzte alle Hebel in 
Bewegung, um fie zu vereiteln. Es hätte deſſen kaum 
Aa erſt bedurft. Denn Karl V. war nicht weniger empört 
als der apt. Unter Schmaͤhungen auf den „unmenſchlichen und unchriſt⸗ 
lichen Luther“, dieſen neuen Mahomed, mit ſchroffem Tadel der unerhoͤrten 
Anmaßung der deutſchen Nation, verbot er in einem Mandat vom 15. Juli 
im hochfahrenden Ton des Tyrannen die vom Reichstage im Namen des 
Kaiſers ſelbſt ausgeſchriebene Verſammlung und ſchaͤrfte die ſtrengſte 
Beobachtung des Wormſer Ediktes ein. 

Dieſer Eingriff des Kaiſers in das Selbſtbeſtimmungsrecht der 
Nation — was war er anders als Umſturz, Umſturz von oben her? 
Selbſt das neue, ganz in Abhaͤngigkeit von Ferdinand ſtehende Reichs⸗ 
regiment zu Eßlingen (das alte, kraͤftigere war auf dem letzten Reichs⸗ 
tage von den Fuͤrſten ſelbſt geſtuͤrzt worden!) mißbilligte das Verfahren 


166 


Erſter Ruͤckſchlag. Der Anfang der Spaltung der Nation, 1524 


des Kaiſers, der ſeiner Pflicht, den in ſeinem Namen erlaſſenen Abſchied 
zu vollziehen, ſchnurſtracks zuwider gehandelt habe und durch ſeine Ver⸗ 
letzung der Reichsordnung Anderen eine Handhabe zu gleichem Vor⸗ 
gehen biete. 

Wir ſehen, das Reich war in voller Aufloͤſung begriffen. 

Zu ihr aber wirkte in womoͤglich noch ſchlimmerer Weiſe eben jetzt 
auch ein Teil der Staͤnde mit. 

Gleich nach dem Nuͤrnberger Reichstage war es dem paͤpſtlichen 
Legaten Kardinal Campegi gelungen, eine Vereinigung zu Stande zu 
bringen, die einen von ihren Mitgliedern ſelbſt gefaßten Reichstags⸗ 
beſchluß unwirkſam machte. Zu Regensburg hatte im Juni 1524 unter 
Fuͤhrung des Legaten eine Anzahl weltlicher und geiſtlicher Fuͤrſten 
Oberdeutſchlands (Erzherzog Ferdinand, die Herzoͤge von Bayern, der 
Erzbiſchof von Salzburg nebſt anderen Biſchoͤfen) einen Bund geſchloſſen 
zur Ausrottung der Ketzerei, indem ſie zugleich, zur Bemaͤntelung ihrer 
Sache, ein von Campegi gebilligtes, hoͤchſt beſcheidenes Reformprogramm 
veröffentlichte, das einige der für den gemeinen Mann druͤckendſten 
kirchlichen Mißbraͤuche zu beſeitigen verhieß. 

Wollte man auf dem geplanten Nationalkonzil durch eine ſorgfaͤltige 
Prufung der Religionsfrage ſich gemeinſam um eine friedliche Loͤſung 
bemuͤhen, ſo ſonderte ſich hier eine an eine auswaͤrtige Macht ſich 
anlehnende Gruppe ab und vereitelte dadurch von vornherein jeden ernſt⸗ 
lichen Ausgleichsverſuch. 

Wir ſtehen damit unmittelbar bei dem Urſprung der Spaltung 
unſeres Vaterlandes. 

Auf welcher Seite der Grund zu ihr zu ſuchen iſt, das hat unſer 
großer Hiſtoriker Leopold Ranke ein fuͤr alle Mal in unwiderleglicher Weiſe 
aufgezeigt. Er macht darauf aufmerkſam, „wie ſorgfaͤltig man lauf 
evangeliſcher Seite] alle deſtruktiven Elemente zu beſeitigen fuchte, wie 
man ſich ſelber bezwingend jede gewaltſame Veraͤnderung vermied und 
noch alles von den Beſchluͤſſen des Reiches erwartete“. „Die der Neuerung 
Zugetanen hatten ſich der verfaſſungsmaͤßigen Regierung des Reiches 
doch immer untergeordnet: unter dem Schutze und Vorgang derſelben 
hofften ſie zu einer, den Beduͤrfniſſen der Nation und den Forderungen 
des Evangeliums zugleich entſprechenden Umbildung der geiſtlichen Ein⸗ 
richtungen zu gelangen“. Auch darin wird man Ranke zuſtimmen duͤrfen, 
wenn er im Blick auf die Ausſchreibung der Speierſchen Nationalver⸗ 
ſammlung ſagt, es habe fuͤr die Einheit der Nation, fuͤr die Fortentwickelung 


167 


Der unaufhaltſame Fortgang der evangelifhen Bewegung 1521—1524 


der Deutſchen auf dem einmal eingeſchlagenen Wege niemals eine groß⸗ 
artigere Ausſicht gegeben. 

Indem jetzt Ferdinand und Bayern, ſeit Jahren vom Papft durch 
Zugeſtaͤndniſſe in fein Intereſſe gezogen, und ihr geiſtlicher, von neuem 
an Rom gefeſſelter Anhang nicht abwarteten, daß das Reich die Religions⸗ 
angelegenheit ordne, vielmehr einſeitig vorgingen, riſſen ſie ſich von 
der Einheit der Nation los und zerſtoͤrten jene Ausſicht. 

Konnte da noch die Ruͤckſichtsloſigkeit uͤberraſchen, mit der ſie ſofort, 
noch im Sommer und Herbſt 1524, gegen ihre ketzeriſchen Untertanen 
einſchritten? Gewalt, bis dahin doch nur vereinzelt und ſchuͤchtern geuͤbt, 
war jetzt die Loſung. In Bayern und in Salzburg, in den verſchiedenen 
Gebieten Ferdinands, wie in Oſterreich fo im Breisgau, erhob ſich eine 
hie und da grauſame Verfolgung. Ihr Ziel koͤnnen wir aus einem Briefe 
Ferdinands an den Papſt entnehmen, in dem es heißt: nichts unter der 
Sonne erſehne er heißer, als daß dieſe abſcheuliche Sippe von Menſchen 
aus ſeinem Lande vertilgt werde. 

Nichts iſt natuͤrlicher, als daß da auch die evangeliſch Geſinnten 
engere Fuͤhlung miteinander ſuchten, wie die Staͤdte und ein Teil des 
mitteldeutſchen Adels. Eben jetzt regte es ſich auch unter den Fuͤrſten, 
ſo daß Luthers Landesherr nicht mehr allein ſtand. Eine ſtattliche Reihe 
von ihnen erfuͤllte ſich im Laufe des Jahres 1524 mit den neuen religioͤſen 
Ideen. Ich nenne nur Philipp von Heſſen, die fraͤnkiſchen Hohenzollern 
Kaſimir und Georg, ihren Bruder Albrecht, den Hochmeiſter des 
deutſchen Ordens, der bald darauf, einem Rat des Reformators folgend, 
ſein Ordensland zu einem weltlichen Herzogtum umſchuf, weiter den 
Herzog Ernſt von Luͤneburg, des Kurfuͤrſten Friedrich Schweſterſohn, und 
König Friedrich I. von Dänemark, der hier mit feinen Herzogtuͤmern 
Schleswig und Holſtein in Betracht kam. 

Kein Jahr zuvor hatte groͤßere Eroberungen geſehen: in Heſſen, im 
Brandenburgiſchen Franken, in Luͤneburg, in Schleswig und Holſtein 
wurde der Reformation die Tuͤr geoͤffnet. 

Allein, dieſe Fortſchritte, fuͤr die Zukunft von ungemeiner Wichtig⸗ 
keit, koͤnnen uns doch nicht über die Tatſache taͤuſchen, daß eben dieſes 
Jahr 1524 die kuͤhne Hoffnung, mit der ſich die Anhaͤnger Luthers bisher 
trugen, in das Reich der Traͤume verwieſen hat. Forderte der Bund, 
den in ihnen die religioͤſe Idee mit der Begeiſterung fuͤr das Vaterland 
geſchloſſen hatte, daß das Reich als ſolches durchdrungen wuͤrde von 
dem Geiſte der religioͤſen Reform, daß die deutſche Kraft ſich vereinigte 


168 


Erſter Ruͤckſchlag. Der Anfang der Spaltung der Nation, 1524 


zur Schöpfung eines Geſamtſtaates, in dem jener neue Geiſt herrſchte, 
ſo war jetzt durch das gewalttaͤtige Eingreifen des fremden Oberherrn, 
durch das fuͤr die Einheit der Nation verhaͤngnisvolle Vorgehen der 
maͤchtigſten Gewalthaber des Südens dieſem Zukunftsſtaate der Boden 
entzogen. 

So mußte eine große Hoffnung begraben werden! 

Nur innerhalb der Einzelſtaaten konnte ſich die religioͤſe Neuerung noch 
durchzuſetzen verſuchen. In dieſen mußte fie ſich ihr Daſeinsrecht erkaͤmpfen. 

Das iſt in der Tat fortan ihr Ziel geweſen. Dieſes Beſtreben druͤckt 
der deutſchen Geſchichte fuͤr die folgenden Generationen ihr Gepraͤge 
auf (bis zum Weſtfaͤliſchen Frieden hin). Wir werden ſehen, wie es — nach 
Überwindung einer ſchweren Kriſis — zunaͤchſt unter der Gunſt der 
großen europaͤiſchen Politik einen ſtarken Erfolg hatte, wie ſogar der 
Gedanke erwachen konnte, daß auch auf dieſem Wege, dem der Territorial⸗ 
reform, eine religioͤſe und damit zugleich politiſche Erneuerung des ge⸗ 
ſamten Deutſchlands zu erreichen fein würde; wie aber dann 1547 durch 
den erſten Religionskrieg, den von Schmalkalden, dieſe Hoffnung fuͤr 
immer vernichtet wurde. Von neuem ſah ſich der Proteſtantismus in 
Deutſchland vor einen Kampf ums Daſein geſtellt, bis 1555 in dem Augs⸗ 
burger Religionsfrieden ein annaͤherndes Gleichgewicht von Kraͤften 
ſeinen rechtlichen Ausdruck fand. Trotz ſeines Namens kein Friede, ſondern 
nur ein Waffenſtillſtand, bildet er den Abſchluß des Reformationszeit⸗ 
alters, ohne eine Loͤſung des durch Luther in die Welt geworfenen Pro⸗ 
blems zu ſein. 

Das alles ſpielt ſich bei uns in Deutſchland ab. Gleichwohl haben 
wir es nicht entfernt mit Deutſchland allein zu tun. Staͤrker als je iſt 
die deutſche Geſchichte das Zentrum der Geſchichte Europas. Nicht nur, 
daß ſich um das Geſchick Deutſchlands das Geſchick Karls V. drehte und 
Jahrzehnte hindurch auch das ſeines Rivalen Franz von Frankreich. 
Nein, der deutſche Geiſt dringt in dieſer Zeit weit uͤber die Grenzen ſeiner 
Heimat hinaus vor: alle Kulturlaͤnder Europas werden von ihm erfaßt, 
ſtaͤrker die einen, ſchwaͤcher die andern, und muͤſſen ſich mit ihm aus⸗ 
einander ſetzen: die Schweiz und Frankreich, England, der Norden Europas, 
auch Ungarn und Polen, ja ſelbſt in Italien und Spanien iſt die Erzitterung 
zu ſpuͤren. 

So ſehen wir, wohin auch unſer Blick ſich richten mag, in dieſer 
ganzen Zeit von 1525 bis 1555 immer nur ein einziges Bild vor uns: 
es iſt der Kampf von neu und alt. 


169 


Der unaufhaltſame Fortgang der evangelifchen Bewegung 15211524 


Dieſe Epoche des Ringens loͤſt die Zeit der Hoffnungen ab. 

Es waren Hoffnungen, die — der Hiſtoriker kann es heute klar erken⸗ 
nen — von Anfang an in den Verhaͤltniſſen, wie ſie ſchon der Tag von 
Worms im Reiche geſchaffen, doch nur einen ſchwachen Halt gehabt hatten. 
Und dennoch, wir moͤchten ſie nicht miſſen. Sie erſcheinen uns als ein 
wahrlich nicht nebenſaͤchlicher Charakterzug dieſer Fruͤhlingstage der 
Reformation. Es war doch nur der Überſchwang der Idee — dieſer 
neuen von uͤberwaͤltigender Größe —, was ihren Trägern die Zukunft 
in einem ſo blendenden Lichte erſcheinen ließ. 

Eine Ernuͤchterung konnte da nicht ausbleiben, um ſo weniger, als 
eben jetzt die Reformation in einen Strudel hineingezogen wurde, aus 
dem ſie nicht ohne Schaͤdigung auftauchen ſollte. Es waren die Wogen 
der Revolution, welche ſie ploͤtzlich umbrandeten und alles, alles zu 
verſchlingen drohten. 


Zweite Epoche 
der Weltgeſchichte im 
Zeitalter der 
Reformation 


Die Zeit des Ringens 
1525—1555 


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I. 
Die Revolution 


von 1525 und 


1. Die Bauernerhebungen des ausgehenden Mittelalters 


urther war, wie wir ſahen, ſchon auf der Wartburg von 
der Ahnung beſchlichen, Deutſchland werde durch eine 
gewaltige Erſchütterung heimgeſucht werden. Daß 
Aufruhr und Empoͤrung des gemeinen Mannes zu 

a öbbefuͤrchten ſei, war — auch das nahmen wir bereits 
Ee wahr — der leitende Gedanke geweſen, durch den 
Reichsregiment und Stände ſchon von 1522 an ihr Verhalten zur reli⸗ 
gioͤſen Bewegung beſtimmt ſein ließen. Sogar das neue Reichsregiment 
zu Eßlingen, das ſich faſt ausſchließlich aus Anhaͤngern des Alten 
zuſammenſetzte, ließ in jenen Tadel des Kaiſers, von dem wir ſchon 
hoͤrten, die Bemerkung einfließen, die Vereitelung der Hoffnung, welche 


173 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


man auf den Tag von Speier geſetzt, muͤſſe zum ſchweren Schaden des 
Reiches fuͤhren: denn es ſei „gewißlich zu vermuten und zu befuͤrchten, 
daß der gemeine Mann, der ſonſt [d. h. ſchon ohnehin] zu dieſer Zeit 
bewegig [unruhig], ſich zu großer Aufruhr und Empörung erheben werde“. 

So urteilten die Herren im September 1524. Ein halbes Jahr 
ſpaͤter war der Aufruhr, den man auf allen Seiten vorhergeſehen, gegen 
den doch niemand Vorkehrung getroffen hatte, in vollem Gange, „die 
groͤßte Maſſenerhebung“ (um mit Friedrich von Bezold zu reden), „welche 
die Geſchichte unſerer Nation bisher zu verzeichnen hat“. 

Dieſe Revolution iſt zweifellos aus der reformatoriſchen Bewegung 
hervorgegangen. Von Anfang an haben die Gegner Luthers ihn fuͤr 
den Bauernaufſtand verantwortlich gemacht, wie er dies ja ſchon vor Jahren 
vorausgeſagt hatte. Herzog Georg von Sachſen nannte den Aufruhr in 
einem Briefe an ſeinen Schwiegerſohn Philipp von Heſſen „die Frucht 
des lutheriſchen Evangeliums“, worauf der Landgraf erwiderte: „Daß 
der Aufruhr von den Lutheriſchen ſei hergekommen, das geſtehe ich nicht; 
denn es iſt nimmermehr zu beweiſen; denn man weiß wohl, wo der Auf⸗ 
ruhr iſt herkommen. So bringt das Evangelium, welches ſich Luthers 
Lehr nennen laſſen muß, kein Bauernaufruhr, ſondern allein Friede und 
Gehorſam. So iſt auch in deren Laͤndern und Gebieten, die dem Evangelio 
anhangen, weniger Aufruhr geweſen und an manchen Orten gar keiner, 
denn in deren, die das Evangelium verfolgen“. 

Bei derartigen zeitgenoͤſſiſchen Urteilen kann ſich der Geſchichtſchreiber 
ſelbſtverſtaͤndlich nicht beruhigen. Die Revolution, mit der wir es hier 
zu tun haben, iſt eine hoͤchſt komplizierte Bewegung, daher aus der 
geſamten Lage der Zeit heraus zu erklaͤren. Es kommt deshalb darauf an, 
die mannigfachen Kraͤfte, die zu ihrer Entſtehung zuſammengewirkt 
haben, aufzuſuchen und gegen einander abzuwaͤgen. 

Achten wir zu dieſem Zwecke vor allem auf ihren urſpruͤnglichen und 
eigentlichen Charakter. 

Da darf es als laͤngſt ausgemacht gelten, daß die große Bauern⸗ 
erhebung ihrem Kern nach wirtſchaftlicher und (wie wir heute zu reden 
pflegen) ſozialer Natur geweſen iſt. Es handelt ſich, um mich der Worte 
Hans Delbruͤcks zu bedienen, „um eine wirtſchaftlich⸗politiſche Erſcheinung, 
welche dem ganzen germaniſch⸗romaniſchen Europa gemeinſam iſt“ und 
ſich in ihren erſten Außerungen bereits in der zweiten Haͤlfte des 14. Jahr⸗ 
hunderts zeigt. In Deutfchland durchziehen ſolche Erhebungen faſt das 
ganze 15. Jahrhundert, um ſich in den erſten Jahrzehnten des 16. fortzu⸗ 


174 


Die Bauernerhebungen des ausgehenden Mittelalters 


ſetzen, nachdem die revolutionaͤre Stimmung in weiten Kreiſen des kleinen 
Mannes bereits zum Erbgut geworden iſt. Schon um das Jahr 1450 
prangte auf dem Banner der Aufruͤhreriſchen als Wahrzeichen der 
Empoͤrung der „Bundſchuh“ (der niedrige grobe Bauernſchuh, der mit 
Riemen „drei Elbogen lang“ gitterartig um die Beine gebunden wurde). 

Oft iſt man den Urſachen dieſer Erhebungen nachgegangen und hat 
ſie vornehmlich finden wollen in der ſtarken Zerſplitterung der Bauern⸗ 
hufen, in dem immer unertraͤglicher werdenden Druck, den die Grund⸗ 
herren (hier der Adel, dort die Kirche, das Kloſter) mit ihrer Steigerung 
von Abgaben und Fronden ausuͤbten; in der Verkuͤmmerung oder Ent; 
ziehung des Anteiles an Wald, Weide und Waſſer, wie er dem Bauer als 
ein Erbe der alten Markgenoſſenſchaft geblieben war; in der allmaͤhlichen 
Umwandlung der Horigkeit in Leibeigenſchaft; endlich in der hiermit 
Hand in Hand gehenden Herabdruͤckung der geſellſchaftlichen Stellung 
des Bauern, in deſſen Verachtung und Verhoͤhnung Adel und Staͤdte 
wetteiferten. 

Indeſſen, wir bewegen uns hier auf einem Gebiete, das erſt wenig 
durch Einzelunterſuchungen gelichtet iſt, zu wenig, als daß wir ſo verall⸗ 
gemeinernde Urteile wagen duͤrften. Denn das kann keinem Zweifel unter⸗ 
liegen, daß die baͤuerlichen Verhaͤltniſſe in den verſchiedenen Gegenden 
Deutſchlands ſehr verſchiedene geweſen ſind und bei der ungezaͤhlten 
Menge von Grund- und Gerichtsherren die größte Mannigfaltigkeit 
aufzuweiſen gehabt haben. So iſt z. B. die materielle Lage des Bauern 
keineswegs überall eine gedruͤckte geweſen, vielmehr in dieſer Periode 
eines ſteigenden Wohlſtandes nicht ſelten eine ſolche, daß ihn der Hafer 
ſtach: es erwachte Übermut und das Verlangen, ſich über die Schranken 
ſeines Standes hinwegzuſetzen, beſonders in Luxus den hoͤheren Staͤnden 
es gleichzutun. 

Falls die Richtung, in der ſich die Forſchung in juͤngſter Zeit 
bewegt, ſich als richtig erweiſen ſollte, würden wir uͤberhaupt zu brechen 
haben mit der herkömmlichen Weiſe, den Druck, welchen die Bauern 
vielfach verfpürten und oft ſchmerzlich empfanden, zuruͤckzufuͤhren auf 
den ſchamloſen Egoismus der Herren, ihre tyranniſche Luſt, einen ihnen 
oft wehrlos preis gegebenen Stand auszubeuten und zu ſchinden, obgleich 
es ſicher immer noch Herren genug gegeben hat, die, ihr eigenes Intereſſe 
verkennend, den Tyrannen ſpielten. Jener Druck wuͤrde vielmehr zu 
erklaren fein aus der politifchen Entwickelung Oeutſchlands, aus demjenigen, 
was dem ganzen Zeitalter politiſch ſein Gepraͤge gibt. Es iſt die Epoche 


175 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


der Herausbildung des Territoriums. „Das Leben der Nation“, ſagt 
Ranke, „zeigte die Tendenz, ſich von ſeinem bisherigen Mittelpunkt (der 
kaiſerlichen Obmacht) zuruͤckzuziehen und in den einzelnen Landſchaften 
eine ſich ſelber genuͤgende, autonome Gewalt zu erſchaffen“. Die einzelnen 
Gebiete, hier groͤßere, wie die der Fuͤrſten, dort kleinere, wie diejenigen 
der Staͤdte, der Grafen und Ritter, werden zu Staaten im Reiche. Dieſe 
Umbildung hat mittelbar — in welcher Weiſe kann hier nicht gezeigt 
werden — zu einer ſtaͤrkeren Belaſtung der Bauern gefuͤhrt: mehr als 
bisher wurden ſie zur Deckung der Unkoſten der Verwaltung heran⸗ 
gezogen, mit um ſo groͤßerem Rechte, als ihnen, den auf Schutz und Schirm 
von oben angewieſenen, die Leiſtungen des Staates ganz beſonders zugute 
kamen. Es war dieſelbe Zeit, wo die Steigerung des Bodenertrages eine 
Erhoͤhung der dem Grundherrn zukommenden Abgaben durch außer⸗ 
ordentliche Auflagen nahe legte und nicht unbillig erſcheinen ließ. Das 
eine wie das andere konnte aber, wie Wilhelm Stolze ausgefuͤhrt hat, 
bei der Kompliziertheit des mit wachſenden Anſpruͤchen auftretenden 
Staates von den Bauern leicht in ſeiner Berechtigung verkannt und als 
Willkuͤr betrachtet werden, waͤhrend es doch „nur die Folge der veraͤnderten 
Bedingungen des politiſchen Lebens war, wenn jetzt die Individuen auch 
in materieller Beziehung ſtaͤrker an die Gemeinſchaft, an den Staat 
gefeſſelt“ wurden. — 

Vielleicht gehen wir nicht irre mit der Annahme, daß der Bauer 
gegen Ende des 15. Jahrhunderts die neuen Laſten um ſo widerwilliger 
auf ſich nahm, je ſtaͤrker in den letzten Jahrzehnten ſein Selbſtgefuͤhl, 
ſein Standesbewußtſein gewachſen war. Dieſes hatte juͤngſt (wenigſtens 
im Suͤdweſten, der ja aber für die Bauernunruhen vorzugsweiſe in 
Betracht kommt) eine ſtarke Steigerung erfahren: nicht bloß durch die 
kriegeriſchen Triumphe der zur Freiheit ſich durchkaͤmpfenden Bauern der 
Schweiz uͤber Adel und Fuͤrſten, ſondern auch durch die Wehrhaftigkeit, 
in welcher ſeit dem Aufkommen der neuen Kriegsweiſe der zumeiſt aus 
dem Bauernſtande hervorgegangene Landsknecht es dem Ritter gleich 
zu tun vermochte. Aber auch noch von einer andern Seite war dem 
Selbſtgefuͤhl des unterſten Standes Nahrung zugefuͤhrt worden. Bis in 
die Tage des Huſitentums geht jene volkstuͤmliche Literatur zuruͤck, 
welche gerade die Muͤhſeligen und Beladenen des Volkes mit einem 
trotzigen Gefuͤhl ihres Wertes zu erfuͤllen geeignet war. Wie viele Schriften 
ſind auf den Ton des Pſalmwortes geſtimmt, daß der Herr die Elenden 
aufrichtet und die Gottloſen (die Gewaltigen) zu Boden ſtoͤßt! Schon 


176 


Die Bauernerhebungen des ausgehenden Mittelalters 


die von huſitiſchem Geiſte nicht ganz freie „Reformation des geiſtlichen 
und weltlichen Standes“ (um das Jahr 1439 vielleicht aus der Feder 
eines Augsburger Stadtſchreibers gefloſſen und unter dem Namen Kaiſer 
Sigmunds in Umlauf), eine Schrift, welche, wenngleich urſpruͤnglich das 
ſoziale Programm des freien Staͤdtebuͤrgertums, in ſo mancher Wendung 
ſozialiſtiſch umgedeutet werden konnte, nimmt ſich der „Kleinen“ an 
gegen die „Gelehrten, Weiſen und Gewaltigen“. Dieſe ſetzen ſich wider 
die „goͤttliche Ordnung“. So iſt nur von den Kleinen noch Rettung zu 
erwarten. „Es iſt kommen auf das Erdreich Chriſtus Jeſus in Elend 
und Armut; er will uns vielleicht durch die Armen rechtfertigen [zurecht 
bringen!“. „Wenn die Großen ſchlafen, fo muͤſſen die Kleinen wachen“. 
In der „Gemein“ [dem gemeinen Haufen] find noch treue Chriſten zu 
finden. Daher die Loſung: „Greif es mit der Gemein an, und kecklich, 
ohn alles Ablan [Ablaſſen]!“. — Schon in dieſer Schrift wird beilaͤufig 
auch die Arbeit des Bauern nach Seiten ihres unſchaͤtzbaren Wertes 
hervorgehoben: „Ohne ſie mag niemand beſtehen“. Sie wird vollends 
im weiteren Verlaufe des 15. Jahrhunderts bald in ſittlicher Hinſicht, 
bald ob ihrer wirtſchaftlichen Bedeutung gefeiert: wie der Ackerbau der 
aͤlteſte und einfachſte, ein goͤttlicher Beruf iſt, ſo iſt es der „edle Ackermann“, 
der mit feinem Pfluge alle Welt ernährt. Noch weiter geht der Nuͤrn⸗ 
berger Dichter Hans Roſenpluͤt (um 1450), der die Arbeit geradezu mit 
einem ſittlich⸗religioͤſen Heiligenſchein umgibt. Wenn der Arbeiter mit 
ſeinem Schweiß ſein Antlitz netzt, dann wird dadurch ſeine Seele ſo 
gelaͤutert, daß ihre Schoͤne bis in den Himmel reicht, daß Gott ſelbſt 
anfaͤngt, um ſie zu buhlen. Haͤtte einer in allen Schulen gelernt, waͤre ein 
großer Theologe und Philoſoph und zugleich ein beruͤhmter Arzt geworden, 
er koͤnnte nicht ſo heilſam wirken, „als wenn der Erbeiter einen Tropfen 
ſwitzt, ſo er an ſeiner Erbeit erhitzt“. Darum iſt Arbeit ein fruchtbarer 
reicher Garten, deſſen Gott ſelber wartet, iſt ſie „der goͤttlichſte Orden, 
der je auf Erden geſtift iſt worden“. Mit Recht hat man bemerkt, daß dieſe 
Überſchaͤtzung der Handarbeit trotz ihres religioͤſen Gewandes als ſozialiſtiſch 
bezeichnet werden darf. 

Das religioͤſe Gewand aber verſtand ſich nicht bloß bei dieſem Dichter 
von ſelbſt, ſondern auch bei den aufſtaͤndiſchen Bauern. Welches Gebiet 
des Lebens haͤtte ſich damals uͤberhaupt der Macht der Religion ent⸗ 
ziehen koͤnnen? Und hatten nicht die Bauern uͤberdies ihre ſoziale Revo⸗ 
lution vor ihrem eigenen Gewiſſen und vor der Welt zu rechtfertigen? 
Welchen hoͤheren Rechtstitel aber haͤtte es gegeben als jene Weihe, welche 


12 Brieger, Reformationsgeſchichte 177 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


die Religion verlieh? So finden wir von Anfang an das ſoziale Pro⸗ 
gramm durchwirkt von einem ſtarken religiöfen Einſchlag. Auch hier 
iſt die „Reformation Kaiſer Sigmunds“ ebenſo klar wie entſchieden 
vorangegangen. Es iſt das alte Schlagwort der Huſiten, das uns hier 
entgegentoͤnt: wir hoͤrten ſchon von der „goͤttlichen Ordnung“, gegen 
die ſich die Gewaltigen auflehnen: dieſe Ordnung herzuſtellen iſt das 
Ziel; denn die hoͤchſte Inſtanz iſt die Gerechtigkeit „Gottes“ oder das 
„göttliche Recht“, nur ein anderer Ausdruck für das „göttliche Geſetz“, 
das wir aus dem Munde der Huſiten vernahmen. Es iſt jener ideale 
Maßſtab zur Beurteilung alles Beſtehenden, den Wiclif in der Heiligen 
Schrift gefunden zu haben glaubte. Aber auch jene andere Parole, die 
im Bauernkriege zuͤndete wie keine zweite, das Wort von der „Freiheit 
des Chriſten“ — ſie iſt ſchon hier ausgegeben. Und ſchon hier wird ſie 
wider die Leibeigenſchaft ins Feld gefuͤhrt: „Man gedenke, daß unſer 
Herr Gott ſo ſchwer mit ſeinem Tod und ſeinen Wunden um unſertwillen 
williglich gelitten hat um das, daß er uns freiete und von allen Banden 
loͤſte, und niemand hinfort ſich vor dem andern erhoͤbe“. Darum iſt der 
kein Chriſt, der ſeinen Mitmenſchen leibeigen ſpricht. Dieſe Freiheit 
braucht nur erkannt zu werden: „Denn, wer wollte lieber eigen ſein denn 
frei? Chriſtus Jeſus hat aus vaͤterlicher Weisheit dieſe Freiheit wohl 
der Menſchheit zugeſetzt“. „Darum, edle, freie Chriſten, tut dazu!“ 
„Fromme, getreue Chriſten, laſſet euch zu Herzen gehen alles große 
Unrecht“. „Man ſoll es nicht mehr ertragen noch leiden, an Niemand, weder 
an Geiſtlichen noch an Weltlichen. Laſſet uns unſers Frommens wahr⸗ 
nehmen und unſerer großen Freiheit leben!“ Hinter all dieſen Mahnungen 
ſteckt der gut huſitiſche Aufruf zur Gewalt: „Schlag nur froͤhlich drein; 
ſieh, es geht leichtlich zu; Gott laͤßt die Seinen nicht“. 

Es waren die oberen Staͤnde uͤberhaupt, gegen welche ſich dieſes 
Manifeſt wendete, das ſeit dem Jahre 1476 wirkſam durch die Preſſe 
verbreitet wurde. Der Haß, der aus dieſer Saat aufging, und durch 
Tauſende von aufreizenden Vorfaͤllen in feinem Wachstum gefördert 
wurde, richtete ſich aber doch nicht zum kleinſten Teil gegen die Pfaffen 
und gegen die Moͤnche, deren unverſchaͤmter Bettel das offene Land 
brandſchatzte. Allein der Haß war unvermoͤgend, den kirchlichen Charakter 
der Froͤmmigkeit zu zerſtoͤren. Wie die Bauern in allen ihren Buͤnden 
neben dem Kaiſer auch den Papſt ausnahmen, ſo betaͤtigte ſich der fromme 
Sinn auch in den religioͤſen Verpflichtungen, welche ſie den Gliedern 
der Vereinigung auferlegten. Die Verſchwoͤrer, die im Jahre 1502 im 


178 


Die Bauernerhebungen des ausgehenden Mittelalters 


Gebiete des Bistums Speier ihr Weſen trieben, gaben zwar eine hoͤchſt 
pfaffenfeindliche Parole aus, indem auf die Frage: „Loſet, was iſt jetzt 
fuͤr ein Weſen?“ die Antwort zu erfolgen hatte: „Wir moͤgen vor den 
Pfaffen nicht geneſen“. Allein, ſie machten ihren Mitverſchworenen zur 
Pflicht, taͤglich kniend fünf Vaterunſer und ebenſoviele Ave Maria zu 
beten, und erkoren als Schutzheilige des Bundes die Himmelskoͤnigin 
und den heiligen Zwoͤlfboten Johannes. Einer der Hauptanſtifter, der 
redegewandte Bauer Joſt Fritz, der bei dem Mißlingen des Anſchlages 
entkam und ein Jahrzehnt ſpaͤter (1513), im Dorfe Lehen bei Freiburg 
angeſiedelt, im Breisgau die Seele eines neuen Aufſtandes wurde, 
fuͤhrte bei ſeiner heimlichen Werbearbeit, wenn er den Nachbarn gefragt, 
ob er nicht mithelfen wolle zur „goͤttlichen Gerechtigkeit“, auch die Bibel 
ins Feld: nichts anderes, als was die Heilige Schrift enthalte und was 
an ſich ſelbſt goͤttlich, billig und recht ſei, wollten ſie vornehmen. Ja der 
Pfarrer von Lehen, von dem ſchlauen Agitator fuͤr den Bundſchuh 
gewonnen, verſicherte, man habe es in der Schrift gefunden, daß die 
goͤttliche Sache Fortgang gewinnen muͤſſe. Das Banner, welches Joſt 
Fritz hatte malen laſſen, zeigte das Bild des Gekreuzigten und unter 
dieſem kniend einen Bauersmann und den Bundſchuh, dazu die Unter⸗ 
ſchrift: „Herr, ſteh deiner goͤttlichen Gerechtigkeit bei!“ 

Man muß aber wiſſen, was man hier unter goͤttlicher Gerechtigkeit 
verſtand und was in der Schrift enthalten ſein ſollte. 

Wir beſitzen die Bundesſatzungen des Bundſchuhs von 1502. Während 
bei den erſten Erhebungen des 15. Jahrhunderts die Bauern mit 
beſtimmten Forderungen zur Beſeitigung von lokalen Mißſtaͤnden hervor⸗ 
getreten waren, ſehen wir hier ein ins Uferloſe gehendes Programm vor 
uns. „Wir wollen“, ſo heißt es hier, „alle Joche der Leibeigenſchaft zer⸗ 
brechen und mit Waffen uns freien, weil wir Schweizer ſein wollen“. 
„Alle Landesobrigkeit und Herrſchaft wollen wir abtun und austilgen 
und wider dieſelbe ziehen mit Heereskraft und gewehrter Hand; und alle, 
ſo uns nicht huldigen und ſchwoͤren, ſoll man totſchlagen. Niemals mehr 
wollen wir Obrigkeit uͤber uns dulden und niemand Zins, Zehnt, Steuer, 
Zoll und andere Bete [Abgabe] bezahlen, ſondern uns aller dieſer 
Beſchwerniſſe auf ewig entledigen“. Zuerſt ſollen die Fuͤrſten und Edelleute 
uͤberzogen und „gebrochen“ werden, dann die Domherren, Stifter und 
Abteien: „die wollen wir gewalten und austreiben oder totſchlagen ſamt 
allen Pfaffen und Moͤnchen; ihre Guͤter wollen wir teilen“. „Waſſer, 
Wald, Weid und Heid, Wildbann, Vogeln, Birſchen und Fiſcherei, ſo 


12* 179 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


bisher von Fuͤrſten und Herren und Pfaffen gebannt geweſen, ſollen frei 
und offen und Jedermanns ſein, ſo daß jeder Bauer holzen, jagen und 
fiſchen mag, wo und wann er will, allzeit und uͤberall“. 

Die Verbündeten — ſchon zählte die Verbruͤderung 7000 Mann 
— gedachten ſich zunaͤchſt der Speierſchen Stadt Bruchſal zu bemaͤchtigen: 
das werde, hieß es in den Satzungen, leicht geſchehen koͤnnen, „weil die 
Haͤlfte dieſer Stadt unſere Eidgenoſſen ſind“. Schon der Elſaſſer Bund⸗ 
ſchuh des Jahres 1493 rechnete auf die Sympathie einer Stadt: es war 
Schlettſtadt, deſſen Buͤrgermeiſter, Hans Ulmann, ſogar in der Reihe 
der Fuͤhrer ſtand. In der Tat waren die Staͤdte reich an unzufriedenen 
Elementen; nicht nur die Hefe der Bevoͤlkerung war erfuͤllt von dem 
Geiſte der Empoͤrung, ſondern auch die Handwerker waren nicht ſelten 
geneigt, ſich wider die herrſchenden Geſchlechter zu erheben. Ja, kurz 
vor dem Auftreten Luthers (ſeit 1510) trat die Gaͤrung in einer ganzen 
Anzahl von Staͤdten in groͤßeren oder kleineren Revolutionen zu Tage. 
Sie hatten hoͤchſtens einen voruͤbergehenden Erfolg. Und vollends jene 
Bauernaufſtaͤnde im Suͤdweſten Deutſchlands wurden, noch bevor es 
zum Losſchlagen kam, durch Verrat vereitelt, und an den Anſtiftern konnte 
grauſame Rache genommen werden. 

Indeſſen, der aufruͤhreriſche Geiſt war nicht zu daͤmpfen. Nicht ohne 
Grund hatte der erwähnte Buͤrgermeiſter von Schlettſtadt bei feiner 
Vierteilung zuverſichtlich ausgerufen, der Bundſchuh werde ſeinen Fort⸗ 
gang haben, uͤber kurz oder lang. Die ausgedehnteſte Bewegung ſah 
das Jahr 1514. Sie ergriff faſt das ganze Wuͤrttemberg, dank der 
Anſtoͤße, die das druͤckende und liederliche Regiment des jungen Herzog 
Ulrich in Fuͤlle bot. Es iſt die unter dem Namen des „armen Konrad“ 
bekannte Erhebung, in welcher ſich die Bauern und das laͤndliche wie 
ſtaͤdtiſche Proletariat zuſammenfanden, um „der Gerechtigkeit und dem 
goͤttlichen Recht einen Beiſtand zu tun“. — Ungleich wilder ging es gleich 
darauf (1515) im Oſten zu: in Steiermark, Kärnten und Krain, wo die 
Greueltaten der rachedurſtigen Empoͤrer durch entſetzliches Blutvergießen 
geahndet wurden. 

Alle dieſe bedrohlichen Symptome ſchienen die in Deutſchland weit 
verbreitete Furcht zu rechtfertigen, daß eine große ſoziale Revolution hart 
vor der Tuͤr ſtehe, daß es nur eines geringfuͤgigen Anlaſſes beduͤrfe, 
um ſie zum Ausbruch zu bringen. Als im Jahre 1517 Kaiſer Maximilian 
von dem Reichstage zu Mainz eine neue und druͤckende Abgabe verlangte 
und zugleich ſeine Abſicht aͤußerte, den Herzog von Wuͤrttemberg mit 


180 


Die vornehmſten Anftöße zum großen Bauernkriege 


Krieg zu überziehen, verſagten die Stände ihre Mitwirkung und ſtellten 
dem Kaiſer warnend vor, wie bei der „Unruhigkeit“ der Untertanen 
durch das Beginnen des Kaiſers der gemeine Mann in Stadt und Land 
in ſeinem „wuͤtenden Gemuͤte“ noch mehr gereizt werden koͤnnte und aus⸗ 
fuͤhren moͤchte, was ihm laͤngſt „im Herzen ſteckte“. 


2. Die vornehmſten Anſtoͤße zum großen Bauernkriege 


SR s find doch noch ſieben Jahre vergangen, bis in der 


u U Es find die 1 — ſteben Jahre des neuen religioͤſen 

. Geiſtes, der durch Deutſchland brauſte. 

5 Daß er, der alles in feinen Bannkreis zog, auf die 

ene Stroͤmung eingewirkt hat, irgendwie, wird uns von 
Anfang an zweifellos ſein. Es fragt ſich nur: wie? etwa hemmend? 
oder foͤrdernd? 

Wenn ich recht ſehe, haben wir beide Fragen zu bejahen. Daß 
Deutſchland trotz jener Befuͤrchtungen des Mainzer Reichstages von 
1517 eine Reihe von Jahren der Ruhe ſah, das haben wir vielleicht als 
Wirkung der Reformation zu betrachten, welche die religioͤs⸗ kirchliche 
Frage in den Mittelpunkt des Intereſſes der Nation ruͤckte, fie für alle 
Staͤnde zu einer brennenden machte. Ja, ſofern es uͤberhaupt dem 
Hiſtoriker geſtattet iſt, den ſchwankenden Boden der Vermutungen zu 
betreten, ſich zu aͤußern uͤber das, was moͤglich war, ohne doch zur Wirk⸗ 
lichkeit geworden zu ſein, werden wir noch einen Schritt weiter gehen 
duͤrfen, indem wir der Reformation die Kraft zuſchreiben, die Aufruhrs⸗ 
gelüfte nicht nur zeitweilig zuruͤckzudraͤngen, ſondern gaͤnzlich zu erſticken. 
Dies ſelbſtverſtaͤndlich nur unter der Vorausſetzung, daß man ihr freien 
Lauf ließ. Nehmen wir einen Augenblick an, ſie waͤre von Reichs wegen 
mit Kraft und Umſicht durchgefuͤhrt worden, etwa unter Anlehnung an 


181 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


das Programm, welches Luther in der Schrift „An den Adel“ entwickelt 
hatte, waͤre dann nicht (um von der umwandelnden Macht des religioͤſen 
Gedankens ganz abzuſehen) wie mit einem Schlage der Druck der mannig⸗ 
fachen kirchlichen Laſten, unter denen der Bauer, der kleine Mann uͤber⸗ 
haupt ſeufzte, abgewaͤlzt und dieſer wirtſchaftlich gehoben worden? 
Die Einſchraͤnkung des Bettels, die Unterſtuͤtzung des kleinen Handwerkers 
(auch ſie hatte Luther vorgeſehen) wuͤrde ſich als ein weiterer Schritt in 
der Löfung der ſozialen Frage angeſchloſſen haben. 

Sobald aber der Reformation dieſe und aͤhnliche Wirkungen ver⸗ 
ſagt waren, mußte ſie — es war gar nicht anders moͤglich — bei der 
bereits vorhandenen Gaͤrung der Zeit an ihrem Teile mittelbar bei; 
tragen zur Steigerung der Unzufriedenheit, zur Staͤrkung der auf Frei⸗ 
heit abzielenden Beſtrebungen. Sie ſchien — wir ſahen es früher — 
durch ihren Satz vom allgemeinen Prieſtertum des Chriſten, durch ihre 
Verwerfung der Geluͤbde dem alten Haß gegen Pfaffen und ſchmarotzende 
Moͤnche erſt ſein unanfechtbares religioͤſes Recht zu verleihen; und 
zugleich wurden die Maſſen, welche vermeinten, ſie duͤrften jetzt jenem 
Haß die Zuͤgel ſchießen laſſen, entbunden von dem Gehorſam gegen die 
Kirche überhaupt, da man Gott und nicht feinem Widerſacher, dem 
Antichriſt, Gehorſam ſchuldig iſt. 

Es lag ſchon in der Natur der Verhaͤltniſſe, daß nicht ein jeder dieſe 
Freiheit vertragen konnte. Wie viel ernſter aber geſtaltete ſich dieſe 
Gefahr, als jetzt reaktionaͤre Maͤchte einſetzten, die in verſchiedener Weiſe 
zum Mißbrauch der Freiheit reizten. 

Eine dieſer reaktionaͤren, die Revolution foͤrdernden Maͤchte haben 
wir bereits kennen gelernt. Es iſt der Kaiſer nebſt den Verbuͤndeten von 
Regensburg. Der eine hatte, indem er mit ſeinem Gewaltſpruch den 
Beſchluß des Reichstages uͤber den Haufen warf, ſelber, wie Baum⸗ 
garten treffend bemerkt, den letzten Reſt geſetzlicher Ordnung umge⸗ 
ſtoßen, gewiſſermaſſen jeder Auflehnung im Reiche einen Freibrief erteilt, 
das Signal zum Ausbruch der Revolution gegeben. Dazu nun die 
anderen, die Verbuͤndeten, die Biſchoͤfe des Suͤdens, welche zu Regens⸗ 
burg von neuem an den Papſt gekettet waren, ferner Ferdinand und 
die Bayernherzoge, die darauf ausgingen, zur Staͤrkung ihrer Territorial⸗ 
gewalt die Kirche ihres Landes mit Huͤlfe Roms ſei es finanziell aus⸗ 
zubeuten, ſei es unter ihre Botmaͤßigkeit zu bringen. Sie alle hatten ſich 
durch ihre ſelbſtiſche Politik gezwungen geſehen, im Widerſpruch mit 
den Wuͤnſchen der Nation, mit den religiöfen Neigungen ihrer Unter; 


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Die vornehmſten Anſtoͤße zum großen Bauernkriege 


tanen zu Dienern des Papſtes ſich herzugeben, den evangeliſchen Glauben 
zu verfolgen. Auch ſie haben dadurch an ihrem Teile den Aufruhr ganz 
unmittelbar herausgefordert. Wer konnte ſeit dem Verbot der Speier⸗ 
ſchen Nationalverſammlung, und nachdem im Suͤden die Mandate wider 
„die Lutheriſchen“ in Kraft getreten waren, noch an der Hoffnung feſt⸗ 
halten, die Religionsfrage werde auf geſetzlichem Wege durch die Reichs⸗ 
gewalten geloͤſt werden? Durch das Schwinden dieſer Hoffnung, 
durch das gleichzeitige Einſetzen der Verfolgung wurde eine Stimmung 
geſchaffen, wie die Wortfuͤhrer der Revolution ſie guͤnſtiger nicht haͤtten 
wuͤnſchen koͤnnen. 

Die Gegend, wo im Sommer 1524 die erſten Unruhen ausbrachen, 
gehoͤrte zu dem Suͤdweſten des Reiches, der die fruͤheren Aufſtaͤnde 
geſehen hatte. Den Stuͤhlinger Bauern, die ſich zuerſt erhoben, ſchloſſen 
ſich ihre Nachbarn, ſpaͤter der Hegau und der Klettgau an, ſo daß der 
Aufſtand bald das ganze Gebiet vom Suͤdoſtabhang des Schwarzwaldes 
bis zum Bodenſee umſpannte. Es war gewiß nicht zufaͤllig, daß dieſer 
fruͤheſte Herd des Aufruhrs auf vorderoͤſterreichiſchem Boden ſtand, dort, 
wo (ſchon Ranke hat darauf hingewieſen) Erzherzog Ferdinand gemein⸗ 
ſam mit dem Biſchof von Konſtanz aufs ſchaͤrfſte gegen die Ketzerei vor⸗ 
ging. Nach der heute herrſchenden Anſicht freilich haͤtten dieſe erſten 
baͤuerlichen Widerſetzlichkeiten ſich keineswegs „auf die religiöfe Bewe⸗ 
gung geſtuͤtzt“, waͤre die Erhebung der Stuͤhlinger „voͤllig frei von 
evangeliſchen Elementen“ geweſen. Man hat geglaubt, dies aus der 
Klageſchrift entnehmen zu duͤrfen, welche die Stuͤhlinger Anfang April 
1525 dem Kammergericht eingereicht haben. Dieſe fuͤhrt naͤmlich einfach 
die wirtſchaftlichen und ſozialen Beſchwerden auf, meiſt unter Berufung 
auf das „alte Herkommen“ oder das „gemeine geſchriebene Recht“, von 
dem in letzter Zeit zum Schaden der Bauern abgewichen ſei, gelegentlich 
auch mit einem Appell an das „goͤttliche Recht“, ſo daß wir alſo ſchon 
hier im erſten Beginn der Empoͤrung das alte, uns wohlbekannte Schlag⸗ 
wort des 15. Jahrhunderts vernehmen. Aber koͤnnen wir einen andern 
Inhalt der Klageſchrift erwarten? Haͤtte es den Untertanen Ferdinands 
in den Sinn kommen koͤnnen, ſich vor einem vom Geiſte ihres Landes⸗ 
herrn beſeelten Gerichte auf das „Evangelium“ zu berufen und auch ihre 
kirchlichen Beſchwerden vorzutragen? Gleichwohl werden ſie ſolche gehabt 
haben, werden ſomit bereits dieſe allererſten Ausbruͤche des Unwillens 
eines geknechteten Standes vermengt geweſen ſein mit den neuen reli⸗ 
giöͤſen Ideen. Darauf deutet ſchon die Tatſache hin, daß die Stuͤhlinger 


183 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


ſich gleich anfangs dem benachbarten Waldshut genaͤhert haben, das 
unter Fuͤhrung eines kuͤhnen Geiſtlichen, des Dr. Balthaſar Hubmaier, 
allen Anfeindungen des Habsburgers zum Trotz das Banner des Evan⸗ 
geliums hochhielt. Vollends aber koͤnnen die evangeliſchen Neigungen 
der Stuͤhlinger kaum noch einem Zweifel unterliegen, wenn, was wenig⸗ 
ſtens die größte Wahrſcheinlichkeit für ſich hat, lange vor dem Einreichen 
ihrer Klageſchrift gerade in dieſer Gegend (nicht, wie man wohl ange⸗ 
nommen hat, in Oberſchwaben, Memmingen) die zwoͤlf Artikel der Bauer⸗ 
ſchaft entſtanden ſind, indem Hubmaier als Vertrauensmann und 
theologiſcher Beirat der Bauern die von dieſen ihm vorgetragenen 
Beſchwerdepunkte zu dem beruͤhmten Manifeſte umarbeitete. 

So finden wir beſtaͤtigt, was wir von Anfang an erwarten mußten. 
Hatten ſchon die fruͤheren Bauernerhebungen ſich zu decken geſucht mit 
dem Schilde der Religion, ſo muͤßte es uns als geradezu unbegreiflich 
erſcheinen, wenn in dieſer religiös fo ſtark erregten und kirchlich unter; 
wuͤhlten Zeit die zur Selbſthuͤlfe ſchreitenden Maſſen in Stadt und Land 
ſich dieſes wirkſamſten Agitationsmittels entſchlagen haͤtten. 

Allein, wir wuͤrden doch den Aufſtaͤndiſchen Unrecht tun, wollten 
wir annehmen, es ſei ihnen durchweg die religioͤſe Frage nur von ſeiten 
ihrer Brauchbarkeit von Wert geweſen, als eine Waffe oder gar als ein 
Aushaͤngeſchild. Eben jene Verfolgungen der „Ketzer“, deren verhaͤng⸗ 
nisvolle Wirkung wir uns bereits vergegenwaͤrtigten, ließ vielen die Lage 
noch in einem ganz anderen Licht erſcheinen. War es jetzt nicht Pflicht, 
ſich aufzulehnen wider eine Tyrannei, die ſich vermaß, in die innerſte 
und heiligſte Angelegenheit des Menſchen einzugreifen, und verbot, was 
doch dem Chriſten fuͤr das Heil ſeiner Seele unentbehrlich iſt? Nicht 
Pflicht, „Gottes Wort“ zu Huͤlfe zu kommen? „Man ſoll nit leiden“, 
(wie oft ſtoßen wir auf ſolche Rede l), „daß Gottes Wort alſo von dieſen 
Saͤuen zertreten wird und zerriſſen werden alle Bekenner Gottes von 
dieſen Hunden“. Mußte nicht dieſe Pflicht von denen mit beſonderem 
Eifer ergriffen werden, die laͤngſt an eine Abſtellung ihrer immer uner⸗ 
traͤglicher werdenden Beſchwerden dachten? Waren es nicht ein und 
dieſelben, die das Wort Gottes verfolgten, und die ihnen jene Laſten 
aufbuͤrdeten, von Tag zu Tag ruͤckſichtsloſer? Und war es denn nicht 
eben dieſes Wort Gottes, was die druͤckenden Auflagen und die menſchen⸗ 
unwuͤrdige Leibeigenſchaft verurteilte? 

Die religioͤſe Freiheit, die das Evangelium bot, wurde ohne weiteres 
bezogen auf die Befreiung von Leib und Gut. 


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Die vornehmſten Anſtoͤße zum großen Bauernkriege 


Gar manche Prediger der neuen Lehre, die ſich nicht auf die Hoͤhe 
der Anſchauung des Reformators zu erheben vermochten, hatten den 
gemeinen Mann in dieſer Meinung beſtaͤrkt, wenn ſie nicht gar zuerſt 
ihren Samen ausgeſtreut hatten. Andere Prediger fanden gar, auf 
Grund einer mittelalterlichen Denkart, die in ihnen fortlebte, dieſes Evan⸗ 
gelium von der Freiheit ſelbſt im Alten Teſtament und wollten flugs aus 
gewiſſen ſozialen Beſtimmungen des Alten Bundes ein Geſetz machen 
zugunſten der armen Leute. Der eine predigte, wie das „Jubeljahr“ des 
Volkes Israel auch fuͤr die Chriſten gelten muͤßte: „O armer frommer 
Menſch“ (ſo erſcholl es in Stuttgart von der Kanzel), „wenn dieſe Jubel⸗ 
jahre kaͤmen, das waͤren die rechten Jahre!“ Natuͤrlich! Es haͤtte ja in 
jedem 50. Jahre ein jeder ſein verloren gegangenes Familienerbgut 
zuruͤckerhalten, und jeder Leibeigene wäre in den Vollbeſitz der Freiheit 
gelangt. Der andere erwies aus dem Alten Teſtament kurz und buͤndig, 
daß niemand Zinſen geben duͤrfe. Von anderen altteſtamentlichen 
Anordnungen dagegen, wie z. B. von dem Zehnten, wurde nicht weniger 
nachdruͤcklich verkuͤndet, daß fie durch das Neue Teſtament aufgehoben 
ſeien. Wenn ſie dieſe frohe Botſchaft aus dem Munde der neuen Prediger 
vernahmen, da riefen die Bauern wohl aus: „Das iſt das recht Evangeli: 
lueg, wie hand die alten Pfaffen gelogen und falſch geprediget!“ Von 
denen, die glaͤubig auf dieſe Verkuͤndigung lauſchten, traf zu, was der 
bayeriſche Kanzler Leonhard von Eck, der die „teufliſchen“ Bauern und ihr 
„helliſch Evangelium“ bis auf den Tod haßte, faͤlſchlich von ihnen ins⸗ 
geſamt ſagte: ſie wollten „niemand nichts geben noch ſchuldig ſein“ und 
in ihrer „bruͤderlichen Liebe“ mit Jedermann teilen. 

Wirklich treffen wir hier und da auf kommuniſtiſche Ideen. Auch in 
ihnen haben wir ein Erbe des Mittelalters vor uns. Ja, vielleicht ſind 
ſie auch durch ein Erzeugnis des Mittelalters neu angefacht worden: 
durch jene uns bereits bekannte „Reformation Kaiſer Sigmunds“, welche 
im Laufe der Zeit zum ſozialiſtiſchen Programm geworden war. Denn 
auf ihre Verbreitung hat ſich ſeit 1520 die Preſſe mit neuem Eifer 
geworfen. Man hat ſie geradezu „das Sturmſignal des Bauernkrieges“ 
genannt, und in der Tat mag dieſe Schrift in Suͤddeutſchland eine ſtarke 
Wirkung erzielt haben. 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


3. Das allgemeine Programm der Bauern und die weitergehenden 
Abſichten im Suͤden 


an iſt einig in dem Urteil, daß die Bauern bei der 
Aufſtellung ihrer Forderungen im Anfang entſchieden 
[RMNaͤßigung bewieſen haben. Deutlich tritt fie hervor in 
ihrem fruͤheſten allgemeinen Programm, jenem, uͤber 
VEN Bl welches ſich im März 1525 die drei Haufen der Ober; 
E cchwaͤbiſchen Bauern (die ſog. Baltringer, die Allgäuer 
u die Bodenſeebauern) zu Memmingen einigten. Es ſind die bereits 
erwähnten zwoͤlf Artikel, welche, wie wir ſahen, hoͤchſt wahrſcheinlich Hubmaier 
in Waldshut fuͤr die benachbarten Bauern des Schwarzwaldes verfaßt hatte, 
indem er ihre ganz uͤberwiegend wirtſchaftlichen Beſchwerden aus dem 
„Evangelium“ rechtfertigte, teils im Text, teils durch die am Rande aufge⸗ 
führten Bibelſtellen. Er ging dabei von der Vorausſetzung aus, daß die Hei⸗ 
lige Schrift auch auf dem Gebiete des buͤrgerlichen Lebens als Maßſtab an 
alles Beſtehende gelegt werden muͤſſe, daß fie das goͤttliche, ewige Geſetz ſei, 
welches allem geſchichtlichen Rechte vorgehe. Daher am Schluß die 
(den zwölften Artikel ausmachende) Erklaͤrung der Bauern, alle Artikel 
fallen laſſen zu wollen, deren Schriftwidrigkeit ihnen nachgewieſen werde, 
während fie umgekehrt ſich vorbehalten, ſpaͤter noch andere Forderungen, 
die etwa in der Schrift enthalten ſein ſollten, geltend zu machen. In der 
Einleitung proteſtieren ſie wider die Verunglimpfung des Evangeliums, 
als ob es „Urſache der Empoͤrung und des Ungehorſams“ ſei: wie duͤrfen 
ſie, deren letztes, allen Artikeln zugrunde liegendes Ziel iſt, „das Evan⸗ 
gelium zu hoͤren und dem gemaͤß zu leben“, Aufruͤhrer geſcholten werden? 
Aus der hier ſo ſcharf betonten Haupttendenz iſt unmittelbar der erſte 
Artikel gefloſſen: das Begehren, daß eine jede Gemeinde das Recht freier 
Pfarrwahl erhalte: „derſelbige erwaͤhlte Pfarrer ſoll uns das heil. Evangeli 
lauter und klar predigen und uns den wahren Glauben verkuͤndigen“; 
denn ohne den ſeien ſie nur „Fleiſch und Blut, das zu gar nichts nutz 
iſt“. Der zweite Artikel betrifft den Zehnten. Obgleich dieſe altteſtament⸗ 
liche Einrichtung durch das Neue Teſtament abgeſchafft iſt, wollen ſie 
doch den fog. großen Zehnten (von Korn, Heu, Wein) gern geben; doch 
ſoll er von Gemeindebeamten eingenommen und zum Unterhalt des 
Pfarrers wie auch der Armen, ein etwaiger Überſchuß zur Beſtreitung 
der Kriegslaſten verwendet werden. Dagegen ſoll der unziemliche „kleine“ 


186 


Das allgemeine Programm der Bauern und die weitergehenden Abſichten im Süden 
— — — — —— 


Zehnte (vom Vieh) ganz abgetan ſein: „denn Gott der Herr hat das 
Vieh frei fuͤr den Menſchen geſchaffen“. Im dritten Artikel lehnen ſie die 
fernere Leibeigenſchaft ab, „angeſehen, daß uns Chriſtus mit ſeinem koſt⸗ 
baren Blut erloͤſt und erkauft hat“; nicht daß ſie als freie Leute keine 
Obrigkeit uͤber ſich haben wollen; vielmehr verſprechen ſie, der erwaͤhlten 
und von Gott geſetzten Obrigkeit gehorſam zu ſein. Der vierte Artikel 
fordert fuͤr den armen Mann die freie Jagd von Wild, Gefluͤgel oder 
Fiſch: „denn, als Gott der Herr den Menſchen erſchuf, hat er ihm Gewalt 
gegeben uͤber alle Tiere, uͤber den Vogel in der Luft und den Fiſch im 
Waſſer“. Der fuͤnfte Artikel verlangt freien Bezug von Brenn⸗ und Bau⸗ 
holz, doch mit Wiſſen der Gemeinde. Die drei folgenden betreffen, wie 
auch der elfte, Fronden und Abgaben: Dienſte wollen ſie leiſten, „wie 
unſere Eltern gedient haben, allein nach dem Worte Gottes“. Der neunte 
Artikel wendet ſich gegen willkuͤrliche Strafen von Vergehungen, der 
zehnte gegen die widerrechtliche Entziehung von Wieſen und Ackern, die 
der Gemeinde gehoͤren. 

Man hat geſagt, die zwoͤlf Artikel ſeien bei der Billigkeit ihrer 
Anſpruͤche ein Programm der Reform, nicht der Revolution geweſen. Es 
haͤtte ſich doch um eine tief einſchneidende Reform gehandelt. Wir brauchen 
nur an die kirchliche Umwaͤlzung, die der erſte Artikel in ſeinem Gefolge 
gehabt haͤtte, und an den dritten Artikel zu denken, welcher den Bauern 
die Freizuͤgigkeit geſchenkt haben wuͤrde. Das Gefaͤhrliche des Pro; 
gramms lag aber nicht ſo ſehr in ſeinen Forderungen als in deren reli⸗ 
gioͤſer Begründung. Wir ſahen: das Evangelium als das goͤttliche Recht 
wurde ins Feld gefuͤhrt gegen das geſchichtliche Recht, gewiß in beſchei⸗ 
denſter Weiſe. Aber die augenblickliche Zuruͤckhaltung, mochte ſie noch 
ſo ernſt gemeint ſein, brach dem Prinzip nicht die Spitze ab. Und gerade 
dieſes hier mit Geſchick, ja Talent auf einen volkstuͤmlichen Ausdruck 
gebrachte Prinzip iſt es geweſen, was den zwoͤlf Artikeln wie im Sturm 
die Öffentliche Meinung erobert und dieſem Manifeſte für die ganze 
Bewegung, wie weit ſie auch noch fluten mochte, Geltung verſchafft hat. 

Dazu freilich war dieſes Programm nicht im Stande, das Auftauchen 
radikalerer Ideen zu verhindern. Wie der Menge ſchon bei ihrem nume⸗ 
riſchen Anſchwellen und vollends bei einem Erfolge der Mut waͤchſt und 
die Anſpruͤche ſich ſteigern, ſo mußte es auch bei dem ſchnellen Umſich⸗ 
greifen der Bauernempoͤrung, bei dem Triumphzuge der Bundesartikel 
gehen. Damals, als „die chriſtliche Vereinigung“ der Bauern von 
Memmingen aus die zwoͤlf Artikel in die Welt ſchickte, hatte die Revolution 


187 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


außer Oberſchwaben nur die ſuͤdlichen Auslaͤufer des Schwarzwaldes 
ergriffen. Etwa einen Monat ſpaͤter bedeckte fie dieſen in feiner ganzen 
Ausdehnung, war fie vorgedrungen bis zu den Vogeſen, hatte fie Wuͤrttem⸗ 
berg, ganz Franken, Heſſen und Thuͤringen in ihren Wirbel hineingeriſſen 
und uͤberall auch bei der ſtaͤdtiſchen Bevoͤlkerung, den unteren Schichten 
vom Handwerker abwaͤrts, Sympathien gefunden. Ja, eine nicht geringe 
Anzahl von Staͤdten hatte den Bauern ihre Tore geoͤffnet: kleine Land⸗ 
ſtaͤdte nicht nur, nein, auch Reichsſtaͤdte waren ins Bauernlager uͤber⸗ 
gegangen, darunter ſelbſt groͤßere wie Rothenburg ob der Tauber. 

Wir verſtehen es, wenn bei Erfolgen dieſer Art die Erregten ſich 
nicht mehr uͤberall innerhalb der Schranken der zwoͤlf Artikel hielten. 
Waͤhrend dieſe doch nur Wahrzeichen und Band der „evangeliſchen Ver⸗ 
einigung“ ſein wollten, fanden ſich bald, wie im Schwarzwald, Bauern⸗ 
fuͤhrer, die ihre Annahme gebieteriſch verlangten und den Zoͤgernden mit 
dem „weltlichen Banne“ drohten. Nicht nur die Bauern, auch Grafen 
und Herren, Pfaffen und Moͤnche wollte man zum Eintritt in den Bund 
zwingen, am liebſten mit der Auflage, daß ſie in gewoͤhnlichen Haͤuſern 
wohnten wie andere Leute. Maſſenhaft ſah ſich damals der Adel, beſon⸗ 
ders in Franken, genoͤtigt, durch Annahme der zwoͤlf Artikel ſich den 
Bauern zu unterwerfen. Gelegentlich mußten ſie auch in deren Lager 
erſcheinen, wo es dann wohl vorkam, daß Grafen wie Georg und Albrecht 
von Hohenlohe von dem Wortfuͤhrer der Bauern als „Bruder Georg 
und Albrecht“ aufgefordert wurden: „Kommt her und gelobet den Bauern, 
bei ihnen als Bruͤder zu halten; denn auch ihr ſeid nun nicht mehr Herren, 
ſondern Bauern“. Einen derartigen Zug ſozialer Gleichmacherei koͤnnen 
wir nicht hier allein beobachten. Auch auf einem ſo weit entfernten 
Gebiete wie Tirol werden wir ihn noch wahrnehmen. 

Bemerkenswerter aber wird uns erſcheinen, daß auch politiſche 
Ideen, und zwar von weittragender Bedeutung, ſich regten. Nichts 
Geringeres nahm man in Ausſicht als eine „evangeliſche goͤttliche 
Reformation“ des geſamten Reiches. Sie ſollte ins Werk geſetzt werden 
mit Huͤlfe einer radikalen Maßregel, der Einziehung ſaͤmtlicher geiſtlicher 
Guͤter des Reiches, der Saͤkulariſierung aller geiſtlichen Fuͤrſtentuͤmer. 
Die hierdurch frei gewordenen Mittel waren zum allgemeinen Beſten 
beſtimmt: mit ihrer Huͤlfe konnten die Herren fuͤr den Ausfall entſchaͤdigt 
werden, den die Befreiung der Bauern von dem Übermaß ihrer Laſten 
mit ſich brachte; und es blieb immer noch genug uͤbrig, um zugleich alle 
Beduͤrfniſſe des Reiches in der Art zu decken, daß Zoͤlle und druͤckende 


188 


Das allgemeine Programm der Bauern und die weitergehenden Abſichten im Suͤden 


Steuern in Wegfall kommen konnten. Man ging weiter darauf aus, 
den Kaiſer als den Hort des Friedens zum alleinigen Herrn zu machen, 
die Fuͤrſten in die Stellung von Beamten zuruͤckzudraͤngen, die Rechts⸗ 
pflege einheitlich zu ordnen: unter Beteiligung auch der unteren Staͤnde 
und womoͤglich auf ganz neuer Grundlage ſollte Recht geſprochen werden. 
Als Ideal ſchwebt den Vaͤtern dieſes Verfaſſungsentwurfes vor Augen, 
daß nach Abſchaffung aller „weltlichen Rechte im Reich“ „das goͤttliche und 
natürliche Recht“ eingeführt werde: „dadurch haͤtte der Arme fo viel 
Zugang zum Recht wie der Hoͤchſte und Reichſte“. Dem einen und gleichen 
Recht ſollte endlich die Einheitlichkeit des Muͤnzweſens wie gleiches Maß 
und Gewicht im Reiche entſprechen. Die Heimat dieſes Entwurfes, der 
ſich übrigens an eine merkwuͤrdige, wohl ſchon 1522 erſchienene Schrift 
(„Zeutfcher Nation Notdurft“) anlehnt, war Franken. Seine Verfaſſer, 
zwei Männer, die eine vieljaͤhrige Beamtenlaufbahn hinter ſich hatten, 
gedachten den groß gedachten Plan mit Huͤlfe nicht der Bauern allein, ſon⸗ 
dern der Staͤdte und des Adels durchzufuͤhren: bei beiden glaubten ſie „viel 
chriſtlicher Liebe und Treue, auch des Gottesworts Foͤrderung“ zu ſehen. 

Dieſe „Ideen einer Umwaͤlzung von Grund aus, wie ſie erſt in der 
franzoͤſiſchen Revolution wieder zum Vorſchein gekommen find” (fo hat 
Ranke von ihnen geurteilt), wurden aber bei weitem uͤberboten durch 
einen andern Verfaſſungsentwurf, der uͤber Tirol das Fuͤllhorn ſeiner 
Himmelsſegnungen zu ergießen gedachte. Denn auch nach den unter 
habsburgiſchem Szepter ſtehenden Alpenlaͤndern, in denen die Prediger 
der Ketzerei und die von ihnen Verfuͤhrten noch ſchaͤrfer verfolgt wurden 
als in Vorderoͤſterreich, war die Revolution uͤbergeſprungen: wie nach 
Tirol (und dem Erzbistum Salzburg), ſo nach Steiermark, Ober⸗ und 
Niederoͤſterreich. Am wildeſten aber gingen die Wogen in Tirol, der 
perſoͤnlichen Anweſenheit des Landesherren zum Trotz. Der Sturm 
tobte auch hier vornehmlich wider die Geiſtlichen: Einziehung ihres 
Beſitzes war die erſte Forderung. Sie ſtand auch obenan in der Tiroler 
„Landesordnung“ Michael Gaißmairs, der, Sekretaͤr des Biſchofs von 
Brixen, doch ein Sohn des Volkes, dank dem Feuer ſeiner Rede und der 
hinreißenden Kuͤhnheit ſeiner radikalen Plaͤne die Fuͤhrung gewonnen 
hatte. Die Ordnung erhebt den Anſpruch, „eine chriſtliche Satzung“ zu 
ſein, die „in allen Dingen allein auf das Wort Gottes ſich gruͤndet“. 
Deshalb ſollen in der Regierung, die wie Rechtſprechung in der Hand 
des Volkes liegt, neben andern Verſtaͤndigen auch Maͤnner ſitzen, welche 
die goͤttliche Gerechtigkeit aus der Heiligen Schrift zu erläutern ver; 


189 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


ſtehen und alle Sachen nach Gottes Befehl zu richten vermoͤgen. Das 
Wort Gottes will aber die Gleichheit aller — und das nicht allein vor 
dem Geſetz. „Alle Ringmauern an den Staͤdten, desgleichen alle Schloͤſſer 
und Befeſtigungen im Lande ſollen niedergebrochen werden und hinfuͤr 
nimmer Staͤdte, ſondern Doͤrfer ſein“, damit kein Unterſchied unter den 
Menſchen, vielmehr „eine ganze Gleichheit im Land ſei“. Zur Vervoll⸗ 
ſtaͤndigung dieſes ſozialiſtiſchen Staates auf agrariſcher Grundlage muß 
das Land ſelber Bergbau, Fabrikation und Handel in die Hand nehmen, 
damit alle Dinge ihren rechten Wert haben und jeder Betrug aus⸗ 
geſchloſſen werde. Michael Gaißmair taͤuſchte ſich aber nicht daruͤber, daß 
der Weg zu dieſem Paradieſe nur mit blutiger Gewalt zu gewinnen fei. 
Deshalb mußten feine Anhänger geloben, „alle gottloſen Menſchen, die 
das ewige Wort Gottes verfolgen, den armen Mann beſchweren und 
den gemeinen Nutz verhindern“, auszurotten und hinwegzutun. 

Doch viel kraͤftiger predigt erbarmungsloſes Aufraͤumen mit den 
Herren eine dem Suͤden Deutſchlands angehoͤrende, ſicher aus der Feder 
eines bibel⸗ und geſchichtskundigen Praͤdikanten gefloſſene Flugſchrift, 
die durchweg in der „goͤttlichen Schrift“ gegruͤndet ſein will. Es iſt ein 
wutſchnaubender Aufruf der Armen gegen ihre Blutſauger und Peiniger, 
die auch „jetzt zur Zeit von Geiz und Prachts wegen das lauter Gottes⸗ 
wort fo freventlich unterdruͤcken mit Tuͤrnen und Ploͤcken“ [in Turm und 
Block werfen]. Aber die Zeit dieſer Tyrannen iſt jetzt vorbei! „Nun wohl⸗ 
an, das walt Gott, hie wills an die Sturmglocken gan“. Gott wird Gnade 
geben, „daß der Schlachttag ſoll angan uͤber das gemaͤſtete Vieh, die ihre 
Herzen geweidet haben mit Wolluſt an des gemeinen Mannes Armut“. 

Huſitiſche Loſungen dieſer Art vernehmen wir im Süden doch nur ganz 
vereinzelt. Deſto haͤufiger toͤnen ſie uns, und zwar aus einer geſchloſſenen 
religiͤſen Anſchauung heraus, im mittleren Deutſchland entgegen, wo 
fanatiſche Propheten des Aufruhrs im Namen des Evangeliums ihre 
wilde Agitation entfalteten. Dieſer muͤſſen wir uns jetzt zuwenden. 


Die theokratiſche Revolution in Mitteldeutſchland 


* 
0) 


ie theokratiſche Revolution in Mitteldeutſchland 


Jirr ſtoßen hier auf eine Bewegung, welche die Refor⸗ 
mation uͤberbieten und an der Spitze des Fortſchrittes 
„l marſchieren wollte, ihrem innerſten Weſen nach aber 
DR reaktionär war: neben jener gegen den neuen Geiſt 


bewußt und mit dem entſchloſſenſten Willen. Seit den Tagen der mit 
Feuer und Schwert wuͤtenden Huſiten hatte die Welt eine ſo grund⸗ 
ſaͤtzliche und radikale Revolution wie dieſe nicht geſehen. Ich denke an 
Thomas Muͤnzer und ſeine Geſellen — die naͤmlichen, die ſchon, waͤh⸗ 
rend Luther auf der Wartburg ſaß, in ſeine Wittenberger Herde ein⸗ 
gefallen waren und ſie verſtoͤrt hatten. 

Auch ſie waren vom Geiſte Luthers beruͤhrt worden und hatten ein⸗ 
zelne ſeiner evangeliſchen Gedanken erfaßt. Doch konnten ſich dieſe nicht 
frei entfalten. Sie wurden uͤberwuchert von dem Unkraut mittelalter⸗ 
licher Ideen, die in bunter Mannigfaltigkeit in Muͤnzer und ſeinen 
Genoſſen fortlebten. Am ſtaͤrkſten tritt hier aber eine ſchwaͤrmeriſche Myſtik 
und der wilde Fanatismus des Huſitentums hervor. 

Der Menſch muß „ſich von allem entbloͤßen“ und verzweifeln und 
die „Hoͤlle erleiden“, um es ſo zur Ertoͤtung des natuͤrlichen Menſchen 
zu bringen, und damit zu dem Zuſtande der „Langeweile“ und der „Ge⸗ 
laſſenheit“, in welchem die Seele nichts will und nichts empfindet, ſon⸗ 
dern, rein leidend ſich verhaltend, der tiefſten Ruhe genießt und „auf 
Geſichte wartet“. Denn auf Geſichte, Entzuͤckungen, Offenbarungen, die 
unwiderſtehlich mit ſich fortreißen, kommt es an. In ihnen vollzieht 
ſich die Einſprache Gottes, dieſe innere, unmittelbare. Wer den Hauch 
des Mundes Gottes verſpuͤrt hat, der kann auch das geſchriebene Wort 
verſtehen und mit Huͤlfe des „inneren“ Wortes es auslegen; er erſt hat 
den Glauben, waͤhrend aller anders erworbene Glaube ein „geſtohlener“ 
iſt; er erſt gehoͤrt zu den „Auserwaͤhlten“. 

Was war aber der Inhalt der Offenbarungen Muͤnzers? und was 
las er, als mit ihnen in Einklang ſtehend, aus der Heiligen Schrift heraus? 
Da er ſeine Offenbarungen aus ſeinem eigenen Innern entnahm, haben 
wir zuvoͤrderſt zu fragen, von welchem Geiſte er getrieben wurde. Von 
der Ungeduld des Enthuſiaſten gepackt, wollte er ſchon heute ernten, wo 


191 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


geſtern geſaͤt war. So fand er fuͤr Luther nur Worte des Tadels. Er 
vermißte die Fruͤchte der Reformation und ſchloß aus deren Fehlen, 
daß Luther nur einen „gedichteten“ Glauben gelehrt habe: „das ſanft⸗ 
lebende Fleiſch in Wittenberg“ (das Wittenberger „Maſtſchwein“) hat 
nicht mit der Welt gebrochen; der „Leiſetreter“ und „Doktor Luͤgner“ 
hat nicht gewagt, den Fuͤrſten die Wahrheit zu ſagen, hat „ihnen 
geheuchelt“; aus Verzagtheit hat er die Parole ausgegeben, „der Wider⸗ 
chriſt muͤſſe ohne Hand zerſtoͤrt werden“. Daher gilt es, ganz anders 
als er das Evangelium in allen Ordnungen des Lebens durchzufuͤhren, 
vor allem aber, ganz anders ihm Bahn zu brechen. Gewalt iſt hier Pflicht 
und Recht. Gewalt iſt vor allem der Gewalt entgegenzuſetzen, die das 
Wort Gottes unterdruͤckt. Angereizt wurde Muͤnzer zur Aufſtellung dieſes 
Grundſatzes durch Vorgaͤnge in ſeiner naͤchſten Umgebung. Denn unweit 
von Allſtedt in Thuͤringen, wo er ſeit dem Jahre 1523 als Prediger wirkte, 
kamen auf dem Gebiete des Herzogs Georg von Sachſen Verfolgungen 
vor. Da manche der Verfolgten in Allſtedt Zuflucht ſuchten, forderte 
Muͤnzer (1524) ſeine Landesherren, die Herzoge (Kurfuͤrſt) Friedrich und 
Johann auf, zum Schwerte zu greifen, mit dem Schwerte die Boͤſen, die 
das Evangelium verhindern [die gottloſen Regenten ſo gut wie die heuch⸗ 
leriſchen Gelehrten und die Pfaffen und Moͤnche], wegzutun und abzu⸗ 
ſondern. Nur ſo kann die chriſtliche Kirche zu ihrem Urſprung zuruͤck⸗ 
gefuͤhrt werden, nur ſo kann es zur Aufrichtung einer Gemeinde der 
Auserwaͤhlten, der Glaͤubigen und Heiligen kommen, in der kein Gott⸗ 
loſer geduldet wird. „Greifet die Sache des Evangelii tapfer an! Gebet 
uns keine ſchaalen Fratzen vor, daß die Kraft Gottes es tun ſoll ohn euer 
Zutun des Schwertes“. Schon aber ſtand ihm auf Grund ſeiner Offen⸗ 
barungen auch dieſes feſt, daß, falls die Fuͤrſten nicht dazu tun wollten, 
alle frommen Chriſten die Pflicht haͤtten, an ihrer Statt das Schwert zu 
führen zur Vertilgung aller Gottloſen. „Die böfen, faulen Chriſten foll 
man ausrotten, wenn es die Fuͤrſten nicht tun wollen; denn die Gottloſen 
haben kein Recht zu leben“. Ja auch der Fuͤrſten ſelber, dieſer Tyrannen, 
die „ſich befleißen den Chriſtenglauben zu vertilgen“ und die Leute um 
das Evangeliums willen „ſtocken und blochen“ [in Stock und Block 
legen], darf man nicht ſchonen. Wenn die Regenten nicht allein wider 
den Glauben handeln, ſondern auch, indem fie alle Kreatur zum Eigen⸗ 
tum machen: die Fiſche im Waſſer, die Voͤgel in der Luft, das Gewaͤchs 
auf Erden, gegen das natuͤrliche Recht ſich vergehen, dann (dieſe Loſung 
gab Muͤnzer ſchon im Sommer 1524 aus) „muß man ſie erwuͤrgen wie 


192 


Die theokratiſche Revolution in Mitteldeutſchland 


die wuͤtenden Hunde“. Ihre Gewalt, verkuͤndete er, habe ein Ende; in 
kurzer Zeit werde ſie dem gemeinen Volk gegeben werden: es iſt nicht 
mehr „das alte Leben“, „die Veraͤnderung der Welt ſteht vor der Zur”, 
„In allen Landen will ſich das Spiel machen“. Schon konnte er auf ſeine 
eigene Tätigkeit in Thüringen hinweiſen, wie bereits „mehr denn dreißig 
Anſchlaͤge und Verbuͤndniſſe der Auserwaͤhlten gemacht“ ſeien. Mit 
aufgereckten Fingern ſchwoͤrend, hatten feine Anhaͤnger ſich verpflichtet, 
bei dem Worte Gottes zu ſtehen und gegen die Verfolger des Evangeliums 
„Leib und Leben bei einander zu laſſen und zuzuſetzen“. So waren dieſe 
Buͤndniſſe dem Wortlaute nach zur Notwehr geſtiftet und, was Muͤnzer 
wenigſtens einem kurfuͤrſtlichen Beamten gegenüber betonte, ausſchließ⸗ 
lich fuͤr das Gebiet der Religion: wer ſie mißbrauchen wolle, um ſeine 
Fronden abzuſchuͤtteln, ſolle der weltlichen Gewalt zur Beſtrafung aus⸗ 
geliefert werden. Allein hätte das auch nicht einigermaßen in Wider⸗ 
ſpruch geſtanden mit ſeiner Predigt von der Dieberei der Fuͤrſten und 
Herren, die Fiſche, Voͤgel und Gewaͤchs des Feldes ſich aneignen, dieſe 
Buͤndniſſe ſtellten doch den Beginn der gewalttaͤtigen Selbſthuͤlfe dar 
und waren um ſo gefaͤhrlicher, als Muͤnzer ſeinen Aufruf wider die tyran⸗ 
niſchen Boͤſewichter unterſtuͤtzte durch Anfuͤhrung von Stellen aus dem 
Alten Teſtament, welche, ſeiner Meinung nach mit der ihm in Geſichten 
und Traͤumen zuteil gewordenen Offenbarung ſich deckend, die Aus⸗ 
rottung der Gottloſen als ein goͤttliches Gebot einſchaͤrften. Sicher hat 
ſchon damals jener Geiſt erbarmungsloſer Haͤrte aus ihm geſpruͤht, wie 
er 1525 in Muͤhlhauſen an den Tag trat, in dem Brandbrief, mit dem er 
die Mansfelder Bergknappen zu blutiger Arbeit anfeuerte: „Dran, dran, 
dran, es iſt Zeit, die Boͤſewichter ſind frei verzagt wie die Hunde. Laſſet 
euch nicht erbarmen, ob auch der Eſau gute Worte vorſchlaͤgt, r. Moſ. 33 
ſie werden euch ſo freundlich bitten, greinen, flehen wie die Kinder, laßt 
euch nicht erbarmen, wie Gott durch Moſen befohlen hat, 5. Moſ. 7, 
und uns hat er auch offenbart dasſelbe. Dran, dran, dran, dieweil das 
Feuer heiß iſt. Laſſet euer Schwert nicht kalt werden von Blut!“ 
Welches Ziel Muͤnzer mit dem voͤlligen Umſturz der kirchlichen und 
politiſchen Verhaͤltniſſe verfolgt hat, ja, ob nicht ſein fanatiſcher Haß, ſein 
Blut und Rachedurſt ihm jedes, wenn auch noch fo utopiſche Zukunfts⸗ 
bild in Nebel gehuͤllt hat, iſt ſchwer zu ſagen. Doch wird er getraͤumt haben 
von der Herſtellung eines Gottesreiches auf Erden, in welchem die Theo⸗ 
kratie ſich erhob auf der Grundlage einer von paradieſiſcher Unſchuld 
durchleuchteten Demokratie. Er hat, nachdem er aus Allſtedt entwichen 


13 Brieger, Reformationsgeſchichte 193 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


und in der freien Reichsſtadt Muͤhlhauſen Zuflucht gefunden hatte, mit 
duͤrren Worten die Souveraͤnitaͤt des Volkes gepredigt: alle Menſchen 
ſeien von Natur frei, alle Bruͤder; niemand werde zum Herrſcher geboren; 
die oͤffentliche Gewalt ruhe bei der Gemeinde; Obrigkeit, Fuͤrſten und 
Herren ſeien nur deren Diener und muͤßten wegen Mißbrauch ihrer 
Macht entfernt werden. „Das Volk“, ſo prophezeite er in Verfolg dieſer 
Gedanken, „wird frei werden, und Gott will allein der Herr daruͤber 
ſein“. Fuͤr dieſes Gottesreich hat er ſicherlich auch volle Gleichheit des 
Beſitzes angenommen. Denn er trat unter Berufung auf die Bibel 
fuͤr eine neue Guͤterverteilung ein und ereiferte ſich auf der Kanzel (genau 
wie die mittelalterlichen Bußprediger) gegen Luxus und Reichtum: nach⸗ 
dem fie (fo redete er die Muͤhlhaͤuſer an) die Abgoͤtterei der Bilder und 
Altaͤre aus den Kirchen verbannt haͤtten, muͤßten ſie, wenn ſie ſelig werden 
wollten, „auch die Abgoͤtterei in den Haͤuſern, ſonderlich das ſchoͤne zinnerne 
Geſchirr von den Waͤnden, Kleinod, Silberwerk und bar Geld aus den 
Kaſten, wegtun“. 

So wird auf Wahrheit beruhen, was er kurz vor ſeiner Hinrichtung 
in einem ihm vom Herzog Georg von Sachſen erpreßten „Bekenntnis“ 
geſagt hat: er habe die „Empoͤrung darum gemacht, daß die ganze Chriſten⸗ 
heit gleich werden“ ſollte; das Programm der Allſtedter Verſchworenen 
ſei geweſen, „daß alle Dinge gemein ſein ſollten, und daß einem jeden 
nach ſeiner Notdurft und nach Gelegenheit ausgeteilt werde“; die Fuͤrſten, 
Grafen und Herren, die ſich dem widerſetzten, ſollten, nach einmaliger 
Erinnerung, gekoͤpft und gehaͤngt werden. 

Das war die „Reformation“ Thomas Muͤnzers: wo dieſe refor⸗ 
matoriſchen Gedanken Wurzel ſchlugen, da ſtanden Staat, Geſellſchaft, 
Religion am Rande des Abgrundes. 

In welchem Umfange haben ſie die Erhebung des Jahres 1525 
beeinflußt? Es waͤre nicht undenkbar, daß ſelbſt der Suͤden Spuren 
ihrer Einwirkung aufzuweiſen hatte. Muͤnzer hat im Winter 1524 
auf 1525 im Klettgau, ſomit in einem jener Striche geweilt, wo es 
ſchon im Sommer zuvor zu den erſten Unruhen gekommen war; er 
hat hier, wie er ſelber ſagt, „etliche Artikel, wie man herrſchen ſoll“, 
aus dem Evangelio angegeben, d. h. er hat gezeigt, wie nach dem Evan⸗ 
gelium die Herrſchaft zu geſtalten ſei (in welcher Weiſe, das wiſſen wir). 
Er hat ferner in Waldshut mit Hubmaier verkehrt. Sicher hat ſeine 
Agitation die bereits vorhandene Aufregung geſteigert. Auch werden 
einzelne ſeiner Gedanken auf Hubmaier uͤbergegangen ſein. Aber im 


194 


Die theokratiſche Revolution in Mitteldeutſchland 


ganzen hat fein Radikalismus hier nicht gezuͤndet. Die Bewegung traͤgt 
in ganz Suͤddeutſchland, wie wir bereits ſahen, einen viel gemaͤßigteren 
Charakter. Dieſen teilt im allgemeinen auch die mitteldeutſche Revolution, 
wenigſtens ſoweit wir heute zu urteilen vermoͤgen (volle Klarheit werden 
wir erſt gewinnen, wenn eine umfaſſende Sammlung der einſchlagenden 
Akten, die gegenwaͤrtig im Werke iſt, uns abgeſchloſſen vorliegen wird). 
Nur dem Aufruhr in Thuͤringen und am Harz hat Muͤnzer etwas von 
ſeinem Geiſte eingefloͤßt, den ihm eigenen Charakter der Wildheit ver⸗ 
liehen, obgleich auch hier die Bauern offiziell die zwoͤlf Artikel als Bundes; 
urkunde verwendeten, indem Grafen und Herren, die ſich ihnen unter⸗ 
warfen, zu ihrer Beobachtung ſich verpflichten mußten. 

So war der Kreis, innerhalb deſſen ſeine revolutionaͤre Predigt vom 
Gottesreiche Anklang fand, verhaͤltnismaͤßig klein. Aber er beſaß eine 
um ſo groͤßere Bedeutung, als er das unmittelbare Gebiet der Witten⸗ 
berger Reformation beruͤhrte, und als Luther perſoͤnlich in dieſen Gegen⸗ 
den die ſchlimmſten Erfahrungen machte. 

Es waͤre uͤberfluͤſſig, wollten wir erſt die Frage aufwerfen, wie ſich 
der Reformator zu der Schwaͤrmerei und zu der theokratiſchen Revolution 
Muͤnzers ſtellte. Er konnte in ihm nur den Verſtoͤrer feines Werkes und 
fomit feinen Todfeind erblicken. Was ihm von paͤpſtlicher Seite wider⸗ 
fahren war, erſchien ihm wie nichts im Vergleiche zu dem Schimpf, der 
hier dem Evangelium im Namen des Evangeliums angetan wurde. So 
hatte Luther denn, ſobald der gewalttaͤtige Sinn Muͤnzers ſich in einem 
an und fuͤr ſich geringfuͤgigen Vorgange (der Zerſtoͤrung einer Wallfahrts⸗ 
kapelle durch die Allſtedter), ſowie in Zuſammenrottungen zu Allſtedt 
offenbarte, in einem oͤffentlichen Sendſchreiben ſeine Fuͤrſten vor dem 
„aufruͤhreriſchen Geiſte“ zu Allſtedt gewarnt (Sommer 1524). Zwar ihre 
Predigt wollte er den Sektierern nicht verboten wiſſen: „Euer Fuͤrſtliche 
Gnaden ſoll nicht wehren dem Amt des Wortes; man laſſe ſie nur getroſt 
und friſch predigen, was ſie koͤnnen und wider wen ſie wollen. Das Wort 
Gottes muß zu Felde liegen und kaͤmpfen“. Mit großartigem Vertrauen 
in die Kraft der Wahrheit, das von Polizeimaßregeln im Geiſteskampfe 
nichts wiſſen will, ſtellt Luther hier den Grundſatz auf: „Man laſſe die 
Geiſter aufeinanderplatzen und treffen. Werden etliche indes verfuͤhret, 
wohlan, ſo geht's nach rechtem Kriegslauf. Wo ein Streit und Schlacht 
iſt, da muͤſſen etliche fallen und wund werden“. Doch fordert er die 
Fuͤrſten zum Einſchreiten auf, wenn Muͤnzer es nicht mit dem Worte 
bewenden laſſe, vielmehr ſich anſchicke, „mit der Fauſt dreinzuſchlagen, 


13* 195 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


ſich mit Gewalt wider die Obrigkeit zu ſetzen und ſtraks einen leiblichen 
Aufruhr anzurichten“. 

Indeſſen, war mit dieſer Verwerfung der von dem Fanatiker aus⸗ 
gegebenen Parole der Gewalt ſchon die Haltung entſchieden, welche der 
Reformator zu den Bauern Kuͤddeutſchlands, insbeſondere zu ihrem 
Programm, den zwoͤlf Artikeln, zu beobachten hatte? Wie viel auf ſie 
ankam, iſt klar. Denn noch immer blickte ganz Deutſchland auf ihn; ihn 
hatten auch die Bauern ſelber gleich anfangs als Richter angerufen. Wir 
muͤſſen Luthers Verhalten im Bauernkriege um ſo ſchaͤrfer ins Auge faſſen, 
als es wie damals ſo in der Folge haͤufig dem Mißverſtand ausgeſetzt 
geweſen iſt, um von dem Übelwollen der Feinde von einſt und jetzt zu 
ſchweigen. 


5. Luther und die Bauern 


5 — RR in warmer Freund der Reformation in Nürnberg, der 
7425 EN Ratsherr Kaſpar Nuͤtzel, hat gelegentlich die widerſpen⸗ 
D ſtigen Nonnen von St. Klara darauf hingewieſen, daß 
ER U in dem gewaltigen Umſichgreifen der bäuerlichen Bewe⸗ 
| gung, ihrem Überſpringen auf die Städte ſich der Wille 

— UùùBlhBottes zeige, ja daß „Gott taͤglich Gnade und Friede 
regnen und tauen laſſe“. Wir verſtehen es ohne weiteres, daß der Reforma⸗ 
tor von einer ſolchen Anſchauung himmelweit entfernt war. Wir verſtehen 
es ebenſo, daß er an dem Beginnen der Bauern, von Anfang an und bevor 
ſie noch zu blutiger Gewalt ſchritten, den ſtaͤrkſten Anſtoß nehmen mußte 
wegen der gefaͤhrlichen Vermiſchung der Religion mit ihrer Sache des eige⸗ 
nen Nutzens. Denn war nicht in den Dienſt des Eigennutzes von ihnen 
gezwungen worden, was der Reformator als Herrlichſtes, als Inbegriff 
aller Religion der Welt verkuͤndet hatte? Die Freiheit, in deren Kraft 
der Chriſtenmenſch im Glauben ſich zu Gott erhebt und in der Liebe ſich 
herablaͤßt zum Dienſte des Naͤchſten, war verwandelt in einen Freibrief 
fuͤr Leib und Gut, ſo daß die Bauern ihre Forderungen im Namen des 
Chriſtentums erheben konnten. 


196 


Luther und die Bauern 


Das war es denn auch, was Luther ihnen vorhielt — in der Hoff⸗ 
nung, ſie wuͤrden ſich ihrem Erbieten im zwoͤlften Artikel gemaͤß aus der 
Heiligen Schrift belehren laſſen. Hierher gehoͤrt das von ihnen ſelbſt 
gewuͤnſchte Gutachten uͤber die zwoͤlf Artikel, welches er in eine rmahnung 
zum Frieden an beide Teile, Herren und Bauern, ausklingen ließ 
(„Ermahnung zum Frieden auf die zwoͤlf Artikel der Bauerſchaft in Schwa⸗ 
ben“, zu Eisleben in den Tagen vom 18. bis 20. April wohl in einem 
Zuge niedergeſchrieben). Er widmet in dieſer Schrift zunaͤchſt den Herren 
ein kurzes Wort. Es war nicht das erſte Mal, daß er ſie hart und ſtrenge 
anredete. Er hatte im Jahre 1523 eine kleine Schrift ausgehen laſſen, 
die ſich gegen den obrigkeitlichen Zwang in Glaubensſachen wendet: 
„Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorſam ſchuldig ſei“. So 
kraͤftig er hier das „goͤttliche“ Recht der Obrigkeit wahrt, fo nachdruͤcklich 
er die Pflicht des Gehorſams in allen weltlichen Dingen einſchaͤrft, ſo 
entſchieden markiert er auf der andern Seite die Grenze dieſes Gehor⸗ 
ſams: er hat ein Ende, ſobald die Obrigkeit ſich die Herrſchaft uͤber die 
Gewiſſen anmaßt. Denn der Seele hat das weltliche Regiment kein Geſetz 
zu geben, niemanden darf ſie zum Glauben zwingen. Aber in einen ſo 
verkehrten Sinn hat Gott die Welt dahingegeben, daß die Geiſtlichen 
weltliche Fuͤrſten geworden ſind, umgekehrt die Weltlichen ſich als geiſt⸗ 
liche Herren gebaͤrden, indem ſie mit Gewalt wehren wollen, „daß die 
Leute nicht mit falſcher Lehre verfuͤhrt werden“, waͤhrend doch „Ketzerei 
ein geiſtlich Ding iſt: das kann man mit keinem Eiſen hauen, mit keinem 
Feuer verbrennen, mit keinem Waſſer ertraͤnken“. In heftigen Worten 
geißelt er dieſe Tyrannei und prophezeit ihr den Untergang. „Die welt⸗ 
lichen Herren ſollten Land und Leute regieren aͤußerlich; das laſſen ſie; 
ſie konnten nicht mehr denn ſchinden und ſchaben“. Man ſoll wiſſen — 
ſo heißt es hier weiter in dieſer uͤbrigens einem Fuͤrſten, dem Herzog 
Johann von Sachſen, gewidmeten Schrift — „daß es von Anbeginn der 
Welt gar ein ſeltſam Vogel iſt um einen klugen Fuͤrſten, noch viel ſelt⸗ 
ſammer um einen frommen Fuͤrſten. Sie ſind gemeiniglich die groͤßten 
Narren oder die aͤrgſten Buben auf Erden“. Aber Gott wird, wie es im 
Pſalm (107, 40) heißt, „auf ſie ausſchuͤtten Verachtung“. Denn „der 
gemeine Mann wird verſtaͤndig, und der Fuͤrſten Plage gewaltiglich 
daher gehet unter dem Poͤbel, und ſorge, ihm werde nicht zu wehren ſein, 
die Fuͤrſten ſtellen ſich denn fuͤrſtlich und fangen wieder an mit Vernunft 
und ſaͤuberlich zu regieren. Man wird nicht, man kann nicht, man will 
nicht eure Tyrannei und Mutwillen die Laͤnge leiden. Lieben Fuͤrſten 


197 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


und Herren, da wiſſet euch nach zu richten, Gott will's nicht langer haben. 
Es iſt jetzt nicht mehr eine Welt wie vor Zeiten, da ihr die Leute wie das 
Wild jagtet und triebet“. Lauter Worte, die, aus dem Zuſammenhang 
herausgeloͤſt, nur aufreizend wirken konnten. Genau denſelben Ton 
ſchlaͤgt Luther aber auch hier gegen die Fuͤrſten an. Niemand anders als 
ihnen hat man den Aufruhr zu danken, beſonders den Biſchoͤfen, die 
noch immer wider das Evangelium wuͤten; „dazu ihr (ſo redet er ſie an) 
im weltlichen Regiment nicht mehr tut, denn daß ihr ſchindet und ſchatzt, 
euren Pracht und Hochmut zu fuͤhren, bis der arme gemeine Mann nicht 
kann noch mag laͤnger ertragen“. Die Artikel der Bauern ſind, wenngleich 
ſie faſt alle auf ihren Nutzen ausgehen, doch billig und recht, beſonders 
der erſte, in dem ſie das Evangelium zu hoͤren begehren. „Dagegen kann 
und ſoll keine Obrigkeit an. Ja, Obrigkeit ſoll nicht wehren, was jeder⸗ 
mann lehren und glauben will, es ſei Evangelium oder Luͤgen; iſt genug, 
daß ſie Aufruhr und Unfriede zu lehren wehret“. 

Wieviel ſanfter redet Luther mit den Bauern, obgleich auch hier ſeine 
Sprache bei Gelegenheit ſich leidenſchaftlich ſteigert. Schon die Anrede 
zeigt, daß er mit ihnen glimpflicher zu verfahren gedenkt. Die Staats⸗ 
Bibliothek zu Muͤnchen bewahrt das Original dieſer Schrift von Luthers 
Hand, welches dem erſten Drucke zugrunde gelegen hat. Es ſind acht⸗ 
zehn Quartblaͤtter. Die ſichere, gleichmaͤßige Hand verraͤt in ihren feinen, 
zierlichen Zuͤgen keine Spur von Erregung. Wohl aber zeigen dieſe 
Blaͤtter eine Menge von kleinen Verbeſſerungen auf. So hat Luther, indem 
er ſich den Herren zuwandte, die ihm in die Feder gefloſſene Anrede „liebe 
(Herren)“ getilgt. Umgekehrt hat er bei dem Übergang zu den Bauern 
„Liebe Freunde“ eingeſchaltet; ſo nennt er ſie auch weiterhin wiederholt, 
daneben „Liebe Herren und Freunde“, „Liebe Herren und Bruͤder“ oder 
kurzweg „Liebe Bruͤder“. Auch auf Wendungen wie dieſe: „Es iſt meine 
freundliche, bruͤderliche Bitte“ oder „Seid freundlich gewarnet“ ſtoßen 
wir nur hier. 

Luther gibt ihnen vor allem unumwunden zu, daß die Fuͤrſten und 
Herren, ſo das Evangelium zu predigen verbieten und die Leute ſo uner⸗ 
traͤglich beſchweren, wohl verdient haben, daß Gott ſie vom Stuhle 
ſtuͤrze. Das rechtfertigt aber ihr Unternehmen nicht. Sie nennen ſich 
eine chriſtliche Vereinigung und wollen nach dem goͤttlichen Recht handeln. 
Doch ſie fuͤhren Gottes Namen mit Unrecht. Denn ſie greifen zum 
Schwert und lehnen ſich wider die Obrigkeit auf, wollen Richter in eigener 
Sache ſein und ſich raͤchen, was nicht allein gegen das chriſtliche, ſondern 


198 


Luther und die Bauern 


auch wider das natuͤrliche Recht und alle Billigkeit iſt. Sie nehmen der 
Obrigkeit ihre Gewalt, d. h. das Beſte, was ſie hat, und treten damit 
Gottes Wort mit Fuͤßen. Denn das chriſtliche Recht, das ſie vorwenden, 
kennen ſie gar nicht. Recht des Chriſten naͤmlich iſt (wie Luther bei ſeinem 
Mangel eines geſchichtlichen Verſtaͤndniſſes der ſittlichen Weiſungen Jeſu 
in der Bergpredigt ſagt) „ſich nicht ſtraͤuben wider Unrecht, nicht zum 
Schwert greifen, nicht ſich wehren, ſich nicht raͤchen, ſondern leiden, leiden“. 
Statt deſſen wollen ſie ſogar das Evangelium mit der Fauſt erobern. 
Sie wollen dem Evangelium helfen und ſehen nicht, daß ſie es aufs 
allerhoͤchſte hindern und unterdruͤcken. Darum ſollen ſie ſich des chriſtlichen 
Namens entaͤußern. „Den chriſtlichen Namen, den chriſtlichen Namen, 
ſage ich, den laßt ſtehen und macht den nicht zum Schanddeckel eures ungedul⸗ 
digen, unfriedlichen, unchriſtlichen Vornehmens; den will ich euch nicht 
laſſen noch gönnen, ſondern beide mit Schriften und Worten euch abreißen 
nach meinem Vermoͤgen, ſolange ſich eine Ader regt in meinem Leibe“. 
Wollen ſie aber den chriſtlichen Namen gleichwohl fortfuͤhren, „wohlan, 
ſo muß ich die Sache nicht anders verſtehen, denn daß ſie mir gelte, und 
euch fuͤr Feinde rechnen und halten, die mein Evangelium daͤmpfen oder 
hindern wollen, mehr als Papſt und Kaiſer bisher getan haben, weil ihr 
unter des Evangelii Namen wider das Evangelium fahret und tut“. „Ich 
bitt euch aber gar demuͤtiglich und freundlich, wollet euch baß beſinnen“. 

Mit dieſer grundſaͤtzlichen Auseinanderſetzung mit den Bauern war 
auch bereits ſeine Stellung zu ihren zwoͤlf Artikeln feſtgelegt, zu deren 
Beurteilung er jetzt uͤbergeht. Vergeblich ſuchen die Bauern ſie mit dem 
Evangelium zu decken; denn ſie gehen alle auf weltliche, zeitliche Sachen, 
„ſo doch das Evangelium ſich zeitlicher Sachen gar nichts annimmt“. 
Den erſten Artikel, wonach die Gemeinde das Recht haben ſoll, ihren 
Pfarrer zu waͤhlen, billigt er unter der Vorausſetzung, daß ſie ihn auch 
aus ihren eigenen Mitteln beſolde und nicht, wie der zweite Artikel will, 
raͤuberiſch mit dem der Obrigkeit gehoͤrenden Zehnten. Verwerfen muß 
er ſelbſtverſtaͤndlich auch die Art, wie der dritte Artikel das Verlangen 
nach Abſchaffung der Leibeigenſchaft begründet: „weil uns Chriſtus alle 
befreiet hat“. „Das heißt chriſtliche Freiheit ganz fleiſchlich machen“ und 
aus dem geiſtlichen Reich Chriſti ein weltliches, aͤußerliches Reich. Die 
uͤbrigen Artikel befiehlt er den Rechtsverſtaͤndigen. „Denn mir als einem 
Evangeliſten nicht gebührt hierinnen urteilen und richten. Ich foll die 
Gewiſſen unterrichten und lehren, was goͤttliche und chriſtliche Sachen 
betrifft“. 


199 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


Wir koͤnnen hier ſehen, mit welcher Kraft, Klarheit und Sicherheit der 
Reformator fein Evangelium umgrenzte, es losloͤſte aus dem Gewirr 
ſelbſtiſcher Intereſſen, in die man es verſtrickt hatte. Kein groͤßerer Dienſt 
konnte damals der Religion geleiſtet werden. Sie wurde wieder auf die 
ideale Hoͤhe gehoben, auf welche Luther ſie geſtellt hatte, indem er alles, 
was faͤlſchlich fuͤr ſie ausgegeben war, verneinte und das Geſchmeiß der 
Wechſler und Krämer aus ihrem Heiligtum vertrieb. Nehmen wir einen 
Augenblick das Undenkbare an, Luther waͤre in mittelalterlicher Unklar⸗ 
heit uͤber das Weſen der Religion und in Verkennung der rein religioͤſen 
Bedeutung der Bibel, oder gar geblendet von dem großartigen Vorteil, 
der ſich in dieſer volkstuͤmlichen Bewegung von elementarer Gewalt dem 
„Worte Gottes“ zu bieten ſchien, auf das Anſinnen der Bauern ein⸗ 
gegangen, haͤtte es unternommen, ihre Forderungen, ſoweit ſie ihm 
recht und billig erſchienen, aus der Heiligen Schrift zu begruͤnden — es 
waͤre, mochten die Bauern unterliegen oder ſiegen, das Ende ſeines 
Werkes geweſen. Siegte der Bund Luthers und der Revolutionaͤre, 
ſo haͤtte ſich in Deutſchland im guͤnſtigſten Falle eine ſozialiſtiſche Theo⸗ 
kratie erhoben, die, ihre Lebensfaͤhigkeit vorausgeſetzt, bei der Gebunden⸗ 
heit des religioͤſen Gedankens in ihr nur eine Fortſetzung des Mittel⸗ 
alters geweſen waͤre. 

An einen ſolchen Bund waͤre ja nun freilich keinen Augenblick zu 
denken geweſen! 

Mit jenem Titanenzorn, der einſtmals gegen den Antichriſt zu Rom 
ſich entladen hatte, ja mit noch heftigerem brach der Reformator gegen 
die Bauern los, ſobald ſie im Namen der goͤttlichen Gerechtigkeit und 
des Evangeliums zu Gewalt und Blutvergießen ſchritten. Die Belehrung 
und die wohlgemeinte Mahnung zum Frieden, mit der er ſeine Schrift 
ſchloß, waren zu ſpaͤt gekommen. Die Ereigniffe hatten fie überholt. Sein 
Mahnruf kann kaum nach Suͤddeutſchland gedrungen ſein, als ihm ſchon 
von dort die Kunde kam, wie die Bauernheere pluͤndernd und mordend 
vordrangen, waͤhrend er zu gleicher Zeit in naͤchſter Naͤhe die Erfahrung 
machen mußte, wie auch hier, von dem „Erzteufel zu Muͤhlhauſen“ 
angefacht, in blinder Wut der Aufruhr tobte, das Land in ein unſagbares 
Verderben zu ſtuͤrzen drohte. Da druͤckten Zorn und Erbarmen ihm noch 
einmal die Feder in die Hand, und er rief mit furchtbarer Beredſamkeit 
in ſtuͤrmiſchen, faſt wilden Worten die Fuͤrſten zum Kampf auf „wider 
die raͤuberiſchen und moͤrderiſchen Rotten der Bauern“ (wie der Titel 
des Flugblattes lautet). 


200 


Luther und die Bauern 


Luther laͤßt ſich dabei von folgendem Gedanken leiten, den wir an 
der Spitze dieſer Blätter ausgeſprochen finden. Ein Aufruͤhrer iſt nach 
kaiſerlichem Recht in der Acht, ſo daß ein jeder Hand an ihn legen darf 
und gut daran tut, „gleich als wenn ein Feuer angehet, wer am erſten 
kann loͤſchen, der iſt der beſte“. Auch der Aufruhr iſt ein Feuer, ein großes, 
das ein Land anzuͤndet und verwuͤſtet, mit Mord und Blutvergießen 
erfuͤllt, voller Witwen und Waiſen macht. „Darum ſoll hier zerſchmeißen, 
wuͤrgen, ſtechen heimlich [d. h. nach der Sprache der Zeit: ein jeder (priva⸗ 
tim) für feine Perſon] und öffentlich wie die Obrigkeit tut], wer da kann“. 
Aber vornehmlich iſt es doch Pflicht der Obrigkeit hier zuzugreifen, und 
ihr „Gewiſſen zu unterrichten“, iſt der Hauptzweck dieſes Schriftchens 
(wir werden bald ſehen, warum es in der Tat eines ſolchen Unterrichtes 
bedurfte). Luther unterſcheidet zwiſchen der dem Evangelium feindlichen 
Obrigkeit und der „chriſtlichen, die das Evangelium leidet“. Jener kann 
er, wenn ſie die Bauern „ohne vorhergehend Erbieten zu Recht und Billig⸗ 
keit“ ſtrafen will, das Recht dazu nicht abſprechen. Die chriſtliche Obrigkeit 
aber, welche dieſe über fie hereinbrechende Strafe als wohlverdient betrachten 
und ſich in Gottes Willen ergeben wird, iſt verpflichtet, auch jeden Schein, 
als wolle ſie den Bauern Unrecht tun, zu meiden und ſich gegen ſie 
„zum Überfluß zu Recht und Gleichem zu erbieten“. Dann aber, wo das 
nicht helfen will, muß ſie kraft ihres Amtes „flugs zum Schwerte greifen“, 
anſtatt durch unangebrachte Nachſicht ſchuldig zu werden an allem Mord 
und Übel, das die Buben begehen: „Geduld und Barmherzigkeit“ waͤre 
hier daher uͤbel angebracht. So ſoll die Obrigkeit getroſt und mit „gutem 
Gewiſſen dreinſchlagen, weil ſie eine Ader regen kann“. Mit gutem 
Gewiſſen, eben weil ſie als Amtmann Gottes, der ihr das Schwert verliehen 
hat, handelt. Welcher Fuͤrſt da ſtirbt, der ſtirbt im Gehorſam des goͤtt⸗ 
lichen Befehles, in Ausuͤbung ſeines Amtes. „Solch wunderliche Zeiten 
ſind jetzt, daß ein Fuͤrſt den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann 
baß denn andere mit Beten“. Noch eins aber ſollte die Obrigkeit bewegen, 
raſch und kraͤftig einzugreifen: das Erbarmen mit den „armen Gefangenen 
unter den Bauern“, d. h. mit den „vielen frommen Leuten“, die wider 
Willen, von den Bauern gezwungen ſich ihrem Bunde angeſchloſſen haben. 
„Drum, liebe Herrn, loͤſet hie, rettet hie, helft hie, erbarmet euch der 
armen Leute, ſteche, ſchlage, wuͤrge hie, wer da kann. Bleibſt du druͤber 
tot, wohl dir, ſeligeren Tod kannſt du nimmermehr uͤberkommen. Denn 
du ſtirbſt in Gehorſam goͤttlichen Wortes und Befehls und im Dienſte der 
Liebe“. — — 


Die Revolution von ı525 und die Reformation 


Wir fanden in der vorigen Schrift Luther auf der Hoͤhe ſeines refor⸗ 
matoriſchen Berufes ſtehend. Iſt er hier nun etwa von ihr herabgeſtuͤrzt? 
Hat Leidenſchaftlichkeit ſeinen hellen Geiſt getruͤbt? 

Man hat den Abſtand, der offenbar zwiſchen beiden Schriften 
beſteht, oft befremdlich gefunden, ja ſogar von einem Frontwechſel Luthers 
geſprochen. Gewiß, dort ſtand er mit ſeiner Neigung auf ſeiten der 
Bauern, zumal da ſie ſich „zu Recht und beſſerem Unterricht erboten“ 
hatten. Aber kuͤndigte er ihnen nicht ſchon damals an, daß er ſie fuͤr 
ſeine Feinde halten muͤſſe, falls ſie fortfahren wuͤrden, den chriſtlichen 
Namen zu fuͤhren? Jetzt hatten ſie die Fahne des Aufruhrs erhoben. 
Schon ein Aufruͤhrer war in ſeinen Augen ein „Teufelsglied“ und 
„Hoͤllenbrand“; ſie vollends deckten ihren Aufruhr „mit dem Evangelio“. 
Konnte er da umhin, ſie als Feinde zu betrachten, mochte er auch keines⸗ 
wegs vergeſſen, daß die große Maſſe aus Verfuͤhrten beſtehe? Nicht 
bloß vom Hörenfagen kannte er ihr Toben und Wuͤten. Mit Gefahr 
ſeines Lebens war er mitten unter ſie geſprungen, hatte er am Harz und 
in Thuͤringen ſie zur Vernunft zu bringen verſucht. Aber ſein Wort war 
verhallt. Kaum hatte die Macht feiner Perſoͤnlichkeit hingereicht, daß 
nicht der Unwille der ſtoͤrriſchen Gefellen gegen ihn ſelber losbrach. 

Was ſich geaͤndert hatte, war alſo nicht ſeine Meinung, ſondern die 
Situation. 

Aber vielleicht muͤſſen wir gegen dieſe Schrift einen andern Vor⸗ 
wurf erheben? jenen, dem Luther ſelber glaubte vorbeugen zu muͤſſen, 
indem er mit dem Worte ſchloß: „Duͤnkt das jemand zu hart, der denke, 
daß unerträglich iſt Aufruhr und alle Stunde der Welt Verſtoͤrung zu 
erwarten ſei“. 

War das nun hart? oder gar zu hart? Schon die Zeitgenoſſen haben 
vielfach Anſtoß genommen an „dem harten Büchlein wider die Bauern“, 
ſelbſt ſolche, die dem Reformator nahe ſtanden; und noch einer der neueſten 
proteſtantiſchen Geſchichtsſchreiber der Reformation ſpricht von „der ent⸗ 
ſetzlichen Schrift“ und ruft aus: „Niemals iſt die Ausrottung der als 
‚Hölfenbrände‘ und Teufelsglieder gebrandmarkten Gegner mit groͤßerer 
Unbarmherzigkeit gepredigt, niemals die Heiligung der Mittel durch den 
Zweck unbefangener ausgeſprochen worden“. Allein man ſucht in dem 
Schriftchen, deſſen weſentlichen Inhalt ich mit woͤrtlicher Anfuͤhrung aller 
Hauptſtellen angegeben habe, vergeblich auch nur ein Wort, das die 
Ausrottung der Gegner predigte. Das Mittel aber, deſſen Heiligkeit 
gepredigt wird — es iſt der Krieg, es iſt die Schlacht! Denn nur von dem 


202 


Luther und die Bauern 


Kampf der Fuͤrſten in freiem Felde, Mann gegen Mann, in dem auch 
fie ihr Leben einbuͤßen koͤnnen, iſt die Rede. Kein Wort von der Beſtrafung 
der Niedergeworfenen, das damals auch noch wenig am Platze geweſen 
waͤre. Nichts anderes brachte daher dieſes Flugblatt als den Aufruf, 
der Gewalt zum Beſten der Geſamtheit, zum Beſten der vielen, die 
nur gezwungen der Bauernfahne folgten, ohne Verzug mit Gewalt zu 
begegnen. Oder ſollte er etwa ſeine Fuͤrſten anflehen, doch ja kein Blut 
zu vergießen, mit Guͤte die wuͤtenden Haufen zu ſtillen? oder auch zu 
Bittgaͤngen und Prozeſſionen ihre Zuflucht zu nehmen? 

Und wo bleibt die Unbarmherzigkeit? 

Will man einen unbarmherzigen Feind der Bauern kennen lernen, 
ſo braucht man nur zu den Briefen zu greifen, die waͤhrend des ganzen 
Verlaufes des Krieges der bayeriſche Kanzler Leonhard von Eck an ſeine 
Fuͤrſten geſchrieben hat. Da warnt er ſie, den „Handel mit den Bauern 
mit Vernunft und Mildigkeit abzuſtellen“, d. h. ſich irgendwie in Ver⸗ 
handlungen mit ihnen einzulaſſen, da „kein Treu und Glauben bei ihnen“ 
ſei. Vielmehr muß man mit ſchonungsloſer Strenge gegen ſie einſchreiten. 
„Wer die Bauern verſchont, der zieht ſeinen Feind groß. Darum wollen 
Euer Fuͤrſtliche Gnaden mit Ernſt gegen ihnen handeln laſſen“. „Und 
wenn ihrer gleich noch ſo viel Tauſend waͤren, ſo muͤſſen Euer Fuͤrſtliche 
Gnaden hindurch und nit anders gedenken, es ſei der Tuͤrk vorhanden, ſich 
wehren und darob ſterben oder verjagt werden“ (ein Anerbieten zu Recht 
und Billigkeit, wie Luther es anraͤt, iſt dabei ausgeſchloſſen). Und wie gern 
nimmt Eck noch an den Niedergeworfenen „gebuͤrliche Strafe“. Nach 
dem abſcheulichen Blutgericht der Bauern zu Weinsberg, wo ſie den 
Grafen von Helfenſtein nebſt 23 adligen Genoſſen durch ihre Spieße 
jagten (ein uͤbrigens vereinzelt daſtehender Akt baͤuerlicher Grauſamkeit), 
ſchreibt Eck: „Ich hoff aber zu Gott, es ſolle in kurzen Tagen mit Ernſt 
und gleicher Maße gerochen und vergolten werden, dazu ich nicht allein 
raten, ſondern, ſofern ich dabei bin, mit eigener Hand verhelfen will“. 
Einige Wochen ſpaͤter hatte er die Genugtuung, berichten zu duͤrfen, 
daß man einen der Boͤſewichter von Weinsberg „an einem Baum lang⸗ 
ſam und recht gebraten habe“. 

Wie anders Luther! Unmittelbar nach der Schlacht von Franken⸗ 
hauſen redete er in einer Flugſchrift neben „allen frommen Chriſten“ 
auch „die Herren und Obrigkeit“ an: er bitte fie um zwei Stuͤcke: erſtens, 
„daß ſie, wo ſie gewinnen und obſiegen, ſich deß ja nicht uͤberheben, ſondern 
Gott fürchten, vor dem fie auch faſt [d. h. hoͤchſt] ſtraͤflich find”; zum 


203 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


andern, „daß ſie den Gefangenen und denen, die ſich ergeben, wollten 
gnaͤdig ſein, wie Gott jedermann gnaͤdig iſt, der ſich ergibt und vor ihm 
demuͤtiget“. Und vollends, als nach Stillung des Aufruhrs viele der Herren 
und Junker ſich an den armen Beſiegten in entſetzlicher Grauſamkeit 
raͤchten, in ihr alles, was die Bauern gefrevelt, weit uͤberbietend, da 
erging er ſich in ſcharfen Worten wider „die wuͤtenden, raſenden, 
unſinnigen Tyrannen, die auch nach der Schlacht nicht moͤgen Bluts 
ſatt werden“. — 

Indeſſen, ſchon laͤngſt liegt uns eine Frage auf der Zunge: wie kam 
der Reformator uͤberhaupt dazu, die Fuͤrſten zum Kampf aufzurufen? 
er, der doch ſeiner eigenen ausdruͤcklichen Erklaͤrung nach nur als „Evan⸗ 
geliſt“, als einer, der „die goͤttliche Schrift zu handeln hat“, das Wort 
ergriffen hatte? Er glaubte, auch diesmal ganz innerhalb ſeiner Schranken 
zu bleiben: er wollte das Gewiſſen der Fuͤrſten, und zwar der „chriſt⸗ 
lichen“, d. h. ſeiner eigenen, beraten. So ſpitzt ſich unſere Frage dahin 
zu: war die augenblickliche Lage in der Tat darnach angetan, daß Luther 
aus ihr die Aufforderung entnehmen konnte, ſeinen Fuͤrſten su fagen, 
was Pflicht und Recht fuͤr fie fei? 

Die Antwort wird ſich uns von ſelber darbieten, wenn wir jetzt — 
bevor uns die Folgen der Revolution beſchaͤftigen werden — einen 
fluͤchtigen Blick werfen auf den Verlauf des Krieges. 


6. Der Verlauf des Krieges. Seine Folgen 


. 


ä ie Aufſtaͤndiſchen Oberſchwabens verfuͤgten ſchon im 
3 DEIN N: Februar 1525 über gewaltige Maſſen: allein die 
SR en Staͤrke des Baltringer Haufens wird auf 30 ooo 
r Mann angegeben. Doch ließen ſie ſich zu ihrem 
Se Schaden auf Verhandlungen mit dem Schwaͤbiſchen 
— VvVunde ein, dieſer alten, vornehmlich der Aufrecht⸗ 
erhaltung des Landfriedens dienenden Vereinigung von Fuͤrſten und 
Staͤdten von Suͤdweſtdeutſchland, die es jetzt nur darauf abſah, Zeit 


204 


Der Verlauf des Krieges. Seine Folgen 


zu gewinnen. Denn trotz der mehr als halbjaͤhrigen Friſt, die ſeit 
den erſten Unruhen verfloſſen, war niemand geruͤſtet. Erſt Ende 
Maͤrz konnte ein Heer des Schwaͤbiſchen Bundes unter Fuͤhrung des 
Georg Truchſeß von Waldburg zum Angriff vorgehen; es trug ſchon 
am 4. April bei dem Staͤdtchen Leipheim uͤber einen groͤßeren Bauern⸗ 
haufen einen leichten Sieg davon. Indeſſen, einen durchſchlagenden 
Erfolg errang doch waͤhrend des ganzen Monats April das Bundesheer 
nicht. Und noch Wochen lang war es das einzige Heer, das im Felde ſtand; 
nicht vor den letzten Tagen des April ruͤckte auch der tatkraͤftige Landgraf 
Philipp von Heſſen mit ſeinen Reiſigen aus, um an ſeinen Grenzen die 
Ruhe wiederherzuſtellen. Faſt ausnahmslos ſahen ſich bei der raſchen 
Ausbreitung des Aufſtandes uͤber das halbe Deutſchland die Fuͤrſten wie 
die Herren uͤberraſcht. Maſſenhaft unterwarfen ſich Grafen und kleinere 
Herren, geiſtliche und weltliche, den Bauern, indem ſie ſich zu den zwoͤlf 
Artikeln bekannten. „Es ſein die vom Adel alte Weibe und ſchon tot“, 
ſchreibt Leonhard von Eck hoͤhnend, und noch Mitte April fuͤhrt er bittere 
Klage uͤber die „große und erſchreckliche Kleinmuͤtigkeit“ aller Oberen: 
„Deshalb iſt in dieſer Sachen der groͤßt Krieg, die Obrigkeiten zu einem 
mannlicheren Gemuͤt zu bringen“. Er hatte recht. Auch von den Fuͤrſten 
konnten manche fuͤr den Augenblick nur durch Vertraͤge ſich der Empoͤrer 
erwehren. So die Biſchoͤfe von Speier und von Bamberg, der Koadjutor 
von Fulda und der Abt von Hersfeld; ja ſelbſt das Erzbistum Mainz 
und der Kurfuͤrſt Ludwig von der Pfalz wie Markgraf Philipp von Baden 
gingen denſelben Weg. „Um den Anfang des Mai (fo hat Egelhaaf die 
Lage kurz und treffend gezeichnet) gewaͤhrte Deutſchland einen unbe⸗ 
ſchreiblichen Anblick. Überall war die Erhebung ſiegreich oder, wenn ſie 
einen Augenblick unterlegen war, in erneutem Aufflammen; inmitten 
der ſchaͤumenden Wogen ſtanden noch einzelne Pfeiler der alten Ordnung, 
die Heere des ſchwaͤbiſchen Bundes, des heſſiſchen Landgrafen und einiger 
anderer Fuͤrſten; Wuͤrzburgs Schloß ward haͤrter von Tag zu Tag 
bedraͤngt; eine Niederlage irgend eines der Heere konnte von unab⸗ 
ſehbaren Folgen werden, da dann auch die anderen den ſich vorz 
ausſichtlich vereinigenden Maſſen gegenüber ſich ſchwerlich mehr behaup⸗ 
ten konnten“. 

Auch in Thuͤringen, vom Eichsfeld bis zum Harz, ging es, wir wiſſen 
es ſchon, in eben jenen Tagen wild her: von Kloſter zu Kloſter, von Schloß 
zu Schloß waͤlzte ſich der wuͤſte Haufen; nicht weniger als ſiebzig Kloͤſter 
ſind damals in Truͤmmer geſunken. 


205 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


Auch hier ſchien es kein Bollwerk zu geben. Kurfuͤrſt Friedrich, der 
Mann des Friedens, war matt und krank, ſeinem Ende nahe. Mitte April 
vom Suͤden her um Huͤlfe angegangen, war er, wenige Tage bevor in 
ſeinem eigenen Lande der Sturm losbrach, der Meinung, er und ſein 
Bruder taͤten gut, ſich an der gewaltſamen Unterdruͤckung des Aufruhrs 
nicht zu beteiligen: vielleicht habe man den armen Leuten Urſache zu ihm 
gegeben, „ſonderlich mit Verbietung des Wortes Gottes“. „So werden 
die Armen in viel Wege von uns weltlichen und geiſtlichen Obrigkeiten 
beſchwert“. Er fuͤhlte nur die Schuld ſeines Standes und war in Gottes 
Willen ergeben: „Will es Gott alſo haben, ſo wird es alſo hinausgehen, 
daß der gemeine Mann regieren ſoll; iſt es aber ſein goͤttlicher Wille 
nicht, wird es bald anders werden“. Auch vierzehn Tage ſpaͤter, als 
man am Hofe die Zahl der Empoͤrer auf uͤber 35 ooo ſchaͤtzte, ja noch 
am 4. Mai (einen Tag vor ſeinem Tode) erklaͤrte er ſich gegen jedes 
Blutvergießen; man ſolle, ſchreibt er ſeinem Bruder, dem Herzog Johann, 
Mittel und Wege ſuchen, die Empoͤrung „in der Guͤte“ zu ſtillen. Nicht 
viel anders dachte zuletzt auch Johann, der doch, uͤberhaupt energiſcherer 
Sinnesart, anfangs Gewalt zu gebrauchen vor hatte. Er war bereits 
mit den Bauern in Unterhandlung getreten und hatte auf den 
Zehnten groͤßtenteils verzichtet: „Ich hab Sorg, Euer Lieb und ich 
ſeint nu verderbte Fuͤrſten“; ihr Einkommen werde jetzt ſchmal 
werden. Voll Reſignation erblickt auch er in der Empoͤrung eine 
verdiente Strafe Gottes und will es wie der Kurfuͤrſt mit Guͤte 
verſuchen. 

Ein merkwuͤrdiger Anblick dieſe Fuͤrſten! Sie, die allezeit ihren 
Leuten milde Herren geweſen waren, macht jetzt in entſcheidungsvoller 
Stunde (denn die Lage war in der Tat ernſt und duldete keinen Verzug) 
eine aus zartem Schuldgefuͤhl und frommer Ergebung gemiſchte Stim⸗ 
mung ſo weichmuͤtig, daß ſie an ihrer obrigkeitlichen Pflicht, einen ver⸗ 
heerenden Aufruhr zu daͤmpfen, ihre Untertanen gegen wilde Mord⸗ 
buben zu ſchuͤtzen, irre werden. 

Das war der Moment, wo Luther es fuͤr geboten hielt, das 
irrende Gewiſſen ſeiner Landesherren auf den rechten Weg zu leiten, 
indem er ihnen ihr Recht und ihre Pflicht zeigte, in deren Erfuͤllung 
ſie dem Naͤchſten dienen und in Wahrheit Barmherzigkeit uͤben 
konnten. 

Daß er dabei ſeinen Worten jene Kraft und ſtuͤrmiſche Heftigkeit 
verlieh, die alle ſentimentalen Gedanken uͤber den Haufen werfen mußte 


206 


Der Verlauf des Krieges. Seine Folgen 


— wir muͤſſen es ihm noch heute Dank wiſſen. Und noch etwas muß ihm 
unvergeſſen bleiben: der unbaͤndige Mut, mit dem er in die Breſche 
ſprang (er wußte, daß er in dieſem Augenblick ganz allein den Bauern 
entgegentrete) und die ſouveraͤne Erhabenheit, mit der er bewußt ſeine 
Volkstuͤmlichkeit preisgab. Er hat in jenen Tagen auf der Kanzel das 
Wort fallen laſſen: „Es iſt uns angeboren und ſteckt tief in uns, daß wir 
gern ſehen, daß uns die Leute guͤnſtig ſind; wenn ſie von uns abfallen, 
fo verdreußt es uns“. Aber man muß „Gunſt, Ehre, Zufall [Beifall] 
und Anhang fahren laſſen“ koͤnnen. 

Was kuͤmmerte es ihn, wenn er nur ſeiner Pflicht ein Genuͤge tat? 
Selbſt ohne Ausſicht auf Erfolg wuͤrde er das Wort ergriffen haben. 
Doch hatte er die Genugtuung, daß die Wirkung nicht ausblieb. Sein 
neuer Herr, der Kurfuͤrſt Johann (der am 5. Mai feinem Bruder gefolgt 
war), ließ ſeine Bedenken fahren. Zwar war er ſo gut wie gar nicht 
geruͤſtet. Doch zu rechter Zeit kamen ihm die benachbarten Fuͤrſten zu 
Huͤlfe, vor allem Landgraf Philipp von Heſſen, dazu Herzog Heinrich 
von Braunſchweig und Herzog Georg von Sachſen. Ihre vereinte 
Macht war es, die — ohne Beteiligung des Kurfuͤrſten — am 15. Mai 
bei Frankenhauſen einen Hauptſchlag gegen die Thuͤringer Bauern fuͤhrte. 
Muͤnzer, deſſen aufreizende Reden und wahnwitzige Verheißungen die 
Armen in den Tod getrieben hatte, fiel in die Haͤnde der Sieger (er hat bald 
darauf unter dem Beil des Henkers geendet). Erſt an dem Zuge gegen 
Muͤhlhauſen, den Mittelpunkt des Thuͤringiſchen Aufruhrs, konnte auch 
Kurfuͤrſt Johann ſich beteiligen. Die freie Reichsſtadt ergab ſich 
am 25. Mai. 

Faſt zu derſelben Zeit, wo in Thuͤringen die Entſcheidung fiel, wurde 
auch in Wuͤrttemberg und im Elſaß die Revolution niedergeſchlagen, 
dort durch Georg von Truchſeß in der Schlacht von Sindelfingen (12. Mai), 
hier von Herzog Anton von Lothringen durch das entſetzliche Blutbad 
von Zabern (17. Mai) und die Schlacht von Scherweiler (21. Mai). In 
den erſten Tagen des Juni wurden von den Heeren des Schwaͤbiſchen 
Bundes und der Kurfuͤrſten von Pfalz und Trier bei Koͤnigshofen und 
Sulzdorf die Fraͤnkiſchen Bauernheere geſchlagen, die zu ihrem Ver⸗ 
haͤngnis Zeit und Kraft mit Belagerung des Wuͤrzburger Schloſſes 
vergeudet hatten. In den naͤchſten Wochen mußten auch die aufruͤhreriſchen 
Staͤdte Frankens ſich unterwerfen: Wuͤrzburg, Rothenburg, Schwein⸗ 
furt, Bamberg. Gegen Ende des Monats wurde auch am Mittel⸗ und 
Oberrhein die Ruhe wiederhergeſtellt, im Spaͤtſommer im ganzen auch 


207 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


in Oberſchwaben, ſo daß im September die Revolution als bewaͤltigt 
betrachtet werden konnte (doch abgeſehen von den Alpenlaͤndern, wo das 
erſt im Sommer des folgenden Jahres gelang). 

Die undisziplinierten Haufen, ſchlecht gefuͤhrt und uneinig, waren 
dem Andringen der Reiſigen beinahe uͤberall ohne erheblichen Wider⸗ 
ſtand unterlegen: Blut floß faſt nur auf ihrer Seite, und um ſo reichlicher, 
als die Bauern nur ausnahmsweiſe Mut und Todesverachtung an den 
Tag legten. Die meiſten der Schlachten geſtalteten ſich zu wahren Metze⸗ 
leien! 

Doch damit nicht genug! Auch an den Niedergeworfenen wurde jetzt 
faſt allerorten von den Fuͤrſten und Junkern eine grauſame, ja entſetzliche 
Rache genommen. Je groͤßer fuͤr ſie die Gefahr geweſen war, je geringer 
in den Tagen der Bedraͤngnis ihr Mut, deſto abſcheulicher kehrten ſie 
jetzt ihre Herrennatur heraus — vornehmlich im Suͤden. Hier hatten 
nunmehr die Regensburger Verbuͤndeten den erwuͤnſchten Vorwand 
gewonnen, zur Ausfuͤhrung ihrer Beſchluͤſſe nicht nur in, ſondern auch 
mit den Empoͤrern „die lutheriſchen Buben“ zu ſtrafen. Wie unter den 
Nachwehen eines Religionskrieges geradezu hatte hier das Volk zu 
leiden. 

Das war eine der uͤblen Folgen der Revolution: dieſe gewaltſame 
Unterdruͤckung der reformatoriſchen Regungen in weiten Gebieten. Die 
Gegenreformation errang ihre erſten Siege. Die Stadt Waldshut, die 
ſich im Dezember ergeben mußte, wurde alsbald von dem Erzherzog 
Ferdinand in den Schoß der alleinſeligmachenden Kirche zuruͤckgezwungen. 
Überall im Suͤden machte man auf die evangeliſchen Prediger Jagd wie 
auf das Wild, gleichviel ob ſie mit den Bauern gemeinſame Sache 
gemacht hatten oder nicht. Ungezaͤhlt ſind die Maͤnner, welche 
damals ihre Begeiſterung für das Evangelium mit dem Leben zu 
bezahlen hatten. 

Indeſſen, eine Reaktion groͤßeren Stiles hat das Revolutionsjahr 
nicht heraufzufuͤhren vermocht. 

Die Gefahr eines alles mit ſich fortreißenden Ruͤckſchlages iſt freilich 
größer geweſen, als man ſich in der Regel vorſtellt. Beweis dafuͤr iſt 
nicht ſowohl die weite Verbreitung der Sympathien mit den Bauern 
(von dieſen iſt auch Luther nicht frei geweſen), wohl aber die vielleicht 
kaum weniger weit verbreitete Hoffnung, die große populaͤre Stroͤmung, 
die mit der Gewalt der Elemente alle Daͤmme hinwegzuſpuͤlen ſchien, 
werde auf ihren Wogen „das Evangelium“ zum Siege tragen, und der 


208 


Der Verlauf des Krieges. Seine Folgen 


aus dieſem Irrtum entſpringende Mangel an Verſtaͤndnis fuͤr die Heftig⸗ 
keit, mit welcher der Reformator die von der Revolution ihm dargereichte 
Hand zuruͤckwies. Aber eben dieſe Haltung Luthers war es, welche die 
Gefahr bannte, die damals der Reformation drohte, von dem Strudel 
der wilden Bewegung verſchlungen zu werden. Als „Frucht des lutheriſchen 
Evangeliums“ faßten die Empoͤrung doch nur deſſen erklaͤrte Feinde 
auf. Auch auf altkirchlicher Seite durchſchauten alle vorurteilslos den⸗ 
kenden Maͤnner die Grundloſigkeit des Vorwurfes und waren uͤber die 
wahren Quellen des Aufruhrs nicht im Unklaren. Kein Fuͤrſt und keine 
Stadtobrigkeit, die bisher auf ſeiten des Reformators ſtanden, iſt an ihm 
und ſeinem Werke irre geworden. Das Naͤmliche gilt aber auch im großen 
und ganzen von dem deutſchen Volke. Eine Ausnahme machten nur die 
von neuem an die Karre gefeſſelten Bauern. Die Enttaͤuſchung, welche 
ihnen ihr Mißverſtand der neuen religioͤſen Verkuͤndigung bereitet hatte, 
erfuͤllte ſie nur zu oft mit Erbitterung. Ja, hie und da, beſonders in 
Thuͤringen, verfielen die Bauern in ihrem ſtoͤrriſchen Sinn in eine Art von 
religioͤſem Indifferentismus, der nachmals von der evangeliſchen Kirche 
nur langſam uͤberwunden werden konnte, und ſchoͤpften zugleich eine 
ſtarke perſoͤnliche Abneigung, wenn nicht gar Haß gegen den Reformator, 
der, aus ihrem eigenen Stande hervorgegangen, ſie ihrer Meinung nach 
ſchmaͤhlich im Stiche gelaſſen hatte. 

Aber auch die Stimmung Luthers iſt durch den Bauernkrieg eine 
andere geworden. Sein freudiges Vertrauen auf die breite Maſſe des 
Volkes, ſchon durch die Unruhen waͤhrend ſeiner Verborgenheit auf der 
Wartburg erſchuͤttert, machte jetzt der Einſicht Platz, daß die unverſtaͤndige 
Menge, „der Poͤbel“, „der Herr Omnes“, feſt im Zuͤgel gehalten werden 
muͤſſe. Was er in einer der altteſtamentlichen Apokryphen geſchrieben 
fand: „dem Eſel gehoͤrt ſein Futter, Laſt und Geißel“ (Jeſus Sirach 
33, 25), das glaubte er jetzt auf die Maſſe anwenden zu muͤſſen. „Was iſt 
je Ungezogeneres gehoͤrt denn der tolle Poͤbel und Bauer, wenn er ſatt 
und voll iſt und Gewalt kriegt?“ „Der Eſel will Schläge haben und der 
Poͤbel will mit Gewalt regiert werden“. Man koͤnnte verſucht ſein zu 
ſagen: das war ein abſtrakter Grundſatz, den er jetzt aufſtellte, waͤhrend 
doch ſein perſoͤnliches Verhalten ihn nach wie vor voll Mitleid und 
Erbarmen mit allen Unterdruͤckten, Armen und Notleidenden zeigt. Das 
trifft ja durchaus zu. Allein durch dieſe Praxis des Lebens wird jener 
Grundſatz noch nicht umgeſtoßen, um ſo weniger, als jetzt auch ſein bis⸗ 
heriges Vertrauen auf die ſieghafte Kraft des Wortes Gottes einen 


14 Brieger, Reformationsgeſchichte 209 


Die Revolution von 1525 und die Reformation 


Stoß erlitten hatte. Nicht daß er uͤberhaupt an ihr verzweifelt waͤre; 
aber er hatte ſich jetzt mit dem Gedanken einer doch nur langſamen Wir⸗ 
kung der Predigt des Evangeliums vertraut gemacht. Dieſe Reſignation 
trat an die Stelle der uͤberkuͤhnen Hoffnungen, die ihn im Fruͤhling der 
Reformation beſeelt hatten. Das bedeutete auf der einen Seite ſicher 
einen Verluſt, war aber auf der andern ein Gewinn. Denn die Tat⸗ 
kraft Luthers hat nicht im mindeſten darunter gelitten, daß er fortan 
realiſtiſch die Dinge ſchaute, wie ſie waren. Im Gegenteil, ſoweit dies 
uͤberhaupt moͤglich war, haben ſich Kraft und Eifer in ihm noch geſteigert, 
um jetzt, wo, wie er klagte, Deutſchlands Ausſehen erbaͤrmlicher war 
denn je zuvor, den Schutt hinwegzuraͤumen, den die Revolution auf⸗ 
gehaͤuft hatte, und dann in ſtiller, emſiger Arbeit auf dem gereinigten 
Boden zu bauen. Wie ungebrochen aber ſein Mut war, das konnte die 
Welt eben damals aus einer Tat des Reformators entnehmen. Mitten 
in den Tagen der Wirren (in der erſten Haͤlfte des Juni) verwirklichte er 
fuͤr ſeine Perſon ein bedeutſames Stuͤck ſeiner neuen ſittlichen Welt⸗ 
anſchauung, indem er zur Überraſchung ſelbſt ſeiner naͤchſten Freunde 
gerade jetzt in die Ehe trat, um dem Übermut der „Papiſten“, die 
ſchon das Spiel gewonnen zu haben meinten, einen Daͤmpfer auf⸗ 
zuſetzen. 

Aller Welt zum Trotz! Das war ſeine Loſung auch bei dieſem Schritte, 
welcher den ſtaunenden Zeitgenoſſen noch die Gelegenheit bieten ſollte, 
den ſtarken, unbeugſamen Mann, den Kaͤmpfer von heldenhafter Wild⸗ 
heit als zartſinnigen und humorvollen Diener ſeines „Herrn Kaͤthe“, als 
den kindlichen Genoſſen ſeiner Kinder zu ſehen. 

Aller Welt zum Trotz! Das koͤnnte man als Motto ſetzen uͤber 
die Geſchichte des Reformators im Jahre 1525. Als Luther einſt — am 
10. Dezember 1520 — die Schiffe hinter ſich verbrannte, da hatte das 
Feldgeſchrei: „Hie Chriſtus, dort der Antichriſt“ ihn wie beſinnungslos 
vorwaͤrts getrieben. Als er ein paar Monate ſpaͤter vor Kaiſer und 
Reich ſeinen Heldenmut bewaͤhrte, da war er getragen nicht allein von 
der Macht einer felſenfeſten Überzeugung, ſondern zugleich von der Flut; 
welle der öffentlichen Meinung. Und jetzt? Er erreicht den Gipfelpunkt 
feiner Größe. Jetzt erſt ſtand er, kein Titelchen von feinem Prinzip preis; 
gebend, wie der Fels im Meer, der, auf allen Seiten von der Brandung 
umtobt, unbeirrt das leuchtende Feuer durch die Nacht entſendet. 

War da noch etwas zu fuͤrchten fuͤr ſein Werk? Die Reformation 
konnte, der mannigfachen Einbuße unerachtet, anknuͤpfen an den Stand 


210 


Der Verlauf des Krieges. Seine Folgen 


der Dinge vor der Revolution und ſich jetzt an die Loͤſung jener Aufgabe 
machen, die, wie wir früher ſahen, ſchon das Jahr 1524 ihr geſtellt hatte: 
die Eroberung des Reiches auf dem Wege der Territorialreform. Auf 
Schritt und Tritt ſieht ſich bei dieſem Streben die Reformation ſei es 
gefoͤrdert, ſei es gehemmt durch die wechſelnde Lage der europaͤiſchen 
Politik — in dem Maße, daß dieſe den Rahmen abgibt fuͤr unſere 
Geſchichte. 


San < 5 


Karl V., die Mächte 


und das Reich von 
1525 —1532 


1. Die auswärtigen Verhaͤltniſſe 1525 1526. Frankreich und 
der Papſt 


in viertel Jahrhundert lang iſt die europaͤiſche Lage 
>J EN bedingt geweſen durch die Rivalitaͤt Karls V. und 
ö N „Franz“ J. von Frankreich. Der Habsburger, ſchon als 
79 N 90 Herr Spaniens, Burgunds und der Niederlande der 

ni — Grenznachbar Frankreichs, umklammerte es jetzt als 

— 3] erwähltes Oberhaupt Deutſchlands von Oſten her auch 

mit der 5 des Reiches. Er waͤre ſo fuͤr den Koͤnig des maͤchtigen, laͤngſt 
in ſich geſchloſſenen und ſelbſtbewußten Reiches ſchon an und fuͤr ſich eine 
Herausforderung geweſen, wie viel mehr, da es fuͤr den Franzoſen ſeine 


212 


Die auswärtigen Verhaͤltniſſe 1525—1526. Frankreich und der Papſt 


Niederlage bei der Kaiſerwahl wettzumachen galt. Franz hinwiederum beſaß 
nicht nur Burgund (das ſog. Herzogtum), auf das der Urenkel Karls des 
Kuͤhnen doch ein Anrecht zu haben vermeinte, ſondern auch das alte Reichs⸗ 
land Norditaliens. Mußte nicht der junge Kaiſer bei der außergewoͤhnlichen 
Haus macht, die er beſaß, ſchon feine Ehre drein ſetzen, zu erreichen, was 
die ſchwache Kraft ſeines Großvaters Maximilian nicht vermocht hatte, 
Mailand und Genua dem Reiche wieder zuzufuͤhren? So ſahen ſich beide 
in den Kampf getrieben, den unvermeidlichen Kampf um die Vorherr⸗ 
ſchaft in Europa. Wer haͤtte bei ihm neutral bleiben koͤnnen? Selbſt 
England hat wiederholt in ihn eingegriffen. Wie viel naͤher lag dies 
den Paͤpſten! Sie begnuͤgten ſich nicht damit, mit ihren Sympathien 
bald auf dieſe, bald auf jene Seite zu treten, ſondern nahmen auch, von 
weltlichen Beweggruͤnden geleitet, ganz wie weltliche Fuͤrſten am 
Getuͤmmel der Waffen teil — nicht eben zum Vorteil ihres kirchlichen 
Anſehens. Wie wenig begriffen ſie doch ihre Aufgabe, unter Darangabe 
aller eigenen, kleinlichen Intereſſen die Voͤlker des Abendlandes zu einen 
wider den Erbfeind des chriſtlichen Namens! Und wie manches Mal 
nahm doch in dieſen Jahren jene ſeit langem von Oſten her drohende 
Gefahr eine furchtbare Geſtalt an, indem der Tuͤrke ſeine wilden Scharen 
heranwaͤlzte — zum Schrecken und Entſetzen der zunaͤchſt bedraͤngten Laͤn⸗ 
der Ferdinands. Aber auch der Kaiſer wurde in Mitleidenſchaft gezogen, 
und ſeine Kraft gebunden. So hat der Sultan unter Umſtaͤnden eine 
nicht unerhebliche Verſchiebung der weſteuropaͤiſchen Lage bewirkt, hat er 
dem gemeinſamen Gegner von Papſt und Kaiſer, dem Erzketzer von 
Wittenberg, in hoͤchſt wirkſamer Weiſe Luft gemacht. Das war eine Ein⸗ 
wirkung auf Deutſchland halb ohne Wiſſen und Wollen. Bewußt da⸗ 
gegen und mit aller Willenskraft bemuͤhten ſich um uns die beiden Haupt⸗ 
kaͤmpfer ſelber. Sie ſuchten fort und fort die Kraͤfte Deutſchlands, ſei es 
ganz ſei es geteilt, fuͤr ſich zu gewinnen; und wem das gluͤckte, der war 
ohne weiteres dem Gegner uͤberlegen. So haben wir es in gewiſſer Weiſe 
mit einem Kampf um Deutſchland zu tun. Und er hat uns gerettet. 
Sobald Habsburg und Frankreich einig waren, ſah ſich die deutſche Nation 
auf das ſtaͤrkſte gefaͤhrdet. Waͤre in einem ſolchen Augenblick gar der Papſt 
als Dritter im Bunde hinzugekommen, ſo waͤre ſie verloren geweſen. Ganz 
unmittelbar ſpiegeln ſich daher die Wechſelfaͤlle der europaͤiſchen Politik in 
dem ſchwankenden Schickſal unſeres Volkes wider. Wie ſich dieſes dabei 
im einzelnen geſtaltet hat, zunaͤchſt bis zu dem tief einſchneidenden Jahre 
1532 — das zu veranſchaulichen iſt die Aufgabe dieſes Kapitels. 


213 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


In dem gleich 1521 ausgebrochenen Kriege mit Frankreich ſah ſich 
Karl V. zu Anfang des Jahres 1525 fruͤheren Erfolgen zum Trotz in 
einer nahezu verzweifelten Lage. England hatte ihn verlaſſen, der neue 
Papſt, Clemens VII., zeigte ſich unzuverlaͤſſig; ſeine Truppen in Nord⸗ 
italien waren ſo gut wie aufgerieben, waͤhrend Franz J. in Perſon an 
der Spitze eines glaͤnzenden Heeres in der Lombardei erſchienen war. 
Doch da trugen die deutſchen Landsknechte, die ſoeben Georg von Frunds⸗ 
berg uͤber die Alpen gefuͤhrt hatte, gemeinſam mit den Spaniern unter 
Fuͤhrung des Marcheſe von Pescara am 24. Februar 1525, dem Geburts⸗ 
tage des Kaiſers, bei Pavia einen entſcheidenden Sieg uͤber Franz I. 
davon: ſein Heer war vernichtet, er ſelber in Gefangenſchaft geraten. 
Nie iſt Karl V. durch eine Siegesbotſchaft ſtaͤrker uͤberraſcht worden als 
zu Madrid durch die Kunde von dem Tage von Pavia. Frommen Sinnes 
erblickte er in dem Siege ein ſonderliches Geſchenk Gottes, und ſofort 
ſtand ihm der Entſchluß feſt, ihn zur Ehre Gottes, das will ſagen: zur 
Ausrottung der Ketzerei in Deutſchland auszubeuten. Wie, wenn er nun 
wirklich in Deutſchland haͤtte erſcheinen koͤnnen? zu derſelben Zeit, wo das 
Land zerriſſen wurde von der Wut eines inneren Krieges? oder unmittel⸗ 
bar nach deſſen Ende, wo die Anhaͤnger des Alten, fuͤr den Augenblick 
von ihrer Furcht vor „dem gemeinen Mann“ befreit, ſoeben mit Zuver⸗ 
ſicht an das Werk der Gegenreformation gingen? Frankreich war ja in 
der Tat gedemuͤtigt. In ſpaniſcher Gefangenſchaft mußte Koͤnig Franz 
endlich in dem Frieden von Madrid (Januar 1526) zur Annahme der 
haͤrteſten Bedingungen ſich bequemen: Karl glaubte als Sieger nicht nur 
den Verzicht auf Norditalien, ſondern auch die Herausgabe Burgunds 
erzwingen zu dürfen — eine Überfpannung des Bogens, die unheilvoll 
für ihn werden ſollte. Nicht allein, daß der Franzoſe ſich, bei der Weite 
ſeines religiöfen Gewiſſens, für berechtigt hielt, den Frieden zu beſchwoͤren 
mit der geheimen, ſelbſt ſchriftlich feſtgelegten Abſicht ihn zu brechen. Auch 
der Papſt meinte jetzt, mit Entſchiedenheit Partei ergreifen zu muͤſſen. 
Voͤllig weltlich, nur auf feine eigenen kleinen Vorteile bedacht, ein ver⸗ 
ſchlagener Politiker, deſſen Element Lug und Trug waren, hatte Clemens VII. 
ſchon den Sieg feines Verbündeten bei Pavia als ſchweren Schickſals⸗ 
ſchlag empfunden (man ſprach damals an der Kurie von der Uner⸗ 
gruͤndlichkeit der goͤttlichen Ratſchluͤſſe). Jetzt ließ er ſich durch die Furcht 
vor dem Übergewaltigen zu offner Feindſchaft hinreißen: zu einer Zeit, 
wo Papſt und Kaiſer im Bunde zu einem furchtbaren Schlage gegen die 
Ketzerei ausholen konnten, brach er mit dieſe m Kaiſer, der von jeher 


214 


Der Speierer Reichstag von 1526. Die Errichtung evangeliſcher Landeskirchen 


dem geiſtlichen Oberhaupte der Chriſtenheit Zeichen tiefſter Verehrung 
gegeben hatte und in dieſem Augenblick der Retter der roͤmiſchen Kirche 
werden konnte. Er entband den Koͤnig von Frankreich von ſeinem Eide 
und brachte einen Bund gegen Karl V. zuſtande, die Ligue von Cognac 
(von Franz I. am 22. Mai unterzeichnet), die außer ihm und Frankreich 
auch Venedig umſpannte und mit England im Einvernehmen ſtand. 
Schon im Jahre 1526 erſchien das Kriegsvolk der Verbuͤndeten im Felde. 


2. Der Speierer Reichstag von 1526. Die Errichtung evange— 
liſcher Landeskirchen auf reichsrechtlicher Grundlage 


An demſelben Monat wurde in Deutſchland ein 
FEN Reichstag eröffnet, auf dem der Sieger von Pavia 
2 nun endlich die ſtrengſte Beobachtung des Wormſer 
ke Ediktes durchzuſetzen gedachte, der Tag von Speier. 


2 
2) 


— Se 
a Bi 


= einem Erlaß aus Sevilla (vom 23. März) die Aus⸗ 
9 des Wormſer Beſchluſſes eingeſchaͤrft; dasſelbe tat er jetzt 
in der Reichstagsvorlage, die fuͤr den Notfall ſogar die Anwendung 
von Gewalt verlangte. Er rechnete auf dieſem Reichstage auf 
die tatkraͤftige Unterſtuͤtzung einer Mehrheit, um fo mehr, als bereits 
im Sommer 1525 in Nachahmung des Vorgehens zu Regensburg auch 
norddeutſche Fuͤrſten zu Deſſau einen Bund „wider die Lutheriſchen“ 
eingegangen waren: die Hohenzollernſchen Bruͤder, die Kurfuͤrſten von 
Brandenburg und Mainz, Herzog Georg von Sachſen und zwei Herzoͤge 
von Braunſchweig. Infolge deſſen hatten die zunaͤchſt bedrohten Evan⸗ 
geliſchen, Sachſen und Heſſen, ſich zu Torgau uͤber einen Defenſivbund 
geeinigt, der noch unmittelbar vor der Eroͤffnung des Reichstages durch 
den Zutritt anderer norddeutſcher Fuͤrſten nicht unbetraͤchtlich gewachſen 
war, ſo daß jetzt den Verbuͤndeten von Nord und Suͤd eine zwar kleine, 
aber feſtgeſchloſſene evangeliſche Partei gegenuͤberſtand. Ließ ſich da fuͤr 


215 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


den Reichstag bei dem Druck der kaiſerlichen Willensaͤußerung etwas 
anderes erwarten als ein ſchroffer Zuſammenſtoß der beiden Parteien? 
Indeſſen hat zu unſerer Überraſchung der Speierer Reichstag einen völlig 
anderen Verlauf genommen. War es die Bildung des Gegenbundes, 
was auf die Altkirchlichen Eindruck machte, wirkte außerdem die Erwaͤ⸗ 
gung, daß der Kaiſer, ſoeben in einen neuen, ſchweren Krieg verwickelt, 
zu einer gewaltſamen Durchfuͤhrung ſeines Willens zur Zeit außer ſtande 
ſei — genug, es machte ſich hier eine verſoͤhnliche Stimmung bemerkbar: 
man wollte Ruhe und Einigkeit im Innern und zu dem Zwecke Abſtellung 
der Mißbraͤuche. So urteilte z. B. der Kurfuͤrſt von der Pfalz, von dem 
doch der bayeriſche Geſandte nach Haufe berichtete, daß er ſich „chriſtlich“ 
halte, die Wurzel der niedergeſchlagenen Empoͤrung ſeien nicht ſowohl 
die aufhetzenden Predigten, als vielmehr die Mißbraͤuche, vornehmlich der 
Geiſtlichen; und er wollte des Wormſer Ediktes uͤberhaupt nicht gedacht 
wiſſen: wenn man aus Ruͤckſicht auf den Kaiſer es nicht ganz umgehen 
koͤnne, beduͤrfe es auf alle Faͤlle einer erheblichen Einſchraͤnkung. 
Kühn wagte es der Reichstag, noch ein Mal das hoͤchſte Ziel ins Auge zu 
faſſen: durch Aufrichtung einer gemeinſam fuͤr alle geltenden Religions⸗ 
ordnung den Zwieſpalt zu uͤberwinden. Ein Ausſchuß des Fuͤrſten⸗ 
kollegiums brachte einen Reformationsentwurf zuſtande, der in Anbe⸗ 
tracht des Umſtandes, daß er von Freunden der alten Kirche herruͤhrt, 
zweifellos Beachtung verdient. Er war zwar ohne Frage ein vom Geiſte 
der Halbheit eingegebenes Flickwerk, indem er den einen vielleicht zu viel 
nahm, den andern ſicher nicht genug gab. Gleichwohl haͤtte die hier in 
Ausſicht genommene Ordnung der Dinge als ein Proviſorium eine unge⸗ 
meine Bedeutung gewinnen koͤnnen. Die Evangeliſchen waren denn auch 
nicht abgeneigt, ſie als eine Art von Abſchlagszahlung ſich gefallen zu 
laſſen. Mit Recht. Soweit wir zu urteilen vermoͤgen, wuͤrde ſie nur die 
Ordnung eines Übergangsſtadiums gebildet haben, haͤtte fie bei der 
wachſenden Wucht der evangeliſchen Überzeugungen im Reiche hinuͤber⸗ 
geleitet zu einer rein⸗evangeliſchen Geſtaltung der kirchlichen Verhaͤltniſſe. 

Dieſes Gutachten war aber nur ein Symptom der Stimmung 
neben anderen, die zu Ende Juli hervortraten. Sie laſſen deutlich 
erkennen, daß ſich unter den Reichsſtaͤnden allgemach eine Mehrheit heraus⸗ 
gebildet hatte, die entſchloſſen war, durch wirkliche Reformen und durch 
teilweiſes Dulden der religioͤſen Neuerungen die Einheit der Nation zu 
retten. Mit Recht hat Friedensburg, dem wir die gruͤndlichſte Darftellung 
der Geſchichte dieſes Reichstages verdanken, hervorgehoben, „daß die 


216 


Der Speierer Reichstag von 1526. Die Errichtung evangeliſcher Landeskirchen 


Anhaͤnger Luthers der Majoritaͤt der Reichsſtaͤnde nicht mehr als Ketzer 
erſchienen, ſondern als Chriſten, daß alſo das, was zwiſchen ihnen lag, 
nicht mehr als unbedingt trennend angeſehen wurde“. Man gab ſich 
der Hoffnung hin, hier auf dem Reichstage nun doch noch zu erreichen, 
was man ſich vor zwei Jahren fuͤr die geplante Nationalverſammlung als 
Ziel geſetzt hatte. Mit Bewußtſein knuͤpfte man in dieſem Geiſte der 
Verſoͤhnlichkeit da wieder an, wo im Sommer 1524 durch das wider⸗ 
rechtliche Dreinfahren des Kaiſers der Faden abgeriſſen war — beilaͤufig 
der beſte Beweis, daß der Bauernkrieg, deſſen üble Folgen man haͤufig 
uͤbertrieben hat, auf die politiſche Lage der Evangeliſchen keineswegs 
nachteilig gewirkt hat. 

Abermals ſtehen wir hier bei einem großem Moment in der deutſchen 
Geſchichte: noch einmal zeigte ſich der Nation, wie Ranke die Situation 
zeichnet, „die Moͤglichkeit, in der wichtigſten Angelegenheit, welche die 
menſchliche Seele beſchaͤftigen kann, ihre Einheit zu bewahren“. 

Doch von neuem ward dieſe Moͤglichkeit vernichtet durch das Ver⸗ 
haͤngnis Deutſchlands, daß es an einen fremden Herrſcher gekettet war: 
von neuem blieb es ihm verſagt, ſeiner eigenen Abſicht zu folgen. 

In dem Augenblick, wo der Reichstag im Begriff ſtand, in der 
großen brennenden Frage des Tages ſich der Obmacht des Kaiſers zu 
entziehen, brachten die kaiſerlichen Kommiſſare, Erzherzog Ferdinand 
an der Spitze, eine bis dahin geheim gehaltene Nebeninſtruktion ihres 
Gebieters zum Vorſchein, die auf das beſtimmteſte all und jede Behand⸗ 
lung der Glaubensſache unterſagte. 

Nun hatten die Staͤnde zwar Selbſtachtung genug, ſich dem ſchnoͤden 
Verbote nicht zu fuͤgen. Allein der Mut, zur Aufrichtung einer einhelligen 
Religionsordnung mitzuwirken, war der Majoritaͤt vergangen. Die 
Evangeliſchen mußten zufrieden ſein, daß die Gegner nicht daran dachten, 
ſie durch einen Mehrheitsbeſchluß zu vergewaltigen, vielmehr — angeſichts 
der baren Unmoͤglichkeit, in dieſen „ſeltſamen, ſchweren Laͤuften der Zeit“ 
das Wormſer Edikt durchzufuͤhren, die Hand zu jenem Kompromiß boten, 
dem dieſer Reichstag ſeine Beruͤhmtheit verdankt. 

Er beſtand in dem einhelligen Beſchluß, daß bis zu einem allgemeinen 
Konzil in Sachen der Religion ein jeder Reichsſtand ſich ſo halten moͤge, 
wie ein jeder ſolches gegen Gott und gegen den Kaiſer hoffte und 
getraute zu verantworten. 

Die geſchichtliche Bedeutung dieſes Beſchluſſes iſt klar. Er hat nicht 
bloß, wie man wohl in neuerer Zeit gemeint hat, den Ausgangspunkt 


217 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


fuͤr die Errichtung von evangeliſchen Landeskirchen abgegeben, vielmehr 
(dieſe Auffaſſung Rankes iſt noch unerſchuͤttert) die reichsrechtliche Grund⸗ 
lage fuͤr jene territorialen Bildungen geſchaffen. Das Reich waͤlzte, von 
der Not gedraͤngt ſeine Einheit preisgebend, die Ordnung der Religions⸗ 
ſache von ſich auf die Staͤnde ab. Denn es gab dem religioͤſen wie einem 
ſittlichen Ermeſſen derſelben anheim, in ihren Gebieten entweder die 
alte Kirche aufrecht zu erhalten oder ihrer evangeliſchen Überzeugung zu 
folgen. Inſofern wurde in der Tat von Reichs wegen das Evangelium 
frei gegeben. Haͤtte man ſich wirklich auf irgend einer Seite taͤuſchen 
koͤnnen uͤber Sinn und Kraft der hier von den einzelnen Reichsſtaͤnden 
uͤbernommenen Verantwortung? Die evangeliſchen Fuͤrſten und Staͤdte 
wußten es ſehr wohl, was es fuͤr ſie zu bedeuten habe, wenn ſie die Ver⸗ 
antwortung ihres Tuns vor Gott obenan ſtellten, die Verantwortung 
vor dem Kaiſer, fuͤr den Fall eines Konfliktes beider Inſtanzen, jener 
erſten unterordneten. Aus dem religioͤſen Gewiſſen war einſt die 
Reformation geboren, in das religioͤſe Gewiſſen der ihr beigefallenen 
Reichsſtaͤnde wurde ſie hier geſtellt — wahrlich kein uͤbler Ausweg, den man 
bei der Unmoͤglichkeit, ſie als Sache der Nation durchzufuͤhren, hier 
beſchritt! Wie Luther ſeit dem Tage von Worms an ſeiner Überzeugung 
feſthielt dem Kaiſer zum Trotz, ſo hatte die religioͤſe Gewiſſenhaftigkeit 
der evangeliſchen Staͤnde fortan ſich zu bewaͤhren vorkommenden Falls 
auch im Gegenſatz zum Kaiſer — in Not und Drang der politiſchen Lage. 
So war das Feſthalten am Evangelium mitten im Kampf der welt⸗ 
lichen Intereſſen zuletzt Sache des Glaubens: Mut und Zuverſicht, ſie 
hatten ihren Anker in dem feſten Grunde der Religion. 

Zunaͤchſt freilich brauchten die evangeliſchen Staͤnde den Kaiſer nicht 
zu fuͤrchten; dafuͤr ſorgte der Papſt. Sie konnten in aller Ruhe an die 
Neugeſtaltung der kirchlichen Verhaͤltniſſe in ihren Territorien gehen, d. h. 
an die Schoͤpfung neuer, evangeliſcher Kirchen. Eine Aufgabe, deren 
Groͤße und Schwierigkeit niemand verkennen wird. Im Begriff, zum 
Neubau zu ſchreiten, hatte man vor allem den Schutt des Mittel⸗ 
alters hinwegzuraͤumen: den alten papiſtiſchen Sauerteig in Lehre und 
Braͤuchen auszukehren, einen großen Teil der alten katholiſchen Geiſt⸗ 
lichkeit, den ſittliche Verkommenheit und kraſſe Unwiſſenheit fuͤr die 
neuen Aufgaben untauglich machte, zu entfernen. Und welche Fuͤlle 
poſitiver Arbeit war zu leiſten! in Anleitung der Pfarrer, in Ordnung 
des Gottesdienſtes, in Unterricht und ſittlicher Erziehung der Jugend 
wie des unmuͤndigen Volkes, nicht zuletzt in finanzieller Sicherſtellung 


218 


Karl V. im Krieg mit dem Papſt und mit Frankreich. Die Plünderung Roms 


von Pfarren und Schulen durch ein planmaͤßiges Erhalten von Kirchen⸗ 
und Kloſtergut, nach dem jedermann, nicht zuletzt der Adel, begierig 
die Hand ausſtreckte. 

Indem die Territorialgewalten durch ihr Eingehen auf eine von der 
Not der Zeit an fie geſtellte Anforderung kirchliche, bis dahin den Biſchoͤfen 
obliegende, Pflichten übernahmen, haben fie nicht allein einen hoͤchſt bedeut⸗ 
ſamen Machtzuwachs bekommen, ſondern zugleich ihren Untertanen, ja 
ganz Deutſchland einen großartigen Dienſt geleiſtet, von deſſen Fruͤchten 
wir noch heute zehren. Die Geſchichte darf ihnen, insbeſondere dem Kur⸗ 
fuͤrſten Johann, dem Landgrafen Philipp und ſo manchem reichsſtaͤdtiſchen 
Magiſtrate, das Zeugnis geben, daß ſie die ihnen wie uͤber Nacht zuge⸗ 
fallene Aufgabe, trotz manches Mißgriffes und einzelner Haͤrten, mit 
kluger Umſicht und weiſer Maͤßigung in Angriff genommen haben: 
unter grundſaͤtzlicher Schonung perſoͤnlicher Gerechtſame, unter ſorgſamer 
Wahrung der geſchichtlichen Grundlagen — ein konſervatives Verfahren, 
fuͤr das vor anderen Luther eingetreten iſt. Es ſchmaͤlert auch ihren 
Ruhm nicht, daß an dem von ihnen begonnenen Werke religioͤs⸗ſittlicher 
Kultur noch Geſchlechter haben arbeiten muͤſſen. 


3. Karl V. im Krieg mit dem Papſt und mit Frankreich 
(1526-1529). Die Pluͤnderung Roms (1527) 


= aß der Kaiſer nicht daran denken konnte, dieſe ſtille 
ö | Arbeit zu ſtoͤren, daran trug, wie ſchon angedeutet, der 
ae Papſt die Schuld. Er war es ja, der Karl V. in einen 
Kir ” 37) /Iimeuen Krieg verwickelt und fo deſſen Kraft gelaͤhmt 
5 Ser hatte. Nicht oft hat ſich eine Schuld in fo augenfaͤlliger 

N Weiſe geraͤcht wie dieſe Clemens“ VII. Sie hat — um 
von dem Schaden, den fein völlig ungeiſtlich-weltliches Treiben der 
katholiſchen Kirche zugefuͤgt hat, ganz zu ſchweigen — den unmittelbaren 


219 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


Anſtoß dazu gegeben, daß uͤber ihn ſelbſt und uͤber das uͤppige, in ein 
entſetzliches Sittenverderben verſunkene Rom ein furchtbares Strafgericht 
hereinbrach, das uͤbrigens ernſtere Beobachter ahnenden Geiſtes laͤngſt 
hatten kommen ſehen. 

Es war am 5. Mai 1527: da erſchien vor den Toren Roms unter 
dem Oberbefehl eines Franzoſen, des Herzogs von Bourbon, ein kaiſer⸗ 
liches Heer, gegen 20000 Mann ſtark. Es fette ſich zur größeren Hälfte aus 
deutſchen (wohl der Mehrzahl nach ketzeriſchen) Landsknechten zuſammen, 
die dem Rufe des großen Feldhauptmanns Georg von Frundsberg 
gefolgt waren (er, deſſen ganzer Sinn auf Rom, auf die Zuͤchtigung 
des Papſtes gerichtet war, hatte ſie nur bis Bologna fuͤhren koͤnnen; 
hier hatte ſeine Heldenlaufbahn ein tragiſches Ende gefunden: als er, 
der „Vater der Landsknechte“, in deſſen Hand ſie ſonſt wie Wachs waren, 
eine von den Spaniern ausgehende Meuterei ſeiner „Kinder“, die ſtuͤrmiſch 
den ſeit lange ruͤckſtaͤndigen Sold verlangten, vergeblich durch den Hinweis 
auf die Schaͤtze Roms zu ſtillen verſuchte, hatte ihn ein Schlaganfall 
getroffen, der uͤbrigens die Landsknechte raſch zur Beſinnung brachte). 
Der Reſt beſtand aus Spaniern und Italienern. Ob Deutſche, ob 
Romanen, alle waren gleichermaßen vorwaͤrts getrieben von dem zwie⸗ 
fachen Gedanken, ihren Herrn an dem treuloſen Papſt zu raͤchen und ſich fuͤr 
den ausſtehenden Sold, fuͤr unſaͤgliche Entbehrungen ſchadlos zu halten 
an den Reichtuͤmern der ewigen Stadt. Am Abend des 6. Mai war dieſe 
in ihren Haͤnden — mit Ausnahme einzig der Engelsburg, in die 
Clemens VII. fich gefluͤchtet hatte. Kurz und trocken erzaͤhlt einer der Lands⸗ 
knechtsfuͤhrer (Sebaſtian Schaͤrtlin von Burtenbach) in feiner Lebens⸗ 
beſchreibung: „Am 6. Tag May haben wir Rom mit dem Sturm genom⸗ 
men, ob 6000 Mann darin zu tod geſchlagen, die ganze Stadt gepluͤndert, 
in allen Kirchen und ob der Erd genommen, was wir gefunden, einen 
guten Teil der Stadt abgebrannt“. Wir haben ausführliche Berichte 
in Menge, die uns vor Augen fuͤhren, welche Summe von Elend ſich hinter 
dieſen wenigen Zeilen verbirgt. Die Stadt, in welche die Schaͤtze der 
Erde zuſammen gefloſſen waren, unermeßlich viel mehr als in jede andere, 
ſah ſich jetzt die lange Zeit von acht Tagen hindurch der Pluͤnderung preis⸗ 
gegeben. Beute aber waren nach dem Kriegsrecht der Zeit nicht nur Hab 
und Gut, ſondern auch die ungluͤcklichen Einwohner Roms. Und welchen 
Quaͤlereien, welch unſagbaren Mißhandlungen waren fie ausgeſetzt — 
noch mehr in der Gewalt der unmenſchlichen Spanier und Italiener, 
als wenn ſie den trunkenen, doch oft gutmuͤtigen Deutſchen in die Hand 


220 


Karl V. im Krieg mit dem Papſt und mit Frankreich. Die Plünderung Roms 
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fielen. Am furchtbarſten waren die Leiden der Frauenwelt, die vor⸗ 
nehmſten Roͤmerinnen nicht ausgenommen. Qualvolle Tage durchlebten 
namentlich auch die hohen Praͤlaten. Der Kardinal Cajetan, jener Legat, 
der 1518 zu Augsburg hochfahrend, als ſaͤße er an des Papſtes Statt, 
den Richter Luthers geſpielt hatte, wurde jetzt von den deutſchen Lands⸗ 
knechten durch die Stadt gezerrt, „bald mit Fußtritten fortgeſtoßen, 
bald herumgetragen, eine Packtraͤgermuͤtze auf dem Kopf“, bis er bei 
Wechſlern oder Freunden fein Loͤſegeld zuſammengebracht hatte; und 
ſein Geſchick war noch laͤngſt nicht das ſchlimmſte. Wie war doch die 
Pracht aller der Vornehmen und Großen, die ſich die Herren der Welt 
gedeucht hatten, dahin! „Zerlumpt und zerſchlagen“, ſagt der neueſte 
Geſchichtſchreiber der Stadt Rom, Ferdinand Gregorovius, „wankten 
ſie in den Straßen umher, oder lagen ſie auf den Foltern, oder ſie dienten 
dem rohen Kriegsvolk als Köche, Stallknechte, Waſſertraͤger in ihren 
eignen ausgeraubten Palaͤſten“. 

Wie es einen Monat nach der Erſtuͤrmung in der Stadt ausgeſehen 
hat, erzaͤhlt uns als Augenzeuge ein Spanier: „In Rom, der Haupt⸗ 
ſtadt der Chriſtenheit, wird keine Glocke gelaͤutet, keine Kirche geoͤffnet, 
keine Meſſe geleſen; es gibt weder Sonntag noch Feſttag. Die reichen 
Laͤden der Kaufleute ſind Pferdeſtaͤlle; die herrlichſten Palaͤſte ſind ver⸗ 
wuͤſtet, viele Haͤuſer verbrannt; die Tuͤren und Fenſter der anderen zer⸗ 
brochen und fortgeſchleppt, die Straßen in Miſthaufen verwandelt; ent⸗ 
ſetzlich iſt der Geſtank der Leichen; Menſchen und Tiere haben gleiches 
Begraͤbnis. Auf den Plaͤtzen ſtehen die Tiſche gedraͤngt, auf denen um 
große Haufen Dukaten gewuͤrfelt wird. Gotteslaͤſterungen erfüllen 
die Luft. Ich weiß nicht, womit ich das vergleichen ſoll als mit der Zer⸗ 
ſtoͤrung Jeruſalems. Jetzt erkenne ich die Gerechtigkeit Gottes, der nichts 
vergißt, wenn er auch ſpaͤt kommt. In Rom wurden alle Sünden ganz 
offen geübt: ... Simonie, Idololatrie, Heuchelei, Betrug. So koͤnnen 
wir wohl glauben, daß das nicht durch Zufall gekommen iſt, ſondern 
durch goͤttliches Urteil“. 

Dieſes Schickſal des Suͤndenpfuhls Rom ein Gottesurteil — dieſer 
Spanier ſtand mit ſolchem Urteil unter ſeinen Landsleuten nicht allein. 
Ahnlich, doch gut lutheriſch, dachten die Deutſchen. Sie glaubten ſelber 
ein ſichtliches Gottesgericht vollſtreckt zu haben: Gott ſelbſt habe ſie durch 
tauſend Gefahren hindurch uͤber die Alpen ſicher gen Rom geleitet, um 
den Antichriſt mit dem Strahle ſeines Gerichts zu treffen: der ſich ſelber 
zum Gott auf Erden erhoben, ſei nun durch die Macht des eifrigen Gottes 


2217 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


niedergelegt. Aber auch jene, die Spanier, von einer ernſthafteren Reli⸗ 
gioſitaͤt, von ſtrengerer Sittlichkeit als die Italiener, durften ſich ſagen, 
daß ſie und ihr Kaiſer von Gott als Zuchtrute fuͤr das frivole Papſttum 
gebraucht ſeien. 

Die Wirkung dieſer Zuͤchtigung iſt nicht ausgeblieben. Das von der 
kaiſerlichen Armee vollzogene Strafgericht hat in der Tat den erſten 
Anſtoß gegeben zu einer Reinigung des Papſttums im Sinne der mittel⸗ 
alterlichen Kirchlichkeit Spaniens. Mit der erſchuͤtternden Heimſuchung 
des Jahres 1527 war die Zeit gekommen, wo ſich der ſpaniſche Geiſt in 
Rom feſtſetzte, um allmaͤhlich das weltfreudige, in den hoͤchſten Genuͤſſen 
eines verfeinerten Geiſteslebens wie in gemeiner Sinnenluſt ſchwelgende 
Italien zu uͤberwaͤltigen: der Beginn der dauernden Abhaͤngigkeit Italiens 
von der ſpaniſchen Macht und der Durchſetzung des italieniſchen Geiſtes 
mit einem fremdartigen Elemente. Die glänzende Epoche der Renaiſ⸗ 
ſance wird abgeloͤſt von der ſpaniſchen Reſtauration. 

Deutſchland, deſſen Kraft doch vornehmlich dem Kaiſer ſeinen Sieg 
uͤber den Papſt verſchafft hatte, hat aus dem kriegeriſchen Erfolg ſeiner 
wehrhaften Jugend nur einen voruͤbergehenden Gewinn gezogen, ſofern 
die Rache, welche im Dienſt des Kaiſers Deutſche an dem Papſt genommen, 
das Vaterlandsgefuͤhl und mit ihm den Huttenſchen Haß gegen den wel⸗ 
ſchen Oberprieſter neu entflammte. Der neue Traum, daß jetzt „der 
junge teuere Kaiſer Carolus nach dem einigen Worte unſeres Seligmachens 
regieren“ werde, ſollte raſch verfliegen. Karl V. mochte noch ſo empoͤrt 
ſein uͤber dieſen Papſt, er mochte ſeine an Ingrimm ſtreifende Entruͤſtung 
ſelbſt öffentlich äußern, auf die Dauer mit dem „Heiligen Vater“ im Kriege 
zu liegen, waͤre doch ein Ding der Unmoͤglichkeit fuͤr ihn geweſen. Schon 
ſein Gewiſſen haͤtte es nicht geduldet, da eine fortgeſetzte Befehdung des 
Papſtes einer Schaͤdigung des Papſttums gleichgekommen waͤre. Überdies 
bedurfte er des Papſtes fuͤr die Loͤſung mehr als einer Schwierigkeit; 
ſo in einer Sache, die ihm perſoͤnlich ungemein am Herzen lag: eben 
damals ſpielten ſich in England die erſten Szenen jenes Dramas ab, welches 
mit dem voͤlligen Bruch Heinrichs VIII. und des Papſtes enden ſollte: 
der Koͤnig wuͤnſchte von ſeiner Gemahlin Katharina von Aragonien, 
einer Tante des Kaiſers, geſchieden zu werden. Da galt es fuͤr Karl, bei 
Clemens VII. durchzuſetzen, daß er ſeine Einwilligung zur Scheidung 
verſage. Und noch etwas anderes konnte auf den Kaiſer Eindruck machen: 
bereits erhob ſich in Spanien ein Murren wider ihn, als er Clemens VII., 
der Anfang Juni ſich in der Engelsburg hatte ergeben muͤſſen, laͤngere 


222 


Ruͤckſchlag der Machtſtellung Karls auf Deutſchland. Die Speierer Proteſtation von 1529 


Zeit in Haft behielt. So ſetzte er im November 1527 den Papſt auf freien 
Fuß, war er fortan auf voͤllige Ausſoͤhnung mit ihm bedacht. Zum foͤrm⸗ 
lichen Abſchluß iſt der Friede erſt im Sommer 1529 (29. Juni) zu Bar⸗ 
celona gekommen. Es war genau in denſelben Tagen, wo die Kaiſerlichen 
in Norditalien dem Heere Franz’ I., auf deſſen Seite auch England ge; 
treten war, eine entſcheidende Niederlage beibrachten. Infolge dieſes 
Schlages mußte jetzt auch Frankreich zum Frieden (von Cambrai) ſich 
bequemen und abermals auf Genua und Mailand verzichten. Von 
jetzt ab war der Spanier der Herr Italiens. 


4. Der Nuͤckſchlag der Machtſtellung Karls auf Deutſchland. 
Der Speierer Reichstag von 1529 und die Proteſtation 


N ICH ollte er in dieſer Machtfuͤlle nicht vermögen, nun end⸗ 
iich auch in Deutſchland feinen Willen durchzuſetzen? 
N d. h. die Ketzerei auszurotten? Im Vertrage von Bar⸗ 

> I celona hatte er dieſes feierlich dem Papſte verheißen; im 
Frieden von Cambrai hatte Koͤnig Franz von neuem ſei⸗ 
>= A nen Beiftand wider Türken und Ketzer verſprechen muͤſſen. 
Karl war inzwiſchen nicht untaͤtig geweſen. Sobald nur das lange 
wechſelnde Kriegsgluͤck ſich dauernd an feine Fahne zu heften ſchien (zu 
dieſer Wendung war es im Herbſt 1528 gekommen), hatte er ſich beeilt, 
dem deutſchen Volke fuͤr die tatkraͤftige Unterſtuͤtzung wider den Papſt 
ſich dankbar zu erzeigen. Er tat es durch den ernſthaften Verſuch, dem 
weiteren Umſichgreifen der „verpeſtenden Krankheit“ eine Schranke zu 
ſetzen: es war als der erſte Schritt zur Ausfuͤhrung ſeines großen Vor⸗ 
habens gedacht. 

Durch dieſes Beginnen des Kaiſers hat der neue Reichstag, der im Fruͤh⸗ 
jahr 1529 zu Speier zuſammentrat, ſeine geſchichtliche Bedeutung gewonnen. 

Schon hatten ſich im Reiche ſelber die Dinge zugeſpitzt: je ſorgſamer 
die evangeliſchen Fuͤrſten die neuen religioͤſen Ideen pflegten und huͤteten, 


223 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


deſto ſchroffer waren die Altkirchlichen aufs neue mit Verfolgungen vor⸗ 
gegangen; ſo Ferdinand, die Bayern, einzelne Biſchoͤfe des Suͤdens und 
Weſtens — uͤbrigens nur nach dem Vorbild des Kaiſers ſelber: in den 
Niederlanden, wo ihm die Haͤnde frei waren, hatten die Henker reiche 
Arbeit. Die Spannung der beiden Parteien war (im Jahre 1528) noch 
geſteigert durch eine raſche Tat des heißbluͤtigen Philipp von Heſſen; 
durch ein gefaͤlſchtes Aktenſtuͤck getaͤuſcht, hatte er einem angeblichen 
umfaſſenden Offen ſiobunde der Gegner mit gewappneter Hand zu begegnen 
begonnen. 

So kam es, daß auf dieſem Reichstage die große Majoritaͤt der Staͤnde 
dem Kaiſer, an deſſen wachſender Macht ſie einen feſten Halt finden konnte, 
entſchloſſener Gefolgſchaft leiſtete als je zuvor. Nachdem Karl gleich in 
der Vorlage den Reichstagsabſchied von 1526, weil er „zu großem Unrat 
und Mißverſtand“ ausgeſchlagen ſei, „aus kaiſerlicher Machtvollkommen⸗ 
heit“ fuͤr „aufgehoben, kaſſiert und vernichtet“ erklaͤrt hatte, konnte 
Ferdinand ohne Muͤhe einen dieſem Willkuͤrakt entſprechenden Majori⸗ 
taͤtsbeſchluß zuwege bringen, der jede weitere Neuerung auf kirchlichem 
Gebiet zu einem Verbrechen ſtempelte und durch gewiſſe, den geiſtlichen 
Obrigkeiten zugeſchriebene Befugniſſe die auf der rechtlichen Grundlage 
des fruͤheren Speierſchen Beſchluſſes entſtandenen Bildungen mit dem 
Untergang bedrohte. Es war keine Frage: die Evangeliſchen konnten 
dieſen „Abſchied“ nicht annehmen, ohne ſich ſelber damit ins Unrecht zu 
ſetzen und ihre Zukunft preiszugeben. Sie verweigerten daher ihre Ein⸗ 
willigung, indem ſie erklaͤrten, daß ſie nach wie vor an dem fruͤheren 
Reichstagsbeſchluſſe feſthalten wuͤrden, und legten auf der Stelle (am 
19. April und noch einmal in allen Formen Rechtens am 25.) gegen 
das Verfahren der Mehrheit als ein ungeſetzliches Verwahrung ein: 
der vorige Reichstagsabſchied ſei nicht durch eine Mehrheit, ſondern 
„durch eine einmuͤtige Vereinigung“ beſchloſſen worden, er koͤnne daher 
„von Billigkeit und von Rechts wegen nicht anders als wiederum durch 
eine einhellige Bewilligung geaͤndert werden“. Neben dieſem Rechts⸗ 
ſatz machten ſie aber auch ein religioͤſes Prinzip geltend, von dem ihr 
Tun die hoͤchſte Weihe empfing. Es war der Grundſatz, „daß in Sachen, 
Gottes Ehre und unſerer Seelen Heil und Seligkeit belangend, ein jeg⸗ 
licher fuͤr ſich ſelbſt vor Gott ſtehen und Rechenſchaft geben muß“, alſo 
daß in ſolchem Falle kein Mehrheits⸗ und kein Minderheitsbefchluß ver; 
bindliche Kraft haben koͤnne. Es war ein Satz, der dem Mittelalter mit 
feiner religioͤſen Gebundenheit, mit feiner Glaubenstyrannei und Knech⸗ 


224 


Ruͤckſchlag der Machtſtellung Karls auf Deutſchland. Die Speierer Proteſtation von 1529 


tung der Gewiſſen, mit der Unmenſchlichkeit ſeiner an Leib und Seele ſich 
vergreifenden Inquiſition klar und buͤndig den Abſchied gab; ein Satz, 
herausgeboren aus der Eigenart jener evangeliſchen Glaubensgeſinnung, 
welche Luther in ſich dargeſtellt und durch ſeine gewaltige, zeugenkraͤftige 
Verkuͤndigung wie ein neues Leben auf andere uͤbertragen hatte. Hier 
wurde der Satz zur Anwendung gebracht gegen politiſche Gewalten, 
welche, indem ſie ſich zu Dienern der Hierarchie erniedrigten, das finſtere 
Syſtem des Mittelalters fortſetzen wollten — dem hellen Lichte des neuen 
Tages zum Trotz. Wohl verhuͤllte ſich den Vertretern des modernen Prin⸗ 
zips der Reichtum ſeiner Konſequenzen: noch Jahrhunderte ſollten ver⸗ 
gehen, bis die Welt ihn ahnte und begreifen lernte. Aber mindert das 
den Ruhm der kuͤhnen Helden, die, um der Aufgabe des Augenblicks, 
der Forderung ihres Gewiſſens zu genügen, ſich zu dem Grundſatz 
bekannten und nach ihm handelten und, ohne vor der Gegner Übermacht 
zu erzittern, ihr zeitliches Wohlergehen in die Schanze ſchlugen? „Wir 
werden“, ſo ſchrieb der Vertreter der Reichsſtadt Memmingen nach 
Hauſe, „einem rauhen Wind ein Widerſtand tun muͤſſen. Aber Gott iſt 
ſtaͤrker denn alle Welt: den wollen wir zu dem oberſten Hauptmann haben“. 
Fuͤrwahr, denkwuͤrdig fuͤr immer bleibt in ihrer ſchlichten Groͤße dieſe 
Tat der Proteſtation. Die den weltgeſchichtlichen Akt vollzogen — ſie 
bildeten, um mit dem Straßburger Staͤdteboten zu reden, ein „kleines 
Haͤuflein“. Es waren der Kurfuͤrſt Johann von Sachſen, der Landgraf 
Philipp von Heſſen, der Markgraf Georg von Brandenburg, die Bruͤder 
Ernſt und Franz von Braunſchweig⸗Luͤneburg, Fuͤrſt Wolfgang von 
Anhalt⸗Koͤthen und dazu vierzehn Reichsſtaͤdte des Suͤdens, von denen 
jedoch nur Nuͤrnberg, Straßburg und Ulm ſchwerer in die Wage fielen. 

In der Erkenntnis des Gefahrvollen der durch die Proteſtation fuͤr 
ſie geſchaffenen Lage ſchloſſen Sachſen und Heſſen gleich in jenen Tagen 
zu Speier ein „geheimes Verſtaͤndnis“ mit Nuͤrnberg, Straßburg und 
Ulm ab — zum Zweck gemeinſamer Verteidigung, falls ſie „des goͤttlichen 
Wortes halber“ angegriffen wuͤrden. Ja bereits faßte man den Plan 
eines allgemeinen proteſtantiſchen Buͤndniſſes von Nord und Süd. 
Noch weiter gingen die Gedanken des durch ſeine iſolierte Lage am ſtaͤrkſten 
bedrohten Straßburg und ebenſo des Landgrafen Philipp, deſſen Feuer⸗ 
eifer fuͤr die Sache der Reformation weitausſchauende politiſche Plaͤne 
zeitigte. Beide hielten es für geboten, den Bund auch auf die evangeliſchen 
Kantone der Schweiz auszudehnen. Aber freilich erhob ſich da ſofort 
die Frage, ob denn das bei dem Zwieſpalt, der ſchon vor Jahren zwiſchen 


15 Brieger, Reformationsgeſchichte 225 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


Wittenberg und dem Schweizeriſchen Reformator Zwingli ſich aufgetan 
hatte, uͤberhaupt moͤglich ſein werde. Und ſelbſt wenn die Einigung auf 
die oberdeutſchen Staͤdte beſchraͤnkt werden ſollte, drohte jenes Zerwuͤrfnis 
ſtoͤrend dazwiſchen zu treten. Denn von den Staͤdten, die zu Speier an 
der Proteſtation ſich beteiligt hatten, neigten nicht wenige ſich zu Zwingli 
hin, der uͤberhaupt in Suͤddeutſchland unter den zuerſt von Luther fuͤr 
die neue religioͤſe Idee Gewonnenen weit und breit Sympathien gefunden 
hatte: eine unſcheinbare Einwirkung, deren Tragweite bisher noch nicht 
offenbar geworden war. Jetzt jedoch — im Jahre 1529 — ſollte die Schweiz 
zum erſten Male tief eingreifen in den Gang der großen reformatoriſchen 
Bewegung Deutſchlands. 

Wir ſind daher an einem Punkte angelangt, der uns noͤtigt, nach⸗ 
gerade auch Zwingli und ſeinem Werke unſere Aufmerkſamkeit zu ſchenken. 


* 


5. Ulrich Zwingli. Die Eigenart ſeiner Reformation 


KENN ls Huldreich Zwingli am r. Januar 1519, an feinem 
eee 656. Geburtstage, fein Amt als „Leutprieſter“ am 
Großen Muͤnſter zu Zürich antrat, hatte er ſich bereits 
EN als ein hervorragender Humaniſt, nicht minder aber 

aA) als ein feuriger Patriot einen Namen gemacht. Er 

hatte vor einigen Jahren als Pfarrer in Glarus 
die e Wendung, welche damals die Politik ſeiner Heimat 
in der Hinneigung zu Frankreich zu nehmen drohte, ſo leiden⸗ 
ſchaftlich bekaͤmpft, daß er nach dem Siege der Franzoſenfreunde 
ſeiner Wirkſamkeit daſelbſt entſagen mußte. Es war zugleich ein Kampf 
geweſen gegen das ſog. „Reislaufen“ der Schweizer (d. h. ihren Eintritt 
in fremde Kriegsdienſte) und gegen das zu jener Zeit weit verbreitete 
Unweſen der „Penſionen“, daß naͤmlich angeſehene Maͤnner von aus⸗ 
waͤrtigen Maͤchten, beſonders Frankreich, Jahrgelder bezogen, um die 
Sache der auslaͤndiſchen Fuͤrſten daheim zu vertreten. Schaͤdigte eine 
Abhaͤngigkeit dieſer Art den ſchweizeriſchen Freiheitsſinn, ſo fuͤhrten die 


226 


Ulrich Zwingli. Die Eigenart feiner Reformation 


fortwaͤhrenden Kriegszuͤge, bald in dieſes, bald in jenes Herren Sold 
unternommen, zu einer wachſenden ſittlichen Verwilderung der Jugend. 
Zuͤrich bot dem vaterlaͤndiſchen Ehrgefuͤhl Zwinglis geringeren Anſtoß; 
denn die Mehrheit der Bevoͤlkerung wollte von den franzoͤſiſchen Jahr; 
geldern nichts wiſſen. 

Reformator war Zwingli damals noch nicht. Doch lebten ſchon 
gewiſſe Gedanken in ihm, die ſeine ſpaͤtere Befreiung vom Joche des Mittel⸗ 
alters wohl vorbereiten konnten. Die humaniſtiſche Ideenwelt eines 
Erasmus, der ſich ſeine ganze Seele erſchloſſen hatte, ſein Studium der 
roͤmiſchen und griechiſchen Klaſſiker, feine Lektuͤre der Väter der alten Kirche 
hatten fruͤhzeitig in ihm einen Geiſt geweckt, fuͤr den blinde Unterwerfung 
unter die Kirche, unter ihre Wiſſenſchaft eine Unmoͤglichkeit geweſen waͤre. 
Niemals hat er in unbegrenzter Devotion gegen Kirche und Papſt gelebt; 
niemals iſt die Scholaſtik fuͤr ihn eine Macht geweſen, die ſein ganzes 
wiſſenſchaftliches Denken beherrſcht hätte. Der heroiſchen Kämpfe, welche 
es Luther koſtete, ſich aus dieſen mannigfachen Banden zu loͤſen, hat es 
daher fuͤr Zwingli nicht bedurft. Wie von ſelbſt ſah er ſich zu den neuen 
Ideen, die Luther in die Welt warf, hinuͤbergeleitet. An die Stelle der 
ſcholaſtiſchen Theologie war fuͤr ihn — wiederum durch die Einwirkung des 
Erasmus — eine Wiſſenſchaft getreten, die ſich an der Bibel zu orientieren 
ſuchte. Schon zu Glarus hatte er ſich mit einem gleich regen Wahrheits⸗ 
triebe wie ſittlichem Ernſt auf die Heilige Schrift geworfen, beſonders die 
Apoſtel Johannes und Paulus — und dies von Anfang an in der Abſicht, 
feine Schriftkenntnis praktiſch auf der Kanzel zu verwerten fuͤr die ſitt⸗ 
liche Hebung ſeiner Pfarrkinder, ja auch fuͤr die Beſſerung der ſozialen 
und politiſchen Zuſtaͤnde des Vaterlandes. Die aͤußeren Seligkeitsmittel 
der Kirche ließ er gegenüber feiner ſittlichen Anleitung zurücktreten; zu 
Gott und nicht zur Kreatur riet er jedermann ſeine Zuflucht zu nehmen. 

Ein Reformator, wie geſagt, war er gleichwohl noch nicht. Nicht nur 
ließ er die Kirche und ihr Oberhaupt unangefochten (noch immer wußte 
er den Bezug einer paͤpſtlichen Penſion mit ſeinem Gewiſſen zu vereinigen, 
erſt 1520 hat er ſie zuruͤckgewieſen); nein, er erhoffte die Reformation, 
deren unumgaͤngliche Notwendigkeit ihm feſtſtand, noch von der Kirche 
ſelbſt: ein Beweis, wie ſehr damals ſeine Augen noch gehalten waren. 

Zum Reformator iſt er doch erſt durch die Beruͤhrung mit dem großen 
religioͤſen Genius ſeiner Zeit geworden. Denn Luther iſt es geweſen, 
der in Zwingli zu voller religiöfer Staͤrke entband, was bisher für ihn eine 
Forderung feines ſittlich⸗energiſchen und bibliſch⸗gefaͤrbten Humanismus 


15* 227 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


geweſen war. Das Maß der Einwirkung Luthers im einzelnen feſtzuſtellen, 
wird kaum möglich fein. Denn unwillkuͤrlich hat eine eigenartige Selbſt⸗ 
taͤuſchung des Zuͤricher Reformators einen Schleier über den Vorgang 
gebreitet. Es war die Stärke feines Selbſtaͤndigkeitstriebes, was ihn ver⸗ 
hinderte, ſeine Abhaͤngigkeit von Luther ſich einzugeſtehen. Mehr als 
eine ſeiner Außerungen laͤßt die Sache ſo erſcheinen, als ſtaͤnde der Schwei⸗ 
zer auf voͤllig eigenem Boden, als habe er „die Lehre Chriſti“ ausſchließ⸗ 
lich „aus dem Selbſtwort Gottes“ gelernt. Zu gerechter Wuͤrdigung dieſer 
Vorſtellung Zwinglis haben wir ein Doppeltes ins Auge zu faſſen, was 
beides gleichermaßen feſtſteht. Das eine iſt, daß die entſcheidenden refor⸗ 
matoriſchen Impulſe allerdings von Luther ausgegangen ſind: es iſt 
ſeine Vorſtellung vom Glauben, die wir in der Folge bei Zwingli finden, 
es iſt ſeine Anſchauung von der Kirche, der wir bei dieſem wiederbegegnen. 
Das zweite iſt die Tatſache, daß Zwingli, ſo ſtark er auch auf rein religioͤſem 
Gebiete von Luther beſtimmt geweſen iſt, ſich ihm doch keineswegs ganz 
hingegeben, vielmehr in weitem Umfange ſeine Eigenart bewahrt hat, wie 
dieſe durch ſeine humaniſtiſche und politiſche Vergangenheit bedingt war. 

Daher iſt der ſchweizeriſche Reformator nichts weniger als eine 
Kopie des ſaͤchſiſchen. 

Luther hat ſtets daran feſtgehalten (mit welcher Entſchiedenheit, 
das konnten wir an der Stellung wahrnehmen, die er zu den Forderungen 
der Bauern einnahm), daß ihm als „Evangeliſten“ nicht gebuͤhre, in 
weltlichen Dingen, deren „das Evangelium ſich gar nicht annimmt“, 
„zu urteilen und zu richten“, daß ſeine Aufgabe einzig die ſei, „in goͤtt⸗ 
lichen Sachen“ „die Gewiſſen zu unterrichten und zu lehren“. Das will 
ſagen: er verſchmaͤhte es, die Bibel fuͤr irgendeine Form der ſittlichen 
Beſſerung oder gar fuͤr die Reform der geſellſchaftlichen Zuſtaͤnde zu ver⸗ 
wenden. Er uͤbte dieſe Zuruͤckhaltung in der Zuverſicht, deren gutes 
Recht die Geſchichte erwieſen hat, daß die religiöfe Wiedergeburt eines 
Volkes im Laufe der Zeit ganz von ſelber auch in den ſittlichen und ſozialen 
Ordnungen des Lebens ſich auswirken werde. Eine ſolche allmaͤhliche 
Umwandlung von innen heraus ſchien ihn weit ſicherer zum Ziele zu fuͤhren, 
als wenn man zu der Gewalt aͤußeren Zwanges griff, d. h. die Maſchine 
der Geſetzgebung in Bewegung ſetzte, um mit ihrer Huͤlfe in einer Reihe 
von Einzelfällen das Leben nach angeblichen Weiſungen des Wortes 
Gottes unter beſtimmte Regeln zu beugen. Dank dieſer ihrer Beſchraͤn⸗ 
kung auf das religioͤſe Gebiet traͤgt die Reformation Luthers, wie man 
mit Recht bemerkt hat, einen ausgeſprochen univerſalen Charakter: unver⸗ 


228 


Ulrich Zwingli. Die Eigenart feiner Reformation 


worren mit den Dingen dieſer Welt, beſaß hier die religiöfe Idee eine Art 
von Allgemeinguͤltigkeit; auf einen jeden, welchem Stande, welchem Lande 
er angehoͤren mochte, konnte ſie die gleiche Anziehungskraft ausuͤben. 

Von einer Beſchraͤnkung dieſer Art war Zwingli weit entfernt. 

Das kleine republikaniſche Gemeinweſen, deſſen Enge die Ein⸗ 
wirkung eines hervorragenden Gliedes auf die Geſamtheit ſehr wohl 
geſtattete, mußte herausfordernd auf einen Mann wirken, in welchem die 
in der Schweiz eingebürgerte allgemeine Anteilnahme des Einzelnen an 
den öffentlichen Angelegenheiten eine außergewoͤhnliche Kraft, ja Leiden⸗ 
ſchaftlichkeit gewonnen hatte. Konnte er da das Wort Gottes, das ſich 
ihm in ſeiner ganzen gewaltigen, zerſchmetternden wie aufbauenden 
Macht enthüllt hatte, bloß dahin verſtehen, es fei nur zur Reform des 
religioͤſen Lebens nuͤtze? Mußte er ſich nicht verſucht fühlen, es ganz 
ebenſo unmittelbar nutzbar zu machen fuͤr die Beſſerung der ſozialen und 
politiſchen Verhaͤltniſſe, in denen ſein Patriotismus lebte und webte? 
Wahrlich, nicht durch einen Zufall iſt der Reformator Zwingli zugleich 
politiſcher Reformer geweſen, „der größte Reformer,“ wie Ranke ſagt, 
„den die Schweiz je gehabt“. 

Mit dem einen war das andere ohne weiteres gegeben: der religioͤſe 
Reformator glaubte als ſolcher auch zur Geſetzgebung in Dingen des 
buͤrgerlichen Lebens berufen zu ſein. 

Aber noch in einer anderen Beziehung hat Zwingli Religion und 
Politik in die engſte Verbindung gebracht — wiederum in ſcharfem und 
bewußtem Gegenſatz zu dem Wittenberger Reformator. 

Der Bruch Luthers mit dem Mittelalter bewaͤhrt ſeine entſcheidende 
Bedeutung auch in der gaͤnzlichen Trennung des Geiſtlichen und des 
Weltlichen. Damit war der Grund gelegt fuͤr die moderne Wuͤrdigung 
des Staates. Wir haben fruͤher geſehen, wie Luther von hier aus dem 
Staate die ihm von der Kirche geraubte Wuͤrde zuruͤckzugeben vermochte: 
die weltliche Obrigkeit hat ihr Amt von Gott, nur ihm iſt ſie verantwort⸗ 
lich, kein Papſt, kein Prieſter hat da dreinzureden. Doch jene Scheidung 
barg noch mehr in ſich: fie noͤtigte den Reformator zugleich, den Staat 
auf das ihm eigentuͤmliche Gebiet zu beſchraͤnken: er mußte ihm jeden 
unmittelbar religiöfen Beruf abſprechen, auch jenen, den die hierarchiſche 
Kirche ihm zugewieſen hatte, wenngleich mit dem grundſaͤtzlichen Anſpruche, 
daß die Erfuͤllung dieſer Aufgabe zu geſchehen habe nach den von ihr 
ſelbſt gegebenen Weiſungen. Luther hat freilich ſpaͤter in der Not der 
Zeit fuͤr die Ordnung der kirchlichen Verhaͤltniſſe doch die Huͤlfe ſeines 


229 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1332 


Fuͤrſten angerufen: zwar nicht als Landesherr ſollte er „geiſtlich regieren“, 
vielmehr einen Dienſt der Liebe leiſten, indem er als „Notbiſchof“ ſich 
der Kirche annehme. Dieſe Unterſcheidung hat fi allerdings für die 
Praxis als unwirkſam gezeigt. Sie war außer Stande zu verhindern, daß 
die Fürften ſich alsbald als Gebieter ihrer Landeskirchen fühlten und 
gebaͤrdeten. Allein ſeinen Grundſatz, daß dem Staat keinerlei geiſtliches 
Regiment zuſtehe, hat Luther nie aufgegeben. 

Ganz anders Zwingli. Er iſt inſofern im Mittelalter ſtecken geblieben, 
als er dem Staat Recht und Pflicht zuſchrieb, die Kirche zu regieren. Der 
Rat von Zuͤrich war in ſeinen Augen der rechtmaͤßige Inhaber der Kirchen⸗ 
gewalt, mochte er auch als republikaniſches Oberhaupt verbunden ſein, 
in kirchlichen Fragen fo gut wie in bürgerlichen unter Umſtaͤnden an die 
Untertanen zu berichten. Die kirchliche und die politiſche Gemeinde fiel 
fuͤr Zwingli in gewiſſer Weiſe zuſammen. 

Dieſe mittelalterliche Vorſtellung von der religioͤſen Aufgabe der 
Obrigkeit hatte bedenkliche Folgen: ſie beeintraͤchtigte die Selbſtaͤndigkeit 
des Staates, fie zwang zu religioͤſer Intoleranz. 

Der Selbſtaͤndigkeit des Staates geſchah Abbruch. 

Der „Große Rat“ (der Zweihundert) uͤbte die kirchliche Gewalt aus, 
„als geiſtliche Obrigkeit und anſtatt ihrer gemeinen Kilchen Kirche!“, 
wie es in den amtlichen Erlaſſen heißt. Die Bedingung dafür war aber, 
daß er „die Regel und Schnur des Gottes wortes“ nicht verletze. Er ſelber 
bekannte ſich zu dieſer Autorität, wenn er in einem Religionsmandate 
verſicherte, er treffe ſeine Anordnungen „aus Gottes Geheiß“. Aber 
konnte er denn etwa von ſich aus entſcheiden, was der Wille Gottes in 
der Schrift ſei? Nein! Er mußte es ſich ſagen laſſen von den Schrift⸗ 
kundigen, den Gottesgelehrten. Es war natuͤrlich Zwingli, der den in der 
Schrift enthaltenen Willen Gottes auslegte und der Behoͤrde uͤber⸗ 
mittelte. Mit voller Naivitaͤt hat er ſelber uns fein Verfahren geſchildert: 
vor allem behandelte er, was ihm am Herzen lag (auch Fragen der Politik), 
auf der Kanzel, ſo lange, bis er „die Menge der Glaͤubigen“ dafuͤr 
gewonnen hatte; dann wendete er ſich an den Rat der Zweihundert, damit 
dieſer „im Einvernehmen mit den Dienern des Wortes“ „im Namen der 
Kirche“ die notwendigen Befehle erlaſſe. So gewann Zwingli in Zuͤrich 
die Stellung eines altteſtamentlichen Propheten. Nach ſeiner Anleitung 
hatte die Obrigkeit in Fragen der Religion zu verfahren — und nicht in 
den Fragen der Religion allein! Das Wort Gottes iſt ja das Regulativ 
nicht nur für das religiöſe, ſondern auch für das geſamte bürgerliche Leben. 


230 


Ulrich Zwingli. Die Eigenart feiner Reformation 


Auch für deſſen Ausgeſtaltung hat der Prophet Gottes Maß und Ziel 
zu ſetzen! Auf dieſe Weiſe konnte das Ideal der Gottesherrſchaft, der 
Theokratie, erreicht werden, welches — in echt mittelalterlicher Weiſe — 
dem Zuͤricher Reformator vorſchwebte. 

Dieſer theokratiſche Staat brachte naturgemaͤß Zwang und Intole⸗ 
ranz in Glaubensſachen mit ſich. 

Der Rat erließ ſeine Mandate bald in betreff der Predigt des goͤtt⸗ 
lichen Wortes, der Geſtalt des Gottesdienſtes, bald zur Hebung der öffent; 
lichen Sittlichkeit: hier ſtoßen wir auf Geſetze gegen die Übertretung 
des ſechſten Gebotes, gegen uͤbermaͤßiges Wirtshausleben, gegen all und 
jede Gewinnſpiele. Es war eine Art von ſtaatlicher Kirchenzucht, die mit 
Rigorismus gehandhabt wurde. Aber auch zu Zwangsmaßregeln in 
Glaubensſachen und zu Eingriffen in das Gebiet des Gewiſſens hielt 
fi der Rat für befugt. Er ließ — es war im Jahre 1530 — das Gebot 
ausgehen, daß jedermann allſonntaͤglich den Gottes dienſt zu beſuchen habe. 
Schon vorher hatten die Anhaͤnger des alten Kirchentums ein ſteigendes 
Maß von Unduldſamkeit der neuen Staatsreligion zu erfahren bekommen. 
Nach Abſchaffung der Meſſe (1525) ſchlug der Rat das Verlangen einiger 
Buͤrger, ihnen wenigſtens eine Kirche fuͤr den alten Gottesdienſt einzu⸗ 
raͤumen, ab, erlaubte ihnen aber, in der altkirchlichen Nachbarſchaft den 
Meßgottesdienſt zu beſuchen. Ein paar Jahre ſpaͤter wurde dieſe 
Erlaubnis zuruͤckgenommen, jener Beſuch unter Strafe geftellt, ja ſchließ⸗ 
lich auch die Ausuͤbung der abgeſchafften kirchlichen Gebraͤuche verpoͤnt 
— lauter Ratsverfuͤgungen, von den dringenden Mahnungen Zwinglis 
herausgefordert. 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


6. Der Glaubenskampf in der Schweiz (bis 1529) 


ie Folgen dieſer mannigfachen Verſchlingung von 
Religion und Politik ſind deutlich in dem Prozeſſe 


zu Tage getreten. Wenn Zwingli in Zuͤrich all⸗ 
Jmaͤhlich als Reformator obſiegte, fo hatte er dies 
I nicht ausſchließlich der ſiegreichen Macht des Evan⸗ 
mit hinreißender Gewalt verkuͤndigte, zu verdanken. 
Einen erheblichen Anteil an dem Erfolge hatte auch der Triumph, 
den der Politiker errang in ſeinem Kampfe gegen das Liebaͤugeln 
mit Frankreich, gegen das Reislaufen und das Jahrgelderunweſen, 
dieſe „offene Peſtbeule“, dieſes „Verderben des Vaterlandes, der Sitten, 
der Religion und aller Ehrbarkeit“. Galt dieſer Kampf, von ihm nicht 
zuletzt mit der Waffe der Religion gefuͤhrt, uͤberwiegend den alten Geſchlech⸗ 
tern, die auch in Zürich den Vorteil des franzoͤſiſchen „Kronenſackes“ 
nicht fahren laſſen wollten, ſo war es nur natuͤrlich, wenn uͤberall die 
Empfaͤnger „fremder Gaben“ in dem Zuͤricher Leutprieſter und politiſchen 
Demagogen nicht nur ihren Todfeind ſahen, ſondern zugleich einen auf⸗ 
ruͤhreriſchen „Ketzer“ und jetzt die Partei der alten Kirche, die ihnen zum 
Teil ſehr gleichguͤltig geweſen war, mit gluͤhendem Eifer ergriffen. Es 
waren aber vornehmlich die Waldſtaͤtte (die vier Orte Schwyz, Uri, Unter⸗ 
walden, Zug) und das benachbarte Luzern, wo bei der Duͤrftigkeit des 
Bodenertrages die Jugend ſich mit Begier zu fremden Fahnen draͤngte 
und die Penſionsempfaͤnger am dichteſten ſaßen. Hier finden wir daher 
die Hauptfeinde Zwinglis und Zuͤrichs, das im Jahre 1521 allein von 
allen Kantonen ſich von dem eidgenoͤſſiſchen Buͤndnis mit Frankreich 
ausſchloß. Und waͤhrend der gemeine Mann in Zürich und bald auch 
in den anderen Buͤrgerſtaͤdten ſich der Reformation zuneigte, ſchloß ſich 
hier das Volk meiſt den Machthabern an; denn, drang die Politik Zuͤrichs 
in der ganzen Eidgenoſſenſchaft durch, dann war es zu Ende mit dem 
gewinnreichen und zuͤgelloſen Treiben der Reislaͤufer. 

So war vom erſten Anbeginn der reformatoriſchen Bewegung an 
ſo gut wie ausgeſchloſſen, daß ſaͤmtliche dreizehn Orte der Schweiz ihr 
zufielen. Als ſie in Zuͤrich nach etwa dreijaͤhrigem Ringen 1525 die Ober⸗ 
hand gewann und auch ſchon begonnen hatte, auf andere Gebiete wie 
Schaffhauſen und Appenzell uͤberzugreifen, da war in den fuͤnf Orten 


nn 
232 


Der Glaubenskampf in der Schweiz (bis 1529) 


bereits der Entſchluß gereift, „mit allem Vermoͤgen bei dem alten Glauben 
zu ſtehen und den neuen auszurotten, auch mit denen, ſo dem anhaͤngig, 
gar keine Gemeinſchaft zu haben“. Sie vermochten doch nicht zu hindern, 
daß in den naͤchſten Jahren der evangeliſche Glaube weiter und weiter 
um ſich griff; 1528 fiel ihm Bern, der maͤchtigſte Vorort der Schweiz, 
zu, ein Jahr ſpaͤter Baſel: zu derſelben Zeit waren außer Schaffhauſen 
und Appenzell auch Glarus und Solothurn zum guten Teil erobert, des⸗ 
gleichen aus den verbuͤndeten Gebieten Graubuͤnden und St. Gallen. 
Es waͤre vielleicht eine friedliche Scheidung moͤglich geweſen, haͤtten nicht 
die ſogenannten „gemeinen Herrſchaften und Vogteien“, die abwechſelnd 
von verſchiedenen Kantonen regiert wurden, den Zankapfel unter die 
Parteien geworfen. Denn auch hier fand die Reformation lebhaften 
Anklang: ſorgſam wurde ſie von den evangeliſchen Kantonen gepflegt, mit 
rauher Gewalt von den andern unterdruͤckt. Schon hatten die katho⸗ 
liſchen Orte ſich zu einem Sonderbunde vereinigt, hatte Zuͤrich ein Gegen⸗ 
buͤndnis, das ſogenannte „chriſtliche Burgrecht“, zuſtande gebracht; 
es wurde zuerſt mit der Reichsſtadt Konſtanz abgeſchloſſen, bald trat 
ihm Bern bei, ſpaͤter auch Baſel und andere Staͤdte der Schweiz — fuͤr 
die fuͤnf Orte der Anſtoß, ſich ebenfalls nach auswaͤrtiger Huͤlfe umzu⸗ 
ſehen; und ſo ſehr uͤberwog in ihnen der Haß gegen die Feinde des 
Glaubens den altſchweizeriſchen Patriotismus, daß ſie es uͤber ſich ver⸗ 
mochten, mit dem Erbfeind der Eidgenoſſenſchaft, dem Hauſe Habsburg, 
ein Buͤndnis einzugehen zur Aufrechterhaltung des „alten chriſtlichen 
Glaubens“. 

So erreichte die Spannung einen Grad ſtaͤrker als je. Konnte Zürich 
die blutige Grauſamkeit der Urkantone in den gemeinſchaftlichen Gebieten 
noch länger dulden? es ungeſtraft laſſen, daß die Schwyzer einen Zuͤricher 
Pfarrer aufgegriffen und verbrannt hatten? Gab es da noch ein anderes 
Mittel als den Krieg? Und Zwingli war entſchloſſen, ihn zu fuͤhren; 
längft lag ein Operationsplan von feiner Hand vor. Er war der Über; 
zeugung, die Anhaͤnger des Evangeliums haͤtten die Pflicht, „den uͤber⸗ 
muͤtigen Draͤngern, die ſich wider Gott erhoben und ſein Wort unter⸗ 
druͤcken wollten, ihre angemaßte Gewalt zu entreißen“, mit den Waffen 
in der Hand fuͤr die ganze Eidgenoſſenſchaft „freie Predigt des Evange⸗ 
liums“ und Freiheit fuͤr den Glauben an dasſelbe zu erzwingen. „Laſſet 
uns unſerm Herrn Chriſto wieder zu ſeiner Herrſchaft helfen in unſerm 
Lande!“ Wir ſehen, ein heiliger Krieg war es, ein Kreuzzug, zu dem er 
aufrief, mochte er auch daneben noch einen weltlichen Zweck verfolgen: 


233 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


die Erneuerung der Eidgenoſſenſchaft auf neuer rechtlicher Grundlage, 
welche den Bürgerftädten das ihnen gebuͤhrende Übergewicht ſichern ſollte. 

Die Meinung Zwinglis, der als Mitglied des „heimlichen Rates“ 
einen unmittelbaren Anteil an der Leitung der aͤußeren Politik Zuͤrichs 
hatte, war maßgebend fuͤr die Stadt. Seinem Rate gemaͤß beſchloß 
man, durch einen ploͤtzlichen Anfall die ungeruͤſteten fuͤnf Orte nieder⸗ 
zuwerfen. Auch die augenblickliche Gunſt der allgemeinen politiſchen 
Verhaͤltniſſe empfahl das Unternehmen. Im Juni ſtand ein Zuͤricher 
Heer auf feindlichem Gebiete. Seine Überlegenheit verhieß einen vollen 
Erfolg. Allein Bern und die uͤbrigen Verbuͤndeten mißbilligten den 
Angriffskrieg und vermittelten den Frieden. Er fiel hart aus fuͤr die 
altkirchlichen Kantone: ſie mußten ihrem Bund mit Ferdinand ent⸗ 
ſagen, in den gemeinſamen Herrſchaften den evangeliſchen Glauben 
dulden. 

Indeſſen, was Zwingli gewollt, war doch nicht entfernt erreicht. 
Der Ausgang des Krieges war eine arge Enttaͤuſchung fuͤr ihn. Aber der 
Mut ſank ihm nicht. Und ebenſowenig verließ ihn feine politiſche 
Erfindungsgabe. Mangelte ſeiner Reformation die Kraft, die ganze Eid⸗ 
genoſſenſchaft zu erobern, ſo mußte ſie außerhalb des Landes einen 
Stuͤtzpunkt ſuchen. Daher griffen jetzt ſeine Gedanken uͤber die Enge der 
ſchweizeriſchen Heimat hinaus. Er plante einen großen Bund der evan⸗ 
geliſchen Kantone mit den proteſtantiſchen Reichsſtaͤdten von Oberdeutſch⸗ 
land, mit denen ihn laͤngſt ein ſtarkes Band verknuͤpfte. In ihnen hatte 
namlich (wir fließen ſchon beilaͤufig auf dieſen Vorgang) feine Abend mahls⸗ 
lehre diejenige Luthers aus dem Felde geſchlagen, ihm ſelber als Refor⸗ 
mator ein gewiſſes Übergewicht verſchafft. 

Aber ſchon nach kurzem ſehen wir den geiſtlichen Regenten des 
Gottesſtaates Zuͤrich auf einer ganz neuen Bahn: wie ins Unbegrenzte 
hat ſich ſein Geſichtskreis erweitert, und ſeine politiſchen Ideen nehmen 
den hoͤchſten Flug. 


Die Weltpolitik Zwinglis. Politik und Religion auf der Zuſammenkunft zu Marburg 


7. Die Weltpolitik Zwinglis. Politik und Religion auf der 
Zuſammenkunft zu Marburg (1529) 


erhalten von geheimen Anſchlaͤgen des „Pfaffenkaiſers“ 
Karl und feines Bruders Ferdinand, Deutſchland mit 


jan 


= Gewalt zum roͤmiſchen Glauben zuruͤckzufuͤhren und 
FD: * dann auch die Schweiz zu „vernichten“. Sofort erkennt 


Gefahr, die dem Evangelium droht; und in ſeiner Seele taucht der Entwurf 
einer umfaſſenden Koalition gegen die Habsburger auf: das ganze Deutſch⸗ 
land, Frankreich, Venedig ſollen vereint den Weltherrſchaftsgeluͤſten des 
roͤmiſchen Kaiſers ſich entgegenwerfen. Irgendwelche Pietaͤt gegen das 
heilige roͤmiſche Reich ſtoͤrt ihn nicht; ſie iſt in ihm erloſchen bis auf den 
letzten Funken. Die myſtiſch⸗omantiſche Vorſtellung des Mittelalters vom 
Kaiſertum, die doch noch alle in Deutſchland in Feſſeln hielt, einen Luther, 
einen Fuͤrſten wie Philipp von Heſſen nicht weniger als die Parteigaͤnger 
Roms, hat ihre Macht uͤber ihn verloren: er ſteht in dieſer Hinſicht beiſpiel⸗ 
los da. Zu gleicher Zeit ſetzte er ſich mit uͤberraſchender Kuͤhnheit uͤber die 
Schranken des eidgenoͤſſiſchen Patriotismus hinweg: nur „der gemeinen 
Chriſtenheit“ Not ſtand ihm vor Augen. Es ſollte noch verhaͤngnisvoll 
fuͤr ihn und ſein Werk werden, daß Zuͤrichs maͤchtigſte Bundesgenoſſin 
Bern ihm darin nicht folgte. 

Wenige Wochen ſpaͤter ſpinnt Zwingli die Faͤden ſeiner ſkrupelloſen 
europaͤiſchen Politik, in der jetzt auch Dänemark und England, Böhmen, 
Ungarn und die Türken eine Rolle ſpielen, auf einem deutſchen Fuͤrſten⸗ 
ſchloſſe weiter, unter feuriger Anteilnahme ſeines gaſtlichen Herrn, des 
hochgemuten Landgrafen Philipp. Dieſer hatte ſich gleich in den Tagen 
der Speierer Proteſtation an Zwingli gewendet, ſeine Mitwirkung er⸗ 
beten zur Beſeitigung des dogmatiſchen Zwieſpaltes, der den Schweizer 
und den Wittenberger Reformator ſeit Jahren trennte. Philipps Gedanke, 
die beiden Haͤupter zur Beilegung des Streites perſoͤnlich zuſammen⸗ 
zubringen, war zur Ausfuͤhrung gekommen: im Herbſt 1529 ſtanden zu 
Marburg Luther und Zwingli Auge in Auge einander gegenuͤber, ein 
jeder umgeben von einer Anzahl ſeiner theologiſchen Genoſſen. Indes 
Zurich, Baſel und Straßburg hatten außer ihren Gelehrten auch Staats⸗ 
manner nach Heſſen entſendet; und dieſe nebſt Zwingli hielten auf dem 


235 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


Schloſſe zu Marburg unter Vorſitz des Landgrafen ganz im geheimen 
einen politiſchen Konvent ab. Auf ihm gewannen die phantaſtiſchen 
Gedanken des Zuͤricher Leutprieſters inſofern eine beſtimmtere Geſtalt, 
als man hier den Eintritt Straßburgs und des Landgrafen in das ſchwei⸗ 
zeriſche „Burgrecht“ plante (die Urkunde des „heſſiſchen Burgrechts“ 
nahm der Zuͤricher Ratsbote im Entwurf mit nach Hauſe), ein Buͤndnis 
des verjagten Herzog Ulrich von Wuͤrttemberg mit Zuͤrich und Konſtanz 
in Ausſicht nahm und mit Venedig anzuknuͤpfen beſchloß. Die kompakte 
Maſſe der Verbuͤndeten ſollte den Kryſtalliſationspunkt bilden fuͤr den 
Norden von Deutſchland und fuͤr Daͤnemark, auf daß „alles ein Werk 
und ein Wille ſei vom Meer herauf bis in die Schweiz“. Und alle dem 

Haufe Oſterreich feindlichen Mächte Europas gedachte man in den großen 
Angriffskrieg mit hineinzuziehen. „Ein Bund von der Adria bis zum Belt 
und zum Ozean ſollte die Welt aus der Umklammerung des Habs⸗ 
burgers erretten“. So faßt Max Lenz, der uͤber die politiſche Bedeutung 
der Marburger Zuſammenkunft erſt Licht verbreitet hat, den Plan Zwinglis 
und Philipps kurz zuſammen. 

Wie kuͤhn und luftig in ſeinem Oberbau dieſer Plan war, ſieht man 
auf den erſten Blick. Aber war denn wenigſtens ſein Fundament trag⸗ 
faͤhig? Der Zuſammenſchluß Deutſchlands und der evangeliſchen Schweiz, 
die Vorausſetzung fuͤr alles andere, — wie ließ er ſich erreichen, wenn man 
doch von der vorwaltenden Macht des Proteſtantismus in Deutſchland 
abſehen mußte? Daß aber Sachſen niemals zu einem Bunde mit den 
Schweizern die Hand bieten wuͤrde, das machte in eben dieſen Tagen zu 
Marburg das Scheitern des dogmatiſchen Einigungsverſuches auch fuͤr 
den Bloͤdeſten unzweifelhaft. 

Das Mißlingen des Marburger Religionsgeſpraͤches iſt ein ſo 
bedeutendes Ereignis in der Geſchichte der Reformation, daß wir noch 
fluͤchtig bei ihm verweilen muͤſſen. 

Es kann heute fuͤr niemand, welcher die Entwicklung der Anſchauung 
Luthers vom Abendmahl vorurteilslos mit dem Blicke des Hiſtorikers 
zu betrachten vermag, eine Frage fein, daß der Reformator im Abend- 
mahlsſtreite auf einen Irrweg geraten iſt und dennoch im weſentlichen im 
Rechte war. Er betrat einen Irrweg. Denn er wich ab — wenn auch nur 
leiſe und fuͤr die meiſten unmerklich — von jener durch ſein reformatoriſches 
Prinzip geforderten Grundanſchauung vom Sakrament, wonach es nur 
eine andere Art des Wortes Gottes iſt, das dem Suͤnder den Troſt der 
goͤttlichen Vergebung bringt und, wie das Wort, ausſchließlich auf den 


236 


Die Weltpolitik Zwinglis. Politik und Religion auf der Zuſammenkunft zu Marburg 


Glauben einwirkt. Er wich ab von dieſer Grundanſchauung, von der er 
doch nimmer laſſen konnte (denn immer iſt ſie unwillkuͤrlich von neuem 
in ihm aufgetaucht), indem er, um die von den Gegnern verkannte 
Bedeutung des Sakramentes zu wahren, ſich dazu hinreißen ließ, dieſem 
noch eine ſpezifiſche, dem Worte Gottes nicht eignende Wirkung zu ſichern: 
es ſollte naͤmlich den Glaͤubigen durch die Darbietung des Leibes des 
Herrn in eine ganz beſonders innige und geheimnisvolle Verbindung 
mit Chriſtus verſetzen. Er hat damit, ohne es zu wollen, etwas von der 
katholiſchen Vorſtellung, die dem Sakramente eine myſtiſch⸗magiſche Wir⸗ 
kung zuſchreibt, wieder eingeführt — zu nicht geringer Schädigung des 
ſich ihm anſchließenden Proteſtantismus, der ſich — bei der Enge des 
Blickes der Epigonen — in eine unheilvolle Verwirrung geſtuͤrzt ſah. 
Aber das war doch bei Luther nur ein falſcher Weg zum richtigen Ziele. 
In dem, was ihm ſchließlich allein am Herzen lag, war er den Gegnern 
unendlich überlegen. Das in religioͤſer Hinſicht Wertvolle, das im 
Sakrament wie in ſeinem Worte Gott ſich dem Menſchen darbietet, war von 
Zwingli ausgeſchieden, da ſeine Theologie in dieſem Punkte in dem ihm 
von fruͤh auf gelaͤufigen neuplatoniſchen Humanismus ſtecken geblieben 
war: das Mahl des Herrn iſt reinweg eine Handlung der Glaͤubigen. 
Wenn Luther ſeine Waffen gegen dieſe Verflachung kehrte, dann ver⸗ 
teidigte er damit nicht irgend eine einzelne, an ſich unbedeutende Lehr⸗ 
meinung, eine Frage, die bloß dem Bereiche der Theologie angehoͤrte: 
das, „ein aͤußerliches Stuͤck“, war ihm die Lehre vom Abendmahl noch im 
Jahre 1524 geweſen. Sondern es handelte ſich fuͤr ihn um ein „Haupt⸗ 
ſtuͤck“, d. h. um etwas, das in naher Beziehung ſtand zu dem Mittelpunkt 
feiner religioͤſen Geſamtanſchauung. 

So war denn in Marburg eine Preisgabe ſeiner Lehrweiſe unmoͤg⸗ 
lich fuͤr Luther. Aber ebenſowenig dachte Zwingli daran nachzugeben. 
Der Schweizer Reformator iſt, wenn nicht alles truͤgt, mit der Hoffnung 
nach Marburg gegangen, für feine Meinung, die im Süden ſo vielfach 
Anklang gefunden hatte, nunmehr auch den Norden zu gewinnen. Es 
waͤre ihr vermutlich Tuͤr und Tor geoͤffnet geweſen, haͤtte Luther auch nur 
eine bedingte Billigung der Lehre Zwinglis ſich abringen laſſen. 

Im uͤbrigen war die Unnachgiebigkeit keineswegs auf ſeiten Luthers. 

Man iſt neuerdings auf Grund einer genaueren Durchforſchung der 
Quellen mit gutem Fug der alten Legende von ſeiner Starrkoͤpfigkeit, 
ſeinem rechthaberiſchen Eigenſinn, ſeiner Engherzigkeit und Unduldſam⸗ 
keit entgegengetreten. Er hatte in all den Jahren des Streites fuͤr ſeine 


237 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


Abendmahlslehre nicht eben Propaganda gemacht. Es war ihm auch 
jetzt ausſchließlich um die Wahrheit zu tun. Er waͤre vielleicht fuͤr eine 
Belehrung zugaͤnglich geweſen, haͤtten die Schweizer es verſtanden, ihm 
den Punkt zu zeigen, wo ſeine jetzige Anſchauung vom Sakrament von 
der Konſequenz ſeines evangeliſchen Glaubensbegriffes abbog. Aber 
davon war kaum die Rede (hoͤchſtens, daß ein verfehlter Anlauf dazu 
genommen wurde). Deſto eingehender beſchaͤftigten ſich die Gegner mit 
derjenigen Einzelheit ſeiner Abendmahlslehre, die ihnen den ſtaͤrkſten 
Anſtoß gab, und die ſie nicht einmal richtig auffaßten. Hier ſetzten ſie ihm 
zu mit einem Kapitel des Neuen Teſtamentes, das nicht ſeine Auffaſſung, 
ſondern nur ihre Vorſtellung von derſelben traf; mit Ausſpruͤchen der 
Kirchenvater, die keine Beweiskraft für ihn hatten; nicht zuletzt mit der 
ſpitzen und gelegentlich auch ſophiſtiſchen Dialektik des Mittelalters, 
deren Pfeile von dem Schild feiner religioͤſen Überzeugung machtlos 
abprallten. 

Luther bewahrte im ganzen ſeine Ruhe oder fand ſie, hatte er, allzu 
ſtark gereizt, ſie verloren, bald wieder. Voll Maͤßigung, ſuchte er, von der 
ſtrittigen Einzelfrage weg⸗ und auf das Ganze hinweiſend, nach Ver⸗ 
ſtaͤndigung. Ja, in den Sonderverhandlungen, die der unermuͤdliche 
Landgraf nach Schluß des Geſpraͤches mit den einzelnen veranſtaltete, 
zeigten ſich Luther und die Seinen bereit, den fuͤr die Gegner anſtoͤßigſten 
Punkt fallen zu laſſen. Allein dieſes weite Entgegenkommen war umſonſt. 

Treffend ſagt Bernhard Beß in ſeiner ſchoͤnen Studie uͤber „Luther 
in Marburg“ von dem deutſchen Reformator: „So weit ſein religioͤſes 
Intereſſe an der Objektivitaͤt des Sakramentes gewahrt blieb, ſo weit 
hat er nachgeben wollen. Er iſt fort und fort bemuͤht geweſen, jenes 
Intereſſe zum leitenden Prinzip der Diskuſſion zu machen und dieſe aus 
dem ſcholaſtiſch⸗dialektiſchen Fahrwaſſer herauszuleiten. Aber die Gegner 
hielten feſt an dieſer Methode, weil ſie meinten, ihn hier faſſen zu koͤnnen. 
Sie ſchlugen ſchließlich ſogar eine Vermittelung aus“. 

„Ihr habt einen andern Geiſt als wir“ — dieſe Wahrnehmung hatte 
er waͤhrend der dreitaͤgigen Unterredungen gemacht. Ahnte er etwas 
von der Macht des politiſchen Intereſſes, das in Zwingli arbeitete? Hatte 
er ein dunkles Gefuͤhl davon, daß eben dieſes der Religion fremde Intereſſe 
dem Gegner den Wunſch auf die Lippen legte, daß trotz des Fortbeſtehens 
der Differenz beide Teile als Bruͤder auseinandergingen? Wie dem ſein 
mag, er wies die dargebotene Bruderhand zuruͤck. Seine Wahrhaftig⸗ 
keit duldete nicht, daß er ſie ergriff. Er befahl die Gegner Gott und ihrem 


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Die Weltpolitik Zwinglis. Politik und Religion auf der Zuſammenkunft zu Marburg 


Gewiſſen — ohne als ihr Feind ſcheiden zu wollen. „So ſoll“, das leſen 
wir am Schluß einer von ihm aufgeſetzten und von allen Teilnehmern 
des Geſpraͤches unterzeichneten Urkunde, „ſo ſoll ein Teil gegen den 
andern chriſtliche Liebe, ſo fern eines jeden Gewiſſen immer leiden kann, 
erzeigen, und beide Teile Gott fleißig bitten, daß er uns durch ſeinen Geiſt 
den rechten Verſtand beſtaͤtigen wolle“. 

Chriſtliche Liebe, Duldung — aber nicht um den Preis der 
Wahrheit! 

Es iſt noch immer der alte Held von Worms und aus dem Gewuͤhl 
des Bauernkrieges, der hier in Marburg vor uns ſteht. Unbeirrt geht 
er deu Weg, den ſein Gewiſſen ihm zeigt, ſein Glaube ihm erhellt. So 
blickt er furchtlos in die Zukunft. Was war ihm die Not der Zeit, die feinem 
Freunde Melanchthon bange Klagen entlockte, ihn Plaͤne ſchmieden ließ 
zum Ausgleich — nicht mit Zwingli, nein, mit den Papiſten? Die Not der 
Zeit, die fuͤr Zwingli den Anſtoß gegeben hatte, daß er mit verzehrendem 
Eifer die Maſchen ſeiner Weltpolitik knuͤpfte? Er wußte nichts von dieſer 
Not. Gott lebt und regiert. Der wird ſeine Sache fuͤhren. Das 
genuͤgte ihm. 

Aber iſt es nicht doch ein beklagenswertes Ereignis, daß zu Marburg 
das friedliche Geſpraͤch den erſehnten Frieden nicht gebracht hat? 
Wie oft hat man ſo geurteilt und ſich in Klageliedern ſchier nicht genug 
tun koͤnnen! Und in der Tat, dem Anſchein nach winkte hier dem 
Proteſtantismus eine großartige Ausſicht, waͤre es ihm vergoͤnnt geweſen, 
die Kraft ſeiner verſchiedenartigen Bildungen zuſammenzufaſſen und 
nach außen zu verwenden, anſtatt ſie zum guten Teil zu verzetteln in dem 
traurigen Spiel eines inneren Krieges. Aber ſollte es wirklich zum wahren 
Vorteil der Reformation in Deutſchland ausgeſchlagen ſein, waͤre durch 
eine Miſchung Zwingliſchen und Lutherſchen Geiſtes die Reinheit der 
religioͤſen Idee getruͤbt worden? Waͤre nicht zu befuͤrchten geweſen, daß, 
was ſie etwa aͤußerlich an Macht gewann, aufgewogen waͤre durch eine 
teilweiſe Entfremdung von ihrem idealen Ziele? So glaube ich dem 
Urteil Adolf Harnacks zuſtimmen zu muͤſſen, wenn er die Folge einer 
etwaigen Nachgiebigkeit Luthers in folgenden Saͤtzen zeichnet: „Haͤtte 
Luther in der Abendmahlsfrage nachgegeben, ſo haͤtte das kirchliche und 
politiſche Verbindungen zur Folge gehabt, die aller Wahrſcheinlichkeit 
nach für die deutſche Reformation verhaͤngnis voller geweſen wären als ihre 
Iſolierung; denn die Haͤnde, die ſich nach Luther ausſtreckten — Karlſtadt, 
Schwenkfeld, Zwingli uſw. — und die ſcheinbar nur durch die Abend⸗ 


239 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 
mahlslehre am Zugreifen gehindert waren, waren keine reinen Haͤnde. 
Große politiſche Plaͤne und bedenkliche Unſicherheiten in bezug auf das, 
was evangeliſcher Glaube iſt, ſollten Buͤrgerrecht in der evangeliſchen Kirche 
erhalten“. 

Auch wenn wir den Ausgang des Marburger Geſpraͤches nach Seiten 
ſeiner rein politiſchen Bedeutung ins Auge faſſen, haben wir vielleicht 
keinen Grund zur Klage. Die weltumſpannenden Kombinationen, in 
welche die deutſche Reformation hineingezogen werden ſollte, waren doch 
hoͤchſt unſicherer Art. Die Reformation beſaß damals in Deutſchland 
ſchwerlich ſchon einen genuͤgenden Stüßpunft (wir brauchen nur an die 
gewaltige Mehrheit der altkirchlichen Staͤnde auf dem letzten Reichs⸗ 
tage zu denken), um den Verſuch einer gewaltſamen Umgeſtaltung des 
Reiches mit einiger Ausſicht auf Erfolg machen zu koͤnnen. „Haͤtte ſich 
der deutſche Proteſtantismus“, ſagt Hermann Baumgarten, „auf dieſe 
Bahn gewagt, ſo wuͤrde er das Reich in eine ungeheure Verwirrung 
geſtuͤrzt haben, in welcher er leicht ſeinen Untergang gefunden haͤtte“. 


8. Die Bedrängnis der deutſchen Proteſtanten (1529-1530). 
Der Sturz Zwinglis und der Schmalkaldiſche Bund (1531) 


Jer unmittelbare Ruͤckſchlag, den das Scheitern des Eini⸗ 
u gungsverſuches auf die politiſche Lage ausuͤbte, war aller⸗ 
= N dings nichts weniger als erfreulich. Der zu Speier gefaßte 

8 725 Plan eines Zuſammenſchluſſes der evangeliſchen Fuͤrſten 

5 mit den ſuͤddeutſchen Glaubensgenoſſen war nun ver⸗ 

C eitelt. Kurfuͤrſt Johann machte jetzt in Ubereinſtimmung 
mit dem Markgrafen Georg von Brandenburg und mit Nuͤrnberg den 
Abſchluß des Buͤndniſſes mit den Reichsſtaͤdten abhaͤngig von ihrer Los⸗ 
ſagung von Zwingli. Dazu aber wollten ſie ſich nicht verſtehen. Dieſe Spal⸗ 
tung trat ein zu derſelben Zeit, wo der Ernſt der Lage ſich noch zu ſteigern ſchien. 


240 


Bedrängnis der deutſchen Proteſtanten. Sturz Zwinglis und der Schmalkaldiſche Bund 


Eben damals kehrte eine Geſandtſchaft, welche die Evangeliſchen zur Über; 
gabe und Rechtfertigung ihrer Proteſtation an den Kaiſer nach Italien 
geſchickt hatten, mit uͤbler Botſchaft heim: ſie war am kaiſerlichen Hofe 
hoͤchſt ungnaͤdig empfangen, ja eine Zeitlang gar in Haft gehalten worden. 
Konnte noch jemand daran zweifeln, daß der Kaiſer jetzt, wo er die Arme 
frei hatte, ſich daran machen werde, ſeinen Willen im Reiche durchzu⸗ 
ſetzen? Die Bedrohten blieben bei ihrer Haltung — aus Überzeugung, 
um nichts Unrechtes zu tun. „Politiſch⸗klug war es nicht,“ ſagt Ranke, 
„allein, nie trat wohl die reine Gewiſſenhaftigkeit ruͤckſichtsloſer, groß; 
artiger hervor“. — — 

Es war ein Jahr ſpaͤter. Die Saat dieſer Politik war fuͤr die Pro⸗ 
teſtanten gereift. Nie hatte es uͤbler um ihre Sache geſtanden. Im Som⸗ 
mer 1530 war der Kaiſer, der neun Jahre dem Reiche fern geblieben war, 
von Italien nach Deutſchland gekommen, um in Augsburg einen Reichs⸗ 
tag abzuhalten, der unmittelbar an den von Worms anknuͤpfen ſollte. 
Es war ſein feſter Wille geweſen, die „Abgewichenen“ zur roͤmiſchen Kirche 
zuruͤckzufuͤhren, ſei es in Guͤte, ſei es mit Gewalt. Zunaͤchſt hatte der vor⸗ 
ſichtige Politiker es doch noch einmal mit ſanften Mitteln verſuchen wollen; 
denn er verhehlte ſich nicht, welche Gefahren unter Umſtaͤnden der Appell 
an die Macht heraufbeſchwoͤren koͤnnte. So hatte ſein Reichstagsausſchrei⸗ 
ben, das er Ende Januar von Bologna aus erließ, nur Worte der Milde 
und Guͤtigkeit gehabt. Dann hatte ihn der paͤpſtliche Legat, der ihn uͤber die 
Alpen begleitete, fuͤr das denkbar ſchaͤrfſte Verfahren zu gewinnen geſucht. 
Es war der uns bekannte Kardinal Campegi, der naͤmliche, der 1524 den 
erſten Keil in die deutſche Einheit getrieben hatte; zweifellos wollte er 
das jetzt wieder gut machen. Wir beſitzen das ausfuͤhrliche Gutachten, 
das er unterwegs dem Monarchen eingereicht hat, und das beilaͤufig vom 
Lobpreis des Kaiſers ebenſo uͤberfließt wie von frommen Reden. Selten 
hat ſich der Blutdurſt eines Prieſters offener hervorgewagt. Nach einer 
grauſigen Schilderung „der verfluchten Peſt der teufliſchen Ketzerei“, 
die, wie er dem Kaiſer einredet, auch alle weltliche Gewalt abſchaffen will, 
ſtellt er als das einzig wirkſame und, ſeiner Überzeugung nach, ganz 
unumgaͤngliche Mittel, „die giftige Pflanze“ mit Stumpf und Stiel aus⸗ 
zurotten, die Anwendung von „Feuer und Schwert“ hin. Wir koͤnnen 
ſeine ſchlangenklugen Ratſchlaͤge, wie im einzelnen dabei zu verfahren iſt 
(es verſteht ſich, daß der Kaiſer feine Karten nicht gleich aufdecken darf), 
auf ſich beruhen laſſen. Nur darauf ſei noch hingewieſen, daß Campegi 
die Notwendigkeit betont, nach getaner Arbeit die Inquiſition nach 


16 Brieger, Reformationsgeſchichte 241 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


ſpaniſchem Muſter in Deutſchland einzufuͤhren. Buͤcherverbrennungen 
und eine ſtrenge Zenſur muͤſſen nachhelfen, auf daß auch die letzten Reſte 
des Unkrautes vertilgt werden. 

Das Gutachten war nicht ganz ohne Eindruck auf Karl V. geblieben. 
Sehr bald hatte ſein Auftreten auf dem Reichstage nicht in Einklang 
geſtanden mit den Verheißungen des Ausſchreibens. Dieſem zufolge 
hätten beide Parteien eine ſchriftliche Zuſammenfaſſung ihrer religiöfen 
Anſchauungen dem Reichstage vorlegen ſollen. Es war dies den Altkirch⸗ 
lichen erlaſſen worden, fo daß die von den Evangeliſchen eingereichte 
„Confessio“ (die Augsburgiſche Konfeſſion, ein Rechenſchaftsbericht über 
Glauben und Lehre, welchem die Ereigniſſe der naͤchſten Jahrzehnte den 
Charakter einer politiſchen Urkunde von hoher Bedeutung aufdruͤcken 
ſollten) vom Kaiſer und der Reichstags mehrheit wie die Rechtfertigungs⸗ 
ſchrift eines Angeklagten behandelt werden konnte. Man hatte im Namen 
des Kaiſers ihrem Bekenntnis eine Gegenſchrift aus der Feder der Partei⸗ 
theologen entgegengeſtellt, auf Grund derſelben die Proteſtanten öffent; 
lich von Reichs wegen fuͤr widerlegt erklaͤrt, ſich darauf zwar noch in Unter⸗ 
handlungen mit ihnen eingelaſſen, in dieſen jedoch ſo wenig nachgiebig 
ſich gezeigt, daß ſie fruchtlos bleiben mußten. Das Ende war geweſen, 
daß der Reichstagsabſchied (vom 19. November 1530) unter Hinweis 
auf ein allgemeines Konzil ſofortige Unterwerfung von den Proteſtanten 
verlangte; bequemten ſie ſich nicht gutwillig zu ihr, ſo ſollten ſie gezwungen 
werden. 

Da endlich rafften ſich die Evangeliſchen zur Abwehr auf. Es kam 
(153031) zum Abſchluß des im Jahre zuvor geſcheiterten Buͤndniſſes. 
Das Hindernis, das fruͤher der Verbindung mit dem Suͤden im Wege 
ſtand, war jetzt beſeitigt, da Straßburg und andere Staͤdte inzwiſchen ſich 
in der Abendmahlslehre Luther genaͤhert hatten. Daher konnte gleich 
anfangs eine ſtattliche Reihe ſuͤddeutſcher Staͤdte in den „Schmalkal⸗ 
diſchen Bund“ aufgenommen werden. Gleichwohl fuͤhlte Oberdeutſch⸗ 
land ſich noch immer ſtark zu Zwingli hingezogen. Doch ſollte die 
Schweiz bald ihre Anziehungskraft einbuͤßen — infolge des furcht⸗ 
baren Ungluͤcks, das noch im Jahre 1831 über das Werk Zwinglis 
hereinbrach. 

Der im Jahre 1529 von den eidgenoͤſſiſchen Parteien geſchloſſene 
Friede war nachgerade unhaltbar geworden. Von neuem forderte daher 
Zwingli den Krieg. Allein Bern, das, wie uns bekannt, die verwegene, 
ſich nicht mehr innerhalb des eidgenoͤſſiſchen Intereſſenkreiſes haltende 


242 


Bedrängnis der deutſchen Proteſtanten. Sturz Zwinglis und der Schmalkaldiſche Bund 


Politik Zuͤrichs mißbilligte, war ſamt den uͤbrigen Verbuͤndeten dagegen. 
Auch in Zuͤrich ſelber ſtieß Zwingli auf Widerſtand. Sein theokratiſches 
Syſtem erlitt einen harten Stoß, er verlor das Heft aus den Haͤnden. 
Seinen Warnungen zum Trotz ſchritt man, anſtatt die Gegner niederzu⸗ 
werfen, zu einer halben, verderblichen Maßregel. Es war die von Bern 
empfohlene Sperrung der Zufuhr von Lebensmitteln, welche bei der 
herrſchenden Teuerung beſonders empfindlich wirken mußte. Sie konnte 
die Fuͤnforte nur erbittern, ohne ihre Macht zu brechen. Was voraus⸗ 
zuſehen war, geſchah. Von der Not getrieben, griffen ſie zu den Waffen 
und ſchlugen die völlig uͤberraſchten Zuͤricher aufs Haupt. Zwingli, der 
auch in ſchwerſter Zeit ſeine heroiſche Natur nicht verleugnet hatte, war 
als Feldprediger mit ausgezogen, im Herzen gewiß, daß es ſein letzter 
Ritt ſei. In der Tat raffte die blutige Schlacht von Kappel (1. Oktober 
1531) auch ihn hinweg. Toͤdlich verwundet in die Haͤnde der Feinde 
gefallen, ſtarb er als Held. „Was er in gutem Glauben an die Wahrheit 
feines theokratiſchen Gedankens verſchuldet hatte, das hat er durch feinen 
Tod geſuͤhnt.“ So mit Recht Albrecht Ritſchl. Wenn wir ſtaunend 
daſtehen vor der Groͤße Luthers, auch Zwingli entlockt uns Bewunderung. 
Auch auf dieſen Sohn eines urdeutſchen Stammes, auf dieſen Alemannen 
darf unſer Volk ſtolz ſein. Seine Begeiſterung fuͤr die Wahrheit, ſeine 
ſelbſtloſe Hingabe an die hohe, heilige Sache, ſein unerſchuͤtterlicher Mut, 
ſeine, man moͤchte ſagen, unbaͤndige Tatkraft — ſie machen ihn zum zwei⸗ 
ten großen Vorkaͤmpfer der modernen Zeit. 

Wie verhaͤngnisvoll ſein Verluſt fuͤr Zuͤrich war, fuͤr die Schweiz 
uͤberhaupt, ſollte ſich nur zu bald zeigen. In den gemeinſamen Gebieten 
wurde „der wahre, ungezwyflete, chriſtenliche Glaube“ (dieſes Ausdruckes 
mußten ſich die Zuͤricher in der Friedensurkunde bedienen) faſt überall 
wiederhergeſtellt und meiſt mit Gewalt, die Buͤrgerſtaͤdte mußten froh 
ſein, daß ſie bei ihrem Bekenntnis bleiben durften. 

Von neuem ſtoßen wir hier — in Verfolg eines Krieges — auf 
eine Reſtauration des alten Kirchentums. Sie hat bis heute Stand 
gehalten. 

Dieſe traurige Einbuße ſchlug inſofern zur Staͤrkung der Reformation 
in Deutſchland aus, als die oberdeutſchen Staͤdte, nachdem ſie ihre Stuͤtze 
in der Schweiz verloren hatten, ſich ruͤckhaltlos den Schmalkaldenern in 
die Arme warfen. Noch immer fehlte dem Bunde die Verfaſſung; bei 
der kuͤhlen Zuruͤckhaltung der Staͤdte hatte man ſich uͤber ſie nicht einigen 
koͤnnen. Jetzt kam ſie raſch zum Abſchluß. 


16* 243 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


Dieſer Zuſammenſchluß der Kraͤfte von Nord und Suͤd ſtellte doch 
eine anſehnliche Macht her. Mit Sachſen, Heſſen und einigen kleineren 
Fuͤrſten hatten ſich im ganzen vierzehn Städte Ober; und Niederdeutſch⸗ 
lands vereinigt, darunter ſo maͤchtige oder reiche wie Straßburg und Ulm, 
Magdeburg, Goslar, Bremen und das gewaltige Luͤbeck. 


9. Die ſteigende Not Karls V. und der Nürnberger Religions- 
friede von 1532 


on Anfang an hatte Karl V. mit dieſer Macht zu 
rechnen; und das um ſo ſtaͤrker, als binnen kurzem 
A deutſche und außerdeutſche Gegner des Kaiſers die 
5 Bedeutung der hier organiſierten Oppoſition er⸗ 
25 kannten und Anſchluß an fie ſuchten. Da war zu⸗ 

= nuaͤchſt — wen ſollte es nicht uͤberraſchen? — das 
eifrig katholiſche Bayern, das ſich den Schmalkaldenern naͤherte. 
Karl hatte zu Anfang des Jahres 1531, um ſeine Macht im Reiche 
zu ſtaͤrken, fuͤr die Zeit ſeiner Abweſenheit in ſeinem Bruder einen geſetz⸗ 
lichen Stellvertreter zu haben, Ferdinand von den Kurfuͤrſten zum Roͤmi⸗ 
ſchen Koͤnig waͤhlen laſſen. Doch Kurfuͤrſt Johann von Sachſen war der 
Wahl fern geblieben und hatte gegen ſie proteſtiert. Gleich ihm verſagten 
ſeine Verbuͤndeten dem neuen Koͤnig die Anerkennung. Dasſelbe taten 
aber auch die Herzoge von Bayern, die ſeit lange danach getrachtet hatten, 
dieſe Wuͤrde wieder einmal an das Haus Wittelsbach zu bringen. Um 
ihrem Widerſpruch Nachdruck verleihen zu koͤnnen, ſchloſſen ſie jetzt — es 
war im Oktober 1531 zu Saalfeld — mit den Schmalkaldenern ein Schutz⸗ 
buͤndnis; es enthielt das Verſprechen gegenſeitiger Unterſtuͤtzung, falls 
jemand wegen der Verwerfung Ferdinands angegriffen werden ſollte. 
Da war ferner König Friedrich I. von Daͤnemark, den Karl V. verjagen 
wollte, um den fruͤheren Koͤnig, ſeinen Schwager Chriſtian II. wieder 
einzuſetzen. Da war endlich der in zwei Kriegen beſiegte Koͤnig von Frank⸗ 


244 


Die ſteigende Not Karls V. und der Nürnberger Religionsfriede von 1532 


reich, der keine Gelegenheit voruͤbergehen ließ, ſich an dem Kaiſer zu raͤchen. 
Beide Koͤnige traten der Saalfelder Vereinigung bei. 

Wir ſehen, der deutſche Proteſtantismus begann als politiſche Macht 
die Grenzen Deutſchlands zu uͤberſchreiten. Was Zwingli und Landgraf 
Philipp ein paar Jahre zuvor vergeblich erſtrebt hatten, das ſpinnt ſich 
jetzt doch an: er laͤßt ſich mit fremden Mächten ein, nur mit dem Unter; 
ſchied, daß das Phantaſtiſche der fruͤheren Plaͤne fehlt und ſtatt der damals 
herrſchenden Angriffsluſt nur der Gedanke der Selbſtverteidigung die 
maßgebenden Kreiſe beſeelt. Immer aber war doch die Verbindung mit 
dem Auslande da! War ſie etwa Verrat am Vaterlande? oder auch nur 
aus Mangel an Patriotismus geboren? Wir können fie beklagen, tadeln 
duͤrfen wir ſie nicht. Denn gegen wen ſollte hier mit fremder Huͤlfe die 
deutſche Nation und deutſches Weſen geſchuͤtzt werden? Etwa gegen den 
deutſchen Kaiſer? Man hat mit Recht auf den Vorgang der Kaiſerkroͤnung 
zu Bologna (am 24. Februar 1530) hingewieſen, bei der kein deutſcher 
Fuͤrſt zugegen war, wie da Clemens VII. die Krone nicht wie ſonſt ſeit 
Otto dem Großen dem deutſchen Herrſcher, ſondern dem Koͤnig von 
Spanien, Neapel und den Niederlanden erteilt hat: „Deutſchland bildete 
nur ein paſſives Anhaͤngſel der fremden Weltmacht“. Gegen dieſe lehnte 
man ſich auf! Daß es nur mit Unterſtuͤtzung des Auslandes moͤglich war, 
das iſt ein Verhaͤngnis fuͤr unſer Vaterland geweſen, aber es war nicht 
von denen verſchuldet, welche den durch die Umſtaͤnde gebotenen Weg 
betraten. — — 

Karl V. hatte bereits den harten Reichstagsabſchied von Augsburg 
mehr als eine Drohung gemeint. Er haͤtte ſchon damals nicht wagen 
duͤrfen, Ernſt zu machen. Schon war ſein Verhaͤltnis zu Frankreich 
unſicher, unſicher und durch ſeine Forderung des Konzils auf eine ſchwere 
Probe geſtellt die paͤpſtliche Freundſchaft. Dazu die drohende Lage im 
Oſten. Bereits im Fruͤhjahr 1531 waren ihm die erſten Gedanken 
gekommen, daß doch irgend ein Abkommen mit den Proteſtanten nicht 
zu umgehen ſein werde. Er brauchte ſie. Beharrlich hatten ſie zu Augs⸗ 
burg die verlangte Tuͤrkenhuͤlfe abgelehnt. Nun ſah er ſich ihrer ver; 
einten Macht gegenuͤber. Die Notwendigkeit einer Verſtaͤndigung trat 
immer klarer hervor. Noch machte er einen letzten Verſuch, den Sultan 
Suleiman durch Anerbietungen, die eine tiefe Selbſtdemuͤtigung ein⸗ 
ſchloſſen, fernzuhalten. Umſonſt! 

Der Kaiſer ſelbſt war bedroht. Um von Deutſchland abzuſehen, 
ſo konnte die Flotte des Großtuͤrken ſeine Mittelmeerreiche bedraͤngen. 


245 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


Aber den Hauptſtoß hatte doch ſein Bruder Ferdinand auszuhalten. 
Nach dem Tode Ludwigs II. von Ungarn und Böhmen in der Schlacht 
von Mohacz (1526) waren ihm dank des Erbrechtes feiner Gattin, einer 
Schweſter des letzten ungariſchen Jagellonen, beide Koͤnigreiche zugefallen 
— freilich nicht, ohne daß er andere Bewerber haͤtte aus dem Sattel 
heben muͤſſen. Ja in Ungarn bekam er dauernd mit einem Rivalen zu 
tun, dem maͤchtigen Woiwoden von Siebenbuͤrgen Johann von Zapolya. 
Nahm ſchon dies die Kraft Ferdinands in Anſpruch, ſo vollends die unaus⸗ 
geſetzt gefaͤhrdete Lage ſeines neuen ungariſchen Reiches, das die 
Osmanen als ihnen gehoͤrig betrachteten und jeden Tag von neuem uͤber⸗ 
ſchwemmen konnten. Um ſich ihrer zu erwehren, ſah er ſich ganz und gar 
auf die Unterſtuͤtzung Deutſchlands angewieſen. Daher war das Haus 
Habsburg durch den großartigen Machtzuwachs zunaͤchſt keineswegs zu 
groͤßerer Machtentfaltung faͤhig geworden (erſt die Ferdinande der Gegen⸗ 
reformation konnten das volle Gewicht dieſer außerdeutſchen Reiche in 
die Wagſchale des Weltkampfes werfen); im Gegenteil, die ſchon immer 
ſchwache Bewegungsfreiheit Ferdinands war noch verringert, ſeine 
Abhaͤngigkeit vom Reiche geſteigert. So hat der Erwerb jener beiden Kronen 
in aͤhnlicher Weiſe wohltaͤtig auf die Geſchicke der Reformation in Deutſch⸗ 
land eingewirkt wie die unaufhoͤrliche Verſtrickung Karls V. in die großen 
Weltverhaͤltniſſe. So arg Ferdinand uͤber die verheerenden Wirkungen 
der entſetzlichen Seuche der Ketzerei, die er fruͤher tatkraͤftig bekaͤmpft 
hatte, klagen mochte, ſein Arm war jetzt gelaͤhmt, er ſah ſich zur Untaͤtig⸗ 
keit verurteilt; ja noch mehr, er und ſein Bruder konnten ſich nicht 
einmal der Notwendigkeit entziehen, den verhaßten Ketzern Zugeſtaͤndniſſe 
zu machen. 

Niemals bisher hatte die Huͤlfloſigkeit des Koͤnigs von Ungarn einen 
ſo hohen Grad erreicht. Im Fruͤhjahr 1532 brach der Erbfeind der Chriſten⸗ 
heit zu ſeinem großen Heerzuge gen Weſten auf. Der Zug galt nicht bloß 
Ungarn, das am naͤchſten vor ihm lag. Es war ein Weltunternehmen, 
zu dem ſich Suleiman erhoben hatte: dem Koͤnig von Spanien wollte er 
die angemaßte Kaiſerwuͤrde rauben, und zwar auf deutſchem Boden. 
Die politiſche Zerriſſenheit und die religioͤſe Entzweiung Deutſchlands 
war ihm nicht unbekannt. Er wußte, daß, wie man ſich an der Pforte 
ausdruͤckte, der Kaiſer ſeinen Frieden mit Martin Luther noch nicht 
gemacht habe. 

Ein furchtbarer Schreck fuhr durch die zunaͤchſt gefaͤhrdeten Laͤnder der 
Chriſtenheit. Wie arg er in Rom geweſen iſt, zeigt die ploͤtzliche Bereit⸗ 


246 


Die ſteigende Not Karls V. und der Nürnberger Religionsfriede von 1532 


willigkeit des Papſtes, „die Lutheraner“, die man bis dahin immer nur 
mit den Tuͤrken auf eine Stufe geſtellt hatte, als Chriſten anzuerkennen. 
Clemens VII. legte ſeinen Theologen von neuem das Augsburger 
Bekenntnis zur Begutachtung vor; und da machte man die Entdeckung, 
daß es gar nicht ſo ſchlimm ſei, eine Verſtaͤndigung keineswegs unmoͤglich 
erſcheinen laſſe; und der Papſt ſelber ermunterte den Kaiſer, ſich mit den 
Proteſtanten zu vertragen. 

Und in der Tat mußte Karl ſich dazu entſchließen, wie ſauer es ihm 
auch wurde. Das tuͤrkiſche Heer ſtand bereits auf ungariſchem Boden. 
Soeben hatte Frankreich ſich der deutſchen Oppoſition genaͤhert. Seit 
faſt einem Jahre ſchwebten Verhandlungen Karls mit dem Schmal⸗ 
kaldiſchen Bunde. Sie hatten nie von der Stelle ruͤcken wollen. Jetzt 
kam ein friſcher Zug in ſie. Auch die Evangeliſchen verſchloſſen ſich nicht 
der Einſicht von der Notwendigkeit eines Ausgleiches, dem nur die 
katholiſchen Staͤnde mit allen Mitteln entgegen arbeiteten. Indem ſie, im 
Unterſchied von den Proteſtanten, ſich in der Gewährung der Reichs⸗ 
huͤlfe gegen die Tuͤrken ſchwierig zeigten, tadelten ſie ſchroff die Nachgiebig⸗ 
keit Karls, der von dem Augsburger Abſchied abgehen wolle. Dieſe 
Oppoſition kam dem Kaiſer im letzten Grunde gewiß nicht ungelegen. War 
er von Anfang an entſchloſſen, nicht mehr, als die Not gebieteriſch forderte, 
von ſeinem Standpunkte zu weichen, dem katholiſchen Glauben, ſeiner 
Zukunft in Deutſchland nichts zu vergeben, ſo bot die feindſelige Haltung 
ſeiner Glaubensgenoſſen ihm eine willkommene Stuͤtze, um in den Ver⸗ 
handlungen die zaͤheſte Hartnaͤckigkeit zu behaupten, und ließ jedes ſeiner 
Zugeſtaͤndniſſe nur deſto wertvoller erſcheinen. So kam es, daß die Pro⸗ 
teſtanten in ihrem gutmuͤtigen Patriotismus, ihrer politiſchen Kurz⸗ 
ſichtigkeit (nur Landgraf Philipp war von beidem frei) Schritt fuͤr Schritt 
von ihren urſpruͤnglichen Forderungen zuruͤckwichen und ſchließlich nur 
einen unſicheren, von Anfang an durchloͤcherten, unzureichenden Frieden 
erhielten. Philipp ſprach mit Recht von einer „ungewiſſen Verſicherung“, 
mochte es auch eine vom Arger eingegebene Übertreibung fein, wenn er 
den Frieden ſchimpflich und laͤcherlich nannte. 

Der am 23. Juli 1532 zu Nuͤrnberg verabredete, am 2. Auguſt von 
Karl V. beſtaͤtigte Friede war unſicher, weil der Kaiſer ihn nur fuͤr ſeine 
Perſon mit den Evangeliſchen abſchloß. Das Reich band er nicht. Der 
damals zu Regensburg tagende Reichstag nahm keine Kenntnis von ihm. 
Er war von Anfang an durchloͤchert, weil der Kaiſer in einem entſchei⸗ 
denden Punkte nur zu einer zweideutigen Formel ſich verſtanden hatte 


247 


Karl V., die Mächte und das Reich von 1525—1532 


und ſich die Moͤglichkeit offen hielt, was er mit der einen Hand gab, bald 
mit der andern wieder zu nehmen. Der Friede war durchaus unzureichend, 
ſowohl was ſeinen Umfang als ſeine Zeitdauer anlangte. Er ſollte nur 
Geltung haben bis zu einem Konzil und, falls das nicht zu erreichen war, 
bis zur Regelung der Religionsſache durch einen neuen Reichstag. Nicht 
weniger bedenklich war es um den Geltungsbereich des Friedens beſtellt. 
Er ſollte nur den in der Friedensurkunde aufgezaͤhlten Staͤnden zu gute 
kommen. Wir finden hier die Schmalkaldiſchen Verbuͤndeten nebſt Nuͤrn⸗ 
berg und dem Markgrafen Georg von Brandenburg, die dem Bunde 
nicht beigetreten waren (im ganzen vierundzwanzig Staͤdte, darunter 
auch Hamburg). Der Friede galt demnach nur den gegenwaͤrtigen 
Bekennern des evangeliſchen Glaubens, nicht aber denjenigen Reichs⸗ 
ſtaͤnden, die in Zukunft ſich ihm zuwenden würden. Daß er auch auf dieſe 
ausgedehnt werde, das hatten anfangs die Proteſtanten ſehr beſtimmt 
gefordert, doch nur zu bald, als der Kaiſer ſich dem auf das heftigſte wider⸗ 
ſetzte, gegen den Willen des Landgrafen fallen laſſen. Wir verſtehen den 
Widerſtand Karls. Die Bewilligung des proteſtantiſchen Verlangens 
war ſo ziemlich gleichbedeutend mit dem Ende der roͤmiſchen Kirche in 
Deutſchland. Über die ungeheuere Zugkraft „der eitlen Glaubens⸗ 
meinungen“ taͤuſchte er ſich nicht. Ebenſo ſtark war Luther von ihr 
überzeugt, wenn er urteilte, der „Gegenteil“ werde auf die Forderung 
nicht eingehen, weil ſonſt „ohne Zweifel bald all ſein Volk umſchla⸗ 
gen“ wuͤrde. 

Indeſſen, ſo wenig uns heute dieſer „Friede“ befriedigt, verglichen 
die Proteſtanten die durch ihn geſchaffene Lage mit ihrer Situation zwei 
Jahre zuvor, wo ihnen täglich Krieg und Verderben gedroht hatte, fo 
durften ſie immerhin von einem anſehnlichen Erfolge ihrer Politik traͤumen. 
Nicht fie waren zuruͤckgewichen, zuruͤckgewichen war der Kaiſer: er hatte 
die Abgefallenen dulden, ihre Schoͤpfungen unangetaſtet laſſen muͤſſen. 
Gehobenen Hauptes gingen ſie der Zukunft entgegen, und — dieſe hat 
ihnen Recht gegeben. 

Ungeachtet ſeiner boͤſen Maͤngel hat der Nuͤrnberger Friede die 
Pforte gebildet zu einer Epoche neuen Aufſchwunges der Reformation 
in Deutſchland. Karl V. hatte ein Proviſorium bewilligen wollen von 
heute auf morgen; der Druck der europaͤiſchen Verhaͤltniſſe, der auf ihm 
laſtete, hat ſein Werk ausgedehnt auf nicht weniger als vierzehn Jahre. 
So gewaltig waren die Fortſchritte der Reformation in dieſer Zeit, daß 
ihr voller, uneingeſchraͤnkter Sieg im Reiche nicht mehr fern zu fein ſchien. 


248 


Die ſteigende Not Karls V. und der Nürnberger Religionsfriede von 1532 


Es iſt dieſelbe Zeit, wo die religiöfen Ideen Luthers weit über ihre urſpruͤng⸗ 
liche Heimat hinaus vordringen, ſo ſehr, daß man von einem Zuge der 
Reformation durch Europa reden darf. 

In dieſer ihrer zwiefachen Bedeutung muͤſſen wir uns in den naͤchſt⸗ 
folgenden Abſchnitten die Epoche von 1532 bis 1545 vergegenwaͤrtigen. 


Der neue Aufſchwung 
der Reformation 


in Deutſchland 
1532—1545 


1. Die erften Fortſchritte des Proteſtantismus nach dem Nürnberger 
Frieden und ihr politiſcher Hintergrund (bis 1538) 


7 m Herbſt 1532 war Karl V. an der Spitze eines für feine 
„ Vrerhaͤltniſſe außerordentlich ſtarken Heeres in Oſterreich 
In‘ 25 erſchienen, um den deutſchen Boden gegen die Tuͤrken 

EN BA Eu verteidigen. Wie Sultan Suleiman 1529 es nicht für 
“2. > einen Schimpf gehalten hatte, die Belagerung des helden⸗ 
muͤtig verteidigten Wien aufzugeben, fo machte er auch 

jetzt mit it Gelaſſenheit Kehrt, als er wider Erwarten das geeinte Deutſchland 
ſich gegenüber ſah und die Überzeugung gewann, daß in den Sternen nichts 
von ſeinem Siege geſchrieben ſtehe. Von dieſer Seite hatte alſo der Kaiſer, 
der übrigens Ungarn ohne Bedenken dem Feinde überließ, fürs erſte nichts 
zu befuͤrchten. Trotzdem war er auch jetzt noch voͤllig unvermoͤgend, den 


250 


Die erſten Fortſchritte des Proteſtantismus nach dem Nürnberger Frieden 


Dingen in Deutſchland eine guͤnſtige Wendung zu geben, den ihm unwill⸗ 
kommenen Wirkungen des Nuͤrnberger Friedens vorzubeugen. Seine 
Spannung mit England, vor Jahren durch Heinrichs VIII. Bemuͤhen, 
ſich ſeiner Gattin Katharina zu entledigen, veranlaßt, hielt an, ja wurde 
noch verſtaͤrkt. Anfang 1533 fuͤhrte der Koͤnig als neue Gemahlin Anna 
Boleyn heim — eine Handlung ſouveraͤner Machtvollkommenheit, welche 
die Autoritaͤt der Kurie ſchroff verneinte. Auch auf den Papſt, der dem 
Englaͤnder gegenuͤber allerdings ſeine Schuldigkeit tat, war kein Verlaß. 
Nie haͤtte er dem Kaiſer das ſo inſtaͤndig geforderte Konzil bewilligt, 
um ſo weniger, da er jetzt ganz und gar im Fahrwaſſer von Frankreich 
war. Nun ſchien freilich der Tod Clemens“ VII. (Herbſt 1534) die Lage 
Karls zu verbeſſern. Aber eine Stuͤtze fuͤr ihn war doch auch der neue 
Papſt, Paul III., Farneſe, nicht, mochte er ſich gleich mit der Konzilsidee 
befreunden. Allein die ſchwerſte Sorge des Kaiſers war ſein Verhaͤltnis 
zu Frankreich: deutlich tauchte ein neues Zerwuͤrfnis am Horizonte auf. 
Er mußte froh ſein, daß ihm ſein Gegner noch Zeit und freie Hand ließ, 
ein kriegeriſches Unternehmen zu wagen, das zum Schutz Spaniens und 
Italiens unerlaͤßlich war, ſeinen Zug nach Tunis gegen den kuͤhnen 
Barbaresken, den gefuͤrchteten Korſaren Chaireddin Barbaroſſa. Es war 
das eine Kriegsfahrt recht nach dem Herzen Karls. Zu jeder Zeit ſeines 
Lebens ging ja das Sinnen und Trachten dieſes glaͤubigen Katholiken 
immer nur auf eins, „etwas fuͤr die Chriſtenheit zu tun“, d. h. die 
katholiſche Religion zu ſchirmen gegen Unglaͤubige und Ketzer. Ein raſcher 
Sieg kroͤnte die Kreuzfahrt. Er verlieh ſeinem Eifer fuͤr die Religion neue 
Staͤrke. Wie gern haͤtte der Kaiſer dieſen jetzt auch durch Bekaͤmpfung der 
Ketzerei bewährt. Indeſſen, gleich das naͤchſte Jahr (1536) brachte den laͤngſt 
befuͤrchteten neuen Krieg mit Frankreich (den dritten mit dieſer Macht). So 
ſehr Karl den Ausbruch der Feindſeligkeiten als ein Unglüd für „die Chriſten⸗ 
heit“ beklagen mochte, da er dem Tuͤrken die Tore oͤffnen, die Ketzerei uner⸗ 
meßlich fördern, der Kirche die Autorität, der Welt den Glauben rauben 
werde, — der Krieg war ihm doch ebenſo unvermeidlich erſchienen wie ſeinem 
Widerpart, dem „allerchriſtlichſten König“, der ſich durch ein Buͤndnis mit 
dem Sultan geſtaͤrkt hatte. Zwar wurde den kriegeriſchen Wirren im Sommer 
1538 ein Ziel geſetzt durch einen vom Papſt vermittelten Waffenſtillſtand 
(auf zehn Jahre). Allein es war das ein ausdruͤcklicher Verzicht auf den 
Frieden, und der alte Streit um Mailand blieb ungeſchlichtet. — — 
Das Eingreifen des Kaiſers in die deutſche Religionsfrage hat ſich 
in allen dieſen Jahren darauf beſchraͤnkt, daß er den Proteſtanten, die 


251 


Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—1545 


Grund zur Klage zu haben glaubten, weil ſie dank der Unbeſtimmtheit 
des Nürnberger Friedens fort und fort durch das Reichskammergericht 
bedraͤngt wurden, gute Worte gab. Nur ganz ausnahmsweiſe ſprach er 
ihnen auch wohl ſein Mißfallen aus. 

Und wie vieles haͤtte er doch zu tadeln gehabt, ja ſeinen Grundſaͤtzen 
nach ſtrafen und umſtoßen muͤſſen! 

Er hatte gemeint, mit dem ſo ſtark verklauſulierten „Frieden“ von 
Nuͤrnberg einen Damm aufgeworfen zu haben, an dem ſich die Wellen 
der Ketzerei brechen mußten. Allein, wie berechtigt war doch die Klage 
des alten Herzog Georg von Sachſen, die Gegner haͤtten ſich durch das 
Nuͤrnberger Abkommen „in nichts hindern laſſen“, vielmehr „ganz nach 
Belieben neue Staͤnde ſich anhaͤngig gemacht“. 

Im Jahre 1534 hatte Philipp von Heſſen, von Frankreich mit Geld 
unterſtuͤtzt, einen alten Lieblingsplan ausgeführt und Wuͤrttemberg, 
deſſen herzogliche Fahne zum Mißvergnuͤgen ſo manches Reichsfuͤrſten 
Ferdinand von Oſterreich führte, mit kuͤhner Waffentat für feinen ange, 
ſtammten Herrn, den Herzog Ulrich, zuruͤckerobert. Damit war das Land 
zugleich von dem harten Oruck religiöfer Tyrannei befreit. Der evangeliſche 
Glaube gewann jetzt um ſo ſchneller Boden, als gegen die heimliche Hin⸗ 
neigung zum Evangelium alle Gewaltmaßregeln Ferdinands nichts ver⸗ 
mocht hatten. 

Bis dahin hatte die Reformation im Suͤden ja nur an den Reichs⸗ 
ſtaͤdten eine Stuͤtze gehabt; jetzt konnte ſie ſich auch hier an die Fuͤrſten⸗ 
gewalt anlehnen. Wie wertvoll das war, zeigte ſich ſofort in den neuen 
Eroberungen, die ſie in den benachbarten Gebieten machte: in Schwaben, 
im Elſaß, in Franken; bis nach Augsburg und Frankfurt am Main 
pflanzte ſich der Anſtoß fort: an beiden Orten raͤumte man jetzt mit der 
alten Kirche auf. 

Aber auch, wo der Reformation nicht, wie in Wuͤrttemberg, die Tuͤr 
gewaltſam geöffnet wurde, drang fie mit neuer Kraft vor. Der Druck, 
der in den letzten Jahren (von 1529 ab) auf ihr gelaſtet, war mit dem 
Nürnberger Frieden gewichen. Überall hatte es einen tiefen Eindruck 
gemacht, daß der Kaiſer, der das goͤttliche Wort unterdruͤcken wollte, ſich 
genoͤtigt ſah, mit deſſen Bekennern zu paktieren. Dieſes Erlebnis hatte 
das Selbſtbewußtſein der Evangeliſchen maͤchtig gehoben, die alte Sieges⸗ 
gewißheit ihnen zuruͤckgegeben. 

Bald hatte fie aus neuen Siegen neue Nahrung ſchoͤpfen koͤnnen. In 
den Jahren 1532 bis 1534 hatten die Fuͤrſten von Anhalt⸗Deſſau, unge⸗ 


252 


Die erſten Fortſchritte des Proteſtantismus nach dem Nürnberger Frieden 


achtet der Drohungen ihrer Nachbarn, ihr Land der evangeliſchen Lehre 
geöffnet. Um dieſelbe Zeit war fie in harten Kämpfen auch in Pommern 
durchgedrungen. In nicht wenigen kleineren Gebieten Mittel⸗ und 
Norddeutſchlands, dazu in vielen niederdeutſchen Staͤdten hatten die 
Dinge denſelben Verlauf genommen. Auch Weſtfalen war im Begriff 
geweſen, dem evangeliſchen Glauben zuzufallen: voran die großen und 
einflußreichen Staͤdte wie Soeſt, Herford, Lemgo, Lippſtadt, Hoͤrter, 
ja ſelbſt die Biſchofsſitze Paderborn, Minden, Osnabruͤck und ganz 
beſonders Muͤnſter, deſſen tapfere Buͤrgerſchaft ſich (1533) gegen Biſchof 
und Kapitel die Freiheit ihres Glaubens erkämpfte. Gerade hier in Muͤnſter 
war es dann freilich zu einem Ruͤckſchlag gekommen. Es hatten nieder⸗ 
deutſche Wiedertäufer, in denen Ideen, wie fie Thomas Muͤnzer geltend 
gemacht hatte, ſich zu maßloſer Leidenſchaft und Verworrenheit geſteigert, 
unter den Bürgern Muͤnſters Eroberungen gemacht und (1534) in dieſer 
Stadt ihr wahnwitziges „Gottesreich“ — eine ſektiereriſche Schoͤpfung 
von ganz mittelalterlihem Gepraͤge — errichtet. Die Eroberung Muͤnſters 
(1535) hatte hier zur Wiederaufrichtung der alten Kirche und der gaͤnz⸗ 
lichen Ausſchließung des evangeliſchen Glaubens gefuͤhrt, obgleich dem 
Biſchof vor Anderen ein evangeliſcher Fuͤrſt, Landgraf Philipp, kraͤftig 
beigeſtanden hatte. 

Aber das war doch zunaͤchſt nur mehr eine lokale Stoͤrung. Bedenk⸗ 
licher haͤtte erſcheinen koͤnnen, daß alle die neu zum reformatoriſchen 
Chriſtentum uͤbergetretenen Länder und Städte friedlos daſtanden, den 
Angriffen des Reichskammergerichts preisgegeben waren. Doch hatten 
fie Ruͤckhalt gefunden an dem Schmalkaldiſchen Bunde, der ſich trefflich 
bewaͤhrte, ſich als eine Macht im Reiche erwies. Die Verbuͤndeten hatten 
nämlich im Dezember 1535 — es war, wie wir uns erinnern, am Vor⸗ 
abend des dritten franzoͤſiſchen Krieges — auf einem Tage zu Schmal⸗ 
kalden, deſſen weit uͤber Deutſchland hinausreichende Bedeutung die 
Anweſenheit der Botſchafter dreier Koͤnige (Frankreich, England, Daͤne⸗ 
mark) bezeugte, den Mut zu dem Beſchluſſe gefunden, ihre Vereinigung 
zu erweitern und gegen das Kammergericht wie Ein Mann zu ſtehen. 
Infolgedeſſen waren gleich darauf Württemberg, Pommern, Anhalt 
Deſſau und die Staͤdte Augsburg, Kempten, Frankfurt a. M., ſpaͤter 
(1538) fogar eine auswärtige Macht, Daͤnemark, in den Bund aufge, 
nommen worden. 

Das alles (um von anderem, minder wichtigem zu ſchweigen) hatte 
der Kaiſer ruhig geſchehen laſſen muͤſſen. Ja, er hatte noch von Gluͤck ſagen 


253 


Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532 —1545 


duͤrfen, daß die Schmalkaldener in uͤberſtroͤmender Lopalitaͤt beharrlich 
den Lockungen Frankreichs das Ohr verſchloſſen hatten. Der Wert der 
franzoͤſiſchen Bundesgenoſſenſchaft, deren bloße Vorſpiegelung dem habs⸗ 
burgiſchen Bruͤderpaar ſchon Schrecken eingejagt haͤtte, konnte ihrem 
politiſchen Blicke zwar nicht ganz verborgen bleiben. Aber nach Gebuͤhr 
gewuͤrdigt wurde er doch nur von dem Landgrafen Philipp. Den biedern 
deutſchen Bürger, der im Bunde doch auch mitzureden hatte, ergriff ein 
Grauen bei dem bloßen Gedanken, daß man ſich mit dem gottloſen Fran⸗ 
zoſen einlaſſen könnte. Auch den erſten Bundesfuͤrſten, den Sachſen, 
vermochte Philipp, wenn er ſich zu dem kuͤhnen Gedanken eines Einver⸗ 
nehmens mit Frankreich erhob, nicht mit ſich fortzureißen. Johann Friedrich, 
der im Jahre 1532 ſeinem Vater, Johann dem Beſtaͤndigen, in der 
Regierung gefolgt war, gehoͤrt in die Reihe jener geſchichtlichen Perſonen, 
bei deren Betrachtung Bewunderung und Bedauern ſich in dem Hiſtoriker 
miſchen. Großartig erſcheint feine Uberzeugungstreue: kein Opfer für 
die Idee ſeines Lebens (es war die große religioͤſe ſeiner Zeit) iſt ihr zu 
ſchwer geworden. Leider aber entſprach der Staͤrke dieſer Überzeugung 
in ihm keine gleich tiefe Einſicht in das Weſen der Dinge, die ihn umgaben. 
Daher konnte jener glaͤnzende Vorzug gelegentlich auch wohl in kleinlichen 
Starrſinn ausarten. Bei ſeinem faſt gaͤnzlichen Mangel an politiſcher 
Befaͤhigung hielt er mit Zaͤhigkeit an einer ſeiner Grundideen feſt, die nur 
allzu wenig begruͤndet war; ich denke an Johann Friedrichs optimiſtiſche 
Vorſtellung von feinem allergnaͤdigſten Herrn, dem Kaiſer. Sollte fie 
einmal ins Wanken geraten, ſo mußte ihm die kaiſerliche Ungnade ſchon 
ſcharf in die Augen blaſen; und das geringſte Zeichen von Huld entfachte 
ſein gutmuͤtiges Vertrauen wieder zu voller Staͤrke. 

Wir werden es jetzt verſtehen, daß die Proteſtanten wieder und wieder 
die herrlichſte Gelegenheit, den Kaiſer zur Ausfuͤllung der Maͤngel des 
Nuͤrnberger Friedens zu zwingen, unbenutzt ließen. 

Sie mochten ſich uͤber die Notwendigkeit beſſerer Buͤrgſchaften fuͤr den 
Frieden um fo eher taͤuſchen, als ihre Sache noch immer den gluͤcklichſten 
Fortgang hatte. Auch das Ende des franzoͤſiſchen Krieges (wir erinnern uns 
des Waffenſtillſtandes vom Sommer 1538) hemmte ihren Lauf mit nichten. 

Welchen Vorteil brachte ihnen doch allein das Jahr 1539! 

Er verdient, daß wir ihn etwas genauer ins Auge faſſen. 


Die Eroberungen des Jahres 1539 


2. Die Eroberungen des Jahres 1539 


m April dieſes Jahres ſtarb der Herzog Georg von Sach⸗ 
cen, jener ehrliche alte Feind der Reformation, der fat 
e zwei Jahrzehnte hindurch mit allen Kräften feiner ſtarken 
1 Seele den vergeblichen Kampf gekaͤmpft hatte gegen die 

Gi Hinneigung feiner Untertanen zu der Lehre des ausge⸗ 


— 


Sem 


—Jlllaufenen Wittenberger Moͤnches. Kaum hatte er bei dem 
Schwinden der Ausſicht auf ein allgemeines Konzil fein ungeduldiges Volk 
durch die Verheißung, der Papſt werde die Prieſterehe und das Abendmahl 
unter beiderlei Geſtalt bewilligen, noch laͤnger hinzuhalten vermocht. Nach 
dem Verluſt ſeiner beiden Soͤhne ohne Leibeserben, hatte er den Staͤnden 
den Entwurf eines Teſtamentes vorgelegt, welches die Nachfolge ſeines 
Bruders Heinrich an die Bedingung knuͤpfte, daß er ſich zur Aufrechterhal⸗ 
tung des katholiſchen Glaubens verpflichtete, und fuͤr den Fall der Weige⸗ 
rung den Übergang des Albertiniſchen Sachſen an das Haus Oſterreich 
in Ausſicht nahm. Allein dieſer Entwurf hatte nicht Rechtskraft gewonnen, 
und was Georg auf jede Weiſe hatte verhindern wollen, geſchah nun 
dennoch. Herzog Heinrich, welcher den ihm gehoͤrigen Bruchteil des 
Landes ſchon vor Jahren der evangeliſchen Predigt geoͤffnet und ſich 
dem Schmalkaldiſchen Bunde angeſchloſſen hatte, beeilte ſich jetzt auch in 
ſeinem neuen Beſitz die Reformation einzufuͤhren. Damit war das 
Herzogtum Sachſen fuͤr die roͤmiſche Kirche verloren. 

Noch vor Ablauf des Jahres erreichte ihre Herrſchaft noch in einem 
andern Fuͤrſtentum Norddeutſchlands ihr Ende, wo der Landesherr, in 
einem ſtark perſoͤnlichen Zwiſte mit Luther ſtehend, zwar weniger ſelbſtlos 
als der Wettiner, darum aber kaum minder eifrig das alte Kirchentum 
geſchuͤtzt hatte. Schon von dem Wormſer Reichstage an war Kurfuͤrſt 
Joachim I. von Brandenburg neben dem Herzog Georg die Seele des 
Widerſtandes gegen Luther geweſen. Jetzt fiel in feinem Sohne Joachim II. 
der zweite Kurfuͤrſt des Reiches der religiöfen Neuerung bei. Gleich nach 
dem Tode des Vaters (1535) war ſein Bruder, der Markgraf Johann von 
der Neumark, wie im Sturmſchritt in das evangeliſche Lager uͤber⸗ 
gegangen, ſpaͤter (1538) auch dem Bunde von Schmalkalden beigetreten, 
um, wie er ſich ausdruͤckte, ſamt ſeinem Lande „bei dem goͤttlichen Wort 
und der einmal erkannten Wahrheit bleiben“ zu koͤnnen. Er folgte mit 
ſeinem Anſchluß an das Evangelium nur dem Vorgang ſeiner Mutter, 


255 


Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—1545 


der Kurfuͤrſtin Eliſabeth. Dieſe, eine daͤniſche Prinzeſſin, hatte frühzeitig 
„von dem gefaͤrbten Gleißnerwerk“ (ſo nannte ſie das katholiſche Chriſten⸗ 
tum) „ſich entledigt“, ja gewagt, das Abendmahl unter beiden Geſtalten 
zu empfangen. Da war der Zorn Joachims l. um fo heftiger losgebrochen, 
als durch ſeine Schuld das eheliche Gluͤck des Paares ſchon ſeit Jahren 
geftört war. Ganz ernſthaft hatte er den um ihn verſammelten Biſchoͤfen 
und Prälaten feines Landes die Frage vorgelegt, ob er die Kurfuͤrſtin 
zum Tode verurteilen oder ſeine Ehe ſcheiden laſſen ſolle. „Der Schrift⸗ 
gelehrten Rat und Beſchluß“ hatte doch nur auf lebenslaͤngliche Einkerke⸗ 
rung der ketzeriſchen Fuͤrſtin gelautet. Um dieſer Gefahr zu entgehen, 
war Eliſabeth 1528 nach einem langen ſtillen Martyrium aus Berlin 
geflohen, indem ſie ſich in den Schutz ihres Oheims, des Kurfuͤrſten 
Johann von Sachſen, begab. 

Dieſes Beiſpiel ſeiner uͤberzeugungsſtarken Mutter, welche dauernd 
dem Berliner Hofe fern blieb und in den kuͤmmerlichſten Verhaͤltniſſen 
lebte, hatte aber ebenfo wenig wie das entſchloſſene Vorgehen des jüngeren 
Bruders ohne weiteres die Haltung des neuen Kurfürften Joachim II. 
zu beſtimmen vermocht, obwohl auch er laͤngſt von der religioͤſen Idee 
ſeiner Zeit erfaßt war. Eine raſche Entſcheidung zu treffen war uͤberhaupt 
nicht ſeine Art. Auch hatte ſeine evangeliſche Überzeugung ſich noch nicht 
zu voller Reife entwickelt. Aber auch als dieſes, ſoweit wir zu urteilen 
vermoͤgen, der Fall war, haͤtte er bei ſeinem Sinn fuͤr das Zeremonielle 
in der Religion es kaum uͤber ſich vermocht, in jeder Beziehung von der 
alten Kirche ſich loszureißen. Zwar legte er — zur Freude ſeiner Haupt⸗ 
ſtaͤdte Berlin und Coͤlln an der Spree wie überhaupt der großen Maſſe ſeiner 
Untertanen — ein unzweideutiges Bekenntnis ſeines Glaubens ab, 
indem er am 1. November 1539 zu Spandau aus der Hand des evangeliſch 
geſinnten Biſchofs von Brandenburg, Matthias von Jagow, das heilige 
Abendmahl der Einſetzung gemaͤß empfing. Indes, die maͤrkiſche Kirchen⸗ 
ordnung, welche damals in ihren Grundzuͤgen bereits vorlag, traͤgt 
doch einen eigenartigen Charakter. Indem ſie die Gedanken des Kur⸗ 
fürften widerſpiegelt, verrät fie zugleich den Einfluß feines hohen geiſt⸗ 
lichen Beraters, des Fuͤrſten Georg von Anhalt, der, Dompropſt zu 
Magdeburg (ſpaͤter auch Koadjutor des Bistums Merſeburg) und dabei 
ein glühender Verehrer Luthers, ebenfalls von der alten Kirche ſich nicht 
mehr als not entfernen wollte. Dieſe Ordnung behielt naͤmlich die 
katholiſchen Gebräuche in weitem Umfange bei, wie fie auch den Fortbeſtand 
der (im evangeliſchen Sinne umzubildenden) biſchoͤflichen Verfaſſung in 


256 


Die Eroberungen des Jahres 1539 


Ausſicht nahm. Doch waren das nur Äußerlichkeiten, an denen bei dem 
ſonſtigen, echt evangeliſchen Charakter der Kirchenordnung nicht viel 
gelegen war. So urteilte in Bezug auf die meiſten Stuͤcke in uͤberlegener 
Unbefangenheit auch Luther, deſſen Gutachten der Kurfuͤrſt einholte: 
„Bin damit ſehr wohl zufrieden; denn ſolche Stuͤcke, wenn nur der Miß⸗ 
brauch davon bleibet, geben oder nehmen dem Evangelio gar nichts“. 
Humorvoll gab er dem bekuͤmmerten Propſt von Berlin den Rat, falls 
ſein Herr an einer Chorkappe oder Chorrock nicht genug habe, deren drei 
anzuziehen, wie Aaron, der Hoheprieſter, „drei Roͤcke uͤbereinanderzog“. 
Übrigens find dieſe altkirchlichen Riten auch in Brandenburg bald gefallen, 
zuſammen mit der biſchoͤflichen Verfaſſung. Da naͤmlich von den drei 
Landesbiſchoͤfen uur der Brandenburger auf die kurfuͤrſtliche Ordnung ein⸗ 
ging, die beiden anderen (von Havelberg und Lebus) beharrlich widerſtrebten, 
war damit dem Verſuche, der neuen Kirche der Mark eine aͤußere Gleich; 
foͤrmigkeit mit der Kirche des Mittelalters zu geben, der Boden entzogen. 

Doch wurde dies erſt offenbar, nachdem Joachim den katholiſieren⸗ 
den Anflug feiner Gottes dienſtordnung bereits politiſch ausgebeutet 
hatte. Zweifellos naͤmlich hat er ihr jenes eigenartige Gepraͤge auch in 
der Abſicht gegeben, auf dieſe Weiſe ſeine Reform vor dem Kaiſer leichter 
vertreten zu koͤnnen. „Ich muß es gegen Kaiſerliche Majeſtaͤt ſo machen, 
daß meine Lande und Leute nicht verſtoͤret werden“, hat er damals geaͤußert. 
Aus demſelben Grunde huͤtete er ſich auch, der dem Kaiſer verhaßten 
Vereinigung von Schmalkalden beizutreten. Wirklich hat ihm dieſe vor⸗ 
ſichtige Zuruͤckhaltung (1541) die Beſtaͤtigung feiner Kirchenordnung 
durch Karl V. eingetragen. Erleichtert wurde dem Habsburger dieſes 
auffallende Entgegenkommen durch das Verſprechen des Kurfuͤrſten, 
ihm nicht nur gegen Frankreich, ſondern auch gegen den Herzog von Cleve 
und Juͤlich, mit dem der Kaiſer einen Span hatte, beizuſtehen. Dagegen 
hatte ein anderes Verſprechen Joachims, naͤmlich ſeine Verheißung, 
ſich den Beſchluͤſſen eines kuͤnftigen Konzils zu unterwerfen, nicht eben 
große Bedeutung. Denn in welchem Sinne dieſe Zuſage gemeint ſei, 
konnte der Kaiſer aus der Vorrede der Kirchenordnung ſelber entnehmen. 
Hier verhieß Joachim, ſich von einem Konzil „in allen der goͤttlichen 
Schrift gemaͤßen und billigen Dingen ſagen zu laſſen“. Wie haͤtte er 
daher daran denken koͤnnen, ſeine Schoͤpfung einem Konzil zum Opfer 
zu bringen, welches von jener oberſten Norm des goͤttlichen Wortes 
abſah? Der Ernſt ſeiner religioͤſen Überzeugung haͤtte ihm das niemals 
erlaubt. Denn wir haben es bei dieſem Hohenzollern mit einer Froͤmmig⸗ 


17 Brieger, Reformationsgeſchichte 257 


Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—1545 


keit zu tun, deren Ehrlichkeit uns ebenſo wohltuend anmutet wie ihre 
Waͤrme. 

Die regierenden Fuͤrſten aus dieſem Hauſe waren jetzt, mit Aus⸗ 
nahme des alternden Erzbiſchofs Albrecht von Mainz und Magdeburg, 
alle miteinander auf evangeliſcher Seite zu finden: zu den fraͤnkiſchen 
Hohenzollern in Franken und in Preußen, wo der ehemalige Hochmeiſter 
des Oeutſchen Ordens jetzt als Herzog Albrecht ſchaltete, waren nun auch 
die Soͤhne Joachims J. gekommen. 

Wie haͤtte ein ſo wichtiges Ereignis nicht in weitem Umkreiſe Wellen 
werfen ſollen? ö 

Es mochte als ſelbſtverſtaͤndlich erſcheinen, daß auch eine Schweſter 
der Maͤrkiſchen Brandenburger, die Herzogin Eliſabeth von Braunſchweig⸗ 
Calenberg, ſchon bei Lebzeiten ihres Gatten Erich eine eifrige Proteſtantin, 
nach deſſen Tode dem Beiſpiele ihrer Bruͤder folgte und die Kirche ihres 
Landes reformierte. 

Aber weit uͤber das Hohenzollernſche Haus hinaus wirkte das Ein⸗ 
münden Kurbrandenburgs in die große national⸗xeligioͤſe Stroͤmung. 

In dem benachbarten Erzbistum Magdeburg wie im Stifte Halber⸗ 
ſtadt trat jetzt das Verlangen nach freier Predigt des Wortes Gottes in 
einer Staͤrke hervor, daß der Erzbiſchof Kardinal Albrecht es nicht laͤnger 
daͤmpfen konnte. Auf einem Landtage zu Calbe a. S. (1541) mußte er 
ſeinen Staͤnden, deren Unterſtuͤtzung er bei ſeiner erdruͤckenden Schulden⸗ 
laſt nicht entbehren konnte, ſtillſchweigend zugeſtehen, was er ohnehin kaum 
noch hindern konnte. Nur ſeinem Lieblingsſitze, der Stadt Halle, an die 
er in Stiftungen und Bauten ſo viel gewendet, ſollte das Zugeſtaͤndnis 
nicht zugute kommen. Allein in einer aufruͤhreriſchen Bewegung erzwangen 
ſich die Hallenſer die Freiheit des evangeliſchen Bekenntniſſes, ſo daß 
der gekraͤnkte Fuͤrſt ſeiner undankbaren Reſidenz fuͤr immer den Ruͤcken 
kehrte und ſeine Schaͤtze und koſtbaren Reliquien nach Aſchaffenburg 
uͤbertrug. 

Anderswo ging wohl gar ein geiſtlicher Fuͤrſt ſelber reformierend 
vor, wie der Biſchof von Schwerin, Herzog Magnus von Mecklenburg, 
und die Abtiſſin des Stiftes Quedlinburg, Anna von Stolberg. 

So war, mit Ausnahme der Rheingegenden und eines Teiles von 
Weſtfalen, faſt das ganze Norddeutſchland vom evangeliſchen Glauben 
in Beſitz genommen. Von Luthers alten fuͤrſtlichen Gegnern auf dieſem 
Gebiete wehrte ſich nur noch der Herzog Heinrich von Braunſchweig⸗ 
Wolfenbuͤttel gegen den kirchlichen Umſturz in ſeinem Laͤndchen. 


258 


Die Eroberungen des Jahres 1539 


Aber vermochte er, vermochten die uͤbrigen Fuͤrſten, geiſtliche wie 
weltliche, die im Suͤden und Weſten gleich ihm an der alten Kirche feſt⸗ 
hielten, noch lange zu widerſtehen? 

Gegen Ende des Jahres 1538 ſprach einer der beſten Kenner Deutſch⸗ 
lands, der Kardinal Bernhard von Cles, Biſchof von Trient und Groß⸗ 
kanzler Koͤnig Ferdinands, einem paͤpſtlichen Legaten gegenuͤber die 
Befuͤrchtung aus, bevor fuͤnf Jahre ins Land gingen, wuͤrden ſaͤmtliche 
Fuͤrſten des Reiches, die geiſtlichen ſo gut wie die weltlichen, „Lutheraner“ 
ſein. Die Verhaͤltniſſe ſchienen ihm recht zu geben. 

Schon im Jahre 1535 hatte Heinrich von Braunſchweig dem paͤpſt⸗ 
lichen Nuntius geklagt: wenn nicht ein allgemeines Konzil zuſtande komme, 
werde er ſamt dem Reſt der katholiſchen Fuͤrſten in Deutſchland der 
verdammten Ketzerei ſich anſchließen muͤſſen, es ſei denn, er wolle Gefahr 
laufen, „vom Volke in Stuͤcke geriſſen zu werden“. Seitdem war das 
Konzil wieder in weite Ferne geſchwunden, und niemand konnte noch 
daran zweifeln, daß Papſt Paul III. mit dem, was ſeine treueſten Soͤhne 
in Deutſchland fo heiß erſehnten, nur fein Spiel treibe. 

Aber noch etwas anderes war damals für jeden aufmerkſamen Beob⸗ 
achter außer allem Zweifel: die roͤmiſche Kirche ging auch dort, wo man 
von oben her mit allen Mitteln ſie zu ſtuͤtzen ſuchte, unaufhaltſam ihrer 
Aufloͤſung entgegen. 

Wir haben neuerdings fuͤr dieſe Zeit (von 1533 ab) die Berichte der 
paͤpſtlichen Nuntien aus Deutſchland erhalten: ſie laſſen dieſe Tatſache 
auf das klarſte hervortreten. 

Es verlohnt ſich, ſie in ein paar Zuͤgen feſtzulegen. 


17° 


Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—I545 


3. Die Ohnmacht und die Aufloͤſung der roͤmiſchen Kirche in 
Deutſchland 


7 8 er ET ochte es ſich um die Gebiete der geiſtlichen Kurfuͤrſten 


8 = 2 des Reiches, mochte es ſich um die Erblande Ferdinands, 
A 


ia gar um das in kirchlicher Hinſicht fo deſpotiſch regierte 
W si Bayern handeln, das Bild ift im Weſentlichen überall 


katholiſchen ben entfremdet, Tag für Tag nehmen die Sekten zu, 
uͤberall in Deutſchland, in der Schweiz. Ein Ding der Unmoͤglichkeit waͤre 
es, ſagt einer der Nuntien, dieſe volkstuͤmliche Stroͤmung in einem jeden 
Laͤndchen, einem jeden Flecken, die ſich vom wahren Glauben losſagen, 
genauer zu verfolgen; wie viel weniger waͤre es moͤglich, alle die einzelnen 
Perſonen ins Auge zu faſſen, die — jederlei Standes — in den Palaͤſten der 
Fuͤrſten, in den Buͤrgerhaͤuſern ganz im Stillen „ihren Glauben wechſeln“. 
„Stunde fuͤr Stunde verlieren wir Seelen in großer Anzahl, und immer 
aͤrger werden die Verluſte, ſo daß (wenn nicht der Papſt anders als bisher 
Fuͤrſorge dagegen trifft) da bald nichts mehr zu verlieren ſein wird“. 
Ein anderer Nuntius urteilte, tatſaͤchlich herrſche Religionsfreiheit; denn 
auch in den Laͤndern katholiſcher Fuͤrſten duͤrfe ein jeder glauben, was 
er wolle. Nur daß hier und da das winzige Haͤuflein von Anhaͤngern 
der alten Kirche nicht mehr wagen durfte, ſeinen Glauben offen zu 
bekennen. Sogar von der biſchoͤflichen Stadt Breslau, die doch unter 
dem Regimente Ferdinands ſtand, wird uns das fuͤr das Jahr 1538 
berichtet. 

Der Groͤße des Abfalles entſprach die Hoͤhe der kirchlichen Verwahr⸗ 
loſung. In vier Jahren (ſo erfahren wir aus dem Jahre 1533) waren im 
Bistum Paſſau fuͤnf Prieſter geweiht. In ganz Deutſchland, in ganz 
Oſterreich, in Böhmen blieben ungezaͤhlte Pfarreien aus Mangel an 
Prieſtern unbeſetzt. Selbſt von Tirol und von Bayern wird das aus⸗ 
druͤcklich bezeugt. Als 1538 der uns bekannte Aleander, jetzt als Kardinal, 
von Paul III. nach Deutſchland entſendet, Innsbruck beruͤhrte, wurde 
er von den Raͤten Koͤnig Ferdinands feierlich eingeholt; aber die Geiſt⸗ 
lichkeit fehlte; es gab, wie man dem Legaten zur Entſchuldigung mitteilte, 
in dieſer koͤniglichen Reſidenz kaum noch zwoͤlf Kleriker. Nach den kirch⸗ 
lichen Pfruͤnden war nur geringer Begehr: von tauſend derſelben, die Koͤnig 


260 


Die Ohnmacht und die Aufloͤſung der roͤmiſchen Kirche in Deutſchland 


Ferdinand zu vergeben hatte, waren nur dreihundert an den Mann gebracht; 
die uͤbrigen waren durch den Fortfall der Einkuͤnfte wertlos geworden. 

Die geringe Anzahl von Dienern, uͤber welche die roͤmiſche Kirche 
in den von der Ketzerei verſeuchten Laͤndern noch zu verfuͤgen hatte, war 
aber nicht das einzige, was den paͤpſtlichen Sendboten bittere Klagen 
entlockte. Wie Wenige machte doch Ehrbarkeit des Wandels und tuͤchtige 
Bildung zu geeigneten Vertretern eines um ſein Daſein kaͤmpfenden 
Kirchentums! Bei der großen Mehrzahl paarte ſich mit der traurigſten 
Unbildung eine erſchreckende ſittliche Verwilderung. In wie bitteren Wor⸗ 
ten erging ſich Koͤnig Ferdinand, wenn er auf die Unſittlichkeit des deut⸗ 
ſchen Klerus zu reden kam, fuͤr welche er uͤbrigens dem paͤpſtlichen Nuntius 
gegenuͤber den Papſt ſelber verantwortlich machte, da er die Kurie, an der 
Geiz und Laſter aller Art herrſchten, zu reformieren verabſaͤumt habe; wenn 
er einen guten Kaplan fuͤr ſich ſuche, finde er ihn nicht: denn alle lebten 
entweder im Konkubinat oder ſeien unwiſſend oder Saͤufer oder haͤtten 
ſonſt einen in die Augen ſtechenden Fehler. Der Nuntius beſtritt zwar 
die Schuld des Papſtes, ſtimmte aber in Bezug auf die Tatſache, das 
böfe, anſtoͤßige Leben der Geiſtlichen, dem König durchaus zu. Ja, einige 
Monate ſpaͤter berichtete er dem Papſt, die Ausſchreitungen der Praͤlaten 
in Deutſchland ſeien ſo ungeheuerlich, daß man ſich nicht daruͤber wun⸗ 
dern koͤnne, „wenn das Luthertum infolge des von uns gegebenen boͤſen 
Beiſpiels ſtuͤndlich an Boden gewinnt“. 

Genau dasſelbe Bild entrollte bald darauf der Kardinal Aleander in 
einem Briefe, der dem Papſt uͤber die Lage der Dinge in Deutſchland 
reinen Wein einſchenken ſollte (wobei jedoch zu beachten iſt, daß der Legat 
als Augenzeuge nicht einmal vom eigentlichen Deutſchland, ſondern nur 
von Hfterreich berichtet): „Die Religion iſt in faſt gaͤnzlichem Verfall; 
alle Welt iſt gleichguͤltig und kalt. Selten ertoͤnen die Glocken; der Kultus 
hat faſt aufgehoͤrt; niemand denkt noch an die Sakramente. Die Fuͤrſten 
(nur Koͤnig Ferdinand macht eine Ausnahme) ſind entweder ganz und 
gar Lutheraner oder in ihrem Haß gegen die Prieſter und in ihrer hinter⸗ 
liſtigen Aneignung von Kirchenguͤtern ſchlimmer als dieſe. Die Praͤ⸗ 
laten, in ihrem zuͤgelloſen Leben nicht im mindeſten gebeſſert, glauben 
mit ihren Trinkgelagen die Laien an ſich zu ketten und reizen ſie dadurch 
nur noch mehr zum Haß gegen ſich. Schon vor Jahren war ein Moͤnch 
wie ein weißer Rabe, heute ſieht man keinen mehr (einer der Nuntien 
meinte, es gäbe gegenwärtig mehr Kloͤſter als Moͤnche). Die wenigen 
Prieſter ſind liederlich und unwiſſend und daher den paar Katholiken, 


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Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—1545 


die etwa noch zu finden ſind, verhaßt. Wer von den Prieſtern noch einige 
Bildung hat, geht zu den Lutheranern uͤber“. 

Was da not tat — welcher Freund der alten Kirche haͤtte das nicht 
ſehen ſollen? Koͤnig Ferdinand gab nur einer weit verbreiteten Einſicht 
Ausdruck, wenn er „eine wahre und allgemeine Reformation der Chriſten⸗ 
heit“ fuͤr unerlaͤßlich erklaͤrte: in innerer Bewegung ſchleuderte er den 
Vertretern des Papſtes (dem Kardinal⸗Legaten und dem Nuntius) das 
Wort ins Geſicht: „Das ſage ich euch, wenn ihr euch nicht reformiert 
und uns auch, dann werdet ihr mit uns zuſammen untergehen“! 

Getreulich berichteten die paͤpſtlichen Geſandten Außerungen der 
Art nach Rom, ja ſie knuͤpften wohl auch, wie Aleander, eine ernſte Mah⸗ 
nung daran: es handle ſich um Sein oder Nichtſein. In Rom machte das 
keinen Eindruck. Der Papſt blieb untaͤtig. An das Konzil dachte er nicht 
mehr. Paul III. pflegte wohl das Wort „Reform“ im Munde zu fuͤhren; 
am Herzen aber lag ihm nur, wie er ſeine Kinder und Enkel mit Reich⸗ 
tuͤmern und Fuͤrſtenkronen ausſtatten konnte; es war ſein brennender 
Ehrgeiz, das Haus Farneſe als ein maͤchtiges Dynaftengefchlecht zu hinter; 
laſſen. 

Nun ſollte man meinen, es haͤtten die Leiter der Kirche im Reich und 
in Oſterreich, deren Exiſtenz doch ganz unmittelbar auf dem Spiele ſtand, 
von der Gleichguͤltigkeit des Papſtes weit entfernt ſein muͤſſen. Wirklich 
finden wir auch einen oder den andern Biſchof mit Eifer und Mut fuͤr die 
Aufrechterhaltung der roͤmiſchen Kirche in ſeinem Sprengel kaͤmpfen. 
Hier iſt vornehmlich der Biſchof von Wien zu nennen, Johann Fabri, der, 
in ſeinen jungen Tagen ein begeiſterter Humaniſt und ein Freund Zwinglis, 
laͤngſt ſeine Gelehrſamkeit in den Dienſt der Bekaͤmpfung Luthers ge⸗ 
ſtellt hatte. Hierher gehoͤrt auch der bereits genannte Biſchof von Trient, 
Kardinal Cles, und noch ein anderer Kardinal, Matthias Lang. Dieſer 
hielt es ſogar fuͤr ſeine Pflicht, als Erzbiſchof von Salzburg die Biſchoͤfe 
ſeiner Kirchenprovinz zu einer Synode einzuberufen und auf ihr zur Vor⸗ 
bereitung des damals von Paul III. ausgeſchriebenen Konzils unter 
Beteiligung der weltlichen Fuͤrſten ſeines Bezirkes diejenigen Reformen 
beraten zu laſſen, die ſeiner Überzeugung nach unumgaͤnglich waren: 
die Aufhebung gewiſſer Kirchengebote, deren Übertretung eine Tod⸗ 
fünde fein ſollte, wie die Gewaͤhrung des Laienkelches und der Prieſter⸗ 
ehe (Sommer 1537). Daß ohne die Bewilligung dieſer Forderungen das 
Volk nicht laͤnger im Zaum zu halten ſei, ſich vielmehr voͤllig von der roͤmi⸗ 
ſchen Kirche losſagen werde, war damals die nahezu einhellige Über⸗ 


262 


Die Ohnmacht und die Auflöfung der roͤmiſchen Kirche in Deutſchland 


zeugung nicht bloß der weltlichen, ſondern auch der geiſtlichen Fuͤrſten. Doch 
dem Papſt erſchien ſchon die bloße Beratung von Reformen auf einem 
Provinzial⸗Konzil gefährlich, und der Erzbiſchof von Salzburg wurde in 
Worten herben Tadels auf das Ungehoͤrige feines Beginnens aufmerkſam 
gemacht. 

Erntete der kirchliche Eifer eines Praͤlaten in Rom ſo ſchlechten Dank, 
ſo werden wir es um ſo erklaͤrlicher finden, wenn die Mehrzahl der deutſchen 
Biſchoͤfe die Sachen gehen ließen, wie fie wollten. Warum ſollten ſie, die 
am Ende vielleicht noch darauf angewieſen waren, ſich mit ihren pro; 
teſtantiſchen Nachbarn abzufinden, ihre Haut fuͤr den Papſt zu Markte 
tragen? oder gar fuͤr den Kaiſer? Vor deſſen Machtbegier hatten ſie eine 
nicht unbegruͤndete Furcht. Vor kurzem hatte er in den Niederlanden die 
Bistuͤmer Utrecht und Luͤttich ihrer weltlichen Gewalt entkleidet, und ſchon 
gewann es den Anſchein, als gehe er in Norddeutſchland und am Rhein 
auf das gleiche Ziel aus. 

Ungemein bezeichnend für die Stimmung der Biſchoͤfe iſt ein Vor⸗ 
gang aus dem Jahre 1538. Damals bemühte ſich König Ferdinand 
gemeinſam mit einem kaiſerlichen Miniſter, der von einem ganz beſonderen 
Eifer fuͤr die Sache der alten Kirche beſeelt war, in Deutſchland einen 
Gegenbund gegen die Schmalkaldiſche Vereinigung ins Leben zu rufen: 
es iſt der ſog. „heilige Bund“ von Nürnberg (abgeſchloſſen den zo. Juni 
1538). Aber wen finden wir hier? Neben einer ſpaͤrlichen Zahl weltlicher 
Fuͤrſten (außer dem Kaiſer und Ferdinand waren es Bayern, Georg von 
Sachſen und die beiden Braunſchweiger Erich und Heinrich) — zwei 
geiſtliche: den Erzbiſchof von Salzburg und den Kardinal Albrecht. 
Und dieſer war nur als Erzbiſchof von Magdeburg, nicht aber als Kur⸗ 
fürft von Mainz dem Bunde beigetreten. Auch die beiden andern geiſt⸗ 
lichen Fuͤrſten vom Rhein (Köln und Trier) waren nicht zum Eintritt 
zu beſtimmen geweſen. Die naͤmliche Zuruͤckhaltung übten ausnahmslos 
die zahlreichen Biſchoͤfe des Reiches. Bitter urteilte Herzog Georg von 
Sachſen: die geiſtlichen Fuͤrſten ſpekulierten und lauerten, wer wohl die 
Oberhand behalten werde, um dann dem Sieger die Hand zu reichen. 

Dieſe Ohnmacht der alten Kirche in Deutſchland, dieſe Haltloſigkeit 
der geiſtlichen Fuͤrſten allein ſchon wuͤrde es uns ohne weiteres verſtaͤnd⸗ 
lich machen, daß Karl V. auch nach dem Waffenſtillſtand mit Frankreich 
ſich zur Untaͤtigkeit verurteilt ſah, keine Hand zu rühren vermochte, die 
Reformation in ihrem Laufe aufzuhalten, ihr die großen neuen Errungen⸗ 
ſchaften des Jahres 1539 ſtreitig zu machen. 


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Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—1545 


Dazu kam aber gerade damals noch etwas anderes, was im Kaiſer 
den Gedanken, jetzt ſeinem alten Verlangen gemaͤß mit Ernſt einzuſchreiten, 
gar nicht erſt aufkommen ließ, vielmehr ſeine deutſche Politik geradezu in 
die entgegengeſetzte Richtung draͤngte: ſie atmete fortan, eine Reihe von 
Jahren hindurch, nur Milde, Maͤßigung, Frieden — zunaͤchſt mit keinem 
andern Erfolge, als daß die Gegner, nicht ohne ein gewiſſes Gefuͤhl der 
Sicherheit, auf ihrer Siegesbahn fortſchritten. 


4. Die friedliche Wendung in der deutſchen Politik Karls V.: 
neue Siege der Proteſtanten 


25) leich nach dem Aufhoͤren der franzoͤſiſchen Feindſelig⸗ 
N keiten war eine neue, dringende Aufgabe an Karl 
e bherangetreten: all fein Sinnen und Denken beſchaͤftigte 
eg der Kampf gegen die Türken, unter deren Belaͤſtigungen 


rl die Küften Italiens und Spaniens ſchwer zu leiden 
hatten. Für dieſen Krieg ſah er ſich vor allem auf die 
Unterſtuͤtzung des Reiches angewieſen, der Proteſtanten ſo gut wie der 
Altkirchlichen. Aber wie ſollte er beide fuͤr ſich gewinnen? Mußten nicht 
Zugeſtaͤndniſſe, die er der einen Partei machte, die andere ihm entfremden? 
Und uͤberdies, war denn nicht fuͤr ein ſo gewaltiges Unternehmen die un⸗ 
erlaͤßliche Vorbedingung die Herſtellung von Ruhe und Frieden in Deutſch⸗ 
land? Erwaͤgungen dieſer Art waren es, die noch vor Ablauf des Jahres 1538 
die deutſche Politik Karls in jene neue Bahn einlenken ließen, auf der ſie 
mit einem hohen Maße von Geduld als oberſtes Ziel den Frieden im Reiche 
zu verfolgen ſchien. Der Kaiſer bemuͤht ſich jetzt eifrig um einen Aus⸗ 
gleich in der Religion, indem er Verhandlungen eroͤffnet, wie ſie ſchon 
einmal, auf dem Augsburger Reichstage des Jahres 1530, allerdings 
ohne jeden Ernſt, geführt waren. Dieſe Verſuche, auf dem Wege eines 
gegenſeitigen Nachgebens die Grundlage fuͤr ein friedliches Zuſammenleben 
im Reiche zu ſchaffen, haben den naͤchſten Jahren, bis 1841 hin, ihr 
Gepraͤge gegeben. Ob Karl ein leidliches Abkommen wirklich für möglich 


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Die friedliche Wendung in der deutſchen Politik Karls V.: neue Siege der Proteſtanten 


gehalten hat oder gar an einen dauerhaften Frieden gedacht, wer ver⸗ 
möchte das zu ſagen? Vielleicht verfolgte er nur den politiſchen Vorteil, 
durch die Ausgleichverhandlungen fuͤr den Augenblick die Spannung 
zu ermaͤßigen, beide Parteien bei gutem Willen zu erhalten und — Zeit 
zu gewinnen. Konnte nicht im Laufe der Zeit irgend ein guͤnſtiges Ereignis 
ſeiner gegenwaͤrtigen Ohnmacht ein Ende bereiten? Wie manches Mal 
war ihm doch ſchon, wenn die Not am groͤßten, ein unerwarteter Gluͤcks⸗ 
fall zu Huͤlfe gekommen! Und ein ſolcher Gluͤcksfall kam! Wozu die 
kuͤhnſten Gedanken des Kaiſers ſich niemals haͤtten erheben koͤnnen, 
das ereignete ſich. Groͤßer hatte die Überraſchung nicht ſein koͤnnen, die 
einſt zu Madrid dem Bedraͤngten die Siegesbotſchaft von Pavia bereitete, 
als die Wahrnehmung, die Karl ſchon im Jahre 1540 machen durfte, 
daß ein proteſtantiſcher Fuͤrſt, und gerade derjenige, der von jeher die Seele 
des Widerſtandes geweſen war, ſich ihm naͤherte, ja einen Pakt mit ihm 
ſchloß — nicht als gemeiner Überlaͤufer, als Verräter an dem Heilig⸗ 
tum der Religion, ſondern von der taͤuſchenden Vorſtellung beherrſcht, 
mit der Wahrung ſeines eigenen Wohles zugleich dem Wohl des Vater⸗ 
landes und der Sache des Glaubens dienen zu koͤnnen. Nicht anders 
kann dem Kaiſer zu Mute geweſen ſein wie dem Wanderer, der, im Dunkel 
der Nacht verirrt, ploͤtzlich ein Licht erblickt und nun ſichere Schritte zu 
tun vermag. Die Nacht der Hoffnungsloſigkeit zerriß: hell leuchtete die 
Moͤglichkeit vor ihm auf, ſein altes Ziel, von welchem ihn die Stuͤrme des 
letzten Jahrzehnts weiter und weiter abgetrieben hatten, nun doch noch 
zu erreichen. 

Wir werden noch Gelegenheit haben, den verhaͤngnisvollen Schritt 
des Landgrafen Philipp genauer zu verfolgen, dort, wo wir es mit den 
Fehltritten und Verſaͤumniſſen zu tun haben werden, welche die deutſchen 
Proteſtanten ſechs Jahre ſpaͤter von ihrer ſonnigen Hoͤhe herabſtuͤrzen 
ſollten. Dem aͤußeren Anſchein nach litt zunaͤchſt die Sache des Proteſtan⸗ 
tismus nicht im mindeſten Schaden: ihr Fortgang war unaufhaltſam. 
Denn keineswegs ſah Karl V. durch jene ihm aufblitzende Hoffnung ſich 
ſofort aus ſeiner gegenwaͤrtigen Bedraͤngnis befreit. Vielmehr trat die 
Notwendigkeit an ihn heran, auf der einmal eingeſchlagenen Bahn noch 
weiter zu gehen, feine Friedenspolitik zu ſteigern. Nachdem 1541 ein 
Religionsgeſpraͤch zu Regensburg die geſuchte Verſtaͤndigung uͤber die 
Religion nicht gebracht hatte, und ſchon die Feindſchaft mit Frankreich 
wieder aufzulodern drohte (tim Sommer 1542 war der franzoͤſiſche Krieg 
bereits wieder im Gange), da blieb ihm nichts anderes uͤbrig, als die 


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Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—1545 


Evangeliſchen durch immer erheblichere Zugeſtaͤndniſſe an ſich zu ketten 
— offenbar ein gewagtes Spiel. Zwar koͤnnen wir uns den Kaiſer in 
dieſer Epoche einer beſonders hinterhaltigen und truͤgeriſchen Politik 
nicht vorſtellen ohne die feſte Abſicht, bei der erſten guͤnſtigen Gelegenheit 
alles miteinander ruͤckgaͤngig zu machen und die durch ſein Entgegenkom⸗ 
men getaͤuſchten Gegner die Wucht ſeiner Strafe um ſo empfindlicher 
fuͤhlen zu laſſen, je mehr Überwindung es ihn gekoſtet hatte, unter der 
Maske der Freundlichkeit Nachſicht und Duldung zu uͤben. Aber wer gab 
ihm denn die Buͤrgſchaft, daß eben dieſe Gegner, denen gegenuͤber er ſeine 
unverſoͤhnliche Feindſchaft verhuͤllen mußte, nicht inzwiſchen uͤbermaͤchtig 
wurden? Erſt ſeit dem Sommer 1543, ſeitdem die toͤrichte Politik der 
Schmalkaldener ihn ihre kindliche Unbeholfenheit und innere Schwaͤche 
hatte erkennen laſſen, uͤbte er jene Nachgiebigkeit vielleicht in der Zuverſicht, 
dem Tage der Abrechnung mit den Verhaßten nicht mehr fern zu ſein. 

Doch, wie dem ſein mag, die deutſchen Proteſtanten ſchritten auch 
noch in der erſten Haͤlfte der vierziger Jahre von Sieg zu Sieg. Außer⸗ 
lich betrachtet, hielt jene glaͤnzende Epoche ihrer Machtſtellung, welche 
der Nuͤrnberger Friede eroͤffnet hatte, jedenfalls noch an. Sie durften 
es ſogar wagen, ein paar Staͤdten ihres Bundes, die ſchutz⸗ und rechtlos 
dem feindſeligſten Bedraͤnger preisgegeben waren, mit den Waffen in 
der Hand Ruhe zu ſchaffen, ja wohl auch unter bedenklicher Hintanſetzung 
des Reichsrechtes ihren Machtbereich zu erweitern. Eine Ausſchreitung 
dieſer Art ließ ſich Kurfuͤrſt Johann Friedrich zu Schulden kommen. In 
der Überzeugung, mit der Foͤrderung ſeines eigenen politiſchen Vor⸗ 
teiles zugleich der Religion einen Dienſt zu leiſten, ſetzte er im Jahre 1542 
im Bistum Naumburg, uͤber welches er das Schirmrecht beſaß, nach 
Verwerfung des rechtmaͤßig vom Domkapitel Erwaͤhlten, einen evange⸗ 
liſchen „Biſchof“ ein, oder vielmehr einen Superintendenten des Stiftes; 
denn die weltlichen Obliegenheiten des Biſchofs uͤbte er fortan ſelber aus. 
— Eher entſchuldbar und als ein einfacher Ausfluß der Ohnmacht des 
Reiches kann uns der Braunſchweiger Feldzug der Evangeliſchen 
erſcheinen. Er richtete ſich gegen jenen ihrer alten Gegner, der, wie wir 
ſahen, nachgerade unter den weltlichen Fuͤrſten Norddeutſchlands mit ſeiner 
Feindſchaft gegen die Reformation faſt vereinſamt daſtand, den Herzog 
Heinrich von Braunſchweig⸗Wolfenbuͤttel. Schon ſeit Jahren ſtanden 
Philipp von Heſſen und der ſaͤchſiſche Kurfuͤrſt mit ihm in einem Feder⸗ 
kriege, in welchem die offiziellen Schriften der Fuͤrſten, zumal des Welfen, 
ſich in Schmaͤh⸗ und Schimpfreden mit einer ſelbſt fuͤr das 16. Jahrhundert 


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Die friedliche Wendung in der deutſchen Politik Karls V.: neue Siege der Proteſtanten 


außergewoͤhnlichen virtuoſen Kunſt ergingen, mit deren Leiſtungen heut⸗ 
zutage, abgeſehen von gewiſſen Ausbruͤchen des bajuvariſchen Glaubens⸗ 
eifers, die Blaͤtter bloß einer Partei zu wetteifern vermoͤgen. Daß es 
jetzt von Worten zu Taten kam, war die Folge der hartnaͤckigen Gewalt⸗ 
maßregeln, mit denen Heinrich ſeine Nachbarſtaͤdte Goslar und Braun⸗ 
ſchweig bedraͤngte, ihre Freiheit ernſtlich bedrohend. Der Schmalkaldiſche 
Bund konnte nicht umhin, ſich ſeiner Glieder anzunehmen. Er ward 
ſchluͤſſig, ihnen zu Huͤlfe zu kommen. Dieſen Beſchluß glaubten aber die 
beiden fuͤrſtlichen Oberhaͤupter der Schmalkaldener nur dann wirkſam 
durchführen zu koͤnnen, falls fie die Macht des Friedbrechers in feinem 
eigenen Lande braͤchen. Ein raſcher Kriegszug (Sommer 1542) ſetzte ſie 
in deſſen Beſitz, und der fluͤchtig gewordene Herzog „Heinz von Wolfen⸗ 
buͤttel“ hatte den Schmerz, aus der Ferne zuſehen zu muͤſſen, wie feine 
Todfeinde, „Lips“ von Heſſen, der neue „Koͤnig von Muͤnſter“ (auch dieſer 
hatte ſich ja nicht mit einem Weibe begnuͤgt), und „der verzweifelte Erz⸗ 
bube Hans von Sachſen“, ſich in ſeinem Lande einrichteten und uͤberall 
die evangeliſche Predigt erſcholl. Weder bei Bayern noch bei Koͤnig 
Ferdinand fand er Unterſtuͤtzung; ja am koͤniglichen Hofe fielen Reden, 
aus denen die Fuͤhrer der Proteſtanten faſt eine Billigung ihrer Waffen⸗ 
tat heraushoͤren konnten, als ob naͤmlich der Friedensſtoͤrer nur ſeinen 
verdienten Lohn gefunden habe. Nicht nur Karl, auch Ferdinand ver⸗ 
ſtand die Kunſt der Verſtellung: ſicher iſt von beiden Bruͤdern die Ver⸗ 
gewaltigung des Braunſchweigers den Proteſtanten als ſtarker Schuld⸗ 
poſten in die Rechnung geſtellt worden. 

Mußten die Habsburger ſelbſt bei Vorgaͤngen, die faſt eine unmittel⸗ 
bare Herausforderung fuͤr ſie einſchloſſen, beide Augen zudruͤcken, wie 
haͤtten ſie da noch etwas zu tun vermocht gegen dasjenige Wachstum 
der Reformation, welches noch immer wie von ſelbſt aus ihren inneren 
Trieben aufſchoß? Derartige Fortſchritte aber boten ſich in dieſen Jahren 
ihren Blicken in den verſchiedenſten Teilen des Reiches dar: in Schles⸗ 
wig⸗Holſtein und in Schleſien, im ganzen Nordweſten von Weſtfalen bis 
an den Niederrhein, in Schwaben und Franken, in der Pfalz, im Elſaß 
bis nach Lothringen hinein, wo in Metz das Evangelium mit Gewalt 
gedämpft werden mußte. Überall hier regte ſich von neuem das religiöfe 
Verlangen mit Macht, um hier in ganzen Fuͤrſtentuͤmern, dort in einer 
Menge von Städten, Grafſchaften und Herrſchaften ſiegreich durch⸗ 
zudringen. Nur einige wenige Punkte moͤgen hier herausgehoben werden, 
um den Siegeslauf der Reformation zu veranſchaulichen. 


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Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—1545 


Gleich nach der Eroberung Braunſchweigs gewann ſie in der biſchoͤf⸗ 
lichen Stadt Hildesheim die Oberhand. In demſelben Jahre 1542 ging die 
Reichsſtadt Regensburg mit einem gewiſſen Pomp ins proteſtantiſche 
Lager uͤber, und zu gleicher Zeit reformierte der Pfalzgraf Ott Heinrich 
fein Land, die ſog. junge Pfalz (Pfalz-Neuburg und Sulzbach) — beide 
trotz der dadurch erweckten Feindſchaft des benachbarten Bayern. Auch die 
Kurpfalz nebſt der zu ihr gehörigen Oberpfalz, ſchon feit Ende der dreißiger 
Jahre unter Kurfuͤrſt Ludwig V. den roͤmiſchen Sendboten ſtark verdaͤch⸗ 
tig, gewährte unter ſeinem Nachfolger Friedrich II. (ſeit 1544) der 
Predigt des Evangeliums freie Bahn. Freilich beſtimmten den neuen 
Kurfürften zur Beguͤnſtigung der Reformation, welcher er innerlich 
fremd gegenuͤberſtand, nur aͤußere Beweggruͤnde: teils die Ruͤckſicht auf 
die Stimmung ſeines Landes, welches bereits ſeinem Neffen, dem ſo 
eifrig reformatoriſch geſinnten Ott Heinrich lebhafte Zuneigung ent⸗ 
gegenbrachte, teils die Hoffnung, aus der Annaͤherung an die Schmal⸗ 
kaldener politiſch Gewinn ziehen zu koͤnnen. Immer aber konnte die 
roͤmiſche Kirche jetzt auch das dritte und, wenn wir von Boͤhmen abſehen, 
letzte weltliche Kurfuͤrſtentum im Reiche für fo gut wie verloren geben. 

Allein, ſo erfreulich dieſe Eroberung fuͤr die Evangeliſchen ſein mochte, 
ſie wurde doch durch eine andere, die eben damals im Gange war, in tiefen 
Schatten geſtellt. Eine wahrhaft großartige Ausſicht hatte ſich dem deut⸗ 
ſchen Proteſtantismus geoͤffnet: einer der geiſtlichen Kurfuͤrſten hatte das 
große Werk der Evangeliſierung ſeines Stiftes in die Hand genommen. 
Schon gewann es den Anſchein, als ſei damit die Reform der geiſtlichen 
Gebiete uͤberhaupt in Fluß gekommen. 

Es iſt ein hoffnungsvoller Moment unſerer Geſchichte. 

Suchen wir ihn in ſeiner Bedeutung zu erfaſſen. 


Eine großartige Ausſicht für den Proteſtantismus im Reiche 


5. Eine großartige Ausſicht fuͤr den Proteſtantismus im Reiche: 
die beginnende Reform der geiſtlichen Gebiete 


— an 8 ift der Erzbiſchof von Köln, Graf Hermann von Wied, 
N EN, dem der Ruhm gebührt, fich auf die zweifellos gefährz 
63 2 liche Bahn gewagt zu haben. Er war dabei von den 
2 nv reinſten Abſichten beſeelt: jeder ſelbſtſuͤchtige Gedanke 
IH : * lag ihm fern. Einzig um die Religion, um das wahre 
5 — Beſte, das Seelenheil ſeiner Untertanen war es ihm zu 
tun. Eine nicht eben tatkraͤftige Natur, in den Jahren, da die raſch altern⸗ 
den Menſchen des 16. Jahrhunderts in der Regel bereits jede Spannkraft 
eingebuͤßt hatten (er war ſechs Jahre vor Luther geboren, Kurfuͤrſt ſeit 
1515), ſchoͤpfte er jetzt aus dem reinen Quell einer langſam gereiften 
inneren Überzeugung die Beharrlichkeit eines frommen Eifers in der 
Erfuͤllung ſeiner ſo lange vernachlaͤſſigten geiſtlichen Pflicht und den Mut, 
um ihretwillen jeden zeitlichen Schaden gering zu achten. 

Ohne ſich durch den Widerſtand beirren zu laſſen, den ihm nicht nur 
die Stadt und die Univerſitaͤt Koͤln, ſondern auch die Mehrheit ſeines 
Domkapitels entgegenſetzte, ſuchte Hermann ſeit 1542 mit Unterſtuͤtzung 
proteſtantiſcher Theologen, wie namentlich des gewandten und milden 
Straßburger Reformators Martin Butzer, die kirchlichen Verhaͤltniſſe 
ſeines Landes nach der Norm der goͤttlichen Schrift umzugeſtalten. Auch 
Melanchthon zog er 1543 an ſeinen Hof nach Bonn, damit er gemeinſam 
mit Butzer eine umfaſſende Kirchenordnung ausarbeitete. Sie verband 
mit der entſchiedenen Wahrung des evangeliſchen Standpunktes eine 
weitgehende Schonung aller uͤberlieferten Rechte. Der Kurfuͤrſt hatte 
die Freude, ſeine Ordnung auf einem Landtage dieſes Jahres von den 
drei weltlichen Ständen (der Grafen, Ritter und Städte) dem Wider; 
ſpruch der geiſtlichen Glieder des Domkapitels zum Trotz gebilligt zu 
ſehen. Der Erzbiſchof feierte mit einigen ſeiner Domherren (dem Grafen 
Heinrich von Stolberg und dem Herzog Richard von Bayern) das heilige 
Abendmahl nach der Einſetzung Chriſti, und in Staͤdten, wie Bonn, 
Linz, Andernach, Kempen, wie auch in dem zum Kurfuͤrſtentum Köln 
gehoͤrigen Herzogtum Weſtfalen vernahm die glaͤubige Menge „die 
ſelige Lehre des Evangelii“. Nicht uͤberall konnte das Verlangen nach 
deſſen Predigt geſtillt werden. „Reiche Ernte, wenig Arbeiter“ klagte 
Butzer. 


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Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—1545 


Beſonders verheißungsvoll aber war dieſe Reformation des Erz⸗ 
biſchof Hermann deshalb, weil er keineswegs die Abſicht verfolgte, ſein 
Stift zu ſaͤkulariſieren, in ein weltliches Kurfuͤrſtentum umzuwandeln. 
Es ſollte vielmehr ein geiſtliches Kurfuͤrſtentum bleiben, unter Aufrecht⸗ 
erhaltung der geſamten politiſchen Verfaſſung, beſonders auch unter 
Wahrung der Rechte des Stiftsadels, der im Domkapitel nach wie vor 
die Befugnis der Wahl der Landesherrn beſitzen ſollte. Gerade in dieſem 
Punkte hatte ſich der Erzbiſchof von Butzer beraten laſſen, der ſchon ein 
paar Jahre zuvor mit politiſchem Blick und einer außergewoͤhnlichen 
Umſicht ein foͤrmliches Programm fuͤr eine derartige Umwandlung der geiſt⸗ 
lichen Stifter entworfen hatte. So ſchien Hermann von Wied das loͤſende 
Wort geſprochen, ja den Weg betreten zu haben, der die Geſamtheit der 
reichsſtaͤndigen Praͤlaten aus ihrer Bedraͤngnis herausfuͤhren konnte. 
Wir ſahen fruͤher: „Sie befanden ſich zwiſchen Hammer und Amboß“. Auf 
der einen Seite bedrohte der Kaiſer ihre politiſche Selbſtaͤndigkeit, auf der 
anderen drohte die Reformation, die an den Grenzen ihrer Gebiete 
laͤngſt nicht mehr Halt machte und die alte Kirche von innen heraus 
zerſetzte, ihre kirchliche Gewalt zu verſchlingen, deren Sturz die weltliche 
leicht in den Strudel mit hinabziehen konnte. Der einen wie der andern 
Gefahr ſchienen ſie gluͤcklich entgehen zu können, wenn fie, der religioͤſen 
Forderung der Zeit, dem großen nationalen Zuge nachgebend, ſelber 
ihre Länder der Reformation zufuͤhrten und ſich mit den weltlichen pro; 
teſtantiſchen Fuͤrſten zu einem das ganze Reich umſpannenden Staaten⸗ 
bunde zuſammenſchloſſen. Das Ziel, welches die Nation bis 1524 auf dem 
Wege einer Reichsreform zu erreichen geſtrebt hatte — es leuchtete noch ein 
Mal auf: ja, man ſchien ihm ſchon ganz nahe gekommen zu ſein: auf jenem 
andern Wege, auf den die religioͤſe Bewegung im Jahre 1526 hinuͤber⸗ 
gedraͤngt war, dem der Territorialreform. Es war der Weg, der, mochte er 
auch nicht bis zu jenem idealen Ziele führen, gleichwohl unſerm Vaterlande 
die Rettung gebracht hat. „Das war nun einmal“, ſagt Max Lenz, „die Ent⸗ 
wicklung der Geſchicke unſeres Volkes, der die Jahrhunderte vorgearbeitet 
hatten, daß die neue Religionsform nur in den Territorien zur Herrſchaft 
kommen konnte, weil nur in dieſen die ſtaatlichen Kraͤfte vorhanden waren, 
deren ſie zur Entwicklung bedurfte, und weil nur dieſe dem nationalen 
Gedanken dienten.“ „Kaiſertum und Monarchie waren fuͤr Deutſchland 
noch nicht, und am allerwenigſten unter Karl V., nationale, ſondern univer⸗ 
ſale Ideen, Freiheit der Nation und des Evangeliums aber gleichbedeutend 
mit Aufrechterhaltung und Ausbildung der territorialen Gewalten“. 


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Eine großartige Ausſicht für den Proteſtantismus im Reiche 


„Freiheit der Nation und des Evangeliums“ waren auch fuͤr 
Hermann von Wied die Leitſterne. Ihm ſtrahlte ohne Zweifel der zweite 
heller als der erſte. Weniger am Herzen lag das Evangelium dem maͤch⸗ 
tigſten Suffragan⸗Biſchof des Koͤlner Sprengels, dem Biſchof von 
Muͤnſter, Minden und Osnabruͤck, Franz von Waldeck, der ſonſt wohl 
geneigt war, gleichen Schritt mit ſeinem Oberhirten zu halten. Seine 
Lebensfuͤhrung freilich zeigte ganz den zuchtloſen Kirchenfuͤrſten des aus⸗ 
gehenden Mittelalters: es waren ſtarke Stuͤcke, die man ſich von ſeinem 
„unehrbaren“ Wandel, feinem „trefflichen Saufen“ erzählte. Es koͤnnen 
daher ausſchließlich Ruͤckſichten der Politik geweſen ſein, die ihn auf die 
Seite der Reformation fuͤhrten. Fruͤhzeitig finden wir ihn in freund⸗ 
ſchaftlichen Verhandlungen mit dem Landgrafen, im Braunſchweigiſchen 
Kriege unterſtuͤtzte er ihn mit Mannſchaften — jetzt 1543 bewarb er ſich 
ſogar um Aufnahme in den Schmalkaldiſchen Bund und ftellte die kirch⸗ 
liche Reform ſeiner Bistuͤmer in Ausſicht. Und er machte Ernſt damit. 
Nicht nur in Osnabruͤck und im Stifte Minden, ſondern ſelbſt in einem 
Teile des Bistums Muͤnſter machte jetzt der Proteſtantismus erhebliche 
Fortſchritte. Es iſt offenbar: Franz von Waldeck war geneigt, ſeine Bis⸗ 
tuͤmer nach dem Muſter der Koͤlner Reformation in evangeliſche Fuͤrſten⸗ 
tuͤmer umzuwandeln, nur mit dem Unterſchied, daß er ſich mit dem Gedanken 
trug, zu heiraten und die Stifter in ſeinem Hauſe erblich zu machen. 
Auch der vor kurzem zum Regiment gekommene Biſchof von Straßburg, 
Erasmus von Limburg, war nicht unberuͤhrt geblieben von der religioͤſen 
Bewegung der Zeit und waͤre wohl unter Umſtaͤnden bereit geweſen, dem 
Beiſpiel des Koͤlners zu folgen. Inzwiſchen hatte der Abt von Fulda, Philipp, 
Schenk zu Schweinsberg, ſeine Hinneigung zur Heiligen Schrift bereits prak⸗ 
tiſch betätigt: ſchon war das Stift auf dem Wege, evangeliſch zu werden. 

Genug, es ſchien der große Moment gekommen, wo, um mich der 
Worte Martin Butzers zu bedienen, „der einzige Weg, deutſcher Nation 
zu helfen“, eingeſchlagen wurde, „daß ſich unſere Biſchoͤfe und uͤbrige 
deutſche Fuͤrſten der Religion ließen weiſen“. Drang das großartige Un⸗ 
ternehmen des Koͤlner Kurfuͤrſten durch, es konnte ihm an Nachfolge nicht 
fehlen. Zwar mußten die Fuͤhrer der Proteſtanten, falls auch nur ein 
Funke politiſchen Verſtandes in ihnen war, ſich ſagen, daß gerade ihr 
Siegeslauf, welcher dem roͤmiſchen Glauben im Reiche ein nahes Ende 
prophezeite, eine dringende Gefahr fuͤr ſie herauffuͤhre: mußte nicht der 
Kaiſer alle Kräfte feiner Weltmonarchie anſpannen, um zugleich die alte 
Kirche und ſeine Herrſchaft uͤber Deutſchland zu retten? 


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Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—1545 


Und dennoch, niemand anders als der Kaiſer war es, der im Jahre 
1544 gleichſam das Siegel auf die Machtſtellung der Proteſtanten druͤckte. 
Bei dem Reichstage zu Speier, auf dem das geſchah, muͤſſen wir hier noch 


etwas verweilen. 


6. Der Speierer Reichstag von 1544: die augenblickliche Macht— 
ſtellung der Proteſtanten 


Im Reichsabſchied von Speier gab Karl V. den evan⸗ 
aeliſchen Staͤnden rechtliche Garantien, wie ſie ihnen 
& © a bisher beharrlich vorenthalten waren. Zum mindeften 
= la als Abſchlagszahlung waren fie mit Freuden zu begrüßen. 
. = vr Die Proteſtanten durften meinen, es feien die Mängel 
— dees Nuͤrnberger Friedens jetzt beſeitigt, fie ſelber nun⸗ 
mehr zur Genuͤge ſicher geſtellt wie gegen die Angriffe des Reichskammer⸗ 
gerichts, das in Zukunft die Religionsfrage ganz außer Betracht laſſen 
ſollte, ſo auch gegen etwaige Anſpruͤche der kirchlichen Hierarchie auf die 
eingezogenen Kirchenguͤter. Wenigſtens alle vor dem Regensburger Reichs⸗ 
tage von 1541 vollzogenen Saͤkulariſationen erkannte der Kaiſer als rechts⸗ 
gültig an. „Wenn man (fo urteilt Egelhaaf) feſtzuhalten vermochte, 
was man nunmehr hatte, ſo ſchien der Proteſtantismus vom Reiche 
förmlich und für immer anerkannt in den Grenzen, welche er 1541 inne 
hatte; fuͤr die Zukunft aber mochte es ſo weiter gehen wie bisher. Daß 
es fuͤr das Wachstum der neuen Lehre keine papiernen Hinderniſſe gab, 
das war durch den Speierer Abſchied vom ro. Juni 1544 bewieſen“. 
Stutzig haͤtte die Proteſtanten allerdings machen koͤnnen, daß der 
Kaiſer von neuem die liebliche Melodie eines religiöfen Ausgleiches 
ertoͤnen ließ. Doch mochte es ſie beruhigen, daß ihnen fuͤr den Fall, daß 
das verheißene „gemeine freie chriſtliche Konzilium“ nicht zu erreichen ſei, 
eine Art von Nationalkonzil („eine Nationalverſammlung oder Reichs⸗ 
tag“) fuͤr die Vergleichung in der Religion in Ausſicht geſtellt wurde: 
vom Papſt ſchien der Kaiſer dabei gaͤnzlich abſehen zu wollen: im 
Abſchied ſtand kein Wort von ihm. 


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Der Speierer Reichstag von 1544: die augenblickliche Machtſtellung der Proteſtanten 


Dieſes Schweigen haben wir uns keineswegs allein aus der gebotenen 
Ruͤckſicht auf die Proteſtanten zu erklaͤren. Das Verhaͤltnis zwiſchen Karl 
und Paul III. war damals von hoͤchſter Spannung — die Folge der 
offenkundigen Parteinahme des Papſtes für Frankreich wie der Abgeneigt⸗ 
heit des Kaiſers, auf die Friedensſtimme des geiſtlichen Vaters zu hoͤren. 
Faſt waͤre es, noch vor dem Speierer Tage, zum offenen Bruche gekommen. 
Nur aus der gereizten Stimmung des Farneſen iſt es zu erklaͤren, wenn 
er jetzt Karls Zugeſtaͤndniſſe an die Proteſtanten im Reichstagsabſchiede 
zu einem ebenſo ungerechten wie heftigen, ja wutſchnaubenden Angriffe 
auf ſeinen Gegner benutzte; ein (bald an die Offentlichkeit gelangendes) 
Breve, in welchem der Hochmut des mit abſoluter Gewalt ausgeſtatteten 
Oberherrn der Chriſtenheit noch uͤberboten wird von der Gleißnerei des 
Prieſters, behandelte den getreueſten Sohn, den gewiſſenhaften Schirm⸗ 
herrn der roͤmiſchen Kirche wie ein mißratenes Kind, wie einen Frevler 
wider das prieſterliche Amt, gemahnte ihn warnend an das Geſchick der 
boͤſen Verfolger der Kirche, eines Nero und Domitian, Heinrichs IV. 
und Friedrichs II, 

Dieſes Vorgehen des Papſtes hat die unerwartete Wirkung gehabt, 
daß kein Geringerer als Martin Luther fuͤr den Kaiſer, dieſen ſchlimmſten 
Feind, den ſein Evangelium hatte, in die Schranken trat, um noch einmal 
mit dem „allerhoͤlliſchten Vater, Sankt Paulus Tertius“ eine Lanze zu 
brechen („Wider das Papſttum zu Rom, vom Teufel geſtiftet“, Maͤrz 
1545 erſchienen). Die Anregung dazu, das „freche“ Breve des Papſtes 
„in ſeinen Farben zu malen“, iſt ihm uͤbrigens von ſeinem Kurfuͤrſten 
gekommen. Wenn deſſen Kanzler, Dr. Gregorius Bruͤck, von Luther 
erwartete, er werde „mit der Baumaxt weidlich zuhauen“, wozu „er durch 
die Gnade Gottes einen hoͤheren Geiſt habe denn andere Menſchen“, 
ſo iſt die ungehobelte baͤueriſche Grobheit dieſer letzten groͤßeren Schrift 
des Reformators, ihre ſaftige Derbheit, die das zarte Gefuͤhl von heute 
ſo peinlich empfindet, ſicher nicht hinter den Wuͤnſchen des Staatsmannes 
wie ſeines Fuͤrſten zuruͤckgeblieben. Mit aͤrgerem Spott konnte „der Papſt⸗ 
eſel zu Rom mit ſeinen langen Eſelsohren und verdammtem Laͤſtermaul“ 
nicht zerzauſt werden. 

Schon auf dem Reichstage zu Speier bildete das Zerwuͤrfnis zwiſchen 
Papſt und Kaiſer den Hintergrund, von dem ſich das vortreffliche Ein⸗ 
vernehmen der Fuͤhrer des Proteſtantismus mit Karl V. deſto klarer 
abhob. In Johann Friedrich gewann die loyale Ergebenheit um ſo leichter 
ihre fruͤhere Staͤrke, als er auch in ſeinen perſoͤnlichen Angelegenheiten 


18 Brieger, Reformationsgeſchichte 273 


Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—1545 


ein freundliches Entgegenkommen der Habsburgiſchen Bruͤder wahrzu⸗ 
nehmen glaubte. In noch gluͤcklicherer Stimmung war Landgraf Philipp: 
die Sache der Reform, ſein Herzensanliegen, ſah er auf guter Bahn, 
von ſeinem gnaͤdigen Herrn, dem Kaiſer, vernahm er Worte der Huld 
und perſoͤnlicher Anerkennung, waͤhrend die Menge ihm begeiſterte Ver⸗ 
ehrung entgegentrug: ſeine mutige Haltung in Sachen der Religion 
(er benutzte fuͤr ſeinen evangeliſchen Gottesdienſt trotz der Einſprache der 
Kaiſerlichen das Franziskanerkloſter, das etwa 2000 Menſchen faßte, 
wohingegen der Kurfuͤrſt nur in ſeiner Herberge predigen ließ), ſein Eifer 
in der Betreibung der Tuͤrkenhilfe, der Glanz ſeines fuͤrſtlichen Auftretens 
lenkte aller Blicke auf ihn. Mit der Art dieſes fuͤrſtlichen Gebarens 
war ſein treuer Ratgeber Martin Butzer zwar nicht durchweg einverſtanden. 
Wie er ſchon im Fruͤhjahr 1544 in einem ſeiner Briefe an Philipp geklagt 
hatte, daß „mit dem unordentlichen Leben und Pracht“ der Bekenner 
des Evangeliums ſchweres Ärgernis angerichtet werde („Wir ſollten zum 
goͤttlichen Exempel ſein allen Gottſeligen und zum Schrecken damit den 
Feinden Gottes“), ſo hielt er auch jetzt dem Fuͤrſten „das unevangeliſche, 
aͤrgerliche Leben mit dem helliſchen Zutrinken, Prachtieren und Spielen“ 
vor, das zu Speier „unter den Augen und zum hoͤchſten Frohlocken 
unſerer aͤrgſten Feinde“ gefuͤhrt ſei. 

Aber auch die politiſche Haltung Philipps zu Speier glaubte Butzer 
nicht billigen zu koͤnnen. Bei feinem tiefen Mißtrauen gegen Karl V. 
ſchienen ihm die den Evangeliſchen hier zu Teil gewordenen Zugeſtaͤndniſſe 
unſicherer Art zu ſein; und vollends in dem Preis, den ſie dafuͤr gezahlt, 
ihrer Bewilligung der Reichshuͤlfe gegen Frankreich, ſah er einen verhaͤng⸗ 
nisvollen politiſchen Fehler. Wir werden noch Gelegenheit haben zu ſehen, 
in welchem Umfange die Ereigniſſe einer nahen Zukunft das Urteil des 
weitblickenden Straßburger Theologen beſtaͤtigen ſollten. 

Fuͤr den Augenblick jedoch nahmen die Proteſtanten eine Machtſtellung 
ein wie nie zuvor, und trauten ihre Fuͤhrer ſich die Kraft zu, das 
Errungene zu behaupten. 

Beſtaͤrken konnte ſie in dieſer Zuverſicht eine Wahrnehmung, die 
wohl geeignet war, ihre Seele mit einem ſtolzen Bewußtſein zu durch⸗ 
dringen. Immer klarer hatte ſich in den letzten anderthalb Jahrzehnten 
herausgeſtellt, daß das Prinzip, welches ſie vertraten, nicht mehr eine 
Angelegenheit Deutſchlands allein ſei. Auch außerhalb ſeiner Heimat 
hatte der religioͤſe Gedanke gezuͤndet. Die Reformation hatte, noch abge⸗ 
ſehen von dem Eintreten der deutſchen Proteſtanten in die Weltpolitik, 


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Der Speierer Reichstag von 1544: die augenblickliche Machtſtellung der Proteſtanten 


eine allgemeine europaͤiſche Bedeutung gewonnen. Wohin auch immer 
die Evangeliſchen uͤber die Grenzen Deutſchlands hinaus ihren Blick 
ſchweifen laſſen mochten, uͤberall ſahen ſie ihre Wirkung: es gab kein 
Kulturland, in dem ſie nicht als ein bald mehr, bald weniger ſtark erregen⸗ 
der Faktor der gaͤrungsvollen Zeit ſich geltend machte und ihre Kraft hier 
in poſitiven Schoͤpfungen, dort wenigſtens in der Lebhaftigkeit der Gegen⸗ 
bewegung offenbarte. In mehr als einem außerdeutſchen Lande war ſie 
bereits ſiegreich durchgedrungen; anderswo breitete ſie ſich allem Wider⸗ 
ſpruch zum Trotz ſtetig aus, oder ſie ſtand in einem harten Streit, deſſen 
Ausſichtsloſigkeit ſich den deutſchen Proteſtanten doch noch verhuͤllte. Bis 
zu den fernen Halbinſeln des Suͤdens ließ die Reformation den Boden 
erzittern: auch hier verſpuͤrte man etwas von der tiefen Erſchuͤtterung, in 
welche ſie die Geiſter verſetzte. Ja, man darf ſagen: fuͤr ein jedes Volk 
Europas vom Mittelmeer bis zu dem ſkandinaviſchen und baltiſchen 
Norden, vom Ozean bis zu den Grenzen der Osmanen und der Mosko⸗ 
witer ſchlug in gewiſſer Weiſe die Schickſalsſtunde: ein jedes wurde vor 
die entſcheidende Frage geſtellt, ob innere Kraft und aͤußere Verhaͤltniſſe 
ihm geſtatteten, ſich durchdringen zu laſſen von dem Geiſte der Neuen Zeit, 
oder ob es ſein geiſtiges Daſein binden wollte an eine Macht, welche, unge⸗ 
achtet ihres noch immer unerſchoͤpften Erbes religioͤſer und ſittlicher Kraͤfte, 
eine von der Geſchichte uͤberholte Epoche der chriſtlichen Kultur darſtellte. 

Der Hauptentſcheidungskampf — jener fuͤr die geſamte Welt — ſollte 
freilich nach wie vor auf deutſchem Boden gekaͤmpft werden. Immer 
aber war vielleicht nicht ausgeſchloſſen, daß der Abfall von der Kirche 
des Mittelalters, der hier und dort eine vollendete Tatſache war, daß der 
Bruch mit Rom, den wir anderswo finden, zur Staͤrkung des deutſchen 
Proteſtantismus ausſchlug. Aber nicht bloß an dieſe Moͤglichkeit werden 
wir zu denken haben. Vielleicht erſtarkten in dieſem oder jenem Lande 
die Kraͤfte des Widerſtandes gegen das neue religioͤſe Prinzip bereits in 
einem Maße, daß ſie wenigſtens mittelbar die entgegengeſetzte Wirkung 
auf Deutſchland auszuuͤben vermochten. 

Wir dürften daher auf unſerer Wanderung durch das Zeitalter der 
Reformation an einem Punkte angelangt ſein, an dem wir nicht unzweck⸗ 
maͤßig unſere Betrachtung des Zentrums der weltgeſchichtlichen Bewe⸗ 
gung unterbrechen, um uns die Entwicklung der außerdeutſchen Laͤnder, 
welche bisher nur als Einſchlag in das Gewebe der Politik Karls V. in 
Betracht gekommen ſind, ihren allgemeinſten Umriſſen nach zu ver⸗ 
gegenwaͤrtigen. 


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Der neue Aufſchwung der Reformation in Deutſchland 1532—1545 


Gleich auf den erſten Blick draͤngt ſich uns da die Wahrnehmung auf: 
ſchon jetzt geht die Einheit der abendlaͤndiſchen Welt in die Bruͤche. Hier 
erhebt ſich auf romaniſchem Boden ein zweites Wittenberg, eine eigen⸗ 
artige Wiederaufnahme der Gedanken Luthers von unermeßlicher Wirkung. 
Dort wird, wiederum unter Romanen, der Anſtoß gegeben zu der gewal⸗ 
tigen Reaktion, kraft deren das Mittelalter, verjuͤngt und mit neuer 
Willenskraft ausgeſtattet, als maͤchtige Maſſe einer fruͤheren Formation 
in das Leben der Neuzeit hereinragt, es auf das mannigfachſte durch⸗ 
ſetzend oder auch wie zudeckend. 

Unmittelbar mit dieſer Neugruͤndung der katholiſchen Welt haben 
wir es zu tun, wenn wir uns jetzt zunaͤchſt Spanien und Italien zuwenden. 


Spanien 
und Italien 


̃ Die Anfänge einer f 
Reſtauration des 
Katholizismus 


1. Die Grundlegung fuͤr das Spanien der Neuzeit durch die 
katholiſchen Koͤnige 


ruͤhzeitig hat der politiſche Blick Karls V. erkannt, daß 
der Schwerpunkt feiner Weltmacht in Spanien ruhte. 
So wertvoll für ihn die Kaiſerkrone war mit der Fülle 
ihrer Anſpruͤche, ohne den Ruͤckhalt, den ihm die Schoͤpfung 
Ader katholiſchen Könige Iſabella und Ferdinand bot, 
3 : BA hätte er den Kampf um die Vorherrſchaft in Europa 
nicht aufnehmen, geſchweige denn in ihm Stand halten koͤnnen. 
Erſt durch das große Koͤnigspaar von Kaſtilien und Aragon war 
Spanien zu einer nationalen Monarchie mit geordneten Verhaͤltniſſen 
umgeſchaffen worden. Freilich, gleich nach dem Tode Iſabellas ſollte 


277 


Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


ſich zeigen, daß Einheit, Ordnung, Ruhe nicht allzu ſicher begruͤndet waren. 
Die alten Eiferſuͤchteleien zwiſchen den verſchiedenen Koͤnigreichen lebten 
wieder auf, wieder ſtaͤrker machten ſich die wilden Leidenſchaften von 
ehedem im Widerſtreit der Staͤnde, in den Fehden der Einzelnen Luft. 
Das Gefühl der Zuſammengehoͤrigkeit, das da ſchwieg, aͤußerte ſich aller; 
dings deſto kraͤftiger dem Auslaͤnder gegenuͤber. Schon damals erblickten 
fremde Beobachter eine hervorſtechende Eigenſchaft der Spanier in dem 
Hochmut, der ſie mit Verachtung auf alle anderen Nationen herabſehen 
ließ: ſie waͤhnten dank der beſonderen Vorſehung Gottes, das erſte Volk 
der Welt zu ſein, zur Herrſchaft uͤber die anderen auserſehen. Und ruhte 
nicht ſchon jetzt ihre Hand ſchwer auf dem Suͤden Italiens? War nicht die 
reiche Inſelwelt des ſagenhaften Weſtens fuͤr ſie entdeckt? Dieſer 
Anſpruch auf Weltherrſchaft vermochte ſich einigermaßen zu ſtuͤtzen auf die 
Kuͤhnheit ihres Mutes, auf ihre in zahlloſen Kaͤmpfen mit den Unglaͤubigen, 
den Mauern ihrer Heimat, erworbene Kriegstuͤchtigkeit, auch wohl auf die 
Kraft ihres Glaubenseifers, der ſich in eben jenen Kaͤmpfen herausgebildet 
hatte. Aber im uͤbrigen war er nur allzu wenig begruͤndet. Wie viel fehlte 
doch, daß Spanien an der Spitze des Fortſchrittes der geiſtigen oder auch 
nur der materiellen Kultur geſtanden haͤtte. Trotz der verſchwenderiſchen 
Freigebigkeit der Natur in einzelnen Koͤnigreichen wie Andaluſien, Murcia, 
Valencia war das Land im ganzen ein armes zu nennen. Weite Striche 
beſten Bodens entbehrten ob der Genuͤgſamkeit und Traͤgheit der Bevoͤlke⸗ 
rung der Pflege. Dem Darniederliegen des Landbaues entſprach im all⸗ 
gemeinen der Mangel an Betriebſamkeit in Handel und Gewerbe. Denn 
der Adel — und welcher Spanier haͤtte nicht etwas von der Einbildung 
des Edelmannes in ſich gehegt? — hielt dieſe buͤrgerliche Beſchaͤftigung 
fuͤr unvertraͤglich mit ſeiner Ehre, welche nur im Kriegshandwerk oder dem 
muͤßiggaͤngeriſchen Dienſte großer oder kleiner Herren ein ihrer wuͤrdiges 
Feld der Taͤtigkeit fand. 

Beſſer ohne Frage ſtand es mit der geiſtigen Bildung, wenn auch 
nur in den hoͤheren Kreiſen, ſoweit ſie den Einfluͤſſen der Wiſſenſchaft offen 
ſtanden. 

Sie war erſt in juͤngſter Zeit, und zwar auf dem Boden einer durch⸗ 
greifenden Kirchenreform erwachſen, welche die katholiſchen Koͤnige mit 
eiſerner Hand ins Werk geſetzt hatten. Nimmer waͤren ſie zum Ziel 
gekommen ohne den ſachkundigen Rat und die kraͤftige Unterſtuͤtzung ein⸗ 
zelner hoher Praͤlaten. Der bedeutendſte ihrer Mitarbeiter war der Kar⸗ 
dinal Kimenes, Spaniens größter Kirchenmann am Ausgange des 


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Die Grundlegung für das Spanien der Neuzeit durch die katholiſchen Könige 


Mittelalters. In ihm haben wir zugleich den vornehmſten Foͤrderer 
der kirchlichen Wiſſenſchaft vor uns. Auf den alten Univerſitaͤten, die er 
reformierte, auf den neuen, die er gruͤndete, erlebte die Scholaſtik zu einer 
Zeit, wo ſie ſonſt uͤberall im Verwelken war, eine Art von Nachbluͤte: mit 
Ernſt und Gelehrſamkeit wurden hier im Anſchluß an den Normal; 
theologen Thomas von Aquino noch ein Mal die alten Probleme des mittel⸗ 
alterlichen Denkens erörtert, fo daß ein Menſchenalter fpäter Spanien 
der roͤmiſchen Kirche wohlgeſchulte Dogmatiker ſtellen konnte, die 
befaͤhigt waren, auf dem fuͤr den modernen Katholizismus grundlegenden 
Konzil von Trient das Dogma des Mittelalters in zeitgemaͤßer Formu⸗ 
lierung hinuͤber zu retten in die neue Zeit. Zugleich nahm in Spanien 
das Studium der Heil. Schrift einen neuen, bemerkenswerten Aufſchwung 
— zum Teil unter Einwirkung des Humanismus; denn dieſer gewann nicht 
nur in ſo manchem ſpaniſchen Kirchenfuͤrſten einen Goͤnner, ſondern fand 
auch Eingang an den Hochſchulen. 

Dieſes Wiedererwachen des wiſſenſchaftlichen Lebens ſtand, wie 
bemerkt, in Verbindung mit dem großen kirchlichen Reformwerke Iſa⸗ 
bellas und Ferdinands. Es iſt, auf die Wirkung hin angefehen, zweifellos 
die hervorragendſte Leiſtung ihres Lebens. Denn keine unter allen ihren 
großen Taten hat eine ſo weittragende Bedeutung fuͤr die Weltgeſchichte 
gewonnen wie dieſe Reform. 

Die Kirche Spaniens war beim Antritt ihrer Regierung fo ver; 
wildert wie nur irgend eine des Abendlandes. Unbildung und ſittliche 
Verkommenheit ſtellten ihre Prieſter und Moͤnche auf die niedrigſte 
Stufe. Indem nun die katholiſchen Koͤnige die Kirche ihrer Reiche durch 
eine umfaſſende Beſchraͤnkung des paͤpſtlichen Einfluſſes in Abhaͤngigkeit 
von ſich brachten, verfolgten ſie dabei nicht bloß den politiſchen Zweck, 
ihre monarchiſche Gewalt zu ſteigern, ſondern zugleich (es gilt das aller⸗ 
dings vorzugsweiſe von der Koͤnigin) den anderen, jener Verwilderung 
des kirchlichen Lebens mit allen Mitteln ein Ende zu machen. Durch ſtrenge 
fittlihe Zucht wurden in denſelben Tagen, wo die Paͤpſte — darunter 
jener entſetzlichſte von allen, der Spanier Borgia, Alexander VI. — ſich 
im Pfuhl aller Suͤnden und Laſter waͤlzten, wenigſtens die oberen Schichten 
des Klerus und Moͤnchtums zu den Aufgaben ihres Berufes zuruͤckgefuͤhrt, 
mit dem ganz neuen Bewußtſein ihrer Pflicht erfüllt. Als ſtarke Förderung 
erwies ſich dabei jener Eifer für die Religion, der, wie angedeutet, in dem 
Jahrhunderte langen Kampfe wider die Unglaͤubigen zu einem nationalen 
Charakterzug geworden war. Indem er jetzt ſeine Richtung auf das 


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Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


Innere der katholiſchen Religion erhielt, gewann er binnen kurzem durch 
die auf dieſem Felde entfaltete Taͤtigkeit eine ungeahnte Kraft, Leiden⸗ 
ſchaft, Glut. Dieſer Eifer warf ſich gut mittelalterlich, als haͤtte man im 
13. Jahrhundert gelebt, zum Huͤter der Kirche auf, zum Huͤter insbeſondere 
ihrer Glaubensreinheit. Er war es, der die hoͤchſten Geiſtlichen des 
Landes, wie den Primas des Reiches, Kimenes, mit den alten, zu neuem 
Leben erwachten Glaubens waͤchtern, den Juͤngern des heiligen Dominicus, 
wetteifern ließ im hingebenden Dienſte der furchtbaren Inquiſition, 
dieſer ſpezifiſch ſpaniſchen Schöpfung der katholiſchen Könige. Denn fie 
erſt hatten das alte, laͤngſt nicht mehr wirkſame Inſtitut mit paͤpſtlicher 
Unterſtuͤtzung durch eine ſtraffe Organiſation umgeſchaffen zu dem 
ſchneidigſten Werkzeug in ihrer Hand, mit dem ſie nicht nur den Glauben 
ſchirmen, ſondern auch — zur Bereicherung des Fiskus — jeden politiſchen 
Gegner „erreichen, treffen und vernichten“ konnten. Die neue Inquiſition 
war anfangs wohl auf Widerſpruch geſtoßen. Indes, bald empfand 
der Geiſt des kirchlichen Fanatismus, welchen die Kirchenreform der 
Koͤnige auch in der breiten Maſſe des Volkes groß zu ziehen verſtand, 
ſie in ihrer innigen Verwandtſchaft mit ſich ſelber. Von da ab war die 
Inquiſition, wie Wilhelm Maurenbrecher ausgefuͤhrt hat, eine populaͤre 
Einrichtung: „Sie entſprach dem Inſtinkte des ſpaniſchen National⸗ 
charakters, alle Volksklaſſen hatten an ihrer Arbeit Intereſſe und Anteil, 
an freiwilligen Dienſtleiſtungen für die Zwecke ‚des heiligen Amtes“ war 
niemals Mangel“. 

Wir ſehen, mit was fuͤr einer „Reformation“ wir es hier zu tun 
haben: mit keinem Gedanken uͤberſchreitet ſie das Mittelalter; ja, es 
wird auch keine Idee herbeigeſchafft, die geeignet geweſen waͤre, es auf 
eine hoͤhere Stufe der Entwickelung zu ſtellen. Die uͤble Gegenwart wird 
einfach als Entartung betrachtet: ſie iſt die Schuld von Perſonen und 
Verhaͤltniſſen; daß doch auch im Syſtem ein Fehler liegen koͤnnte, wird nicht 
einmal als Moͤglichkeit geſetzt. Einzig „Wiederherſtellung“ iſt daher die 
Loſung: der religioͤs⸗ſittliche Charakter des katholiſchen Chriſtentums muß 
ſich von neuem in ſeiner Reinheit darſtellen. 

Es liegt in der Natur einer jeden „Reſtauration“, daß es bei ihr nicht 
ohne Gewaltſamkeiten abgeht. Denn niemals kehrt eine Vergangenheit 
gutwillig zuruͤck; nur mit Mitteln der Gewalt kann ſie wieder herauf⸗ 
gefuͤhrt werden — in beſchraͤnktem Umfange und nie ohne eine gewiſſe 
Verzerrung. Je nach der Stimmung der Reſtaurationskuͤnſtler wird 
dieſes oder jenes Stuͤck herausgegriffen und uͤbertrieben, ſo daß es eine 


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Die Grundlegung für das Spanien der Neuzeit durch die katholiſchen Könige 


Geltung gewinnt, die es fruͤher inmitten anderer Zeitmomente keineswegs 
beſaß. In dem von uns beobachteten Aufkommen des religioͤſen Fanatis⸗ 
mus haben wir einen Beleg dafür. Gewiß, er war auch ſchon in früheren 
Jahrhunderten vorhanden, und gar manches Blatt ihrer Geſchichte iſt 
von den Ausbruͤchen des irre geleiteten religiöfen Gewiſſens befleckt. 
Aber wo im Mittelalter finden wir ein ganzes Volk, das von dieſem 
unheiligen Feuer entzuͤndet geweſen waͤre wie das ſpaniſche unter der Ein⸗ 
wirkung der Kirchenreform? Und was fruͤher, außer bei den verhaͤrtetſten 
Schildknappen der Inquiſition, eine boͤſe Begleiterſcheinung des kirch⸗ 
lichen Lebens geweſen war, es lodert hier im Innerſten des Heiligtums 
oder doch in ſeinem Vorhofe. Im Innerſten ſelber brannte bei den 
edelſten Kindern der katholiſchen Welt noch ein anderes, ein reineres 
Feuer, bei den einen wie in verzehrenden Flammen aufzuͤngelnd, bei den 
anderen als ſtille Glut. Es iſt die Myſtik, die wir fruͤher als die ſpezifiſche 
Froͤmmigkeit der letzten Zeiten des Mittelalters kennen gelernt haben. 
Auch hier wieder iſt ſie urſpruͤnglich im Moͤnchtum zu finden, ſeitdem 
dieſes von neuem mit Begier ſich der Askeſe ergeben hatte, dem Syſtem 
raffinierter Ertoͤtungen des Fleiſches, welche die Seele frei und leicht 
machen ſollten fuͤr den Aufſchwung zu Gott, den Genuß ſeliger Ent⸗ 
zuͤckungen. Auch diesmal trugen die Mönche das, was ihr ganzes Dafein 
erfuͤllte, hinaus in die Laienwelt. 

Mit dieſen ihren Wirkungen auf den Gebieten der Wiſſenſchaft, des 
kirchlichen und des religioͤſen Lebens und mit ihrem natuͤrlichen Ruͤck⸗ 
ſchlag auf den Staat hat die ſpaniſche Kirchenreform, wie bereits ange⸗ 
deutet, einen weltgeſchichtlichen Anſtoß gegeben. 

Sie hat den Mutterboden geſchaffen fuͤr die Renaiſſance des katho⸗ 
liſchen Chriſtentums uͤberhaupt, die wir „Gegenreformation“ zu nennen 
pflegen, und die dieſen Namen mit Recht fuͤhrt, ſofern ſie ſich ſtark genug 
gefuͤhlt hat, ſich der Reformation entgegenzuwerfen. 

Es iſt Spanien, deſſen Geiſt — wir werden es bald beobachten 
koͤnnen — die Kirche Roms unter ſein Joch beugt. Es iſt Spanien, das 
den Typus des neu⸗mittelalterlichen Katholiken am reinſten und ſchaͤrfſten 
ausprägt, in keinem reiner und ſchaͤrfer als in Ignatius von Loyola: 
auch in ihm treten uns als Ausſchlag gebend die beiden religiöfen Grund⸗ 
elemente entgegen, auf die wir geſtoßen ſind, jene ſchwaͤrmeriſche Myſtik 
und jener brennende Eifer fuͤr die Kirche — aber ins Grandioſe geſteigert 
in dieſer Natur von eiſerner Kraft des Willens und ſchneidender Schaͤrfe 
des Verſtandes. — — 


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Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


Wir haben das Spanien kennen gelernt, welches Karl V. als 
Erbe der katholiſchen Koͤnige zufiel. Fragen wir jetzt: was hat er 
aus ihm gemacht? oder was iſt unter ſeiner Regierung aus Spanien 
geworden? 


2. Die Weltmacht Spanien unter Karl V. 


BIER m Herbft 1517 betrat der junge König zum erſten Mal 
az ES den fpanifchen Boden. Schon 1520 hatte die Mißwirt⸗ 
d ZE (haft feiner ffandriſchen Minifter, die Wülkürherrſchaft 
IE 9 und der Eigennutz dieſer Fremden es dahin gebracht, 
daß in Kaſtilien und Valencia ein wilder Staͤdte⸗ 

aooaufruhr tobte, der Aufſtand der Comuneros. Auch der 
Adel r war vielfach in ihn verſtrickt. Im Ganzen aber wandte er ſich ebenſo 
wie die Geiſtlichkeit auf die Seite des Königs. Dank dieſer Unterſtuͤtzung 
gelang es der Regierung des damals in Deutſchland weilenden Kaiſers, 
die zuletzt durch ihr anarchiſches Treiben geſchwaͤchte Revolution zu unter⸗ 
druͤcken (1521). Mit erbarmungsloſer Harte nahm Karl nad) feiner Ruͤck⸗ 
kehr an Buͤrgern wie Edelleuten Rache: der Zweck wurde erreicht: eine 
Steigerung der monarchiſchen Gewalt faſt ins Schrankenloſe. Mit dem 
Klerus aufs engſte verbündet, entwand die Krone dem Adel den Reſt feiner 
politiſchen Macht und brach — zum Verhaͤngnis allein ſchon fuͤr den Wohl⸗ 
ſtand des Landes — die ohnehin ſchwache Kraft des Buͤrgertums: die 
beſcheidenen Anfänge eines Anteils an der ſtaͤdtiſchen Verwaltung wurden 
vernichtet. Damit war das erwachende Selbſtgefuͤhl geknickt und dem 
Buͤrgerfleiß die Ader unterbunden: Handwerk und Handel gingen in 
ihren kuͤmmerlichen Anſaͤtzen zuruͤck. 

Noch durch etwas anderes ſchaͤdigte Karl bald darauf das materielle 
Gedeihen ſeines Reiches. Wir wiſſen, wie lebhaft er den unerwarteten 
Sieg von Pavia als Geſchenk der goͤttlichen Gnade empfand; er war 
überzeugt, feinen Dank nicht beſſer darbringen zu koͤnnen als durch 
Bekämpfung der Unglaͤubigen. Die wirkſamſte Bekämpfung war aber 
jedenfalls ihre Überführung zum Chriſtentum. Da brauchte er nicht in 
die Ferne zu ſchweifen; in ſeinem eigenen Reiche konnte er mit dieſem 


282 


Die Weltmacht Spanien unter Karl V. 


heiligen Werke den Anfang machen. Naͤchſt dem erſt durch Ferdinand 
der Herrſchaft der Mauren entriſſenen Koͤnigreich Granada wies Valencia, 
das eben damals nach Niederwerfung der Revolution einer durch⸗ 
greifenden Neuordnung aller Verhaͤltniſſe bedurfte, den ſtaͤrkſten Bruch⸗ 
teil islamiſcher Bevoͤlkerung auf. An die Mauren gerade Valencias 
erging daher der Befehl, ſich zum Chriſtentum zu bekehren. Als unge⸗ 
achtet der ſchaͤrfſten Strafandrohungen die Mehrzahl dem Gebote den 
Gehorſam verſagte und in der Verzweiflung ſich zur Wehre ſetzte, 
ward das Kreuz gepredigt: ein Verwuͤſtungszug ergoß ſich uͤber das 
Land, uͤber ſeine betriebſame Bevoͤlkerung kam Ungluͤck und Elend, 
Valencia glich, ſchon fruͤher von den entſetzlichſten Strafgerichten 
des Königs mitgenommen, einer Einoͤde. Dafür aber war der Halb⸗ 
mond hier geſunken: der allerheiligſte Glaube hatte glorreich ſich aus⸗ 
gebreitet. 

Wie ließ doch dieſes Ereignis das Herz eines jeden Spaniers höher 
ſchlagen! Das Land war — wer konnte noch daran zweifeln? — auf 
dem Wege ſeiner hohen Miſſion. Auf ihm war es auch in allen den anderen 
Kriegen, in denen der Koͤnig, zur Befriedigung des Stolzes und des 
Eroberungstriebes ſeines Volkes, die Banner der ſpaniſchen Reiche 
fliegen ließ. Mochte er die Seinen auf den Boden Afrikas fuͤhren oder 
auf die Schlachtfelder Italiens und Frankreichs, Deutſchlands und der 
Niederlande, gegen den „allerchriſtlichſten Koͤnig“ oder gegen die Osmanen, 
wider die Ketzer oder wider den treuloſen Papſt — immer ſtritten ſie 
wie fuͤr den Ruhm des Vaterlandes, ſo auch fuͤr die Weltherrſchaft 
ihres Koͤnigs und damit fuͤr den katholiſchen Glauben. Sie alle mit⸗ 
einander, der ſtolze Grande kaum mehr als der armſelige Troßbube, 
waren Gottesſtreiter, ſowie ein Jahrhundert zuvor die wilden fuͤr das 
Geſetz des Herrn eifernden Kriegerſcharen der Huſiten ſich als ſolche 
gefuͤhlt hatten. 

Wie dieſe Kriegslaͤufer da draußen die fremden Nationen die wahre 
Froͤmmigkeit lehren wollten, ſo ſtand auch daheim das Volk in heiligem 
Kriegsdienſte — gegen einen Feind, der, ins Innere ſich einſchleichend, 
ſein Beſtes anzutaſten wagte, den Glauben. 

Erſt drei Jahre war der Wittenberger Moͤnch am Werke, und ſchon 
glaubte man ſogar jenſeit der Pyrenaͤen, vor ihm auf der Hut ſein zu 
muͤſſen. In den Tagen, da Karl V. zu Worms uͤber Luther zu Gericht 
ſitzen ſollte, wandten ſich Spaniens Granden und Regenten an den Kaiſer 
und beſchworen ihn, der verabſcheuenswerten Ketzerei ein Ende zu machen 


283 


Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


und den verworfenen Haͤreſiarchen nach Verdienſt zu zuͤchtigen; das ſei 
nicht nur des Kaiſers Pflicht gegen Gott, gegen den heiligen katholiſchen 
Glauben und gegen ſeine Vorfahren, ſondern auch ein Gebot der Selbſt⸗ 
erhaltung; denn bereits habe dieſer Menſch mit feiner teufliſchen Lift 
begonnen, durch Überſetzungen ſeiner abſcheulichen Luͤgen ins Spaniſche 
ſeine Ketzereien und Blasphemien in dieſer katholiſchen Nation aus⸗ 
zubreiten. Zwar haben wir es hier zweifellos weit mehr mit einer Aus⸗ 
geburt der Furcht und des Abſcheues zu tun, als daß wir ſchon fuͤr dieſe 
Zeit eine irgendwie nennenswerte Einwirkung des lutheriſchen Geiſtes auf 
Spanien annehmen duͤrften. Aber eins zeigt dieſe Bittſchrift doch: wie 
fruͤh die Wachſamkeit hier eingeſetzt hat. An ihr hat es fortan nie gefehlt. 
Ein jeder an ſeiner Statt war ein Waͤchter, Spaͤher, Angeber — kurz 
ein Mitſtreiter der Inquiſition, welche, in dieſer Weiſe von der öffent; 
lichen Gunſt getragen, dazu von oben, und wahrlich nicht zuletzt von 
König Karl, gefördert, zeigen konnte, was fie vermochte. Die prunk⸗ 
vollen, in weiteſter Öffentlichkeit vor ſich gehenden Autos da fe, dieſe 
Volksfeſtlichkeiten tieftragiſchen Charakters, weckten in der andaͤchtigen 
Menge zugleich mit den Schaudern der göttlichen Gerechtigkeit das Ent⸗ 
zuͤcken über den Sieg des Glaubens. Sie fetten wohl die Seele des Ein; 
zelnen in jene entſetzliche Wallung, in der er bereit war, der Glaubens⸗ 
reinheit der Nation ſelbſt den eigenen Bruder zum Opfer zu bringen. 
Die ein ungeheueres Aufſehen erregende Tat des Alfonſo Diaz, der 1546 
zu Neuburg an der Donau ſeinen zum Proteſtantismus abgefallenen 
Bruder Juan ermorden ließ, verriet nur, weſſen, nach einem Viertel⸗ 
jahrhundert des Kampfes Karls V. gegen die Ketzerei, der Glaubenseifer 
ſeines Volkes unter Umſtaͤnden faͤhig war. 

Nach alledem wird es uns als ſelbſtverſtaͤndlich erſcheinen, daß alle 
Verſuche des evangeliſchen Geiſtes, auch in Spanien ſich feſtzuſetzen, faſt 
im Keime erſtickt ſind. Wunder nehmen koͤnnte uns nur, daß ſie mit einer 
durch Jahrzehnte ſich hinziehenden Zaͤhigkeit unternommen worden ſind, 
infolge deren noch Philipp II. einen Vernichtungskrieg fuͤhren mußte 
gegen das Haͤuflein proteſtantiſcher Untertanen, die ſich an einzelnen Orten, 
wie in Valladolid und Sevilla, ſogar zu heimlichen Gemeinden zuſammen⸗ 
getan hatten. Es iſt doch eine bemerkenswerte Tatſache: die Reformation 
Martin Luthers hat ſelbſt in der Heimat der Gegenreformation, wo ihrer 
Einwirkung auf das Leben des Volkes von Anfang an ein Riegel vor⸗ 
geſchoben war, das religioͤſe Verlangen einer winzigen Minderheit geweckt 
und geſtillt. 


284 


Die Weltmacht Spanien unter Karl V. 


Die Nation aber, welche in dieſer Minderheit Verworfene und Feinde 
des Vaterlandes ſah, durfte ſchwelgen in dem erhabenen Bewußtſein, 
nach innen wie nach außen ihren Weltberuf zu erfuͤllen. Den Ruͤckgang 
des geiſtigen Lebens, mit dem ſie ihre Weltſtellung zu bezahlen hatte, 
bemerkte ſie nicht. Fuͤr uns liegt er klar zu Tage. Immer kleiner wurde 
der Kreis der Auserwaͤhlten, in denen Spanien von der Kultur des 
uͤbrigen Europa beruͤhrt wurde, und — was noch ſchlimmer — nur von 
Wenigen wurde der Druck empfunden, mit dem das Spionageſyſtem 
der Inquiſition auf dem geſamten geiſtigen Daſein laſtete. Auch der 
Humanismus — Erasmus beſaß hier bis Ende der dreißiger Jahre eine 
ſtattliche Anhaͤngerſchaft — hatte dieſer Verarmung nicht zu ſteuern ver⸗ 
mocht: teils war er den Angriffen des zelotiſchen Kirchentums, ins⸗ 
beſondere der haßatmenden Bettelmoͤnche, erlegen, teils hatten ihn auch 
hier die Jeſuiten ſich dienſtbar gemacht. Das alles verſchlug aber nichts: 
die Nation fuͤhlte ſich wohl und ſpuͤrte keinen Mangel. 

Aber fuͤr ein anderes Zeichen der Zeit haͤtte ſie doch wohl ein offenes 
Auge haben koͤnnen, daß naͤmlich ihr Wohlſtand mit nichten in dem 
Maße ſich hob, wie der Ausbau der Großmacht es erheiſchte. Nicht entfernt 
vermochte Spanien in dieſer Hinſicht mit Frankreich oder auch nur mit 
den kleinen Niederlanden es aufzunehmen. Die Spanier ſahen ihren 
Koͤnig in faſt unausgeſetzten finanziellen Noͤten; ſeine Kriege verſchlangen 
ungeheuere Summen, die doch zumeiſt aus ihrem Beutel entnommen 
wurden. Auf wie ſchwacher Grundlage Ackerbau, Gewerbe und Handel 
ruhten, wiſſen wir. Haͤtten nicht die Goldſtroͤme „Indiens“ uͤber das 
durſtige Land ſich ergoſſen, ein allgemeiner Zuſammenbruch haͤtte kaum 
ausbleiben koͤnnen. Im uͤbrigen gereichten die Schaͤtze der neuen Welt 
dem ſpaniſchen Volke keineswegs in jeder Beziehung zum Segen. 
Erfuhren einerſeits Induſtrie und Handel durch den Verkehr mit den 
Kolonien unleugbar einen großen Aufſchwung, ſo ſteigerte andererſeits 
der muͤheloſe Gewinn gerade die uͤblen Eigenſchaften des Spaniers, wie 
feine Neigung zu Prunk und UÜppigkeit, feinen Hang zur Bequemlichkeit, 
die Scheu vor Arbeit. Der alte Mangel an Produktivitaͤt drohte immer 
empfindlicher zu werden. 

Aber wie haͤtte der Glanz der Regierung Karls, die noch heute von 
den Spaniern als ihr goldenes Zeitalter gefeiert wird, irgendwie den 
Ausblick geſtattet in eine truͤbe Zukunft? 

Erſt das Licht der Geſchichte hat die Keime des Verderbens aufgedeckt, 
welche die Zeit Karls in ſich trug, hat den angebeteten Herrſcher uns 


285 


Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


erkennen laſſen als das Verhaͤngnis des Landes. Niemand hat das ein⸗ 
leuchtender nachgewieſen als Hermann Baumgarten, der beſte Kenner 
Karls V. und der neueren Geſchichte Spaniens. Da der Kaiſer „dieſem 
Hauptſtaate ſeiner Weltmonarchie das nicht zu geben vermochte, was ihm 
am dringendſten not tat, mußte er um ſo mehr den verderblichen Leiden⸗ 
ſchaften ſchmeicheln, welche in dieſem Volke lebten: dem religioͤſen Fanatis⸗ 
mus, dem Adelsſtolz, der hochmuͤtigen Verachtung aller anderen Voͤlker 
und ihrer Bildungsart, der Herrſchgier und den ſoldatiſchen Paſſionen“. 
So wird Spanien, indem er es „zu einem unvergleichlich kraͤftigen Werk⸗ 
zeug ſeiner Weltpolitik“ macht, „zu einem beklagenswerten Opfer der⸗ 
ſelben“. „Da der ſtolzen Nation die Macht uͤber andere ſchwand, ſank 
ſie in das tiefſte Elend. Denn in ſich und durch ſich zu leben, hatte ſie nicht 
gelernt. Der Kaiſer hatte ihr die Moͤglichkeit geboten, mit weſentlich 
mittelalterlichen Kraͤften der modernen Welt das Geſetz zu diktieren. 
Im Mittelalter war ſie begraben, als die Welt das ſpaniſche Joch abwarf. 
Da liegt fie trotz zahlloſen Umwaͤlzungen im weſentlichen heute noch“. — — 


3. Italien im Kampf: das Eindringen des Proteſtantismus 


m ſchwerſten von allen Ländern Europas hat Italien 
unter dem Joche Spaniens zu leiden gehabt. 
5 Auf den Anfang dieſer Unterjochung fiel ſchon einmal 
N fluͤchtig unſer Blick. Wir erinnern uns der Eroberung 
Re 2 7 Roms (1527) und des Strafgerichtes, das Deutſche 
ER und Spanier an dem gottloſen Papſttum und an 
der verkommenen Hauptſtadt der Chriſtenheit vollzogen. Es war der 
Beginn der dauernden Abhaͤngigkeit Italiens von der ſpaniſchen Welt⸗ 
macht und zugleich der Zeitpunkt, wo der ſpaniſche Geiſt ſich in Rom 
einniſtete, um durch ſeinen duͤſteren Ernſt die heitere und oft frivole 
Renaiſſance zu verſcheuchen und der Nation die Froͤmmigkeit der Eiferer 


aufzunoͤtigen. 
286 


70 


Italien im Kampf: das Eindringen des Proteſtantismus 


Aber konnte nicht dieſem unholden, gewalttaͤtigen Geiſte, der ſich 
um die Seele des evangeliſchen Volkes bemühte, die erſtrebte Herrſchaft 
doch vielleicht noch ſtreitig gemacht werden von einem andern Geiſte, der 
ſtatt der Knechtſchaft Freiheit, ſtatt des toten Einerlei einer äußeren Kirch- 
lichkeit ein alle Kräfte der Seele weckendes Leben verhieß? 

Man kann nicht ſagen, daß dieſe Moͤglichkeit von Anfang an aus⸗ 
geſchloſſen geweſen, ſofern Italien von der neuen veligiöfen Ideenwelt 
uͤberhaupt nicht beruͤhrt worden waͤre. 

Schon zu Anfang der zwanziger Jahre hatten Schriften Luthers in 
Menge auch jenſeit der Alpen Verbreitung gefunden, zunaͤchſt in Venedig. 
Hier hatten ſie, bald durch reformatoriſche Schriften aus Deutſchland und 
der Schweiz unterſtuͤtzt, den Samen des Evangeliums ausgeſtreut. Und 
er war weiter geflogen, wie vom Winde getrieben. Innerhalb der naͤchſten 
Jahrzehnte koͤnnen wir ſeine Spuren verfolgen im ganzen Norden der 
Halbinſel, in Mittelitalien, im Suͤden bis nach Sizilien hin. Bei nicht 
Wenigen fiel er auf fruchtbaren Boden, wenn auch meiſt nur bei Ein⸗ 
zelnen in mitunter (wie im Venezianiſchen) dicht beieinander gelegenen, 
in der Regel aber weit zerſtreuten Orten. Die von der evangeliſchen 
Wahrheit Ergriffenen gehoͤrten ganz uͤberwiegend den hoͤheren Staͤnden 
an; oft waren es Maͤnner von hervorragender Bildung und Lebens⸗ 
ſtellung: begabte und geiſtig beſonders hochſtehende Moͤnche (unter ihnen 
Prediger von hinreißender Gewalt, wie der beruͤhmteſte Redner Italiens, 
der General des Kapuzinerordens, Bernardino Ochino von Siena), 
Gelehrte, Literaten, hohe Beamte, Glieder der hoͤchſten Ariſtokratie. In 
die unteren Schichten des Volkes haben ſich die evangeliſchen Gedanken 
der deutſchen Reformation vielleicht nur an einer Stelle eingeſenkt. Wenn 
uns naͤmlich die Duͤrftigkeit der Quellen nicht ein falſches Bild gibt, war 
dies bloß in Neapel der Fall. Nach der Veranſchlagung der Inquiſition 
hätte hier die Zahl der von der Ketzerei „verpeſteten“ dreitauſend betragen, 
unter denen ſich „beſonders viele Schulmeiſter“ befanden. In Laien⸗ 
kreiſen, die faſt ohne Bildung, unterhielt man ſich, wie ein gleichzeitiger 
Berichterſtatter ſagt, von der Heiligen Schrift und disputierte uͤber 
ſchwierige Fragen wie die von der Rechtfertigung, von Glauben und 
Werken, von der Gewalt des Papſtes, vom Fegefeuer. Ein anderer, ein 
Benediktiner von Monte Caſſino, ſpricht jubelnd von dem „wunderbaren 
Schauſpiel“, „daß Frauen, ungebildete Maͤnner, Soldaten dermaßen von 
der Erkenntnis der goͤttlichen Geheimniſſe ergriffen ſeien, daß jeder Pre⸗ 
diger Campaniens von ihnen lernen koͤnnte. Das naͤmliche hat uns 


287 


Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


der Kardinal Pole bezeugt. „Es gab Leute,“ ſchrieb er im Jahre 1554, 
„die keinerlei Befugnis zu predigen hatten, aber dennoch in allen Ver⸗ 
ſammlungen und Kreiſen nach der Gelegenheit haſchten wie uͤber andere 
goͤttliche Myſterien und Glaubensſaͤtze, ſo vorzuͤglich uͤber die Recht⸗ 
fertigung die Menge aufzuklaͤren,“ und hierbei bewahrten ſie, wie er 
klagt, gar keine Maͤßigung. Allerdings! Denn als ob man in Deutſchland 
und nicht in Italien lebte, ſprach man ungeſcheut von dem „tyranniſchen 
Joch des Antichriſts“. 

Dieſe antihierarchiſche Wendung wird die evangeliſche Bewegung in 
Neapel erſt, indem ſie die Maſſen ergriff, genommen haben, vielleicht 
auch erſt infolge ihrer grauſamen Bekämpfung durch die Inquiſition. 
Urſpruͤnglich iſt das evangeliſche Chriſtentum in Neapel gerade von jeder 
polemiſchen Tendenz frei. Und dennoch hat es hier reiner, klarer und 
ſtaͤrker ſeine Kraft entfaltet als ſonſt irgendwo in Italien, in dem Maße, 
daß wir in dieſer vorgeſchobenen Poſition des Suͤdens das Hauptlager 
des „Luthertums“ vor uns haben. 

Dieſe Bedeutung verdankt Neapel der ſtillen, aber tief ins Innere 
gehenden Wirkſamkeit eines einzigen Mannes, der, ein Auslaͤnder, unter 
den Vorkaͤmpfern der Reformation in Italien weitaus die erſte Stelle 
behauptet. 

Es iſt ein Spanier, der aus Cuenca in Kaſtilien ſtammende Edel; 
mann Juan de Valdés. Wir lernen ihn und ebenſo feinen Zwillings⸗ 
bruder Alfonſo zuerſt als gluͤhende Verehrer des Erasmus kennen. 
Alfonſo war Geheimſekretaͤr Karls V. und begleitete ſeinen Herrn 1520 
und wiederum 1530 nach Deutſchland. Hier iſt er in noch jugendlichem 
Alter 1532 geſtorben. Auch Juan diente dem Kaiſer daheim als Sekretaͤr. 
Weshalb er 1531 fein Vaterland verlaſſen hat, wiſſen wir nicht. Er ging 
damals nach Italien. Wir finden ihn zunaͤchſt in Neapel, dann ein paar 
Jahre lang in Rom, am Hofe Clemens“ VII., der ihm die Wuͤrde eines 
paͤpſtlichen Kammerherrn erteilte. Seit 1534 lebte er dauernd in Neapel, 
als Privatmann; nebenher ſtand er im Dienſte des Kardinals Ercole 
Gonzaga als deſſen politiſcher Agent am Hofe des Vizekoͤnigs. Geſtorben 
iſt er hier 1541. Seine reformatoriſche Taͤtigkeit entfaltete er (ſeit 1535) 
in den hoͤchſten Kreiſen der Geſellſchaft. Seine erſte und vornehmſte 
Juͤngerin wurde die dem Herrſcherhauſe von Mantua entſtammende 
Fuͤrſtin Giulia Gonzaga. Sie war damals 22 Jahre alt, ſchon ſeit ſieben 
Jahren Witwe des roͤmiſchen und neapolitaniſchen Magnaten Veſpaſiano 
Colonna. Giulia, von Dichtern und Literaten, darunter einem Arioſt, 


288 


Italien im Kampf: das Eindringen des Proteſtantismus 


als die ſchoͤnſte Frau Italiens gefeiert, zeichnete ſich zugleich durch reiche 
Vorzuͤge des Geiſtes aus, durch ihre Erſchloſſenheit fuͤr alles Gute und 
Edle, durch „ihre (wie Valdés urteilte) unvergleichliche Art ſich zu geben 
und ihre Herzensguͤte“. Zu jener Zeit, wo Valdés ihr nahe trat, lebte fie, 
erſchuͤttert durch die packende Bußpredigt Ochinos, der wie kein zweiter 
Himmel und Hoͤlle zu malen verſtand, in einem Zuſtande „unertraͤglicher 
Verwirrung“ und Hoffnungsloſigkeit. Denn ſie verzweifelte daran, das 
Gut, nach dem all ihr Verlangen ging, Friede der Seele und Gewißheit 
des Heiles, jemals zu erlangen. In ihrer Not flüchtete fie zu Valdés. 
Wie einem Freunde legte ſie ihm ihre Beichte ab. Sie ſah ihr Vertrauen 
belohnt. In weiſer Paͤdagogik, die wir in ſeinen zumeiſt fuͤr ſie geſchriebenen 
religioͤſen Werken verfolgen koͤnnen, fuͤhrte er ſie zu dem Quell, der ihren 
Durſt zu ſtillen vermochte, zum Evangelium. 

Sehen wir bei Luther einzig auf den Kern ſeiner religioͤſen Gedanken, 
auf ſeine Vorſtellung vom Glauben als einer Geſinnung, in welcher der 
Chriſt des Wohlgefallens Gottes gewiß iſt und darum uͤber die Not 
dieſer Welt ſich erhebt und freudig ſeine Aufgabe in eben dieſer Welt 
ergreift und im Dienſte werktaͤtiger Liebe zum Naͤchſten ausfuͤhrt — 
ſehen wir bei Luther auf dieſen Kern, ſo duͤrfen wir ſagen: wir finden 
ihn im reichen Innenleben Juans, wie es ſich in ſeinen Schriften 
abſpiegelt, wieder, nur noch umwoben von einem Hauche der Myſtik, der bei 
dem deutſchen Reformator im hellen Lichte des Tages raſch verweht iſt. 

Aber ſo herrlich auch das Chriſtentum Luthers in den Schriften 
dieſes Spaniers widerſtrahlen mag, es erſcheint hier doch rein nach innen 
gekehrt. Von einer Außenwelt, welche dieſer Religion laͤngſt den Tod 
geſchworen hat, verlautet nichts. Juan de Valdés hat es ſonſt wohl ver; 
ſtanden, im Geiſteskampfe eine ſcharfe Feder zu fuͤhren. Das zeigt ſein 
Dialog „Merkur und Charon“ (eine politiſch-religioͤſe Staatsſchrift 
offizioͤſen Charakters, 1529 gedruckt) mit ſeinen ſchneidigen Angriffen 
auf das ſchnoͤde Treiben der Namenchriſten in Rom. Aber die religioͤſen 
Schriften aus der Neapler Lebensepoche Juans laſſen die roͤmiſche 
Kirche und alle ihre Inſtitute unangefochten. Wie er ſelber von dem 
herrſchenden, den Inſtinkten der Maſſe froͤnenden Kirchentum ſich 
nicht losſagte, ſo war er vollends weit davon entfernt, ſeiner Schuͤlerin 
Giulia Gonzaga den Rat zu geben, daß ſie ſich fernhalte von dem 
kirchlichen Kultus mit ſeinem unbibliſchen Meßopfer, mit ſeinem ſo 
ſtark ins Heidniſche ſpielenden Heiligen⸗ und Reliquiendienſt. Im Gegen⸗ 
teil, er forderte ſie zu fleißigem Beſuch der Meſſe auf, auch zum Beſuch 


19 Brieger, Reformationsgeſchichte 289 


Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


der Predigt, falls ſie Chriſtus zum Inhalt habe; und ruhig ließ 
er ſie die hergebrachten Froͤmmigkeitsuͤbungen in Gebet und Faſten, 
Beichte, Kommunion und Almoſengeben fortſetzen — in der Zuverſicht, 
daß das alles durch das neue religioͤſe Leben in ihr verinnerlicht werde 
und von den Schlacken des Unevangeliſchen gereinigt. Man braucht 
daraus noch nicht, wie man getan hat, den Schluß zu ziehen, es ſeien 
ihm, unter dem Einfluß der Myſtik, alle kirchlichen Formen gleichgültig 
geworden. Noch weniger zutreffend iſt die Annahme, er habe noch an 
die Moͤglichkeit gedacht, „der Papſt werde das Evangelium zulaſſen, die 
roͤmiſche Kirche werde ihren Paulus nicht verwerfen“, und daher ſich der 
Taͤuſchung hingegeben, daß er und die ihm Gleichgeſinnten auf die Dauer 
innerhalb der Kirche bleiben koͤnnten. Die Kurie kannte er zur Genuͤge. 
Und haͤtte er nicht ohnehin gewußt, wie vulkaniſch der Boden Neapels 
ſei, fo hätte ihn Karl V. ſelber darüber aufklaͤren koͤnnen. Als der Kaiſer 
von Tunis als Sieger heimkehrend einige Zeit in Neapel weilte, erließ 
er hier, voll Verlangen, nun auch gegen die Ketzer ſein Beſtes zu tun, 
1536 ein Edikt, welches den Verkehr mit Perſonen, die von der lutheriſchen 
Ketzerei angeſteckt oder ihrer verdaͤchtig ſeien, bei Verluſt von Leib und 
Gut verbot; und bald machten ſich unter dem ruͤckſichtsloſen Regiment 
des Vizekoͤnigs die Folgen dieſes Erlaſſes bemerkbar. Trotzdem iſt Valdés 
bis an ſein Ende unbehelligt geblieben. Er verdankte das lediglich der 
von ihm und den Seinen beobachteten Zuruͤckhaltung. Ohne ſie waͤre 
ſein Werk gleich im erſten Beginne zerſtoͤrt worden. Es fehlt nicht an 
einer Andeutung, daß er den Sturm kommen ſah. Sein Beſtreben konnte 
nur dahin gehen, zuvor in aller Stille die Saat auszuſtreuen, welche dem 
hereinbrechenden Unwetter bereits einigermaßen gewachſen waͤre. Der 
Erfolg hat ihm nicht ſo ganz Unrecht gegeben. Es hat doch einer langen, 
durch drei Jahrzehnte ſich hinziehenden Arbeit des Papſttums bedurft, 
bis ſeine Pflanzung ausgerottet war, bis zum letzten Schoͤßling. Eine 
Schar von Sendboten, alle ſeines Geiſtes voll, ergoß ſich uͤber die Halb⸗ 
inſel, Maͤnner, die zu den Erſten der Nation gehoͤrten. Nur ganz wenige 
ſeien aus der langen Liſte von Namen, deren Traͤger faſt ausnahmslos 
in Not und Tod gegangen ſind, außer dem an der Spitze ſtehenden Ber⸗ 
nardino Ochino herausgehoben: zunaͤchſt die beiden Florentiner von 
edler Familie, Pietro Martire Vermigli und Pietro Carneſecchi, jener 
ein gelehrter Theologe und Prior im Auguſtinerſtifte zu Neapel, dieſer 
einſt in hoher Stellung an der Kurie, als erſter Sekretaͤr Clemens“ VII.; 
ferner der Benediktinermoͤnch Don Benedetto von Mantua, der Ver⸗ 


290 


Die Abweiſung des Proteſtantismus durch das italieniſche Volk 


faſſer der vorzuͤglichſten evangeliſchen Schrift, des damals in 40 000 
Exemplaren verbreiteten „Traktates von der Wohltat Chriſti“; endlich 
ein Mann aus einem der vornehmſten Geſchlechter des Koͤnigreichs 
Neapel: Galeazzo Caraccioli, Marcheſe von Vico, ein Neffe des Tod⸗ 
feindes der Evangeliſchen, des Kardinals Caraffa (des ſpaͤteren Papſtes 
Paul IV.). 

Nur in fluͤchtigem Umriß konnten wir das Bild des Zuges der 
Reformation durch Italien betrachten. Eins trat dabei doch in hinreichen⸗ 
der Deutlichkeit zu Tage: auch Italien iſt durchweht worden von dem 
Atem der neuen Zeit. An Gelegenheit, ſich ihr zu erſchließen, hat es 
nicht gefehlt, wenigſtens nicht in allen den, gerade hier ſo zahlreichen, 
Mittelpunkten des geiſtigen Lebens. 

Warum hat die Nation gleichwohl mit neuen und ſtaͤrkeren Ketten 
ans Mittelalter ſich feſſeln laſſen? 


ON 
a 


29 ar manches Mal hat die Frage, warum die Reformation 
2 in dieſem Lande nicht durchgedrungen iſt, das Nach⸗ 
denken der Forſcher beſchaͤftigt. Man hat wohl geſagt, 
RN fie ſei zu ſpaͤt gekommen: „viel zu ſpaͤt, als die ſpaniſche 
Macht bei weitem groß genug war, um teils unmittel⸗ 
PN bar, teils durch das Papſttum und deſſen Werkzeuge 
alles zu erdruͤcken⸗. Dagegen ſpricht indes die von uns beilaͤufig 
beobachtete Tatſache, daß die ſpaniſche Reſtauration und die deutſche 
Reformation ziemlich gleichzeitig ihren Einzug in Italien gehalten haben. 
Mit Recht dagegen hat man geltend gemacht, daß, was zum Siege einer 
religioͤſen Bewegung gehoͤre, naͤmlich entweder der Anſchluß der ſtaatlichen 
Gewalten oder die elementare Kraft der Maſſe, beides der italieniſchen 
Reformation gefehlt habe. 
Allein dieſe Antwort traͤgt eine neue Frage in ihrem Schoß. Wenn 
wir es auch ohne weiteres verſtehen, daß die Reformation ſich in Italien 


19* 291 


Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


den Regierenden nicht empfahl, ſo koͤnnte es uns doch befremden, daß ſie 
hier, wo die kirchlichen Mißſtaͤnde gen Himmel ſchrien, laut, ja gellend, 
nicht zu einer volkstuͤmlichen Macht geworden iſt, welche auch die Obrig⸗ 
keiten mit ſich fortriß. Sollten wir nicht meinen, gerade in der Heimat 
des Papſttums waͤre der Reformation die Bahn geebnet geweſen? Wo 
brannte ein ſo wilder Haß gegen die Kurie, gegen Prieſter und Moͤnche 
wie hier? Wo hatten ſich die Diener der Kirche in ſo ſchmachvollen Ver⸗ 
dacht gebracht, in tiefere Verachtung? Indes, wir dürfen nicht uͤberſehen: 
dieſem Negativen wurde die Wage gehalten durch ein ſehr beſtimmtes 
Intereſſe am Papſttum. Italien war, wie ein beruͤhmter italieniſcher 
Staatsmann jener Zeit ruͤhmt, „das Land, das den beſonderen Vorzug 
hatte, den Mittelpunkt der Kirche zu beſitzen“. Das ſchmeichelte dem Stolze 
des Italieners: ſein Vaterland war noch immer, wie einſtmals in den 
Tagen des alten Rom, die Herrin der Welt, nur daß dieſe Herrſchaft ins 
Geiſtliche uͤbertragen war. Ins Geiſtliche? War es noch ein Geiſtliches, 
was ſich fo nannte? War es nicht ganz un, gar uͤberwuchert von dem 
Unkraut weltlicher Triebe und Luͤſte? Mußte es nicht dienen, tauſendfach 
dienen zur Befriedigung gemeiner Begierden? Wir haben fruͤher geſehen: 
noch immer leitete die Papſtkirche einen reichen Strom von Schaͤtzen der 
Erde nach Rom, dem großen Bankhauſe der Welt; und in dem feinen 
Geaͤder des kirchlichen Organismus ergoß ſich der Gewinn uͤber das 
ganze Land, bis an den Fuß der Alpen, bis zu der Suͤdſpitze Siziliens. 
Unzaͤhlige nahmen an ihm Teil, wenn nicht gar ihre ganze Exiſtenz auf 
ihn gegruͤndet war. Was fuͤr eine Kette ſchleppten ſie da mit ſich! Ein 
grelles Schlaglicht wirft auf dieſe Sklaverei das Bekenntnis eines der 
erſten Maͤnner der Zeit, des großen Geſchichtsſchreibers Italiens, Fran⸗ 
cesco Guicciardini, der, anfangs im diplomatiſchen Dienſte ſeiner Vater⸗ 
ſtadt Florenz, ſpaͤter unter den beiden mediceiſchen Paͤpſten Leo X. und 
Clemens VII. als Verwaltungsbeamter taͤtig geweſen iſt. Drei Dinge, 
ſagt Guicciardini gelegentlich, trage er Verlangen vor ſeinem Tode noch 
zu ſehen: „Gute Ordnung in ſeiner Heimat Florenz, Befreiung Italiens 
von den Barbaren, Befreiung der Welt von der Tyrannei der verruchten 
Prieſter“. Wie ſchwer er unter dem Druck dieſer Tyrannei geſeufzt hat, 
zeigt mehr als eine Außerung Guicciardinis. „Niemand kann (auf 
dieſes Wort hat zuerſt Jakob Burckhardt hingewieſen) der Ehrgeiz, die 
Habſucht, das Lotterleben der Prieſter mehr mißfallen als mir, teils 
weil jedes dieſer Laſter an ſich haſſenswert iſt, teils weil jedes für ſich und 
alle miteinander ſich wenig ſchicken fuͤr den, welcher den Dienſt Gottes 


292 


Die Abweiſung des Proteſtantismus durch das italieniſche Volk 


berufsmaͤßig ausuͤbt, auch weil es ſich hier um ſo entgegengeſetzte Fehler 
handelt, daß ſie nur in einem hoͤchſt abſonderlichen Subjekt vereinigt 
ſein koͤnnen. Nichtsdeſtoweniger hat die Stellung, welche ich bei mehreren 
Paͤpſten einnahm, mich gezwungen, um meines eigenen Vorteiles willen 
fuͤr ihre Groͤße zu arbeiten. Ohne dieſe Ruͤckſicht wuͤrde ich Martin Luther 
geliebt haben wie mich ſelbſt, nicht um mich von den herkoͤmmlichen Vor⸗ 
ſchriften der chriſtlichen Religion, fo wie fie gemeiniglich ausgelegt und ver⸗ 
ſtanden wird, frei zu machen, ſondern um dieſe laſterhafte Schar in die ihr 
gebuͤhrenden Schranken gewieſen zu ſehen, ſo daß ſie entweder von ihren 
Laſtern laßt oder ihre Autoritaͤt einbuͤßt“. Und ein ander Mal: „Ich habe 
meinem natuͤrlichen Verlangen nach ſtets den Untergang des kirchlichen Staa⸗ 
tes gewuͤnſcht, und das Geſchick hat gewollt, daß es zwei Paͤpſte gegeben hat, 
deren Groͤße der Inhalt meiner Wuͤnſche und das Ziel meiner Anſtrengungen 
fein mußte. Haͤtte ich nicht dieſe Ruͤckſicht nehmen muͤſſen, würde ich 
Martin Luther mehr geliebt haben als mich ſelbſt — in der Hoffnung, daß 
ſeine Sekte die Kraft gehabt haͤtte, dieſer verruchten Prieſtertyrannei ent⸗ 
weder den Garaus zu machen oder wenigſtens die Fluͤgel zu ſtutzen“. 

Kann uns jemand unverhohlener offenbaren, was in Italien auch 
dem bitterſten Haß gegen die Hierarchie ſeine Kraft zu rauben vermochte, 
die einzige, die ihm eigen, die Kraft niederzureißen? War an ſolchen, 
welche der aͤußere Vorteil von dem Bruch mit dem Alten zuruͤckhielt, 
ſchon in Deutſchland kein Mangel, wie viel weiter verzweigt mußte im 
Lande der Paͤpſte dieſe Sippe ſein! 

Aber uͤber die Maſſe des italieniſchen Volkes war damit doch noch 
nichts entſchieden. Bei ihr lag die Entſcheidung doch zuletzt in der reli⸗ 
gioͤſen Verfaſſung, in welcher die Reformation fie vorfand. Wie ſtand es 
nun in dieſer Hinſicht? Vor gut funfzig Jahren hat Jakob Burckhardt 
ſeiner Eroͤrterung uͤber das Verhaͤltnis des Italien der Renaiſſance „zu 
den hoͤchſten Dingen, zu Gott, Tugend und Unſterblichkeit“ die Erinnerung 
vorausgeſchickt, daß ſeinen „Randbemerkungen“ nur eine beſchraͤnkte 
Geltung zukomme. Dieſe Erinnerung iſt auch heute noch am Platze. 
Noch immer fehlt (darin haben wir Karl Benrath zuzuſtimmen) fuͤr die 
Beantwortung einer ſo wichtigen Frage die ſichere Grundlage, wie ſie 
nur ine umfaſſende Einzelforſchung zu ſchaffen vermag. Nicht ohne 
Schuͤchternheit wagen ſich daher die verallgemeinernden Urteile hervor, 
zu denen mich der Gegenſtand noͤtigt. 

Gehen wir aus von dem religioͤſen Verhalten der gebildeten Kreiſe. 
Das alte Erbe der Renaiſſance, der Skeptizismus, war ſo ziemlich auf⸗ 


293 


Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


gezehrt. Doch wollte das nicht viel bedeuten. Er hatte, wie wir uns 
erinnern, nie eine große Rolle geſpielt. Nicht allein, daß er notgedrungen 
die Huͤlle aͤußerer Kirchlichkeit um ſich gebreitet hatte, er war meiſt auch 
innerlich ohne Halt geweſen: nur ganz ausnahms weiſe zeigten ſich feine 
Traͤger gefeit gegen die Reize der kirchlichen Devotion und des Gefuͤhles 
der Sicherheit, das die Unterwerfung unter die Kirche zu bieten ver⸗ 
mochte. Sein Ruͤckgang hatte alſo nur die Wirkung, daß die Volks⸗ 
froͤmmigkeit in den hoͤheren Geſellſchaftsklaſſen das breite Gebiet, wel⸗ 
ches ſie hier ſtets behauptet hatte, wieder etwas erweiterte. Die 
Nation war in religioͤſer Hinſicht im ganzen eine Einheit: kein Stand 
wollte die ſakramentalen Segnungen der Kirche, die Fuͤlle ihrer Weihen 
entbehren. 

Wer wollte daran zweifeln, daß das Verlangen nach ihnen in zahl⸗ 
reichen Faͤllen ein Ausfluß wahrer und tiefer Religioſitaͤt geweſen iſt? 
daß in dem kaum uͤberſehbaren Gewirr von Äußerungen des kirchlichen 
Sinnes, den Stiftungen aller Art, den üppig aufſchießenden Bruder; 
ſchaften, der Heiligenverehrung und dem Reliquiendienſt, den Wall⸗ 
fahrten und Bußgaͤngen, auch hier bei Vielen, Vielen jene religioͤſe 
Regſamkeit ſich kundgab, die wir früher für die Zeit uͤberhaupt feſtzuſtellen 
hatten? Immer aber empfangen wir doch den Eindruck, als ob in Italien 
die individuelle Froͤmmigkeit des ausgehenden Mittelalters ſehr viel 
weniger weit verbreitet geweſen ſei als wie z. B. in Deutſchland, daß in 
dem unmittelbaren Machtbereich des Papſttums die von zahlreichen 
Faͤden heidniſcher Art durchzogene Religion mehr als anderswo etwas 
Gewohnheitsmaͤßiges, Außerliches, Mechaniſches geweſen, daß ſie nur zu 
oft aufgegangen iſt in dumpfe Devotion, in das bloͤde Anſtaunen des 
Myſteriums, ja nur zu oft eine Religion nach dem Grundſatz, den ein 
Annaliſt der Zeit naiv ausſpricht, „daß es immer gut iſt mit Gott gut 
zu ſtehen“ — kurz, eine Religion ohne Religioſitaͤt. Wo dieſer irreligioͤſe 
Geiſt fein Spiel trieb, da blieb der Reformation der Eingang verwehrt, 
wohingegen der Zorneseifer fuͤr das Heiligtum des „Glaubens“ und 
wider „ketzeriſche Bosheit“ eine offene Tuͤr fand. 

Wir wiſſen es bereits: dieſer Eifer begehrte Einlaß. 

Seit 1540 zog er durch weit geoͤffnete Pforten in Rom ein. 


Der Triumph des ſpaniſchen Geiſtes uber Italien. Jeſuiten und Inquiſition 


5. Der Triumph des ſpaniſchen Geiſtes uͤber Italien. 
Jeſuiten und Inquiſition 


Bun ie entſcheidende Wendung fällt in die Zeit Pauls II. 


5 N; Wir kennen diefen Papſt. Wie fern ſtand er doch feinem 
J perſoͤnlichen Verhalten nach der kirchlichen Reform, 
I von deren Schimmer er gern feine Papſtregierung ver; 
goldet geſehen haͤtte. Seiner geiſtlichen Allgewalt 
; follte freilich kein Abbruch geſchehen. Deren Wahrung 
lag ihm auch ſonſt am Herzen. Und ſo war er einſichtig genug, die 
Huͤlfe nicht zuruͤckzu weiſen, die ſich ihm darbot, um dem Verfall des kirch⸗ 
lichen Lebens wie dem Abfall von der Kirche zu ſteuern. Wenngleich 
der Papſt fuͤr die inneren Schaͤden kaum ein Auge hatte, in dem 
Abfall mußte doch auch er eine Gefahr erkennen, und ſo ſah er ſich 
wohl gelegentlich ſelber nach einem Mittel gegen das fortſchreitende Übel 
um. Innerhalb dieſer Grenze haͤlt ſich der Anteil Pauls III. an der 
unter ihm einſetzenden kirchlichen Reaktion. 
Es war im Jahre 1540. Da erteilte der Papſt, an dem denkwuͤrdigen 
28. September, einem neuen Orden ſeine Beſtaͤtigung. Die „Kompagnie 
Jeſu“ — ſo nannte ſich dieſer Orden — war eine Vereinigung von Prieſtern 
mit Moͤnchsgeluͤbden, die in ihren Anfaͤngen bis auf das Jahr 1534 
zuruͤckreichte. Eine kleine, aber erleſene Schar hatte ſich in dieſen „Soldaten 
Jeſu“ dem Papſt zur Verfuͤgung geſtellt — vom erſten bis zum letzten 
von demſelben Geiſte ſtrenger Mannszucht beherrſcht: denn keine hoͤhere 
Tugend ſchwebte ihnen vor Augen als Gehorſam, blinder Gehorſam, 
des Kriegers ſchoͤnſter Schmuck. Aber dieſe Tugend ruhte hier auf reli⸗ 
gioͤſem Grunde. Denn die treibende Kraft in dieſen Maͤnnern war die 
Froͤmmigkeit, und zwar die neue ſpaniſche der Zeit. Sie iſt uns nicht un⸗ 
bekannt: phantaſievoll, ſchwaͤrmeriſch, in Geſichten und Offenbarungen 
lebend, ja in einer Welt des Wunders (denn hier ward zum Wunder 
alles Ungewoͤhnliche und das Wunder zur Alltaͤglichkeit), wie bis zur 
Siedehitze emporgetrieben und doch — man ſollte es nicht fuͤr moͤglich 
halten — gebaͤndigt durch eine beiſpielloſe, raffinierte Zucht des ganzen 
Menſchen, durch harte „Exerzitien“, dieſe „geiſtlichen Ubungen“, wie fie 
der alte Soldat, dem die ganze Truppe ihre Ausbildung verdankte, aus⸗ 
gekluͤgelt hatte, zur eigenen Schulung, zu der ſeiner Rekruten — und daher 
eine Froͤmmigkeit voller Selbſtbeherrſchung und auslaufend in einen 


295 


Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


einzigen, eiſernen Entſchluß. Er kam in dieſer Geſellſchaft in Form 
eines Geluͤbdes, des heiligſten Eides zum Ausdruck: ein jeder gelobte, 
„ſein Leben dem beſtaͤndigen Dienſte Chriſti und des Papſtes zu weihen, 
unter dem Banner des Kreuzes Gott Kriegsdienſte zu leiſten, allein 
Gott und dem roͤmiſchen Oberprieſter, als deſſen Statthalter auf Erden, 
zu dienen, verpflichtet, jedem Befehl des Papſtes in Bezug auf die Foͤr⸗ 
derung des Seelenheils und die Ausbreitung des Glaubens ohne Aus⸗ 
fluͤchte, ohne Entſchuldigung, ohne Verzug Folge zu leiſten“. 

Paul III. konnte freilich nicht ahnen, daß er in dem Orden des 
Ignatius von Loyola den Grundſtock zu dem gewaltigen Heere vor ſich 
habe, das dazu beſtimmt war, einen großen Teil von Europa dem Pros 
teſtantismus zu entreißen und dem roͤmiſchen Statthalter wieder untertan 
zu machen. Aber wie haͤtte er, bei der Not der Zeit, zoͤgern koͤnnen, dieſe 
Mannen der „ſtreitenden Kirche“ in Dienſt und Bann zu nehmen? 

Schon ſeit ein paar Jahren uͤbrigens ſtanden ſie auf italieniſchem 
Boden in voller Arbeit: als volkstuͤmliche Prediger in den Gaſſen der 
Staͤdte, als gewandte Seelenfuͤhrer und Gewiſſenslenker im Beicht⸗ 
ſtuhl, als aufopferungsvolle Freunde des Volkes in Pflege der Kranken 
und in andern Werken dienender Liebe, nicht zuletzt als eindringliche 
Religionslehrer der Jugend — in der Erkenntnis, daß es fuͤr ſie vor allem 
darauf ankomme, des heranwachſenden Geſchlechtes ſich zu bemaͤchtigen. 

In den großen Kampf gegen die Ketzerei ſind die Jeſuiten erſt ſpaͤter 
eingetreten. 

Eroͤffnet wurde dieſer von der Kurie ſelbſt — im Jahre 1542. 

Allerdings macht ſich auch hier ſpaniſcher Einfluß bemerklich. 

Der vornehmſte Anſtifter dieſes Kampfes war der Kardinal Giovanni 
Pietro Caraffa. Er gehoͤrte zu einer der erſten Familien Neapels. Fruͤh 
war er in den Dienſt der Kurie eingetreten und in jungen Jahren Biſchof 
geworden. Als ſolcher tat er ſich bereits durch den Ernſt ſeines Reform⸗ 
eifers hervor. Aber den entſcheidenden Anſtoß fuͤr die Richtung ſeines 
Lebens ſcheint er doch erſt in Spanien erhalten zu haben, waͤhrend eines 
mehrjaͤhrigen Aufenthaltes am Hofe Ferdinands des Katholiſchen. Jeden⸗ 
falls war er ſeit ſeiner Heimkehr der entſchloſſenſte Vorkaͤmpfer einer 
Kirchenreform nach ſpaniſchem Vorbild. 1524 beteiligte er ſich an der 
Stiftung des Prieſterordens der Theatiner. Indem dieſer den Verſuch 
machte, den Stand der Weltgeiſtlichen durch Übertragung einer halb 
moͤnchiſchen Lebensweiſe aus feiner Verſumpfung heraus zufuͤhren und 
zur Erfuͤllung der prieſterlichen Pflichten zu befaͤhigen, ſollte er zwoͤlf 


296 


Der Triumph des ſpaniſchen Geiſtes über Italien. Jeſuiten und Inquiſition 


Jahre ſpaͤter dem Ignatius von Loyola zur Klaͤrung ſeiner Ideen ver⸗ 
helfen: erſt die Theatiner haben ihm ein greifbares Ziel vor Augen geſtellt 
und ihm wertvolle Bauſteine geliefert. So iſt Joh. Peter Caraffa nicht 
ohne Anteil an der weltgeſchichtlichen Schoͤpfung des Spaniers. 

Die erſchuͤtternde Heimſuchung Roms (1527) mußte fuͤr ihn ein 
maͤchtiger Antrieb ſein, die einmal eingeſchlagene Bahn ruͤckſichtslos 
weiter zu verfolgen. Er war nicht ohne eine myſtiſche Ader; aber immer 
ſtaͤrker tritt von jetzt ab der Eiferer in ihm hervor, voll Leidenſchaft und 
Glut. Ein Dorn im Auge ſind ihm vornehmlich die Ketzer. Es erwacht 
die grimmige Feindſchaft wider ſie, die noch der Papſtregierung dieſes 
Mannes ihren Stempel aufgedruͤckt hat. Er lebt und webt in der Über⸗ 
zeugung, daß es gegen die Ketzerei nur ein Mittel gibt: Gewalt. Immer 
wieder liegt der Kardinal dem Papſt in den Ohren mit ſeinen Klagen 
uͤber die Verheerungen dieſer Peſt, und endlich ſieht er ſich am Ziel. Am 
21. Juli 1542 — einem der Schickſalstage der Menſchheit — errichtete 
Paul III. „das heilige Amt“ (Sant' Uffizio), ein oberſtes, mit unum⸗ 
ſchraͤnkten Vollmachten ausgeſtattetes Inquiſitionstribunal. 

Die ſpaniſche Inquiſition hatte die alte roͤmiſche verdrängt. Spaniens 
Sieg von Pavia hatte jetzt ſein Seitenſtuͤck auf kirchlichem, auf geiſtigem 
Gebiete. 

Dieſer Triumph war zugleich das Ende einer milderen innerkirchlichen 
Reformbewegung, welche im letzten Jahrzehnt innerhalb der ariſtokra⸗ 
tiſchen Kreiſe Italiens um ſich gegriffen hatte. Auch hier ging man mit 
Lebhaftigkeit auf die Beſſerung der Kirche aus. Aber weder auf dem Wege 
der Gewalt noch durch die bloße Abſtellung von Mißbraͤuchen gedachte 
man ſie durchzuſetzen, ſondern durch eine Verinnerlichung des religioͤſen 
Lebens und eine Reinigung des kirchlichen Dogmas. Das katholiſche 
Chriſtentum ſollte zuruͤckgebracht werden zu ſeiner edleren Form, wie ſie 
Thomas von Aquino und weiter zuruͤck Auguſtinus und der Apoſtel 
Paulus darſtellten. Und gerade die apoſtoliſche Verkuͤndigung des Heiles 
erfaßte man hier mit ſteigender Begier. Man erwaͤrmte ſich fuͤr ſie in 
einem Grade, daß einzelne der hierher gehoͤrenden Maͤnner, ohne es zu 
wiſſen, in ihrer Vorſtellung von der Kraft des Glaubens dem deutſchen 
Reformator nahe kamen, ſich auf das naͤchſte beruͤhrten mit den An⸗ 
haͤngern des Juan de Valdés. Die von Valdeéſiſchem Geiſte durchhauchte 
Schrift „Von der Wohltat Chriſti“ wurde auch hier geſchaͤtzt und bewundert. 
Dazu traten nicht ſelten perſoͤnliche Beziehungen zwiſchen den Ange⸗ 
hoͤrigen beider Gruppen. Kurz bevor der Sturm der Inquiſition 


297 


Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


dazwiſchen fuhr, haben beide Stroͤmungen vielfach ihre Gewaͤſſer ge⸗ 
miſcht. 

über eine Reihe glaͤnzender Namen hatte dieſe Reformpartei zu ver⸗ 
fuͤgen. Wir finden hier Kardinaͤle wie Contarini, Sadoleto, Fregoſo und 
Pole, Biſchoͤfe wie Giberti von Verona und Morone von Modena (den 
ſpaͤteren berühmten Kardinal), weiter Gelehrte von klaſſiſchem Rufe, 
auch die gefeiertſte Frau Italiens, Michelangelo's geiſtvolle Freundin, 
Vittoria Colonna, die Witwe des Siegers von Pavia, des Marcheſe 
Pescara. Das Haupt der Gruppe war der edle Venezianiſche Staats⸗ 
mann Gasparo Contarini, welchen Paul III., mit der Reform der Kurie 
prunkend, ins Kardinalskollegium berufen hatte. Auch Contarini hielt ſich 
mit Bewußtſein innerhalb der Grenzen des katholiſchen Chriſtentums. 
Der hierarchiſche Gedanke beherrſchte ihn gerade ſo unbedingt wie einen 
Caraffa. Die Vorſtellung von der Entbehrlichkeit des Papſttums oder 
gar des Prieſtertums haͤtte er nie vollziehen koͤnnen. Luther war daher auch 
in ſeinen Augen ein verabſcheuungswerter Ketzer. Aber ihm lag doch 
noch etwas anderes am Herzen als die Kirche: eben jenes pauliniſche 
Evangelium. Er waͤhnte beides miteinander vereinigen zu koͤnnen, 
Papſttum und Evangelium. Der innere Zwieſpalt, den er und ſeine 
Genoſſen in ſich trugen, blieb ihm verborgen. Dem ſcharfen Blick der 
Gegner entging er nicht. Als Contarini 1541 vom Regensburger Reichs⸗ 
tage nach Italien heimkehrte, fand er ſich hier als Ketzer verſchrien: „wie 
ein Lutheraner ſei er in Rom behandelt“, klagte er dem Nepoten des 
Papſtes. Er hatte zu Regensburg als paͤpſtlicher Legat im Verlaufe der 
Vergleichsverhandlungen zwiſchen den Vertretern der alten Kirche und der 
Evangeliſchen einer Einigungsformel uͤber die Lehre von der Recht⸗ 
fertigung zugeſtimmt. Daran hatten die Theologen des Papſtes, welche 
nur die ſtrenge Norm der mittelalterlichen Theologie kannten, Anſtoß 
genommen, nicht ganz ohne Grund: zweifellos ließ ſich auch den ver⸗ 
faͤnglichſten Wendungen der Regensburger Abmachung noch ein katholiſcher 
Sinn unterſchieben. Aber die Tatſache blieb doch beſtehen, daß der Legat 
in einem Kardinalpunkte den Ketzern weit entgegengekommen war. Es 
iſt ihm das von den roͤmiſchen Eiferern nie vergeben worden. Wer weiß, 
ob nicht auch er im Laufe der Jahre vor dem Sant' Uffizio haͤtte 
erſcheinen muͤſſen, haͤtte ihn nicht bereits einen Monat nach deſſen 
Errichtung der Tod abgerufen. Hervorragende Geſinnungsgenoſſen Con⸗ 
tarinis ſind unter der Regierung Pauls IV. (eben dieſes Caraffa) dieſem 
Schickſal nicht entgangen: Kardinal Pole, obwohl damals Primas der 


298 


Der Triumph des ſpaniſchen Geiftes über Italien. Jeſuiten und Inquiſition 


engliſchen Kirche, wurde vor die Schranken des Inquiſitionsgerichtes 
gefordert, und Kardinal Morone hat, der Ketzerei angeklagt (er hatte 
allerdings als Biſchof von Modena den Traktat „Von der Wohltat 
Chriſti“ mit Eifer verbreitet), zwei Jahre lang im Kerker liegen muͤſſen, 
bis der Tod des Papſtes ihn befreite. 

Dieſe halb und halb evangeliſierende Tendenz war, wie bemerkt, 
ſchon 1542 durch den Sieg Caraffas in ihrer Kraft gebrochen. Das Heilige 
Offizium hat ſich im ganzen mit ihr nicht zu befaſſen gehabt. Es genuͤgte, 
daß fie verpoͤnt war. Wie floh man doch hier — wir koͤnnen es an Vittoria 
Colonna ſehen — erſchreckt den Gedanken, „die Arche zu verlaſſen, welche 
rettet und ſichert“. 

Die Hartnaͤckigkeit von Ketzern wohnte nur in der Bruſt von Juͤngern 
des Valdés', von „Lutheranern“. Nicht als ob es nicht auch hier viele 
gegeben haͤtte, welche, jetzt vor die große Entſcheidung geſtellt, ſich gehor⸗ 
ſam unterwarfen — vielleicht mit einem verwundeten Gewiſſen. Welches 
Maß von Heroismus hat doch zu jeder Zeit dazu gehoͤrt, um der brutalen 
Gewalt, die in den Kampf der Geiſter einbricht, Stand zu halten! Es hat 
etwas Erhebendes, zu ſehen, wie es an dieſer Heldenkraft doch auch hier 
keineswegs gefehlt hat! Denn immer blieben noch genug uͤbrig, welche 
dem geborenen Großinquiſitor Gelegenheit boten, der Welt zu zeigen, 
was er in der ſpaniſchen Schule gelernt hatte. Ranke hat in ſeinen 
„Paͤpſten“ geſchildert, wie Caraffa, vom Papſt an die Spitze der neuen 
Zentralbehoͤrde geſtellt, keinen Augenblick verlor, zum Werk zu ſchreiten, 
wie er aus eigenen Mitteln Gefaͤngniſſe einrichtete, ſie mit Riegeln und 
ſtarken Schloͤſſern, mit Bloͤcken, Ketten und Banden und jener ganzen 
furchtbaren Geraͤtſchaft verſah; wie er nach beſtimmten Regeln mit 
unnachſichtiger Strenge, ohne Ruͤckſicht auf Rang oder Stand („auf irgend 
einen Fuͤrſten oder Praͤlaten, wie hoch er auch ſtand“) die Verfolgung 
der Ketzer aufnahm. Wir können feine Blutarbeit hier nicht verfolgen, 
wie ſie, im Kirchenſtaat anhebend, allmaͤhlich ganz Italien in ihren Bereich 
zog, bis ſie ihren Hoͤhepunkt in den Jahren ſeines oberhirtlichen Waltens, 
1555 —15 59, erreichte, welches ſich auch dadurch hervortat, daß der Papſt 
es für angebracht hielt, feine Zeit über die ſtaatsrechtliche Folge der Ketzerei 
aufzuklären: durch Haͤreſie macht ein jeder Fuͤrſt feines Landes ſich ver; 
luſtig; doch kann die Barmherzigkeit des Papſtes Kaiſer und Koͤnige fuͤr 
den Fall der Reue zu lebenslaͤnglicher Kloſterhaft und „Buße mit dem 
Brot des Schmerzes und dem Waſſer der Traurigkeit“ begnadigen. 
Ebenſowenig koͤnnen wir einen Blick werfen auf die Taͤtigkeit ſeiner beiden 


299 


Spanien und Italien. Die Anfänge einer Reſtauration des Katholizismus 


Nachfolger, des „milden“ Pius“ IV. (1560 —65), unter deſſen Regiment 
(1560) in Kalabrien Hunderte von harmloſen Waldenſern hingeſchlachtet 
worden ſind, und des moͤnchiſch⸗frommen, von heiliger Inbrunſt durch⸗ 
gluͤhten Dominikaners Michele Ghislieri, Pius“ V. (1566—72), der ſchon 
als Kardinal, von Paul IV. zum Generalkommiſſar der Inquiſition 
erhoben, ſich durch ſeine erbarmungsloſe Haͤrte einen Namen ſchuf und als 
Papſt in ihr, wenn es moͤglich, Caraffa noch uͤberbot. „Ich haͤtte ſie 
lebendig verbrennen laſſen“, rief er aus, als er zu ſeinem Bedauern erſt 
nach dem Tode der Giulia Gonzaga (1566) Einblick in ihre Korreſpondenz 
gewonnen hatte. Noch die Tote iſt von der Inquiſition als Ketzerin 
gebrandmarkt worden — in dem Todesurteil uͤber ihren Freund, den 
uns bekannten Pietro Carneſecchi, das im Herbſt 1567 vollſtreckt wurde. 
Doch wichtiger für uns iſt die Tatſache, daß dieſer Papſt das im 
Jahre 1542 begonnene Werk in der Hauptſache vollendet hat: bei ſeinem 
Tode 1572 war, von winzigen, unſchaͤdlichen UÜberreſten abgeſehen, das 
Gift des Proteſtantismus aus dem Koͤrper der zweiten romaniſchen 
Nation ausgeſchieden. 
Damit war zugleich der Prozeß „der Hiſpaniſierung des italieniſchen 
Lebens“, von dem Jakob Burckhardt gelegentlich redet, abgeſchloſſen. 
Auf die Bluͤte der italieniſchen Kultur war ein Reif gefallen. Die 
Segnungen der Neuzeit konnten ihr fortan nur mittelbar zu gute kommen. 
Aber das Papſttum war gerettet. 


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V. 


Weſteuropa 
und der Cal vinismus 


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1. Frankreich 


Jer Umſtand, daß Spanien und Italien, das hiſpani⸗ 
ZA ſierte Land der Paͤpſte, auf das tiefſte in die Entwicke⸗ 
ung der naͤchſten Jahrhunderte eingegriffen haben, 
Vi wird es rechtfertigen, wenn wir uns bei dieſen beiden 
Laͤndern etwas laͤnger aufgehalten haben. Nur fluͤchtig, 
5 im Vergleich damit, brauchen wir bei dem übrigen 
Europa zu verweilen. Denn die hervorragende Bedeutung, welche ein⸗ 
zelne Laͤnder wie z. B. die Niederlande und England gewannen, ſtammt 
erſt aus einer Epoche, die jenſeits der uns hier gezogenen Grenze liegt. 
Eine Ausnahme wuͤrde nur Frankreich machen, haͤtten wir nicht ſeine 
ganz und gar durch die Rivalitaͤt mit dem Hauſe Burgund beſtimmte 
Politik bereits kennen gelernt. 


301 


Weſteuropa und der Calvinis mus 


Nicht zum wenigſten aus den Ruͤckſichten dieſer Politik haben wir 
auch die Haltung zu erklaͤren, welche Franz J. zur Reformation einge⸗ 
nommen hat. So wertvolle Bundesgenoſſen ihm unter Umſtaͤnden die 
deutſchen Proteſtanten waren, Proteſtanten im eigenen Lande konnte er 
doch nicht dulden. 

Schon zu Anfang der zwanziger Jahre drang auch hier das Luther⸗ 
tum ein, zunaͤchſt in die gebildeten Kreiſe, wo hier und da ein halb bibliſcher 
halb myſtiſcher Humanismus eine ihm guͤnſtige Stimmung ſchuf. Freilich 
wurde dieſer auch hier bald uͤberholt, da ſeine Fuͤhrer nur ausnahms⸗ 
weiſe zum Bruch mit der Kirche ſich entſchließen konnten. In ſehr 
beſtimmtem Unterſchied von Deutſchland blieben die unteren Schichten 
des Volkes lange unberuͤhrt von der reformatoriſchen Bewegung. Und 
auch dadurch unterſchied ſich Frankreich von der Heimat der Reformation, 
daß dieſer hier von Anfang an ein ganz anderer, ein einmuͤtiger Wider⸗ 
ſtand entgegengeſetzt wurde: von der Geiſtlichkeit, von den Moͤnchen, 
nicht zuletzt von der alten Hochburg der mittelalterlichen Wiſſenſchaft, 
der theologiſchen Fakultaͤt zu Paris, der Sorbonne, deren einſt uͤber das 
ganze Abendland ſich erſtreckende Autoritaͤt in ihrem engeren Bezirke 
noch unerſchuͤttert war, und deren Glaubensſpruͤche noch immer fuͤr die 
Entſcheidungen der Gerichte die Grundlage abgaben. 

Nach anfaͤnglicher Zuruͤckhaltung trat auch die Krone auf dieſe Seite, 
obgleich die Sorbonne durch ihre ruͤckſichtsloſe Verfolgung des Erasmus 
und ſeiner Juͤnger dem koͤniglichen Goͤnner des Humanismus den Ent⸗ 
ſchluß, ihr ſeinen Arm zu leihen, nicht etwa leicht machte. 

Voruͤbergehend war Franz durch ſeine Schweſter Margarete von 
Angouléme, die geiſtvolle und warme Vertreterin einer vertieften, dem 
Evangelium ſich annaͤhernden Frömmigkeit, mit dem religiöfen Geiſte 
ſeiner Zeit in Beruͤhrung gekommen. Aber es hatte bei dieſem dem Genuß 
froͤnenden, des ſittlichen Ernſtes baren Fuͤrſten uͤber eine fluͤchtige 
Sympathie nicht hinauskommen koͤnnen. Auch die alte Kirche war ihm 
innerlich gleichgültig. Allein er fand ſich politiſch an fie gebunden. Er 
konnte nicht ruhig zuſehen, wenn die Ketzerei Miene machte, aͤhnlich wie in 
Deutſchland ſein Volk zu zerſpalten: nur auf eine einheitliche Nation konnte 
er ſich in dem großen Kampfe ſeines Lebens, dieſem faſt unausgeſetzten 
Ringen mit dem Kaiſer, ſtuͤtzen. Und uͤberdies, wie haͤtte er ſich den Papſt 
zum Feinde machen, ihn auf die Seite ſeines Gegners draͤngen koͤnnen? 

Es war keine Frage: er mußte die Kirche ſchuͤtzen, ihre gottloſen 
Feinde beſtrafen. So iſt es unter der Regierung Franz' I., beſonders 


302 


Frankreich 


ſeit 1530 und vollends ſeit 1538 zu jener entſetzlichen Verfolgung der 
„Lutheraner“ gekommen, die mit dem ganzen furchtbaren Aufwand 
mittelalterlicher Grauſamkeit betrieben wurde und 1545 in verruchten 
Maſſenhinrichtungen ihren Hoͤhepunkt erreichte: an 4000 Waldenſer ſind 
damals in der Provence abgeſchlachtet worden. 

Trotzdem war bei dem Tode des Koͤnigs die Ketzerei mit nichten 
ausgerottet. Einen noch ſtaͤrkeren Mißerfolg aber hat ſein Sohn Heinrich ll. 
(1547—1559) gehabt, ungeachtet des noch größeren Eifers, mit dem er, 
von Anfang an in der Hand einer fanatiſchen Partei, aus der die Guiſen 
hervorragten, gegen das mittlerweile ſelbſt die hoͤchſten Staͤnde ergreifende 
Übel einſchritt, ſo daß die Heftigkeit der Verfolgung ſich nur noch ſteigerte 
und in allen Provinzen des Reiches die Scheiterhaufen aufflammten. 
Es war, wie ſo manches Mal in der Geſchichte, als ob die Aſche der Maͤr⸗ 
tyrer, weithin ſtaͤubend, den Samen des giftigen Unkrautes in alle 
Lande truͤge. Der Glaubensmut, ſtatt gebrochen zu werden, erhob ſich 
nur zu groͤßerer Kuͤhnheit: 1555 organiſierte ſich zu Paris die erſte evan⸗ 
geliſche Gemeinde, binnen kurzem gab es deren in einer Menge von 
Staͤdten, und 1559 vereinigten ſie alleſamt ſich auf einer Verſammlung 
ihrer Abgeordneten zu Paris zu einer durch Bekenntnis und Ver⸗ 
faſſung zuſammengehaltenen Kirche. Und die Verfaſſung war eigener 
Art — gegruͤndet, wie es hier ſchon die durch das feindſelige Verhalten 
des Staates bedingte Unabhaͤngigkeit mit ſich brachte, auf das Prinzip 
der Freiwilligkeit und Selbſtregierung. An der Spitze einer jeden Ge⸗ 
meinde ſtand ein ſich aus Laien und Geiſtlichen zuſammenſetzendes ſog. 
„Conſiſtorium“ (d. h. Presbyterium), deſſen vornehmſte Aufgabe die 
Sorge für Aufrechterhaltung eines ſtreng ſittlich-religioͤſen Lebens mit 
Huͤlfe der Kirchenzucht war. Und, wenn auch nicht ihre rechtliche 
Gleichheit, ſo doch einen Teil ihrer Freiheit freiwillig aufgebend, 
ſchloſſen ſich nun dieſe Gemeinden zu einem ſynodalen Kirchenkoͤrper 
zuſammen mit beſtimmten Organen zur Leitung der gemeinſamen 
Angelegenheiten. 

Dieſe Kirche war, worauf ſchon die Schaͤtzung der Kirchenzucht hin⸗ 
deutet, nicht einfach eine Schoͤpfung des vor einem Menſchenalter in 
Frankreich eingedrungenen und weit verbreiteten Luthertums, ſondern 
aus einer Vermaͤhlung des franzoͤſiſchen Geiſtes mit dem lutheriſchen 
Evangelium hervorgegangen. Wir ſtoßen hier bereits auf den franzoͤ⸗ 
ſiſchen Proteſtantismus. Und dieſer begann gleich jetzt — in den letzten 
Zeiten Heinrich's II. — ſich auch mit einer politiſchen Parteiſtellung zu 


303 


Weſteuropa und der Calvinismus 


verquicken. Die 400 000 Proteſtanten — fo hoch hat man fie für jene Zeit 
veranſchlagt —, welche nachgerade in ihren Reihen Glieder der hoͤchſten 
Ariſtokratie, wie die Bruͤder Franz und Caſpar von Coligny, ja ſelbſt einen 
Zweig des königlichen Hauſes, Anton von Bourbon und deſſen Bruder, 
den Prinzen Louis von Condé, ſahen, konnten unmoͤglich gemeint fein, 
die Herrſchaft einer feindlichen, politiſchen Partei, die den Koͤnig in ihren 
Kreis bannte, wie ein Fatum hinzunehmen. So ſehen wir am Schluß 
unſeres Zeitraums in Frankreich jenen eigenartig gefaͤrbten Proteſtantis⸗ 
mus aufkommen, welcher, zu weltgeſchichtlicher Größe aufſteigend, das 
Land in die furchtbarſten Buͤrgerkriege geſtuͤrzt hat und obwohl (nicht 
ohne die Mitwirkung des ſpaniſchen Geiſtes) uͤberwaͤltigt, doch nie völlig 
aus dem Körper der Nation hat ausgefchieden werden können und als 
ein wirkſamer Faktor in der Geſchichte des modernen Frankreich zu 
betrachten iſt. 

Ein unſterbliches Verdienſt hat ſich daher jener Franzoſe, nach welchem 
mit gutem Fug ſeit 1555 die „Lutheraner“ Frankreichs neu benannt 
wurden, um ſein Vaterland, das ihn ausſtieß, erworben: Johann Calvin. 
Ihm muͤſſen wir uns jetzt zuwenden. 


2. Calvin und der weſteuropaͤiſche Proteſtantismus 


alvin, bei dem Auftreten des Wittenberger Moͤnches 
acht Jahre alt (er iſt 1509 zu Noyon in der Pikardie 
72 geboren), iſt der große Reformator der zweiten Gene⸗ 
ration, naͤchſt Luther unter allen Reformatoren des 
56. Jahrhunderts der einflußreichſte. Bereits durch das 
Studium der Rechte wie durch eine gruͤndliche huma⸗ 


304 


Calvin und der weſteuropaͤiſche Proteſtantismus 


werden ſollte, wie in eine heftige Ploͤtzlichkeit umſchlug und, gleichſam über 
Nacht, den Vierundzwanzigjaͤhrigen zum reifen Manne und ſelbſtgewiſſen 
Fuͤhrer machte. 

Calvin iſt der genaueſte Schüler Luthers: nicht nur religiös iſt er 
von ihm abhaͤngig — denn alle ſeine entſcheidenden Grundgedanken hat 
er von dem deutſchen Reformator uͤbernommen —, ſondern auch, unge⸗ 
achtet ſeiner groͤßeren Befaͤhigung fuͤr ein wiſſenſchaftliches Denken, 
theologiſch. Die Abweichungen ſeiner Theologie, denen nachmals der 
Kleinſinn der Epigonen eine kirchentrennende Kraft beimaß, waren 
geringfuͤgig, untergeordneter Art fuͤr das Ganze der Religion. Es gilt 
das ſelbſt von der Schroffheit und Unerſchrockenheit, mit welcher Calvin 
den „ſchreckenvollen“, fuͤr ſein perſoͤnliches Empfinden nichts weniger als 
gleichguͤltigen Satz geltend gemacht hat, es ſei das Geſchick des Menſchen 
von aller Ewigkeit her durch die abſolute Machtvollkommenheit Gottes 
entſchieden, indem ein geheimer Ratſchluß die einen zu ewiger Seligkeit, 
die andern zu ewiger Verdammnis vorherbeſtimmt habe, waͤhrend der 
geſunde Sinn Luthers die bekanntlich auch von ihm wie von Zwingli 
gehegte Vorſtellung von der Praͤdeſtination fuͤr die Praxis des Chriſten⸗ 
lebens voͤllig zuruͤcktreten ließ. 

Es iſt der deutſche Geiſt, der in Calvin die von Luther begonnene 
Eroberung Europas fortgeſetzt hat, nur in neuer Form, wie die Ver⸗ 
haͤltniſſe fie bedingten, und wie fie für die politiſchen Aufgaben nicht gluͤck⸗ 
licher ſich haͤtte geſtalten koͤnnen. 

Es war zunaͤchſt der Franzoſe, welcher das von dem Deutſchen 
Empfangene eigenartig umſchuf, dem Naturell ſeines Volkes entſprechend. 
Daneben hat freilich Calvins perſoͤnlicher Charakter, welcher von dem; 
jenigen Luthers ſo unendlich abwich, ſeinem Proteſtantismus noch eine 
beſtimmte Faͤrbung gegeben. 

Fuͤr das Verſtaͤndnis dieſer neuen Form des Proteſtantismus iſt 
es erforderlich, daß wir uns vor allem Calvins eigenſte Schoͤpfung, ſeine 
Kirche und ſeinen Staat zu Genf, vergegenwaͤrtigen. Hier hatte er ja 
nach dem Verlaſſen des Vaterlandes, das fuͤr Maͤnner ſeines Geiſtes 
keinen Raum bot, unter einer franzoͤſiſch redenden Bevoͤlkerung die 
Staͤtte ſeiner weltgeſchichtlichen Wirkſamkeit gefunden. 

Es war ein harter Boden, den er hier vorfand, als er ſich im Herbſt 
1536 fuͤr den Dienſt der jungen proteſtantiſchen Stadt gewinnen ließ. 
Die Unfertigkeit und Verworrenheit der kirchlichen Verhaͤltniſſe war das 
geringere Übel. Schlimmer war die während der voraufgegangenen 


20 Brieger, Reformationsgeſchichte 305 


Weſteuropa und der Calvinismus 


politiſchen und kirchlichen Wirren eingeriſſene ſittliche Verwilderung. Er 
glaubte ſich im Beſitz der Mittel, ihr zu ſteuern und die Kirche zu bauen. 
Allein die Hoͤhe und Strenge ſeiner reformatoriſchen Forderungen, die 
Unbeugſamkeit, mit welcher er auf ihrer uneingeſchraͤnkten Durchfuͤhrung 
beſtand, fuͤhrten Oſtern 1538 zu ſeiner Vertreibung. Auch nach ſeiner 
Zuruͤckberufung (Herbſt 1541) fehlte es nicht an widerſtrebenden Elementen 
mannigfacher Art. In einem faſt unausgeſetzten, mit ſchonungsloſer 
Haͤrte gefuͤhrten Kampfe warf er ſie allmaͤhlich (bis 1555) nieder und 
vermochte, ſo zum unbedingten Herrn des Genfer Gemeinweſens auf⸗ 
ſteigend, hier fein kirchliches Ideal zu verwirklichen, ſoweit das ſproͤde 
irdiſche Material das uͤberhaupt geſtattete. 

Die Kirche Calvins unterſcheidet ſich von derjenigen des deutſchen 
Proteſtantismus vor allem durch die in ihr eingebürgerte Kirchenzucht 
— eine Zucht von der außerordentlichſten Strenge. Sie war in Calvins 
Augen ſchlechthin notwendig. Er hat die Kirchenzucht geradezu die Sub⸗ 
ſtanz der Kirche genannt. Sie ſtand im Mittelpunkt all ſeines Sinnens 
und Denkens; in ihrer Durchfuͤhrung erblickte er, wie man mit Recht 
geſagt hat, „den Kern ſeiner Aufgabe“. Die Predigt des Wortes Gottes 
allein — das war ſeine Meinung — reicht nicht aus, um das Leben der 
Gemeinde zu einem Gott wohlgefaͤlligen zu machen. Es bedarf noch 
anderer Mittel, welche das ganze Leben der Gemeindeglieder, das buͤrger⸗ 
liche wie das kirchliche, umſpannen, es umgeſtalten dem Evangelium 
gemäß. Das oberſte und wichtigſte Mittel iſt die vom Kirchenregimente 
ausgehende, ſchon im Neuen Teſtamente bezeugte (und ſomit vorge⸗ 
ſchriebene!) Zucht, welche wie mit Argus augen einen jeden in jeder Lage 
des Lebens beobachtet, die einen durch geringere Strafen auf den rechten 
Weg bringt, die andern, die offenbaren groben Suͤnder, mit der haͤrteſten 
Strafe belegt, fie ausſtoͤßt. Der „Bann“ iſt unentbehrlich für die Kirche. 

Auch Luther wollte ſittliche Zucht. Allein, er gab jener allmaͤhlichen 
Erziehung des Volkes zur Sittlichkeit, an welcher Kirche und Schule, 
Staat und Geſellſchaft gemeinſam arbeiten konnten, mit vollem Bewußt⸗ 
ſein den Vorzug vor einer von der Kirche zu uͤbenden Strafgewalt. Ohne 
dieſe grundſaͤtzlich verwerfen zu wollen, taͤuſchte er ſich doch nicht uͤber die 
engen Schranken ihrer Ausfuͤhrbarkeit. Er ließ ſich dabei, worauf Albrecht 
Ritſchl aufmerkſam gemacht hat, von der „zweifellos richtigen Einſicht“ 
leiten, „daß den Oeutſchen der Sinn fuͤr die Gleichheit und fuͤr die unfreie 
Geſetzlichkeit fehlt, welcher zu dem Syſtem der kirchlichen Disziplin erfor⸗ 
derlich iſt“, indem fie in ihrem Sinne für individuelle Freiheit ſowohl 


306 


Calvin und der weſteuropaͤiſche Proteſtantismus 


wie fuͤr die Freiheit der Sitte ſich auflehnen gegen das Joch des vor⸗ 
geſchriebenen Einerlei der kirchlichen Sittenzucht. Dagegen ſetzte Calvin 
nicht mit Unrecht bei ſeinem Volke jene ſo vielfach in der Geſchichte 
bewieſenen Charakterzuͤge voraus, „den Trieb nach Gleichheit“ und „die 
Geneigtheit, ſich in allen Beziehungen difsiplinieren zu laſſen“. 

Dieſer auf aͤußere Reglementierung des Lebens gehende Zug des 
franzoͤſiſchen Nationalcharakters forderte jene mit Hochdruck arbeitende 
kirchliche Sittenzucht ebenſoſehr heraus, wie er ſie ermoͤglichte. 

Es iſt erſtaunlich, was ſich Genf von dem fremden Sittenrichter — 
einem neuen Savonarola, der an die Stelle der ſtuͤrmiſchen Bußpredigt 
das wohldurchdachte Syſtem von Unterricht, Ermahnung, Warnung, 
inquiſitoriſcher Überwachung und empfindlichen Strafen ſetzt — ſchließlich 
hat gefallen laſſen. Es beugt zuletzt widerſtandslos ſein Haupt unter die 
rigoroſen Satzungen einer gebieteriſchen Religion. 

An die Stelle der einſtigen, ſo lebensluſtigen Bevoͤlkerung der Stadt 
iſt eine Gemeinde ernſter Gottesbuͤrger getreten, faſt fühlt man ſich ver⸗ 
ſucht zu ſagen: eine Buͤßergeſellſchaft. Der Staat iſt eine religioͤſe Zwangs⸗ 
anſtalt von halb kloͤſterlichem Ausſehen. Die religioͤſen Pflichten ſind hier 
zugleich buͤrgerliche, ſtaatliche. Denn wie der Staat die Lehre der Kirche 
unter feinen Schutz ſtellt, fo hält er die Ausuͤbung von Glaubenszwang 
für feine Pflicht. „Eine rechtſchaffene Obrigkeit“ — dieſes Wort Calvins 
hat ſich der Genfer Staat geſagt ſein laſſen — „wird die wahre Lehre 
beſchirmen und die weniger Geneigten zur Annahme des Glaubens 
zwingen“. Daher war eine inquiſitoriſche Überwachung der Glaubens; 
meinungen ſo notwendig wie die Überwachung der Sitte. Und wirklich 
ſtand ein jeder unter der beſtaͤndigen Kontrolle des ſog. „Gerichtes der 
Alteſten“ oder des „Konſiſtoriums“, einer Behörde, deren Laien-Mit⸗ 
glieder, wie es in dem Genfer Kirchengrundgeſetz von 1542 heißt, die 
Aufgabe hatten, „auf das Leben eines Jeden Acht zu haben: ob er recht⸗ 
gläubig ſei und nicht etwa den Lehren der Kirche widerſpreche oder doch 
abweichende Meinungen hege, ob er die kirchlichen Gebote beobachte, die 
Gottes dienſte regelmäßig beſuche, regelmaͤßig das Abendmahl genieße, 
ſeine Kinder chriſtlich erziehe. Weſſen Rechtglaͤubigkeit verdaͤchtig 
geworden, der mußte, gleichviel, ob vornehm oder gering, jung oder alt, 
Mann oder Frau, vor dieſer Behoͤrde erſcheinen, um in den Fragen des 
Katechismus Rede zu ſtehen, Auskunft uͤber ſeine Lektuͤre zu geben und 
ſchließlich vielleicht zur Teilnahme an den Katecheſen verurteilt oder dem 
Spitalmeiſter fuͤr die Anleitung zum Gebete uͤbergeben zu werden. 


20* 307 


Weſteuropa und der Calvinismus 


Hinter der Strenge der religioͤſen Anforderungen blieben aber die 
ſittlichen nicht zuruck. Wie vieles hatten da die „Alteſten“ als ungehoͤrig, 
als „der goͤttlichen Ehre widerſprechend“ zu ruͤgen, zur Anzeige zu bringen, 
zu beſtrafen! Schon ein harmloſer Scherz, ein unbedachtes Wort, im 
Kreiſe der Freunde geſprochen, konnte zur Vorladung vor den „Rat der 
Alteſten“ fuͤhren. „Ein unſchuldiges Kegelſpiel (ſo ſagt Kampſchulte auf 
Grund der Genfer Ratsprotokolle), welches ſich zwei Buͤrger auf Oſtern 
erlaubt hatten, eine laͤcherliche Miene, die ein angeſehener Buͤrger waͤhrend 
eines Trauungsaktes aufgeſetzt, galten bereits im Jahre 1546 nicht 
bloß dem Konſiſtorium, ſondern auch der buͤrgerlichen Behörde als Ver; 
brechen, die hinter Schloß und Riegel geſuͤhnt werden mußten“. 

Hier lieh, wie wir ſehen, die weltliche Gewalt dem Spruch des geiſt⸗ 
lichen Gerichtes bereitwillig ihren Arm. 

Aber auch die Sittengeſetzgebung des Staates ſelber atmete denſelben 
Geiſt des ſittlichen Rigorismus und unnachſichtlicher Strenge. 

Ehebruch wurde mit dem Tode beſtraft, mit dem Tode Gotteslaͤſterung 
und Zauberei („Buͤndnis mit dem Satan und Peſtbereitung“). Auch 
Ketzerei war ein todeswuͤrdiges Verbrechen. Die Hinrichtung Michael 
Servets, des Leugners der Trinitaͤt, nach einem in allen Formen Rechtens 
gefuͤhrten Ketzerprozeß (1553) war nicht eine vereinzelte Verirrung, nicht 
eine augenblickliche Ausſchreitung, ſondern eine durch das Prinzip 
geforderte Handlung, in deren Vorgeſchichte wie Nachſpiel uͤberdies die 
erbarmungsloſe Haͤrte des Ketzerverfolgers Calvin ſich ein trauriges 
Denkmal geſetzt hat. 

Das buͤrgerliche Strafverfahren in bezug auf Vergehungen und 
Verbrechen gegen die goͤttliche Ehre ſehen wir aber im Genfer Staate 
noch auf eigentuͤmliche Weiſe ergaͤnzt: der Staat ſucht, damit die 
Juſtiz nicht durch das Übermaß deſſen, was ſie zu ahnden hat, erſchlaffe, 
den Verſtoͤßen gegen die Ehre Gottes durch beſtimmte Maßnahmen vor⸗ 
zubeugen. So wurden Vergnuͤgungen aller Art, Familienfeſte, Spiel, 
Tanz, Geſang, oͤffentliche Volksbeluſtigungen, desgleichen der Luxus, 
ja alles, was dem freien und heiteren Kunſtgenuß angehoͤrt, nach Kraͤften 
durch Strafandrohungen eingeſchraͤnkt, da in den Augen Calvins alle 
dieſe Stuͤcke, wenn nicht Suͤnde ſelbſt, ſo doch nur zu maͤchtige Anreizungen 
zur Suͤnde waren. Wohl als das Außerordentlichſte in dieſer Hinſicht 
darf eine voruͤbergehende Einrichtung des Jahres 1546 gelten: indem 
der Rat bei Geld⸗ und Gefaͤngnisſtrafen den Beſuch der Wirtshaͤuſer 
verbot, ſchuf er durch Errichtung von fuͤnf ſog. „Abteien“ ehrbare Staͤtten 


308 


Calvin und der weſteuropaͤiſche Proteſtantismus 


für eine genau reglementierte und von der geiftlichen wie weltlichen Gewalt 
beaufſichtigte Geſelligkeit. 

Wir dürften jetzt dieſe von Calvin als ein weſentliches Mittel der 
Kirche betrachtete ſittliche Zucht einigermaßen kennen — ſowohl nach ihrer 
grundlegenden Bedeutung wie in ihrer Art. Zugleich erhellt aber, daß 
zu ihrer Durchfuͤhrung Kirche und Staat von Genf zuſammenwirken 
mußten. Die Kirche mußte die fuͤr dieſe beſondere Aufgabe erforderlichen 
Organe beſitzen, der Staat mit einer derartigen Vorſtellung ſeines Berufes, 
als eines religiögsfittlichen, erfüllt fein, daß er ſich der Kirche willig unter⸗ 
ordnete. 

In der Tat vollendet ſich das kirchliche Syſtem Calvins erſt in dem 
Hinzutreten zweier anderer weſentlicher Stuͤcke zu der Kirchenzucht: einer 
beſtimmten Gemeindeverfaſſung und einer ſpezifiſchen Politik, welche den 
Staat den Zwecken der Kirche dienſtbar macht. 

Die Verfaſſung iſt ein weſentliches Stuͤck der Kirche; deshalb gibt es 
nur eine. So urteilte Calvin in Übereinſtimmung mit dem roͤmiſchen 
Katholizismus und in beſtimmtem Unterſchied von Luther, nach welchem 
die Verfaſſung als etwas Außerliches ſich je nach den Verhaͤltniſſen zu 
richten hat. Bezeichnender Weiſe fand daher der franzoͤſiſche Reformator 
die Verfaſſung der Kirche im Neuen Teſtament vorgeſchrieben (waͤhrend 
für Luther nur die religiöfe Gedankenwelt der Heil. Schrift von bleibendem 
Werte war) — wiederum im Einklang mit der Papſtkirche, nur daß er 
freilich aus den heiligen Urkunden nicht einen durch Chriſtus geſtifteten 
Primat des Apoſtelfuͤrſten Petrus und feines angeblichen Nachfolgers, 
des roͤmiſchen Biſchofs, herauslas, ſondern eine Mehrheit von Amtern, 
von denen vornehmlich zwei ins Gewicht fallen: das Amt der Geiſt⸗ 
lichen, der „Diener des goͤttlichen Wortes“, und das der „Alteſten“. 
Zwar, waͤgt man dieſe beiden Amter gegeneinander ab, dann ſchnellt 
das Alteſtenamt federleicht in die Hoͤhe. Das „apoſtoliſche Hirtenamt“ 
iſt „der Nerv“, der den ganzen Koͤrper verbindet, es iſt das wichtigſte und 
erhabenſte; das Abzeichen des Prieſtertums iſt hoͤher zu achten als die 
Inſignien des Koͤnigtums. Calvin hat es verſtanden, dieſem Amte auch 
fuͤr die Praxis das Übergewicht zu ſichern, indem er die Geſamtheit der 
Geiſtlichen zu der venerable compagnie vereinigte und dieſe in bezug 
auf Anſtellung und Disziplin der Prediger nahezu ſouveraͤn machte und 
uͤberdies — zum Haupttraͤger der Kirchenzucht. Allerdings uͤbte ſie dieſe 
als ein erweitertes Kollegium aus, in welchem auch Laien ſaßen, die 
ſog. „Alteſten“. Es iſt das uns bereits bekannte „Conſiſtorium“. Als 


309 


Weſteuropa und der Calvinis mus 


Inhaber der „Banngewalt“, als das ausfuͤhrende Organ der Kirchen⸗ 
zucht (denn es hat nicht nur die Aufſicht, ſondern fällt auch feine Sprüche) 
bildet es den tragenden Schlußſtein des Calviniſchen Kirchenbaues. Der 
Charakter des Konſiſtoriums iſt freilich kein rein geiſtlicher; die Bei⸗ 
miſchung des Weltlichen iſt nicht zu verkennen: ein weltlicher Beamter, 
einer der Syndike, fuͤhrt ſogar den Vorſitz. Aber das geiſtliche Element 
hat die Führung. Übrigens haben wir auch die Laienaͤlteſten als Ver; 
treter der politiſchen Gemeinde, dieſer in Genf herrſchenden Ariſtokratie, 
zu betrachten. Denn ſie gingen aus der Wahl „des kleinen Rates“ hervor, 
der ſie, nicht ohne zuvor die Prediger zu hoͤren, aus den drei verſchiedenen 
Raͤten entnahm. Von dem „Gemeinde⸗Prinzip“ war daher wenig zu ſpuͤren, 
mochte es ſich auch auf dem Papier praͤchtig ausnehmen: denn in der 
Theorie prangte die Gemeinde als Traͤgerin der kirchlichen Souveraͤnitaͤt. 

Wer ſich durch dieſes Aushaͤngeſchild anlocken ließ, fand doch nur 
ein vom Geiſte der Hierarchie durchwaltetes Inſtitut. 

Viel ſtaͤrker als im Innern der Kirche mußte ſich aber die hierarchiſche 
Tendenz naturgemaͤß nach außen hin geltend machen. 

Auch hier iſt die Theorie inſofern unverfaͤnglich, als Calvin das 
Verhaͤltnis von Kirche und Staat zunaͤchſt im engſten Anſchluſſe an 
Luther beſtimmt: ſcharf werden die beiden Gewalten geſchieden, mit 
Nachdruck wird das ſelbſtaͤndige (göttliche) Recht des Staates anerkannt 
und die Pflicht des Gehorſams auch gegen eine das Recht mit Fuͤßen 
tretende Obrigkeit betont. Aber die hier gezogene Grenzlinie iſt nur 
dazu da, uͤberſchritten zu werden. Die innige Verbindung, in welche beide 
Gemeinweſen durch ihren Beruf geſetzt werden, eine Verbindung ſo eng 
wie die von Leib und Seele, macht die Auseinanderhaltung ihrer Sphaͤren 
zur Unmoͤglichkeit. Zwar das unmittelbare Gebiet des Staates iſt nur 
das des aͤußeren Lebens. Indeſſen dieſer gut mittelalterlichen Entleerung 
des Staatsgedankens zum Trotz, wird dem Staate auf der andern 
Seite als hoͤchſte und letzte Aufgabe eine religioͤſe zugeſchrieben: es iſt 
die Foͤrderung des Reiches Gottes, die Mitarbeit an der „Verherrlichung 
des göttlichen Namens“. Mit dieſem, wenngleich nur mittelbaren Zweck 
iſt aber ohne weiteres die Unterordnung des Staates unter die Kirche 
entſchieden. Denn da er auf dem Gebiete des religioͤſen Lebens kein ſelb⸗ 
ſtaͤndiges Recht hat, muß er in dem, was auch für ihn das Hoͤchſte iſt, 
ſich an die Weiſungen der Kirche halten, ſich von ihr inſpirieren laſſen. 
Die unter der Auslegung der Kirche ſtehende Heil. Schrift iſt Geſetzes⸗ 
koder für ihn! 


310 


Calvin und der weſteuropaͤiſche Proteſtantismus 


Die Kirche Calvins hat den Staat durch den ihm aufgebuͤrdeten 
religioͤſen Beruf ſich dienſtbar gemacht: mag er daneben immerhin noch 
ſeine weltlichen Funktionen verwalten, ſie ſind fuͤr ihn ſelber nur 
etwas Untergeordnetes, zu oberſt ſteht ihm der Dienſt und die Ehre 
Gottes. 

Daher alſo alles das, was wir vorhin wahrnahmen: die unbedingte 
Unterſtuͤtzung der kirchlichen Sittenzucht durch den Staat, die Handhabung 
der eigenen Strafgewalt im Sinne des kirchlichen Rigorismus, die 
Beſchirmung der Kirchenlehre, die Ahndung der Ketzerei als eines Staats⸗ 
verbrechens — daher uͤberhaupt dieſer Staat, der eine kirchliche Zwing⸗ 
burg iſt! 

In der Schoͤpfung dieſes Gebildes war dem Genfer Reformator 
gelungen, woran Zwingli in Zuͤrich geſcheitert war: der Gottesſtaat 
war hier Wirklichkeit; nur einer herrſcht in Genf: Gott oder — der⸗ 
jenige, welcher als der Dolmetſch des goͤttlichen Willens Gottes Stell⸗ 
vertreter war, Meiſter Calvin, der den altteſtamentlichen Propheten, den 
Diener des Evangeliums, den moͤnchiſch⸗ſtrengen Sittenrichter, den 
uͤberzeugten Hierarchen, den republikaniſchen Politiker in ſich vereinigte. 

Der ſchneidigſte Gegner der mittelalterlichen Hierarchie, der in Riten 
und kleinſten Außerlichkeiten nichts duldete, was an den alten roͤmiſchen 
Sauerteig erinnerte, hat hier auf evangeliſchem Boden eine neue Hierarchie 
geſchaffen: was wir ſehen, iſt Mittelalter, hartes, ungemildertes Mittel⸗ 
alter — gefordert im Namen der chriſtlichen Sitte. 

Und dieſen Franzoſen rechnen wir unter die Reformatoren? 

Doch! Was ihn auf unevangeliſche Abwege gefuͤhrt und was nun 
freilich ſein Werk nicht nur eigentuͤmlich gepraͤgt, ſondern auch getruͤbt 
hat, das war doch nur ſein brennender Eifer fuͤr die Reformation, deren 
Fruͤchte er nicht ſchnell genug reifen ſehen konnte. Die Foͤrderung, die 
Ausbreitung des Evangeliums und damit der „Ehre Gottes“ iſt der 
einzige Inhalt ſeines Lebens: mit einer großartigen Uneigennuͤtzigkeit, 
mit bewundernswerter Aufopferungsfaͤhigkeit ſtellt er in den Dienſt 
dieſer heiligen Sache alles, was er iſt und hat: den Reichtum ſeiner 
Bildung und ſeiner Wiſſenſchaft, ſein faſt einzig daſtehendes Talent der 
Organiſation und der Leitung, ſein Vermoͤgen die Geiſter zu pruͤfen und 
einen jeden an die rechte Stelle zu ſetzen, nicht zuletzt ſeine flammende 
Beredſamkeit, dieſe Gewalt der Sprache, welche in dem Kampf gegen 
den „Goͤtzendienſt“ der alten Kirche wie zuͤgellos dahinſtuͤrmt und doch 
nimmer das Ziel verfehlt. So war die Reinheit der Begeiſterung und 


311 


Weſteuropa und der Calvinismus 


die Energie dieſes Apoſtels der evangeliſchen Wahrheit ſo groß, daß die 
Wirkung des Evangeliums durch jene falſchen Beimiſchungen nicht 
weſentlich beeintraͤchtigt worden iſt. 

Und das um ſo weniger, als wir zwiſchen der Genfer Schoͤpfung 
Calvins und dem nach ihm ſich nennenden Proteſtantismus zu unter⸗ 
ſcheiden haben. 

Was uns in Staat und Kirche von Genf an Schwaͤchen entgegen⸗ 
tritt, dieſe Zuͤge von Unfreiheit, von Geſetzlichkeit, von Haͤrte, von prieſter⸗ 
licher Knechtung, das iſt, falls es nicht uͤberhaupt auf ſeinen urſpruͤng⸗ 
lichen Boden beſchraͤnkt blieb, auf die Tochterkirchen von Genf nicht in 
dieſer ſchroffen Einſeitigkeit uͤbergegangen und hat ſich da, gemildert, 
fuͤr das beſondere Miſſionsgebiet des Calvinismus zum Teil als Vorzug 
erwieſen. Hier haben jene beſonderen Gaben und Kraͤfte ihren Quell, 
denen der calviniſche Proteſtantismus nicht zuletzt ſeine großartigen 
Erfolge verdankt. 

Hatte denn nicht die ſittliche Zucht, gereinigt von ihren ſchlimmſten 
Aus wuͤchſen, ihre Berechtigung? zumal bei einer Generation, die von 
der Laxheit und ſittlichen Schwaͤche des ausgehenden Mittelalters befreit 
werden ſollte? Und konnte ſie nicht um ſo ſegensreicher wirken, wenn 
ſie nicht mehr, wie in Genf, ausgeuͤbt wurde von einer uͤber der Gemeinde 
ſtehenden oligarchiſchen Behoͤrde, ſondern von der Gemeinde ſelbſt? Denn 
— und damit kommen wir zu dem zweiten belangreichen Unterſchied — 
daß das Gemeindeprinzip in Genf ſelbſt ſo arg verkuͤmmerte, war wiederum 
in den beſonderen Verhaͤltniſſen begruͤndet und in der Macht der uͤber⸗ 
legenen Perſoͤnlichkeit Calvins. An ſich aber konnte dieſes Prinzip zur 
Quelle einer hoͤchſt wirkſamen, ja fuͤr Laͤnder, wo die Reformation ſich 
nur im Widerſpruch mit der Staatsgewalt behauptete, unentbehrlichen 
Organiſation werden. Dieſe Gemeindeverfaſſung ſchuf uͤberall die Staͤmme 
fuͤr die friedliche Propaganda wie fuͤr die kriegeriſchen Kaͤmpfe, in welche 
ſich der Calvinismus verwickelt ſah. Koͤnnen wir uns vorſtellen, daß die 
franzoͤſiſchen Proteſtanten Stand gehalten haͤtten in dem wilden Kriege 
mit der Übermacht des Koͤnigtums, der feindſeligen politiſchen Parteien, 
der Parlamente, der ganzen alten Kirche ohne jene Organiſation? 

Aber auch das Dritte, was uns bei Genf auffiel, das theokratiſche 
Ideal Calvins, iſt nicht umſonſt aufgeſtellt worden. Zwar ließ es ſich 
nur auf engem Raume, in kleinen Verhaͤltniſſen verwirklichen, und auch 
da kaum ohne die überwältigende Kraft der „majeſtaͤtiſchen“ Perſoͤnlich⸗ 
keit eines Calvin. So werden wir nicht erwarten, daß es außerhalb Genfs 


312 


Calvin und der weſteuropaͤiſche Proteſtantismus 


irgendwo ſich durchſetzte. Überall aber bemerken wir feine Nachwirkung 
in dem Beſtreben des Calvinismus, mit kecker Hand in die politiſchen 
Verhaͤltniſſe einzugreifen, um ſie umzugeſtalten zu Gunſten der Kirche 
und ihrer Ideale — auch wohl ruͤckſichtslos in antimonarchiſchem Sinne. 
Die Faͤhigkeit gerade hierzu wurde aber von dem Calvinismus durch 
ſeine beſondere Miſſion in der Welt gebieteriſch gefordert. Als er ſeinen 
Eroberungszug durch Weſteuropa antrat (den zweiten großen, den der 
Proteſtantismus unternommen hat) zu einer Zeit, wo im Bereiche der 
deutſchen und ſchweizeriſchen Reformation die Dinge ſich einem gewiſſen 
Abſchluß naͤherten, fand er auf ſeinem Wege noch alles in Fluß und 
heftiger Erregung. „Überall“, ſagt Hundeshagen treffend, „harren 
große religioͤs⸗politiſche Fragen ihrer Loͤſung. Nirgends iſt das Kampf; 
gebiet fuͤr den Calvinismus ein bloß religioͤſes oder ein kirchliches im 
rein religioͤſen Sinne; nirgends tritt ihm der roͤmiſch⸗katholiſche Glaube 
lediglich als ſolcher entgegen, ſondern uͤberall in einer beſtimmten Soli⸗ 
daritaͤt mit dynaſtiſchen Intereſſen und Regierungsprinzipien“. Dieſe ſich 
ihm darbietenden politiſchen Verwickelungen fuͤr ſich auszubeuten, war 
fuͤr die Juͤnger Calvins eine verlockende Aufgabe, zumal fuͤr diejenigen 
von ihnen, welche ihre Ausbildung unter den Augen des Meiſters ſelbſt 
auf der hohen Schule des Krieges erhalten hatten, als welche Genf in 
dem letzten Jahrzehnt des Reformators gelten durfte. Und deren gab 
es Viele. Denn mehr und mehr war die Stadt zu dem großen Sammel; 
platz fuͤr die Fluͤchtlinge aus allen Laͤndern geworden, wo der Proteſtan⸗ 
tismus bedraͤngt wurde, wie aus Italien, Ungarn und Polen, beſonders 
aber Frankreich und den Niederlanden, England und Schottland. Hier 
wurden in der herben Zucht dieſer Schule jene unbeugſamen Charaktere 
gebildet, Maͤnner voll hoher ſittlicher Spannkraft, voll heroiſcher Selbſt⸗ 
verleugnung, Hingebung und Mut, die nun, mit allen den Mitteln des 
Angriffes, eines Eroberungskrieges, vertraut gemacht, in die Heimat 
zuruͤckgeſendet wurden und hier den großen Kampf auf Leben und Tod 
führten, unter ihnen kein größerer als der ſtuͤrmiſche Reformator Schott; 
lands, John Knox. 

Indeſſen, die Wahrnehmung, welche wir bereits bei Frankreich 
machten, gilt auch von Schottland und von den Niederlanden: es fallen 
die Eroberungen des Calvinismus in dieſen Laͤndern aus dem Rahmen 
unſerer Geſchichte heraus. 

In den Jahren 1545/46, die wir ja als Standort für unſeren Über; 
blick uͤber die außerdeutſchen Laͤnder Europas waͤhlten, ging in Schott⸗ 


313 


Weſteuropa und der Calvinismus 


land ſoeben die Zeit ſtiller Vorarbeit zu Ende, wie ſie 1527 ein begeiſterter 
Anhaͤnger Luthers, Patrick Hamilton, in deſſen Adern das Blut der 
Stuarts floß, eröffnet und ein Jahr darauf mit feinem Maͤrtyrertode 
geweiht hatte. In den Niederlanden dagegen ſetzt ſich noch das 
Bemühen Karls V. fort, die lutheriſche Sekte auszurotten, dieſe blutige 
Arbeit, die freilich ihr Ziel nicht ganz erreichte: denn immer blieb noch 
ein Reſt von dieſer Ketzerei übrig, welchen fpäter hugenottiſche Flüchtlinge 
und bald auch die unmittelbare Einwirkung Calvins mit neuem Leben 
erfuͤllen konnten. 

Von einem Einfluß Genfs nehmen wir zumächft auch in England 
nichts wahr. Doch zieht hier etwas anderes die Aufmerkſamkeit auf 
ſich, fo daß wir bei ihm noch etwas verweilen muͤſſen: es ift die kirchliche 
Revolution, wie Heinrich VIII. ſie eingeleitet hat. 


3. Die kirchliche Umwaͤlzung in England 


Air ſtießen bereits auf das eigentuͤmliche Zerwuͤrfnis 
Heinrichs VIII. mit dem Papſt. Es hat den unmittel⸗ 
IA baren Anſtoß zur Umwaͤlzung der kirchlichen Verhaͤlt⸗ 
niſſe in England gegeben. So hat dieſe ihren naͤchſten 
Anlaß in der Laune, vielmehr dem niedrigen Geluͤſten 
FIAT ſittlich verkommenen, rohen, ja brutalen Fuͤrſten, 
den allein ſchon dieſes kennzeichnen wuͤrde, daß er nach Verſtoßung ſeiner 
erſten Frau von den fuͤnf ſpaͤter Heimgefuͤhrten zwei (Anna Boleyn und 
Katharina Howard) mit Seelenruhe auf das Blutgeruͤſt ſchickte, waͤhrend 
eine dritte (Anna von Cleve) als Auslaͤnderin nach halbjaͤhriger Ehe in 
ihre Heimat zuruͤckkehren durfte. Daß Heinrich VIII., nachdem er einmal 
eine papſtfeindliche Richtung eingeſchlagen, neben dem allerperfönlichften 
Zweck auch noch die Steigerung ſeiner Macht verfolgt hat, hebt ſeine 
deſpotiſche, in gewiſſer Weiſe fuͤr England ſegensreiche Politik noch nicht 
aus dem Dunſtkreis des gemeinen Egoismus heraus. 


314 


Die kirchliche Umwaͤlzung in England 


Seit dem Koͤnig die Hoffnung ſchwand, ſeine Ehe mit Katharina 
von Aragonien vom Papſt fuͤr unguͤltig erklaͤrt zu ſehen, war er darauf 
angewieſen, dieſes Ziel in der Heimat ſelbſt zu erreichen. Ein Hindernis 
dafuͤr war nur der hohe Klerus, der geborene Vertreter des Papſttums 
daheim. Die Macht der Hierarchie mußte daher gebrochen werden. Ihre 
Unabhaͤngigkeit bildete uͤberhaupt, nachdem der Kardinal Wolſey, Englands 
großer Staatsmann, den Einfluß des Parlamentes zuruͤckgedraͤngt hatte, 
die einzige Schranke fuͤr den Abſolutismus der Krone. Und die ſkrupel⸗ 
loſe Ruͤckſichtsloſigkeit Heinrichs fand Mittel und Wege, die von den 
anderen Staͤnden verlaſſene Geiſtlichkeit einzuſchuͤchtern. Schon zu Anfang 
des Jahres 1531 erkannte fie den König als „ihren einzigen und oberſten 
Herrn“, als ihr „Oberhaupt“ an. Drei Jahre ſpaͤter vollendete ein 
Parlamentsbeſchluß (Heinrich VIII. liebte es, aͤußerlich mit legalen Mitteln 
zu arbeiten), die ſog. Suprematsakte, das Werk. Die Kirche Englands 
wurde fuͤr unabhaͤngig von dem „Biſchof von Rom“ erklaͤrt, und an 
die Stelle der bisherigen paͤpſtlichen Gewalt mit ihren Einkuͤnften, mit 
all ihren Rechten der Jurisdiktion, der Viſitation, des Anteils an der 
Wahl der Biſchoͤfe die koͤnigliche geſetzt. Jede Auflehnung wider dieſen 
Supremat ſollte Hochverrat ſein, Hochverrat auch jede Beſtreitung der 
Guͤltigkeit der neuen Che mit Anna Boleyn und der alleinigen 
Erbfolgeberechtigung der aus dieſer Ehe entſproſſenen Prinzeſſin 
Eliſabeth. 

Damit war die neue „anglikaniſche“ Kirche fertig, eine Kirche, welche 
ſich von derjenigen des Mittelalters einzig dadurch unterſchied, daß an 
ihrer Spitze anſtatt des Papſtes ein weltlicher Regent ſtand, und zwar 
ein mit ſchrankenloſer Gewalt ausgeſtatteter: denn ſelbſt fuͤr das Gebiet 
des Glaubens war er die Quelle des Rechtes. Unter ſeiner Hut ſtanden 
damit, ſolange er nicht etwa ein neues, das bisherige abloͤſende Dogma 
ſchuf, auch die alten Ketzergeſetze. Und Heinrich VIII. war allerdings 
entſchloſſen, ſie zu handhaben. Kein Wunder daher, wenn jetzt Evangeliſche 
wie Papiſten gleichermaßen als Opfer fielen: die einen als Hochverraͤter 
gegen das alte Dogma der Kirche, die andern als Hochverraͤter gegen ihr 
neues Haupt. Wen dieſes Los traf, ob Feind oder Freund, das machte 
fuͤr den ſtarren, unerbittlichen, erbarmungsloſen Charakter Heinrichs 
nichts aus. So hatten ihre Treue gegen den Papſt auch zwei Maͤnner zu 
beſiegeln, die dem Koͤnig einſt nahe geſtanden hatten: im Sommer 1535 
endeten ſtandhaften Mutes auf dem Schafott der Biſchof von Rocheſter 
John Fiſher und der große Humaniſt Thomas Moore — dieſer war, 


315 


Weſteuropa und der Caloinis mus 


nachdem 1529 Kardinal Wolſey den Intrigen der Anna Boleyn und 
ſeinem Ungeſchick, die Leidenſchaft ſeines Herrn zum Ziele zu fuͤhren, 
erlegen war, als deſſen Nachfolger einige Jahre hindurch Kanzler des 
Koͤnigs geweſen, jener Heinrichs Beiſtand in ſeinem literariſchen Zwei⸗ 
kampf mit Martin Luther. Beide hielten noch immer feſt an der Recht⸗ 
maͤßigkeit der erſten Ehe Heinrichs. Das ließ alle ihre Verdienſte 
erbleichen. 

Dieſer Herrſcher verlangte ruͤckhaltloſe Hingabe. Sein Mann war, 
wer das neue Dogma vom koͤniglichen Supremat am ſcharfſinnigſten 
zu begründen, ihn ſelber am umfaſſendſten in die Praxis einzuführen 
wußte. Das verſtanden zwei Maͤnner, die eben dadurch tief in die Gunſt 
des Koͤnigs ſich einniſteten und beide tief in das Geſchick Englands ein⸗ 
gegriffen haben: Cromwell und Cranmer. 

Thomas Cromwell, eines Handwerkers Sohn, ſchon von Wolſey 
als ein brauchbares Werkzeug erprobt, war von Heinrich zum Lordkanzler 
gemacht und 1535 auch zu ſeinem „Vikar“ im Regimente der Kirche. 
Der engliſche Kardinal Pole will aus Cromwells eigenem Munde das 
offene Bekenntnis zu den Grundſaͤtzen Macchiavellis vernommen haben. 
Es iſt keine Frage, daß er nach ihnen in der Behandlung ſeines Herrn 
verfahren iſt. Er kannte keine wichtigere Aufgabe als mit allen Mitteln 
die Macht des Koͤnigs zu heben und hierfuͤr namentlich auch die ihm als 
Verwalter des koͤniglichen Supremates verliehene Macht auszubeuten. 
Er iſt es, der gegen das widerſpenſtige Moͤnchtum einen Vernichtungs⸗ 
krieg unternahm: er hat in den Jahren 1535 und 1539 über 600 Kloͤſter, 
darunter die groͤßten und reichſten Abteien, zu Gunſten der Krone ein⸗ 
gezogen. Dieſe Saͤkulariſierung großen Stiles, bei der übrigens auch der 
Adel nicht leer ausging, war nicht nur ein maͤchtiger Schritt vorwaͤrts 
auf dem Wege der Losreißung Englands von Rom, nein, ſie zerſtoͤrte 
zugleich eine der ſtaͤrkſten Säulen des Katholizismus im Lande und iſt 
auch fuͤr die wirtſchaftliche Zukunft Britanniens von einſchneiden⸗ 
der Bedeutung geworden: ein Teil der reichen Einnahmen fand gleich 
damals zum allgemeinen Beſten Verwendung, indem der König 
eine große Anzahl von Kuͤſtenplaͤtzen befeſtigte und die Flotte ver⸗ 
mehrte. 

Als Kanzler verfolgte Cromwell das Streben, ſeinen Herrn in eine 
moͤglichſt enge Verbindung mit den deutſchen Proteſtanten zu bringen 
(er war der Stifter der Ehe mit der Cleveſchen Prinzeſſin, was dann ſchon 
1540 zu Sturz und Hinrichtung des allmaͤchtigen Mannes fuͤhrte); ja, 


316 


Die kirchliche Umwaͤlzung in England 


er galt wohl gar als Freund der Reformation. Sicher hat an ihm der 
zweite Guͤnſtling Heinrichs, Thomas Cranmer, in ſeiner vorſichtigen 
Arbeit fuͤr die Reformation der Kirche eine Stuͤtze gehabt. 

Cranmer war, damals Profeſſor der Theologie zu Cambridge, dem 
Koͤnig in den Noͤten ſeiner Irrung mit dem Papſt durch klugen Rat 
nuͤtzlich geworden und deshalb 1533 zum Erzbiſchof von Canterbury 
erhoben. Gewandt, geſchmeidig (wir wuͤrden hinzufuͤgen: charakterlos, 
haͤtten wir es nicht mit einer undurchſichtigen, problematiſchen Natur zu 
tun), hat er, ungeachtet ſeiner Hinneigung zum deutſchen Proteſtantis⸗ 
mus, ſich dauernd in der Gunſt ſeines Herrn behauptet. Was hat ihm 
das ermöglicht? Etwa die Geſchicklichkeit, die er bei der Scheidung 
der verhaßten Ehe des Koͤnigs mit der Spanierin bewies, die er von 
neuem bewaͤhrte, als es darauf ankam, die Unguͤltigkeit der Ehe der 
Königin Anna Boleyn zu erhaͤrten? oder der unausgeſetzte Eifer, mit 
welchem er die Suprematie des Koͤnigs als einen ſchriftgemaͤßen 
Glaubensſatz verfocht und in ſeinem Kirchenamte uͤberall zur Anerken⸗ 
nung brachte? 

Genug, es iſt ihm das Außerordentlichſte gelungen, unter der 
Regierung des ſtarren altkirchlichen Deſpoten wenigſtens eine fluͤchtige 
Epoche einer Reformation nach deutſchem Vorbilde heraufzufuͤhren. Ein 
aus zehn Artikeln beſtehendes Geſetz von 1536 fuͤhrte eine Reform der 
Lehre im Anſchluß an die Augsburgiſche Konfeſſion durch, ohne im Kultus 
etwas zu aͤndern. Es war das gemeinſame Werk Cranmers und einer 
Anzahl von Biſchoͤfen, welche den deutſchen Proteſtantismus mit ungleich 
groͤßerer Kraft und Entſchiedenheit vertraten als er ſelbſt. 

Allein ſchon 1539 kam es in der ſog. „blutigen Bill“ zu einem ſtarken 
Ruͤckſchlage und zu neuer Verfolgung der Evangeliſchen. Die altkirchliche 
Partei hatte wieder einen entſcheidenden Einfluß auf den Koͤnig gewonnen, 
der uͤbrigens Gelegenheit gehabt hatte, ſich davon zu uͤberzeugen, daß die 
Maſſe ſeines Volkes noch feſthalte an der alten Kirche. Es iſt gleichwohl 
auch noch in den letzten Jahren Heinrichs (er ſtarb im Januar 1547) zu 
Schwankungen gekommen. 

Überhaupt hat feine Regierung kein Ergebnis gezeitigt, welches nicht 
unter Umſtaͤnden noch wieder ruͤckgaͤngig gemacht werden konnte. Sein 
an einem inneren Widerſpruch krankendes Syſtem (eine Papſtkirche ohne 
Papſt) war fuͤr die beiden kirchlichen Parteien, die bei der allgemeinen, 
ganz Europa durchziehenden Bewegung auch hier aufgekommen waren, 
doch nur ein ſteter Anreiz, Klarheit zu ſchaffen: die eine mußte fuͤr die 


317 


Weſteuropa und der Calvinismus 


Zukunft der Reformation wirken, die andere fuͤr die Wiederanerkennung 
des Papſtes. 

Nach Heinrichs Tod wurde beiden Parteien nacheinander die Moͤglich⸗ 
keit zu Teil, zu zeigen, was ſie vermochten. 

Unter ſeinem naͤchſten Nachfolger, ſeinem 1537 geborenen Sohne 
Eduard VI. (154753) konnte Cranmer feine Gedanken einer kirchlichen 
Reform ausfuͤhren; unter dem Regiment ſeiner aͤlteſten Tochter, der 
„blutigen“ Maria, der Gemahlin Philipps II. von Spanien (155358), 
vermochte die Gegenpartei noch einmal unter Aufgebot der grauſamen 
Mittel des Mittelalters (auch Cranmer litt 1556 den Flammentod des 
Ketzers) die Papſtkirche aufzurichten. Maria hat doch faſt mehr als ihr 
Bruder Eduard die Bedingungen fuͤr ein proteſtantiſches England 
geſchaffen. Unter ihrer „katholiſch⸗ſpaniſchen“ Regierung wirtſchaftete 
das Syſtem der alten Kirche in England ab. Aber freilich ſollte noch eine 
lange Zeit vergehen, voll von den heftigſten, die Nation bis in ihre tiefſten 
Tiefen erregenden Erſchuͤtterungen, bis ſich an Stelle des Alten etwas 
Neues herausarbeitete. Davon weiß zumeiſt die Geſchichte des 17. Jahr⸗ 
hunderts zu erzaͤhlen. — 

Wie ſchnell, wie ruhig und wie ebenmaͤßig vollzogen ſich im Ver⸗ 
gleich hiermit die Eroberungen der deutſchen Reformation im Norden 
und Oſten von Europa, wenngleich ſelbſtverſtaͤndlich auch hier nicht ohne 
Kampf noch mannigfache Gewaltſamkeit. 

Schon vor Ausbruch des Schmalkaldiſchen Krieges war die 
Reformation in Daͤnemark und Schweden durchgedrungen, in Norwegen 
fuͤr die Zukunft geſichert; waren ihr Livland und das Herzogtum Preußen 
zugefallen, und ebenſo die deutſche Bevoͤlkerung der preußiſchen Staͤdte. 
Auch in Polen ſelbſt und in Litauen war ſie in unaufhaltſamem 
Vordringen, und nicht minder winkte ihr in Suͤdoſten der Sieg: in 
Ungarn und Siebenbuͤrgen. Wie weit verbreitet in den oͤſter⸗ 
reichiſchen Erblaͤndern die neuen religioͤſen Ideen waren, wie traurig 
es hier, trotz aller Gunſt von oben, um die alte Kirche beſtellt war, 
ſahen wir ſchon. 

Wir verſtehen jetzt die frohe Zuverſicht der deutſchen Proteſtanten, 
von der fruͤher die Rede war. Überall verfolgten ſie aufmerkſam den 
Siegeslauf ihrer Meinungen, auch die Hemmniſſe, auf die er ſtieß, wie 
in England und in den Niederlanden, in Frankreich und in Italien: 
die Schmalkaldener haben ſich um dieſe Zeit ſogar einmal bei dem Rate 
von Venedig ihrer Glaubensgenoſſen angenommen. 


318 


Die kirchliche Umwaͤlzung in England 


Dagegen verbarg ſich ihnen naturgemaͤß noch das Aufkommen 
jenes neuen, ihnen feindſeligen Geiſtes, welcher, von Spanien aus⸗ 
gehend, zunaͤchſt Rom ſich untertan machte, um dann ebenfalls ſeinen 
Zug durch Europa anzutreten. 

Noch durften ſie ſich den freudigſten Hoffnungen uͤberlaſſen — und 
dennoch ſtanden ſie hart vor einer Kataſtrophe, welche ſie fuͤr den Augen⸗ 
blick niederſchmettern und ihrem Glauben dauernd einen Teil ſeines 
Heimatlandes entreißen ſollte 


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VI. 
Die Kataſtrophe des 


9 


7 


8 Schmalkaldiſchen Krieges & 


und das Konzil von Trient >, 
1546/47 


1. Die Wendung zum Kriege. Karls Buͤndnis mit dem Papſt 


= ie Verbuͤndeten von Schmalkalden konnten ſich zu 
2 N Anfang der vierziger Jahre im allgemeinen nicht uͤber 
die Ungunſt der politiſchen Lage Europas beklagen. 
I. IN Die Macht Habsburgs im Oſten war lahm gelegt: 
hätten auch nicht die Osmanen fort und fort für die 

— Beſchaͤftigung Koͤnig Ferdinands geſorgt, er waͤre 
fuͤr den Fall eines Religionskrieges ſeiner Untertanen kaum ſicher geweſen, 
in Böhmen und Ungarn fo wenig wie in Ofterreich, Dagegen ſchienen 
die Proteſtanten uͤber betraͤchtliche Huͤlfskraͤfte zu verfuͤgen. Der Koͤnig 
von Daͤnemark war bereits im Bunde; der Eintritt von Schweden ſchien 


> 


-20 


Die Wendung zum Kriege. Karls Bündnis mit dem Papſt 


nahe bevorzuſtehen; vor allem aber, noch immer durften ſie ſich auf 
Franz von Frankreich ſtuͤtzen: ungeachtet ſeiner reformationsfeindlichen 
Politik im Innern, ſah er ſich auf ſie angewieſen: ſolange ſie auf ſeiner 
Seite ſtanden, wenigſtens nichts Feindliches gegen ihn unternahmen, 
ſeinen Todfeind Karl nicht unterſtuͤtzten, war dieſer ihm gegenuͤber 
machtlos. Endlich, auch England ſchien bei dem romfeindlichen Vor⸗ 
gehen Heinrichs VIII. durch ein gemeinſames Intereſſe mit ihnen ver⸗ 
bunden zu ſein. Die Achtung gebietende Stellung, welche ſie im Reiche 
inne hatten, kennen wir. Wir erinnern uns des verheißungsvollen 
Koͤlner Reformunternehmens wie der Zugeſtaͤndniſſe, die ihnen Karl 
1544 auf dem Reichstage zu Speier machte: ihre Zukunft ſchien geſichert. 

Trotz alledem hatten ſie damals bereits verſpielt, wenigſtens inſo⸗ 
weit, als ſie dem ihnen drohenden Kriege bald nicht mehr entgehen 
konnten, ja ihn ohne Verbuͤndete aufnehmen mußten. 

Eine Kette von politiſchen Fehlern ſtand in ihrem Schuldbuch. Sie 
lagen zum Teil weit zuruͤck; aber immer noch wirkten ſie als Macht des 
Unheils fort. 

Der aͤlteſte und ſchwerſte von ihnen war als mittelbare Folge aus 
der ſittlichen Schwaͤche eines der fuͤrſtlichen Fuͤhrer erwachſen. 

Großartiger als jeder andere Fuͤrſt und wahrlich nicht ohne eine 
wahre und warme Beteiligung des Herzens hatte Philipp von Heſſen 
die Reformation gefoͤrdert: er hat ſie, indem ihn im ſchwerſten Kampfe, 
dem mit dem eigenen Ich, die Kraft verließ, geſchaͤdigt wie kein zweiter: 
er hat den boͤſen Schein eines moraliſchen Makels auf ſie fallen laſſen 
(auch dadurch, daß er durch- Hineinziehen der Wittenberger Reformatoren 
in ſeinen haͤßlichen Handel fuͤr Manche bis auf den heutigen Tag das 
Bild Luthers getruͤbt hat), er hat, ohne ihr untreu werden zu wollen, 
ihren Siegeslauf in Deutſchland gehemmt. 

Die „tuͤrkiſche Ehe“, welche Landgraf Philipp am 4. Maͤrz 1540 
zu Rothenburg an der Fulda heimlich, doch in Gegenwart einer ſtatt⸗ 
lichen Schar von Zeugen einging, iſt ein Ereignis von ſo weit tragenden 
Folgen, daß ein genaueres Eingehen auf die naͤheren Umſtaͤnde geboten 
erſcheint — ſelbſt auf die Gefahr hin, daß dadurch der Schein einer 
kaum berechtigten Abſchweifung hervorgerufen wird. 

Zunaͤchſt, wie ſteht es mit der Behauptung, der ſittliche Charakter 
der Reformation habe Schaden genommen, indem Luther in dieſer 
heiklen Sache ſich in der Tat eines moraliſchen Fehltrittes ſchuldig gemacht 
habe? Oft hat man dies auch auf proteſtantiſcher Seite angenommen — 


21 Brieger, Reformationsgefchichte 321 


Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


ein Urteil, das jeden Proteſtanten mit einer gewiſſen Befriedigung 
erfuͤllen kann, da es Zeugnis ablegt fuͤr die Unbefangenheit, mit der wir, 
dem proteſtantiſchen Prinzip gemaͤß, hiſtoriſche Fragen zu entſcheiden 
gewohnt ſind. Aber, ob uns jenes Ergebnis unter dem angegebenen 
Geſichtspunkt willkommen iſt oder nicht, darauf kann es doch nicht ankommen, 
ſondern einzig auf das Bild, das uns bei einer ſorgſamen Befragung 
die Quellen zeigen. 

Da darf vor allem nach den Unterſuchungen der letzten Jahre als 
ausgemacht gelten, daß dieſes Bild auch nicht die leiſeſte Spur jenes 
haͤßlichen Zuges aufweiſt, in dem ſich die Summe aller Vorwuͤrfe 
zuſammenfaßt, die man gegen den Reformator erhoben hat: es haͤtten bei 
Luther in dieſer Sache politiſche Motive mit hineingeſpielt. Landgraf 
Philipp ſoll durch die Drohung, falls die Wittenberger ſeinem Begehr 
nicht willfahrten, Hilfe beim Kaiſer zu ſuchen, das Widerſtreben Luthers 
uͤberwunden haben. Wer den kuͤhnen, vor keiner Macht zuruͤckſchreckenden 
Helden ſich vergegenwaͤrtigt, wie ihn unſere Geſchichte bisher zu zeigen 
gehabt hat, muß es freilich von vornherein fuͤr durchaus unwahrſchein⸗ 
lich halten, der Verſuch ihn einzuſchuͤchtern habe diesmal, anſtatt ſeinen 
ganzen Trotz zu wecken, ausnahmsweiſe Erfolg gehabt. Wie wenig wuͤrde 
dies ſtimmen mit der Eigenart Luthers, wie ſchon klar blickende Zeit⸗ 
genoſſen ſie erkannt haben. So hat unter Anderen gerade auch Martin 
Bucer geurteilt, Philipps Mittelsmann, der wie kein zweiter in dieſen 
Handel verwickelt war und fuͤr ſeine Perſon leider politiſchen Einfluͤſſen 
nur zu leicht zugaͤnglich ſich gezeigt hat. „Doktor Luther“ — ſo ſchrieb er 
im Sommer 1540 an den Landgrafen — „iſt gewißlich ein Mann, bei dem 
ich nicht geraten acht, ihn zu uͤbertreiben; von ihm ſelbſt geht er weiter, 
fuͤhren laͤßt er ſich kuͤmmerlich, treiben gar nicht. Wo ihm aber Gewiſſens⸗ 
not und Gefahr goͤttlicher Wahrheit mag angezeigt werden, ſo daß er es 
wirklich vor Augen ſieht, da laͤuft er von ſelber und darf ihn niemand 
treiben“. In der Tat, je tiefer wir in alle die einzelnen Szenen dieſer 
mit dramatiſcher Lebendigkeit ſich abſpielenden Geſchichte eingedrungen 
find, deſto klarer hat ſich herausgeſtellt: wenn hier in bezug auf das 
politiſche Verhalten Luthers irgend etwas zu beklagen iſt, ſo dies, daß von 
einem ſolchen uͤberhaupt nicht die Rede ſein kann; denn leider hat er in 
dieſem Handel all und jede politiſche Ruͤckſicht ſo ganz und gar aus den 
Augen gelaſſen; ſonſt haͤtte er, ſo gut wie der Kurfuͤrſt und deſſen Kanzler 
Bruͤck, ſofort ſich ſagen muͤſſen, daß das einfachſte Gebot politiſcher Selbſt⸗ 
erhaltung es den Schmalkaldnern zur Pflicht mache, den Landgrafen mit 


322 


Die Wendung zum Kriege. Karls Bündnis mit dem Papſt 


allen Mitteln von dem unheilvollen Schritte zuruͤckzuhalten, der ihn mit 
dem Strafgeſetz in Konflikt brachte und ſo mit Notwendigkeit dem Kaiſer 
in die Arme treiben mußte. 

Wenn nun Luther dieſe Gefahr, deren Groͤße ſich ihm ſicher nicht 
verhuͤllt hat, ohne Einfluß auf ſein Verhalten bleiben ließ, ſo muß eine 
Ruͤckſicht, weit erhaben uͤber alles, was Politik heißt, ihn getrieben haben. 
Und das iſt nun wirklich der Fall geweſen. 

Ein raſcher Überblick uͤber den Verlauf der Dinge mag uns das zeigen. 

Im Dezember 1539 erſchien in Wittenberg bei Luther und Melanch⸗ 
thon im Auftrage des Landgrafen ſein Vertrauensmann Martin Bucer 
mit einer Werbung, deren Inhalt uns aus der ihm mitgegebenen 
Inſtruktion bekannt iſt. Der Fuͤrſt ſchildert hier in grellen Farben eine 
Gewiſſensqual, die ihm ſein unkeuſches, laſterhaftes Leben viele Jahre 
hindurch bereitet habe, und gibt ſeinen feſten Entſchluß zu erkennen, 
ſich des einzigen erlaubten Mittels zu bedienen, das ihn nach Lage der 
Dinge „aus den Stricken des Teufels loͤſen“ koͤnne, der Heirat einer 
zweiten Frau. Auf das klarſte tritt aus dieſem Aktenſtuͤck hervor, daß 
Philipp von der Zulaͤſſigkeit des von ihm beabſichtigten Schrittes feſt 
uͤberzeugt war, ſomit trotz der lebhaften Schilderung ſeiner Gewiſſensnot 
in bezug auf dieſen Punkt keines „Gewiſſensrates“ bedurfte. Dem⸗ 
gemaͤß wollte er auch keineswegs den Rat der Reformatoren einholen, 
ſondern begehrte einfach ihr Zeugnis, daß ſein Vorhaben nicht wider 
Gott ſei. Hierin liegt zugleich, daß er dieſes Zeugniſſes nicht fuͤr ſich 
bedurfte, ſondern vielmehr zur Verwendung nach außen hin. Wie er ſich 
dieſe gedacht hat, koͤnnen wir heute urkundlich feſtſtellen. Er hat zweifel⸗ 
los einen doppelten Zweck verfolgt. Die Reformatoren ſollten ihm erſtens 
behuͤlflich ſein, die Bedenklichkeiten der „Perſon“ zu uͤberwinden, das will 
ſagen, der ehrgeizigen Mutter ſeiner Erkorenen, der Dresdner Hof— 
meiſterin Frau Anna von der Sale, geb. von Miltitz. Sie ſollten ihm 
zweitens aber auch der oͤffentlichen Meinung gegenuͤber Deckung gewaͤhren. 
Daher ſeine Forderungen, daß ſie oͤffentlich in Predigt und Schrift 
die Zulaͤſſigkeit ſeines Vorhabens bezeugen oder wenigſtens, falls 
das nicht opportun, ſeine heimliche Eheſchließung einſtweilen ſchriftlich 
billigen moͤchten und darauf bedacht waͤren, wie ſpaͤter die Sache 
an die Öffentlichkeit gebracht und die Erwaͤhlte als „ehrliche“ Nebengattin 
anerkannt werde. 

Wie hat nun die Antwort der Wittenberger darauf gelautet? Ihr 
„Ratſchlag“ vom ro. Dezember 1539 iſt kein Zeugnis der „Gelehrten“, 


21* 323 


Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


wie Philipp es wuͤnſchte, ſondern ein „Beichtrat“. Denn als eine Beichte 
faßten ſie die offenherzigen Geſtaͤndniſſe des Landgrafen auf. Wir haben 
Grund zu der Annahme, daß Bucer, der, wie wir ſahen, wußte, wo 
Luther am eheſten zu faſſen ſei, durch ſeine muͤndlichen Mitteilungen 
ſie in dieſer Auffaſſung beſtaͤrkte. So vernahmen ſie aus Allem nur Eins, 
den Schrei tiefſter Gewiſſensnot, und lediglich dieſem notleidenden 
Gewiſſen wollten ſie mit ihrem heimlichen Rat zu Huͤlfe kommen. Die Bitte 
des Landgrafen um ein oͤffentliches Zeugnis lehnen ſie in ſchonender, aber 
unzweideutiger Art ab: weder jetzt noch ſpaͤter darf die Sache in die 
Offentlichkeit gebracht werden. Jede oͤffentliche Anerkennung wuͤrde der 
geſetzlichen Einfuͤhrung der Polygamie gleichkommen, im Widerſpruch 
mit der goͤttlichen Einſetzung der Ehe als der Verbindung zweier Per⸗ 
ſonen. Gewaͤhrt werden kann nach der Heiligen Schrift nur eine heim⸗ 
liche „Dispenſation“, d. h. die heimliche, beichtweiſe erteilte Erlaubnis 
zur Eingehung einer zweiten Ehe, und auch dieſes nur fuͤr den Fall der 
Not. Ob dieſer Notfall vorliegt, überlaffen fie der eignen Entſcheidung 
des Fuͤrſten, dem ſie in ernſten und ſtrengen Worten die unerlaͤßliche 
Pflicht eines keuſchen Wandels zu Gemuͤte fuͤhren. Sie erteilen aber 
ſchließlich die Dispenſation durch die ausdruͤckliche Anerkennung, daß die 
Bigamie unter Umſtaͤnden — dank goͤttlicher Zulaſſung ſtatthaft ſei. 
Weiß die Perſon, die er nimmt, und wiſſen etliche vertraute Perſonen 
beichtweiſe des Fuͤrſten Gemuͤt, ſo iſt ſie zwar vor den Menſchen nur ſeine 
Konkubine, vor Gott aber ſein ehelich Weib; ſo iſt der Landgraf „vor 
Gott in einem beſſeren Stand“ und kann mit rechtem gutem Gewiſſen 
ſein Leben fuͤhren. 

Dabei war die Meinung der Reformatoren nicht, dem Fuͤrſten etwas 
an ſich Unrechtes zu erlauben, zur Verhuͤtung einer groͤßeren Suͤnde 
eine geringere zuzulaſſen. Denn um etwas unter allen Umſtaͤnden 
Unerlaubtes handelte es ſich ihrer Anſicht nach keineswegs. 

Aber wie waren fie zu dieſer Anſchauung gekommen, wie ins beſondere 
Luther? 

Hier hat vor allem ſeine eigenartige Stellung zur Bibel eingegriffen. 
Jede Scheidung der Ehe war ſeinem Verſtaͤndnis nach im Neuen Teſta⸗ 
ment verboten. Haͤtte Philipp von Heſſen um Scheidung von ſeinem 
Weibe nachgeſucht, Luther wuͤrde ihn ſchroff abgewieſen haben. Dagegen 
fand er die im Alten Bunde doch unter Umſtaͤnden geſtattete Polygamie 
im Neuen Teſtament nirgends verboten, ja an einer Stelle (1. Tim. 3, 2, 
wo von einem Biſchof verlangt wird, daß er Eines Weibes Mann ſei) 


324 


Die Wendung zum Kriege. Karls Bündnis mit dem Papſt 


mittelbar gebilligt. Denn nicht von der Deuterogamie, ſondern — wie 
z. B. Erasmus, Zwingli und fein alter Gegner von Augsburg, der Kar⸗ 
dinal Kajetan — verſtand er das Wort des Apoſtels. Wollen wir 
erfahren, was Gottes Wille und Gebot in dieſer Sache iſt, muͤſſen wir 
daher das Alte Teſtament zu Rate ziehen. Und das tut Luther mit voller 
Unbefangenheit, gut bibliziſtiſch, das will ſagen: ohne die Faͤhigkeit, 
die Frage hiſtoriſch zu erfaſſen. Denn das iſt ja ein hervorſtechender 
Charakterzug jenes bei Luther erklaͤrlichen, nach dem heutigen Stande der 
Wiſſenſchaft verwerflichen Biblizismus, deſſen uͤble Art auch heute noch 
nur zu ſehr im religioͤſen Leben der Laienwelt (und nicht bloß der 
ungebildeten) ſich geltend macht, daß Erzaͤhlungen der Bibel, auch des Alten 
Teſtaments, ohne jede geſchichtliche Würdigung naiv für das religiöfe 
und ſittliche Leben verwertet werden. 

Entſcheidend war fuͤr Luther die Wahrnehmung, daß einzelne heilige 
Maͤnner des Alten Bundes mehr als ein Weib gehabt haben, ohne daß 
die Heilige Schrift dieſes an irgend einer Stelle tadelte — vorab Abraham, 
deſſen Glaube doch im Neuen Teſtament als Exempel hingeſtellt wird, 
und der nach Luther ein rechter evangeliſcher Mann war und ſein Leben 
nach Gottes Wort fuͤhrte. 

Luthers Folgerung hieraus, daß die Polygamie unter gewiſſen 
Umſtaͤnden ausnahmsweiſe zulaͤſſig ſei, koͤnnen wir in voller Deutlichkeit 
bis zum Jahre 1523, ja dem erſten Anſatze nach noch einige Jahre weiter 
zuruck verfolgen. Es hat in all dieſer Zeit nicht an Anlaͤſſen für den 
Reformator gefehlt, dieſe ſeine eigenartige Stellung zur Doppelehe 
darzulegen. Einen ſolchen brachte z. B. das Jahr 1531, indem die 
Wittenberger Theologen von England aus zu einem Gutachten uͤber die 
Eheangelegenheit Heinrichs VIII. aufgefordert wurden. In vollem Ein⸗ 
klang hatten ſich da Luther und Melanchthon (desgleichen der Straß⸗ 
burger Reformator Martin Bucer) dahin geaͤußert, daß eine Scheidung 
in dieſem Falle unmöglich ſei, nicht ganz unmöglich dagegen der früher 
wohl vom Koͤnig ſelber erwogene Ausweg einer Doppelehe. In dieſem 
unparteiiſchen, voͤllig unintereſſierten Ratſchlag trafen die Wittenberger — 
wen ſollte es nicht uͤberraſchen? — mit dem intereſſierteſten Diplomaten 
zuſammen, ihrem Antipoden, dem Papſt! Es iſt bekannt, daß Clemens VII. 
in die Aufloͤſung der Ehe Heinrichs VIII. mit Katharina von Aragonien 
unter keiner Bedingung willigen wollte, teils aus Ruͤckſicht auf den Kaiſer, 
ihren Neffen, teils aus Ruͤckſicht auf das Andenken ſeines Vorgaͤngers 
Julius“ II., welcher durch einen paͤpſtlichen Dispens den Abſchluß dieſer 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


Ehe uͤberhaupt erſt ermoͤglicht hatte. Der Papſt kam ſich vor wie zwiſchen 
Hammer und Amboß. In dieſer Lage hat er wiederholt den engliſchen 
Geſandten den Weg der Bigamie als gangbar empfohlen. „Viel weniger 
ſkandaloͤs als eine Eheſcheidung“, ſo ließ er ſich vernehmen, „waͤre ein 
Dispens geweſen, der dem Könige geſtattete, zwei Frauen zu haben“. 
Für feine Befugnis, „zur Vermeidung eines größeren Übels einen fol, 
chen „Dispens“ zu erteilen, berief ſich Clemens auf die Meinung eines 
„großen Theologen“ der Kurie, zweifellos des Kardinals Kajetan. 

Der Papſt wuͤrde, falls er ſchließlich dieſes Mittel fuͤr opportun 
gehalten haͤtte, kraft der Vollmacht des oberſten Prieſters „dispenſiert“ 
haben, Luther, der dieſen Dispens wirklich erteilte, handelte nicht minder 
kraft prieſterlicher Vollmacht. 

Denn — wir wiſſen es bereits — ſeine ſonderbare theologiſche 
Meinung, welche zwar von Melanchthon und Bucer geteilt, von anderen 
ſeiner Anhaͤnger entſchieden gemißbilligt wurde, ſollte nicht Theorie 
bleiben. Sie wuͤrde ſonſt heute keine groͤßere Beachtung finden als ſo 
manche andere irrtuͤmliche Vorſtellung des Reformators, die wir aus 
ſeiner Zeit ſehr wohl zu erklaͤren vermoͤgen. Luther hatte ja, fern von 
jedem Argwohn, daß der Landgraf die ungeheure Autoritaͤt der Witten⸗ 
berger nur als Vorſpann fuͤr ſein ſelbſtiſches Beginnen mißbrauchen 
wolle, aus der Beichte des Fuͤrſten nur Eines herausgehoͤrt: hier gelte es, 
einem zermarterten Gewiſſen zu Huͤlfe zu eilen. So arg er auch erſchrocken 
fein mochte über die heilloſe Sache, die leicht das ſchlimmſte Ärgernis 
gebaͤren konnte — er mußte es retten. Nicht „williglich und gern“, ſo 
ſchrieb er ein halbes Jahr ſpaͤter an ſeinen Landesherrn, habe er es 
getan: „Es iſt uns herzlich ſchwer genug geweſt, aber weil wir es nicht 
haben koͤnnen wehren, dachten wir doch das Gewiſſen zu retten, wie wir 
vermochten“. 

Noch immer fuͤhlte er ſich als Beichtprieſter. Unbefangen hatte er 
die Taͤtigkeit eines ſolchen als Reformator fortgeſetzt, nur aus ſeiner neuen 
evangeliſchen Einſicht heraus. So, wenn er, um nur ein Beiſpiel 
anzufuͤhren, etlichen Pfarrern, die unter dem Herzog Georg von Sachſen 
oder auch unter Biſchoͤfen ſtanden, den Rat gegeben, ihre „Koͤchin“ heim⸗ 
lich zu ehelichen, ſo daß ſie vor Gott Mann und Frau ſeien und ſo 
befreit von ihrem boͤſen Gewiſſen. Damit konnte und wollte er ſie nicht 
ſchuͤtzen vor der weltlichen Gewalt, wenn dieſe, im Unterſchied von dem 
Verfahren des Kurfuͤrſten Friedrich, die Übertretung des kirchlichen Ver⸗ 
botes der Prieſterehe beſtrafte. 


326 


Die Wendung zum Kriege. Karls Bündnis mit dem Papſt 


So unterſchied er auch jetzt mit aller Beſtimmtheit zwiſchen dem 
Gewiſſensrat, den er geben koͤnne, und der ſeiner Natur nach ſchlechthin heim⸗ 
lich war, und einer oͤffentlichen (rechtlichen) Erlaubnis, deren Erteilung 
ihm nicht zukomme; jener ſollte ſich allein uͤber das ausſprechen, was 
vor Gott gelte, d. h. in beſonderer Lage in Gottes Augen nicht Unrecht 
ſei, waͤhrend eine Erlaubnis von Rechts wegen nur von der hoͤchſten 
irdiſchen Gewalt, dem Huͤter des poſitiven Rechtes, dem Kaiſer, aus⸗ 
gehen konnte. Es war die landlaͤufige Unterſcheidung der mittelalterlichen 
Beichtpraxis, in der er alt geworden war. 

Niemand wird verkennen, daß die Auseinanderhaltung der Sphaͤre 
des Gewiſſens und derjenigen des poſitiven Rechtes einen guten Sinn 
hatte. Dennoch mußte es den ſchwerſten Bedenken unterliegen, die 
Unterſcheidung in einem Falle durchzufuͤhren, wo das poſitive Recht in 
dem guten Glauben ſein durfte, ſich nicht nur mit dem chriſtlichen Urteil, 
ſondern auch mit dem natuͤrlichen Rechte zu decken, und wo, was fuͤr das 
Gewiſſen zugelaſſen wurde, niemals allgemein geltendes Recht werden 
konnte noch ſollte. 

Hier griff nun freilich als Schutzmittel die abſolute Heimlichkeit des 
Beichtrates ein, an der Luther — auch hierin haben wir ein Erbe ſeiner 
mittelalterlichen Erziehung zu erblicken — mit der aͤußerſten Strenge 
feſthielt: ſchlechthin durch nichts kann die Pflicht der Wahrung von Beicht⸗ 
geheimnis und Beichtrat gelockert werden. Der Beichtprieſter ſteht an 
Gottes Statt da, was ihm anvertraut wird, das weiß Gott allein; was 
er da an Rat erteilt, das ſpricht er im Namen Gottes: ſo ſpielt ſich, was 
hier vorgeht, ab zwiſchen Gott und dem Innerſten der Seele; es iſt eine 
Gewiſſensſache, welche die Welt nichts angeht, ihr Verrat an Andere von 
ſeiten des Prieſters ſomit „Treubruch gegenuͤber Gott“. Denn was nur 
vor Gott (in einem beſtimmten Ausnahmefall) erlaubt iſt, nicht aber vor 
der Welt, das muß auch bei Gott allein bleiben. Dieſe durchaus korrekte 
Haltung des mittelalterlichen Beichtprieſters hat Luther (das hat noch 
die neueſte Unterſuchung, diejenige Walther Koͤhlers, in das hellſte Licht 
geſetzt) mit der ihm in allem, was ſeinen Gott anging, eigenen Uner⸗ 
ſchuͤtterlichkeit und Ruͤckſichtsloſigkeit bis in ihre aͤußerſten Konſequenzen 
durchgefuͤhrt. „Ein frommer Beichtvater ſoll und muß ſagen oͤffentlich 
vor Gericht, er weiß nichts darum, was er von heimlicher Beichte gefragt 
wird“; niemand duͤrfe vom Geiſtlichen verlangen, daß er ſich zu ſeiner 
„Beichtdispenſation“ bekenne; das heimliche Ja habe zu ſeiner Kehr⸗ 
ſeite ein oͤffentliches Nein; wenn die Leute ſagten, der Landgraf habe 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


eine zweite Frau geehelicht, ſo ſei dies nicht wahr, weil ſie eben 
vor der Offentlichkeit nicht ſein Eheweib, ſondern nur ſeine Konkubine 
ſei (dank der prinzipiellen Heimlichkeit der Ehe). So konnte Luther 
auf Grund dieſer gut mittelalterlich⸗kaſuiſtiſchen Theorie im Sommer 
1540, als die Sache ſeit Monaten ruchbar war, dem Landgrafen den Rat 
erteilen, die Ehe ſchlankweg zu leugnen, das will ſagen, das Beicht⸗ 
geheimnis zu wahren. Das war die „gute ſtarke Luͤge“, die er — nach 
einer heſſiſchen Niederſchrift — im Juli auf einer Konferenz zu Eiſenach 
dem Landgrafen zugemutet hat. 

Luther iſt an der prinzipiellen Richtigkeit ſeines Standpunktes niemals 
irre geworden. Er hat nicht nur im Sommer 1540 ſeinem Kurfuͤrſten trotzig 
geſchrieben: „wo mir ſolche Sache noch heutiges tags fuͤrkaͤme, wuͤßte ich 
nicht anders zu raten, denn wie ich geraten hab“, ſondern er hat ſich auch 
noch in den folgenden Jahren wiederholt aͤhnlich geaͤußert. Noch mehr, 
er hat bei einer beſonderen Gelegenheit im Jahre 1542 noch einmal ſich 
geradezu zu der Dispenſation des Wittenberger Ratſchlages bekannt. 

Indeſſen nur von der grundſaͤtzlichen Zulaͤſſigkeit ſeines Verfahrens 
iſt Luther uͤberzeugt geblieben. 

In dem naͤmlichen Briefe an ſeinen Fuͤrſten, in dem er dieſer über; 
zeugung Ausdruck gibt, läßt er durchblicken, daß er in bezug auf die Not; 
lage des Heſſen das Opfer ſeiner Vertrauensſeligkeit geworden ſei. Er 
hatte naͤmlich Kunde von einem Verhaͤltnis Philipps erhalten, die ihm 
deſſen „Beichte“ in einem hoͤchſt zweifelhaften Licht erſcheinen ließ. 
Daher fährt er fort: haͤtte er gewußt, was er jetzt erſt erfahren, dann ſollte 
ihn „freilich kein Engel zu dieſem Rat gebracht haben“. (Auf Melanch⸗ 
thon wirkte damals die Einſicht, daß der Landgraf die Wittenberger hinter⸗ 
gangen habe, ſo erſchuͤtternd, daß er in eine ſchwere Krankheit verfiel.) 
Fuͤr Luther hat dadurch — wir verſtehen es — die ganze Sache ein anderes 
Ausſehen gewonnen, und ſo konnte er fuͤnf Wochen ſpaͤter ſein Ver⸗ 
fahren auch unter dem Geſichtspunkt bedauern, daß ein ungeheures 
Argernis aus dem Handel zu erwachſen drohte. Er iſt damals bereit 
geweſen, wenn ſein Beichtrat an die Offentlichkeit gelangen ſollte, im Not⸗ 
fall feinen Fehler („daß ich geirret und genarret [d. h. als ein Tor 
gehandelt] hätte“) öffentlich einzugeſtehen. So die Erklarung, welche er als 
fein letztes Wort auf der Eiſenacher Konferenz dem Landgrafen ſchriftlich 
gab. Was ein öffentliches Eingeſtaͤndnis dieſer Art für ihn bedeute, emp⸗ 
fand er ſehr wohl. Er aͤußerte, er werde wohl damit Schande auf ſich 
laden, aber Gott koͤnne ihm wohl Ehre dafuͤr wieder ſchenken. 


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Die Wendung zum Kriege. Karls Bündnis mit dem Papft 


Es iſt ihm erſpart geblieben, ſich in dieſer Weiſe zu demuͤtigen. 
Denn ſeine Zeitgenoſſen haben uͤber ſeinen Anteil an dem Schritt Philipps 
niemals etwas Sicheres erfahren. Wohl hat Heinrich von Braunſchweig, 
durch den Dresdner Hof in das Geheimnis eingeweiht, laut genug es 
auspoſaunt. Aber bei ſeinem boͤſen Leumund fand er keinen Glauben. 

Überblicken wir noch einmal, wie ſich Luther in dieſer eigenartigen 
Lage feines Lebens uns darſtellt. Zweifellos ſprechen uns ſo manche Züge 
an, die uns ſonſt bei dem Helden der Reformation Bewunderung ent⸗ 
locken: der Mut, mit dem er ſich uͤber alle politiſchen Ruͤckſichten hinweg⸗ 
ſetzt, die Waͤrme ſeines Empfindens, die Unerſchuͤtterlichkeit, mit der er 
an ſeinem prinzipiellen Standpunkt feſthaͤlt, nicht zuletzt die Bereitwillig⸗ 
keit, einen Mißgriff vor aller Welt einzugeſtehen. So haben wir in ſitt⸗ 
licher Hinſicht auch in dieſer Sache uns ſeiner wahrlich nicht zu ſchaͤmen. 
Sein Schild iſt blank. 

Gleichwohl ſehen wir ihn nicht auf der Hoͤhe ſeines Berufes. Er ſteckt 
in einem Irrtum, den er nicht erkannt hat, er macht ſich eines Fehlgriffs 
ſchuldig, der ihm ſeiner wahren Natur nach verborgen bleibt. 

Zwar die Irrgaͤnge des Theologen wuͤrden nicht allzu ſchwer ins 
Gewicht fallen, hätte nicht — das dürfte das Entſcheidende geweſen fein — 
in kritiſcher Stunde an Stelle des Reformators der Beichtvater von ehe⸗ 
dem die Fuͤhrung gewonnen. So ſpielt ſich hier in den Anfaͤngen der 
Reformation ein Stuͤck Mittelalter ab, das uns, um von dem tragiſchen 
Ausgang abzuſehen, hoͤchſt ſonderbar anmutet. 

Und das iſt das allgemeine Intereſſe, welches an dieſem Ereignis, 
ſoweit es Luther in ſeinen Strudel mit hinabgezogen hat, haftet. 

Eine Geſchichte unſeres Zeitalters, welche den Helden der Refor⸗ 
mation gezeichnet hat, wieſe eine empfindliche Luͤcke auf, zeigte ſie nicht 
an einem in die Augen ſpringenden Beiſpiel, wie der Reformator doch 
nicht vermocht hat, das neue religioͤſe und ſittliche Prinzip, welches 
wir ihm verdanken, zu jeder Zeit und in jeder Lage zur Geltung zu bringen. 
Denn in der Tat, nur ein Beiſpiel von vielen haben wir hier vor uns, 
wenn auch ein ſozuſagen groteskes, wie es ſonſt nicht vorkommt. 

Aber koͤnnen wir es denn uͤberhaupt anders erwarten? Iſt Luther 
nicht der Anfaͤnger der neuen Zeit? Der Anfaͤnger iſt kein Vollender, 
und er hat wahrlich genug geleiſtet. Er hat das Weſen des Neuen in 
lichtvoller Klarheit herausgeſtellt, ſo daß es nicht ſchwer haͤlt, zu pruͤfen, 
was in ſeinen Anſchauungen und in ſeinem Verhalten mit dem Prinzip 
ſtimmt, was nicht, und zu erkennen, nicht nur, wo er als fehlbarer Menſch 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


geirrt oder geſtrauchelt, ſondern auch, wo, in zahlloſen Einzelheiten, 
ihm ſelber unbewußt das Mittelalter in ihm fortgewirkt hat. 

Denn das war nun einmal ſein Los: er hatte zwei Zeitalter in ſeiner 
Bruſt zu tragen, das, welches er ſelber heraufgefuͤhrt, und das, in welchem 
er herangereift war. Wohl hatte er dieſes zertruͤmmert, mit gigantiſcher 
Kraft. Aber es waͤre ein uͤbermenſchliches Werk geweſen, nun auch den 
Schutt der Truͤmmer der ungeheueren Welt des Mittelalters reinlich 
hinwegzuraͤumen und alles auszukehren, was alt und abgetan war. 
Dieſe Aufgabe, das evangeliſche Chriſtentum zu ſaͤubern von den über; 
reſten einer vergangenen Epoche, hat er den Kindern feines Geiſtes 
hinterlaſſen. Sie mochte wohl leicht erſcheinen und klein im Vergleich 
zu dem, was er getan. Und doch, ſie harrt noch heute der Loͤſung. Denn 
lange hat ſie ſich verhuͤllt, und erſt unſere Zeit beginnt ſie klarer zu 
erkennen. — — 

Doch kehren wir jetzt zu dem Haupthelden des tragiſchen Spieles 
zuruͤck. 

Koͤnig Chriſtian von Daͤnemark fand mit Recht, die Wittenberger 
Gelehrten haͤtten dem Landgrafen mehr ab als zu der Sache geraten. 
Aber es war nicht anders möglich, Philipp las aus dem „Ratſchlag“ nur 
heraus, was ihm gefiel: die Erlaubnis fuͤr den Fall der Not, uͤber 
deſſen Vorhandenſein zu entſcheiden ſeinem eigenen Gewiſſen uͤberlaſſen 
blieb. 

Er beeilte ſich jetzt, nachdem inzwiſchen auch ſeine Gattin Chriſtine 
ihre Zuſtimmung gegeben, die Erwaͤhlte heimzufuͤhren. Die Ungluͤck⸗ 
liche war ein Hoffraͤulein ſeiner Schweſter, der Herzogin von Sachſen 
zu Rochlitz, die ſiebzehnjaͤhrige Margaretha von der Sale. Kaum ein 
Vierteljahr war vergangen und es wußte Freund und Feind um die 
Sache; in den Haͤuſern der Bauern, in den Wirtsſtuben der Staͤdte, 
an den Fuͤrſtenhoͤfen war ſie der Gegenſtand des Tagesgeſpraͤches. Auch 
der paͤpſtliche Nuntius berichtete ſie Mitte Juni nach Hauſe, und er durfte 
hinzufügen, König Ferdinand halte das Ereignis für hoͤchſt bedeutſam, 
da es leicht zu einer Spaltung der Lutheriſchen Fuͤrſten fuͤhren koͤnne. 

Wie heftig man dagegen ganz allgemein auf evangeliſcher Seite 
erſchrocken war, koͤnnten wir uns auch ohne die vielfache Bezeugung vor⸗ 
ſtellen. Man empfand den Vorgang als ein moraliſches Argernis der 
ſchlimmſten Art, als einen Schimpf, welcher der heiligen Sache angetan. 
Herzog Ulrich von Wuͤrttemberg verſchwieg dem Landgrafen nicht: unter 
allen Widerwaͤrtigkeiten, die ihm begegnet, habe ihn keine Sache haͤrter 


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Die Wendung zum Kriege. Karls Bündnis mit dem Papſt 


erſchreckt, ſei ihm keine zu Gemuͤt gegangen wie dieſe. Kurfuͤrſt Joachim 
meinte, „es muͤſſe dem Teufel viel Arbeit gekoſtet haben, um dem Evan⸗ 
gelium einen ſolchen Klotz in den Weg zu werfen“. In Straßburg aͤußerte 
man die Beſorgnis, es werde dadurch kein geringerer „Anſtoß wider das 
Evangeli erweckt“ werden als durch den Bauernaufruhr und die Muͤn⸗ 
ſteriſche Wiedertaͤufererhebung. Wie bittere Wahrheiten mußte ſich doch 
Philipp ſamt ſeinen Hintermaͤnnern, den Wittenberger Theologen, die 
jetzt als ſeine Mitſchuldigen an den Pranger geſtellt wurden, von Heinz 
von Wolfenbuͤttel ſagen laſſen, der, ſeine ſchamloſe Maͤtreſſenwirtſchaft 
dreiſt ableugnend, ſich zum Verteidiger des chriſtlichen Geſetzes aufwarf. 
Ranke hat hier die Betrachtung angeſtellt, „welche Schwierigkeit fuͤr die 
Durchfuͤhrung der reformatoriſchen Gedanken, deren letztes Fundament 
ein religioͤs⸗moraliſches war, darin lag, daß die Verfechter desſelben, 
an die man den Anſpruch machte, dieſe Prinzipien in ihrem Leben dar⸗ 
zuſtellen, das doch keineswegs immer leiſteten. Sie waren Kinder einer 
rohen mit Gewaltſamkeit und Fehde erfuͤllten Zeit: kraͤftige Naturen, 
aber ihrer Leidenſchaft wenig Meiſter“. Gewiß werden wir unſerm großen 
Hiſtoriker auch zuſtimmen, wenn er ausruft: „Wer koͤnnte die Wirkung 
ermeſſen, welche ein Argernis dieſer Art, das aus der Partei hervor⸗ 
ging, die in vorzuͤglichem Grade chriſtlich zu ſein behauptete, auf die 
Stimmung der Gemuͤter in aller Welt hervorgebracht hat?“ Allein, es 
iſt merkwuͤrdig, nur wenig von dieſem nicht abzuwaͤgenden Nachteil 
tritt uns in jenen Jahren entgegen. In Streitſchriften iſt, wenn wir 
von Heinrich von Wolfenbuͤttel abſehen, die Sache damals kaum aus⸗ 
gebeutet worden: erſt viel ſpaͤter hat ſich die roͤmiſche Polemik des fuͤr ſie 
unſchaͤtzbaren Stoffes bemaͤchtigt, welcher im Gegenſatz zu der Alltaͤglich⸗ 
keit des grob unmoraliſchen Lebens ſo vieler Praͤlaten der Zeit, mit dem 
die Gegner aufwarteten, den Reiz des Pikanten, ja Ungeheuerlichen bot. 
Das Eine iſt ja ſelbſtverſtaͤndlich: die der Reformation ohnehin Abgeneigten 
ſahen ſich durch den Vorgang beſtaͤrkt in ihrer Meinung von dem 
unchriſtlichen und alle Ordnungen des Lebens untergrabenden Charakter der 
Bewegung. Dennoch iſt dieſe, wie wir bereits wiſſen, keinen Augenblick 
ins Stocken geraten. Auch die unvergleichliche Autoritaͤt Luthers blieb 
unerſchuͤttert. Die große Maſſe des Volkes erfuhr (wir hoͤrten es ſchon) 
nichts von ſeinem Anteil an der Sache. Endlich auch Philipp von Heſſen 
galt, mochte auch momentan ſein Anſehen geſchwankt haben, bald wieder 
als der tapfere Fuͤhrer der Partei. Wir ſahen fruͤher, wie er 1544 zu 
Speier auf dem Reichstage der Held des Tages war. 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


Und dennoch hat ſeine Verfehlung auf das furchtbarſte ſich geraͤcht. 
Die politiſchen Folgen duͤrfen geradezu verhaͤngnisvoll genannt werden. 
In naher Zukunft ſchien dem deutſchen Proteſtantismus der Sieg zu 
winken. Schon dieſes eine Ereignis ſtellte ihn in Frage. 

Zunächſt erlitt das allerdings laͤngſt nicht mehr ungetruͤbte Einver⸗ 
nehmen Heſſens und Sachſens einen argen Stoß. Philipp hatte „die 
Pein gezwiefachter Ehe verwirkt“. Er mutete daher ſeinem Bundesgenoſſen 
zu, ihm gegen den Kaiſer beizuſtehen, falls dieſer ihn wegen ſeines Ver⸗ 
ſtoßes gegen das Reichsgeſetz zur Rechenſchaft ziehen wuͤrde. Johann 
Friedrich lehnte das rundweg als gegen ſein Gewiſſen ab: um dieſer 
Sache willen duͤrfe er „kein Schwert ziehen“. 

So glaubte Philipp ſich in die Notwendigkeit verſetzt auszufuͤhren, 
womit er ſo manches Mal gedroht hatte: er warf ſich dem Kaiſer in die 
Arme. Es war, wie Friedrich von Bezold treffend ſagt, der Schritt „von 
privater zu politiſcher Unſittlichkeit“; denn „grade darin druͤckt ſich das 
Verhaͤngnis Deutſchlands in jener Zeit am deutlichſten aus, daß der 
Anſchluß eines Reichsfuͤrſten an feinen Kaiſer etwas politiſch Unſittliches 
an ſich tragen konnte“. Der Landgraf beruhigte ſein religioͤſes Gewiſſen, 
indem er ſich die Freiheit ſeines Glaubens ausdruͤcklich vorbehielt, ſein 
politiſches mit der taͤuſchenden Erwaͤgung, es bringe dem Proteſtantis⸗ 
mus ſogar Vorteil, wenn er Granvella, des Kaiſers führenden Miniſter, 
der ſich hoͤchſt entgegenkommend zeigte, „an der Hand behalte“, wie er 
naiv ſich ausdruͤckte. „An der Hand behalten“ wurde aber von dem 
ſchlauen Diplomaten vielmehr er, welcher bei dem Schirmherrn des Geſetzes 
Schutz ſuchte wider des Geſetzes Zorn. Und bald war er in Banden 
geſchlagen. Die Habsburger brauchten den, deutſchen Catilina“ (als ſolchen 
hatte ihn noch 1539 ein deutſcher Praͤlat dem Kardinal Aleander 
geſchildert) nicht mehr zu fuͤrchten. Im Gegenteil, ſie konnten ihn jetzt 
zu den wichtigſten Dienſten benutzen: er mußte den Bund von Schmal⸗ 
kalden in Ketten legen und fuͤr die ſelbſtherrliche Reichspolitik des Kaiſers 
freie Bahn ſchaffen. Nichts Geringeres naͤmlich bedeutete ein geheimer 
Vertrag, den Philipp im Sommer 1541 während des Regensburger Reichs⸗ 
tages mit Karl und Ferdinand abſchloß, wogegen der Kaiſer zum Ent⸗ 
gelt das Verbrechen des Fuͤrſten mit dem Mantel ſtillſchweigender Nach⸗ 
ſicht deckte. Werfen wir nur auf die wichtigſten Verpflichtungen einen 
Blick, welche der fruͤher ſo ſtuͤrmiſch vorwaͤrts draͤngende Fuͤhrer der 
Evangeliſchen auf ſich nahm. Er verſprach dafuͤr zu ſorgen, daß der 
Bund keine auswaͤrtige Macht in ſich aufnehme: ſchon war Daͤnemark 


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Die Wendung zum Kriege. Karls Bündnis mit dem Papſt 


darin, bald meldete ſich auch Schweden zum Eintritt; vor allem aber, 
konnten nicht auch Frankreich und England politiſchen Anſchluß ſuchen? 
Dem war jetzt ein Riegel vorgeſchoben! Zweitens machte er ſich anheiſchig, 
zu hintertreiben, daß Franz J. bei den deutſchen Proteſtanten Unter⸗ 
ſtuͤtzung faͤnde, ja verſprach, dem Kaiſer gegen den Rivalen Zuzug 
zu leiſten. Drittens endlich verhieß er, den Bund von der Unterſtuͤtzung 
des Herzogs von Cleve zuruͤckzuhalten. Keine zweite Sache lag damals 
dem Kaiſer mehr am Herzen als die Cleviſche. Wir ſahen fruͤher, er hatte 
ſich von Joachim II. als Preis fuͤr die Beſtaͤtigung der Maͤrkiſchen Kirchen⸗ 
ordnung die Zuſage geben laſſen, ihm gegen Cleve beizuſtehen. In der 
Tat handelte es ſich hier um die wichtigſte Frage der Reichspolitik. Herzog 
Wilhelm von Cleve und Juͤlich war jüngft durch Erbſchaft Herr von Gel⸗ 
dern geworden, nach deſſen Beſitz Karl ſeit lange ſtrebte, da es ſich wie ein 
Keil in ſeine Niederlande ſchob, und das er unter keiner Bedingung in 
der Hand eines Reichs fuͤrſten ſehen wollte. Ihn fo bald wie möglich nieder; 
zuwerfen war daher ein Hauptanliegen ſeiner Politik. Aber konnten die 
deutſchen Fuͤrſten die brutale Vergewaltigung eines aus ihrer Mitte ruhig 
mit anſehen? Sogar die geiſtlichen Fuͤrſten ſahen die deutſche „Freiheit“ 
(„Libertaͤt“ nannte man es) gefaͤhrdet. Vollends in den ſonſt ſo ſchwer⸗ 
faͤlligen Johann Friedrich kam Leben und Bewegung. Denn als Schwager 
des Herzogs verteidigte er in deſſen Rechten zugleich die ſeines Hauſes. 
Er, der fruͤher von Frankreich nichts hatte wiſſen wollen, war jetzt fuͤr 
ein Buͤndnis mit dieſer Macht, fuͤr die nachdruͤcklichſte Unterſtuͤtzung 
Cleves durch den Schmalkaldiſchen Bund. Es war eine klaͤgliche Ver⸗ 
leugnung ſeiner politiſchen Vergangenheit, wenn in dieſer kritiſchen 
Lage Philipp ſich von Frankreich fern zu halten verſprach und Cleve preis⸗ 
gab. Der Herzog war damit verloren. Nur eine Gnadenfriſt war ihm 
noch vergoͤnnt. Erſt im Sommer 1543 ſah ſich der Kaiſer in der Lage, 
ſein kriegeriſches Vorhaben auszufuͤhren. Inzwiſchen hatte Wilhelm 
von Cleve ſich auch mit der Reformation befreundet: er nahm das Abend⸗ 
mahl unter beiden Geſtalten und verhieß dem Beiſpiel des Erzbiſchofs 
von Koͤln zu folgen. Was waͤre da im Weſten noch fuͤr die alte Kirche uͤbrig 
geblieben? Er bewarb ſich um Aufnahme in den Bund von Schmalkalden. 
Schon die Pflicht der Selbſterhaltung erheiſchte, daß die Verbuͤndeten 
ſeine Sache zu der ihrigen machten. Sie durften es nicht! Wir wiſſen, 
weshalb. Der Landgraf hatte ſein Verſprechen einzuloͤſen. Auch Frank⸗ 
reich, mit dem Wilhelm im Bunde, ließ ihn im Stiche. Mit 40 000 Mann, 
darunter ein Fuͤnftel Spanier und Italiener, die in Freundesland, dem 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


Gebiete des Erzbiſchofs von Koͤln, auf das ſchamloſeſte hauſten, zog Karl 
gegen den Herzog. Vierzehn Tage ſpaͤter hatte der Krieg ein Ende. Wil⸗ 
helm von Cleve mußte auf Geldern verzichten, Juͤlich und Cleve, die er 
behielt, fuͤr die Reformation verſperren. 

Aber noch eine weitere, eine noch verderblichere Wirkung hat der 
Cleveſche Krieg gehabt — auf ſie hat Varrentrapp nachdruͤcklich hin⸗ 
gewieſen: der leichte Sieg hat den Kaiſer aufgeklaͤrt „über die Schwäche 
und die politiſche Unfaͤhigkeit der deutſchen Ketzer“ und ihm den Mut 
eingegeben, auch ſie mit Gewalt zu uͤbermeiſtern. Karl ſelber hat ſich 
daruͤber in ſeinen „Denkwuͤrdigkeiten“ ausgeſprochen: immer habe er 
die Überzeugung gehabt, es ſei unmoͤglich, eine ſolche Halsſtarrigkeit 
und eine ſo große Macht, wie die Proteſtanten ſie beſaßen, auf dem Wege 
der Strenge zu beugen; allein „die Beobachtung deſſen, was ſich hier 
zutrug, oͤffnete die Augen des Kaiſers und erleuchtete ſeinen Verſtand 
dermaßen, daß es ihm nicht bloß nicht mehr unmoͤglich vorkam, mit 
Gewalt einen ſolchen Hochmut zu baͤndigen, ſondern daß ihm dies ſehr leicht 
erſchien, wenn er es unter geeigneten Zeitumſtaͤnden und mit paſſenden 
Mitteln unternaͤhme“. 

Das will ſagen: er mußte ſie iſolieren und namentlich ihres fran⸗ 
zoͤſiſchen Ruͤckhaltes berauben. 

Auch fuͤr dieſen Zweck galt es jetzt vor allem, Frankreich ſelber nieder⸗ 
zuringen. Aber das konnte er nur mit deutſcher Huͤlfe, nicht ohne die 
Hülfe eben dieſer Proteſtanten, denen mittelbar der Krieg gegen Franz J. 
galt. Es war das Meiſterſtuͤck ſeiner Politik, daß er ſie im naͤchſten Jahre 
(1544) auf dem Speierer Tage durch die uns bekannten Zugeſtaͤndniſſe 
dazu vermochte, ihm die Mittel gegen ihren natuͤrlichen Verbuͤndeten zu 
bewilligen. Es war zugleich der Tiefpunkt ihrer politiſchen Gottverlaſſen⸗ 
heit. Denn Schlimmeres konnte ihr politiſches Unvermoͤgen nicht ver⸗ 
brechen: ſie ſelber halfen dem Kaiſer das ſtaͤrkſte Hindernis aus dem Wege 
raͤumen, das ihrer eigenen Niederwerfung im Wege ſtand. 

Der Kaiſer konnte jetzt den Kampf gegen Frankreich mit Nachdruck 
führen. Wozu er vor allem feinen Gegner bringen wollte, zeigen uns 
die geheimen Abmachungen des Friedens von Crépy, der bereits im 
Herbſt dieſes Jahres (1544) dem vierten franzoͤſiſchen Krieg ein Ziel 
ſetzte. Wir kennen ſie erſt ſeit ein paar Jahrzehnten. Ein einziger Blick 
auf ſie macht es begreiflich, daß die oͤffentliche Urkunde des Friedens 
von dieſen Verpflichtungen nichts wußte. Franz 1. leiſtete das Verſprechen, 
in Deutſchland keinerlei Buͤndnis einzugehen, am wenigſten mit den Pro⸗ 


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Die Wendung zum Kriege. Karls Bündnis mit dem Papſt 


teſtanten, was unmittelbar oder mittelbar, ausdruͤcklich oder ſtillſchwei⸗ 
gend die Religion betreffe. „Das war“, ſagt Baumgarten, „in der Tat 
fuͤr den Kaiſer die hauptſaͤchlichſte Bedeutung jenes Vertrages, daß 
Frankreich durch ihn gehindert werden ſollte, in Zukunft weder mit den 
Proteſtanten noch mit den Tuͤrken gemeinſame Sache gegen ihn zu 
machen!“. 

Seit dieſem Tage waren ſeine deutſchen Gegner, die Feinde der 
Religion, vereinſamt. Denn ſchon für dieſen letzten franzoͤſiſchen Krieg 
hatte der Kaiſer England auf ſeine Seite gezogen; ja, ſogar Daͤnemark, 
welches ſein politiſches Hauptintereſſe durch den Schmalkaldiſchen Bund 
nicht genuͤgend gewahrt ſah, war mit ihm ins Einvernehmen getreten. 
Es kam fuͤr ihn nur noch darauf an, ſich auch die Osmanen vom Halſe 
zu halten: ein im Herbſt 1545 zu Adrianopel abgeſchloſſener Stillſtand 
von achtzehn Monaten ſchuf die erwuͤnſchte Lage. 

Da endlich ſah der Kaiſer freies Feld vor ſich: der Waffentanz konnte 
beginnen. 

Er hat doch noch manches Mal geſchwankt, ob er ſich in das Wagnis 
ſtuͤrzen ſollte. Aber alle Bedenken uͤberwand fein Beichtvater, Pedro de 
Soto, ein Juͤnger des heiligen Dominicus: Niemand hat ſo eifrig und 
ſo unausgeſetzt zu dem gottſeligen Unternehmen des Religionskrieges 
den machtgewaltigen Sohn der Kirche aufgeſtachelt — „drei oder vier 
Jahre lang“, wie er ſich ſpaͤter ruͤhmte. 

Aber auch die Kirche ſelber ließ es an Anreizungen nicht fehlen. Wie 
feindſelig ſtanden ſich doch nach dem Speierer Tag von 1544 Papſt und 
Kaiſer gegenüber! Indeſſen ſchon der Friede von Erépy beſtimmte den 
Papſt, einzulenken. Karl und Franz waren hier eins geworden, gemeinſam, 
im Notfall auch ohne den Papſt fuͤr den Zuſammentritt des Konzils zu 
ſorgen und deſſen Beſchluͤſſen Geltung zu verſchaffen. Daraufhin hatte 
Paul III. ſich beeilt, das Konzil, mit dem er bis dahin nur ſein Spiel 
getrieben, von neuem auszuſchreiben: es ſollte auf deutſchem Boden, 
zu Trient — denn rechtlich zaͤhlte die welſche Stadt zum Reiche — im 
Frühjahr 1545 eröffnet werden. Er mußte vor allem darauf bedacht fein, 
die Synode in ſeiner Gewalt zu behalten. Das war das „freie“ Konzil, 
das die Kurie einzig dulden konnte. Denn hier war nicht bloß die alte 
Forderung der deutſchen Nation nach „einem freien, chriſtlichen Konzil 
auf deutſcher Erde“ abzuwehren, dieſe Bedingungen, von denen Luther 
dazumal kurz und bündig ſagte: „Diefe drei Worte: frei, chriſtlich, deutſch 
ſind dem Papſte und roͤmiſchen Hofe nichts denn eitel Gift, Tod, Teufel 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


und Hölle. Er kann fie nicht leiden, weder ſehen noch hören”. Nein, hier 
war auch Vorkehrung zu treffen gegen die unberechtigten Anſpruͤche des 
oberſten Schirmherrn der Kirche, welcher der Kirchenverſammlung ſein 
Reformprogramm aufdraͤngen und ſie damit zugleich ſeinen politiſchen 
Zwecken dienſtbar machen wollte. 

Gedachte der Papſt aber Einfluß auf den Kaiſer zu gewinnen, dann 
mußte er vor allem den faſt ſchon abgeriſſenen Faden wieder feſter knuͤpfen. 
Daher finden wir im Fruͤhjahr 1545 Pauls Enkel, den Kardinal Aleſſandro 
Farneſe, am Hofe des vor kaum einem halben Jahre ſo arg abgekanzelten 
Kaiſers zu Worms. Er ſollte das ſchroffe Auftreten ſeines Großvaters 
entſchuldigen und zugleich zoo ooo Dukaten für den Tuͤrkenkrieg anbieten. 
Bei dieſer Gelegenheit vertraute Karl dem Legaten ſein Geheimnis an, 
ſeine Abſicht, die Proteſtanten mit Gewalt unter die Kirche zu beugen, 
und verlangte die geiſtliche und weltliche Unterſtuͤtzung des Papſtes. 
Nichts Willkommeneres haͤtte dieſem begegnen koͤnnen. Hier tat ſich ja 
die Ausſicht auf, daß der Kaiſer, dem zur Zeit kein auswaͤrtiger Feind 
zu ſchaffen machte, wieder beſchaͤftigt wurde, indem er ſich in den gefaͤhr⸗ 
lichen Krieg mit den deutſchen Ketzern ſtuͤrzte. Wir verſtehen es daher, 
wenn Paul III. mit Feuereifer auf den Vorſchlag einging. Unverzuͤglich 
verhieß er, den Kaiſer mit 200 o00 Dukaten und 12 500 Mann, dazu 
durch die Bewilligung einer halben Million ſpaniſcher Kircheneinkuͤnfte 
zu unterſtuͤtzen. Konnte er uͤberhaupt beſſer ſeiner oberhirtlichen Pflicht 
gegen die Chriſtenheit nachkommen, als wenn er ſeine Golddukaten rollen 
und ſeine Truppen marſchieren ließ, um die Abgewichenen auf den rechten 
Weg zuruͤckzufuͤhren? — naturlich mit der heilſamen Macht des Zwanges, 
nachdem die ſanfteren Mittel der Abmahnungen und Warnungen, der 
Verurteilungen und Bannfluͤche erſchoͤpft waren. Daß bei dem Ganzen 
nebenbei noch etwas fuͤr ſein Haus abfiel — wer wollte es ihm groß ver⸗ 
argen? Bei der Gunſt der Lage trug er kein Bedenken, Parma und 
Piacenza, Gebiete des Kirchenſtaates, auf die aber auch das Reich noch 
immer Anſpruͤche erhob, ſeinem Sohne Pier Luigi zu uͤbergeben. Ein 
Fuͤrſtentum Farneſe war damit geſchaffen. 

Zum Abſchluß kamen die Verhandlungen aber erſt ein Jahr ſpaͤter, 
als der Entſchluß des Kaiſers, die Schmalkaldener zu bekriegen, unwider⸗ 
ruflich feſtſtand. Am 7. Juni 1546 ſchlug Karl in die ihm vom Papſt 
dargebotene Hand ein. Wiederum wie vor 25 Jahren zu Worms waren 
Herodes und Pilatus eins geworden. „Herodes und Pilatus“ — ſo hatte 
im Herbſt 1544 der Augsburger Stadtſchreiber Georg Froͤlich an den 


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Die deutſchen Helfer Karls V. Herzog Moritz von Sachſen. Die Kriegserklärung 


Landgrafen geſchrieben — „moͤgen nit anderſt einig werden, dann der 
frumme Chriſtus gebe das Leben drum“. Das Vatikaniſche Archiv 
bewahrt das Original der in Rom aufgeſetzten Vertragsurkunde: nicht 
ohne Bewegung betrachtet der proteſtantiſche Forſcher hier die Zuͤge der 
Unterſchrift des Herrſchers, der einſt von der deutſchen Nation mit Jubel 
begruͤßt ward und nun ſie — verriet. 

Freilich nicht ohne Unterſtuͤtzung aus ihrer eigenen Mitte! 

Wer aber gab ſich dazu her? Werfen wir einen Blick auf ſeine deutſchen 
Helfer, auf deren Gewinnung unmittelbar die Kriegserklaͤrung folgte. 


N 


2. Die deutſchen Helfer Karls V. Herzog Moritz von Sachſen. 
Die Kriegserklaͤrung von Kaiſer und Papſt 


aß Bayern fich jetzt an Karl anſchloß, wenn auch nur 
in einem geheimen (am 7. Juni abgeſchloſſenen) Ver⸗ 
(trage, kann uns nur uͤberraſchen, wenn wir uns der 
. > durch Jahrzehnte an den Tag gelegten Oppoſition gegen 
E = die Habsburger erinnern. 
Al Aber ſollten wir es fuͤr moͤglich halten, daß auch evan⸗ 
geliſche Fürsten es uͤber ſich vermochten, mit dem Todfeinde des 
Evangeliums gemeinſame Sache zu machen? 

Da waren zunaͤchſt zwei eifrig proteſtantiſche Hohenzollern: die 
Herzogin Eliſabeth von Braunſchweig⸗Calenberg und ihr Bruder, der 
Markgraf Johann von der Neumark; die eine ließ ihren Sohn, Erich ll., 
ins kaiſerliche Lager uͤbergehen, und auch der andere verſchrieb ſich dem 
Habsburger. Beide machte ihr Eifer fuͤr das Welfenhaus blind gegen 
das, was fuͤr Deutſchland auf dem Spiele ſtand. Bei Johann vermochten 
die Traͤnen der Frau mehr als die flehenden Worte der abmahnenden 
Mutter. Er war der Schwiegerſohn Heinrichs von Wolfenbuͤttel, der 
1545, nachdem er ſein Land zuruͤckerobert, von den Schmalkaldenern aufs 
neue geſchlagen war und jetzt in heſſiſcher Gefangenſchaft lag. Von ſeiner 
Religion wollte der Markgraf zwar nicht laſſen. Auf der anderen Seite 


22 Brieger, Reformationsgeſchichte 337 


Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


machte der Kaiſer kein Hehl aus ſeiner Abſicht, alle Reichsſtaͤnde mit⸗ 
einander dem Konzil zu unterwerfen. Doch ſicherte er dem proteſtantiſchen 
Fuͤrſten wenigſtens muͤndlich zu, eine Abweichung in einigen wenigen 
Punkten mit Nachſicht dulden zu wollen. 

Mit einer aͤhnlichen, ganz vagen Verſicherung hatte ſich noch ein 
anderer, bei weitem maͤchtigerer evangeliſcher Fuͤrſt zu begnuͤgen, der 
damals in den Schlingen des Kaiſers ſich fangen ließ, Herzog Moritz, 
der im Jahre 1541 nach dem Tode ſeines Vaters Heinrich die Regierung 
des Albertiniſchen Sachſen uͤbernommen hatte. Schon ſeit Jahren hatten 
ihm Karl und ſein Miniſter Granvella nachgeſtellt; immer deutlicher war 
dabei hervorgetreten, woran er gefaßt werden konnte: es war ſein unver⸗ 
haltener Groll gegen die maͤchtigere Erneſtiniſche Linie des Hauſes Wettin 
und ſein brennender politiſcher Ehrgeiz. 

Von hervorragender Begabung — beſonders lebhaften und ſcharfen 
Geiſtes —, hatte er ſich fruͤh uͤber ſeine Umgebung erhoben: weder ſein 
unbedeutender Vater noch ſeine herrſchſuͤchtige Mutter waren darnach 
angetan geweſen, ihm eine beſondere Achtung einzufloͤßen. Auch an den 
auswaͤrtigen Hoͤfen, denen er zu ſeiner Erziehung uͤbergeben war, zu 
Halle, Dresden und Torgau, war ihm keine vorbildliche Perfönlichkeit 
entgegen getreten. Zwar hatten ſich vor dem ſittenloſen Hofe des Kardinals 
Albrecht die beiden Wettiner Hoͤfe vorteilhaft ausgezeichnet: wie durch 
Ehrbarkeit des Lebens und eine rege Arbeitſamkeit, fo nicht minder 
durch die Strenge der, ihrer Art nach freilich ſehr verſchiedenen, religioͤſen 
Geſinnung: aber wie haͤtte er mit ihr am Hofe Johann Friedrichs die 
auch hier nicht ſelten geuͤbte fürftliche Untugend des „Vollſaufens“ in Ein; 
klang bringen ſollen? Moritz ſcheint aus dieſer Erfahrung den Schluß 
gezogen zu haben, daß auf die Religion nicht eben viel ankomme. Jeden⸗ 
falls war er in religiöfer Beziehung gleichgültig, fo wie er es auch in ſitt⸗ 
licher Hinſicht, ſo z. B. mit der Wahrheit, nicht immer genau nahm. 

Hiermit ſchien zu ſtimmen, wenn er vollends als Politiker, wie man 
meinte, ſich uͤber jedes moraliſche Bedenken hinwegſetzte. 

Allgemein naͤmlich hat man ihn bis in die neueſte Zeit fuͤr einen 
kuͤhlen Rechner gehalten, der „zielbewußt, ſkrupellos und hinterliſtig“ 
ſeinen Vorteil verfolgte: ſo habe er ſich an den Kaiſer herangemacht, 
ſich im Geheimen (im Juni 1546 zu Regensburg) mit ihm verbuͤndet 
gegen ſeinen Schwiegervater, den Landgrafen, gegen ſeinen Vetter, den 
Kurfuͤrſten, und damit, unbekuͤmmert um das Schickſal des Proteſtantis⸗ 
mus wie des deutſchen Vaterlandes, ſich dem Feinde der Freiheit und 


338 


Die deutſchen Helfer Karls V. Herzog Moritz von Sachſen. Die Kriegserklaͤrung 


des Evangeliums verkauft, um fi) vom Reichs oberhaupte als Lohn für 
den politiſchen und religiöfen Verrat die Kurwuͤrde, Land und Leute des 
beneideten Stammesgenoſſen zuweiſen zu laſſen; doch habe er, nach 
außen hin neutral, zweideutig auch noch mit den Schmalkaldenern ver⸗ 
handelt und die Maske erſt abgeworfen, als der Sieg ſonder Zweifel auf 
die Seite des Kaiſers ſich neigte. So gemahne uns, hat man wohl geſagt, 
Moritz, „der glaͤnzendſte Typus eines religiös ernuͤchterten und ſittlich 
verwilderten Geſchlechts“, an die Fuͤrſten und Condottieren der italieniſchen 
Renaiſſance. 

Allein, ſoweit dieſe Auffaſſung uͤberhaupt zutrifft, hat man mit ihr 
den ſpaͤteren Moritz vorweggenommen, jenen in der Tat gewiegten, ja 
raffinierten Politiker, zu dem er ſich im Laufe der Jahre in der Schule 
Karls V. herausgebildet hat. 

Erich Brandenburg hat uns vor einigen Jahren ein ſtark abweichen⸗ 
des Bild des jungen Moritz gezeichnet — und zwar auf Grund eines 
nahezu erſchoͤpfenden urkundlichen Materials, das erſt ihm in ſeinem 
ganzen Reichtum vorgelegen hat und ſeit kurzem wenigſtens bis zu dem 
entſcheidenden Jahre 1546, durch ihn veroͤffentlicht, Jedem eine Nach⸗ 
pruͤfung geſtattet. 

Mit zwanzig Jahren zur Herrſchaft berufen, war Moritz bis dahin 
von allen Geſchaͤften ferngehalten, uͤberdies ſo gut wie ohne Bildung 
aufgewachſen. Daher finden wir ihn, trotz des ſtarken fuͤrſtlichen Selbſt⸗ 
bewußtſeins, das in ihm lebte, in den erſten Jahren ſeiner Regierung 
(1541— 1544) in hohem Maße fremden Einfluͤſſen zugaͤnglich. Da war 
es von entſcheidender Bedeutung, daß er, in einem natürlichen Gegenſatz 
zu dem ihm feindſeligen Regimente ſeiner Mutter (denn ſie hatte an 
Stelle des willenloſen Herzog Heinrich die Zuͤgel gefuͤhrt), ſich fruͤh der 
Oppoſition, der einſt unter Georg maͤchtigen Partei, genähert hatte. Denn 
ſofort zog er jetzt die bisher kalt geſtellten, geſchaͤftskundigen Raͤte feines 
Oheims fuͤr die Leitung der Geſchaͤfte heran, vor allem die Seele des 
fruͤheren Regimentes, den alten Georg von Carlowitz, auch deſſen Neffen, 
den humaniſtiſch gebildeten Chriſtoph von Carlowitz, und den juriſtiſch 
geſchulten Dr. Ludwig Fachs. Nicht frei von Sympathieen fuͤr die alte 
Kirche, durchaus habsburgiſch geſinnt, ſchon infolge der ewigen Rei⸗ 
bungen mit Kurſachſen feindſelige Gegner der Erneſtiner, haͤtten ſie bei 
geſchickter Behandlung des jungen Fuͤrſten vielleicht vermocht, die Alber⸗ 
tiniſche Politik ganz und gar in das Fahrwaſſer Georgs zuruͤckzuſteuern. 
Aber ein Doppeltes machte doch jenen Kurs unmoͤglich: der Proteſtantis⸗ 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


mus ihres Herrn, den dieſer zum mindeſten politiſch zu ſchaͤtzen wußte, 
und das vertraute Verhaͤltnis, in welchem er zu Philipp von Heſſen, 
ſeinem Schwiegervater, ſtand. Gleichwohl iſt es nicht wenig geweſen, 
was von ihrer politiſchen Weisheit auf Moritz uͤbergegangen. 

Vor allem war ihre Hand mit im Spiele, wenn Moritz bald ſein 
Verhalten zu Kurſachſen durch eine mißtrauiſche und von Kleinlichkeit 
nicht ferne Eiferſucht beſtimmt ſein ließ. Freilich kam ihnen dabei faſt 
von Anfang an Johann Friedrich ſelber nur zu ſtark zu Huͤlfe. Wo die 
Ruͤckſicht auf Religion und Vaterland ihm ein freundliches Entgegen⸗ 
kommen und Nachgiebigkeit zur Pflicht gemacht haͤtte, ging er auch dem 
Vetter gegenuͤber eigenſinnig, und nicht ſelten ungeſchickt, dem eigenen 
Vorteil nach. Ja, ein Mal geſtattete er ſich ſogar einen offenbaren Über⸗ 
griff, wenngleich er ſelber in ſeinem Rechte zu ſein vermeinte. Bekannt 
iſt ſein eigenmaͤchtiges Vorgehen in dem gemeinſamen Stifte Wurzen 
(1542). Bei der Lebhaftigkeit des Selbſtgefuͤhls in Moritz fuͤhrte das 
beinahe zu einem Kriege unter den Wettinern. Mit Muͤhe vermittelte 
Landgraf Philipp einen Vergleich. 

Eine wirkliche Ausſoͤhnung aber konnte dadurch um fo weniger 
erzielt werden, als die Einwirkung der Ratgeber des Herzogs ſich bereits 
in ſeiner Geſamtpolitik zur Geltung brachte. Es war das Werk Georgs 
von Carlowitz, wenn Moritz allmählich von den Schmalkaldenern abruͤckte 
und vorſichtig den Habsburgern ſich naͤherte: von beiden umworben, 
konnte er — ſo ſchien es — eine groͤßere Rolle ſpielen, vielleicht auch 
dauernd eine unabhaͤngige Stellung zwiſchen den Parteien behaupten, 
die doch am Ende dem Kriege zutrieben. Dazu gehoͤrte freilich, daß er 
auch in Sachen der Religion eine mittlere Linie inne hielt. Der religioͤſe 
Indifferentismus ſeines Herrn machte es dem alten Carlowitz leicht, ihn 
auch hierfuͤr zu gewinnen. 

Das religionspolitiſche Programm, welches Moritz in allen dieſen 
Jahren vertreten hat, verraͤt in jedem Zuge ſeinen Urſprung aus der 
Schmiede des halben „Papiſten“: in gaͤnzlicher Unklarheit uͤber die Tiefe 
des religioͤſen Zwieſpaltes, ohne Verſtaͤndnis fuͤr die Unerbittlichkeit des 
religioͤſen Gewiſſens, ja ſelbſt ohne Blick für die grob⸗realen Ziele der 
Habsburger, geht er — zu einer Zeit, wo wahrlich der Worte genug 
gewechſelt waren — auf eine umfaſſende Vergleichung in der Religion aus, 
bei welcher politiſche Erwaͤgungen den Ausſchlag geben ſollten. So 
vertrat Moritz einen (kurzſichtigen) politiſchen Proteſtantismus — im 
Unterſchied von Philipp und Johann Friedrich, deren Geſamtpolitik 


340 


Die deutſchen Helfer Karls V. Herzog Moritz von Sachſen. Die Kriegserkflärung 


zuletzt immer dem allbeherrſchenden religioͤſen Prinzip ſich unterordnen 
mußte. Beide wollten von der Kunſt, „in Gottes Sachen zu ſimulieren“, 
nichts wiſſen. 

Nichts zeigt deutlicher das anfaͤngliche politiſche Unvermoͤgen des 
jungen Albertiners, als dieſes ſein Religionsprogramm, an deſſen Zug⸗ 
kraft er ſelbſt noch waͤhrend des Schmalkaldiſchen Krieges (noch im 
Oktober 1546!) geglaubt hat. Wie hoch ſteht doch über ihm Philipp von 
Heſſen mit ſeinem klaren Blick in das Weſen der Dinge und in die 
Abſichten des Kaiſers! Ja, ſelbſt der ſchwerbewegliche Johann Friedrich 
war ſeinem Vetter in dieſem Punkte unendlich uͤberlegen. 

Auch ſonſt hat ſich Moritz, ſeitdem er, nach dem Ruͤcktritt Georgs 
von Carlowitz (Anfang 1545), ſelbſtaͤndig zu regieren begann, ungeachtet 
ſeines lebhaften und kuͤhnen Geiſtes und ſeiner Gabe raſcher Entſchloſſen⸗ 
heit, nichts weniger denn als einen umſichtigen Politiker ausgewieſen. 

Beweis dafuͤr iſt fein (um mit Brandenburg zu reden) „völlig plan⸗ 
loſes Verhalten“ bei dem Braunſchweiger Zuge von 1545, Beweis vollends 
die Art, wie er ein Jahr darauf den Habsburgern ins Garn ging. 

Den Anlaß, ſich mit dem Kaiſer einzulaſſen und damit die bis zum 
Fruͤhjahr 1546 bewahrte Neutralitaͤt zwiſchen den Parteien preiszugeben, 
bot ſein Streben nach einer Machterweiterung, in welchem er (ſeit Ende 
1542) auf das ſchaͤrfſte mit Kurſachſen rivaliſierte: es handelte ſich um den 
Erwerb der „Schutzherrſchaft“ uͤber die Stifter Magdeburg und Halber⸗ 
ſtadt, im letzten Grunde um die Erwerbung dieſer geiſtlichen Fuͤrſten⸗ 
tuͤmer ſelbſt. Soeben hatte ihn nach dem Tode des Kardinals Albrecht 
ſein Vetter, der die burggraͤflichen Rechte uͤber die Stifter beſaß und uͤber⸗ 
dies in Halle laͤngſt feſten Fuß gefaßt, durch einen Vertrag mit dem neuen 
Erzbiſchof, dem Hohenzollern Johann Albrecht, uͤberfluͤgelt. Eben hier⸗ 
gegen galt es jetzt die hoͤhere Inſtanz des Kaiſers auszuſpielen. 

Es war am Vorabend des Krieges. Da war es ohnehin geboten, 
Vorkehrungen zu treffen fuͤr den Fall, daß der Kaiſer ſiegte, was Georg 
von Carlowitz, in ungeheuerer Überſchaͤtzung der Hilfsmittel Karls, ſeit 
Jahren fuͤr ſicher, Moritz wenigſtens fuͤr hoͤchſt wahrſcheinlich hielt. Stand 
nicht zu erwarten, daß dann ſeinem Vetter Kur und Land genommen 
wurde? Sollten beide dann aber auch dem Hauſe Wettin verloren gehen? 
Mit einer Andeutung, daß der Kaiſer die Erneſtiner der Kur berauben 
und ſie auf Moritz uͤbertragen werde, war ſchon 1543 Granvella an 
einen Abgeſandten des Herzogs, Chriſtoph von Carlowitz, als Verſucher 
herangetreten. 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


Eben dieſen Carlowitz, der von jeher das Heil ſeines Herrn im engſten 
Anſchluß an die Habsburger ſah, ſchickte Moritz jetzt nach Regensburg 
zum Kaiſer: er ſollte die Übertragung jener Schutzherrſchaft uͤber die 
Stifter, gegen den Preis der Neutralitaͤt im Kriege, erwirken, unter 
Umſtaͤnden auch einen Vertrag mit Karl vorbereiten. Übertreibende, 
nahezu truͤgeriſche Berichte über das Entgegenkommen Granvella's ver; 
anlaßten Moritz, im Mai ſelber in Regensburg zu erſcheinen: und hier 
wurde er nun unſchwer uͤberliſtet, in Feſſeln geſchlagen! Der Gewandt⸗ 
heit des ſchlauen Granvella, dem hinterhaltigen Benehmen Karls, dieſem 
Syſtem von unbeſtimmten Verheißungen, die bald zuruͤckgezogen, bald 
im entſcheidenden Augenblick eingeſchraͤnkt oder liſtig verklauſuliert, auch 
wohl, ſtatt ſchriftlich verbrieft zu werden, nur muͤndlich erteilt wurden, 
ſtand Moritz ſo gut wie wehrlos gegenuͤber, zumal da ſeine Raͤte den 
Habsburgern in die Haͤnde arbeiteten. 

Freilich fuͤr ſeine Beteiligung am Kriege haͤtte er jeden Preis vom 
Kaiſer fordern duͤrfen, insbeſondere die Zuſage des Überganges des 
Erneſtiniſchen Sachſen auf ihn, womit Granvella ihn von Anfang an 
zu koͤdern verſuchte. Aber fuͤr die bloße Neutralitaͤt, zu der allein er ſich 
verſtehen wollte, erhielt er ſchließlich außer jener unſicheren Verſicherung 
in Bezug auf das Konzil nur ein jaͤhrliches Dienſtgeld von 5000 Gulden 
und, unter nicht unerheblichen Klauſeln, die gewuͤnſchte Schutzherrſchaft 
über Magdeburg und Halberſtadt; nicht aber die ihm von Granvella 
in Ausſicht geſtellte Verheißung, daß das Erneſtiniſche Gebiet keinem 
Fremden zufallen ſolle: Koͤnig Ferdinand haͤtte es gern ganz oder doch 
zum Teil in Beſitz genommen. Einzig eine ihn nicht ganz ausſchließende 
Außerung, deren Abſicht deutlich genug war, konnte er nach Unterſchrei⸗ 
bung des Vertrages aus dem Kaiſer herausbringen: „Es ſchaue ein jeder 
zu dem Seinen; wer etwas bekomme, der habs“. Moritz ſollte dadurch 
aus ſeiner Neutralitaͤt herausgedraͤngt, zu taͤtigem Eingreifen in den 
Krieg gezwungen werden. — — 

Jetzt erſt, Mitte Juni, fuͤhlte ſich der Kaiſer genuͤgend geſichert, um 
offen mit der Sprache herauszuruͤcken. Es fielen die erſten Worte der 
Drohung; ſie zerſtreuten fuͤr die Schmalkaldener den letzten Zweifel uͤber 
ſeine wahre Abſicht: „den Ungehorſamen“ ſollten ſeine Ruͤſtungen gelten. 
Als „Rebellen“ wurden auch einen Monat ſpaͤter (am 20. Juli) die beiden 
Reichsfuͤrſten hingeſtellt, welche jetzt die Acht traf: ihre Verſtoͤße gegen die 
Reichsordnung, der Wuͤrttemberger Zug des Landgrafen, die Eroberung 
Braunſchweigs, mußten als Vorwand dienen. Im Februar hatte Karl 


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Die deutſchen Helfer Karls V. Herzog Moritz von Sachen. Die Kriegserflärung 


ſeinem Sohne Philipp geſchrieben, er gedenke das Schwert zu ziehen 
„im Dienſte Gottes, zur Wahrung des heiligen katholiſchen Glaubens 
und zum Beſten der Chriſtenheit“, daneben aber auch in der Abſicht, 
der Unbotmaͤßigkeit im Reiche ein Ende zu machen. Allein den religioͤſen 
Charakter des Krieges ſuchte er ſorgſam zu verſchleiern: ſo aus Ruͤck⸗ 
ſicht auf ſeine proteſtantiſchen Verbuͤndeten, aber auch in der Abſicht, 
die uͤbrigen Glieder des Schmalkaldiſchen Bundes, insbeſondere die 
großen Staͤdte des Suͤdens, von den beiden geaͤchteten Fuͤrſten zu trennen. 
Es war ein Scheinwerk, durchſichtig genug. Überdies wurde es alsbald 
durch ſeinen geiſtlichen Kriegsgeſellen zerſtoͤrt. Der Papſt hatte keinen 
Anlaß, ſich der gleichen Maske zu bedienen. Er hielt nicht damit zuruͤck, 
daß der fromme Kaiſer ſich aufmache, mit gewappneter Hand „die Feinde 
Gottes“ zu beſtrafen, und er gewaͤhrte einen Ablaß fuͤr das Gebet um Aus⸗ 
rottung der Ketzerei. Feierlich ſtattete er in der Kirche Araceli ſeine beiden 
Enkel, welche die paͤpſtlichen Haufen auf den deutſchen Kriegsſchauplatz 
fuͤhren ſollten, mit Kreuz und Fahne aus: den Kardinallegaten Aleſſandro 
und deſſen Bruder Ottavio, der mit einer natuͤrlichen Tochter Karl's V. 
vermaͤhlt war. 

Jetzt wußte es alle Welt: Papſt und Kaiſer fuͤhrten Krieg mit Martin 
Luther. — — 

So war es alſo dank dieſem undeutſchen, im Dienſte ſeiner ſtreng 
mittelalterlichen Weltpolitik ſtehenden Kaiſer dahin gekommen, daß 
Deutſchland in einen großen, in einen, wie es ſchien, uͤber ſein Geſchick 
entſcheidenden Religionskrieg geſtuͤrzt wurde. 

Einſtmals hatte Luther in ſtolzer Zuverſicht erwartet, das Evan⸗ 
gelium werde den antichriſtiſchen Papſt ſtuͤrzen „ohne Schwertzucken“, 
allein durch die ihm einwohnende goͤttliche Kraft der Wahrheit — jetzt 
wurde die Zukunft eben dieſes Evangeliums abhaͤngig gemacht von 
gemeinem Waffengluͤck! 

Was verbuͤrgte da der Wahrheit den Sieg? Und widerfuhr ihr 
nicht ſelbſt im guͤnſtigſten Falle eine Herabwuͤrdigung? Sollte es denn 
nicht ihr koͤnigliches Vorrecht fein, zu ſiegen durch ſelbſteigene Kraft? 
Aber koͤnnte ihr unter den Menſchen wirklich ein ſo hehres Geſchick beſchieden 
ſein? Steigt denn die Wahrheit wie eine Himmelsmacht von unwider⸗ 
ſtehlicher Gewalt hernieder auf die Erde? Wird nicht auch die religioͤſe 
Wahrheit, mag ſie ſelbſt noch ſo rein, noch ſo erhaben im Geiſte des Men⸗ 
ſchen auftauchen, indem ſie in die Erſcheinung eingeht, hinabgezogen in 
das Gewirr irdiſcher Intereſſen, getruͤbt von dem Hauche menſchlicher 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


Selbſtſucht? War es unvermeidlich, daß ſie, um ſich in der Welt durch⸗ 
zuſetzen, auch in das Wirrſal der politiſchen Verhaͤltniſſe eintauchte, ſo 
mußte ſie jetzt auch ihren vollen Anteil haben an dem bunten Wechſel 
menſchlicher Schickſale. 

Der Mann, der vor faſt drei Jahrzehnten in idealſter Begeiſterung 
den Kampf um die Wahrheit mit dem Schwert des Geiſtes eroͤffnet hatte, 
ruhte jetzt, als ganz andere Waffen den großen Streit fortzufuͤhren ſich 
anſchickten, ſeit ein paar Monaten in der Gruft. 

Luthers letzte Lebensjahre bieten das Bild eines Stromes, der, 
einſt von der Hoͤhe herabſchaͤumend und mit jaͤher, unwiderſtehlicher Gewalt 
Alles mit ſich fortreißend, zuletzt im Flachland ſchwerfaͤllig und matt ſeine 
ungeheueren Waſſer waͤlzt. 

Wie oft ſtellt in dieſen Jahren Luther ſelber ſich uns dar als einen 
alten, abgelebten Mann! Mehr als die Jahre hatten ihn ſeine herkuliſchen 
Kaͤmpfe mitgenommen und die Überlaſt unausgeſetzter, raſtloſer Arbeit, 
in der er bis zu Ende nicht feiern durfte: denn kein Tag verging, an dem 
nicht Hohe und Niedere, Ferne und Nahe den Dienſt ſeiner unermuͤdlichen 
Liebe in Anſpruch nahmen — viel zu ſtark ſelbſt für feine gewaltige Kraft. 
Matt und muͤde ſehnte er ſich nach Ruhe. Aber auch das Alter hatte ihm 
mannigfache Gebrechen gebracht und ein beſonders ſchmerzhaftes, 
quälendes Leiden (feinen „Peiniger, den Stein“). Was Wunder, wenn 
wir ihn da oft reizbar finden und von aufbrauſender Heftigkeit, polternd 
und ſcheltend (zumal wenn er die Feder zu einer Streitſchrift ergreift), 
ja mitunter nicht frei von kleinlichem Argwohn, der doch ſonſt ſeiner 
großen Seele ſo fern lag? Aber doch wuͤrden wir fehlgreifen, wollten 
wir uns den alten Luther als einen mißmutigen und griesgraͤmigen 
Greis vorſtellen. Denn mitten in allen Plagen und Widerwaͤrtigkeiten 
brach immer wieder hervor ſein unverwuͤſtlicher Humor. Wie luſtig 
tummelt er ſich noch einige Wochen, ja Tage vor ſeinem Tode in den 
Briefen an „ſeine Hausfrau Katharina Lutherin“, „ſeine gnaͤdige Frau“, 
„die tiefgelehrte“, „die Selbſtmartyrin“, „die heilige forgfältige Frau“, 
wie er ſie wegen ihres Sinnens und vielen Sorgens um ihn ſchon auf 
der Adreſſe betitelt (daneben uͤbrigens einmal „Doktorin, Zulsdorferin, 
Saumaͤrkterin“ — mit Bezug auf die rationelle Schweinezucht, die Käthe 
von Bora auf ihrem Gute Zulsdorf betrieb). Aber nicht bloß ſein Humor 
war ihm geblieben, ſondern noch etwas anderes, unendlich Wertvolleres: 
jener Schwung, den ihm die ungebrochene Kraft der Überzeugung von 
der Goͤttlichkeit feiner Sache verlieh. Noch in feinem letzten Gebet, in 


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Die deutſchen Helfer Karls V. Herzog Moritz von Sachſen. Die Kriegserklaͤrung 


welchem er — etwa eine Stunde vor ſeinem letzten Atemzuge — ſein 
„Seelichen“ dem himmliſchen Vater befahl, hat ſich dieſe Überzeugung 
ſogar den alten polemiſchen Ausdruck gegeben: in dem Dank gegen Gott, 
der ihm „ſeinen lieben Sohn Jeſum Chriſtum offenbaret“ habe, „an den 
ich glaube, den ich geliebet und gelobet hab, welchen der leidige Papſt 
und alle Gottloſen ſchaͤnden, verfolgen und laͤſtern“. In dieſer zweifel⸗ 
loſen, ſtets ſich verjuͤngenden Selbſtgewißheit war er jung und friſch 
geweſen in allen den Jahren ſeines Alters. 

Und das wollte um ſo mehr beſagen, als grade ſein Werk ihm eine 
ungeheuere Enttaͤuſchung, die ſchwerſte ſeines Lebens, bereitet hatte. 

Es iſt das die große Tragik ſeines Geſchickes! 

Hatte denn ſein unbegrenztes Vertrauen in die Kraft der Wahrheit 
ſich als berechtigt erwieſen? Hatte ſeine Erwartung, das Evangelium 
werde die Welt erneuern, von Grund aus, ſich denn erfüllt? Hatte die 
Welt ſich gebeſſert? Er nahm oft genug nichts davon wahr. Im Gegen⸗ 
teil, „die Welt iſt immer aͤrger geworden“, nachdem „die rechte, reine 
Lehre des Evangeliums wieder an den Tag gekommen iſt“. Zwar hat 
er nicht immer ſo geurteilt: es ſtehe, ſagte er gelegentlich, „nun beſſer 
und hoͤfflicher hoffnungsreicher! denn vor zwanzig Jahren. Es hat nun, 
Gott Lob, viel feiner Leute, ſo hats auch feine Schulen, in welchen die 
Jugend fein gelehret und unterweiſet wird“. Aber „Welt bleibt Welt“ 
lautete doch zuletzt die Quinteſſenz ſeiner Lebenserfahrung. Er hatte 
„der Welt ſatt“; und — zu ſeinem Troſt — uͤberall ſah er Zeichen 
des Endes, des „lieben juͤngſten Tages“. An ihn klammerte ſich ſeine 
Hoffnung. 

War es, wie man wohl geurteilt hat, allein der Peſſimismus des 
Alters, was ihm die Gegenwart in ſo truͤbem Lichte erſcheinen ließ? Der 
Grund fuͤr Luthers Stimmung duͤrfte doch tiefer liegen. Die Zeitumſtaͤnde 
boten wirklich in gewiſſer Weiſe einen Anhalt fuͤr ſie. Die Aufloͤſung 
der durch Jahrhunderte geheiligten Ordnungen des Lebens in Kirche und 
Staat, in Geſellſchaft und Wiſſenſchaft konnten leicht um ſo ſtaͤrker den 
Eindruck eines allgemeinen Chaos hervorrufen, als die Neubildung, 
ſchon an und fuͤr ſich mit Naturnotwendigkeit eine langſame, tauſend⸗ 
fach unterbrochen oder doch aufgehalten wurde durch bald heimliche, 
bald offenkundige Nachwirkungen und Gegenwirkungen des Alten. In 
der Tat hatte ja ſeit den Zeiten, wo das Chriſtentum in die Entwickelung 
eingegriffen und nach einem Ringen von Jahrhunderten den antiken 
Staat geſtuͤrzt hatte, die Welt eine ähnliche Umwaͤlzung nicht geſehen. 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


Es gab aber damals noch keine Geſchichtswiſſenſchaft, welche dieſe Zeit 
als Parallele zur Wuͤrdigung deſſen, was ſich jetzt vollzog, haͤtte heran⸗ 
ziehen koͤnnen (nur inſtinktiv hat Luther ſich getroͤſtet mit dem Geſchick 
Chriſti und des Apoſtel Paulus). Es fehlte daher dem Reformator das⸗ 
jenige, was uns unter Umſtaͤnden uͤber unerfreuliche Symptome der 
Gegenwart hinweghilft, indem die Geſchichte ſie uns erkennen laͤßt als 
unvermeidliche Begleiterſcheinungen des geſchichtlichen Fortſchrittes und 
uns damit gegen den Peſſimismus wappnet. 

Im uͤbrigen hatte ihm auch das Alter den Blick fuͤr die Zeichen der 
Zeit nicht getruͤbt. Wie klar durchſchaute er doch die politiſche Lage — 
im Unterſchied von den zuͤnftigen Politikern am Hofe ſeines Kurfuͤrſten! 
Es iſt ihm ja gnaͤdig erſpart geblieben, den Ausbruch des Unwetters zu 
erleben. Aber eine Überraſchung waͤre es fuͤr ihn nicht geweſen. Denn 
laͤngſt ſah er es kommen. Auch die unmittelbaren Vorboten des Krieges 
ſind ihm nicht entgangen, „die blutduͤrſtigen Raͤnke der Papiſten“, von 
denen wir ihn 1545 ſprechen hoͤren. In ihrer ganzen Schwere erfaßte er 
die Kunde, daß der Kaiſer, ſtatt den verheißenen Krieg gegen die Tuͤrken 
zu unternehmen, von dem Erbfeinde vielmehr einen Waffenſtillſtand 
erkaufte, um die Ketzer zuͤchtigen zu koͤnnen. Er war in Gottes Willen 
ergeben. 

Und ſchwerlich hat er dabei im Geheimen auf den Sieg der proteſtan⸗ 
tiſchen Waffen gehofft. 

Der lag ſonſt, wie wir die Dinge heute ſehen, in der erſten Zeit des 
Krieges ſehr wohl im Bereiche der Moͤglichkeit, ja hatte ſogar die Wahr⸗ 
ſcheinlichkeit fuͤr ſich. 

Denn wie wenig entſprach doch der ungluͤckliche Ausgang des Krieges 
feinen Anfängen. 

Ein fluͤchtiger Überblick über feinen Verlauf wird uns das zeigen. 


Der Krieg von 1546/47. Die Niederwerfung des Schmalkaldiſchen Bundes 


3. Der Krieg von 1546/47. Die Niederwerfung des Schmal- 
kaldiſchen Bundes und ihre naͤchſten Folgen 


— er kluge und ſonſt ſo vorſichtige Politiker Karl hatte 
2 9 ſich in einem wichtigen Punkte ſeines Anſatzes verrechnet. 
(er hatte geglaubt, daß er es mit feinen beiden Haupt⸗ 


2: ia gegnern, Sachſen und Heſſen, allein zu tun haben werde, 
85 12 daß es ihm gelinge, Württemberg und die großen 
a A| Neichsſtädte des Südens von ihnen zu trennen. Allein 


ſeine Diplomatie erlitt eine empfindliche Niederlage. Überall wies man, 
wenn auch hier und da, wie z. B. in Augsburg, erſt nach einigem 
Schwanken, feine verlockenden und gleisneriſchen Anträge zuruck. „Hie im 
Oberland“, durfte ein Augsburger an den Landgrafen ſchreiben, „ſind wir 
einig und aufrecht. Es iſt kein ander Mittel als ſchaͤndlich von Gott und 
aller Ehrbarkeit zu weichen oder zu fechten“. „Wir muͤſſen fechten, wie man 
ſagt, pro aris und focis, um unſers Gottes und Vaterlands wegen“. 
Es war die allgemeine Stimmung. Der Bund von Schmalkalden hielt 
zuſammen (einzig der Markgraf Hans von Kuͤſtrin war ihm untreu 
geworden). So ſah ſich der Kaiſer wider Erwarten einer Macht von bedenk⸗ 
licher Groͤße gegenuͤber. „Er hatte (ſagt Max Lenz) nicht, wie er eben 
noch hoffte, zwei verlaſſene Fuͤrſten, ſondern den Schmalkaldiſchen Bund, 
nicht eine politiſche Rebellion, ſondern eine religioͤſe Partei, das auf dem 
Grunde des Evangeliums politiſch geeinigte Deutſchland zu bekaͤmpfen. 
Seit den Zeiten der hohenſtaufiſchen und ſaliſchen Kaiſer hatten ſich 
niemals in fo kompakter Maffe nord⸗ und ſuͤddeutſche Stämme gegen die 
Krone zuſammengefunden, und niemals war eine die Sonderintereſſen 
fo neutraliſierende Idee die einigende Kraft geweſen“. 

Schon aber konnte es dem Kaiſer nicht mehr verborgen bleiben: 
die Gegner waren ihm bereits uͤberlegen, und ſie drohten es mit jedem 
neuen Tage mehr zu werden. Man darf in der Tat mit Friedensburg von 
der „wunderbaren Gunſt der Umſtaͤnde“ ſprechen, welche in jenen erſten 
Wochen und Monaten des Krieges die Schmalkaldener nur auszunutzen 
brauchten, um „den leichteſten und vollſtaͤndigſten Sieg“ zu gewinnen. 
Waͤhrend Karl die groͤßte Muͤhe hatte, nur die notwendigſten Mittel 
fluͤſſig zu machen — auch der Papſt war mit feiner Zahlung noch in weitem 
Felde — waren ſie hinlaͤnglich gefaßt, um Knechte und Reiter anzumuſtern. 
Seine ſpaniſchen Truppen waren noch fern in Ungarn, die paͤpſtlichen 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


ſammelten ſich gerade bei Bologna, die Niederlaͤndiſchen wurden erſt 
angeworben, und vollends in Deutſchland durfte er erſt jetzt die Werbe⸗ 
trommel ruͤhren. Unterdeſſen ſtanden die ſuͤddeutſchen Verbuͤndeten 
bereits im Felde: ſie konnten die kaiſerlichen Muſterplaͤtze uͤberfallen, die 
Paͤſſe nach Tirol beſetzen, die Wege in Tirol ſelber verlegen; und zu der⸗ 
ſelben Zeit waren Philipp und Johann Friedrich in der Lage, dem Kaiſer 
im Norden und Weſten die Zuzuͤge zu ſperren. Die Oberdeutſchen erkannten 
ihre Aufgabe wohl; aber zaghafte Bedenken, kleinliche Ruͤckſichten, Zaudern 
und Ungeſchick ließen ſie nur zu halben Maßregeln kommen und hinderten 
die Ausbeutung der errungenen Erfolge. Weder die Staͤdte, wie Augs⸗ 
burg und Ulm, noch der Wuͤrttemberger vermochten es uͤber ſich, auch 
auf die Gefahr voruͤbergehenden Schadens hin ihr Beſtes fuͤr die gemeine 
Sache einzuſetzen. Schließlich nahm ihr vereinigtes Heer, um die Heimat 
zu ſchuͤtzen, eine feſte Stellung bei Donauwoͤrth ein. 

Aber noch war nichts Weſentliches fuͤr die Verbuͤndeten verloren. 
Auch jetzt noch bot ſich ihnen die guͤnſtigſte Gelegenheit, den Kaiſer matt 
zu ſetzen. Die beiden Bundeshaͤupter, die ſich zum Schutz des Suͤdens 
aufgemacht hatten, ſtanden mit ihrer geſamten Heeresmacht damals 
bereits am Main (bei Schweinfurt hatten ſie ihn am 25. Juli erreicht). 
Inzwiſchen ſaß ihr Gegner noch immer in der Reichsſtadt Regensburg 
— inmitten einer feindſeligen Bevölkerung, umgeben von Nachbarn, auf 
die kein Verlaß war. Lange ſo gut wie wehrlos, faſt ohne Bedeckung, 
ohne fein Geſchuͤtz, kam er erſt in der letzten Woche des Juli einigermaßen 
zu Kraͤften. Man hat die zu Ende des Monats teils in Regensburg ver⸗ 
ſammelten, teils weſtlich bis zum Lech hin zerſtreuten Haufen Karls auf 
hoͤchſtens 10000 Knechte und gegen 2000 Reiter veranſchlagt, wogegen 
die Schmalkaldener ihm mit 50000 Mann entgegentreten konnten. Was 
lag näher, als daß fie taten, was der Bedrohte damals befürchtet hat, 
wozu ein franzoͤſiſcher Abgeſandter die Fuͤrſten aufforderte? Sie mußten 
auf der Stelle von Donauwoͤrth und von Schweinfurt aus einen kom⸗ 
binierten Vorſtoß auf Regensburg machen. So konnten ſie den Kaiſer 
aufheben, vom deutſchen Boden verjagen! Allein keinem der proteſtan⸗ 
tiſchen Heerfuͤhrer iſt der Gedanke gekommen. Ihr Mangel an Wagemut, 
ihr ſtetes Beſtreben, womoͤglich ſich in der Verteidigung zu halten und ihre 
Leute zu ſchonen, verwehrte ihnen zu tun, was der Augenblick erheiſchte. 
Die Fuͤrſten kannten keine dringendere Aufgabe, als ſich vor allem mit den 
Oberlaͤndern bei Donauwoͤrth zu vereinigen — um fortan erſt recht jene Taktik 
des Zauderns zu befolgen, durch die einzig der Gegner gewinnen konnte. 


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Der Krieg von 1546/47. Die Niederwerfung des Schmalkaldiſchen Bundes 


Jedermann weiß, wie „der Krieg an der Donau“ ſich jetzt Monate 
lang ohne einen blutigen Zuſammenſtoß hingeſchleppt hat, da auch Karl, 
ſelbſt ſeitdem er endlich dem Feinde uͤberlegen war, es vermied, alles auf 
eine Karte zu ſetzen. Die Zerfahrenheit der Gegner ſpielte ihm ohnehin 
einen Vorteil nach dem andern in die Hand. Wir brauchen die klaͤgliche 
Kriegfuͤhrung der Verbuͤndeten, welche im letzten Grunde die Schuld 
eines vielkoͤpfigen und von wirren, einander zuwiderlaufenden Intereſſen 
bewegten Kriegsrates war, hier nicht weiter zu verfolgen. Die Frage 
war zuletzt nur die, wer dieſe Tatenloſigkeit am laͤngſten aushalten 
konnte. Dem Kaiſer drohte verderblich zu werden, daß ſein italieniſches 
und ſpaniſches Kriegsvolk arg unter den beſonders ſchlimmen Unbilden 
des deutſchen Spaͤtherbſtes litt und auch die Niederlaͤnder maſſenhaft 
von Seuchen hingerafft wurden. Im Bundeslager dagegen geſellte 
ſich zu den auch hier nicht ganz fehlenden Krankheiten ein anderer Not⸗ 
ſtand: die Schmalkaldener konnten bei der elenden Knauſerei der reichen 
Staͤdte (welche Summen haben ſie bald darauf fuͤr den Kaiſer beſchaffen 
muͤſſen !) nicht mehr den nötigen Sold aufbringen, d. h. ihre Truppen 
nicht laͤnger beiſammenhalten. Wenn Karl V. im Donaufeldzug zuletzt 
triumphierte, verdankte er es nicht ſowohl einer uͤberlegenen Strategie, 
ſondern dem Mangel an „gemeinem nervus rerum“ bei den Gegnern! 
„Ein paar hunderttauſend Gulden“, ſagt der genaueſte Kenner des 
Schmalkaldiſchen Krieges, Max Lenz, „wuͤrden damals genuͤgt haben, 
um die deutſche Frage zu Gunſten der evangeliſchen Partei zu loͤſen“. 

Die ungeloͤhnten, unter der Kaͤlte leidenden Landsknechte wurden 
von Tag zu Tag ſchwieriger, ja ſtanden dicht vor der Meuterei. Es war 
die Unmoͤglichkeit, ſie laͤnger im Lager beiſammen zu halten, was den 
Landgrafen und den Kurfuͤrſten zwang (bald nach Mitte November), den 
Ruͤckzug nach Norden anzutreten. 

So waren hier die Wuͤrfel gefallen — unabhaͤngig von einem 
Ereignis, von dem man fruͤher allgemein angenommen hat, es ſei fuͤr den 
geſamten Krieg entſcheidend geweſen, dem kurz zuvor erfolgten Einfall 
des Herzogs Moritz wie des Koͤnigs Ferdinand ins Erneſtiniſche Gebiet. 
Denn keineswegs hat die Nachricht von dieſem Vorgange, welche den 
Fuͤrſten in den erſten Novembertagen zukam, den Grund abgegeben 
fuͤr den Abbruch des Lagers. 

Gleichwohl verſtehen wir es, wenn der Kaiſer bei dem Eintreffen 
jener Kunde feiner Freude durch das Loͤſen feiner großen Feldgeſchuͤtze 
einen uͤberlauten Ausdruck gab. Er wußte, was es fuͤr ihn bedeutete, 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


daß es der unausgeſetzten Arbeit ſeines Bruders Ferdinand endlich 
gelungen war, den Albertiner aus ſeiner Neutralitaͤt herauszudraͤngen. 
Moritz hatte ſeinem Schwanken erſt ein Ende gemacht, als ihm auch 
der letzte Zweifel geſchwunden war an dem Ernſt der Abſicht Ferdinands, 
ihm bei längerer Zuruͤckhaltung in der Beſetzung Kurſachſens zuvorzu⸗ 
kommen. Die Habsburger ſahen jetzt den maͤchtigen Wettiner als ihren 
Kriegsgenoſſen: ein Zuruͤck gab es jetzt fuͤr Moritz nicht mehr; jede Aus⸗ 
ſoͤhnung mit ſeinem Vetter war unmoͤglich; ſeine Zukunft war geknuͤpft 
an das Waffengluͤck des Kaiſers. 

Dieſer mußte ihm denn auch in Perſon im naͤchſten Fruͤhjahre zu 
Huͤlfe kommen: denn weder er noch Ferdinand waren dem heimgekehrten 
Kurfuͤrſten gewachſen. 

Karl's V. ſiegreicher Feldzug an der Elbe (1547) iſt bekannt; bekannt 
iſt, wie es ihm gluͤckte, am 24. April Johann Friedrich bei Muͤhlberg 
zu uͤberraſchen, deſſen Heer zu vernichten; wie der in Gefangenſchaft 
geratene Kurfuͤrſt fein Leben rettete durch die Übergabe feiner Feſtungen, 
beſonders des feſten Wittenberg; wie ſeinen Soͤhnen, damit der neue 
Kurfuͤrſt Moritz nicht zu maͤchtig werde, die noch heute Erneſtiniſchen 
Gebiete Thuͤringens gelaſſen wurden. 

Ebenſo allgemein bekannt iſt das Geſchick des Landgrafen, der, jetzt 
vereinſamt, ſich zur Ergebung entſchloß, nachdem ſein Schwiegerſohn Moritz 
und ein zweiter Vermittler, Kurfuͤrſt Joachim von Brandenburg, erlangt 
zu haben meinten, es ſolle der Heſſe weder mit Verluſt des Landes noch mit 
Gefangenſchaft geſtraft werden, und ihm deshalb feine Freiheit perſöͤnlich 
verbuͤrgten. Indeſſen, die beiden Kurfuͤrſten hatten ſich, nicht ohne die 
Schuld einer gewiſſen Fahrlaͤſſigkeit auf ſich zu laden, vom Kaiſer und 
ſeinem Miniſter uͤberliſten laſſen, und alle ihre empoͤrten Vorſtellungen 
gegen „das Boͤſewichtsſtuͤck“ (wie fie ſich wohl ausdruͤckten), die Gefangen⸗ 
nahme Philipps durch Alba zu Halle am 19. Juni 1547, verhallten im 
Winde. In ſtrengem Gewahrſam fuͤhrte der Kaiſer die beiden beſiegten 
Gegner mit ſich gegen Augsburg, wo er einen Reichstag abhalten wollte 
(ſie ſind ſpaͤter bekanntlich in den Niederlanden gefangen gehalten). 

Der Bund von Schmalkalden, ſeit anderthalb Jahrzehnten die 
größte politiſche Macht im Reiche, ja bereits ein Faktor in der Euros 
paͤiſchen Politik, war vernichtet. Die religioͤſe Partei, zu deren Schutz 
er einſt geſtiftet war, lag am Boden. „Das unbeſiegte Deutſchland“ 
hatte jetzt feinen Herren. Widerſtandslos — fo ſchien es — konnte nun⸗ 
mehr der Auslaͤnder nach Gefallen in deutſchen Landen ſchalten. 


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Der Krieg von 1546/47. Die Niederwerfung des Schmalkaldiſchen Bundes 


Schon nach dem verfehlten Donaufeldzuge hatte ſich ihm der Suͤden 
unterworfen, ohne noch den Widerſtand zu wagen, der ſoeben bei dem 
Abzuge der Fuͤrſten feſt und verſtaͤndig ins Auge gefaßt war. Am 
fruͤheſten hatte Herzog Ulrich von Wuͤrttemberg ſich in Verhandlungen 
eingelaſſen: gegen Zahlung von 300 ooo Gulden und andere druͤckende 
Auflagen war ihm wenigſtens ſein Land gelaſſen, welches Koͤnig 
Ferdinand gern wieder an ſich genommen haͤtte. Auch der Kurfuͤrſt von 
der Pfalz, der ſeinen Nachbarn mit ein paar hundert Mann unterſtuͤtzt, 
hatte ſich beeilt, demutsvoll ſich zu entſchuldigen, um die Gunſt ſeines 
Kaiſers zuruͤckzugewinnen. Wie haͤtten da die Staͤdte zuruͤckbleiben 
ſollen? Eine nach der andern waren ſie gekommen, zuerſt die kleineren, 
dann auch die großen und maͤchtigen, deren Mauern dem Kaiſer noch 
eine harte und langwierige Arbeit haͤtten bereiten koͤnnen, deren Handels⸗ 
intereſſen jedoch ein laͤngerer Widerſtand auf das ſtaͤrkſte gefaͤhrdete: 
das vorſichtige Ulm und das ſchwachmuͤtige Frankfurt, auch das mutigere 
Augsburg und zuletzt widerwillig genug Straßburg. Sie alle mußten 
die Gnade des Kaiſers mit hohen Summen erkaufen: das Strafgeld 
von Augsburg betrug 150 000 Gulden, das von Ulm 100 ooo; die Reichs⸗ 
ſtadt Schwaͤbiſch⸗Hall hatte 60, Eßlingen 40⸗, Heilbronn und Reutlingen 
je 20, das kleine Isni 12 000 Gulden zu buͤßen. Mit einer Million 
Gulden wird man, was der Süden jetzt innerhalb einiger Wochen an 
barem Gelde zur Stelle zu ſchaffen hatte, eher u niedrig als zu hoch ein⸗ 
ſchaͤtzen. Wie hatten „die Fuͤrſichtigen und Weiſen“ noch vor ein paar 
Monaten gejammert, als ſie zur Rettung ihrer Religion den dritten oder 
vierten Teil als Vorſchuß oder Darlehen aufbringen ſollten, und das fuͤr 
unmoͤglich erklaͤrt! 

Ihre Religion freilich hatten die Staͤdte auch jetzt ſo wenig preis⸗ 
geben wollen wie ihre ſonſtigen Freiheiten: alle hatten ſie verlangt, „bei 
der wahren evangeliſchen Lehre erhalten zu werden“. Sie hatten ſich 
doch zuletzt, wie fruͤher Moritz und andere evangeliſche Fuͤrſten, mit 
bloß muͤndlichen und mehr oder weniger unbeſtimmten Zuſagen begnuͤgen 
muͤſſen. Was die wert waren, haben Viele gewiß geahnt (man kannte 
nachgerade die ſpaniſche Tuͤcke), wir heute, oft in der Lage, dem Kaiſer 
in ſeine Karten zu ſehen, wiſſen es. Schon Anfang Januar 1547 hat 
er, wie wir aus einem Briefe an ſeinen Bruder entnehmen koͤnnen, 
ſich die Frage vorgelegt, ob es, nachdem die Proteſtanten ſeine Taktik, 
als handle es ſich bei dem Kriege gar nicht um die Religion, laͤngſt durch⸗ 
ſchaut haͤtten, nicht an der Zeit ſei, die Maske fallen zu laſſen und die 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


Sache der Religion „offen“ zu betreiben, d. h. durch ein Machtgebot 
und durch Zuͤchtigung der evangeliſchen Prediger alle zum „alten Glauben“ 
zuruckzufuhren, oder ob ein ſolches Vorgehen auszuſetzen ſei bis zu der 
gaͤnzlichen Niederwerfung der „Rebellen“. 

Niemals konnte er daher gemeint ſein, mit jenen halben Zugeſtaͤnd⸗ 
niſſen fein Ziel ſich verrüden zu laſſen: das ganze Deutſchland ſollte der 
alten Kirche wieder unterworfen werden! 

Einen kraͤftigen Anfang dazu hatte er gleich im Winter mit dem 
Erzbistum Köln gemacht, deſſen Evangeliſierung ja für ihn ein Haupt⸗ 
anſtoß zum Kriege geweſen war. Schon im Fruͤhjahr 1546 war Erzbiſchof 
Hermann durch den Papſt abgeſetzt worden; er hatte ſich trotzdem im 
Kriege neutral gehalten. Jetzt war die Zeit gekommen, wo der Schirm⸗ 
herr der Kirche deren Spruch mit ſeinem weltlichen Arm vollſtrecken konnte. 
Auf einem Landtage zu Köln (Januar 1547) ließ der Kaiſer, ungeachtet 
des Widerſpruches der weltlichen Staͤnde, die an ihrem Herrn feſthalten 
wollten, den bisherigen Koadjutor als neuen Erzbiſchof einſetzen. Bald 
darauf verzichtete Hermann von Wied auf ſeine Wuͤrde: er iſt fuͤr 
ſeine Perſon unwandelbar dem evangeliſchen Glauben treu geblieben. 
Überall im Stifte wurde jetzt die Reformation unterdruͤckt: „ein beinahe 
verloren gegangenes Gebiet“ wurde fuͤr Rom zuruͤckerobert: der Rhein 
durfte wieder in ſeinem ganzen Laufe als „des heiligen Reiches Pfaffen⸗ 
ſtraße“ gelten. Zugleich aber war der erſte große Verſuch, in einem geiſt⸗ 
lichen Fuͤrſtentum die religioͤſe Frage im nationalen Sinne zu loͤſen, 
geſcheitert. Wir wiſſen, was fuͤr eine großartige Hoffnung unſer Vater⸗ 
land damit begrub. Wer etwa, wie Franz von Waldeck, der Biſchof von 
Minden, Muͤnſter und Osnabruͤck, ſich mit einem aͤhnlichen Gedanken 
der Reform getragen hatte, mußte ſchleunigſt ſeinen Frieden mit der 
alten Kirche machen. — — 

Was in Köln vollbracht war, das haͤtte nun, ſeitdem der Sommer 
1547 das Ende der „Rebellion“ gebracht hatte, im ganzen Reiche durch⸗ 
geführt werden muͤſſen. Karl war jedoch einſichtig genug, um ſich zu 
ſagen, daß er in den altevangeliſchen Gebieten die Reformation nicht 
fo ohne weiteres ruͤckgaͤngig machen koͤnne. Denn fo wenig wie feinem 
Bruder Ferdinand war ihm die Reformbeduͤrftigkeit der roͤmiſchen Kirche 
entgangen. Seine Hoffnung, die Proteſtanten zu dem „alten Glauben“ 
zuruͤckzubringen, hatte daher zu ihrer Vorausſetzung ſtets die Reinigung 
der katholiſchen Kirche von einer Reihe ſchlimmer Mißbraͤuche gehabt; 
und als das einzige Mittel, dieſe Reform zu vollziehen, war ihm ja von 


352 


Das Konzil und der Papft 


jeher ein allgemeines Konzil erſchienen. Dieſes ſollte Beſchluͤſſe der Art 
faſſen, daß er von den Proteſtanten wirklich Unterwerfung unter dieſe 
hoͤchſte Inſtanz verlangen konnte. Gerade der Krieg hatte ihm die 
Moͤglichkeit bringen ſollen, jenen Beſchluͤſſen Gehorſam zu verſchaffen. 
Die Zuſage der Unterordnung unter das Konzil war deshalb auch die 
unerlaͤßliche Bedingung geweſen fuͤr ſein Abkommen mit den proteſtan⸗ 
tiſchen Fuͤrſten, die in ſeinen Dienſt traten, wie fuͤr den Vertrag mit 
Moritz (nur daß er, wie wir ſahen, verhieß, bei der Abweichung von 
dieſer oder jener Feſtſetzung der Synode durch die Finger zu ſehen). 

Jetzt war ja nun das ſo oft verheißene Konzil endlich Wirklichkeit 
geworden: im Dezember 1545 war es in Trient eroͤffnet, damals, als 
Karl ſeine Hauptaufmerkſamkeit bereits dem geplanten Kriege zuwenden 
mußte. 

War nun das Konzil auf die Abſichten des Kaiſers eingegangen? 
Und war der Papſt bereit, mit dem Kaiſer Hand in Hand zu gehen? 

Auf dieſe entſcheidenden Fragen haben wir jetzt die Antwort zu 
ſuchen. 


4. Das Konzil und der Papſt 


Ias große kirchliche Werk, das hier die weltliche Gewalt 
in Angriff nahm, konnte ſeiner Natur nach nur 


beiden Haͤupter der katholiſchen Chriſtenheit. f 
eam es zu einem ſolchen, fo erhob ſich damit — bei 
der Lage, wie ſie der Krieg geſchaffen — eine ungeheuere 
Gefahr fuͤr den deutſchen Proteſtantismus. Das Konzil haͤtte dann in 
der Tat vermocht, ohne daß der Charakter des mittelalterlichen Chriſten⸗ 
tums beeintraͤchtigt worden waͤre, den Weg einer ſtark in die Augen 
ſpringenden Reform zu betreten und jene Forderungen zu erfuͤllen, welche 
in Deutſchland gerade im Intereſſe des Katholizismus weltliche wie geiſt⸗ 
liche Fuͤrſten erhoben hatten: die Forderungen des Laienkelches, der 


23 Brieger, Reformationsgeſchichte 353 


Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


Zulaſſung der Prieſterehe, auch wohl die einer ſtaͤrkeren Beruͤckſichtigung 
des nationalen Elementes im Kultus. Auch ein gewiſſes Entgegenkommen 
in der Lehre war nicht ſchlechthin undenkbar: es gab in Deutſchland 
Theologen, welche, um den Proteſtanten die Ruͤckkehr zu erleichtern, gern 
bereit waren, hier Auswuͤchſe der Scholaſtik abzuſchneiden, dort Schroff⸗ 
heiten des Ausdruckes zu mildern oder gar mit Huͤlfe neutraler Wendungen 
die Schaͤrfe des Gegenſatzes zu verſchleiern. Ein in der angedeuteten Weiſe 
von Papſt und Konzil reformierter Katholizismus waͤre zweifellos ein 
gefaͤhrlicherer Gegner für die Reformation geweſen als der bisherige ſo 
tauſendfach Argernis gebende; und das nicht bloß, weil er fuͤr den Kampf 
beſſer geruͤſtet geweſen wäre, nein, er haͤtte auch auf ſchwankende und auf 
minder einſichtsvolle Gemuͤter im proteſtantiſchen Lager eine Anziehungs⸗ 
kraft auszuuͤben vermocht, auch wohl bei Anderen, die zur einen Herde 
zuruͤckgebracht werden follten, das Gewiſſen eingeſchlaͤfert und den Streit⸗ 
apfel in die Reihen der Gegner geſchleudert; kurz, ein ſolcher Katholizis⸗ 
mus haͤtte dem Kaiſer fuͤr ſein Vorhaben, die Einheit der Nation auf 
der Grundlage des alten Glaubens wiederherzuſtellen, gewaltigen Vor⸗ 
ſchub leiſten koͤnnen. 

Indeſſen, dieſe große Verſuchung iſt nicht an den Proteſtantismus 
herangetreten. 

Noch einmal hat ſich das Papſttum ein großartiges Verdienſt um die 
Reformation erworben. 

Als fuͤr den Kaiſer der lang erſehnte Zeitpunkt gekommen war, wo 
er ſeinen Plan im Reiche ausfuͤhren konnte, da ſah er ſich hierfuͤr auf ſeine 
eigene Kraft angewieſen. Es war ſein Los, fuͤr die Kirche zu arbeiten nicht 
nur ohne deren Unterſtuͤtzung, ſondern befehdet von ihr. Denn kein Konzil 
tagte mehr zu Trient, und mit dem Papſt entzweite ihn eine bittere Feind⸗ 
ſchaft: in dem letzten Stadium des Religionskrieges hatte Paul III. mit 
ſeinen Sympathieen auf Seiten der Ketzer und Rebellen geſtanden. 
Ja, man darf mit Friedrich von Bezold ſagen: „Gegen eine voͤllige Zer⸗ 
malmung des deutſchen Proteſtantismus iſt Niemand in Europa fruͤher 
und energiſcher eingeſchritten als der Papſt“. 

Den erſten Anlaß zur Entzweiung hatte das Konzil abgegeben. 

Das Konzil von Trient, das letzte allgemeine vor dem Vatikaniſchen 
von 1869/70, hat mit erheblichen Zwiſchenraͤumen unter drei Paͤpſten 
getagt: unter Paul III. 1545/47, Julius III. 1551/52 und Pius IV. 1562/63. 
Es iſt ein Werk jenes ſpaniſchen Geiſtes, den wir ſeiner allgemeinen 
Bedeutung nach bereits kennen gelernt haben, und iſt als ſolches von 


354 


Das Konzil und der Papſt 


einer ganz außerordentlichen Tragweite fuͤr den roͤmiſchen Katholizismus 
der Neuzeit geworden. Es hat eine Arbeit geleiſtet, der wir, bei aller 
Mißbilligung des von ihm feſtgehaltenen Syſtems einer Herabziehung 
des Religioͤſen ins Hierarchiſche und Politiſche, unſere Bewunderung nicht 
vorenthalten koͤnnen. Es hat das ſchwankende und wankende, dem Ein⸗ 
ſturz nahe Gebaͤude des mittelalterlichen Chriſtentums neu fundamentiert, 
zugleich es in ſo manchem Betracht geſaͤubert, auch von dieſem und jenem 
die Reinheit des Stiles beeintraͤchtigenden Anbau befreit. Es hat 
Reformen durchgefuhrt, wie nur die Hitze dieſer beiſpielloſen Heimſuchung, 
welche in Martin Luther uͤber die roͤmiſche Kirche gekommen, ſie zu zeitigen 
vermochte. Keine Tat von Belang hat das Konzil uͤberhaupt vollbracht, 
bei der ihm nicht die Rieſengeſtalt des Erzketzers mahnend, drohend, den 
Gegenſatz herausfordernd vor Augen geſtanden haͤtte. Auf dieſe Weiſe 
wurde, ſoweit es ohne empfindliche Schaͤdigung des kurialiſtiſchen Inter⸗ 
eſſes moͤglich war, eine Menge von Mißbraͤuchen beſeitigt. Es hat mit 
Umſicht und Takt im Dogma feſtgehalten und zum Teil tiefer und ſicherer 
begruͤndet, was von dem in ſeiner ganzen Haͤrte und Schaͤrfe erfaßten 
Prinzip gefordert wurde, und ſo der verderblichen Unſicherheit uͤber das, 
was katholiſch ſei, was nicht, ein Ende gemacht. Es hat auch das Papſt⸗ 
tum mit dem ſtreng kirchlichen Geiſte dieſes neuen Syſtems erfuͤllt und 
es damit aus dem Sumpfe des kleinſtaatlichen italieniſchen Dynaſtentums 
herausgezogen: der negativen Arbeit der Inquiſition, die wir fruͤher ver⸗ 
folgt haben, geſellte das Konzil die poſitive bei. Es hat endlich mit alle dem 
der roͤmiſchen Kirche das verſchwundene Selbſtvertrauen wieder geſchenkt, ſo 
daß ſie unter der Gunſt der allgemeinen Lage, wie das auf die Neige gehende 
16. Jahrhundert ſie ſchuf, ſich daran machen konnte, unter Entfaltung des 
Banners der „ſpaniſchen Prieſter“ das Verlorene zuruͤckzuerobern. 

Jeder einzelne Zug des Bildes zeigt uns das Konzil als im Dienſte 
der Kurie ſtehend: es iſt, ungeachtet der Ruͤckwirkung, welche es auf den 
roͤmiſchen Hof ausgeuͤbt hat, in Tat und Wahrheit das (zuletzt willen⸗ 
loſe) Werkzeug des Papſttums geweſen. Aber nicht von ſelber iſt den 
Paͤpſten die Herrſchaft zu Trient zugefallen. Um von den Scharmuͤtzeln 
abzuſehen, in welche ſie ſich durch einige Anwandlungen von Freiheits⸗ 
geluͤſten des Epiſkopates verwickelt ſahen, haben fie wiederholt einen harten 
Strauß mit dem Kaiſertum zu beſtehen gehabt. So gleich Paul III. in 
den Anfaͤngen der Synode. 

Karl V. hatte verlangt, daß das Konzil, ohne zunaͤchſt Lehrentſchei⸗ 
dungen zu treffen, durch welche die Proteſtanten ja nur zuruͤckgeſtoßen 


23* 355 


Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 


werden konnten, ſich an die Reformarbeit mache. Die Verſammlung 
erblickte gleichwohl ihre Hauptaufgabe in der Feſtſetzung der Lehre. Bald 
lagen verſchiedene dogmatiſche Formulierungen vor, ſo über das Thema: 
„Heil. Schrift und Tradition“ (wobei der unfehlbaren Kirche eine Rolle 
gewahrt wurde, welche das Zuruͤckgehen auf die Quellen des Chriſtentums 
und jede hiſtoriſche Unterſuchung uͤberfluͤſſig machte) und über das zen; 
trale Lehrſtuͤck von der Rechtfertigung. Es waren Dekrete, nur zu ſehr 
geeignet, neue Gegenſaͤtze zum Proteſtantismus zu ſchaffen und den 
Bruch mit ihm zu verewigen. Und haͤtte der Kaiſer wirklich an die Moͤg⸗ 
lichkeit denken koͤnnen, die deutſche Nation zur Anerkennung dieſer neuen 
Satzungen zu bringen? Er wußte, daß die Verſammlung, deren Werk 
ſie waren, grundſaͤtzlich auf Deutſchland keine Ruͤckſicht nahm (dieſes gab 
man bereits fuͤr verloren; unmoͤglich daher, ihm zu Liebe das Heil der 
geſamten Chriſtenheit aufs Spiel zu ſetzen). Überdies war ja Deutſchland, 
obgleich ſtaͤrker als alle übrigen Nationen an dem Konzil beteiligt, wegen 
des Krieges gar nicht auf ihm vertreten. Die Synode war uͤberhaupt 
nur ſpaͤrlich beſucht: am Tage der Eröffnung konnte man 34 Praͤlaten 
zaͤhlen, und fuͤnf Vierteljahre ſpaͤter wurden in der Schlußſitzung auch 
nur 56 Stimmen abgegeben. Neben einigen Franzoſen ſah man faſt nur 
Italiener und Spanier. War das wirklich ein oͤkumeniſches Konzil der 
Chriſtenheit? Ein kaiſerlicher Diplomat, einer der faͤhigſten, Diego de 
Mendoza, welcher damals den Kaiſer zu Trient vertrat, ſpricht (im Dezem⸗ 
ber 1546) in einem Briefe an Granvella von der empoͤrenden „Zumutung, 
daß man in Zukunft gegen beſſeres Wiſſen glauben ſolle, auf dem Konzil, 
welchem man den erhabenen Titel eines oͤkumeniſchen beilege, habe der 
Heilige Geiſt jenes Schurkenvolk [die Italiener! gelenkt“. Von der 
Mitwirkung ſeines eigenen Volkes ſchweigt Mendoza. Und doch war die 
nicht gering. Denn gleich hier, bei den erſten dogmatiſchen Schoͤpfungen, 
hat ſich auch auf dem Konzil der ſpaniſche Geiſt Geltung verſchafft: 
die ſpaniſchen Theologen, Dominikaner und Jeſuiten, am beſten fuͤr 
die neue Aufgabe vorbereitet, fuͤhrten das große Wort. Sie haben 
ſicher nicht gewußt, daß ſie mit ihrer Arbeit den augenblicklichen 
Abſichten ihres katholiſchen Koͤnigs nur Hinderniſſe in den Weg legten. 
Der Kaiſer drang darauf, daß das wichtigſte dieſer Dekrete, das uͤber 
die Rechtfertigungslehre, wenigſtens noch geheim gehalten werde. 
Umſonſt. Recht im Gegenſatz zu ihm wurde es auf Befehl des Papſtes 
Mitte Januar 1547 veroͤffentlicht. Aber laͤngſt trug ſich damals der 
Papſt ſamt einem Teil der Synodalen mit einem Plan, der dem Kaiſer 


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Das Konzil und der Papſt 


noch aͤrger mitſpielen ſollte, naͤmlich das Konzil zu verlegen. Schon 
von Anfang an war es der Kurie anſtoͤßig geweſen, daß dieſe Kirchen⸗ 
verſammlung, wenn auch nicht auf deutſchem, ſo doch auf fremdem, 
unter Habsburgiſchem Regiment ſtehendem Boden tagte. Es kam hinzu, 
daß auf dem Konzil, in dem man, um doch in etwas den Wuͤnſchen des 
Kaiſers zu entſprechen, ſich auch der Sache der Reform zuwandte, eine 
Frage angeregt wurde, welche fuͤr das Anſehen des Papſtes gefaͤhrlich 
zu werden drohte, namentlich fuͤr ſein angemaßtes Recht, ganz nach 
Belieben in die Gewalt der Biſchoͤfe einzugreifen. Einem Teil der Trienter 
Vaͤter, der dem Kaiſer ergebenen Partei der Spanier, ſchien wirklich der 
Gedanke an eine Reform der Kurie nicht ganz fern zu liegen! Das war 
fuͤr den Papſt zu viel! Er durfte nicht laͤnger ſaͤumen, dem Einfluß des 
Nebenbuhlers einen Riegel vorzuſchieben. Sollte er warten, bis der Ver⸗ 
haßte nach gluͤcklich beendetem Kriege etwa in Perſon in Trient auftauchte, 
um das Konzil zu gaͤngeln? Er wies ſeine Legaten an, dem Spiel ein 
Ende zu machen. Dieſe ergriffen den erſten, ſich ihnen halbwegs darbieten⸗ 
den Vorwand, das Auftreten einer unbedeutenden, keineswegs epi⸗ 
demiſchen Krankheit zu Trient, mit der ſich ein paar Todesfaͤlle in Ver⸗ 
bindung bringen ließen; und fo faßte am 1x. März 1547 die Mehrheit 
der verſammelten Vaͤter den Beſchluß, wegen dringender Gefahr Leibes 
und Lebens die Synode nach Bologna (auf paͤpſtliches Gebiet) zu verlegen, 
und ſchon am naͤchſten Tage verließen die Italiener wie in wilder Flucht 
die peſtverſeuchte Stadt. Es war das Ende des Konzils. Daß die Biſchoͤfe 
der Minderheit, die Spanier, ſich nicht fuͤgend, in Trient zuruͤckblieben, 
konnte daran nichts aͤndern. 

Die Sprengung des Konzils war nicht der erſte Akt der Feind⸗ 
ſeligkeit Paul's II. gegen den Kaiſer. Schon im Januar hatte er, 
Karls oft und eindringlich vorgetragene Bitte um Verlaͤngerung des 
nur auf ſechs Monate abgeſchloſſenen Trutzbuͤndniſſes ablehnend, ſein 
Huͤlfsheer abberufen — zur lebhaften Empörung des Verlaſſenen, die ſich 
in Worten des Zornes und des Hohnes kundgab: der Papſt, ſo bekam der 
Nuntius unter vielem anderen zu hoͤren, trachte aus Liebe zu Frank⸗ 
reich, dieſer ſeiner alten „Franzoſenkrankheit“, nach nichts anderem, 
als ihn durch dieſen Krieg, in den er ſelber ihn verwickelt habe, zu Grunde 
zu richten. Dieſer Verdacht ſowie allerlei Zettelungen jenſeits der Alpen 
bewirkten, daß Karl, wie Auguſt von Druffel gezeigt hat, in der naͤchſten 
Zeit ſeinen Blick mehr auf Italien gerichtet hielt als auf den noch unbe⸗ 
zwungenen Norden von Deutſchland, weshalb er, waͤhrend ein Teil ſeines 


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Die Kataſtrophe des Schmalkaldiſchen Krieges und das Konzil von Trient 1546/47 
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deutſchen Heeres entlaſſen wurde, für Italien ſpaniſche Truppen anwerben 
ließ. Von jenem gegen den Papſt erhobenen Vorwurf war ſo viel richtig, 
daß Paul III. von neuem ſich Frankreich genaͤhert hatte und es zur Unter⸗ 
ſtuͤtzung der deutſchen Ketzer mobil zu machen ſuchte. Der für den Ver⸗ 
buͤndeten gluͤckliche Ausgang des Donaufeldzuges hatte in Rom Schrecken 
hervorgerufen und die Furcht aufleben laſſen, der Kaiſer befinde ſich auf 
dem Wege zur Weltherrſchaft. Auch durfte der Papſt mit ſcheinbarem 
Rechte Klage führen, daß fein Nuntius von den Verhandlungen mit 
den ſich unterwerfenden oberdeutſchen Proteſtanten ferngehalten war, 
obgleich hier doch auch die Religion in Frage kam, ja daß die Ketzer ruhig 
bei ihrem Kultus belaſſen waren. Endlich aber fuͤhlte auch der „gute, alte 
Familienvater“ ſich verletzt, wie der mehr als achtzigjaͤhrige Papſt in den 
Briefen ſeiner Vertrauten genannt wird: beharrlich verweigerte der Kaiſer 
die Anerkennung des Pier Luigi Farneſe als Herzogs von Parma und 
Piacenza; ja er hatte dieſem in dem neuen Vizekoͤnig von Mailand, Ferrante 
Gonzaga, einen Nachbarn gegeben, der dem Sohne des Papſtes bei ſeinen 
hochverraͤteriſchen franzoſenfreundlichen Umtrieben ſcharf auf die Finger ſah. 

Eben dieſer Pier Luigi ſollte bald darauf der ungluͤckliche Anſtoß 
werden, daß die Feindſchaft des Papſtes gegen den Kaiſer mit einem toͤd⸗ 
lichen Haß beſeelt und der Bruch zwiſchen beiden unheilbar wurde. Gegen 
das wuͤſte, tyranniſche Regiment des Farneſen erhob ſich in Piacenza 
eine Verſchwoͤrung, und am 10. September 1547 wurde er ermordet: 
erwieſenermaßen hat Ferrante Gonzaga die Bewegung angezettelt und 
geleitet und — nicht ohne Vorwiſſen ſeines kaiſerlichen Herrn, der uͤber⸗ 
dies das von den Seinen beſetzte Piacenza ruhig behielt. 

Waͤre da noch daran zu denken geweſen, daß Paul III. der Forderung 
des Kaiſers, die Synode nach Trient zuruͤckzuverlegen, nachgab? Erſt 
der Nachfolger Paul's III. (er ſtarb am 10. November 1549), Julius III., 
zeigte ſich bereit dazu, fo daß das Konzil am r. Mai 1551 wieder in Trient 
zuſammentreten durfte. Aber faſt genau nach Jahresfriſt ſtob es — dies⸗ 
mal eine wirkliche Flucht! — nach allen Seiten auseinander: noch ein Mal 
war die politiſche Kraft des deutſchen Proteſtantismus aufgeflammt und 
hatte zu Trient wie ein Blitz gezuͤndet. Als ein Jahrzehnt ſpaͤter zum 
dritten Mal die Vaͤter in der alten Konzilsſtadt ſich ſammelten, da war 
der maͤchtige Kaiſer nicht mehr am Leben, und Deutſchland hatte ſeinen 
Frieden gemacht ohne Papſt und Konzil. 

So iſt es gekommen, daß die geſchichtliche Bedeutung des Trienter 
Konzils, die wir uns früher in ihrer Größe zu verdeutlichen ſuchten, für 


358 


Das Konzil und der Papſt 


Deutſchland erſt in der Epoche der Gegenreformation ſich geltend zu machen 
anhebt, ſo daß wir bei dem Fortgang unſerer Geſchichte von jetzt ab von 
der wichtigſten Kirchenverſammlung der Neuzeit abſehen duͤrfen. 

Selbſt die erſte Tagung des Konzils war fuͤr Deutſchland zunaͤchſt 
wie nicht vorhanden. Ließ ſich fuͤr die Politik der Habsburger irgend etwas 
mit den Großtaten der paͤpſtlichen Verſammlung anfangen? Das Urteil 
Ferdinands wird nicht weit von dem ſeines Bruders abgewichen ſein, 
wenn er, von Karl um ſeine Meinung gefragt, (im Februar 1547) aͤußerte: 
ganz anders als zu Trient muͤſſe es auf einem allgemeinen Konzil zugehen; 
man muͤſſe den Proteſtanten den Anlaß nehmen, uͤber das Konzil die 
Naſe zu ruͤmpfen; ſie duͤrften keinen Grund mehr haben, ſich zu beklagen, 
daß man willkuͤrlich die einen ausſchließe, den andern Gehoͤr gebe oder 
uͤbereilte Beſchluͤſſe faſſe. 

Die auf dieſe Weiſe durch das Konzil geſchaffene Lage konnte den 
Kaiſer uͤber ſeine jetzige kirchenpolitiſche Aufgabe nicht in Zweifel laſſen. 
Vollends lag ſein Weg klar vor ihm, ſeit ſein Zwiſt mit Paul III. ſich 
unheilbar erweitert hatte. Wollte er die Fruͤchte des Krieges pfluͤcken nicht 
nur in politiſcher Hinſicht durch Unterdruͤckung der ſtaͤndiſchen „Libertaͤt“, 
ſondern vor allem auch fuͤr die Erreichung ſeines kirchlichen Ideales, 
dann ſah er ſich jetzt auf ſich allein angewieſen, auf die eigene Kraft. 

Und auf ſie ſich zu verlaſſen, iſt ihm ſicher nicht als Wagnis erſchienen. 
Er war ſich des Außerordentlichen ſeiner augenblicklichen Machtſtellung 
wohl bewußt. 

Daher auch das Tyranniſche ſeines Vorgehens. 

Es kennzeichnet die Anfaͤnge der letzten Epoche des Reformations⸗ 
Zeitalters. Ihr Ende aber bietet uns ein ganz anderes Bild: da ſehen wir 
die Macht des Deſpoten zerſchellt und die Nation endlich, endlich ſich ſelbſt 
uͤberlaſſen. 


Karl V. auf der 
Hoͤhe ſeiner Macht. 
Sein Sturz. 


Das Abkommen der 
deutſchen Parteien 
untereinander 
1547-1555 


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1. Das proviſoriſche Religionsgeſetz des Kaiſers, das „Interim“ 
von 1548 


Nuf eigene Hand mußte Karl jetzt in Sachen der 
YVES] Religion Ordnung ſchaffen. Bei den Altkirchlichen, 
2 N Au: die, vor dem Kriege zaghaft, ja feige, jetzt wieder 


es in ſeiner Macht geſtanden, wuͤrde er ja einfach uͤberall in deutſchen 
Landen die alte Kirche in ihre Herrſchaft wieder eingeſetzt haben, 
was er, wo beſonders guͤnſtige Verhaͤltniſſe das geſtatteten, auch wirklich 
tat, wie z. B. in dem trotzigen Konſtanz, das zugleich mit ſeiner reichs⸗ 
ſtaͤndiſchen Freiheit feinen evangeliſchen Glauben gewaltſam unterdruͤckt 
360 


Das proviſoriſche Religionsgeſetz des Kaiſers, das „Interim“ von 1548 


ſah. Indeſſen, uͤberall mit Gewalt einzuſchreiten, das vermochte doch auch 
der Sieger uͤber die Schmalkaldener nicht entfernt. Der Widerſpruch des 
aufſaͤſſigen Magdeburg war ungeſtraft, ungebrochen der Widerſtand 
von ganz Niederdeutſchland geblieben. Und Herr über den Bund gewor⸗ 
den war er doch auch nur dank der Unterſtuͤtzung etlicher proteſtantiſcher 
Fuͤrſten, dank der Zuruͤckhaltung anderer evangeliſcher. Haͤtte er auch auf 
die Neutralen keine Ruͤckſicht nehmen wollen, ſo hatte er doch feine Ver; 
buͤndeten nur zur Unterwerfung unter das Konzil verpflichtet. Das 
aber war nur wie ein Luftſchloß aufgetaucht — fuͤr ihn ſelber eine herbe 
Taͤuſchung. Da galten doch im Grunde fuͤr alle nicht im Kriege nieder⸗ 
geworfenen Evangeliſchen noch die alten, von ihm auf den Reichstagen 
gegebenen Zuſagen, welche ſeit dem Nuͤrnberger Frieden immer auf 
Duldung der religioͤſen Abſonderung bis zum Konzil gegangen waren. 
Wir ſehen, in eine wie große Verlegenheit ihn der Papſt gebracht hatte. 
Er mußte alſo von Rechts wegen von neuem mit dem Reichstage arbeiten, 
und — die wichtigſte Folgerung, welche ſich aus der Situation ergab 
— dieſer ganzen neuen Ordnung, die er jetzt herſtellen konnte, war von 
Anfang an der Stempel des Proviſoriums aufgedruͤckt: die Grenze der 
Geltung war und blieb das Konzil. War dieſes von Paul III. wirklich 
nicht mehr zu erreichen, ſo brauchte er bei dem hohen Alter des Farneſen 
doch vielleicht nicht mehr lange auf die Mitwirkung von Papſt und Konzil 
zu verzichten, fo daß die Schaffung einer endgültigen Ordnung doch nicht 
in allzu ferner Ausſicht ſtand. Auf jene bloß vorlaͤufige Schoͤpfung 
aber ſah er ſich durch mehr als eine Erwaͤgung gefuͤhrt. Schon ſein 
eingefleiſchter Gehorſam gegen die Kirche wuͤrde es ihm nie erlaubt 
haben, einſeitig, ohne Gutheißung der hoͤchſten Inſtanzen ſo tief ein⸗ 
ſchneidende Geſetze anders denn als eine von der Not diktierte einſt⸗ 
weilige Ordnung zu geben. Dasſelbe verbot ihm aber auch die Ruͤck⸗ 
ſichtnahme auf die altkirchliche Partei unter den Staͤnden. Endlich 
aber, was bezweckte er uͤberhaupt mit ſeiner neuen Religionsordnung? 
Sollte ſie etwa das friedliche Nebeneinanderbeſtehen von Alt⸗ und Neu⸗ 
kirchlichen im Reiche ermoͤglichen, in der Weiſe, daß die Abgewichenen, 
indem ſie ſich unter ein kaiſerliches Glaubensgeſetz beugten, zwar in 
erheblichem Umfang in Lehre und Braͤuchen der alten Kirche ſich wieder 
anbequemten, dafuͤr aber fuͤr die noch uͤbrig bleibenden Abweichungen 
geſetzliche Duldung erhielten? Mit nichten! Karls Ziel blieb immer das 
alte, uns bekannte: Herſtellung der Glaubenseinheit um jeden Preis, 
bedingungsloſe Unterwerfung unter die heilige katholiſche Kirche. Daher 


Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


konnte die Duldung, welche er jetzt in dieſem oder jenem Punkte gewaͤhrte, 
ihr Daſein einzig der Unmoͤglichkeit verdanken, jenes Ziel mit einem 
Schlage zu erreichen. Und daß ſie nur die fluͤchtige Gabe eines Übergangs; 
ſtadiums fein follte, daruͤber wenigſtens hat er bei all feiner ſonſtigen 
Verſchlagenheit, die auch bei dieſem Unternehmen nicht fehlte, die Pro⸗ 
teſtanten keinen Augenblick in Zweifel gelaſſen: „nur bis zum Konzil“ war 
die Loſung. „Der Roͤmiſchen Keyſerlichen Majeſtat Erklaͤrung, wie es 
der Religion halben im heyligen Reich biß zu Außtrag deß gemeinen 
Concilij gehalten werden ſol“, lautete der Titel des neuen Religions⸗ 
geſetzes, welches am 15. Mai 1548 auf dem Reichstage zu Augsburg, 
nach Annahme durch die Staͤnde, veroͤffentlicht wurde, bald wegen ſeiner 
bloß einſtweiligen Geltung das kaiſerliche „Interim“ genannt. Der Kaiſer 
hatte anfangs truͤgeriſch die Miene angenommen, als ſollte dieſes Geſetz 
für beide Religionsparteien gelten. Eine einheitliche Ordnung, für das 
ganze Reich beſtimmt, haͤtte nicht nur den boͤſen Schein getilgt, als fei 
das Interim bloß auf die Evangeliſchen zugeſchnitten, ſondern fie würde 
ja auch allein der ſo oft gegebenen Verheißung des Kaiſers entſprochen 
haben, wie er noch im Herbſt 1547 auf eben dieſem Reichstage (der bereits 
am 1. September in der jetzt von Waffen ſtarrenden Reichsſtadt eröffnet 
war) ſeinen Willen erklaͤrt hatte, die Spaltung in der Religion „zu ſchleu⸗ 
nigem Austrage und Endſchaft zu bringen“. Indeſſen, der Widerſpruch 
Bayerns und der geiſtlichen Staͤnde, die ſchon zu Beginn des Reichs⸗ 
tages ungebaͤrdig die Anwendung ruͤckſichtsloſer Gewalt zu Gunſten der 
alten Kirche gefordert hatten, gab dem Kaiſer den erwuͤnſchten Anlaß, 
mit feiner wahren Meinung herauszuruͤcken, indem er erklaͤrte, das 
Geſetz verpflichte nur die Proteſtanten, die übrigen Stände ſollten nach 
wie vor die Satzungen „gemeiner chriſtlicher Kirchen“ halten. Die falſche 
Vorſpiegelung hatte ihre Wirkung bereits getan. Durch ſie naͤmlich hatte, 
gutglaͤubig und kurzſichtig, der Kurfuͤrſt von Brandenburg ſich fuͤr den 
Plan und zur Mitwirkung an ſeiner Ausfuͤhrung gewinnen laſſen. 
Gemeinſam mit dem ſchwachmuͤtigen Pfaͤlzer hatte Joachim II. auf dem 
Reichstage den Entwurf des Interims dem Kaiſer vorlegen muͤſſen, 
damit es den Anſchein gewinne, als ſei der Anſtoß dazu uͤberhaupt von 
evangeliſcher Seite ausgegangen. Ein evangeliſcher Theologe war denn 
auch wirklich zur Ausarbeitung mit herangezogen, Joachims Hofprediger, 
Johann Agricola von Eisleben, einer der aͤlteſten Schüler Luthers. Er 
hatte 1540, nachdem er mit dem Reformator in einen dogmatiſchen Streit 
geraten, gern den ihm zu heiß gewordenen Boden Wittenbergs mit dem 


362 


Das proviſoriſche Religionsgeſetz des Kaiſers, das „Interim“ von 1548 


glatten Eſtrich des Berliner Schloſſes vertauſcht und bald ſeine alten Sprich⸗ 
woͤrter „Lange zu Hofe, lange zur Hoͤlle“ und „Alsbald Petrus gen Hofe 
kam, ward ein Bube daraus“ nicht mehr gelten laſſen wollen. Er war 
begabt, aber leichtlebig, eitel, charakterlos, voll eines bloͤden Optimismus 
und ſo nach der Wendung, die er in Berlin gemacht, wie dafuͤr geſchaffen, 
ſich und den Proteſtantismus in Augsburg zu kompromittieren: nach der 
Schlacht von Muͤhlberg hatte er im Dome zu Berlin eine Dankpredigt 
gehalten und Gott geprieſen, daß er „den Sachſen, den Feind, in die 
Hände kaiſerlicher Majeſtaͤt gegeben“, den „frommen Kaiſer“ wunderbar, 
wie einſt durch das Rote Meer, „durch die Elbe gefuͤhret, damit er den 
Feind bekomme“, und er hatte ſeiner Zuverſicht Ausdruck gegeben, daß 
der Sieg des Kaiſers „zur Ausbreitung des heil. Evangeliums gereichen“ 
werde. Lediglich um die Ausbreitung des Evangeliums war es, wenn 
man ihn hoͤrte, dem Hoftheologen auch in Augsburg zu tun geweſen. 
Waͤhrend vor ihm dieſes Buch lag, welches ganz Deutſchland wieder 
papiſtiſch machen ſollte, ſprach er in ſeiner Verblendung die Hoffnung aus, 
„ganz Deutſchland werde jetzt das Evangelium annehmen“: „Die Biſchoͤfe 
werden mit uns gemeinſam die Lehre des Evangeliums verkuͤndigen“. 
übrigens war fein Anteil an der Abfaſſung des Interims faſt gleich Null. 
Nur das Werk katholiſcher Verfaſſer ſollte ja ſein Name decken helfen. Die 
Hauptarbeit hat Julius von Pflug geliefert, der unlaͤngſt durch proteſtan⸗ 
tiſche Waffen in ſein, ihm durch Johann Friedrich ſo lange geſperrtes 
Bistum Naumburg eingeſetzt war. Von humaniſtiſcher Bildung und 
Geſinnung, nahm er eine milde, vermittelnde Haltung ein. Aber neben 
ihm ſind einige nicht eben zur Nachgiebigkeit geneigte Theologen taͤtig 
geweſen, darunter zwei Spanier. Dieſe katholiſchen Verfaſſer haben dem 
Interim ſeinen Charakter gegeben. Kaum haͤtte das Joch, unter das 
die Evangeliſchen ihren Nacken beugen ſollten, härter fein koͤnnen. In 
der Lehre, wo der Entwurf Pflugs faſt durchweg das Beſtreben gezeigt 
hatte, den Proteſtanten fo weit wie möglich entgegenzukommen, wurden 
dieſe Spuren von Ruͤckſichtnahme zwar keineswegs uͤberall getilgt; allein 
die Spanier hatten dafür geſorgt, daß in den wichtigſten Lehrſtuͤcken das 
Spezifiſch⸗Katholiſche mit Schärfe hervorgekehrt wurde: fo bei der Lehre 
von der Rechtfertigung und im Kirchenbegriff. Wer dieſe Formulierungen 
annahm, gab damit ſeinen evangeliſchen Glauben auf. Er hatte auch den 
Akt der Wiederunterwerfung unter Papſt und Biſchoͤfe zu vollziehen; 
und wieder aufgebaut waren fuͤr ihn die Mauern, welche Luther in der 
Schrift „An den Adel“ umgeſtoßen hatte: die Gewalt des Papſtes, die 


363 


Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


Schrift auszulegen und auf einem allgemeinen Konzil das Dogma zu 
ſchoͤpfen. Auch die ſieben Sakramente hielten wieder ihren Einzug und 
mit ihnen das Meßopfer und die Anrufung der Heiligen. Seinen Wieder⸗ 
einzug hielt endlich, um der neuen Kirche auch äußerlich bis in die kleinſten 
Einzelheiten hinein das Gepraͤge des Papismus zu verleihen, das ganze 
große Heer der Zeremonien, wie Feſte und Faſttage (unter jenen ſogar 
Fronleichnam!), Vigilien und Seelmeſſen, Weihungen und Prozeſſionen, 
der Altaͤre und der Prieſterkleider zu geſchweigen. Angeſichts dieſer 
vollſtaͤndigen Wiederaufrichtung der alten Zwingburg fragen wir 
erſtaunt: was ließ man denn den Evangeliſchen einſtweilen — bis 
zum Konzil? Den Kelch im Abendmahl unter der Vorausſetzung, 
daß der Papſt ihn geſtatte, und fuͤr die verheirateten Prieſter die 
Erlaubnis, ſich fuͤr das Fortbeſtehen ihrer Ehe — Dispens beim Papſt 
zu holen! 

Das war alles. Doch nein! Mindeſtens ebenſo ſchwer, ja noch ſchwerer 
wog ein anderes Zugeſtaͤndnis, welches in dem Übergehen einer Frage 
von elementarer Bedeutung lag: kein Wort ſtand hier zu leſen von der 
Zuruͤckgabe des eingezogenen Kirchen⸗ und Kloſtergutes, welche, als die 
notwendige Vorausſetzung fuͤr die Ruͤckkehr von „Ruhe und Einigkeit“ 
im Reiche, die Altkirchlichen noch auf dieſem Reichstage gefordert hatten 
(vom Kaiſer jedoch fuͤr unerreichbar erklaͤrt war). Im Vergleich hierzu 
mußte den Proteſtanten bedeutungslos erſcheinen, daß noch einiges 
andere, wie Fegefeuer und Ablaß, im Interim mit Stillſchweigen uͤber⸗ 
gangen war. Und auch der verheißungsvolle Schluß konnte kaum Wert 
fuͤr ſie haben, ſo unangenehm er auch in Rom beruͤhren mochte. 
Hier war naͤmlich mit duͤrren Worten eingeraͤumt, daß, „was die 
Disziplin der Geiſtlichen und des Volkes angehe, hoch von noͤten wäre 
abzutun die Ergernuſſen aus der Kirche, die groß Urſach geben haben 
zu der Zerruͤttung dieſer Zeit“, und daran die Zufage geknuͤpft, 
daß der Kaiſer „eine nuͤtzliche Reformation der Kirche verſchaffen“ 
werde. 

Und wirklich nahm er dieſe ſofort in die Hand. Im Juli erſchien, mit 
der amtlichen Ausgabe des Interims im Druck vereint, eine von Karl 
auf dem Reichstage mit den geiſtlichen Staͤnden vereinbarte „Reforma⸗ 
tionsordnung“, welche darauf ausging, mit Huͤlfe deutſcher Kirchen⸗ 
ſynoden den Klerus zu Zucht und Sitte zuruͤckzufuͤhren und im Sinne der 
alten konziliaren Theorie mit etlichen beſonders ſtoͤrenden Mißbraͤuchen 
(wie z. B. der Haͤufung der Pfruͤnden) aufzuraͤumen. Indem der Kaiſer 


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Das proviſoriſche Religionsgeſetz des Kaiſers, das „Interim“ von 1548 


in dieſer Weiſe als Reformator auftrat, lieferte er eine Art von Vor⸗ 
arbeit für das Konzil und enthuͤllte zugleich wenigſtens einen Teil feines 
Reformprogramms fuͤr dieſes. Dadurch aber gewann ſein ganzes Unter⸗ 
nehmen, die Religionsfrage wenngleich nur vorlaͤufig zu loͤſen, noch eine 
beſondere Spitze gegen den Papſt. Auf der anderen Seite hatte dieſer 
freilich die Genugtuung, daß der Kaiſer, wie wir ſahen, nicht den Mut 
fand, die beiden geringen Zugeſtaͤndniſſe des Laienkelches und der Prieſter⸗ 
ehe, deren Bewilligung doch fruͤher ſogar ein Clemens VII. nicht fuͤr 
unmoͤglich erklaͤrt hatte, proviſoriſch von ſich aus zu machen. Karl machte 
ſich dadurch vom Papſt abhaͤngig: dieſer hatte es jetzt in der Hand, durch 
Verweigerung, ja ſchon durch Verzögerung feiner Dispenſationen dem 
kirchlichen Diktator ſein Werk zu erſchweren. 

Aber ſollte Karl V. es uͤberhaupt vermoͤgen, das Werk hinauszu⸗ 
fuͤhren? 

Es war die Frage der Fragen fuͤr ihn, die Frage, mit der das Schick⸗ 
ſal an ihn herantrat — und nicht an ihn allein: denn es war, wie Ranke 
einmal in anderem Zuſammenhange ſich ausdruͤckt, „die große Lebens⸗ 
frage fuͤr Europa und die Welt“. 

War dem Kaiſer jetzt das Gelingen verſagt, dann litt er Schiffbruch, 
Schiffbruch in dem Augenblick, da bereits der ſichere Hafen ſich vor ihm 
auftat. Das Ziel ſeines Lebens war verfehlt. 

Hat der große Rechenkuͤnſtler, der weitausſchauende Politiker das 
Unternehmen, in welches ihn ſein Zerwuͤrfnis mit dem Papſt hineintrieb, 
in ſeiner ganzen Schwere erkannt? Wir wiſſen es nicht. Eins aber ſcheint 
gewiß: er hat an ſein Gelingen geglaubt. 

Und das kann uns nicht uͤberraſchen. 

Er hatte damals den Gipfel ſeiner Macht erreicht. „Den großen 
Fuͤrſten von Europa“ hat Ranke ihn im Blick auf dieſe Jahre genannt. 
Er war im Beſitz einer Reichsgewalt, wie ſie ſeit langer, langer Zeit keiner 
ſeiner Vorgaͤnger gehabt hatte. „Seit mehr als dreihundert Jahren“, 
ſagt Ranke, „machte ſich zum erſten Mal ein durchgreifender Wille in Oeutſch⸗ 
land geltend“. Alles im Reiche „beugte ſich, alles gehorchte“. „Es war 
einmal wieder ein Oberhaupt von durchgreifender Macht in Deutſchland, 
und Jedermann fuͤhlte, daß ein ſolches da war“. Wie haͤtte dieſes Gefuͤhl 
ihm felber abgehen koͤnnen? Trotz der ihm eigenen Kraft der Selbſt⸗ 
beherrſchung brach es auch nach außen hervor: in der weniger verbindlichen, 
oft ſtolzen und herriſchen Art, wie er den deutſchen Fuͤrſten begegnete; 
in der Geringſchaͤtzung, mit welcher er die Klagen der Staͤnde uͤber die 


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Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


beſtialiſche Wildheit ſeiner ſpaniſchen und italieniſchen Soͤldlinge abwies, 
obgleich er ſie doch nach der bei ſeiner Wahl uͤbernommenen Verpflichtung 
überhaupt nicht haͤtte ins Reich führen dürfen; endlich in den Auße⸗ 
rungen ſeines Haſſes gegen den Landgrafen, den er in Augsburg nicht 
nur dem Übermut ſpaniſcher Soldaten preisgab, ſondern gelegentlich auch 
wohl wie ein Triumphator durch die Gaſſen der Stadt ſchleppte. 

Aber hat nicht eben dieſes Gefuͤhl in ſeiner Lebhaftigkeit den ſonſt 
ſo nuͤchternen Herrſcher uͤber das, was er in Wahrheit erreicht, getaͤuſcht? 
War er denn jetzt in Tat und Wahrheit Herr im Reiche? Das will ſagen: 
hatte er wirklich der kaiſerlichen Gewalt eine monarchiſche Grundlage gegeben? 
Alle die Zeichen williger Unterordnung auf dem Reichstage von 1547/48, 
die ihm guͤnſtigen Einrichtungen, die er hier durchſetzte, gaben ihm doch 
kein Recht, die Frage zu bejahen. Das laͤngſt aus allen Fugen weichende 
Reich blieb das alte. Alle Verſuche einer Anderung von Grund aus ſchei⸗ 
terten an dem zaͤhen Beharrungsvermoͤgen der uͤberkommenen Inſti⸗ 
tutionen und an dem tief eingewurzelten Hang einer allen feſten Ord⸗ 
nungen widerſtrebenden Ungebundenheit, kurz an der alten reichsſtaͤndiſchen 
„Libertaͤt“. 

Daß dieſes an Anarchie ſtreifende Herkommen der Staͤnde wie der 
niederen Gewalten, Geſetze Geſetze ſein zu laſſen, noch ungebrochen war, 
die Erfahrung ſollte er gerade an ſeinem kirchlichen Reichsgeſetz, dem 
Interim, machen — und das um ſo ſtaͤrker, als er mit ihm die ihm fremde 
Nation in tiefſter Seele verletzt hatte. 

Den Widerſtand, den es heraufbeſchwor, muͤſſen wir uns jetzt ver⸗ 
gegenwaͤrtigen. 


Der Widerſtand gegen die Glaubensdiktatur des Kaiſers, 1548—1552 


2. Der Widerſtand gegen die Glaubensdiktatur des Kaiſers 
11552 


Jie evangeliſchen Stände, die auf dem Reichstage dem 
l Geſetz zugeſtimmt hatten, oder über deren Köpfe hinweg 

les gegeben war (dies war bei den Städten der Fall), 
/ dachten kaum an feine Ausfuͤhrung — es ſei denn, daß, 
wie im Suͤden, die Habsburgiſche Macht ihnen auf dem 
: [Nacken ſaß. Wie Herzog Ulrich von Württemberg, fo 
W sn die e Reichsſtädte ſich fuͤgen, in denen Karl gelegentlich, wie 
in Augsburg und Ulm, dem Gehorſam nachhalf, indem er die demokratiſche 
Verfaſſung ſtuͤrzte und die alten ihm ergebenen Geſchlechter wieder ans 
Regiment brachte. Bei dieſen Magiſtraten von Kaiſers Gnaden bedurfte es 
dann nicht erſt der Drohungen, mit denen ſonſt eifrige kaiſerliche Raͤte die 
Stadtherren einſchuͤchterten, wie einer von ihnen den Frankfurter Abgeord⸗ 
neten anfuhr: der Kaiſer wolle das Interim gehalten haben, und ſollte er 
ein Koͤnigreich daruͤber zuſetzen: „Lernt nur das Alte wieder, oder man wird 
euch Leute ſchicken, die es euch lehren; ihr ſollt noch ſpaniſch lernen!“ (Mit 
ſeinen Spaniern zu ſchrecken verſchmaͤhte auch Karl ſelbſt nicht: „er werde 
naͤchſtens ein paar tauſend Spanier in feinem Lande ſehen !, ließ er dem Pfalz⸗ 
grafen Wolfgang ob ſeiner Abneigung gegen das Interim melden.) So 
mußten ſich die Städte dazu verſtehen, ihre Kirchen für den alten Gottes dienſt 
wieder herzugeben, hoͤchſtens daß dies wie in Straßburg nur mit einem 
Teile von ihnen geſchah. Das ſchloß mittelbar die Beurlaubung der bis⸗ 
herigen Prediger ein. Denn an eine Anbequemung auch nur an die 
Außerlichkeiten, die das Interim forderte, war nicht zu denken: mit Chor⸗ 
rock, Weihwaſſer, Ol und Chryſam wollten dieſe Verkuͤnder des Evan⸗ 
geliums ihr Gewiſſen nicht beflecken: ſie zogen davon, faſt ausnahmslos, 
nicht wiſſend wohin, nur den feſten Entſchluß im Herzen, „eher Hunger, 
Elend und den Tod zu ertragen, als von der reinen Lehre zu weichen“. 
Den kraͤftigen, lauten Worten gegen den Antichriſt druͤckte jetzt in den 
Tagen der Verfolgung die Bewaͤhrung das Siegel auf. Wie wuͤrde Luther 
gejubelt haben, haͤtte er dieſe Frucht ſeines Evangeliums noch geſehen! 
Aber gut war es, daß er nicht zu ſchauen brauchte, was ihn mit Trauer 
erfuͤllt oder auch die Glut ſeines Zornes entflammt haben wuͤrde, wie es 
ſo ganz anders in Wittenberg zuging, wie dort, von wo der Sturmlauf 
wider das Reich des Antichriſts ſeinen Ausgang genommen, Kurfuͤrſt 


367 


Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


Moritz mit ſeinem Diplomatiſieren nach und nach den kleinmuͤtigen 
Melanchthon und ſeine ergrauten Genoſſen, die einſt aufrecht an der Seite 
des Reformators geſtanden hatten, zu halber Unterwerfung unter das 
kaiſerliche Buch brachte. Dieſes, wie es war, einzufuͤhren, haͤtte Moritz 
aus Ruͤckſicht auf ſeine Staͤnde nicht wagen duͤrfen. Ganz von ihm 
abzuſehen, verbot ihm ſein Verhaͤltnis zum Kaiſer. So wurde ein Mittel⸗ 
weg eingeſchlagen, ein kurſaͤchſiſches Interim hergeſtellt. Das gemeinſame 
Erzeugnis der ſaͤchſiſchen Theologen und des Naumburger Biſchofs 
Julius von Pflug, war es in der Lehre ein Gemengſel von katholiſchen 
und evangeliſchen Elementen, das in allem Weſentlichen eine proteſtan⸗ 
tiſche Auffaſſung zuließ, in den aͤußeren Gebraͤuchen papiſtiſch. Dieſe 
wieder angenommenen Riten wurden hier freilich durchweg in evange⸗ 
liſchem Sinne umgedeutet, uͤberdies von Melanchthon und den Seinen 
für etwas religiös gleichguͤltiges (für „Mitteldinge“, Adiaphora) erklaͤrt. 
Auch wieſen die Wittenberger darauf hin, daß Luther ſie anfaͤnglich noch 
geduldet habe. „Allein“ — ſo hat ſchon Ranke erinnert — „welch ein 
unermeßlicher Unterſchied iſt es doch, das Hervorgebrachte einſtweilen 
beſtehen laſſen, und das bereits Abgeſchaffte wiederherſtellen. Dort 
ſchont der großmuͤtige Sieger: hier unterwirft ſich, gedraͤngt und geaͤngſtigt, 
der Beſiegte“. „Lieber eine gewiſſe Knechtſchaft tragen, als die Kirche ganz 
veroͤdet ſehen“, war die Erwägung, mit der Melanchthon fein charakter⸗ 
ſchwaches Nachgeben bemaͤntelte. Aber wie haͤtte er die oͤffentliche Mei⸗ 
nung des Proteſtantismus, deſſen lang verhaltene Kraft eben jetzt durch 
den Druck entbunden wurde, auf ſeiner Seite haben koͤnnen? Calvin 
durfte ihm ins Geſicht ſagen: „Mehr Klagen und Seufzer haſt du durch 
dein geringes Zuruͤckweichen hervorgerufen als hundert Kleinere durch 
ihren offenen Abfall“. Bald konnte Melanchthon mit Schrecken wahr⸗ 
nehmen, mit welch elementarer Heftigkeit die Erregung des proteſtantiſchen 
Gefuͤhls ſich Luft machte — zunaͤchſt dort, wohin die Macht des Kaiſers 
nicht reichte, und wo kein Fuͤrſt wie Moritz ſaͤnftigend eingriff. Noch ſtand 
Magdeburg, ſeit dem Schmalkaldiſchen Kriege in Acht, unbezwungen da, 
und unbezwungen war noch das ganze Niederſachſen. Hamburg, Luͤbeck, 
Bremen wurden unter ſich und mit Luͤneburg, Braunſchweig, Hannover, 
Hildesheim, Goͤttingen und Eimbeck eins, das Interim zu verwerfen, 
Leib und Gut daruͤber zuzuſetzen. Mit einer gemeinſamen Kritik des 
kaiſerlichen Religionsgeſetzes betraten die Geiſtlichen dieſer Staͤdte das 
Feld der literariſchen Polemik. Ungleich leidenſchaftlicher wurde dieſe aber 
von Magdeburg aus gefuͤhrt. Hierhin hatte ſich eine Anzahl charakter⸗ 


368 


Der Widerſtand gegen die Glaubensdiktatur des Kaiſers, 1548—1552 


voller Maͤnner zuruͤckgezogen; ſo einer der aͤlteſten Freunde Luthers 
Nicolaus von Amsdorf (einft evangeliſcher Biſchof von Naumburg) 
und ein junger Wittenberger Profeſſor Matthias Vlacich, ein feuriger 
Suͤdlaͤnder (er war im Gebiete von Venedig in dem iſtriſchen Staͤdtchen 
Albona geboren, daher Flacius Illyricus ſich nennend), den es in der 
Stickluft des „interimiſtiſchen“ Wittenberg nicht lange geduldet hatte. 
Dieſe Männer machten Magdeburg zum Hauptherd des Widerſtandes: 
zumeiſt aus den Preſſen dieſer Stadt ergoß ſich allen kaiſerlichen Verboten 
zum Trotz über ganz Deutſchland eine Flut von „Schmach⸗ und Schand⸗ 
buͤchlein“: theologiſche Abhandlungen, Predigten, Dialoge, daneben 
eine Fuͤlle von Liedern, die einen in Form des Gebetes, voll Hohn, Ironie, 
Satire die andern, alle trotziglich auf den Ton geſtimmt: 
„Das Interim 
Ich nicht annimm, 
Und ſollt die Welt zerbrechen“. 
Und wie der Papſt, ſo ſah ſich jetzt auch der Kaiſer angetaſtet: 
„Herr Gott vom Himmel, ſteh uns bei 
Und ſtraf des Kaiſers Tyrannei 
Und ſteuer ſeinem Toben! 
Er macht ſich Gott vom Himmel gleich 
Und ſtieß ihn gern aus ſeinem Reich, 
Das ſieh, o Gott, dort oben!“ 

Wieder flutet hier das Religioͤſe und das Nationale ineinander. 
Faſt ſehen wir uns zuruͤckverſetzt in die Jugendzeit der Reformation — 
nur daß die Polemik der Proſaſchriften klobiger geworden iſt: die groben 
Ausdruͤcke des alternden Luther erſcheinen hier wie auf einen Haufen 
getuͤrmt und noch bereichert. Aber wer moͤchte es tadeln, daß der gerechte 
Zorn ſich nicht in edleren Formen uͤber den Gegner ergoß? Wer wollte 
Zartheit des Empfindens, wer vornehme Zuruͤckhaltung von dieſer 
wild bewegten Zeit verlangen, in der von neuem das Heiligſte des deut⸗ 
ſchen Volkes mit Fuͤßen getreten wurde — und zwar von der oberſten ein⸗ 
heimiſchen Gewalt? 

Man hat von Karl V. geſagt, mit dem religioͤſen Enthuſiasmus 
als wirkſamem politiſchen Faktor zu rechnen, ſei nicht ſeine Art geweſen. 
Schon ein Mal hatte dieſer Mangel ſeine Berechnung uͤber den Haufen 
geworfen, damals vor dem Kriege, als er glaubte, er werde es mit 
den beiden fuͤrſtlichen Haͤuptern des Bundes allein zu tun haben. Er 
hatte jetzt dieſen Fehler zum zweiten Mal begangen: nur die Obrigkeiten 
hatte er ins Auge gefaßt (mit ihnen meinte er bald fertig zu werden), 


24 Brieger, Reformationsgeſchichte 369 


Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


das deutſche evangeliſche Volk hatte er außer Anſatz gelaſſen. Aber 
dieſes ſpottete des Reichsgeſetzes. Der flammende Zorn, der ihm ent⸗ 
gegenſchlug, der paſſive Widerſtand, auf den er ſtieß, haͤtte ihm jetzt 
zeigen koͤnnen, daß das Volk Martin Luthers nicht ſtumpf genug ſei, um 
die Gewiſſenstyrannei ſeines Oberherrn zu ertragen. 

Was hatte er denn erreicht, nachdem er ſein Syſtem drei, vier Jahre 
nicht ohne gehaͤſſige Gewaltſamkeiten aufrecht erhalten hatte? 

Eine gaͤnzliche und offene Abweiſung hatte das kaiſerliche Buch im 
groͤßten Teile von Norddeutſchland erfahren: außer in den erwaͤhnten 
niederſaͤchſiſchen Staͤdten in den Stiftern Magdeburg und Halberſtadt, 
in Mecklenburg, in der Neumark (Markgraf Johann hatte von Anfang 
an mit ſeiner Feindſchaft nicht zuruͤckgehalten), in Anhalt und im Erneſti⸗ 
niſchen Sachſen. Auch Herzog Philipp von Pommern, der juͤngere und 
tatkraͤftigere der beiden Fuͤrſten des Greifenſtammes, hatte ſich ablehnend 
verhalten, ſelbſt auf die Gefahr hin, mit dem Kaiſer brechen zu muͤſſen. 
In der uns bekannten ſtark abgeſchwaͤchten Geſtalt gelangte das Interim 
außer in Kurſachſen noch in Kurbrandenburg zu wenigſtens halber 
Annahme. Aber von einer Beobachtung des Interims war ſo gut 
wie nichts zu ſpuͤren: nur im Kultus fand tatſaͤchlich eine Anbeque⸗ 
mung ſtatt, doch ſchließlich ohne eine Verdunkelung ſeines evangeliſchen 
Charakters. Die evangeliſchen Kirchen blieben hier weſentlich in ihrer 
bisherigen Verfaſſung. Eine ſtarke Erſchuͤtterung erfuhren dieſe nun 
freilich im Suͤden, allein ſchon durch die Verfolgung der proteſtantiſchen 
Prediger. Aber auch hier war die Nachgiebigkeit im letzten Grunde nur 
eine ſcheinbare; unter der Hand fand man Mittel und Wege, daß evange⸗ 
liſche Predigt und Jugendunterricht fortgeſetzt wurden, daß auch die 
Spendung der Sakramente (wenn auch nur in der Stille) nicht ganz auf⸗ 
hoͤrte. Noch glimpflicher vermochte man in Franken, Heſſen und Naſſau 
ſich mit dem Interim abzufinden. So konnte der Kaiſer im Jahre 1552 
die Gebiete, wo es, wie in Cleve, wirklich durchgefuͤhrt war, an den Fin⸗ 
gern einer Hand aufzaͤhlen. 

Aber wuͤrde nicht doch bei laͤngerer Dauer dieſer religioͤſen Bedraͤngnis 
das evangeliſche Volk muͤrbe geworden ſein? Unter einer Voraus⸗ 
ſetzung koͤnnten wir uns das wohl denken, daß naͤmlich Karl bereits in der 
Lage geweſen waͤre, ſich zu ſtuͤtzen auf jenes zu neuem Leben erwachte 
katholiſche Prinzip, welches ſich nachmals, in der Epoche der Gegen⸗ 
reformation, ſo wirkſam erwieſen hat. Aber das gab in jenen Jahren 
kaum die erſten ſchwachen Lebenszeichen von ſich. Wo aber fand er ſonſt 


370 


Die Fuͤrſtenrevolution von 1552 


eine Stuͤtze? Der Papſt bereitete ihm nach Kraͤften Schwierigkeiten, und 
die roͤmiſche Kirche im Reich war noch immer in voller Aufloͤſung. Die 
Biſchoͤfe wollten von ſeiner Reformationsordnung nichts wiſſen: ſie blieb 
ein Blatt Papier. Und ſoweit ſie wirklich den guten Willen hatten, dem 
Kaiſer bei der Ausfuͤhrung des Interims zu helfen, konnten ſie meiſt nur 
ihres Unvermoͤgens inne werden: woher ſollten ſie die Prieſter nehmen, 
die an Stelle der verjagten Praͤdikanten treten mußten? Wir erinnern 
uns des empfindlichen Prieſtermangels, der ſchon zu Anfang der dreißiger 
Jahre fuͤr die Zukunft der roͤmiſchen Kirche in Deutſchland fuͤrchten ließ, 
desgleichen des zuͤgelloſen Lebens des geiſtlichen Standes. Auch dieſes 
war noch nicht gebeſſert. Von den Prieſtern, die wirklich fuͤr den Dienſt 
des Interims ſich auftreiben ließen, gaben nicht wenige der Verachtung 
und dem Haß wider das Pfaffenvolk neue Nahrung. 

So blieb der tyranniſchen Kirchenpolitik des Kaiſers der Erfolg 
verſagt. 

Sie hat ihm nur geſchadet: der boͤſe Ruͤckſchlag, welcher den Sieger 
uͤber den Bund, den großen Herrn Europas zuletzt aus ſeiner Bahn 
herausſchleudern ſollte, iſt zu einem nicht geringen Teile ihr Werk 
geweſen. 

Allerdings aber hat die große Fuͤrſtenerhebung von 1552 noch einen 
andern Grund. 


IN N mittlerweile die deutſchen Fuͤrſten entfremdet, die alt⸗ 
=, ll kirchlichen kaum weniger als die Anhänger des Evan⸗ 
* — geliums. Alle fuͤhlten ſie ſich in ihrer Ehre verletzt, 
— in ſhrer Freiheit bedroht. 

Man darf ſagen: das deutſche Fuͤrſtentum in ſeiner Geſamtheit lehnte 
ſich jetzt auf wider den Fremden, welcher auf die Gruͤndung einer 
monarchiſchen Gewalt im Reiche hinarbeitete: die einen in ſtillem Wider⸗ 
ſtande, die andern in offener Empoͤrung. 


24* 371 


Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


Die laͤngſt erſtarkten dynaſtiſch⸗territorialen Intereſſen erhoben ſich 
in dem Momente, wo ſie ſich noch ein Mal bedroht ſahen, um — gleich⸗ 
viel, welches ihre Stellung zu der religiöfen Frage der Zeit fein mochte 
— eben ſich ſelber zu behaupten. Dennoch iſt der Vorwurf ungerecht, 
das Fürftentum habe ſich lediglich von Beweggruͤnden der Selbſtſucht 
leiten laſſen. Vielmehr iſt ein lebhaftes nationales Gefühl an der Erhe⸗ 
bung beteiligt geweſen und bei einzelnen der Führer auch ein religioͤſes 
Motiv. Immer hat dieſer Kampf die Nation vor Vergewaltigung geſchuͤtzt 
und zugleich — mochte auch unſer Weg nun fuͤr Jahrhunderte durch das 
Elend der Kleinſtaaterei führen — die Keime jenes gefunden Partikularis⸗ 
mus bewahrt, in welchem wir heute einen Vorzug unſeres Vaterlandes, 
die Quelle der Mannigfaltigkeit, des Reichtums unſeres inneren Lebens 
erblicken. — 

Wir kennen die Staͤrke des loyalen Gefuͤhls, mit dem die deutſchen 
Fuͤrſten an dem Kaiſer hingen. Selbſt ſein Unternehmen gegen Cleve 
hatte es nicht geſchwaͤcht. Jetzt aber kam doch ihr Blut wider ihn in Wallung. 
Es waren zunaͤchſt ganz perfönliche Erfahrungen, welche dieſe Wirkung 
hatten. So mancher Reichsfuͤrſt bekam die ruͤckſichtsloſe Art des ſpaniſchen 
Gebieters und den frechen Übermut ſeines auslaͤndiſchen „Geſindes“ 
(wie des Herzogs Alba und des jüngeren Granvella) zu fühlen. Allge⸗ 
mein wurde nachgerade die andauernde Anweſenheit der ſpaniſchen Trup⸗ 
pen, die ſich alles herausnehmen durften, mit denen Karl ganz Oberdeutſch⸗ 
land wie mit einem Netze zu umſpannen vorhatte, uͤbel empfunden, als 
Beleidigung und Bedrohung zugleich. Noch ſtaͤrkere Mißſtimmung ſchuf 
die Fortdauer der Gefangenhaltung des Landgrafen, vollends die ſchimpf⸗ 
liche Behandlung — um nicht zu ſagen: dieſes Syſtem von Mißhandlungen 
— des Gefangenen und der abſchlaͤgige Beſcheid einer Fuͤrbitte um ſeine 
Entledigung, zu der ſich faſt ſaͤmtliche weltliche Fuͤrſten vereinigt hatten. 

Allein den Hauptanſtoß gab der ſpaniſche Succeſſionsentwurf des 
Kaiſers. Karl trug ſich hoͤchſt ernſthaft mit der Abſicht, ſeinem Sohn 
Philipp die Kaiſerkrone zu verſchaffen. Es waͤre, wie Ranke ſagt, „die 
Vollendung aller ſeiner Plaͤne“ geweſen: in dieſem Gedanken trafen „die 
allgemein kirchlichen und politiſchen Ideen mit ſeinem dynaſtiſchen und 
perſoͤnlichen Ehrgeiz zuſammen“. Schon Ende 1548 hatte er den Erben 
Spaniens nach Deutſchland kommen laſſen, und Philipp hatte hier — 
freilich mit dem ihm eigenen Ungeſchick — um die Gunſt der Fuͤrſten wie 
der oͤffentlichen Meinung geworben. Es ſprach fuͤr den Ernſt ſeines 
Bemuͤhens, daß er auch bei den fuͤrſtlichen Saufgelagen ſeinen Mann zu 


372 


Die Fuͤrſtenrevolution von 1552 


ſtehen wagte. Bereits fehlte es nicht an ſolchen, die in ihm den zukuͤnftigen 
Herren ſahen. Wie uͤbel zufrieden mußte aber Koͤnig Ferdinand mit dem 
Plane fein! Es kam zu heftigen Zufammenftößen der beiden Brüder. 
Ferdinand und ſein aͤlteſter Sohn Maximilian gaben doch zuletzt (im 
Maͤrz 1551) ihre Zuſtimmung dazu, daß nach Karls Tod Ferdinand Kaiſer 
und Philipp roͤmiſcher Koͤnig werden ſollte, nach dem Ableben Ferdinands 
aber Philipp Kaiſer und Max roͤmiſcher Koͤnig. 

Was wuͤrde aus Deutſchland geworden ſein, haͤtte die ſpaniſche Welt⸗ 
macht wirklich des Kaiſertums ſich bemaͤchtigt! Schon der bloße Gedanke 
an die Moͤglichkeit erſchreckt uns. Wir wiſſen, wie ſchwer Spanien ohnehin 
auf dem Europa der Neuzeit gelaſtet hat. 

Ferdinand hatte bei jenem Abkommen ſich ſogar anheiſchig gemacht, 
ſelber bei den Wahlfuͤrſten fuͤr Philipp zu werben. Er hielt ſein Wort. 
Da aber konnte er mit Genugtuung ſich davon uͤberzeugen, daß in dem 
Wahlkollegium die drei altkirchlichen Fuͤrſten mit den drei proteſtantiſchen 
einig waren in ihrer Abneigung gegen den Spanier. 

Mit dem innigen Einvernehmen, das Jahrzehnte zwiſchen den beiden 
Habsburgiſchen Bruͤdern beſtanden, war es jetzt vorbei. Unwillkuͤrlich 
trat Ferdinand den deutſchen Fuͤrſten naͤher, beſonders dem Kurfuͤrſten 
Moritz — dem naͤmlichen, der bald darauf das Haupt der revolutionaͤren 
Erhebung gegen den Kaiſer ſein ſollte. 

Die Seele des Widerſtandes war aber anfangs ein Anderer: Mark; 
graf Johann von der Neumark. Er hatte, wie wir ſahen, im Schmal⸗ 
kaldiſchen Kriege an der Seite des Kaiſers gekaͤmpft. Aber das Interim 
hatte ihm die Augen geoͤffnet. Staͤrker und ſtaͤrker ſah er ſich jetzt in ſeiner 
Religion bedroht. Zum Schutz ſeines Glaubens verband er ſich mit 
Johann Albrecht von Mecklenburg, der gleich ihm durch die offene Zuruͤck— 
weiſung des Interim beſonders gefaͤhrdet war, und mit ſeinem Stammes⸗ 
vetter, dem Herzog Albrecht von Preußen (dem ehemaligen Hochmeiſter 
des deutſchen Ordens). Auch Moritz mit in den Bund zu ziehen, mußten 
dieſe Fuͤrſten Bedenken tragen, um ſo mehr, als er noch juͤngſt ſich dazu 
hergegeben hatte, im Namen des Reiches die Acht an dem tapferen Magde⸗ 
burg zu vollſtrecken, und ſchon vor der Stadt lag. Sie ahnten nicht, daß 
der Wettiner ſich bereits auf einem aͤhnlichen Wege bewegte wie ſie: ſchon 
hatte er ſich mit den jungen Heſſenfuͤrſten ins Einvernehmen geſetzt zur 
Befreiung des Landgrafen, und die Übernahme des Reichsmandates 
hatte ihm vornehmlich die Gelegenheit zu unauffaͤlligen Ruͤſtungen geben 
ſollen. Jetzt (Februar 1551) knuͤpfte er ſeinerſeits Unterhandlungen mit 


373 


Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


den Verbuͤndeten an: ihr Mißtrauen ſuchte er durch die Verſicherung zu 
uͤberwinden, daß ſein Unternehmen nicht bloß der Rettung der „deutſchen 
Libertaͤt“, ſondern auch der Wahrung des evangeliſchen Glaubens gelte: 
auch er — ſo ließ er ſich dem Markgrafen gegenuͤber vernehmen — ſei 
„in der Religion kein Mameluck“. Und von Einem wenigſtens konnten ſie 
ſich bald uͤberzeugen: ein wie bitterer Ernſt es ihm war, mit dem Kaiſer 
abzurechnen. Er hatte es nicht verwunden, wie ihn Karl im Schmal⸗ 
kaldiſchen Kriege uͤberliſtet, ihn in den Krieg hineingedraͤngt hatte, um 
ſodann den Siegespreis ihm zu verkuͤmmern: die Soͤhne Johann Friedrichs 
waren ihm als unverſoͤhnliche Nachbarn in die Flanke geſetzt, die ihm 
verbrieften Stifter Magdeburg und Halberſtadt einem Anderen zu Teil 
geworden, das Stift Merſeburg ihm gar entzogen. Die brutale Behandlung 
ſeines Schwiegervaters Philipp empfand er als eine fortgeſetzte perſoͤn⸗ 
liche Kraͤnkung: noch immer war ſeine Ehre dem Gefangenen verpfaͤndet. 
Und wenn dem ganzen proteſtantiſchen Deutſchland auch ſein Glaube 
verdaͤchtig war, wenn ſeine evangeliſchen Untertanen ihn haßten wie 
einen, der das Heiligſte verraten, ſo verdankte er auch das dem Kaiſer. 
Denn Niemand anders hatte ihn dazu gezwungen, als Vorkaͤmpfer des 
„teufeliſchen“ Interims ſich in den Ruf des Renegaten zu bringen. Jetzt 
war gar der letzte Schritt von ihm verlangt worden, Unterwerfung unter 
das von neuem zu Trient tagende Konzil; er hatte ſich anheiſchig machen 
muͤſſen, es zu beſchicken, ſich durch den Mund ſeiner Theologen dort ob 
ſeiner Abweichung von der Kirche zu verantworten: ſchon waren die 
Wittenberger in voller Arbeit. Und nun endlich der Plan der Vererbung 
des Kaiſertums auf den ſpaniſchen Prinzen! Nun, „dann Deutſchland 
gute Nacht!“, wie er gelegentlich ausrief: ſeine „viehiſche Servitut“ 
(Knechtſchaft! war dann „erblich“. Fuͤrwahr, Gruͤnde genug fuͤr Moritz, 
die Rolle eines Parteigaͤngers des Kaiſers mit derjenigen des Retters von 
Ehre, Freiheit, Religion zu vertauſchen! 

Und die Gelegenheit dazu war guͤnſtig. Der Frieden im Oſten hatte 
ein Ende, der Frieden im Weſten ging auf die Neige. Heinrich II. von 
Frankreich, ſeit dem Jahre 1547 am Regiment, doch bis vor kurzem durch 
einen Krieg mit England beſchaͤftigt, ſchickte ſich an, den alten Kampf mit 
dem Burgunder wieder aufzunehmen. Vielleicht konnten ihn die deutſchen 
Empoͤrer als Bundesgenoſſen gewinnen? Moritz hielt das fuͤr ſchlechthin 
notwendig. Heinrich II. ſollte den „nervus belli“ liefern. Nicht ohne 
Muͤhe brachte der Kurfuͤrſt das Buͤndnis zuſtande (15. Januar 1552) 
und — um einen hohen Preis! Der Franzoſe ließ ſich das „Reichsvikariat“ 


374 


Die Fuͤrſtenrevolution von 1552 


über die lothringiſchen Stifter Metz, Toul und Verdun (die jetzt in der 
Tat dem deutſchen Reiche verloren gehen ſollten!) zuſagen. „Vor einem 
Jahrzehnt“, bemerkt Karl Muͤller treffend, „haͤtte der Schmalkaldiſche 
Bund mit Frankreich von Macht zu Macht verhandeln und ſeine Ziele 
ohne weſentliche Schaͤdigung des Reiches durchſetzen koͤnnen: jetzt mußten 
die paar deutſchen Fürften die franzöſiſche Huͤlfe mit gutem deutſchen Land 
bezahlen“. Die Fuͤrſten, welche dieſes Opfer brachten, waren außer Moritz 
Johann Albrecht von Mecklenburg und Landgraf Wilhelm von Heſſen. 
Markgraf Johann hatte ſich zuruͤckgezogen, als waͤhrend der Verhand⸗ 
lungen mit Frankreich in dem urſpruͤnglichen Schutzbunde die Abſicht 
eines Angriffes auf den Kaiſer die Oberhand gewann. Dafuͤr ſchloß ſich 
jedoch ein anderer Hohenzoller den Verbuͤndeten an (wenn auch ohne 
foͤrmlichen Eintritt in den Bund), Markgraf Albrecht von Brandenburg⸗ 
Kulmbach — ein uͤbler Tauſch! Denn der wilde, zuͤgelloſe Kriegsgeſelle, 
der in ſchnoͤdeſter Weiſe nur den eigenen Vorteil verfolgte, ſollte bald als 
„Mordbrenner“ ſich in Verruf bringen und durch ſeine Raubzuͤge ſeinen 
jetzigen Genoſſen Moritz zu jener Abwehr zwingen, bei welcher dieſer ſchon 
1553 das Leben einbuͤßte. 

So iſt dem unruhigen und tatkraͤftigen Wettiner, der mit 32 Jahren 
ins Grab ſank, nur eine kurze Spanne Zeit für fein Eingreifen in die 
Geſchicke Deutſchlands vergoͤnnt geweſen. Sicher hat der in ſeinen letzten 
Zielen Geheimnisvolle nicht entfernt hinausgefuͤhrt, was ſein beweglicher 
Geiſt an Plaͤnen, an Entwuͤrfen ſpann. Trotzdem haben dieſe zwei, drei 
Jahre hingereicht, ſeinem Wirken den Charakter des Weltgeſchichtlichen 
zu verleihen. 

Moritz war jetzt als Haupt der Verbündeten ganz in feinem Elemente. 
Wie er alle Fäden der Erhebung in feiner Hand hielt, fo verſtand er es 
auch, jetzt ein Meiſter in der Kunſt der Verſtellung, uͤber ſeine Abſichten den 
Schleier eines undurchdringlichen Geheimniſſes zu breiten und den Kaiſer 
zu überliften. Dieſer wußte nicht, was für einen gelehrigen Schuͤler er 
in dem jungen deutſchen Fuͤrſten hatte. Karl weilte damals, um die Vor⸗ 
gaͤnge auf dem Konzil aus der Naͤhe beobachten zu koͤnnen, in Innsbruck. 
Auch Moritz hatte fein Erſcheinen an dieſem Orte verheißen, ſchon für 
Mitte Januar (1552). Zwar ſchob er ſein Kommen immer wieder hinaus, 
aber es fehlte nie an Meldungen, welche, den Verzug erklaͤrend, es fuͤr die 
nächſte Zeit in Ausſicht ſtellten. Auch erſchien bereits fein Quartiermacher 
in Innsbruck. Und um dieſelbe Zeit uͤberſandte Moritz dem Kaiſer zwei 
Briefe des Koͤnigs von Frankreich mit verlockenden Anerbietungen fuͤr 


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Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


den Fall ſeiner Erhebung gegen Karl. Man urteilte am Kaiſerhofe, 
dahinter ſtecke ein hohes Maß entweder von Verſtellung oder von treu⸗ 
herziger Loyalitaͤt. Man dachte doch noch immer an dieſe, nicht an jene. 
Karl wiegte ſich in Sicherheit: feine Sorgloſigkeit konnte nicht größer fein. 
Auch ſein Miniſter, der juͤngere Granvella (Biſchof von Arras), ſchlug 
alle Warnungen in den Wind, verachtete die Nachrichten, die ihm uͤber 
die Vorgaͤnge in Deutſchland wie uͤber die Abmachungen mit Frank⸗ 
reich zugingen. Von einem deutſchen Toͤlpel war doch nichts zu fuͤrchten. 
Und als dem Kaiſer die Augen aufgingen, da war es zu ſpaͤt zur Gegen⸗ 
wehr, zu ſpaͤt ſogar zur Flucht nach dem Weſten, die er verſuchte. Von 
keiner Seite kam ihm Hilfe. Die katholiſchen Fuͤrſten, die er darum 
anging, Bayern, die geiſtlichen Herren, alle hatten nur Worte. Die Saat 
des Mißvergnuͤgens, die er ausgeſtreut, trug jetzt ihre Fruͤchte. Auch 
Ferdinand blieb untaͤtig; ihm machten die Osmanen allerdings genug zu 
ſchaffen. Schon war das Heer der Verbuͤndeten auf dem Wege gegen 
Augsburg (das ihnen dann am 4. April ſeine Tore geoͤffnet hat). So 
mußte der Kaiſer ſeine Zuflucht zu Unterhandlungen mit dem Gegner 
nehmen: als Mittelsperſon diente ihm ſein Bruder. Am 18. April kamen 
Ferdinand und Moritz zu Linz zuſammen: hier nahmen ſie die Abhaltung 
eines Fuͤrſtentages zu Paſſau in Ausſicht, „zur Abſtellung der Irrungen 
und Gebrechen deutſcher Nation“, und verabredeten einen Waffenſtillſtand, 
deſſen Beginn ſpaͤter auf den 26. Mai feſtgeſetzt wurde. Die Zwiſchen⸗ 
zeit wollten die Verbuͤndeten aber noch zu einem Schlage gegen Karl 
benutzen. Am 19. Mai nahmen ſie die Ehrenberger Klauſe, um nun, da 
Tirol offen vor ihnen lag, „den Fuchs in ſeiner Spelunke“ aufzuſuchen. 
Noch am Abend dieſes Tages ergriff der Kaiſer die Flucht — uͤber den 
Brenner. Durch eine Meuterei ſeiner Knechte aufgehalten, traf Moritz 
erſt am 23. zu Innsbruck ein. 

An der Abmachung von Linz aber hielt er feſt. So kam die Paſſauer 
Verſammlung zuſtande, und ſie hat, dem Kaiſer zum Trotz, den Grund 
gelegt fuͤr den Frieden der Staͤnde untereinander. 

Freilich war es von Paſſau bis Augsburg noch ein weiter Weg. 
Sehen wir, aus was fuͤr einzelnen Strecken er ſich zuſammengeſetzt hat. 


Von Paſſau nach Augsburg, 1552—1555. Kurfürſt Moritz. Die Ohnmacht des Kaiſers 


4. Von Paſſau nach Augsburg, 1552— 1555. Kurfuͤrſt Moritz. 
Die Ohnmacht des Kaiſers 


ie kriegeriſchen Erfolge der Verbuͤndeten, die Schlappe, 
SEEN: welche fie dem Kaiſer beigebracht, hatten ihres Ein⸗ 
9 e ([druckes auf die altkirchlichen Stände nicht verfehlt. 
as 1 5 1 Daher zeigten auch fie fich jetzt dem Frieden geneigt, und 

A >) Moritz drang nicht nur mit feinen politiſchen Haupt⸗ 
a 2 forderungen durch, unter denen ihm die Freilaſſung 
des Landgrafen beſonders am Herzen lag, ſondern auch mit ſeinem 
religioͤſen Anliegen, das von Anfang an auf ſeinem Programm ſtand. 
Schon das Manifeſt der Kriegsfuͤrſten hatte Klage gefuͤhrt uͤber die 
Widerrufung der fruͤher auf den Reichstagen den Evangeliſchen gegebenen 
Zuſagen und Vertroͤſtungen. Wir würden den Charakter des Krieges 
von 1552 verkennen, wollten wir das hier ſich kundgebende Motiv außer 
Acht laſſen: er zeigt ſich in jeder Beziehung als Gegenſtoß zu dem 
Vorſtoß Karls von 1546. Daher war fuͤr die ſiegreichen Fuͤrſten die 
ſelbſtverſtaͤndliche Bedingung des Friedens Wiedereinraͤumung der 
guͤnſtigen Stellung, wie der Proteſtantismus ſie 1544 zu Speier errungen 
hatte. Wirklich bildeten die Bewilligungen von Speier zu Paſſau fuͤr 
Moritz den Ausgangspunkt feiner Forderungen. Seine hohe geſchicht⸗ 
liche Bedeutung hat aber der Paſſauer Tag erſt dadurch gewonnen, daß 
der jetzige Vorkaͤmpfer des Proteſtantismus ihn im Laufe der Verhand- 
lungen, indem er ſeine Anſpruͤche prinzipiell vertiefte, zu einem viel 
weiter gehenden Zugeſtaͤndnis an die Proteſtanten brachte: es war die 
Bewilligung eines Friedens, der unabhaͤngig ſein ſollte von jedem Konzil 
und von einem etwaigen Ausgleich in der Religion, und damit die end⸗ 
guͤltige Anerkennung ihrer Daſeinsberechtigung. 

Freilich iſt hier dann doch nur die Grundlage fuͤr den ſpaͤteren Frie⸗ 
den geſchaffen. Denn der Kaiſer verweigerte beharrlich die Beſtaͤtigung 
des Abkommens: die Gewaͤhrung eines „immerwaͤhrenden Friedens“ 
ohne den Vorbehalt eines allgemeinen Konzils waͤre gegen ſein Gewiſſen 
geweſen. Nur zu dem doppelten Verſprechen ließ er ſich bringen, den 
Landgrafen zu entlaſſen (dem alten Kurfuͤrſten Johann Friedrich hatte 
er ſchon vorher die Freiheit verheißen) und die Religionsfrage noch ein 
Mal auf einem Reichstage zur Verhandlung zu ſtellen: nur einen einſt⸗ 
weiligen Frieden bis dahin ſagte er zu. 


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Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


Was Moritz gewollt (was zugleich einhelliger Wille des Fuͤrſtentages 
mit Einſchluß des Koͤnigs Ferdinand geweſen) — es war damit vereitelt. 
Trotzdem nahm, waͤhrend der Kulmbacher den Krieg auf eigene Fauſt 
fortſetzte, Moritz nebſt Heſſen und Mecklenburg (am 2. Auguſt 1552) den 
„Paſſauer Vertrag“, dieſen proviſoriſchen Frieden, an — notgedrungen: 
denn ſchon lief auch fuͤr den Kaiſer ein Heer zuſammen, und wie ſchon 
fruͤher vor Ulm, ſo erlitt eben damals vor dem feſten Frankfurt die Macht 
der Verbuͤndeten einen Stoß. Moritz mochte ſich doch mit dem ſchließlichen 
Erfolge troͤſten. Denn keineswegs ſtand man, wie ein hervorragender 
Hiſtoriker geurteilt hat, „auf dem naͤmlichen Fleck wie vor Beginn des 
Krieges“. Vielmehr war im Ganzen der Stand vor der Kataſtrophe der 
Schmalkaldener zuruͤckerobert: die Macht des Interims war gebrochen, und 
der Kaiſer bis auf weiteres gebunden. Er durfte nicht Rache nehmen an 
ſeinen Gegnern: einem neuen großen Kriege im Reich war damit vorgebeugt. 

Es ſind doch noch Jahre vergangen, bis der verheißene Reichstag, 
der ſich noch ein Mal mit der großen Frage des Jahrhunderts befaſſen 
ſollte, zuſammentrat (im Februar 1555 zu Augsburg). 

Inzwiſchen finden wir Deutſchland in einer faſt chaotiſchen Ver⸗ 
wirrung, aus der nur allmaͤhlich die Elemente der Ordnung auftauchen. 
Der Kaiſer hatte, als er zum Kriege gegen Frankreich aufbrach, den 
Markgrafen Albrecht mit deſſen ſtattlichem Heer an ſich gezogen und den 
Raub, den dieſer an den Biſchoͤfen von Bamberg und Wuͤrzburg begangen, 
gutgeheißen — allein ſchon ein deutlicher Beweis, daß von dem Ober⸗ 
haupte des Reiches fuͤr Ruhe und Ordnung nichts zu erwarten ſei. Das 
Reich ſchien fuͤr ihn nur noch Wert zu haben, ſofern es ſich in ſein Staaten⸗ 
ſyſtem einfuͤgen ließ. Denn nach wie vor ging ſein Streben auf Schaffung 
eines monarchiſchen Übergewichtes. Überdies zog er ſich nach dem miß⸗ 
lungenen Verſuche, Metz zuruͤckzuerobern (es war die zweite ſchlimme 
Schlappe, die er ſeit Jahresfriſt erlitt) ſchon zu Anfang des Jahres 1553 
muͤde und faſt wie gebrochen in die Niederlande zuruͤck, ohne daran zu 
denken, ſeinem wuͤſten Parteigaͤnger, dem Kulmbacher, der brennend, 
pluͤndernd und brandſchatzend „wie ein Wetter“ durch mehr als einen 
deutſchen Gau fuhr, wirkſam zu begegnen. Sahen ſich auf dieſe Weiſe 
die Reichsfuͤrſten darauf angewieſen, ſelber nach dem Rechten zu ſehen, 
ſo verſtehen wir es, daß die Religionsangelegenheit jetzt fuͤr den Augen⸗ 
blick zuruͤcktrat. Die naͤchſte Aufgabe war doch die Wahrung des Land⸗ 
friedens: es mußte dafuͤr geſorgt werden, daß ein jeder, ohne eines Über; 
falls gewaͤrtig zu ſein, in Ruhe und Frieden ſitzen konnte. Um das zu 


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Von Paſſau nach Augsburg, 1552— 1555. Kurfürft Moritz. Die Ohnmacht des Kaiſers 


erreichen, ſchloſſen ſich jetzt unter voͤlligem Abſehen von dem, was fie 
religiös trennte, einzelne Gruppen von Fuͤrſten zuſammen. 

Aber in bemerkenswerter Weiſe heben ſich da der Suͤden und der 
Norden von einander ab. 

Dort traten im Maͤrz 1553 Pfalz, Mainz, Trier, Cleve, Wuͤrttem⸗ 
berg und Bayern zu dem ſog. Heidelberger Bunde zuſammen, um ſich 
in dem damals drohenden Kriege zwiſchen dem Markgrafen Albrecht und 
den fraͤnkiſchen Biſchoͤfen die Neutralität zu ſichern. Dieſe Vereinigung, 
ein kraftloſes Erzeugnis der Furcht, iſt aber, wie Karl Brandi im Gegen⸗ 
ſatz zu der mehr als ein Mal gefeierten Bedeutung dieſer Gruppe der Neu⸗ 
tralen einleuchtend gezeigt hat, ohne tiefere Wirkung geblieben. 

Die politiſche Kraft, welche wir hier vermiſſen, zeigte jedoch eine Ver⸗ 
einigung im Norden, deren treibendes Element wiederum Kurfuͤrſt Moritz 
war. Dieſe Verbindung richtete ſich gegen das naͤmliche Treiben, dem der 
Suͤden in ſchwaͤchlicher Neutralität untaͤtig zuſah. In dem Landsfriedens⸗ 
brecher Albrecht, der unausgeſetzt Deutſchland in unerhoͤrter Weiſe in 
Atem hielt und mit brutaler Gewalt den alten Gedanken einer Saͤkulari⸗ 
ſation verwirklichen zu wollen ſchien, erblickte Moritz um ſo mehr einen 
gefaͤhrlichen Gegner, als der Kaiſer ſich noch immer nicht unzweideutig von 
ihm losgeſagt hatte. Auch Ferdinand fuͤhlte ſich bedroht. Was natuͤrlicher, 
als daß Sachſen und Sſterreich, welche ſeit dem Auftauchen des ſpaniſchen 
Erbfolgeentwurfes einander immer naͤher getreten waren, ſich auch jetzt 
zuſammenfanden? Und ebenſo natuͤrlich machten beide hinwiederum 
gemeinſame Sache mit den fraͤnkiſchen Biſchoͤfen und mit dem gleichfalls 
vom Markgrafen uͤberzogenen Herzog Heinrich von Wolfenbuͤttel. Daß 
Moritz damit nicht nur den Pfaffen zu Huͤlfe kam, ſondern auch dem alten 
Feinde der Evangeliſchen die Hand reichte, machte ihm keine Bedenken. 
Den Kampf gegen Albrecht fuͤhrte er doch nicht bloß fuͤr die eigene Sicher⸗ 
heit, auch nicht bloß fuͤr die Herſtellung der Ruhe im Reiche, ſondern 
zugleich fuͤr die Aufrechterhaltung des Paſſauer Vertrages, deſſen ſtaͤrkſte 
Stuͤtze er war, und ſomit fuͤr die Sache des Proteſtantismus. 

Es war, wie jedermann weiß, das Unternehmen, welches die Helden⸗ 
laufbahn des Kurfuͤrſten Moritz jaͤh abbrach. In der Schlacht von Sievers⸗ 
hauſen (9. Juli 1553) toͤdlich verwundet, durfte er noch an ſeinem Siege 
ſich weiden und in ſeinem (fuͤr den Biſchof von Wuͤrzburg beſtimmten) 
Berichte uͤber den blutigen Tag ſich ruͤhmen: was er „wider den Landes⸗ 
beſchaͤdiger getan“, habe er unternommen „aus ſonderlichem Eifer zu 
Erhaltung des Friedens, Ruhe und Einigkeit im Heiligen Reiche“. In 


379 


Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


Ruhe traf er nach Verſchlimmerung ſeines Zuſtandes die noͤtigen Beſtim⸗ 
mungen für die Seinen; dann ſchied er (in der Frühe des 11. Juli) „chriſt⸗ 
lich und ſelig“ (wie ſein Vetter Johann Friedrich mit Befriedigung aus⸗ 
ſprach) aus dem Leben. Karl V. ſah ſich von ſeinem gefaͤhrlichſten Feinde 
befreit, Deutſchland ſeines begabteſten Sohnes beraubt, der vielleicht — 
falls es erlaubt iſt, einen Gedanken zu aͤußern, welchen das Fehlen eines 
Moritz bei den Friedensverhandlungen von 1555 uns nahe legt — 
imſtande geweſen waͤre, unſer Vaterland vor dem Verhaͤngnis des 
Dreißigjährigen Krieges zu bewahren. 

Zunaͤchſt war die Ruhe, die Deutſchland nach Jahresfriſt atmete, 
weſentlich ſein Werk, mochten auch erſt die Haufen Ferdinands und 
des Braunſchweigers den Markgrafen vollends unſchaͤdlich gemacht haben. 

So konnte man endlich im Jahre 1555 die Hauptfrage wieder auf; 
nehmen, deren Löfung vor dem Paſſauer Tage im Geiſte der Verſoͤhnlich⸗ 
keit verſucht, durch den unerbittlichen Ernſt der katholiſchen Geſinnung 
des Kaiſers vereitelt war. Eine neue Stoͤrung von dieſer Seite war jetzt 
nicht zu befuͤrchten. Wie das Reich, auf ſich ſelbſt angewieſen, die Wirr⸗ 
niſſe der letzten Zeit uͤberwunden hatte, ſo blieb es zu ſeinem Heile auch 
jetzt ſich ſelber überlaffen. Seit zwei Jahren war der Kaiſer wie tot fuͤr 
das Reich: nur die paar Blätter Papier, die ab und zu von Bruͤſſel her; 
uͤberflogen, verrieten, daß er noch am Leben ſei. Jetzt, wo er noch einmal 
entſcheidend haͤtte eingreifen muͤſſen, entließ er es aus ſeiner Gewalt, 
wenn auch nicht foͤrmlich (wie im Herbſt 1556), ſo doch tatſaͤchlich. 

Es war das Bekenntnis ſeiner Ohnmacht: er kann Martin Luthers 
nicht Herr werden. Aber ſtolz, erhobenen Hauptes verlaͤßt er die Wahl⸗ 
ſtatt: ſeine Ehre iſt unverletzt. Er laͤßt geſchehen, was er nicht hindern 
kann: aber keine Macht kann ihn zwingen, ſelber mitzuwirken oder zu 
beſtaͤtigen, irgendwie anzuerkennen, was er verurteilt, verabſcheut: ſein 
Gewiſſen bleibt rein. Eben deshalb will er in die Religionsſache ſich fortan 
nicht mehr „verwickeln“ laſſen, erteilt er ſeinem Bruder, dem roͤmiſchen 
Koͤnig, der bald als Kaiſer ſeine Stelle einnehmen ſoll, die Vollmacht, 
„abzuhandeln und zu beſchließen, abſolute, ohne alles Hinterſichbringen“. 
Ferdinand, deſſen gut katholiſche Geſinnung er kennt, mag ſehen, wie er ſich 
mit der Notwendigkeit abfindet: gewiß wird er retten, fo viel noch zu retten iſt. 

Karl hat ſich in dieſem guten Zutrauen zu ſeinem Bruder nicht 
getaͤuſcht 

Koͤnig Ferdinand hat, wie er nicht anders konnte, das kirchliche 
Prinzip des Mittelalters preisgegeben, im uͤbrigen aber im Verein mit 


380 


Von Paſſau nach Augsburg, 1552—1555. Kurfuͤrſt Moritz. Die Ohnmacht des Kaifers 


den geiſtlichen Staͤnden eine Zaͤhigkeit entwickelt, der wir unſere Anerken⸗ 
nung nicht verſagen koͤnnen, und mit ihr uͤber alles Erwarten viel gerettet 
— den Fortbeſtand des roͤmiſchen Kirchentums im Reiche. 

Und doch hat man auch auf der Gegenſeite mit Zaͤhigkeit gekaͤmpft, 
um, was man im Prinzip beſchloſſen erkannte, in der Praxis ſich nicht allzu⸗ 
ſehr verkuͤmmern zu laſſen. Wenn zuletzt das Alte doch noch ein größeres 
Maß von Energie entfaltete, erklaͤrt ſich das leicht aus der veraͤnderten 
Lage der Parteien. Wir finden hier geradezu eine Umkehrung ihres 
urſpruͤnglichen Verhaͤltniſſes: auf den früheren Reichstagen (1526, 1529, 
1530 und fo fort) hatte die religiöfe Neuerung um ihre Exiſtenz gekaͤmpft, 
jetzt hatte die „alte Religion“ den Kampf ums Daſein zu fuͤhren, wenigſtens 
um ihre Zukunft. 

So gewaͤhrt uns dieſe Friedensverſammlung einen Anblick, wie ihn 
ahnlich auch ſonſt wohl dieſer oder jener Friedenskongreß geboten hat: 
noch einmal ringen hier die Parteien miteinander: lange (ſechs Monate 
hindurch iſt die Arena belebt) und hartnaͤckig und auch nicht ohne uͤble 
Fechterkuͤnſte — aber es iſt ein Ringen um den Frieden: auf beiden 
Seiten kommt der Wille zum Durchbruch, die Streitaxt zu begraben, fuͤr 
immer. 

Man wollte ſich vertragen, und man vertrug ſich. Der Friede von 
Augsburg, welcher, am 25. September 1555 im Reichstagsabſchied ver; 
oͤffentlicht, ein neues Reichsrecht ſchuf, war nichts anderes als ein Ver⸗ 
trag der beiden Parteien, Kaiſerlicher Majeſtaͤt, wie es hieß, und der 
Stände „der alten Religion“ auf der einen, der Stände der „Augsburgi⸗ 
ſchen Konfeſſion“ (denn das Bekenntnis von 1530 hatte allmählich eine 
politiſche Bedeutung gewonnen) auf der anderen Seite. 

Wie haben wir uͤber ihn, eines der wichtigſten Ereigniſſe der neueren 
Geſchichte, zu urteilen? Auch noch neuerdings ſind die Anſichten daruͤber 
weit auseinandergegangen: iſt dieſer Friede Deutſchland zum Segen aus⸗ 
geſchlagen? oder zum Verderben? 

Treten wir, ohne uns mit dieſem Widerſtreit aufzuhalten, ihm 
ſelber naͤher. 


Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


5. Der Friede von Augsburg, 1555. Seine prinzipielle Bedeutung 
und ſeine Maͤngel 


5 8 war entſcheidend, daß man zu Augsburg den Ver⸗ 
bandlungen des Reichstages den „Paſſauer Vertrag“ 
W 2 zu Grunde legte — und zwar den Vertrag in feiner 

* urſpruͤnglichen Faſſung, nicht den vom Kaiſer ſo 
„empfindlich beſchnittenen. 

Damit war die prinzipielle Frage entſchieden — 
zu Gunsten der Evangeliſchen: denn es wurde ihnen zugeſtanden „ein 
beſtaͤndiger, beharrlicher, unbedingter, fuͤr und fuͤr ewig waͤhrender Friede“. 

Das Prinzip der Einheit der abendlaͤndiſchen Chriſtenheit war damit 
aufgegeben, geloͤſt zugleich fuͤr das Reich ein Band, ſo alt wie es ſelber: 
Reichsgebiet und Boden der roͤmiſchen Kirche deckten ſich nicht mehr; 
der tyranniſche Anſpruch der Papſtkirche auf Alleinherrſchaft im Reiche 
war zuruͤckgewieſen. Die Religion hoͤrte jetzt auf, einen Teil der 
Staͤnde zu entrechten. Es gab eine „Ketzerei“, die kein Staatsver⸗ 
brechen mehr war. Denn das Reichsrecht kannte jetzt — ein fuͤr den 
mittelalterlichen Chriſten unfaßbarer, ihn mit Grauen und Entſetzen 
packender Gedanke — zwei chriſtliche Religionen, und beide ſtanden dem 
Geſetze nach gleich. 

Kein Kenner der Geſchichte wird das Ungeheuere des Fortſchrittes 
verkennen, der in alle dem liegt. 

Gleichwohl hat die neue religioͤſe Idee, wie ſie in Luther ſich aus⸗ 
ſprach, erſt ihrem erſten beſcheidenen Anfange nach in dieſem Fortſchritt 
der Geſchichte ſich verwirklicht. Der „Glaube“ Luthers, das perſoͤnlichſte 
und freieſte in der Welt, ſchloß ſeinem innerſten Weſen nach jeden ſtaat⸗ 
lichen Zwang aus. Luther ſelber hat, wir ſahen es, in den Jugendtagen 
der Reformation dieſe Folgerung gezogen. Wir erinnern uns jener 
ſtuͤrmiſchen Worte, die wie ſcharfe Pfeile der mittelalterlichen Zwangs⸗ 
kirche das Herz trafen: „Zum Glauben ſoll und kann man Niemand 
zwingen“; „Ketzerei iſt ein geiſtlich Ding; das kann man mit keinem Eiſen 
hauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Waſſer ertraͤnken“; 
„Über die Seele kann und will Gott Niemand laſſen regieren denn ſich ſelbſt 
alleine; darum, wo weltlich Gewalt ſich vermiſſet, der Seelen Geſetz 
zu geben, da greift ſie Gott in ſein Regiment“. So der Reformator 1523, 
und zwei Jahre ſpaͤter in ſeiner Schrift fuͤr und wider die Bauern: „Ober⸗ 


382 


Der Friede von Augsburg, 1555. Seine prinzipielle Bedeutung und feine Mängel 


keit ſoll nicht wehren, was Jedermann lehren und glauben will, es ſei 
Evangelion oder Lügen”. 

Wir ſehen, aus dem religiöfen Grundprinzip erhebt ſich hier kuͤhn und 
beſtimmt das in ihm beſchloſſene Prinzip der Glaubens⸗ und Gewiſſens⸗ 
freiheit. Aber es flammt gleichſam nur auf — ohne zu zuͤnden. Die 
Verhaͤltniſſe waren nicht danach angetan, es ſofort ins Leben einzufuͤhren. 
Es iſt uͤberhaupt nicht die Weiſe der Geſchichte, die großen, fuͤr die Ent⸗ 
wickelung der Menſchheit Epoche machenden Ideen wie mit Einem Schlage 
in die Herrſchaft einzuſetzen. Wir koͤnnen uns daher nicht daruͤber wun⸗ 
dern, wenn auch Luther in der Praxis nicht an ſeiner radikalen Forderung 
feſtgehalten hat: daran hinderten ihn Erwaͤgungen an und fuͤr ſich ſehr 
verſtaͤndiger Art, wie ſie ihm die Aufgaben des Tages nahelegten. Dieſe 
noͤtigten ihn, Realpolitik zu treiben (wie ſie ihm, der weder Idealiſt noch 
Theoretiker war, ohnehin am naͤchſten lag), und mehr und mehr ver⸗ 
huͤllte ſich ihm wieder jene Konſequenz ſeines Glaubensprinzips, ohne 
daß er dieſes ſelbſt jemals aufgegeben haͤtte. 

Wer hätte aber den von Luther fallen gelaffenen Grundſatz wieder 
aufnehmen und durchfuͤhren ſollen? Etwa die evangeliſchen Staͤnde, 
die zu Augsburg an der Loͤſung der Religionsfrage zu arbeiten hatten? 
Nehmen wir einen Augenblick an, ſie haͤtten ihn wirklich klar erkannt 
— es waͤre doch uͤber ihre Kraͤfte gegangen, ihm Leben einzuhauchen. 
Wie wenig befanden ſie ſich doch in der Lage, irgend einem abſtrakten 
Prinzip nachzujagen! Nur auf eins konnte ihr Sinnen gehen, ſich ſelber 
zu behaupten, das Recht des Daſeins zu erzwingen — fuͤr ſich ſelbſt, d. h. 
fuͤr ihre Auffaſſung des Chriſtentums. Daher handelte es ſich zu Augs⸗ 
burg neben der „alten“ Religion ausſchließlich um ihre eigene. Was ſie 
womoͤglich erreichen mußten, war die abſolute Gleichberechtigung dieſer 
beiden Religionen. Nun gab es ja aber neben dieſen noch eine Menge 
von anderen. Auf das uͤppigſte war dank der Wärme, welche das religioͤs 
ſo ſtark erregte Zeitalter ausſtroͤmte, das Sektentum emporgeſchoſſen: in 
bunteſter Mannigfaltigkeit tummelten ſich dieſe kleinen Parteien, welche, 
mehr oder weniger von evangeliſchen Gedanken beruͤhrt, doch zumeiſt 
Kinder der alten Kirche waren und das alte, ungeſunde Konventikelchriſten⸗ 
tum der mittelalterlichen Sektierer fortſetzten: hier harmloſe Schwaͤrmer, 
voll inniger, weltabgewandter, oft krauſer Myſtik, die aus dem Lichte des 
Tages ſich in die Daͤmmerung der Winkel fluͤchteten, dort neue Propheten 
und Apokalyptiker, Wiedertaͤufer in den verſchiedenſten Schattierungen, 
bald ſtille, ruhige Leute, bald wild bewegt von verworrenen Ideen des 


383 


Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


Umſturzes und der Weltverbeſſerung, daneben die Sakramentierer, 
denen gewiſſe aͤußere Ordnungen der neuen Kirche ein Greuel waren, 
und zu denen man, pſychologiſch erklaͤrlich, auch die zerſtreuten Zwinglianer 
im Reiche rechnete — und wie ſie weiter ſich ſpalteten, die Einſpaͤnner und 
Eigenbroͤdler. Sie alle waren — wir erblicken heute darin einen beklagens⸗ 
werten Mangel — aus dem Frieden des Reiches ausgeſchloſſen. Nur die 
Wahl zwiſchen der alten Religion und der Augsburgiſchen Konfeſſion 
ſtand frei. Aber auch ſie keineswegs einem Jeden! Und damit ſtoßen wir 
auf den zweiten und viel empfindlicheren Mangel. 

Der Friede war ein Abkommen der Staͤnde unter ſich, ſeine Vor⸗ 
teile galten zunaͤchſt nur den Reichsunmittelbaren, den Fuͤrſten, der 
„freien Ritterſchaft“, wie den „freien des Reiches Staͤdten“, aber nicht 
den Untertanen. Die territoriale Entwicklung der Dinge hatte dahin 
gefuͤhrt, daß uͤberall im Reiche die Obrigkeiten auch uͤber die Religion 
Beſtimmung trafen: die evangeliſchen im Sinne der uͤberwaͤltigenden 
Mehrheit ihrer Untertanen und ſomit getragen von der oͤffentlichen Mei⸗ 
nung, die anderen in engem Anſchluß an die alte Kirche und den Papſt. 
So konnte zu Augsburg der Satz von der territorialen Religionshoheit 
(cujus regio, ejus religio) in das Reichsrecht aufgenommen werden, 
wonach alſo die Untertanen ſich nach der Religion ihres Herrn zu richten 
haben (für gewohnlich wenigſtens, denn Ausnahmen wurden zugelaſſen) 
— zweifellos eine unevangeliſche, dem Geiſte des Proteſtantismus 
widerſprechende Beſtimmung! Und dennoch bedeutet ſie einen großen 
Schritt vorwaͤrts: nicht ohne Grund hat ſie noch heute fuͤr roͤmiſche Ohren 
den uͤbelſten Klang. Denn ſie brach die Alleinherrſchaft der roͤmiſchen 
Kirche, ja die Alleinherrſchaft der Kirche uͤberhaupt. Denn die weltliche 
Obrigkeit, welcher in den proteſtantiſchen Territorien die Gewalt uͤber 
die Religion uͤbertragen wurde, konnte ſich niemals auf die Dauer zum 
gehorſamen Diener einer tyranniſch ſchaltenden Kirche hergeben. 

Aber freilich, immer war durch den Augsburger Frieden dem Ein⸗ 
zelnen keineswegs die freie Wahl zwiſchen der alten und der evangeliſchen 
Religion eingeraͤumt — mochte auch den andersglaͤubigen Untertanen 
das Abzugsrecht zugeſtanden ſein, indem ſie ihr Hab und Gut verkaufen 
und mit Weib und Kind in ein Gebiet uͤberſiedeln durften, wo ſie unange⸗ 
fochten ihres Glaubens leben konnten. 

Wenn in dieſer Weiſe den Untertanen die Religionsfreiheit verſagt 
blieb, ſo war das allerdings keine Verletzung des an die Spitze geſtellten 
Grundſatzes der Parität, aber nach Lage der Dinge für die roͤmiſche Kirche 


384 


Der Friede von Augsburg, 1555. Seine prinzipielle Bedeutung und feine Mängel 


ein unſchaͤtzbarer Vorteil. Unter proteſtantiſchem Zepter war die Zahl 
derer, die ſich nach der geſtuͤrzten Kirche zuruͤckſehnten, gering. Dahin⸗ 
gegen hatten die altkirchlichen Obrigkeiten mit den gewaltigſten Sympa⸗ 
thien ihrer Untertanen fuͤr die evangeliſche Bewegung zu kaͤmpfen, und 
wenn auch nicht überall, fo war doch auf weiten Gebieten die mittelalter⸗ 
liche Kirche im Leben des Volkes nur noch ſchwach verankert. 

Wie tief ſchnitt da die Vorenthaltung der freien Wahl ein! 

Allein, die evangeliſchen Staͤnde haͤtten ſich gluͤcklich ſchaͤtzen duͤrfen 
(und wir mit ihnen), waͤre es ihren angeſtrengten Bemuͤhungen gelungen, 
den Frieden vor einem dritten Fehler zu bewahren, welcher, im Verein 
mit dem zweiten Mangel, fuͤr die Zukunft des Proteſtantismus im Reiche 
verhaͤngnisvoll werden ſollte. 

Dieſer Fehler taſtete naͤmlich das Fundament des ganzen Friedens⸗ 
werkes, die Gleichſtellung der beiden Religionen, an: ſie iſt in einem prak⸗ 
tiſch ungemein wichtigen Punkte nicht aufrecht erhalten. 

Der Friede durfte doch nicht den augenblicklichen Stand der Dinge 
als einen dauernden betrachten. Er mußte den Fall ins Auge faſſen, 
daß in Zukunft ein Reichsſtand von der alten Religion zum evangeliſchen 
Glauben uͤbertrete oder umgekehrt von dieſem zu jener ſich zuruͤck⸗ 
wende. Bei voͤlliger Gleichheit beider Bekenntniſſe mußte das eine 
ſo gut erlaubt ſein wie das andere. Die altkirchlichen Staͤnde waren 
damit im allgemeinen wohl einverſtanden, machten jedoch den Vor; 
behalt: einem geiſtlichen Fuͤrſten ſolle der Übergang zum Proteſtan⸗ 
tismus zwar fuͤr ſeine Perſon geſtattet ſein, aber nur unter Verluſt 
von Amt und Wuͤrde. „Wo der Geiſtlichen einer“ — dies die bekannte 
Formulierung — „von der alten Religion abtreten wuͤrde, ſoll der⸗ 
ſelbige ſein Erzbistum, Bistum uſw. alſobald verlaſſen, auch den 
Kapiteln eine Perſon der alten Religion zu waͤhlen und zu ordnen 
zugelaſſen ſein“. Hartnaͤckig hielten die Geiſtlichen an dieſer Forderung 
feſt, beharrlich wieſen die Evangeliſchen ſie zuruͤck. Es war ein Wider⸗ 
ſtreit, an dem noch zuletzt das ganze Werk zu ſcheitern drohte. Zwei 
entgegengeſetzte Entwürfe wurden dem König eingereicht. Ferdinand 
ſtellte ſich (Ende Auguſt) auf die Seite der Geiſtlichen, mit der groͤßten 
Entſchiedenheit: ſein Entſchluß ſei unwiderruflich, ſo manchen ſauren 
Biſſen habe er verſchlucken muͤſſen, nun moͤchten auch die Gegner einmal 
etwas nachlaſſen. Dagegen bemuͤhte er ſich, eine jetzt von den proteſtan⸗ 
tiſchen Ständen erhobene Gegenforderung bei den Geiſtlichen durch; 
zuſetzen. Sie ging auf eine Beſſerung des zweiten Fehlers aus, den wir 


25 Brieger, Reformationsgeſchichte 385 


Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


am Frieden feſtſtellten. Kurfuͤrſt Auguſt von Sachſen hatte naͤmlich auf 
die Gefahr hingewieſen, daß in den geiſtlichen Stiftern die evangeliſchen 
Untertanen, „ganze Communen, Flecken und Staͤdte, darinnen unzaͤhlig 
viel Seelen und Chriſten fein“, „des Wortes Gottes beraubt würden”. 
Daher das Verlangen der Proteſtanten, daß jenen Untertanen der geiſt⸗ 
lichen Fuͤrſten im Frieden die Verſicherung zu Teil werde, bei ihrer Religion 
bleiben zu koͤnnen. Die geiſtlichen Staͤnde gaben endlich ſo weit nach, daß 
ſie ſich zufrieden erklaͤrten, wenn Ferdinand in einer beſonderen „Erlaͤute⸗ 
rung“ des Friedens jene Zuſicherung erteile. Im Friedensinſtrument 
ſelber ſtand daher nichts davon zu leſen, und dieſe koͤnigliche „Deklaration“ 
(vom 24. September 1555) konnte ſpaͤter um ſo leichter abgeleugnet 
werden, als das Reichskammergericht gar nicht einmal auf ſie verpflichtet 
wurde. Dagegen war der ſtrittige Punkt, jener Vorbehalt der geiſtlichen 
Staͤnde (der ſog. „geiſtliche Vorbehalt“), in den Frieden ſelbſt aufge⸗ 
nommen, wenngleich nur als eine von Koͤnig Ferdinand kraft kaiſerlicher 
Vollmacht getroffene Entſcheidung und mit der ausdruͤcklichen Erklaͤrung, 
daß die Staͤnde ſich uͤber ihn nicht verglichen haͤtten. 

So druͤckt der „geiſtliche Vorbehalt“, als die Auskunft einer heilloſen 
Verlegenheit, dem Frieden den Charakter eines Kompromiſſes auf, 
welcher den Samen der Zwietracht in ſich traͤgt. Denn es war unvermeid⸗ 
lich, es mußte die Frage auftauchen, welche rechtliche Kraft dieſer aus 
„kaiſerlicher Machtvollkommenheit“ gegebenen Beſtimmung uͤber einen 
unter den Staͤnden zwieſpaͤltig gebliebenen Punkt zukomme. Offenbar 
konnte ſie mit dem durch den Reichstagsabſchied geſchaffnen Recht nicht 
auf gleicher Stufe ſtehen. (Die ehemals von Karl V. den proteſtantiſchen 
Staͤnden gegebenen „Deklarationen“ hatte die altkirchliche Partei niemals 
als fuͤr ſich verbindlich anerkannt.) 

Aber auch ſonſt bot die Friedensurkunde mannigfachen Anlaß zu 
Unfrieden: durch eine Reihe von (mitunter aus Unredlichkeit gefloſſenen) 
zweideutigen, unklaren Beſtimmungen. Ja, faſt moͤchte man ſagen: der 
Friede als Ganzes war ein verworrenes Gewebe. 

Mit Recht hat man juͤngſt darauf hingewieſen, wie vorteilhaft 
ſich durch ſeine klare Formulierung der Paſſauer Vertrag von dem 
Religionsfrieden abhebt. 

Es fehlte zu Augsburg die Tatkraft und die Einſicht eines 
Moritz. 

Moritz haͤtte vielleicht auch die verderbliche Wirkung, welche der 
„seiftliche Vorbehalt“ haben mußte, erkannt und ihn abgewendet. 


386 


Oer Friede von Augsburg, 1555. Seine prinzipielle Bedeutung und feine Mängel 


In ſeiner ganzen Groͤße freilich konnte dieſen Schaden erſt die 
Geſchichte enthuͤllen. Sie laͤßt keinen Zweifel darüber: vornehmlich die 
Schuld des Vorbehaltes war es, wenn hier in Augsburg die Wuͤrfel 
Deutſchlands zu Ungunſten des Proteſtantismus fielen — für eine noch nicht 
abſehbare Reihe von Jahrhunderten. Denn ſo, wie die Konfeſſionen ſich 
unter den Folgen des Friedens gruppierten, ſo zeigt ſie die Karte noch 
heute — und fuͤr wie lange vielleicht noch? Mit Huͤlfe eben dieſes Friedens, 
welcher dem evangeliſchen Chriſtentum das Recht der Exiſtenz gewaͤhrte, 
iſt die alte Kirche — bei der Gunſt der Verhaͤltniſſe, wie die naͤchſten Jahr⸗ 
zehnte ſie brachten — in der Lage geweſen, ſich der noch immer maͤchtig 
andringenden reformatoriſchen Bewegung zu erwehren, ja einen großen 
Teil des der Papſtkirche geraubten Gebietes zuruͤckzuerobern. 

Indeſſen, im Jahre 1855 haͤtte doch Niemand eine ſolche Wirkung 
mit einiger Sicherheit vorherſagen koͤnnen. Zu einer Zeit, da, um nur 
an eins zu erinnern, der beiſpielloſe Aufſchwung des katholiſchen Prinzips 
ſich nicht ahnen ließ, waren noch ganz andere Kombinationen moͤg⸗ 
lich, da ſchien die Hoffnung der Proteſtanten, im Laufe der Jahre 
die Maͤngel des Friedens beſſern zu koͤnnen, mehr zu ſein als ein 
eitler Traum. 

Der Friede — das haben wir zu ſeiner gerechten, d. h. geſchichtlichen 
Wuͤrdigung nicht außer acht zu laſſen — entſprach im ganzen doch nur 
der augenblicklichen Machtſtellung der beiden Parteien im Reiche. Die 
altkirchliche Partei konnte nach den Erfahrungen der juͤngſten Zeit — d. h. 
nach der ſiegreichen kriegeriſchen Erhebung des Proteſtantismus und 
nach dem Ausſcheiden des Kaiſers mit ſeiner Weltmacht — nicht mehr 
daran denken, der Gegner Herr zu werden. Auf der andern Seite hatte 
der Schmalkaldiſche Krieg den Proteſtanten die Ausſicht getruͤbt, auch 
die geiſtlichen Gebiete in den Prozeß einer Neugeſtaltung des Reiches 
auf evangeliſcher Grundlage mit hineinzuziehen. So ſind ſie fuͤr den 
Augenblick zufrieden mit der Sicherung ihres gegenwaͤrtigen Beſitz⸗ 
ſtandes. In dieſer Selbſtbeſcheidung tritt freilich zugleich die Erſchoͤpfung 
zu Tage, die ſich ihrer nach dieſen Jahrzehnte langen Kaͤmpfen nachgerade 
bemaͤchtigt hat. Das großartige Übergewicht, welches ihre Meinungen 
noch immer haben, durchdringt ſie nicht mit ſtets friſchem Kraftgefuͤhl; 
es ſchlaͤfert die Muͤden ein: durften fie zur Beruhigung ihres Gewiſſens 
ſich ſagen, daß ſie doch mit ihrem prinzipiellen Siege zu Augsburg wahr⸗ 
lich etwas Großes erreicht hatten, ſo mochten ſie meinen, auch der 
Zukunft ein Stuͤck Arbeit hinterlaſſen zu duͤrfen. 


25% 387 


Karl V. auf der Höhe feiner Macht. Sein Sturz. Das Abkommen der deutſchen Parteien 


So iſt es das momentane Gleichgewicht der Kraͤfte geweſen, was 
damals eine endguͤltige Loͤſung der Religionsfrage fuͤr Deutſchland 
unmoͤglich gemacht hat. | 

Nur ein vorläufiger Abſchluß iſt erreicht, ein Ergebnis, auf das 
wir wohl mit Wehmut blicken. Denn wie weit iſt es doch zuruͤckgeblieben 
hinter den frohen Hoffnungen, mit denen einſt das junge Deutſchland 
ſich in den Dienſt Martin Luthers ſtellte! 

Aber nicht von einer Stimmung haben wir uns leiten zu laſſen. 
Suchen wir lieber zum Schluß das, was 1555 erreicht war, geſchichtlich 
zu erfaſſen. 


ir haben allen Grund, uns der deutſchen Kraft zu 
%, freuen, welche dieſes Ergebnis einem widrigen Geſchicke 
abgerungen hat. Kein ruhmvolleres Blatt unſerer 
Geſchichte koͤnnen wir aufſchlagen. 
Aus den Tiefen deutſcher Froͤmmigkeit iſt die Idee 
des Glaubens aufgetaucht, welcher ſich die Welt zu 
erneuern vermißt. Die deutſche Kraft, von dieſer Idee entflammt, 
ſtuͤrzt ſich kuͤhn in den Kampf, der zwiſchen neu und alt entbrennt, 
den Kampf um ein neues Weltalter. Ihn zur Entſcheidung zu bringen, 
iſt Deutſchlands geſchichtliche Aufgabe: denn in ſeiner eigenen Mitte 
ſammeln ſich all die Maͤchte des Widerſtandes: triumphieren ſie hier, 
dann iſt die neue religioͤſe Idee in ihrem Kernwerk unterlegen. 


389 


Das Ergebnis 


Wir haben den hin und her wogenden Kampf verfolgt. 

Auf gradem Wege ſtuͤrmt die deutſche Nation auf ihr Ziel los: 
es gilt die Umſchaffung des Reiches zu einem deutſchen Staate, deſſen 
belebender Geiſt das neue religioͤſe Prinzip iſt. Allein fremde, ihr feind⸗ 
ſelige Maͤchte werfen ſich ihr entgegen und tragen in ſie ſelber einen Zwie⸗ 
ſpalt hinein. Das Reich verſagt ſich der Reform, muß ſich ihr verſagen 
unter der Gewaltherrſchaft des Fremden. 

Aber die Nation laͤßt ſich nicht irre machen: ſie erſtrebt jetzt die nationale 
und religioͤſe Neuerung durch Eroberung der einzelnen Territorien, 
deren Eigenkraft bei dem Zerfall des Reiches laͤngſt maͤchtig erſtarkt iſt. 
Ein deutſcher evangeliſcher Staatenbund iſt nun das Ziel. Und indem 
dank der werbenden Kraft des religioͤſen Ideals ſtets wachſende Scharen 
in ihr Heerlager ſtroͤmen, kommt die Nation dem neuen Ziele näher und 
näher, in einem unausgeſetzten Kampf von zwanzig Jahren, gehemmt 
bald, bald gefoͤrdert durch den Wechſel der europaͤiſchen Lage. Da ſieht 
ſie ſich ploͤtzlich zuruͤckgeworfen. Die Vertreter der alten Zeit haben ſich 
aufgerafft, in demſelben Augenblick, wo Deutſchland ſich ihnen zu ent⸗ 
winden drohte, der Kaiſer und der Papſt mit dem Gefolge ihrer Trabanten 
aus des deutſchen Volkes Mitte. 

Aber die deutſche Kraft iſt nur gebunden, nicht vernichtet. Der ſpaniſche 
Deſpot, der jetzt der ketzeriſchen Nation ſeinen Fuß auf den Nacken ſetzt 
und ſich anſchickt, ſie zum Schemel ſeiner Weltherrſchaft zu machen, kann 
ſeines Sieges nicht froh werden. Die gekraͤnkte „Libertaͤt“ deutſcher 
Territorialherren, in wirkſamem Bunde mit dem nationalen und dem 
religioͤſen Empfinden, empoͤrt ſich wider den Herrn der Welt; und ſeine 
Weltmacht, die ſich gegenuͤber ſo vielen Feinden behauptet hat, ſcheitert 
zuletzt an der Kraft des proteſtantiſchen Deutſchland. Er ſieht ſein Lebens⸗ 
werk zerſchellen. Er hat das deutſche Volk, indem er ihm im Bunde 
mit dem Papſt ein ungeheueres Opfer auferlegte, ſpalten koͤnnen, aber 
nicht unterjochen. Die Religion der Ketzer — das iſt das Entſcheidende 
— lebt, ſie geht frei aus — ein vorlaͤufiger Abſchluß, mit dem wir nicht 
uͤbel zufrieden ſein duͤrfen. 

Aber freilich dem aͤußeren Gang der Dinge entſpricht nur zu genau 
die innere Entwickelung: auch hier gewahren wir nur einen vorlaͤufigen 
Abſchluß, der weit, weit zuruͤckbleibt hinter dem, was der Fruͤhling der 
Reformation zu verheißen ſchien. 

Was hatte doch Luther einſt unter „Glauben“ verſtanden? Sein 
Glaube wollte etwas anderes ſein als Zuſtimmung zu dem Dogma der 


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Das Ergebnis 


Kirche, etwas anderes als gehorſame Unterwerfung unter irgend eine 
Autoritaͤt; er war eine lebendige Macht im Herzen, ein kuͤhnes Kindes⸗ 
vertrauen, in welchem der Sünder, geſtuͤtzt auf die in Jeſus Chriſtus 
offenbarte Liebe, ſich zu Gott nahen darf; eine Kraft, welche Herz und 
Gewiſſen umwandelt, ein neues Leben ſchafft. Dieſer Glaube war etwas, 
was man haben durfte, ein beſeligender Beſitz, nichts Vorgeſchriebenes, 
keine Laſt. 

Aber wie war nun dieſer Glaube bei dem Bemuͤhen, die geniale 
Konzeption des religioͤſen Heros mit den Mitteln der Wiſſenſchaft feſt⸗ 
zuhalten und zu verdeutlichen, mittlerweile definiert worden? Was ſtand 
in den Lehrbuͤchern der Theologie zu leſen und in den Kirchenordnungen? 
Wie lauteten die Formeln, welche den Verkuͤndigern des Evangeliums 
vor der Ordination abverlangt wurden? Schulmaͤßig und kalt klingen 
die Worte: zergliedert wird der Glaube, in ſeine „Teile“ zerlegt. Da 
ſoll er — das wenigſtens iſt nicht vergeſſen — zwar auch noch Vertrauen 
zu Gott fein, aber erſt auf feiner hoͤchſten Stufe; als die notwendige Vor⸗ 
ausſetzung dieſes Glaubens, als ſeine untere Stufe, gilt die verſtandes⸗ 
maͤßige Zuſtimmung zum Inhalt der Heil. Schrift, ja ſogar „die Summe 
der Glaubensartikel“ erſcheint als Inhalt des Glaubens. Es war eine 
bedenkliche Wiederannaͤherung an die alte, katholiſche Faſſung vom 
Glauben. Denn wenn die verſtandesmaͤßige Annahme der Bibel als 
eines von Gott herruͤhrenden Unterrichts die Vorausſetzung fuͤr den 
eigentlichen Glauben iſt, liegt darin die Zumutung einer vorausgehenden 
autoritaͤtsmaͤßigen Unterwerfung. Aber auch eine Umbiegung des 
Religiöſen in das Intellektualiſtiſche war damit vollzogen, und einer 
neuen Scholaſtik war die Tuͤr geoͤffnet. Wir begreifen es, daß dieſer 
Glaubensbegriff ſich einen entſprechenden Kirchenbegriff ſchuf, welcher 
weit abbog von der Anſchauung Luthers: fuͤr ihn war die Kirche eine 
religiöfe Größe geweſen (im ſtrengſten Sinne des Wortes); jetzt gab 
man dieſes Religioͤſe zwar nicht ganz auf, aber in den Vordergrund 
ruͤckte eine ganz neue Anſchauung: die Kirche iſt die Gemeinſchaft derer, 
welche an der rechten Lehre feſthalten. Wir ſehen alſo die Gliedſchaft der 
Kirche abhaͤngig gemacht von der Zuſtimmung zu ihrem Dogma, und 
die Lehre ſelbſt, „die rechte Lehre“, „die reine Lehre“, wird — mit Ein⸗ 
ſchluß des Dogmas der Kirche des Altertums — als Fundament der 
Kirche gewertet. 

Es ſind die fuͤr die Entwickelung des Proteſtantismus entſcheiden⸗ 
den Abwandlungen des reformatoriſchen Prinzips. 


391 


Das Ergebnis 


Sie ermoͤglichten dem Mittelalter, wenn ſchon einem ſtark abge⸗ 
blaßten und ermaͤßigten, eine Art von Nachbluͤte auf proteſtantiſchem 
Erdreich. 

Noch heute leiden wir unter den Nachwehen jener Umbildung. 

Aus ihr iſt die Orthodoxie des 17. Jahrhunderts erwachſen, und 
deren wunderſames Schickſal geht das Geſchlecht unſerer Tage noch ganz 
unmittelbar an. Fuͤr ihre Zeit nicht ohne geſchichtliche Berechtigung, 
ein großartig durchgebildetes Syſtem, das noch heute durch ſeine 
Geſchloſſenheit Eindruck macht, war ſie doch allmaͤhlich an ihren eigenen 
Fehlern zu Grunde gegangen (ſchon um die Mitte des 18. Jahrhunderts). 
Da ſetzte die allgemeine ruͤckſchrittliche Tendenz ein, wie ſie ſeit den Tagen 
der Romantik das 19. Jahrhundert durchzieht, jener gewaltige Ruͤck⸗ 
ſchlag gegen die franzoͤſiſche Revolution; und die katholiſche Reaktion, 
welche dem ſchon ſterbenden Papſttum neue Kraft einhauchte und die 
unſchuldig verurteilten Juͤnger des Ignatius wieder zu Ehren brachte, 
erweckte auf proteſtantiſchem Boden die alte Orthodoxie zu neuem Leben. 
Zwar erſcheint ſie durchſetzt mit Elementen des Pietismus und mit 
Bruchſtuͤcken aus der Ideenwelt des 18. und 19. Jahrhunderts und ſo 
in demſelben Maße gemildert wie gefaͤlſcht; aber etwas von der alten 
Kraft verraͤt ſie doch noch: denn wieder vermag ſie wie ein Reif die volle 
Entfaltung der urſpruͤnglichen Ideen des Proteſtantismus zuruͤckzuhalten. 

So hat die Gegenwart, obgleich der Proteſtantismus den fruͤher 
begangenen Fehler laͤngſt erkannt hat und bemuͤht geweſen iſt, ihn zu 
beſſern, doch keinen Grund ſich zu uͤberheben. Sie wird vielmehr nur 
geneigter ſein, jene verhaͤngnisvolle Umbildung in das rechte geſchicht⸗ 
liche Licht zu ſetzen. 

Sehen wir da nicht auf die Einzelheiten, ſondern auf das Ganze des 
damals ſich abſpielenden Prozeſſes, werden wir das, was zunaͤchſt als 
Umbildung erſcheint, vielmehr als eine bloß mangelhafte Ausbildung des 
Prinzips begreifen. 

Man wollte das Erbe Luthers ſichern und merkte nicht, in welchem 
Maße man es verkuͤrzte, ſeinen urſpruͤnglichen Reichtum verkuͤmmerte. 

Wer wollte aber daraus jener Generation einen Vorwurf machen? 

Wir wuͤrden damit nicht allein die Reformation herabſetzen, ſondern 
auch das Mittelalter unterſchaͤtzen. Die Maſſe der neuen Ideen, welche 
auf den Menſchen des 16. Jahrhunderts einſtuͤrmte, waͤre uͤberhaupt 
nicht als welterſchuͤtternd ins Gewicht gefallen, haͤtte ſie in ihrem ganzen 
Umfang Eigentum der Zeitgenoſſen des Reformators werden koͤnnen. 


392 


Das Ergebnis 


Die Menſchheit kam vom Mittelalter her und ſtand naturgemaͤß noch 
lange unter ſeiner Nachwirkung. 

Als ſolche gibt ſich deutlich genug die vorhin angedeutete Umbildung 
der urſpruͤnglichen Anſchauungen Luthers: denn wir haben in ihr die 
Wendung auf das Autoritative vor uns. Und wir bemerken dieſe nicht 
bloß in der Theorie; dasſelbe Zuruͤckgreifen auf die Autorität tritt uns 
in dem Verhalten der großen Maſſe entgegen. Zu ſehr war man noch 
auf der damaligen Stufe der Geſamtentwicklung an die Verehrung von 
Autoritäten gewoͤhnt. Dieſe Gewohnheit von Jahrhunderten hatte von 
dem erſten Anſturm des neuen Geiſtes wohl geknickt, aber nicht entwurzelt 
werden koͤnnen. Selbſt in den Kreiſen der Gebildeten, welche es fuͤr einen 
Vorzug des neuen Kirchentums hielten, die blinde Devotion abgetan zu 
haben, war der Glaube unzweifelhaft in den meiſten Faͤllen ein Akt 
des Verſtandes, einfach Zuſtimmung zu dem, was die Kirche lehrte. 

Sie werden auch nur ausnahmsweiſe Anſtoß genommen haben 
an dem, was uns im Bilde dieſer Zeit als ein tiefer, tiefer Schatten 
erſcheint. 

Er kann uns freilich nicht uͤberraſchen. Denn die Folgen jener ver⸗ 
kehrten Vorſtellung, daß der Glaube zu ſeinem Objekt die Lehre der 
Kirche habe und daß die formulierte Lehre das Fundament der Kirche 
bilde, konnten nicht ausbleiben. Schon in den letzten Jahren vor dem 
Augsburger Frieden treten ſie zu Tage. Es entbrannte der Eifer fuͤr die 
reine Lehre. Unter ſeiner Einwirkung wurden Verhandlungen uͤber 
Fragen der Schule zu kirchlichen Streitigkeiten. Bald waren die Lutheraner 
Deutſchlands in zwei feindliche Lager getrennt. Offentlich auf Religions⸗ 
gefprächen — im Angeſicht der „Paͤpſtler“ — erklärte die eine Partei die 
andere für abtruͤnnig von der Augsburgiſchen Konfeſſion. Wie Muſik 
klang in Rom die Kunde davon. Wie viel leichter ließ ſich, in den Tagen 
der Gegenreformation, ein Feind zuruͤckdraͤngen, deſſen Kraft der innere 
Zwieſpalt ſchwaͤchte. Aber dieſe inneren Kaͤmpfe um die reine Lehre 
hatten noch eine ſchlimmere Folge: jeder Andersdenkende ſah ſich verurteilt, 
verdammt. Die Intoleranz war wieder Prinzip, religioͤſe Pflicht. Man 
mußte alles, was Ketzerei hieß, bekaͤmpfen, vor ihm warnen, indem man 
alle Schliche und Tuͤcke der Ketzer aufdeckte: der gegebene Ort hierfuͤr 
war die Kanzel. Neben den alten Ketzern lenkten jetzt namentlich die 
Calviniſten die Polemik auf ſich. Vor allem aber kam es darauf 
an, die geheimen Anhaͤnger Calvins in der eigenen Kirche ſcharf im 
Auge zu behalten: ſie durften nicht geduldet werden, es ſei denn, ſie 


393 


Das Ergebnis 


ließen ſich herumbringen und „verdammten“ die falſche Lehre. Hier 
fanden die Beichtvater ein reiches Feld der Taͤtigkeit: in Inquiſition und 
Belehrung. Mit dem Glaubenseifer miſchte ſich da wohl die ſuchende, 
rettende Liebe. Wie viel Seelenpein iſt im Namen des Glaubens, im 
Namen der Liebe oft auch noch den Sterbenden bereitet worden — bis 
in die Bluͤtezeit der Orthodoxie hinein! Wir beſitzen ſo manche Schil⸗ 
derung aus der Feder der Beichtvaͤter ſelbſt; wir glauben uns in das 
Mittelalter verſetzt, nur daß Folter, Schwert und Feuer hier keine Rolle 
ſpielen. Und ein Stuͤck Mittelalter, wie ſchon angedeutet, war es, ein 
Stuͤck Mittelalter mitten im Proteſtantismus! 

Denn auf deſſen Boden bewegen wir uns gleichwohl. So ſtark die 
Verengung der reformatoriſchen Gedanken ſein mochte, ein gutes Stuͤck 
von ihnen hat dennoch die Zeitgenoſſenſchaft Luthers erfaßt, mit Zaͤhig⸗ 
keit feſtgehalten und ins Leben einzufuͤhren begonnen. 

Wir brauchen nur zu bedenken, was hier zu leiſten war. 

Wie viele Bande waren doch gelockert! Welche Verwilderung war 
eingeriſſen, nachdem die bisherigen Motive der Kirchlichkeit und der 
Sittlichkeit zuſammengebrochen waren! Da mußte ein neuer kirchlicher 
Sinn geweckt, eine neue Sitte begruͤndet werden. An die Stelle der ſelbſt⸗ 
gewaͤhlten Werke mit ihrer Verdienſtlichkeit, dieſer außerordentlichen 
Leiſtungen, welche ſo oft aus der Welt der Wirklichkeit hinausfuͤhrten, 
ſollte — ſo forderte es die neue evangeliſche Glaubensidee — eine ein⸗ 
fache buͤrgerliche Sittlichkeit treten, d. h. eine Sittlichkeit, die unmittelbar 
im Berufe ſich zu bewaͤhren hatte. Und welcher Mittel konnte denn die 
Kirche ſich bedienen zur Neupflanzung? Die bisher angewendeten fehlten 
ja: dieſer mit uͤberirdiſcher Autoritaͤt ausgeſtattete Prieſter und die 
Gewiſſensinquiſition, welche er in der Beichte geuͤbt hatte. Die Kirche 
hatte ſich auf eine einzige Funktion zuruͤckgezogen, grundſaͤtzlich, alles 
andere war nur Beiwerk: die Verwaltung des Wortes. Selbſt die ſtrenge 
Kirchenzucht und die nicht minder herbe Zucht der Sitte, wie ſie Calvin 
in ſeiner Kirche eingebuͤrgert hatte, war von dem deutſchen Proteſtantis⸗ 
mus verſchmaͤht worden. Dafuͤr nahm er Hand in Hand mit dem Staate 
und mit Huͤlfe der Schule die große Aufgabe der ſittlichen Durchbildung 
des Volkes in Angriff — ein Meiſterſtuͤck der Paͤdagogik, welches hier 
geliefert iſt: ein ſiegreicher Kampf mit der Roheit, wie er zu keiner Zeit 
entſchiedener gefuͤhrt iſt. Es iſt, wenn wir das Wirrſal bedenken, wie wir 
es in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts finden, großartig, 
ſtaunenswert, was hier geſchaffen iſt. 


394 


Das Ergebnis 


Zu dem, was unſer Volk heute ift, iſt damals in harter, gewiſſen⸗ 
hafter und begeiſterter Arbeit der Grund gelegt worden. 

Wir koͤnnen dieſe Leiſtung aber nicht hoͤher ſchaͤtzen, als wenn wir ſie 
als einen bloßen Anfang betrachten. 

Und nur unter dem naͤmlichen Geſichtspunkte koͤnnen wir das 
Stuͤck Geſchichte, mit dem wir uns hier beſchaͤftigt haben, im Sinne der 
Geſchichte ſelbſt verſtehen. 

Die Epoche von 1517 bis 1555 iſt nur der erſte Akt in dem Drama 
der neueren Geſchichte, die erſte Phaſe des ungeheueren Kampfes, der 
ihren Inhalt ausmacht, und der kein anderer iſt als der Kampf der Neu⸗ 
zeit ſelber mit dem Mittelalter. 

Das Jahr 1555 hatte keine Loͤſung der von Luther in die Welt 
geworfenen Frage gebracht, nicht einmal (wir ſahen es) fuͤr Deutſchland 
ſelbſt. Der Friede barg in ſeinen Falten den Krieg: noch ein Mal hatte 
Deutſchland durch die unerhoͤrten Leiden und Kaͤmpfe von dreißig Jahren, 
um mit Heinrich von Treitſchke zu reden, „die Zukunft des Proteſtantismus 
für den geſamten Weltteil zu ſichern“. 

Der Proteſtantismus entwand ſich den Schlingen der ſpaniſchen 
Reaktion, die ihn erdroſſeln wollte. 

Was Wunder, wenn auf die Anſtrengung eine Zeit der Erſchoͤpfung 
folgte? 

Allein das 18. Jahrhundert (nach dem 16. bis heute das glorreichſte 
der Neuzeit) ſah das Emporkommen des neuen Geiſtes in anderer Form. 
Oder, wenn man will: Ideen, unabhaͤngig vom Proteſtantismus, fuͤr 
deren Gedeihen aber er ſelber erſt den Boden bereitet hatte, kamen ihm 
zu Huͤlfe und ſchaͤrften ihm den Blick fuͤr Folgerungen, die er bis dahin 
nicht zu ziehen vermocht hatte. Ein neues Leben durchſtroͤmte ihn. Aber 
bald fand er ſich von neuem in den Kampf verwickelt. Denn auch ſein 
alter Gegner, einſt gleich ihm ermattet, war zu neuem Kraftbewußt⸗ 
fein erwacht, die Folge des ihm aufgedrungenen Krieges mit den Prin⸗ 
zipien der franzoͤſiſchen Revolution. 

Damit brach die dritte Phaſe des großen Kampfes aus, dieſe, in 
welcher unſere Generation noch mitten darin ſteht. 

Keine Macht der Welt koͤnnte hier Frieden ſtiften. Wann uns einmal 
wieder — vor der großen Endentſcheidung — ein Waffenſtillſtand 
beſchieden ſein wird, wer weiß es? 

Wir koͤnnen uns dieſem Kampf um die hoͤchſten Guͤter der Menſch⸗ 
heit nicht entziehen. 


395 


Das Ergebnis 


Aber wollen wir ihn recht fuͤhren, muͤſſen wir auf ein Doppeltes 
bedacht ſein. 

Das erſte iſt, daß wir ihn fuͤhren in dem vollen Bewußtſein der 
inneren Überlegenheit, welche uns unſere Stellung gibt, und in Erfuͤllung 
der aus ihr fuͤr uns erwachſenden Pflicht: wir ſind nicht, gleich den Ver⸗ 
tretern des roͤmiſchen Kirchentums, durch das Prinzip genoͤtigt, dem Gegner 
wahre und echte Religioſitaͤt abzuſprechen. Wir erkennen vielmehr gern 
und freudig an, daß die unverwuͤſtliche Lebenskraft des Chriſtentums 
auch in der uns feindlichen Kirche immer noch ungeahnte Baͤche inneren 
Lebens fließen laͤßt, zumal auf germaniſchem Boden, den Luther auch 
fuͤr ſeine Feinde gefurcht und bewaͤſſert hat. Und dieſe Erkenntnis vermag 
unſerem Kampfe die Weihe zu geben und zugleich das rechte Ziel zu 
ſtecken. 

Den endlichen Sieg des Proteſtantismus aber koͤnnen wir nicht 
wirkſamer vorbereiten, als wenn wir vollen Ernſt mit ſeinem Prinzip 
machen — in unſerer eigenen Mitte. Es iſt dies das zweite, was uns am 
Herzen liegen muß: Arbeit im Inneren! Wie manche Überreſte des Mittel⸗ 
alters haben wir da noch auszukehren, mit welchem Ernſt und welcher 
Unerſchrockenheit auch Konſequenzen zu ziehen, auf daß das Evangelium 
Martin Luthers „von der Freiheit eines Chriſtenmenſchen“ mehr und 
mehr zur Wahrheit werde. 


Die vorliegende Reformationsgeſchichte von Profeſſor 
Or. Brieger ſtellt den erweiterten Abdruck der erſten 
Faſſung dar, die in Ullſteins Weltgeſchichte, herausge⸗ 
geben von Prof. Or. J. v. Pflugk⸗Harttung, erſchienen iſt 


Ullſteins Weltgeſchichte 


In Verbindung mit achtundzwanzig Fachgelehrten 
herausgegeben von 


Prof. Dr. J. v. Pilugf-Harttung 


Mitarbeiter und Bandeinteilung des Werkes: 


Band 1: Altertum 


J. Walther, Univerſitaͤts-Profeſſor, Halle: 
Die Vorzeit der Erde. 
E. Haeckel, Univerſitaͤts-Profeſſor, Jena: 
Entwicklungsgeſchichte des Menſchen. 
F. v. Luſchan, Univ.⸗Prof., Dir. a. Kgl. Muſ. f. Voͤlkerkunde, 
Berlin: Raſſen und Voͤlker. 

M. Hoernes, Univerſ.-Prof., em. Kuſtos a. k. k. naturhiſt. 
Hofmuſeum, Wien: Die Anfaͤnge menſchlicher Kultur. 
J. Beloch, Univerſitaͤts-Profeſſor, Rom: 

Die Bi bis auf Alexander den Großen. 
K. J. Neumann, Univerſitaͤts-Profeſſor, Straßburg: 
Die helleniſtiſchen Staaten u. d. roͤmiſche Republik. 
R. v. Poehlmann, Univerſ.⸗Prof., Muͤnchen: Roͤmiſche 
Kaiſerzeit und Untergang der antiken Welt. 


Band 2: Mittelalter 


J. v. Pflugk-Harttung, Univ.-Prof. a. D., Geh. Archivrat 
am Koͤnigl. Geh. Staatsarchiv, Berlin: 
Voͤlkerwanderung und Frankenreich. 

H. Kaufmann, Univerſitaͤts-Profeſſor, Breslau: 
Kaiſertum u. Papſttum bis Ende des 13. Jahrh. 
W. Friedensburg, Univerſ.-Prof. a. D., Geh. Archivrat, 
Direktor des Koͤnigl. Staatsarchives zu Stettin: 
Der Ausgang des Mittelalters. 

A. Bruͤckner, Univerſitaͤts-Profeſſor, Berlin: 
Eintritt der Slaven in die Weltgeſchichte. 

: j 3 
Band 3: Der Orient Gute in Sie !eitpoliet) 
C. Bezold, Univerſitaͤts-Profeſſor, Heidelberg: 
Die Kulturwelt des alten Orients (Agypten, 
Babylonien, Judaͤa). 
C. Brockelmann, Univerſitaͤts⸗ e Koͤnigsberg: 
Der Islam von ſeinen Anfaͤngen b. z. Gegenwart. 
r. R. Stuͤbe, Wii 
Die Reiche der a in Aſien und die 
oͤlker Zentralaſiens. 
A. Conrady, Univerſitaͤts-Profeſſor, Leipzig: China. 
Dr. O. Nachod, Berlin: Japan. 


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Der Einband iſt in Halbfranz od. weiß Buckram gehalten 


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ullſteins Weltgeſchichte 


In Verbindung mit achtundzwanzig Fachgelehrten 
herausgegeben von 


Prof. Dr. J. v. Pflugk⸗Harttung 
Mitarbeiter und Bandeinteilung des Werkes: 


Band 4: Neuzeit (1500-1650) 


J. v. Pflugk⸗Harttung, Univerſ.⸗Profeſſor a. D., 
Geh. Archivrat am Kgl. Geheimen Staatsarchiv, Berlin: 
Entdeckungs- und Kolonialgeſchichte. 

K. Brandi, Univ.⸗Prof., Göttingen: Renaiſſanee. 
Th. Brieger, Univerſitaͤts-Profeſſor, Leipzig: 
eformation. 

H. v. Zwiedineck-Suͤdenhorſt, weil. Univ.⸗Prof., Graz: 
Gegenreformation in Deutſchland. 
M. Philippſon, Univerſitaͤts-Profeſſor a. D., Berlin: 
Gegenreformation in Suͤd- und Weſteuropa. 


Band 5: Neuzeit (1650-1815) 


A. Bruͤckner, Univerſitaͤts-Profeſſor, Berlin: 
Die flavifhen Voͤlker. 
M. Philippſon, Univerſitaͤts-Profeſſor a. D., Berlin: 
Zeitalter Ludwigs XIV. 

W. Oncken, weiland Univerſitaͤts-Profeſſor, Gießen, 
und E. Heyck, Univerſitaͤts-Profeſſor a. D., Berlin: 
Zeitalter Friedrichs des Großen. 

J. v. Pflugk-Harttung, Univerſitaͤts⸗Profeſſor a. D., 
Geh. Archivrat am Kgl. Geheimen Staatsarchiv, Berlin: 
Die franzoͤſiſche Revolution und das Kaiſerreich. 


Band 6: Neuzeit (ſeit 1815) 


P. Darmſtaedter, Univerſitaͤts-Profeſſor, Goͤttingen: 
Die Vereinigten Staaten von Amerika. 
K. Haebler, Prof., Direktor a. d. Kgl. Bibliothek, Berlin: 
Mittel: und Suͤdamerika. 
H. Ulmann, Univerſitaͤts-Profeſſor, Greifswald: 
Europa im Zeitalter der Reaktion. 
K. Th. v. Heigel, Univ.⸗Prof., Praͤſident d. Kgl. Bayr. 
Akademie der Wiſſenſchaften, Muͤnchen, und 
Dr. W. Hauſenſtein, Muͤnchen: 
Die Zeit der nationalen Einigung. 

E. Brandenburg, Univerſitaͤts⸗Profeſſor, Leipzig: 
Die Entſtehung eines Weltſtaatenſyſtems. 
Dr. LL. D. K. Lamprecht, Univerſ.⸗Prof., Leipzig: Euro: 
paͤiſche Expanſion inVergangenheitu. Gegenwart. 


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