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Full text of "Die Religionsphilosophie in Deutschland in ihren gegenwärtigen Hauptvertretern: In ihren ..."

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ANSOVES-HAKVABD THEOLOQKUL LIBBART 

MDCCCCX 

CAMBRIDGE, MASSACH USETfS 




™l 



Die 



Religionsphilosophie 



in Deutschland 



in ihren gegenwärtigen Hauptvertretern. 

Rudolf Eucken 

als Festgabe zu seinem 60. Geburtstage flberreicht 

von 

Dr. Otto Siebert. 




Langensalza 

Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann) 

Hcnogl. Sicht. Hofkncfahindlw 
1906 

C/ 



Alle ßechte vorbehalten. 



Andovfr- Harvard I 

THEOLXXJICAL LlßlViRY 

t.UY 2 1912 
HARVAPn 

DiVINITV SC.HOOL 



H^'^l^l 



Vorwort. 



Wer seine Augen aufmacht, um zu sehen, und wem zugleich 
ein Yerständnis für die Zeichen der Zeit nicht abgeht, der sieht die 
Gegenwart durchdrungen von vielleicht noch unbestimmter, dennoch 
aber tief innerer Sehnsucht nach religiösem Leben; »augustinische 
Stimmungen« (Eucken) ringen sich auf aus vermeintlich längst ver- 
schütteten Tiefen. »Die Zeiten liegen hinter uns, wo die Verneinung 
aller und jeder Religion zunächst als etwas Großes, dann aber als 
selbstverständlich galt, und wo der armseligste Witz geistvoll zu 
werden schien, wenn er sich nur gegen die Religion richtete ; unsere 
Zeit bedarf anderes, und im Grunde will sie auch anderes. Alles 
läßt vermuten, daß im Geistesleben der folgenden Epoche die Reli- 
gion weit mehr bedeuten wird als in der spezifisch modernen Welt« 
(Eucken). Wir leben in einer gottsuchenden Zeit, die deutlich zeigt, 
daß in allen Verwirrungen und Gärungen bessere Keime verborgen 
liegen, die nach Entfaltung und Gestaltung streben. Wir haben das 
näher in der Einleitung des Werkes zu entwickeln gesucht. Kein 
Wunder, wenn daher mit der Philosophie überhaupt auch die- Reli- 
gionsphilosophie einen neuen Aufschwung zu nehmen begonnen hat 
Nicht j nur daß die kirchlichen Interessen sich heute in kaum ge- 
ahntem Umfang wieder Geltung zu verschaffen gewußt haben, daß 
religiöse Streitfragen die Gedanken bewegen und konfessionelle Vor- 
fälle die Gemüter erregen, daß das Wesen des Christentums in^^allen 
Schichten der Gebilden debattiert wird, nein, auch die philosophischen 
Systeme endigen mehr oder weniger in einer religiös gefärbten Spitze. 
Und wenn dies alles nicht wäre, so genügt die Tatsache, daß der 



IV Vorwort. 

hervorragendste systematische Philosoph der Gegenwart, Rudolf Eucken 
in Jena, ein neuer Anwalt der Religion geworden ist Eucken feiert 
heute seinen 60. Geburtstag. Es ist ein arbeitsreiches und dabei 
zugleich reich gesegnetes Leben, das er bereits hinter sich hat 
Aber er steht gerade jetzt auf der Höhe seines Schaffens; seine Arbeit, 
die er bisher in den Dienst eines gesunden Idealismus gestellt hat, 
wird weiter in diesem Sinne gehen. Seine ganze Philosophie ist, wie 
sein Schüler Hans Pöhlmann sehr richtig gesagt hat, religiös ge- 
stimmt im besten Sinne des Wortes^ ohne daß er in neuer Scholastik 
irgend einer Konfession oder Lehre Knechtsdienste leistet Er wahrt 
sich die volle Fi'eiheit von jeder bloß äußerlichen Autorität, wie sie 
die Neuzeit im heißen Kampfe sich erstritten. Aber dennoch ist er 
ein unermüdlicher Apostel der Religion und Apologet des Christen- 
tums. Wir haben daher seinen 60. Geburtstag nicht besser zu ehren 
gewußt, als daß wir ihm die folgenden Charakteristiken gewidmet 
haben. Sie zeigen, wie seine Arbeit nicht isoliert dasteht, sondern 
Ausdruck eines Zuges der Zeit ist, welchem er Worte zu geben 
wie kaum ein anderer verstanden hat 

Fermersleben, den 5. Januar 1906. 

Dr. Otto Siebert 



Inhalt. 



Sdta 

£inleitang: Die Stellang der Beligion in der Neuzeit 1 

1. Kapitel: Die gegenwärtigen Haaptvertreter der Religionsphilosophie auf 

neokantischer, hegelscher and herbartscher Basis .... 13 

a. Einführung , . 13 

b. Julius Eaftan und Wilhelm Hemnann 16 

0. Otto Pfleiderer 27 

d. Otto Flügel 38 

2. Kapitel: Die gegenwärtigen Eauptvertreter der B«ligionsphilo8ophie auf 

philosophisch neuer Basis 45 

a. Einführung 45 

b. Rudolf Eucken und verwandte Dtnker 47 

a, Rudolf Eucken 47 

/?. Gustav Claß 73 

y. Ernst Tröltsoh 78 

c. Hermann Siebeck und Günther Thiele 81 

a. Hermann 8iebeck 81 

/?. Günther Thiele 96 

d. August Dorner , 99 

e. Georg Runze 113 

f. Franz Mach 118 

g. Julius Baumann 125 

3. Kapitel: Die gegenwärtigen Hauptvertreter der Religionsphilosophie auf 

pessimistischer, soziologischer und positivistischer Basis . . 134 

a. Einführung 134 

b. Eduard v. Hartmann 135 

c. Paul Natorp 144 

d. Theobald Ziegler 153 

Schluß: Das Christentum und die Gegenwart 159 



Einleitung. 



Die Stellung der Religion in der Neuzeit 

David Friedrich Strauß hat eiast die Religion in ihrem Verhält- 
nisse zur Verstandesbildung mit dem Gebiete der Rothäute verglichen, 
das von deren weißhäutigen Nachbarn von Jahr zu Jahr mehr ein- 
geengt werde. Viele haben seitdem ihm Beifall gezollt und sich ein- 
gebildet, die Religion zu den Toten legen zu können, um desto eifriger 
sich mit nützlicheren Dingen zu beschäftigen, von Ludwig Feuerbach 
an, dem alle Religion nur Illusion war, bis hin zu Ernst Haeckel, dem 
neuesten Propheten des Atheismus, der endlich mit seinem Substanz- 
gesetz den Stein der Weisen gefunden zu haben wähnte, würde doch 
mit ihm nicht nur positiv die prinzipielle Einheit des Kosmos und 
der kausale Zusammenhang aller uns erkennbaren Erscheinungen be- 
wiesen, sondern zugleich negativ der höchste intellektuelle Fortschritt 
erzielt, der definitive Sturz der drei Zentraldogmen der Metaphysik: 
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Die Bewegung der Neuzeit gegen 
die Religion hat freiüch schon lange vor Strauß und Feuerbach be- 
gonnen, sie begann bereits mit dem Aufkommen einer neuen Kultur 
überhaupt Ging diese anfangs der Religion begleitend zur Seite, so 
suchte sie sich später selbst zur Religion zu vertiefen, ja zur Kultur 
ohne alle und jede Religion zu werden, zumal als sowohl die Natur- 
wissenschaft als die geschichtlich -gesellschaftliche Betrachtung der 
Dinge als die Grundüberzeugung der Philosophie mit der über- 
kommenen Religion in den härtesten Konflikt geraten waren und 
immer deutlicher ersichtlich wurde, daß hier nicht Individuen gegen 
Individuen, sondern geistige Mächte gegen geistige Mächte standen, 
80 daJS die Entscheidung jenseit aller Willkür der Menschen zu liegen 
schien. 

Siebert, Beligionsphilosophie. 1 



Einleitung. 



Wir müssen das noch etwas genauer verfolgen. Die überkommene 
Religion ist eng verwachsen mit dem alten Naturbilde, nach welchem 
sich alles um die Erde als den ruhenden Mittelpunkt der Welt be- 
wegte. Wir wissen, wie dieses alte Weltbild plötzlich verändert wurde, 
die Erde wird ein mittelgroßer Trabant eines Weltkörpers, der selbst 
nur ein Stern unter zahllosen Sternen ist, vor denen er auch nicht 
den geringsten Vorzug im unermeßlichen Weltall besitzt. Kann da 
noch, was auf dem verschwindenden Erdstern vorgeht, über das ganze 
All entscheiden? So aber wollte es die überkommene Religion; sie 
stellte Himmel und Erde in den schroffsten Gegensatz, sofern alles 
Elend in der Welt, selbst der Tod erst durch die menschliche Sünde 
in die Welt kam. Aber noch mehr! Der neueren Naturwissenschaft 
wurden nicht lebendige innere Kräfte, sondern mechanische Mächte 
wie Druck und Stoß die Beweger der Natur. Mußte das nicht den 
Glauben an alles Übernatürliche bis in den Grund hinein ei'schüttern, 
ja diesen geradezu als widernatürlich erscheinen lassen? Ohne Wunder, 
so schien es, kein Christentum, mit dem Wunder aber keine rationale 
Naturerklärung, keine moderne Naturwissenschaft! Dazu veränderte 
die Klärung der Begriffe von der Natur auch das ganze Verhalten 
des Menschen zu ihr. Eine Natur, deren Gewebe sich in die feinsten 
Fäden auflösen und von den einfachsten Anfängen her verstehen ließ, 
gestattete auch, ihre Kräfte für die eigenen Zwecke zu lenken imd 
nutzbar zu machen. Während der Mensch früher der Natur wehrlos 
gegenüberstand, machte die glänzende Entwicklung der Technik ihn 
zu ihrem Herrn und Gebieter, ausgestattet mit jährlich verbesserten 
Waffen, tritt er nun der Unvernunft des Daseins hoffnungsfroh ent- 
gegen, bereit selbst seiner Mächte Herr zu werden, diese kraft 
seiner eigenen Macht zu überwinden, nicht aber auf ein übernatür- 
liches Eingreifen einer Gottheit zu harren; nicht stilles Warten, 
sondern mutiges Kämpfen, nicht flehendes Gebet, sondern tätige Ar- 
beit wird seine Losung; — die Religion hat ihm ihre Bedeutung 
verloren. 

Nun brauchte sich freilich die Religion durch alle Angriffe von 
draußen her nicht einschüchtern zu lassen, wenn sie im eigenen 
Reich des Menschen eine feste Stellung und unbestreitbare Wirksam- 
keit behauptete, wenn sie zumal das geschichtliche Leben sicher be- 
herrschte. So war es lange gewesen. Die bewegende Kraft der 
Weltgeschichte lag in der Religion, lag letzthin bei Gott, der in 
Weisheit alle Fäden der Weltentwicklung in seiner Hand hielt und 
zum Rechten führte. Aber auch das hat sich gewandelt. Mit der 
Ausdehnung des Raumes ging die Ausdehnung der Zeit Hand in 



Die Stellung der Religion in der Neuzeit. 



Hand. Das ganze menschliche Sein erscheint jetzt nur als eine 
flüchtige Welle der Weltgeschichte, und in ihm vereinigt sich alles 
zu einem einzigen großen Zusammenhang, in dem auch das Größte 
kein Wunder ist, sondern hervorwächst aus allgemeinen Bedingungen 
und Umgebungen, welche ein Eingreifen jenseitiger Mächte nicht ge- 
statten. Und das noch viel weniger, je mehr sich die Geschichte 
immer mehr in einen durch eigene Kraft getriebenen Entwicklungs- 
prozeß verwandeln sollte, so daß die religiöse Hoffnung auf ein 
seliges Leben im Jenseits dem Glauben an die Zukunft des Diesseits 
weichen mußte. Ein stolzes Kraftgefühl beseelt nun die Menschen, 
durch eigene Kraft die Vernunft des Daseins herbeizuführen. Ist das 
möglich durch eine Bindung der Gedanken an eine vergangene Zeit? 
Die Entwicklung zum Grundgesetz der Geschichte erheben hieß nichts 
anderes als alle geistigen Größen flüssig machen und alles Absolute 
aus dem Leben streichen. Auf die Absolutheit ihrer Wahrheit kann 
aber die Eeligion ebensowenig verzichten wie auf ihre Unwandelbar- 
keit; denn das Göttliche dem Muß und Wandel der Zeit unterordnen, 
heißt es erniedrigen und zerstören. 

So wurde nicht nur von der großen Welt her, sondern auch vom 
eigenen Gebiet des Menschen aus die Eeligion erschüttert Aber viel- 
leicht konnte sie sich vor allen Wandlungen der Arbeit in ein 
Innerstes der Seele flüchten und sich hier des Zusammenhangs mit 
einer überweltlichen Macht versichern. Leider sollte sie aber auch 
hier versagen! Die Gestaltung des Christentums, welche den Ausgang 
des Altertums festlegte, enthielt eine innige, anscheinend untrennbare 
Verschmelzung von Geistigem und Sinnlichem. Diese Verschmelzung, 
dem Altertum ein willkommener Halt gegen peinigende Zweifel, ward 
dem Mittelalter ein unentbehrliches Mittel zur geistigen Erziehung 
der Völker. Die Keformation hat das Geistige freier gestellt, das Sinn- 
liehe aber mehr beim Handeln und in der persönlichen Überzeugung 
als aus den zentralen Lehren entfernt So besagt es eine schwere 
Erschütterung für alles kirchliche Christentum, wenn die Neuzeit ein 
völlig verändertes Verhältnis vom Geistigen und Sinnlichen aufbrachte 
und durchsetzte. Damit erscheinen gerade die Hauptlehren der Kirche 
der modernen Denkweise als Ausdruck einer Lebensstufe, welche weit 
hinter uns liegt; sie empfindet mythologisch, was der andern als tiefste 
Eeligion gegolten. Am allergefährlichsten aber für die alte Eeligion 
wurde die Verlegung des Zentrums des Geisteslebens. Der älteren 
Art war es eigentümlich, alles Erleben und Tun auf einen Mittelpunkt 
der Seele, ein fühlendes und strebendes Ich, als einen festen Träger 
zurückzubeziehen und es nach der Leistung dafür zu bemessen. Wie 



Einleitung. 



der Mensch sich selbst als eine geschlossene Persönlichkeit verstand, 
so sah er unter diesem Bilde auch die Wirklichkeit draußen, selbst 
Von Gott schien dieser Begriff die passendste Vorstellung zu gewähren. 
Die moderne Kultur setzte ihm einen anderen entgegen. Die Kultur, 
ein durchaus unpersönliches Wesen, wird zum allumfassenden und 
beherrschenden Selbstzweck, der Mensch dagegen sinkt zu einem 
bloßen Mittel, das nur soviel wert ist, als es für den Fortschritt jenes 
Prozesses leistet Damit scheidet sich die geistige Arbeit vom indi- 
viduellen Seelenleben, und die Ausscheidung des seelischen und per- 
sönlichen Elements ergibt einen harten Zusammenstoß mit dem ge- 
samten Wesen des Christentums; denn darin bestand ja gerade das 
Eigentümliche seiner Art, daß es die seelische Innerlichkeit zu einer 
selbständigen Welt erhob und diese zum Kern aller Wirklichkeit machte. 
Erklärte die moderne Kultur diese Innerlichkeit für eine nebensäch- 
liche Begleiterscheinung der Weltarbeit, so wurde sein tiefeter Grund 
unterwühlt, und an den Hauptpunkten mußte ein Kampf um Sein 
und Nichtsein entbrennen. Wenn überhaupt ein Gottesbegriff hier 
bestehen blieb, so konnte er nichts anderes bedeuten als eine weltdurch- 
dringende unendliche Kraft, für den Persönlichkeitsbegriff war hier 
kein Baum und damit auch nicht für die Möglichkeit eines persön- 
lichen Verhältnisses des Menschen zu Gott Begriffe wie Liebe und 
Gnade, Glaube und Vertrauen wurden bloße Anthropomorphismen. 

Wir sehen, die Bewegung gegen die Eeligion zeigte eine starke 
tjbermacht, und ihr völliger Sieg schien lediglich eine Frage der Zeit 
Aber: der Mensch denkt, und Gott lenkt. Sehen wir uns die augen- 
blickliche Zeitlage zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts an, so 
kann jeder, der Augen hat zu sehen, klar erkennen, daß die Eeligion 
heute nicht wie ein schwaches Licht erloschen ist, sondern mit 
frischer Kraft einen neuen Siegeslauf zu nehmen begonnen hat 

Am deutlichsten beweisen das die Kirchen. Der Einfluß der- 
selben ist heute ungeheuer gewachsen, sie haben wieder angefangen, 
ins Leben zu dringen, und wissen eine Macht zu entfalten, wie man 
es noch vor wenigen Jahren nicht für möglich hielt Dazu zeigen 
sie eine innerliche Eührigkeit und Schaffenskraft, die geradezu er- 
staunlich ist Selbst der Hader und Kampf und Streit der kirch- 
lichen Parteien ist ein Beweis, daß kirchliches Leben hier im Steigen 
ist Aber auch außerhalb der Kirchen und selbst im Widerspruch 
mit ihnen hat die Eeligion sich neu erhoben. Die Zeiten sind vorbei, 
wo die Verneinung der Eeligion als etwas Großes, ja als selbstver- 
ständlich galt, und wo der elendeste Witz geistvoll zu werden schien, 
wenn sein Ziel nur die Eeligion war. Die Naturwissenschaft hat 



Die Stellung der Religion in der Neuzeit. 



unter Pesthaltung einer besonnenen Deszendenzlehre den reinen 
Darwinismus, d. h. die Lehren von der Macht des Zufalls in der Welt 
und der natürlichen Auswahl im Kampf ums Dasein, zurückgedrängt; 
die meisten Naturforscher erkennen seine Geltung überhaupt nicht mehr 
an, während die wenigen, die sich noch nicht zu diesem Standpunkt 
hindurchgearbeitet haben, doch zugeben, daß die darwinistische Er- 
klärung eine weit untergeordnetere Bedeutung hat, als man ihr früher 
zuschrieb. An Stelle der darwinischen Prinzipien sind mehr und 
mehr Gedanken getreten, die einmal den vor Darwin schon aufge- 
stellten Prinzipien der Gewöhnung und des Gebrauchs entsprechen und 
andrerseits den innem Entwicklungsgründen eine weitgehende Be- 
deutung zusprechen. Kurz, die Naturwissenschaft macht heute immer 
bewußter eine Schwenkung von der mechanistischen zur teleologischen 
Naturauffassung, und die Entwicklungslehre kommt ohne einen 
Schöpfer und Erhalter des Weltalls nicht aus. Auch die Philosophie, 
welche lange Zeit der Eeligion feindlich entgegenstand, ist heute eifrig 
bemüht, ihr feste Grundlagen zu bauen. Wir werden das im weiteren 
noch genauer sehen, besonders an der Lebensarbeit der gegenwärtig 
vielleicht bedeutendsten systematischen Philosophen, Eudolf Euckens, 
dem auch dieses Buch gevddmet ist, und Hermann Siebecks, deren reli- 
gionsphilosophische Werke zu dem Besten gehören, was die Neuzeit 
hervorgebracht Ebenso liegt die Sache bei der Kunst; die schöne 
Literatur behandelt die religiösen Fragen mit wachsendem Ernst, und 
die bildende Kunst sucht die religiösen Gestalten durch neue Dar- 
stellungsformen der modernen Bildung und Empfindung anzunähern. 
Endlich geht jenseits aller besonderen Gebiete das religiöse Problem 
mit unsichtbarem Wehen wieder mächtig durch die Geister. Wenn 
auch die Bewegung gegen die Eeligion noch weite Massen ergriffen 
hat, so besitzt sie doch den tiefsten Zug der Zeit nicht mehr, »das 
geistige Schaffen hat sich ihr mehr und mehr entwunden, und manche 
Angriffe auf die Religion berühren jetzt schon wie Nachklänge aus einer 
vergangenen und fremdgewordenen Zeit« (Eucken a. a. 0.). 

Fragen wir nach den Gründen dieser Wendung, so kann man 
an Verschiedenes erinnern. Zunächst hat die Eeligion gegenüber den 
zunehmenden sozialen und moralischen Leiden der Welt eine Anzahl 
Liebesleistungen aufgewiesen, wie sie sonst nirgends gefunden werden. 
Sie hat sich der körperlich und moralisch Bedrängten, ja Verkommenen 
angenommen und sucht sie in wahrhaft rührender Weise zu pflegen, 
zurechtzubringen und für die Gesamtheit möglichst wieder brauchbar 
zu machen. Von religiös-christlicher Liebe durchglüht sind edle 
Menschen hinausgegangen und haben unter Verleugnung alles eigenen 



Einleitung. 



Glücks den in der Finsternis Sitzenden Glück nnd Frieden gebracht, 
haben fromme Männer und Frauen sich dem Dienst der Armen und 
Kranken, der Verkommenen und Verwahrlosten gewidmet und so das 
Wort ihres Heilands wahr zu machen gestrebt: daran wird jedermann 
erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr liebe untereinander habt. 
Aber noch mehr! Neben den praktischen Leistungen der Eeligion 
stehen heute ihre wissenschaftlichen. Sie hat sich ernstlich bemüht 
das ganze wissenschaftliche Leben in sich aufzunehmen und die 
sichern Kesultate der Natur- und Geisteswissenschaften für ihre Zwecke 
zu verwenden, ja sie hat es fertig gebracht, im innersten "Wesen des 
Menschen unzerstörbare "Wurzeln nachzuweisen und damit ihre "Wahr- 
heit und Berechtigung für alle Zeiten sicher zu stellen. Kein ver- 
nünftiger, vorurteilsfreier Denker wird das heute ernstlich bestreiten 
können. Dennoch ist der Hauptgrund des "Wiederaufschwungs der 
Religion ein anderer, und zwar ein negativer, und damit kommen wir 
auf den Anfang unserer Einleitung wieder zurück: der Glaube an 
die mit größtem Selbstbewußtsein aufgetretene moderne Kultur ist 
heute vollständig erschüttert; sie hat das nicht geleistet, was man von 
ihr erwartet hatte. Es hat sich die Erkenntüis durchgerungen, daß 
ihre Ziele das tiefste Verlangen des Menschenherzens unbefriedigt 
lassen, ja unterdrücken, und mit unwiderstehlicher Kraft hat sich die 
alte "Wahrheit emporgekämpft, daß dem Menschen nichts näher ist als 
seine Seele und nichts wichtiger als die Rettung seines geistigen 
Selbst. Das schöne Gold der modernen Kultur hat sich als Flitter- 
gold erwiesen, die goldenen Berge, welche sie versprach, sind eitle 
Luf tgebüde gewesen. Es erging der modernen . Kultur eben nicht 
besser als anderen geistigen Bewegungen. AUes Leben, sagt Rudolf 
Eucken, ist zugleich ein Sichausleben, ein Sicherschöpfen, das äußere 
Steigen wird leicht ein inneres Sinken ; der durch äußere und innere 
"Widerstände mannigfach gehemmte Verlauf stellt die Sache in ein 
ganz anderes Licht als der freudige Glaube und das jugendliche 
Hoffen des Anfangs. Und in der Tat: was in einem Neuen zur Be- 
freiung und Erhöhung wirkte, das verliert allmählich den Zauber der 
Jugend und wird alltäglich, ja selbstverständlich. Gegensätze, welche 
zu Beginn noch friedlich nebeneinander schlummerten, scheiden sich 
und treiben zur "Wahl und damit zu einer Verengung. Der harte 
"Widerstand der Dinge vergröbert die innere Art des Strebens, und 
was von Haus aus groß angelegt war, wird klein unter der Hand 
der Menschen. Erreichen wir aber glücklich die Ziele, so finden wir 
bei ihnen nicht das, was wir von ihnen hofften. Auch erzeugt der 
Erfolg selbst neue Verwicklungen, die Bewegungen überschreiten den 



Die Stellung der ReligioD in der Neuzeit. 



Punkt, wo sie zum Segen wirkten, und wo wir sie anhalten möchten; 
sie reißen uns fort und treiben uns iuß Ungewisse und Dunkle, und 
wir, die die Dinge zu lenken glaubte», erscheinen als bloße "Werk- 
zeuge in der Hand unerforschlicher Ifächte. 

Die moderne Kultur hat diese Erfahrungen zunächst beim Auf- 
bau einer rein weltlichen Kultur gemacht. Indem sie darauf aus- 
ging, alle unsichtbaren Größen zu eliminieren imd nur anzuerkennen, 
was man mit seinen Augen sehen und seinen zehn Fingern greifen 
konnte, führte sie trotz mancher hohen Leistung bald immer offen- 
kundiger zu starken Verneinungen. Wir erkennen das schon hin- 
sichtlich der Art des modernen Lebens. Wenn die Moderne sich 
freudig der Welt hingab, so geschah das in der Überzeugung, daß 
der Mensch ihr Ganzes überblicken und in eigenen Besitz verwandeln 
könnte; nur die Teilnahme an der Ewigkeit und Unendlichkeit des 
Alls versprach einen vollen Ersatz für die verlorene Überwelt. Dem- 
entsprechend bemühte sich der Mensch, nach Kräften in die schaffen- 
den und bewegenden Mächte des Alls einzudringen. Wir erinnern 
nur an Männer wie Spinoza und Hegel ! Wie aber kann diese Aibeit 
von Erfolg sein, wenn das sinnliche Dasein die einzige Wirklichkeit 
ist? Was wäre die Welt da anders als ein Nebeneinander undurch- 
sichtiger Kräfte, als ein Gewebe von Beziehungen endloser Punkte, 
der Mensch aber ein wertloses Bädchen der großen Maschine? Die 
innere Einheit des Menschen geht völlig verloren, wenn er in ein 
bloßes Zusammen von einzelnen Trieben und Kräften verwandelt 
wird. Zugleich zerrinnen in seinem Leben alle Ideale imd höheren 
Güter, welche ihn über den äußeren Naturprozeß erhoben, zumal die 
Güter der Moral, denn der elende Ersatz, den die Anhänger einer 
religionslosen Moral dafür bieten, beleuchtet lediglich, welcher Flach- 
heit auch emstdenkende Männer verfallen können, wenn sie der 
inneren Notwendigkeit der Sache entgegenwirken. Das Leben ver- 
liert seinen inneren Gehalt, wenn seine Ideale sich als Illusionen ver- 
flüchtigt haben. Es klingt doch recht merkwürdig, wenn wir prak- 
tisch Mensch, Menschheit, Menschlichkeit als hohe Werte verehren, 
theoretisch aber alles verwerfen, was den Menschen über das unver- 
nünftige Tier erhebt. So hat das Streben nach dem Aufbau einer 
rein weltlichen Kultur durchweg zum geraden Gegenteil von dem 
geführt, was man beabsichtigte: man woUte das Leben reich und den 
Menschen groß machen, man hat sie arm und klein gemacht 

Nicht anders ist es nach einer andern Seite hin! Die Spaltung 
des Menschen zwischen der Welt und einer Überwelt, die seine 
innere Einheit zu zerstören drohte, führte zur Eliminierung der über- 



S Einleitung. 



weit Aber diese Preisgabe rief einen weit schlimmeren Dualismus 
ins Leben. Es hat sich allmählich mit immer mehr wachsender 
Schärfe der alte Gegensatz von Natur und Seele erhoben, und ein 
harter Kampf ist entbrannt, was von beiden das Wichtigste sei. 
Können wir leugnen, daß dieser Kampf heute ein Wirrwarr ge- 
schaffen hat, das seinesgleichen sucht, indem er die Menschheit unter 
das schroffe Entweder-Oder des Idealismus und Eealismus stellte? 
Welche Schärfe dieser Gegensatz erreicht hat, beweist deutlich die 
einerseits erstrebte Unterordnung des Individuums unter die Gesell- 
schaft und andrerseits die energische Verfechtung des Wertes der 
Persönlichkeit und des Rechtes der Individualität. Der Widerspruch 
ist nur zu überwinden durch eine Erhebung über die sinnliche Welt; 
die moderne Denkweise hat diese Erhebung aber entschieden aj)ge- 
wiesen und sich so selbst ihr Grab gegraben. 

Dieselbe Erfahrung wie die Gesamtrichtung des modernen Lebens 
machte überall an den Hauptpunkten auch die Arbeit. Es ist gewiß 
unleugbar und dankbar zu begrüßen, daß die Erkenntnis von der 
Unendlichkeit und Selbständigkeit der Natur den Gesichtskreis des 
Menschen ungeheuer erweiterte und der Anlaß wurde, sich in das 
große Weltenreich immer tiefer zu versenken, um es womöglich zu 
beherrschen. Eine Entdeckung wurde nach der andern gemacht. Es 
kam nur leider das böse Aber bald hinterher. Was wurde bei diesem 
Streben aus dem Menschen selbst? Was hatte er zu bedeuten in 
diesem unendlichen All ? Ein Punkt neben Punkten, ein unbedeutendes 
Etwas, eine gleichgültige Nebensache. Die technische Überwindung 
der Natur bleibt eine große Leistung und ein herrlicher Triumph, 
aber der äußere Sieg verwandelte sich in eine innere Niederlage, so- 
fern die Arbeit eine selbständige Art entwickelte, ihren Mechanismus 
aller menschlichen Absicht siegreich entgegenhielt, mit unwidersteh- 
licher Rückwirkung auf uns das Leben entgeistigte und die Seele er- 
drückte. Und verschuldet die technische Gestaltung der Arbeit nicht 
auch die Gegensätze und Leidenschaften der sozialen Frage? 

Im Anfang schien dieses Streben nur Vorteile über Vorteile zu 
gewähren; der Entwicklungsgedanke erhöhte das Vertrauen auf die 
eigene Kraft, eröffnete eine engere Berührung mit der unmittelbaren 
Gegenwart und gab einen lichten Ausblick in die Zukunft Sobald 
sich aber dieser Gedanke auf sich selbst stellt und jedwede Ergänzung 
zurückweist, offenbart er mit zwingender Notwendigkeit seine ver- 
nichtende Macht, indem der ihm immanente Relativismus jedweder 
beharrenden Wahrheit schroff entgegentritt. Wo sich alles in Fluß, 
Wechsel und Wandel befindet, da kann von einer feststehenden Wahr- 



Die Stellung der Religion in der Neuzeit. (> 

heit nicht mehr die Kede sein. Auch die Tätigkeit wird innerlich 
geschmäht, wenn alle bleibenden Werte und festen Ziele nichts weiter 
als Produkte unserer Phantasie sind. Das neunzehnte Jahrhundert 
ist dafür der deutlichste Beweis. Wie schnell haben in ihm die 
Ideale gewechselt, wie schnell sich die Stimmungen und Schätzungen 
geändert, wie schnell sich vermeintliche Wahrheiten als Irrtümer und 
Trugschlüsse offenbart! Muß es nicht schmerzlich berühren, wenn 
wir erkennen, wie alle echte Gegenwart dahinfließt, wie ein Augen- 
blick den andern verschlingt, und wie unerbittlich ins Grab sinkt, 
was eben noch hoch verehrt und gefeiert wurde? 

Wir preisen mit Fug und Recht den Fortgang von einer sinnlich 
gebundenen Lebensstufe zu einer selbständigen Geistigkeit, welche 
von aller Enge menschlicher Art befreit ist. Aber die Ausführung 
dieses Strebens zeigt wieder die schwersten Verwicklungen und er- 
reicht in ihren äußersten Konsequenzen das Gegenteil der ursprüng- 
lichen Absicht. Der Nachweis dafür ist leicht gegeben. Ein Bei- 
sichselbststehen des Geistes schien dargeboten im Denkprozeß. Wer 
will nun .aber behaupten, daß dieser Denkprozeß im stände ist, sich 
gänzlich vom übrigem Leben abzulösen? Er gerät unweigerlich ins 
Leere und Unfruchtbare, wenn er sich einem weiteren Lebensprozesse 
nicht einfügt Die Erfahrung hat das klar genug bewiesen! Die 
Hegeische Philosophie, dieser klassische Ausdruck des Glaubens an 
ein absolutes Denken, liegt heute in Trümmern. Und warum? Weil 
hier alle lebendige Wirklichkeit zur reinen Abstraktion verflüchtigt 
wurde. Das Hegeische System löste sich auf und führte dazu, daß 
Hegels Philosophie einerseits bis zum Standpunkt alles negierender 
Kritik, andrerseits bis zum offenbarsten Naturalismus und Materialis- 
mus fortschritt. Wenn aber das Geistige geleugnet und zu einer 
bloßen Gehimerscheinung gemacht wird, was wird aus jener Wendung 
der Neuzeit zu einer höheren, geistigen Lebensstufe, wie kann sie 
nach jenen Erfahrungen noch aufrecht halten, worin sie ihr innerstes 
Wesen und ihren höchsten Wert fand? 

Mit einem Wort, der Fortschritt der modernen Gedanken war, 
innerlich angesehen, in der Selbstentwicklimg zugleich eine Selbst- 
zerstörung. Je mehr das eingesehen wird, desto mehr schwindet der 
Einfluß derselben auf die Gemüter. Wir beginnen zu empfinden, daß 
die Welt nur solange als ein System der Vernunft erschien, als noch 
die Idee einer Uberwelt ihren Glanz auf sie warf, und das tat sie 
noch lange, nachdem die Überwelt selbst dem Blick des Menschen 
bereits entschwunden war. Wir fühlen, um wieder mit Kudolf Eucken 
zu reden, die innere Verarmung in aller äußeren Bereicherung, den 



J Einleitung. 



Mangel eines festen Haltes gegenüber der stürmischen Lebensflut, 
das Fehlen eines großen, den ganzen Umkreis des Lebens beherrschen- 
den, die Menschheit zusammenhaltenden, jeden einzelnen über seine 
kleine Natur erhebenden Zieles. Zugleich aber beginnen die uralten 
Eätsel des menschlichen Daseins mit frischer und elementarer Kraft 
wieder aufzusteigen: das tiefe Dunkel über unser Woher und Wohin, 
unsere Abhängigkeit von undurchsichtigen Mächten, die Gegensätze 
in unserem eigenen Innern, die Schranken unseres geistigen Ver- 
mögens, der Mangel an Liebe und Gerechtigkeit, kurz der schroffe 
Widerspruch der geistigen Anlage und der wirklichen Lage des 
Menschen. Das alles sind Probleme, die uns an die Seele gehen, die 
auch der einzelne nicht ablehnen oder in ein angenehmes Schauspiel 
verwandeln kann; früher oder später kommen sie auch an ihn und 
werden ihm zum persönlichen Erlebnis; dann muß auch er empfinden, 
wie mit jener starren Verneinung aller Sinn des Lebens gefährdet, der 
Mensch um sein Glück betrogen, alle Geistigkeit an ihm gelähmt wird. 
Aber eben an diesem Punkt äußerster Verzweiflung erwacht eine 
Gegenwirkung, aus der Verneinung selbst erhebt sich mit unwider- 
stehlicher Kraft eine Bejahung. Jene Selbstv^ernichtung läßt sich 
nicht zu Ende führen; mögen alle Begriffe versagen, alle Aussichten 
zu entschwinden scheinen, im tiefsten Grunde beharrt ein unzerstör- 
barer Lebensaffekt und gibt dem Menschen die unerschütterliche 
Überzeugung, daß Tieferes in ihm wirkt, daß hinter seiner Festhaltung 
am Sein mehr steckt als ein selbstisches Glücksverlangen, daß es sich 
bei dem Lebenskampf nicht um das bloße Ergehen des Punktes, sondern 
um unabweisbare Aufgaben handelt, die das Ganze angehen und die 
über alle sichtbare Ordnung hinausweisen, auf die daher der Mensch 
weder verzichten kann noch verzichten darf. Das Hervorbrechen 
eines solchen Glaubens an eine unverlierbare Substanz des Menschen 
und eine unsichtbare Tiefe der Wirklichkeit verwandelt aber mit 
einem Schlage auch die Stellung der Religion. Nun mag es scheinen, 
daß ihr tiefstes Wesen jenseits aller Angriffe der modernen Welt 
liegt, und daß sie sich nur auf dieses Wesen recht zu besinnen braucht, 
um wie aus einem trüben Nebel klar hervorzutreten und sich sieg- 
reich alier Befeindung und Verkleinerung zu erwehren. Dann erhält 
auch der Kampf gegen sie eine völlig andere Beleuchtung als zuvor. 
Nach früherer Meinung ging er vornehmlich gegen eine draußen be- 
findliche und durch fremde Macht uns auferlegte Autorität, und Witz 
und Scharfsinn schienen gar keine bessere Betätigung finden zu 
können als in der Polemik gegen »vernunftwidrige« Dogmen und eine 
»herrschsüchtige« Priesterschaft; es war ein angenehmes Spiel, das die 



Die Stellung der Beligion in der Neuzeit. H 



Oeister reizte und ergötzte. Nun aber, wo die Eeligion als eine Ver- 
walterin unentbehrlicher Güter erkannt ist, läßt sich der Ernst der 
Sache nicht mehr verkennen. Klar liegt nun vor Augen, daß wir 
selbst den Schaden zu tragen haben, ja daß bei dem Kampf um die 
Eeligion unser ganzes Glück, unsere eigene Seele auf dem Spiele 
steht. Bei Empfindung dessen kommt über die Menschheit wieder 
eine große Sehnsucht nach Religion, ein Verlangen nach ewigen 
Wahrheiten, nach inneren Zusammenhängen, nach Rettung eines gei- 
stigen "Wesens, nach Versetzung aus kleinmenschlicher Enge in ein 
übermenschliches Leben. Deutlich genug sehen wir inmitten aUer 
Verwirrung der Zeit eine neue "Woge des Lebens sich ankündigen, 
die andere Kräfte mit sich bringt und nach völlig anderer Rich- 
tung zieht als die den Beginn der Neuzeit bezeichnende Lebensflut. — 

"Wenn wir nun im folgenden die jetzigen Hauptvertreter der 
Religionsphilosophie in Deutschland näher vor Augen zu führen 
suchen, so meinen wir damit nicht die im Dienste einer kirchlichen 
-Gemeinschaft wirkenden und den religiösen "Wahrheitsbesitz auf eine 
göttliche Offenbarung einfach basierenden Theologen, sondern jene 
Forscher, die ihre Untersuchungen möglichst unabhängig von der 
kirchlichen Gemeinschaft, sozusagen vollständig voraussetzungslos 
unternommen haben. "Wir halten uns nur an diese, weil ihre Er- 
örterungen am sichersten die Religion als solche stützen können, zu- 
gleich auch der kirchlichen Auffassung der Sache das beste Funda- 
ment gewähren. Der natürliche Mangel der im Dienste einer kirch- 
lichen Gemeinschaft arbeitenden Theologie, den andern Religionen 
keine gründliche Berücksichtigung um ihrer selbst wiUen zuteil 
werden zu lassen, wird damit am sichersten überwunden. Sehen wir, 
wie die frei forschende Religionsphilosophie dem "Wesen nach das- 
selbe Ziel erreicht, wie ihre auf dem Urgnmd der Offenbarung 
fußende Schwester, die Theologie, so bleiben auch die mit der An- 
erkennung der historischen Gemeinschaftsreligion eng verbundenen 
Grundbegriffe derselben in Kraft und Geltung, wir können uns weiter 
zu der Gemeinschaft halten, in der wir stehen, auch wenn wir uns 
zu vielen Punkten ihrer Lehre skeptisch verhalten müßten, weil wir 
die Substanz und nicht die Form der Sache ins Auge fassen. 

Die Religionsphilosophie der Neuzeit ist einem Bündel sehr ver- 
schiedenartiger Probleme und Methoden vergleichbar, das unmöglich 
zu einer einheitlichen Behandlung zu bringen ist. Das 19. Jahr- 
hundert hat diese Wissenschaft zwar verselbständigt und ihr einen 
eigenen Boden zur Lösung ihrer Probleme angewiesen, allein sie 
ist, wie Tröltsch sehr richtig sagt, vom 19. Jahrhundert zugleich mit 



12 Einleitung. 



soviel neuem historischen und psychologischen Stoff beschenkt 
worden, daß ihre Probleme auf ihrem eigenen Boden sich außer- 
ordentlich erweitert und kompliziert haben, und daß insbesondere 
eine Hauptfrage, die Scheidung des Psychologischen und Erkenntnis- 
theoretischen, des Anthropologisch -Genetischen und Teleologisch- 
Normativen überaus schwierig geworden ist. Unsere Darstellung 
wird darum die in Betracht kommenden Forscher gesondert vor Augen 
führen, weil so am deutlichsten ein Bild der gegenwärtigen Religions- 
philosophie gegeben wird. Es ergibt sich dann folgende Einteilung: 
Da die älteren philosophischen Systeme bis in die Neuzeit hinein 
ihre Vertreter gefunden haben, so soll das 1. Kapitel sich mit diesen 
befassen, sofern sie für die Religionsphilosophie von Bedeutung sind. 
Hier stehen sich besonders zwei Hauptrichtungen gegenüber, einerseits 
die Vertreter des Neukantianismus (W, Herrmann und J. Kaftan), 
andrerseits die Vertreter des Hegelianismus (0. Pfleiderer) und der 
Herbartschen Schule (0. Flügel). Während erstere die Religion aus- 
schließlich auf die praktische Seite der menschlichen Natur, zumal 
das Sittengesetz, gründen und vor jeder Vermischung mit Metaphysik 
bewahrt wissen wollen, ist letzteren das theoretische Moment der 
Religion nicht weniger wichtig, so daß sie eine Versöhnung zwischen 
Religion und Philosophie für wohl möglich halten. Das 2. Kapitel 
wendet sich darauf im Anschluß an Pfleiderer und Flügel zu einer 
Reihe von Forschem, welche die Frage nach dem Erkenntniswert der 
Religion zur Basis nehmen, um von hier aus zum Wahrheitsgehalt der 
Religion vorzudringen; hier finden R. Eucken mit seinen Gesinnungs- 
genossen Claß und Tröltsch, femer H. Siebeck, G. Thiele, A. Domer, 
G. Runze, Fr. Mach und J. Baumann ihre Besprechung. Ein 3. Ka- 
pitel wird dann die Grundgedanken von Hartmanns, Natorps imd 
Zieglers skizzieren, weil sie auch ihrerseits religionsphilosophische 
Probleme zum Gegenstand der Untersuchung gemacht haben, wenn 
das Ergebnis bezüglich der Religion bei ihnen auch ein mehr nega- 
tives wurde. Ein Schlußwort soll endlich eine Erörterung über die 
Stellung des Christentums zur Gegenwart bringen, und zwar nach der 
2. Auflage von Rudolf Euckens »Wahrheitsgehalt der Religion«. 



1. Kapitel. 

Die gegenwärtigen Hauptvertreter der Religionsphilosophie 
auf neukantischer, hegelscher und herbartscher Basis. 

a. Einführung. 

Die gegenwärtigen Hauptvertreter des religionsphilosophischen 
Neukantianismus gehören der ßitschlschen Schule an. Kitschi hatte 
mit Kant alle nicht von ethischen Prinzipien geleitete Metaphysik 
abgelehnt Von der Voraussetzung ausgehend, daß unsere Erkenntnis 
auf die Erscheinung beschränkt und das Ding an sich unerkennbar 
sei, folgerte er, daß auch alles Übersinnliche nicht erkennbar wäre. 
Soll darum das religiöse Erkennen nicht unmöglich und gegen- 
standslos sein, so muß dasselbe vom theoretischen Erkennen losgelöst 
und auf das sittliche Bewußtsein gegründet werden. Beschränkung 
der Erkenntnis auf die Erscheinung und Trennung des religiösen Er- 
kennens vom theoretischen oder Welterkennen, das war der doppelte 
methodologische Grundsatz, durch welchen der Charakter der Theo- 
logie Eitschls bestimmt wurde. Wie Ritschl, so weisen auch seine 
Schüler alles Metaphysische ab und führen die christiichen Dogmen 
auf ihren religiös -ethischen Kern zurück. Auch bei ihnen ist die 
neukantische Basis die strenge Scheidung zwischen Wissen und 
Glauben, die Beschränkung des ersteren auf die Tatsachen der Natur 
und Geschichte und die Verwerfung seiner Einmischung in das Ge- 
biet des Glaubens, welcher ausschließlich auf Werturteile begründet 
und dem Seligkeiteinteresse des Menschen dienstbar ist 

Diese Entgegensetzung von thßoretischem und religiösem Erkennen 
hat leider sehr bedenkliche Konsequenzen. Was es damit auf sich 
hat, hat die eingehende Kritik der Kantischen Philosophie seit langem 
gezeigt: die Aufhebung der objektiven Wahrheit der religiösen Er- 
kenntnis und ihre Umsetzung in subjektiven Bewußtseinsinhalt. Die 



14 1. Kap. Die gegen w. Hauptvertreter der Rel.-Phil. auf neukantischer usw. Basis. 

Gegner der Ritschlschen Theologie sind daher durchaus im Kecht, 
wenn sie im Gegensatz zu Kants einseitiger Betonung der Moral 
wieder ein positives Verhältnis zu dem theoretischen Element der 
Eeligion herzustellen suchten. Der christliche Glaube hat ein theo- 
retisches Element an sich, ohne welches er selbst nicht wäre; denn 
er schließt das Wissen imd die Überzeugung in sich, daß das, woran 
er glaubt, in objektiver Kealität vorhanden ist. Diese Überzeugung 
ist noch nicht der christliche Glaube selbst; letzterer beruht vielmehr 
in der vertrauensvollen Hingabe an das, was das Objekt des Glaubens 
bildet Aber allem Glauben an Gott liegt ein "Wissen von Gott zu 
gründe, und mit der Gewißheit der objektiven Eealität dessen, worauf 
der Glaube gerichtet ist, würde der Glaube selbst verschwimden sein; 
denn als bloßer subjektiver Gemütszustand ohne Beziehung auf ein 
objektives Sein wäre er bloße Illusion, und sofern er sich als solche 
erkannt hätte, wäre er nicht einmal als Illusion vorhanden. Wenn also 
die Religion dem theoretischen Erkennen, somit dem Erkennen ob- 
jektiv gegebener Realität entgegengesetzt wird, so führt diese ein- 
seitige Exklusion zur Aufhebung des religiösen Glaubens selbst, in- 
dem derselbe damit seiner objektiven Wahrheit beraubt wird. Man 
nennt diese Scheidung gern ethische Auffassung der Religion und 
Loslösung der Religion von der Kosmologie. Es ist leicht ersichtlich, 
was das sagen will. Diese Scheidung ist die Loslösung der Religion 
von dem, was objektiv existiert, also die Umsetzung der religiösen 
Wahrheit in eine bloß subjektive Wahrheit, welche Umsetzung das 
Wesen der Religion selbst negiert. 

Zu dem gleichen negativen Resultate gelangen vnr, wenn wir 
darauf achten, wie Ritschis Schüler das Wesen des religiösen Er- 
kennens auffassen. Sie setzen die unterscheidende Eigentümlichkeit 
des religiösen Erkennens darin, daß dasselbe in Werturteilen verläuft. 
Wie sollen wir uns das nun vorstellen? Wenn das religiöse Erkennen 
in Werturteilen verläuft, wofür sollen wir dann dasjenige halten, 
wovon geurteilt wird, daß es Wert für das religiöse Bewußtsein habe ? 
Nur zweierlei (cfr. L. Stählin: Kant, Lotze, Ritschi) ist in diesem Be- 
tracht möglich. Entweder ist die Aussage derjenigen Tatsache oder 
Leistung, von welcher geurteUt wird, daß ihr religiöser Wert zu- 
komme, selbst schon ein religiöses Urteil, oder sie ist das nicht. 
Nehmen wir an, dasjenige, worauf das religiöse Werturteil sich be- 
zieht, drücke selbst bereits einen religiösen Wert aus, dann verläuft 
alles religiöse Erkennen so, daß lediglich Wert von Wert prädi ziert 
vnrd, also ein Wert ausgesprochen wird, welcher als solcher schon 
durch ein vorangegangenes Urteil festgestellt war, somit ein schon 



a. Einführung. 15 



gegebener Wert näher bestimmt wird. Fragen wir dann aber, welches 
das Subjekt sei, von dem diese Folge von Werturteilen gelte, so ist 
ein Subjekt derselben nirgends anzutreffen; denn soweit wir den 
ganzen Weg, den der Progreß von Werturteil zu Werturteil beschreibt, 
zurückverfolgen, nirgends stoßen wir auf etwas anderes, als was selbst 
schon Inhalt eines Werturteils, also bereits selbst ein religiöser Wert 
ist, und es kann dann immer nur in näherer Bestimmung die Aus- 
führung wiederholt werden, daß etwas, was als religiöser Wert bereits 
ausgesprochen war, religiösen Wert habe. Dagegen ein erstes Subjekt, 
an welchem alle diese Werturteile als dessen Prädikate hafteten, 
könnte es nicht geben. Der Inhalt alles religiösen Erkennens wäre 
dann Wert und wieder Wert, aber ohne ein Wertvolles, ohne ein 
Etwas, dem Wert zukommt. Damit würde aber der ganze Progreß 
von Werturteilen, in welchem das religiöse Erkennen verläuft, lediglich 
in der Luft schweben; es wäre uns damit zugemutet, uns Prädikate 
zu denken, die ihr eigenes Subjekt sind. Setzen wir aber den andern 
Fall, nehmen wir umgekehrt an, daß dasjenige, wovon das religiöse 
Werturteil prädiziert wird, nicht selbst schon Inhalt einer religiösen 
Erkenntnis, eines religiösen Werturteils sei, also keinen religiösen 
Wert habe, dann vollzieht sich das religiöse Erkennen so, daß von 
demjenigen ein religiöser Wert ausgesagt wird, was keinen religiösen 
Wert hat Im ersten FaU ist alles religiöse Erkennen gegenstandslos, 
im zweiten ein Widerspruch in sich selbst. Wenn wir also vom 
religiösen Erkennen nichts weiter zu sagen wissen, als daß es in 
Werturteilen verläuft, dann gibt es überhaupt kein religiöses Erkennen, 
und alle Versuche Herrmanns und Kaftans, der Hauptvertreter des reli- 
gionsphilosophischen Neukantianismus der Gegenwart, diesem Entweder 
— Oder zu entgehen, müssen bei ihrer religiösen Basis scheitern. 

In richtiger Erkenntnis dieser Sachlage gingen 0. Pfleiderer, der 
Vertreter des religionsphilosophischen Hegelianismus der Jetztzeit, 
und 0. Flügel, Eepräsentant der Herbartschen Schule, andere Wege. 
Um zu einer Gesamtanschauung der Welt zu gelangen, geht Pfleiderer 
vom Bewußtsein aus. Haben wir in unserem eigenen wollendfühlenden 
Ich das wesentliche oder substantielle Sein als die für sich seiende 
Kraft oder Monade erkannt, so kann uns nichts hindern, nach eben 
dieser Analogie auch die übrige Welt aus solchen Substanzen be- 
stehend zu denken, die als für sich seiende Kraftmittelpunkte Sub- 
jekte des Wirkens und Leidens sind. Indem wir auch die Er- 
scheinungen der Körper auf solche Kräfte zurückführen, verschwindet 
der scheinbare Gegensatz von Leib und Seele, indem der Leib zu 
einem System seelenartiger Kräfte wird. Die Frage ist dann nicht mehr. 



16 1. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter der Rel.-Phil. auf neukantischer usw. Basis. 

wie SO Entgegengesetztes wie Materie und Geist aufeinander wirken 
können, sondern nur, wie eine Vielheit an sich immaterieller 
Kräfte zueinander in einer konstanten gesetzmäßigen Wechsel- 
wirkung stehen und der beherrschenden Einheit der Seele als Werk- 
zeug dienen können. Diese gesetz- und zweckmäßige Wechselwirkung 
der Kräfte untereinander, wie sie nicht bloß innerhalb des Einzel- 
organismus, sondern im ganzen Umfang des Seienden anzunehmen 
denknotwendig ist, ist nicht denkmöglich ohne die Voraussetzung 
eines gemeinsamen Grundes derselben, der als Quelle der Sonderkräfte 
Urkraft und als Quelle ihrer logischen Beziehungsgesetze Urdenken 
sein muß. Die Gottesidee tritt so nach Pfleiderer nicht als ein theo- 
retisch überflüssiges und nur aus praktischen Gründen erforderliches 
Anhängsel zu einer in sich fertig abgeschlossenen Welterklärung 
hinzu, sondern bildet die Voraussetzung, ohne die überhaupt kein 
Wissenwollen im eigentlichen und strengen Sinne denkbar ist. Im 
gewissen Gegensatz zu diesen Gedanken, zugleich aber auch in er- 
kenntnistheoretischer Hinsicht mit ihnen harmonierend, hält 0. Flügel 
eine eigentliche spekulative Theologie zwar nicht für möglich, aber 
der teleologische Beweis erbringt ihm doch die Wahrscheinlichkeit 
für das Dasein Gottes, die Zweckformen deuten auf Einsicht und 
Wollen eines persönlichen Gottes. In die Lücken der Erkenntnis tritt 
ihm die christliche Offenbarung ein. 

b. Julius Kaftan und Wilhelm Herrmann. 

Julius Kaftan wurde am 30. September 1848 zu Loit geboren, 
studierte in Erlangen, Berlin und Kiel Theologie und Philosophie, 
wurde 1873 a. o. Professor in Basel imd wirkt seit 1881 als Professor 
der Theologie in Berlin. Anfangs konfessionell gesinnt, trat er später 
zur Ritschlschen Schule über, ohne jedoch seine Selbständigkeit preis- 
zugeben. Er schrieb »Die Predigt des Evangeliums im modernen 
Geistesleben« (1879), »Das Evangelium des Apostel Paulus, in Predigten 
dargelegt« (1879), »Das Wesen der christlichen Religion« (2. Aufl. 1888), 
»Die Wahrheit der christlichen Religion« (1889), »Glaube und Dogma« 
(3. Aufl. 1889), »Das Christentum und die Philosophie« (1895, 
3. Aufl. 1896), »Brauchen wir ein neues Dogma?« (1893), »Suchet, 
was droben ist« (1893), »Dogmatik« (1901), »Das Christentum und 
Nietzsches Herrenmoral« (3. Aufl. 1902). 

Der erste und wichtigste Satz der Kaftanschen Religionsphilosophie 
ist der Satz, daß es unmöglich ist, mit den Mitteln und auf den 
Wegen des gewöhnlichen Wissens ein höchstes Wissen, d. h. eine 



b. Julms Kaftan und Wühelm Herrmann. 17 

Erkenntnis der ersten Ursache und des letzten Zwecks aller Dinge 
zu erreichen. Dieser Gesichtspunkt der Möglichkeit oder Un- 
möglichkeit ist ihm der schlechthin entscheidende, weü ihm die 
Grundfrage stets lautet: was kann ich wissen? Im engsten Zu- 
sammenhang mit diesem Grundsatz steht Kaftan die Einsicht, daß die 
menschliche Erkenntnis der Welt niemals an ein ideales (göttliches) 
Wissen heranreicht, sondern stets menschlichen, d. h. endlichen, 
relativen Charakter behält. Kaftan findet den Grund dieser Wahrheit 
darin, daß unser Wissen zwar niemals willkürlich an praktische 
Zwecke gebunden werden darf, wohl aber seiner ganzen Art und 
seinem Zustandekommen nach obersten praktischen Zwecken unter- 
geordnet bleibt, woraus sich ihm zugleich eigibt, daß eine rein 
theoretische Erkenntnis der ersten Ursache und des letzten Zwecks 
aller Dinge gar nicht den Abschluß unseres wirklichen Wissens bilden 
würde, weil dieses selbst keineswegs ein reines Produkt des theo- 
retischen Geistes ist. In diesen Gedanken ist für Kaftan alles gesagt, 
was sich zur Lösung der Frage nach dem höchsten Wissen aus einer 
erkenntnistheoretischen Erörterung gewinnen läßt. Es ergibt sich ihm 
nämlich aus dem in diesen Sätzen ausgesprochenen Charakter unseres 
Wissens, daß keine noch so sorgfältige Zergliederung des Erkenntnis- 
prozesses ein anderes Kesultat zu Tage fördern kann als eben dies, 
daß ein höchstes Wissen niemals auf rein theoretischem W^ zu er- 
reichen ist, die Entscheidung über dasselbe mithin aus anderen 
Instanzen als den einer erkenntnistheoretischen Erwägung zugänglichen 
entnommen werden muß. Dementsprechend hält Kaftan nur die 
idealistische Philosophie der Aufgabe, ein höchstes Wissen zu suchen, 
für gewachsen, weil sie den Schlüssel zum Verständnis der Welt und 
damit den Ausgangspunkt einer abschließenden Erkenntnis im geistigen 
Inhalt des menschlichen Lebens sucht. Er sucht diese Ansicht an 
einer Organisation des menschlichen Wissens nachzuweisen und 
durchzuführen, welche die gesamte Erkenntnis, ohne irgend ein Ge- 
biet derselben in seinen eigentümlichen Aufgaben zu beeinträchtigen, 
unter einem höchsten Gesichtspunkt in der Weise zusammenfaßt, 
daß ein solches idealistisches Weltverständnis als der notwendige 
Abschluß desselben zu stehen kommt und zugleich den Ausblick auf 
neue, den gesamten Wissensstoff umfassende Aufgaben öffnet. Unter 
Voraussetzung dieser idealistischen Ansicht wird nun von Kaftan als 
das Grundproblem der philosophischen Welterklärung bezeichnet, ob 
das Erkennen dem sittlich -tätigen Leben oder dieses jenem über- 
geordnet werden, ob der Mensch vor allem in jenem oder in diesem 
Gott, damit aber den Abschluß seines persönlichen Lebens, das höchste 

Siebert, Beligionsphilosophie. ^ 



18 1. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter der Eel.-Phil. auf neukantischer usw. Basis. 

Ziel seines Strebens und den Schlüssel zum Weltverständnis suchen 
soll, und zwar vrtrd diese Frage, welche keine andere ist als die 
Frage nach dem höchsten Gut, und vriederum keine andere als die 
nach dem Verhältnis von Religion, Erkenntnis und sittlichem Leben, 
im ausdrücklichen Gegensatz gegen die Meinung, welche die Er- 
kenntnistheorie in die erste Linie stellt, von Kaftan für das Grund- 
problem aller eigentlichen Philosophie erklärt. 

Li der Erwägung dieses Grundproblems macht Kaftan dann die 
christliche Überordnung des sittlichen über das intellektuelle Moment, 
wie sie in der Verkündigung vom Reiche Gottes als dem höchsten 
Gut der Menschheit gegeben ist, als die richtige und allein der ge- 
schichtlichen Vernunft der Menschheit entsprechende Entscheidung 
desselben geltend, während er von dem entgegengesetzten theoretischen 
Idealismus dagegen zu zeigen sucht, daß er eine falsche Beurteilung 
des Erkennens wie der Erkenntnismittel in sich schließt und, sofern 
er fast unvermeidlich die Welterkenntnis das Übergevdcht gewinnen 
läßt, damit die Position des Idealismus selber gefährdet. Im Zu- 
sammenhang damit hebt er hervor, daß die Nötigung für den einzelnen, 
ein höchstes Wissen zu suchen, keine intellektuelle, sondern eine 
ethische ist Das notwendige Korrelat dieser (christlichen) Entscheidung 
des philosophischen Grundproblems aber ist der christliche Offen- 
barungsglaube, in welchem die maßgebende Erkenntnis vom Reiche 
Gottes *als dem höchsten Gut der Menschen allererst Bestand und 
volle Begründung gewinnt. Das Christentum als die Religion der 
Versöhnung mit Gott in Christo, die neben dem Reich Gottes den 
Hauptinhalt der göttlichen Offenbarung und des christlichen Glaubens 
büdet, öf&iet dem schuldbewußten und schwachen Menschen den 
Weg, den höchsten ethischen Idealismus praktisch durchzuführen und 
den ihm entsprechenden (theoretischen) Glauben von Gott und Welt 
festzuhalten. 

Was nun das Christentum noch näher angeht, so erklärt es 
Kaftan für ein Erzeugnis des göttlichen Geistes und seiner Wirksam- 
keit am Menschenherzen. So gefaßt, bedarf es ihm keines Beweises, 
weil es sich selbst beweist, und nichts vermag ihm diesen Beweis 
des Geistes und der Kraft zu ersetzen, alle theologische Bemühung 
kann nur dahin zielen, diesem Beweis den Weg zu bahnen. Als eine 
solche überweltliche Größe, die aus Gott stammt und mit Gott ver- 
bindet, kann das Christentum aber nur im inwendigen Menschen 
reines Erlebnis werden, während seine Ausprägfing und Darstellung^ 
in der Welt an weltliche Mittel gewiesen ist und niemals einen rein 
göttlichen, sondern immer zugleich einen weltlichen Charakter trägt 



b, Julius Kaftan und "Wilhelm Hemnann. 19 



Das Christentum ist eine geschichtliche Größe, d. h. es hängt innerlich 
und wesentlich mit den geschichtlichen Mitteln seiner Verwirklichung 
zusammen. Hierin wurzelt, daß es in Glaube und Lebensordnung 
an die geschichtliche Gottesoffenbarung des Anfangs für immer ge- 
bunden ist. Aus diesem geschichtlichen Charakter ergibt sich aber 
zugleich, daß es unbeschadet seiner in der Offenbarung und dem 
Geist Gottes begründeten Selbstgleichheit bezüglich seiner Darstellung 
und Ausprägung in der Welt ein^r fortschreitenden geschichtlichen 
Entwicklung unterliegt. Namentlich läßt das Verhältnis zum übrigen 
geistig -geschichtlichen Leben, dem ein solcher Wechsel und Fort- 
schritt einwohnt, dem Christentum in diesem Stück gar keine Wahl, 
wenn anders es nicht auf seinen göttlichen Beruf, das gesamte Leben 
der Menschheit zu durchdringen und zu beherrschen, verzichten will. 
Auch blieb die göttliche Offenbarung dafür kein Hindernis, weil das 
Christentum des Anfangs zunächst gar nicht auf eine Dauer in der 
Welt rechnete und die Offenbarung daher keine direkten maßgebenden 
Anweisungen über das Verhältnis des Glaubens zur Wissenschaft 
und über die sozialen Ordnungen enthält. Der Beweis des Christen- 
tums, um welchen sich die Theologie allein bemühen kann und soll, 
ist nichts anderes als die Form, in welcher sich das Christentum mit 
dem geistigen Leben einer bestimmten Periode auseinandersetzt, 
damit aber, weil im Gesamtzustand der Kultur alles untereinander 
zusammenhängt, ein das Ganze mitbestimmendes Moment in der Dar- 
stellung und Ausprägung des Christentums zu einer gegebenen Zeit. 
Niemals aber ist dieser Beweis eine der wissenschaftlichen Beweis- 
führung nachgebildete geschichtlose und den Intellekt nötigende Ar- 
gumentation, wie denn die Annahme, daß eine solche Argumentation 
in den Fragen des höchsten Wissens möglich sei, nichts als eine 
wesenlose Fiktion ist Dieser Beweis für die Wahrheit des Christen- 
tums ist nichts anderes als die Form, in welcher der christliche 
Glaube unter voUer Wahrung seiner in Gott gegründeten Wahrheit 
doch ein inneres Verhältnis zum geistigen Leben der Gegenwart ge- 
winnt, deshalb wird er auch nicht als das beliebige Produkt einer 
gegenwärtigen philosophischen Kichtung, sondern seinem Grund- 
gedanken nach als das Fazit aus der geschichtlichen Entwicklung 
des Protestantismus vorgetragen. Die in ihm erstrebte Organisation 
des Wissens schlägt kein äußerlich zwingendes oder beengendes Band 
um die Wissenschaften, sondern setzt die volle Freiheit der Be- 
wegung einer jeden auf ihrem Gebiet voraus, weist aber nach, daß 
sie als Ganzes gemäß dem sie innerlich einigenden Zweckgedanken 
nur durch den christlichen Glauben zum Abschluß kommen. Dabei 



20 1* K&P* ^^3 gegenw« Haaptyertieter der BeL-Phü. auf senkantischer usw. Basis* 

läßt das protestantische Ideal den christlichen Yölkern und Staaten 
ihre volle Selbständigkeit und sucht sie nicht durch eine gemeinsame 
äußere autoritative Eirchenorganisation, sondern durch das geistige 
Band desselben Glaubens und derselben ethischen Ziele zu einen. 
Der Protestantismus wird so das Produkt aus dem christlichen Olauben 
und der modernen Kultur, während der Katholizismus aus der Ver- 
bindung mit der antiken Kultur hervorgegangen ist 

Ein Seitenstück zu Kaftans Beügionstheorie bilden Herrmanns 
Oedanken. Gemeinsam ist beiden, wie schon gesagt, die neuPantische 
Basis ihrer Theorien, d. h. die strenge Scheidung zwischen Wissen 
und Glauben, die Beschränkung des ersteren auf die Tatsachen der 
Natur und Geschichte, die Verwerfung seiner Einmischung in das 
Gebiet des Glaubens, der ausschließlich auf Werturteile begründet 
und dem Seligkeitsinteresse des Menschen dienstbar ist Aber von 
dieser gemeinsamen Basis laufen nun die Bahnen beider zunächst 
auseinander; um sich schließlich im positiven Dogma wieder zu- 
sammenzuschließen. Die Differenz läßt sich kurz so bezeichnen: 
während Kaftan über Kant zurück in der Sichtung Humes und 
Lockes, d. h. des skeptischen Empirismus geht, wobei die Skepsis 
sich natürlich nicht gegen den Glauben, sondern zu dessen Gunsten 
gegen das Wissen wendet, geht Herrmann über Kant hinaus in der 
Richtung Fichtes, d. h, des subjektiven Idealismus. Das Verhältnis 
Kaftans zu Herrmann ist also genau dasselbe wie auf der philoso- 
phischen Linie des Neukantianismus das von Ernst Laas zu Albert 
Lange; wie des letzteren ethischer Idealismus bei Laas zum Comte- 
schen Positivismus wird, so wird aus dem bei Herrmann als Basis 
dienenden Kantschen Moralismus bei Kaftan ein antikantischer Em- 
pirismus und rein historischer Glaubenspositivismus. Unverkennbar 
verrät sich in dieser genauen Parallele der beiden voneinander ganz 
unabhängigen Zweige eine innere Gesetzmäßigkeit in. der Entwick- 
lung dieser ganzen Richtung. 

Wilhelm Herrmann wurde am 6. Dezember 1846 zu Melkow 
geboren, studierte in Halle Theologie und Philosophie, nahm nach 
Absolvierung des üniversitätsstudiums am deutsch-französischen Kriege 
teil, habilitierte sich danach in Halle für Theologie und wirkt seit 
1879 als Professor derselben in Marburg. Er schrieb »Die Meta- 
physik in der Theologie« (1876), »Die Religion im Verhältnis zum 
Welterkennen und zur Sittlichkeit« (1879), »Der Verkehr des Christen 
mit Gott« (4. Aufl. 1903), »Die Bedeutung der Inspirationslehre für die 
evangelische Kirche« (1882), »Die Gewißheit des Glaubens und die 
Freiheit der Theologie« (2. Aufl. 1889), »Der evangelische Glaube 



b. Julius Eaftan und Wilhelm Herrmaim. 21 

und die Theologie A. ßitschls« (2. Aufl. 1896), ^^Ethit« (3. 
Aufl. 1904), »Römische und evangelische Sittlichkeit« (3. Aufl. 1903), 
»Die sittlichen Weisungen Jesu« (1903) u. a. 

Herrmann hat schon in der erstgenannten seiner Schriften das 
Recht der philosophischen Behandlung der Religion und damit das 
Existenzrecht der Religionsphilosophie prinzipiell in Frage gestellt 
Weil die Metaphysik es nur mit der EAenntnis des Tatsächlichen, 
die Religion aber nur mit dem sittlichen Ideal zu tun habe, haben 
beide Weltansichten nichts miteinander zu schaffen, so daß ihre Ver- 
bindung in einer spekulativen Religionswissenschaft nur zur Verun- 
reinigung und zum Verderb beider Funktionen ausschlagen könne. 
Die Verkennung des unausgleichbaren Unterschiedes, der zwischen 
dem Gefühl für den Wert des Guten und der Erkenntnis des Tat- 
sächlichen besteht, würde sich darauf zurückführen lassen, daß man 
die Überweltlichkeit der christlichen Gottesidee aufgegeben hat. Die 
Beachtung dieser Eigentümlichkeit des religiösen Sinnes zwingt uns 
zu der Anerkennung, daß wir mit dem Wahrhaftwirklichen im 
Christentum etwas ganz anderes meinen als in der Metaphysik. Hier 
bedeutet dasselbe das hervorbringende Reale, durch welches wir uns 
die Möglichkeit alles Seins und Geschehens überhaupt begreiflich 
machen; dort steht seine Gewißheit in Wechselwirkung mit der un- 
übertragbaren Erfahrung von dem Werte des Christlichguten. Der 
Versuch, beides zu vermischen, setzt daher die Verleugnung der Ein- 
sicht voraus, daß das ethische Faktum, in welchem die religiöse Welt- 
anschauung wurzelt, als ein Besonderes, gegen die allgemeinen Formen 
alles Seins und Geschehens völlig Gleichgültiges für die Metaphysik 
gar nicht vorhanden ist. 

Diese G^anken fanden ihre Vertiefung in den Schriften »Die 
Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit«, »Der 
Verkehr des Christen mit Gott« und »Ethik«, deren Grundgedanken 
auch die andern Herrmannschen Schriften durchziehen. Herrmann 
geht hier von dem Satz aus, daß eine Grenze des reinen Erkennens 
für sich überhaupt nicht gedacht werden kann. Eine Grenze des 
reinen Erkennens findet sich erst ein, wenn der handelnde Mensch 
dasselbe in den Dienst seiner Zwecke stellt. Wenn man das Er- 
kennen an demjenigen mißt, was diese Zwecke verlangen, so erscheint 
seine Leistungsfähigkeit allerdings als begrenzt Die Tätigkeit des 
vorstellenden Bewußtseins empfängt ihre Begrenzung nicht in ihrem 
eigenen gleichartigen Fortgang, sondern aus ihrer konkreten Be- 
stimmtheit als Funktion der fühlenden und wollenden Person. Die 
Wirklichkeit der letzteren zieht dem Erkennen seine Grenzen. Aus 



22 !• Kap. Die gegenw. Hauptvertreter der Rel.-Phil. auf neukantisoher usw. Basis. 

den Forderungen des handelnden Menschen ergeben sich Urteile über 
die Vorstellungswelt im Ganzen, welche die unzerstörte Tätigkeit des 
Erkennens aus sich selbst nicht erzeugt hätte. An der Vorstellung 
von dem Weltganzen, von einem in sich geschlossenen Dinge über- 
haupt, welche ihm durch Vermittlung von Gefühl und Wille als Ob- 
jekt aufgedrängt wird, bricht sich das Erkennen, dessen Begriffe zwar 
zur Herstellung endloser Beziehungen, nicht aber zur Vorstellung 
einer beziehungslosen Totalität geeignet sind. Wenn trotzdem der 
subjektive Ursprung jener Vorstellungen nicht darauf führt, sie als 
Einbildungen beiseite zu setzen, so kann dies nur in der Macht des 
subjektiven Antriebs seinen Grund haben, dem sie ihre Entstehung 
verdanken. Indem wir als Personen unser eigenes Dasein als ein 
in sich geschlossenes in Lust und Unlust zu erleben glauben, be- 
handeln wir die erkennende Tätigkeit des vorstellenden Bewußtseins 
als Mittel zu dem Zwecke der Person. Dem persönlichen Bedürfnis 
entspricht aber nicht eine grenzenlose Vielheit von Vorstellungen, 
sondern ein Ganzes von abgeschlossenen Dingen. Diesen Charakter 
gewinnt die Vorstellungswelt, sobald wir sie als Veranlassung von 
Lust und Unlust nach ihrem Werte beurteilen. Es wird daher dem 
Erkennen, welches in den Dienst der fühlenden Person gestellt wird, 
die Aufgabe zugemutet, auf Dinge als absolute Einheiten auszugehen, 
während es seiner eigenen Natur nach immer nur relative Einheiten 
von Vorstellungen erreicht. Die Folge davon ist, daß an jedem 
einzelnen Punkte in dem Fortschritt des Erkennens die Aufgabe 
scheitert, weil das vorgestellte Ding sich immer wieder in Beziehungen 
auflöst, die auf einen tiefer liegenden Zusammenhang hinausweisen. 
Trotzdem bleibt auf der andern Seite die Aufgabe immer bestehen, 
solange das Erkennen von uns Menschen als Mittel der Person be- 
handelt wird. Wie sich das wissenschaftliche Erkennen, welches den 
Charakter des Erkennens rein bewahren will, in dieser Schwierigkeit 
zu verhalten hat, hat Kant nach Herrmanns Überzeugung richtig ge- 
zeigt: Die absoluten Einheiten, welche die Person verlangt, müssen, 
wenn sie das Erkennen nicht erdrücken sollen, in regulative Ideen 
verwandelt werden, so daß sie damit nur ein Ausdruck des Ver- 
trauens werden, daß die Welt, die wir als Mittel für uns in An- 
spruch nehmen, sich zusammenhängend werde erklären lassen. Sie 
sind dann die Symbole des praktischen Impulses, der in jedem wissen- 
schaftlichen Erkennen als einem absichtlichen wirksam ist. Wenn 
ihnen eine Bedeutung darüber hinaus zugeschrieben wird, so kann 
dies nur dadurch geschehen, daß das Selbstgefühl der Person, dem 
sie entstammen, wie die Offenbarung einer besonderen Art von 



b. Julius Kaftan und "Wilhelm Herrmann. 23 

Kealität behandelt wird. Die Verknüpfung der auf solche Weise 
festgestellten Geltungswerte mit der Welt des vorstellenden Bewußt- 
seins ist dann aber, wie sie auch erfolgen möge, nicht mehr theo- 
retische, sondern praktische Welterklärung. Es handelt sich dabei 
nicht mehr um die parteilose Auffassung des tatsächlich Gegebenen, 
sondern um das affektvolle Streben, die Anerkennung von Gedanken 
durchzuführen, deren Inhalt sich durch nichts legitimieren kann als 
durch seinen Weii: für uns. Indem wir nicht schon an dem Gebiet 
der reinen Erfahrung, ßXL der Welt des vorstellenden Bewußtseins 
für sich die ganze Wirklichkeit zu besitzen glauben, sondern erst 
dann, wenn wir sie durch eine auf jene Weise legitimierte Realität 
bedingt denken, üben wir praktische Welterklärung aus. Die beiden 
Arten praktischer Welterklärung aber sind die dogmatische Meta- 
physik und die Religion, sofern dieselbe nicht bloß in Gefühlen und 
Stimmungen lebt oder in abgerissenen Bildern der Phantasie sich 
ausspricht, sondern einen geordneten Zusammenhang eigentümlicher 
Vorstellungen zur Reife gebracht hat. 

Was nun diese beiden Arten praktischer Welterklärung näher 
angeht, so findet Herrmann die Produktion metaphysischer und reli- 
giöser Vorstellungen insofern gleichartig, als in beiden Fällen die 
geistige Tätigkeit nicht aus dem bloßen vorstellenden Bewußtsein sich 
erklären läßt, sondern allein aus dem von Werturteilen geleiteten 
Bewußtsein. Beide Male erhalten wir Vorstellungen, die das Selbst- 
gefühl eines fühlenden und wollenden Subjekts voraussetzen. Aber 
die metaphysischen Vorstellungen kommen schon daher, daß das Be- 
wußtsein überhaupt als Bewußtsein einer fühlenden Person existiert, 
die nicht nur erkennen muß, sondern auch Zwecke verwirklichen 
will. Wenn man die Welt der Erfahrung unter dem Gesichtspunkt 
des Zwecke setzenden Subjekts auffaßt, wie wir alle tun, so entsteht 
der Schein der metaphysischen Objekte und liefert einen uns unum- 
gänglichen, aber auch unerkennbaren Hintergrund für die vorgestellten 
Dinge. Während für das reine Erkennen diese letzteren das eigent- 
lich Reale sind, so ist das durch das Gefühl bestimmte Erkennen viel- 
mehr darauf angewiesen, in jenem unanschaulichen Hintergrunde der 
sinnlichlebendigen Welt das Wahrhaftwirkliche zu suchen. In der 
dogmatischen Metaphysik wird der subjektive Charakter dieses Strebens 
außer Augen gesetzt und eine nähere Bestimmung jenes Wahrhaft- 
wirklichen versucht. Aber dieser Versuch ist keineswegs bloße Dich- 
tung, sondern er steht insofern in Verbindung mit der Wissenschaft, 
als er immer darauf ausgeht, die unwillkürliche Voraussetzung aller 
Wissenschaft als eines absichtlichen Erkennens, daß nämlich die 



24 1* ^ap< I^io gegenw. Hauptrertreter der Bel.-Phü. auf neukaniischer usw. ßasis. 

Welt zusammenhängend erklärbar sei, zu erhärten, und die Meta- 
physik erreicht dies vorübergehend, indem sie die augenblicklich 
gangbaren Erklärungsmittel der Wissenschaft als die durch das Wesen 
der Dinge getorderten Formen derselben erscheinen läßt Im Hin- 
blick auf diesen Zweck läßt sich die schwankende Vorstellung von 
einem verborgenen Hintergrunde der Erscheinungswelt zu dem Ge- 
danken eines Wesens der Dinge verdichten, welcher seine bestimmten 
Züge durch seine Beziehung zu dem Begriffsmaterial der Wissen- 
schaft erhält, das er in seinem Rechte betätigen soll. In diesem 
Zusammenhange mit der einem absichtlichen Erkenntnisstreben unter- 
worfenen Erfahrungswelt besteht der Geltungswert, die Realität der 
metaphysischen Objekte. Zwischen ihnen und der Realität der Er- 
fahrungswelt besteht eine Verbindung, aber diese ist vermittelt durch 
das subjektive Bedürfnis eines absichtlichen Erkenntnisstrebens. 

Anders ist es mit der Religion. Ihr fehlt diese Verbindung mit 
der Erklärung des tatsächlich Gegebenen. Nicht dem besonderen 
Zwecke des absichtlichen Erkennens, das schließlich zur wissenschaft- 
lichen Welterklärung wird, entspricht das religiöse urteil über die 
Welt, sondern dem allgemeinen Zwecke der Selbsterhaltung der Person 
in ihren höchsten Gütern. Durch das religiöse Urteil über die Welt 
wird daher nicht das dem tatsächlich Gegebenen immanente Wesen 
als wirklich gesetzt, wie immer durch das metaphysische Urteil ge- 
schieht, sondern eine Macht über die Welt, deren Wert nicht in ihrer 
Identität oder Differenz mit dem erkennbaren Sein gesucht wird, 
sondern in ihrer Übereinstimmung mit dem höchsten Gute des Men- 
schen. Wenn dem religiösen Glauben diese Macht über die Welt 
als etwas Wirkliches feststeht, so hat die Kategorie der Realität hier 
einen andern Sinn als in der Metaphysik; denn der Geltungswert 
des religiösen Objekts wurzelt allein in einer bestimmten Energie 
des Selbstgefühls. Der Geltimgswert des metaphysischen Objekts hat 
zwar einen ähnlichen Grund, denn nur das von Antrieben des Ge- 
fühls beherrschte Bewußtsein, das absichtliche Erkennen stößt auf 
das Ding an sich, aber die Voraussetzung ist dabei, daß der ver- 
borgene Hintergrund der Dinge das gleichartige Komplement der er- 
kennbaren Wirklichkeit sei; diese soll in jenem ihre letzte Erklärung 
finden. Daher wird in der Metaphysik dem Ziele ihres Forschens, 
dem Wesen der Welt, Realität in demselben Sinne zugeschrieben wie 
ihrem Ausgangspunkte, dem tatsächlich Gegebenen. Also hier über- 
trägt man auf Voraussetzungen, Vielehe lediglich in einem subjektiven 
Interesse wurzeln, die Geltung, welche nur dem gleichgültigen Ge- 
gebensein der Erkenntnisobjekte zukommt. Diesen zwiespältigen 



b. Julius Eaftan und Wilhelm Herrmann. 25 

Charakter trägt die Religion uichi Ihr ist es an sich möglich, das 
durch das Selbstgefühl dem Bewußtsein aufgedrängte Objekt vor der 
Gemeinschaft mit der Wirklichkeit der Erfahrungswelt zu bewahren. 
Die Vorstellungen, welche das wissenschaftliche Naturerkennen, wie 
überhaupt alles absichtliche Erkennen begrenzen, kommen zu einer 
selbständigen Verwendung in der religiösen Weltanschauung, in 
welcher die fühlende und wollende Person die ihr entsprechende 
Wirklichkeit erschlossen findet. 

Wenn nun die Geschichte die Religionen trotzdem mit den Vor- 
stellungen der Metaphysik vielfach, durchflochten zeigt, so ist nach 
Herrmann weder in der Verwandtschaft beider noch in dem Bedürfnis, 
die Religion zu begründen, eine genügende Erklärung dafür zu finden ; 
denn der gemeinsame Ursprung wird durch die grundverschiedene 
Zweckbestimmung beider aufgewogen. Wenn die christliche Theo- 
logie in ihren Anfängen die philosophische Gotteserkenntnis der 
Griechen aufnahm, so ist ihm dies nur aus der Zwangslage begreif- 
bar, in weicher sie sich befand. Bei der mühseligen Arbeit, den 
christlichen Glauben gegen die Angriffe des gebildeten Heidentums 
zu verteidigen, mußte es äußerst willkommen sein, daß so wichtige 
Gedanken wie Einheit und Geistigkeit Gottes sich als Errungenschaften 
philosophischer Welterklärung darboten. Aber indem man diese Hilfe 
begierig aufgriff, beachtete man nicht, daß das kosmologische Problem 
der alten Philosophie durchaus verschieden ist von dem Problem, 
welches in dem christlichen Glauben an Gott seine Lösung findet. 
Herrmann erklärt es für einen sehr schweren Verlust für die Theo- 
logie, daß infolgedessen der eigentliche, dem Glauben verständliche 
Inhalt der christlichen Gottesidee nur beiläufig zur Geltung gelangen 
konnte, während der metaphysische Begriff einer höchsten Ursache 
der gegebenen Welt der beherrschende Gedanke des Systems wurde. 
Um so dringender erhebt sich nun aber die Frage, auf welche Weise 
die unumgängliche Aufgabe, einen Beweis für die universelle Gültig- 
keit des religiösen Glaubens zu liefern, gelöst werden kann; denn 
nicht nur die universelle Tendenz des Christentums fordert einen 
solchen Beweis, damit immer neue Glieder der christlichen Gemeinde 
gewonnen werden, sondern auch die vorhandene Gemeinde bedarf 
desselben zu ihrem Bestehen. 

Indem das vernünftige Subjekt sein eigenes Selbst behauptet, 
empfängt es die Nötigung, auf die Realität des Unbedingten zu 
rechnen. Das Wollen des vernünftigen Wesens vollzieht sich in 
Zwecksetzungen, in welchen es im Grunde sich selber will. Darin 
liegt die Förderung, das wollende Subjekt als Endzweck zu denken. 



26 1- Kap« Di© gegenw. Hauptvertreter der Rel.-Phil. auf neukantischer usw. Basis. 

Der Wille aber, welcher als Selbstzweck handelt, bringt das Gesetz 
seines Handelns selbst hervor, ist autonom. Die Person also, welche 
ihr eigentümliches Leben festhalten und erhöhen will, muß das Sitten- 
gesetz denken, denn der Inhalt des Sittengesetzes ist eben die über- 
sinnliche Persönlichkeit als autonomes, über die Natur erhabenes, 
Selbstzweck seiendes Wesen. Daher ruht zwar nicht das Sittliche 
auf der Keligion, aber die Sittlichkeit vollzieht sich nur in Form 
einer religiösen Welterklärung; denn so unzulässig es auch wäre, die 
Persönlichkeit und ihr autonomes Sittengesetz selber noch weiter 
zurück begründen zu wollen, so kann doch die sittliche Person zur 
vollen Aneignung des Sittengesetzes nur durch. Vermittlung eines 
religiös-teleologischen Urteils über die Welt kommen, also durch die 
Vorstellung Gottes, dessen Wesen ist, dasselbe zu wollen, was die 
sittliche Persönlichkeit will, oder der nichts weiter sein will als der 
unveränderliche Wille der Herrschaft der Persönlichkeit über die 
Natur. Die religiösen Urteile sind daher von Anfang nur verständ- 
lich als der Ausdruck der persönlichen Selbstgewißheit des irgendwie 
sittlich bestimmten Menschengeistes, und demgemäß ist auch ihre 
Wahrheit gleichbedeutend mit der Kealität der Idealwelt, in welche 
der sittliche Verkehr der Menschen ausläuft. Für bloß erkennende 
Wesen ist die Wahrheit der Religion nicht vorhanden; ihr Geltungs- 
bereich liegt in der praktisch bedingten Gemeinschaft von Personen. 
Gegen den Vorwurf, daß die Religion als Korrelat der persönlichen 
Selbstgewißheit die bloße Einbildung einer energischen Subjektivität 
sei, gibt es nach Herrmann keine direkte Abwehr. Es bleibt ihm 
dagegen nichts weiter übrig als die nackte Berufung darauf, daß die 
Welt des Glaubens die Welt der Lebendigen ist, und daß der Lebende 
recht hat. Wenn der Gläubige jener Tatsache frei ins Auge schaut, 
so bekommt für ihn das Bestehen religiöser Gemeinschaft den uner- 
setzbaren Wert einer Ergänzung seiner eigenen Gewißheit; er muß 
dann »mit brennendem Verlangen« das Zeugnis ergreifen, welches 
die mächtigen Spuren der Religion in der Geschichte, vor allem die 
religiöse Überlieferung, die ihn selbst genährt hat, dafür ablegen, daß 
nicht sein eigenes Herz die Verantwortung für die unerklärliche 
Kühnheit des Glaubens trägt, sondern daß er, wenn er glaubt, einer 
tatsächlichen Macht über viele Gemüter, die dadurch mit ihm ver- 
bunden werden, unterliegt. Daß sittlicher Geist und sittliches Gut 
Realitäten sind, läßt sich niemandem andemonstrieren. Aber wenn 
auch jener Beweis unmöglich ist, die tatsächliche Anerkennung eines 
solchen Realen, das nicht durch die Anknüpfung an die Welt der 
objektiven Vorstellung, sondern nur durch die absolute Vollendung 



c. Otto Pfleiderer. 27 



des menschlichen Selbstgefühls verstanden werden kann, liegt in der 
Geschichte der Menschheit vor in der Herrschaft der sittlichen Ideen, 
welche als Normen des Urteils über das menschliche Subjekt nur 
gebraucht werden können, wenn dasselbe unwillkürlich als sittlicher 
Geist angeschaut wird. Die Vollendung des menschlichen Selbst- 
gefühls, die Anschauung des Menschen als eines sittlichen Geistes 
hat ihren deutlichsten Ausdruck aber im Christentum gefunden. In 
Jesus Christus führt der allmächtige Wille Gottes sein Schöpfungs- 
werk zu seinem Endzweck. Es ist daher die Aufgabe der Dogmatik, 
auf Grund der Offenbarung Gottes in Christus die einheitliche Welt- 
anschauung zu entwerfen, welche den gegründeten Anspruch erhebt, 
als das notwendige Lebenselement für den sittlichen Menschengeist 
als solchen zu gelten. 

c Otto Pfleiderer. 

Otto Pfleiderer wurde am 1. September 1839 zu Stetten bei 
Kannstatt geboren, studierte von 1857 — 61 in Tübingen Philosophie 
und Theologie, war eine Zeitlang in Eningen bei Reutlingen als Vikar 
tätig, worauf er Studienreisen durch Norddeutschland, England und 
Schottland unternahm. Von 1864 — 68 wirkte er als Repetent und 
Privatdozent in Tübingen, wurde 1868 Stadtpfarrer in Heilbronn, 
1870 Oberpfarrer, o. Professor und Superintendent in Jena, 1871 
Kirchenrat und 1875 o. Professor der Theologie in Berlin, wo er 
seitdem , wirkt. Seine Hauptwerke sind »Die Religion, ihr Wesen 
und ihre Geschichte« (2. Aufl. 1878), »Moral und Religion« (1872), 
»Fichte« (1877), »Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage« 
(3. Aufl. 1896), »Grundriß der christlichen Glaubens- und Sittenlehre« 
(5. Aufl. 1898), »Das Urchristentum« (2. Aufl. 1902), »Die Entwick- 
lung der protestantischen Theologie in Deutschland seit Kant und in 
Großbritannien seit 1825« (1892), »Geschichte der Religionsphilosophie 
von Spinoza bis zur Gegenwart« (1893), »Die Ritschlsche Theologie, 
kritisch beleuchtet« (1891) u. a. 

Pfleiderers Religionsphilosophie geht vom menschlichen Bewußt- 
sein aus. Um zu einer Gesamtanschauung der Welt zu gelangen, 
suchen wir die Bewußtseinserscheinungen zu erklären, indem wir 
den ansichseienden Grund zu ihnen hinzudenken. Haben wir in 
unserem eigenen wollend-fühl enden Ich das wesentliche oder sub- 
stantielle Sein als die für sich seiende Kraft oder Monade erkannt, 
so kann uns nichts hindern, nach eben dieser Analogie auch die 
übrige Welt aus solchen Substanzen bestehend zu denken, welche 
als für sich seiende Kraftmittelpunkte Subjekte des Wirkens und 



28 1- Kap. Die gegenw. Hauptvertreter der Rel.-Phil. auf neukantischer usw. Basis. 

Leidens sind. Indem wir auch die Erscheinungen der Körper auf 
solche Kräfte zurückführen, verschwindet der scheinbare Gegensatz 
von Leib und Seele, indem der Leib zu einem System seelenartiger 
Kräfte wird. Die Frage ist dann nicht mehr, wie so Entgegengesetztes 
wie Leib und Seele, Materie und Geist aufeinander wirken können, 
sondern nur, wie eine Vielheit an sich immaterieller Kräfte zu- 
einander in einer konstanten gesetzmäßigen Wechselwirkung stehen 
und der beherrschenden Einheit der Seele als Werkzeug dienen 
können. Diese gesetz- und zweckmäßige Wechselwirkung der Kräfte 
untereinander, wie sie nicht bloß innerhalb des Einzelorganismus, 
sondero im ganzen Umfang des Seienden anzunehmen denknotwendig 
ist, ist nicht denkmöglich ohne die Voraussetzung eines gemeinsamen 
Grundes derselben, der als Quelle der Sonderkräfte ürkraft und als 
Quelle ihrer logischen Beziehungsgesetze ürdenken sein muß, den 
wir also am einfachsten nach Analogie unseres denkenden und wollen- 
den Ich werden vorzustellen haben. Die Gottesidee tritt so nach 
Pfleiderer nicht als ein theoretisch überflüssiges und nur aus prak- 
tischen Gründen erforderliches Anhängsel zu einer in sich fertig ab- 
geschlossenen Welterklärung hinzu, sondern bildet die Voraussetzung, 
ohne die überhaupt kein Wissenwollen im eigentlichen und strengen 
Sinne denkbar ist Sie geht über die gegebene Erfahrung nach keiner 
andern Kichtung hinaus als jeder Versuch, das Gegebene zu begreifen. 
Mit demselben Recht, mit dem wir in den einzelnen Substanzen und 
ihren Kräften ein intelligibles Reich als den Grund der Erscheinungen 
aufbauen, gedrängt von demselben Triebe, das Zerstreute zur Einheit 
zusammenzufassen, machen wir auch den weitern Schritt zur letzten 
Erklärung der Welt nach den Forderungen unseres Denkens. Dort 
so wenig wie hier ist ein Beweis im strengen logischen Sinn mög- 
lich, weil Realität außer uns überhaupt nicht bewiesen werden kann. 
Die vielverbreitete Behauptung, daß die metaphysischen Objekte, zu- 
mal Gott, darum unerkennbar seien, weil sie nicht in unserer Er- 
fahrung gegeben sind, hat nach Pfleiderer nur solange etwas Be- 
stechendes, als man es unterläßt, sich über den Sinn dieses Satzes 
klare Rechenschaft zu geben. Pfleiderer ist hier im vollsten Recht 
Was ist denn streng genommen in der Erfahrung gegeben? Doch 
wohl nichts weiter als die Empfindungen und Vorstellungen, die ich 
jeweils gerade in meinem Bewußtsein vorfinde. Was darüber hinaus 
ist, ja ob überhaupt etwas darüber hinaus sei, davon kann ich 
durchaus keine Erfahrung haben, sondern das kann ich nur von 
meinen Bewußtseinserscheinungen aus erschließen. Daß z. B. meinen 
Vorstellungsbildern anderer Personen wirkliche Wesen entsprechen 



c. Otto PfleJderer. 29 



und diese ein Innenleben für sich analog dem meinigen haben, das 
ist schon eine meine Erfahrung gänzlich übersteigende Annahme, in 
welcher ich durch einen KausalschluJB zu meinen Vorstellungen die 
Dinge an sich selbständig hinzudenke. Soweit diese Schlüsse die 
nächsten Objekte der äußern Welt betreffen, vollziehen wir sie so 
geläufig und unwillkürlich, daß wir uns ihrer gar nicht besonders 
bewußt werden. Erst wenn wir durch die Erfahrung von Sinnes- 
täuschungen auf die Differenz zwischen unsern Vorstellungen und 
den Dingen selbst aufmerksam gemacht werden, oder wenn wir ver- 
anlaßt sind, zu den nächsten Ursachen unserer Vorstellungen die 
fernerliegenden hinzuzusuchen, beginnen wir auf unser Schlußver- 
fahren mit Bewußtsein zu reflektieren. Setzen wir dieses Verfahren 
in regelrechtem Zusammenhang fort und erweitem unsere Schlüsse 
im stetigen Fortschritt vom Näheren aufs Fernere, vom Bekannten 
aufs Unbekannte, so reden wir von wissenschaftlicher Untersuchung. 
Und wenn wir dann endlich in Fortsetzung desselben Verfahrens die 
einzelnen ursächlichen Zusammenhänge in einen allgemeinen Zu- 
sammenhang zu bringen und in der allgemeinen Ursache zugleich 
den Berechtigungsgrund für dieses ganze Verfahren, die gemeinsame 
Grundlage aller gedachten und seienden Kausalzusammenhänge über^ 
haupt zu erfassen suchen, so nennen wir das metaphysisches Denken. 
Natürlich werden bei diesem letzten Versuch unsere Schritte noch 
unsicherer werden, als sie es auf dem früheren Wege sind, aber 
dieser Unterschied ist doch nur ein gradueller und fließender; prin- 
zipiell ist das Verfahren und seine Berechtigung immer ganz dasselbe, 
es gibt nirgends einen Grenzpunkt, wo die Welt des Erkennbaren 
mit einem Bretterzaun vernagelt wäre, vor dem wir hoffnungslos 
Halt machen müßten. Daß zwar unser metaphysisches Denken von 
absolutem Wissen weit entfernt bleibt, ist wohl zuzugeben; aber es 
ist dabei hinzuzufügen, daß es dieses Schicksal auch mit allem anderen 
Wissen, welches über unsere subjektiven Vorstellungen hinausgehend 
mit Realem sich beschäftigt, teilt Es ist also gar nicht so abstrakt 
zu scheiden zwischen einem exakten Wissen im Naturgebiet und 
einem Nichtwissen im metaphysisch -religiösen Gebiet; wo sollten 
denn die Grenzlinien zwischen beiden zu ziehen sein? Sind denn die 
Grandbegriffe des Naturerkennens: Kraft und Bewegung, Raum und 
Zeit, Ursache und Gesetz, Atom und Gravitation, Entwicklung und 
Leben, Reiz und Empfindung usw. nicht alles schon metaphysische 
Begriffe der problematischsten Art? »Streng genommen«, sagt Fechner, 
»ist alles Glaubenssache, was nicht unmittelbar erfahren ist, und was 
nicht logisch feststeht; ein jedes Wissen um das, was ist, setzt sich 



30 !• Kap. Die gegenw. Hauptverteter der Rel.-Phil. auf neukantischer usw. Basis. 

fort in Glauben und muß sich darin fortsetzen und endlich damit 
abschließen, damit es einen Zusammenhang, einen Fortschritt und 
Abschluß des Wissens selbst gebe«. Wenn wir aber hiernach den 
stolzen Anspruch des Idealismus auf absolutes Wissen nicht bloß bei 
den letzten metaphysischen Fragen, sondern in allen realen Wissen- 
schaften aufgeben ;müssen, so ists darum doch nicht an dem, daß 
der gesunde Verstand abzudanken und das Feld den Wünschen des 
Herzens zu überlassen hätte. Wenn auch der Mensch nicht die all- 
wissende Vernunft Gottes besitzt, so hat er darum doch einige Ver- 
nunft, und wo Vernunft ist, da ist nicht bloß der Trieb nach Einheit 
des Erkennens, sondern auch die innere Norm, die trotz endlosen 
Irrens doch immer wieder unser Suchen zurechtweist und unsere 
tastenden Schritte so leitet, daß wir der einen allgemeinen Wahrheit, 
wie sie Gott besitzt, uns wenigstens zu nähern vermögen. Was wir 
zunächst nur versuchsweise als Hypothese aufstellen, um unsere ge- 
gebenen Vorstellungen daraus zu erklären, das gewinnt in dem Grade 
an Wahrscheinlichkeit, als es geeignet ist, unsere Gedanken in eine 
solche Übereinstimmung zu bringen, welche auf Allgemeingültigkeit 
Anspruch machen kann. Die Grundbedingung einer solchen ist aber 
immer die Angemessenheit an die apriorischen Erkenntnisnormen 
unseres Geistes. Von den Gesetzen der Logik kann auch ein frommer 
Wunsch nicht entbinden; Vorstellungen, die sich ohne innern Wider- 
spruch nicht denken lassen oder die den sonst erkannten logischen 
Zusammenhang der Welt durchbrechen, können auch keinen An- 
spruch auf objektive allgemeingültige Wahrheit machen. Aber so 
unentbehrlich das logische Denken als conditio sine qua non, so un- 
abweislich es als negatives Kriterium der Unwahrheit ist, so wenig 
reicht es doch für sich allein zur positiven Erfassung der Wahrheit 
hin. Die Kichtigkeit der Form garantiert ja noch nicht auch die 
Richtigkeit des Inhalts; es kommt eben immer auf die richtige An- 
wendung der Form auf den jeweils gegebenen Inhalt an. Dabei 
bieten sich aber wegen der unendlichen Mannigfaltigkeit des Er- 
fahrungsstoffes überall zunächst so vielerlei Möglichkeiten der Er- 
klärung, daß nur durch immer erneute Versuche mittels steten Eli- 
minierens des Nichtzutreffenden oder Unwahrscheinlichen eine fort- 
schreitende Annäherung an die Wahrheit zu erreichen ist. Was nun 
aber dem stets nur relativen und annähernden theoretischen Wissen 
zur absoluten Gewißheit fehlt, das wird nach Pfleiderer zur vollen 
Überzeugung von praktischer Seite her ergänzt. Diese Konkurrenz 
beider Seiten findet bei den elementarsten wie bei den höchsten Er- 
kenntnisgegenständen statt. Jeder ist von der Reaütät der AuJßen- 



c. Otto Pfleiderer. 31 



weit überzeugt. Warum? Wenn der theoretische Grund, der in der 
Unentbehrlichkeit dieser Annahme für die vernünftige Erklärung der 
Bewußtseinserscheinungen liegt, zum zwingenden Beweis nicht aus- 
reichen sollte, so wird derselbe ergänzt durch die von jedem emp- 
fundene praktische Nötigung, bei seinem Wollen und Handeln von 
der Voraussetzung jener Eealität auszugehen. Nicht anders verhält 
es sich auch mit der Überzeugung von der Realität Gottes; sie ist 
»das gemeinsame Resultat aus dem Zusammenstimmen theoretischer 
Gründe und praktischer Motive«. Theoretisch ist die Gottesidee die 
notwendige Hypothese zur Erklärung des Weltzusammenhangs, nicht 
so, als ob eine im übrigen befriedigend vollzogene Welterklärung 
nur zum omamentalen Abschluß des Gebäudes noch dieser Spitze 
bedürfte, sondern so, daß unser ganzes logisches Weltbild des tragen- 
den Fundamentes entbehrte und also dem nach Einheit und Not- 
wendigkeit strebenden Erkenntnistrieb nicht genügte, wenn nicht 
jener gesetz- und zweckmäßige Zusammenhang, der das Veränderliche 
und Viele zur Einheit des geordneten und stetigen Ganzen verbindet, 
in einer allbeherrschenden Macht seinen Einheitsgrund hätte. Prak- 
tisch aber ist die Gottesidee das notwendige Postulat, um unserem 
Wollen und Fühlen die höchste Zweckbeziehung und das höchste 
Gut zu geben, nicht so, als ob ein im übrigen selbstgenügsam in 
sich beruhendes sittliches Bewußtsein nur zur Nachhilfe seines teil- 
weisen Unvermögens der Aussicht auf transcendentale Ergänzung 
bedürfte, sondern so, daß unser ganzes Wollen seines höchsten all- 
bestimmenden Zieles und unser Herz seines befriedigenden Ruhe- 
punktes entbehren würde, wenn das vollkommene Ideal ein bloß 
subjektives Vorstellungsbild ohne objektive Realität wäre. Dieses 
praktische Motiv und jener theoretische Grund dienen sich gegen- 
seitig zur Stütze wie die zwei Seiten eines Gewölbes, die nur in 
ihrem Zusammenstreben die Festigkeit des Ganzen ergeben. 

Diese theoretisch-praktische Gotteserkenntnis führt Pfleiderer auf 
das Verhältnis von Religion und Wissenschaft überhaupt. Beide ent- 
springen einem unabweisbaren Bedürfnis des menschlichen Geistes 
und berühren sich in ihrem höchsten Gegenstande, der Gottesidee, 
aber sie gelangen auf verschiedenen Wegen an dieses Ziel. Die 
Wissenschaft entspringt dem logischen Erkenntnistrieb unseres Geistes, 
sie geht von den gegebenen Bewußtseinserscheinungen aus, sucht 
diese in Zusammenhang zu bringen und aus ihren Ursachen zu er- 
klären und kommt so zuletzt auf Gott als vorauszusetzenden Grund 
der Welterklärung, die Religion dagegen will nicht die Welt theoretisch 
erklären, sondern das Verhältnis des fühlenden und wollenden Ich 



82 1- Kap. Die gegenw. Hauptvertreter der Rel.-Phil. auf neukantischer usw. Basis. 

oder des Herzens zur Welt richtig stellen, und sie vollbringt dies da- 
durch, daß sie das eigene Leben mit allen es bewegenden Eindrücken 
der Welt unmittelbar auf die weltbeherrschende Macht selbst bezieht, 
daß sie nach einer Lebensgemeinschaft mit Gott strebt^ oder nach 
einer solchen Verbindung mit der weltbeherrschenden Macht, wodurch 
unser Leben zu seinem göttlichen Ideal erhoben und von der bedrücken- 
den Weltabhängigkeit befreit wird. Die Mittlerin zwischen Keligion 
und Wissenschaft ist die Religionsphilosophie, welche die positive 
Verständigung beider dadurch herbeiführt, daß sie an der Religion 
zwischen Form und Inhalt, praktisch wertvollem Sinnbild und eigent- 
licher theoretischer Wahrheit, Vergänglichem und Bleibendem, Mittel 
und Zweck, Buchstaben und Geist unterscheiden lehrt, indem sie die 
Religion im ganzen Umkreis der menschlichen Geschichte genau 
untersucht, dieselbe in ihrem Werden in der Geschichte der Reli- 
gionen verfolgt, die verschiedenen Religionen vergleicht und auf all- 
gemeine Gesetze zurückführt. Wenn wir nun da sehen, wie die 
außerchristlichen Religionen, Brahmanismus und Buddhismus, Juden- 
tum und Islam zwar eine zähe Lebenskraft und zum Teil weite Ver- 
breitung, aber von bestimmten Zeitpunkten an keine Weiterentwick- 
lung, sondern jahrhundertelangen Stillstand zeigen, wie sie, unfähig, 
in das geschichtliche Leben der Völker einzugehen und durch Auf- 
nahme neuer Ideen sich selbst zu verjüngen, vielmehr durch ihre 
starre ünveränderlichkeit auch die Völker, die sich zu ihnen bekennen, 
zur Erstarrung, zur Unfähigkeit geschichtlichen Fortschritts, zum 
stumpfen Hinsiechen verurteilen, so spricht nach Pfleiderer die Ge- 
schichte damit selber das Urteil, daß das in diesen Religionen liegende 
Wahrheitsraoment zu einseitig und beschränkt ist, um wirklich dauer- 
hafte Lebensfähigkeit zu besitzen. Wenn dagegen die von den 
biblischen Propheten und Aposteln ausgegangene christliche Religion 
von Anfang an nicht bloß den unbeschränktesten Ausbieitungstrieb, 
sondern auch die Fähigkeit zeigte, in das Leben der verschiedenen 
Völker so einzugehen, daß sie in und mit ihnen weiterwuchs, daß sie 
die besten Elemente ihres geistigen Lebens in sich selber aufnahm, 
sich assimilierte, dadurch selbst immer reicher an fruchtbaren Ideen 
und lebenskräftigen Motiven wurde, und daß sie infolge dieser innem 
Lebensfülle auch Mängel, Mißbildungen und Erkrankungen immer 
wieder zu überwinden und zu heilen vermochte, so daß sie aus jeder 
Krisis nur immer neu verjüngt und gestärkt hervorging, so ist dies 
nach Pfleiderer die glänzendste und unwiderleglichste Apologie für 
die einzigartige Überlegenheit des Christentums über die andern Reli- 
gionen. Freilich erklärt er auch, wo die Geschichte des Christentums 



d. Otto Flügel. 33 



in der Vergangenheit eine so unbeschränkte Entwicklungsfähigkeit 
offenbart, daß es eine sehr willkürliche Annahme wäre, diese Ent- 
wicklungsfähigkeit jetzt für erloschen zu erklären; »vielmehr spricht 
alles dafür, daß dasselbe Entwicklungsgesetz, nach welchem das 
Christentum in der Vergangenheit neuen Zeitbedürfnissen zu ent- 
sprechen und sich anzupassen vermochte, auch dem Bedürfnis der 
Gegenwart gegenüber sich fernerhin wirksam erweisen werde«. So gewiß 
es ist, daß das Christentum in der Reformation den gewaltigsten Ent- 
wicklungsfortschritt gemacht hat, so gewiß ist es auch, daß es »in 
dem kirchlichen Protestantismus seine höchste und letzte Entwick- 
lungsform noch nicht gefunden hat«. Diese Überwindung des Gegen- 
satzes zwischen Katholizismus und Protestantismus ist von einem 
»künftigen johanneischen Christentum zu erhoffen«, in welchem »der 
positive Glaube und die positiven Werke ihre höhere Synthese und 
Erfüllung finden werden in der freimachenden Erkenntnis der Wahr- 
heit, welche die Gewissen auf sich selbst stellt, und in der bindenden 
Macht der Liebe, welche den einzelnen als dienendes Glied dem 
Ganzen einordnet«. 

d. Otto Flfigel. 

Otto Flügel wurde am 16. Juni 1842 in Lützen geboren, besuchte 
das Gymnasium Schulpforta bei Naumburg, studierte in Halle Theo- 
logie und Philosophie, wurde 1868 Lehrer am Progymnasium in 
Weißenfels, 1869 Diakonus in Laucha, 1871 Pfarrer in Schochwitz 
und 1883 in Wansleben bei Halle, wo er seitdem wirkt. Er schrieb 
»Der Materialismus« (1865), »Das Wunder und die Erkennbarkeit 
Gottes« (1869), »Die Probleme der Philosophie« (1876, 4. Aufl. 1906), 
»Die Seelenfrage« (1878, 3. Aufl. 1902), »Die spekulative Theologie 
der Gegenwart« (1881, 2. Aufl. 1887), »Das Seelenleben der Tiere« 
(1882, 3. Aufl. 1897), »Das Ich und die sittlichen Ideen im Leben 
der Völker« (1885, 4. Aufl. 1904), »Albrecht Kitschis philosophische und 
theologische Ansichten« (1886, 3. Aufl. 1895), »Die Sittenlehre Jesu« 
(1887, 4. Aufl. 1897), »Über die persönliche Unsterblichkeit« (1888, 
3. Aufl. 1899), »Über die Phantasie« (1892, 2. Aufl. 1895), »Abriß 
der Logik« (1894, 2. Aufl. 1901), »Der Kationalismus in der Päda- 
gogik Herbarts« (1896), »Idealismus und Materialismus der Geschichte« 
(1898), »Der Wille« (1899), »Zur Philosophie des Christentums« (1900), 
»Kant und der Protestantismus« (1900), »Die Bedeutung der Meta- 
physik Herbarts für die Gegenwart« (1902). Flügel gab außerdem 
seit 1883 mit AUihn zusammen die von Allihn und Ziller 1860 ge- 

Siebert, Reli^onsphüosophie. ^ 



34 !• Kap. Die gegenw. Hauptvertreter der Rel.-Phil. auf neukantischer usw. Basis. 

gründete »Zeitschrift für exakte Philosophie im Sinne des neuen philo- 
sophischen Kealismus« heraus (bis 1896) und redigiert seit 1894 mit 
W. Kein die »Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik«, welche vor 
allem in dem Ausbau der schon bei Herbart erkennbaren Verbindung 
von Philosophie und Pädagogik ihre Aufgabe erblickt. Außerdem ver- 
öffentlicht er jetzt eine Keihe religionsphilosophischer Monographien, 
von denen die Keligionslehren Kants, Jakobis, Drobischs und Harten- 
steins bisher erschienen sind. 

Flügels Religionsphilosophie ruht auf dem Herbartschen Eealis- 
mus, der die Vielheit und Mannigfaltigkeit des in der Natur gegebenen 
Geschehens in einer Mannigfaltigkeit der letzten Ursachen begründet 
sieht. Damit weist er zunächst den substantiellen Monismus in allen 
seinen Gestalten zurück. Die Anerkennung des Kausalgesetzes schließt 
aus »jede substantielle Umwandlung, jede spontane Entwicklung eines 
Einen im Großen wie im Kleinen, jede ursachlos nach Belieben 
waltende Lebenskraft, jedes die Erscheinungen produzierende Ich im 
Sinne des Idealismus, alle angeborenen, d. h. selbstgesetzten Ideen, 
jede Kraft ohne Ursache oder in letzter Linie ohne seiende Träger, 
jede absolute Freiheit, jeden schroffen Dualismus zwischen materiellen 
und geistigen Erscheinungen, als sei auf letztere das Kausalgesetz 
nicht anwendbar«. 

Sehen wir nun, was ihm positiv aus dieser Maxime folgtl 
Zuvörderst ergibt sich daraus der sogeuannte Pluralismus, d. h. 
die Anerkennung einer von uns unabhängigen realen Außenwelt 
Flügel gewinnt diesen Gedanken auf regressivem "Wege. Was 
uns gegeben ist, ist zunächst nur die Erscheinung im subjektiv- 
sten Sinne, nämlich die geistigen Zustände, deren wir uns bewußt 
sind, z. B. die Sinnesempfindungen. Da nun ein absolutes Werden 
nicht möglich ist, so kann die Ursache zu denselben nicht das Ich 
allein sein, denn die Annahme eines spontan wirkenden Ich oder 
rein innerer Ursachen birgt in sich den Begriff eines absoluten oder 
ursachlosen Geschehens. Wenn aber das Ich nicht für sich allein 
die Ursache der gegebenen geistigen Vorgänge sein kann, so müssen 
noch andere Ursachen vorhanden sein, welche in Wechselwirkung 
mit dem Ich jene Erscheinungen bedingen und damit ein von dem 
Ich unabhängiges Dasein haben. Derselbe Gedankengang, der zur An- 
nahme äußerer Ursachen nötigt, führt Flügel noch etwas weiter, näm- 
lich zur Voraussetzung von realen Wesen, denn Ursache ist im Grunde 
»nur ein anderer Ausdruck für Kraft«. »Was ist aber eine Kraft 
ohne Stoff, d. h. ohne realen Träger, dem sie inhäriert, in welchem 
sie wieder ihre Ursache hat? So wenig man eine Bewegung denken 



d. Otto Flügel. 35" 



kann ohne etwas, das sich bewegt, ebensowenig eine Kraft ohne realen 
Träger«. Der Gedanke einer im Leeren schwebenden Kraft birgt 
abermals den Begriff eines Geschehens ohne Ursache in sich, und 
dieser in sich widersprechende Begriff darf selbstverständlich hier so 
wenig als anderwärts geduldet werden. Ein folgerechtes und den 
Widerspruch vermeidendes Denken kann nicht eher stille stehen, als 
bis es zu dem unmittelbar Gegebenen, nämlich zu unsern Empfin- 
dungen äußere Kräfte als deren Ursachen und zu diesen Kräften 
reale Wesen als deren Träger angenommen hat, so daß alles Ge- 
gebene, also alle Erscheinung, nur relative Existenz besitzt, welche 
eben in den sie verursachenden letzten realen Wesen ihren Grund 
und Halt oder ihr absolutes Sein hat. Daß also zu den gegebenen 
Erscheinungen letzte reale Elemente als deren Bedingungen anzu- 
nehmen sind, fordert die Erkenntnis der Widersprüche im Begriffe 
des absoluten Werdens unabweislich. Darin liegt aber zugleich ein 
Fingerzeig, wie diese letzten Ursachen zu denken sind. Flügel sieht 
in ihnen mit Herbart nicht bloße Kräfte, sondern reale, für sich be- 
stehende Wesen. »Letzte oder absolute Wesen heißen sie, einmal^ 
weil wir hier als an einem Grenzpunkte unseres Denkens stehen 
bleiben können und müssen, zum andern, weil die Annahme solcher* 
Wesen vollkommen geeignet ist, um das Gewebe der erfahrungsmäßig: 
gegebenen Relationen, als welches sich uns die Erscheinungswelt dar- 
stellt, in einer dem Kausalgesetz entsprechenden Weise zu erklärenc 
Sofern diese Elemente als letzte Ursachen aufzufassen sind in dem 
Sinne, daß ein Geschehen ohne Ursache in jeder Gestalt von ihnen 
ferne zu halten ist, erscheinen sie nicht als diskret zusammengesetzt, 
sondern einfach und an sich selbst unveränderlich. Würden sie als 
etwas ursprünglich, spontan Tätiges gedacht, als ursachlose Kräfte oder 
als Wesen, behaftet mit ursprünglich wirkenden Kräften, oder sonst 
auf irgend eine Weise das Prinzip einer ursachlosen Veränderung in 
sich tragend, so hätte man eben die Allgemeingültigkeit der Kausalität 
aufgegeben und das Werden ohne Ursache zugelassen. So wenig aber 
als ein Ding sich selbst aus sich heraus aus der Ruhe zu einer Be- 
wegung bestimmen kann, ebensowenig kann ein reales Wesen sich 
selbst, d. h. ohne Ursache zu irgend einer Tätigkeit bestimmen. Hier- 
mit ist für Flügel zugleich die weitere Frage entschieden, ob nur 
ein Seiendes als Grund der uns gegebenen Erscheinungen vorauszu- 
setzen ist oder deren mehrere. Ein Wesen, das in sich selbst unver- 
änderlich ist und keinerlei Prinzipien ursachloser Wirksamkeit in 
sich trägt, bleibt, sich selbst überlassen, stets nur das, was es ist, kann 

also selbst unmöglich die tatsächlich gegebene Vielheit, Mannigfaltig-^ 

3* . 



36 1* Kap* ^13 gegenw. Hanptvertreter der BeL-Pbil. auf nenkantucher usw. Basis. 

keit und Veränderlichkeit der Natur bewirken. Folglich ist eine 
Mehrheit realer Wesen zu statuieren; und da jedes für sich, isoliert 
gedacht, sich nicht zur Tätigkeit bestimmen kann, so wird eine Ge- 
meinschaft oder Wechselwirkung der letzten Realen ein notwendiger 
Gedanke. Gesetzt nun ferner, die letzten Elemente seien alle ein- 
ander qualitativ gleich, so ist nicht abzusehen, wie eins das andere 
selbst im Falle einer unmittelbaren Berührung zur Tätigkeit bestimmen 
«eilte; denn es kann ihm nichts bieten, was nicht jedes bereits in 
sich selbst, in seiner eigenen Qualität hat. Liegt kein Grund der 
Tätigkeit in der Qualität eines Wesens für sich, so auch nicht darin, 
wenn zwei oder mehrere Wesen von ganz der nämlichen Qualität 
einander begegnen. Also nicht durchweg Gleichheit, sondern auch 
Ungleichheit, beziehungsweise Gegensatz ist unter den realen Wesen 
vorauszusetzen. Aus dem qualitativen Gegensatze mehrerer Wesen, 
4ie in unmittelbarer Berührung sich diesen Gegensatz darbieten, muß 
4as resultieren, was wir Kraft nennen. 

Diese realistische Weltanschauung empfiehlt sich nun nach Flügel 
nicht nur durch ihre Widerspruchslosigkeit, strenge Durchführung 
der einmal augenommenen Prinzipien und durch ihre Übereinstim- 
mung mit den Maximen der exakten Naturforschung, sondern auch 
4urch ihre Fruchtbarkeit bei Anwendung auf die verschiedenen ein- 
zelnen Disziplinen. Nur hinsichtlich der Theologie besteht noch viel- 
fach das Vorurteil, als sei der philosophische Realismus in dieser 
Beziehung unfruchtbar, ja als schließe er wohl gar alle religions- 
philosophischen Betrachtungen völlig aus. Aber die nähere Unter- 
suchung liefert den Beweis, daß die realistische Metaphysik eine 
nicht zu verachtende Stütze der Religion ist. Um dies zu sehen, 
sollen nun im weiteren aus den dargelegten Grundzügen des Realis- 
mus die Hauptfolgerungen in Bezug auf die Religion entwickelt werden. 

Die Aufgabe der Metaphysik wie der theoretischen Philosophie 
überhaupt ist in letzter Linie ganz dieselbe als die der Naturforschung; 
sie geht darauf aus, das Gegebene widerspruchsfrei zu erklären. In 
diesem Bestreben wurden wir zu der Annahme letzter, qualitativ 
einfacher, an sich unveränderlicher Wesen geführt, in deren Wechsel- 
wirkung die gegebenen Erscheinungen der Natur begründet sind. 
Ist hierin die Erklärung des Tatsächlichen gefunden, so ist das Ge- 
schäft der Nalurforschung wie auch der Metaphysik beendet. Letztere 
ist demnach eine völlig weltliche Wissenschaft und führt als solche, 
streng genommen, nicht auf ein außerweltliches Prinzip. Nun gibt 
es aber bekanntlich in dem Gegebenen der Natur gewisse Formen, 
welche über die Natur selbst hinausweisen, nämlich die sogenannten 



d. Otto Flügel. ST 



Zweckformen. Bei einer umfassenden Betrachtung der Natur findet 
sich eine Menge von Beziehungen, die nicht allein zweckmäßig 
scheinen, sondern auch objektiv zweckmäßig sind und zu der An- 
nahme nötigen, daß die die Welt bildenden Wesen dem allmächtigen 
Willen einer schöpferischen Intelligenz unterworfen sind. Diese An- 
nahme indes ergibt sich nach Flügel nicht als das Besultat eines- 
strengen Beweises, so daß sie ein Wissen böte in dem Sinne, daß 
das Gegenteil begrifflich in sich widersprechend, also unmöglich wäre.. 
Wohl aber liegt hier eine Wahrscheinlichkeit vor, »die so stringent 
ist, als eine solche nur immer bei dergleichen in Betracht kommen 
kann«. Mit dem umstand, daß die realistische Metaphysik den Schluß 
auf eine schöpferische Intelligenz als einen höchst wahrscheinlichen 
(dies Wort im Sinne der Mathematik verstanden) erkennt, leistet sie 
der Theologie einen doppelten Dienst, einmal, indem sie den Unter- 
schied zwischen Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit betont, und 
zum andern, indem sie die Teleologie und die sich daraus ergeben- 
den Gedanken positiv und negativ fester begründet Zwar hat es^ 
zunächst den Anschein, als böten diejenigen Systeme, welche meinen 
mit Notwendigkeit zu Gott zu führen, der Theologie mehr als der 
Eealismus, welcher hier auf eine bloße Wahrscheinlichkeit reflektiert; 
allein »jene Geschenke erweisen sich gar bald als Danaergeschenke^ 
denn alle Systeme, welche Gott und Welt als in notwendiger Be- 
ziehung stehend oder als Wechsel begriffe ansehen in der Gestalt, daß^ 
keiner derselben ohne den andern vollständig gedacht werden kann, 
führen zu einer Identität oder Vermengung beider, in welcher Gott 
aufhört, Gott zu sein, und die Welt nicht mehr Welt ist«. Diese 
Systeme müssen eine Antwort auf die Frage nach der Entstehung^ 
der Welt suchen, sie müssen die Welt als ein notwendiges Accidenz. 
oder als eine unvermeidliche Folge der Substanz Gottes erkenn ea 
lehren, und heben damit den Schöpfungsbegriff als einen freien Akt 
Gottes auf. Was jene an die Stelle der Schöpfung setzen oder so- 
nennen, ist nur noch ein begriff- und vemunftloser Wechsel von 
Zuständen eines und desselben Wesens, und es ist eine gar schlechte 
Bedeckung dieser Blöße, wenn man statt Weltschöpfung Weltzeugung 
sagt und meint, damit einen Ausdruck für die organisch sich ver- 
mittelnde Lebensmitteilung an die Welt als organisches Ganze ge- 
funden zu haben. Wird hingegen festgehalten, daß die Welt nicht 
mit Notwendigkeit zu Gott führt, so liegt unmittelbar darin, daß die 
Welt nicht eine notwendige Folge der göttlichen Substanz ist Nur 
so ist der Begriff einer Schöpfung als einer sittlich-freien Tat haltbar. 
Darum hat nach Hügel J. H. Fichte ganz recht, wenn er im Hin- 



"38 !• Kap. Die gegen w. Hanptvertreter der Rel-Phil. auf neukantischer usw. Basis. 

blick auf Herbarts Bealismus sagt, er nehme die denkbar günstigste 
Position ein, welche nur eine Philosophie zu der Theologie einnehmen 
könne ; denn indem er auf der einen Seite die Notwendigkeit leugnet, 
daß Welt und Gott einander wesentlich ergänzen, also beide sub- 
stantiell sondert, zeigt er doch auch, wie überaus wahrscheinlich die 
Annahme Gottes und dessen Verbindung mit der Welt ist. Der 
Eealismus vermag nämlich nicht aus eigenen Mitteln zu erklären, 
warum das Geschehen oder die mancherlei an sich unabhängigen 
Kräfte und Kräftekomplexe so kombiniert sind, wie sie kombiniert 
^ein müssen, um die tatsächlich gegebenen Zweckformen hervorzu- 
bringen. Hätten wir eine mit ursprünglichen Vermögen ausgestattete 
Vernunft, welche ihre eigene Idee der Zweckmäßigkeit in die äußere 
Uatur hineintrüge, oder wäre jedes Geschehen schon an sich ein 
immanent vernünftiges, dann wäre die gegebene Zweckmäßigkeit in 
^er Natur etwas, was man a priori, sogar, freilich der Erfahrung zu- 
wider, überall erwarten müßte. Aber die realistische Metaphysik 
zerstört gerade diese beiden Irrtümer, und darum muß es ihr im 
höchsten Grade unwahrscheinlich vorkommen, daß die überaus kunst- 
reich gegliederten Zweckformen, namentlich die Organismen, aus dem 
bloßen zufälligen Zusammentreffen der voneinander unabhängigen 
Weltwesen hervorgegangen sein sollten; sie wird vielmehr auf eine 
zwecksetzende Tätigkeit einer höchsten Intelligenz schließen, welche 
jene Kombinationen traf. 

Gehen wir nun auf den Wahrscheinlichkeitsschluß der Meta- 
physik ein und untersuchen wir, was sich in religiöser Beziehung 
unmittelbar aus dem Gedanken einer schöpferischen Intelligenz ergibt, 
so folgt zunächst daraus, daß Gott als eine Person, ein Ich anzusehen 
ist, welches sich Zwecke setzt, also erwägt, wählt, beschließt, und 
«eine Absichten mit einer die Welt vollständig durchschauenden 
Weisheit und vollständig beherrschenden Macht ausführt. Darin liegt, 
daß Gott einmal dem Sein nach substantiell von der Welt verschieden, 
aber nicht geschieden ist, sondern zugleich mit ihr in einem Kausal- 
nexus steht. Weiter ergibt sich aus der Art der Verbindung, welche 
die teleologischen Gedanken zwischen Gott und Welt anzunehmen 
erfordern, daß es sich hier zunächst nicht um das relationslose Sein 
der Welt handelt, sondern allein um die Welt, wie sie uns gegeben 
ist. In diesem Sinne ist ohne weiteres die Schöpfung der Welt 
durch Gott anzuerkennen, sofern er ja diese Beziehungen gesetzt hat 
So verstanden, kann man auch sagen, Gott habe die Welt aus nichts 
gemacht, sofern darunter kein absolutes, sondern ein relatives Nichts 
Terstanden wird, d. h. ein Etwas, was noch nicht in Beziehung zn 



d. Otto Flügel. 39 



andern oder noch nicht in die Erscheinung getreten ist oder noch 
nicht da ist, wie die Welt da ist So sind die an der Materie sich 
kundgebenden Kräfte, und damit das individuell bestimmte Innere 
der Wesen ein Werk Gottes; denn an sich und einzeln genommen 
ist jedes reale Wesen ohne Kraft, es schließt aber zahllose Möglich- 
keiten verschiedener Kräfte in sich, die es äußern könnte und müßte, 
wenn andere, ihm qualitativ entgegengesetzte Elemente mit ihm zu- 
sammenträfen. Ist nun dieses Zusammentreffen als von Gott geordnet 
anzusehen, so ist er Schöpfer aller Substanzen, Kräfte und der daraus 
resultierenden Bewegungen, und man darf sagen, vor der Schöpfung 
ruhte die Welt als Plan in Gottes Verstand, wenn man will poten- 
tiell: durch seinen Willen trat nach Leibnizens Ausdruck die mög- 
lichst beste Welt in das Dasein. 

Alles in allem: die Frage, ob es eine philosophische Gottes- 
erkenntnis gibt oder nicht, wird von Flügel dahin beantwortet, daß 
Gott nicht erkennbar ist wie ein Objekt, welches der Anschauung 
vorliegt, noch so, wie wenn die bewußte oder unbewußte Natur mit 
mathematischer Gewißheit zu ihm hinführte; wohl aber können die 
Existenz und gewisse Eigenschaften Gottes mit einer solchen Wahr- 
scheinlichkeit erschlossen werden, daß man darauf eine Art von 
natürlicher Eeligion zu gründen vermag; man kann also von einer 
natürlichen oder philosophischen Gotteserkenntnis reden, indem da- 
runter die Gesamtheit der Bestimmungen über Gott verstanden wird, 
welche sich unmittelbar oder mittelbar aus den teleologischen Be- 
trachtungen über die Natur ergeben. 

Außer der philosophischen Gotteserkenntnis wird nun noch eine 
andere Art der Gotteserkenntnis behauptet, wie solche die Offen- 
barung gewährt. In welchem Verhältnis stehen nach Flügel die 
beiden zueinander? 

Die Annahme einer Offenbarung als einer übernatürlichen Mit- 
teilung wird für Flügel in allen den Systemen unmöglich zugelassen 
werden können, welche entweder wissentlich oder ohne ihr Wissen 
Übernatürliches überhaupt ausschließen. Ebensowenig ist ihm die 
Annahme einer Offenbarung möglich in einem System, welches die 
causa transiens in jeder Form verwirft, und nach welchem alle Vor- 
stellungen nicht von außen, auch nicht unter Mitwirkung der Sinnes- 
werkzeuge, sondern lediglich von innen, aus dem eigenen Fonds der 
Seele kommen sollen. Da nun Gott selbst nicht der Grund oder die 
Substanz unserer Seele sein kann, wenn der Pantheismus mit seinen 
Widersprüchen vermieden werden soll, so ist auch, wie jede Beleh- 
rung und Erfahrung von außen, ein Einwirken Gottes auf die mensch- 



40 1- Kap. Die gegen w. Hanptvertreter der Rel.-Phil. auf neukantischer usw. Basis, 

liehe Seele unmöglich. Für Leibniz war daher eine Offenbarung 
nur insofern möglich, als er annahm, Gott habe von Anfang an die 
Seele gewisser Menschen so eingerichtet, daß zu einer bestimmten 
Zeit gewisse Gedanken mit der unmittelbaren Gewißheit, Gottes 
Offenbarung zu sein, aufstiegen. Allein eben jenes anfängliche Ein- 
richten der menschlichen Seele weist doch offenbar auf ein Ein- 
wirken Gottes auf jene Seelen, also auf eine causa transiens und 
damit auf eine Abweichung von der ursprünglichen Annahme des 
Systems hin. Auf eine ähnliche Meinung, als könne der Mensch 
nur aus sich selbst heraus Wahrheiten entwickeln und zwar so, daß 
diese Wahrheiten auch vor ihrer bewußten Entwicklung, wenn schon 
latent in unserer Seele gelegen hätten, deutet nach Flügel der Aus- 
spruch Fries': »In Kücksicht der philosophischen Ausbildung unter- 
scheidet sich der ausgebildetste Philosoph vom rohen Verstände nicht 
durch Erweiterung seines Wissens, sondern nur durch logische Deut- 
lichkeit einer Form der Erkenntnis, welche in jeder Vernunft die- 
selbe ist, durch eine Verdeutlichung, welche nur dem Refiexions- 
vermögen zukommt«. Diese Behauptung, welche für Flügel nicht 
nur jede Offenbarung, sondern auch alle wahre Spekulation aus- 
schließt, hängt ihm auf das Innigste zusammen mit dem Eantischen 
Vorurteil, daß die Formen der Anschauung, die Kategorien des 
Verstandes und die Ideen der Vernunft eine dem menschlichen Ge- 
müte ursprüngliche Mitgift seien, welche nur durch die äußere Er- 
fahrung angeregt und belegt würden. Gesetzt, es wäre also, und es 
träte eine Offenbarung an eine so ausgestattete Seele heran, so ver- 
möchten die Kategorien die Offenbarung entweder überhaupt nicht 
aufzufassen, oder wir fassen sie wie alle Erfahrung in die Rahmen 
der angeborenen Kategorien. Damit würde aber aller Wert einer 
Offenbarung verloren gehen, indem jene subjektiv-menschlichen Auf- 
fassungsweisen keine objektive Erkenntnis darbieten, und auf eine 
solche ist es doch eben bei einer Offenbarung abgesehen. Für eine 
Offenbarung ist es daher wesentlich, daß sie als Belehrung von 
einem Wesen herrührt welches ein anderes ist als der Empfänger, 
also daß sie von außen an uns kommt, sodann, daß die dargebotene 
Mitteilung als das aufgefaßt werden kann, was sie enthält, und nicht 
durch subjektive Aneignung verändert und unsern Begriffen assimi- 
liert werden muß. Die Voraussetzungen für die subjektive Möglich- 
keit einer Offenbarung sind eine selbständige Seele und in derselben 
ein Denkprozeß, der sich an die Qualität des Gegebenen bindet und 
sich selbst aus der Auffassung der Dinge erzeugt. Auf Flügels 
Standpunkt, welcher die Identität Gottes und des Menschen, die aus- 



d. Otto Flügel. 41 



schließliche Geltung der causa immanens und angeborene, sich selbst 
entwickelnde Ideen oder irgendwelche Vermögen, welche aus sich 
selbst erzeugen, leugnet, ergibt sich daher die Möglichkeit einer 
Offenbarung von selbst. 

Mit der Meinung von den angeborenen Ideen hängt nun nach 
Flügel auch die Ansicht zusammen, als sei der Inhalt der Vernunft 
ein Maßstab für die Beurteilung der Offenbarung. Diese Ansicht ist 
ihm ganz unvermeidlich, wo man die Vernunft als ein produktives 
Eeligionsvermögen ansieht, als ein Inventarium fertiger religiöser 
Ideen. Man erlangt dadurch allerdings den Vorteil, daß ein Kon- 
flikt zwischen den Aussagen des Gottesbewußtseins und der Offen- 
barung nicht stattfinden kann, sofern das erstere geschmeidig genug 
ist, sich allen anzupassen. Indes liegt hier der Fehler in der An- 
nahme angeborener Ideen. Wer über psychologische Dinge einiger- 
maßen aufgeklärt ist, dem ergibt sich nach Flügel von selbst, daß 
die Yernunft kein produktives Vermögen, ebensowenig ein Inven- 
tarium fertiger oder sich von selbst entwickelnder religiöser Ideen 
sein kann, sondern daß man darunter nur ein formales Vermögen 
verstehen darf, welches Gründe und Gegengründe abwägt und danach 
entscheidet. Wenn nun der Inhalt der Offenbarung von der Art ist, 
daß er mit Vernunftwahrheiten kollidiert, so daß Widersprüche ent- 
stehen, wem ist dann der Vorzug zu geben? 

Die Widersprüche können von dreierlei Art sein: entweder die 
Aussage der Vernunft steht mit einer der Offenbarung, oder mehrere 
Aussagen der letztem stehen untereinander in Widerspruch, oder die 
Offenbarung enthält Begriffe, die in sich selbst widersprechend sind. 
Das Wesen dieser Widersprüche besteht darin, daß von einem und 
demselben Subjekt zwei Prädikate ausgesagt werden, welche zugleich 
einem Subjekt nie zukommen können, sondern sich gegenseitig aus- 
schließen. Werden dergleichen Widersprüche gemacht, oder ent- 
stehen sie durch Mangel an einer leicht vorzunehmenden Distinktion 
im Denken, oder bei ungenauer Auffassung des Gegebenen, so sind 
sie im ersten Falle ohne weiteres zu verwerfen, in dem andern 
fordern sie das Denken oder Beobachten zu einer genauen Kevision 
seiner selbst auf. Sieht man sich aber bei aller Genauigkeit des- 
Denkens oder Beobachtens dennoch genötigt, einem Subjekt ein Prä- 
dikat beizulegen, welches vom Begriff des Subjekts selbst ausge- 
schlossen wird, so entsteht ein wissenschaftliches Problem: gewisse 
Begriffe oder Sätze müssen auf das Geheiß der Erfahrung oder einea 
exakten Denkens als sicher festgehalten werden, während sie doch 
als undenkbar erscheinen. Von dieser Art sind die metaphysicheu 



42 1- Kap. Die gegenw. Hauptvertreter der ReL-Phil. auf neukantischer usw. Basis. 

Probleme. Die Lösung solcher Probleme besteht darin, daß gezeigt 
wird, nicht die Dinge selbst sind in sich widersprechend, als viel- 
mehr unsere Begriffe, in welchen wir sie nicht umhin können aufzu- 
fassen. Diese Widersprüche aus unsem Begriffen hinwegzuschaffen, 
ist die 'Aufgabe der verschiedenen Wissenschaften, und es geschieht 
•dies in der Regel durch die Erkenntnis, daß unsere Begriffe noch 
unvollständig sind und nur durch Hinzunahme von gewissen Er- 
gänzungsgedanken von den innern Widersprüchen befreit werden. 
So sieht sich die allgemeine Metaphysik genötigt, das Gegebene, um 
^s widerspruchsfrei zu denken, zu überschreiten und zu den allge- 
meinen Erscheinungsformen letzte, einfache, reale Wesen, zu der ge- 
gebenen Veränderung eine sie hervorbringende Ursache anzunehmen. 
Nun haben nach Flügels Voraussetzung die Begriffe oder Aussagen 
der Offenbarung dieselbe Gewißheit wie die der Erfahrung. Sollten 
«ich also Widersprüche in der Offenbarung oder zwischen ihr und 
der Erfahrung herausstellen, so müssen diese Widersprüche not- 
wendigerweise lösbar sein und können nur darum als Widersprüche 
erscheinen, weil wir die nötigen Ergänzungsgedanken noch nicht 
gefunden haben. So wenig die Veränderung aufhört, wirklich zu 
sein, weil ihr Begriff in sich widersprechend ist, so wenig ist man 
berechtigt, die Sicherheit der Offenbarung darum in Zweifel zu 
ziehen, weil sich gar manches Unbegreifliche in ihr findet Gott ist 
aber für uns nicht ein Gegenstand der Anschauung und auch der 
offenbarte Gott nicht der offenbare, so daß die Ergänzungsgedanken, 
welche erforderlich sind, um das Unbegreifliche denkbar zu machen, 
wenn sie nicht ausdrücklich in der Offenbarung enthalten sind, von 
uns überhaupt nicht oder doch nur mit großer Unsicherheit gefunden 
werden können. 

Muß man also wissenschaftlich bei dem Inhalt einer bestimmten 
Offenbarung, selbst wenn eine solche für uns zum Teil Wider- 
sprechendes enthalten sollte, stehen bleiben, und wird vorausgesetzt, 
daß die Data der Erfahrung wie der Offenbarung, auf denen unsere 
Erkenntnis Gottes beruht, sich nicht erweitem, so ist für Flügel 
damit auch die Frage nach der Vollkommenheit der Keligion hin- 
sichtlich ihres intellektuellen Charakters leicht entschieden: im all- 
gemeinen kann man sagen, »von der übersinnlichen Welt wissen wir 
nicht mehr, als uns der Herr derselben offenbar gemacht hat«. Und 
nun nimmt ihm in dieser Hinsicht Jesus Christus die erste Stelle 
ein, sofern er für sich eine absolute Kenntnis Gottes und göttlicher 
Dinge in Anspruch nahm. Hatte er dazu ein Recht, verdient er 
hierin Glauben? Um dafür einen Beweis zu führen, ist zunächt zu 



d. Otto Flügel. 43 



bestimmen, daß er wirklich Äußerungen, eine absolute Gotteserkenntnis 
betreffend, getan hat. Dies ist Flügel eine Frage der historischen 
Kritik; sie hat zuerst die Evangelien nach ihrer Glaubwürdigkeit zu 
prüfen. Nach dem Standpunkt der heutigen neutestamentlichen 
Untersuchungen hält es Flügel für ein sicheres Ergebnis, daß jene 
Berichte historischen Glauben verdienen, zumal auch in Bezug auf 
die Äußerungen Jesu über seine mindestens übermenschliche Kenntnis 
Gottes. Aus der Tatsache solcher Äußerungen folgt natürlich noch 
nicht, daß diesen Erklärungen ohne weiteres Glauben beizumessen 
sei. Ob diese Erklärungen daher auf Wahrheit oder auf Täuschungen 
beruhen, kann ihm nur eine Untersuchung über den sittlichen Cha- 
rakter Jesu entscheiden. Wenn nun irgend etwas feststeht, so ist es 
nach Flügel die moralische Eeinheit und damit die Glaubwürdigkeit 
Jesu. Flügel eignet sich hier die Worte Plancks an: »Es ist ein Ver- 
brechen an der beleidigten Menschheit oder Hochverrat an dieser, 
ihm nicht zu glauben, denn alles, was uns der Natur unserer Seele 
nach durch eine sittliche Nötigung zum Glauben verpflichtet, tritt 
hier in einem Grade und mit einer Stärke ein, wogegen nur ein 
vorsätzliches Widerstreben stattfinden kann, da» uns eine wahre Ver- 
schuldung zuziehen kann. Die Klarheit des Verstandes Jesu, die 
Schärfe des Urteils, die Tiefe des Nachdenkens, die Eeinheit der 
Phantasie und dabei die Kühe, die Besonnenheit und die Umsicht 
im Forschen, die wir fast in jedem seiner Vorträge und Aussprüche 
und in noch höherem Grade in dem Ganzen seines Plans bewundern 
müssen, diese verbürgen uns doch gewiß, soweit es bei Meuschen 
möglich ist, daß bei ihm in Ansehung desjenigen, was sich ihm als 
Wahrheit bewährt hatte, am wenigsten eine Selbsttäuschung möglich 
war; die Heiligkeit aber seines Charakters macht es noch viel weniger 
denkbar, daß er jemals aus irgend einer Absicht Irrtum für Wahrheit 
hätte geben können, oder Irrtum unter dem Scheine der Wahrheit 
hätte verbreiten wollen. Es ist also kein Scheingrund vorhanden, 
der uns zu einem Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit berechtigen 
könnte«. — 

Wir verkennen nicht den Ernst und die Tiefe dieser Flügeischen 
Eeligionsphilosophie; sie gehört jedenfalls zu dem Besten, was hier 
neuerdings geleistet ist, wie denn Flügel fraglos der gegenwärtig geist- 
reichste Vertreter der Herbartschen Schule ist. Dennoch scheint sie 
uns zwei Schwierigkeiten nicht zu beseitigen. Wie sollen wir die 
ursprüngliche Selbständigkeit der ungewordenen Eealen mit ihrer 
Abhängigkeit von der ordnenden und regierenden Tätigkeit Gottes 
zusammenreimen? Wie sollen die schlechthin einfachen Eealen, die 



44 1. Kap. Die gegenw. Hanptvertreter der Rel.-Phil. auf neukantischer usw. Basis. 

keiner Veränderung, also auch keiner äußern Einwirkung fähig sind, 
von Gott zur zweckmäßigen Ordnung bestimmt werden? Sofern ihnen 
ursprüngliche Bewegung zukommen soll, kann diese nicht von Gott 
aufgehoben und abgeändert weiden, weil dies eine Wirkung auf die 
Eealen und also eine Änderung in ihnen wäre; sofern aber diese 
ursprüngliche Bewegung doch eigentlich keine wirkliche Bewegung 
der Eealen selbst, sondern nur die zufällige Ansicht von ihren gegen- 
seitigen Störungen und Selbsterhaltungen sein soll, so würde dann 
die zweckvolle Gruppierung derselben allerdings keine Änderung an 
ihnen, sondern an der Ansicht ihres Betrachters sein, und da dieser 
ursprüngliche Betrachter eben nur Gott selber wäre, so kämen wir 
also, wie schon Pfleiderer richtig erkannt hat, auf eine von Gott 
selbst in Gott bewirkte Änderung seiner Ansicht der Eealen hinaus, 
ein Gedanke, der aber schon an Herbarts entschiedener Verwerfung 
aller Selbstbestimmung oder des causa-sui-Seins scheitert. Und dabei 
stoßen wir auf eine weitere Schwierigkeit: wie sollen wir eine außer- 
weltliche selbständige Intelligenz Gottes mit den Grundbestimmungen 
der Herbartschen Psychologie reimen, nach denen die Intelligenz 
erst aus der ursprünglich inhaltslosen Seele durch ihre Selbsterhaltung 
gegenüber anderen Eealen zu stände kommt? Es ist ja ein Kardinal- 
satz Herbarts, daß die Seele als einfaches Wesen nicht an sich vor- 
stellende Kraft sei, sondern die Vorstellungen ihr nur zukommen 
durch ihre äußeren Beziehungen zu andern Eealen, und zwar näher 
zu solchen, welche mit ihr bereits in demjenigen zweckmäßigen 
Gruppierungsverhältnis stehen, das wir Organismus nennen. Da nun 
von Gott als einfachem Seelenwesen dasselbe gelten muß, so kann 
auch er seine Vorstellungen nur durch zweckmäßige Beziehungen zu 
andern Eealen erhalten haben, woraus folgt, daß diese Zweckmäßig- 
keit nicht erst von ihm bewirkt sein kann, weil er, um sie zu be- 
wirken, schon vor ihr in sich selbst die Zweckvorstellungen hätte 
haben und diese also spontan aus sich hätte erzeugen müssen. Ist 
aber die Zweckmäßigkeit nicht von Gott geordnet, so ist damit der 
ganze teleologische Gottesbeweis, auf welchem die objektive Gültigkeit 
der Gottesidee ruhen sollte, wieder hinfällig geworden. 



2. Kapitel. 

Die gegenwärtigen Hauptvertreter der Religionsphilosophie 

auf philosophisch neuer Basis. 

a. Einführung. 

Die Erkenntnis, daß eine Basierung der Keligion auf eines der 
früheren philosophischen Systeme eine wirkliche Fundierung derselben 
nicht gewährt, führte zum Aufsuchen neuer Wege. Die wichtigsten 
Forscher in dieser Hinsicht sind heute Kudolf Eucken, dessen Ge- 
danken Gustav Claß und Ernst Tröltsch nicht ferne stehen, Hermann 
Siebeck, Günther Thiele, August Dorner, Georg Kunze, Franz Mach 
und Julius Baumann. 

Euckens Philosophie begründet die Eeligion in letzter Hinsicht 
in einer alles menschliche Dasein überragenden Welt, die ihm als 
jene überlegene Macht erscheint, welche alle Wirklichkeit trägt, alle 
Mannigfaltigkeit zusammenhält und die beständig tätige Wurzel des 
menschlichen Lebens bildet. Die verschiedenen Lebensordnungen, 
zumal die Keligion und Moral erscheinen hier als eine Auseinander- 
legung der Geisteswelt für die Wirklichkeit des Menschen, d. h. als 
verschiedene Stufen, die gegeneinander eine selbständige Bedeutung 
haben, sich aber fortwährend ergänzen müssen, und zwar unter be- 
ständiger Beziehung auf die begründende Geisteswelt, um ihr Kecht 
und ihre Bedeutung behaupten zu können, die neue Weltordnung 
selbst aber ist nicht möglich ohne das Wirken einer allem mensch- 
lichen Vermögen überlegenen Gottheit. In ähnlicher Weise sieht 
Gustav Claß die wahre Wirklichkeit im Geist, d. h. in der Ver- 
bindung von Denken (mit der ihm eigenen praktischen Wahrheits- 
tendenz, aus welcher alle herrschenden Gedankensysteme hervorgehen) 
und menschlichem Ich, das trotz seiner »Naturhaftigkeit« auf die 
Forderungen des Gedankensystems reagiert; die Einheit aber von ab- 



46 2. Kap. Die gegenw. Haupt Vertreter d. ReL-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

solutem Denken und absolutem Ich ist ihm von Ewigkeit zu Ewigkeit 
Gott. Auch Tröltschs Verwandtschaft mit Eucken zeigt sich besonders 
in der Anerkennung eines allem seelischen Mechanismus überlegenen 
Geisteslebens, wobei er den Kernpunkt der Religionsphilosophie in 
der psychologisch -erkenntnistheoretischen Analyse des religiösen Be- 
wußtseins sieht im Sinne eines Kritizismus, der ihm dahin fortzu- 
bilden ist, daß er für die Grundbegriffe aller aktuellen Religion, d. h. 
für die Begrife der Inspiration und Offenbarung, Raum gewinnt. Ur- 
sprünglich der Herbartschen Richtung zugehörig, kam Hermann Sie- 
beck später zu der Einsicht, daß Herbarts psychologische Begründung 
der Erkenntnisfunktionen die Allgemeingültigkeit derselben nicht 
deutlich macht, worauf dann für ihn der Grundgedanke der Kant- 
schen transcendentalen Ästhetik und Logik sowie die Lehre vom Pri- 
mat der praktischen Vernunft maßgebend wurde. Der Umstand aber, 
daß von ihm bei Kant die Bezeichnung des wirklichen Einheits- 
punktes für das Verhältnis der praktischen zur theoretischen Ver- 
nunft und außerdem die Berücksichtigung des Entwicklungsgedankens 
vermißt wurde, gab ihm den Anlaß zum selbständigen Weiterdenken 
des bei Kant vorliegenden Grundproblems über Wissen und Glauben 
und zwar an der Hand des Begriffs der Persönlichkeit in Ver- 
bindung mit dem der Entwicklung. Wie bei Siebeck, so spielt auch 
bei Thiele die Persönlichkeit eine große Rolle. Alle Wahrheit gipfelt 
für Thiele in der Religionsphilosophie und findet ihren endgültigen 
Abschluß in dem Begriff der Persönlichkeit. Da aber der eigent- 
liche Kern in diesem Begriffe das Selbstbewußtsein ist, bezeichnet 
Thiele seine Religionsphilosophie als Philosophie des Selbstbewußtseins. 
Auch Dorner nähert sich in erkenntnistheoretischer Beziehung der 
Kantischen Philosophie, geht aber in metaphysischer Hinsicht weit 
von Kant ab; die Metaphysik endet auch ihm in der Gotteserkenntnis. 
Die religiösen Begriffe haben ihren Grund in dem Bewußtsein 
der absoluten Abhängigkeit, das ein Bewußtsein von der uns 
tragenden, auch unsere Freiheit ermöglichenden Allmacht ist 
und auch ein objektives Erkennen der göttlichen Wahrheiten er- 
möglicht. Georg Runzes Lieblingsgedanke ist der Gedanke der Mit- 
wirkung der Sprache bei allen, auch den religiösen Vorstellungen. 
Unser ganzes Denken ist einerseits zwar durch die metaphorische 
und mythenbildende Natur der Sprache bedingt, andrerseits aber er- 
fährt die dadurch begründete Skepsis insofern eine Einschränkung, 
als die Fähigkeit der Sprache, Probleme zu formulieren, nicht wesent- 
lich weiter reicht als ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen; soweit unser 
Bedürfnis geht, über den Rahmen der sinnlichen Wahrnehmung und 



b. Hudolf Eucken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 47 

der verstandesmäßigen Formalbegriffe hinaus im Ernst Probleme zu 
formulieren, soweit ist auch die Möglichkeit des problemlösenden Ur- 
teils gegeben. Hierdurch wird nach Bunze der allem Willen zur 
Wahrheit voraufgehende Glaube an die Möglichkeit des Erkennens 
bestätigt, und in diesem Punkte berührt sich die Philosophie mit der 
Keligion. Während endlich Franz Mach trotz aller intellektuellen 
Skepsis schließlich einen strikten Theismus verficht, kommt Baumann 
mehr zu einem gewissen Deismus, sofern ihm die Gleichförmigkeiten 
und Aufeinanderbezogenheiten des Wirklichen den Gedanken einer 
einheitlichen Ursache erzeugen, die ihm als mathematisch-mechanische 
Intelligenz erscheint, welche die Wirklichkeit ewig schafft und erhält 

b. Rudolf Eucken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 

Rudolf Eucken wurde am 5. Januar 1846 zu Aurich geboren, 
studierte 1863 — 67 in Göttingen und Berlin Philosophie, Geschichte 
und Philologie, wirkte 1867 — 71 als Gymnasiallehrer, ging 1871 als 
ordentlicher Professor der Philosophie nach Basel und 1874 in gleicher 
Stellung nach Jena, wo er noch heute lehrt und infolge seiner glän- 
zenden Lehrtätigkeit und vorzüglichen Darstellungskunst jährlich zahl- 
reiche Schüler des In- und Auslandes um sich zu sammeln weiß. 
Von seinen vielen Schriften nennen wir die Arbeiten über Aristoteles 
»De Aristotelis dicendi ratione« (1866), »Über den Sprachgebrauch 
des Aristoteles« (1868), »Über die Methode und die Grundlage der 
aristotelischen Ethik« (1870), »Die Methode der aristotelischen 
Forschung« (1872) und »Über die Bedeutung der aristotelischen Philo- 
sophie für die Gegenwart« (1872), femer »Über den Wert der Geschichte 
der Philosophie« (1874), »Geschichte der philosophischen Termino- 
logie« (1879), »Über Bilder und Gleichnisse in der Philosophie« 
(1880), »Zur Erinnerung an Ch. Krause« (1881), »Die Philosophie 
des Thomas von Aquino und die Kultur der Neuzeit« (1886), »Bei- 
träge zur Geschichte der modernen Philosophie, vornehmlich der 
deutschen« (1886), »Geschichte und Kritik der Grund begii ff e der 
Gegenwart« (1878, 3. Aufl. unter dem Titel »Geistige Strömungen der 
Gegenwart« 1904), »Prolegomena zu Forschungen über die Einheit des 
Geisteslebens« (1885), »Die Einheit des Geisteslebens in Bewußsein 
und Tat der Menschheit« (1888), »Die Lebensanschauungen der 
großen Denker« (6. Aufl. 1905), »Der Kampf um einen geistigen 
Lebensinhalt« (1896), »Das Wesen der Religion« (1901), »Der Wahr- 
heitsgehalt der Religion« (2. Aufl. 1905), »Thomas von Aquino und 



48 2* ^&P* ^^6 gegenw. Hauptvertreter d. Bei. -Phil, auf philosophisch neuer Basis. 

Kant, ein Kampf zweier Welten« (1901), »Gesammelte Aufsätze zur 
Philosophie und Lebenserfahrung» (1903). 

Wenn wir in der Einleitung von dem Wiederaufschwung der 
Eeligion in der Gegenwart sprachen, so daß auch die Philosophie, 
die alte Feindin der Religion, heute ernstlich bemüht ist, ihr die Bahn 
frei zu machen, so ist das hervorragendste Beispiel dafür die Arbeit 
Eudolf Euckens. Seine Gedanken sind wie wenig andere geeignet, 
der Religion die wissenschaftliche Stütze zu gewähren, deren sie be- 
darf, um nicht als Illusion und Wahngebilde, sondern alse ine reale 
Tatsächlichkeit und Lebensmacht bestehen zu können. Sehen wir 
uns seine Religionsphilosophie darum etwas genauer an ! 

Eine Untersuchung des Lebensprozesses in der Richtung auf das 
religiöse Problem muß sich nach Eucken zunächst die Frage vorlegen, 
ob derselbe ein einheitliches Ganze bildet, oder ob er wesentliche 
Unterschiede in sich aufweist. Dabei beweist ihm jede vorurteilsfreie 
Betrachtung, daß unser Leben zwei Seiten in sich schließt, die 
Seiten Natur und Geist. Die sichtbare Natur, aus der unser Leben 
hervorwächst, hat sich der neuern Wissenschaft als ein ins Unermeß- 
liche verlaufendes Gewebe von lauter einzelnen Elementen dargetan. 
Diese Elemente kommen nur zusammen, indem sie sich von außen 
berühren; ein inneres Teilhaben aneinander ist nicht möglich und 
denkbar. Ebenso wird auch das menschliche Handeln zunächst von 
der Selbsterhaltung und Selbsterhöhung des Einzelwesens getrieben, 
unser Leben schöpft seinen Inhalt zunächst aus den äußeren Be- 
ziehungen und Berührungen, es ist nichts anderes als ein Verkehren 
mit der Umgebung, und was innerlich heißt, ist nur ein Nieder- 
schlag dessen, was an der Berührungsfläche entstand. Wie aber 
dieser Zustand an die Berührung gebunden bleibt, so sind auch die 
Dinge nicht jenseit der Berührung zugänglich; was sie darüber hinaus 
bei sich selbst sein mögen, davon können wir nichts wissen. Aber 
dennoch, mag diese Art des Lebens die geschichtlichen Anfänge des 
Menschen fast ganz beherrscht haben und auch heute noch den 
Durchschnitt beherrschen, es entwickelt sich neben ihr ein anderes 
Sein mit neuer Gestalt und Richtung. Allenthalben erscheinen 
Weiterbildungen und Wandlungen und führen zu einer wesentlich 
höheren Stufe. So wird z. B. das menschliche Tun nicht gänzlich 
von der Selbstbehauptung festgehalten, sondern auch darüber hinaus 
auf das Wohl anderer gerichtet. Innere Zusammenhänge mensch- 
licher Gemeinschaft entstehen und vermögen das Individuum bis zur 
völligen Aufopferung für ihre Zwecke zu gewinnen. In Kunst, Wissen- 
schaft, Recht, Technik usw. erwachsen große Zusammenhänge und 



b. Rudolf Eucken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 49 



zwingen den Menseben in ihren Dienst. Solche Macht könnte ein 
Ganzes nun und nimmermehr gewinnen, ließe uns nicht eine Ver- 
änderung im innem Gewebe der Seele aus dem Ganzen denken und 
leben. Eine innere Vergegenwärtigung jener Zusammenhänge muß 
möglich sein, der Gedanke eines Ganzen muß die Mannigfaltigkeit 
umfassen und das bloße Aggregat in ein System verwandeln. So er- 
weist es in Wahrheit der Aufbau einer zusammenhängenden Ge- 
dankenwelt, eine durchgehende Organisation der Kultur. 

Wichtiger noch ist die Tatsache, daß sich der Lebenspiozeß der 
bloßen Berührung mit den Dingen entwindet, indem er sowohl das 
Seelenleben in sich selbst vertieft als auch über die bloße Erscheinung 
hinaus zam Wesen der Dinge strebt Das innere Leben schließt sich 
immer mehr zu einer Einheit zusammen, verfolgt eigene Bahnen 
und übt eine Gegenwirkung gegen die äußeren Eindrücke. Zum 
bloßen Geschehen an uns geseilt sich nunmehr ein Handeln aus 
eigener Entscheidung, und die Menschheit entwickelt gegenüber dem 
Eeich der Natur ein eigenes Reich, das Reich der Kultur. Ein ge- 
meinsames Geistesleben umspannt hier alle Verzweigung und bietet 
dem Menschen ein neues, naturüberlegenes Dasein, Und damit, daß 
der Lebensprozeß das scheinbare Jenseits in sich aufnimmt, erheben 
sich neue Größen und Güter; so das Problem der Wahrheit, so 
gegenüber dem Nützlichen und Angenehmen das Gute. Es entwickelt 
sich weiter eine andere Art seelischer Tätigkeit, eine Verschiebung 
des Lebens ins Gedankenhafte, Unsinnliche, Ideelle; ja es erfolgt eine 
Umkehrung, indem jene Gedankenarbeit sich für das Frühere und das 
Begründende erklären muß, während das Sinnliche an die zweite 
Stelle rückt und zu einer Außenseite des Lebens herabsinkt. Diese 
Begründung des Lebens auf den Gedanken ist zugleich ein Gewinn 
an Durchsichtigkeit und Freiheit. Wohl übt der Gegenstand, den 
wir an uns ziehen möchten, gegen uns einen starken Zwang, aber 
derselbe wirkt nicht mit physischem Drucke, sondern nur durch die 
eigene Tätigkeit der Anerkennung hindurch; er bestätigt die Freiheit, 
indem er sie aufzuheben scheint. Auch der Gedanke der Pflicht ist 
unvollziehbar ohne ein Aufnehmen der sittlichen Ordnung in das 
eigene Wollen. Dieses aber weist uns auf Ziele, die wir erreichen 
wollen, bildet Jenseit aller subjektiven Kraft geistige Werte und ver- 
wandelt unser Leben in eine fortwährende Aufgabe, in ein großes 
Problem. So sei uns darüber kein Zweifel mehr, daß unser Seelen- 
leben nicht bloß eine von der Natur überkommene Bewegung weiter- 
führt, sondern daß es eine neue Art der Wirklichkeit zu er- 
kennen gibt. 

Siebert, Beligionsphilosophio. ^ 



50 2. Kap. Die gegenw. Hanptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

Das Zusammentreffen zweier Stufen innerhalb eines Daseins be- 
sagt an sich noch keinen Widerspruch, derselbe würde erst entstehen, 
wenn zwischen beiden Verwicklungen und Konflikte ausbrächen. 
Das aber ist tatsächlich der Fall. Das geistige Leben gibt sich al& 
das Überlegene und zur Herrschaft berufene; in Wirklichkeit aber 
wird es vielfach zurückgedrängt und muß dem naturhaften Platz 
machen; es bleibt z. B. beim Menschen an die Natur gebunden und 
scheint sie als ein bloßer Anhang zu begleiten. Das Kulturleben ist 
gewiß nicht ohne Moral, ohne Selbstlosigkeit und Opferwilligkeit, die 
gemeinsamen Einrichtungen halten große Ziele vor, und im gesell- 
schaftlichen Zusammensein pflegen wir uns beständig gegenseitiger 
Teilnahme, Liebe und Hochachtung zu versichern. Aber wer das 
alles für Wahrheit nimmt, den pflegt das Leben bald zu enttäuschen,, 
die vermeintlichen Goldstücke erweisen sich als bloße Rechen- 
pfennige. Was Lebenserfahrung heißt, ist im Grunde nur ein Er- 
kennen jenes Scheins. Das eigene Interesse ist die treibende Kraft 
des Lebens; sie gewinnt die Individuen nicht durch eine Vorhaltung 
hoher Ziele jenseit ihrer Lebenskraft, sondern durch Vorteile, welche 
sie ihnen verheißt, und durch Nachteile, die sie ihnen androht. Ge- 
wiß ist unbestritten, daß in einzelnen großen Augenblicken Individuen 
und ganze Völker eine selbstlose Gesinnung und eine herrische Auf- 
opferung gezeigt haben. Aber enthält nicht der Umstand, daß jene 
Leistungen als etwas Wunderbares gepriesen und als etwas fast Über- 
menschliches angestaunt wurden, das vernichtendste Urteil über den 
Durchschnitt der menschlichen Verhältnisse ? Und wie im moralischen 
Gebiet ist es auch mit den Aufgaben des Menschen in Staat und 
Geseilschaft, in Kunst und Wissenschaft. Das Streben des Durch- 
schnitts geht allenthalben nicht auf die Sache, sondern auf die dem 
Individuum daraus erwachsenden Vorteile. 

Nicht anders ist es, wenn wir das geistige Vermögen des. 
Menschen in Betracht ziehen. Das sinnliche Vorstellen verfolgt uns^ 
in alle Begriffe. Mit wieviel Mühe und Eifer hat von jeher die 
Keligion reine Begriffe vom Göttlichen erstrebt, und wie sehr hat sie 
dabei immer von neuem die Schranken unseres Vermögens empfinden 
müssen. Das menschliche Erkennen erreicht hier nicht mehr als ein 
bloßes Gleichnis, d. h. der Mensch bleibt immer in seinen mensch- 
lichen Vorstellungskreis gebannt. Was aber vom Begriff, das gilt 
von der Erkenntnis überhaupt. Wir dringen nirgends bis in die 
Dinge hinein. Womit wir uns beschäftigen, sind nie die Dinge,, 
sondern nur unsere Vorstellungen, die Bilder von den Dingen. Es 
steht zwischen uns und der Wirklichkeit als ein unüberwindliches. 



i 



b. Rudolf Kaftan und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 51 

Hemmnis unser eigener Gedanke. Daher war auch allen tieferen 
Denkern das schwerste der Probleme der eigene Begriff der Wahr- 
heit; sie nahmen die Frage nach ?[der Möglichkeit einer Wahrheit 
immer von neuem auf und kamen doch nicht zu Rande. 

Womöglich noch gespannter als beim Denken gestaltet sich das 
Problem beim Handeln. Die moralische Unzulänglichkeit des Men- 
schen war von alters her ein Gegenstand der Klage, aber über der 
Klage vergaß man zu fragen, ob dem Menschen seine gegebene und 
unwandelbare Natur überhaupt anders zu handeln gestatte. Lust und 
Unlust treiben und lenken unser Leben; mögen sie auch noch so 
verfeinert werden, so bindet uns doch auch in der größten Ver- 
feinerung unsere Subjektivität, wir handeln für nichts anderes als 
für unsern eigenen Zustand. Auch wenn wir uns für allgemeine 
Zwecke aufopfern, so ergibt eine genauere Prüfung doch immer, daß 
wir das andere wollten, weil es uns Freude verhieß und wertvoll 
war. Überall jenes Eingesponnensein des Menschen in sein eigenes 
kleines Ich! Die alte Natur hält uns fest, zwingt alles Streben in 
ihren Dienst und zieht auch den höchsten Aufschwung zu sich zu- 
rück. Das Geistesleben schwebt vor unserer Seele nur wie ein fernes 
Bild, ein ungreifbarer Schatten. 

Wo finden wir einen Ausweg? Unser eigenes Wesen zeigt einen 
durchgehenden Widerspruch, der weder zu ertragen noch zu über- 
winden ist. Unsere Natur versagt die Mittel zur Einrichtung dessen, 
worin wir nicht umhin können, unsern Wert und unsere Größe zu 
setzen. Das Unmögliche zu lassen und einfach auf die niedere Stufe 
zurückzukehren, ist ausgeschlossen, weil die Sehnsucht nach einem 
Vollkommenen, nach Wahrheit und Liebe, nach einem wesenhaften Leben 
anstatt des Umhertreibens in bloßen Erscheinungen, nicht aus unseren 
Herzen zu entfernen ist. Sollen wir also auf einen Sinn unseres 
Daseins verzichten und uns in den Widerspruch ergeben? Nein, ge- 
wiß nicht! Es gibt allerdings einen Ausweg! Er findet sich in dem 
Aufweis einer neuen Wirklichkeit. 

Eine neue Welt kann in der Seele des Menschen nicht auf- 
steigen ohne eine Befreiung des Menschen von der Kleinheit des Ich. 
Nach einer solchen sei also Umschau gehalten! Irgendwelche Be- 
freiung jener Art ist zunächst ersichtlich in dem Komplex von Er- 
scheinungen, der unter dem Begriff der Moral zusammengefaßt wird; 
denn so groß auch die Menge von Ansichten hier ist, so enthalten 
sie doch die Grundüberzeugung, daß in der Moral dem Menschen 
ein Streben zugemutet wird, das nicht der natürlichen Selbster- 
haltung, sondern überlegenen Zwecken dient. Der Mensch kann nicht 

4* 



52 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. ReL-Phil. auf philosophisoli neuer Basis. 

umhin, ein Urteil über alles fremde wie eigene Handeln zu fällen. 
Einiges wird gebilligt, anderes verworfen, die Übereinstimmung des 
Tuns mit solchem Urteil als eine Freude, der Widerspruch als ein 
Schmerz empfunden. Deutlich scheidet sich damit von dem Nütz- 
lichen ein Gutes, von dem Schädlichen ein Schlechtes. Was im Be- 
sonderen »gute sei, ist eine Frage für sich, die verschieden beant- 
wortet werden mag. Daß aber an allen Orten und zu allen Zeiten 
irgend etwas als gut und verbindlich anerkannt und als Maßstab der 
Beurteilung verwandt wurde, bleibt eine unbestreitbare Tatsache, und 
aller haarspaltende Scharfsinn wird uns diese Tatsache nicht rauben, 
welche auch aus unserm eigenen Innern spricht, und die wir unser 
Gewissen zn nennen pflegen. Diese Stimme erzwingt sich immer 
wieder Gehör, sie übt ihre Wirkung nicht bloß in hervorragenden 
Augenblicken, sondern durchdringt mit stillem Einfluß das ganze 
Leben. Und wo sie voll zur Herrschaft gelangte, erfüllte sie das 
Leben mit Lust, Liebe und Freude, sie machte reich auch in der 
Armut, frei auch in der Knechtschaft, ja auch in größten Leiden 
und Schmerzen entwickelte sie mit überwältigender Kraft die Über- 
zeugung der Unzerstörbarkeit eines innersten Kernes und ließ aus 
dem Zusammenbruch aller gewohnten Glücksbestrebungen die Hoff- 
nung und Gewißheit eines neuen, echteren und reineren Glückes er- 
stehen. 

So erhebt die Moral über das Ich, sie vollzieht eine Befreiung und 
Erweiterung des Lebens mit gewaltiger Kraft, weil sie der natür- 
lichen Enge direkt entgegentritt! und alles Einfließen egoistischer 
Interessen in ihre Beweggründe als eine innere Zerstörung empfindet 
Aber auch das übrige Geistesleben wirkt zu einer inneren Erweiterung, 
sofern es nur irgendwelche Selbständigkeit gegen die unmittelbare 
Seelenlage gewinnt; denn durch seine ganze Verzweigung, durch 
Kunst und Wissenschaft, durch politisches und soziales Wirken drängt 
es die kleinliche Sorge um das eigene Wohl zurück und läßt es den 
Menschen neue, uneigennützige Interessen gewinnen. Wahrheit und 
Schönheit, Recht und Gemeinwohl wollen als Selbstzweck behandelt 
sein, alles Zurückbiegen auf das subjektive Ergehen der Individuen 
wird ihnen zur Schädigung und Verkehrung. Im Fortgange der 
Kultur wachsen jene Betätigungen mehr und mehr zu großen Zu- 
sammenhängen, sie werden selbständige und von innen her bewegte 
Mächte, die aus einer inneren Notwendigkeit Forderungen erheben 
und Konsequenzen hervortreiben, die einen eigenen Weg einschlagen 
und verfolgen, unbestimmt um das Behagen der Individuen, ja um 
das Wohl und Wehe des Menschen überhaupt Diese ihre Macht 



b. Budolf Eucken und verwandte Denker (Glafi nnd Tröltsch). 53 

aber ist in Wahrheit kein eigener Besitz, sondern sie wird jenen Ge- 
bieten aus einem umfassenden Lebensprozeß eingeflößt; sie verlieren 
jene Macht sofort und werden zu leeren Gehäusen, sobald jener Pro- 
zeß sich von ihnen zurückzieht, sobald wir nicht mehr unser Selbst 
in ihnen erkennen. Aber wenn unser Leben sich so der unmittel- 
baren Lage und Empfindung entwinden, ja ihr entgegenstellen kann, 
so muß unser Wesen wohl weiter sein als jene Lage es zeigt, so 
wird das Aufsteigen einer neuen Welt in uns unverkennbar. Es 
steht der nächsten, unmittelbar vorhandenen Welt eine andere Art 
des Seins, eine neue überlegene Ordnung der Dinge gegenüber, eine 
geistige Sphäre gegenüber derjenigen der Erfahrung. Bei dem Problem 
nun, ob beide Sphären in einem Leben zusammentreffen und hier 
sich auseinandersetzen können, liegt die Entscheidung darüber, ob 
unser Leben einen zwingenden Antrieb zur Religion enthält oder 
nicht. 

Wir fragen uns zunächst: was gehört wesentlich und unerläßlich 
zur Religion, zur Religion in allem und jedem Sinne? Denn alle Be- 
sonderheit bleibe hier zunächst beiseite! Jedenfalls dieses, daß sie 
der unmittelbar gegebenen Welt eine andere entgegenhält, daß sie 
eine Zerlegung der Wirklichkeit in verschiedene Reiche und Stufen 
vollzieht. Ohne einen Gottesglauben ist Religion sehr wohl möglich, 
wie der alte und echte Buddhismus zeigt; ohne eine Zweiheit der 
Welten, ohne Ausblicke in ein neues Sein wird sie ein leeres Wort. 
Die bloße Anerkennung einer höheren Ordnung ergibt jedoch keines- 
wegs schon Religion. Jene Ordnung muß nicht bloß an sich vor- 
handen, sondern auch für uns wirksam sein; sie muß in unser Leben 
hineinragen, uns neue Ziele und Kräfte zuführen, unser Dasein auf 
eine neue Grundlage stellen. Sonst bleibt sie uns bei aller Hoheit 
fremd und gleichgültig. Das bloße Dasein von Gottheiten ließen sich 
auch die Epikuräer gefallen. Also es gibt keine Religion ohne eine 
lebendige Gegenwart der höheren Welt in unserem eigenen Bereich. 
Bei solcher Gegenwart muß diese mit der Welt der Erfahrung hart 
zusammenstoßen und wird das Ganze des Lebens ungleich verwickelter 
gestalten. Aber diese Verwicklung ist zugleich das Charakteristische, 
das Mächtige, das Umwälzende in der Religion. 

Unsere Frage geht jetzt dahin, ob das menschliche Dasein eine 
Fortbildung des Lebens in der Richtung einer ursprünglichen Geistig- 
keit zeigt. Bejahenden Falls wäre zuerst die unmittelbarste Er- 
scheinung jener Tatsache aufzusuchen, sodann die Sache auf ihre 
Voraussetzungen zurückzuführen und endlich die Stellung des mensch- 
lichen Subjekts zu ihr zu erörtern. 



54 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. aof philosophisch neaer Basis. 

Was den ersten Punkt anlangt, so zeigt der Befund der Er- 
fahrung tatsächlich eine Bewegung, die eine Überwindung der Kluft 
zwischen Mensch und Geistigkeit aussichtsvoll anbahnt, und zwar 
darin, daß trotz alles Gegendruckes der Außenwelt, der Gesellschaft, 
der eigenen Seele sich im Menschen irgendwelches selbständige 
Geistesleben regt. Ein Zeugnis dafür ist schon der stille, aber zähe 
Widerstand, den das Durchschnittsleben mit seiner untergeordneten 
und bloß anhängenden Geistigkeit im eigenen Kreise des Menschen 
findet Jenes Halbleben erscheint nicht nur einer reflektierenden 
Betrachtung als unzulänglich, sondern unmittelbar, wenn auch fast 
gegen seinen eigenen Willen, empfindet der Mensch seine Leere, 
seine Unwahrhaftigkeit. Woher anders könnte ein solches Empfinden 
stammen als aus einer in uns vorhandenen, wenn auch verborgenen 
Tiefe? Eine Sehnsucht nach einer höheren, reineren Art des Seins 
läßt sich bei uns nicht unterdrücken; sie gewinnt um so mehr Macht, 
je mehr Verwicklungen und Leiden das Leben uns auferlegt. Dazu 
kommt ein Weiteres. Es entwickelt sich im Menschen eine Erhebung 
zu einer Persönlichkeit. Soll dieser schwankende und vielumstrittene 
Begriff irgend einen präzisen Sinn haben, so kann es kein anderer 
sein, als daß hier eine Verbindung echtgeistigen Lebens zur Einheit 
erfolgt, daß dies Leben auch im menschlichen Kreise einen festen 
Kern erhält und sich mit seiner Entwicklung mehr und mehr zu 
einem eigenen Kreise ausbaut, ja zu einer neuen Wirklichkeit strebt. 
Persönlichkeit ist entweder eine leere und irreführende Redensart 
oder der Ausdruck einer neuen Welt, worin sich die Geistigkeit dem 
wirren Gemenge entwindet und zur Selbständigkeit erhebt Aber 
auch die Form, wie sich unser Leben in geistigen Dingen bewegt, 
bezeugt den Eintritt emporziehender Kräfte. Jene Bewegung ist kein 
ruhiges und sicheres Vorwärtsgehen, sondern ein Kämpfen und 
Ringen, ein Bilden von Höhepunkten und ein Sichemporringen zu 
ihnen, oft auch ein Zurücksinken, sie ist ein Hervortreiben und ein 
überwinden von Gegensätzen. Woher anders kann das kommen als 
daher, daß in unser Leben ein neuer großer Antrieb gesetzt ist, der 
sich nicht mit einem beschränkten Raum begnügt, sondern der das 
Ganze beherrschen will, und der daher mit dem Übrigen schroff zu- 
sammenstoßen muß. Daher muß alle Entwicklung eines persönlichen 
Lebens unser Dasein aus seiner behaglichen Ruhe aufrütteln, ihm 
eine unendliche Aufgabe vorhalten, es in einen rastlosen Kampf ver- 
wandeln. Das aber ist das Bild, das uns in Wahrheit entgegen- 
schaut Dieser Erfahrung des Individuums entspricht die der Mensch- 
heit Wie wäre die Bildung der Kultur, wie die Abhebung und Ent- 



b. Rudolf Eucken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 55 

gegensetzung eines Kulturstandes gegen den Naturstand begreiflich 
ohne eine Erzeugung selbständigen Geisteslebens im eigenen Kreise 
der Menschheit? Mag die Kultur auch voll Schein und Heuchelei 
sein, alle Entstellung unter den Händen der Individuen läßt die Tat- 
sache unangetastet, daß sie überhaupt auf menschlichem Boden und 
mit Hilfe menschlicher Kräfte entstanden ist und sich dort dauernd 
forterhält. Im Einklang damit erscheint auch die Geschichte der 
Menschheit, auf ihren geistigen Kern angesehen, nicht als eine ruhige 
Ansammlung, sondern als ein Hin- und Hergehen, ein Steigen und 
Fallen, ein Vordringen und Stocken. Und das Echtgeistige erscheint 
dabei nicht bloß als ein Anstreben und Wollen, sondern auch als 
ein Vermögen und Gelingen, und echtgeistiges Leben ist im Bereich 
der Menschheit kein Wahn und Traum, sondern tatsächliche Wirk- 
lichkeit. Hier ist die Stelle, v^o eine höhere Ordnung sich unmittelbar 
in unserem Dasein erweist, wo das selbständige Geistesleben, zugleich 
als weltüberlegen und als in der Welt tätig anerkannt, zur Gottheit 
wächst. Die Entwicklung eines selbständigen Geisteslebens innerhalb 
des menschlichen Bereiches ist eine so eingreifende Umwälzung, sie 
zeigt so deutlich eine eigene Basis, einen selbständigen Ausgangs- 
punkt des Lebens, daß hier notwendig der Beginn einer anderen 
Weltordnung und das Wirken einer allem menschlichen Vermögen 
überlegenen Macht anzuerkennen ist. 

Der Begriff der Gottheit, solange er aus bloßer Spekulation 
hervorgeht und aus abstrakten Begriffen wie Sein, Substanz usw. mehr 
herauspressen will, als in Wahrheit möglich ist, bleibt ein leerer und 
anfechtbarer. Er gewinnt aber Gehalt und Kraft als Zusammen- 
fassung der inneren Notwendigkeiten, welche den Lebensprozeß treiben, 
der Axiome, die nicht der Bewegung des Denkens, sondern der des 
Lebens zu Grunde liegen. Nur so ist der Begriff des Absoluten 
keine Spielerei, sondern eine gewaltige Macht, mit der alle Geistig- 
keit unseres Lebens steht und fällt Wenn dem aber so ist, so haben 
wir uns nun vor allem zu fragen, in welchem Verhältnis Gottheit 
und Welt zueinander stehen. Von alters her bekämpfen sich hier 
zwei Bichtungen, deren jede sich als die Vertreterin berechtigter Li- 
teressen fühlen darf. Auf der einen Seite wird es als nötig be- 
funden, die Gottheit scharf von der Welt zu scheiden und weit über 
sie hinauszuheben, auf der andern Seite wird sie möglichst tief in 
die Welt hineingezogen und möglichst eng mit dem eigenen Wesen 
der Dinge verbunden. So der Gegensatz von Transzendenz und 
Immanenz, von Dualismus und Monismus, von Supranaturalismus 
und Pantheismus. Über diesen Gegensatz vermag allein die Ver- 



56 2. Kap. Die gegen w. Hanptvertreter d. Bei .-Phil, auf philosophisch neuer Basis. 

knüpfung dieses Problems mit dem Tatbestande und den Forderungen 
des Lebensprozesses hinauszuheben. Hier fällt zuerst ins Gewicht, 
daß bei der Religion nicht die Rettung des bloßen Menschen, 
sondern die eines wahrhaftigen Geisteslebens in unserm Kreise 
in Frage steht. Das enthält eine Ablehnung aller Gestaltung 
der überlegenen Größen vom bloßen Menschen her sowie einer 
Beziehung alles Geschehens auf das Wohl des Menschen. So 
notwendig daher die innere Einheit des Geisteslebens auch für 
die Gottheit eine Einheit verlangen läßt, so ist doch diese Einheit 
als eine allumfassende und überlegene Kraft, nicht nach menschlicher 
Art als ein Punkt neben andern Punkten zu verstehen. Das Geistes- 
leben ist ferner kein Sondergebiet, das den Dingen eine fremde Art 
aufdrängte, sondern die eigene Tiefe der Wirklichkeit. Entwickelt 
sich also der Begriff der Gottheit von dem des Geistes her, so muß 
auch die Gottheit mit dem Wesen der Dinge in engster Verbindung 
stehen, sie muß schließlich alles in allem sein. Das absolute Leben 
muß demnach sowohl weltüberlegen als innerhalb der Welt wirksam 
sein; die Bewegung muß sowohl über die Welt hinaus als in die 
Welt zurückgehen, um sowohl den Dualismus als auch den Pantheis- 
mus zu überwinden. — Ähnlich verhält es sich auch mit dem Pro- 
blem des Verhältnisses von Gottheit und Mensch. Auch hier ist die 
Gegensätzlichkeit des Göttlichen und Menschlichen zu vermeiden und 
die Entwicklung des einen zugleich als eine Bekräftigung des andern 
zu verstehen. Die Freiheit und die Selbsttätigkeit des Menschen ist 
nicht ein Abzug von der göttlichen Macht und eine Minderung der 
göttlichen Gnade, sondern sie selbst ist ihre Bewährung; Moral und 
Religion brauchen nicht um ihre Abgrenzung zu streiten, sondern 
recht verstanden ist die Moral selbst der Haupterweis der Grund- 
tatsache der Religion, der Gegenwart eines absoluten Lebens. Daß 
der Mensch in den Stand echtgeistigen Lebens gegenüber der eigenen 
Schwäche und dem Widerstände einer unermeßlichen Welt gehoben 
wird, das ist das größte aller Wunder, aber es ist kein Wunder, das 
nur von außen her an uns geschieht. Jene große Wendung trägt 
in sich das Wirken einer überlegenen Welt, die menschliche Tat 
ist hier von Grund aus und unmittelbar ein Werk der Gottheit. Wie 
das möglich sei, wie aus Abhängigkeit Freiheit, entspringen könne, das 
übersteigt als ein Urphänomen alle Erklärung, es hat, als die Grund- 
bedingung alles Geisteslebens, einen durchaus axiomatischen Charakter. 
Das aber läßt sich dartun, daß es kein isoliertes Problem, sondern 
nur die höhere Stufe jenes allgemeineren Problems ist, wie aus den 
Zusammenhängen der Welt bewußte und fühlende Wesen hervor- 



b. Rudolf Euoken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 57 



gehen und ihr Leben als ein eigenes im Gegensatz zu allem Übrigen 
führen können; wäre dieses Problem glücklich gelöst, wäre die 
Lösung des anderen nicht schwierig. Was aber der Spekulation ge- 
heimnisvolle Rätsel stellt, das hat für die Religion das Leben durch 
seine eigene Entwicklung entschieden. Auch bei den größten Deter- 
ministen war das Leben eine Widerlegung ihrer Lehre; denn sie 
waren keineswegs untätige, auf Hoffen und Harren gestellte Naturen^ 
sondern aufs Hellste schlug in ihnen die Flamme des Lebens empor, 
sie wagten und bestanden den Kampf gegen die Welt und den 
schwereren gegen sich selbst, aber eben in der Entwicklung der 
höchsten Kraft und der Einsetzung des eigensten Wesens haben sie 
sich als von einer überlegenen Macht getragen und als ein Werk- 
zeug ihrer Zwecke gefühlt. Die höchste Leistung der Freiheit trug 
in sich das stärkste Bewußtsein der Abhängigkeit. Paulus vor allem 
hat eine deterministische Denkweise in das Christentum gebracht^ 
aber dabei hat er mehr gearbeitet als alle Apostel ; Augustin braucht 
man nur in sein Lebenswerk und in sein Verhältnis zur Zeit zu 
verfolgen, um in ihm eine der tätigsten Persönlichkeiten zu erkennen; 
Luthers Kraft endlich bedarf keiner Beteuerung. Es war bei ihnen 
das dem Begriff unlösbare Problem durch die Substanz des Lebens 
gelöst. Und diese Lösung darf nicht auf jene großen Persönlich- 
keiten beschränkt bleiben, sondern sie muß prinzipiell anerkannt 
werden und die gemeinsame Gestaltung der Religion beherrschen. 
Somit kommen wir sowohl beim Verhältnis von Gottheit und Welt 
als dem von Gottheit und Mensch zu Ergebnissen, welche die kausale 
Begreif ung nicht befriedigen, ja welche insofern hart mit ihr zu- 
sammenstoßen, als sie den letzten Maßstab der. Wahrheit zu be- 
sitzen glaubt. Wir werden die kausale Betrachtung freilich nicht zu 
einer subjektiv-menschlichen Ansicht herabsetzen dürfen, auch sie 
gehört zum Bestände des Geisteslebens und enthält innere Notwendig- 
keiten; aber ihre Mchtbefriedigung vermag nicht die Grundtatsache 
und die Grundwahrheiten der Religion zu erschüttern. Denn vor 
allen Forderungen, welche unser Geistesleben nach besonderen Rich- 
tungen erhebt, steht die Notwendigkeit, es selbst als Ganzes aufrecht 
zu erhalten. Innerhalb dieser Notwendigkeit des Ganzen müssen 
sich alle besonderen Notwendigkeiten entwickeln und an ihr auch die 
Grenze ihrer Geltung finden. Die Religion aber hat durchaus mit 
dem Ganzen zu tun, und so können alle Einwendungen besonderer 
Lebensrichtungen ihren Grundbestand nicht antasten. 

Welcher Art sind nun endlich die seelischen Antriebe, die den 
Menschen der Religion geneigt und bereit machen? Den Ausgangs- 



58 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

punkt aller Wendung zur Religion bildet die Empfindung eines 
schroffen Widerspruchs in unserm Leben, eines starken Kontrastes 
zwischen Forderung und Wirklichkeit. Wie sollten wir sonst dazu 
kommen, über das Gebiet der Erfahrung mit solcher Kraft hinauszu- 
streben, daß der Zusammenhang der Welt und die Einheit unseres 
eigenen Seins darüber zu zerbrechen droht! Jener Kontrast aber ist 
zunächst eine Sache des Gefühls, und somit bildet das Gefühl den 
seelischen Ausg^gspunkt der Religion, der freilich grundverschieden 
bleibt von ihrer geistigen Wurzel. Aber die Wahrnehmung eines 
Kontrastes, die schmerzliche Empfindung eines Widerspruchs hat in 
geistigen Dingen eine unerläßliche Voraussetzung: sie könnte nicht 
eintreten, wäre nicht in uns schon irgend eine Bewegung geweckt, 
irgend welcher Drang nach Glück entzündet. Dieser Lebensdrang 
ist im Grunde das Erste, das auf die Bahn der Religion treibt, eine 
für ihren Gesamtcharakter bedeutsame Tatsache ! Würde solcher Lebens- 
drang keiner Hemmung begegnen, so entstände keinerlei Verwicklung; 
würde die Spannung durch eigene Kraft, wenn auch nicht sofort, so 
doch im Laufe der Zeit zu besiegen sein, so würde das Leben und 
Streben vielmehr bei der nächsten Welt festgehalten als über sie 
hinausgetrieben. Ein Bruch kann erst in Frage kommen, wenn der 
Widerstand als unüberwindlich für Gegenwart und Zukunft, für Ar- 
beit und Hoffnung erscheint'; denn wenn die Sache so steht, so ist 
entweder das Streben als völlig aussichtslos einzustellen, oder es muß 
eine Verwandlung des Gesamtanblickes von Welt und Leben neue 
Aussichten für ein glückliches Vordringen bieten. Alle Versuche, 
diesem Entweder-Oder auszuweichen, führen zu schwächlichen Kom- 
promissen, zu Abstumpfungen der Empfindung und des Lebens. 
Recht oft hat das Erstere gesiegt, sowohl bei einzelnen Individuen 
als auch bei ganzen Völkern, sogar auch im Gebiete der Religion, 
wie der Buddhismus beweist. Aber die Verneinung hat nicht immer 
gesiegt, auch die Bejahung ist eine Weltmatjht geworden, und sie 
allein ist es, welche das menschliche Leben und Streben aufrecht er- 
hält. So ist es ein Zusammenwirken zweier Faktoren, was den 
Menschen der Religion entgegenführt und sie Macht über seine Seele 
gewinnen läßt: einer tiefen Empfindung der Widerstände der Welt 
und einer unbeugsamen Energie gegenüber den Widerständen bis zur 
Erringung einer neuen Welt. 

Die begründende Voraussetzung aller Religion ist die Gegenwart 
eines absoluten, des göttlichen Lebens im Bereich des Menschen; 
ohne sie fiele alles menschliche Mühen ins Leere. Aber solche 
Gegenwart kann dem Menschen verschlossen und unergiiffen bleiben, 



b. Rudolf Eucken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 59 

dann gelangt die Keligion von der bloßen Möglichkeit nicht zur 
Wirklichkeit. Zu dieser bedarf es der Anerkennung und Aneignung 
des Göttlichen seitens des Menschen; erst indem es in seine Über- 
zeugung und in sein Leben eingeht, entsteht Religion. Das absolute 
Leben muß nicht bloß mit seinen Wirkungen uns berühren, es muß 
unmittelbar als Ursache in uns aufleuchten und zugleich unser 
eigenes Leben werden. Demnach bildet den Kern der Religion, daß 
der Mensch im innersten Grunde seines Wesens unter Erhaltung, ja 
Verstärkung seiner Selbständigkeit in das göttliche Sein gehoben wird, 
so daß hier das absolute Leben unmittelbar sein eigenes Leben 
werden kann. Gegenüber der alten Art muß hier eine neue, wenn 
auch im eigenen Wesen schon angelegte Art durchbrechen, in ihr 
«ine Einigung von Menschlichem und Göttlichem in der Weise voll- 
zogen sein, daß aus dem Menschen selbst etwas übermenschliches 
wird, in seiner Seele eine Befreiung von Bloßmenschlichem erfolgt. 
Daher ist die Religion alles andere eher als ein bloßer Schmuck 
des Lebens, sie erschüttert unser Dasein bis in seine tiefsten Grund- 
lagen, sie stellt es unter einen schroffen Gegensatz und zeigt es voll 
greller Kontraste. Sie kann dem Menschen eine neue Welt nicht vor- 
halten, ohne ihm die alte, so wie sie ist, zu verleiden. Da aber diese 
alte Welt ihn mit tausend Klammern festhält, so muß der härteste 
Kampf entstehen, weil nicht, was aus bloßer Natur hervorgeht, als 
gut im höchsten Sinne gelten kann. Die Religion macht das Dasein 
nicht leichter, aber sie macht es reicher, bewegter, größer, weil sie 
den Menschen bei sich selbst Weltprobleme erleben, um eine neue 
Welt kämpfen, ja eine Welt wahrhaftigen Lebens als eigenes Sein 
gewinnen läßt Ohne Religion gibt es für das Geistesleben keine 
Wahrhaftigkeit und für den Menschen keine innere Größe. 

Gleichwohl ist damit die Erörterung noch nicht am Ende ! Mag die 
Religion innerhalb des Geisteslebens noch so sicher gestellt sein, das 
Geistesleben selbst ist für uns nicht allem Zweifel enthoben; denn 
es stößt in unserm Kreise auf so harte Widerstände und gerät in 
soviel innere Verwicklung, daß es in dem Ganzen seines Daseins 
eine Erschütterung erfährt. Solche Erschütterung aber wird sich 
auch der Religion mitteilen. Wenn uns die Religion in einen un- 
geheuren Kampf mit der natürlichen Lage hineinführt, wenn sie 
femer diesen Kampf eher steigert als mindert, so muß sie darauf 
bestehen, daß der Kampf zum Siege führt, und^ daß dieser siegreiche 
Ausgang von Anfang an in der Überlegenheit des Guten und Gött- 
lichen zum Ausdruck kommt. Dazu gehört namentlich, daß die von ihr 
getragene echte Geistigkeit alles bei uns vorhandene Geistesleben be- 



60 '^- Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. ßel.-Phil. auf philosophisdi neuer Basis. 

freit, stärkt und zusammenfaßt; sie muß immer mächtiger in die 
Welt vordringen und schließlich alle Wirklichkeit in einen eigenen 
Besitz verwandeln. Je weniger die Religion eine Vernunft unserer 
Welt schon voraussetzt, desto nachdrücklicher muß sie ein sieg- 
reiches Aufsteigen der Vernunft, eine fortschreitende Vergeistigung 
des Daseins fordern. Nach den verschiedenen Stufen der Wirklich- 
keit würde sich das verschieden ausnehmen, immer aber müßte die 
höhere Stufe die niedere beherrschen und zu sich emporheben, das 
Geistesleben die Natur, die Substanz des Geistes die menschliche 
Daseinsform, alles, was innerhalb des Geisteslebens die Einheit und 
das Ganze vertritt, die Verzweigung und Besonderheit. 

Leider wird uns nun das Bild, das wir danach erwarten und 
erwarten müssen, durch die Erfahrung nicht bestätigt, so daß wir in 
das peinlichste Dilemma geraten. Wir dürfen dieses Bild nicht ab- 
schwächen oder wegleugnen; denn das kann nur Schaden bringen. 
Führen wir uns die Widerstände daher furchtlos vor Augen! 

Der erste Widerstand kommt von Seiten der Natur. Das Geistes- 
leben kann bei uns keine Selbständigkeit erlangen, ohne für seine 
Stellung zur Natur eigentümliche Forderungen zu erheben. Die 
völlige Bindung des Seelenlebens an den Naturprozeß, welche die 
Erfahrung zeigt, erregt vor der Wendung zur Geistigkeit keinerlei 
Anstoß; denn bis dahin war es mit dem Ganzen seines Seins ein 
bloßes Mittel und Werkzeug der Selbsterhaltung der Individuen, es 
will nichts für sich sein, es entwickelt keinen eigentümlichen Inhalt, 
es läßt keine neue Welt durchblicken. Der geistigen Stufe aber ist 
dies alles wesentlich. So muß mit der Wendung zu ihr das Ver- 
langen erwachen, daß der Selbständigkeit des Wesens eine Selb- 
ständigkeit der Existenz gegenüber der bloßen Natur entspreche. Ja 
auch eine Überlegenheit, eine Herrschaft über die Natur wird hier zu 
einem dringenden Anliegen; denn wenn es wahr ist, daß die Wen- 
dung zur Geistigkeit ein Durchdringen der Wirklichkeit zu ihrem 
eigenen Wesen bedeutet, so muß die selbständig gewordene Geistig- 
keit alles Übrige von sich aus beleuchten und auf sich beziehen, es 
als ein Mittel für seine Zwecke, eine Vorstufe für seine Höhe be- 
handeln, es wird zum mindesten bei aller Berührung beider Gebiete 
die Oberhand verlangen. Zeigt nun der Tatbestand der Erfahrung 
eine solche Selbständigkeit und Überlegenheit des Geisteslebens? Er 
zeigt das gerade Gegenteil. Die geistige Entwicklung des Menschen 
bleibt dem Körper verknüpft und zugleich der Ordnung der Natur 
unterworfen; mit dem Körper wird und wächst, gedeiht und verfällt 
auch aUes geistige Tun. Unser ganzes Dasein ist an das große 



b. Radolf Euoken und verwandte Denker (Q&ß und Tröltsoh). 61 

Oanze unlöslich gekettet. Sowohl der einzelne als auch die ganze 
Menschheit bilden eine große Episode des Weltprozesses. Die Zwecke 
und Werte des Geisteslebens scheinen nicht vorhanden für das blinde 
Getriebe der Naturgewalten; diese kennen keinen Unterschied von 
gut und böse, gerecht und ungerecht. Naturkatastrophen vernichten 
blühendes Geistesleben wie im Spiel; Pest und Hungersnot halten 
ihre Ernte unbekümmert um menschliches Wohl und geistige Werte. 
Wie eine rätselhafte Sphinx steht die Natur vor unsern Augen: un- 
ermüdlich Leben gebärend und Leben zerstörend, langsam bereitend, 
rasch vernichtend, fürsorglich und gleichgültig, wohlwollend und grau- 
sam zugleich, die Geschöpfe bald einander befreundend, bald zu un- 
erbittlichem Kampf gegeneinander hetzend, weniger eine Mutter als 
eine Stiefmutter ihrer Kinder, und das Geistesleben erscheint nicht 
als besondere Welt, noch weniger als die Hauptwelt, sondern höchstens 
als eine Begleiterscheinung derselben. 

So gewiß die Ohnmacht des Geistes gegenüber der Natur ein 
großes Rätsel bleibt, sie ließe 'sich ertragen, wenn der Mensch in 
seinem eigenen Kreise ein Reich der Vernunft aufzubauen und sich 
in ihm gegen allen Angriff und Zweifel zu verschanzen vermöchte. In 
Wahrheit entsteht ein eigentümlich menschlicher Lebenskreis gegen- 
über der Natur, die Kultur, in der sich der Mensch eine neue Welt 
bereitet, wie sie sich im Zusammenschluß der Individuen zu einem 
gesellschaftlichen Leben und in der Aufschichtung der Arbeit in der 
Geschichte entwickelt. Daß diese menschliche Kultur nicht die 
Geistigkeit letzthin erzeugen kann, sondern für ihr eigenes Entstehen 
und Bestehen voraussetzen muß, haben wir früher gesehen. Aber 
unvermögend zur Hervorbringung des Geisteslebens, wäre doch zu 
erwarten, daß sie seine in tieferen Zusammenhängen begründete Ent- 
faltung aufnahm und weiterführte. Aber was sehen wir statt dessen? 
Statt daß sich die Kultur in den Dienst echter Geistigkeit stellt, wirft 
sie sich zur selbständigen Herrin auf, behandelt ihr eigenes Bestehen 
und Gedeihen als den höchsten aller Zwecke und kann dann nicht 
wohl anders als das geistige Leben zu einem bloßen Mittel machen 
und es auf dem Niveau festlegen, wo seine Dienste ihr ersprießlich 
scheinen. Da sie das Leben in ein System von Beziehungen ver- 
wandelt, kann sie nur nach den Leistungen messen. Das wäre kein 
Schade, wenn dabei auch die Innerlichkeit des Seelenlebens ihr Recht 
behielte. Aber das geschieht nicht; für die gesellschaftliche Kultur 
ist in die Leistung wie alles Übrige so auch die Gesinnung mit ein- 
geschlossen, und das kann nur schaden; denn findet der Mensch 
seinen Schwerpunkt nicht bei sich selbst, sondern in der sozialen 



62 2. Kap. Die geg^enw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. anf philosophisch neuer Basis. 

Umgebung, so verliert das Leben die Kraft und die Wahrhaftigkeit 
ursprünglichen Schaffens. Der größte Mißstand dabei ist aber das 
Überhandnehmen des Scheins, der im Gefolge ist. Wo alles an der 
Anerkennung anderer liegt, da tut der Schein oft bessere Dienste als 
die Wahrheit, und die Entwicklung des Geisteslebens erleidet sowohl 
im einzelnen auch im ganzen lauter Hemmung und Entstellung. 
Aber so schwer auch diese Verwicklungen sind, sie erreichen doch 
den tiefsten Grund des Geisteslebens noch nicht. Mag der Mangel einer 
angemessenen Daseinsform sein volles Wirklichwerden im mensch- 
lichen Kreise verhindern, eine gewisse Existenz und eine gewisse 
Wirksamkeit behauptet es auch hier mit inneren Bewegungen und 
Notwendigkeiten; wie erklärte sich sonst der Kampf sowohl gegen 
die bloße Natur als gegen die Festlegung auf dem Niveau der Ge- 
sellschaft, wie wäre selbst nur ein Empfinden der hier vorhandenen 
Unzulänglichkeit möglich? Bei aller ünfaßbarkeit ist solches unab- 
hängige Geistesleben kein machtloser Schatten, es umfaßt nicht bloß 
wie eine unsichtbare Atmosphäre unser Dasein, es schließt sich in 
Kunst, Wissenschaft, Moral usw. zu großen Komplexen zusammen, 
weiche sowohl in ihrem eigenen Gebiet eine Triebkraft entwickeln 
als darüber hinaus auf das Ganze des Lebens wirken. Aber auch 
hier wieder sehr große Widersprüche! Statt dem Ganzen zu dienen, 
ist es bald die Wissenschaft, bald die Kunst, bald die Moral, bald 
die geschichtliche Religion, bald die praktisch-soziale Betätigung usw.^ 
welche sich zum Mittelpunkt des Lebens macht und alles Streben in 
ihre besondere Bahn ziehen möchte. So entstehen einander wider- 
streitende Bewegungen, eine Entzweiung der Geistigkeit bei sich selbst. 
Wie aber soll die Substanz des Geisteslebens gewinnen, wenn jedes 
Gebiet gegen das andere, alle gegen alle streiten und an diesen Streit 
ihre beste Kraft setzen? 

Ein Weg der Rettung scheint noch vorhanden zn sein, freilich 
der letzte: der Mensch kann sich in das Reich der Moral retten. 
Wenn alles andere schwankt, bleibt doch der Wert der edlen Ge- 
sinnung bestehen. Hier erhebt sich der Mensch von der Gebunden- 
heit natürlicher Anlage zur Freiheit des Handelns und Seins, hier 
erwächst ihm eine allem Vermögen der Natur unvergleichlich über- 
legene Größe und Würde, Freude und Liebe. Leider kommen dafür 
nur wieder andere Verwicklungen! Das Gute scheint an die Natur 
gefesselt zu bleiben, ohne über dieselbe hinauszukommen. Das zeigt 
sich sowohl bei der Liebe wie bei der Gerechtigkeit. Die Liebe 
scheint volle Kraft nur mit den Naturtrieben zu erlangen und ist an 
kleine Kreise gebunden. Die Gerechtigkeit ist eine Bundesgenossin 



b. Bndoll Eucken und verwandte Denker (Claß und Tröltscli). 63 

unserer persönlichen Interessen. Das Böse ist allenthalben mit 
dem Guten verflochten, es entstehen Ehrgeiz, Eifersucht, Neid, und 
der Kampf ums Dasein sucht alle edleren Empfindungen zu ver- 
nichten, während die niedrigeren gestärkt werden. Wie sollen wir 
uns solcher Verwicklung entwinden? Wie kann bei solchen Tatsächlich- 
keiten die Moral die Beherrscherin der Wirklichkeit werden? 

Bis dahin war unser Augenmerk vornehmlich auf die Verwick- 
lungen im Tun des Menschen gerichtet, aber auch sein Ergehen, die 
Gestaltung seiner Geschicke will gewürdigt sein. Fragen wir uns 
daher ohne Voreingenommenheit, ob uns aus der Weltumgebung eine 
Lenkung des Geschehens zu Gunsten wachsender Geistigkeit, eine 
überlegene Förderung der geistigen Entwicklung des Menschen deut- 
lich entgegenscheint Ohne Zweifel gibt es Vorgänge und Lebens- 
wege genug, welche den Eindruck einer planmäßigen Leitung machen; 
aber den Eindruck der Planmäßigkeit kann gelegentlich selbst der 
Ausfall des blinden Würfelspiels machen; um sicher schließen zu 
können, ob in jenem, was einer entgegenkommenden Stimmung als 
ein Zeugnis höherer Leitung und Liebe gilt, mehr vorliegt als ein 
bloßer Zufall, müßten wir das Verhältnis der wirklichen Fälle zu 
den möglichen berechnen können, und das können wir nicht Zu 
solcher ündurchsichtigkeit gesellt sich der Eindruck vieler gegen- 
teiliger Erfahrungen; denn für unser Auge bleibt nicht nur viel red- 
liches Wollen, viel tüchtiges Streben ohne die nötige Hülfe und 
bricht darum mutlos vor dem Ziel zusammen, es bleibt nicht bloß 
viel geistige Kraft und viel warme Liebe unver wertet, die an anderer 
Stelle schmerzlich entbehrt wird, wir gewahren auch Verkettungen 
des Geschehens, welche auf die Erzeugung schweren Elends abzu- 
zielen scheinen, welche den Menschen wie mit unbarmherziger Not- 
wendigkeit dem Abgrunde zutreiben. 

Hier können weder der Optimismus noch der Pessimismus helfen, 
der erste nicht, weil er den Nachweis, daß manchmal das Böse 
Gutes erzeugt, als einen sichern Beweis dafür nimmt, daß es das 
immer tut, und daß schließlich alle scheinbare Unvernunft in Ver- 
nunft ausschlägt, der letzte nicht, weil er an dem inneren Wider- 
spruch leidet, daß er von einem vorliegenden Verhältnis der Dinge 
nur die eine Seite sieht, daß er bei dem abschließt, was in die Emp- 
findung fällt, sein Auge aber dafür verschließt, daß der Eindruck, 
die Aufregung, das Leid gar nicht so groß sein könnte ohne eine 
Hemmung irgendwelches positiven Lebens und Strebens. Hätte das 
Leben nicht einen positiven Kern, so könnte nun und nimmer das 
Leid so gewaltig werden; bestehen keine wahren Güter, so kann auch 



64 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-PhiL auf philosophisch neuer Basis. 

die Entbehrung kein Leiden sein, und es gibt keine tiefen Schmerzen. 
Keine Schranke kann als einengend empfunden werden, wenn nicht 
von innen her eine Bewegung darüber hinausstrebt. Wir bleiben 
daher für die Lösung auf eine weitere und durchdringende Er- 
schließung des Göttlichen angewiesen, die allein uns aus dem bis- 
herigen Widerspruch herauszuheben und unser Leben in eine sichere 
Bahn zu leiten vermag. 

Alles Bisherige läuft in ein starkes Verlangen nach neuen Tat- 
sachen, nach einer weiteren Erschließung der Gottheit aus; denn 
das Gegenspiel hat sich so mächtig entfaltet, daß das Leben in ein 
völliges Stocken geraten ist. Was anderes kann aus solcher Lage 
retten als die Kraft göttlichen Lebens, als eine weitere Erschließung 
weltüberlegener Vernunft! Ist sie in Wahrheit vorhanden, können 
wir durch den Nebel, der sich mit niederdrückender Schwere auf 
unser Sein und Leben gelegt hat, zu ihrem Lichte vordringen? 

Der Glaube an eine solche Wendung hat in der Menschheit 
tiefe Wurzeln geschlagen, er tritt uns aus allen Religionen entgegen, 
die mehr waren als ein Stück der Volkskultur und sich zu einem 
selbständigen Reiche entwickelten, den sogenannten historischen Reli- 
gionen; denn ihrer aller Anliegen ging nicht dahin, dem Ganzen 
des Geisteslebens zu einer glücklichen Entwicklung im menschlichen 
Kreise zu verhelfen, sondern sie verhießen eine wesentliche Weiter- 
bildung und Erhöhung, sie wollten etwas Eigenes sein, und haben 
tatsächlich gegenüber dem übrigen Leben einen unterscheidenden 
Charakter entfaltet. Mit solcher Wendung von der universalen zur 
charakteristischen Art erscheint die Religion als eine Beantwortung 
der Frage, die aus den schweren Verwicklungen her vor wuchs, eine 
Antwort nicht in Lehren und Begriffen, sondern in Tat und Leben, 
eine Antwort nicht aus den Kräften des bloßen Individuums, sondern 
als eine gemeinsame Erfahrung der Menschheit. Aber daß trotz 
solcher größeren Machtentfaltung die Sache nicht einfach liegt, zeigt 
sofort die Tatsache der Vielheit der Religionen; wir begehren eine 
Antwort, da es nur eine Wahrheit geben kann, und finden ihrer 
viele. Wie steht es damit, zerstören sich die gegenseitigen Ansprüche, 
oder schimmert durch alle Entzweiung eine gemeinsame Wahrheit 
hindurch, an die wir uns halten können, und durch die wir zu siegen 
vermögen? 

Was die positiven Religionen verkündeten, waren nicht Lehren 
von Gottes Wesen und Eigenschaften, nicht Aufklärungen über die 
Geheimnisse der Metaphysik, sondern es war die Eröffnung eines 
neuen Verhältnisses, die Begründung einer engeren Gemeinschaft 



b. Rudolf Eucken und verwandte Denker (daß und Tröltsch). 65 

zwischen Gottheit und Mensch. So im Parsismus, so im Judentum, 
so in der Lehre Jesu. Es handelt sich überall um eine charakte- 
ristische Lebensgemeinschaft mit Gott, aus der eine neue Wirklichkeit 
hervorgeht. Diese neue Welt halten sie der vorgefundenen entgegen 
um sie zu unterwerfen und umzugestalten. Es fragt sich nun, ob 
dieser den positiven Religionen bei allem Zwist gemeinsamen Be- 
hauptung eine Tatsache zu Grunde liegt, der auch die allgemeine 
Überzeugung sich nicht entziehen kann. 

Euckens Untersuchung begann mit der deutlichen Abhebung des 
geistigen Lebensprozesses von allem bloß subjektiven und individuellen 
Seelenleben, in jenem erwies sich eine neue Stufe der Wirklichkeit, 
eine Wendung der großen Welt. Aber die notwendige Steigerung 
des Begriffs ließ zugleich eine große Verwicklung unseres mensch- 
lichen Daseins erkennen, denn die Art, wie in der unmittelbaren 
Erfahrung alles geistige Leben gestellt ist, enthält einen schroffen 
Widerspruch zu seinen inneren Notwendigkeiten. Das Geistesleben 
hat seine eigentümliche Natur darin, daß hier die Wirklichkeit zur 
vollen Selbständigkeit gelangt; in den gegebenen Verhältnissen da- 
gegen ist alle geistige Betätigung durchaus abhängig, sie bildet nur 
einen Anhang eines andersartigen Geschehens. So bedeutet das 
Geistesleben auf den Befund der Erfahrung einschränken nichts 
anderes als es herabdrücken bis zur völligen Auflösung. In Wahr- 
heit kann bei uns keinerlei echte Geistigkeit aufkommen ohne die 
lebendige Gegenwart einer sich selbst angehörigen weltüberlegenen 
Geistigkeit; was immer sich von jener verwirklicht hat, das ist eine 
Bestätigung solcher Gegenwart. Mit der Anerkennung dessen erwuchs 
eine Religion allgemeiner Art; erst mit ihr gewann das Geistesleben 
eine innere Einheit, eine deutliche Ausprägung, eine Verbindung der 
Kräfte zu vereinter Wirkung, um so erschütternder aber wirkt 
dann die Wahrnehmung, daß alle innere, von überlegener Macht ge- 
tragene Kräftigung der geistigen Bewegung nicht nur zu keinem 
reinen Sieg, sondern nicht einmal zu einem sicheren Fortschritt ver- 
hilft; übermächtige Widerstände brachten alles geistige Leben ins 
Stocken und drohten allen bisherigen Gewinn in Verlust zu ver- 
wandeln. Einer so kritischen Lage kamen die historischen Religionen 
zu Hülfe durch die Vorhaltung eines neuen Lebens aus einer innigeren 
Gemeinschaft mit Gott. Was sich bei ihnen auch an Verwicklung 
zeigt, das verhindert wohl ein sofortiges Einschlagen der hier emp- 
fohlenen Wege, nicht aber zerstört es die Möglichkeit der Grundbe- 
hauptung, der Behauptung von einem neuen Verhältnis zum höchsten 
Wesen und einer daraus quellenden neuen Wirklichkeit Diese neue 

Siebert, Belig^onsphilosophie. 



66 ^' Kfl-P- I^iö gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis* 

Wirklichkeit nun kann der unmittelbaren Wahrnehmung nicht als 
Ganzes entgegenscheinen, sondern ihr nur in einzelnen Äußerungen 
zugänglich sein. Diese Äußerungen könnten aber weiterführen, wenn 
sie sich bei näherer Betrachtung als Stücke eines größeren Zu- 
sammenhanges darstellten, und wenn sich bei Verfolgung dessen 
immer weitere Ausblicke eröffneten, bis schließlich eine neue Welt 
vor unsern Augen stände. Es gilt also irgendwelchen Ausgangspunkt 
zu gewinnen, der eben mit dem, was ihm charakteristisch ist, eine 
neue Ordnung der Dinge bekundet. 

Als solcher Ausgangspunkt dient Eucken ein Problem der Moral^ 
nämlich die Tatsache, daß auf einer gewissen Höhe des Lebens die 
Forderung der Feindesliebe erscheint. Feindesliebe ist entweder eine 
leere Phrase oder ein überschweres Problem. Wie steht es nun mit 
ihr? Ist sie wirklich nicht mehr als ein gleißender Schein, und 
müssen wir damit abschließen, daß Freund Freund und Feind Feind 
ist, daß wir diesem lediglich Gerechtigkeit schulden, unsere Liebe- 
aber für jenen aufbewahren? So dachte die Höhe des Griechentums, 
so hat es auch Konfucius bewußt und nachdrücklich gelehrt. Aber 
so gewiß inzwischen große Erschütterungen und Weiterbildungen im 
menschlichen Leben erfolgt sind, so gewiß ist jener Abschluß für 
uns unerträglich geworden, so gewiß kann das Gebiet des Gegen- 
satzes und Kampfes nicht unsere letzte und ganze Welt sein. 
Zwingend ergriff die Menschheit das Verlangen nach einer neuen 
Ordnung der Dinge, die jenseit des Kampfes liegt, die aus einer Ge- 
meinschaft des Friedens allen Zwist und Spalt aufhebt und ein posi- 
tives Verhältnis auch zu denen herstellt, gegen die wir sonst heiß 
zu kämpfen haben. An dieser Stelle vermag Feindesliebe hervorzu- 
brechen, aber sie vermag es nur unter Voraussetzung und Aneignung 
einer neuen Ordnung der Dinge, sie verlangt eine neue Welt. Und 
diese neue Welt erfüllt nicht die ganze Breite der Dinge, sie wird 
nicht zum natürlichen Dasein des Menschen, sondern sie behält eine 
Welt neben sich, der sie sich überlegen fühlen darf, die sie aber 
nicht einfach aufheben kann. 

Das Problem der Feindesliebe ist aber nur ein Ausschnitt eines 
allgemeineren Problems, ob die oberste Herrschaft über unser Leben 
der Gerechtigkeit oder der Liebe gebühre. Es hatte seinen guten 
Grund, daß die altgriechischen Denker für die Gerechtigkeit eintraten, 
für Gerechtigkeit in dem weiten Sinne einer Ordnung gemäß dem 
Verdienst; jeder sollte erhalten, was ihm zukommt, selbst die Liebe 
sollte sich bemessen nach dem Grade der dargebotenen Liebe. Solche 
Fassung des Ideals enthielt den stärksten Antrieb zur Aufbietung 



b. Rudolf Eucken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 67 

aller Kraft, zur Umsetzung alles Vermögens in wirksame Tätigkeit, 
zum Aufbau eines geordneten Eeiches der Vernunft; ein solches 
System der Gerechtigkeit konnte soweit auch die Gnade in sich auf- 
nehmen, als etwaige Härten buchstäblicher Abmessung nach Milderung 
riefen und das summum ius zur summa iniuria werden konnte. Die 
Idee der Gerechtigkeit hat auf menschlichem Boden allererst eine zu- 
sammenhängende geistige Wirklichkeit mit gleichmäßiger Durch- 
bildung hervorgebracht, und für die Aufrechterhaltung dieser Wirk- 
lichkeit ist sie uns unentbehrlich. 

Wie kommt es nun, daß trotz solcher Leistungen die Gerechtig- 
keit dem Menschen nicht genügt, daß die weltgeschichtliche Be- 
wegung jenes Ideal der Gerechtigkeit überholt hat? Doch aus 
schmerzlicher Erfahrung oder Empfindung einer völligen Unzulänglich- 
keit aller menschlichen Leistung, wie sie unabweisbar wurde, sobald 
das menschliche Tun nicht mehr an dem anderer Menschen, sondern 
an der absoluten Vollkommenheit seinen Maßstab fand. Zur An- 
legung dieses Maßstabs aber zwang die wachsende Vertiefung des 
Lebens mit ihrer Aufdeckung einer Unendlichkeit in unserm eigenen 
Wesen. Damit erfolgte ein großer Umschlag. Daß Maß der Gerechtig- 
keit wurde zu einer unerträglichen Härte, die Schätzung nach der 
Leistung bedrohte den Menschen mit völliger Verdammung und Ver- 
werfung. Zugleich erwachte eine große Sehnsucht nach einer neuen 
Ordnung jenseit alles Rechnens und Messens, nach einer Rettung 
und Erhöhung des Menschen durch weltüberwindende Liebe. Eine 
solche Liebe kann nur unverdienter Art sein; der Gedanke des Ver- 
dienstes widerspricht ihrem innersten Wesen. Wie aber könnte ein 
solches Reich der Liebe aus dem eigenen Kreise des Menschen her- 
vorwachsen, muß es nicht aus göttlicher Kraft an den Menschen ge- 
langen? Nur sie kann ihm jenseit aller eigenen Leistung einen un- 
zerstörbaren Wert verleihen, indem sie ihn aus dem Verhältnis zu 
ihr ein neues Leben schenkt. So erschließt sich in jener echten 
Liebe eine neue Art der Wirklichkeit, so verstanden kann sie ein 
eigenes Gesetz enthalten und eine neue Ordnung aufbauen; abgelöst 
von jenen Zusammenhängen verliert sie alle Substanz und sinkt sie 
zur blinden Willkür und flüchtigen Laune. 

Daß hier in Wahrheit um eine Weiterbildung der Wirklichkeit 
gekämpft wird, das zeigt die Umkehrung der Werte, die sich in 
diesen Bewegungen vollzieht. Innerhalb des Geisteslebens beginnt 
eine völlig andere Schätzung durchzubrechen, als sie die erste Lage 
und den Durchschnitt der Arbeit beherrscht; was diese befriedigt, 
wird jener unzulänglich, und was diese verwirft, mag für jene einen 

5* 



68 2* ^&P* ^io gegenw* Hauptvertreter d. Eel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

Wert gewinneii. Es geht die Hoffnung durch die Menschheit, daJl 
auch das, was sich zunächst als Leid ausnimmt und auch in Wahr* 
heit Leid ist, irgendwie zur Förderung des Lebens dienen, ja daß 
selbst die Schuld sich in Segen verwandeln möge. Nur solche Hoff- 
nung läßt den Mut zum Leben gegenüber den ungeheuren Verwick- 
lungen drinnen und draußen aufrecht erhalten. Aber wie ist diese 
Hoffnung irgend zu verwirklichen? Durch ihre natürliche Kraft 
können Leid und Schuld nun und nimmer Gutes erzeugen, sie können 
nichts anderes als durch die Erschütterung des menschlichen Wesens 
eine neue, unabhängig von ihnen vorhandene Ordnung herauf- 
beschwören, den Menschen bereit machen, auch bei sich zu beleben, 
was aus überlegener Macht an ihn gebracht wird. 

So deutet sich uns eine Bewegung über das Leben und die 
Kultur, eine neue Art von Wirklichkeit an, die eine völlige Wandlung 
der Verhältnisse verspricht. Woher aber sollte jene Wirklichkeit 
stammen als aus dem letzten Grunde des Seins? Und so ist hier eine 
Tathandlung der Gottheit selbst, eine neue Erschließung gegenüber 
der Welt der Arbeit und Kultur anzuerkennen, eine Erschließung, 
in der das absolute Leben den einzelnen Lebenspunkten nicht durch 
die Vermittlung der Welt, sondern unmittelbar zugeht, in der also 
eine neue Art der Gemeinschaft, ein neuer Lebenskreis, eine neue 
Wirklichkeit gebildet wird. Dies in Gott gegründete Reich weltüber- 
legener Innerlichkeit, diese Eröffnung der letzten Tiefe des Seins 
darf im besonderen Sinn ein Reich Gottes heißen: denn es bildet 
eine neue Stufe innerhalb des Geisteslebens, eine große Welttatsaohe 
vor allem Tun, die Erschließung einer weltüberlegenen, aber in der 
Welt gegenwärtigen Tatsächlichkeit, ein Zurückgehen auf die letzte 
Ursache als die einzig mögliche Hülfe. Aber diese Weltüberlegenheit 
darf nicht als ein bloßes Asyl gelten dürfen, in das sich der Mensch 
vor den Nöten und Wirren des sonstigen Lebens einfach flüchten 
könnte; die Entfaltung der Religion bedeutet zugleich den Aufbau 
einer neuen Welt und den Kampf gegen die alte Welt. 

Li diesen Ausführungen ist auch schon über die geschichtlichen 
Religionen entschieden. Alle suchen zweifellos dies neue Leben ; sie 
sind darum alle Arbeiter an dem großen Werke, dem Menschen eine 
neue Stufe der Wirklichkeit zu eröffnen und gegenwärtig zu halten. 
Das bedeutet keineswegs eine unterschiedslose Gleichstellung der Reli- 
gionen; den Hauptunterschied macht dabei namentlich dies, ob zur 
Lösung der Aufgabe nur vorhandene Kräfte aufgerufen und zusammen- 
gefaßt werden, oder ob dafür eine völlige Umwälzung, die Schöpfung 
eines neuen Lebenskreises vollzogen wird; denn damit entscheidet 



b. Rudolf Encken und verwandte Denker (Claß und Tröltsoh). 69 

sich, ob die Religion nnr eine Weiterbildung der ersten Welt oder 
eine völlig neue Welt bringt, ob sie schließlich wieder in das Gebiet 
der Verwicklungen zurückführt oder endgültig über sie hinaushebt. 
Über den weiten Abstand des Christentums von den übrigen Reli- 
gionen kann hier nach Eucken kein Zweifel sein; es erscheint, mit 
diesem Maßstab gemessen, nicht als eine besondere Religion neben 
andern, sondern als die Religion der Religionen, als die Erfüllung 
eines Verlangens, das deutlich oder versteckt durch alles Menschen- 
wesen und Menschenleben hindurch geht. Der Gott, der hier er- 
scheint, ist ein Gott der Macht und der Liebe, der gegenüber dem 
Ganzen der alten Welt eine neue Welt schafft und ein neues Wesen 
gibt, und der durch Eröffnung der eigenen Tiefe den Menschen zur 
Teilnahme am göttlichen Leben beruft und ihm dadurch einen un- 
zerstörbaren Wert verleiht. Und damit ist auch dem Menschen eine 
Gewißheit über sein Schicksal gegeben. Die unendliche Macht und 
Liebe wird das neue Leben des Menschen auch behüten, seinen gei- 
stigen Kern erhalten und gegen alle Gefahren und Angiiffe schützen. 
Möge die Welt für den äußeren Anblick bleiben, wie sie sich dar- 
stellt, ein Reich des Widerstandes und des Dunkels, mögen die 
Hemmungen draußen und drinnen fortfahren, den Menschen einzu- 
engen und anscheinend zu zerstören, möge hier all sein Tun ver- 
geblich und verloren dünken und sein ganzes Dasein als nichtig und 
wertlos versinken, — durch das Eintreten des neuen Lebens aus 
Gott und einer neuen Welt in Gott ist alles von innen her ver- 
wandelt, alle Tiefe des Dunkels muß die Helle des Lichts nur um 
80 stärker empfinden lassen; ja es wird sich inmitten aller Rätsel- 
haftigkeit unserer Erfahrung die Hoffnung, die Überzeugung be- 
festigen, daß selbst das Böse in der Welt, so unerklärlich seine Ent- 
stehung auch ist, schließlich der Entwicklung des Guten dienen 
muß. — 

Wir fügen dem bisher Erörterten noch ein paar Worte hinzu. 
Es gilt nämlich zu entscheiden, ob die Euckensche Erörterung nicht 
etwas bloß in der Luft Schwebendes ist, sondern ihr eine Tatsäch- 
lichkeit entspricht, ob in Wahrheit ein neuer Lebensprozeß in unsorm 
Dasein ersichtlich wird; denn nichts anderes als dies kann nach dem 
Zusammenhang der Euckenschen Untersuchung zu Grunde liegen. 

In der allgemeinen Idee des Geisteslebens lag die Forderung 
eines Beisichselbstseins, einer substantiellen, nicht bloß subjektiven 
Innerlichkeit. Diese kam an der Weltarbeit nicht zu siegreichem 
Durchbruch, ihre Widerstände drängten sie in den Hintergrund und 
drohten sie zu einer bloßen Begleiterscheinung eines seelenlosen 



70 2. Eap. Die gegen w. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

Weltprozesses zu machen. Gleichwohl können alle noch so über- 
wältigenden Erfahrungen die Überzeugung des Menschen nicht er- 
schüttern, daß das, was in seiner Innerlichkeit vorgeht, einen selb- 
ständigen Wert hat, daß ihm seine eigene Seele eine große Aufgabe 
stellt, die er verkennen und verfehlen, aber nie aufgeben kann. 
Und dieses Inneuleben der Seele, das manchmal auch in hohem 
Grade unbequem werden kann, kann sich nicht entfalten, ohne auch 
einen eigentümlichen Anblick der Welt zu verlangen, ohne über den 
Abschluß bei der seelenlosen Arbeit hinauszustreben. 

Solche Bewegung verbleibt femer nicht bei bloßen Stimmungen 
und Wünschen. Es entwickelt sich eine geistige Art, ein seelischer 
Gesamtstand des Menschen, ein Reich des Gemütes in einer Über- 
legenheit, ja in einem Gegensatz zur Arbeit, inmitten aller Hemmungen 
und Enttäuschungen der Arbeit. Versetzen wir uns auf die Höhe 
der Menschheit! Den großen leitenden Gestalten pflegen wir einen 
geistigen Charakter zuzuschreiben. Was heißt das aber anders, als 
daß sich im Ringen der Einheit ihrer Seele mit dem Ganzen der 
Wirklichkeit ein eigentümlicher Lebensprozeß gestaltet! Erst daraus 
empfängt ihr Schaffen eine geradezu dämonische Macht über die Ge- 
müter. Nur das sind die wahrhaft großen Persönlichkeiten, die in 
weltumspannendem Leben und Sein einen eigentümlichen Typus des 
Geisteslebens prägen, eine charakteristische geistige Wirklichkeit in 
sich verkörpern. Und was diese Männer sichtbar verkörpern, das 
durchdringt als eine allgemeine Bewegung die ganze Menschheit, als 
ein Verlangen nach Geist über der Arbeit und als Geist in der Arßeit; 
denn in der Arbeit kann er nur sein, wenn er zuvor über der Arbeit 
aus einer Belebung und Erhöhung des ganzen Menschenwesens ent- 
sprungen ist. Wie wäre aber dieses Streben mit seiner Entwicklung 
einer neuen Lebenssphäre möglich, wenn nicht der Mensch in seinem 
geistigen Sein zu einer inneren Einheit erhoben wäre durch die 
Gegenwart einer absoluten Einheit? Ohne eine begründende Tathand- 
lung göttiichen Ursprungs ist alles menschliche Streben nach jenem 
Ziele nichtig. 

Aber noch mehr! Als Sache des bloßen Menschen ist Persönlich- 
werden eine bare Unmöglichkeit und eine eitie Überhöhung der 
bloßen Naturkraft; was immer er in menschlichen Dingen mehr ge- 
worden ist, das ist er aus göttlicher Kraft geworden, und damit be- 
zeugt er die lebendige Gegenwart solcher Kraft. Auch die Erfahrung 
zeigt, daß rasch das Niveau der Persönlichkeiten sank, wo das reli- 
giöse Problem zurücktrat. Alles Streben zur Persönlichkeit aber 



b. Rudolf Eucken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 71 



"wird ein bloß subjektives Gebahren, wenn es nicht einen Gegenwurf 
an einer absoluten Einheit findet. 

Die Bewegung zu einer weltüberlegenen Innerlichkeit erstreckt 
sich aber aus dem Ganzen des Lebens auch in die einzelnen Gebiete. 
Wo Wissenschaft, Kunst, Moral usw. die eigene Aufgabe groß fassen, 
da empfinden sie die Seelenlosigkeit dessen, was das tägliche Leben 
als Kultur, Glück usw. anpreist, da unternehmen sie einen Kampf für 
die Seele des Lebens. Was sich aber dabei an weit- und arbeit- 
überlegener Innerlichkeit entwickelt, weist schließlich auf ein direktes 
Verhältnis des Gemüts zum absoluten Loben zurück; es bricht bei 
völliger Ablösung von der Religion zusammen, es ist mit der Tat- 
sächlichkeit seiner Entwicklung ein Zeugnis für die Religion. 

Ist so in der weltüberlegenen Innerlichkeit die Stätte eines neuen 
Lebens mit Recht erkannt, so läßt sich auch seine Entwicklung nach 
ihren Hauptrichtungen verfolgen. Nichts ist für dieses Leben charak- 
teristischer als eine Neubegründung und damit endgültige Sicherung 
der Liebe. Was auf dem Gebiet der Natur Liebe heißt, trägt diesen 
Namen nur mißbräuchlich; was das menschliche Leben in seinen 
eigenen Zusammenhängen davon aufweist, ist matt und voll minder- 
wertigen Scheins. Warum verzichtet der Mensch also nicht auf Liebe, 
bei der er trotz alles Widerspruchs der Erfahrung und auch seines 
eigenen Tuns festgehalten wird? Darum nicht, weil alles Wirken und 
Schaffen innerer Art, weit über die direkten Beziehungen von Mensch 
zu Mensch hinaus, weil alles wissenschaftliche und künstlerische 
Streben ein Heraustreten aus dem bloßen Ich verlangt, eine Ver- 
setzung in den Gegenwurf, ein Denken und Leben aus der neuent- 
standenen Gemeinschaft. Überall hier wird aus den Menschen und 
Dingen in der Verbindung etwas anderes als sie vorher waren, über- 
all erweist die Liebe eine erhöhende und umwandelnde Kraft, ja sie 
erscheint trotz des Überwiegens des Selbstischen, Kleinen, Gemeinen 
im menschlichen Dasein als die weltüberwindende Macht, stark wie der 
Tod, unvergänglich, wenn alles übrige vergeht. Wie anders ist dieser 
Widerspruch zu lösen als durch die Anerkennung einer unendlichen 
Liebe, welche auch den Menschen der Liebe fähig macht, indem sie 
ihn an sich zieht? Daß alles Vermögen menschlicher Liebe aus jener 
unendlichen Liebe stammt, das wird besonders ersichtlich bei den 
großen Persönlichkeiten, welche durch Aufdeckung neuer geistiger 
Zusammenhänge die Menschen einander innerlich näher brachten, 
namentlich bei den Helden der Religion. Gewöhnlich war es nicht 
die menschliche Umgebung, die ihnen viel Liebe 7.uführte; sie standen 
zu ihr eher in schroffem Gegensatz und haben die geistige Einsam- 



72 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. EeL-Phil. auf philosophisch neuer Basis, 

keit des Menschen als Menschen im höchsten Grade erfahren und emp- 
funden. Wenn sich trotzdem, wie z. B. bei Jesus Christus, in ihnen ein 
mächtiges Feuer der Liebe entzündete, das auch die trägen Gemüter ergriff 
und zur belebenden Kraft für das Ganze der Menschheit wurde, war 
das bloß ein stürmisches Aufwallen subjektiven Vermögens ohne alle 
Substanz, oder waren sie im Recht mit der Überzeugung, von höherer 
Kraft erfüllt und getragen zu werden, aus einem unendlichen Quell 
der Liebe zu schöpfen? So schafft erst die Religion die echte Liebe, 
alle Humanität ohne Religion oder gar im Gegensatz zur Religion ist 
ein Unding. Sie kommt nicht aus ohne eine unwahre Idealisierung 
des tatsächlichen Standes, die zu immer neuen Enttäuschungen führt; 
sie gibt der Liebe einen weichlichen und spielenden Charakter, vor 
dem der unermeßliche Ernst einer in Gott gegründeten Liebe sicher 
bewahrt; sie erfüllt den Menschen mit einer Selbstzufriedenheit, die 
alle innere Weiterbildung hemmt, kurz sie karikiert die große Idee 
und gehört zu jenen tragischen Erscheinungen, wo der Mensch das 
Gegenteil dessen erreicht, was seiner Absicht als Ziel vorschwebt 
Und erst dieses Neuwerden des Lebens aus unendlicher liebe heraus 
rechtfertigt das Festhalten am Sein, wie es trotz alles Leides und 
aller Hoffnungslosigkeit einer Wendung zum Besseren aus eigener 
Kraft durch die Menschheit geht. Weltanschauungen und auch Reli- 
gionen haben wohl eine absolute Verneinung versucht, aber wenn 
die Verneinung nicht von vornherein eine Bejahung enthielt, so 
ist sie bald wieder in eine solche umgebogen. War das bloß eine 
Hartnäckigkeit des Naturtriebes , eine Unausrottbarkeit gemeiner 
Lebensgier? Keineswegs; denn die Beziehung selbst hat als geistige 
Selbsterhaltung soviel Mühe und Arbeit, soviel Not und Sorge über 
den Menschen gebracht, daß vom Standpunkt des selbstischen Glücks 
sich weit eher eine Preisgebung des Lebens empfohlen hätte. Also 
steckte in jenem Lebensdrange wohl ein metaphysisches Element 
jenseit aller natürlichen Selbstsucht, der Mensch wurde beim Leben 
festgehalten durch eine höhere Macht, durch eine Zugehörigkeit zu 
einer unsichtbaren Ordnung. Wie aber kann diese Grundüberzeugung 
eine lebendige und bewegende Kraft in ihm werden, wenn nicht 
irgend welches Leben in ihm gesetzt ist, was unmittelbar ein Gut 
ist, was in seinem eigenen Inhalt seinen Wert hat? Da nun die 
Welterfahrung ein solches Leben nirgends bietet, so kann es nur aus 
dem absoluten Leben stammen und im Verhältnis zu ihm bestehen. 
Dadurch erst empfängt aller Lebensmut seine Rechtfertigung und 
Veredlung, und die tatsächliche Aufrechterhaltung desselben sowie 
der Lebensarbeit auch gegenüber vielen Hemmungen, Mißerfolgen 



b. Rudolf Eucken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 73 



und trüben Erfahrungen wird in diesem Zusammenhang ein Zeugnis 
für das Wirken einer weltüberlegenen Innerlichkeit 

Ebenso ist es auch mit der Freiheit. Äußerlich scheint sie 
nicht vorhanden zu sein, da der Mensch dem Gesetz der Not- 
wendigkeit unterworfen ist. Verbleibt trotzdem das Bewußtsein und 
die Notwendigkeit der Freiheit, so muß der tiefste Grund jenseit 
aller Verflechtung in die Welt, muß in dem Verhältnis zum absoluten 
Leben liegen, das uns allein in den Stand setzt, auch von der eigenen 
Natur frei zu werden. Ebenso ist es mit dem Verlangen nach Ewig- 
keit und Unendlichkeit. Sowohl beim einzelnen als auch bei der 
ganzen Menschheit muß alles Geistesleben in sich zusammenbrechen, 
wenn in ihm nicht durch alles Streben und Wandeln eine ewige 
Ordnung hindurchwirkt und bei sich festhält, was der bloßen Zeit 
nach untergeht. Nur bei dieser Grundlage kann sich die Moral der 
bloßen Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit entwinden und einen Selbst- 
wert gewinnen; hier ist die tiefste Wurzel der philosophischen Spe- 
kulation, die sonst ein überflüssiges und fruchtloses Unterfangen 
scheinen mag; auch die Erziehungs- und Unterrichtsaufgabe hat sich 
nur da als eine zwingende Pflicht dargestellt und eine hinreißende 
Kraft gewonnen, wo die Bildung des Individuums für die Ergreifung 
der göttlichen Wahrheit notwendig schien, an der das Heil der un- 
sterblichen Seele hing. 

So steigt ein Eeich weltüberlegener Innerlichkeit auf, und es 
vollzieht sich damit eine Eettung der Werte, die sich am Ganzen 
der Welt nicht zu behaupten vermögen ; dem Menschen aber eröffnet 
sich die große Aufgabe, dieses Reich mit auszubauen und über eine 
widerstrebende Welt zum Siege zu führen. — Wir sagen dem 
großen Forscher herzlichsten Dank, der es verstanden hat, in so treff- 
licher Weise Religion und Wissenschaft zu verbinden und die Wahr- 
heit der ersteren gegen alle feindlichen Angriffe sicher zu stellen. 

Gustav Claß wurde 1836 in der preußischen Oberlausitz ge- 
boren, studierte Theologie und Philosophie, war lange Jahre als Lehrer 
tätig, habilitierte sich 1874 als Privatdozent für Philosophie, wurde 
später a. 0. Professor derselben in Tübingen und wirkte seit 1878 
als 0. Professor in Erlangen. Seit 1901 ist er emeritiert. Er schrieb 
»Die metaphysischen Voraussetzungen desLeibnizschen Determinismus« 
(1874), »Ideale und Güter« ^1886), »Untersuchungen zur Phänomeno- 
logie und Ontologie des menschlichen Geistes* (1896) und »Die 
Realität der Gottesidee« (1904). 

Claß' Religionsphilosophie basiert auf den »Untersuchungen zur 



74 2. Kap. Die gegenw. Hauptverteter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 
i 

Phänomenologie und Ontologie des menschlichen Geistesc. Der be- 
herrschende Gesichtspunkt derselben ist die Frage nach dem wahrhaft 
Seienden oder dem Realen. Claß teilt hier das ganze menschliche 
Handeln in die drei Arten des religiösen, rechtlichen-moralischen und 
kulturlichen. »Was wir historisch konstatieren können, ist immer 
eine konkrete Gestaltung des religiösen oder des rechtlich-moralischen 
oder des kulturlichen Lebens«. Als solche heißt Claß die Gestaltung 
ein historischer Inhalt. Dieser Inhalt beeinflußt die Individuen in 
naturmäßiger und geschichtlicher Weise. Beides geschieht durch 
Vermittlung der jedesmaligen menschlichen Gesamtheit, in welcher 
der betreffende Inhalt die Herrschaft hat. Es geschieht aber auch 
unmittelbar, sofern der wesentliche Extrakt des Inhalts in der Form 
einer »intellektuellen Anschauung« von dem Individuum erlebt wird. 
Die Fähigkeit zur intellektuellen Anschauung ist dem Menschen ange- 
boren, den Inhalt aber gibt nicht er, sondern empfängt ihn von der ob- 
jektiven geschichtlichen Seite. Wenn man dann den Begriff eines 
historischen Inhalts weiter durchdenkt, so zeigt sich, daß der letzte Kern 
desselben aus einem organisch zusammenhängenden System von Ge- 
danken besteht, das nicht nur der intellektuellen Anschauung den 
füllenden Inhalt gibt, sondern auch sonst die Individuen zu Ver- 
tretern seiner Sache erzieht. 

Auf der andern Seite wirken aber auch die Individuen auf die 
historischen Inhalte und damit auf die regierenden Gedankensysteme. 
Sofern sie sich dabei individualistisch verhalten, d. h. von ihren bloß 
tatsächlichen Bedürfnissen geleitet werden, können sie nur zerstörend 
wirken. Daneben gibt es aber auch ein höheres bewußtes Arbeiten 
an der Ausgestaltung der Inhalte, ebenso eine nicht individualistisch 
gesinnte, die gedankliche Fassung des inhaltlichen Lebenssystems 
positiv fördernde Kritik desselben. Beide ruhen auf einem Urteil 
über die äußere oder innere Seite des Inhalts, welches zwar im In- 
dividuum auftritt, aber nicht diesem als Individuum angehört. Das- 
selbe Urteil spricht auch in solchen Individuen, welche nicht eine 
historische Wirksamkeit ausüben. Wir haben also zuerst das organisch 
verknüpfte System von Gedanken, welches Forderungen an 
das Individuum richtet Diesen Forderungen antwortet das im In- 
dividuum ergehende, aber objektive Urteil entweder billigend oder 
mißbilligend, und dem billigenden Urteil folgt unmittelbar das Ge- 
fühl der Verpflichtung. 

Wendet man sich nun von dieser »phänomenologischen« zur 
»ontologischen« Betrachtung der Phänomena, so ist zu beachten, daß 
nicht das ganze menschliche Leben durch die aufgezählten Formen 



b. Rudolf Eucken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 75 



umspannt ist: das individualistische, d. h. das gewöhnliche Leben ist 
ausgeschlossen. Der von seinen tatsächlichen Bedürfnissen geleitete 
Mensch fühlt sich frei, v^ährend er in Wahrheit von dem Verhältnis 
abhängt, das zwischen ihm als bloßer Tatsache und den umgebenden 
Tatsachen besteht. Diesem Naturleben gegenüber trägt das andere 
Leben, welches in Gemäßheit der Forderungen der Gedankensysteme 
verläuft, einen sachlichen Charakter; denn es ist in den Forderungen, 
im Urteil, in den Verpflichtungsgefühlen und Gehorsarastaten lediglich 
durch Gedanken bestimmt. Was aber in seinem Anfang, Fortgang 
und Ziel nur durch Gedanken bestimmt ist, das nennen wir geistiges 
Leben. Das zeigt sich zunächst bei den Momenten der unpersön- 
lichen Geistigkeit, d. h. bei der Entstehung und Behauptung regierender 
Gedankensysteme, bei ihrer Fortbildung, bezw. bei der an ihnen ge- 
übten Kritik. Das tritt aber auch bei den Momenten der persön- 
lichen Geistigkeit hervor, namentlich bei dem Gehorsam, der den 
Forderungen geleistet wird. Ja, dieser Gehorsam besteht in Taten, 
deren Zusammenhang und Bedeutsamkeit wächst, und so entsteht 
-eine persönliche geistige Entwicklung, welche sich stets unter der 
Ägide des Gedankens befindet. 

Wenn man auf Grund der gewonnenen Einsicht nun nach dem 
Wesen des Geistes fragt, so besteht derselbe nach Claß aus zwei Ele- 
menten. Das eine ist das unpersönliche Denken mit seiner Tendenz 
auf theoretische und praktische Wahrheit, das andere ist das mensch- 
liche Ich, welches auf wahre Gedanken zu reagieren vermag. Da- 
neben bildet dasselbe Ich den passiven Mittelpunkt der mensch- 
lichen Natur und ist immer zunächst naturmäßig bestimmt. Also 
Terbindet das Ich die zwei Reiche und stellt den Punkt dar, wo das 
praktische Denken allein Einfluß auf die menschliche Natur ge- 
winnen kann. Geist und Seele sind danach nicht' substantiell ver- 
schieden, sondern die menschliche Seele ist der Anlage nach geistig. 
Das unpersönliche Denken mit seiner Wahrheitstendenz und das 
Ich als Kraft gebende Instanz sind die zwei ursprünglich geistigen 
Elemente, von denen die reale Vergeistigung des ganzen seelischen 
Lebens ausgeht. Das aktuelle geistige Leben beginnt erst da, wo 
ein unbedingter Imperativ, der in ein Gedankensystem gehört, in der 
Seele gesprochen hat und vom Ich befolgt worden ist. Von da ab 
geht die Vergeistigung, deren Ende nicht abzusehen ist, ihren Gang. 
Dagegen findet eine Vergeistigung des körperlichen Lebens nicht 
-statt, sondern nur eine Disziplinierung desselben; das Schicksal des 
individuellen Naturlebens ist damit: Werden und Vergehen. An diesem 
•Schicksal hat aber der persönliche Geist nicht teil, er ist unsterblich. 



76 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

Die Unsterblichkeit des persönlichen Geistes ist ein Postulat. Wie 
steht es nun aber mit der Gottesidee? Ist sie auch nur ein Postulat, 
das dem Postulat der Unsterblichkeit nur einen Unterbau gibt? 

Claß verneint die Frage. Eine erkenntnistheoretische Unter- 
suchung läßt ihn als die drei Grundbegriffe des reinen Denkens die 
drei Begriffe absolute Substanz als Bleibendes im Wechsel des Vielen^ 
absolute Kraft und vernünftiges absolutes Denken finden. Diese drei 
ergeben aber zusammen ein absolutes Ich mit absolutem Denken, 
dem die absolute Kraft als bleibende Fähigkeit zu Gebote steht. 
Wenn nun nach einem Elemente geforscht wird, in welchem der ab- 
solute Geist geoffenbart ist, so kann es nach Claß nur im Umfang 
der höchsten menschlichen Vorgänge gesucht werden. Das sind aber 
die Vorgänge des unbedingten Gebietens mit dem, was sich not- 
wendig an sie anschließt: Imperativ, Urteil und Verpflichtungsgefühl. 
Obwohl diese bei ihm normal vertreten sind, steht der Mensch den- 
noch einen Augenblick ihnen gegenüber still und fi'agt sich, ob er 
die Forderung wohl ausführen kann. Am Wollen fehlt es nicht, aber 
bei der menschlichen Schwäche am Können. Da ist es ihm denn, 
»als ob eine leise Stimme sagte: es wird gehen!« Sie ist bei »aller 
Unscheinbarkeit ebenso kategorisch wie der Imperativ, ebenso von 
dem Nimbus höherer Autorität umgeben, ganz eigentlich ein kate- 
gorischer Indikativ«. Sie unterscheidet sich wesentlich von den 
anderen Stimmen, die bei einer solchen Gelegenheit sagen: es wird 
schon gehen. Über ein »hoffentlich« oder »vielleicht« kommen diese 
Stimmen nicht hinaus; sie entspringen aber einer verstandesmäßigen 
Erwägung der in Frage kommenden Faktoren. Ganz anders der kate* 
gorische Indikativ. »Als ob er ein höheres Wissen in diesen Dingen 
hätte, teilt er dem angstvollen Menschen mit: es wird gehen, ob 
auch der Körper darüber zu Grunde geht, und du das Leben lassen 
mußt«. Also: wenn das Ich sich für das Gebot entscheidet, so wird 
die menschliche, zunächst seelische Natur diesem Entschluß keinen un- 
bedingten Widerstand entgegensetzen können; sofern das Ich einem 
als wahr erkannten Gedankensjstem folgt, ist persönlicher Geist vor- 
handen und von diesem menschlichen Geist sagt der kategorische 
Indikativ, daß ihm die Natur nicht unüberwindlich sei, er ist vielmehr 
derselben prinzipiell übergeordnet. Daß diese »Zusage« nicht vom 
Ich stammt, erklärt Claß für selbstverständlich: sie wendet sich ja 
gerade an das Ich und spricht ihm Mut zu. Sie muß vielmehr einer 
Instanz entstammen, welche dem unpersönlichen Denken und Ich 
verwandt ist, aber gleichwohl über dem menschlichen Geist und über 
der Natur steht. Diese Instanz kann nur der absolute Geist selber sein. 



b. Rudolf Euoken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 77 

Das ursprüngliche Postulat des absoluten Geistes wird so durch die 
Zusage als Realität erwiesen. Nach allem können wir Claß' Ansicht 
dahin präzisieren : Die Realität des menschlichen Geistes ist uns durch 
den kategorischen Imperativ der Pflicht verbürgt, die Realität des 
absoluten Geistes aber durch die »Zusage«, einen autoritativen Ge- 
danken, den er als Stimme Gottes interpretiert. 

Was nun weiter die Frage nach der Erkennbarkeit Gottes an- 
langt, so findet eine direkte Gotteserkenntnis nach Claß nicht statt. 
Gott ist ihm ein Grenzbegriff, wir können uns nicht auf den Stand- 
punkt Gottes versetzen, auch nicht seine immanenten Verhältnisse 
vollständig verstehen. Wir haben wohl die apriorische Vernunftidee 
des absoluten Geistes, wir haben auch a posteriori die Zusage, daß 
Gott die Menschen im Kampf des Geistes mit der Natur nicht allein 
läßt, aber damit ist über den Inhalt der Gottesidee noch wenig oder 
nichts gesagt. Claß statuiert deshalb neben dieser »unhistorischen 
Offenbarung Gottes als des absoluten Geistes« eine »historische Tätig- 
keit Gottes«, durch welche er »providentielle Persönlichkeiten« auf 
allen Gebieten des geistigen Lebens beruft, um die Entwicklung des 
menschlichen Geisterreiches weiter zu führen. Unter ihnen aber hebt 
sich ihm Christus als derjenige heraus, in dessen Person und Grund- 
anschauung ein direktes Handeln Gottes denkbar wird. Hier wird 
offenbar, daß die Gesinnung Gottes dem Menschen gegenüber nur 
Liebe ist. — 

Wir sehen leicht, das Ganze der Claßschen Religionsphilosophie, 
die wir hier kurz entwickelt haben, macht den Eindruck eines 
durchaus Neuen, dennoch ist soviel ersichtlich, daß die Realität 
der Gottesliebe durch ihn sicher gestellt ist: sie ist im mensch- 
lichen Denken angelegt und hat auch außerhalb desselben 
ein wirkliches Sein. Im menschlichen Geistesleben tritt die 
Realität des absoluten Geistes hervor, sofern die »Zusage« nur aus 
seinem Handeln, nicht aus dem des menschlichen Geistes erklärt 
werden kann. Entsprechend sind in der Geschichte des geistigen 
Lebens die providentiellen Persönlichkeiten, zuhöchst Christus, mit 
Recht nicht aus menschlichen Entwicklungen, sondern nur aus gött- 
lichen Taten zu begreifen. Wie der kategorische Imperativ einen 
Bewußtseinsvorgang darstellt, der nicht psychologisch, sondern nur 
pneumatologisch erfaßt werden kann, so sind auch die Offenbarungen 
der Realität des absoluten Geistes nur Vorgänge, nicht substantielle 
Wesenheiten, die innerhalb des menschlichen Geistes ihr Dasein 
hätten. Die »Zusage« ist ebenso ein Bewußtseins vor gang wie die 
providentiellen Persönlichkeiten historische Vorgänge sind. Das Auf- 



78 *^- Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis- 

faUende, was diese Bezeichnung hat, schwindet, wenn man bedenkt^ 
daß diese Vorgänge Handlungen sind. Wir haben es zu tun mit 
unhistorischen und historischen Handlungen, durch welche sich Gott 
an der Entwicklung des menschlichen Geisterreiches beteiligt und die 
seinen ethischen Charakter ins helle Licht rücken. 

Ernst Tröltsch wurde am 7. Februar 1865 in Augsburg ge- 
boren, studierte Theologie und Philosophie und wirkt als Professor 
der ersteren in Heidelberg. Er schrieb »Die wissenschaftliche Lage 
und ihre Anforderungen an die Theologie« (1900), »Die christl. Welt- 
anschauung und die wissenschaftlichen Gegenströmungen« (Ztschr. 
für Theologie und Kirche EI und IV), »Die Selbständigkeit der Reli- 
gion« (ibidem V und VI), »Die Absolutheit des Christentums und die 
Religionsgeschichte« (1902), »Theologie und Religionswissenschaft de& 
18. Jahrh.« (1903), »Das Historische in Kants Religionsphilosophie« 
(1904), »Religionsphilosophie« (in Windelbands Festschrift für Kuno 
Fischer »Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts« 1904)^ 
»Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft« 
(1905) u. a. 

Tröltschs Verwandtschaft mit Eucken zeigt sich besonders in zwei 
Punkten, einmal in der Anerkennung eines allem seelischen Mecha- 
nismus überlegenen Geisteslebens und sodann in der vollen Geltend- 
machung einer historischen Betrachtung und Behandlung des reli- 
giösen Problems. Die letzte und wichtigste Frage der Religions- 
philosophie bildet für Tröltsch die Frage nach dem Erkenntniswert 
oder dem Wahrheitsgehalt der Religion. Es ist ihm die letzte Frage- 
stellung, der die Psychologie durchaus vorangehen und zu Grunde 
liegen muß. Wo das vernachlässigt wird und der Wahrheitsgehalt 
der Religion etwa bloß aus dem Ganzen der erkenntnistheoretischen 
Begriffe entwickelt und erst nachträglich an die psychologische 
Wirklichkeit angepaßt wird, entstehen für Tröltsch mit Recht stets 
Spiritualisierungen, Modernisierungen und Verblassungen der Reli- 
gion, die mit der wirklichen nur entfernte Beziehung haben. Infolge- 
dessen lehnt er bei der Frage, wie überhaupt eine Erkenntnistheorie 
der Religion anzufassen ist, die Auffassung derselben als eines Pro- 
dukts des begrifflichen metaphysischen Erkenntnisstrebens völlig ab, 
es ist verkehrt, sie auf dessen letzten Beweisgrund, auf den onto- 
logischen Beweis zu stützen. Der ontologische Beweis ist nur ein 
logischer Reflex der religiösen Überzeugung von einem Sinn und 
Grund der Welt, und diese letztere daher immer das logische Prius 
des ontologischen Beweises. Ebenso ausgeschlossen ist ihm die so- 



b. Eudolf Eucken und verwandte Denker (Claß und Tröltsch). 79- 

genannte »Abbildtheorie«, die in dem religiösen Erlebnis die trän- 
scendente Wirklichkeit einfach als Erfahrung abzubilden meint, denn 
die Erfahrung ist nirgends Abbildung, sondern überall Erzeugung und 
Gestaltung aus Gesetzen des Bewußtseins. So ist ihm auch die Eeli- 
gion ein solches Gesetz der Gestaltung, das aus dem Wesen des Be- 
wußtseins hervorgeht und dessen Erkenntniswert oder Wahrheits- 
gehalt lediglich durch die Zurtickführung auf ein solches Gesetz de& 
Bewußtseins sichergestellt werden kann, und es kommt nur darauf 
an, den Zusammenhang dieses Gesetzes mit der gesetzlichen Gesamt- 
ökonomie des Bewußtseins zu erfassen, um das Gesetz nicht bloß als 
ein aus der Zentralorganisation des Bewußtseins selbst fließendes zu 
zeigen und damit den letzten Punkt für den Auf weis des Geltungs- 
wertes zu erreichen, der überhaupt zu erreichen ist. Hier haben ihm nach 
dem Vorgang Fichtes Eucken und Claß mit Eecht den Zentralpunkt 
des Bewußtseins, den Gegensatz der erscheinungsgesetzlichen Seelen- 
natur gegen das sich als Einheit fassende Normbewußtsein oder den 
Geist zum Ausgangspunkt gemacht und in der Eeligion die Erfassung 
des Normbewußtseins als transcendenter Realität erkannt. Während 
alle andern Bewußtseinsgesetze, das Denken, der sittliche Wille, das 
Gefühl Formen sind, zeigt die Eeligion die Eealität, aus welcher diese 
Normen fließen, und in der sie das sie tragende Wesen haben. 
Freilich kann hier die Erkenntnistheorie der Religion nach Tröltsch 
noch nicht bei ihrem letzten Worte sein. Die Religionspsychologie 
zeigt die eigentümlichen Zwischenzustände zwischen voller Latenz 
und voller Aktualität der Religion und erhellt, wie in der Aktuali- 
sierung der Religion erst die eigentliche und wirkliche Religion zu 
stände kommt, die vom Willen und der Selbstbearbeitung festgehalten 
und mit der Wiederholung erleichtert werden muß, wenn es zu 
wirklicher Religiosität kommen soll. In dieser Erregung oder Ak- 
tualisierung liegt daher für Tröltsch das eigentliche und letzte Pro- 
blem der Erkenntnistheorie der Religion. In der »aktualisierten Reli- 
gion« vollzieht sich erst die innige Berührung mit der transcendenten 
Realität, die das eigentliche Grund wesen der Religion bildet und 
immer nur mit den von der Religion selbst geprägten Worten be- 
schrieben werden kann. Sie ist die »Inspiration, die Offenbarung, 
die religiöse Erfahrung oder das religiöse Erlebnis«. 

Eine Darstellung der Religionsphilosophie wird demnach nach 
Tröltsch nicht lediglich die von der letzten Zeit gesponnenen Fäden 
zusammenziehen und etwa einfach das Ergebnis des gegenwärtigen 
Standes ziehen können, — eine solche Methode würde zum haltlosen 
Eklektizismus und würde nur einer der schlimmsten Denkgewohn- 



80 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

heiten der Hegeischen Schule entsprechen — , sondern es gilt die Er- 
greifung eines bestimmten und klaren Ausgangspunktes, was ohne 
vielfachen Gegensatz gegen herrschende Meinungen nicht möglich ist. 
Tröltsch seinerseits sieht hier, wie schon bemerkt, den Kernpunkt in 
der psychologisch -erkenntnistheoretischen Analyse des religiösen Be- 
wußtseins, die er aber bei aller Heranziehung der modernen Psycho- 
logie doch im Sinne des Kritizismus versteht. Dieser ist dahin fort- 
zubilden, daß er Baum für die Grundkategorien aller aktuellen Religion, 
für die Begriffe der Inspiration und Offenbarung gewinnt. Der Ver- 
such, diese ganz besonderen und konkreten Kategorien in einem 
bloßen Bewußtseinsgesetz untergehen zu lassen, ist Tröltsch die Er- 
setzung der aktuellen Religion durch die latente und damit eine 
Verkennung ihrer Wirklichkeit. An diese Analyse hat sich eine 
logisch begründete Geschichtsphilosophie der Religion anzuschließen, 
welche die moderne Religionsgeschichte sorgfältig beachtet, aber sie 
doch erst durch philosophische Betrachtung zu der Wertabstufung 
der Religionen bringen kann. Tröltsch findet diese Wertabstufung 
in der Unterscheidung der prinzipiellen Naturreligion des alten Mythus 
und Kultus und der prinzipiellen ethischen Persönlichkeitsreligion 
der Symbolisierung alles Normativen in der göttlichen Persönlichkeit. 
Den endgültigen Durchbruch der zweiten Stufe erkennt Tröltsch im 
Christentum, das, Weltvemeinung und Weltbejahung gleicherweise 
aus sich entfaltend, die religiöse Transzendenz und Immanenz als die 
beiden konstitutiven Grundelemente der Religion in einer begrifflich 
nicht aufzulösenden Weise verbindet und seinen Symbolismus vom 
Mythos prinzipiell zu trennen im stände ist. 

Damit ist ihm auch in den Grundzügen die metaphysische Frage 
beantwortet. Das Prinzip der kritischen Bewußtseinsanalyse erkennt 
die kritische Trennung von Glauben und exaktem Wissen an. Wenn 
auch die wissenschaftlich -metaphysische Hypothese vom Kritizismus 
keineswegs völlig ausgeschlossen scheint, so ist diese Hypothese doch 
immer etwas anderes als der religiöse Glaube. Das Verhältnis jener 
Hypothese zu diesem Glauben und seinen metaphysischen Elementen 
ist ein Verhältnis der Wechselwirkung, wo eines das andere beein- 
flußt: die Metaphysik findet unter den zum Ganzen zusammenzu- 
denkenden Wirklichkeitsinhalten die Religion vor und kann ihr den 
Einfluß auf ihre letzten Begriffe nicht, mehren; andrerseits muß die 
Religion ihre Gedankenwelt auf das wissenschaftliche Weltbild der 
modernen Menschheit, insbesondere auf die höchsten Generalisationen 
der empirischen Wissenschaften, auf Kosmologie, Geologie, Biologie 
und Universalgeschichte einrichten. Dabei wird die Darstellung be- 



c. Hermann Siebeck und Günther Thiele. 81 



sonders das Problem der Freiheit, der Sünde und des Übels, das eine 
Schranke für jede rationale Hypothese über den Weltgrund bildet, 
ins Auge zu fassen haben und muß erkennen, daß es hierfür nur 
die praktische Lösung der Keligion, aber keine theoretische Auf- 
hellung gibt. 

Eine richtig durchgedachte Keligionsphilosophie führt Tröltsch, 
wie wir sehen, zum Christentum als der höchsten Offenbarung des 
religiösen Bewußtseins. Damit ist ihm aber die Frage der Zukunfts- 
religion noch nicht entschieden. Es bleibt der Eeligionsphilosophie 
vorbehalten zu entscheiden, ob diese Zukunftsreligion eine völlige 
freie Fortbildung und Umbildung der christlichen Idee mit völliger 
Indifferenz gegen das Gemeinschaftsleben der Keligion, etwa auch 
eine Verschmelzung christlicher Ideen mit denen anderer Religionen 
sein soll, oder ob sie in der Kraft und Breite der Gemeinschafts- 
religion wurzeln solle bei allen Freiheiten, welche die Bildungsreligion 
sich gewähren mag. Je nachdem sie diese Frage entscheidet, wird 
sie eine völlig individuelle Bildung religiöser Überzeugungen fordern 
und damit ein neues Zeitalter der Religion eröffnen, oder sie wiyd 
den Theologen die Aufgabe der Darstellung des religiösen Glaubens 
für die Gemeinschaft der höchsten Religionsstufe überlassen, wenn 
sie nicht lieber selbst zur Theologie, d. h. zur Darstellung eines nor- 
mativen, aus der positiven Religion wesentlich geschöpften religiösen 
Glaubens werden will. Tröltsch selbst entscheidet sich für die zweite 
dieser Antworten, weil er in den zahllosen Versuchen neuer freier 
Religion mit Recht entweder nur ein Herabsinken auf ältere Religions- 
stufen erkennt oder in ihnen nirgends die religiöse Kraft und Lebendig- 
keit empfinden kann, die bisher aus der positiven Gemeinschaft des 
Christentums dem religiösen Menschen zugeflossen ist. Dabei ver- 
kennt er nicht, daß ein solches religionsphilosophisch begründetes 
und beeinflußtes Christentum sich von dem aller bisherigen Kirchen 
stark unterscheidet. Allein bei der praktischen und sozialen Unfrucht- 
barkeit der Bildungsreligion scheint ihm die Aufrechterhaltung des 
Zusammenhangs mit der religiösen Gemeinschaft doppelt notwendig, 
da nur aus ihm der Bildungsreligion die elementare Kraft zuströmt. 
Dazu gehören ihm alle diese Unterschiede zu sehr dem Gebiete des 
Wissens an, als daß ihnen die innere Einheit des geistigen Zusammen- 
hangs geopfert werden dürfte. 

c. Hermann Siebeck und Ofinther Thiele. 

Hermann Siebeck wurde am 28. September 1842 in Eisleben 
geboren, studierte Philologie und Philosophie, wirkte anfangs als Pro- 

Siebert, Beligionsphilosophie. 6 



82 2. Kap. Die gegenw. Hanptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

fessor derselben in Basel und ging später nach Gießen, wo er noch 
heute lehrt und eine glänzende Lehrtätigkeit entfaltet. Wir heben 
als seine wichtigsten Schriften heraus »Das Wesen der ästhetischen 
Anschauung« (1875), »Über das Bewußtsein als Schranke der Natur- 
erkenntnis« (1879), »Über Wesen und Ziel des wissenschaftlichen 
Studiums« (1883), »Geschichte der Psychologie I« (1880 f), »Unter- 
suchungen zur Philosophie der Griechen« (1873, 2. Aufl. 1888), »Bei- 
träge zur Entstehungsgeschichte der neuem Psychologie« (1891), »über 
die Lehre vom genetischen Fortschritt der Menschheit« (1892), »Lehr- 
buch der Eeligionsphilosophie« (1894), »Aristoteles« (1899, 2. Aufl. 
1902), S' Goethe als Denker« (1902), »Religion und Entwicklung« (mit 
Bezug auf Rudolf Eucken, Zeitschrift für Philosophie und philosophische 
Kritik 1904). 

Die Entwicklung des Weltlebens durch die Bereiche des Un- 
organischen und naturhaft Seelischen führte nach Siebeck von letzterem 
weiter zum spezifisch Geistigen, wie es sich betätigt in dem Hervor- 
treten von Persönlichkeit, nach Analogie deren daher schließlich auch 
immer das Wesen des Weltgrundes — wenn auch unzulänglich — 
gedacht werden muß. In dem Selbstbewußtsein der Persönlichkeit, 
und zugleich für dasselbe, gewinnt das Dasein (die Wirklichkeit) einen 
eigenartigen und obersten, nicht mehr bloß relativen Wert. Das Gei- 
stige erhält in ihr, unbeschadet seiner Beeinflussung von Seiten des 
Naturhaften, das auch noch in das Seelische selbst hineinreicht, eine 
Selbständigkeit sui generis, die aber nichts Abgeschlossenes ist, 
sondern etwas, das sich in der Wechselwirkung mit den vom Natur- 
leben kommenden Anregungen und Widerständen stetig zu behaupten 
und fortzubilden hat. In dieser unausgesetzten Wechsel- und Gegen- 
wirkung bekundet sich das der Persönlichkeit eigene Wesen der 
Freiheit. Man soll nicht von »Freiheit des Willens«, sondern von 
Freiheit der Persönlichkeit reden, und diese weder umdeuten zu einem 
verfeinerten (»innem«) Determinismus, noch als ursachlose Willkür 
im Sinn des »Indeterminismus« auffassen. Sie ist gegeben auf Grund 
des Selbstbewußtseins, das im höchsten Sinne seiner Natur nach prak- 
tisch ist, indem das Ich sich als Träger und Verwirklicher bestimmter 
ethischer Normen weiß, und das Wertgefühl, das mit dem Ichbewußt- 
sein verbunden ist, seinen konkreten Inhalt tatsächlich erst mit dem 
Bewußtsein (Angefülltsein) von dem Inhalt dieser Normen gewinnt 
zu deren fortgehender Realisierung es sich berufen weiß. 

Das ursprüngliche und zugleich endgültige Ziel der Persönlichkeit 
geht auf Vollkommenheit des Lebens. Die theoretische Betätigung 
in Gestalt der wissenschaftlichen Reflexion und Forschung tritt erst 



c, Hermann ßiebeck und Günther Thiele. 83^ 

infolge des dorther wirkenden Bedürfnisses als ein besonderes Moment 
innerhalb des Lebensgehaltes heraus. Die Betätigung des Intellekta 
als solchen ruht nicht auf sich selbst, sondern geht aus jenem mit 
dem Wesen der Persönlichkeit gesetzten praktischen Grundtriebe hervor. 
Darum kann, was er leistet, seinen endgültigen Abschluß auch nur 
wieder in der schließlichen Ein- und Unterordnung seiner Ergebnisse 
unter die von dem praktischen Grundbedürfnis bedington Voraus- 
setzungen finden. Für die Erkenntnistheorie als solche hinsichtlich 
der empirischen und der rein wissenschaftlichen Inhalte gelten für 
Siebeck die Grundgedanken der Kritik der Vernunft, deren Prin- 
^pien auch vermittelst der Unterscheidung von »Erscheinung« und 
>Ding an sich« die Grundlage zur Aufhebung des anscheinenden 
Dualismus von »Natur« und »Geist« abgeben. 

Der Welt als dem allumfassenden Ganzen gegenüber weiß sich 
die Persönlichkeit einerseits als Produkt und integrierender Teil der- 
selben, andrerseits doch als etwas von ihr spezifisch Verschiedenes 
und u. a. ihr gegenüber Eigenartiges und Selbständiges. Sie be- 
kundet in ihrer Bezogenheit auf die Welt die Wirksamkeit eine* 
passiven oder (besser) heteronomen und eines aktiven oder auto- 
nomen Moments. Die Einheitlichkeit aber, zu der diese beiden doch 
auch^ und zwar eben durch das Wesen der Persönlichkeit, aus dem 
sie entspringen, verbunden sind, zeigt sich hierbei darin, daß jedes^ 
von ihnen nicht umhin kann, in der Betätigung seiner Eigenart zu- 
gleich die des andern kenntlich zu machen. Die Persönlichkeit kann 
fiich, auch sofern sie sich als einen Teil der Welt hat und erlebt^ 
doch auch dieser gegenüber selbständig bezeugen, sie kann als inte- 
grierendes Moment derselben doch sich ihrer Eindrücke, Kräfte und 
Bestände bedienen, um sich zu ihr in ein mit Selbstbewußtsein ge- 
«etztet und gesuchtes Verhältnis zu bringen. Als die Wirkung dieses- 
Sachverhalts in der gegenseitigen Bezogenheit von Welt und Per- 
sönlichkeit ergibt sich das Interesse des Erkennens und Wissens. 
Die Persönlichkeit erscheint hier getragen von dem Bestreben, als- 
Teil (bezw. Produkt) der Welt sich dieses ihres Verhältnisses zu der- 
selben, ihrer Bedingtheit durch sie, sowie andrerseits der Bedingtheit 
jener durch sie selbst vollbewußt zu werden. Sofern aber auch 
andrerseits die Person sich von Haus aus als etwas von der Welt 
spezifisch Unterschiedenes und Eigenartiges hat und weiß, kann und 
muß sie sich in ihrem Wesen bedingt fühlen durch den Zusammen- 
hang mit der Welt und über sich selbst, ihren Wert und ihre Stellung 
zur Welt einen durch den Gesamteindruck von selten der letzteren 
her bedingten Bewußtseinsinhalt gewinnen. Neben und gegenüber 

6* 



S4 2* ^P* ^e gegenw. Hanptvertreter d. Rel.-Phil. anf philosophisch, neuer Basis. 

der Beeinflussung durch die Welt wirkt und übt sie den Akt der 
Selbstbehauptung in dem Bewußtsein von sich als einem eigenartigen, 
an und für sich wert- und bedeutungsvollen Einheitlichen, einer Art Kern 
oder Zentrum der Welt. Hierin nun liegt die Wurzel ihres praktischen 
Verhaltens, und damit die ihrer Betätigung in Moral und Keligion. 

Dieses Verhalten hat eine Entwicklung. Die primitive Stufe ist 
die der Naturreligion ohne Hervortreten einer wirklichen Moral. Sie 
beruht auf der Nochnicht-Unterscheidung des Persönlichen und Un- 
persönlichen. Man sucht die Naturmächte (Götter) durch Bitten und 
Opfer für seine Interessen zu gewinnen. Die Beziehungen zum Mit- 
menschen sind gleichfalls (abgesehen von der instinktiven Wirkung 
der Gefühle) ausschließlich durch die Rücksichten auf das eigene un- 
mittelbare Wohlergehn bedingt. Oberhalb dieser Stufe wirkt nun 
schon die Unterscheidung des Persönlichen vom Unpersönlichen, und 
zwar entwickeln sich zuerst unter dem vorwiegenden Einflüsse des 
heteronomen Moments einerseits die eudämonistische Moral, andrer- 
seits die »Moralitäts-Religion«. Im weiteren Verlaufe der Entwick- 
lung kommt das autonome Moment mehr und mehr zur Geltung. Als 
«eine Wirkung treten hervor einerseits die idealistische Moral (Ethik) : 
die Persönlichkeit tut das Gute nicht um des Lohnes willen, sondern 
weil es das Gute ist, d. h. dasjenige, vermittelst dessen theoretischer 
und praktischer Anerkennung sie für das Wertgefühl, womit sie die 
Vorstellung ihrer selbst begleitet, erst eine wirkliche Unterlage und 
Berechtigung erhält, andrerseits der Standpunkt der »Erlösungs- 
Beligion«, der bedingt ist durch den sich öffnenden Ausblick auf das 
Uberweltliche, gegenüber dem Ansprüche der innerweltlichen Kultur, 
nichts zu erkennen und anzuerkennen, was sie nicht selbst geschaffen 
und als Inhalt und Wert des Daseins bestimmt hat 

Als ein Überweltliches in bestimmtem Sinne hat und weiß der 
Oeist (die Persönlichkeit) schon sich selbst auf Grund des in ihm 
waltenden autonomen Moments, kraft dessen gewisse Inhalte, insbe- 
sondere Wertbegriffe, des Selbstbewußtseins als der Welt voraus- 
liegende Normen des auf sie bezüglichen Denkens und WoUens er- 
scheinen, und zwar nicht bloß hinsichtlich der Urteile über 
Einzelzusammenhänge, sondern auch betreffs des Gesamtwesens und 
Daseins der Welt selbst. Sie treten auf in der Form von Ideen 
(bezw. einer Idee), an deren Inhalte gemessen das Dasein der Welt 
als im Dienste einer (idealen) Aufgabe stehend erscheint, zu deren 
Erfüllung der im Zusammenhange der Welt (in der Einzelpersönlich- 
keit) sich betätigende Geist sich über das, was das Wesentliche und 
Charakteristische des Weltlichen ist, in gewissem Sinne zu erheben 



c. Hermann Siebeck und Günther Thiele, 85 

hat und unter bestimmten Bedingungen auch zu erheben vermag. 
Es waltet hier in theoretischer und praktischer Beziehung die Voraus- 
setzung nicht einer Adäquatheit des Weitinhalts zum Inhalt der Idee, 
sondern vielmehr die seiner Inadäquatheit gegenüber diesem. Im 
"Wesen des Geistes selbst erhebt sich so dem natürlichen Zusammen- 
hange der Welt gegenüber eine über diesen hinaus liegende Eigen- 
welt, und wenn er für diese selbst sich auf einen tieferen Grund zu 
besinnen, d. h. wenn er für diese seine zunächst individuelle Eigen- 
welt den Zusammenhang mit einem sie umfassenden und begründenden 
Sein zu gewinnen sucht, so kann er dieses letztere nicht in der um- 
gebenden Welt erblicken, sondern vermag seinen Begriff nur als die 
Idee einer höheren Welt zu setzen, in der die Wurzeln seiner von 
dem natürlichen Wesen unterschiedenen Eigenart liegen müssen. 
Als Freund und Träger dieser behauptet das auf die Höhe seiner 
Entwicklung gelangte Persönlichkeits-Bewußtsein das Dasein eines 
übersinnlichen und übernatürlichen, aber zugleich (soweit möglich) 
nach Maßgabe des Wesens der Persönlichkeit gedachten Geistes, in 
dessen Dienste die Welt sowohl in Ansehung des mit ihr gegebenen 
Wertvollsten (d. h. eben der Persönlichkeit), wie auch in Bezug auf 
die mit dem Begriff des Überweltlichen gesetzte Aufgabe sich be- 
findet. Durch ihre eigene Bezogenheit auf diese erscheint die Per- 
sönlichkeit ungeachtet aller Dienstbarkeit, in der sie zu der Welt 
steht, dieser gegenüber als etwas Überlegenes, ihr Wille erscheint als 
ein Teil von dessen Willen, und die Nötigungen zum Handeln und 
Schaffen, die von Seiten der Welt kommen, als Bichtungslinien für 
die Erfüllung der Aufgabe, zu ihrem Teile für die Verwirklichung 
des Willens Gottes von selten der Welt mit einzutreten. Das hier- 
mit gegebene Streben geht für die Persönlichkeit auf Erlösung von 
der Welt im Sinne zunächst der Weltüberwindung durch das jener 
Aufgabe entsprechende Handeln in und auf die Welt selbst Dem- 
gemäß bestimmt sich nun auch auf dieser Stufe das Verhältnis 
von Religion und Moral dahin; die Religion ist moralisch, sofern das 
Überweltliche nur auf dem Wege der Selbstüberwindung erblickt und 
erfaßt werden kann, und die Moral hat ihre religiöse Abzweckung- 
und Begründung darin, daß ihre Forderungen am letzten Ende nicht 
dazu dienen, die Persönlichkeit an die Welt zu ketten, sondern sie^ 
schon innerhalb ihrer in den Dienst eines darüber hinausweisenden 
Zieles zu stellen. Das Überweltliche soll für die Persönlichkeit nur 
in dem Lichte ihrer ethischen Bestimmbarkeit erkennbar und erreich- 
bar sein, das Ethische selbst aber seine tiefste Begründung in dieser 
seiner Bezogenheit auf jenes besitzen. 



86 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

Von der psychologischen (phänomenologischen) Seite her be- 
trachtet erscheint die Wirksamkeit des autonomen Moments innerhalb 
der Religion im Wesen des Glaubens, der im Verlaufe der Persön- 
lichkeits- wie der Kulturentwicklung ein bestimmtes Verhältnis neben 
und gegenüber dem Wissen gewinnt. 

Aus dem vorhin aufgezeigten Verhältnis der beiden in der Per- 
sönlichkeit durch ihre Bezogenheit auf die Welt gegebenen Momente 
entspringt außer dem Bedürfnis nach Erkenntnis und Wissen auch 
die Nötigung, den Gedanken einer letzten Ursache der Welt in un- 
mittelbare Verflechtung mit dem eines höchsten Wertes oder Gutes 
zu setzen. Die Persönlichkeit hat zunächst sich selbst, besonders 
*raft ihrer Bezogenheit auf das Sittliche, der Welt gegenüber als et- 
was Eigenwertiges, ja als dasjenige, dessen Existenz dem Dasein der 
Welt selbst erst seinen Wert gibt. Da sie nun weiter nicht umhin 
kann, den Grund für ihr Dasein und ihre Eigentümlichkeit als im 
<jrunde der Gesamtwelt mit beschlossen zu setzen, so legt sie dieser 
-einen Grund unter, kraft dessen die Welt auf das Hervortreten von 
Persönlichkeit angelegt erscheint. Von hier aus erwächst ihr der 
'Gottesbegriff, insofern der Grund der Welt selbst nach Analogie der 
Persönlichkeit gedacht wird, zugleich aber als im Vergleich mit der 
menschlichen Einzelpersönlichkeit als das unendlich Überlegene er- 
scheint. 

Der Glaube an Gott, und was weiter damit zusammenhängt, ist 
aber in letzter Linie nicht ein bloßes Kesultat natürlicher (anthropo- 
logischer) Entwicklung, sondern auf seiner obersten Stufe wieder ein 
Werk der innem Freiheit, sofern die Persönlichkeit den Inhalt der 
Vorstellung von Gott und in Verbindung damit den Gedanken von 
ihrer eigenen Bezogenheit auf die göttliche Persönlichkeit auch gegen- 
über widersprechenden Instanzen um seines eigenartigen Wertes willen 
behauptet. Die auf dem bezeichneten Wertgefühl beruhende Vor- 
stellung von der Existenz und Verwirklichung eines Gutes, zu dessen 
Eealisierung die Welt (von Gott her) berufen sei, wird, je mehr die 
Kategorien des theoretischen Denkens zur Herrschaft gelangen, immer 
mehr als eine unbewiesene Voraussetzung aufgezeigt; sie erfährt 
Widerspruch von selten des Wissens. Andrerseits hat das Wissen 
mit seinen spezifischen Mitteln keine zureichende Antwort für die 
Fragen, die aus dem Werte setzenden und verlangenden Faktor inner- 
halb der Persönlichkeit stammen, insbesondere keine zureichende Ab- 
leitung für das Eigenartige in Wesen der Persönlichkeit selbst. An- 
gesichts dieser Sachlage findet es die Persönlichkeit ihrer eigenen 
Entscheidung anheimgestellt, ob sie neben und gegenüber den In- 



0. Hermann Siebeck und Günther Thiele. 87 

halten des Wissens und der Erfahrung auch die des Glaubens be- 
haupten oder ablehnen soll, namentlich mit Beziehung darauf, daß 
sie sich selbst als in ihrer Bezogenheit auf die göttliche Persönlich- 
keit zur Verwirklichung eines höchsten Gutes (mit-)berufen anzu- 
sehen nicht umhin kann. Die Sachlage spitzt sich also zu der 
Frage, ob außer demjenigen, was erfahrungsmäßig oder wissen- 
schaftlich als Tatsache sich herausstellt, es ein nicht mit den Mitteln 
der Erfahrung und des Wesens zu beweisendes höchstes Gut gibt, 
dessen Verwirklichung auf dem Verhältnis der menschlichen Persöur 
lichkeit zu einer göttlichen beruht. Ob nun diese Frage im posi- 
tiven oder negativen Sinne beantwortet wird, ist der Freiheit der 
Persönlichkeit anheimgestellt. 

Freiheit im formalen Sinne besitzt die Persönlichkeit insofern, 
als sie dem Kausalnexus, in den sie einbezogen ist, nicht nur unter- 
steht, sondern ihn auch als solchen erkennt und über ihn (insbesondere 
auch mit Wertbestimmungen) urteilt. In materieller Hinsicht liegt 
die Freiheit in der theoretischen und praktischen Anerkennung des 
Guten als solchen. Das zur Persönlichkeit gewordene Individuum 
besitzt den Inhalten des sittlich Guten gegenüber die Fähigkeit, dem 
Verpflichtenden, was darin liegt, mit freiem Entschluß sich zu unter- 
stellen. Es bedarf immer noch eines solchen Entschlusses, das als 
gut Erkannte zum wirkenden Impuls innerhalb der Persönlichkeit 
zu machen. Der Entschluß kann dabei als Charakter auch ein 
Dauerndes werden. Als Werk dieses Entschlusses ist aber auch 
schon die theoretische Zustimmung zu dem Inhalte des Guten als 
eines Normativen anzusehen. Insofern nun weiter die Vorstellung 
des nach Analogie der Persönlichkeit gedachten Weltgrundes in un- 
mittelbare Beziehung gesetzt wird zu dem mit Freiheit bejahten Ge- 
danken von dem in der Welt zu verwirklichenden und hierzu auch 
das Wollen und Handeln der menschlichen Persönlichkeit in Anspruch 
nehmenden Guten, so geht die (anthropologisch entwickelte) über-^ 
zeugung vom Dasein der Gottheit (bezw. der Götter) über in den 
Charakter des Glaubens an Gott als den Grund des Guten und den 
betreffs der fortgehenden Verwirklichung desselben tätigen Gesetzgeber 
für den Willen. Der Glaube besteht nunmehr als der freie Entschluß, 
mit dem die Persönlichkeit die Existenz Gottes als des höchsten 
Gutes nicht nur theoretisch anerkennt, sondern mit dem sie in Ge- 
fühl und Willen sich zu ihm bekennt und ihren eigenen Wert aus 
der lebendigen Beziehung zu ihm abzuleiten nicht umhin kann. 

Der Glaube tritt nun seinem Wesen nach in einen bestimmten 
Gegensatz u. a. in direkten Konflikt mit dem Wesen und den Normen 



88 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis, 

des Wissens. Er gibt sich selbst für eine besondere Art des Wissens, 
ohne doch seinen Inhalt mit der dem Wissen spezifischen Methode 
erhärten zu können, und dies tritt da, wo er (apologetisch) die Be- 
weisbarkeit seiner Objekte herzustellen versucht, gerade um so stärker 
hervor. Sein Inhalt ist in der Sprache des Wissens ausgedrückt, die 
Behauptung von der Existenz des Unbedingten und zwar als eines 
außer- oder oberhalb des Bedingten Stehenden, während es dem 
Wissen wesentlich ist^ als das Unbedingte nur die vollständige Summe 
des Bedingten anzuerkennen und jenes andere als Illusion zu be- 
trachten. Dieser Stellungnahme gegenüber hält nur der Glaube seiner- 
seits sich für berechtigt, darauf hinzuweisen, daß die Annahme der 
unbedingten und ausschließlichen Gültigkeit des allgemeinen fach- 
wissenschaftlichen Verfahrens selbst eine unbewiesene Voraussetzung 
ist, zumal dieses Verfahren sich nicht als ausreichend zeigen will, 
das Wesen der Persönlichkeit zu ergründen, betreffs dessen gerade 
es zu erwägen gilt, ob nicht etwa darin Positionen vorliegen, welche 
beanspruchen können, als letzte Voraussetzungen für die Inhalte so- 
wohl des Glaubens wie des Wissens (in Hinsicht seines Gesamtgebietes) 
zu gelten. 

Betreffs der Schlichtung des sogenannten Konflikts kommt es 
nur darauf an, sich darüber klar zu werden, daß zwar der Anta- 
gonismus der einerseits dem Glauben, andrerseits dem Wissen ent- 
sprechenden Tendenzen von dem Wesen der Persönlichkeit her sich 
zu entwickeln nicht umhin kann, seine Zuspitzung aber zum Konflikt 
an der Hand bestimmter Objekte entweder des religiösen oder des 
wissenschaftlichen Bewußtseins nichts Endgültiges zu sein braucht 
Wie das Wissen dem Glauben die wissenschaftliche Beweisbarkeit, 
so kann der Glaube seinerseits dem Wissen die wissenschaftliche 
Widerlegbarkeit seiner Objekte mit Fug und Recht bestreiten. 

An der Endgültigkeit dieser Sachlage hat auch die Existenz der 
spekulativen Metaphysik nichts zu ändern vermocht, obwohl diese 
beansprucht, durch ihre Methode die Behauptung der Existenz des 
Unbedingten in dem vom Glauben gemeinten Sinne wissenschaftlich 
erweisbar und in Konsequenz dessen den Glauben als Akt der Frei- 
heit überflüssig zu machen. Sie hat mit der Religion gemein, daß 
beide das Gebiet der Erfahrung und des Wissens durch den Hinweis 
auf ein Transcendentes überschreiten. Aber die metaphysische Er- 
gänzung des Gegebenen entspringt lediglich aus der Frage nach der 
Einheit der Welt, die religiöse dagegen aus der nach dem Werte 
des Lebens, und was beide als Ergänzung bieten, liegt für die Meta- 
physik in der Welt eingeschlossen, da Gott und Welt hier im 



c. Hermann Siebeck und Günther Thiele. ' 8& 

Grunde wesensgleich sind, für die Religion aber jenseits der- 
selben. 

Der Beweis für die Wahrheit der Religion besteht zunächst in 
dem Aufweis ihrer Normalität innerhalb der Kulturfaktoren, d. h. in 
der Aufzeigung ihrer Herkunft aus einem wesenhaften und ursprüng- 
lichen Bedürfnisse des Geistes und einer dementsprechenden Anlage, 
sowie in der ihrer von da aus im Gemeinschaftsleben und der 
Wechselwirkung mit den übrigen Kulturgebieten sich vollziehenden 
Entwicklung; außerdem aber namentlich in der Beantwortung der 
Frage nach dem Inhalte und der Wahrheit der Idee, welche sie in 
der Ausgestaltung des Kulturlebens zur Verwirklichung bringt. Nach 
dieser Seite hin ist die Aufgabe die, einerseits die obersten und all- 
gemeinsten Begriffe, die an der Hand der wissenschaftlichen Ent- 
wicklung hinsichtlich des Wesensgrundes und Zusammenhangs der 
Welt sich herausgebildet haben, andrerseits die aus den Problemen 
des praktischen Lebens erwachsenen allgemeinsten Fragen und An- 
schauungen von der Stellung des Menschen zur Welt, seiner Be- 
stimmung und dem Verhältnis der Welt zu dieser daraufhin zu 
prüfen, ob und wie weit ihr Inhalt der Ergänzung durch die Inhalte 
des religiösen Bewußtseins zugänglich und bedürftig sind, um einen 
mit sich einstimmigen Begriff des geistigen Lebens zu begründen. 
Es handelt sich dabei um eine Analyse einerseits der Begriffe der 
Welt, Gottes, der Kausalität und des Zweckes, andrerseits der An- 
schauungen betreffs der Freiheit, der Bestimmung der Menschheit 
und der Frage von der Theodicee. Aus diesen Untersuchungen 
heben wir im nachstehenden noch einiges Wesentliche heraus. 

Von den spekulativen Gottesbeweisen ist wenigstens der onto- 
logische auch Kants Kritik gegenüber in gewissem Sinne als bündig 
anzusehen, sofern er auf dem Begriffe dessen, quo majus cogitari 
nequit, ruht. Allerdings sagt der abstrakte Begriff des Dinges noch 
nichts über sein Sein in der Wirklichkeit. Sofern aber das »höchste 
Seiende« selbst erst unter Voraussetzung der Tatsächlichkeit des 
Seienden, sowie unter der einer Stufenfolge desselben gedacht wird, 
ist allerdings in seinem Begriffe das Sein (die Existenz) dieses 
Höchsten selbst mit eingeschlossen. Als »Gott« im Sinne des reli- 
giösen Bewußtseins ist dieses »höchste Seiende« aber damit nicht er- 
wiesen, oder wenigstens nur insofern, als man dessen Begriff mit dem 
bereits aus anderweitigen Quellen sich darbietenden Gottesbegriffe 
bereits identifiziert hat. 

Der »moralische« Gottesbeweis, wie ihn speziell Kant gegeben 
hat, gründet sich auf die Überzeugung, daß zum Zwecke der Her- 



^ 2. Kap. Die gegen w. Hanptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

Stellung des höchsten Gutes (Vereinigung von Tugend und Glück) die 
physische Ordnung der Dinge mit der ethischen in Übereinstimmung 
sein muß. Er postuliert von hier aus Gott als Schöpfer und Re- 
genten sowohl der natürlichen wie der sittlichen Welt Indem aber 
eben dabei Gott als Postulat des ethischen Bewußtseins gesetzt wird, 
setzt der Beweis selbst die Überzeugung von der Existenz und Ver- 
wirklichung des ethischen Gutes im Sinne des Glaubens daran als 
Akt der Freiheit bereits voraus. 

Aus dem, was im allgemeinen über das Verhältnis von Erkennen 
und Sein gilt, folgt dem Skeptizismus gegenüber, daß, wenn Gott ist, 
«r auch irgendwie erkennbar sein muß. In dem ferner, was ebenso 
über das Verhältnis von Denken und Erkennen zu sagen ist, liegt, 
daß seine Erkenntnis für uns nie eine abgeschlossene und absolute 
sein kann. Aus dem allgemeinen Verhältnis endlich, worin Denken 
und Leben zueinander stehen, ergibt sich, daß die Erkennbarkeit 
Gottes wesentlich und hauptsächlich vermittelst derjenigen Begriffe 
zu haben ist, welche die Eigenart des sozialen und ethischen Lebens 
zum Ausdruck bringen. Das religiöse Bewußtsein verlangt nun aber 
.insbesondere danach, Gottes Wesen nach Analogie des Begriffs der 
Persönlichkeit zu fassen, mithin das Ethische als den Inhalt seines 
Willens anzusehn. Diese Projektion des Wesens der Persönlichkeit 
aus dem Erfahrungsmäßigen ins Transzendente scheint in das Wesen 
Gottes Individualität, mithin Beschränktheit hineinzutragen. Ange- 
sichts dessen ist indes hervorzuheben, daß die Individualität mit der 
erfahrungsmäßig darin liegenden Bestimmung der Endlichkeit für das 
eigentliche Wesen der Persönlichkeit nicht als das Grundbestimmende 
anzusehen ist, sondern nur als die für den Menschen als Erfahrungs- 
objekt unausweichliche Unterlage, auf der sich Persönlichkeit im 
wirklichen Sinne als ethisch bestimmtes Wesen erst herausbilden 
kann und soll. Im Lichte dieses Gedankens erscheint das Individuum 
dem Wesen Gottes um so näher gerückt, je mehr es wirklich zur 
Persönlichkeit wird, und der Persönlichkeitsbegriff erscheint von hier 
aus dem Wesen Gottes doch nicht so inadäquat, wie es bei der Be- 
trachtung von jener andern Seite her der Fall ist, zumal, wenn man 
den Gedanken hinzuniramt, daß der geistige Grund in Wesen und 
Persönlichkeit in den geistig-göttlichen Grund des Welt- und Mensch- 
heitslebens hinabreicht. 

über das Grundverhältnis von Gott und Welt äußert sich das 
religiöse Bewußtsein durch den Begriff der Schöpfung der Welt durch 
Gott als die absolute Persönlichkeit, und zwar der Schöpfung »aus 
nichts«, ein Begriff, der in der Hauptsache die Überweltlichkeit 



c. Hermann Siebeck und Günther Thiele. 91 



Gottes zum Ausdruck bringen soll. Gott soll als wirklich über der 
Welt stehend nur gefaßt werden, sofern deren Wesen und Dasein 
aus nichts anderem hervorgeht, als aus der Freiheit seines urewigen 
persönlichen Wesens, — in welchem Punkte dann freilich das mensch- 
liche Denken an der Grenze seines Vermögens angelangt ist. Die 
Absolutheit Gottes muß nicht, wie der Pantheismus tut, ausschließlich 
von der Seite des Naturhaften her gefaßt werden, sondern in erster 
Linie unter dem Gesichtspunkt der ethischen Absolutheit, von wo 
aus eben nur ein solches Verhältnis zur Welt statthaft erscheint, das 
auf beiden Seiten den Begriff der Freiheit und Persönlichkeit zu 
seinem Kechte kommen läßt. 

Wie nach dem Vorstehenden die logisch-metaphysische Analyse 
des Gottesbegriffs ihren Abschluß in der Position des religiösen Be- 
wußtseins findet, so auch diejenige, welche sich auf den Inhalt und 
das gegenseitige Verhältnis des Kausalitäts- und des Zweckbegriffes be- 
zieht. Ein wirkliches Kausalitäts-Verhältnis wird immer erst da gedacht, 
wo das beständige Miteinander- Auftreten zweier Erscheinungen A und B 
mit dem Gedanken der Notwendigkeit begleitet ist. Dieser selbst 
aber ruht seinerseits auf dem andern, daß A und B Teile eiaes Zu- 
sammenhangs sind und auf Grund dessen Teile eines Ganzen, in 
dessen durchgreifendem Wesen als einem Konstanten auch die Kon- 
stanz dieser Beziehung zwischen A und B gelegen ist, deren Stellung 
in der Zeit eben deswegen als »nach einer Regel bestimmt« er- 
scheint. Die verschiedenen Gebiete von Kausalzusammenhängen 
unterscheiden sich schließlich durch das verschiedene Wesen des dem 
jedesmaligen A und B speziell zu Grunde liegenden Ganzen (Homo- 
genität von Ursache und Wirkung). Die Kausalität, die den Zu- 
sammenhang innerhalb des betreffenden Gebietes herstellt, ist doch 
ihrerseits als eine spezifisch bestimmte Kausalität der Ausdruck für 
die Eigenart des spezifischen Znsammenhangs. Der Zusammenhang 
in seinem Verhältnis zur Kausalität betrachtet zeigt sich sonach 
obensowohl als das Bedingende derselben, wie als das durch sie 
Bedingte. In diesem Sachverhalt liegt die Wurzel und Wahrheit 
des alten Satzes, daß der Kausalzusammenhang als solcher selbst 
wieder teleologisch bestimmt ist: die teleologische Kehrseite desselben 
ist identisch mit der Homogenität von Ursache und Wirkung in dem 
oben bezeichneten Sinne. Im Sinne dieser Betrachtung darf be- 
hauptet werden, daß alle mechanische Erklärung innerhalb eines be- 
bestimmten Gebiets von vorn herein einen teleologischen Charakter 
trägt und ohne diesen ihren Boden verliert. Sie bezeichnet die Adä- 
quatheit, in dem die Kausalverhältnisse des betreffenden Gebietes zu 



92 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

der Eigenheit desselben und des mit ihm gesetzten Zusammenhangs 
sich befinden. 

Geht man nun an der Hand dieser Einsicht von der Betrach- 
tung der Einzelgebiete über auf die des Zusammenhangs des Wirk- 
lichen mit Einschluß des vernunftbegabten und daher Werte, zumal 
moralische, setzenden Menschen, so führt dies kraft einer im Wesen 
des Vernunftdenkens liegenden Nötigung weiter zu der Vorstellung, 
daß die im Weltprozeß hervortretende Herausbildung von Vernunft 
mit der dadurch bedingten Anerkennung moralischer Werte schon 
durch die Beschaffenheit der ursprünglichsten Faktoren für die Weit- 
bildung mit bedingt sein muß, und daß überhaupt keine anderen An- 
fangsfaktoren für diese möglich waren als solche, von denen her sich 
an der Hand kausaler Entwicklung eine Vernunft und Moralität ein- 
schließende Welt ergeben mußte. Als das Ziel nicht nur der kau- 
salen Entwicklung, sondern auch als das tiefst Bedingende für das 
Dasein einer Welt überhaupt erscheint hiemach das Seinsollen eines 
höchsten Wertes, das Hervortreten von Vernunft und Sittlichkeit kraft 
und innerhalb des Menschenlebens. 

In Konsequenz dessen erscheint nun weiter das Moralische 
(bezw. Ethische) nach Wesen und Wirkung als dasjenige, was in 
letzter Instanz die Welt, wie sie tatsächlich ist, zusammenhält. Im 
Gegensatz hierzu zeigt es aber außerdem die Eigenschaft, daß es für 
den Handelnden u. a. den Zusammenhang mit der Welt selbst, worin 
und worauf er handelt, aufzuheben treibt (ethische Aufopferung selbst 
des Lebens im Interesse sittlicher Zwecke), femer die andere, daß 
seine Forderungen und Ideale an dem tatsächlichen Mechanismus des 
Naturzusammenhangs, der als Mittel zu ihrer Verwirklichung zu dienen 
hat, doch auch vielfach geradezu Hemmungen finden, und oft genug 
solche, denen es unterliegen muß. Von der rein empirischen Be- 
schaffenheit des Weltlaufs her läßt sich ein »Angelegtsein« der Natur- 
kausalität und des Weltdaseins überhaupt auf Verwirklichung von 
Vemunftideen und ethischen Idealen nur mit Statuierung bedenklich 
vieler Ausnahmen behaupten, und das Denken scheint somit in seinem 
Bestreben, das kausale und das teleologische Prinzip hinsichtlich des 
Weltganzen in ein harmonisches Verhältnis zu bringen, schließlich in 
einem Widerspruch mit der tatsächlichen Beschaffenheit dieses 
Ganzen stecken zu bleiben. Dieser Sachverhalt ist jedoch nur ein 
Schein, der daher rührt, daß man den Zusammenhang, auf den es 
hinsichtlich des richtigen Verhältnisses der kausalen und teleologischen 
Betrachtungsweise ankommt, immer noch zu eng gefaßt hat und 
die Erweiterung, um die es sich hierbei handelt, ist gegeben in dem 



c. Hermann Siebeck und Günther Thiele. 93 

Inhalte der religiösen Grundanscbauung. Diese geht darauf aus, einen 
Zusammenhang zu erfassen, innerhalb dessen die Welt als solche 
selbst wieder als ein Glied eingeordnet ist, einen Zusammenhang also, 
der über sie selbst hinausreicht. Sie betrachtet den letzten (göttlichen) 
Grund der Gesamtwirklichkeit nicht als etwas, was sich im Welt- 
ganzen als solchen ohne Best auswirkt, sondern als dasjenige, aus 
dessen Wesen stetig neue schöpferische Kräfte sich in die Welt er- 
gießen, das also noch über sie hinaus sein eigenes, an sich seiendes 
Wesen besitzt und behält. Im Lichte dieser Auffassung erscheint 
denn auch das Bestehen und der Zusammenhalt der Welt nicht mehr 
als der absolute Zweck für das Ethische. Dieser liegt vielmehr jetzt 
darin, den Zusammenhang zwischen Welt und Überwelt von Seiten 
der ersteren aus herzustellen und damit zugleich ihre Bedingtheit 
durch die letztere aufzuzeigen. In der tatsächlichen Sprödigkeit des 
Naturlaufes gegenüber der Verwirklichung ethischer Ideale liegt zu- 
folge dieser Anschauung auch nichts anderes als ein Moment, wo- 
durch dem sittlichen Bewußtsein seine Bezogenheit auf den weiteren 
Zusammenhang fühlbar wird, also das Innewerden der Tatsache, 
daß es mit seinem Wesen und Zielen nicht rein innerweltlich be- 
dingt und bestimmt ist 

Die Frage von der Bestimmung des Menschen hält man in der 
Neuzeit vielfach für beantwortet durch den Hinweis auf den tat- 
sächlich vorhandenen Fortschritt der Menschheit. Ihre richtige Auf- 
fassung erhält diese Ansicht jedoch erst, wenn man inne wird, daß 
der Fortschritt nicht eine naturgesetzliche Notwendigkeit für die Ent- 
wicklung der Menschheit ist, sondern daß er eine ethische Aufgabe 
bedeutet, die von den voraufgegangenen Generationen in sehr ver- 
schiedenem Grade der Vollkommenheit gelöst ist, und an der jede 
folgende zu ihrem Teile weiter zu arbeiten hat. Bei dieser Auf- 
fassung der Sache bleibt die unbeantwortbare Frage, wie weit das 
Kulturleben es hierbei in seiner ferneren Zukunft zu bringen ver- 
möge, von vom herein außer Ansatz; um so eindringlicher aber wird 
dabei für die vom sittlichen Selbstbewußtsein getragene Persönlich- 
keit die Aufforderung, sich unter der Leitung der ethischen Normen 
der jeweilig aus der unmittelbaren ZeiÜage erwachsenen Aufgaben 
mit selbständiger individueller Teilnahme zuzuwenden. Sofern nun 
(nach dem Obigen) der Glaube an das Gute und die auf seine Ver- 
Tnorklichung gerichtete Betätigung das Werk der Freiheit ist, so er- 
hellt, daß die Tatsächlichkeit des Fortschritts und die Gewähr für 
die Fortdauer der auf seine Aktualität gerichteten Tendenz von dem 
Dasein der Freiheit abhängig ist. Von hier aus eröffnet sich weiter 



94 2. Kap. Die gegen w. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

der Blick auf die Frage, ob in letzter Instanz das Individuum nur 
des Fortschritts der Menschheit oder dieser um des Individuums willen 
da sei. Man kann hierauf antworten, es sei eben beides der Fall: 
das Besultat sei eben ein stetiges Besserwerden des Ganzen sowohl 
wie der einzelnen. Diese Ansicht bedarf aber, um haltbar zu sein, 
noch einer ins Transzendente weisenden Unterlage. Wenn nämlich 
dabei die Persönlichkeit als vergänglich und somit dem Flusse des 
Ganzen gegenüber als verschwindende Größe gesetzt wird, so hat der 
ganze Prozeß doch kein anderes Gesamtergebnis als dieses, daß seine 
Resultate fortgehend der Vernichtung unterliegen, so daß es schließ- 
lich, zumal auch die Menschheit als Ganzes der Vergänglichkeit 
unterliegt, ist, als ob etwas von ethischem Fortschritt und Unterschied 
überhaupt nicht gewesen wäre. Man muß daher, um in der Wechsel- 
wirkung zwischen der individuellen und der Gesamtentwicklung 
einen wirklichen Sinn zu finden, sie und ihren Fortschritt selbst als 
Mittel für ein außer- oder oberhalb ihrer liegendes Gut betrachten, 
und zwar für ein solches, dessen Erlangung der individuellen Per- 
sönlichkeit in einem über den Verlauf des irdischen Kulturlebens 
hinausliegenden Dasein möglich ist Dieser Gesichtspunkt^ der in den 
Standpunkt des religiösen Bewußtseins einmündet, gibt dem Kultur- 
leben einen Zweck, der nicht bloß in dem Dynamischen seiner Fort- 
bildung als solchem liegt, und dem es auch nicht erst in einem End- 
stadium seiner Entwicklung zu entsprechen vermag, sondern einen 
solchen, dessen Verwirklichung für alle Perioden seines Verlaufs als 
seine wesentliche Aufgabe hingestellt werden darf. Der Fortschritt 
im Lachte dieser Betrachtung wohnt demnach dem Kulturleben inne 
nicht abgesehen von seiner Wechselwirkung mit der Religion, sondern 
gerade auf Grund eben dieser; er ist aber in seiner zeitlichen Aus- 
gestaltung nicht Selbstzweck, sondern in erster Linie Folge, nämlich 
eben jener Wechselwirkung, und in zweiter Mittel, nämlich für ein 
über ihn selbst hinaus liegendes höchstes Ziel. 

Zu der Frage der Theodicee endlich vom Wesen und Bedeutung 
des Übels und des Bösen ist nach Siebecks Ansicht in erster Linie 
wieder darauf hinzuweisen, daß das Göttliche in der Welt sich für 
menschliches Bewußtsein her vor bildet in der Gestalt der Entwicklung, 
weiter aber darauf, daß Entwicklung auf allen Stufen das Herauf- 
bilden an einem Widerstände bedeutet Leben auf allen Stufen ist 
Selbstbehauptung durch Überwindung von Widerständen. Demzu- 
folge ist mit der Hervorbildung des Göttlichen in der Form der Ent- 
wicklung, im Physischen wie im Geistigen, auch das stetige Hervor- 
treten von Widerständen bedingt, deren Vorhandensein zugleich als 



c. Hermann Siebeck und Günther Thiele. 95 



das Dasein des Übels in der Welt empfunden wird. Das Übel auf 
der obersten Stufe, d. h. als der für das geistig-persönliche Leben in 
dem Aufringen zu seinem Ziel zu überwindende Widerstand ist daher 
Voraussetzung und Bedingung für das Dasein von Leben auch im 
geistigen Sinne dieses Wortes. Das Böse dagegen im unterschied 
vom Übel bezeichnet eine bestimmte Art des Handelns (Abweichung^ 
von den ethischen Normen) und ist als solche seiner Möglichkeit 
nach eine Konsequenz des Wesens der Freiheit. Es erscheint also als^ 
eine mit diesem gesetzte Möglichkeit, während das Übel in dem hier 
bestimmten Sinne sich als eine unumgängliche Tatsächlichkeit für 
das Leben darstellt. — 

Siebeck will in seiner Philosophie den Nachweis bringen, daß 
ohne die von der Keligion dazu postulierte theoretische und prak- 
tische Ergänzung das Dasein und die Entwicklung der Kultur ziellos, 
und ihr Begriff widersprechend ist. Speziell will er zeigen, daß die 
in der Keligion beschlossenen Inhalte sich als notwendige Ergänzungen 
zu demjenigen darstellen, was in dem Inhalt der für die Auffassung^ 
und Würdigung des Weltzusammenhanges maßgebenden obersten 
theoretischen und praktischen Begriffe als die letzten und höchsten 
Probleme des theoretischen Denkens heraustritt. Von besonderer 
Wichtigkeit sind ihm dabei die Begriffe der Persönlichkeit und Ent- 
wicklung. Entwicklung erscheint aber hier nicht als ein indifferenter 
Prozeß der Veränderung oder einer lediglich durch Naturfaktoren 
bedingten allmählichen Vervollkommnung, sondern als ein Prozeß mit 
der Eigenschaft der Zielstrebigkeit, jedoch in dem Sinne, daß das^ 
Ziel im Geistigen, und sofern das Aufsteigen zum Geistigen zugleich 
Weltüberwindung bedeutet, im Erfassen und Erleben eines Überwelt- 
lichen liegt. Damit aber ist im Weltprozeß, sofern dieser eben als^ 
Entwicklung auftritt, schon von vornherein der durchgehende Zu- 
sammenhalt durch ein einheitliches und zwar tiberweltliches Moment 
aufgewiesen. Es tritt heraus, daß in der zeitlichen und historischen 
Form der Entwicklung ein Überzeitliches und überhistorisches, ein 
Ewiges und Göttliches beschlossen ist, dessen wesentliche erfahrungs- 
mäßige Eigentümlichkeit sich darin an den Tag legt, daß es di& 
Herausbildung von Persönlichkeit als Spitze und Krönung des im 
Naturbereich sich anbahnenden und aufsteigenden Lebensprozesses- 
bedingt. Hierin liegt aber sehr richtig das eigentliche ürphänomen 
des Religiösen, d. h. die Tatsache, worauf alles andere in einem be- 
stimmten Gebiete der Erkenntnis sich zurückführen, die sich ihrer- 
seits selbst aber nicht weiter von etwas jenseits oder oberhalb ihrer 
Gelegenen ableiten, sondern nur als das, was sie ist, und wie sie 



96 *^' Kap. Die gegen w. Hanptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

sich zeigt, feststellen läßt. Wie Euckens, so ist auch Siebecks Reli- 
gionsphilosophie eine klassische Leistung, wohl geeignet, dem ernsten 
Sucher einen Weg zu Gott zu zeigen, der wissenschaftliche Strenge 
bis ins Einzelste hinein an keiner Stelle vermissen läßt. Siebecks 
Eeligionsphilosophie dient neben der Euckenschen besonders als Be- 
weisgrund dessen, was unsere Einleitung über den Wiederaufschwung 
der Religion in der Gegenwart gesagt hat. 

Günther Thiele wurde am 1. November 1841 in Rohnstedt 
geboren, studierte Philosophie, wurde später Professor derselben in 
Königsberg und lebt seit 1898 in Berlin. Er schrieb: »Wie 
sind die synthetischen Urteile der Mathematik a priori möglich?« 
(1869), »Kants intellektuelle Anschauung als Grundbegriff seines 
Kriticismus« (1876), »Grundriß der Logik und Metaphysik« (1878), 
»Die Philosophie Kants« (1862, U. 1887), »Die Philosophie des 
Selbstbewußtseins und der Glaube an Gott, Freiheit, Unsterblich- 
keit« (1895), die »Kosmogonie und Religion« (1898) u. a. Thiele 
hat seine religionsphilosophischen Grundgedanken schon in der »Logik 
und Metaphysik« skizziert. Die äußere wie innere Welt erscheint 
hier als das, als was sie vor unserem Bewußtsein steht, nur als Er- 
scheinungswelt, als Produkt des Ich. Das ihr zu Grunde liegende 
Ding an sich und das Ich stehen in Wechselwirkung und sind bloße 
Glieder eines über sie übergreifenden Wesens Gott. Das Ich ist ein 
wissendes Subjekt, es muß also auch in Gott ein Wissen sein, da 
das Wissen ein Teil von ihm ist und auch das Ding an sich eine 
Vielheit von Ich einschließt. Gott ist die absolute Identität von 
Wissen und Sein, er ist das absolute Selbstbewußtsein, das über dem 
endlichen Ich steht, in welchem alle endlichen Ich ihren gemein- 
samen, einheitlichen Urquell haben und durch den alles endliche Sein 
in überzeitlicher Schöpfung besteht Die Welt hat ihr Bestehen und 
ihre Einheit nur in und durch Gott, aber als absolutes Selbstbewußt- 
sein steht Gott über der Welt und beherrscht sie. Wie das Zugleich- 
seiende durch das absolute Ich seine Einheit und sein Bestehen hat, 
so findet auch die Entwicklung ihre Begreiflichkeit nur in Gott: als 
absolutes Ich über aller Entwicklung stehend, hat er in Vergangen- 
heit und Zukunft den von ihm gesetzten einen Endzweck gleich 
gegenwärtig; wie das Gleichzeitige in der Wechselwirkung zur Ein- 
heit zusammengeschlossen ist, so sind Anfang und Ende der Ent- 
wicklung vielmehr ineinander und dadurch ebenfalls ein in sich ge- 
schlossenes Ganze. Der Mechanismus ist nur die umgekehrte Zweck- 
tätigkeit und diese die ümkehrung von jenem, in Wahrheit aber 



c. Hermann Siebeck und Günther Thiele. 97 

sind, wie das Angezogen werden von A durch B zugleich das An- 
gezogenwerden von B durch A ist, ebenso auch Mechanismus und 
Zwecktätigkeit eins; nur für die endliche Betrachtung fallen sie aus- 
einander, in dem über aller Entwicklung stehenden absoluten Ich 
finden sie ebensosehr ihre Einheit, wie die scheinbar sich aus- 
schließenden gleichzeitigen Einzelnen. 

Diese schon in der »Logik und Metaphysik« entwickelten Ge- 
danken Thieles erfuhren ihre Vertiefung in der »Philosophie des 
Selbstbewußtseins«, in welcher er die sachliche Berechtigung des reli- 
giösen Glaubens an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit darzulegen 
versuchte. Alle Wahrheit, welche im Grunde nur eine Wahrheit 
ist, gipfelt ihm hier in der Religionsphilosophie und findet ihren 
endgültigen Abschluß in dem Begriff der Persönlichkeit: nur der 
Mensch als Person ist frei und verantwortlich, nur die persönliche 
Unsterblichkeit hat sittlichen Wert, nur der persönliche Gott bietet 
dem religiös-sittlichen Bedürfnis volle Befriedigung. Da der eigentliche 
Kern im Begriff der Persönlichkeit das Selbstbewußtsein ist, bezeichnet 
Thiele seine Religionsphilosophie als Philosophie das Selbstbewußtseins. 
Der gegebene Grund, auf dem und in dem alles Erkennen ruht, ist 
das Gegebene. Die Empfindungen sind gleichsam das feste Erdreich, 
das der Baum der menschlichen Erkenntnis mit seinen Wurzeln um- 
schließt, um sich desto sicherer in lichte Höhen zu erheben. Aber 
er erhebt sich durch eigene Kraft und organisiert sich nach eigenen 
Gesetzen, so gewiß er auch den Stoff zu seinem Aufbau dem Erd- 
reiche entnimmt. Nach eigenen Gesetzen erfaßt die Denkkraft die 
Empfindungen, unterscheidet und vergleicht sie, und jede ihrer 
Bestimmtheit gemäß einfügend, verknüpft sie dieselben in den mannig- 
faltigsten qualitativen und quantitativen Beziehungen zu jenem un- 
erschöpflichen Formenreichtum, den die sinnliche Erscheinungswelt 
in Gestalten, Bewegungen und Veränderungen, im Zugleich- und 
Nacheinandersein einschließt, und von allen gesetzmäßig fortschreitenden 
Synthesen a priori besteht innerhalb der Erscheinungswelt die letzte 
und höchste darin, daß wir die unendliche Fülle der einzelnen Formen 
des Seins und Geschehens in der einen Form der allumfassenden 
Raum- und Zeitanschauung verbinden. Aber eine objektive Existenz 
und durchgehende Gleichmäßigkeit können diesem absoluten Raum 
und dieser absoluten Zeit nur dadurch gesichert werden, daß sie 
selbst schließlich von dem ewigen Sein des einen Urgrundes aller 
Dinge abhängig sind. Dieser Urgrund aller Dinge oder das Unbe- 
dingte ist seinerseits nicht nur ohne Grund, sondern hat vor allem 
die positive Bedeutung, daß er schlechthin selbständig, causa sui ist 

stöbert, BeUgion^hilosophie. • 



98 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. KeL-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

Der causa sui ist die absolute Notwendigkeit wesentlicfa. Diese Not- 
wendigkeit aber wird durch Gottes absolutes Selbstbewußtsein zur 
absoluten Freiheit: Gott ist ein allwissender und absolut frei wollender 
Gott. Die materialistische Auffassung des Seelenlebens ist unmöglich. 
Jeder Wissensakt, durch welchen sich das Seelische vom Physischen 
spezifisch unterscheidet, hat zur unmittelbaren Grundlage eine ein- 
fache wissende Substanz, wie überhaupt das ganze bewußte und zu- 
gehörige unbewußte Seelenleben eines Menschen nur einer ein- 
fachen Substanz zuzuschreiben ist. Während die Gegenstände des 
äußeren Sinns sich beständig in Fluß befinden, d. h. veränderlich sind^ 
l^det die Seelensubstanz ein Beharrliches. Die menschliche Seele 
ist immateriell. Die Identität von Wissen und substantiellem Sein 
ist das Ich als Selbstgefühl. Das Ich ist kein Sichselbstdenken oder 
Sichselbstempfinden, sondern Selbstgefühl oder näher als Identität 
des Wissens mit dem Substanzsein der Seele überzeitliches Selbst- 
gefühl. Das überzeitliche Ich ist frei, weiß sich frei und will frei 
sein. Die Wahlfreiheit desselben ergibt sich negativ daraus, daß 
Äußeres nur durch die inneren Zustände des Ich auf dasselbe einen 
Zwang auszuüben vermag, positiv daraus, daß es im Laufe der Zeit 
wiederholt zwischen entgegengesetzten Motiven entscheiden und 
wählen kann. So hat der Satz des Grundes an dem die Wahlfreiheit 
einschließenden Wesen des überzeitlichen Ich seine Grenze. Die 
menschliche Seele ist unsterblich. Wenn das Bewußtsein mit dem 
Tode auch gänzlich schwände, so bliebe trotzdem die Seelensubstanz 
zurück. Befreit vom Organismus wird die Seele am Wissen im über- 
zeitlichen Ich, an der Nachwirkung ihres menschlichen Daseins und 
an fortbestehender Wechselwirkung einen Lebensinhalt haben. Es 
könnte auch bereits im vormenschlichen Dasein der Seele ein ge- 
wisses Denken bestanden haben, ohne daß dieses erinnerlich zu sein 
brauchte, doch liegt die Annahme, daß damals nur ein Fühlen 
möglich war, näher. Der Zweck des menschlichen Daseins oder der 
Verbindung der Seele mit dem leiblichen Organismus ist der, daß 
die Seele durch das Empfinden und Denken die Vorstellung der 
Außenwelt gewinnt, die Welt der Dinge, von welcher der Mensch 
nur ein verschwindender Teil ist, erkennt und im Zusammenhang 
mit und im Gegensatz zu dieser Welt sich zur Selbst- und zur 
Gotteserkenntnis erhebt: die Seele hat sich denkend zum selbstbe- 
wußten und freitätigen Wesen zu entwickeln und ihrer Aufgaben^ 
mehr und mehr Gottes Ebenbild zu werden, völlig bewußt zu 
werden. 



d. August Donier. 99» 



d. August Domer. 

August Johann Dorner wurde am 13. Mai 1846 zu Schil- 
tach Bad geboren, studierte Theologie und Philosophie in Berlin, 
Göttingen und Tübingen, wurde 1869 Hilfsprediger der deutschen 
Gemeinde zu Lyon und Marseille, 1874 Professor und Mitdirektor des 
Wittenberger Predigerseminars und 1890 0. Professor in Königsberg, 
wo er noch wirkt. Er veröffentlichte »De Baconis philosophia« 
(1867), »Augustinus« (1873), »Über die Prinzipien der Kantischen 
Ethik« (1875), »Schelling« (1875), »Die Predigt vom Eeiohe Gottes« 
(1880), »Kirche und Reich Gottes« (1883), »Das Andenken von A. J. 
Domer« (1885), »Das menschliche Erkennen« (1887), »Das mensch- 
liche Handeln« (1895), »Grundriß der Dogmengeschichte« (1899)^ 
»Grundriß der Encyklopädie der Theologie« (1901), »Zur Geschichte 
des sittlichen Denkens und Lebens« (1901), »Grundriß der Eeligions- 
Philosophie« (1903) u. a. Dorner gab außerdem seines Vaters »System 
der christlichen Sittenlehre« (1885) und den »Briefwechsel zwischen 
H!. L. Martensen und A. J. Domer« (1886) heraus. 

Die Erkenntnistheorie führt Dorner zu der Einsicht, daß unser 
Denkorgan uns zwingt, in das Gebiet der Metaphysik überzugehen» 
Dementsprechend ergibt ihm die »Metaphysik des absoluten Wesens« 
die Fassung Gottes als eines vernünftigen Willens und einer realen 
Vernunft, während ihm nach der »Metaphysik der Welt« die Welt 
als ein Produkt Gottes erscheint, das Gott aus seinen ihm eigenen 
Potenzen, denen er eine andere Existenzform gibt, schafft, das aber 
doch von ihm verschieden bleibt. Die in Gott ursprünglich geeinten 
Gegensätze sind in der Welt in einer anderen Existenzform vor-^ 
banden als in Gott, und da sie doch ursprünglich in Gott sind, und 
zwar in absolut harmonischer Form in Gott sind, so »müssen sie 
durch Gottes Aktion selbst in eine noch andere Existenzform über- 
gegangen sein, die sie in der Welt annehmen«. Die göttliche Aktion 
ruft auf Grund der relativ selbständig gesetzten Potenzen Einheits- 
punkte hervor, die in ihrer Weise aktiv sind, in denen die eine^ 
göttliche Aktion als eine besondere Art der Tätigkeit dem jeweiligen. 
Einheitspunkt gemäß sich offenbart Auf diese Weise ist Gott nach 
Domer über der Welt als vollendete Einheit und ist in ihr doch 
aktiv, ist ihr immanent, insofern er seinen Potenzen eine neue Daseins- 
form gibt, indem er sie aus ihrer ursprünglichen Einheit heraushebt 
und so ihnen Selbständigkeit verleiht, um sie in neuer Weise durch 
seine einigende Tätigkeit zu selbsttätigen Einheitspunkten zu ver- 
binden, und das vermag er auf Grund dessen, daß er das ewig mit 

17* 



100 2* ^&P* ^6 gegenw. Hanptvertreter d. ReL-Phil. auf phflosophisch nener Basis. 

sich einige, sich selbst wissende und wollende Ur-Ich ist, das sich 
zugleich als den ewigen Möglichkeitsgrund der Welt weiß und will, 
d. h. als die Kraft, welche die Einheit ihrer Potenzen löst, um 
sie in neuer Weise zu verbinden und ihnen so eine neue Daseins- 
form zu geben. 

Wenn nun die selbstische und die ideale Potenz auseinander- 
treten und nur in unendlichem Prozeß geeint werden, so kann nach 
Domer die Einigung niemals ein vollkommenes Gleichgewicht dar- 
stellen, was ja in der Gottheit von vornherein vorhanden ist, sondern 
nur eine Einigung, insofern die eine oder andere Seite überwiegt 
Zuerst überwiegt nun die selbstische und reale Seite; wenn die an 
sich unendliche Fähigkeit des für sich Existierens gar nicht mit dem 
idealen, universalen Faktor verbunden wäre, so würde diese in Form 
unzähliger für sich existierender blinder Kraftatome aktiv werden. 
Weil aber zugleich die ideale Potenz mit in Aktion ist, so wird die 
gesamte Fülle von Atomkräften niemals als bloßes Ghaos vorhanden 
sein. Das Resultat dieser Einigung unter der Einwirkung des idealen 
vernünftigen Prinzips wird eine Ordnung der Atome durch ihr Auf- 
einanderwirken sein. Die erste Form, in welcher die einigende Tätig- 
keit des absoluten Wesens sich hier offenbart, ist die mechanische 
Ordnung. Sie offenbart sich überall in den verschiedenen Formen 
der mechanischen, mathematisch -physikalischen und chemischen Ge- 
setzmäßigkeit, wobei das Merkwürdige ist, daß sich in der Masse der 
Atome eine Differenzierung zu Atomgruppen, zu Weltkörpem, und 
auf diesen wieder Differenzierungen bilden, durch welche die Welt- 
körper zu abwechselungsreich gestalteten Massen werden, Luft, Meere, 
Festland, geologische Schichten und Gestalten sich bilden, die alle 
in einer gesetzmäßigen Wechselwirkung stehen. Nachdem durch 
diese Differenzierungen die Bedingungen dafür vorhanden sind, be- 
ginnen neue Kombinationen, in denen eine neue Form der Einigung 
des realen und idealen Prinzips hervortritt in den organischen leben- 
digen Gestaltungen von den einfachsten Zellen bis zu den kompli- 
ziertesten Organismen. Hier macht sich nicht mehr nur die mecha- 
nische Ordnung geltend, sondern es liegen den mannigfachen Ge- 
bilden ideale Typen, Zweckideen zu Grunde, welche das mecha- 
nische Aufeinanderwirken der Atome und Atomgruppen in ganz be- 
stimmter Weise regulieren. In den Organismen werden die Teile 
durch einen einheitlichen Gedanken zusammengehalten, der die 
Differenzierung der Organe und das Zusammenwirken derselben zu 
^inem einheitlichen Ganzen leitet Insofern nun aber eine auf- 
steigende Linie der Organismen von den einfachsten Formen zu den 



d. August Domer. 101 



kompliziertesten sich wahrnehmen läßt, kann man nicht bloß mit Be- 
zug auf die Einzelorganismen, sondern mit Bezug auf die gesamte 
aufsteigende Linie schon hier von einer teleologischen Ordnung reden, 
die sich zwar in den Formen mechanischen Aufeinanderwirkens voll- 
zieht, nur daß die eigentümliche Art der Gruppierung eine leitende 
Idee voraussetzt, welche die mechanische Gruppierung reguliert. Die 
fortschreitende Macht des idealen Prinzips über das Selbstische zeigt 
sich hier darin, daß in diesem Gebiete nicht bloß die Selbsterhaltung 
hervortritt, daß nicht bloß der Typus in Einzelexemplaren, die sich 
selbst erhalten, sich geltend macht, sondern auch als Gattung, und 
daß je höher die Organismen, um so mehr die Gattung schon in der 
Teilung der Geschlechter, die sich anziehen, und in der Sorge um 
die Nachkommenschaft hervortritt. Eine noch konzentriertere Form 
der Einheit der getrennten Potenzen bahnt sich in den Organismen 
insofern an, als sich in einem Teil derselben sicher die Empfindung^ 
und mit ihr allmählich die Intelligenz als ein neues Moment geltend 
macht, zuerst nur in vereinzelten Empfindungen, dann in der Fähig- 
keit, in unmittelbarer Form zu kombinieren und unbewußte Schlüsse 
zu machen, in der Fähigkeit des Gedächtnisses, und dieser seelischen 
Verinnerlichung korrespondierend in der Fähigkeit, diesen Empfin- 
dungen einen Ausdruck zu geben in Gesten und Tönen. Diese neue^ 
Einheit drückt der Begriff Seele aus. Eine noch höhere Form der 
Einheit der Gegensätze wird da erreicht, wo das Bewußtsein nicht 
nur die Beseelung der Organisation in unmittelbarer Weise vollzieht^ 
sondern auf Grund dieser beseelten Organisation das Bewußtsein 
sich zum Selbstbewußtsein erhebt und nun auf Grund einer klaren 
Unterscheidung des Ich von seinem leiblichen Organismus dieser in 
die Einheit des Bewußtseins aufgenommen und so eine höhere Ein- 
heit des realen Faktors mit dem idealen erreicht wird. Ebenso aber 
nimmt das Ich die unbewußte anorganische und organische, d. h. dia 
gesamte Natur in sein Bewußtsein auf und erweitert so mittels seiner 
leiblichen Organisation sein Selbstbewußtsein zum Weltbewußtsein. 
Hier ist der Höhepunkt der Naturentwicklung im Geiste erreicht. 
Wenn nun die Metaphysik der Natur die Aufgabe hat, die immer 
vollkommenere Durchdringung des realen Prinzips mit dem idealen 
in immer höheren Einheiten in den Grundzügen darzustellen, indem 
sie von der mechanischen Gesetzmäßigkeit zu der auf diese aufge- 
bauten teleologischen Gesetzmäßigkeit, von dieser zu der auf beiden 
ruhenden Beseelung der Natur, endlich von dieser zu dem auf allen 
diesen Formen ruhenden Selbstbewußtsein aufsteigt, so hat es die- 
»Metaphysik des Geistes« mit dem Selbstbewußtsein und seinen Formen 



102 2. £ap. Die gegenw. Hanptvertreter d. Bei.-Phil. anf philosophisch neuer Basis. 

tind Betätigungen za tun. Je mehr der Geist sich seiner einheit- 
lichen Kraft als Ich und der ihm entgegenstehenden Objekte der Welt 
bewußt wird, um so mehr wird er auch eine Einheit dieses Gegen- 
•satzes erstreben und diese Einheit in den Mächten oder der Macht 
finden, welche das Ich und die ihm entgegenstehenden Weltmächte 
:zur Einheit zusammenfaßt. Hier ist für Dorner der Ursprung der 
Eeligion. Je mehr das Ich noch mit Naturinhalt und selbstischem 
Willen überwiegend erfüllt ist, um so naturalistischer wird die 
l^öttliche Einheit gedacht werden. Je mehr der Mensch in der Natur 
Zusammenhang und Gesetzmäßigkeit findet, um so mehr erscheint 
-die Gottheit als die Naturmacht oder Naturordnung, die alles zu- 
sammenhält Fängt aber der Geist an, sich selbst zu erfassen und 
^och noch der Hemmnisse, die ihm von der Natur kommen, sich 
nicht mächtig zu wissen, so drückt sich dieses Schwanken in einem 
-dualistischen Bewußtsein aus und der Einheitstrieb des Geistes wird 
versuchen, sich dadurch zu retten, daß er in einem vollkommenen 
"Geiste die Welteinheit garantiert findet, der sein Gegenteil überwindet. 
Hier erfaßt sich der Geist als die Einheit von Vernunft und Willen, 
-als vernünftigen Geist, sieht aber als seinen Gegensatz eine Macht, 
in der das selbstische Bealprinzip des blinden Willens das ideale 
Prinzip überragt. Die Einheit sucht er durch Kampf zu erreichen, 
in welchem das selbstische Prinzip besiegt wird. Wird aber der Geist 
seiner selbst mächtig, indem die ideale Potenz, die Vernunft, die 
Herrschaft gewinnt, so erfaßt er sich auch als die Kraft, welche di« 
Hemmnisse der Natur positiv gestaltend überwindet. Er wird dessen 
inne, daß er sich selbst mittels seines Denkens ein Weltbild schafft 
Er sieht in seiner Vernunft den Maßstab, nach dem er die Wirklich- 
keit mißt, er sieht in ihr die Ideale bildende Kraft, und nach diesen 
Idealen bildet die aktive Vernunft den eigenen mannigfaltigen Or- 
ganismus aus und macht die Natur zum Symbol des Geistes, ge- 
staltet auch die Gemeinschaft der Geister zu einer harmonischen Ord- 
nung. Um aber diese Harmonie vollkommen herzustellen, sieht der 
vernünftige Geist die ganze Welt als vernünftig, vemunfterfüllt an, 
und statt einer blinden Naturordnung sieht er in der Welt eine ver- 
nünftige Ordnung, die Vorsehung. Erfaßt der Geist sich selbst 
vollends als übernatürlichen, mit der objektiven Vernunft geeinten 
Willen, so wird er noch mehr seines Unterschiedes von der Natur, 
seiner Erhabenheit über die Natur auf positive Weise als vernünf- 
tiger Wille inne; die objektive Vernunft erscheint ihm in dem posi- 
tiven Gesetze, dem sich sein WiUe fügt und das sein Verhältnis zu 
Andern WiUen regelt Um sich gegen alle etwaigen Widerstände zu 



d. August Domer. 103 



»ehern, sich die Harmonie seines Bewußtseins zu erhalten, sieht er 
dieses Gesetz als Gebot eines allumfassenden und allmächtigen, üben 
die Natur erhabenen Gottes an, dessen Willen auszuführen die all- 
gemeine Aufgabe ist. Die höchste Form, welche der Geist erreichen 
kann, ist die, wo er sich dessen völlig bewußt ist, daß ihm der gött- 
liche Geist, der das AU als die sittliche Weltordnung durchwaltet, 
immanent ist. So geht die Metaphysik der Welt in die Metaphysik 
des Absoluten zurück, und in dem menschlichen Bewußtsein ist 
es die Beligion, die diesen Rückgang auf das absolute Wesea 
vollzieht. 

Überblicken wir nun den Gang der religiösen Entwicklung im 
der Menschheit, so ergibt sich, daß das religiöse Leben den Ent- 
wicklungsstufen des menschlichen Geistes entspricht. Zuerst ist er 
noch in der sinnlichen Zerstreutheit, dem entspricht auch die Reli- 
gion, die sich noch nicht über die primitive Verworrenheit erhebt. 
Bann erhebt sich der Geist zu dem Bewußtsein von geordneten 
Naturmächten, die geistartig vorgestellt sich in den NaturvorgängeB 
betätigen, was zur Mythologie führt. Auch der Verkehr der Geister 
untereinander ist noch mehr durch den natürlichen Ausgleich der 
Naturtriebe geordnet Dieser Stufe entsprechen diejenigen Religionen, 
welche die Naturordnung, die Ordnung des Himmels, das Naturleben, 
die Naturgesetzmäßigkeit zum höchsten Inhalt haben und damit das 
Staatsleben in der Form verbinden, daß einer übergeordneten Macht 
die Massen Untertan sind. Es sind dieselben Götter der Naturord- 
nung, die auch die soziale und staatliche Ordnung hüten. Die baby- 
lonische, ägyptische und chinesische Religion geben von dieser Stufe 
des Bewußtseins Kunde. Es folgt dann die Stufe, wo der Geist sich 
von der Natur zu unterscheiden beginnt, wo er das Nichtige, Un- 
genügende des ganzen Naturlebens einsieht, und wo der Einheitstrieb 
sich gegenüber dem gesamten Naturleben so stark geltend macht, 
daß die gesamte Natur verschwindet und der Geist sich zu der Ab- 
straktion des AU-Einen erhebt Hier ist zum ersten Male die Parti- 
kularität des Bewußtseins überschritten. Aber der Geist erfaßt noch 
nicht sich selbst, in der unbestimmten Einheit versinkt alles Konkrete, 
und der Buddhismus ist es, in welchem am konsequentesten der 
Geist sich darüber klar wird, daß das Naturleben, der Wille zum 
Leben, der Vergänglichkeit zum Opfer fällt Das geistige Leben ist 
noch nicht als sittliches fixiert und so von dem natürlichen unter- 
schieden. Weil der Geist sich noch nicht selbst erfaßt, so fällt er 
doch wieder in das Naturleben zurück. Eine Erhebung über diese 
bloß negative Abstraktion, durch die der Geist sich von der Natur 



104 2. Eap. Die gegenw. Hanptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

loslöst, tritt in der persischen Religion hervor, welche ein positives 
übernatürliches geistiges Wesen in Ahuramazda erkennt. Aber der 
Geist ist noch gebunden, die Religion ist hier eine Religion des 
Kampfes, welche die Herrschaft des Geistes erstrebt, aber noch von 
der entgegengesetzten Potenz niedergehalten ist, die sich als die ver- 
derbliche, zerstörende, blinde Naturmacht darstellt, über welche der 
Geist den Sieg erringen soll. Wenn sich hier die Gottheit schon als 
positive ideale Geistesmacht darstellt, so erscheint der Geist in der 
griechischen Religion als vernünftiger Geist. Daher gestaltet die gött- 
liche Vernunft die Welt harmonisch, und in der Schönheit* und Har- 
monie wird das Göttliche gesehen. Gleichwohl hat der Geist [auch 
hier die Gefahr noch nicht vermieden, teils wieder in dem Natur- 
leben sich zu verlieren, weil die Basis der griechischen Religion doch 
anfangs die Naturreligion war, teils die Gottheit nicht genügend 
über die Unvolikoramenheit der Welt hinauszuheben. Während in 
der griechischen Auffassung der Geist mehr Vernunft als Wille ist, 
ist er in der römischen Herrscherwille. Aber die Privatherrschaft 
über die Naturobjekte wird durch das Recht geordnet. So entsteht 
hier das vernünftige Rechtsbewußtsein, das die reale Seite des Geistes, 
den Herrscherwillen durch die Vernunft in Schranken hält und im 
Staate konzentriert ist, so daß der Jupiter Capitolinus die dem Staats- 
und Rechtsleben immanente Gottheit repräsentiert. Dagegen erfaßt 
sich der Geist in den höheren semitischen Religionen als Willen, der 
einem höheren Gesetz unbedingt verpflichtet ist, das über ihm steht 
Daher erhebt sich der Geist dazu, Gott überweltlich transzendent vor- 
zustellen und damit seinen befehlenden Willen zu markieren, der 
aber doch noch nicht ganz ohne Willkür ist Es fehlt noch die 
innige Verbindung mit Gott, die der Mensch ersehnt, wenn er 
seiner selbst mächtig, Gottes gewiß werden will. Dies wird auf der 
christlichen Stufe erreicht, wo der Geist von seiner Geschiedenheit 
von Gott, die ihm Sünde und Übel bereiten, erlöst, des göttlichen 
Geistes teilhaftig wird, der seiner selbst mächtig und über die Welt 
erhaben doch zugleich der Welt immanent sein will, der die Ver- 
nunft und den Willen des Menschen wie Gefühl und Phantasie be- 
seelt und so erst die volle Harmonie der Persönlichkeit und durch 
sie ein universales Gottesreich hervorbringt, der nicht bloß befiehlt 
und fordert, sondern auch gibt, was er fordert. Hier ist auch die 
Natur nicht mehr ein Hemmnis, sondern ein gottgewolltes Mittel zur 
Darstellung und Förderung des Geistes, durch dessen Bearbeitung 
sie selbst zu einer höheren Stufe erhoben wird, weil Gott ebenso 



d. August Domer. 105 



Herr der Natur ist als ihr Schöpfer, wie er auch in ihr als seinem 
Werk sich geoffenbart hat. 

Alles in allem ergibt sich, daß die Religion nach Dorner nur 
verstanden werden kann als eine Beziehung des Menschen zu einer 
über die endlichen Gegensätze übergreifenden, hinter den sinnlichen 
Erscheinungen liegenden Realität, die natürlich nur eine durch die 
Intelligenz vollzogene Beziehung sein kann, da ohne die Intelligenz 
niemand etwas von dieser Erscheinung wüßte, die aber durchaus 
nicht bloß das Denken im engeren Sinne betrifft, sondern den ganzen 
intelligenten Menschen angeht, nur daß je nach der verschiedenen 
Beschaffenheit der Menschen in Bezug auf Entwicklung und Indivi- 
dualität die eine oder die andere psychologische Funktion im Über- 
gewicht ist, sowie daß sich den Entwicklungsstadien des Geistes und 
der Menschheit entsprephend das religöse Verhältnis stufenweise ver- 
schieden gestaltet. Hierin ist aber auch dies enthalten, daß die 
Religion sich immer als eine subjektiv-objektive Größe zeigt in dem 
Sinne, daß das Subjekt mit einem als existierend angenommenen ob- 
jektiven Wesen in Beziehung steht. Dementsprechend findet Dorner 
das Ideal der Religion in der »Gottmenschheit«. Nur eine Religion, 
welche der menschlichen Entwicklung freie Bahn läßt, welche die 
menschlichen Kräfte nicht einengt, sondern entfesselt, kann für Dorner 
als die höchste, als die absolute Religion angesehen werden. Das 
aber ist die »Religion der Gottmenschheit, denn in ihr ist die Gott- 
heit dem Menschen als belebender, alle Kräfte steigernder Geist 
immanent, ohne daß sie deshalb aufhörte, der alle einzelnen Seelen 
überragende absolute Geist zu sein, dem immer neue Ströme des 
Lebens entquellen«. Nur diese Religion ermöglicht Dorner ein völlig 
freies Verhältnis des Menschen zur Natur, die er als Gottes Schöpfung 
ansieht, und in der er göttliche Aktion findet, ohne sich in der 
Natur zu verlieren, weil er selbst von göttlichem Geiste erfüllt ist; 
sie ermöglicht es, den gesetzmäßigen Zusammenhang des Naturlebens 
anzuerkennen, gerade in ihm die Spuren der göttlichen Aktion zu 
finden, weil hier vorausgesetzt wird, daß das Wirken der Gottheit 
als Resultat die gesetzmäßig wirkende Ursächlichkeit sekundärer Kau- 
salitäten hervorbringt, sowie daß das menschliche Wirken auf die 
Natur gerade mittels der Benutzung der erkannten Naturgesetze sich 
vollzieht; schließt sie doch den Glauben nicht aus, sondern ein, daß 
alle Hemmungen, die dem Menschen durch die Außenwelt zu teil 
werden, von demselben Gotte als Anregungsmittel seiner Tatkraft ge- 
ordnet sind, der ihm immanent ist. Aber es ist hier zugleich das 
Bewußtsein enthalten, daß der Mensch die vornehmste Stätte gött- 



106 2. Kap. Die gegenw. Hanptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basii. 

lieber Offenbarung sei, daß durcb den gotterfüllten Menschen die 
Natur zum Symbol und Organ des Geistes gemacht werden soll, in- 
dem er die Natur den von ihm erkannten Gesetzen gemäß behandelt. 
Ebenso wird auch die Religionsgeschichte erst hier in ihrem wahren 
Lichte gewürdigt werden. Die Religion der Gottmenschheit erweist 
den geschichtlichen Prozeß der Religion und ermöglicht jene wahre 
Geschichtsbetrachtung, welche einsieht, daß der Fortschritt der Ge- 
schichte in der Persönlichkeit begründet ist. Die Religion der Gott- 
menschheit stellt an ihren Anfang nicht eine absolut unveränderliche 
Offenbarung, sondern eine Persönlichkeit, in welcher die Gottmensch- 
heit zuerst realisiert ist, um dann aber auch von den andern erlebt 
zu werden, welche dieses Prinzip der gotterfüllten Persönlichkeit als 
^ie unendliche Potenz einer nicht abzusehenden Entwicklung hinstellt 
und aus dem Aufeinander- und Miteinander wirken solcher Persönlich- 
keiten ein Reich Gottes entstehen läßt. »Nicht die objektive Religion, 
sondern die persönliche Religion, nicht die Religion als soziale Tat- 
sache und die Religion, die sich auf historische Offenbarung be- 
schränkt, ist die höchste Religion, sondern diejenige, welche subjektiv- 
objektive in dem Sinne ist, daß sie die Einheit Gottes und des 
Menschen in der Gottmenschheit erreicht, diese Religion kann nicht 
auf Tatsachen sich gründen, sie kann gar nicht einmal Tatsachen als 
den Kern der Geschichte gelten lassen, sie kann nur in Personen 
erscheinen und von Person zu Person sich fortpflanzen, sie muß als 
den Kern der religiösen Geschichte lebendige Persönlichkeiten aner- 
kennen, die in ihrem Innersten das Prinzip der Gottmenschheit sich 
angeeignet haben«. Insoweit die christliche Religion sich als solche 
umfassende Religion der Gottmenschheit darstellt, entspricht sie nach 
Domer dem Ideal der Religion. 

Nun aber die weitere Frage nach der Erkennbarkeit der höchsten 
Realität! Wenn es richtig ist, daß der gemeinsame Kern aller Religion 
darin besteht, daß man sich aus den Gegensätzen, in welche das loh 
empirisch verstärkt ist, dadurch rettet, daß man diese Gegensätze in 
einer Realität ausgeglichen weiß, die über dem Ich und der Außen- 
welt, mit der das Ich zu tun hat, steht, wenn die Religion, wie sie 
sonst auch psychologisch motiviert sei, immer auf eine solche Realität 
zurückgeht, so kommt alles darauf an zu erkennen, daß diese Realität 
wirklich existiert, zu beweisen, daß die »Existenz Gottes ein ver- 
nunftnotwendiger Gedanke ist«, welchen wir denken müssen. Dorner 
sieht den letzten Grund, um deswillen wir eine Realität übersinn- 
licher Art annehmen müssen, in der Denknotwendigkeit eines über- 
sinnlichen Substrates der Welt, und zwar deshalb, weil wir Kate- 



d. August Domer. 107 



gorien besitzen, die gar keinen Sinn haben, wenn ihnen nicht eine 
Realität entspricht. So sind ihm vor allem die Kategorien der Sub- 
stanz, der Kausalität, der Wechselwirkung und des Zwecks nicht bloße 
Kategorien, die dazu dienen, den empirischen Stoff zu ordnen. Die 
Kategorien der Quantität sind Kategorien, die an sich nicht dazu 
zwingen, reale Objekte anzunehmen. Einheit, Vielheit, Allheit gibt 
es auch im idealen Gebiet der Begriffe, und die Empfindungen, wie 
sie auch an sich beschaffen seien, können unter diese Gesichtspunkte 
fallen. Die Kategorie der Identität, der Verschiedenheit, der Be- 
jahung, der Verneinung, des Grundes und der Folge gehen ebenfalls 
nicht notwendig über das ideale Gebiet des Denkens hinaus. Auch 
mit den Kategorien der Möglichkeit und der Notwendigkeit ist es so. 
Anders ist es aber, wenn man unter der Notwendigkeit nicht nur 
logische Konsequenz und unter der Möglichkeit nicht bloß eine ge- 
dachte Möglichkeit versteht; denn eine reale Möglichkeit bezeichnet 
eine Potenz, die etwas hervorbringen kann. Sie ist nichts anderes 
als die Ursächlichkeit, eben als Potenz gedacht, denn die Potenz, die 
reale Möglichkeit, ist der Möglichkeitsgrund des Verursachten, nur 
mit dem Unterschied, daß die Ursache aus der Potenz hervorgetreten 
ist, während die reale Möglichkeit nur die verursachende Kraft be» 
zeichnet, die wirksam werden kann. Die reale Notwendigkeit ist 
ebenso u. a. mit der Ursächlichkeit verbunden, denn die Ursache 
bringt notwendig das Verursachte hervor. Es gibt also auch eine 
reale Notwendigkeit. Ja noch mehr! Es ist zwar nicht anzunehmen, 
daß alles Denknotwendige wirklich sein müsse, aber es ist doch 
darauf zu bestehen, daß wenn ein Begriff, den wir notwendig denken 
müssen, so beschaffen ist, daß er notwendig die Bealität in sich 
schließt, daß ihm dann auch die notwendig gedachte Eealität ent- 
spricht. Das findet nach Dorner nun aber Anwendung auf die 
realen Kategorien der Substanz, der Ursache und der Wechsel- 
wirkung. Zwar kann man natürlich etwas fälschlich für eine Sub- 
stanz oder für eine Ursache erklären, man kann fälschlich eine 
Wechselwirkung annehmen, aber ganz etwas anderes ist es, ob man 
annehmen kann, daß es vernünftig wäre diese Kategorien zu bilden^ 
wenn es überhaupt keine Eealität gäbe, wenn die Substanz, Ursache 
und Wechselwirkung auch nur Gedankengebilde blieben; denn dann 
würde sich unser Denken in der vollkommen widerspruchsvollen 
Lage befinden, daß es Kategorien bildete, die eine Eealität aussagen 
und nur einen Sinn haben, wenn es eine Eealität gibt, während diese 
Kategorien gar keine Verwertung finden. Hier also muß man sagen: 
wenn wir diese Kategorien denken müssen, so muß auch irgendwie 



108 2. Eap. Die gegenw. Hanptyertreter d. ReL-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

ihnen eine Eealität entsprechen. Wenn dies nicht angenommen 
werden darf, so ist unser Denkvermögen widerspruchsvoll und sinnlos, 
auf Täuschung eingerichtet. Das würde aber unser Streben nach 
Wahrheit vernichten; Wahrheit ist nicht bloß eine Phantasie, ein 
schöner Schein, sondern eine machtvolle Realität. In diesem Sinne 
hat nach Dorner der sogenannte ontologische Gottesbeweis seine Be- 
rechtigung. Die Grundidee, auf der alles Erkennen ruht, ist die not- 
wendige Idee des absoluten substantiellen Seins, und die Wahrheit 
dieser Idee bezweifeln heißt »unsere Vernunft selbst in Frage stellen«. 
Die Einrichtung unserer denkenden Vernunft an sich zwingt uns zu 
der Annahme der Existenz eines absoluten substantiellen Seins, weil 
wir sonst diese reale Kategorie in Verbindung mit dem Einheitstrieb 
der Vernunft völlig vergeblich bilden würden und dann unserer 
denkenden Vernunft grundsätzlich mißtrauen müßten, was nichts 
anderes bedeuten würde, als daß die erkennende Vernunft sich selbst 
aufgibt. 

Auch das kosmologische Argument hat für Dorner seinen Wert. 
Woher der ganze mechanische Naturzusammenhang? Er rührt von 
einer letzten einheitlichen Ursache, welche diesen Zusammenhang 
geordnet und die Weltpotenzen so zusammengeführt hat, daß sie in 
geregelter Weise aufeinanderwirken. Will man nicht bei dem Zufall 
stehen bleiben, d. h. allen Grundsätzen^ des Erkennens Hohn sprechen, 
das überall nach einem notwendigen Zusammenhang und nach Ge- 
setzen sucht, so »bleibt gar nichts anderes übrig als eine letzte Ur- 
sache anzunehmen, welche das gesamte Aufeinanderwirken erst er- 
möglicht«. In diesem Zusammenhang hat für Dorner auch der teleo- 
logische Beweis sein Recht. Daß dieser Beweis in der Form, in 
welcher er früher gegeben wurde, indem man in einzelnen Naturer- 
scheinungen Zwecke zu beobachten glaubte und die Natur nur von 
endlichen vereinzelten Zweckbetrachtungen im menschlichen Interesse 
aus als zweckmäßig erklärte, nicht haltbar ist, ist richtig. Ganz 
anders ist es aber, wenn man den ganzen Naturzusammenhang in 
seinem Aufbau vom Mechanischen und Organischen, von da zum Be- 
seelten, von da zum Bewußten und zu vernünftigen Existenzen ins 
Auge faßt. Hier weist die Zielstrebigkeit die blinde Kausalität strikt 
zurück, sie führt mit Notwendigkeit zu einer immanenten Teleologie 
und damit auf einen intelligenten Urheber und Leiter der Welt 
Besonders ist die Ableitung des Menschen mit seinem Denken und 
Erkennen aus rein mechanischen Funktionen schlechterdings nicht 
möglich. Ebenso bleibt auch die Bedeutung des ethischen Gottes- 
beweises bestehen ; er muß nach Domer nur richtig formuliert werden. 



d. August Domer. 109 



Daß die sittliche Forderung einen unbedingten Charakter hat, wird 
man anerkennen müssen. Aber sie ist inhaltlich jedesmal durch 
die gegebenen Verhältnisse bedingt. Diese Forderung gestaltet sich 
zu einem Ideal, das unter den gegebenen Verhältnissen mit Hilfe 
der Natur und des eigenen Naturorganismus realisiert werden soll. 
Da dieses Ideal ein Handeln fordert, das über den Ereis des Ich 
übergreift und Zwecke setzt, die in der empirischen Welt realisiert 
werden sollen, so muß vorausgesetzt werden, daß die Natur außer 
uns und unser eigener Organismus so beschaffen sind, daß sie die 
Realisierung dieser Zwecke ermöglichen. Das ist aber nur dann der 
Fall, wenn wir eine höhere Macht annehmen, welche das Subjekt 
mit seiner Ideale bildenden Tätigkeit und die Natur, mittels deren 
wir diese Ideale realisieren wollen, füreinander bestimmt hat. Daß 
der Realisierung des Ideals mannigfache Schwierigkeiten entgegen- 
treten, das kann deshalb kein Grund gegen die Realisierbarkeit der 
ideale sein, weil ja gerade durch unsere Tätigkeit erst eine volle 
Harmonie von Geist und Natur hervorgerufen werden soll, diese also 
nicht schon gleichsam fertig vorhanden sein kann, wenn nicht unsere 
Tätigkeit gleich Null sein soll. So wird also im Interesse des sitt- 
lichen Handelns eine höhere Macht postuliert werden müssen, welche 
das Gelingen des. Handelns garantiert, indem sie das Subjekt mit 
seiner idealbildenden Tätigkeit, mit seiner unbedingt fordernden Ver- 
nunft und die Natur, welche der Realisierung der Zwecke dient, für- 
einander gesetzt hat 

Von Dorners sonstigen religionsphilosophischen Untersuchungen 
heben wir endlich noch die Frage nach den Gesetzen des religiösen 
Lebens hervor. Dorner unterscheidet hier zwei Hauptgesetze: Die 
Religion bewegt sich durch die Geschichte der Menschheit nach 
»einem teleologischen Gesetze dem Ideal entgegen«, während die 
»psychologische Gesetzmäßigkeit, insbesondere das Gesetz der Be- 
harrlichkeit«, sich diesem Entwicklungsgesetze einfügt Das Gesetz 
der Beharrung veranlaßt auf der einen Seite einen Kampf mit der 
dem Geiste immanenten Tendenz zum Fortschritt Dieser Kampf 
führt entweder dazu, daß sich eine bestimmte religiöse Geraeinschaft 
jeder Umbildung verschließt und dann geistig zurückbleibt, früher 
oder später erstarrt und abstirbt, während für den Fortschritt neue 
Träger in den Prozeß eintreten, welche den bleibenden Gehalt der 
absterbenden Religion in der neuen aufbewahren (so erlag das Parsen- 
tum dem Mohamedanismus, die griechische, römische und germanische 
Religion dem Christentum, so ist der Mohamedanismus in einer all- 
mählichen Erstarrung begriffen), oder es findet ein Ausgleich unter den 



110 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. E^l.-Riil. auf philosophisch neuer Basis. 

Kämpfenden statt, z. B. wenn verschiedene Religionsparteien sich gegen- 
seitig anerkennen und einander Duldung gewähren. Die andere Form, 
wie das Gesetz der Beharrung and das Gesetz des Fortschritts sich aus- 
gleichen, ist das der allmählichen Übergänge. So finden wir z. B. in der 
alten christlichen Kirche den Versuch, den Übergang von der griechischen 
Philosophie zu der christlichen Denkweise zu vollziehen; so finden 
wir in der Theologie verschiedener Religionen Vertreter, die zwischen 
den Neuerungen und dem Alten eine vermittelnde Stellung ein- 
nehmen, und ebenso zeigt sich im Gebiet der Sitte und des Kultus 
dieses Gesetz sehr häufig. Zwar kann man diese Gesetze nicht ebenso 
wie die Naturgesetze mit mathematischen Formeln exakt quantitativ 
berechnen. Die individuellen Verhältnisse des geistigen Lebens sind 
viel zu mächtig und das geistige Leben viel zu sehr zusammen- 
hängend, als daß es gelingen könnte, alle einzelnen Vorgänge so zu 
isolieren, wie wir es im Naturexperiment vermögen. Je mehr der 
Mensch sich als Einheit konzentriert, um so strikter wird der ganze 
Zusammenhang des geistigen Lebens durch die Einheit hergestellt, 
um so weniger gelingt es, die einzelnen Funktionen so zu isolieren, 
daß man aus ihrer mechanischen Zusammensetzung das ganze Leben 
des Geistes verständlich machen könnte, wenn es andrerseits auch 
gerade dem seiner selbst mächtigen Geiste immer mehr gelingt, seine 
Naturseite, die Seite des psychologischen Mechanismus zu durch- 
schauen und in den Dienst seiner Zwecke zu stellen. Fassen wir 
den gesamten Entwicklungsprozeß der Religion ins Auge, so können 
wir sagen: Die Religion entwickelt sich mit dem Geiste. Das teleo- 
logische Gesetz der Entwicklung erscheint als ein (jesetz des Soll 
und ist normativ, wenn man den Prozeß von dem Ideal aus ansieht, 
das realisiert werden soll. Aber andrerseits ist dieses Ideal eine dem 
Geiste immanente Kraft, die mit innerer Dialektik den Geist vorwärts 
treibt Da nun aber der Geist auch eine Naturseite hat und nur 
mittels dieser Naturseite sich entwickelt, so macht sich auch das 
Naturgesetz in seinen konkreten individuellen Formen geltend; das 
Neue, das hervorgebracht wird, muß fixiert werden, und das ge- 
schieht mittels des teils psychologischen, teils psychophysischen und 
physischen Mechanismus. Je selbständiger der letztere hervortritt, 
um so mehr hält er den Geist in den Grenzen dessen fest, was durch 
ihn fixiert ist, hemmt er seine Entwicklung, je mehr es dem Geiste 
gelingt, den Mechanismus in seinen Dienst zu nehmen, desto har- 
monischer entfaltet sich die Entwicklung, desto mehr ist die Natur- 
seite nur das Organ des geistigen Fortschritts. Am • vollkommensten 
ist dies naclf Dorner der Fall in der Religion der Gottmenschheit, in 



d. August Bomer. Hl 



welcher der Geist seiner selbst vollkommen mächtig auch die Natur- 
seite beherrscht; denn hier vermag er die gesamte Naturseite mit der 
ihr eigentümlichen Gesetzmäßigkeit in den Dienst des höchsten Zwecke» 
zu stellen, mit dem er sich grundsätzlich zusammengeschlossen hat^ 
des Prinzips der Gottmenschheit, das sich nach allen Seiten zu einem 
gottmenschlichen Reiche, einem Reich Gottes entfaltet — 

Wir fügen diesen Dornerschen Gedanken ein paar Worte hinzu. 
Die Religion wird von Dorner als eine geistige Größe aufgefaßt, 
welche mit der geschichtlichen Entwicklung des Geistes fortschreitet 
und als eine Betätigungsform des vernünftigen Geistes auch einem 
Ideale entgegengeht, das der Geist als solches Ideal erkennen kann. 
Diese Fassung Domers besitzt ihr gutes Recht. Das Wesen der Reli- 
gion kann man nicht verstehen, wenn man das Ideal der Religion 
beiseite läßt und nur aus psychologischen und historischen Tat- 
sachen dasselbe feststellen will, indem man nur die allen Religionen 
gemeinsamen Grundzüge heraushebt Dabei kann sich aber die 
Religionsphilosophie nicht damit begnügen, unter Wesen nur eine 
gewisse Summe von gemeinsamen Merkmalen oder das einer Gruppe 
von Erscheinungen gemeinsame Charakteristische zu verstehen, wobei 
Wesen gleich Allgemeinbegriff wäre, Wesen ist vielmehr die den Er- 
scheinungen zu Grunde liegende Realität, aus der diese Erscheinungen 
begriffen v/erden. Dorner findet dieses Wesen mit Recht in der 
Gottheit, als einem vernünftigen Willen und einer realen Vernunft,, 
deren Realität ihm aus den Daten des Geisteslebens deutlich resultiert. 
Sowohl im unserem Erkennen als im Gebiete des ethischen und 
ästhetischen Lebens zeigt sich eine Reihe von Tatsachen, die gar 
nicht begreifbar sind, wenn wir nicht über die Sphäre des bloß Er- 
fahrungsmäßigwa hinausgehen. Dahin gehören im Gebiete des Denkens 
die realen Kategorien und der Zwecksbegriff, im Gebiete der Ethik 
die unbedingte Forderung, die sich in unserm Bewußtsein geltend 
macht, im ästhetischen Gebiet die idealisierende Tätigkeit, die über 
den gegebenen Stoff hinausgeht, Idealgebilde schafft und dieselben 
mit Hilfe der Natur zur wirklichen Darstellung bringt Dahin- gehört 
die Idee der Totalität und Einheitlichkeit der Welt, die Einheitlich- 
keit unseres theoretischen und praktischen Bewußtseins, die una 
innewohnende Idee des unendlichen usw. usw. Alles das hat Dorn er 
in seinem System gewertet, das ohne Zweifel eine glänzende Leistung 
der Neuzeit auf religionsphilosophischem Gebiet darstellt und sein 
Teil zur Festigung und Kräftigung der religiösen Gedanken mit bei- 
tragen wird, zumal auch der Gedanke der Entwicklung in meister- 
hafter Weise hier seine Verarbeitung gefunden hat 



112 2. Eap. Die gegenw. Hauptvertreter d. BeL-Fhil. auf philosophisch neuer Basis. 

e. Georg Runze. 

Georg Kunze wurde am 13. Februar 1852 in Woltersdorf in 
Pommern geboren, studierte Theologie und Philosophie in Greifswald 
und Berlin, wirkte von 1874 — 1876 als Privatlehrer in Kußland, 
war 1876—77 Adjunkt am Kön. Domkandidatenstift in Berlin, 1878—80 
Senior im Studentenkonvikt Johanneum, habilitierte sich 1880 in Berlin 
für systematische Theologie und Religionsphilosophie, wurde 1885 Ober- 
lehrer am Falkrealgymnasium in Berlin, 1890 a. o. Professor hier- 
sei bst, 1893 Doktor der Theologie h. c. von Jena, 1887 Diplom-Mit- 
glied der Comeniusgeselischaft und 1902 Dozent an der Lessinghoch- 
schule. Seine Hauptwerke sind »Schleiermachers Glaubenslehre« 
(1877), »Ontologischer Gottesbeweis« (1881), »Grundriß der ev. 
Glaubenslehre« (1883 f.), »Sprache und Religion« (1889), »Psycho- 
logie des ünsterblichkeitsglaubens« (1894), »Doppelsinn des Jona- 
zeichens« (1897), »Praktische Ethik« (1891), »Dr. Nietzsche als Theo- 
loge und als Antichrist« (1896), »Katechismus der Dogmatik« (1897), 
»Religionsphilosophie« (1901), »Metaphysik« (1905). Runze gab außer- 
dem Deters »Geschichte der Philosophie« von der 6. Auflage an 
heraus. 

Wie der Ursprung der Sprache, der Sitte, des Rechts, so ist nach 
Runze auch der Ursprung der Religion geschichtlich nicht mit Sicher- 
heit zu ermitteln, d. h. nicht bis auf seine elementarste Form zurück- 
zu verfolgen. Nur vermutungsweise durch Schlußfolgerung, können 
wir jenen elementaren prähistorischen Zustand erraten, in welchem 
die ersten Regungen zur Zeichen- und Lautsprache, zur Familien- 
und Stammessitte, zur Rechts- und Staatenbildung sich äußerten und 
zu gewohnheitsmäßiger Ausübung sich fixierten. Wo immer wir 
menschliches Gemeinschaftsleben beobachten, finden wir Spuren in- 
tellektueller und ethischer Lebensäußerungen, die den Menschen vom 
Tier unterscheiden. Auch von religiösen Vorstellungen und Hand- 
lungen zeigen sich schon auf niedrigster Kulturstufe gewisse primitive 
Anzeichen, die den Schluß nahelegen, daß mit dem Dasein des 
Menschen das Dasein irgendwelcher geistigen Lebensäußerungen ge- 
geben war, die wir Religion zu nennen berechtigt sind. »Die Religion 
ist nicht aus diesen oder jenen Veranlassungen oder Ursachen, zu- 
fällig oder notwendig, entstanden, sie ist da und wird stets dasein, 
so gewiß aus der bisherigen Menschheitsgeschichte nur der Unver- 
stand die Annahme herleiten könnte, es werde jemals eine religions- 
lose Menschheit existieren, die gleichwohl auf den Namen des 
Menschlichen noch Anspruch machen könnte«. Gleichwohl ist es 



a Georg Runze. 113 



keine mäfiige Frage, aus welchen besonderen der allgemeinmensoh'- 
lichen Triebe, Bedürfnisse, Neigungen, Seelenfunktionen gerade das 
religiöse Verhalten in der Regel sich entwickelt, mit welchen Be- 
strebungen und Gewohnheiten es vorzugsweise seit ürbeginn in Zu- 
sammenhang gestanden haben möge. Um das zu beantworten, bieten 
sich verschiedene Wege. Runze findet den klarsten Einblick in die 
Art des Entstehens der Religion in der Analyse des kindlichen 
Seelenlebens. Teils nebeneinander, teils nacheinander entwickein sich 
aus der Eindesseele mannigfache Lebensäujßerungen, für welche in 
dem Leben der Naturvölker wie in den unmittelbaren Äußerungen 
der Seelenfunktionen des erwachsenen Kulturmenschen durchgehende 
Parallelen sich finden. Diese simultanen und successiven Seelen- 
funktionen dienen nicht bloß als Analogien zu dem Werden der 
Religion, sondern sind selbst die Eeimformen, aus denen die religiöse 
Ahnung und Hoffnung, der religiöse Glaube und die religiöse Welt- 
anschauung sich entwickelt. 

Den Stufen in der Entwicklung des kindlichen Seelenlebens ent- 
sprechend kann man die Entwicklung des religiösen Bewußstseins in 
verschiedene Stadien zerlegen. Ob dieselben mehr successive oder 
mehr gleichzeitig auftretend gedacht werden, jedenfalls wird Runze 
durch die allseitige Berücksichtigung dieser Stadien die Einseitigkeit 
vermieden, deren viele Religionspsychologen sich schuldig machen. 
Dem Begehrungsvermögen des sinnlich gerichteten Gemüts- und 
Willenslebens entspricht der eudämonistische Wunsch und die kako- 
dämonistische Furcht; die Götter sind Wunschwesen, sie sind das, 
was wir sein möchten, aber nicht sind, und sie sind die erwünschten 
Träger der Macht, welche die Erfüllung unserer Wünsche verbürgen, 
die Bewahrung vor befürchtetem Unheil erhoffen lassen. Der un- 
willkürlichen Einbildungskraft entspricht sodann sowohl die Erfahrung 
des Traumlebens, dessen Spiegelbilder des wirklichen Lebens die 
Vorstellung von einem außerwirklichen Dasein, von dem Nachleben 
Verstorbener, von wunderbaren Möglichkeiten sonst unmöglich er* 
sdieinenden Geschehens vorspiegeln^ als auch die wachend kombi- 
nierende Vorstellungassoziation mit ihrer Analogienbildung, gegen- 
seitigen Übertragung von Anschauungsbildern, Personifizierung von 
Unpersönlichem und hyperbolischen Ausstattung persönlicher Gestalten 
mit außermenschlichen Naturkräften, woraus einerseits die naturistische 
Mythenbildung, andrerseits die Heroenverehrung und der Ahnenkult 
sich erklärt Der Verstandestätigkeit drittens entsprechen die mannig- 
fachen Versuche, das Rätsel des Daseins zu lösen, durch Unterscheidung 
zwischen der wirklichen Welt und dem unbekannten Lande nach 

Siebert , Beligiontphilosophie. 8 



114 2. Kap. Die gegen w. Hanptvertreter d. Eel.-Phü. auf philosophisch neuer Basis. 

dem Tode, das Rätsel des Todes aufzuhellen, durch Schlußfolgerung 
von der Wirkung, der Erscheinungswelt, auf die unbekannte Ursache 
und durch ürteilsbildung über die den erscheinenden Wirkungen ent- 
sprechende Beschaffenheit dieser ursächlichen Kräfte einen bestimmten 
Begriff von dem Jenseits aller Erfahrung, von dem Unendlichen, von 
der Gottheit und vom ewigen Leben zu gewinnen. Dem intellek- 
tuellen Orientierungsstreben, welches durchgängigen Zusammenhang 
in allem, was Gegenstand der Vorstellung ist, sucht und jedem 
Yakuum abgeneigt ist, werden dann auch die aus anderen, nicht in- 
tellektuellen Motiven stammenden gewohnheitsmäßigen Voraussetzungen 
willkommen sein, die eine Antwort versprechen auf die metaphysische 
Frage des Verstandes: woher stammen wir, woher stammt die Welt? Der 
Verstand bemächtigt sich der Traumideen, der Phantasieprodukte, der 
Hoffnungen und Befürchtungen des Gemüts, um dieselben seinem kau- 
salen Interesse anzupassen; und noch mehr wird er seine Rechnung zu 
finden meinen, wenn die reiferen Ideen und die reineren Ideale, die 
Forderungen des Rechtsbewußtseins, der Geselligkeitstriebe, des sitt- 
lichen Selbstgefühls mit seinen intellektuellen Zielen konvergieren. 
Und gerade aus diesen Triebfedern des sittlichen Willens, aus dem 
ethisierten Wollen des geistig gerichteten Gemütslebens entnimmt der 
Mensch die mächtigsten und dauernsten Impulse für sein religiöses 
Glauben und Hoffen. Aus dem Sinn für das Gute und Gerechte, 
aus dem Bedürfnis nach gerechter Vergeltung keimt immer von 
neuem der Glaube an eine moralische Weltordnung, an eine göttliche 
Schicksalsmacht, welche die Dissonanzen des Diesseits zu harmonischer 
Ausgleichung auflösen werde. Das verletzte sittliche Selbstgefühl 
und die warnende Stimme des Gewissens drängen mit zwingender 
innerer Gewalt auf die Vorstellung von einer gesetzgebenden und 
richtenden Autorität, welche unabhängig von den willkürlichen Ent- 
schließungen der Menschen wie von den versuchenden Reizen der 
Sinnlichkeit und den erdrückenden Mächten der unvernünftigen 
Natur den Bestand einer sittlichen Vemunftordnung verbürge. Die 
Gottheit wird hier das vorbildliche Ziel des sittiichen Vollkommen- 
heitsstrebens der Menschheit, der Inbegriff der persönlichen Men- 
schenwürde. 

Es bleibt nun die Frage, inwieweit in die genannten Faktoren 
der subjektiven Religionsentstehung der Koeffizient der Sprache mit- 
bestimmend einspielt, die von allen objektiv wahrnehmbaren Funk- 
tionen des menschlichen Wesens im Unterschied vom tierischen die 
bedeutsamste ist. In ihr offenbart sich vornehmlich das vernünftige 
Selbstbewußtsein, die subjektive Welt der Ideen. Sollte nun etwa 



e. Georg Bunze. 115. 



die Sprache auch die Hauptquelle des Gottesbewußtseins gewesen, 
sein? Hören wir, was Kunze darüber sagt! 

Die Sprache entsteht erstens aus dem Reiz der Nachahmung von 
Naturlauten und fremden Äußerungen, sodann aus dem Bedürfnis 
der Mitteilung an andere, endlich aus dem Streben, Empfindungen, 
welche die Seele bewegen, sowie unklare Vorstellungen, die andrer- 
seits das Selbstbewußtsein trüben und stören würden, auszulösen; sie 
ist ein Mittel der geistigen Selbsterhaltung. Durch das Wort wird 
eine Grenze gezogen zwischen dem noch unbewußten, unklaren und 
dem bewußten, klaren Denken. So kann nach Kunze durch sprachliche- 
Metapher und Personifikation, durch Ellipse und Hyperbel auch die- 
Idee eines allmächtigen, allwissenden, persönlichen Gottes, eines er- 
habenen, unendlichen, ewigen, heiligen, guten und gerechten Schöpfers 
und Kegierers der Welt zur Ausbildung gelangt sein. Aber solche 
Gottesidee würde ihm doch die Kulturentwicklung der Jahrtausende^ 
nicht siegreich überdauert haben, wenn nicht schon dem ersten Ent- 
wicklungsstadium derselben eine religiöse Anlage entgegengekommen 
wäre; vielmehr wäre mit reiferer Einsicht der Gottesgedanke fallen 
gelassen worden. Der Kulturmensch konnte auf die Religion nicht 
verzichten, weil, so mannigfach auch die zusammenwirkenden Trieb- 
federn und Gelegenheitsursachen gewesen sein mögen, denen sie ihr 
aktuelles Dasein verdankt, der erste und eigentliche Ursprung die 
menschliche Seele selber ist, die ohne eine wenigstens dynamische^ 
Religion nicht wäre, was sie ist Darum wird die Religion so wenig^ 
untergehen, wie sie im eigentlichen Sinne entstanden ist. Die Reli- 
gion verträgt sich mit dem reifsten und reichsten Denken; sie krönt 
das Gebäude der Kultur, sie gibt dem Interesse an der Welt und 
an ihren Werken seinen tiefsten Inhalt, sie bildet den Lebensnerv 
alles edleren Strebens. Sie erhebt im Leben und tröstet im Sterben,, 
sie ist das Yerständigungsmittei zwischen den sonst getrennten 
Klassen der Gesellschaft, der gemeinsame Realgrund für die ver- 
schiedensten reinmenschlichen Bestrebungen und der gemeinsame^ 
Erkenntnisgrund, der dem unverdorbenen Menschen das Rätsel des 
Daseins wenigstens soweit aufklärt, vrie sein unmittelbares Herzens- 
bedürfnis es verlangt, damit er nicht verwirrt und zerrieben werde- 
in der Wechselwirkung der einander widerstreitenden Mächte, die 
auf sein Gemüt einstürmen. Die Religion allein löst auch dem ge- 
bildetsten Menschen den rätselhaftesten Zwiespalt des Daseins. Diese» 
Rätsel besteht darin, daß das Individuum zugleich ein bis zur Nichtig- 
keit dürftiges, im All verschwindendes Naturprodukt innerhalb des 
Makrokosmos und doch, idealistisch angesehen, ein das All geistig 

8* 



116 2. Eap. Die gegenw. Hauptveitreter d. Rel.-PhiL auf philosophisch neuer Basis. 

amsohließender Mikrokosmos yon absolut maßgebender schöpferischer 
Spontaneität zu sein scheint Wenn somit der Mensch die Religion 
entbehren kann, so reicht die Sprache für sich allein nicht aus, das 
Dasein derselben zu begründen; der zufällige Charakter der Sprach- 
entwicklung reicht an den Ernst der subjektiYen Oemütsbedürfnisse, 
denen die Religion entspricht, nicht heran. »Wir sehen deshalb wohl 
überall die Sprache als ein herrorragendes Hilfsmittel, als Koef- 
fizienten für die Entwicklung des Gottesgedankens mit am Werke, 
aber nirgends könnte man aus dem jeweiligen Stande der Sprach- 
entwicklung mit zwingender Evidenz das Entstehen der Religion er- 
klären. Nur die gedankenmäßige Ausprägung der objektiven Religion, 
«oweit dieselbe bereits in geformten Yorstellungen sich bewegt, ihr 
besonderes Oeartetsein in der Geschichte, im Mythos und Dogma 
kann zum guten Teil aus der Sprache hei^eleitet werden; das Wesen 
<der subjektiven Religion wurzelt in dem Leben der Seele selbst und 
mufi psychologisch ergründet werden«. 

Welcher Art ist nun dieses Wesen der Religion? Eine ein- 
gehende Kritik der diesbezüglichen Definitionen führt Runze zu einer 
Definition, welche einerseits die Gefühlsseite, andrerseits die be- 
fruchtende Einwirkung derselben auf das sittliche Leben, im Unter- 
schiede von den zerstreuenden Einflüssen des sonstigen Kulturlebens^ 
£um Ausdruck bringt: »Religion ist Sammlung des Gemüts«. Als 
solche trägt sie das Yermögen in sich, alle Seiten des menschlichen 
Wesens zu entbinden und zu befruchten, sie selbst aber ist meki 
als Organ und Reizmittel für anderes und steht als Selbstzweck allem, 
was sonst als Selbstzweck im menschlichen Dasein empfunden und 
erlebt wird, ebenbürtig zur Seite, so daß sie nicht bloß in Hin- 
sicht auf die Erhabenheit ihres Gegenstandes, sondern auch auf den 
Umfang ihres Geltungsbereidis sogar alle andere Selbstbetätignng 
des Geistes überragt; denn die Religion leistet für das ganze Ge- 
mütsleben dasselbe, was für das ästhetische Leben die Kunst^ für 
das Willensleben die Moral, für das intellektuelle Leben die philo- 
sophisch-universell betriebene Wissensdiaft leistet. Nur die R^igion 
ist jener zugleieh zentralen wie totalen Leistung fähig, weil sie der 
psychischen Grandli^e des menschlichen Individualdaseins, der Seele 
als subjektiver Einheit des persönlichen Lebens ebenso zugehört wie 
dem der Objektivität zugewandt^i Yemunftleben des Geistes. Daraus 
ergibt sich auch das Veriiältnis der Reägion zur Philosophie octar 
des Glaubens zum Wissen. 

Die gesamte Wissenschaft beruht nach Runze mit Recht insofern 
auf dem Glauben, als sie in ihrem Streben nach vollständiger Ab- 



e» Oeoig fioDze. 117 



bildung der objekÜTeii Weltwirklichkeit in dem Spiegel der mensch- 
lichen Subjektivität nicht nur eine dieses Abbilden ermöglichende 
Oleichartigkeit zwischen Subjekt und Objekt überhaupt voraussetzt, 
sondern angesichts des beschränkten Gesichtsfeldes jedes einzelnen 
auch ein vertrauenswürdiges Zusammenwirken von vielen Denkenden, 
ein Anknüpfen an menschliche Autoritäten. Selbst der Naturforscher 
kann nicht jedes von andern gemachte Experiment nachprüfen; 
besonders aber ist der Geschichtsforscher auf die Zuverlässigkeit 
seiner letzten Quellen angewiesen! Dazu beruht auch alle gesetz- 
mäßige Naturerkenntnis auf Anwendung der Eausalitätsidee , indem 
wir mit Hilfe der logischen Induktion den in vielen Fällen be- 
obachteten Zusammenhang auf analoge Fälle übertragen. Diese 
Voraussetzung einer allgemeinen Ordnung der Dinge, welche aus 
dem vielfach wahrgenommenen Eausalnexus als durchgängig herr- 
schende Gesetzmäßigkeit erschlossen wird, ist begleitet von einem 
Gefühl des Vertrauens, indem wir erstens auf die objektive Harmonie 
der Weltwirklichkeit, zweitens auf die geordnete Organisation in 
unserer subjektiven Vorstellungswelt und endlich auf die harmonisch 
geordnete Übereinstimmung beider Welten, der Wahmehmungswelt 
und der Vorstellungswelt, mit einer naiven Zuversichtlichkeit bauen, 
die als solche freilich nur dem Philosophen zum Bewußtsein kommt, 
die aber um so erstaunlicher ist, als sie auch während dieses aktuellen 
Bewußtwerdens keineswegs an Intensität einbüßt Und wenn somit 
schon das theoretische Einzelwissen auf dem Glauben beruht, so ist 
diejenige Wissenschaft, welche die Möglichkeit des Wissens zu ihrem 
Gegenstande und die Erhebung des gesamten Wissens zur Form 
einer einheitlichen Weltanschauung zum Ziele hat, die Philosophie,, 
dem Glauben noch inniger verwandt; denn sie ist, als Kunst der ein- 
heitlichen Lebensanschauung, zugleich in höherem Maße als die 
Kunst der objektiven Einzelbeobachtung ein aufmerksames Wissen- 
wollen, das mit dem Glauben an das Wissenkönnen verbunden ist 
Die rein wissenschafüiche Forschung begnügt sich mit der allge- 
meinen Voraussetzung, daß die Welt, wie sie uns erscheint, wirklich 
da ist, und daß ein Wissen von ihr möglich ist, und der besonderen,, 
daß das jeweilig Angestrebte wenigstens teilweise erreichbar sei. Die 
Philosophie fügt diesem Vertrauen das weitere hinzu, daß eine ein- 
heiüiche Totalerkenntnis, ein richtiges Weltbild, eine dem monistischen 
Interesse entsprechende wirkliche Harmonie zwischen dem Ich und 
dem All zwischen Mikrokosmus und Makrokosmus möglich sei. In- 
dem sie den höchsten dem Menschen faßbaren Gedanken, den des- 
Universums, mit dem tiefsten persönlichen Interesse, dem an der 



118 2. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter <L Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

Realität und dem Werte des Selbstbewußtseins kombiniert, befriedigt 
sie dasselbe Bedürfnis wie der religiöse Glaube, denn auch diesem 
liegt vor allem an der Harmonie zwischen dem Ich und dem All, 
An dem Ausgleich zwischen der subjektiven Seelenstimmung und 
dem Bewußtsein, in den Weltzusammenhang verflochten, seinem er- 
>drückenden Mechanismus preisgegeben zu sein. Aber eben hierin 
liegt auch wieder der bleibende Unterschied zwischen Religion und 
Philosophie. Das religiöse Interesse ist vor allem ein persönliches; 
•der Glaube an die Möglichkeit der Yersöhnung zwischen Ich und 
Welt, dessen Korrelat der einheitliche Gottesgedanke ist, ist nicht in 
-erster Linie eine theoretische Voraussetzung, sondern ein praktisches 
Bedürfnis. Das philosophische Interesse ist an sich ausschließlich ein 
theoretisches; der Philosoph will wissen, was die Welt im Innersten 
zusammenhält, und um das wissen zu können, muß er glauben, daß 
solche zusammenhaltende Kausalität möglich sei. Ob sein indi- 
viduelles Ich sich dabei selig oder unselig fühlen wird, das muß ihm 
-zunächst unwesentlich sein; auch sein Ich kommt ihm nicht als 
individuelles, sondern als allgemeine Subjektivität, als Typus aller 
«möglichen Individuen, in Betracht Darum erreicht auch die Philo- 
sophie die erwünschte Harmonie nur auf dem Wege intellektueller 
Abstraktion, die Religion auf dem Wege der Unterordnung unter 
das Allgemeine, der Hingabe an die Gottheit. Das Bedürfnis, mit 
dem All in Harmonie zu leben, ist somit für den Philosophen ein 
theoretisches, für. den Frommen ein praktisches. — 

Runzes Religionsphilosophie hat ihre Schwächen; so geht er von 
vornherein von der Annahme aus, die Religion gehöre dem Gebiete 
der Psychologie an. Diese Annahme entspricht einem heute sich noch 
vielfach findenden Subjektivismus, vermag aber dem Phänomen der Heli- 
kon darum nicht gerecht zu werden, weil sie dem Begriffe der 
Religion denjenigen der Religiosität substituiert. Die Religion wird 
viel zu sehr als Sache des einzelnen Subjekts betrachtet und ihre 
Unterscheidung von Kunst, Moral und Wissenschaft nicht genug auf 
^ie großen objektiven Unterschiede der Sphären des geschichtlichen 
Geisteslebens der Menschheit basiert. Gleichwohl darf Runzes Arbeit 
äIs ein beachtenswerter Versuch bezeichnet werden, Religion und 
Wissenschaft miteinander zu verbinden und die Priorität der ersteren 
vor den übrigen Kulturfaktoren zu erweisen. 

f. Franz Mach. 

Franz Mach wurde am 26. Oktober 1845 in Deutsch-Horscho- 
-witz in Böhmen geboren, besuchte das Gymnasium in Saatz, studierte 



f. Franz Mach. ng 



Theologie auf der theol. Lehranstalt Leitmaritz und an der Universität 
Prag, wurde 1870 römisoh-katholischer Kooperator in Komotau, 1873 
Professor der Eeligionslehre und 1878 nach Ablegung der bezüg- 
lichen Staatsprüfung auch Professor für philos. Propädeutik am k. k. 
Staatsobergymnasium in Saaz. Er trat 1899 in den Ruhestand. 1901 
erklärte er seinen Austritt aus der römisch-katholischen Kirche und 
schloß sich dem Altkatholizismus an, nicht darum, weil dieser etwa 
schon »in seiner gegenwärtigen Form das Endziel der kirchlichen 
Reformbewegung, das Ideal der allgemeinen Zukunftsreligion der 
Menschheit, die echte, auf dem wahren Geiste des Christentums auf- 
gebaute allgemeine rationelle Volkskirche darstellt, sondern deswegen, 
weil die altkatholische Kirche gleich der evangelischen gemäß ihrem 
Wesen und Prinzipe wenigstens die Möglichkeit bietet, diesem relig. 
Ideale zuzustreben«. Machs Hauptwerk ist das 1902 in erster, 1904 
in 2. Aufl. erschienene Werk »Religions- und Weltproblem«. Sonstige 
Werke sind »Die 7 Worte Jesu« (1876), »Erbauungsreden für Stu- 
dierende höherer Bildungsanstalten« (4 Bde., 1878 ff.), »Bilder aus 
der Leidensgeschichte Christi« (1882), »Der Zweckbegriff und seine 
Bedeutung für die Naturwissenschaft, Metaphysik und Religions- 
wissenschaft« (1878 f.), »Grundriß der Kirchengeschichte für Gym- 
nasien« (4. Aufl. 1901), »Apologetik« (3. Aufl. 1901), »Moral« (3. Aufl. 
1900), »Liturgik« (3. Aufl. 1899), »Offenbarungsgeschichte des Alten 
Bundes« (3. Aufl. 1898), »Offenbarungsgeschichte des Neuen Bundes« 
(3. Aufl. 1900), »Die Notwendigkeit der Offenbarung Gottes« (1883), 
»Die Willensfreiheit des Menschen« (2. Aufl. 1894), »Die Krisis im 
Christentum und die Religion der Zukunft« (1904) u. a. 

Da der von der positiven Theologie und gewissen philosophischen 
Systemen gelehrte, das Geistige und Stoffliche auseinander reißende 
und Gott und Natur als Gegensatz fassende Dualismus in der Welt- 
anschauung sich nach Mach nicht als wahr und tatsächlich beweisen 
läßt, da diese Weltanschauung ihm vielmehr zu zahlreichen unlös- 
baren Schwierigkeiten führt und der Wirklichkeit nicht entspricht, 
so erklärt Mach als richtige Weltanschauung die monistische, zumal 
dieselbe auch durch die Tatsachen der Erfahrung, besonders durch 
die Einheitiichkeit, Allgemeinheit, Unaufhebbarkeit und ausnahmslose 
Stetigkeit und Notwendigkeit der Naturgesetze und -kräfte bestätigt 
wird. Da aber auch der einseitig materialistische sowie der einseitig 
idealistische Monismus vor dem Denken und der Erfahrung nicht zu 
bestehen und die Welt und deren Dinge nicht zu erklären vermag, 
so »erübrigt als Endresultat empirischer denkender Weltbetrachtung 
nur jene Form des Monismus, welche, die Einseitigkeit der beiden 



130 2- ^ap* ^^^ gegen w. Hauptvertreter d. Rel-PhiL auf philosophisch neuer Basis. 

letztgenannten Weltauffassungen vermeidend, die in ihnen liegenden 
Elemente der Wahrheit anerkennt und in sich aufnimmt, welche weder 
die Materie noch den Geist leugnet und .... als naturalistischer 
Monismus gekennzeichnet werden kann«. Danach existiert das eine 
und einzige, absolute, ewige Weltwesen, d. h. das Universum, das 
Allleben oder die Natur, als Komplex materiell -geistiger Kräfte, das 
sich nach immanenten notwendigen Gesetzen betätigt und in einer 
Stufenreihe teleologischer Organisationen, deren irdischer Abschluß 
der Mensch ist, entwickelt. 

Obgleich dieses das Resultat einer rein wissenschaftlich-kritischen 
und objektiven Untersuchung des Weltproblems ist, ist trotzdem nach 
Mach die Religion in ihrer geschichtlichen und konkreten Erscheinung, 
d. h. jene Religionsform, welche den Glauben an die Persönlichkeit 
eines Gottes zum Mittelpunkt und zur Voraussetzung hat, eine all- 
gemeine Tatsache und auch in ihrem Recht. Da wir nun nur das 
im eigentlichen Sinne wissen, was entweder an sich schon evident 
ist, wie z. B. die Gesetze des Denkens, oder was als Tatsache des 
Bewußtseins oder der äußeren Erfahrung gegeben ist, oder was sich 
als einen logischen Beweis, durch eine Folgerung, als notwendiges 
Endresultat eines Denkprozesses, durch eine strenge Induktion, Ana- 
logie oder Deduktion als wahr und wirklich erhärten läßt, so erklärt 
Mach einen streng wissenschaftlichen Beweis für das Dasein einer 
persönlichen, von der Welt verschiedenen Gottheit zwar nicht für 
möglich : Gott ist zunächst kein Gegenstand des eigentlichen Wissens, 
sondern des Glaubens, andrerseits aber machen doch die Tatsache, 
daß auch das Gegenteil, das Nichtdasein Gottes, nicht bewiesen 
werden kann, sowie vor allem der Anblick des ganzen Weltseins 
und die Bedürfnisse des menschlichen Lebens die Annahme eines 
Gottes notwendig. Das Bewußtsein und Gefühl der Unzulänglichkeit 
des Menschen in physischer, intellektueller und sittlicher Beziehung 
ist die »eine religionserzeugende Ursache«. Das Bewußtsein der Un- 
zulänglichkeit des natürlichen Könnens erzeugt im Menschen das 
Gefühl der Abhängigkeit von einer absolut schrankenlosen Macht 
oder Allmacht, wie andrerseits das Bewußtsein der Unzulänglichkeit 
des menschlichen Wissens und Erkennens zur Annahme einer absolut 
vollkommenen Intelligenz und das Bewußtsein sittlicher Schwäche 
zum Gefühle der Abhängigkeit von einem absoluten sittlichen Willen 
oder höchsten ethischen Gute führt. Zu dieser ihrem Charakter 
nach mehr negativen religionserzeugenden Ursache treten die posi- 
tiven hinzu. Die erste allgemeinste und nächstliegendste dieser Ur- 
sachen ist das Dasein der Welt und deren Dinge selbst. Beaüglioh 



f. Fnmz Madi. 121 



der Frage nach dem Werdeprozeß der Welt und deren Dinge, zumal 
des Ursprungs der organischen Wesen muß die menschliche Wissen- 
schaft ihre Beschränktheit eingestehen; da aber eine Grundursache 
vorhanden sein muß, postuliert der Glaube mit Becht einen schaffenden 
Gott. Dasselbe ergibt sich, wenn wir die Zweckmäßigkeit, Ordnung 
und Gesetzmäßigkeit des Weltalls ins Auge fassen. Wohl ist richtig, 
daß wir mittels des teleologischen Arguments die Existenz eines 
planmäßig und nach bewußten Zweckideen und Absichten schaffenden 
Gottes nicht strikt beweisen können, aber ein wirklicher Gegenbeweis 
kann erst recht nicht geführt werden. Den innem, eigentlichen und 
letzten Grund der Zielstrebigkeit und Zweckmäßigkeit oder Gesetz- 
mäßigkeit des Verhaltens der Natur und Naturdinge kennt eben die 
Wissenschaft nicht; weist sie uns auf die Natur kräfte als diesen 
Grund, so entsteht wieder die Frage, was denn dieselben ihrem 
Wesen nach seien, und ob sie sich wirklich nur aus und durch sich 
selbst zu den so zahllosen und mannigfaltigen teleologischen Meister- 
werken, namentlich der organischen Gebilde, zusammenfügen konnten 
und können; ebensowenig will die Antwort befriedigen, diese Zu- 
sammenfügung geschehe eben mit einer uns weiter nicht begreif- 
lichen Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit, liegt doch in dieser Ant- 
wort deutlich genug das Eingeständnis des Nichtwissens der eigent- 
lichen Ursache dieser Erscheinung. Versuchen wir es, diese teleo- 
logische Ursache auf Grund des allgemein gültigen Kausalgesetzes 
näher zu charakterisieren, so dürfen und müssen wir dieselbe als 
eine der menschlich seelischen oder geistigen Tätigkeit analoge be- 
zeichnen, als die immanente absolute Vemunftenergie, so daß wir 
geradezu von einer Weltseele oder einem Weltgeiste sprechen können. 
Das Walten und Wirken geistiger, ideeller Potenzen und Kräfte im 
Naturleben kann nicht geleugnet werden. Vor allem beweist das 
geistige Leben des Menschen, das so Großes bereits auf dem Gebiete 
des Wissens und der Kunst geschaffen hat die Bealität des (leistigen, 
da ein Imaginäres, Nicht- Wirkliches sich auch nicht betätigen und 
nicht wirksam werden kann. Fragt man aber, was das Seelische 
und Geistige seinem Wesen nach sei, in welchem Verhältnisse dieses 
Immaterielle und Ideelle zum Stofflichen stehe, und warum und wie 
sich aus dem Zusammen- und Ineinanderwirken dieser beiden Fak- 
toren die teleologischen Naturdinge herausentwickeln und gestalten, 
so müssen wir sagen: Das wissen wir nicht, und so sind wir be- 
rechtigt und gezwungen, das Wissen durch den Glauben zu ergänzen, 
wie es die Religion tut, sofern sie Gott als den Urheber wie des 
Daseins der Welt, so auch der^i tatsächlichen Einrichtung bezeichnet. 



122 2, Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

Unter den moralischen Argumenten kommt insbesondere die Tatsache 
des Gewissens als wirksame religionerzeugende Kraft in Betracht 
Die Ursache liegt teils in der Verwandtschaft der religiösen und 
sittlichen Ideen und Gefühle, teils in dem umstände, daß sich der 
Mensch von dem Sittengesetze als einer über ihm stehenden Autoriät 
oder Norm abhängig fühlt, deren Verpflichtungsgrund und Ursprung 
das religiöse Bedürfnis in den heiligen und unverletzlichen Willen 
der Gottheit verlegt Eine ähnliche Bedeutung hat auch das Argu- 
ment aus der Notwendigkeit einer Vergeltung im Jenseits; auch 
dieses ist nicht wissenschaftlich beweisend, aber es »genügt logisch 
formal zur Begründung und Rechtfertigung des Gottesglaubens« ; denn 
ganz unleugbar gelangt auf der Erde das Recht oft genug nicht. zur 
Geltung und Anerkennung, so daß das Gerechtigkeits- und sittliche 
Bewußtsein mit Recht ein Jenseits fordern als Ort und Zustand des 
vollen Ausgleichs. So bildet die Idee eines lebendigen, freiwaltenden 
und persönlichen Geistes die notwendige Ergänzung des wissenschaft- 
lichen Weltbildes, denn »der Mensch ist nicht nur Verstand, er ist 
^uch Gemüt oder GefühU, das seine Bedürfnisse hat und seine Be- 
friedigung verlangt 

Fragen wir uns nun, welche positive Religionsform Mach für die 
vollkommenste und beste ansieht, und welche er für die geeignetste 
hält, alle Menschen und Völker zu einigen und so die praktisch er- 
reichbare ideale positive Religion der Zukunft darzustellen, so ant- 
wortet er, daß dies nur die Religions- und Sittenlehre Jesu vermag, 
wie sie uns in den Evangelien überliefert ist, und deren Summe das 
eigentliche, reine Urchristentum ausmacht »Die reine Lehre Jesu, 
geläutert durch die Errungenschaften wissenschaftlicher Forschung, 
losgeschält von späteren Deutungen, Zutaten und Dogmen, ist vollauf 
«nd nach jeder Richtung genügend, das religiöse Bedürfnis der 
Menschheit, welcher nationalen, staatlichen, sozialen oder konfessio- 
nellen Zugehörigkeit immer der einzelne sein, welchen Bildungsgrad 
•er besitzen mag, zu befriedigen; nur die Rückkehr zum evangelischen 
Lehrbegriffe, wie Jesus ihn wirklich wollte und vermittelte, vermag 
das heutige Chaos auf religiösem Gebiete zu beseitigen, nur dieser 
Weg aus dem Labyrinthe theologischer Schulen und Systeme zur 
religiösen Einheit und damit zum Frieden zu führen«. Welcher Art 
ist aber der Inhalt dieser eigentlich christlichen Glaubenslehre? Die 
Lehre Jesu enthält nach Mach vor allem den Glauben an einen per- 
sönlichen Gott und Schöpfer aller Dinge. Der Stifter der christlichen 
Kirche sucht die Existenz Gottes als persönlichen, von der Welt 
verschiedenen Wesens nicht erst wissenschaftlich zu begründen oder 



f. Franz Mach. 123 



«tringent zu beweisen, aber er spricht von Gottes Dasein als von 
einem dem Volke der Juden selbstverständlichen und durch deren 
heilige Bücher unverbrüchlich bezeugten Axiome, als von einer der 
Datürlichen, vernünftig- menschlichen Einsicht einleuchtenden Wahr- 
heit, und von dem Glauben an Gott als dem unumgänglichen Be- 
dürfnisse des Menschenherzens. Trotz der unleugbar anthropomor- 
phistischen Folie seiner Gotteslehre, welche bei der notwendigen 
Popularisierung seines Gottesbegriffs und bei der Erörterung des 
•ethischen Wechsel Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen 
-eben nicht vermieden werden kann, betont Jesus die Geistigkeit 
-Gottes und fordert demzufolge die Verehrung und Anbetung des 
allerhöchsten Wesens im Geist und in der Wahrheit. Unter den 
Attributen Gottes, welche sich mit dem Begriffe des vollkommensten 
Wesens notwendig verbinden, betont Jesus insbesondere die Heilig- 
keit, Barmherzigkeit und Güte Gottes, zu dem er seine Bekenner als 
zu ihrem Vater im Himmel beten lehrte. Gott hat aber die Welt 
und deren Wesen, zumal den Menschen, nicht nur erschaffen, er 
leitet und regiert auch alles, er gedenkt fürsorglich insonderheit des 
Menschen, weshalb wir auf Gottes Vorsehung vertrauen und um des 
Lebens und Leibes Notdurft nicht allzu ängstlich und kleinmütig be- 
sorgt sein sollen. Der Vater im Himmel gibt den Geist zum Guten 
<lenen, die ihn darum bitten, und da er, Jesus, von Gott gesandt und 
mit seinem Vater eins ist, so müssen wir Jesu Lehre annehmen und 
mit ihm vereinigt bleiben, wenn wir den Willen des himmlischen 
Vaters recht erkennen, ihn befolgen und so unsere Selbsterlösung 
vom Bösen bewirken wollen. Die Seele des Menschen ist unsterblich. 
Alle Menschen werden einst auferstehen, die einen, um den ver- 
dienten Lohn, die andern, um die verdiente Strafe zu erhalten. Zu 
dieser Glaubenslehre Jesu kommt als Ergänzung seine Sittenlehre 
hinzu, in welche Jesus den Schwerpunkt der von ihm verkündeten 
Heilslehre legt, und für die er die Glaubenslehre nur als den 
ethischen Unterbau verwertet, weshalb »wir auch nicht genötigt sind, 
alle diesfälligen Aussprüche Jesu wörtlich und buchstäblich zu 
fassen«. Der geschichtliche Jesus war Mensch auf allen Stufen 
seines Daseins, aber ein Mensch, in dem der Geist Gottes webte und 
wirkte. »So ist Jesus die schlechthin zuverlässige und sichere Au- 
torität, an die wir uns in allen religiösen und sittlichen Fragen mit 
voller Beruhigung und unbedingtem Vertrauen wenden können, der 
große Lehrmeister der Menschheit, der seinesgleichen in der Ge- 
schichte nicht hat, der berufene, fürsorgliche gute Hirte seiner 
Schafe, das lebendige ethische Ideal, dessen die Menschheit bedurfte 



124 2* ^ap- ^^6 gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Fhil. auf philosophisch neuer Basis. 

und in aller Einkunft bedürfen wird, um sich an ihm zu eiiieben 
und zu erbauen«. — 

Überblicken wir Machs hier kurz skizzierte religionsphilosophischen 
Grundgedanken, so ist unverkennbar, daß er sich ernstlich bemüht 
hat, licht und Klarheit über die ernstesten Fragen der Menschen- 
aeele zu verbreiten und, wenn möglich, eine vernünftige einheitliche 
Beligionsanschauung auf aitchristlicher Grundlage anzubahnen. Wir 
wollen hier nicht entscheiden, ob diese Grundlage richtig von ihm ge- 
funden ist, die Grundgedanken Jesu schält jeder gewöhnlich seiner 
eigenen Weltanschauung entsprechend heraus. Wichtiger ist die 
Frage, ob solche Einheitlichkeit überhaupt erreichbar ist. Daß ihr 
Gelingen sehr segensreich wäre, ist unleugbar. An die Stelle der 
religiösen Zerrissenheit würde Friede und Eintracht, an die Stelle 
konfessionellen Haders Einmütigkeit in kirchlichen Dingen treten, 
die heutigen Kulturvölker würden eine große, durch das Band 
gleicher sittlicher Lebensauffassung in liebe vereinigte Gemeinschaft. 
Leider stehen dem nur die größten Hindernisse entgegen. Was Jahr- 
hunderte, ja Jahrtausende gewährt und sich eingelebt, läßt sich nicht 
mit einem Federstriche beseitigen, und Tausende, ja Millionen werden 
die Zumutung, von dem ihnen liebgewordenen konfessionellen Lehr- 
begriffe zu abstrahieren und ihre religiöse Überzeugung zu korri- 
gieren, mit Entrüstung zurückweisen. Indes in großen Dingen ist 
auch schon das Gewollthaben von Wert Die Menschheit stirbt ja 
von heute und morgen noch nicht. In je weiteren Kreisen die Er- 
kenntnis wächst, daß die Richtung, weiche das heutige dogmatische, 
zumal römisch-katholische Christentum genommen, selbst theologisch- 
kritisch nicht haltbar ist und einer Korrektur dringend bedarf, je 
größer bei der fortschreitenden Aufklärung und kulturellen Entwick- 
lung die Zahl jener wird, welche den derzeitigen Stand der religiösen 
Frage als unbefriedigend, ja als unerträgUch empfinden, desto be- 
rechtigter erscheint die Hoffnung auf eine allmähliche Annäherung 
an das von Mach erstrebte Ziel. Die Wahrheit ist eben nicht nur 
eine logisch-metaphysische, sondern auch eine ethische Idee, die im 
Ethischen liegende Kraft aber ist unsterblich und unbesiegbar. Wir 
wissen wohl: große geistige Bewegungen in der Menschheit sind das 
Produkt zweier Faktoren, einmal äußerer Yerhältnisse und tatsäch- 
licher Zustände, welche reformatorische Neugestaltungen gebieterisch 
fordern, und sodann des Hervortretens einer Persönlichkeit als des 
intellektuellen Agens, welches geeignet und berufen ist, diese Be- 
wegung hervorzurufen und in Fluß zu bringen. Wer kann nun 
leugnen, daß der erste dieser beiden Faktoren bereits gegeben ist. 



g. Julius Baumann. 125 



und daß er bei der zunehmenden Verwirrung and Eomplizierung 
der religiösen und sozialen Verhältnisse in der Zukunft stets offen- 
kundiger zu Tage treten und immer entschiedener wirksame Abhilfe 
erheischen wird? Wenn das Haus, das wir bewohnen, morsch wird, 
müssen wir eben rechtzeitig an den Bau eines neuen denken. 
Stehen wir doch, wenn die Zeichen der G^enwart nicht trügen, an 
der Schwelle einer neuen Zeit, weiche vielleicht durch schwere 
Kämpfe und Umwälzungen führt, und deren Gestaltung sich dem 
menschlichen Ermessen und Wissen entzieht. Es steht zu erwarten, 
daß alsdann auch jener zweite Faktor nicht fehlen wird, der nach 
dem Zeugnis der Geschichte in kritischen Perioden noch stets hervor- 
getreten, und worin man wohl mit fiecht gleichfalls das Walten einer 
Vorsehung im Sinne teleologischer Weltentwicklung erblicken darf 
— der rechte Mann zur rechten Zeit, welcher der Beformbewegung 
die gesunden Bahnen weist und verhütet, daß auf religiös-ethischem 
Gebiete auch jene Ideen und Grundsätze verschwinden, weiche sidi 
für die Menschheit als notwendig und segensreich erweisen. Dann 
wird sicher das reine Christentum seine unendliche Erhabenheit 
wieder neu erweisen, jene ernste und doch milde, weitherzige, geistea- 
freie Religion, welche unter allen gewesenen, derzeit vorhandenen 
und in der Zukunft möglichen als die geeignetste ersdieint, durch 
ihre Glaubenslehre, wie sie Jesus verkündet, die Herzen der Menschen 
zu erheben, zu trösten und aufzurichten, durch ihre Sittenlehre zu 
ethischer Beinheit, zu edler Tugend, zu Gewissenhaftigkeit, zu all- 
seitiger Pflichterfüllung und zu werktätiger Menschenliebe anzur^en, 
dadurch aber nicht nur den geordneten Bestand der Gesellschaft za 
sichern, sondern zugleich an deren Bekennem das zu erreichen, 
was zu allen Zeiten als das letzte und höchste Ziel menschlichen 
Lebens, Strebens und Sehnens galt, sie wahrhaft zu beglücken, und 
m beseligen. 

g. Julius Baumann. 

Julius Bau mann wurde am 22. Aptil 1837 zu Frankfurt 
am Main geboren, studierte Philosophie und wirkt noch als Pro- 
fessor derselben in Göttingen. Für seine religionsphilosophischen 
Gedanken kommen unter seinen Schriften besonders in Betracht 
»Philosophie als Orientierung über die Welt« (1872), »Die Grund- 
frage der Religion« (1895), »Wie Christus urteilen und handehi 
würde, wenn er heutzutage unter uns lebte« (1896), »Realwissen- 
schaftliche Begründung der Moral, des Rechts und der Gotteslehre« 



126 *^' Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. ReL-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

(1898), »Neuchristentum und reale Keligion« (1901) und »Über Keli- 
gionen und Religion« (1905). Sonstige Hauptschriften sind »Ijehre 
von Baam, Zeit und Mathematik in der neueren Philosophie« (1868 f.), 
»Sechs Vorträge aus dem Grebiet der praktischen Philosophie« (1874), 
»Handbuch der Moral nebst Abriß der Rechtsphilosophie« (1879), 
»Piatos Phädon« (1889), »Geschichte der Philosophie nach Ideengehalt 
und Beweisen« (1890), »Einfährung in die Pädagogik« (1890), »Ele- 
mente der Philosophie« (1891), »Die grundlegenden Tatsachen zu 
einer wissenschaftlichen Welt- und Lebensansicht« (1894), »Deatsche 
und außerdeutsche Philosophie der letzten Jahrzehnte« (1903) und 
»Dichterische und wissenschaftliche Weltansicht« (1904). 

Baumann nennt seine Religionsphilosophie eine realwissen- 
schaftliche. Er versteht darunter diejenige Auffassung von Gott und 
seinem Verhältnis zu Welt und Mensch, zu welcher uns die genaue 
Erkenntnis der Natur und der Geschichte anleitet, wie sie in der 
Wissenschaft besonders seit Mitte des vorigen Jahrhunderts erstrebt 
wird. Der realwissenschaftlichen Religion stehen die historischen 
und Naturreligionen gegenüber. Die ersteren beruhen nach Bau- 
mann auf Gefühl und Phantasie, oder den sogenannten Wünschen 
des Herzens, die »um ihrer Unmittelbarkeit willen für Offenbarungen 
des Himmels genommen werden«, die letzteren auf den nächsten 
Eindrücken der sinnlichen Umgebung und den Gefühlen und 
Wünschen, die sie erwecken können. Dem gegenüber erkennt der 
»realwissenschaftlich Religiöse« das Sinnen und Streben derselben 
betreffs eines Hintergrundes der Erscheinungen oder der unmittel- 
baren Wahrnehmungen in Natur und Menschen weit zwar an, er 
achtet sie auch, soweit sie zur Belebung der geistigen und sittlichen 
Kräfte ihrer Anhänger beitragen, zugleich aber freut er sich, »den 
Zweifeln enthoben zu sein, die sie alle hervorrufen können, indem 
jede nur sich und ihre Anhänger als fromm erachtet, die andern 
Religionen verwirft und als falsch und verderblich verdammt«. Die 
Sicherheit der realwissenschaftlichen Religion, nicht bloß geglaubte 
Poesie zu sein, beruht darauf, daß sie sich an die großen Grundzüge 
hält, welche von Natur- und Menschenwelt mehr und mehr festge- 
stellt sind, und an die Gedanken^ za denen diese hinleiten, ohne sie 
zu überschreiten. Ihr Heil besteht darin, das aufzuzeigen, was zur 
Weisheit und Tugend des Menschen führt und beiträgt Das, wovon 
die realwissenschaftliche Religion ausgeht, ist die genaue, durch Be- 
obachtang und Versuche festgestellte Erkenntnis über Natar und 
Menschen. Die Gedanken, auf welche beides hinleitet, sind wissen- 
schaftlicher Glaube, denn ihr Gegenstand wird nur im Denken an- 



g. Julius ßaumauo. 127 



genommen, zwar nicht willkürlich, sondern in Übereinstimmung mit 
dem sonstigen wissenschaftlichen Verfahren, er kann aber nur ge- 
dacht, nicht den Sinnen äußerlich dargestellt, auch nicht im inneren 
Bewußtsein unmittelbar ergriffen werden; denn in unserem inneren 
Bewußtsein erfassen wir unmittelbar uns selbst und unsere Gedanken, 
Gefühle und Strebungen. Wir denken daher Gott; aber wir sind 
darum nicht Gott, gerade wie wir andere Menschen denken und 
von ihrem Dasein überzeugt sind, aber darum sie doch nicht 
selbst sind. 

Welches ist nun der Hauptsatz realwissenschaftlichen Glaubens? 
»Ich glaube an Gott, den Schöpfer und Erhalter der Welt von Ewig- 
keit zu Ewigkeit«. Wodurch wird die Realwissenschaft auf diesen 
Satz geleitet? In der unorganischen Natur, den physikalischen und 
chemischen Stoffen und Kräften, ist eine Vielheit und Mannigfaltig- 
keit, zugleich eine Gesetzmäßigkeit und eine Zusammenstimmung,, 
selbst ein Vertreten der Kräfte durcheinander. Alle diese Fest- 
stellungen sind mit den höchsten Kräften des menschlichen Geiste» 
erreicht worden. Gerade die unorganische Natur macht daher dem 
Kundigen den Eindruck einer großen mathematisch -mechanischen 
Intelligenz, und da nach der exakten Naturwissenschaft die unor- 
ganische Natur selber nicht Geist und nicht Einheit ist, so führt 
beides zusammen immer von neuem darauf, anzunehmen, daß eine 
einheitliche mathematisch -mechanische Intelligenz die Ursache der 
realen Naturerscheinungen ist. Zwar gibt es und gab es stets 
Geister, welche alles dieses selbst als eins dachten, aber solche Ge- 
danken »spotten der wissensclfaftlichen Genauigkeit, indem sie eine 
Zauberwelt einführen, die aus allem alles macht, wo eins zugleich 
Vieles, das Einerlei zugleich ein von sich selbst Verschiedenes ist 
und wird«. Baumann weist das als gegen alle wissenschaftliche Ge- 
nauigkeit gehend zurück, diese »real wissenschaftliche Religion lehnt 
den Pantheismus ab«. Warum ist Gott nun aber als Schöpfer und 
Erhalter von Ewigkeit zu Ewigkeit zu denken? Hören wir, was Bau- 
mann darüber sagt! 

Bei den physikalisch -chemischen Elementen herrscht Erhaltung 
der Masse und der Energie, es geht nichts von ihnen verloren, sie 
ändern nur ihr Zusammentreten und Auseinandergehen beständig, 
auch wo Ruhe scheint, hat bloß Gleichgewicht entgegengesetzter 
Kräfte statt. Die Erdgeschichte deutet auf eine Vergangenheit von 
vielen Millionen Jahren, diese wieder auf eine solche der Planeten- 
well, zu welcher die Erde gehört, die Planetenwelt ist nur ein win- 
ziger Teil der gesamten Welt, deren astronomische Erscheinungen, 



128 2. Eap. Die gegenw. Hauptverteter d. ReL-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

genau erfaßt, auf sehr verschiedene Stadien der Entwicklung und 
Änderung deuten« Da nichts in dieser unorganischen Welt vergeht, 
nichts neu entsteht, und doch der Zusammenhang in derselben auf 
eine einheitliche mathematisch -mechanische Intelligenz als Ursache 
deutet, so wird der Gedanke hervorgetrieben, daß diese einheitliche 
Intelligenz eine schöpferische ist, d. h. daß die Dinge von ihr in 
ihrer Vielheit und dem Zusammenhang des Vielen so gedacht 
werden, daß sie zugleich wirklich sind, und zwar von Ewigkeit zu 
Ewigkeit, wie ja die wirkende Ursache selbst von Ewigkeit zu Ewig- 
keit ist Da die Gesetze der physikalisch -chemischen Kräfte feste 
Beschaffenheit der Elemente und feste Ordnung in ihrem Verhalten 
gegeneinander zeigen, so deutet das auf Gesetze und Ordnung in 
Gottes Denken selbst Dies »ist ein Vorzug, denn auch wir Menschen 
sehen in den logischen Gesetzen nicht einen Mangel, sondern etwas 
Erfreuendes, weil dadurch allein Festigkeit und Halt in die Mannig- 
faltigkeit der Gedanken und Zahlen kommt«. Die Grundlage der 
Welt und des Weltgedankens Gottes sind die unorganischen Elemente 
und Kräfte; denn ohne diese gibt es nach der wissenschaftlichen Er- 
fahrung keine organischen Wesen, und ohne Organismus kennen wir 
nicht das erfahrungsmäßige Bewußtsein, keinen menschlichen Geist 
Nur bei Gott wird man auf einen reinen Geist geführt von der 
Eigentümlichkeit der unorganischen Natur aus. Das Organische läßt 
sich aus dem Unorganischen nach wissenschaftlicher Erfahrung nicht 
herleiten, wie etwa 9 aus 3x3, wie Gleichartiges aus Gleichartigem. 
Daher ist anzunehmen, daß unter den Gedanken Gottes bei einer ge- 
wissen Stufe der Entwicklung der unorganischen Natur die Benutzung 
derselben als Grundlage organischer Betätigungen sich findet und als 
realer Gedanke verwirklicht wird. Die Frage, ob das Organische als 
Zweck und Ziel anzusehen ist, für das und um deswillen die un- 
organischen Elemente und Kräfte vor dem Geist Gottes stehen, ver- 
neint Baumann. Es ergibt das der wissenschaftliche Nachweis, daß 
Millionen von Jahren, bevor organisches Leben auf Erden war, die 
unorganischen Elemente und Kräfte da waren und tätig waren. Die 
Welt war das Werk Gottes auch ohne organische Wesen. In vielen 
Teilen der Welt können auch jetzt nach wissenschaftlicher Erfahrung 
keine solche sein, auch unsere Erde wird voraussichtlich einst wieder 
ohne sie sein. Von den organischen Wesen allein würde man nicht 
auf Gott als einheitliche Intelligenz kommen, sondern auf viele und 
z. T. sich widerstrebende gottartige Wesen, wie die Völker nach 
ihrer damaligen Kenntnis mit Recht statuiert haben. Die Schwierig- 
keiten der organischen Natur heute werden der Wissenschaft ver- 



g. Julias BanmlDm. 129 



ständlicher gerade dadurch, daß die organische Natur nur als ein- 
geordnet in die unorganische, obwohl mit einer besonderen Eigen- 
tümlichkeit erkannt ist, denn wegen der ünaufhörlichkeit der Ver- 
änderung in der unorganischen Natur an der Erde sind die or- 
ganischen Wesen auf stete Anpassung und Umwandlung gewiesen. 
Daß aber auch die organisch-geistigen Wesen nicht Weltzweck waren, 
bezeugt der Umstand, daß sie erst sehr spät kamen, »die höheren 
geistigen Kräfte sind die Spätlinge der Erdgeschichte«. Die Welt 
auch als bloß unorganische und organische war das Werk Gottes, 
und die Erde wird wieder so sein, bloß Organisches wird sich länger 
auf ihr halten bei etwaigem Rückgang des Lebens als Organisch- 
geistiges. Das Organischgeistige an sich würde gleichfalls nicht auf 
Gott als einheitliche Intelligenz führen, sondern auf viele und sich 
widerstrebende Götter. Dazu bleibt auch der Mensch ein organisch 
bedingter Q^ist. »Hemme die Blutzufuhr zum Gehirn, so hört auch 
das höchste Bewußtsein auf, zerstöre eine Partie des Gehirns, so 
schwinden die Worte, und zerstöre mehrere Partien, so schwindet 
alles Gedächtnis, so geht Urteil, Besonnenheit, Überlegung verloren«. 
Selbst des Menschen inhaltliche Persönlichkeit, selbst sein Charakter 
ist körperlich bedingt: eine Gasvergiftung kann ihn zu einem Menschen 
machen, der nicht mehr der alte ist, bis nach Monaten wieder die 
frühere Persönlichkeit zurückkehrt. Aber gerade durch seine Be- 
dingtheit wird der menschliche Geist ein Spiegelbild der Welt; denn 
bedingt ist sein Geist durch den Leib, sein Leib durch die äußeren 
Dinge, und doch ist er etwas über alle diese sich Erhebendes, er ist 
auch ein Spiegelbild Gottes, nicht in Gefühl und Trieben, denn diese 
sind organisch bedingt und Gott an ßich fremd, sondern wie Gott 
als mathematisch -mechanische Intelligenz erschlossen wird, der sich 
dann auch organisches und organisch geistiges Leben einordnete, so 
ist die wissenschaftliche Fähigkeit des Menschen, das exakte Auf- 
fassen, das Höchste und wird auch für Gefühle und Triebe leitend 
und mithelfend, indem sie die Gesetze und Bedingungen derselben 
erkennen und benutzen lehrt 

Wie ist nun Gott Ursache des Geistigen in der Welt? Gerade 
wie die realen Gedanken des Organischen vor dem Geiste Gottes 
stehen, scbald ihre Vorbedingungen in der Welt da sind, so ist es 
auch mit den organisch geistigen Wesen, sie kommen mit diesen 
und gehen wieder, wenn diese nicht mehr sind. Alles, Unorganisches, 
Organisches, Organischgeistiges, ist zwar nur durch Gott, aber es ist 
zugleich wie Natur, d. h. als wäre es durch sich selbst, oder wie 
Freiheit, d. h. als brächten die Kräfte des menschlichen Geistes z. B. 

Sieb ort, Beligionsphilosophie. ^ 



130 2. Kap. Die gegenw. Hauptverixeter d. ReL-Phil. auf philosophisch neuer Basis. 

sich selbst hervor. So ist auch Gott eben darum, weil er ist, er 
braucht keine Ursache'; nichts ist, was ihn in seinem Sein behinderte 
oder bedrohte, und indem Gott ist, denkt er die realen Weltgedanken 
mit allem, was sie enthalten von Wertvollem und Wertlosem, von 
Hohem und Geringem; er sieht aber zugleich alle realen Möglichkeiten 
der Änderungen und eventuell Besserungen. Für ihn ist das ganze 
Weltwesen durchsichtig von Ewigkeit zu Ewigkeit, nicht anders wie 
uns etwa die Zahlenwelt in ihren möglichen Komplikationen durch- 
sichtig sein kann. Darin aber, daß Gott ist, was er ist, und tut, was er 
tut, ist er vollkommen. Wegen seiner Vollkommenheit aber ist er nicht 
unendlich; denn unendlich im strengen Sinne würde heißen, daß Gott 
noch immer etwas mehr sein müßte als er ist, und immer noch mehr 
denken müßte, als er denkt, nie also ganz er selbst wäre. Unendlich 
ist Gott im Sinn von »ohne Anfang und ohne Ende«, aber was er 
ist, das ist er voll, und es fehlt ihm daran nie etwas weder im Sein 
noch Bewußtsein. Auch die Geschöpfe haben teil an dieser Un- 
endlichkeit, sofern ihre Elemente von Ewigkeit zu Ewigkeit durch 
Gott sind, so daß nichts davon vergehen kann. Nur ihr Zusammen- 
treten wandelt sich, die Elemente aber bleiben und sind von Gott 
für Wiederkehr unter geeigneten Bedingungen bewahrt. Darauf be- 
ruht auch die Unsterblichkeit. Aller Geist, auch der tierische, ist 
etwas Eigentümliches. Wie aber in der unorganischen Natur die 
physikalisch -chemischen Elemente nicht vergehen, sondern nur ihre 
Kombinationen ändern, so ist dies auch von den organischen uud or- 
ganisch-geistigen Kräften zu postulieren. Die Menschenseele als formale 
Einheit, als verknüpfendes Ich kehrt wieder in neuen Menschen- 
leibern und kann so alle Stufen menschheitlicher Entwicklung durch- 
leben. Dementsprechend ist auch in realwissenschaftlicher Frömmig- 
keit die Stimmung des Menschen gegenüber Gott und Welt die 
Hoffnung. Immer mehr können leibliche und geistige Kräfte er- 
halten und gefördert werden durch Erkenntnis der Welt und ihrer 
Gesetze, und wegen der Einheit aller Weltmannigfaltigkeit zuletzt in 
Gottes Intelligenz kann diese Erkenntnis und Wirksamkeit immer 
mehr ausgedehnt werden. Unser Geist, der als formale Einheit alle 
Geschichte durchlebt, wird eben dadurch versöhnt mit der Ver- 
schiedenartigkeit und scheinbaren Ungleichheit menschlicher Lose in 
der Vergangenheit und hat zugleich lebhaften Beweggrund zu immer 
größerer Ausdehnung menschlicher Gleichheit und Herstellung solcher 
äußeren Verhältnisse des Lebens, wie sie die besten erscheinen. In- 
dem wir so für zukünftige Geschlechter arbeiten, arbeiten wir wie für 
uns selbst, denn wir können wieder zu ihnen gehören, und sollte die 



g. Julius BaumaoD. 13]; 



Menschheit einmal nicht mehr auf Erden sein, so werden wir doch 
nie vergehen, sondern ruhen in Gott, wie wir vor unserer Geburt 
oder Wiederkehr geruht haben, ebenso wie die vielen formalen Seelen- 
einheiten, als es noch nicht soviele Menschen auf Erden gab wie jetzt 
Aus dem Gesagten resultieren nach Baumann die menschlichen 
Tugenden von selbst. Grunderkenntnis ist, daß alle Menschen als Geist 
gleichartig sind, die Verschiedenheit beruht auf der leiblichen Be- 
dingtheit und den äußeren Yerhältnissen. Daher ist alle inhaltliche 
Mannigfaltigkeit der menschlichen Natur zu dulden, wenn sie sich 
nur mit dem Zusammenleben der Menschen verträgt, und wo Men- 
schen so geartet sind, daß dies nicht der Fall ist, sind die lindesten 
Mittel anzuwenden, dies Mißverhältnis zu überwinden. Wo solche 
aber nicht die einfachsten Verpflichtungen des Zusammenlebens über 
sich nehmen, darf gegen sie verfahren werden, wie es zur Selbst- 
behauptung der Gemeinschaft erfordert wird, auch bis zum Unter- 
gang der Widerstrebenden. Von einzelnen Vorschriften sind folgende 
herauszustellen: Behandle alle Menschen als gleich und dich selbst 
im Verhältnis zu ihnen! Von dem, was dir an Gütern und Muße 
zusteht, bringe gern Opfer, falls andere davon zur Zeit einen bessern 
Gebrauch machen können als du selbst! Mache deine Leibes- und 
Geisteskräfte so stark und ausgedehnt wie möglich; denn nur mit 
ihnen kannst du dir und andern dienen, und nur auf sich selbst 
stehen macht einen vollen Menschen ! Gründe, wenn du irgend kannst, 
eine Familie; in anderer Weise Geschlechtsgemeinschaft zu haben 
dient weder der Erhaltung noch Förderung der Menschheit! Hast du 
dich verfehlt gegen andere, so mache es in aller Weise wieder gut, 
wie wir auch Verfehlungen im Denken gutmachen, indem wir sie 
durch vermehrte Einsicht korrigieren ! Mit Tätigkeit und Wohlwollen 
als Haupttugenden sei verbunden praktische Verständigkeit, welche 
die Naturdinge nie anders behandelt als nach ihren innewohnenden 
Gesetzen und die Menschen nie anders als nach den affektiven Ge- 
setzen menschlichen Wesens; deun das gibt allein Erfolg, läßt nicht 
verzagen und lehrt in den Gesetzen der Natur und des mensch- 
lichen Wesens den Willen Gottes selbst erkennen! Hilf jedem mög- 
lichst dazu, daß er mit einer nützlichen Tätigkeit sein Leben führt, 
nur in Fällen dringendster Not laß Unterstützung ohne Arbeitsentgelt 
eintreten! Verbirg nicht das Licht realwissenschaftiicher Erkenntnis, 
aber laß es leuchten mehr in deinem ganzen Tun als in Worten, 
wo du aber zum Sprechen berufen bist, sprich frei und ganz nach 
erreichter Erkenntnis! Treibe Kulturmissionen und gehe dabei so zu 
Werke, daß du Anknüpfung suchest an das erreichte Können und 



132 2- ^P* ^e gegenw. Hanptvertreter d. Bel.-Phil. auf philosophisch neaer Basis. 

die vorhandene Begabung! Zeige an dir selbst, daß Beal Wissenschaft 
das dnigende Band der Menschheit werden kann und realwissen^ 
49chaftliche Frömmigkeit eine Hoffnung ist, die nie versagt! — 

Eine Kritik der Baumannschen Beligionsphilosophie würde zu 
weit führen. Für uns genügt hier die Tatsache, daß ein auf dem 
Boden der realen Forschung und Naturwissenschaft stehender Philo- 
soph gezwungen wird, gerade auf Orund der naturwissenschaftlichen 
Daten die Wahrheit der Eeligion festzuhalten und sozusagen eine 
Beligionsphilosophie aufzustellen, in welcher das Dasein Gottes als 
notwendiger Abschluß der Weltanschauung und als unentbehrliches 
Fundament der Welterklärung gefordert wird. Mag dieser Bau- 
mannsche Gott auch für die Beligion unbrauchbar sein, denn Beligion 
ist nicht sowohl Sache des menschlichen Verstandes als vielmehr des 
menschlichen Herzens, so daß eine mathematisch- mechanische In- 
telligenz hier wenig helfen kann, mag auch das Ganze dieser Beli- 
gionsphilosophie weit mehr in einen rationalistischen Deismus als 
in einen lebenschaffenden Theismus auslaufen, — es bleibt anzuer- 
kennen, daß sich Baumann nicht scheute, dem Pantheismus und vor 
allem dem Atheismus gegenüber festzustellen, daß gerade die Beal- 
wissenschaft mit zwingender Notwendigkeit für die Wahrheit der 
Beligion eintritt Es ist das um so bedeutsamer, als Männer wie 
Haeckel und Ladenburg erst kürzlich wieder erklärten, daß durch 
die Naturwissenschaft das Dasein Gottes ausgeschlossen würde. Bau- 
mann stellt sich demgegenüber mit Becht auf den Standpunkt jener 
Forscher, zumal auch im Gebiete der Naturwissenschaft, die den 
Häeckelschen Atheismus strikt ablehnen, und deren innerstes Denken 
J. Classen, Professor am physikalischen Staatslaboratorium in Ham- 
burg, in dem 1904 in Hamburg gehaltenen Vortrage »Naturwissen- 
schaftliche Erkenntnis und der Glaube an Gott« zum Ausdruck ge- 
bracht hat. Classen erklärt hier, daß der Standpunkt Ladenburgs, 
der wohl vor fünfzig Jahren die Gemüter der naturwissenschaftlichen 
Kreise bewegte, besonders durch die Wandlungen in den. physi- 
kalischen Grundanschauungen seine Stützen völlig verloren hat: trotz 
der immer tiefer eindringenden Erkenntnis, daß die Naturgesetze in 
ausnahmsloser Gesetzmäßigkeit walten, ist doch die Frage nach dem 
Dasein Gottes unbedingt zu bejahen; denn so gewiß es eine Natur- 
wissenschaft gibt, deren Pflicht es ist, die Gesetze der ganzen sicht- 
baren Welt zu erforschen und überall das Walten des Naturgesetzes 
aufzudecken, so gewiß gibt es auch ein anderes inneres Erleben, das 
in seiner Gewißheit aller Erkenntnis der Welt draußen ebenbürtig 
gegenüber steht 



g. Julius Bamnann. 133 



Erwähnt sei schließlich noch, daß sich Baumann bei der Erage^ 
wie Jesus lehren würde, wenn er heute unter uns leben würde, doch 
wohl etwas zuviel Menschenkenntnis zugemutet hat. »Jesus selber 
würde heute von sich selbst nur festhalten, was wir auch festhalten 
können in tiefster Verehrung seines Gemüts, nämlich zu dienen den 
Mitmenschen selbst mit Opfern, aber modifiziert in allen Stücken nach 
dem Elberfelder System; er würde dabei heutzutage der erste sein,, 
die Mittel zu verwenden, welche die reale Wissenschaft geistig und 
leiblich hier zur Verfü^ning stellt, und w würde schon darum diese 
reale Wissenschaft anerkennen als nicht bloß der Erscheinungen Herr 
werdend (technisch), sondern auch als die einzige Lehrmeisterin über 
Oott und sein Yerhältnis zur Welt. Den himmlischen Täter würde er 
lieber bezeichnen als den Schöpfer und Erhalter der Welt von Ewig- 
keit zu Ewigkeit, in dessen Welt nichts verloren geht, nichts von Un- 
organischem nach dem Gesetz der Erhaltung von Masse und Kraft, 
so daß mit Fug vom Organischen und Organischgeistigen Ähnliches 
darf angenommen werden«. Weiß Baumann das wirklich so genau? 
Wir glauben, gerade die neue Gottesidee vom himmlischen Yater, die 
Jesus Christus in die Welt gebracht hat und welche für jede Religion 
die einzig brauchbare ist, jene Idee, durch welche Christus einer aus- 
gestorbenen Welt neues Leben einhauchte, sie würde auch heute für 
Christus der Grund- und Eckstein seiner Verkündigung geblieben sein^ 
die er festgehalten hätte, auch wenn er bis in die tie&ten Tiefen der 
realen Wissenschaften hinabgestiegen wäre. 



3. Kapitel. 

Die gegenwärtigen Hauptvertreter der Religionsphilosophie 
^uf pessimistischer, soziologischer und positivistischer Basis. 

a. Einführung. 

Wie wir sahen, verfochten die bisher besprochenen Keligionsphilo- 
^ophen trotz der verschiedenen Wege, welche sie gingen, die Wahr- 
heit nnd Selbständigkeit der Beligion als solcher. Die Religion 
bildete ihnen den notwendigen Abschluß oder die notwendige Er- 
gänzung der philosophischen Weltanschauung. Anders liegt die Sache 
bei den Philosophen, welche in diesem Kapitel zu behandeln sind, 
von Hartmann, Natorp und Ziegler. Sie können die Tatsache des 
Neuaufschwungs der religiösen Mächte nicht leugnen, sind aber in 
ihrer Weltanschauung doch so befangen, daß sie den Mut nicht haben, 
derselben voll Rechnung zu tragen und ihre Gedanken dementsprechend 
zu korrigieren. So greifen sie die religiösen Daten zwar auf, aber 
nur, um sie in den Grundbegriffen der eigenen Philosophie unter- 
gehen zu lassen. Auf diese Weise wird die Religion für Hartmann 
nur eine besondere Form der Philosophie des Unbewußten. Wenn 
der abstrakte Monismus und Theismus die beiden nebeneinander her- 
laufenden »unvollkommenen Formen des SupranaturaUsmus« darstellen, 
so bildet nach Hartmann sein »konkreter Monismus« den synthe- 
tischen Schlußstein des zweiseitig aufstrebenden Gewölbes, das höhere 
Dritte, in welchem alle Formen sowohl des abstrakten Monismus als 
auch des Theismus ihre positive Versöhnung und zugleich Über- 
windung finden sollen, mit einem Wort: »die letzte, abschließende 
Phase der Entwicklung des religiösen Bewußtseins«. Wir werden 
sehen, was davon zu halten ist Auch Natorp erstrebt eine »Reinigung 
der Religion«, aber nicht wie Hartmann in unbewußter Metaphysik, 
sondern so, daß das rein sittliche Element, das Gemeinschaftsbewußtsein 



b. Eduard v, Haitmann. 135 



der Menschheit kraft ihrer Erhebung zur Idee des Menschentums, 
beherrschend vorantritt. Das Dogma als solches wird preisgegeben, 
um einer »reinen, dem tiefsten Wahrheitsbedürfnis streng genügenden 
Erfassung des Ideals« Platz zu machen, dagegen mag die religiöse 
Vorstellung bloß als Vorstellung in ihrer naiven symbolischen Kraft 
erhalten bleiben, sofern sie sich wenigstens den gesunden Grenzen 
und Maßen ästhetischer Gestaltungsweise fügen lernt. Natorp er- 
wartet die Erfüllung dieser Forderungen mit der »Verjüngung der 
Menschen von unten auf«, aus dem neuerwachten, unverlierbar ge- 
festigten Bewußtsein der Arbeitsgemeinschaft. In ähnlicher Weise 
plaidiert Ziegler für den Wert der Gesellschaft. Die Keligion beruht 
ihm auf dem Gefühl, die Glaubensvorstellungen aber sind Erzeugnisse 
der dichtenden Phantasie. 



b. Eduard v. Hartmann. 

Eduard v. Hart mann wurde am 23. Februar 1842 in Berlin 
als Sohn eines Generalmajors geboren. Anfangs im Militärdienst 
stehend, wurde er 1865 gezwungen, infolge eines unheilbaren Knie- 
leidens seinen Abschied zu nehmen. Er studierte deshalb, promovierte 
1867 in Rostock und zog sich 1885 von Berlin nach Gr. Lichter- 
felde zurück, wo er seitdem als Privatgelehrter lebt. Von seinen 
Schriften kommen als religionsphilosophische in Betracht das Haupt- 
werk »Die Philosophie des Unbewußten« (11. Aufl. 1904), femer 
»Die Selbstzersetzung des Christentums und die Religion der Zu- 
kunft« (1874), »Die Krisis des Christentums in der modernen Theo- 
logie« (1880), »Religionsphilosophie, 1. Teil: Das religiöse Bewußtsein 
der Menschheit im Stufengang seiner Entwicklung, 2. Teil: Die Reli- 
gion des Geistes« (1881 f.) und »Ethische Studien« (1898). Von 
seinen sonstigen Schriften seien genannt »Schellings positive Philo- 
sophie« (1869), »Gesammelte Abhandlungen zur Philosophie des Un- 
bewußten« (1872), »Erläuterungen zur Metaphysik des Unbewußten« 
(1874), »Wahrheit und Irrtum im Darwinismus« (1875), »Gesammelte 
Studien und Aufsätze« (1876), »Neukantianismus, Schopenhauerianis- 
mus, Hegelianismus« (1877), »Phänomenologie des sittl. Bewußtseins« 
(2. Aufl. 1886), »Philosophische Fragen der Gegenwart« (1885), »Der 
Spiritismus« (2. Aufl. 1898), »Moderne Probleme« (1886), »Ästhetik« 
(1886 f.), »Lotzes Philosophie« (1888), »Kritische Wanderungen durch 
die Philosophie der Gegenwart« (1889), »Das Grundproblem der Er- 
kenntnistheorie« (1889), »Die sozialen Kernfragen« (1894), »Tages- 
fragen« (1896), »Kategorienlehre« (1896), »Geschichte der Metaphysik« 



136 3. £ap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Eel.-Phil. auf pessimistischer usw. Basis. 

(1899 f.), »Die moderne Psychologie« (1901), »Die Weltanschauung 
der modernen Physik« (1902). Eine gute Zusammenstellung der 
Hartmannschen Gedanken bildet A. Drews Hartmannmonographie, 
nach der wir hier zitieren (Heidelberg 1902). Hartmanns religionsphilo- 
sophische Grundgedanken erhellen schon deutlich aus der Philosophie 
des Unbewußten, in systematischer Ordnung liegen sie vor in der 
Keligionsphilosophie, besonders im zweiten Teil dei*selben, der Keligion 
des Geistes. 

Den Ausgangspunkt der Erörterung bildet hier die Religion als 
psychisches Phänomen in der Menschheit. Demnach beginnt Hart- 
mann hier mit der Religionspsychologie. Die religiösen Erscheinungen 
kommen nur zu stände, wenn außer dem die Funktion tragenden Sub- 
jekt auch noch ein Objekt, auf das sie sich beziehen, gesetzt ist 
»Dies Objekt kann, um einer Funktion religiösen Charakter zu- 
schreiben zu dürfen, nicht das Subjekt selbst, auch nicht ein Lebe- 
wesen niederer Art, noch ein solches sein, welches mit dem Subjekt 
auf gleicher Stufe steht, vielmehr muß es dem Subjekt unvergleichlich 
überlegen sein, und dieses Objekt nennen wir Gott«. Daraus folgi, 
daß die Gottesvorstellung transcendentale Bedeutung hat. In der reli- 
giösen Funktion ist der Mensch ganz bei sich selbst, er hält Samm- 
lung und Einkehr im innersten Kerne seines Wesens. Die religiöse 
Funktion ruht daher auf dem Gefühl als der religiösen Grundfunktion, 
aus der sowohl die religiöse Vorstellungs- wie auch die religiöse 
Willenstätigkeit hervorgeht. Das Gefühl darf eben darum nicht als 
ein Selbständiges vor der Vorstellung und dem Willen betrachtet 
werden. Vorstellung, Gefühl und Wille in ihrer religiösen Bestimmt- 
heit sind »nichts Selbständiges, sondern nur die drei Hauptrichtungen 
oder Momente eines und desselben Grundtriebes, des aller religiösen 
Funktion voraufgehenden unbewußten religiösen Triebes oder der 
spezifisch religiösen Anlage des Menschen«. Die religiöse Funktion 
ist also die Betätigung der einheitlichen religiösen Anlage de» 
Menschen in einem einheitlichen Akt von Vorstellung, Gefühl und 
Wille, in welchem die eine oder die andere dieser drei Seiten 
überwiegen kann. Diese so in ihrer Einheit begriffene religiöse 
Funktion ist Glaube, und Glaube ist das vertrauensvolle Sichhingeben 
des Menschen an das religiöse Objekt Das Korrelat des Glaubens 
bildet die Gnade. Eben dasselbe aktuelle Verhältnis, das von der 
menschlichen Seite her gesehen Glaube ist, ist von der göttlichert 
Seite betrachtet Gnade^ und eben durch diese reale Einheit der 
Funktion wird das aktuelle Verhältnis zum realen einheitlichen Band 
zwischen Gott und Mansch, and diese funktionelle Identität voa 



b. Eduard v. Hartmann. 157 



Glaabe und Gnade ist die grundlegende Tatsache des religiösen Be- 
wußtseins. Die Gnade nun, sofern sie eine Erleuchtung des Menschen 
über das Wesen und die Bedeutung des religiösen Objekts und Ver- 
hältnisses und eine Überzeugung desselben von der transcendenten 
Realität beider zum Zweck hat, heißt Offenbarung, und diese letztere, 
sofern sie vom Menschen als sein eigener Bewußtseinsinhalt und seine 
eigene Funktion gewußt wird, ist der intellektuelle Glaube. Der Cha- 
rakter der Offenbarung ruht darin, daß man sie selbst erlebt und er- 
fahren hat, denn was uns nicht in unserem eigenen persönlichen 
Geistesleben offen und klar geworden, ist uns eben noch nicht offenbar^ 
gleichviel wie vielen andern es offenbar sein mag. Die Gnade setzt 
aber voraus, daß der Mensch erlösungsbedürftig ist, sie wird also 
zweitens zur Erlösung. Damit wird der Pessimismus die Vorbe- 
dingung der Erlösungsreligion» Dasjenige, wovon der Mensch zu er- 
lösen ist, sind Übel und Schuld oder die Weltabhängigkeit, die einzig 
reale Erlösung ist der Tod für den einzelnen und das Ende des Welt- 
prozesses für das Universum. Die Erlösung besteht darin, daß der 
Mensch im Bewußtwerden »seiner zentralen, einheitlichen, wurzel- 
haften, metaphysischen Abhängigkeit von Gott sich über peripherische, 
endlos zersplitterte und verästelte phänomenale Abhängigkeit von der 
Welt hinausgehoben fühlt und in der absoluten metaphysischen Ab- 
hängigkeit von dem absoluten Weltgrund zugleich jenes Gefühl der 
Freiheit gewinnt, das er im Kampf des eigenen Ich gegen die phäno- 
menale Abhängigkeit von der Welt vergebens sucht«. Die mensch- 
liche Aneignung der von Gott dargebotenen Erlösung ist der Gemüts- 
glaube, der sich als Versöhnung und Friede manifestiert. Die dritte 
Gestalt der Gnade ist diejenige, welche sich auf den Willen richtet, 
oder die Heiligung; sie ist entweder sittliche Freiheit oder sittliche 
Energie. Wie die Heiligung der eigentliche und letzte Zweck der 
Offenbarung und Erlösung ist, so ist der religiöse Wille der letzte 
Zweck der religiösen Vorstellung und des religiösen Gefühls. 

Es gilt nun, die metaphysischen Voraussetzungen des religiösen 
Verhältnisses zu entwickeln. Hartmann tut das in der Keligions- 
metaphysik. Für das wissenschafüiche Bewußtsein ist dieselbe ein 
Teil der Metaphysik, nämlich »eine besondere induktive Begründungsart 
derselben aus den Tatsachen des religiösen Bewußtseins«, so daß sie 
damit der aus den übrigen Tatsachenkreisen gewonnenen Metaphysik 
zur Bestätigung dient, für das religiöse Bewußtsein hingegen ist sie 
ein »praktisches Postulat, welches in der Übereinstimmung mit der 
theoretischen Metaphysik bloß seine Bewährung findet«. Das religiöse 
Bewußtsein hat zwar in sich selbst die unmittelbare Gewißheit Gottes^ 



138 3« Kap. Die gegenw. Hanptvertreter d. Rel,-Phil. auf pessimistischer üsw. Basis. 

es muß sich aber trotzdem über das Dasein Gottes und sein Wesen 
klar zu werden suchen. Es tut das induktiv in den sogenannten 
Beweisen für das Dasein Gottes. Die Grundtatsache des religiösen 
Bewußtseins, daß es Überwindung der Weltabhängigkeit in Gott sucht, 
setzt die absolute Abhängigkeit der Welt von Gott oder das Sein 
Gottes als absoluten Weltgrundes voraus. Eine zweite Induktions- 
reihe schließt teils aus dem geistartigen, »logisch -dynamischen« Cha- 
rakter der Welt, teils aus der subjektiven Geistigkeit des Menschen, 
teils endlich aus der die Möglichkeit einer Erkenntnis bedingenden 
konstanten Korrespondenz der Formen und Gesetze des Daseins und 
des Bewußtseins auf den einheitlichen Grund beider im absoluten 
Geist, der nach der Analogie des menschlichen, aber mit Ausscheidung 
aller endlichen Beschränktheit des letzteren, zu denken ist, also zwar 
als allweise und allwissend, aber durchaus nicht selbstbewußt, zwar 
Unseligkeit fühlend, aber durchaus nicht Seligkeit! Wäre Gott be- 
wußt, so müßte er, um die daseiende Welt schaffen zu können, erst 
sein Bewußtsein aufheben und als Unbewußtes in die Natur herab- 
steigen. Diese Selbstentäußerung des Bewußtseins aber ist in einem 
absolut reinen Geist ebenso undenkbar, wie »der vom Theismus an- 
genommene Fortbestand des göttlichen Selbstbewußtseins und Welt- 
bewußtseins neben und trotz dem in der Natur zum Unbewußtsein 
heruntergekommenen Unbewußtsein«. Gott muß vielmehr von vorn- 
herein unbewußter Geist sein, um der Grund der unbewußten Natur 
sein zu können, ebenso wie er unbewußter Geist sein muß, um der 
Grund des bewußten Geistes sein zu können. Eine dritte Induktions- 
reihe schließt teils von der objektiven sittlichen Weltordnung auf die 
sich in ihr offenbarende göttliche Gerechtigkeit, teils aus dem sub- 
jektiven Bewußtsein des Sittengesetzes auf die seine Verbindlichkeit 
begründende göttliche Heiligkeit, teils endlich aus dem zweckmäßig 
zum Ziele führenden religiösen Entwicklungsgang der Menschheit 
oder aus der weltgeschichtlichen absoluten Heilsordnung auf die sie 
begründende göttliche Gnade, die aber nicht als menschenartiges Ge- 
fühl der liebe gedacht werden darf, überhaupt ist es weder be- 
rechtigt noch im religiösen Interesse, die absolute sittliche Weltord- 
nung von Gott als ihrem bewußt-geistigen Träger noch zu unter- 
scheiden, weil durch diese theistische Annahme die Notwendigkeit 
der Weltordnung mit der freien göttlichen Willensentscheidung in 
Kollision kommt. Es ist auf der ünbewußtheit und Unpersönlich- 
keit Gottes zu bestehen, weil Gott sonst von der sittlichen Weltord- 
nung verschieden und nicht selbst die Heiligkeit, Gerechtigkeit und 
Gnade, sondern nur der hinter ihnen stehende und verschiedene 



b. Eduard v. Hartmann. 139 



Grund derselben wäre. Der zweite Teil der Metaphysik, die Meta- 
physik des religiösen Subjekts, geht von dem Satze aus, daß der 
Pessimismus im weitesten Umfang das unerläßliche Postulat sowohl 
des religiösen wie des sittlichen Bewußtseins sei, da nur er die Er- 
lösungsbedürftigkeit des Menschen garantiert. Auch das Problem der 
Theodicee ist nur dann zu lösen, wenn Gott selbst als absolutes Sub- 
jekt alles Weltleid trägt. Insofern die Welt nichts ist als die Er- 
scheinung Gottes, ist auch die Erlösung der Welt von sich zugleich 
Erlösung Gottes von seiner Immanenz, infolge deren er als das in 
allen eingeschränkten Subjekten identische absolute Subjekt das Leid 
der Welt trägt Für das religiöse Bewußtsein ist »der Weltprozeß 
eine einzige große Tragödie, in der ein Schauspieler alle Bollen spielt, 
Helden und Bösewichter, Statisten und Chor, aber so, daß er in jeder 
Bolle die dargestellten Leiden wirklich durchlebt und fühlt«; nach- 
dem »der Schauspieler jeder einzelnen Bolle sein tragisches Ende 
gefunden, schließt endlich das ganze Stück als Tragödie, und er 
begibt sich, erlöst von den Leiden des Spiels, zur Buhe«. Nicht 
darum handelt es sich also bei der Theodicee, nachzuweisen, warum 
das Übel überhaupt unvermeidlich in der Welt ist, sondern darum, 
warum eine Welt mit überwiegendem Übel, also eine Welt, die im 
Ganzen vom Übel ist, geschaffen werden mußte, nicht darum, nach- 
zuweisen, warum, wenn eine Welt geschaffen werden, eine über- 
wiegend üble Welt herauskommen mußte, sondern darum, warum der 
allwissende und allgütige Schöpfer nicht eine Schöpfung unterließ, 
von der er wissen mußte, daß sie, sei es durch innere Notwendigkeit 
des weltlichen Daseins überhaupt, sei es durch einen geschöpflichen 
Mißbrauch der verliehenen Freiheit übel ausfallen oder übel werden 
mußte, es fragt sich also, wie die leid volle Welterscheinung Gottes 
zu erklären ist, und warum Gott nicht kraft seiner Allmacht das leid- 
volle Dasein der Welt auf einmal aufhebt. Nun besagt die göttliche 
Allmacht, daß Gott alles machen kann, was er will, aber nicht, daß 
er auch unmittelbar »machen könne, daß er nicht wolle«. Wenn 
Gott einmal wollte, so konnte er nicht unmittelbar machen, daß er 
nicht wollte. Das Anheben seines WoUens setzte in ihm einen Zu- 
stand, den er nicht unmittelbar, sondern nur durch Vermittlung des 
Weltprozesses rückgängig machen konnte. Alles steht unmittelbar 
in Gottes Macht, »nur nicht seine Macht selbst«, alles hängt von 
seinem Willen ab, »nur nicht ohne weiteres sein Wille selbst«. 
Hiemach ist nach Hartmann der Wille oder die Allmacht als das- 
jenige Attribut Gottes zu betrachten, von dem der Übergang aus der 
Buhe in die zeitliche Tätigkeit ausging, ohne daß die Weisheit der 



140 3. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. auf pessimistischer usw. Basis. 

logischen Idee bei diesem Übergange aus der Potenz des Willens in 
die Tätigkeit beteiligt war. Dieser Übergang mußte aber auch schon 
in demselben Momente, wo er vor sich ging, für die Allweisheit der 
logischen Idee zum Anlaß ihrer Entfaltung werden, d. h. sich auf die 
absolute Erlösung richten. Daß dabei eine Welt herauskam, dazu 
konnte der leere Willensdrang die Weisheit nur dann veranlassen, 
wenn er selbst ein größeres Übel war als die Weltschöpfung. Der 
transcendente Gott wird immanent, um sich durch die Gesamterlösung 
sowohl von der immanenten wie transcendenten Unseligkeit zu be- 
freien. So ist die Welterlösung Mittel zur Gotteserlösung und das 
Weltleid Mittel zur Welterlösung. Die Welterscheinung des gött- 
lichen Seins aber ist, »die teleologische Steigerung der transcendenten 
Unseligkeit um den Betrag der immanenten für die endliche Dauer des 
Weltprozesses, um dadurch einer unendlichen Dauer der transcendenten 
Unseligkeit vorzubeugen«, und das religiöse Bewußtsein nimmt mit 
seinem individuellen Mitgefühl an diesem unendlichen Gottesscbmerz 
teil, vor dem aller endliche Schmerz in das Nichts relativer Be- 
deutungslosigkeit versinkt. Der Mensch aber, der sich mit diesem 
Träger der absoluten Tragik wesenseins weiß, streift in dem Mitgefühl 
mit dem unendlichen Gottesschmerz die letzten Schlacken egoistischer 
Feigheit und Trägheit ab und gibt sich mit seinem ganzen Wollen 
und Vermögen dem teleologischen Erlösungsprozeß hin. Das führt 
hinüber zum 3. Teil, der Religionsethik. 

Die Religionsethik hat es mit dem Heilsprozeß zu tun, und zwar 
sowohl dem subjektiven wie objektiven. Der subjektive Heilsprozeß 
entwickelt sich in Erweckung, Entfaltung und Früchten der Gnade, 
unter denen vor allem die Besserung (Unterdrückung der Selbstsucht 
und Kräftigung der guten Anlagen) und die Mitarbeit am objektiven 
Kulturprozeß verstanden werden. Alle Pflichten gegen Gott er- 
schöpfen sich in der pflichtmäßigen Mitarbeit am objektiven Heils- 
pjozeß, besondere inhaltlich auf Gott bezügliche Pflichten sind un- 
möglich, weil Gott gar kein Objekt neben andern Objekten, sondern 
der allumfassende unpersönliche absolute Grund alles Daseienden 
ist. Die religiöse Erlösung bietet keine Seligkeit als positiven 
Gewinn, sondern nur Aufhebung der vorangegangenen Unseligkeit. 
Daher ist auch der Endzweck des religiösen Heilsprozesses nicht 
die Seligkeit des Erlösungsbewußtseins, sondern der subjektive 
Heilsprozeß ist nur Mittel für die sittliche Arbeit am Welter- 
lösungsprozeß. Den Schluß der Religionsphilosophie bildet der lob- 
jektive Heilsprozeß« oder das religiöse Gemeinschaftsleben in deni 
Formen des kirchlichen Kultus, wobei Hartmann seine Ideen über 



b. Eduard v. Hartmann. 141 



den künftigen Kultus der Religion des konkreten Monismus entwickelt 
Kirchenzucht, Kultus ästhetischer Natur, Opfer, Gtebet, Sakramente 
sind alles unnütze Dinge; das »Gebet ist in jeder seiner Formen 
teils überflüssig, teils verkehrt; es hat überdies mit seiner dialogischen 
Form nur auf theistischer Basis einen Sinn und ist hier nichts weiter 
als ein Notbehelf des religiösen Bewußtseins, um ihm für die 
mangelnde reale Einheit Ersatz zu leisten, ein Notbehelf, welcher 
dort von selbst hinwegfällt, wo wie im konkreten Monismus mit dem 
bewußten Besitz der realen Einheit jedes Bedürfuis nach einer die- 
selbe ersetzenden Wechselbeziehung in dialogische Form ver- 
schwindet«. Es gibt nur einen wirklichen Gottesdienst, den des realen 
Lebens als Mitarbeit am objektiven Heilsprozeß, uud aller Kultus hat 
nur soweit gottesdienstlichen Wert, als er sich als Mittel bewährt, 
um den Menschen zu dem realen Gottesdienst des praktischen Lebens 
tüchtig zu machen. Das Einzigberechtigte im Kultus ist daher der 
»Dienst am Wort«, bei welchem an die Stelle des heteronomen Ge- 
setzes und des heterosoterischen Evangeliums die andächtige Ver- 
senkung des religiösen Bewußtseins in sich selbst, in seinen Inhalt, 
in die reale Einheit mit Gott zu treten hat. Der Leser versetze sich 
in solche Kultusversammlung hinein, die bar ist aller symbolischen 
Handlungen und Bilder, alles Gesangs und Gebetes, wo in der Predigt 
alle historische Anknüpfung, alle Verkörperung des Idealen in lebens- 
vollen Anschauungen fehlt, um der Versenkung in den schlechthin 
abstrakten Gedanken der realen Einheit mit Gott zu weichen, — 
würde das nicht ein Mystizismus schlimmster Sorte werden, wie ihm 
eben nur ein Philosoph das Wort reden kann, der dem realen kirch- 
lichen Leben vollständig fernsteht? — 

Doch sehen wir uns diese Religionsphilosophie noch etwas ge- 
nauer an! Wir sehen ganz ab von der ünterschätzung des Histori- 
schen, der grundlegenden Tatsachen und Persönlichkeiten, welcher 
man bei Hartmann Schritt für Schritt begegnet, — was diese Reli- 
gionsphilosophie unzweifelhaft zu Falle bringt, ist der ihr zu Grunde 
liegende pantheistische Pessimismus. Wie ist eine Welterlösung 
möglich, wenn alle Unseligkeit und alles Unheil ihren Ursprung und 
Sitz in Gott selbst haben! Können wir überhaupt in einem sittlichen 
Verhältnis zu einem Gott stehen, dessen Grundtrieb der Egoismus 
ist, der die Welt und ihre Geschöpfe nur darum zu Elend und Leiden 
erschuf, damit sie ihm durch ihre Selbstvemichtung zur Erlösung 
von seiner eigenen Unseligkeit behülflich seien? Wir Menschen sollen 
nur darum tätig wirken und schaffen, damit der Weltprozeß sein 
Ende findet und alles so rasch wie möglich zu Grunde geht! Da 



142 3. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. ReL-Phil. auf pessimistisclier usw. Basis, 

wäre es doch viel einfacher, man machte dem Dasein durch Selbst- 
mord ein Ende und suchte andere zu überzeugen, ein Gleiches zu 
tun. Und dann der Hartmannsche Gottesbegriff selbst! Man stelle 
sich einen unbewußten Geist vor, der zugleich allwissend und all- 
weise sein soll, der also alles weiß, nur sich selbst nicht, der teleo- 
logisch in allem wirkt und dabei doch von sich selber und seinem 
Endzweck gar kein Bewußtsein hat! Das überweltliche insichseiende 
Subjekt ist unselig, hat aber trotzdem von diesem ünseligkeitsgefühl 
keine Ahnung! nein, ein unbewußter Gott kann keine Zwecke 
setzen, hat kein insichseiendes und vom Weltprozeß sich unter- 
scheidendes Selbst, kann keine weltordnende Vernunft und Vor- 
sehung werden. Gerade die Eigenschaften, die Hartmann seiner Gott- 
heit prädiziert, führen, konsequent ausgedacht, naturnotwendig zu 
Gott als einem insichseienden, selbständigen Selbstbewußtsein. Sind 
es nicht mythologische Abenteuerlichkeiten, wenn Hartmann erzählt, 
wie der Wille einmal durch grundlosen Zufall aus dem Zustand der 
Potenz zur Aktualität sich erhob und die Idee an sich riß, worauf 
diese dann sofort zur denkenden Vernunft wurde und den Weltplan 
auf den Zweck hin entwarf, um den blinden Willen zur Einsicht 
der Unvernunft seines Wollens und damit zur Ruhe des ursprüng- 
lichen Potenzzustandes zurückzubringen? Und dazu sollen wir 
Menschen der unbewußten Gottheit behilflich sein, denn das ist wahre 
Ethik und Sittlichkeit! Hartmann hat irgendwo das schöne Wort ge- 
sprochen: :»Sich selbst als göttlichen Wesens zu wissen, das tilgt 
jede Divergenz zwischen Eigenwillen und Allwillen, jede Fremdheit 
zwischen Mensch und Gott, jedes ungöttliche, d. h. bloß natürliche 
Gebahren; sein Geistesleben als einen Funken der göttlichen Flamme 
anzusehen, das wirkt den Entschluß, ein wahrhaft göttliches Leben 
zu führen, d. h. sich über den Standpunkt der bloßen Natürlichkeit 
zu erheben zu einem Leben im Geist, das im positiven Sinn gott- 
gewollt ist, das den Willen und das Vermögen schafft, gottinnig zu 
denken, zu fühlen und zu handeln und alle endliche Aufgabe des 
irdischen Lebens im göttlichen Lichte zu erklären«, — aber anstatt 
nun darin mit dem Christentum den Endzweck der menschlichen 
Bestimmung zu finden, geht Hartmann in merkwürdiger Phantasterei 
zu einem sittlichen Nihilismus weiter, der schlimmer wohl kaum zu 
finden ist: alle Sittlichkeit dient nur zur Verkürzung des Welt- 
prozesses, den unseligen Gott von seiner ünseligkeit zu befreien, in 
die er durch den unvernünftigen Drang seines Willens nach Dasein 
einst geraten ist. Es ist doch eine wunderliche Zumutung an den 
gesunden Menschenverstand, die Aufgaben des Lebens ernst zu nehmen, 



b. Eduard v. Hartmann. 143 



zu wirken, zu arbeiten und zu schaffen, einen sittiichguten Wandel zu 
führen, die Pflichten des Daseins getreulich zu erfüllen für — Nichts 
und Wiedernichts! Ist dazu die Vorstellung auch nur möglich, daß 
behufs der Erhebung gegen den Willen zum Dasein sich einmal alle 
Menschen der Welt unter sich verständigen werden, nicht mehr zu 
sein? Und wenn nun nach gelungener Zurückwerfung der Welt in 
das Nichts der dumme Wille es sich wieder gelüsten ließe, ins Dasein 
zu treten und eine neue Welt ins Leben zu führen? Was dann? 
Dann geht die mühsam totgemachte Weltentwicklung wieder von 
vorne los. Der Schopenhauerenianer Karl Peters sagt in seinem ge- 
lehrten Buche »Weltwille und Willenswelt« (1883): »Ich behaupte 
positiv, daß die Philosophie des Unbewußten den Übergang vom 
Pantheismus zum Theismus darstellt; die Willensphilosophie, nach- 
dem sie an den Einseitigkeiten und Schwächen des Pantheismus ge- 
scheitert ist, beginnt mit E. v. Hartmann sich auf theistisches Gebiet 
zu retten, nur daß derselbe auf halbem Wege stehen bleibt! Aber 
die Prämissen zu einer solchen Weltanschauung sind bei ihm ge- 
geben, nur die Conclusio braucht noch gezogen zu werden«. Wir 
sind derselben Überzeugung und sehen auch unsererseits hierin Hart- 
manns religionsphilosophische Bedeutung. 

Wir haben bei der Vorführung der Hartmannschen Religions- 
philosophie seine Stellung zum Christentum nicht näher erörtert, weil 
sie sich eigentlich von selbst ergab. Wir fügen aber zum Schluß noch 
ein paar diesbezügliche Worte hinzu. In der »Selbstzersetzung des 
Christentums« behauptet Hartmann, daß sich die christliche Idee schon 
am Ausgang des Mittelalters ausgelebt habe, der Protestantismus habe 
sie bei seinem Auftreten schon als Leiche gefunden. Während aber 
der Katholizismus die Leiche als Mumie mit dem Scheine des Lebens 
zu konservieren suchte, wurde dem Protestantismus die geschichtliche 
Aufgabe zu teil, die Leiche Glied für Glied zu sezieren, öffentlich zu 
konstatieren, daß sie wirklich tot sei, und sie dann feierlich zu be- 
statten. Nur eine völlige Neubildung sei darum möglich, die Hart- 
mann dann eben in seinem konkreten Monismus sieht. Hartmann 
verwechselt auch hier die konfessionellen Formen der christlichen 
Idee mit dem Wesen und Geiste des Christentums und vergißt, daß 
die Form einer Idee oder Sache recht wohl eine unrichtige sein oder 
veralten und sich überleben kann, während die Idee oder Sache selbst 
wertvoll und lebensfähig, ja unentbehrlich bleibt. Der Geist der 
Religion Jesu ist unvergänglich, das Christentum als solches ist keine 
»mumifizierte Leiche«, und nur Blindheit, Unwissenheit oder Vorein- 
genommenheit kann leugnen oder ignorieren, was die Menschheit, 



144 3. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Bel.-Phil. auf pesRimistiscIier usw. Banis. 

besonders die Völker der Gegenwart dem Christentume verdanken. 
Zwischen dem Christentum Jesu und der modernen Kultur, der Wissen- 
echaft, Kunst und Bildung der Gegenwart besteht kein unversöhnlicher 
Gegensatz, wie Hartmann meint, denn Jesu Lehre ist wesentlich 
ethischen Inhalts, wenn sie auch das Glaubensbedüröiis der Mensch- 
heit nicht außer acht läßt. Die christliche Religion ist nie eine bloße 
Religion des Jenseits gewesen, die sich um das Diesseits nicht kümmerte, 
wie Hartmann lehrt, sondern hat die Völker veredelt und eine Kultur 
ins Leben gerufen, welche die Menschheit erst wirklich zur Mensch- 
heit gemacht hat, sie wird darum die Quelle des wahren Lebens auch 
in der Zukunft bleiben. 



c Paul Natorp. 

Paul Natorp wurde am 24. Januar 1854 in Düsseldorf geboren, 
studierte in Berlin, Bonn und Straßburg, habilitierte sich 1881 in 
Marburg für Philosophie, wurde 1885 a. o. und 1892 o. Professor 
derselben. Er schrieb »Descartes Erkenntnistheorie« (1882), 
»Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum« 
(1884), »Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode« (1888), 
»Die Ethika des Demokritos« (1893), »Religion innerhalb der Grenzen 
der Humanität« (1894), »Pestalozzis Ideen über Arbeiterbildung und 
soziale Fragen« (1894), -»PJatos Staat und die Idee der Sozialpäda- 
gogik« (1895 f.), »Herbart, Pestalozzi und die heutigen Aufgaben der 
Erziehungslehre« (1899), »Sozialpädagogik« (1899), »Piatos Ideenlehre« 
{1903), »Philosophische Propädeutik« (1903), »Logik« (1904). Natorp 
gibt außerdem die Philosophischen Monatshefte heraus und ist Mit- 
redakteur des Archivs für Philosophie. 

Natorps Religionsphilosophie ruht auf sozialpädagogischer Grund- 
lage; sie sucht eine Religion innerhalb der Grenzen der Humanität 
zu begründen. Dabei versteht er unter Humanität die »Vollkraft 
des Menschentums im Menschen«, unter humaner Bildung nicht die 
einseitige Entwicklung des intellektuellen oder des sittlichen oder des 
ästhetischen Vermögens, noch weniger der bloß physischen Kräfte der 
Arbeit und des Genusses, sondern die Entfaltung aller dieser Seiten 
des menschlichen Wesens in ihrem gesunden, normalen, gleichsam ge- 
rechten Verhältnis zueinander, in dem Verhältnis, worin sie einander 
möglichst fördern und möglichst wenig beeinträchtigen, sowie die 
lebendige innere Teilnahme des einzelnen am Leben der Gesamtheit, 
der menschlichen Gemeinschaft, während ihm die Religion der allen 
Normen und Gesetzen des wissenschaftlichen Erkennens, der Sittlich- 



c. Paul Natorp. 145 



keit und der ästhetischen Tätigkeit zum Trotz sich behauptende üni- 
versalitätsanspruch des Gefühls ist. Die Religion vertritt also eine 
eigene Grundgestalt des Bewußtseins, das Gefühl, und zwar in seinem 
Anspruch, die universelle, alle andern umfassende und vereinende 
Grundkraft, den ursprünglichsten, unerschöpflich lebendigen Quell alles 
Bewußtseins darzustellen. Das Gefühl ist nicht wie Erkenntnis, Wille 
und ästhetische Gestaltung eine eigene Art der Objektsetzung, sondern 
bildet zu ihnen die subjektive Gegenseite, es vertritt den inneren 
Zusammenhalt, die unteilbare Einheit des Bewußtseinslebens, seine 
Individualität. Es soll »das ganze Bett des Bewußtseinsstromes mit 
seinem flutenden Leben ausfüllen, aber es darf nicht in seinem Über- 
schwang alle Ufer durchbrechen, um in die Weiten der Unendlich- 
keit sich haltlos zu ergießen«. 

Damit fällt für Natorp der Transcendenzanspruch der Religion. 
Es fragt sich deshalb, ob die Religion durch diese Preisgebung ihren 
Charakter so verändert, daß das, was übrig bleibt, den Namen Religion 
noch verdient, und ob sie im Gefühl die absolute Obmacht des Guten 
über die Welt, des Idealen über das Reale gewiß zu machen, die 
Kluft zwischen Wollen und Vermögen, zwischen Sollen und Sein 
zu schließen und so der Sittlichkeit eine eigene Stütze zu bieten 
vermag. 

Im objektiven Sinne den Widerstreit zwischen Sollen und Sein 
aufzuheben ist die Religion nicht vermögend, sofern sie wenigstens 
nicht die Schranken, welche die Kritik der Vernunft errichtet, nieder- 
reißen will, wozu ihr Natorp jede Befugnis versagt. Die Aufhebung 
jener Kluft im objektiven Sinne wäre nur möglich durch die Transcen- 
denz, in der Natorp eine ernste Gefahr für die Reinheit der Erkennt- 
nis, Sittlichkeit und ästhetischen Gestaltung erblickt. Andrerseits aber 
erkennt er an, daß eine Vermittlung doch in der Tat gefordert ist 
Süll das sittliche Gebot mit innerer Wahrheit anerkannt und mit 
Freudigkeit ihm nachgehandelt werden, so setzt das den Glauben, d. h. 
die feste Zuversicht voraus, daß seine Forderung auch für mich armen 
Menschen in gewissem Grade erfüllbar ist, daß das Naturgesetz meines 
WoUens und Tuns zugleich dem Sittengesetz gemäß sein kann. Frei- 
lich ist auf objektivem Wege das Recht dieses Glaubens nicht zu be- 
gründen. Unsere bloß theoretische Erkenntnis bietet ihm eine aus- 
reichende Stütze nicht, da sie auf die Bedingtheit der Erfahrung ganz 
und gar eingeschränkt ist und an die ünbedingtheit der sittlichen 
Forderung überhaupt nicht heranreicht. Aber auch die bloße sittliche 
Erkenntnis kann jenem Glauben nicht zum objektiven Grunde dienen. 

Siebert, Beli^cmsphilosophie. Iv 



146 ^' K^ap. Die gegenw. Hauptvertreter d. Rel.-Phil. anf pessimistischer usw. Basis. 

Zwar das sittliche Gesetz gilt mit objektiver Notwendigkeit, und so- 
fern es doch an uns Menschen ergeht, schließt es die Forderung un- 
mittelbar ein, die Sealisierung des Sittlichen, und zwar durch uns, 
als möglich Torauszusetzen; allein die noch so dringliche Forderung 
dieses Glaubens macht nicht verständlich, wie wir in Ermangelung 
jedes objektiv zureichenden Grundes ihn in uns zu Wege bringen 
sollen. Es bleibt also nur übrig, nach einem subjektiv zureichenden 
Grunde für diesen Glauben zu suchen, und dieser kann nur in dem 
Bereiche des Gefühls gefunden werden, das die Idee, zu der Gedanke 
und Willensentschluß sich erheben, in unmittelbarerer, lebendigerer 
Weise, als beide für sich vermöchten, zu unserer Subjektivität in 
Beziehung setzt. Das Ideal ist unser Ideal, sowie die Wirklichkeit, 
der es mit gebieterischer Forderung entgegentritt, unsere Wirklichkeit 
ist. Durch die gleich starke und lebendige Zurückbeziehung beider 
auf unser Subjekt im Gefühl treten beide zugleich unter sich in die 
engste mögliche Verbindung^ womit die Zuversicht, daß das sittliche 
Ideal nicht bloß als unerfüllbare Forderung dasteht, sondern für die 
Wirklichkeit dieses unseres Lebens eine unmittelbare Bedeutung hat, 
seine zulängliche, obgleich bloß subjektive Stütze erhält. Damit steht 
das Ideal nicht mehr vor uns wie ein unersteiglicher Gipfel, und der 
Idealismus des sittlichen Willens findet die fröhliche Zuversicht zu 
dem Wagnis, auf die Realität der sittlichen Aufgabe zu trauen. »Es 
ist die Verlebendigung, die leibhafte Vergegenwärtigung des Ideals, 
die das Gefühl durch die Belebung aller Beziehungen , die vom un- 
mittelbaren Inhalt des Bewußtseins zu ihm hin sich erstrecken, zu- 
wege bringt«. Darum ist alles an der Religion, was auf echtem Ge- 
fühlsgrunde ruht, haltbar und berechtigt; über die Echtheit des Ge- 
fühls aber entscheidet nicht mehr das Gefühl selbst, sondern die 
gesetzmäßigen Gestaltungen des Bewußtseins: Wissenschaft, Sittlich- 
keit und Kunst. Auch die dritte Art der Objektivierung nämlich, die 
künstlerische, hat an der Reinigung und Begrenzung des Gefühls- 
lebens ihren vollgewichtigen Anteil, sofern sie die Symbole der Religion 
von der auf eine überempirische Wirklichkeit hinweisenden, ja ihre 
Gegenwart mitten in dieser Welt bloß sinnlich verkleidenden Bedeutung, 
die sie beanspruchen, auf den bescheidenen Sinn des künstlerischen 
Symbols herabsetzt, das auf objektiv reale Geltung bewußt verzichtet, 
also nicht, wie die Religion in ihrer transcendenten Form jederzeit 
tut, die Grenzen der Erfahrung zu überfliegen sich herausnimmt. 
Natorp kommt somit zu dem Resultat, daß Religion genau soweit 
festzuhalten ist, als sie innerhalb der Grenzen der Humanität be- 
schlossen bleibt, dagegen nicht mehr, sofern der ungemessene Drang 



c. Paul Natorp. 147 



des Gefühls sie yerleitet, deren Grenzen zu durchbrechen und ihren 
evdgen Gesetzen den Gehorsam zu versagen. 

Das Wort Humanität muß nun aber sofort dasjenige Moment ins- 
Gedächtnis rufen, das Natorp von Anfang an in ihren Begriff ein- 
schließt und als wesentlich zu ihm gehörig annimmt, das Moment der 
Gemeinschaft. Es fragt sich jetzt: welches Yerhältnis hat das Gefühl 
und durch es die Beligion zur Gemeinschaft? 

Natorp weist die Auffassung, daß Beligion, wenn noch so indivi- 
duell berechtigt, doch auf das menschliche Gemeinschaftsleben keinen 
Einfluß beanspruchen könne, weil sie, ganz auf dem Grunde der 
Individualität erwachsen, das Bewußtsein der Gemeinschaft eher auf- 
zuheben als zu stärken geeignet sei, zurück. Ebenso verfehlt erscheint 
ihm die Folgerung, daß die Sache der Beligion als reine Privatsache 
von der der Humanität, die Gemeinschaftssache sei, zu trennen wäre. 
Er begegnet dem durch den Hinweis auf die Tatsache, daß alle wahre 
Beligion vielmehr gerade gemeinschaftbildend gewirkt, ja den Gedanken 
der Gemeinschaft des Menschengeschlechts zuerst hervorgebracht und 
fortwährend lebendig erhalten hat Aber noch mehr! Daß der Beligion 
als dem Ausdruck des Gefühlslebens in seiner höchsten Erhebung 
nicht bloß der Charakter des Subjektiven, sondern des Individuellen 
beiwohnt, ist zwar zuzugeben; allein Individualität bedeutet nicht not- 
wendig Isolierung, ja ein energisches Gefühlsleben sucht der Isolierung 
vielmehr entgegenzuwirken als sie zu befördern, denn es verlangt 
gebieterisch nach Mitteilung, d. h. nach Gemeinschaft Die Gesamt- 
heit unserer Beziehungen zu andern wird vom Gefühl besonders um- 
spannt, wodurch das Gemeinschaftsleben erst die ganze Wärme und 
Innigkeit erreicht, deren es fähig ist Trennenden Einfluß übt alsa 
nicht das Gefühl an sich, sondern allein jener »Überschwang des Ge- 
fühls, in dem es das endliche Individuum ohne alle Vermittlung zum 
Unendlichen in Beziehung zu setzen vorgibt«. Ursprünglich auf Ge- 
meinschaft angelegt, kommt es alsdann in Gefahr, die menschliche^ 
Gemeinschaft zu überspringen und zugunsten einer geträumten un- 
mittelbaren Gemeinschaft mit dem Unendlichen herabzusetzen. Alsa 
nicht das Gefühl an und für sich, sondern allein der Transcendenz- 
anspruch des Gefühls ist es, der zu einer Gefahr für die Wahrheit 
und Innigkeit der Gemeinschaft zwischen Mensch und Mensch wird. 
Wird dagegen dieser Anspruch preisgegeben, so bleibt dennoch jener 
große Aufschwung der Seele, in dem sie sich erweitert zur Seele des^ 
Alls, nicht des Alls der Dinge, sondern jenes innem Universums, in 
welchem alles Menschliche sich in Einheit und Gemeinschaft fügt^ 
An die Stelle der transcendenten Gottheit tritt dann die Menschheit 

10* 



148 3. Kap. Die geg enw. Hauptvertreter d. ReL-Phil. auf pessimistischer usw. Basis. 

selbst, und zwar nicht als Summe der menschlichen Individuen, 
sondern als die Idee, doch wiederum nicht als bloße Idee, d. i. 
ewig fernes Ziel einer möglichen edleren Entwicklung des Menschen- 
geschlechts, sondern als die Idee zugleich in ihrer Wirksamkeit, in 
ihrer denkbar innigsten Beziehung zu dem wirklichen Leben, in dem 
wir selbst und die Brüder ringsum begriffen sind. »Daß Religion 
in solchem Sinne mit der Humanität und der menschlichen Gemein- 
schaft nicht in Konflikt kommt, sondern als wesentlicher Bestandteil 
darin eingeht, dürfte klar sein«. 

Daß diese Natorpsche Religion mit der landläufigen Auffassung 
derselben wenig oder nichts zu tun hat, leuchtet ein. Er will daher 
*uch die ganze überlieferte Religion gleichsam in »einen Schmelz- 
tiegel« werfen, um sie so zu läutern, daß sie seinen Gedanken ent- 
sprechend herauskommt Diese »Läuterung« im einzelnen hier vor- 
zuführen, würde zu weit führen; es soll aber in großen Zügen 
wenigstens angedeutet werden, wie sie zu denken ist. 

Das erst eigentlich menschliche Leben ist das sittliche Leben. 
Dieses kann des Ausblicks auf ein unendliches Ziel nicht en traten. 
Dieses Ziel wird daher zur tiefsten und unangreifbarsten Grundlage 
der Religion als der natürlichen Äußerungsweise des Bewußtseins 
einer überempirischen Realität, wie es in dem erwachenden Ver- 
ständnis für die Unendlichkeit des sittlichen Ideals am reinsten und 
wahrsten sich erschließt. Das spricht sich zuerst aus in dem de- 
mütigen Bewußtsein der eigenen sittlichen Unzulänglichkeit, in dem 
Bewußtsein, daß auch die beste menschliche Tat den Himmel nicht 
verdient, daß keine andere menschliche Glückseligkeit aber in Ver- 
gleich kommen darf gegen die, welche im reinen Wollen des Guten 
selbst, in der völligen inneren Einheit mit der sittlichen Idee erreicht 
wäre; andrerseits wieder, daß auch das Nichtigste und Vergänglichste 
»doch im ewig Positiven« steht, von ihm aus Halt und Wert ge- 
winnt, durch die Gesinnung selbst, die es aufs ewige Ziel zurück- 
bezieht, emporgehoben und geadelt wird, die Heiligung auch des 
niederen Trieblebens, der redlichen ^Arbeit und des redlichen Genusses, 
die nicht in der Abwendung von den irdischen Aufgaben und den 
durch sie geforderten natürlichen Formen menschlichen Gemeinschafts- 
lebens, sondern in ihrer vollen Anerkennung und Erhebung unter 
sittliche Betrachtungsweise besteht. So ist das Sittliche der Kern der 
Religion. Es kommt aber nur darauf an, es in seiner Reinheit heraus- 
zuschälen, wobei die Glaubensvorstellungen sich die Reinigung ge- 
fallen lassen müssen, daß das, was als unmittelbare Wirklichkeit ge- 
glaubt wurde, einerseits zur Idee abgeklärt, andrerseits zum Symbol 



c. Paul Natorp. 14^ 



herabgesetzt wird. Ein notwendiges Postulat der Sittlichkeit ist 
natürlich auf diesem Standpunkt die Unsterblichkeit nicht. Die Ideen- 
welt gibt dem Leben des Individuums einen ewigen Inhalt, aber 
garantiert ihm damit noch keine ins unendliche verlängerte Existenz. 
Die Menschheit als Idee stirbt nicht, während der einzelne vergehen 
wird, wie er gekommen ist. An diesem ewigen Leben muß reine 
Sittlichkeit sich genügen lassen; »es ist auch wahrlich groß und ge- 
haltreich genug, ja die Macht der Idee beweist sich am größten eben 
darin, daß sie sich auch dem ernst verstandenen Tode des endlichen 
Individuums gegenüber siegreich behauptet; auch so noch dürfen wir 
sprechen: Tod, wo ist dein Stachel, ist uns der Tod verschlungen in 
den Sieg, und wandeln wir dahin als die Sterbenden, und siehe, wir 
leben; nur ein solches ewiges Leben ist durch keinen Einspruch der 
empirischen Erkenntnis bedroht, seine Annahme macht uns nicht zu 
Lügnern an der Wissenschaft oder verführt zum gröberen oder 
feineren Spiritismus«. Der höchste Ausdruck des Sittlichen ist die 
Wahrheit. Auch sie ist zugleich religiöses Ideal, am Ende sogar für 
die Keligion das höchste; denn in keiner andern Idee liegt so un- 
mittelbar die Voraussetzung, daß alles Zeitliche auf dem Grunde des 
Ewigen ruht und in der Rückkehr zu seinem ewigen Urquell allein 
das Ziel seines Daseins erfüllt. Das Leben im Ewigen ist identisch 
mit dem Leben in der Wahrheit, >und so sind wir uns bewußt, nur 
dem eigensten Drange in der Religion genugzutun, wenn wir sie 
selbst auf den Grund der unantastbarsten Wahrheit zurückzu- 
führen bestrebt sind«. Die Reinigung besteht also darin, daß das 
rein sittliche Moment, das Gemeinschaftsbewußtsein der Menschheit 
kraft ihrer Erhebung zur Idee des Menschentums beherrschend voran- 
tritt, das Dogma als solches aber preisgegeben wird, um einer reinen, 
dem tiefsten Wahrheitsbedürfnis streng genügenden Erfassung des^ 
Ideals Platz zu machen; das Dogma kann nur als sinnbildliche Tor- 
stellung seinen Wert behalten. 

Daraus ergeben sich folgende sozialpädagogischen Forderungen. 
Es ist die Pflicht jedes einzelnen, sich nicht von der kirchlichen 
Gemeinschaft zu scheiden, in der er steht, sondern in ihr selbst, auf 
ihre innere Umarbeitung hinzuarbeiten. Man soll zur Kirche dieselbe 
Stellung einnehmen wie zu den andern Formen des Gemeinschafts- 
lebens, die wir auch bei dem heißesten Verlangen nach Erneuerung 
doch solange festzuhalten verpflichtet sind, als neue und bessere 
Formen noch nicht an ihre Stelle getreten sind. Besser ist eine 
niedere Form der Gemeinschaft als Aufhebung der Gemeinschaft 
überhaupt, welche die Bildung neuer Formen nicht fördert, sondern 



150 ^* ^P* ^^3 gegenw. Hauptvertreter d. Bel.-Phil. anf pessimistischer usw. Basis. 

geradezu anmöglich macht. Die Umwandlang selbst ist vor allem 
Sache des Unterrichts. Das Kind nimmt die religiösen Erzählungen 
zunächst einfach als Geschichte, nicht im wissenschaftlichen, sondern 
im naiven Sinne. Stellt es aber die Frage: ist diese Geschichte 
wahre Geschichte oder bloß ein Märchen? — und es soll die Stufe 
-erreichen, wo es die Frage, wenn nicht selber stellt, doch, sobald sie 
aufgeworfen wird, in ihrer ernsten Bedeutung versteht — , so ant- 
worte der Lehrer klar und bestimmt: es ist gutgläubig überliefert 
und angenommen worden. Tausende sind so überzeugt und finden 
in dieser Überzeugung ihre Seligkeit, vielleicht der Lehrer selbst, 
aber — so setze er hinzu ■— es gibt auch viele Gutgläubige, die 
nicht so überzeugt sind, keiner hat daher ein Recht, die Überzeugung, 
daß es so ist, von dir zu verlangen, du wirst, wenn du erst vieles 
andere gelernt hast, dich selbständig zu entscheiden haben, ob du es 
so annehmen willst oder nicht, denn es ist schwer, dann aber ent- 
hülle er als Hauptsache die große sittliche Wahrheit, die in dem Ge- 
lände der Geschichte sich jedenfalls birgt, und mache sie so ein- 
dringlich, als es in seinen Kräften steht. Auf diese Weise erfolgt 
-die größte zur Zeit mögliche Annäherung an das Ideal, die »sicherste 
Vorbereitung jener völligen Humanisierung der Religion«, in der die 
einzige Bedingung liegt, unter der Religion überhaupt ein Recht auf 
Fortexistenz hat. Nicht mit der Religion, mit dem Christentum zu 
brechen, sondern seinen menschlich -sittlichen Reingehalt in seiner 
ganzen Tiefe auszuschöpfen, ihn zum Mittelpunkt der Religion selbst 
^u machen, alles andere an ihr nicht zu verschweigen oder zu 
schelten, aber in zweite Linie zu rücken und als nicht verbindlich 
zu behandeln, — das ist die große Umwandlung, die nötig ist, 
mit der man daher auch endlich einmal praktisch Ernst machen 
sollte! — 

Natorp will die Religion verteidigen, — aber: Gott schütze uns 
vor unsern Freunden, vor unsem Feinden schützen wir uns selbst! 
Daß seine Religion in Wahrheit keine Religion mehr, sondern ein 
reiner Illusionismus ist, bedarf keines Beweises. Natorp faßt Reli- 
gion als eine unerläßliche Toraussetzung der Sittlichkeit, wie sie die 
menschliche Wissenschaft nicht geben kann. Auffallend ist hier zu- 
nächst, daß wir in anderen wichtigen Gebieten nicht ähnlich ver- 
fahren. Wir treiben Wissenschaft, trotzdem wir wissen, daß absolute 
Wissenschaft nicht möglich ist, warum sollten wir nicht ebenso an 
unserer sittlichen Besserung arbeiten können, auch wenn wir niemals 
tibsolut vollkommen würden! Doch zugegeben, daß wahre Sittlichkeit 
ohne Religion nicht möglich ist! Meint Natorp, daß seine Religion 



c. Paxd Natorp. 151 



der Sittlichkeit die erforderliche Grundlage geben kann? Natorp ist 
Neukantianer, er setzt den Kantianisraus als etwas Selbstverständ- 
liches voraus. Damit ist er ein Gegner aller Metaphysik; sie ist, 
und folglich auch die Religion, wissenschaftlich unmöglich. Gleich- 
wohl wird ihre Notwendigkeit in praxi wieder anerkannt, wenn auch 
als bloßes Ideal, zu dem sich das Gemüt erhebt, um im Anschauen 
desselben sein sittliches Wollen zu beleben. Der Widerspruch 
liegt auf der Hand. Wenn den religiösen Ideen ein ausschließlich 
praktischer Wert nur unter Preisgebung ihrer objektiven Wahrheit 
im Sinne der theoretischen Vernunft zuzuerkennen ist, so kann 
ihnen auch dieser praktische Wert nicht verbleiben. Einen prak- 
tischen Wert können sie nur unter Voraussetzung ihrer theoretischen 
Wahrheit behalten, sonst sinken sie zu nichtigen Illusionen herab, 
wie eben Natorps Beligionsauffassung tatsächlich nichts weiter als 
Illusion ist. Nach Natorp ist die Grundlage von Erkenntnis, Wille 
und Phantasie das Gefühl. Da dieses Gefühl etwas Unfaßbares an 
sich hat, erklärt es Natorp für die Quelle der Religion, seine Un- 
endlichkeit wird gewissermaßen zum Unendlichen selbst. Die Er- 
fahrung belehrt uns aber anders; das Unendliche kommt ins Gefühl 
nur herein, wie es auch in das Denken und den Willen kommt, weil 
der Mensch eine Vernunft besitzt als eine Anlage, sich das Ideale 
und Vollkommene, Unendliche und Unfaßbare vorzustellen. Das Ge- 
fühl als solches ist nicht mehr die Wurzel der Religion als das 
Denken und Wollen. Man kann sich alle drei ohne das Unendliche 
vorstellen, aber es ist dem Menschen eigen, nicht bloß im Gefühl, 
sondern auch im Denken und Wollen den Begriff des Unendlichen 
zu haben. Wie aber weder das reine Denken noch das reine Wollen 
an sich zur Religion führen, so auch nicht das bloße Gefühl. Sein 
Inhalt bleibt leer, wenn es alles aufgeben muß^ was es unvermerkt 
geschichüichen Zusammenhängen und einer religiösen Umgebung 
entlehnt hat. Aus eigenem Vermögen gewinnt es keinerlei Gestalt 
und erzeugt keinerlei Inhalt Wenn eine Begründung der Religion 
auf das bloße Denken nüchtern und kraftlos macht, eine Begründung 
auf den Willen zum Subjektivismus führt, so droht sie die auf das 
bloße Gefühl ganz und gar zu zerstören ^ denn sie ist im Grunde 
nichts weiter als ein Versuch, zwischen Sein und Nichtsein ein 
täuschendes Mittelding einzuschieben. Hier hilft nur ein Ausgehen 
von dem Gesamtsein des Geisteslebens aus. Natorp protestiert gegen 
ein Ausscheiden aus den kirchlichen Gemeinschaften, er will die 
Religion auch in der Form der biblischen Geschichten im Unterricht 
festhalten, obwohl er den ganzen Inhalt der kirchlich -biblischen Dog- 



1 52 3. Kap. Die gegenw. Hauptvertreter d. ReL-Phil. auf pessimistischer usw. Basis. 

matik strikt zurückweist. Verträgt sich damit der Satz: »Der höchste 
Ausdruck der Sittlichkeit ist die Wahrheit«, wo doch wohl sicher 
auch die theoretische Wahrheit gemeint ist? Oder soll hier der 
Zweck das Mittel heiligen? Natorps Religion innerhalb der Grenzen 
der Humanität, die mit den historischen Religionen im Prinzip nichts 
mehr gemeinsam hat, nach der Religion die Menschheit selbst als 
Idee, als eine Einheit und Gemeinschaft mit Wissenschaft, Sittlichkeit, 
Kunst und besonderen sozialen Bestrebungen zur Hebung der Ar- 
beiter bedeutet, verlangt notwendig um der Wahrheit willen den 
Austritt aus der Kirchengemeinschaft und als Ersatz des Religions- 
unterrichts in den Schulen den bloßen Moralunterricht. Es hat seinen 
guten Grund, wenn Natorp davon nichts wissen will! Eine Arbeit 
an der innern Umarbeitung der Kirche ist ihm nur möglich durch 
Festhalten an ihr; das aber kann doch für Natorp nur soweit gehen, 
als es mit seinem höchsten sittlichen Satze: »Der höchste Ausdruck der 
Sittlichkeit ist die Wahrheit«, nicht kollidiert; wo die Fundamente 
aufgegeben sind, verlangt die Wahrhaftigkeit ein anderes Handeln. 
Was aber den Ersatz des Religionsunterrichts durch einen rein 
moralischen belangt, so haben Natorp die Erfahrungen Frankreichs 
doch stutzig gemacht. »Die Erfahrungen Frankreichs sind . . . nicht 
sehr ermutigend. Man hat drüben mit der liebenswürdigen Be- 
geisterung, deren unser Nachbarvolk fähig ist, das große Programm 
der Weltlichkeit der öffentlichen Schule durchgeführt. Aber der ein- 
gehende Bericht aus dem Weltausstellungsjahr läßt doch deutlich 
zwischen den Zeilen lesen, daß der Erfolg den gehegten Erwartungen 
nicht entspricht. Die Nation ist von sittlicher Skepsis tief angefressen; 
die optimistische Vorstellung, daß man das Gute nur in seiner so 
überaus liebenswerten Gestalt zu malen braucht, um jedes Franzosen- 
herz zur Begeisterung dafür zu entflammen, hat sich keineswegs be- 
währt. Auch die anerkannt gründliche . . . Belehrung über die 
Fundamente der Sittlichkeit hat nicht verfangen wollen«. Da also 
liegt des Pudels Kern: der fehlende Erfolg! Und doch, wo Natorp 
alles, was wirklich noch Religion ist, leugnet, wo ihm Religion und 
Sittlichkeit in eins zusammenfallen, bleibt schließlich ein anderer 
Weg nicht übrig, da ihm der höchste Ausdruck der Sittlichkeit eben 
die Wahrheit sein soll. Jedenfalls ist Natorps Religionsphilosophie 
nicht geeignet, der Religion als Stütze zu dienen. Wäre die Reli- 
gion nichts weiter als Natorp meint, so hätte sie sich selber längst 
ihr Grab gegraben. 



d. Theobald Ziemer. 15$ 



d. Theobald Ziegler. 

Theobald Ziegler wurde am 9. Februar 1846 zu Göppingen 
in Württemberg geboren, studierte Philosophie und Pädagogik in 
Tübingen, wurde 1871 Gymnasiallehrer in Winterthur und 1876 in 
Baden-Baden, 1882 Privatdozent für Philosophie und Pädagogik in 
Straßburg und 1886 ord. Professor daselbst Seine hervorragendsten 
Werke sind »Lesebuch der Logik« (1875, 2. Aufl. 1881), »Studien 
und Studienköpfe aus der neueren und neuesten Literaturgeschichte« 
(1877), »Geschichte der Ethik« (2 Bände, 1881 ff., 2. Aufl. 1892), 
»Sittliches Sein und sittliches Werden« (1. und 2. Aufl. 1890, ins 
Englische übersetzt 1892, ins Russische 1895), »Die soziale Frage 
eine sittliche Pi'age« (1891, 6. Aufl. 1899), »Die Fragen der Schul- 
reform« (1891), »Das Gefühl« (1893, 7. Aufl. 1898), »Religion und 
Religionen« (1893), »Fr. Th. Vischer« (1893), »Geschichte der Päda- 
gogik« (in Baumeisters Erziehungs- und Unterrichtslehre für höhere 
Schulen, 1. Band, 1895, 2. Aufl. 1904), »Die geistigen und sozialen 
Strömungen des 19. Jahrhunderts« (1898, 2. Aufl. 1901), »Friedrich 
Nietzsche« (1900), »Der deutsche Student am Ende des 19. Jahr- 
hunderts« (1895, 9. Aufl. 1904), »Allgemeine Pädagogik« (1901, 2. 
Aufl. 1905) und »Schiller« (1905). 

Ziegler sieht die eigentliche Quelle und Werkstätte der Religion 
im Gefühlsleben, während er das »Indenvordergrundrücken« des Sitt- 
lichen als eines notwendigen Ingrediens der Religion entschieden ab- 
lehnt. Er leugnet nicht, daß zwischen Religion und Sittlichkeit engere 
Zusammenhänge bestehen: in erster Linie historische, sofern die 
Sittlichkeit unter den Menschen vielfach im religiösen Gewände groß 
geworden und ebenso das Religiöse durch das Sittliche gehoben und 
gereinigt ist, und fürs zweite psychologische, da ja der Mensch nicht 
in isolierte und voneinander getrennte Schubfächer zerfällt und daher 



seine Religiosität notwendiger Weise seine SitÜichkeit nützlich oder 
schädlich beeinflussen und ebenso seine Sittlichkeit das religiöse Ele- 
ment läutern oder einengen wird, — daß die »ethischen Modernen« 
namentlich jenen immer noch fortdauernden historischen Zusammen- 
hang ignorieren und sich anstellen, als, könnte er von heute zu morgen 
beseitigt und die religionslose Moral von Ministeriumswegen dekretiert 
werden, macht gerade in Deutschland, wo man historische Zusammen- 
hänge besonders zu achten pflegt, ihre Position zu einer schwachen 
und aussichtslosen — , und auch im Wesen der Religion sieht er 
Anknüpfungspunkte für das SitÜiche: Das Gefühl persönlicher Be- 
ziehung führt notwendig zu sittlichen Gefühlen und wird wenigstens 



154 3. Kap. Die gegenw. Haupivertreter d. ReL-Fhil. auf pessimistisoher usw. Basis. 

leicht in ein sittliches Verhältnis übergehen, — aber was Ziegler be- 
streitet, ist das, daß der Anfang der Religion mit der ersten Ent- 
wicklung des Sittlichen im Menschen zusammenfalle oder das Sittliche 
das Prinzip selbst sei, das von Anfang an den Menschen zur Religion 
getrieben habe, daß somit die Grundlage des religiösen Glaubens das 
unbedingte Pflichtbewußtsein sei. Die Religion ist wesentlich Gefühl. 
Dieses Gefühl ist kein angeborenes Gefühl des Unendlichen; es 
wacht vielmehr erst bei ganz bestimmten Anlässen innerhalb des be- 
wußten Lebens auf. Diese Anlässe sind nicht notwendig sittlicher 
Natur, sie können auch Natureindrücke ästhetischer oder intellek- 
tueller Art oder sonstige individuelle Erlebnisse, persönliche Glücks- 
oder Unglücksfälle sein, so daß darum die Religion von Haus aus 
mit dem Sittlichen nicht notwendig zusammenfällt, sie kann un- 
abhängig von ihm bestehen, wie sich umgekehrt das Sittliche als 
ein Soziales mit dem religiösen Gefühl vielfach erst nachträglich 
verbindet. 

Wenn so Ziegler das Wesen der Religion im Gefühl erblickt, 
so ist ihm damit freilich der Glaube an eine sittliche Weltordnung 
noch nicht verbunden. Zunächst würde ihm das Recht dieses Glau- 
bens für das Recht des religiösen Glaubens an und für sich nichts 
beweisen: der Dichter des Hieb war religiös und konnte doch an 
eine sittliche Weltordnung nicht glauben. Aber auch abgesehen da- 
von ist das Sittliche etwas rein Menschliches, Soziales, es ist ein 
Produkt der Entwicklung, entstanden aus der Wechselwirkung der 
menschlichen Triebe und der vernünftigen Überlegung, woraus resul- 
tiert, daß es ein unbedingt Sittliches nicht gibt; das Sittliche be- 
stimmt die Gesellschaft: gut ist, was dieser für gut gilt, d. h. das 
ihr Nützliche. Innerhalb der menschlichen Gesellschaft erkennt Ziegler 
darum dem Pessimismus gegenüber zwar eine sittliche Weltordnung 
als herrschend an: das Gute muß siegen, nicht irgend einmal ab- 
solut und definitiv, sondern immer wieder neu; das liegt im Wesen 
des Guten als eines Sozialen und des Bösen als eines Egoistischen 
und Antisozialen und in der Art, wie sich das Sittliche in der Ge- 
sellschaft herausgebildet hat und durchsetzt Daß aber auch die 
Natur dem Sittlichen zugerichtet, sozusagen dafür prädestiniert sei, 
das ist eine metaphysische Hypothese über den Weltgrund, die über- 
dies mit der Zweckmäßigkeit innerhalb der Natur nicht identisch ist* 

Der Ausgangspunkt der Religionsphilosophie ist kein vorher fest- 
zustellender Norm- oder Idealbegriff, überhaupt kein Begriff, sondern 
ein typisches Beispiel, an dem sie die konstitutiven Elemente des 
religiösen Lebens und Erlebens zu gewinnen sucht. Dieses typische 



d. Theobold Ziegler. 155 



Beispiel ist für Ziegler wegen seiner Zagehörigkeit zur christlichen 
Kirche die christliche Religion, ist für den Juden die Religion des 
Alten Testaments, usw. Das ist keine Befangenheit, sondern ein ganz 
Natürliches: gerade wenn und weil die Religion Empfinden und 
Fühlen ist, muß der, der davon redet, sie erfahren, selbst erlebt und 
empfunden haben, und das hat er natürlich nur in der Form seiner 
eigenen Religion getan und tun können, und darum hat er auch für 
die Erlebnisse seiner Glaubensgenossen das erste und eindringendste 
Verständnis: neben dem eigenen Empfinden steht hier das Mit- 
empfinden und das Anempfinden« , — aber der Religionsphilosoph 
muß dann auch unbefangen genug sein, um nicht zu meinen, daß die 
Religion, in der er lebt, und von der er ausgeht, die einzige und 
einzig wahre sei, und auch unbefangen genug, um dasjenige von 
historischem Wissen, das ihm als ein möglichst reiches zu Gebote ' 
stehen muß, zur Ergänzung und zur Eontrolle heranzuziehen. Dabei 
ist es dann allerdings nicht genug, das Wesen der Religion im Ge- 
fühl festzustellen, vielmehr gilt es nun, das Religiöse von diesem 
Quellpunkt aus in seine Yerzweigungen im Vorstellen und Handeln 
zu verfolgen. Die Frage ist hier vor allem die, ob demjenigen, was 
der religiöse Mensch glaubt, die Wirklichkeit entspricht, oder ob, 
wenn die Glaubensvorstellungen Erzeugnisse der dichtenden Phantasie 
sind, wie Ziegler sie faßt, nicht alles nur Illusion und Täuschung 
ist Ziegler dekretiert hier zunächst die Unfähigkeit der Philosophie, 
das Dasein eines höchsten Wesens und noch vielmehr das Fortleben 
der Seele nach dem Tode wissenschaftlich zu beweisen; auch das 
Kantsche Auskunftsmittel, es seien keine beweisbaren Wahrheiten, 
aber notwendige Postulate, ist keines; die ganze Postulatenlehre als 
solche bringt uns keinen Schritt weiter; an Postulate glaubt man, 
wir aber fragen, ob sich der Glaube erweisen, d. h. in Wissen ver- 
wandeln lasse. »Mit der Philosophie ist es nichts! sie kann das 
Recht der Religionsvorstellungen nicht erweisen, ihren Anspruch 
auf objektive Wahrheit nicht erhärten, sie führt statt vorwärts zum 
Wissen nur rückwärts zum hypothetischen Fürmöglichhalten. Aber 
es gibt vielleicht noch einen andern Weg, vielleicht erweist sich die 
Religion selbst als wahr. Hier zeigen sich zwei Wege, die Wahrheit 
der Glaubensvorsteilungen zu beweisen, einmal aus dem Wesen der 
Religion im allgemeinen oder aus spezieller Offenbarung. Allein das 
erste setzt wie alle Gottesbeweise das zu Erweisende schon voraus: 
vom Gottesbewußtsein kommt man nur dann über das Bewußtsein 
hinaus, wenn man einen Gott außerhalb desselben voraussetzt und 
annimmt, daß durch ihn die Idee von außen in dasselbe hereinge- 



156 3* ^^P* ^io gegen w. Hauptyertreter d. Rel.-PhiL auf pessimistischer usw. Basis. 

kommen sei. Es ist der Sprang vom schlechthinigen Abhängigkeits- 
gefühl zum Gefühl der Abhängigkeit von einem Schlechthinigen oder 
Absoluten. Nicht anders steht es mit dem Offenbarungsbeweis. Auch 
hierfür stehen zwei Wege offen, der historische und der subjektive. 
Dort beruft man sich darauf, daß sich in irgend einer bestimmten 
Religion Gott geoffenbart habe, und damit sei seine Realität un- 
mittelbar erwiesen. Aber woher wissen wir, daß diese Offenbarung 
eine göttliche ist? So ist man genötigt, erst die Offenbarung als gött- 
liche zu erweisen, und beruft sich hierfür bald auf einzelne Taten 
und Geschehnisse als Wunder und Zeichen, bald auf die göttliche 
Führung eines Volkes oder einer Kirche im allgemeinen. Über 
Wunder zu sprechen hält Ziegler eigentlich nicht für nötig: »seit 
Lessing wissen wir, daß man Wunder glauben muß, daß sie also den 
Glauben nicht beweisen können, seit Goethe, daß das Wunder des 
Glaubens liebstes Kind ist, also Glaube nicht wieder auf Wunder ge- 
gründet werden kann«. Was aber die göttliche Führung anlangt, 
so »ist es auch damit nicht anders: gerade das ist religiös, die 
Schicksale eines Volkes oder eines einzelnen so fromm als gottge- 
wollte und gottgesandte zu deuten, allüberall den Finger Gottes zu 
sehen; allein aber darum handelt es sich ja, ob solche fromme Deu- 
tung objektiv richtig und berechtigt sei; die Deutung kann doch 
nicht selbst ihre Richtigkeit erweisen, sondern sie muß erst bewiesen 
oder sie muß geglaubt werden«. So bleibt nur noch die subjektive 
Fassung des Offenbarungsbeweises, sei es als Offenbarungsbewußtsein 
der Religionsstifter oder als eigene persönliche Erfahrung. Allein 
auch den Religionsstiftern stehen wir »lediglich im Verhältnis dea 
Glaubens gegenüber, ob wir ihren Selbstzeugnissen Glauben schenken 
wollen, und dabei ist nicht nur die Deutung streitig, sondern auch 
die Möglichkeit bewußter Täuschung oder vorhandener Selbsttäuschung 
nicht ausgeschlossen. Und so bleibt schließlich nur das Erleben 
eigener Offenbarung übrig, welche sich in bestimmten Gefühlen und 
daran sich anknüpfenden Vorstellungen äußert Aber auch diese 
verlaufen durchaus innerhalb des Bewußtseins, ihr Projiziertwerden 
auf ein Objekt außerhalb des Bewußtseins ist unberechtigt. So endigt 
jeder Versuch, die Realität der Glaubens Vorstellungen zu erhärten,, 
beim Nichts; Zieglers Religionsphilosophie verläuft schließlich in Posi- 
tivismus und Relativismus. — 

Wir haben schon bei Natorp gezeigt, daß eine Basierung der 
Religion auf das Gefühl sowie ihre Identifizierung mit dem Gefühl 
unhaltbar ist. Die Religion* wird hier schließlich eine bloße Aus- 
strahlung subjektiv menschlicher Begehrungen und Vorstellungen, 



d. Theobald Ziegler. 157 



ihre ganze Welt sinkt zu einer Traumwelt herab. Zieglers fieligion 
ist in Wahrheit keine Religion, sondern gefällige Gefühlsschwärmerei. 
Fragen wir uns, um was es sich bei der Religion handelt, so lautet 
unsere Antwort: um die Wirklichkeit eines absoluten Geisteslebens 
in unserem Kreise, dessen Träger die Gottheit ist. Augenscheinlich 
läßt sich eine solche Wirklichkeit nicht dartun aus einzelnen Daten, 
sei es der Natur, sei es der Geschichte, sie läßt sich überhaupt nicht 
dartun von der Welt her, sie kann nur innerhalb des Lebensprozesses 
selbst als seine eigene Begründung und Fortbildung aufgewiesen werden. 
Dabei handelt es sich aber nicht darum, neue Dinge zu finden, als 
in den Dingen, die wir kennen. Neues zu sehen, nicht sowohl darum, 
ein fertiges Ergebnis, sondern eine in Fluß befindliche Bewegung zu 
ergreifen; es gilt nicht, eine neben der unsrigen gelegene Welt zu 
entdecken, sondern uns der Tiefe der Wirklichkeit, der dem Wesen 
nach uns nächsten Welt zu versichern, von der aus dann allerdings 
jene zur zweiten Welt herabsinkt. Das Entscheidende dafür aber ist 
ein Vordringen des Lebens selbst, die Tat muß hier dem Erweise 
vorangehen, den Haupterweis der Religion liefert die Wirklichkeit 
des von ihr vertretenen Lebens. Hier handelt es sich um die Er- 
greifung des Geisteslebens als eines Ganzen, Selbständigen, Weltüber- 
legenen und um das eigene Stellungnehmen in diesem Geistesleben. 
Was ist es nun, das den Menschen dahin treibt? Nichts anderes als 
ein Anerkennen des Geisteslebens als seines eigenen Wesens; denn 
sobald das geschieht und wir damit ein inneres Verhältnis zur Welt 
und zu uns selbst gewinnen, kann der Mensch das Geistesleben gar 
nicht anders als ein Ganzes und Selbständiges fassen und muß er 
zugleich seines Gegensatzes und seiner Überlegenheit gegen die 
nächste Welt inne werden. Daß automes Geistesleben im Menschen 
und in der Welt aufkommt, daß wir darin ein Selbst zu finden und 
eine neue Welt in Sammlung und Scheidung auszubilden vermögen, 
ist und bleibt der entscheidende Hauptbeweis. Dieser Beweis aber 
bedarf keiner umständlichen Vermittlung, er wird in jeder Seele un- 
mittelbar durch die Möglichkeit eines Heraustretens aus den Welt- 
verkettungen, einer Erhebung zu autonomem, persönlichem Leben ge- 
führt und gewinnt damit eine unbedingte Gewißheit. Erst an zweiter 
Stelle läßt sich eine Bestätigung durch den Nachweis vollziehen, daß 
das Geistesleben auch in seiner Verzweigung unhaltbar wird, wenn 
es nicht als Ganzes in absolutem Leben wurzelt, daß es keine Kunst 
und keine Wissenschaft, kein Recht und keine Moral gibt ohne die 
Grundwahrheit, die in der Religion zum Ausdruck gelangt. Ein 
Ganzes ist das Geistesleben nicht in seinem unmittelbaren Dasein, 



158 3. Kap. Die gegenw. Hauptrertreter d. Rel.-PhiL auf pessimistischer usw. Basis. 

sondern nur als eine überlegene Ordnung; ist es aber kein Ganzes, 
so bricht es unvermeidlich auch an der einzelnen Stelle zusammen. 
Damit wird aller Tatbestand des Geisteslebens ein Zeugnis für die 
Wahrheit der Beligion. 

Was im besondem die christliche Religion betrifft, so hält 
Ziegler es mindestens für sehr fraglich, ob sie heute neben der 
modernen Weltanschauung noch bestehen kann. Wir verweisen als 
Antwort darauf auf unser Schlußkapitel. 



Schluß. 

Das Christentum und die Gegenwart 

(Nach B. Euckens Wahrheitsgehalt der Religion.) 

Die voraufgehende Erörterung hat bewiesen, daß die fieligion 
kein Wahn ist, sondern eine Eealität Die ersten Forscher der Gegen- 
wart sind neu für ihren Wahrheitsgehalt eingetreten und haben den- 
selben für alle Zeit sicher gestellt Ein tieferer Blick in die Natur- 
wissenschaft hinein würde dasselbe beweisen, ein sichtbarer Ruck 
nach rechts ist auch hier im vollsten Gange. Wir weisen nur auf 
Forscher wie Reinke und Donnert, deren zahlreiche Werke hierfür 
das beste Zeugnis ablegen. Wie steht es nun aber des näheren mit 
dem Christentum und seiner zeitgeschichtlichen Form? Es gilt eine 
Erörterung der Frage, wie tief es von den unleugbaren Wandlungen 
der Kultur und des Menschenlebens getroffen wird, ob es sich ihnen 
gegenüber siegreich zu behaupten vermag, und was eine solche Be- 
hauptung an neuer Arbeit verlangt. Wir halten uns bei der Beant- 
wortung dieser Frage an R. Euckens »Wahrheitsgehalt der Religion«. 

Das Christentum ist Erlösungsreligion, nicht Gesetzesreligion. 
Darin liegt die Anerkennung eines schroffen Kontrastes zwischen dem 
wirklichen und einem notwendigen Stande, es liegt darin die Be- 
hauptung des Unvermögens, aus eigener Kraft, etwa durch eine all- 
mähliche Verbesserung der vorgefundenen Lage, die ersehnte Höhe 
zu erreichen und damit die Forderung einer Umwandlung und Er- 
höhung durch ein unmittelbares Eintreten des Göttlichen. Dieser Be- 
hauptung entspricht durchaus die allgemeine Erfahrung des Geistes- 
lebens, sofern auch dieses die ihm notwendige Selbständigkeit aus 
der Welt der Erfahrung nicht finden kann und alle echte Geistigkeit 
ein Bruch mit dieser Welt sowie das Wirken einer neuen Welt in 
sich trägt. Das gilt schon von dem Ganzen des Geisteslebens, sobald 



1 60 Schluß. 



es von einer bloßen Dekorationskultur zu echter Wahrheit aufstrebt; 
es verstärkt sich weiter durch die innere Verwicklung eben dieses 
Strebens, nur die Eröffnung einer neuen Stufe kann hier ein Scheitern 
aller unsäglichen Arbeit verhüten; diese neue Stufe stellt die Um- 
wälzung des menschlichen Daseins, die Ohnmacht des bloßen Menschen, 
die Gegenwart einer überlegenen Welt noch weit anschaulicher und 
eindringlicher vor Augen. Die Erlösungsreligion bringt nur zur 
vollen Aussprache und greifbaren Gestalt, was als eine Forderung 
und Tatsache durch das ganze Leben geht. 

Erlösungsreligionen sind neben dem Christentum auch der Brah- 
manismus und Buddhismus. Und doch welch Unterschied zwischen 
diesen und jenem! Hier gilt es eine Befreiung vom Schein, im Christen- 
tum eine Überwindung des Bösen; dort dünkt der Grundbestand der 
Welt, hier nur seine Verkehrung als schlecht; dort ist der Lebens- 
drang völlig auszurotten, hier ist er zu veredeln und umzubilden. 
Da dort keine höhere Welt positiver Art aufsteigt, so muß das Leben 
auf einen endgültigen Ruhestand kommen, während es auf christlichem 
Boden immer neu über sich hinaustreibt. Aber noch mehr. Das 
Christentum hat den Mut gefunden, den Biesenkampf wider alle 
Widerstände des Weltlebens aufzunehmen, ein Mut, der das alleinige 
Mittel bildet, das menschliche Leben geistig aufrecht zu erhalten und 
ihm einen Sinn und Wert zu gewinnen. Seine Hauptidee bildet die 
Idee des Reiches Gottes, das nicht bloß den Individuen in einer ge- 
gebenen Welt helfen, sondern einen neuen Weltbestand herbeiführen 
will, wodurch das Leben eine unermeßliche Aufgabe und weltüber- 
legene Größe gewinnt Das Christentum hat den Kern aller Religion, 
die Einigung von Menschlichem und Göttlichem, am tiefsten erfaßt 
und dieses Problem bis in die letzten Tiefen verfolgt, indem es nicht 
nur einzelne Beziehungen herstellt, sondern eine volle Einigung von 
Wesen zu Wesen vertritt und die Unzerstörbarkeit des Göttlichen 
durch alle Verkehrung des menschlichen Standes tapfer behauptet. 
Alle Verkümmerung dieser Idee ^urch unglückliche dogmatische 
Fassungen kann nicht verdunkeln, daß hier die religiöse Gestaltung 
einer Wahrheit vorliegt, welche die unerläßliche Voraussetzung alles 
und jedes Wahrheitsstrebens ist, ohne die unser Leben alle Möglich- 
keit eines Haltes verliert Ebenso geht' durch das Christentum eine 
warme Liebe zur Menschheit, es will jeden einzelnen retten, es gibt 
dem Menschen einen Wert jenseit aller besonderen Leistung, es hat 
der reinen Innerlichkeit der Seele erst zu voller Anerkennung ver- 
helfen; aber es hat zugleich auch durch die Anknüpfung des Mensch- 
lichen an eine göttliche und ewige Ordnung über alles Bloßmensch- 



Das Christentam tuid die Gegenwart ISl 

liehe mit seiner bürgerlichen Ordnung und seinen sozialen Interessen 
sicher und weit hinausgehoben. Wesentlich ist dem Christentum die 
Versetzung des Menschen in eine neue Welt, es hat die Grundüber- 
zeugung des Piatonismus von dem Bestehen einer ewigen Ordnung 
gegenüber der zeitlichen Welt einem großen Teile der Menschheit 
eingepflanzt und dem Streben einen kräftigen Antrieb dahin gegeben. 
Aber es hat, indem es das Ewige von der Zeit schied, es wieder in 
sie eintreten lassen und durch seine Gegenwart allererst wie der 
ganzen Menschheit, so auch jeder einzelnen Seele eine gründliche 
innere Wandlung vorgehalten und ihnen damit eine wahrhaftige Ge- 
schichte eröffnet. Durchgängig trifft zweierlei zusammen, um den 
Lebensprozeß des Christentums eigentümlich und bedeutend zu machen: 
eine Fassung des Geisteslebens und eine Würdigung des vorliegenden 
Weltstandes. Aus dem Zusammentreffen beider erwächst ein harter 
Widerspruch und eine unermeßliche Bewegung: was von innen her 
wirklich und notwendig ist, das findet sich zurückgesetzt und von 
der umgebenden Wirklichkeit verworfen. Dadurch entsteht ein ge- 
waltiges Ringen, und es ist das Große im Christentum, daß es die Gegen- 
sätze des Lebens in sich aufzunehmen und einem bestimmten Ziele 
entgegenzuführen vermag. So ist das Christentum nicht eine besondere 
Erscheinung neben anderen, sondern es ist der Hauptkampf um eine^ 
Seele des Menschenlebens; es hat auf dem Gebiete der Religion und 
damit in prinzipiellster Fassung zu einer geschichtlichen Verwirk- 
lichung gebracht, was echtes Geistesleben nach seiner Gesamtart als 
unerläßlich forden muß. Das Christentum ist ein sicherer Weg zur 
Wahrheit, ein Erwecket unmittelbaren Lebens, eine Vergegen- 
wärtigung einer ewigen Ordnung, der aller Wandel der Zeit nichts 
anhaben kann. 

Und dieser Grundtypus des Lebens behält nun auch der Kultur 
gegenüber seine Wahrheit. Wohl wird die überkommene Existenz- 
form des Christentums nur eine bloße Form sein, die sich den Ver- 
hältnissen entsprechend ändern kann und muß, seine Substanz aber 
wird allen Wandel überdauern. Die gewaltige Erweiterung, welche 
das Ganze der Neuzeit dem Leben gebracht hat, braucht sich nicht 
feindlich gegen das Christentum zu wenden, sie läßt sich von ihm 
aneignen und kann es sogar verstärken, wenn anders es sich auf die 
Tiefe seines eigenen Wesens besinnt, in ihr befestigt und zugleich den 
Mut zu neuem Schaffen findet. 

Das greifbarste Ergebnis der neueren Forschung ist die uner- 
meßliche Ausdehnung des Naturbildes. Das kehrt seine Spitze un- 
zweifelhaft gegen die kirchliche Form des Christentums, sofern diese 

Siebert, Koligionsphilosophie. 11 



162 Schluß. 

die Erde als den Mittelpunkt des Weltalls behandelt und unser Tun 
über das Schicksal des Alls entscheiden läßt; die geo- und anthropo- 
zentrische Weltauffassung gehört der Vergangenheit. Gleichwohl wird 
dadurch die geistige Substanz des Christentums nicht im mindesten 
berührt; denn warum sollte sich die Erweiterung auf die Natur be- 
schränken, warum solJte nicht auch das Geistige die Welt durchdringen 
und umspannen? Ja, es muß das, wenn anders jenes Gewebe der Be- 
ziehungen von Einzelkräften, als das sich die Natur wissenschaftlich 
darstellt, nicht die letzte Tiefe der Wirklichkeit bilden kann, sondern 
diese nur in einem Beisichselbstsein der Dinge zu suchen ist, wie es 
lediglich das Geistesleben bietet. Mögen wir auf Erden nur einen 
kleinen Ausschnitt davon erfassen, so bleibt dennoch auch in ihm der 
Weltcharakter des Geisteslebens unverkennbar. Dazu hat eine 
wachsende Verinnerlichung des Lebensprozesses immer klarer ge- 
n^acht, daß die Natur nicht die letzte Wirklichkeit selbst, sondern 
nur einen menschlichen Durchblick der Wirklichkeit bedeutet; mehr 
und mehr ist die Natur dem Menschen zur bloßen Umgebung ge- 
worden. Hat der Mensch in der Innerlichkeit des Lebensprozesses 
den archimedischen Punkt gewonnen, so kann ihm alle Handgreiflich- 
keit des sinnlichen Eindrucks nicht die Priorität des Geistes gefährden; 
der irdische Beweis aber verliert in aller Einengung nicht seine Be- 
deutung, wenn er nun als eine Stätte erscheint, wo um Weltprobleme 
gekämpft und an der Erhebung dieses Ausschnitts der Wirklichkeit 
auf eine höhere Stufe gearbeitet wird. Klein gegenüber der Unend- 
lichkeit, wird er groß durch das Weltleben, das sich auch bei ihm 
durch die Wendung zum Geist entfaltet. 

Die Natur ist aber nicht bloß äußerlich erweitert, sie ist auch 
innerlich verändert, sie hat sich als ein zusammenhängendes Kausal- 
gewebe unter einfachen Gesetzen erwiesen, sie hat damit eine Selb- 
ständigkeit erlangt, aus der sie jeden fremden Einfluß als ein unge- 
bührliches Eingreifen abweist. Damit scheint alle Abhängigkeit vom 
Geistesleben aufgehoben, damit wird namentlich alles sinnliche Wunder, 
sofern darunter ein Durchbrechen der von Gott selbst gesetzten 
Naturgesetze verstanden wird, abgelehnt. Dabei bleibt aber das Wunder 
des Geisteslebens selbst bestehen, sofern es mit seinem weltbildenden 
Schaffen und seiner Lisichselbstvertiefung die unmittelbare Gegenwart 
des absoluten Lebens ebenso entschieden verlangt wie sicher erweist. 
Auch die Natur ist kein seelenloser Mechanismus. Der Mechanismus selbst 
hat Voraussetzungen, die er nicht zu erklären vermag, und die über ihn 
hinausweisen: so die Gesetzlichkeit, die Wechselwirkung, das Aufsteigen 
der Formen und Lebewesen aus dem scheinbar zerstreuten und 



Das Christentam und die Gegenwart« 263^ 




seelenlosen Getriebe. So gewiß es falsch ist, das alles ohne weiteres 
religiös zu deuten, eine Tiefe der Wirklichkeit wird unverkennbar;, 
auch daß das Ganze der Natur schließlich dem Ganzen des Geistes 
diene, daran wird die Religion trotz aller Unmöglichkeit einer näheren 
Durchführung festhalten. 

Nicht minder stößt die neuere Naturwissenschaft mit dem über- 
kommenen Christentum in der Entwicklungslehre zusammen. Daß 
jetzt der wissenschaftlichen Forschung die Welt in Kuß gekommen 
ist, daß aus dem Nebeneinander der Gestalten ein Nacheinander ge- 
worden ist, das widerspricht allerdings der herkömmlichen Schöpfungs- 
lehre ebenso wie die neuere Astronomie der älteren geozentrischen. 
Denkweise. Gleichwohl besagt auch das keine Gefährdung der Reli- 
gion. Wenn ein Verstehen der Welt aus der Entwicklung soviel 
bedeutet, daß der ganze Weltinhalt ohne alles von innen her wirk- 
same Gesetz lediglich aus dem zufälligen Zusammentreffen der Ele- 
mente hervorgegangen, daß alles Höhere lediglich ein Erzeugnis des^ 
Niederen sei und daher aller Selbständigkeit, alles eigenen Wertes 
entbehre, so wäre das allerdings ein Sieg des Mechanismus und 
Materialismus, der alle und jede Religion aufhebt. Besagt aber die 
Entwicklung vielmehr dieses, daß die Erreichung der höheren Stufen 
erst nach Durchlaufung der niederen möglich wird, daß in jenen daa 
Ganze eine neue Eröffnung vollzieht, daß dabei alle Bewegung die^ 
Grundlage einer zeitlosen Ordnung hat, und der Fortgang wohl in 
der Zeit, aber nicht aus der Zeit geschieht, wie es allein richtig ist, 
so wächst damit sowohl die Tiefe der Wirklichkeit als auch die 
lebendige Gegenwart einer höheren Ordnung. Den bloßen Mechanis- 
mus eines Werdens durch äußere Anpassung, den regellosen Fluß 
der Formen, das Überwiegen einer dem blinden Chaos vertrauenden 
Selektionstheorie sehen wir auch in der Naturwissenschaft zugunsten 
einer innem Gesetzmäßigkeit zeitloser Art mehr und mehr zurück- 
gedrängt. Die Religion aber kann ihre Überzeugung nicht von den 
Strömungen der \aturforschung abhängig machen, ihr erweist das 
Hervortreten des Geisteslebens selbst als einer neuen Stufe gegen- 
über aller Natur und die Bildung einer neuen Stufe innerhalb des 
Geisteslebens unwidersprechlich, daß das Höhere nicht ein bloßea 
Mehr und eine mechanische Konsequenz des Niederen ist, sondern 
daß in ihm eine unmittelbare Erweisung des absoluten Lebens erfolgL 
Dadurch wird aber die Entwicklung ein Zeugnis nicht gegen, sondera 
für die Religion. Die Welt muß auf Vernunft gegründet sein, wenn 
sie Vernunft erzeugen will. 

Unmittelbarer noch als die Veränderungen des Naturbildes be- 
ll* 



164 Schluß. 

drohen das Christentum Wandlungen im menschlichen Leben und 
Tun. Auch hier aber kommen wir zu dem Ergebnis, daß ein Zu- 
sammenstoß nicht sowohl mit dem Tatbestande jener Bewegung 
entsteht, als vielmehr mit problematischen Tendenzen, die diesen Tat- 
bestand umranken und oft bis zu scheinbarer üntrennbarkeit mit ihm 
verwachsen. 

Ein Gegensatz entsteht zunächst durch das Aufkommen einer 
geschichtlichen Betrachtung und Behandlung des Daseins; sie bringt 
die Dinge in Fluß und enthüllt eine unablässige Veränderung. Die 
Religion dagegen, das Werk Gottes, in den Strom der Zeit hinein- 
iziehen und ihren Bestand dem Wechsel der menschlichen Lagen an- 
passen, d. h. sie von Grund aus zerstören. Eine Religion auf bloße 
Zeit, »auf bloße Kündigung«, ist keine Religion. Der Neuzeit ist ein 
weites Auseinandertreten von Wahrheit des Geisteslebens und un- 
mittelbarer Lage des Menschen charakteristisch. Wenn auch ein 
Ewiges im Grund unseres Lebens wirkt, es will zu vollem Besitz erst 
mühsam erkämpft und gewonnen sein; sicher und fest in sich selbst, 
ist es uns zugleich eine unablässige Aufgabe. Das Christentum kann 
diese Bewegung in sich aufnehmen, wenn es nur zwischen der an 
•eine besondere Zeitlage gebundenen Existenzform und seiner zeit- 
losen, eben deshalb aber durch alle Zeiten wirksamen Substanz 
schärfer scheidet, wenn es den ihm eigentümlichen Lebensprozeß, 
seine neue in Gott gegründete Wirklichkeit kräftiger herausarbeitet 
und sie von aller bloßmenschlichen Gestaltung in Lehren und Werken, 
in Einrichtungen und Empfindungen deutlicher abhebt. Alle echte Kultur 
hat ein neues Wesen zu bilden, es steht in ihr ein Vordringen von 
aller bloßen Zeit zu einer zeitlosen Ordnung, vom bloßen Menschen 
zu weltumspannender Geistigkeit in Frage. Dementsprechend darf 
die Religion die Empfänglichkeit für das Göttliche nicht dadurch er- 
zeugen wollen, daß sie das menschliche Leben herabdrückt und mög- 
lichst passiv gestaltet; sie muß es vielmehr in höchste Aktivität ver- 
setzen, nur daß diese erst aus völliger Umwandlung erzeugte Aktivität 
grundverschieden von aller bloßnatürlichen Kraftentfaltung bleibt 
Und der Kultur gegenüber muß die Religion allerdings das Recht 
der Prüfung und Sichtung behaupten, weil sie aus den tiefsten 
Quellen des Lebens schöpft und sich am meisten des ganzen Menschen 
annimmt, weil sie am ehesten einen festen Maßstab für alles Unter- 
nehmen des Menschen bietet. Statt mit den wechselnden Strömungen 
der Kultur dahinzutreiben, muß die Religion mit ihrer zeitlosen Wahr- 
heit dem übrigen Leben einen sichern Halt gewähren, muß gegen- 
wärtig halten, daß alle Kultur nur eine Erscheinung des Geisteslebens, 



Das Christentum und die Gegenwart. 165 

nicht das Geistesleben selbst, und daher nur eine von verschiedenen 
Möglichkeiten bedeutet, die sich verändert haben und weiter ver- 
ändern werden. Dabei hat aber die Religion nicht bloß zu geben^ 
sondern auch zu empfangen, denn der Grundbestand, in dem sie eina 
sichere Überlegenheit hat, kommt für den Menschen erst zu voller 
"Wirkung, indem er eine angemessene Existenzform findet, und das 
ist nur möglich mit Hilfe der Kultur. Die Religion darf darum 
nichts bringen, was neben dem übrigen Leben hergeht, sich ihm 
gegenüberstellt und alle Beschäftigung mit ihm als etwas Gleich- 
gültiges behandelt, sie muß nicht als ein Sondergebiet, sondern ala 
die eigene Tiefe des gesamten Lebens verstanden werden, worin ea 
erst seine volle Kraft und Bewußtheit erreicht. Bei solcher Fassung^ 
wird die Religion nicht bloß darum bemüht sein, die einzelnen Seelen 
der Wahrheit zu gewinnen, den Individuen eine schon vorhandene 
Geisteswelt zuzuführen, sondern mehr noch darum, ein Ganzes des 
Geisteslebens innerhalb des menschlichen Bereiches gegenüber den 
unermeßlichen Hemmungen und Verkehrungen einer gleichgültigen 
oder feindlichen Welt aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Wir 
bedürfen einer Religion des gesamten Geisteslebens, nicht der bloßen. 
Lidividuen oder auch ihrer Summierung, wie das keine Religion nach- 
drücklicher verlangt als die, welche das Reich Gottes zu ihrem Zentral- 
begriff macht — 

Die weltgeschichtliche Bewegung offenbart die eingreifendsten 
Wandlungen auf dem eigenen Gebiete des Geisteslebens. Aber nirgends^ 
zeigt sich deutlicher als hier, daß diese Wandlungen zwar vielfach 
gegen die überkommene Existenzform des Christentums gehen, daß 
sie aber, richtig verstanden und mit voller Energie durchgeführt, sein 
innerstes Wesen weiter zu entwickeln und für das weltgeschichtliche^ 
Leben erst recht zu erschließen versprechen. Es handelt sich aber 
vornehmlich um drei Scheidungen und Befreiungen des Geisteslebens^ 
um sein überlegenwerden über die Sinnlichkeit, über die bloße Ge- 
schichte und über die kleinmenschliche Lebensform. 

Das Geistesleben hat auf dem Boden der Neuzeit eine Selbständigkeit 
gegenüber allem sinnlichen Dasein erlangt durch eine stärkere Aufbietung 
und Anspannung der Selbsttätigkeit, die keine stille Hingebung an dia 
Umgebung duldete, sondern allem Empfangen ein Wirken vorangehen 
ließ und danach bemaß, die auch das Grundgefüge der Welt von innen 
aus entworfen haben wollte. Nach solcher Wandlung kann das Sinn- 
liche nicht mehr einen wesentlichen Bestandteil geistiger Gebilde, sondern 
nur noch eine, wenn auch wertvolle Hülfe und ein, wenn auch 
unentbehrliches Darstellungsmittel bedeuten. Das muß sich auch auf 



166 Schluß. 

die Religion erstrecken; das Sinnliche in ihr, das die greisenhafte 
Stimmung des ausgehenden Altertums wie der kindliche Sinn des 
Mittelalters als zur vollen Realität religiöser Erlebnisse unentbehrlich 
erachtete, wird der zu größerer Selbsttätigkeit erweckten Neuzeit 
magisch und zugleich mit seiner Bindung inneren Lebens an äußere 
Zeichen zu einer unerträglichen Hemmung der Freiheit. Was daraus 
4in Widerspruch gegen die überkommene Ordnung erwächst, das trifft 
vornehmlich den römischen Katholizismus, der in der engen Ver- 
schmelzung von Geistigem und Sinnlichem seine Eigentümlichkeit 
hat und für frühere Zeitlagen seine Stärke hatte, der aber nach Auf- 
kommen jener Bewegung zu größerer Selbsttätigkeit und reinerer 
Oeistigkeit die Menschheit auf einer innerlich überwundenen Lebens- 
stufe festzuhalten droht. Aber auch der Protestantismus, dessen 
innerster Zug gegen jenes Magische geht, hat es keineswegs rein aus- 
geschieden. Was von Resten dieses Magischen im Protestantismus 
verblieben ist, das wirkt um so fremdartiger, als ihm hier die ent- 
sprechende Umgebung fehlt. Wohl fanden und finden noch heute 
viele in jenem Magischen einen subjektiven Halt, wie die Macht des 
Katholizismus erweist, und seine Entfernung mag ihnen eine Er- 
schütterung dünken. Aber sie ist nicht nur eine zwingende Not- 
wendigkeit für den modernen Menschen, sie entspricht auch der 
innersten Art des Christentums, das als Religion reiner Geistigkeit 
auftrat und die Welt unterwarf, das sich in dem Wirken zur Mensch- 
heit wohl zeitweise des Magischen bedienen, aber nicht endgültig 
mit ihm verbinden kann. Freilich darf das Magische nicht fallen, 
ohne daß für den Verlust ein Ersatz geboten wird; das aber kann 
nur in der Weise geschehen, daß das Geistesleben über alle einzelnen 
Lebensäußerungen hinaus sich in einer Wendung gegen sich selbst 
zu einer Gesamttätigkeit vertieft, daß es in Entwicklung eines be- 
.gründenden wie beharrenden Lebens und Seins eine unangreifbare 
Realität gewinnt. Wird nicht in solcher Weise die sinnliche Hand- 
greiflichkeit durch eine Selbstbefestigung des Geisteslebens ersetzt, so 
kann die erstrebte Vergeistigung leicht zu einer Verflüchtigung 
werden, gegen die wieder die mittelalterliche Art ein Recht bekommt 
Auch wird das Sinnliche mit seiner Entfernung aus dem Zentrum 
<ler Religion für ihre Belebung beim Menschen keineswegs über- 
flüssig und nebensächlich. Je mehr sich mit dem Ganzen des Geistes- 
lebens die Religion vertieft, desto mehr rückt sie äußerlich in die 
Feme, desto weniger vermag die Vorstellung sie zu fassen, desto 
notwendiger wird ihr das Bildliche, desto mehr bedarf sie der 
-Hilfe von Phantasie und Kunst. Aber diese unentbehrliche Hilfe 



Das Christentum und die Gegenwart. 167 



wird dann nicht die Sache selbst bedeuten und nicht in sie ein* 
fließen. 

Was sodann die Geschichte anlangt, so wird zunächst der Um- 
stand, daß wir alle Darbietung der Geschichte auf den Boden eines 
unmittelbaren Lebens versetzen und sie von hier aus bemessen 
müssen, mit der überkommenen kirchlichen Form des Christentums 
manchen Konflikt erzeugen. Der Katholizismus wird von diesen Ver- 
wicklungen weniger betroffen, da ihm noch nach Art des Mittelalters 
Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar zusammenfließen und zu- 
gleich die Unterschiede der Zeiten verblassen. Dem Protestantismus 
hingegen war ihre Scheidung und das Zurückgehen auf die ersten 
Anfange wesentlich, seiner Art entspricht es, das Leben immer auf 
diese besondere Epoche zurückzulenken und ihr gemäß zu gestalten. 
Aber noch wesentlicher ist ihm, die Eeligion auf eigenes Leben und 
persönliche Erfahrung zu stellen. Beides aber zugleich durchzuführen, 
das Leben persönlich zu gestalten und es an die Vergangenheit fest 
zu binden, die sich doch nicht unmittelbar erleben läßt, das ist ein 
innerer Widerspruch, der schließlich zur Empfindung kommen und 
dann unerträglich werden muß. Der Protestantismus ist damit in 
Gefahr, die gelehrte Forschung, das historische Wissen über den 
Sinn des Lebens und das Heil der Seele entscheiden zu lassen. Will 
also der Protestantismus seiner Hauptidee treu bleiben, so muß er 
die Geschichte dem persönlichen Leben unterordnen. Die Gegenwart 
zeigt oft ein unsicheres Schwanken des religiösen Lebens zwischen 
Geschichte und Gegenwart, zwischen Autorität und eigener Erregung; 
man will der Unsicherheit der eigenen Überzeugung abhelfen durch 
eine Flucht zur Geschichte, ihre reiche Tatsächlichkeit soll dem Leben 
wie der Religion zu einem anschaulichen Inhalt verhelfen. Bei 
solcher Wendung überlassen wir uns namentlich dem Eindruck hervor- 
ragender Epochen und Persönlichkeiten, wir versetzen und versenken 
uns in sie bis zum Vergessen unserer selbst, wir suchen sie bei sich 
selbst zu verstehen und aus ihrem Zusammenhängen zu rechtfertigen, 
die anschauliche Vergegenwärtigung ihres Gesamtbildes dünkt uns ein 
großer Gewinn an Wahrheit Aber diese historische Wahrheit ist 
nicht die ewige und absolute Wahrheit, worauf die Religion bestehen 
muß; das Zusammenwerfen von beiden enthält die Gefahr, für echtes 
Empfinden bloßes Nachempfinden, für die eine Wahrheit viele Wahr- 
heiten, für Leben bloßes Wissen einzusetzen. Höchste Achtung vor 
der Geschichte an ihrem Platz, aber energischen Widerstand gegen 
einen entnervenden Historismus! Solche Ablehnung des Historismus 
und solche Verweisung der Geschichte an den zweiten Platz steht 



168 Schluß. 



im vollsten Einklang mit dem Geist des Christentums. Wohl hat 
das von ihm verkündigte Eingehen des Ewigen in die Zeit die Be- 
deutung der Geschichte gewaltig gesteigert, ja eine Geschichte im 
geistigen Sinne überhaupt erst möglich gemacht, aber nun und nimmer 
hat das Christentum damit das zeitliche Leben zur Hauptsache und 
den Menschen zu einem vorwiegend geschichtlichen Wesen gemacht, 
denn das Geschehen in der Zeit hat hier nur einen Wert durch das, 
was es an Ewigem entfaltet und für das Ewige leistet; es wird hier 
nicht die Ewigkeit von der Zeit, sondern die Zeit von der Ewigkeit 
aus angesehen und bemessen, und es ist das Große in der Geschichte 
groß vor allem als eine Befreiung von der Geschichte, als Vergegen- 
wärtigung einer ewigen Ordnung. Darin liegt, daß die Ewigkeitsbe- 
trachtung stets überlegen bleiben muß, und daß das Christentum zum 
Evolutionismus aller und jeder Art, wie auch zu allem Historismus 
einen unversöhnlichen Gegensatz bildet Die energischere Heraus- 
arbeitung des Ewigkeitscharakters, das Verlangen einer zeitüberlegenen 
Gegenwart ist also durchaus kein Abfall vom Christentum. Der 
Hauptstandort des Lebens muß vor allem bei der Religion eine zeit- 
überlegene Gegenwart bilden, so daß uns die Geschichte nur in dem 
Maße innerlich fördern kann, als wir sie mit selbständigem Leben 
umfassen und beherrschen. 

Die letzte Befreiung des Geisteslebens ist die von der Bindung 
an die bloßmenschliche Daseinsform. Wir sehen die moderne Kultur- 
arbeit mit ihrer Richtung auf das All diese allenthalben durchbrechen, 
ein energischer Kampf zur Austreibung des Bloßmenschlichen ist 
aufgenommen. Durch die Gesamtentfaltung der neuen Kultur hat 
sich das Geistesleben von der subjektiven Zuständlichkeit und von 
der Zurückbeziehung auf das menschliche Befinden abgelöst, hat es 
eigene Inhalte und Notwendigkeiten, Gesetze und Methoden erzeugt, 
hat es sich zu einer selbständigen Welt zusammengeschlossen und 
den Menschen zu einem bloßen Mittel und Werkzeug seiner Ent- 
faltung gemacht. Seinen greifbarsten Ausdruck findet das in dem 
Zusammenschließen des Geisteslebens zu einem einzigen, scheinbar 
freischwebenden Denkprozesse. Diese Zuspitzung der Emanzipation 
des Geisteslebens bedeutet allerdings die gewaltigsten Verwicklungen. 
Aber diese Zuspitzung ist selbst im höchsten Maße problematisch, sie 
ist ein, wenn auch großartiger Irrtum. Die Verwandlung des Geistes- 
lebens in einen unpersönlichen Denkprozeß zerstört es völlig, die hier 
verkündigte Entwicklung wird zu einer Selbstverzehrung, sofern sich 
aller Inhalt verflüchtigt und das ganze Leben in ein Reich abstrakter 
Größen verwandelt, die unter den Händen entweichen, sobald sie 



Das Christentum und die Gegenwart. 169 

festgehalten und zu näherem Ausweis gezwungen werden. Wenn 
sich aber der Gedanke einer Emanzipation des Geisteslebens von 
dieser besonderen Art befreit, und wenn sich weiter herausstellt, daß 
das Geistesleben, um eine volle Wirklichkeit zu sein, ein Beisich- 
selbstwerden und mit einer beharrenden Selbstentfaltung alle Tätig- 
keit umspannen muß, so geht die Bewegung nicht gegen das Christen- 
tum, sondern dient nur zu seiner Förderung, indem sie Geistesleben und 
Menschtum in ein sicheres Verhältnis bringt. Wohl geht durch das 
Christentum eine hohe Schätzung des Menschen und eine starke Liebe 
zum Menschen; aber sie gehen nicht auf den Menschen als bloßes Natur- 
wesen, sie wollen ihn nicht in seiner bloßmenschlichen Selbstbe- 
hauptung bestärken, sondern sie sehen ihn im Licht einer neuen 
Welt und eröffnen ihm ein neues, in Gott gegründetes Leben, es ist, 
wenn nicht die Wirklichkeit, so doch die Möglichkeit einer Wesens- 
wandlung, worauf jene Schätzung, und Liebe beruht. Durch alles 
echte Christentum geht eine Sehnsucht nach einem neuen Menschen, 
nach einem neuen Reiche des Friedens und der Liebe. Aber ent-. 
steht mit solcher Wendung nicht eine ernstliche Gefahr für die Reli- 
gion, ist nicht eine gewisse Bejahung und Bestärkung des Menschen 
für sie wesentlich, gehört nicht zu ihr ein gewisser »Anthropomor- 
phismus«? Jedenfalls ist wie das Gottesbild so die Religion des Pan- 
theismus um so schattenhafter geworden, je mehr er mit der Austreibung 
alles Menschlichen Ernst machte. Wir geraten in das Dilemma, daß 
uns das Menschliche zu klein wird, daß aber mit seiner Preisgebung 
die Religion zusammenzubrechen droht. Solchem Dilemma ist nur 
zu entgehen durch eine innere Zerlegung des Menschlichen, durch 
eine schärfere Scheidung der geistigen Inhalte von der subjektiven 
Aneignuugsform. Gewinnt der Mensch im eigenen Bereich eine kos- 
mische Natur, zu der wir im Persönlich werden aufstreben, so kann 
er wie überall so auch in der Religion getrost einen Kampf gegen 
das Kleinmenschliche aufnehmen. Damit aber entstehen schwere 
Aufgaben. Wie die moderne Forschung das unmittelbare Bild der 
Natur, das der älteren Denkweise die Tatsache selbst schien, in eine 
bloße Erscheinung verwandelt, von der es zur Tatsache erst durch- 
zudringen gilt, so müssen wir aus dem unmittelbaren Befunde des 
menschlichen Daseins die geistige Substanz erst herausarbeiten, die 
vermeintlichen Tatsachen haben sich in Aufgaben verwandelt, aber 
in den Aufgaben selbst stecken Tatsachen, die uns der Wahr- 
heit näher zu bringen versprechen. Von hier aus kann die Religion 
zugleich am Menschen nach seinem geistigen Wesen festhalten und 
den Anthropomorphismus nachdrücklich bekämpfen. Aber es müssen 



170 Schluß. 



j3ich dann alle ihre Größen innerlich umwandeln, es müssen sich 
z, B. die Begriffe der Persönlichkeit, der Moral usw. über die nächste 
menschliche Erscheinung hinausbilden, es muß die bloßsubjektive 
Innerlichkeit einer substantiellen weichen, es gilt überall eine Um- 
bildung ins Große, Volltätige, Kosmische. Je mehr wir uns aber in 
einer geistigen Substanz befestigen und im Kern des Lebens über 
das Kleinmenschliche hinaus fühlen, desto unbefangener können wir 
dann auch das unmittelbare Bild des Menschen als ein Bild und 
Symbol des Göttlichen verwenden und hochhalten; denn nun wissen 
wir, daß wir uns in ihm nur eines Mittels bedienen, das zur Wirkung 
auf die Seele unentbehrlich ist, daß wir darin aber nicht die Sache 

selbst, sondern nur ein Gleichnis gewinnen. 

Wir stehen heute in einer reichen und bewegten Zeit, die nie- 
mand unbedeutend schelten darf, die mit ihrer Rührigkeit und Arbeits- 
tüchtigkeit, mit ihrem überquellenden Leben nun und nimmer der 
Stagnation des ausgehenden Altertums zu nahe gerückt werden darf. 
Aber es ist diese Zeit mit einem durchgehenden Widerspruch be- 
haftet: bewunderungswürdig groß, überlegen und sicher in der Leistung 
an der umgebenden Welt, ist sie von kläglicher Armut und Un- 
sicherheit bei den Problemen des Lineniebens und der Innenwelt. 
Ein solcher Widerspruch und Zwiespalt ist auf die Dauer nicht zu 
ertragen; so gewiß er aber überwunden werden wird, so gewiß wird 
auch die Religion, insonderheit die christliche wieder als eine Haupt- 
sache hervortreten und sich eine der weltgeschichtlichen Lage an- 
gemessene Gestalt bereiten. Wir brauchen das Anwachsen der Macht 
des Menschen gegenüber der Welt nicht zu schildern, steht es doch 
deutlich uns allen vor Augen. Am sinnfälligsten ist der Gewinn 
gegenüber der Natur in Wissenschaft und Technik, aber auch die 
menschlichen Verhältnisse sind uns unvergleichlich durchsichtiger 
und unterwürfiger geworden. Wie verstehen wir das Bild der Ver- 
gangenheit wieder autzurollen, aus dürftigen Elementen Gesamtbilder 
zu. entwerfen, durch eindringende Kritik alle subjektive Zutat vom 
Bestände der Dinge zu entfernen! Auch im Zusammenleben der 
Menschen ist die Leistungsfähigkeit von Verwaltung und Organisation 
unermeßlich gestiegen, auch hier vermögen wir, was wir wollen, un- 
vergleichlich sicherer und geschickter als irgendwelche andere Zeit 
in Wirklichkeit umzusetzen. In dem allen ist der Mensch mehr und 
mehr zum Herrn der Dinge geworden. Aber alles dies Vermögen 
hat eine bemessene Grenze, es beschränkt sich auf das, was der 
Mensch von sich ablöst und sich wie eine andere Welt gegenüber- 
stellt, es erstreckt sich nicht auf das, was innerhalb seiner SeeJe vor- 



Das Christentum und die Gegenwart. 171 



geht, und führt nicht zum Aufbau einer Innenwelt. So bleibt das 
Leben in aller jener Leistung nach außen gerichtet, sogar sich selbst 
muß der Mensch erst gegenständlich geworden sein, er muß sich zu 
sich selbst wie zu etwas Fremdem verhalten, wenn er jene Macht 
üben und jene Überlegenheit zeigen soll. Indem so die Kraft und 
das Streben vorwiegend nach außen gezogen wurden, ist das Innen- 
leben, diese Errungenschaft langer Jahrtausende, arg verkümmert und 
in volle Unsicherheit geraten. Dazu ist es uns durch jene Arbeit 
der Jahrtausende zu tief eingepflanzt und fest eingewurzelt, als daß 
wir es nun wie eine fremde Zutat abschütteln oder auch jene Ver- 
kümmerung leicht nehmen könnten, es hält uns fest, es erhebt seine 
Ansprüche, es verhindert eine volle Befriedigung bei jenem Wirken 
nach außen. Aber mit allem solchem Widerspruch gelangt es nicht 
zu einem klaren und kräftigen Inhalt bei sich selbst und wird nicht 
jener nach außen gerichteten Lebensflut irgend gewachsen; so bleiben 
wir auf dieser Seite ebenso arm, wie wir uns auf der andern reich 
fühlen dürfen. Diese Armut im Innern würden wir weit stärker und 
schmerzlicher empfinden, wenn wir nicht zur Deckung des Mangels 
immerfort die geschichtliche Überlieferung heranzögen, wenn wir 
nicht bald das Altertum, bald die Anfänge der Neuzeit zu Hilfe 
liefen, wenn uns nicht auch die überkommene Form der Religion 
immer von neuem irgendwelche Befestigung und Vertiefung gewährte. 
In Wahrheit hat sich durch die Arbeit und Erfahrung der Neuzeit, 
zumal des 19. Jahrhunderts, die Lage der Menschheit viel zu stark 
verändert, als daß jenes ältere in vollem Sinne unser eigenes Leben 
werden könnte. Mögen wir uns zunächst von vielem lebhaft ange- 
sprochen fühlen und auch mit fortgerissen werden, es kommt mit 
Sicherheit ein Punkt, wo die Wege auseinandergehen. So können 
wir bei solcher Befassung mit der Geschichte nicht bejahen, ohne zu 
verneinen, nicht annähern, ohne zugleich fernzuhalten, wir können 
nur unsere halbe Kraft und halbe Gesinnung an jenes Halbfremde 
setzen, wir werden zugleich in unsicherem Schwanken uns bald hier- 
her, bald dorthin wenden und unter all den mannigfachen, einander 
oft widersprechenden Eindrücken schließlich einer Abstumpfung und 
Ermüdung verfallen. So bleibt nur die unmittelbare Gegenwart 
Besitzt sie keine zusammenhängende Innenwelt, so bietet sie doch die 
freischwebende Subjektivität und die natürliche Individualität der 
einzelnen, so mag diese zum Standort eines neuen Lebens werden. 
Ohne Zweifel läßt sich von hier aus viel erregen und bewegen, 
richten und wenden, bejahen und verneinen, ergeben sich in bunter 
Fülle und raschem Fluß, Ausblicke über Ausblicke, Aufgaben über 



172 Schluß. 



Aufgaben. Aber bei allem seinem Reichtum bleibt dies Leben unter 
dem Bann der Zufälligkeit und der Oberfläche, es fehlt ihm eine 
rechte Substanz und eine beharrende Wahrheit; je ausschließlicher 
es auftritt und je weiter es die eigenen Wege verfolgt, desto mehr 
verfällt es ins Überspannte, Irrige und Wunderliche. So entsteht 
jene Gesamtlage, die wir alle kennen. 

Jene Gründung des Lebens auf die Subjektivität und natürliche 
Individualität bewirkt zunächst ein inneres Auseinanderfallen der 
Menschheit, eine Zersplitterung des seelischen Lebens bis in die eigene 
Seele jedes einzelnen hinein. Das war eine Hauptleistung der über- 
kommenen Seligion, daß sie eine Gesamtaufgabe und ein Gesamt- 
schicksal der Menschheit heraushob und gegenwärtig hielt Diesem 
Leben der Gemeiuschaft wurde das Individuum eingefügt, es empfing 
von dort eine Richtung und eine Beleuchtung, jeder einzelne erlebte 
unmittelbar das Gesamtschicksal und konnte sich darauf immer wieder 
aus der Zufälligkeit der individuellen Erlebnisse zurückziehen, dort 
bald Halt und Trost, bald Antrieb und Erhöhung, bald Norm und 
Maß finden. Zugleich wurden die Menschen untereinander eng zu- 
sammengehalten, die gemeinsame Aufgabe ließ sie einander aufs Ge- 
naueste verstehen, miteinander wirken und leiden, lieben und hassen* 
Das war ein Quell geistiger Kraft und ethischer Gesinnung, den keine 
Aufbietung bloßer Lehren, auch keine Anrufung subjektiver Emp- 
findungen zu ersetzen vermag. So würde es einen unermeßlichen 
Verlust besagen, wenn diese innere Gemeinschaft und mit ihr ein 
Leben aus dem Ganzen verloren geht, wenn nunmehr jeder lediglich 
auf die Besonderheit seiner natürlichen Individualität und seiner zu- 
fälligen Lage gestellt, wenn die möglichste Distanzierung der Indi- 
viduen ohne allen Vorbehalt und ohne alles Gegengewicht ver- 
kündigt wird, unvermeidlich werden sich dann die Kräfte, die sonst 
miteinander wirken, wider einander kehren, sich durchkreuzen und 
hemmen, wird eine intellektuelle wie eine moralische Zersplitterung 
und Auflösung erfolgen, werden die Menschen einander immer 
weniger verstehen, werden sie immer weniger miteinander und für- 
einander leben, werden sie sich gegenseitig immer weniger sein. 
Können wir leugnen, daß die Menschheit sich immer mehr in Gegen- 
sätze und Parteien zerklüftet, und daß der großartigen Assoziation 
auf dem Gebiete der Arbeit eine wachsende Dissoziation im Innen- 
leben entgegensteht? 

Es ist ein wunderliches Leben, das aus solcher schrankenlosen 
Entwicklung der Subjektivität und natürlichen Individualität hervor- 
geht. Der Mensch wird sich hier möglichst mit sich selbst be- 



Das Christentam und die Gegenwart 173 

schäftigen, sich selbst beobachten, seine eigenen Zustände spiegeln 
und widerspiegeln, er wird sich immer mehr in sich selbst hinein- 
grübeln und vergrübein, die eigene Seelenlage immer mehr von allem 
Stofflichen zu befreien suchen. So wird das Leben mehr und mehr 
auf die bloße Reflexion gestellt und ins Schattenhafte gewandt, so 
verliert es mehr und mehr allen Sinn für schlichte Einfalt und 
innere Notwendigkeit. Damit aber gerät es unvermeidlich in eine 
Bahn, wo sich die Grenzen zwischen Gesundem und Krankem ver- 
wischen, wo das Erkünstelte und Wunderliche das Vorurteil für sich 
hat und das um so mehr, als auch die Erhebung der natürlichen In- 
dividualität zur Lenkerin des Lebens dahin wirken muß, es möglichst 
unterscheidend, abweichend, auffallend zu gestalten. Paradoxie gibt 
sich hier als Größe und führt doch nicht einmal zu leidlicher Unab- 
hängigkeit von den Menschen, indem man ihrer unablässig bedarf, um 
sich mit ihnen vergleichen und von ihnen abheben zu können; hat 
hier doch das Individuum keine Innenwelt hinter sich, an der es sich 
messen und aus der es sich erfüllen könnte. Was bleibt ihm bei 
solchem Mangel anders als sich nach außen zu kehren und im Ver- 
hältnis zu anderen in Überbietung und Überspannung eine eitle Größe 
zu suchen? 

Aus dem Zusammentreffen dieser individuellen Lebensströmungen 
kann für das Ganze kein großes Leben hervorgehen. Ein Durchein- 
anderschießen widerstreitender Bewegungen, eine gegenseitige Hemmung 
und Schwächung, ein rasches Emporsteigen, ein jähes Sinken, keine 
beherrschenden Richtlinien, welche zwischen Wesen und Schein, 
zwischen Gut und Böse deutlich zu scheiden gestatten, keine ener- 
gische Gegenwirkung gegen das Kleine und Niedrige in der Menschen- 
natur, statt einer kräftigen Geistigkeit vielmehr ein Raffinieren der 
Sinnlichkeit bis zu greisenhafter Lüsternheit, eine Kultur, die bei 
allem Verlangen nach Wirklichkeit keine Substanz, bei aller Er- 
regung der Subjektivität keine Seele hat, der in dem Wirbel flüchtiger 
Erscheinungen sich das große Entweder-Oder des menschlichen 
Lebens verdunkelt, — das ist das Resultat Mehr noch als für seine 
eigene Zeit paßt für die unsrige das Wort Pestalozzis: »Es war immer 
Licht und Finsternis in der Welt, aber beide, das Licht und die 
Finsternis, standen in den meisten Tagen der Vorzeit, selbst in dunklen 
Zeiten, reiner und wahrhafter vor den Augen des Menschen; die 
Finsternis war in ihrem vollen Dunkel dem sehenden Mann leicht 
erkennbar; jetzt scheint die Finsternis Licht, und das Licht ist Finster- 
nis geworden«. In eine wie kritische Lage durch das alles das 
Leben der Menschheit gerät, wird besonders deutiich, wenn wir mit 



174 Schluß. 



der großartigen Leistungsfähigkeit exaktwissenschaftlicher, technischer, 
praktischer Art, mit unserem Vermögen gegenüber der Welt um uns 
die auffallende Schwäche auf allen Gebieten vergleichen, wo der 
Mensch als Inneres in Frage kommt, und wo er ein Ganzes des Wesens 
aufzubieten hat Wir haben eine ausgebreitete — naturwissenschaftliche 
und historische, gelehrte und reflektierende — Beschäftigung mit der 
Philosophie, aber wir haben keine eigene Philosophie, kein philosophi- 
sches Schaffen selbständiger Art; wir befassen uns unablässig mit der 
Geschichte und haben die Technik der Forschung bis zu bewunderungs- 
würdiger Höhe geführt, aber wir entbehren durchaus eines klaren 
Verhältnisses zur Geschichte im ganzen und vermögen nicht die Ver- 
gangenheit in die Gegenwart überzuleiten; unsere Literatur setzt mit 
größtem Geschick alle einzelnen Seiten der Seele in Bewegung, aber 
sie faßt und fördert nicht den Menschen im ganzen/ sie greift nicht 
durch bis zur Tiefe des Wesens; unsere bildende KiAst ringt ernst 
und eifrig nach Wahrheit, aber das Chaos der Zeit läßt sie nicht in 
sichere Bahnen gelangen; wir verhandeln mehr als irgendwelche 
andere Zeit über Fragen der Erziehung, aber wir besitzen kein ge- 
meinsames und einfaches Erziehungsideal; wir bemühen uns unablässig 
um die Verbesserung der politischen und sozialen Zustände, aber 
wir geraten sofort ins Unsichere, wo es letzte Ziele und das Glück 
des ganzen Menschen gilt. Durchgängig fehlt ein selbständiges 
Geistesleben, das der Fülle der widerstreitenden Eindrücke und An- 
regungen überlegen wäre, und das die weltgeschichtiiche Lage der 
Gegenwart auf einen zusammenfassenden einfachen Ausdruck brächte. 
Die Zeit ist auch innerlich voll großer Probleme, wir aber sind den 
Problemen nicht gewachsen, wir sinken immer wieder ins Klein- 
menschliche zurück und gelangen damit nicht zu einem wahrhaftigen 
Inhalt des Lebens, nicht zur Festigkeit und nicht zur Größe. 

Das alles mag solange übersehen oder doch minder stark emp- 
funden werden, als sich der Mensch ganz und gar in jenes bunte 
Getriebe hineinstellt und in Betrachtung wie Streben nur von Punkt 
zu Punkt weitereilt. Wer aber heraustritt und das Ganze überschlägt^ 
der wird ein peinliches Mißverhältnis nicht zu leugnen vermögen. 
Ein unsägliches Mühen und Arbeiten, aber wenig reiner Ertrag; 
blendende Leistungen im einzelnen, aber wenig Gewinn für das Ganze; 
ein höchst verwickelter Apparat der Kultur, aber keine belebende 
Seele; ein hastiges Drängen von Augenblick zu Augenblick, aber 
keine Ewigkeitswerte, keine Ewigkeitshoffnung im Schaffen. Wofür 
alle Mühe und Arbeit, alle Umständlichkeit, alle Aufregung, wenn das 
Ganze keinen Sinn hat, sondern alles in nichts verrinnt? 



Das Christentum tind die Gegenwart. 176 

Aber man braucht eine derartige Krise der Kultur nur scharf 
zu fassen, um aller Sorge um die Zukunft enthoben zu werden. Der- 
artigen Verneinungen und Verflachungen ist ihre Grenze gesetzt, es. 
kommt ein Punkt, wo der Mensch ihre zerstörende Kraft an sich 
selbst, an seinem eigenen Leben und Wesen empfindet Geschieht 
aber erst das, so liegt auch die Gegenwirkung nicht fern, so wird 
der Mensch den Kampf um sein bedrohtes geistiges Dasein, um eine 
Seele seines Lebens aufnehmen, so wird er die innern Zusammen- 
hänge wieder ergreifen, in denen sein Wesen gegründet ist, so wird 
ihm von dort neue Kraft zuströmen und zur Arbeit für eine neue 
Kultur stärken, die wieder eine selbständige Innenwelt besitzt und 
von ihr aus der Arbeit an der Umwelt erst den rechten Wert zu 
geben vermag. Wohl stehen wir heute bei dem Verlangen einer 
wesenhafteren Kultur, einer Kultur des ganzen Menschen, einer Inner- 
lichkeit, die dem weltgeschichtlichen Stande des Geisteslebens ent- 
spricht, noch in den Wirren und Wehen der ersten Anfänge, aber 
das Verlangen danach wird augenscheinlich stärker und stärker, es 
bedarf nur einer energischen Konzentration des Strebens sowie einer 
engeren Verbindung der einzelnen Kräfte, und die Bewegung kann, 
ganz wohl vordringen und über die kleinen Kreise hinaus ins Weite 
wirken. Die Möglichkeiten des Lebens sind noch keineswegs er- 
schöpft, neue Ausblicke und neue Aufgaben können sich auftun^ 
wenn wir nur den Mut des Schaffens und den rechten Angriffspunkt 
finden. Eine Bewegung zu einer wesenhafteren und seelenvolleren 
Kultur, zu einem Überlegenwerden eines Gesamtlebens über alle 
einzelnen Betätigungen kann aber nicht aufkommen, ohne daß das 
Problem dei Religion wieder mächtig hervortritt. Unser Leben läßt 
sich nicht in die Tiefe verfolgen und ins Ganze fassen, ohne daß 
deutlich wird, wieviel es an schroffen Gegensätzen in sich trägt; es 
muß sich entweder zwischen diesen Gegensätzen zerreiben, oder es 
muß irgend über sie hinausgehoben werden. Letzteres kann nur 
unter durchgreifender Umwandlung des ersten Weltanblicks, unter 
Eröffnung einer neuen Wirklichkeit geschehen. Das aber ist es, wa& 
die Religion vertritt und dem Menschen zuführt. Daß der Mensch 
einmal aus einer dunklen Natur hervorgeht und ihr aufs engste ver- 
haftet bleibt, und daß zugleich bei ihm das Dunkel sich aufzuhellen 
beginnt, daß er einen verschwindenden Sonderpunkt bildet und doch 
an der ganzen Unendlichkeit teilhaben will, daß er inmitten des^ 
Flusses der Zeit steht und zugleich nach ewiger Wahrheit verlangt^ 
daß er ein Stück der Natur bildet und zugleich im Geistesleben ihr 
gegenüber eine neue Welt aufbaut, daß er vom Mechanismus der 



176 Schluß. 



Kausalität umfangen ist und zugleich auf Freiheit und Selbständigkeit 
nicht verzichten darf, das alles sind Widersprüche, die das unmittel- 
bare Dasein in keiner Weise zu lösen vermag, die darüber hinaus nach 
einer M'eiteren Tiefe der Wirklichkeit drängen und damit auf die 
Bahn der Religion führen. Durch alle einzelnen Probleme hindurch 
und über sie hinaus wirkt sie dahin, das Geistesleben zu einer vollen 
Selbständigkeit zu erheben, es zugleich dem Menschen über^ 
legen zu machen und dann wieder zu ihm zurückkehren zu lassen. 
Damit verwandelt sich sein innerstes Wesen, damit erst wird 
er einer wahren Größe fähig. So trägt das Verlangen nach einer 
neuen Kultur in sich unmittelbar das Verlangen nach einer 
Verjüngung der Religion. Religion und Kultur sind hier gegen- 
seitig aufeinander angewiesen. Ohne die Religion wird die Inner- 
lichkeit keine selbständige Welt und vermag daher gegen die Außen- 
welt nicht aufzukommen; ohne einen Zusammenhang mit dem Ganzen 
des Lebens und damit auch der Kultur verliert die Religion einen 
charakteristischen Geistesgehalt und droht zu einer bloßsubjektiven 
Stimmung zu sinken. So ist das Fehlen oder die Verkümmerung 
des einen immer auch ein Schaden für das andere. Dabei ist aber 
eine schärfere Auseinandersetzung, eine selbständigere Entfaltung des 
Geistigen und Göttlichen notwendig, damit die Wahrheit der Religion 
zu voller und reiner Wirkung gelange, damit die Religion nicht bloß 
den einzelnen stütze, sondern das Ganze der Menschheit fördere, da- 
mit sie nicht bloß Trost in Mühe und Not, sondern auch Erhöhung 
für Arbeit und Schaffen gewähre. Und in diesen Bestrebungen wird 
sich, vielleicht durch schwere Katastrophen hindurch, erweisen, daß 
das Christentum nicht nur eine große Vergangenheit, sondern auch 
eine große Zukunft hat. 



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Druck von Hermann Beyer & Sfihne (Beyer & Mann) in Langönsalxa. 




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